Das
Völkerrecht im
Dienste des
WirthschaftsL
Hugo Preuss
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Das Völkerrecht
im
Dienste des Wirthschaftslebens.
I
Von
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Ilätte Jemand einem ehren-, hand- und sattelfesten Ritter
jener Zeiten, die uns als das «dunkle» Mittelalter erscheinen,
eine Rede darüber gehalten, wie es rechtlich nothvvendig und
wirthschaftlich heilsam sei, dafs er seinen Spahn mit seinem
Nachbarn oder den Kaufleuten der Stadt nicht mit seinem starken
Schwert, sondern mit seiner schwachen Rede- und noch weit
schwächeren Schreibekunst austrage; wie bereits ohne sein
Wissen und Wollen rings um ihn eine Entwickelung ihre Fäden
spinne, die ihn und den städtischen Krämer, den Fürsten und
den Bauer in ein gemeinsames Netz verstricken, aus ihnen allen
ein rechtlich geordnetes und befriedetes staatliches Gemeinleben
bilden werde — was würde wohl der Wackere geantwortet
haben r Gar nichts vermuthlich, sondern ausgelacht hätte er den
Narren. So er aber ein absonderlich nachdenklicher und zum Dis-
kurs geneigter Herr gewesen, hätte er wohl darauf hingewiesen,
dafs das freie Fehderecht das unveräufserliche Recht des freien
Mannes und Ritters sei, dafs mit jenen Ideen keine Ritterschaft,
ohne Ritterschaft aber weder das heilige Reich noch die heilige
Kirche bestehen könne, und dafs in der Erfahrung auch allemal
das gute Schwert des guten Rechtes bester Beweis und Schirm
sei. Ein gelahrter Meister der Scholastik aber mochte wohl
nicht alles loben, was der einfältige Rittersmann sagte und that;
jedennoch hätte er manch' erbaulich' Wort zugefügt, wie Gott
gleich dem geistlichen und weltlichen Schwert so auch die ver-
schiedenen Stände geschieden habe zu verschiedenem Werk,
was folge aus Begriff und Wesen der Stände und unveränderlich
sei in Ewigkeit.
Heut zu Tage sind wir ja natürlich viel heller als das dunkle
Mittelalter. Unsere Praktiker, die von der Macht der idee nichts
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wissen wollen, sitzen nicht mehr im Sattel, sondern in den Amts-
stuben, und unsere Theoretiker, die von den Gebilden und For-
derungen der Wirklichkeit nichts wissen wollen, mögen nicht
mehr Scholastiker, selbst nicht verdeutscht: Schulmeister heifsen.
Dennoch erheben manche von ihnen gegen die jugendlich auf-
strebende Wirksamkeit und Lehre des modernen Völkerrechts
ganz ähnliche Einwendungen, wie sie die Männer der Praxis und
der Schule des Mittelalters den ersten Regungen des neueren
Staatsgedankens entgegensetzen mochten. Die Zeit, die Logik
der Thatsachen, welche immerdar stärker war, ist und sein wird
als die der Menschen, ist über diese Einwände hinweggeschritten,
wie sie über jene hinwegzuschreiten im Begriff ist. Das Völker-
recht, ein internationales Recht — zunächst jedenfalls — der
civilisirten Nationen, welches, die staatlichen Grenzen durch-
brechend, die auf dem Boden gemeinsamer Kultur und gemein-
samen Verkehrs stehenden Völker verbindet — ein solches Recht
existirt in lebendigster Wirklichkeit; in tausend Verhältnissen
des täglichen Lebens macht es seine Existenz segensreich fühl-
bar, was auch immer der Doktrinarismus der Routine und der
Schulweisheit dagegen sagen mag. Und wenn dagegen auf die
nicht weniger reale Fortexistenz des Krieges hingewiesen wird,
darauf, dafs eben jene modernen Kulturstaaten in immer ge-
steigerter Kriegsrüstung einander gegenüberstehen, die drohende
Wetterwolke verheerenden Völkerzwistes ständig über ihnen
hängt, so beweist dies so wenig gegen das Völkerrecht, wie
etwa die fortbestehende Möglichkeit der Seuchen und Epidemien
etwas gegen die Hygiene beweist. So wenig letztere das Le-
bens-Elixir der Wunderdoktoren zu finden wähnt, ebenso wenig
beansprucht das Völkerrecht einen Talisman zu besitzen, der
alle Kriegsgefahr mit einem Schlage beseitigt. Aber wie jene
so hat auch dieses trotzdem ein weites Feld segensreichster
Wirksamkeit. Diese materielle Friedensarbeit geht neben jenen
Kriegsrüstungen unablässig und unwiderstehlich ihren Weg. Dafs
die BinncnschifTfahrt in der Ausnutzung der natürlichen Wasscr-
strafsen nicht mehr durch die Staatsgrenzen behindert wird, dafs
die SeeschifTfahrt freier und rechtlich gesicherter geworden, dafs
Personen und Güter im Wesentlichen ohne Gefährdung der
Rechtssicherheit von einem Staate in den anderen gehen können,
dafs der Schutz der Gerichte im Allgemeinen auch dem fremden
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Kaufmann sich nicht versagt, dafs Postsendungen nach allgemein
gültigen Normen und Portosätzen alle Gegenden der civilisirten
und viele Theile der halbcivilisirten Welt erreichen, dafs der
Reisende in einem und demselben Eisenbahnwagen fast die
ganze Breite Europas mit all ihren Staatsgrenzen durchqueren
kann — dies und manches andere sind Errungenschaften des
internationalen Rechts, das sich also klar genug an seinen
Früchten erkennen läfst. Diese Früchte nun sind, wie schon
die wenigen Beispiele andeuten, überwiegend wirthschaftlicher
Natur; im Dienste des Wirtschaftslebens errungen, fördern
sie dieses; aber zugleich fördert das dadurch bereicherte wirt-
schaftliche Leben der Völker seinerseits wieder die Entwickelung
des Völkerrechts, gemäfs dem Gesetz der Wechselwirkung,
das alles organische Leben uud Wachsen charakterisirt. Jedoch
keineswegs bildet dieser innige Zusammenhang mit dem Wirth-
schaftsleben eine Besonderheit des Völkerrechts, vielmehr ist
er sämmtlichen Erscheinungsformen des Rechts, ganz besonders
in ihren Anfangen, vor ihrer formellen Reife eigen. Gerade hier-
durch sowie durch den Mangel einer entwickelten formellen Or-
ganisation gewährt das Völkerrecht den für Wissenschaft und
Leben gleich werthvollen Einblick in den Werdeprozefs des sich
gestaltenden Rechts.
Eine solche Betrachtung erfordert freilich die vorurtheilslose
Befreiung von manchen tief eingewurzelten Irrthümern, die noch
vielfach — bewufst oder unbewufst — den Ausgangspunkt der
juristischen wie der philosophischen Anschauungsweise bestimmen.
So wenig der absolute Staat des vorigen Zeitalters vom Stand-
punkte der mittelalterlichen Grundanschauungen aus gedanklich
zu erfassen war, so wenig ist es der heutige Staat unter dem
Banner der Grundideen jener letzt vergangenen Epoche. «Tem-
pora mutantur et nos mutamur in illis» — ein äufserst banaler
Satz, der jedoch trotz seiner wohl erworbenen Eigenschaft als
Gemeinplatz nicht allen Beobachtern dieser Dinge genügend in
Fleisch und Blut übergegangen ist. Auch auf den Inhalt der
Begriffe «Staat» und «Recht» erstreckt sich in eminenter Weise
das Gesetz des ewigen W T andels alles Irdischen. Wie die schein-
bare Konstanz der Arten in der Thierwelt vor der heutigen
Wissenschaft als Irrthum erscheint, so auch die weit leichter als
Irrthum zu erkennende Konstanz jener Begriffe. Und ganz der-
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selbe Satz, welcher der Naturwissenschaft jene Erkenntnifs ver-
mittelt, dient dazu auch hier: unendlich kleine Wandlungen in
unendlich grofsen Zeiträumen. Unendlich klein sind die Wand-
lungen, die das Leben jedes Tages, jedes Jahres in den Inhalt
der Begriffe Recht und Staat hineinträgt, so klein, dafs sie den
Mitlebenden nicht zum Bewufstsein kommen können, — und
leider giebt es kein Mikroskop für die geistige Beobachtung;
aber nach Generationen, nach Jahrhunderten sind die Wandlungen
für den rückwärts Schauenden mit Händen zu greifen.
Der Philosoph, der da berufsmäfsig das Ding an sich hinter
der Fülle seiner wechselnden Erscheinungsformen sucht, ist leicht
geneigt, die Bedeutung jener Wandlung zu unterschätzen und
nach unvollständigen Beobachtungen gewisse Begriffe von Staat
und Recht als unwandelbare Denkkategorien zu abstrahiren. Ist
das einmal vollbracht und das Dogma fertig, dann wehe den
Erscheinungen der Wirklichkeit, die sich erkühnen, nicht hinein-
zupassen; erbarmungslos werden sie in das Urnichts hinein-
deduzirt. Doch auch der Jurist wird vielfach auf den gleichen
Weg hingedrängt, nicht nur insofern er ein Schüler der Philo-
sophie ist und sein mufs, sondern auch durch seine eigensten
praktischen Aufgaben. Für diese mufs das Recht seinem Wesen
nach als etwas Stabiles erscheinen, während es in Wahrheit
sich in Flufs und Bewegung befindet; die Jurisprudenz im engen
Sinne hat nicht wie die Geschichte eine Bewegung, sondern
einen Zustand zum Objekt, also im letzten Grunde eine Fiktion,
einen gedachten Stillstand, den es in Wirklichkeit nicht giebt.
So legt sie ganz begreiflicher Weise den Schwerpunkt auf das
formale Moment; denn die Formen sind das verhältnifsmäfsig
Stabilere; während ihr Gehalt sich wandelt, oft sich verflüchtigt,
dauern sie unter Umständen bis zur völligen Ausleerung, und
ein gewandelter, erneuerter Inhalt braucht meist viel Zeit und
Kraft, ehe er sich eine neue Form zu scharfen vermag. Daraus
erklärt es sich wiederum andererseits, dafs der Jurist, gerade
weil sein Gesichtskreis häufig nur dies formale Moment umfafst,
eben die Eigenschaft des Formalen im Gegensatz zu seinem
realen Gehalt gar leicht verkennt. In Wahrheit sind jedoch die
Rechtsformen lediglich die schützende Hülle und Schale der In-
teressen und Bedürfnisse, oder nach der Formulirung Jherings:
das Recht ist «die Form der Sicherung der Lebensbe
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dingungen der Gesellschaft».')*) Das Bedürfnifs der Siche-
rung dieser Lebensbedingungen hat Recht und Staat geschaffen ;
das Wachsen, die Wandlungen jenes Bedürfnisses geben dem Recht
wie dem Staat einen erweiterten oder veränderten Inhalt. So-
bald das Recht des einzelnen Staates nicht mehr ausreicht, um
die veränderten Lebensbedingungen der Gesellschaft zu sichern,
schafft eben jenes Bedürfnifs, das das staatliche Recht geschaffen,
ein Recht, welches die Staatsgrenzen durchbricht und sich so weit
erstreckt, wie es die Sicherung dieser veränderten Lebensbedin-
gungen erheischt: das internationale Recht derjenigen
Nationen, deren gesicherter Verkehr nunmehr Lebensbe-
dingung der Gesellschaft überhaupt ist, das moderne
Völkerrecht.
Diese schöpferische Kraft, welche das Bedürfnifs einer Siche-
rung der je nach Zeit und Umständen nothwendigen Lebens-
bedingungen entfaltet, ist eine Naturnothwendigkeit, und daher
auch wieder nichts unserem Gegenstande ausschliefslich Eigen-
tümliches, sondern allen Erscheinungsformen der Natur gemein-
sam. Der Naturforscher beobachtet, dafs die Thiere diejenigen
Eigenschaften und Formen des Körpers entwickeln, deren sie
zur Sicherung ihrer Lebensbedingungen bedürfen; ihre Farbe
pafst sich der Umgebung an, in der sie leben müssen, um sie
vor Nachstellungen zu schützen; ihre Glieder passen sich den
Bedingungen an, unter denen sie ihre Nahrung suchen müssen.
Und wie das Bedürfnifs einer Sicherung ihrer je nach Zeit und
Umständen verschiedenen Lebensbedingungen den Thieren die
entsprechenden physischen Formen schafft, so schafft dasselbe,
freilich unendlich komplizirtere Bedürfnifs der menschlichen Ge-
sellschaft die entsprechenden Rechtsformen.
Unendlich komplizirter sind die der Sicherung bedürfenden
Lebensbedingungen des homo sapiens, als die der anderen Thiere ;
unendlich intensiver ist vor Allem auch das Bedürfnifs der Ver-
einigung, der Vergesellschaftung bei diesem £a>oj> noXmxov; und
gerade dies Bedürfnifs ist eine unversieglich fltefsende Quelle der
Rechtserzeugung. Je weiter sich der Mensch über das Niveau
des thierischen Lebens erhebt, je höher und reicher sich also
die menschliche Kultur entwickelt, desto mannigfaltiger und um-
*) Anmerkungen und Exkurse folgen im Anhang.
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• . — .
fassender wird auch jenes Bedürfnifs der Vergesellschaftung, weil
die Bedürfnisse, die ohne Vergesellschaftung nicht zu befriedigen
sind, mannigfaltiger und umfassender werden. Zuerst mag dem
die Familie, die Horde, der Stamm genügen; dann nur das
Staatsvolk; endlich nur die Menschheit als Ganzes. Es ist die
aufsteigende Entwickelung von niederen zu höheren Wirth-
schaftsstufen, die die aufsteigende Entwickelung von niederen
zu höheren Vergesellschaftungsformen erzwingt, wobei dann auch
diese wiederum jene fördert und weiter entwickelt nach dem
Gesetz organischer Wechselwirkung. Wie geringer Vergesell-
schaftung bedarf das wilde Fischer- oder Jägervolk für seinen
primitiven Wirthschaftsbetrieb ; eine wie geringe ist durch den-
selben nur ermöglicht; die zur Fortpflanzung nothwendige Ver-
einigung ist allein ausreichend und möglich. So kennen denn
in der That die auf dieser Wirthschaftsstufe stehenden Wilden
auch nicht die roheste Form fortschreitender Gesellschaftsbildung,
die Sklaverei. Diese erscheint dagegen meist schon auf der
nächst höheren Wirthschaftsstufe, der Viehzucht, welche über-
haupt weitere Vergesellschaftung erheischt wie ermöglicht; und
sodann beim Ackerbau -Volk, dessen Vergesellschaftung bereits
in der Form des Staates erscheint. Von der Gebundenheit an
die Scholle, welche diese wirthschaftliche Phase mit sich bringt,
löst die Handels wirthschaft die Menschen los; indem sie weiter-
reichende Verbindungen zur Lebensbedingung hat und dieselben
ausgestaltet, enthält sie die Keime einer internationalen Rechts-
verbindung. Und endlich gipfelt für uns diese Entwickelung in
der Industrie wirthschaft, welche sämmtliche früheren Stufen
voraussetzt und in sich schliefst, und eine Komplizirung zugleich
und Ausdehnung des menschlichen Gemeinlebens erheischt, wie
solches wiederum nur durch sie ermöglicht wird.
Diese fortschreitende Vergesellschaftung bezeichneten wir
als vornehmliche Quelle der Rechtserzeugung. Denn sie erfor-
dert unbedingt eine Normirung der auf einander stofsenden und
doch auf einander angewiesenen Willensmächte; und zwar nicht
nur der einzelnen Menschen unter sich, sondern ebenso der Ein-
zelnen gegenüber den Gemeinwesen, sowie dieser unter sich
und in Anbetracht ihrer mannigfachen Abstufung. Insofern kann
man der oben angeführten Definition des Rechtsbegriffs eine
andere, nicht minder richtige zur Seite stellen, nach welcher
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Recht «die Abgrenzung der Willensmacht der Personen»
ist. 2 ) Auch in dieser Fassung charakterisirt sich das Wesen des
Rechts als das einer äufseren Norm, als etwas wesentlich For-
males, als die Umschreibung von Grenzen, die einen anders ge-
arteten Inhalt umschliefsen. Denn der Inhalt der Willensmächte,
die das Recht formell abgrenzt, ist nicht rechtlicher Natur. So
schliefsen sich also die beiden Definitionen des RechtsbegrifTs
keineswegs gegenseitig aus, ergänzen einander vielmehr, indem
«die Abgrenzung der Willensmacht der Personen» eben die
rechtliche «Form der Sicherung der Lebensbedingungen der Ge-
sellschaft» bildet. Die fortschreitende Vergesellschaftung der
Menschen, welche eine Abgrenzung der verschiedenen Willens-
sphären durch das Recht nöthig macht, erschien uns oben als
Produkt — freilich in organischer Wechselwirkung zugleich auch
als Bedingung — des fortschreitenden Wirtschaftslebens.
Rechts- und Wirthschaftsleben verhalten sich also zu
einander wie Form und Inhalt; erstere ist das Produkt und
zugleich auch die Bedingung des letzteren; die Gestaltung des
Rechts wird in wesentlichen Beziehungen von den wirthschaft-
lichen Nothwendigkeiten bestimmt, ist daher ohne intensive Be-
achtung dieser weder in ihrem Bestände zu begreifen, noch in
ihrem Werden und Wachsen zu verstehen. Die Lebensbedin-
gungen der Gesellschaft, welche zu ihrer formellen Sicherung
des Rechtes bedürfen, erheischen inhaltlich die Befriedigung
wirthschaftlicher Bedürfnisse.
Gegen diese Auffassung ist ein scheinbar gewichtiger und
jedenfalls gemüthvoll bestechender Einwand leicht vorherzusehen ;
man wird ihr den Vorwurf des sogenannten «niedrigen Materia-
lismus», den man heut zu Tage bei passenden und unpassenden
Gelegenheiten so gern bejammert, nicht vorenthalten. Wie!
Nicht nur wird die heilige Idee des Rechts aus ihrer Wolken-
höhe herabgezogen und in den Dienst der t niedrigen» Tages-
bedürfnisse gestellt; — daran ist man ja nachgerade gewöhnt,
und in der That läfst es sich kaum vermeiden, wenn man nicht
den lieben Gott persönlich bemühen will; — doch auch die
menschliche Gesellschaft wird erniedrigt, indem als ihre Lebens-
bedingung nur die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürf-
nisse betont wird. Soll sich die menschliche Gesellschaft von
der Thierwelt in dieser Hinsicht nur insoweit unterscheiden, als
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sie für Ernährung und Fortpflanzung des komplizirteren Appa-
rats, genannt Wirtschaftsleben, bedarf? Gehören zu ihren
Lebensbedingungen nicht auch ( höhere », immaterielle Bedürf-
nisse? Und w ird nicht demgemäfs auch ihre Entwickelung durch
die immaterielle Macht der Ideen beeinflufst?
Unzweifelhaft gehört zu den Lebensbedingungen der mensch-
lichen Gesellschaft auch die Befriedigung gewisser immaterieller
Interessen nächst den materiellen. Jedoch nicht nur sind letztere
stets die stärksten und unabweislichsten — gemäfs der einfachen
Thatsache, dafs der Mensch leben mufs, um denken und em-
pfinden zu können — , sondern es ergiebt sich hieraus auch, dafs
das wirthschaftliche Leben schon an sich bis zu einem gewissen
Grade die immateriellen Interessen mit umfafst, dafs jenes ge-
wissermafsen Niederschläge dieser in sich enthält. So findet
z. B. das Interesse der Kunst und Wissenschaft seine Sicherung
vor Allem darin, dafs die wirthschaftlichen Lebensbedingungen
der Künstler und Gelehrten gesichert w erden, w ie denn auch das
Völkerrecht auf diesem Gebiete sich dienstlich erweist, indem es
durch Litterarkonventionen und analoge internationale Verein-
barungen vor Allem die w irthschaftlichen Interessen der Verfasser
und Erfinder sichert. So ist überhaupt das moderne Recht bei
der Ausgestaltung des sogenannten geistigen Eigenthums in seinen
verschiedenen Formen lediglich dem Zwange des wirthschaft-
lichen Bedürfnisses gefolgt, welches die ihm nothwendige Betä-
tigung geistiger Kräfte nicht durch Brotlosigkeit derselben oder
Anweisung auf den Bettel nach Art früherer Zeiten hemmen
läfst. So dient in der That das «niedere» Wirtschaftsleben den
«höheren» Interessen vielfach besser und sicherer, als schöne
Gedanken und begeisterte Worte.
Fern sei es auch, die Macht der Ideen für die fortschreitende
Vergesellschaftung der Menschen leugnen oder unterschätzen zu
wollen. Die idealen Kräfte des Familiensinns, der Anhänglich-
keit an den eigenen Boden, des Nationalgefühls und der Vater-
landsliebe haben an der Entwickelung des modernen Staates
ebenso mitgewirkt, wie die Idee der Humanität, der Menschen-
liebe und der Gemeinsamkeit der grofsen geistigen Kulturinter-
essen die internationale Gemeinschaft des modernen Völkerrechts
fördert. Auch soll die hohe geistige Macht der Rechtsidee an
sich, der sittlichen Forderung waltenden Rechts keineswegs ver-
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kannt werden. Aber nur eine oberflächliche Beobachtung mag
übersehen, dafs diese schönen Blüthen alle, die ihre Farbenpracht
im hellen Sonnenlicht entfalten, ihre Existenz doch nur den
Wurzeln verdanken, welche tief unten im dunkeln, vielleicht so-
gar schmutzigen, jedoch fruchtbaren Erdreich des wirtschaft-
lichen Lebens stecken. Die kulturgeschichtliche Forschung zeigt,
dafs Einrichtungen des engsten Familienlebens, die uns lediglich
in der Tiefe des Gemüths zu wurzeln scheinen, ihren Ursprung
in wirthschaftlichen Bedürfnissen hatten, und die Sprachforschung,
bestätigt es, wenn sie z. B. im Sanskrit die Wurzeln des Wortes
«Mutter» mit der Bedeutung «Ordnerin» oder ♦ Schwester» mit
der spezifisch landwirthschaftlichen Bedeutung «Melkerin» findet.
Die verschiedenen Formen der Ehe, welche die Religion und
Sitte geheiligt, das Recht gesichert hat, gehen in ihren Anfängen
nicht minder auf wirtschaftliche Bedürfnisse zurück. Wie ideal
verklärt erscheint oft die Liebe des Landvolkes zu seiner Scholle;
es ist dieselbe Empfindung, die der Seefahrer für sein Schiff,
der Wüstenaraber für sein Kameel hegt, die durch Gewöhnung
in Empfindung umgesetzte Erkenntnis des für ihn entscheidenden
wirthschaftlichen Werthes. So erscheinen die immateriellen Inter-
essen überall als Nebenprodukte der materiellen, das seelische
Leben als Begleiterscheinung des wirthschaftlichen; was der
Dichter vom Kaufmanne sagt: «Güter zu suchen geht er; doch
an sein Schiff knüpfet das Gute sich an» — gilt analog für jede
wirthschaftliche Thätigkeit; eine jede treibt neben ihren materiellen
Früchten, um derentwillen sie existirt, ideelle Blüthen.
Auch in den politischen Gestaltungen neuerer Geschichte
sind die wirthschaftlichen Interessen ebenso mafsgebend, wenn
sie auch der oberflächlichen, vulgären Betrachtung ebenso häufig
entgehen. Welchen gewaltigen Einflufs die religiöse Bewegung
der Reformation auf die staatliche Gestaltung der Neuzeit aus-
geübt hat, weifs Jeder, nicht so dagegen, welche Bedeutung
wirthschaftliche Momente für jene scheinbar ausschliefslich
religiöse Bewegung gehabt. In der That jedoch verletzte der
Ablafshandel nicht blofs das religiöse Gefühl, sondern auch die
wirthschaftliche Vernunft, weil er nebst anderem eine drückende
Steuer darstellte, die den fremden Völkern zu Gunsten Roms
auferlegt war und sehr beträchtliche Summen für fremde Zwecke
aus dem Lande zog. Und wie entscheidend ist es für den Ver-
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lauf der Reformation gewesen, dafs nicht nur die Kirchenlehre
zu reinigen, sondern vor allem auch die Kirchengüter zu säku-
larisiren waren. Weit gefährlicher als ihre werkheilige Lehre von
der Gnade waren der katholischen Kirche die Reichthümer der
todten Hand, welche vor allem in Deutschland der entstehende
Territorialstaat, arm wie eine Kirchenmaus, sehr gut gebrauchen
konnte. Dieser selbige Territorialstaat verstand es denn auch,
trotz des deutschen Nationalgefühls die deutsche Nation politisch
völlig zu zerreifsen, indem er sich vor allem wirthschaftlich zu-
sammen- und abschlofs, und den wirthschaftlichen Interessen
eine Stütze bot, wie sie das heilige römische Reich deutscher
Nation nicht gewähren konnte. Und als nun in unserem Jahr-
hundert die entgegengesetzte Entwickelung in Flufs kam, da war
es wiederum die wirthschaftliche Einheit, die erst der nationalen
auf die Beine half; dem deutschen Nationalverein ging der
preufsische Zollverein voraus, indem er durch den harten Zwang
wirthschaftlicher Notwendigkeit die widerstrebenden Kleinstaaten
unter einen Hut brachte. Wenn noch heute Mafsregeln ergriffen
werden, die der Idee der Humanität und Kultur wenig ent-
sprechen, wie die Massenausweisungen Fremder bei uns und
anderswo oder die russischen Judenukase, dann kann die Huma-
nität nur ihr Haupt verhüllen und klagen, aber nichts ändern.
Sobald jedoch dadurch wirthschaftliche Bedürfnisse tangirt werden,
etwa Arbeitermangel in den betroffenen Gegenden eintritt oder
der Staatskredit irgendwie zu leiden droht, dann erzwingt sich
die wirthschaftliche Nothwendigkeit Abhülfe und leiht der edlen,
aber wehrlosen Humanität ihren starken Arm. 3 )
So erweisen sich also überall die wirthschaftlichen Be-
dürfnisse als die eigentliche Quintessenz der Lebensbedin-
gungen der menschlichen Gesellschaft, die Nothwendigkeit ihrer
Befriedigung als die eigentlich treibende Kraft auch für die
formale Sicherung jener Lebensbedingungen, d. h. für das
Recht. Besonders scharf tritt dies in den Anfängen einer
neuen Evolution der Rechtsgestaltung hervor, wenn der
veränderte, erweiterte Inhalt sich auch eine veränderte, erweiterte
Form zu gestalten beginnt. Denn diesem Prozefs setzt die vis
inertiae des Bestehenden, das Beharrungsvermögen einen Wider-
stand entgegen, den nur die zwingende Nothwendigkeit wirth-
schaftlicher Bedürfnisse zu brechen vermag. Ueberall im Ver-
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lauf der Geschichte und in Sonderheit der Rechtsgeschichte sind
es nicht die edlen Gefühle und grofsen Gedanken, sondern das
eiserne Mufs der Sicherung jener wirtschaftlichen Lebensbedin-
gungen, was «den Widerstand der stumpfen Welt besiegt».
Wenn eine weit verbreitete Meinung den Zwang für ein unbe-
dingtes Erfordernifs der Verwirklichung des Rechts und deshalb
für ein wesentliches Moment des RechtsbegrifTes erklärt, so stimmt
dies zwar mit der hier vorgetragenen Grundansicht überein, ist
jedoch insofern irrig, als man dabei ausschliefslich an den
äufseren Zwang zu denken pflegt, den die Staatsgewalt dem
Rechte leiht, und dabei den begrifflich weit wesentlicheren
inneren Zwang der wirthschaftlichen Noth wendigkeit übersieht.
Jener äufsere Zwang ist doch aber erst die Wirkung einer weit vor-
geschrittenen Organisation, welche die Sicherung ihrer Lebens-
bedingungen durch ihre eigenen Organe ihrerseits übernommen hat ;
also nur einem voll entwickelten und ausgereiften Rechtsgebiet
eigen, während der innere Zwang des wirthschaftlichen Bedürf-
nisses jeder Rechtsgestaltung von ihren Uranfängen an inne-
wohnt. Ja, dieser innere Zwang des wirthschaftlichen Bedürfnisses
hat jene den äufseren Zwang ausübende Organisation, die doch auch
ein Rechtsinstitut ist, seinerseits erst allmählich geschaffen. Der
innere wirthschaftliche Zwang verhält sich also zum äufseren staat-
lichen Zwang bei der Gestaltung des Rechts wie die Ursache zur
Wirkung, oder auch — da die staatliche Organisation eine der
Rechtsformen zur Sicherung der gesellschaftlichen Lebensbedin-
gungen ist — wie der Inhalt zur Form. Je entwickelter diese
Organisation ist, desto mehr tritt naturgemäfs in der unmittel-
baren Einwirkung auf das Recht die innere wirthschaftliche Noth-
wendigkeit hinter der äufseren Zwangsgewalt der organisirten
Gemeinschaft zurück; jene bedient sich dieser zur Erreichung
ihrer Zwecke; ihre Wirksamkeit wird aus einer direkten mehr
und mehr eine indirekte. Daher tritt die jem Rechte imma-
nente Abhängigkeit vom Wirtschaftsleben weit deutlicher,
reiner und unmittelbarer in den Anfangsstadien einer Rechts-
entwickelung als in ihrem späteren Reifezustand hervor. Das
innerstaatliche Recht hat heutigen Tages einen solchen Reife-
zustand erreicht; es wird durch Organe des Staates in der Ge-
setzgebung formulirt, in der Rechtsprechung auf den Einzelfall
angewendet, in der Vollstreckung zwangsweise verwirklicht.
Demgemäfs tritt der innere Zwang der wirtschaftlichen Bedürf-
nisse in dieser Sphäre hinter den äufseren Zwang der staatlichen
Organisation zurück; seine Einwirkung ist zwar auch hier un-
zweifelhaft vorhanden, aber sie ist eine mittelbare geworden ; das
wirthschaftliche Bedürfnifs bedient sich zu seiner Geltendmachung
der von ihm hervorgebrachten Organisation. Daher mag hier
leicht über der näheren die entferntere, über der unmittelbaren
die mittelbare wirkende Ursache übersehen werden. 4 ) Dagegen
ist das moderne Völkerrecht in diesen Zustand der Vollreife
zur Zeit nicht eingetreten; das internationale Recht besitzt in der
internationalen Gemeinschaft keine analoge Organisation, wie das
staatliche Recht im Staate. Daher ist die bestimmende Ein-
wirkung der wirtschaftlichen Bedürfnisse auf das Völkerrecht,
noch eine unmittelbare und unverhüllte; jener innere Zwang
der rechtlichen Sicherung der wirtschaftlichen Lebensbedin-
gungen — beim Mangel des äufseren Zwanges einer Organisation
— die einzige und direkt schöpferische Macht. Keineswegs jedoch
wird dadurch der spezifisch rechtliche Charakter des Völkerrechts
irgendwie zweifelhaft; im Gegentheil erscheint die für alles Recht
im letzten Grunde mafsgebende rechtschaffende Kraft des Wirt-
schaftslebens, welche in dem späteren Entwickelungsstadium der
anderen Rechtsgebiete verhüllter und daher schwerer erkennbar
ist, beim Völkerrecht in geradezu paradigmatischer Klarheit und
Reinheit. Ist für die tiefere wissenschaftliche Erfassung des
Rechts überhaupt die Ökonomische Betrachtung notwendig,
kann nur sie die Jurisprudenz vor der Erstarrung zu leerem
Formelkram bewahren, so bedarf das Völkerrecht sofort und
unmittelbar dieser ökonomischen Betrachtung, ist ohne sie
völlig haltlos. Das Völkerrecht wurzelt direkt im Wirt-
schaftsleben. 5 )
Bescheidene Anfänge einer Organisation der internationalen
Gemeinschaft hat unleugbar das Völkerrecht bereits aufzuweisen.
So die internationalen Kommissionen, welche durch ge-
wisse Verträge als Vereinsorgane eingesetzt sind, z. B. die euro-
päische Donaukommission, sowie die internationalen Bureaus und
Generalversammlungen der völkerrechtlichen Verwaltungs-
vercine. Auch die internationalen Schiedsgerichte, die
wiederholt theils im Einzelfall vereinbart, teils generell in Staats-
verträgen vorgesehen sind, mögen — wenn auch nicht eigentlich
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als Ausflüsse — so doch immerhin als Surrogate einer Organi-
sation angesehen werden. Um diese schwachen, aber hoffnungs-
vollen Knospen internationaler Organisation dreht sich nun ein
lebhafter Streit zwischen Vertretern und Leugnern des Völker-
rechts. Während Letztere aus der unleugbaren Schwäche jener
ersten Ansätze einer internationalen Organisation die Berechtigung
ihrer Negirung des internationalen Rechts selbst ableiten, wollen
die Anderen gerade durch das Vorhandensein jener Ansätze die
Existenz des Völkerrechts selbst beweisen. Allerdings beweisen
jene Anfänge einer Organisation, so schwach sie sind, dafs die
gesellschaftlichen Lebensbedingungen eine formale Sicherung
über den Rahmen der staatlichen Organisation hinaus d. h. ein
internationales Recht durchaus erheischen und sich demgemäfs
auch schaffen, während die Schwäche jener Ansätze weiter gar
nichts beweist, als dafs dieses internationale Recht noch nicht
7.u einer analogen Reife wie das staatliche Recht in der Staats-
organisation gelangt ist, was kein Mensch bestreitet. Und wenn
man an diese Anfänge internationaler Organisation einen hoff-
nungsfrohen Ausblick in die Entwickelung der Zukunft knüpft,
so mag man diese stärkende Zuversicht wohl billigen und theilen.
Dennoch ist es höchst bedenklich für die Gegenwart, uni die
es sich doch zuvörderst handelt, den Schwerpunkt bei der Ver-
theidigung des Völkerrechts auf jene doch noch ziemlich em-
bryonischen Bildungen zu legen. Das heifst Wechsel auf die Zu-
kunft diskontiren. In Wahrheit bilden heute jene Anfänge
internationaler Organisation noch die schwächste Seite, durchaus
nicht die Stärke des Völkerrechts. Und man leistet demselben
einen schlechten Dienst, wenn man, wie es in der einschlägigen
Litteratur vielfach geschieht, die Bedeutung des Völkerrechts
lediglich an der Bedeutung jener Anfänge mifst, seine Existenz-
berechtigung lediglich nach der Wirksamkeit von internationalen
Schiedsgerichten u. dgl. m. beurtheilt. Alle derartigen Bildungen
sind überaus erstrebensuerthe und entwickelungsfähige Blüthcn
am Baume des Völkerrechts, aber eben seine Blüthen, nicht seine
Wurzeln noch sein eigentlicher Stamm. Daher kann man sie
nur richtig beurtheilen, wenn man sie als seine vorläufig jüngsten
und folglich noch schwächsten Produkte, aber nicht als sein
eigentliches Wesen erfafst. Die entgegengesetzte Betrachtung
verfährt ebenso unlogisch wie unpraktisch. Unlogisch, denn der
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Apfelbaum ist dies doch nicht deshalb, weil er Aepfel trägt,
sondern er trägt Aepfel, weil er ein Apfelbaum ist. Also nicht
weil es internationale Organisationen zeitigt, ist das Völkerrecht
ein Recht, sondern weil es dies ist, vermag es organisatorisch
zu wirken. Nur so beweist auch die Schwäche jener Organi-
sationskeime nichts gegen das Völkerrecht, denn, um im Bilde
zu bleiben, wenn die Aepfel den Apfelbaum machten, dann wäre
allerdings im ersten Frühjahr der Baum, der erst schwache
Keime treibt, noch kein Apfelbaum. So ist also jene Auffassung
auch unpraktisch für die Vertheidigung des Völkerrechts. Um
so mehr, als gerade im Punkte der internationalen Organisation
das Völkerrecht sich naturgemäfs am langsamsten entwickelt,
weil es hier den gewaltigsten Widerstand zu überwinden hat.
Dieser Widerstand geht aus von der Stärke der modernen staat-
lichen Organisation, welche einer internationalen desto nach-
haltiger widerstrebt, je kräftiger sie selbst ist. Nun beruht aber,
wie wir im Folgenden sehen werden, die Entwicklung des
modernen Völkerrechts gerade auf der kräftig entwickelten mo-
dernen Staatsorganisation, die es um seiner selbst willen gar
nicht beseitigen oder schwächen kann. Daher ist hier die
Entwicklung nothwendig eine unendlich komplizirte und lang-
same. Wenn also Existenz und Bedeutung des Völkerrechts
lediglich auf die völlige Ausbildung internationaler Organisation
angewiesen wäre, dann hätten die Gegner einigermafsen Recht,
die das Völkerrecht als Zukunftsmusik, als ein Konglomerat
frommer Wünsche und idealistischer Schwärmereien ansehen. In
Wahrheit aber erscheint Wesen und Bedeutung des Völkerrechts
am sichersten und klarsten, wenn man sich ohne alle Zukunfts-
schwärmerei nüchtern auf den Boden der Gegenwart, der vor
Augen liegenden Thatsachen stellt, die Dinge sieht, wie sie sind,
und ihre treibende Wurzel erkennt. Dann findet man, dafs das
Völkerrecht seinen Rechtscharakter wie den zu seiner Durch-
setzung nöthigen Zwang nicht erst von einer künftigen Organisation
von aufsen zu erwarten hat, sondern ihn, wie alles Recht in seinen
Anfangsstadien, in sich selbst trägt. Der innere Zwang, die
schöpferische Kraft der wirthschaft liehen Notwendigkeit
waltet eben hier noch unmittelbar ohne Dazwischentreten des
äufseren Zwanges einer festen Organisation. Das Völkerrecht
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ist zur Zeit noch das unmittelbare, aber mit wahrem Rechts-
charakter ausgestattete Produkt des Wirtschaftslebens. °)
Indem man die Bedeutung des immanenten wirtschaftlichen
Zwanges übersieht oder unterschätzt, gleichwohl jedoch das
Zwangsmoment als erforderlich für den Rechtscharakter des
Völkerrechts ansieht, bemüht man sich vielfach, den äufseren
Zwang, der in organisirter Form für das Völkerrecht nun einmal
nicht vorhanden ist, den man aber doch nicht entbehren zu können
glaubt, irgendwie zu ersetzen. So erklärt es sich, dafs die ver-
schiedenen Mittel internationaler Selbsthülfe: Krieg, ^Retorsion
und Repressalien von Manchen als Erscheinungsformen des
internationalen Rechtszwanges, als die Erfüllung des vom Begriffe
des Rechts geforderten Zwanges zur Durchsetzung des Völker-
rechts angesehen werden, d. h. also als völkerrechtliche Surro-
gate des zur Verwirklichung des innerstaatlichen Rechts geübten
organisirten staatlichen Zwanges. Man merkt es dieser gut ge-
meinten, aber schlecht durchdachten Auffassung auf den ersten
Blick an, dafs sie aus der Noth eine Tugend zu machen ver-
sucht, indem sie mit tollkühnem Salto mortale der Logik eine
Lücke durch eine andere ausfüllt, der in der internationalen Ge-
meinschaft leider noch vorhandenen unorganisirten Gewalt kurzer
Hand die Funktionen der ebenda leider noch nicht vorhandenen
organisirten Gewalt zuschreibt. 7 )
Die internationale Selbsthülfe, Retorsion, Repressalien und
ihre umfassendste Betätigung, der Krieg, gehören überhaupt
nur nach der negativen Seite hin ins Völkerrecht, insofern hier
das Recht d. h. die formale Sicherung der gesellschaftlichen
Lebensbedingungen durch Abgrenzung der auf einander treffen-
den Willensmächte noch nicht so weit ausgebildet ist, um jene
Selbsthülfe auszuschliefsen. Alle Normen des Völkerrechts in
dieser Hinsicht haben daher auch gerade die Einengung und
Beschränkung derselben zum eigentlichen Gegenstand. So ist
das sogenannte Kriegsrecht in Wahrheit die Gcsammtheit der
Regeln, welche das Völkerrecht bisher zur Einschränkung der
Kriegführung ausgebildet hat; und in seiner übrigen Anwendung
hat der Krieg eine völkerrechtliche Existenz nur in dem nega-
tiven Sinne, dafs das Völkerrecht ihn nicht beseitigt hat. Das
Gleiche gilt von den partiellen Mitteln der Selbsthülfe : Retorsion
und Repressalien. Freilich, eine völlige Beseitigung jeglicher
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Selbsthülfe erscheint thatsächlich unmöglich, nicht nur im inter-
nationalen, sondern auch im staatlichen Leben. Daher mufs selbst
das dem Völkerrecht gegenüber so viel weiter entwickelte inner-
staatliche Recht unter gewissen Umständen die Selbsthülfe zulassen;
insofern bilden hier scheinbar z. B. Nothwehr und eigenmäch-
tige Pfändung eine Analogie zu Retorsion und Repressa-
lien. Jedoch die äufsere Aehnlichkeit darf nicht über den aus
der Natur der beiden Rechtsgebiete fliefsenden wesentlichen Unter-
schied hinwegtäuschen. Nicht nur sind jene Formen der Selbst-
hülfe im innerstaatlichen Recht in die denkbar engsten Schranken
geprefst und äufserst spezialisirt, sondern vor allem wacht die
organisirte Staatsgewalt über die Art ihrer Anwendung; dieselbe
unterliegt eventuell der Nachprüfung durch die Staatsorgane, die
Gerichte. So ergänzt in der That hier die Selbsthülfe lediglich
die zufällig nicht parate Staatshülfe; der sich selbst schützende
Einzelne handelt gewissermafsen in Vertretung des Schutzmanns;
und so kann hier die von der organisirten Zwangsgewalt kon-
trolirte, an formelle Garantien gebundene Selbsthülfe wohl als
ein aufserordentliches, aushülfsweise zulässiges Zwangsmittel zur
Durchsetzung des Rechts anerkannt werden. Sie ist eben dem
System des organisirten Zwanges untergeordnet und eingefügt.
Hieraus ergiebt sich aber auch sofort, dafs der internationalen
Selbsthülfe durchaus keine analoge Funktion zugeschrieben wer-
den kann. Ein System des organisirten Zwanges, dem sie sich
unterzuordnen und einzufügen hätte, existirt hier nicht; es fehlt
daher an jeder formalen Garantie, dafs die Selbsthülfe der Ver-
wirklichung des Rechts dient; ohne solche Garantie kann aber
von einem Rechtszwang keine Rede sein. 8 ) So scheitert auch
dieser Versuch, dem Völkerrecht einen Apparat äufseren
Zwanges seiner Verwirklichung zu geben; was derjenige ruhig
eingestehen kann, der die charakteristische Eigenart des gegen-
wärtigen Entwickelungsstadiums des Völkerrechts darin sieht,
dafs dasselbe noch unmittelbar unter der Einwirkung des inneren
Zwanges wirtschaftlicher Bedürfnisse steht.
Geht man den Dingen nur ein wenig tiefer nach, so findet
man, dafs internationale Selbsthülfc und internationales Recht
sogar als Acufserungen diametral entgegengesetzter Prinzipien
einander gegenüberstehen. Denn Krieg, Repressalien und Retor-
sion, kurz jede Form der unorganisirten Gewalt sind Ausflüsse
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des Interessengegensatzes, während das internationale Recht
— wie alles Recht überhaupt und demgemäfs auch jede recht-
liche Organisation — Ausflufs der Interessengemeinschaft
ist. Interessengegensatz und Interessengemeinschaft —
das sind die beiden Pole, um die sich das Leben der Mensch-
heit, alles wirthschaftliche, politische, rechtliche Wesen, seit Ur-
anfang dreht und in Ewigkeit drehen wird. Schon im rohesten
Jugendalter der Menschheit mufs es neben aller Unsicherheit des
ewigen Kampfes doch eine Interessengemeinschaft gegeben
haben, da das Individuum niemals völlig isolirt bestehen konnte;
und der Krieg aller gegen alle, von dem die Staatstheorie eines
Hobbes ausgeht, ist deshalb eine unhaltbare Fiktion. Aber
ebenso wenig vermag man sich jemals den Interessengegensatz
völlig aus dem Leben der Menschheit fortzudenken, wofern man
nicht die Phantasie des tausendjährigen Reiches oder die Träume-
reien Rousseau's vom goldenen Zeitalter des Naturzustandes
für lebendige Wirklichkeit hält. Sind demnach beide Prinzipien
gleich ewig, ja gleich unentbehrlich für das Leben der Mensch-
heit, so besteht doch aller Fortschritt ihrer gesellschaftlichen
Kultur im letzten Grunde darin, dafs sich Schritt vor Schritt die
Sphäre der Interessengemeinschaft intensiv und extensiv
ausbreitet und die des Interessengegensatzes zurückdrängt. Sie
kann sie niemals völlig verdrängen; aber die unaufhörlich
wachsende Gemeinschaft der Interessen sowie die steigende Er-
kenntnifs derselben engt nicht nur das Gebiet der Interessen-
gegensätze ein, sondern zwingt sie vor allem, die Lebensbedin-
gungen der Gemeinschaft zu respektiren. Kulturfortschritt heifst
also nichts anderes, als Ausdehnung der Gemeinschaft der Inter-
essen und wachsendes Bewufst werden derselben unter den
Menschen. Dafs diese Interessen wesentlich wirtschaftlicher
Art, wurde früher dargethan ; Produkt und Ausdruck ihrer Ge-
meinschaft ist ihre formale Sicherung durch das Recht. «Ubi
societas, ibijus>, d. h. jede Gemeinschaft der Menschen er-
zeugt sich ihr Recht. Eine Gemeinschaft der Menschen entsteht
und besteht aber mit und durch die Gemeinschaft wirtschaft-
licher Interessen.
Jedes Individuum wird durch die Existenz anderer Individuen
einerseits an der ausschliefslichen und grenzenlosen Verfolgung
seiner wirtschaftlichen Interessen gehindert, — und steht daher
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im Gegensatz zu ihnen. Andererseits bedarf jedes Individuum
zur Fristung seines Daseins der Hülfe anderer, — und steht da-
her in Gemeinschaft mit ihnen. Die Form, in der die feind-
lichen Interessen sich gegen einander geltend machen und
sichern, ist der Krieg, der Kampf zwischen Parteien, die nicht
zu einem höheren Ganzen organisirt sind. Die Form, in der die
Gemeinschaft der Interessen sich geltend macht und sichert,
ist das Recht und auf einer höheren Entwickelungsstufe die
rechtlich organisirte Gewalt, welche die Gemeinschaft über
ihre hadernden Glieder übt. Denn auch in dem durch Inter-
essengemeinschaft verbundenen Kreise ist der Interessengegensatz
nicht ausgerottet, sondern nur zurückgedrängt, den Lebensbedin-
gungen der Gemeinschaft untergeordnet. Ihre Glieder stehen
als solche in Interessengemeinschaft, als Individuen nach wie vor
im Interessengegensatz. Aber die wirthschaftliche Nothwendig-
keit, die dem Einzelnen nur in der Gemeinschaft die Existenz-
mögiichkeit sichert, zwingt den Gegensatz unter das Recht der
Gemeinschaft. Die ursprünglichste, von Natur gegebene Inter-
essengemeinschaft bildet die Familie; sie ist die natürliche und
wirthschaftliche Bedingung jeder Einzelexistenz, und demgemäfs
die Quelle des Rechts und der gesellschaftlichen Organisation
d. h. des Staates. Auf ihrer Grundlage entwickelt sich die Horde,
der Stamm, das Volk. Für deren Glieder beherrscht die Inter-
essengemeinschaft den Interessengegensatz, das Recht den Kampf.
Dagegen kommt nach aufsen nur der Gegensatz zur Geltung;
das normale Verhältnifs zu den fremden Stämmen ist der Krieg,
der Volksfremde ist der Feind und rechtlos.
Je mehr mit steigender Kultur sich die Bedürfnisse des Da-
seins steigern, desto gröfser wird der Kreis, dessen Zusammen-
wirken zur Befriedigung jener Bedürfnisse und damit zur Existenz
des Einzelnen nothwendig ist, und dem entsprechend die Sphäre
der Interessengemeinschaft. Jedoch mit ihrem äufseren und
inneren Wachsthum und der Mannigfaltigkeit ihrer Gestaltungen
kompliziren sich auch die Interessengegensätze, die sie um-
schliefst und zu beherrschen hat. Handelt es sich in dieser Hin-
sicht bei der Familie nur um den Gegensatz der Individuen, so
tritt schon beim Stamm daneben auch noch der Gegensatz der
Familien. Und je reicher das menschliche Gemeinleben wird,
desto zahlreicher werden innerhalb desselben die wirtschaftlichen
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Gegensätze der verschiedenen engeren und weiteren Verbände,
der Stände und Klassen der Geburt wie des Berufs, über
denen allen die allen gemeinsame wirthschaftliche Nothwendig-
keit eine Interessengemeinschaft bildet und ihre formale Siche-
rung im Recht findet. So kommt es, dafs noch während eines
langen Entwickelungsstadiums das auf der Interessengemeinschaft
beruhende Recht mit der auf dem Interessengegensatz beruhen-
den kriegerischen Selbsthülfe zu ringen hat. Der moderne
Staat hat dieses Stadium im Wesentlichen hinter sich; das zur
entwickelten Organisation vorgeschrittene Recht sichert im We-
sentlichen das Uebergewicht der Interessengemeinschaft gegen-
über den in ihr enthaltenen Interessengegensätzen, und nur in
seltenen, äufsersten Fällen brechen diese noch in kriegerische
Selbsthülfe aus: in Revolutionen und Bürgerkriegen. Die mo-
derne internationale Gemeinschaft hat diesen Entwicke-
lungspunkt noch nicht erreicht. Wohl besteht auch schon hier
eine Interessengemeinschaft; auf ihr beruht das Völkerrecht.
Aber in ihr wirken noch die Interessengegensätze stark genug,
um sich daneben in Krieg und anderen' Formen der Selbsthülfe
geltend zu machen. Allerdings mag auch letztere zur wachsen-
den Erkenntnifs der Interessengemeinschaft und damit zur Aus-
bildung des Völkerrechts beitragen, indem sie zeigt, dafs in
solchen Fällen immer der allgemeine Schaden den partiellen
Nutzen unendlich übersteigt. So wirken ja auch Seuchen för-
dernd und anregend auf die Hygiene. Aber so wenig man des-
halb die Seuchen für hygienische Mittel halten wird, so wenig
kann man Krieg, Repressalien u. dgl. für Zwangsmittel des Völker-
rechts halten. Vielmehr ist immer wieder die wirthschaftliche
Interessengemeinschaft der einzige ihm eigene und zwar imma-
nente Zwang.'*)
Wir haben also heute ein internationales Recht, weil wir ein
internationales Wirthschaftsleben haben; die Lebensbedingungen
der heutigen Gesellschaft erheischen zu ihrer materiellen Befrie-
digung die Weltwirthschaft und zu ihrer formalen Sicherung
das Völkerrecht; die unendlich vermehrten Bedürfnisse haben
eine so unendlich erweiterte Interessengemeinschaft geschaffen,
dafs der Krieg nicht mehr das selbstverständliche, dauernde Ver-
hältnifs der Völker zu einander, sondern bereits eine Ausnahme,
eine anormale Eruption des Interessengegensatzes bildet; dafs der
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Staatsfremde nicht mehr ohne Weiteres als Feind und rechtlos,
sondern als Genosse einer internationalen Rechtsgemeinschaft er-
scheint. Ubi societas, ibi jus; sobald eine Interessengemeinschaft
vorhanden ist, formt sie sich ihr Recht. Sobald sie vorhanden
ist; aber auch nur dann, wenn sie da ist.
Blicken wir zurück in die Zeiten, welche der heutigen starken
Organisation der nationalen Interessengemeinschaft zum modernen
Staate vorangegangen sind, so finden wir, dafs noch der Gegen-
satz der sich mannigfach kreuzenden und befehdenden Sonder-
interessen weitaus das herrschende Moment war, d. h. das Fehlen
jeder einheitlichen Volks- und Staats wirthschaft und in Folge
dessen auch eines einheitlichen Staatsrechts. Nicht nur bildeten
die verschiedenen Stände, Bauern und Städte, Ritter und Fürsten,
Geistliche und Laien ebenso viele verschiedene Interessengruppen,
deren jede sich jeder anderen gegenüber lediglich in feindlichem
Gegensatz fühlte, sondern die Zersplitterung ging in Folge der
Enge des wirthschaftlichen Lebens noch weiter, indem sich viel-
fach diese Gruppen noch in kleinere zerspalteten nach lokalem
Zusammenhange. Das sogenannte Fehderecht war der Ausdruck
des durch Selbsthülfe sich geltend machenden Interessengegen-
satzes, des Mangels eines auf umfassenderer Interessengemein-
schaft beruhenden Rechts. Einzig im Lehnswesen bestand ein,
freilich recht loses, Rechtsband im innigen Zusammenhange mit
der wesentlichsten Grundlage des damaligen Wirtschaftslebens,
der Landwirtschaft. Und gerade diese Wirthschaftsstufe und die
ihr entsprechende Natural wirthschaft ermöglichte und forderte
jenes Abschliefsen im kleinsten Kreise. Der Gutshof bildete eine
kleine Welt für sich, wirthschaftlich und deshalb auch politisch.
Er erzeugte im Wesentlichen Alles, was seine Insassen bedurften,
selbst, aber im Wesentlichen auch nur dieses; weder für Absatz
noch Bedarf war er auf den «Markt », den Verkehr mit der
Aufsenwelt erheblich angewiesen. Also war die Interessen-
gemeinschaft mit der Aufsenwelt eine geringe; der wirthschaft-
lichen Isolirung entsprach die rechtlich-politische.
An demselben Punkte, an dem eine Wandlung fieser wirth-
schaftlichen Verhältnisse begann, setzte auch die Veränderung
der rechtlich-politischen ein: hinter den Mauern der Städte.
Hier ward zuerst die Autarkie, die Selbstgenügsamkeit des Einzel-
haushalts von dem volkswirtschaftlichen Prinzip der Arbeits
23
theilung durchbrochen; hier begann der Eine zu produziren, was
er nicht selbst brauchte, und dagegen vom Anderen die Befrie-
digung der Bedürfnisse einzutauschen, welche er nicht durch eigene
Produktion deckte. Der Verkehr, der «Markt» beseitigte die Iso-
lirtheit der Einzelwirthschaft; vor der überwiegenden wirtschaft-
lichen Interessengemeinschaft der Stadtgenossen traten die
Interessengegensätze zurück, und auf dieser Grundlage entwickelte
sich die rechtliche und politische Einheit der Stadt. Stadtwirth-
schaft und Stadtrecht erstanden als Prototypen von Staats-
wirthschaft und Staatsrecht; nicht zufällig nimmt das Wort
«Bürger» von der Stadt seinen Ausgang; die wirthschaftliche und
rechtliche Gemeinschaft des Stadtbürgerthums war die erste Er-
scheinungsform des modernen Staatsbürgerthums. Die Lebens-
bedingungen der städtischen Gesellschaft, die nur durch den Ver-
kehr, die Gemeinschaft erfüllt werden konnten, erheischten die
formale Sicherung dieses Verkehrs; hier tritt das Recht und die
Organisation an die Stelle der Fehde und Selbsthülfe. Der
«ewige Landfrieden» blieb noch lange ein frommer Wunsch,
nachdem der ewige Stadtfrieden bereits eine Thatsache war. 10 )
Der Zusammenschlufs der städtischen Genossenschaft zu einer
wirtschaftlichen und- rechtlich-politischen Gemeinschaft äufserte
sich naturgemäfs zunächst in einer nur um so strengeren Ab-
schliefsung nach aufsen ; das Weichbild sonderte die Oase wirth-
schaftlichen Verkehrs und friedlichen Rechts drinnen von dem
wüsten Chaos draufsen. Und die Stadtwirthschaft wufste diese
Grenze zu Gunsten ihres Säckels auszunutzen so gut und besser,
wie später die Staatswirthschaft ihre Zollgrenzen. Je mehr aber
das wirthschaftliche Leben der umfriedeten Gemeinschaft sich
entwickelte, desto unzulänglicher ward ihm der enge Kreis, der
ihm nicht mehr Absatz aller seiner Produkte, nicht mehr Befrie-
digung aller seiner Bedürfnisse bot. Der Verkehr steigert sich
zum Handel, und damit erweitert sich gewaltig das Gebiet der
Interessengemeinschaft und folglich der rechtlich-politischen Ver-
bindungen. Der «gemeine deutsche Kaufmann» trägt den Handel
und das Recht der Hansa über Länder und Meere; die deutschen
und italienischen Stadtstaaten blühen zu Handelsmächten empor.
Diese Verhältnisse bedingen hier, während das flache Land
noch lange im Stadium der Naturalwirtschaft verharrt und sie
auch dann nur sehr allmählich abstreift, einen verhältnifsmäfsig
24
raschen Uebergang zur Geldwirthschaft. Dadurch erlangen
die finanziellen Verhältnisse einen Einflufs auch auf die interna-
tionale Politik, der uns schon recht modern anmuthet. So er-
zählt Macchiavelli, wie Cosimo von Medici die gegen Florenz
verbündeten Staaten Venedig und Neapel durch umfangreiche
Kreditoperationen aufs Trockene setzte und so durch unblutigen
Kampf zum Frieden zwang. Die Vollendung der Geldwirthschaft
wird ermöglicht durch den gewaltigen Zuflufs von Edelmetallen,
den die Erschliefsung und Ausbeutung der neuen Welt eröffnet.
Und welche Erweiterung die Idee einer Interessengemeinschaft
durch diesen wirtschaftlichen Prozefs erfuhr, das zeigt eine Schrift
Gaspare Scaruffi's aus dem Jahre 1582: «Discorso sopra la
moneta e della vera proporzione dell' 010 e dell' argento». Mit
der Ausbildung der Geldwirthschaft erscheint also schon vor drei
Jahrhunderten die Frage des Bimetallisnius und der Wahn, dafs
es ein « wirkliches >, d. h. von Rechtswegen unveränderliches Werth-
verhältnifs zwischen Gold und Silber geben müsse, zugleich aber
auch die Erkenntnifs, dafs dies nur durch eine auf der internatio-
nalen Interessengemeinschaft beruhende Uebereinkunft zu ver-
wirklichen wäre. Denn ganz folgerichtig fordert Scaruffi die Er-
richtung einer gemeinsamen Münzanstalt für Europa. So ante-
zipirt das aufleuchtende Bewufstsein gemeinschaftlicher Wirth-
schaftsinteressen des zur Geldwirthschaft heranreifenden Europas
eine Forderung, deren Erfüllung höchstens auf Grund des heutigen
Völkerrechts denkbar wäre.
Um Währungsfragen drehten sich in demselben Zeitalter,
durch dieselbe ökonomische Evolution veranlafst, auch in Deutsch-
land die Anfänge einer volkswirtschaftlichen Litteratur. Jedoch
nicht im Sinne des europäischen Gesammtintercsses, sondern des
Interesses der fürstlichen Kammer, des entstehenden Territo-
rialstaates.") Und freilich, durch die harte Schule dieser Bil-
dungsform des wirthschaftlich isolirten und politisch ab-
soluten Staates mufsten die Völker Europas hindurch, ehe sie
auf ihre heutige Stufe gelangen konnten. Der absolute und
isolirte Staat fügte das feudale Chaos der Interessengegensätze
kleinster Gruppen zu einer gröfseren Einheit zusammen, die zu-
erst Stadt und Land vereinigte. Wie fiüher die Stadt, so mufste
jetzt der Staat den Zusammenschlufs im Innern durch den Ab-
schlufs nach Aufsen fördern: wirthschaftlich wie rechtlich-politisch.
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Er brach die Autarkie, die wirtschaftliche und rechtliche Selb-
ständigkeit der Feudalherren, und es ist bemerkenswerth, wie
er unter Anderem eine wirthschaftliche Interessengemeinschaft
zwischen Stadt und Land herzustellen suchte, indem er dieselben
gegenseitig zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse aufeinander an-
wies. Dafs die Stadt der landwirtschaftlichen Produkte des
flachen Landes bedurfte, war natürlich; aber auch umgekehrt
suchte der absolute Staat das Land mit der Stadt dadurch wirt-
schaftlich zu verknüpfen, dafs er gewisse Gewerbe und Hand-
werke, deren das Land bedurfte, nur in der Stadt zu betreiben
erlaubte. Der Verkehr, der «Markt» ward aus einem städtischen
ein staatlicher, in national geeinten Ländern, wie England und
Frankreich, ein nationaler; die staatliche Interessengemein-
schaft drängte die feudalen Interessengegensätze zurück; auf
ihrem Boden erwuchs das staatliche Recht und die Staatsorgani-
sation.
Die entstehende Staatswirthschaft bedarf des Gegensatzes zu
allen weltwirthschaftlichen Tendenzen, wie der entstehende Staat
des Gegensatzes zu allen kosmopolitischen Ideen. Wieder wie
in den Anfängen nationalen Bewufstseins erscheint in diesen An-
fängen des staatlichen Selbstgefühls das Fremde als das Feind-
liche. Mit Nachdruck wird die Interessengemeinschaft auf die
Glieder des isolirten Staates beschränkt, dem Auslande gegen-
über der Interessengegensatz betont. Daher keine wirthschaft-
liche Internationalität und demgemäfs kein internationales Recht.
In Prohibition und Protektion findet die Idee des Merkan-
tilismus ihren Ausdruck, nach der jeder fremde Nutzen eigener
Schaden ist und umgekehrt. Ihre Lehre von der «günstigen
Handelsbilance» ist lediglich ein Ausflufs dieser Anschauung
des nationalen Interessengegensatzes in Verbindung mit einer
Uebcrschätzung des baaren Geldes, die sich aus der verhältnifs-
mäfsigen Neuheit der Geldwirthschaft erklärt. Jede Ausgleichung
der nationalen Interessengegensätze durch Aufsuchung und För-
derung der Gemeinschaft prinzipiell ablehnend, greift diese Rich-
tung vielmehr zum Verbot jeder Einfuhr von Gegenständen, an
deren Absatz das Ausland ein Interesse hat, und jeder Ausfuhr
von solchen, deren Erwerb jenem nützen könnte. Und man läfst
sich dieses Verbot höchstens abkaufen durch hohe Zölle, deren
die junge Staatswirthschaft dringend bedarf. Dem entspricht eine
26
engherzige Kolonial- und Monopolpolitik, die das Ausland ängst-
lich von allen Vortheilen des Scehandels und der Schifffahrt aus-
zuschliefsen sucht. In dieser Hinsicht bildet den monumentalsten
Ausdruck der ganzen Richtung die englische Navigationsakte,
die Crom well 165 1 schuf und das restaurirte Königthum in
seinen ersten Regierungsjahren zu erneuern eilte. Danach war
aufser der gesammten Küstenschifffahrt auch der gesammte über-
seeische Import für englische Schiffe monopolisirt, und selbst aus
europäischen Ländern durften Waaren, aufser auf Schiffen des
Ursprungslandes, nur auf englischen eingeführt werden, wobei
jenen noch ein besonderer Zoll (alien duty) auferlegt war. Ein
schrofferer Ausdruck des internationalen Interessengegensatzes
und demgemäfs des permanenten wirthschaftlichen Kriegszu-
standes läfst sich füglich nicht denken, und man sieht gerade
hier, welche Hindernisse die Entwickelung des modernen Völker-
rechts zu beseitigen hatte.
Jede äufserste Durchführung eines einseitigen Prinzips, so
(ördersam oder gar nothwendig sie zu ihrer Zeit sein mag, trägt
die Keime ihres Umschlags, ihrer Katastrophe im Wortsinne
in sich selbst. So auch dieses Zeitalter des Merkantilismus, der
staatlichen Absperrung und schroffen Interessengegensätze. Jene
englische Navigationsaktc. der Typus damaliger Wirtschafts-
politik, richtete ihre Spitze vor allem gegen Holland; und dieses
Land war in der That die Heimath des entgegengesetzten Prinzips,
praktisch wie theoretisch. Wohl bei keinem anderen Lande
stand jemals die Weltstellung in solchem Mifsverhältnifs zur
Gröfse des Landes und zur Zahl seiner Bewohner, wie bei den
Niederlanden zur Zeit ihrer Blüthe. Das kleine Territorium, das
trotz seiner dichten Bevölkerung doch nur ein relativ kleines
Volk tragen konnte, war die Basis der gröfsten Wirthchafts-
macht der Welt und einer politischen Grofsmacht. Es war
aber auch in der That nur das Hauptkontor und der Stapel-
platz einer die Erde umfassenden Handelsthätigkeit. Colbert, der
grofse Merkantilist, entrüstete sich national, wenn er berechnete,
dafs von den 20000 Schiffen, die den Welthandel besorgten,
etwa 15 — 16000 holländische waren gegenüber 5 — 600 fran-
zösischen. Diesem Handelsvolke mufste sich die Erkenntnifs von
selbst aufdrängen, dafs der Satz: «der Nutzen des Einen ist des
Anderen Schaden» denn doch keine so zweifellose wirthschaft-
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liehe Wahrseit sei, wie die Merkantilisten meinten. Die Holländer
sahen, dafs fremde Völker um des eigenen Nutzens willen mit
ihnen Handel trieben, und dafs auch sie ihrerseits sich gut dabei
standen. So kamen sie zu der Einsicht, «dass bei Kauf und
Verkauf in der Regel beide Kontrahenten gewinnen», dafs der
freie Handel von Volk zu Volk in Wahrheit Allen zu Gute
komme; so lehren sie den Segen der freien Konkurrenz, der
«äya&ri tgtg», und fordern, dafs man durch Handelsverträge eine
gegenseitige Freiheit der Schifffahrt, des Handels und der
Häfen sichere. 12 ) Diesem Volke, dessen Wohlstand und Gröfse
auf dem Weltverkehr beruht, geht zuerst die Erkenntnifs einer
internationalen wirthschaftlichen Interessengemeinschaft auf, und :
«ubi societas, ibi jus», hier ersteht der Vater des Völkerrechts,
Hugo de Groot.
Hugo Grotius zeigte sich als guter Holländer, wenn er
im Interesse der seinem Vaterlande naturnothwendigen Frei-
handelspolitik das engherzige Absperrungssystem der kon-
kurrirenden Seemächte, besonders Portugals, durch seine Lehre
vom mare liberum, der internationalen Freiheit des Seehandels,
bekämpfte. Aber er gab dieser ganzen Richtung eine breite
theoretische Grundlage, indem er die Disziplin des jus natura e
et gentium begründete, die, von seinen wissenschaftlichen
Schülern und Nachfolgern ausgebaut, durch zwei Jahrhunderte
das politische Denken beherrschte. Hatte diese Anschauung
ihre ersten Wurzeln in den wirthschaftlichen Lebensbedingungen
eines Wclthandelsvolks, so erweiterte sich das Natur- und
Völkerrecht zu einer geistigen Reaktion wider das ganze System
des wirtschaftlich isolirten und politisch absoluten Staates.
Gegenüber der engherzigen Betonung der staatlichen Interessen-
gegensätze geht man zurück auf die natürliche Gemeinschaft des
Menschengeschlechts; gegenüber der Allmacht des absoluten
Staatswillens sucht man den tieferen Grund für Recht und Staat
in der Menschennatur. Aus ihr fliefst alles Recht; ihr appetitus
societatis, ihr Geselligkeitstrieb läfst durch die Willenseinigung
der Einzelnen, durch Vertrag den Staat erst entstehen. Daher
ist dieses Recht im letzten Grunde unabhängig von der Existenz
der einzelnen, konkreten Staatsgewalt, die von ihm durch die
Staatsgrundverträge erst geschaffen worden; es ist ein Natur-
recht. Und eben deshalb ist es nicht gebunden an die engen
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Grenzen des einzelnen Staates, da es von Natur allen Menschen
gemeinsam ist; es ist ein Völkerrecht. Jean Jacques Rousseau
ist der politisch radikalste Vertreter dieser Richtung, aber auch
der für ihre Propaganda wirksamste. Seine leidenschaftsheifse
Schwärmerei für die Glückseligkeit des Naturzustandes erobert
die Herzen aller Kulturmenschen, obwohl er gerade diese Kultur
verdammt als die Quelle aller Uebel. p ) Und auch in der Be-
trachtung des Wirthschaftslebens findet diese Richtung ihren
Ausdruck in der Physiokratie, der Lehre von der «Constitution
naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain».
Wohl liegt in alledem ein tief berechtigter Protest des
menschlichen Gemeingefuhls gegen das Prinzip der Abschliefsung
und des unaufhörlichen Kampfes; aber, wie so oft, ward dabei
ein Extrem an die Stelle des anderen gesetzt und — les extremes
se touchent! Ein vager Kosmopolitismus verkannte die wahren
Grundlagen alles Gemeinlebens, also auch des internationalen,
die stufenweis aufsteigende Organisation; und eine unwahre
Naturschwärmerei verleugnete die einzige Macht, welche das
Bestehende zu bessern und umzugestalten vermochte, die uner-
schöpfte Triebkraft der Kultur; in ihrer Verwerfung, also im
krassesten Rückschritt redete man sich ein den Fortschritt zu
sehen. So kam man denn auch glücklich entweder beim Despo-
tismus der russischen Katharina als Staatsideal an oder bei den
primitiven kleinen Bauerngemeinden als einzigen Unterabtheilungen
der Menschheit. Aber durch alle Wahngebilde hindurch kam
doch das allgemeine Empfinden zum Ausdruck, dafs das Alte
sich überlebt habe, die so ängstlich gehüteten Grenzen zu eng
geworden, eine erweiterte Interessengemeinschaft Leben und
Form zu gewinnen suche, wirthschaftlich und politisch. Der
isolirte Staat genügte so wenig mehr den wirtschaftlichen An-
forderungen, wie der absolute Staat den rechtlichen. Aber hier
wie dort zunächst noch unklare Gährung. Nur ein Land Europas
war den übrigen weit voraus in wirtschaftlicher Entwickclung
wie in der Gestaltung seines öffentlichen Rechts; hier in England
umnebeln daher weit weniger gestaltlose Schwärmereien die
nüchtern praktische Erkenntnifs der sich geltend machenden
Interessengemeinschaft der Nationen, und so entwirft hier Adam
Smith sein klassisches System einer Volkswirtschaft im leben -
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2 9
digen Zusammenhange der internationalen Gemeinschaft, der
Weltwirtschaft.
Der Sturm der grofsen Revolution fegte auf dem Kontinent
vieles fort von den morschen Resten, welche den Neubildungen
einer veränderten Zeit gegenüberstanden. Aber wirtschaftlich
wie rechtlich - politisch wirkte sie vornehmlich negativ, mehr
durch Beseitigung der Hindernisse als durch dauernde positive
Gestaltungen. Auch ihr grofser Sohn und Erbe Napoleon
rüttelte wohl durch seine Eroberungspolitik die Staaten und
Völker gewaltig auf und durcheinander ; jedoch ein dauernder
Fortschritt internationaler Gemeinschaft lag nicht auf dem Wege
dieser kriegerischen Expansion, die schliefslich doch nur auf
eine Universal-Militärdiktatur hinauslaufen konnte. Sie war kein
Ausdruck internationaler Interessengemeinschaft, sondern die
gewaltsame Unterjochung fremder nationaler Kräfte unter die
Sonderinteressen Frankreichs und seines Imperators. Immerhin
darf aber auch die grofse negative Wirksamkeit dieser Epoche
nicht verkannt werden; sie hat auf vielen Gebieten die Träg-
heitskraft der Stagnation gebrochen und veraltete Bildungen, die
nicht leben, nicht sterben konnten, endgültig über den Haufen
geworfen. Ja, es ist ihr — freilich negatives — Verdienst, dafs
durch den gemeinsamen Gegensatz gegen sie die Erkenntnifs
einer Solidarität der Staaten und Völker zum Durchbruch kam.
Deren Ausdruck war, nachdem sich die Hochfluth verlaufen, der
grofse, gesammteuropäische Wiener Kon grefs; er bezeichnet
den Beginn einer neuen Aera des modernen Völker-
rechts. Wohl mag man in der Politik unter gar manchen Ge-
sichtspunkten nur mit sehr gemischten Gefühlen an den Wiener
Kongrefs denken, und zahllose Flüche der nach Einheit und
Freiheit ringenden Völker haben sich an seinen Namen geheftet ;
auch hat er zweifellos vielfach höchst verfehlte Wege eingeschlagen
und ist zu verwerflichen Zwecken mifsbraucht worden. Jedoch
bei alledem darf man seine eminente Bedeutung für die Ent-
wickelung der europäischen Staatengesellschaft nicht unter-
schätzen. In ihm kommt zum ersten Male das Ueberwiegen
einer gesammteuropäischen Interessengemeinschaft gegenüber
der staatlichen Isolirung zu monumentaler und un vertilgbarer
Erscheinung. Die Zusammensetzung und Gestaltung aller ein-
zelnen Staaten erscheint hier als eine Frage nicht der Einzel-
3°
interessen, sondern des solidarischen Interesses aller; über allen
Reichen und Staaten ersteht zuerst hier der Gesammtbegriff
Europa. So schwere und verhängnifsvolle Mifsgrifle dabei be-
gangen worden, die zu Grunde liegende Idee verliert dadurch
nichts von ihrer bahnbrechenden Bedeutung. Und wieder war
die wirthschaftliche Nothwendigkeit bei alledem die treibende
und zwingende Kraft. «Ruhe um jeden Preis», im Innern wie
nach aufsen, dieses einzige Prinzip der ganzen späteren Politik
Metternich 's und der heiligen Alliance, welches als solches
durch die Art seiner Verfolgung den nur allzu berechtigten Hafs
Unzähliger erregt hat; dieses Streben nach Herstellung der Ruhe
um jeden Preis war doch auch das Leitmotiv aller Arbeit des Wiener
Kongresses, das bestimmende Moment all' seiner Staats- und
völkerrechtlichen Festsetzungen; und es war das unabweisliche
Postulat wirthschaftlicher Nothwendigkeit. Nach 25 Jahren un-
aufhörlicher Unruhen und Kriege bedurfte das Wirthschaftsleben
aller Völker Europas in der That der Ruhe und des Friedens,
um alle Kraft der ökonomischen Wiederherstellung und Fort-
bildung widmen zu können. Das war der Krystallisationskern
einer internationalen Interessengemeinschaft, die bis zu
einem gewissen Grade die Interessengegensätze zurückdrängte;
auf dieser Grundlage erwuchs naturgemäfs die intensivere Aus-
gestaltung des internationalen Rechts. Gerade diejenigen
völkerrechtlichen Anregungen des Wiener Kongresses, welche
am unmittelbarsten mit solchen wirthschaftlichen Gemeininteressen
zusammenhängen, wie die Anbahnung freier Binnenschiffahrt u. dgl.
haben sich auch als die fruchtbarsten und dauerndsten erwiesen.
Im übrigen beging er in der Wahl der Mittel zu seinem Ziel
manche verderblichen Mifsgriffe, was sich denn auch durch ge-
waltsame Reaktionen rächte; dafs abertrotz aller Durchbrechungen
jenes politische System im wesentlichen ein volles Menschen-
alter hindurch die Herrschaft bewahren konnte, erklärt sich durch
die wirthschaftliche Nothwendigkeit seines Grundprinzips der
Ruhe.
Gewaltig hat sich in dieser Zeit das wirthschaftliche Leben
entfaltet; unendlich gesteigert haben sich die Bedürfnisse wie
die Mittel ihrer Befriedigung. Es giebt ein charakteristisches —
freilich auch das glänzendste — Bild davon, w r enn wir sehen,
dafs in dem wirthschaftlich führenden Lande, in England, in der
Uigitize
3i
Zeit von 1815 — 1849 sich die Bevölkerung um 47%, zugleich
aber auch der Werth der Ausfuhr um 63 %, der des unbeweg-
lichen Vermögens um 78^, der des beweglichen vollends um
93 % gesteigert hatte. Fast jedes Jahrzehnt unseres Jahrhunderts
schafft neue Mittel oder Wege der Produktion wie des Verkehrs,
und damit fortschreitende Erweiterung der wirthschaftlichen In-
teressengemeinschaft aller Nationen. Mögen auch noch immer
wieder die Interessengegensätze von Zeit zu Zeit hervorbrechen,
die gewaltigen Faktoren der Gemeinschaft können sie nicht mehr
beseitigen. Ueber den Staatswirthschaften wölbt sich unzerstörbar
die Weltwirthschaft, und diese ist es, deren Lebensbedingungen
mit zwingender Kraft sich ein Völkerrecht schaffen von weit
realerer Bedeutung als die Postulate des alten jus naturae et
gentium, dem im Zeitalter der isolirten Staaten eben noch keine
entwickelte Weltwirthschaft entsprach. Heute, da die wirth-
schaftlichen Lebensbedingungen der Gesellschaft in zahllosen
Punkten international-gemeinsame sind, da z. B. von dem Ausfall
der Ernte in Indien oder Amerika die Preisbildung in ganz
Europa beeinflufst, von einem Krach in Argentinien die Finanz-
lage der ganzen Erde mehr oder weniger in Mitleidenschaft ge-
zogen wird, heute kann die formale Sicherung jener Lebens-
bedingungen durch das Recht unmöglich an den Staatsgrenzen
völlig Halt machen. Wie der städtische Markt als Mittelpunkt
der Stadtwirthschaft ein Stadtrecht, der staatliche Markt als
Mittelpunkt der Staatswirthschaft ein staatliches Recht erzeugt
hatte, so erzeugt der Weltmarkt als Mittelpunkt der internatio-
nalen Wirthschaft ein internationales Recht, das Völkerrecht.
Dieser real-praktische Nährboden des heutigen Völkerrechts
bewahrt es zugleich vor den kosmopolitischen Phantastereien
und Verschwommenheiten, in welche das alte Naturrecht zur
Zeit wirtschaftlicher und politischer Unreife so leicht verfiel.
Weltwirthschaft bedeutet keine Negation der einzelnen Staats-
und Volkswirtschaft, sondern lediglich die Zusammenfassung
des Gemeinsamen, unterhalb dessen noch Raum genug für das
Besondere bleibt; die wirthschaftliche Interessengemeinschaft
kann und will die Interessengegensätze nicht fortwischen, sondern
nur eindämmen. Und ebenso sieht das heutige Völkerrecht seine
Aufgabe nicht in der Atomisirung der Menschheit; keineswegs
ist es sein Ideal, den gewaltigen Fortschritt menschlicher Ver-
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gesellschaftung, der sich in der starken Organisation der modernen
Staaten ausspricht, irgendwie rückgängig zu machen oder zu
schwächen. Vielmehr erkennen wir in dieser Staatsorganisation
die feste und unentbehrliche Grundlage, die naturnothwendige
organische Gliederung der internationalen Gemeinschaft und
damit die condicio sine qua non des Völkerrechts. Dieses er-
fafst die Menschen nicht als eine unorganisirte, unterschiedslose
Masse von Atomen, von Individuen, sondern in ihrer staatlichen
Organisation und Verschiedenheit. Es baut sich gerade auf der
Voraussetzung dieser zur Zeit höchsten Organisationen der mensch-
lichen Gemeinschaft auf ; es ist die rechtliche Form zur Sicherung
derjenigen Lebensbedingungen der staatlich organisirten Gesell-
schaft, welche zu ihrer materiellen Befriedigung der Weltwirth-
schaft bedürfen.
Als Quellen des heutigen Völkerrechts werden von der
Wissenschaft gemeinhin Herkommen und Vertrag bezeichnet. 14 )
Jedoch wird gegen die Anerkennung des letzteren vielfach einge-
wendet, dafs der Vertrag als Rechtsgeschäft die Existenz des
Rechts selbst bereits voraussetze, also füglich nicht Quelle des
Rechts sein könne. Es ist dasselbe Argument, welches der
Lehre des alten Naturrrechts vom Staatsgrundvertrage entgegen-
steht. Gewifs, das Recht selbst kann niemals durch einen Ver-
trag aus dem Nichts geschaffen werden, denn dieser Vertrag selbst
schöpft seine bindende Kraft zunächst — d. h. beim Mangel jeder
Organisation des äufseren Zwanges — lediglich aus der Inter-
essengemeinschaft; und deren innerlich wirkender Zwang ist
im letzten Grunde der einzige Schöpfer alles Rechts. Ubi so-
cietas, ibi jus; die Interessengemeinschaft ist die erste Quelle des
Rechts. Das ist früher ausführlich erörtert worden. Aber die
primitivste und natürlichste Art der Formulirung, der konkreten
Festsetzung, der Positivirung dieses durch die Gemeinschaft
entstehenden und in ihr lebenden Rechts ist allerdings der
Vertrag. Und er ist die einzige Form der ausdrücklichen
Satzung des Rechts, solange die Gemeinschaft noch nicht bis
zur Organisirung einer gesetzgebenden Gewalt fortgeschritten
ist. Eine Abgrenzung der VVillensmacht der Personen, d. h. ein
Recht wird durch die Gemeinschaft zur formalen Sicherung ihrer
Lebensbedingungen erzeugt ; bevor jedoch jene Abgrenzung durch
eine höhere, organisirte Einheit in der Form des Gesetzes im
33
einzelnen vorgenommen wird, bietet sich als natürliche Form der
ausdrücklichen gegenseitigen Abgrenzung die durch die innere,
wirtschaftliche Nothwendigkeit erzwungene Willenseinigung, d. h.
der Vertrag. Insoweit liegt auch den Lehren des alten Natur-
rechts von den Gesellschaftsverträgen ein richtiges Gefühl zu
Grunde, wenn es auch in der Einzelausführung übertrieben und
verzerrt worden. So erscheinen auch Anfänge des staatlichen
Rechts meist in die Vertragsform gekleidet, wie all' die zahl-
losen «Einungen» und der berühmteste derartiger Akte: die
englische Magna Charta, in der man den Grundstein kon-
stitutionellen Staatsrechts zu sehen pflegt. Noch heute wirkt
ein Nachklang solcher Anschauung im Staatsrecht fort, wenn
die Vereidigung auf die Verfassung gleichsam als feierlichste Be-
kräftigung eines Vertrages zwischen Fürst und Volk gefordert
wird. Das Völkerrecht nun befindet sich noch völlig in jenem
Stadium, dem die Organisation einer gesetzgebenden Gewalt
mangelt; die Form seiner Positivirung durch Gesetze, welche
von einer höheren, über den einzelnen Staaten stehenden Einheit
erlassen würden, ist also ausgeschlossen, und daher ist der inter-
nationale Vertrag die einzige Form seiner ausdrücklichen
Satzung. Freilich nicht seine eigentliche Quelle; diese ist viel-
mehr die wirtschaftliche Interessengemeinschaft der Völker und
Staaten, die eine formale Sicherung durch Abgrenzung ihrer
Willensmächtc erheischt und schafft. Ihre ausdrückliche Fest-
setzung kann aber diese Abgrenzung nur erhalten durch die
Willenseinigung der ihrer wirthschaftlichen und demgemäfs
auch rechtlichen Gemeinschaft bewirfst gewordenen Staaten, d. h.
durch den Staats vertrag. Entsprechend dem jugendlichen
Entwickelungsstadium des Völkerrechts sind also die inter-
nationalen Staatsverträge wesentliche Erscheinungsformen des-
selben.' 5 )
Daneben giebt es ein weites und wichtiges Gebiet völker-
rechtlicher Normen, welche nicht in Verträgen ausdrücklich fixirt
sind, und einer solchen Festsetzung vielfach gar nicht mehr be-
dürfen. Hier zeigt sich völlig unmittelbar die rechtschaffende
Wirksamkeit der wirthschaftlichen Interessengemeinschaft. Was
man gemeinhin unter den Begriff des internationalen Herkom-
mens zusammenfafst, vor Allem gewisse Normen und Formen
des Staatenverkehrs u. dgl. m., gehört allerdings auch in diese
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Kategorie, erschöpft ihren Inhalt aber keineswegs, und fuhrt da-
her leicht zu einer Unterschätzung dieser bedeutungsvollen Er-
scheinungen. Ist das Völkerrecht — nach meiner obigen For-
tführung — die rechtliche Form zur Sicherung derjenigen
Lebensbedingungen der staatlich organisirten Gesellschaft, welche
zu ihrer materiellen Befriedigung der Weltwirthschaft bedürfen,
so ergeben sich daraus alle Konsequenzen, welche überhaupt
aus einem Verhältnisse fliefsen, wonach der Einzelne durch die
zwingende Kraft seiner eigenen Interessen auf die Zugehörigkeit
zu einer gröfseren Gemeinschaft angewiesen ist. Da entwickelt
sich neben dem ausdrücklich formulirten Recht ein stillschweigend
anerkanntes, dessen Kern die bindende Wirksamkeit von Treu
und Glauben bildet. Im kaufmännischen Verkehr, an den
Börsen im Besonderen hat das blofse Wort eine rechtliche Binde-
kraft, üben Treu und Glauben einen wirklichen Rechtszwang aus,
wie man es aufserhalb jener Gemeinschaft nicht kennt. Das be-
ruht nicht auf einem ausnahmsweisen moralischen Feingefühl
jener Kreise, sondern auf dem zwingenden wirthschaftlichen Be-
dürfnifs, welches die Befriedigung der Einzelinteressen nur inner-
halb der Gemeinschaft ermöglicht und folglich die Respektirung
von Treu und Glauben als Sicherung der Interessengemeinschaft
ohne Weiteres erzwingt. Ganz analog verhält sich die Sache in
der internationalen Staatengemeinschaft. Je mehr mit den stei-
genden Bedürfnissen jeder einzelne Staat zur Befriedigung der
Lebensbedingungen seiner Gesellschaft auf den Weltverkehr an-
gewiesen ist, und je stärker demgemäfs das Bewufstsein inter-
nationaler Interessengemeinschaft wird, desto unentbehrlicher ist
für die Interessen jedes Staates seine Zugehörigkeit zur inter-
nationalen Gemeinschaft, und desto zwingender wirkt für ihn die
Respektirung von Treu und Glauben, auf welcher jene Gemein-
schaft beruht. Hierin liegt vor Allem der innerliche, wirtschaft-
liche Zwang, der — in Ermangelung eines äufseren organisirten
Zwanges — die Rechtskraft der internationalen Staatsverträge
garantirt. Der sogenannte moralische Einflufs der internationalen
öffentlichen Meinung geht ja in Wahrheit schliefslich auch nur
auf diesen Zwang der in eigenem Interesse notwendigen Unter-
ordnung unter die Interessengemeinschaft zurück. Im Besonderen
ist es ein Punkt, in welchem die moderne Staatswirthschaft ganz
ebenso auf die Weltwirthschaft angewiesen ist, wie der Kauf-
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mann auf die Gemeinschaft seiner Genossen : der dem modernen
Staate unentbehrliche internationale Kredit; dieser wurzelt
aber durchaus, wie schon das Wort andeutet, in Treu und Glauben
der Gemeinschaft. Und die moderne Gestaltung des Staats-
kredits, welche die Befriedigung desselben mit dem internatio-
nalen Handel und seinen Centralen, Börsen und Banken, ver-
bindet, läfst diese als ungemein wirksame Garanten der inter-
nationalen Interessengemeinschaft und des daraus fliefsenden
Völkerrechts erscheinen.
Diese Wirksamkeit erschöpft sich nun keineswegs in dem
innerlichen, wirtschaftlichen Zwang zur Respektirung des in den
Staatsverträgen ausdrücklich fixirten internationalen Rechts, son-
dern erzeugt unmittelbar Normen, welche mit gleichem Zwang
als positives Völkerrecht wirken, ohne dafs sie in Verträgen aus-
drücklich stipulirt sind. Ein Beispiel möge dies veranschaulichen,
welches ganz direkt mit den eben berührten Verhältnissen zu-
sammenhängt und zugleich an früher Erörtertes anknüpft. Wir
haben oben die Beziehungen zwischen der entstehenden Staats-
wirthschaft und dem Uebergange von der Natural- zur Geldwirth-
schaft erwähnt, sowie die Thatsache, dafs die Münzfrage einer
der am frühesten behandelten Gegenstände der nationalökonomi-
schen Litteratur war. Der ausschlaggebende Gesichtspunkt war
im Zeitalter des isolirten Staates naturgemäfs das Sonderinteresse
des einzelnen Staates und der Interessengegensatz zum Auslande.
Und wenn es auch schon damals nicht an Stimmen fehlte, welche
die Unterordnung unter die Interessengemeinschaft, d. h. eine
korrekte und ehrliche Münzpolitik als beste Förderung auch des
eigenen Interesses empfahlen, so fehlte denselben doch der Rück-
halt an dem Zwange der noch unentwickelten Weltwirthschaft.
Daher benutzte der absolute und isolirte Staat ziemlich bis zu
seinem seligen Ende als überaus beliebtes Mittel zur Abhülfe in
finanziellen Nöthen die Münzverschlechterung. Das edle
Handwerk des Wippens und Kippens galt als nutzbares Staats-
regal. Moralisch betrachtet hielt man dies freilich schon damals
nicht für ubermäfsig anständig; aber über solche Skrupel setzt
sich ja in der Noth die Politik stets hinweg: salus reipublicae
suprema lex esto! Und dafs man damit dem Sonderinteresse
des nothleidenden Staates wirklich nütze, konnte man bei dem
noch unentwickelten Zustande der Weltwirthschaft und des inter-
36
nationalen Kredits wähnen. So lag in der Münzverschlechterung
seitens des Staates noch keine Rechtswidrigkeit; denn nicht das
moralische Empfinden, sondern die wirthschaftliche Nothwendig-
keit giebt dem Recht seine Kraft. Es ist charakteristisch, wie
noch Friedrich derGrofsein der Finanzklemme des sieben-
jährigen Krieges sich zu helfen suchte, indem er minderwerthiges
Geld prägte, und zwar, wie es ausdrücklich heifst, «heimlich»
und «für das Ausland ). Darin kommt ganz, naiv die Idee des
Interessengegensatzes und die Kindlichkeit des internationalen
Verkehrs zum Ausdruck. Noch im Anfang unseres Jahrhunderts
griff der preufsische Staat in Folge der Kriegsnoth zu demselben
Mittel; es kursirten damals für 18 Millionen Thaler schlechte
Groschen, und zwar sehr schlechte, da man aus einer Mark fein
Silber statt für i3 2 / 3 Thaler für volle 21 Thaler ausgeprägt hatte.
Aber schon damals zeigte es sich, welche Bewandnifs es mit
der «Heimlichkeit» und der Abstofsung in das «Ausland» eigent-
lich hatte. Trotz der Heimlichkeit nahm das Ausland die Münze
nicht auf, und die geheimen leichten Groschen flössen unauf-
haltsam nach Preufsen zurück oder blieben mit rührender An-
hänglichkeit im Lande, wo sie es den Leuten wahrlich nicht
leichter machten, sich redlich zu nähren. Es zeigte sich also
bereits die wirthschaftliche Unmöglichkeit, in solcher Weise das
Sonderinteresse auf Kosten der Interessengemeinschaft zu fördern.
Die Entwickelung der Weltwirthschaft und des internationalen
Kredits hat heut zu Tage jene Unmöglichkeit noch wesentlich
gesteigert, und auch hier zur Sicherung dieser Lebensbedingungen
der Staaten und Völker die Rechtsform erzeugt. Unbedenklich
darf man es als Rechtssatz des heutigen Völkerrechts
aussprechen, dafs jedes Staatsglied der internationalen Gemein-
schaft verpflichtet ist, den von ihm geprägten Münzen den-
jenigen Gehalt wirklich zu geben, welchen seine Münzordnung
bekannt giebt, und dafs eine «heimliche» Münzverschlechterung
durch den Staat genau ebenso rechtswidrig wäre, wie Falsch-
münzerei durch Private. Das ist eine völkerrechtliche Norm,
auch wenn es durch keinen Vertrag ausdrücklich stipulirt wird.
Und wenn die Falschmünzerei der Einzelnen als Verstofs gegen
das innerstaatliche Recht durch den äufseren Zwang der Staats-
gewalt geahndet wird, so findet gegen staatliche Münzverschlech-
terung als Verstofs gegen das internationale Recht der innere
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Zwang der weltwirtschaftlichen Interessengemeinschaft fast noch
wirkungsvoller statt, indem durch Zerrüttung seines Kredits und
Zurückstofsung des coq)us delicti der widerrechtlich handelnde
Staat mehr als den von ihm angestifteten Schaden zu leiden hat.
Nicht ohne inneren Zusammenhang hiermit und ein Ausflufs der
gleichen Triebkraft ist es, wenn heute Staaten, deren Währungs-
verhältnisse von früher her unter Unklarheit und Unsicherheit
leiden, die sogenannte Valutaregulirung als wirthschaftliche Not-
wendigkeit im eigenen Interesse und als Glieder der internatio-
nalen Gemeinschaft empfinden.
Um alle wirtschaftlichen Bedürfnisse der heutigen Gesell-
schaft zu befriedigen, bedarf man des Weltmarkts, des interna-
tionalen Verkehrs; und die elementarste Voraussetzung desselben
ist die Möglichkeit des persönlichen Verkehrs im Auslande,
üemgemäfs ist die formale, rechtliche Sicherung von Person
und Eigenthum der eigenen Angehörigen im Auslande eine der-
jenigen Lebensbedingungen der staatlich organisirten Gesellschaft,
welche diese Staatsorganisation zunächst nicht durch sich, im
Wege des innerstaatlichen Rechts befriedigen kann, deren Siche-
rung vielmehr Aufgabe des Völkerrechts ist, das seine Fähig-
keit hierzu aus der internationalen Gemeinsamkeit dieses wirt-
schaftlichen Interesses schöpft. Solange diese Interessengemein-
schaft nicht zum Bewufstsein gekommen war, gab es dafür auch
keine völkerrechtliche Sicherung; prinzipiell war der Fremde ein
Feind und daher rechtlos. Ganz naturgemäfs konnte zunächst
die Durchbrechung dieses Prinzips nur im Wege ausdrücklicher
Satzung, d. h durch Verträge geschehen. Der Enge des Pro-
hibitivsystems, des isolirten Staates mufste jede derartige Erwei-
terung mühsam abgerungen werden. Iiier wie noch heute bei
halbcivilisirten oder wilden Völkern spricht gewissermafsen die
Präsumtion für die Rechtlosigkeit des Fremden, und nur soweit
ausdrückliche Bestimmungen der Verträge entgegenstehen, weicht
jenes Prinzip dem des Rechts. Je mehr jedoch die internationale
Interessengemeinschaft erstarkt und die entsprechende Gemein-
samkeit der Kultur nivellirend wirkt, desto mehr können die Ver- *
träge entlastet werden von solchen Bestimmungen, die heute
auch ohne ausdrückliche Festsetzung internationales Recht sind.
Man vergleiche die heutigen Verträge zwischen civilisirten Staaten
mit denen der Merkantilzeit oder mit den noch heute zwischen
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jenen und halbcivilisirten Staaten geschlossenen, und man wird
eine Menge von Bestimmungen in den letzteren finden, die in
den ersteren fehlen, und deren Verletzung dennoch unzweifelhaft
auch hier als völkerrechtswidrig angesehen wird. Die elemen-
tarsten Voraussetzungen internationalen Verkehrs mufsten einst
ausdrücklich stipulirt werden; man denke z. B. an die freie Re-
ligionsübung sogar der Gesandten oder an die Garantien für die
Rechtssicherheit von Person und Eigenthum, welche in den so-
genannten Kapitulationen mit orientalischen Staaten vorge-
sehen sind. Es ist begreiflich, dafs dabei vielfach mehr der In-
teressengegensatz als die Solidarität zum Ausdruck kam, wie dies
als charakteristisches Beispiel noch der Vertrag von Turkman-
tschay zwischen Rufsland und Persien vom Jahre 1828 zeigt,
welcher u. A. bestimmte, dafs bei Fallissements von Persern die
Forderungen russischer Unterthanen vor allen anderen liquidirt
und voll ausbezahlt werden müfsten. Heute hat wenigstens
zwischen den civilisirten Staaten die Solidarität wirthschaftlicher
Interessen auch eine internationale Rechtsgemeinschaft erzeugt,
welche solche Stipulationen als überflüssig beseitigt. Wir sehen
also auch hier wieder eine Reihe internationaler Rechtsnormen,
welche unabhängig neben dem Vertragsrecht stehen und wirken.
Zum grofsen Theil haben diese Rechtsnormen Anerkennung
in der autonomen Gesetzgebung der einzelnen Staaten gefunden,
und insoweit rechnet man sie technisch meist gar nicht zum
Völkerrecht, indem man die staatliche Gesetzgebung als ihre
Quelle, jene Normen lediglich als Ausflufs des innerstaatlichen
Rechts ansieht. Und doch liegt gerade hierin ein glänzender
Triumph des Völkerrechts, welches die Stärke der staatlichen
Organisationen und ihrer autonomen Gesetzgebung durch den
immanenten Zwang der internationalen Interessengemeinschaft
sich dienstbar macht. Die Quelle jener Rechtsnormen ist die
staatliche Gesetzgebung in keinem anderen Sinne, als es für an-
dere Normen der internationale Vertrag sein soll. Das heifst
also: sie ist ebenso wie dieser nur ein Mittel zur Positivirung
des Rechts, dessen eigentliche Quelle und schaffende Triebkraft
die internationale Interessengemeinschaft, das Bedürfnifs des welt-
wirtschaftlichen Verkehrs ist. Indem und weil sich der Staat
als Glied der internationalen Gemeinschaft fühlt und erkennt, er-
kennt er jene völkerrechtlichen Normen auch durch seine Gesetz-
39
gebung ausdrücklich an. Wohl werden sie dadurch zugleich
dem innerstaatlichen Recht einverleibt, ohne jedoch andererseits
ihren völkerrechtlichen Charakter abzustreifen. Denn als ein-
seitige Mafsregeln des isolirten Staates können sie weder gedacht
noch verstanden werden, vielmehr nur als Ausflüsse der die
Staaten verbindenden Interessengemeinschaft zum Zwecke ihrer
formalen Sicherung, d. h. als Völkerrecht.
Dem entspricht es vollkommen, dafs vorerst die Anerkennung
solcher internationaler Rechtsnormen durch die staatliche Gesetz-
gebung abhängig gemacht ward von der durch internationalen
Vertrag zugesicherten Reci pro ci tat. Je inniger sich jedoch die
internationale Interessengemeinschaft mit der gesteigerten Inten-
sität des weltwirthschaftlichen Verkehrs gestalltet hat, um so mehr
kann von der ausdrücklichen Stipulirung der Gegenseitigkeit ab-
gesehen werden, da sich dieselbe aus der wirthschaftlichen Inter-
essengemeinschaft im Wesentlichen — unbeschadet der Diffe-
renzen in Einzelheiten — als Völkerrechtsnorm stillschweigend
ergiebt. Welche Fortschritte unter diesem Gesichtspunkt speziell
das Fremden recht in unserem Jahrhundert während zweier
Menschenalter gemacht hat, kann am besten durch die einfache
Nebeneinanderstellung zweier Gesetzesstellen illustrirt werden.
Code Napoleon, das reifste Werk der Gesetzgebung aus dem
Anfange unseres Jahrhunderts, bestimmt im Art. n: «Der Aus-
länder soll in Frankreich die bürgerlichen Rechte geniefsen,
welche dem Franzosen im Auslande durch Traktat gesichert
sind.» Und das bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Italien
vom Jahre 1866 sagt I, 3 kurz und gut: «Der Ausländer
geniefst gleiche bürgerliche Rechte wie der Staats-
bürger.» Da ist keine Rede mehr von dem ängstlichen und
engherzigen Abwägen vertragsmäfsig flxirter Gegenseitigkeit;
vielmehr erkennt man die Gleichstellung des Fremden mit dem
Einheimischen vor Allem im Privatrecht, d. h. dem für die wirth-
schaftlichen Interessen wichtigsten Rechtsgebiet als ein auf der
Lebensbedingung des Weltverkehrs beruhendes Prinzip des Völker-
rechts, das kein Glied der internationalen Gemeinschaft unge-
straft (d. h. vor Allem ohne schwere wirthschaftliche Schädigung)
verachten kann. Die Gegenseitigkeit ergiebt sich demnach als
internationale Rechtsnorm auch ohne Vertrag von selbst.
Zugleich sieht man an diesem Beispiel ganz klar, dafs jene Be-
40
Stimmung des Staatsgesetzes nur eine Anwendung des völker-
rechtlichen Prinzips ist, nur als solche verstanden werden kann.
Freilich, ein Rudiment der einstigen prinzipiellen Rechtlosig-
keit des Fremden hat das Völkerrecht noch wenig zu beschränken
vermocht: die Ausweisung. Sie bildet den schwächsten, weil
schwierigsten Punkt des internationalen Fremdenrechts. Ihre
völlige Beseitigung ist aus wirtschaftlichen wie rechtlichen
Gründen weder wünschenswerth noch durchführbar. Wenn man
Förderung des Völkerrechts nicht mit haltlosem Kosmopolitismus
verwechselt, so kann man weder fordern noch erwarten, dafs der
Staat auf dieses äufserste Mittel, in gewissen Fällen das Gesammt-
interesse seiner Glieder gegen Störung durch feindliche Einzel-
interessen Fremder zu sichern, völlig verzichte. Aber anderer-
seits wird durch die an keine Rechtsschranken gebundene Will-
kür in der Anwendung dieses überaus zweischneidigen Mittels
eine Rechtsunsicherheit erzeugt, welche mit dem Beruf des Rechts
als der formalen Sicherung der Lebensbedingungen der Gesell-
schaft unvereinbar ist. Diesen Beruf kann das Recht auch hier
nur durch Abgrenzung der Willcnsmacht der Personen, d. h. des
Staates, welcher ausweisen will, und der Fremden, die bleiben
wollen, erfüllen. Wenn gegen eine schrankenlose Handhabung
der Ausweisungsbefugnifs die internationale öffentliche Meinung
entrüstet reagirt, so ist dies nur der t moralische» Ausdruck für
die Thatsache, dafs dadurch internationale Wirthschaftsinteressen
verletzt werden; nicht am wenigsten die von Angehörigen des
ausweisenden Staates selbst; und darin liegt der Zwang zur Ab-
hilfe. Wir in Deutschland brauchen nach Beispielen nicht in die
Ferne zu schweifen; denn das Schlechte liegt so nah! Und auch
hier wieder ist das wirthschaftliche Bedürfnifs der nothwendige
Ausgangspunkt der Rechtsbildung. Wi rthschaftlich betrachtet
ist nicht Jeder ein Fremder, der nicht das Bürgerrecht seines
Aufenthaltsstaates erworben hat; vielmehr begründen die wirt-
schaftlichen Interessen, die sich an den Aufenthalt knüpfen,
wesentliche Unterschiede in dem Verhältnifs des Ausländers zum
Aufenthaltsstaate; Unterschiede, welche eine entsprechende Siche-
rung jener wirtschaftlichen Interessen durch Rechtsnormen an
Stelle der W r illkür gebieterisch erheischen. Und wieder ist dieses
Bedürfnifs nach rechtlicher Normirung der Ausweisung, wie es
bezüglich der Rechtsstellung der Fremden überhaupt soeben dar-
4i
getan worden, kein Sonderinteresse des einzelnen Staates, son-
dern ein internationales Gemeininteresse. Ausdrücklich oder still-
schweigend ist dabei selbstverständlich die Idee internationaler
Gegenseitigkeit mafsgebend, da es sich ja um eine Aeufserung
der Interessengemeinschaft des Weltverkehrs handelt. Demgemäfs
bewahren die betreffenden Normen einen völkerrechtlichen
Charakter, gleichviel, ob diese Gegenseitigkeit vertragsmäfsig
stipulirt wird, oder ob sie bei der autonomen Fixirung als
schliefslich unvermeidliche Konsequenz der internationalen Inter-
essengemeinschaft anerkannt und erwartet wird. Auf diesem
letzteren Wege sind zwei kleinere Staaten den anderen mit rühm-
lichem und nachahmenswerthem Beispiel vorangegangen: Däne-
mark durch ein Gesetz von 1875, welches dem Fremden nach
zweijährigem Aufenthalte ein Wohn recht zuerkennt, und
Belgien, dessen Gesetz von 1885 wenigstens durch Aufstellung
von 5 allgemeinen Kategorien von Personen, welche auch ohne
Naturalisation der Ausweisung nicht unterliegen, die Willkür
einigermafsen eingeschränkt hat. Gerade die wirtschaftlichen
Schäden, welche in letzter Zeit für manche Grofsstaaten die
Folgen schrankenloser Handhabung der Ausweisung gewesen,
lassen die Zuversicht wohl berechtigt erscheinen, dafs auch hier
das wirtschaftliche Bedürfnifs sich seine formale Sicherung durch
das Recht erzwingen und die autonome Gesetzgebung der civi-
lisirten Staaten sich dienstbar machen wird zur Positivirung einer
aus den Lebensbedingungen des weltwirtschaftlichen Verkehrs
fliefsenden Forderung des Völkerrechts.
Die hier vertretene Anschauung, nach welcher neben den
internationalen Verträgen auch die autonome staatliche Gesetz-
gebung der Positivirung internationaler Rechtsnormen dienen
kann, wird — aufser durch die bisher angeführten Beispiele ihrer
tatsächlichen Wirksamkeit — auch durch die prinzipielle Er-
wägung gestützt, dafs ja auch der internationale Vertrag nach
der herrschenden Lehre seine formale Rechtskraft darin findet,
dafs er nach innen als Staatsgesetz gilt und wirkt. Wenn
nun, wie bereits dargelegt worden, die materielle Quelle des
Rechts in jedem Falle die wirtschaftliche Notwendigkeit einer
Sicherung der Gemeininteressen ist, so besteht der einzige Unter-
schied der beiden Positivirungsformen darin, dafs in dem einen
Falle die Interessengemeinschaft zwischen den bestimmten ein-
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zelnen kontrahirenden Staaten zuvörderst durch den Vertrags-
konsens ausdrücklich konstatirt und erst dadurch mittelbar die
Gesetzgebung der einzelnen kontrahirenden Staaten in Thätigkeit
gesetzt wird. Dagegen ist im anderen Falle die aus dem welt-
wirthschaftlichen Verkehr resultirende Gemeinschaft der Interessen
für das einzelne Glied der Völkerrechtsfamilie klar und zwin-
gend genug, um seine Gesetzgebung unmittelbar in Thätigkeit zu
setzen, und die Garantie einer im wesentlichen analogen Genera-
lisirung der betreffenden Normen in sich selbst zu tragen, indem
schon das Sonderinteresse des einzelnen Staates die Anerkennung
jener Gemeininteressen erheischt. Dem entspricht vollkommen
die oben erwähnte Wahrnehmung, dafs mit der steigenden Innig-
keit und Stärke der internationalen Interessengemeinschaft die
vertragsmäfsige Positivirung internationalen Rechts durch die
autonome Gesetzgebung in vielen Punkten entlastet wird. An
die Stelle dieser Materien, welche in Folge der internationalen
Annäherung der autonomen Gesetzgebungen einer ausdrücklichen
Stipulirung nicht mehr bedürfen, treten dann neue, auf welche
sich bis dahin das internationale Recht überhaupt noch nicht er-
streckt hatte. Der Vertrag schreitet voran und tracirt die Bahnen,
auf denen ihm die autonome Gesetzgebung langsam, aber um so
wirkungsvoller folgt.
In den vorher erörterten Fällen waren es zwar in ihrer
Grundidee international-gemeinsame Rechtsnormen, welche durch
die autonome Gesetzgebung fixirt wurden, jedoch im Einzelnen
in mannigfach verschiedener Form. Es ist ein sehr weiter Spiel-
raum, welcher den einzelnen Staaten selbst unter Anerkennung
des gleichen Prinzips bei seiner Ausführung, z. B. bezüglich des
Fremdenrechts und der Ausweisung offen bleibt. Daher bedeutet
es eine ungemeine Vervollkommnung dieser Gestaltung, wenn
ein und dasselbe positive Gesetz eine internationale
Geltung erlangt, in verschiedenen Staaten materiell identisch,
wenn auch formell als Satzung der verschiedenen Staatsgewalten
gilt. Abgesehen von den Fällen, wo dieser Zustand auf einen
früheren politischen Zusammenhang der betreffenden Staaten
zurückgeht, findet er sich schon vielfach auf dem Gebiete,
welches überhaupt den wesentlichsten Anstofs zur modernen Ge-
staltung des Völkerrechts gegeben hat und demselben jederzeit den
fruchtbarsten Boden bietet: dem des Handels. Das allgemeine
43
deutsche Handelsgesetzbuch und besonders die Wechsel-
ordnung sowie der Code de commerce, ebenfalls vor Allem
in seinen wechselrechtlichen Bestimmungen haben in diesem Sinne
schon heute eine weitgehende internationale Geltung. Und die
hier noch bestehenden rechtlichen Verschiedenheiten sind relativ
so geringfügig, die nivellirende Macht der Interessengemeinschaft
andererseits und das wirthschaftliche Verkehrsbedürfnifs so über-
wältigend, dafs einer völligen Durchführung der Rechtsgemein-
schaft hier keine unüberwindlichen Hindernisse mehr entgegen-
stehen, und das Völkerrecht auf diesem Gebiete, von dem aus
es vor fast drei Jahrhunderten seinen Siegeszug angetreten, den
Triumph der ersten internationalen Kodifikation mit Sicherheit
erwarten darf.
Ist demnach die Sphäre des Handels- und Wechselrechts
diejenige, in welcher naturgemäfs die gleichen Bedürfnisse des
internationalen Verkehrs die gröfste internationale Rechtsgleich-
heit fordern und ermöglichen, so bietet die Geschichte der inter-
nationalen Handelsverträge ein getreues Bild des unablässigen
Ringens der internationalen Interessengemeinschaft und der natio-
nalen Interessengegensätze. Sie liefert urkundliches Material zur
Erkenntnifs der Wahrheit, dafs zwar der Fortschritt der Kultur
in der steten Ausdehnung und Vertiefung der Interessengemein-
schaft besteht; dafs aber andererseits der Interessengegensatz
trotz all' jener Fortschritte unvertilgbar bestehen bleibt. 16 ) Die
oben als Folge steigender Interessengemeinschaft dargelegte Ent-
lastung der Verträge durch wachsende internationale Rechts-
gemeinschaft zeigt sich darin, dafs die umfassende Form der
«Handels-, Schifffahrts- und Freundschafts Verträge», in denen die
elementarsten Voraussetzungen internationalen Verkehrs normirt
werden, heute wesentlich nur halb- oder unzivilisirten Völkern
gegenüber nothwendig ist, während die Handelsverträge zwischen
den Gliedern der Völkerrechtsfamilie sich wesentlich auf andere
Fragen beschränken können. Jedoch diese Fragen, deren Kern
vor Allem der Zolltarif bildet, sind überaus geeignet, den
Kampf der Interessengegensätze immer auf's Neue zu entfachen.
Die Grundsätze des freien Handels, welche schon vor Jahr-
hunderten in den Niederlanden zur Zeit ihrer wirtschaftlichen
Blüthe verkündet worden, sind noch heute weit entfernt, Gemein-
gut der Kulturwelt zu sein. Im Gegensatz zu ihnen ertönt immer
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wieder der wohlbekannte Ruf nach «Schutz der nationalen
Arbeit»; und es soll nicht geleugnet werden, dafs die Interessen
eines hochentwickelten Handelsvolkes sich nicht ohne Weiteres
für alle volkswirtschaftlichen Entwickelungsstadien generalisiren
lassen. Es ist hier nicht der Ort, die grofse Streitfrage: Frei-
handel oder Schutzzoll? irgendwie zu erörtern; wohl aber mag
doch darauf hingewiesen werden, wie selbst auf diesem Gebiete
trotz der Stärke des Interessenkampfes die Idee des auf der
Interessengemeinschaft beruhenden Rechts Fortschritte gemacht
hat. Ein Rückblick auf die Zeit der allgemeinen Abschliefsung,
der Herrschaft des Merkantilismus in Theorie und Praxis wird
dies am besten illustriren.
Damals handelte man nach der Meinung, dafs unter allen
Umständen der Nutzen des einen Staates der Schaden des
anderen sei und sein müsse; und selbst in den spärlichen Fällen,
in denen man den permanenten wirthschaftlichen Kriegszustand
durch Handelsverträge scheinbar unterbrach, galt es doch als
Hauptaufgabe, den Mitkontrahenten, in dem man doch immer
den Gegner sah, möglichst über s Ohr zu hauen. Nahm man
ja schon den blofsen Nachtheil des Anderen für eigenen Vor-
theil. Unter der Herrschaft des Isolirungsprinzips ward so selbst
die Vertragsschliefsung ein Mittel des Kampfes; mit dem Be-
wufstsein der Interessengemeinschaft mangelte füglich auch das
Bewufstsein des internationalen Rechtes. Freilich rächte sich
meist diese Kurzsichtigkeit gemäfs den immanenten Gesetzen
des wirthschaftlichen Lebens, deren überlegene Logik allmählich
die beschränkte der Menschen in die richtigen Bahnen zwang.
Ein Beispiel: Im Jahre 1703 hatte Lord Methuen als Vertreter
Englands mit Portugal einen Handelsvertrag zu Stande gebracht,
der dem schlauen Unterhändler grofsen Ruhm eintrug, weil er
angeblich seinen portugiesischen Mitkontrahenten furchtbar be-
mogelt hatte. Noch nach vielen Jahrzehnten, im Jahre 1782
konnte ein Deutscher über diesen Methuen- Vertrag bewun-
dernd Folgendes schreiben:' 1 )
«Portugal hatte Tuch- und Wollenmanufakturcn an-
gelegt, und da seine Wolle der spanischen an Güte und
Feinheit wenig nachgiebt, und der Hof die Unternehmer
unterstützte und ermunterte, so hatten diese Manufak-
turen einen Fortgang, der alle Erwartung übertraf. Man
D
45
verbot bereits alle ausländischen Tücher und Wollen-
zeuge. England, dessen Manufakturen in diesem Reiche
bisher schon erheblichen Absatz gehabt hatten, wandte
alle Bestrebungen und alle Künste der Unterhandlung
an, um zu seinem Vortheil die Aufhebung dieses Ver-
bots und dadurch die ausschliefsliche Einführung seiner
Tücher und Wollcnzeuge zu erlangen. Der geschickte
Unterhändler bediente sich vornehmlich des Beweg-
grunds, dafs England gegen jene Begünstigung den por-
tugiesischen Weinen den Vorzug vor den französischen
geben wolle. Er verbarg den portugiesischen Ministern
die eigentliche Ursache, welche England seines eigenen
Vortheils wegen vermochte, die Einfuhr und den Ver-
i brauch der portugiesischen Weine vorzüglich zu begün-
stigen. Da England gegen Frankreich die Handelsbilanz
auf das überwiegendste gegen sich, und keine Mittel
solche auf seine Seite zu lenken, in seiner Macht hat,
so erforderte sein eigener Vortheil, die Einfuhr franzö-
sischer Produkte, mithin vornehmlich der Weine, um so
mehr zu vermeiden, zu mindern und einzuschränken, da
diese theurer als die portugiesischen Weine sind. Der
englische Minister wufste aber die Verminderung der
Eingangsrechte von den portugiesischen Weinen als eine
grofse Begünstigung der portugiesischen Handlung und
Ausfuhr vorzuspiegeln und anzupreisen und erhielt dafür
die Erlaubnifs, englische Tücher und Wollenzcuge in
Portugal einzuführen, da solches anderen Nationen ver-
boten blieb.»
Aber allzu scharf macht schartig. Schliefslich war England
der betrogene Betrüger, denn Portugal hatte wohlweislich die
Begünstigung der englischen Manufaktur nicht auf seine Kolonien
ausgedehnt, und ihr so nur das kleine Absatzgebiet des Mutter-
landes geöffnet, während andererseits der englische Handel mit
Frankreich in Folge der von letzterem ergriffenen Repressalien
um so empfindlicher litt. Und als dann England 1786 sich auch
zu einem Handelsvertrag mit Frankreich entschlofs, da machte
es recht unliebsame Erfahrungen mit dem dieser ganzen Methode
entsprechenden Institut der Differentialzölle. Es mufste
nämlich zuvörderst den französischen Weinen denselben niedrigen
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Zollsatz gewähren, den bisher nur die portugiesischen genossen
hatten; da jedoch der Methuen-Vertrag den Portugiesen für ihre
Weine einen um \/ 3 niedrigeren Differentialtarif ein für allemal
zugesichert hatte, so mufste dieser nun wieder entsprechend
herabgesetzt werden, so dafs England recht empfindlich die
Kosten des Verfahrens zu tragen hatte. Auf gleicher Höhe
wirthschaftspolitischer Weisheit standen die Bestimmungen des
Assientovertrages von 17 13, wonach England jährlich ein Schiff
von bestimmtem Tonnengehalt mit Waaren in die sonst streng
abgeschlossenen spanisch-amerikanischen Kolonien senden durfte,
woran sich natürlich umfangreiche und ergiebige Mogeleien und
Schmuggeleien knüpften. '-)
Welch' Abstand von diesen kleinlichen Kniffen und Pfiffen
bis zu den heutigen Tarifverträgen, sofern man sich durch ata-
vistische Rückfälle nicht beirren läfst. Die Nutzlosigkeit, ja
Schädlichkeit jener Ränke für den Urheber selbst, die intensive
und extensive Steigerung des weltwirtschaftlichen Verkehrs
haben die Erkenntnifs erzwungen, dafs der Handelsvertrag seinem
Wesen nach ein Ausflufs der Interessengemeinschaft, nicht eine
Waffe des Interessenkampfes ist; dafs daher in ihm ein auf der
Grundlage der Interessengemeinschaft erwachsenes internationales
Recht fixirt wird, dessen Mifsachtung mit der Zugehörigkeit zur
internationalen Gemeinschaft unvereinbar ist. Und je enger der
Weltverkehr die Staaten und Völker an einander gerückt hat,
desto nachhaltiger hat sich die Erkenntnifs geltend gemacht,
dafs es sich bei Handelsverträgen nicht blofs um die Interessen-
gemeinschaft der augenblicklichen Kontrahenten, sondern aller
Glieder der Völkerrechtsfamilie handelt. Diese Wirkung eines
Handelsvertrages weit über die einseitigen Interessen der Kon-
trahenten hinaus findet ihren völkerrechtlichen Ausdruck in der
Meistbegünstigungsklausel, der generellen Gleichstellung
des Mitkontrahenten mit den tamicissimis praesentibus et
futuris», wie es in älteren lateinischen Vertragstexten heifst.
Durch diese Einrichtung, welche besonders seit der grofsen Aera
der Handelsverträge, die jetzt gerade vor 30 Jahren anhob, fast
allgemein angenommen worden, hat sich das Recht der inter-
nationalen Handelsverträge zu einem umfassenden System ent-
wickelt, welches in mannigfachster Verzweigung alle Glieder der
internationalen Gemeinschaft verbindet. In klarem und erfreu-
47
lichem Gegensatze zum System der Differentialzölle, in
welchem die enge Auffassung der Interessenfeindschaft zum
Ausdruck kommt, ist das Prinzip der Meistbegünstigung ein
Ausflufs der modernen Weltwirtschaft, der Solidarität aller
Glieder der internationalen Gemeinschaft. Diesem Prinzip ist es
zu danken, dafs der eben geschilderte Entwickelungsgang inter-
nationalen Rechts, wonach das zuerst in einzelnen Verträgen
Stipulirte dann durch die autonome Gesetzgebung verallgemeinert
wird, auch hier zur Geltung gekommen ist; so war es schon die
Praxis des deutschen Zollvereins, im Hinblick auf die Meist-
begünstigungsklausel die in einem einzelnen Vertrage stipulirten
niedrigeren Zollsätze ohne Weiteres in den autonomen General-
tarif einzufügen. Schattenseiten hat freilich dieses Prinzip ebenso
wie alle Dinge dieser Welt. Aber solange es nicht durch ein
besseres Mittel zur Geltendmachung der weltwirthschaftlichen
Interessengemeinschaft ersetzt ist, dürfte dem Ansturm, der sich
in unseren Tagen so vielfach gegen dies ganze System der
modernen Handelsverträge richtet, ein dauernder Erfolg weder
beschieden noch zu wünschen sein. Die weltwirthschaftliche
Interessengemeinschaft übt einen zu mächtigen immanenten
Zwang, als dafs es feindlichen Sonderinteressen auf die Dauer
gelingen könnte, die gute alte Zeit des isolirten Staates wieder
zu beleben; und das Prinzip der Meistbegünstigung findet seine
beste Rechtfertigung e contrario, in den Erfahrungen, die man
mit seinem Gegensatz, den Differentialzöllen, gemacht hat und
immer wieder machen würde.
Die hier betrachtete Entwicklung des Völkerrechts im
Dienste des Wirtschaftslebens steht, wie wir wiederholt gesehen,
in inniger Wechselwirkung mit dem internationalen Verkehr.
Daher bildet ein vorzügliches Barometer für diesen ganzen Ent-
wicklungsprozefs, für die Stärke des Druckes, den das Verkehrs-
bedürfnifs ausübt, die Gestaltung der grofsen Vermittler des Ver-
kehrs und zugleich seiner Lieblinge: der Post mit ihren Pei-
tinenzen und der Eisenbahn. In aller Kürze mögen einige
wenige Daten aus ihrer Geschichte veranschaulichen, wie hier
ganz augenfällig die Lebensbedingungen der staatlich organisirten
Gesellschaft ihre Befriedigung nur durch eine internationale Ge-
meinschaft und demgemäfs ihre formale Sicherung nur durch ein
internationales Recht finden können.
4 8
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts beklagte sich der
wackere Justi in Wien bitterlich darüber, dafs er für wenige
Druckbogen, mit deren Zusendung ihn befreundete Gelehrte be-
ehrten, einen Thaler oder selbst 2 Gulden Porto zahlen mufste.
obgleich sie schon zur Hafte frankirt waren. Das waren freilich
schlimme Hemmnisse eines lebhaften Verkehrs, den clic damalige
Staatswirthschaft gänzlich gegenüber der Fiskalitat zurückstehen
liefs. In Frankreich kam man während der Revolutionszeit so-
gar auf den klugen Gedanken, das Briefporto als eine Luxus-
ausgabe der Reichen «bluten» zu lassen. Als die Erträgnisse
gering waren, normirte man es 1796 auf 2 X /.. bis 10 fr.; natür-
lich mit dem Erfolg, dafs nun gar nichts einkam, worauf es so-
fort wieder auf 6 bis 18 Sous herabgesetzt wurde. Man kam
eben in der Zeit wirtschaftlicher Unreife über ein unklares Ex-
perimentiren nicht hinaus. Auch noch das preufsische Regulativ
von 1824 hat Portosätze bis zu 1 Thlr. innerhalb Preufsens. Eine
radikale Reform ging von dem wirtschaftlich entwickeltsten
Lande, von England aus, wo sie sich an den Namen Rowland
Hill knüpft: im Jahre 1840 ward dort mit einem Schlage das
Briefporto derart herabgesetzt, dafs es z. B. für einfache Briefe
von London nach Edinburg von 42 Pence auf 1 Penny fiel.
Aber so verdienstvoll dieses Vorgehen war, etwas Vollkom-
menes konnte durch einseitige Mafsregeln eines einzelnen
Staates nicht erreicht werden. Das zeigte sich zahlenmäfsig
in dem grofsen Ausfall, welchen in Folge jener Reform
die Einnahmen der englichen Post erlitten: erst 1872 hatten
sie wieder den Stand des Jahres 1839 erreicht; sind seit-
dem aber gewaltig gestiegen. Denn seitdem hat man den
festen Boden für die Regelung dieses Gebietes gefunden. Es
handelt sich hier im eminentesten Sinne um ein internationales
Bedürfnifs des weltwirtschaftlichen Verkehrs, dessen Befriedigung
daher auch nur durch das Völkerrecht gesichert werden kann.
Dies ist geschehen. Der im Oktober 1874 zu Bern zwischen
21 Staaten geschlossene erste allgemeine Postverein hat sich 1878
zu Paris zum Weltpostverein erweitert, dem heute einige fünfzig
Staaten, in der That ziemlich die ganze staatlich organisirte
Menschheit angehört. Die rechtschaffende Kraft der wirtschaft-
lichen Notwendigkeit hat sich ein Denkmal gesetzt in dem
monumentalen Art. 1 des Wcltpostvertrages: < Die sämmtlichen
49
Vertragsstaaten bilden ein einziges Postgebiet, welches den
Namen Weltpostverein führt. » Und charakteristisch für den hier
wiederholt betonten Zug des heutigen internationalen Lebens, die
natürliche Gemeinsamkeit der Interessen an die Stelle engherziger
Abwägung und ängstlicher Berechnung des Sonderinteresses treten
zu lassen, ist der Art. 9 des Vertrages, wonach keine Ab-
rechnung unter den Vereinsgliedern stattfindet; vielmehr jeder
Staat das behält, was er einnimmt.
Diese mächtige Steigerung des Verkehrs, deren Ausdruck
der Weltpostverein ist, wäre nicht denkbar ohne das gewaltige
neue Verkehrsmittel, welches den Dampf in seinen Dienst ge-
stellt hat. Was der alten Postschnecke gegenüber möglich war,
ist der Lokomotive gegenüber unmöglich. Die Eisenbahn ver-
ringert ja in der That das natürliche Haupthindernifs des inter-
nationalen Verkehrs, die Entfernung, bis auf ein Minimum. Dafs
dieser Gewinn, der gewaltigste vielleicht, den das Wirtschafts-
leben jemals errungen hat, durch staatliche Mafsregeln gefördert
und gesichert, nicht aber beeinträchtigt werde, ist zweifellos eine
wirthschaftliche Lebensbedingung der staatlich organisirten Gesell-
schaft. Jene Sicherung kann aber natürlich gemäfs der Inter-
nationalität dieses Verkehrsmittels nur durch völkerrechtliche
Normen erfolgen. Es bezeichnet schlagend die Verkehrtheit des
alten Isolirungsprinzips im heutigen Stadium des Weltverkehrs,
wenn z. B. das heilige Rufsland besonders klug zu handeln
glaubte, indem es sich durch eine andere Spurweite seiner Eisen-
bahn vom Auslande isolirte. In vollendetem und erfreulichem
Gegensatze hierzu haben Deutschland, Oesterreich, Frankreich,
Italien und die Schweiz, also weitaus der gröfste Theil des
übrigen kontinentalen Ländergebiets, sich auf den Bern er Kon-
ferenzen von 1882 und 1886 zur völkerrechtlichen Regelung
aller wichtigsten Normen für die Technik des rollenden Eisen -
bahnmaterials vereinigt. Daneben gehen seit 1878 die erfolg-
reichen Bestrebungen her zur internationalen Normirung des
wirthschaftlich so überaus wichtigen Gütertransportrechts der
Eisenbahnen; Bestrebungen, die gerade in diesen Tagen einen
erheblichen Fortschritt zu ihrer völligen Realisirung zu machen
im Begriff sind.
Zeigt sich für Sicherung und Förderung dieser grofsen Ver-
kehrsmittel das heutige Völkerrecht in ganz eminentem Sinne
4
5o
thätig im Dienste des Wirthschaftslebens, so bekundet sich auch
auf anderen Gebieten der Zug zur Internationalität der wirtschaft-
lichen Interessen wie ihrer formalen Sicherung durch das Recht.
Wie kurz ist der Zeitraum, seitdem das wirtschaftliche Bedürfnifs
den Schutz innerstaatlichen Rechts erzwungen hat für die Er-
zeugnisse der Litteratur und Kunst sowie der geistigen Arbeit
im Gewerbe, der Erfindungen, Muster, Modelle u. s. w. Die Zeit
des Faustrechts, d. h. völliger Rechtlosigkeit auf diesen Gebieten
auch innerhalb der Staatsorganisation liegt wahrlich noch
nicht weit hinter uns. Und schon genügt der innerstaatliche
Rechtsschutz nicht mehr dem wirtschaftlichen Bedürfnifs, welches
sich durch den Weltverkehr zu einem internationalen Gemein-
interesse erweitert hat. Die internationalen Konventionen für
Muster-Patent- und Markenschutz, die Litterarkonven-
tionen u. dgl. m. bezeichnen die — freilich noch recht entwick-
lungsbedürftigen, aber auch entwicklungsfähigen — Anfänge
einer völkerrechtlichen Sicherung dieser internationalen Wirth-
schaftsbedürfnisse. In noch weiterem Umfange äufsert sich die-
selbe rechtschaffende Kraft des internationalen Wirthschaftslebens
in dem durch die allgemeine Meterkonvention von 1875
geschaffenen internationalen Verein für Mafs und Ge-
wicht. Was vor drei Jahrhunderten Scaruffi für das Geldwesen
Europas ersehnte, das ist hier für die internationale Gemeinsam-
keit dieser andren Mafsstäbe im Interesse des weltwirtschaftlichen
Verkehrs verwirklicht. Zugleich gehört dieser internationale Ver-
ein neben mehreren der vorher genannten zu denjenigen Bildungen
des heutigen Völkerrechts, welche bereits Anfange einer inter-
nationalen Organisation, dauernde Organe, aufweisen. Dafs
wir diese Anfänge trotz ihrer unleugbaren symptomatischen Be-
deutung nicht überschätzen, ward bereits oben gezeigt. 19 )
Erschöpfende Vollständigkeit liegt hier nicht in unserer Auf-
gabe. Die erörterten Beispiele dürften ausreichen, um die aus-
führlich dargelegte Grundauffassung vom Wesen des Völker-
rechts im Dienste des Wirthschaftslebens zu erläutern.
Werfen wir nun aber einen Blick auf unseren Ausgangs-
punkt zurück, so beweist das umfassende System spezifischer
Friedensarbeit des Völkerrechts, das wir indessen überblickt
haben, doch wohl, wie lächerlich der immer wieder unternommene
Versuch ist, das Völkerrecht durch Berufung auf die Fortexistenz
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5i
des Krieges zu depossediren. Vielmehr haben wir hier seine
Bedeutung in völliger Unabhängigkeit von den mehr oder weniger
utopischen Plänen der Apostel des ewigen Friedens zu würdigen
versucht. Unser Betrachtungsobjekt war der internationale Zu-
stand, wie er ist; nicht, wie er vielleicht sein sollte. Freilich,
einer hoflfnungsfrohen Ueberzeugung dürfen wir zum Schlufs
wohl Ausdruck geben, ohne den Boden der Wirklichkeit zu ver-
lassen, und ohne dem beliebten, aber unfruchtbaren Propheten-
handwerk zu fröhnen. Das internationale Wirtschaftsleben und
seine Rechtsproduktion stehen in organischer Wechselwirkung
mit dem Friedenszustande. Dieser vermehrt die Ausdehnung
wie die Intensität der Weltwirthschaft und ihres Produkts, des
Völkerrechts; aber zugleich sichern die bestehenden wirtschaft-
lichen Gemeininteressen und internationalen Rechtsnormen mehr
und mehr den Frieden. 20 )
Wie die Menschenarbeit langsam, oft gestört, aber unermüd-
lich Deiche in's Wasser treibt, um ihm Land abzuringen, so setzt
das Völkerrecht im Dienste des Wirthschaftslebens in unschein-
barer, langsamer, aber unermüdlicher Friedensarbeit dem Kriege
Deiche und Dämme entgegen, ihn einengend und zurückdrängend.
Und mag es auch in absehbarer Zeit nicht gelingen, «den faulen
Pfuhl auch abzuziehen», so hat doch schon jetzt das Völker-
recht im Dienste des Wirthschaftslebens eröffnet «Räume vielen
Millionen; nicht sicher zwar, doch thätig frei zu wohnen >.
Anmerkungen und Exkurse.
') Jhering, «Der Zweck im Recht» (2. Aufl.) Bd. I, S. 443. — Aller-
dings findet sich hier noch der Zusatz, dafs jene Sicherung »durch die Zwangs-
gewalt des Staates beschafft» werde. Zu der durch diese Worte angedeuteten
Anschauung wird meine Stellungnahme durch die späteren Ausführungen sich er-
geben. Auch in den gleich nach der zitirten Stelle folgenden Erörterungen
Jhering's tritt eine etwas andere Auffassung des Verhältnisses der materiellen
und immateriellen Interessen hervor, als die von mir im Text vertretene. Zum
Tbeil erklärt sich dies vielleicht daraus, dafs Jhering leider absichtlich auf die
wirthschaftlichen Momente nicht näher eingeht. Er sagt selbst (a- a. O.
S. 98): «Die nationalökonomische Seite der Frage liegt meiner Untersuchung, die
lediglich sozialer Art ist, gänzlich fern, mir kommt es nur auf die Einricb-
tungen an, auf denen für die Gesellschaft die Sicherung der Befriedigung des
menschlichen Bedürfnisses beruht; nicht aber auf die Gesetze, nach denen sich
die Verkehrsbewegung reguliert.» — Die geflissentliche Trennung der inneren
Entwickelungsgeschichte von den äufseren Einrichtungen, die doch das organische
Produkt jener sind und nur in diesem Zusammenhange völlig verstanden werden
können, dürfte berechtigtem Widerspruch begegnen. Gerade auf die Hervor-
hebung jenes Zusammenhanges — freilich nur unter einem bestimmten Gesichts-
punkte und in skizzenhaften Umrissen — kommt es mir in dieser kleinen Arbeit
an. Dennoch und trotz mannigfacher Meinungsdtfferenzen im Einzelnen mufs
hier auf das Werk Jhering's als Quelle reichster Anregung verwiesen werden;
besonders sei das VII. Kap. mit seiner glänzenden und an Ausblicken reichen
Charakteristik des Verkehrs zur Ergänzung der im Text gegebenen, nothwendig
summarischen Andeutungen genannt.
•) Diese Definition rührt von Rosin her; vgl. hierzu meine Schrift: «Ge-
meinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften» (Springer, 18S9) S. 147. —
Freilich sind die Formulirungen sowohl Jhering's wie Rosin's fast mehr Um-
schreibungen als Definitionen des Rechtsbegriffs; jedoch ergeben sich aus ihnen
fruchtbare Gesichtspunkte. Im Uebrigen: «omnis definitio periculosa est», sagt der
alte Rechtslehrer, und ein moderner meint in freier Uebersetzung: entweder ist eine
Definition verständlich, dann ist sie falsch; oder sie ist richtig, dann ist sie un-
verständlich !
3 ) Jüngst brachten die deutschen Zeitungen wieder den Inhalt eines jener
zugleich traurigen und unfreiwillig komischen russischen Judenukase, welcher sich
gegen die Visirung von Pässen für «fremde Juden» richtete. Eine rücksichtsvolle
Ausnahme war darin jedoch für Angestellte von Bankhäusern vorgesehen, die sich
behufs finanzieller Geschäfte mit der Regierung nach Rufsland begeben wollen.
O heiliges Rufsland!
53
*) Eine Menge von falschen oder unklaren Vorstellungen und Folgerungen
knüpft sich an die Frage, ob die Erzwingbarkeit ein wesentliches Erfordernifs des
Rechtsbegriffs ist; denn keine wissenschaftliche Erörterung, die irgendwie die be-
grifflichen Grundlagen berührt, kann an dieser Frage schweigend vorübergehen.
Die vielen hieraus entspringenden Irrthümer erklären sich dadurch, dafs die Beant-
wortung dieser Frage mit einem einfachen Ja oder Nein nicht erledigt ist. Denn
einerseits läfst sich nicht verkennen, dafs durch die einfache Verneinung jener
Frage jede Festigkeit des Rechtsbegriffs aufgelöst und derselbe mit den Begriffen
Moral und Sitte verschwimmen würde. Aber andererseits würde durch die unbe-
dingte Bejahung der Frage nicht nur das ganze Völkerrecht, sondern auch der
gröfste und wichtigste Thcil des modernen Staatsrechts begrifflich vom Rechts-
gebiet ausgeschlossen werden. Und dies wäre offenbar mit der wahren Aufgabe
der wissenschaftlichen Begriffskonstruktion: der gedanklichen Erfassung und
Durchdringung der Wirklichkeit völlig unvereinbar. Beruht doch das ganze
konstitutionelle Staatsrecht auf dem Prinzip, dafs die Macht des Fürsten eine
rechtlich normirte, er selbst aber keinem Zwange unterworfen ist.
Auch Jhering (a. a. O. S. 320) stimmt zwar der Auffassung des Rechts als
«Inbegriff der in einem Staate geltenden Zwangsnormen» zu; jedoch verschliefst
er sich nicht den oben angedeuteten Bedenken und findet deren Lösung gleich-
falls im Hinblick auf die Unvollkommenheit der Organisation (S. 325 fg.). Aber
er fafst die Sache doch etwas zu äufserlich, indem er als Surrogat der fehlenden
internationalen Zwangsorganisation lediglich die Selbsthülfe betrachtet. Und
ebenso äufserlich ist seine Auffassung bezüglich der staatsrechtlichen Stellung des
Monarchen nach der hier in Frage stehenden Richtung. Er meint (S. 327): «Bei
irgend einem Punkt in der staatlichen Zwangsmaschine mufs das Ge-
zwungenwerden ein Ende nehmen und lediglich das Zwingen übrig bleiben, sowie
bei irgend einem anderen Punkt umgekehrt das Zwingen einmal aufhören und
lediglich das Gezwungenwerden Übrig bleiben mufs. Bei allen anderen Or-
ganen der Staatsgewalt trifft das Gezwungenwerden und das Zwingen zusammen,
sie empfangen ihre Impulse von oben und setzen sie nach unten fort, ganz so
wie in einem Uhrwerk, in dem eine Feder die andere treibt. Aber die Uhr
kann sich nicht selber aufziehen, dazu bedarf es der menschlichen Hand. Diese
Hand ist in der monarchischen Verfassung der Monarch ; sie setzt das ganze Räder-
werk in Bewegung; er ist die einzige Person im Staat, welche zwingt, ohne selber
gezwungen zu werden.» — Diese Auffassung ist Überaus charakteristisch für die
äufserlich mechanische Anschauung dieser ganzen Richtung, um so charakteri-
stischer, als sie von einem Jhering ausgeht. Freilich, so leicht mag es sich die
organische Staatstheorie nicht machen, die den Staat nicht als «Zwangs-
maschine», ganz wie ein «Uhrwerk» betrachtet. Die Mechanik kann kein perpe-
tuum mobile konstruiren; auch der kunstvollsten Maschine mufs der Anstofs znr
Bewegung, die eben hier kein inneres Leben ist, von aufsen gegeben werden.
Der Organismus dagegen erzeugt und trägt die Bewegung des Lebens in sich
selbst; daher können niemals organische Erscheinungen durch mechanische Gleich-
nisse erklärt werden. Der Staat, der von aufsen den Anstofs zu mechanischer
Bewegung erhält; der Monarch, der seinem Staate fremd gegenübersteht als ein
völlig heterogenes Wesen wie der Mensch der Maschine; der Zwingherr, der nur
zwingt, und der Unterthan , der nur gezwungen wird — das soll ein Bild , nicht
etwa des Negerreichs Dahomey, sondern des modernen Rechtsstaates sein! Und
ein anderes hat man der organischen Lehre, die freilich nicht mit wenigen
Worten Uber die Schwierigkeiten hinweg zu hüpfen vermag, nicht entgegenzu-
setzen !
54
Es ist hier nicht der Ort zur weiteren Erörterung dieser Frage des allge-
meinen Staatsrechts. Aber die kleine Abschweifung findet ihre Rechtfertigung
darin, dafs sich die Unzulänglichkeit der hier wie im Text bekämpften Anschauung,
welche im äufseren, mechanischen Zwang das Charakteristikum des Rechtsbegriffs
findet, gerade in ihrer Anwendung auf das Staatsrecht am klarsten und handgreif-
lichsten zeigt. Die Auschauung selbst aber ist dieselbe, die auch zur Anerken-
nung der sog. Positivität des Völkerrechts den äufseren Zwang oder doch ein
Surrogat desselben fordert. Demgegenüber hält die im Text vertretene Theorie
zwar das Element des Zwingenden im Rechtsbegriff fest, fafst jedoch dieses Ele-
ment tiefer und weiter auf, und nicht lediglich als äufserlicbe Mechanik. Vgl. die
weitere prinzipielle Darlegung in meiner Schrift: «Gemeinde, Staat, Reich»
S. 103 fg., wozu die hier im Text entwickelte Theorie des inneren wirthschaft-
lichen Zwanges eine Ergänzung bildet.
Einen interessanten Beitrag zu dieser Frage liefern auch die Erörterungen
Lothar Bucher's im I. Kapitel seiner Schrift: «Der Parlamentarismus wie er
ist» (i. Aufl. 1881). Er weist dort u. A. auf eine Eigenthllmlichkeit des wirt-
schaftlich so entwickelten englischen Lebens hin: die Rcgelmäfsigkeit im
eigentlichsten Sinne des Wortes, der zu Folge in vielen Beziehungen der Leber-
gang von Gewohnheit und Sitte zum eigentlichen Recht ein fast unmerklicher «ei.
So sei z. B. bei Einführung der Penny-Post der Wunsch ausgesprochen worden,
dafs an jedem Haus ein Briefkasten angebracht werde. «Der Rath fand Anfangs
nur sehr allmählich Eingang. Aber jeder Dienstbote, der durch das Klopfen des
Briefträgers von der Arbeit abgerufen wird, jede nervenschwache Dame, die mit
Zittern das zweite, donnernde Pochen des Uber den Verzug Erzürnten erwartet,
helfen dem Institut auf. In der vorletzten Session wurde es schon angeregt, den
Briefkasten zu einer Zwangspflicht zu machen, «da doch die meisten Häuser
ihn schon hätten». Aus eben diesem Grunde wurde der Antrag vertagt und wird
vielleicht nach einigen Jahren Uberflüssig sein. Der Fremde ist oft im Zweifel,
kann oft auch von Eingeborenen keine Auskunft darüber erhalten , ob eine Ein-
richtung nur Sitte oder auch Parlamentsakt ist.» — Diese Ausführungen finden in
der That auch besonders im englischen Staatsrecht reichste Bestätigung, und
Uberhaupt im common law, welches in gewissem Sinne ein Bindeglied zwischen
Sitte und Statute law bildet. In jenen Beispielen zeigt sich praktisch das Walten
eines immanenten Zwanges, der sich keineswegs mit dem äufserlichen Zwange
der Staatsgewalt deckt. Und wenn man unserer Anschauung vorwerfen mag, dafs
sie durch ihre erweiterte Fassung des Zwangsmoments den Unterschied zwischen
Sitte und Recht zwar nicht aufhebt, aber doch flüssiger, weniger schroff^gestaltet,
so sehe ich darin keinen Fehler, sondern einen Vorzug. Denn nur so entspricht
wieder die Theorie der Wirklichkeit; und ich pflichte Buch er völlig bei, wenn
er sagt (a. a. O. S. 26) : «Die bewufste Erkennrnifs der Gesetze der menschlichen
Natur und der menschlichen Gesellschaft kommt spät. Aber ihre Wirkung wird
zu jeder Zeit empfunden, mufs also in höherem oder geringerem Grade zu jeder
Zeit das Verhalten bestimmen. Gewöhnung, Sitte ist die erste Erschei-
nungsform des Rechts. Diese Quelle der Rechtsbildung versiegt nie. Aber
der «Staat» ist unaufhörlich bemüht sie zu verschütten und zu verunreinigen.»
*) Die gegenseitige Durchdringung der Jurisprudenz und der National-
ökonomie ist eine theoretisch wie praktisch unabweislichc Forderung unserer
Zeit. In verschiedenster Art und Form macht sich dies BedUrfnifs in der Wissen-
schaft wie im Leben geltend. Gerade jenes Konglomerat schwierigster Streit-
fragen, welches man unter dem journalistischen Schlagwort «soziale Frage»
zusammenfafst, und welches heute so sehr im Mittelpunkt des allgemeinen Intcr-
55
esses — der Politiker, der Gelehrten, der Laien — steht, dafs es alle Ueber-
treibungen einer Modesache zu erfahren hat; gerade auch diese Probleme erweisen
bei jeder tieferen Erfassung die Unfruchtbarkeit einseitig juristischer wie einseitig
wirtschaftlicher Behandlung. Verliert die eine Uber ihren rein formalen Gesichts-
punkten leicht jede FUhlung mit den Bedürfnissen des Lebens, so geräth die
andere ohne den Prüfstein juristischer Formulirung ebenso leicht in's schranken-
lose Irrlichteriren. Beides aber ist gleimäfsig unfruchtbar für eine wahre Theorie
und unbrauchbar für eine gesunde Praxis. Dagegen richtet sich der Prozefs,
welcher es — nach dem Ausdruck L. v. Stein 's — versucht, «die Staats-,
wissenschaftliche Bildung zu einem Thcilc der juristischen zu
machen, und der sich damit erlüllen wird, die Einheit aller formalen Ge-
biete der Rechtsfächer und damit des Rechtsbewufstseins in der Wissen-
schaft des Staatslebens wieder zu finden.» Diesem Ziele war Lorenz
von Stein's reiche wissenschaftliche Arbeit selbst vornehmlich gewidmet Dafs
sie wenig weitergreifende Wirkungen erzielt hat, ist leider nicht blofs die Schuld
der «stumpfen Welt», sondern auch der literarischen Art Stein's, Immerhin sind
seine Schriften eine reiche Fundgrube für die Förderung jener Entwickelung; und
es sei gerade in diesem Zusammenhange auf die gedankenvolle Vorrede zur
3. Aufl. seines Handbuchs der Verwaltungslehre (Bd. I, 1888) hingewiesen.
Wenn die dort angeregten Ideen mit der Kraft der Wahrheit siegreich durch-
dringen, so wird man sich auch bei uns endlich zur Durchführung der längst
nothwendigen Reform in der Organisation der Universitäten cntschliefsen müssen.
Jetzt ist die juristische Fakultät ein Torso; und die Nationalökonomie mit ihren
Nebenfächern befindet sich in der Diaspora, in jenem Tohuwabohu nicht zu-
sammengehöriger Dinge, das man philosophische Fakultät nennt. Dem Wesen
der Sache, dem Bedürfnisse des Lebens wie der Wissenschaft entspricht einzig
eine staatswissenschaftliche Fakultät, welche alle Zweige des Wissens vom Ge-
meinleben der Menschen, die rechtlichen wie die wirthschaftlichen, als ein orga-
nisches Ganze umfafst.
a ) Es ist ganz folgerichtig, dafs diejenigen Schriftsteller, welche den äufseren,
mechanischen Zwang als wesentliches Moment des Rechtsbegriffs ansehen (vgl.
oben N. 4), dem Völkerrecht höchstens eine geduldete Existenz insofern zuge-
stehen, als dasselbe äufsere Organisationen hervorbringt oder doch wenigstens
verspricht. So sagt z. B. Lassan («Prinzip und Zukunft des Völkerrechts»):
«Ein Recht ohne Garantie ist gar kein Recht. Also schon wegen des Mangels
einer garantirenden Macht sind die Staaten im Zustande des unausgesetzten
Krieges gegeneinander.» Eine garantirende Macht ist nach dieser Auffassung
natürlich nur in dem allein seligmachenden Schutzmann zu finden. Dann wird
jedoch trotz des Dogmas von dem unausgesetzten Kriegszustande, der — wohl
gemerkt! — nicht nur ein thatsächlicher, sondern ein begrifflich notwendiger
sein soll, die Möglichkeit internationaler Organisationen, in Sonderheit der Schieds-
gerichte, zugegeben. Also das Völkerrecht wird in seiner Wurzel negirt, in
seinem jüngsten und letzten Keime aber anerkannt. Lasson z. B. konstruirt sich
demgemäfs das Völkerrecht als eine Art Quasi-Recht, dessen Natur es sei, «dafs
es zunächst durch die Erkenntnifs des Zweckmäfsigen und des Gerechten wächst».
Sehr gut; aber das ist eben die Natur des Rechts Uberhaupt; und auch dadurch,
wie in allem Ucbrigen, charakterisirt sich das Völkerrecht als wahres und wirkliches
Recht, trotzdem ihm die Zwangsvollstreckung durch Schutzmann und Gerichts-
vollzieher fehlt. — Uebrigens stehen diese Fragen im innigsten Zusammenhang
mit der Auffassung des Staatsbegriffs. Derselbe Lasson fafst in seinem «System
der Rechtsphilosophie» (S. a8l fg.) diesen Begriff ebenso irrig und eng, wie den
56
des Völkerrechts, wenn er im Staate nur eine Zwangsanstalt zu dem allei-
nigen Zwecke der Rechtserhaltung siebt. Vgl. Uber diese Fragen:
Preufs: Gemeinde, Staat, Reich S. 199 fg. —
Was im Besonderen die internationalen Schiedsgerichte betrifft, so
wurde schon im Text angedeutet, dafs dieselben, soweit sie bisher praktisch in
die Erscheinung getreten sind, nicht als Ausflüsse, sondern höchstens als
Surrogate einer internationalen Organisation gelten können. Etwas anderes
wäre es mit der ständigen Einrichtung von «hautes cours d' arbitrage», wie
sie von Laveleye u. A. vorgeschlagen worden sind. Solche wären wirklich
Organe der internationalen Gemeinschaft d. h. einer Uber den streitenden
Parteien stehenden, höheren Einheit. Dagegen ist das gegenwärtig allein
übliche Verfahren ein begrifflich unorganisirtes; der Schiedsrichter fungirt in
keiner Weise als Organ einer die Parteien mitumfassenden Einheit, sondern er ist
ein durch vertragsmäfsige Abrede bestellter Dritter. Insofern hat Lue der (in
HoltzendorflTs Handbuch des Völkerrechts Bd. IV S. 216) Recht, wenn er meint,
diese Schiedsgerichte seien «im Grunde doch nur eine Art friedlichen Ausgleichs
unter Vermittelung fremder Mächte». — Nichtsdestoweniger gehören die Schieds-
gerichte ins Völkerrecht; denn ihre rechtliche Natur ist trotzdem zweifellos.
Es verhält sich in dieser Hinsicht mit dem internationalen Schiedsverfahren nicht
anders, als mit dem innerstaatlichen, /. B. auf dem Gebiete des Privatrechts. Auch
hier wird die staatliche Organisation zur Fixirung des Rechts nicht in Anspruch ge-
nommen; aber das Schiedsverfahren beruht doch auf der Voraussetzung, dafs ein
gemeinsames Band objektiven Rechts die Parteien verbindet und bindet. Ebenso
stellen internationale Schiedsgerichte zwar keine internationale Organisation zur
Fixirung des Rechts dar; aber sie beruhen doch auf der Voraussetzung, dafs ein
objektives internationales Recht auch hier die Parteien, d. h. die Staaten verbindet
und bindet. Demgemäfs sind auch die Materien, welche bisher thatsächlich in
der Staatenpraxis einem internationalen Schiedsgericht unterbreitet worden sind,
stets uberwiegend juridischer Art, Rechtsfragen gewesen; vgl. die ausführliche
Uebersicht von Bulmerincq im Handbuch a. a. O. S. 45 fg. So spricht auch
diese Beobachtung für unsere Anschauung, dafs die Existenz und Wirksamkeit
eines Völkerrechts von wahrem und wirklichem Rechtscharakter unabhängig ist
von dem Vorhandensein einer internationalen Organisation.
Freilich , dafs das Völkerrecht den Drang zur Entwickelung einer solchen
Organisation in sich trägt , dafs es dieselbe anbahnt und andererseits erst durch
sie vollendet würde, ist ebenso richtig und bewährt sich ebenfalls in der vor-
liegenden Frage. So beachtenswerth die Warnungen Lueders (a. a. O) vor den
Uebertreibungen und der Ueberschätzung der Schiedsgerichtsidee durch die
Friedensapostel auch zweifellos sind, so neigt doch dieser Schriftsteller nach seiner
ganzen Grundansicht (vgl. unten N. 20) zum anderen Extrem einer allzu engen
Auffassung und Unterschätzung dieses Uberaus fruchtbaren und entwickelungs-
fähigen Gedankens. Ihm gegenüber billigen wir mehr die Anschauung Bulme-
rincq 's (1. c. S. 58): «Es ist ein arger Widerspruch, wenn Staaten, welche für
ihre inneren Beziehungen den Rechtsstaat aeeeptirt haben, ihn für ihre äufseren
ablehnen, Uberhaupt für diese nur die Willkür der Politik als mafsgebend aner-
kennen.» — Erkennt man aber die innerliche Fruchtbarkeit und Nothwendigkeit
jener Idee an, so wird man auch zugeben, dafs ihre Fortentwickelung auf irgend
eine permanente Organisation des internationalen Schiedsgerichtswesens hindrängt,
so utopisch auch viele der bisher verlautbarten Projekte einer haute cour arbi-
trale sein mögen. Denn nach der zu Grunde liegenden Idee handelt es sich doch
hierbei um ein Solidarinteresse der internationalen Gemeinschaft, für welches
füglich am besten diese selbst durch eigene Organe einträte. Die gewaltigen
57
Schwierigkeiten, welche dem entgegenstehen, sollen gewifs nicht verkannt und
unterschützt, auch ihre relative Berechtigung keineswegs geleugnet werden. Aber
andererseits sollte man auch diese wirklichen und berechtigten Schwierigkeiten
nicht noch durch eingebildete und unberechtigte vermehren. Zu letzterer Kate-
gorie gehören namentlich die Einwendungen, welche auf der — hier wiederholt
bekämpften — Ueberschätzung des Sufseren, mechanischen Zwanges beruhen.
Was nutzt ein Gericht ohne Exekutor, und demgemäfs ein internationaler Ge-
richtshof ohne Exekutivmacht, die mit Gewalt die Parteien dem Urtheilsspruch
unterwerfen kann? Und wie soll eine solche internationale Zwangsmacht je be-
schafft werden? — Das ist ungefähr die Quintessenz dieser Einwürfe. Nun, in
den überaus komplizirten Entwickelungsfragen des Völkerlebens führt der heroische
Grundsatz: alles oder nichts! zu einer schlechten und unfruchtbaren Politik. Weil
eine solche internationale Zwangsmacht zweifellos noch viel schwieriger zu kon-
struiren ist, als ein organisirter internationaler Gerichtshof, soll man doch letz-
teren ohne jene nicht verwerfen. Denn wirkungslos wäre er sicherlich auch so
nicht. Je gröfser die völkerrechtlichen Garantien dafür sind , dafs das schieds-
gerichtliche Unheil der rechtliche Ausdruck der auf der Interessengemeinschaft
beruhenden Ueberzeugung der ganzen Staatenfamilie ist; je unabhängiger und
unparteiischer der internationale Gerichtshof organisirt ist , desto wirksamer mufs
naturgemäfs der seiner Sentenz innewohnende, immanente Zwang sein, auch
ohne eine dahinter stehende internationale Schutzmannsarmec. Die eigensten
Interessen eines Staates müssen ihn selbstverständlich viel nachdrücklicher hindern,
sich dem Ausspruch eines Organs der ganzen internationalen Gemeinschaft zu
widersetzen, als dem von Schiedsrichtern, die lediglich von den Parteien selbst
bestellt sind. Und im Uebrigen: kleine Fortschritte in grofsen Zeiträumen!
Daran festhaltend wollen wir auch die Fortschritte, welche die vertrags-
mäfsige Vereinbarung von Schiedsgerichten in der bisherigen un organisirten
Art macht, nicht unterschätzen. Wie wirkungsvoll auch hier die wirtschaft-
lichen Interessen die Rechtsbildung beeinflussen, geht auch daraus hervor, dafs
die wirthschaftlich entwickeltsten Lander, England, Nordamerika an der Spitze
dieses völkerrechtlichen Fortschritts stehen, wofür Leute von engem Geist und
grofsen Worten sie der « Krämerpolitik » bezichtigen. Eine solche «Krämer
politik» hat noch immer die segensreichsten Fortschritte menschheitlicher Kultur
angebahnt. Je mehr vorläufig die wirtschaftlichen Interessen der Staaten, die ja
allesammt auf die Sicherheit des weltwirtschaftlichen Verkehrs angewiesen sind,
auf vertragsmäfsige Einsetzung von internationalen Schiedsgerichten hindrängen,
desto intensiver gestaltet sich allmählich ein umfassendes System solcher Verträge,
wodurch der Uebergang zu einer dauernden Organisation angebahnt, fast unmerk-
lich herbeigeführt wird. Also: das internationale Recht ist bereits vorhanden und
wirksam, auch ohne die Organisation; und so wünschenswerth letztere sein mag,
so falsch ist es doch, das erstere zu leugnen, nur um das Schwergewicht auf
diese zu legen. Quod erat demonstrandum!
7 ) Kaltenborn: «Zur Revision der Lehre von den internationalen Rechts-
mitteln» giebt einen ganzen Katalog von solchen; darunter auch Repressalien
und Retorsion, unter die wir übrigens Embargo und sogenannte Fried ens-
blokade subumsiren. Auch Bulmerincq (a. a. O. S. 10 fg.) unterscheidet: «auf
Selbsthülfe und nicht auf Selbsthülfe beruhende Rechtsmittel». Dafs
ersteres eine contradictio in adjecto ist, wird im Text dargethan. Uebrigens ist
es prinzipiell irrig, die begriffliche Scheidelinie, wie es auch in Holtzendorff s
Handbuch Bd. IV geschieht, zwischen Retorsion bezw. Repressalien als
Rechtsmitteln und Krieg als Gewaltmittel zu ziehen. Vielmehr charakteri-
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53
siren sich jene als partielle Kriegszustände; und die begriffliche Grenzscheide
läuft eben zwischen Recht auf der einen, Selbsthülfe auf der anderen Seite.
*) Auch Lu«der (a. a. O. S. 179 fg.) spricht sich gegen die Auffassung des
Krieges |als Mittel internationalen Rechtszwanges aus, wenn er auch andererseits
meint: der Krieg sei «allerdings u. A. auch das äufserste Rechtsmittel der Völker
und vertritt dann den Prozefs des inneren Staatsrechts, so dafs der Rechtsstreit
eine der Veranlassungen des Krieges sein kann». Diese Einräumung ist unlogisch,
da es für die Qualifizirung als Rechtsmittel nicht allein darauf ankommt, ob die
Ursache ein Rechtsstreit gewesen. Auch zum Meuchelmord kann die Ursache
ein Rechtsstreit sein, ohne dafs man jemals wohl den Meuchelmord unter die
Rechtsmittel zählen wird. Lueder meint ferner, dafs die Eigenschaft als Rechts-
mittel dem Kriege nicht deshalb abgesprochen werden könne, weil der Erfolg
vom Zufall abhänge und eventuell dem Rechte nicht entspräche; denn das käme
auch bei innerstaatlichen Prozessen trotz guter Gesetze und Richter vor. Das ist
doch ein wenig oberflächlich argumentirr, indem nicht unterschieden wird zwischen
formeller und materieller Garantie einer rechtlichen Entscheidung. Eine
materielle Garantie hierfür giebt es freilich auch in innerstaatlichen Verhältnissen
nicht, da die Richter stets Menschen sind und als solche immerdar nicht nur
irren, sondern auch absichtlich Unrecht thun können. Dagegen ist eine formale
Garantie dafür, dafs der Prozefs der Verwirklichung des Rechts dienen soll,
eben durch Einfügung des — doch jedenfalls der Idee nach — unparteiischen
Gerichts zwischen die Parteien gegeben, wovon beim Kriege keine Rede ist. Der
Zweck der Parteien ist überall, im Prozefs wie im Kriege, lediglich: zu siegen;
für ein Rechtsverfahren bedarf es darum begrifflich immer noch eines dritten
Faktors, dessen Zweck nicht nur subjektiv, was bei den Parteien auch der
Fall sein kann, sondern vor allem objektiv lediglich die Fesstellung des Rechts
ist. Auch bei dem internationalen Schiedsverfahren wird ein solcher unpar-
teiischer Dritter bei dem Mangel einer höheren Organisation als Surrogat der-
selben durch Vertrag geschaffen (vgl. oben N. 6). Der Satz, dafs Niemand
Richter in eigener Sache sein kann, ist nicht blofs positiv rechtlich, sondern fliefst
aus dem begrifflichen Wesen des Rechtsverfahrens. So ist wegen des Mangels
jener formalen Garantie schon allein die Eigenschaft des Krieges als Rechts-
mittel, wie im Text geschehen, zu negiren. Auch die Analogie mit Nothwehr
und Nothstand, auf welche Lueder (a. a. ü. S. 187) gleichfalls Bezug nimmt,
ist von mir im Text bereits widerlegt worden, abgesehen davon, dafs sie über-
haupt weniger für den Krieg, als für Retorsion und Repressalien pafst.
Uebrigens kommt, wie schon bemerkt, Lueder, wenn auch aus anderen
Gründen, doch zu demselben Resultat, dafs der Krieg kein Rechtsbegriff ist, und
dafs das Wesen des Völkerrechts in dieser Hinsicht lediglich in der Beschränkung
und Einengung besteht. «Der Krieg ist zwar an sich kein Rechtsbegriff
sondern nur physische Gewalt; aber diese Gewalt ist durch die Entwicklung des
Völkerrechts gewissen Regeln und Schranken unterworfen worden,
innerhalb welcher sie geübt werden mufs und die sie nicht über-
schreiten darf.» Das ist dieselbe Ansicht, welche wir im Text vertreten, dafs
der Krieg nur nach der negativen Seite hin in's Völkerrecht gehört. Dafs aber
diese völkerrechtliche Eindämmung des Krieges eine wahre und wirkliche Rechts-
schranke darstellt, dafür tritt Lueder (S. 189) mit guten Gründen und er-
freulicher Entschiedenheit ein gegenüber den beliebten Anzweiflungen, welche die
Wirksamkeit des Völkerrechts ganz besonders hier zu erfahren hat. Mit Recht
führt er aus, dafs etwaige Verletzungen jener völkerrechtlichen Schranken ebenso-
wenig etwas gegen ihren Rechtscharakter beweisen, wie etwa Verbrechen etwas
59
gegen den Rechtscharakter des Strafrechts; und dies umsoweniger in Anbetracht
der Jugend des Völkerrechts, und «als die Lage auf den anderen Rechtsgebieten,
solange auch hinter ihnen kein längeres Entwicklungsstadium lag, keine andere
war. Zudem sind aber die Verletzungen des vereinbarten oder hergebrachten
Kriegsrechts erfahrungsmäfsig nicht einmal besonders häufig. Es wird im Gegen-
theil, und bis in das Toben des einzelnen Kampfes hinein, nicht schlechter be-
obachtet als das Staats- und Privatrecht». — Wir können diesen Ausführungen
nur durchaus zustimmen, um so lieber, als wir nicht nur im bisherigen gegen
Ansichten Lucders ankämpfen mufsten, sondern vor Allem auch seine An-
schauung Uber die Bedeutung des Krieges im Allgemeinen entschieden verwerfen.
Siehe darüber unten N. 20.
") Die von mir im Text vertretene Auffassung des historischen Entwicklungs-
prozesses wird dem Kundigen unverkennbare Berührungspunkte mit der soge-
nannten materialistischen Geschichtstheorie bieten, wie sie besonders
von Karl Marx dargestellt worden ist. In der That erkenne ich denn auch in
dieser einen reichen Schatz treffender und fruchtbarer Gedanken. Jedoch die
Nutzanwendung, welche Marx und seine Junger davon für die sozialistischen
Weltbeglückungsprojekte zu machen versucht haben, erscheint nicht nur praktisch
unausführbar, sondern vor Allem auch theoretisch — gerade von jenem richtigen
Ausgangspunkte aus — verfehlt und inkonsequent. Es ist hier natürlich nicht der
Ort, darauf des Näheren einzugehen; jedoch einige kurze Bemerkungen seien ge-
stattet, die sich in engstem Zusammenhange mit dem im Text Vorgetragenen auf-
drängen. Der Marx'sche Sozialismus erkennt durchaus richtig die entscheidende
Bedeutung der wi rth scha ftl ichen Interessen sowie des Ringens von Interessen-
gemeinschaft und Interessengegensatz. Aber er verkennt völlig zweierlei.
Einmal für die Gegenwart, dafs in der heutigen Gesellschaft neben allem Kampf
der Interessengegensätze der Stände und Klassen eine weite und durch den
immanenten wirtschaftlichen Zwang gesicherte Sphäre der Inter-
essengemeinschaft vorhanden ist. Hier sieht er irriger Weise nur den Klassen-
kampf. Sodann für die Zukunft, wie sie der Sozialismus ausmalt und erstrebt,
dafs die völlige Verdrängung des Interessengegensatzes durch die Interessen-
gemeinschaft eine Chimäre ist und sein mufs, der die ganze historische Entwick-
lung gerade nach der materialistischen Auflassung von Grund aus widerspricht.
So wenig es ein goldenes Zeitalter ohne Gegensatz wirtschaftlicher Interessen in
der Vergangenheit jemals gegeben haben kann, ebensowenig ist ein solches in der
Zukunft jemals denkbar. Das Zusammenwirken der beiden Elemente Interessen-
gegensatz und Gemeinschaft erzeugt den Strom der historischen Entwicklung.
Hätte jemals eines davon gefehlt, so hätte es diesen Strom niemals gegeben;
würde jemals eines fortfallen, so müfste dieser Strom erlöschen. An ein Aufhören
der Geschichte durch Einführung der sozialistischen Produktionsweise glauben
aber wohl auch die orthodoxesten Marxisten nicht; dies wäre jedoch in ihrem
Sinne die logische Konsequenz der materialistischen Geschichtstheorie. In Wahr-
heit zeigt vielmehr diese Entwicklung stets neben dem Fortschreiten der Inter-
essengemeinschaft zugleich eine fortschreitende Differenzirung der Inter-
essengegensätze. Je intensiver die Interessengemeinschaft auf der einen Seite
die Gesellschaft verbindet, desto komplizirter gestalten sich andererseits die sie
durchziehenden Interessengegensätze. Fortschreitende Vergesellschaftung
und zugleich fortschreitende Differenzirung, das sind die Elemente,
welche die wissenschaftliche Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart als
historisches Lebensprinzip erkennen läfst; und um das Gegentheil als Wunder der
Zukunft zu prophezeien, darf man sich nicht auf die materialistische Geschieht»-
6o
theorie berufen. Uebrigens hatte Marx ja die konkrete Probe auf das abstrakte
Exempel in England, dem wirthschaftlich entwickeltsten Lande, vor Augen.
Genau demselben Prinzip gcmäfs unterscheidet sich die hier vertretene Fort-
bildung der Völkerrechtsgemeinschaft von den Idealen des internationalen Sozia-
lismus. Nicht auf eine Sprengung der staatlichen Organisation im Sinne der
rothen Internationale weist die in der bisherigen historischen Entwicklung schon
vorgezeichnete Weiterbildung internationaler Gemeinschaft hin, sondern gerade
auf ihre Förderung durch fortschreitende Ausgestaltung jener staatlichen Organi-
sationen. So wenig innerhalb eines Staates die völlige Verdrängung der Inter-
essengegensätze durch die Gemeinschaft nach der Natur der Sache denkbar ist,
ebenso wenig das Verschwinden der nationalen Interessengegensätze in einer
kosmopolitischen Weltbrudergemeinde. Aber hier wie dort entwickelt sich neben
den komplizirten Gegensätzen eine immer intensivere Interessengemeinschaft; und
das aus ihr entspringende Recht zügelt den Kampf der internationalen Interessen-
gegensätze und zwingt ihn in Rechtsformen, wie es dies für das innerstaatliche
Leben im Wesentlichen bereits gethan hat.
,0 ) Vgl. meine Schrift: Gemeinde, Staat. Reich; Kap. XI: «Stadtgebiet und
Landeshoheit im alten Reich.» S. 291 fg.
n ) Vgl- Roscher: «Geschichte der Nationalökonomik.» S. 101 fg.
,3 ) ^gl- Laspeyres: «Geschichte der volkswirthschaftlichen Anschau-
ungen der Niederländer und ihrer Literatur zur Zeit der Republik» — und
Roscher a. a. O. S. 223 fg.
,3 ) Vgl. meinen Aufsatz: «Entwicklung und Bedeutung des öffentlichen
Rechts» in Schmoller's Jahrbuch Jahrg. XIII Heft 4, S. 105 fg.
14 ) So noch neuestens Brie: «Die Fortschritte des Völkerrechts seit dem
Wiener Kongrefs > S. 7 fg.
15 ) Lothar Euch er 1. c. S. 28 meint sogar, dafs entwicklungsgeschichtlich
der internationale Vertrag die erste Form der ausdrücklichen Rechtssatzung ge-
wesen sei, nicht das innerstaatliche Gesetz, welches erst später in die Erscheinung
getreten und «der Sundenfall der Rechtsentwicklung» sei. «In der Berührung mit
Anderen, Fremden, Barbaren d. h. Stammelnden, derselben Sprache nicht Mäch-
tigen, zum Kampf und zum Vertrag mit ihnen werden die durch ihre wirtschaft-
lichen Beziehungen, durch die Theilung der Arbeit verbundenen Zusammen-
wohnenden viel eher das Bedürfnifs empfunden haben, einen Führer und Ver-
treter zu haben als in ihren inneren Angelegenheiten. Ein internationaler
Vertrag ist wohl die erste willkürlich, mit Bewufstsein aufgestellte
Rechtsregel gewesen, während im Innern die Sitte und die Jury d. h. das
Nachbargericht gegen den Verächter der Sitte noch lange vorgehalten haben. >
M ) Vgl. hierzu das oben in N. 9. Ausgeführte.
17 ) v. Steck: «Versuch Uber Handels- und Schifffahrtsverträge.» 1782.
») v. Melle in Holtzendorff's Handbuch des Völkerrechts Bd. III
S. 151 fg. und S. 159 n. II.
3e ) Die Warnung vor Ueberschätzung dieser internationalen Organisationen
richtet sich, wie meine früheren Ausführungen zeigen, gegen diejenigen, welche
die Existenzberechtigung des Völkerrechts allein oder doch vornehmlich nach
jenen Bildungen bcurtheilen wollen. Dagegen als Ausläufer und BlUthen völker-
rechtlicher Entwicklung betrachtet, können diese internationalen Organisationen,
besonders der grofsen Verwaltungsvereine gar nicht hoch genug geschätzt werden.
6i
Unter diesem Gesichtspunkte gehören sie zu dem Fruchtbarsten und Bedeutsamsten,
was die heutige Rechtsgestaltung überhaupt hervorgebracht hat. Es ist das Ver-
dienst L. v. Stein's, die Bedeutung dieser Erscheinungen zuerst systematisch
betont zu haben: Handbuch der Verwaltungslehre (3. Aufl.) Bd. I S. 245 fg.
(«Das Völkerrecht und die auswärtigen Angelegenheiten») und besonders S. 262 fg.
(«System des internationalen Verwaltungsrechts»); vgl. auch ebenda
Bd. II, S. 828 fg. (»Die internationale Verwaltung der Volkswirtschaft»). Im
Einzelnen freilich müssen die Ausführungen und Distinktionen Stein's mannig-
fachen Bedenken und Widersprüchen begegnen. Auch Jellinek; «Die Lehre
von den Stantenverbindungen» S. 109 fg. hebt mit Nachdruck und Wärme die
grofse und verheifsungsvolle Bedeutung jener völkerrechtlichen Bildungen hervor.
Wir stimmen ihm und Stein völlig in dem Glauben bei, «dafs man nach einem
Jahrhundert kaum begreifen wird, wie die Träger der Kultur ohne eine inter-
nationale Verwaltungsorganisation haben leben können». Und ebenso zutreffend
sind die Worte Tellinek's, dafs sich von den organisirten Verwaltungsblindnissen
aus eine grofsartige Perspektive in die Zukunft des Völkerrechts sowohl in Theorie
als Praxis eröffnet.
so ) Die Ausführungen im Text dürften uns vor dem Verdachte urtheilsloser
Schwärmerei für die Ideen von Aposteln des ewigen Friedens, die kein Ver-
ständnifs für die Bedingungen der Wirklichkeit beweisen, genügend schützen.
Aber wenn es ein unfruchtbares Beginnen ist, den ewigen Frieden für eine nähere
oder fernere Zukunft mit Sicherheit zu prophezeien, so ist es doch nicht minder
unfruchtbar, die Ewigkeit des Krieges als unantastbares Dogma aufzustellen. Da
ist Prophete rechts, Prophete links; und das echte Weltkind bleibt auch hier
gescheidter Weise in der Mitten. Vollends verwerflich aber erscheint eine An-
schauung, welche die Beseitigung des Krieges nicht nur für ein thatsächlich un-
erreichbares, sondern überhaupt für kein Ideal hält; nicht nur für unmöglich
sondern gar nicht für erstrebenswerth. Die Erörterung hierüber ist in dem be-
kannten, wiederholt publizirten Briefwechsel zwischen Moltke und Bluntschli
gewissermafsen formulirt worden. Was man jedoch bei dem grofsen Schlachten-
denker für eine psychologisch höchst begreifliche Uebcrschätzung des Berufs,
dessen Meister und gefeiertster Vertreter er war, ansehen und verstehen kann, das
gewinnt ein anderes Antlitz, wenn es von Gelehrten, von Vertretern des Völker-
rechts verfochten wird. Ihnen gegenüger ist das bekannte Wort Holtzendorff's
von den «in akademischer Freiheit dressirten Kasernengeistern» zwar wenig höflich,
aufrichtig und begreiflich.
Jener Standpunkt ist nun neuerdings wieder von Lueder in seinem hier
wiederholt citirten Beitrag in Holtzendorff's Handbuch des Völkerrechts Bd. IV
(S. 203 fg.) mit Nachdruck vertreten worden; wogegen einige Bemerkungen hier
um so mehr am Platz sein dürften, als wir im Uehrigen vielfach den Warnungen
Lueder's vor einer Ueberspannung der völkerrechtlichen Ideen zustimmen.
Es ist charakteristisch, dafs als richtige Propheten sowohl die des ewigen
Friedens wie die des ewigen Krieges damit beginnen , den lieben Gott in die
Debatte zu ziehen. Die Einen argumentiren , dafs der Gott der I.iebe, der das
Tödten verboten und gesagt: mein ist die Rache! den Krieg nicht wolle; die
Anderen und mit ihnen Lueder lehren: «Ist der Krieg göttlich, weil ein Welt-
gesetz, so steht er auch mit dem richtigen Kulturideal in Einklang und ist heil-
sam und gut.» Man sollte doch aber endlich auch im Völkerrecht den modeinen
Grundsatz beherzigen, dafs der liebe Gott in die profane Wissenschaft unter gar
keinen Umständen hineingehört. Das hat mit der Frage des Glaubens absolut
nichts zu thun; und gerade gläubige Gcmüther sollten sich sagen, dafs der Wille
62
Gottes ihrer Vormundschaft nicht bedarf, und dafs es etwas lästerlich ist, die
eigene wissenschaftliche Theorie mit der göttlichen Autorität zu schmücken. An
diesem Unheil kann es nichts ändern, dafs auch Männer wie H ol tzen d orff,
der sonst völlig auf modernem Boden stand, die Schwäche hatten, für die nach
unserer Meinung richtige Anschauung in der vorliegenden Frage Argumente aus
der Bibel beizubringen. Was ist gerade in staatlichen Dingen nicht alles aus
dieser Quelle mit gleicher Inbrunst der Ueberzeugung abgeleitet worden. Aus
dem in der Bibel geoffenbarten Willen Gottes leiteten die Hoftheologen das Recht
des fürstlichen Absolutismus her und die Puritaner das Recht zur Revolution und
zur Hinrichtung Karl Stuart's. Man wird doch endlich sich dabei bescheiden
müssen, dafs die Bibel kein Kodex des Staats- noch des Völkerrechts ist; und ob
Gott den ewigen Frieden oder den ewigen Krieg will, weifs nur er allein; wir
haben es lediglich mit irdischen Argumenten zu thun.
In dieser Hinsicht fassen Lueder und seine Gesinnungsgenossen den Krieg
mit Vorliebe unter dem Gesichtspunkt der höheren Pädagogik auf, «als ein not-
wendiges Erziehungs- und unentbehrliches Zuchtmittel des Menschengeschlechts».
Zunächst hängt diese Anschauung im Grunde doch mit der eben bekämpften
zusammen; denn dabei steht nothwendig im Hintergrunde wieder der liebe Gott
als Zuchtmeister, der seinen Zöglingen gelegentlich zu Nutz und Frommen ge-
hörig die Ruthe giebt. Aber vielleicht wird, wie der Mensch, auch die Mensch-
heit einmal erwachsen, so dafs sie das Nöthige und Nützliche, wie der Erwachsene,
in der Regel auch ohne Prügel thut. Vom Standpunkt entwicklungsgeschicht-
licher Betrachtung aus ist mit jenem Argument weiter gar nichts gesagt, als der
eminent selbstverständliche Satz, dafs der Krieg, solange er existirt, auch
innerlich nöthig ist. Für die zukünftige Entwicklung aber ergiebt sich daraus
nicht das Mindeste; denn die fortschreitende Entwicklung kann und soll dann
eben dahin gehen, mit der innerlichen Notwendigkeit auch die Existenz des
Krieges einzuschränken und eventuell aufzuheben. Dafs diese Entwicklung nicht
möglich, ja nicht erstTebenswerth sei, ergiebt sich doch aber wahrhaftig nicht
daraus, dafs sie zur Zeit noch nicht vollendet ist Die Behauptung ferner, dafs
manche Tugenden, wie «Muth, Aufopferung, Gehorsam, Ehrgefühl, kurz alles,
was Männlichkeit ist», ohne Krieg sich nicht entwickeln; manche Laster, wie
«Verweichlichung, Genufssucht, Versinken im Materialismus, Ueberschätzung der
irdischen Güter» ohne Krieg nicht gehemmt werden könnten, ist doch nicht nur
willkürlich, sondern schlägt den Thatsachen geradezu in's Gesicht. Einmal ist es
schon eine unsagbar oberflächliche Auffassung. Muth, Aufopferung, Ehrgefühl,
kurz wahre Männlichkeit sich nur in Uniform, im Schlachtgewühl vorstellen zu
können, während jeder vcrständnifsvolle Blick in das alltägliche Leben eine mora-
lisch weit tiefere Bethätigung jener schönen Eigenschaften in unscheinbarem Ge-
wände zeigt, als in den Ausnahmezuständen des Krieges. Thatsächlich weifs denn
auch die Geschichte, besonders die Kulturgeschichte, wie begreiflich , als Folge
grofser Kriege weit mehr von Verrohung, Zerrüttung bürgerlicher Ordnung und
dergleichen zu erzählen, als von gehobener Moralität. Wie unsagbar edel hätte
nach Lueder 's und seiner Genossen Meinung die Generation nach dem dreifsig-
jährigen Kriege sein müssen , welche jene gewaltige Hochschule aller edlen
Eigenschaften 60 Semester lang frequentiren konnte. Leider zeigen die That-
sachen ein ganz anderes Bild. Und die neueste deutsche Geschichte! Das Ge-i
schlecht, welches die Kriege von 1866 und 1870 schlug, war in einer fünfzig-
jährigen Friedensperiode aufgewachsen, also nach Lueder höchst wahrscheinlich
in «Verweichlichung, Genufssucht» etc. versunken. Die sogenannte Gründerperiode
aber, der viclbeklagte «Tanz um's goldene Kalb» kam nach den grofsen
Kriegen und nicht ohne ursächlichen Zusammenhang mit ihnen. O ihr Realisten!
63
An einer Stelle sieht bei Lu cd er 's Argumentation der bekannte Pferdefufs
recht deutlich hervor. Zu den Lastern, denen der Krieg entgegenwirkt, rechnet
er nämlich stillvergnügt: die Ueberschätzung «gewisser innerstaatlicher Einrich-
tungen wie des Parlaments- und Parteiwesens». Aha, hinc illae lacrimae! Ja
freilich, das parlamentarische Laster verträgt sich nicht besonders mit dem Kriege,
obwohl andererseits wahrhaft gTofsc und nothwendige Kriege auch von der Zu-
stimmung des im Parlamente vertretenen Volkes getragen werden. Aber «inter
arma silent leges»; bis zu gewissem Grade auch unbequeme Verfassungsschranken.
Solch' Gedankengang ist bei einem General ganz natürlich; weniger bei einem
Vertreter der Rechtswissenschaft.
Lueder meint: «Diejenigen Völker, welche die wenigsten Kriege aufzu-
weisen haben, stehen deshalb auch am weitesten in der Kultur überhaupt oder
der Entwicklung gewisser Seiten derselben zurück.» Eine Uberaus kühne Be-
hauptung; e contrario liefse sich folgern, dafs afrikanische Negerstämme, die in
unaufhörlichem Kriege leben, am weitesten in der Kultur voran seien; jedenfalls
weiter, als die Schweizer, die seit 80 Jahren nur den kleinen Sonderbundskrieg
geführt haben. Aber Lueder giebt selbst ein Beispiel: «Nordamerika ist ein
Beispiel dafür, welche Nachtheile aus langem Frieden und dem blofs dem fried-
lichen Geschäft und Gewinn gewidmeten Leben erwachsen.» Ja; aber auch welche
Vortheile! Und auf welcher Seite das Uebergewicht ist, das ist doch recht zweifel-
haft. Es giebt Leute — und zwar solche, welche die amerikanischen Verhältnisse
innerlichst kennen, — die die Vortheile für unendlich überwiegend halten. Zu-
dem ist der Zusammenhang dieser Vortheile mit der Freiheit Amerikas von den
Lasten des Militarismus klar und zweifellos, wahrend der Zusammenhang jener
Nachtheile mit dem Friedenszustande nur eine recht fragwürdige Behauptung ist.
Denn Amerika hat ja einen vierjährigen Bürgerkrieg geführt, der länger, gewal-
tiger und tiefgreifender war, als alle unsere Kriege seit 1815 zusammen. Das
amerikanische Leben zeigt wesentlich andere Züge, als das unsere; gewifs, aber
dafs es in summa deshalb geringwertiger ist, das ohne Weiteres anzunehmen,
ist Pharisäerart.
Auf die behauptete segensreiche Wirkung des Krieges für Wissenschaft und
Kunst einzugchen, können wir uns ersparen. Denn dafs die Technik sich Man-
gels der Kanonen- und Pulverindustrie fruchtbarere Arbeitsgebiete suchen würde;
dafs «der Dichtkunst, der Malerei, der Plastik aller Völker» auch ohne neue
kriegerische Motive geholfen würde, bedarf keiner Worte. Und dafs vollends
«auch in nationalökonomischer und internationalökonomischer Beziehung der Krieg
von sehr wohlthätiger Bedeutung» sein soll, das steht auf gleicher Höhe mit der
Ansicht, dafs FeuersbrUnste für das Baugewerbe und grofse Sterblichkeit für —
die Hebammen vorteilhaft sind.
Nur ein Argument sei noch beleuchtet, weil es dem Kern der Sache am
nächsten steht. Lueder sagt: <So zeigt uns auch die gesammte Natur ein Bild
des Kampfes. Krieg ist ihre Losung und zwar innerhalb der menschlichen Rassen
nicht weniger als sonst in der Natur. Krieglosigkeit ist deshalb nicht nur ein
unmöglicher, sondern auch ein unnatürlicher und ungesunder Zustand. Darauf
deutet auch das tief innewohnende Kampfesbedürfnifs und die Kampfnothwendig-
keit des Menschen, wie auch im Leben der Einzelnen keine neue Idee und keine
Fortschrittsentwicklung ohne Kampf sich Bahn bricht.» Diese Ansicht theilen wir
voll und ganz; der Kampf ist nach der Natur der Dinge genau so ewig, so un-
entbehrlich für die Entwicklung der Menschen, wie der Interessengegensatz;
denn jener ist mit diesem identisch. Dafs ein Verlöschen des Interessengegen-
satzes undenkbar ist, wurde früher dargethan (vgl. oben N. 9). Aber Art und
Form des ewigen Kampfes ist veränderlich und dem Fortschritt zugänglich; dafs
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der Krieg d. h. MoTd und Todtschlag eine ewig unabänderliche Form dieses
Kampfes sei , dafür giebt es keinen Beweis, und darauf allein kommt es hier an.
Die wilden Thiere kämpfen diesen Kampf, indem sie sich auffressen; die wilden
Menschen machen es nicht viel anders; und der Krieg ist ein Rest jener wilden
Kampfesform. Aber daneben hat die Kultur andere Mittel und Formen ausge-
bildet, in denen sich jener ewige Interessengegensatz äufsert. Auch die Glieder
desselben Staates leben nicht in gegensatzloser Brüderlichkeit miteinander; auch
wer nie in seinem Leben ein Scbiefsgewehr oder einen Säbel gehandhabt, hat
jenen Kampf um 's Dasein, vielleicht täglich und stündlich, gekämpft; aber in den
kultivirtcn Formen unserer Gesittung. Ob nicht auch der Kampf der Völker
untereinander sich einstmals völlig in die Formen der Kultur fügen wird, in
denen er sich ja jetzt schon in der Regel bewegt, — diese Frage können wir —
Mangels Prophetengabe — nicht mit Sicherheit bejahen; aber noch weniger ver-
neinen; und keinesfalls erscheint es vereinbar mit dem allgemeinen Gange der
Kultur, das Erstrebenswerthe dieser Entwicklung als eines Kultur- und Rechts-
ideals zu leugnen. Wenn Lueder meint: «Es ist kein Ruhm unserer Zeit, dafs
in ihr das Gefühl für die sittliche Bedeutung des Krieges vielfach abbanden ge-
kommen ist,» so ist das in seinem Sinne eine Aeufserung moralischer Begriffs-
verwirrung. Leider giebt ihm unsere Zeit lange nicht genug Anlafs zu seinem
Vorwurf. Wir aber würden es für einen unvergleichlichen Ruhm eines Zeitalters
halten, wenn die Bedeutung des Krieges als eines Rudiments der rohen Form, in
der sich einst der natürliche und ewige Interessengegensatz äufserte, zum Durch-
bruch und zur Erkenntnifs käme.
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Die Nation.
Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Litteratur.
Herausgegeben von Dr. Th. Barth.
Die «Nation» besteht seit Okiober 1883.
Die «Nation» ist politisch freisinnig, sie nimmt Partei gegen den Staats-
socialismus, und tritt für die Erwerbsfreiheit ein.
Die «Nation» bringt ausschliefsüch Originalarlikel von hervorragenden
Politikern. Schriftstellern, Gelehrten; regelmäfsige orientirende kritische Ueber-
sichten Uber politische, volkswirtschaftliche , parlamentarische, künstlerische,
litterarische Vorgänge; historische und philosophische Essais; Besprechung wissen-
schaftlicher Tagesfragen; Theater -Kritiken; satirische Glossen zur Zeitgeschichte;
internationale Zeitschriften-Revue; Beitrage ausgezeichneter ausländischer Publizisten ;
Büchel besprechungen.
Ueber die Verhandlungen des Preußischen Landtages und des Deutschen
Reichstages erscheinen während der Sessionen allwöchentlich aus der Feder
hervorragender Parlamentsmitglieder Berichte, in denen das Wesentlichste der
parlamentarischen Vorgange gesichtet und kritisch gewürdigt den I>esern der
«Nation» geholen wird. —
Bisher haben neben dem Herausgeber grofsere Aufsätze unter ihrem Namen
in der »Nation« pubticirt: die Keichstagsabgeoidneten Bamberger —
Baumbach — Carl Braun — M. Broemel — Hfinel — Hinze — Alexander Meyer
— Möller Munckel — Rickert — K. Schräder — A. Traeger - Virchow —
— N. W. Witt - F. Witte (Rostock), femer die Herren Carl Abel - Hof-
rath Aldenhoven (Gotha) — Geh Justizrath L. v. Bar — A. Baigneres (Paris)
Anton Bettelheim (Wien) — Poultney Bigelow (London) — 0. Brahra —
Prof. G. Brugsch — Prof. C. Bulle (Bremern - Georg v. Bunsen - Th.
v. Bunsen — R. Dielitz — Dr. W. Dietrich — Dr. H. Dohrn (Sieuirij —
Dr. Jul. Duboc ( Dresden) - Stadtsyndicus Eberty, M. d. Pr. Abg.-H. —
Geh. Ober • Reg.- Rath a. D. Dr. E. Engel — Charles Ephrussi (Paris) - Ludwig
Fulda (München) - E. Fitger — Dr. Aug. Förster (vom Deutschen Theater in
Kerlin) - Dr. E. Friedemann — Prof. Dr. A. Furtwängler (Berlin) - Prof. L.
Geiger (Berlin) — Prof. R. Gosche (Halle a. S.| — Charles Grant (Beckenham)
— Dr. R. Greiling — Prof. S. Günther (Ansbach) — Prof. 0. Hirschfeld —
Prof. H. v. Holst Freiburg) - Prof. Dr. f. v. Holtzendorff (München) - A.
Herzog (Freiburg) — Heinrich Homberger (Florenz) - Prof. H. Janitschek
(Strafsourgl — L Kieschke, M. d. Pr. Ahg.-H. — A. Laramers — Professor
K. Lasswitz (Gotha) - Dr. J. Lippert (Kundiatitz) — Fritz Mauthner — A.
Milner (London) — Prof. Theodor Mommsed — Dr. E. Muensterberg — Dr.
P. Nathan — Dr. Neudecker (wurzburc) — Prof. F. X. v. Neumann-Spallart (Wien)
— H. de Neve — H. Nordmann — Professor M. v. Pettenkofer (München) —
Hodgson Pratt (London) — Dr. H. Preuss — Prof. Dr. J. Rosenthal (Erlangen)
— Rouxel (i'aiis) — Dr. Paul Sohlenther (Kerlin) — Rechtsanwalt E. Sello —
Dr. theol. M. Schwalb (Bremen) - E. Schiff — Prof. J. Schuhmann (Rom) —
Prof. H. Steinthal (Berlin) - Prof Dr. A Stern (Kern) - Dr. Max von Wald-
berg (Czernowit/) — Dr. Max Weigert (Kerlin) — Prof. Weinhold (Breslau) —
Prof. Karl Werder (Berlin) — Landesökonomierath R. Weidenhammer (Darmstadi)
— Carl Weinstein (Berlin) — Dr. Georg Winter (Marburg) — Dr. 0. Wolff
(Stettin) — Pastor H. Ziegler (Liegnitz) und Andere.
UeV Preis beträgt für gant Deutschland und Oesterreich- Ungarn pro
jfahr /J Mark (pro Quartal J.7J Mark), im Weltpostverein pro yahr 16 Mark
(pro Quartal 4 Mark), eineilei ob die »Nation» durch die Post oder durch den Buch-
handel oder direct unter Kreuzband von der Expedition besagen wird.
Probe • Abonnements für einzelne Monate nimmt bei Kinsendung von
Mark 1,25 die Expedition entgegen.
Probe -Exemplare gratis. Anf Wunsch unserer Freunde schicken wir die-
selben auch gialis an aufgegebene Adressen.
„Expedition der Nation"
H. S. Hermann
Berlin SW., Beuthstrasse 8.
Verlag von Leonhard Simion, Berlin SW., Wilhelmstrasse 121.
VolksWfrthschaftliche Zeitfragen,
Vortrüge und Abhandlungen
hernusgojjcheii vr>n
der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft zu Berlin.
L Das Schreiben des Reichskanzlers an den Bundesrath
vom 15, December 1878 betreffend die Revision des
Zolltarifs. Von Dr. Ludwig Bamberger.
2. Oer Staat und die Voikswirthschaft Von Dr. Karl
Braun, KeiclisUgs-Abg.
2u Aus der Geschichte der englischen Kornzölle. Von Dr.
IL B. Oppenheim.
4. Der Schutz in der Weltwirtschaft Von Prof. Dr.
F. X. v. N tu in um - S pal lurt.
fi Zur Entwicklungsgeschichte der heutigen rcactionären
Wirtschaftspolitik. Von Dr. Tb. Barth. Syndikus
in Bremen.
fL Die Bettelplage. Von A. Lammers.
~L Gegen die Verstaatlichung der Preussischen Privat-
bahnen. Von Dr. Marcus.
8. Der Volkswirthschaftliche Senat Von Dr. Max Weigert
9i Die handelspolitische Stellung der Deutsch«n See-
städte, Von Dr. Th. Barth.
10. Die Entlastung der Kulturarbeit durch den Dienst der
physikalischen Kräfte. Von M M. r. Weber.
IL Die Reichstagsverhandlungen Uber MUnzreform und
Bankwesen. j24. u. ü Februar 1880.) Herausgegeben
und eingeleitet von Dr. Ludwig Bamberger.
12 u. 10. Ueber Colonisation. Von F. C. Philippson.
1A. Die Amerikanische Weizenproduktion. Von Fr. Kapp.
iL-, Das Faustpfandrecht und die Hypotheken-Banken.
Von Julius Bäsch.
lfL Staats» Armenpflege. Von A. Lammers.
lZu.Uk Der Steuerreformplan in seiner neuesten Form.
Von F.. Fitger.
18, Die wirthschaftlichen Verhältnisse der Vereinigten
Staaten von Amerika in ihrer Ruckwirkung auf die-
jenigen Europa's. Von A. r. Totis.
20 u. 2L Die Männer des Zollvereins. Von Dr. K. Braun.
22, Deutschlands Getreideproduktion, Brodbedarf und
Brodbeschaflung. Von Oh. Lorenz.
23, Sparen und Versichern. Von A. Lammers.
24, Das Rechnungsbuch der Hausfrau und dessen Be-
deutung im Wirthschaftsleben der Nation. Von Dr.
Emst Engel.
25, Zur Reform des Actienqesellschaftsrechts. Von Dr.
Felix Hecbt.
26, Das Irische Landgesetz vom Jahre 1881. Von Dr.
Eduard Wiss.
2L Wandlungen im Welthandel. Von Dr. Th. Barth.
28. Ziele und Bahnen der Deutschen Armenpflege. Von
A. Lamm ers.
25L Unsere Binnenschiffahrt. Von Dr. A. v. Studnitz.
30. Branntwein- u. Katleeschenken. Von A. Lämmer«.
SU. Oie Buchdruckerkunst und der Kulturfortschritt der
Menschheit. Von Dr. Karl ron Scherz er.
32. Die praktischen Versuche zur Lösung der socialen
Probleme. Von Dr. jur. Victor Böhm er t.
XL Der Colportagebuchhandel u. die Gewerbenovelle. Von
Dr. K. Baum bacb.
34 u. 35, Der Wahrungsstreit 1879 - 1883 Von Dr.
Wolfgang Eras.
3JL Die Vagabundenfrage. Von Karl Braun.
3J. u. 28. Der Werth des Menschen. Von Dr. E. Engel.
L Der Kostenwerth des Menschen.
32. Bemerkungen zu dem Entwurf eines Gesetzes betr.
Commanditqesellschatten auf Actien und Aktien-
gesellschaften. Von Adel bort Delbrück.
40. Armen-Beschäftigung. Von A. Lämmer«.
11 U. 42. Gegen den Staatssocial Ismus. Drei Abhand-
lungen von Ludwin Bamberg er, Theodor
Barth, Max Broemel.
43 u. 4>. Die bäuerlichen Zustände in Deutschlaad. Von
N. M Witt.
45. Der Modeteufel. Vortrag von Julius Lessing.
4fi. Die Capitalrentensteuer. Von Max Broemel.
4Iu 4B. Ueber Lebensmittelversorgung von Grofsstädten.
Von E. Eberti.
49. Friedrich Kapp. Gedichtnissrede r. G. v. Bunsen.
hü u. HL Was ist ein altes Kunstwerk werth? Von Di.
J. Lessing.
52. öffentliche Kinder-Fürsorge. Von A. Lammers.
[lL Die Krisis des Zwischenhandels. Von Dr. Max
Weigert.
54. Der Normal Arbeitstag. Von Karl ßaumbach.
65 u. SÜL Die Seehafen Englands und ihr« Ausrüstung
mit Rücksicht auf die Hafenbauten beim Zollan-
schluss Hamburgs und Bremens. Von E Fitger.
67. Das Branntwein-Monopol. Von Dr. Wolfg. Eras.
bJL Die Kolonisations • Bestrebungen der modernen
europaischen Völker und Staaten. Von Dr. Karl
Braun, Mitglied des Reichstags.
53. Die socialistische Gefahr. Von L. Bambergen
60. Die Seehafen im heutigen Weltverkehr. Von Dr.
V. Marcus.
61. u. 62. Oer wir thschaf fliehe Werth des Geschmacks.
Von Alexander Dorn.
£1 u. 6A Über Welthandelsstrassen des Abendlandes.
Von Dr. J. Jastrow.
65, Armenrecht u. Armenwesen. Von Adolf Lasson.
6J>. Oie Organisation des Binnenschiftfahrts - Betriebes.
Von Dr. W. Eras.
67. Handarbeit Von Dr. J. Lea sing.
6iL Amerikanisches Wirthschaftsleben. Von Dr. Tb. Barth.
69. Zünftlerthum. Ein Gutachten des Freilierm v. Patow.
Von Karl Baumbach, Mitglied des Reichstags.
70. Erhöhung der Kraft in Menschen und Völkern. Von
A. Lämmer«.
71 u. 72. Voikswirthschaft und Unterricht Von Dr.
Emanuel Herrmann.
73. Scheinbare und wirkliche Socialreform. Von Dr.
Theodor Barth.
74. Ueber Altersversicherung der Arbeiter. Von Dr.
Alexander Meyer.
75 u. 76. Staatsbürgerthum oder eine neue ständische
Gesellschaft in Deutschland. Von E. F. Seemann.
77 u. 78. Deutschlands Waarenhandel mit dem Auslande
in den Jahren 1872-1887 nach den Ergebnissen der
deutschen Reichsstatistik. Von Prof. M. Diezmann.
79. Oie Präsidentenwahl und die Zollpolitik der Ver-
einigten Staaten von Amerika. Von Dr. Th. Barth.
80. Die Familie vom Standpunkte der Gesammtwirthschaft.
Von Dr. Emanuel Herrmann.
8t. Frauenarbeit u. Frauenschutz. Von K. Baumbaeb.
82 u. 83. Unserer Vater Werke. Von Jul. Leasing.
84. Zur Beurtheilung des Verbrauchs und der indirekten
Abgaben bei verschiedenem Einkommen. Von Dr. KarL
85 u. 86. Der Kreuzzug wider den Terminhandel. Von E. T.
87 u. 88. Das Interesse des Kaufmannstandes an dem
Bürgerlichen Gesetzbuch. Von J. Jastrow.
89. Oie Kosten des Haushalts in alter Zeit. Von Prof.
Dr. Heinrich lirugsvli.
90 u. 91. Die Volksschule und der gewerbliche Unterricht
in Frankreich. Von Dr. Max Weigert.
92 94. Oie Wohnungsfrage und die Bestrebungen der Ber-
liner Baugenossenschaft. Von Dr. Paul Kitthan.
95 96. Die sozialdemokratische Gedankenwelt Von Dr.
Theodor Barth, Mitglied des Reichstags.
97. Das Kunstgewerbe als Beruf. Von Julius L es sing.
Druck To« Lfoaltfril Slniii.a in l)»rlln SW°,
HARVARD LAW LIBRARY
FROM THE LIBRARY
OF
RAMON DE DALMAU Y DE OLIVART
MARQUES DE OLIVART
Received December 31, 191 1