Der monismus
als band
zwischen
religion und
wissen schaff
Ernst Heinrich
Philipp August
Haeckel
I
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Der Monismus
als Band zwischen
Religion und Wissenschaft.
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Tm Namen Dessen, der Sich selbst erschuf,
J. Von Ewigkeit in schaffendem Beruf;
In Seinem Namen, der den Glauben schafft,
Vertrauen, Liebe, Thätigkeit und Kraft;
In Jenes Namen, der, so oft genannt,
Dem Wesen nach blieb immer uubekannt:
So weit das Ohr, so weit das Auge reicht,
Du findest nur Bekanntes, das Ihm gleicht,
Und Deines Geistes höchster Feuerflug
Hat schon am Gleichniss, hat am Bild genug;
Es zieht Dich an, es reisst Dich weiter fort,
Und wo Du wandelst, schmückt sich Weg und Ort;
Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit,
Und jeder Schritt ist Unermesslichkeit.
Was war' ein Gott, der nur von aussen stiesse,
Im Kreis das All am Finger laufen Hesse!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So dass, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seineu Geist vermisst.
Goktue.
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Der Monismus
als Band zwischen
Religion und Wissenschaft
Glaubensbekenntnis eines Naturforschers
vorgetragen am 9. Oktober 1892 in Altenburg beim 75jährigen Jubiläum
der Naturforschenden Oesellschaft des Osterlandes
von
V- '• *• ■ v / ■ ' ' ■' ' 1 , •
Ernst Haeckel
Professor an der Universität Jena.
Dreizehntes und vierzehntes Tausend.
Leipzig
Alfred Kröner Verlag
1908.
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Neue Götter.
Krachend stürzen deine Sitze
Vor des Mönches frevlem Beil;
Rüste, Donar, deine Blitze,
Triff ihn mit dem Donnerkeilt
Wetter sehn wir wohl sich ballen,
Aber ach, kein Strahl entloht;
Schiedet ihr ans Asgard's Hallen?
Ahnen-Götter, seid ihr todt?
Schon habt ihr den Balder zu Grabe getragen,
Mit heissen, mit ewig erneueten Klagen;
Nun brach auf euch selber die Dämm'rung herein,
Das göttervcrschlingende, schwarze Verhängniss,
Und lodernd als Fackel zum Leichenbegängniss
Verzehrt sich in Flammen der heilige Hain.
Deutet uns der Christen Mahnung,
Was die Sage halb enthüllt?
Ward des Baldcrliedes Ahnung
In Mariä Sohn erfüllt?
Neues Reich wird er bereiten,
Der vom Tode rein erstand,
Und durch Zeit und Ewigkeiten
Waltet nun der Heliand?
Die Berge versinken, es steigen die Meere,
Die Fülle, sie leert sich, es füllt sich die Leere,
Die Jahre, die Tage verwandeln die Welt;
Das heute Gebor'ne muss morgen veralten;
Selbst Götter gehorchen den dunklen Gewalten,
Und gründen ihr Reich, und es steht und zerfällt!
— 6 -
Fahret hin, ihr hohlen Larven!
Nimmer tön' euch Festgesang,
Und wir schlendern unsre Harfen
Noch in euren Untergang;
Nimmer ziemt uns mehr dos frommen,
Priesterlichen Kreuzes Zier:
Denn ein andrer Gott ist kommen,
Der da besser ist denn ihr!
Doch hört es, ihr Enkel, wenn einst das Jahrtausend
Der Zukunft von Neuem aufgährend und brausend
Zerschmettert den heute gebauten Altar,
Zerschmettert die Tempel, die ragend sich thürmen,
Dann nahet euch wieder ein Gott in den Stürmen,
Dann bringt ihm die Seele, die hoffende, dar.
Denn, wie auch die Form sich wandelnd
Stets ein ander Antlitz weist,
Einer ist, der ewig handelnd
Mit sich fort das Weltali reiest.
Bild ist, wie er uns erscheine,
Niemand spricht sein Wesen aus;
Doch in unsres Busens Reine
Steht sein unvergänglich Haus.
ArTTIDB FlTQEO.
Vorwort
Der nachstehende Vortrag über „Monismus" ist eine freie Ge-
legenheitsrede; er entstand unvorbereitet am 9. October 1892
in Altenburg, während des 75jfthrigen Jubiläums der „Natur-
forschenden Gesellschaft des Osterbindes". Die unmittelbare Ver-
anlassung zu meinem Vortrage gab die vorhergehende Festrede, welche
Herr Professor Schlesinger aus Wien „über naturwissen-
schaftliche Glaubenssätze" hielt. Mehrere Sätze dieser
philosophischen Festrede betrafen die wichtigsten und höchsten Auf-
gaben der menschlichen Naturerkenntniss; andere Behauptungen
derselben forderten unmittelbar zu einer Entgegnung und einer Dar-
legung abweichender Auffassung auf. Da ich selbst seit dreissig
Jahren mich mit jenen naturphilosophischen Problemen sehr ein-
gehend beschäftigt und meine monistischen Ueberzeugungen in ver-
schiedenen Schriften niedergelegt habe, wurde von Seiten mehrerer
Festgenossen der Wunsch ausgesprochen, dieselben bei dieser feier-
lichen Gelegenheit kurz zusammenzufassen. Indem ich diesem
Wunsche nachkam, entstand das nachstehende „naturwissenschaftliche
Glaubensbekenntniss". Der wesentliche Inhalt desselben, wie ich
ihn am folgenden Tage aus der Erinnerung niederschrieb, erschien
zuerst in der „Alten burger Zeitung" vom 19. October 1892 (Nr. 246,
zweites Blatt). Einen Abdruck dieser ersten Mittheilung, mit einigen
philosophischen Zugaben, enthält das November-Heft der „Freien
Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit" (Berlin, Jahrg. III,
Heft 11). In der vorliegenden Abhandlung ist die Altenburger
Rede durch Zusätze bedeutend vermehrt, und einzelne Theile sind
weiter ausgeführt. In den Anmerkungen (S. 37 — 46) habe ich
einige brennende Fragen der Gegenwart in monistischem Sinne be-
leuchtet.
Der Zweck meines aufrichtigen monistischen Glaubensbekennt-
nisses ist ein doppelter. Erstens möchte ich damit derjenigen ver-
nünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns durch
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die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntniss mit
logischer Notwendigkeit autgedrungen wird; sie wohnt im Innersten
von fast allen unbefangenen und denkenden Naturforschern, wenn
auch nur Wenige den Muth oder das Bedürfniss haben, sie offen
zu bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band zwischen
Religion und Wissenschaft knüpfen und somit zur Aus-
gleichung des Gegensatzes beitragen, welcher zwischen diesen beiden
Gebieten der höchsten menschlichen Geistesthätigkeit unnötiger-
weise aufrecht erhalten wird; das ethische Bedürfniss unseres Ge-
müthes wird durch den Monismus ebenso befriedigt, wie das
logische Causalitätsbedürfniss unseres Verstandes.
Dass diese naturgemässe Verbindung von Glauben und Wissen,
die vernünftige Versöhnung zwischen Gemüth und Verstand, täglich
mehr ein dringendes Bedürfniss der gebildeten Kreise wird, beweist
die steigende Fluth der darüber veröffentlichten Broschüren und
Bücher. In Nordamerika (in Chicago) erscheint schon seit mehreren
Jahren eine Wochenschrift, welche diesem Zwecke gewidmet ist:
„The Open Court, A weekly Journal devoted to the Work of
Conciliating Religion with Science". Der treffliche Herausgeber
derselben, Dr. Paul Carus (Verfasser von „The Soul of Man",
1891), widmet ausserdem derselben Aufgabe eine besondere Viertel
jahrsschrift unter dem Titel : „TheMonist, a quarterly Magazine".
Es wäre höchst wünschenswerth , dass diese werthvollen Versuche
der Annäherung von empirischer und speculativer Naturbetrachtung,
von Realismus und Idealismus mehr beachtet und gepflegt würden;
denn nur durch ihre naturgemässe Vereinigung nähern wir uns dem
höchsten Ziele unserer Geistesthätigkeit, der Verschmelzung von
Religion und Wissenschaft im Monismus.
Jena, am 31. October 1892.
Ernst Ilaeckel.
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Hochgeehrte Festversammlung!
Eine Gesellschaft, welche die Erforschung der Natur und die Er-
kenntniss der Wahrheit zum Zweck hat, kann ihre Gedenktage
nicht würdiger feiern, als durch Erörterung ihrer höchsten all-
gemeinen Aufgaben. Wir müssen es daher mit Freuden begrüssen,
dass der Herr Festredner bei einem so feierlichen Anlasse, wie das
75 jährige Jubiläum Ihrer Naturforschenden Gesellschaft ist, zum
Thema seines Vortrages einen Gegenstand von höchster allgemeiner
Bedeutung gewählt hat. Leider wird es bei ähnlichen Anlässen,
und selbst in den allgemeinen Sitzungen der grossen „Versammlung
Deutscher Naturforscher und Aerzte", immer mehr üblich, das
Thema der Festrede einem engen Specialgebiete von beschränktem
Interesse zu entnehmen. Wenn diese zunehmende Gewohnheit auch
durch die steigende Arbeitstheilung und die divergente Speciali-
sirung in allen Arbeitsgebieten entschuldigt werden kann, so sollte
man doch gerade bei so feierlichen Gelegenheiten die Theilnahme
der Fcstversammlung für grössere Gegenstände von allgemeinem
Interesse in Anspruch nehmen.
Ein solches Thema von grösster Bedeutung sind die „natur-
wissenschaftlichen Glaubenssätze", über welche soeben Herr Pro-
fessor Schlesinger seine eigenartigen Ideen entwickelt hat 1 ). Ich
freue mich, in vielen wichtigen Punkten mit ihm zu harmoniren,
während ich in anderen Beziehungen einige Bedenken äussern und
abweichende Ansichten zur Erwägung stellen möchte. Zunächst
stimme ich vollkommen mit ihm übercin in der einheitlichen
Auffassung der Gesammtnatur, welche wir mit einem Worte als
Monismus bezeichnen. Unzweideutig drücken wir damit unsere
Ucberzeugung aus, dass „ein Geist in allen Dingen" lebt, und
dass die ganze erkennbare Welt nach einem gemeinsamen Grund-
gesetze besteht und sich entwickelt. Insbesondere betonen wir
dabei die grundsätzliche Einheit der anorganischen und organischen
Natur, von denen ja die letztere erst verhältnissmässig spät aus der
ersteren sich entwickelt hat 2 ). Ebenso wenig als eine scharfe
Grenze zwischen diesen beiden Hauptgebieten der Natur zu ziehen
- 10 —
ist, ebenso wenig können wir auch einen absoluten Unterschied
zwischen Pflanzenreich und Thierreich anerkennen, ebenso auch
nicht zwischen Thierwelt und Menschenwelt Dementsprechend be-
trachten wir auch die ganze menschliche Wissenschaft als ein einheit-
liches Erkenntnissgebäude; wir verwerfen die übliche Unterschei-
dung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Die
letztere ist nur ein Theil der ersteren ( — oder auch umgekehrt — ) ;
beide sind Eins! Unsere monistische Weltanschauung ge-
hört demnach zu jener Gruppe der philosophischen Systeme, die
man von anderen Standpunkten auch als mechanistische oder
pantheistische bezeichnet hat. Wie verschieden sich auch die-
selbe in den philosophischen Systemen eines Empedokles und
Lücretiüs, eines Spinoza und Giordano Bruno, eines Lamarck und
David Strauss ausgedrückt hat, immer bleibt ihr gemeinsamer
Grundgedanke die kosmische Einheit, der untrennbare Zu-
sammenhang von Kraft und Stoff, von Geist und Materie — oder,
wie man auch sagen kann, von Gott und Welt Kein Geringerer,
als unser grösster Dichter und Denker, Goethe, hat derselben im
„Faust" und in seinen wundervollen Dichtungen „Gott und Welt"
einen poetischen Ausdruck gegeben.
Zur richtigen Würdigung dieses „Monismus" lassen Sie uns
zunächst von der Höhe philosophisch-historischer Betrachtung einen
umfassenden Rückblick auf die geschichtliche Entwickelung der
menschlichen Naturerkenntniss werfen. Eine lange Reihe ver-
schiedenartiger Vorstellungskreise und Bildungsstufen des Menschen
zieht da an unserem geistigen Auge vorüber. Auf der niedersten
Stufe die rohe — wir dürfen sagen: thierische — Stufe des
prähistorischen Urmenschen — jenes „Affen-Menschen", der
während der Tertiärzeit sich nur in geringem Grade über seine
unmittelbaren pitheeoiden Vorfahren, die Menschen-Affen, erhoben
hat. Dann folgt eine Reihe von Bildungsstufen niederster Art, von
deren Einfachheit uns theilweise die rohesten, noch heute existiren-
den „Naturvölker" eine Vorstellung geben können. An diese
„Wilden" schliessen sich weiterhin die niederen Culturvölker an,
und von diesen führt wieder eine lange Reihe von Zwischenstufen
allmählich zu den höheren Culturvölkern hinüber. Nur diese
letzteren — von den zwölf Menschenrassen nur die mediterrane und
die mongolische — haben das gemacht, was wir gewöhnlich un-
passend „Weltgeschichte", richtiger „Völkergeschichte" nennen.
Der Zeitraum, welcher diese letztere (und damit zugleich die
Versuche wissenschaftlichen Erkennens) umfasst, beläuft sich
noch kaum auf sechstausend Jahre — eine verschwindend kurzo
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— 11 -
Zeitspanne in der langen Kette von Jahrmillionen der organischen
Erdgeschichte.
Bei den ältesten Urmenschen oder Affenmenschen, und ebenso
auch noch bei den aus ihnen zunächst hervorgegangenen „Natur-
völkern" können wir noch nicht von einem „Naturerkennen" sprechen.
Der rohe ursprüngliche Naturmensch ist auf dieser tiefsten Stufe
noch nicht jenes rastlose „Ursachenthier" von Lichtenberg;
sein Causalitätsbedürfniss erhebt sich noch nicht über dasjenige der
Affen und Hunde; seine Neugierde hat sich noch nicht zu reiner
Wissbegierde gesteigert. Wollen wir bei den pitheeoiden Urmenschen
von „Vernunft" sprechen, so kann das nur in demselben Sinne
wie bei jenen höchst entwickelten Säugethieren geschehen, und das
Gleiche gilt auch von den ersten Anfangen der Religion 8 ).
Man pflegt zwar noch jetzt nicht selten den Thieren überhaupt
Vernunft und Religion ganz abzusprechen. Indessen überzeugt uns
eine unbefangene Vergleichung vom Gegentheil. Die langsame und
allmähliche Vervollkommnung, welche das Cultur leben im Laufe
von Jahrtausenden in der Menschenseele bewirkt hat, ist auch an
der Seele unserer höchst stehenden Hausthiere (vor allen der Hunde
und Pferde) nicht spurlos vorübergegangen. Im steten Zusammen-
leben mit dem Menschen und unter dem Einflüsse seiner Erziehung
haben sich auch in ihrem Gehirn allmählich höhere erbliche Ideen-
Associationen und ein vollkommneres Urtheil entwickelt. Die Dressur
ist zum Instinct geworden, ein unwiderlegliches Beispiel von der
„Vererbung erworbener Eigenschaften"*).
Die vergleichende Psychologie lehrt uns eine lange, lange Reihe
von historischen Ausbildungsstufen der Seele im Thierreiche kennen.
Aber nur bei den höchst entwickelten Wirbelthieren, den Vögeln
und Säugethieren, erkennen wir die ersten Anfänge der Vernunft,
die ersten Spuren religiösen und ethischen Verhaltens. Bei ihnen
treffen wir nicht allein die socialen Tugenden aller höheren, gesellig
lebenden Thiere (Nächstenliebe, Freundschaft, Treue, Aufopferung
u. 8. w.), sondern auch Bewusstsein, Pflichtgefühl und Gewissen,
und dem beherrschenden Menschen gegenüber denselben Gehorsam,
dieselbe Unterwerfung, dasselbe Schutzbedürfniss, welches die
Naturvölker ihren „Göttern" entgegenbringen. Den letzteren wie
den ersteren fehlt aber noch jene höhere Stufe des Bewusstseins
und der Vernunft, welche die umgebende Welt zu erkennen
strebt und welche den ersten Anfang der Philosophie, der
„Weltweisheit" , bezeichnet. Diese ist erst eine viel spätere Er-
rungenschaft der Culturvölker; sie hat sich erst langsam und all-
mählich aus niederen religiösen Vorstellungskreisen herangebildet
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Auf jeder Stufe der primitiven Religion und ebenso auch der
ursprünglichen Philosophie ist der Mensch noch weit von monistischen
Vorstellungen entfernt. Indem er die Ursachen der Erscheinungen
aufsucht und daran seinen Verstand übt, ist er überall zunächst ge-
neigt, persönliche Wesen, und zwar menschenähnliche Götter als die
bewirkenden Factoren anzuerkennen. Im Donner und Blitz, im
Sturm und Erdbeben, im Kreislauf der Sonne und des Mondes, in
jeder auffallenden meteorologischen und geologischen Veränderung
erblickt er die unmittelbare Wirksamkeit eines persönlichen
Gottes oder Geistes, und dieser wird gewöhnlich mehr oder
minder anthropomorph oder menschenähnlich gedacht. Es werden
gute und böse Götter unterschieden, freundliche und feindliche, er-
haltende und zerstörende, Engel und Teufel.
In noch höherem Maasse gilt das, wenn der wachsende Er-
kenntnisstrieb nunmehr auch die verwick eiteren Erscheinungen des
organischen Lebens in Betracht zieht: Werden und Vergehen der
Pflanzen und Thiere, Leben und Tod des Menschen. Die kunst-
volle und zweckmässige Zusammensetzung der organisirten Lebe-
wesen fordert unmittelbar zum Vergleich mit den planmässig con-
struirten Kunstgebilden des Menschen auf, und so verwandelt sich
denn die unbestimmte Vorstellung des persönlichen Gottes in die-
jenige eines planmässig bauenden Schöpfers. Bekanntlich hat
sich diese Auffassung der organischen Schöpfung, als Kunst-
produkt eines anthropomorphen Gottes — eines „göttlichen
Maschinenbauers" — noch bis zur Mitte unseres Jahrhunderts sehr
allgemein erhalten, trotzdem schon vor mehr als zweitausend Jahren
hervorragende Denker ihre Unnahbarkeit klarlegten. Der letzte
namhafte Naturforscher, der sie vertrat und ausführte, war Louis
Aoassiz (gestorben 1873). In seinem merkwürdigen „Essay on
Classification" (1857) hat er jene Theosophie in aller Consequenz ent-
wickelt und dadurch selbst ad absurdum geführt 8 ).
Alle diese älteren religiösen und teleologischen Vorstellungs-
kreise und ebenso die daraus hervorgegangenen philosophischen
Systeme (z. B. von Plato, von den Kirchenvätern) sind anti-
monis tisch; sie stehen in prinzipiellem Gegensatze zu unserer
monistischen Naturphilosophie. Die meisten von jenen älteren
Systemen sind dualistisch, indem sie Gott und Welt, Schöpfer
und Schöpfung, Geist und Materie als zwei völlig getrennte Sub-
stanzen betrachten. Dieser ausgesprochene „Dualismus" findet sich
auch in den meisten reineren Kirchenreligionen, besonders in jenen
drei wichtigsten Formen des Monotheismus, welche die drei
berühmtesten Propheten des mediterranen Orients, Moses, Christus
und Moiianmed, gegründet haben. Aber schon in vielen unreinen
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Abarten dieser drei mediterranen Hauptreligionen, und noch mehr
in den niederen Religionsformen des Heidenthums, tritt an die Stelle
jenes Dualismus ein philosophischer Pluralismus; dem guten
und welterhaltenden Gott (Osiris, Ormudz, Wischnu) wird ein böser
und zerstörender Gott gegenübergestellt (Typhon, Ahriman, Schiwa).
Zahlreiche Halbgötter oder Heilige, gute und böse, Söhne und
Töchter der Götter, gesellen sich zu jenen beiden Hauptgöttern
und theilen sich mit ihnen in die Verwaltung und Regierung des
Kosmos.
In allen diesen dualistischen und pluralistischen Systemen der
Weltanschauung ist als wichtigster Grundgedanke der Anthropo-
morphismus zu erkennen, die „ Vermenschlich ung Gottes"; der
Mensch selbst, als ein gottähnliches (oder direct von Gott abstam-
mendes) Wesen, nimmt eine besondere Stellung in der Welt ein und
ist durch eine tiefe Kluft von der übrigen Natur getrennt. Meistens
verknüpft sich damit die anthropocentrische Idee, die Ucber-
zeugung, dass der Mensch der Mittelpunkt des Weltalls, der letzte
und höchste Endzweck der Schöpfung, und die übrige Natur nur
dazu erschaffen sei, dem Menschen zu dienen. Im Mittelalter war
mit dieser letzteren Vorstellung zugleich die geocen tri sehe Idee
verknüpft, wonach die Erde als Wohnort des Menschen den festen
Mittelpunkt des Weltgebäudes darstelle, Sonne, Mond und Sterne
sich um die Erde drehen. Wie Copernicüs 1543 diesem auf die
Bibel gestützten geocen trischen Glaubenssatze, so hat Darwin 1859
dem damit eng verknüpften anthropocentrischen Dogma den Todes*
stoss gegeben 8 ).
Eine allgemeine historisch- kritische Vcrgleichung sämmtlichei
religiösen und philosophischen Systeme ergiebt als Hauptresultat,
dass jeder grosse Fortschritt der tieferen Erkenntnis«
eine Ablösung vom überlieferten Dualismus (oder
Pluralismus) bedeutet, eine Annäherung an den Monismus.
Immer deutlicher drängt sich der grübelnden Vernunft die Not-
wendigkeit auf, Gott nicht als ein äusserliches Wesen der mate-
riellen Welt gegenüberzustellen, sondern ihn als „göttliche Kraft"
oder „bewegenden Geist" ins Innere des Kosmos selbst hineinzu-
legen. Immer klarer wird es uns, dass alle die wundervollen Er-
scheinungen der uns umgebenden Natur, der organischen ebenso
wie der anorganischen, nur verschiedene Producte einer und der-
selben Urkraft, verschiedene Combinationen eines und desselben
Urstoffes sind. Immer unwiderstehlicher offenbart sich uns die
Erkenntniss, dass auch unsere menschliche Seele nur ein winziger
Theil dieser allumfassenden „Weltseele" ist, gleichwie unser mensch-
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— 14
licher Körper nur ein individuelles Theilchen der grossen organi-
sierten Körperwelt bildet.
Für die exacte, theilweise selbst mathematische Begründung
dieser einheitlichen Naturauffassung sind zunächst die grossen all-
gemeinen Erkenntnisse der theoretischen Physik und Chemie mass-
gebend geworden. Indem Robert Mayer und Helmholtz das Gesetz
von der „Erhaltung der Kraft" begründeten, zeigten sie, dass die
Energie des Weltalls eine constante unveränderliche Grösse darstellt;
wenn irgend eine Kraft zu verschwinden oder neu aufzutreten
scheint, so beruht das nur auf der Umsetzung einer Kraft in die
andere. Ebenso beweist uns Lavoisier's Gesetz von der „Erhaltung
des Stoffes", dass die Materie des Kosmos eine constante unver-
änderliche Grösse bildet; wenn irgend ein Körper zu verschwinden
scheint (z. B. beim Verbrennen) oder neu zu entstehen (z. B. bei
der Krystallisation), so beruht das ebenfalls nur auf einer Ver-
wandlung der Form oder der Zusammensetzung. Beide grosse Ge-
setze, das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft,
und das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes,
können wir zusammenfassen unter einen philosophischen Begriff,
als Gesetz von der Erhaltung der Substanz; denn nach
unserer monistischen Auffassung sind Kraft und Stoff untrennbar,
nur verschiedene unveräusserliche Erscheinungen eines einzigen
Weltwesens, der Substanz 7 ).
Als ein wesentlicher G rundbestand theil dieses reinen Monismus
kann in gewissem Sinne die Annahme von „beseelten Atomen"
gelten — eine uralte Vorstellung, der schon vor mehr als 2000 Jahren
Empedokles in seiner Lehre vom „Hassen und Lieben der Ele-
mente" Ausdruck gegeben hat. Unsere heutige Physik und Chemie
hat ja die von Demokritos zuerst aufgestellte atomistische Hypo-
these ganz allgemein angenommen, indem sie alle Körper als aus
Atomen zusammengesetzt betrachtet und alle Veränderungen auf
Bewegungen solcher kleinster discreterTheilchen zurückfuhrt
Alle diese Veränderungen, ebenso in der organischen wie in der
anorganischen Natur, erscheinen uns aber nur dann wirklich ver-
ständlich, wenn wir uns die Atome nicht als todte Massetheilchen
vorstellen, sondern als lebendige, mit der Kraft der Anziehung und
Abstossung ausgestattete elementare Theilchen. Lust und Unlust,
Lieben und Hassen der Atome sind nur andere Ausdrücke für diese
Kraft der Attraction und Repulsion. Ganz richtig bezeichnet die
Physik ihre kinetische Energie als „1 cbend i ge Kraft", im Gegen-
satze zur potentiellen Energie, der „Spannkraft".
Wenn nun auch einerseits der Monismus uns heute als eine
unentbehrliche Grundvorstellung der Naturlehre gilt, und wenn
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auch der Monismus alle Erscheinungen — ohne Ausnahme — auf
Mechanik der Atome zurückzuführen bestrebt sein muss, so
müssen wir andererseits doch zugeben, dass wir heute noch ganz
ausser Stande sind, uns irgend eine befriedigende Vorstellung über
das eigentliche Wesen der Atome und ihre Beziehung zu dem all-
gemeinen, den Raum erfüllenden „Weltäther" zu bilden. Es ist
der Chemie schon lange gelungen, alle die verschiedenen Natur-
körper auf Verbindungen einer verhältnissmiissig geringen Zahl von
Elementen zurückzuführen; auch haben die Fortschritte der Chemie
in der neuesten Zeit es höchst wahrscheinlich gemacht, dass diese
Elemente oder die bis jetzt unzerlegbaren Urstoffe selbst wieder
nur verschiedene Verbindungsformen einer wechselnden Zahl von
Atomen eines einzigen Ureleraentes sind. Allein damit ist uns über
die eigentliche Natur dieser „Uratome" und ihrer elementaren Kräfte
noch kein näherer Aufschluss gegeben.
Eine Reihe der scharfsinnigsten Denker hat sich bisher ver-
geblich bemüht, diesem Grundprobleme der Naturphilosophie näher
zu treten und die Natur der Atome, sowie ihr Verhältniss zum
raumerfüllenden Weltäther näher zu bestimmen. Indessen befestigt
sich immer mehr die Vorstellung, dass kein leerer Raum existirt,
und dass überall die „Uratome" der wägbaren Materie, oder der
schweren „Masse", durch den homogenen, im Weltraum verbreiteten
„Weltäther 1 * getrennt werden. Dieser sehr leichte und dünne
(wenn auch nicht unwägbare) Weltäther bewirkt durch seine
Schwingungen alle Erscheinungen des Lichts und der Wärme, der
Elektricität und des Magnetismus. Man kann sich denselben ent-
weder als continuirliche, den Raum zwischen den Massenatomen
erfüllende Substanz vorstellen, oder als ebenfalls aus discreten
Theilchen zusammengesetzt; dann würde man diesen A eth er-
at omen eine inhärente Repulsivkraft zuschreiben können, im
Gegensatze zu der immanenten Attractionskraft der schweren
Massenatome; auf die Anziehung der letzteren und die Ab-
stossung der ersteren würde die ganze Mechanik des Weltlebens
zurückzuführen sein. Man könnte aber auch das „Wirken des all-
gemeinen Raumes" im Sinne von Professor Schlesinger mit den
„Schwingungen des Weltäthers" zusammenstellen.
Einen elementaren Fortschritt des Naturerkennens von gröfster
Tragweite hat jedenfalls die theoretische Physik in neuester Zeit
dadurch gethan, dass sie der Kenntniss dieses Weltäthers näher
gerückt ist und die Frage von seinem Wesen, seiner Structur,
seiner Bewegung in den Vordergrund der monistischen Natur-
philosophie gedrängt hat. Noch vor wenigen Jahren galt der kos-
mische „Aether" den meisten Naturforschern als ein „imponderables"
— 16 —
Wesen, von dem man eigentlich Nichts wisse und das bloss au>
dürftige Hilfshypothese vorläufig zuzulassen sei. Das ist ganz
anders geworden, seitdem Heinbicu Hertz 1888 uns über das Wesen
der elektrischen Kräfte aufgeklärt hat; durch seine schönen Ex-
perimente hat er die Ahnung von Faraday bestätigt, dass Licht
und Wärme, Elektricität und Magnetismus nächst verwandte Er-
scheinungen einer einzigen Kraftgruppe sind und auf verschiedenen
Schwingungen des Aethers beruhen. Das Licht selbst — welcher
Art es auch sei — ist immer und überall eine elektrische Erschei-
nung. Der Aether selbst ist nicht mehr hypothetisch ; seine Existenz
kann in jedem Augenblick durch" elektrische und optische Versuche
bewiesen werden. Wir kennen die Länge der Lichtwellen und der
elektrischen Wellen. Ja, einige Physiker glauben sogar die Dichtig-
keit des Wcitäthers annähernd bestimmen zu können. Wenn wir
mittelst der Luftpumpe die Masse der atmosphärischen Luft (bis auf
einen geringen Rückstand) aus einer Glasglocke entfernen, so bleibt
die Lichtmenge innerhalb derselben unverändert; wir sehen den
schwingenden Aether 9 )!
Diese Fortschritte in der Erkenntniss des Aethers bedeuten
einen ungeheuren Gewinn der monistischen Philosophie. Denn
damit sind die irrthümlichen Vorstellungen vom leeren Raum und
von der Fern Wirkung der Körper ausgeschieden; der ganze un-
endliche Weltraum, soweit ihn nicht die Massenatome (die „pon-
derable Materie") einnehmen, ist vom Aether erfüllt. Unsere Vor-
stellung von Raum und Zeit wird ganz anders, als Kant noch vor
hundert Jahren sie lehrte; das „kritische" System des grossen
Königsberger Philosophen offenbart in dieser Beziehung, wie in der
teleologischen Beurtheilung der organischen Welt und in seiner
Metaphysik, recht erhebliche dogmatische Schwächen 8 ). Ja, selbst
eine vernünftige Form der Religion kann die Aethertheorie als
„Glaubenssatz" verwerthen, indem sie den beweglichen Weltäther
als „schaffende Gottheit" der trägen und schweren Masse (als
„Schöpfungsmaterial") gegenüberstellt ").
Schon eröffnen sich aber unserem freudig bewegten Forscher-
sinne von diesem glücklich erklommenen Hochgipfel monistischer
Erkenntniss neue überraschende Perspectiven, welche uns der
Lösung des einen grossen Welträthsels noch viel näher zu bringen
versprechen. Wie verhält sich dieser leichte bewegliche Wcltäther
zu der schweren und trägen „Masse", zu jener ponderablen Materie,
die wir chemisch erforschen, und die wir uns nur aus Atomen
zusammengesetzt denker: können? Unsere heutige analytische
Chemie hat noch vor ungefähr siebenzig „unzerlegbaren" Elementen
oder sogenannten „Grundstoffen" Halt machen müssen. Allein die
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— 17 —
gegenseitigen Beziehungen dieser Elemente, ihre gruppenweise Ver-
wandtschaft, ihr spektroskopisches Verhalten u. 8. w. machen es
höchst wahrscheinlich, dass sie alle nur historische Entwickelungs-
Producte sind, entstanden durch verschiedenartige Lagerung und
Verbindung einer wechselnden Zahl von Uratomcn.
Diesen Uratomen oder Massenatomen, den letzten dis-
creten Theilchen der trügen „ponderablen Materie" , können wir
mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine Anzahl von ewigen
und unveräusserlichen Grundeigenschaften zuschreiben; sie sind
vermuthlich überall im Weltraum von gleicher Grösse und Be-
schaffenheit. Obgleich sie eine bestimmte endliche Grösse besitzen,
sind sie vermöge ihrer Natur selbst nicht theilbar. Ihre Gestalt ist
wohl kugelig; sie sind träge (im Sinne der Physik), unveränderlich,
unelastisch, für den Aether undurchgänglich. Ausser dem Be-
harrungsvermögen ist die wichtigste Eigenschaft dieser Uratome
ihre chemische Affinität, ihre Neigung, sich an einander zu
legen und in gesetzmassiger Form zu kleinen Gruppen zu ver-
binden. Diese festen (unter den jetzigen physikalischen Existenz-
Bedingungen der Erde beständigen) Gruppen von Uratomen sind
die Elementatome, die bekannten „unzerlegbaren" Atome der
Chemie. Die qualitativen, für unsere jetzige empirische Kenntniss
unveräusserlichen Unterschiede unserer chemischen Elemente sind
demnach lediglich bedingt durch die verschiedene Zahl und Lage-
rung der gleichartigen, sie verbindenden „Uratome". So ist z. B.
das Atom des Kohlenstoffs (des eigentlichen „Schöpfers" der
organischen Welt!) höchstwahrscheinlich ein Tetraeder, zu-
sammengesetzt aus vier Uratomen.
Nachdem Mendelejepf und Lothar Meyer 1869 das „perio-
dische Gesetz" der chemischen Elemente entdeckt und darauf
ein „natürliches System" derselben gegründet hatten, wurde dieser
bedeutungsvolle Fortschritt der theoretischen Chemie neuerdings von
Gustav Wendt im Sinne der Entwickelungstheorie verwerthet
Er versuchte alle die verschiedenen Elemente als Entwickelungs-
zustände oder historisch entstandene Combinationen von sieben
Grundelementen hinzustellen, und diese letzteren wiederum als
historische Producte eines einzigen Urelementes. Diosen hypo-
thetischen „Urstoff" hatte schon Crookes in seiner „Genesis der
Elemente" als Urmaterie oder Pro tyl bezeichnet 10 ). Der empirische
Nachweis dieses Urstoffes, welcher aller ponderablen Materie zu
Grunde liegt, ist vielleicht nur eine Frage der Zeit. Seine Ent-
deckung würde vermuthlich die Hoffnung der Alchymistcn erfüllen,
Gold und Silber aus anderen Elementen künstlich darzustellen. Dann
aber erhebt sich die neue grofse Frage: „Wie verhält sich diese
Haoekol, Der Monismus. 2
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— 18 —
Urmaase zum Weltäther? Stehen beide Ursubstanzen in einem
wesentlichen und ewigen Gegensatze? Uder hat der bewegliche
Aether vielleicht selbst erst die schwere Masse erzeugt?" 11 )
Auch zur Beantwortung dieser grossen Grundfrage sind bereits
verschiedene physikalische Hypothesen aufgestellt worden. Indessen
gleich den verschiedenen atom istischen Hypothesen der Chemie sind,
sie zur Zeit nicht einleuchtend zu begründen, und dasselbe scheint
mir auch von der sinnreichen Hypothese zu gelten, welche uns vor-
her der Herr Festredner über das Wirken des Weltraumes ent-
wickelt hat. Wie derselbe richtig sagt, handelt es sich bei allen
diesen naturphilosophischen Versuchen zur Zeit noch um „natur-
wissenschaftliche Glaubenssätze", über deren Begründung man
je nach subjectivem Urtheil und Bildungsgrade sehr verschiedener
Ansicht sein kann. Ich glaube, dass die Lösung dieser Grund-
fragen zur Zeit noch jenseits der Grenzen des Naturerkennens
liegt, und dass wir uns vor derselben noch auf lange Zeit hinaus
werden bescheiden müssen mit „Ignoramus" — wenn auch nicht
mit „Ignorabimus!"
Etwas ganz Anderes aber ist es, wenn wir von diesen ato-
mistischen Elementar-Hypothesen absehen und unseren Blick auf die
historischen Verhältnisse der Weltentwickelung lenken, wie
sie durch die grossartigen Fortschritte der Naturerkenntniss in den
letzten drei Decennien uns erschlossen worden ist. Hier hat sich
uns innerhalb der Grenzen unseres Naturerkennens ein ungeheures
neues Gebiet eröffnet; ein Gebiet, auf welchem eine Reihe der
wichtigsten, früher für unlösbar gehaltenen Probleme in über-
raschendster Weise gelöst worden ist 18 ).
Allen anderen Eroberungen des Menschengeistes voran steht
hier unsere moderne Entwickelungslehre! Schon vor hundert
Jahren von Goethe geahnt, aber erst im Beginn unseres Jahr-
hunderts von Lamaeck in bestimmter Form ausgesprochen, ist die-
selbe vor 40 Jahren durch Charles Darwin endgiltig begründet
worden; seine Selectionstheorie hat die Lücke ausgefüllt, welche
Lamaeck in seiner Lehre von der Wechselwirkung der Vererbung
und Anpassung offen gelassen hatte. Wir wissen nun bestimmt,
dass die organische Welt auf unserer Erde sich ebenso continuirlich
„nach ewigen ehernen Gesetzen" entwickelt hat, wie es Lyell schon
1830 für den unorganischen Erdkörper selbst nachgewiesen hatte;
wir wissen, dass die zahllosen verschiedenen Thier- und Pflanzen-
Arten, welche im Laufe von Jahrmillioncn unsern Planeten be-
völkert haben, alle nur Zweige eines einzigen Stammbaumes sind;
wir wissen, dass das Menschengeschlecht selbst nur einen der
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jüngsten, höchsten und vollkommensten Sprossen am Stammbaum
der Wirbelthiere bildet.
Eine lückenlose Reihe von gesetzmässig verlaufenden natür-
lichen Entwickelungs-Vorgängen führt jetzt den denkenden
Menschengeist durch Aeonen von einem chaotischen Urzustände
des Kosmos zu seiner heutigen „Weltordnung". Da haben wir
zuerst nichts weiter im unendlichen Weltraum als den beweglichen
elastischen Aether und unzählige gleichartige discrete Theilchen
staubförmig in demselben vertheilt, die Uratome; vielleicht sind
diese letzteren selbst ursprünglich „Verdichtungspunkte" der
schwingenden „Substanz 1 *, deren Rest den Aether bildet. Indem
die Uratome oder Massenatome in bestimmten Zahlen gruppen-
weise zusammentreten, entstehen unsere Elementatome. Ent-
sprechend der KAXT-LAPLA.CE , 8chen Nebularhypothese sondern
sich aus jenem schwingenden „Urnebel' 1 die rotirenden Weltkörper.
Ein einziger unter vielen tausend Weltkörpern ist unsere Sonne,
sammt den Planeten, die durch centrifuge Abschleuderung aus ihr
entstanden sind. Ein einziger Planet unseres Sonnensystems ist
unsere winzige Erde; ihr ganzes individuelles Leben ist Product
des Sonnenlichtes. Nachdem der glühende Erdball bis auf einen
gewissen Grad abgekühlt ist, schlägt sich auf der erhärteten Kruste
seiner Oberfläche tropfbar flüssiges Wasser nieder, die erste Vor-
bedingung organischen Lebens. Kohlenstoff-Atome beginnen
ihre organogene Thätigkeit und vereinigen sich mit den anderen
Elementen zu quellungsfähigen Plasmaverbindungen. Ein kleines
Plasmakörnchen überschreitet die Grenze der Cohäsion und des
individuellen Wachsthums ; es zerfallt in zwei gleiche Hälften. Mit
diesem ersten Monere beginnt das organische Leben und seine
eigenthümlichste Function, die Vererbung. In dem homogenen
Monerenplasma sondert sich ein festerer centraler Kern von einer
weicheren äusseren Masse; durch diese Differenzirung von Nuclens
und Protoplasma entsteht die erste organische Zelle. Lange Zeit
werden nur solche Protisten oder einzellige Urwesen unseren Planeten
allein bevölkert haben. Aus Coenobien oder geselligen Verbänden
derselben entstanden erst später die niedersten Histonen, vielzellige
Pflanzen und Thiere.
An der sicheren Hand der drei grossen empirischen „Schöpfungs-
urkunden" , der Palaeontologio, der vergleichenden Anatomie und
Ontogenie, führt uns nunmehr die Stamm esgoschichte von den
ältesten Metazoen, den einfachsten vielzelligen Thieren, Schritt für
Schritt bis zum Menschen hinauf 18 ). An der untersten Wurzel des
gemeinsamen Stammbaumes der Metazoen stehen die Gastraeaden
und Spongien ; ihr ganzer Körper besteht im einfachsten Falle nur
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aus einem rundlichen Magen säckchen, dessen dünne Wand zwei
Zellenschichten bilden, die beiden primären Keimblätter. Ein ent-
sprechender Keimzustand, die zweischichtige Gastrula, findet sich
vorübergehend in der Keimesgeschichte aller übrigen Metazoen, von
den niedersten Nesselthieren und Würmern bis zum Menschen
hinauf. Aus dem gemeinsamen Stamm der Helminthen oder der
niederen Würmer entwickeln sich als selbständige Hauptiiste die vier
getrennten Stämme der Weichthiere, Sternthiere, Gliederthiere 'und
Wirbelthiere. Nur diese letzteren stimmen in allen wesentlichen
Beziehungen des Körperbaues und der Entwickelung mit dem
Menschen Uberein. Eine lange Reihe von niederen wasserbewohnenden
Wirbelthieren (Lanzettthieren, Lampreten, Fischen) geht den lungen-
athmenden Amphibien voraus; diese erscheinen erst in der Stein-
kohlenzeit Auf die Amphibien folgen in der permischen Periode
die ersten Amnioten, die ältesten Reptilien; aus ihnen entwickeln
sich später in der Triaszeit die Vögel einerseits, die Säugethiere
andererseits.
Dass der Mensch seinem ganzen Körperbau nach ein echtes
Säugethier ist, weiss man, so lange überhaupt die natürliche
Einheit dieser höchsten Thierclasse begriffen wurde. Die einfachste
Vergleichung musste den unbefangenen Beobachter von der nahen
Formverwandtschaft des Menschen mit dem Affen, dem ähnlichsten
von allen Säugethieren , überzeugen. Die tiefer eindringende ver-
gleichende Anatomie wies nach, dass alle Unterschiede im Körper-
bau des Menschen und der Anthropoiden (Gorilla, Schimpanse,
Orang) unbedeutender sind, als die entsprechenden Unterschiede im
Körperbau dieser „Menschenaffen" und der niederen Affen. Die
phylogenetische Deutung dieses HuxLEv'schen Satzes liegt auf der
Hand. Die grosse Frage vom Ursprung des Menschengeschlechts —
oder von der „Stellung des Menschen in der Natur" — die „Frage
aller Fragen", war nun wissenschaftlich beantwortet: „Der Mensch
stammt ab von einer Reihe affenartiger Säugethiere." Die Anthro-
pogenie enthüllt die lange Kette von Vertebraten-Ahnen, welche
der späten Entstehung dieses höchstentwickelten Sprosses voran-
gegangen sind 18 ).
Die unermessliche Bedeutung des Lichtes, welches diese Auf-
schlüsse der Abstammungslehre auf das Gesammtgebiet der mensch-
lichen Naturerkenntniss werfen, liegt klar vor Aller Augen; sie
werden jedes Jahr mehr ihren umgestaltenden Einfluss auf alle
Wissensgebiete äussern, je mehr sich die Ueberzeugung von ihrer
unerschütterlichen Wahrheit Bahn bricht Nur Unkundige oder
beschränkte Geister können heute noch an ihrer Wahrheit zweifeln.
Wenn ja noch hie und da ein älterer Naturforscher ihre Begründung
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bestreitet oder nach mangelnden Beweisen fragt ( — wie dies bei-
nahe alljährlich auf den Anthropologen- Versammlungen von Seiten
eines berühmten deutschen Pathologen geschieht — ), so beweist
er damit nur, dass ihm die erstaunlichen Fortschritte der neueren
Biologie und vor Allem der Anthropogenie fremd geblieben sind.
Die ganze moderne Literatur der Biologie, unsere ganze heutige
Zoologie und Botanik, Morphologie und Physiologie, Anthropologie
und Psychologie sind von der Descendenztheorie durchdrungen und
befruchtet 1 *).
Wie die natürliche Entwicklungslehre auf monistischer Basis
das ganze Gebiet der körperlichen Naturerscheinungen erhellt und
aufgeklärt hat, so auch das Gebiet des Geisteslebens, welches
von jenem nicht zu trennen ist. Wie unser menschlicher Körper
sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbel-
thierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer
Seele; als Function unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in
Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir
kurzweg „menschliche Seele" nennen, ist ja nur die Summe unseres
Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen
Functionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglien-
zellen unseres Gehirns bilden. Wie der bewunderungswürdige Bau
dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans sich im Laufe
von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und
niederer Wirbelthiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende
Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele
selbst — als Function des Gehirns — sich entwickelt hat, das lehrt
uns die vergleichende Psychologie. Die letztere zeigt uns auch,
wie eine niedere Form der Seelen thätigkeit schon bei den niedersten
Thieren vorhanden ist, bei den einzelligen Urthioron, Infusorien
und Rhizopoden. Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre
hindurch die Lebensthätigkeit dieser einzelligen Protisten beobachtet
hat, ist positiv überzeugt, dass auch sie eine Seele besitzen; auch
diese „Zellsecle 1 ' besteht aus einer Summe von Empfindungen,
Vorstellungen und Willensthätigkciten ; das Empfinden, Denken und
Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise davon ver-
schieden. Ebenso ist auch eine „erbliche Zellseele" (als „po-
tentielle Energie") schon in der Eizelle vorhanden, aus der sich
der Mensch gleich jedem anderen Thiere entwickelt 15 ).
Die erste Aufgabe jeder wirklich wissenschaftlichen Psychologie
wird daher nicht, wie bisher, die müssige Speculation über ein
selbständiges immaterielles Seelenwesen und dessen räthselhafton
zeitweiligen Zusammenhang mit dem thicrischon Körper sein, son-
dern vielmehr die vergleichende Untersuchung der Seelen-Organe
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und die experimentelle Prüfung ihrer psychischen Functionen.
Denn die wissenschaftliche Psychologie ist ein Theil
der Physiologie, der Lehre von den Functionen oder Lebens-
thätigkeiten der Organismen. Gleich der neueren Physiologie und
Pathologie muss auch die Psychologie und Psychiatrie der Zukunft
sich cell ula r gestalten, und in erster Linie die seelischen Functionen
der Zellen untersuchen. Welche wichtigen Aufschlüsse uns eine
solche Cellular-Psychologie schon auf der niedersten Stufe
des organischen Lebens, bei den einzelligen Protisten (namentlich
Rhizopoden und Infusorien) liefert, hat neuerdings Max Verwohn
in seinen schönen „psychophysiologischen Protisten-Studien" gezeigt
Dieselben Hauptgruppen der Seelenthätigkeit , die wir schon
im einzelligen Organismus antreffen — die Erscheinungen der Reiz-
barkeit, Empfindung und Bewegung — , lassen sich ebenso auch bei
allen vielzelligen Organismen als Functionen der ihren Körper zu-
sammensetzenden Zellen nachweisen. Bei den niedersten Metazoen,
den wirbellosen Thieren aus den Classen der Spongien und Polypen,
sind noch ebenso wie bei den Pflanzen keine besonderen Seelen-
organe entwickelt, und alle Zellen des Körpers sind am „Seelen-
leben" mehr oder minder betheiligt. Erst bei den höheren Thieren
erscheint das letztere lokalisirt und an besondere Organe gebunden.
In Folge von Arbeitsteilung haben sich hier verschiedene Sinnes-
organe als Werkzeuge specifischer Empfindung entwickelt, Muskeln
als Organe der Bewegung und des Willens, Nervencentren oder
Ganglien als vermittelnde und regulirende Centraiorgane. Bei den
höchst entwickelten Thierstämmen treten diese letzteren immer mehr
als selbständige Seelenorgane in den Vordergrund. Entsprechend
dem ausserordentlich verwickelten Bau ihres Centrai-Nervensystems,
des Gehirns mit seinem wunderbaren Geflecht von Ganglienzellen
und Nervenfasern, erreicht hier auch deren vielseitige Thätigkeit
eine bewunderungswürdige Höhenstufe.
In diesen höchst entwickelten Gruppen des Thierreichs allein
können wir mit Bestimmtheit auch jene vollkommensten Leistungen
des Centrai-Nervensystems nachweisen, welche wir als Bewusst-
8 ein bezeichnen. Bekanntlich wird gerade diese edelste Gehirn-
function auch heute noch oft als eine völlig räthselhafte Erscheinung,
als der erste Beweis für die immaterielle Existenz einer „unsterb-
lichen Seele" hingestellt. Dabei beruft man sich gewöhlich auf
die bekannte „Ignorabimus u -Rcde des Berliner Physiologen Du
Bois-Revmoni> über die Grenzen des Naturerkennens (1872). Es
war eine eigentümliche Ironie des Schicksals, dass der berühmte
Rhetor der Berliner Akademie der Wissenschaften in dieser viel-
besprochenen Rede vor 2G Jahren das Bewusstsein als ein ganz
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unbegreifliches Wunder und eine unübersteigliche Schranke der Er-
kenntniss hinstellte, während gleichzeitig der grösste Theologe
unseres Jahrhunderts, David Friedrich Strauss, das Gegentheil
nachwies. Der scharfsinnige Verfasser des „alten und neuen
Glaubens" hatte schon damals klar erkannt, dass alle Seelen-
thätigkeiten des Menschen, also auch sein Bewusstsein, als Functionen
des Central- Nervensystems aus einer Quelle iiiessen und vom
monistischen Standpunkt aus derselben ßeurtheilung unterliegen;
dem „exacten" Berliner Physiologen blieb diese Erkenntniss ver-
schlossen, und mit schwer begreiflicher Kurzsichtigkeit stellte er
diese specielle neurologische Frage neben das eine grosse
„Welträthsel", neben die fundamentale Substanzfrage, die gene-
relle Frage von dem „Zusammenhang von Materie und Kraft" l6 ).
Wie ich schon vor langer Zeit nachgewiesen habe, sind diese
beiden grossen Fragen nicht zwei verschiedene „Welträthsel". Das
neurologische Problem des Bewusstseins ist nur ein
besonderer Fall von dem allumfassenden kosmo-
logischen Problem, der Substanzfrage. „Wenn wir das
Wesen von Materie und Kraft begriffen hätten, so würden wir
auch verstehen, wie die ihnen zu Grunde liegende Substanz unter
bestimmten Bedingungen empfinden, begehren und denken könne."
Das Bewusstsein ist in gleicher Weise, wie die Empfindung und der
Wille der höheren Thiere, eine mechanische Arbeit der Ganglien-
zellen, und als solche auf chemische und physikalische Vorgänge
im Plasma derselben zurückzuführen. Ausserdem gelangen wir
durch Anwendung der genetischen und vergleichenden Methode
zu der Ueberzeugung, dass das Bewusstsein — und somit auch die
Vernunft — keine dem Menschen ausschliesslich eigen thümliche
Gehirnfunction ist; vielmehr findet sich dieselbe auch bei vielen
höheren Thieren, nicht nur Wirbel thieren, sondern auch Glieder-
thieren. Nur stufenweise, durch einen höheren Grad der Aus-
bildung, ist das Bewusstsein des Menschen von demjenigen der
vollkommensten Thiere verschieden , und dasselbe gilt von allen
anderen menschlichen Seelenthätigkeiten.
Durch diese und andere Ergebnisse der vergleichenden
Physiologie wird unsere ganze Psycho logi e auf eine neue, feste,
monistische Basis gestellt. Er wird dadurch jene ältere mystische
Vorstellung von der Seele widerlegt, wie sie sich bei den Natur-
völkern, aber auch in den Systemen dualistischer Philosophen noch
heute findet. Hiernach wäre die „Seele" des Menschen ( — und
der höheren Thiere? — ) ein besonderes Wesen, welches den Körper
nur während seines individuellen Lebens bewohnt und regiert, im
Tode aber verlässt. Die sehr verbreitete „Claviertheorie"
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vergleicht die „unsterbliche Seele" mit einem Clavierspieler, welcher
auf dem Instrumente des sterblichen Körpers ein interessantes
Stück, das individuelle Leben abspielt und beim Tode sich in's
Jenseits zurückzieht. Zwar wird diese „unsterbliche Seele tt gewöhnlich
für ein immaterielles Wesen ausgegeben; in der That aber wird sie
doch eigentlich ganz materiell vorgestellt, nur als ein feineres,
unsichtbares Wesen, luftförmig oder gasförmig, oder ähnlich der
beweglichen, äusserst leichten und dünnen Substanz des Aethers,
wie sie die heutige Physik annimmt. Dasselbe gilt ja auch von den
meisten Vorstellungen, die sich die rohen Naturvölker und die un-
gebildeten Klassen der Culturvölker seit Jahrtausenden von spukenden
„Geistern" und „Göttern" gebildet haben. Gründliches Nachdenken
ergibt, dass es sich auch hier — wie bei dem Schwindel der modernen
Spiritisten — nicht um wirkliche immaterielle Wesen handelt,
sondern um gasförmige, unsichtbare Körper. Ueberhaupt sind wir
ja unfähig, uns wirklich immaterielle Wesen irgend fassbar vor-
zustellen. Wie schon Goethe klar erkannte, kann „die Materie nie
ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiren und wirk-
sam sein".
Was die Unsterblichkeit betrifft, so unterliegt dieser
wichtige Begriff bekanntlich sehr verschiedenen Deutungen und
Anwendungen. Man wirft Unserem Monismus häufig vor, dass er
die Unsterblichkeit überhaupt leugne ; indessen ist das nicht richtig.
Vielmehr halten wir dieselbe, in streng wissenschaftlichem Sinne,
für einen unentbehrlichen Grundbegriff unserer monistischen Natur-
philosophie. Unsterblichkeit in wissenschaftlichem Sinne
ist Erhaltung der Substanz, also dasselbe, was die Physik
als Erhaltung der Kraft, die Chemie als Erhaltung des Stoffes
definirt. Der ganze Kosmos ist unsterblich. Ebensowenig
als irgend ein anderes Stoffthcilchen oder Krafttheilchen jemals aus
der Welt verschwindet, ebensowenig ist das von den Atomen
unseres Gehirns und von den Kräften unseres Geistes denkbar.
Bei unserem Tode verschwindet nur die individuelle Form, in
welcher jene Nervensubstanz gestaltet war, und die persönliche
„Seele", welche deren Arbeit darstellte. Die complicirten chemischen
Verbindungen jener Nervenmasse gehen in andere Verbindungen
durch Zersetzung über, und die von ihr producirten lebendigen
Kräfte werden in andere Bewegungsformen umgesetzt
„Der grosse Caesar, todt und Lehm geworden,
Verstopft ein Loch jetzt vor dem rauhen Norden;
Der Staub, dem einst die ganze Welt gebebt,
Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt!"
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Ganz unhaltbar ist dagegen die Vorstellung einer persönlichen
Unsterblichkeit Wenn dieselbe auch heute noch in weiten Kreisen
festgehalten wird , so erklärt sich das aus dem physikalischen Ge-
setze der Trägheit; denn das Beharrungsvermögen übt seine Macht
ebenso im Gebiete der Ganglien-Zellen des Gehirns, wie in allen
anderen Naturkörpern. Althergebrachte, durch viele Generationen
vererbte Vorstellungen werden vom menschlichen Gehirn mit der
grössten Zähigkeit festgehalten, besonders dann, wenn sie schon in
frühester Jugend dem kindlichen Verstände als unerschütterliche
Dogmen eingepflanzt werden. Solche „erblicheGlaubenssätze"
wurzeln um s,o fester, je mehr sie sich von der vernünftigen Natur-
erkenntniss entfernen und in das geheimnisvolle Kleid mythologischer
Dichtung verstecken. Bei dem Dogma von der persönlichen Un-
sterblichkeit kommt dazu noch das vermeintliche Interesse, welches
der Mensch an seiner individuellen Fortdauer nach dem Tode zu
besitzen glaubt, und der vergebliche Anspruch, dass ihm in einem
seligen „Jenseits" Ersatz für die getäuschten Hoffnungen und die
vielen Leiden des Erdenlebens gewährt werde.
Irrthümlich wird oft von den zahlreichen Anhängern der per-
sönlichen Unsterblichkeit behauptet, dass dieses Dogma eine an-
geborene und allen vernünftigen Menschen gemeinsame Vorstellung
sei, und dass alle vollkommneren Religionen dieselbe lehren. Das
ist unrichtig. Weder der Buddhismus, noch die mosaische Religion
enthielten ursprünglich den Glaubenssatz der persönlichen Un-
sterblichkeit, und ebensowenig glaubten daran die meisten Ge-
bildeten im classischen Alterthum, insbesondere während der höchsten
Blüthe Griechenlands. Die monistische Philosophie jener Zeit,
welche schon 500 Jahre vor Christus zu so bewunderungswürdiger
Höhe der Speculation sich erhob, kannte jenes Dogma nicht. Erst
durch Plato und Christus wurde dasselbe weiter ausgebildet und
erreichte dann im Mittelalter eine so allgemeine Verbreitung, dass
nur selten ein kühner Denker ihm offen zu widersprechen wagte.
Die Ansicht, dass die Ueberzeugung von der persönlichen Un-
sterblichkeit besonders veredelnd auf die sittliche Natur des Menschen
einwirke, wird durch die gräuelvolle Sittengeschichte des Mittel-
alters nicht bestätigt, ebensowenig durch die Psychologie der
Naturvölker").
Wenn auch heute noch eine veraltete Schule der rein specu-
lativen Psychologie jenes unvernünftige Dogma aufrecht erhält,
so liegt darin ein bedauerlicher Anachronismus. Vor sechzig Jahren
liess sich das noch entschuldigen; denn damals kannte man weder
die feinere Structur des Gehirns genau, noch die physiologische
Function seiner einzelnen Theile; die Elementarorgane derselben,
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die mikroskopischen Ganglienzellen, waren fast unbekannt, ebenso
die Zellseele der Protisten; von der ontogenetischen Entwicklung
hatte man nur sehr unvollkommene, von der phylogenetischen noch
gar keine Vorstellungen.
Das alles hat sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts
gänzlich geändert Die neuere Physiologie hat schon grossentheils
die Localisation der einzelnen Geistesthätigkeiten, ihre Abhängigkeit
von bestimmten Gehirntheilen nachgewiesen; die Psychiatrie hat
gezeigt, dass jene psychischen Processe gestört oder vernichtet
werden, wenn diese Gehirntheile erkranken oder entarten. Die
Histologie der Ganglienzellen hat uns deren höchst verwickelte
Structur und Lagerung enthüllt. Von entscheidender Bedeutung
für diese hochwichtige Frage sind aber die Entdeckungen der
letzten Decennien über die feineren Vorgänge bei der Befruch-
tung geworden. Wir wissen jetzt, dass deren Wesen ausschließlich
in der Copulation oder Verschmelzung von zwei mikroskopischen
Zellen besteht, der weiblichen Eizelle und der männlichen Sperma-
zelle. Das Moment, in welchem die Kerne dieser beiden Geschlechts-
zellen verschmelzen, bezeichnet haarscharf den Augenblick, in
welchem das neue menschliche Individuum entsteht Die neu-
gebildete „Stammzell e" (oder „befruchtete Eizelle") enthält
bereits potentiell — in der Anlage — alle die körperlichen und
geistigen Eigenschaften, welche das Kind von beiden Eltern erbt.
Offenbar widerspricht es der reinen Vernunft, ein „ewiges Leben
ohne Ende" für eine individuelle Erscheinung anzunehmen, deren
zeitlichen Anfang wir durch directe sinnliche Beobachtung haar-
scharf bestimmen können. Demnach können wir bei vernünftiger
Beurtheilung des menschlichen Geisteslebens unsere individuelle
Seele vom Gehirn ebensowenig getrennt denken, als die will-
kürliche Bewegung unseres Arms von der Contraction seiner
Muskeln, oder den Kreislauf unseres Blutes von der Thütigkeit
des Herzens.
Gegen diese streng physiologische Auffassung wird auch heute
noch häufig der Vorwurf des „Materialismus" erhoben, ebenso
wie gegen unsere ganze monistische Ansicht des Verhältnisses von
Kraft und Stoff, von Geist und Materie. Ich habe schon früher
wiederholt dargethan, dass mit diesem vieldeutigen Schlagworte
gar Nichts gesagt ist; man könnte an seine Stelle ebensogut
das scheinbare Gegentheil „Spiritualismus" setzen. Jeder
kritische Denker, der die Geschichte der Philosophie kennt, weiss,
dass solche Schlagworte in den wechselnden Systemen die ver-
schiedenste Bedeutung annehmen. Bei dem Materialismus kommt
noch dazu die beständige Verwechslung der theoretischen und
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praktischen Bedeutung; beide sind gänzlich verschieden. Klar und
unzweideutig ist dagegen unser Begriff des Monismus oder der
„Einheits-Philosophie" ; für ihn ist ein „immaterieller lebendiger
Geist" ebenso undenkbar, als eine „todte geistlose Materie"; in
jedem Atom ist beides untrennbar verbunden. Die entgegengesetzte
Vorstellung des Dualismus ( — oder in anderen antimonistischen
Systemen sogar des Pluralismus — ) fasst Geist und Materie,
Kraft und Stoff, als zwei wesentlich verschiedene Substanzen auf;
dass aber jede von Beiden fUr sich allein existieren oder uns wahr-
nehmbar sein könne, dafür gibt es in der That nicht einen einzigen
empirischen Beweis.
Indem ich hier kurz auf diese weitreichenden psychologischen
Consequenzen der monistischen Entwicklungslehre hindeute, berühre
ich zugleich ein hochwichtiges Gebiet, auf welches auch unser
Festredner in seinem Vortrage mehrfach angespielt hat, das Gebiet
der Religion und des damit verknüpften „Glaubens an Gott". Gleich
ihm halte ich die Bildung klarer, philosophischer Vorstellungen
auf diesem fundamentalen Glaubensgebiete für höchst wichtig, und
ich möchte daher die hohe Festversammlung um die Erlaubniss
bitten, bei dieser feierlichen Gelegenheit ganz kurz ein offenes
Glaubensbekenntniss ablegen zu dürfen. Diese „monistische
Confes8ion u dürfte um so mehr Anspruch auf unbefangene
Würdigung erheben, als sie nach meiner festen Ueberzougung von
mindestens neun Zehntheilen aller jetzt lebenden Naturforscher
getheilt wird; ich glaube sogar, dass dieses monistische Bekenntniss
von allen Naturforschern getheilt werden muss, welche folgende
vier Bedingungen erfüllen: 1. Genügende Kenntnisse im Gesammt-
gebiete der Naturwissenschaft, vor allem in der modernen Ent-
wicklungslehre. 2. Genügende Schürfe und Klarheit der Urtheils-
kraft, um die logischen Schlüsse aus jenen empirischen Kenntnissen
mittelst Induction und Deduction zu ziehen. 3. Genügenden mora-
lischen Muth, um die so gewonnenen monistischen Erkenntnisse
gegenüber den Angriffen der feindlichen dualistischen und plura-
listischen Systeme zu behaupten, und 4. Genügende Geisteskraft,
um sich auf Grund eigenen gesunden Denkens von den herrschenden
religiösen Vorurtheilcn zu befreien, und besonders von jenen
vernunftwidrigen Dogmen, die uns seit frühester Jugend als
unerschütterliche „religiöse Offenbarungen" fest eingepflanzt werden.
Wenn wir von diesem freien Denkerstandpunkte aus die zahl-
reichen Religionen der verschiedenen Völker vergleichend be-
trachten, so werden wir zunächst genöthigt werden, alle diejenigen
Vorstellungen als unhaltbar auszuscheiden, welche mit den klar
erkannten und durch die kritische Vernunft festgestellten Lehrsätzen
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der empirischen Naturerkenntniss in unlösbarem Widerspruche stehen.
Wir können hier also ohne Weiteres von allen mythologischen
Erzählungen absehen, von allen „Wundern" und von allen soge-
nannten „Offenbarungen", welche auf übernatürlichem Wege
zu uns gelangt sein sollen. Alle diese mystischen Lehren sind
unvernünftig, weil sie durch keine einzige wirkliche Erfahrung
bestätigt werden, vielmehr mit den uns bekannten, durch vernünftige
Naturerkenntniss festgestellten Thatsachen unvereinbar sind.
Das gilt ebenso von den Legenden der christlichen und mosaischen,
wie von denjenigen der mohammedanischen und indischen Sagen-
kreise. Wenn wir also hier sämmtliche mystischen Dogmen und
übersinnlichen Offenbarungen bei Seite lassen , so bleibt als werth-
voller und unschätzbarer Kern der wahren Religion die geläuterte,
auf vernünftige Anthropologie gegründete Sittenlehre übrig 1 *).
Unter den zahlreichen verschiedenen Religionsformen, welche
sich aus den rohesten prähistorischen Anfängen seit mehr als zehn-
tausend Jahren entwickelt haben, stehen unzweifelhaft diejenigen
beiden Religionen obenan, welche auch heute noch die grösste Ver-
breitung unter den Culturvölkern besitzen, die ältere buddhistische
und die jüngere christliche. Beide haben sehr viele gemeinsame
Züge, sowohl in ihrer Mythologie, als in ihrer Ethik ; ein bedeutender
Theil des Christenthums ist sogar direct aus dem indischen Buddhis-
mus, wie ein anderer Theil aus den mosaischen und platonischen
Glaubenslehren herübergenommen. Indessen erscheint uns auf
unserem heutigen Culturstandpunkte mit vollem Rechte die christ-
liche Sittenlehre weit vollkommener und reiner, als diejenige
aller anderen Religionen. Freilich müssen wir gleich hinzufügen,
dass gerade die wichtigsten und edelsten Grundsätze der christ-
lichen Ethik — die Nächstenliebe, die Pflichttreue, die Wahrheits-
liebe, der Gehorsam gegen die Gesetze — keineswegs dem christ-
lichen Glauben als solchem eigenthümlich, sondern viel älteren Ur-
sprungs sind. Die vergleichende Völkerpsychologie weist
nach, dass diese ethischen Fundamentalsätze bei vielen älteren
Culturvölkern schon Jahrtausende vor Chbistus mehr oder weniger
anerkannt und geübt waren.
Das oberste Sittengesetz der vernünftigen Religion bleibt die
Menschenliebe, und zwar in dem naturgemässen Gleich-
gewicht zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen
Eigenliebe und Nächstenliebe. „Was Du willst, dass Dir die Leute
thun sollen, das thue Du ihnen auch!" Dieses natürliche höchste
Gebot wurde gelehrt und befolgt schon Jahrtausende, bevor Christus
sprach: „Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst!" In
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dor menschlichen Familie galt dieser Grundsatz von jeher als
selbstverständlich; denn er war von unseren thierischen Vorfahren
bereits als „ethischer Inst inet" durch Vererbung übertragen.
Er bestand in gleicher Weise und in weiterer Bedeutung auch
schon bei den primitivsten Gemeinden und Horden der ältesten
Naturvölker, ebenso wie bei den Heerden der Affen und anderer
socialer Säugethiere. Die „Nächstenliebe", d. h. die gegenseitige
Unterstützung, Pflege, Beschützung u. s. w. , erscheint bei diesen
gesellig lebenden Thieren bereits als sociale Pflicht; denn ohne
sie ist der dauernde Bestand jener Gesellschaften unmöglich. Wenn
nun auch später beim Menschen jene moralischen Fundamente der
Gesellschaft sich viel höher entwickelten, so liegt doch ihre älteste
prähistorische Quelle, wie Darwin gezeigt hat, in den socialen
Instincten der Thiere. Sowohl bei den höheren Wirbelthieron
(Hunden, Pferden, Elephanten u. 8. w.), als auch bei den höheren
Gliederthiercn (Ameisen, Bienen, Termiten u. s. w.) bedingt das
Zusammenleben in geordneten Gesellschaften die Entwicklung so-
cialer Beziehungen und Pflichten ; diese sind auch für den Menschen
der wichtigste Hebel des intellectuellen und moralischen Fort-
schrittes geworden.
Unzweifelhaft verdankt die heutige menschliche Cultur einen
grossen Theil ihrer Vollkommenheit der Ausbreitung und Veredlung
der christlichen Sittenlehre, trotzdem deren hoher Werth durch
Verknüpfung mit unhaltbaren Mythen und sogenannten „Offen-
barungen" oft in bedauerlichster Weise beeinträchtigt worden ist.
Wie wenig die letzteren zur Ausbildung der ersteren beitragen,
zeigt die bekannte historische Thatsache, dass gerade die Ortho-
doxie und die auf sie gegründete Hierarchie ( — Allen voran
der Papismus 18 ) — ) am wenigsten bestrebt ist, die Gebote jener
Sittenlehre zu erfüllen; je lauter 6io die Theorie der letzteren
predigt, desto weniger erfüllt sio selbst ihre Gebote in der Praxis.
Ausserdem ist zu bedenken, dass ein anderer, höchst beträcht-
licher Theil unserer modernen Cultur und Ethik ganz unabhängig
vom ChriBtenthum sich entwickelt hat, insbesondere durch ununter-
brochene Pflege der hochentwickelten Geistesschätze des classischen
Alterthums. Das eindringliche Studium der griechischen und
römischen Classiker hat jedenfalls viel mehr dazu beigetragen , als
dasjenige der christlichen Kirchenväter. Dazu kommt nun in un-
serem Jahrhundert, in dem mit Recht schon jetzt so genannten
„Jahrhundert der Naturwissenschaften", der ungeheure Fortschritt
der höchsten Geistesbildung, welchen wir der geläuterten Natur-
erkenntniss und der auf sie gegründeten monistischen Philosophio
verdanken. Dass diese auch auf unsere Sittenlehre fördernd und
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veredelnd einwirken muss, ist unzweifelhaft und bereits durch viele
treffliche Schriften (von Spencer, Carxeri, Vetter u. A.) im Laufe
der letzten drei Decennien nachgewiesen 19 ).
Gegen diese monistische Ethik, die sich auf die ver-
nünftige Naturerkenntniss gründet, ist der Vorwurf erhoben worden,
dass sie die bestehende Cultur untergraben und insbesondere die
culturfeindlichen Bestrebungen der modernen Socialdemokratie för-
dern werde. Wir halten diesen Vorwurf für völlig ungerechtfertigt.
Die Anwendung philosophischer Grundsätze auf praktische Lebens-
verhältnisse, und insbesondere auf sociale und politische Fragen,
kann in der verschiedensten Weise geschehen. Sogenannter poli-
tischer „Freisinn" hat mit dem „Freidenken" unserer monistischen
Naturreligion nichts zu thun. Ausserdem bin ich überzeugt, dass
die vernünftige Sittenlehre der letzteren mit dem guten und wirk-
lich werthvollen Theile der christlichen Ethik in keinem Wider-
spruch steht, und mit ihr vereinigt auch fernerhin dem wahren
Fortschritte der Menschheit dienen wird.
Anders freilich verhält es sich mit der christlichen Mytho-
logie und mit der besonderen Form des auf sie gegründeten
Gottesglaubens. Insofern dieser letztere die Vorstellung eines so-
genannten „persönlichen Gottes" einschliesst, ist er durch die neueren
Fortschritte der monistischen Naturerkenntniss ganz unhaltbar ge-
worden. Uebrigens ist ja schon durch hervorragende Vertreter der
monistischen Philosophie seit mehr als zweitausend Jahren der
Nachweis geführt worden, dass durch die Vorstellung eines „persön-
lichen Gottes, Weltschöpfers und Weltregierers" nicht das Mindeste
für eine wirklich vernünftige Weltanschauung gewonnen ist. Denn
wenn auch die Frage nach der „Wcltschöpfung" in dem herge-
brachten trivialen Sinne durch die wunderbare Wirksamkeit eines
zweckmässig bauenden ausserweltlichen Gottes beantwortet wird, so
erhebt sich gleich dahinter die neue Frage: „Wo kommt dieser
persönliche Gott her? Und was hat er vor der Weltschöpfung ge-
than? Wo nahm er dazu das Material her?" u. s. w. Daher wird
im Gebiete der wirklich wissenschaftlichen Philosophie die
veraltete Vorstellung eines anthropomorphen „persönlichen Gottes"
noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts ihre Geltung verlieren; die
entsprechende Vorstellung eines „persönlichen Teufels" ( — noch im
vorigen Jahrhundert der ersteren gegenübergestellt und sehr all-
gemein geglaubt — ) ist von unseren heutigen Gebildeten bereits
endgiltig aufgegeben.
Beiläufig bemerkt, verträgt sich übrigens der Amphitheis-
mus, der an Gott und Teufel glaubt, viel besser mit einer
vernünftigen WcltcrklUruug , als der reine Monotheismus. Am
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— 31
reinsten ausgebildet ist vielleicht der Amphitheismus in der Zend-
rcligion der Perser, welche Zoroaster (oder Zarathustra, der „Gold-
stern") schon 2000 Jahre vor Christus begründete. Hier steht
überall Ormudz, der Gott des Lichtes und des Guten, im Kampfe
gegen Ahriman, den Gott der Finsterniss und des Bösen. In
ahnlicher Weise wird der beständige Kampf eines guten und bösen
Princips auch in der Mythologie vieler anderen amphitheistischen
/Religionen personificirt; im alten Aegypten kämpfte der gute
Osiris mit dein bösen Typhon, im alten Indien steht Wischnu,
der Erhalter, Schiwa, dem Zerstörer, gegenüber u. s. w.
Will man wirklich die Vorstellung des „persönlichen Gottes"
als Grundlage der Weltanschauung festhalten, so erklärt dieser
Amphitheismus die Leiden und Mängel dieser Welt sehr einfach
als Wirkung des bösen Princips oder des „Teufels" Der reine
Monotheismus hingegen, wie er der ursprünglichen Religion von
Moses und ebenso von Mohammed zu Grunde liegt, vermag eine
vernünftige Erklärung dafür nicht zu geben. Wenn der
Eine Gott derselben wirklich ein absolut gutes, vollkommenes
Wesen ist, so musste er auch seine Welt vollkommen schaffen.
Eine so unvollkommene und leiden volle organische Welt, wie sie
auf der Erde besteht, konnte er überhaupt nicht erfinden.
Diese Betrachtungen gewinnen an Gewicht, wenn wir uns in
die tiefere Naturerkenn tniss der neueren Biologie versenken; hier
hat uns vor allem Darwin durch seine Lehre vom Kampf um's
Dasein und die darauf gegründete Selectionstheorie vor 40 Jahren
die Augen geöffnet. Wir wissen seitdem, dass die ganze organische
Natur auf unserem Planeten nur durch einen schonungslosen Kampf
Aller gegen Alle besteht. Tausende von Thieren und Pflanzen
müssen an jedem Orte der Erde alltäglich zu Grunde gehen, damit
einzelne auserlesene Individuen bestehen bleiben und sich des
Lebens freuen. Aber auch die Existenz dieser wenigen Bevor-
zugten ist ein beständiger Kampf gegen bedrohliche Gefahren aller
Art. Tausendc von hoffnungsvollen Keimen gehen in jeder Minute
nutzlos zu Grunde. Der wüthende Interessenkampf in der mensch-
lichen Gesellschaft ist nur ein schwaches Bild des unaufhörlichen
und grausamen Existenzkampfes, der in der ganzen lebendigen
Welt herrscht. Die schöne Dichtung von „Gottes Güte und Weis-
heit in der Natur" , die wir als Kinder noch vor fünfzig Jahren
mit Andacht anhörten, findet heute keine Gläubigen mehr, wenig-
stens unter den denkenden Gebildeten! Sie ist vernichtet durch
unsere tiefere Erkenntniss der Wechselbeziehungen zwischen den
Organismen, durch die fortgeschrittene Oekologie und Sociologie,
durch die Parasitenkunde und Pathologie.
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— 32 —
Alle diese trostlosen und unabänderlichen Thatsachen — die
wahre „Nachtseite der Natur" — werden für den religiösen
Glauben verständlich durch den Amphitheismus ; sie erscheinen als
„Werke des Teufels", der die vollkommene, sittliche Welt-
ordnung des „guten Gottes" bekämpft und stört Sie bleiben un-
verständlich für den reinen Monotheismus, der nur Einen Gott, nur
Ein vollkommenes höchstes Wesen kennt. Wenn man dabei be-
ständig die „sittliche Weltordnung" im Munde führt, so>
verschliesst man die Augen vor den unleugbaren Thatsachen der
Völkergeschichte und der Naturgeschichte.
Auf Grund dieser Erwägungen können wir schwer begreifen,
wie die grosse Mehrheit der sogenannten „Gebildeten" noch heute
einerseits den Glauben an einen persönlichen Gott für einen un-
entbehrlichen Grundsatz der Religion erklärt, und andererseits
gleichzeitig den Glauben an einen persönlichen Teufel als einen
überwundenen Aberglauben des Mittelalters zurückweist Bei „ge-
bildeten Christen" ist diese In consequenz um so unbegreif-
licher und tadelnswerther, als beide Dogmen gleicherweise wesent-
liche Bestandteile jedes echt christlichen Glaubensbekenntnisses
bilden. Bekanntlich spielt der persönliche Teufel als „Satanas,
Versucher, Verfuhrer, Fürst der Hölle, Herr der Finsterniss" u. 8. w.
im neuen Testamente eine sehr wichtige Rolle, während er in den
älteren Schriften des alten Testamentes nicht vorhanden ist Selbst
unser grosser Reformator Mabtin Luther, der so vielen veralteten
Dogmenkram „zum Teufel warf" , konnte die Ueberzeugung von
der realen Existenz und der persönlichen Gegnerschaft des Beelzebub
nicht los werden; man denke nur an den historischen Tintenfleck
auf der Wartburg! Ausserdem hat unsere christliche bildende
Kunst in vielen Tausenden von Gemälden und anderen bildlichen
Darstellungen den Satanas ebenso leibhaftig vorgestellt, wie die
drei persönlichen guten Götter, mit deren Vereinigung in einer
„dreieinigen Person" sich die menschliche Vernunft seit achtzehn-
hundert Jahren umsonst abquält. Der tiefe Eindruck, den solche
millionenfach wiederholte concrete Darstellungen besonders auf
kindliche Gemüther ausüben, wird in seiner colossalen Wirkung
gewöhnlich unterschätzt; er trägt sicher einen sehr grossen Theil
der Schuld daran, dass solche unvernünftige Mythen unter der
Maske von „Glaubens Wahrheiten" sich beständig forterhalten, allen
Einwänden der Vernunft zum Trotz.
Freisinnige christliche Theologen haben allerdings vielfach ver-
sucht, den „persönlichen Teufel" aus der christlichen Glaubenslehre
zu entfernen und nur als die personiticirte Idee der Lüge, als den
„Geist des Bösen" hinzustellen. Allein mit demselben Rechte
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33 —
müssen wir dann auch an die Stelle des persönlichen Gottes die
personificirte Idee der Wahrheit, den „Geist des Guten", setzen.
Gegen diese Vorstellung haben wir nicht das Mindeste einzuwenden;
vielmehr erblicken wir in ihr eine werthvolle Brücke, welche das
Wunderland religiöser Dichtung mit dem Lichtreiche wissenschaft-
licher Naturerkenn tniss verbindet.
Unsere „monistische Gotteside e a , welche allein mit der
geläuterten Naturerkenn tniss der Gegenwart sich verträgt, erkennt
„Gottes Geist in allen Dingen". Sie kann nimmermehr in Gott
ein „persönliches Wesen" sehen, d. h. mit anderen Worten,
ein Individuum von beschränkter räumlicher Ausdehnung oder
gar von menschlicher Gestalt. „Gott" ist vielmehr überall. Wie
schon Giordano Bruno sagte: „Ein Geist findet sich in allen
Dingen, und es ist kein Körper so klein, der nicht einen Theil der
göttlichen Substanz in sich enthielte, wodurch er beseelt wird."
Jedes „Atom" ist dergestalt beseelt, und ebenso der „Weltäther";
man kann demnach „Gott" auch als die* unendliche Summe aller
Naturkräfte bezeichnen, als die Summe aller Atomkräfte und aller
Aetherschwingungen. Es kommt im Wesentlichen auf dasselbe
hinaus, wenn der geehrte Herr Vorredner Gott als „das oberste
Weltgesetz" definirt und dieses als „Wirken des allgemeinen Raumes"
darstellt. Nicht auf den Namen kommt es bei diesem höchsten
Glaubenssatze an, sondern au/ die Einheit der Grundvorstellung,
auf die Einheit von Gott und Welt, von Geist und Natur. Hin-
gegen erniedrigt der „Homotheismus", die anthropomorphe
Vorstellung von Gott, diesen erhabensten kosmischen Begriff zu
einem „gasförmigen Wirbelthier" 20 ).
Unter den verschiedenen Systemen des Pantheismus, welche
die monistische Gottesvorstcllung schon seit langer Zeit mehr
oder weniger klar ausgebildet haben, ist wohl das vollkommenste
dasjenige von Spinoza. Diesem System hat bekanntlich auch
Goethe seine höchste Bewunderung und Zustimmung gezollt. Von
anderen hervorragenden Männern, welche ihre natürliche Religion
in diesem Sinne pantheistisch gestalteten, wollen wir hier nur noch
zwei der grössten Dichter und Menschenkenner nennen: Shakespeare
und Lessing, zwei der grössten deutschen Fürsten : Friedrich II. von
Hohenstaufen und Friedrich II. von Hohenzollern; zwei der grössten
Naturforscher: La place und Darwin. Indem wir unser eigenes
pantheistisches Glaubensbekenntniss demjenigen dieser hervor-
ragenden freien Geister anschliessen, wollen wir nur noch betonen,
dass dasselbe durch die erstaunlichen Fortschritte der Natur-
erkenntniss in den letzten drei Decennien eine früher nicht geahnte
empirische Begründung erfahren hat.
Haeckel, Der Monismus. 3
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Der Vorwurf des Atheismus, den man auch heute noch
gegen unseren Pantheismus und gegen den ihm zu Grunde liegenden
Monismus erhebt, findet in den wirklich gebildeten Kreisen der
Gegenwart keinen Widerhall mehr. Freilich konnte noch im Anfang
des Jahres 1892 der damalige deutsche Reichskanzler im preussischen
Abgeordnetenhause die seltsame Alternative aufstellen: „Entweder
christliche oder atheistische Weltanschauung"; es geschah dies bei
der Vertheidigung jenes berüchtigten Volksschulgesetzes, das be-
stimmt war, unsere Schulbildung mit gebundenen Händen der
papistischen Hierarchie zu überliefern 18 ). Die weite Entfernung,
welche diesen entarteten Auswuchs der christlichen Religion von
dem ursprünglichen reinen Urchristenthum trennt, ist nicht grösser,
als diejenige, welche jene mittelalterliche Alternative von dem ge-
bildeten religiösen Bewusstsein der Gegenwart scheidet. Wer
freilich die Anbetung von alten Kleidungsstücken und Wachspuppen,
oder das gedankenlose Ableiern von Messen und Rosenkränzen für
wahre christliche Religionsübung hält; wer an wunderthätige Re-
liquien glaubt und Verzeihung seiner Sünden durch Ablassgelder
und Peterspfennige erkauft, dem überlassen wir gern seine An-
sprüche auf „allein selig machende Religion" ; diesen Fetischdienern
gegenüber wollen wir gern als „Atheisten* gelten.
Aehnlich wie mit den Beschuldigungen des Atheismus und der
Irreligion verhält es sich mit dem oft gehörten Vorwurfe, dass
unser Munismus die Poesie zerstöre und die Gemüthsbedürfnisse
des Menschen nicht befriedige; insbesondere soll die Aesthetik —
sicher ein höchst werthvolles Gebiet, ebenso in der theoretischen
Philosophie als im praktischen Leben — durch die monistische
Naturphilosophie beeinträchtigt werden. Schon David Friedrich
Strauss, einer unserer feinsinnigsten Aesthetiker und edelsten
Schriftsteller, hat jenen Vorwurf widerlegt und gezeigt, wie gerade
umgekehrt die Pflege der Poesie und der Cultus des Schönen zu
einer viel grösseren Rolle in unserem „neuen Glauben" berufen
ist. Ihnen, hochgeehrte Anwesende, als Naturforschern und Natur-
freunden, brauche ich nicht auseinander zu setzen, wie sehr jedes
tiefere Eindringen unseres Verstandes in die Erkenntniss der Natur-
Geheimnisse gleichzeitig auch unser Gemüth erwärmt, unserer
Phantasie neue Nahrung zuführt und unsere Schönheitsanschauung
erweitert. Um sich zu überzeugen, wie eng alle diese Gebiete der
edelsten menschlichen Geistesthätigkeit zusammenhängen, wie un-
mittelbar die Erkenntniss der Wahrheit mit der Liebe zum Guten
und der Verehrung des Schönen verknüpft ist, genügt es, einen
einzigen Namen zu nennen, den grössten deutschen Genius:
Wolfganc Goethe.
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Wenn bisher die ästhetische Bedeutung unserer monistischen
Naturreligion, ebenso wie ihr ethischer Werth, noch wenig in
das Bewusstsein der Gebildeten eingedrungen ist, so liegt das wohl
hauptsächlich an unserem mangelhaften Schulunterricht. Zwar ist
in den letzten Decennien über Schulreform und Erziehungs-
Principien unendlich viel geredet und geschrieben worden; aber
von einem wesentlichen Fortschritt ist noch wenig zu spüren.
Auch hier herrscht das physikalische Gesetz der Trägheit; auch
hier — und ganz besonders in den deutschen Schulen — bethätigt
die Scholastik des Mittelalters ein Beharrungsvermögen,
dem gegenüber die vernünftige Unterrichtsreform jedes Bodenstück
Schritt für Schritt mühsam erkämpfen muss. Auch auf diesem
hochwichtigen Gebiete, von dem Wohl und Wehe der künftigen
Generationen abhangt, wird es nicht eher besser werden, als bis
die monistische Naturerkenntniss als unentbehrliche feste Grundlage
anerkannt ist.
Die Schule des zwanzigsten Jahrhunderts, auf diesem festen
Grunde neu erblühend, wird nicht allein die wundervollen Wahr-
heiten der Weltentwickelung der aufwachsenden Jugend zu ent-
schleiern haben, sondern auch die unerschöpflichen Schätze der
Schönheiten, die überall in derselben verborgen liegen. Mögen
wir die Pracht des Hochgebirges oder die Zauberwelt des Meeres
bewundern, mögen wir mit dem Fernrohr die unendlich grossen
Wunder des gestirnten Himmels, oder mit dem Mikroskop die noch
überraschenderen Wunder des unendlich kleinen Lebens betrachten,
überall öffnet uns die Gott-Natur eine unerschöpfliche Quelle ästhe-
tischer Genüsse. Blind und stumpf ist bisher der weitaus grösste
Thcil der Menschheit durch diese herrliche irdische Wunderwelt
gewandelt; eine kranke und unnatürliche Theologie hat ihr dieselbe
als „Jammerthal" verleidet. Jetzt gilt es, dem mächtig fortschreiten-
den Menschengeiste endlich die Augen zu öffnen; es gilt ihm zu
zeigen, dass die wahre Naturerkenntniss nicht allein seinem grübeln-
den Verstände, sondern auch seinem sehnenden Gemüthe volle
Befriedigung und unversiegliche Nahrung zuführt.
Die monistische Naturforschung als Eikenntniss des Wahren,
die monistische Ethik als Erziehung zum Guten, die monistische
Aesthetik als Pflege des Schönen — das sind die drei Haupt-
gebiete unseres Monismus ; durch ihre harmonische und zusammen-
hängende Ausbildung gewinnen wir jenes wahrhaft beglückende
Band zwischen Religion und Wissenschaft, das heute
noch von so Vielen schmerzlich vermisst wird. Das Wahre, das
Gute und das Schöne, das sind die drei hehren Gottheiten, vor
denen wir anbetend unser Knie beugen; in ihrer naturgemässon
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Vereinigung und gegenseitigen Ergänzung gewinnen wir den reinen
Gottesbegriff 21 ). Diesem „dreieinigen Gottes-Ideale u , dieser natur-
wahren Trinität des Monismus wird das herannahende zwan-
zigste Jahrhundert seine Altäre bauen!
Im August 1882 wohnte ich der drei hundertjährigen Jubelfeier
der Universität Würzburg bei, an der ich selbst im Jahre 1852
meine medicinischen Studien begonnen und sechs Semester hindurch
fortgesetzt hatte. Die treffliche Festrede in der Universitätskirche
hielt der damalige Rector, der ausgezeichnete Chemiker Johannes
Wislicenus. Er schlo8s seine Segenswünsche mit den Worten:
„Das walte Gott, der Geist des Guten und der Wahrheit". Ich
füge hinzu: „Und der Geist der Schönheit". In diesem Sinne
widme auch ich Ihrer Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes
bei dieser festlichen Gelegenheit meine besten Glückwünsche.
Möge die Erforschung der Naturgeheimnisse auch in dieser nord-
östlichen Ecke unseres Thüringer Landes blühen und gedeihen,
und mögen ihre hier in Altenburg reifenden Erkenntnissfrüchte nicht
weniger zur Geistescultur und zur Förderung wahrer Religion
beitragen, als diejenigen, welche vor 370 Jahren der grosse Re-
formator Martin Luther an der nordwestlichen Ecke Thüringens,
auf der Wartburg bei Eisenach, zu Tage förderte.
Mitten inne zwischen der Wartburg und Altenburg liegt an
der Thüringer Nordgrenze die classische Musenstadt Weimar, und
nahe dabei unsere Landesuniversität Jena. Ich betrachte es als
ein gutes Omen, dass gerade in diesem Augenblicke in Weimar
eine seltene Festfeier die durchlauchtigsten Erhalter der Universität
Jena, die Beschützer der freien Forschung und freien Lehre zu-
sammengeführt hat 82 ). In der Hoffnung, dass der Schutz und die
Förderung derselben uns auch ferner erhalten bleibe, schliesse ich
mein monistisches Glaubensbekenntniss mit den Worten: „Das
walte Gott, der Geist des Guten, des Schönen und
der Wahrheit!"
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Anmerkungen.
1. Naturwissenschaftliche Glaubenssätze (8. 9). In der Fest-
rede, welche Professor Sculksinokr am 9. October über dieses Thema in
Altenburg hielt, wies derselbe mit Recht (im Sinne von Kamt) auf die Grenzen
des Naturerkennens hin, welche uns durch die Un Vollkommenheit unserer
Erkenntnissorgane gesetzt sind. Die Lücken, welche die empirische Natur-
forschung im Gebäude der Wissenschaft offen lassen muas, können wir aber
durch Hypothesen ausfüllen, durch mehr oder weniger wahrscheinliche Ver-
muthungen. Diese können wir zwar zur Zeit noch nicht sicher beweisen;
aber wir dürfen sie zur Erklärung der Erscheinungen verwerthen, sofern sie
der vernünftigen Naturerkenntniss nicht widersprechen. Solche vernünf-
tige Hypothesen sind wissenschaftliche Glaubenssätze, und so-
mit sehr verschieden von sogenannten „kirchlichen Glaubenssätzen oder reli-
giösen Dogmen". Diese letzteren sind entweder reine Dichtungen ( — ohne
jeden empirischen Beweis — ) oder einfach unvernünftig ( — dem Causalgesetze
widersprechend — ). Eine vernünftige Hypothese von fundamentaler Bedeu-
tung ist z. B. der Glaube an die Einheit der Materie (die Zusammensetzung
der Elemente aus Uratomen, S. 17), der Glaube an die Urzeugung (S. 38),
der Glaube an die principielle Einheit aller Naturerscheinungen, wie sie
unser Monismus vertritt (vgl. darüber meine generelle Morphologie, I. Bd.
S. 105, 164 u. s. w., sowie die Natürl. Schöpfungsgeschichte, IX. Aufl., 1898,
S. 21, 360 , 812). Da sowohl die einfacheren Vorgänge in der anorganischen
Natur, wie die verwickeiteren Erscheinungen im organischen Leben auf die-
selben Naturkräfte zurückführbar sind ; da ferner diese wieder ihren gemein-
samen Grund in einem einheitlichen, den allgemeinen unendlichen Weltraum
erfüllenden Urprincip besitzen, so kann man dieses letztere (den Weltäther)
als allumfassende Gottheit betrachten und darauf den Satz gründen: „der
Gottesglaube ist mit der Naturwissenschaft vereinbar". In dieser pantheisti-
schen Auffassung, wie in der Kritik des einseitigen Materialismus stimme ich
mit Professor Schlesinger überein, während ich dagegen einem Theile seiner
biologischen — und insbesondere anthropologischen — Folgerungen nicht zu-
stimmen kann. Vgl. dessen Aufsatz: Thatsachen und Folgerungen aus dem
Wirken des allgemeinen Raumes (Mittheilungen aus dem Osterbinde, V. Bd.,
Altenburg 1892).
2. Einheit der Natur (S. 9). Die principielle Einheit der anorgani-
schen und organischen Natur, sowie ihren genetischen Zusammenhang, halte
ich für einen fundamentalen Hauptsatz unseres Monismus. Ich betone diesen
.Glaubenssatz" hier ausdrücklich, weil immer noch angesehene Naturforscher
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bisweilen ihn bestreiten. Nicht allein wird die alte mystische „Lebenskraft"
immer wieder von Zeit zu Zeit aufgewärmt, sondern auch der natürlichen
Entwicklungslehre wird noch oft die „wunderbare" Entstehung des orga-
nischen Lebens aus der „todten" anorganischen Natur als ein unlösbares
Räthsel entgegengestellt, als eines der „sieben Welträthsel" von Du Bois-
Revmond (vgl. dessen Leibnitz-Rede 1880). Die Lösung dieses „transcendenten"
Welträthsels und der damit zusammenhängenden Frage von der Archigonie
( — der „Urzeugung" in einem ganz bestimmten Sinne! — ) kann nur gefunden
werden durch eine kritische Analyse und unbefangene Vergleichung der
Stoffe, Formen und Kräfte in der anorganischen und organischen Natur. Eine
solche habe ich schon 18G6 im zweiten Buche meiner „Generellen Morpho-
logie" gegeben (Bd. I, S. 109 — 288: „Allgemeine Untersuchungen über die
Natur und erste Entstehung der Organismen, ihr Verhältniss zu den An-
organen und ihre Eintheilung in Thiere und Pflanzen"). Einen kurzen Aus-
zug derselben enthält der XV. Vortrag meiner „Natürl. Schöpfungsgesch.*
(IX. Aufl., S. 340—368). Die grössten Schwierigkeiten, welche der dort dar-
gelegten monistischen Auffassung früher entgegenstanden, können jetzt als
beseitigt gelten durch die neueren Aufschlüsse über das Wesen des Plasma,
die Entdeckung der Moneren, das genaue Studium der nächst verwandten
einzelligen Protisten, ihren Vergleich mit der Stammzelle (oder der be-
fruchteten Eizelle), sowie durch die chemische Kohlenstofftheorie.
(Vgl. meine „Studien über Moneren und andere Protisten" in der Jenaischen
Zeitschrift für Naturwissenschaft, Bd. IV, V, 1868—1870. Vgl. ferner: Carl
Naeqem, 1884, Mechanisch-physiologische Begründung der Abstammungslehre).
3. Religion der Thiere (S. 11). Die ersten Anfänge jener höheren
Gehirnfunctionen, welche wir als Vernunft und Bewusstsein, Religion und
Sittlichkeit bezeichnen, sind bei den höchst entwickelten Hausthieren ( — vor
allen Hunden, Pferden, Elephanten — ) bereits unverkennbar; sie sind nur
graduell (nicht qualitativ) von den entsprechenden Seelenthätigkeiten der
niedersten Menschenrassen verschieden. Wenn die Affen, und vor allen die
Anthropoiden, seit Jahrtausenden gleich den Hunden domesticirt und in
engster Berührung mit den Gulturmenschen gezüchtet worden wären, so
würde unzweifelhaft ihre Annäherung an die menschliche Seelenthätigkeit
noch viel auffallender sein. Die anscheinend tiefe Kluft, welche den Menschen
noch von diesen höchst entwickelten Säugethieren trennt, „ist vorzugsweise
darin begründet, dass der Mensch in sich mehrere hervorragende Eigenschaften
vereinigt, welche bei den übrigen Thieren nur getreunt vorkommen, nämlich
1. die höhere Differenzirungsstufe des Kehlkopfs (Sprache), 2. des Gehirns
(Seele), und 3. der Extremitäten; 4. endlich den aufrechten Gang. Lediglich
die glückliche Combination eines höheren Entwicklungsgrades von diesen
wichtigen thierischen Organen und Functionen erhebt die meisten Menschen
so hoch über alle Thiere" (Generelle Morphologie, 1866, Bd. n, S. 430).
4. Vererbung erworbener Eigenschaften (S. 11). Da der Streit
über diese wichtige Frage immer noch nicht geschlichtet ist, sei bei dieser
Gelegenheit besonders darauf hingewiesen, welche werth vollen Gründe zu
seiner Entscheidung gerade die Entwicklung der Instincte bei den höheren
Thieren, der Sprache und der Vernunft beim Menschen liefert. „Die Ver-
erbung der im individuellen Leben erworbenen Eigenschaften ist eine un-
erlässliche Annahme der monistischen Entwicklungslehre." „Wenn man
mit Weismann und Galto» dieselbe leugnet, so schliesst man damit den um-
bildenden Einfiuss der Aussenwelt auf die organische Form überhaupt aus."
(Anthropogenie, IV. Aufl., S. XXIII, 836. Vgl. ferner die dort citirten Schriften
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von Eimer, Wkismanx, Hkrbert Spencer, Ray-Lankester etc., sowie meine Ab-
handlung „Zur Phylogenie der Australischen Fauna" (1993) und Ludwig Wilskr,
Die Vererbung der geistigen Eigenschaften (Heidelberg 1892).
5. Theosophisches Natursystem (S. 12). Unter allen neueren
Versuchen der dualistischen Philosophie, die Naturerkenntniss theologisch
( — und zwar auf der Basis des christlichen Monotheismus — ) zu begründen,
ist der Essay on Classification von Louis Agassiz der weitaus bedeutendste,
ja eigentlich der einzige nennenswerthe. (Vgl. hierüber meine NatürL
Schöpfungsgesch. III. Vortrag, sowie die „Ziele und Wege der heutigen Ent-
wicklungsgeschichte" 1875, Jena, Zeitschr. für Naturw., Bd. X. Supplement.)
Dass die dogmatische Auffassung des Speciesbcgriffes bei Agassis rein teleo-
logisch und wissenschaftlich völlig unhaltbar war, habe ich eingehend im
22. Kapitel meiner generellen Morphologie nachgewiesen (Bd. II. S. 323 — 364).
6. Darwin und Copernicus (S. 13). Unter diesem Titel hat Herr
Geh. Rath Emu. Du Bois-Rkymond im II. Bande seiner „Gesammelten Reden"
(1887, S. 400) einen Nachruf wieder abgedruckt, welchen er am 25. Januar 1883
in der Berliner Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. Da dieser Nach-
ruf, wie der Redner selbst in einer Anmerkung (S. 500) sagt, grosses Aufsehen
„sehr unverdienter Weise erregte", und ihm von Seiten der klerikalen Presse
heftige Angriffe zuzog, wird es mir gestattet sein, hier darauf hinzuweisen,
dass derselbe keinen neuen Gedanken enthält. Denn ich selbst hatte den
Vergleich zwischen Darwin und Copkrnicus, sowie die Verdienste beider
Heroen um die Vernichtung der anthropocentrischen und geocentrischen Welt-
anschauung bereits eingehender fünfzehn Jahre früher ausgeführt in meinen
Vorträgen „über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts"
(in der IU. Serie der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vor-
träge von Vircuow und Holtzkxdorkf, No. 53 und 54, 1868; IV. Aufl. lSöl)
Wenn Herr Du Bois-Reymond sagt: „Für mich ist Darwin der Copernicus der
organischen Welt," so freue ich mich um so mehr, meinen Gedankengang
( — zum Theil mit denselben Worten — ) von ihm aeeeptirt zu sehen, als er
selbst sich dabei unnöthiger Weise zu mir in Gegensatz bringt. Ebenso ver-
hält es sich mit der Erklärung der „angeborenen Ideen" durch den Darwinis-
mus, welche Herr Du Bois 1870 in seiner Rede über „Leibnizische Gedanken
in der neueren Naturwissenschaft" versucht (I. Bd. der gesammelten Reden).
Auch hier stimmt sein Gedankengang in erfreulicher Weise mit demjenigen
ü herein, den ich vier Jahre früher in meiner Generellen Morphologie (Bd. II,
S. 446) und in der NatürUchen Schöpfungsgeschichte entwickelt hatte (1868,
I. Vortrag S. 26, letzter Vortrag S. 530): „Die Gesetze der Vererbung und
Anpassung erklären uns, wie die Erkenntnisse a priori ursprünglich aus Er-
kenntnissen a posteriori sich entwickelt haben" etc. Es kann mir nur sehr
schmeichelhaft sein, den berühmten Rhetor der Berliner Akademie neuerdings
als Freund und Gönner der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" zu begrüssen,
welche derselbe früher als einen schlechten Roman bezeichnet hatte. Man
sollte aber deshalb doch nicht sein geflügeltes Wort vergessen, dass die
wissenschaftlich begründeten Stammbäume der Phylogenie „etwa so viel
werth sind, wie in den Augen der historischen Kritik die Stammbäume ho-
merischer Helden" (Darwin versus Galiani, 1876).
7. Das Gesetz von der Erhaltung der Substanz (S. 14) gehört
streng genommen auch zu den „naturwissenschaftlichen Glaubenssätzen" und
könnte als § 1 unserer „monistischen Religion" gelten. Allerdings be-
trachten die Physiker der Gegenwart allgemein und mit Recht ihr „Gesetz
von der Erhaltung der Kraft" als die unerschütterliche Grundlage ihrer wissen-
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schaftlichen Naturerkenntniss (Robert Mavbb, Hklkholtz), und ebenso die
Chemiker ihr Grundgesetz „von der Erhaltung des Stoffes" (Lavoisieb). Allein
skeptische Philosophen könnten mit Erfolg sowohl gegen jedes einzelne dieser
beiden Grundgesetze gewisse Einwände erheben, als gegen ihre Zusammen-
fassung in dem einen obersten Grundgesetz „von der Erhaltung der Substanz".
Thatsächlich werden dergleichen Einwände von Seiten der dualistischen
Philosophie noch fortwährend versucht, oft unter dem Scheine der vorsichtigen
Kritik. Diese skeptischen (zum Theil auch rein dogmatischen) Einwände
haben nur insofern einen Schein der Berechtigung, als sie das fundamen-
tale Substanzproblem betreffen, die Grundfrage von dem „Zusammen-
hang von Materie und Kraft". Wenn wir aber diese eine, noch wirklich
vorhandene „Grenze des Naturerkennens" bereitwillig anerkennen, so ver-
mögen wir innerhalb derselben das „mechanische Causalgesetz"
ganz allgemein zur Anwendung zu bringen. Die verwickelten sogenann-
ten „geistigen Vorgänge" (insbesondere auch das Bewusstsein) sind dem „Ge-
setze von der Erhaltung der Substanz" genau ebenso unterworfen, wie die
einfacheren mechanischen Naturprocesse, als Objecto der anorganischen Physik
und Chemie. Vgl. Anmerkung 16.
8. Kant und der Monismus (S. 16). Da die neuere deutsche Philo-
sophie grösstentheils auf Immanuel Kant zurückgeht und zum Theil den grossen
Königsberger Philosophen in übertriebener Weise ( — selbst als „unfehlbar" ! — )
vergöttert, sei es gestattet, hier wiederholt darauf hinzuweisen, dass sein
System der kritischen Philosophie aus monistischen und dualistischen Bestand-
teilen gemischt ist Von fundamentaler Bedeutung werden stets seine kriti-
schen Principien der Erkenntnisstheorie bleiben, der Nachweis, dass
wir das eigentliche tiefste Wesen der Substanz, das „Ding an sich" ( — oder
den „Zusammenhang von Materie und Kraft" — ) nicht zu erkennen ver-
mögen; unsere Erkenntnis bleibt subjectiver Natur; sie ist bedingt durch die
Organisation unseres Gehirns und unserer Sinneswerkzeuge und vermag da-
her bloss die Erscheinungen zu begreifen, welche uns die Erfahrung von
der Ausscnwelt übermittelt. Aber innerhalb dieser „menschlichen Erkenntniss-
Grenzen" ist ein positives monistisches Naturerkennen sehr wohl möglich, im
Gegensatze zu allen dualistischen und metaphysischen Phantastereien. Eine
solche grosse monistische Erkenntnissthat war die mechanische Kos-
mogenie von Kant und Laplace, der „Versuch von der Verfassung und dem
mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgcbäudc3, nach Newton'schen Grund-
sätzen abgehandelt" (1755). Ueberhaupt hielt Kamt im Gebiete der anorga-
nischen Naturerkenntniss den monistischen Standpunkt streng ein, indem er
den Mechanismus allein als wirkliche Erklärung der Erscheinungen gelten
Hess. Im Gebiete der organischen Naturerkenntniss hingegen hielt er den-
selben zwar auch für berechtigt, aber nicht für ausreichend; hier glaubte er
ausser den Wcrkursaehen {Causae efßcientcs) nothwendig auch Zweckursachen
(Causae finales) zu Hülfe nehmen zu müssen. (Vgl. den V. Vortrag meiner
Natürl. Schöpfungsgeschichte: Entwicklungstheorie von Kant und Lainarck.
Vgl. ferner Albbecht Kau, Kant und die Natur forschung. Eine Prüfung
der Resultate des idealistischen Kriticismus durch den realistischen. Kosmos,
II. Bd. 188G.) Dadurch gelangte Kant auf die schiefe Ebene der dualisti-
schen Telcologie und später zu seinen unhaltbaren metaphysischen
Ansichten ron „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit". Wahrscheinlich wären
diese Irrthümer vermieden worden, wenn Kant eine gründliche anatomisch-
physiologische Bildung besessen hätte. Freilich lagen damals die Naturwissen-
schaften noch in der Wiege. Ich bin fest überzeugt, dass Kant s System der
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kritischen Philosophie ganz andere und rein monistisch ausgefallen wäre,
wenn ihm die ungeahnten Schätze empirischer Naturkenntniss zu Gebote
gestanden hätten, über welche wir heute verfügen.
9. Der Weltäther (S. 16). In einem geistreichen Vortrage „über die
Beziehungen zwischen Licht und Elektricität" hat Heinrich Hertz auf der
(62.) Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Heidelberg 1889
die Tragweite seiner glänzenden Entdeckung erläutert: „So verbreitet sich
das Gebiet der Elektricität über die ganze Natur. Es rückt auch uns selbst
näher; wir erfahren, dass wir in Wahrheit ein elektrisches Organ haben, das
Auge. — Da liegt nahe vor uns die Frage nach den unvermittelten Fern-
wirkungen überhaupt. Giebt es solche? — In anderer Richtung nicht ferne
liegt die Frage vom Wesen der Elektricität. Und unmittelbar an diese an-
schliessend erhebt sich die gewaltige Hauptfrage nach dem Wesen
des Aethcrs, nach den Eigenschaften des raumerfüllenden Mittels, nach
seiner Structur, seiner Ruhe oder Bewegung, seiner Unendlichkeit oder Be-
grenztheit. Immer mehr gewinnt es den Anschein, als überrage diese Frage
alle übrigen, als müsse die Kenntniss des Aethers uns nicht allein das Wesen
der ehemaligen Imponderabilien offenbaren, sondern auch das Wesen der
alten Materie selbst und ihrer innersten Eigenschaften, der Schwere und
Trägheit. — Der heutigen Physik liegt die Frage nicht mehr ferne, ob nicht
etwa Alles, was ist, aus dem Aether geschaffen sei?" — Diese Frage wird
bereits von einigen monistischen Naturphilosophen bejaht, so von J. G. Vogt
in seinem gedankenreichen Werke über „das Wesen der Elektricität und des
Magnetismus auf Grund eines einheitlichen Substanzbegriffes" (Leipzig 1891).
Er betrachtet die Massenatome (oder die Uratome des kinetischen Materie-
Begriffes) als individualisirte Verdichtungscentren der continuirlichen, den
ganzen Weltraum lückenlos erfüllenden Substanz: der bewegliche elastische
Theil dieser Substanz zwischen den Atomen und im ganzen Weltraum ist
eben der Aether. Zu ähnlichen Anschauungen gelangte schon früher auf
Grand mathematisch-physikalischer Untersuchungen Georg Helm in Dresden;
in seinem Aufsätze „über die Vermittelung der Fernwirkungen durch den
Aether" (Annalen der Physik und Chemie, 1881, Bd. XIV) zeigt er, „dass zur
Erklärung der Fernwirkungen und der Strahlung nur die Annahme eines
einzigen Stoffes, des Aethers, erforderlich ist, d. h. dass für diese Erschei-
nungen alle Qualitäten, die man einem Stoffe zuschreiben kann, einflusslos
sind, ausser der einen, dass er sich bewegt; oder dass im Begriffe Aether
nichts Anderes gedacht zu werden braucht, als „das Bewegliche".
10. Atome und Elemente (S. 17). Die zahlreichen und wichtigen
Gründe, welche für die zusammengesetzte Natur unserer empirischen Elemente
sprechen, hat kürzlich Gustav Wendt erörtert in seiner Abhandlung über
„die Entwicklung der Elemente, Entwurf zu einer biogenetischen Grundlage
für Chemie und Physik" (Berlin 1891). Vgl. auch Wilhelm Preyer: „Die orga-
nischen Elemente und ihre Stellung im System" (Wiesbaden 1891), Victor
Mkvkr: Chemische Probleme der Gegenwart (Heidelberg 1890) und W. Cuookes:
„Die Genesis der Elemente" (Braunschweig 1888). Ucber die verschieden-
artige Auffassung des Atombegriffes vgl. Philipp Spiller, Die Atomlehre,
in: Die Urkraft des Weltalls nach ihrem Wesen und Wirken auf allen Natur-
gebieten (Berlin 1886): 1. Naturphilosophie. U. Die Weltätherlehre. III. Die
ethische Seite der Naturbetrachtung. Ueber den Aufbau der Masse aus den
Atomen. Vgl. A. Turner, Die Kraft und Materie im Räume (Leipzig 18S6,
III. Aufl.). I. Ueber die Natur des Stoffes und seine Relationsverhältnisse.
IL Atomverbindungen. IU. Die Natur der Moleküle und ihre Verbindungen.
Theorie der Krystallisation.
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11. Die Weltsubstanz (S. 18). Das Verhältnis» der beiden Urbestand.
theile des Kosmos, Aether und Masse, lässt sich vielleicht in der nach-
stehenden Gegenüberstellung (nach einer der vielen verschiedenen Hypo-
thesen) einigermaassen vorläufig anschaulich machen:
Welt (— = S u b s t a n z = K o s m o s).
Weltäthcr (= bewegliche, schwin-
gende oder active Substanz).
Hauptfunctionen: Elektricität,
Magnetismus, Licht, Wärme.
Stmctnr: dynamisch; continuirliche,
elastische Substanz, nicht aus Ato-
men zusammengesetzt (?).
Weltmasse (= träge, beharrendo
oder passive Substanz).
Hauptfunctionen: Schwere, Träg-
heit, chemische Wahlverwandtschaft.
Structur: atomistisch; discontinuir-
lichc, unelastische Substanz, aus
Atomen zusammengesetzt (!).
Das räthselhafte Wesen des Aethers bietet gegenwärtig noch, im Gegen-
satze zu dem besser bekannten Wesen der Masse, unserer theoretischen Auf-
fassung ausserordentliche Schwierigkeiten. Diese sind so gross, dass die
meisten Physiker — und noch mehr die Chemiker — die Frage nach dem
Wesen des Aethers ganz bei Seite lassen, oder nur oberflächlich streifen.
Und doch liegt es auf der Hand, dass diese „gewaltige Hauptfrage" zunächst
alle anderen kosmologiseljen Grundfragen an Bedeutung überragt. In Bezug
auf die Structur des Aethers neigen wohl die meisten Physiker zu der
Annahme, dass er ebenso wie die Masse aus discreten Theilchen — d. h. also
aus Atomen — zusammengesetzt sei. Allein bei dieser Annahme müssen wir
weiterhin uns vorstellen, dass zwischen den Aether-Atomen noch ein anderes
raumerfüllendes Medium existire, also ausser Aether und Masse noch ein
dritter (ganz unbekannter!) Urbestandtheil des Kosmos; denn die altehrwürdige
Vorstellung des wirklich „leeren Raumes" und der damit verknüpften „Fern-
wirkung der Körper", verliert immer mehr jeden Boden, je tiefer die mo-
nistische Speculation in das wahre Wesen der Substanz auf Grund der
neueren Erfahrungs-Fortschritte eindringt. Wenn wir nun wirklich ausser
Aether und Masse noch einen solchen dritten, zwischen den Atomen dieser
Beiden befindlichen Urbestandtheil der Substanz annehmen wollten, so wäre
damit nicht das geringste gewonnen; denn bei der Frage nach seiner Struc-
tur würden wir wieder auf dieselben Schwierigkeiten und Antinomien stossen,
und so „in infinitum" ! Es scheint mir daher die entgegengesetzte Hypothese
den Vorzug zu verdienen, dass der Weltäther nicht aus Atomen zusammen-
gesetzt ist, vielmehr eine „continuirliche elastische Substanz" dar-
stellt, dass er eine „dynamische Structur" besitzt, keine atomistische (wie die
„Masse"). Ohnehin wird von den Physikern schon jetzt zugegeben, dass die
Dichtigkeit oder der Aggregatzu stand des Aethers ein ganz eigentüm-
licher und mit den bekannten drei Zuständen der Masse nicht vergleichbar
ist. Dieser „ätherische Aggregatzustand" ist weder fest, noch troptbar flüssig,
noch gasförmig. Er ist auch nicht „festflüssig", wie das gequollene wasser-
reiche Plasma organischer Gewebe. Dennoch könnte man, um überhaupt
irgend eine fassbare Vorstellung vom Aether-Wcsen zu gewinnen, vielleicht
ein grobes Bild aus der Massenwelt entlehnen, und ihn einer äusserst weichen
und höchst elastischen Gallerte vergleichen, wie sie in der Umbrella-Sub-
stanz mancher Medusen und Chenophoren uns bekannt ist. Bisweilen sind in
einer solchen „festflüssigen" Gallerte Milliarden von feinsten, nur bei stärkster
Vergrösserung erkennbaren Körnchen vertheilt. In ähnlicher Weise könnte
man sich die Massen-Atome in der continuirlichen Aether-„Grundsubstanz a
vertheilt vorstellen. Die Dichtigkeit des Aethers hat Sin William
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Thomson dahin berechnet, dass eine Aetlier-Kugel vom Volumen unserer Erde
mindestens 250 Pfund wiege. — Die Chemiker pflegen bei ihren Unter-
suchungen über die „Wahlverwandtschaft" der empirischen Element- Atome, bei
der Analyse und Synthese ihrer chemischen Verbindungen, gewöhnlich
weder an die Uratome der Masse zu denken, noch an ihre Beziehungen zu
dem zwischem ihnen befindlichen Aether. Und doch ist es klar, dass diese
letzteren nothwendig mit in Betracht gezogen werden müssen, wenn man in
das Wesen der ersteren tiefer eindringen will. — Elektricität, Magnetismus,
Licht, strahlende Wärme — also „Aether-Functionen" ! — spielen be-
kanntlich auch bei chemischen Processen eine hochwichtige Rolle, und müssen
also auch für den Chemiker ebenso Gegenstand tieferer Forschung sein, wie
die „Massen-Functionen" der Schwere, des Gewichtes, der „chemischen
Wahlverwandtschaft".
12. Universale Entwickelungslehrc (S. 18). Die wichtigsten Schrif-
ten darüber habe ich in der neuen (IX.) Aufl. meiner „Natürlichen Schöpfungs-
geschichte" (1893) aufgeführt. Vgl. insbesondere: Cakus Sterne (Ernst Krause):
Werden und Vergehen. Eine Entwickelungsgeschtchte des Naturganzen
in gemeinverständlicher Fassung(III. Aufl., mit 500 Abbildungen, Berlin 188G). —
Wilhelm Bolscub, Entwicklungsgeschichte der Natur (Band I und II vom
Hausschatz des Wissens), Berlin 1894. — Hugo Spitzer, Beiträge zur Descendcnz-
theorie und zur Methodologie der Naturwissenschaft (Graz 18SG).
13. Stammesgeschichte (S. 19). Begriff und Aufgabe der Phylogenie
oder Stammesgeschichte habe ich zuerst 1866 definirt, im sechsten Buche
meiner „Generellen Morphologie" (Bd. II, S. 301—422). Den wesentlichen In
halt derselben, sowie ihre Beziehung zur Ontogenie oder Koimesgeschichte
entwickelt in populärer Form der H. Theil meiner „Natürlichen Schöpfungs-
geschichte" (IX. Aufl. mit 30 Tafeln, Berlin 1898). Die besondere Anwendung
beider Zweige der Entwickelungsgeschichte auf den Menschen versucht meine
Anthropogenie (Leipzig 1874. IV. umgearbeitete und vermehrte Aufl. 1891,
I. Theil: Keimesgeschichte. II. Theil: Stammesgeschichte). — Neuerdings habe
ich in einem grösseren dreibändigen Werke die strenge fachwissenschaftliche
Begründung meiner biogenetischen Ansichten zu geben versucht: „Systema-
tische Phylogenie, Entwurf eines natürlichen Systems der Organismen
auf Grund ihrer Stammesgeschichte" (I. Theil : Protisten und Pflanzen ; II. Theil:
Wirbellose Thiere; III. Theil: Wirbelthiere), Berlin 1896.
14. Gegner der Abstammungslehre (S. 21). Seit dem Tode von
Louis Aga ssi z (1873) wird als einziger namhafter Gegner des Darwinismus und
der Descendcnztheorie Rudolf Virchow betrachtet; bei jeder Gelegenheit
hat er dieselben als „unbewiesene Hypothesen" bekämpft, jedoch niemals den
geringsten Versuch einer eingehenden wissenschaftlichen Widerlegung der-
selben gemacht. Vgl. hierüber meine Schrift über „Freie Wissenschaft
und freie Lehre". Eine Entgegnung auf Rudlof Vircuow's Münchener
Rede über „die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat", 1878.
15. Cellular-Psy cholo gie (S. 21). Vergl. hierüber meinen Aufsatz
über „Zellseelen und See lenz eilen" in der „Deutschen Rundschau"
(Juli-Heft 1878), abgedruckt im I. Hefte meiner „Gesammelten populären Vor-
träge" ; ferner: Zellseelc und Cellular-Psychologie, in meiner Abhandlung über
„Freie Wissenschaft und freie Lehre", Stuttgart 1878, S. 83; — Natürliche
Schöpfungsgeschichte (IX. Aufl., S. 446 , 793) und Anthropogenie (IV. Aufl.,
S. 128, 147). Vergl. ferner Max Vebwouk, Psycho-physiologische Pro-
tisten- Stud ien, Jena 1889, sowie dessen ausgezeichnete „Allgemeine Physio-
logie" (II. Aufl. Jena 1897); Paul Cakus, The Soul of Man, an investigation
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of the facts of physiological and experimental Psychology (Chicago 1891).
Unter den neueren Versuchen, die Psychologie auf Grund der Entwicklungs-
lehre in monistischem Sinne zu reformiren, ist besonders hervorzuheben:
Georg Heinbich Schneider, Der thierische Wille, Systematische Darstel-
lung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwick-
lung und Verbreitung im Thierreiche, als Grundlage zu einer vergleichenden
Willenslehre (Leipzig 1880). Vcrgl. auch Desselben ergänzendes Werk: Der
menschliche Wille vom Standpunkte der neuen Entwicklungstheorie (1882).
16- D a s B e w u s s t s e i n (S. 23). Noch immer wird in zahlreichen Schriften
die veraltete Ansicht von Du Bois-Rethono (1872) festgehalten, dass das mensch*
liehe ßewusstsein ein unlösbares „Welträthsel" für sich sei, eine transcendente
Erscheinung, die zu allen übrigen Naturerscheinungen in principiellem
Gegensatze stehe. Gerade auf diese Ansicht in erster Linie gründet die dua-
listische Weltanschauung ihre Behauptung, dass der Mensch ein ganz beson-
deres Wesen und seine persönliche Seele unsterblich sei. Gerade deshalb
wird seit 26 Jahren die „Leipziger Ignorabimus-Rede" von Du Bois-Rkymond
von allen Vertretern mythologischer Weltanschauung zur Stütze verwerthet
und als Widerlegung des „monistischen Dogma" gerühmt. Das Schlusswort
„Ignorabimus" wurde aus dem Futurum in das Praesens übersetzt, und dieses
„Ignoramus" bedeutet, dass wir „Uebcrhaupt nichts wissen" — und noch
schlimmer, dass „wir überhaupt nicht zur Klarheit kommen und alles weitere
Reden müssig bleibt". Gewiss bleibt die berühmte Ignorabimus-Rcde ein
bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk; sie ist eine „schöne Predigt"
von hoher Vollendung der Form und überraschendem Wechsel naturphilo-
sophischcr Bilder. Bekanntlich beurthcilt aber die Mehrheit (— und beson-
ders das „schöne Geschlecht" — ) eine „schöne Predigt" nicht nach dem wahren
Ideen-Gehalte, sondern nach dem ästhetischen Untcrhaltungswerthe. Während
Du Bois sein Auditorium ausführlich mit den unglaublichen Leistungen des
LAPLACE'schen Geistes unterhält, schlüpft er am Schlüsse über den wichtigsten
Theil seines Thema in elf kurzen Zeilen hinweg und versucht gar nicht weiter
die Lösung seiner Hauptfrage, ob die Welt wirklich „doppelt unbegreif-
lich" sei? Ich habe dagegen schon wiederholt zu zeigen versucht, dass die
beiden Grenzen unseres Naturerkennens in der That eine und dieselbe sind;
die Thatsache des Bewusstseins und sein Vcrhältniss zum Gehirn sind uns nicht
minder, aber auch nicht mehr räthsclhaft, als die Thatsache des Sehens und
Hörens, als die Tatsache der Gravitation, als der Zusammenhang von Materie
und Kraft. (Vergl. meine Abhandlung über „Freie Wissenschaft und freie
Lehre", Stuttgart 1878, S. 78, 82 etc.) '
17- Unsterblich keit (S. 25). Vielleicht bei keinem Glaubensatze der
Kirche liegt die grobmaterialistische Vorstellung des christlichen Dogma
so klar zu Tage, wie bei der hochgehaltenen Lehre von der „persönlichen
yUnsterblichkeit" und der damit verknüpften „Auferstehung des Fleisches".
Sehr gut bemerkt darüber Savagb in seinem vortrefflichen Werke über „Die
Religion im Lichte der Darwinschen Lehre" (Deutsch von Schramm, Leipzig
1886, S. 180): „rJine der stehenden Anklagen der Kirche gegen die Wissenschaft
lautet, das letztere materialistisch sei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf
aufmerksam machen, dass die ganze kirchliche Vorstellung vom zu-
künftigen Leben von jeher und noch jetzt der reinste Materialismus
war und ist. Der materielle Leib soll auferstehen und in einem materiellen
Himmel wohnen." Vgl. darüber auch Ludwig Bücuseb, Das zukünftige
Leben und die moderne Wissenschaft (Leipzig 1889), Lesikr Ward: Causes
of ßelief in Immortality („The Forum", Vol. VIII, Sept. 1889), Paud Carus,
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The Soul of Man, An Invcstigation oft the Facta of physiological and expcri-
mental Psychology (Chicago 1891). Carcs weist sehr treffend auf die Ana-
logie zwischen den älteren und neueren Vorstellungen über Licht und über
Seele hin. Wie man früher die leuchtende Flamme durch einen besonderen
Feuerstoff, das Phlogiston, erklärte, so die denkende Seele durch eine be-
sondere gasförmige Seel ensubstanz. Jetzt wissen wir, dass das Flammen-
licht eine Summe von elektrischen Aether-Schwingungcn ist, und die Seele
eine Summe von Plasma-Bewegungen in den Ganglienzellen. Dieser wissen-
schaftlichen Auffassung gegenüber besitzt die Unsterblichkeitslehre der scho-
lastischen Psychologie ungefähr denselben Werth, wie die materialistischen
Vorstellungen der Rothhäute über das jenseitige Leben, welchen Schillkb in
der Nadowessischen Todtenklage Ausdruck giebt.
18. Papismus (S. 29, 34). Zu den merkwürdigsten und für die mensch-
liche Vernunft beschämendsten Thatsachen des neunzehnten Jahrhunderts ge-
hört der fortdauernde Einfluss jener mächtigen Hierarchie des Vaticans,
welche wir kurz als Papismus bezeichnen. Bekanntlich steht dieses moderne
Zerrbild der katholischen Religion zu der ursprünglichen reinen Form
derselben in ausgesprochenem Gegensatze. Die Gelübde der Entsagung und
Nächstenliebe, der Armuth und Keuschheit sind längst in ihr Gegcntheil ver-
kehrt. Die ethischen Segnungen des reinen Christen thums, dessen einzige
feste Basis das Evangelium des Neuen Testaments bildet, sind durch den
Papismus zum Fluche der Culturvölker geworden. Nichts ist beschämender
und unheilvoller für das neu gegründete deutsche Kaiserreich, als dass schon
20 Jahre nach seiner Gründung die Minorität des ultramontanen Centrums
einen bestimmenden Einfluss auf dessen Geschicke gewonnen hat. Eine kurz-
sichtige Regierung und ein zerklüfteter, von Partei-Interessen verblendeter
Reichstag buhlen um seine Gunst. Die Religion dient diesem Centrum nur
als Deckmantel für politische Zwecke; aber durch die Vollkommenheit der
hierarchischen Organisation und den Unverstand der blinden gehorsamen
Massen wird der Papismus selbst heute noch zu einer furchtbaren Macht.
19. Monistische Ethik (S. 28, 30). Alle Ethik, sowohl die theoretische ,
als die praktische Sittenlehre, steht als „Normwisscnschaft" in unmittelbarem 4lJ***^, *
Zusammenhange mit der Weltanschauung und demnach auch mit der
Religion. Diesen Grundsatz halte ich für sehr wichtig und habe ihn in
einem Aufsatzo über „Ethik und Weltanschauung" gegenüber der in
Berlin gegründeten „Deutschen Gesellschaft für ethische Cultur" vertreten;
diese letztere will die Ethik lehren und fördern, ohne die Weltanschauung
und Religion zu berühren. (Vergl. darüber die Wochenschrift: Die Zukunft,
herausgegeben von Maximilian Harden, Berlin 1892, Nr. 5—7). Ebenso wie
ich für die gesammte Wissenschaft die monistische Basis allein als vernünftige
anerkenne, ebenso verlange ich dieselbe auch für die Ethik. Vergl. hierüber
vor Allem die ethischen Schriften von Hkrbkrt Spencer und B. von Carneri,
besonders dessen vortreffliche neueste Schrift „Der moderne Mensch" (Bonn
1891); Sittlichkeit und Darwinismus; 187 lj; Entwicklung uudGlückseligkeit(1886).
Vergl. ferner die sechs ausgezeichneten Vorträge von Benjamin Vetter: „Die
moderne Weltanschauung und der Mensch" (II. Aufl. Jena 1896); Wilhelm
Strecker, Welt und Menschheit (Leipzig 1892); Harald Hökfdiso, Die Grund-
lage der humanen Ethik (Bonn 1880), sowie das grosse Werk von Wilhelm
"Wunut: Ethik, eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen
Lebens (Stuttgart 1892, II. Aufl.).
20. Homotheisinus (S. 33). Alle die mannichfaltigen Vorstellungen
des religiösen Glaubens, welche dem persönlichen Gottc rein mensch
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liehe Eigenschaften zuschreiben, lassen sich unter dem Begriffe des Homo-
theismus (oder „Anthropotheismus") zusammenfassen. Wie verschieden auch
diese anthropomorphen Vorstell ungen sich in den dualistischen und pluralistischen
Religionen gestaltet haben, so bleibt doch allen gemeinsam die unwürdige
Auffassung, dass Gott (Theos) dem Menschen (Homo) ähnlich und gleich-
artig (homotyp) organisiert ist. Im Gebiete der Dichtung sind solche
Personifikationen ebenso beliebt als erlaubt Im Gebiete der W issenschaf t
sind sie durchaus unzulässig; sie sind doppelt verwerflich, seitdem wir wissen,
dass der Mensch erst in später Tertiärzeit aus pitheeoiden Siiugcthieren sich
entwickelt hat. Jedes religiöse Dogma, welches Gott als einen „Geist" in
Menschengestalt darstellt, erniedrigt denselben zu einem „gasförmigen Wirbel-
thier" (Generelle Morphologie 1866, Cap. 30: Gott in der Natur). Der Begriff
„Homo theismus" ist doppelsinnig und etymologisch bedenklich, aber prak-
tischer als der schleppende Ausdruck „Anthropotheismus".
21. Monistische Religion (S. 36). Unter den zahlreichen Versuchen,
welche im Laufe der letzten dreissig Jahre gemacht wurden, die Religion auf
Grundlage der fortgeschrittenen Naturcrkenntniss in monistischem Sinne zu
reformiren, bleibt weitaus der bedeutendste das epochemachende Werk von
David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Ein Bckennt-
niss. XI. Aufl., Bonn 1881, (Gesammelte Schriften, 12 Bände 1878). Vergl.
ferner M. J. Savaok, Die Religion im Lichte der Darwinschen
Lehre (Deutsch von R. Schramm, Domprediger in Bremen; Leipzig 1886). —
John William Dkai'kk, Geschichte der Conflicte zwischen Religion und Wissen-
sehaft (Leipzig 1875). — Carl Frikdricu Retzkr, Die naturwissenschaftliche
Weltanschauung und ihre Ideale, ein Ersatz für das religiöse Dogma (Leipzig
1890). — R. Kocn, Natur- und Menschengeist im Lichte der Entwicklungslehre
(Berlin 1891). — Ueber die Phylogenie der Religion vergl. das Werk
von U. Vax Endk: Histoire naturelle de la Croyance (Paris 1887). — Eine sehr
scharfe und treffende „kritische Untersuchung des jüdisch -christlichen Re-
ligions-Gcbäudes, auf Grund der Bibelforschung", giebt die geistreiche Schrift
von Saladin ( — Stewart Ross in London — ): „Jehova's Gesammelte
Werke" (Schaumburg, Zürich 1897).
22. Die freie Lehre (S. 36). Das Jubiläum der naturforschenden Ge-
sellschaft des Osterbindes wurde am 9. October 1892 in Altenburg ge-
feiert, während gleichzeitig in Weimar das Grossherzogliche Furstcnpaar
die glänzende Feier seiner goldenen Hochzeit beging. Der Grossherzog Carl
Alexander hat während einer reichgesegneten fünfundvierzigjährigen Regierung
sieh stets als hervorragender Förderer der Wissenschaft und Kunst bewährt;
als Rector Magniflcentissimus unserer Thüringer Landes-Universität J cna hat
er deren heiligstes Palladium, das Recht der freien Wahrheitsforschung und
der freien Wahrheitslehre, stets mit seinem fürstlichen Schutze gedeckt. Ohne
dieses kostbare Recht giebt es keine wahre Wissenschaft.
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ibenswnnder. Gemeinverständliche Studien über biologische
)sophie. Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträthsel. 4. Aufl.
Mfred Kröner Verlag. 1905. Preis: 8 M.; geb. 9 M.
itaWUlder. Volksausgabe. 30. Tausend.
Mfred Kröner Verlag. 1907. Preis: kart 1 M.
Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf
)lf Virchow's Münchener Rede über «Die Freiheit der Wissenschaft im
ernen Staat».
Mfred Kröner Verlag. Preis: 1 M. 60 Pf.