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Full text of "Himmel und Erde"

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Astron. 

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Himmel  und  Erde. 

Illustrierte  naturwissenschaftliche  Monatsschrift. 


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Himmel  und  Erde. 

Illustrierte 

naturwissenschaftliche  Monatsschrift 


Herausgegeben 

von  der 

GESELLSCHAFT  URANIA  ZU  BERLIN. 


Redakteur:  Dr.  P.  Schwahn. 


XVI.  Jahrgang. 


BERLIN. 

Verlag  von  Hermann  Paetel. 
1904. 


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Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Übersetzungareoht  Vorbehalten. 


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71  Ti 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter 

am  XVI.  Bande  der  illustrierten  naturwissenschaftlichen  Monatsschrift 
„Himmel  und  Erde“. 


Angenheister,  Dr.  G.,  in  Heidelberg 
159. 

Arendt,  Prof.  Dr.  Th.,  in  Berlin  462. 
Axmann,  Dr.,  in  Erfurt  376.  505.  568. 
Donath,  Dr.  B.,  in  Berlin  47.  84.  145. 
188.  190.  191.  192.  283.  234.  240.  286. 
288.  289.  334.  385.  380.  526.  528.  572. 
Eichhorn,  Dr.,  in  Berlin  481. 
Fischer,  Prof.  Dr.  K.  T., in  München  1. 
Foerster,  Prof.  Dr.  W.,  in  Berlin  851. 
Heidrich,  Dr.  M.,  in  Berlin  22.  573. 
Kätscher,  B.,  in  Budapest  40. 136.  181. 
228.  473. 

leinpeter,  Dr.,  in  Gmunden  68. 129. 
oppe,  Prof.  Dr.  C.,  in  Braunschweig 
193.  398. 

Lenden feld,  Prof.  Dr.  R.  von,  in  Prag 

4.50. 

Lüderitz,  M.,  in  Berlin  240. 
Müller,  Dr.  K.,  in  Potsdam  104.  559. 


Neesen,  Prof.  Dr.  Fr.,  in  Berlin  433. 
Pirani,  Dr.  N.  von,  in  Aachen  96.  142. 
143.  144.  186.  187.  234.  881.  382.  423. 
424.  526.  570. 

Rauter,  Dr.  G.,  in  Berlin  77. 
Ristenpart,  Dr.  F.,  in  Berlin  44.  46. 

91.  93.  141.  235.  241.  426.  524.  567. 
Rumpelt,  Dr.  Alexander,  in  Taormina 
171.  219.  271.  365.  412. 

Sch  ein  er,  Prof.  Dr.  J.,  in  Potsdam 
385.  529. 

Schmidt,  Dr.  A.,  in  Friedenau  575. 
576. 

Sch  wahn,  Dr.  P.,  in  Berlin  49.  115. 
Sokal,  Ed.,  in  Berlin  32.  97.  279.  517. 
Spies,  Prof.  Dr.  P.,  in  Posen  432. 
Süring,  Prof.  Dr.  R.,  in  Berlin  337. 
Tschulok,  S.,  in  Zürich  212.  322. 
Weinstein,  Prof.  Dr.  B.,  in  Berlin 
312.  537. 


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Inhalt  des  sechzehnten  Bandes. 


Grössere  Aufsätze.  S(ll, 

•Die  (i ran d begriffe  einer  rein  mechanischen  Naturerkliirung.  Von  Prüf.  Dr. 

K-  t,  Fisc  her  in  München , , . . , ^ . , . l 

Die  künstliche  Darstellung  organischer  Naturprodukte.  Von  Dr  M.  Heid  rieh 

in  Berlin  . , , , . . . , £! 

Die  Krsrhöpfung  «ler  Energie.  Von  Kd.  Sokal  in  Koriin  . . ...  :VJ 

Langlebigkeit  und  Kntartnng.  Von  B.  Kätscher  in  Budapest 40 

*Die  llühlemiell  von  St.  üaaiian, Von  Dr  P.  Sch  wahn  in  ßgrliu . 41L LLä 

Moderne  Naturphilosophie.  Von  Dr.  Kleinpeter  in  Gmunden  . . R8.  1 St> 

Von  der  Deutschen  Städte  • Ausstellung  in  Dresden.  Von  I >r.  G.  Kauter 

»»  Berlin , ± , , , « . , , , . , < * , , , , * , . , , II 

1'her  Leben  und  Tod.  Von  Kd  Sokal  in  Merlin  . . ....  ?)? 

Die  Verbreitung  ansteckender  Krankheiten  durch  die  Mücken.  Von  Dr. 

K.  Müller  in  Estiadam. , , . , . . « , , = , , , , « , , , « UH 

Der  Robbenfang  auf  Alaska.  Von  L.  Kätscher  in  Budapest 130 

•Drahtlose  Telephonie»  Von  Dr.  B.  Donath  in  Berlin 14*> 

Sinnesorgane  und  physikalische  Instrumente.  Von  Dr.  O.  A ngenheister 

in  Heidelberg .....  159 

•itn  Reiche  des  \olus.  Von  Dr.  A.  Ru tn t» e 1 1 -Taormina.  171.  219.  271.  3tS.>.  Utf 
Die  Kelhvaclisbildnng  bei  Leithen.  Von  IV  Kätscher  in  Budapest  . . . 181 

* Die  Kinheitliehkeit  der  Längenmafse  und  Längenmessungen.  Von  Prof.  Dr. 

C.  Koppe  in  Braunschweig lftA 

Der  Ackerboden  und  seine  tiesrhichte.  Von  A.  P.  Netschajew.  Übersetat 

aua  dem  ttugaiflcheii  von  tf...Tg.g.h.u.l.ü.k-la.- Zürich ■ . , -1.‘, 

Die  IVarsallsche  Leid-Rohrpost.  Vron  Leop.  K atacher  in  Budapest  . , 328 
•l’ber  die  Mondaufnahmen  von  Loewy  nnd  Duiseux  und  über  Veränderungen 

auf  der  Momloherliiiche.  Von  Dr.  R Risten part.  . . 241 

Neuere  Forschungen  über  Lehirn  nnd  Bewnfstsein.  Vo»  Ed.  Sokal  in  Berlin  27t» 

IRadinm. Vm.h  Pr  U,  D.o.n.a.t  h in.  .Berlin , , , t ± * • • • , • 

Über  die  Popularisierung  der  Wissenschaften.  V»u  Prof.  Dr.  B,  Weinstein 

iü  Berlin , . , , . » , . = * , i , . , . , , > = » : ÜLJ 

•Über  Wolk^nformen  nnd  deren  Veränderungen.  Von  l'ruf  !>?.  K.  süring 

in  Berlin j • : &S7 

Zur  Entuirkelungsgesrhichte  der  hehre  von  der  Krdbewegnng.  Von  Prof,  Dr. 

Wilh.  Rannitt  ln  Berlin  . . lül 

Sensibilisierung  organischer  Lebilde.  Von  Dr.  nied.  Axmann  in  Erfurt  . .TO 

•Die  KirrJiImfE&f-liP-  Funktion. Von  Pr*jf.  Dr.  J.  Sr  hei  nur  in  Potsdam üzli 

•Das  (iotthard-Lebiet  als  Soniineraufenthalt.  Von  Prof.  Dr.  C.  Koppe  in 

Btaunschwcig  ....  

•Über  unsere  Schutzmittel  gegen  Blitzgefahr.  Von  Professor  Dr.  Fr.  Neesen 

in  Berlin ■ ■ ■ - ■ - 4:i:> 

Klima  und  Lletscher.  Von  Prof,  Dr.  K.  von  Len  den  fehl  in  Prag 450 


138820 


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Inhalt. 


Salt« 

•Zar  (ie'vittrrkunde  ja Xurd-  and  Mitteldeutschland.  Van  Prof. Dr.  Th. Arendt 

in  Berlin , . . , . . . . . . . . . . . . . . , 1£2 

* Entwickelnngsgang  der  drahtlosen Telegraphie.  VonUr.  Uustav Eichhorn 

in  Berlin  . , . . . . . . , , , . . . . , . . . . . ■ ■ *81 

Aas  der  aatamajemiiiafiUcheB  Technik  des  AJlcrlana.  Von  Dr,  Ammann 

in  Erfurt  . , , . * . * * . * . . . . . . , . . . 505 

Suggestion  and  Besell9cliaft.  Von  Eduard  Sokal  in  Berlin-Charlottonburg  517 

Die  Kaliiambilder  der  Saaae. Van  Prof.  £>r.  J.  Scfaeinar  in  Potsdam  ■ 529 

Neuest«  Forschungen  Uber  den  elektriaehea  Strom.  Von  Prof.  B.  Weinstein 

in  Berlin . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . 532 

Nutzbarmachung des  Stickstoffes  fiir  die  Landwirtschaft.  Von  Dr.  K.  Müller 
in  Potsdam 559 


Mitteilungen. 

Pie  nähern  totale  Mondfinsternis  vom  II.  April  1903  4* 

Der  Begleiter  des  Polarsterns 46 

•Die  Drehung  der  Polarisationsehen«  elektrischer  Wellen *7 

•Physikalisches  tob  der  Naturforscher- Versammlnng  in  Cassel M 

Der  Stern  85  Pegasi 91 

Parallele  des  Sterns  B.  D.  37°  4131 Ul 

Blasgefdfse  von  hoher  Widerstandsfähigkeit I*-’ 

Schmelzpnnktbcstimmnng  hei  hohen  Temperaturen 143 

Ersatz  des  Platins  in  tiliihlampen 188 

Magncsinm-Alanilninniicgiernngen 186 

Über  ..Titantheraiit“  187 

Zur  Reinignng  antiker  Bronsen  ISS 

X-Strahlennntersuchnng  diluvialer  Knochenreste 23.1 

Magnetische  Tonscherben 234 

Erstickung  von  Bränden  mittels  schwefliger  Sknre 234 

Filierte  Klangschwingnngen 286 

Die  letzte  MontgolHbre  in  Berlin 33t 

Von  den  n-Strahlen 380 

Ein  Verfahren  tnr  Uewinnnng  von  wasserfreie»  Alkohol  ohne  wasser- 

entxiehende  Chemikalien . . . i . . . 3S1 

Über  die  Verwendung  des  Acetylens  iB  gelbstem  Zustand 382 

Über  die  Wärmeabgabe  von  KadinniprUparaten 4-23 

Uber  das  Wesen  der  „Katalyse“  . . 424 

Ein  interessanter  Süknlar-Bcdenktag 473 

Der  Lkngennnterschied  zwischen  Greenwich  nnd  Potsdam 324 

Di«  Dissertation  der  Frau  S.  Curie 526 

Die  Analyse  schwingender  Bewegnngen 3'lfi 

Strahlenbrechung  im  interplanetaren  Rannte 5f.7 

Spezifische  Wirknngen  des  Fluoreszenzlichtea 568 

über  den  Zusammenhang  »wischen  optischen  nnd  elektrischen  Eigenschaften 

der  Metalle . ■ . ■ . . . 570 

Die  Heifsdampflokonotive 57 1 

Muscheln  als  Überträger  von  Typhnsbaiillen 573 


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IX 


Bibliographisches.  s.„« 

Ostwald,  W,;  Die  Schule  der  Chemie 90 

Weiler:  Lehrbuch  der  Physik 144 

Jochmann:  Grundrifa  der  Experimentalphysik 190 

Clafsen,  A.:  Ausgewählte  Methoden  der  analytischen  Chemie 191 

Jahrboeb  der  Photographie  and  Reproduktionstechnik  1903  192 

(irtinwald,  F.:  Die  Hereteilung  der  Akkumulatoren 240 

Farat  Albert  l YOl  MPMCtf.:  Eine  Seemanns-Laufbahn 240 

Branns,  R.:  Das  Mineralreich 2S8 

Stark.  Pr.  Job.:  Disaoziierung  und  Umwandlung  chemischer  Atome  . . 
Verzeichnis  der  der  Redaktion  znr  Besprechung  cingcsandten  Bücher  . 3&4.  4Ts 
Donath,  Dr.  B. : Die  Einrichtungen  zur  Erzeugung  der  Röntgenatrahlcn  . 432 
Sples,  Pr.  P.:  Die  Erzeugung  und  die  physikalischen  Eigenschaften  der 

Röntgenstrahlen 52S 

Weber»  illnstrierter  Katechismus . , * , * , . , * : , * , . ■ . 

Reilstab,  Dr.  L.:  Die  elektrische  Telegraphie  fi75 

Aaerbach,  Prof.  F.:  Daa  Zeifawerk  und  die  Carl-Zeifs-Stiftung 570 

Ferchland,  Dr.  F.:  Qrundrife  der  reinen  und  angewandten  Elektrochemie  570 


Himmelserscheinungen. 


Für  Dezember  1903,  Januar  und  Februar  1904  93 

„ Marz,  April  und  Mai  1904  235 

„ Juni,  Juli,  August  und  September  1904  4*20 


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Namen-  und  Sachregister 

zum  sechzehnten  Bande. 


Acetylens  in  gelöstem  Zustand, 
über  die  Verwendung  des,  1182. 

Ackerboden,  Der  und  seine  Ge- 
schieht«*, 212.  322. 

Äolus.  Im  Reiche  des  171.  219.  271. 
365.  412. 

A kkumulstoren,  Herstellung  der. 
Von  F.  Grünfeld  240. 

Alaska,  Der  Robbenfang  auf  136. 

A 1 ko  hol  ohne  wasserentziehende  Che- 
mikalien, Ein  Verfahren  zur  Ge- 
winnung  von  wasserfreiem  381. 

Altertums,  Aus  der  naturwissen- 
schaftlichen Technik  des  505. 

Aluminiumlegierungen,  Mag- 
nesium- 186. 

Analyse,  Dio,  schwiugender  Be- 
wegungen 526. 

Analytischen  Chemie,  Ausge- 
wählte Methoden  der,  von  A.Cl&ssen 
191. 

Ansteckender  Krankheiten  durch 
die  Mücken,  Die  Verbreitung  96. 

Antiker  Bronzen,  Zur  Reinigung 
18$. 

Atome,  Dissoziierung  und  Umwand- 
lung chemischer,  von  Joh.  Stark  336. 

Auerbach,  F. : Das  Zeifswerk  und 
die  Carl -Zeits-Stiftung  in  Jena  576. 

Ausgewählte  Methoden  der  ana- 
lytischen Chemie,  von  A.Ciasaen  191. 

Begleiter  des  Polarsterns  46. 

Bewegungen,  Die  Analyse  schwin- 
gender 526. 

Bewufstsein,  Neuere  Forschungen 
über  Gehirn  und  279. 

Blitzgefahr,  Über  unsere  Schutz- 
mittel gegen  433. 


Bränden,  Erstickung  von,  mittels 
schwelliger  Saure,  234. 

Brauns,  R. : Das  Mineralreich  288. 

Bronzen,  Zur  Reinigung  antiker  188. 

Bücher,  Verzeichnis  der  der  Re- 
daktion zur  Besprechung  einge- 
sandten 384.  478. 

Cassel,  Physikalisches  von  der  Natur- 
forscherversammlung in  84. 

Chemischer  Atome.  Dissoziierung 
und  Umwandlung,  von  Joh.  Stark  336. 

Chemie,  Die  Schule  der,  von  W.  Ost- 
wald 96. 

C lassen,  A.:  Ausgewählte  Methoden 
der  analytischen  Chemie  191. 

Curie,  Die  Dissertation  der  FrauS.  526. 

Darstellung  organischer  Natur- 
produkte, Künstliche  22. 

Deutsche  Städte-Ausstellung  in 
Dresden,  Von  der  77. 

Diluvialer  Knochenreste,  X-Strah- 
lenuntereuchung  233. 

Dissertation  der  Frau  S.  Curie  526. 

Dissoziierung  und  Umwandlung 
chemischer  Atome,  vou  Joh. Stark  3 $6. 

Donath,  ß : Die  Einrichtungen  zur 
Erzeugung  der  Röntgenstrahlen  432. 

Drahtlosen  Telegraphie,  Ent- 
wickelungRgang  der  481. 

Drahtlose  Telephonie  145. 

Drehung  der  Polarisationsebene 
elektrischer  Wellen  47. 

Einheitlichkeit  der  Längenmaße 
und  Läugeumessungen  193.  * 

Einrichtungen  zur  Erzeugung  von 
Röntgenstrahlen,  von  B.  Donath  432. 

Elektrischer  Wellen,  Die  Drehung 
der  Polarisationsebene  47. 


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XII 


Inhalt. 


Elektrochemie,  Grundrifs  der 
reinen  und  angewandten.  Von  Dr. 
P.  Ferchland  576. 

Elektrischen  Eigenschaften  der 
Motnllo,  Über  den  Zusammenhang 
zwischen  optischen  und  570. 

Elektrischen  Strom,  Neueste  For- 
schungen über  den  537. 

FÜnergie,  Erschöpfung  der  32. 

Entartung  und  Langlebigkeit  40. 

Entwickelungsgang  der  drahtlosen 
Telegraphie  481. 

Entwickelungsgeschichte  der 
Lehre  von  der  Erdbewegung  351. 

Erdbewegung,  Zur  Entwickelung*- 
geschichte  der  Lehre  von  dor  351. 

Ersatz  des  Platins  in  Glühlampen  186. 

Erschöpfung  der  Energie  32. 

Erstickung  von  Bränden  mittels 
schwefliger  Säure  234. 

Erzeugung  und  die  physikalischen 
Eigenschaften  der  Röntgenstrahlen 
528. 

Experimentalphysik,  Grundrifs 
der,  von  O.  Hermes  und  P.  Spies  190. 

Ferch land,  P.:  Grundrifs  der  reinen 
und  angewandten  Elektrochemie  576. 

F'ettwachsbildu ng  bei  Leichen  181. 

Fixierte  Klan  gsch  wingungen286. 

Fluoreszenzlichtes,  Spezifische 
Wirkungen  des  568. 

Forschungen  über  den  elektrischen 
Strom,  Neueste  537. 

Funktion,  Kirchhoffsche  385. 

Fürst  Albert  I.  von  Monaco:  Eine 
Seemanns-Laufbahn  240. 

Gedenktag,  Ein  interessanter  Säku- 
lar- 472. 

Gehirn  und  Bewufstsein,  Neuere 
Forschungen  über  279. 

Geld-Rohrpost,  Die  Pearsallsche 

228 

Geschichte,  Der  Ackerbau  und  seine 
212.  322. 

Gesellschaft,  Suggestion  und  517. 

Gewinnung  von  wasserfreiem  Al- 
kohol ohne  wasserenl ziehende  Che- 
mikalien, Verfahren  zur  381. 

Gewitterkunde  in  Nord-  und  Mittel- 
deutschland 462. 

Glasgefäfse  von  hoher  Widerstands- 
fähigkeit 142. 


Gletscher,  Klima  und  450. 

Glühlampen,  Ersatz  des  Platins  in  186. 

Gotthard  - Gebiet  als  Sommorauf- 
enthalt  398. 

Green wi oh,  Der  Längenunterschied 
zwischen,  und  Potsdam  524. 

Grundbegriffe  einer  rein  mecha- 
nischen Naturerklärung  1. 

Grünwald,  F.:  Die  Herstellung  der 
Akkumulatoren  240. 

Heifsdampflokomotive,  Die  572. 

Hermes,  O.,  und  Spies,  P.,  .Joch mann: 
Grundrifs  der  Experimentalphysik 
190. 

Herstellung  der  Akkumulatoren, 
von  F.  Grünwald  240. 

Himmelserscheinungen  93.  235. 
426. 

Hohen  Temperaturen,  Schmelz- 
punktbestimmung bei  143. 

Höh  len  weit  von  St.  Canzian,  Die 

49.  115. 

Jahrbuch  der  Photographie  und  Re- 
produktionstechnik 192. 

Instrumente,  Sinnesorgane  und 
physikalische  159. 

Interessanter  Säkular  - Gedenktag 
472. 

Interplanetaren  Raume,  Strahlen- 
brechung im  567. 

Jochmann:  Grundrifs  der  Experi- 
mentalphysik von  O.  Hermes  und 
P.  Spies  190. 

Kalziumbilder  der  Sonne  529. 

Katalyse,  Über  das  Wesen  der  424. 

Katechismen,  Weber1*  illustrierte 
575. 

Kirchhoffsche  Funktion  385. 

Klangschwingungen,  Fixierte  286. 

Klima  und  Gletscher  450. 

Knochenreste,  X- Strahlenunter- 
suchung diluvialer  233. 

Künstliche  Darstellung  orga- 
nischer Naturprodukte  22. 

Länge nmafse  u.  Längenmessungen, 
Einheitlichkeit  der  193. 

Längenmessungen,  Einheitlichkeit 
der  Längenmafse  und  193. 

Längenunterschied,  Der,  zwischen 
Greenwich  und  Potsdam  524. 

Land  w irtsc  haft,  Nutzbarmachung 
des  Luftstickstoffes  für  die  559. 


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Inhalt 


XIII 


Langlebigkeit  und  Entartung  40. 

Leben  und  Tod,  Über  97. 

Lehrbuch  der  Physik,  von  Weiler  144. 

Lehre  von  der  Erdbewegung,  Zur 
Entwickelungsgeschichte  der  351. 

Leichen,  Die  Fettwachabildung  bei  181. 

Letzte  Montgolfiöre  in  Berlin  .‘134. 

Loewy  u.  Puiseux,  Über  die  Mond- 
aufnahmen  von,  und  über  Ver- 
änderungen auf  der  Mondoberfläche 
241. 

Luftstickstoffes  für  die  Landwirt- 
schaft, Nutzbarmachung  des  559. 

Magnesium  - Aluminiumlegierungen 
186. 

Magnetische  Tonacherben  234. 

Metalle,  Über  den  Zusammenhang 
zwischen  optischen  und  elektrischen 
Eigenschaften  der  570. 

Mineralreich,  Das,  von  R Brauns 
288. 

Moderne  Naturphilosophie  68. 129. 

Monaco,  Fürst  Albert  I.  von:  Eine 
Seemanns-Laufbahn  240. 

Mondaufnahmen  von  Loewy  und 
Puiseux  und  Veränderungen  auf 
der  Mondoberfläche  241. 

Mondfinsternis  vom  11.  April  1903, 
Die  nahezu  totale  44. 

Montgolfi&re  in  Berlin,  Die  letzte 
334. 

Mücken,  Die  Verbreitung  an- 
steckender Krankheiten  durch  die 
104. 

Muscheln  als  Überträger  von  Ty- 
phusbazillen  573. 

Naturerklärung,  Die  O rund  begriffe 
einer  rein  mechanischen  1. 

Naturforscherversammlung  in 
Cassel,  Physikalisches  von  der  84. 

Naturphilosophie,  Moderne  68. 129. 

Naturprodukte,  Die  künstliche  Dar- 
stellung organischer  22. 

Naturwissenschaftlichen  Technik 
des  Altertums,  Aus  der  505. 

Neuere  Forschungen  über  Gehirn 
und  Bewufstsein  279. 

Neueste  Forschungen  über  den 
elektrischen  Strom  537. 

Nord-  und  Mitteldeutschland,  Zur 
Gewitterkunde  in  462. 


N-Strahlen,  Von  den  380. 

Nutzbarmachung  des  Luftslick- 
stoffcs  für  die  Landwirtschaft  559. 

Optischen  und  elektrischen  Eigen- 
schaften der  Metalle,  Über  den  Zu- 
sammenhang zwischen  573. 

Organischer  Gebilde,  Sensibili- 
sierung 37G. 

Ost  wald,  W.:  Die  Schule  der  Chemie 
96. 

Parallaxe  des  Sterns  B.  D.  37°  4131  — 
141. 

Pearsallsche  Geldrohrpost  228. 

Pegasi,  Der  Stern  85,  91. 

Photographie  und  Reproduktions- 
technik, Jahrbuch  der  192. 

Physik,  Lehrbuch  der,  von  Weiler 
144. 

Physikalische  Instrumente,  Sinnes- 
organe und  159. 

Physikalisches  von  der  Natur- 
forscher-Versammlung in  Cassel  84. 

Physikalischen  Eigenschaften  der 
Röntgenstrahlen,  Die  Erzeugung 
und  die  528. 

Platins,  Ersatz  des,  in  Glühlampen 
186. 

Polarisationsebene  elektrischer 
Wellen,  Die  Drehung  der  47. 

Polarsterns,  Begleiter  des  46. 

Popularisierung  der  Wissen- 
schaften 312. 

Potsdam,  Der  Längenunterschied 
zwischen  Greenwich  und  524. 

Radium  289. 

Radiumpräparaten,  Über  die 
Wärmeabgabe  von  423. 

Reiche  des  Äolus,  Im  171.  219.  271. 
365.  412. 

Reinigung  antiker  Bronzen,  Zur  188. 

Rellstab,  L. : Die  elektrische  Tele- 
graphie 575. 

Reproduktionstechnik,  Jahrbuch 
der  Photographie  und  192. 

Robbenfang  auf  Alaska  136. 

Röntgenstrahlen,  Die  Erzeugung 
und  die  physikalischen  Eigen- 
schaften der  528. 

Röntgenstrahlen,  Einrichtung  zur 
Erzeugung  von,  von  B.  Donath  432. 


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XIV 


Inhalt. 


Säkular-Ge denk  tag,  Interessanter 
472. 

Seeinan  n s - Lau  fhahn  von  Fürst 
Albert  I.  von  Monaco  240. 

Sensibilisierung  organischer  Ge- 
bilde 370. 

Sinnesorgane  und  physikalische 
Instrumente  159. 

Sommeraufenthalt,  Das  Gotthard- 
Gebiet  als  398. 

Sonne,  Kalziumbilder  der  529. 

Suggestion  und  Gesellschaft  517. 

Schmelzpunktbestimmung  bei 
hohen  Temperaturen  143. 

Schule  der  Chemie,  von W. Ostwald  96. 

Schutzmittel  gegen  Blitzgefahr  433. 

Sch  welliger  Saure,  Erstickung  von 
Bränden  mittels  234. 

Schwingender  Bewegungen,  Die 
Analyse  526. 

Spies,  P. : Die  Erzeugung  und  die 
physikalischen  Eigenschaften  der 
Röutgenstrahlen  528. 

Spezifische  Wirkungen  des  Fluor- 
eszenzlichtes 568 

Städte- Ausstellung  in  Dresden, 
Von  der  Deutschen  77. 

Stark,  Job.:  Dissoziierung  und  Um- 
wandlung chemischer  Atome  336. 

St.  Canzian,  Dio  Höhlen  weit  von  49. 
115. 

Stern  85  Pegasi  91. 

Sterns  B.  D.  37°  4131,  Parallaxe  des 
141. 

Strahlenbrechung  im  interplane- 
taren Raume  567. 

Strom,  Neueste  Forschungen  über 
den  elektrischen  537. 

Technik  des  Altertums,  Aus  der 
naturwissenschaAlichen  505. 

Telegraphie,  Entwickelungsgang 
der  drahtlosen  481. 

Telegraphie,  Die  elektrische.  Von 
Dr  Ludw.  Reilstab  575. 

Telephonie,  Drahtlose  145. 

Tem  peraturen,  Schmelzpunktbe- 
Stimmung  bei  hohen  143. 


Titantherniit,  über  187. 

Tod  und  Leben,  Über  97. 

Tonscherben,  Magnetische  234. 

Totale  Mondfinsternis,  Die  nahe- 
zu totale,  vom  11.  April  1903  44. 

Typhusbazillen,  Muscheln  als 
Überträger  von  573. 

Überträger  von  Typhusbazillen. 
Muscheln  als  573. 

Umwandlung  chemischer  Atome, 
Dissoziieruug  und,  von  Joh.  Stark  336. 

Veränderungen  auf  der  Mond- 
oberfläche und  über  die  Moud- 
aufnahmen  von  Loewy  u.  Puiseux  241. 

Veränderungen,  Über  Wolken- 
formen und  deren  337. 

Verbreitung  ansteckender  Krank- 
heiten durch  die  Mücken,  Die  104. 

Verfahren  zur  Gewinnung  von 
wasserfreiem  Alkohol  ohne  wasscr- 
entzichende  Chemikalien  381. 

Verwendung  des  Acetylens  in  ge- 
löstem Zustand  382. 

Von  den  N-Strahlen  380, 

Von  der  Deutschen  Städte-Aus- 
stellung  in  Dresden  77. 

Wärmeabgabe  von  Kadiumprupa- 
raten  423. 

W assereutziehende  Chemikalien, 
Ein  Verfahren  zur  Gewinnung  von 
wasserfreiem  Alkohol  ohne  381. 

Weber’s  illustrierte  Katechismen  574. 

Weiler:  Lehrbuch  der  Physik  144. 

Wesen  der  Katalyse  424. 

Widerstandsfähigkeit,  Qlasge- 
fiifse  von  hoher  142. 

Wirkungen  des  Fluoreszenzlichtes, 
Spezifische  568 

Wissenschaften,  Über  die  Popu- 
larisierung der  312. 

Wolkenformeu  und  deren  Ver- 
änderungen 337. 

X-Strahlenuutersuchung  dilu- 
vialer Knochenreste  233. 

Zeifswerk,  Das  und  die  Carl  - Zeifs- 
Stiftung  in  Jona.  Von  Prof.  Dr. 
F.  Auerbach  576. 


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Die  Grundbegriffe  einer  rein  mechanischen 
Naturerklärung.*) 

Von  Dr.  K.  T.  Flacher, 

a.  o.  Professor  der  K,  Technischen  Hochschule  München. 

c-^Keit  die  Menschen  denken  können,  haben  sie  versucht,  sioh  die 
>K  Vorgänge,  die  sie  um  sich  sehen,  nach  ihren  menschlichen  Be- 
“ griffen  zureoht  zu  legen.  Wir  wissen,  dafs  eine  Kerze  in  der 
Luft  brennt,  und  dafs  dies  daher  kommt,  dafs  der  Sauerstoff  sieb  mit 
dem  Stearin  (d.  i.  mit  Kohlenwasserstoffen)  verbindet  und  dabei  eine 
starke  Wärme  entwickelt  wird,  die  sich  in  der  Flamme  äußert.  Das 
Produkt  der  Verbindung  ist  Wasserdampf  und  ein  Gas,  das  man 
Kohlensäure  nennt  Letztere  ist  das  Gas,  das  wir  aufser  dem  atmo- 
sphärischen Stickstoff  ausatmen,  wenn  wir  in  unserem  Körper  den  ein- 
geatmeten Sauerstoff  zur  Verbrennung  der  Nahrung  verbraucht  haben. 
Wir  wissen  ferner,  dafs  die  Kerze  in  Kohlensäure  nicht  zu  brennon 
vermag. 

Versuoh:  Eine  Kerze  wird  in  ein  oa.  1 Liter  fassendes  Becher- 
glas gestellt,  welches  einmal  gewöhnliche  Luft  enthält  und  einmal 
vor  dem  Einbringen  der  Kerze  mit  Kohlensäure  gefüllt  wird.  Die 
Kohlensäure  wird  entweder  direkt  durch  ein  nicht  zu  enges,  bis  auf 
den  Boden  reichendes  Glasrohr  in  das  Becherglas  hineingeatmet,  oder 
mittelst  Marmor  und  Salzsäure  im  Kippschen  Apparat  erzeugt  und 
duroh  das  Glasrohr  eingeluBsen. 

Die  alten  Griechen  hätten  sich  diesen  Vorgang  so  erklärt,  dafs 
Liebe  und  Hafs  die  einzelnen  Stoffe  veranlagt,  sich  entweder  zu  ver- 
einigen oder  abzustofsen.  Sauerstoff  und  Stearinpartikelchen  würden 
in  dieser  Auffassung  einander  zugetan  sein,  Kohlensäure  dagegen 

•)  Nach  einem  im  Münchener  Volksbildungsverein  gehaltenen  Experi- 
mentalTortrag  bearbeitet. 

HiminH  und  Erd«  1908.  XVI.  I.  1 


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a 


würde  gegen  die  Stearinpartikeln  Abneigung  haben.  Was  die  grie- 
chischen Philosophen  mit  dieser  Erklärung  tatsächlich  getan  haben, 
ist  nur,  dafs  sie  die  ihnen  zunächst  ganz  fremde  Erscheinung  des 
Brennens  einer  Kerze,  d.  h.  die  Verbindung  von  Sauerstoff  mit  Stearin, 
bezw.  die  Nichtvereinigung  von  Kohlensäure  und  Stearin,  auf  Er- 
scheinungen zurüokführten,  welche  sie  aus  dem  Leben  kannten,  wo 
Liebe  und  llafs  die  Mensohen  zu  gegenseitiger  Unterstützung  oder 
Vernichtung  treibt. 

Nach  dem  modernen  Standpunkt  macht  man  sich  zunächst  keine 
bestimmte  Vorstellung  über  das  Brennen  der  Kerze,  man  sieht  erst 
naoh,  was  geschieht  Da  zeigt  die  Erfahrung,  dafs  Fett  oder  Stearin 
mit  Sauerstoff  verbrennt,  dafs  dagegen  Fett  mit  Kohlensäure  nicht 
verbrennt.  Wir  können  ferner  durch  den  Versuch  sehen,  dafs  bei  der 
Verbrennung  ein  Gas  entsteht,  nämlich  Kohlensäure,  d.  i,  Verbin- 
dung (Verbrennungsprodukt)  von  Kohle  und  dem  wesentlichen  Be- 
standteile aller  Säuren,  dem  Sauerstoff.  Wir  beobachten  soweit  ein- 
fach, was  in  der  Natur  geschieht.  Aber  dann  können  wir  einen 
Schlufs  ziehen,  nämlich:  wenn  die  Kerze  beim  Verbrennen  Kohlen- 
säure entwickelt,  so  mufs  eine  Kerze  im  abgeschlossenen  Raume  ver- 
löschen, da  sie  beim  Brennen  jo  länger,  je  mehr  Sauerstoff  aus  der 
Luft  verzehrt  und  Kohlensäure  entwickelt. 

1.  Versuch:  Über  eine  brennende,  niedrige  Kerze  wird  das  oben 
genannte  Becherglas  gestülpt;  die  Kerze  verlischt  nach  ca.  J/2  Minute. 
Am  oberen  Teile  des  Beoherglases  schlägt  sich  innen  Tau  (Ver- 
brennungsprodukt, Wasserdampf)  nieder,  der  bei  Beleuchtung  mit 
einer  matten  Glühlampe  weithin  sichtbar  ist. 

Warum  aber  der  Sauerstoff  und  das  Stearin  sich  verbinden, 
darüber  machen  wir  zunächst  keinen  weiteren  Erklärungsversuch, 
weil  wir  vorläufig  nichts  anderes  tatsächlich  beobachten,  auf  das  wir 
die  Hinneigung  des  Sauerstoffs  zum  Stearin  zurückführen  könnten. 

Dies  einfache  Beispiel  boII  eine  wesentliche  Forderung  illustrieren, 
welche  wir  an  uns  stellen  müssen,  wenn  wir  Naturvorgänge  erklären 
wollen,  nämlich  die  Forderung,  nicht  eine  Erklärung  zu  geben,  welche 
lediglioh  unserem  Gehirne  entsprungen  ist,  sondern  zunächst  objektiv 
die  einzelnen  Momente  festzustellen,  welche  beim  tatsäch- 
lichen Vorgang  auftreten,  und  erst  dann  aus  beobachteten 
Momenten  auf  schon  bekannte  oder  neue  zu  schliefsen. 
Die  Welt  und  zwar  auoh  die  unscheinbare  leblose  Materie,  die  nioht 
gut  oder  böse  genannt  werden  kann,  müssen  wir  erst  kennen  lernen, 
wenn  wir  sie  verstehen  wollen. 


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3 


Das  Gesetz  vom  Beharrungsvermögen  oder  der  Trägheit 
der  Materie. 

2.  Als  zweites  Beispiel  wollen  wir  eine  Frage  nehmen,  die  wohl 
seit  Jahrtausenden  gestellt  worden  ist:  warum  bewogen  sioh  die  Pla- 
neten, insonderheit  unsere  Erde,  auf  ungefähr  kreisförmigen  oder  ge- 
nauer elliptischen  Bahnen  um  die  Sonne? 

Die  Alten  hatten  die  Antwort  sehr  einfach  zusammenphilosophiert. 
Es  käme,  sagten  die  Grieohen,  daher,  dafs  die  Kreisbewegung  die 
einfachste  Bewegung  wäre;  ein  Körper  beschreibe,  wenn  man  ihn 
sich  selbst  Uberlasse,  eine  kreisförmige  Bahn,  weil  — und  das  ist 
sehr  wichtig  — nur  bei  der  Kreisbewegung  ein  Körper  im  Laufe  der 


Fig.  1. 


Zeit  immer  wieder  in  seine  alte  Lage  zurUckkehre.  Es  hat  diese 
Ansicht  etwas  Bestechendes  und  wird  auch  heutzutage  vom  Laien 
noch  ausgesprochen,  sie  ist  aber  falsch  und  übereilt.  Wir  können 
nicht  aus  uns  heraus  entwickeln,  wie  ein  Körper  sich  bewegt,  wenn 
er  sich  selbst  überlassen  wird;  wir  müssen  erst  die  Natur  darüber 
befragen,  d.  h.  wir  müssen  ein  Experiment*)  anstellen: 

Ich  lasse  mit  Hilfe  einer  Sohwungmasohine  (Fig.  1)  eine  Kugel  K 
im  Kreise  rotieren;  sie  zeichnet  ihre  Bahn  auf  einer  berufsten  und 
feststehenden  Glastafel,  welohe  zentral  durchbohrt  ist,  ab.  Zunächst 
ist  die  Kugel  durch  einen  Ansatz  11  von  einer  an  der  Drehachse  be- 
festigten Feder  B gehalten  und  beschreibt  auf  der  Glastafel  einen 

•)  Dieser  und  die  folgenden  Versuche  sind  eingehend  beschrieben  in 
K.  T.  Fischer,  Neuere  Versuche  zur  Mechanik  der  festen  und  flüssigen 
Körper.  65  8.  Teubner  130?. 

1* 


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4 


Kreis.  Wenn  die  Drehung  rascher  erfolgt,  schlüpft  die  Nase  H aus 
der  Feder  B,  und  die  Kugel  bewegt  sioh  auf  der  Glasplatte  horizontal 
frei  ohne  äufsere  Einwirkung  weiter.  Welohe  Bahn  beschreibt  sie? 

Der  Versuch  ergibt,  dafs  die  Bahn  eine  gerade  Linie  ist  (Fig.  2,A). 

Ihre  Richtung  ist  diejenige,  welche  der  Körper  in  dem  Momente 
hat,  in  dem  er  auB  der  Feder  entschlüpft,  also  frei  wird,  d.  h.  in  der 
Sprache  der  Geometrie : die  Richtung  ist  die  Tangente,  welche  die 
Kurve  in  jenem  Punkte  hat,  in  dem  der  Körper  frei  wird.  Die  Kugel 
würde  sioh  immer  mit  gleicher  Geschwindigkeit  weiterbewegen,  wenn 
die  Glasplatte  grofs  genug  und  gar  keine  Reibung  vorhanden  wäre. 
Je  besser  man  die  Reibung  vermeidet,  um  so  genauer  gilt  das 
Gesetz,  das  uns  hier  als  Erfahrungstatsache  entgegentritt  und  den 
Namen  Beharrungs-  oder  Trägheitsgesetz  fuhrt  (gefunden  von 
Galilei  1638):  Kein  Körper  kann  von  selbst  aus  der  Ruhe  in 
Be  wegung  übergehen,  auch  nioht  von  selbst  seine  Richtung 
und  Geschwindigkeit  ändern.  Wo  ein  Körper  seinen  Zu- 
stand, seine  Riohtung  oder  Geschwindigkeit  ändert,  ist  eine 
Einwirkung  seitens  eines  zweiten  Körpers  oder  mehrerer 
Körper  erkennbar,  welche  wir  „Kraft“  nennen,  und  zwar  in 
Erinnerung  an  die  Muskelkraft,  deren  sich  lebende  Wesen  bedienen, 
um  Bewegungen  zu  verursachen  oder  zu  verändern.  Bei  unserem 
Versuche  ist  die  Einwirkung  oder  Kraft  die  Feder  gewesen;  sie  hörte 
mit  dem  Momente  des  Freiwerdens  der  Kugel  auf. 

Wir  sind  nicht  ganz  vorsichtig  gewesen,  wenn  wir  schlechtweg 
sagten,  der  Körper  beschreibe  eine  gerade  Linie.  Wir  müfsten  ge- 
nauer hinzufügen:  relativ  zur  Umgebung,  welche  selbst  ruht,  also 
etwa  relativ  zu  uns.  Wenn  wir  z.  B.  den  Körper  auf  eine  mit  der 
Feder  rotierende  Platte  aufselzen  und  dasselbe  Experiment  (Fig.  1 
rechts)  ausfuhren,  so  sehen  wir,  dafs  zwar  relativ  gegen  uns  auch  noch 
dasselbe  geschieht  wie  vorher,  d.  h.  die  Kugel  nach  dem  Freiwerden 
eine  gerade  Linie  beschreibt,  dagegen  beschreibt  sie  relativ  gegen  die 
rotierende  Platte  eine  spiralige  Kurve. 

Der  Versuch  ergibt  die  in  Fig.  2,  B dargestellte  Kurve. 

Nach  E.  Mach  müfsten  wir  oben  sagen,  der  sich  selbst  über- 
lassene Körper  beschreibe  eine  gerade  Linie  relativ  gegen  den 
Fixsternhimmel. 

Das  Gesetz  vom  Beharrungsvermögen  ist  das  Grundgesetz  aller 
Materie.  Alles,  was  wir  fühlen,  greifen  und  auf  der  Wage  wägen 


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5 


können,  alle  Materialien,  z.  B.  Holz,  Stein,  Wasser,  Luft,  gehorchen  ihm 
und  gehorchen  ihm  überall;  auch  sehen  wir  hier  auf  der  Erde  oder 
auf  dem  Monde  oder  der  Sonne  dieses  Gesetz  erfüllt,  ja  in  dem  grofsen 


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1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 I 1 1 1 

1 1 i 1 1 

Fig.  2. 


Laboratorium  unseres  Weltschöpfers,  dem  Himmelsraume,  finden  wir 
dasselbe  viel  vollkommener  bestätigt  als  in  dem  beschränkten  Gebiete 
unserer  physikalischen  Institute.  Aus  dem  genannten  Erfahrungs- 
satz verstehen  wir  sofort  folgenden  Versuch: 

Es  wird  ein  Glas  zum  Teil  mit  Wasser 
gefüllt  und  an  einer  Schnur  befestigt  (Fig.  3). 

Bewegt  man  das  Glas  im  Kreise  herum,  so 
(liefst  das  Wasser  nicht  aus,  denn  es  will  immer 
in  gerader  Linie,  also  vom  Kreise  fortfliegen, 
wird  also  gegen  das  Glas  drücken,  statt  aus  dem 
Glase  auszulaufen.  Es  wird  dadurch  aber  auch 
meine  Hand  von  dem  Glase  gewissermaßen  fort- 
zuziehen versucht  und  so  die  Schnur  gespannt. 

Es  muß,  wie  man  sagt,  eine  nach  dem  Zentrum 
der  Kreisbewegung  gerichtete  Kraft,  die  „Zen tri-  Fig.  3. 

petalkraftu,  auftreten,  und  diese  Kraft  wird  um  so 
stärker  sein  müssen,  je  rascher  die  Drehung  erfolgt  und  je  größer 
der  Radius  des  Kreises  ist.  Die  genaue  mathematische  Verfolgung 
des  Vorgangs  zeigt,  daß  die  Kraft  im  selben  Verhältnis  wie  das 
Quadrat  der  Geschwindigkeit  des  Körpers  zunimmt  und  im  gleichen 
Verhältnisse  abnimmt,  in  dem  der  Radius  des  Kreises  wächst. 


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6 


3.  Verstehen  wir  jetzt  vielleicht,  warum  die  Planeten  sich  un- 
gefähr in  kreisförmigen  Bahnen  um  die  Sonne  bewegen?  Wenn  jedor 
Planet  durch  eine  Kraft  von  der  Sonne  angezogen  wird,  wenn  ge- 
wissermaßen etwas  zwischen  Sonne  und  Planeten  ähnlich  wirkt  wie 
unsere  Schnur,  so  dafs  die  Hand  die  Sonne,  das  Glasgefäfs  mit  Wasser 
den  Planeten  und  die  Spannung  in  der  Schnur  die  Kraft  veranschau- 
licht, die  wir  freilich  nicht  direkt  sinnlich  wahrnehmen  können,  die 
aber  vorhanden  ist,  dann  wäre  uns  die  Planetenbewegung  ebenso 
verständlich  wie  die  des  Glases  Wasser.  Wäre  keine  Kraft  vorhanden, 
welche  Planeten  und  Sonne  gewissermaßen  aneinander  bindet,  so 
würden  die  Planeten  nach  dem  Trägheißgesetze  in  geraden  Bahnen, 
der  eine  dahin,  der  andere  dorthin  sich  bewegen  und  ohne  Zusammen- 
stoß nie  wieder  in  ihre  alte  Lage  zurückkehren.  Der  Engländer 
Newton  (1642 — 1726)  hat  zuerst  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß 
in  der  Tat  eine  solche  Kraft  zwisohen  Sonne  und  Erde  vorhanden  sei, 
ja,  dafs  sie  überhaupt  immer  zwischen  zwei  materiellen  Körpern  auf- 
trete; es  hat  dann  Cavendish  (1798)  durch  den  Versuch  gezeigt, 
daß  zwei  Körper  sich  stets  anziehen,  ohne  daß  man  beson- 
deres an  ihnen  wahmimmt.  Zwei  10-Kilostücke,  deren  Mittelpunkte 
10  cm  voneinander  entfernt  sind,  suchen  sich  mit  einer  Kraft  zu 
nähern,  welche  dem  Gewicht  von  ca.  7/i«oo  mf?  entspricht.  Das  ist 
eine  reoht  kleine  Größe,  und  kein  Wunder,  wenn  wir  sie  ohno  be- 
sonderes Studium  gar  nicht  bemerken,  weil  die  Reibung  auf  der  Unter- 
lage unvergleichlich  viel  größer  ist.  Ein  1000-Kilostück  würde  das 
10-Kilostück  bereits  mit  7 mg  anziehen  und  ein  1000-Kilostück  ein 
anderes  1000-Kilostück  mit  7000  mg,  falls  die  Entfernung  der  Mittel- 
punkte in  allen  Fällen  10  cm  bliebe  — das  wäre  schon  7 g.  Sonne 
und  Planeten  sind  trotz  der  großen  Entfernungen  voneinander  durch 
Kräfte  aneinander  gehalten,  welche  ausreichen,  um  die  Planeten  vom 
Verlassen  der  elliptischen  Bahn  abzuhalten,  und  zwar  weil  die  Planeten 
und  namentlich  die  Sonne  so  ungeheure  Größe  haben. 

Die  Kraft,  von  welcher  wir  hier  reden,  nennt  man  in  der  Physik 
die  allgemeine  Gravitationskraft.  Gravitationskraft  heißt  auf 
deußch  Schwerkraft,  d.  i.  die  Kraft,  welche  die  Körper  auf  der  Erde 
schwer  oder  leicht  erscheinen  läßt  Wir  werden  sogleich  sehen,  daß 
in  der  Tat  die  Schwerkraft  ein  spezieller  Fall  der  allgemeinen  Körper- 
anziehung sein  muß,  wenn  unsere  Vermutung,  dafs  eine  solche  existiert, 
sich  als  richtig  erweisen  soll.  Die  Erde  muß  doch  1 Kilostüok  ebenso 
gewiß  anziehen  wie  1 Kilostück  ein  anderes,  da  die  Erde  aus  dem- 
selben Material  besteht  wie  die  anderen  Körper.  Nun  die  tägliche 


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7 


Erfahrung  zeigt  uns,  dafs  Körper  zur  Erde  fallen.  Der  Teller,  der 
unserer  Hand  entgleitet  und  auf  dem  Boden  wegen  der  Geschwindig- 
keit, die  er  beim  Fallen  erfährt,  zerbricht,  zeigt  dies  so  gut,  wie  der 
Regen,  der  zur  Erde  niederfällt.  Auch  das  genauere  Studium  zeigt  das- 
selbe. Wir  wollen  uns  einmal  genau  ansehen,  wie  ein  Körper  frei  fällt, 

Ich  habe  hier  (Fig.  4)  eine  — 
berufste  Glasplatte  DD,  welche 
durch  einen  dünnen  Faden  R auf- 
gehängt ist  Wenn  ich  den  Faden 
abbrenne,  so  fällt  die  Platte.  Um 
zu  sehen,  wie  sie  fällt,  lasse  ich 
eine  Stimmgabel,  die  mit  der  Holz- 
klammer K angeregt  wurde,  da- 
mit ihre  Zinken  in  vibrierende 
Bewegung  geraten,  auf  der  Platte 
Aufzeichnungen  machen.  An  der 
einen  Zinke  ist  nämlich  ein  dün- 
ner Stahlstift  befestigt,  welcher 
auf  der  berufsten  Platte  gerade 
aufliegt  und  in  den  Rufs  eine 
Kurve  einritzt 

Die  Aufzeichnung  läfst  uns 
erkennen,  ob  die  Bewegung  der 
Platte  gloichrnäfsig  geschah  oder 
nicht  wenn  die  Stimmgabel  immer 
die  gleiche  Zeit  zu  einer  Schwin- 
gung braucht,  was  tatsächlich  der 
Fall  ist  Bis  die  Stimmgabelzinke 
wieder  in  die  alte  Lage  kommt, 
iBt  die  Platte  jeweils  ein  Stück 
weit  gefallen,  und  so  können  wir 
an  der  eingeritzten  Kurve  direkt  Pig,  4, 

ablesen,  welche  Wege  die  Platte 

in  gleichen  Zeitintervallen  (Schwingungsdauer  der  Gabel)  zurück- 
gelegt hat. 

4.  Fall-Versuch.  Ich  setze  die  Stimmgabel  in  Schwingungen 
indem  ich  die  Klemme  K abziehe  und  brenne  den  Faden  ab.  Die 


P 

ns 


Platte  fällt  und  zeichnet  die  Kurve  der  Fig.  5 (Kurve  mit  0 gr.  be- 
zeichnet) auf.  Legt  man  einen  Mafsstab  über  die  Kurve  und  mifst 
den  Abstand  ihrer  Windungen  aus,  so  kann  mau  berechnen,  wde  die 


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8 


Bewegung  zugenommen  hat.  Bestäubt  man  die  Platte  mit  Hilfe  eines 
Spray  - Apparates,  wie  er  beim  Inhalieren  verwandt  wird,  mit  einer 
Schellaok-Alkohol-Lösung,  so  kann  ohne  Gefahr  eine  Millimeterskala 
(Fig.  6)  Uber  dieselbe  gelegt  werden.  Man  erkennt  deutlioh,  wie  die 
Strecken,  um  welohe  die  Platte  während  eines  Hin-  und  Herganges 
der  Stimmgabelzinke  gefallen  ist,  immer  grörser  wurden,  je  länger  der 
Fall  gedauert  hat. 

Nimmt  man  als  Zeitintervall  je  3 Vollschwingungen  (Dauer  einer 
solchen  *=  j!(,  sec)  an  und  mifst,  welche  Strecken  die  Platte  in  den 

ersten  3,  6,  9 usw.  Perioden  gefallen  ist,  so  ergibt  sich  die  folgende 
Tabelle  aus  der  Fallkurve: 


Tabelle. 

Volle  Schwingungsdauer  der  Stimmgabel  Tssg^gSec;  Längen  in  mm. 


1X3* 
2X3* 
3X3 1 
4X3* 
5X3* 
6X3* 
7X3* 
8X3* 
9X3* 
10X3* 
UX3* 
12X3* 
13X3* 
14X3* 
15X3* 
16X3* 


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5.3 

9.8 

4.5 

1.50 

6.0 

2.0o 

15.8 

7.2 

2.4. 

23.0 

31.7 

8.7 

2.90 

41.6 

9.9 

3.3, 

11.4 

3.8„ 

53.0 

65.8 

12.8 

4.2, 

14.2 

4.7, 

80.0 

95.4 

15.4 

5.1, 

112.3 

16.9 

5.63 

130.6 

18.3 

6.10 

150.2 

19.6 

6.53 

20.8 

6.93 

171.0 

22.0 

7.33 

193.0 

-1  i 

■3^2« 
Ä *2  c*  g 

8 -S 


xx  a m 

o r w 

* s Ä 

> XX  g 

3 « - 

N c> 


1.10X256 

1.50X256 

etc. 

etc. 


0.40 

0.50 

0.40 

0.50 


0.40 

0.50 


0.47 

0.46 

0.36 

0.50 

0.47 

0.43 

0.40 

0.40 


Mittelwert:  0.44, 


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9 


Der  Zuwachs  der 
durohsohnittliohen 
Geschwindigkeit 
t>n  pro  3 t Sekunden,  aus- 

gedruckt  in  wäre 

demnach  0.44  2 X 256; 
und  der  Zuwachs  pro 
1 Sekunde  wird: 

0.44.X256  0.44,X25fi' 

3t  ~ 3 

= 0.147  X 256» 

= 96.5X100“”  oder 


Wir  sagen  in  einem 
solchen  Falle,  der  Kör- 
per habe  eine  gleich- 
förmig beschleu- 
nigte Bewegung  aus- 
geführt,  im  Gegensatz 
zu  der  gleichförmigen 
Bewegung,  die  dann 
vorhanden  ist,  wenn  die 
Geschwindigkeit  mit  der 
Zeit  sioh  nicht  ändert, 
d.  h.  wenn  der  Körper 
zu  allen  Zeiten  dieselbe 
Geschwindigkeit  wie  zu 
Anfang  beibehält. 

Die  angeführte  Zahl 
für  die  Beschleunigung, 
d.  i.  den  „Geschwindig- 
keitszuwaohs  pro  Se- 
kunde“,ist  etwas  kleiner, 
als  sie  Bich  ergibt,  wenn 
man  die  Versuche  oft 
wiederholt  und  die  Rei- 
bung der  Schreibspitze, 
sowie  den  Luftwider- 


i n in 


*)  Hier  sind  S Kurven  dargestellt,  welche  sich 
ergeben,  wenn  die  Platte  bezw.  mit  0 g r.,  50  gr, 
100  gr.  überschüssiger  Belastung  versehen  ist. 


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10 


stand,  welchen  die  fallende  Platte  erfährt,  tunlichst  vermindert.  Die 
besten,  zum  Teil  naoh  anderen  Methoden,  namentlich  aus  Peudelbe- 
wegungen  gefundenen  Werte  der  Schwerebeschleunigung  liefern  das 
Mittel: 

i^Og  cm  für  einen  unter  45°  geographischer  Breite  liegen- 

k sec3  den  Ort. 

Es  wird  also  die  Geschwindigkeit  eines  frei  fallenden  Körpers 

nach  jeder  Sekunde  um  rund  981  — m wachsen,  d.  h.  nach  der  ersten 

sec 

Sekunde  hat  er  die  Geschwindigkeit  981  cm  per  Sekunde,  am 
Schlüsse  der  zweiten  Sekunde  2X981  cm  usw. 

g heifst  allgemein  die  Beschleunigung  des  freien  Falles 
auf  der  Erde  (auch  kurz  Fallbeschleunigung).  Dieser  Zahlenwert 
bleibt  erfahrungsgemäfs  derselbe,  welche  Körper  man  auch  frei 
fallen  läfst,  einerlei  aus  welchem  Stoffe  sie  bestehen  und  welche  Gröfse, 
Gestalt,  Temperatur  oder  Aggregatzustand  sie  haben  — solange  man 
nur  den  Fall  frei  vor  sich  gehen  läfst,  d.  h.  störende  Nebenumstände, 
wie  Reibungen  oder  Luftwiderstand  ausschliefst,  und  keine  anderen 
als  rein  senkreohte  Bewegungen  für  alle  Teilohen  des  Körpers  ein- 
treten.  Diese  Unabhängigkeit  des  freien  Falls  vom  Material  und  der 
Gestalt  des  Körpers  ist  aus  Fig.  5 ersichtlich;  sie  gibt  drei  auf  der- 
selben Platte  nacheinander  aufgenommene  Kurven  getreu  wieder,  die 
dadurch  erhalten  wurden,  dafs  man  einmal  die  Platte  allein,  dann  die 
mit  50  g Bleidraht  und  schliefslich  mit  100  g Messing  belastete  Platte 
in  der  geschilderten  Weiso  fallen  liefs. 

Es  bestätigen  somit  alle  Versuche,  dafs  allo  Körper,  wie  auch  wir 
selbst,  durch  eine  Anziehungskraft  zur  Erde  hingezogen  werden. 

5.  Hier  haben  wir  den  Fall  einer  Platte  verfolgt.  Wio  verhält 
es  sich  aber  mit  der  Erde?  Sollte  diese  nicht  auch  in  Frage  zu  ziehen 
sein,  nachdem  wir  annehmen  müssen,  dafs  die  Anziehung  zwischen 
Erde  und  Platte  spielt?  Freilich  dürfen  wir  die  Erde  nicht  aufser 
Betracht  lassen ! Aber  hier  liegt  eine  grofse  Ungleichheit  vor,  was 
die  Masse  anbelangt.  Die  Platte  ist  nur  ein  kleines  Ding  gegenüber 
der  Riesin  Erde.  Wir  wollen  hier  (Fig.  7)  eine  Zinkwalze  A durch 
eine  Spiralfeder  mit  einer  leichten  Rolle  B verbinden;  die  Spiralfeder 
soll  die  gegenseitige  Anziehung  versinnlichen.  Ich  entferne  A und  B 
voneinander,  wodurch  ich  gleichzeitig  die  Feder  spanne,  und  lasse 
plötzlich  A und  B im  selben  Augenblicke  frei.  Die  Zinkwalze  geht 
dann  nur  wenig  vom  Platze,  während  die  kleine  Rolle  einen  grofsen 


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11 


Weg  mit  rasoh  zunehmender  Geschwindigkeit  zurücklegt.  Also:  der 
massigere,  gröfsere  Körper  wird  durch  dieselbe  Einwirkung  langsamer 
in  Bewegung  gesetzt  als  der  kleinere,  leichtere.  Genau  so  verhält  es 
sich  mit  der  Erde;  wo  immer  zwei  Körper  miteinander  in  Wechsel- 
wirkung treten,  müssen  beide  eine  Veränderung  erfahren. 


Nehmen  wir  z.  B.  einen  kleinen  Elektromotor  (Fig.  8).  Es  be- 
wegt sich  in  ihm  ein  drehbarer  Teil  A,  der  sogenannte  Anker,  gegen 
einen  feststehenden  Teil,  den  Magneten  M,  wenn  man  dem  Elektro- 
motor einen  elektrischen  Strom  zufuhrt.  Diese  beiden  Teile  wirken 
wechselseitig  aufeinander.  Um  dies  zu  zeigen,  hänge  ich  den  Motor 
so  auf,  dafs  beide  Teile  freies  Spiel  haben 
und  nioht  der  eine,  der  Magnet,  durch  den 
Tisch  in  seiner  Bewegung  gehindert  wird. 

Man  sieht  dann,  dafs  der  eine  Teil  in  einem 
Sinne  rotiert,  der  andere  im  entgegengesetzten 
Sinne. 

Oder  wir  nehmen  eine  elektrische  Eisen- 
bahn (Fig.  9),  die  auf  einem  beweglichen 
Gleise  fahren  kann,  indem  das  kreisförmige 
Gleise  etwa  auf  die  Achse  eines  Velociped- 
pcdals  aufgeschraubt  ist,  dessen  Kähmen  auf 
einem  Zeichenbrett  bei  P festgeklemmt  ist. 

Der  Eisenbahnwagen  kann  nur  dadurch  vor- 
wärts kommen,  dafs  seine  Räder  gegen  die 
Sohienen  drücken  und  dafs  zwischen  Rädern 
und  Schienen  Reibung  besteht.  Es  wird  also 
zwischen  Schienen  und  Wagenrädern 
ein  Druck  auftreten:  dieser  treibt  die  Schienen  nach  rückwärts,  den 
Wagen  nach  vorwärts,  und  deswegen  bewegt  sich  sowohl  die  Schiene 
als  auch  der  Wagen,  wenn  man  die  Schienen  nicht  fest  mit  der  Erde 
verbunden  hat. 


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12 


Ich  habe  hier  zwei  Beispiele  vorgeführt,  welche  ein  zweites, 
ganz  allgemeines,  durch  die  Erfahrung  gegebenes  mechanisches  Prinzip 
vor  Augen  führen  sollen:  das  Prinzip  der  Oleiohheit  von  Aktion 
und  Reaktion  oder  von  Wirkung  und  Gegenwirkung.  Wir 
können  es  so  aussprechen:  Wenn  zwei  Körper  aufeinander 
eine  Wirkung  ausüben,  so  äufsert  sich  diese  an  jedem  von 
ihnen,  und  zwar  ist  die  Wirkung  auf  den  einen  Körper 
entgegengesetzt  gerichtet,  wie  die  auf  den  andern.  Die 
Gröfse  der  Wirkung  auf  den  einen  Körper  ist  gleich  der 
Gegenwirkung  auf  den  andern. 

Wiederholen  wir  noch  oinmal  den  Versuch  mit  den  beiden  durch 
eine  Spiralfeder  verbundenen  Walzen  (Fig.  7).  Wenn  wir  die  Wechsel- 
wirkung durch  die  Spiralfeder  uns  anschaulich  machen,  welche  die 
zwei  Walzen  verbindet,  so  ist  ja  klar,  dafs  die  Spiralfeder  beide  Körper 
gleich  stark  ziehen  wird,  nur  nach  entgegengesetzten  Richtungen. 
Hierin  ist  das  Prinzip  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung 
ausgesprochen. 

6.  Der  Massenbegriff.  W'arum  bewegen  sich  aber  dann 
die  beiden  Walzen,  wenn  die  eine  grofs  und  die  andere  klein 
ist,  verschieden?  Das  ist  eine  Frage,  die  sich  sofort  aufdrängen 
raufs,  und  dio  in  der  Tat  eine  wichtige  Rolle  in  der  Mechanik  spielt. 
Wir  können  Bie  nicht  so  einfach  beantworten.  Wären  dio  beiden 
Körper  auB  gleichem  Material,  so  würde  es  uns  ja  nicht  wundern, 
wenn  der  gröfsere  Körper  sich  langsamer  bewegt  als  der  kleinere; 
denn  im  Leben  sehen  wir  täglich,  dafs  gröfsere  Körper  träger  sind 
als  kleinere.  Aber  das  Merkwürdige  ist,  dafs  manchmal  auch  Körper 
aus  verschiedenem  Stoff,  von  verschiedener  Form,  Gröfse  oder  Tempe- 
ratur durch  ein  und  dieselbe  Bowegungsursaohe  in  die  gleiche  Be- 
wegung versetzt  werden. 

Massenversuoh:  Ich  habe  hier  (Fig.  7)  eine  Walze  aus  Holz  A, 
eine  aus  Blei  B und  eine  aus  Messing  C;  die  Formen  sind  recht 
verschieden  und  auch  das  Material.  Ich  will  die  Feder  zwisohen 
zweien  von  ihnen  anspanneu  und  dann  froilaasen.  Es  treffen  sich  dann 
die  Körper  genau  in  der  Mitte,  wenn  ich  sie  gleichzeitig  freigebe. 
Man  würde  in  der  Tat  bei  genauerem  Zusehen  finden,  dafs  die  Körper 
die  gleiche  Bewegung  machen,  namentlich  wenn  wir  die  Drehung 
der  Walzen  ganz  verhindern  könnten.  Was  ist  nun  das,  was  die 
Körper  veranlagt,  sich  so  gleich  zu  verhalten  in  bezug  auf  das  „In- 
bewegunggesetztwerden“. Die  Farbe  ist  es  nicht,  der  Stoff  ist  es 
auch  nicht  Wir  finden  überhaupt  äufserlich  nichts,  was  die  beiden 


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13 


Walzen  gleich  haben;  wir  müssen  uns  daher  damit  begnügen,  zu 


konstatieren,  dato  eine 
Eigenschaft  ihnen  ge- 
mein ist,  und  wollen,  so 
lange  wir  einen  inneren 
Grund  nicht  finden  können, 
wenigstens  einen  Kamen 
einfuhrenl  Wirwollen sagen, 
die  Körper  haben  gleiohe 
Masse  oder  sie  haben 
dieselbe  Trägheit  Die 
grorse  Zinkwalze  und  die 
kleine  Bleiwalze,  werden 
wir  dann  folgerichtig  sagen, 
haben  verschiedene  Massen 
oder  verschiedene  Trägheit, 
wenn  wir  etwa  sehen,  dafssie 
durch  dieselbe  Bewegungs- 
ursache in  verschiedene  Be- 
wegung gesetzt  werden.  Wir 
wollen  aber  noch  genauere 
Angaben  machen, um  zahlen- 
mäfsige  Unterscheidungen 
treffen  zu  können.  Wir  wollen 
jedem  Körper  eine  be- 
stimmte Zahl  zuweisen, 
durch  die  wir  angebon,  wie 
träge  er  ist,  d.  h.  wie  leioht 
er  in  Bewegung  gesetzt 
werden  kann.  Und  diese 
Zahl  wollen  wir  Masson- 
zahl  oder  kurzweg  Masse 
nennen.  Am  besten  geschieht 
dies  so,  wie  die  Entwicke- 
lung der  Mechanik  gezeigt 
hat,  dafs  man  jeden  Körper, 
dessen  Mas6enzahl  bestimmt 
werden  soll,  einer  und  der- 


selben äufseren  Einwirkung  unterwirft,  und  diese  Einwirkung  gleich 


stark  sein  läfst,  also  etwa  eine  gespannte  Feder  nimmt.  Es  wird 


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Kig.  ü. 


14 


dann  dor  Körper  wie  die  freifallende  Platte  in  Bewegung  kommen,  und 
seine  Geschwindigkeit  wird  im  selben  Mafse  wachsen  wie  die  Zeit, 
während  der  er  sich  bewegt  hat  Er  wird  eine  gleiohförmig  be- 
schleunigte Bewegung  ausfiihren.  Wir  nehmen  irgend  einen  Körper, 
z.  B.  1 com  Wasser  von  4°  Celsius,  das  wir  etwa  erst  zu  Eis  gefrieren 
lassen,  damit  wir  mit  ihm  leiohter  Versuche  anstellen  können.  Mit 
diesem  Körper,  den  wir  1 Gramm  nennen,  wollen  wir  alle  Körper 
vergleichen  und  wollen  sagen:  die  Masse  dieses  Körpers  wollen  wir 
die  Masse  1 nennen.  Derselbe  erfahre  durch  eine  bestimmte  Ein- 
wirkung, etwa  eine  immer  gleich  stark  gespannt  erhaltene  Spiralfeder, 
einen  immer  gleich  starken  Antrieb,  oder,  wie  wir  gleich  sagen  wollen, 
eine  gleich  starke  Kraft.  Wir  sehen  nun  zu,  welchen  Geschwindig- 
keitszuwachs er  in  der  Sekunde  erfährt;  beispielsweise  betrage  der- 
selbe 10  Meter  in  der  Sekunde.  Nehmen  wir  dann  einen  anderen 
Körper,  dessen  Massenzahl  wir  bestimmen  wollen,  lassen  auf  diesen 
dieselbe  Feder,  d.  h.  dieselbe  Kraft,  wirken  und  beobachten,  welche 
Beschleunigung  dieser  jetzt  erfährt.  Ist  seine  Beschleunigung  nur  etwa 
•/2  mal  so  grofs  wie  die  des  Stückes  Eis,  so  sagen  wir  — definieren 
also!  — seine  Masse  sei  zweimal  so  grofs  als  die  des  EisstückeR,  oder 
kurz  seine  Masse  sei  diejenige  von  2 Gramm,  da  wir  die  Masse  des 
ccm  Wasser  1 Gramm  nannten.  Ist  die  Beschleunigung  nur  ein  Drittel, 
so  sagt  man,  seine  Masse  sei  diejenige  von  3 Gramm.  Allgemein  sagt 
man  mit  dem  Mathematiker:  die  Massenzahl  m'  eines  Körpers 
soll  gegeben  sein  durch  das  umgekehrte  Verhältnis  der 
Beschleunigung  b'  des  Körpers  und  derjenigen  b der  Ein- 
heitsmasse, also 

m'/l  = b/b',  so  dafs  m'  = — in  Gramm  zahlenmäfsig  ausgedrückt  ist. 
b' 

7.  Für  die  Grölse  der  Kraft  wird  man  dann  am  einfachsten 
den  Wert  angeben,  den  wir  erhalten,  wonn  wir  die  Beschleunigung 
mit  der  Massenzahl  multiplizieren,  also 

m'  X b'  = 1 • b 

würden  wir  als  Kraft  definieren,  die  in  dem  betreffenden  Falle 
gewirkt  hat.  Da  wir  gewohnt  sind,  uns  Kräfte  durch  gespannte 
Spiralfedern  zu  versinnliohen,  so  werden  wir  nach  dieser  Doflnitions- 
einführung  sofort  fragen,  ob  denn  dann  auch  zwei  fast  gleiche  und  gleich 
gespannte  Spiralfedern  an  derselben  Masse  m'  die  doppelte  Be- 
schleunigung bervorbringen  wie  eine  allein?  Dies  ist  tatsächlich  der 
Fall,  und  darum  ist  die  genannte  Definition  der  Kraft  ein  zweck- 
mäfsiger  Begriff,  weil  er  einerseits  aus  den  Bewegungsvorgängen 


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15 


nahe  gelegt  ist  und  andererseits  nicht  im  Widerspruch  steht  mit  unserer, 
duroh  statische  Vorgänge  hervorgerufenen  Vorstellung  von  Kräften. 

8.  Sie  werden  fragen,  wozu  denn  diese  Klügelei,  wozu  diese 
Namen  und  Einführungen?  Der  Grund  ist  der:  hat  inan  diese  Begriffe 
eingeführt,  die  eigentlich  nichts  weiter  sind  als  recht  klare  und  be- 
stimmte Bezeichnungen  dessen,  was  wir  beobachten  können,  so 
gelingt  es  uns  in  der  Tat,  alle  rein  mechanischen  Bewegungen,  auch 
kompliziertere,  uns  zurechtzulegen  und  — das  ist  die  Hauptsache 
— zu  berechnen.  Die  Berechnung  der  Bewegung  der  Himmels- 


Fig.  10.  Die  Rinne  E F kann  in  A U an  (las  Reirsbrctt  angeheftel  werden, 
damit  man  die  Horizonlalliewegung  isoliert  verfolgen  kann. 


körper  und  zahlloser  Mechanismen,  welche  Menschenkunst  erdacht 
hat,  läfst  sich  mit  den  angeführten  Erfahrungssätzen,  dem  Beharrungs- 
gesetz, dem  Gesetz  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  und  dem  Be- 
griffe der  Masse  und  Kraft,  wie  wir  sie  eingeführt  haben,  bewerk- 
stelligen. Manches  Spielzeug  erklärt  sich  durch  sie  in  einfacher 
Weise,  z.  B.  die  neuen  Pariser  Spielzeuge,  welche  das  Gehen  von 
Menschen  nachahmen.  Dahin  gehört  jene  gehende  Figur,  bei  welcher 
mittelst  eineB  Federuhrwerkes  pendelnde  Verdrehungen  der  Füfse  (aus 
Blei)  gegen  den  Oberkörper  bewirkt  werden  und  infolge  der  Trägheit 
in  den  Momenten  der  Bewegungsumkehrungen  ein  Vorwärtsgleiten 
der  Füfse  auf  einem  glatten  Tische  eintritt. 

9.  Ein  Gesetz  habe  ich  noch  anzuführen,  nämlich  den  Erfahrungs- 


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16 


satz,  welcher  uns  sagt,  wie  sich  ein  Körper  bewegt,  der  gleichzeitig 
verschiedene  Bewegungen  ausführen  soll.  Ich  habe  hier  (Fig.  10)  ein 
beruhtes  Reifsbrett  und  kann  eine  Kugel  K fallen  lassen,  die  erst  ein 
Stück  weit  in  einer  Rinne  CK  geführt  wird.  Wegen  der  Soll werkraft 
wird  die  Kugel  da,  wo  sie  die  Bahn  verläfst,  nach  abwärts  fallen,  etwa 
um  die  Höhe,  die  H über  G liegt;  wegen  der  Bewegung  auf  der  Rinne 
wird  sie  im  Punkte  K eine  horizontale  Geschwindigkeit  haben  und  nach 
dem  Trägheitsgesetze  sich  horizontal  mit  dieser  Geschwindigkeit  noch 
weiter  bewegen.  Die  Erfahrung  zeigt,  dafs  die  Kugel  beide  Aufgaben  zu 
erfüllen  sucht;  sie  fällt  nämlich  um  den  vertikalen  Abstand  des  Punktes 
II  von  G und  kommt  vorwärts  um  die  horizontale  Entfernung  des 
Punktes  G von  H.  Natürlich  mufs  sie  dann  nach  G kommen;  mathe- 
matisch gesprochen  heifst  das:  sie  befindet  sioh  im  vierten  Eck- 
punkt des  Parallelogramms,  welches  aus  den  Wegen,  die  die 
Kugel  unter  Einflufs  der  einzelnen  Wirkungen  zu  machen  hätte,  kon- 
struiert werden  kann.  Ebenso  wie  die  Wege  sich  durch  die  Parallelo- 
grammkonstruktion linden  lassen,  kann  man  auch  die  Beschleunigung, 
welche  aus  zwei  verschiedenen  Einzelbeschleunigungen  resultiert,  sowie 
auch  die  resultierende  Kraft  aus  einem  solchen  Parallelogramm  zeich- 
nerisch und  rechnerisch  linden,  da  ja  die  Beschleunigungen  und  Kräfte 
aus  den  Wegen  bestimmt  sind. 

10.  Haben  wir  mechanische  Vorgänge  blofs  unter  Benutzung  der 
Begriffe  von  Masse  und  Kraft  und  der  Erfahrungssätze  des  Beharrungs- 
vermögens, der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  und  des 
Parallelogramms  der  W ego  oder  Kräfte  uns  verständlich  gemacht  und 
zahlenuiäfsig  richtig  bestimmt,  so  gebraucht  der  Physiker  dafür  den 
Ausdruck,  der  Vorgang  sei  meohanisch  erklärt.  Erklären  heifst 
also  für  den  Naturforscher  nichts  weiter  als  Zurückführen  kompli- 
zierterer auf  einfachere  Vorgänge  und  Begriffe.  Ob  die  angeführten 
Begriffe  die  einfachsten  sind,  wissen  wir  nicht.  Man  hat  vermutet, 
dafs  Körper  aus  verschiedenen  Stoffen  deswegen  gleiche  Trägheit,  d.  h. 
gleiche  Masse  besitzen,  weil  alle  Stoffe,  auch  die  scheinbar  verschieden- 
artigsten, aus  einem  und  demselben  Urstoff  zusammengesetzt  seien. 
Es  würden  danach  auch  die  Atome  der  verschiedenen  Körper  sich  aus 
einem  und  demselben  Urstoff  aufbauen;  es  würden  die  Urstoffleilchen 
oder  „Corpuskeln“,  wie  sie  der  englische  Physiker  J.  J.  Thomson 
nennt,  nur  verschieden  gruppiert  zu  sein  brauchen,  um  nach 
aufsenhin  und  chemisch  verschiedenartig  zu  wirken.  Aber  diese  An- 
schauung ist  nooh  nicht  genügend  sicher  gestellt  und  noch  nicht  ge- 
nügend zahlenmäfsig  prüfbar  gewesen.  So  lange  dies  aber  nicht 


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17 


geschehen  kann,  ist  dieselbe  von  nicht  allzu  grofsem  Werte.  Sie  ist 

nicht  mehr  als  eine  Ansicht  oder  = 

O M 

Hypothese,  aber  noch  keine  ge-  — — 

stutzte  Erklärung.  , J?Co 

Die  Naturvorgänge  über-  - - ~p  

hau pt  mechanisch  erklären,  V _ 

würde  heifsen,  alles,  was  wir  iT  _ 

wahrnehmen,  durch  roechani-  V _ 

sehe  Vorgänge  verständlich  _ ft! 

machen  oder  auf  die  ange-  ‘ y 

führten  mechanischen  Grund-  ! 

begriffe  zurückführen.  y 

11.  Den  Druck,  den  ein  Gas,  , 'l' 

das  etwa  in  einen  Ballon  einge-  ■ — O — 

schlossen  ist,  ausübt,  kann  man  — — y “ “ 

sich  z.  B.  rein  mechanisch  erklären,  ^ ~ 

indem  man  annimmt,  dafs  das  Gas  i — rh  — 

aus  einzelnen  kleinsten  Teilchen,  - 0 — 

"t  — 

sogen.  Molekülen, besteht  und  diese  - ~ — 

mit  grofser  Geschwindigkeit  bis  - o — 

zu  1000  und  mehr  Metern  in  der  1 ■ V _ 

Sekunde  in  dem  Räume  herum-  7 - Fi  — 

fliegen,  in  dem  sie  eingesperrt  sind.  1 ~~  1 1 _ 

Der  Druck,  den  sie  auf  die  Ge-  -j  ■-  — ~ V _ 

fäfswand  ausüben,  würde  einfach  ^ 1L 

^ — 335  — 

dem  Druck  entsprechen,  den  etwa  1 1 1 

eine  bewegte  Flintenkugel  auf  eino  - - yi 

Wand  ausübt,  auf  die  sie  slofst.  — V 

Die  Übertragung  des  Lichtes  fr***"~  • ■ ri 

von  der  Sonne  zu  uns  und  zu  un-  jH~  yi 

serem  Auge  hat  man  sich  so  zu-  F-  •• V 

recht  gelegt,  als  wäre  zwischen  h — rn  ~ 

der  Sonne  und  der  Erde  ein  sehr  ~~  - — ij  — 

feiner,  leicht  beweglicher  Stoff,  der  ilpy-m — 5 - 

sogenannte  Weltäther,  vorhanden,  x ~~Tr~~~S  — 

Auf  der  Sonne  denkt  man  sich  = -■ — — —Qi  — 

Teilchen  in  lebhafter  W 

der  Bewegung,  wie  sie  ein  Pendel  ® 
ausführt,  und  diese  schwingende  Bewegung  denkt  man  sich  durch  den 
Äther  hindurch  wie  die  Wellen  auf  einer  Wasseroberfläche  oder  die 

Himmel  und  Erd«  19TO  XVI  t.  2 


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Fig.  II.  BC  ist  ein  von  Sinti  von  getragenen  Mannesmannrohr  und  trügt  an  Bindfäden  ßleizylinder,  die  achaial  durch- 
bohr und  von  einer  Uumtni»«  hinir  UG  durchzogen  Bind.  Wird  am  einen  Ende  A eine  Bewegung  mit  der  Hand  eiu- 
geleitet,  so  pflanzt  sieh  dieselbe  als  , Well enboweguug“  durch  die  OumTiiischnur  fort. 


18 


Wellen  in  dem  Modell  der  zu  unserem  Auge  übertragen  (Fig.  11).  — 
Diese  mechanische  Erklärung  der  Fortpflanzung  des  Liohtes  ist  bis 
in  die  neueste  Zeit  hinein  mafsgebend  gewesen  und  sehr  genau  mathe- 
matisch in  ihren  Einzelheiten  verfolgt  worden.  In  ähnlicher  Weise, 
denkt  man  sich,  werden  die  Störungen,  welche  das  elektrische 
Funkenspiel  in  demselben  Medium  Weltäther  hervorruft,  an  entferntere 
Punkte  weitergetragen.  Die  drahtlose  Telegraphie  macht  Gebrauch 
von  der  Fortpflanzung  dieser  Störungen,  und  vielleicht  wird  man  durch 
die  Versuche  mit  drahtloser  Telegraphie  noch  genauere  Einzelheiten 
über  die  Art  der  Ausbreitung  solcher  elektrischer  Störungen,  die  von 
unserem  Landsmanne,  dem  leider  so  früh  verstorbenen  Heinrich 
Hertz,  zum  ersten  Mal  im  Jahre  1883  untersucht  wurden,  erfahren. 

Über  das,  was  in  einer  Flamme  vor  sioh  geht,  hat  schon  der 
griechische  Dichter  Lucrez  eine  Ansicht  ausgesprochen  und  gedacht 
es  seien  in  der  Flamme  kleine  Teilchen  in  lebhafter  Bewegung,  und 
die  Flamme  sei  um  so  heifser,  je  lebhafter  die  Bewegung  dieser  kleinsten 
Teilchen  sei.  Es  hat  damit  Lucrez  bereits  über  die  Flamme  etwas 
ähnliches  gedacht  wie  wir  oben  unter  einem  Gase,  in  dem  wir  auch 
rasch  bewegte  Moleküle  annahmen,  die  den  Druck  des  Gases  her- 
vorbringen sollten.  Auch  einen  festen  und  flüssigen  Körper  kann 
man  sich  aus  kleinsten  Teilohen,  sogen.  Molekülen,  bestehend  denken, 
die  nicht  in  voller  Kühe  sind,  sondern  um  bestimmte  Lagen  hin  und 
herpendeln  und  herumrotieren.  Führt  man  einem  Körper  Wärme  zu, 
so  würde  das  nichts  anderes  bedeuten,  als  dafs  man  diese  Bewegung 
lebhafter  mache.  Das,  was  wir  als  Wärme  empfinden,  wäre  hiernach 
nichts  weiter  alB  eine  lebhafte  Bewegung  der  kleinsten,  wenn  auch 
selbst  mit  dem  stärksten  Mikroskope  nicht  mehr  wahrnehmbaren 
Teilchen,  der  sogen.  Moleküle  des  Körpers,  durch  welche  auch  die 
Wellenbewegung  im  Weltäther  veranlafst  wird. 

Recht  verständlich  werden  uns  dadurch  folgende  Vorgänge: 
Erhitzt  man  einen  festen  Körper  Btärker  und  immer  stärker,  so  wissen 
wir,  dafs  er  schmilzt.  Jeder  Körper,  selbst  Stein,  kann  geschmolzen 
werden,  wenn  man  Temperatur  und  Druck  passend  wählt.  Caloium- 
carbid  entsteht  ja  so,  dafs  Kohle  und  Kalk  im  elektrischen  Lichtbogen 
bis  zum  Schmelzen  erhitzt  werden;  das  Sohmelzen  tritt  dann  ein, 
wenn  die  kleinsten  Teilohen  des  Körpers  viel  lebhafter  und  freier 
gew  orden  sind,  als  es  im  festen  Zustande  der  Fall  ist  Bei  noch  weiterem 
Erhitzen  tritt  Verdampfung  ein,  die  wir  beim  siedenden  Wasser  ja  so 
deutlich  beobachten  können.  In  unserem  mechanischen  Bilde 
über  die  Konstitution  der  Materie  ist  dies  so  zu  erklären,  dafs  in 


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einer  stark  erhitzten  Flüssigkeit  die  kleinsten  Teilchen  zum  Teil  so 
enorme  Geschwindigkeit  annehmen  können,  dafs  einzelne  von  ihnen 
aus  der  Flüssigkeit  herausschiefsen  und  in  den  darüber  befindlichen 
Kaum  als  Dampf  fortfiiegen.  Dafs  der  Schall  durch  mechanische 
Veränderungen  der  Luft  oder  durch  das  zwischen  Schallquelle  und 
unserem  Ohre  befindliche  Zwischenmedium  fortgepflanzt  wird,  ist  eine 
uns  heutzutage  recht  gut  bekannte  Tatsache.  Es  geschieht  diese  Fort- 
pflanzung einfach  in  der  Weise,  dafs  bei  der  Bewegung  der  Stimin- 
gabelzinken  oder  der  Luft  in  einer  tönenden  Pfeife  in  deren  Umgebung 
kleine  Drucksohwankungen  der  Luft  hervorgerufen  werden,  die  sich 
einfach  in  derselben  weiter  fortverbreiten,  bis  sie  an  das  Trommel- 
fell des  Ohres  gelangen  und  dort  die  Schallempfindung  in  uns  auslösen. 

12.  Aber  wir  kennen  auch  physikalische  Erscheinungen,  die  wir 
noch  nioht,  ohne  in  Widersprüche  zu  geraten,  auf  rein  mechanische 
Vorgänge  zurückführen  können,  d h.  unter  dem  Bilde  mechanischer 
Vorgänge  uns  deuten  können.  Als  Beispiel  will  ich  eine  Wirkung 
des  elektrischen  Stromes  anführen.  Zwar  eine  Eigenschaft  des  elek- 
trischen Stromes,  nämlich  aus  einer  Salzlösung  ein  Metall  abzuscheiden, 
wie  das  in  der  Galvanoplastik  geschieht,  wäre  noch  mechanisch  ver- 
ständlich. Wir  können  einen  solchen  Metallüberzug  herstellen,  indem 
wir  in  Kupfervitriollösung  2 Platten  eintauchen,  eine  Kupferplatte  und 
eine  Platinplatte.  Wenn  der  elektrische  Strom  durch  die  Kupferplatte 
in  die  Vitriollösung  eingeleitet  und  durch  das  Platinblech  heraus- 
geleitet wird,  so  schlägt  sich  an  der  Platinplatte  Kupfer  nieder.  Gleich- 
zeitig wird  von  der  Kupferplatte  Kupfer  aufgelöst,  und  es  sieht  so 
aus,  als  ob  die  Elektrizität  durch  die  Flüssigkeit  transportiert  würde, 
indem  sie  mit  den  Kupferteilchen  wandert,  welche  an  dem  Kupfer- 
blech abgelöst  und  an  dem  Ptatinbleoh  ausgeschieden  werden.  In  der 
Tat  ist  dieses  Bild  durchaus  zulässig,  und  wir  hätten  damit  eine  mecha- 
nische Erklärung  der  Elektrolyse.  Allein  eine  andere  wichtige  Wirkung 
des  elektrischen  Stromes  können  wir  uns  nicht  mehr  mechanisch  einfach 
zurechtlegen,  nämlich  die  Ablenkung  einer  Magnetnadel,  welche  sich 
in  der  Nähe  des  den  elektrischen  Strom  führenden  Drahtes  befindet. 

Diese  Erscheinung  und  noch  gar  manche  andere  kann  man  sich 
noch  nicht  auf  einfache  Weise  mechanisch  erklären.  Könnte  man  auch 
diese  und  die  anderen  Erscheinungen,  die  ich  nicht  alle  anführen 
will,  auf  rein  mechanische  Wirkungen  zurüokführen,  so  wären  dio 
Vorgänge,  welche  der  Physiker  studiert  und  welche  an  der  leblosen 
Materie  sich  abspielen,  mechanisch  erklärt.  Die  Erklärungen  könnten 
im  Laufe  der  Zeit  noch  verbessert  werden,  wenn  die  mechanischen 

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Grundbegriffe  und  Grundgesetze,  welche  wir  heute  kennen  gelernt 
haben,  auf  noch  einfachere  zurückgeführt  werden  könnten,  d.  h.  wenn 
wir  sie  selbst  wieder  aus  anderen,  einfacheren  Erscheinungen  als  der 
des  Beharrungsvermögens,  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  usw. 
ableiten  könnten.  Es  scheint  dies  aber  wenig  wahrscheinlich.  Ja, 
es  zweifeln  heute  wohl  viele  Physiker  selbst  daran,  dato  es  überhaupt 
einmal  möglich  sein  wird,  alle  Erscheinungen  der  unbelobten  Natur 
auf  mechanische  Weise  zu  erklären. 

Wie  viel  weniger  wahrscheinlich  aber  mufs  es  dann  sein, 
dafs  wir  die  Vorgänge  des  Lebens,  die  Gesetze  der  Entwiokelung  der 
Pflanzen  und  Tiere,  die  Betätigungen  der  Seele  und  unsere  Empfin- 
dungen je  mechanisch  erklären  können.  Glaube  und  Liebe,  Hafs, 
Freude  und  Trauer,  Mitleid  und  Furcht,  Entstehen  und  Verlöschen 
des  Lebens  können  wir  uns  noch  nicht  durch  einfache  mechanische 
Vorgänge  deuten.  Fast  möchte  ich  sagen,  glücklicherweise.  Denn 
so  ist  der  Mensch,  der  Leib  und  Seele  hat,  eben  doch  noch  mehr 
als  ein  Mechanismus,  noch  mehr  als  eine  Maschine.  Zwar  viele  Lebens- 
betätigungen, wie  z.  B.  das  Gehen,  erfolgen  mit  derselben  Regel- 
mäfsigkeit  wie  die  Bewegungen  einer  Maschine  und  gehorchen  den- 
selben mechanischen  Gesetzen  wie  die  Maschinen  aus  Stahl  und  Eisen, 
und  mit  derselben  Ausnahmslosigkeit,  Aber  die  Äufserungen  und 
Empfindungen  des  Göttlichen  im  Menschen,  der  Psyche,  bleiben  frei 
von  den  Gesetzen,  die  das  Staubgeborne  verfolgen  mufs,  dem  keine 
freie  Seele  iniiowohnt.  Sollen  wir  das  bedauern?  Würden  uns  die 
herrlichen  Werke  unseres  Schiller  und  Goethe,  die  launischen 
fröhlichen  und  traurigen  Weisen  eines  Heine  mehr  ergreifen,  wenn 
wir  einen  Mechanismus  uns  denken  könnten,  der  sie  entstehen  liefs? 
Würden  die  Äufserungen  und  Empfindungen  unserer  Seele,  die  An- 
lage und  Schicksale  zur  Auslösung  bringen,  eine  höhere  Weihe  tragen, 
wenn  wir  sie  mechanisch  analysieren  könnten?  Könnten  die  Klage 
der  Elsa,  die  Arie  Sarastros,  die  aus  der  gemütvollen  Seele  Webers 
dringenden  Akkorde  im  Freischütz  mächtiger  auf  unsere  Sinne  wirken 
und  die  Gottesgabe  Musik,  welche  die  schönste  und  innerlichste,  über- 
all auf  der  Welt  unmittelbar  verständliche  Seelensprache  ist,  uns  tiefer 
rühren  und  mehr  erfreuen,  wenn  wir  blofs  Würsten,  dafa  die  mecha- 
nische Bewegung  der  Stimmbänder  rein  mechanisch  durch  die  Luft 
zu  unserem  Ohre  fortgepfianzt  wird?  Sondern  wenn  wir  auch  einen 
Mechanismus  uns  denken  könnten,  nach  dem  diese  mechanischen  Ein- 
drücke die  Regungen  unseres  Herzens  und  Gemütes  auslösen?  Ich 
denke:  nein! 


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13.  Und  darum  wollen  wir  nieht  trauern,  wenn  die  Versuche, 
die  psychischen  Vorgänge  mechanisch  zu  erklären,  bisher  alle  ge- 
scheitert sind.  Um  so  frischer  und  rastloser  aber  wollen  wir  daran 
arbeiten,  zunächst  die  physikalischen  Naturvorgänge  dadurch  ge- 
nauer kennen  zu  lernen,  dafs  wir  uns,  so  weit  wie  möglich,  mecha- 
nische Erklärungen  und  Vorstellungen  zu  bilden  versuchen.  Im 
Kampfe  mit  der  Materie  ist  die  mechanische  Denkweise  ein  starker 
Helfershelfer,  wenn  sie  auch  auf  geistigem  Gebiete  hilflos  ist  wie 
ein  Kind.  Die  grofsen  Fortschritte  der  Technik  ruhen  auf  dem 
Fundament  der  Mechanik,  und  wichtige  Ideen  und  Forschungen  sind 
aus  dem  Bedürfnis  des  Menschen  hervorgegangen,  sich  die  Vorgänge 
in  der  Natur,  so  weit  wie  möglich,  mechanisch  zu  erklären. 

Unverzagt  wollen  wir  daran  glauben,  dafs  auch  in  Zukunft  der 
Menschheit  durch  unausgesetzte  Versuche,  unbekannte  Erscheinungen 
durch  die  uns  vertrautesten  Vorgänge,  nämlich  die  der  Mechanik,  zu 
erklären,  mancher  schöne  Erfolg  erkämpft  werden  kann,  wenn  auch 
unseres  Altmeisters  Goethe  Wort  ewig  wahr  bleiben  wird:  dafs  „alles 
Vergängliche  nur  ein  Gleichnis“  ist! 


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friiOiflixiPWinN  PTf^üTrJ  &T^triQti»gO*i3Lin3i<inJC]|^tr,rikiN^r^^><*tni>i  Iflfii^ßl 


Die  künstliche  Darstellung  organischer  Naturprodukte. 

Von  Dr.  Martin  Heidricb  in  Berlin. 

ohin  wir  in  der  Natur  auch  blicken  mögen,  überall  beobachten 
>i y-y'  wir  das  Prinzip  der  Sparsamkeit.  Betrachtest  du  z.  B. 

67  die  Blüte  eines  Hahnenfuhes,  die  mit  ihrem  prächtigen,  gold- 
gelben Glanze  der  Wiese  den  ersten  Frühlingsschtmick  verleiht,  ge- 
nauer, so  wirst  du  bemerken,  dafs  all  diese  Pracht  nur  der  Oberseite 
der  Kronenblätter  zukommt,  während  die  Unterseite,  die  ja  nicht  ge- 
sehen wird,  bei  weitem  unscheinbarer  gefärbt  ist.  Ähnliche  Beobach- 
tungen kannst  du  an  jedem  Organismus  anstellen.  Kaum  aber  dürfte 
es  für  die  weise  und  sparsame  Verteilung  der  gesamten  Energie  in 
dem  Reiche  der  Natur  einen  besseren  Beweis  geben  als  den,  dafs  der 
Chemiker  trotz  der  gröfsten  Bemühungen,  Naturprodukte  künst- 
lich herzustellen,  blofs  in  sehr  wenigen  Fallen  das  ebenso  hohe, 
wie  erstrebenswerte  Ziel  erreicht  hat.  Nur  unter  Anwendung  grofser 
Energiemengen  gelingt  es  ihm,  das  zu  leisten,  was  die  Natur  allem 
Anscheine  nach  mit  so  leichten  Mitteln,  gleichsam  spielend,  hervor- 
zubringen vermag.  Wie  erklärt  sich  dieses  sohneekengleiche  Vorwärts- 
kommen in  einer  Zeit,  wo  in  den  Naturwissenschaften  jede  Einzel- 
diszipliu  mit  Stolz  sich  rühmen  kann,  es  „so  herrlich  weit  gebracht“ 
zu  haben?  Wie  Zoologie  und  Botanik  Tausende  von  verschiedenen 
Spezies  der  Erforschung  darbieten,  so  umfafst  das  Reich  der  orga- 
nischen Chemie  eine  schier  erdrückende  Fülle  von  Verbindungen,  die 
teils  in  der  Natur  selbst  Vorkommen,  teils  in  den  Laboratorien  durch 
die  Kunst  des  Chemikers  entstehen.  Während  aber  der  Zoologe  und 
Botaniker  seine  Pflegekinder  meist  nach  rein  äufseren  Charakteren 
ins  System  einordnen  kann,  hat  der  Chemiker  eine  weit  schwierigere 
Aufgabe  zu  bewältigen.  Er  muh  seiner  „Spezies“  mit  einer  Unzahl 
von  Reagentien  auf  den  Leib  rücken,  muh  sie  in  ihre  Bestandteile  zu 
zerlegen  oder  „abzubauen“  suchen  und  mit  bereits  bekannten  Ver- 
bindungen zu  identifizieren  trachten.  Zwar  erfährt  der  Organiker 
durch  seine  gut  durchgeführte  Analyse  die  Mengenverhältnisse 


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von  Kohlenstoff,  Wasserstoff.  Sauerstoff  unil  Stickstoff,  welche  die  zu 
untersuchende  Substanz  enthält,  nie  aber  kann  er  dadurch  allein  eine 
Reinigung  eines  etwa  vorhandenen  Gemisches  bewirken,  nie  von 
einem  völlig  unbekannten  Körper  eine  einwandfreie  Vorstellung  über 
die  mannigfache  „Struktur“,  die  gegenseitige  I>agerung  der  einzelnen 
Atome  erhalten,  die  in  verschiedenen  Materien  zwar  in  gleichen 
Mengenverhältnissen  vorhanden  sein,  trotzdem  aber  in  völlig 
heterogener  Weise  untereinander  angeordnet  sein  können  („isomere“ 
Körper). 

Dagegen  befindet  sich  der  Chemiker  in  viel  glücklicherer  Lage 
bei  der  Untersuchung  anorganisoher  Verbindungen,  da  er  durch  die 
Elementaranalyse  sehr  wohl  eine  Trennung  eines  Gemisches  erzielen 
und  die  Frage  nach  dem  Prozentgehalt  der  einzelnen  Elemente,  bei- 
spielsweise eines  Minerals,  in  systematischer  Reihenfolge  entscheiden 
kann. 

Mit  dieser  Tätigkeit  des  „Analysierens“  ist  für  den  Anorganiker 
die  Hauptaufgabe  in  den  meisten  Fällen  erledigt;  für  den  Organiker 
erhebt  sich  eine  neue  Schwierigkeit.  Er  hat  nun  die  Aufgabe,  aus 
den  einzelnen  Bausteinen  das  niedergelegte  Haus  nachträglich  wieder 
aufzubauen,  ein  Problem,  das  um  so  dornenvoller  ist,  als  die  innere 
Einrichtung  des  Gebäudes  keineswegs  immer  mit  wünschenswerter 
Klarheit  bekannt  ist.  Auf  diesem  Wege  gelangt  der  Forscher  von 
einfachen  Verbindungen  zu  komplizierteren:  er  führt  eine  „Syn- 
these“ aus. 

Schon  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  kann  man  es  sehr  wohl 
verstehen,  warum  die  organische  Chemie  viel  jünger  als  die  an- 
organische ist.  Überhaupt  wurde  die  Chemie,  wie  die  Geschichte  der 
exakten  Wissenschaften  uns  lehrt,  deshalb  mit  am  spätesten  als  wahre 
Wissenschaft  behandelt,  weil  sie  von  ihren  Jüngern  ein  besonders  ent- 
wickeltes Vorstellungsvermögen  fordert,  weil  sie  nicht  nur,  wie  ihre 
Schwesterwissenschaft,  die  Physik,  nach  der  Erkenntnis  der  äufseren 
Eigenschaften  der  Stoffe  sowie  ihrer  Zustände  (Gleichgewicht  und  Be- 
wegung) strebt,  sondern  nach  ihrem  innersten  Wesen  selbst  fragt. 

Infolge  dieser  grofsen  Anforderung  an  das  menschliche  An- 
schauungsvermögen und  au  die  praktische  Erfahrung  wollte  es  lange 
Zeit  nicht  gelingen,  aus  den  „Elementen“,  jenen  Grundstoffen,  die  bisher 
auf  keine  Weise  in  weitere  gleichartige  Bestandteile  zerlegt  werden 
konnten,  Produkte,  wie  sie  die  Natur  darbietet,  synthetisch  darzu- 
stellen. Ja,  man  gab  sich  unter  dem  Einflufs  der  Naturphilosophie 
der  Meinung  hin,  die  organischen  Substanzen  liefsen  sich  überhaupt 


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nicht  künstlich  gewinnen,  weil  sie  unter  dem  EinQufs  einer  geheimnis- 
vollen Kraft,  der  „Lebenskraft“,  gebildet  würden.  Lange  Zeit  hat 
diese  lähmende  Hypothese,  die  freilich  nur  zu  nahe  lag,  die  Wissen- 
schaft beherrscht,  bis  sie  im  Prinzip  widerlegt  wurde  durch  die  künst- 
liche Darstellung  eines  typischen  Absoheidungsproduktes  des  Organis- 
mus: des  Harnstoffs. 

Im  Jahre  1828  stellte  Wühler  diesen  Körper  dar  aus  Cyansäure 
und  Ammoniak,  die  damals  beide  noch  als  anorganisch  bezeicbnet 
wurden.  Freilich  war  damit  der  das  Wesen  der  organischen  Verbin- 
dungen verhüllende  Schleier  noch  nicht  ganz  gelüftet.  So  leicht  war 
die  „Lebenskraft“  nicht  totzuschlagen.  Vielmehr  hielt  man  noch  eine 
Zeit  lang  mit  Berzelius  an  der  Ansicht  fest,  dafs  die  organischen 
Verbindungen  durch  den  Einflufs  jener  rätselhaften  Energiequelle  ge- 
bildet würden,  auf  welche  die  chemischen  Kräfte  nur  eine  zerstörende 
Wirkung  ausübten.  Allein  bald  folgte  eine  Synthese  der  anderen. 
Es  gelang  Kolbe  (1843)  die  künstliche  Darstellung  der  Essigsäure 
aus  den  Elementen  Schwefel,  Kohlenstoff  und  Chlor;  es  wurden  später 
ferner  synthetisiert  die  Harnsäure  sowie  ihre  zahlreichen  Verwandten, 
das  im  Kaffee  und  Tee  enthaltene  Kaffein,  das  in  den  Kakaobohnen 
wirksame  Theobromin  (EX  Fischer)  und  andere  Körper.  Kurz,  es 
wurde  immer  aufs  neue  bewiesen:  die  chemischen  Elemente  in  der  an- 
organischen, wie  organischen  Welt  unterliegen  denselben  Gesetzen, 
und  organische  Verbindungen  sind  weiter  nichts  als  Verbindungen 
des  Kohlenstoffs,  anorganische  also  die  aller  anderen  Elemente. 

So  hatte  diese  für  die  theoretische  Entwickelung  der  organischen 
Chemie  überaus  denkwürdige  Darstellung  des  Harnstoffs  zugleich  eine 
Basis  geschaffen,  von  der  aus  sich  im  Laufe  der  Zeit  Aufschlüsse 
von  fundamentaler  Bedeutung  über  das  Wesen  der  organischen  Ver- 
bindungen gewinnen  liefsen.  Nach  jener  denkwürdigen,  wissenschaft- 
lichen Tat  war  es  ja  nur  noch  eine  Frage  der  Zeit,  andere  Natur- 
produkte zu  synthetisieren.  Es  sei  gestattet,  auf  die  wichtigsten  dieser 
Synthesen  etwas  näher  im  folgenden  einzugehen. 

Im  forensischen  Leben  spielen  jene  Produkte  eine  gewisse  Rolle, 
welche  sich  in  den  verwesenden  tierischen  Organismen  bilden:  die 
sogenannten  Ptomaine  oder  Leichengifte.  Es  liegt  nämlich  bei  einer 
chemischen  Untersuchung  eines  bereits  in  Verwesung  übergehenden 
menschlichen  Leichnams  die  Möglichkeit  nicht  allzufern,  diese  äufserst 
unangenehm  riechenden  Leichengifte  mit  einigen  starkgiftigen  Pflanzen- 
alkaloiden, z.  B.  dem  Coniin,  dem  bekannten  Gifte  der  Schierlings- 
pflanze (Coniium  maculatum),  zu  verwechseln.  Häufig  genug  ist 


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in  der  Tat  die  wissenschaftliche  Untersuchung  irregeleitet  worden,  als 
man  noch  keine  Kenntnis  von  der  Existenz  jener  Ptomai'ne  hatte. 
Ladenburg  war  es  Vorbehalten,  dieselben  aus  verhältnismäfsig  ein- 
fachen Körpern  zu  synthetisieren.  Derselbe  Forscher  zeigte  auch  den 
Weg,  z.  B.  das  Cadaverin,  einen  Repräsentanten  der  genannten  Pto- 
raa'ine,  in  Piperidin  überzufiihren,  das  Reduktionsprodukt  des  Pyridins, 
das  sich  neben  seinen  Derivaten,  dem  Picolin  und  anderen,  im  Stein- 
kohlenteer und  Knochenöl  vorfindet.  Aus  letzterem  (Pieolin)  stellte 
ebenfalls  Laden  bürg  das  bereits  erwähnte  Coniin  dar,  das  erste 
Alkaloid,  — so  heifsen  im  allgemeinen  die  stickstoffhaltigen  Pflanzen- 
gifte — , welches  auf  synthetischem  Wege  überhaupt  dargestellt  wurde. 
Duroh  diesen  Schritt  wurde  die  wissenschaftliche  Forsohung  auf  diesem 
so  aufserordentlich  schwierigen  Gebiete  mächtig  angeregt.  Das  im 
Pfeffer  vorkommende  Piperin  w urde  künstlich  dargestellt,  und  andere 
Alkaloide  wurden  in  ihrer  Struktur  oft  mit  gutem  Erfolge  zu  er- 
forschen versucht  Allerdings  sind  hier  die  Fortschritte  der  Chemie 
nicht  übermäfsig  grofs.  Immerhin  kann  sie  in  Anbetracht  der  überaus 
schwierigen  Aufgabe  auch  auf  die  wenigen  Resultate  schon  jetzt  stolz 
sein,  wenn  sie  auch  bei  ihren  Bestrebungen,  andere  im  Pflanzenreiche 
vorkommende  Produkte  zu  gewinnen,  reichere  Früchte  geerntet  hat. 

Die  Pflanzen  beziehen  ihre  Nährstoffe  aus  zwei  verschiedenen 
Regionen:  die  stickstoffhaltigen  Substanzen  (Nährsalze  sowie  das 
Wasser)  entziehen  sie  im  allgemeinen  mit  Hilfe  ihrer  Wurzeln  dem 
Boden ; aus  der  Luft  entnehmen  sie  einen  weiteren  wichtigen  Bestand- 
teil ihrer  Kost,  nämlich  das  Kohlendioxyd  (meist  Kohlonsäurc  genannt). 
Zwar  liest  man  oft,  die  Pflanze  „atme“  Kohlensäure  ein.  So  wenig 
es  aber  statthaft  ist,  zu  sagen,  der  Mensch  atme  seine  Nahrung  ein, 
so  wenig  ist  ein  analoger  Ausdruck  am  Platze  für  die  Kohlensäure- 
aufnahme der  Pflanzen.  Letztere  ist  ein  Prozefs  der  Nahrungsauf- 
nahme, comme  il  faut.  Aus  den  genannten,  sehr  einfachen  Nahrungs- 
Stoffen  baut  nun  die  Pflanze  das  ganze  riesige  Heer  der  organischen 
Verbindungen  auf,  die  ihren  Leib  zusammensetzen  (Zucker,  Stärke, 
Cellulose,  Fette  usw.).  Um  aber  diese  Synthesen  bewirken  zu 
können,  ist  eine  Energie  nötig.  Diese  gewährt  die  Sonne.  Ihre 
Strahlen  sind  es,  die  die  Kohlensäure  zerlegen  in  Kohlenstoff  und 
Sauerstoff,  ein  bedeutsamer  Vorgang,  durch  den  die  Pflanze  imstande 
ist,  uns  und  allen  tierischen  Organismen  den  für  das  Leben  unent- 
behrlichen Sauerstoff  zu  liefern.  Aus  dem  zurüokbleibenden  Sauer- 
stoff baut  dann  die  Pflanze  ihren  Leib  auf.  Ferner  ist  es  auf  diesen 
Prozefs  zurückzuführen,  dafs  wir  Steinkohlen,  Braunkohlen,  Torf,  die 


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Reste  einer  längst  untergegangenen  Pflanzenwelt,  als  Wärmequellen 
benutzen  können,  da  bei  der  Verbrennung  des  Kohlenstoffs  zu  Kohlen- 
säure jetzt  ebensoviel  Wärme  frei  wird,  als  früher  Sonnenenergie 
nötig  war,  um  Kohlensäure  in  Kohlenstoff  und  Sauerstoff  zu  zerlegen. 
Bei  der  Verbrennung  entsteht  Kohlensäure  aber  nur  dann,  wenn  die 
Luftzufuhr  unbeschränkt  bleibt.  Dagegen  bildet  sich  bei  unge- 
nügendem Luftzutritt  das  starkgiftige  Kohlenoxyd.  Kohlensäure 
stellt  also  eine  höhere  Oxydationsstufe  des  Kohlenstoffs  dar  als 
Kohlenoxyd,  ja,  sie  ist  die  höchstmögliche  Sauerstoffverbindung  des 
Kohlenstoffs.  Aus  alledem  ist  ersichtlioh.  dafs  der  in  der  Pflanze  sich 
abspielende  Prozefs  der  Assimilation  auf  einer  Reduktion,  d.  h. 
auf  einer  Zuführung  von  Wasserstoff,  beziehungsweise  Entziehung  von 
Sauerstoff,  beruhen  mufs.  Als  erstes  Reduktionsprodukt  käme  dann 
die  Ameisensäure  in  Betracht,  ein  Stoff,  der  in  der  Tat  in  manchen 
Pflanzen  gefunden  wird,  z.  B.  in  den  Brennesseln.  Auch  auf  künst- 
lichem Wege  ist  die  Reduktion  der  Kohlensäure  zu  Ameisensäure 
mittels  metallischen  Kaliums  gelungen. 

Jedooh  von  gröfserer  Bedeutung  für  die  Lösung  des  Problems 
der  Assimilation  ist  ein  anderes  Reduktionsprodukt  der  Kohlensäure: 
der  Formaldehyd.  Zwar  ist  es  bisher  nicht  gelungen,  ihn  in  der 
Pflanze  nachzuweisen,  aber  dem  Chemiker  (Loew)  ist  es  geglückt, 
aus  demselben  durch  „Polymerisation"  ein  zuckerähnliches  Produkt 
zu  erhalten.  Auch  Butlerow  war  bereits  früher  bei  der  Einwirkung 
von  Kalkmilch  auf  ein  Polymerisationsprodukt  desselben  Aldehyds 
zu  ähnlichen  Ergebnissen  gelangt.  Schliefslich  synthetisierte  der  auf 
diesem  Gebiete  hochverdiente  E.  Fischer  den  in  den  süfsen  Früchten 
enthaltenen  Traubenzucker  und  viele  mit  ihm  verwandte  Körper. 
Gleichzeitig  klärte  er  ihre  Konstitution  sowie  ihr  Verhältnis  zuein- 
ander auf. 

Warum  indessen  eine  Pflanze  in  gröfseren  Mengen  Zucker  pro- 
duziert, warum  z.  B.  das  bereits  mehrfach  erwähnte,  so  gefährliche 
Coniin  sich  gerade  in  der  Schierlingspflanze  bildet,  die  in  ihrer  un- 
mittelbaren Nachbarschaft  gedeihenden  Pflanzen  hingegen  vollkommen 
unschuldig  sind,  über  diese  und  ähnliche  Fragen  kann  der  Chemiker 
ebensowenig  Aufschlufs  geben,  als  er  sich  die  Bildung  von  Farb- 
und  Riechstoffen  in  den  Pflanzen  zu  erklären  vermag.  Die  schöne, 
mannigfache  Farbenpracht  und  der  zauberische  Duft,  wie  ihn  so 
zahlreiche  Kinder  Floras  uns  darbieten,  sind  ihm  bisher  noch  ein 
grofses  Rätsel.  Obwohl  er  genau  über  die  Zusammensetzung  des 
Pflanzenbodens,  bisweilen  sogar  über  die  gebildeten  Färb-  und  Rieoh- 


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Stoffe  selbt  orientiert  ist,  ist  ihm  das  „Wie“  und  „Warum“  verborgen 
geblieben. 

Bei  den  künstlichen  Riechstoffen  hat  man  zunächst  sehr 
wohl  zu  unterscheiden  zwischen  Produkten,  die  den  natürlichen  voll- 
kommen entsprechen,  und  solchen,  die  nur  den  Geruch  nachahmen, 
aber  andere  chemische  Zusammensetzung  haben.  Zur  letzteren  Klasse 
gehört  z.  B.  der  künstliche  Moschus,  der  eine  ganz  andere  Zusammen- 
setzung als  der  im  Pflanzen-  und  Tierreiche  vorkommende  Riechstoff 
aufweist,  sowie  das  in  verdünnter  Lösung  angenehm  nach  Veilchen 
riechende  Jonon.  So  lange  man  die  künstliche  Gewinnung  dieses 
Stoffes  noch  nicht  kannte,  war  man,  wie  bei  der  Darstellung  von 
Riechstoffen  überhaupt,  auf  die  Verarbeitung  von  Pflanzen,  hier  haupt- 
sächlich auf  die  Veilchenwurzel  (Iris  florentina)  angewiesen.  Aus 
dieser  wurde  durch  Wasserdampfdestillation  ein  nach  Veiloheu  rie- 
chender Stoff,  das  Iron,  gewonnen.  Für  die  Gewinnung  auch  nur 
weniger  Gramme  war  eine  gehörige  Menge  Veilchenwurzeln  nötig. 
Trotz  seines  dadurch  hohen  Preises  fand  das  Iron  indessen  in  Erman- 
gelung eines  besseren  Produktes  eine  Zeitlang  in  der  Parfümerie  An- 
wendung. Auch  in  den  Veilchenblüten,  die  einen  uns  bis  jetzt  noch 
unbekannten  Riechstoff  enthalten,  sind  doch  nur  Bruchteile  von  Milli- 
grammen des  so  geschätzten  Stoffes  vorhanden,  wenn  wir  auch  bereits 
nach  wenigen  Atemzügen  den  Duft  eines  einzigen  Veilchenstraufses 
im  Zimmer  deutlich  wahrzunehmen  vermögen.  Wiederum  ein  treff- 
licher Beweis  für  das  Prinzip  der  Sparsamkeit  im  Haushalte  der 
Xatur! 

Um  so  gröfseren  Wert  mufs  man  daher  dem  Verdienste  des 
Mannes  zuschreiben,  der  es  uns  durch  die  künstliche  Darstellung  dos 
Jonons  ermöglichte,  uns  den  von  allen  Dichtern  gepriesenen  Wohl- 
geruch des  Veilchens  auf  bequemere  und  billigere  Weise  zu  beschaffen 
und  noch  dazu  in  Quantitäten,  wie  sie  uns  die  ganze  Welt  mit  all 
ihren  Veilchen  nicht  darzubieten  vermag!  Der  scharfsinnige,  leider 
allzu  früh  verstorbene  Forscher,  jener  unermüdliche  Pionier  auf  dem 
Gebiete  der  Riechstoffe,  Ferdinand  Tiemann  war  es,  der  durch  die 
Synthese  des  Jonons  die  Welt  ,zutn  zweiten  Male  in  gleicher  Weise 
in  Erstaunen  versetzte,  wie  einige  Jahre  zuvor  durch  die  künstliche 
Gewinnung  des  in  der  Vanilleschote  vorhandenen  würzigen  Va- 
nillins. 

• Aus  Citral  und  Aceton  bildet  sich  zunäohst  durch  Kondensation 
ein  geruchloses  Produkt,  das  sogenannte  „Pseudojonon.“  — Das  Citral 
ist  neben  Citronellal  der  Hauptbestandteil  des  Zitronenöls,  aufserdem 


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aber  noch  insofern  recht  interessant,  als  es  sich  durch  Jodwasserstoff- 
säure in  Cytnol,  einen  Kohlenwasserstoff,  der  in  naher  Beziehung  zum 
Kampfer  steht,  durch  Oxydation  in  Lävulinsäure  überführen  läfst.  Da 
sich  diese  Säure  auch  aus  den  Zuckern  (Kohlehydraten)  künstlich  ge- 
winnen läf8t,  so  ist  hieraus  die  grofse  Bedeutung  der  Kohlehydrate 
als  Baumaterialien  der  Pflanzen  ohne  weitere  Erklärung  ersichtlich' 
wenn  wir  auch  die  Beantwortung  der  Frage,  auf  welche  Weise  jenes 
Cilral  in  den  Pflanzen  aus  den  Kohlehydraten  entsteht,  schuldig  bleiben 
müssen.  — Durch  Kochen  mit  Säure  geht  dann  das  Pseudojonon  unter 
Uinlagerung  der  Atome  in  Jonon  über,  das  bekannte  rieohende  Prinzip 
des  Veilchens,  der  Weinblüte  und  wahrscheinlich  auch  der  Teerose. 

Wie  früher  der  Veilchenduft  nur  aus  den  Veilchen,  so  konnte 
auch  das  Bittermandelöl,  der  Benzaldehyd,  nur  aus  bitteren  Man- 
deln produziert  werden,  während  es  jetzt  viel  billiger  und  leichter  in 
grijfseren  Mengen,  deren  besonders  die  Farbstofftechnik  bedarf,  aus 
dem  im  Steinkohlenteer  enthaltenen  Toluol  dargestellt  wird. 

Ferner  konnte  jenes  bekannte  wirksame  Prinzip  des  Wald- 
meisters, das  Cumarin,  früher  nur  aus  den  Tonkabohnen  (Dipterix 
odorata)  gewonnen  werden.  Jetzt  aber  wird  dieser  zur  Parfümerie 
des  Tabaks  ebenso,  wie  in  der  Toiletteseifenfabrikation  angewandte 
Riechstoff  aus  dem  nach  blühenden  Spiräen  duftenden  Salicylaldehyd 
synthetisiert.  Auch  der  charakterische  Bestandteil  des  aus  den  chi- 
nesischen Zimtcassiablättern  destillierten  Cassiaöles  sowie  der  des  auf 
demselben  Wege  aus  der  Rinde  des  eigentlichen  Zimtbaumes  ge- 
wonnenen Ceylon  - Zimtöles,  der  Zimtaldehyd,  wird  heutzutage 
aus  Benzaldehyd  synthetisch  erhalten.  Die  dem  Zimtaldehyd  ent- 
sprechende Zimtsäure  läfst  sieh  nun  ihrerseits  durch  eine  vorsichtige 
Behandlung  in  Phenylacetaldehyd  überführen,  einen  angenehm  nach 
Hyazinthen  riechenden  Stoff.  Damit  ist  aber  die  Reihe  der  wichtigeren 
künstlichen  Riechstoffe  noch  keineswegs  erschöpft.  So  erweist  sich 
der  so  allgemein  beliebte,  künstliohe  Fliederduft  als  Terpineol,  ein 
Alkohol,  der  sich  aus  Pinen,  dem  Hauptbestandteil  des  deutschen  und 
amerikanischen  Terpentinöls,  durch  Einwirkung  von  Säuren  gewinnen 
läfst,  ferner  der  Geruch  der  Tannen-  und  Fichtennadeln  als  Ester  des  sich 
in  der  Natur  vorfindenden  Kampfers  (Borneol).  Derselbe  ist  sehr  wohl 
von  dem  gewöhnlichen  oder  Japan-Kampfer  zu  unterscheiden.  Letz- 
terer enthält  nämlich  zwei  Wasserstoffe  weniger  als  das  Borneol  und 
läfst  sich  daher  durch  Reduktion  in  ersteren  überführen.  Der  Japan- 
Kampfer  selbst  wird  in  Japan  aus  den  Wurzeln  und  dem  Holze  des 
Kampferbaumes  durch  Wasserdampfdestillation  neben  Kampferöl  ge- 


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wonnen.  Aus  diesem  Begleitöl  des  Kampfers  kann  man  nun  ziemliob 
leicht  einen  in  der  Seifenparfiimerie  viel  angewandten  Stoff,  das  Safrol, 
isolieren.  Dieses  Safrol  lafst  sich  schliefslich  in  jenes  im  Heliotrop  be- 
findliche, hochgeschätzte  Heliotropin  oder  Piperonal  überfuhren,  und 
zwar  in  ähnlicher  Weise,  wie  der  charakteristische  Bestandteil  des  Nelken- 
öles, Eugenol,  in  das  rieohende  Prinzip  der  Vanilleschoto,  das  Vanillin. 

Das  Vanillin  findet  sich  bis  etwa  zu  2 pCt.  in  einer  den  tro- 
pischen Gegenden  Amerikas  angehörenden  Orchidee,  der  Vanille,  und  in 
einer  etwas  duftenden  Abart  derselben,  der  Vanillon  - Pflanze,  neben 
Heliotropin.  Das  gemeinschaftliche  Vorkommen  der  beiden  Riech- 
stoffe legt  den  Gedanken  an  eine  nahe  verwandtschaftliche  Beziehung 
nahe.  In  der  Tat  bestätigt  auch  die  wissenschaftliche  Forschung  diese 
nicht  allzu  fern  liegende  Vermutung.  Das  Vanillin  erweist  sich  nämlich 
als  Monomethyläther  des  Protocatecohualdehyds,  das  Piperonal  als  Mono- 
methylenäther desselben  Aldehyds.  Damit  ist  ein  gewisser  Zusammen- 
hang der  beiden  Riechstoffe  mit  dem  Protocatecchualdehyd,  sowie  den 
Gerbstoffen  und  dem  in  vielen  von  ihnen  enthaltenen  Brenzcatecchin 
gefunden,  zugleich  aber  auch  eine  Beziehung  des  Heliotropins  zur 
Piperinsätire,  die  ihrerseits  aus  dem  im  Pfeffer  befindlichen  Piperin 
gewonnen  werden  kann,  bewiesen.  Auf  Grund  dieses  wissenschaft- 
lichen Nachweises  können  wir  es  jetzt  einigermafsen  verstehen,  dafs 
man  vom  Guajacol,1)  dem  im  Buohenholzteer  enthaltenen  Methyl- 
äther des  genannten  Brenzcatecchins,  zum  Vanillin,  vom  Piperin  zum 
Heliotropin  gelangen  kann. 

Jedenfalls  war  mit  diesem  Ergebnis  ein  glänzender  wissenschaft- 
licher Erfolg  errungen,  der  allerdings  erst  im  Laufe  der  Zeit  durch 
die  spekulativen  Bestrebungen  der  Technik  auch  einen  praktischen  Wert 
erhielt.  So  wurde  das  Vanillin  eine  Zeitlang  aus  dem  in  den  Nadel- 
bäumen vorkommenden  Coniferin  durch  Oxydation  gewonnen.  Heut- 
zutage wird  es  hingegen  viel  billiger  aus  dem  Eugenol,  dem  charak- 
teristischen Bestandteile  des  schon  im  fünfzehnten  Jahrhundert  aus  den 
getrockneten  Blüten  des  Nelkenbaumes  destillierten  Nelkenöles,  auf 
ähnlichem  Wege  technisch  dargestellt,  wie  Piperonal  aus  Safrol.  Der 
Preis  des  Heliotropins  beläuft  sich  zur  Zeit  auf  etwa  30  M.  pro  1 Kilo, 
der  des  Vanillins  betrug  1876  7000  M.,  1897  nur  noch  120  M.  pro 
l Kilo  und  ist  seitdem  bei  dem  billigen  Preise  des  Nelkenöls  sicher- 
lich noch  weiter  gefallen.  Fürwahr  glänzende  Resultate,  die  nur  da- 
durch zustande  kommen  konnten,  dars  Wissenschaft  und  Technik  Hand 
in  Hand  gingen! 

')  Träger  des  Juchtenparfüms. 


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Die  Wahrheit  des  soeben  ausgesprochenen  Salzes  tritt  noch 
deutlicher  auf  dem  Gebiete  der  Farbstofftechnik  hervor.  Diese  hat 
heute  einen  so  gewaltigen  Umfang  erhalten,  dafs  man  Bände  schreiben 
müf8te,  wollte  man  ihre  Errungenschaften  nur  einigerraafsen  würdigen. 
Hier  wollen  wir  uns  lediglich  auf  die  beiden  aus  dem  Pflanzenreiche 
stammenden  künstlich  dargestellten  Produkte  beschränken:  auf  das 
in  der  Krappwurzel  enthaltene  Alizarin  und  den  aus  den  Indigufera- 
Arten  stammenden  Indigo.  Wer  hätte  es  sich  vor  30  Jahren  träumen 
lassen,  dafs  die  Synthese  der  beiden  genannten,  mit  Recht  höchst 
geschätzten  Farbstoffe  in  so  glänzender  Weise  gelingen  würde,  wer 
daran  gedacht,  dafs  die  Technik  dadurch  einen  so  gewaltigen  Einfluss 
auch  auf  die  kulturellen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  ausüben 
würde!  In  der  Tat  sind  die  noch  vor  Jahren  blühenden  Krapp- 
pflanzungen Südfrankreichs  und  Algiers  so  gut  wie  verschwunden, 
und  auch  die  Indigokulturcn  Indiens,  der  Sunda-Inseln  und  anderer 
Gebiete  werden  früher  oder  später  infolge  der  Errungenschaften  der 
neuesten  Zeit  durch  die  Kunst  des  Chemikers  vernichtet  werden. 

Was  zunächst  das  Alizarin  anbelangt,  so  fanden  Liebermann 
und  Oraebe,  dafs  sich  der  Krappfarbstoff  durch  Reduktion  (Glühen 
mit  Zinkstaub)  in  das  im  Teer  enthaltene  Anthracen  überführen  läfst. 
Auf  Grund  dieses  Resultats  glückte  dann  die  Synthese  auf  umge- 
kehrtem Wege  durch  Oxydation  des  Anthracens  zu  Anthrachinon  und 
durch  eine  geeignete  Behandlung  dieses  letzteren  Stoffes  in  einer 
Weise,  dafs  seit  jener  Entdeckung  der  wegen  seiner  „Echtheit“  ge- 
schätzte rote  Krappfarbstoff,  mit  dem  z.  B.  heute  noch  die  roten 
Hosen  der  französischen  Armee  gefärbt  werden,  viel  reiner,  billiger 
und  bequemer  ausschliefslioh  auf  synthetischem  Wege  hergestellt  wird. 

Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  beim  Indigo.  Nur  erforderte  es 
hier  eine  jahrzehntelange  Arbeit  und  ein  angestrengtes  Studium,  ehe  man 
mit  dem  natürlichen  Indigo  in  Konkurrenz  treten  konnte.  Erst  als 
man  das  im  Steinkohlenteer  enthaltene  Naphthalin  für  die  Indigofabri- 
kation zu  verwerten  verstand,  konnten  die  wissenschaftlichen  Arbeiten 
v.  Baeyers  und  die  praktischen  Studien  Heumanns  einen  in  die 
Wagschale  fallenden  Erfolg  davontragen.  In  dem  Naphthalin  nämlioh 
halte  man  ein  Rohmaterial  gefunden,  das  einerseits  billig,  andererseits 
in  beliebigen,  ja  fast  unbeschränkten  Mengen  zu  haben  ist.  Werden 
doch  jährlich  etwa  40 — 50000  Tonnen3)  Naphthalin  gewonnen,  wovon 
aber  bis  vor  kurzem  nur  15000  Tonnen  für  die  Technik  praktische 

*)  Brunck,  Festschrift. 


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Verwendung  fanden,  während  der  Rest  zu  Rufs  verbrannt  wurde. 
Dieser  Vorrat  an  Naphthalin,  früher  so  gut  wie  wertlos,  genügt  aber 
vollkommen,  um  daraus  den  für  den  Konsum  der  gesamten  Welt 
nötigen  Indigo  zu  gewinnen.  Auf  die  äufserst  komplizierte  Dar- 
stellung des  künstlichen  Indigos  einzugehen,  würde  hier  zu  weit 
führen;  es  sei  mir  vielmehr  gestattet,  auf  eine  Abhandlung  von 
Dr.  Hermann  Wagner  „Über  natürliche  Farben  und  Farbstoffe“3) 
zu  verweisen. 

Wie  bereits  hervorgehoben,  ist  das  Verschwinden  der  Indigo- 
kulturen nur  noch  eine  Frage  der  Zeit.  Deutschland  deckt  schon 
jetzt  vollkommen  seinen  eigenen  Bedarf.  Die  jährliche  Produktion 
der  Badischen  Anilin-  und  Soda  - Fabrik  entspricht  etwa  einem  Ge- 
biet von  100000  ha4)  Land.  Bald  werden  wir  auch  ernstlich  an 
einen  Wettbewerb  mit  dem  natürlichen  Indigo  auf  dem  grofsen  Welt- 
markt denken  können,  vielleicht  sogar  zum  Sogen  für  Indien  selbst, 
da  dann  die  ungeheuren  Flächen,  die  die  Kultur  der  Indigopflanzen 
erfordert,  für  das  periodisch  von  Hungersnot  gepeinigte  Land  zum 
Anbau  von  Nahrungsmitteln  zur  Verfügung  ständen. 

Deutschland  scheint  also  in  dieser  Beziehung  dazu  berufen  zu 
sein,  die  Rolle  des  schon  seit  Jahrtausenden  wegen  seines  Indigos 
berühmten  Indiens  zu  übernehmen.  Darauf  können  wir  mit  Recht 
stolz  sein,  aber  es  legt  dieser  gute  Ausblick  in  die  Zukunft  auch  die 
Mahnung  nahe,  nicht  allein  auf  technischem  Gebiete  weiter  zu  streben, 
sondern  vor  allem  auch  theoretisch  das  schon  stattliche  Gebäude  der 
modernsten  exakten  Wissenschaft  mehr  und  mehr  auszubauen  und 
in  der  Erkenntnis  von  dem  innersten  Wesen  der  Stoffe  der  Wahrheit 
näher  und  näher  zu  kommen.  Das  ernste,  ideale  Suchen  und  Streben 
nach  Wahrheit  der  deutschen  Chemiker  vor  allen  andern  war  es  ja 
in  erster  Linie,  das  diese  köstlichen  Früchte:  die  künstliche  Dar- 
stellung so  manoher,  für  uns  unentbehrlicher  Naturprodukte,  zeitigte. 

*)  Vergl.  Diese  Zeitachr.  Jahrg.  XIV,  Septemberheft  1902. 

*)  Brunck,  Festschrift. 


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Die  Erschöpfung  der  Energie.*) 

^ Von  Eduard  Sekal  in  Berlin. 

CoI^)er  Physikalische  Begriff  der  Energie  ist  nicht  blofs  eine  wissen- 
> Je)  schuftlicbe  Abstraktion,  sondern  hat  auch  eine  mehr  unmittel- 
bare, handgreifliche  Bedeutung.  Alle  Beziehungen  des  mensch- 
lichen Lebens  sind  nichts  anderes  als  ein  Markt  der  Energiegröfseo : 
mag  es  sich  um  Nahrungsmittel,  um  Beleuchtung  oder  um  geistige 
Leistungen  handeln,  stets  hat  der  Käufer  ein  wesentliches  Interesse 
an  den  Energiemengen,  die  er  bekommt  oder  eintauscht.  Ein  fran- 
zösischer Nationalökonom  hat  sogar  einmal  den  vorläufig  noch  paradox 
klingenden  Ausspruch  getan,  eine  ideale  Währung  müfste  sich  direkt 
auf  Energtewerle  beziehen.  Es  ist  die  grofse  Aufgabe  der  Technik 
(im  weitesten  Sinne  dieses  Wortes),  die  mannigfaltigen  Energievorräte 
der  Natur  in  möglichst  ökonomischer  und  zweckentsprechender  Weise 
auszunutzen.  Dieselben  sind  in  den  meisten  Fällen  nicht  direkt  ver- 
wendbar. Die  Luftströmungen  als  Orkane  und  Winde,  die  Erdbeben 
und  tellurischen  Katastrophen,  die  Kraft  der  Wasserfälle  und  Flüsse 
können  entweder  gar  nicht  oder  nur  mittelbar  in  unsern  Dienst  ge- 
stellt werden.  Ein  Kilogramm  Dynamit,  einen  Würfel  von  ungefähr 
90  Millimeter  Seite  einnehmend,  kann  schon  in  ca  0,00002  Sekunden 
gegen  2000000  Kilogrammmeter  Arbeitsleistung  entwickeln,  aber  auch 
diese  ungeheuren  Energievorräte  der  explosiven  Substanzen  können 
praktischen  Zwecken  nur  in  beschranktem  Mafse  dienstbar  gemacht 
werden.  Die  Naturkräfte,  deren  Wirken  wir  täglich  um  uns  beobachten, 
als  Wärme,  Licht,  Elektrizität,  chemische  Affinität  usw.  können 
wechselseitig  ineinander,  sowie  auch  in  mechanische  Arbeit  über- 
gehen, um!  die  Äquivalente  und  Gesetze,  nach  welchen  diese  Um- 
wandlung erfolgt,  sind  zum  Teil  mit  grofser  Genauigkeit  gemessen 
und  erkannt  worden.  Aber  zwischen  der  demokratischen  Gleich- 
wertigkeit der  Energieformen  beim  wissenschaftlichen  Experiment  und 

*)  f’rof.  Clemens  Winkler:  Wann  endet  das  Zeitalter  der  Verbren- 
nung? Tübingen  PtO’J. 


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ihrer  gleichmäßigen  praktischen  Verwendbarkeit  für  die  Bedürfnisse 
und  Zwecke  des  täglichen  Lebens  gähnt  eine  gewaltige  Kluft,  welche 
zu  überbrücken  eben  die  Hauptaufgabe  der  Technik  ist. 

Die  Form,  in  der  wir  die  Energie  in  den  meisten  Fällen  be- 
nutzen, ist  die  mechanische  Arbeitsleistung,  die  in  einer  bestimmten 
Richtung  vor  sich  gehende  Massenbewegung,  welche  einen  gewissen 
Widerstand  zu  überwinden  imstande  ist.  Und  da  ist  cs  zunächst 
klar,  dafs  die  mechanische  Arbeit  uns  fast  nirgends  in  der  Natur  in 
direkt  verwendbarer  Form  geboten  ist.  Die  gewaltigen  Massenver- 
schiebungen in  der  Natur,  als  Erdbeben,  Winde,  Meeres-  und  Flufs- 
strömungen,  sind  eben  wegen  ihres  gewaltsamen,  chaotischen  Charakters 
für  die  direkte  Verwendung  in  den  meisten  Fällen  gar  nicht  zugäng- 
lich. Um  uns  daher  z.  B.  in  der  Dampfmaschine  mechanische  Arbeit 
zu  verschaffen,  sind  wir  gezwungen,  den  Druok  des  Wasserdampfes 
bei  hoher  Temperatur  zu  benutzen,  also  zur  Wärme  und  zur  chemischen 
Energie  der  Kohle  unsere  Zuflucht  zu  nehmen.  Die  chemische  Energie, 
welche  die  räumlich  und  zeitlich  konzentrierteste  aller  Energieformen 
ist,  bildet  als  Energie  der  Kohle  im  Prozeß  der  Verbrennung  den 
weitaus  größten  Teil  unseres  disponiblen  Arbeitsvorrates. 

Dieses  rätselhafte,  scheinbar  wesenlose  und  doch  so  gewaltige 
Etwas,  welches  wir  zu  freier  Verfügung  in  erster  Linie  von  der  Kohle 
empfangen:  die  Energie  hat  nun,  wie  Bergbauforscher  Professor 
Winkler  in  der  eingangs  erwähnten  glänzenden  Abhandlung  schildert, 
dem  Menschen  den  Erdball  unterworfen.  Der  Leib  der  Erde  ist  um- 
gürtet mit  dem  ehernen  Schienennetze,  auf  dem  wir  mit  der  Ge- 
schwindigkeit des  Vogels  von  Land  zu  Land  fliegen;  unbekümmert 
um  Sturm  und  Wetter  durchfurchen  wir  in  schwimmenden  Palästen 
dio  Ozeane;  innerhalb  weniger  Augenblicke  verständigen  wir  uns 
durch  Drähte  mit  den  Antipoden;  wir  halten  das  gesprochene  Wort 
auf  der  Walze  des  Phonographen  fest  und  vermögen  es  noch  wieder- 
klingen zu  lassen,  wenn  sein  Sprecher  längst  nicht  mehr  unter  den 
liebenden  weilt.  All  diese  und  zahlreiche  andere  Errungenschaften 
legen  beredtes  Zeugnis  dafür  ab,  wie  fruchtbringend  das  Fragespiel 
der  Forschung  geworden  ist.  Der  Forschungs-  und  Erfindungsdrang, 
der  unser  Zeitalter  kennzeichnet,  hat  aber  eine  mächtige,  materielle 
Stütze  gefunden  in  der  Heranziehung  der  fossilen  Kohle  zur  Wärme- 
erzeugung. Sie  ist  es  im  Grunde  genommen,  der  wir  unmittelbar 
oder  mittelbar  die  verzeiohneten  Erfolge  verdanken.  Durch  die  Ver- 
brennung fossiler  Kohle  wurde  der  Mensch  instand  gesetzt,  im 
großen  Maßstab  Wärme  zu  erzeugen,  und  als  ihm  diese  einmal  zu> 

nimm«!  und  Brdo.  1Ö03.  XVI.  1 3 


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Verfügung  staml,  lernte  er  in  rascher  Aufeinanderfolge  sie  in  andere 
Energieformen  umzusetzen.  So  ist  denn  unser  Zeitalter  tatsächlich 
zum  Zeitalter  der  Verbrennung  geworden,  und  die  nie  dagewesene 
Kraft-  und  Maohtenttältung,  zu  welcher  der  Kulturmensch  während 
desselben  gelangte,  ist,  wenn  auch  nicht  ausschliefslich,  so  doch 
hauptsächlich  auf  die  Ausnutzung  fossilen  Brennmaterials  zurückzu- 
führen. 

Dies  ist  nach  Winkler  der  grofse  Wurf,  der  dem  19.  Jahr- 
hundert gelungen  wie  keinem  anderen  vorher.  Eigentlich  möchte 
man  staunen,  dafs  diese  Periode  des  Aufschwungs  so  spät  gekommen 
ist.  Jedenfalls  ist  es  Tatsache,  dafs  die  Menschheit  seit  ihrem  Be- 
stehen aohtlos  über  die  Schätze  an  fossiler  Kohle  unter  ihren  Füfsen 
dahingewandelt  ist,  ohne  sie  zu  heben  und  zu  verwerten.  Bei  allen 
alten  Kulturvölkern  war  es  immer  nur  die  Kraft  der  Muskeln  und 
Sehnen,  die  man  aufbot,  um  all  das  Grofse  zu  leisten,  was  uns  noch 
heute  in  gerechtes  Staunen  versetzt,  und  Tausende  von  Menschen  und 
Tieren  mögen  grausam  in  solcher  Kraflleistung  hingeopfert  worden 
sein,  um  Riesenwerke,  wie  den  Turm  zu  Babel  oder  die  Pyramiden, 
zu  schaffen. 

So  ist  es  geblieben  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  und 
darüber  hinaus.  Man  kannte  die  fossile  Kohle,  aber  man  verstand 
nicht,  sie  zu  vorwenden,  nicht  einmal  zur  Wärme,  viel  weniger  zur 
Krafterzeugung.  Es  ist  bekannt,  dafs  die  Benutzung  der  Zwiokauer 
Steinkohle  als  Heizmaterial  früher  verboten  war,  und  Winkler  er- 
innert sich  noch  aus  seiner  Jugend,  dafs  der  Vorschlag,  sie  als  Brenn- 
stoff beim  Glasschmelzen  zu  verwenden,  mit  Entrüstung  zurückgewiesen 
wurde,  in  der  Überzeugung,  dafs  damit  kein  anderes  als  ein  schwarzes, 
unbrauchbares  Glas  erhalten  werden  könnte. 

Aber  dann  kam  die  Entdeckung  der  Dampfkraft,  und  wie  mit 
einem  Zauberschlag  begann  alles  sich  zu  ändern.  Der  Pfiff  der  ersten 
Lokomotive  war  das  Signal  zum  Beginn  einer  neuen  Ära.  Und  in 
dem  Mofs,  als  Erfindung  um  Erfindung  aus  dem  Menschenhirn  heraus- 
wuchs, die  schwache  Menschenkraft  sich  vertausendfachte,  die  Mensch- 
heit selbst  sich  in  einen  rastlos  hin  und  her  flutenden  Strom  ver- 
wandelte, begann  man  den  fossilen  Brennstoff  zu  heben,  und  es  ent- 
faltete sich  eine  bergmännische  Tätigkeit,  wie  die  Welt  sie  ebenfalls 
noch  nie  zuvor  gesehen  hat.  Die  riesigen  Braunkohlenlager  Böhmens 
befinden  sich  bereits  in  einem  weit  fortgeschrittenen  Stadium  des 
Abbaues;  in  Brüx  allein  sollen  — allerdings  als  bisher  erreichtes 
Maximum  — an  einem  einzigen  Tage  des  Juni  1899  2038  Waggon- 


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35 


ladungen  zur  Abfertigung  gelangt  sein;  die  Steinkohlenforderung 
Englands  belief  sieh  1898  auf  220  Millionen,  diejenige  der  ganzen 
Erde  auf  etwa  600  Millionen  Tonnen.  Halten  wir  auch  weise  haus 
mit  dem  uns  in  den  Schufs  gefallenen  Gute?  Nach  Winkler  müssen 
wir  diese  Frage  entschieden  verneinen.  In  Wirklichkeit  hausen  wir 
darin  wie  der  Hamster  im  Weizen.  Wir  machen  es  eben  wie  jedes 
andere  Geschöpf  und  schwelgen  im  Überilufs,  so  lange  wir  ihn  haben. 
Sollen  wir  uns  deshalb  Skrupel  machen?  Eigentlich  wohl  nicht! 
Unsere  Aufgabe  kann  es  nicht  sein,  Vorsehung  zu  spielen;  was  wo- 
durch Fleifs  und  Geistcslat  errungen  haben,  ist  unser  rechtmäfsiges 
Eigentum,  und  im  übrigen  möge  das  bekannte  Wort  gelten:  Nach  uns 
die  Sintflut! 

Dennoch  empfinden  wir  es  zuweilen  wie  einen  inneren  Vorwurf, 
dars  wir  die  fossile  Kohlo  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  früher  oder 
später  drohende  Erschöpfung  ihrer  Fundstätten  durch  Verbrennung 
vernichten.  Es  ist  die  Stimme  der  Vernunft,  welche  sich  erhebt 
um  uns  daran  zu  mahnen,  dafs  das  kostbare  Gut,  welches  wir  jetzt 
lustig  veigeuden,  nicht  uachwächst,  sondern  dafs  es  unwiederbringlich 
verloren  ist.  Mögen  wir  uns  auch  um  viel  spätere  Generationen  nicht 
kümmern,  auf  die  Kinder  und  Kindeskinder  spinnen  sich  die  Fäden 
der  Liebe  und  Fürsorge  duoh  hinüber,  und  sie  sind  es  vielleicht  sohon, 
die  wir  schädigen,  wenn  wir  die  Kohle,  deren  sie  dereinst  zu  ihrer 
Existenz  bedürfen,  die  sie  vielleicht  aus  bitterer  Not  heraus  schmerz- 
lich herbeiwünschen  werden,  keineswegs  allein  dem  wirklichen  Be- 
dürfnis, sondern  iu  weitgehendem  Mafs  auch  den  Zwecken  des  Luxus 
und  des  Vergnügens  opfern,  noch  dazu  unter  Erzielung  einer  Wärme- 
ausnutzung,  ob  deren  Mangelhaftigkeit  uns  das  Gefühl  der  Scham  be- 
schleicheu  könnte.  Denn  wenn  auch  die  Verbrennung  der  Kohle  iu 
einer  Luft  vom  StickslofTgehalt  der  Erdatmosphäre,  namentlich  bei  An- 
wendung natürlichen  Essenzugs,  gar  nicht  ohne  namhafte  Wärineein- 
bufse  zu  bewirken  ist,  so  sollte  mau  doch  darauf  bedacht  sein,  diese 
auf  das  tunlichst  niedrige  Mafs  herabzuziehen.  Beim  Betrieb  in- 
dustrieller Heizanlagen  bat  man  in  dieser  Hinsicht  bereits  erfreuliche 
Fortschritte  gemacht,  in  Haus  und  Küche  aber  sündigt  man  in  haar- 
sträubendster Weise  weiter.  So  ist  z.  B.  nach  Winkler  die  Miß- 
handlung der  au  sich  ganz  zweckmäßig  konstruierten  eisernen  Re- 
gulieröfen  eine  fast  allgemeine;  man  öffnet  deren  Türen,  ruiniert  oft 
schon  bei  der  erstmaligen  Benutzung  ihre  Verschlüsse  durch  Über- 
heizung und  jagt  den  grössten  Teil  der  darin  entwickelten  Wärme  durch 
den  Schornstein  ins  Freie.  Derartige  Fälle  ließen  sich  viele  an- 

3* 


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36 


führen;  unvergleichlich  bedeutender  als  die  immerhin  geringfügige 
Verschwendung  aus  Leichtsinn  ist  freilich  diejenige,  welche  wir  not- 
gedrungen durch  die  Unvollkommenheit  unserer  technischen  Hilfs- 
mittel begehen.  Unter  unseren  technischen  Energiequellen  nimmt  gegen- 
wärtig die  Dampfmaschino  unbestritten  den  ersten  Platz  ein.  Man 
vergegenwärtige  sich  aber  einmal,  ein  wie  unvollkommenes  Ding  noch 
in  unserer  Zeit  der  hochstehenden  Technik  und  trotz  aller  im  ein. 
zelnen  bewunderungswürdigen  Erfindungen  eigentlich  diese  wesent- 
lichste Energiequelle  ist!  Von  der  Energie  der  verbrennenden  Kohle 
erhalten  wir  in  Gestalt  mechanischer  Arbeit  im  allerbesten  Fall  nicht 
mohr  als  15  pCt.  Noch  ungünstiger  stellen  sich  die  Verhältnisse,  wenn 
es  sich  um  die  Gewinnung  von  elektrischer  Energie  handelt.  Vielleicht 
wird  uns  dieses  Jahrhundert  die  von  den  Elektrochemikern  angestrebte 
Darstellung  der  «elektrischen  Energie  direkt  aus  Kohle“  bringen, 
welche  die  Dampfmasohine  ersetzen  und  die  Macht  des  Menschen  über 
die  Natur  vervielfachen  würde! 

Die  Frage  des  Zuendegehens  des  natürlichen  Bestandes  un 
fossiler  Kohle  ist  nach  Winkler  aus  dem  einfachen  Grunde  eine  sehr 
ernste,  weil  ja  die  Entwicklung  der  gegenwärtig  führenden  Kultur- 
staaten, das  Anwachsen  ihrer  Bevölkerung,  ja,  bis  zu  einem  gewissen 
Grad  die  Existenzfähigkeit  dieser  Bevölkerung  sich  auf  die  Wärmo 
und  Krafterzeugung  durch  fossile  Kohle  gründet.  Sowie  die  Kohlen- 
lager dieser  Staaten  aufgebraucht  sind,  mufs  jedenfalls  bei  ihnen  eine 
Reaktion  eintreten;  sie  können  nicht  mehr  an  der  Spitze  der  Kultur- 
bewegung bleiben;  auf  die  Periode  stürmischen  Aufschwungs  wird 
diejenige  des  Niedergangs,  einer  sich  zwar  allmählich  aber  unaufhaltsam 
vollziehenden  Verkümmerung  folgen.  Verarmung  und  Entvölkerung 
müssen  bei  ihnen  eintreten,  und  wenn  sie  noch  etwas  retten  in  dieser 
zukünftigen  Öde,  so  ist  es  der  Wissensschatz,  den  sie  im  „Zeitalter 
der  Verbrennung*  zusammengetragen  haben.  Er  wird  sie  vor  jähem 
Absturz  in  die  Tiefe  bewahren,  aber  sie  werden  „wie  ein  Vogel  mit 
gebrochenen  Schwingen  sein,  der  nur  noch  flattern,  aber  nicht  mehr 
fliegen  kann“. 

Die  viel  verbreitete  Ansicht,  dafs  es  dereinst  nicht  nur  gelingen 
werde,  den  Energiovorrat  der  Kohle  viel  besser  auszunutzen,  sondern 
auch  an  die  Stelle  der  Verbrennungswärme  fossiler  Kohle  eine  an- 
dere, gleichwertige,  ja  vielleicht  noch  reichlicher  fliefsonde  Energie- 
quelle zu  setzen,  verrät  nach  der  Ansicht  von  Winkler  zwar  ein  an 
sich  berechtigtes  Vertrauen  in  die  menschliche  Erfindungsgabe,  beruht 
aber  nichtsdestoweniger  zumeist  auf  einem  fundamentalen  Irrtum.  Denn 


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37 


die  fossile  Kohle  ist  ein  Produkt  der  Zustände,  wie  sie  früher  auf 
Erden  geherrscht  haben,  zu  einer  Zeit,  wo  die  Eigenwärme  unseres 
Planeten  eine  gröfsere  war  als  heute  und  die  Sonneneuergie  in  höherem 
Mafs  auf  ihm  zur  Wirkung  gelangte.  Wir  wissen,  dars  zu  jener  Zeit 
die  Erde  einem  mäohtigen  Treibhaus  glich,  dessen  dichte,  mit  Kohlen- 
säure und  Wasserdampf  beladene  Dunstatmosphäre  den  Nahrungs- 
speioher  für  eine  aus  wasserreicher  Niederung  gigantisch  empor- 
wuohernde  Flora  bildete,  wie  sie  nach  Ansicht  mancher  Astronomen 
jetzt  vielleicht  den  Planeten  Mars  bedecken  mag.  Was  heute  noch  in 
Überresten  von  dieser  früheren  Pflanzenwelt  vorhanden  ist,  bildet  den- 
jenigen Teil,  der  in  den  Perioden  des  Umsturzes,  wie  sie  der  Faltungs- 
prozefs  der  alternden  Erde  mit  sich  brachte,  verschüttet  und  begraben 
worden  ist;  ein  anderer  ist  in  Gestalt  von  gasförmigen  Vormoderungs- 
und Oxydationsprodukten  zur  Atmosphäre  zurückgekehrt  und  befindet 
sich  wieder  im  grofsen  Schöpfungskreislauf;  er  ersteht  — und  das 
Gleiche  ist  auch  bei  der  Verbrennungskohlonsäure  der  Fall  — immer 
wieder  in  den  Pflanzenformen  der  Gegenwart,  die  im  Vergleich  mit 
den  Riesen  der  Vergangenheit  den  Niedergang  des  pflanzlichen  Lebens 
auf  Erden  erkennen  lassen  und  wohl  zur  Verstärkung  der  irdischen 
Humusdecke  beizutragen,  nicht  aber  Kohlenflöze  zu  bilden  vermögen. 
Das  kohlenstoffhaltige,  pflanzenbildende  Material  ist  zwar  noch  vor- 
handen, aber  es  gelangt  nicht  mehr  zu  dem  Massenumsatz  und  der 
Massenaufhäufung  wie  in  früherer  geologischer  Zeit. 

So  lassen  sich  denn  nach  Winkler  die  Aufhäufungen  von  fos- 
siler Kohle  grofsen,  natürlichen  Akkumulatoren  vergleichen,  in  welohen 
sich  die  Sonnenenergie  vergangener  Zeiten  aufgespeichert  findet. 
Wenn  sie  einmal  erschöpft  sein  werden,  ist  der  Menschheit  das  Macht- 
mittel, welches  sie  in  unseren  Tagen  grofs  und  stark  gemacht  hat, 
für  immer  entzogen,  und  es  bleibt  ihr  nur  noch  die  unmittelbare 
Energiequelle  der  gegenwärtigen  Sonnenstrahlung.  Auch  diese  fliefst 
reichlich  weit  über  menschlichen  Bedarf,  aber  noch  verstehen  wir  es 
keineswegs,  sie  zu  fassen,  wir  werden  sie  auch  schwer  fassen  lernen, 
und  selbst  wenn  uns  das  gelingen  sollte,  wird  ihre  Handhabung  wahr- 
scheinlich an  Einfachheit  und  Befjuemlichkeit  derjenigen  der  brenn- 
baren Substanz  naebstehen.  Allerdings  hat  es  sich  gezeigt,  dafs 
Prophezeiungen  in  wissenschaftlichen  Dingen  zumeist  nur  dazu  da 
sind,  um  von  dem  nachströmenden  Flufs  der  Tatsachen  widerlegt  zu 
werden. 

So  sollte  es  denn  eigentlich  als  ein  Gebot  der  höheren  sittlichen 
Vernunft  erscheinen,  der  zwecklosen  Vergeudung  von  fossiler  Kohle 


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38 

mit  aller  Kraft  entjreg'en zutreten,  und  doch  würde  jede  hierauf  gerich- 
tete Mahnung  — worüber  sich  Winkler  keinen  Täuschungen  hin- 
gibt — in  den  Wind  gesprochen  sein.  An  eine  Beschränkung  des 
Kohlenverbrauchs  ist  fürs  nächste  gar  nicht  zu  denken,  im  Gegenteil, 
es  wird  derselbe  eine  fortgesetzte  Steigerung  erfahren,  wahrscheinlich 
sogar  in  einer  ungeheuren  Progression.  Hier  gibt  es  kein  Hemmen 
und  Eindämmen,  und  nur  zweierlei  läfst  sich  nach  Winkler  tun, 
nämlich  erstens:  eine  bessere  Ausnutzung  der  Verbrennungswärme 
anstreben,  und  zweitens:  die  Zeit  nutzen,  um  andere  Energiequellen 
zu  erschliefsen,  bevor,  wenigstens  lokal,  wirklicher  Mangel  an  Kohle 
eintritt. 

über  die  Frage,  ob  man  Anlass  hat,  jetzt  schon  um  die  baldige 
Erschöpfung  der  in  erreichbarer  Tiefe  auf  der  ganzen  Erde  vorhan- 
denen Kohlenvorräte  in  ihrer  Gesamtheit  besorgt  zu  sein,  können  die 
Ansichten  natürlich  sehr  auseinandergehen;  nach  der  Ansicht  von 
Winkler  wäre  diese  Besorgnis  eine  unbegründete.  Die  Kultur  wird 
nach  seiner  Meinung  noch  lange  im  Zeichen  der  Verbrennung  stehen, 
und  das  Zeitalter  der  Verbrennung  kann  eine  Dauer  von  vielen  Jahr- 
hunderten haben.  Es  ist  zwar  nicht  zu  leugnen,  dafs  der  Abbau  der 
his  jetzt  erschlossenen  Fundstätten  unheimlich  schnell  vorwärts  schreitet; 
da  aber  weite  Gebiete  der  Erde  kaum  bekannt  sind,  so  fehlt  uns  jedes 
Urteil,  ob  und  in  welohem  Umfang  sie  unterirdische  Kohlenschätze 
hergen.  Das  Innere  von  Asien,  Afrika,  Australien,  zum  Teil  auch  von 
Amerika  umfafst  ungeheure  Flächenräume,  die  in  dieser  Hinsicht  eine 
vollkommene  terra  incognita  bilden,  und  denen  gegenüber  die  bis  jetzt 
dem  Kohlenbergbau  erschlossenen  Gebiete  ob  ihrer  Kleinheit  fast  ver- 
schwinden. Andererseits  ist  man  fast  überall,  wo  man  in  fremdem 
Lande  auf  Kohle  schürfte,  glücklich  gewesen.  Die  Japaner  bezwangen 
die  Eingeborenen  der  Insel  Formosa  und  entdeckten  dabei  unvermutet 
mächtige  Kohlenlager,  die  kleine  deutsche  Besitzung  in  China  weist 
Kohle  auf,  Kohle  fand  sich  in  Niederländisch-Indien,  in  Südafrika,  in 
Neu-Seeland,  ja  selbst  in  den  arktischen  Gebieten,  in  Grönland,  auf 
der  Bäreninsel,  und  sie  lagert  vielleicht  auch  auf  Franz  Joseph-Land. 
— Wenn  somit  die  Zeit  wirklichen  Mangels  an  Kohle  noch  sehr  fern- 
liegend erscheint,  sobald  man  das  ganze,  weite  Gebiet  der  Erdober- 
fläche in  Betracht  zieht,  so  wird  sie  doch  nach  Ansicht  von  Winkler 
für  einzelne  Länder  und  Völker  bald  genug  heraufziehen,  und  für  diese 
ist  dann  wirtschaftlicher  Niedergang  die  unausbleibliche  Folge.  Solcher 
Niedergang  bedroht  Böhmen,  England,  ferner  Deutschland,  Belgien, 
Frankreich  und  andere  europäische  Staaten.  Aber  mit  ihm  endet 


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keineswegs  das  Zeitalter  der  Verbrennung  auf  Erden,  sondern  es  hat 
bis  auf  weiteres  nur  eine  Verschiebung  der  Verhältnisse  zur  Folge. 
Die  Kultur  wird  der  Kohle  nachziehen,  und  wenn  hier  blühende  In- 
dustriestätten in  Trümmer  sinken,  so  werden  anderwärts  neue  erstehen 
und  zu  glänzender  Entfaltung  kommen.  Das  Werden  und  Vergehen, 
welohes  den  Grundzug  alles  Naturgeschehens  bildet,  macht  sich  auch 
hier  geltend,  aber  der  kurzlebige  Mensch  mit  seinem  flüchtigen  Schick- 
sal ist  hierbei  nur  der  einzelne  Tropfen  einer  gewaltigen  Woge, 
der  ewig  zu  bestehen  scheint,  weil  — stets  ein  anderer  an  seine 
Stelle  tritt. 


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Langlebigkeit  und  Entartung. 

Von  B.  Kätscher  in  Budapest. 

\(Tm  „Forum“  erschien  jüngst  ein  bemerkenswerter  Artikel  von  W.  R, 
■!  Thayler,  in  welchem  dieser  Autor  seiner  Meinung  Ausdruck 
gibt,  dafs  es  Unsinn  sei,  zu  behaupten,  wir  stünden  unter  dom 
Reichen  der  Entartung;  das  19  Jahrhundert  habe  sich  vielmehr  vor 
allen  vorangegangenen  durch  die  Langlebigkeit  der  Menschen  aus- 
gezeichnet, denn  in  den  letzten  hundert  Jahren  habe  sich  laut  authen- 
tischer, statistischer  Daten  das  Leben  der  zivilisierten  Menschen  von 
dem  Durchschnittsalter  30  auf  40  Jahre  verlängert.  Die  vorherrschende 
Phrase,  dafs  wir  „zu  rasch  leben“,  entbehre  jeder  Berechtigung. 

Die  Langlebigkeit  kann  als  Prüfstein  des  Nutzens  der  modernen 
Zustände  gelten,  unter  ungünstigen  Lebensbedingungen  kann  niemand 
alt  werden.  Es  heifst  allgemein,  dafs  unter  allen  Genies  die  Dichter 
am  frühesten  sterben;  ihre  Feuerseele  zehre  den  Körper  auf.  Thayler 
beweist  mit  trockenen  Ziffern,  dafs  diese  These  nicht  stichhaltig  sei. 
Er  führt  46  Dichter  an,  die  ein  Durchschnittsalter  von  66  Jahren 
erreichten  — darunter  Shelley  und  Keats,  die  sehr  früh  starben. 
Landor  und  Manzoni  waren  89,  Whittier  85,  Tennyson  83, 
Wordsworth  80,  Börenger  und  Browning  87  Jahre  alt,  als  sic 
aus  dem  Leben  schieden.  Von  den  46  Diohternamen,  die  er  anführt, 
erreichten  nur  7 nicht  das  Durchschnittsalter  von  40  Jahren. 

Auoh  die  Maler  gehören  zu  einer  Menschenklasse,  der  man  ein 
leicht  erregbares  Temperament  zusohreibt,  was  das  Leben  abkürzen 
soll;  und  doch  starb  unter  39  Malern,  die  der  Verfasser  anfuhrt,  nur 
ein  einziger  unter  40  Jahren.  Das  Durchschnittsalter  der  anderen 
belief  sieh  auf  66.  Das  höchste  Alter  erreichte  Co rn elius,  or  starb 
mit  89,  nach  ihm  kommt  Watts  mit  80;  der  jüngste,  Fortuny,  starb 
mit  36  Jahren.  Das  Durchschnittsalter  von  30  Musikern  beträgt 
62  Jahre,  der  älteste  unter  ihnen  war  Auber,  der  es  auf  89  brachte, 
der  jüngste  Schubert,  der  schon  mit  31  Jahren  vom  Tode  hinweg- 


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strafft  wurde.  Von  den  dreifsig  erreichten  vier  ein  Altor  von  über  80, 
neun  zwischen  70  und  80,  sieben  zwischen  60  und  70,  während  nur 
vier  unter  30  Jahren  starben. 

Das  Durchschnittsalter  von  26  Novellisten  betrügt  63,  das  von 
40  anderen  Schriftstellern  67  Jahre.  66  Oeistlioho  — Erzbischöfe, 
Bischöfe  und  Kardinale,  bei  denen  man  ein  langes  Leben  voraussetzt, 
sind  ausgeschlossen  — haben  ein  Durchschnittsalter  von  66  Jahren 
erreicht;  an  der  Spitze  derselben  steht  der  verstorbene  Dr.  Martineau 
mit  der  netten  Jahreszahl  von  94  und  am  Schlufs  Itobertson,  der 
mit  37  Jahren  starb.  36  berühmte  Frauen  haben  das  nicht  zu  ver- 
achtende Durchschnittsalter  von  69  Jahren  zu  verzeichnen  — ein 
neuerlicher  Beweis  von  der  Zähigkeit  und  Ausdauer  des  Frauen- 
geschlechtes, welcher  das  Sprichwort  „Weiber  und  Katzen  sind  nicht 
umzubringen“  bekräftigt.  Die  Gründerin  des  ersten  Frauenklubs, 
Mary  Somerville,  steht  mit  92  Jahren  an  der  Spitze  der  Frauenliste. 
Emilie  Bronte  am  Schlufs  derselben  — sie  zählte  kaum  dreifsig, 
als  sie  aus  dem  Leben  sohied.  Von  den  35  berühmten  Frauen,  die 
unser  Autor  anführt,  erreichten  nur  fünf  nicht  das  Alter  von  60  Jahren, 
nicht  weniger  als  19  überschritten  die  Siebzig. 

Den  Rekord  der  Langlebigkeit  mufs  man  unbedingt  den  Ge- 
schichtsschreibern zuerkennen.  Thayler  führt  38  mit  einem  Durch- 
schnittsalter von  73  Jahren  an.  Der  Senior  unter  ihnen  war  Ranke 
mit  seinen  91  Jahren,  Buckle  war  genau  um  ein  halbes  Jahrhundert 
jünger,  als  er  das  Zeitliche  segnete.  Nicht  weniger  als  14  unter  diesen 
38  Geschichtsschreibern  wurden  80  Jahre  alt.  Das  Durchschnittsalter 
der  Philosophen  beträgt  65.  Die  Forscher  und  Erfinder  kommen 
gleich  nach  den  Geschichtsschreibern.  Das  Durchschnittsalter  der  68 
berühmtesten  Forscher  aller  Länder  beläuft  sich  auf  72  Jahre. 
11  unter  ihnen  — als  ältester  H umboldt  — starben  über  80  Jahre  alt. 

In  der  Welt  der  Praktiker  ist  der  Durchschnitt  ein  noch  höherer. 
Das  Durchschnittsalter  eines  Agitators  beträgt  69  Jahre;  es  pendelt 
zwischen  Kossuth  92  und  Lassalle  39.  Generale  und  Admirale 
weisen  in  Amerika  ein  Durchschnittsalter  von  66,  in  Europa  von 
71  Jahren  auf.  Der  älteste  Name  auf  der  Liste  ist  der  Radetzkys 
mit  92,  der  jüngste  der  Skobeleffs  mit  39  Jahren.  Die  Präsidenten 
der  Vereinigten  Staaten  erreichen  das  annehmbare  Durchschnittsalter 
von  67  Jahren,  die  britischen  Premierminister  das  von  77,  die  in  der 
Öffentlichkeit  stehenden  Briten  überleben  die  Amerikaner  derselben 
Lebensstellung  um  6 Jahre.  Das  allgemeine  Durchschnittsalter  von 


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112  europäischen  und  amerikanischen  in  der  Öffentlichkeit  stehenden 
Männern  beläuft  sich  auf  71  Jahre. 

Thayler  weist  weiterhin  nach,  dafs  die  Durchschnittslebensdauer 
der  angeführten  Gruppen  und  Individuen  69  Jahre  und  8 Monate 
beträgt: 

46  Dichter Durchschnittsalter  66  Jahre 


39  Maler  und  Bildhauer  . . „ 66  ., 

30  Musiker „ 62  „ 

26  Belletristen  „ 63  ., 

40  Schriftsteller  . . . • . „ 67  „ 

22  Geistliche „ 66  ,, 

•35  Frauen  ........  .,  69  „ 

18  Philosophen „ 65  ., 

38  Historiker .,  73  ,. 

58  Forscher  und  Erfinder  . „ 72 

14  Agitatoren .,  69  „ 

48  Generale  und  Admirale  . „ 71  * 

112  Staatsmänner .,  71  ,. 


ist  gleich  einer  Durchschnittssumme  von  68  Jahren  und  8 Monaten. 

Es  lärst  sich  einwenden,  dafs  eine  beträchtliche  Anzahl  dieser 
Persönlichkeiten  schon  im  18.  Jahrhundert  geboren  und  erzogen 
worden  ist  und  starb,  ehe  die  schädlichen  Zustände  des  19.  Jahr- 
hunderts zur  vollen  Geltung  kamen.  Das  ist  wohl  richtig,  aber  nach 
genauer  Prüfung  werden  wir  auch  finden,  dafs  die  meisten  der  vor- 
erwähnten Langlebigen  ihre  eigentliche  Berühmtheit  erst  im  Laufe 
des  19.  Jahrhunderts  erlangten.  Man  kann  füglich  1820  als  das  Jahr 
bezeichnen,  in  welchem  die  allgemeine  Aufnahme  der  Dampfkraft  eine 
Revolution  im  Fabriks-  und  Verkehrswesen  hervorrief.  Erst  1840 
begannen  die  Eisenbahnen,  Menschen  und  Waren  in  gröfseretn  Um- 
fange nach  allen  Weltrichtungen  zu  befördern.  1860  kam  der  elek- 
trische Telegraph  erst  zur  allgemeinen  Anwendung.  Seit  1860  ver- 
drängt eine  grofse  Erfindung  die  andere,  und  die  Menschheit  ist  in 
dio  Periode  der  Raschlebigkeit  hineingedrängt  worden.  Wir  können 
also  dreist  behaupten,  dafs  die  gegenwärtigen  Zustände  seit  etwa  einem 
halben  Jahrhundert  bestehen,  und  dafs,  wenn  sie  wirklich  schädlich 
wären,  ihre  Wirkungen  sich  an  jenen  Männern  hätten  geltend  machen 
müssen,  die  um  das  Jahr  1850  in  ihrer  Blüte  standen. 

Von  dieser  These  ausgehend,  erklärt  Thayler,  dafs  es  heutzu- 
tage keinerlei  Degenerationen  gibt:  „Die  großen  Übel,  die  uns  ent- 
gegentreten, sind : Armut,  ökonomische  Ungleichheiten,  Korruption  im 


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öffentlichen  Leben,  Betrügereien  im  Handel,  Spiel,  Unwissenheit,  Ver- 
nachlässigung der  Kinder,  ihre  unverantwortliche  Ausnutzung  in  den 
Fabriken,  Pauperismus,  Verbrechen  und  Sensationsjournalistik.  Aber 
standen  all  diese  Laster  aufser  einigen  wenigen  nicht  auch  zur  Zeit, 
da  Elisabeth  Königin  und  Borgia  Papst  wur,  in  vollster  Blüte? 
Waren  sie  denn  nicht  vor  dem  goldenen  Zeitalter  des  Augu  stus 
schon  alt?  Damals  herrschten  auch  noch  andere  Greuel,  welche 
mittlerweile  von  den  Kulturvölkern  ausgerotlet  wurden:  wie  religiöser 
Fanatismus,  welcher  gleichzeitig  an  hundert  Stellen  Feuer  entzündete 
und  es  jahrhundertelang  hell  lodern  liefs,  blutdürstiger  Aberglaube, 
dem  neun  Millionen  Seelen  zum  Opfer  fielen,  Sklaverei,  gewohnheits- 
mäfsige  Grausamkeit,  gerichtliche  Folterung  und  andere  Brutalitäten, 
deren  Namen  wir  gar  nioht  aussprechen  können,  Blutopfer,  Dienstbar- 
keit der  Frauen,  durch  Unwissenheit  und  Unvernunft  veranlagte  Ver- 
nachlässigung der  Kinder,  Krüppel  und  Irren,  Mifshandlung  der 
Tiere  u.  s.  w.“ 

Der  Irrtum  der  Degenerationsprediger  liegt  in  ihrer  falschen 
Diagnose.  Sie  gehen  darauf  aus,  aus  der  Liste  der  Genies  die  Ent- 
artung zu  beweisen,  indem  sie  jede  Abweichung  vom  Normalmenschen 
als  solche  bezeichnen. 

Aber  der  Normalmensch  ist  nur  eine  Abstraktion,  eine  Figur 
von  gewisser  Höhe,  gewissem  Gewicht  und  gewissen  Proportionen  — 
sonst  nichts.  Der  krankhafte  Psychologe  vergleicht  diese  Figur  mit 
dem  Genie  und  findet,  dafs  Darwin,  der  an  Übelkeiten  litt,  und 
Carl.vle,  der  ein  Dyspeptiker  war,  von  dem  Idealnormalmenschen 
abwichen,  also  degeneriert  gewesen  sein  mufsten 

Aber  wie  sehr  entstellt  er  mit  dieser  These  die  Wahrheit! 
Diese  bedeutenden  Männer,  wie  alle  anderen  geistigen  Koryphäen  seit 
Urbeginn  der  Welt,  waren  nicht  infolge  ihrer  Leiden  bedeutend,  son- 
dern trotz  derselben!  Krankheiten  gab  es  zu  allen  Zeiten  und  in 
allen  Ländern,  nur  schenkt  man  ihnen  heute,  wo  die  so  lange  ver- 
nachlässigte Hygiene  zum  Schofskind  der  Medizin  geworden,  mehr 
Beachtung.  Die  verminderte  Sterblichkeitsziffer  in  den  Qrofsstädten 
beweist  klar  und  deutlich,  dafs  das  so  beliebt  gewordene  Schlagwort 
„Degeneration  des  Menschengeschlechts"  nur  eine  falsche  Mär  ist, 
der  wir  keinen  Glauben  schenken  dürfen.  „Auf  zum  Licht,  zu  immer 
gröfserer  physischer  und  geistiger  Vollendung!“  sei  das  Schlagwort 
des  zwanzigsten  Jahrhunderts.  Die  Schwarzseher  sollen  uns  nicht 
bange  machen,  sie  sollen  tauben  Ohren  predigen! 


Die  nahezu  totale  Mondfinsternis  vom  u.  April  1903. 

Es  ist  bekannt,  dals  bei  totalen  Mondfinsternissen  der  verfinsterte 
Mond  auch  dem  unbewaffneten  Auge  meist  in  einem  braunroten 
Farbentone  sichtbar  bleibt,  dessen  Stärke  allerdings  von  Finsternis 
zu  Finsternis  wechselt.  Dieso  Beleuchtung  rührt  von  der  Erdatmo- 
sphäre her,  die  für  einen  Beobachter  auf  dem  Monde  während  einer 
solchen  Finsternis  die  völlig  schwarze  Scheibe  der  Erde  etwa  wie  ein 
rötlich  angehauchter  Heiligenschein  umschwebt.  Bei  der  letzten  Mond- 
finsternis war  nun  der  Mond  nicht  nur  dem  unbewaffneten  Auge  bis 
auf  das  schmale,  aus  dem  Schatten  hervorragende  Stückchen  des 
nördlichen  Bandes  völlig  unsichtbar,  sondern  auch  im  Fernrohr  nahm 
man  nur  eine  grauschwarze  Färbung  ohne  jeden  roten  Ton  wahr, 
wie  übereinstimmend  berichtet  wird.  Wenigstens  für  die  Beobach- 
tungen mit  dem  Fernrohr  kann  man  dies  nicht  durch  die  Übcrstrahlung 
der  schwachrot  leuohtenden  Sohattenpartien  von  seiten  des  sichtbar 
gebliebenen  Randstücks  erklären.  Man  hat  nun  in  ähnlichen  Fällen, 
wo  der  verfinsterte  Mond  ganz  verschwand,  zu  der  Annahme  ge- 
griffen, dafs,  wenn  grofse  Wolkenmassen  über  jenen  Gegenden  der 
Erde  schweben,  die  für  den  Mond  am  Rand  der  Erdscheibe  liegen, 
für  die  der  Mond  also  eben  auf-  oder  untergeht,  diese  Wolken  erheb- 
liche Teile  jener  Strahlen  der  unter-  bzw.  aufgehenden  Sonne  ab- 
fangen  würden,  die  dem  Monde  den  zarten  Schleier  um  die  Nachtseite 
der  Erde  weben.  Einerseits  werden  aber  solohe  Wolkensoharen  kaum 
längs  eines  gröfsten  Kreises  um  die  ganze  Erde  ununterbrochen  lagern, 
andererseits  reichen  auch  Wolken  nur  bis  in  geringe  Höhen,  und 
zwischen  und  über  den  Wolken  würde  noch  Licht  genug  durch- 
passieren. Der  Mondbewohner  könnte  nur  gerade  aus  diesen  Lücken 
die  Verteilung  der  'Wolkenmassen  in  diesem  gröfsten  Kreise  studieren. 

Herr  Johnson  in  Bridport  gibt  nun  eine  andere  Erklärung  für 
die  so  sehr  seltene  Erscheinung  der  völligen  Unsichtbarkeit  des  ver- 
finsterten Mondes  mit  unbewaffnetem  Auge,  die  immerhin  der  Beach- 


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45 


tung  wert  ist.  Er  glaubt  gefunden  zu  haben,  dafs  dieselbe  stets  bei 
Finsternissen  eintritt,  die  sich  ein,  höchstens  zwei  Jahre  nach  starken 
vulkanischen  Ausbrüchen  ereignen.  Wir  wissen  aus  den  Dämmerungs- 
erscheinungen,  welche  noch  lange  nach  dem  Ausbruch  des  Krakatoa 
1883  und  ebenso  nach  dem  des  Mont  Pelö  im  vorigen  Jahre  auf- 
traten, dafs  die  feinsten  Aschenteile  der  Auswurfprodukte  allmählich 
sehr  hoohschwebend  sich  rings  über  die  ganze  Erde  verteilen.  Be- 
finden sich  alBO  die  niederen  Schichten  der  Atmosphäre  nach  aufsen 
ganz  durch  eine  solche  volle  Kugelschale  feinster  Asche  abge- 
schlossen, so  erscheint  diese  allerdings  geeignet,  Sonnenstrahlen, 
welche  fast  tangential  durch  die  Kugelschale  gehen,  also  erhebliche 
Strecken  der  Aschenschicht  durohdringen  müfsten,  ganz  abzufangen. 
Johnson  stellt  in  Parallele  die  letzte  Mondfinsternis  mit  den  Kata- 
strophen im  Karaibischen  Meere  im  Vorjahre,  die  Mondfinsternisse 
vom  4.  Oktober  1884  und  30.  März  1885  mit  dem  Ausbruche  des 
Krakatoa  1883,  die  Finsternis  vom  10.  Juni  1816  mit  der  Eruption 
des  Mayon  auf  den  Philippinen  1814  und  führt  weiter  die  Mond- 
finsternis vom  18  Mai  1761  an,  von  der  Wargentin  in  Stockholm 
berichtet,  dafs  er  auch  im  Fernrohr  nicht  die  leiseste  Spur  des  ver- 
finsterten Mondes  zu  entdecken  vermochte.  Zwei  Jahre  vorher  fand 
in  der  Nacht  vom  28.  zum  29.  September  1759  die  Bildung  des  Vul- 
kans Jorullo  in  Mexiko  statt,  der,  270  km  von  der  See  und  320  km 
von  einem  tätigen  Vulkan  entfernt,  einen  Landstrich  von  12  Quadrat- 
kilometern Flächeninhalt  bis  zu  160  m emporwulstete,  in  welchem 
inmitten  zahlreicher  feuerspeiender  Kegel  6 Berge  von  400 — 500  in 
Höhe  entstanden,  deren  gröfster  Vulkan,  der  Jorullo,  bis  zum  Februar 
1760  seine  feuerspeiende  Tätigkeit  forlsetzte.  Zu  einer  noch  früheren 
Finsternis  mit  unsichtbarem  Monde  vom  April  1642,  die  Wcndelinus 
erwähnt,  pafst  ein  Ausbruch  des  Tunguragua  auf  den  Philippinen  1641, 
und  zu  einer  von  Tyoho  beschriebenen  von  1588  die  schrecklichen 
Ausbrüche  der  beiden  Fucgos  de  Guatemala  im  Jahre  1586.  Dio 
nächste  Mondfinsternis  vom  6.  Oktober  1903,  die  noch  unter  ähnlichen 
Bedingungen  wie  die  letzte  stattfinden  raufs  und  somit  als  Prüfstein 
der  Joh nsonschen  Theorie  dienen  kann,  ist  leider  nur  in  Asien  und 
Australien  sichtbar,  wird  also  nicht  viel  beobachtet  werden. 

Zur  Erklärung  einer  anderen,  ebenfalls  seltenen  Erscheinung  bei 
Mondfinsternissen  hat  der  jüngst  verstorbene  Observator  der  Stern- 
warte in  Bonn,  Fr.  Deichmüller,  noch  wenige  Woohcn  vor  seinem 
Tode  in  A.  N.  3866  Stellung  genommen.  Wir  meinen  die  Fortsetzung 
des  Erdschattens  außerhalb  der  Mondscheibe.  Er  beobachtete  die- 


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gelbe  aui  11.  April  d.  J.  beim  Fortscbreitea  des  Schaltens  auf  dem 
Monde  und  hält  sie  lediglich  für  eine  Kontrastwirkung,  die  nur  dann 
zum  Bewußtsein  kommt,  wenu  der  bereits  verfinsterte  Teil  des  Mondes 
einförmig  grau  ist.  Deichmüller  fand  die  Umgebung  des  Mondes 
neben  den  noch  leuchtenden  Partien  tiefblau,  in  der  Komplementär- 
farbe des  glänzendgelben  Mondes  erscheinend,  neben  den  bereits  ver- 
finsterten ebenso  bleigrau  wie  jene,  sogar  ohne  dafs  der  Mondrand 
erkennbar  war.  Die  beiden  verschieden  gefärbten  Teile  des  Uimmels- 
grundes  wurden  duroh  eine  scharfe,  bis  auf  einige  Bogenminuten  vom 
Mondrand  nach  aufsen  zu  verfolgende  Trennungslinie  geschieden,  die, 
lediglich  auf  Augentäuschung  beruhend,  doch  genau  in  der  Fort- 
setzung des  Schattenrandes  auf  dem  Monde  verlaufen  mußte.  Die 
Erscheinung  tritt  naoh  Deichmüller  nur  ein,  wenn  der  verfinsterte 
Teil  des  Mondes  nahezu  ganz  verschwindet,  also  sehr  selten;  ist  er 
rotbraun  gefärbt,  so  tritt  auch  neben  ihm  ein  wenngleich  schwächeres 
Blau  als  Himmelsgrund  auf  ohne  scharfe  Trennungslinie  gegen  die 
Partie  neben  den  noch  beleuchteten  Mondesteilen.  llp. 

$ 

Der  Begleiter  des  Polarsterns,  ein  Stern  9.  Gröfse,  scheint  nach 
Beobachtungen  von  Dr.  Jost  in  Heidelberg,  die  sich  vom  8.  No- 
vember 1902  bis  26.  Februar  1903  erstreckten,  veränderlich  zu  sein. 
Verglichen  mit  4 polnahen  Sternen,  deren  Helligkeit  soharf  gegen  die 
Miiller-Kempfschen  Plejadensterne  bestimmt  wurde,  ergaben  sich 
dabei  für  die  photometrischen  Größen  des  Polarisbegleiters  Werte, 
die  zwischen  8m  Ö2  und  9“1 64  liegen,  also  zweifellos  eine  wirkliche 
Lichlschwankung  anzeigen,  wenngleich  die  bisherigen  Beobachtungen 
die  Dauer  der  Periode  noch  nicht  sicher  erkennen  lassen.  Dafs  der 
Polarsternbegleiter  in  den  Meridianfernrohren  bei  Beobachtung  der 
Kulmination  des  Hauptsterns  sehr  verschieden  gut  sichtbar  war,  ist 
gewiß  schon  vielen  Astronomen  aufgefallen,  man  war  indes  wohl 
meistens  geneigt,  dies  allein  auf  die  wechselnde  Luftdurchsichtigkett 
zu  schieben.  Der  Begleiter  gehört  dem  System  des  Polarsterns  phy- 
sisch an;  er  hat,  seit  er  gemessen  ist,  Distanz  und  Positionswinkel 
gegen  den  Hauptstern  noch  nicht  merklich  geändert,  obwohl  sich 
dieser  um  0"042  in  R.  A.  jährlich  bewegt;  der  Begleiter  geht  also 
mit  ln  dem  Licht  des  Hauptslerns  2m2  bergen  sich  für  uns  be- 
kanntlich 3 Sterne,  die  das  Spektroskop  uns  offenbart  hat.  Zwei  von 
ihnen  laufen  in  4 Tagen  mit  3 km  Geschwindigkeit  im  Visionsradius 


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umeinander.  Das  System,  welches  sie  mit  einem  dritten  Stern  bilden, 
schwingt  in  mehr  als  15  Jahren  mit  etwa  6 km  Geschwindigkeit  um 
den  gemeinsamen  Schwerpunkt.  Hierzu  tritt  nun  die  Veränderlichkeit 
des  4.  Sterns  des  Systems,  der  optisch  trennbar  ist,  als  weitere  Eigen- 
tümlichkeit. Die  schärfere  Festlegung  des  letzteren  ist  wohl  auch 
Liebhabern  der  Astronomie  mit  geeigneten  Instrumenten  möglich. 

Rp. 

t 

Die  Drehung  der  Polarisationsebene  elektrischer  Wellen.  Nach- 
dem durch  die  genialen  Untersuchungen  unseres  unvergeßlichen  Lands- 
mannes Heinrich  Hertz  die  Ätherwellennatur  der  Strahlen  elek- 
trischer Kraft  nachgewiesen  war,  gelang  es  auch  bald,  alle  jene  Er- 


scheinungen an  den  elektrischen  Strahlen  nachzuweisen,  welche  man 
am  Licht  längst  kannte.  Schon  Hertz  selbst  stellte  die  Reflexion 
und  Brechbarkeit  elektrischer  Strahlung  fest.  Späterhin  gelang  es 
C.  Bose,  die  Drehung  der  Polarisationsebene  nachzuweisen,  indem  er 
die  elektrischen  Strahlen  durch  ein  Bündel  gedrillter  Jutefasern  schickte. 
Zieht  man  die  Analogie  der  Lichtstrahlen  heran,  so  findet  man  also 
die  Jutefasern  in  gleicher  Weise  auf  die  elektrischen  Strahlon  ein- 
wirkend, wie  etwa  Quarz  und  Zucker  auf  Lichtstrahlen.  Wie  wir  einer 
italienischen  Fachzeitschrift  entnehmen,  hat  nunmehr  Carbasso  die 
Drehung  durch  ein  fast  noch  einfacheres  Mittel  dargetan.  Schon  aus 
den  Untersuchungen  Righis  ging  mit  GewifBheit  hervor,  daß  sich 
Holz  elektrischen  Wellen  gegenüber  kristallähnlich  verhält.  Car- 
basso konstruiert  nun  aus  Holzplatten  folgendermaßen  einen  Apparat 
zur  Drehung  der  elektrischen  Polarisationsebene.  Er  schneidet  sechs- 
kantige Holztafeln  von  etwa  15  cm  Seiten  parallel  zu  den  Holzfasern 
heraus  und  legt  sie  in  größerer  Zahl  so  aufeinander,  daß  ihre  Fasern 


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um  120°  gegeneinander  gedreht  werden.  Nach  seinen  Angaben  ver- 
mögen Tafeln  von  2,5  cm  Dicke  allerdings  noch  keine  mefsbare 
Drehung  hervorzurufen.  Bei  einer  Dicke  von  5 cm  beträgt  aber  der 
nachweisbare  Wert  der  Drehung  schon  8 — 10°,  bei  noch  grüfserer 
Schichtdicke  natürlich  entsprechend  mehr.  Die  Drehung  erfolgt  in 
demselben  Sinne,  in  dem  auoh  die  Holztafeln  gegeneinander  versetzt 
worden  sind. 

Wir  haben  zum  besseren  Verständnis  des  Vorganges  eine  Skizze 
beigefügt,  welche  die  Drehung  der  Polarisationsebene  durch  den  Holz- 
plattensatz  C veranschaulicht.  Der  mit  einem  Oscillator  ausgerüstete 
Hertzsche  Spiegel  A sendet  nur  elektrische  Wellen  in  der  vertikalen 
Schwingungsebene  aus.  Der  Strahl  ist  also  bereits  durch  seine 
Entstehung  polarisiert  und  kann  daher  durch  den  Cohärerspiegel  B 
nur  dann  aufgefangen  werden,  wenn  dieser  ebenfalls  vertikal  steht. 
Sonst  läuft  er  sich  an  ihm  tot.  Dieser  Fall  würde  bei  der  in  der 
Figur  dargestellten  Situation  eintreten,  wenn  nicht  der  in  den  Strahlen- 
gang gebrachte  Holzplattensatz  eine  Drehung  der  Polarisationsebenc 
bewirkte.  Die  dargestellte  Wendung  um  90°  läfst  sich  allerdings 
nicht  erreichen;  der  Versuch  verläuft  vielmehr  folgendermarsen:  Die 
anfangs  gleichsinnig  stehenden  Spiegel  werden  gegeneinander  so  ver- 
dreht, dafs  der  Cohärer  gerade  nicht  mehr  anspricht.  Wird  dann  der 
Plattensatz  in  den  Gang  der  Strahlen  gestellt,  so  tritt  der  Cohärer 
sofort  wieder  in  Tätigkeit,  falls  die  Drehung  der  Holzlasern  im  Sinne 
der  vorangegangenen  Spiegeldrehung  besteht.  B.  D. 


♦ 


Verlag:  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — l>rock:  Wilhelm  Gronau'»  Bucbdrockerei  ln  Berlin  - Scbäneberg. 
Pfir  die  Bedaction  verantwortlic h : Dr  P.  Schvrnhn  io  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  an«  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Chereetsnngcrecht  Vorbehalten. 


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In  der  Höhlenwelt  von  St.  Canzian:  Letzte  Rekaschwinde. 

Aufcenonimen  von  Francesco  Hen<|iie  in  Triest. 


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Die  Höhlenwelt  von  St.  Canzian. 

_ __  Von  Dr.  P.  Srhwabn  in  Berlin. 

-6^  [5 1 her  allerlei  merkwürdige  Entdeckungen  im  Reiche  der  Unter- 
t/srTp  weit  konnte  man  jüngst  in  den  Tageblättern  lesen.  Im  Wald- 
stättenkanton Schwyz  wurde  durch  kühne  Forscher  eine  im- 
posante Höhlenwelt  erschlossen,  auf  Capri  gelang  es  den  Bemühungen 
eines  deutschen  Malers,  in  das  Felsenloch  einzudringen,  welches  den 
Zugang  zu  einer  neuen  Qrotte  an  der  grauen  Steilküste  dieses  Eilandes 
bildet.  Wunderliche  Hinge  sind  dabei  berichtet  worden.  So  konnte 
man  bei  dem  einen  Höblenfunde  von  einem  Niagara  lesen,  der  die 
unterirdischen  Räume  - durchtosen  soll,  bei  dem  anderen  von  einem 
Lichtzauber  und  einer  Praoht  der  Kalksinterbildungen,  denen  gegen- 
über das  Kleinod  Capris,  die  weltberühmte  „Qrotta  azzurra“,  weit  in 
den  Sohatten  tritt 

Etwas  sensationell  angehaucht  erscheinen  diese  Erzählungen. 
Vielleicht  eraohtet  man  es  ab  und  zu  für  geboten,  zu  den  übrigen 
grandiosen  Naturszenerien  der  Schweiz  und  des  Felseneilands  am 
Golfe  der  Parthenope  noch  ein  paar  andere  hinzuzufügen,  damit  die 
Wunder  vollständig  werden  und  der  Bergfex  in  diesen  beiden  Dorados 
der  reiselustigen  Welt  auch  bei  unterirdischen  Wanderungen  auf  seine 
Kosten  kommen  könne. 

Vorläufig  wird  der  Höhlen  fround  gut  tun  abzu  warten,  was  an 
diesen  Berichten  Wahres  bleibt  Er  kann  dies  um  so  mehr,  als  der 
krainische  und  der  küstenländische  Karst  genug  Gelegenheit  bieten 
die  Sohrecknisse  der  Unterwelt  kennen  zu  lernen. 

Wenn  von  den  Höhlen  des  Karstes  die  Rede  ist,  denkt  man  in 
erster  Linie  an  die  Adelsberger  Qrotte.  Sie  ist  weltbekannt;  sohon 
auf  der  Sohulbank  haben  wir  von  ihr  gehört.  Bereits  im  Jahre  1213 

Bimmel  un.l  Kr.ln  IW».  XVI.  2.  4 


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BO 


wurde  sie  von  Mensohen  betreten,  und  seitdem  die  erste  gründliehe 
Beschreibung  von  dem  Krainer  Chronisten  Valvasor  1689  gegeben 
wurde,  ist  sie  vielfaoh  Gegenstand  begeisterter  Schilderungen  geworden. 
In  dem  Mähe  wie  der  Ruhm  dieser  Höhlenwelt  verkündet  worden  iet, 
wird  sie  von  Soharen  Fremder  besucht.  Zu  ihr  wandelt  der  Brite, 
der  an  den  Rasaltsäulen  der  Fingalsgrotte  gestanden,  zu  ihr  der  Skan- 
dinavier, dem  der  Donner  seines  Rjukanfos  in  den  Ohren  gellt,  ihr 
opfert  auoh  der  Deutsche  gern  ein  paar  Stunden,  wenn  er  über  das 
öde  Steinmeer  des  KarsteB  der  blauen  Adria  zustrebt. 

Die  Adelsborger  Grotte  verdankt  ihren  Weltruf  nicht  nur  ihrer 
eigenartigen  Natur,  sondern  auoh  der  rührigen  Tätigkeit  der  Grotten- 
verwaltung, die  für  das  „Wunder  von  Adelsberg“  geschickt  Reklame 
zu  machen  verstand.  Findet  man  doch  auf  allen  Stationen  der  öster- 
reichischen Südbahn,  selbst  in  Tirol,  mächtige  Plakate,  die  den  Preis 
der  Grotte  verkünden,  die  von  den  bezaubernden  Reizen  einer  unter- 
irdischen Wanderung  bei  magischer  ßeleuohtung  erzählen  und  endlich 
all’  jenen  Komfort  versprechen,  den  Adelsberg  in  Form  vornehmer 
Hotels  darbietet. 

Ein  wenig  Reklame  für  Adelsberg  ist  schon  deshalb  geboten, 
weil  nicht  weit  davon  im  küstenländischen  Karst  ein  anderes  Natur- 
wunder viel  von  sich  reden  macht.  Es  sind  die  Rekahöhlen  bei 
St.  Canzian  sowie  die  im  Jahre  1884  entdeckte  Kronprinz  Rudolf-Grotte 
unweit  der  SUdbahnstation  Divaöa.  An  Gröfse  und  Wildheit  übertreffen 
diese  Rekahöhlen  bei  weitem  die  Adelsberger  Grotte  und,  was  ihnen 
an  Gestaltenreiohtum  abgeht,  das  ersetzt  die  nahe  Kronprinz  Rudolf- 
Höhle  durch  wundervolle  Tropfsteinbildungen.  Eins  haben  aber  die 
küstenländischen  Grotten  sioher  voraus:  den  Reiz  der  Ursprünglich- 
keit und  Neuheit.  Denn  wohin  der  TouristenBtrom  sich  ergiefst,  wo 
man  einer  gewaltigen  Natur  durch  allerlei  KunstBtüoke  und  LichtefTekte 
Zwang  antut,  wie  dies  in  Adelsberg  geschieht,  da  wird  der  Besuch 
der  Unterwelt  zu  einer  Salonpromenade;  der  Wanderer  empfindet 
nichts  mehr  von  dem  angenehmen  Grausen,  das  ihn  sonBt  wohl  beim 
Betreten  der  Hallen  Proserpinas  beschleicht. 

Tatsache  ist  auch,  daf6  die  Adelsberger  Grotte,  bevor  sie  elektrisch 
beleuohtet  wurde,  aufserordentlioh  viel  unter  dem  Qualm  des  Faokel- 
lichtes  zu  leiden  gehabt  hat.  So  manche  der  früher  herrlich  glitzern- 
den Tropfsteinbildungen  sind  dadurch  in  ein  nichtssagendes  graues 
Gewand  gehüllt  worden.  Die  Höhlen  von  Divaöa  prangen  dagegen 
in  reinster  Jungfräulichkeit,  sie  sind  von  dem  Schwarm  der  Touristen 
fast  unberührt  geblieben,  denn  merkwürdigerweise  hat  Bich  die  Ge- 


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meindeverwaltung  von  Divaca  nicht  dazu  verstehen  können,  für  das 
„Weltwunder  der  Reka“  die  Reklametrommel  zu  schlagen. 

Wir  werden  heute  unseren  Lesern  von  den  Rekakatarakten  be- 
richten und  von  den  Säulenaltären  der  Qeister,  welche  dort  in  finsteren 
Nischen  so  vieler  noch  unbetretener  Katakomben  stehen.  Wie  eine 
moderne  Robinsonade  klingt  die  Erforschung  dieser  Höhlenwelt. 

Aber  bevor  wir  in  das  unterirdische  Labyrinth  eindringen,  ein 
paar  Worte  über  die  Gegend  von  Divaöa  und  St.  Canzian  sowie  über 
die  merkwürdige  Natur  des  Karstes. 

Die  Landschaft,  welche  „Karst“  benannt  wird,  beginnt  unmittelbar 
südlich  von  der  krainiscben  Hauptstadt  Laibach.  Indessen  sind  in 
Krain  die  typischen  Erscheinungen  der  Verkarstung  durch  üppigen 
Waldbestand  teilweise  maskiert.  Der  Reisende,  welcher  auf  der  Süd- 
bahn nach  Triest  oder  Fiume  fährt,  merkt  in  Krain  kaum  etwas  von  den 
Steinwüsten  und  den  dort  sich  geheimnisvoll  öffnenden  Verliesen,  die 
in  das  Reich  der  Nacht  führen.  Nur  ab  und  zu  erblickt  er  zwischen 
urwaldäbnliohen  Tannen  und  Buchen  kreisförmige  Bodenvertiefungen, 
die  sogenannten  Dolinen,  als  einzige  Anzeiohen  der  unterirdischen 
Zerklüftung.  Erst  nachdem  die  Stationen  Adelsberg  und  St  Peter  er- 
reicht sind,  beginnt  die  eigentliche  Hochfläche  des  Karstes,  und  hier 
sieht  man  sich  rings  umgeben  von  versteinerten  Wogenbergen  und 
-Tälern;  es  ist  ein  Felsenmeer  im  geologischen  Sinne.  Moränenartig 
sind  die  grauen,  flimmernden  Kalktrümmer  daselbst  über  die  Land- 
schaft zerstreut  sie  verleihen  ihr  das  Aussehen  eines  maurisohen  Fried- 
hofes mit  stellenweise  aufgerichteten  Monolithen.  Dem  Auge  macht 
dieses  Bild  chaotischer  Zerstörung  den  Eindruck  als  hätten  die  Ele- 
mente hier  furchtbar  gehaust  Doch  ist  der  Prozefs  der  Verkarstung 
kein  gewaltsamer  gewesen,  Bondern  ein  verhältnismäfsig  langsamer; 
er  ist  auch  nur  zum  geringsten  Teil  durch  die  Entwaldung  der  Hoch- 
fläohe  bedingt  worden.*)  Der  Grund  der  Bodenzertrümmerung  liegt 
vielmehr  in  den  klimatischen  Verhältnissen  und  in  der  Qesteins- 
beechaffenheit  selbst,  welche  einer  fortschreitenden  oberirdischen  und 
unterirdischen  Erosion  die  Wege  bahnten.  Dem  Walten  dieser  Natur- 
kräfte ist  es  zu  danken,  dafs  einer  der  merkwürdigsten  und  sehens- 
würdigsten Landstriche  geschaffen  wurde,  zerrüttet  und  unterwühlt, 
voll  Höhlen  und  Riesenquellen  mit  landschaftlichen  Kontrasten,  welche 
die  kühnste  Phantasie  vergeblich  ersinnen  würde. 

*)  Dafs  die  Venezianer  in  Istrien  und  Dalmatien  ihren  gewaltigen  Holz- 
t>edarf  gedeckt  haben,  stellt  fest.  Ob  aber  dadurch  die  Verödung  nnd  Ver- 
karstung dieser  Länder  herbeigefiihrt  ist,  erscheint  zweifelhaft,  ln  Dalmatien 
haben  die  Ziegen  sicherlich  mehr  den  Waldbestand  vernichtet 

4* 


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Mitten  in  dieser  steinigen  Wildnis  des  Karstes,  etwa  aut  halbem 
Wege  zwischen  St.  Peter  und  Triest,  liegt  die  Südbahnstation  Divaöa. 
Hier  entsteigen  wir  dem  Zuge,  um  nach  St.  Canzian  zu  wandern.  Zu- 
vor aber  wollen  wir  in  der  dicht  beim  Bahnhof  liegenden  Wirtschaft 
von  J.  Mahortschitsch  einkehren  und  uns  bei  einem  Qlase  Wein  auf 
die  Sehenswürdigkeiten  der  Unterwelt  ein  wenig  vorbereiten  lassen. 
Der  ortskundige  Gastherr,  der  den  stolzen  Titel  eines  „Grottenvaters“ 
führt,  weifs  allerlei  merkwürdige  Dinge  über  die  säulengeschmüokten 
Hallen  der  nahen  Kronprinz  Kudolf  - Grotte  zu  berichten,  deren 
Entdecker,  Gregor  Siberna,  sich  inzwischen  eingefunden  hat,  um 
uns  nötigenfalls  als  Führer  zu  dienen.  Auch  der  schauerliche  Ab- 
grund des  Schlangenloohes,  der  slavischen  „Kacna  Jama“  — ein  Ab- 
grund, welcher  dicht  beim  Orte  200  m in  die  Tiefe  reicht  und  sich 
kilometerlang  unter  Divaöa  hinzieht  — , bildet  den  Mittelpunkt  des  Ge- 
spräches. Nur  von  den  Höhlen  bei  St.  Canzian  will  unser  biederer  Wirt 
nichts  wissen;  dies  verbietet  ihm  selbstverständlich  der  Lokalpatriotis- 
mus. Dafs  auch  der  löbliche  Magistrat  von  Divaöa  während  unserer 
Unterhaltung  in  die  Diskussion  gezogen  und  dessen  mangelnde  Unter- 
nehmungslust im  Gegensatz  zu  der  Rührigkeit,  die  man  in  Adelsberg 
entfaltet,  nicht  gerade  sehr  vorteilhaft  beurteilt  wird,  darf  ich  wohl 
verraten;  ja  ioh  mufs  dem  Grottenvater  von  Divaöa  durchaus  bei- 
stiminen,  wenn  er  sich  und  dem  Orte  goldene  Borge  von  dem  not- 
wendigen Requisit  jeden  Erfolges,  von  ein  wenig  Reklame  für  die 
Höhlenwelt  dieser  Gegend,  versprioht. 

Vorläufig  vertrösten  wir  unseren  Wirt  damit,  dafs  wir  die  Kron- 
prinz Rudolf-Grotte,  vielleicht  auch  die  Kaöna  Jama  bei  der  Rückkehr 
würdigen  werden  und  treten  die  Wanderung  nach  Sh  Canzian  an. 
Sie  führt  uns  zunächst  nach  dem  Dörfchen  Gradisohce  mitten 
in  den  Bereich  der  eigenartigen  Karstszenerien.  Es  ist  nicht  über- 
trieben, wenn  man  behauptet,  dafs  an  keiner  Stelle  des  grofsen  Alpen- 
gebietes sioh  dem  Reisenden  eine  derartige  Überraschung  darbietet 
wie  hier.  Geht  man  grofsen  und  wilden  Szenerien  des  Hochgebirges 
entgegen,  so  naht  man  sich  ihnen  in  keiner  Weise  unvorbereitet. 
Hier,  wo  wir  die  Wunder  der  Unterwelt  schauen,  ist  es  anders!  Auf 
fast  ebener  Fläche  sohreitet  der  Wanderer  fort,  und  die  gewaltigen 
Schrecknisse  der  zerrissenen  und  zerklüfteten  Erdkruste  enthüllen 
sioh  hier  nicht  über  seinem  Haupte,  sondern  zu  seinen  Füfseu. 

Einen  Anblick,  wie  man  ihn  auf  der  Mondoberlläche  haben 
würde,  bietet  die  Rundschau  bei  Gradisohce.  Wir  schauen  in  ein 
Gewirr  von  kraterähnlichen  Schlünden,  wir  stehen  vor  einer  ganzen 


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Kette  von  Dolinen,  deren  gröfste,  die  Jablana,  nioht  weniger  als  380  m 
in  die  Tiefe  reicht  Diese  Dolinen  sind  zugleich  die  „Blumentöpfe 
des  Karstes“.  In  ihnen  grünt  und  blüht  es,  während  oben  in  der 


St.  C&nsian  mit  Dolinen. 

Aufgenommen  von  Francesco  Bonquo  in  Triest. 

Steinwüste  nur  spärliches  Buschwerk  gedeiht,  über  welches  im  Winter 
die  Bora  fegt  die  den  Baumwuchs  nicht  duldet. 

Bald  hinter  Gradisohce  wird  die  grofse  Doline  von  St.  Canzian 
erreicht,  das  eigentliche  Wunder  dieser  Gegend,  welches  die  Geheim- 
nisse der  Keka  umschliefst  Wir  betreten  am  Westrande  dos  Felsen- 


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64 


kessels  einen  aufgemauerten  Aussichtspunkt,  die  sogenannte  Stephanie- 
warte (Fig.  S.  63).  Von  dort  eröffent  Rioh  ein  imposanter  Einblick  in 
den  zerklüfteten  Kiesensohl  und.  ln  der  Tiefe  desselben,  160  m unter 
uns,  verschwindet  die  Keka  im  Reiche  der  Nacht,  nachdem  sie  uns 
gegenüber  unter  dem  Plateau  von  St,  Canzi&n  ihrem  finsteren  Ge- 
fängnis entschlüpft  ist  Wir  schauen  in  die  dunklen  Grotten  und 
Gänge,  in  die  schwarzen  Verliese,  durch  welche  der  Strom  rauscht, 
wir  hören  das  Summen  seiner  stürzenden  Wasser  am  Grunde  des 
Schlundes,  aber  die  Situation  ist  schwer  zu  begreifen,  denn  ein  Wirrsal 
von  Felsstaffeln  und  Kiffen  zwischen  Buschwerk  und  Blöcken  ver- 
deckt uns  den  Blick.  Das  Ganze  wirkt  so  verwirrend,  dafs  man  sich 
nur  mit  Hilfe  einer  guten  Karte  zu  orientieren  vermag  (siehe  das 
Kärtohen  S.  65).  Die  Doline  selbst  ist  durch  einen  60  m hohen  Querriegel 
in  zwei  Kessel  getrennt,  in  die  sogenannte  „Grofse  und  Kleine  Dolina“. 

Die  Reka,  welche  dort  drüben  unter  dem  Plateau  von  Sh 
Canzian  nach  kurzer  Gefangenschaft  aus  dem  Felsen  kommt,  durob- 
strömt  zuvörderst  den  kleinen  Trichter,  durchbrioht  mit  Biaffelförmi- 
gem  Gefälle  den  erwähnten  Riegel  unter  einem  Felsentor,  um  10  m 
tief  in  den  grofsen  Trichter  hinabzustürzen  und  gleich  darauf  ein 
teichartiges  Becken  in  demselben  zu  bilden.  Alsdann  iliefst  sie  mittels 
eines  Kataraktes  aus  letzterem  ab  und  verschwindet  am  Grunde  der 
160  m hohen  Dolinenwand  fast  unmittelbar  unter  der  Stephaniewarte, 
auf  der  sieb  unser  Standpunkt  befindet.  Hier  tritt  nun  der  Flufs 
seine  rätselhafte  Wanderung  in  die  Unterwelt  an.  Die  nächtlichen 
Hallen,  die  er  durchrausoht,  hat  man  nur  etwa  1 Kilometer  verfolgen 
können;  sein  weiteres  Schicksal  ist  ein  tiefes  Geheimnis,  denn  nur 
Vermutungen  sind  es,  dass  man  in  dem  zwischen  Duino  und  Mon- 
falcone  in  die  Adria  mündenden  Timavo  den  Abflufs  dieses  merk- 
würdigen aoherontisohen  Wassers  gesucht  hat. 

Die  Umgebung  der  Doline  fesselt  nicht  minder  den  Blick  wie  das 
Wunder  der  Tiefe.  Drüben,  jenseits  dos  Riesensohlundes,  thront  auf 
gewaltiger  Felsmauer  das  Dorf  St.  Canzian  mit  dem  schlanken  Turm 
des  dem  heiligen  Cantianus  geweihten  Kirchleins.  Und  weiter  sohweift 
das  Auge  gen  Osten  über  die  gleifsenden  Steintrümmer  bis  zum  fernen 
Horizont,  wo  das  weifse  Haupt  des  Krainer  Schneeberges  und  die 
graue  Felsenmauer  des  Nanos  in  den  blauen  Himmel  des  Südens 
ragen.  Es  ist  ein  formenreiches,  überraschendes  Bild;  ein  heroischer 
Zug  liegt  in  dieser  Landschaft  des  Karstes! 

Doch  nun  hinab  in  die  gewaltigen,  von  dem  Toben  und  Rauschen 
der  Reka  erfüllten  Dome.  Gegenüber  der  Stephaniewarto,  dicht  neben 


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56 


St.  Canziau  befinden  eich  die  wenigen  Häuser  von  Malawun.  Hüne 
darunter,  das  Gasthaus  des  J.  Gombatsoh  .Zu  den  Canzianer  Grotten", 


bildet  den  Sammelpunkt  aller  Höhlenfahrer.  Hier  findet  man  neben 
guter  Verpflegung  Führer  für  die  unterirdische  Wanderung  sowie  die 
dazu  nötigen  Requisiten,  als  Kerzen,  Fackeln,  Magnesiumband  u.s.  w.  Die 


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66 


schlichten  Räume  des  Wirtshauses  haben  manche  hochromantisohe  Ge- 
schichte erzählen  hören,  als  vor  wenigen  Jahren  kühne  Pioniere  die 
ersten  Entdeckungsfahrten  mit  ihren  gruseligen  Zwischenfällen  in  das 
naohterfüllte  Reioh  der  Reka  unternahmen.  Wer  heute  dasselbe  be- 
sucht, hat  es  freilich  leichter.  Durch  die  Fürsorge  der  Sektion  Küsten- 
land des  Deutschen  und  österreichischen  Alpenvereins  sind  die  be- 
denklichsten Hindernisse  beseitigt  und  die  Pfade  gebahnt  worden. 
Zwar  wird  dafür  eine  kleine  Eintrittsgebühr  erhoben,  doch  kommt’die- 
selbe  lediglich  der  weiteren  Ersohliefsung  und  Erforschung  der  Höhlen- 
welt zugute.  Wir  leisten  die  bescheidene  Beisteuer  um  so  freudi- 
ger, als  es  noch  gewaltiger  Mittel  bedarf,  um  ‘die  Rekawunder  der 
Touristenwelt  voll  zu  ersohliefsen,  und  die  Höhlenwanderung  an  sich 
ein  äufserst  billiges  Vergnügen  ist.  Der  Führerlohn  beträgt  für  den 
einzelnen  Besucher  nur  20  kr  pro  Stunde,  und  wenn  mehrere  Zu- 
sammengehen, zahlt  jede  Person  gar  nur  10  kr  pro  Stunde.  Gewifs 
billige  Verhältnisse,  wenn  man  bedenkt,  wie  tief  man  oft  in  die  Tasche 
greifen  mufs,  um  unter  kundiger  Leitung  einen  Bergriesen  der  Sohweiz 
zu  erobern! 

Ehe  wir  in  die  Doline  hinabsteigen  und  den  Spaziergang  durch 
die  unterirdischen  Räume  antreten,  bedarf  es  noch  einer  kleinen  Orien- 
tierung auf  der  Oberwelt.  Dort  hinter  St.  Canzian  liegt  die  Stelle,  wo 
die  Reka  zuerst  ihren  nächtliohen  Lauf  beginnt,  wo  sie  unter  dem 
Felsenplateau  des  genannten  Ortes  vorsohwindet.  Dorthin  wollen  wir 
wandern  I Unterwegs  treffen  wir  gleich  hinter  dem  Friedhof  von 
St.  Canzian  auf  einen  merkwürdigen  Nalurschaoht;  es  ist  der  Abgrund 
der  Okrogtica,  ein  Looh  von  unheimlicher  Tiefe,  aus  dem  das  Brausen 
des  acherontisohen  Wassers  an  unser  Ohr  dringt.  Unser  Führer  er- 
greift einen  Stein  und  wirft  ihn  in  den  Trichter  hinab;  erst  nach  fünf 
Sekunden  verkündet ' dumpfes  Krachen  die  Ankunft  desselben,  und 
polternd  fällt  er  dann  über  eine  Steinhalde  in  das  Wasser  hinab.  Es 
dünkt  eine  Kühnheit,  dafs  der  Mensch  es  gewagt  hat,  auf  diesem  unter- 
wühlten Boden  ein  ganzes  Dorf  anzubauen. 

Gleich  hinter  der  Okroglica  fällt  das  Plateau  von  St  Canzian  sehr 
steil  gegen  den  nun  sichtbar  werdenden  Rekaflufs  ab.  In  tief  ein- 
geschnittenem Bette  sohlängelt  sich  der  Strom  heran,  mit  dem  Grün 
seines  Wassers  das  Grau  des  Gesteines  belebend.  Alte  zerfallene 
Mühlen  und  die  Ruinen  der  Burg  Neukofel  geben  seinen  Ufern  ein 
romantisches  Gepräge,  weit  öffnet  sich  das  obere  Rekatal,  aus  dem 
freundliche  Dörfer,  Wiesen  und  angebaute  Fluren  und  in  dämmernder 
Ferne  der  Krainer  Sohneeberg  uns  entgegen  winken. 


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67 


Wir  steigen  die  Halde  hinab  und  befinden  uns  an  der  Slelle, 
wo  der  Flurs  zum  ersten  Male  in  die  Felsen  eindringt.  Schaumend 


stürzt  er  über  kleine  Wasserfalle  und  Stromschnellen  in  sein  Gefäng- 
nis hinein.  Das  Tur,  durch  «-elches  er  demselben  zustrebt  (Fig.  S.  67), 


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Reka-Eintritt  la  die  MahorUchiUchhölxle. 
Aufgenommen  vom  Verfasser. 


68 


hat  eine  Höhe  von  beiläufig  30  m und  eine  Breite  von  10  m.  Hell 
flutet  das  Tageslicht  in  das  Innere  hinein,  geisterhaft  spiegeln  aioh  die 
vorsohwimmenden  Felskonturen  auf  dem  dunklen  Wasserspiegel  der 
Reka,  bis  endlioh  peohsohwarze  Naeht  ihren  weiteren  Ijuif  verhüllt. 
Der  unterirdische  Dom,  welchen  der  Strom  zuerst  durcbrauaoht, 
zählt,  was  das  Spiel  der  Farben  betrifft,  zu  den  herrliohaten  von 
St.  Canzian.  Fs  ist  die  Mahortachitsohhöhle,  von  welcher  sich  eine 
seitliche  Halle  — die  Czoerniggrotte  — abzweigt. 

An  diese  Höhle  knüpft  sich  eine  merkwürdige  Episode.  Jahr- 
hunderte vergingen,  ohne  dafs  ein  Menschenkind  es  gewagt  hätte,  über 
das  Portal  hinaus  auf  dem  nächtlichen  Strom  vorzudringen.  Da  ver- 
suchte im  Jahre  1884  ein  waghalsiger  Pionier  dieser  Höhlenwelt, 
J.  Marinitsch,  die  Durchfahrt  vom  Reka-Tor  nach  der  kleinen  Doline. 
Sein  Boot  wurde  von  einem  Wasserfall  erfafst  und  am  Felsen  zer- 
trümmert, Marinitsoh  selbst  wie  durch  ein  Wunder  gerettet,  naohdem 
er  durch  drei  Fälle  fortgerissen  ward.  Es  gelang  ihm,  sich  an  eine 
Felseuplatte  zu  klammern  und  auf  dieselbe  zu  schwingen.  Volle  zwölf 
Stunden  lang  safs  er  hier  in  der  Stockfinsternis  gefangen,  den  Tod 
vor  Augen,  bis  es  den  Anstrengungen  seiner  Frounde  gelang,  ihn 
aus  dieser  verzweifelten  Lage  zu  befreien.  Später  freilich  hat  der 
unverzagte  Grotten  forscher  noch  einmal  das  Wagnis  unternommen 
und  mit  mehr  Glück  dieselbe  Strecke  flufsaufwärts  in  einem  Boote 
zurückgelegt. 

Obwohl  die  Mahortsohitschhöhle  nach  dem  Urteile  mancher  Tou- 
risten hinsichtlich  ihrer  Licht-  und  FarbenefTekte  mit  der  Blauen  Grotte 
auf  Capri  wetteifern  soll,  wird  sie  dooh  viel  weniger  als  die  übrigen 
Räume  der  Canzianer  Höhlenwelt  besuoht.  Die  Sektion  Küstenland 
hat  noch  nicht  die  Mittel  gefunden,  um  diese  hochinteressante  örtlioh- 
keit  zu  erschliefsen,  und  so  lassen  die  Zugänge  zu  derselben  vieles  zu 
wünschen  übrig.  Mögen  begüterte  Verehrer  der  Alpenwelt  ihr  Soherf- 
lein  beitragen,  damit  das  gröfste  Naturwunder  Österreichs  bald  in  seiner 
ganzen  Vollständigkeit  der  reisenden  Welt  eröffnet  wird! 

Vorläufig  beschränken  sich  die  Grottenfahrer  auf  den  Besuch 
der  westlioh  von  der  grofsen  Dolina  liegenden  Wasserhöhlen;  sie  bilden 
den  Anfang  jener  ununterbrochenen  Kette  unterirdischer  Hallen,  welche 
die  Reka  zu  ihrem  nächtlichen  Lauf  benutzt.  Den  Zugang  zu  diesem 
Grottenkomplex  vermittelt  der  „Alpenvereinsweg“;  er  führt  von 
St.  Canzian  am  Gasthaus  des  Grottenvaters  Gombatsch  vorüber  auf 
dem  die  grofse  und  kleine  Doline  trennenden  Felsgrat  entlang  und  dann 
weiter  abwärts  bis  zum  Grunde  der  grofsen  Doline.  Breite  Steinstufen 


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bieten  dem  Fufse  Sicherheit,  gute  eiserne  Geländer  dienen  der  Hand 
als  Stütze,  wo  der  Pfad  über  das  schlüpfrige  Gestein  hinabführt. 
Dieser  Alpenvereinsweg  ist  der  steinerne  Ariadnefaden,  der  den  Gast 
von  St  Canzian  zu  all  den  wundersamen  Sohaustücken  führt,  die  sioh 
aus  wilden  Wasserbrodeln,  finsteren  Toren,  Felsabstürzen  und  aus- 
sichtsreichen Warten  zusammensetzen. 


Bekfcfall  and  Tomm&ainibrflcke. 

Aufgenommen  von  M.  Schäber  in  Adelsberg. 


Gleich  zu  Anfang  desselben  liegt  die  Marinitsohwarte  mit  präch- 
tigem Blick  in  die  kleine  Doline  und  auf  die  gewaltige  Felsmauer, 
die  das  Dorf  St  Canzian  trägt.  Weiter  sohreitend  schauen  wir  in 
den]  klaffenden  Spalt  der  „Riesentorklamm“,  durch  den  die  Keka 
sich  stürzt,  um  ihre  tosenden  Wasser  am  Grunde  der  grofsen  Doline 
in  einem  kleinen  Seebecken  zu  sammeln.  Unter  der  hohen  Wölbung 


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60 


dieses  Naturbogens  befindet  sich  auf  vorspringender  Felsenkanzel  über 
den  sohäumenden  Wallungen,  die  an  den  Felsen  sich  brechen  und 
ihre  hellen  Garben  gegen  die  dunklen  Wände  sohleudern,  ein  weiterer 
Aussichtspunkt,  die  „Guttenberghalle“.  Die  Szenerie  ist  grofsartig; 
sie  gewährt  einen  Anbliok,  wie  man  ihn  ähnlich  nur  in  der  berühmten 
Lichtenstein-  und  Kitzlochklamm  geniefsen  kann. 

Schreiten  wir  weiter.  Es  folgt  die  „Tommasinibrücke“*);  sie 
sohwingt  sich  in  Kirchturmshöhe  über  den  hier  lim  breiten  Abgrund 
(Fig.  S.  69).  Ein  Gefühl  der  Beklemmung  erfafst  uns  boim  Hinabschauen 
in  die  Tiefe;  krampfhaft  erfafst  unsere  Hand  das  Geländer  der  Brücke. 
Das  Schauerliche  wird  durch  das  Tosen  des  Stromes  vermehrt,  der 
hier  einen  harten  Kampf  mit  dem  Felsen  besteht.  Bald  sohief6t  er  in 
ausgewaschener  Rinne  reifsend  dahin;  bald  gleitet  er  in  verborgenen 
Höhlungen  gurgelnd  und  wirbelnd  umher;  dann  wieder  gilt  es  für  ihn, 
starre  Klippen  zu  übersetzen,  oder  sein  brausendes  Wasser  flattert  im 
stäubenden  Sturz  jählings  hinab,  um  drunten,  gleich  siedender  Milch 
schäumend,  sich  im  tiefen,  dunklen  Felsbecken  zu  sammeln.  An  den 
Schründen  leuchtet  das  helle  Grün  einiger  Büsche,  es  zeigen  sich 
Blumen  im  schwankenden  Hauche  der  ungestümen  Najaden.  Ein 
Künstler  könnte  hier  Dutzende  von  Veduten  finden,  die  Aufsehen 
in  unsern  Kunsthallen  erregen  würden,  aber  er  fehlt  in  diesem  ver- 
nachlässigten Winkel  des  Karstes!  Die  landläufige  Gedankenlosigkeit 
einiger  Schriftsteller,  welche  von  der  Öde,  Wildheit  und  Eintönigkeit 
der  Karstlandschaften  reden,  wird  noch  lange  die  reisende  Welt  von 
denselben  fern  halten. 

Hinter  der  Tommasinibrüoke  macht  unser  Führer  Halt  Er  be- 
deutet uns,  dafs  es  zweckmäfsig  sei,  den  Überzieher  abzulegen  sowie 
auch  sonstige  überflüssige  Dinge  zurückzulassen.  Dann  zündet  er  die 
mitgebrachten  Kerzen  an  und  führt  uns  in  einen  Felstunnel,  den  wir 
in  gebückter  Haltung  durchschreiten.  Beim  Eintritt  in  diesen  „Natur- 
stollen“ empfängt  uns  dumpfes  Sausen  und  ein  Geräusch  ähnlich  dem 
der  Poohwerke.  Je  weiter  wir  eindringen,  desto  lebhafter  wird  der 
Lärm,  der  von  den  Wasserfällen  der  Klamm  herrührt.  Und  nun,  beim 
Verlassen  des  dunklen  Ganges  erschließt  sich  ein  neues,  grofsartiges 
Sohaustüok  dieser  Wasser-  und  Felsenwelt.  Wir  befinden  uns  hier 
hart  an  den  tosenden  Wellen  der  Reka  und  geniefsen  einen  unver- 
gefslichen  Einblick  in  ihr  wütendes  Spiel.  Der  Aussichtspunkt,  den 
wir  betreten  haben,  heifst  die  Obiasserwarte,  so  benannt  nach  Frau 

•)  Benannt  nach  dem  Karstforscber  Mutius  von  Tommaaini. 


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61 


Joseph  ine  Oblasser  aus  Triest,  welche  die  nötigen  Geldmittel  zur 
Anlage  gespendet  hat. 

Vom  Stollen  führt  der  Weg  hinab  in  den  Grund  der  grofsen 
Doline,  einen  von  Steinen,  Geröll  und  Felsblöcken  erfüllten  Kessel,  in 
dem  die  Keka  sich  zum  kleinen  Seebecken  aufgestuut  hat,  um  dann 


Abatieg  in  der  Doline  tn  den  Höhlen. 
Aufgenommen  von  M.  Schaber  in  Adclsberg. 


nach  mehroren  Wasserfallen  unter  einer  verhältnismäßig  niedrigen 
Felsenwölbung  zu  verschwinden.  Der  direkte  Weg  zu  den  nächt- 
liohen  Wassern  ist  also  verschlossen,  inan  muls  zu  ihnen  auf  Um- 
wegen durch  die  weite  Halle  der  Schmidlgrotte  gelangen,  deren 
dunkles  Eingangsportal  30  m über  der  Stelle  liegt,  wo  der  Strom  sich 
in  den  Felsen  stürzt.  Zur  Schmidlgrotte  führt  der  „Plenkersteg“,  ein 
außerordentlich  kühn  angelegter  Pfad  (Fig.  S.  61),  der  sich  hoch  an  den 


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62 


Wanden,  teilweise  unter  überhängendem  FelB,  hinsieht,  jedoch  so  duroh 
doppelte  Eisengitter  gesichert  ist,  dafs  allen  Fatalitäten  vorgebeugt  zu 
sein  scheint,  wenn  man  die  nötige  Vorsicht  nioht  ausser  aoht  läfst. 

Nun  endlich  sind  wir  am  Eingänge  der  Qrottenwelt.  Wir  haben 
die  Sohmidlgrotte  betreten,  und  unter  der  Leitung  des  kundigen 
Führers  kann  jetzt  die  nächtliche  Wanderung  durch  die  endlosen 
Katakomben  der  Reka  beginnen.  Aber  bevor  wir  die  Kerzen  an- 
steoken  und  uns  marsohbereit  machen,  laden  die  hier  aufgestellten 
Ränke  ein  wenig  zur  Rast  ein.  Hat  der  Gang  uns  auf  dem  steinigen 
Pfade  warm  gemacht,  so  wäre  es  auch  außerdem  gar  nioht  ratsam,  sich 
in  erhitztem  und  übermüdetem  Zustande  in  die  feuohtkalten  Räume  zu 
begeben,  wo  teilweise  ein  starker  Luftzug  herrscht.  Inzwischen  sehen 
wir  uns  in  der  Grotte  ein  wenig  um.  Eis  ist  eine  mäohtige  Halle  von 
80  m Länge  und  30  m Höhe,  die  durch  das  weite  Eingangsportal  fast 
tageshell  erleuchtet  wird.  Ihr  Boden  besteht  aus  angesohwemmtem 
Lehm,  ihre  Decke  schmüoken  zahlreiche  wunderliche  Tropfsteinge- 
bilde, während  bizarre  Steinformen  die  Wände  kulissenartig  bedecken. 
Welke  Kränze,  die  in  den  Nischen  hängen,  Bildnisse  und  allerlei 
sonderbare  Idole  erregen  unsere  Aufmerksamkeit  Auf  Befragen  er- 
klärt uns  unser  Führer,  dafs  sie  von  den  Grottenfeiern  herstammen, 
welche  die  Triestiner  alljährlich  hier  abhalten.  Ohne  Mystik  wird  es 
bei  diesen  Festen  nicht  abgehen,  und  wahrlich  kein  Ort  auf  der  Welt 
scheint  geeigneter,  mystische  Vorstellungen  und  Gedanken  anzuregen, 
als  diese  dunklen,  von  schwarzer  Naoht  und  brausendem  Wasser  er- 
füllten Räume,  welche  sich  tief  in  das  Reich  des  Pluto,  das  nooh  keines 
Menschen  Fufs  betreten  hat  verlieren.  Mit  Strickleitern,  Seilen,  Balken, 
Kähnen,  Fackeln  und  Laternen  hat  man  dieses  Reich  zu  erobern  ge- 
sucht; dies  sind  neben  einer  tüohtigen  Portion  Tollkühnheit  die 
Waffen,  mit  denen  man  den  Geistern  der  Unterwelt  zu  Leibe  geben 
mufs.  Ein  wahres  Arsenal  solcher  für  den  Grottenforscher  not- 
wendiger Requisiten  findet  man  denn  auch  in  der  Sohmidlgrotte  auf- 
gestapelt die  deswegen  der  , Hafen“  genannt  wird. 

Unser  Führer  zündet  jetzt  die  Lichte  an  und  fordert  zum 
Weitergehen  auf.  In  Gedanken  versunken,  welche  der  ungewohnten 
Situation  entsprechen,  folgen  wir  ihm  bis  ans  Ende  der  Sohmidlgrotte, 
wo  der  Weg  links  abbiegt.  Allmählich  wird  es  finster;  jetzt  tun  die 
Kerzen  ihre  Schuldigkeit;  vorsichtig  setzen  wir  den  Fufs  auf  den 
schlüpfrigen  Roden,  fester  umschlingt  die  Hand  das  Geländer.  Die 
Stelle,  welche  wir  passieren,  heilst  die  „Böse  Ecke“.  Das  Prädikat 
„böse“  ist  freilich  heute  nicht  mehr  anwendbar,  da  durch  Sprengungen 


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63 


alles  Bedenkliche  beseitigt  ist  und  eine  eigentliche  Befahr  nioht  vor- 
liegt Früher  mufste  sie  auf  einem  sobuhbreiten  Felsband  kriechend 
umklettert  werden. 

Mit  jedem  Sohritt,  den  wir  tun,  tönt  das  Kauschen  der  Rekafalle 
kräftiger  an  unser  Ohr;  es  dringt  aus  dem  „Rudolf- Dom '*),  unserem 
nächsten  Ziele,  su  uns.  Ein  Wasserfall  in  der  Unterwelt,  der  vielleicht 
einen  Meter  hooh  ist,  bringt  unter  Mitwirkung  des  Widerhalles  ein 
Getöse  hervor,  wie  droben  unter  der  Sonne  ein  mächtiger  Katarakt. 
Ein  jeder,  der  diese  finsteren  Verliese  betritt,  mufs  deshalb  zunächst 
eine  gewisse  Soheu  überwinden,  welohe  die  aufsergewöhnlichen  Ver- 
hältnisse einer  unterirdischen  Wanderung  mit  sich  bringen. 

Der  Führer  ist  vorausgeeilt,  er  bereitet  eine  kleine  Überraschung 
vor,  indem  er  von  hochgelegener  Stelle  aus  ein  Magnesiumband  ent- 
zündet Plötslich  wird  der  ganze  Raum  von  einem  magischen  Schimmer 
erfüllt;  staunend  bemerken  wir,  dafs  wir  uns  in  einer  gewaltigen  Halle 
befinden.  Ee  ist  der  Rudolf-Dom,  in  welchen  die  Reka  von  aufsen 
her,  von  der  grofsen  Dolina  hereinströmt.  Noch  sendet  der  Tag  seine 
Liohtfluten  in  die  dämmerliohe  Höhle  duroh  das  niedrige  Portal,  das 
dem  Flusse  Eingang  gewährt,  aber  im  Hintergründe  da  gähnt  uns 
die  schwarze  Nacht  entgegen,  da  hören  wir  unausgesetzt  den  Donner 
des  Wassers,  von  welchem  alle  diese  finsteren  Hallen  zu  beben 
scheinen.  Prachtvoll  zeigen  sich  bei  dem  grellen  Magnesiumlicht  die 
drei  Fälle  des  Rudolf-Domes,  und  wie  eine  phantastische  Traumgestalt 
bewegt  sich  unser  Führer  auf  schwindligen  Pfaden  an  der  überhangen- 
den Felswand.  Wie  der  Mann  dorthin  gelangt  ist,  bleibt  uns  ein 
Rätsel.  Wir  erfahren  später  von  ihm,  dafs  derartige  Pfade  als  Rettungs- 
wege dienen.  Wenn  die  Reka  nach  heftigen  Regengüssen  plötzlich 
mit  unheimlicher  Schnelligkeit  ansohwillt  und  die  Höhlenräume  bis  zu 
30  m Höhe  über  den  normalen  Stand  mit  ihren  entfesselten  Wasser- 
massen anfüllt,  dann  bleibt  dem  überraschten  Grottenforscher  kein 
anderer  Ausweg,  als  die  erwähnten  Balkenstege  hoch  an  den  Ge- 
wänden zu  erklimmen,  um  so  dem  sicheren  Tode  zu  entrinnen.  Wer 
tiefer  in  die  Geheimnisse  der  Reka  eindringen  will,  der  mufs  sich 
überhaupt  mit  solchen  Rettungswegen  vertraut  machen,  denn  an  den 
Ufern  des  Stromes  führt  dort  kein  Weg.  Gleitet  er  aus,  so  wird  seine 
Leiche  fortgeschwemmt  in  Gegenden,  wohin  niemals  eine  Ahnung  des 
Tages  gedrungen  ist. 

*)  Der  Rudolf-Dom  ist  nach  dom  Bergingenieur  .Josef  Rudolf,  die 
Schmidlgrotle  nach  dom  Reichs-Oeologcn  Dr.  Adolf  Sch  midi  bonaunt  worden. 
Beide  Männer  haben  sich  um  die  Erforschung  der  Karsthöhlen  besonders  ver- 
dient gemacht 


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64 


Weiter  geht  unsere  Wanderung  in  das  Reich  des  Orkus.  Über 
das  Belvedere  und  das  Cilli-Kap  schreitend,  treten  wir  in  eine  zweite, 
riesige  Halle  ein,  in  welcher  der  Strom  sich  seeartig  erweitert.  Es 
ist  der  Svetinadom.  Seinen  Namen  erhielt  er  von  dem  Triestcr 
Brunnenmeister  Svetina,  der  im  Jahre  1840  die  erste  unterirdische 
Bereisung  der  Canzianer  Groltenwelt  im  Boote  unternahm  und  nach 
seiner  Beschreibung  bis  zum  Cilli-Kap  und  in  den  sich  anschließen- 
den 80  m langen  Kanal,  der  in  den  erwähnten  Dom  führt,  gelangt 
sein  will.  Es  ist  dies  freilich  nur  eine  geringe  Strecke  in  dasjenige 
Gebiet  hinein,  welches  bereits  die  Nacht  bedeckt. 

Der  Svetinadom  ist  noch  imposanter  als  der  Kudolfdoin.  Seine 
gewölbte  Decke  erhebt  sich  70  in  hoch,  einem  mit  Wolken  bedeckten 
Himmel  gleichend.  Spitzige  glatte  Felsen  ziehen  sich  an  den  Ufern 
hin,  so  dafs  man  nur  auf  Briickensteigen  vorwärts  kommt;  trümmer- 
hafte  Steinblöcke  und  Rille  bieten  den  heran  rauschenden  Fluten  Wider- 
stand, brausende  Katarakte  erfüllen  den  Raum  mit  nervenerschüttern- 
dem Getöse.  Der  mächtigste  ist  der  sechste,  welcher  mit  7 m hohem 
Schwall  am  Ende  des  Svetinadomes  hinabslürzt.  In  der  Nähe  dieses 
Domes,  etwas  abseits  von  der  Reka  UDd  höher  gelegen  als  diese,  be- 
findet sich  eine  Seitengrotte,  die  sogenannte  Brunnengrotte  (Fig.  S.  65), 
welche  eine  geologische  Merkwürdigkeit  der  Höhlcnwelt  birgt.  An 
die  Felswand  angelehnt,  bauen  sich  da  staffelförmig  eine  Reihe  prächtiger 
Kalksinterbecken  auf,  von  denen  einige  über  1 m tief  sind  und  über  1 m 
Durchmesser  haben.  Wer  den  Yellowstoncpark  Nordamerikas  kennt, 
wer  Abbildungen  der  jetzt  zerstörten  Tetarataquelle  am  Rotomahana 
auf  Neuseeland  gesehen  hat,  dem  fällt  sofort  die  Ähnlichkeit  dieser 
Gebilde  mit  der  Brunnenlerrasse  von  St.  Canzian  auf,  nur  dafs  jene 
viel  mächtiger  sind  und  durch  Inkrustate  in  allen  Farbentönen  leuchten, 
während  hier  in  der  Unterwelt  blofs  der  graue  Kieselsinter  zur  Geltung 
kommt. 

Mit  dem  Svetinadom  und  seinen  Nebenhallen  ist  das  Ende 
unserer  finsteren  Wanderung  noch  nicht  erreicht.  Noch  liegt  vor  uns 
eine  Reihe  erschlossener,  wunderbar  erscheinender,  unterirdischer 
Bilder.  Zerrissen  ist  hier  von  schwacher,  doch  tatkräftiger  Menschen- 
hand der  Vorhang,  den  Mutter  Natur  über  ihre  Werko  gebreitet,  und 
besiegt  grollt  in  der  Tiefe  der  einstige  Wächter  des  nun  folgenden 
Riosondomes.  Pulver  und  Meifsel  haben  der  stellenweise  senkrechten 
Wand,  an  der  ein  Weilergehen  unmöglich  schien,  einen  Steig  abge- 
rungen. 

Aber  was  ist  dies  für  ein  Steig!  Kaum  schuhbreit  führt  er  über 


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glattes  Gestein  oder  über  schwankende  Balken  an  der  senkrechten 


Bnnwengrott«. 

Aufgenommen  von  M.  Schaber  in  Adelsberg. 

Felswand  entlang.  Lotrecht  unter  uns,  in  Dunkel  gehüllt,  donnert 

Bimmel  and  Erde.  1908.  XVI.  2.  5 


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66 


der  Strom;  eine  an  der  Wand  hinlaufende  EisenstaDge  ist  der  einzige 
Führer,  der  uns  leitet  und  stützt;  jeder  Schritt  erheischt  die  gröfste 
Vorsicht  und  ungeteilte  Aufmerksamkeit  Und  so  gute  Dienste  auch 
bisher  die  Kerze  geleistet  hat,  hier  wird  sie  hinderlioh,  denn  sie  blendet 
das  Auge  und  erleuchtet  nur  einen  kleinen  Umkreis.  Hier  mufs  die 
Fackel  als  Pfadfinder  dienen.  Ängstlichen  und  schwindligen  Personen 
ist  es  nicht  anzuraten,  weiterzugehen;  man  mufs  schon  ein  geübter 
Tourist  sein  und  Selbstvertrauen  in  sich  fühlen,  um  allen  Zufällig- 
keiten stand  zu  halten.  Die  Nacht  ist  keines  Menschen  Freund,  wie 
viel  weniger  aber  hier  an  der  Seite  des  brüllenden  Stromes! 

Ist  der  siebente  Rekaläll  auf  diesem  halsbrecherischen  Pfade 
passiert,  dann  erschließt  sich  dem  kühnen  Eindringling  plötzlich 
eine  neue,  gewaltige  Halle  — der  Müllerdom.  An  Umfang  und  Höhe 
können  weder  Rudolf-  noch  Svetina-Dom  mit  ihm  konkurrieren.  Die 
Decke  wölbt  sich  bei  80  m über  den  Flufs,  dessen  Spiegel  anfangs 
einem  seeartigen  Becken  zwischen  riesigen  Steintrümmern  und  glatten 
Wänden  gleicht.  W’o  aber  die  Reka  aus  diesem  Raume  stürzt,  da 
befindet  sioh  wiederum  ein  Tummelplatz  der  entfesselten  Wassergeister, 
deren  Stimmen  das  Echo  hundertfach  verstärkt  zurüoksendet.  Der 
Müllerdom  ist  zweifellos  der  Glanzpunkt  der  Canzianer  Grottenwelt. 
Die  Eindrücke,  welche  man  dort  sammelt,  bleiben  auf  ewig  in  der 
Erinnerung,  sie  sind  so  aufsergewöhnlicher  Art,  dafs  die  Einbildungs- 
kraft nichts  hinzuzufügen  braucht,  um  sich  das  Totenreich  der  Alten 
auszumalen. 

Wer  jetzt  noch  weiter  will,  der  mufs  entweder  ein  Boot  benutzen 
und  mit  ihm  die  Fahrt  ins  Ungewisse  antreten  — eine  Fahrt  auf 
Heben  und  Tod  — , oder  er  mufs  auf  Eisenstiften  und  ausgemeifselten 
Tritten  an  den  Felswänden  weiterklimmen,  wie  es  einst  die  wackeren 
Erforscher  dieser  Unterwelt  taten.  Nach  dem  zehnten  Wasserfall,  der 
die  Grenze  des  Müllerdomes  bildet,  windet  sich  die  Reka  in  zahl- 
reichen Katarakten  durch  einen  klammartigen  Tunnel  von  nur  6 bis 
8 rn  Breite  hinduroh.  Es  ist  der  Hankekanal,  der  beim  sechzehnten 
Wasserfall  wiederum  in  eine  geräumige  Halle,  in  den  Hankedom 
leitet.  Und  abermals  engt  sich  der  Strom  zusammen  und  erreicht 
zuletzt  den  gröfsten  aller  bisher  erschlossenen  Höhlenräume,  den 
Alpenvereinsdom  (siehe  Titelblatt).  Er  wurde  seinerzeit  von  den  Ent- 
deckern im  Kahne  bis  zum  achtzehnten  Fall  befahren.  Weiter  kam 
die  nächtliche  Argonautenfahrt  nicht;  was  dahinter  liegt,  hat  noch 
keines  Menschen  Auge  geschaut.  Einen  Kilometer  weit  hat  man  den 
unterirdischen  Lauf  der  Reka  erkundet.  Mögen  starke  und  mutige 


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67 


Arme  aioh  beben,  um  den  Schleier  zu  lüften,  mit  welchem  die  grofee 
Isis  den  Lauf  dieses  Stromes  Beit  Anbeginn  der  Zeiten  verhüllt  hat! 

Und  wie  freudig  begrüfst  man  das  helle  Tageslicht,  wenn  man 
nach  stundenlanger  Wanderung  all’  die  schaurige  Schönheit  dieser 
Unterwelt  genossen  hat  und  nun,  durch  das  Portal  der  Sohmidlgrotte 
schreitend,  wieder  den  klaren,  blauen  -Himmel  über  sich  schaut.  Das 
Qrün  der  Bäume  und  Sträucher  mutet  doppelt  freudig  an;  man  findet 
hundert  Schönheiten  an  Dingen,  die  man  früher  kaum  beaohtet  hat. 
Der  Mensch  ist  eben  nicht  für  die  Finsternis  geboren,  er  ist  ein  Kind 
des  Lichtes! 

(Schlafe  folgt.) 


5* 


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Moderne  Naturphilosophie. 

Von  Dr.  Kleiap«ter  in  Gmunden. 

OnlQJie  denkende  Betrachtung  der  Natur  war  die  erste  Tätigkeits- 
äufserung  des  erwachenden  menschlichen  Intellektes;  Natur- 
phiiosopheu  waren  die  ersten  Weisen  des  Altertums.  Sehr 
bescheiden  waren  freilich,  an  dem  heutigen  Mafsstab  gemessen,  ihre 
Leistungen  — ein  Zeichen  eben,  dafs  wir  es  herrlich  weit  gebracht! 
Dafs  es  so  gekommen,  daran  war  wieder  die  Beschäftigung  mit  der 
Natur  hauptsächlich  schuld.  An  ihr  fand  der  menschliche  Geist  den 
nötigen  festen  Rückhalt  gegen  die  Schrankenlosigkeit  seiner  Phantasie, 
sie  war  es  — nach  einer  Idee  Volkrnanns,  eines  der  Vertreter  der 
neueren  Naturphilosophie  — , die  die  Ausbildung  fester  logischer  Denk- 
formen bedingt  hat 

Das  Verhältnis  des  menschlichen  Geistes  zur  Natur,  seine  Art, 
dieselbe  aufzufassen,  und  die  Wertschätzung  derselben  war  freilioh  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  sehr  grofsen  Schwankungen  unterworfen,  und 
dementsprechend  hat  auch  das  Wort  „Naturphilosophie“  sehr  ver- 
schiedenen Sinn  angenommen;  haben  sich  doch  Newton  und  Schei- 
ling  dessolben  in  gleicher  Weise  zur  Bezeichnung  ihrer  so  ungleichen 
Sohöpfungen  bedient. 

Wenn  wir  von  der  weiteren  Vergangenheit  absehen,  so  hat  doch 
auch  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  zweimal  ein  völliger  Umschwung 
inbezug  auf  die  Auflassung  des  Verhältnisses  der  Philosophie  zur 
Naturwissenschaft  Platz  gegriffen.  Das  erste  Drittel  desselben  zeigt  die 
Naturwissenschaft  — wenigstens  auf  deutschem  Boden  — in  einer  uns 
heute  ganz  unbegreiflichen  Abhängigkeit  von  unsinniger  „System“- 
spekulation,  das  zweite  sieht  sie  von  der  Philosophie  völlig  getrennt 
und  letztere  selbst  so  gut  wie  vom  Schauplatz  verschwunden,  im 
dritten  endlich  ersteht  auf  dem  Boden  der  Naturwissenschaft  eine  neue 
Philosophie. 

Diese  dritte  Phase  der  Kntwickeiung,  in  der  wir  noch  beute  stehen. 


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ist  es  nun,  deren  Art  und  Bedeutung  zu  schildern  Aufgabe  der  nach- 
folgenden kleinen  Skizze  bildet. 

Im  Gegensatz  zur  ersten  Periode,  in  der  die  Systemphilosophie 
nioht  nur  eine  unbestrittene  eigene  feste  Position  inne  hatte,  Bondern 
von  derselben  aus  auoh  die  Einzel  Wissenschaften  beherrschte  und  re- 
gelte, hat  in  unseren  Tagen  die  Naturwissenschaft  nioht  nur  eine  längst 
allgemein  anerkannte  Selbständigkeit  errungen,  sondern  geht  nun  auch 
daran,  ihrerseits  auf  die  Gestaltung  der  Philosophie  entscheidenden 
Einflurs  zu  üben.  Zunäohst  hat  es  sich  herausgestellt,  dafs  die  Un- 
abhängigkeit der  Philosophie  von  der  empirischen  Wissenschaft  in 
Wirklichkeit  nioht  so  grofs  ist,  als  eB  wohl  den  Ansohein  haben 
möchte;  die  grofsen  naturwissenschaftlichen  Entdeckungen  des  19.  Jahr- 
hunderts haben  auoh  auf  die  Gestaltung  der  modernen  Philosophie 
einen  sehr  nachhaltigen  Einflufs  geübt.  Zweitens  hat  sioh  auch  auf 
dem  Gebiete  der  exakten  Wissenschaften,  insbesondere  dem  der  Mathe- 
matik und  Physik,  das  Bedürfnis  naoh  allgemeineren  logischen  oder, 
wenn  man  will,  philosophischen  Untersuchungen  herausgestellt.  Es 
war  das  eben  die  Folge  der  weit  getriebenen  Bpezialforsohung,  die 
eine  schärfere  Begriffsbestimmung  in  vielen  Fällen  nötig  machte, 
während  sich  in  anderen  die  Unmöglichkeit  der  Erreichung  dieses 
Zieles  auf  gewöhnlichem  Woge  herausstellte  und  dann  erst  recht  die 
Notwendigkeit  einer  kritisohen  Untersuchung  der  allgemeinen  Grund- 
lagen und  Methoden  hervortrat.  Da  nun  aber  die  vorhandene  Phi- 
losophie diesen  Ansprüchen  zu  genügen  in  keiner  Weise  in  der  Lage 
war,  so  mufete  die  Naturwissenschaft  selbst  an  die  Aufgabe  gehen, 
sich  eine  Philosophie  zu  schaffen,  und  damit  ist  denn  im  letzten  Drittel 
des  19.  Jahrhunderts  das  gerade  entgegengesetzte  Bild  von  der  Situ- 
ation im  ersten  Drittel  entstanden;  die  Philosophie  im  Banne  der 
exakten  Forschung. 

Damit  ist  denn  eine  Aufgabe,  die  sich  bereits  das  18.  Jahr- 
hundert gestellt  hatte,  wieder  in  den  Vordergrund  des  Interesses 
gerückt;  die  der  Schaffung  einer  wissenschaftlichen  Philosophie. 
Kants  Hoffnung  auf  dieselbe  ist  freilich  in  grotesker  Weise  durch 
die  Systemmacherei  seiner  Naohfolger  getäuscht  worden;  da  aber 
Kant  nur  von  der  exakten  Wissenschaft  seinerZeitausgehen  konnte, 
die  in  theoretischer  Beziehung  noch  auf  sehr  tiefer  Stufe  stand  — 
wirkliche  wissenschaftliche  Strenge  wurde  erst  ein  Bedürfnis  des  19. 
Jahrhunderts  — so  war  das  Fiasko  nicht  weiter  verwunderlich.  Liefse 
sioh  aber  Kants  Methode  nioht  jetzt  mit  gegründeter  Aussicht  auf 
Erfolg  unter  Zugrundelegung  der  Errungenschaften  der  modernen 


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exakten  Forschung  wiederholen?  Das  ist  eine  Frage,  die  von  vielen 
Seiten  in  bejahendem  Sinne  beantwortet  wurde  und  zwar  sowohl  von 
philosophischer  wie  von  naturwissenschaftlicher  Seite.  Die  Wissen- 
schaft mufs  natürlich  auf  das  wirklioh  Erfahrbare  und  Beweisbare  be- 
schränkt bleiben;  soll  die  Philosophie  Wissenschaft  sein,  mufs  sie  an 
diesem  Kennzeichen  derselben  teilhaben;  wie  aber  unterscheidet  sie 
sich  dann  von  den  Einzel  Wissenschaften?  Sie  bat  die  Grundbegriffe 
derselben  zu  bearbeiten  und  miteinander  in  Einklang  zu  bringen, 
war  die  Antwort  Herb  arts,  der  geschichtlich  der  erste  Philosoph  ist, 
der  in  den  Kreisen  der  exakten  Forschung  — man  denke  nur  an 
Riemann  — Beachtung  gefunden  hat;  so  ähnlich  lautet  auch  die  Ant- 
wort Wundts.  Allein  dieser  Antwort  fehlt  es  an  wirklicher  Befrie- 
digung, sie  erweist  sich  bald  als  unzureichend.  Wer  die  Grundbegriffe 
einer  Wissenschaft  bearbeiten  will,  darf  mit  nichten  Laie  in  diesem 
Spezialfach  sein.  Die  Folgen  der  Verkennung  dieser  Sachlage  sind 
selbst  einem  Gelehrten  von  so  wahrhaft  universalem  Wissen  wie 
Wundt  nioht  erspart  geblieben;  seine  Logik  der  Mathematik  und 
Physik  sind  aus  diesem  Grunde  unzureichend,  sie  tragen  in  wichtigen 
Punkten  das  Gepräge  des  Laienhaften  an  sich.  Verhältnismäfsig  leioht 
fällt  die  Antwort  auf  obige  Frage  den  Anhängern  Kants  — nicht 
nur  den  orthodoxen,  sondern  auch  den  Fortbildnern  seiner  Lehre,  den 
Neukantianern  Lange,  Windelband,  Cohen,  Natorp,  Lieb- 
mann, Riehl,  Adickes  u.  a.  — sie  erklären  als  Aufgabe  der  wissen- 
schaftlichen Philosophie  die  Feststellung  der  apriorischen  Elemente, 
die  sich  ihnen  aus  dem  Begriffe  der  Wissenschaft  überhaupt  ergeben 
— eine  Erklärung,  die  für  jene  bedeutungslos  wird,  die  an  die  Existenz 
solcher  Elemente  oder  wenigstens  die  Möglichkeit  ihrer  Absonderung 
nicht  glauben.  Aber  auoh  diese  letzteren  geben  zu,  dafs  die  Be- 
schaffenheit unseres  Wissens  von  der  unseres  Erkenntnisorgans  ab- 
hängig sein  müsse,  und  erblicken  in  der  Erforschung  desselben  das 
Ziel  der  Philosophie.  Je  nach  der  Fassung  dieser  Aufgabe  teilen 
sie  sich  allerdings  in  sehr  verschiedene  Gruppen;  die  einen  erblicken 
in  der  Psychologie  die  Grundwissenschaft  (Lipps,  Brentano  und  seine 
Schule,  die  in  Österreich  zum  Teil  das  Erbe  Herbarts  angetreten 
hat),  andere  betonen  mehr  die  logische  Seite  (Schuppe  und  die  An- 
hänger der  immanenten  Philosophie),  wieder  andere  gehen  mit  Ave- 
narius  von  der  „reinen“  Erfahrung  aus  oder  bewegen  eich  im  en- 
geren Anschluss  an  die  positive  Wissenschaft  (Positivisten). 

Es  ist  üblich  geworden,  die  so  aufgefafste  Philosophie  oder  bez. 
diesen  Teil  derselben  Erkenntnislehre  zu  nennen.  Ein  grofser  Teil 


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der  Denker  der  Gegenwart  hält  ihn  für  den  einzig  berechtigten;  ihm  ist 
Philosophie  Erkenntnislehre  und  Erkenntnislehre  Wissenschaft,  .erste“ 
Wissenschaft  im  Sinne  des  Aristoteles.  Sehr  vielen  Philosophen  ge- 
nügt dies  aber  nicht,  sie  erblicken  vielmehr  ihre  eigentliche  Aufgabe 
jenseits  der  Grenzen  der  Wissenschaft.  Sie  lehren:  Philosophie  ist 
nicht  Wissenschaft,  sondern  Kunst;  ihre  Aufgabe  die  Schaffung  einer 
alle3  umfassenden  Lebens-  und  Weltanschauung,  die,  der  Kontrolle 
durch  die  wissenschaftliche  Forschung  entrüokt.  ein  von  den  Resul- 
taten derselben  unabhängiges  Dasein  zu  führen  sich  erlauben  darf. 

Diese  doppelte  Auffassung  vom  Wesen  der  Philosophie  tritt 
auch  auf  dem  Gebiete  der  von  den  Vertretern  der  exakten  Forschung 
geschaffenen  Naturphilosophie  zutage:  wir  haben  Naturphilosophen  im 
ersten  und  solche  im  zweiten  Sinne  des  Wortes.  Der  Wert  der  beiden 
Gruppen  ist  ein  recht  verschiedener,  denn  nur  die  wissenschaftliche 
Philosophie  vermag  offenbar  aus  der  Verbindung  mit  der  Wissenschaft 
Nutzen  zu  ziehen;  für  die  Dichtung  umfassender  metaphysischer 
Systeme  erweist  sich  die  Beschäftigung  mit  einer  eng  umgrenzten 
Spezialwissenschaft  eher  als  ein  Hindernis.  Tatsächlich  haben  meta- 
physische Systeme  von  Naturforschern  sehr  dazu  beigetragen,  die  auf 
dem  Boden  der  exakten  Wissenschaft  erwachsene  Philosophie  zu  dis- 
kreditieren. Diese  letztere  wird  es  nun  sein,  von  der  im  folgenden 
näher  gesprochen  werden  soll. 

Ihren  Ursprung  nahm  sie  bei  sehr  verschiedenen  Forschern,  die 
ihre  Gedanken  unabhängig  voneinander  oft  ziemlich  weit  entwickelt 
haben,  ohne  von  ihren  gleichartigen  Bestrebungen  Kenntnis  zu  nehmen. 
Das  hatte  natürlich  eine  sehr  verschiedene  Ausbildung  der  Form  nach 
zur  Folge  und  erschwert  die  Übersicht  und  die  Vergleichbarkeit  ihrer 
Leistungen.  Man  kann  dieselben  chronologisch  deshalb  nioht  gut 
gliedern;  besser  empfiehlt  sich  die  Einteilung  nach  dem  Grade  des 
Eingehens  auf  Fragen  allgemeiner  Natur  in  solche,  die  nur  gelegent- 
lich der  Beschäftigung  mit  speziellen  Fragen  ihrer  Wissenschaft  er- 
kenntnistheoretische Gesichtspunkte  entwickelt  haben  und  dabei  Be- 
weise ihrer  Einsicht  in  die  allgemeinen  Fragen  der  Wissenschafts- 
lehre geliefert  haben,  und  in  solohe,  die  die  Aufstellung  eigener  philo- 
sophischer Anschauungen  als  Selbstzweck  betrieben  haben. 

In  die  erste  Kategorie  gehören  in  gewissem  Sinne  alle  grofsen 
bahnbrechenden  Geister;  im  engeren  Sinne  wären  etwa  Faraday, 
Maxwell,  Lord  Kelvin  (Sir  William  Thomson),  Julius  Robert 
Maier,  Helmholtz,  Kirchhoff,  Heinrich  Hertz,  Ostwald  und 
Volkmann,  von  Mathematikern  Gauss,  Grassmann,  Riemann, 


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Felix  Klein,  Hilbert,  Poincare  zu  nennen.  Die  Liste  kann  na- 
türlich auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  erheben  und  ist  not- 
wendigerweise willkürlich  abgegrenzt.  Besonders  hervorzuheben  wäre 
Maxwell,  auf  dessen  bahnbrechende  elektrische  Arbeiten  erkenntnis- 
theoretische Gesichtspunkte  mafsgebend  waren  und  der  bereits  einige 
Hauptsätze  der  modernen  Erkenntnistheorie  ausgesprochen  hat,  ohne 
indes  zu  völliger  Klarheit  durchzudringen;  Kirchhoff,  dessen  Aus- 
spruch von  der  Beschreibung  als  Aufgabe  der  Mechanik  seinerzeit  so 
grofses  Staunen  hervorgerufen  und  der  vielleicht  als  erster  die  Dar- 
stellung der  mathematischen  Physik  mit  einiger  Konsequenz  nach 
diesem  Prinzip  behandelt  hat;  Heinrich  Hertz,  der  nioht  nur  in 
elektrischer,  sondern  auch  in  erkenntnistheoretischer  Beziehung  in  die 
Fufstapfen  Max  welle  getreten  ist  und  nach  beiden  Richtungen  hin 
die  Leistungen  seines  Vorbildes  wesentlich  ergänzt  hat. 

Zur  zweiten  Gruppe  gehören  Mach,  Stallo,  Clifford  und 
Pearson.  Ihre  Ansichten  decken  sich  zwar  nicht  vollkommen,  doch 
stimmen  sie  in  den  wesentlichen  Punkten  genügend  überein,  nur  dafs  der 
eine  die  eine  Seite,  der  undere  eine  audere  mehr  hervorhebt,  so  dafs 
wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine  gegenseitige  Ergänzung 
stattfindet.  Dieser  Komplex  bildet  ein  wohlabgerundetes,  geschlossenes 
Ganzes,  ein  wirkliches  philosophisches  System,  das  aus  dem  Boden  der 
exakten  Wissenschaft  hervorgewachsen  ist  und  wohl  allen  Anspruch 
darauf  erheben  kann,  fortan  nicht  nur  den  Grundstock  einer  jeden 
philosophischen  Anschauung  zu  bilden,  sondern  auoh  als  Kanon  der 
Erkenntnislehre  einen  heilsamen  kritischen  Einflufs  auf  die  formelle 
Gestaltung  der  exakten  Wissenschaft  auszuüben. 

Dasjenige  Ziel  also,  das  sich  zuerst  Kant  gesetzt  hat,  eine  wissen- 
schaftliche Philosophie  zu  schaffen,  die  einerseits  als  Vorbedingung 
zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik  zu  gelten,  andererseits  zur  exakten 
Wissenschaft  die  Prinzipien  zu  geben  hätte,  hat  meines  Erachtens 
Mach  — der  Hauptschöpfer  dieser  modernen  naturwissenschaftlichen 
Erkenntniskritik  — , wenn  auch  nicht  nach  den  Erwartungen  Kants, 
wirklich  erreicht. 

Was  Kant  gehofft  und  nicht  vermocht  hatte,  die  Schaffung  einer 
wissenschaftlichen,  erkenntniskritisohen  Philosophie  hat  Mach  in  einer 
Weise  erreloht,  die  der  Nachwelt  nicht  viel  Spielraum  für  ihre  er- 
gänzende Tätigkeit  läfst.  Jahrtausendalte  Irrtümer  sind  beseitigt  und 
auf  überraschend  einfache  Weise  ist  ein  Verständnis  für  das  Wesen 
der  Wissenschaft  gewonnen  worden. 

Das  Prinzip,  von  dem  Mach  ausgegangen  war,  ist  das  der 


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exakten  Wissenschaften,  das  Prinzip  absoluter  Voraussetzungslosigkeit. 
Zwar  hatte  Desoartes  dasselbe  bereits  in  die  Philosophie  eingelührt 
und  daduroh  den  Anspruoh  auf  den  Namen  des  Vaters  der  modernen 
Philosophie  sich  errungen,  aber  welcher  Unterschied  besteht  in  der 
Konsequenz  der  Durchführung  desselben  bei  Descartes  und  Mach! 
Bei  jenem  bleibt  es  eine  vorübergehende  Episode,  ein  Durchgangs- 
punkt, der  allzu  schnell  wieder  verlassen  wird;  bei  Maoh  wurden  seine 
Konsequenzen,  was  eben  das  Charakteristische  ist,  nach  beiden  ent- 
gegengesetzten Hauptrichtungen,  der  idealistischen  und  realistischen 
zugleioh  gezogen. 

In  ersterer  Beziehung  bildet  es  ein  Hauptverdienst  Maohs,  gegen 
den  Wahn  eines  apriorischen  Wissens  auf  dem  Gebiete  der  Natur- 
wissenschaft beharrlich  angekämpft  zu  haben.  Durch  historisch  - 
kritisohe  Untersuchung  des  Waohstums  der  Wissenschaft  hat  Maoh 
den  unwiderleglichen  Beweis  erbracht,  dafs  auch  die  allgemeinsten 
Sätze  der  Physik  keinen  höheren  Grad  von  Gewifsheit  besitzen  als 
die  allgemein  als  empirisch  anerkannten.  Die  Scheidewand,  die  Kant 
zwischen  reiner  und  empirischer  Naturwissenschaft  aufrichten  zu  müssen 
geglaubt  hat,  verlor  damit  ihren  Halt. 

Anderseits  wurde  aber  Mach  einer  anderen  Forderung  des 
Idealismus  gerecht,  der  nach  der  „Idealität“,  wenn  man  so  sagen  darf, 
aller  unserer  Erfahrungselemente.  Der  Inhalt  aller  unserer  Wahr- 
nehmungen ist  zunächst  subjektiver  Natur.  Wir  haben  kein  Hecht  zu 
sagen,  wir  sähen  einen  Körper;  das,  was  uns  wirklich  vorliegt,  ist  ein 
Komplex  von  Gesichtsempflndungen,  die  also  subjektiver  Natur  sind. 
Den  „Körper“  denken  wir  hinzu,  er  ist  eine  Zutat,  eine  Dichtung  un- 
seres Geistes,  aber  nicht  etwas  tatsächlich  Gegebenes.  Ebenso  subjek- 
tiver Natur  sind  natürlich  unsere  Begriffe.  Atome,  Massen,  Kräfte, 
Energien  sind  alles  von  unserem  Geiste  geschaffene  Hilfsmittel  der 
Wissenschaft,  die  dazu  zu  dienen  bestimmt  sind,  Erfahrungen  wieder- 
zugeben. Die  Erkenntnis  dieses  Sachverhaltes  verdanken  wir  eben- 
falls Maoh,  sie  ist  eine,  die  selbst  von  seinen  Oegnern  anerkannt 
zu  werden  beginnt,  wie  z.  B.  von  Boltzmann. 

Vielon  wird  diese  Anschauung  wunderlich,  ja  träumerisoh  Vor- 
kommen. Auf  den  ersten  Blick  erscheint  es  allerdings,  als  ob  danach 
unser  Leben  ein  blofBer  Traum  wäre.  Aber  dem  ist  nicht  so.  Aus 
dem  Umstande  nämlich,  dafs  alle  unsere  Wahrnehmungen,  also  der 
ganze  Inhalt  unserer  Erfahrungen,  unserer  Erlebnisse  subjektiver 
Natur  ist,  folgt  nämlich  gar  nicht,  dafs  das  Erleben  dieses  Inhaltes 
eine  8aohe  unseres  Beliebens  ist.  Unwillkürlich  denkt  aber  jeder  bei 


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etwas  Subjektivem  an  eine  rein  willkürliehe  Sache,  die  in  das  Be- 
lieben eines  jeden  einzelnen  gestellt  ist.  Das  ist  eine  Täusohung 
Unsere  Vorstellungen  oder,  sagen  wir  lieber,  unsere  Erlebnisse  ver- 
fallen von  selbst  in  zwei  deutlich  geschiedene  Klassen:  in  eine  Gruppe, 
deren  Eintreten  oder  Nichteintreten  vom  Belieben  unseres  Willens  ab- 
hängt, und  dahin  gehören  die  meisten  Vorstellungen  im  engeren  Sinne 
des  Wortes,  nämlich  das,  „was  man  Bich  blofs  denkt“,  und  in  andere, 
die  uns  aufgezwungen,  aufgenötigt  werden;  das  sind  die  sogenannten 
objektiven  Erlebnisse,  die  der  Realist  durch  die  Existenz  fremder 
Körper  erklärt,  die  Kant  durch  das  Ding  an  eich,  Berkeley  durch 
den  Willen  Gottes  bewirkt  werden  liefs.  Das  ist  nun  eine  Zutat  un- 
serer selbst,  eine  metaphysische  Hypothese,  aber  keine  gegebene  Tat- 
sache, und  diese  Feststellung  ist  für  manche  Zwecke  nicht  ohne  Belang. 

Der  von  Kant  angestrebte  Ausgleich  zwischen  Idealismus  und 
Realismus  ist  somit  von  Mach  in  wesentlich  anderer  Form  durch- 
gefiihrt  worden;  subjektiver  Natur  sind  nicht  nur  die  Raum-  und 
Zeitformen,  sondern  alle  unsere  Empfindungen  in  ihrer  Gesamtheit, 
d.  h.  sowohl  der  Materie  als  der  Form  nach.  Das  sohliefst  indes  ihre 
objektive  Bedeutung  nioht  aus;  dieselbe  liegt  in  allen  jenen  unserer  Er- 
lebnisse, die  sich  uns  als  gegebene  Tatsachen  ohne,  ja  gegen  unsern 
Willen  aufdrängen.  Eben  deshalb  ist  aber  eine  apodiktische  Gewissheit 
auf  dem  Gebiete  der  Tatsachenwelt  durohaus  ausgeschlossen;  es  ist 
unstatthaft,  mit  Kant  zugunsten  der  allgemeinsten  Sätze  der  Physik 
eine  Ausnahme  zuzulassen.  Die  Mathematik  kann  auf  physikalischem 
Gebiete  nichts  beweisen;  der  bekannte  Ausspruoh  Kants,  dafs  jede 
Disziplin  nur  insoweit  Wissenschaft  sei,  als  in  ihr  Mathematik  ent- 
halten ist,  entbehrt  somit  einer  rechtlichen  Begründung. 

Indessen  darf  daraus  wieder  nicht  gefolgert  werden,  dass  damit 
dem  Empirismus  im  Sinne  von  etwa  John  Stuart  Mill  das  Wort 
geredet  sei,  dessen  Logik,  wie  sich  Mach  gelegentlich  persönlich 
ausgedrückt  hat,  mit  Unrecht  so  grosse  Verbreitung  in  den  Kreisen 
deutscher  Naturforschung  gefunden  habe.  Das  liegt  darin  begründet, 
dafs  alle  unsere  Begriffe,  unsere  Denkmitlel  subjektiver  Natur,  Kon- 
struktionen unseres  Geistes  sind.  Sie  befolgen  somit  die  Gesetze,  die 
wir  ihnen  auferlegen,  und  wir  sind  innerhalb  gewisser  Grenzen  im- 
stande, verschiedene  Begriffskonstruktionen  auszuführen.  Von  einein 
und  demselben  Tatsachengebiet  sind  oft  mehrere  Theorien  möglich, 
von  denen  keine  falsch  zu  sein  braucht,  wenn  auch  der  Grad  ihrer 
Zweckmässigkeit  ein  verschiedener  sein  kann. 

Daraus  entsteht  dann  die  Aufgabe,  von  mehreren  richtigen 


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Theorien  die  zweckentsprechendste  auszuwählen.  Mach  begreift  sie 
unter  dem  Namen  der  Gedankenanpassung  'an  die  Tatsachen.  Aber 
noch  einer  zweiten  Forderung  subjektiver  Natur  mufs  die  Wissen- 
schaft Genüge  leisten:  ihr  Zweck  ist  ja,  durch  Beschreibung  der  Er- 
fahrungen anderer  uns  eigeno  Erfahrungen  zu  ersparen,  also  ein 
ökonomischer.  Eis  folgt  daraus,  dafs  die  Wissenschaft  desto  besser 
ihre  Bestimmung  erfüllt,  je  leichter  sie  es  uns  macht,  uns  ihren  Inhalt 
anzueignen.  Schon  um  Erfahrung  überhaupt  mitteilen  zu  können,  ist 
eine  Vereinfachung  derselben  notwendig.  Durch  Fortsetzung  dieses 
Prozesses  der  Vereinfachung  enstehen  die  allgemeinen  einfachsten 
Grundsätze  der  Naturwissenschaft. 

Die  Wissenschaft  bat  also,  so  wie  etwa  die  Technik,  die  Aufgabe, 
Zwecke  zu  erfüllen,  sie  ist  insofern  immer  eine  normative,  und  muss 
vor  allem  den  Gesetzen  der  Logik  Genüge  leisten;  nur  darf  daraus 
nooh  gar  nicht  auf  ihre  Richtigkeit  geschlossen  werden;  eine  Theorie 
kann  sehr  wohl  logisch  zulässig,  physikalisch  aber  unrichtig  sein.  Die 
Anforderungen  der  Logik  bilden  zwar  notwendige,  aber  nicht  hin- 
reichende Bedingungen  für  die  Giltigkeit  einer  physikalischen  Theorie. 

Eis  ist  natürlich  unmöglich,  Mache  so  vielseitiger  Tätigkeit  auf 
dem  Gebiete  der  WiBsenscbaftslehre  innerhalb  des  engen  Rahmens 
dieser  Skizze  gerecht  zu  werden;  nur  die  allgemeinen  Grundsätze 
seiner  Theorie  der  Erkenntnis  konnten  hier  angeführt  w’erden.  Diese 
stellen  aber  schon  gegenüber  den  landläufigen  Ansichten  in  Philo- 
sophie und  Naturwissenschaft  eine  so  gewaltige  Revolution  der  Denk- 
art vor,  dafs  es  freilich  nicht  allzu  verwunderlich  sein  kann,  wenn 
seine  Prinzipien  von  fachmännischer,  insbesondere  von  philosophischer 
Seite  noch  immer  Mifsdeutungen,  selbst  gröbster  Art,  ausgesetzt  sind. 
Eis  wird  hierin  oft  das  unglaublichste  geleistet.  So  findet  ein  Pro- 
fessor der  Philosophie  an  einer  süddeutschen  Universität  es  für  un- 
möglich, das  Brechungsgesetz  in  der  Optik  auf  Elmpfindungen  zurück- 
zuführen, und  meint.  Mach  hätte  die  phänomenologischen  Gesetze, 
in  die  sioh  einmal  die  ganze  Physik  werde  auflösen  lassen,  nicht  ge- 
funden, und  es  sei  bei  der  ganzen  Sachlage  nicht  zu  erwarten,  dafs 
er  sie  jemals  finden  werde.  Nun  ist  allerdings  keine  dieser  Eventuali- 
täten notwendig;  die  phänomenologischen  Gesetze  der  Physik  sind 
nämlioh  bereits  da,  es  sind  das  alles  jene,  wo  nicht  von  der  Be- 
wegung fiktiver  Massen,  wie  etwa  in  der  kinetischen  Gastheorie,  oder 
überhaupt  von  verborgenen  Mechanismen  die  Rede  ist,  also  sozusagen 
alle  wirklichen  Gesetze  der  Physik.  Newtons  Gravitationsgesetz  ist 
ein  klassisches  Beispiel  einer  rein  phänomenologischen  Beschreibung. 


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Derselbe  Kritiker  findet  es  mit  der  Menschenwürde  nicht  vereinbar, 
dafs  wir  uns  mit  jener  Oewifsheit  (dee  unmittelbaren  Erlebens)  sollten 
zufriedengeben  müssen,  die  auch  der  mühselig  über  den  Boden 
kriechenden  Sohnecke  zukommt.  Nun  ee  wäre  ja  ganz  sohön,  wenn 
wir  ein  besonderes  Weisheitsorakel  in  uns  hätten,  aber  „bis  jetzt  hat 
niemand  es  gefunden,  noch  ist  bei  der  ganzen  Sachlage  zu  erwarten, 
dafs  es  jemals  werde  gefunden  werden“.  Die  wirkliche  Gewifsheit, 
die  uns  zu  Gebote  steht,  ist  allerdings  nur  eine  individuelle  und  mo- 
mentane; und  diese  scharfe  Sohneide  ist  zwar  allerdings  außerstande, 
stolze  metaphysische  Luftschlösser  zu  tragen ; sie  zu  zertrümmern,  hat  sie 
sich  aber  bis  jetzt  immer  noch  stark  genug  erwiesen.  Die  Bestätigung 
durch  diese  unmittelbare  Erfahrung  ist  nie  imstande,  die  Richtigkeit 
einer  physikalischen  Hypothese  zu  erweisen;  wohl  aber  vermag  die 
Nichtbestätigung  ihre  Unrichtigkeit  mit  aller  Schärfe  darzutun.  Mit 
diesem  negativen  Kriterium  müssen  wir  uns  zufrieden  geben,  mag  es 
uns  nun  reoht  sein  oder  nicht. 

Lange  Zeit  stand  Mach  mit  seinen  Gedanken  einsam  und  un- 
verstanden da.  Sie  datieren  nämlich  aus  dem  Anfang  der  sechziger 
Jahre,  aber  erst  nach  dem  Erscheinen  der  „Mechanik  in  ihrer  Ent- 
wickelung, historisch  kritisch  dargestellt“  (1883,  begannen  sie  in  weitere 
Kreise  zu  dringen).  Duroh  das  Eintreten  von  Kirchhoff  und  Hertz 
wurde  die  naturwissenschaftliche  Welt  veranlafst,  nicht  nur  von  ihnen 
Notiz  zu  nehmen,  sondern  auch  deren  Berechtigung  in  wichtigen 
Punkten  anzuerkennen,  und  mit  Befriedigung  konnte  Maoh  kon- 
statieren, dafs  einzelne  seiner  Aufstellungen  bereits  den  Charakter 
von  Schlagworten  angenommen  haben.  Sehr  gering  ist  hingegen  das 
Verständnis,  das  Mach  bisher  in  philosophischen  Kreisen  gefunden. 
Der  Gedankenkreis  von  Avenarius,  die  immanente  Philosophie,  und 
vor  allem  H.  Cornelius  in  München  sind  fast  die  einzigen  ihm 
näherstehenden,  doch  hat  nur  letzterer  ausdrücklich  auf  ihn  Bezug 
genommen,  wie  er  denn  auch  vielleicht  der  einzige  ist,  der  Maoh  sehe 
Gedanken  weiter  gebildet  hat.  Die  eigentlichen,  tonangebenden  Philo- 
sophen verschiedenster  Richtung  haben  cs  aber  bisher  noch  nicht 
einmal  zu  einem  Verständnis  des  Sinnes  der  Machschen  Ausfüh- 
rungen gebracht 

Unter  diesen  Umständen  mufste  es  Mach  zu  besonderer  Be- 
friedigung gereichen,  geistesverwandte  Denker,  die  gleich  ihm  zugleich 
auf  dem  Boden  der  exakten  Wissenschaft  und  der  Philosophie  stehen, 
aufzufinden.  Es  sind  das  die  bereits  genannten  Stallo,  Clifford 
und  Poarson.  (Schlufs  folgt.) 


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Von  der  Deutschen  Städte-Ausstellung  in  Dresden. 

Von  Dr.  (Instar  Kanter  in  Charlottenburg. 

-'ä/YAon  den  zahlreichen  Gebieten,  die  auf  der  Dresdener  Städte* 
> Ausstellung  dieses  Jahres  in  so  anschaulicher  Weise  vertreten 
waren,  dürfte  vielleicht  das  der  Beseitigung  der  städtischen 
Abfälle  tür  die  Leser  dieser  Zeitschrift  von  dem  gröfsten  Interesse 
sein.  Die  städtischen  Abfälle  sind  wesentlich  zweierlei  Art,  nämlich 
einmal  die  flüssigen  und  sodann  die  festen.  Erstere,  die  vom  reinen 
Regenwasser  bis  zu  den  Abgängen  der  Abortanlagen  alle  Arten  von 
nicht  oder  mehr  oder  weniger  verunreinigten  sowie  von  ganz  flüssigen 
oder  breiförmigen  Stoffen  in  sich  fassen,  werden  der  Regel  naoh 
mittelst  Kanalisation  beseitigt,  während  die  festen  Abfälle,  die  nicht 
nur  alles  das  in  sich  begreifen,  was  unter  dem  Namen  Muli  bekannt 
ist,  sondern  wozu  auoh  die  Abgänge  der  Schlachthäuser  und  Ab- 
deckereien gehören,  in  verschiedener  Weise  abgefahren  und  wohl  am 
zweokmäfsigsten  durch  Hitze  unschädlich  gemacht  werden. 

Was  zunächst  die  Beseitigung  der  Abwässer  anbetrifli,  so  ist  es 
nicht  zu  empfehlen,  Regenwasser  und  Schmutzwasser  unterschiedslos 
miteinander  zu  vermengen,  da  einmal  dadurch  bei  einer  vorzunehmen- 
den Reinigung  der  Abwässer  viel  zu  grofse  FUissigkeitsmengen  be- 
handelt werden  müssen,  und  da  andererseits  in  dem  Falle,  wo  die  vor- 
handenen Reinigungsanlagen  versagen,  und  wo  man  etwa  nach  grofsen 
Regengüssen  einen  Teil  der  Abwässer  ungereinigt  in  die  Waaseriäufe 
einlassen  raufe,  das  in  dem  Gemisch  enthaltene  Sehmutzwasser  auf 
diese  letzteren,  insbesondere  auf  die  darin  lebenden  Fische,  sehr 
unheilvoll  einwirkt. 

Unter  diesen  Umständen  findet  denn  auch  das  System  der  so- 
genannten Trennkanaiisation  vielfachen  Eingang.  Gewöhnlich  legt  man 
hierbei  gesonderte  Kanalleitungen  für  Schmutzwässer  und  für  Regen- 
wiieser  an,  wobei  erstere  unmittelbar  vor  den  Häusern  zu  beiden 
Seiten  zu  verlaufen,  letztere  sioii  dagegen  in  der  Mitte  des  Fahr- 
dammes zu  befinden  pflegen. 


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Ein  SyBtem,  das  von  der  Firma  Windschild  & Langelott  in 
Cossebaude  bei  Dresden  ausgestellt  war,  vermeidet  hierbei  die  Not- 
wendigkeit doppelter  Kanalanlagen,  indem  innerhalb  eines  einzigen 
KanalrohreB  durch  eine  Trennungswand  zwei  übereinanderliegende 
und  vollständig  voneinander  geschiedene  Abteilungen  sich  befinden, 
wovon  die  untere,  kleinere  für  Sohmutzwasser,  die  obere,  gröfsere 
für  Kegenwasser  dient.  Geeignete  Spiilanlagen  sind  vorgesehen,  wobei 
sioh  mit  dem  Sohmutzkanal  in  Verbindung  stehende  Behälter  durch 
langsamen  Wasserzulauf  allmählich  füllen  und  dann  plötzlich  das  in 
ihnen  enthaltene  Wasser  in  den  Kanal  ergiefsen.  Hierdurch  werden 
dann  die  in  ihm  abgelagerten  Sinkstofle  fortgespült.  Da,  wo  Zu- 
leitungen von  Strafsen wasser  in  den  Kanal  einmünden,  die  geeignet 
sind,  Schlamm  und  Sand  in  ihn  hineinzubringen,  ist  eine  aus  einem 
in  einer  Versenkung  liegenden  Eimer  bestehende  Fangvorrichtung 
angebracht,  die  diese  Stoffe  aufnimmt  und  von  Zeit  zu  Zeit  entleert 
werden  kann. 

Ein  anderes  System  der  Trennkanalisation  führen  Gebr.  Körting 
in  Hannover  vor,  wobei  die  Abortanlagen  mit  einem  sogenannten  Fall- 
rohrkasten versehen  sind,  der  mit  einer  luftleer  gemachten  Leitung  in 
Verbindung  steht.  Der  Fallrohrkasten  ist  so  eingerichtet,  dafs  die 
Abfälle  zwar  in  diese  Leitung  hineingesaugt  werden,  dafs  aber  Luft 
nicht  in  diese  gelangen  kann,  und  somit  ein  Stauen  ihres  Inhaltes 
durch  Luftblasenbildung  unmöglich  wird.  Die  Rohre  führen  dann  in 
schmiedeeiserne  Behälter,  von  wo  aus  die  Stoffe  beliebig  abgeführt 
werden  können.  Dies  System  eignet  sich  besonders  für  die  Ver- 
wendung in  Fabriken,  Krankenhäusern  und  ähnlichen  geschlossenen 
von  zahlreichen  Menschen  besetzten  Anlagen. 

Auch  die  Stadt  Kiel  hat  die  Abfuhr  der  Fäkalien  von  derjenigen 
des  übrigen  Abwassers  vollständig  getrennt,  indem  sie  sioh  zur  An- 
lage einer  Poudrettefabrik  entschlossen  hat.  Hierbei  beßnden  sioh  in 
den  einzelnen  Haushaltungen  Eimer  aus  verzinktem  Eisenblech,  die 
am  Boden  zunächst  mit  einer  Lage  Torfmull  versehen  sind.  Die  Eimer 
werden  zweimal  wöchentlich  abgeholt,  und  ihr  Inhalt  wird  nach  dem 
Ansäuren  mittelst  Schwefelsäure  zu  Poudrette  eingedampft,  die  nach 
den  Untersuchungen  der  Landwirtschaftlichen  Versuchsstation  zu  Kiel 
durchschnittlich  etwa  11%  Wasser,  6'/j%  Stickstoff,  3%  Phosphor- 
säure und  3 % Kali  enthält.  Die  Abfälle  ergeben  somit  einen  recht 
brauchbaren  Düngor  und  werden  als  solcher  an  die  Landwirtschaft 
verkauft.  Das  Unternehmen  arbeitet  nicht  nur  in  gesundheitlicher 
sondern  auch  in  finanzieller  Hinsicht  recht  zufriedenstellend. 


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Die  Stadt  Halle  a.  S.  bedient  sich  zur  Reinigung  ihrer  Abwässer 
in  einem  ihrer  sechs  Kanalisationssysteme,  wobei  diese  sohlierslich 
in  die  Saale  abgelassen  werden  müssen,  einer  Anlage  nach  Müller 
& Nahnsen.  Hierbei  gelangen  die  Abwässer  zunäohst  in  einen  so- 
genannten Vorbrunnen,  worin  sioh  die  spezifisch  schweren  Teile,  wie 
Sand  u.  s.  w.,  absetzen,  und  von  da  aus  in  mühlradartig  konstruierte 
und  sich  durch  die  Strömung  der  Abwässer  bewegende  Behälter,  die 
die  Menge  des  Wassers  zu  messen  und  danach  den  Zusatz  an  Chemi- 
kalien einzurichten  gestatten.  Die  Gase,  die  sich  bei  dem  Einrühren 
der  Chemikalien  entwickeln,  werden  in  einem  besonderen  Ofen  ver- 
brannt Als  Fällungsmittel  dienen  schwefelsaure  Tonerde,  Kieselsäure- 
hydrat und  Kalkmilch.  Alsdann  durchfiiefsen  die  Abwässer  noch 
mehrere  Siebe,  woduroh  Holz,  Kork  und  andere  Sohwimmstoffe  zurück- 
gehalten werden,  und  kommen  schliefslich  in  den  eigentlichen  Klär- 
raum, der  nach  unten  triohterartig  zuläuft  und  zum  Absetzenlassen 
der  Niederschläge  dient.  Ein  zweiter  Klärbrunnen  vollendet  den  Vor- 
gang. Der  Schlamm  wird  abgeprefst  und  der  Landwirtschaft  unent- 
geltlich übergeben. 

Das  Verfahren  von  Rothe  & Degener  arbeitet  in  der  Weise, 
dafs  es  die  in  den  Abwässern  enthaltenen  organischen  StofTe  durch 
das  Aufnahmevermögen  einer  künstlichen  Humussohioht  unschädlich 
zu  machen  sucht.  Zu  diesem  Zwecke  wird  den  Abwässern  ein  dünner 
Brei  von  mit  Wasser  angemachter,  gemahlener  Braunkohle  zugesetzt. 
Nachdem  deren  Einwirkung  eine  kurze  Zeitlang  stattgefunden  hat, 
wird  eine  zur  rasohen  Fällung  der  noch  in  der  Sohwebe  befindlichen 
HumusstotTe  genügende  Menge  von  gelösten  Eisenaluminium-  und 
Magnesiumsalzen  zugeführt.  Dieses  Verfahren  ist  insbesondere  von 
einer  Kommission  der  Stadt  Köpenick  empfohlen  worden.  Eine  inter- 
essante Weiterbildung  davon  hat  die  Gasmotorenfabrik  Deutz  auf  der 
Ausstellung  vorgeführt,  indem  sie  den  so  ausgefällten  Niederschlag 
nach  dem  Abpressen  und  Trocknen  in  Generatoren  vergast  und  das 
gewonnene  Gas  in  einer  eigens  konstruierten,  bei  dem  nur  geringen 
Brennwert  des  Gases  besonders  stark  gehaltenen  Maschine  in  Kraft 
umsetzt.  Auf  diese  Weise  sollen  sioh  die  städtischen  Abfälle  mit  Vor- 
teil zur  Erzeugung  von  Kraft,  insbesondere  zum  Betriebe  einer  elektri- 
schen Zentrale  nutzbar  machen  lassen. 

Die  von  Hermann  Liebold  in  Dresden-A.  ausgestellte  Fäkalien- 
kläranlage beruht  auf  ganz  anderen  Grundsätzen,  nämlich  auf  der 
sogenannten  Selbstreinigung  der  Abwässer.  Hierbei  werden  für  eine 
Kläranlage  zwei  oder  mehrere  Kessel  verwendet.  Der  erste,  kleinere 


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stellt  den  sogenannten  Vorklärer  dar,  während  der  zweite  oder  dritte 
seiner  Tätigkeit  entsprechend,  Hauptklärer  genannt  wird.  Die  Klärung 
geht  folgendermaßen  vor  sich:  Das  von  den  Klosetts  kommende  Kohr 
taucht  in  den  Vorklärer  bis  kurz  über  den  Boden  ein,  duroh  welche 
Anordnung  die  spezifisch  schwersten  Stoffe  am  Boden  liegen  bleiben. 
Im  übrigen  Vorklärerinhalt  vollzieht  sich  ständig  eine  Scheidung  der 
Sink-  und  Sohwebestoffe;  erstere  sinken  zu  Boden  und  letztere  bilden 
un  der  Oberfläche  des  Kessels  eine  weiche  Masse.  Gleichzeitig  mit 
dieser  mechanischen  Sedimentation  beginnt  die  Tätigkeit  ärober  und 
anärober  Kleinlebewesen.  Diese  spalten  die  in-  den  Abgängen  ent- 
haltenen, zusammengesetzteren  organischen  Verbindungen,  bis  ihnen 
der  Stickstoff  vollständig  entzogen  ist.  Hierdurch  hört  aber  auoh  die 
Lebensfähigkeit  der  äroben  Mikroorganismen  auf,  während  die  an- 
äroben  Mikroorganismen  ohne  ihn  bestehen  können.  Zwischen  den 
obersten  und  untersten  Schichten  des  Klärinhaltes  wird  sioh  dann 
eine  schwaoh  trübe  Flüssigkeit  bilden,  die  mehr  oder  weniger  noch 
von  kleinen  organischen  Teilen  durohsetzt  ist.  Durch  ein  hebelartiges 
Rohr,  das  bis  ungefähr  in  die  Mitte  des  Vorklärers  eintaucht,  wird 
diese  Flüssigkeit  in  den  Hauptklärer  übergeführt,  und  zwar  wieder  so, 
dafs  das  Eintauohrohr  kurz  über  dem  Boden  mündet,  während  das 
Ausgangsrohr  bis  zur  Mitte  des  Klärinhaltes  reicht.  Im  Hauptklärer 
vollzieht  sich  derselbe  Prozeß  wie  im  Vorklärer;  Sink-  und  Sohwebe- 
stoffe werden  geschieden,  und  die  äroben  Mikroorganismen  sorgen  für 
den  weiteren  Zerfall.  Im  allgemeinen  Leben  nennt  man  letzteren 
Vorgang  faulige  oder  Sumpfgasgärung.  Duroh  die  Spaltung  des 
Fäces  werden  Gase  frei,  die  die  Klärer  nicht  absorbieren.  Über  dem 
Klärinhalt  befindet  sioh  ein  leerer  Raum,  in  dem  sioh  die  Gase, 
Schwefelwasserstoff  und  Ammoniak,  sammeln  können,  und  von  wo  sie 
mittelst  eines  sogenannten  Vergasers  abgeführt  werden.  Letzterer  ist 
ein  kleiner,  gußeiserner  Kessel,  der  zu  zwei  Dritteln  seines  Inhaltes 
mit  Glyzerin  gefüllt  ist.  Das  Gasrohr  von  den  beiden  Klärkesseln 
taucht  ein  Stück  in  das  Glyzerin  ein,  und  die  Gase  treten  duroh  diese 
Füllung  in  den  oberen  Raum  des  Kessels  und  können  von  hier  aus 
in  ein  übergehendes  Rohr  oder  ins  Freie  geführt  werden.  Explosionen 
und  Vergiftungen  durch  diese  Gase  sind  daher  vollständig  aus- 
geschlossen. Die  Gasentwickelung  beträgt  im  Monat  höchstens  20  Liter. 
Die  Kontrolle  der  Kessel  zur  Entfernung  der  angesetzten  Masse  erfolgt 
durchschnittlich  alle  zwei  bis  drei  Jahre. 

Vorliegende  Zeugnisse,  insbesondere  solche  von  den  Behörden 
der  Stadt  Zürich,  sprechen  sich  sehr  günBtig  über  die  Reinigung  der 


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Fäkalien  naeh  diesem  System  aus,  und  auch  ein  Qutaohten  des 
Hygienischen  Instituts  der  Universität  München  lautet  dahin,  dafs  so 
gereinigte  Abwässer  unbedenklich  in  Seen,  Flüsse  usw.  eingeleitet 
werden  können,  und  dafs  man  von  Abwässern  einen  höheren  Orad 
von  Reinheit  nioht  erlangen  könne,  als  er  mit  dem  besprochenen 
System  erzielt  werde.  Auch  zeigten  die  untersuchten  Abwässer  eine 
solche  Beschaffenheit,  dafs  sie  dem  weiteren  Prozeß  der  oxydierenden 
Selbstreinigung  keine  Schwierigkeiten  entgegensetzten  und  daher  un- 
bedenklich auch  auf  Rieselfelder  geleitet  werden  könnten. 

Auch  die  Firma  Sch  weder  & Cie.  in  Grofs-Lichterfelde  führt 
Abwasserreinigungsanlagen  nach  dem  sogenannten  biologischen  Faul- 
kammerverfahren  aus,  und  zwar  nioht  im  unmittelbaren  Ansohlufs  an 
Abortanlagen,  sondern  in  gröfserem  Mafsstabe  Pur  die  Reinigung 
städtischer  Spüljaucben  und  für  ähnliche  Abwässer. 

Ebenso  führt  die  Allgemeine  Städtereinigungs-Oesellsohaft 
in  Wiesbaden  Anlagen  nach  ähnlichem  System  aus,  wobei  die  Wässer 
zunächst  in  einen  sogenannten  Faulraum  gelangen,  in  dem  eine  weit- 
gehende mechanische  Reinigung  und  geeignete  Vorbehandlung  für  die 
weitere  Reinigung  duroh  das  Oxydationsfllter  erfolgt  Vom  Faulraum 
gelangt  das  vorgereinigte  Abwasser  in  den  Ausgleichs-  und  Vorrats- 
bebälter,  aus  dem  das  Wasser  naoh  den  Oxydationsfiltem  abgelassen 
wird.  Dieses  Ablassen  geschieht  je  nach  Lage  des  Falls  sowohl 
selbsttätig,  als  nach  einer  bestimmten  vorgeschriebenen  Betriebsordnung 
durch  einen  Wärter  im  Nebendienst  In  den  Oxydationsfiltem  ver- 
bleibt das  Wasser  2 bis  2'/j  Stunden  und  wird  alsdann  auf  das  Nacb- 
filter  abgelassen,  aus  dem  es  klar,  färb-  und  geruchlos  sowie  haltbar, 
ohne  weiter  in  Fäulnis  überzugehen,  heraustritt.  Auoh  ist  eine  be- 
sondere Desinfektionsabteilung  vorgesehen,  in  der  dem  Wasser  im 
Fall  von  Epidemien  noch  besonders  Desinfektionsmittel  zugesetzt 
werden  können. 

Was  die  Beseitigung  der  festen  Abfälle  anbetrifft,  so  ist  es  all- 
seitig wohl  als  unrationell  anerkannt,  das  Müll  einfach  ins  Freie  zu 
führen  und  dort  aufzuhäufen  oder  ihn  zum  Bestreuen  von  Feldern 
zu  benutzen.  Hierbei  wird  zwar  ein  Teil  der  darin  enthaltenen  Stoffe 
als  Dünger  verwertet,  aber  alle  diejenigen  Bestandteile  des  Mülls,  die 
zu  diesem  Zwecke  nicht  geeignet  sind,  insbesondere  Olas-,  Porzellan- 
und  Metallteile,  bilden  eine  recht  unangenehme  Belastung  der  Felder. 
Auoh  wird  bei  diesem  Verfahren  keinerlei  Anstalt  getroffen,  die 
gesundheitsschädlichen  Teile  des  Mülls  zu  vernichten.  Wenn  auch 
bereits  zahlreiche  8yBteme  bestehen  und  auch  in  verschiedenen  Bei- 

Himmel  und  Erd».  190«.  XVI.  X 6 


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spielen  in  Dresden  vorgeführt  werden,  die  eine  staubfreie  Müllabfuhr 
gestatten,  so  ist  dooh  eine  Durchwühlung  des  Mülls  da,  wo  es  ab- 
geladen wird,  nicht  ausgeschlossen,  die  bekanntlich  durch  gewerbs- 
mäßige Lumpensammler  ganz  regelmäfsig  erfolgt,  und  zwar  manches 
nooh  Brauchbare  zutage  fördert,  aber  auch  die  darin  enthaltenen 
gesundheitsschädlichen  Keime  überallhin  verschleppt.  Allen  diesen 
Übelsländen  kann  nur  vorgebeugt  werden,  wenn  das  Müll  sofort  an 
eine  Stelle  gefahren  wird,  wo  er  gänzlich  unschädlich  gemacht  wird. 
Dies  ist  nur  dann  der  Fall,  wenn  die  Mülleimer  unmittelbar  in  eine 
Verbrennungsanstalt  entleert  werden.  Inwiefern  eine  derartige  Anlage 
Kosten  erfordert,  ist  je  nach  den  - örtliohen  Verhältnissen  sehr  ver- 
schieden, da  in  manchen  Gegenden  sehr  viel  brennbare  Stoffe  auf  das 
Müll  gelangen,  und  demnach  die  Zugabe  von  Brennmaterial  fast  oder 
ganz  unnötig  wird,  während  unter  anderen  Verhältnissen  eine  mehr 
oder  weniger  grofse  Menge  an  Brennstoff  verbraucht  wird.  Conrad 
Bauer  in  Nieder-Schönhausen  bei  Berlin  gibt  auf  der  Ausstellung 
Einzelheiten  über  sein  System  zur  Beseitigung  des  Mülls  und  zur 
Herstellung  von  Steinen  aus  den  bei  der  Müllverbrennung  erhaltenen 
Schlacken. 

H.  Kori  in  Berlin  W.  stellt  gleichfalls  Verbrennungsöfen  für  Ab- 
fälle aller  Art  aus,  die  zwar  nicht  in  erster  Linie  für  die  Müll- 
verbrennung ganzer  Städte,  sondern  für  die  Beseitigung  von  Abfällen 
in  Krankenhäusern,  Schlachthöfen  und  dergleichen  berechnet  sind. 
Die  Öfen  sind  je  nach  der  Menge  zu  bewältigender  Abfälle  verschieden 
konstruiert.  Die  gröfsten  Öfen,  bei  denen  insbesondere  auch  die  Be- 
seitigung von  Kehricht  in  Betracht  kommt,  sind  so  eingerichtet,  dafs 
dessen  Verbrennungswärme  möglichst  ausgenutzt  ist,  und  enthalten 
außerdem  noch  eine  besondere  Feuerung  zur  vollständigen  Beseitigung 
der  etwa  noch  in  dem  entweichenden  Rauch  enthaltenen  unverbrannten 
Gase  und  Rufsteile. 

Riohard  Schneider  in  Dresden  stellte  in  der  Sonderausstellung 
des  Feuerbestattungsvereins  einen  Ofen  zur  Verbrennung  von  Leichen 
aus,  ein  Gebiet,  das  ja  mit  dem  hier  zu  besprechenden  in  engster 
Verbindung  steht.  Die  Leichenvorbrennungsfrage  ist  im  übrigen  ein 
Gegenstand,  über  den  man  sehr  verschiedener  Ansicht  sein  kann,  und 
die  man  jedenfalls  nur  vom  Standpunkte  der  Zweckmäfsigkeit  aus 
beurteilen  sollte,  während  sie  leider  vielfach  zum  Gegenstand  des 
Parteistreites  geworden  ist  und  mit  Gründen  erörtert  wird,  die  eigentlich 
mit  der  Saohe  selber  gar  nichts  zu  tun  haben. 

Gehen  wir  nun  auf  ein  anderes  Gebiet  der  Beseitigung  fester 


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•Abfälle  über,  so  wäre  nooh  die  Industrie  der  Abdeckerei  zu  erwähnen, 
die  sioh  allmählich  zu  einem  wesentlichen  Nebenbetrieb  der  städtischen 
SohlachthofanUgen  entwickelt  hat  So  führt  z.  B.  die  Stadt  Dresden 
ein  Modell  des  Maschinenraumes  ihrer  Abdeckerei  vor,  in  dem  sioh 
die  zur  Zersetzung  der  Tierkörper  dienenden  Podewilsschen 
Trommeln  befinden,  auoh  Proben  der  in  der  Anstalt  erzeugten  Stoffe 
und  eine  Tabelle  über  den  wechselnden  Gehalt  des  zu  Futterzwecken 
dienenden  Tierkörpermehls  sind  vorhanden.  Man  macht  sich  von  der 
Wichtigkeit  dieser  Anlage  einen  Begriff,  wenn  man  hört,  dafs  sie  im 
Jahre  1898  mit  einem  Kostenaufwand  von  1 50 000  Mark  errichtet 
worden  ist.  Die  darin  befindlichen  Apparate  nach  Podewils  besitzen 
jeder  einen  Fassungsraum  von  1250  kg.  Es  sind  grofse,  schmiede- 
eiserne, mit  Dampfmantel  versehene  Zylinder,  in  denen  die  Kadaver, 
Tierteile  und  dergleichen  durch  eingeleitete,  gespannte  Wasserdämpfe 
bis  zum  Zerfall  aller  Teile  gedämpft  und  nach  Abscheidung  des  Fettes 
unter  Rotation  der  Trommel,  deren  Mantel  durch  Dampf  erhitzt  wird, 
zu  einem  hochwertigen  Futtermehl  — Tierkörpermehl  — verarbeitet 
werden.  Die  ganze  Verarbeitung  erfolgt  ohne  nennenswerte  Geruohs- 
belästigung  in  dem  dampfdioht  abgeschlossenen  Apparatensystem.  Die 
beim  Dämpfen  und  Trocknen  des  Rohmaterials  entstehenden  Gase 
werden  durch  eine  Luftpumpe  abgesaugt,  in  einem  Einspritzkonden- 
sator niedergeschlagen  und,  soweit  hier  nioht  kondensiert,  der  Dampf- 
kesselfeuerung zugeführt.  Das  Dämpfen  dauert  etwa  4 Stunden,  das 
Trocknen  6 bis  12  Stunden.  Die  fertigen  Produkte,  Fett  und  Tier- 
körpermehl, belästigen  nioht  duroh  ihren  Qeruoh  und  finden  leicht 
Absatz.  Bei  Beseitigung  des  im  Jahre  1902  der  Abdeckerei  über- 
gebenen Rohmaterials  im  Gewichte  von  etwa  300000  kg  wurden  etwa 
30000  kg  Fett  und  76000  kg  Tierkörpermehl  gewonnen.  Es  ist  ein 
sehr  wertvolles  Futtermittel  und  hat  durchschnittlich  folgende  Zu- 
sammensetzung: 

Stickstoff  ....  9,23  % Phosphorsäure  . . 7,26  % 


RohproteVn  ....  67,67%  Asche 18,81% 

Fett 16,81%  Wasser 6,24% 


^ | §&* 


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Physikalisches  von  der  Naturforscherversammlung  ln  Cassel. 

Der  Herkules  auf  der  Höhe  des  Habiohtswaldes  sah  auf  bunt- 
beflaggte Strafsenreihen  und  festlich  geschmückte  Plätze.  Herrlicher 
Herbstsonnenschein  wetteiferte  mit  den  Bürgern  des  sonst  so  stillen 
Cassel,  die  von  Nah  und  Fern  herbeigeströmten  Gäste,  die  Ritter  der 
geistigen  Tat,  die  Pioniere  der  Wahrheit  freundlich  zu  begrüfsen. 
Schöne  Tage  in  der  Tat  nach  langen  kalten  Regenwochen,  aber  auch 
Tage  fruchtbarer  und  fördernder  Arbeit,  denen  die  Teilnehmer  an  der 
76.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  ein  gutes  An- 
denken bewahren  werden.  Cassel  war  günstig  gewählt.  Der  engere 
Rahmen,  in  dem  sich  diesmal,  wie  auoh  schon  im  letzten  Jahre  in 
Karlsbad,  die  Ereignisse  abspielten,  mußte  naturgemäfs  einen  festeren 
Zusammenschluß  der  Teilnehmer  herbeifiihren.  Ein  reger  Gedanken- 
austausch förderte  so  Forschung  und  Fortschritt  und  zeigte  die  Ver- 
sammlung auf  der  ihr  würdigen  Höhe,  obwohl  keine  grofse  wissen- 
schaftliche Tat,  keine  neue  Wahrheit  — wir  sprechen  von  der  physi- 
kalischen Abteilung  — von  hoher  Tribüne  herab  verkündet  wurde. 

Fragt  man  nach  den  Aufgaben  des  Naturforschers,  so  gedenkt 
man  nicht  allein  jener  zahlreichen  Entdeckungen  und  Geistes- 
funde, an  deren  subtiler  Ausarbeitung  dio  Wissenschaft  tätig  ist, 
sondern  auch  vor  allem  jener  offenbaren  Lücken  in  unserer  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnis.  Eine  Naturforscherversammlung  wäre 
der  Ort,  von  der  Ausfüllung  dieser  Lücken  zu  reden.  Ihrer  gibt  es 
genug.  So  sind  wir  beispielsweise  von  der  spektralen  Verteilung 
strahlender  Energie  noch  keineswegs  zur  Zufriedenheit  unterrichtet. 
Gäbe  es  ein  Prisma  von  allgemeiner  Durchlässigkeit,  so  würde  es  eine 
Musterkarte  aller  strahlenden  Ausbreitungsvorgänge  von  den  elektri- 
schen Wellen  bis  zu  den  Strahlen  chemischer  Wirksamkeit  entwerfen. 
Denn  ein  Prisma  hat  ja  die  Eigenschaft,  zu  analysieren,  zu  sortieren, 
das  Mit-  und  Ineinander  in  ein  übersichtliches  Nebeneinander  zu  ver- 
wandeln. Gäbe  es  also  ein  für  alle  Strahlengattungen  durchlässiges 
Prisma,  wie  wir  es  der  Einfachheit  halber  voraussehen  und  zeichnen 
wollen  (Fig.  1),  so  könnte  man  mit  ihm  folgendes  Experiment  anstellen. 


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Man  könnte  einen  Strahl  elektrischer  Wellen  auf  das  Prisma  leiten 
und  würde  dann  bemerken,  dafs  dieser  nicht  allein  aus  seiner  gerad- 
linigen Richtung  abgelenkt  wird,  sondern  dafs  hinter  dem  Prisma  ein 
breites  Band,  ein  Spektrum  erscheint,  welohes  die  elektrischen  Strahlen 
nach  ihrer  Wellenlänge  geordnet  nebeneinander  enthält.  Und  zwar 
werden  die  langen  Wellen  am  wenigsten,  die  kurzen  am  stärksten  aus 
der  geraden  Riohtung  abgelenkt.  Das  Spektrum  der  elektrischen 
Strahlen  enthält  Wellen  von  vielen  Metern  Länge  bis  herab  zu  wenigen 
Millimetern.  Genau  so  verläuft  der  Versuch  für  die  Wärme-  und 
Liohtwellen,  nur  dafs  die  Gesamtablenkung  dieser  Strahlengruppen 


eine  gröfsere  ist.  Dabei  gehen  die  Wärmewellen  ohne  Sprung  in  die 
Liohtwellen  und  die  Liohtwellen  Bchliefslich  in  die  Wellenstrahlen 
chemisoher  Kraft  Uber,  nur  zwisohen  den  kürzten  elektrischen  Wellen 
und  den  längsten  Wärmewellen  klafft,  wie  es  auch  die  Abbildung  er- 
kennen läfst,  eine  grofse  Lüoke.  Hier  liegt  ein  unbekanntes  Gebiet 
von  etwa  fünf  Schwingungsoktaven.  Wir  werden  darauf  noch  zurück- 
kommen. 

Den  elektrischen  Wellen  widmete  Professur  Drude  einen  demon- 
strativen Vortrag,  in  dem  er  vor  allem  mit  Recht  auf  die  befruchtende 
Wechselwirkung  zwisohen  Wissenschaft  und  Teohnik  auf  diesem  Gebiet 
hinwies.  Sind  doch  die  elektrischen  Wellen,  von  unserem  grofsen 
Heinrioh  Hertz  zum  ersten  Mal  im  engen  Rahmen  des  Laboratoriums 
experimentell  dargeBtellt  und  studiert,  zu  den  Trägern  der  drahtlosen 
Telegramme  geworden.  Dabei  hat  sich  in  kaum  geahnter  Weise  auob 


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im  Bereiche  der  elektrischen  Wellen  alles  das  bestätigt,  was  mit  dem 
Begriff  der  Schwingung  so  eng  zusammenhängt.  Auch  bei  den  Ein- 
richtungen für  drahtlose  Telegraphie,  und  zwar  in  allen  einzelnen 
Gliedern  des  Mechanismus  sowie  für  die  wechselseitigen  Beziehungen 
der  Stationen  untereinander,  ist  für  die  Güte  und  Stärke  der  Energie- 
übertragung einzig  und  allein  jene  Abstimmung  und  jener  Zusammen- 
klang  erforderlich,  den  inan  in  der  Akustik  als  Resonanz  zu  be- 
zeichnen pflegt.  Es  ist  daher  für  den  Physiker  sowohl  wie  für  den 
Teohniker  von  eminentester  Bedeutung,  die  Anzahl  der  Eigenschwin- 
gungen und  damit  die  Wellenlänge  eines  jeden  elektrischen  Schwin- 
gungssystems zu  kennen.  Das  ist  wirklich  nicht  viel  schwieriger  als 
das  Abhören  einer  Stimmgabelschwingung  aus  der  Höhe  des  Tones 
denn  es  besteht  ein  festes  Verhältnis  zwischen  den  Abmessungen  und 
der  Beschaffenheit  eines  Schwingungskieises  und  seiner  Schwingungs- 
zahl. Die  Anzahl  der  Schwingungen  aber  in  einer  Sekunde,  hinein- 
dividiert in  die  Geschwindigkeit  der  elektrischen  Wellen,  nämlioh 
300000  km  (d.  i.  die  Strecke,  welche  die  Wellen  in  einer  Sekunde  zu- 
rüoklegen),  ergibt  die  Wellenlänge.  Volle  Resonanz  zwischen  zwei 
Schwingungskreisen  tritt  ebenso  wie  zwischen  zwei  Stimmgabeln  nur 
dann  auf,  wenn  Schwingungsgleichbeit  vorhanden  ist,  wenn  also  beide 
Systeme,  akustisch  gesprochen,  denselben  Ton  geben.  Nun  kann  man 
eine  ganze  Reihe  von  Schwingungssystemen  bekannter  Wellenlänge 
bereit  halten  und  unter  ihnen  so  lange  auswählen,  bis  eine  Resonanz  mit 
dem  zu  untersuchenden  System  unbekannter  Schwingungszahl  eintritt. 
Oder  man  verfährt  auch  so,  dafs  man  einen  in  bekannter  Weise 
variablen  Schwingungskreis  zur  Analyse  verwendet.  Jedenfalls  ist 
der  Vorgang  ein  aufserordentlich  einfacher,  denn  das  zur  Untersuchung 
dienende  Schwingungssystem  ist  kein  komplizierter  Apparat,  bewahre, 
ein  Stück  Drahtspule  auf  einein  Glaszylinder  oder,  in  verfeinerter 
Form,  ein  Gestell  mit  zwei  Drähten,  über  die  hin  eine  verschiebbare 
Metallbrücke  läuft.  Tritt  Resonanz  ein,  so  zeigen  sich  elektrische 
Schwingungserscheinungen,  die  am  Funkenspiel  oder  am  Aufleuchten 
einer  kleinen  Qeislerschen  Röhro  leicht  erkannt  werden.  Was  Professor 
Drude  zeigte,  war  im  Prinzip  nicht  neu,  aber  durch  die  geschickte 
Art  der  Anordnung  überzeugend  und  wertvoll.  Ohne  Übertreibung 
konnte  er  sagen,  dafs  wir  nunmehr  in  der  Lage  sind,  in  wenigen 
Sekunden  die  Wellenlänge  irgend  eines  elektrisch  schwingenden 
Systems  mit  einem  Fehler  von  nur  etwa  1 Prozent  zu  bestimmen.  Das 
ist  ein  beachtenswerter  Fortschritt. 

Die  Antenne  (d.  i.  der  hoch  auf  die  Masten  gezogene  Sendedraht) 


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und  das  elektrische  Entladungssystem,  welches  der  Antenne  die  aus- 
zustrahlende Energie  übermittelt,  stehen  miteinander  also  ebenfalls  im 
Abhängigkeitsverhältnis  der  Resonanz.  Das  ist  Haupterfordernis.  Es 
ist  aber  sohliefslich  auch  nioht  gleiohgiltig,  wie  die  Antenne  in  elektri- 
sche Schwingungen  versetzt  wird.  Könnte  man  in  ihr  Schwingungen 
durch  einen  stetig  fliehenden  Strom  erregen,  so  wäre  für  die  Energie- 
übertragung viel  gewonnen.  Analogien  für  derartige  Übertragungs- 
verhältnisse gibt  es  in  der  Akustik  genug;  man  denke  nur  an  das 
Anblasen  einer  Pfeife  durch  einen  gleichmäfsigen  Luftstrom  und  an 
die  Schwingungen  einer  Geigensaite  unter  dem  gleiohmäfsigen  Strich 
des  Bogens.  Es  entsteht  hier  offenbar  ein  neues  Problem,  das  gelöst 
sein  will  und  zweifellos  in  der  Zukunft  gelöst  werden  wird.  Professor 
Simon  konnte  bereits  über  recht  ermutigende,  von  ihm  in  Göttingen 
angestellte  Versuohe  berichten.  Er  wird  sie  fortsetzen,  sobald  er  über 
eine  Gleichstrommaschine  von  sehr  hoher  Spannung  (10000  Volt  oder 
mehr)  verfügt 

Wir  erwähnten  bereits  eingangs,  dafs  es  einen  für  alle  Ather- 
strablen  durchlässigen  Stoff  leider  nicht  gibt.  Glas  leistet  für  elektri- 
sche Wellen  und  Lichtwellen  gute  Dienste,  für  Wärmewellen  ist  es 
dagegen  ein  fast  undurchsichtiger  Körper.  Auch  ultraviolette  Strahlen 
durchdringen  es  nicht  Quarz,  Steinsalz,  Flufsspat,  Sylvin  u.  a. 
nähern  sich  dem  Ideal  bereits  mehr,  aber  auoh  sie  versagen  den 
langen  Wärmewellen  gegenüber.  Und  das  ist  sehr  bedauerlich,  denn 
gerade  zwischen  den  langen  Wärmewellen  und  den  kurzen  elektrischen 
Wellen  liegt  das  von  uns  bereits  charakterisierte  unbekannte  Gebiet 
von  5 Schwingungsoktaven.  Die  kürzesten  bisher  gemessenen  elektri- 
schen Wellen  haben  immerhin  nooh  eine  sichtbare  Gröfse,  die  längsten 
Wärmewellen  jedoch  nur  eine  Länge  von  0,06  mm.  Welcher  Art 
mögen  nun  die  Ätherstrahlen  dieses  unbekannten  Gebietes  sein?  Er- 
wartet uns  hier  eine  besondere  Überraschung  oder  gehen  irgendwo 
beide  Schwingungsgruppen  allmählich  und  unmerkbar  ineinander  über, 
ohne  einer  ganz  neuen,  bisher  noch  unbekannten  Strahlenart  zwischen 
sich  Raum  zu  gewähren?  Wir  können  diese  Frage  heute  nicht  mit 
voller  Sicherheit  beantworten,  soviel  aber  ist  sicher,  dafs  mit  Erfolg 
jenem  Gebiete  zugestrebt  wird,  wo  die  Wärmewellen  elektrische  Eigen- 
schaften bekommen  und  wo  man  die  Strahlen  elektrischer  Kraft  auoh 
als  Wärmestrahlen  bezeichnen  darf. 

Es  wird  unsere  Leser  gewifs  interessieren,  zu  erfahren,  wie  man 
die  langen  Wärmewellen  nachweist,  obschon  sie  auf  unser  grobes  Ge- 
fühl selbstredend  gar  keinen  Eindruck  mehr  ausüben.  Unser  Gefühl 


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versagt  bereits  Wärmestrahlen  gegenüber  von  etwa  einem  Tausendstel 
Millimeter  Wellenlänge;  man  hat  aber  noch  Wärmewellen  von  60 fach 
greiserer  Länge  erkannt  und  genau  bestimmt  Das  Verdienst  auf 
diesem  Gebiet  bahnbrechend  vorgegangen  zu  sein,  gebührt  Professor 
Rubens-  Cbarlottenburg,  der  ebenfalls,  unter  Vorführung  sehr  inter- 
essanter Versuche,  in  der  Abteilungssitzung  über  seine  Arbeiten 
referierte.  Wir  wollen  seine  Versuchsanordnung  mit  wenigen  Worten 
beschreiben.  Eb  gibt  eine  Reihe  von  Stoffen,  welche  die  kürzeren 
Wärmewellen  hindurohlassen,  die  längeren  dagegen  reflektieren.  Für 


die  letzteren  wirken  sie  also  wie  ein  metallisoher  Spiegel.  Glas  läfst 
alle  Lichtstrahlen  fast  anstandslos  hindurch  und  ebenso  die  Wärme- 
strahlen  bis  etwa  zu  einer  Wellenlänge  von  drei  Tausendstel  Millimetern. 
Quarz  gebt  hierin  weiter;  es  ist  durchsichtig  noch  für  etwa  dreimal 
solange  Wellen,  für  längere  Wellen  wird  es  zum  Spiegel.  Steinsalz 
spiegelt  bei  30  Tausendstel,  Fiufsspat  bei  60  Tausendstel  und  8ylvin 
gar  erst  bei  70  Tausendstel  Millimeter  Wellenlänge.  Nun  denke  man 
sich  folgende  Anordnung.  Von  irgend  einer  Wärmequelle,  sagen  wir 
einem  gewöhnlichen  Auerbrenner  S iFig.  2},  der  ohne  Zylinder  brennt 
— Glas  läfst  ja  längere  Wärmewellen  nioht  hindurch  — , fallt  ein 
Strahlenbündel  auf  eine  Platte  a aus  Fiufsspat.  Fiufsspat  läfst  die 
Lichtstrahlen  und  die  kürzeren  Wärmewellen  hinduroh,  die  längeren 
Wärmewellen  dagegen  reflektiert  er  und  wirft  sie  auf  die  Platte  b. 


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Hier  wiederholt  eich  derselbe  Vorgang  noch  einmal.  Sollten  etwa 
noch  einige  Lichtstrahlen  oder  kurzwellige  Wärmestrahlen  in  dem 
reflektierten  Bündel  vorhanden  gewesen  sein,  so  werden  sie  hier  hin- 
dnrchgelassen ; die  langen  Wärmewellen  werden  wiederum  reflektiert 
und  fallen  auf  die  Platte  o.  Es  spielt  sioh  also  ein  ähnlicher  Vorgang 
ab,  wie  beim  Sieben  von  Sand.  Hat  schtiefslich  eine  vier  bis  fünf- 
malige Reflexion  stattgefunden,  so  sind  keine  licht-  und  kurzwelligen 
Wärmestrahlen  mehr  vorhanden.  Was  da  übrig  bleibt,  sind  die  er- 
wünschten langwelligen  Strahlen,  „Rest“-Strah len,  wie  Bie  Rubens  mit 
Recht  nennt.  Sie  lassen  sioh  mit  Hilfe  der  Thermometersäule  (T), 
dem  hoohempflndliohen  Thermometer  des  Physikers,  nachweisen,  auch 
kann  man  an  ihnen  bemerken,  dafs  sie  sich  in  einigen  Eigenschaften 
bereits  den  elektrischen  Strahlen  nähern. 

Während  man  so  von  beiden  Seiten  her  das  unbekannte  Land 
vorsichtig  abbaut,  um  ja  nichts  zu  übersehen,  hat  der  Franzose 
Blond lot  einen  kühnen  Griff  mitten  hinein  getan  und  an  glühenden 
Körpern  — auch  im  Sonnenlioht  — eine  unsichtbare,  mit  teilweiser 
Durchdringungsfähigkeit  undurchsichtiger  Körper  begabte,  brechbare, 
jedooh  niobt  chemisoh  wirksame  dunkle  Strahlung  entdeckt,  die  an- 
scheinend einer  sehr  langen  Weliengattung  angehört  und  ihren  Platz 
zwischen  den  kürzesten  elektrischen  Wellen  und  den  längsten  Wärme- 
wellen hat.  Auoh  von  diesen  Blondlotschen  N-Strahlen  — so  genannt, 
weil  sie  in  der  Universität  Nancy  entdeckt  wurden  — war  auf  der 
Naturforsohervorsammlung  die  Rede.  Leider  liegt  eine  Bestätigung 
der  aufsehenerregendenVersuohe  Blondlots  noch  von  keiner  Seite  vor. 

Wichtiger  fast  noch  als  die  Messungen  an  den  Reststrahlen  sind 
jedoch  die  Rubensschen  Versuobe  über  die  Reflexionsfähigkeit  der 
Metalle  für  lange  Wärmewellen  und  ihr  elektrisches  Leitvermögen- 
Aber,  wird  der  Leser  ausrufen,  das  sind  doch  zwei  Dinge,  die  offenbar 
miteinander  garniohts  zu  tun  haben!  Keineswegs.  Er  erinnert  sich 
vielleicht,  einmal  gehört  zu  haben,  dafs  auch  die  Wärmeleitfähigkeit 
und  der  elektrische  Widerstand  Beziehungen  zu  einander  haben,  und 
zwar  so,  dafs  erstere  sioh  zu  letzterem  angenähert  reziprok  verhält 
Das  sind  doch  auoh  soheinbar  ganz  heterogene  Dinge.  Naoh  der 
Maxwellsohen  elektromagnetischen  Liohttheorie  mufs  man  vielmehr 
derlei  Beziehungen  durchaus  erwarten,  und  wenn  man  sie  bisher  hin- 
sichtlich der  Spiegelfähigkeit  und  des  Leitvermögens  nicht  fand,  so 
lag  dies  lediglich  an  einer  ungünstigen  Versuchsanordnung  Prüft 
man  Platin,  Gold  und  Silber  in  bezug  auf  sichtbare  oder  ultraviolette 
Strahlen,  so  wird  man  allerdings  bemerken,  dafs  Platin  diese  weit 


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vollkommener  reflektiert  als  Gold  und  Silber,  obgleioh  das  Leitver- 
mögen des  Platins  weit  geringer  ist  als  das  der  letztgenannten  beiden 
Metalle.  Im  Gebiet  der  langon  Wärme  wellen  kehrt  sioh  das  Verhältnis 
jedoch  direkt  um.  Noch  deutlicher  tritt  dies  Verhältnis  beim  Wismut 
hervor,  das  im  sichtbaren  Spektrum  kaum  merklich  hindurchläist, 
während  die  Durchlässigkeit  im  Ultrarot  mehrere  Prozent  beträgt  Es 
liegt  dies  an  den  Eigenschwingungen  der  Moleküle  — den  Resunanz- 
erscheinungen  also  — , die  durch  die  kürzeren  Wellen  erregt  werden. 
Führt  man  nach  Rubens  alle  Messungen  mit  langen  Wellen  aus, 
wobei  die  Komplikationen  und  Störungen  verschwinden,  so  zeigt  sich 
wirklich  der  Zusammenhang  in  kaum  geahnter  Klarheit  Es  ist  nämliob 
das  Reflexionsvermögen  der  Metalle  umgekehrt  proportional  der 
Quadratwurzel  aus  ihrem  elektrischen  Leitungsvermögen.  Das  ist 
eine  ebenso  einfache,  wie  hoch  erfreuliche  neue  Bestätigung  der 
elektromagnetischen  Liohttheorie. 

Sohliefslich  wäre  nooh  von  den  chemisch  wirksamen,  äufserst 
kurzwelligen,  dunklen  Strahlen  jenseit  vom  Violett  des  Lichtspektrums 
zu  reden.  Sio  sind  als  Haupterreger  der  Fluoreszenz,  der  chemischen 
Umwandlung  und  als  Ursache  elektrischer  Entladungsvorgänge  nicht 
minder  interessant  als  alle  übrigen.  Leider  ist  Glas  jedoch  für  sie  so 
gut  wie  garnicht  durchlässig,  und  das  ist  im  Interesse  photographischer 
Forschung  sehr  zu  bedauern.  Denn  die  Platte  kann  hinter  Glaslinsen 
ihre  volle  chemische  Kraft  garnicht  entfalten.  Da  ist  es  denn  mit 
Freude  zu  begrüfsen,  dafs  Schott  und  Genossen  in  Jena  auf  der 
Naturforscherversaminlung  mit  stark  ultraviolett  durchlässigen  Gläsern 
hervortraten  und  sowohl  Cron-  wie  Flintglas  von  der  neuen  Art  aus- 
stellten.  Zwar  kann  das  eigenartige  Glas  an  Durchlässigkeit  nicht 
mit  dem  Quarz  wetteifern,  es  ist  aber  für  viele  Fälle  von  bedeut- 
samem Wert.  So  konnte  Herr  Zschimmer  Himmelsphotographien, 
durch  alte  und  neue  Gläser  gewonnen,  nebeneinander  stellen,  auf  denen 
der  Fortschritt  sofort  in  die  Augen  sprang.  Die  hinter  ultraviolett 
durchlässigen  Gläsern  hergestellten  Aufnahmen  enthielten  nämlich 
etwa  */s  Qröfsenklasse  mehr  Sterne,  der  Gesamtzahl  nach  also  einen 
beträchtlichen  Zuwachs.  Es  gibt  aber  auch  Gebilde  am  Himmel,  die, 
wie  einige  Nebel,  nur  ultraviolettes  Licht  aussenden  und  daher  über- 
haupt nur  auf  photographischem  Wege  zu  entdecken  sind.  An  ihnen 
dürften  sich  die  neuen  Linsen  ganz  besonders  bewähren. 

So  wäre  von  der  letzten  Naturforsoherversammlung  in  Cassel  nooh 
viel  Interessantes  zu  berichten,  insbesondere  von  den  im  Vordergründe 
alles  Interesses  stehenden  radioaktiven  Substanzen  und  von  dem  sehr 


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91 


bedeutsamen  Vortrag  Ramsays  über  die  Verwandlung  von  Radium 
in  Helium.  Auch  über  die  mit  der  Versammlung  verbundene  Aus- 
stellung ist  noch  viel  zu  sagen.  Doch  darüber  ein  andermal. 

Dr.  B.  D. 

$ 

Der  Stern  85  Pegasi  nst  ein  von  Burnham  1878  entdeckter 
Doppelstern,  dessen  HauptBtern  6 " 7 und  dessen  Begleiter  nur  11”- 3 
ist.  Der  Begleiter  beschreibt  eine  sehr  enge  Bahn  von  nur  0".  78 
halber  greiser  Axe  in  26.7  Jahren  um  den  Hauptstern.  85  PegaBi 
besitzt  nach  Bossert  die  beträchtliche  jährliche  Eigenbewegung  von 
-f-  0'.  93  in  R.  A.  und  — 0*.  99  in  Deol.  oder  von  1*.  29  im  gröfsten 
Kreise  im  Positionswinkel  140°.  Der  Stern  B.  D.  + 26°.  4736,  9“  0 
stand,  als  Otto  Struve  ihn  1861  zuerst  mafs,  33*  im  Posiüonswinkel, 
114°  von  dem  Doppelstern  entfernt,  von  dem  Struve  damals  nur  den 
Hauptstern  sah,  und  konnte  daher  für  einen  entfernten  Begleiter  gelten. 
Die  später  ausgeführten  Anschlüsse  zeigten  aber  in  den  rasch  sich 
ändernden  Positionswinkeln  und  Distanzen  nichts  von  einer  Umlaufs- 
bewegung des  Sterns  9“-  um  86  Pegasi,  sondern  nur,  dafs  letzterer 
geradlinig  sich  an  der  Sphäre  bewegte.  Im  Jahre  1873  war  der  Ab- 
stand der  beiden  Sterne  auf  den  kleinsten  Betrag  von  14*  gesunken, 
von  da  ab  nimmt  die  Entfernung  der  nur  optisch  verknüpften  Sterne 
unaufhörlich  zu.  Im  Jahre  1888  war  85  Pegasi,  der  zu  Struves 
Zeiten  in  kleinerer  R.  A.  dem  schwachen  Sterne  voranging,  unter  den- 
selben getreten,  so  dafs  beide  im  selben  Stundenkreise  standen,  von 
da  ab  steht  der  helle  Stern  dauernd  östlich  von  dem  schwachen.  32  Be- 
stimmungen von  Positionswinkel  und  Distanz  des  Sternes  9"  gegen 
86  Pegasi  hat  nun  Comstock,  der  Direktor  des  Washburn  Obser- 
vatory,  benutzt,  um  zu  untersuchen,  wo  in  dem  physischen  System 
welches  86  Pegasi  mit  dem  Stern  ll“-  3 bildet,  der  Schwerpunkt  liegt, 
denn  dieser  ist  es,  der  sich  gradlinig  an  dem  Sterne  9m’  vorbei- 
bewegt, während  der  Hauptstern  6m-  7 in  26.7  Jahren  um  den  Schwer- 
punkt rotiert  mit  einer  halben  grofsen  Achse,  die  sich  zu  der  der  Bahn 
des  Begleiters  um  den  Hauptstern,  0'  78,  verhält  wie  die  blasse  des 
Begleiters  zu  der  Summe  der  Massen.  Da  der  Begleiter  nur  den 
174.  Teil  des  Liohtes  des  Hauptsterns  hat,  sollte  man  für  seine  Masse 
ebenfalls  nur  einen  geringen  Bruchteil  der  Masse  des  Hauptsterns  er- 
warten, und  dann  würde  praktisch  der  Hauptstern  selbst  die  gerad- 
linige Bewegung  ausführen.  Überraschender  Weise  erhielt  jedoch 
Comstook  für  dies  eben  bezeichnete  Massenverhältnis  aus  der  Be- 


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92 


handlung  der  R.  A.-Ditferenzen  gegen  den  Stern  9“  den  Wert  0.604, 
aus  den  Decl.-Differenzen  0.684,  in  reeht  guter  Übereinstimmung 
Nimmt  man  das  Mittel  0.62,  so  ist  dies  die  Masse  des  schwächeren 
Sterns,  wenn  man  die  Summe  der  Massen  = 1 setzt,  und  0.88  wird 
die  Masse  des  helleren  Sterns.  Der  174  mal  heller  leuchtende  Stern 
ist  also  der  an  Masse  und  damit  wahrscheinlich  auoh  an  Ausdehnung 
kleinere,  der  schwächere  Stern  mufs  sioh  somit  in  bedeutend  abge- 
kühlterem  Stadium  befinden  wie  der  hellere,  der  dem  zweiten  Spektral- 
typus angehört.  Selbst  wenn  die  Zahl  0.62  noch  erheblioh  fehlerhaft 
sein  sollte,  so  könnte  immerhin  der  hellere  Stern  im  Vergleich  zum 
schwachen  doch  nur  eine  Masse  besitzen,  die  nioht  entfernt  seiner 
überlegenen  Heiligkeit  entspricht.  Solohe  scheinbar  abnormen  Ver- 
hältnisse bestehen  bekanntlich  auch  im  Siriussystem,  wo  der  Haupt- 
stern rund  1000  mal  so  hell  ist  wie  der  Begleiter  und  dooh  nur  die 
doppelte  Masse  hat. 

Die  Parallaxe  des  Sterns  85  Pegasi  ist  zu  etwa  0.04  nach  den 
bisherigen  Messungen  anzunehmen,  damit  wird  die  halbe  grofse  Achse 
der  Bahn  des  Sterns  11“  um  den  Hauptstern  19*/j  Erdbahnradien  und 
die  Massen,  welche  in  dieser  dem  Sonnenabstand  des  Uranus  gleiohen 
Entfernung  eine  Umlaufsbewegung  in  25.7  Jahren  erzeugen,  besitzen 
zusammen  1 1 */4  mal  soviel  Masse  als  die  Sonne,  wenn  sie  nun  im 
Verhältnis  0.38 : 0.62  stehen,  so  ist  die  hellere  Komponente  von  85  Pe- 
gasi 4>/4,  die  schwächere  7 mal  so  sehwer  wie  die  Sonne.  Wegen  der 
Unsicherheit  der  Parallaxe  ist  das  Resultat  über  die  Summe  der  Massen 
nooh  recht  unsioher,  jedenfalls  aber  sind  die  Körper  der  Sonne  an 
Oröfse  überlegen.  Rp. 


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Himmelserscheinungen. 


Übersicht  über  die  Himmelserscheinungen 
für  Dezember  1903,  Januar  und  Februar  1904  *). 

1)  Der  Sternenhimmel.  In  diesem  Zeitabschnitt  bietet  der  Sternenhimmel 
abends  im  Siidosten  ein  glänzendes  Bild.  Die  Gruppe  von  8 Sternen  erster 
Gröfse,  welche  in  den  Sternbildern  des  grofsen  und  kleinen  Hundes,  des  Orion, 
des  Stiers,  der  Zwillinge  und  des  Fuhrmanns  nahe  beisammen  stehen,  ist 
zwar  Mitte  Dezember  noch  nicht  vollständig  bei  Anbruch  der  Nacht  aufge- 
gangen,  aber  von  8 Ubr  ab  im  Osten  sichtbar.  Mitte  Februar  steht  diese 
reiche  Stemgruppe  um  8 Uhr  abends  bereits  im  Silden,  und  es  kommt  in 
Regulus  im  grofsen  Löwen,  dann  im  Ostnordoaten  noch  ein  neunter  Stern 
erster  Gröfse  hinzu.  Die  rechts  davon  gelegenen  Sternbilder  sind  entsprechend 
ateruärmer.  Anfang  Dezember  ist  noch  der  Adler  kurze  Zeit  im  Westen  zu 
sehen,  länger  Pegasus  mit  der  dem  Zenilh  näheren  Andromeda,  tief  im  äüden 
der  Wallflsch,  höher  die  Fisohe  und  der  Widder.  Das  Zenith  passieren  der 
Reihe  nach  Cassiopea,  Perseus,  Fuhrmann  und  grofser  Bär,  die  vom  Nord- 
osthimmel heraufwandern.  Zur  Orientierung  mögen  folgende  hellere  Sterne 
dienen,  die  abends  um  9 Uhr  mitteleuropäischer  Zeit  kulminieren: 


Name 

Gröfse 

Rektaszension 

Deklination 

1.  Dezember 

C Ceti 

3.0 

lh 

47  m 

— 10» 

48’ 

5. 

a Arietis 

2.0 

2 

1 

+ 23 

0 

16. 

7 Ceti 

3.3 

1 

38 

+ 2 

50 

20. 

a Ceti 

2.3 

2 

57 

+ 3 

43 

25. 

0 Tauri 

3.6 

8 

20 

+ 8 

41 

29. 

i Eridani 

3.0 

8 

39 

— 10 

5 

3.  Januar 

A Tauri 

3.4 — 4.2 

8 

55 

+ 12 

18 

8.  . 

7 Tauri 

4.0 

4 

14 

+ 15 

23 

12.  . 

a Tauri 

1 

4 

30 

+ 16 

19 

17.  , 

t Aurigao 

3.0 

4 

51 

+ 33 

1 

22.  . 

la  Aurigae 

1 

5 

9 

+ 45 

54 

Iß  Orionis 

1 

5 

10 

— 8 

18 

27.  . 

c Orionis 

2.0 

5 

31 

— 1 

16 

1.  Februar 

a Orionis 

1—1.4 

5 

50 

+ 7 

23 

6. 

tj  Geminor. 

3.2-4  2 

6 

9 

+ 22 

32 

8. 

ß Canis  maj 

2.6 

6 

18 

- 17 

54 

14.  . 

a Canis  maj 

1 

6 

41 

— 16 

35 

20. 

5 Canis  m^j 

2.0 

7 

4 

— 26 

14 

26. 

a Geminor. 

2 

7 

28 

+ 32 

6 

2)  Veränderliche  Sterne,  a)  Dem  unbewaffneten  Auge  und  kleineren 
Instrumenten  sind  zugänglich  nur  die  folgenden  Minima  der  3 helleren  Variabein 
vom  Algoltypus: 

Algol  (3h  2“,  + 40°  35')  Gröfse  2®.3-3m.4:  Dez.  3<l  7b  44m,  Md 
18b  59m,  17 d 15l>  48™,  20<i  12b  37m,  23*1  9b  26™,  2ßd  6h  15m; 
Jan.  6<»  17b  31®,  9d  14h  20®,  12*  11b  9m,  |5d  7b  58™,  29* 
16b  3m;  Febr.  I*  12*  62®,  4d  9b  41™,  7*  6h  30™,  IS*  17b 
46m,  21d  14b  35™,  24*  11b  24®,  27*  8b  13®. 


J)  Alle  Zeitangaben  in  M.  E.  Z.  und  nach  astronomischer  Zählweise,  d.  h.  die 
Vormittagsstunden  eines  Tages  sind  — mit  Ausnahme  der  Sonnenaufgänge  — 
um  12b  vermehrt  zum  vorigen  Tage  gerechnet. 


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94 


X Tauri  (3b  55®  '-f-  12°  14‘)  Gröfse  3“.4 — 4 “.5:  Jan.  24  14*»  55“,  64 
13h  47®,  104  1*2*»  39“,  144  l|h  31“,  184  io*»  23“,  224  9*»  I6“l 
26 d 8*»  8“,  304  7*»  0“. 

8 Librae  (14*»  56“  — 8°  8r)  Gröfse  5—45.7:  Dez.  214  19h  7“,  284  18b 
41“;  Jan.44  18*»  15“,  114  17*»  49“,  18d  17*»  23“,  254  ißh  57»; 
Febr.  Id  16*»  31“,  8d  16*»  5“,  154  15*»  39“,  224  15h  13m. 
b)  Ina  Dezember  1903’)  erreichen  ferner  folgende  hellere  Veränderliche 
ihr  Maxiraum: 


Name 

Ort  für  1903 

Helligk.  Zeit 
des  Maximum 

Helligk.  in 
Minimum 

Dauer 
der  Periode 

R Arietis 

f 2h 

Um 

+ 24» 

37' 

8 

Dbz.  12 

11.7-13 

1864 

R Trianguli 

2 

31 

+ 33 

50 

5.6 

Dez.  6 

11.7 

268 

gX  Ceti 

3 

15 

— 1 

25 

9 

Dez.  4 

<12.5 

unsicher 

T Leporis 

5 

1 

— 22 

2 

8 

Dez.  7 

10.9 

360 

X Aurigae 

6 

5 

+ 50 

14 

8 

Dez.  1 

7 

? 

U Canis  min. 

7 

36 

+ 8 

36 

9 

Dez.  21 

12.3-13.5 

410 

R Canum  ven. 

13 

45 

+ 40 

1 

7.8 

Dez.  15 

11.5 

338 

RS  Virginia 

u 

23 

+ 5 

7 

7 

Dez.  15 

12 

360 

|X  Aquarii 

22 

13 

— 21 

22 

8.9 

Dez.  26 

13 

811 

JV  Cassiopeae 

23 

8 

+ 59 

10 

8 

Dez.  11 

12.4 

229 

3)  Planeten. 

M 

orkur 

ist  am  31. 

Dez. 

in  grösster  östlicher  Elongation 

19'/j0  von  der  Sonne  entfernt,  also  Abendstern,  aber  seines  tiefen  Standes  (—  22°) 
wegen  doch  kaum  zu  sehen,  am  9.  Febr.  in  grösster  westlicher  Elongation  (26®) 
Morgenstern,  aber  wieder  nur  in  — 20°Dekl.  Venus  ist  in  Jungfrau,  Wage,  Skorpion, 
Schlangenträger,  Schätzen  und  endlich  im  Steinbock,  Morgenstern  und  rückt 
langsam  der  Sonne  näher;  am  6.  Jan.  steht  sie  1 */, 0 über  {3  Scorpii.  Mars  ist 
rechtläufig  im  Schützen,  Steinbock,  Wassermann  und  zuletzt  in  den  Fischen; 
• er  überholt  am  20.  Dez.  13*»  den  im  Steinbock  sehr  langsam  rechtläufigen 

Saturn  (Mars  33 1 südlich),  der  Mitte  Jan.  in  den  Sonnenstrahlen  verschwindet, 
und  am  25.  Febr.  18*»  den  Jupiter  (Mars  30’  nördlich),  der  im  Wassermann 
langsam  rechtläuflg  sich  bewegt.  Uranus  steht  auf  der  Verbindungslinie  der 
Sterno  |x  Sagitt&rii  und  9 Scorpii,  ersterem  immer  näher  kommend  und  erst  im 
Februar  als  Morgenstern  sichtbar.  Neptun  ist  dicht  bei  fx  Gemmorum  zu  finden. 

4)  Jupitermonle.  In  Mitteleuropa  sind  von  den  Finsternissen  die  folgenden 
zu  beobachten : 

I.  Trabant.  Austritte  aus  dem  Schatten.  Dez.  3 4 9*»  31“  37«,  124  5h  56“ 

3«,  194  7h  51m  36«,  264  9h  -17“  6«,  284  4*»  15h  59«;  Jan. 

44  6*»  11“  24«,  114  8b  6“  45«,  274  6b  26“  3«;  Febr.  34  8b 

21“  10« , 194  fih  39m  65». 

II.  Trabant.  Austritte  aus  dom  Schatten.  Dez.  14  5b  6“  38»,  8d  7h  44m 

19«,  154  JO*»  22“  8»;  Jan.  24  4b  57“  39«,  94  7*>  35“  55»; 

Febr.  104  7h  28“  11». 

III.  Trabant.  Dez.  274  6h  40m  17«  Austritt;  Jan.  34  7*»  53“  50»  Eintritt: 

Febr.  84  6b  47“  38»  Austritt. 

IV.  Trabant.  Jan.  314  6b  23“  31»  Austritt. 

5)  Von  Meteoren  fallen  vom  6.— 13.  Dec.  die  9 Geminiden,  vom  1. — 3.  Jan. 
die  u Herculiden. 


*)  Die  Angaben  für  Jan.  und  Febr.  1904  werden  später  mitgeteilt  werden. 


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95 


6)  Sternbedefkanpes  durch  den  Mond  (sichtbar  für  Berlin):  Positionswink.1) 

des  des 


Tug 

Name 

Qröase 

Austritt 

Eintritt 

Eintr.  Austr. 

f>.  Dezember  X 

Geminorum 

3.8 

188  46m 

198 

1 43m 

96  285 

10. 

• 

Leonis 

4.8 

14  18 

15 

4 

158  244 

31. 

a 

Tauri 

1 

13  52 

14 

9 

161  192 

1.  Januar 

111 

Tauri 

5.5 

7 23 

7 

55 

142  202 

2.  „ 

26. 

Geminorum 

5.5 

14  53 

15 

37 

52  324 

5.  . 

• 

Leonis 

36 

11  22 

12 

24 

127  265 

30. 

X 

Geminorum 

3.8 

16  8 

17 

1 

95  285 

8.  Februar 

8 

Librae 

4.7 

16  59 

17 

43 

160  231 

12. 

P' 

Sagittarii 

4.0 

17  28 

18 

18 

44  313 

24. 

• 

Tauri 

1 

7 18 

8 

33 

74  271 

29.  * 

• 

Leonis 

3.6 

10  5 

11 

8 

135  263 

7)  Mond. 

Phase 

Aufgang 

Untergang 

Vollmond 

4. 

Dez.  7h  4h  17m 

208  9m 

Erdnähe 

6.  De*.  228 

Letztes  Viert 

11. 

. 0 12 

26 

0 21 

Neumond 

18. 

.10  20 

8 

4 6 

Erdferne  22.  „ 23 

Erstes  Viert 

26. 

. 15  — 

— 

12  2 

Vollmond 

2. 

Jan.  19  3 

50 

19  49 

Erdnähe 

4,  Jan.  1 

Letztes  Viert 

9. 

. 10  12 

43 

23  47 

Neumond 

17. 

. 5 20 

7 

4 39 

Erdferne 

19.  . 12 

Erstes  Viert. 

25. 

. 10  23 

28 

13  6 

Vollmond 

l.Febr.  6 5 

1 

19  50 

Erdnähe 

l.Febr.  13 

Letztes  Viert 

7. 

. 23  12 

52 

22  50 

Neumond 

16. 

. 0 19 

33 

5 34 

Erdferne 

15.  . 13 

Erstes  Viert 

24. 

. 0 23 

22 

14  12 

8)  Sonne. 

Sternzeit  f.  den 

Zeitgleicbung.  Sonnenaufg.  Sonnenunterg. 

mittl.  Berl.  Mittag1. 

mittl.  — 

wahre  Z. 

für  Berlin. 

1.  Dezember 

16: 

8 36m  51.2« 

— 11  ">  13.0* 

78 

55® 

3 h Mm 

8. 

17 

4 7.1 

— 8 

25.3 

8 

4 

3 51 

15. 

17 

31  43.0 

- 5 

12.8 

8 

12 

3 49 

22. 

17 

59  18.9 

— 1 

45.9 

8 

17 

3 51 

29. 

18 

26  54.8 

+ 1 

42.9 

8 

19 

3 56 

5.  Januar 

18 

54  30.7 

+ 5 

1.8 

8 

19 

4 3 

12. 

19 

22  6.6 

+ 8 

1.3 

8 

15 

4 18 

19.  . 

19 

49  42.5 

+ io 

32.8 

8 

9 

4 24 

26. 

20 

17  18.4 

+ 12 

28.9 

8 

1 

4 36 

2.  Februar 

20 

44  54.3 

+ is 

45.2 

7 

51 

4 49 

9. 

21 

12  30.1 

+ 1« 

21.6 

7 

39 

5 3 

16. 

21 

40  6.0 

+ H 

20.0 

7 

25 

5 16 

23. 

22 

7 41.9 

+ 13 

42.9 

7 

11 

5 29 

>)  Gezählt  vom  nördlichsten  Punkte  des  Mondes  nach  links  herum. 


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1 


W.  Ostwald:  Die  Behüte  der  Chemie.  Erste  Einführung  in  die  Chemie 
für  jedermann.  Erster  Teil:  Allgemeines.  Verlag  von  Vieweg,  Braun- 
schweig 1903.  186  Seiten. 

Wenn  ein  wissenschaftliches  Buch  für  jedermann  bestimmt  ist,  so  muto 
es  den  Stoff  in  spannender,  interessanter,  gefälliger  Form  bringen,  es  mufs  bei 
aller  wissenschaftlichen  Genauigkeit  leicht  verständlich  sein,  es  mufs  den  Leser 
nicht  nur  überzeugen,  sondern  auch  erfreuen.  Das  ist  eine  grobe  und  schöne 
Aufgabe.  Prof.  Ostwalds  Schule  der  Chemie  ist  ein  Buch  für  jedermann  im 
schönsten  Sinne  des  Wortes.  An  der  Hand  einer  gemütlichen  Unterhaltung 
zwischen  einem  Lehrer  und  einem  Schüler,  dessen  Standpunkt  der  eines  be- 
gabten Kindes  vou  10— 12  Jahren  ist,  werden  wir  zunächst  in  die  Grundbegriffe 
dor  physikalisch 'chemischen  Wissenschaft  eingeführt:  Was  ist  ein  Stoff,  was 
ist  eine  Eigonschaft,  was  ist  eine  Lösung,  wie  kommt  der  Mensch  dazu,  ein 
Metermaß*  und  ein  Thermometer  zu  besitzen,  was  versteht  man  unter  Dichte 
u.  s.  w.  Dann  gehts  über  das  Phänomen  der  Verbrennung  zum  ersten  chemi- 
schen Element,  dem  Sauerstoff.  Hierauf  wird  erklärt,  was  eine  chemische  Ver- 
bindung, was  ein  Element  sei;  es  folgen  die  verschiedenen  Elemente;  dazwischen 
kommt  ein  Kapitel  über  „Stetigkeit  und  Genauigkeit",  wo  der  Schüler  über 
die  Unvollkommenheiten  der  physikalischen  Messungen  aufgeklärt  wird  — 
eins  entwickelt  sich  im  Laufe  des  Gesprächs  logisch  aus  dem  anderen,  zwanglos 
und  natürlich;  überall  ist  der  heitere,  naive  Gesprächston  beibeh&lten,  stets 
wird  nur  an  alltägliche  Erfahrungen  angeknüpft,  die  jedes  Kind  schon  ge- 
macht hat,  oder  es  werden  Experimente  angegobcn,  die  jedes  Kind  machen 
oder  sicher  verstehen  kann,  und  diese  Experimente  durch  Zeichnungen  er- 
läutert, die  bei  einer  verblüffenden  Einfachheit  alles  Wesentliche  enthalten. 
Ein  Kind  von  10—12  Jahren  fühlt  sich  sympathisch  berührt  durch  die  Ant- 
worten und  Einwürfe  des  „Schülers“,  die  geradezu  erstaunliche  Naturwahrheit 
besitzen,  es  lernt  spielend.  (Verfasser  dieses  Referates  hat  das  bei  seiner 
11jährigen  Schwester  experimentell  festgestellt  1).  Der  Erwachsene  liest  lächelnd 
ein  paar  Seiten,  und  wenn  er  zu  Ende  gelesen  hat,  merkt  er  auf  einmal,  dafs 
er,  ohne  zu  wollen,  etwas  dazu  gelernt  hat,  etwas  jetzt  viel  klarer  sieht  als 
vorher.  Kurzum,  dor  erste  Teil  des  O st wald sehen  Buches  (der  zweite  wird 
hoffentlich  bald  folgen)  gehört  zweifellos  zu  don  bedeutendsten  populär-wissen- 
schaftlichen Büchern,  die  jemals  erschienen  sind.  Er  sollte  in  keinem  Hause 
fehlen,  in  dem  man  darauf  bedacht  ist,  deu  Kindern  von  frühester  Jugend  an 
Liebe  und  Interesse  für  die  Naturerscheinungen  eiuzuflöfsen.  Dr.  M^v.  P. 


Verlag:  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — brock : Wilhelm  Gronau’«  Bnehdrackerel  in  Berlin -Bebdneberg. 
Für  die  Kedaclion  verantwortlich : Dr  P.  Sehwahn  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  am  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 

Übersetzen  gerecht  Vorbehalten. 


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Abstieg  zu  den  Hohlen. 

Aufcenomiiii'n  von  Francesco  Benqui-  in  Triest. 


Tominz-Grotte. 

Aiifjrenniiiiiien  von  Frnncesco  Henque  in  Triest. 


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Über  Leben  und  Tod. 

Von  Ed.  Sokal.  Brrlin-Charlottenburg. 

merkwürdigste  Lebensphänomen  ist  der  Tod.  Dafs  jedes 
.f*  Werden,  jedes  Entstehen  in  der  lebenden  Natur,  dafs  das 
kleinste  Klümpohen  protoplasmatischer  Materie  ebenso  wie  der 
komplizierteste  Organismus  den  Keim  des  Unterganges  in  sich  trägt, 
erscheint  dem  oberflächlichen  Blick  vielleicht  selbstverständlich,  der 
tiefer  eindringenden  Forschung  ein  geheimnisvolles  Rätsel.  Seit 
jeher  ein  Tummelplatz  der  metaphysischen  Spekulation,  ist  die  Frage 
nach  dem  Ursprung  des  Todes,  nach  seiner  biologischen  Bedeutung, 
nach  seiner  physiologischen  Erklärung  erst  in  neuester  Zeit  Gegen- 
stand einer  streng  wissenschaftlichen  Diskussion  geworden. 

Wir  wollen  die  psychologische  Seite  der  Frage,  die  Geschichte 
der  Todesidee  in  der  Entwicklung  des  Menschengeschlechtes,  hier  nur 
kurz  berühren.  Die  Zeit  ist  längst  vorbei,  da  man  den  Wilden  für 
ein  Wesen  hielt,  das  mit  mächtig  übersohäumender  Phantasie  begabt, 
spielend,  gleichsam  in  bewufster  Selbsttäuschung,  die  Wälder  und 
Schluchten  mit  Geschöpfen  seiner  Einbildungskraft  bevölkerte,  die 
Ahnen  aus  ihren  Gräbern  erwachen  und  in  die  Kämpfe  der  Lebenden 
eingreifen  hiefs,  um  sie  willkürlich,  nachdem  die  Komödie  ausgespielt, 
wieder  hinter  dem  Vorhang  verschwinden  zu  lassen.  Herbert 
Spencers  und  anderer  Forschungen  haben  diesen  Wahn  wohl  für 
immer  beseitigt.  W’ir  wissen  nunmehr,  dafs  die  Auffassung  des  Todes 
als  einer  Art  Schattenlebens,  der  wir  fast  bei  allen  Naturvölkern  be- 
gegnen, nicht  der  Ausflufs  einer  visionären  Phantasie,  sondern  das 
natürliche,  logische  Produkt  einer  mangelhaften  Interpretation  der 
Traumerscheinungen  war,  und  ein  furchtbarer,  verhängnisvoller  Moment 
mag  es  gewesen  sein,  als  zum  ersten  Male  der  Geist  eines  Menschen 
die  Entdeckung  des  Todes  gemacht  hatte,  als  zum  ersten  Male  der 

Htmrosl  und  Erd».  Jena.  XVI.  3 7 


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98 


Mensch  in  dem  brechenden  Auge  des  Verwundeten  den  Abschied  auf 
Nimmerwiedersehen  erkannte. 

Der  Standpunkt  der  Naturwissenschaft  in  der  Frage  nach  den 
Ursaohen  des  Todes  ist  nioht  leioht  zu  präzisieren.  Noch  immer  klafft 
ein  unüberbrückbarer  Abgrund  zwischen  den  Wissenschaften  von  der 
toten  und  der  lebenden  Materie,  und  je  weiter  die  naturwissenschaft- 
liche Erkenntnis  fortsohreitet,  dosto  mehr  Schwierigkeiten  türmen  sich 
auf  dem  Weg  der  physikalisch- chemischen  Erklärungsmethode  von 
Lebensphänomenen.  Sie  ist  im  Prinzipe  unanfechtbar,  praktisch  fast 
nur  in  den  gröbsten  Umrissen  durchführbar.  Man  hat  die  Bewegung 
des  Protoplasmas  mit  Seifenemulsion  verglichen;  zur  Veranschaulichung 
seiner  Konstitution  einen  neuen  Aggregatzustand  — den  „fest-flüssigen- 
— herangezogen  und  ist  auf  diesem  Wege  nirgends  zu  weiteren  Aus- 
blicken gelangt  und  nur  selten  über  eine  mehr  oder  weniger  ver- 
steckte Tautologie  hinausgekommen.  Die  chemische  Untersuchungs- 
methode  hat  zu  fruchtbareren  Gesichtspunkten  geführt.  Die  gewaltige 
räumliohe  Konzentration  der  chemischen  Energie,  die  Eigenschaft 
mancher  chemischer  Körper,  der  „Fermente",  unter  gewissen  Umstän- 
den grofse  Vorräte  von  potentieller  Energie  in  lebendige  Kraft  über- 
gehen zu  lassen,  weisen  schon  bei  oberflächlichster  Betrachtung  darauf 
hin,  in  den  chemischen  Kräften  das  Wesen  des  Lebensprozesses  zu 
suchen.  Es  wäre  jedoch  Selbsttäuschung  zu  glauben,  dafs  wir  auf 
diesem  schwierigen  Gebiete  mehr  als  die  ersten,  schwankenden  Ver- 
suche zu  verzeichnen  haben.  Die  chemisohe  Natur  der  Eiweifskörper, 
dieser  für  den  Lebensprozefs  wichtigsten  Substanzen,  ist  noch  in  voll- 
ständiges Dunkel  gehüllt,  und  so  lange  dies  der  Fall,  ist  die  Route 
duroh  die  exakten  Naturwissenschaften  zu  den  tieferen  Lebensproblemen 
gleiohsam  durch  einen  Felsblock  verlegt. 

Aber  ein  anderer  Weg  steht  uns  offen,  wie  besonders  Robert 
Franceschini  in  seiner  trefflichen  Abhandlung:  „Die  Abgrenzung 
der  Biologie  der  Wissenschaft"  hervorgehoben:  der  Weg,  den  Darwin 
durch  seine  Zuohtwahltheorie  als  einer  der  ersten  mit  ungeahntem 
Erfolge  betreten:  die  biologfische  Forschungsmethode.  Diese  geht 
nioht  darauf  aus,  das  Leben  direkt  aus  dem  Spiel  der  Atome  zu  er- 
klären, sie  operiert  mit  Gröfsen  zweiter  Ordnung,  mit  den  empirisch 
gegebenen  Tatsachen,  der  Erblichkeit,  der  Gewohnheit  usw.,  und  sucht 
durch  deren  sinnreiche  Verknüpfung  eine  unabhängige,  selbständige 
Wissenschaft  des  Lebens  auszugestalten. 

Von  ihren  Gesichtspunkten  ausgehend  hat  August  Weismann 
in  neuester  Zeit  die  Frage  nach  den  Ursachen  des  Todes  behandelt 


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99 


Untersuchungen  über  die  „Dauer  des  Lebens“  — wohl  die 
ersten,  die  systematisch  über  diesen  Gegenstand  angestellt  wurden  — 
bilden  das  Anfangsglied  in  der  festgefügten  Kette  der  Weismann- 
sehen  Ausführungen.  „Die  organischen  Körper  sind  vergänglich, 
indem  sioh  das  Leben  mit  einem  Sohein  von  Unsterblichkeit  von 
einem  zum  anderen  Individuum  erhält,  vergehen  die  Individuen  selbst.“ 
Dieser  natur- philosophisch  angehauchte  Ausspruch  von  Johannes 
Müller,  für  welchen  Weismann  das  Adjektivum  ..inhaltsschwer" 
gewählt  hat,  bildete  bis  Weismann  den  Inbegriff  all  dessen,  was 
man  in  dieser  Frage  zu  sagen  wufste. 

Lassrn  wir  die  allgemeine  Richtigkeit  dieses  Satzes  einstweilen 
dahingestellt,  so  ist  dooh  so  viel  aufser  Zweifel,  dafs  das  Leben  des 
Individuums  seine  natürlichen  Grenzen  hat,  wenigstens  bei  all 
den  Tieren  und  Pflanzen,  welche  der  nicht  naturforsohende  Mensch  zu 
beobachten  gewohnt  ist.  Eis  ist  auch  weiter  aufser  allem  Zweifel,  dafs 
diese  Grenzen  je  nach  der  Tier-  oder  Pflanzenart  sehr  verschieden 
weit  gesteokt  sind. 

Man  wird  zunächst  geneigt  sein,  den  Grund  für  dieses  verschie- 
dene Verhalten  in  der  körperlichen  Verschiedenheit  der  Arten,  in  der 
Verschiedenheit  von  Bau  und  Misohung  bei  den  einzelnen  Organismen 
zu  suohen.  ln  der  Tat  laufen  alle  Erklärungsversuche,  die  bis 
Weismann  aufgestellt  worden  sind,  auf  diese  Vorstellung  hinaus. 

Dennoch  genügt  diese  Erklärung  nioht.  Allerdings  mufs  in 
letzter  iDstanz  die  Ursache  der  Lebensdauer  im  Organismus  selbst 
liegen,  da  sie  sioh  nioht  außerhalb  desselben  befinden  kann,  allein 
Bau  und  Mischung,  kurz  die  physiologische  Konstitution  des  Körpers 
sind  nioht  die  einzigen  Momente,  welche  die  Dauer  des  Lebens  be- 
stimmen. Das  erkennt  man  sofort  wenn  man  versuoht,  die  vorliegen- 
den Tatsachen  aus  diesen  Momenten  allein  abzuleiten. 

Zunächst  kommt  hier  in  Betracht:  die  Körpergröfse.  — Die 
längste  Lebensdauer  von  allen  Organismen  der  Erde  besitzen  die 
grofsen  Bäume.  Die  Adansonien  der  Kapverdischen  Inseln  sollen 
6000  Jahre  alt  werden.  Unter  den  Tieren  sind  es  auch  wiederum  die 
gröfsten,  welche  das  höchste  Alter  erreichen;  der  Walfisch  lebt  sicher- 
lich einige  Jahrhunderte,  der  Elefant  wird  200  Jahre  alt,  und  es  hält 
nicht  schwer,  nach  abwärts  eine  Reihe  von  Tieren  aufzuführen,  bei 
welchen  die  Lebensdauer  ungefähr  parallel  der  Körpergröfse  abzu- 
nehmen scheint. 

Sieht  man  sioh  aber  etwas  genauer  um,  so  findet  man,  dafs  das- 
selbe Alter  von  200  Jahren,  welches  der  Elefant  erreicht,  auch  von 

7* 


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100 


viel  kleineren  Tieren,  wie  Hecht  und  Karpfen  erreicht  wird;  40  Jahre 
alt  wird  aufser  dem  Pferd  auch  die  Kröte  und  die  Katze  und  die 
etwa  faustgrofse  See-Anemone  besitzt  eine  Lebensdauer  von  mehr  als 
50  Jahren.  — Wenn  also  auoh  im  allgemeinen  gesagt  werden  kann, 
dafs  Wachstum  und  Lebensdauer  bei  grofsen  Tieren  gröfser  sind  als 
bei  kleinen,  so  besteht  dooh  kein  festes  Verhältnis  zwischen  beiden, 
und  Flourens  war  im  Irrtum,  wenn  er  glaubte,  die  Lebensdauer  be- 
trage stets  das  Fünffache  der  Wachstumsdauer. 

Das  zweite,  rein  physiologische  Moment,  welches  die  Lebens- 
dauer beeinflufst,  ist  die  Raschheit  oder  Langsamkeit,  mit  welcher  das 
Leben  dahinfliefst,  kurz  ausgedrüokt:  das  Tempo  des  Stoffwechsels 
und  der  Lebensprozesse. 

In  diesem  Sinne  sagt  Lotze  in  seinem  .Mikrokosmus“:  „Große 
und  rastlose  Beweglichkeit  reibt  die  organische  Masse  auf,  und  die 
Bohnellfüfsigen  Geschlechter  der  jagdbaren  Tiere,  die  Ilunde,  selbst 
die  Affen  stehen  an  Lebensdauer  sowohl  dem  Menschen  als  den 
gröfseren  Raubtieren  nach,  die  durch  einzelne  kraftvolle  Anstrengungen 
ihre  Bedürfnisse  befriedigen"  — .die  Trägheit  der  Amphibien  gestatte 
dagegen  auch  den  kleineren  unter  ihnen  eine  gröfsere  Lebens- 
zähigkeit.“ 

Ganz  gewifs  ist  etwas  Richtiges  an  dieser  Bemerkung.  Dennoch 
wäre  es  ein  grofser  Irrtum,  wollte  man  glauben,  dafs  Scbnellebigkeit 
notwendig  auoh  kürzeres  Leben  bedinge.  Die  schnellebenden  Vögel 
haben  trotzdem  eine  sehr  lange  Lebensdauer,  sie  erreichen,  ja  über- 
treffen darin  die  trägen  Amphibien  gleicher  Körpergröße.  Man  darf 
sich  den  Organismus  nicht  als  einen  Haufen  Brennstoff  vorstellen, 
der  um  so  früher  zu  Asche  zusammensinkt,  je  kleiner  er  ist  und  je 
rascher  er  brennt,  sondern  als  ein  Feuer,  in  das  immer  neue  Scheite 
hineingeworfen  werden  können  und  das  so  lange  unterhalten  wird,  als 
es  eben  nötig  ist,  mag  es  nun  schnell  oder  langsam  brennen. 

Wie  wollten  wir  es  von  jenem  Standpunkte  aus  erklären,  dafs 
die  Weibchen  und  Arbeiterinnen  der  Ameisen  mehrere  Jahre  leben, 
während  die  Männchen  kaum  ein  paar  Wochen  ausdauern?  Beide 
Geschlechter  unterscheiden  sich  weder  durch  Körpergröfse  irgend  er- 
heblich, noch  durch  Komplikation  des  Baues,  nooh  durch  das  Tempo 
des  Stoffwechsels,  sie  sind  nach  allen  diesen  drei  Richtungen  nahezu 
als  identisch  anzusehen,  und  dennoch  solch  ein  Unterschied  in  der 
normalen  Dauer  des  Lebens! 

Durch  all  dies  soheint  jedenfalls  so  viel  bewiesen  zu  sein,  dafs 
die  physiologischen  Verhältnisse  sicherlich  nicht  die  einzigen  Regu- 


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101 


latoren  der  Lebensdauer  sind,  dafs  sie  allein  es  nicht  sind,  welohe  die 
Stärke  der  Feder  der  Lebensuhr  bestimmen,  dafs  vielmehr  in  Uhren 
von  nahezu  gleicher  Beschaffenheit  Federn  verschiedener  Stärke  ein- 
gesetzt werden  können ! 

Hiermit  sind  wir  aber  zu  einem  Grundgedanken  der  Weis- 
mannschen  Theorie  gelangt  Die  äufeeren  Lebensbedingungen  sind 
es,  welche  (nach  Weismann)  durch  den  Selektionsprozess  die 
Lebensdauer  der  Organismen  in  erster  Linie  normieren.  Für  jeden, 
der  überhaupt  einmal  den  Selektionsprozess  durchgedacht  hat,  ist  es 
ohne  weiteres  klar,  dafs  bei  einer  solchen  Regulierung  der  Lebens- 
dauer lediglich  das  Interesse  der  Art,  nicht  etwa  das  des  Individuums 
in  Betracht  kommen  kann.  Fs  ist  für  die  Art  an  und  für  sich  gleich- 
gültig, ob  das  Individuum  länger  oder  kürzer  lebt,  für  sie  kommt  es 
nur  darauf  an,  dafs  die  Leistungen  des  Individuums  für  die  Art  ihr 
gesichert  werden.  Diese  Leistungen  bestehen  in  der  Fortpflanzung, 
in  der  Hervorbringung  eines  für  den  Bestand  der  Art  genügenden 
Ersatzes  der  durch  Tod  abgehenden  Individuen  und  eventuell  nooh 
in  der  Brutpflege,  wenn  die  Eltern  ihre  Spröfslinge  beschützen  und 
und  ernähren.  Wir  worden  also  erwarten  müssen,  dafs  im  allge- 
meinen das  Leben  die  Fortpflanzungszeit  nicht  erheblich  überdauere, 
es  sei  denn,  dafs  die  betreffende  Art  Brutpflege  ausübe. 

So  finden  wir  es  in  der  Tat.  Alle  Säugetiere,  alle  Vögel  über- 
leben ihre  Fortpflanzungszeit,  auf  der  anderen  Seite  hört  z.  B.  bei 
allen  Insekten  — mit  einziger  Ausnahme  der  Arten  mit  Brutpflege  — 
das  Leben  mit  der  Fortpflanzung  auf. 

Es  kann  nicht  unsere  Absicht  sein,  hier  die  Ausführungen  Weis- 
manns bis  ins  spezielle  zu  verfolgen,  wir  müssen  darauf  verzichten, 
die  zahllosen  Belege,  seine  scharfsinnigen  Erklärungsversuche  der 
scheinbaren  Ausnahmen  usw.  hier  des  näheren  zu  beleuchten.  Aber 
sein  Gedankengang  führt  auch  geradewegs  auf  eines  der  schwierigsten 
Probleme  der  ganzen  Physiologie,  auf  die  Frage  nach  dein  Ursprung 
des  Todes. 

„Der  Tod  ist  in  letzter  Instanz  eine  Anpassungs- 
er  sch  ei  n ung.-  So  paradox  dieser  Satz  auoh  klingen  mag,  ebenso 
einfach  und  konsequent  ergibt  er  sich  aus  dem  vorhergegangenen. 

Weismann  sagt: 

„Ich  glaube  nicht,  dafs  das  Leben  deshalb  auf  ein  bestimmtes 
Mafs  der  Dauer  gesetzt  ist,  weil  es  seiner  Natur  nach  nicht  unbegrenzt 
sein  könnte,  sondern  weil  eine  unbegrenzte  Dauer  des  (nicht  mehr 


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102 


reproduzierenden)  Individuums  für  die  Art  ein  ganz  unzweckmäßiger 
Luxus  wäre.“ 

„Es  kann  selbstverständlich  nicht  im  geringsten  bezweifelt 
werden,  dafs  die  höheren  Organismen,  so  wie  sie  nun  einmal  sind 
den  Keim  des  Todes  in  sich  tragen,  es  fragt  sich  nur,  warum  und 
aus  welchen  Motiven  sie  so  geworden  sind,  und  da  glaube  ich,  mufs 
der  Tod  nur  als  eine  Zweck  mäßigt  ei  tseinrichtung,  als  eine  Konzession 
an  die  äußeren  LebenBbedingungen,  nioht  als  eine  absolute  im  Wesen 
des  Lebens  begründete  Notwendigkeit  aufgefafst  werden.“ 

Oer  Tod,  d.  h.  die  Begrenztheit  der  Lebensdauer,  ist 
nämlioh  gar  nicht  ein  allen  Organismen  zukommendes 
Attribut  Es  gibt  eine  große  Zahl  von  niederen  Organismen  (Amöben, 
einzellige  Algen,  Infusorien  usw.),  die  nioht  sterben  müssen.  Wohl 
sind  auch  sie  zerstörbar;  Siedehitze,  Kalilauge,  Gifte  töten  sie,  aber 
so  lange  die  für  ihr  Leben  nötigen  äußeren  Bedingungen  vorhanden 
sind,  so  lange  leben  sie;  sie  tragen  also  die  Fähigkeit  ewiger  Dauer 
in  sioh. 

Man  hat  öfters  den  Teilungsprozeß  der  Amöben  so  aufgefafst, 
aß  sei  das  Leben  des  Individuums  mit  seiner  Teilung  beschlossen, 
als  enßtünden  aus  ihm  nun  zwei  neue  Individuen,  als  falle  hier  Tod 
und  ForlpQanzung  zusammen.  In  Wahrheit  kann  man  doch  aber  hier 
nicht  von  Tod  reden!  wo  ist  denn  die  Leiche?  was  stirbt  denn  ab? 
Nichte;  der  Körper  des  Tieres  zerteilt  sich  in  zwei  nahezu  gleiohe 
Stücke,  von  denen  jedes  dem  Muttertier  vollkommen  ähnlich  ist.  Ja, 
denken  wir  uns  eine  Amöbe  mit  Selbstbewußtsein  begabt,  so  ist  nicht 
daran  zu  zweifeln,  daß  nach  der  Teilung  jede  Hälfte  die  andere  für 
die  Tochter  und  sioh  selbst  für  das  ursprüngliche  Individuum  an- 
sehen  würde! 

Aber  gehen  wir  weiterl  — Da  die  vielzelligen  Tiere  und  Pflanzen 
nach  der  Darwinschen  Theorie  aus  den  einzelligen  hervorgegangen 
sind,  so  fragt  es  sich  nun,  wie  denn  diesen  die  Anlage  zu  ewiger 
Dauer  abhanden  gekommen  ist? 

Dies  hängt  nun  wohl  mit  der  Arbeitsteilung  zusammen,  die 
zwischen  den  Zellen  der  vielzelligen  Organismen  eintrat  und  dieselben 
von  Stufe  zu  Stufe  zu  immer  komplizierterer  Gestaltung  hinleitete. 

Mögen  auch  vielleicht  die  ersten  vielzelligen  Organismen  Klümp- 
ohen  gleichartiger  Zellen  gewesen  sein,  so  muß  sioh  dooh  bald  eine 
Ungleiohartigkeit  unter  ihnen  ausgebildet  haben.  Sohon  allein  durch 
ihre  Lage  werden  einige  Zellen  geeigneter  gewesen  sein,  die  Ernäh- 
rung der  Kolonie  zu  besorgen,  andere  die  Fortpflanzung  zu  über- 


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108 


nehmen.  Es  mufete  sich  so  ein  Gegensatz  zweier  Zellgruppen  bilden, 
die  man  als  somatische  und  propagatorische,  als  Körperzellen  und 
Fortpflanzungszellen  bezeichnen  könnte.  Den  Propagationszellen 
konnte  die  Fälligkeit  unbegrenzter  Vermehrung  nicht  verloren  gehen, 
andernfalls  würde  ein  Krlösohen  der  betreffenden  Art  eingetreten  sein; 
dafs  sie  aber  den  somatischen  Zellen  mehr  und  mehr  entzogen  wurde, 
data  sie  sohlietaliob  auf  eine  bestimmte,  wenn  auch  eine  sehr  grobe 
Zahl  von  Zellgenerationen  beschrankt  wurde,  erklärt  sich  aus  der 
Unmöglichkeit,  das  Individuum  vor  Unfällen  absolut  zu  schützen,  und 
der  daraus  resultierenden  Hinfälligkeit  desselben,  welche  es  für  die 
Art  überflüssig  macht.  Bei  einzelligen  Tieren  war  es  nicht 
möglioh,  den  normalen  Tod  einzuführen,  weil  Individuum 
und  Fortpflanzungszelle  noch  ein  und  dasselbe  waren;  bei 
den  höheren  Organismen  trennten  sich  somatische  und  Propagations- 
zellen; der  Tod  wurde  möglioh,  die  unbegrenzte  Lebensdauer  über- 
flüssig, und  der  unerbittliche  Zuohtwahlprozefs  liefe  sie  wie  alles  Über- 
flüssige verschwinden. 

Aber  der  Tod  ist  nur  scheinbar,  denn  er  ist  nicht  vollständig 
ln  dem  ewigen  Wechsel  der  lebenden  Organismen  bleibt  aufeer  dem 
Schein  der  Unsterblichkeit  auoh  etwas  anderes  erhalten.  Jene  ur- 
sprünglichen Zellengenerationen,  deren  Existenz  wir  naoh  dem  Satze 
„Omne  vivum  ex  vivo-  einfach  als  gegeben  annehmen  müssen,  diese 
Stammeitem  der  ganzen  lebenden  Welt,  aus  welohen  durch  Teilung 
und  Differenzierung  allmählioh  die  kompliziertesten  Organismen  her- 
vorgegangen sind,  sie  sind  auch  in  den  zusammengesetztesten  Lebe- 
wesen als  Eizellen  und  Samenkörper  enthalten.  Die  Geschlechtszellen 
sind  unsterblich;  sie  haben  sich  neben  der  stärket!  amöboiden  Beweg- 
lichkeit auch  die  unbegrenzte  Vermehrungsfähigkeit,  also  die  beideu 
wesentlichsten  Eigenschaften  der  einzelligen  Organismen  erhalten. 
Und  so  erscheinen  uns  im  Liohte  dieser  Theorie  alle  Organismen  des 
Weltalls  nach  dem  Ausdrucke  von  Pflüger  als  „ Stamm-  und  Bluts- 
verwandte-; die  Erblichkeit  selbst  ist  nichts  mehr  als  der  einfache 
Ausdruck  dieser  Kontinuität  des  Keimplasmas,  der  normale  Tod  eine 
Anpasaungserscheinung,  eine  Aufopferung  des  Individuums  im  Inter- 
esse der  Gattung. 


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Die  Verbreitung  ansteckender  Krankheiten  durch  die 
Mücken. 

Von  Dr.  K Müller  in  Potsdam. 

s\'VV  enn  iD  neul'8tc'r  Zeit  die  Wissenschaft  den  Stechmücken  oder 
■ jrr>r  Moskitos  trau/,  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet  hat,  so 
ist  dies  darauf  zurückzuführen,  dafs  man  unter  ihnen  Arten 
entdeckt  hat,  welche  die  Überträger  mehrerer,  dem  Menschen 
recht  gefährlicher  Krankheiten  sind.  Wurden  diese  Tiere  bisher  nur 
als  aufdringliche  und  lästige  Gäste  betrachtet,  so  ist  jetzt  mit  Sicher- 
heit bewiesen,  dafs  die  in  den  tropischen  Ländern  nicht  seltene  Fila- 
riosis,  die  Malaria  und  das  gelbe  Fieber  duroh  den  Stich  infizierter 
Moskitos  dem  Menschen  übermittelt  werden,  dafs  diese  die  Zwischen- 
wirte für  die  Erreger  der  vorgenannten  Krankheiten  sind  und  diese 
Krankheitserreger  nur  dann  ihren  Entwickelungsgang  vollenden  kön- 
nen, wenn  sie  in  den  Körper  der  Mücken  gelangen. 

Als  Stechmücken  oder  Moskitos  bezeichnet  man  die  Angehörigen 
einer  Insektenfamilie  aus  der  Ordnung  der  Zweiflügler.  Es  sind  samt 
und  sonders  kleine  Insekteu  von  schmächtigem  Körperbau,  deren 
Larven  und  Puppen  in  stehenden  Gewässern  leben  und  unter  denen 
nicht  wenige  durch  ihre  Beutegier  sowohl  Menschen  wie  Tieren 
lästig  werden.  Alle  sind  mit  einem  Säugrüssel  versehen,  der  so  lang 
oder  länger  ist  wie  der  halbe  Körper.  Derselbe  besteht  aus  einer 
unvollständigen  Scheide,  dem  Labium,  in  welcher  sechs  Stilette  liegen. 
Beim  Stechen  dringen  die  sechs  Stilette  in  die  Haut  ein,  während  die 
Scheide  draufsen  bleibt  und  sioh  nach  hinten  krümmt  Diese  hat  die 
Form  eines  offenen  Kanals  und  ist  an  der  inneren  wie  äufseren  Ober- 
fläche mit  Chitinbaut  ausgekleidet.  An  der  äufseren  Oberfläche  ist 
die  Chitinhaut  ziemlich  dicht,  an  der  inneren  dagegen  zart. 

Eingeteilt  wird  die  Familie  der  Stechmücken  in  zwölf  Gattungen, 
von  denen  zwei  hier  für  uns  in  Betracht  kommen:  die  Gattung  Culex 
und  die  Gattung  Anopheles.  Die  Angehörigen  beider  Gattungen 
werden  kurzweg  Mücken  genannt,  obgleich  sie  auch  für  den  Laien 
nioht  allzuschwer  von  einander  zu  unterscheiden  sind.  Während 


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nämlich  die  Anophelen  beim  Sitzen  ihr  Hinterteil  aufwärts  gerichtet 
haben,  wenden  es  die  Culexarten  bei  dieser  Gelegenheit  gerade  nach 
unten  und  nähern  es  der  Unterlage,  auf  der  sie  sitzen. 

Die  erste  Krankheit  nun,  als  deren  Überträger  die  Mücken  be- 
kannt geworden  sind,  ist  die  Filariosis.  Es  ist  dies  ein  sohweres 
Leiden  der  wannen  Länder,  das  eine  Reiho  sehr  verschiedener  Symp- 
tome darbietet  und  das  durch  das  Eindringen  einer  Nematode  in  den 
menschlichen  Organismus  hervorgerufen  wird.  Diese  Nematode, 
Kilaria  bancrofti  resp.  Fil.  sanguinis  hominis  kennt  man  last  aus  allen 
tropischen  Ländern,  so  aus  dem  Süden  der  Vereinigten  Staaten,  aus 
Brasilien,  Ägypten,  Algerien,  Indien,  China,  Japan,  Australien  u.  a. 
ln  dem  letztgenannten  Lande,  in  Brisbane  in  Queensland,  hat  Dr.  J. 
Bancroft  1876  die  geschlechtsreifen  Weibchen  dieses  Fadenwurmes 
beim  Öffnen  eines  LympbgeschwUres  am  Arme  eines  Erkrankten  ent- 
deckt, während  die  Larven  desselben  schon  früher  beobaohtet  waren. 
Das  Weibchen  erreicht  eine  Länge  von  70 — 80  mm,  während  das 
Männchen  nur  etwa  40  mm  lang  wird. 

Der  normale  Aufenthalt  der  geschlechtsreifen  Tiere  sind  wohl 
die  Lymphgefiifse.  Infolge  von  Lymphstauungen,  die  die  Filarien 
hervorrufen,  entstehen  an  verschiedenen  Körperstellen,  vor  allem  an 
den  unteren  Extremitäten,  Geschwülste,  die  dem  Beine  ein  plumpes 
Aussehen  geben,  so  dafs  es  an  dasjenige  eines  Elefanten  erinnert 
(Elephantiasis).  Derartige  Beulen  sollen  zuweilen  eine  wahrhaft 
gräfsliche  Entwickelung  annehmen;  soll  doch  beispielsweise  im  Jahre 
1899  im  Krankenhaus  von  Saint-Louis  am  Senegal  ein  Neger  operiert 
sein,  der  eine  solche  Beule  von  42  kg  Gewicht  trug. 

Das  Weibchen  gebiert  lebendige  Junge,  welche  aus  den  Lymph- 
gefäßen in  den  Blutkreislauf  gelangen  und  hier  ebenfalls  mancherlei 
Störungen  hervorrufen.  Eigentümlich  ist  die  zuerst  von  Manson 
studierte  Erscheinung,  dafs  man  die  Larven  immer  nur  in  Blutproben 
findet,  die  nach  Sonnenuntergang  von  dem  Kranken  entnommen  sind. 
Die  Zahl  der  in  diesen  gefundenen  Larven  ist  anfangs  gering,  steigt 
dann  aber  ganz  bedeutend  bis  gegen  Mitternacht,  um  von  da  ab  wieder 
zu  sinken;  von  Mittag  bis  zum  Abend  findet  man  im  Blute  der  Haut 
keine  Filarien. 

Dieses  periodische  Auftreten  der  Larven  in  der  äufseren  Blut- 
bahn brachte  nun  Manson,  einen  englisohen  Arzt,  auf  den  Gedanken, 
dafs  die  Mücken,  die  ja  ihre  blutsaugende  Tätigkeit  auch  nachts  üben, 
in  inniger  Beziehung  zur  Weiterentwickelung  der  Filarialarven 
und  somit  zur  Verbreitung  der  Filariosis  ständen.  Und  tatsächlich 


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gelang  es  ihm  auch  zu  beweisen,  dafs  die  Stechmücke  mit  dem  Blute 
die  Filarialarven  aufsaugt,  dafs  diese  dann  die  Uarmwaud  derselben 
durchbrechen  und  sloh  in  den  Muskeln  ihres  Thorax  weiter  ent- 
wickeln, ohne  jedoch  bis  zur  Geschlechtsreife  zu  gelangen.  Um  er- 
küren zu  können,  wie  sich  der  Entwickelungszyklus  der  Filaria  voll- 
endet, griff  Manson  zur  Hypothese.  Ein  grofser  Teil  der  Mücken, 
besonders  der  Weibohen,  die  ja  ihre  Eier  ins  Wasser  legen,  geht  in 
diesem  zugrunde.  Ihr  Leichnam  zerfällt,  und  die  bisher  in  diesen 
eingeschlossenen  Filarialarven  werden  frei  und  gelangen  ins  Wasser, 
mit  dem  sie  gelegentlich  von  Menschen  verschluckt  werden,  um  in 
diesen  dann  ihren  Entwiokelungsgang  zu  besohliefsen.  Nach  und 
nach  wurden  bei  Manson  Zweifel  an  der  Hiohtigkeit  dieser  seiner  Hy- 
pothese rege,  und  so  nahm  er  denn  1897  im  Verein  mit  Banoroft 
und  Low  das  Studium  der  Filarialarven  wieder  auf,  um  endgültig 
Klarheit  darüber  zu  schaffen,  wie  diese  in  den  Menschen  gelangen. 
Befördert  wurde  die  Lösung  dieser  Frage  besonders  dadurch,  dafs 
Urassi  und  Noä  die  Entwickelungsgeschichte  eines  anderen  Faden- 
wurmes, der  Filaria  immitis,  aufdeoktcn,  deren  Larven  im  Blut  der 
Hunde  auftreten.  Diese  werden  mit  dem  Blute  von  Mücken  beim 
Saugen  aufgenommen,  verlassen  jedoch  bald  den  Müokendarm  und 
dringen  in  die  Malpighischen  Gefäfse  ein.  Hier  machen  sie  eine 
Reihe  von  Änderungen  durch,  häuten  sich  und  durohbreohen  am 
zwölften  Tage  nach  der  Infektion  der  Mücken  das  bewohnte  Organ, 
wobei  sie  in  die  Leibesböhle  gelangen.  Mit  dieser  steht  das  anfangs 
erwähnte  Labium  des  Säugrüssels  in  offener  Kommunikation,  in 
welches  dann  ein  Teil  der  Larven  eindringt.  Wie  schon  gesagt, 
dringt  das  Labium  beim  Stechen  nicht  in  die  Haut,  sondern  biegt 
siob  hierbei  winklig  nach  hinten  um,  doch  spaltet  sich  dabei  aus 
mechanischen  Gründen  die  die  Oberfläohe  desselben  überziehende 
Chitinhaut  an  ihrer  dünnsten  Stelle,  und  die  Filarien  werden  aus  dem 
Labium  herausgestofsen.  Sie  gelangen  dabei  zwischen  Labium  und 
Stilette  und  finden  so  die  Wunde,  die  ihnen  den  Weg  in  das  Blut- 
gefäfssystem  öffnet.  Die  Filarialarven  fahren  nun  fort,  sich  in  dem 
gestochenen  Hund  zu  entwickeln,  werden  nach  einigen  Monaten  ge- 
sohlechtsreif,  befruchten  sich  und  fangen  an,  das  Blut  ihres  Wirtes 
mit  jungen  Larveu  zu  bevölkern.  Die  am  Mensohen  unmöglichen 
Experimente,  so  schreibt  Grassi,  konnten  nun  an  Hunden  ausgefübrt 
und  wiederholt  werden,  und  waren  auf  diese  Weise  ganz  sichere  Re- 
sultate zu  erzielen.  Die  Filaria  immitis  verbringt  ihre  Jugendzeit 
mithin  in  der  Stechmücke,  wird  geschlechtsreif  und  reproduziert  sioh 


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nur  im  Hunde.  Und  ganz  entsprechend  wird  nun  auch,  so  konnte 
man  weiter  scbliefsen,  der  Entwickelungsgang  der  menschlichen 
Filarialarven  vollendet  werden.  Wie  die  vorgenannten  drei  Forscher 
restgestellt  haben,  bleiben  namlioh  diese  Larven  nicht  etwa  in  den 
Thoraxmuskeln  eingesohlossen.  Nach  ungefähr  17  Tagen  verlassen 
sie  vielmehr  ihren  Aufenthaltsort,  setzen  sich  in  Bewegung  und  ge- 
langen schliefslioh  in  das  Labium  des  Säugrüssels,  von  wo  aus  sie 
dann  wie  die  Larven  der  Fil.  immitis  in  den  Menschen  übergehen, 
um  dort  bis  zur  Geschlechtsreife  beranzuwachsen.  Der  Fadenwurm 
geht  also  vom  Menschen  auf  die  Mücke  über  und  kehrt  dann  von 
der  Mücke  zum  Menschen  zurück;  das  Wasser  hat  somit  mit  der 
Übertragung  dieser  Krankheit  nichts  zu  tun. 

Aufser  Culex  pipiens  können  auch  gewisse  Anophelesarten  die 
Zwisohenwirte  der  Filaria  für  den  Menschen  sein.  Da  sioh  für  die 
Entwickelung  der  Hundefllaria  nicht  nur  alle  Anophelesarten,  sondern 
auch  mehr  oder  weniger  die  der  Gattung  Culex  angehörenden  Stech- 
mücken eignen,  so  ergibt  sieb,  dafs  für  die  verschiedenen  Filariaarten 
keine  besondere  Auswahl  ihrer  Zwischenwirte  existiert.  Ein  Unter- 
schied für  die  einzelnen  Arten  scheint  nur  in  bezug  auf  die  Organe 
der  Moskitos  festzustehen  — hier  die  Malpighisohen  Gefäfse,  dort 
die  Thoraxmuskeln  — . deren  sioh  dieselben  für  ihre  Weitorentwicke- 
lung  bedienen. 

Dieselbe  Kolle,  wie  bei  der  besprochenen  Krankheit,  spielen  die 
Mücken  bei  der  Malaria  oder  dem  Sumpffieber.  Diese  beginnt  be- 
kanntlich ganz  plötzlich  mit  Frostgefühl  oder  Schüttelfrost  ln  we- 
nigen Stunden  steigt  die  Temperatur  auf  40—41°  C.,  hält  sich  einige 
Stunden  und  fällt  dann  unter  Schweifssekretion  rasch  wieder  ab.  Auf 
einen  solchen  Anfall  folgt  eine  Pause  von  ein  oder  zwei  Tagen  bis 
zur  Wiederholung,  und  sprioht  man  demzufolge  von  einer  Tertiana  mit 
Anlall  an  jedem  dritten,  von  einer  Quartana  mit  Anfall  an  jedem 
vierten  Tage.  Stellt  sich  das  Fieber  täglioh  ein,  so  haben  wir  es 
aller  Wahrscheinlichkeit  naob,  wie  wir  später  nooh  sehen  werden, 
nicht  mit  einer  einfachen,  sondern  mit  einer  doppelten  resp.  mehr- 
fachen Infektion  zu  tun,  dooh  soll  auoh,  entgegen  der  Ansicht  vieler 
Autoren  nach  Cetti  im  Sommer  und  Herbst  eine  wirkliche  Quotidiana 
Vorkommen.  Unter  den  Tertianiiebern  werden  klinisch  zwei  Modi- 
fikationen unterschieden:  die  milde,  im  Frühjahr  auftretende  Frühjahrs- 
tertiana  und  das  schwere  Sommerherbstfieber,  mit  welch  letzterer  Form 
die  tropische  Malaria  identisch  ist.  Sie  wird  auch  als  maligne  oder 
pemioiöse  Form  bezeichnet,  da  Bich  die  Anfälle  in  die  Länge  ziehen. 


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also  einander  nähern  und  so  ein  kontinuierliches  Fieber  erzeugen. 
Jedenfalls  zeigen  alle  diese  Formen,  welche  in  ihrer  Gefährlichkeit 
ganz  verschieden  sein  können,  als  charakteristische  Erscheinung  den 
rhythmischen  Verlauf  des  Fiebers,  wenn  schon  auch  Koch  in  Ost- 
afrika und  Niederländisoh-Indien  bei  malariakranken  Kindern  das 
gänzliche  Fehlen  desselben  beobachten  konnte. 

Seit  der  Entdeckung  der  Krankheitserreger  duroh  den  französi- 
schen Militärarzt  Laveran  im  Jahre  1880  weifs  man,  dafs  die  Malaria 
duroh  die  rasche  Vermehrung  besonderer  Parasiten  im  Blut  erzeugt 
wird.  Diese  Tierchen,  die  zur  Klasse  der  Sporozoen  gehören,  bestehen 
aus  einer  einzigen  Zelle,  und  es  sind  für  die  Entstehung  des  Sumpf- 
fiebers beim  Menschen  mit  Sicherheit  drei  Arten  nachgewiesen.  Es 
sind  dies  das  Plasmodium  malariae,  dem  man  das  viertägige,  das  PI. 
vivax,  dem  das  dreitägige  und  die  Laverania  malariae,  der  das  Tropen- 
fieber zugeschrieben  wird. 

Die  Malariaparasiten  bewohnen  die  roten  Blutkörperchen.  Kurz 
nach  der  Infektion  eines  solchen  finden  wir  in  demselben  den  Para- 
siten in  Form  eines  kleinen  Kügelohens,  welches  allmählich  heran- 
wächst und  einen  immer  gröfseren  Raum  im  Inneren  des  roten  Blut- 
körperchens einnimmt,  bis  es  schliefslich  fast  die  Gröfse  desselben 
erreioht  hat.  Jetzt  beginnt  es  sich  in  9—12  radiär  gestellte,  bimför- 
mige Körper  zu  sondern,  die  sich  schliefslich  unter  Zurücklassung  eines 
Restkörpers,  welcher  aus  unbrauchbaren  Substanzen  des  Mutterkörpers, 
besonders  einem  sohwSrzlichen  Pigment  u.  s.  w.  besteht,  von  einander 
trennen.  Indem  diese  Körperchen,  die  sogenannten  Merozoiten,  neue 
Blutkörperchen  angehen,  bedingen  sie  den  folgenden  Fieberanfall. 
Der  ganze  Entwiokelungsgang  erfolgt  bei  Plasmodium  malariae  in 
72  Stunden.  Die  neuentstandenen  Merozoiten  machen  nun  denselben 
Entwickelungsgang  ebenfalls  innerhalb  dieser  Zeit  durch,  und  sofort 
und  jedesmal  tritt,  wenn  dieser  vollendet  ist,  ein  neuer  Fieberanfall 
auf,  daher  die  regelinäfsige  Wiederkehr  desselben  an  jedem  vierten 
Tage.  Ist  der  Mensch  am  folgenden  oder  übernäohsten  Tage  naoh 
der  ersten  Infektion  von  neuem  infiziert  worden,  ihm  also  eine  zweite 
Gruppe  von  Krankheitserregern  eingeimpft  worden,  so  wird  diese 
ihren  Entwiokelungsgang  mit  entsprechendem  Zeitunterschiede  von 
der  ursprünglichen  vollenden,  das  Fieber  also  einen  doppelt  viertägigen 
Charakter  zeigen.  Es  wird  je  zwei  Fiebertage  geben,  die  duroh  einen 
fieberfreien  Tag  getrennt  sind.  Eine  dritte  Infektion  und  demzufolge 
eine  dritte  Gruppe  von  Krankheitserregern  wird  den  dreifaoh  vier- 
tägigen, d.  h.  den  tägliohen  Typhus  erzeugen.  Haben  wir  es  mit 


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Plasmodium  vivax  zu  tun,  so  wird  der  Entwiokelungsgang  des  Para- 
siten nach  48  Stunden  vollendet  und  dementsprechend  an  jedem  dritten 
Tage  ein  Fieberanfall  hervorgerufen.  Worin  die  Ursache  zu  suchen 
ist,  dafs  mit  der  jedesmaligen  Vermehrung  des  Parasiten  ein  Fieber- 
anfall Hand  in  Hand  geht,  ist  mit  Sicherheit  noch  nicht  nachgewiesen. 
Wahrscheinlich  wird  entweder  seitens  des  angreifenden  Parasiten  oder 
der  sich  zur  Wehr  setzenden  roten  Blutkörperchen  eine  giftige 
Substanz  abgeschieden,  die  ins  Blut  gelangt  und  infolge  ihrer  Ver- 
breitung durch  die  Adern  auf  das  Nervensystem  einwirkt  und  so  die 
Fiebersymptome  hervorruft 

Der  bei  der  Vermehrung  des  Parasiten  übrig  gebliebene  Rest- 
körper,  welcher,  wie  schon  gesagt,  hauptsächlich  aus  Pigment  den 
sogenannten  Malariakörnern  besteht,  wird  von  den  weifeen  Blut- 
körperchen aufgenommen,  meist  in  der  Milz,  der  Leber,  den  Nieren, 
dem  Gehirn  u.  s.  w.  deponiert,  daher  denn  jene  Organe  eine  schwärz- 
liche oder  erdfahle  Farbe  zeigen,  die  bei  der  Obduktion  das  Kenn- 
zeichen der  Malaria  ist 

WTie  gelangt  nun  aber  der  Malariaparasit  in  das  Blut  des  ge- 
sunden Menschen?  Niemand  konnte  vor  ungefähr  einem  Jahrzehnt 
auch  nur  mit  einiger  Sicherheit  den  Weg  angeben,  auf  dem  die  In- 
fektion erfolgte,  keine  der  vorgebrachten  Hypothesen  war  im  Stande, 
alle  gemachten  Erfahrungen  zu  erklären,  denn  wenn  man  auch  die 
Existenz  von  Malariakeimen  in  der  Luft  voraussetzte  und  ihr  Ein- 
dringen duroh  die  Luftwege  annahm,  so  blieb  es  z.  B.  doch  rätsel- 
haft warum  die  Keime  nur  in  geringer  Höhe  über  dem  Boden  oder 
nur  in  bestimmten  Räumen  vieler  Häuser  Vorkommen,  warum  sie  nicht 
überall  hin  duroh  Luftströmungen  verbreitet  werden  u.  s.  w. 

Erst  die  allerneueste  Zeit  hat  hierüber  Klarheit  gebracht  Meh- 
rere Forsoher  sind  ziemlich  gleichzeitig  und  ganz  unabhängig  von 
einander  auf  die  Idee  gekommen,  dafs  auch  bei  der  Malaria  die  Stech- 
mücken eine  Rolle  spielen.  Die  Anschauung,  dafs  diese  das  Sumpf- 
tieber  verbreiten,  ist  übrigens  nioht  neu  und  unter  den  Eingeborenen 
der  verschiedensten  Gegenden  schon  lange  bekannt  gewesen;  fand 
doch  Koch,  dafs  die  Neger  Ostafrikas  sogar  für  Fieber  und  Steoh- 
mücken  ein  und  dasselbe  Wort  gebrauchen.  Dooh  erst  Mansons 
Untersuchungen  über  den  Entwickelungsgang  der  Filaria  hat  die 
Malariaforschung  auf  den  richtigen  Weg  gewiesen.  Durch  diesen 
Forscher  zu  eingehender  Untersuchung  angeregt,  gelang  es  Rofs, 
den  Nachweis  zu  erbringen,  dafs  ein  Malariaparasit  der  Vögel  seine 
weitere  Entwickelung  im  Darm  einer  Stechmücke  (Culex  pipiens)  voll- 


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zieht,  eich  dort  vermehrt  und  darauf  in  die  Speicheldrüse  übergeht, 
aus  welober  er  dann  durch  den  Stich  der  Moskitos  wieder  zu  dem 
Vogel  zurüokkehrt.  Damit  hatte  die  Moskito-Malariatheorie  wenigstens 
für  die  Malaria  der  Vögel  positive  Begründung  erfahren  und  konnte 
somit  ihre  Geltung  für  die  Malaria  des  Menschen  als  höohRt  wahr- 
scheinlich angenommen  werden.  Hier  setzten  nun  Untersuchungen 
italienischer  Forscher,  besonders  Grassis,  ein,  dem  es  nicht  nur  ge- 
lang, diejenigen  Moskitoarten  (Arten  der  Gattung  Anopheles),  welche 
duroh  ihren  Stich  die  Malaria  auf  den  Menschen  übertragen,  nachzu- 
weisen, sondern  auch  die  Entwickelung  der  Parasiten  im  Körper  der 
Müoken  auf  das  genaueste  zu  verfolgen. 

Wie  oben  beschrieben  ist,  pflanzen  sich  die  Malariaparasiten  im 
menschlichen  Blute  auf  ungeschlechtlichem  Wege  durch  sogenannte 
Schizogonie  fort.  Neben  den  Produkten  dieser  Fortpflanzung  beob- 
achtete man  aber  im  Blut,  allerdings  erst  nach  mehrtägiger  Krank- 
heitsdauer, noch  die  sogenannten  Halbmonde  oder  Sioheln,  die  sioh 
schliefslich  zu  verschieden  gestalteten  Gebilden  zweierlei  Art  differen- 
zierten. In  ihnen  haben  wir  nun  die  zur  Paarung  bestimmten  Indi- 
viduen, die  Gameten,  vor  uns;  das  eine,  kugeliobe,  ist  weiblichen,  das 
andere  männlichen  Geschlechts.  Dies  letztere  ist  aber  in  Wirklich- 
keit nicht  nur  ein  Individuum,  sondern,  um  einen  an  die  Blumenhooh- 
zeit  erinnernden  Ausdruck  zu  gebrauchen,  ein  Antheridium,  aus  dem 
4,  6 auch  7 männliche  Elemente  hervorgehen  können. 

Die  Paarung  geht  nun  niemals  im  Blut  des  Fieberkranken  vor 
sioh,  sondern  ausschliefslich  im  Darm  des  Moskitos;  gelangen  die 
Gameten  nicht  dorthin,  so  gehen  eie  im  Blute  des  Menschen  zugrunde. 
Im  anderen  Falle,  wenn  sie  also  rechtzeitig  in  den  Körper  der  Mücke 
gekommen  sind,  vereinigen  sich  die  männliohen  mit  den  weiblichen 
Gameten,  vorausgesetzt  allerdings,  dafs  diese  bei  dem  Übergang  in 
den  Magen  der  Müoke  keine  zu  starke  Temperaturerniedrigung  er- 
fahren, da  sie  sonst  von  ihrem  neuen  Wirte  verdaut  werden.  Aus 
der  Verschmelzung  geht  ein  rundlicher  Körper  hervor,  der  sich  als- 
bald in  ein  bewegliches  Würmchen  verwandelt,  welches  nach  kurzer 
Zeit  den  Magenraum  verläfst  und  sioh  in  der  Magenwand  einnistet. 
Hier  wächst  es  gewaltig  heran  und  wird  zu  einem  schon  mit  blofsem 
Auge  erkennbaren  kugeligen  Gebilde  (Amphiont),  das,  ausgewachsen, 
im  Innern  aus  Tauenden  von  verlängerten  Spindeln  besteht  In  einem 
gewissen  Moment  berstet  dieses  auseinander  und  entleert  die  Sporo- 
zoiten  genannten,  sehr  beweglichen  Spindeln  in  die  Leibeshöhle 
seines  Wirtes.  Auf  Grund  eines  wunderbaren  Gesetzes  sammeln  sioh. 


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etwa  12  Tage  nach  der  Infizierung,  die  Sporozoiten  in  den  Speichel- 
drüsen, vielleicht  angezogen  duroh  eine  eigentümliche,  von  diesen 
letztem  abgesonderte  Substanz.  Wenn  die  Mücke  jetzt  sticht,  entleert 
sie  mit  dem  Speichel  auch  die  Sporozoiten  in  die  Wunde.  Während 
diese  nun  im  Körper  der  Tiere  zugrunde  gehen,  vermehren  sie  sich 
in  dem  des  Menschen  und  beginnen  auf  diese  Weise  die  ungeschlacht* 
liehe  Generation.  Die  Malariaparasiten  des  Menschen  machen  also 
einen  Generationswechsel  duroh  und  bedürfen  zur  völligen  Entwicke- 
lung zweier  verschiedener  Organismen;  die  ungeschlechtliche  Ent- 
wickelung geschieht  im  Blut  des  Menschen,  die  geschleohtliohe  im 
Körper  von  Anophelesarten.  Die  Übertragung  auf  den  Menschen  ge- 
schieht ausschliefslich  durch  den  Stich  von  Anopheles,  die  in  ihren 
Speicheldrüsen  reife  Sporozoiten  der  entsprechenden  Plasmodien  be- 
herbergen und  die  Infektion  der  Anopheles  ausschliefslich  duroh 
Saugen  am  Körper  malariakranker  Menschen.  Ein  Anopheles,  der 
keinen  Malariakranken  gestochen,  oder  wenn  dies  geschehen,  selbst 
noch  ohne  infizierte  Speicheldrüsen  ist,  kann  die  Malaria  nicht  über- 
tragen. 

Die  Anophelesarten,  deren  Larven  hauptsächlich  in  kleinen,  oft 
austrocknenden  Tümpeln  leben,  suchen  gewöhnlich  nachts  die  Be- 
hausungen der  Menschen  auf,  fliegen  niemals  hoch,  sondern  halten 
sich  mit  Vorliebe  wenige  Meter  über  dem  Erdboden  auf.  Die 
im  Herbst  befruchteten  Weibchen  überwinern  an  gesohiitzten  Stellen 
im  Freien  oder  in  Häusern,  Kellern,  unter  Treppen,  in  Ställen,  Scheunen 
u.  s.  w.  und  sind  die  Erzeuger  der  ersten  Generation  des  nächsten 
Jahres.  Jedenfalls  erklären  sich  aus  der  Lebensgeschiohte  dieser 
Tiere  zahlreiche,  bisher  unverstandene  Erfahrungen,  die  die  Malaria 
betreffen. 

Wie  die  Zitronenbäume  neue  Blüten  neben  den  Früchten  zeitigen, 
so  begann,  sohroibt  Grass i,  während  die  Lösung  des  Malariapro- 
blems reifte,  auch  sohon  die  des  gelben  Fiebers  zu  keimen. 

Das  gelbe  Fieber,  der  Tropentyphus  oder  vomito  negro,  ist  be- 
kanntlich die  schwerste  der  Krankheiten,  die  in  den  tropisohen  Ländern 
wüten.  Gewöhnlich  beginnt  dieses  Leiden  mit  sehr  heftigem  Kopfweh 
und  Fieber,  dann  tritt  Übelkeit  und  Erbreohen  hinzu,  das  von  einer 
schmerzhaften  Empfindung  in  der  Magengegend  begleitet  wird.  Diese 
erste  Periode  dauert  drei  bis  vier  Tage.  Danach  erfolgt  Erbreohen 
schwarz  gefärbten  Blutes,  während  gleichzeitig  mehr  oder  weniger  stark 
ausgeprägte  Gelbsuoht  auftritt  Der  Kranke  wird,  wenn  nicht  Genesung 
eintritt,  in  der  Zeit  vom  vierten  bis  zum  achten  Tage  dahingerafft. 


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112 


Die  Hypothese,  dafs  auch  das  gelbe  Fieber  durah  Moskitos  ver- 
breitet werden  könnte,  existiert  6chon  seit  Jahren  und  wurde  von 
Finlay  aufgestellt  Aber  erst  in  neuster  Zeit  fand  sie  eine  derartige 
Bestätigung  in  experimentellen  Tatsachen,  hauptsächlich  durah  die 
Beobachtung  Reeds,  Carrols  und  Agramontes,  dafs  man  mit  ab- 
soluter Gewißheit  behaupten  kann,  dafs  das  gelbe  Fieber  ausschließ- 
lich durch  Stechmüoken  verbreitet  wird.  Der  Krankheitserreger  ist, 
da  der  Sanarellische  Bazillus  nicht  mehr  als  solcher  gelten  kann,  un- 
bekannt, aber  die  Tatsache,  dafs  zur  Übertragung  der  Krankheit  eine 
Periode  von  zwölf  oder  mehr  Tagen  naoh  Aufnahme  des  infizierten 
Blutes  von  seiten  der  Stechmücke  nötig  ist,  d.  h.  also  eine  gleiche 
Periode,  wie  sie  die  Malariaparasiten  innerhalb  des  Anopheleskörpers 
brauchen,  um  in  die  Speicheldrüsen  zu  gelangen,  die  Tatsache  ferner 
dafs  daB  gelbe  Fieber  Bich  nur  durch  die  Moskitos  verbreitet,  lassen 
vermuten,  dafs  es  sich  um  einen  Parasiten  handelt,  welcher  von  dem 
der  Malaria  nioht  sehr  verschieden  ist.  Diese  Verbreitungsweise  er- 
scheint, so  schreibt  Grassi,  um  so  mehr  einleuchtend,  als  die  Mos- 
kitos, mit  welchen  man  bis  jetzt  die  Infektion  erzielt  hat,  in  Kuropa 
nicht  Vorkommen.  Auf  alle  Fälle  kann  man  annehmen,  dafs  sich  das 
gelbe  Fieber  nicht  durch  die  gewöhnlichen  Stechmücken  (Culex  pipiens) 
noch  durch  die  Malariastechmücken  (Anopheles)  zu  verbreiten  vermag. 
Diese  Umstände  sind  von  sehr  grofsem  Interesse,  da  hierdurch  die 
sonderbare  Beschränkung  der  geographischen  Verbreitung  des  gelben 
Fiebers  aufs  schlagendste  erklärt  wäre.  Als  Verbreiter  des  gelben 
Fiebers  wird  Culex  fasciatus  bezeichnet. 

Zur  experimentellen  Feststellung  der  angeführten  Tatsachen  hatte 
man  im  November  1900  in  der  Umgegend  von  Quemado  auf  Cuba  auf 
einem  unbebauten,  gesunden  und  trocknen  Terrain  eine  Art  Sanitäts- 
lager aufgesohlagen,  das  aus  13  Personen,  darunter  2 Ärzte,  bestand. 
Alle  waren  junge,  kräftige,  gesunde  Menschen,  die  vorher  einer  sorg- 
fältigen Quarantäne  unterworfen,  somit  also  frei  von  etwaigen  An- 
steckungskeimen des  gelben  Fiebers  waren.  Das  Lager  war  schließ- 
lich noch  von  einem  Sanitätskordon  umgeben.  Die  Ärzte  hatten  zu 
ihrer  Verfügung  eine  Sammlung  lebender  Steohmücken,  die  vor  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  an  gelbem  Fieber  erkrankte  Personen  gestochen 
hatten;  des  weiteren  führten  sie  aus  Fieberlazaretten  stammende, 
verunreinigte  Bettwäsche  mit  sich.  Das  Ergebnis  der  Versuche  ist 
oben  bereite  geschildert:  alle  in  den  passenden  Fristen,  d.  h.  12  Tage 
nach  der  Infektion  der  Mücken  von  diesen  gestochenen  Personen, 
von  denen  übrigens  keine  an  den  Versuchen,  zu  denen  sie  sioh  frei- 


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willig  erboten  hatten,  gestorben  ist,  erkrankten  am  gelben  Fieber. 
Anderseits  blieben  alle  diejenigen  gesund,  welche  sich  den  bis  dahin 
für  ansteckend  geltenden  Ursachen  ausgesetzt  hatten,  z.  B.  in  einem 
Zimmer  mit  mangelhafter  Ventilation  bei  feuohtwarmer  Temperatur 
von  38°  auf  der  von  Fieberkranken  verunreinigten  Bettwäsche  schliefen 
Somit  war  also  unzweifelhaft  festgestellt,  dafs  das  gelbe  Fieber  durch, 
die  Mücken  verbreitet  wird,  dafs  diese  sich  infizieren,  indem  sie  das 
Blot  der  von  dieser  Krankheit  befallenen  Menschen  aufsaugen.  Wenn 
auch  der  Krankheitserreger  selbst  bis  heut  noch  nicht  ermittelt  ist,  so 
ist  doch  mit  Sicherheit  anzunehmen,  dafs  er  im  Körper  der  Mücken 
einen  Teil  seines  Entwickelungsganges  durchmacht,  und  dafs  dieser 
Parasit,  wie  schon  gesagt,  dem  der  Malaria  nicht  unähnlioh  ist. 

Wie  wir  gesehen  haben,  sind  es  also  bei  allen  drei  Krankheiten, 
der  Filariosis,  der  Malaria  und  dem  gelben  Fieber  die  Müoken,  welche 
die  Übertragung  auf  den  Menschen  vermitteln,  während  anderseits 
die  Mücken  wieder  dadurch,  daß  sie  das  Blut  erkrankter  Menschen 
aufsaugen,  infiziert  werden.  Mit  dieser  Erkenntnis  waren  nun  die 
Wege  gewiesen,  die  einzuschlagen  sind,  um  die  Verbreitung  dieser 
drei  Krankheiten  zu  verhindern.  Man  mufs  nach  Möglichkeit  ver- 
hüten, dafs  der  Mensch  durch  Mücken  gestochen  wird,  zu  welchem 
Zweok  man  zu  den  Moskitonetzen  sowie  zu  Drahtgittern  vor  Fenstern 
und  Türen  seine  Zuflucht  genommen  hat.  Gras  ei  hat  gerade  dieses 
Mittel  in  den  von  der  Malaria  heimgesuchten  Gegenden  Italiens  mit 
grofsem  Erfolge  durchgeführt.  „Das  von  mir  in  der  Umgebung  von 
Paestum  an  mehr  als  hundert  Personen  gemachte  Experiment,  welches 
mit  allen  nur  wünschenswerten  Vorsiohtsmafsregeln  ausgefiihrt  wurde, 
hat  in  schlagender  Weise  dargetan,  dafs  es  genügt,  sich  vor  den 
Anophelesstichen  zu  sdhützen,  um  sich  erfolgreich  vor  Malaria  zu  be- 
wahren.“ 

Ein  zweites  Mittel,  dafs  gegen  die  genannten  Krankheiten  ins 
Feld  geführt  wird,  besteht  in  möglichster  Vernichtung  der  Müoken, 
dadurch,  dafs  man  die  Umgebung  menschlicher  Wohnungen  möglichst 
trocken  legt,  alle  Ansammlungen  stehender  Wässer  hindert,  oder  sie 
durch  Hineingiefsen  von  Petroleum  für  die  Entwickelung  der  Mücken- 
larven untunlich  macht.  Schliefslich  mufs  man  danach  trachten,  die 
Mücken  vor  Ansteckung  zu  schützen,  indem  man  verhindert,  dafs  sie 
Erkrankte  stechen  und  sich  so  infizieren.  Welche  Erfolge  durch 
zweckmäfsige  Anwendung  dieser  drei  Mittel  erzielt  werden  können, 
ist  bisher  ja  hauptsächlich  nur  in  Italien  im  Kampfe  gegen  die  Malaria 
und  unter  der  sachgemäßen  Leitung  Grassis  erprobt  worden,  mit  so 

Himmel  und  Erde.  1901.  XVI.  S.  8 


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gutem  Erfolge  aber,  dafs  der  vorgenannte  Forsoher  so  manche  un- 
bebaute Steppe,  die  lediglich  der  Malaria  wegen  gemieden  wurde,  in 
wenigen  Jahren  schon  in  fruchtbares  Feld  mit  blühenden  Dörfern 
umzuwandeln  hofft  Und  was  hier  für  Italien  erhofft  wird,  das,  so 
wollen  wir  wünschen,  mag  auch  da  gelingen,  wo  das  gelbe  Fieber 
bisher  Tausende  von  Mensohen  alljährlich  dahinrafft,  wo  die  Filaria 
so  manohes  Opfer  fordert  Mögen  die  Tropen  so  eines  ihrer  furchtbarsten 
Schreokon  entkleidet  werden  und  die  Kolonien  in  den  warmen  Ländern 
dadurch  für  uns  zu  wirklichen  Quellen  der  Fruchtbarkeit  und  des 
Reichtums  werden. 


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Die  Höhlenwelt  von  St.  Canzian. 

Von  Dr.  P.  Schwelte  in  B.  rlin, 

(Schlüte.) 

-GMyl  nsere  Darstellung  der  Rekawunder  würde  unvollständig  sein, 
PÄmi  w nn  wir  nicht  mit  ein  paar  Worten  der  Männer  gedenken, 
die  >:ähe  und  unerschrocken,  modernen  Argonauten  gleich,  zuerst 
den  Kampf  mit  den  wilden  Elementen  und  der  Finsternis  wagten,  deren 
Energie  wir  die  Ersohliefsung  dieser  Höhlenwelt  zu  danken  haben. 

Die  früheren  Jahrhunderte  vergingen,  ohne  dafs  man  auf  dem 
nächtlichen  Strom  über  das  Portal  hinaus  vordrang.  Es  war  schon 
eine  Leistung,  wenn  ein  Bauer  oder  Taubenjäger  es  wagte,  bis  in  den 
Grund  der  grofsen  Dolina  hinabzusteigen.  Der  erste,  welcher  die 
unterirdischen  Gewässer  befuhr,  war,  wie  schon  erwähnt,  der  Triester 
Brunnenmeister  Svetina  (1840).  Dafs  er  nicht  weit  kam,  ist  be- 
greiflich. Erst  1860  beginnt  die  Geschichte  der  planmäßigen  Ent- 
deckungsreisen. in  diesem  Jahre  wurde  Dr.  Adolf  Schmidt  aus 
Wien  beauftragt,  den  unterirdischen  Lauf  der  Reka  zu  untersuchen, 
weil  der  Flufs  der  S idt  Triest  zur  Versorgung  mit  Wasser  dienen 
sollte.  Mit  vier  Bergknappen  aus  Idria  und  anderen  mutigen  Männern 
machle  er  sich  an  die  Arbeit;  es  gelang  ihm  auch  bei  dem  niedrigen 
Waseerstand  des  Winters  1851  bis  zum  sechsten  Fall,  also  bis  zum 
Ende  des  Svetinadomes  vorzudrmgen.  Hier  aber  machte  eine  plötzlioh 
eiDtretende  Hochflut  ein  weiteres  Fortkommen  unmöglich.  Die  Männer 
mußten  ihre  Boote  im  Stiche  lassen  und  entrannen  der  Gefahr  des 
Ertrinkens  nur  mit  äußerster  Mühe,  indem  sie  längs  der  steilen 
Felsufer  kletternd  wieder  das  Tageslicht  erreichten. 

Dreiunddreißig  Jahre  verflossen,  ohne  dafs  wieder  einmal  von 
den  Menschen  der  Versuch  gemacht  wurde,  an  dem  schwarzen  Schleier 
zu  rühren,  welcher  das  Geheimnis  des  acherontischeu  Stromes  verhüllte. 
Da  im  Jahre  1884  wurden  von  einem  Häuflein  kühner  Grottenforscher 
auf  Veranlassung  der  Sektion  Küstenland  des  Deutschen  und  öster- 
reichischen Alpenvereins  die  unterirdischen  Entdeckungsfahrten  wieder 

8* 


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aufgenommen,  und  zwar  diesmal  mit  einem  Heroismus  und  einer  Tat- 
kraft, welche  aufrichtige  Bewunderung  herausfordern  und  in  der  Ge- 
schichte der  alpinen  Wagnisse  als  glänzendes  Beispiel  dastehen.  Die 
Namen  dieser  Pioniere  der  Unterwelt  sind:  Anton  Hanke,  Joseph 
Marinitscb,  Friedrich  und  Heinrich  Müller,  Carl  Hoffmann 
und  einige  mehr.  Durch  Beschaffung  vorzüglicher  Geräte,  wie  zu- 
sammenstellbaren Holzleitern,  Striokleitern,  zerlegbaren  Booten,  aller 
Arten  von  Tauen,  von  Balken,  Fackeln  und  Leuchten,  wurden  die- 
selben von  der  Sektion  in  den  Stand  gesetzt,  sich  an  die  Lösung  der 
grofsen  Aufgabe  zu  wagen.  Schon  das  HerabschalTen  dieses  Materials 
in  die  grofse  Dolina  bis  an  das  Ufer  der  Reka  erforderte  viel  An- 
strengung, da  es  zur  Winterszeit  geschah,  wo  dio  Wände  mit  Glatteis 
bedeckt  waren  und  die  Reisenden  bei  der  ansässigen  Bevölkerung 
keine  Unterstützung  fanden.  Kein  Bauer  der  Umgebung  hätte  es  ge- 
wagt, sie  bei  diesem  Unternehmen  zu  begleiten. 

Am  30.  März  wurde  das  Boot  unter  grofsen  Schwierigkeiten  — 
damals  gab  es  ja  in  dieser  Höhlenwelt  weder  Weg  noch  Steg  — von 
der  heutigen  Schmidl-Grotte  nach  dem  Rudolfdom  befördert  und  den 
tosenden  Fluten  der  Reka  anvertraut.  Man  gelangte  auf  demselben 
nach  außerordentlichen  Anstrengungen  in  die  grofse  Halle,  welche 
dem  früheren  Reisenden  zu  Ehren  Svetina-Dom  getauft  wurde.  Die 
Schnellen  und  Katarakte  bis  zu  diesem  Raume  waren  glücklioh  be- 
zwungen, nun  aber  kam  man  zum  sechsten  Wasserfall,  dem  mächtigsten 
von  allen,  welcher  schon  der  Schmidlschen  Expedition  ein  Ziel  gesetzt 
hatte.  Der  ungünstige  Wassersland  verbot  damals,  es  mit  diesem  ge- 
fährlichen Gegner  aufzunehmen.  Immerhin  diente  dieser  erste  Vorstofs 
als  Rekognoszierungsfahrt  Die  Reisenden  erblickten  bei  dem  grellen 
Lichte  ihrer  Magnesiumlampen  auf  dem  rechten  Ufer  des  Falles  einen 
hohen  Felsen,  den  sie  Lorelei-Felsen  tauften  und  später  als  Operations- 
basis wählten.  Auch  wollte  das  Auge  erst  an  den  Anbliok  der  wüten- 
den Gewässer,  das  Ohr  an  ihren  gewaltigen  Donner  gewöhnt  sein,  ehe 
man  sich  mit  dem  Gedanken  vertraut  machen  konnte,  diesen  Cerberus 
der  Unterwelt  eines  Tages  zu  überwinden. 

Im  Herbst  des  Jahres  1884  trat  niedriger  Wasserstand  ein.  Am 
9.  November  konnten  dio  Grottenforscher  abermals  ans  Werk  gehen, 
jetzt  mit  dem  eisernen  Willen,  das  schwierige  Unternehmen  zu  lösen. 
Auch  bei  den  Bauern  hatten  sie  durch  die  bisherigen  Erfolge  Ver- 
trauen gowonnen;  sechs  derselben  fanden  sich  bereit,  an  den  Arbeiten 
teilzunehmen.  Drei  Boote  wurden  im  Rudolfdom  zu  Wasser  gelassen. 
Hanke  befand  sich  im  ersten,  Müller  folgte  im  zweiten.  Um  sieb 


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gegenseitig  besser  verständigen  zu  können,  hatte  man  die  Boote  durch 
ein  Sohlepptsu  verbunden.  Aber  auch  so  reichte  die  menschliche 
Stimmkraft  gegenüber  dem  gewaltigen  Tosen  des  Stromes  nicht  aus; 
alle  Aufträge  muhten  durch  Hornsignale  übermittelt,  jeder  Schritt  in 
die  ewige  Nacht  duroh  künstliche  Beleuchtung  erkämpft  werden.  Als 


AbsUsgplad  su  dsu  Hohlsu 

Aufgi-nommen  von  M.  Schaber  in  Ailelabcrg. 


drittes  und  letztes  Boot  trat  das  Hauptsohiff^  die  „Keks.  in  Aktion, 
vollbeladen  mit  Menschen  und  den  für  die  unterirdische  Argonauten- 
fahrt notwendigen  Requisiten. 

Da  erscholl  durch  die  Nacht  ein  Hornsignal  und  verkündete, 
dato  Hanke  als  erster  glüoklioh  beim  sechsten  Wasserfall  angelangt 
war.  Bald  waren  auoh  die  übrigen  kühnen  Pioniere  daselbst  ver- 


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sammelt,  und  bei  dem  damaligen  niedrigen  Wasserstand  gelang  es 
ihnen,  zu  Fufs  bis  zum  Lorelei-Felsen  vorzudringen.  Auf  demselben 
wurde  kurzer  Kriegsrat  gehalten  und  die  Rollen  verteilt,  dann  ging 
es  an  die  Arbeit  Eisenpflöcke  werden  in  den  Fels  getrieben,  um 
daran  die  Strickleitern  zu  befestigen.  Am  Wasserfall  klingt  der 
Meifsel,  ungezählte  Male  fällt  der  Hammer  auf  ihn  nieder,  während 
die  Reka  ihr  brausendes  Konzert  daneben  vollführt.  Marinitsch  ist 
inzwischen  mit  den  Vorbereitungen  zu  einem  Brückenschläge  über  den 
Strom  beschäftigt,  der  zur  leichteren  Herabschaffung  des  Materials 
dienen  soll.  Mitgebrachte  Feuerleitern  finden  für  diesen  Zweck  Ver- 
wendung, sie  schaffen  nur  einen  schwankenden  Steg  über  den  Rücken 
des  ungebärdigen  Flusses. 

Endlich  ist  alles  Nötige  für  die  Überwindung  des  Wasserfalls 
vorbereitet  Nun  gilt  es  ein  Doppelboot  über  den  sieben  Meter  tiefen 
Strudel  herabzulassen.  Eine  Strickleiter  von  10  m Länge  wird  an 
dem  Eisenpflock  befestigt;  senkrecht  fällt  sie  gegen  den  Flufs  ab  und 
urreioht  unten  einen  winzigen  Vorsprung,  der  gerade  Halt  genug  für 
einen  Fufs  bot  immer  aber  noch  einen  Meter  über  dem  Strom  lag. 

Hanke,  der  bei  der  Entdeckungsreise  stets  voraus  war,  steigt 
auf  der  Leiter,  das  Seil  um  den  Leib  geschlungen,  zuerst  in  die  Tiefe. 
„Atemlos  sehen  wir  übrigen'1,  so  erzählt  Friedrich  Müller,*) 
„ihm  nach  in  den  finsteren  Kessel.  Zischend  und  brodelnd  gährt  es 
da  unten;  die  erregte  Phantasie  läfsl  uns  glauben,  der  Flufs  würfe  mit 
doppelter  Gewalt  seine  Fluten  in  die  Enge,  um  den  unentweihlen  Ort 
zu  schützen  vor  den  kecken  Eindringlingen.  Wohl  alle  beschleicht 
ein  Gefühl,  ähnlich  wie  es  der  junge  Soldat  empfindet,  wenn  er  zum 
ersten  Male  den  Donner  der  Kanonen  und  das  Pfeifen  der  Kugeln  in 
heifser  Feldschlaoht  hört.“ 

Während  man  oben  auf  dem  Felsen  in  banger  Sorge  harrt,  er- 
tönt plötzlich  das  Hifthorn  aus  der  dunklen  Tiefe  und  verkündet,  dafs 
der  Führer  glücklich  auf  der  Felsplatte  Fufs  gefafst  hat.  Endloser 
Jubel,  dann  machte  man  sioh  daran,  das  Boot  an  drei  Strioken  über 
den  Sturz  hinabzulassen.  Hanke  soll  es  unten  in  Empfang  nehmen. 
Sein  Posten  ist  ein  gefährlichen  denn  der  eine  Fufs  schwebt  über 
dem  Wasser,  der  andere  ruht  auf  der  winzigen  Platte;  die  eine  Hand 
umklammert  die  Striokleiter,  die  andere  soll  den  Stapellauf  leiten. 
Nach  vieler  Mühe  gelingt  es  endlich,  das  Boot  über  den  Fall  hinab- 
zubringen; wenn  auch  halb  mit  Wasser  angefüllt,  schaukelt  es  unten 

*)  Friedrich  Müller:  Führer  in  die  Orotlen  und  Höhlen  von  St.  Can- 
zian,  Triest,  1887. 


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auf  dem  erregten  Element,  kaum  zwei  Meter  vom  tosenden  FaU  ent- 
entfernt.  Ein  Hornsignal  verkündet  das  Gelingen  der  siebenstündigen 
Arbeit;  ein  Hurrah  vom  Gipfel  des  Felsens  antwortet  darauf.  Freudig 
erregt  klettert  nun  die  Gesellschaft  auf  der  dem  Boote  zugewandten 
Seite  des  Loreleifelsens  hinab.  Der  Stapellauf  war  glücklich  vollzogen, 
nun  galt  es.  weitervordringen  in  die  unerforschte  Nacht  hinein. 


Parti«  Ln  d«r  groben  Dolin«. 

Aufgenommen  von  M.  Schaber  in  Adelsberg. 


Die  Schwimmer  werden  hervorgeholt,  um  die  Kiohtung,  be- 
sonders aber  die  Stärke  des  abweisenden  Flusses  zu  untersuchen. 
Es  sind  dies  Korkplatten  mit  aufgesestzten  Lichtern,  die  an  einer 
Leine  der  Flut  überlassen  wurden  und  mit  rasender  Geschwindigkeit 
gleioh  gespenstischen  Irrwischen  im  Reiohe  der  Schatten  forttrieben. 
Ihre  kreisende  Bewegung  deutete  das  Dasein  von  Flutungen  an,  ihr 


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plötzliohes  Versoh  winden  in  die  Tiefe  brachte  den  Grottenfahrern  die 
Gewifsheit  dafe  ein  gefährlicher  Katarakt  in  der  Nähe  sei.  In  dieser 
Weise  wurde  das  Fahrwasser  erkundet,  und  nachdem  man  sich 
überzeugt  hatte,  dafs  der  Strom  unterhalb  des  sechsten  Falles  kein 
zu  reifsendes  Gefälle  hatte,  wurde  das  Boot  abgelassen.  Hanke 
allein  bestieg  es,  während  die  anderen  vorläufig  zurückblieben. 
Bald  verkündeten  jedooh  Hornsignale,  dafs  er  einen  günstigen  Lan- 
dungsplatz gefunden,  und  nun  wurde  die  ganze  Expedition  dorthin 
übergesetzt. 

In  stummer  Erwartung  harrten  die  übrigen  der  kommenden 
Dinge,  nur  Friedrich  Müller  allein  unternahm  es,  über  Klippen 
und  Wassertümpel  in  die  Finsternis  einzudringen.  Es  gelang  ihm, 
einen  Hügel  zu  erklettern,  der  eine  Orientierung  ermöglichte;  hier 
hörte  er  auch  das  Brausen  des  siebenten  und  aohten  Rekafalles.  Als 
er  auf  dem  Gipfel  des  Hügels,  fünfzig  Meter  über  dem  Strom,  das 
Magnesiumfeuer  anziindete,  bot  sich  ein  wunderbarer  Anblick  dar. 
Wie  ein  Grottengespenst  bewegte  sioh  seine  Sohattengestalt,  riesenhaft 
vergrüfsert,  über  die  Wasser  gegen  aas  Gewölbe  hinauf.  Die  Bäume, 
welche  bisher  keines  Mensohen  Fufs  betreten  hatte,  leuchteten  zum 
ersten  Male  im  Glanze  des  Lichtes,  und  gleichsam  als  ob  sie  sioh 
freuten,  der  ewigen  Finsternis  entrissen  zu  sein,  strahlten  die  Tropf- 
steingebilde an  den  Decken  und  Wänden  wie  Tausende  von  funkeln- 
den Diademen  den  Eindringlingen  entgegen.  Den  Eindruck  sohildert 
Müller  mit  den  Worten:  „Dieses  Stüok  Unterwelt  in  dem  starren 
Glanze  der  Kalkspatkristalle  glich  einer  von  Nordlichtern  über- 
strahlten Polarnacht“ 

An  jenem  für  die  Erschliefsung  der  Canzianer  Grottenwelt  be- 
deutungsvollen Tage  gelangten  die  Forscher  uur  bis  zum  siebenten 
Fall.  Der  elfstündige  Kampf  mit  dem  Wasser,  mit  den  Felsen  und  der 
Finsternis  hatte  ihre  Kräfte  bis  auf  das  äufserste  erschöpft;  man  sah 
sich  zur  Rückkehr  gezwungen.  Der  Erfolg  aber  war  gesichert  denn 
der  sechste  Fall,  dieser  gefährliche  Cerberus  der  Unterwelt,  war  be- 
zwungen. 

Im  Jahre  1 885  und  den  folgenden  Jahren  haben  die  wackeren 
Pioniere  ihre  Entdeckungsreisen  fortgesetzt.  Sie  gelangten  in  den 
Müllerdom,  sie  erschlossen  dann  weiter  eine  lange  Fluoht  von  Hallen, 
Klammen  und  seeartigen  Erweiterungen  des  Flusses,  bis  schliefslich 
der  mäohtige  Alpenvereinsdom  mit  dem  achtzehnten  Katarakt  dem 
weiteren  Vordringen  ein  Ziel  setzte.  Was  dahinter  liegt  ist  vorläufig 
noch  unbekannt;  es  ist  auch  noch  rätselhaft  auf  welohem  Wege  die 


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Reka  bis  zum  Meer«  gelangt,  lat  der  Timavo  bei  Schlote  Duino  an 
der  Adria  ihr  Abflute,  so  würde  bis  dahin  ihr  unterirdischer  Lauf  in 
der  Luftlinie  gegen  40  Kilometer  betragen,  während  doch  bisher  nur 
ein  Kilometer  erforscht  ist.  Wie  mag  sich  dieser  Lauf  gestalten? 
Werden  neue  stolze  Hallen  sich  öffnen,  oder  wird  der  Strom  unter 
Felsen  verschwinden?  Schwerlich  dürfte  das  Geheimnis  dieses  ver- 
hüllten Wasserlaufes  jemals  enträtselt  werden.  Man  hat  gehofft,  date 
man  am  Grunde  anderer  unterirdischer  Hohlräutne  des  küstenländisohen 
Karstes  dem  verschwundenen  Strom  wieder  begegnen  werde,  man  ist 
tief  hinabgestiegen,  beispielsweise  in  das  Schlangenloch  bei  Divafa,  in 
der  Meinung,  man  werde  dort  auf  Wasser  stoteen,  aber  alle  diese  ein- 
schlägigen Forschungen  haben  sioh  als  trügerisch  erwiesen.  Wohl 
mögen  die  übrigen  Höhlungen  mit  der  Heka  in  Verbindung  stehen 
und  von  ihrem  Wasser,  wenigstens  teilweise,  geschaffen  worden  sein, 
aber  im  Laufe  der  Jahrtausende  hat  sich  der  Strom  tiefer  und  tiefer 
in  den  Kalkfels  eingegraben.  Das  Wasser  ist  aus  ihnen  gewichen, 
ähnlich  wie  es  aus  der  Schmidt-Grotte  und  aus  der  gewaltigen  Tominz- 
Grotte  versohwunden  ist,  die  sich  an  der  nördliohen  Wand  der  grofsen 
Dolina  befindet. 

Wer  Stalagmiten  und  andere  Launen  der  Tropfsteinbildung  be- 
wundern will,  der  wird  nach  der  Rückkehr  aus  den  Wasserhöhlen 
von  St.  Canzian  dieser  Tominzgrotte  einen  Besuch  abstalten.  ln  der 
Lehmschioht  ihres  Bodens  hat  man  in  mäteiger  Tiefe  allerhand 
prähistorische  Funde  gemacht  und  Knochenreste  aufgedeckt,  ein  Beweis 
dafür,  date  diese  Höhle  schon  in  der  Vorzeit  trocken  lag  und  date  die 
Steinzeitmensohen  sioh  in  ihr  häuslich  niedergelassen  hatten. 

Verlassen  wir  jetzt  den  Schauplatz  dieser  Welt  der  Wunder  und 
Seltsamkeiten  und  wenden  uns  zurück  nach  Divaöa.  Gregor  Siberna, 
der  eine  wahre  Maulwurfstätigkeit  in  der  dortigen  Gegend  entfaltet 
hat,  erwartet  uns  daselbst,  um  uns  neuen,  überraschenden  Schaustücken 
entgegen  zu  führen.  Er  will  uns  nach  den  prachtvollen,  ja  einzig  da- 
stehenden Tropfsteinhallen  leiten,  welche  den  Namen  „Kronprinz 
Rudolf-Grotte“  führen.  Sie  sind  von  ihm  im  Jahre  1884  entdeckt 
worden.  Siberna  ist  stolz  darauf,  und  in  der  Tat  bat  er  einen  kost- 
baren Fund  gemacht,  für  den  die  Gemeinde  Divaöa  sich  dem  Manne 
dankbar  erweisen  sollte.  Aber  Undank  ist  nun  einmal  der  Welt 
Lohn;  diese  alte  Weisheit  glaubt  unser  Führer  auch  an  sioh  er- 
fahren zu  haben.  Mit  Vorliebe  bezeichnet  er  sioh  in  der  Unterhaltung 
als  „den  gröfsten  Lump  von  Divaöa“,  der  den  Fremden  naohlaufen  mute, 
um  ein  paar  Kreuzer  zu  verdienen. 


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122 


Unser  Weg  führt  uns  über  den  Bahnhof  von  Divaöa  nach  Westen 
am  Oeleise  der  Istrianer  Staatsbahn  entlang.  Nach  halbstündiger 
Wanderung  treffen  wir  auf  eine  kleine  Doline,  an  derem  Grunde  ein 
hölzernes  Pförtchen  den  Zugang  zur  Kronprinz  Rudolf-Grotte  ver- 
mittelt. llafs  wir  auoh  hier  wieder  die  unterirdischen  Räume  durch 


Wegarbsiton  in  der  Tomiugrott«. 
Aufgenommen  von  Francesco  Benque  in  Triest 


eine  Doline  betreten,  ist  sehr  natürlich.  Wo  nämlich  die  Deoke  eines 
Hohlraumes  in  die  Tiefe  gebrochen  ist,  hat  sie  mit  ihrem  Bruch- 
material  einen  grofsen  Teil  des  Sohachtes  erfüllt,  und  an  der  Ober- 
fläche entstanden  jene  gerundeten,  trichterförmigen  Einsenkungen,  eben 
die  Dolinen,  an  deren  Wänden  sich  meist  die  schwarzen  Portale  zu 
den  Verliesen  der  Unterwelt  öffnen. 


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128 


Wir  haben  die  hölzerne  Schranke  passiert  und  befinden  uns 
nun  abermals  im  Reiche  der  Nacht.  Wiederum  spenden  Kerzen  ihr 
spärliches  Licht,  und  neugierig  spähen  wir  in  die  Schatten,  in  denen 
sich  der  Pfad  verliert.  Tiefer  und  tiefer  dringen  wir  ein  in  die  näoht- 
lichen  Hallen,  wo  alles  Leben  erlisoht.  Totenstille  erfüllt  die  Räume, 


TropfiUinbildungon  in  der  Krooprin*- Rudolf- Grotte. 

Aufgeaommon  von  Francenco  Benque  in  Trieal. 


kein  Wasserfall  verkündet,  wie  in  den  Rekahöhlen,  die  Anwesenheit 
eines  unterirdischen  Stromes. 

Der  Führer  zündet  das  Magnesiumfeuer  an  und  grelles  Licht  Outet 
durch  das  Schattenreich.  Wir  befinden  uns  in  einem  gewaltigen  Dom 
und  überschauen  seine  gleifsenden  Wände  bis  hoch  hinauf  zu  der  mit 
steinernen  Festons  der  Stalaktiten  gezierten  Deoke.  Was  hier  die 


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124 


Kunstfertigkeit  der  Natur  zum  Erstaunen  des  Besuchers  an  herrlioben 
Werken  vorfiihrt,  ist  schwer  zu  sohildern.  Da  stehen  Hunderte  von 
Säulen  in  den  kolossalsten  Dimensionen  und  von  allen  Farbenstufen 
zwisohen  dem  blendensten  Weifs  und  Braunrot,  da  hängen  von  der 
Deoke  herunter  Gebilde,  welche  eine  tauschende  Ähnlichkeit  mit  Vor- 
hängen, Draperien  und  Teppichen  haben.  Der  Faltenwurf  ist  so  voll- 
endet, dafs  man  ein  Werk  von  Menschenhand  vor  sich  zu  haben  meint, 
und  das  ganze  Gebilde  so  durchsichtig,  dafs  Bich  die  Streifen  von 
rötlicher  Farbe  deutlich  erkennen  lassen,  die  gleich  einer  Bordüre  den 
gelbweifsen  Fond  umsäumen.  Auoh  merkwürdige  zeltartige  Sinter- 
bildungen springen  aus  den  Wänden  hervor.  Die  Phantasie  der  Führer 
hat  ihnen  allerhand  Namen  gegeben,  wie  etwa  , Baldachin  des  türki- 
schen Sultans“  oder  „Thronsessel“  eines  exotischen  Herrschers.  Die 
sogenannte  „Schatzkammer“  der  Kronprinz  Rudolf-Grotte  ist  voll  von 
solch  merkwürdigen  Naturspielen,  die  der  fallende  Tropfen  in  Jahr- 
tausende langer  Arbeit  geschaffen  hat.  Oft  haben  sie  täuschende 
Ähnlichkeit  mit  den  organischen  Gebilden  der  Oberwelt,  Da  sehen 
wir  steinerne  Kobolde,  Drachen  und  Sphinxe,  Löwen  und  Greifen  und 
anderes  steinernes  Getier,  da  finden  wir  an  den  Wandungen  zarte 
Korallen,  die  Blumenkelchen,  Federkronen  und  Blütenstengeln  gleichen. 
Eine  eingehende  Beschreibung  all  der  Eindrücke,  die  wir  empfangen, 
würde  hier  nichts  nutzen.  Mag  ein  jeder  selbst  in  diese  Kunstgalerie 
der  Unterwelt  hinabsteigen  und  die  Wunderdinge  anstaunen,  welche 
die  Allmeisterin  Natur  hervorgezaubert  hat.  Es  ist  ein  labyrinthi- 
sches  Wirrsal  von  Gängen  und  Hallen,  die  wir  durchsohreiten  müssen, 
ehe  wir  wieder  den  Ausgang  der  Kronprinz  Rudolf-Grotte  erreioben. 
Sie  ist  gegen  600  m lang,  doch  fallt  sie  nur  in  mäfsige  Tiefe  ab. 
Freilich  in  allen  Teilen  ist  auoh  sie  noch  nicht  erforscht;  finstere 
Schachte,  in  die  man  hier  und  dort  hineinblickt  und  in  die  hinabzu- 
steigen noch  kein  Mensch  gewagt  hat,  mögen  in  tiefere  Stockwerke 
führen. 

Unweit  der  Kronprinz  Rudolf-Grotte  in  der  Nähe  des  Dorfes 
Corgnale  liegt  nooh  ein  weiterer  Höhlenkomplex.  Auch  er  birgt  grofs- 
artige  Tropfsteinbildungen,  vermag  aber  nicht  die  Einbildungskraft  in 
gleicher  Weise  anzuregen  wie  die  vorhin  geschilderte  Tropfsteinhöhle 
Wir  unterlassen  daher  die  Beschreibung  dieser  „Grotte  von  Corgnale' 
und  wollen  nur  nooh  auf  eine  Merkwürdigkeit  hinweiBen,  welche 
auch  denjenigen  in  Erstaunen  setzen  wird,  der  vielerlei  gesehen  auf 
dem  weiten  Erdenrund. 

Etwa  20  Minuten  von  Divaöa  entfernt,  in  der  Nähe  des  Treff- 


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126 


punktes  der  Istrianer  Staatsbahn  und  Südbahn,  öffnet  sich  im  Erd- 
boden ein  Sohaoht  von  scheinbar  unermefslicher  Tiefe.  Es  ist  die 
alavisohe  Kacna  Jams,  zu  deutsch  das  „Sohlangenlooh“.  Dasselbe 
vermittelt  den  Zugang  zu  einer  sich  kilometerlang  erstreckenden,  bis 
jetzt  noch  wenig  durchforschten  Höhlenwelt.  Der  Bahnhof  von  Divaöa 
ist  darauf  erbaut,  die  schweren  Züge  der  SUdbahn  rollen  darüber 
hinweg,  ohne  dafs  die  von  der  Natur  geschaffenen  Widerlager  wanken. 
Immer  mehr  gewinnt  die  Vorstellung  Boden,  dafs  die  feste  Erddecke 
in  diesem  Karstgebiete  niohts  anderes  ist,  als  eine  Aufeinanderfolge 
von  Oewölbedecken  und  Felsenbogen,  von  solcher  Mächtigkeit  freilioh, 
dafs  Erdsenkungen  und  damit  zusammenhängende  Einsturzbeben  nur 
äufserst  selten  eintreten.  Wenn  es  in  den  Küstengegenden  der 
Adria  rumort,  was  ja  häufig  vorkommt,  ist  meist  nicht  der  Zusammen- 
bruch unterirdischer  Huhlräutne  daran  schuld,  sondern  der  Umstand, 
dafs  die  Erdrinde  daselbst  jüngere  Brüche  aufweist,  an  denen  nooh 
fortdauernd  Umlagerungen  der  Bruohschollen  stattQnden. 

Wer  in  den  Schlund  der  Kacma  Jama  hinab  will,  der  mufs 
über  ein  gutes  Mafs  von  Unerschrockenheit  und  über  starke  Nerven 
verfugen,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  er  Talent  zuin  Klettern  be- 
sitzen mufs. 

Ist  man  ein  kurzes  Stück  über  Felsen  und  eingehauene  Stufen 
gekroohen,  dann  geht  es  abwärts  in  den  grauenhaften  Sohlund,  und 
zwar  auf  Strick-  und  Holzleitern  an  teils  senkrechten,  teils  über- 
hangenden Wänden.  Hundert  Meter  tief  mufs  in  dieser  Weise  Stufe 
für  Stufe  des  Leiterweges  zurückgelegt  werden,  oben  und  unten  der 
gähnende  Abgrund  — wahrlich  ein  Unternehmen,  dem  gegenüber  das 
Erklimmen  eines  Doloinitriesen  als  ein  Kinderspiel  erscheint.  Es 
kommt  hinzu,  dafs  man  den  häuGg  eintretenden  Steinschlägen  bei  dieser 
Kletterpartie  nicht  ausweichen  kann,  während  es  der  Bergsteiger  meist 
in  der  Hand  hat,  derartige  gefährliche  Stellen  zu  vermeiden. 

Nach  hundert  Metern  kommt  erst  die  eigentliche  Orubenfahrt. 
Man  mufs  nun  in  einen  Förderkorb  steigen  und  sich  vermittelst  einer 
Winde  in  die  weitere  Tiefe  abseilen  lassen  Zwei  Männer  arbeiten 
oben  an  dem  Haspel;  ihnen  und  der  Haltbarkeit  des  Seiles,  das  hier 
keine  polizeilichen  Prüfungen  durchzumachen  hat,  ist  das  Leben  an- 
vertraut. Der  Schacht,  durch  welchen  die  Abfahrt  erfolgt,  ist  kaum 
mehr  als  6 bis  6 m breit  Um  unliebsame  Berührungen  mit  den  Felsen- 
zacken  zu  vermeiden,  mufs  der  Orottenfahrer  daher  das  Leitseil  er- 
greifen und  den  Korb  geschiokt  an  Ecken  und  Kanten  vorbei  in 
die  finstere  Tiefe  hinabdirigieren. 


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126 

Ist  inan  in  dieser  Weise  60  m in  den  engen  Sehlot  abwärts  ge- 
sohwebt,  so  beginnt  eine  wahre  unterirdische  Luftschiffahrt.  Mac  er- 
reicht die  Deoke  eines  gewaltigen  Domes,  der  52  m Höhe  hat, 
und  mufs  in  denselben  ganz  frei  abfahren,  so  dafs  die  ganze  Fahrt 
mit  dem  Haspel  112  m beträgt.  Die  Landung  erfolgt  schliefslich  auf 
einem  Trümmerberg  in  einer  Tiefe  von  212  m unter  dem  Erdboden. 
Der  Grund  der  Höhle  ist  aber  nooh  immer  niobt  erreicht,  denn  dicht 
neben  dem  Geröllberg  gähnt  ein  neuer  Schlot  von  40  m Tiefe. 

Die  Kacna  Jaroa  ist  ebenfalls  von  Gregor  Siberna  entdeckt 
worden.  Dieser  Höhlenfinder  hat  auch  zuerst  die  halsbrecherische 
Kletterei  in  ihren  Schlund  gewagt.  Als  er  aber  das,  was  er  dort  unten 
gesehen,  schildern  sollte,  war  er  begreiflicherweise  nicht  imstande,  die 
wissenschaftliche  Neugier  der  Höhlenforscher  zu  befriedigen,  ge- 
schweige denn  die  Frage  zu  beantworten,  ob  etwa  die  Reka  am 
Grunde  der  Höhle  wieder  angetroffen  wird.  Diese  naheliegende  Ver- 
mulung  gab  die  Veranlassung  zu  einer  genaueren  Durchforschung 
des  „Schlangenloches“,  durch  Bergrat  Hanke,  einen  der  Triumviren 
der  Höhlenwelt  von  St.  Canzian.  Es  zeigte  sich  dabei,  dafs  der  oben 
erwähnte  Dom  oine  ganz  kolossale  Längenausdehnung  besitzt,  nämlich 
sich  nahezu  einen  Kilometer  weit  unter  der  Südbahn  und  dem  Bahn- 
hof von  DivaÖa  hiczieht.  Deutlich  vernahm  Hanke  in  der  Grotte  das 
dumpfe  Rollen  der  oben  verkehrenden  Eisenbahnzüge. 

Den  ganzen  Höhlenkomplex  vermochte  der  kühne  Pionier  freilich 
nicht  zu  durchforschen.  Seitengänge,  die  in  noch  unbekannte  Regionen 
führen  und  so  eng  sind,  dafs  ein  Mensch  sie  nur  kriechend  passieren 
konnte,  wurden  mehrfach  angetroffen.  Die  mächtige  Halle  selbst  er- 
wies sich  als  eine  sogenannte  trockene  Höhle  mit  auffallend  geringer 
Stalagmitenbildung.  Ihr  Boden  besteht  aus  Steinen,  Sand  und  Lehm, 
verläuft  anfangs  eben,  fällt  aber  dann  steil  zu  einem  Wasser  ab.  Die 
hier  abgelassenen  Schwimmer  wurden  fortgetragen,  bekundeten  also 
das  Dasein  eines  unterirdischen  Flufslaufes.  Ob  derselbe  mit  der 
Reka  identisch  ist,  wagt  Hanke  nicht  zu  entscheiden,  wohl  aber 
spricht  der  Umstand,  dafe  die  Reka  im  Alpen vereinsdom  einen  nord- 
westlichen Lauf  einschlägt,  d.  h.  die  Richtung  auf  Divaöa  zu  verfolgt, 
sehr  zugunsten  dieser  Annahme. 

In  die  Kacna  Jama  wagen  sioh  nur  selten  Touristen  hinab.  Dies 
ist  begreiflich,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  mit  welchen  Zufälligkeiten 
und  Gefahren  bei  einer  solchen  Grottenfahrt  zu  rechnen  ist.  Ganz 
abgesehen  von  der  Schwierigkeit  des  Abstieges  und  der  Finsternis, 
gegen  welche  die  dunkelste  Naoht  auf  der  Erdoberfläche  verhältnis- 


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127 


mäfsig  noch  bell  erscheint,  ist  man  in  den  unterirdischen  Katakomben 
niemals  gegen  plötzlich  eintretendes  Hochwasser  geschützt.  Man  stelle 
sich  ferner  die  peinliche  Situation  vor,  in  welche  man  gerät,  wenn 
durch  irgendwelche  Umstände  die  Lichter  erlöschen  und  die  mit- 
gebrachten Zündhölzer  infolge  der  Nässe  ihre  Dienste  versagen.  Wo 
ist  dann  der  Ariadnefaden,  weloher  den  verirrten  Grottenfahrer  durch 
das  kilometerlange  Labyrinth  von  Hallen  und  Gängen  in  der  Stock- 
finsternis wieder  an  das  freie  Tageslicht  leitet?  Unser  Führer  Gregor 
Siberna  behauptet  zwar,  dafs  er  in  einem  solchen  kritischen  Falle 
genug  Lokalkenntnis  besitzte,  um  auoh  ohne  l.ioht  den  Ausgang  zu 
finden.  In  der  Kronprinz  Rudolf-Grotte  hat  er  in  der  Tat  den  Beweis 
erbraobt,  ob  es  ihm  aber  in  der  Kacna  Jama  möglich  gewesen  wäre, 
wagen  wir  zu  bezweifeln. 

Ähnliche  Naturschachte  wie  die  Kacna  Jama  gibt  es  in  der  Um- 
gebung von  Divada  und  im  küstenländischen  Karst  noch  mehrere 
Unter  andern  öffnet  sich  400  in  nördlich  von  dem  hier  beschriebenen 
Schacht  die  „Kosova  Jama“  oder  das  „Amselloch“.  In  dasselbe  soll 
vor  Jahren  einmal  ein  Mädchen  mit  einem  Ochsengespann  hinein- 
gestürzt sein.  Die  Schürze  der  Verunglückten,  sowie  das  Joch  der 
Zugtiere  sind  dann  später  vom  Timavo  ausgespült  worden. 

Es  sei  schliofslich  noch  der  Schacht  von  Trebitsoh  erwähnt,  der 
6 km  nordöstlich  von  Triest  liegt.  Seine  Tiefe  beträgt  243  m,  er  endigt 
in  einem  90  m hohen  Dom  mit  vielen  Abzweigungen.  Dieses 
Kluftsystem  wurde  „Lindner  - Höhle“  benannt.  Im  Jahre  1840  kam 
H.  Lindner,  der  überall  nach  Quellen  suchte,  um  die  Stadt  Triest 
mit  Wasser  zu  versorgen,  auf  den  kühnen  Gedanken,  in  die  unbekannte 
Tiefe  hinabzusteigen.  Sechs  Bergleute  aus  Idria,  die  seinen  Mut  und 
seine  Entschlossenheit  teilten,  schlossen  sich  ihm  an.  Nach  neun- 
monatlicher  Arbeit  gelangten  Lindner  und  seine  Genossen  endlich 
auf  den  Boden  der  Grotte  in  einer  Tiefe  von  über  300  m unter  dem 
Kreidekalkplateau  des  Karstes,  und  hier  flofs  in  der  Tat  ein  Gewässer, 
wahrscheinlich  die  Reka,  zu  ihren  Füfsen.  Jetzt  steigt  man  auf  Leitern 
in  diese  durch  Triestiner  Alpinisten  zugänglich  gemachte  Grottenwelt 
hinab. 

Beschliefsen  wir  hiermit  unsere  Wanderungen  durch  die  unter- 
irdischen Gefilde  von  St.  Canzian.  Der  unermüdliche  Ergründer  dieser 
Höhlenwelt,  Friedrich  Müller  in  Triest,  sagt  mit  vollem  Recht: 
„Die  im  Sonnenglanz  prangenden  Alpen  mit  ihren  mächtigen  himmel- 
anstrebenden Spitzen  und  Höhen,  ihren  prächtigen  Ausblicken  auf  das 
ferne  Land,  auf  Tal  und  See,  bergen  nicht  alle  Schönheit  der  Natur 


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in  sich.  Nicht  nur  hooh  oben  an  unersteiglicher  Felswand,  auf 
brüchigem  Grat  und  Fetsenband,  auf  schneebedecktem  Gletscher 
kann  der  kühne  Mann  seinen  Mut  zeigen.  Ebenbürtig  stellt  sich 
der  Oberwelt  dunkle  Schwester,  die  Unterwelt,  in  die  Reihen  der 
Wettstreiterinnen  um  den  Preis  der  Sohönheit.  Wer  in  ihren 
Katakomben  gewandelt,  ihre  wunderbaren  Gebilde,  die  Werke  von 
Jahrtausenden  erschaut  hat,  der  wird  sich  hingezogen  fühlen  zu  den 
finsteren  Raumen,  in  denen  ein  Lichtblitz  phantastische,  ungeahnte 
Bilder  dem  Auge  hervorzaubert.  Mit  dem  grellen  Lichtschein  er- 
wacht das  Leben  in  den  soblummernden  Gestalten.  Glitzernd  schlingt 
der  farbige  Sintermantel  seinen  Faltenwurf  über  die  Felsen,  wie  von 
Edelsteinen  blinkt  es  tausendfach  am  Boden.  Weifse  Säulen  erfüllen 
gleich  Denkmälern  diese  ernsten,  weihevollen  Kammern  des  Berges. 
Welche  Gegensätze  bieten  die  dunklen  Räume  von  dem  kaum  ver- 
nehmbaren Geräusch  der  fallenden  Wassertropfen,  welche  unermüdlich 
an  den  Tropfsteinen  in  dem  totenstillen  Raum  weiterbauen,  bis  zum 
donnernden  Getöse  der  Wasserhöhlen,  in  welchen  sich  die  Hoohflut 
wälzt  und  den  Boden  wanken  macht!“ 


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Moderne  Naturphilosophie. 

Von  Pr  Kleisptter  in  '«iminden. 

II. 

charakteristische  Leistung  B.  Stallos  ist  die  systematische 
ritik  der  mechanischen  Atomtheorie  und  der  darauf  gegrün- 
ten oder  damit  in  engem  Zusammenhang  stehenden  Lehren 
bezw.  Hypothesen  der  modernen  exakten  Wissenschaft.  Der  Anspruch, 
den  dieselbe  erhebt,  ein  von  Metaphysik  freies,  und  über  dieBe  erha- 
benes System  von  Wahrheiten  zu  sein,  das  sich  wohl  erlauben  dürfe, 
auf  metaphysische  Spekulationen  mit  kiihier  Verachtung  herabzusehen, 
sei  mit  nichten  gegründet;  selbst  den  gröfsten  Männern  der  Wissen- 
schaft sei  es  keineswegs  geglückl,  sich  den  Banden  der  metaphysischen 
Spekulation  zu  entziehen. 

Unsere  moderne  Naturwissenschaft  von  den  Nachwehen  der  antik- 
mittelalterlichen  Metaphysik  zu  befreien,  erklärt  Stallo  als  eine  der 
dringendsten  wissenschaftlichen  Aufgaben  der  Gegenwart;  hierzu  bei- 
zutragen, schrieb  er  seine  vor  zwei  Jahren  in  deutscher  Ausgabe  er- 
schienenen, von  Mach  durch  ein  Vorwort  einbegleiteten  „Begriffe  und 
Theorien  der  modernen  Physik*.  Vier  Grundirrtümer  sind  es  danach, 
die  dem  metaphysischen  Denken  eigen  sind:  erstens  der  Glaube,  dafs 
jeder  Begriff  das  Gegenstück  einer  bestimmten  objektiven  Realität  sei, 
und  dafs  es  somit  soviel  Dinge  als  Begriffe  gebe,  zweitens  die  An- 
nahme, dafs  die  allgemeineren  Begriffe  und  die  ihnen  entsprechenden 
Realitäten  die  ersten,  die  spezielleren  die  späteren  sind,  ferner  die,  dafs 
die  Aufeinanderfolge  in  der  Entstehung  der  Begriffe  identisoh  mit  der 
Aufeinanderfolge  in  der  Entstehung  der  Dinge  sei,  und  viertens  endlich, 
dafs  die  Dinge  unabhängig  von  ihren  Beziehungen  „an  sich*  exi- 
stieren. In  eindringlich  überzeugender  Weise  zeigt  nun  Stallo,  wie 
diese  charakteristischen  Grundirrtümer  der  antik-mittelalterlichen  Spe- 
kulation auch  unseren  modernsten  Theorien  an  haften,  ja  wie  die  Natur- 
anschauungen der  meisten  Naturforscher  und  die  grundlegenden  Hy- 
pothesen der  modernen  Wissenschaft,  der  Physik,  der  Chemie,  ja  auch 

Ulmmal  and  Erda  ISO».  XVI  3 9 


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130 


der  Mathematik  durchaus  von  derselben  durchdrungen  sind.  Ebenso 
leicht  gelingt  natürlich  Stalle  auf  Grund  seiner  Ausführungen  von 
bewundernswert  schlichter  Klarheit  die  Abfertigung  der  metaphysischen 
Systeme  der  Gegenwart  und  jüngeren  Vergangenheit,  die  er  mit  we- 
nigen Worten  abtut.  In  den  Einzelnheiten  findet  sich  sehr  oft  eine 
überraschend  vollkommene  Übereinstimmung  mit  den  Darlegungen 
Machs. 

B.  Stallo  war  Deutschamerikaner.  Er  verliefs  in  jungen  Jahren 
seine  oldenburgische  Heimat  als  Sohn  eines  armen  Landschullehrers, 
der  nicht  die  Mittel  besafs,  ihn  auf  ein  Gymnasium  zu  schicken.  Er 
erwarb  sich  als  Self-made-man  in  der  neuen  Welt  nicht  nur  die  nö- 
tigen wissenschaftlichen  Kenntnisse,  sondern  brachte  es  auch  in  seinem 
Berufe  zum  angesehenen  Advokaten  und  schlierslich  unter  Cleveland 
zum  Gesandten  der  Vereinigten  Staaten  am  Quirinal.  Er  starb  am 
6.  Januar  1900  in  seiner  Villa  zu  Florenz,  wohin  er  sich  ins  Privat- 
leben zurückgezogen  hatte. 

Ein  Mann  von  ganz  eigener  Originalität  war  der  Engländer 
William  Kingdon  Clifford.  Im  Alter  von  "26  Jahren  bestieg  er 
auf  Maxwells  Vorschlag  den  Lehrstuhl  für  angewandte  Mathematik 
und  Mechanik  an  der  Londoner  Universität  und  überraschte  die  mathe- 
matische Welt  duroh  die  Fülle,  wie  namentlich  durch  die  Originalität 
seiner  meist  geometrischen  Arbeiten,  die  durchweg  auf  Prinzipien- 
fragen gerichtet  waren;  so  ist  er  z.  B.  einer  der  Hauptvertreter  der 
nicht-euklidischen  Geometrie  auf  englischem  Boden.  Doch  bald  wurde 
immer  mächtiger  der  Drang  in  ihm,  sich  den  grofsen  Fragen  von  uni- 
verseller wissenschaftlicher  Bedeutung  hinzugeben  und  nach  Kräften 
an  ihrer  Lösung  zu  arbeiten.  E«  war  einer  seiner  Lieblingsgedanken, 
dafs  es  ein  Gebiet,  von  dem  die  wissenschaftliche  Betrachtungsweise 
ausgeschlossen  sein  solle,  nicht  geben  dürfe;  mit  ebenso  staunens- 
werter Energie  wie  seltener  Geschicklichkeit  hat  er  die  Methode  exakt 
wissenschaftlicher  Forschung  auf  Gebiete  übertragen,  die  von  derselben 
nicht  allzu  häufig  heimgesucht  zu  werden  pflegen  und  weitab  von 
seinem  eigentlichen  Arbeitsfelde  gelegen  waren,  wie  die  der  Ethik, 
des  Rechtes,  der  Religion,  fm  Gegensatz  zu  Mach  und  Stallo  ist  er 
kein  unbedingter  Verächter  der  Metaphysik,  wenn  er  auch  scharf  die 
Grenze  zwischen  ihr  und  der  strengen  Wissenschaft  innezuhalten  ver- 
steht Wie  diese  aber  wendet  er  sich  mit  der  beifsenden  Schärfe  seiner 
stark  satvrisohen,  an  Kraftstellen  recht  ergiebigen  Schreibweise  gegen 
die  Verfechter  des  Apriorismus  auf  physikalischem  Gebiete:  „wenn 
Leute  über  irgend  einen  Gegenstand  hoffnungslos  unwissend  sind,  so 


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streiten  sie  Uber  die  Quelle  ihres  Wissens;  so  behaupteten  denn  auch 
in  unserem  Falle  viele,  dafs  wir  dies  a priori  Wülsten.“  Andererseits 
teilt  er  mit  Berkeley  und  Mach  die  Ansioht  von  der  Idealität  (bestw. 
Subjektivität)  aller  unserer  Erfahrungselemente.  In  seinen  metaphy- 
sischen Spekulationen  wurde  er  wesentlich  von  Spinoza,  Spenoer 
und  Darwin  beeioflufst;  sein  Urteil  über  die  landläufige  Metaphysik 
ist  deshalb  aber  nicht  um  ein  Haar  glimpflicher.  Von  einem  Be- 
kannten erzählte  er:  .Er  will  ein  Buch  über  Metaphysik  schreiben 

und  ist  wie  geschaffen  dazu;  die  Klarheit,  mit  der  er  seiner  Meinung 
nach  die  Dinge  versteht,  und  seine  totale  Unfähigkeit,  das  wenige, 
was  er  weife,  auszudrücken,  werden  ihm  sicherlich  sein  Glück  als 
Philosoph  machen  lassen.“  Und  von  den  Systemen  eines  Philosophen 
findet  er,  „ lafs  die  Vollständigkeit  und  Symmetrie  derselben  seiner 
kolossalen  Ignoranz  proportional  ist,  da  es  ja  doch  viel  leiohter  ist,  ein 
leeres  Zimmer  anzufüllen  wie  ein  volles.“  Dabei  war  Clifford  im 
persönlichen  Verkehr  der  liebenswürdigste  Gesellschafter,  dem  niemand 
gram  sein  konnte. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  seine  kritischen  Untersuchungen 
über  Fragen  der  Ethik,  des  Hechtes,  der  Religion,  da  ja  dies  Gebiete 
sind,  die  von  Mach  wie  Stallo  nicht  in  den  Kreis  ihrer  Betrach- 
tungen gezogen  worden  sind.  Es  ist  namentlich  die  letztere,  die  einer 
sehr  scharfen  Beurteilung  vom  ethischen  Standpunkte  unterworfen  wird. 
Einig  mit  Plato  in  der  Verurteilung  der  Sünden  der  Götter,  verwirft 
er  dooh  dessen  Ausweg,  das  Lehren  derselben  gesetzlich  zu  ver- 
bieten. Schlechte  Götter  dürfen  nioht  verehrt  werden;  hat  Jupiter  die 
Schandtaten  wirklioh  begangen,  die  von  ihm  erzählt  werden,  so  darf 
er  eben  nicht  verehrt  werden.  Nun  zeigt  Clifford,  dafs  Jupiter 
durchaus  nicht  die  einzige  Gottheit  ist,  der  unmoralische  Handlungen 
vorzuwerfen  sind.  Mit  Nachdruck  wendet  sich  sodann  Clifford  gegen 
das  Walten  der  Priesterschaft.  Den  heutigen  kläglichen  Zustand  der 
mohamedanischen  Länder  schreibt  er  auf  das  Kerbholz  ihrer  Priester. 
Würde  eine  Priesterscbaft  selbst  eine  vollkommene  Moralität  als  eine 
unfehlbare  Offenbarung  lehren,  so  würde  dies  nur  zur  Zerstörung  aller 
Moral  führen,  denn  moralisches  Handeln  bedarf  der  Übung  und  diese 
wird  duroh  das  befehlende  W'ort  des  Priesters  unterbunden. 

Virchows  Rede  ..Über  die  Freiheit  der  Wissenschaft  im  mo- 
dernen Staat“  gab  Clifford  Veranlassung,  seine  Meinung  über  das 
Lehren  derselben  auszuspreohen,  die  dahin  geht,  „eine  Lehre  erst  dann 
vorzutragen,  bis  die  Natur  ihrer  Evidenz  verstanden  werden  kann  “ 
So  sei  es  z.  B.  verkehrt,  in  der  Chemie  mit  der  Atomtheorie  zu  be- 

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ginnen,  bevor  die  Tatsachen,  die  für  eie  sprechen,  auseinandergesetzt 
worden  sind;  so  sei  es  auoh  übel  angebracht,  die  Fortdauer  nach  dem 
Tode,  die  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  unseres  Wissens  eine  blofse 
Vermutung  sei,  kleinen  Kindern  zu  lehren,  was  nur  Aberglauben  zu 
erzeugen  geeignet  sei. 

Leider  war  Clifford  nur  eine  kurze  Spanne  Zeit  zu  wirken 
vergönnt;  sein  rastloser  Arbeitseifer,  der  selbst  dann  nooh  keine 
Schonung  kannte,  als  sioh  bereits  deutliche  Anzeichen  eines  ernsten 
LungenleidenB  eingestellt  hatten,  führte  sein  frühes  Ende  herbei.  Er 
starb  34  Jahre  alt  1879  auf  Madeira. 

Karl  Pearson  ist  der  gegenwärtige  Inhaber  der  Cliffordscben 
Lehrkanzel  auf  der  Londoner  Universität.  In  seinem  Buche  „The 
grammar  of  Science“,  das  vor  kurzem  in  2.  Auflage  erschienen  ist, 
unterwirft  er  die  erkenntnistheoretiscben  Grundlagen  der  exakten 
Wissenschaft  einer  ähnlichen  Kritik  wie  Mach.  Sein  Standpunkt  ist 
in  mancher  Beziehung  noch  radikaler,  ihm  speziell  eigentümlich  ist 
die  Ausdehnung  der  erkenntniskritischen  Methode  auf  das  Gebiet  der 
Biologie.  Das  Buch  ist  mit  einem  fröhlichen,  wohl  nicht  überall  be- 
rechtigten, aber  doch  auch  bei  so  schwierigen  Fragen  wohltuenden 
Optimismus  geschrieben;  läfst  sioh  freilich  auch  manches  nicht  so 
leicht  erledigen,  so  kann  doch  der  Leser  an  der  Lektüre  des  Buches 
frischen  Mut  schöpfen,  dessen  man  doch  bei  Untersuchung  so  heikler 
und  oft  aussichtslos  scheinender  Fragen  gar  sehr  bedarf 

Das  sind  die  Hauptvertreter  der  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntniskritik; sie  dürften  die  einzigen  sein,  die  in  bewufster  Weise 
die  Schöpfungen  der  Naturwissenschaft  einer  erkenntniskritisohen 
Analyse  unterworfen  und  dabei  den  Blick  auf  das  Ganze  nicht  aufser 
Acht  gelassen  haben.  Das  Ergebnis  ist  eine  wissenschaftliche  Er- 
kenntnistheorie, die  für  exakte  Wissenschaft  und  Philosophie  von 
gleich  bindender  Bedeutung  ist  Zwei  Erkenntniskritiker,  die  aller- 
dings das  Gebiet  der  Physik  nicht  überschritten  haben,  möchte  ioh 
noch  besonders  hervorheben:  Heinrich  Hertz  und  P.  Volkmann 
in  Königsberg.  Ersterer  entwarf  in  der  berühmten  philosophischen 
Einleitung  zu  seinen  nachgelassenen  Prinzipien  der  Meohanik  eine 
Theorie  von  der  Bedeutung  physikalischer  Hypothesen,  die  in  allen 
wesentlichen  Punkten  mit  den  Ansichten  Machs,  auf  den  er  sieb 
ausdrücklich  beruft,  übereinstimmt  und  sioh  nur  in  der  Ausdruoks- 
weise,  die  der  in  der  Physik  bisher  üblichen  nähersteht  und  strengen 
Anforderungen  nicht  immer  ganz  genügt,  unterscheidet.  Entgegen 
den  Ansichten  der  zeitgenössischen  Physik  und  übereinstimmend  mit 


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Mach  hebt  hier  Hertz  die  subjektive  Natur  unserer  physikalischen 
Begriffe  hervor,  die  als  Schöpfungen  unseres  Geistes  der  Willkür  wie 
den  Gesetzen  desselben  unterliegen;  sie  müssen  erstens  logisch  zu- 
lässig, zweitens  physikalisch  richtig  Bein,  worüber  nur  die  jeweilige 
Erfahrung  entscheiden  kann,  und  können  sich  trotzdem  noch  von 
einander  unterscheiden,  d.  h.  sie  Bind  durch  diese  zwei  Forderungen 
noch  nicht  eindeutig  bestimmt;  eB  kommt  nun  noch  eine  dritte  hinzu, 
die  der  Zweckmäßigkeit,  die  auf  die  Auswahl  der  Theorien  von  Ein- 
fluß ist,  ohne  aber  imstande  zu  sein,  dieselbe  eindeutig  zu  bestimmen; 
die  Ansichten  darüber,  welche  physikalische  Theorie  die  geeiguetste 
ist.  können  vielmehr  verschieden  sein  und  bleiben. 

P.  Volkmann  hat  in  seinen  „Erkenntnistheoretischen  Grund- 
zügen der  Naturwissenschaft“,  wie  in  einigen  kleineren  Schriften  und 
in  der  „Einführung  in  das  Studium  der  theoretischen  Physik“  unter 
Zugrundelegung  einer  abweichenden  Terminologie  Ansichten  ausge- 
sprochen, die  sioh  zum  Teil  denen  von  Mach  nähern,  zum  Teil  von 
denselben  allerdings  auch  nach  Berücksichtigung  der  anders  gearteten 
Ausdrucksweise  verschieden  bleiben.  Eine  Ergänzung  zu  demselben 
bietet  er  durch  die  Aufstellung  seines  Prinzips  der  „Isolation“  und 
„Superposition“,  das  von  Mach  akzeptiert  wurde. 

Die  Ansichten  dieser  auf  exakter  Grundlage  stehenden  Philo- 
sophen bilden  einen  in  sich  recht  wohl  abgerundeten  Komplex,  der 
allem  Anscheine  nach  berufen  erscheint,  den  so  lange  ersehnten 
Grundstock  gemeinsamer  allgemein  wissenschaftlicher  Überzeugungen 
zu  bilden.  Ihm  schließen  sich  noch  auf  philosophischer  Seite  die 
Anschauungen  einer  Heihe  von  Denkern  an,  die  mit  der  exakten 
Wissenschaft  in  innigem  Kontakt  stehen,  wie  insbesondere  H.  Cornelius 
und  einige  Vertreter  der  empiriokritischen  (Petzold t)  und  immanenten 
Philosophie  (Schuppe,  v.  Leclair,  v.  Schu  be  rt  - Solde  rn,  Kei- 
bel  u.  a.i. 

Aber  auch  außerhalb  dieses  hier  näher  gekennzeichneten  Kreises 
wird  von  naturwissenschaftlicher  Seite  an  der  Ausbildung  einer  eigenen 
Philosophie  emsig  gearbeitet.  Eine  der  Hauptrichtungen  auf  diesem 
Gebiete  ist  die  energetische  Schule,  deren  führendes  Haupt,  Prof. 
W.  Ostwald  in  Leipzig,  besondere  Vorlesungen  über  Naturphilo- 
sophie hält,  die  vor  kurzem  auch  in  Druck  erschienen  sind,  und  eine 
eigene  Zeitschrift,  die  „Annalen  für  Naturphilosophie“  herausgibt. 
Eine  andere  Richtung  folgt  dem  Gedankenkreise  von  Brentano,  wie 
z.  B.  A.  Höf  ler  in  Wien.  Aberauoh  Vertreter  der  biologischen  Wissen- 
schaften beginnen  sich  zum  Worte  zu  melden.  So  hat  z.  B.  der 


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Botaniker  Reinke  in  Kiel  ein  eigenes  naturphilosophisches  System 
sich  ausgedacht,  das  er  in  seinem  Buche  „Die  Welt  als  Tat-  ent- 
wickelt, und  von  hervorragender  Seite  (Nägelsbach,  Hertwig, 
Branco)  ist  die  Frage  naoh  der  Lebenskraft  wieder  zur  Diskussion 
gebracht  worden  — ein  Zeichen  von  der  beginnenden  Erkenntnis  der 
Haltlosigkeit  der  mechanischen  Erklärungsversuche. 

Freilich  ist  nicht  zu  verkennen,  dafs  die  Versuohe,  aus  dem 
naturwissenschaftlichen  Boden  heraus  ein  naturphilosophisches,  meta- 
physisches System  erstehen  zu  lassen,  noch  vielfach  den  Charakter 
des  Unreifen  tragen.  Die  exakte  Wissenschaft  kann  eben  nur  dort 
einen  sicheren  Führer  abgeben,  wo  es  sioh  wirklich  nur  um  Be- 
arbeitung wissenschaftlicher  Fragen  handelt.  Und  den  Komplex  der- 
selben den  Händen  zünftiger  Philosophen,  aber  wissenschaftlicher 
Laien  entrungen  zu  haben,  bildet  eine  der  Haupterrungenschaften 
Mache  und  seiner  Oesinnungsgenossen.  Man  wird  fortan  wissenschaft- 
liche Fragen  auch  allgemeinerer  Natur  nur.  mehr  auf  wissenschaft- 
lichem Boden  zum  Austrag  bringen  können,  alles  andere  aber  mit 
ruhigem  Gewissen  unter  die  Rubrik  „haltloses  Gesohwätz"  rechnen 
dürfen. 

„Die  höchste  Philosophie  des  Naturforschers  besteht  darin,  eine 
unvollendete  Weltanschauung  zu  ertragen  und  einer  scheinbar  abge- 
schlossenen, aber  unzureichenden  vorzuziehen-,  äufsert  sich  Mach  in 
seiner  Mechanik.  Viele  Fragen  können  heute  noch  nicht  beantwortet 
werden;  nioht  alle  Mensohen  aber  vertragen  die  Resignation,  die  in  den 
obigen  Worten  gelegen  ist  Dann  entstehen  metaphysische  Systeme,  über 
deren  Wert  oder  Unwert  ja  die  Ansichten  noch  einige  Zeit  ausein- 
andergehen. Eines  aber  wird  inan  unbedingt  verlangen  müssen, 
nämlich  dafs  sie  mit  den  gesicherten  Ergebnissen  der  Wissenschaft 
nioht  in  Konflikt  geraten. 

Das  gelingt  leider  den  wenigsten  philosophischen  Systemen  der 
Gegenwart  Auoh  die  Beschäftigung  mit  der  Naturwissenschaft  ist 
kein  Universalmittel  dagegen,  wie  so  manche  naiven,  mit  mehr  oder 
weniger  Pomp  unter  Berufung  auf  die  Naturwissenschaft  sich  an- 
kündenden Systeme  in  drastischer  Weise  lehren.  Man  kann  ein 
Naturforscher  vom  Rufe  Uaeckels  sein  und  dooh  in  ganz  unsinniger 
Weise  Lösung  von  Problemen  suchen  und  meinen  sie  gefunden  zu 
haben,  wo  dooh  nicht  einmal  ein  Verständnis  dieser  Probleme  über- 
haupt vorliegt!  Ja  man  kann  sogar  noch  ein  gröfserer  Naturforscher 
sein,  kann  sich  auch  mit  erkenntnistheoretischen  Fragen  der  Natur- 
wissenschaft beschäftigt  und  ihnen  in  mancher  Beziehung  Verständnis 


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entgegengebracht  haben,  ohne  dooh  dem  Schicksale  zu  enlgehen,  über 
etwas  vom  eigenen  Spezialfachs  ferner  Liegendes  ganz  haltloses  Zeug 
zusainmenzureden  — wie  man  aus  Akademieberiohten  der  letzten  Jahre 
ersehen  kann. 

Es  ist  also  immerhin  Vorsicht  geboten  gegenüber  philosophischen 
Auseinandersetzungen  von  naturwissenschaftlicher  Seite.  Gewisse 
Anzeichen,  wie  z.  B.  der  grofse  buchhändlerische  Erfolg  von  Haeckels 
Welträtseln  zeigen,  wie  wenig  dieselbe  von  Seiten  des  grofsen  Publi- 
kums geübt  wird,  lehren  aber  aueb  wohl  mit  genügender  Deutlichkeit, 
mit  welcher  Begierde  in  der  Gegenwart  philosophischen  Veröffent- 
lichungen aus  naturwissenschaftlichem  Lager  entgegengesehen  wird. 

Die  Empfänglichkeit  des  Publikums  wäre  also  da,  und  gewifs 
ist  der  unserem  Zeitalter  gemachte  Vorwurf,  als  ob  es  der  philo- 
sophischen Betrachtung  abhold  wäre,  ganz  und  gar  ungerechtfertigt. 
Ganz  im  Gegenteill  „Nie  hat  es  ein  philosophischeres  Zeitalter  in  der 
Wissenschaft  gegeben  als  das  gegenwärtige"  — wie  Alois  Kiehl, 
der  feinsinnige  Philosoph,  den  bekanntlich  die  philosophische  Fakultät 
der  W'iener  Hochschule  als  Nachfolger  Mache  in  Vorschlag  ge- 
bracht hatte,  mit  Recht  bemerkt.  Immer  mehr  und  mehr  wird  die 
Wissenschaft  philosophisch,  zuerst  die  Mathematik,  dann  die  Physik, 
Chemie,  Biologie.  So  möge  denn  auch  bald  die  Zeit  kommen,  wo  die 
Philosophie  wissenschaftlich  würde! 


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Der  Robbenfang  auf  Alaska. 

Von  U K»t«cher  in  Budapest. 

PnlRlie  Vereinigten  Staaten  Nordamerikas  erwarben  1867  von  Rufs- 
>TT'-  land  das  nachmalige  „Territorium  Alaska".  Die  Russen  freuten 
sich,  diese  ihnen  lästig  gewordene  Kolonie  für  ein  sobönes 
Stüek  Geldes  (7  Millionen  Dollars  in  Gold!)  loggeworden  au  sein. 
Heute  ist  jenes  riesige  Gebiet  am  bekanntesten  durch  die  grofsen 
Ooldfunde,  welche  seit  einigen  Jahren  dort  gemacht  werden  und  sehr 
einträglich  zu  werden  versprechen.  Bis  dahin  jedoch  brachte  es  nichts 
ein,  denn  die  geförderten  Mineralien,  Kohle,  Kupfer,  Eisen,  waren  leib 
der  Menge,  teils  der  Giite  nach  unlohnend,  und  an  Landwirtschaft  ist 
nicht  zu  denken,  weil  die  fast  ewigen  Nebel  und  Regeufalle  das  Ge- 
treide und  das  Gemüse  nicht  reifen  lassen.  Der  wichtigste  Ausbeu- 
tungsartikei  des  Landes  ist  aber,  wie  wir  sehen  werden,  das  Seebundfell. 

Alaska  ist  gewifs  ein  grofses  Wunderland,  aber  trotzdem  ist 
sehr  zu  bezweifeln,  ob  dasselbe  jemals  ein  beliebtes  Touristeugebiet 
werden  wird.  Seine  Küstenszenerie  ist  an  steiler  und  zerklüfteter 
Grofsartigkeit  wohl  unübertroffen,  begrenzt  von  Hunderten  von  pitto- 
resken Inseln  mit  einem  Festlande,  das  sich  an  vielen  Punkten  plötz- 
lich Hunderte  und  Tausende  von  Fufs  hoch  erhebt,  sich  aber  dann 
abplattet,  je  mehr  sich  die  Küste  in  der  Richtung  der  Bebringstrafse 
nach  dem  Eismeere  zuwendet.  Hier  trifft  man  die  letzte  Spur  der 
Rocky  Mountains,  hier  liegen  im  Hintergründe  einige  prachtvolle  Kegel 
gleich  St.  Elias,  Fairweather  und  Wrangei,  und  grofse  Tannenwälder, 
Hunderte  von  englischen  Quadratmeilen  bedeckend.  Eisberge,  die  nur 
von  den  grönländisohen  übertroffen  werden,  nehmen  ihren  Weg  nach 
der  Küste  gleich  mächtigen  Strömen.  Der  Jukonflufs  windet  sich  auf 
seinem  langen  Lauf  durch  Wüsten,  durch  Fels-  und  Bergsohluohten, 
um  mittels  der  vieiarmigen  Deltas  in  die  Behringsee  zu  münden  und 
sich  mit  seinen  Nebenflüssen  über  das  Land  zu  ergiefsen.  Das  Ganze 
schliefst  mit  der  langen,  fadengleiohen  Linie  vulkanischer  Inseln  ab. 


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die  sich  halbwegs  bis  zur  asiatischen  Küste  hin  erstreoken,  gleich  dem 
gestrandeten  Rüokgrat  eines  grofsen  Walfisches. 

Für  den  Jagdliebhaber  gibt  es  hier  reichliches  Wild,  für  den 
geübten  Eisläufer  und  den  kühnen  Bergsteiger  viel  Vergnügen  und 
Arbeit.  Für  den  Geologen,  der  die  ausgedehnte  Eiswirkung  auf  die 
Erddecke  an  der  Quelle  beobachten  will,  dürfte  sich  schwerlich  ein 
zweites  so  ergiebiges  und  zugängliches  Feld  finden.  Der  gewöhnliche 
Tourist  wird  aber  vermutlich  vorziehen,  auf  einem  der  feinen  Dampfer 
des  Stillen  Ozeans,  welche  regelmäßig  von  San  Franzisco  auslaufen, 
einen  fiüohtigen  Besuch  dem  Lande  zu  machen;  aber  auch  ein  solcher 
kurzer  Besuch  wird  bei  ihm  Eindrücke  hinterlassen,  die  nicht  so  bald 
vergessen  werden. 

Unter  den  Eingeborenen  zeigt  sioh  eine  bedeutende  Rassenver- 
schiedenheit ln  der  Nachbarschaft  von  Sitka,  in  nordöstlicher  Rich- 
tung, finden  sich  Stämme,  welche  den  Nordamerika  - Indianern  nahe 
verwandt  sind.  An  der  ganzen  Küste  des  Territoriums  und  auf  den 
Inseln,  welche  das  Hauptland  umgeben,  herrsobt  ein  Volksstamm, 
welcher  nach  Bau  und  Spraohe  unzweifelhaft  von  dem  Eskimo  ab- 
stammt Der  Unterschied  zwischen  ihm  und  dem  Grönländischen  Stamm 
ist  nur  ein  solcher,  wie  er  infolge  langer  Trennung  und  Anbequemung 
an  andere  Existenzbedingungen  sich  zu  entwickeln  pflegt 

Die  Alaska- Eskimos  oder  Innunto  sind  häufig  grofse  und  kräf- 
tige Männer,  mehr  mongolisch  in  den  Gesichtszügen  alB  die  Grön- 
länder und  häufig  mit  einer  Mischung  von  russischem  Blut,  wie  dies 
nicht  anders  zu  erwarten  ist.  Die  Eingeborenen  auf  der  anderen  Seite 
der  Aleutischen  Inseln  sind  in  Bau  und  Wesen  sehr  verschieden  von 
allen  anderen  Alaskern;  sie  sind  ohne  Zweifel  von  dem  asiatischen 
Festlande  herübergekommen  und  zählten  wahrscheinlich  10000  zur 
Zeit  als  sioh  die  Russen  zuerst  zeigten.  Gegenwärtig  sohätzt  man  ihre 
Zahl  auf  höchstens  1400.  Eine  6tarke  Vermischung  mit  russischem 
Blute  ist  im  aleutischen  Volke  wahrnehmbar,  und  alle  sind  fromme 
Mitglieder  der  griechischen  Kirche,  zu  deren  Unterhalt  sie  unter  sich 
reichlich  beisteuern.  Die  sehr  gemischten  Aleutier  auf  den  Pribyloff- 
Inseln  leben  in  besonders  guten  Verhältnissen  unter  der  Verwaltung 
der  Alaskaner  Handelsgesellschaft  welohe  das  ausschliefsliche  Recht 
auf  die  Pelzrobben  besitzt,  welohe  auf  den  Inseln  St  Paul  und  St. 
George  Vorkommen.  Die  jährliche  Tötung  von  Robben  ist  hier  auf 
100000  beschränkt  und  da  den  Eingeborenen  40  Cents  (166  Pfennig) 
für  jedes  Fell  bewilligt  werden,  so  geht  daraus  hervor,  dafs  deren 
Einnahme  beträchtlich  sein  mufs.  ln  der  Tat  werden  sie  von  ihren 


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Nachbarn  auf  dem  Fest  lande  mit  neidischen  Blicken  angesehen.  Die 
Robbe,  von  welchen  diese  Inseln  nach  Myriaden  wimmeln,  ist  die 
eigentliche  Pelzrobbe  (Callorhinus  ursinus)  und  ein  ganz  anderes  Tier 
als  die  Haarrobbe  (Phoca  vetulina),  von  welcher  der  gewöhnliche,  im 
Volke  herrschende  Begriff  der  Schwimmfüfsler  stammt.  Die  Pelzrobbe 
(Callorhinus  ursinus),  welohe  zur  Sommerzeit  und  zum  Haar-  und 
Pelzwechsel  in  so  grofeen  Mengen  nach  diesen  Inseln  übersiedelt, 
dafs  es  fast  unglaublich  erscheint,  ist  von  allen  SchwimmfUrslem  die 
am  höchsten  entwickelte  Gattung.  Der  alljährliche,  umwandelbare 
Massenzug  der  Tiere  nach  diesen  kleinen,  flachen  Inseln  ist  schwer  zu 
erklären.  Der  etagenartige,  felsige  Charakter  dieser  Küsten  scheint 
den  Tieren  besonders  zu  behagen. 

Die  männliohen  Robben  beginnen  im  Mai  hier  anzukommen,  und 
anfangs  Juni  treten  die  Kämpfe  um  die  einzelnen  Lagerstätten  ein,  vom 
frühen  Morgen  bis  spät  in  die  Nacht  dauern  dieselben  ohne  Unter- 
brechung, bis  einer  oder  zuweilen  auch  beide  Kämpfende  den  Tod 
Anden.  Der  Nachwuchs  unter  sechs  Jahren,  wenn  auch  in  der  Nähe  der 
Wassergrenze  des  Farailiensitzes  herumflankierend,  läfst  sich  nicht  auf 
Kämpfe  ein;  es  sind  erst  die  sechs  und  sieben  Jahre  alten  Robben,  die 
ausschwärmen  und  die  älteren  Lagerbesilzer  zum  Kampfe  reizen.  Eine 
junge  Robbe  ist  jedoch  in  der  Regel  kein  ebenbürtiger  Gegner  für 
eine  15  — 20  Jahre  alte,  vorausgesetzt,  dafs  das  alte  Tier  seine  Fang- 
zähne noch  besitzt.  Diese  Kraftproben  zwischen  den  Senioren  und 
dem  Nachwuchs  dauern  so  lange  fort,  bis  die  Lagerplätze  verteilt  sind. 
Nach  Ankunft  der  weiblichen  Robben  und  der  Niederlassung  über 
das  ganze  Gebiet  des  Zuchtgrundes  bis  gegen  den  15.  Juli  spätestens 
Anden  nur  wenige  Kämpfe  statt.  Die  Kämpfe  zwischen  den  alten  und 
volljährigen  Tieren  werden  meistens  oder  ausschliefslich  mit  dem  Ge- 
bifs  ausgefoohton.  Die  beiden  Kämpfenden  fassen  einander  mit  den 
Zähnen,  und  wenn  sie  so  mit  den  Fängen  Zusammenhängen,  kann  nur 
die  größere  Stärke  des  einen  oder  des  anderen  bei  dem  Versuch, 
wieder  loszukommen,  sie  trennen.  Hierdurch  entstehen  gewaltige 
Wunden,  denn  die  scharfen  Sohneidezähne  reifsen  tiefe  Löoher  in  das 
Fell  und  furchen  das  Fettpolster  bis  auf  die  Rippenbänder  auf. 

Die  Abschlachtung  dieser  Tiere  um  ihrer  Felle  willen  ist  pein- 
lich und  ekelhaft.  Die  Engrossohläohterei  beginnt  sehr  bald  nach  dem 
ersten  Eintreffen  der  männlichen  Tiere  und  ist  in  wenigen  Woohen 
beendigt,  denn  durch  jede  Verzögerung  verschlechtert  sioh  der  Pelz. 
Ohne  grofse  Schwierigkeiten  bringen  einige  Eingeborene,  wenn  sie 
des  Morgens  zeitig  in  die  Felsen  gehen  es  fertig,  einige  hundert 


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Robben  von  ihren  Gefährten  zu  trennen  und  mit  einer  Geschwindigkeit 
von  einer  halben  englischen  Meile  in  der  Stunde  bis  zum  eigentlichen 
Schlachtplatze  zu  treiben.  Die  armen  Tiere  haben  bei  der  Operation 
des  Abschlachtens  schrecklich  zu  leiden,  viele  gehen  auch  schon  auf 
dem  kurzen  Wege  zur  Schlächterei  zu  Grunde. 

Nachdem  1000  — 2000  Tiere  auf  diese  Weise  in  Herden  zusaminen- 
gebraoht  sind,  werden  100—150  davon  abgesondert  und  nach  einer 
Stelle  getrieben,  wo  sie,  dicht  in  einen  Haufen  zusammengedrängt,  von 
den  Leuten  getötet  werden:  unmittelbar  nachher  wird  ihnen  das  Fell 
abgezogen,  da  andernfalls  der  Pelz  bedeutend  an  Wert  verlieren  würde. 
Merkwürdig  bleibt,  dafs  trotz  dieser  grausamen  Behandlung  die  klugen 
Tiere  immer  wieder  an  dieselbe  Stelle  zurückkehren  und  zwar  in  un- 
geschwächter  Zahl. 

Eis  liegt  im  Interesse  der  Handelsgesellschaft,  alles  zu  vermeiden, 
was  die  jährliche  Pelzernte  vermindern  könnte,  und  wenn  deren  Ver- 
treter sich  auf  die  gesetzliche  Zahl  von  jährlioh  100000  Stück  be- 
schränken, dann  ist  nicht  zu  fürchten,  dafs  der  Stamm  sich  vermindern 
werde.  Indes  ist  es  ja  bekannt,  wie  sehr  sich  die  Walfische  und  die 
verschiedenen  Robbenarten  in  den  Regionen  der  Eismeere  vermindert 
haben,  und  zwar  nur  infolge  der  rücksichtslosen  Schlächterei.  E>eilioh 
besteht  zwisohen  diesen  und  den  Pelzrobben  der  Unterschied,  dafs 
die  letzteren  sich  von  selbst  einflnden,  um  gefangen  und  getötet  zu 
werden,  während  die  anderen  über  den  ganzen  arktischen  Ozean  ge- 
jagt werden  müssen.  Elliot  schätzt  die  Zahl  der  in  der  Brutzeit  1874 
auf  den  Inseln  St.  Paul  und  St.  George  vorhanden  gewesenen  Pelz- 
robben auf  über  drei  Millionen. 

Aufser  der  Pelzrobbe  werden  nooh  andere  Tiere  derselben  Fa- 
milie gefangen,  der  Seelöwe,  die  Haarrobbe  und  das  Walrofs.  Die 
Seeotter  ist  ein  Tier,  welches  in  den  früheren  russischen  Zeiten  zu 
Zehntausenden  gefangen  wurde;  heute  würde  eine  Jagdgesellschaft  von 
Eingeborenen  sich  glücklich  preisen,  wenn  sie  im  Tage  sechs  Stück 
bekäme.  Wir  lassen  eine  Beschreibung  der  von  den  Eingeborenen 
angewendeten  Art,  diese  Tiere  jetzt  zu  fangen,  hier  folgen. 

Dreifsig  bis  vierzig  Leute  fahren  in  ihren  Bidarkas  oder  Kanues 
nach  dem  Jagdgrunde  und  bleiben  dort  drei  Monate.  Wenn  das  Wetter 
nioht  nebelig  und  das  Meer  nicht  sehr  unruhig  ist,  fahren  diese 
Boote  in  einer  langen  Reihe  hintereinander  in  regelmäßigen  Zwischen- 
räumen von  100  Fufs.  In  dieser  Ordnung  rudern  die  Leute  ruhig 
und  langsam  über  das  Wasser,  jeder  von  ihnen  mit  waohsamem  Auge 
das  vor  ihm  sich  wälzende  Wasser  durchdringend,  um  das  geringste 


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140 


Zeichen  von  der  Anwesenheit  einer  Otter  nicht  zu  übersehen,  für  den 
Fall,  dafs  das  stets  sehr  schlaue  Tier  nur  ein  wenig  die  Spitze 
seines  dicken  Kopfes  zum  Atemschöpfen  oder  zum  Beobachten 
zeigen  sollte. 

Plötzlioh  wird  eine  • »tter  entdeckt,  scheinbar  schlafend;  nun  gibt 
der  Entdecker  ein  Zeichen,  welches  auf  der  ganzen  Linie  aufgenommen 
wird.  Kein  Wort  wird  gesprochen,  kein  Ruder  bewegt;  aber  das  vor- 
sichtige, schlaue  Tier  hat  dennoch  die  Gefahr  erkannt  und  mit  kräf- 
tigen Stöfsen  mittelst  seiner  (lossigen  Hinterbeine  geht  es  in  die  Tiefe, 
während  der  Jäger  seine  schnelle  Bidarka  zu  plötzlichem  Stillstand 
bringt  — unmittelbar  über  dem  von  dem  Verschwinden  der  Otter  noch 
bewegten  Wasser.  Er  erhebt  sein  Ruder  hoch  in  die  Luft  und  hält 
es  da  so,  während  die  anderen  sich  um  ihn  herumlegen  in  einem 
Kreise  von  etwa  einem  halben  Kilometer  im  Durchmesser.  Die  Otter 
ist  niedergegangen  und  mufs  bald  irgendwo  innerhalb  des  Gesichts- 
kreises wieder  heraufkommen;  15—20  Minuten  des  Untertauchens 
zwingen  das  Tier,  wieder  an  der  Oberfläche  zu  erscheinen.  Sobald 
seine  Schnauze  daselbst  siohtbar  wird,  erhebt  der  es  entdeckende 
Jäger  ein  wildes  Geschrei  und  stürzt  gegen  die  Stelle.  Das  plötzliche 
Geschrei  hat  die  Otter  wieder  nach  der  Tiefe  getrieben,  aber  zu  schnell 
und  zu  plötzlich,  als  dafs  sie  entsprechend  Luft  hätte  einatmen  können. 
Das  war  aber  gerade  die  Absicht  des  Jägers  gewesen,  und  er  nimmt 
eine  Stellung  an  dem  Punkte,  wo  das  Tier  zuletzt  auftauobte,  hebt  Bein 
Ruder  in  die  Höhe,  und  der  Kreis  wird  aufs  neue  gebildet  In  dieser 
Weise  wird  die  Otter  zwei  bis  drei  Stunden  lang  gezwungen,  zu  tauchen 
und  wieder  zu  tauchen,  ohne  einen  Augenblick  Zeit  zum  vollen  Atmen 
zu  haben,  bis  das  Tier  schliefslich  halb  erstiokt  ein  leiohtes  Opfer 
seiner  Feinde  wird.  Während  dieser  ganzen  Zeit  haben  die  Aleuten 
fortwährend  ihre  Speere  nach  dem  Tiere  geschleudert,  sobald  sie  ihm 
nahe  genug  kamen.  Derjenige,  dem  es  gelingt,  das  Tier  richtig  zu 
treffen,  ist  der  glückliche  Eigentümer  desselben.  In  dieser  Weise  geht 
die  kleine  Flotte  weiter,  zuweilen  recht  glücklioh  in  der  Begegnung 
des  begehrten  Wildes;  aber  es  vergehen  zuweilen  auch  Wochen,  ohne 
dafs  es  zu  einer  Kreisbildung  kommt 


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Parallaxe  des  Sterns  B.  D.  37°  4131.  In  A.  N.  3590  hatte  der 
verstorbene  Direktor  der  Sternwarte  in  Güttingen,  Prof.  Schur,  be- 
richtet, dals  er  bei  einer  neuen  Parallaxenbetimmung  des  uns  zweit- 
nächsten Sternes  61  Cygni  gefunden  habe,  dafs  einer  der  von  ihm  als 
Anschlufsstern  benutzten  Sterne,  nämlich  BD  37  0 4131  eine  Parall- 
axendifferenz gegen  61  Cygni  von  O.'O  besitze,  mit  anderen  Worten, 
uns  ungefähr  ebenso  nahe  sei,  wie  der  bekannte  Doppelstern  im 
Schwan.  Das  Resultat  schien  zwar  nicht  besonders  gesichert,  da  die 
Messungen  erhebliche  Abweichungen  unter  sieb  zeigten,  auch  mufste 
es  befremdend  erscheinen,  dafs  der  fragliche  Stern  nicht  die  geringste 
Eigenbewegung  zeigte.  Hätte  sioh  also  die  grofse  Parallaxe  (Schur 
gab  sie  zu  0.“  6 an)  bestätigt,  so  mufste  der  Stern  mit  unserer  Sonne 
ein  System  bilden,  dessen  Komponenten  parallel  und  gleich  schnell 
im  Raume  sioh  bewegten,  wie  wir  solche  ja  mehrfach  unter  den  Sternen 
kennen.  Am  bekanntesten  ist  das  System  der  5 Sterne  fl,  7,  i,  s,  ; des 
grofsen  Bären.  Die  Sonne  wäre  danach  ein  Doppelstern  gewesen, 
wie  so  viele  unter  den  uns  zunächst  umgebenden  Sternen.  Prof. 
Schur  selbst  war  es  nicht  mehr  möglioh,  durch  eigens  angestellte 
Messungen  das  Resultat  zu  sichern.  Herr  Osten  Bergstrand  in 
Upsala  hat  dann  auf  photographischem  Wege  diese  Untersuchung 
unternommen.  Auf  13  Platten,  die  zwischen  dem  13.  September  1899 
und  dem  11.  August  1900  aufgenommen  waren,  wurde  der  verdächtige 
Stern  gegen  6 Nachbarsterne  in  rechtwinkligen  Koordinatendifferenzen 
ausgemessen,  und  für  die  Abhängigkeit  derselben  von  der  hypothe- 
tischen Parallaxe  wurden  2X6X13  = 156  Bedingungsgleichungen 
erhalten,  welche  im  Mittel  für  die  gesuchte  Parallaxe  nur  den  Wert 
0.'  04  mit  einem  wahrscheinlichen  Fehler  von  dem  fünften  Teile  dieser 
Oröfse  ergaben.  Danach  soheint  BD.  37°  4131  zwar  eine  mefsbare 
Parallaxe  zu  besitzen,  aber  keineswegs  von  der  behaupteten  Oröfse, 
sodafs  alle  oben  gezogenen  Sohlufsfolgerungen  hinfällig  sind.  Rp. 

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142 


Glasgefäfse  von  hoher  Widerstandsfähigkeit  sind  die  von 
Heraus  in  Hanau  fabrizierten  Gefiirse  aus  geschmolzenem  Quarz. 
Ihre  Herstellung  ist  mit  ziemlich  erheblichen  Schwierigkeiten  verknüpft. 
Zum  Sohmelzen  des  Quarzes  ist  eine  Temperatur  von  2000°  erforder- 
lich; man  mufs  daher  Tiegel  aus  reinem  Iridiummetall  anwenden,  dessen 
Sohmelzpunkt  bei  2450°  liegt  (Platin  schmilzt  schon  bei  1775°).  Bei 
der  Bearbeitung  des  geschmolzenen  Materials  werden  zum  Betrieb  des 
Knallgasgebläses  grofse  Mengen  von  Sauerstoff  gebraucht;  beim  Ver- 
blasen der  Gefäfse  mufs  der  Arbeiter  grofse  Aufmerksamkeit  und 
Ausdauer  an  den  Tag  legen.  Durch  die  Bildung  von  Untersalpeter- 
säure infolge  der  teilweisen  Vereinigung  von  Sauerstoff  und  Stickstoff 
der  Luft  bei  der  in  Betracht  kommenden  kolossalen  Temperatur  wird 
seine  Gesundheit  angegriffen.  Dies  alles  hat  natürlich  zur  Folge,  dafs 
die  Quarzgefiifse  sehr  teuer  sind  (der  Preis  für  ein  Gramm  beträgt 
oa.  1 Mark).  Dafür  sind  die  Vorteile,  die  sie  bieten,  auch  eminent 
grofse.  Der  Hauplvorzug  der  Quarzgefäfse  ist  ihre  vollkommene  Un- 
empfindlichkeit gegen  Temperalurschwankungen.  Man  kann  hell- 
glühende Quarzgefäfse  ohne  weiteres  in  kaltes  Wasser  werfen;  dies 
kommt  daher,  dafs  der  Ausdehnungskoeffizient  des  Quarzes  nur  etwa 
'/io  von  dem  des  Glases  beträgt.  Aus  demselben  Grunde  lassen  sich 
Gefäfse,  die  irgendwo  durch  Anstofsen  ein  Loch  bekommen  haben, 
ohne  weiteres  durch  Einsetzen  von  kleinen  Stücken  flicken. 

Die  Durchsichtigkeit  des  Quarzglases  erlaubt  es,  die  sich  inner- 
halb abspielenden  Vorgänge  zu  beobachten;  seiner  Durchlässigkeit  für 
ultraviolette  Strahlen  (im  Gegensatz  zu  Glas)  wegen  eignet  es  sich 
vorzüglioh  für  Vacuumröhren.  Auch  zur  Herstellung  von  Thermometern 
dürfte  es  seiner  geringen  Ausdehnungsfähigkeit  wegen  sehr  gut 
brauchbar  sein,  ln  Form  von  Schmelztiegeln  für  chemische  Zwecke 
zeichnet  sich  Quarz  vor  Platin  dadurch  aus,  dafs  er  auch  im  glühen- 
den Zustande  keine  Flammengase  durchläfst,  ein  Umstand,  der  für 
viele  quantitative  Analysen  von  gröfster  Bedeutung  ist.  Beim  Arbeiten 
mit  Quarzgefärson  mufs  man  sich  hüten,  sie  vor  dem  Erhitzen  mit  den 
Fingern  anzufassen,  da  selbst  die  geringen  Mengen  von  Alkali,  die 
sich  auf  der  Haut  befinden,  Entglasungserscheinungen  hervorrufen.  — 
Falls  die  Quarzglasindustrie  sich  so  weiterentwickelt,  wie  sie  ange- 
fangen hat,  falls  vor  allem  durch  Vervollkommnung  der  Fabrikations- 
methode der  Preis  geringer  wird,  ist  es  zweifellos,  dafs  die  Quarz- 
gläser durch  ihre  eminenten  Vorzüge  besonders  im  Laboratorium  alle 
übrigen  Glassorten  mit  Leichtigkeit  verdrängen  werden.  M.  v.  P. 

t 


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143 


Schmelzpunktsbestimmuog  bei  hohen  Temperaturen.  Auf  dem 
V.  internationalen  Kongrefs  für  angewandte  Chemie  führte  Herr  Prot 
Hempel  eine  Methode  vor, die  es  gestattet, Schmelzpunktsbestimmungen 
bei  hohen  Temperaturen  auszuführen.  Die  Substanz,  welche  untersucht 
werden  soll,  befindet  sich  in  einem  ausgebohrten  Block  aus  Rügener 
Kreide,  welcher  4 Öffnungen  hat,  zwei  seitliche  und  zwei  nach  oben 
führende.  Die  zwei  seitlichen  sind  durch  die  Zuleitungen  des  elektri- 
schen Stromes  (Kohle)  verschlossen,  duroh  die  dritte  wird  ein  dünner 
Kohlestift  so  gesteckt,  dafs  er  lose  auf  der  Substanz  ruht  Dieser 
Stift  löst  beim  Heruntersinken  einen  elektrischen  Kontakt  aus,  duroh 
den  ein  Läutewerk  zum  Ertönen  gebracht  wird.  Hierdurch  wird  also 
dem  Beobachter  angezeigt,  wenn  die  Substanz  im  Liohtbogen  zu 
schmelzen  anfängt.  Die  Temperatur  wird  photometrisch  aus  der 
Helligkeit  der  Oberfläche  des  Schmelzflusses  bestimmt.  Dazu  befindet 
sioh  über  dem  zweiten  nach  oben  führenden  Loch  in  dem  Kreideblock 
ein  Spiegel,  der  das  von  der  Fläche  ausgestrahlte  Lioht  auf  einen 
Photometersohirm  wirft  Hempel  mafs  vermittels  dieser  Methode 
Schmelzpunkte  bis  2200 0 (Magnesia),  öanz  abgesehen  von  dem 
wissenschaftlichen  Interesse  dürfte  das  Hempelsche  Verfahren  sehr 
wertvoll  für  technische  Zwecke  sein,  denn  auch  wenn  man  keine 
Temperaturmessungen  machen  will,  kommt  es  oft  darauf  an,  den  Zeit- 
punkt, an  dem  eine  Masse  in  Flufs  gerät,  genau  und  sicher  zu  er- 
kennen. M.  v.  P, 


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Weiler:  Lehrbuch  der  Physik  in  4 Bänden  (Mechanik,  Kalorik,  Optik, 

Magnetismus  u.  Elektrizität).  Verlag  Ton  J.  F,  Schreiber  in  MÜncheu. 

Im  ganzen  593  Seiten. 

ln  einer  Beziehung  steht  Weilers  Pbysikbuch  unter  allen  LehrbGchem 
ähnlichen  Inhalts  einzig  da:  Es  ist  bunt  illustriert.  Das  Experiment  ist  gut 
gelungen  und  dürfte  Nachahmung  finden.  Durch  die  Kolorierung  wird  dem 
Leser  die  Vorstellung  der  beschriebenen  Apparate  bedeutend  erleichtert,  wenn 
sie  kompliziert  sind,  und  auch  die  schematisch  einfachen  Skizzen  prägen  sich 
dem  Gedächtnis  leichter  ein.  Einer  guten  Illustration  sollte  aber  unbedingt 
auch  eine  gute  Darstellung  ebenbürtig  zur  Seite  stehen.  Dafs  dies  der  Fall  sei, 
kann  man  bei  dem  vorliegenden  Bu<*h  mit  dem  besten  Willen  nicht  behaupten. 
Der  Verfasser  sagt  in  der  Einleitung  zu  dem  Bande  über  Elektrizität,  er  habe 
sich  bemüht,  den  Stoff  scharf  zu  gliedern.  Das  hat  er  auch  getan  und  zwar 
so  scharf,  dafs  der  Text  zu  kurz  gekommen  ist.  Die  Einteilung  leidet  au  einer 
grofsen  Willkürlicbkeit,  Z.  B.  S.  67  der  Optik:  Der  photographische  Prozefs: 
a)  Negativ -Prozefs,  b)  Positiv -Prozefs,  c)  Wichtigkeit  der  Photographie, 
d)  Photographieren  in  der  Dunkelkammer  mittels  eines  feinen  Loches.  Und 
so  weiter  — in  jedem  Paragraphen  ein  anderes  Einteilungsprinzip,  wenn  man 
das  ein  Prinzip  nennen  will.  Derngernäfs  fohlt  zwischen  den  Abschnitten  stets 
der  Übergang.  Der  Ausdruck  ist  oft  schwer  verständlich,  oft  werden  zur  Er- 
klärung eines  Vorganges  Analogieen  zu  Hülfe  genommen,  die  schworer  ver- 
ständlich sind  als  der  Vorgang  selbst.  — Wenn  man  so  das  Weilerache  Buch 
nicht  gerade  für  den  Zweck  empfehlen  kann,  für  den  es  der  Verfasser  bestimmt 
hat,  d.  h.  als  Lesebuch  für  Lernende  (für  Schulen  ist  es  wohl  auch  viel  zu 
umfangreich),  so  wird  es  doch  dem  Lehrer,  besonders  dem  jüngeren,  an  einer 
höheren  Schule  eine  willkommene  Stütze  beim  physikalischen  Unterricht  sein. 
Die  meisten  jungen  Lehrer,  welche  Physik  unterrichten,  sind  von  Haus  aus 
Mathematiker  und  haben  als  sotcho  eine  aufserordentlich  geringe  Übung  im 
selbständigen  Experimentieren,  besonders  wenn  ihnen,  wie  das  in  einer  Schule 
nicht  anders  zu  erwarten  ist,  keine  sehr  glänzenden  Hülfsmittel  zur  Verfügung 
stehen.  Jeder  Lehrer  aber,  der  das  Weiler  sehe  Buch  besitzt,  kann  sich  an 
der  Hand  der  anschaulichen  Figuren  selbst  diesen  oder  jenen  Apparat  zu- 
sammenseteen,  der  in  der  Sammlung  fehlt;  er  übt  sich,  mit  einfachen  Mitteln 
elegante  Versuche  auszuführen.  Der  gebotene  Stoff  ist  exporimeutcll  und 
theoretisch  reichhaltig  genug,  um  jedem  Schulplan  gerecht  zu  werden;  der  Text 
ist  für  den  Lehrer,  der  die  Materie  beherrscht,  hinreichend.  Dr.  M.  v.  P. 


Verlag:  Hamann  Paetel  In  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  Gronau'«  Ruebiruckerel  in  Berlin  - Sehöneberf 
Fflr  die  Redaetion  verantwortlich : Dr  P.  Sch  wahn  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieeer  Zeitschrift  anlereagt. 

Überaetxnng Brecht  Vorbehalten. 


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Lichtelektrische  Übertragung  der  Sprache. 


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Drahtlose  Telephonie. 

Von  Dr.  B,  Donath  in  Berlin. 

c<^Vn/ienn  e,n8'&e  Arbeit  die  Minuten  zu  Sekunden  macht  und  er- 
jgrgjf  eignisreicho  Zeiten  verkürzt  erscheinen,  so  müssen  die  letzten 
Jahre  im  Fluge  dahin  gegangen  sein.  Welch  eine  Fülle 
neuer  Erscheinungen!  Mehrtausendpferdige  Dampf-  und  Dynamo- 
maschinen, Ozeandampfer  mit  Personenzuggeschwindigkeit,  automati- 
sche Fernsprechämter,  die  Entdeckung  der  Röntgenstrahlen  und  der 
rätselhaften  radioaktiven  Substanzen,  automobile  Strafsenwagen,  die 
drahtlose  Telegraphie,  ferner  die  Bemühungen,  die  Farben  der  Aufsen- 
welt  duroh  ein  mechanisches  Verfahren  zu  reproduzieren,  die  Ent- 
deckung der  Edelgase,  die  Energieübertragung  auf  grofse  Entfer- 
nungen und  die  elektrischen  Schnellbahnversuche  — alles  dies  und 
noch  vieles  andere  mehr  drängt  sich  zu  einem  sinnverwirrenden 
Durcheinander  in  dem  letzten  Jahrzehnt  zusammen.  Daboi  wird  die 
Erde  für  unser  subjektives  EmpSnden  sichtlich  kleiner.  Was  unseren 
Vätern  in  weiter  Ferne  lag,  scheint  nun  in  greifbarer  Nähe.  Städte 
rücken  aneinander,  Weltteile  werden  zu  Ländern,  der  stolze  Ozean 
zum  Meere,  die  Meere  zum  Teich.  Das  Wort  umläuft  den  Planeten 
in  wenigen  Sekunden;  Zeit  und  Raum  haben  ihre  alte  Bewertung 
verloren. 

Und  doch  ist  schliefslich  der  Fall  des  Steines  zur  Erde  nicht 
weniger  merkwürdig  und  im  Grunde  nicht  erklärlicher  als  dio  Ver- 
flüssigung der  Luft,  die  Fähigkeit  der  Pflanze,  Blüten  zu  treiben,  nicht 
weniger  rätselhaft  wie  das  prasselnde  Funkenspiel  eines  Hochspan- 
nungs-Transformators. Aber  die  Laienwelt,  und  das  ist  das  Publikum 
zu  99  pCt.,  will  das  Schaustück,  das  wissenschaftliche  Feuerwerk, 
kurz  etwas  von  Sensation  nach  seiner  Meinung,  und  diesem  Ver- 
Himmel  und  Krda  1904  XVI.  4.  10 


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14t; 


langen  mute  man  ofl  mehr  als  nötig  nachgeben  sehr  zum  Schaden 
einer  wirklich  ehrlichen  und  einsichtsvollen,  in  den  richtigen  Grenzen 
sich  bewegenden  Popularisierung  der  Wissenschaft;  der  goldene 
Geistesschutz  blieb  für  das  Volk  größtenteils  ungehoben. 

Mit  wissenschaftlicher  und  technischer  Sensation  ist  also  das 
Publikum  ganz  nach  seinem  Geschmack  versorgt  worden.  Bei  den 
Röntgenstrahlen  kam  der  Sinn  Tür  das  Mysteriöse,  bei  den  Sohnell- 
bahnversuohen  etwa  die  Rekordsucht  auf  ihre  Rechnung;  verstanden 
und  nach  ihrem  technischen  wie  wirtschaltlichen  W'ert  richtig  einge- 
sohiilzt  wurden  diese  Erscheinungen  nur  von  wenigen.  Oer  beste 
Vortrag  für  jedermann  über  die  eminente  wissenschaftliche  Bedeu- 
tung der  Röntgenstrahlen  ohne  Reproduktion  der  gespensterhalten 
Knochenschatten,  eine  noch  so  gute,  gemeinverständliche  Darlegung 
über  den  technischen  Gewinn  aus  den  Sohnellbahnversuohen  ohne 
kinematographische  Darstellung  dos  sausenden  Wagens  und  die  übli- 
chen hellseherischen  Blicke  in  die  Zukunft  würde  zum  zweiten 
Male  wahrscheinlich  vor  leeren  Bänken  gehalten  werden.  Immer  das 
alte  Lied  und  das  alte  Leid.  Als  seinerzeit  der  vortreffliche  Simon  in 
einen  geistvollen  Vortrag  zum  Besten  der  Lambertsohen  Nordpol- 
Expedition  hielt,  braohte  er  kaum  30  Mark  zusammen,  während  ein 
zu  demselben  Zwecke  und  am  gleichen  Abend  veranstalteter  Ball 
einen  Reinertrag  von  über  1000  Mark  hatte. 

Die  drahtlose  Telephonie  — obgleich  sie  effektvoll  genüg  ist  — 
hat  nicht  ganz  die  verdiente  Beachtung  im  Publikum  gefunden.  Wenn 
man  beute  selbst  den  Gebildeten  danach  fragt,  so  wird  er  kaum 
etwas  anderes  zu  sagen  wissen,  als  dafs  die  Sache  jedenfalls  so 
ähnlich  sei  wie  die  drahtlose  Telegraphie.  Und  damit  bat  er  noch 
nicht  einmal  recht.  Die  drahtlose  Telephonie  hat  mit  elektrischen 
Wellen  gar  nichts  zu  tun;  sie  beruht  der  Hauptsache  nach  auf  dem 
höchst  merkwürdigen  Verhalten  des  Selens,  sein  elektrisches  Leitungs- 
vermögen mit  der  Stärke  der  Beleuchtung  zu  ändern.  Wir  kommen 
darauf  weiter  unten  noch  ausführlich  zurück.  Vorerst  mögen  einmal 
Versuche  besprochen  sein,  die  ohne  Verwendung  elektrischer  Wellen 
auf  eine  drahtlose  Zeicheniibertragung  hinzielen  und  die,  namentlich 
in  physikalischer  Beziehung,  vielleicht  noch  interessanter  sind  als  die 
Selenexperimente  selbst. 

Im  Jahre  1887  machte  unser  grosser  Landsmann  Heinrich 
Hertz  eino  sehr  beachtenswerte  Entdeckung.  Er  fand  nämlich,  dafs 
ein  elektrischer  Funke,  wie  er  etwa  zwischen  den  beiden  Elektroden 
eines  Funkeninduktors  entsteht,  von  einem  anderen  Funken  aus  der 


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147 


Ferne  in  absonderlicher  Weise  beeinflußt  wird,  solange  beide  Funken, 
wir  möchten  sagen,  einander  sehen  können.  Tritt  irgend  ein  Hin- 
dernis, etwa  eine  Pappscheibe,  zwischen  die  Funken,  so  hört  die  Beein- 
flussung auf,  und  zwar  sobald  das  Hindernis  in  die  Gesichtslinie  gelangt. 
Wollte  man  das  Ilertzsche  Experiment  in  seiner  klassischen  Form 
auf  dem  Experimentiertisch  aufbauen,  so  hätte  es  etwa  folgendermaßen 
auszusehen:  Zwei  Funkeninduktoren  I und  II  (Fig.  1)  von  möglichst 
gleicher  Gröfsc  befinden  sich  in  bezug  auf  ihre  Primärwiokelung  in 
Hintereinanderschaltung  und  werden  durch  ein  und  denselben  Unter- 
brecher U betätigt.  Diese  Vorsichtsmaßregel  ist  unbedingt  nötig,  da 
andernfalls  ein  absolut  gleichzeitiges  Auftreten  beider  Funken,  dio 


Klg.  I. 


einander  ja  beeinflussen  sollen,  nicht  zu  erwarton  wäre.  Der  Abstand 
der  Funkeninduktoren  kann  etwa  */a  m betragen;  ist  er  viel  größer, 
so  wird  das  Experiment  unsicher.  Arbeiten  beide  Instrumente,  so 
tritt  an  den  Elektroden  bei  A und  B die  bekannte  rasche  Aufein- 
anderfolge von  Funken  ein.  Nun  verfährt  man  weiter  folgender- 
maßen: Man  hält  einen  Pappschirm  S zwischen  die  beiden  Funken- 
strecken und  zieht  dann  die  Elektroden  bei  B so  weit  auseinander, 
bis  die  Entladungen  eben  aufhören.  Der  erforderliche  Abstand  läßt 
sich  bald  herausprobieren.  Damit  ist  alles  für  die  Vorbereitung  des 
Versuches  getan.  Entfernt  man  nun  den  Schirm,  so  tritt  das  Funken- 
spiel bei  B sofort  wieder  auf;  es  erlischt,  sobald  der  Schirm  da- 
zwischentritt, und  dieses  Spiel  läßt  sich  beliebig  oft  wiederholen. 
Ohne  Frage  beeinflußt  also  der  Funken  bei  A die  Entladung  bei  B 
in  förderndem  Sinne.  Visiert  der  aufmerksame  Beobachter  über  die 
Funkenstrecken  hin,  so  sieht  er  allemal  dann  den  Funken  bei  B er- 
löschen, wenn  das  Hindernis  in  die  Oesichtslinie  tritt.  Zweifellos  gi- 
lt)» 


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148 


sohieht  also  die  Beeinflussung  durch  eine  von  A ausgehende  Strahlung, 
über  deren  Charakter  man  sich  bald  klar  werden  kann.  Hertz 
konnte  nachweisen,  dafs  es  sich  weder  um  ein  elektrisches  Phänomen, 
noch  um  eine  bisher  unbekannte  Wirkung  des  von  dem  Funken  A 
ausgehenden  Lichtes  handelt  Was  die  Entladung  bei  B begünstigt, 
sind  vielmehr  Ätherwellen  von  so  geringer  Ausdehnung,  dafs  sie  vom 
Auge  als  Licht  nicht  mehr  empfunden  werden.  — Uns  sllen  ist 
die  scheidende  und  analysierende  Kraft  eines  Prismas  bekannt. 
Fällt  weifses  Licht  auf  ein  Glasprisma,  so  wird  es  zum  spektralen 
Farbenfäoher  auseinandergelegt  Was  vor  dem  Prisma  vereinigt 
den  Eindruck  Weifs  hervorrief,  löst  sich  hinter  dem  Prisma  in  ein 
Nebeneinander  der  Farbenbestandteile  auf.  Aber  diese  Farben- 
skala hat  noch  eine  ganz  besondere  Bedeutung;  sie  enthält  die  Farben- 
komponenten des  weifsen  Lichtes  zugleich  geordnet  nach  ihren  Wellen- 
längen und  Sohwingungszahlen,  vom  tiefen  Rot  beginnend  über  Gelb, 
Grün,  Blau  bis  zum  tiefen  VioletL  Die  violetten  Farbenstrahlen  haben 
eine  Wellenlänge  von  nur  etwa  0,0004  mm.  Damit  ist  aber  das  Spek- 
trum noch  keineswegs  zu  Ende;  es  hört  nur  auf,  ein  Lichtspektrum 
zu  sein,  da  unser  Auge  noch  kürzeren  Wellen  gegenüber  versagt. 
Jenseits  des  Violett,  im  sogenannten  „Ultraviolett“,  folgt  noch  eine  ganze 
Gruppe  von  (natürlich  unsichtbaren)  Strahlen,  deren  Existenz  sich  aber 
z.  B.  auf  der  photographischen  Platte  verrät.  Die  allerkurzwelligsten 
von  ihnen  rufen  das  Hertzsche  Phänomen  hervor.  Dafs  die  Licht- 
strahlen die  Erreger  nicht  sind,  kann  man  auf  sehr  einfache  Weise 
dartun.  Man  braucht  nur  eine  Glasplatte  zwischen  die  Funken- 
strecken zu  halten,  um  den  gleichen  Effekt  wie  mit  einem  un- 
durchsichtigen Sohirm  hervorzurufen.  Glas  ist  offenbar  für  Licht- 
strahlen durchlässig,  für  ultraviolette  Strahlen  aber  so  gut  wie  un- 
durchlässig. Quarz  dagegen  behält  z.  ß.  seine  Durchlässigkeit  auch 
für  kurzwellige  Strahlen. 

Jede  Lichtquelle  mit  grofsem  Reichtum  an  ultravioletten  Strahlen 
läfst  sich  zu  dem  Versuch  verwenden;  es  braucht  gerade  kein  Funke 
zu  sein.  Magnesiumlicht  und  elektrisches  Bogenlioht  tun  dieselben 
Dienste,  eine  Kerze  versagt  dagegen  fast  ganz.  Im  Grunde  spielt 
sich  der  Vorgang  immer  so  ab,  dafs  zunächst  durch  die  Bestrahlung 
negative  Ladung  freigemacht  wird,  ein  Faktum,  dem  Hertz  bereits 
volle  Beachtung  schenkte.  Man  kann  mithin  den  lichtelektrisohen 
Entladungsversuch  auch  ohne  die  kostspieligen  Induktoren  zeigen,  in- 
dem man  Licht  auf  den  womöglich  aus  amalgamiertem  Zink  beste- 
henden Knopf  eines  negativ  geladenen  Goldblattelektroskopes  fallen 


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149 

läfst.  Die  Blättchen  sinken  sofort  zusammen,  sie  halten  jedoch  inne, 
wenn  eine  Glasscheibe  in  den  Gang  der  Strahlen  tritt. 

Typisch  und  höchst  charakteristisch  wird  das  Hertzsohe  Phä- 
nomen aber  erst  in  verdünnten  Gasen.  Sind  beide  Elektroden  der 
beeinflufsten  Funkenstrecke  — wir  wollen  sie  die  passive  nennen  — • 
in  eine  nicht  allzu  hochgradig  evakuierte  Röhre  eingeschlossen  und 
werden  die  Elektroden  in  geeigneter  Weise  elektrisch  aufgeladen,  so 
tritt  ein  Funkenstrom  schon  bei  relativ  schwacher  Bestrahlung  fast 
augenblicklich  auf.  Selbstverständlich  darf  aber  die  Vakuumröhre 
nicht  gänzlich  aus  Glas  bestehen;  denn  Glas  ist  ja  für  die  ultravio- 
letten Strahlen  ein  undurchsichtiger  Körper.  Man  verschliefst  die 
Röhre  meist  mit  einer  Quarzplatte  oder  Quarzlinse. 

Zickler  gebührt  das  Verdienst,  den  Hertzschen  Versuch  für 
eine  Telegraphie  mit  ultravioletten  Strahlen  ausgebildet  zu  haben. 


Kig.  2. 


Prinzipiell  hat  er  wenig  neues  hinzugefügt,  in  Einzelheiten  zeugen  aber 
seine  Einrichtungen  wie  seine  Versuche  von  grofsem  Geschick  und 
zäher  Ausdauer  in  der  Erreichung  des  Möglichen.  Wir  wollen  an  der 
Hand  einer  generellen  Schaltungsskizze  versuchen,  die  Anordnung 
seiner  Apparate  wiederzugeben.  1 (Fig.  2)  ist  die  Aufgabestation,  be- 
stehend aus  einer  starken  elektrischen  Bogenlampe  mit  einem  Quarz- 
kondensator L„  der  die  Strahlen  parallel  macht  und  in  die  Ferne 
schickt  Die  Empfangsstation  (.II)  wird  durch  die  Zicklerröhre  Z re- 
präsentiert. Sie  enthält  in  wenigen  Millimetern  Abstand  voneinander 
zwei  Elektroden  e,  beide  aus  Platin,  jedoch  von  verschiedener  Ober- 
fläche, die  eine  kugelig,  die  andere  in  einer  rautenförmigen,  nach 
vorn  geneigten  Platte  endigend.  Durch  die  Quarzlinie  Lj  werden  die 
einfallenden  Strahlen  auf  die  Rautenfläohe  konzentriert  Ist  der 
Funkeninduktor  j,  der  die  Röhre  betreibt,  richtig  eingestellt  und  mit 
Strom  passend  belastet,  so  setzt  der  Funkenstrom  zwisohen  den  Elek- 
troden ein,  sobald  die  Raute  bestrahlt  wird.  An  und  für  sich  genügt 
diese  Einrichtung  bereits  vollständig  zu  einer  Zeichengebung;  denn 


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160 


man  könnte  sich  denken,  dafs  durch  zeitweise  Abblendung  des  Strahles 
auf  der  Sendestation  mittelst  des  Schirmes  g kurze  und  lange  Zeichen 
nach  Art  des  Morsealphabets  gegeben  und  von  einem  Beobachter  auf 
der  Empfangsstation  am  Rh.vthmus  des  Funkenspieles  erkannt  werden. 
Zur  Demonstration  eignet  sich  der  Versuch  in  dieser  Form  nicht,  da 
nur  wenige  die  Entladung  zugleich  sehen  können.  In  solchen  Fällen 
habe  ich  bei  Vorträgen  in  der  Urania  mit  der  Zioklerröhre  eine 
Geifslerröhre  r in  denselben  Stromkreis  geschaltet,  die  dann  bei  jeder 
Entladung  hell  aufleuchtet. 

Der  gröfste  und  sofort  ins  Auge  fallende  Vorzug  der  Zickler- 
schen  Telegraphie  mit  ultravioletten  Strahlen  ist  die  absolute  Geheim- 
haltung der  Depesche.  Das  funkentelegraphisohe  Wort  bleibt  allen 
Abstimmungsversuohen  zum  Trotz  und  bei  allen  gegenteiligen  Ver- 
sicherungen in  des  Wortes  eigentlichster  Bedeutung  noch  immer  vogel- 
frei; die  rein  optischen  Signale  mit  dem  Scheinwerfer,  oder  bei  Tage 
mit  dem  Heliographen  laufen  dagegen  Gefahr,  von  dem  Kundigen  ent- 
ziffert zu  werden;  was  in  dem  Lichtstrahl  zwisohen  den  Zicklerschen 
Stationen  vor  sich  geht,  wird  niemand  gewahr.  Denn  die  ultravioletten 
Begleiter  des  elektrischen  Kohlenlichtes  sind  unsichtbar,  jede  Glas- 
scheibe kann  zur  Abdeckung  und  Zeichengebung  dienen,  während  der 
Lichtstrahl  für  das  Auge  kaum  merklich  verändert  wird,  auch  läfst 
sich  der  Strahlenkegel  so  genau  auf  einen  bestimmten  Punkt  richten, 
dafs  ein  seitliches  Abfangen  der  Depesche  aufser  dem  Bereiche  der 
Möglichkeit  liegt. 

Wenn  man  trotz  dieser  Vorzüge  von  der  Telegraphie  mit  ultra- 
violettem Licht  nur  wenig  gehört  hat,  so  ist  dies  wohl  begründet. 
Nicht  als  ob  man  sioh  an  der  Vergänglichkeit  der  Zeichen  stiefse. 
Es  ist  ein  Leichtes,  das  Funkenspiet  in  ein  lautes  akustisches  Signal, 
ja  selbst  mit  Hilfe  des  Morseapparates  in  gedruckte  Zeichen  zu  ver- 
wandeln. Es  bietet  auch  keinerlei  Schwierigkeit,  eine  passende  Geber- 
blende aus  Glas  zu  konstruieren,  die  das  Telegramm  in  exaktester  Weise 
aufgibt.  Man  könnte  sogar  selbst  daran  denken,  mit  Hilfe  der  Zickler- 
schen Anordnung  das  gesprochene  Wort  zu  übermitteln,  — nur  eines 
kann  man  leider  nicht,  und  gerade  das  ist  von  prinzipieller  Bedeutung: 
den  Abstand  der  Stationen  auf  das  praktisch  erwünschte  Mafs  bringen. 
Während  nämlich  die  Luft  fiir  Lichtstrahlen  leidlich  durchlässig  ist, 
wirkt  sie  auf  die  ultraviolette  Strahlung  schon  in  verhältnismäfsig  ge- 
ringen Schichtendicken  wie  ein  trübes,  stark  absorbierendes  Medium, 
und  zwar  auch  dann,  wenn  sie  optisch  ganz  klar  erscheint.  Wenn 
Zickler  noch  bis  auf  etwa  1 '/•>  km  leserliohe  Zeichen  abgeben  konnte, 


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151 


so  mufs  man  in  der  Tat  seiner  Ausdauer  und  seinem  Geschiok  alle 
Achtung  tollen.  Anfangs  gelangen  die  Versuche  nur  auf  etwa  50  m. 
Von  der  Absorptionsfähigkeit  der  Luft  für  ultraviolette  Strahlen  kann 
sich  jeder  überzeugen,  der  elektrische  Bogenlampen  aus  der  Ferne 
beobaohtet.  Er  wird  dann  sicher  bemerken,  wie  ihr  ausgesprochen 
bläuliches  Licht  ganz  verschwindet  und,  was  den  Farbenton  anbelangt, 
sich  kaum  noch  von  dem  einer  Gasglühlichtlaterne  unterscheiden 
läfst.  Wer  einmal  den  neuen  Helgoländer  Leuohtturm  aus  grofser  Ent- 
fernung beobaohtet  hat,  wird  sicher  auf  alles  andere,  nur  nicht  auf 
elektrisches  Bogenlicht  geraten  haben.  Denn  der  am  Horizont  wan- 
dernde Schein  sieht  eher  rötlich  als  weifs  oder  gar  bläulich  aus. 

Für  eine  rein  optisohe  Zeichengebung  ist  diese  Filterfähigkeit 
der  Luft  kaum  von  Bedeutung,  da  ja  ohnehin  die  kurzwelligen  Strahlen 
nur  wenig  auf  das  Auge  einwirken;  die  Zioklersche  Telegraphie 
steht  und  fällt  jedoch  mit  diesem  Umstand,  denn  sie  ist  allein  auf 
die  ultravioletten  Strahlen  angewiesen.  Die  Luftteilchen  sind  offenbar 
Hindernisse  für  diese  Strahlung  und  gleichsam  Klippen  in  der  Licht- 
wellenbrandung. Wie  eine  Wasserwelle,  wenn  sie  grofs  und  ausge- 
dehnt genug  ist,  um  den  Felsen  zusammenschlägt  oder  ihn  überspült 
und  dann  weitereilt,  dagegen  zerschellt,  wenn  sie  nur  kurz  ist,  so 
kommen  die  roten  Lichtwellen  am  ehesten  über  die  Luftklippen  fort, 
während  die  kürzeren  blauen  oder  gar  violetten  und  ultravioletten  an 
ihnen  zugrundo  gehen.  Man  hat  ultraviolette  Strahlen  von  etwa  nur 
zwcitausendstel  Millimeter  Länge  nacbgewiesen,  die  nicht  einmal  mehr 
eine  Hand  breit  Luft  zu  durchdringen  vermögen. 

Gerade  wie  die  lichtelektrisohe  Telegraphie  benutzt  auch  die 
drahtlose  Telephonie  das  von  einer  starken  Lichtquelle  ausgehende 
Strahlenbündei  und  dessen  Intensitätsschwankungen  zur  Zeichenüber- 
mittelung. Aber  sie  hat  vor  der  Zicklerschen  Telegraphie  zunächst 
den  großen  Vorzug,  sich  der  durchdringungsfähigen  Lichtstrahlen 
selbst  bedienen  zu  können,  ohne  jedoch  die  Intensitätsschwankungen 
für  das  Auge  sichtbar  werden  zu  lassen.  Die  Sprechströme  und  die 
durch  sie  veranlafsten  Veränderungen  in  der  Lichtstärke  sind  viel  zu 
frecjuent,  als  dafs  das  Auge  ihnen  zu  folgen  vermöchte.  Sie  sichern 
die  Geheimhaltung  des  Gesprächs  vollkommen.  Freilich  stehen  diesen 
Unleugbaren  Vorteilen  auch  Nachteile  gegenüber,  von  denen  weiter 
Unten  die  Rede  sein  wird. 

Die  drahtlose  Telephonie  beruht  auf  den  in  vieler  Beziehung 
höchst  merkwürdigen  Eigenschaften  de6  Selens.  Das  Selen  ist  zwar 
cJem  Schwefel  chemisch  verwandt,  besitzt  aber  gleich  dem  Kohlenstoff 


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152 


und  dem  Phosphor  eine  Proteusnatur.  Es  tauoht  in  zwei  verschie- 
denen Gestalten  suf.  Die  eine  Form  — und  zwar  die  gewöhnliche 
— zeigt  den  interessanten  Körper  in  einem  spröden,  glasigen  Zu- 
stande; seine  Farbe  ist  fast  schwarz,  die  elektrisohe  Leitfähigkeit  so 
gut  wie  Kuli.  Sobald  jedoch  das  glasige  Selen  eine  Zeitlang  auf  etwa 
1(10°  C.  erwärmt  wird,  verändert  es  sein  Aussehen  und  seine  Eigen- 
schaften. Es  ist  nun  dunkelgrau,  graphitähnlioh  und  ein  leidlich  guter 
Leiter  der  Elektrizität;  aber  es  hat  noch  eine  ganz  besondere  Eigen- 
schaft; es  läfst  den  Strom  bei  Tage  leichter  hindurch  als  bei  Nacht, 
oder,  mit  anderen  Worten,  sein  Widerstand  ist  von  der  Intensität  der 
Beleuchtung  abhängig.  Diese  merkwürdige  Tatsache  wurde  im  Jahre 
1873  von  dem  Elektriker  Willoughby  Smith,  nach  andoren  von 
dessen  Gehilfen  May  rein  zufällig  entdeckt,  als  es  sich  um  die  Her- 
stellung sehr  hoher  Leitungswiderstände  handelte.  Man  kann  das 
Verhalten  des  Selens  etwa  folgendermaßen  zeigen.  Eine  Tafel  aus 
kristallinischem  Selen  (s.  Fig.  3a)  steht  einerseits  mit  einer  galvani- 
schen Batterie,  anderseits  mit  einem  Stromstärke-Meßinstrument  (in 
der  Mitte  der  Abbildung)  in  Verbindung.  Wenn  dieses  Meßinstrument 
nicht  außerordentlich  empfindlich  ist  und  nioht  etwa  schon  bei  einer 
Stromstärke  von  nur  Viooo  Amp.  einen  merkbaren  Ausschlag  zeigt,  so 
wird  es  zunächst  fast  gar  keine  Angaben  machen,  denn  die  Selentafel 
besitzt  einen  ungemein  hohen  Widerstand,  vorausgesetzt,  daß  sie  im 
Dunkeln  steht.  Fällt  nun  irgend  ein  Lichtstrahl  auf  das  Selen  — z.  B. 
von  der  Kerzenflamme  K (Fig.  3b)  — , so  verändern  sich  die  Verhältnisse 
auf  der  Stelle.  Der  Zeiger  des  Meßinstrumentes  läuft  über  die  Skala  hin 
und  meldet  eine  erhöhte  Stromstärke.  Ohne  Frage  ist  also  der  Lei- 
tungswiderstand des  Selens  durch  die  Bestrahlung  vermindert  worden. 
Untersucht  man  verschiedene  Liohtarten,  so  wird  man  blaues  und  vio- 
lettes Licht  weniger  wirksam  finden  als  rotes  und  gelbes,  Strahlen  also, 
die  zugleioh  eine  Wärmewirkung  ausüben.  Mit  dem  Beginn  der  Belioh- 
tung  sinkt  der  Widerstand  fast  augenblicklich,  aber  er  fällt  nooh  eine 
kurze  Zeit,  wenn  die  Belichtung  sohon  aufgehört  hat.  Diese  Trägheit 
des  Selens  und  seine  begrenzte  Fälligkeit,  sehr  schnellen  Intensitäts- 
schwankungen der  Beleuchtung  ausgiebig  zu  folgen,  sind  sein  Un- 
glück; sie  haben  viele  auf  den  seltsamen  Körper  gesetzte  Hoffnungen 
zu  nichte  gemacht. 

Was  mag  nun  wohl  im  Selen  bei  der  Belichtung  vor  sioh 
gehen?  Offenbar  handelt  es  sioh  um  einen  Vorgang  an  der  Ober- 
fläche, denn  das  Licht  dringt  in  den  grauschwarzen,  glänzenden  Körper 
kaum  ein.  Sollten  etwa  hier  noch  Spuren  der  alten,  glasigen  Selen- 


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153 


form  zurückgeblieben  sein  und  vorübergehend  in  den  kristallinischen 
Zustand  zurückverwandelt  werden,  ein  Prozefs,  der  sich  natürlich  bei 
seinen  engen  Grenzen  und  der  Geschwindigkeit,  mit  der  er  sich  in 
vielen  Pallen  abspielt,  dem  forschenden  Auge  ganz  entzieht?  Oder 
sollten  etwa  gewisse  Beimengungen  des  Selens  für  den  Ablauf  der 
Erscheinung  viel  wichtiger  sein,  als  man  anfangs  annahm?  Auch 
diese  Vermutung  trifft  einstweilen  noch,  gerade  wie  die  erste,  ins  Un- 
gewisse; vielleicht  ist  keine  von  ihnen  richtig.  Hier  eröffnet  sich  in 
der  Tat  der  wissenschaftlichen  Forschung  ein  interessantes  Gebiet. 

Auch  das  Selen  sollte  einmal  das  Allerweltsmittel  Tür  allerhand 
Probleme  sein;  manche  sind  noch  heute  dieser  Meinung.  Eine  Schar 


F'g  3. 


von  mehr  oder  minder  professionsmäfsigen  Erfindern  fiel  über  den 
neuen  Stoff  her  und  verarbeitete  ihn  zu  allerhand  Millionenprojektcu. 
Keines  von  ihnen  war  realisierbar,  auch  nicht  die  verständigeren,  so 
z.  ß.  das  Problem,  mit  Hilfe  des  Selens  lebendige  Abbildungen  der 
Natur,  wie  sie  auf  der  Mattscheibe  des  photographischen  Apparates 
zu  sehen  sind,  telegraphisch  in  die  Ferne  zu  übertragen.  Dieser 
Versuch  scheiterte  hauptsächlich  an  der  Trägheit  wie  an  gewissen 
Ermüdungserscheinungen  des  Selens.  Trotzdem  ist  und  bleibt  das 
Selen  für  gewisse  Zwecke  ein  wertvoller  Körper.  So  könnte  es  viel- 
leicht — eine  geeignete  Konstruktion  aller  Nebenapparate  vorausge- 
setzt — dazu  dienen,  einzelne  Laternen  oder  ganze  Gruppen  bei  be- 
ginnender Dämmerung  oder  dichtem  Nebel  anzustecken  und  beim 
Morgengrauen  zu  löschen,  Blickfeuer  an  weit  vorgelagerten  Bojen  zu 
unterhalten  oder  doch  über  Tag  auszuschalten,  Lichtquellen  miteinander 


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154 

zu  vergleichen  und  anderes  mehr.  Auch  für  die  drahtlose  Telephonie 
ist  es  in  gewissen  Grenzen  geeignet. 

Die  drahtlose  Telephonie  ist  weit  älter  als  die  drahtlose  Tele- 
graphie. Bald  nachdem  Graham  Bell  das  Telephon  im  Jahre  1877 
zum  zweiten  Male  erfunden  und  in  praktische  Gestalt  gebracht  hatte 
(der  erste  Erfinder  war  bekanntlich,  ebenso  wie  derjenige  des  Mikro- 
phons Philipp  Reis),  dachte  er  daran,  die  photoelektrischen  Eigen- 
schaften des  Selens  für  die  Lautübertragung  auszunutzen.  Die  von 
ihm  erfundene  Anordnung  ist  folgende:  Die  Schallmembran  eines 

Sprachrohrs  wird  durch  eine  sehr  dünne,  versilberte  Glas-  oder  Glim- 
merscheibe gebildet  Fällt  ein  Sonnenstrahl  oder  auch  ein  Bündel 
künstlich  parallel  gemachter  Lichtstrahlen  von  einer  Bogenlampe  auf 
die  Membran,  so  werden  die6e  Strahlen  von  der  spiegelnden  Membran 
zurüokgeworfen  und  gehen  parallel  gerichtet  in  die  Ferne.  Spricht 
man  jedoch  in  das  Kohr,  so  wird  die  Membran  im  Rhythmus  der 
Schallwellen  nach  der  einen  oder  anderen  Seite  durcbgedrückt; 
sie  bildet  also  bald  einen  Konvex-,  bald  einen  Konkavspiegel, 
ln  unmittelbarer  Folge  davon  werden  die  von  ihr  reflektierten 
Lichtstrahlen  bald  auseinandergeworfen,  bald  zusammengezogen  und 
konzentriert.  Fällt  das  reflektierte  Strahlenbündel  auf  eine  Selen- 
zelle, so  sieht  man  wohl,  wie  diese  rhythmischen  Beleuchtungsschwan- 
kungen ausgesetzt  wird  und  wie  schliefslich  diese  Lichtschwankungen 
in  Stromschwankungen  und  dann  in  Schallschwankungen  umgesetzt 
werden  können,  wenn  in  dem  Stromkreis  der  Selenzelle  eine  Batterie 
und  ein  Telephon  liegt.  Im  Telephon  hört  man  dann  ab,  was  auf  der 
anderen  Station  in  das  Sprachrohr  gerufen  wird.  Übertrager  der 
Sprache  und  gleichsam  die  Brücke,  auf  der  sie  hineilt,  ist  der  beide 
Stationen  verbindende  Lichtstrahl. 

Es  gelang  Bell  und  Tainter  seinerzeit,  bis  auf  etwa  200  m Ent- 
fernung die  menschliche  Sprache,  wenn  auch  schwach,  so  doch  ver- 
ständlich, zu  übermitteln.  Wenn  man  trotzdem  von  den  Versuchen  später 
nicht  mehr  viel  gehört  hat  und  auch  in  der  Angelegenheit  nicht  viel  mehr 
getan  worden  ist,  so  lag  dies  wohl  in  der  Hauptsache  an  der  aussichts- 
losen Unzulänglichkeit  des  Sendeapparates.  Erst  im  Jahre  1001  kam 
wieder  Bewegung  in  die  Versuche,  als  Simon  in  Erlangen,  jetzt  in 
Göttingen,  die  sogenannte  singende  Bogenlampe  entdeckte.  Die  Leser 
von  „Himmel  und  Erde“  kennen  das  Prinzip  der  singenden  Bogenlampe 
bereits  aus  dem  Jahrgang  XIV,  Heft  1.  In  Kürze  mag  hier  noch  ein- 
mal mitgeteilt  sein,  dafs  der  Lichtbogen  einer  elektrischen  Kohlen- 
lampe das  den  Laut  reproduzierende  Telephon  mit  einem  gewissen 


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155 


Erfolge  zu  ersetzen  vermag,  da  anscheinend  sein  Volumen  unter  dem 
Einflufs  rhythmischer  Stromschwankungen  variiert  und  so  Schall- 
wellen an  die  umgebende  Luft  abgibt.  Zum  Ansprechen  der  Lampe 
verwendet  man  ein  Mikrophon,  dessen  Stromkreis  den  Lampen- 
stromkreis elektromagnetisch  beeinflufst  So  lagern  sich  die  Sprech- 
ströme gewissermafsen  über  den  Lampenstrom  hin.  Wenn  die  dadurch 
auftretenden  Lichtschwankungen  zwar  zu  gering  sind  und  auch  zu 
schnell  verlaufen,  als  dafs  sie  vom  Auge  direkt  empfunden  werden 
könnten,  so  genügen  sie  doch,  um  sich  am  Selen  zu  betätigen.  Frei- 
lich kommt  auch  hier  wieder  die  Trägheit  des  Selens  und  seine  Un- 
it I 


fäbigkeit,  die  Schwankungen  in  voller  Gröfse  zu  reproduzieren, 
bindernd  in  Frage. 

Fig.  4 stellt  eine  der  gebräuchlichsten  Schaltungsformen  für  die 
Telephonie  ohne  Draht  — man  könnte  sie  auch  photoelektrische 
Telephonie  nennen  — dar.  Auf  der  Station  I (der  Sendestation)  be- 
findet sich  das  Mikrophon  M,  die  Mikrophonbatterie  B und,  demselben 
Stromkreis  angchörend,  noch  die  dünnere  Wickelung  W,  eines  Trans- 
formators. 

Ein  Transformator  besteht  im  Prinzip  aus  zwei  voneinander 
unabhängigen  Urahlwickelungen  auf  einem  Eisenkern;  er  gestattet, 
zwei  Stromkreise  voneinander  abhängig  zu  machen,  ohne  dafs  sie 
einen  Teil  der  Leitung  gemeinsam  hätten.  Wenn  die  beiden  Wicke- 
lungen W j und  Wj  in  der  Figur  nebeneinander  erscheinen  statt  in- 
einander verschränkt,  so  geschieht  dies  nur  der  besseren  Übersicht- 


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1 56 

lichkeit  wegen.  W2  gehört  einem  Stromkreise  an,  der  aufser  der 
Dynamomaschine  D bezügl.  oiner  adäquaten  Batterie  noch  die  Bogen- 
lampe L enthält  Sie  steht  im  Brennpunkt  eines  parabolischen  Hohl- 
spiegels und  sendet  ihr  paralloles  Strahlenbündel  der  Empfangsstation 
II  zu.  Dort  befindet  sich  im  Brennpunkt  eines  Hohlspiegels  die  Selen- 
zelle S;  sie  liegt  zusammen  mit  einer  Batterie  B 1 und  einem  Telephon 
T1  in  einem  Stromkreis.  In  der  schon  vorher  geschilderten  Weise 
nimmt  die  Bogenlampe  die  Stromschwankungen  im  Mikrophonkreise 
auf  und  überträgt  sie  als  Lichtschwankungen  auf  den  Spiegel  der 
Empfangsstation  und  auf  die  Selenzelle.  Durch  die  Stromschwankungen 
im  Seienstromkreis  wird  die  Membran  des  Telephons  in  Bewegung 
gesetzt  und  gibt  das  gesprochene  Wort  wieder.  Die  Empfangsvor- 
richtung mit  der  Selenzelle  ist  nooli  einmal  auf  Figur  5 abgcbildet 

Begreiflicherweise  hat  man  an  der  Selenzelle  viel  herumstudiert 
und  herumprobiert,  ohne  aber  den  alten  Fehler  der  Trägheit  besei- 
tigen oder  auch  nur  ein  durchweg  gleichmäfsiges  Fabrikat  erzielen 
zu  können.  Anfangs  waren  die  tafelförmigen  Zellen  (Figur  3)  sehr 
beliebt,  neuerdings  hat  jedoch  Huhmer  mit  Erfolg  zylinderförmige  im 
Vakuum  (S  in  Figur  5)  verwendet.  Möglicherweise  können  noch  weitere 
Verbesserungen  erzielt  werden. 

Blättert  der  Leser  zurück,  so  findet  er,  dem  Aufsatz  vorgeheftet, 
eine  Darstellung  des  Selenversuches  in  der  Urania.  Der  Geberschein- 
werfer ist  hier  durch  eine  Linsen  Vorrichtung  ersetzt,  um  die  Bogen- 
lampe, deren  lautes  Geschwätz  Btören  würde,  nach  allen  Seiten  schall- 
dioht  abBChliefsen  zu  können.  Denn  man  glaube  ja  nicht  etwa,  dafs 
das  Experiment  objektiv  ist  in  dem  Sinne  einer  lauten  und  für  jeder- 
mann im  Saale  vernehmlichen  Wiedergabe  der  Sprache.  Die  Laut- 
wirkung ist  sehr  gering  und  entspricht  keineswegs  der  Stärke  der 
sonst  gehörten  Telephongespräche;  man  mufs  schon  die  Hörer  dicht 
an  die  Ohren  drücken  und  sich  auch  sonst  gegen  alle  Nebengeräusche 
möglichst  schützen,  um  alles  zu  verstehen.  Dagegen  überrascht  die 
Klangreinheit;  alle  unangenehmen,  schnarrenden  und  quäkenden  Töne, 
wie  man  sie  an  der  Bogenlampe  selbst  hört,  sind  völlig  versohwunden, 
sogar  die  Klangfarbe  der  Stimme  kommt  in  überraschender  Weise 
zum  Ausdruck.  Bei  einer  lauten  Wiedergabe  dürften  wohl  die  Ver- 
hältnisse ganz  anders  liegen.  — Jeder  Zuhörer  tritt  also  am  Schlufs 
der  Vorlesung  an  den  Empfangsapparat  heran,  während  gleichzeitig 
eine  Blende  den  Lichtstrahl  zeitweise  abschneidet  und  die  Übertragung 
unterbricht 

Nach  den  Untersuchungen  von  Simon  und  Reioh  in  Göttingen 


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157 


ist  die  Änderung  der  Lichtintensität  vorzugsweise  im  Krater  der  posi- 
tiven Bogenlichtkohle  zu  suchen.  Kin  sonderbarer  Vorgang  in  der 
Tal!  Der  Bogenlichtstrom  ist  ein  wahrer  Rie6e  gegen  die  durch  die 
Schallwellen  im  Mikrophonkreis  hervorgerufenen  Stromschwankungen; 
und  doch  drückt  der  Kleinere  dem  Oröfseren  den  Stempol  seiner 
Eigenart  auf.  Im  Rhythmus  der  Sprachschwingungen  verändert  die 
plumpe  Kohle  ihre  Temperatur  oft  tausendmal  und  mehr  in  einer 
einzigen  Sekunde;  in  ihrem  anscheinend  ruhigen  Licht  schwebt  und 
webt  der  ganze  Klangzauher  der  menschlichen  Sprache. 


Fig.  5. 


Es  hat  sich  als  günstig  herausgcstellt,  die  Lampe  nicht  mit  zu 
grofser  Stromstärke  brennen  zu  lassen.  Vier  bis  fünf  Ampere  genügen 
auf  kurze  Entfernungen  vollkommen,  eine  höhere  Stromstärke  schadet 
sogar  mehr  als  sie  nützt.  — Sch I iefslich  kann  man  auch  des  Bogen- 
lichtes und  überhaupt  jeglicher  Mithilfe  der  Elektrizität  ganz  entraten; 
mehrere  Wege  führen  zur  Lösung  desselben  Problems.  Schon  Bell 
selbst  hat  ja  die  an  einer  beweglichen  Membran  gespiegelten  Son- 
nenstrahlen zur  Lautübertragung  benutzt.  Jede  Lichtquelle,  deren  In- 
tensität sich  durch  Schallwellen  beeinflussen  läfst,  kann  prinzipiell 
an  die  Stelle  der  Bogenlampe  treten,  etwa  ein  Knallgasbrenner  mit 


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158 


beweglicher  Kalkplatte,  eine  manometrische  Gasflamme  u.  s.  f.  Auch 
das  Selen  braucht  man  schlierslich  nicht  einmal.  Läfst  man  z.  ß.  die 
Lichtstrahlen  auf  irgendwelche  Körper  fallen,  so  beginnt  die  ihnen 
anhaftende  Lufthülle  zu  tönen,  ßerufste  Gegenstände  namentlich,  so 
etwa  in  einem  Glasrohr  eingeschlossene  Glimmerstückohen  oder  Bruch- 
teile von  Glühlampenfäden,  geben  recht  respektable  Wirkungen.  Ein 
von  dem  Glasbebälter  ausgehender  Schlauch  wird  dann  als  Hörrohr 
benutzt  Vielleicht  haben  alle  diese  Methoden  einmal  eine  Bedeutung, 
wenn  sie  zunächst  auch  vor  der  photoelektrischen  zurüokstehen  müssen. 

Selbstverständlich  ist  es  ganz  niüfsig,  von  den  Aussichten  der 
drahtlosen  Telephonie  zu  reden.  Wir  haben  es  erlebt,  dafs  ganz  un- 
scheinbare Entdeckungen  zu  förmlichen  Umwälzungen  auf  technischem, 
wissenschaftlichem  und  wirtschaftlichem  Gebiet  geführt  haben,  während 
man  von  anfangs  viel  verheizenden  Neuerungen  gar  nicht  mehr 
spricht  Übertriebene  Hoffnungen  bleiben  zudem  meist  unerfüllt.  Bis 
jetzt  gelingen  die  photoelektrischen  Versuche  — eine  günstige  Atmo- 
sphäre vorausgesetzt  — auf  einige  Kilometer  Entfernung,  etwas  weiter, 
wenn  man  auf  eine  Wiedergabe  der  Sprache  verzichtet  und  sich  mit 
Morsezeiohen  begnügt;  auch  kann  man  schlierslich  das  gesprochene  Wort 
mit  dem  Poulsenschen  Telegraphon  elektromagnetisch  oder  mit  Hilfe 
eines  bewegten  Filmstreifens  kinematographisch  fixieren.  Diese  Me- 
thoden sind  natürlich  noch  unsicher  und  erst  in  der  Ausbildung  be- 
griffen. In  gewissen  Fällen  und  in  engeren  Grenzen  wird  aber  die 
photoelektrische  Telephonie  schon  jetzt  gute  Dienste  leisten  können, 
so  etwa  beim  Verkehr  von  Sohiffen  untereinander  oder  wenn  es  sich 
darum  handelt,  vom  Leuchtturm  aus  mit  einem  Fahrzeug  auf  See  in 
Verbindung  zu  treten.  Das  ist  für  den  Anfang  gewifs  schon  genug. 


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Sinnesorgane  und  physikalische  Instrumente. 

«Von  Dr.  G.  Asgesheiater  in  Heidelberg. 

ie  Kinematik  oder  Lehre  von  den  Bewegungen  ohne  Berück- 
sichtigung der  Trägheit  der  Massen  ist  wie  die  reine  Baum- 
und Zeitlehre  ein  Zweig  der  Mathematik,  nämlich  die  auf  den 
Begriff  der  Bewegung  angewandte  Mathematik.  Sie  sagt  niohts  dar- 
über aus,  ob  *8  Bewegung  gibt  oder  nicht,  auch  nichts  darüber,  wenn 
es  eine  Bewegung  gibt,  ob  sie  unter  logisohen  Gesetzen  stehe  oder 
nicht;  sie  sagt  nur,  wenn  es  Bewegung  nach  logischen  Gesetzen  gibt, 
so  mufs  sie  so  und  so  sein.1)  Die  Kinematik  ist  also  wie  die  Mathe- 
matik eine  rein  formale  Wissenschaft,  die  soweit  wie  die  Mathematik 
unabhängig  von  unserer  durch  sinnliche  Wahrnehmung  erworbenen  Er- 
fahrung ist.  Sie  hat  soviel  wie  diese  apodiktische  Gewifsheit,  aber  eben- 
falls auch  keinen  realen  Erkenntniswert;  denn  zu  entscheiden,  ob  es 
Bewegung  nach  rein  logischen  Gesetzen  gibt,  dazu  ist  die  Erfahrung, 
also  die  sinnliche  Wahrnehmung,  notwendig. 

Geht  man  also  von  der  reinen  Bewegungslehre  zur  Lehre  von 
der  Bewegung  der  trägen  Massen,  zur  Physik  über,  so  müssen  alle 
Fragen  vor  den  Richterstuhl  der  Erfahrung  gebracht  und  dort  ent- 
schieden werden.  Hier  verliert  die  Physik  als  Wissenschaft  ihre  apo- 
diktische Gewifsheit,  denn  die  Erhebung  der  Erfahrung  zur  Suprema 
lex  enthält  etwas  Hypothetisches.  Sie  setzt  nämlich  voraus,  dafs 
zwischen  unseren  sinnlichen  Wahrnehmungen,  und  damit  zwischen  den 
durch  sie  bedingten  Zuständen  unseres  Bewufstseins  in  uns,  und  den 
Naturvorgängen  aufser  uns  ein  Zusammenhang  bestehe. 

Die  Sinne  sind  die  Tore,  durch  welche  die  Kenntnis  von  dem 
Geschehen  aufser  uns  in  unser  Bewufstsein  eingeht.  Die  Empfindlin- 
gen, die  durch  die  Beizung  unserer  Sinne  in  uns  wachgerufen  werden, 
sind  die  Bilder  der  Welt  in  unserem  Bewufstsein.  Welcher  Zusam- 


j Vcrgl.  E.  v.  Hartman»,  Weltanschauung  d.  modernen  Phy-ik,  1?|  - 


160 


menhang  besteht  nun  zwischen  den  Bildern  in  uns  und  den  Natur- 
vorgängen  aufser  uns? 

Um  diese  ftir  das  Naturerkennen  wichtige  Frage  zu  lösen,  mülste 
man  die  Gesetze,  welche  die  Naturvorgänge  auteer  uns  beherrschen, 
die  physikalischen,  sowie  die,  welche  für  die  Bewutetseinsvorgänge, 
die  Bewegung  der  Bilder  in  uns,  gelten,  die  psychologischen,  kennen 
und  die  Funktionen  der  Vermittler  dieser  Bilder,  die  physiologischen 
Funktionen  der  Sinnesorgane.  Dann  könnte  man  die  mathematische 
Funktion  linden,  welche  die  Bewutetseinsbilder  und  das  äuteere  Ge- 
schehen aneinander  bindet,  und  man  würde  dadurch,  mehr  wie  ein 
Bild,  eine  apodiktisch  gewisse  Kenntnis  des  Weltgeschehens  erlangen. 
Aber  inan  hat  weder  dieBe  mathematische  Funktion,  nooh  was  zu 
ihrer  Bildung  gehört;  und  was  wir  von  der  Welt  kennen,  ist  nichts 
als  ein  Bild,  das  die  nun  gerade  mal  so  und  so  gebaute  camera  ob- 
soura  unserer  Sinne  in  unser  Bewufetsein  hineinprojiziert.  Wieweit 
es  durch  diese  Projektion  verzerrt  und  entstellt  wird,  und  wie  man 
aus  den  Eigenschaften  des  Bildes  die  Eigenschaften  der  Bilderreger, 
der  Dinge  aufser  uns,  ermittelt,  das  suchen  wir  nooh  zu  erfahren. 
Wieweit  es  bisher  gelungen  ist,  die  Eigentümlichkeiten  unserer  Welt- 
bildvermittler, unserer  Sinne,  zu  erkennen  und  sich  von  ihnen  unab- 
hängig zu  machen,  soll  weiter  auseinandergesetzt  werden. 

Was  wir  äuteeres  Geschehen  nennen,  ist  Wanderung  (Ortsver- 
änderung) oder  Wandlung  der  Energie.  Phänomene  der  ersten  Art 
sind  Planetenbewegungen,  Wärmeleitung,  Lichtstrahlung;  Phänomene 
der  zweiten  Art  sind  Übergang  von  Wärme  oder  von  elektrischer 
Energie  in  mechanische  Energie  oder  in  Licht,  wie  bei  den  thermo- 
dynamischen und  elektrischen  Maschinen,  oder  wie  beim  Gewitter, 
Sturm  und  Blitz,  wo  ein  Teil  der  Energie  sich  noch  in  akustische 
Energie,  Donner,  umsetzt. 

Was  wir  wahrnehmen,  ist  Änderung  der  Eigenenergie  unserer 
Sinnosorgane.  Eine  dauernde  Reizung  ruft  keine  Änderung  der 
Eigeuenergie  unserer  Sinne  hervor  und  wird  deshalb  auch  nioht  wabr- 
genomtnen.  So  nehmen  wir  die  Aderfiguren  der  Netzhaut  Tür  ge- 
wöhnlich nicht  wahr,  weil  ihr  Bild  (Schattenbild)  immer  auf  dieselbe 
Stelle  der  lichtempfindlichen  Schicht  lallt,  und  die  Gewöhnung  daran 
macht,  dafs  es  nicht  wahrgenommen  wird.  Bei  dom  Versuch  von 
Purkinje  wird  das  Bild  der  Aderfigur  durch  eine  seitliche  Beleuch- 
tung künstlich  auf  eine  ungewohnte  Stelle  geworfen  und  infolgedessen 
dort  auch  wahrgenommen.  Bei  jeder  Sinneswahrnehmung  werden 
Bewegungen  des  Äthers  oder  der  Luft  oder  sonstiger  unsere  Sinne 


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erregender  Materien  in  Bewegungszustände  unserer  peripheren  Sinnes- 
nerven umgesetzt.  Von  hier  leiten  Nervenfasern  die  Störung  bis  zu 
den  Sinneszentren  des  Orofegehirns,  wobei  diesen  l.eitungsfaaern 
wahrscheinlich  eine  ähnliche  Aufgabe  zukommt  wie  elektrischen 
Leitungsdrähten,  die  z.  B.  beim  Telephon  nicht  etwa  den  Schall  selbst 
fortleiten,  sondern  nur  eine  durch  ihn  erzeugte  Schwankung  in  der 
elektrischen  Stromintensität.  Welcher  Effekt  am  Ende  der  Leitungs- 
babn  erzielt  wird,  hängt  davon  ab,  welche  Empfangsapparate  dort  ein- 
geschaltet sind. 

Aufseres  Geschehen  ist  also  Wanderung  oder  Wandlung  der 
Energie  aufser  uns,  innere  Erfahrung  beruht  auf  Änderung  der  Eigon- 
energie unserer  Sinnesorgane.  Welches  ist  nun  der  Zusammenhang 
zwischen  beiden?  Besteht  eine  quantitativ  gesetzmäfsige  Beziehung 
zwischen  äufserem  Geschehen  (Reiz)  und  Empfindung?  Wie  stark  mufs 
ein  Reiz  sein,  um  überhaupt  wahrgenommen  zu  werden?  Sind  die 
Empfindungen  miteinander  vergleichbar,  wie  es  die  Reize  sind? 

Um  den  letzten  Funkt  gleioh  vorweg  zu  nehmen,  so  kann  mau 
sagen,  dafs  ein  Vergleichen  der  Empfindungen  verschiedener  Sinnes- 
organe etwas  Unmögliches  ist.  Die  Schallempfindung  ist  z.  B.  durch- 
aus etwas  sui  generis,  das  weder  mit  einer  Farben-,  Gesohmacks-  noch 
Wärmeempfindung  verglichen  werden  kann.  Man  sprioht  wohl  von 
Farbentönen,  und  manche  harmonische  Beziehung  der  Musik  hat  im 
Reich  der  Farben  ein  Analogon;  so  stehen  die  Sohwingungszahlen  der 
Farben,  die  die  schönste  Zusammenstellung  ergeben,  in  demselben  Ver- 
hältnis wie  die  Schwingungszahlen  der  Töne  der  wohlklingendsten 
Akkorde;  der  berühmten  Triade  der  italienischen  Meister;  Rot-Grün- 
Violett  würde  in  der  Musik  der  ungemeine  angenehme  Quart-Sext- 
Akkord  d-g-h  von  Q-dur  entsprechen;  aber  von  einem  wirklichen 
Vergleichen  bestimmter  Tonempfindungen  mit  bestimmten  Furben- 
oder  Geruchsempfindungen  kann  doch  wohl  nicht  die  Rede  sein.  Dafs 
sich  dagegen  die  Reize  sehr  wohl  vergleichen  lassen,  zeigt  die 
Physik;  in  manchen  Fällen  gelingt  es  ihr  sogar  nachzuweisen,  dafs 
dort,  wo  uns  die  Sinne  qualitativ  verschiedene,  gänzlich  unvergleich- 
bare Bilder  liefern,  Vorgänge  gleicher  Art  stattfinden.  So  führt  sie 
uns  zu  der  Erkenntnis,  dafs  Licht-,  Wärme-  und  elektrische  Strahlung 
sich  nur  durch  ihre  Wellenlänge  unterscheiden,  dafs  Töne  und 
pendelnde  Bewegung  kleiner  Massen  ein  und  dasselbe  sind. 

Aber  nicht  nur  dafs  Empfindungen  verschiedener  Organe  unver- 
gleichbar sind,  eine  gesetzmäfsige  Beziehung  zwischen  quantitativ 
verschiedenen  Empfindungen  ein  und  desselben  Organs  und  den  sie 

Himmel  und  Erde.  IWU  XVI  4 H 


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162 


hervorrufenden  Reizen  läfst,  sich  auch  nicht  mit  Sicherheit  nach- 
weisen.  So  mufa  zunächst  der  Reiz  einen  Schwellenwert  über- 
schreiten, um  überhaupt  eine  Empfindung  waohzurufen.  Wird  der 
Reiz  weiter  gesteigert,  so  wird  zunächst  auoh  die  Empfindung  eine 
stärkere,  ob  aber,  wie  vielfach  behauptet  worden  ist,  die  Empfindung 
proportional  ist  dem  natürlichen  Logarithmus  des  Reizes  (E  = oonst. 
log  nat  R),  ob  überhaupt  eine  mathematisch  ausdrückbare  Gesetz- 
mäfsigkeit  zwischen  Reiz  und  Empfindung  besteht,  ist  zum  mindesten 
sehr  zweifelhaft;  jedenfalls  aber  ist  sicher,  dafs  eine  Bolche  Gesetz- 
mäfsigkeit  nur  zwischen  bestimmten  Grenzen  bestehen  kann;  denn 
während  die  Stärke  des  äufseren  Reizes  beliebig  gesteigert  werden 
kann,  überschreitet  die  Stärke  der  Empfindung  eine  gewisse  obere 
Grenze  niemals.  Dieses  Maximum  der  Empfindung  tritt  schon  bei 
einer  verhältnismäfsig  geringen  Reizstärke  ein;  eine  weitere  Steigerung 
des  Reizes  bewirkt  nicht  nur  nicht  mehr  eine  quantitative  Zunahme 
der  Empfindung,  sondern  sogar  eine  zunehmende  Ermüdung  und 
Erschöpfung  der  peripheren  Sinnesorgane.  Würden  wir  also  von 
unseren  direkten  Empfindungen  auf  die  äufseren  Vorgänge  schliefsen, 
so  könnten  wir  uns  oft  ein  falsches  Urteil  über  dieselben  bilden. 

Dieses  sind  genügende  Gründe,  den  Standpunkt  des  naiven 
Beschauers  zu  verlassen  und  sich  möglichst  von  der  spezifischen 
Eigenschaft  unserer  Sinnesorgane  unabhängig  zu  machen,  wenn 
man  zu  einem  einheitlichen,  den  wirklichen  Naturvorgängen  mehr 
entsprechenden  Weltbilde  gelangen  will,  was  die  Natur  in  höherem 
Mafse  auszunutzen  ermöglicht.  Dies  tut  die  Physik. 

Bei  der  Erforschung  der  Beziehungen  zwischen  den  für  unsere 
sinnliche  Wahrnehmung  qualitativ  verschiedenen  Vorgängen  in  der 
Natur  richtet  die  Physik  ihre  Aufmerksamkeit  stark  auf  jene  Be- 
ziehungen, welohe  alle  physikalischen  Vorgänge  zu  einer  besonderen 
Art  von  Vorgängen  besitzen,  nämlich  zu  den  mechanischen  Vor- 
gängen; denn  alle  Naturphänomene  sind  in  intimer  Weise  mit 
mechanischen  Vorgängen  verbunden;  so  dehnt  die  Wärme  die  Körper 
aus,  der  Schall  bewegt  ihre  Massen  pendelförmig,  der  Magnetismus 
läfst  sie  sich  anziehen  und  abstofsen  oder  indifferent  gegeneinander 
verhalten,  die  Elektrizität  wirkt  bewegend  auf  die  Massen,  und,  wenn 
eie  selbst  in  Bewegung  ist,  auf  benachbarte  Magnete.  Solche 
mechanische  Begleiterscheinungen  benutzt  die  Physik  als  gemein- 
sames Mafs  und  Vergleichsmittel  für  die  unseren  Sinnen  heterogen 
erscheinenden  Phänomene.  Alle  Naturvorgänge  werden  dadurch  dem 
Urteil  eines  einzigen  Sinnes,  nämlich  dem  Urteil  des  Gesichtssinnes 


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163 


unterworfen,  denn  die  mechanischen  Bewegungserscheinungen  fallen 
alle  in  den  Wahrnehmungsbereich  des  Gesichtssinnes.  Dadurch,  dafs 
wir  die  Naturvorgiinge  an  ihren  mechanischen  Wirkungen  studieren, 
liegen  die  Verhältnisse  in  zweifacher  Weise  recht  günstig,  nämlich 
erstens  sind  uns  die  meohanisohen  Fundamentalgesetze  von  Kindheit 
an  durch  unsere  körperlichen  Bewegungen  auf  das  innigste  vertraut, 
und  ferner  können  wir  durch  unsere  Tastorgane  die  mechanischen 
Bewegungen  kontrollieren. 

Die  physikalischen  Mefsinstrumente,  welche  die  mechanischen 
Begleitersoheinungen  anzeigen  und  zugleich  auch  messen,  sind  ihrem 
Zweck  entsprechend  vorwiegend  Dangen-,  Zeit-  und  Massenmefs- 
instrumente,  denn  Raum,  Zeit  und  Masse  sind  die  Gröfsen  — 
Dimensionen  — , deren  gegenseitige  Veränderlichkeit  die  Mechanik 
darstellt.  Ihre  Einheiten  sind  cm,  gr,  sec.  Diese  Instrumente  be- 
sitzen nicht  die  störenden  Fehler  unserer  Sinne.  Bei  ihnen  herrscht 
gesetzmäfsige,  mathematisch  ausdrüokbare  Beziehung  zwischen  Reiz 
und  Empfindung  oder,  wie  man  es  bei  ihnen  nennt,  zwischen  Be- 
lastung und  Ausschlag.  Die  gesetzmäfsige  Beziehung  zwischen  beiden 
herzuleiten,  ist  Aufgabe  der  Mechanik.  Diese  findet  solohe  Be- 
ziehungen, wie  z.  B.  das  Hebelgesetz  für  Massenmefsinstrumente  und 
das  Pendelgesetz  für  Zeitmefsinstrumente. 

Mit  diesen  Instrumenten  können  nun  die  mechanischen  Be- 
gleiterscheinungen der  Änderungen  der  verschiedenen  Energiearten 
gemessen  und  verglichen  werden.  Diese  Möglichkeit  ist  eine  der 
wichtigsten  Errungenschaften  der  modernen  Xaturerkennlnis  und  eine 
Hauptursache  des  Aufschwungs  der  Teohnik;  denn  nur  dadurch,  dafs 
für  alle  Energiearten  ein  gemeinsames  Mafs  gefunden  war,  konnte  die 
Technik  sie  vergleichen  und  rechnerisch  ihre  Änderungen  verfolgen. 

— Bei  Dampfmaschinen  findet  eine  Wandlung  von  Wärme  in 
mechanische  Energie  statt.  Die  mechanische  Energie  wird  praktisch 
gemessen  durch  Pferdekräfte.  Eine  Pferdekraft  ist  gleich  75  kg-m, 
d.  h.  gleich  einer  Kraft,  die  76  Kilogramm  in  einer  Sekunde 
einen  Meter  hoch  hebt.  Die  Wärmeenergie  wird  gemessen  durch 
Kilogramm-Kalorie  d.  h.  durch  jene  Wärmemenge,  die  ein  Liter 
Wasser  von  0°  auf  1°  erwärmt.  Dieser  Effekt,  die  Erwärmung  eines 
Liter  Wassers  von  0°  auf  1°,  kann  auch  durch  mechanische  Arbeit 

— das  Wasser  wird  gerührt,  dadurch  Reibung  und  Wärme  erzeugt  — 
erreicht  werden.  Die  gleiche  Temperatursteigerung  wird  in  beiden 
Fällen  durch  die  gleiche  Volumenvergröfserung  des  Quecksilbers  im 
Thermometer  gemessen.  Die  mechanische  Arbeit,  die  zu  obiger 

11* 


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Temperatur-Steigerung  notwendig  ist,  ist  gleiob  480,7  kg-m.  Man  setzt 
deshalb  1 kg-Kalorie  äquivalent  430,7  kg-m. 

Bei  einer  elektrischen  Strafsenbahn  treibt  eine  Dampfmaschine 
eine  Dynamomaschine;  diese  liefert  den  elektrischen  Strom,  den 
der  Strafsenbahnwagen  aus  dem  Leitungsdraht  entnimmt  und  in 
mechanische  Arbeit  umsetzt.  Hier  ist  also  Wandlung  von  Wärme  in 
mechanische,  von  mechanischer  in  elektrische  und  sohliefslioh  von 
elektrischer  in  mechanische  Energie  vorhanden.  Die  praktische  Ein- 
heit der  elektrischen  Stromarbeit  pro  Sekunde  ist  das  Volt-Ampere 
oder  Watt  Dies  ist  der  mechanische  Effekt  von  0,102  kg-m,  den  ein 
Strom  von  1 Ampere  Stromstärke  in  einem  Draht,  an  dessen  Enden 
die  Spannung  1 Volt  herrscht,  in  der  Sekunde  hervorbringt.  Ge- 
messen wird  der  Effekt  durch  die  Bewegung  eines  Magneten,  die 
durch  den  vorbeifliefsenden  elektrischen  Strom  veranlafst  wird.  Die 
Bewegung  des  Magneten  fordert  eine  ganz  bestimmte,  mefsbare, 
mechanische  Energie,  die  der  elektrischen  Stromenergie  äquivalent 

gesetzt  wird.  1 Volt-Ampere  = 0,102  kg-m  = *^^  =0,000  237  Kalorien. 

Die  Stärke  eines  elektrischen  Stromes  kann  an  seiner  Wärme- 
wirkung gemessen  werden;  die  in  einem  Stromkreis  erzeugte  Wärme 
ist  dem  Quadrat  der  Stromstärke  proportional;  die  erzeugte  Wärme 
mifst  man  an  der  Ausdehnung  des  erwärmten  Körpers  selbst,  oder 
an  der  Temperaturerhöhung  eines  diesen  Körper  umgebenden  Bades. 
Ferner  findet  man  in  der  chemischen  Wirkung  des  Stromes  noch  ein 
Mafs  für  seine  Stärke.  Das  Gewicht  des  pro  Sekunde  aus  einer 
bestimmten  Silbernitratlösung  durch  die  Wirkung  eines  Stromes  von 
1 Ampöre  Stärke  ausgeschiedenen  Silbers  dient  hier  als  Einheit 
(0,00  1118  gr).  Bei  chemischen  Prozessen  kann  man  die  entwickelte 
oder  absorbierte  Wärme,  die  sogenannte  Wärmetönung  in  Kalorien 
und  damit  in  Kilogramm-Metern  messen  und  so  als  Mafs  und  Vergleichs- 
mittel benutzen.  So  werden  Energiearten,  die  in  unserer  sinnlichen 
Empfindung  unvergleichbar  sind,  nach  gleichem  Mafs  gemessen.  Da- 
durch ist  man  z.  B.  in  der  Lage,  die  einer  Maschine  zugeführte 
Energie  mit  der  Arbeit  zu  vergleichen,  die  dio  Maschine  zu  leisten 
imstande  ist;  bei  der  Dampfmaschine  die  vom  Kesselwasser  aufge- 
nommene Wärme  mit  der  in  Pferdekräften  gemessenen  Arbeit,  die  die 
Maschine  ausführt.  Aus  beiden  berechnet  sich  die  durch  Strahlung 
und  Reibung  verlorene  Energie.  — Eine  Bogenlampe  verbraucht  etwa 
880  Watt  (16  Ampere,  65  Volt)  oder  0,21  kg-Kalorien.  Die  Licht- 
stärke ist  etwa  1600  Kerzen.  Ein  Gasbrenner,  der  etwa  0,22  kg- 


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165 


Kalorien  pro  Sekunde  verbraucht,  hat  nur  15  Kerzen  Stärke.I 2)  Die 
elektriaohe  Energie  zeigt  sich  hier  stark  überlegen. 

Dies  Messen  und  Vergleichen  der  Energie  ist  jedoch  nioht  die 
einzige  Leistung  der  physikalischen  Instrumente.  Ihre  grofse  Be- 
deutung liegt  auch  vor  allem  darin,  dafs  sie  den  Wahrnehmungs- 
bereicb  unserer  Sinne  erweitern,  indem  sie  den  Schwellenwert  des 
Reizes  herabmindern.  Beschränken  wir  unB  auf  den  Gesichtssinn, 
an  den  sieb  ja  die  Experimentalphysik  fast  ausschliefslich  wendet 
<selbst  bei  akustischen  Versuchen  vielfach),  so  haben  wir  von  einer 
dreifachen  Leistungsfähigkeit  unserer  Augen  bezw.  unserer  physi- 
kalischen Instrumente  zu  reden,  nämlich  von  der  Fähigkeit: 

1.  Lichtstärken  überhaupt  und  als  verschieden  zu  erkennen, 

2.  nahe  beieinander  liegende  Gröfsen  nooh  aisgetrennt  wabrzunebmen. 

3.  Farbentöne  zu  unterscheiden. 

Wir  werden  im  folgenden  sehen,  um  wieviel  die  Instrumente 
die  Leistungsfähigkeit  unserer  Augen  erhöhen. 

Eine  mechanische  Energie  von  10~8  erg,  gleich  ungefähr 

10-“  kg-m  oder  * I6  kg-m,  erhält  das  Auge  von  einem  Stern  8ter 

Gröfse,  der  eine  Helligkeit  von  etwa  Meterkerzen  besitzt,  die 

Helligkeit  einor  Kerze  in  10  Kilometer  Entfernung.  Dies  ist  das 
Minimum  von  Helligkeit,  das  ein  unbewaffnetes  Auge  wahrnehmen 
kann.  Die  Empßndlichkeit  des  Auges  ist  eine  ungeheure,  denn  der 
Energieflufs,  den  ein  Auge  mit  3 mm  Pupillenöffnung  von  einer  Kerze  in 
1 Meter  Entfernung  pro  Sekunde  empfängt,  ist  etwa  gleich  ein  erg  und 
müfste  etwa  ein  Jahr  und  89  Tage  fliefsen,  um  1 Gramm  Wasser  um 
1 0 Celsius  zu  erwärmen.3) 

Das  Fernrohr  erhöht  die  Leistungsfähigkeit  des  Auges  noch  be- 
deutend. Das  Fernrohr  kann  die  Helligkeit  eines  Sternes  vergrüfsern> 
während  die  seines  Hintergrundes  nioht  vergröfsert  wird,  sondern 
eventuell  (bei  Überschreitung  der  Norraalvergröfserung)  verringert 
wird;  so  hebt  sich  der  Stern  deutlicher  vom  Hintergrund  ab  und 
kann  mit  einem  grofsen  Fernrohr  eventuell  bei  Tage  gesehen  werden. 
Während  das  blofse  Auge  Sterne  bis  zur  6.  Gröfse  wahrnimmt  und 
deren  etwa  6000  zählen  kann,  macht  das  Fernrohr  im  ganzen  etwa 
30 — 40  Millionen  allein  stehender  Sterne  sichtbar  und  löst  Nebel- 

I ) Warburg,  Experimental-  hysik. 

J)  Drude,  Optik. 


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166 


flecken  in  Sternhaufen  auf,  deren  Licht  Jahrtausende  braucht,  um  bis 
zu  uns  zu  gelangen.  Die  photographische  Platte  nimmt  Sterne  bis 
zur  14.  Qröfse  wahr.  Viele  Sterne  ändern  mit  der  Zeit  ihre  Licht- 
stärke; diese  Zu-  oder  Abnahme  ihrer  Lichtintensität  läfst  sich  photo- 
metrisch bestimmen  und  daraus  ihre  Entfernung  berechnen.  Elin  In- 
strument, das  geringe  Intensitätsschwankungen  des  Sternenlichtes 
erkennen  läfst,  ist  hierzu  notwendig.  Im  Astrophotometer  besitzt  die 
Astronomie  ein  solches. 

Wie  uns  das  Fernrohr  in  immer  grössere  Tiefen  des  Weltalls 
trägt,  so  erschliefst  uns  das  Mikroskop  die  Welt  des  Kleinen.  Das 
unbewaffnete  Auge  erschaut  in  der  deutlichen  Sehweite,  25  cm  vom 
Auge  entfernt,  zwei  Punkte,  die  einen  Abstand  von  0,145  mm  besitzen, 
unter  einem  Winkel  von  2'.  Dies  ist  der  Grenzwinkel  der  bequemen 
Untorscheidbarkeit.  Punkte,  die  näher  zusammenliegen,  wird  das  Auge 
nicht  mehr  getrennt  wahrnehmen  können,  sondern  nur  als  einen 
einzigen  Punkt  erkennen.  Das  Linsensystem  unseres  Auges  ist  eben 
derart  gebaut  und  die  Verteilung  der  liohtempflndliohen  Elemente  unserer 
Netzhaut  eine  solche,  dafs  erst  bei  einem  Winkel  von  2'  zwei  ver- 
schiedene Elemente  der  Netzhaut  erregt  werden.  Dies  ist  aber  not- 
wendig, wenn  wir  die  zwei  Punkte  getrennt  sehen  sollen.  Das 
Mikroskop  ermöglicht  es  nun,  von  zwei  Punkten,  die  nur  0,00016  mm 
voneinander  entfernt  sind,  dem  Auge  ein  Bild  darzubieten,  in  dem  ihr 
Abstand  gleich  0,145  mm  also  unter  dem  Grenzwinkel  2'  erscheint, 
die  Punkte  also  getrennt  wahrgenommen  werden  können.  Die  Leistungs- 
fähigkeit des  Auges  ist  dadurch  um  das  900  fache  erhöht,  die  Mikro- 
struktur der  organischen  und  anorganischen  Gebilde  erkennbar  gemacht. 
Die  Erfolge  der  Bakteriologie  und  mikroskopischen  Anatomie  sind 
dadurch  möglich  geworden.  Ganz  nouerdings  ist  es  nun  gelungen, 
die  Leistungsfähigkeit  des  Mikroskups  nochmals  gewaltig  zu  erhöhen. 
Durch  besondere  Anordnung  der  Beleuchtung  können  noch  Bilder 
von  Teilchen  entworfen  werden,  deren  Durchmesser  kleiner  als  ein 
Hunderttausendstel  Millimeter  ist,  eine  Gröfse,  die  der  für  Moleküle 
berechneten  nahe  kommt.4)  Mit  dieser  neuen  Einrichtung  hat  man  fest- 
steilen  können,  dafs  Farbstoffe,  die  für  chemisch  reine  Farbstoffe  gelten, 
aus  zwei  oder  drei  Arten  von  verschiedenfarbigen  Teilchen  bestehen. 

Um  bei  einer  Grundfarbe  eine  Änderung  des  Farbentons  mit 
dem  Auge  wahrzunehmen,  mufs  man  die  Wellenlänge  bei  rot  um 
Viu,  bei  gelb  um  V771  ändern,  während  mit  Hilfe  eines  feinen  Gitters 

4)  Auf  der  letzten  Naturforscherversammlung  sind  darüber  Versuche 
von  Siedentopf  u.  Zsigmondy  angostollt  wordon. 


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von  einer  halben  Million  Strichen  und  eines  Spektralapparats  noch 
eine  Änderung  von  Vsoooo  der  Wellenlänge  erkennbar  gemacht  wird. 
Es  wird  ein  solcher  Apparat  also  zwei  Spcktrallinien  von  >.  und 

\ + goöoo  Wellenlänge  noch  getrennt  zeigen.  Eine  für  die  Spektral- 
analyse wichtige  Tatsache. 

Der  Spektralapparat  zerlegt  die  Mischfarben  in  ihre  Grundfarben; 
dies  ist  eine  Leistung,  die  das  blofse  Auge  nicht  auszuführen  im- 
stande ist.  Das  Ohr  kann  Töne  verschiedener  Wellenlänge,  die  in 
einen  Klang  zusammentönen,  wie  beim  Orchester,  und  gleichzeitig  das 
Trommelfell  treffen,  einzeln  wahrnebmen.  Das  Ohr  zerlegt  den  Klang 
in  seine  einzelnen  Töne,  die  Luftwelle  in  ihre  Einzelschwingungen, 
wie  man  mathematisch  eine  nichtpendelartige  Schwingung  nach  dem 
Fourriersoben  Satze  in  eine  Reihe  von  pendelartigen  zerlegon 
kann.  Das  Auge  besitzt  für  Licht  verschiedener  WTellen)änge  keine 
entsprechende  Fähigkeit  und  sieht  deshalb  einen  glühenden  Körper, 
der  mehrere  Spektralfarben  aussendet,  in  einer  einzigen  Mischfarbe, 
z.  B.  die  Sonne  weife.  Der  Spektralapparat  zerlegt  die  Mischfarben 
in  die  Farben  jener  Wellenlänge,  die  der  leuchtende  Körper  aus- 
sendet,  und  gibt  damit  oin  Mittel  an  die  Hand,  von  der  Art  des  aus- 
gesandten Lichtes  auf  die  Natur  des  Körpers  zu  schliefsen ; denn 
jeder  Körper,  der  im  Spektralapparat  zum  Verdampfen  und  Leuohten 
gebracht  wird,  sendet  seiner  chemisohen  Konstitution  entsprechend 
Licht  ganz  bestimmter  Wellenlänge  aus,  das  im  Spektralapparat  sich 
als  eine  Reihe  ganz  bestimmter  Lichtlinien  zu  erkennen  gibt.  Darauf 
beruht  die  Methode  der  Spetralanalyse,  die  uns  die  chemisohe  Kon- 
stitution der  Erd-  und  Himmelskörper  erkennen  läfst. 

Aufserdem  gibt  uns  das  Spektrum  eines  leuohtendcn  Körpers 
noch  Aufschlufs  Uber  seinen  Bewegungszustand  Denn  wie  auf  ein 
Schiff,  das  stromaufwärts  fährt,  mehr  Stromwellen  in  der  Zeiteinheit 
treffen,  als  wenn  es  verankert  ruht,  und  wie  ein  Ton  höher  klingt, 
wenn  man  sich  ihm  entgegen  bewegt,  oder  was  im  selben  Sinne  wirkt, 
die  Tonquelle  dem  Ohre  nähert  (z.  B.  eine  im  Fahren  pfeifende  Loko- 
motive), weil  dann  mehr  Wellen  in  der  Zeiteinheit  auf  das  Ohr  treffen, 
so  mufs  auch  ein  Körper  höher,  d.  b.  violetter  leuchten,  wenn  er  sich 
uns  nähert,  als  wenn  er  ruht,  weil  dann  mehr  Lichtwellen  in  der 
Zeiteinheit  auf  unser  Auge  treffen.  In  der  Sprache  der  Spektralanalyse 
heifst  dies,  es  müssen  sich  seine  Spektrallinien  nach  rechts  (violett) 
oder  nach  links  (rot)  verschieben,  je  nachdem  er  sich  nähert  oder  ent- 
fernt. Die  Grösse  der  Verschiebung  einer  bestimmten  Linie,  z.  B.  der 


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dunkeln  Wasserstofflinie  des  Fixsterns  Sirius,  ist  mefsbar,  indem  man 
das  Spektrum  des  Sirius  mit  dem  eines  ruhenden,  Wasserstoff  ent- 
haltenden, leuchtenden  Körpers  vergleicht.  Aus  dieser  Grösse  lässt 
sioh  die  Vergriifserung  bezw.  Verminderung  der  Entfernung  zwischen 
Fixstern  und  Erde  bereohnen.  Für  den  Sirius  ergab  sioh,  dafs  der 
Abstand  zwischen  ihm  und  der  Erde  sich  in  jeder  Sekunde  um 
9 Meilen  vergröfsert. 

Die  Leistungsfähigkeit  anderer  physikalischer  Instrumente  steh  t 
den  hier  angeführten  in  keiner  Weise  nach.  Wie  z.  B.  die  Wage  und 
das  Barometer  (Manometer,  Drucklibellen)  Massen  und  Drucke,  dass; 
elektrische  Thermometer  Temperaturen  tausendmal  besser  mifst  als 
wir  mit  unseren  Organen,  das  sind  allbekannte  Tatsachen. 

Mit  solchen  die  Sinne  erweiternden  Instrumenten,  mit  Hilfe  der* 
mechanischen  Beobachtungsmethode  und  der  mathematischen  Aus- 
wertung ihrer  Resultate  ergibt  sich  die  überraschende  Tatsache,  dals 
Vorgänge,  die  dem  naiven  Beschauer  qualitativ  verschieden  erscheinen, 
sich  als  wesensgleich  erweisen.  So  sind  Wärmestrahlung,  Licht-  und 
elektrische  Strahlung  nicht  blofs  vergleichbar,  sondern  Erscheinungen 
ganz  derselben  Art,  nämlich  Ätherschwingungen. 

Die  Moleküle  eines  Körpers  sind  in  steter  Bewegung;  steigt  die 
Intensität  dieser  Molekularbewegung,  so  steigt  für  unser  Gefühl  die 
Temperatur  des  Körpers.  Was  wir  wahrnehmen,  ist  das  Summations- 
phänomen der  einzelnen  Pendelschwingungen,  der  einzelnen  Stöfse 
der  Moleküle.  Durch  die  heftige  Bewegung  der  Moleküle  wird  der 
den  Körper  durchdringende  und  umgebende  Äther  in  Mitleidenschaft 
gezogen,  der  Äther  gerät  auch  in  Bewegung,  und  nach  allen  Seiten 
hin  pflanzt  sich  diese  Störung  des  Gleichgewichtszustandes  des  Äthers 
wellenförmig  fort;  wir  sagen,  der  Körper  strahlt  Wärme  aus.  Die 
Länge  dieser  Ätherwellen  ist  kleiner  als  0,062  mm.  Wird  der  Körper 
wärmer  und  wärmer,  d.  h.  seine  Molekularschwingung  heftiger,  so 
ändert  sich  auch  die  Sohwingung  des  mitleidonden  Äthers.  Die 
Schwingungen  desselben  erfolgen  rascher,  die  Wellen,  die  diesen  Zustand 
nach  allen  Seiten  hin  fortpflanzen,  werden  kürzer.  Ist  seine  Schwingungs- 
zahl bis  auf  400  Billionen  gewachsen,  oder  beträgt  die  Welllenlänge 
nur  mehr  0,00075  mm,  so  wird  die  Retina  unseres  Auges  von  diesen 
Wellen,  wenn  sie  darauf  treffen,  erregt.  Wir  haben  eine  Licht- 
empflndung,  wir  sagen,  der  Körper  glüht,  er  leuchtet  rot.  Wird  die 
Schwingungszahl  noch  grösser,  und  dadurch  die  Wellenlänge  noch 
kleiner,  so  treten  die  Spektralfarben  nacheinander  auf,  vom  rot  bis 
/um  violett,  wo  sie  0,00037  mm  beträgt.  Wird  die  Wellenlänge  noch 


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kleiner,  so  wird  unser  Auge  davon  nicht  mehr  afflziert;  es  sind  die 
ultravioletten,  die  Radium-  und  Röntgenslrahlon,  die  nur  durch  die 
photographische  Platte  und  durch  Fluorescenzerscheinungen  wahr- 
genommen werden  können.  Die  Wellenlänge  der  Röntgenstrahlen 
soll  noch  1000  mal5)  kleiner  als  die  der  ultravioletten  sein,  so 
klein,  dar»  selbst  Metalle  und  Holz  sich  ihnen  gegenüber  wie  ein 
Sieb  verhalten.  Ebensowenig  sind  Ätherwellen,  die  länger  als 
0,062  mm  sind,  für  unsere  Sinne  wahrnehmbar.  Es  gibt  solche 
Wellen;  ihre  Länge  liegt  zwischen  6 mm  und  mehreren  Kilometern. 
Es  sind  dies  die  elektrischen  Wellen,  wie  sie  bei  der  Telegraphie 
ohne  Draht  benutzt  werden.  Sie  gehen  duroh  unsem  ganzen  Körper 
hindurch,  ohne  dafs  wir  das  Geringste  wahrnehmen.  Das  Intervall 
zwischen  Wärmewellen  (0,06  mm)  und  elektrischen  Wellen  (6  mm) 
galt  lange  als  unausgefiillt.  Die  neuerdings  von  Blondlot6)  ent- 
deckten Nancy-Strahlen  liegen  ihrer  Wellenlänge  naoh  in  diesem 
Intervall  (zwischen  0,06  und  6 mm).  Es  sind  Strahlen,  die  auch  im 
Sonnenlicht  enthalten  sind,  dem  Auge  aber  unsichtbar  bleiben.  Sie 
vermögen  Holz  und  dünnes  Metallblech  zu  durohdringen,  Glas  und 
W asser  dagegen  nicht 

Alle  diese  Strahlen,  ob  wir  sie  Iiadium-,  X-,  Lioht-,  Wärme-, 
Nancy-,  elektrische  Strahlen  nennen,  bestehen  aus  Ätherwellen, 
die  sich  nur  durch  ihre  Länge  unterscheiden.  Was  unser  Auge  wahr- 
nimmt ist  nur  der  allergeringste  Teil  dieser  Strahlen.  Sehen  wir 
selbst  von  den  elektrischen,  Nancy-,  Radium-  und  Röntgenstrahlen 
ab;  von  einem  glühenden  Körper  werden  Wellen  von  0,00  019  bis 
0,061 1 mm  ausgesandt,  also,  um  in  einem  Bilde  der  Akustik  zu  sprechen, 
8,3  Oktaven,  von  denen  unser  Auge  nur  eine  Oktave,  rot  bis  violett 
wahrnimmt  Die  ultraroten  Strahlen  erregen  die  Netzhaut  nioht,  die 
ultravioletten  gelangen  für  gewöhnlich  gar  nicht  bis  zur  Netzhaut;  sie 
werden  vorher  duroh  die  Augenmedien  absorbiert  Das  Ohr  ist 
günstiger  gestellt,  die  Musik  benutzt  etwa  7 Oktaven.  C„  der  grofsen 
Orgel  besitzt  etwa  16,  und  die  Piccoloflöte  hat  Töne  von  4752 
Schwingungen.  Töne,  die  höher  oder  tiefer  liegen,  mehr  oder  weniger 
Schwingungen  haben,  werden  in  der  Musik  nicht  verwendet;  wahr- 
nehmen können  wir  für  gewöhnlich  solche  von  etwa  8 — 40  000 
Schwingungen.  Dort  sind  die  Grenzen,  die  die  Leistungsfähigkeit 

')  Wiedemanns  Annalen  der  Physik,  1903. 

“)  Comptcs  rendus  1903.  Die  Ansichten  über  die  Existenz  der  Blandlot- 
Strahlen  sind  noch  nicht  geklärt  (Amn.  der  Redaktion.) 


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unseres  Ohres  beschränken.  Darüber  hinaus  nehmen  wir  mit  dom 
Ohr  nichts  mehr  wahr. 

Die  Äther-  und  Luftschwingungen  sind  die  Boten,  die  Kunde 
bringen  vom  Weltgeschehen.  Was  uns  die  Sinne  mit  Hilfe  dieser 
Schwingungen  von  den  Formen,  Farben  und  Tönen  der  Welt  erzählen, 
sind  nur  Ausschnitte  von  dem,  was  wirklich  ist  und  geschieht.  Die 
Physik  ist  es,  die  diese  Segmente  zu  erweitern,  zu  einem  einheit- 
lichen Ganzen  zu  ergänzen  sucht. 

Fassen  wir  zum  Schlufs  kurz  den  bisherigen  Gedaukengang 
zusammen. 

Die  Kenntnis  von  dem  aufserhalb  unseres  Bewufstseins  statt- 
findenden Weltgeschehen,  von  der  Wanderung  und  W'andelung  der 
Energie  erhalten  wir  durch  das  Tor  unserer  Sinne.  Die  qualitativ 
verschiedenen  Empfindungen,  die  uns  die  Sinne  liefern,  sind  weder 
untereinander  vergleichbar,  nooh  ist  uns  zwisohen  Reiz  und  Emp- 
findung ein  und  desselben  Sinnes  eine  quantitative,  mathematisch 
ausdrüokbare  Gesetzmäfsigkeit  bekannt.  Die  Physik  beobachtet  die 
mechanischen  Begleiterscheinungen  der  Naturphänomene  und  findet 
darin  eine  Methode  und  ein  Mafs,  auch  qualitativ  Verschiedenes 
zu  vergleichen  und  zu  messen.  Die  Instrumente,  die  Bie  zu  ihren 
Messungen  braucht,  besitzen  mathematisch  ausdrüokbare  Beziehungen 
zwischen  Belastung  und  Ausschlag.  Diese  Beziehungen  sucht  und 
findet  die  mathematische  Physik,  die  Mechanik.  Die  Instrumente 
erweitern  den  Wahrnehmungsbereicb  der  Sinne.  (Fernrohr,  Mikro- 
skop, Spektralapparat.) 

Die  Verfolgung  der  Naturvorgänge  mit  solchen  Instrumenten  und 
mit  mathematischen  Hilfsmitteln  führen  zu  der  Einsicht,  dafs  das,  was 
den  Sinnen  qualitativ  verschieden  erscheint,  nicht  nur  vergleichbar  ist, 
sondern  sogar  wesensgleich  sein  kann  z.  B.  Licht  und  Wärme. 

So  entkleidet  die  Physik  das  naive  W’eltbild  langsam  seines 
sinnenfälligen,  bunten  Schmuckes,  vergleicht  Unvergleichbares,  löst 
Heterogenes  in  Ähnliches  oder  gar  Gleiches  auf;  findet  mathematische 
Formeln,  nach  denen  scheinbar  weit  voneinander  Liegendes  sich 
regelt,  wie  das  Massenanziehungsgesetz,  das  Tür  Himmelskörper  so 
gut  wie  für  elektrische  und  magnetische  Massen  gilt.  Der  wirre 
Zauber  der  kaleidoskopartig  wechselnden  Sinnenwelt  weicht  unerbitt- 
licher Gesetzmäfsigkeit.  Grofse,  alle  Erscheinungen  beherrschende 
Weltgesetze,  wie  die  von  der  Erhaltung  der  Materie  und  der  Energie, 
erheben  sich  wie  ruhende  Pole  in  der  Erscheinungen  Flucht,  deuten 
auf  einheitliche  Konstruktion  des  W’eltganzen  und  auf  ewige  Dauer. 


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Im  Reiche  des  Äolus. 

Von  llr.  Alexander  Rumpelt -Taormina 

426  vor  Chr.  machen  die  Athener  von  Rhegion  an  der  Meerenge 
von  Messina  aus  den  vergeblichen  Versuch,  Lipara  zu  erobern. 

260  vor  C'hr.  im  Anfang  des  ersten  Punisehen  Krieges  wird  der 
Konsul  Cornelius  Scipio  mit  siebzehn  Schiffen  im  Hafen  von  Lipara 
von  den  Karthagern  gefangen  genommen. 

Diese  Daten  mufs  der  Primaner  wissen,  wenn  er  das  Maturitäts- 
examen bestehen  will. 

Dafs  der  Stromboli  einer  der  wenigen  tätigen  Vulkane  Europas 
ist,  braucht  er  nicht  gelernt  zu  haben. 

Der  Kaufmann  weifs  noch,  dafs  von  den  Liparischen  Inseln  die 
besten  Kapern,  der  beste  Malvasier  und  Bimsstein  kommt. 

Damit  erschöpft  sich  so  ziemlich  die  Kenntnis  des  Mitteleuropas™ 
von  diesen  Insein.  Der  Durchschnittsreisende,  der  Italien  gewöhn- 
lich in  wenigen  Wochen  abhetzt,  hat  weder  Zeit  noch  Lust,  Bie  zu 
besuohen.  Er  erblickt  sie  nur  aus  der  Ferne,  von  der  Nordküste 
Siziliens  oder  auf  der  Fahrt  von  Neapel  naoh  Messina,  Wie  ein  in 
der  Mitte  abgescimittener  Zuckerhut  ragt  aus  dem  offenen  Meer  der 
Stromboli,  — 921  m hoch  — eine  wunderbare  Erscheinung.  Noch 
seltsamer  wirkte  es  auf  mich,  als  ich  vor  Jahren,  in  den  Gebirgen  um 
Palermo  streifend,  auf  einmal  ganz  weit  draufsen  im  Meer  zwei  Ge- 
bilde entdeckte,  beide  nebeneinander  von  der  Form  eineB  umge- 
stürzten Asches.  Wenn  ich  oft  die  merkwürdigsten  Wolkenfornm- 
tionen  beobachtet  hatte  — ein  Hauptreiz  dieser  südiiohen  Küsten  — , 
das  konnten  keine  Wolken  sein.  Und  richtig,  Kompafs  und  Karte 
auf  die  beiden  Silhouetten  eingestellt,  belehrten  mich:  es  waren  die 
Inseln  Alicuri,  668  in,  und  Filicuri,  773  m hoch,  die,  nicht  weniger  als 
16  geographische  Meilen  von  mir  entfernt,  aus  dem  äufsereten  Meer 
aufstiegen. 

Die  Äolischen  oder  Liparisohen  Insein  sind  durchweg  vulkanisch, 
und  daher  bilden  den  Hauptteil  der  Besucher  die  Geologen,  die  mit 


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dem  Spitzhammer  überall  loehauen  und  wühlen  und  klopfen  und 
ganze  Säcke  voll  der  verschiedensten  Gesteine  mit  fortnehmen.  Aber 
auch  für  den  Laien,  der  ein  wenig  Sinn  für  poetisohe  Sage  und  alte 
Geschichte  übrig  behalten  hat,  lohnt  siob  ein  Besuch  dieser  land- 
schaftlich herrlichen,  mit  einem  köstliohen  Klima  gesegneten  Eilande. 
Läfst  er  sich  durch  die  etwas  mangelhafte  Unterkunft  und  Verpflegung 
den  Humor  nicht  verderben  und  ist  er  genug  Philosoph  und  Psycho- 
log, um  sich  an  den  Qalgengesichtern,  die  ihm  in  der  Verbrecherkolonie 
Lipari  auf  Schritt  und  Tritt  begegnen,  nicht  zu  stofsen,  so  wird  er 
von  diesem  Ausflug  einen  kostbaren  Schatz  ganz  eigenartiger  Erinne- 
rungen nach  Hause  tragen. 

Wie  gelangt  man  ins  Reich  des  Äolus? 

Im  Hinblick  auf  den  geringen  Post-  und  Frachtverkehr  sind  die 
Verbindungen  keineswegs  ungünstig.  Dreimal  in  der  Woche  geht 
mitternachts  der  mittelgrofse  Dampfer  „Coreica“  von  Messina  nach 
Lipari,  besucht  abwechselnd  einige  andere  Inseln  und  kehrt  denselben 
Tag  zurüok.  Da  ich  meine  Nachtruhe  nicht  unnötigerweise  opfern 
wollte,  zog  ich  es  vor,  den  kleinen  Postdampfer  zu  benutzen,  der  täglich 
zwischen  Milazzo  und  Lipari  hin-  und  herfährt.  Milazzo  erreioht  der 
Schnellzug  von  Messina  in  einer  Stunde. 

An  einem  frischen  Aprilmorgen  des  Jahres  1903  stach  ioh  in 
See.  Die  beleidigend  nüchterne  Hafenstrafse  mit  dem  gewaltigen 
spanischen  Kastell  darüber,  der  Friedhof  mit  seinen  scbmuoken  Toten- 
häuschen ziehen  rasch  vorüber.  Beinahe  eine  halbe  Stunde  gleitet 
dann  das  Sohiffchen  an  den  Ölhainen  der  langen  Landzunge  von 
Milazzo  hin,  von  deren  Höhen  die  Villen  reicher  Kaufherren  übers 
Meer  hinausblicken. 

Originell  war  das  Fahrkartenlösen.  Kaum  hatten  wir  den  Hafen 
verlassen,  so  rief  einer:  Far  i biglietti!  Sämtliohe  sieben  Passagiere 
begaben  sich  zum  Schalter  und  nahmen  ihre  Karten.  Naoh  fünf 
Minuten  kam  derselbe  Rufer  mit  der  Zange,  knipste  und  behielt  die 
Karten.  Die  reine  Aufmunterung  zum  .Schwarzfahren“,  diese  Art 
Kontrolle! 

Am  äufsersten  Ende  der  Landzunge  grüfst  aus  dunklen  Oliven 
der  kalkweifse  Leuchtturm  von  der  Klippe  nieder.  Das  Schiff  biegt 
um  das  Kap  herum,  und  schon  treten  die  beiden  nächsten  Inseln, 
Vulcano  und  Lipari,  in  ihrer  ganzen  Breite  hervor,  durch  eine  schmale 
Wasserstrafse,  die  Bocche  di  Vulcano,  geschieden.  Auf  einem  der 
eisernen  Ankerhalter  vorn  am  Bug  sitzend,  lafs'  ich  mioh  nach  langer 
Pause  wieder  einmal  auf  dem  Meer  wiegen  und  halte  fleifsig  Umschau. 


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Hinter  mir  bleibt  im  weiten  Umkreis  die  Küste  Siziliens  zurück,  von 
den  Nebroden  bei  Messina  bis  zu  den  Madoniden  bei  Termini  Im 
Norden  aber  steigen  aus  dem  Seedunst  allmählich  Panaria  und  Strom- 
boli, dazwischen  der  kleine  Felsen  Basiluzzo  klar  empor.  Uber  dem 
östlichen  Kap  von  Lipari,  der  Doppelkuppe  des  Monte  Rosa,  schimmert 
es  in  der  Morgeosonne  grellweifs  auf  — das  sind  die  beiden  Bims- 
steinberge. Nicht  lange,  so  nähern  wir  uns  Vulcano.  Moosgrüne 
Hänge  wechseln  mit  rosenroter  Lava  — der  erste  der  vielen  Farben- 
effekte, die  mich  auf  diesen  Inseln  erwarteten.  Aber  bald  weicht  das 
karge  Grün  einer  gänzlich  vegetationslosen,  sohwarzgrauen  Lava; 
überall  lange,  öde  Sohuttrinnen,  wildzerklüftele  Felsenabstürze.  Da 
der  Hauptkrater,  starr,  klobig,  düster  drohend.  Dio  kleine  Gruppe 
des  Vulcanello  daneben  zeichnet  sioh  in  elegant  geschwungener  Linie 
gegen  den  Himmel  ab.  Im  Hintergrund  tauchen  einsame  Klippen 
auL  die  höchste  ein  leibhaftiger  Doppelgänger  des  grofsen  Faraglione 
von  Capri. 

Nach  zweistündiger  Fahrt  gliedert  sioh  die  weifse  Steinmasse, 
auf  die  wir  zusteuern,  zu  Häusern  und  Türmen.  Sie  wird  überragt  von 
einem  breiten,  scheinbar  unnahbaren,  grauen  Felsen  mit  den  Ruinen 
einer  grofsen  Festung,  dem  „castello“.  Ich  schlug  meinen  Ilomer  auf, 
X.  Gesang:  Odysseus  erzählt  den  Phäaken  seine  Begegnung  mit  dem 
Windgott,  der  nach  der  Meinung  der  Alten  (Diodor)  auf  den  Äolischen 
Inseln1)  hauste. 

Eine  echt  komische  Figur,  dieser  Alte:  halb  Dämon,  halb  Iosel- 
könig,  der  in  seinem  Palast  mit  seiner  Frau  und  seinen  zwölf  Kindern 
bei  Flötenmusik  immerfort  schmaust,  -tausend  köstliche  Speisen",  und 
nur  zuweilen  seine  Windgeschäfte  erledigt,  indem  er  diesen  oder  jenen 
losläfst  und  den,  der  gerade  weht,  wieder  in  den  Sack  steckt.  Von 
der  Schulbank  her  haftet  wohl  nooh  manchem  im  Gedächtnis,  wie 
Odysseus  dann  vom  Westwind  getrieben  — die  anderen  Winde  steckten 
im  Schlauch  — nach  neun  Tagen  endlich  die  Wachtfouer  von  lthaka 
wiedersieht,  aber  ermattet  von  der  langen  Mühe  einschläft.  Da  öffnen 
seine  vorwitzigen  Gefährten  den  geheimnisvollen  Schlauch.  Und  im 
Nu  entsausen  die  Winde,  dos  Schiff  wird  wieder  ins  » Weltmeer"  ge- 
trieben, zurück  nach  Lipari  (Äolia).  Odysseus  will  um  einen  neuen 
guten  Wind  bitten,  aber  des  prächtigen  Alten  Geduld  ist  zu  Ende: 
Hebe  Dich  eilig  hinweg  von  der  Insel,  Du  ärgster  der 

Menschen! 

’)  Strabo  verlegt  den  eigentlichen  Sitz  des  Aolus  auf  Strongyie 
(Stromboli). 


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174 


Es  wird  ewig  bewundernswert  bleiben,  wie  Homer  in  seiner 
kindlich-naiven  Weise  verstanden  hat,  ein  so  trauriges  Begebnis,  wie 
das  nochmalige  Versohlagen  werden  von  der  Heimat,  ein  so  furcht- 
bares Eleinentarereignis,  wie  den  Schirokkosturm  auf  offenem  Meer, 
mit  der  Würze  feinsten  Humors  zu  durcbtränken. 

Ist  Homer  nicht  vielleicht  selbst  in  jungen  Jahren  hier  gewesen, 
hat  hier  einen  originellen  Inselkönig  da  oben  auf  seiner  stattlichen 
Burg  hausen  sehen,  hat  die  Mythe  vom  Äolus,  der  hier  vielleicht 
göttlich  verehrt  wurde,  gehört,  und  als  er  dann  im  reifen  Alter  die 
.Odyssee"  dichtete,  schlossen  sich  jene  Eindrücke:  die  wie  Stahl  in 
der  Sonne  schimmernden,  glatt  abfallenden  Bimssteinwände  und  das 
hohe  Felsenschlofs  in  seiner  Phantasie  zur  blinkenden  Burg  des 
Äolus  zusammen.  Wenn  die  älteste  Griechenkolonie  auf  Sizilien, 
Naxos,  erst  751  v.  Chr.  gegründet  wurde,  so  bestand  doch  Jahrhun- 
derte zuvor  schon  ein  eifriger  Seeverkehr  mit  dem  fernen  Westen. 
Beweis:  Das  etwa  1000  v.  Chr.  angelegte  Cumae  bei  Neapel  und  die 
Erwägung,  dafs  einem  so  gewichtigen  Schritt  wie  der  Auswanderung 
einer  nach  vielen  Hunderten  zählenden  Menschenmenge  und  ihrer 
endgültigen  Niederlassung  im  Barbarenlande  eine  langjährige,  genaue 
Erforschung  der  zu  besiedelnden  Örtlichkeit  vorausgehen  mufste. 
Homer  flicht  seinem  Epos  mit  Vorliebe  gerade  in  Sizilien  lokalisierte 
Sagen  ein,  z.  B.  die  von  den  Cyklopen,  von  Scylla  und  Charybdis,  er 
gibt  gerade  die  siziÜBohe  Landschaft  in  so  treuen  Bildern  wieder,  dafs 
ich  für  meine  Person  nicht  daran  zweifle,  dafs  er  die  Insel  mit  eigenen 
Augen  gesehen  hat. 

* • 

Aus  dieser  Versenkung  ins  graue  Altertum  rief  mich  die  pfeifende 
Sirene  in  die  Gegenwart  zurück.  Das  SchiCT  stoppte.  Eine  Barke 
führte  mich  ans  Land.  Um  des  ewigen  Ärgers  mit  den  Gepäck- 
trägern überhoben  zu  sein,  nahm  ich  meinen  Bucksaok  selbst  auf 
die  Sohultem  und  bahnte  mir  mit  dem  Stock  einen  Weg  durch  die 
gaffende  Menge. 

Wie  freute  ich  mich,  im  Gasthof  des  Don  Franoesoo  Traina 
einen  Teil  des  Werkes:  .Die  Äolischen  Inseln“,  von  Prof.  Alfred 
Bergeat  vorzufinden.  Dann  brachte  der  Wirt  stolzen  Blickes  auch 
die  Photographie  dieses  seines  „amico“  herbei,  der  vor  Jahren  lange 
Zeit  bei  ihm  gewohnt  habe.  Wie  ein  Grufs  aus  der  fernen  Heimat 
berührte  mich  das  unternehmungslustige,  jugendfrische,  echt  deutsche 
Antlitz. 


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176 


Ich  spazierte  durch  die  etwas  altmodisch  gepflasterten,  aber 
sauber  gehaltenen  Strafsen  und  freute  mich  an  dem  Wohlstand,  der 
aus  den  schmuoken  Häusern,  den  freundlichen  Kirohen  zu  mir  sprach. 
Nur  wunderte  ioh  mich,  an  Denkmälern  weder  den  üblichen  Gari- 
baldi, noch  Viktor  Emanuel  oder  Humbert  I.  vorzufinden,  son- 
dern nur  den  heiligen  Bartholomäus.  Ihm  ist  am  Hafen  aus  weifsem 
Marmor  ein  Standbild  erriohtet  vom  Ordo  populusque  Lipareensis, 
also  vom  Domkapitel  und  Volk  von  Lipari,  und  zwar,  so  lautet  die 
klerikal-demokratische  Inschrift  weiter,  weil  dieser  ihr  stets  gegen- 
wärtiger (praesentissimusl)  Patron  die  Äolischen  Inseln  1864  vor  der 
lues  asiatica,  der  Cholera,  sicher  beschützt  habe,  die  damals  bekannt- 
lich im  nahen  Sizilien  wütete.  Als  ich  dann  auf  einem  hochgelegenen 
Platz  ein  palastähnliches  Gebäude  in  gotischem  Stil  bewunderte,  ge- 
sellte sioh  ein  Herr  zu  mir,  der  mir  bedeutete,  das  sei  das  Sohulhaus 
(man  vernahm  auoh  laut  deklamierende  Kinderstimmen  aus  dem 
Innern).  Auf  meine  Frage,  warum  es  statt  der  Fenster  Bretterver- 
schläge habe,  antwortete  er  mir,  die  Gemeinde  habe  kein  Geld  mehr, 
diesen  Palazzo  fertig  zu  bauen.  Das  liefe  nun  allerdings  auf  eine 
heillose  Finanzwirtschaft  schliefsen.  Dieses  Haus  schätzte  ich  auf 
wenigstens  100  000  Lire,  und  jetzt  langte  es  nicht  einmal  mehr  zu 
den  Fensterscheiben. 

Don  Giovanni  erbot  sioh,  mich  aufs  Kastell  zu  begleiten. 
Durch  mehrere  Tore  an  patrouillierenden  Wachen  vorbei  geht  es 
aufwärts,  dann  durch  eine  Kaserne  in  ein  Gewirr  von  engen,  finsteren 
Gassen.  Die  Kaserne  sperrt  die  Verbrecherkolonie  von  der  Aufsen- 
welt  ab.  Ich  hatte  Gelegenheit,  in  einen  der  seohzehn  grofsen  Säle 
(cameroni)  zu  blicken,  in  denen  die  achthundert  Verbannten  sohlafen 
und  hausen:  zwei  lange  Reihen  ärmlicher  Betten  einander  gegenüber 
in  einem  stallähnlichen,  sohlecht  beleuchteten  Raum  von  dürftigster 
Ausstattung.  Die  Ordnung  ist  sehr  streng.  Zwar  dürfen  die  „ooatti“ 
aufser  an  Bonn-  und  Feiertagen  morgens  von  aoht  bis  zwölf  Uhr  und 
dann  wieder  bis  zum  Trompetensignal  gegen  Abend  in  der  Stadt  sich 
aufbalten,  diese  aber  nicht  verlassen,  auch  dürfen  sie  keine  Stöoke  oder 
Messer  bei  sich  tragen,  keine  Versammlungen  oder  Unterhaltungen 
besuchen.  Eine  Stunde  vor  Ave  Maria,  d.  h.  im  Winter  schon  vor 
vier  Uhr,  werden  die  Gefangenensäle  geschlossen.  Die  kleinsten  Ver- 
gehen werden  mit  wochenlangem  Arrest,  schwerere  mit  Isolier-  und 
Dunkelzelle,  Zwangsjacke  (camicia  di  forza)  und  Ketten  bestraft.  Zum 
Mittagsappell  müssen  sie  sich  alle  im  Kastell  einfinden  und  erhalten  vom 
Staat  die  massettu,  das  tägliche  Zehrgeld  in  Höhe  von  fünfzig  Centesimi. 


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176 


Auoh  andere  Staaten  haben  ja  die  Zwange  Verschickung.  Rufs  - 
land hat  sein  Sibirien  und  die  Insel  Saohalin,  auf  der  allein  30  000 
gemeingefährliche  Individuen  zum  Heile  der  Gesamtheit  isoliert  sind, 
Frankreich  hat  sein  Cayenne.  So  wird  man  es  dem  italienischen 
Staat,  der  an  so  sohweren  sozialen  Schäden  wie  Cammorra,  Mafia, 
Anarchismus  krankt,  nioht  verargen  dürfen,  wenn  er  seine  schlimmen 
Elemente  in  ähnlicher  Weise  unschädlich  zu  machen  sucht.  Dafs  er 
dazu  in  Nachahmung  des  aitrömisohen  Vorbildes  seine  Inseln  benutzt, 
wird  man  begreifen,  wenn  schon  bedauern,  dafs  landBohaftlioh  so 
schöne  und  interessante  Punkte,  wie  die  Liparischen,  die  Ägadischen 
und  namentlich  die  Ponza-Inseln  dadurch  vom  Besuch  der  reise- 
lustigen Menschheit  beinahe  ausgeschlossen  werden.  Auch  leiden 
natürlich  die  Bewohner  der  Strafkolonien.  In  Lipari  sind  die  ooatti 
verhafst  und  gefürchtet,  die  Weiber  nennen  sie  verächtlich  sterrati  (die 
Entwurzelten).  Von  ihren  zehn  Soldi  täglioh  können  sie  kaum  leben. 
So  ereignen  sioh  oft  Diebstähle  und  Verbrechen  wider  die  Person. 

Was  an  dem  gegenwärtigen  System  des  domicilio  coatto  mit 
Recht  getadelt  wird,  ist  folgendes: 

1.  wird  cs  nioht  duroh  richterliches  Urteil,  sondern  duroh  Ver- 
fügung der  Verwaltungsbehörde  verhängt  und  zwar  nach 
Verbüfsung  der  längeren  oder  kürzeren  Freiheitsstrafe.  Da- 
durch wird  besonders  politischen  Verbrechern  gegenüber  der 
Willkür  Tor  und  Tür  geöffnet; 

2.  besieht  kein  Arbeitszwang.  So  werden  diese  Hunderte  ver- 
lorener Existenzen  im  Müfsigang  bestärkt,  die  noch  nicht 
ganz  verdorbenen  in  der  Tat  dazu  erzogen.  Diese  gehen 
überdies  bei  dem  jahrelangen,  engen  Zusammenleben  mit 
schlimmen  und  sohlimmsten  Elementen  hier  in  eine  wahre 
Hochschule  des  Lasters.  Um  sich  bei  den  Vorgesetzten  lieb 
Kind  zu  machen  und  bald  wieder  wegzukommen,  spielen 
viele  den  Spitzel  und  Angebor.  Daher  das  Sprichwort:  settc- 
cento  coatti  — settemila  spie  (700  Verbannte,  7000  Spione). 
Kurz,  es  ist  die  Hölle  auf  Erden,  namentlich  für  die  politi- 
schen Verbrecher:  Redakteure  demokratischer  Blätter,  Partei- 
führer u.  s.  w.,  die  oft  aus  den  gebildetsten  Kreisen  stammen ; 
denn  das  ist 

3.  meiner  Meinung  nach  der  gröfste  Übelstand  dieser  Einrichtung, 
dafs  die  gemeinsten  Büsowiohte:  Betrüger,  Mörder,  Räuber, 
Taschendiebe  mit  politischen  Gefangenen,  solohen,  die  wegen 


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Aufreizung,  Majestätsbeleidigung  und  ähnlichem  verurteilt 
waren,  zusammengesperrt  werden. 

4.  bedeutet  es  eine  ungeheure  Belastung  des  Budgets.  Italien 
besitzt  sieben  solcher  Strafkolonien.  Bei  einem  Durchschnitts- 
bestand von  achthundert  Köpfen  kostet  die  von  Lipari  allein 
dem  Staat  täglich  400  Lire,  das  sind  jährlich  etwa  150  000  Lire 
nur  an  Kostgeldern,  wofür  die  Empfänger  keine  Hand  rühren. 

Die  Mauern  der  Festung  umschliefsen  eine  ganze  kleine  Stadt 
für  sich  mit  Kaufläden,  Barbierstuben,  Kneipen  u.  s.  w.,  alle  von  ehe- 
maligen Verbannten  gehalten.  Überall  sieht  man  die  Sträflinge  in 
ihren  derben,  braunen  Zwilliohsachen  herumlungern  und  -hocken, 
von  der  tödlichsten  Langweile  geplagt.  Die  Anstaltskleidung  tragen 
nur  die  Armen,  die  besser  Gestellton  dürfen  sich  auf  eigene  Kosten 
bürgerlich  kleiden  und  sind  dann  nur  an  ihrer  Physiognomie  und 
Haltung  zu  erkennen.  Aber  unschwer.  Denn  aus  ihnen  spricht  die 
ganze  Stufenleiter  des  menschlichen  Lasters  — hier  können  Psychiater 
und  Untersuchungsrichter  Studien  machen.  Der  scheue,  unsichere 
Seitenblick  des  einen  verrät  den  Einbrecher,  der  stolze,  verächtliche 
Gesichtszug  eines  anderen  den  sizilianisoben  Strafsenräuber.  ln 
diesen  Augen  lauert  der  bestiengleiche  Blutdurst  des  Mörders,  in 
jenen  die  schlecht  verhohlene  Rachsucht  des  Anarchisten.  Viele  sind 
offenbar  epileptisch  und  halb  irre,  gehören  eigentlich  ins  Narrenhaus. 
Mehrere  grüfsten  mich,  wohl  weil  sie  in  mir  einen  Regierungsbeamten 
vermuteten,  auf  den  sie  einen  guten  Eindruck  machen  wollten. 

Plötzlioh  hallen  durch  die  enge  Gasse  militärische  Schritte.  Ich 
wende  mich  um  und  gewahre  etwa  ein  Dutzend  Dreimaster,  Säbel 
und  Gewehre  — ein  Gefangenentransport. 

Eben  ist  die  „Corsica“  aus  Messina  gekommen  und  hat  aus 
dem  Zentralgefängnis  daselbst  wie  gewöhnlich  neue  unfreiwillige  Be- 
wohner der  Insel  zugeführt.  Einige  tragen  einen  kleinen  Sack,  einen 
Koffer  auf  dem  Rüeken,  andere  sind  beinahe  elegant  gekleidet  und 
sehen  intelligent  aus,  die  meisten,  zerlumpt,  tragen  das  Kainszeichen 
an  der  Stirn.  Zu  zwei  und  zwei  mit  Handschellen  aneinander  ge- 
schlossen trotten  sie  zwischen  den  Carabiniori  dahin.  Ihr  übernäch- 
tiges Aussehen  verstärkt  den  melancholischen  Eindruck. 

Sie  werden  in  ein  Wachtzimmer  geführt  und  ihrer  Ketten  ent- 
ledigt — wir  sahen  es  durchs  offene  Fenster  — und  erhalten  den 
foglio  di  permanza,  den  Ausweisschein,  den  sie  immer  bei  sich  führen 
und  auf  Verlangen  vorzeigen  müssen.  Dann  treten  sie  heraus,  zuerst 

Himmel  und  Erde.  1901.  XVI.  4.  ]*2 


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ein  höchst  unmotiviert  lächelndes,  krankhaft  gestikulierendes  Männ- 
chen, das  uns  mehrmals  mit  dem  Blick  eines  hungrigen  Hundes  um- 
kreiste, — gewifs  ein  Taschendieb.  Dann  zwei  echte  Mafiosen,  mit 
dem  auch  durch  langen  Korker  ungebrochenen  Verbreoherstolz,  end- 
lich auch  die  beiden  Eleganten,  weniger  ergeben  in  ihr  Schicksal,  das 
sie  verdammt,  nach  Verbüfsung  ihrer  Strafe  nun  noch  zwei,  drei,  viel- 
leicht fünf  Jahre  fern  von  Heimat  und  Familie  beständig  mit  dem  Ab- 
schaum der  Menschheit  zusammen  zu  hausen. 

„Jetzt  sind’s  wenige,  nur  achthundert“,  meinte  Don  Giovanni. 
„Aber  1898  nach  dem  Aufstand  von  Mailand,  da  lieferten  uns  die 
Kriegsgerichte  so  viele  her,  dafs  die  Zahl  auf  1200  stieg.“ 

Wir  traten  in  den  Dom.  Denn  sonderbarerweise  erhebt  sich 
mitten  in  der  Verbrecherstadt  die  Hauptkirche,  und  der  Bischof,  ge- 
folgt von  seinen  24  Priestern,  führt  die  grofsen  Prozessionen  mitten 
durch  dieses  traurige  Asyl.  Die  Kirohe  ist  dem  heiligen  Bartholomäus 
gewidmet,  auf  einem  Altar  kann  man  den  Patron  der  Stadt  in  seinem 
ganzen  Glanze  bewundern:  lebensgrofs,  in  Silber  getrieben,  ein  alter, 
bärtiger  Mann  mit  ziemlich  geistlosem  Gesichtsausdruck,  trotz  der 
goldnen,  ganz  altertümlichen  Krone,  die  ihm  aufgestülpt  ist,  sehr 
traurig  dreinblickend.  Kein  Wunder  — über  dem  reohten  Arm  trägt 
er  seine  eigene  Haut,  die  ihm  eben  abgezogen  worden  ist,  wie  mir 
Don  Giovanni  auseinandersetzte.  Nun  erst  verstand  ioh  die  merk- 
würdige Bildung  seines  Körpers,  an  dem  die  Rippen  und  Muskeln 
ganz  unnatürlich  hervortraten.  Der  Arme  war  geschunden  worden 
und  zutn  Zeichen  seines  Märtyrertums  hielt  er  in  der  einen  Hand  ein 
grofses,  vergoldetes  Fleischermesser,  in  der  anderen  eine  Blume,  alles 
aus  Silber.  Ich  fragte  meinen  Begleiter,  wie  der  Apostel  zu  der  Ehre 
käme,  gerade  hier  so  intensiv  verehrt  zu  werden.  „Er  ist  allerdings 
in  Kleinasien  geschunden  worden“,  sagte  Don  Giovanni  nachdenk- 
lich. „Aber  seine  Gebeine  sind  eines  Tages  in  einer  Kiste  übers 
Meer  geschwommen  und  in  Lipari  gelandet.  Seit  der  Zeit  ist  er  unser 
Heiliger.“ 

In  der  Sakristei,  wo  eine  Porträtsammlung  die  liparischen 
Bischöfe  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  vorführt,  liefs  ich  mir  den 
sonderbaren  Monsignore  Tüdaro  zeigen,  der  vor  etwa  fünfzig  Jahren 
eine  hier  aufgedeckte  römische  Bäderanlage  wieder  zuschütten  liefs, 
damit  — keine  Fremden  auf  seine  Insel  kämen.  Also  der  Standpunkt 
des  Tiroler  Klerus  und  der  chinesischen  Mandarinen.  Der  Monsignore 
hatte  nichts  Fanatisches  oder  besonders  Rückschrittliches  in  seiner 
Miene,  und  ich  konnte  nicht  umhin,  ihm  ein  wenig  recht  zu  geben. 


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Solch  eia  Inselzustand  hat  immer  etwas  Einsames,  sagt  Goethe 
von  dem  groben,  dem  Festland  doch  so  nahen  Sizilien.  Um  wie  viel 
mehr  gilt  das  von  diesen  kleinen,  entlegenen  Inseln!  Dies  Gefühl  der 
Abgeschlossenheit  gibt  zugleich  das  Bewufstsein,  nur  auf  sioh  selbst 
gestellt  zu  sein  und  erzeugt  mit  dem  Mifstrauen  gegen  fremde  Iiilfe 
das  Vertrauen  lediglich  auf  die  eigene  Kraft.  Und  viel  stärker  ist 
infolgedessen  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  So  kommt  es, 
dafs  wir  schon  im  grauen  Altertum  hier  eine  eigentümliche  Staats- 
Verfassung  vorfinden.  Die  Liparäer  lebten  nämlich,  wie  Diodor 
(V.  Buch  9.  Kap.)  erzählt,  in  gemeinsamen  Speisegenossensohaften ; die 
ganze  Insel  war  gemeinschaftliches  Eigentum  und  wurdo  von  dem 
einen  Teil  der  Bewohner  im  brüderlichen  Verein  bebaut,  während  der 
andere  Teil  dem  Meer  seine  Schätze  abgewann  und  gegen  Seeräuber 
und  sonstige  Neider  dieses  stillen  Glückes  zu  Felde  zog,  so  gegen 
die  Etrusker  im  6.  Jahrhundert,  gegen  die  Athener  415,  später  gegen 
die  Karthager.  Vor  mehr  als  2000  Jahren  bereits  war  hier,  wenigstens 
in  groben  Zügen,  das  Ideal  des  sozialistischen  Zukunftgstaates  ver- 
wirklicht Und  wie  stark  die  Liparäer  waren,  lehrt  ihre  Unbesieg- 
barkeit: Die  Athener,  die  im  Winter  427/26  mit  dreifsig  Schiffen 

einen  Angriff  auf  die  Äolischen  Inseln  unternahmen,  konnten  nur  das 
flache  Land  und  die  unbewohnten  Inseln  Hiera  (=  Vulcano),  Didyme 
(=  Panaria),  Slrongyle  (=•  Stromboli)  verwüsten,  deren  Felder  die 
Liparäer  von  Lipari  aus  bebauten,  diese  selbst  in  ihrer  festen  Stadt  und 
Burg  aber  nicht  bezwingen. 

Und  wenn  sie  auch  von  den  Kriegsstürmen  der  Völkerwanderung 
vom  Norden  her  und  den  Baubzügen  des  von  Süden  immer  wieder 
andringenden  Islams  nicht  ganz  verschont  blieben,  im  allgemeinen 
haben  die  Insulaner  stets  für  sich  ein  still-zufriedenes  Dasein  geführt. 
Wie  die  alten  Namen  sich  fast  unverändert  erhalten  haben,  so  sind 
die  Inseln  noch  heute  unberührt  von  den  vorüberrollenden  Jahr- 
hunderten, Jahrtausenden.  Keine  Fahrstrafse  und  infolgedessen  weder 
Pferd  noch  Wagen  sind  zu  erblicken.  Den  Transport  auf  den  holprigen 
Saumwegen  besorgen  Esel  und  Maultier.  Ihre  Fische,  die  sie  kein 
essen,  und  ihr  Bimsstein,  sowie  Kapern,  Malvasier,  Feigen,  die  sie 
weithin  verschicken,  das  sind  die  nie  versiegenden  Quellen  ihres 
Lebensunterhalts.  Welohe  Ruhe,  welcher  Friede  weht  uns  hier  an! 
Indem  ich  die  milden,  edlen  Züge  des  fremdenfeindlichen  Bischofs 
betrachtete,  kam  mir  der  Gedanke:  möglich,  dab  er  in  erster  Linie 
die  Ketzer  von  der  ihm  anvertrauten  Herde  fernhalten  wollte.  Aber 
vielleicht  hatte  er  auch  drauben  den  erbitterten  Kampf  ums  Dasein 


180 


gesehen,  wie  die  Menschen,  in  den  grofßon  Städten  zusammengepfercht, 
naoh  Gewinn  und  LebenBgenufs  gieren  und  je  reicher,  desto  unzu- 
friedener werden,  hatte  geBehen,  wie  in  mancher  Fremdenstadt  sich 
zwar  der  Wohlstand  einzelner  hebt,  aber  auoh  durch  das  böse  Beispiel, 
nämlioh  durch  die  Ansprüche  und  den  Luxus  der  Gäste,  die  grofse 
Masse  nur  anmafsender,  fauler,  überhaupt  in  jeder  Beziehung  sittlich 
minderwertiger  wird.  Davor  wollte  der  Monsignore  sein  arbeitsames, 
behaglich  dahinlebendes  Inselvölkohen  bewahren. 

Von  der  Höhe  des  Kastells  geniefst  man  einen  reizenden  Blick 
auf  den  kleinen  Hafen,  auf  die  platten  Dächer  des  Städtchens  mit  den 
schmucken  Kirchen  dazwischen.  Dahinter  in  gefälligen  Linien  auf- 
steigend, prangen  Gärten  und  Weinberge,  überall  durohsetzt  von 
blinkenden  Meierhöfen.  Ein  freundliches  Grün  hat  die  Tufflandschaft 
dieses  südlichen  Teiles  der  Insel  überkleidet  und  zieht  sich  bis  zu 
den  drei  höchsten  Erhebungen,  den  Monti  Guardia,  Giardina  und  Sant' 
Angelo  hinauf,  die  die  Stadt  überragen.  Das  gewaltige  Bimsstein- 
massiv der  nördlichen  Inselhälfte  bleibt  verdeckt. 

Don  Antonio  zeigte  mir  von  den  Bastionen  aus  den  recht  be- 
scheidenen Palast  des  Bischofs,  dann  das  desto  stattlichere  Schwestern- 
haus. 22  Nonnen  unterrichten  da  700  Mädchen.  Selten  wird  man  in 
Unteritalien  mit  seinen  60—70  pCt  Analphabeten  im  Durchschnitt 
einem  60  stark  besuchten  Schulunterricht  begegnen.  Auch  ein  Zeichen 
des  Wohlstandes. 

(Fortsetzung  folfft.) 


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Die  Fettwachsbildung  bei  Leichen. 

Von  8.  Kfltsrlif r in  Budapest. 

„Es  gibt  mohr  Ding'  im  Himmel  und  auf  Erden, 
Als  eure  Schulwoiaheit  sich  träumen  Iftfat." 

fu  diesen  dürfte  es  wohl  auch  gehören,  dafs  die  Natur  in  ihrer 
Werkstätte  zuweilen  Kunststücke  vollführt  und  Probleme  löst, 
an  denen  alle  Weisheit  und  Wissenschaft  der  Menschen  zu 
schänden  wird.  Einen  wunden  Punkt  im  modernen  Qrofsstadtleben 
bilden  die  Friedhöfe.  Viele  Ärzte  und  Hygieniker  sprechen  sich  gegen 
dieselben  aus  und  befürworten  das  System  der  Leiohenverbrennung. 
Von  dieser  wollen  Vorurteil  und  vermeintliche  Pietät  jedoch  nichts 
wissen.  Dichter  und  Gelehrte  befassen  sich'  mit  diesem  Gegenstand, 
ohne  zu  einem  endgiltigen  Ergebnis  zu  gelangen.  Selbst  die  furcht- 
bare und  fruchtbare  Phantasie  eines  E.  A.  Poe  und  E.  T.  A.  Hoffmann 
hat  kein  Mittel  gefunden,  wie  man  menschliche  Leichen  wirklich  ge- 
fahrlos in  alle  Ewigkeit  erhalten  könnte,  ja,  wie  sie  sich  sogar  für  die 
Nachwelt  nutzbringend  verwerten  liefsen.  Die  Natur,  diese  rücksichts- 
lose Herrscherin  über  Zeit  und  Ewigkeit,  zeigt  uns  den  Weg.  Es 
mag  merkwürdig  und  verblüffend  klingen,  aber  es  ist  eine  wissen- 
schaftlich erwiesene  Tatsache,  dafs  jeder  von  uns,  der  in  feuchte  Erde 
bestattet  wird,  sich  in  Seife  verwandeln  kann.  In  Indien  gibt  es 
einen  Flufs  Hooghly,  der  angeb!  ioh  die  Eigenschaft  besitzt,  ertrunkene 
Menschen  in  kürzester  Zeit  in  Seife  zu  verwandeln.  Wir  brauchen 
jedoch  gar  nicht  nach  Indien  zu  gehen.  In  dem  medizinischen  Museum 
des  Columbia-Kollegiums  kann  jeder  Besucher  einen  Glassarg  sehen, 
in  welchem  die  Leiche  eines  schönen  jungen,  zu  Seife  verwandelten 
Weibes  ruht.  Und  im  Museum  der  pennsylvanisohen  Universität  wird 
der  zu  Seife  verwandelte  Körper  eineB  Mannes  aufbewahrt.  Beides 


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ist  Seife  bester  Sorte,  mit  der  man  sich  jederzeit  die  Hände  waschen 
könnte. 

Das  ist  kein  Soherz  und  keine  Zeitungsente.  Die  Schönheit  der 
„Seifenvenus“,  wie  man  die  im  Columbia-Kollegium  ausgestellte  Tote 
nennt,  dürfte  alle  irdischen  Schönheiten  überdauern  und  bis  zum  Tage 
des  jüngsten  Gerichts  unverändert  bleiben.  Sie  war  das  Opfer  einer 
Choleraepidemie,  welche  in  der  ersten  Hälfte  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts in  New-York  wütete,  und  wurde  in  ein  Massengrab  versenkt. 
Der  Staat  liefe  sich’s  nicht  träumen,  dafs  er  ein  unfreiwilliger  Seifen- 
fabrikant geworden  sei.  Als  man  viele  Jahre  später  jenen  Teil  des 
Friedhofs  demolierte,  in  welchem  sie  begraben  worden  war,  fand  man 
die  „Seifenvenus“  zwischen  einer  Anzahl  vollständig  verwester  Leichen. 
Sie  sah  aus,  als  ob  sie  schliefe  und  jeden  Augenblick  die  Lider  mit 
den  langen  Wimpern  aufschlagen  könnte.  Eine  tadellos  erhaltene 
Mumie  ohne  die  soheufsliohe  Einpackung;  ihre  Arme  waren  rosig 
und  wohlgerundet,  das  Gesicht  wie  von  Wachs,  mit  einem  leichten 
Sohmerzenszug  um  die  bleichen  Lippen;  das  Haar  wellig  und  braun, 
wie  es  im  Leben  gewesen. 

Kurz  nach  der  Ausgrabung  berichtete  Dr.  Dalton  in  einer  Ver- 
sammlung der  Pathologischen  Gesellschaft  in  New-York  folgendes 
über  den  seltsamen  Fund:  „Die  Leiche  wurde  1832  begraben.  Man 
fand  sie  kürzlich  in  einem  Massengrab,  in  welohes  man  zahlreiche, 
an  der  Cholera  Verstorbene  versenkt  hatte.  Der  Sarg  dieser  Frau 
befand  sich  ungefähr  zwanzig  Fufs  tief  unter  der  Erdoberfläche ; unter 
demselben  lagen  drei  Reihen  Särge,  über  demselben  neun  bis  zehn. 
Die  oberste  Sargreihe  war  mit  drei  bis  vier  Fufs  fester  Erde  bedeckt. 
Der  direkt  unter  diesem  Sarge  befindliche  Boden  war  sehr  feucht; 
über  demselben  stand  sogar  etwas  Grundwasser,  und  hier  fand  man 
einige  zu  Fettwachs  oder  Seife  verwandelte  Leichen.  Die  hier  vor- 
geführte Frau  war  die  tadelloseste  unter  ihnen.  Der  Körper  war  so 
mattweifs  wie  er  jetzt  ist.  Als  man  ihn  ausgrub,  strömte  er  einen 
käsigen,  erdigen,  ammoniakalischen  Geruch  aus;  seither  hat  sich  der 
käsige  und  erdige  Geruch  gänzlich  verloren  und  nur  der  ammoniakalische 
ist  geblieben.  Ich  glaube,  dafs  sich  diese  verseifte  Schönheit  unge- 
zählte Jahrhunderte  lang  unverändert  erhalten  kann,  wenn  man  sie 
an  einem  richtigen  Ort  auf  bewahrt.“ 

Die  Leiche  des  Mannes,  welche  im  anatomischen  Museum  der 
pennsylvanisohen  Universität  zu  sehen  ist,  wurde  vor  der  amerika- 
nischen Revolution  auf  einem  Friedhof  des  niedrig  gelegenen  Teiles 
von  Philadelphia  begraben.  Als  sich  die  Strafsen  dieses  Stadtteils 


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183 


ausdehnten  und  man  den  Friedhof  durohschneiden  mufste,  wurden 
zahlreiche  Särge  ausgehoben,  um  sie  auf  einen  anderen  Friedhof  zu 
überführen,  ln  der  Hoffnung,  an  den  ausgegrabenen  Leiohen  inter- 
essante Studien  machen  zu  können,  kamen  einige  Gelehrte  auf  den 
Friedhof,  darunter  auch  der  berühmte  amerikanische  Naturforscher 
Dr.  JoBef  Leidy,  der  in  helles  Entzücken  geriet,  als  er  den  in  ein 
Stück  Seife  verwandelten  Mann  erblickte.  Dies  war  ein  Fall  von 
Verseifung,  wie  man  ihn  seit  vielen  Jahren  nicht  so  vollkommen  ge- 
funden hatte.  Leidy  reklamierte  den  Fund  im  Interesse  der  Wissen- 
schaft sofort  von  der  Friedhofsbehörde,  aber  diese  verweigerte  die 
Herausgabe  mit  der  Begründung,  dafs  nur  ein  Verwandter  das  Recht 
auf  die  Leiche  habe.  Dor  „Seifenmann“  war  notorisch  bereits  im 
18.  Jahrhundert  begraben  worden,  der  findige  Doktor  erklärte  jedoch 
vor  dem  öffentlichen  Notar,  dafs  der  Verstorbene  sein  Bruder  sei. 
Daraufhin  wurde  ihm  der  interessante  Fund  ohne  weiteres  ausge- 
händigt; und  er  brachte  ihn  in  dem  bereits  erwähnten  Museum  unter. 

Die  interessantesten  Beriohte  über  Verseifung  des  menschlichen 
Körpers  kommen  aus  dem  fernen  Osten.  Indien,  dieses  Land  der 
Wunder,  bringt  die  vollkommensten  und  meisten  Verseifungen  hervor. 
Dr.  S.  C.  Mackensie,  der  lange  in  Kalkutta  Polizeiarzt  war,  hat 
viele  zu  Seife  verwandelte  Leiohen  mit  eigenen  Augen  gesehen  und 
geprüft  Ja,  er  behauptet  mit  aller  Bestimmtheit,  dafs  im  Hooghly- 
Flufs  die  Verseifung  viel  rasoher  und  tadelloser  vor  sich  gehe  als 
sonstwo  in  der  Welt.  Wir  geben  ihm  das  Wort: 

„Der  sehr  warme,  von  Feuchtigkeit  durchtränkte,  weiche  und 
poröse  Boden  von  Unter-Bengalen  fördert  diesen  Vorgang  und  hat 
die  Eigenschaft,  in  drei  bis  vier  Tagen  eine  in  einem  Holzsarg  be- 
grabene Leiche  zu  verseifen.  Fünf  Fälle,  die  ich  persönlich  prüfte, 
beweisen,  dafs  im  Hooghly  - Flufs  während  der  kalten  Saison  im 
Februar  — in  16  bis  16  Tagen  nicht  nur  die  Oberfläche  der  Leiche, 
sondern  auch  sechs  der  inneren  Organe  sioh  verseift  hatten.  Im  Mai 
trat  die  vollständige  Verseifung  des  Körpers  schon  nach  drei  Tagen 
ein;  in  den  heifsen,  regnerischen  Monaten  September  und  Oktober 
habe  ich  in  drei  Fällen  nach  acht  bis  zehn  Stunden  eine  vollkom- 
mene innere  und  äufsere  Verseifung  beobachtet.  Die  vollkommenste 
bei  Henry  James  Leslie,  einem  Matrosen,  der  im  Rausch  in  den 
Hooghly  gefallen  war.  Nach  acht  bis  zehn  Stunden  fischte  man  seine 
Leiche  heraus,  und  es  zeigte  sich,  dafs  sogar  Herz,  Nieren  und  Magen 
bereits  verseift  waren.  Ein  amerikanischer  Arzt,  Dr.  Üandy,  erzählt 
ebenfalls  einen  höchst  interessanten  Fall  von  Verseifung  aus  seiner 


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eigenen  Praxis.  In  einem  Orte  am  Michigan  grub  man  den  Sarg 
einer  bereits  seit  acht  Jahren  auf  einer  kleinen  Insel  begrabenen 
Frau  aus.  Das  Grab  war  von  einem  Sumpf  umgeben,  der  viele 
organische  Substanzen  enthielt.  Als  man  den  Sarg  aufheben  wollte, 
erwies  er  sioh  so  sohwer,  dafs  man  Verdacht  schöpfte  und  ihn 
zu  öffnen  beschlofs.  Nachdem  man  eine  dünne  feuchte  Erdschicht 
entfernt,  bot  sich  den  Anwesenden  ein  seltsamer  Anblick.  Die  Tote 
lag  unverändert  wie  am  Begräbnistage  im  Sarge.  Da  sioh  bei  der 
Berührung  der  Körper  hart  erwies,  verbreitete  sich  das  Gerücht,  die 
Frau  sei  versteinert,  doch  fand  man  bald,  dafs  sie  sich  durch  irgend 
einen  merkwürdigen  chemischen  Prozefs  in  Seife  verwandelt  habe. 

Solche  Verseifungen  menschlicher  Körper  sind  seit  länger  als 
einem  Jahrhundert  bekannt.  Den  ersten  Fall  entdeckte  man  auf  einem 
Pariser  Friedhof.  Orfila  und  Fouroey,  die  sich  mit  dieser  Frage 
lebhaft  beschäftigten,  erklären  den  chemischen  Vorgang  folgender- 
mafsen:  Nur  Fettwachs  enthaltende  Leichen  sind  der  Verseifung 

ausgesetzt,  und  zwar  verwandeln  sie  sich  zumeist  in  ammoniakalische, 
zuweilen  aber  auch  in  ammoniak-  und  kalkhaltige  Seife.  Anfangs 
sind  sie  nur  atnmoniakalisch.  Das  Ammoniak  wird  durch  die  Zer- 
setzung der  stickstofTgesättigten  Muskelgewebe  erzeugt;  dieses  ver- 
bindet sich  dann  mit  dem  ranzig  gewordenen  Fettgewebe  und  ver- 
wandelt sich  durch  Feuchtigkeitseinflüsse  in  ammoniakalische  Seife. 
Eine  einzeln  begrabene  Leiche  verwandelt  sich  nur  selten  in  Seife, 
denn  das  durch  die  Zersetzung  der  Muskelgewebe  entstandene  Am- 
moniak wird  in  den  Flüssigkeiten  des  Körpers  aufgelöst,  diese  wieder 
werden  von  der  Erde  aufgesaugt,  so  dafs  sie  sich  mit  dem  Fett  nicht 
verbinden  können,  um  eine  Verseifung  zu  ermöglichen.  Wird  aber 
eine  Leiche  von  anderen  umgeben,  so  erzeugen  die  oben  in  Ver- 
wesung übergegangenen  Leichen  ammoniakalische  Flüssigkeiten. 
Diese  werden  durch  Hegen  hinabgespült,  sickern  in  den  neunten  oder 
zehnten  Sarg;  das  W’asser  wird  selbstverständlich  immer  ammoniak- 
haltiger, und  wenn  es  sich  sohliefslioh  mit  dem  Fett  der  untersten 
Leiohen  verbindet,  erzeugt  es  Verseifung. 

Die  «Seifenvenus“  im  medizinischen  Museum  des  Columbia- 
Kollegiums  ist  also  keine  Zauberei,  sondern  nur  eine  aus  der  Werk- 
statt der  Natur  hervorgegangene  Musterarbeit,  die  wert  ist,  von  den 
Ärzten  und  Chemikern  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  ins  Auge  gefafst 
zu  werden.  Wenn  unsere  Toten  künftig  auf  künstliche  Weise  in  acht 
bis  zehn  Stunden  «verseift“  werden  können,  wie  jener  im  Ilooghly  er- 
trunkene Matrose,  wie  bald  wurde  dann  bei  Epidemien  die  Ansteckungs- 


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gefabr  vermieden  sein!  Auch  der  Pietät  könnte  man  Genüge  tun, 
denn  die  in  einer  architektonisch  schönen  Halle  in  Glassärgen  aulge- 
stellten .Verseiften“  böten  einen  angenehmeren  Anblick  als  - unsere 
jetzigen  Gräber,  unter  denen  die  von  Würmern  zernagten  und  ver- 
westen Überreste  unserer  Lieben  ruhen.  Der  Verseifungsprozefs 
wäre  vielleicht  auch  billiger  als  die  jetzigen  hohen  Begräbnis-  oder 
Verbrennungskosten. 


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Ersatz  des  Platins  in  Glühlampen.  Bekanntlich  müssen  die 
Slromzuführungen  der  Glühlampen  an  der  Stelle,  wo  sie  durch  das 
Glas  hindurchtreten,  aus  Platin  bestehen;  denn  nur  dies  Metall  läfst 
sich  ohne  Schwierigkeit  dicht  oinschmelzen.  Es  liegt  dies  einerseits 
daran,  dafs  der  Ausdehnungskoeffizient  des  Platins  sehr  nahe  dieselbe 
Oröfse  bat  wie  der  des  Glases  und  dafs  sich  das  schmelzende  Glas 
vollkommen  luftdicht  an  diu  stets  blanke  Oberfläche  des  schwer 
oxydierbaren  Metalls  anlegt.  Der  stetig  steigende  Preis  des  Platins 
(z.  Zt.  3 Mark  das  Gramm)  macht  es  begreiflich,  dafs  man  naoh  einem 
billigeren  Ersatz  für  dasselbe  sucht.  In  Frankreich  ist  der  Versuch 
gemacht  worden,  Nickelstahldraht  zum  Einschmelzen  zu  verwenden, 
doch  ist  er  daran  gescheitert,  dafs  sich  das  Material  beim  Erhitzen 
mit  einer  Oxydschicht  bedeckt.  Auch  ist  es  nicht  ganz  leicht,  den 
zur  Erzielung  des  richtigen  Ausdehnungskoeffizienten  geeigneten 
Nickelzusatz  ausfindig  zu  machen.  Mehr  Erfolg  verspricht  man  sich 
in  neuester  Zeit  von  einem  Kitt,  vermittelst  dessen  man  jeden  belie- 
bigen Draht  lufldicht  einkitten  kann.  Derselbe  wird  von  der  fran- 
zösischen Glühlampengesellschaft  hergestellt;  über  seine  Zusammen- 
setzung ist  bis  jetzt  niohts  Näheres  bekannt,  ln  seiner  Konsistenz 
ähnelt  er  dem  reinen  Wachs,  dabei  trocknet  er  nicht  in  der  Kälte 
und  schmilzt  nioht  in  der  Wärme.  Seine  Verwendung  ist  sehr  ein- 
fach. Man  bringt  ihn  in  einen  Behälter,  durch  welchen  die  Zuleitungs- 
drähte führen,  und  setzt  diesen  am  Grunde  der  Lampe  an  Falls  sich 
die  Erfindung  bewährt,  so  werden  die  Glühlampen  zweifellos  eine  be- 
deutende Preisermäfsigung  erfahren.  Dr.  v.  P. 

t 

Magnesium-Aluminiumlegierungen.  Dafs  das  Aluminium  trotz 
seiner  Billigkeit  nicht  allgemein  zur  Herstellung  von  Instrumenten, 
Gefäfsen,  Schüsseln  etc.  verwendet  wird,  liegt  an  seiner  mangelhaften 
Bearbeitbarkeit  und  seiner  unzureichenden  Festigkeit  und  Widerstands- 
fähigkeit. Es  läfst  sich  schlecht  drehen,  verschmiert  die  Feilen,  gibt 


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schlechte  Gewinde,  die  sich  nuoh  kurzer  Zeit  festsetzen,  und  zeigt 
geringe  Beständigkeit  gegen  die  Einflüsse  der  Feuchtigkeit  Schon 
früh  kam  man  auf  die  Idee,  die  mechanischen  Eigenschaften  des  Alu- 
miniums durch  Zusatz  anderer  Metalle  zu  verbessern,  wie  man  es 
schon  lange  mit  dem  Kupfer  (Bronze  und  Messing)  machte.  Ebenso 
wie  bei  den  vorgenannten  Legierungen  wurde  als  Zusatz  ein  ver- 
wandtes Metall  gewählt  und  zwar  Magnesium.  Man  erhielt  jedoch 
nur  spröde  und  mechanisch  unbrauchbare  Produkte.  Der  Grund  war 
einfach  darin  zu  suchen,  dafs  man  den  Zusatz  an  Magnesium  zu  grofs 
genommen  hatte.  Ludwig  Mach  gelang  es  endlich,  durch  Beimen- 
gung von  10—30  Teilen  Magnesium  zu  100  Teilen  Aluminium  höchst 
bearbeitbare  und  widerstandsfähige  Legierungen  herzustellen.  10  Teile 
Magnesium  brachten  die  Eigenschaften  des  gewalzten  Zinks  hervor, 
15  Teile  die  des  Messinggusses,  20 — 26  Teile  die  des  gezogenen 
Messings  etc.  Falls  es  gelingt,  das  Zusatzmetall  Magnesium,  das  bis 
jetzt  technisch  noch  zu  teuer  ist,  in  grofsen  Massen  billig  herzustellen 
(das  Rohmaterial  ist  völlig  wertlos),  so  ist  es  wahrscheinlich,  dafs  das 
-Magnatium"  die  gröfste  Verbreitung  erringen  wird.  Einen  wesent- 
lichen Vorzug  vor  den  Schwermetallegierungen  des  Aluminiums 
dürfte  das  geringe  spezifische  Gewicht  des  Magnesiums  bedingen 
(Magnesium  1,7,  Aluminium  2,7.  dagegen  Kupfer  8,9). 

Dr.  M.  v.  P. 

* 

Über  „Titanthermit“. 

Eine  kurze  Mitteilung  über  Lötung  von  Eisen  mit  Eisen  ver- 
mittelst des  Goldschmidtschen  „Thermitverfahrens“  findet  sich  be- 
reits im  Januarheft  1903  dieser  Zeitschrift.  Es  soll  hier  von  einer 
anders  gearteten  Verwendung  des  Thermits  die  Rede  sein.  Zuvor 
mag  noch  einmal  kurz  gesagt  sein,  was  man  unter  Thermit  versteht: 
Thermit  ist  ein  inniges  Gemisch,  das  im  wesentlichen  aus  Aluminium 
und  einer  Eisen-Sauerstoffverbindung  besteht.  Es  hat  die  Eigenschaft, 
einmal  entzündet,  ohne  äufsere  Zufuhr  von  Sauerstoff  in  sich  weiter 
zu  brennen.  Der  Sauerstoff,  der  zum  Brennen  benötigt  wird,  mufs 
also  der  Eisenverbindung  entzogen  werden,  und  os  schmilzt  daher  ein 
sehr  reines,  dünnflüssiges  Eisen  aus  dem  Thermit  aus,  welches 
schätzungsweise  eine  Temperatur  von  3000  0 hat.  Dieses  wird  haupt- 
sächlich zum  Schweifsen  und  Löten  von  Eisen  auf  Eisen  benutzt.  Zur 
Darstellung  des  Eisens  im  grofsen  wäre  das  Verfahren  zu  teuer.  Da- 
gegen wird  es  mit  Vorteil  angewendet,  um  die  Eigenschaften  des 


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Gufaeisens  zu  verbessern.  Es  handelt  sich  vorzüglich  um  zwei  wich- 
tige Aufgaben:  Das  Flufseisen  von  den  darin  gelösten  Metalloxyden 

zu  befreien  und  Gase  wie  Stickstoff,  die  z.  B.  beim  Formen  in  innige 
Berührung  mit  der  flüssigen  Masse  kommen,  wegzuschaffen;  denn 
diese  würden  bei  der  Abkühlung  zur  Bildung  von  Poren  im  Gufs- 
eisenstück  Anlafs  geben.  Es  ist  allbekannt,  dafs  das  schwedische 
Eisen  wegen  seiner  vorzüglichen  Eigenschaften  allen  anderen  Eisen- 
sorten vorgezogen  wird.  Man  suchte  nach  dem  Grunde  und  fand  ihn 
in  der  Anwesenheit  von  Titan  in  den  schwedischen  Erzen.  (Titan  ist 
ein  seltenes  Element,  welches  im  sogenannten  „periodischen  System“ 
der  Elemente  in  der  Kohlenstoffgruppe  hinter  dem  Silicium  steht). 
Es  hat  die  Eigenschaft,  Gase,  besonders  Stickstoff,  zu  binden.  Auf 
diese  Beobachtung  gründet  sioh  das  Goldschmidtsche  Verfahren  der 
Anwendung  von  „Titanthermit“  zur  Erzielung  eines  poren-  und  oxyd- 
freien Gufseisens.  Thermitmischung,  der  Titan  zugesetzt  ist,  wird  in 
Büohsen  aus  Blech  verpackt,  die  Büchse  an  einem  langen  Eisenstab 
angebracht  und  dann  in  das  flüssige  Metall  hineingestofsen.  Durch 
die  Hitze  des  Bades  entzündet  sich  sofort  das  Thermit,  die  Blechbüchse 
wird  aufgelöst  und  die  Schlaoke  steigt  nach  oben.  Das  Bad  kommt 
während  der  Reaktion,  die  1 1 /2 — 2 Minuten  dauert,  in  kräftige  Wallung, 
so  dafs  eine  vollkommen  gleiohmäfsige  Durchmischung  erreioht  wird. 
Die  Menge  des  zuzusetzenden  Thermits  beläuft  sioh  auf  '/s — V«  pCL 
vom  Gewicht  des  Metallbades.  Falls  man  nur  eine  durchmischende 
Wirkung  erzielen  will,  kann  man  ebenfalls  das  Titanthermit  mit 
Erfolg  anwenden,  z.  B.  wenn  man  dem  bereits  aus  dem  Ofen  in  die 
Giefspfanne  strömenden  Eisen  duroh  Zusatz  von  Ferromangan  oder 
Ferrosilicium  eine  gröfsere  Härte  bezw.  Weichheit  geben  will;  ebenso 
wenn  man  zur  Erzielung  einer  besonderen  Festigkeit  Stahlabfälle  in 
gröfseren  Mengen  mit  einsohmilzL  Immer  dient  die  Büchsenreaktion 
dazu,  das  Material  homogen  und  dicht  zu  machen. 

Dr.  M.  v.  P. 

* 

Zur  Reinigung  antiker  Bronzen  machte  Professor  Rhouso- 
pulos  in  der  Chemischen  Zeitschrift  von  Professor  Ahrens  einige 
Bemerkungen  von  allgemeinem  Interesse.  Nach  seinem  Verfahren 
wurde  die  Reinigung  und  Wiederherstellung  sowohl  der  Bronzen  auf 
der  Akropolis,  als  auch  jener  wundervollen  Funde  vorgenommen,  die 
vor  Antikythera  mehr  als  2000  Jahre  lang  auf  dem  Meeresgründe 
geruht  haben.  Dafs  derartige  Gegenstände  oft  bis  zur  Unkenntlichkeit 


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verändert  sind,  versteht  sich  von  selbst.  Seealgen,  Salzwasser  und 
Druck  haben  das  Ihrige  getan,  um  auch  den  letzten  Rest  von  innerem 
Halt  zu  zerstören.  So  veränderte  Stücke  fallen  dann  meist  trotz 
aller  Konservierungskünste  der  völligen  Vernichtung  anheim.  Selbst 
ein  trockener  Aufbewahrungsplatz  im  Museum  kann  sie  nicht  mehr 
schützen.  Bisweilen  aber  ist  das  korrodierte  und  zernagte  Aussehen 
nur  ein  rein  äufserlicher  Effekt,  und  die  wertvolle  Reliquie  schlummert 
unversehrt  unter  ihrer  unansehnlichen  Umhüllung  von  Sohlammkrusten, 
Kalk-  und  Kieselverbindungen  oder  einer  Sohicht  von  Metalloxyden. 
Dann  ist  sie  zu  retten.  Eine  sachverständige,  chemische  und  im 
Grunde  aufserordentlich  einfache  Behandlung  fördert  sie  wieder  zu- 
tage. Der  Gegenstand  wird  mit  einem  Zinkstreifen  umwickelt  und  in 
eine  Lösung  von  verdünnter  Salzsäure  gelegt.  Dann  tritt  in  bekannter 
Weise  Elektrolyse  ein,  und  das  Zink  löst  sich  unter  Bildung  von 
Wasserstoff  auf.  Gleichzeitig  beginnt  der  Reinigungsprozefs.  Der 
entstandene  Wasserstoff  nämlich  macht  sich  an  den  Bronzegegenstand 
und  reduziert  die  entstellenden  Kupferverbindungen  wiederum  zu 
metallisch  festem  Kupfer.  Bronzen,  die  nach  diesem  elektrolytischen 
Verfahren  behandelt  wurden,  sind  in  der  Tat  kaum  noch  wioderzuer- 
kennen  und  überrasohen  in  höchstem  Mafso  durch  ihre  fast  unver- 
sehrten Formen.  Sind  irgendwelche  Spuren  chemischer  Verunreini- 
gungen zurückgeblieben,  so  können  allerdings  neue  Zerstörungen  be- 
fürchtet werden.  Deshalb  folgt  der  chemischen  Reinigung  noch  eine 
mehr  mechanische  mit  Hilfe  von  Pottasche  und  Sodalösung  und  duroh 
Behandlung  mit  reinen  Metallbürsten.  Eine  Erhitzung  über  gelindem 
Feuer  in  einer  Einhüllung  von  trockenen  Sägespänen  beseitigt  dann 
auch  nooh  die  letzten  Spuren  von  Feuchtigkeit.  Werden  die  gerei- 
nigten Gegenstände  vorsichtig  mit  einer  feinen  Schicht  von  reinem 
Wachs  eingerieben,  so  erhalten  sie  eine  Widerstandsfähigkeit,  welche 
den  Einflüssen  der  Witterung  durch  Jahrhunderte  zu  trotzen  vermag. 
Soweit  der  Bericht  des  griechischen  Professors.  Wir  wollen  bemer- 
ken, dafs  das  von  ihm  geschilderte  Verfahren  hier  zu  Lande  durchaus 
nicht  unbekannt  und  neu  ist.  Es  wird  schon  seit  längerer  Zeit  zur 
Konservierung  der  Bronze-Altertümer  unserer  Museen  mit  bestem  Er- 
folge angewendet  (vgl.  auch  „Himmel  und  Erde“,  Jahrg.  XIV,  Seite  476). 

D. 


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Jochmau n:  Grundrifs  der  Experimentalphysik.  Horausgegeben  und 
bearboitot  von  O.  Hermes  und  1*.  Spios.  Verlag  von  Winckelmann 
& Söhne,  Berlin. 

Das  beliebte  und  allgemein  geschätzte  Srhulbuch  liegt  nunmehr  in  fünf- 
zehnter Autlage  vor.  Es  hat  sich  sowohl  nach  Form  als  Inhalt  sehr  verändert 
und,  wie  wir  gleich  vorweg  bemerken  wollen,  auch  zu  seinem  Vorteil.  Schon 
die  Ausstattung  ist  eine  wesentlich  bessere  geworden:  gutes  Papier  und  guter 
Druck,  dazu  eine  grofso  Anzahl  neuer  oder  umgezeichneter,  immer  aber  in- 
struktiver Figuren.  Ein  Dreifarbendruck  und  eine  Spektrahafel  fallen  besondere 
auf,  letztere  namentlich  durch  die  Richtigkoit  und  Leuchtkraft  ihrer  Farben 
Mit  der  Ausstattung  kann  man  daher  wohl  zufrieden  sein,  aber  auch  mit  dem 
Inhalt,  der  nicht  nur  viel  reichhaltiger,  sondern  vor  allem  auch  klarer  und  über- 
sichtlicher geworden  ist.  So  haben  die  Abschnitte  über  Wärme,  Spektral- 
analyse, über  das  magnetische  Kraftfeld,  über  den  Funkeninduktor,  über  elek- 
trische Lampen,  über  Röntgenstrahlen  und  Radiumstrahlen  eine  gesunde  Umar- 
beitung erfahren;  auch  sehen  wir  in  dem  Abschnitt  Über  Interferenzfarben  eine 
gute  Abbildung  der  durch  stehende  Lichtwellen  erzeugten  Streifen  in  einer  photo- 
graphischen Schicht  Bei  der  Behandlung  des  Gramm  eschen  Ringes  hätten 
wir  vielleicht  einen  umgekehrten  Gang  der  Darstellung  gewünscht.  Eis  em- 
pfiehlt sich  sehr,  zu  zeigen,  wie  zunächst  bei  Bewegung  allein  der  Wickelung 
in  einem  homogenen  Felde  die  elektromotorischen  Kräfte  auch  in  den  Win- 
dungselo inonten  der  einzelnen  Ringhälften  einander  entgegenwirken  und  wie 
dann  erst  durch  Einfügung  dos  Eisenringes  eine  Strömung  ermöglicht  wird. 
Doch  das  ist  schliefslich  Ansichts-  und  Geschmackssache.  Man  wird  jedenfalls 
keine  Seite  des  Buches  losen  können,  ohne  sich  nicht  an  dor  Anordnung  des  Stoffes 
und  der  Darstellung  zu  erfreuen.  Die  Neubearbeitung  des  Werkes  seitens 
der  Herren  Herausgeber  — man  sieht  insbesondere  unschwer  die  Spies« 
sehe  Einwirkung  — ist  eine  sehr  eingehende  und  liebevolle  gewesen.  Der 
aufmerksame  Leser  erkennt  dies  nicht  sowohl  an  den  neuen  Abschnitten, 
als  vielmehr  an  gewissen  kleinen  Änderungen,  Zusätzen,  Parenthesen  und 
Fortlassungen  im  Text,  denen  oft  eine  wesentliche  Klärung  zu  danken  ist. 
Die  reichlich  eingestreuten  Beispiele  aus  der  Praxis  sind  gut  gewählt  (so 
z.  B.  Radfahrer  und  Gyrometor  bei  der  kreisförmigen  Zentral bewegumr, 
Explosionsmotore  und  Dampfturbinen  bei  der  Expansion  u.  s.  f.),  sie  beloben 
den  Stoff  und  halten  vor  allem  glücklich  die  einoin  elementaren  Lehrbuche 
der  Physik  gesteckten  Grenzen  inue.  Möge  das  Buch  auch  im  neuen  Gewände 
wiederum  den  Kreis  seiner  Freunde  erweitern.  — über  die  Gesamtanordnung 
und  Auswahl  des  Stoffes  wird  man  dem  Pädagogen  von  Fach  das  Urteil  über- 
lassen müssen,  nur  bezüglich  dos  vorn  II.  Hauptsatz  der  Wärmetheorio  (§  244) 
handelnden  Abschnitts  möchten  wir  uns  norh  eine  Bemerkung  erlauben.  Die 
ältere  Auflage  enthält  vom  II  Hauptsatz  überhaupt  nichts,  und  das  ist  sicher 
eine  argo  Lücke.  Gewifs  darf  man  heute  dem  älteren  Schüler  den  Begriff  der 
Energie  Wertigkeiten  und  der  Entropie  nicht  mehr  verschweigen,  ob  man  aber  in 


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der  Darlegung  so  weit  gehen  darf  wie  die  Verfasser  und  zwar  mit  einer  eloinentar- 
mathematiachcn  Behandlung,  die  am  Ende  doch  nicht  ausreicht,  steht  dahin. 
Jedenfalls  dürfte  dieser  Teil  des  Buches  der  am  meisten  umstrittene  und  be- 
strittene werden.  Wir  hatten  den  Eindruck,  als  sei  er  mehr  für  den  Lehrer  als 
für  den  Schüler  geschrieben.  Der  Lehrer  schaut  die  Dingo  vom  erhabenen  Stand- 
punkt an  — oder  sollte  es  doch  tun  — , der  Schüler  aber  klimmt  empor  und 
macht  die  Bekanntschaft  neuer  und  jedenfalls  schwer  zu  umfassender  Begriffe 
zum  ersten  Male.  Er  mufs  sich  unseres  Erachtens  an  der  vortrefflich  zubereiteten 
und  klug  dargeboteuen,  aber  doch  schwer  verdaulichen  Speise  den  Mageu 
verderben  Dringt  er  aber  wirklich  hindurch,  versteht  er  in  der  Tat,  daTs 

numerisch  gleich  der  Entropie  nur  bei  ideal  umkehrbaren  Prozessen, 

in  Wirklichkeit  aber  stets  gröfser  ist  und  so  jenes  Wärmeverlustmufs  darstellt, 
das  überhaupt  eine  Veränderung  ermöglicht,  so  wird  er  leicht  eine  Anzahl  von 
Prozessen  konstruieren  können,  in  denen  eine  Entwertung  höherer  Energie  zu 
Wärme  gar  nicht  vorkommt  (Swinburne).  Soll  man  ihm  dann  auf  elemen- 
tarer Grundlage  beweisen,  dafs  auch  in  solchen  Fällen  die  Entropie  zunimnit? 
Damit  hätte  sich  die  Universität  und  die  technische  Hochschule  zu  befassen. 
Also  mit  einem  Wort:  Was  da  in»  § 244  zu  lesen  ist,  ist  für  den  Fachmann 
recht  erfreulich  und  in  der  Tat  mit  den  unzulänglichen  Mitteln  der  elemen- 
taren Mathematik  vortrefflich  dargestellt,  für  den  Schüler  jedoch  wäre 
weniger  mehr  gewesen.  Vielleicht  versucht  man  es  einmal  ganz  ohne  Mathematik, 
etwa:  Nur  bei  einem  Übergang  von  einem  Körper  höherer  zu  einem  Körper  tieferer 
Temperatur  kann  Wärme  Arbeit  leisten  (etwa  wie  fallendes  Wasser,  Sa  di  Carnot). 
Der  Vergleich  ist  jedoch  nicht  völlig  zutreffend,  da  nicht  die  unveränderte 
Wärmemenge,  sondern  nur  ein  Teil  davon  auf  tieferem  Temperaturniveau  an- 
langt. Der  andere  Teil  verschwindet  und  wird  in  mechanische  Aibeit  verwandelt 
(Clausius).  (II.  Hauptsatz.]  Die  ganze  durch  Arbeit  erzeugte  Warme  kann 
daher  nicht  wieder  in  mechanische  Arbeit  etc.  zurückverwandelt  werden,  ein 
Teil  geht  bei  dem  Prozefs  auf  einen  Körper  niederer  Temperatur  über.  (Energie- 
wertigkeit, Degradation.]  Von  der  GesamUftiergie  des  Weltalls  ist  ein  Betrag 
bereits  als  Wärme  auf  kältere  Körper  übergegangen;  er  wächst  ständig  und 
stellt  gewissermafsen  den  Gewinn  der  Natur  bei  dem  Tauschgeschäft  dar 
(Entropie).  Mit  dem  völligen  Ausgleich  aller  Wärmeunterschiedo  ist  swar  die 
Qesaintenergiemenge  unverändert  gel  dielen,  die  Bedingung  für  die  Rückver- 
wandelung  in  andere,  höhere  Energieformen  (II.  Hauptsatz)  jedoch  verloren 
gegangen.  Ende  des  Weltprozesses.  Das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energio 
geht  auch  aus  diesen  Überlegungen  unversehrt  hervor.  — Für  eine  neue  Auf- 
lage, die  wir  dem  vortrefflichen  Buche  recht  bald  wünschen,  möchten  wir  der- 
artige Erwägungen  anheim  geben.  Dr.  B.  D. 

('lassen,  A.:  Ausgewählte  Methoden  der  aualylisehen  Chemie.  Brauu- 

achweig.  Verlag  von  Friedrich  Vioweg  A Sohn.  1903.  II.  Band. 

Wir  haben  gelegentlich  des  Erscheinens  des  ersten  Bandes  von  Classens 
analytischer  Chemie  bereits  unser  Urteil  über  das  Buch  abgegeben  und  hraucheu 
diesem  heute  nicht  mehr  allzuviel  hinzuzufügen.  Der  zweite  Band  hält  sich 
durchaus  auf  der  Höhe  des  ersten  und  gibt  ein  recht  anschauliches  Bild  über 
die  Analyse  der  Metalloide.  Wir  betrachten  es  als  oinen  Vorzug,  wenn  sich 
der  Verfasser  von  vornherein  an  den  Studierenden,  bezüglich  den  Chemiker 
von  Fach  wendet.  Dies  erspart  ihm  manche  Weitläufigkeit.  Zunächst  wird 
Sauerstoff  und  Ozon  abgehandolt  und  deren  Bestimmung  besprochen.  Die 
folgenden  Kapitel  sind  der  Wasseranalyse,  sowohl  in  wissenschaftlicher  wie 


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192 


m praktischer  Beziehung1  gewidmet.  Dann  folgen  Schwefel  und  die  Halogene 
mit  ihren  Säuren,  ferner  die  Besprechung  einiger  wichtiger  Explosivstoffe 
und  die  Herstellung  des  Argons  und  Heliums.  Später  erscheinen  in  sehr  sach- 
gemäfser  Darstellung  Phosphor,  Bor,  Silizium,  Kohlenstoff,  die  Karbonate  und 
Perkarbonate.  Sehr  erwünscht  dürfte  den  meisten  Lesern  auch  eine  sehr  ein- 
gehende instruktive  Darstellung  der  Elementaranalyse  sein,  die  den  Beschlufs 
des  ClassenBchen  Buches  bildet  Die  Ausstattung  ist  wie  bei  Yieweg  stets, 
eine  vorzügliche,  die  Darstellung  der  Edelgasspektra,  offenbar  aus  dem  Erd- 
m annschen  Buche  herübergenommen,  sogar  ganz  vortrefflich.  Wir  empfehlen 
auch  den  zweiten  Band  des  Werkes  dem  Chemiker  von  Fach.  D. 

Jahrbuch  der  Photographie  und  Reproduktionstechnik  1903.  Verlag 
von  Wilhelm  Knapp,  Halle  a./S. 

Eders  Jahrbuch  steht  auch  diesmal  wieder  ganz  auf  der  gewohnten 
Höhe.  Der  Bericht  über  die  Fortschritte  der  Technik  ist  sehr  vollständig,  sach» 
gemäfs  und  läfst  kaum  eine  Lücke  offen.  Fachmann  und  Amateur  werden  in 
ihm  viel  Neues  finden  und  genug  davon  in  ihre  Praxis  übernehmen  können. 
Von  den  zahlreichen  Originalarbeiten  erwähnen  wir  die  Aufsätze  „Über  stereo- 
skopische Photographie  in  natürlicher  Qröfse“  von  Elschnig  in  Wien,  „Unter- 
suchungen über  Kürperfarbenphotographio*  von  R.  Neuhauss,  „Der  Fort- 
schritt im  Dreifärbendruckverfahron“  von  Husnik,  „Der  Stereokomparatoi" 
von  J.  Rheden,  „Untersuchungen  über  die  Sensibilisierung  durch  Farbstoffe4 
von  v.  Hübl,  „Draehenpliojtographie“  von  R.  Thiolo,  „Dreifarbeugummidruck“ 
von  R.  Rapp.  Von  den  kleineren  Notizen  interessiert  besonders  die  Katatypie, 
aus  dem  Anhang  die  neue  Objektivprüfungsmethode  von  Hart  mann.  — Drys- 
dales  Methode  zur  Bestimmung  der  relativ  gröfsten  Blendenöffnung  ist  keines- 
wegs neu;  Ref.  benutzt  sie  bereits  seit  mehreren  .Jahren.  Dem  Coxinverfahren 
wünschen  wir  im  nächsten  Jahrbuch  eine  viel  kürzere  Behandlung,  vielleicht 
einen  Nachruf.  B.  D. 


Vertag:  Hermann  i'aetel  in  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  Gronao'a  Buchdrockerel  ln  Berlin -Scbdneberg. 
Für  die  Bednction  verantwortlich  i Dr.  P.  Sehwahn  in'Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  aas  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  nntereagt, 
Überaetrongnecht  Vorbehalten. 


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Bomben  vom  Ausbruch  des  Volcano  im  Jahre  1888. 


Der  Explosionskrater  des  Volcano-Ausbruchs  von  1888. 


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Die  Einheitlichkeit  der  Längenmaße  und  Längen- 
messungen. 

Von  Prof.  Dr.  C.  Koppe  in  Braunschweig. 

oljßW  LängenmafBP,  deren  man  sich  bis  vor  wenig  mehr  ale  einem 
itrt  Jahrhundert  allgemein  bediente,  waren  fast  sämtlich  von  be- 
stimmten Teilen  des  menschlichen  Körpers  abgenommen,  wie 
Fufs,  Schritt,  Spanne,  Elle,  Klafter  etc.  Die  gebräuchlichste  Mars- 
einheit bildete  der  Fufs,  aber  so  ungleich  derselbe  bei  den  einzelnen 
Menschen  ist,  so  verschieden  waren  die  Längenmafse  ursprünglich 
selbst  in  nahe  benachbarten  Ländern,  so  dafs  der  „Sachsenspiegel", 
eine  Darstellung  des  Rechtes  im  Mittelalter,  die  Bemerkung  enthält, 
dafs  man  selten  zwei  Länder,  ja  kaum  zwei  Städte  finden  wird,  die 
einerlei  Mafs  haben.  — Wie  sich  diese  Verhältnisse  geändert  haben, 
geht  aus  einem  Berichte  hervor,  den  J.  R.  Benott,  Direktor  des 
internationalen  Mafs-  und  Gewichts- Bureaus  in  Paris,  der  letzten  allge- 
meinen Konferenz  der  internationalen  Erdmessung  vor  kurzem  ab 
stattete.  Hiernaoh  wurden  im  Jahre  1903  drei  Mefsstangen,  von  denen 
eine  dem  „servioe  geographique“  der  französischen  Armee,  eine  zweite 
der  geodätischen  Kommission  von  Mexico,  die  dritte  dem  internatio- 
nalen Bureau  selbst  gehören,  in  ihrem  Pavillon  zu  Bröteuil  genau 
verglichen.  Drei  weitere  dort  anzuferligende  und  zu  vergleichende 
Längenmefs- Apparate  von  gleicher  Beschaffenheit  sind  bestimmt  für 
das  Zentral-Bureau  in  Rufsland,  die  geodätische  Kommission  von  Japan 
und  die  Normaleichungs-Kommission  in  Berlin.  Aufser  diesen  unter 
sich  identischen  Apparaten  wurden  Anfang  des  Jahres  zur  Verglei- 
chung eingesandt  die  Mefsstange,  mit  der  kurz  vorher  eine  Basis  bei 
Quito  in  der  Republik  Equador  gemessen  worden  war,  eine  andere, 
welche  der  General-Direktion  des  Vermessungswesens  in  Ägypten 


Himmel  and  Erde.  14104.  XVI.  5- 


13 


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194 


gehört,  und  eine  dritte,  der  Akademie  zu  Stockholm  gehörig,  die  zur 
Basismessung  auf  Spitzbergen  in  den  letzten  Jahren  gedient  hat.  Aus 
der  Gesamtheit  dieser  Vergleichungen,  schliefst  der  Bericht,  wird 
nicht  nur  eine  scharfe  Bestimmung  jedes  einzelnen  Apparates  folgen, 
sondern  ihre  Resultate  werden  eine  wertvolle  Einheitlichkeit  in 
der  allgemeinen  Geodäsie  des  Erdkörpers  an  seinen  entferntesten  und 
verschiedensten  Stellen  herbeizuführen  berufen  sein. 

Es  soll  im  folgenden  in  Kürze  eine  übersichtliche  Darlegung 
gegeben  werden,  auf  welchem  Wege  man  von  einer  geradezu  baby- 
lonischen Verwirrung  in  den  Längenmaßen  und  Längenbestimmungen 
durch  die  Erdmessungs-Arbeiten  zu  einer  unseren  internationalen  Ver- 
kehrsbedürfnissen auch  in  praktischer  Hinsicht  unentbehrlichen  Ein- 
heitlichkeit gelangt  ist,  wohl  einer  der  glänzendsten  Beweise  für 
die  alte,  den  menschlichen  Oeist  stets  zu  neuen  Anstrengungen  an- 
spornende Erfahrung,  dafs  und  wie  sehr  die  Erforschung  wissen- 
schaftlicher Wahrheiten  um  dieser  selbst  willen  doch  in  der 
Folge  den  praktischen  Bedürfnissen  der  Mensohheit  zugute 
kommt  — Die  Frage  nach  der  Größe  und  Gestalt  der  Erde  hat  die 
Menschheit  seit  Jahrtausenden  beschäftigt.  Solange  dieselbe  als  eine 
Kugel  angesehen  wurde  — und  dies  war  seit  Pythagoras  bis  vor  zwei 
Jahrhunderten  der  Fall  — genügte  die  Ermittelung  eines  Teiles  ihres 
Umfanges  nach  Längen-  und  Bogenmaß,  um  die  ganze  Lange  ihres 
größten  Kugelkreises  und  damit  auoh  den  Erdradius  zu  berechnen. 
Geht  man  von  einem  Orte  in  Nord-Süd-Riohtung  so  weit  bis  der 
Himmelspol  — in  erster  Näherung  der  Polarstern  — um  einen  Grad 
mehr  oder  weniger  hoch  über  dem  Horizonte  liegt  so  findet  man  für 
den  hierzu  notwendigen  Weg  in  runder  Zahl  eine  Länge  von  1 1 1 km 
und  schliefst  daraus,  daß  der  ganze  Umfang  360  mal  größer  ist  oder 
genauer  40  000  km.  Die  zu  einer  eolchen  „Gradmessung“  erforder- 
liche Längenbestimmung  wurde  bis  zur  Einführung  der  Trian- 
gulierungsmethode duroh  direkte  Messung  der  ganzen  Grad- 
strecke ausgeführt.  So  bestimmte  der  aiexandrinisobe  große  Geo- 
meter Eratosthenes  200 — 300  Jahre  n.  Chr.  einen  Bogen  zwischen 
Syene  und  Alexandrien,  Posidonius  etwa  100  Jahre  später  einen 
solohen  zwischen  Alexandrien  und  Rhodus,  aus  denen  sie  den  Erd- 
umfang zu  250  000  und  240  000  Stadien  (ä  186  m)  berechneten,  d.  i. 
um  mehr  als  den  zehnten  Teil  zu  groß.  Dem  wahren  Werte  wesent- 
lich näher  kamen  die  Araber,  die  unter  dem  Kalifen  Almansor  im 
neunten  Jahrhundert  n.  Chr.  in  der  Ebene  von  Mesopotamien  eine 
Gradmessung  ausführten.  Ihre  Maßeinheit  war  die  „Elle“  ä 144 


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Gerstenkorn-Breiten,  deren  Länge  nach  der  Einteilung  der  Nilmesser 
in  Ägypten  noch  bestimmt  werden  konnte.  Im  Jabre  1526  male  der 
Franzose  Fernei  einen  Bogen  zwischen  Paris  und  Amiens  nach 
Fufsmafs,  wobei  er  die  Zahl  der  Umdrehungen  eineB  Wagenrades  zur 
Längenbestimmung  benutzte;  er  führte  so  die  erste  Gradmessung 
in  unserem  Erdteile  aus,  die  zugleioh  duroh  Zufall  ein  der  Wahrheit 
sehr  nahe  kommendes  Resultat  für  die  Länge  des  Erdradius  lieferte. 

Diese  ersten  Versuche,  die  Gröfse  der  Erde  zu  ermitteln,  konnten 
ihrer  Natur  nach  nur  zu  wenig  genauen  Ergebnissen  führen,  zumal 
die  Längenbeetimmungen  mehr  auf  Schätzungen  als  auf  wirklichen 
Messungen  im  heutigen  Sinne  des  Wortes  beruhten.  Einen  wesent- 
lichen Schritt  weiter  kam  der  Niederländer  Snellius,  der  anstaü  der 
direkten  Längenmessung  des  ganzen  Bogens  eine  indirekte  Ab- 
leitung seiner  Gröfse  aus  einer  weit  kürzeren  Strecke 
mit  Hilfe  von  Dreieoksmessungen  einfübrte.  Diese 
Triangulierungsmethode  ist  seitdem  immer  weiter 
ausgebildet  worden  und  wird  nioht  nur  bei  Grad- 
messungen, sondern  auch  zur  Längenübertragung  bei 
den  Landesaufnahmen  ganz  allgemein  benutzt  Mifst 
man  in  einem  Dreiecke  eine  Seite  und  die  Winkel,  so 
kann  man  die  Länge  der  beiden  anderen  Seiten  leioht 
berechnen.  Reiht  man  an  das  so  bestimmte  erste  Drei- 
eck ein  zweites,  so  dafs  es  mit  ihm  eine  Seite  gemeinsam  hat,  so 
braucht  man  in  ihm  nur  die  Winkel  zu  messen,  um  auch  seine  Seiten- 
längen berechnen  zu  können.  An  das  zweite  Dreieck  kann  man  in 
gleiober  Weise  ein  drittes  ansetzen  und  so  fort  vom  Anfangspunkte 
des  Bogens  bis  zu  seinem  Endpunkte,  deren  lineare  Entfernung  dann 
aus  der  sie  verbindenden  Kette  von  Dreiecken  unschwer  abzuleiten 
ist.  Snellius,  der  sich  nach  seinem  grofsen  Vorgänger  in  Alexan- 
drien „Eratosth en  es  Batavus-  nannte,  mafs  im  Anfänge  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts  eine  Standlinie  von  ca.  87  rheinländisohen 
Ruten,  etwas  über  300  m.  Aus  dieser  Basis  leitete  er  durch  Drei- 
ecksverbindungen (Fig.  1)  und  Winkelmessungen  die  mehr  als  12mal 
längere  Linie  L(eiden) — S(öterwoude)  ab  und  scblofs  an  diese  dann 
einige  dreifsig  gröfsere  Dreieoke  an  bis  zum  andern  Endpunkte  des 
zu  bestimmenden  Gradbogens,  der  bei  Bergen  lag.  Der  Bogen  von 
einem  Grade  erhielt  hiernach  eine,  wie  sich  später  zeigte,  bis  auf 
einige  Zehntel  Prozente  richtige  Länge.  Zur  Längenmessung  selbst 
dienten  hölzerne  Mefsstangen,  die  auf  dem  Boden  geradlinig  aneinander 
gelegt  wurden  von  einem  Endpunkte  der  Basis  bis  zum  anderen. 

13* 


Fig.  1. 


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196 


Im  weiteren  Verlaufe  des  siebzehnten  und  dann  auch  im  acht- 
zehnten Jahrhundert  waren  es  hauptsächlich  die  Franzosen,  welche 
zahlreiche  und  wichtige  Gradmessungsarbeiten  ausführten.  Newton 
hatte  aus  theoretischen  Betrachtungen  den  Schlufs  gezogen,  die  Erde 
könne  nioht  — wie  seither  angenommen  — kugelförmig  sein,  sondern 
sie  müsse  infolge  ihrer  Rotation  die  Gestalt  eines  an  den  Polen  abge- 
platteten Umdrehungs-Ellipsoides  haben.  War  dies  richtig,  dann  mufsten 
Gradmessungen  in  nördlicheren  Teilen  der  Erde  gröfsere  Werte  der 
Gradlänge  ergeben  als  solohe  in  der  Nähe  des  Äquators,  da  von  diesem 
auf  dem  Wege  zu  don  Polen  die  Krümmung  der  Erdoberfläche  dann 
eine  immer  schwächere  wird.  Nun  ergaben  aber  die  Gradmessungen, 
welohe  Picard  und  später  CasBini  in  verschiedenen  Teilen  Frank- 
reichs ausführten,  das  gerade  Gegenteil,  denn  im  Norden  des  Landes 
wurde  die  lineare  Länge  eines  Meridiangrades  anstatt  gröfser  um  ein 
beträchtliches  Stück  kleiner  als  im  Süden  erhalten.  Cassini  und 
mit  ihm  die  Gelehrten  Frankreichs  schlossen  demzufolge,  dafs  die 
Erde  eine  nach  den  Polen  zu  verlängerte  Gestalt  habe,  während  die 
Bingländerauf  Newtons  Seite  standen  und  an  der  abgeplatteten  Form 
festhielten.  Um  diese  wissenschaftliche  Streitfrage  zur  Entscheidung 
zu  bringen,  sandte  die  französische  Akademie  der  Wissenschaften 
1736  zwei  Expeditionen  aus,  die  eine  naoh  Peru,  die  andere  nach 
Lappland,  um  Gradmessungen  unter  möglichst  verschiedenen  geo- 
graphischen Breiten  auszuführen.  Gleichzeitig  wurde  auch  in  Frank- 
reich selbst  eine  Revision  der  älteren  Messungen  vorgenommen.  Das 
Resultat  aller  dieser  Beobachtungen  war  die  unzweideutige  Feststel- 
lung einer  nach  den  Polen  zu  abgeplatteten  Erdgestalt. 

Jede  der  beiden  vorerwähnten  Expeditionen  hatte  zur  einheitlichen 
Mafsvergleichung  einen  6 Pariser  Fufs  langen  Normal mafsstab,  eine 
„Toise“,  mitgenommen,  von  denen  die  „Toise  von  Peru“  unbe- 
schädigt wieder  nach  Paris  zurückkam.  Dieselbe  wurde  dann  zum 
französischen  Norinalmafse  erklärt,  und  als  gegen  Ende  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  das  Metermafs  in  Frankreich  eingeführt  werden  sollte, 
einer  erstmaligen  Bestimmung  der  Länge  des  Meters  als  zehnmillion- 
sten Teiles  des  nördlichen  Meridian -Quadranten  zugrunde  gelegt. 
Seine  genauere  Feststellung  erfolgte  durch  eine  neue  Gradmessung  in 
Frankreich,  zu  welcher  zum  ersten  Male  ein  bimetallischer  Basis- 
mefsapparat  durch  Borda  konstruiert  wurde. 

Zu  den  ersten  Basismessungen  seit  Snellius  waren,  wie  bereits 
erwähnt,  hölzerne  Mefslatten  benutzt  worden.  Um  dieselben  haltbarer 
und  besser  vergleichbar  zu  machen,  versah  man  sie  an  den  Enden  mit 


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Metall  besohlägen,  analog  wie  bei  den  Mefestangen,  welche  heute  von 
den  Landmessern  und  Ingenieuren  benutzt  zu  werden  pflegen.  Ur- 
sprünglich wurden  dieselben  beim  Messen  unmittelbar  aneinander- 
gelegt, später  liefe  man  zwischen  ihnen  einen  kleinen  Zwischenraum, 
damit  keine  stofsende  oder  zwängende  Wirkung  eintreten  konnte,  und 
mafs  ihren  jeweiligen  Abstand  gesondert  mit  einem  kleinen  Anlege- 
Mafsstabe  oder  mittelst  eines  zwischengeschobenen  Mefskeils.  Mit  den 
Fortschritten  der  Geodäsie  durch  Erfindung  deB  Fernrohrs,  der  Libelle, 
der  genauen  Teilmaschinen  u.  s.  w.  erwies  sich  das  Holz  mehr  und 
mehr  als  ein  zur  Konstruktion  von  Basismefsapparaten  wenig  geeig- 
netes Material,  da  es  durch  Wärme  und  Feuchtigkeit  unregelmäfsige 
Veränderungen  erleidet.  Nach  Versuchen  mit  Glasstäben  und  Glas- 
röhren ging  man  zu  Metallstangen  über,  deren  Temperatur  mit  Hilfe 
von  Thermometern  bestimmt  wurde,  um  nach  dem  Ausdehnungs- 
Koeffizienten  des  Metalls  die  Länge  der  Mefsstange  auf  eine  „Normal- 
temperatur“ reduzieren  zu  können.  Um  die  mittlere  Stangentempe- 
ratur genauer  zu  ermitteln,  machte  Borda  bei  seinem  neuen  Basis- 
mefsapparate  diesen  selbst  zu  einem  Metall-Thermometer,  indem 
er  zwei  gleiche,  aber  aus  verschiedenen  Metallen,  Platin  und  Kupfer, 
gearbeitete  Stäbe  von  2 ToiBen  Länge  aufeinanderlegte,  am  einen  Ende 
fest  miteinander  verschraubte,  im  übrigen  aber  frei  beweglioh  liefs, 
so  dafs  sie  sioh  jeweils  den  Anforderungen  der  Temperatur  ent- 
sprechend ausdehnen  konnten.  Der  Abstand  ihrer  freien  Enden  wurde 
genau  gemessen  und  gestattete  einen  Rüokschlufs  auf  die  jeweilige 
mittlere  Temperatur  der  beiden  Stangen,  von  denen  dann  die  eine 
als  eigentliche  Mefsstange  zur  Bestimmung  der  Länge  der  Basis  be- 
nutzt wurde,  während  die  andere  gleichsam  als  Thermometer  diente. 
Zu  dem  Bordasohen  Apparate  gehörten  4 solohe  biinetallisohe  Stangen, 
die  bei  der  Basismessung  voreinander  gelegt  und  durch  kleine 
Schieber  zur  Berührung  gebracht  wurden.  Mit  ihnen  mafsen  zunächst 
Delambre  und  Möohain  für  die  grofse  französische  Gradmessung 
zur  genaueren  Bestimmung  des  Metermafses  zwei  Grundlinien  von  je 
ca.  6000  Toisen  Länge,  die  eine  bei  Melun,  die  andere  bei  Per- 
pignan,  weiche  das  allgemeinste  Interesse,  namentlich  der  ganzen 
wissenschaftlichen  Welt,  erregten.  In  der  Folge  wurden  dann  nooh 
mehrere  andere  Grundlinien  für  die  Triangulierung  Frankreichs  mit 
dem  gleichen  Apparate  gemessen,  und  als  zu  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts die  Erdmessung,  die  bis  dahin  gleiohsam  eine  französische 
Wissenschaft  gewesen  war,  ihre  glänzendsten  Vertreter  in  Deutsch- 
land, namentlich  durch  Gaues  und  Bessel,  fand,  behielt  letzterer  bei 


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seiner  berühmten  Orsdmessung  in  Ostpreufsen  das  bimetallische 
Prinzip  bei  und  konstruierte  für  seine  Basismessung  einen  dem 
Bordaseben  entsprechenden  Apparat,  jedoch  mit  Anbringung  wesent- 
licher Vervollkommnungen.  Dieser  Besselsohe  Basis-Mefsappa- 
rat,  der  aus  4 Doppelstangen  — Zink  und  Eisen  — besteht,  und  bei 
weiohem  die  Zwisohenriiume  zwischen  den  keilförmigen  Stangenenden 
vermittelst  kleiner  zwischengeachobener  Mefskeile  gemessen  wurden 
(vgl.  Fig.  2),  ging  später  in  den  Besitz  des  preußischen  General- 
stabes über,  der  dann  im  Laufe  des  vergangenen  Jahrhunderts  sämt- 
liche Basismessungen  mit  ihm  vornahm,  welche  bei  der  Triangulierung 
und  Landesaufnahme  Preußens  als  Grundlagen  für  die  Langenbestim- 
mungen  dienten.  Auch  in  anderen  Ländern  wurden  mit  den  Fort- 
schritten der  Geodäsie  immer  zahlreichere  und  genauere  Basismessun- 

gen  vorgenommen,  wobei 
gleichzeitig  ein  neues  Prin- 
zip der  Längenbestimmung, 
dasjenige  der  „optischen  “ 
Kontaktmessung  mehr  und 

Z Zink  £ Ei  tan  H Hoiaantaaiaft 

mehr  in  den  Vordergrund 
trat. 

Bei  den  erwähnten  Basis- 
mefaapparaten  wurden  die 
Pi«  2.  Mefsstangen,  wenn  auch 

nicht  mehr  unmittelbar  mit 
ihren  Enden,  so  doch  mittelst  kleiner  Sohieber  oder  Mefskeile  zur 
„mechanischen“  Berührung  gebracht.  Da  eine  solche  Berührung 
ganz  ohne  Druck  auf  die  Stangenenden  nicht  ausführbar  ist,  so  kam 
man  auf  den  Qedanken,  anstatt  der  Endmafse  zur  Vermeidung  jeg- 
lichen Druckes  Striohmafse  zu  benutzen.  Der  erste,  welcher  einen 
auf  diesem  Prinzipe  des  optischen  Kontaktes  beruhenden  Mefs- 
apparat  konstruierte,  scheint  Hassler  gewesen  zu  sein.  Er  benutzte 
eine  Metallstange  von  4 Toisen  Länge,  auf  deren  nahe  an  den  beiden 
Enden  angebraohte  Marken  je  ein  Mikroskop  mit  seinem  Fadenkreuze 
scharf  eingestellt  wurde.  Die  Entfernung  der  beiden  in  der  Basislinie 
auf  Stativen  fest  aufgestellten  Mikroskope  entsprach  somit  genau  der 
Stangenlange.  Wurde  nun  die  Stange  in  der  zu  messenden  Linie  so 
weit  vorgeschoben,  bis  ihr  Anfangspunkt  unter  das  vordere  Mikroskop  2 
fiel  und  auf  ihren  Endpunkt  ein  drittes  Mikroskop  eingestellt,  so  war 
dieses  dann  um  die  doppelte  Stangenlange  vom  Mikroskop  1 entfernt. 
Eine  Wiederholung  des  gleichen  Verfahrens  ergab  beim  vierten 


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19» 

Mikroskope  3 Stangenlangen  und  so  fort  von  einem  Endpunkte 
der  Basis  bis  tum  anderen  das  gesuchte  IJingenmafs  derselben  duroh 
„ optische“  Aneinanderreihung  der  Stangenlängen,  wozu  naturgemifs 
eine  Mefsstange  genügte.  Hassler  mafs  mit  seinem  Apparate  gegen 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  zunächst  eine  Basis  in  der  Sohweiz 


Kig.  :t 


und  später  mehrere  Orundlinien  für  die  Küstenaufnahme  der  Ver- 
einigten Staaten  von  Nord-Amerika.  In  der  Folge  wurde  der  Basis- 
mefsapparat  mit  ..optischem“  Kontakte  immer  weiter  vervollkommnet, 
namentlich  durch  den  Mechaniker  Brunner  in  Paris,  der  um  die 
Mitte  des  vergangenen  Jahrhunderts  im  Aufträge  der  spanischen  Re- 
gierung und  später  auch  Tür  andere  Staaten  vorzüglioh  gearbeitete 
derartige  Instrumente  anfertigte.  An  einer  Messung  mit  dem  spani- 


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•200 


sohen  Apparate  hatte  ich  Gelegenheit,  mioh  zu  beteiligen.  Dieselbe  war 
um  so  interessanter,  als  sie  von  Spaniern  in  der  Sehweiz  ausge- 
führt und  dann  von  den  Schweizern  wiederholt  wurde.  Das  ging 
folgendermafsen  zu:  Im  Oktober  1853  hatte  die  spanische  Regierung 
den  Entschlufs  zur  Vornahme  einer  neuen  Landesvermessung  gefafst. 
Die  dieserhalb  berufene  Kommission  begann  ihre  Arbeiten  mit  Her- 


Fig.  4. 


Stellung  eines  Basismefsapparates  durch  den  Mechaniker  Brunner 
in  Paris  nach  den  Angaben  des  Generals  Ibanez,  welch  letzterer 
nach  dessen  Vollendung  eine  16  km  lange  Grundlinie  bei  Madride- 
rs im  Jahre  1858  mit  solcher  Genauigkeit  mafs,  dafs  die  Überlegen- 
heit des  Brunn  ersehen  Basismefsapparates  allgemein  anerkannt 
wurde.  Wenige  Jahre  darauf  gründete  der  preufsisohe  General 
Baeyer  die  „Europäische  Gradmessung“,  eine  Vereinigung  der 
Staaten  Europas  zur  Erforschung  der  Oberllächeu-Gestaltung  unseres 
Kontinentes,  die  sich  zwei  Jahrzehnte  später  zur  „Internationalen 


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■JO! 


Erdmessung“  erweiterte,  der  grofsartigsten  und  umfassendsten  wis- 
senschaftlichen Vereinigung  aller  Kulturstaaten  der  Welt  zur  ge- 
meinsamen Forschung  mit  gegenseitiger  Förderung  der  Einheitlichkeit 
des  Vorgehens.  Als  nun  zu  Anfang  der  achtziger  Jahre  die  Schweiz 
Grundlinien  für  ihre  Gradmessungsarbeiten  messen  mufste  und  keinen 
geeigneten  Basismefsapparat  besafs,  erbot  sich  Spanien,  den  seinigen 


h'ig.  3. 

zu  diesem  Zwecke  leihweise  zur  Verfügung  zu  stellen,  und  General 
Ibanez  übernahm  cb,  diesen  Apparat  nicht  nur  nach  der  Schweiz 
transportieren  zu  lassen,  sondern  in  eigener  Person  mit  seinem  bereits 
eingeübten  Personal  den  Schweizern  im  Gebrauche  desselben  An- 
leitung zu  geben  und  eine  Basis  hierzu  vor  ihren  Augen  zu  messen. 
Die  Instrumente  mit  allem  Zubehör  wurden  Mitte  August  1880  in 
einem  eigenen  Waggon  von  Madrid  naoh  Aarberg  bei  Bern  transpor- 
tiert, und  am  20.  August  traf  General  Ibanez  mit  dem  Kommandanten 
Cassado,  12  Offizieren  und  10  Unteroffizieren  vom  geographisch- 


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2U2 


statistischen  Institut  Spaniens  daselbst  ein.  Der  Unterzeichnete,  welcher 
damals  für  die  schweizerische  Gradmessungs-Koinmission  arbeitete, 
war  beauftragt  worden,  eine  geeignete  Strecke  für  die  Basismessung 
auszusuchen.  Dieselbe  wurde  auf  der  nahezu  ebenen  und  auf  2,4  km 
Lange  geradlinigen  Landstrafse  von  Aarberg  nach  Neuenburg  gewählt, 
an  den  Endpunkten  durch  eingemauerte  Oranitpfeiler  mit  eingesetzten 
Metallbolzen  dauerhaft  bezeichnet  und  in  Strecken  von  ungefähr 
400  m Lange  eingeteilt,  die  nach  der  Anweisung  des  Generals 
Ibanez  zur  Vergleichung  bei  der  Wiederholung  der  Messungen  be- 
nutzt werden  sollten.  Am  22.  August  morgens  4 Uhr  wurde  zur  ersten 
Basismessung  ausgerückt.  Das  Wetter  war  trübe  und  den  Beobach- 
tungen wenig  günstig.  Erst  naoh  5 Uhr  war  es  hinreichend  Tag  ge- 
worden, um  die  Miren,  lotrechte  Metallstäbe  (Fig.  3),  mit  denen  die 
Riohlung  der  Basis  bezeichnet  war,  deutlioh  erkennen  zu  können. 
Über  dem  Anfangspunkte  der  Basis,  der  duroh  ein  feines  Kreuz  im 
Metallbolzen  des  daselbst  eingemauerten  Steinpfeilers  bezeichnet  war, 
wurde  ein  .Mikroskop-Theodolit“  (Fig.  4)  aufgestellt,  sein  genau 
lotrecht  gestelltes  Fernrohr  zunächst  durch  horizontales  Verschie- 
ben des  ganzen  Instruments  scharf  auf  den  Basis- Anfangspunkt  ge- 
bracht und  dann  in  horizontaler  Lage  (Fig.  5)  auf  die  Riehtungs- 
Mire  geführt.  Das  seitlich  am  Theodoliten  angebrachte  „Mikroskop* 
bezeichnete  dann  mit  seinem  feinen  Fadenkreuze  den  „optischen* 
Anfangspunkt  der  Basis,  über  welchen  dann  die  4 m lange  Mefsstange 
mit  ihrem  Anfangsstriche  gebracht  wurde,  indem  man  dieselbe  so 
lange  verschob,  bis  dieser  Strich  genau  unter  das  Fadenkreuz  des 
Mikroskopes  fiel. 

Auf  den  Endstricb  der  Mefsstange  stellte  ein  anderer  Beobachter 
das  Mikroskop  eines  zweiten  ebensolchen  Instrumentes  scharf  ein, 
so  dafs  zwischen  den  Mikroskopen  I und  2 nun  genau  der  Abstand 
einer  Stangenlänge  war.  Nachdem  Temperatur  und  Neigung  der 
Stange  am  Thermometer  und  Niveau  abgelesen  waren,  wurde  die 
Mefsstange  auf  Kommando  vorsichtig  aufgehoben,  um  ihre  I^nge 
vorwärts  getragen  und  auf  in  der  Basislinie  bereits  aufgeslellte  weitere 
zwei  Auflage-Stative  (Fig  6)  gelegt,  um  dann  auf  diesen  so  lange  hin 
und  her  geschoben  zu  werden,  bis  ihr  Anfangsstrich  genau  unter  das 
Mikroskop  2 fiel.  Das  am  Ende  der  Stange  aufgestellte  und  über 
deren  Endstrich  gebrachte  dritte  Mikroskop  hatte,  nachdem  sein 
Fadenkreuz  durch  Verschieben  genau  mit  dem  Striohe  auf  der 
Stange  zum  Zusammenfällen  gebracht  war,  dann  seinerseits  eine  Ent- 
fernung vom  Basisanfange  gleich  der  zweifachen  Stangenlänge  und  so 


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203 


fort.1)  Die  Messung  geschah  in  6 transportablen  Zelten  (Fig.  7),  und  so- 
bald das  hinterste  Zelt  frei  geworden  war,  wurde  es  von  6 Arbeitern 
aufgehoben  und  vorn  in  der  Linie  wieder  angesetzt.  Während  in  den 
hinteren  Zelten  eingestellt  und  gemessen  wird,  sind  in  den  vorderen 
die  Gehilfen  beschäftigt,  die  nötigen  Vorbereitungen  zu  trefTen,  Stative 
für  die  Mikroskop-Theodolite  und  Auflagedreifüfse  für  die  MefBstange 


Ki«-.  li. 


in  passenden  Abständen  aufzustellen,  einzurichten  und  mit  Hilfe  von 
hölzernen  Hilfs-Mefsstäben  auch  in  der  Höhenlage  bo  anzuordnen, 
dafs  bei  der  Messung  selbst  nur  noch  kleinere  Verschiebungen  der 
Mefsstange  wie  der  Mikroskop-Theodolite  erforderlich  sind,  um  die 
nötigen  Koincidenzen  herbeizuführen. 

Jeder  Beobachter  und  jeder  Gehilfe  hat  seine  bestimmte  Arbeit, 

Diese  Mikroskope  bezeichnen  und  messen  eine  der  Basislinie  parallele 
und  ibr  genau  gleich  lange  Strecke  im  Abstande  des  Mikroskops  von  der  Mitte 
des  Instruments. 


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204 


die  sioh  von  Stangenlage  zu  Stangenlage  wiederholt,  und  eines  jeden 
Aufgabe  ist  so  berechnet,  dafs  er  Zeit  hat,  sie  auszuführen,  ohne 
seinen  Nachbar  zu  hindern  und  ohne  die  Arbeit  zu  verzögern.  So 
schreitet  die  Messung  gfeichroärsig  fort,  ruhig,  stetig  und  rasch,  ge- 
führt von  den  auf  das  „fertig"  der  Beobachter  gegebenen  kurzen 
Kommandoworten  des  Leiters  der  ganzen  Unternehmung,  hier  des 
Generals  Ibanez  selbst.  Zur  gesamten  Ausrüstung  für  die  Basis- 
messung gehörten  aufser  der  4 m langen  Mefsstaoge  4 Mikroskop- 
Theodolite,  6 Stative  zur  Aufstellung  derselben,  4 metailne  Unterlags- 
Apparate  für  die  Mefsstange  mit  10  hölzernen  Dreifüfsen  dazu  (Fig.  8), 
2 hölzerne  Mefsschablonen  von  je  4 m Länge,  Miren  usw.  Um  5 h 48  in 
früh  war  die  Messung  begonnen  worden  und  trotz  des  feinen  nieder- 
rieselnden  Regens,  der  sich  nach  und  nach  zu  einem  tüchtigen  Land- 
regen entwickelte,  wurde  dieselbe  iri  etwas  weniger  als  3 Stunden 


Fig  7 


ohne  Unterbrechung  programmraäfsig  auf  800  m Lange  durcbgeführt. 
Au  den  zwei  folgenden  Tagen  wurden  in  gleicher  Weise  wieder  je 
800  m gemessen,  somit  in  3 Tagen  die  ganze  2400  m lange  Basis, 
ln  Abständen  von  je  400  m zu  400  m waren  auf  in  den  Boden  ein- 
gelassenen kleineren  Steinpfeilern  mit  horizontalen  Metallplatten  durch 
optisches  Herabloten  feste  Marken  für  die  gemessene  Länge  ange- 
bracht worden,  die  bei  der  zweiten  Messung  wieder  mit  eingemessen 
wurden,  um  aus  den  kleinen  sich  hierbei  ergebenden  Differenzen  ein 
Urteil  über  die  Genauigkeit  der  ganzen  Arbeit  zu  erhalten. 

Am  Nachmittage  des  24.  August  wurden  die  Instrumente,  Zelte 
und  sämtliche  Gerätschaften  nach  dem  Basisanfange  zurücktranspor- 
tiert, alle  Apparate  einer  sorgfältigen  Prüfung  unterworfen  und  noch 
an  demselben  Abend  die  nötigen  Vorbereitungen  getroffen,  um  am 
folgenden  Morgen  die  zweite  Messung  sofort  beginnen  zu  können. 
Am  25.,  26.  und  27.  August  wurde  dieselbe  programmmäfsig  in  ganz 
analoger  Weise  durcbgeführt,  dann  kamen  die  Schweizer,  acht 
Genie-Offiziere  und  zehn  Unteroffiziere  unter  Leitung  des  Oberst 
Dumur  an  die  Reihe,  um  nun  ihrerseits  eine  dritte  Messung  der 


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206 


gleichen  Grundlinie  nach  dem  Vorbilde  der  Spanier  und  unter  deren 
Anleitung  vorzunehmen,  zugleioh  als  Einübung  für  die  weiteren 
selbständig  auszuführenden  Basismessungen  in  anderen  Teilen  der 
Schweiz.  Am  Naohmittage  des  27.  August,  einige  Stunden  naohdem 
die  Spanier  ihre  zweite  Messung  beendigt  hatten,  wurden  sohweize- 
risoherseits  die  ersten  vorbereitenden  Versuche  gemacht.  Am  fol- 


Fiif.  8. 


genden  Morgen  stellte  General  Ibanez  zu  jedem  Beobachter  einen 
seiner  Offiziere,  und  zwar  denselben,  welcher  bei  den  vorhergehenden 
Messungen  die  gleiche  Operation  vorgenommen  hatte,  die  der  be- 
treffende schweizerische  Beobachter  nun  seinerseits  ausführen  mufste. 
Nach  etwa  30  Stangenlagen  rief  er  seine  Leute  zurück,  das  schweize- 
rische Personal  arbeitete  unter  Leitung  des  Oberst  Dumur  selbständig 
weiter,  und  grofs  war  die  Freude,  als  sich  beim  ersten  Festpunkte 
nur  eine  Differenz  von  einem  halben  Millimeter  gegenüber  der  spa- 
nischen Messung  ergab.  Nun  ging  es  rascher  vorwärts,  und  nach 


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206 


drei  Tagen  hatten  auoh  die  Schweizer  die  ganze  Basis  gemessen. 
Das  Resultat  stimmte  auf  3 mm  mit  demjenigen  der  Spanier  überein, 
und  das  Mittel  aus  allen  3 Längenmessungen  der  2400  m langen 
Grundlinie  erhielt  nur  einen  mittelbaren  Fehler  um  wenig  mehr  als 
einen  Millimeter. 

Die  Genauigkeit  der  Basismessung  würde  hiernach  mehr  als 
ein  Milliontel  der  Länge  betragen,  wenn  nur  die  reinen  Messungs- 
fehler in  Betraoht  kämen.  Das  ist  aber  keineswegs  der  Fall,  denn 
eine  weitere  und  beträchtlichere  Fehlerquelle  ist  die  Unsicherheit, 
welche  in  der  richtigen  Ermittelung  der  Temperatur  der  Mefs- 
stangen  zurüokbleibt.  Der  Ausdehnungs-Koeffizient  des  Eisens  ist 
nahezu  ein  Hunderttausendstel  der  Länge  für  1 0 C.,  derjenige  des 
Zinks  etwa  doppelt  so  grofs.  Die  mittlere  Stangentemperatur  mufs 
somit  bis  auf  weniger  als  0,1  0 C.  riohtig  bestimmt  werden,  wenn  die 
Unsicherheit  der  Längenmessung  infolge  der  angenommenen  Stangen- 
temperatur nioht  gröfser  werden  soll  als  die  reinen  Messungsfehler. 
Das  ist  aber  nach  allen  vorliegenden  Erfahrungen  auoh  bei  den 
bimetaliisoben  Mefsstangen  nur  sehr  schwer  zu  erreichen,  denn  so- 
bald Veränderungen  der  Temperatur  eintreten,  folgt  das  eine  Metall 
denselben  rascher  als  das  andere,  und  der  jeweilige  Abstand  der 
freien  Stangenenden  gibt  dann  nicht  mehr  die  mittlere  Stangentempe- 
ratur richtig  an.  General  Schreiber  bat  als  Vorstand  der  preußi- 
schen Landesaufnahme  bei  den  mit  dem  Besselschen  Basismeß- 
apparate  für  dieselbe  ausgeführten  Längenmessungen  besonders  ein- 
gehende V ersuche  in  dieser  Richtung  angestellt.  Er  fand,  dass  das 
Zink  bei  Temperatur-Veränderungen  diesen  stets  rascher  folgt  als 
das  Eisen  und  dass  die  hieraus  entspringenden  Fehler  in  der  Längen- 
bestimmung die  eigentlichen  Messungsfehler  beträchtlich  übersteigen. 
Diese  ganz  allgemein  bestätigte  Erfahrung  führte  dazu,  auoh  wieder 
einmetallige  Mefsstangen  zu  benutzen  und  deren  Temperatur  durch 
eingelassene  Thermometer  zu  ermitteln.  Auoh  die  vorerwähnte,  bei 
den  schweizerischen  Basismessungen  benutzte  Mefsstange  des  Generals 
Ibaiiez  bestand  nur  aus  Eisen,  und  nicht  mehr,  wie  bei  seinem 
ersten  Apparate,  aus  zwei  Metallen,  weil  auch  er  gefunden  hatte,  dafs 
die  in  dieselbe  gut  eingelassenen  4 Quecksilber-Thermometer  ihre 
mittlere  Temperatur  genauer  bestimmen  ließen  als  das  bimetallische 
Thermometer  der  Doppelstangen.  Aber  auch  die  Temperaturbestim- 
mung mit  den  Queoksilber-Thermometern  ließ  so  viel  zu  wünschen 
übrig,  dafs  andere  den  bimetaliisohen  Stangen  den  Vorzug  gaben  und 
diese  beibehielten.  Jedenfalls  wurde  die  Unsicherheit  in  der  Tempe- 


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207 


raturbestimmung  als  ein  grofser  Übelstand  ganz  allgemein  empfunden 
und  ihre  Beseitigung  als  Hauptaufgabe  zur  Vervollkommnung  der 
Basismessungen  bezeichnet.  Die  Amerikaner  legten  daher,  um  dies 
zu  erreichen,  bei  ihren  Basismessungen  für  die  „Küstenaufnahme“ 
die  MefsstaDge  ihrer  ganzen  Länge  nach  in  Bis,  um  dieselbe  auf 
konstanter  Temperatur  zu  erhalten,  und  liefsen  nur  ihre  beiden 
Endstriohe  so  weit  frei,  dafs  die  Mikroskope  auf  sie  eingestellt  werden 
konnten. 

Da  der  lange  Biskasten  schwer  2U  transportieren  ist,  bauten  sie 
der  Basis  entlang  ein  Schienengeleise,  legten  den  Kasten  mit  der  Mefe- 
stange  auf  einen  Rollwagen  und  fuhren  diesen  an  den  dem  Schienen- 
geleise entlang  aufgeetellten  Mikroskop-Theodoliten  nach  und  nach 
vorbei.  Auf  solohe  Weise  vermieden  sie  die  Temperaturfehler  fast 
gänzlich,  und  die  erreichte  Genauigkeit  betrug  in  Wirklichkeit  mehr 
als  ein  Millionstel  der  Lange.  Dieses  amerikanische  Verfahren  hatte 
aber  einen  Übelstand:  es  wurde  zu  teuer  und  umständlich  für  eine 
allgemeinere  und  hinreichend  ausgedehnte  Anwendung  desselben. 
Seit  dem  Beginn  der  wissenschaftlichen  Gradmessungen  sind  weit 
mehr  als  hundert  Grundlinien  bereits  gemessen  worden;  die  Fort- 
schritte der  Geodäsie  und  die  Ausdehnung  der  Erdmessungsarbeiten 
auf  immer  weitere  und  zum  grofsen  Teil  noch  gänzlich  unerforschte 
Gebiete  lassen  es  als  äufserst  wünschenswert  und  wichtig  erscheinen, 
einen  Apparat  zu  konstruieren,  mit  dem  LSngenraessungen  nicht  nur 
genau,  sondern  auch  leioht  und  ohne  zu  grofse  Kosten  ausgeführt 
werden  können.  Ein  Mittel  hierzu  scheint  jetzt  in  der  Tat  gefunden 
worden  zu  sein,  und  zwar  von  dem  Mitarbeiter  am  internationalen 
Mafs-  und  Qewiohts-Bureau  in  Paris,  M.  Ch.  Bd.  G ui  Hau  me,  duroh 
Entdeckung  von  N icke  I-Stahl-  Legier  ungen,  die  sich  gegen  Tempe- 
raturschwankungen  in  bezug  auf  Längenänderungen  nahezu  unemp- 
findlich sich  verhalten. 

Duroh  die  Einführung  des  Metermafses  war  in  die  Mafs- 
syBteme  der  verschiedenen  Länder  nach  und  nach  eine  immer  gröfsere 
Einheitlichkeit  gebracht  worden.  Mit  der  steigenden  Zunahme  der 
Genauigkeits-Anforderungen  empfand  man  es  aber  als  einen  nach- 
teilig wirkenden  Umstand,  dafs  das  Meter  als  solches  für  die 
Präzisions- Messungen  nicht  mehr  genau  genug  bestimmt  war.  Nach 
seiner  Definition  sollte  es  der  zehnmillionste  Teil  des  nördliohen 
Meridian-Quadranten  sein,  aber  weder  die  „Toise  von  Peru“,  nach 
der  seinerzeit  das  Meter  provisorisch  bestimmt  wurde,  nooh  auch  das 
nach  der  grofsen  französischen  Gradmessung  am  Ende  des  18.  Jahrhun- 


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208 


derts  an  ge  fertigte  „Normalmeter“  aus  Platin  entsprechen  den  heutigen 
Anfordeningen  an  ein  genaues  „Urmafs“.  Auf  Anregung  der  inter- 
nationalen Erdmessung  wurde  daher  im  Jahre  1876  ein  internatio- 
nales Mafs-  und  Gewichtsbureau  begründet  mit  Sitz  in  Paris« 
dessen  vernehmlichste  Aufgabe  die  Anfertigung  eines  allen  Anforde- 
rungen entsprechenden  „Normalmeterstabes“  bildete.  Unter  Leitung 
von  Sainte-Claire-Deville  wurde  ’ ein  solches  „Urmafs“  aus 
Platin-Iridium  hergestellt,  und  alle  beteiligten  Staaten  haben  ge- 
naue Kopien  desselben,  weiohe  den  Anforderungen  der  Wissenschaft 
und  einheitlichen  Mafsvergleichung  entsprechen,  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten erhalten. 

Dem  internationalen  Bureau  in  Paris  verblieb  nach  Anfertigung 
der  neuen  Urmafse  für  Meter  und  Kilogramm  die  weitere  Aufgabe 
der  Mafsvergleiohungen  und  vornehmlich  auch  der  genauen  Längen- 
bestimmung und  Vergleichung  aller  geodätischen  Mefsstangen,  die 
ihm  von  den  verschiedenen  Staaten  zugesandt  werden.  Zu  diesem 
Zwecke  sind  naturgemäfs  metronomische  Untersuchungen  verschie- 
denster Art  erforderlich.  Bei  einer  solohen  fand  der  Direktor  des 
Institutes,  M.  Benott,  im  Jahre  1895,  dafs  eine  Legierung  von  22  pCt. 
Niokel  und  3 pCt.  Chrom  mit  Stahl  einen  Ausdehnungs-Koefllzienten 
nahe  wie  Messing  hat.  Sein  Adjunkt,  Guillaume,  verfolgte  das 
Studium  der  Nickel-Stahl-Legierungen  weiter  und  dehnte  es  auf  die 
verschiedensten  Mischungsverhältnisse  aus,  wobei  ihm  die  Stahlwerke 
der  Gesellschaft  Commentry-Fourohambault  die  notigen  Proben 
herstellten  und  hilfreich  zur  Hand  gingen.  Es  ergab  sich  unter  man- 
cherlei Eigentümlichkeiten  im  Verhalten  der  verschiedenen  Legie- 
rungen, dafs  diese  von  25  pCt.  Nickelgehalt  an  mit  weiterer  Zunahme 
desselben  einen  immer  kleineren  Ausdehnungs-Koeffizienten  erhalten; 
bei  36  pCt  Nickelgehalt  beträgt  derselbe  nur  noch  etwa  ein  Mil- 
liontel der  Länge,  dann  aber  nimmt  die  Ausdehnung  bei  gröfserem 
Nickelgehalte  wieder  zu.  Eine  Nickel-Stahl-Legierung  von  86  pCt. 
Nickelgehalt  hat  somit  einen  zehnmal  kleineren  Ausdehnungs- 
Koeffizienten  als  Platin,  Eisen  oder  irgend  ein  Metall  mit  der  ge- 
ringsten Ausdehnung  durch  die  Wärme.  Diese  Nickel-Stahl-Legierung 
wurde  mit  dem  Namen  „Invar“  belegt  und  auf  ihre  Brauchbarkeit 
für  verschiedene  instrumenteile  Zwecke,  namentlich  auch  zur  Herstel- 
lung geodätischer  Mefsstangen,  eingehender  untersucht.  Die  Resultate 
mehrjähriger  Prüfungen,  zumal  auch  in  Hinsicht  auf  Längenverände- 
rungen bei  verschiedenartiger  Behandlung  und  mit  der  Zeit,  fielen  so 
günstig  aus,  dafs  Direktor  Benoit  sich  entschlofs,  Mefsstangen  aus 


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209 


Invar  durch  die  Stahlwerke  von  Commentry-Fourchambault  hersteilen 
zu  lassen.  Dieselben  haben  einen  I förmigen  Querschnitt  (Fig.  9),  sind 
4 m lang  und  wiegen  26  kg.  Für  den  Gebrauch  zu  geodätischen 
Messungen  wird  die  Stange  aus  Invar  in  einen  Kasten  aus  Aluminium 
eingefügt,  so  dafs  sie  vollständig  von  diesem  Metall  umgeben  und 
gegen  äufsere  Einwirkungen  beim  Transport  geschützt  ist.  Kleine, 
mit  Klappen  verschlietsbare  Öffnungen  dienen  zu  Mikroskop-Einstel- 
lungen auf  die  Endstriche,  zum  Ablesen  der  im  Kasten  angebrachten 
Thermometer  u.  s.  w.  Trotz  des  Schutzkastens  wiegt  der  ganze  Apparat 
nioht  mehr  als  65  kg,  d.  h.  etwa  15  kg  weniger  als  die  meisten  seit- 
herigen Basismefsapparate.  Wie  eingangs  erwähnt,  wurden  im  letzten 
Jahre  3 solche  Mefestangen  aus  Invar  bereits  fertiggestellt;  3 weitere 
sind  in  Arbeit,  darunter  eine  für  die  Normal-Eiohungs-Kommission 
in  Berlin. 

Eine  weitere  aussichtsreiche  Verwertung  findet 
das  Invar  zur  Herstellung  von  „Mefsdrähten“ 
für  Basismessungen  zweiter  Ordnung.  Bei  den 
oben  besprochenen  Basismessungen  erster  Ordnung 
wird  die  gröfstmögliohe  Genauigkeit  angestrebt,  und 
eine  solche  von  rund  1:1000000  ist,  wie  erwähnt, 
von  den  Amerikanern  mit  ihrem  Eisapparate  erreicht. 

Die  Längenmessungen  der  Landmesser  und  Ingenieure  sind  im 
allgemeinen  ausreichend  genau,  wenn  eine  Abweichung  von  1 : 1000 
nicht  überschritten  wird.  Zwischen  diesen  beiden  Genauigkeitsgrenzen 
ist  der  Abstand  sehr  grofs,  aber  nicht  minder  bedeutend  auch  der 
Unterschied  der  erforderlichen  Aufwendungen  an  Zeit  und  Mitteln.*! 

Für  manche  Zwecke  und  Verhältnisse,  wie  z.  B.  geodätische 
Messungen  in  unkultivierten  Ländern,  Aufnahmen  in  den  Kolonien 
u.  dergl.,  treten  Basismessungen  zweiter  Ordnung  in  ihr  Keobt,  wenn 
mit  diesen  unter  Aufwendung  geringerer  Mittel  eine  ausreichende 
Genauigkeit  erzielt  werden  kann.  Mitte  der  achtziger  Jahre  maohte 
E.  J äderin  der  schwedischen  Akademie  der  Wissenschaften  die  Mit- 
teilung, dafs  er  mit  Hilfe  von  Metalldrähten  von  20 — 50  in  Länge  eine 
verhältnismäfsig  höbe  Genauigkeit  der  Längenmessung  in  folgender 
Weise  erreicht  habe.  Die  Mefsdrähte  wurden  über  feste  Holzstativu 
gelegt,  die  in  der  Basislinie  aufgestellt  waren,  und  so  angespannt,  dafs 
an  ihren  Enden  angebrachte  Federkraftwagen  eine  genau  bestimmte 
Zeigerstellung  angaben.  Die  Dynamometer  werden  an  in  der  Linie 

*1  Die  früher  besprochene  Rasismessimg  in  der  Schweiz  kostete,  abgesehen 
von  Gehältern  der  Beamten,  Trsnaporlkoatcn  etc.,  täglich  ungefähr  500  hl. 

Himmel  und  Erde.  1W4  XVI  & 14 


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210 


eingerammte,  feste  Pfähle  angehängt,  um  die  Auflager-Stative  zu  ent- 
lasten. Diese  tragen  je  eine  aufreobtstehende,  feine  Nadel,  bei  welcher 
die  Millimeterteilung  der  Drahtenden  abgelesen  wird,  wenn  der  Mefs- 
draht  die  riohtige  Spannung  hat.  Der  Abstand  der  Stativnadeln  teilt 
die  Basis  somit  in  eine  Anzahl  mit  Hilfe  des  Mefsdrahtes  genau  zu 
bestimmender  Strecken.  Um  den  Temperatureinflufs  auf  die  Länge 
des  Mefsdrahtes  zu  berücksichtigen,  werden  Drähte  aus  verschiedenen 
Metallen,  z.  B.  Stahl  und  Messing,  benutzt  Die  Messungen  mit  dem 
einen  und  dem  anderen  folgen  zeitlioh  unmittelbar  aufeinander;  beide 
Drähte  sind  vernickelt,  um  bei  gleioh  beschaffener  Oberfläche  eine 
möglichst  gleichartige  Einwirkung  der  Temperaturschwankungen  zu 
erhalten.  Die  letzteren  bilden  auch  hier  die  hauptsächlichste  und  nur 
schwer  in  genügendem  Mafse  einzuschränkende  Fehlerquelle. 

Eine  praktische  Anwendung  dieses  Verfahrens  maohte  Ende  der 
neunziger  Jahre  Oberst  Deinert  bei  der  Landesvermessung  von 
Chile,  jedoch  mit  eigenartiger  Modifikation  der  Berücksichtigung  des 
Einflusses  von  Temperaturschwankungen.  Deinert  spannte  zwei 
Stahlbänder  von  je  50  m Länge  nebeneinander  aus  und  streckte  die- 
selben mit  Hilfe  von  eingeschalteten  Federkraftwagen  bis  zu  einer 
bestimmten  Zeigerstellung  der  letzteren.  Sich  selbst  überlassen,  zeigten 
die  Dynamometer  dann  bei  jeder  Temperatursohwankung  eine  andere 
Spannung.  Diese  Spannungsänderungen  gestatteten  einen  Rück- 
schlufs  auf  die  Temperaturveränderungen  und  gaben  dieselben  rascher 
zu  erkennen  als  aufgehängte  Quecksilber -Thermometer.  Deinert 
kam  daher  auf  den  Gedanken,  das  eine  Stahlband,  welches  an  seinem 
Platze  belassen  wurde,  zur  Temperaturkorrektion  des  anderen,  das  zur 
Basismessung  diente,  zu  benutzen.  Ein  Gehilfe  beobachtete  die  infolge 
der  Temperaturschwankungen  am  Dynamometer  des  stationären  Bandes 
auftretenden  Änderungen  in  der  Zeigerstellung  und  teilte  diese  jeweils 
sofort  durch  Telephon  oder  optische  Signale  dem  mit  der  Messung 
mittelst  des  anderen  Bandes  beschäftigten  Personal  mit.  Dadurch 
wurde  dieses  in  den  Stand  gesetzt,  eine  entsprechende  Änderung  der 
Spannung  seines  Bandes  vorzunehmen,  um  so  den  Einilufs  der  Tempe- 
raturänderungen auszugleichen.  Die  7 — 8 km  lange  Basis  wurde  in 
solcher  Weise  zweimal  gemessen  mit  einer  mittleren  Geschwindigkeit 
von  1 km  in  der  Stunde  und  einer  Abweichung  von  nur  18  mm  der 
beiden  Resultate.  Wie  weit  der  Temperatureinflufs  durch  dieses  Ver- 
fahren beseitigt  wurde,  läfst  sich  kaum  genau  beurteilen,  jedenfalls 
aber  ist  die  mit  so  geringen  Mitteln  in  kurzer  Zeit  erreichte  Genauig- 
keit der  Längenmessuug  eine  verhältnismäfsig  sehr  grofse,  soweit  nur 


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die  eigentlichen  Messungsfehler  in  Betraoht  kommen,  und  wird  die 
Unsicherheit  auch  hier  vornehmlich  noch  duroh  den  Temperaturein- 
flufs  bedingt. 

Auch  bei  den  Basismessungen  zweiter  Ordnung  mit  Meisbändern 
und  Melsdrähten  tritt  nunmehr  das  „lnvaru  hellend  ein,  da  sioh  aus 
dieser  Nickel-Stahl-Legierung  unschwer  derartige  Längenmelsapparate 
mit  einem  Ausdehnungs-Koeffizienten  von  weniger  als  1:1  000  000  für 
1 * C.  hersteilen  lassen.  Der  Direktor  des  internationalen  Mals-  und 
Gewiohts-Bureaus,  J.  R.  Benott,  berichtete  der  letzten  Versammlung 
der  internationalen  Erdmessung  von  zahlreichen  und  eingehenden 
Untersuchungen,  die  er  mit  seinem  Adjunkten  Guillaume  in  dieser 
Richtung  angestellt  hat  und  die  zu  durohaus  günstigen  Resultaten 
führten.  Infolgedessen  wurde  mit  Hilfe  der  Stahlwerke  von  Com- 
mcntry-Fourchambault  und  Decazeville  ein  Depot  fertiger  Mefs- 
drähte  aus  „Invar“  im  internationalen  Bureau  errichtet,  die  gonau 
untersucht  und  verglichen  sind,  so  dals  allen  Anforderungen  direkt 
entsprochen  werden  kann.  Solche  haben  Bich  bereits  immer  zahl- 
reicher eingestellt,  für  Frankreich  selbst  wie  für  das  Ausland,  dar- 
unter auch  für  das  preufsische  geodätische  Institut  auf  dem  Telegraphen- 
berge bei  Potsdam,  welches  zugleich  Zentralbureau  der  internationalen 
Erdmessung  ist.  In  der  Kapkolonie  wurde  vor  kurzem  eine  Basis- 
messung mit  Invar-Mefsdrähten  mit  gutem  Erfolge  ausgeführt,  und 
auoh  die  beiden  interessanten  Gradmessungs- Expeditionen  der  Neu- 
zeit, die  schwedisch-russische,  die  in  Spitzbergen  milst,  und  die  fran- 
zösische, welche  in  Peru  die  nahezu  vor  zwei  Jahrhunderten  dort 
ausgefiihrte  Gradmessung  mit  allen  Hilfsmitteln  der  Neuzeit  wieder- 
holt, sind  aufser  mit  Basismelsapparaten  erster  Ordnung  nach  dem 
früheren  Systeme  auoh  mit  Melsdrähten  aus  „Invar“  ausgerüstet. 
Unzweifelhaft  werden  sioh  die  letzteren  infolge  ihrer  leichten  Hand- 
habung und  Transportfahigkeit  bei  geringen  Kosten  und  verhältnis- 
mäfsig  hoher  Leistungsfähigkeit  bald  ein  weiteres  Anwendungsgebiet 
erobern  und  zur  immer  gröfsercn  Einheitlichkeit  der  Längenmafse  und 
Längenmessungen  nioht  unwesentlich  beitragen. 


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Der  Ackerboden  und  seine  Geschichte. 

Von  A.  P.  Notsehajew. 

Aus  dem  Russischen  übersetzt  von  ä Tsctmtek-  Zürich. 

fer  Boden  ist  der  Träger  der  Fruchtbarkeit  eines  Landes,  die 
Gewahr  seines  Wohlstandes.  Kein  Wunder,  dafs  er  seil  alter» 
her  die  Aufmerksamkeit  des  Menschen  auf  sich  lenkte  und  den 
Gegenstand  sorgfältigen  Studiums  bildete.  Nichtsdestoweniger  - trug 
noch  vor  kaum  dreifsig  Jahren  die  Bodenkunde  einen  rein  praktischen 
Charakter  und  war  als  spezielles  Wissensgebiet  nur  für  Landwirte  von 
Interesse.  In  letzter  Zeit  bat  sich  aber  die  Sachlage  verändert  Man 
hat  begonnen,  den  Boden,  als  eins  der  verbreitetsten  geologischen 
Bildungen,  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  zu  erforschen. 
Die  moderne  Wissenschaft  berücksichtigt  nicht  nur  diejenigen  von 
seinen  Eigenschaften,  welche  für  das  POanzenwachstum  in  Betracht 
kommen,  sondern  sucht  auch  die  Bedingungen  seiner  Entstehung  klar 
zu  stellen,  sein  Leben  zu  verfolgen  und  die  Gesetze  seiner  Verbrei- 
tung festzustellen.  Von  diesem  Standpunkt  aus  ersohoint  der  Boden 
allen  anderen  Naturkörpern  ebenbürtig,  die  an  der  Zusammensetzung 
der  Erdrinde  und  an  der  Bildung  der  Erdoberfläche  teilnehmen.  Die 
Bodenkunde  ist  nicht  mehr  eine  ausschließlich  angewandte  Disziplin, 
sondern  sie  tritt  in  innige  Verbindung  zu  der  Geologie,  Petrographie 
und  Mineralogie.  Dank  den  Arbeiten  vieler  Spezialforscher  ha!  die 
junge  Wissenschaft  riesige  Fortschritte  gemacht  und  konnte  bald  ihren 
Horizont  erweitern.  Erst  vor  wenigen  Jahren  wurde  definitiv  festge- 
stellt, dafs  die  Verbreitung  der  Bodenarten  auf  der  Erdoberfläche  keine 
zufällige  ist.  Die  wichtigsten  Bodentypen  sind  in  regelmii feigen  Zonen 
oder  Gürteln  angeordnet,  welche  sich  in  der  Richtung  vom  Äquator 
nach  den  Polen  in  gesetzmäßiger  Folge  ablösen.  Angesichts  dieser 
außerordentlich  wichtigen  Entdeckung  gewannen  die  Bodentypen  auch 
für  den  Geographen  ein  erhöhtes  Interesse. 

Die  Bodenkunde  als  selbständige  Wissenschaft  hatte  ihre  Wiege 
in  Rußland,  woselbst  auch  ihr  Jugendaller  verflossen  ist.  Die  gruml- 


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lugende  Untersuchung  von  Rupreoht  über  die  Schwarzerde  (1866) 
wurde  zu  ihrem  Fundament,  und  der  stattliche  Hau  der  neuen  Wissen- 
schaft wurde  von  Professor  W.  W.  Do  kutsch  ajew  in  Gemeinschaft 
mit  seinen  zahlreichen  Schillern  ausgeführt,  unter  denen  dem  unlängst 
verstorbenen  Prof.  N.  M.  Ssibirzew  die  definitive  Formulierung  des 
Gesetzes  von  der  zonalen  Verbreitung  der  Bodentypen  zur  besonderen 
Ehre  gereicht.  Erst  in  allerletzter  Zeit  begann  sich  die  Bodenkunde 
auch  in  Amerika  zu  entwickeln,  wo  die  neue  Riohtung  in  dem  kali- 
fornischen Professor  Hilgard  einen  Vertreter  fand. 

Worin  liegt  die  Ursache  einer  so  verspäteten  Entfaltung  der 
Wissenschaft  vom  Boden?  Warum  blieb  Westeuropa,  welches  sonst 
auf  allen  Gebieten  des  Wissens  obenan  steht,  im  Studium  dieser  ober- 
flächlichsten, der  Beobachtung  leicht  zugänglichen  geologischen  Bil- 
dung so  sehr  im  Rückstand?  Diese,  auf  den  ersten  Bliok  so  auffallende 
Tatsache  erklärt  sich  aufserordentlioh  einfach.  In  Westeuropa  gibt 
es  fast  keine  ursprünglichen,  natürlichen  Böden  mehr.  Sie  sind  alle 
durch  die  Hand  des  Menschen  vollkommen  verändert  Da  gibt  es 
keinen  Flecken  Land,  welcher  nioht  aufgelookert,  mit  dem  Mutter- 
gestein  oder  dem  Untergrund  vermisoht,  mit  verschiedenem  Material 
gedüngt  wäre,  — kurzum,  die  Böden  von  Westeuropa  sind  durch  die 
Kultur  verändert  bis  zum  völligen  Verlust  ihres  ursprünglichen  Aus- 
sehens und  ihrer  natürlichen  Eigenschaften.  In  Rufsland  liegen  noch 
Hunderte  Millionen  von  DeBsätinen ')  jungfräulichen,  vom  Pflug  unbe- 
rührten Bodens.  Überhaupt  hatte  sich  bis  jetzt  der  russische  Land- 
und  Ackerbau  in  einem  weit  geringeren  Grade  der  klimatischen  und 
der  Bodenverhältnisse  des  Landes  bemächtigt,  als  vielmehr  sich  selbst 
ihnen  unterworfen.  In  Rufsland  finden  wir  nur  halbwilde  Böden, 
in  denen  die  von  der  Natur  selbst  verliehenen  Eigenschaften  gegen- 
über den  von  der  Kultur  hineingetragenen  unbedingt  vorherrschen. 
Auf  diesen  Böden  wurde  auch  die  neue  Wissenschaft  geboren,  und 
die  Früchte  ihrer  Forschung  waren  reich.  Amerika  mit  seinem  „Neu- 
land", mit  seinen  ausgedehnten,  häufig  noch  jungfräulichen  Ebenen, 
seinen  Prärien,  seinen  Wäldern  und  Wüsten  lieferte  ein  noch  anschau- 
licheres und  vollständigeres  Material  zum  Verständnis  und  zum  Studium 
der  natürlichen  Böden,  und  es  sollten  sioh  daher  dem  engen  Kreis 
der  russischen  Bodenforsoher  bald  die  amerikanischen  Gelehrten  an- 
schliefsen. 

Der  Mangel  natürlicher  Böden  in  Westeuropa  war  auch  die  Ur- 
sache davon,  dafs  sich  dort  nicht  einmal  ein  richtiger  Begriff  des 

')  I Dess.  = 1,09  ha. 


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214 


Bodens  auszubilden  vermochte.  Einige  Forscher  verstanden  unter 
dem  Boden  die  oberfläohliohsten  Schichten  der  Erdkruste,  andere  — jene 
Erdsohicht,  in  weloher  sioh  die  Pflanzen  wurzeln  ausbroiten;  andere 
wieder  identifizierten  den  Boden  mit  dem  Horizont  der  Ackererde. 
Alle  diese  unklaren  Definitionen  entbehrten  jeder  .festen  wissenschaft- 
lichen Grundlage  und  stützten  sich  auf  rein  zufällige  Merkmale  der 
in  Westeuropa  vorherrschenden  künstlichen  Böden  Eret  Professor 
Dokutschajew  war  es  Vorbehalten,  diesem  Begriff  eine  ganz  klare 
und  vollkommen  wissenschaftliche  Definition  zu  geben.  Nach  ihm  ist 
der  Boden  jene  oberflächlichste  Schicht  der  Erdrinde,  welche  durch 
die  vereinigte  Einwirkung  von  Klima,  Atmosphäre,  Wasser,  Tier-  und 
Pflanzenwelt  verändert  wurde.  Es  ist  dies  ein  vollkommen  selbstän- 
diger Naturkörper  mit  einem  bestimmten  Komplex  von  Eigenschaften, 
die  ihm  zukommen.  Er  entsteht  infolge  von  mannigfaltigen,  zuweilen 
sehr  komplizierten  Prozessen  und  unterliegt,  wie  jedes  geologische 
Gebilde,  stetigen  Veränderungen.  Kurz,  der  Boden  hat,  wie  alles  auf 
der  Erde,  sein  eigenes  Leben,  über  dessen  Gesetze  die  Wissenschaft 
uns  aufzuklären  hat. 

Wie  bildet  sich  nun  der  Boden?  Welche  Faktoren  erzeugen 
diese  oberflächlichste  Sohicht  der  Erde  und  häufen  sie  an?  Eine  klare 
Antwort  auf  diese  Fragen  liefert  uns  jenes  grofsartige  Experiment, 
welches  die  Natur  selbBt  an  den  im  Jahre  1116  von  den  Nowgorodern 
erbauten  Festungsmauern  von  Staraja  Ladoga  am  Wolchowflufs  ange- 
stellt hat.  Die  Mauern  dieses  Baues  legten  vor  dem  Akademiker 
Ruprecht  und  dem  Professor  Dokutschajew  ein  beredtes  Zeugnis 
davon  ab,  wie  sich  der  Boden  überhaupt  bildet.  Bei  diesen  grofs- 
artigen  Ruinen  wurde  der  feste  Grund  zur  russischen  Bodenkunde 
gelegt 

Die  Mauer  war  oben  von  einer  mehrere  Zoll  dioken,  erdigen 
Sohicht  bedeckt,  und  das  fesselte  die  Aufmerksamkeit  der  Gelehrten. 
Sohon  auf  den  ersten  Blick  war  es  klar,  dafs  diese  dunkle  Deoke 
mit  dem  sie  unterlagernden  Material  nichts  gemeinsam  hatte.  Die 
Festung  war  aus  massigen  Kalksteinplatten  und  aus  Kieselsteinen  zu- 
sammengelegt worden.  Das  Gestein  ist  hart  und  gibt  unter  dem 
Hammerschlag  Funken;  seine  Farbe  ist  hellgrau,  stellenweise  grün- 
lich. Demgegenüber  ist  die  die  Mauer  überziehende  erdige  Deoke 
locker  und  läfst  sich  unter  den  Fingern  zerreiben;  sie  ist  in  ihrer 
ganzen  Masse  homogen  und  hat  eine  kaffeegraue  Farbe.  In  der  Zu- 
sammensetzung herrschen  sandige  und  tonige  Partikelchen  vor,  wäh- 
rend Kalk  fast  gar  nicht  vertreten  ist;  der  Humus  spielt  eine  ansehn- 


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liohe  Rolle.  Kurz,  auf  den  Mauern  von  Staraja  Ladoga  fand  sich  eine 
echte  Bodenschicht  vor.  Ihre  auffallende  Eigentümlichkeit  besteht  darin, 
dafs  sie  unter  den  Augen  der  Menschen  in  verhältnismäfsig  kurzer, 
historisch  nachweisbarer  Zeitspanne  entstanden  ist 

Das  Auftreten  des  Bodens  auf  den  Festungsmauern  von  Staraja 
Ladoga  war  die  Folge  ihrer  lange  andauernden  Verwitterung.  Die 
Schwankungen  der  Temperatur,  Hitze  und  Frost  Wasser  und  Kohlen- 
säure arbeiteten  während  7 */2  Jahrhunderten  an  der  Zerkleinerung 
und  Umänderung  des  Materials,  aus  welchem  die  Mauern  aufgebaut 
worden  waren. 

Alle  löslichen  Teile,  vor  allem  der  Kalk,  wurden  durch  das 
Wasser  weggeführt  In  der  aufgelookerten  Schicht  siedelte  sich  die 
Vegetation  an.  Von  Jahr  zu  Jahr  wurde  sie  mannigfaltiger  und 
üppiger.  Die  abgestorbenen  Pflanzenteile  blieben  an  Ort  und  Stelle 
und  verwandelten  sich  bei  ihrer  Verwesung  in  Humus,  welcher,  sioh 
immer  mehr  anhäufend,  der  erdigen  Schicht  ihre  eigenartige  Farbe 
verlieh.  So  bildete  sich  der  Boden  auf  dieser  Festungsmauer,  so 
bildet  sioh  der  Boden  überhaupt.  Seine  mineralischen  Elemente  stellen 
den  veränderten,  verwitterten  Rückstand  des  Muttergesteins  dar;  die 
organischen  Bestandteile  verdankt  er  der  vereinten  Arbeit  der  Pflanzen 
und  Tiere.  Somit  lassen  sich  die  Vorgänge  der  Bodenbildung  auf 
die  Verwitterung  der  Qesteinsarten  unter  wechselnder  Ein-  und  Mit- 
wirkung tierischer  und  pflanzlicher  Organismen  zurückführen. 

Bekanntlich  sind  Wasser  und  Kohlensäure  die  Hauptfaktoren  der 
Verwitterung.  Eine  ungeheure  Bedeutung  haben  auch  die  Temperatur- 
schwankungen. In  der  Sahara,  wie  überhaupt  in  den  Wüsten,  erfolgt 
die  Zerstörung  der  Gesteine  infolge  des  einfachen  Wechsels  von  Hitze 
und  Kälte,  von  Erwärmung  und  Abkühlung.  In  kalten  Klimaten 
spielt  der  Frost  eine  wichtige  Rolle.  Das  Wasser  dringt  in  die  Fels- 
spalten ein,  gefriert  hier  und  entwickelt  infolge  der  Ausdehnung  eine 
grofse  Kraft.  Wird  eine  gufseiserne  Hohlkugel  mit  Wasser  gefüllt  und 
mit  abgeschlossener  Öffnung  dem  Frost  ausgesetzt,  so  wird  sie  durch  das 
gefrierende  Wasser  auseinandergetrieben.  So  werden  auch  ganze  Felsen 
gesprengt  und  zerstört  Die  anhaltende  Wirkung  der  Temperatur- 
schwankungen und  des  gefrierenden  Wassers  zerbröckelt  sie  immer 
mehr  und  läfst  sie  zu  Kies  und  Sand  zerfallen.  Aufser  diesen  rein 
mechanischen  Veränderunaen  erfolgt  aber  auch  eine  chemische  Verände- 
rung der  Qesteinsarten.  Das  Wasser  laugt  mit  Leichtigkeit  alle  lösliohen 
Bestandteile  aus.  Diese  Wirksamkeit  wird  durch  die  aus  der  Luft  auf- 
genommene Kohlensäure  gesteigert.  Selbst  die  trägsten  Mineralien,  wie 


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216 


es  z.  B.  die  Silikate  in  ihrer  Mehrzahl  sind,  werden  vom  Wasser  nach 
und  nach  zersetzt.  Die  Natur  der  Silikate  bleibt  freilioh  bis  jetzt  in 
manchen  Beziehungen  noch  unaufgeklärt,  weil  sie  den  in  unseren 
Laboratorien  zur  Anwendung  gelangenden  Reagentien  gegenüber  außer- 
ordentlich widerstandsfähig  sind.  Doch  haben  Prof.  J.  Lemberg  und 
sein  Schüler  Dr.  Tugut  duroh  ihre  interessanten  Experimente  dargetan, 
dafs  die  Silikate  unter  hohem  Druck,  hoher  Temperatur  und  lange  an- 
dauernder Einwirkung  gelbst  von  außerordentlich  verdünnten  Losungen 
kohlensaurer  Salze  sowie  von  destilliertem  Wasser  leioht  angegriffen 
werden;  sie  gehen  dann  ebenso  leicht  wie  andere  Verbindungen  die 
mannigfaltigsten  Reaktionen  ein.  Nach  Prof.  Lemberg  vermag  das 
Wasser  unbedingt  alles,  selbst  Gold  und  Silber,  aufzulösen,  nur 
sind  dazu  eine  bedeutende  Zeit  und  ungeheure  Mengen  des  Lösungs- 
mittels erforderlich.  Da  wir  aber  nicht  im  Stande  sind,  mit  denselben 
großen  Mengen  zu  arbeiten,  wie  sie  in  der  freien  Natur  zur  Anwen- 
dung kommen,  so  ersetzen  wir  sie  bei  unseren  Laboratoriumsversuohen 
durch  gesteigerten  Druck  und  hohe  Temperatur.  Es  ist  aber  sehr 
wahrscheinlich,  dafs  viele  von  den  Veränderungen,  die  wir  unter  so 
exklusiven  Bedingungen  bewirken,  in  der  freien  Natur  auf  Schritt 
und  Tritt  von  selbst  stattfinden.  Die  Chemie  der  Silikate  steckt  noch 
in  den  Kinderschuhen;  der  aufkeimende  Wissenszweig  wird  früher  oder 
später  eine  große  praktische  Bedeutung  erlangen  und  möglicherweise 
auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  das  leisten,  was  die  organische 
Chemie  auf  demjenigen  der  Industrie  leistet.  Die  Zusammensetzung 
des  Bodens  wird  sich  dereinst  duroh  genaue  Formeln  ausdriioken, 
die  in  ihm  erfolgenden  Veränderungen  in  chemische  Gleichungen 
fassen  lassen.  Schon  heute  führten  die  Versuche  von  Prof.  Lem- 
berg zu  einem  höohst  wichtigen  Ergebnis;  sie  klärten  uns  über  die 
Herkunft  und  die  Natur  jener  Verbindungen  auf,  duroh  welche  das 
Absorptionsvermögen  der  Böden  bedingt  wird. 

Im  Grunde  genommen  lassen  sich  sämtliche  Veränderungen  der 
kieselerdehaltigen  Verbindungen,  die  an  der  Zusammensetzung  der 
Gesteinsarten  hervorragenden  Auteil  nehmen,  auf  eine  Hydration, 
d.  h.  auf  eine  Verbindung  mit  Wasser  zurückführen.  In  der  Reihe 
dieser  hydratisierten  Zersetzungsprodukte  sind  zweifellos  diejenigen 
Silikate  am  merkwürdigsten,  welche  in  jedem  Boden  anwesend  Bind 
und  sich  unter  der  Einwirkung  schwacher  Salzlösungen  leicht  ver- 
ändern. Sie  absorbieren  die  zum  Pfianzenleben  unentbehrlichen  Basen 
und  geben  sie  dann  nach  und  nach  an  das  kohlensäurehaltige  Wasser 
ab.  Infolgedessen  werden  z.  B.  die  duroh  den  Boden  passierenden 


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Kalisalzlösungen  sofort  verändert:  das  Kalium  wird  vom  Boden  fest- 
gehalten,  anstatt  desselben  finden  wir  Natrium. 

Durch  diese  komplizierten  Vorgänge  der  chemischen  Verwitte- 
rung erhält  das  zerbröckelte  Gestein  neue,  die  Entwickelung  der 
Vegetation  begünstigende  Eigenschaften,  indem  es  die  für  das  Leben 
der  Pflanze  unentbehrlichen  Stoffe  festhält,  fixiert.  Es  ist  begreiflich, 
dars  der  verwitterte,  mineralische  Bestandteil  des  Bodens  in  seiner 
Zusammensetzung  und  in  seinen  Eigenschaften  von  dem  darunter- 
liegenden Muttergestein  abweicht:  gewisse  Bestandteile  des  letzteren 
sind  durch  das  Wasser  entfuhrt  worden,  andere  sind  bis  zum  völligen 
Verlust  ihrer  ursprünglichen  Eigenschaften  verändert.  Zahlreiche  Be- 
obachtungen haben  gezeigt,  dals  unter  ähnlichen  klimatischen 
und  hydrologischen  Bedingungen  die  Verwitterungspro- 
dukte der  verschiedensten  Gesteinsarten  einander  sehr 
nahe  kommen,  mit  anderen  Worten:  innerhalb  der  Grenzen 
eines  gegebenen  physi kalisch -geographischen  Gebietes  ist 
die  mineralische  Zusammensetzung  des  Bodens  eine  mehr 
oder  weniger  gleichartige. 

Neben  den  eigentlichen  hydrochemischen  Prozessen  erscheinen 
die  Pflanzen  als  die  wichtigsten  Bodenbildner.  Selbst  die  nackten 
Felsen  können  nicht  für  unbewohnbar  gelten:  bei  völligem  Mangel 
einer  Bodenschicht  erscheinen  hier  Flechten  — die  Pioniere  der  Vege- 
tation. Indem  sie  in  ihren  Körpersäften  bedeutende  Mengen  von 
Oxalsäure  (bis  zu  5*%)  enthalten,  vermögen  sie  dadurch  die  Gesteine 
zu  zersetzen  und  ihnen  gewisse  Mineralstoffe  zu  entziehen.  Bei  ihrer 
Verwesung  liefern  sie  aber  einer  geringen  Bodenschicht  den  Ursprung, 
auf  welcher  sich  dann  schon  etwas  gröfsere,  wenn  auch  immer  noch 
anspruchslose  Pflanzenarten  zu  befestigen  vermögen,  so  z.  B.  das 
Heidekraut.  Die  Wurzeln  solcher  Pflanzen  wirken  nicht  nur  che- 
misch, sondern  auch  mechanisch,  indem  sie  in  die  feinsten  Spulten 
eindringen  und  dieselben  bei  ihrem  Waohstum  erweitern.  Die  Wurzeln 
gröfserer  Bäume  sprengen  auf  diese  Weise  ganze  Felsblöcke  ab,  wo- 
für man  in  waldigen  Schluchten  zahlreiche  Beispiele  findet.  Von  den 
senkrechten  Felsen  trennen  sich  keilförmige  Blöcke  ab  und  stürzen 
dann  hinunter.  So  arbeiten  die  Baumwurzeln  unausgesetzt  an  der 
Vorbereitung  der  Felsstürze.  Kleinere  Pflanzen,  wie  Heidekraut, 
Flechten,  Moose,  erzielen  geringere  Wirkungen,  sie  wirken  aber 
durch  ihre  Masse  und  lockern  nach  und  nach  die  Gesteinsoberfläche 
so  weit  auf,  dafs  man  von  einer  Bodenschicht  sprechen  kann,  auf 
welcher  sich  dann  andere,  weit  mannigfaltigere  und  anspruchsvollere 


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Pflanzen  ansiedeln.  Hat  aber  die  Vegetation  den  Felsen  mit  einer 
zusammenhängenden  Decke  überkleidet,  dann  wird  ihre  chemische 
Einwirkung  eine  gewaltige.  Die  abgestorbenen  Pflanzenteile  bilden 
bei  ihrer  Verwesung  unter  freiem  Luftzutritt  Kohlensäure  und  Wasser, 
deren  Rolle  bei  der  Verwitterung  der  Felsarten  wir  bereits  kennen. 
Häufen  sich  aber  die  Pflanzenreste  in  grofsen  Mengen  an,  so  wird 
ihre  rasche  Zerstörung  unmöglich.  Es  erfolgt  dann  eine  langsame 
Zersetzung,  bei  welcher  nioht  nur  Kohlensäure  und  Wasser,  sondern 
auch  eine  Reihe  von  organischen  Verbindungen,  darunter  verschiedene 
Säuren  entstehen,  die  als  starke  Lösungsmittel  wirken  und  die  weitere 
Veränderung  der  mineralischen  Bodenbestandteile  fördern.  Indem  sie 
sich  von  Jahr  zu  Jahr  anhäufen,  bilden  diese  verwesenden  Pflanzen- 
reste  jenen  Komplex  von  organischen  Verbindungen,  welcher  den 
Namen  „Humus“  trägt.  Der  Humus  verleiht  dem  Boden  auch  seine 
mehr  oder  minder  dunkle  Farbe. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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ffi 

1 

fxigfrJiri  iSI  isirJOf  rfl  lei  rillö  f0  pjmtOOTnl 

Im  Reiche  des  Äolus. 

Von  Dr  Alexander  Rumpelt -Taormina. 

(Fortsetzung.) 

ich  ein  anderer  Gott  hat  auf  den  Liparischen  Inseln  eine  Enklave 
oder  besser  ein  Absteigequartier,  der  sonst  in  der  Tiefe  des 
Ätna  mit  seinen  schwarzen  Gesellen  am  Feuer  steht  und 
hämmert:  Hephäst  oder  Vulkanus.  Die  Insel  Volcano  trägt  heute 
noch  seinen  Namen,  wie  sie  zur  Zeit  der  Griechen  Hiera  Hephaistu, 
die  dem  Hephäst  heilige  hiefs. 

„Die  Liparäer  bilden  sich  ein,  Hephästos  habe  in  Hiera  seine 
Schmiede,  weil  man  hei  Nachtzeit  ein  starkes  Feuer  und  den  Tag  über 
Rauch  von  der  Insel  aufsteigen  sieht.“  So  Thuoydides  (III.  Buch, 
88.  Kap.),  der,  angekränkelt  von  der  Zweifelsucht  des  hochkultivierten 
Athen  jener  Tage,  schon  nicht  mehr  so  recht  an  die  alten  frommen 
Märchen  glaubt 

Die  Liparäer  aber  glaubten  ganz  ernstlich  an  ihren  rauhen  Feuer- 
gott, der  auf  allen  ihren  Münzen  wiederkehrt,  entweder  als  Büste  mit 
einer  runden  Kappe  über  den  Ohren  oder  in  ganzer  Figur,  nackt 
sitzend,  den  Hammer  in  der  Hand.  Die  Rückseite  der  meist  seltenen 
und  schönen  Münzen  weist  hingegen  auf  die  Bedeutung,  die  das  Meer 
für  die  Bewohner  hatte,  durch  Darstellung  eines  Nachens,  eines  Scbiffs- 
vorderteils  oder  eines  springenden  Delfins  hin.  Eine  Menge  alter 
Schriftsteller1)  erwähnen  Volcano,  ein  Beweis  dafür,  welchen  Eindruck 
der  feuerspeiende  Berg  mitten  im  Meere  auf  die  abergläubische  Phantasie 
der  Menschen  von  jeher  ausgeübt  hat.  Nooh  im  frühesten  Mittelalter,  wo 
man  Volcano  für  die  Hölle  des  Theodor  ich  hielt,  war  Vulcania,  wie 
ee  damals  hiefs,  ein  Deportationsort  für  schwere  Verbrecher.  Das  geht 
aus  Cassiodor  hervor,  der  in  einem  Reskript  (Variae  III.  47)  einen 
Edelmann,  der  einen  anderen  im  Streit  ersohlagen  hat,  zur  lebensläng- 
lichen Verbannung  ebendahin  verurteilt  Die  Stelle  ist  für  die  da- 


')  Die  Literatur  hat  Prof.  Berireat  a.  a.  O.  8.  205  ft.  zusammeniretragen. 


220 


malige  Auflassung  vulkanischer  Erscheinungen  charakteristisch,  und 
da  sie  auch  Bergest  nur  kurz  berührt,  obsohon  sie  geeignet  ist,  die 
Frage  nach  der  Entstehung  von  Vuloanello  ihrer  Lösung  näher  zu 
bringen,  so  kann  ich  cs  mir  nicht  versagen,  sie  hier  mitzuteilen  und 
zwar  getreu  dem  Original  mit  seinem  weitschweifigen,  blumenreiohen 
Stil,  womit  der  höchste  richterliche  Beamte  des  Ostgotenreiohes  das 
Urteil  aussohmückt.  ..Da  (auf  Vulcania)  soll  der  Mörder  mit  dem 
mörderischen  Feuer  zusammen  hausen,  das  dort  seit  Jahrhunderten 
die  Eingeweide  der  Erde  verzehrt  Und  doch  bleibt  trotz  des  an- 
dauernden Brandes  die  Masse  der  Insel  unversehrt,  weil  nämlich  die 
unverwüstliche  Schöpferkraft  der  Natur  das  Gestein  immer  wieder 
ersetzt  (!),  welches  das  gefräfsige  Feuer  vertilgt  hat  An  diesem  Ort 
soll  er  fern  der  Welt,  aus  der  er  einen  andern  grausam  entfernt  hat, 
als  Einsiedler  leben  wie  der  Salamander,  der  sein  Dasein  im  Feuer 
zubringt!“  Dann  schliefst  der  merkwürdige  Richterspruch  mit  einer 
nochmaligen  Abschweifung  auf  naturwissenschaftliches  Gebiet:  „Es 

melden  aber  die  alten  Geschichtsschreiber,  dafs  diese  insei  aus  den 
Meereswellen  feurig  glühend  hervorgebrochen  sei  in  demselben  Jahre, 
da  llannibal  am  Hofe  des  Königs  Prusias  Gift  nahm.  Es  ist  doch 
höchst  wunderbar,  dafs  ein  von  solchem  Feuer  erglühender  Berg 
von  den  Meeresfluten  verborgen  gehalten  wurde  und  die  Flamme,  die 
soviel  Wasser  bedeckte,  dort  beständig  lebendig  bleiben  konnte.“ 

Es  ist  klar,  dafs  die  letzten  Worte  sioh  nioht  auf  die  Insel  Vol- 
cano  selbst  beziehen,  deren  Vorhandensein  viel  früher  bezeugt  ist, 
sondern  jedenfalls  auf  die  kleine  Kratergruppe  des  Volcanello,  die 
nördlich  von  dem  Hauptstock  der  Insel  gelegen  ist.  Erst  der  grofse 
Ausbruoh  von  1650  füllte  (nach  Fazellus)  die  bis  dabin  freie  Durch- 
fahrt mit  vulkanisohen  Auswürfen  zu,  so  dafs  Volcanello  jetzt  die 
nördliche  Spitze  der  Insel  Volcano  bildet. 

Nun  fällt  Hannibals  Selbstmord  in  das  Jahr  183  v.  Chr.,  und 
Cassiodors  Gewährsmänner  waren  Orosius  und  Livius,  der  im 
39.  Buch,  Kap.  öfi  das  Entstehen  einer  Insel  unweit  Siziliens  in  Han- 
nibals Todesjahr  erwähnt.  Damit  wäre  die  Frage  entschieden,  wenn 
dem  nicht  eine  Stelle  bei  Aristoteles  entgegenstände,  der  eine  ganz 
ähnliche  Naturerscheinung  beriohtet,  die  sich  iin  vierten  Jahrhundert  in 
der  Nähe  von  Lipara  zutrug.2)  — Diese  seit  alters  her  berühmte  und 
merkwürdige  Insel  beBChlofs  ich  noch  am  Nachmittag  meiner  Ankunft 
zu  besuchen,  da  der  anhaltende  Westwind  schwere  See  zu  bringen 
drohte  und  mir  die  Überfahrt  später  vielleicht  unmöglich  machen  würde. 

*)  Genaueres  hierüber  siehe  hei  Prof.  Bergest  a.  a.  O,  S.  199  ff. 


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221 


So  stieg  ich  mit  meinem  Mentor  in  eine  Segelbarke  und  liefs 
mioh  zunächst  von  zwei  Fischern  an  der  Ostkiiste  hinrudem.  bis  wir 
in  der  Nähe  der  Meerenge  (Bocche  di  Volcano)  einen  vorzüglichen 
Wind  bekamen,  so  d&fs  das  grorse  Dreiecksegel  aufgezogen  werden 
konnte.  Prächtig  schofs  das  Boot  dahin,  mit  der  Backbordseite  sich 
tief,  fast  bis  zur  Höhe  der  aufzischenden  Wellen  überneigend.  Don 
Giovanni,  ein  Freund  des  Schwefelbergwerksdirektors  auf  Volcano, 
hatte  Briefe  an  diesen  zu  überbringen.  Denn  Briefträger  gibt  es  auf 
Volcano  ebensowenig  wie  eine  regelrechte  Post.  Nur  einmal  in  d>  r 
Woche  legt  die  ,.Cor6ioa“  daselbst  an,  aber  nioht  am  nördlichen,  sondern 
am  südlichen  Ende  der  Insel.  Zugleich  wollte  mein  Begleiter,  der  glück- 
liche Besitzer  von  vier  Kaps  auf  Volcano  war,  seinen  Weinbauer  be- 
suchen, den  er  da  auf  dem  Westabhang  des  Monte  Lentia  sitzen  hatte. 

Bald  nach  der  Ausfahrt  hatten  wir  ein  kleines,  anregendes  Inter- 
mezzo. Eine  Fischerbarke  kam  uns  entgegen,  und  ihre  Insassen  ver- 
ständigten unsere  Fischer  schon  von  weitem,  sie  hätten  einen  tamburo, 
eine  Trommel  gefangen.  Ich  liefs,  als  sich  die  Boote  begegneten, 
halten  und  gewahrte  auf  dem  Steuersitz  einen  sonderbaren  Fisch, 
weifsgläozend,  etwa  dreiviertel  Meter  lang  und  ebenso  hoch,  aber 
ziemlich  schmal.  Er  gehörte  offenbar  zur  Klasse  derCipuddi  (Zwiebel- 
fische). Sein  auffallend  geringer  Umfang  rührte  daher,  dafs  man,  wie 
ich  erfuhr,  seine  .Henkersmahlzeit“,  eine  Unzahl  kleiner  Fische,  be- 
reits aus  dem  Magen  entfernt  hatte.  Trotzdem  und  obschon  ihm  noch 
dazu  sämtliche  Flossen  abgeschnitten  waren,  damit  er  sich  hübsch 
ruhig  verhalte,  lebte  er  noch,  was  durch  ein  starkes  Keuchen  und  die 
Bewegung  der  Augen  kenntlich  wurde.  Bald  zog  er  das  Auge  ganz 
nach  innen,  so  dafs  es  völlig  hinter  einer  dicken,  weifson  Haut  ver- 
schwand, bald  drehte  er  es  wieder  heraus. 

„Und  wie  habt  ihr  ihn  gefangen?“  .Der  Kerl  war  betrunken.“ 
.Was,  betrunken?“  .Ja,  wir  sahen  ihn  treiben,  fuhren  hin,  und  da 
liefs  er  sich  ohne  weiteres  packen.  An  den  Augenhöhlen  hoben  wir 
ihn  heraus  und  hinein  in  den  Kahn.“  .Wie  viel  wiegt  er  wohl?“ 
•Sechzig  Kilo  wird  er  haben.“  .Und  ist  das  Fleisch  efsbar?“  .Aus- 
gezeichnet, da  schlagen  wir  unsere  dreifsig,  vierzig  Lire  heraus.“ 

Froh  des  unverhofften  Fanges  ruderten  die  beiden  ihre  jappende, 
äugen  verdrehende  Beute  nach  dem  Hafen.  Don  Qiovanni  erklärte 
den  seltsamen  Fall  damit,  dafs  der  Trommelfisch  nach  der  reichlichen 
Mahlzeit  jedenfalls  an  die  Oberfläche  des  Meeres  gekommen  sei, 
um  sich  zu  sonnen  und  ungestört  seinen  Frafs  zu  verdauen.  Da 
habe  ihn  der  Schlaf  überkommen,  so  dafs  er  von  dem  Nahen  dei 


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222 


Barke  nichts  gemerkt  habe.  „Womit  hätte  er  sioh  betrinken  sollen? 
Mit  Seewasser?  Nein,  er  war  das  Opfer  eines  unbedachten  Nach- 
mittagsschläfchens geworden.“ 

„Es  gibt  wohl  viele  merkwürdige  Fische  hier?*  „Ja,  z.  B.  wurde 
im  vorigen  Jahr  ein  Capidoglio  gefangen.“ 

Die  Augen  der  beiden  Fischer  blitzten,  und  oft  unterbrachen  sie 
Don  Giovanni  mit  Erläuterungen  und  Berichtigungen,  als  er  mir 
folgendes  erzählte: 

„Im  August  1902  bemerkten  die  Wachen  der  Palamitara  unter 
dem  Kap  des  Monte  Rosa  eine  ungewöhnliche  Bewegung  der  Netze. 
Im  Sommer  kommen  dort  nämlich  die  Palämiti  (ein  mittelgrofser,  sehr 
wohlschmeckender  Fisoh)  zu  Millionen  vorbei,  um  zu  laichen.  Und 
ähnlich  wie  man  am  Festland  und  auf  Sizilien  die  Tonnaren  auslegt 
lur  die  Thunfisohe,  so  ist  die  Palamitara  ein  ganzes  System  von  Tauen 
und  Netzen,  um  die  Palämiti  abzufangen.  Die  Waohen  benachrich- 
tigten durch  Zeichen  die  Kameraden  am  Ufer;  sechs  Boote  zu  je  vier 
Rudern  stiefsen  ab.  Bald  sah  man,  was  geschehen:  eine  Flosse 
tauchte  heraus  von  der  Gröfse  einer  Ozeandampferschraube,  dann 
ein  Kopf  wie  ein  kleines  Gebirge.  Hoch  sohlug  das  WasBer  ringsum 
auf.  Ein  ungeheurer  Wal  hatte  sioh  in  dem  Netzwerk  verstrickt  und 
suchte  vergeblich,  sich  zu  befreien.  Man  liefs  ihn  eine  Zeitlang  toben, 
bis  er,  völlig  von  den  starken  Pfriemgrasnetzen  umschnürt,  allmählich 
matter  um  sich  sohlug.  Da  nahten  sich  ihm  die  Kühnsten,  warfen 
ein  starkes  Tau  hinter  der  Schwanzflosse  um  den  Leib  des  Tieres 
herum,  knüpften  die  Schlinge,  und  nun  zogen  die  seohs  Boote,  im 
ganzen  vierundzwanzig  Ruder,  das  Ungetüm  in  die  Nähe  des  Ufers. 
Den  Riesen  ans  Land  zu  bringen,  war  unmöglich.  Um  ihn  zu  töten, 
stach  man  mit  Messern,  man  hieb  mit  Beilen  auf  ihn  ein,  man  be- 
schofs  ihn  aus  Revolvern  und  Pistolen.  Alles  umsonstl  Endlich  ge- 
lang es,  mit  einem  der  gröfsten  Fleischermesser  seine  Weiohen  zu 
öffnen.  Eine  ganze  Barkenlast  blutiger  Eingeweide  quoll  heraus,  und 
im  Nu  hatte  sich  auch  sohon  ein  Hai  eingestellt,  der  sich  das  köstliche 
Futter  wohl  schmecken  liefs.  Der  Hai  wurde  ebenso  erlegt  wie  auch 
noch  ein  kleinerer  Wal,  der  alsbald  herzugeschwommen  kam,  jeden- 
falls das  Kind  des  grofsen  Capidoglio.  Als  es  mit  ihm  zu  Ende  war, 
zog  mau  ihn  an  den  Strand.  Er  mafs  33  m in  der  Länge.  Mehrere 
Hektoliter  Öl  wurden  ihm  abgezapft  — schlechtes  öl,  nur  für  die  Ma- 
schinen. Aber  da  der  Kadaver  — Sie  können  es  sich  denken,  anfangs 
August  — bald  in  Verwesung  überging  und  den  Gestank  kein  Mensch 


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223 


ertragen  konnte,  wurde  er  zerstückelt  und  auf  den  Monte  Rosa  an 
eine  öde  Stelle  gebracht.“ 

„Und  da  liegt  er  noch  heute?" 

„Nein,  einige  Monate  Bpäter  kam  ein  englischer  Professor.  Der 
hat  das  Skelett  für  das  Museum  in  London  mit  sieh  genommen. 
Tausend  Lire  hat  er  bezahlt,  und  das  war  nicht  zu  viel;  denn  das 
Ungeheuer  halte  den  Fischern  ihre  grofse  schöne  Palamitara  voll- 
ständig zerstört.“  — 

Durch  die  Bocche  di  Voloano  tauchten  alsbald  die  schon  vom 
Dampfer  flüchtig  beobachteten  Klippen  wieder  auf,  die  Petra  lunga 
mit  ihrer  Durchfahrt,  die  hier  sichtbar  wurde,  und  der  scoglio  Minarda, 
weit  draufsen,  beständig  von  den  Wogen  umrausoht,  nur  von  Möwen 
bewohnt.  Im  Hintergrund  kamen  die  beiden  blauen  Kegel  von  Fili- 
cudi  und  Alicudi  zum  Vorschein.  Dieses  präohtige  Seestück  rahmten 
rechts  die  freundlich  grünen  Abhänge  des  Monte  Guardia,  links,  voll 
starrer  Öde,  die  niedrige  Lavaterrasse  des  Volcanello  ein. 

Und  jetzt  nähern  wir  uns  diesem  „zierliohsten  Vulkangebilde 
der  liparischen  Inselwelt“  (Bergeat),  d.  b.  dem  östlichsten  der  kleinen 
Drillingskrater,  dessen  eine  Hälfte  ins  Meer  gesunken  ist,  und  dem 
wir  im  Vorübergleiten  sozusagen  ins  Herz  sehen. 

Wild  durcheinander  geworfenes,  brüchiges  Gestein,  rotleuchtend. 
Eine  kräftige,  schwarze  Rippe  durchzieht  es  von  unten  nach  oben. 
Den  Bruob  bedecken  zu  beiden  Seiten  sich  hinaufschiebende  Lava- 
schichten; das  war  mein  Eindruck.  Damit  der  Leser  ein  noch  klareres 
Bild  gewinne,  füge  ioh  die  Beschreibung  dieses  wichtigen  geologischen 
Punktes  durch  Bergeat  (S.  196)  an:  „Wie  wenn  man  eine  Zwiebel 
entblättert,  so  dafs  unter  jedem  äufseren  Blatt  noch  ein  Stück  von  der 
Fläche  des  nächstfolgenden  inneren  zutage  liegt,  so  ist  jener  kleine 
Kegel  nicht  einfach  angeschnitten,  sondern  die  einzelnen  ineinander 
geschachtelten  Schalen  von  Tuff  und  Schlacken  sind  teilweise  in  ihrer 
vollen  Fläche  freigelegt,  und  im  Innern  sieht  mau  die  grobschlackige, 
von  einem  Lavagang  durchsetzte  Kernmasse.“ 

Bald  darauf  landeten  wir  in  einer  kleinen  Buoht  und  klommen 
zwischen  Ginsterbüschen  empor.  Zwei  Arten  unterschied  ich,  den 
Besenginster  (ginestra  etnensis)  und  weiter  oben  einen  in  Büscheln 
prächtig  goldgelb  blühenden.  Das  frische  Grün  und  Gelb  des 
Pflanzenwuchses  vermehrte  nooh  die  Buntscheckigkeit  der  Forgia 
vecohina  („alte  Schmiede“),  wie  dieser  muldenförmige  Abhang  heilst. 
Es  hob  sich  belebend  von  der  rostbraunen  Lava  und  der  tiefschwarzen 


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224 


Asche  weiter  oben  ab,  wo  dann  noch  ein  anderes  Gelb  zwischen 
weifsen  Dampfwolken  aufleuchtete:  die  Sohwefelstufen  der  Fumarolen. 

Bald  von  aller  Vegetation  verlassen,  ging  es  steil  den  Zickzack- 
weg zura  Krater  hinauf.  Vergebens  halte  ich  in  der  Nähe  der  Pietre 
Gotte  („gebratene  Steine“),  eines  kleinen  Obsidianstromes,  nach  den 
berühmten  Bomben  gesucht,  die  der  Krater  beim  Ausbruch  1888 — 90 
hierher,  etwa  zwei  Kilometer  duroh  die  Luft,  berausgeschleudert  hatte. 
Auch  diese  Bomben3),  im  Volumen  von  etwa  zehn  bis  fünfzehn  Kubik- 
metern, hatte  ein  Engländer  für  ein  Museum  erstanden  und  mitge- 
nommen. Wie  e6  möglich  war,  solche  Kolosse  fortzubewegen  und  in 
die  Barke  zu  bringen,  ist  mir  ebenso  rätselhaft  geblieben  wie  der 
Umstand,  dafs  der  Kran  eines  gewöhnlichen  Dampfers  eine  so  grofse 
Last  heben  konnte,  ohne  zu  brechen. 

„Hoffentlich  haben  die  Engländer  den  Krater  Stehen  lassen, 
sonst  bleiben  wir  lieber  gleioh  unten.“  Don  Giovanni  versicherte 
mir,  dafs  sie  den  noch  nicht  mitgenommen  hätten. 

Auf  halber  Höhe  der  Forgia  vecchina  kamen  wir  an  einem 
Schwefelofen  vorbei.  Er  besteht  aus  einer  Ringmauer  mit  einer  kleinen 
Öffnung,  nur  wenig  über  der  Erde.  Die  Ringmauer  wird  mit  dem 
schwefelhaltigen  Gestein,  das  bereits  in  der  Nähe  lagerte,  angefüllt, 
letzteres  angezündet,  und  das  „Öl“,  wie  man  hier  den  verflüssigten 
Schwefel  nennt,  fliefst  durch  ein  Bleirohr,  das  man  in  die  Öffnung 
steokt,  in  die  darunter  aufgestellte  Holzform.  Also  dasselbe  primitive 
System  wie  in  den  kleineren  Schwefelgruben  im  Innern  Siziliens.  Von 
hier  an  begleitete  uns  der  Capo,  der  Aufseher  der  acht  in  der  Forgia 
arbeitenden  „coatti“.  Er  ist  gleichfalls  ein  ehemaliger  Sträfling,  der 
wie  so  manoher  andere  auf  den  Inseln  geblieben  war,  sioh  verheiratet 
hatte  und  nun  in  ehrlicher  Arbeit  sein  früheres  Sündenleben  sühnte. 
Niemand  fragte  danach,  was  er  verbrochen  hatte.  Ja,  er  bekleidete 
sogar  eine  Art  Ehrenamt,  indem  er  die  Aufsicht  über  die  Sträflinge 
erhalten  und  damit  die  Verantwortung  übernommen  hatte,  dafs  diese 
nicht  heimlich  entflohen.  Jeden  Abend  schlofs  er  die  acht  Mann  in 
eine  Baracke  am  Strand  ein,  und  am  Morgen  liefs  er  sie  wieder 
heraus. 

Schwor  keuchend  auf  dem  steilen,  schlüpfrigen  Pfad  kamen  uns 
jetzt  vier  der  Sträflinge  entgegen,  jeder  einen  Sack  Gestein  im  Ge- 
wicht von  sechzig  bis  siebzig  Kilo  auf  dem  Rücken.  Wir  traten  bei- 
seite. „Warum  sind  es  so  wenige?“  fragte  ich  den  Capo.  „Die  Aus- 
beute ist  viel  geringer  als  früher,  wo  drei,  ja  vierhundert  Leute  hier 

3)  von  Bergoat  auf  Tafel  XXI  abgebildet. 


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•225 


gearbeitet  haben  sollen.  Aber  wir  sind  jetzt  auf  neue  reichhaltige 
Lager  gestofsen,  und  das'Gesuch  ist  schon  eingereioht,  dafs  wir  weitere 
vierzehn  coatti  bekommen.“ 

Es  ist  nämlich  eine  besondere  Vergünstigung,  die  nur  bei  guter 
Führung  erteilt  wird,  außerhalb  des  Kastells  auf  der  Nachbarinsel 
zu  hausen  und  zu  arbeiten  1 Der  Tageslohn  beträgt  1 Lira  50  Cts. 
(1,20  M ),  nicht  viel  im  Hinblick  auf  die  sohwere  Mühe,  aber  doch 
auch  nicht  weniger  als  ein  Landarbeiter  in  Sizilien  für  zwölfstündiges 
Erdhacken  bekommt. 

Nach  etwa  einer  halben  Stunde  Steigens  wehte  uns  ein  heifser, 
höchst  übelriechender  Qualm  entgegen,  echter  Schwefelwasserstoff. 
Wir  kamon  zu  den  Kumarolen.  Aus  breiten,  überall  mit  Schwefel 
beschlagenen  Spalten  quoll  der  atembenehmende  Dampf.  Mitten  in 
dem  Qualm  stand  ein  Häuer,  der  das  gelöste  Gestein  den  vier  anderen 
Trägern  in  ihre  Säcke  füllte.  Es  wird  nur  Tagbau  getrieben,  die 
heifsen  Schwefelstüoke  kühlen  schnell  ab. 

Der  Capo  hielt  uns  wie  ein  gewiegter  schweizer  Bergführer 
sicher  an  der  Hand,  als  es  galt,  über  einige  abschüssige  Platten  zu 
balanzieren.  Dann,  als  wir  auf  den  Piano  delle  Fumarole  kamen,  wurde 
der  Weg,  den  sich  jeder  selbst  in  der  Asche  zwischen  den  zahlreichen 
Bomben  suchte,  besser.  Nicht  lange,  so  standen  wir  am  Rande  der 
„fossa  di  Vulcano“  und  sahen  in  den  Krater  hinein. 

Er  bildet  eigentlich  nur  noch  eine  historisch-geologische  Merk- 
würdigkeit. Sein  Durchmesser  hat  sich  nach  Bergeat  (S.  181)  von 
600  Metern  auf  200  Meter  in  der  Richtung  N.N.W.— S.S.O  und  auf  140 
Meter  in  der  Achse  W.S.W. — O.S.O.  verringert,  sein  Boden  infolge  der 
Aufschüttung  durch  die  Eruption  von  1888 — 18110  um  etwa  fünfzig  Meter 
erhöht.  Man  schätzt  die  in  den  Krater  damals  zurückgefallenen  Aus- 
wurfsmassen auf  75,000  Kubikmeter.  So  bietet  der  Anblick  der  fossa, 
den  frühere  Beschreiber  nicht  genug  rühmen  konnten,  jetzt  niolits  Groß- 
artiges mehr.  Bergeat  fand  den  Krater  1804  schon  im  Solfataren- 
zustand,  aber  dieser  ausgezeichnete  Beobachter  erweckt  durch  Wort 
und  Bild  doch  die  Vorstellung  einer  noch  ziemlioh  lebhaften  Tätigkeit. 
Ich  sah  nur  an  zwei  Stellen  ganz  kleine  Dampfwölkchen  aufsteigen, 
im  übrigen  war  alles  graue,  totenstille  Einförmigkeit.  So  scheint  es, 
dafs  nach  jenem  gewaltigen  letzten  Paroxismus  die  fossa  di  Vulcano 
sioh  dem  Zustand  völliger  Ruhe  immer  mehr  nähert. 

Ein  wenig  enttäuscht  wandte  ich  mich  von  diesem  Bilde  starrer 
Öde  nach  Norden  und  genofs  zura  ersten  Male  den  köstlichen  Blick 
auf  sämtliche  sieben  Inseln  des  Archipels.  Im  Vorblick  über  dem 

nimmst  und  Kr.il).  19CH.  XVI.  S.  15 


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226 


Vulcanello  ruht  Lipari  breit,  behaglich  in  den  Wellen,  überragt  von 
den  beiden  Oipfeln  des  benachbarten  Salina.  Zur  linken  erheben 
sich  die  beiden  Kegel:  Filicudi  und  Alicudi,  zur  rechten  das  steil- 
abfallende  Panaria,  daneben  die  kleine  Insel  Basiluzzo,  ganz  fern  der 
Stromboli  aus  den  strahlenden  Fluten.  Zu  Füfsen  aber  glanzten  von 
der  Sandbank  zwischen  uns  und  dem  Vulcanello  im  sanften  Lioht 
der  Nachmittagssonne  grüne  Weingärten  und  eine  grofse  Feigen- 
plantago  herauf.  Vor  wenigen  Jahren  erst  auf  dem  durch  die  Erup- 
tion völlig  verwüsteten  Grund  angelegt,  zeigen  sie,  wie  schnell  in 
diesem  gosegneten  Klima  die  Natur  imstande  ist,  die  von  ihr  ge- 
schlagenen Wunden  wieder  zu  heilen. 

Für  den  Besuch  beim  Weinbauer  war  es  leider  zu  spät  geworden. 
Dafür  folgten  wir  der  Einladung  des  Direktors,  und  nachdem  ich  seine 
reiche  Sammlung  vulkanischer  Mineralien,  darunter  besonders  herr- 
liche Schwefelkristalle  besichtigt  hatte,  verbrachte  ich  auf  der  Terrasse 
seines  Landhauses,  umduftet  von  Beseda  und  Glyoinien,  ein  gemüt- 
liches Tee6tündchen.  Ich  erfuhr,  dafs  der  ganze  nördliohe  Teil  der 
Insel  nebst  dem  Abbaurecht  bereits  seit  1870  einem  Engländer  Stefen- 
son  aus  Glasgow  gehöre,  der  aber  noch  nie  dieses  sein  Besitztum 
betreten  habe.  Die  Ausbeute  an  Salmiak,  Borsäure  und  Schwefel  war 
vor  dem  Ausbruch  ziemlioh  reich  gewesen,  von  1873 — 76  jährlich  im 
Durchsohnilt  8 Tonnen  Borsäure,  20  Tonnen  Salmiak  und  240  Tonnen 
Schwefel  (die  Tonne  = 20  Zentner).  Da  hatte  der  Ausbruch  in  der 
Nacht  vom  3.  zum  4.  August  1888  mit  seinen  glühenden  Bomben  die 
Borsäurefabrik  in  eine  Ruine  verwandelt,  das  Schwefellager  ausge- 
brannt und  auch  das  Wohnhaus  arg  beschädigt.  Der  damalige  Di- 
rektor war  nach  den  ersten  Schüssen,  die  ein  heftiges  Erdbeben 
begleitete,  mit  seiner  Frau  aus  dem  Bett  gesprungen  und  auf  den 
Vulcanello  geflohen,  wo  beide  nur  mit  dem  Nötigsten  bekleidet,  am 
nächsten  Morgen  gefunden  wurden,  halb  tot  vor  Angst  und  Sohrecken. 

„Ich  bewundere  Sie,  gnädige  Frau“,  sagte  ich  zu  der  Signora 
Toscano,  die  alsbald  mit  zwei  reizenden  kleinen  Mädohen  an  der 
Hand  ersohien,  „dafs  Sie  es  hier  zu  Füfsen  dieses  schlafenden  Un- 
geheuers aushalten  können,  in  dieser  Einsamkeit,  von  der  übrigen 
Welt  vollständig  abgeschnitten“. 

„Oh,  ich  habe  es  hier  doch  ganz  gut.  Sehen  Sie  da  unseren 
schönen  Gemüse-,  Obst-  und  Blumengarten,  dort  den  nahen  Badestrand, 
wo  wir  uns  im  Sommer  erfrischen,  und  da  diese  wundervolle  Seeland- 
schaft nach  Salina  und  Alicudi  hin.  Mein  Mann  hat  seine  Geschäfte 
mit  der  Sohwefelsiederei,  dem  Wiederaufbau  der  Fabrik,  vor  allem 


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mit  der  groben  Weinpflanzung  und  der  neuen  Feigen plantage.  Ich 
habe  im  Hause  genug  Arbeit.  Wir  haben  lange  Jahre  in  der  groben 
Welt  gelebt,  in  Messina,  Petersburg,  Odessa  — ich  bin  eine  Russin 
— und  kennen  sie  zur  Genüge.  Da  tut  uns  jetzt  die  Ruhe,  der  Friede 
hier  unendlich  wohl.  Und  wie  gut  bekommt  den  Kindern  das  gesunde 
Klima!“  Sie  zog  das  gröbere  Mädchen  an  sich,  sagte  ihm  etwas  ins 
Ohr,  worauf  die  beiden  Kinder  verschwanden  und  alsbald  mit  einem 
schönen  Straub  wiedererschienen,  den  sie  mir  zum  Andenken  über- 
reichten. Denn  schon  drängten  die  Fischer  zur  Abfahrt,  da  sieb  im 
Westen  ein  böses,  schwarzes  Wetter  aufbaute. 

Ich  nahm  von  diesen  „einsamen  Menschen“  nioht  ohne  tiefen 
Anteil  Absohied.  Wir  bestiegen  unsere  Rarke  und  gingen  mit  einem 
steifen  W.N.W.  pfeilgeschwind  durch  die  erregten  Wogen  zurück. 


15' 


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Die  Pearsallsche  Geld-Rohrpost 

Von  Leopold  Katsrlirr  in  Budapest 

«er  Telegraph  und  da«  Tolephon  arbeiten  schnell,  eignen  sich  aber 
nicht  zur  Beförderung  greifbarer  Dinge.  Da  tritt  die  pneumatische 
Röhre  in  ihre  Rechte  — teils  als  die  bekannte  Rohrpost  der 
europäischen  Millionenstädte,  teils  als  das  in  den  grofsen  Handels- 
emporien der  Vereinigten  Staaten  eingeführte  Batohellersche  System 
pneumatischer  Post-  und  Paketröhren.  Die  pneumatische  Röhre  besitzt 
einen  dem  Telegraph  und  dem  Telephon  fohlenden  Vorzug:  sie  ist  ein 
Beförderungsmittel.  Für  kurze  Strecken  — also  etwa  innerhalb 
einer  und  derselben  Stadt  — ist  ein  gutes  pneumatisches  System  sogar 
das  denkbar  rascheste  und  zuverlässigste  Beförderungsmittel  von 
Schriftstücken,  Paketen  und  sogar  Telegrammen.  In  London  und 
New  York,  in  Boston  und  Philadelphia  verschickt  das  Hauptpostamt 
die  Ortsdepesehen  nicht  per  Draht,  sondern  per  Rohr.  Ein  weiterer 
Vorteil  des  letzteren  ist  die  grofse  Einfachheit  des  Betriebs. 

Bekanntlich  wird  die  zur  Anwendung  gelangende  Luft  entweder 
im  komprimierten  Zustand  hinter  der  Beförderung» buchse  her  gesohickt 
oder  vor  ihrangesogeö,  d.  h.  die  Apparate  werden  entweder  durch  Druck 
oder  durch  Vakuum  betrieben.  In  beiden  Fällen  kamt  es  zweierlei  Lufl- 
stromanwendungen  geben:  entweder  eine  unaufhörliche  oder  eine 
zeitweilige,  auf  die  jeweilige  Beförderungszeit  beschränkte.  Heute 
will  ich  die  Leser  mit  einem  zwar  noch  neuen,  aber  doch  schon  sott 
mehreren  Jahren  in  der  nordamorikanischen  Union  vorzüglich  be- 
währten pneumatischen  Vakuumsystem  mit  kontinuierlichem  Luftstrom 
bekannt  machen  — dem  „Pearsallschen.“  Der  Erfinder,  Albert 
W.  Pearsall,  ist  seit  Jahrzehnten  als  ein  hervorragender  Fachmann 
ui  pneumaticis  anerkannt.  Speziell  im  Gebiete  der  Luftröhren  für 
geschäftliche  Kassenzwecke  hatte  er  bereits  mehrere  Erfindungen  ge- 
macht, die  Anklang  fanden,  ehe  er  das  in  idealer  Weise  vervoll- 
kommnte System  ausbildete,  von  dein  ich  sprechen  will  und  von  dessen 


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Einführung  erstaunlicherweise  in  Europa  noch  ebensowenig  zu  sehen 
ist  wie  von  der  des  umfangreichen  Batchellerschen  Systems*),  ob- 
gleich beide  Systeme  in  ihrer  Anwendung  auf  Handel  und  Wandel 
glänzende  Lichtseiten  ohne  jeden  Nachteil  aufweisen. 

Pearsall  (oder  eigentlich  die  New  Yorker  „The  Pearsall  Pneu- 
matic  Tube  and  Power  Company“)  stellt  Röhren  von  vier  verschiedenen 
Durchmessern  her:  2>/4  Zoll,  3,  4 und  5 Zoll.  Am  gebräuchlichsten 
ist  das  kleinste  Modell,  von  dem  es  zwei  Arten  gibt:  für  Geld  und 
für  Briefe,  Botschaften  oder  andere  Papiere.  Am  üblichsten  ist  das 
Bargeldbeförderungsrohrsvstem,  wie  es  die  grofsen  Geschäftshäuser, 
die  nur  gegen  bar  verkaufen,  jetzt  anwenden,  um  die  zahllosen  Be- 
träge, die  täglioh  von  den  Kunden  bezahlt  werden,  in  ein  Kassen- 
zimmer  zu  sohioken  und  das  zum  Herausgeben  notwendige  Kleingeld 
von  dort  zu  erhalten.  Das  Dreizollrohr  befördert  zusammengefaltete 
Zeitungen,  Gerichtsakten  und  andere  Drucksachen  oder  Schriftstücke 
von  angemessener  Gröfse.  Für  die  gröfseren  Gegenstände  sind  die 
Vier-  und  FUnfzollröhren  bestimmt.  Auf  Bestellung  können  auch 
6— 7zöllige  Anlagen  hergestellt  werden;  noch  gröfsere  (8 — 12  Zoll) 
gehören  bereits  dem  Batchellerschen  System  an. 

Alle  Firmen,  die  die  Pearsallsche  üeldrohrpost  — so  kann  man 
sie  wohl  um  besten  nenuen  — benutzen,  vereinigen  das  ganze 
Kassenwesen  in  einem  Saal  und  verbinden  diesen  mit  mehreren 
Punkten  des  Warenhauses.  Jeder  von  einem  Kunden  bezahlte  Betrag 
wird,  zusammen  mit  einem  Verkaufszettel  (Buchhaltungsbeleg),  durch 
das  dem  betr.  Verkäufer  nächstliegende  Rohr  in  den  Kassensaal  ge- 
schickt; sollte  Kleingeld  zum  Herausgeben  erforderlich  sein,  so  ist  es 
in  wenigen  Sekunden  da.  Soll  die  Zahlung  für  einen  Einkauf  erst 
bei  Ablieferung  des  Pakets  erfolgen,  bo  wird  die  Rechnung  ebenfalls 
in  den  Kassensaal  befördert  (und  zwar  in  Büchsen,  die  sich  von  den 
gewöhnlichen  unterscheiden),  um  von  dort  uneröffnet  über  eine  kurze 
pneumatische  Verbindungslinie  zum  „Ablieferungs- Kassenpult“  zu 
gelangen. 

Ein  Kassenbeamter  vermag,  je  nach  der  Lebhaftigkeit  des  je- 
weiligen Geschäftsganges,  5 bis  10  Linien  zu  bedienen.  Deshalb  sind 
die  Linien  im  Kassenraum  in  Gruppen  von  5 bis  10  Röhren  geteilt. 
Die  Zentralisierung  aller  Kassierer  in  einem  Saal  — die  notwendige 
Folge  der  Anwendung  Pearsallscher  Anlagen  — erhöht  deren 
Arbeitsfähigkeit  bedeutend.  Auch  sonst  ist  das  neue  System  ein  sehr 

*)  Vergl.  den  Aufsatz  „tiinimel  und  Erde“,  Jahrg.  XIV,  8.  81. 


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zeitsparendes.  Da  kein  Verkäufer  in  einem  Gesohäft  ohne  pneu- 
matische Geldpost,  wenn  nicht  Irrtümer  entstehen  sollen,  einen  zweiten 
oder  gar  dritten  Kunden  bedienen  kann,  ehe  der  erste  sein  Kleingeld 
erhalten  hat,  geht  viel  Verkaufszeit  verloren,  was  in  einem  vielbesuchten 
Laden  — namentlich  in  den  grofsartigcn  Kaufhäusern  der  Union,  sowie 
denjenigen  in  Paris,  London  u.  s.  w.  — die  Anstellung  einer  gewissen 
Mehranzahl  von  Verkäufern  nach  sich  zieht.  Die  Benutzung  Pearsall- 
scher  Röhrenanlagen  maoht  eine  Anzahl  Kommis  überflüssig,  abgesehen 
davon,  dafs  die  Käufer  nicht  lange  zu  warten  brauchen,  bis  sie  an  die 
Reibe  kommen  oder  Kleingeld  erhalten.  Überdies  werden  die  Boten 
erspart,  die  das  Geld  zum  Schalter  und  das  herausgegebene  Kleingeld 
zurückbringen.  Alles  in  allem  ist  die  Regieverringerung  bei  der  An- 
wendung Pearsallsoher  Rohren  eine  sehr  erhebliche;  ein  hervor- 
ragendes New  Yorker  Warenhaus  schätzt  die  mittelst  ihrer  sechzig 
pneumatischen  Linien  erzielte  Regieersparnis  auf  volle  20  pCt.l 

Der  Bau  der  Anlagen  ist  ungemein  einfach.  Sie  nehmen  wenig 
Raum  ein,  können  nicht  leicht  in  Unordnung  geraten,  vertragen  nach 
Belieben  eine  senk-  oder  eine  wagreohte  Lage,  arbeiten  infolge  sinn- 
reicher Vorrichtungen  geräuschlos,  lassen  sich  nach  Bedarf  im  Sou- 
terrain oder  in  den  oberen  Stockwerken  anbringen  und  haben  ein  ele- 
gantes Äufsere.  Ein  eigenartiger  dicker  Lacküberzug  erhält  die  Röhren 
dauernd  schön.  Ein  weiterer  Vorzug  ist,  dafs  die  Beförderungs- 
geschwindigkeit  durch  Abänderungen  des  Vakuums  geregelt  werden 
kann.  Die  übliche  beträgt  ca.  6 m pro  Sekunde,  dooh  lassen  sich 
auoh  12  m und  bei  Röhren  mit  gröfserem  Durchmesser  noch  mehr 
erzielen. 

Was  nun  die  technische  Seite  betrifft,  so  lehrt  die  Erfahrung, 
dafs  Vakuumsysteme  bei  kurzen  Entfernungen  weniger  Kraft  erfor- 
dern und  dafs  der  Dauerstrom  überdies  den  Vorteil  bietet,  in  einem 
gegebenen  Zeitraum  mehr  Büchsen  befördern  zu  können  als  der  un- 
unterbrochene Strom,  bei  welchem  mit  einer  zweiten  Büchse  gewartet 
werden  mufs,  bis  die  erste  ihren  Bestimmungsort  erreioht  hat.  Bei 
Dauerstrom  können  mehrere  Büchsen  gleichzeitig  unterwegs  sein. 
Auch  vollzieht  sich  die  Büchsenbeförderung  beim  IJauer-Vakuum- 
system  in  viel  einfacherer  Weise  als  bei  den  anderen  Systemen 
— ein  Punkt  von  entscheidender  Wichtigkeit,  wenn  es  sich  um  die 
Bedienung  mehrerer  Linien  durch  eine  Person  handelt,  wie  dies  bei 
Pearsalls  Geldrohrpost  der  Fall  ist.  Der  Hauptsache  nach  besteht  der 
Büchsenbeförderungsvorgang  darin,  dafs  die  Büchse  durch  eine  Öff- 
nung („inlet“)  im  Absende-Apparat  („receiver“)  in  den  Luftstrom 


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gelangt;  dann  schiefst  sie  von  selber  davon,  bis  sie  den  Bestimmungs- 
ort erreicht. 

Gehen  wir  auf  die  technischen  Einzelheiten  über,  soweit  sie 
unsere  Leser  interessieren  dürften.  Der  Mantel  der  Büchse  ist  von 
etwas  kleinerem  Durchmesser  als  die  Röhre  und  ist  an  beiden  Enden 
mit  Filzpuffern  von  bester  Qualität  und  grofser  Dauerhaftigkeit  ver- 
sehen. die  zur  Sohonung  der  Büchsen  unterwegs  dienen  und  gleich- 
zeitig das  Auflallen  auf  das  Pult  bei  der  Ankunft  dämpfen.  Die  ge- 
raden wie  die  gebogenen  Röhren  bestehen  aus  Messing  — entweder 
hartgelötetem  oder  nahtlos  gezogenem;  die  Verbindungsstellen  werden 
durch  Bekleidung  der  aufeinander  treffenden  Kohrenden  mit  einer 
knapp  passenden  Muffe  hergestellt.  Es  bleibt  sich  hinsichtlich  des 
Betriebes  gleich,  ob  die  Büchsen  hinauf  oder  hinunter  befördert 
werden.  Selbstverständlich  unterscheiden  sich  die  Betriebsstationen 
der  Kassensäle  wesentlich  von  denen  der  Verkaufsräume.  Über  den 
Mechanismus  sei  nachstehend  nur  das  Notwendigste  mitgeteilL 

Der  Luftstrom  geht  in  der  einen  Richtung  durch  das  eine,  in  der 
anderen  durch  das  andere  Rohr,  wobei  zu  beachten  ist,  dafs  beim 
Vakuumsystem  der  Druck  durchweg  — ausgenommen  am  Beginn  der 
Linie  — schwächer  ist  als  der  der  Atmosphäre.  Da  die  Luft  reich- 
lich in  die  Absendeöffnung  strömt,  besteht  die  letztere  lediglich  aus 
einer  glockenförmigen,  die  Einschaltung  der  Büchse  erleichternden 
Mündung  am  offenen  Ende  (oder  Anfang)  des  Rohrs.  Im  Verkaufs- 
raum sind  diese  Mündungen  mittels  einer  Angeltiir  verschlossen,  die 
beim  Abschicken  der  Büchse  mit  einem  Finger  geöflnet  wird,  um  sich 
nach  deren  Aufnahme  selbsttätig  zu  schliefsen.  Was  nun  die  An- 
kunft betrifft,  so  ist  der  Ausgang  gewöhnlich  mit  einer  biegsamen 
Klappe  vorschlossen,  welche  im  geeigneten  Augenblick  von  der  an- 
kommenden  Büchse  automatisch  geöflnet  wird,  sich  nach  deren  Aus- 
tritt von  selbst  schliefst  und  durch  den  Druck  der  Atmosphäre  ge- 
schlossen gehalten  wird,  ln  den  Stationen  der  Verkaufsräume  fällt 
die  Büchse  einfach  auf  das  Pult;  in  denen  des  Kassensaales  gleitet 
sie  in  eine  abschüssige  Rinne,  aus  der  der  Kassierer  sie  entnimmt. 
Hat  er  momentan  keine  Zeit,  so  können  mehrere  Büchsen  in  der  Rinne 
das  Herausnehmen  abwarten.  Damit  bei  den  Kassierern  kein  Zweifel 
entstehen  könne  über  die  Verkaufsstelle,  von  der  eine  Büchse  lier- 
rührt,  hat  jede  Stelle  ihre  Nummer,  welche  auch  auf  allen  zu  ihr  ge- 
hörigen Büchsen  in  schwarzer  Emaillierung  erscheint.  Die  weiter 
oben  erwähnten  Büchsen,  die  die  Rechnungen  der  erst  bei  Abliefe- 
rung ins  Haus  zu  bezahlenden  Einkäufe  enthaltcu,  unterscheiden  sich 


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von  den  Geldbüchsen  duroli  ihre  roten  Filzpuffer;  die  anderen  Puffer 
sind  schwarz. 

Die  Handhabung  der  zur  Beförderung  von  Briefen  und  anderen 
Schriftstücken  bestimmten  Linien  gleicht  im  wesentlichen  der  der  Geld- 
linien. Um  die  für  diesen  Dienst  unerläfslichen,  gröfseren  Büchsen 
zulassen  zu  können,  bringt  Pearsall  hier  Rohrbiegungen  von  be- 
sonders langem  Radius  an.  Speziell  bei  den  Netzen  mit  Röhren  von 
3 bis  5 Zoll  Durchmesser  ist  dafür  gesorgt,  dafs  auch  die  empfind- 
lichsten und  gebrechlichsten  Gegenstände  durch  die  Beförderung  nicht 
Schaden  leiden.  Zu  diesem  Behuf  sind  sinnreiche,  erschütterungs- 
dämpfende und  geräuschlose  Vorrichtungen  vorhanden.  Schliefslich 
sei  noch  erwähnt,  dafs  Pearsall  für  die  Betriebskraft  seines 
Systems  keine  bestimmten  Vorschriften  macht.  Die  betr.  Anlagen 
können  nach  Belieben,  oder  nach  den  besonderen  Umständen,  ent- 
weder Gebläse  oder  Kompressionsmaschinen  oder  „Inspiratoren1'  an- 
wenden. Bei  ganz  kleinen  Anlagen  wird  in  der  Regel  ein  „Inspira- 
tor1' genügen,  bei  Druckluftsystemen  gewöhnlich  eine  Kompressions- 
masohine,  bei  Vakuum  zumeist  ein  Gebläse  am  Platze  sein;  doch 
werden  wohl  fast  immer  Raumrücksiohten  und  der  Kostenpunkt  ent- 
scheidend bleiben.  Der  Inspirator  ist  natürlich  am  kleinsten  und 
billigsten,  doch  verbraucht  er  verhältnismäfsig  mehr  „Kraft“  als  das 
Gebläse  oder  die  Kompression.  Wo  ein  Gebläse  benutzt  wird,  kann 
es  entweder  durch  eine  Dampfmaschine  oder  durch  einen  elektrischen 
Motor  betrieben  werden.  Ersterenfalls  empfiehlt  sich  als  das  spar- 
samste Verfahren  bei  grofsen  Anlagen  ein  mit  einer  vertikalen 
Maschine  unmittelbar  verbundenes  Gebläse.  Handelt  es  sioh  um  einen 
Motor,  so  erfolgt  die  Verbindung  mit  dem  Gebläse  durch  Treibriemen 
oder  durch  Transmission.  Der  in  letzterem  Falle  sonst  übliche  laute 
Lärm  ist  durch  ein  von  Pearsall  ersonnenes  Verfahren  vermieden. 

Wir  haben  es  da  also  mit  einer  ebenso  einfachen  wie  genialen 
Erfindung  zu  tun,  einer  neuen  praktischen  Anwendung  des  pneu- 
matischen Prinzips,  einer  weiteren  Ausgestaltung  des  Rohrpostwesens. 


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X-Strahlenuntersuchung  diluvialer  Knochenreste.  Es  dürfte  nur 
wenigen  bekannt  sein,  dafs  nicht  nur  die  Röntgendurchstrahlung 
lebender  Körper  der  Wissenschaft  die  wichtigsten  Ergebnisse  geliefert 
hat.  ln  vieler  Hinsioht  gestalten  sich  an  der  Leiche  die  Aufnahme- 
bedingungen sogar  weit  günstiger  als  am  lebenden  Individuum.  Die 
Strahlen  werden  zwar  auch  hier  durch  die  Fleischpartien  wesentlich 
aufgehalten,  aber  doch  nicht  so  stark  zerstreut  wie  in  lebender 
Substanz.  Allerdings  ist  die  Verwaschung  der  Knochenschatten 
immer  noch  stark  genug,  um  ein  Erkennen  aller  feineren  Struk- 
turformen unmöglich  zu  machen.  Beim  Skelett  fallen  alle  stören- 
den Nebenerscheinungen  naturgemäß  fort,  und  der  innere  Aufbau  der 
Knochen  zeigt  sich  in  überraschender  Deutlichkeit  — Gelegentlich 
der  Untersuchung  diluvialer  Knochenreste,  insbesondere  derjenigen  des 
Neandertal  - Menschen,  ist  die  Ansicht  aufgetaucht,  es  handele  sich 
bei  dem  Skelett  mehr  um  eine  pathologische  Abnormität  als  um  eine, 
einer  ganzen  Hasse  zukommende  typische  Bildung.  Im  wirren  Streit 
der  Meinungen  über  diesen  Gegenstand  haben  nunmehr  die  Röntgen- 
strahlen  in  gewichtiger  Weise  das  Wort  ergriffen.  Otto  Walkhoff 
teilte  vor  einiger  Zeit  in  den  Sitzungsberichten  der  Münohener  Aka- 
demie der  Wissenschaften  mit,  dafB  der  radiographische  Befund  beim 
Neandertal  - Menschen  eine  pathologische  Bildung  völlig  ausschlösse 
Da  die  Nahtlinien  der  Extremitäten  auf  ein  junges  Individuum  hin- 
deuteten, könne  auch  der  Schädel,  wie  vielfach  angenommen  sei,  nicht 
einem  Greise  angehört  haben.  Es  handele  sich  wahrscheinlich  um 
einen  Menschen  vor  dem  dreißigsten  Lebensjahre.  Auch  zeige  der 
Verlauf  der  ßälkchen  in  den  Schenkelknochen  mit  Sicherheit,  dafs 
das  Individuum  aufrecht  gegangen  sei.  Sehr  interessant  sind  eben- 
falls die  Untersuchungen  Walkhoffs  an  dem  sogenannten  Spvfund. 
Die  Kieferreste  weisen  dort  eine  Entwickelung  auf,  wie  wir  sie  heute 
als  pathologisch  bezeichnen  würden.  Es  handelt  sich  nämlich  um 
Kauwerkzeuge  von  mehr  als  respektablen  Dimensionen.  Der  Röntgen- 
befund Bpricht  jedoch  gegen  eine  krankhafte  Bildung.  Man  darf  also 


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annehmen,  dafs  unsere  Kauwerkzeuge  infolge  bequemerer  Nahrungs- 
zufuhr  in  der  Rückbildung  begriffen  sind,  vielleicht  zugunsten  der 
Sohädelbildung.  D. 

$ 

Magnetische  Tonscherben.  Im  Jahre  1899  hatte  Folgheraiter 
bei  der  Untersuchung  von  griechischen  und  etruskisohen  Tongefäßen 
eine  höchst  merkwürdige  Entdeckung  gemacht,  er  fand  sie  fast 
ausnahmslos  magnetisch.  Aus  den  Spuren  von  Magnetismus  konnte 
er  gleichzeitig  sehr  scharfsinnige  und  interessante  Schlüsse  auf  die 
Schwankungen  der  erdmagnetisohen  Inklination  in  längst  vergangenen 
Zeiten  ziehen.  Seine  Untersuchungen  sind  neuerdings,  wie  ein  fran- 
zösisches Fachblatt  meldet,  von  L.  Meroanton  wieder  aufgenommen 
und  auf  eine  grofse  Anzahl  aus  der  Bronzezeit  stammender  und  in 
den  Pfahlbauten  der  Schweizer  Seen  aufgefundener  Tonsoherben  aus- 
gedehnt worden.  Auch  hier  zeigten  sich  wiederum  unverkennbare 
Spuren  von  Magnetismus.  Aber  der  Brand  der  Qefäfse  war  seiner- 
zeit ein  sehr  unregelmäßiger  gewesen;  auch  batte  der  Forscher  eben 
leider  nur  Scherben  und  Bruchstücke  in  den  Händen.  Er  zögert  da- 
her, besonders  da  auch  über  die  ursprüngliche  Situation  der  Getäfse 
wenig  mehr  festzustellen  war,  weitergehende  Sohlüsse  zu  ziehen.  Nur 
an  zwei  Uefäfsen  konnten  etwas  sichere  Daten  gefunden  werden,  und 
diese  lassen  denn  darauf  schließen , daß  in  der  Bronzezeit  und  in 
der  Nähe  des  Neuchateler  Sees  die  magnetische  Inklination  eine  mehr 
nördliche  gewesen  sein  muß.  Bei  der  unverkennbaren  Subtilität 
dieser  Versuche  wird  man,  wie  Mercanton  selbst  sagt,  noch  weit 
mehr  Beobacbtungsmaterial  abwarten  müssen.  Er  selbst  hält  die 
Untersuchungen  aber  keineswegs  für  aussichtslos,  fordert  vielmehr 
seine  Fachgenossen  auf,  auch  den  magnetischen  Eigenschaften  der 
Fundstücke  fürderhin  eine  größere  Beachtung  zu  schenken;  denn  ein 
einziger  sicherer  Befund,  der  genaue  Angaben  über  die  Richtung  der 
Inklination  gewinnen  ließe,  könnte  alle  bisherigen  Funde  mit  einem 
Schlage  zu  den  wertvollsten  Beweisstücken  machen.  D. 

* 

Erstickung  von  Bränden  mittels  schwefliger  Säure.  Die  Duft 
wird  von  der  Brandstelle  abgesaugt  und  der  darin  vorhandene  Sauer- 
stoff in  einem  von  Clayton  angegebenen  Apparat  zur  Verbrennung 
von  Sohwefel  verwandt.  Das  so  erzeugte  Gas  (schweflige  Säure,  S02) 


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wird  nun,  nachdem  es  eine  Kühlvorrichlung  durchlaufen  hat,  in  den 
gefährdeten  Raum  eiugeleitet,  woselbst  es  die  abgeBaugle  Luft  ersetzt. 
Der  Sauerstoffmangel  bewirkt  in  kürzester  Zeit  ein  Ersticken  des 
Feuers.  Das  Absaugen  der  Luft  und  die  Zuleitung  der  schwefligen 
Säure  erfolgt  durch  Rohre  oder  Schläuche.  Am  günstigsten  ist  es 
natürliob,  wenn  der  gefährdete  Raum  gut  abgedichtet  ist,  so  dafs  keine 
Zufuhr  von  Sauerstoff  von  aufsen  stattfinden  kann.  Dies  läfst  sich 
z.  B.  auf  SohilTen  erreichen.  Man  kann  auch  noch  weiter  gehen  und 
Räume,  die  selbstentzündliche  Substanzen  oder  feuergefährliche  Ma- 
terialien enthalten,  von  vornherein  mit  dem  das  füllen.  Dann  ist 
jeder  Brandgefahr  vorgebeugt.  Versuohe  haben  ergeben,  dafs  bei  An- 
wesenheit von  5 pCt  schwefliger  Säure  die  Entstehung  von  Bränden 
schon  nicht  mehr  zu  befürchten  ist  Brennendes  Petroleum,  Naphtha, 
Öl  etc.  konnte  augenblicklich  gelöscht  werden,  Holzkohle,  Heu,  Baum- 
wolle (also  Materialien,  welche  die  Wärme  schlecht  leiten)  naoh  einiger 
Zeit.  Der  Claytonsohe  Apparat  wird  entweder  direkt  an  Ort  und 
Stelle  aufgestellt,  oder  mittels  geeigneter  Beförderungsmittel  (Fracht- 
wagen, kleine  Dampfschiffe)  an  die  Brandstelle  herangefahren.  Auf 
den  Schiffen  des  Norddeutschen  Lloyd  wird  er  — und  das  war  sogar 
seine  ursprüngliche  Bestimmung  — auch  zur  Vertilgung  von  Unge- 
ziefer angewendet.  M.  v.  P. 


UHHH  Himmelserscheinungen.  $$$$ 


Übersicht  über  die  Himmelserscheinungen 
für  März,  April  und  Mai  1904. ') 

1)  Der  .Sternenhimmel.  Am  15.  März  um  1 2h , am  15.  April  um  lü*>,  am 
15.  Mai  um  81'  int  die  Lage  der  Sternbilder  gegen  den  Horizont  folgende:  Im 
Westen  int  dos  Sternbild  des  Orion,  jetzt  oin  aufrecht  stehendes  Kreuz  im  1,'nter- 
gehen.  Darüber  stehen  die  Zwillinge  und  links  von  ihnen  Procyon,,  während 
der  grofse  Löwe  mit  Regulus  eben  den  Meridian  passiert  hat,  hierunter  findet 
sich  das  langgestreckte  Sternbild  der  Wasserschlange,  genau  im  Meridian  der 

')  Alle  Zeitangaben  in  M.  E.  Z.  und  nach  astronomischer  Zählwoiso,  d.  h.  die 
Vormittagestunden  eines  Tages  sind  — mit  Ausnahme  der  Sonnenaufgänge  — 
um  12h  vermehrt  zum  vorigen  Tage  gerechnet 


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23»5 


Becher,  davon  link»  der  Rabe.  Im  Osten  konunt  das  grofse  Sternbild  der  Jung- 
frau mit  der  Spioa  gegen  die  Mittagslinie  heran,  darüber  eteht  der  gleichfalls 
bedeutende  Bootes  mit  Arctur.  Die  beiden  Sterne  der  Wage  sind  eben  im 
Südosten  aufgegangen.  Im  Zenit  steht  der  Himmelswagen,  die  Deichsel  nach 
Osten  gerichtet,  von  ihm  südlich  die  Jagdhunde.  Wendet  man  den  Blick  nach 
Norden,  so  steht  hoch  zwischen  dem  grofeen  und  dem  kleinen  Bären  der  Drachen, 
dessen  Sternreihe  nach  Osten  auf  den  Herkules  hinabführt.  Daneben  steht  Wega 
tief  im  Nordosten,  ihr  gegenüber  Capelia  im  Nordwesten:  die  Cassiopeia  findet 
sich  tief  am  Nordhorizont.  Zur  Orientierung  mögen  folgende  hellere  Sterne 
dienen,  die  abends  um  9 Uhr  M.  E.  Z.  kulminieren: 


Tau 

-j»  Rtktaumioi 

co 

Ptkliulitn 

frkr.29 

3 Gemin.  1.3  7h  39°>  27«  -f-  28* 

’15.5' 

|ß  Leonis 

2.0  llb44m 

10« 

1+  15* 

' 6.5’ 

llrz  6 

t Navis  3.0  8 3 

27 

-24 

1.6 

' iß  Virgin. 

3.3  1 1 

45 

42 

!+  2 

18.3 

i« 

e Hydrae  3.3  8 41 

42 

|+  6 

46.3 

6 t Corvi 

2.0  12 

5 

11 

i 22 

5.2 

18 

C Hydrae  3.3  8 .30 

19 

!+  6 

18.7 

8 7 Corvi 

2.0  12 

10 

52 

1-  17 

0.5 

24 

40  Lyncis  3. 3 9 15 

13 

1+34 

47.9 

11  i Corvi 

2.3  12 

24 

5 t 

1-  15 

58.9 

26 

i Hydrae  2.0  9 22 

52 

— 8 

14.5 

12  3 Corvi 

2.3  12 

29 

20 

-22 

52.0 

31 

s Leonis  3.0  9 40 

24 

+ 24 

13.0 

14  7 Virginia 

3.0  12 

36 

48 

- o 

55.4 

April  3 

u Leonis  1.3  10  3 

16 

+ 12 

26.2 

18  o Virginia 

3.0  12 

50 

46 

+ 3 

55.1 

7 

; Leonis  3.0  10  1 1 

21 

+ 23 

53.8 

20  e Virginia  2.6  12 

57 

24 

+ 11 

28.5 

16 

v Hydrae  3.3  10  44 

53 

— 15 

41.5 

24  7 Hydrae  3.2  13 

13 

42 

— 22 

39.9 

22 

o Leonis  2.3  11  9 

0 

+ 21 

3.0 

25  7 Virginia  1.0  13 

20 

8 

- 10 

39.6 

24 

JCrateris3.8  11  14 

• 

32 

- 14 

15.5 

28  ' Virginia  3.3  13 

29 

48 

!-  o 

6.3 

2)  Veränderliche  Sterne,  a)  Dem  unbewaffneten  Auge  und  kleineren 
Instrumenten  sind  nur  die  folgenden  Minima  der  3 helleren  Variabein  des 
Algoltypus  zugänglich: 


Algol  (3b  2m  — |- 40°  35%  Gröfso  2m.3  — 3m.4.  Halbe  Dauer  des  Mini« 
mums : 4 1 h. 


März  1 

5b 

Im 

März 

18 

9 b 

55 m April 

7 

llh38*» 

April  24 

166  3|  m 

9 

19 

29 

21 

0 

44 

10 

8 27 

27 

13  20 

12  16 

17 

April 

1 

18 

0 

13 

5 16 

30 

10  9 

15 

13 

6 

4 

14 

49 

21 

19  42 

>.  Tauri  (3b  5.r,m  -{-1*2°  14'),  Gröfso  3m.4— 4®.5.  Halbe  Dauer  des  Mini 
mums:  5 b. 

März  25  15 b lim,  März  29  14b  3“. 


2 Librae  (14  b 56m  — 8°  8'),  Gröfse  5 Halbe  Dauer  des  Mini- 

mums: 6 b. 


März  5 

6t 

1 31  m 

März 

26 

5 

h 14  m 

April  13 

206 

5 m 

Mai  9 

101 

1 30  m 

7 

14 

22 

2S 

13 

5 

16 

3 

56 

11 

18 

22 

12 

6 

5 

30 

20 

56 

18 

11 

48 

16 

10 

4 

14 

13 

57 

April 

2 

4 

48 

20 

19 

39 

18 

17 

56 

16 

21 

48 

4 

12 

39 

25 

11 

22 

23 

9 

39 

19 

5 

39 

6 

20 

81 

27 

19 

13 

25 

17 

30 

21 

13 

31 

t 

9 

4 

22 

Mai  2 

10 

56 

30 

9 

13 

23 

21 

22 

11 

12 

13 

4 

18 

47 

Namentlich  >.  Tauri  und  5 Librae  bedürfen  der  Beobachtung  auch  von 
seiten  astronomischer  Liebhaber. 

b)  Maxima  der  helleren  (>  9 — 10 m)  Veränderlichen  von  langer  Periode. 


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237 


Tag 

Name 

Ort  für  1904  = - 2 

Tag 

Name 

Orl  ffir  1904 

fco  ^ 
lla 

bri  4 

Y Cephci 

01i  112® -[-79*  50*  8 — 9 

+.12 

T Can.  min. 

7h29»i_  U*57 

9 10 

ß 

R Andrem. 

0 

19 

+ 38  3 7 

14 

U Lyrae 

19 

17 

- 37  12 

8 

7 

S Scorpii 

16 

12 

-22  40  9-10 

17 

V Oemin. 

7 

18 

+ 13  16 

8-9 

8 

V Coronae 

15 

46 

+89  51  7-8 

18 

T Can  ven. 

12 

23 

+ 32  2 

8—9 

9 

R Hydrae 

13 

25 

- 22  47  5 

24 

RR  Librae 

15 

51 

-18  1 

8-9 

11 

KU  Aquil. 

20 

8 

+ 12  42  9 

RT  Librae 

15 

1 

- 18  22 

8—9 

RR  Ccphei 

2 

31 

-1  80  44  9 

30 

U Cassiop 

o 

41 

47  44 

8—9? 

S Lyrae 

1» 

9 

+ 25  51  9 

RT  Cygni 

19 

41 

+48  32 

6-7 

12 

V Sagittae 

20 

16 

+ 20  49  19—10 

lai  2 

R Bootis 

14 

33 

+ 27  9 

7 

14 

RT  Oph. 

17 

52 

1 11  11  1 9 

3 

RV  Aquil. 

19 

36 

9 42 

9 

w „ 

16 

16 

— 7 29  9 

V Cygni 

20 

38 

4 17  48 

87 

IC 

RZ  Hereul. 

18 

33 

+ 25  58  | 9 

4 

R Aquilae 

19 

2 

4-  8 3 

7 

17 

W Aquilac 

19 

10 

— 7 13  7-8 

X Gemin. 

6 

41 

j 30  22 

8—9 

20 

V Oph. 

16 

21 

— 12  12  7 

S Urs.  mii 

12 

40 

+ 61  37 

8 

21 

RV  Here. 

16 

57 

+31  22  9 

7 

S Cygni 

20 

5 

+ 57  43 

9-10 

RT.  „ 

17 

7 

+ 27  10  9 

W Librae 

15 

32 

- 15  51 

9-10 

il 

SOphiuchi 

16 

99 

— 16  58  8-9 

9 

T Draconis 

17 

55 

■ 58  14 

8 

26 

Z Aurigap 

5 

54 

+ 53  17  9 

11 

R Vulpec. 

21 

0 

+23  26 

8 

27 

U Cancri 

8 

30 

+ 19  13  1 9 

12 

S Lyncls 

6 

36 

+.58  0 

9-10 

28 

U Hereul is 

16 

22 

+ 19  7 j 7 

17 

W Lyrae 

18 

12 

-4-86  38 

8-9 

99 

U Mono«-. 

7 

26 

— 9 35  6-7 

18 

W t'assiop. 

0 

49 

+58  ;; 

8 

30 ') 

o Ceti 

2 

15 

— 3 24  3-5 

19 

X Hydrao 

9 

31 

-14  16 

9 

31 

Y Delphini 

20 

37 

- 11  32  9—10 

20 

RZ  Cygni 

20 

49 

17  0 

9 

Ap.  1 

ST  Cygni 

20 

31 

54  88  9 

26 

Z Aquilac 

20 

10 

- 6 26 

9 

2 

X Camel. 

4 

33 

-1-74  56  9 

V Aurigae 

6 

17 

+ 47  43 

8-9 

* 

U Draconis 

19 

10 

67  7 9—40 

29 

X Cephei 

21 

3 

+ 82  41 

9-10 

9 

X Aurigae 

6 

5 

+ 50  45  8 

31 

T Urs.  mai 

12 

32 

— 60  1 

7-8 

10 

T Herculis 

18 

7 

+ 31  0 9—10 

Z Cephei 

2 

14 

+81  14 

9-10 

11 

T Cephei 

21 

8 

+ 68  6 6 

RT  Virgin. 

12 

58 

+ 5 42 

S 9 

Bei  manchen  dieser  Sterne  sind  die  Daten  auf  mehrere  Tage  unsicher, 
dieselben  müssen  also  einige  Zeit  vorher  bereits  aufgesucht  werden. 


Mehrere  Maxim*  erreichen  in  dieser  Zeit  die  Sterne: 


Name 

Ort  für  1904 

Holliirk.  im 
Maximum 

Zeiten  der  Maxima 

TX  Cygni 

20h  5Gm  +42"  13’ 

8 bis  9 m 

Mürz  3, 18  April  2, 16 Mai  1.16,34 

7X  . 

20  54 

89  48 

9 

4, 24  13  3,23 

SZ  . 

20  80 

46  16 

| 8 

5,20  4,19  5,20 

T Monocei  otis 

6 20 

7 8 

6 

8 4 1,28 

3)  Planeten.  Merkur  ist  am  *21.  April  in  gröfster  östlicher  Elongation  und 
uin  diese  Zeit  bequem  am  Abendhimmel  sichtbar,  da  er  erst  9%  Uhr  untergeht. 
Er  steht  unterhalb  der  Plejaden.  Venus  ist  im  Steinbock,  Wassermann  und 


’)  Das  eigentliche  Maximum  der  Mira  läfst  sich  nicht  beobachten,  weil 
der  Stern  am  30.  Marz  der  Sonne  zu  nahe  ist,  nur  der  Anstieg  des  Lichtes 


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238 


von  Anfang  April  an  in  den  Fischen  Morgenstern  in  abnehmendem  Glanze. 
Sie  rückt  der  Sonne  näher  und  verschwindet  Anfang  Mai  beim  Eintritt  in  den 
Widder  in  den  Sonnenstrahlen.  Am  7.  März  16b  steht  sie  nur  20'  nördlich  von 
Saturn,  am  22.  April  23 11  nur  30 1 südlich  vom  Jupiter.  Mars  wird  abends  wieder 
bequemer  sichtbar,  da  er  in  höhere  Deklinationen  kommt  Er  steht  Anfang 
März  in  den  Fischen,  tritt  am  7.  April  in  den  Widder,  wird  aber  dann  allmäh- 
lich von  der  Sonne  eingebolt,  mit  der  er  am  30.  Mai  in  Konjunktion  ist  Jupiter 
in  den  Fischen  recht  läufig  ist  nur  noch  Anfang  März  abends  kurze  Zeit  zu 
sehen,  schon  am  27.  ist  er  in  Konjunktion  mit  der  Sonne.  Am  Morgenhimmel 
wird  er  Ende  April  dicht  bei  Venus  wieder  sichtbar.  Saturn  rechtläufig  irn 
Steinbock  ist  am  Morgenhimmel  sichtbar,  anfangs  dicht  bei  Venus.  Am  letzten 
Mai  kommt  er  in  Stillstand  und  geht  dann  schon  127s  L’hr  auf.  Uranus  anfangs 
rechtläufig,  vom  3.  April  an  rückläufig  rechts  unter  u Sagittarii,  geht  vom 
25.  April  ab  vor  Mitternacht  auf.  Neptun  vom  14.  März  an  rechtläufig  nähert 
sich  immer  mehr  dom  Sterne  tu  Geminorum,  dem  er  am  8.  Mai  bis  auf  10'  von 
Süden  nahekommt,  so  dass  er  dann  leicht  gefunden  werden  kann. 

4)  Jupitermomle.  In  Mitteleuropa  sind  von  den  Finsternissen  nur  die  beiden 
folgenden  zu  beobachten: 

I.  Trabant  Eintritt  in  den  Schatten.  Mai  17«t  16b  20®  37». 

III.  Trabant  „ „ „ * 25  16  33  54. 

5)  Von  Meteoren  sind  besonders  die  Tage  vom  19.— 23.  April  belebt,  wo 
die  Lyriden  fallen.  Das  Zodiakallicht  ist  den  März  hindurch  abends  hei  Fehlen 
störenden  Lichtes  zu  sehen. 


6)  Sternbedecknngen  durch  den  Mond  (sichtbar  für  Berlin»: 


Tag 

| 

Name 

Gröfse 

Eintritt 

Austritt 

PositionBwinkel1) 
d.  Eintritts  d.  Austritt» 

März  22 

#•  Tauri 

4.2 

101*  54.6« 

11b 

41.2“ 

118° 

236’ 

#«  . 

4.2 

11 

6 3 

11 

33.1 

147 

207 

. 23 

Ml  . 

5.5 

ll 

99 

11 

56.3 

58 

306 

. *5 

/.  Geminorum 

3.8 

10 

14.2 

11 

18.4 

96 

285 

Mai  7 

X Capricorni 

5.3 

14 

27.2 

15 

39.4 

72 

259 

. 21 

r>  Leonis 

3 6 

9 

57.4 

10 

38.2 

156 

242 

7)  Mond 


Phase 

Phase 

Phase 

Vollmond 

März  1 

16b 

Letzt. Viert  April  7 

7h  ! 

Letzt.  Viert 

Mai  7 

1 b 

Letzt.  Viert 

8 

14 

Neumond 

15 

11 

Neumond 

15 

0 

Neumond 

16 

19 

Erst.  Viert 

22 

18 

Erst.  Viert 

21 

23 

Erst.  Viert 

24 

11 

Vollmond 

29 

12 

Vollmond 

28 

22 

Vollmond 

31 

2 

Erdnähe 

März  1 

9 h 

Erdferne 

April  10 

10  h 

Erdferne 

Mai  8 

5h 

Erdferne 

13 

19  l 

Erdnäht 

26 

7 

Erdnähe 

22 

11 

Erdnähe 

29 

11 

*)  Gezählt  vom  nördlichsten  Punkte  des  Mondes  nach  links  herum. 


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239 


Tag 

Aufgang 

for 

Untergang 
Bei  lin 

Tag 

Aofean* 

for 

Untergang 

Berlin 

Tag 

Aufgang  Untergang 
for  Harlin 

lin  1 

5*  1 1 “ 

18h  50“ 

April  5 

12h  36“ 

21h 

27“ 

1»  5 

1 2h  42m 

22h 

2“ 

6 

11 

44 

21 

23 

10 

15 

41 

1 

16 

10 

14 

54 

2 

12 

n 

16 

9 

0 

28 

13 

17 

39 

6 

37 

15 

17 

15 

7 

46 

16 

IS 

SS 

5 

32 

20 

20 

58 

11 

58 

20 

22 

14 

12 

15 

21 

20 

39 

10 

59 

*25 

1 

43 

15 

16 

25 

3 

20 

14 

43 

26 

0 

11 

13 

34 

30 

8 

11 

17 

48 

30 

9 

f» 

17 

54 

»i 

6 

45 

18 

14 

i 

i 

8)  Sonne. 


Sonntair  Sternzeit  f.  den  ; Zeitgleichung  Aufgang  Untergang 
g rnittl.  Berl  Mittag  mittl.  — wahre  Z.  für  Berlin 


Febr.  28 

| 22  h 

27  m 

24.7. 

+ 

12“ 

56.7  > 

7h 

0“ 

5h 

39“ 

März  6 

22 

55 

0.5 

+ 

ii 

21.2 

6 

44 

0 

52 

13 

23 

22 

36.4 

+ 

9 

41.9 

6 

28 

6 

4 

20 

23 

50 

12.3 

+ 

7 

41.4 

6 

12 

6 

17 

27  | 

0 

17 

48.1 

+ 

5 

33.8 

5 

55 

6 

29 

April  3 ■ 

0 

45 

24.0 

+ 

3 

25.9 

5 

39 

6 

41 

10 

1 

12 

59.8 

+ 

1 

25.2 

5 

23 

6 

53 

17 

I 

40 

35.7 

— 

0 

21.6 

5 

7 

7 

5 

24 

2 

8 

11.6 

— 

1 

50.3 

4 

52 

7 

ie 

Mai  1 

4 

35 

47.5 

— 

2 

56.8 

4 

38 

7 

30 

8 

3 

3 

23.3 

— 

3 

36.9 

4 

24  | 

7 

41 

15 

3 

30 

59.2 

— 

3 

48.5 

4 

13 

7 

53 

22 

3 

.58 

35.1 

— 

3 

32.4 

4 

3 

8 

3 

29 

4 

26 

11.0 

— 

s 

51.3 

3 

55 

8 

12 

Am  16.  März  von  loh  36®.5  bin  21 h 45“. 0 findet  eine  ringförmige  Sonnen- 
finatemia  statt,  welche  aber  in  Kuropa  gänzlich  unsichtbar  ist. 


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F.  Grünwald:  Die  Herstellung  der  Akkumulatoren.  Halle.  Verlag  von 

Wilh.  Knapp. 

Der  kleine,  im  Taschenformat  musgegebene  Leitfaden  ist  trotz  seines  ge- 
ringen Umfangs  außerordentlich  reichhaltig.  Dor  Autor  versteht  es,  alles 
Wesentliche  über  die  Geschichte  der  Blei-Akkumulatoren,  über  die  Verarbei- 
tung der  Rohmaterialien,  Über  das  physikalische  und  praktische  Verhalten  der 
Zellen  im  Betriebe  und  über  dib  Anwendung  und  Schaltuog  dor  Akkurau- 
latoren-Batterien  mit  Geschick  und  verständlich  zu  sagen.  Für  den  Fachmann 
dürfte  das  Grünwaldsche  Büchlein  ein  recht  angenehmes  und  nützliches 
Vademekum  sein.  D. 

Fürst  Albert  I.  von  Monaco:  Eine  Seemanns-Laufbahn.  Verlag  von 
Boll  & Pickardt,  Berlin.  Autorisierte  Übersetzung  aus  dem  Französischen 
von  Alfred  H.  Fried. 

Die  ‘ses  Werk  von  Fürst  Albert  von  Monaco:  „Eine  Seeinan  nslau  f- 
bahn“  ist  ein  Bild  seines  eigenen  Lebens.  Nicht  daß  der  Verfasser  seine 
Erlebnisse  in  chronologischer  Folge  anoinandei  reihte,  er  läfst  vielmehr  in  wohl- 
gelungener  Schilderung  an  uns  vorüberziehen,  was  der  Seemannsberuf  Unange- 
nehmes und  Schweres  bietet  und  speziell  ihm  geboten  hat:  seine  erste  See- 
mannszeit in  der  spanischen  Marine,  die  in  ihm  die  Lust  zu  selbständiger 
Seefahrt  weckte,  die  Erwerbung  einer  eigenen  Jacht,  auf  der  er  seine  Reisen 
zunächst  nur  seiner  grossen  Liebe  zum  Meere  wegen  unternahm,  wie  dann 
aber  allmählich  das  Interesse  an  der  Erforschung  des  Meeres  in  ihm  erwachte. 
Weiter  schildert  er,  wie  er  die  Meere  vom  beifsen  Äquator  zum  eisigen  Nord 
durchquerte  und  durchforschte.  Hieran  schliefsen  sich  Beschreibungen  eines 
Cyklons,  der  Jagd  auf  einen  Potwal  und  weiter  Aufzeichnungen  über  kauf- 
männische und  wissenschaftliche  Verwertung  erbeuteter  Meereserzeugnisse. 
Das  Werk,  das  Sr.  Majestät  Kaiser  Wilhelm  II.  gewidmet  ist,  sei  allen,  die  Be- 
lehrung in  unterhaltender  Form  wünschen,  auf*  wärmste  empfohlen.  L. 


Verlag:  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — Druck : Wilhelm  Gronau’«  Buchdrucker«!  in  Berlin  - Schäneberg. 
Pftr  die  BedneUon  verantwortlich : Dr.  P.  Sch  wahn  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Übersetsungsreeht  Vorbehalten. 


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Kig.  3.  Mare  Serenitatis-Archimedes-Plato. 

(Aus  dem  photographischen  Mondatlss  von  Loewy  und  Puiseux,  Tafel  XXUI.) 


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Über  die  Mondaufnahmen  von  Loewy  und  Puiseux 
und  über  Veränderungen  auf  der  Mondoberiläche. 

Von  Dr.  F.  Riatespsrt  in  Berlin. 

'"vjßlie  gewaltigen  Hilfsmittel,  welche  eine  weit  vorgeschrittene  Teeh- 
-‘fcvl  nik  in  Anwendung  der  Entdeckungen  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts auf  die  Beobachtungskunst  in  die  Hand  der  Himmels- 
forschung gegeben  hat,  haben  den  Astronomen  stets  weiter  und 
tiefer  in  den  Weltraum  geführt.  War  vor  der  Photographie  und 
Spektroskopie  des  Himmels  das  Planetensystem  das  wesentliche 
Arbeitsfeld  der  physisohen  Astronomie,  so  enthüllt  uns  die  Pho- 
tographie jetzt  Nebel,  die  kein  Fernrohr  mit  noch  so  grofser  Ob- 
jektivöffnung jemals  dem  menschlichen  Auge  zeigen  würde,  und  dem 
Spektroskop  wird  mit  Erfolg  die  Aufgabe  zugemutet,  die  Atmosphären 
von  Sonnen  zu  untersuchen,  deren  Entfernung  sich  als  unmefsbar 
grofs  herausgestellt  hat  Im  Planetensystem  allerdings  vermag  die 
Photographie,  von  Sonne  und  Mond  abgesehen,  unsere  Kenntnis  über 
die  Oberflächen  seiner  Olieder  nicht  zu  erweitern ; die  Brennpunkt- 
bilder der  PlanetenBcheiben  sind  alle  zu  klein,  um  ohne  eine  sehr 
starke  Vergröfserung  besondere  Einzelheiten  erkennen  zu  lassen,  und 
da  ist  es  vorteilhafter,  diese  starke  Vergröfserung  direkt  am  Fern- 
rohr auf  den  Planeten  selbst  anzuwenden,  anstatt  die  Platte  zwischen- 
zuscbalten,  deren  Silberkorn  sonst  mit  vergrößert  wird  und  an 
natürlicher  Größe  die  Brennpunktbilder  feiner  Planetendetails  über- 
trifft.  Der  Mond  aber,  so  sollte  man  meinen,  sei  duroh  die  zahlreichen 
Arbeiten  sorgfältiger  Beobachter,  wie  Mädler,  Lobrmann  und 
Schmidt  um  die  Mitte,  durch  Klein.  Fauth,  Krieger  u.  a.  am  Ende 
des  19.  Jahrhunderts  so  genau  durchforscht,  daß  hier  nichts  weiter  zu 
tun  bliebe,  als  die  bekannten,  großen  Züge  des  Mondantlitzes  in 
noch  sorgfältigerer  Detailarbeit  zu  prüfen,  als  es  bisher  geschehen  ist. 

Himmel  und  Erde.  1904.  XVI.  6 16 


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242 


Nooh  manche  kleinen  Krater  und  Hügel  mögen  unentdeckt  sein;  die  vor- 
handenen Karten  um  diese  zu  bereichern,  ist  eine  namentlich  für  Ama- 
teure verdienstliche  Arbeit,  kann  aber  unsere  Ansichten  über  unsern 
Satelliten  kaum  in  wesentlichen  Punkten  weiterführen.  So  dürfte 
man  also  auoh  wohl  von  der  Photographie  nur  eine  genauere 
Zeichnung  der  Einzelheiten  der  Mondoberfläohe  erwarten  und  ihr 
darum  nicht  gerade  eine  epochemachende  Wandlung  unserer  Mond- 
studien zuschreiben,  wenn  nioht  eine  fundamentale  Frage  zur  Be- 
urteilung der  Mondformationen  nur  von  ihr  in  objektiver  Weise  be- 
antwortet würde,  nämlich  die  nach  den  verschiedenen  Helligkeitsab- 
stufungen auf  der  Mondscheibe.  Diese,  die  von  nicht  zu  unter- 
schätzender Wichtigkeit  für  alle  selenographisohen  Aufgaben  sind, 
kann  auch  der  feinste  Stift  des  geübtesten  Zeichners  me  in  so  natur- 
getreuer Nachbildung  wiedergeben  wie  die  völlig  objektive  Platte '), 
und  das  gleiche  gilt  von  den  kleineren  Unebenheiten  des  Bodens,  deren 
verschiedene  Höhe  man  im  Fernrohr  an  der  Länge  des  Schatten- 
wurfs  so  getreu  erkennt,  dafs  ein  an  Mondbeobachtungen  geübtes  Auge 
sogleich  einen  plastischen  Eindruck  hat;  diesen  kann  wahrheitsgetreu 
nur  die  Photographie  wiedergeben,  nicht  der  am  Fernrohr  zeichnende 
Beobachter,  der  zur  genauen  Aufnahme  einer  Gegend  viel  mehr  Stunden 
nötig  hat,  als  dafs  der  Sonnenstand  über  dem  Monde  für  inzwischen 
unverändert  gelten  dürfte.  Da  in  der  messenden  Astronomie  die 
Photographie  der  direkten  Beobachtung  überall  da  überlegen  ist,  wo 
es  sich  um  Massen  beobachtungen  handelt,  so  darf  nur  nebenbei 
erwähnt  werden,  dafB  auch  für  die  Bestimmung  der  Borgeehöhen  aus 
der  Schattenlänge  und  der  Kratertiefen  und  Böschungswinkel  der 
Krater  aus  den  Momenten,  wann  die  Sonnenstrahlen  den  Kraterboden 
erreichen,  durolt  eine  Aufnahme  sofort  für  alle  günstig  zur  Licht- 
grenze gelegenen  Objekte  die  Beobachtungszeit  festgelegt  ist,  und  die 
Messung  an  der  Platte  dann  in  aller  Ruhe  am  Mefsapparat  in 
bequemer  Körperhaltung  vorgenommen  werden  kann,  während  am 
Fernrohr  für  jeden  Krater  die  Beobachtungszeit  eine  andere  ist; 
aufserdem  ist  die  aufgewendete  Zeit  natürlich  eine  weit  längere,  da  es 
unmöglich  ist,  alle  Objekte  durchzumessen,  solange  die  Beleuchtung 
günstig  bleibt;  auch  ist  das  Arbeiten  am  Fernrohr  zumal  in  kalten 
Winternäohten  weit  weniger  bequem.  Ein  besonderer  Vorzug  der 
photographischen  Fixierung  des  Mondbildes  besteht  aber  in  der  Mög- 
lichkeit, zwei  Aufnahmen  derselben  Gegend,  die  zu  verschiedenen  Zeiten 

*)  Zumal,  wenn  man  nach  dem  Vorgänge  Ritcheys  am  Yerkes-Refraktor 
neben  den  gewöhnlichen  auch  farbenempfindliche  Platten  verwendet. 


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243 


bei  ganz  anderen  Einfallswinkeln  der  Sonnenstrahlen  aufgenommen 
sind,  nebeneinander  zu  legen  und  durch  den  Vergleich  auseinanderzu- 
sondern, was  Beleuohtungseffekt  und  was  Natur  der  Mondformation  ist 
l)a  wir  aus  dem  reichen  Sohatze  der  uns  vorliegenden  Aufnahmen  lauter 
verschiedene  Mondgebiete  gewählt  haben,  so  ist  nur  bei  zweien 
und  auch  da  nur  ein  kleines  Stück  zur  Vergleichung  gemeinsam, 
nämlich  die  Wallebene  Plato  mit  Umgebung  in  der  linken  unteren 
Ecke  von  Blatt  XI  und  der  rechten  unteren  von  Blatt  XXIII.  Dafs 
der  kleine  Berg  Pico,  der  in  der  Verlängerung  der  kleinen  Achse 
der  Ellipse  des  Plato  um  die  Länge  der  grofsen  Achse  nach  oben 
entfernt  liegt  rechts  oben  eine  muldenförmige  Vertiefung  hat,  erkennt 
man  erst  aus  dem  Schattenwurf  auf  Blatt  XI,  umgekehrt  den  steilen 
Abfall  der  linken  unteren  Seite  nur  auf  Blatt  XXIII;  ohne  dieses 
Nebeneinanderhallen  beider  Blätter  könnte  man  an  ein  gleichförmiges 
sanftes  Ansteigen  der  beleuchteten  Hälfte  beide  Male  denken. 

Die  Photographie  des  Mondes  erlaubt  nun  auoh  Vergröfserungen 
wegen  der  beträchtlichen  Qröfse  des  natürlichen  Brennpunktbildes. 
Originalatifnahmen  werden  in  gröfserer  Zahl  angefertigt  in  Amerika 
auf  der  Lick-Sternwarte.  der  Harvard-Sternwarte  und  auf  deren 
Filialstation,  der  Bergsternwarte  bei  Arequipa  in  den  Anden,  endlich 
in  Europa  auf  der  Pariser  Sternwarte.  Die  Originale  sind  von  den 
Sternwarten  selbst  mäfsig,  rund  auf  das  10 fache,  vergrößert  und  in 
Karten  herausgegeben.  Von  einem  Lick-Negative  hat  Prinz  in  Brüssel 
3 verschiedene  Stellen  resp.  8,  24  und  33  mal  vergröfsert,  anderseits  hat 
Weinek  in  Prag  Originalnegative  aller  3 Sternwarten  24 mal  vergröfsert, 
und  zwar  meist  in  Einzeldarstellungen  grofser  Krater  und  ihrer  un- 
mittelbaren Umgebung  bei  verschiedener  Beleuchtung.  Es  ist  daraus 
ein  grofser  Mondatlas  von  10  Lieferungen  mit  im  ganzen  200  Blättern 
im  Format  26  :31  cm  entstanden.  Ohne  den  Wert  dieses  Unternehmens 
irgendwie  unterschätzen  zu  wollen,  kommen  doch  für  Studien  über  den 
Aufbau  und  die  Entstehungsgeschichte  des  Mondes  die  geringer  ver- 
größerten Darstellungen  deshalb  mehr  in  Betracht,  weil  sie  ein 
gröfseres  Stück  der  Mondscheibe  auf  einmal  zu  überblicken  gestatten 
und  damit  Kontraste  vor  Augen  führen,  welche  höohst  lehrreiche 
Fingerzeige  über  Selenogonie  an  die  Hand  geben.  Unter  den  karto- 
graphischen, gering  vergrößerten  Darstellungen  zeichnen  sich  die 
Pariser  Mondaufnahmen  von  Loewy  und  Puiseux  durch  ihre 
wunderbare  Schärfe  der  Wiedergabe  und  Feinheit  der  Details  aus. 
Sie  sind  mit  dem  Equatoröal  coüdö,  dem  „Ellenbogenfernrohr“  von 
15  Zoll  Öffnung  erhalten.  Dieses  seinen  Namen  mit  Recht  führende 

16* 


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244 


Teleskop  besteht  zunächst  aus  einem  festliegenden,  polwärts  geriohteten 
Rohre,  dessen  Neigung  gegen  den  Horizont  gleich  der  geographischen 
Breite  ist;  mit  seinem  oberen  Ende,  welches  das  Okular  resp,  die 
photographische  Platte  trägt,  tritt  es  in  ein  ßeobaohtungszimmer  ein  und 
endigt  über  einem  Tische,  vor  welchem  der  Beobachter  weit  bequemer 
— und  im  Winter  wärmer  — sitzt,  als  auf  dem  bestkonstruierten  Beob- 
achtungsstuhl in  den  Kuppeln  unserer  grofsen  Refraktoren.  Dieses 
festliegende  Rohr  läfst  sich  nur  um  seine  eigene  Achse  drehen.  An 
seinem  unteren  Ende  sitzt  unter  rechtem  Winkel,  mit  ihm  fest  ver- 
bunden, ein  zweites  Rohr,  dessen  anderes  Ende  das  Objektiv  trägt;  da, 
wo  beide  Rohre  zusammenBtofsen,  befindet  sich  ein  gegen  beide  um 
45°  geneigter  Spiegel,  der  die  vom  Objektiv  kommenden  Licht- 
strahlen nach  dem  Okular  reflektiert  Eine  halbe  Umdrehung  des 
Okularrohres  führt  nun  das  Objektiv  vom  Ost-  zum  Westpunkte  des 
Horizontes  immer  im  Himmelsäquator,  und  nur  genau  in  diesem 
stehende  Sterne  könnten  ohne  weitere  Hilfsmittel  beobachtet  werden. 
Nun  aber  befindet  sich  vor  dem  Objektiv  noch  ein  Spiegel,  der,  vom 
Okular  aus  verstellbar,  um  beliebige  Winkel  gegen  das  Objektiv 
geneigt  werden  kann,  so  dafs  sich  mit  dieser  doppelten  Spiegelung 
der  ganze  Himmel  erreichen  läfst.  Im  Brennpunkte  dieses  Fernrohres 
wird  äas  Mondbild  durchschnittlich  — der  soheinbare  Durch- 
messer des  Mondes  entfernt  sich  für  Erdnähe  und  Erdferne  um  l/,8 
naoh  beiden  Seiten  von  dem  mittleren  Werte  — 18  cm  grofs 
erhalten.  Die  Exposition  auf  Lumiere-Platteri  dauerte  je  naoh  der 
Erhellung  des  Mondes  durch  das  Sonnenlicht  zwischen  1 und  1 ■/, 
Sekunden  und  stieg  nur  in  Ausnahmefällen  auf  3 Sekunden.  Trotz 
dieser  kurzen  Expositionszeit  genügte  es  nicht,  das  Fernrohr  durch  das 
Uhrwerk,  welches  die  tägliche  Umdrehungsbewegung  der  Erde  aufhebt, 
dem  Monde  nachzutreiben,  sondern  es  mufste  auf  die  eigene  Be- 
wegung des  Mondes  Rücksicht  genommen  werden.  Diese  beträgt,  da 
der  Mond  in  27  */s  Tagen  die  ganzen  24  Rektaszensionsstunden 
durchläuft,  zu  deren  scheinbarer  Durchdrehung  die  Sterne  einen 
Sterntag  brauohen,  durchschnittlich  Yjj  der  betreffenden  Zeit,  während 
welcher  die  Bewegung  betrachtet  wird,  also  bei  1 */2  Zeitsekunden  Ex- 
position */is  Zeitsekunde  d.  h.  s/6  Bogensekunde,  oder  da  der  Mond 
einen  scheinbaren  Halbmesser  von  1865"  hat,  hätte  sich  der  Mond 
während  dieser  Expositionszeit  um  den  2200.  Teil  seines  Durch- 
messers bewegt,  weloher,  wie  gesagt,  180  mm  auf  den  Originalplatten 
beträgt,  also  um  fast  '/io  mm,  und  bei  den  durchschnittlich  10  maligen 
Vergröfserungen  desselben  also  um  rund  1 mm,  so  dafs  trotz  der  kurzen 


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245 


Exposition  ein  ganz  verschwommenes  Bild  entstanden  wäre.  Loe  wj  und 
Puiseux  liefsen,  abgesehen  von  den  ersten  5 Aufnahmen,  bei  welchen 
sie  die  Uhrbewegung  des  Fernrohres  der  Mondgesohwindigkeit  ent- 
sprechend abänderten  und  in  Deklination  — in  welcher  sich  der  Mond  ja 


Fig.  1.  Capnanu,  BulliaJd.  Guasndi. 
(Tafel  VIII.  Loewy  und  Puiseux). 


auch  bewegt  — mit  der  Hand  nachdrehten,  das  Fernrohr  gänzlich 
unbewegt  und  konstruierten  einen  Apparat  2),  der  den  Plattenhalter  am 
Okular,  welcher  sich  beliebig  drehen  liefe,  mittels  einer  Schraube,  die 
von  einem  Uhrwerk  getrieben  wurde,  in  eine  genau  der  augenblick- 
lichen Bahngeschwindigkeit  des  Mondes  entsprechende  Bewegung 

*)  Deuxiime  fascicule  B.  6 ff. 


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246 


verseifte,  nachdem  die  Bewegungsriohtung  vorher  der  wahren  am 
Himmel  duroh  Drehen  des  Okulars  gleich  gemacht  war.  Diese  Vor- 
richtung verlangt  für  jede  Aufnahme  eine  besondere  Vorausberech- 
nung und  besondere  Auswahl  der  Zahnzahl  der  Räder  des  Uhr- 
werks, aber  sie  bewirkt  zweifellos  mit  die  ausgezeichnete  Schärfe  der 
erhaltenen  Aufnahmen. 

Die  feinsten,  eben  noch  auf  der  Originalaufnahme  für  sich  unter- 
scheidbaren Punkte  haben  auf  dem  Monde  einen  wahren  linearen 
Durohmesser  von  2'/,  km;  das  soheint  entmutigend,  da  das  Auge  direkt 
bei  lOOOfacher  Vergrößerung  an  lichtstarken  Fernrohren  noch  Einzel- 
objekte als  solche  wahrnimmt,  die  100  m,  ja,  wenn  sie  glänzend  be- 
leuchtet sind,  50  m wahren  Durchmesser  haben.  Es  liegt  dies  an  dem 
relativ  groben  photographischen  Korn,  das  t/io  mm  Durchmesser  auf 
den  empfindlichsten  Platten  hat,  und  Gegenstände,  die  kleiner  sind 
wie  es  selbst,  nicht  mehr  zeichnet.  Indes  liegt  kein  Grund  vor, 
deshalb  auf  die  photographischen  Mondaufnahmen  zu  verzichten;  man 
mufs  sie  eben  nur  unter  den  oben  besprochenen  Gesichtspunkten  be- 
trachten, wesentlich  als  Übersichten  über  gröfsere  Mondpartien  zu 
dienen,  und  man  könnte  ihre  Vergrößerungen  vielleicht  als  Unterlage 
benutzen,  um  nun  bei  sehr  guter  Luftbeschaffenheit  mit  sehr  starken 
Vergrößerungen  weitere  Details  einzuzeichnen.  Indessen  hat  das 
allerfeinste  Monddetail  eigentlich  wenig  wissenschaftliches  Interesse. 
Der  Grenzmaßstal)  von  50  m,  der  erreichbar  ist,  ist  derart,  daß  er 
Ansiedlungen  jetzt  lebender  sowie  Steinbauwerke  verschwundener 
Generationen  etwaiger  Mondbewohner  uns  zeigen  müßte.  Das  gänz- 
liche Fehlen  derartiger  Andeutungen  beweist  das  Fehlen  ihrer  in- 
tellektuellen Urheber  zu  irgendeiner  Zeit  auf  dem  Monde.  Eine  Kar- 
tierung des  Mondbodens  in  allen  nur  wahrnehmbaren  Einzelheiten 
hat  nur  da  Zweok,  wo  man  Veränderungen  vermutet  und  diese  durch 
Überwachung  der  betr.  Gegend  feststellen  will. 

Aus  den  Originalaufnahmon  ist  nun  ein  bestimmtes  Stück  von 
besonderem  Interesse  durchschnittlich  1 1 mal  vergrößert  auf  Blättern 
von  50  : 60  om  Format  dargestellt,  und  von  solohen  Bind  von  1896  an  bis 
jetzt  7 Lieferungen  von  insgesamt  42  Blättern  erschienen.  Auf  jedem 
Blatte  ist  das  Datum  der  Aufnahme,  die  auf  das  Originalklischee  an- 
gewandte Vergrößerung  und  ferner  angegeben,  wie  groß  der  Mond- 
durchmesser sein  würde,  wenn  der  ganze  Mond  in  gleichem  Verhältnis 
dargestellt  würde.  Dieser  schwankt  für  die  Pariser  Aufnahmen  zwischen 
1,26  m und  2,72  m;  der  Atlas  der  Lick-Sternwarte  hat  0,9  m,  Weineks 
Atlas  3 m für  den  Monddurchmesser  gleichen  Maßstabs.  Die  größte 


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247 


gezeichnete  Mundkarte  ist  die  von  Schmidt  in  Athen  mit  2 m Durch- 
messer. 

Jeder  der  Pariser  Kartenlieferungen  ist  ein  Textheft  mitgegeben, 
welches,  aufser  einer  Beschreibung  der  auf  dem  Titelblatt  der  Liefe- 
rung abgebildeten  Originalaufnahme,  eine  genaue  Schilderung  jedes 
Blattes  mit  Angabe  der  Lage  seiner  Hauptformationen  in  Hundert- 
teilen der  Breiten-  und  Höhenausdehnung  der  Karte,  zu  welchem 
Ende  dieselbe  an  jeder  Seite  10  kleine  Ziffern  trägt,  enthält,  als  wert- 
vollstes jedoch  die  „Introduolion,“  welche  fortlaufend  die  Ansichten  der 
Herausgeber  über  Aufbau  und  Entstehung  der  Mondrinde  nach  ver- 
gleichenden Studien  der  Vergröfserungen  wiedergibt:  Ansichten, 

welche  geeignet  sind,  manche  bisherige  Meinung  über  den  Mond 
zu  berichtigen,  und  welche  durch  die  jedem  Leser  mögliche  Be- 
trachtung der  photographierten  Mondoberfläche  selbst  wesentlich  ge- 
stützt werden. 

Die  Aufgabe,  aus  diesen  42  Blättern  4 der  schönsten  und  inter- 
essantesten für  , Himmel  und  Erde  ' zur  Keproduktion  auszuwählen,  war 
eine  sehr  schwierige;  denn  schön  sind  diese  herrlich  plastischen  Mond- 
bilder alle,  ja  tnan  kann  duroh  Aufstellung  derselben  in  geeigneter 
Entfernung  und  Betrachtung  mit  einem  Opernglas  — zum  Aussohlufs 
störender  Seitenliohter  — vollkommen  dem  Eindruck  unterliegen,  als 
betrachte  man  im  Fernrohr  den  Mond  oder  vielmehr  als  schwebe  man 
in  Höhe  von  einigen  Tausend  Kilometern  Uber  der  Mondoberfläche 
und  erkenne  genau  die  kleinsten  Unebenheiten  in  dem  faltigen  Ant- 
litz unseres  Satelliten.  Die  Auswahl  war  indes  eingeschränkt,  da  die 
Berliner  Sternwarte,  welche  die  Reproduktion  dieser  Blätter  hier  freund- 
lichst  gestattet,  die  letzte  Lieferung  noch  nioht  und  zwei  andere  über- 
haupt nicht  erhalten  halte.  Gelegentlich  sollen  noch  einzelne  Blätter 
der  anderen  Lieferungen  mit  begleitendem  Text  wiedergegeben  werden. 

Die  4 Aufnahmen  unseres  Aufsatzes  tragen  die  Nummern  VIII, 
XI,  XVIII,  XXIII  und  sind  hier  fortlaufend  als  Fig.  1 — 4 bezeichnet 
Die  übrigen  Daten  sind  aus  folgender  Tabelle  zu  entnehmen: 


u 

Sa  Blatt 
£ : 

>1  i 

Original- 

Aufnahme 

« £ 

O.  « Ot 

-o  5 

u V,  « 
© o fr- 

5».s 

« 

1 £ 
u = 
© 

> 

1 -r 

= S 

^3  m 

-c  © 

5 B 
a 

Überschrift 

i !vin 

23.  4.  1896 

10 

14.0 

2.14 

Capuauus,  Bulliald,  (iaasendi 

2 XI 

23.  4.  1896 

10 

14.0 

2.44 

Mare  Imbrium,  Sinus  lridurn, 

Plato 

3 XXIII 

19.  9.  1894 

21 

9.9 

1.66 

Mare  Sereuilatis,  Arehimedes, 

Plato 

4 XVIU 

29.  9.  1896 

22 

14.75 

2.40 

Südpol,  Clavius,  Longomontanus 

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248 


Unter  dem  Alter  des  Mondes  ist  die  seit  dem  letzten  Neumonde  ver- 
flossene Zeit  zu  verstehen;  es  entspricht  somit  rund  das  erste  Viertel 
dem  Alter  7,  das  letzte  dem  Alter  22,  der  Vollmond  dem  Alter  15. 
Über  den  Karten  des  Pariser  Atlas  liegen  aus  Seidenpapier  herge- 
stellte durchsichtige  Blätter  mit  Aufschrift  der  Hauptformationen. 
Alle  Blätter  sind  so  gestellt,  wie  sie  sich  im  umkehrenden  Fernrohr 
zeigen  würden,  also  Norden  unten,  Osten  (von  der  Erde  aus  gesehen) 
rechts.  Da  hier  das  ursprüngliche  Format  50 : 60  in  unseren  Figuren 
auf  12  Va  : 15  verkleinert  ist.  so  sind  die  Vergröfserungszahlen  des 
Pariser  Originals  und  der  angegebene  Monddurchmesser  durch  4 zu 
dividieren. 

Aus  den  Beschreibungen  des  Begleittextes  von  Loewy  und 
Puiseux  heben  wir  die  Hauptpunkte  heraus,  die  zugleioh  die  An- 
sichten der  Herausgeber  über  die  Bildung  und  die  Zeitfolge  der  ein- 
zelnen Formationen  erkennen  lassen. 

Tafel  VIII  (Fig.  1)  stellt  eine  Gegend  des  Mondes  dar,  welche 
ungefähr  in  der  Mitte  des  südöstlichen  Mondquadranten  liegt,  da  wo 
drei  der  sogenannten  Mondmeere  — sogenannt,  denn  auch  Loewy 
und  Puiseux  denken  sie  sich  ebenfalls  nicht  mit  Wasser  erfüllt  — 
zusammenstofsen,  das  Mare  Humorum  von  rechts,  das  Mare  Nubiunt 
von  links  und  der  Oceanus  Procellarum  von  unten;  keine  dieser 
drei  Ebenen  ist  auf  der  Karte  ganz  dargestellt;  die  letztgenannte,  durch 
das  Riphaengebirge,  welches  nur  unten  ein  wenig  hineinschaut,  vom 
Mare  Nubium  getrennte  ist  am  unvollständigsten.  Die  zerrissenen  Ge- 
birgsbrocken,  welohe  mitten  in  der  Karte  liegen  und  sich  nach  dem 
gewaltigen  Krater  Gassendi3)  (88  km  Durchmesser)  rechts  unten  hin- 
ziehen, stellen  sich  anscheinend  als  Reste  eines  frühor  bestehenden, 
grofBen  zusammenhängenden  Gebirgszuges  dar,  der  zur  Hälfte  ver- 
sunken ist,  so  dafs  nur  nooh  die  oberen  Teile  der  höheren  Bergspitzen 
aus  der  Flut,  wie  die  Inseln  im  Cykladenmeer,  herausragen.  Aus 
welcher  Flut?  Hier  müssen  wir  die  Ansicht  der  Verfasser  einschalten, 
dafs  die  grofsen  Mondmeere  durch  Einbrüche  eines  Teiles  der  festen 
Mondrinde  entstanden  sind,  sobald  der  Kruste  duroh  Zusammenziehung 
des  noch  flüssigen  Innern  die  Unterstützung  fehlte.  Es  ist  ohne 
weiteres  verständlich,  dafs  die  eingebroohene  Stelle  nahezu  kreis- 
förmig begrenzt  war,  und  so  dürfte  sioh  die  Kreisform  der  meisten 
Mondmeere  erklären.  Die  aus  den  Bruchspalten  austretende  Lava 

*)  Date  die  Mondkrater  den  Namen  von  Astronomen  des  Altertums  und 
Mittelalters  und  zwar  meist  recht  unbekannter  tragen,  hat  Arago  zu  dem 
Ausspruch  veranlaßt:  la  lune  eat  la  cimetiöre  dea  astronomes. 


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249 


überflutete  den  Boden  des  jetzt  entstehenden  Meeresbeckens  und  drang 
dabei  auch  in  das  Innere  einzelner  Krater.  Dieselben  füllten  sich 
teilweise  mit  Lava,  sobald  ihre  Wände  an  einigen  Stellen  dafür 
niedrig  genug  waren.  Dies  Schicksal  traf  z.  B.  Hippalus,  dessen  ganze 
SUdostwand  überflutet  ist,  ferner  Agatharchides  und  den  anonymen 


Kig  2.  Man  Imbrlom,  Sinai  Iridam,  Plato. 

(Tafel  XI.  Loewy  und  Puiseux.) 


Krater  in  der  Mitte  der  Karte,  Lee  und  Doppelmayer,  sowie  die  beiden 
Krater  am  Südrand  des  Mare  Humorum.  Die  fast  völlig  ebene  Gestal- 
tung des  Innern  dieser  fünf  Krater  kann  nur  durcn  Erstarrung  einer  ein- 
gedrungenen flüssigen  Masse  erklärt  werden.  Dieser  Einbruoh  der 
Gegend,  welche  jetzt  das  Mare  Humorum  einnimmt,  wird  aber  vor  allem 
durch  die  drei  Rillen  bewiesen,  welche  ungefähr  parallel  zu  seinem 


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250 


Rande  auf  der  Mitte  unserer  Karte  zu  sehen  sind,  und  duroh  die  drei 
dazu  parallelen  Terrainfalten,  welche  Adern  gleioh  östlich  von  jenen 
hinziehen.  Man  mufs  nur  mehrere  sukzessive  Einbrüche  annehmen,  die 
konzentrisch  immer  weiter  vordrangen.  Wo  der  herabgeneigte  Teil  sich 
vom  stehenbleibenden  trennte,  entstand  eine  Spalte;  in  diese  drang 
zwar  auch  die  Lava  ein,  denn  man  sieht  deutlich  die  Gleichheit  de3 
Niveaus  der  westlichsten  Spalte  und  des  Innern  des  anonymen  Kra- 
ters, doch  vermochte  sie  dieselbe  nicht  ganz  zu  füllen.  Die  aus  der 
Mitte  des  Meeres  ausgellossene  Lava  flutete  in  Brandungswellen  nach 
dessen  Rande  hin,  und  die  zähflüssige  Masse  erstarrte,  als  der  Wulst  in- 
zwischen zu  lest  geworden  war,  um  zurückfliefsen  zu  können,  zu  jenen 
Adern,  die  ungefähr  konzentrisch  zur  Meeresmitte  (die  etwa  auf  dem 
Rand  des  Bildes  liegen  würde)  und  parallel  den  Terrainspalten  sein 
morsten.  Es  ist  verständlich,  dafs  nach  Abschlufs  dieses  Prozesses 
sowohl  die  Spalten  wie  die  Adern  Stellen  geringerer  Festigkeit  der 
Mondrinde  sein  muhten  und  daher  besonders  leicht  von  den  eigent- 
lichen vulkanischen  Eruptionen  durchbrochen  werden  konnten.  Hier- 
durch können  nur  die  kleineren  Krater  aufgebaut  sein,  dagegen  nicht 
die  gröfseren,  wegen  des  beträchtlichen  Durchmessers.  So  ist  es  denn 
kein  Zufall,  dafs  genau  auf  der  westlichsten  Rille  zwei  hübsche  und 
ziemlich  tiefe  Krater  sich  aufgebaut  haben,  die  in  ihrem  Gebiet  die 
Rille  mit  Lava  ausgefüllt  und  vollständig  verwisoht  haben,  während 
eine  Anzahl  kleiner  und  kleinster  Krater  im  Westteil  des  Mare  Hu- 
morum  in  der  Nähe  jener  Adern  entstanden  ist. 

Man  kann  somit  eine  chronologische  Reihenfolge  für  die  Ent- 
stehung der  Gebilde  dieses  Teiles  der  Mondoberfläche  aufstellen,  da 
jedes  Gebilde  älter  sein  mufs  als  ein  anderes,  das  an  seiner  Umge- 
staltung beteiligt  ist  So  würden  wir  folgende  5 selenologisohen 
Epoohen  zu  unterscheiden  haben: 

1.  Erscheinung  der  Wallebencn  Gasseudi  und  Hippalus  und  der 
jetzt  verschwundenen  Gebilde  im  Gebiet  des  Mare  Humorum; 

2.  Senkung  der  mittleren  Partie  des  jetzigen  Mare  Humorum,  die 
sich  schrittweise  bis  zu  den  jetzt  noch  stehenden  Wallebenen  aus- 
dehnte und  auch  diese  z.  T.  einsinken  liefs; 

3.  Ergiefsung  flüssiger  Massen  aus  dem  Innern,  welche  die  nie- 
drigeren Teile  der  Randwälle  der  benachbarten  Wallebenen  über- 
deckten und  in  diese  hineinfluteten. 

4.  Bildung  der  Adern  im  Weslteile  des  Mare  Humorum  durch 
Erstarren  der  Brandungswellen  und  Entstehung  der  Spaltenzüge  durch 
neue  geringe  Senkungen; 


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251 


5.  Aufbau  der  mittelgrofscn  Krater  auf  der  westlichsten  Spalte, 
der  beiden  kleinen  Krater  auf  der  östlichsten  und  inmitten  des  Innern 
des  halbversunkenen  Hippalus  und  derjenigen  im  Westteile  des  Mare 
Humorum. 

Auch  im  Mare  Nubium  (links  auf  der  Karte)  finden  sich  solohe 
untergesunkenen  Krater,  in  deren  Inneres  die  Flutwelle  eingedrungen 
ist,  wie  z.  B.  bei  Kies  und  Lubiniezki.  Bei  dem  zwisoben  beiden  ge- 
legenen schönen  Kinggebirge  Bulliald  kann  man  zweifeln,  ob  eB  vor  der 
Flutwelle  existierte,  da  sein  Wall  im  Norden  die  jetzige  Bodenhöhe 
nicht  übersteigt,  also  der  Flutwelle  hätte  Eintritt  gewähren  können,  und 
dennoch  das  Innere  weit  tiefer  liegt  als  das  Mare  Nubium  und  der 
vielgipfelige  Zentralberg  noch  steht,  obwohl  er,  wie  gewöhnlich,  sehr 
niedrig  ist.  Oie  Verfasser  glauben  hier  eher  an  eine  nachträgliche 
Erhebung  duroh  inneren  Druck  aus  dem  schon  festgewordenen  Meer, 
deren  Inneres  wieder  eingestürzt  sei.  Der  Zentralberg  kann  etwa 
duroh  einen  Rückschlag  des  flüssigen  Mondinnern  erzeugt  sein,  analog 
einem  Versuch,  den  H.  Ebert  zur  Herstellung  künstlicher  Mondkrater 
gemacht  hat. 

Kamsden,  der  raittelgrofse  Krater  mit  tiefem  Schatten,  auf  der  Karte 
oben  etwas  reohts  der  Mitte,  stöfst  unten  an  drei  flache  Killen  an,  die 
die  Form  eines  grofsen  lateinischen  N bilden;  zwei  von  ihnen  setzen 
sich  auch  südlich  von  Kamsden  fort,  ohne  diesen  Krater  zu  unter- 
brechen, so  dafs  derselbe  jüngeren  Datums  sein  mufs.  In  der 
prachtvollen  Kingebene  Gassendi  rechts  unten  erreicht  der  Rand  wall 
eine  Höhe  bis  zu  3000  m,  senkt  sioh  aber  im  Süden  ganz  zur  Mare- 
ebene  hinab;  das  höchst  unebene  Innere  dieses  Kinggebirges  verdankt 
wohl  einer  späteren  Erhebung  seine  Gestaltung.  Der  in  den  nördlichen 
Ramiwall  eingebaute  Nebenkrater  Gassendi  A,  natürlich  späteren  Ur- 
sprungs als  der  Hauptkrater,  hat  gar  eine  Tiefe  von  4000  m. 

Der  weifse,  ziemlich  sobarfe  Strich,  der  den  Krater  Kies  östlich 
der  Mitte  ganz  durohselzt  und  dabei  sich  gegen  den  ansteigenden 
äufseren  Randwall  von  Bulliald  C verbreitert,  gehört  ebenso  wie  der 
viel  breitere  und  weniger  gerade  links  davon  verlaufende  Streifen 
dem  Strahlensystem  des  Hauptkraters  Tyoho  an,  welcher  weit  links 
oben  außerhalb  der  Karte  liegt  Die  Verfasser  halten  diese  nur  bei 
Vollmond  sichtbaren  Strahlensysteme,  die  über  Hunderte  von  Kilo- 
metern über  die  Mondoberfläche  fortlaufen,  für  den  Weg  ausgestreuter 
Aschenreste  dieses  einstigen  Vulkans.  Interessant  sind  nooh  die 
beiden  einander  auf  den  ersten  Blick  sich  wie  Zwillinge  gleichenden 
Wailebenen  Mercator  und  Camp&nus  links  oberhalb  der  drei  Killen. 


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252 


Mercator  ist  ganz  eben  im  Innern,  Campanus  bat  einen  Zentralberg 
und  mehrere  kleine  Krater  auf  seiner  Innenfläohe.  Eine  merkwürdige 
Ausnahme  unter  den  Kingebenen  bildet  Hesiod  (am  linken  Rande, 
oben),  der  anstatt  des  Kegelberges  eine  genau  zentral  gelegene  Krater- 
grube hat;  nooh  mehr  staunenswert  ist  es,  dafs  diese  so  gut  sicht- 
bare Formation  auf  der  sorgfältigen  Mädlersohen  Karte  fehlt.  Auch 
bei  dem  inittelgrofsen  Krater  CichuB  (unweit  des  oberen  Randes, 
links),  der  südöstlich  einen  kleinen  Randkrater  trägt,  ist  zu  erwähnen, 
dafs  Schröter,  der  Selenograph  von  Lilienthal,  diesen  Randkrater 
auf  drei  unabhängig  angefertigten  Zeichnungen  bedeutend  gröfser  dar- 
stellt, als  neuere  Zeichnungen  und  die  Photographie  ihn  geben. 

Tafel  XI  (Fig.  2.)  zeigt  uns  den  nördlicheren  Teil  des  Nordost- 
quadranten des  Mondes  und  in  ihm  auf  der  linken  und  oberen  Hälfte 
der  Karte  das  gröfste  der  Mondmeere,  das  Mare  Imbrium  (auch 
Pluviarum,  franz.  „mer  des  pluies“)  und  den  Kranz  der  Gebirge, 
welohe  dasselbe  im  Norden  und  Osten  einschliefsen.  Die  westliche 
Umwallung  dieses  Meeres  duroh  die  Bergzüge  der  Apenninen,  des 
Kaukasus  und  der  Alpen  ist  auf  nächster  Tafel  XXIII  (Fig.  3)  wieder- 
gegeben. Fünfmal  so  grofs  als  das  Mare  Crisium  und  dreimal  so 
ausgedehnt  wie  das  Mare  Serenitatis  (s.  Fig.  3)  nimmt  das  Mare 
Imbrium  den  Schauplatz  der  gröfsten  Einsturzkatastrophe  auf  der  uns 
sichtbaren  Mondhälfte  ein.  Die  saubere  und  scharf  definierte  Aus- 
arbeitung der  wenigen  Krater  und  Trichter,  welche  die  ungeheure 
ebene  Fläoho  in  der  linken  Hälfte  unseres  Blattes  unterbrechen,  be- 
weisen die  spätere,  nach  Erstarrung  des  Meeres  erfolgte  Entstehung 
dieser  Mondgebilde.  Aber  auch  hier  wird  man  den  Einsturz  in 
wenigstens  zwei  Etappen  vorgegangen  annehmen.  Der  erste  Vorgang 
betraf  die  Bildung  einer  riesengrofsen  Wallebene,  deren  Umkreis 
jetzt  nur  noch  zur  gröfseren  Hälfte  steht  und  als  Sinus  Iridum  den 
östlichsten  Teil  des  Mare  Imbrium  bildet  Diese  kreisförmige  Wall- 
ebene hat  einen  Durchmesser  von  216  km  und  erscheint  nur  des- 
halb als  Halbellipse,  weil  sie  bereits  so  weit  am  Ostrand  des  Mondes 
liegt,  dafs  sich  ihr  horizontaler  Durchmesser  perspektivisch  verkürzt. 
Der  zweite  Einsturz  der  gröfseren  Westhälfte  des  Mare  Imbrium  rifs 
den  ganzen  Westwall  dieser  grofsen  Wallebene  mit  und  vereinigte 
die  beiden  Meere.  Die  Lage  des  früheren  Westwalls  zeigt  jetzt  nur 
noch  eine  dreimal  sich  gabelnde  Ader  an,  die  von  dem  nördlichsten 
Punkt  des  Sinus  Iridum,  dem  2900  m steil  abfallenden  Kap  Laplace 
nach  dem  weit  fluoberen  Kap  Heraclides  führt  dieses  allerdings  nicht 
ganz  erreicht,  sondern  als  bedeutend  verstärkte  Doppelader  nach  oben 


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253 


zu,  nach  dem  Krater  Caroline  Heraohel,  einem  vulkanischen  Produkt 
einer  spateren  Epoche,  sioh  wendet.  Die  Terrainfalte  endigt  nach  links 
sich  kehrend,  oben  auf  unserem  Blatte,  ohne  den  glänzend  weifsen  Fleck 
„Lahire“,  einen  isolierten  Berggipfel,  zu  erreichen,  der  auf  Mädlers 
Karte  fehlt,  von  Schröter  und  Webb  aber  in  sternähnliohem  Glanze 
als  Mittelpunkt  eines  Strahlensystems,  das  auf  der  Photographie  fehlt, 
gezeichnet  ist  Das  reguläre  Kinggebirge  in  der  linken  oberen  Ecke 
ist  Lambert,  dessen  Randwall  700  m über  dem  Meere,  aber  1800  m 
über  dem  Kraterinnern  liegt;  auch  zwisohen  ihm  und  Caroline  Herschel 
streicht  eine  Terrain  falte. 

Zieht  mau  eine  gerade  Ljnie  von  Lambert  nach  dem  Kap 
i.aplace,  so  trifft  man  auf  dreiviertel  des  Weges  einen,  Lambert  nur 
wenig  an  Gröfse  nachstehenden  Krater,  den  Helicon,  und  dicht  links 
unterhalb  desselben  den  Leverrier.  Es  ist  höchst  auffallend,  dafs  die 
beiden  Selenographen  des  17.  Jahrhunderts,  Riccioli  und  Hevelius. 
nur  den  ersten  Krater  verzeichnen  und  nicht  den  zweiten,  der  doch 
kaum  übersehbar  daneben  liegt. 

Während  der  Bergkranz,  der  den  Sinus  Iridum  umschliefst,  zu 
Höhen  von  4000  — 6000  m,  emporsteigt  am  höchsten  in  der  Nähe 
des  Kraters  Sharp,  der  von  der  aufgehenden  Sonne  erst  auf  der 
Westhälfte  seines  Randwatles  erleuohtet  ist.  wird  die  Küste  nörd- 
lich vom  Kap  Laplace  weit  Qaoher.  Ihr  parallel  ziehen  nach  Nord- 
westen ausbiegend  eine  Reihe  von  Gebilden,  die  offenbar  früher  im 
Zusammenhang  mit  der  Küste  gestanden  haben:  zuerst  ein  einsamer 
Bergkegel,  dann  die  „Gerade  Reibe“,  nämlich  fünf  Bergkrater  oder 
Kraterberge,  hierauf  die  Teneriffaberge  direkt  oberhalb  des  Plato,  und 
endlich  der  mächtige  Gipfel  des  Pico  (2400  m).  Die  Verfasser  be- 
trachten diese  Linie  als  früher  zusammenhängend  und  als  damalige 
Grenze  des  Mare  Imbrium,  bis  eine  weitere  Seukung  ihren  Fufs  unter 
den  Meeresspiegel  verlegt  und  das  Meer  bis  an  seine  jetzige  Grenze 
ausgedehnt  hat  Auch  die  zahllosen  kleinen  Krater,  mit  denen  das 
noob  stehende  Bergland  durchsetzt  ist  ordnen  sich  in  mehrere  der 
Küste  oder  vielmehr  den  Küsten  parallele  Reihen,  denn  auch  die  Süd- 
westküste des  Mare  Frigoris  läuft  der  Nordostküste  des  Mare  Imbrium 
parallel. 

Ganz  unten  links  findet  sich  die  höchst  interessante  Wallebene 
Plato,  die  nur  wegen  ihrer  hohen  Nordbreite  elliptisch  erscheint  Die 
eigenartige  schwarze  Färbung  ihres  vollkommen  ebenen  Innern,  wegen 
welober  sie  von  Hevelius  den  Namen  „Laous  niger“  erhalten  hat 
nimmt  nach  Westen  noch  ein  wenig  zu,  obwohl  hier,  wo  der  Schatten 


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254 


aufhört,  die  Sonnenstrahlen  steiler  einfallen  als  im  Osten.  Es  ist  eine 
Eigentümlichkeit  des  Plato,  dafs  er  mit  gegen  Mittag  steigender  Sonne 
nicht  heller,  sondern  dunkler  wird,  eine  schwer  erklärbare  Tatsache. 
Der  Randwall  Platos  steigt  im  Westen  bis  28o0  m an,  ist  im  übrigen 
nur  mäfsig  uneben  und  hat  96  km  Durohmesser.  Weit  gröfser  ist 
der  Krater  J.  Berschel,  am  rechten  unteren  Rande  unseres  Blattes, 
dessen  stark  gezackter  Randwall  gewaltige  Unebenheiten  des  Bodens 
um8ohliefst;  eine  Bergkette  durchsetzt  das  ganze  Innere  von  oben 
nach  unten. 

Tafel  XX11I  (Fig.  3)  zeigt  den  westlichen  Teil  des  grofsen  Mare 
ltnbrium,  der  sich  in  Färbung  und  Bodengestaltung  vollkommen  von 
dem  östliohen  Teil  auf  der  vorigen  Karte  unterscheidet  und  der  duroh 
die  Oebirgsmassive  der  Apenninen  von  dem  kleinen  Mare  Vaporum, 
oben  auf  der  Karte,  durch  das  Massiv  des  Kaukasus  von  dem  Mare 
Serenitatis,  endlich  durch  das  Massiv  der  Alpen  von  dem  Mare  Frigoris, 
dessen  Fortsetzung  wir  auf  dem  vorigen  Blatte  sahen,  getrennt  wird. 
Die  ganze  Karte  nimmt  auf  dem  Mittelmeridian  des  Mondes  etwa  die 
Mitte  zwischen  Äquator  und  Südpol  ein.  Im  Mare  Serenitatis  finden 
wir  wieder  eine  Anzahl  Terrainfalten,  sowie  Adern  und  einzelne 
vulkanisohe  Krater  ganz  wie  in  Fig.  1,  darunter  den  sohönen  Bessel 
im  oberen  Drittel  des  kreisförmigen  Meeres.  Nehmen  wir  hierfür  die 
gleichen  Erklärungen  wie  oben  an,  so  können  wir  auoh  bezüglich  der 
isolierten  Bergkegel  im  Nordteile  des  Mare  ltnbrium,  nämlich  des  Pico 
südlich  von  Plato  und  des  Piton  südlioh  der  Alpen,  wegen  ihrer  grofsen 
Höhe  von  rund  2000  m nicht  an  Emportreibungen  über  das  bereits 
erstarrte  Meeresniveau  denken,  sondern  sie  mögen  mit  einer  Berg- 
gruppe nördlich  von  Arohimedes,  die  nur  bis  1600  rn  Höhe  ansteigt, 
Überreste,  und  zwar  die  höchsten  Gipfel  eines  untergesunkenen, 
gröfseren  Gebirges  sein,  welches  bei  Bildung  des  Mare  Imbrium  ein- 
brach. Mit  untergesunken  ist  damals  auch  Cassini,  dessen  Randwall 
bis  auf  wenige  hundert  Meter  von  den  Glutmassen,  die  erstarrend  eine 
ebene  Oberfläche  erhielten,  angefüllt  wurde,  dooh  gelang  es  den  vul- 
kanischen Eruptionen  später  noch  2 kleine  Krater  einzubauen.  Archi- 
medes  wurde  durch  das  Bergmassiv  im  Süden  gehalten  und  Bank  nicht 
ganz  so  tief  ein.  Indem  wir  auch  hier  die  weifse  Färbung  grofser 
Teile  des  Mare  Imbrium  als  vulkanisohe  Asche  betrachten,  fallen  uns 
zwei  dunklere  Stellen  am  Rande  des  Apennin  und  des  Kaukasus 
auf;  die  eine,  südwestlich  von  Archimedes,  ist  der  Palus  Putredinis, 
die  andere,  westlich  von  Aristillus,  der  Palus  Nebularum.  Beide  sind 
integrierende  Bestandteile  des  Mare  Imbrium  und  nur  durch  ihre 


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255 


Farbe  auffällig.  Der  Rand  dieses  grofsen  Meeres  gegen  alle  es  hier 
begrenzenden  Gebirgszüge  stellt  sich  bei  mehr  streifendem  Einfall 
des  Lichtes,  als  es  in  dieser  Karte  der  Fall  ist,  als  ein  schwach  ge- 
senktes Tal  heraus,  das  hier  nur  duroh  die  dunklere  Farbe  der  Rand- 
linie sich  ausprägt  Es  erinnert  dies  an  die  Eigenschaft  manoher 
Erdmeere,  deren  Boden  an  den  Küsten  nicht  steigt,  sondern  abfallt, 
wie  z.  B.  die  Nordsee  an  der  norwegischen  Küste.  Bei  Beseitigung 
des  Wassers  würde  man  hier  vom  Ufer  aus  in  eine  steil  abfallende 
Tiefe  blicken. 

Das  Mare  Frigoris  ist  eines  der  wenigen  Mondmeere,  welche 
nicht  ungefähr  kreisförmig  sind.  Man  möchte  deshalb  fast  an  seiner 
Existenz  als  selbständiges  Meer  zweifeln.  In  der  Tat  steht  es  mit  dem 
Mare  Imbrium  durch  eine  Meerenge,  die  am  Ostrand  des  Kaukasus 
entlang  läuft,  in  Verbindung;  anderseits  findet  eine  zweite  Kommu- 
nikation am  Ostrand  des  Mare  Imbrium  statt.  Wollte  man  in  dieser 
Weise  das  Depressionsgebiet  des  Mare  Imbrium  nooh  gröfser  und 
dabei  wieder  kreisförmig  annehmen,  so  hätte  die  ganze  Alpenkette  an 
dieser  Senkung  teilnehmen  müssen,  ohne  ganz  eingetaucht  zu  werden. 
Die  wesentlich  geringere  Höhe  der  Alpengipfel  im  Vergleich  mit 
Kaukasus  und  Apennin  unterstützt  diese  Theorie. 

Die  stahlgraue  Farbe,  in  weloher  der  gröfsere  Teil  des  Mare 
Serenitatis  erscheint,  dehnt  sich  auch  an  zwei  Stellen  auf  die  um- 
gebenden Gebirge  aus,  nämlich  im  Südosten  und  im  Nordwesten,  hier 
schon  nahe  der  Tagesgrenze.  Die  Verfasser  sehen  diese  Gebirgsteile 
als  jüngeren  Ursprungs  an,  indem  sie  noch  unter  der  flüssigen  Deoke 
des  Meeres  geschützt  lagen,  als  die  vulkanische  Asche  von  den  be- 
nachbarten tätigen  Vulkanen  herüberwehte  und  iin  Meere  spurlos  ver- 
schwand. Erst  als  die  Vulkane  erloschen  waren,  tauchten  sie  infolge 
inneren  Druckes  auf  und  erhielten  so  den  stahlgrauen  Ton,  den  das 
allmählich  erstarrende  Meer  annahm. 

Alle  Bergketten  dieser  Gegend  sind  durch  Quertäler,  die  man 
bei  genauerem  Zusehen  leicht  erkennt,  in  Rechtecke  geteilt;  so  der 
Kaukasus  in  vier  solcher,  wobei  freilich  das  südlichste  seine  Südwest- 
ecke infolge  von  Senkung  an  das  Mare  Serenitatis  bis  auf  einen  iso- 
lierten Berg  hat  abgeben  mÜBsen.  In  den  Alpen  schneidet  das  grofse 
Quertal,  die  „Gletscherspalte",  die  150  km  Länge  und  4 km  Breite  hat 
und  recht  wenig  glücklich  so  benannt  worden  ist,  in  dem  oberen  Teile 
ebenfalls  ein  Rechteck  ab.  Diese  rechteckige  Uliederung  der  Gebirgs- 
stöcke,  die  so  gar  keine  Ähnlichkeit  mit  dem  Aufbau  unserer  irdischen 
Gebirge  hat,  bei  denen  sioh  die  auswaschende  Tätigkeit  des  Wassers 


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25ti 


in  der  regeltnäfaigon  Talgliederung  zeigt,  erklären  die  Verfasser  auf 
folgende  Weise:  Als  die  Mondoberfläohe  noch  ganz  glutflüssig  war 
und  eben  zu  erkalten  begann,  bildeten  sioh  auf  ihr  einzelne  Erkal- 
tungssohlacken,  die  auf  der  glutflüssigen  Masse  durch  die  Winde  ein* 
hergetrieben  wurden.  Wie  nun  auf  unseren  Seen  Eisschollen,  die 
gegeneinander  getrieben  werden,  hervorstehende  Zacken  ihrer  Ränder 
so  lange  abstofsen,  bis  sie  eine  nahezu  geradlinige  Kante  erhalten 
haben,  dann  aber  längs  dieser  Kante  zusatnmenfrieren,  so  fanden  auch 
„Lötungen“  der  Mondschollen  längs  gerader  Linien  statt.  Die  noch 
bestehenden  zusammengelöteten  Teile  haben  das  höchste  Alter  unter 
allen  Mondformationen.  Die  trennenden  „Lötstellen“  der  Apenninen 
und  des  Kaukasus  gehen  verlängert  durch  die  Randwälle  mehrerer 
grofsen  Krater.  Das  pafst  gut  zu  der  Theorie  der  Verfasser,  weil  diese 
Lötstellen  schwächer  sind  als  ihre  Umgebung  und  auftreibenden  Kräften 
von  unten  sich  leiohter  öffnen. 

Sowohl  die  Alpen  wie  die  Apenninen  tragen  auf  ihrer  höheren, 
nach  dem  Mare  Imbrium  steil  abfallenden  Seite  eine  grofse  Anzahl 
Krater,  deren  Öffnungen  man  auf  unserem  Blatte  bei  dem  hohen  Sonnen- 
stände nicht  sieht,  da  die  Innenwände  wohl  mit  stark  das  Lioht  reflek- 
tierender Lava  bedeckt  sind.  Aber  auch  die  grofsen  Krater  Auto- 
Ivcos  und  Aristillus  müssen  tätig  gewesen  sein,  wie  man  aus  den 
starken  Aschenanhäufungen  in  ihrer  unmittelbaren  Umgebung  sieht, 
namentlich  sind  diejenigen  in  der  Wallebene  Archimedes,  deren  ebenes 
Innere  mit  vier  weifseu,  nioht  ganz  parallelen  Streifen  überzogen  ist, 
deren  beide  obere  von  Autolycos,  deren  untere  von  Aristillus  herzu- 
kommen soheinen,  als  vom  Winde  herbeigewehte  Auswurfsprodukte 
zu  betrachten.  Ganz  gewaltig  ist  infolge  dieser  Aschenstreifen  der 
Kontrast  zwischen  den  sonst  sich  gleichenden  Wallebenen  Archimedes 
und  Plato.  Wenn  auch  Plato  so  ganz  schwarz  ist,  so  beweist  dies 
naoh  Auffassung  von  Loewy  und  Puiseux  doch  nicht,  dafs  er  von 
keiner  verwehten  Asche  erreicht  wurde,  sondern  dafs  sein  Inneres 
noch  flüssig  war,  als  die  umliegenden  Vulkane  tätig  waren,  und  dafs 
deren  Asche  spurlos  darin  verBank. 

Während  wir  auf  den  anderen  3 Blättern  grofse  Meere  oder 
wenigstens  Meeresteile  erblickten,  fehlen  diese  auf  Blatt  XVIII  (Fig.  4), 
welches  den  Südpol  des  Mondes  im  letzten  Viertel,  also  nur  die  Ost- 
hälfte desselben  bei  untergehender  Sonne  darstellt,  ganz.  Auch  Berg- 
ketten fehlen  hier,  es  ist  eine  zusammenhängende  Kratermasse. 
WTeder  sind  die  Krater  infolge  der  Nähe  des  Mondrandes  perspektivisch 
zu  Ellipsen  deformiert.  Der  streifende  Einfall  des  Lichtes  namentlich 


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257 


im  Westen  der  dargestellten  Gegend  liifst  die  Sohatten  lang  hinfallen 
und  erlaubt  daraus,  mit  Sicherheit  die  Höhe  der  sohattenwerfenden 
Objekte  zu  berechnen.  Gerade  in  der  Nähe  des  8üdpols  Anden  sioh 
die  gröfsten  Bodenerhebungen.  Dort  liegt,  ganz  oben  auf  der  Karte, 
der  Krater  Newton,  bei  dem  der  viergezackte  Schattenwurf  auf  dem 
unebenen  Boden  des  Innern  die  Konturen  des  Ostwalles  abzeiohneL 
Da  auch  der  beleuchtete  Westwall  die  gleiche  Höhe  hat,  und  die 
Sonne  bei  der  Polnähe  des  Objekts  sich  kaum  zu  20 0 scheinbarer 
Höhe  über  den  Horizont  dieser  Gegenden  erhebt,  so  werden  die 
tiefsten  Stellen  des  Kraterinnorn  nie  von  einem  Sonnenstrahle  ge- 
troffen. Auch  die  Erde  sieht  man  von  dort  nioht.  Umgekehrt  ist 
das  Hochplateau,  welohes  südöstlich  von  Newton  über  den  Mondrand 
emporragt,  über  8000  m hoch  und  dabei  dem  Pole  so  nahe,  dafs  es 
stets  von  den  streifenden  Sonnenstrahlen  getroffen  wird.  Diese  kommen 
ihm  auch,  wenn  alle  Täler  ringsum  in  Nacht  liegen,  noch  von  jenseits 
des  Poles  zu.  Es  bildet  eine  Erhebung  der  Dörfelberge,  die  hier  dem 
Mondrand  entlang  laufen  und  mehr  im  Osten  eine  nooh  beträchtlichere 
Bergmasse  über  den  Kand  emporragen  lassen;  für  letztere  hat  Mädler 
eine  Höhe  von  8000  m bereonet,  wohl  die  gröfste  auf  der  sichtbaren 
Mondhälfte. 

Unter  den  Wallebenen  ist  die  des  Clavius,  ungefähr  in  der  Mitte 
der  Lichtgrenze,  weitaus  die  gröfste  und  interessanteste.  Sie  ist  niobt 
streng  elliptisoh,  sondern  hat  eine  mehr  rhomboidale  Form,  wie  übri- 
gens manche  der  Krater  in  dieser  Gegend,  unter  andern  die  fast  genau 
in  gerader  Richtung  liegenden  6 Krater  Gruemborger  (dessen  Inneres 
ganz  im  Schatten  liegt  bis  auf  den  Westwall),  Blanoanus,  Scheiner, 
Rost  und  Schiller  (am  rechten  Rande,  nur  halb  sichtbar),  deren  Ver- 
bindungslinie südlich  an  Clavius  vorbeistreift.  Diese  Anordnung  ist 
eine  Stütze  der  Schollentheorie  der  Verfasser.  Der  Randwall  des  Clavius 
ist  doppelt,  aber  an  vielen  Stellen  zerstört,  namentlich  an  der  Nord- 
seite, wo  der  innere  Wall  nur  noch  aus  einer  Reihe  einzelner  Zacken 
besteht,  und  in  der  Mitte  des  Südrandes;  letztere  ist  duroh  Senkung 
verschwunden,  so  dafs  nun  eine  Reihe  von  Furchen  von  dem  ebenen 
Kraterinnern  nach  Süden  führt  Zwei  Ringgebirge  vulkanischen  Ur- 
sprungs sind  in  den  westlichen  Teil  des  Randwalles  oben  und  unten 
eingebaut,  deren  Zentralberge  eben  nooh  aus  dem  tiefen  Schattenwurf 
herausragen.  Besonders  hooh  ist  der  Westwall  des  zwischen  beiden 
eingebauten  Kraters  Clavius  D,  dessen  langer  Sohattenkegel  an  der 
inneren  Böschung  des  Westwalles  des  Ilauptkraters  emporklettert. 
Die  vielen  ganz  kleinen  Krater,  die  den  Boden  von  Clavius  übersäen, 

Himmel  und  Erde.  1904.  XVI.  6.  17 


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können  nach  den  Verfassern  teilweise  als  Locher  angesehen  werden, 
welohe  Meteore  von  riesiger  Oröfse  in  den  Kraterboden  gesohlagen 
haben.  Diese  Meteore  sausen  auf  den  luftlosen  Mond  in  unvermin- 
derter Geschwindigkeit  und  Gröfse  herab,  während  die  Lufthülle  der 
Erde  ihre  Wucht  hemmt  und  sie  zerspringen  läfst  und  so  die  Erd- 
kruste vor  ihnen  sohützt.  Erwähnt  sei  nooh  die  sehr  grofse  Wallebene 
Longoinontanus,  nordöstlich  von  Clavius,  wegen  des  ebenfalls  doppel- 
ten Handwalles,  der  zahllose  kleine  Krater  auf  seiner  Kammlinie 
trägt  und  im  Norden  mit  dicht  aneinandergebauten  Kratern  gefüllt  ist. 
ln  der  linken  unteren  Ecke  der  Tafel  (Pig.  4)  liegt,  ebensoweit  von 
unten  wie  vom  linken  Rande  entfernt,  der  T.vcho,  der  bei  hohem 
Mittagsstande  der  Sonne  ein  Mittelpunkt  weit  über  die  Mondober- 
iläche  hinlaufender  Strablensysteme  ist,  von  denen  hier  bei  unter- 
gehender Sonne  niohts  zu  sehen  ist.  Gerade  die  oberste  Spitze 
seines  Zentralberges  ragt  aus  dem  Schatten,  der  das  ganze  Innere  bis 
zum  Pufse  des  Westwalles  füllt,  heraus.  Würde  der  Zentralberg 
genau  in  der  Mitte  der  Schattenerstreokung  liegen,  so  würde  aus 
dieser  Tatsache  für  ihn  die  halbe  Höhe  des  sohattenwerfenden  Ost- 
walles folgen,  da  er  nun  ein  wenig  weiter  entfernt  liegt,  so  ist  er 
etwas  niedriger  als  die  halbe  Höhe  des  Ostwalles.  Von  der  früheren 
starken  eruptivon  Tätigkeit  des  Tycho  zeugt  naoh  den  Verfassern 
die  weifsgraue  Färbung  der  nördlich  und  östlich  von  ihm  gelegenen 
Partien  im  Gegensatz  zu  der  dunkelgrauen  der  oberen  Hälfte.  Diese 
sollen  Asche  darstellen.  Ein  aufmerksames  Auge  findet  z.  B.  über 
den  Boden  des  Longomontanus  zwei,  über  den  des  davon  nördlichen 
Wilhelm  I einen  Aschenstrich  hinlaufen,  die  genau  auf  den  Zentral- 
berg des  Tyoho  zielen. 

Nachdem  wir  dem  Leser  durch  die  Beschreibung  der  vier  repro- 
duzierten Mondphotographien  die  Beweise  für  die  Einzelhei'en  der 
Loewy-  und  Puiseuxschen  Mondbildungstheorie  an  die  Hand  ge- 
geben haben,  können  wir  jetzt  an  eine  zusammenhängende  Darstellung 
dieser  im  wesentlichen  vulkanischen  Theorie  gehen  Einer  vulka- 
nischen Deutung  der  Mondgebilde  sind  zwar  von  jeher  zwei  Argu- 
mente enlgegengehalten  worden:  erstlich  der  beträchtliche  Durchmesser 
der  grofsen  Ringgebirge  des  Mondes,  von  rund  100  Kilometern, 
welcher  alle  die  Erdvulkane  so  gewaltig  iibertrifTt;  zweitens  das  Fehlen 
einer  Atmosphäre  auf  dem  Monde,  während  doch  jeder  Ausbruch  eines 
Erdvulkans  von  Gas-  und  Wasserdampfausbrüohen  begleitet  ist  Wo 
aber  ist  auf  dem  Monde  dieses  Wasser,  wo  sind  die  Gase  geblieben, 
die  eine  Atmosphäre  um  ihn  weben  müfsten.  Aus  deren  Fehlen  frei- 


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lieh  kann  man  nur  folgern,  dafs  jetzt  auf  dem  Monde  keine  vulka- 
nischen Kräfte  in  grofsem  Marsstabe  mehr  wirksam  sein  können, 
nioht  aber,  dafs  dies  auch  früher  so  gewesen.  Tatsächlich  nehmen 
die  Verfasser  die  Existenz  von  Wasser  und  Luft  zu  früheren  Zeiten 


Fi#.  4.  Südpol.  Cltrini,  LongoBooUnu. 

(Tafel  XVIII.  Loewy  und  Puiaeux.) 

auf  dem  Monde  an.  Teils  sind  beide  nach  ihrer  Ansicht  bei  der 
Qesteinsbildung  von  dem  Mondinnern  gebunden  worden,  teils  sind  sie, 
die  Luft  zuerst,  später  der  Wasserdampf,  der  sioh  aus  dem  Wasser 
infolge  fehlenden  Druckes  von  oben  bildete,  dem  Monde  duroh  die 
Atomgesohwindigkeilen  dieser  Oase  entführt  worden.  Diese  Atom- 
geschwindigkeiten übertreffen  nämlich  im  Maximum  die  Geschwindig- 

17» 


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260 


keit,  mit  welcher  ein  vom  Monde  direkt  fortgeächleuderter  Körper 
von  ihm  sioh  entfernen  mofs,  um  die  Anziehungskraft  zu  überwinden. 
Diese  Geschwindigkeit  beträgt  nämlich  beim  Monde  nur  2400  m. 
Außerdem  erscheint  es  nioht  ausgeschlossen,  dafs  der  Mond  noch  jetzt 
eine  sehr  dünne  Atmosphäre  besitzt,  denn  die  Sternbedeckungen  geben 
einen  etwas  kleineren  Wert  für  den  Monddurchmesser  als  direkte 
Durohmesserbestimmungen.  Wenn  nämlich  duroh  eine  geringe  Ab- 
lenkung der  von  dem  Fixstern  kommenden  Lichtstrahlen  der  bereits 
hinter  den  Mond  getretene  Stern  noch  sichtbar  bleibt  und  anderseits 
vor  dem  geometrischen  Austritt  des  Sternes  auf  der  anderen  Seite  der 
Scheibe  die  Strahlenbrechung  den  Stern  bereits  sichtbar  werden 
läfst,  so  wird  die  Bedeckungszeit  und  damit  der  daraus  berechnete 
Monddurohmesser  zu  klein  erhalten.  Anderseits  mufste  wegen  der 
rascheren  Abkühlung  des  kleineren  Mondes  die  Menge  eingeschlossener 
Oase  eine  relativ  stärkere  sein  als  auf  der  gröfseren  Erde,  und 
dies  würde  in  Verbindung  mit  der  geringeren  Schwerkraft  eine  vul- 
kanisohe  Tätigkeit  begünstigen.  Dazu  kommt  endlich,  dafs  der  Mond 
sioh  aus  den  äufsersten  Schichten  des  noch  glutflüssigen  Erdballes  los- 
gelöst hat,  welche  die  leiohteren  Stoffe  enthielten  — tatsächlich  ist  sein 
spezifisches  Gewicht  nur  s/s  von  dem  der  Erde  — , so  dafs  auch  seine 
Kruste  leiohter  zu  durchbrechen  ist  als  diejenige  unseres  Planeten. 

Nimmt  man  mit  den  Verfassern  an,  dafs  hiermit  die  Einwürfe 
gegen  ihre  vulkanische  Theorie  hinreichend  widerlegt  sind,  so  kann 
man  ihnen  auf  ihrem  Gedankengang  folgen,  der  nun  auch  sofort  die 
Entstehung  der  Mondgebilde  chronologisch  ordnet.  Zuerst  erschienen 
auf  der  glutflüssigen  Masse  Erkaltungsschlacken,  die,  von  Strömungen 
hin-  und  hergetrieben,  miteinander  zusammenstiersen  und  schliefslich 
längs  geradlinig  abgestofsener  Kanten  miteinander  verschmolzen;  die 
Verbindungslinien  sind  aber  sichtbar  geblieben  und  werden  durch  die 
Photographien  oft  auf  weite  Streoken  der  jetzigen  Mondoberfläche 
klargelegt.  Eine  zweite  selenologisohe  Epoche  beginnt,  nachdem  auch 
die  von  Sohollen  freigebliebenen  Teile  der  Kinde  erstarrt  waren. 
Hatte  nämlich  damals  der  Mond  noch  nicht  eine  Umdrehungszeit,  die 
seiner  Umlaufszeit  um  die  Erde  gleich  war,  so  erzeugte  die  Erde  in 
seinem  gutflüssigen  Innern  eine  Flutwelle,  ähnlich  wie  sie  der  Mond  in 
der  irdischen  Wasserhülle  erzeugt,  und  der  Druck  dieser  Flutwelle  gegen 
die  noch  schwache  Rinde  vermochte  diese  zu  durchbreohen  und  zu  über- 
fluten. Die  erstarrten,  ausgetretenen  Massen  verdecken  die  früher 
sichtbaren  Lotlinien  und  erzeugen  den  Anbliok  einer  zusammenhän- 
genden Ebene.  Nachdem  nun  die  Kinde  allmählich  fester  geworden 


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261 


ist,  vermögen  in  der  dritten  Periode  nur  starke  Drucke  sie  emporzu- 
heben. Haben  diese  Drucke  ihr  Zentrum  in  einer  gewissen  Tiefe, 
etwa  in  einer  starken  Gasentwickelung,  so  wird  der  Druck  sich  kugel- 
förmig um  dieselbe  fortpflanzen,  also  auoh  die  Oberfläche  des  Mondes 
zu  einem  Kugelsegment  emporzuwölben  sich  bestreben.  Ein  Kugel- 
segment setzt  aber  auf  der  kugelförmigen  Mondoberfläche  selbstver- 
ständlich in  einem  Kreise  auf,  und  damit  ist  ungezwungen  die  Kreis- 
form aller  Wallebenen  und  Kinggebirge  erklärt.  War  nämlich  der  Druok 
so  stark  geworden  dafs  er  die  emporgewölbte  Kinde  durchbraoh  und 
die  eingeschlossenen  Oase  entwichen,  so  stürzten  die  Bruchstücke  des 
Kugelsegments  in  die  Tiefe,  während  rings  ein  kreisförmiger  Wall 
stehen  blieb.  Die  Bruchstücke  schmolzen  in  der  glutllüssigen  Lava 
wieder  ein  und  bildeten  nach  der  Erstarrung  eine  vollkommene  Ebene; 
denkbar  ist  aber  auch,  dafs  bei  schrägem  Einsturz  eines  solohen  Bruch- 
stücks eine  Ecke  emporgerichtet  blieb  und  nun  einen  Bergkegel  im 
Innern  einer  Wallebene  darstellt,  um  den  rings  die  Lava  glatt  ver- 
schmolz. 

In  der  vierten  Periode  bilden  sich  nun  durch  stärkere  Zusammen- 
ziehung des  flüssigen  Innern  gegenüber  derjenigen  der  festen  Rinde 
gewaltige  Hohlräume,  in  welche  grofse  Gebiete  der  Oberfläche  sich  auf 
einmal  oder  in  mehreren  Etappen  hineinsenken:  so  entstehen  die 
grofsen  Meere.  Über  die  eingesunkenen  Gegenden  flutet  die  innere 
Lava  hinweg  und  nivelliert  alles,  blofs  die  höchsten  Gebirge  ragen 
nooh  mit  ihren  Gipfeln  als  ein  Inselmeer  über  die  allmählich  voll- 
kommen eben  erstarrende  Oberfläche  empor  Fester  und  dichter  wird 
die  Kinde  des  Mondes,  aber  die  ohcmischen  Kräfte  des  glutflüssigen 
Innern  ruhen  nicht,  doch  setzt  das  feste  Gefüge  der  Oberfläche  jetzt 
den  Qasentwiokelungen  einen  energischeren  Widerstand  entgegen. 
Erst  wenn  der  innere  Druck  zu  stark  geworden  ist,  siegt  er,  dann  aber 
■•xplosionsartig,  und  wirft  einen  regelrechten,  feuerspeienden  Vulkan 
an  der  Oberfläche  auf.  Er  benutzt  dabei  vorzugsweise  die  weniger 
widerstandsfähigen  Stellen  der  Kinde,  also  die  alten  .Lötstellen“,  die 
Bergkränze,  welohe  die  Meere,  und  die  Kämme,  welche  die  Wallebenen 
einsohhßfsen,  deren  Gefüge  bei  benachbarten  Einstürzen  gelockert  sein 
mochte,  auch  die  feinen  Adern,  welche  die  Meere  überziehen,  ln  dieser 
fünften  Periode  war  der  Mond  mit  zahlreichen,  tätigen  Vulkanen  be- 
deckt, und  ihre  Asche  wurde  durch  die  Winde  in  der  damals  noch 
vorhandenen  Atmosphäre  geradlinig  fortgetragen  und  lagerte  sich  in 
Streifen  ab.  Dafs  :*ie  so  erzeugten  glänzenden  Striche  nicht  Eis  sein 
können,  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  da  die  Temperatur  der  äquatorialen 


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262 


tiegenden  des  Mondes  um  Mittag  nach  Very4)  auf  180°  C.  steigt,  die 
Streifen  aber  beständig  sind.  Nasmyth  und  Carpenter  haben  die 
gröfseren  von  ihnen  für  Bodenspallen  erklärt,  die  durch  starken  Druck 
von  einem  Punkte  aus  strahlenförmig  geöffnet  worden  seien;  in  diese 
drang  die  Lava  ein  und  erzeugte  beim  Erstarren  eine  besonders 
glänzende  Oberfläche.  Dooh  wird  diese  Theorie  durch  einen  Blick 
auf  die  Loewy-  und  Puiseuxschen  Photographien  wiederlegt.  Nur 
vom  Wind  getragene  Asche  kann  sich  so  verteilen,  wie  das  Auge  es 
hier  sieht.  Bewiesen  wird  dies  vor  allem  dadurch,  dafs  die  Aschen- 
striche, wenn  sie  einer  Gebirgswand  begegnen,  dieselbe  zwar  über- 
schreiten, vor  der  Bergwand  aber  breiter  werden  und  hinter  ihr  dünner 
wieder  anfangen,  genau  wie  es  sein  mufs,  da  die  niedrigen  Winde 
die  Asche  gegen  die  Bergwand  werfen,  die  sie  an  sich  heruntergleiten 
liefs.  Hingegen  schützte  die  Wand  die  unmittelbar  hinter  ihr  befind- 
liche Ebene  vor  Asche.  Anderseits  sind  die  Streifen  bisweilen  duroh 
Meere  oder  das  Innere  grofser  Wallebenen  unterbrochen,  deun  die 
dort  einfallende  Asche  sank,  als  die  betreffenden  Flächen  noch  nicht 
erstarrt  waren,  spurlos  unter.  Wegen  der  Rolle,  die  der  Wind  bei  der 
Ausbreitung  der  Asche  spielte,  die  wieder  ohne  Luft  nicht  denkbar 
war,  können  wir  nun  zwisohen  älteren  und  jüngeren  Vulkanen  unter- 
scheiden; sobald  die  Atmosphäre  so  dünn  geworden  war  wie  jetzt, 
konnten  keine  weiten  Aschentransporte  mehr  stattfinden,  und  die  Aus- 
wurfsprodukte  mufsten  sämtlich  in  unmittelbarer  Nähe  des  Auswurfs- 
kraters  niederfallen,  was  natürlich  vorher  auch  schon,  jetzt  aber  aus- 
schliefslioh  geschah.  So  wird  man  Copernicus  für  jünger  halten  als 
Tycho,  dessen  Aschenstreifen  mehr  als  den  vierten  Teil  eines  gröfsten 
Kreises  einnehmen,  Kepler  wieder  für  jünger  als  Copernicus.  Das 
glänzende  Licht  der  Abhänge  dieser  bei  Vollmond  so  prächtig  strahlen- 
den Krater  mag  von  übergeflossener  Lava  herrühren.  Verlegt  man 
anderseits  die  Bildung  einzelner  Hauptvulkane  auch  in  Epochen  zu- 
rück, wo  das  Innere  der  Wallebenen  noch  nicht  fest  geworden  war,  so 
kann  man  von  mehreren  in  der  Aschenflugriohtung  desselben  Vulkans 
liegenden  Gebilden  das  relative  Alter  feststellen,  je  nachdem  die  Ge- 
bilde die  Asche  zeigen,  also  damals  fest  waren,  oder  nicht.  So  ist  im 
Gebiete  des  Tycho  Clavius  älter  als  Longomontanus,  und  dieser  wieder 
älter  als  Pitatus,  ebenso  ist  das  Mare  Humorum  älter  als  das  Mare 
Nubium. 

Nooh  einen  anderen  Mafsstab  für  den  Altersunterschied  der  Mond- 
gebilde gewährt  ihr  relativer  Erhaltungszustand.  Seit  die  Atmosphäre 

•)  Astrophysical  Journal  vol.  VIII  p.  1!>9.  u 2K5. 


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263 


des  Mondes  so  dünn  geworden  ist  wie  jetzt,  ist  die  Oberfläche  noch 
stärker  als  vorher  Temperaturschwankungen  im  Laufe  eines  Mond- 
tages, also  innerhalb  29'/*  Erdtagen  ausgesetzt,  Schwankungen,  die 
jetzt  von  180°  über  Null  im  Mittag  bis  auf  wenigstens  200°  unter 
Null  während  der  14tägigen  Nacht  gehen,  und  diese  müssen  zerstörend 
auf  das  feste  Gefüge  der  Gesteine  der  Kraterwände  wirken.  Die  durch 
Ausdehnung  und  Zusammenziebung  abgesprengten  Stücke  müssen 
herunterrollen  und  der  Bergkamm  ein  immer  mehr  zackiges  Aussehen 
bekommen. " Je  wilder  und  zerrissener  also  ein  Itinggebirge  ist,  desto 
älter  wird  es  relativ  sein;  auch  dies  beweist  das  höbe  Alter  des  Clavius. 

Soll  man  nun  die  Kräfte,  welche  nach  den  Verfassern  in  diesen 
fünf  Perioden  das  Antlitz  des  Mondes  gefurcht  haben,  als  hiermit 
erlosohen  annehmen,  so  dafs  die  sechste  Periode  nur  die  Gesteins- 
zerbröckelung unter  der  Wärmesohwankung  umfafst,  oder  wird  immer 
noch  Zug  um  Zug  von  dem  feinen  Grabstichel  der  Zeit  in  das  uns 
strahlend  zugewandte  Gesicht  unseres  Satelliten  gegraben?  Ist  der 
Mond  tot  oder  altert  er  weiter?  Mit  anderen  Worten,  finden  noch 
Veränderungen  auf  dem  Monde  statt?  Dafs  der  Mond  für  höher  or- 
ganisiertes Leben  tot  ist,  erscheint  fraglos:  nicht  so  leicht  läfst  sich 
entscheiden,  ob  aber  auch  für  das  niederste  Leben,  für  das  'Waohstum 
von  Algen  und  Moosen,  immer  die  Anwesenheit  stark  verdünnter 
Luft  und  geringer  Feuchtigkeit  vorauszusetzen  ist  Hierfür  ist  es  be- 
zeichnend, dafs  Farbenänderungen  gewisser  Mondgebiete  sich  mit 
steigender  Sonne  vollzogen  haben,  die  als  solche  sowohl  von  direkten 
Beobachtern,  wie  auch  von  Loewy  und  Puiseux  als  Helligkeits- 
änderungen photographiert  und  bei  der  Vergleichung  mehrerer  Platten 
derselben  Gegend,  die  unter  verschiedenen  Beleuohtungsphasen  standen, 
entdeckt  worden  sind.  Da  der  Tag  des  Mondes  und  sein  Jahr  identisch 
ist,  nämlich  gleich  einem  synodischen  Umlauf,  so  würde  durch  eine 
bescheidene  Vegetation,  deren  Wachstum  sioh  der  gleichen  Periode 
einfügen  mufs,  eine  solche  Farbenänderung  erklärbar  sein.  Auch  das 
Dunklerwerden  des  Plato  mit  steigender  Sonne  ist  vielleicht  hierher 
zu  rechnen.  Sollte  die  vollkommen  ebene,  dunkle  Fläche,  auf  der  gar 
kein  Asobenstreifen  liegt,  noch  nicht  ganz  fest  sein,  so  müfste  sie 
allerdings  mit  inneren  Wärmequellen  in  Verbindung  stehen,  wie  der 
rote  Fleck  auf  Jupiter,  wie  der  Feuersee  des  Kilauea,  an  welche  diese 
Fläche  merkwürdig  erinnert. 

Verlangen  wir  aber  gröfsere  Veränderungen  auf  der  Mondober- 
fiäche  zu  sehen,  wirkliche  Konturenänderungen  seiner  Gebilde,  so  ist 
diese  Forderung  sohon  sehr  hochgespannt.  Wir  fragen  zum  Vergleiche, 


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264 

was  denn  für  Veränderungen  an  der  Erdoberfläche  vor  sich  gehen, 
die,  aus  Mondentfernung  mit  einem  mittelstarken  Fernrohr  betraohtet, 
von  uns  noch  bemerkt  werden  könnten.  Es  würde  sich  um  Objekte 
von  V2  km  Griifse  handeln.  Wenn  weiter  beachtet  wird,  dafs  wir 
alles  direkt  von  oben,  also  stark  verkleinert  betrachten,  so  dürfte  es 
zweifelhaft  sein,  ob  wir  z.  B.  die  Zerstörung  der  Krakatauinsel  1883, 
von  der  ein  Stück  stehen  blieb,  und  die  Senkung  des  Auswurfs- 
kegels des  Mont  Pelö  im  Jahre  1901  in  ihren  Wirkungen  vom  Monde 
aus  hätten  beobachten  können,  wenn  der  eigentliche  vulkanische  Aus- 
bruch zufällig  nicht  gesehen  worden  wäre,  zumal  wenn  nur  Zeich- 
nungen des  früheren  Zustandes  vorhanden  gewesen  wären,  die  man 
doch  auch  für  unzuverlässig  halten  dürfte.  Es  mufs  sich  also  um 
sehr  beträchtliche  Änderungen  im  Antlitz  des  Mondes  handeln,  wenn 
man  dieselben  als  sicher  konstatiert  ansehen  will. 

Aber  bei  aller  Vorsicht  dürfen  wir  doch  einige  Veränderungen 
auf  dem  Monde  als  sicher  konstatiert  gelten  lassen.  Eine  viel  beob- 
achtete Gegend  unseres  Trabanten  ist  das  Rillensystem  des  Hyginus, 
das  etwa  300  km  nordwestlich  der  Mondmitte  liegt  Innerhalb  des- 
selben entdeckte  Klein  in  Köln  am  19.  Mai  1877  „einen  grofsen 
schwarzen,  schattenerfüllten  Krater  ohne  Wall",  den  er  früher  in  dieser 
Gegend  nie  bemerkt  hatte,  obwohl  er  sehr  auffällig  am  Abhange  eines 
kleinen  Berges  liegt  Dieser  als  Hyginus  N bezeichnete  Krater  wurde 
darauf  von  mehreren  Beobachtern  konstatiert  und  seine  Umgebung  viel 
gezeichnet  Merkwürdigerweise  fand  Krieger  dabei  einen  zweiten 
neuen  Krater,  den  er  Hyginus  N'  nannte,  in  dieser  von  ihm  und  den 
anderen  so  häufig  durchforschten  Gegend.  Konnte  man  bei  der  ersten 
Entdeckung  noch  zweifeln,  ob  nicht  ein  blofses  Übersehen  des  schon 
längst  existierenden  Kraters  durch  die  früheren  Beobachter  vorlag,  so 
nicht  mehr  bei  dem  zweiten  Krater,  nachdem  die  Gegend  so  oft  unter- 
sucht war.  Anderseits  macht  der  zweite  Krater  auch  die  physische 
Entstehung  des  ersten  plausibler,  da  in  einer  Gegend,  wo  einmal  eine 
Veränderung  eingetreten  ist,  eine  zweite  in  dem  beunruhigten  Boden 
leichter  möglich  ist.  Besonders  beweiskräftig  erscheint  mir  aber  der 
Krater  Linnö  im  östlichen  Teile  des  Mare  Serenitatis  (s.  Fig.  3).  Dieser 
Krater  ist  von  Lohrmann  und  Mädler  als  ein  Berg  mit  Krateröffnung 
in  der  Ebene  des  Meeres  beschrieben  worden.  Er  warf  in  der  Nähe  der 
Liohtgrenze  einen  so  starken  Schatten  und  trat  so  deutlich  hervor,  dafs 
er  von  beiden  als  Ausgangspunkt  für  Abstandsmessungen  anderer 
Mondobjekte,  als  sogenannter  Fixpunkt  erster  Ordnung,  benutzt  wurde. 
Auch  Schmidt  sah  ihn  bereits  vor  1843  in  dieser  Beschaffenheit. 


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26  n 


Später  aber  fand  er  ihn  nur  als  einen  weiben  Fleok  wieder,  der  über- 
haupt keinen  Schatten  mehr  warf,  der  also  zu  Messungszweoken  völlig 
ungeeignet  war.  Hier  raubte  also  inzwischen  ein  Ausbruch  aus  dem 
Krater  stattgefunden  haben.  Die  Lava  überflutete  die  Abhänge,  dachte 
sie  so  sanft  gegen  die  Ebene  ab,  dafs  kein  Schattenwurf  mehr  mög- 
lich war  und  der  Krater  bei  jeder  Beleuchtung  nur  als  weifser 
Fleck  mit  ganz  kleiner  Grube  ira  Innern  sichtbar  ist.  Die  Ver- 
änderung ist  deswegen  unbezweifelbar,  weil  sich  noch  jetzt  die 
Tätigkeit  des  Kraters  l.innö  beobachten  läfst.  Fickering,  der 
Direktor  der  Sternwarte  des  Harvard  College,  kam  auf  den  Ge- 
danken, den  Durohmesser  des  Lichtfleckes  Linnö  öfter  und  besonders 
vor  und  nach  einer  totalen  Mondfinsternis  messen  zu  lassen.  Er  fand 
ihn  nach  Ablauf  der  Verfinsterung  stets  gröfser  als  vorher.  Bei 
einer  Messung  1898  bestimmte  Douglass  so  eine  Vergröberung  des 
Lichtfleckes  um  0".57,  etw-a  '/4  des  Durchmessers.  Bei  der  Finster- 
nis vom  16.  Oktober  1902  aber  fand  eine  Verdoppelung  der  Grobe 
des  Lichtfleckes  statt,  die  sogar  direkt  auffällig  war,  so  dab  Linne 
nach  Aufhören  der  Finsternis  nur  durch  seine  Lage  gegen  andere 
Krater  erkennbar  war,  nicht  aber  durch  sein  Aussehen  allein.  Die 
Messungen  seines  Durchmessers  geschahen  mit  dem  Fadenmikro- 
ineter  und  begannen  3 1 ■ s Stunden,  bevor  der  Erdschatten  Linnö 
erreichte;  sie  gaben  2 Vs  Stunden  lang  unverändert  den  Wert  i".l  im 
Mittel.  Kaum  aber  hatte  der  Halbschatten  der  Erde,  dem  Auge  nicht 
wahrnehmbar,  wohl  aber  der  Berechnung  nach,  I.innö  überschritten, 
als  der  Durchmesser  ganz  regelmäbig  gröber  wurde,  und  kurz  bevor 
der  Kernschatten  Linnö  erreichte,  ward  3".22  dafür  gemessen.  Nun 
verschwand  Linnö  in  der  Dunkelheit.  Als  er  nach  2 '/j  stündigem 
Verweilen  im  Schattenkegel  wieder  im  lialbschaiten  sichtbar  wurde, 
hatte  sich  der  Durchmesser  auf  5".  6 erhöht.  Die  Messungen 
konnten,  da  Wolken  dazwischen  traten,  nicht  weit  genug  fortgesetzt 
werden,  um  zu  beobachten,  ob  nun  wieder  eine  Abnahme  des  Licht- 
fleckes .stattfand.  Eine  4 Tage  später  ausgeführte  Messung  ergab  den 
Durchmesser  zu  4". 6 1 , also  kleiner  als  unmittelbar  nach  Ende  der 
Finsternis,  doch  immer  noch  gröfser  als  vor  ihrem  Beginn.  Die  Er- 
klärung, die  W.  H.  Pickering,  der  Beobachter  der  letzten  Erschei- 
nung hierfür  gibt,  ist  folgende:  Linnö  war  vor  der  Finsternis  „tätig“, 
d.  h.  er  spie  zwar  nicht  Feuer,  lieb  aber  eine  Dampfwolke  aus  seinem 
Krater  ausströmen,  die  als  solche  natürlich  nicht  von  der  Erde  aus  zu 
beobachten  war.  Als  nun  plötzlich  die  Mittagstemperatur  — der 
Mond  war  8 */2  Tage  alt  — , welche  rund  + 180°  betragen  haben  mau-. 


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266 


durch  die  Finsternis  unterbrochen  wurde,  innerhalb  deren  die  Tempe- 
ratur wie  in  der  Mondnacht  auf  — 200°  heruntergeht,  schlug  sich 
der  Wasserdampf  als  Eis  auf  den  Krater  ringsum  nieder,  welohes 
von  der  die  Öffnung  umgebenden  Lava  in  der  Helligkeit  nicht  zu 
unterscheiden  war,  so  dafs  der  Liohtfleok  nachher  entsprechend  ver- 
gröfsert  erschien.  Vier  Tage  später  hatte  die  Sonnenstrahlung  erst 
einen  Teil  des  Eises  wieder  verdampft  Dieser  Vorgang  ist  schwer 
zu  begreifen,  und  wir  überlassen  die  Verantwortung  für  diese  Erklä- 
rung ihrem  Urheber.  Es  wird  sich  aber  bei  künftigen  Finsternissen 
lohnen,  den  Durchmesser  des  Linnö  vor  und  nachher  zu  messen;  auch 
Liebhaber  können,  wenn  ihre  Refraktoren  Fadenmikrometer  haben, 
hierbei  mitwirken.  Dafs  aber  I.inne  sein  ganzes  Aussehen  verändert 
hat  und  noch  verändert,  läfst  sich  nicht  mehr  bezweifeln. 

Es  ist  hier  der  Ort,  einige  Berichte  über  Beobachtung  feuer- 
speiender Berge  auf  dem  Monde  aus  dem  Ende  des  18.  und  dem 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  der  Vergessenheit  zu  entreifsen.  Bei 
aller  Vorsicht  wird  man  nicht  umhin  können,  zuzugestehen,  dafs  das, 
was  die  Beobachter,  von  denen  drei  durch  ihre  sonstige  astronomische 
Tätigkeit  über  jeden  Zweifel  einer  bewufsten  oder  unbewufsten 
Täusohung  erhaben  sind,  gesehen  haben,  nichts  anderes  sein  kann, 
als  der  Ausbruch  eines  tätigen  Vulkans. 

Wir  geben  zunäohst  die  Berichte,  die  sich  sämtlioh  in  den  Phi- 
losophical  Transactions  of  the  Royal  Society  of  London  finden,  der 
Zeitfolge  nach  auszugsweise  wieder: 

William  Hersohel  berichtet  im  Jahrgang  1787  dieser  Sitzungs- 
berichte S.  229 — 231:  „Am  19.  April  1787  83/4h  abends  bemerkte  ich 

drei  Vulkane  an  verschiedenen  Stellen  der  dunkeln  Seite  des  zu- 
nehmenden Mondes.  Zwei  waren  schon  nahe  am  Erlöschen  (oder 
umgekehrt,  sie  bereiteten  eine  Eruption  vor,  was  sich  naoh  einem 
Mondumlauf  entsoheiden  lassen  wird).  Der  dritte  zeigt  gegenwärtig 
einen  Ausbruch  von  Feuer  oder  leuchtender  Materie.  Sein  Abstand 
vom  Nordrand  des  Mondes  wurde  zu  3' 67". 3 gemessen.“ 

Am  folgenden  Tage  8h  6m  abends  brannte  der  Vulkan  mit  noch 
gröfserer  Heftigkeit.  Sein  scheinbarer  Durohmesser  konnte  der 
Schätzung  naoh  nioht  unter  3"  betragen  und  war  mindestens  doppelt 
so  grofs  wie  der  des  3.  Jupitermondes,  auf  den  Hersohel,  da  Jupiter 
nahe  stand,  das  Teleskop  richtete.  Der  wahre  Durchmesser  der  leuch- 
tenden oder  brennenden  Materie  mufs  etwa  6 km  gewesen  sein.  Die 
anderen  beiden  Vulkane  lagen  mehr  nach  der  Mondmitte  zu  und 
glichen  breiten,  ziemlioh  schwachen  Nebeln,  deren  Helligkeit  nach 


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der  Mitte  stufenweise  zunimmt,  ohne  soharf  begrenzten  leuchtenden 
Fleck.  Der  Erdsohein  gestattete  damals  Hersohel,  in  seinem  zehn- 
fufsigen  Reflektor  die  Konturen  der  Mondgebilde  auf  der  Nachtseite 
unseres  Trabanten  zu  erkennen;  er  konnte  die  drei  Vulkane  deutlich 
von  den  ihm  bekannten  Formationen  unterscheiden.  Die  Umgegend 
um  den  tätigen  Vulkan  war  schwach  von  dessen  Reflexlicht  erhellt 
und  wurde  mit  der  Entfernung  von  ihm  zusehends  dunkler. 

Diese  Eruption  glioh  einer  früher  von  Hersohel  am  4.  Mai 
1783  beobachteten,  nur  dafs  damals  der  LichtQeok  zwar  viel  heller 
(gleioh  einem  Sterne  4.  Qröfse  für  das  unbewaffnete  Auge),  aber  viel 
kleiner  war.  Einen  genaueren  Berioht  über  diesen  früheren  Ausbruoh 
versprach  Herschel  demnächst  zu  geben,  er  ist  aber  unseres  Wissens 
nirgends  veröffentlicht  worden. 

Der  Bericht  über  die  nächste  Erscheinung  findet  sioh  im  Jahr- 
gang 1 71*4  S.  429  — 440  in  vier  Briefen  des  einen  Beobachters,  des 
Architekten  William  Wilkins  zu  Norwioh,  und  in  einer  sorgfältigen 
Diskussion  der  Erscheinung  nebst  Mitteilung  der  Angaben  des  anderen 
Beobachters,  des  Bedienten  Thomas  Stretton  zu  Clerkenwell  bei 
London,  durch  den  Royal  Astronomer,  Rev.  Nevil  Maskelyne.  Der  Ort, 
an  welchem  ein  Stern  im  Monde  von  beiden  Beobachtern  übereinstim- 
mend gesehen  wurde,  ist  in  drei  beigegebenen  Zeichnungen  dargestellt 
und  würde  zu  dem  von  Herschel  gesehenen  Vulkan  ungefähr  passen, 
zumal  beide  Beobachter  nur  nach  Augenmafs  gezeichnet  haben.  Die 
Zeit  war  am  7.  März  1794  gegen  8 Uhr  abends.  Der  Stern  war  sicht- 
bar, als  beide  Beobachter  den  Mond  betrachteten,  verschwand  aber  nach 
wenigen  Minuten  für  ihr  unbewaffnetes  Auge  für  immer.  Dieser  Um- 
stand würde  dafür  sprechen,  dafs  man  es  mit  einer  zu  Ende  gehenden 
Eruption  eines  Mondvulkans  zu  tun  hat,  und  dafs  nicht  eine  Verwechse- 
lung mit  dem  Stern  Aldebaran  vorliegen  kann,  der  am  gleiohen  Abend 
vom  Monde  bedeckt  worden  war  — eine  Möglichkeit,  die  Maskelyne 
streift.  Zur  Zeit  der  Beobachtung  des  Phänomens  war  Aldebaran  seit 
einer  halben  Stunde  wieder  ausgetreten,  und  der  eine  Beobachter  erklärt 
diesen  Stern  aufserbalb  des  Mondes  gleichzeitig  gesehen  zu  haben, 
während  beide  den  für  eine  Eruption  zu  haltenden  Stern  deutlioh 
innerhalb  des  Umkreises  der  vom  Erdsohein  erhellten  Partie  des  da- 
mals 5 Tage  alten  Mondes  gesehen  haben  wollen.  Maskelyne  weist 
auf  die  Ähnlichkeit  des  von  Herschel  beobachteten,  eben  berichteten 
Phänomens  hin  und  erwähnt,  dafs  auch  Dominio  Cassini  einmal 
mit  dem  unbewaffneten  Auge  einen  Liohtfleok  in  der  Helligkeit  eines 
Sternes  3.  Oröfse  im  dunkeln  Teil  des  Mondes  beobachtet  habe. 


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•268 

Die  beiden  letzten  derartigen  Erscheinungen  stammen  aus  dem 
Jahre  1821,  und  zwar  beobachtete  zunächst  Kapitän  Henry  Kater, 
wie  er  in  den  Transactions  1821  S.  130 — 132  berichtet,  am  4.  Februar 
auf  dem  2 Tage  alten  Monde  mit  einem  New  ton  sehen  Fernrohr  von 
6l/4  Zoll  Öffnung  und  74  facher  Vergröfserung  einen  Lichtfleck.  Der- 
selbe stimmte  nach  einer  angefertigten  Zeichnung  ungefähr  mit  der  von 
Herschel  und  den  Beobachtern  von  1794  angegebenen  Position  Uber- 
ein und  wurde  von  Kater  mit  der  Mitte  des  Ringgebirges  Aristarch 
am  Ostrande  des  Mare  Imbrium  — er  liegt  zu  südlich,  um  auf  unserer 
Fig.  2 noch  sichtbar  zu  sein  — identifiziert.  Es  war  ö'/j  Uhr  abends; 
der  Liohtfieok  hatte  3—4  Sekunden  Durchmesser  und  glich  einem 
kleinen  Nebelfleck.  Die  Helligkeit  war  sehr  wechselnd.  Ein  leuch- 
tender Punkt  gleich  einem  Sterne  6.  bis  7.  Gröfse  erschien  in  seiner 
Mitte  und  versohwand  ebenso  plötzlich  wieder  mehrmals  innerhalb 
weniger  Sekunden.  Am  folgenden  Abende  liefs  Kater,  der  persönlich 
verhindert  war,  durch  zwei  Freunde  das  Phänomen  beobachten,  die 
es  wahrnahmen,  wenngleich  in  geringerer  Helligkeit,  woran  indessen 
die  geringere  Durchsichtigkeit  der  Luft  Schuld  sein  konnte.  Am  G. 
Februar  beobachtete  Kater  wieder  selbst  und  zeigte  die  Erscheinung, 
die  noch  schwächer  geworden  war,  einem  andern  Mitglied  der  Royal 
Sooiety.  Das  slernartige  Aufleuchten  inmitten  des  hellen  Flecks  war 
weniger  häufig.  Am  7.  Februar  war  das  Phänomen  noch  schwächer 
geworden  und  hätte  von  einem  Beobachter,  der  seinen  genauen  Ort 
auf  dem  Monde  nicht  kannte,  kaum  wahrgenommen  werden  können; 
dooh  mochte  dies  ebenso  eine  Folge  des  überstrahlenden  Lichtes  des 
immer  mehr  zunehmenden  Mondes  sein,  der  inzwischen  fünf  Tage  alt 
geworden  war,  wie  auf  einer  wirklichen  Abnahme  beruhen. 

Die  andere  Beobachtung  aus  dem  gleichen  Jahre  1821  ist  in 
Kapstadt  gemacht  und  in  den  Transactions  1822  S.  237—238  mitgeteilt. 
Sie  rührt  von  Rev.  Fearon  Fallows  her,  dem  ersten  Direktor  der 
später  so  tätigen  Kapstern warte.  Mit  unbewaffnetem  Auge  sah  der 
junge  Astronom  am  28.  November  8 Uhr  abends  bei  herrlich  klarem 
Himmel  einen  weifslichen  Fleck  auf  der  dunkeln  Seite  des  Mondrandes; 
der  Mond  war  4 — 5 Tage  alt.  Sein  Assistent  Fayror  bestätigte  die 
Wahrnehmung  des  in  beträchtlichem  Glanze  leuchtenden  Flecks.  Rev. 
Fearon  Fallows  besafs  damals  überhaupt  noch  kein  Fernrohr,  doch 
lieh  ihm  sein  Assistent  einen  4füfsigen  Dollond  von  lOOfacher  Ver- 
gröfserung, und  nun  sah  er  den  bereits  vorher  wahrgenommenen  Fleck 
in  der  Helligkeit  eines  Sternes  6.  Gröfse  und  drei  andere  viel  kleinere 
von  denen  jedoch  einer  heller  leuchtete  als  der  zuerst  allein  erblickte 


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grofse  Fleck.  Dieser  grofse  Fleck  war  von  einer  nebelartigen  Erschei- 
nung umgeben,  der  kleine  glanzende  dagegen  nicht.  Die  beiden  anderen 
kleinen  schwächeren  Flecke  gliohen  kleinen  Nebeln  ohne  zentrale 
Lichtpunkte,  nur  mit  Helligkeitszunahme  gegen  die  Mitte.  Am  folgen- 
den Abende,  den  29.  November,  war  der  grofse  Fleck  mindestens 
ebenso  hell  wie  vorher,  der  kleine  glänzende  Fleck  aber  war  ver- 
schwunden, die  beiden  anderen  waren  fast  unsichtbar.  Von  diesem 
Tage  an  war  es  trübe.  Leidergibt  Fallows  die  Position  des  Kraters 
nioht  genauer  an;  man  kann  aus  seiner  Ausdrucksweise  nur  schliefsen 
dafs  derselbe  unweit  des  Mondrandes  gelegen  war.  Es  könnte  also 
wohl  derselbe  Aristarch  sein,  den  auch  Kater  gesehen  hatte. 

Es  erschien  gerechtfertigt,  die  Berichte  über  diese  Wahrneh- 
mungen auf  dem  Monde  in  solcher  Ausführlichkeit  und  unter  möglichst 
wortgetreuer  Wiedergabe  des  englischen  Ausdrucks  hier  anzufübren, 
denn  sie  sind  in  keiner  neuen  Mondbesohreibung  erwähnt  und  scheinen 
überhaupt  völlig  in  Vergessenheit  geraten  zu  sein.  Liest  man  sie 
sorgfältig  durch,  so  kann  man  in  ihnen  nur  die  getreue  Schilderung 
des  Ausbruohes  von  Mondvulkanen  erkennen.  Die  Nebelflecke  sind 
Kauch-  und  Asohenwolken,  die  über  den  Kratern  sohweben;  der  darin 
aufblitzende  Lichtkern  ein  neuer  Ausbruch,  die  leuchtenden  Flecke 
ohne  umgebenden  Nebel  eben  ausgetretene,  noch  glühende  Lava,  die 
matten  Nebeldecke  ohne  Lichtkern  vielleicht  bereits  weggewehte 
Asohenwolken. 

Wären  diese  Berichte  der  Philosophical  Transactions  bekannter 
gewesen,  so  würde  der  Zweifel  an  der  Kealität  der  oben  geschilderten 
kleinen  Änderungen  auf  dem  Monde,  die  durch  Ungenauigkeiten  der 
Zeichnungen  zu  erklären  seien,  sich  weniger  sicher  hervorgewagt 
haben.  Was  Herschel,  Kater  und  Fallows  gesehen  haben  und 
mit  ihrem  Namen  decken,  beruht  auf  keiner  Sinnestäuschung.  Die 
meisten  der  berichteten  Ausbrüche  lassen  sioh  auf  Aristaroh  beziehen, 
dessen  letzte  von  Menschen  beobachtete  Tätigkeit  somit  über  80  Jahre 
zurüokliegt.  Man  könnte  dann  durch  nichts  die  Annahme  rechtfertigen, 
dafs  1821  überhaupt  der  letzte  Ausbruch  des  Vulkans  stattgefunden 
habe,  und  es  müfste  als  durohaus  möglich  bezeichnet  werden,  dafs  diese 
oder  eine  der  kommenden  Generationen  von  Erdbewohnern  Zeuge 
wird,  wie  von  neuem  das  jugendliche  innere  Feuer  unseres  oft  für 
tot  erklärten  Trabanten  die  scheinbar  starre,  aber  vielerorts  noch 
lockere  Kruste  durchbricht.  Da  solche  Wahrnehmungen  kaum  mög- 
lich sind,  wenn  die  betreffende  Mondgegend  Tag  hat,  so  sollte  es  bei 
Beobachtungen  am  unvollständig  erleuobteten  Monde  zur  Regel  ge- 


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270 


macht  werden,  auoh  den  dunklen  Mondpartien  einen  prüfenden  Blick 
zu  sohenken,  um  testzustellen,  ob  nicht  ein  LicbtpUnktchen  die  Tätig- 
keit eines  kleinen  Vulkans  verrät.  Die  Anfertigung  einer  genauen 
Zeichnung,  die  Gegenwart  von  Zeugen,  denen  nioht  gesagt  wird,  was 
sie  sehen  sollen,  ist  dann  im  Falle  einer  solchen  Wahrnehmung  die 
Hauptsache.  Mit  dieser  Überwachung  der  dunklen  Mondseite  fallt 
wieder  dem  Liebhaber  der  Astronomie  ein  dankbares  Arbeitsgebiet 
zu,  dankbar  insofern,  als  sioh  wissenschaftliche  Forschung  und 
ästhetischer  Genufs  dabei  vereinigen.  Denn  stets  von  neuem  lohnend 
ist  ein  Blick  in  das  Antlitz  des  treuen  Begleiters  der  Erde,  und  um 
wie  viel  mehr,  wenn  wir  hoffen  dürfen,  die  soheinbare  Todesstarre 
desselben  durch  neue  Lebensregungen  durcbbreohen  zu  Beben. 


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T-  . ”-^7:  .,:j j 1- %.  /.cJbj.cg 


li«» 


Im  Reiche  des  Äolus. 

Von  Dr.  tlfzander  Rumpelt -Taormina. 

«(Fortsetzung.) 

en  folgenden  Tag  benutzte  ich  - wieder  unter  Giovanni« 
Führung  — zu  einem  Ausflug  nach  dem  Bimssteingebiet  im 
Norden.  Es  umfafst  etwa  ein  Drittel  der  38  Quadratkilometer 
grofeeti  Insel.  In  dem  Fischerdorf  Canneto,  das  wir  über  einen  kleinen 
P&fs  westlich  vom  Monte  Rosa  erreichten,  suchte  ich  zunächst  das 
Kontor  der  Bimssteinexportfinna  Haan  (Dresden*  auf,  an  deren  Proku- 
risten, Herrn  Schubert,  ich  eine  Empfehlung  hatte.  Er  empfing  mich 
als  engeren  Landsmann  sehr  liebenswürdig.  Aber  wie  erstaunte  ich, 
als  er  mich  zwei  weiteren  Herren  aus  Chemnitz  und  Kötzscbenbroda 
vorstelltet  In  diesem  abgelegenen  Inseldorf  drei  Sachsen  auf  einmal! 
So  sehr  ich  mich  freute,  nach  langer  Zeit  die  so  melodischen  Laute 
meiner  Heimat  wieder  zu  vernehmen,  trennte  ich  mich  doch  bald,  da 
ich  sah,  dttfs  die  drei  Sachsen  teils  mit  mehreren  Leuten  zu  verhandeln, 
teils  Wichtige«  zu  schreiben  hatten  — Verträge,  die  ein  Notar  dem 
Chemnitzer  und  einem  italienischen  Schreiber  zugleich  diktierte.  „Wir 
haben  eine  grofae  Sache  vor.  Ich  erklär'  es  Ihnen  später.  Sie  essen 
doch  mit  uns  zu  Mittag?“ 

Das  nahm  ich  dankend  an  und  schritt  mit  Don  Giovanni  für- 
bafs.  Zunächst  noch  an  der  weifsen  Häuserfront  von  Canneto  den 
Strand  entlang,  auf  den  sioh  weit  vorlagernden  grauweifsen  Bimsstein- 
berg, den  Monte  Pelato  zu.  Am  Ende  des  Dorfes  führt  ein  ge- 
pflasterter Saumpfad  steil  empor  nach  dem  Weiler  Canneto  Superiore 
und  von  da  in  die  Fossa  binnea.  den  „weifsen  Graben“,  ein  Tal 
zwischen  dem  Monte  Pelato  und  dem  anderen  Bimssteinberg,  dem 
Monte  Chirica.  Der  Eingang  des  Tales  ist  „wildromantisch“.  Weifse 
Wände,  mit  Ginster  bewachsen,  fallen  rechts  und  links  ab.  Sie 
gleichen  infolge  der  starken  Erosion  ein  wenig  den  Sandsteinbildungen 
der  sächsischen  Schweiz.  Später  weitet  sich  das  Tal,  bei  einer  neuen 
stattiichen  Kirche  präsentiert  sich  zum  ersten  Male  der  mächtige,  nach 


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Süden  aufgebroohene  Monte  Chirica.  Auch  er  soheint  von  oben  bis 
unten  aus  Bimsstein  zu  bestehen. 

Er  scheint  — in  Wahrheit  bilden,  wie  Bergeat  in  seinem 
Werk  S.  96  und  S.  117  naohgewiesen  hat,  das  Gerüst  des  Monte  Chirioa. 
basaltähnliche  Baven,  das  des  Monte  Pelato  alte  Obsidianmassen, 
welche  beide  durch  den  später  darauf  erflossenen  Bimsstein  nur  ver- 
hüllt werden. 

Hier  nun  ist  alles  grauweifs,  wie  schmutziger  Frühlingsschnee. 
Der  Pflanzenwuchs  an  den  Abhängen  ist  sehr  kümmerlich.  Hingegen 
gedeihen  im  Talboden  auf  dem  ßimssteingrund  vorzügliche  Reben. 
Weiterhin  fand  ich  Kartoffeln,  Erbsen  und  andere  Gemüse  angebaut. 
Die  Ursache  dieser  unerwarteten  Fruchtbarkeit  schreibe  ich  der 
starken  Bewässerung  zu,  die  das  ringsum  abgeschlossene  Tal  ermög- 
licht. Wenn  von  den  zahllosen  ausgewaschenen  Rissen  und  Rillen 
der  Bergwände  das  Wasser  der  langen,  ergiebigen  Winterregeu  nieder- 
geht, so  ist  es  leicht,  grofse  Mengen  davon  auf  die  Felder  abzu- 
leiten. Vermöge  seiner  Porosität  saugt  es  der  Bimssteinboden  auf  und 
bewahrt  es  lange  Zeit  nooh  in  geringer  Tiefe. 

Schon  beim  Aufstieg  waren  uns  Männer  und  Weiber,  einmal 
ein  Zug  von  aoht  Mädoben  begegnet,  die  in  Säcken  oder  Körben 
das  kostbare  Gestein  aus  den  Bergwerken  nach  Canneto  hinunter- 
trugen.  Den  Kopf  bedeckt  eine  kolossale  Haube  aus  grober  Lein- 
wand, wie  eine  Kapuzinerkappe  geformt.  Sie  schützt  die  Augen  vor 
dem  feinen  Staub  und,  tief  auf  den  Rücken  niederfallend,  schont 
sie  auch  die  Kleidung.  Bald  holten  wir  drei  Kinder  ein,  als  sie 
in  der  gleiohen  Tracht,  mit  leeren  Säcken  über  der  Schulter,  herauf- 
stiegen. Die  beiden  Schwestern  waren  elf  und  neun,  der  Knabe,  ihr 
Bruder,  gar  erst  sieben  Jahre  alL  Don  Giovanni  meinte,  duroh  das 
tägliche  Lastentragen  in  so  jungem  Alter  erhielten  die  Gestalten  etwa» 
Krummes  und  blieben  im  Wachstum  zurück.  Mir  ist  das  kaum  auf- 
gefallen,  zum  mindesten  habe  ich  hier  nicht  soloh  elend  verbogene 
und  frühwelke  Krüppelkinder,  ebensowenig  bei  den  Erwachsenen  solofi 
abgezehrte  und  hoffnungslose  Leidensgesichter  wahrgenommon,  wie 
in  den  sizilianisohen  Schwefelgruben. 

Der  Betrieb  ist  beim  Bimsstein  auch  ein  völlig  anderer.  Jeder*, 
der  hier  Grund  und  Boden  hat,  schürft  danach,  sammelt  die  gefun  — 
denen  Stücke,  trocknet  sie  und  verkauft  sie  dann  an  die  Exporthäuser* 
in  Canneto.  Ein  grofses  Terrain  besitzt  die  Gemeinde  Lipari.  Auf  ihm 
hat  jeder  Bürger  das  Recht,  den  Berg  überall  anzubohren,  wo  er  nur* 
will.  Dooh  geschieht  das  nicht  unrationell,  wie  man  auf  den  ersten  Bliolc 


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273 


anzunehmen  geneigt  ist,  wenn  man  gleioh  den  Löchern  eines  Schwam- 
mes die  unzähligen  Stollen  besonders  im  Monte  Pelato  sieht,  die  in 
ihn  hineingetrieben  sind.  Gewöhnlich  gilt  es  nämlich  erst  eine  grorse 
Schicht  tauben  Gesteins,  wertloser  Mischerde  zu  durchbrechen,  ehe 
man  auf  reichhaltige  Gänge  kommt.  So  tun  sich  denn  gewöhnlich 
zehn  bis  zwölf  Leute  zusammen  und  arbeiten  auf  Teilung.  Oft  ge- 
winnen sie  die  ersten  Monate  kaum  das  Öl  für  die  Lampe,  aber  dann 
••rzielen  sie  in  kurzer  Zeit  drei-  bis  vierhundert  Lire. 

Und  auch  die  Gemeinde  zieht  einen  erheblichen  Nutzen.  Sie 
hat  an  den  Zugängen  des  Tales  einen  Wachtdienst  eingeriohtet.  Die 
Wächter  wiegen  in  ihren  Holzhäusohen  auf  grofsen  Wagen  jeden  Sack, 
der  davongetragen  wird,  und  stellen  die  Bescheinigung  darüber  aus. 
Weiter  unten  kontrolliert  ein  anderer  städtischer  Beamter  Saok  und 
Schein,  prüft  die  Qualität  und  vermerkt  sie  auf  dem  Schein.  Jeden 
Sonntag  haben  sioh  die  Träger  beim  Zolleinnebmer  (esattore)  zu 
melden  und  die  auf  sie  entfallende  Steuer  für  die  letzte  Woohe  zu 
erlegen.  Für  je  hundert  Kilo  werden  im  allgemeinen  zwei  Lire  er- 
hoben, für  die  besseren  Sorten  etwas  mehr.  Diese  Abgabe  hat  dem 
Stadtsäckel  früher  in  den  guten  Jahren  Uber  100  000  Lire  eingebracht, 
später  freilich  infolge  falscher  Spekulationen  viel  weniger.  Die  Krise 
ist  noch  nicht  beendet,  und  eben  die  drei  Sachsen  unten  in  Canneto 
sind  es,  die  sie  einer  glücklichen  Lösung  entgegen  zu  führen  be- 
flissen sind. 

Als  mir  Don  Giovanni  diese  Verhältnisse  andeutete,  wurde  mir 
nicht  nur  klar,  warum  die  Stadt  Lipari  einen  so  ansehnlichen  Wohl- 
stand aufweist,  sondern  auch,  warum  sie  jetzt  nicht  einmal  für  die 
Fenstersoheiben  ihres  Schulpalastes  das  nötige  Kleingeld  flüssig  hat. 

Wir  stiegen  in  eine  der  Bimssteingruben.  Ihre  Stelle  bezeichnen 
regelmäfsig  eine  gröfsere  oder  kleinere  Halde  des  herausgebrachten 
tauben  Gesteins  und  eine  Holzhütte,  worin  Handwerkszeug,  Körbe  und 
der  Proviant  verwahrt  werden.  Neben  der  Hütte  führt  dann  im  Winkel 
von  46 0 ein  Gang  in  die  Erde.  Die  Stufen,  im  ganzen  260,  waren 
niedrig  (16  cm)  und  gut  ausgetreten.  Nur  mufste  man  sich  etwas 
büoken,  um  nioht  oben  anzustofsen.  Wir  hatten  erst  wenige  der  in 
Seitennisohen  alle  zehn  Schritt  aufgestellten  Lämpchen  passiert,  da 
begegneten  uns  mit  vollen  Körben  auf  dem  Nacken  Weiber,  weifB, 
als  ob  sie  aus  der  Mühle  kämen,  und  Männer,  nur  mit  Hose  und 
der  oben  beschriebenen  Saokhaube  bekleidet.  Braunrote,  prächtig 
gebaute  Körper  zeigten  nicht  nur  Burschen  von  vierzehn,  sondern 
auch  ein  Mann  von  sechzig  Jahren.  In  dieser  Grube  trägt  jeder  seine 

Himmel  und  Erde.  1904.  XVI  ».  |8 


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274 


Last  von  der  Schürfstelle  bis  ans  Tageslicht.  In  einer  nahen  gröfseren 
mit  dreihundert  Meter  Tiefe,  hörte  ioh,  sind  vier  Zwischenstationen 
eingerichtet,  wo  die  einzelnen  Träger  sich  ablösen.  Mühe  und  Er- 
holung wechseln  so  in  angemessener  Weise.  Man  sohont  hier  eben 
die  Leute  mehr,  achtet  in  ihnen  immer  nooh  den  Menschen.  An  der 
tiefsten  Stelle  unserer  Grube,  wo  eine  schöne,  breite  Ader  weifs- 
glänzenden Gesteins  (je  weifser,  desto  kostbarer)  hervortrat,  safs  ein 
Häuer  in  einer  kaum  ein  und  einviertel  Meter  hohen  Höhle  und 
schlug  mit  der  Hacke  von  der  Decke  den  Bimsstein  los.  Von  jedem, 
auoh  nur  leichten  Hieb  fiel  ein  Block  von  zwanzig  bis  dreifsig  Kilo 
herunter.  Das  sah  etwas  gefährlich  aus  und  ist  es  auch.  Denn 
manchmal  bricht  das  angrenzende  Gestein  nach.  Verschüttungen 
kommen  alljährlich  vor,  und  wenn  sie  unbemerkt  bleiben,  ist  der  also 
lebendig  Begrabene  unrettbar  dem  Erstickungs-  oder  Hungertode  ver- 
fallen. Stütz-  oder  Deckbalken  anzubringen,  wäre  viel  zu  kostspielig. 
Nur  zu  beiden  Seiten  und  über  der  Stollenmündung  werden  ein  paar 
Mauersteine,  Gestänge  und  Gestrüpp  eingefügt,  damit  das  Hegenwasser 
nicht  eines  schönen  Tags  das  ganze  Bergwerk  zusammenschwemmt. 

Wir  kauerten  uns  mit  unseren  Lainpohen  im  Halbkreis  um  den 
Häuer  herum  und  sahen  eine  W'eile  seiner  Arbeit  zu.  Die  Blöcke 
zerfielen  meist  am  Boden  schon  in  mehrere  Stücke  und  liefsen  sich 
mit  den  Händen  leicht  zerbrechen.  Ein  Häuer  arbeitet  in  dieser  un- 
angenehmen Stellung  (sitzend  oder  hockend)  sechs  bis  zehn  Stunden 
täglioh.  Länger  kann  es  keiner  aushalten,  schon  infolge  der  schlechten 
Luft.  Bei  der  mangelnden  Ventilation  dürfen  sie  ihre  Lämpohen  nur 
mit  geruchlosem  reinen  Olivenöl  tränken. 

Wir  atmeten  befreit  auf,  als  wir,  weife  wie  die  Müller,  endlich 
das  liebe  Himmelslicht  wieder  begrüfsten,  stäubten  uns  gegenseitig 
ab  und  setzten  unsern  Marsch  zur  Fossa  delle  Roccbe  rosse  fort. 

Von  dieser  luftigen  Warte  sieht  man  auf  einen  gewaltigen,  dunkel- 
roten Lavastrom  (die  roccbe  rosse)  hernieder.  Er  ist  einst  aus  dem 
geborstenen  Krater,  dessen  höchste  südliche  Randumwallung  heute 
der  Monte  Pelato  darstellt,  durch  den  Bimsstein  hindurohgebroohen 
und  bis  ins  Meer  geflossen,  wie  man  deutlich  verfolgen  kann.  Das 
Grauweifs  des  Monte  Pelato  und  das  leuchtende  Rot  der  Lava  stimmen 
köstlich  zusammen.  Der  obere  Teil  dieses  breiten  Stromes  ist  bereits 
bewachsen  und  trägt  da,  wo  der  Bimsstein  ihn  überkleidet,  sogar  einige 
Felder,  Weingärten  und  die  Häuser  des  dürftigen  Örtchens  Castagna. 
Den  gröfsten  Gegensatz  bietet  der  Blick  naoh  der  anderen  Seite  dem 
Meere  zu,  auf  die  Abhänge  des  Monte  Chirica.  Eine  grofse,  weifse 


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276 


Wüste.  Weiter  unten,  wo  der  Ginster  schon  Fufs  gefafst  hat,  nehmen 
sich  dazwischen  die  vegetationslosen  Flächen  aus  wie  riesige  Linnen, 
zum  Trocknen  in  der  Sonne  ausgebreitet.  Merkwürdig  fielen  mir  mitten 
in  dieser  durchaus  hellfarbigen  Umgebung  die  zahlreichen  Stücke 
glasigen,  pechschwarzen  Obsidians  auf,  die  in  den  Felsen  eingesprengt 
waren  oder  auch  lose  auf  dem  Wege  herumlagen.  loh  las  einige  auf, 
das  schönste  ziert  nooh  heute  meinen  Schreibtisoh. 

Köstlich  von  diesem  Punkt  ist  aber  auch  die  Aussioht  in  die 
Ferne,  auf  die  westlichen  und  nördliohen  Inseln.  Nach  dem  Strom* 
boli  vor  allem  mufste  ich  immer  wieder  hinüberschauen.  Starr,  un- 
gegliedert lag  dies  eigenartige  Schattenbild  über  den  Wassern.  Trotz 
der  grofsen  Entfernung  beobachtete  ich  genau,  wie  es  zuerst  eine 
dicke  Wolkenhaube  trug,  die  der  Wind  alsbald  wegfegte.  Dann  er- 
neuerte sich  der  Qualm  — wohl  das  Zeichen,  dafs  wieder  eine  Erup- 
tion stattgefunden  hatte.  Ein  unheimlicher  Geselle,  dieser  Stromboli. 
■Hingegen  das  nahe,  freundliche  Salina!  Mit  seinem  herüberleuchtenden 
Städtchen  SaDta  Marina,  seinen  überall  verstreuten  Bauernhäuschen, 
seinen  reichen  Malvasier  - Pflanzungen  bis  weit  hinauf  zum  sonnig- 
strahlenden  Gipfel  ersohien  es  mir  die  Verkörperung  eines  uralten 
Ideales  der  Menschheit,  eine  von  den  glücklichen  Inseln. 

Vater  Helios  halte  schon  den  Zenith  erklommen.  Herrlich  duftete 
in  der  Fossa  bianca  der  goldene  Ginster,  umsummt  von  honigsuohen- 
den  Bienen,  als  wir  nach  einein  letzten  Blick  in  die  Runde  nach 
Canneto  zurüokwanderten. 

• • 

Im  Kontor  wurden  noch  immer  Verträge  diktiert.  Herr  Schubert 
klärte  mioh  bald  darübor  auf: 

„Meine  Firma  erstrebt  das  Bimssteinmonopol  der  ganzen  Welt 
und  will  zunächst  auf  zwanzig  Jahre  das  Abbaurecht  des  gesamten 
Bimssteins  auf  der  Insel  pachten.  Mit  der  Gemeinde  habe  ich  schon 
abgeschlossen.  Sie  erhält  65  000  Lire  jährlich,  ohne  dafür  den  kleinen 
■Finger  zu  rühren.  Sie  ist  gern  darauf  eingegangen;  denn  sie  erzielte 
in  den  letzten  Jahren  infolge  früherer  Überproduktion  so  gut  wie 
nichts.  Auoh  mit  etwa  neunzig  Grundbesitzern  sind  wir  im  reinen; 
das  war  ziemlioh  schwierig,  weil  die  Leute  meist  niobt  lesen  und 
schreiben  können  und  sehr  mifstrauisoh  sind.  Dazu  die  Verhandlungen 
im  Inseldialekt,  den  ich  allerdings  leidlich  beherrsche.  Alle  Grund- 
stücke mufsten  ausgemessen,  der  Boden  auf  Qualität  und  Quantität 
des  Bimssteins  untersucht  und  begutachtet  werden.  Von  diesen  neun- 

18* 


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276 


zig  Privaten  bekommt  der  eine  dreihundert,  der  andere  fünfhundert 
Lire  jährlich;  ee  sind  aber  auoh  gröfsere  Besitzer  dabei,  denen  wir 
dreitausend,  fünftausend,  ja  zehntausend  Lire  Paoht  zahlen.  Jeder 
will  natürlich  soviel  als  moglioh  herausschlagen.  Nun  gilt  es  noch 
mit  etwa  zwanzig  abzuschliefsen  — noch  drei  Woohen  schwere  Arbeit. 
Dann  können  wir  der  ganzen  Welt  die  Preise  diktieren.“ 

„Wird  denn  nirgends  sonst  auf  dem  ganzen  Erdball  Bimsstein 
gefunden?  “ 

„Nur  noch  auf  Teneriffa.  Der  Teneriffa-pumioe  ist  leichter,  aber 
nicht  so  weifs,  auoh  rauher  und  sohärfer  als  der  hiesige  und  weit 
poröser,  hat  also  ein  viel  beschränkteres  Absatzgebiet.  Wir  fürohten 
die  Konkurrenz  nicht.“ 

„Wird  die  Überwachung  nicht  sehr  schwierig  und  kostspielig  sein?“ 

„Wir  werden  natürlich  Kontroll beamte  anstellen.  Ich  kenne 
hier  durch  langjährigen  Aufenthalt  so  ziemlioh  jeden,  werde  mir  die 
zuverlässigsten  auasuohen  und  sie  gut  bezahlen.  8ie  werden  in  der 
Hauptsaohe  aber  nur  die  Ausfuhr  überwachen.  So  wird’s  einfacher. 
Die  ganze  Ausfuhr  liegt  in  unseren  Händen.  Wer  dabei  betroffen 
wird,  dafs  er  ohne  unser  Wissen  und  Auftrag  das  kleinste  Stuok 
Bimsstein  verlädt,  ist  sohon  als  Schuldiger  entlarvt.“ 

Ich  konnte  .nioht  umhin,  den  erst  27  jährigen,  ziemlioh  kleinen 
und  zarten  Herrn,  der  mir  das  alles  mit  geschäftsmäfsiger  Ruhe  aus- 
einandersetzte, zu  bewundern.  Welche  Energie  in  der  Überwindung 
aller  erdenklichen  Schwierigkeiten  und  Hindernisse,  was  für  eine  diplo- 
matische Begabung  gehörte  dazu,  dieses  Unternehmen  zum  glücklichen 
Ende  zu  führen!  Und  welche  Umsicht  und  Berücksichtigung  aller 
möglichen  wichtigen  Umstände  hatte,  ehe  man  überhaupt  den  ersten 
Sohritt  tun  konnte,  das  kaufmännische  Kalkül  erfordert!  Hier  handelte 
es  sich  um  Hunderttausende,  die  jährlich  gewonnen,  aber  auch  — ver- 
loren werden  konnten,  wie  denn  eine  von  den  Insulanern  vor  einigen 
Jahren  mit  der  gleichen  Absicht  gegründete  Gesellschaft  „Eolia“  nach 
zwei  Jahren  bereits  in  Konkurs  verfallen  war,  da  sie  es  nioht  erreicht 
hatte,  sämtlichen  Bimsstein  in  ihrer  Hand  zu  vereinigen  und  so  den 
Wettbewerb  von  vornherein  zu  ersticken.*) 

•)  Ich  habe  dieser  Angelegenheit  mehr  Worte  gewidmet,  als  ihr  in  einer 
wissenschaftlichen  Zeitschrift  vielleicht  zu  gebühren  scheint.  Aber  ich  halle 
das  Bimssteinmonopoi  der  Firma  Haan  in  Dresden  für  ein  geradezu  glänzen- 
des Beispiel  deutscher  Unternehmungslust  im  Auslande,  das  wohl  auch  weitere 
Kreise  interessieren  dürfte,  und  zugleich  für  einen  erfreulichen  Beweis,  wie  der 
deutsche  Kaufmann  Dinge,  die  früher  nur  die  Engländer  fertig  brachten,  jetzt 
auch  zu  bewältigen  verstoht. 


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277 


Nach  der  gemeinsamen  Tafel  führte  mich  Herr  Schubert  in 
die  Magazine  und  Arbeitsräume. 

In  grofsen  Baracken  lag  das  grauweifse  Mineral  bis  an  die  Deoke 
aufgeechichtet.  Etwa  ein  Dutzend  Mädchen  und  Frauen  safeen  herum 
und  feilten  faustgrofse  Stücke.  Die  so  von  erdigen  Bestandteilen  be- 
freiten Stücke  bewerten  sich  ungefähr  um  % höher  als  die  unge- 
reinigten. Die  Preise  zeigen  eine  grofse  Verschiedenheit,  wie  folgende 
Tabelle  ausweist;  ein  Quintale  = hundert  Kilogramm  kosten  von: 


Parapara  Frasca,  unbearbeitetes  Mittelgut  . . 20, — Lire 

Limata  nera,  schwärzlicher,  gefeilter  Bimsstein  19, — „ 

Limata  dubiosa,  desgl.  halbweifs- halbschwarz  27, — „ 

Limata  bianca,  desgl.  weifs 40, — „ 

Limata  fina,  desgl.  Auslese 70, — „ 

Pezzame,  Abfälle,  Aussohufs 1,40  „ 

Hingegen: 

Fiore,  Blume,  d.  h.  Auslese  besonders  leichter 

und  weifaer  Qualität 250,  — 

Primo  Fiore,  beste  Qualität 400,—  , „ 


Diese  letzten  edelsten  Sorten,  die  z.  B.  zum  Schleifen  von  Violin- 
saiten  dienen,  werden  sorgfältig  in  Kisten  in  Holzwolle  verpackt,  das 
Mittelgut  in  Tonnen.  Fünf  Böttcher  und  ebensoviele  Tischler  arbeiten  be- 
ständig nur  für  das  „imballagio“.  Das  Pezzame  aber  geht  in  die  Mühle. 

Eine  solche  Bimssteinmühle  ist  sehr  sehenswert  Die  Stücke 
werden  in  einen  grofsen  Holztriohter  geschüttet.  Oben  sitzt  ein 
Knabe,  der  sie  in  kleinen  Portionen  nacheinander  in  die  Öffnung 
sobiebt,  durch  welche  sie  zwischen  die  Mühlsteine  fallen.  Das  Mehl 
rinnt  in  Körbe.  Die  vollen  Körbe  werden  zu  den  Trockenöfen  ge- 
tragen, wo  unter  langsamem  Kohlenfeuer  auf  eisernen  Rosten  das 
Mehl  trocknet,  beständig  mit  eisernen  Haken  hin  und  hergerührt. 
Von  den  Rosten  geht  es  durch  Röhren  in  die  Buratti,  grofse  acht- 
seitige  Holzbehälter.  In  ihnen  wirbelt  eine  spiralförmige  Eisenstange 
das  Bimssteinmehl  durcheinander  und  wirft  es  gegen  verschiedene 
Drahtsiebe.  Durch  das  erste  geht  das  feinste,  durch  das  letzte  das 
gröbste  Mehl  durch  und  fällt  in  unten  befestigte  8ücke.  Ist  ein  Saok 
gefüllt,  so  wird  er  zugeschnürt  und  ist  dann  versandfertig.  Das 
feinste  Mehl  mit  einem  Korn  von  etwa  1 / j 0 mm  brauchen  die  Waohs- 
tuchfabriken  und  Glasschleifereien. 

Zum  Feilen  des  geringeren  Materials  bedient  man  sich  auch 
eiserner  Trommeln,  die  gedreht  werden.  Durch  kleine  Löcher  fällt 
der  Staub,  der  sich  durch  die  Reibung  ablöst,  heraus. 


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278 


Als  wir  später  unter  der  Pergola  vor  dem  Kontor  bei  einer  guten 
Zigarre  safsen,  mit  dem  Blick  auf  das  weite  Meer  und  den  mächtig 
qualmenden  Stromboli,  kamen  immer  noch  Männer  und  Weiber  mit 
den  schweren  Lasten  von  den  Gruben  her,  an  uns  vorüber,  schweifs- 
triefend, völlig  erschöpft.  Und  selbst  die  Kinder  von  vier  Jahren 
suchen  aus  fröhlichem  Spiel  ein  ernstes  Geschäft  zu  machen.  Auch 
sie  arbeiten  schon  in  der  Bimssteinbranche  mit,  indem  sie,  wie  ich 
bemerkte,  mit  Holzstäbchen  den  Ufersand  durchstochern  und  kleine 
Stücke,  die  Straquature,  d.  h.  was  das  Meer  auswirft,  herauswühlen. 
Für  einen  Korb  von  vierzig  Kilo  bekommen  sie  in  der  Mühle  eine 
halbe  Lira  (40  Pf.).  Nicht  viel,  aber  es  hilft  der  Familie  mit  wirt- 
schaften. 

Alles  nährt  sich  von  den  Schätzen  der  weifsen  Berge,  der  „mon- 
tagna  d’oro“,  wie  sie  im  Volksmunde  heifsen. 

Hier  liegt  das  Gold  tatsächlich  auf  der  Strafse.  Glücklich,  wer 
einen  Bimssteinhügel  auf  Lipari  sein  eigen  nennt,  aber  womöglich 
mit  — primo  flore 


(Fortsetzung  folgt.) 


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Neuere  Forschungen  über  Gehirn  und  Bewufstsein. 


Von  Rdaard  Knkal.  Berlin -Charlottenburg 

ir  sind  in  der  Werkstätte  des  Mikroskopikere.  Eine  graue 
Masse,  an  die  sieh  ein  fein  geädertes,  von  roten  Strängen  durch- 
zogenes Spinngewebe  eng  ansehmiegt,  liegt  vor  uns.  Es  ist 


das  Gehirn  mit  seinen  Hüllen.  Diese  weiche,  nach  allen  Riobtuugen 


von  Beichten  und  tiefen  Furchen  durchzogene  Masse  ist  also  der  Sitz 


der  psyichischen  Funktionen,  der  Herd  des  Gebens  und  Empfindens, 
das  Schlachtfeld  aller  Instinkte  und  Leidenschaften.  Während  überall 


sonst  die  anatomische  Untersuchung  i häufig  schon  der  flüchtige  An- 
blick eines  Organes)  uns  Aufschlufs  über  seine  Funktion  zu  erteilen 
vermag,  läfst  sie  uns  hier  ratlos  im  Stiche.  Es  ist  dies  leicht  zu  be- 
greifen. Jedwede  andere  Organtätigkeit  besteht  (allgemein  gesagt) 
in  Bewegung,  sei  es  griirserer  Massen,  sei  es  kleinster  Teilchen  oder 
endlich  der  ohemischen  Atome,  sin  knüpft  an  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung an,  Ursache  und  Wirkung  sind  Oröfsen  gleicher  Ordnung. 
Hier  ist  nichts  dergleichen  zu  finden.  Mit  fieberhafter  Neugierde 
pochen  wir  an  das  geheimnisvolle  Tor,  wo  wir  das  Wesen  unseres 
Ich  zu  finden  hollen.  Es  gibt  nach,  und  was  uns  entgegenblickt,  ist 
das  wohlbekannte  Alltagsgesicht,  da  wir  den  innersten  Kern  zu 
erfassen  strebten.  Es  ist,  um  ein  Bild  Th.  Fechners  zu  gebrauchen, 
als  wären  wir  in  einen  Kreis  gebannt,  dessen  Aufaen-  und  Innenseite 
uns  einzeln  zugänglich  sind,  aber  niemals  gleichzeilig  übersehen 
werden  können.  Wir  können  mühselig  und  langsam  den  physio- 
logischen Vorgängen  im  Gehirn  nachforschen,  — nichts  ist  uns 
leiohter  zugänglich  und  wohl  vertrauter  als  unser  eigenes  Seelen- 
leben; als  Übergang  zwischen  beiden  jedoch  klafft  ein  jäher  Abgrund 
duroh  alle  Gebiete  unseres  Wissens,  und  weder  die  Phantasien  der 
Naturphilosophie  noch  die  Erfahrungen  und  Schlüsse  der  Wissen- 
schaft vermögen  bis  jetzt  eine  Brücke  über  ihn  zu  schlagen. 

Vor  mehr  als  hundert  Jahren,  erzählt  uns  Professor  Edinger 
in  einer  kürzlich  erschienenen  vortrefflichen  Abhandlung  unter  dem 


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280 


Titel  „Hirnanatomie  und  Psychologie",  erschien  in  Königsberg, 
„unserem  Kant"  gewidmet,  ein  kleines  Buch  über  „das  Organ  der 
Seele“.  — Der  Besten  einer  aus  damaliger  Zeit,  Samuel  Thomas 
Sömmering,  zeigte  darin,  dafs  eigentlich  für  den  Sitz  des  „Sensorium 
commune“,  worunter  er  im  wesentlichen  Bewufstsein,  Intelligenz  etc. 
versteht,  nur  ein  einziger  Teil  des  Gehirns  in  Frage  kommen  könnte, 
die  Flüssigkeit  nämlich,  welche  die  Hirnventrikel  erfüllt.  Nur  sie 
vermöge  die  letzten  Elnden  der  Hirnnerven,  welche  Sömmering  bis 
in  die  Ventrikelwände  verfolgt  hatte,  untereinander  in  Beziehung  zu 
bringen,  sie  allein  kann  daher  die  Vermittelung  unter  den  mannig- 
fachen, dem  Organismus  zugeleiteten  Eindrücken  übernehmen,  um 
sie  zu  einem  Ganzen  zu  verbinden.  In  gelehrter  und  oft  überaus 
geistreicher  Weise  wird  dieser  Satz  zu  beweisen  gesucht,  und  schliefs- 
lich  wird  gezeigt,  wie  diese  Annahme  alle  Bedingungen  erfüllt,  welche 
von  den  Gelehrten  des  Jahrhunderts  für  das  Organ  des  „gemeinsamen 
Sensoriums“  erfordert  worden  waren. 

Diese  Sömin  eringsohe  Hypothese  ist  nur  ein  letzter  Ausläufer 
der  langen  lieihe  von  Hypothesen,  die  während  des  ganzen  achtzehnten 
Jahrhunderts  die  Gelehrten  beschäftigt  haben.  Erst  seit  den  Unter- 
suchungen von  Flourens  bewegen  sioh  die  Forschungen  über  den 
Sitz  der  Seelentätigkeiten  in  einer  anderen  Dichtung.  Flourens  hat 
zuerst  den  Satz  ausgesprochen,  dafs  Gedächtnis,  Wille.  Bewufstsein 
an  die  Hemisphären  geknüpft  Beien.  Bald  nachher  hat  die  Ent- 
deckung der  Sprachzentren  durch  Broca  (Paris)  und  die  grofse  Ent- 
deckung Hitzigs  und  Fritschs  (Berlin)  von  der  Lokalisation  zahl- 
reicher anderen  Fähigkeiten  im  Grofshirn  die  Mehrzahl  der  Forscher 
im  wesentlichen  zu  der  Ansicht  gebracht,  dafs  die  sogenannten 
höheren  Seelenlätigkeiten  an  die  Grofshirnrinde  gebunden  sein  müfsten. 
In  dem  von  Flechsig  neuerdings  ausgebauten  System  hat  dann  diese 
Ansicht  die  ausführlichste  Durcharbeitung  und  Begründung  erfahren. 
Für  Flechsig  besteht  der  ganze  Grofshirnmantel  aus  einer  Anzahl 
von  Zentren.  Die  ausgedehntesten  derselben  sollen  diejenigen  sein, 
welche,  nicht  direkt  mit  Sinnesapparaten  in  Verbindung  stehend,  im 
wesentlichen  mächtige  Assoziationsapparate  sind.  Über  vierzig 
Einzelgebiete  der  Hirnrinde  kann  Flechsig  entwiekelungsge- 
schiohtlich  heute  abscheiden;  kaum  der  vierte  Teil  davon  war  den 
anderen  vor  ihm  bekannt.  Allerdings  sind  die  Fleohsigschen  An- 
gaben heute  noch  keineswegs  allgemein  akzeptiert,  vielmehr  besteht 
noch  eine  lebhaft  geführte  Diskussion  einesteils  über  seine  Angabe, 
dafs  es  anatomisch  unterscheidbare  Sinnes-  und  Assoziations- 


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Zentren  gebe,  und  anderseits  über  die  Verwertung,  die  Flechsig 
seinen  entwickelungsgeschichtlich  nachweisbaren  Territorien  für  die 
Gesamtauffassung  des  psychischen  Geschehens  gibt. 

Dieser  Riesenbau  der  anatomisoh-physiologischen  Forschung  ist 
ein  wahrer  Babelbau  der  Erkenntnis,  die  von  den  materiellen 
Grundlagen  des  Nervensystems  zu  den  Höhen  der  psychischen  Vor- 
gänge zu  gelangen  suoht.  Immer  wieder  hat  man  den  Versuch 
gemacht,  die  physiopsyohologisohe  Entwiokelungsreihe  im  Tierreiche 
durchzudenken  und  die  ersten  Regungen  des  Bewufstseins  bis 
in  frühe  Tierstufen  zurückzu  verfolgen. 

Immer  wieder  ist  man  aber  an  einen  Punkt  gestofsen,  der  zu- 
nächst ein  Halt  gebot.  Wir  haben  keine  Ahnung  davon,  welohes 
die  Elementarbedingungen  dafür  sind,  dafs  ein  Teil  der  vom 
Nervensystem  geleisteten  Arbeit  dem  „Träger“  bewufst 
werde,  und  wir  wissen  nicht,  ob  das  psychische  Geschehen  als 
äquivalente  Energieform  in  das  Räderwerk  des  Organismus 
eingreifen  kann  oder  nur  eine  ohnmächtige  Parall elersoheinung, 
ein  „Epiphänomen“  der  physiologischen  Gehirnvorgänge  darstellt. 
Diese  Frage  ist  bei  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Wissenschaft 
nicht  spruchreif  und  dürfte  es  kaum  in  absehbarer  Zeit  sein.  An 
ihre  Stelle  setzt  daher  Edinger  eine  viel  bescheidenere  Frage, 
welche  dafür  den  nioht  zu  untersohätzenden  Vorteil  darbietet,  lösbar 
zu  sein.  Sie  lautet:  Wie  weit  können  wir  die  Handlungen 

und  das  gesamte  Wesen  eines  Tieres  aus  der  Kenntnis  der 
anatomischen  Grundlagen  und  ihrer  Eigenschaften  heraus 
erklären? 

In  der  oben  erwähnten  meisterhaften  Abhandlung  setzt  es  sich 
Edinger  zum  Ziele,  naohzuweisen,  wie  weit  wir,  von  den  frühesten 
Daseinsformen  des  Tierreiches  ausgehend,  in  der  Erklärung  und  dem 
Verständnis  der  tierischen  Bewegungen  gelangen  können,  ohne 
die  Hypothese  eines  tierisohen  Bewufstseins  zu  Hilfe  zu 
nehmen.  Wir  besitzen  kein  scharfes,  unmittelbares  Kriterium  für 
das  erste  „Erwachen  des  Bewufstseins“  in  der  Natur,  da  wir 
das  Vorhandensein  desselben  doch  immer  nur  aus  der  Analogie  der 
tierischen  Handlungen  zu  unseren  eigenen  erschliefsen  können. 
„Eine  Vielheit  der  bestimmenden  Motive  bewegt  uns  in  der 
Annahme  eines  bewufsten  Willens,  einfache  und  eindeutig 
bestimmende  Motive  lassen  uns  auf  einen  vorgebildeten 
Mechanismus  schliefsen,“  hat  bereits  Meynert  in  klassischer 
Weise  ausgesprochen.  Die  Edingersche  Methode  bildet  demnaoh 


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eine  willkommene  Ergänzung  zu  der  sonst  üblichen  Betrachtungs- 
weise; wie  bei  Tunnelbauten  kann  auch  hier  der  wissen- 
schaftliche Pfad  von  zwei  verschiedenen  Kichtungen  her 
angebahnt  werden,  und  sohon  hören  die  Arbeiter  auf  der 
einen  Seite  die  rüstigen  Hammerschläge  der  anderen  Schar, 
mit  der  sie  sich  über  kurz  oder  lang  vereinigen  müssen.  — 
Von  verschiedenen  Erscheinungen,  welche  an  niederen  Tieren 
beobachtet  werden  und  die  zunächst  durchaus  den  Charakter  freier 
VVillenshandlungen  tragen,  ist  in  letzter  Zeit  nachgewiesen  worden, 
dafs  sie  sich  als  direkt  abhängig  von  chemischen  und  physikalischen 
Kräften  darstellen  lassen.  Sie  treten,  wenn  die  gleichen  Ver- 
hältnisse hergestellt  werden,  mit  dergleichen  Gesetzmäfsig- 
keit  auf,  wie  etwa  die  Eisen feilspäne  in  Bewegung  ge- 
raten, wenn  ein  Magnet  sich  nähert.  Da  es  sich  allemal  um 
Bewegungen  handelt,  deren  Richtung  beliebig  duroh  Ansetzung  der 
betreffenden  Kräfte  beeinflufst  werden  kann,  so  treffen  die  Namen 
Elektrotropismus,  Heliotropismus,  Geotropismus,  Chemotropis- 
mus u.  s.  w.  ziemtioh  gut  das  Wesen  des  Vorganges.  Die  Er- 
scheinungen der  „Tropismen“  sind  namentlich  durch  Engelmann, 
Löb  und  Verworn  trefflich  beschrieben  und  untersucht  worden. 
Wir  wissen  jetzt,  dafs  das  Licht,  die  Wärme,  der  elektrische  Strom, 
die  Schwerkraft  u.  s.  w.  niedere  Tiere  ganz  ebenso  beeinflussen,  wie 
das  von  Pfeffer  und  anderen  für  die  Pflanzen  nachgewiesen  worden 
ist.  Noch  vor  zwanzig  Jahren  durfte  Bunge  in  der  Einleitung  seiner 
physiologischen  Chemie  es  als  einen  Beweis  dafür  anführen,  wie  weit 
hinab  in  die  Tierreihe  psychische  Kräfte  reichen,  wenn  ein  Infusorium, 
die  Vampyrella,  unter  einem  Gemisch  von  Algen  nur  eine,  die 
Spirogyra  aufsuoht  und  anbohrt.  Heute  wissen  wir,  dafs  eine  ganze 
Anzahl  chemischer  Körper  Pflanzenkeime  und  niedere  Tiere  direkt 
an  sich  heranziehen  oder  von  sich  abstofsen,  und  wir  wissen,  dafs 
bestimmte  Pflanzen  eben  bestimmte  solcher  Körper  abscheiden.  Der 
ganze  Vorgang  wird,  wenn  auch  nicht  eigentlich  verständlich,  so 
doch  durchsichtig,  und  es  wird  nicht  notwendig,  dem  Infusorium  ein 
bestimmtes  Untersoheidungsvermögen  zuzuerteilen.  Löb  hat  in  geist- 
reicher Weise  diese  „Tropismen“  benutzt,  die  Tiere  zu  absolut  un- 
zweokmäfsigen  oder  für  sie  verderblichen  Handlungen  zu  zwingen. 
Röhrenwürmer  zum  Beispiel  zwängen  sich  unter  allen  Umständen  in 
vorhandene  Öffnungen,  sie  gehen  selbst  in  hell  belichtete  Glasröhren, 
in  denen  sie  unfehlbar  absterben  müssen,  weil  der  Zwang  gröfser  ist 
als  die  hindernde  Kraft  des  Lichtes.  Die  Tropismen  sind  an  zahl- 


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reichen  Beispielen  gut  studiert,  auch  ist  wie  in  dem  vorgenannten 
Beispiele  mehrfach  das  Verhältnis  der  einzelnen,  auf  ein  Tier  gleich- 
zeitig einwirkenden  Kräfte  zu  dem  Tiere  selbst  genauer  erforscht 

Andere  anscheinend  überaus  überlegt  zweckmäfsige  Handlungen 
niederer  Tiere  liefsen  sich  direkt  nachmachen.  So  bauten  künstliche 
Amöben,  die  Kutnblex  aus  Chloroformtropfen  und  anderem  dar- 
gestellt hatte.  Häuser  aus  Quarzkörnchen  ganz  ähnlich,  ja  ganz 
gleich  wie  ähnliche  lebende  Tiere;  sie  umflossen  ebenso 
wie  diese  vorgelegte  kleine  Fremdkörper,  wenn  diese  von 
bestimmter,  zu  ihrer  chemischen  Konstitution  passen  der  Be- 
schaffenheit waren,  nahmen  sie  in  sich  auf  und  lösten  sie, 
ganz  wie  wirkliche  Tiere.  Wie  niemand  daran  denken  wird, 
diesen  Automaten  Verstand  zuzuschreiben,  so  liegt  auch  bis  jetzt  kein 
zwingender  Anlafs  vor,  die  gleichen  Handlungen,  wenn  niedere  Tiere 
sie  vollziehen,  auf  etwas  anderes  als  auf  deren  Bau  und  seine  Eigen- 
schaften zurückzuführen. 

Die  Untersuchungen  von  Löb,  Friedländer,  Bethe,  von 
Preyer  und  von  v.  Uexküll  haben  in  vieler  Beziehung  neue  Wege 
eröffnet  und  neue  Anschauungen  ungebahnt.  Wir  haben  erfahren, 
dafs  durch  bestimmte  Reize  in  absolut  sicherer  Weise  be- 
stimmte Reflexbogen  in  Tätigkeit  gebracht  werden  können, 
dafs  zum  Beispiel  der  chemische  Reiz  der  Nahrung  direkt  die  Mund- 
teile in  entsprechende  Bewegung  setzt.  Selbst  dann,  wenn  iler  Kopf 
vom  Oesamttiere  abgetrennt  ist,  saugt  zum  Beispiel  der  Bienenrüssel 
Honig  ein.  Andere  Reize  veranlassen  das  Kopfende  zum  Einleiten 
einer  Vorwärtsbewegung,  und  diese  können  so  kräftig  wirken,  dafs 
sie  zu  absolut  unzweckmäfsigcm  Handeln  führen.  So  zerreifst  zum 
Beispiel  eine  Planarie,  der  man  künstlich  zwei  Köpfe  erzeugt 
hat  (Löb),  beim  Vorankriechen  manchmal  den  ganzen  Rumpf  in  zwei 
Stücke,  weil  jedes  Kopfende  einzeln  vorauseilt.  Wenn  man  zwei 
Arme  eines  Seesternes  (Preyer)  mühevoll  in  eine  enge  Flasohe 
drückt,  so  zwängt  sich,  ihnen  folgend,  nachher  das  ganze  Tier  in 
den  Kaum,  wo  es  elend  zu  Grunde  gehen  mufs.  Das  abgeschnittene 
Kopfende  eines  Sandbohrwurmes  beginnt  sofort  Bohrbewegungen, 
wenn  es  auf  dem  Objektträger  mit  feinem  Sande  bestreut  wird,  und 
der  Bienenstachel  sticht,  wenn  das  auf  dem  Objektträger  liegende 
abgeschnittene  Hinterleibende  des  Tieres  berührt  wird.  Ein  konstanter 
Reiz,  nicht  etwa  Rache,  Zorn  oder  Verteidigungstrieb,  löst  hier  die 
leicht  zu  mifsdeutende  Handlung  aus.  Solcher  Einzelreflexe,  deren 
Apparat  sich  gelegentlich  ohne  Schaden  vom  Gesamttiere  trennen  läfst 


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sind  bereits  viele  bekannt,  und  für  einzelne  Tiere,  zum  Beispiel  für 
Caroinus  maenas,  den  Bethe  genau  untersucht  hat,  aber  auch  für 
andere  Krebse  und  rnanohe  Würmer  (Lob)  ist  es  gelungen,  fast  das 
ganze  Verhalten  des  Tieres  auf  Einzelleistungen  von  Apparaten  zurück- 
zuführen, die  anatomisch  gut  bekannt  sind. 

In  den  meisten  Fällen  aber  kommt  es  bekanntlich  zu  einem 
Gesamtnervensystem,  dem  die  einzelnen  Apparate  auf-  oder  einge- 
lagert sind.  Schon  kennen  wir  auch  einzelne  soloher  Systeme  ge- 
nauer, und  schon  können  wir  uns  auf  Grund  unserer  Kenntnisse 
vorstellen,  wie  etwa  das  Fortkrieohen  eines  Wurmes  auf  einen  be- 
stimmten Reiz  hin  zustande  kommt,  wie  der  Mechanismus  ist,  der 
jetzt  den  Vorderabschnitt  und  dann  geordnet  weiter  hinten  liegende 
Teile  in  koordinierte  Bewegung  bringt.  Zuweilen  erhalten  sich  neben 
einem  relativ  unbedeutenden  Gesamtnervensystem  die  peripher  liegen- 
den Reflexapparate  in  grofser  Selbständigkeit.  So  haben  die  Unter- 
suchungen von  v.  Uexküll  gezeigt,  dafs  die  ganze  Oberfläche  der 
Seeigel  mit  den  mannigfachsten  Apparaten  bedeckt  ist,  welche,  ganz 
odor  bis  zu  gewissem  Grade  selbständig  arbeitend  dem  Gesarattiere 
die  Nahrung  zuführen,  es  putzen,  es  in  geordneter  Weise  vom  Platze 
bewegen.  Ein  Hund,  heifst  es  bei  diesem  Autor,  bewegt  seine  Beine 
beim  Gehen,  der  Seeigel  wird  von  seinen  Bewegungsapparaten  fort- 
bewegt. Der  Name  .Reflexrepublik“,  den  v.  Uexküll  der- 
artigen Anordnungen  gegeben  hat,  ist  durchaus  treffend. 

Zahlreiche  von  den  Physiologen  gemachte  Erfahrungen  über  die 
Reflexe  wurden  durch  solohe  Forschungen  erst  anatomisch  verständ- 
lich. Eine  derselben  ist  besonders  geeignet,  zu  zeigen,  wie  die  nüch- 
terne Untersuchung  Vorstellungen,  die  vom  rein  menschlichen  Stand- 
punkte aus  sich  entwickelt  haben,  zu  korrigieren  vermag.  Bekannt- 
lich umarmen  im  Frühjahre  die  Frösche  .liebend“  ihre  Weibchen. 
„Keine  Macht“,  heifst  es  diesbezüglich  in  einem  modernen 
Werke,  „vermag  die  Liebenden  zu  trennen  . . . „ sie  lassen  sich,  ein 
schönes  Beispiel  lur  den  Menschen,  lieber  zerstückeln,  al6  dafs  sie 
die  Geliebte  losliefsen“.  Versuche,  die  bereits  Goltz  angestellt  hat, 
haben  nun  gezeigt,  dafs  in  der  Begattungszeit  die  Haut  des  Weib- 
chens, auch  des  toten,  ja  des  mit  Ovarien  ausgestopflen  toten  Männchens 
den  Umklammerungsreflux  auslöst,  sobald  sie  mit  der  Innenseite  der 
Froschpfoten  in  Berührung  gebracht  wird.  Man  kann  den  Frosch, 
von  hinten  nach  vorn  gebend,  bis  zum  Halsmarke  zerstückeln,  ohne 
dafs  er  losläfst,  oder  man  kann  ihn,  vom  Kopfe  rüokwärts  sohreitend, 
ebenso  verletzen  — das  Resultat  bleibt  das  gleiche.  Der  Ring, 


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welcher  vom  Halsmarke  und  den  beiden  Armen  gebildet 
wird,  ganz  losgelöst  vom  Gesamttiere,  verhält  sich  noch 
immer  wie  der  „liebende  Frosoh“;  wenn  nur  jemand  die  Annahme 
machte,  dafs  das  Bewufstsein  für  diese  Handlung  eben  ira  Halsmarke 
okalisiert  sei,  so  data  der  Versuoh  gar  nichts  für  die  rein  mechanische 
Natur  der  Umarmungen  bewiese,  so  müfste  er,  wie  Edinger  mit 
Recht  betont,  dooh  erst  irgendeinen  Beweis  für  seine  Behauptung 
erbringen.  -Für  den  unbefangenen  Beobachter  genügt  so  lange  die 
einfachere  Annahme,  bis  nicht  Erscheinungen  entdeckt  werden, 
welohe  durch  sie  nicht  erklärbar  sind. 

Man  wird  zugeben  müssen,  dafs  auoh  diese  anscheinend  „un- 
psychologische" Betrachtungsweise  der  Seelenäusserungen  der  Tiere 
zu  Resultaten  führt,  die  zur  Vereinfachung  und  Klarstellung  eigent- 
lich psychologischer  Probleme  herangezogen  werden  können.  Auf 
diesem  Wege  wird  man  zu  einem  Punkte  kommen,  wo  die 
Annahme  eines  Bewufstseins  notwendig  wi  rd,  aber  zweifellos 
rüokt  dieser  Punkt  immer  weiter  hinaus,  und  klärt  sich  die  Frage- 
stellung bei  solchem  Vorgehen  ständig.  Erst  dann,  wenn  wir  ohne 
Annahme  eines  Bewufstseins  einzelne  Handlungen  nicht  mehr  zu  er- 
klären vermögen,  erst  dann  wird  die  Zeit  gekommen  sein,  wo  man 
dem  näher  zu  präzisierenden  und  heute  nooh  halb  mystischen  Problem 
des  Bewufstseins  wieder  abwärts  in  der  Reihe  der  Tiere  wird  nacb- 
gehen  können.  Ein  ganz  neues  Arbeitsgebiet  mit  präziser  Frage- 
stellung erschliefst  sioh  hier  vorläufig  dem  rastlos  strebenden  For- 
schergeiste. Der  Tag  wird  kommen,  wo  die  beidon  heute 
getrennten  Riohtungen  der  gleiohen  Wissenschaft  vereint 
an  die  Lösung  der  höheren  Probleme  herantreten  werden. 


Anmerkung  der  Redaktion.  Die  Fortsetzung  des  Aufsatzes:  „Der  Acker- 
boden und  seine  Geschichte“  erfolgt  im  nächsten  Heft. 


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Fixierte  Klangschwingungen. 

Chladni  hat  als  erster  duroh  Aufstreuen  von  Sand  auf  klingende 
Olas-  oder  Melallplatten  die  Schwingungsformen  tönender  Körper  für 
verschiedene  Tonhöhen  nachgewiesen.  Auf  alle  denkenden  Menschen 
mufs  der  primitive  Chladnische  Versuch,  den  ein  jeder  in  der  Urania 
selbst  anstellen  kann,  einen  tiefen  Eindruck  machen.  Da  ist  ein  ein- 
faches Stück  Messingblech:  man  streicht  es  mit  einem  Bogen  und  ver- 
setzt es  so  in  Schwingungen.  Durch  Veränderung  der  Streichart  wird 
der  Ton  ein  anderer,  aber  kein  Auge  sieht  etwas  von  den  mysteriösen 
Vorgängen  in  der  Platte.  Ua  verraten  plötzlioh  die  hüpfenden, 
tanzenden  Sandkörnchen  das  ganze  Geheimnis  und  gewähren  einen 
Einbliok  in  einen  Vorgang  von  wunderbarer  und  vollkommener  Art. 
Unsere  Phantasie  vermag  ihn  sich  nicht  zarter  und  feiner  vorzustellen. 
Nach  Chladni  haben  andere  Physiker  ähnliche  Methoden  zur  Sicht- 
barmachung von  Tönen  benutzt,  z.  B.  Kundt,  indem  er  feinen  Lyko- 
podiumstaub  in  tönende  Glasröhren  einsohlofs.  Die  Staubteilchen 
wirbeln  an  den  Stellen  stärkster  Bewegung  empor,  bleiben  an  den 
Ruhepunkten  liegen  und  zeigen  so  dem  erstaunten  Auge  das  Vor- 
handensein stehender  Wellengebilde.  Wo  das  Staubverfahren  versagt, 
mufs  die  manometrische  im  Takt  der  Sohallsohwingungen  hüpfende 
Flamme  und  der  Drehspiegel  herhalten,  um  die  Schwingungen  zu  er- 
kennen und  zu  messen.  Allersubtilste  Vorgänge  werden  mit  dem 
Mikroskop  verfolgt,  so  z.  B.  in  der  von  uns  früher  schon  beschrie- 
benen Camera  acustica  des  Physikers  Richard  Ewald,  ln  diesem 
relativ  einfachen  Apparat,  der  fast  in  allen  Teilen  dem  menschlichen 
Ohr  nachgebildet  ist,  fällt  ein  Lichtstrahl  auf  eine  Kautschukmembran 
von  außerordentlich  geringen  Abmessungen,  wird  von  dort  reflektiert 
und  gelangt  schließlich  durch  ein  Mikroskop  in  das  Auge  des  Be- 
schauers. Hier  werden  die  feinsten  Schwingungen  der  Membrane 
sichtbar  oder  lassen  sich  auf  einer  rotierenden  photographischen  Platte 
fixieren.  Photographierte  Vokale  sind  heute  gar  nichts  Seltenes  mehr. 
Aber  so  vollkommen  und  erstaunlich  alle  diese  Apparate  sein  mögen 


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einen  Fohler  haben  sie  samt  und  sonders:  Uie  in  ihnen  hin-  und  her- 
schwingenden  Teile  besitzen  eine  Masse  und  daher  auch  eine  gewisse 
Trägheit.  Den  allerfeinsten  Oberschwingungen,  wie  sie  ira  Klang- 
zauber der  menschlichen  Stimme  vorhanden  sind,  vermögen  sie  nicht 
mehr  zu  folgen.  In  neuerer  Zeit  sind  jedoch  gewichtlose  Systeme 
mit  grofsem  Erfolg  zur  Anwendung  gelangt.  So  konnte  z.  B.  ein 
Kathodenstrahi,  desseu  Masse  praktisch  gleich  Null  gesetzt  werden 
darf,  akustisch  beeinllufst  und  zur  Aufzeichnung  seiner  Bahn  auf  einer 
photographischen  Platte  genötigt  werden.  Auoh  kann  man  nunmehr 
Schallschwingungen  ohne  das  grobe  Mittel  sichtbar  bewegter  Masse- 
teilchen für  das  Auge  erkenntlich  maohen.  So  hat  Moritz  Weerth, 
wie  wir  in  den  Annalen  der  Physik  lesen,  ganz  neuerdings  den  Vor- 
gang an  der  Schneide  einer  Orgelpfeife  auf  höchst  eigenartige  und 
sinnreiche  Weise  verfolgt  Er  macht  den  duroh  die  Pfeife  gehenden 
Luftstrom  mit  Tabaksqualm  sichtbar  und  beobachtet  ihn  in  intermit- 
tierendem Licht,  d.  h.  bei  einer  Reihenfolge  von  Lichtstöfsen,  deren 
Tempo  dem  der  Schallschwingungen  angenähert  gleich  ist  Infolge 
einer  optischen  Täuschung  wird  dann  der  Schwingungsvorgang  so 
weit  verlangsamt,  dafs  man  ihn  bequem  studieren  kann.  Wirklioh 
gewähren  die  Weerthschen  Resultate  einen  ganz  eigenartigen  und 
neuen  Einblick  in  die  Mechanik  der  Pfeifentöne.  Der  aus  dem  Spalt 
gegen  die  Schneide  dringende  Luftstrom  benimmt  sich  genau  so,  als 
wäre  er  ein  Metallziingelchen.  Er  schlägt  bald  nach  aufsen,  bald 
naoh  innen  an  der  Schneide  vorbei  und  bildet  so  eine  lange  Kette 
einander  aufsen  und  innen  in  verschobener  Symmetrie  gegenüber- 
stehender Luftwülste.  Diese  Art  der  Untersuchung  des  Unsichtbaren 
dürfte  nooh  viele  Früchte  tragen.  D. 


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Brauns,  H. : Das  Mineralreich.  1.  Lieferung.  Stuttgart,  F.  Lehmann.  1903. 

Wenn  die  anderen  Lieferungen  der  ersten  entsprechen,  so  mufs  das 
Brauneeche  Tafelwerk  eine  hervorragende  Publikation  werden.  Jeder  Freund 
der  Geologie  sollte  sich  damit  bekannt  machen.  Die  Reproduktionen,  gröfsten- 
teils  koloriert,  sind  hervorragend  gut;  der  kurze,  erklärende  Text  in  bestem 
Sinne  populär.  Die  vorliegende  erste  Lieferung  enthält  Abbildungen  vom 
Rauchtopas,  Turmalin,  Gold,  Platin  u.  a.  nebst  den  zugehörigen  Beschreibungen 
und  Definitionen.  Später  wird  dem  Ganzen  eine  Einleitung  über  die  Form, 
sowie  die  chemischen  und  physikalischen  Eigenschaften  der  dargestellten 
Minerale  voraugehen.  Wir  behalten  uns  vor,  dem  Prachtwerk,  sobald  es  voll- 
ständig erschienen  ist,  eine  ausführliche  Besprechung  zu  widmen.  Schon  jetzt 
glauben  wir  es  jedoch  zur  Anschaffung  bestens  empfehlen  zu  können.  Der 
Name  des  Verfassers  bürgt  für  die  Güte.  B.  D. 


Verleg:  Hermann  Pustel  ln  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  Gronau’*  Buchdrucker#!  in  Berlin  ~8eh6seberg. 
Pfir  die  Bedaetiem  verantwortlich : Dr.  P.  Sehwahn  In  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  au*  dem  Inhalt  dleaer  Zeitschrift  untersagt, 
übersetxuafirecht  Vorbehalten. 


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Fig.  10.  Vergleichsaufnahmen  mit  Radium-  und  Röntgenstrahlen. 


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Radium. 

Von  Dr.  B.  Donath  in  Berlin. 

V ortrag, 

gehalten  in  der  Urania  am  30.  Januar  I904.1) 

-'tytfior  uns  *'eS*  e'n  höchst  unscheinbares  Pulver.  Es  ist  nur  sehr 
jUv'o  wenig,  etwa  10  Milligramm;  eine  gewöhnliche  Wage  vermöchte 
es  gar  nicht  nachzuweisen.  Auch  würde  niemand  zögern,  es 
mit  dem  Tuche  hinwegzuwischen,  wenn  es  ihm  zufällig  irgendwo  be- 
gegnete, so  unscheinbar  sieht  es  aus.  Aber  der  Physiker  hütet  diese 
wenigen  Stäubchen  wie  sein  Auge,  er  bettet  sie  in  eine  blanke  Messing- 
hülse, legt  diese  in  ein  Etui  und  vergilbt  nie,  letzteres  sorgfältig  ein- 
zuschliefsen,  wenn  er  das  Laboratorium  verläfst.  Das  Pulver  ist 
Radium;  ein  einziges  Gramm  von  ihm  kostet  12  000  Mark,  in  aller- 
reinster Form  sogar  neuerdings  bis  zu  100  000  Mark. 

Was  rechtfertigt  nur  diesen  unglaublichen  Preis,  der  den  des 
Goldes,  des  Platins,  des  Diamanten  weit  hinter  sich  zurückläfst? 
Warum  bezahlt  man  ihn  ohne  Murren  und  ist  froh,  wenn  man 
überhaupt  etwas  von  der  Substanz  erhält?  Ist  denn  das  Radium  etwa 
der  Stein  der  Weisen,  ist  es  der  Zauberring,  um  den  der  kundige 
Magier  im  Märchen  sein  ganzes  Vermögen  anbot?  Beides  nicht;  aber 
etwas  ist  es  doch;  ein  wissenschaftliches  Rätsel  in  mancher  Hinsicht. 

Wir  wollen  sehen,  was  es  mit  diesem  Radiumrätsel  auf  sich  hat. 

Seit  der  Entdeckung  Röntgens  sind  fast  10  Jahre  ins  Land  ge- 
gangen, aber  in  uns  allen  zittert  noch  die  Erregung  über  die  neue 
Erscheinung  nach.  Man  erinnert  sich,  welch  ein  Staunen  und  Ver- 
wundern damals  durch  die  Welt  ging,  zugleich  ein  Enthusiasmus 

■)  Der  Vortrag  ist  liier  verkürzt  wiedergegeben,  auch  musste,  da  die 
Demonstraiioasversuche  nur  gestreift  werden  konnten,  in  der  Form  manches 
geändert  werden. 

Htmm«l  und  Erd».  IS04.  XVL  7.  19 


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sondergleichen.  Strahlen  waren  entdeckt,  denen  kein  Geheimnis  stand- 
hielt, die  durch  Kisten  und  Kasten,  Tische  und  Wände  drangen,  denen 
es  selbst  ein  leiohtes  war,  das  Skelett  eines  lebendigen  Menschen  im 
Schattenrirs  auf  die  photographische  Platte  zu  bannen.  Das  maohte 
vor  allem  den  beispiellosen  populären  Erfolg  der  Würzburger  Ent- 
deckung aus.  Aber  das  Interessanteste  wurde  doch  nur  von  wenigen 
beachtet  und  in  seiner  vollen  Tragweite  gewürdigt:  die  spröde  Unter- 
ordnung der  Röntgenstrahlen  unter  die  Reihe  der  schonbekannten 
Erscheinungen.  Hier  setzte  die  Wissenschaft  mit  ruhiger  und  steter 
Arbeit  ein,  sie  beschäftigte  sich  vornehmlich  mit  der  seinerzeit  ganz 
ohne  Beispiel  dastehenden  Eigenschaft  der  neuen  Strahlen,  sich  durch 
ein  Prisma  nicht  brechen  zu  lassen.  Auch  heute  ist  die  gelehrte 
Diskussion  über  die  physikalische  Natur  der  Röntgenstrahlen  noch 
nicht  geschlossen,  wennschon  sich  die  kritische  Wagschale  immer 
mehr  zugunsten  einer  eigenartigen  Ätherwellenerklärung  neigt.  Aber 
Jahre  werden  noch  vergehen,  ehe  alle  Schleier  vor  dem  X-Strahlen- 
phänomen  zerrissen  sind. 

Heute  kommen  die  Röntgenstrahlen  für  die  öffentliche  Meinung 
kaum  noch  wesentlich  in  Frage;  die  Gewohnheit  hat  auch  dieser 
sonderbarsten  aller  Erscheinungen  den  Stempel  der  Alltäglichkeit  auf- 
gedrückt.  Allo  Welt  spricht  nunmehr  vom  „Radium“  als  von  etwas 
ganz  Besonderem,  Neuem  und  Staunenswertem.  Und  dooh  sind  beide 
Entdeckungen  fast  gleich  alt;  für  das  grofse  Publikum  verschwand 
aber  das  Radiumphänomen  — wenn  man  es  damals  auch  noch  nicht 
so  nannte  — in  den  Strahlen  und  dem  Glanze  der  Röntgenschen  Ent- 
deckung, denn  es  konnte  nicht  mit  den  gleichen  äufseren  Effekten 
aufwarten  wie  diese.  Jetzt  tritt  das  neue  Gestirn  um  so  deutlicher 
hervor,  nachdem  es  am  wissenschaftlichen  Himmel  schon  lange  ge- 
leuchtet hat. 

Unendlich  viel  ist  in  der  letzten  Zeit  über  das  Radium  geschrieben 
und  gelesen  worden.  Nicht  immer  von  Berufenen.  Schon  aus  diesem 
Grunde  ist  es  schwierig,  in  einem  zwar  gemeinverständlichen,  aber 
natürlich  auf  voller  wissenschaftlicher  Grundlage  aufgebauten  Vortrage 
dieses  Thema  aufzugreifen.  Es  ist  zwar  durchaus  nicht  alles  falsch, 
was  bishor  in  sogenannter  populärer  Form  Uber  das  Radium  ge- 
schrieben wurde,  aber  es  ist  wohl  geeignet,  beim  Leser  falsche  Vor- 
stellungen bezüglich  der  Grössenordnung  der  Erscheinung  hervorzu- 
rufen. Um  hierfür  nur  zwei  oder  drei  Beispiele  anzuführen:  Man  er- 
fährt z.  B.  von  den  unheilvollen  Wirkungen  der  Radiumstrahlung  auf 
den  menschlichen  Organismus  und  zieht  sioh  in  erklärlicher  Scheu 


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vor  jedem  radioaktiven  Präparat  auf  weite  Entfernung  zurück.  Diese 
Furcht  ist  ganz  übertrieben,  denn  es  bedarf  schon  einer  langdauernden 
unmittelbaren  Berührung  der  Haut,  um  Verbrennungsersoheinungen 
hervorzurufen.  Oder  man  hört:  in  der  Nähe  von  Radium  werde  hexa- 
gonales Schwefelzink  (die  sogenannte  Sidotsohe  Blende)  zum  Schau- 
platz eines  wahren  Feuerwerkes  von  sprühenden  Funken.  Der  Laie 
tritt  also  erwartungsvoll  an  den  Versuch  heran,  aber  er  sieht  zunächst 
meist  garnichts.  Erst  wenn  seine  Augen  sich  lange  genug  an  die 
Finsternis  gewöhnt  haben,  bemerkt  er  auf  der  Blende  einen  äufserst 
feinen,  das  radioaktive  Präparat  umspielenden  Lichtschimmer,  und 
beugt  er  sich  ganz  tief  herab,  so  entdeokt  er  wohl  auch  naoli  mehreren 
Minuten  wirklich  jenes  unstäte  Funkeln  mit  der  Lupe.  Hochinter- 
essant ist  ja  die  Erscheinung  auch  in  dieser  Form,  aber  der  naive 
Beschauer  ist  doch  enttäuscht;  er  hat  sich  etwas  ganz  anderes  vor- 
gestellt. So  geht  es  ihm  auch  mit  den  anderen  Kadiumersoheinungen, 
denn  sein  Blick  ist  Tür  den  Wert  und  das  Wesen  der  Sache  noch 
nicht  geschärft.  Endlich  hat  mau  auch  gesagt,  das  Radiumphänomen 
drohe  die  ürundfesten  unserer  bisherigen  Naturanschauung  zu  er- 
schüttern. Das  ist  bedenklich  und,  wie  wir  nicht  anders  sagen 
können,  eine  ganz  unstatthafte  Konzession  an  den  sensationellen  Ge- 
schmack  des  grofsen  Publikums.  Sicherlich  wird  man  hier  und  dort 
eine  neue  Benennung  einfübren,  eine  an  und  für  sich  sohon  nicht 
mehr  reoht  glaubhafte  Vorstellung  beseitigen  — die  Säulen  unserer 
modernen  Naturansohauung,  darunter  verstehen  wir  vornehmlich  das 
Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  und  seine  Begleiter,  bleiben 
aber  unversehrt.  Wir  haben  auch  nicht  die  geringste  Veranlassung, 
das  alte,  wundervolle,  festgefügte  Bauwerk  in  Trümmer  zu  legen, 
ehe  wir  auoh  nur  einen  Baustein  zur  Errichtung  eines  neuen  zur 
Verfügung  haben. 

Will  man  die  wissenschaftliche  Bedeutung  des  Radiums  ver- 
stehen, so  mufs  man  sich  zunächst  mit  einer  Reibe  schon  seit  längerer 
Zeit  bekannter  Erscheinungen,  insbesondere  mit  den  Kathoden-  und 
Kanalstrahlen  beschäftigen.  Die  Entstehung  der  Kathodenstrahlen 
läfst  sich  am  besten  an  einer  verbältnismäfsig  einfachen  Apparatur 
zeigen,  aber  auoh  leicht  beschreiben.  Mau  denke  sich  ein  nicht  zu 
enges,  etwa  60  cm  langes  Glasrohr,  wie  man  es  von  den  Geifsler- 
röhren  her  kennt,  auf  beiden  Enden  mit  eingeschmolzenen  Platindraht- 
stücken (Elektroden)  versehen.  Die  eine  Elektrode  möge  mit  einer 
fast  den  ganzen  Rohrquerschnitt  ausfüllenden  runden  Platte  — meist 
aus  Aluminium  bestehend  — ausgerüstet  sein.  Die  gesamte,  mit  Luft 

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ungefüllte  Röh^e  stellt  einen  grolsen  Widerstand  für  den  Übergang 
des  elektrischen  Stromes  dar  und  bleibt  völlig  liohtleer,  selbst  wenn 
es  6ich  um  eine  Stromquelle  von  vielen  tausend  Volt  Spannung 
handelt.  Die  Verhältnisse  ändern  sich  aber  bei  der  Evakuation  der 
Röhre.  Stetig  saugt  die  Luftpumpe  ein  Luftteilchen  nach  dem  anderen 
fort,  und  als  hätten  diese  allein  ein  Hindernis  für  die  Entladung  ge- 
bildet, zuckt  plötzlich  ein  rötlich-violetter  Lichtschimmer  duroh  das 
Kohr  hin  und  schlägt  eine  Brücke  zwischen  den  Elektroden.  Wir 
wollen  die  Spitzenelektrode  mit  dem  positiven,  die  Plattenelektrode 
mit  dem  negativen  Pol  der  Hochspannungs-Stromquelle  verbinden  und 
die  Platte  als  „Kathode1*  bezeichnen.  Farbe  und  Form  der  Entladungs- 
erscheinung hängen  von  der  Natur  des  oingeschlossenen,  verdünnten 
Gases,  wie  von  dem  Evakuationsgrade  ab.  Schon  gleioh  anfangs  be- 
merkt der  aufmerksame  Beobachter  zwei  typisch  verschiedene  Erschei- 
nungen in  der  Köhre:  das  unstäte  bläulich-rote  Lichtband  an  der 
positiven  Spitze  hängend,  von  ihr  ausgehend  und  fast  die  ganzo  Köhre 
durchziehend,  und  ein  die  plattenförmige  Kathode  umspielendes  bläu- 
liches Leuchten.  Man  bezeichnet  letzteres  als  das  negative  Glimmlicht 
Beide  Erscheinungen  ändern  ihr  räumliches  Verhältnis  zueinander 
mit  fortschreitender  Luftverdünnung,  und  zwar  drängt  sich  das  Glimm- 
licht von  der  Kathode  aus  immer  weiter  in  der  Röhre  vor  und  schiebt 
das  positive  Licht  schliefslich  bis  auf  einen  kleinen  Stumpf  zurück. 
Dann  erfüllt  das  Glimmlicht  den  ganzen  Kaum  Man  kommt  mit  einer 
gewöhnlichen  Luftpumpe  nicht  weiter  und  mufs  schon  eine  Queck- 
silberluflpumpe  zu  Hilfe  nehmen.  Nun  wird  das  bläuliche  Glimmlicht 
immer  durchscheiniger,  verschwindet  für  das  Auge  ganz,  und  bald  hat 
man  den  Eindruck,  als  sei  das  Kohr  völlig  leer.  Aber  die  alte  Er- 
scheinung ist  nur  von  einer  neuen  abgelöst  worden:  die  Innenwandung 
dos  Rohres  selbst,  namentlich  auf  dom  der  Kathode  gegenüberliegenden 
Ende,  beginnt  zu  leuchten,  sehr  verschieden,  je  nach  der  Art  des 
Glases,  meist  aber  in  einem  grüngelblichen  Farbton.  Der  Physiker 
pflegt  dieses  eigentümliche  und  unter  dem  Einflufs  irgend  einer  sicht- 
baren oder  unsichtbaren  Ursache  entstehende  Selbstleuohten  als 
„Fluoreszenz1*  zu  bezeichnen.  (Besonders  interessant  ist  z.  B.  die 
Fluoreszenz  des  Baryumplatincyanürs  unter  dem  Einflufs  der  Ilöntgon- 
strahlen).  Auch  hier  liegt  eine  besondere,  dem  spähenden  Auge  direkt 
verborgene  Ursache  für  das  Leuchten  der  Glaswand  vor:  unsichtbare 
Strahlen,  die  senkrecht  von  der  Fläche  der  Kathode  ausgehen,  von 
undurchlässigen  Körpern  im  Innern  der  Rühre  auf  der  Glaswand 
einen  Schatten  entwerfen  und  so  den  Sitz  ihres  Ursprungs  an  der 


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Kathode  verraten.  Entdockt  wurden  diese  „Kathodenstrahlen“  durch 
Hittorf  (1869),  populär  aber  erst  durch  den  Engländer  Crookes  (1879), 
wissenschaftlich  untersucht  hauptsächlich  durch  Lenard,  Ooldstein  u.  a. 
Man  mag  über  die  philosophisch,  bisweilen  auch  etwas  transzendent 
angehauchten  Ansichten  Crookes'  denken,  wie  man  will,  jedenfalls 
hat  er  es  verstanden,  nioht  nur  äufserst  effektvolle  Leuchtröhren  her- 
zustellen, in  denen  allerhand  Körper  wie  Korallen,  Calciumsulfat, 
Kalkspat,  Hexagonit  u.  s.  f.  unter  dem  Einflufs  der  Kathodenstrahlen 


Fig.  1.  A u.  ü.  Magnetische  Ablenkung  der  Kathodenitrehlen  und  Entitehnng 
der  Xanalitrehlen. 


in  schönster  Farbenfluoreszenz  erstrahlen,  sondern  vor  allem  auch 
eine  Theorie  der  Erscheinung  zu  liefern,  wie  man  sie  sich  sinnfälliger 
kaum  denken  kann.  Für  ihn  sind  die  Kuthodenstrahlen  keine  Äther- 
wellcn  wie  die  strahlenden  Erscheinungen  der  elektrischen  Kraft,  der 
Wärme,  des  Lichtes,  sondern  veritable  kleinste  Teilchen,  die,  mit  dem 
elektrischen  Fluid  gleichsam  beladen,  eine  schnelle  Wanderung  durch 
den  luftverdünnten  Raum  antreten,  etwa  so,  wie  auch  erhitzte  und  be- 
wegte Luflteilchen  einen  Wärmetransport  ausführen  können.  Crookes 
glaubt  unter  seinen  Händen  und  im  Bereich  seiner  Prüfung  endlich 
die  kleinen,  unteilbaren  Teilchen  zu  haben,  von  denen  man  voraus- 
setzt, dafs  sie  die  Grundlage  des  Weltalls  bilden;  seine  rege  Phantasie 


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berührt  das  Grenzgebiet  zwischen  Materie  und  Kraft.  — Auch  heute 
gilt  noch  diese  Crookessche  Theorie,  nur  ist  sie  wesentlich  verfeinert 
worden.  Man  hält  wirklich  die  Kathodenstrahlen  für  (negativ) 
elektrisch  beladene  Materie  in  unterteiltester  Form,  gleichsam  für  die 
Elementarquanten  der  Materie,  behaftet  mit  den  Elementarquanten 
der  elektrischen  Ladung.  „Elektronen“  nennt  der  Physiker  diese 
Teilchen.  Sie  sind  jedenfalls,  wie  man  aus  ihren  Eigenschaften  weifs, 
über  alle  Begriffe  klein,  geradezu  winzig  sogar  gegen  das  Atom  des 
Chemikers. 

Es  ist  gelungen,  die  Geschwindigkeit  dieser  merkwürdigen  Elek- 
tronen, die  heute  bei  der  Aufklärung  gewisser  Naturerscheinungen 
eine  so  grofse  Holle  spielen,  zu  messen.  Seltsam  in  der  Tat,  denn 
keines  Menschen  Auge  hat  je  ein  Elektron  erbliokt  und  wird  es 
jemals  in  Zukunft  erblicken.  Aber  die  Messung  ist  — im  Prinzip 
wenigstens  — einfacher  als  man  denkt,  sie  stützt  sich  auf  die 
magnetische  Ablenkbarkeit  der  Kathodenstrahlen.  Nähern  wir  einen 
Magnetpol  einem  Bündel  Kathodenstrahlen,  deren  Spur  durch  irgend 
eine  fluoreszierende  Substanz  sichtbar  gemacht  ist  (Fig.  1 A),  so  be- 
merken wir  sofort,  wie  das  Strahlenbündel  seine  gerade  Richtung 
verläfet  Es  steht  unter  dem  Einflüsse  des  Magneten  wie  ein  beweg- 
licher elektrischer  Strom,  und  ein  Strom  sind  ja  auch  die  von  der 
Kathode  fortgeschleuderten,  mit  negativer  Ladung  behafteten  Elek- 
tronen. Auch  der  Weg  zur  Bestimmung  ihrer  Geschwindigkeit  ist 
nun  gegeben.  Hierzu  eine  Analogie:  Eine  Gewehrkugel  würde  sich 
geradlinig  fortbewegen,  wenn  nicht  aufser  der  Stofekraft  noch  andere 
Kräfte  auf  sie  zur  Einwirkung  kämen.  Sie  schlägt,  von  der  Erd- 
schwere herabgezogen,  unterhalb  des  Zentrums  ein  und  zwar  um  so 
tiefer,  je  langsamer  sie  fliegt.  Aus  der  Flugbahn  und  der  Grörse 
der  ablenkenden  Kraft  läfet  sich  die  Geschwindigkeit  der  Kugel  be- 
rechnen. Ähnlich  bei  den  Kathodenstrahlen,  die  ja  scbliefslich  auch 
niohts  anderes  sind  als  winzige  Geschosse.  Die  ablenkende  Kraft 
wird  durch  den  Magneten  repräsentiert,  die  Bahn  ist  die  sichtbare 
Fluoreszenzspur.  Auch  die  Geschwindigkeit  der  Kathodenstrahlen 
läfet  sich  also  berechnen;  aber  auf  wie  gewaltige  Zahlen  stofeen  wir 
da!  Geschwindigkeiten  von  1600  km  bis  zu  100000  km  und  mehr 
in  einer  Sekunde,  je  nach  der  Höhe  der  angewandten  elektrischen 
Spannung  (man  vergleiche  sie  mit  dem  Druck  der  Pulvergase  beim 
Gewehr)  sind  gemessen.  Da  versteht  man  freilich,  wie  unter  dem 
Aufprall  dieser  Strahlen  aus  Körperchen  („Korpuskularstrahlen“)  jene 
Wärme-  und  Leuchtwirkungen  auf  der  Glaswand  oder  sonst  auf 


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2!I5 


anderen,  von  den  Kathodenstrahlen  getroffenen  Körpern  hervorgerufen 
werden  können. 

Unter  geeigneten  Umständen  sendet  eine  derartige  hocbevakuierte 
Entladungsröhre  noch  eine  andere  Art  von  Strahlen  aus,  die,  entgegen- 
gesetzt der  Kathodenstrahlung  (KL  Fig.  1 B),  aus  einer  in  der  Mitte 
des  Kohres  befindlichen  und  siebartig  durchlöcherten  Kathode  (K) 
austreten.  Sie  kommen  geradeswegs  aus  den  Kanälen  der  Kathode 


Fig.  2.  Henri  Becquerel 


hervor  und  wurden  deshalb  von  ihrem  Entdecker,  Professor  Goldstein 
in  Berlin  (1886)  „Kanalstrahlen"  genannt  (Kn.  Fig.  1 B).  Sie  prä- 
sentieren sioh  als  eine  rasch  bewegte  Schar  positiver  Korpuskeln, 
denn  ein  Magnet  lenkt  sie  — ein  ganz  klein  wenig  zwar  nur  — ent- 
gegengesetzt wie  die  Kathodenstrahlen  ab. 

Nun  sind  wir  immer  nooh  nicht  mit  der  Beschaffung  der  für  das 
Verständnis  der  Radiumerscheinung  erforderlichen  Vorkenntnisse 
fertig.  Es  geht  nämlich  noch  eine  dritte  unsichtbare  Strahlenart  von 
der  Vakuumröhre  aus,  typisch  verschieden  insofern  von  den  Kathoden- 


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und  Kanalstrahlen,  als  sie  den  engen  Bezirk  der  Röhre  verlörst  und 
in  den  Raum  hinaustritt:  die  Röntgenstrahlen,  magnetisch  unablenkbar 
und  vor  allem,  wie  schon  eingangs  erwähnt,  durch  ihr  ablehnendes 
Verhalten  einem  Prisma  gegenüber  bemerkenswert.  Es  kann  nicht 
in  unserer  Absicht  liegen,  lange  bei  den  Röntgenstrahlen  zu  ver- 
weilen, nur  im  Vorübergehen  betrachten  wir  die  besondere  Konstruk- 
tion der  Röhre,  die  chemische  (photographische»  Wirkung  der  Röntgen- 
strahlen und  ihre  Fähigkeit,  gewisse  Körper,  z.  B.  das  Baryum- 
platincvaniir  zum  Leuchten  zu  bringen.  Sie  selbst  sind  unsichtbar. 
Ein  drittes  Reagens  auf  Rüntgenstrahlen  lernen  wir  beim  Radium 
kennen. 

Wir  wenden  uns  nun  der  Geschichte  der  Radium-Entdeokung  zu. 
Im  Jahre  1896  machte  der  französische  Physiker  Becquerel  (Fig.  2) 
eine  sehr  merkwürdige,  damals  jedoch  nur  unter  den  Fachleuten  Auf- 
sehen erregende  Entdeckung.  Einige  von  ihm  untersuchte  Uran- 
verbindungen zeigten  sich  nämlich  begabt  mit  einer  unsichtbaren, 
aber  außerordentlich  durchdringenden  und  dem  Röntgenphänomen 
anscheinend  eng  verwandten  Strahlung.  Insbesondere  liefs  sich  auch 
eine  Veränderung  der  photographischen  Schicht  durch  dicke  Em- 
ballagen hindurch  nachweisen.  Ein  höchst  sonderbarer  Vorgang  in 
der  Tat!  Da  liegt  ein  Uransalz  — sagen  wir  Urannitrat  oder  Uran- 
kaliumsulfat — wohlverwahrt  in  einein  kleinen  Pappschächtelchen 
gleich  vielen  anderen  Mixturen  und  Pulvern  auf  dem  Arbeitstische 
des  Chemikers.  Niemand  ahnt,  dafs  gerade  von  ihm  ein  geheimnis- 
volles Etwas  ausgeht,  durch  die  Wände  der  Schachtel  dringt,  und  sich 
dann,  unseren  Sinnen  völlig  unmerklich,  im  Raume  ausbreitet.  Erst 
die  in  der  Nähe  liegende  photographische  Platte  verrät  die  neuartige 
Erscheinung.  Nun  könnte  es  sich  ja  freilich  um  einen  rein  chemischen 
Vorgang  handeln,  also  etwa  um  ein  stark  penetrierendes  und  die 
photographische  Schicht  schliefslioh  angreifendes  Gas.  Derartige  Wir- 
kungen sind  wohlbekannt.  Aber  seltsamerweise  hinterläfst  ein  recht 
undurchlässiger,  zwischen  dem  Uransalz  und  der  photographischen 
Platte  im  Raume  stehender  Gegenstand  auf  der  letzteren  eine  Art  von 
Schattenbild;  und  wenn  man  von  diesem  Schatten  aus  über  den  Gegen- 
stand hin  visiert,  so  gelangt  man  geradeswegs  zum  Uranpräparat. 

Es  geht  also  eine  Strahlung  vom  Urausalz  aus,  unsichtbar, 
durchdringend  und  auf  die  photographische  Platte  einwirkend.  Der 
Versuch  kann  seiner  Einfachheit  wegen  von  jedermann  angestellt 
werden.  Man  legt  eine  photographische  Platte  auf  den  Tisch  und 
zwar  in  ihrer  Kassette,  denn  die  Strahlen  sollen  ja  gerade  ihre 


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2‘J7 


Durchdringungskraft  zeigen.  Oben  auf  den  Kassettendeekel,  der 
zweckmäfsig  niobt  aus  Metall  besteht,  streut  man  in  Form  irgend 
einer  Figur  etwas  von  dem  käuflichen  Urannitrat,  einem  grünlich- 
gelben Salz.  Meist  schon  nach  zwei  bis  drei  Tagen  kann  man 
dann  die  Wirkung  der  Strahlung  durch  die  Entwickelung  der  Platte  naoli- 
weisen.  Ganz  deutlich  erscheint  die  aufgestreute  Salzflgur  als  Schwär- 
zung, noch  charakteristischer  auf  der  Kopie  als  ein  diffuser  Licht- 
schimmer. Wir  haben  eine  derartige  Platte  mit  dem  Worte  „Uran“ 
in  Fig.  3 reproduziert  Will  mau  die  strahlende  Ausbreitung  der 
Wirkung  demonstrieren,  so  braucht  man  nur  irgend  einen  metallenen 
Gegenstand,  etwa  einen  Schlüssel,  in  einer  Pappschachtel  auf  den 


Fig.  3.  Chemische  Wirkung  des  Urannitrmta. 


Kassettendeckei  zu  stellen  und  auf  diu  Schachtel  in  Oestalt  eines 
kleinen  Häufchens  etwas  Uraunitrat  zu  schaufeln.  Der  Erfolg  bleibt 
sicher  nicht  aus,  wenn  er  bisweilen  auch  etwas  lange,  etwa  acht  bis 
vierzehn  Tage  auf  sich  warten  läfst.  Der  Schattenwurf  des  Schlüssels 
ist  unverkennbar  (Fig.  4). 

Becquerel  hatte  seinerzeit  den  neuen  Strahlen  den  Namen 
„Uranstrahlen“  gegeben,  da  er  eine  spezifische  Eigenschaft  des  Urans 
entdeckt  zu  haben  glaubte.  Heute  nennt  man  sie  ganz  allgemein 
„Becquerelstrahlen“,  weil  es  sich  inzwischen  herausgestellt  hat,  dafs 
nicht  das  Uran,  sondern  gewisse  in  seiner  Begleitung  vorkommende 
andere  Stoffe  die  eigentlichen  Strahlenspender  sind.  Es  ist  das  un- 
bestrittene Verdienst  des  in  letzter  Zeit  vielgenannten  und  nächst 
Becquerel  mit  dem  Nobelpreis  geschmückten  französischen  Physiker- 
Ehepaars  Curie,  die  radioaktiven  Bestandteile  der  Pechblende  auf 
chemischem  Wege  abgeschieden  zu  haben.  Sie  nannten  den  einen 


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Körper  „Radium-  d.  h.  das  Strahlende,  und  den  anderen 'Polonium.2) 
Es  ist  aber  zweifelhaft,  ob  das  in  seiner  Strahlungskraft  rasch  nach- 
lassende Polonium  wirklioh  primär  aktiv  ist;  auoh  ist  der  Strahlungs- 
charakter des  Poloniums  gegen  den  des  Radiums  wesentlich  verschieden. 

Wirklioh  primär  radioaktive  Körper  gehören  in  der  Natur  zu 
den  gröfsten  Seltenheiten,  induziert  radioaktive  trifft  man  dagegen, 
wie  wir  später  sehen  werden,  fast  überall  an.  Mit  Sicherheit  dürfen, 
aufser  dem  Radium  selbst,  nur  noch  die  von  O.  C.  Schmidt  disku- 
tierten Thorverbindungen,  iusonderheit  das  Thoriumbydroxyd  für 
primär  radioaktiv  gelten. 

Wo  das  Uran  in  der  Erdrinde  auftritt,  darf  man  auch  Radium 
vermuten.  Am  ausgiebigsten  läfst  es  sich  aus  der  Joachimsthaler 
Plechblende,  einem  Uranerz,  das  aufser  in  Böhmen  in  geringerer 
Quantität  und  Qualität  auch  noch  in  Sachsen,  Schweden,  England 
und  Amerika  vorkommt,  gewinnen.  Aber  wie  wenig  Radium  steckt 
selbst  in  der  Pechblende!  Man  hat  einmal  gesagt,  es  sei  leichter 
Qold  aus  dem  Meerwasser  als  Radium  aus  der  Pechblende  zu  ge- 
winnen. Damit  hat  es  ungefähr  seine  Richtigkeit,  denn  die  Radium- 
fabrikation — wenn  man  von  einer  solchen  schon  reden  darf  — ge- 
hört wirklich  zu  den  schwierigen  Dingen.  Es  ist  natürlich  nicht 
unsere  Absicht,  an  dieser  Stelle  eine  ausführliche  Beschreibung  des 
Prozesses  zu  geben  oder  den  Leser  gar  durch  ein  Labyrinth  chemischer 
Formeln  zu  führen;  mit  einer  kurzen  Darstellung  der  ersten  Gewinnungs- 
etappe,  dem  sogenannten  gros  traitement  der  Franzosen  mag  es  genug 
sein.  Es  lohnt  sich  kaum  anzufangen,  wenn  man  nicht  etwa  1000  kg 
Rohmaterial,  d.  h.  Pechblende,  der  bereits  der  Urangehalt  entzogen 
ist,  zur  Hand  hat.  Diese  Masse  enthält  die  meisten  akzessorischen 
Metallbestandteile  der  Pechblende  als  Sulfate;  auoh  das  Radium  tritt 
als  Sulfat  auf,  und  ein  glücklicher  Umstand  will,  dafs  dies  Radium- 
sulfat schwerer  löslich  ist  als  die  übrigen.  So  läuft  denn  also  das 
erste  Stadium  der  Radiumgewinnung  auf  eine  Art  von  chemischer 
Auflösung  und  Wäsche  hinaus.  Der  Prozefs  vollzieht  sich  in  grofsen 
Fässern,  denn  es  bedarf  fürs  erste  einiger  Chemikalien,  besonders 
Salzsäure  und  Sohwefelsäure,  Karbonate  und  noch  einiger  anderer 
Substanzen  im  Gewichte  von  etwa  5000  kg,  dazu  Wasser  im  Gewichte 
von  50  000  kg.  In  angestrengtester  Tätigkeit  müssen  wissenschaftlich 
gebildete  Männer  den  etwa  2—3  Monate  dauernden  Vorgang  über- 
wachen, da  von  der  ganzen  ungeheuren  Masse  begreiflicherweise  auch 
nicht  ein  kostbares  Gramm  verloren  gehen  soll. 

•)  Frau  Curie  ist  eine  Polin. 


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Endlich  ist  man  am  Ziele  und  hat  alles  in  allem  etwa  7 kg 
Material  erhalten,  in  dem  nun  allerdings  alles  vorhandene  Radium 
in  Gestalt  eines  sehr  unreinen  Radiumbromids  steckt.  Legt  man 
für  die  Radioaktivität  irgend  ein  Mals  zugrunde  und  nennt  da- 
nach die  StrahlungskraCt  der  Pechblende  6,  so  würde  die  Wirk- 
samkeit der  aus  dem  ersten  Prozefs  hervorgegangenen  Masse  mit 
etwa  UO  zu  beziffern  sein.  Nun  beginnt  eine  neue  Phase  der  Radium- 
gewinnung, das  sogenannte  fractionnement,  in  dem  das  Material  bis 
auf  wenige  Gramm  zusammensohmilzt.  In  demselben  Mafse  aber  wie 
die  gleichgültigen  Bestandteile  eliminiert  werden,  wächst  die  Strahlungs- 


Fig.  4.  Wirkung  der  Becquerelstrahlung. 


fiihigkeit;  sie  ist  nun  etwa  gleich  1900.  Meist  begnügt  man  sich  je- 
doch damit  noch  nicht  und  schafft  schlierslich  ein  Radiumbromid  von 
der  Aktivität  bis  zu  1000  000  und  darüber.  Freilioh  sind  es  dann  nur 
noch  Bruchteile  eines  Grammes,  und  dies  ist  alles,  was  von  Radium 
in  einer  Rohmasse  von  1000  kg  stockte.  Figur  6 zeigt  inmitten  einer 
Messinghülse  10  Milligramm  Radiumbromid  konzentriertester  Art 
(Aktivität  gleich  800000)  in  natürlicher  Gröfse,  ein  wertvolles  Stück 
für  eine  physikalische  Sammlung. 

Wir  haben  schon  anfangs  von  den  irrigen,  im  Publikum  über 
das  Radium  verbreiteten  Ansichten  gesprochen.  Sie  äufsorn  sich 
namentlich  in  mehr  oder  minder  naiven  Anfragen:  „Wird  man  mit 
dem  Radium  einmal  elektrisches  Licht  machen,  Elektromotors  be- 
treiben, die  Zimmer  heizen?"  Nein,  ganz  gewifs  nicht!  „Ja,  welchen 


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:tOO 


praktischen  Nutzen  hat  denn  dann  das  Radium  überhaupt?“  — Alle  diese 
unglücklichen  Fragen  sind  entstanden  durch  die  schlimme  Meinung, 
das  Radium  sei  ein  Wunder,  es  schaffo  seine  Energieleistung  um- 
sonst, gleichsam  aus  dem  Nichts.  Wenn  sich  überhaupt,  aufser  der 
geradezu  eminenten  wissenschaftlichen  Bedeutung,  ein  Vorteil  für  die 
Praxis  greifen  läfst,  so  ist  es  die  physiologische  Wirkung  des  Radiums. 
Niemand  zweifelt  heute  mehr  daran,  dafs  die  Radiumstrahlung  auf 
das  organischo  Gewebe  des  tierischen  oder  pflanzlichen  Körpers,  viel- 
leicht sogar  auf  das  Zentralnervensystem  selbst  einzuwirken  vermag. 
Schon  mancher,  der  mit  Radium  umging,  hat  dies  zu  seinem  Leidwesen 
erfahren.  Heftige  Kopfschmerzen,  Schlaflosigkeit,  selbst  juckende 
Rötungen,  sogar  offene  Wunden  waren  die  Folge.  Becquerel  selbst  hat 
unseres  Wissens  durch  unvorsichtiges  Tragen  eines  starken  Radium- 
präparates  in  der  Westentasche  eine  offene  Wunde 
nahe  der  Milz  davongetragen.  Ga  die  Oberhaut 
meist  völlig  und  auch  die  Unterhaut  teilweise 
zerstört  ist,  handelt  es  sioh  dann  allemal  um  eine 
recht  bösartige  Erscheinung;  die  Wunde  ver- 
harscht nicht,  kann  sich  nur  von  den  Rändern 
aus  zusammenziehen,  und  der  oft  monatelang  vor- 
handene Defekt  bildet  die  Eingangspforte  für 
allerhand  Infektionen. 3) 

Niedere  Organismen  gehen  unter  den  Radium- 
strahlen völlig  zugrunde,  und  dieser  Umstand  eröffnet  immerhin  eine 
gewisse  Perspektive  für  die  Behandlung  von  Infektionskrankheiten. 
U.  a.  haben  Aschkinass  und  Caspari  den  Einflufs  radioaktiver  Stoffe 
auf  Bakterienkolonien  studiert  und  jedenfalls  mit  Sicherheit,  wenn  auch 
nicht  eine  völlige  Abtötung  in  allen  Fällen,  so  dooh  eine  Verminderung 
der  Fortpflanzungsfähigkeit  festgestellt.  Andere  Forscher  haben  sogar 
Einspritzungen  von  Radium  in  den  Blutkreislauf  infektionskranker 
Tiere  vorgenommen.  Auch  der  Lupus  wird,  wie  es  scheint,  mit  Erfolg 
bestrahlt.  Alle  diese  Versuche  befinden  sich  aber  zunächst  noch  im 
ersten  Stadium  ihrer  Entwickelung;  es  hiefse  der  Wissenschaft  vor- 
greifen und  ihr  mehr  schaden  als  nützen,  wollte  man  hierüber  schon 
Einzelheiten  mitteilen  oder  gar  in  irgend  einer  Richtung  Hoffnungen 
erweoken. 

Alles  Interesse  konzentriert  sich  naturgemäfs  auf  die  wissenschaft- 
liche Bedeutung  des  Radiumpbänomens.  Was  sind  die  Radiumstrahlen? 

J)  Dio  Verletzung  ist  also  äufserlich  einer  Brandwunde  dritten  Urades 
sehr  ähnlich. 


Kig.  5.  10  Milligramm 
Radium  'nattlrl.  OröTio; 


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■•{Ql 

Sind  es  Ätherwellen  gleich  den  strahlenden  Erscheinungen  des  Lichtes, 
der  Wärme,  der  elektrischen  Energie,  unterschieden  nur  von  diesen 
durch  ihre  Frequenz  und  Wellenlänge;  oder  sind  es  Korpuskular- 
strahlen, ähnlich  den  Kathoden-  und  Kanalstrahlen,  vielleicht  auch  den 
Röntgenstrahlen?  — Wir  müssen  uns  fürs  erste  an  das  halten,  was 


Fig.  6.  Photographische  Wirkung  der  Pechblende. 


wir  beobachten,  und  das  ist  nicht  allzuviel.  Unsere  Sinne  reagieren, 
wie  es  scheint,  direkt  gar  nicht  auf  die  Radiumstrahlung,  wir  sind  also 
von  vornherein  auf  Umwege,  Transformation,  indirekte  Heobachtungs- 
methoden  angewiesen.  Gleichsam  im  Dunkeln  tastend,  gehen  wir 
vor  und  suchen  zunächst  nach  Reagenzien,  die  uns  als  künstliche 
Sinne  dienon  sollen.  Drei  von  typischem  Wert  haben  wir  bisher  bei- 
einander, zunächst  die  photographische  Platte,  deren  Eigenschaft, 
anders  und  in  gewissem  Sinne  auch  mehr  zu  sehen  als  unser  Auge, 


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302 

der  Forschung  schon  inanohen  unschätzbaren  Dienst  geleistet  bat 
Die  photographische  Platte  verriet  die  radioaktiven  Substanzen  zuerst. 
Sie  bewährt  sich  auch  zur  Aufsuchung  der  radiumhaltigen  Peohblende. 
Wir  haben  ein  aus  Joachimsthal  in  Böhmen  stammendes  Gesteinsstück 
auf  eine  in  schwarzes  Papier  eingeschlagene  photographische  Platte 
gelegt  und  es  dort  einen  Tag  oder  noch  länger  belassen.  Wirklich 
zeigt  sich  bei  der  Entwickelung  eine  dunkle  verschwommene  Spur 
(auf  dem  Positiv  hell;  unterer  Teil  der  Abbildung  6):  die  strah- 
lende Einwirkung  der  Peohblende.  Das  Gesteinsstück  selbt  (oberer 
Teil  der  Abbildung),  dessen  Lage  während  der  Einwirkung  durch 
eine  punktierte  Linie  markiert  ist,  blieb  als  indifferent  ohne  Einflufs, 
man  erkennt  aber  an  ihm  sohon  äufserlich  die  dunkle  Bande  des 
Pechblendeganges.  Selbstverständlich  ist  das  aus  der  Peohblende 
gewonnene  hochkonzentrierte  Radiumbromid  aufserordentlich  viel 
wirksamer;  da  genügt  bereits  eino  sekundenlange  Einwirkung,  um 
eine  deutlioh  sichtbare  Spur  auf  der  Platte  hervorzurufen.  Beispiels- 
weise kann  man  in  ziemlioh  flottem  Zuge  einen  Buohstaben  auf  die 
Schicht  schreiben. 

Das  zweite  Reagens  auf  Radiumstrahlen  sind  fluoreszierende 
Substanzen,  insonderheit  das  auch  zum  Nachweis  der  Röntgenstrahlen 
dienende  Barvumplatincyanür.  Wir  bringen  im  ganz  verfinsterten 
Raume  unser  Radiumpräparat  an  den  Baryumleuchtschirm  heran  und 
sofort  erscheint  ein  kleines  Sternchen,  lichtschwach  zwar,  aber  dem 
ausgeruhten  Auge  gut  erkennbar.  Die  unsichtbaren  Radiumstrahlen 
werden  nun  zum  Teil  in  Lichtstrahlen  umgesetzt,  sie  bringen  schliefs- 
lich  aus  einiger  Entfernung  den  ganzen  Leuchtschirm  zur  Fluoreszenz. 
Das  geübte  Augo  erkennt  dann  sogar  den  Schalten  der  Finger  vor 
der  ruhig  schimmernden  Fläche,  aber,  obgleich  die  Hand  offenbar 
durchstrahlt  wird,  von  den  Knochen  keine  Spur.  Wir  werden  auf 
diesen  sonderbaren  Umstand  noch  zurückkommen.  Sogar  das  Radium- 
bromid selbst  leuohtet  eine  Wenigkeit,  wenn  auch  lange  nicht  so 
stark  wie  der  Leuchtschirm,  und  dieses  Phänomen  gab  Veranlassung, 
vom  Radium  als  von  einer  „ewigen  Lampe“  zu  reden,  wie  denn  über- 
haupt Halbwissen  und  Phantasterei  ein  liebevolles  Interesse  an  der 
Radiumerscheinung  genommen  haben.  Es  sind  aber  im  Grunde  nur 
die  Unreinigkeiten  am  Präparat,  die  in  engster  Berührung  mit  dem 
Radium  selbst  zunächst  von  den  Strahlen  getroffen  werden  und  in 
Fluoreszenzsohwingungen  geraten.  Man  denke  sich  etwa  reinstes 
pulverisiertes  Radium  mit  Barvumplatincyanür  vermischt  und  man 
hätte  ein  Leuchtpräparat  par  excellonce.  Unreines  Radiumbromid 


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303 


leuchtet  in  bläulichem  Licht,  aber  dies  Leuchten  ist  doch  t.vpisch  von 
der  allgemein  als  Phosphoreszenz  bezeichneten  Erscheinung  insofern 
verschieden,  als  es  nicht  einer  vorangehenden  Belichtung  bedarf  und 
der  Lichtton  auoh  nicht  im  Laufe  kurzer  Zeit  abklingt.  Das  von  uns 
vorgelegte  Leuohtpräparat  ruht  seit  einigen  Jahren  in  seinem  finsteren 
Etui.  Trotzdem  strahlt  es  in  unverminderter  Kraft;  es  wird  nach 
tausend  Jahren  vielleicht  noch  gerade  so  leuohten  wie  heutel 

Auf  die  Nerven  der  Netzhaut  scheint  das  Radium  direkt  nioht 
einzuwirken,  und  doch  spürt  man  einen  deutlichen,  diffusen  Licht- 
schimmer, wenn  man  das  Präparat  gegen  das  geschlossene  Augenlid 
oder  auoh  nur  seitlich  an  das  Schläfenbein  legt.  Leider  hat  man  da- 
rauihin  unseren  armen  blinden  Mitmenschen  Hoffnungen  auf  die  teilweise 
Wiedererlangung  der  Sehkraft  gemaoht  — ein  wahrhaft  gewissenloser 
Streich.  Was  wir  empfinden,  ist  die  Fluoreszenz  der  Linse,  des 
Glaskörpers,  am  Ende  auch  der  Fettmassen  im  Auge,  und  dazu  gehören 
gesunde  Netzhautnerven.  Wer  die  nicht  hat,  empfindet  auch  indirekt 
von  der  Wirkung  der  Radiumstrahlen  nichts,  und  wer  sie  hat,  aber 
einen  Fehler  an  der  Hornhaut  oder  an  der  Linse  besitzt,  dem  kann 
man  auch  nichts  weiter  geben,  als  eine  vage  Vorstellung  von  Hellig- 
keit, nicht  einmal  den  Eindruck  eines  Scbattengebildes,  da  die 
Fluoreszenz  des  Glaskörpers  jede  Kontur  unterwäscht.  Ganz  zu 
sohweigen  natürlich  von  der  schädigenden  Wirkung  der  Strahlung 
auf  den  Augapfel. 

Und  nun  das  dritte  Mittel  zum  Nachweis  der  Radiumstrahlung; 
es  ist  das  dankbarste  für  die  Demonstration.  Vor  der  Projektions- 
lampe steht  ein  uns  allen  von  den  Schulversuchen  her  bekanntes 
Qoldblattelektroskop  und  deutet  mit  den  gespreizten  Blättchen 
seinen  elektrischen  latdungszustand  an.  Kaum  erscheint  jedoch  das 
Radiumpräparat  in  der  Nähe,  so  fallen  die  Ulättohen  sofort  zusammen. 
Die  bisher  so  gut  isolierende  Zimmerluft  ist  leitend  geworden  und 
hat  die  elektrische  Ladung  beseitigt  Es  würde  uns  begreiflicherweise 
zu  weit  führen,  hier  den  besonderen  Ursachen,  gewifsermassen  der 
Mechanik  dieses  Leitendwerdens  nacbzuspüren,  wir  begnügen  uns  mit 
dem  Hinweis  auf  die  außerordentliche  Zuverlässigkeit  des  Versuohes. 
Das  Elektroskop  ist  in  der  Tat  das  feinste  Reagens  auf  das  Vor- 
handensein radiaoktiver  Substanzen,  es  hat  in  den  letzten  Jahren 
wahre  Enthüllungen  über  die  Rolle  der  Radioaktivität  im  Haushalt  der 
Natur  gebracht.  Doch  darüber  später.  Wenn  es  nur  auf  einen 
qualitativen  Versuch  ankommt,  so  kann  man  auoh  einen  arbeitenden 
Funkeninduktor  aufslellen,  dessen  Spannung  gerade  nicht  mehr  nus- 


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304 


reicht,  um  eine  Luflstrecke  zwischen  zwei  an  seine  Pole  geschlossenen 
Metallkugeln  zu  überwinden.  Hier  treten  sofort  mit  dem  Erscheinen 
des  Radiums  die  Funken  ein.  Die  Ursache  ist  dieselbe:  ein  Leitend- 
werden der  Luft.  Man  kann  auch  die  schlechte  Leitung  zu  einem 
elektrischen  Glockenspiel  durch  Bestrahlung  soweit  verbessern,  dafs 
dieses  zu  läuten  beginnt,  wobei  man  selbstverständlich  auf  die  ledig- 
lich auslösende  Energio  der  Radiuinstrahlung  hinweisen  und  der 
irrigen  Meinung  entgegentreten  wird,  als  sei  es  etwa  die  Arbeits- 
leistung des  Radiums  selbst,  die  dort  den  Klöppel  hin-  und  herführt. 
Man  kann  schliefslich  auch  — doch  das  grenzt  schon  an  Spielerei 
und  dazu  darf  keine  Demonstration  ausarten.  Sie  ist  ein  Beweisstück 
oder  ein  Wegweiser,  ein  Markstein  vielleicht  auch  im  logischen  Flusse 
der  belehrenden  Darstellung,  niemals  ein  vergnüglicher  Aufenthalt. 

Noch  immer  haben  wir  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Hadium- 
strahlen  nicht  beantwortet.  Eine  Vermutung  drängt  sich  jedoch 
förmlich  auf.  Wir  sahen  die  Radiumstrahlen  den  Baryumschirm  zu 
Leuchtschwingungen  erregen,  chemische  Verbindungen  lösen,  die  Luft 
leitfähig  machen,  Brandwunden  schlagen  — alles  dies  sind  auch 
Eigenschaften  der  Röntgenstrablen.  Sollten  die  Radiumstrahlen  am 
Ende  Röntgenstrahlen  sein?  So  ungofähr  haben  wir  damit  wirklich 
das  Richtige  getrolTen,  wir  wissen  in  der  Tat  einen  Teil  der  Radium- 
strahlung mit  nichts  anderem  als  aufserordentlich  durchdringenden 
Röntgenstrahlen  zu  vergleichen.  Seltsamerweise  sendet  aber  das 
Radiumpräparat  eine  ganze  Kollektion  von  Strahlen  aus,  die  in  ihrer 
Wirkung  recht  verschieden  sind  und  uns  durchaus  an  schon  bekannte 
Strahlen  erinnern,  da  sie  magnetisch  beeinflufst  werden.  Läfst  man 
ein  feines  Bündel  von  Radiumstrahlen  durch  den  engen  Schlitz  einer 
Bleiblende  (Fig.  7 B)  fallen  und  über  einen  Leuchtschirm  oder  eine 
photographische  Platte  hinstreichen,  wo  ihre  Spur  nachweisbar  wird, 
so  sieht  man  das  Bündel  bei  Annäherung  eines  Magneten  (S)  asym- 
metrisch verbreitert.  Ein  Teil  der  Strahlen  geht  gradlinig  fort,  es  ist 
der  röntgenstrahlenähnliche  Bestandteil  (in  der  Figur  als  ^-Strahlung 
bezeichnet),  charakterisiert  durch  grofse  Durchdringungsfähigkeit, 
chemische  Wirkung  und  Ionisierungskraft.4)  Ein  anderer  Bestandteil 
weicht  gleich  zur  Seile  ab,  ganz  im  Sinne  der  Kathodenstrahlung 
(^-Strahlen  der  Figur);  was  liegt  also  näher,  als  ihn  für  einen  rasend 
schnell  bewegten  Schwarm  negativ  geladener  Korpuskeln  zu  halten? 
Schliefslich  läfst  sich  noch  mit  einiger  Mühe  ein  dritter  Strahlenbe- 

4)  Darunter  versteht  mail  die  Fähigkeit  der  Strahlung,  die  Luft  elektrisch 
leitend  zu  machen. 


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805 


standteil  entdecken.  Er  bestellt  wahrscheinlich  aus  positiv  geladenen 
Korpuskeln,  denn  er  wird  entgegengesetzt  der  ji-Strahlung  magnetisch 
abgelenkt;  man  pflegt  ihn  als  a-Strahlung  zu  bezeichnen,')  offenbar 
ist  er  den  Kanalstrahlen  ähnlich.  Wie  das  l’risma  den  Ätherwellen- 
strahlen (Elektrizität,  Wärme,  Lioht)  verschiedene  Wege  anweist  und 
sie  nach  ihrer  äohwingungszahl  und  Wellenlänge  zu  einem  Spektrum 
nebeneinandorreiht,  so  ordnet  das  magnetisohe  Feld  die  Korpuskular- 
strahlen naoh  dem  Vorzeiohen  ihrer  elektrischen  Ladung  und  ihrer 
Geschwindigkeit  Nur  den  ungeladenen  Teilohen  gegenüber  (^-Strahlen) 
versagt  der  Magnet  und  es  bleibt  uns  unbenommen,  sie  für  Kor- 
puskeln oder  eine  unter  dem  Anprall  der  Elektronen  am  eigenen 


— -Ol  StraAUn 
yStrah/m 


Flg.  7.  Magnetische  Ablenkung  der  Radi  (uns  trabten 


Körper  des  Präparates  entstehende  Ätherwellenfolge  eigenartiger  Struk- 
tur zu  halten.  Jedenfalls  haben  diese  drei  vom  Iiadium  ausgesandten 
Strahlenarten  einige  Eigenschaften  miteinander  gemein,  andere  wieder 
nicht.  Alle  bringen,  wenn  auch  mit  sehr  verschiedener  Intensität, 
fluoreszierende  Körper  zum  Leuohten,  am  wenigstens  die  a-Strahlen, 
am  stärksten  die  ^-Strahlen.  Die  a-Strahlen  durchdringen  kaum  dünne 
Papierblältchen,  die  'i-Strahlen  penetrieren  dagegen  bedeutend  stärker, 
und  die  -[-Strahlen  sind  so  durchdringungskräftig,  dafs  sie  selbst  vor 
dicken  Bleiplatten  nur  ungern  Halt  maohen;  man  kann  bei  kräftigen 
Präparaten  ihre  Wirkung  noch  durch  einen  eisernen  Ambofs  hindurch 
nachweison.  Dafür  ist  allerdings  ihre  photographische  Wirkung  fast 
Null,  während  die  jf-  und  p-Strahlen  leicht  ihre  Spur  auf  der  Platte 
einzeichnen.  Die  Ionisierung  der  Luft  geht  vorzugsweise  von  den 
a-Strahlen  aus.  Das  von  den  Curies  entdeckte  Polonium  scheint  be- 

l)  Die  Masse  der  negativ  geladenen  Teilchen  ist  etwa  gleich  dem  2000sten 
Teil  des  Wasscrstoflatorns.  Die  positiven  Korpuskeln  sind  noch  nicht  isoliert, 
doch  dürfte  ihre  Masse  von  der  Oröfaenordnung  des  Wasserstolfatoms  seihst  sein. 

Himmel  und  Erde.  1904.  XVI.  7.  20 


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306 


sonders  mit  dieser  Strahlung  behaftet  zu  sein,  läfst  aber  bald  nach 
und  kommt  daher  in  Verdacht,  nicht  primär  radioaktiv  zu  sein,  ein 
Epitheton,  das  sich  eher  auf  das  von  Marek wald  hergestellte,  eben- 
falls a-strahlige,  Radiotellur  anwenden  läfst. 

So  würde  denn  also  das  Radium  drei  deutlioh  unterscheidbare 
Strahlensorten,  von  denen  zwei  als  Korpuskularstrahien  den  Kathoden- 
und  Kanalstrahlen  ähneln,  die  dritte  mit  den  Röntgenstrahlen  ver- 
gleichbar ist,  in  den  Raum  hinaussenden.  Doch  damit  nooh  nicht 
genug.  Es  geht  nooh  etwas  anderes  vom  Radium  aus,  und  das  ist 
allem  Ansohein  naoh  ein  relativ  träge  fliefsendes,  ebenfalls  radio- 
aktives, hauptsächlich  mit  der  i - Strahlung  auftretendes,  positiv  ge- 
ladenes Gas,  die  sogenannte  radioaktive  „Emanation“.  Sie  nimmt  unser 
gröfstes  Interesse  in  Anspruch,  denn  sie  ist  der  Erreger  der  soge- 
nannten „induzierten  Radioaktivität“.  Schleichend,  unsichtbar 
breitet  sich  die  Emanation  nach  allen  Seiten  aus,  sie  krieoht  in  alle 
Ritzen  und  heftet  sich  an  die  Gegenstände,  besonders  wenn  diese 
negativ  elektrisch  geladen  sind.  Wir  haben  ein  Geldstüok  in  die 
Nähe  eines,  die  Emanation  vorzugsweise  entwickelnden  Präparates  ge- 
bracht und  dadurch  ist  es  radioaktiv  geworden.  Es  vermag  die  Luft  zu 
ionisieren  und  sich  selbst  auf  einer  photographischen  Platte  abzubilden, 
da  das  Relief  der  Prägung,  wegen  seiner  gröfseren  Nähe,  auf  die  Schicht 
stärker  einwirkt  als  der  Grund  (Fig.  8).  Aber  diese  Radioaktivität 
ist  eben  nur  „induziert“,  sie  ist  nicht  von  Dauer,  und  schon  nach 
wenigen  Stunden  oder  Tagen  würden  wir  keine  Spur  mehr  davon 
linden.  Hierhin  gehört  auch  jene  Erscheinung,  über  die  durch  eine 
gefährliche  populär-wissenschaftliche  Tagesliteratur  ganz  falsche  Vor- 
stellungen verbreitet  sind,  an  der  sich  die  blühende  Phantasie  mehr 
als  eines  Halbwissers  Genüge  geleistet  hat.  Legt  man  ein  radio- 
aktives Präparat,  am  besten  den  schon  erwähnten  Giese Ischen 
Emanationskörper,  auf  einen  Schirm  von  Zinkblende,  so  schimmert 
der  Schirm  rings  um  das  Präparat  weifslich  auf,  aber  das  geübte 
Auge  bemerkt  bald  einen  typischen  Unterschied  gegen  das  ruhige 
Leuchten  am  Baryumplatinoyanür.  Ein  Schwarm  funkelnder  Punkte 
umspielt  den  Emanationskörper  und  huscht  beim  leisesten  Luftzug 
fort,  um  gleich  wieder  zu  erscheinen.  Die  Sidolblendc  „szintilliert* 
wie  man  sagt.  Oder  man  hat  auch  wohl  dieses  eigenartige,  von 
Crookes  entdeckte  blitzende  Leuohten  mit  dem  Anblick  des  ge- 
stirnten, von  Myriaden  funkelnder  Sternenschwärme  durchglühten 
Nachthimmels  im  Teleskop  verglichen;  kein  Bild  ist  gut  genug  ge- 
wesen, um  der  Erscheinung  zu  dienen.  Aber,  wie  gesagt,  nur  das 


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sehr  geübte  und  ganz  ausgeruhte  Auge  sieht  sie  überhaupt.  Die 
-Urania“  hat  den  Vorzug,  in  Herrn  Kranz  einen  zugleich  wissen- 
schaftlich und  künstlerisch  gebildeten  Mitarbeiter  zu  besitzen; 
er  hat  versucht,  den  Eindruck  des  Phänomens  in  Fig.  9 wieder- 
zugeben. Doch  was  ist  eine  tote  Darstellung  gegen  das  lebendige 
Funkeln  der  natürlichen  Erscheinung I — Übrigens  leuchtet  die  Sidot- 
blende  auch  bei  unsanfter  Berührung  mit  einem  Hämmerohen  oder 
unter  dem  Fingernagel,  und  wahrscheinlich  handelt  es  sioh  dabei  um 
eine  Zertrümmerung  der  kleinen 
Kristalle.  Sollte  vielleicht  auch 
unter  dem  Anprall  der  a-Strahlen 
ein  Zerfall  molekularer  Art  statt- 
finden? 

Schon  seit  geraumer  Zeit  kann 
man  sich  des  Eindruckes  nicht  er- 
wehren, als  spiele  die  Radioak- 
tivität im  Haushalt  der  Natur  eine 
hervorragende  Rolle.  Das  Elek- 
troskop  verrät  radioaktive  Eigen- 
schaften der  Luft  und  des  Wassers.6) 

Gewisse  mit  Radium  bestrahlte  Kri- 
stalle, wie  Flußspat  und  Kalkspat, 
leuchten  vorübergehend  bei  der 
Erwärmung,  sie  leuchten  auch, 
wenn  man  sie  frisch  aus  dem  Erd- 
boden holt,  aber  dann  nur  ein  ein- 
ziges Mal;  sie  mögen  also  wohl 

jahrtausendelang  im  Sohofs  der  Erde  radioaktiv  bestrahlt  worden  sein. 
Elster  und  Geitel  konnten  nachweisen,  dafs  in  Kellerräumen  oder 
auoh  in  freier  Luft  aufgespannte  und  negativ  geladene  Drähte  durch 
eine  offenbar  aus  dem  Erdboden  stammende  Emanation  stark  genug 
radioaktiv  wurden,  um  mit  ihnen  photographische  Wirkungen  ausüben 
zu  können;  sie  sahen  auch  die  im  Keller  negativ  geladene  Sidotsche 
Blende  allmählich  ins  Szintillieren  geraten  — kurz  und  gut  überall 
Anzeichen  der  Radioaktivität.  Dieser  Faktor  im  Naturgetriebe  ist  uns 
bisher  entgangen.  Wozu  er  dient,  warum  er  vielleicht  ganz  unent- 

*)  Namentlich  haben  nach  den  Untersuchungen  Strutts  die  Thcrmal- 
Wässcr  der  englischen  Stadt  Bath  Radiumspuren  gezeigt.  Da  der  Einfiufs 
radioaktiver  Körper  auf  den  menschlichen  Organismus  unverkennbar  ist,  hat 
man  scherzweise  von  diesen  Kadmtnspuren  als  dem  „Brunnengeist“  der  heifsen 
Quellen  gesprochen. 

>0* 


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behrlieh  ist  und  nun  und  nimmer  ausgeschaltet  werden  könnte,  wer 
will  das  heute  schon  sagen.  Vielleicht  stehen  die  radioaktiven  Er- 
scheinungen mit  den  Vorgängen  der  atmosphärischen  Elektrizität  im 
engsten  Zusammenhänge. 

Gegenüber  den  anziehenden,  vom  Radium  in  die  Diskussion 
hineingetragenen  wissenschaftlichen  Problemen  verschwinden  in  der 
Tat  die  mehr  praktischen  fast  ganz.  Man  hat  gemeint,  einmal  die 
Röntgenröhre  durch  das  viel  bequemere  radioaktive  Präparat  ersetzen 


Fig.  U.  Blintilliersn  der  Sidotbleode 


zu  können,  aber  wer  einmal  Vergleichsaufnahmen  mit  Ra-Strahlen  und 
X-Strahlen  nebeneinander  gesehen  hat  (vgl.  die  diesem  Aufsatz  bei- 
gegebene Tafel  Fig.  10),  wird  sofort  eines  besseren  belehrt  sein.  Die 
Form  der  Aufnahme  wäre  ja  freilich  einfach  genug:  auf  dem  Tisch 
die  Kassette  mit  der  Platte,  dann  etwa  die  Hand  und  in  einiger  Höhe 
darüber  an  einem  Stativ  das  Radiumbromid  (Fig.  11).  Aber  im 
Effekt  sind  beide  Aufnahmen  unvergleichbar.  Die  Röntgenstrahlen 
haben  genau  zwischen  Fleisoh,  Knochen  und  Metall  unterschieden, 
die  Hauptmasse  der  Radiumstrahlen  scheint  jedoch  gar  nicht  durch  die 
Hand  gegangen  zu  sein  (wirklich  sind  die  weniger  durebdringungs- 
fahigen  a und  3-Strahlen  zurückgehalten  worden);  was  aber  hindurch- 
gegangen ist  (die  -(-Strahlen),  hat  eine  so  grofse  Durchdringungskraft, 
<lafs  Dichteunterschiede,  wie  die  zwischen  Fleisch  und  Knochen,  gar 


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nicht  mehr  in  Frage  kommen.  Kaum,  dafs  noch  das  Metall  an  seinem 
tieferen  Schattenwurf  kenntlich  wird.  Selbst  wenn  also  der  gewaltige 
Unterschied  in  den  Expositionszeiten  — die  Radiumaufnahme  dauerte 
über  1 Stunde,  die  Röntgenaufnahme  kanm  1 Sekunde  — nicht  in 
Krage  käme,  könnte  von  einer  Konkurrenz  beider  Strahlenquellen 
in  diesem  Sinne  keine  Rede  sein. 

Schliefsiich  dürfen  wir  nicht  unerwähnt  lassen,  dafs  das  Radium 
auoh  dauernd  Wasserstoff  und  Sauerstoff  abgibt  und,  vielleicht  als 
Folge  davon,  Wärme.  Und  diese  Wärmeabgabe  ist  gar  nioht  so 
gering;  sie  beträgt  nach  Curie  und  Labordeetwa  113,  nach  Runge 
und  Precht  etwa  99  kleine  Kalorien,  d.  h.  H,4  kg  Radium  würden 
die  einer  Pferdestärke  entsprechende  Wärmemenge  liefern.  Sofort 
taucht  für  jeden  denkenden  Menschen  die  Frage  auf:  Wie  lange  liefert 
denn  1 kg  Radium  diese  Energie?  — Da  kommen  wir  an  den  Punkt, 
dem  man  als  das  eigentliche  Radiumrätsel  bezeichnet  hat.  Jeder  Arbeit 
leistende  Mensch  gibt  seine  Energie  aus  und  bedarf,  soll  anders  er 
in  seiner  Arbeit  nioht  naohlassen,  der  ständigen  Zufuhr  von  neuer 
Energie  in  Gestalt  von  Nahrungsmitteln;  auch  jeder  Dampfkessel  gibt 
sich  aus,  wenn  er  nicht  geheizt  wird,  und  die  Maschine  bleibt  stehen;  ein 
Licht  zehrt,  um  strahlen  zu  können,  die  in  seiner  eigenen  Körpersub- 
stanz  steckende  Energie  auf,  dann  erlischt  es;  selbst  eine  Röntgen- 
röhre bedarf  der  dauernden  Zufuhr  von  elektrischer  Energie,  um  ihre 
auch  heute  noch  so  rätselvollen  Strahlen  auszusenden.  Aber  das  Ra- 
dium arbeitet  fort  und  fort,  cs  zerhämmert  die  chemischen  Verbin- 
dungen, es  rüttelt  an  den  Molekülen  gewisser  Körper,  bis  sie  leuchten, 
es  reifst  die  festen  Verbände  der  Elektrizitätsatome  auseinander,  es 
entwickelt  Wärme,  — überall  macht  es  sich  zu  schaffen  — doch 
noch  niemand  hat  eine  Erschöpfung  an  ihm  bemerkt,  niemand  weifs, 
woher  es  seinen  Verlust  deckt,  kurz,  über  die  Nahrungszufuhr  des 
Radiums  ist  man  sich  noch  recht  im  Unklaren.  Scheinbar  schafft 
es  Energie  ans  dem  Nichts,  aber  doch  eben  nur  scheinbar.  Denn 
kein  ernster  Wissenschaftler  wird  glauben,  die  Radiumstrahlung  stehe 
im  Widerspruch  zum  Satz  von  der  Erhaltung  der  Energie,  dem 
Grundgesetz,  auf  dem  die  moderne  Naturwissenschaft  begründet  ist 
und  Sieg  auf  Sieg  errungen  hat.  Mit  blofsem  Erstaunen,  mit  Hypo- 
thesen und  Phantastereien  ist  da  niohts  gemacht,  man  forsche  wissen- 
schaftlich, messe  und  rechne.  Da  irgend  ein  Hintertürchen  absolut 
nicht  zu  finden  ist,  durch  welches  das  Radium  etwa  unbemerkt  seine 
Energie  wieder  beziehen  könne,  indem  es  vielleicht  nur  einen  Energie- 
transformator  darstellt,  so  mufs  man  einstweilen  schon  annehmen, 


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es  decke  die  Ausgabe  aus  seinem  eigenen  Körper.  Aber  wo  soll 
denn  diese  Energie  in  einem  so  winzigen  Körper  stecken,  hören  wir 
ausrufen!  Da  weifs  man  Rat.  Nach  den  Berechnungen  von 
Helmholtz  gehören  ganz  gewaltige  Energiemengen  dazu,  um  bei- 
spielsweise 1 Milligramm  Wasser  in  seine  Elektrizitätsatome  auseinander 
zu  reifsen.  Selbst  in  etwa  1000  Meter  Entfernung  würden  die  frei- 
gewordenen positiven  und  negativen  Elektrizitätsmengen  einander  noch 
mit  der  schier  unglaublichen  Kraft  von  100000  kg  anziehen.  Warum 
sollten  also  nicht  auch  aus  einem  Gramm  Radium  infolge  einer  all- 


Fi|C  II.  Anordnung  etnar  Rndlnmnnfnnlun«. 


mählichen  atomistischen  Umlagerung  ganz  gewaltige  Energiemengen  im 
Laufe  von  vielleicht  Jahrtausenden  frei  werden  können,  ein  Vorgang 
freilich,  zu  dessen  qualitativem  Nachweis  ein  Menschenleben  gar  nicht 
auBreicht.  Die  Untersuchungen  Ramsays  und  Soddys  deuten  über- 
dies auf  eine  allmähliche  Verwandlung  der  Radiumemanation  in  Helium 
hin,  ein  höchst  merkwürdiges,  staunenswertes  Faktum,  denn  Radium  ist 
ein  Element  und  Helium  auch.  Ein  Element  in  ein  anderes  verwandeln, 
heifst  aber  moderne  Alohimie  treiben,  und  ein  Forscher  von  der  Be- 
deutung und  der  Gewissenhaftigkeit  Ramsays  mag  lange  mit  sich 
gekämpft  haben,  ehe  er  diese  Entdeckung  kundgab.  Wir  wissen 
aber  vorderhand  nichts  Besseres  als:  Auch  das  Radium  mufs  ein- 
mal aufhören,  Strahlen  auszusenden  und  als  Radium  zu  existieren, 
geradesogut  wie  eine  Kerze  strahlend  ihre  Energie  verausgabt,  herab- 
brennt und  dann  keine  Kerze  mehr  ist;  aber  das  Radium  besitzt  un- 
geheure, im  festen  Zusammenhänge  seiner  atomistischen  Struktur 


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aufgespeicherte  Energievorräte  und  geht  haushälterisch  damit  um  — 
der  Proiefs  läuft  vielleicht  erst  in  Jahrtausenden  ab. 

Vieles  ist  ja  freilich  auoh  heute  noch  für  uns  an  diesem  Phänomen 
rätselhaft;  aber  die  Wissenschaft  wird  das  Radiumrätsel  lösen  und 
dann  einen  gewaltigen  Schritt  vorwärts  getan  haben  auf  dem  Wege 
zu  einer  einfachen  und  einheitlichen  Naturanschauung. 


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Über  die  Popularisierung  der  Wissenschaften. 

Von  Prof.  Pr.  B.  Weiastei»  in  Berlin. 

o JftVs  Thema  ist  ein  recht  aites  und  oft  behandeltes.  Ich  würde  e» 
iTcy  nicht  gewagt  haben,  den  Lesern  von  .Himmel  und  Erde"  eine 
nochmalige  Besprechung  zu  bieten,  wenn  nicht  ein  bestimmter 
Anlafs  hierzu  Vorlage.  Herr  Professor  Foerster,  dessen  Name  mit 
der  Wissenschaft  der  Astronomie  verwachsen  ist,  hat  im  dritten  Bandt- 
dea  vom  deutschen  Verlagshaus  Bong  & Co.  herausgegebenen  Werke» 
.Weltall  und  Menschheit“  einen  Absohnitt  „Die  Erforschung  des  Welt- 
alls“ veröffentlicht.  Dem  Charakter  des  genannten  Werltes  angemessen, 
welches  für  breite  Schichten  des  Volkes  bestimmt  ist,  mufste  auch 
diese  Arbeit  in  ieichtfafsliehem  Tone  gehalten,  populär  sein.  Es  hätte 
nahe  gelegen,  eine  Besprechung  dieser  Arbeit  in  dem  hierfür  bestimmten 
Teile  dieser  Zeitschrift  zu  liefern.  Allein  eine  solche  Besprechung, 
wenn  sie  nicht  eine  blofse  Anzeige  oder  alberne  Lobhudelei  sein  soll, 
konnte  ohne  genaueres  Eingehen  auf  den  Inhalt  und  auf  die  Frage, 
wie  der  Aufgabe  der  Popularisierung  gerecht  geworden  ist,  keinen 
Wert  haben,  und  da  hierfür  Raum  in  jenem  Teile  nicht  vorhanden 
ist,  habe  ich  mit  Billigung  der  Redaktion  die  Form  eines  Aufsatzes 
gewählt,  in  der  die  Besprechung,  wenn  sie  auch  Hauptzweck  ist,  dooh 
in  allgemeinen  Auseinandersetzungen  verwebt  werden  soll. 

Einen  Wissenszweig  populär  daratellen,  heifst:  nicht  dem  Publikum 
die  interessanten  Ergebnisse  mitteilen,  sondern  die  betreffenden  Lehren 
und  die  gewonnenen  Erkenntnisse  in  verständlicher  Sprache  vorfiihren, 
dafs  ein  Überblick  über  das  Wesen  der  betreffenden  Wissenschaft 
gewonnen  wird  und  über  ihre  Bedeutung  für  geistiges  und  praktisches 
Leben.  Gegen  diese  Forderung  wird  ganz  aufserordcntlioh  oft  und  viel 
gesündigt.  Es  erscheinen  jahraus  jahrein  populäre  Abhandlungen  und 
Bücher,  deren  Inhalt  fast  wertlos  ist  und  die  sogar  oft  genug  Anlafs 
zur  Verbreitung  ganz  schiefer  Ansichten  und  selbst  falscher  Behaup- 
tungen geben.  Es  scheint,  als  ob  manche  ihre  Hauptaufgabe  bei  Ab- 


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fassung  eines  populären  Werkes  darin  sehen,  mit  möglichst  vielen 
Worten  möglichst  wenig  zu  sagen.  Neue  Aussichten,  die  ein  Forscher 
nur  andeutet,  werden  mit  breitem  Pinsel  und  grellen  Farben  hingemalt, 
als  handelte  es  sich  um  Darstellung  sicher  durchforschten  Landes. 
Behauptungen,  deren  Bereich  die  Wissenschaft  eng  umschränkt,  werden 
ins  Ungemessene  vertrieben  und  bei  Mangel  der  Kenntnisse,  die  ihre 
Grundlage  bilden,  gänzlich  falsch  angewendet.  Schuld  an  solcher  Ent- 
artung der  populären  Darstellung  der  Wissenschaften  sind  zu  sehr 
grofsem  Teile  die  Zeitungen  und  die  niohlfachwissenschaftliohen  Zeit- 
schriften. Es  ist  kaum  zu  glauben,  welch  ein  Unsinn  manchmal  dem 
Publikum  in  Form  des  wissenschaftlichen  Berichtes  aufgetischt  wird. 
Ich  erinnere  mich  eines  Falles,  in  welohem  in  einer  sehr  angesehenen 
Zeitung  ein  Referat  Uber  die  Darstellung  flüssigen  Sauerstoffs  gegeben 
wurde.  Das  Referat  war  einer  französischen  Veröffentlichung  ent- 
nommen und  dort  war  gesagt,  dafs  der  betreffende  Experimentator  zur 
Darstellung  des  Sauerstoffs  sich  des  potasse  chlorst  bedient  hätte.  Flugs 
übersetzte  der  Herr  Berichterstatter  potasse  mit  Pottasche,  und  da  er  zwar 
das  Wort  Chloral  oft  genug  gehört  hatte,  mit  dem  chlorst  aber  nichts 
anzufangen  wufste,  hielt  er  das  t am  Schlufs  für  einen  Druokfehler  statt 
1,  und  kam  so  zu  der  geistvollen  Behauptung,  der  Sauerstoff  wäre  aus 
Pottasche- Chloral  hergestellt  worden.  Eine  solohe  Übersetzung  hätte 
natürlich  nicht  geschrieben  werden  können,  wenn  der  betreffende  Be- 
richterstatter auf  dem  Wissensgebiete  der  Chemie  nicht  so  ganz  und 
gar  kenntnielos  gewesen  wäre.  Das  ist  kein  vereinzelter,  sondern  nur 
ein  typischer  Fall;  wer  sich  Mühe  geben  wollte,  unsere  Zeitungen  und 
Zeitschriften  in  ihren  wissenschaftlichen  Mitteilungen  etwas  genauer 
zu  prüfen,  würde  eine  wunderliohe  Blumenleso  halten. 

Nun  ist  allerdings  nioht  zu  verkennen,  dafs  die  Popularisierung  der 
Naturwissenschaften  mit  besonderen  Schwierigkeiten  verbunden  ist. 
Es  erfordert  keine  Dbermäfsigen  Kenntnisse,  den  Inhalt  eines  theologi- 
schen Werkes  in  sich  aufzunehmen.  Selbst  juristischen  und  national- 
ökonomischen  Auseinandersetzungen  zu  folgen,  ist  nicht  allzuschwer. 
Überhaupt  gehören  hierher  alle  rein  geistigen  Wissenschaften, 
sowie  die  erzählenden  und  diejenigen,  welche  sich  auf  eine  geringe 
Zahl  von  Gegenständen  beziehen,  die  jedermann,  wenn  auch  nicht  dem 
Wesen,  so  dooh  der  Sache  nach  gelänfig  sind.  So  paradox  es  viel- 
leicht klingt,  so  möchte  ich  dooh  die  Behauptung  aufstellen,  dafs  man 
die  Sprache  schlecht  beherrscht,  wenn  man  nicht  selbst  ein  mathe- 
matisches Werk  ohne  Formeln  und  Figuren  zu  schreiben  vermag. 
Kant  hat  das  in  seiner  „Allgemeinen  Naturgeschichte  und  Theorie 


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des  Himmels“  getan.  Allein  mit  den  eigentlichen  Naturwissenschaften 
ist  es  anders  bestellt.  Sie  erfordern  eine  Menge  von  Sonderkennt- 
nissen, die  man  nur  nach  langem  Studium  erhält,  und  diese  Sonder- 
kenntnisse stehen  vielfach  vereinzelt  nebeneinander,  so  dafs  das  Ge- 
dächtnis ungemein  beschwert  wird.  Dazu  kommt,  dafs  die  Natur- 
wissenschaften sich  viele  Namen  haben  schaffen  müssen,  welche  für 
ganze  Ersoheinungsklassen  stehen,  vom  nicht  hinreichend  Unterrichteten 
aber  leicht  als  Namen  für  Gegenstände  aufgefafst  und  weiteigegeben 
werden.  Solche  Namen  sind  z.  B.  elektrischer  Strom,  Energie.  Mancher 
Schriftsteller,  der  in  einem  populären  Werke  mit  diesen  Namen  wie  mit 
den  alltäglichsten  Dingen  herumarbeitet,  würde  in  tödliche  Verlegen- 
heit geraten,  wenn  er  sagen  sollte,  was  er  eigentlich  unter  ihnen  ver- 
steht. Und  diese  Namen  sind  nicht  einmal  zu  den  eigentlichen  soge- 
nannten termini  teohnioi  zu  rechnen,  davon  gerade  die  Naturwissen- 
schaften fast  eine  Legion  besitzen,  und  mit  denen  man  bekannt  sein 
mufs,  wenn  man  die  Faohveröffentlichungen  verstehen  will.  Aber 
könnten  nicht  diese  Faohveröffentlichungen  selbt  verständlicher  gehalten 
sein?  Gewifs!  Der  Fachmann  verlangt  das  aber  nicht  und  braucht  es 
nicht.  Zwischenwerke  zwischen  reiner  Wissenschaftlichkeit  und  all- 
gemeiner Verständlichkeit  werden  zwar  geschrieben,  verkaufen  sich 
jedoch  schlecht,  weil  sie  der  Fachmann  wegen  Weitläufigkeit,  das 
Publikum  wegen  doch  nicht  hinreichender  Verständlichkeit  ablehnt. 

Es  ist  oft  behauptet  worden,  dafs  dem  Publikum  überhaupt  nur 
an  den  sogenannten  interessanten  Ergebnissen  der  Wissenschaft  liegt, 
dafs  es  ärgerlich  diejenigen  Seiten  überechliigt,  die  im  höheren  Sinne 
des  Wortes  belehrend  sein  sollen ; wie  in  manchen  Gesellschaften, 
wenn  es  sioh  nicht  gerade  um  Vertiefung  eines  Klatsohes  handelt,  es 
zum  guten  Ton  gehört,  das  Gesprächsthema  möglichst  oft  zu  ändern 
damit  ja  keine  Unterhaltung  herauskommt,  welche  vom  Zuhörer 
geistige  Anstrengung  oder  gar  Äufserung  geistiger  Tätigkeit  er- 
fordert. Das  mag  und  wird  für  einen  Teil  des  Publikums  der  Fall 
sein.  Aber  wer  zwingt  einen,  für  diese  Leute  zu  schreiben,  für  welche 
selbst  das  geistig  ärmlichste  Mahl  zu  schade  ist?  Dagegen  gibt  es 
immerhin  eine  grofse  Zahl  von  Menschen,  die  etwas  mehr  von  einer 
Wissenschaft  kennen  lernen  will  als  die  Modeerscheinungen,  die  viel- 
fach sogar  hohen  geistigen  Hunger  hat.  Wenige  von  den  populären 
Büchern,  mit  denen  der  Markt  überschwemmt  wird,  sind  geeignet, 
diesen  geistigen  Hunger  zu  stillen;  weitaus  die  meisten  bieten  leeren 
Schaum  statt  guter  Kost,  manche  nur  Kieselsteine. 

Ein  populäres  Werk,  wenn  es  nicht  rein  erzählend  ist,  mufs 


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seinen  Gegenstand  im  inneren  Wesen  erfassen  und  behandeln. 
Gegen  diesen  Satz  wird  am  meistens  gefehlt,  und  nicht  blofs  in  populären 
Werken;  selbst  streng  wissenschaftliche  Werke  lassen  oft  genug  über 
das  Wesen  dessen,  was  vorgetragen  wird,  im  Unklaren.  Solche  Werke 
belasten  das  Gedächtnis  aufserordentlich,  weil  die  Warte  fehlt,  von 
der  aus  das  Ganze  zu  überblioken  ist,  und  diese  wird  eben  von  den  letzten 
Grundlagen  der  Wissenschaft  und  von  ihrem  besonderen  Zweok, 
welche  ihr  Wesen  ausmachen  und  die  ganze  Darlegung  und  Ent- 
wickelung ihrer  Lehren  ordnen,  gegeben.  Die  Wissenschaften 
schreiten  in  der  Regel  vom  Einzelnen  zum  Allgemeinen  fort;  selbst 
von  genialen  Naturen  werden  sie  auf  Grund  von  Einzelheiten  gefördert 
oder  geschaffen,  nur  dafs  diesen  eine  gerioge  Zahl  solchor  Einzel- 
heiten genügt,  um  das  Ganze  divinatorisch  zu  erkennen.  Ob  man  päda- 
gogisch die  induktive  oder  deduktive  Methode  zu  wählen  hat,  hängt 
vom  Lernenden  und  vom  Lehrer  ab,  wohl  auoh  vom  betreffenden 
Wissensgebiete.  Hier  lassen  sich  nur  Durchschnittsregeln  geben,  die 
sich  naturgemäfs  wesentlich  nach  den  Lernenden  zu  richten  haben 
und  sich  auch  richten.  In  populären  Werken,  die  dooh  der  Haupt- 
sache naoh  für  einen  Kreis  bereits  geistig  entwickelter  Leser  berechnet 
sind,  scheint  mir  der  Vortrag  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen  der 
zweckmäßigere.  Er  stellt  den  Leser  sofort  auf  einen  höheren  Stand- 
punkt, so  daß  er  mehr  seinen  Lehrer  begleitet  als  ihm  folgt.  Er  ist 
auch  für  den  Leser,  der  doch  bald  wissen  möchte,  wo  das  hinaus  will, 
nicht  so  ermüdend,  wie  wenn  er  einen  Fuß  naoh  dem  andern  in  die 
Schrittspuren  seines  Führers  setzen  muß,  wobei  er  notwendig  immer 
auf  diese  Spuren  zu  achten  hat  und  so  weder  Umgegend  noch  die 
Ferne  sehen  kann.  Daß  das  nicht  immer  angängig  sein  wird,  will 
ich  zugeben,  aber  wenigstens  darf  der  Leser  nicht  zu  lange  über  das 
Wesen  der  Sache  im  Unklaren  gelassen  werden. 

Eine  zweite  Forderung  für  populäre  Werke  ist  möglichst  klare 
Darlegung  des  Hand  werk  Bmaterials,  wozu  namentlich  auch  die  zu 
benutzenden  Kunstausdrüoke  gehören.  Ich  würde  es  für  ganz  ver- 
kehrt halten,  wenn  jemand  in  dem  Wunsche,  möglichst  populär  zu 
sein,  dieses  Handwerksmaterial  verstecken  wollte.  Gewisse  termini 
technici  sind  unumgänglich,  wenn  die  Ausdrucksweise  nioht  sehr 
schleppend  sein  soll.  Trifft  der  Leser  sie  anderweitig,  so  weiß  er 
ihre  Bedeutung  nicht.  Anderseits  müssen  diese  termini  genau  ihrer 
Bedeutung  nach  angegeben  sein,  damit  der  Leser  nicht  mit  ihnen  wie 
so  mancher  mit  den  Fremdworten  umgeht.  Auch  dagegen  wird  recht 
oft  gesündigt,  vielleicht  in  den  exakten  Wissenschaften  weit  weniger 


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als  in  den  philosophischen  und  ästhetischen,  wo  der  Sinn  manoher 
Auseinandersetzung  undurchdringlich  ist,  weil  der  Herr  Verfasser  es 
verschmäht  hat,  anzugeben,  was  er  mit  den  besonderen  Worten  hat 
ausdrücken  wollen.  Meist  sind  diese  Worte  lateinisoh  oder  griechisch 
gebildet,  die  Übersetzung  soll  selbstverständlich  die  Bedeutung  geben. 
Aber  wir  sind  schon  bei  vielen  Worten  unserer  eigenen  Muttersprache 
im  Zweifel,  wie  wir  sie  deuten  sollen,  weil  sie  mehrere  Deutungen  zu- 
lassen. Aufserdem  wandelt  sioh  ja  die  Bedeutung  der  Worte  mit  der 
Zeit.  Hierüber  habe  ich  mich  an  einer  anderen  Stelle  in  dieser  Zeit- 
schrift eingehender  ausgelassen. 

Sodann  soll  ein  populäres  Werk  klar  geschrieben  sein.  Das 
verlangt  vor  allem,  dafs  der  Verfasser  selbst  sein  Thema  voll  beherrscht. 
Es  ist  schon  bemerkt,  wie  wenig  das  oft  der  Fall  ist.  Es  ist  freilich 
kein  Buch  so  sohlecht,  dafs  man  aus  ihm  nicht  einiges  lernen  konnte. 
Des  geringen  wegen  kauft  aber  der  Leser  das  Buch  nicht,  und  ein 
Verfasser,  der  nicht  über  seinem  Thema  steht,  wird  seinen  Leser 
einige  Vokabeln  aus  der  Sprache  der  betreffenden  Wissenschaft  lehren, 
nicht  aber  diese  Sprache  selbst.  Das  ist  so  klar,  dafs  hierüber  kein 
Wort  verloren  werden  sollte. 

Nun  aber  kommt  eine  Forderung,  die  dem  Gebiete  des  Geschmacks 
angehört  und  sogar  namentlich  bei  Fachleuten  Anstois  erregt.  Ein 
populäres  Werk  soll  gut  geschrieben  sein.  Den  Herren  der  Wissen- 
schaft wird  oft  vorgeworfen,  dafs  sie  das  nicht  verstehen,  sondern 
ihre  Gelehrsamkeit  faustdick  in  schweren,  oft  nicht  zu  entwirrenden 
Sätzen  vortragen.  Dieser  Vorwurf  traf  früher  mehr  zu;  gegenwärtig 
beherrschen  auch  die  Gelehrten  die  Sprache  gut  Ich  will  das  Deutsch 
der  Zeitungen  nicht  übermäfsig  loben,  man  liest  oft  genug,  selbst  in 
besseren  Blättern,  liederlichst  gebaute  Sätze.  Aber  man  wird  den 
Zeitungen  nicht  bestreiten  können,  dafs  sie  im  allgemeinen  in  auffallend 
klarer  und  guter  Sprache  geschrieben  sind  und  dafs  sie  nicht  wenig 
dazu  beigetragen  haben,  unsere  Spraohe  durohzukneten  und  durchzu- 
arbeiten und  mit  weit  verbreiteten  treffenden  Ausdruoksmitteln  zu 
bereichern.  Sie  sind  eben  für  die  weitesten  Schichten  des  Volkes  be- 
stimmt und  müssen  sich  verstäudlich  machen.  Das  abstofsend 
Banausische  so  vieler  unserer  Tagesblätter  liegt  am  wenigsten  in  ihrer 
Sprache,  die  im  Gegenteil  selbst  in  kleinsten  Käseblättohen  immer 
noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine  gewählte  ist,  sondern  in 
ihrem  Inhalt,  der  dem  jämmerlichsten  GesellBohaftsklatsch  und  den 
schauerlichen  Nachtseiten  des  Menschen  so  breitspurig  gewidmet  ist 


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Der  sprachliche  Einflurs  der  Zeitungen  ist  nicht  zu  unterschätzen,  und 
er  hat  sich  zweifellos  auch  in  der  Schreibweise  unserer  Gelehrten 
geltend  gemaoht  Su  abstrakt  geschriebene  Bücher,  wie  sie  frühere 
Generationen  haben  verdauen  müssen,  kommen  nicht  mehr  auf  den 
Markt.  Viele  Gelehrte  sohreiben  sogar  eher  ein  elegantes  Deutsch. 
Der  Forderung  der  guten  Sprache  wird  also  gegenwärtig  im  allge- 
meinen genügt.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  murs  die  Spraohe 
auch  lebhaft  sein.  Wir  haben  doch  Ausrufungszeichen,  Frage- 
zeichen und  Gedankenstriche,  warum  sie  scheuen?  Etwa  um  die 
klassische  Kühe  der  Antiken  zu  wahren?  Aber  den  antiken  Schrift- 
stellern ist  es  gar  nicht  eingefallen,  auf  diese  vorzüglichen  Mittel, 
das  Interesse  zu  erhalten,  zu  verzichten.  Wer  das  behauptet,  hat 
weder  Demosthenes,  noch  Tliukydides  gelesen  und  kennt  seinen 
Platon  herzlich  wenig.  Es  sind  auch  nicht  gerade  die  angenehmsten 
Sohriften  Goethes,  in  denen  die  olympische  Kühe  waltet  und  milde 
Ausdrücke  herrschen,  während  dagegen  seine  italienischen  Keisen, 
von  dem  abgedroschenen  Beispiel  des  Werther  zu  schweigen,  Gluten 
und  Flammen  im  Herzen  entfachen.  Zur  Lebhaftigkeit  der  Spraohe 
gehört  auch  die  Einflechtung  guter  Bilder,  die  übrigens  auch 
an  sich  nicht  zu  entbehren  sind,  wenn  eine  körperliche  Welt  in 
Worten  und  doch  vorstellbar  geschildert  -werden  soll.  Etwas  zuviel 
Phantasie  bei  der  Wahl  von  Bildern  schätze  ich  in  populären  Werken 
immer  noch  höher  als  zu  dürftiges  Ersinnen,  denn  der  Mensch  kann 
einmal  die  Welt  des  Soheinos  nicht  entbehren  und  freut  sich  ihrer 
mannigfaohen  Gestaltung. 

Nun  hat  man,  fortgerissen  durch  dio  aufserordentlichen  Fort- 
schritte auf  dem  Gebiete  der  graphischen  Künste,  angefangen,  in  die 
Bücher  eine  solohe  Fülle  von  wirklichen  Bildern  hineinzutragen,  dafs 
das  Wortbild  fast  enlbohrt  werden  kann.  Ich  kommo  hier  auf  einen 
etwas  wunden  Punkt  in  unserer  Buohentwiokelung  zu  sprechen.  Die 
Abbildungen  beginnen  den  Text  zu  überwuchern,  und  es  besteht 
dringende  Gefahr,  dafs  unsere  Bücher  zu  Bilderbüchern  berabsinken. 
Wir  gehen  diesem  Ende  anscheinend  mit  Riesenschritten  entgegen. 
Selbst  für  Bücher  über  darstellende  Kunst  kann  das  nicht  erwünscht 
sein.  Ein  Buch  und  eine  Bildersammlung  sind  zwei  durchaus  ver- 
schiedene Gegenstände;  in  der  Tat  werden  sie  ja  auch  vielfach  getrennt 
gehalten,  man  gibt  einen  Band  Text  und  einen  Band  Abbildungen 
oder  Tafeln.  Aber  gerade  bei  den  wissenschaftliche  Fragen  be- 
handelnden Werken  geschieht  das  nicht,  und  kann  das  auch  nicht 
geschehen,  weil  ja  die  Bilder  — nicht  wie  in  der  Kunst  — nur 


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318 


Nebensache  sind.  Sie  sollten  also  auch  hier  Nebensache  bleiben  und 
nicht  dem  Worte  den  Raum  verkümmern. 

Herr  Professor  Fo erster  hat  dem  Verfasser  gegenüber  öfter 
die  Befürchtung  ausgesprochen,  ob  nicht  in  seinem  Werke  in  bezug 
auf  Abbildungen  etwas  zu  viel  getan  sei.  Der  Befürchtung  wäre 
vielleicht  zuzustimmen,  wenn  nicht  der  grofse  Gelehrte  in  der  Lage 
gewesen  wäre,  über  den  Umfang  des  Textes  selbst  bestimmen  zu 
dürfen  und  sich  ihn  nioht  verkümmern  zu  lassen.  Aufserdem,  was 
würde  es  nützen,  sioh  der  Modernen  entgegenzustellen;  dieses  zarte 
Wesen  hat  einen  ehernen  Schritt,  mit  dem  sie  vielfach  gute  Einsicht 
und  beste  Gewohnheit  niedertritt  Die  Abbildungen  in  dem  Werke, 
das  uns  hier  beschäftigt,  sind  dreierlei  Art:  erläuternd,  historisch,  dar- 
stellend. Über  die  Abbildungen  der  ersten  Art  ist  niohts  zu  sagen,  sie 
sind  notwendig,  um  das  Wort  zu  unterstützen;  es  ist  aber  bemerkens- 
wert, dafs  gerade  ihrer  die  geringste  Zahl  vorhanden  ist  In  der  Tat 
braucht  auoh  der  Herr  Verfasser  nioht  viel  seine  eindringlichen 
Mitteilungen  zu  erläutern.  Hier  entscheidet  die  Darstellungskunst  des 
Forschers,  die  Bilder  stecken  schon  in  den  Worten  und  müssen  nur 
hin  und  wieder  aus  dem  Text  inB  Weifse  hinüberfliefsen.  Bei  weitem 
die  meisten  der  Abbildungen  sind  historischer  Bedeutung.  Von  diesen 
stehen  uns  menschlich  nahe  die  Antlitze  der  Fürsten  in  der  astrono- 
mischen Wissenschaft  Wir  sehen  den  behäbigen  Patrizier  Hevel,  die 
langgezogenen  Züge  des  Kopernikus  mit  dem  wie  betend  halb- 
geöffneten Mund,  Tycho  Brahe  mit  dem  Gesichtsausdrucke  des  etwas 
junkerlichen  Adligen  und  dann  Kepler,  von  den  Genannten  wohl 
der  genialste,  und,  wie  sich’s  für  das  Genie  schickt,  ein  Mann  des 
Unglücks  und  der  Entbehrung.  Ptolemäus  habe  ich  übergangen; 
in  dem  auch  nur  als  „angeblich“  bezeichneton  Porträt  sieht  der  Herr 
aus,  wie  wenn  er  nicht  die  Feder  des  Gelehrten  gesohwungen  hätte, 
sondern  ein  Schwert  als  ehrenfestor  Ritter.  Wir  haben  dann  die 
Gewaltigen  Galilei  und  Newton,  den  grofsen  Huyghens  und  auf 
einer  besonderen  Tafel,  mit  Beobachtungen  neben  ihrem  Herrn  Gemahl 
beschäftigt,  die  anscheinend  sehr  ansehnliche  Gattin  He v eis.  Naoh 
einer  Dame  sollte  es  eigentlich  nichts  Erwähnenswertes  mehr  geben,  aber 
Herschel,  Alexander  v.  Humboldt  und  Bonpland,  Schiaparelli 
können  nicht  gut  übergangen  werden.  Es  hiefse  trockene  Gelehrsam- 
keit allzusehr  zur  Schau  tragen,  wenn  man  sich  über  solche  Abbildungen 
nicht  freute;  am  Ende  interessiert  uns  doch  nicht  blofs  die  Tat,  sondern 
auch  der,  welcher  sie  vollbracht  hat.  Warum  soll  es  in  der  Wissen- 
schaft anders  sein  als  auf  anderen  Gebieten?  Es  kann  nur  willkommen 


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geheifsen  werden,  wenn  auch  im  Fachwissenschaftliohen  dem 
Menschlichen  mehr  Hechte  eingeräumt  werden.  Unsere  ganze  Zeit- 
richtung geht  auf  das  Menschliche,  und  das  ist  gut,  denn  da  ist  am  meisten 
und  segensreichsten  zu  wirken.  Von  dem  Herrn  Verfasser  des  in 
Frage  stehenden  Werkes  ist  bekannt,  wie  sehr  ihn  die  rein  mensch- 
lichen Probleme  beschäftigt  haben  und  noch  beschäftigen. 

Die  anderen  historischen  Abbildungen  veransohau liehen  frühere 
Apparate  und  Einrichtungen  Tür  Himmelsbeobachtungen:  sie  haben 
wissenschaftliches  Interesse,  insofern  sie  zugleich  die  einfachen  Be- 
obachtungsmethoden erläutern,  aber  auch  kulturelles  für  den  Stand 
der  Technik  früherer  Jahrhunderte  und  fremder  Völker.  Kulturelle 
Bedeutung  ist  auch  den  Abbildungen  zuzuschreiben,  welche  frühere 
Vorstellungen  über  Himmelserscheinungen  und  Welten  bau  betreffen. 
Hier  kommen  die  Mythologie  und  Astrologie  zu  ihrem  Recht,  und 
wenn  man  daran  denkt,  dafs  der  Ägypter  seine  Weltansicht  mehr  als 
4000  Jahre  für  richtig  gehalten  hat,  wir  dagegen  unseren  Weltbau 
vor  kaum  400  Jahren  errichtet  haben  und  nicht  darauf  schwören 
können,  wie  die  Zukunft  ihn  weiter  bilden  wird,  so  wäre  es  eigentlich 
Überhebung,  die  Meinungen  der  alten  Kulturnationen,  deren  Tüchtig- 
keit wir  aus  den  Ausgrabungen  mehr  und  mehr  bewundern  und  an- 
staunen lernen,  als  altes  Gerümpel  zu  betraohten  und  in  einem  um- 
fassenderen Werke  unberücksichtigt  zu  lassen.  Die  dritte  Klasse  von 
Abbildungen  ist  für  die  Belehrung  die  wichtigste.  Die  Darstellung  von 
Sonne,  Mond,  Planeten,  Kometen,  meteorischen  Erscheinungen  u.  s.  w. 
darf  in  einem  solchen  Werke  gar  nicht  fehlen.  Dafs  manche  dieser 
Darstellungen  durch  landschaftliche  Zugabe  interessant  gestaltet  sind, 
wer  kann  das  splitterriohternd  tadeln? 

Ich  habe  mich  bei  den  Abbildungen  in  dem  Foersterschen  Werke 
lange  aufgehalten  und  sie  gern  analysiert,  weil  ich  ein  Bedenken  zer- 
streuen wollte,  welches,  wie  bemerkt,  der  Herr  Verfasser  selbst  gehabt 
hat.  Wahrscheinlich  werden  sich  sehr  viele  darüber  wundern,  dafs  das 
nötig  gewesen  sein  sollte;  ich  glaube  sogur,  dafs  nur  wenige  diesen 
unterhaltenden  und  belehrenden  Schmuck  nunmehr  ontbehren  möchten. 
Über  den  Text  zu  sprechen,  steht  mir  nur  soweit  zu,  als  mir  die 
Materie  selbst  nicht  fremd  ist  und  als  es  die  Form  betrifft.  Mir  scheint 
in  dem  Werke  nichts  übergangen,  was  die  rechnende,  beobachtende 
und  beschreibende  Astronomie  betrifft.  Der  sohöne  erste  Satz  der  Ein- 
leitung lautet:  „Es  soll  an  dieser  Stelle  versucht  werden,  weiten  Kreisen 
eine  möglichst  einleuchtende  Vorstellung  von  der  grofsen  astronomi- 
schen Forsohungs-  und  Gestaltungsarbeit  zu  geben,  durch  welche  die 


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Menschheit  bis  zu  der  gegenwärtigen  Stufe  ihrer  Auffassung  vom  Welt- 
all und  von  der  erhabenen  Gesetzmäfsigkeit  seiner  Erscheinungen  ge- 
langt ist.“  Oie  Aufgabe  ist  in  wenigen  Worten  klar  und  einfach 
umschrieben.  Persönlich  habe  ich  vom  Weltall  eine  etwas  andere 
Auffassung  als  sie  im  Werke  niedergelegt  ist,  denn  mich  dünkt,  dafs 
die  starre  gegenseitige  Gebundenheit  der  Weltkörper  sich  nicht  wird  auf- 
recht erhalten  lassen,  und  dafs  man  zur  Anerkennung  von  Individualitäten 
gelangen  wird.  Aber  das  kommt  nicht  in  Betracht  Die  Hauptsache 
ist  die  verblüffende  Einheitlichkeit  der  Welt  bis  in  dio  tiefsten  bisher  er- 
forschten Tiefen,  und  das  leitet  auch  die  Gruudstimmung  des  Werkes. 
Man  kann  sich  manchmal  darüber  ärgern,  dafs  die  Wissenschaft  sich 
so  erpicht  darauf  zeigt,  alles  möglichst  auf  das  Alltägliche  zurückzu- 
führen,  aber  etwas  anderes  würden  wir  auoli  nicht  erfassen  können, 
denn  für  Märchen  und  Mythen  sind  wir  nicht  mehr  zugänglich. 

Von  dem  Inhalt  des  Werkes  eine  Übersicht  zu  geben,  darf  ich  unter- 
lassen; es  handelt  sich  hier  nicht  um  eine  magere  Aufzählung.  Die 
Darstellungskunst  des  Verfassers  hat  gestattet,  Fragen  selbst  fast  rein 
fachwissenschaftlichen  Charakters  zu  behandeln.  An  populären  Büchern 
über  Astronomie,  die  ja  seit  jeher  die  populärste  Wissenschaft  ge- 
wesen ist,  hat  es  zu  keiner  Zeit  gefehlt  und  fehlt  es  auch  gegen- 
wärtig niolit.  Wus  diesem  Werke  den  Vorrang  sichert,  ist  der  hohe 
Standpunkt,  von  dem  es  geschrieben  ist  Dafs  der  Verfasser  infolge- 
dessen erheblichen  Gedankenanteil  vom  Leser  verlangt,  ist  sein  gutes 
Hecht.  Ein  Autor,  der  seine  Leser  ohne  Gegenleistung  läfst,  hat  ein 
Schulbuch  geschrieben;  und  jedes  nach  seiner  Art.  Einen  Mangel  des 
Werkes  möchte  ich  nicht  unerwähnt  lassen;  es  ist  in  einem  Zuge  ge- 
schrieben, ohne  Teilung  in  Kapitel  oder  Abschnitte,  nur  Nebenschriften 
kennzeichnen  den  Inhalt  der  Abschnitte.  Bei  der  streng  eingehaltenen 
Methode,  welche  sich  befolgt  findet,  wäre  es  vielleicht  möglich  ge- 
wesen, den  Satz  mehr  zu  unterteilen.  Warum  das  nicht  geschehen 
ist,  weirs  ich  nicht,  aber  das  Auge  vermifst  die  Kuhepunkte,  die  ihm 
abschnittliche  Überschriften  gewähren,  und  ich  fürchte,  dafs  auch  das 
Lesen  dadurch  etwas  erschwert  ist,  denn  dem  Auge  folgt  der  Geist 
und  auch  dieser  harrt  gern  an  manchen  Stellen  und  kann  dann  zu- 
rückschauen. 

Was  endlich  die  Sprache  anbetrifft,  so  ist  diese  rein  individuell 
zu  bemessen.  Der  Herr  Verfasser  schreibt  einen  so  bestimmten  Stil, 
dafs  er  au  zwei  Sätzen  sofort  zu  erkennen  ist.  Auch  das  ist  sein 
gutes  Hecht,  und  es  ist  alles  bei  grofsem  Reichtum  der  Bilder  und 
Worte  klar  und  anschaulich. 


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Als  Herr  Professor  Foerster  mit  mir  von  diesem  Werke  zum 
ersten  Male  sprach,  sagte  er,  er  hätte  den  Wunsch  gehabt,  einmal  von 
recht  vielen  gelesen  zu  werden,  denn  die  faohwissensohaftlichen  Ver- 
öffentlichungen hätten  einen  gar  kleinen  Leserkreis.  Ich  bin  der  Über- 
zeugung, dafs  sein  Wunsoh  in  reichem  Mafse  erfüllt  ist,  und  das  liegt 
auch  im  Interesse  der  Wissenschaft  und  ihrer  Verbreitung. 


Himmel  und  Erde.  1904.  XVI.  7. 


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Der  Ackerboden  und  seine  Geschichte. 

Von  A.  P.  Netschajew. 

Aus  dem  Russischen  übersetzt  von  S.  Taebulok-Zürich. 

(Schlufs.) 

• (j;  ndlich  wurde  in  neuester  Zeit  atioh  die  hervorragende  Bedeutung 
.ä  ^ der  Mikroorganismen  erkannt,  welche  im  Boden  die  mannigfallig- 
^ sten  physikalisch-chemischen  Prozesse  vollbringen.  So  wird  z.  B. 
einer  der  wichtigsten  Bestandteile  des  Bodens,  der  Salpeter,  der 
Träger  des  für  die  Pflanzen  unentbehrlichen  Stickstoffs,  durch  die 
Lebenstätigkeit  eines  besonderen  Mikroorganismus  aus  Ammoniak  und 
Ammoniak  Verbindungen  erzeugt  Die  biologische  Natur  des  Vorgangs 
der  Salpeterbildung  (Nitrifikation)  wurde  1877  durch  Scbliising  und 
Münz  aufgeklärt,  und  die  nitrifizierenden  Bakterien  erhielten  den 
Namen  Nitrobakterien.  Man  hat  Gründe,  anzunehmen,  dafs  dieser 
Mikroorganismus  sogar  die  Fähigkeit  besitzt,  elementaren,  aus  der 
Luft  aufgenommenen  Stickstoff  in  Nitrate  umzu wandeln.  Wenigstens 
wurde  selbst  auf  völlig  nackten  Felsen  die  Anwesenheit  von  Nitro- 
bakterien konstatiert.  Indem  sie  hier  in  ungeheurer  Zahl  auftreten 
und  in  die  feinsten  Felsspalten  eindringen,  üben  sie  wahrscheinlich 
dieselbe  Wirkung  aus  wie  die  Flechten  und  Moose.  Es  wurde  die 
Vermutung  ausgesprochen,  das  Faulhorn  im  Berner  Oberlande  werde 
fast  ausschließlich  durch  Mikroorganismen  zerstört  Es  ist  wohl  mög- 
lich, dafs  der  Zerfall  und  die  Auflockerung  bedeutender  Gesteins- 
massen der  unsichtbaren  Arbeit  der  Nitrobakterien  zuzuschreiben  ist 
Auch  die  Tiere  nehmen  einen  sichtbaren  Anteil  an  den  Vor- 
gängen der  Bodenbildung.  Besonders  beachtenswert  ist  die  Tätigkeit 
der  Regenwürmer,  die  zuerst  von  Darwin  untersucht  wurde.  Die 
Regenwürmer  durchsetzen  den  Boden  mit  unzähligen  langen  Gängen, 
verschlucken  Erde,  lassen  sie  durch  ihren  Verdauungskanal  passieren 
und  werfen  sie  dann  an  die  Oberfläche  in  Form  von  ovalen  oder 
kugelförmigen  Anhäufungen.  Jedermann  kann  diese  Häufchen  Erde 


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im  Garten  und  Feld  bemerken.  Sie  haben  keinen  dauernden  Bestand 
— der  erste  Kegen  vernichtet  sie.  Indem  der  Wurm  die  nichtzer- 
setzten  organischen  Reste  verschluckt,  verwandelt  er  sie  in  Humus 
und  wirft  sie  auf  die  Oberfläche.  l)a  die  Würmer  aber  ihre  Nah- 
rung den  tieferliegenden  Schichten  entnehmen,  bewirken  sie  aufserdem 
eine  gleichmäfsigere  Durchmischung  der  BodenbeBtandteile.  Die  Tätig- 
keit der  Würmer  ist  in  einigen  Gegenden  überraschend.  In  England 
könnten  die  Auswürfe  dieser  Tiere  das  ganze  Land  mit  einer  Sohicht 
von  t/a  om  Dicke  bedecken,  in  Madagaskar  sogar  mit  einer  solchen 
Schicht  von  2 cm.  Die  Wälder  von  Dänemark  haben  aussohliefslich 
den  Würmern  ihren  fruchtbaren  Boden  zu  verdanken.  Die  Ziesel, 
Hamster,  Murmeltiere  und  andere  Nager  spielen  eine  nicht  minder 
wichtige  Rollo.  In  den  südrussischen  Steppen  werfen  sie  Erdhaufen 
aus,  die  zuweilen  den  zehnten  Teil  der  Oberfläche  bedeoken  und  bis 
zu  18 — 25  Kubikmeter  pro  Quadratkilometer  des  Areals  ausmachen. 
Dio  Insektenlarven  üben  zuweilen  auch  durch  ihre  massenhafte  Ver- 
einigung eine  grofsartige  Wirkung  aus;  manchmal  konnte  man  schon 
bis  zu  5 Millionen  Larven  pro  Quadratkilometer  zählen. 

Zwar  ist  in  gewissen  Fällen  die  Tätigkeit  der  Tiere  ungeheuer, 
aber  nichtsdestoweniger  fällt  der  Hauptanteil  an  der  Bereicherung  des 
Bodens  mit  Humus,  und  somit  an  der  Bodenbildung  im  allgemeinen,  den 
Pflanzen  zu.  Die  verschiedenen  Arten  der  Vegetation  üben  bei  ihrem 
vorherrschenden  oder  ausschlicfslichen  Vorkommen  eine  verschiedene 
Wirkung  aus  und  bedingen  einen  bestimmten  Aufbau  und  eine  be- 
stimmte Zusammensetzung  der  Böden.  Die  Bäume  entsenden  ihre 
wassersuchenden  Wurzeln  in  die  Tiefe  der  Gesteine  und  breiten  6ie 
auf  grofse  Entfernungen  aus,  können  daher  keine  derartige  Anhäufung 
von  Humus  veranlassen,  wie  eine  Grasdecke.  Anderseits  zerklüften 
die  Bäume  mit  ihren  Wurzeln  das  Gestein  in  verschiedenen  Rich- 
tungen und  veranlassen  einen  Zorfall  des  Urspruugsgestoins  in  lauter 
Polyeder,  was  im  Volke  als  nussartige  Struktur  des  Bodens  bezeichnet 
wird.  Anders  w'irkt  die  Grasvegotation.  Die  Graswurzeln,  zu  einem 
feinmaschigen  Netz  verflochten,  liefern  bei  ihrer  Verwesung  grofse  Men- 
gen von  Humus  und  bewirken  eine  vollkommene  Durchmisohung  der 
organischen  und  der  mineralischen  Bodenbestandteile.  Daher  sind  die 
Steppenböden  viel  homogener  als  die  Waldböden  und  übertreffen  die 
letzteren  an  Humusgehalt.  So  wird  durch  den  Charakter  der  Vegetation 
die  Zusammensetzung  und  die  Struktur  des  Bodens  bedingt,  und  daher 
werden  innerhalb  einer  gegebenen  physikalisch-hydrogra- 
phischen Region,  die  du  roh  das  Vorherrschen  gewisser 

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Vegetationsformen  charakterisier!  ist,  auch  die  Böden  mehr 
oder  weniger  gleichartig  sein. 

Eine  große  Bedeutung  für  den  Prozeß  der  Bodenbildung  kommt 
auch  dem  Klima  zu.  So  muss  sich  z.  B.  im  Südosten  von  Rufsland, 
wo  bei  starkem  Wassermangel  ein  Cberschufs  an  Wärme  und  Licht 
herrscht,  wo  der  Sommer  lang  und  der  Winter  kurz  ist,  der  Humus 
außerordentlich  langsam  anhäufen.  Hier  ist  der  jährliche  Zuwachs 
der  Vegetation  fast  genau  gleich  dem  jährlichen  Abgang  an  Humus; 
daher  ist  der  Boden  durch  geringen  Gehalt  an  organischen  Bestand- 
teilen und  dementsprechend  durch  eine  schwache  Färbung  charakteri- 
siert. Umgekehrt  liegt  das  Verhältnis  in  Nordrufsland,  wo  bei  der 
weiten  Verbreitung  von  Seen  und  Sümpfen  ein  Überschuß  an  Feuchtig- 
keit besteht,  und  wo  der  jährliche  Zuwachs  an  Humus  den  jährlichen 
Abgang  desselben  übertrifft.  Hier  sind  die  dunklen  Moorböden  weit 
verbreitet.  Im  äußersten  Norden,  wo  der  Sommer  und  die  Vege- 
tationsperiode kurz  sind,  sind  die  Bodenbildungsprozesse  nur  schwach 
ausgesprochen.  Endlich  nimmt  in  den  Ländern  mit  trockenem  Kon- 
tinentalklima, in  nächster  Nachbarschaft  der  Wüste,  auch  der  Wind, 
der  große  Staubmassen  transportiert,  einen  wichtigen  Anteil  an  der 
Bildung  der  Bodenschicht.  Kurz,  die  Eigenschaften  des  Bodens  stehen 
in  innigem  Zusammenhang  mit  dem  Klima  des  Landes,  und  daher 
müssen  innerhalb  eines  gegebenen  physikalisch-geographi- 
schen Gebietes,  sofern  die  klimatischen  Verhältnisse 
gleichartig  bleiben,  uueh  die  Böden  mehr  oder  weniger 
gleichartig  sein. 

Die  Kenntnis  der  Bedingungen,  unter  denen  die  Böden  entstehen, 
führt  uns  zu  einer  höchst  wichtigen  Schlußfolgerung.  Die  Zusammen- 
setzung, der  Bau,  die  Farbe  und  überhaupt  alle  Haupteigenschaften 
des  Bodens  werden  durch  die  allgemeinen,  in  dem  gegebenen  physiko-  / 
geographischen  Gebiet  herrschenden  Bedingungen  bestimmt,  also  vor 
allem  durch  Klima  und  Art  der  Vegetation.  Ferner  verwischt  ja  auch  die 
einfache  Verwitterung,  sofern  sie  unter  analogen  geographischen  Verhält- 
nissen verläuft,  die  ursprüngliche  Verschiedenheit  der  Gesteinsarten. 

Mit  Rücksicht  darauf  kann  aber  die  Verbreitung  der  hauptsäch- 
lichen Bodentypen  über  die  Erdoberfläche  keine  zufällige  sein.  Da 
sowohl  die  klimatischen  als  die  Vegetationszonen  sich  in  gewisser 
Folge  vom  Äquator  bis  zu  den  Polen  ablösen,  so  müssen  auch  die 
Böden  in  Zonen  oder  Gürteln,  die  einander  in  derselben  Richtung 
folgen,  angeordnet  sein.  Professor  N.  M.  Ssibirzew,  der  dieses  Ge- 
setz definitiv  festgestellt  hat,  unterscheidet  folgende  sieben  Bodenzonen: 


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325 


1.  Zone  der  Lateritböden.  Dies  sind  die  Buden  der  tropi- 
sohen  und  subtropischen  Länder,  wo  die  hohe  Temperatur  und  Feuchtig- 
keit eine  tief  eingreifende  Verwitterung  des  Muttergesteins  begünstigen 
und  zugleich  eine  energische  Lebenstätigkeit  der  Bakterien,  eine  schnelle 
Zersetzung  der  Pflanzenreste,  eine  reichliche  Anhäufung  salpetersaurer 
Salze  u.  s.  w. 

Gebildet  haben  sich  diese  Böden  aus  Latenten,  eigenartigen  roten, 
porösen  Gesteinen,  die  in  äquatorialen  Gegenden  eine  weite  Verbrei- 
tung haben  und  ihrerseits  durch  Zerstörung  von  Gebirgen  entstan- 
den waren.  Nach  Richthofen  „wächst  die  Mächtigkeit  der  lockeren 
Lateritschicht  fortwährend  auf  Kosten  der  sie  unterlagernden  Gesteine, 
deren  Zerstörung  immer  tiefer  greift“.  Übrigens  erfolgt  die  Zunahme 
dieser  Ablagerung  auch  von  der  Oberfläche  her:  das  fliefsende  Wasser 
und  der  Wind  tragen  feste  Teilchen  herbei,  die  sich  ebenfalls  in  La- 
tent verwandeln.  Verschiedene  Gosteinsarten,  wie  z.  B.  Gneise  und 
kristallinische  Schiefer,  Sedimente  und  Eruptivgesteine  (etwa  Basalte), 
liefern  das  Material  zur  Bildung  des  Laterits,  doch  sind  die  mechani- 
schen und  chemischen  Vorgänge,  die  diese  Gesteinsart  erzeugen,  in 
den  Einzelheiten  noch  nicht  aufgeklärt.  Der  durch  die  Tätigkeit  der 
tropischen  Vegetation  und  der  Würmer  umgebildete  Laterit  gibt  den 
genannten  Lateritböden  den  Ursprung.  Diese  Lateritböden  haben  einen 
wechselnden  Gehalt  an  Humus,  gewöhnlich  1 — 2 °/0.  Ihre  Farbe  ist 
gelb,  rot,  himbeerrot  oder  schokoladenbraun;  sie  sind  reich  an  Zer- 
setzungsprodukten verschiedener  Silikate.  Man  findet  sie  in  Südost- 
asien, Afrika,  im  tropischen  Amerika,  doch  sind  sie  noch  wenig  unter- 
sucht. Als  Vertreter  dieses  Typus  kann  der  indische  „Regur“  dienen. 
Diesem  Typus  nähern  sich  vielleicht  auch  einige  rötliche  Böden  in 
den  heifsen  und  feuchten  Gegenden  Transkaukasiens,  — Verwitte- 
rungsprodukte des  Grundgebirges  auf  primärer  Lagerstätte. 

■ 2.  Atmosphiirenstaub-  oder  äolische  Löfsböden  sind  in 
den  Zentralteilen  der  Kontinente  verbreitet,  wo  ein  scharf  ausgespro- 
chenes Kontinentalklima  herrscht  und  wo  die  Verwitterung  von  einem 
Ausblasen  der  Verwitterungsprodukte  begleitet  wird.  Die  Böden 
dieses  Typus  entstehen  unter  der  Mitwirkung  einer  Grasvegetation 
aus  Löfs,  roter  Erde  und  anderen  staubartigen  Ablagerungen  und  sind 
in  der  Farbe  hell,  aschgrau,  gelblichgrau  oder  rötlich.  Die  chemische 
Zusammensetzung  steht  derjenigen  dos  Mutterbodens  nahe.  Sie  sind 
arm  an  Humus,  von  dem  sie  gewöhnlich  1 °/oi  nie  aber  mehr  als 
2 Vs  % enthalten  und  erreichen  bei  klumpig-mehliger,  staubiger  oder 
feinkörniger  Struktur  zuweilen  eine  bedeutende  Mächtigkeit.  Zu  diesem 


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Typus  gehören  die  Löfsböden  von  Turkeslan  und  Transkaspien,  wo 
es  nur  im  Frühling  und  im  Herbst  regnet  und  wo  im  Sommer  die 
Hitze  bis  zu  60 0 C.  steigt  Die  Luft  ist  immer  mit  einem  gelblichen, 
staubigen  Nebel  erfüllt.  Hier  entsteht  die  Humusschicht  selbst  unter 
der  Mitwirkung  der  atmosphärischen  Ablagerungen.  Im  allgemeinen 
ist  der  Boden  dieser  Gegend  für  das  Pflanzen  Wachstum  günstig,  doch 
verlangen  die  Kulturfelder  eine  künstliche  Bewässerung.  Aufser 
der  aralokaspischen  Niederung  umfafst  die  in  Rede  stehende  Boden- 
zone einen  beträchtlichen  Teil  des  asiatischen  Kontinents,  nämlich: 
die  Lörsgebiete  von  China,  den  Nordwesten  von  Indien,  den  Iran, 
Arabien  — und  in  der  Fortsetzung  auch  Nordafrika.  In  den  Trocken- 
gebieten von  Amerika  werden  ebenfalls  solche  Staubböden  beobachtet. 
In  der  Südhemisphäre  findet  sich  als  Vertreter  dieses  Typus  die  rote 
Erde  des  Hottentotten-  und  Betschuanalandes  (Südafrika). 

3.  Die  Böden  der  trockenen  Steppen  oder  die  Wüsten  - 
Steppenböden.  Hierher  gehören  die  Böden  der  Artemisia-  und  der 
Artemisia-Kaktussteppen  der  nördlichen  und  südlichen  Hemisphäre. 
Sie  bilden  sich  aus  tonigera  und  sandigem  Muttergestein  und  zeigen 
eine  braune  oder  graue  Färbung.  In  letzterem  Falle  stellen  sie  auch 
eine  Reihe  von  Übergängen  zur  Schwarzerde  dar.  Die  Zone  dieser 
Böden  umfafst  im  europäischen  Rufsland  eine  breite  Fläche  zwischen 
dem  Ural  und  dem  Unterlauf  der  Wolga  und  setzt  sioh  fort  in  das 
Manytschgebiet,  in  die  Steppenzone  der  Krimhalbinsel  und  der  Küsten 
des  Schwarzen  Meeres.  Im  asiatischen  Rufsland  gehören  Teile  der 
Gebiete  Ural,  Turgei,  Akmolinsk  und  Ssemipalatinsk  dieser  Zone  an. 
In  diesem  ganzen,  weiten  Gebiet  erfolgt  die  Verwitterung  unter  dem 
Einflufs  sporadischer  Niederschläge  und  mangelnder  Bodenfeuchtig- 
keit. Die  jährliche  Niederschlagsmenge  schwankt  hier  zwischen  30 
und  40  cm.  Mehr  als  ein  Drittel  davon  entfällt  auf  die  Sommer- 
monate und  unterliegt  daher  einer  intensiven  Verdunstung.  Die 
Sommerhitzen  werden  von  versengenden  Winden  begleitet.  Im  Winter 
herrscht  strenge  Kälte  und  wehen  schneidige  Winde  (Schnee- 
stürme, Burans),  die  den  Schnee  von  der  Steppe  wegblasen. 
Die  Böden  liegen  daher  lange  Zeit  vollkommen  trocken,  weshalb 
die  Verwitterungsprozesse  nur  sehr  langsam  fortsohreiten  und  nicht 
auf  eine  beträchtliche  Tiefe  vorzudringen  vermögen.  Unter  ge- 
wissen Bedingungen  entstehen  sogar  staubige  Produkte.  Die  Vege- 
tation dieser  trockenen  Steppe,  die  an  die  anhaltende,  versengende 
Hitze  angepafst  ist,  siodelt  sich  in  Horsten  an  und  läfst  den  Boden 
dazwischen  völlig  nackt.  Unter  den  dörrenden  Sonnenstrahlen 


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verbrennt  eie  vollständig  und  zerfallt  in  Staub,  der  dann  über  die 
Steppe  hintreibt. 

An  Humus  enthalten  diese  Böden  etwa  2 n/„.  Ihre  Kultur  wird 
durch  den  Wassermangel  erschwert.  Die  dunklen,  kastanienbraunen 
Böden  liefern  in  günstigen  Jahren  vorzügliche  Erträge  an  Weizen 
und  anderen  Zerealien.  Im  Gebiete  der  hellbraunen  Böden  ist  die 
Viehzucht  verbreitet.  In  Westeuropa  gehören  zu  diesem  Bodentypus 
die  Desertos  des  Innern  von  Spanien.  In  Nordamerika  treffen  wir 
analoge  Bodenarten  in  den  Staaten  Kalifornien,  Kolorado,  Neu- 
Mexiko  u.  a.  Zwar  werden  im  Klima  dieser  Gegenden  keine  so  ex- 
tremen Temperaturschwankungen  beobachtet  wie  in  den  trockenen 
Steppen  von  Kufsland,  aber  der  Mangel  an  Feuchtigkeit  ist  auch  hier 
maßgebend.  Die  Vegetation  besteht  auch  hier  aus  stachligen  und 
kriechenden  Kräutern,  die  gruppenweise  wachsen,  ferner  aus  Kaktus- 
pflanzen und  aus  flachgedrückten  Sträuchern.  Auf  der  Südhemi- 
sphäre sind  die  Böden  dieses  Typus  in  einigen  Gegenden  von  Süd- 
amerika vertreten. 

4.  Die  Sohwarzerde  oder  Tschernosemböden  sind  an 
Grasebenen  oder  Prärien  der  gemäfsigten  Zone  gebunden.  Am  voll- 
kommensten entwickeln  sie  sich  auf  mergeligem  oder  mergelig  tonigein 
Muttergestein;  sie  bilden  eine  unterbrochene  Zone  um  die  ganze  Erde, 
und  zwar  finden  wir  sie  in  Osteuropa  und  in  den  entsprechenden 
Teilen  von  Asien  und  Nordamerika,  aber  auch  auf  der  Südhemisphäre 
in  dem  Gebiet  der  südamerikanischen  Pampas.  Als  charakteristischer 
Vertreter  dieses  Bodentypus  kann  uns  die  russische  Schwarzerde 
(Tchernosem)  dienen,  welche  im  südlichen  Drittel  des  europäischen 
Kufsland  ein  Areal  von  80  bis  100  Millionen  Dessätinen  (1  Dessätin 
= 1,09  Hektar)  einnimmt.  Bald  sich  verbreiternd,  bald  sich  ver- 
engernd zieht  sich  der  Streifen  Schwarzerde  von  den  Süd  westgrenzen 
Kufslands  bis  zur  südlichen  Hälfte  der  Uralkette.  Die  Breite  des 
Streifens  schwankt  zwischen  350  und  1000  Werst.  Östlich  vom  Ural 
findet  die  Schwarzerde  ihre  Fortsetzung  in  den  südlichen  Kreisen  des 
Gouvernements  Perm,  in  den  benachbarten  Teilen  des  Gouvernements 
Ufa,  sowie  im  asiatischen  Kufsland,  namentlich  in  den  Steppenteilen 
der  Gouvernements  Tobolsk  und  Tomsk,  zum  Teil  auoh  der  Gebiete 
Akmolinsk  und  Ssemipalatinsk.  in  Ostsibirien  bildet  die  Schwarzerde 
keinen  zusammenhängenden  Gürtel,  sondern  kommt  nur  ileckeuweise 
vor.  Alle  diese  zusammenhängenden  und  inselartigen  Tsohernosem- 
vorkommnisse  liegen  in  Kufsland  zwischen  44°  und  57  u N.  Br.  In 
seinem  Belief  ist  das  Tschernosemgebiet  durchaus  Ebene,  nur  hie  und 


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da  ist  die  Oberfläche  der  Steppe  von  Tobeln  durchfurcht.  Das  Klima  ist 
vorwiegend  kontinental,  die  jährliche  Regenmenge  schwankt  zwischen 
46  und  50  cm,  und  davon  entfallen  auf  die  Vegetationsperiode  nicht 
mehr  als  30  cm.  Gegenwärtig  ist  die  Dürre  eine  gewöhnliche  Er- 
scheinung, doch  waren  die  Feuchtigkeitsverhältnisse  günstiger,  bevor 
die  Steppe  in  Anbau  genommen  wurde.  Das  Schwarzerdegebiet  von 
Rufsland  war  nie  ein  Moor,  wie  es  einige  Gelehrten  glaubten,  sondern 
stellte  immer  eine  Grassteppe  oder  Prärie  dar,  wie  sie  noch  jetzt  in 
Sibirien  erhalten  ist.  Das  typische  Muttergestein  ist  der  Löfs.  Der 
obere  Horizont  desselben  ist  dicht  durchdrungen  von  Humusstoffen  — 
das  ist  eben  die  Schwarzerde.  Übrigens  entwickelt  sich  Schwarzerde 
auch  auf  Kreide,  auf  Tonen,  Mergeln  u.  s.  w.  Der  Humusgehalt  der 
Schwarzerde  ist  im  Durchschnitt  6—8—10%,  doch  kann  er  in  extremen 
Fällen  bis  auf  4%  fallen  und  bis  auf  16%  steigen.  Man  kann  somit 
nach  dem  Humusgehalt  mehrere  Arten  von  Schwarzerde  unterscheiden. 
Der  mineralische  Bestandteil  trägt  nach  den  Analysen  von  Professor 
Kostytschew  wesentlich  den  Charakter  des  Muttergesteins,  die 
Struktur  ist  körnig.  In  Zeiten  der  Dürre  zeigt  die  Schwarzerde  eine 
Tendenz  zum  Zerstäuben.  Ungefähr  mit  denselben  Eigenschuften  tritt 
die  Schwarzerde  in  der  ungarischen  Ebene  (Banat)  und  in  Nordamerika 
auf.  Die  Schwarzerde  von  der  Südhemisphäre,  etwa  aus  den  Prärien 
von  Parana  und  Uruguay,  ist  der  russischen  Schwarzerde  zum  Ver- 
wechseln ähnlich.  Sie  ist  nach  der  Aussage  von  Professor  N.  M. 
Ssibirzew  von  dem  Tschernosera  des  Gouvernements  Charkow  oder 
Poltawa  nicht  zu  unterscheiden. 

5.  Graue  Waldböden,  auch  die  Böden  der  „ schwarzen“  Laub- 
wälder. Sie  sind  in  der  sogenannten  Vorsteppe  (Predstepje)  oder  jener 
Übergangszone  zwischen  Wald  und  Stoppe  verbreitet,  welche  einen 
vom  Wald  annektierten  Teil  der  prähistorischen  Steppe  darstellt. 
Diese  grauen  Waldböden  stellen  daher  gewissermafsen  eine  degradierte, 
d.  h.  durch  die  Arbeit  der  Wald  Vegetation  umgeänderte  Schwarzerde 
dar.  Selbstverständlich  bieten  diese  Böden  eine  Reihe  unmerklicher 
Übergänge  zu  den  Böden  der  folgenden  Zone.  Hat  der  Wald  vor  relativ 
kurzer  Zeit  die  Steppe  überzogen!  dann  finden  wir  in  dem  von  ihm  er- 
oberten Gebiete  die  Schwarzerde  in  der  ersten  Stufe  der  Umbildung 
vor.  Hat  aber  die  Waldvegetation  längere  Zeit  eingewirkt,  so  finden 
wir  eine  typische  graue  Erde  mit  drei  scharf  ausgeprägten  Horizonten: 
einen  oberen  l'/jbisö  Decimeter  mächtig,  fast  ohne  jede  Spur  einer 
bestimmten  Struktur  und  durch  graue,  graubraune,  oder  dunkelgraue 
Farbe  auffallend.  Der  folgende  Horizont  zeigt  die  charakteristische 


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nufsförmige  Struktur,  d.  h.  runde  oder  polyedrischc  Brocken  durch 
leinen  Quarz  und  mehlige  Kieselerde  getrennt;  zu  unterst  endlich 
finden  wir  das  verwitterte  Muttergestein  — allerlei  Tone,  Mergel,  Löfs 
u.  s.  w.  Der  Humusgehalt  sohwankt  im  oberen  Horizont  zwischen 
3% — 6%,  fällt  im  mittleren  bis  auf  2% — 1%.  Höchst  merkwürdig 
sind  die  Versuche  von  Professor  Kostytschew,  welcher  den  Über- 
gang von  Schwarzerde  in  Waldboden  künstlich  reproduzierte.  Zu 
diesem  Zwecke  füllte  er  ein  zylindrisches  Gefafs  mit  Schwarzerde, 
bedeckte  es  mit  Blättern  und  unterhielt  während  drei  Jahren  die  aus- 
reichende Feuchtigkeit.  Der  Tschernosem  verwandelte  sich  in  graue 
Erde  mit  2>/2  % Humus.  Dieses  lehrreiche  Experiment  zeigt  in  an- 
schaulicher Weise,  wie  sich  die  grauen  Waldböden  gebildet  haben. 
Die  Zone  dieser  Böden  hat  einen  vielfach  geschlängelten  Umrifs  und 
löst  sich  am  Rande  häuGg  in  Inseln  auf.  Sie  zieht  sich  durch  ganz 
Zentralrufsland  von  den  Gouvernements  Ljublin  und  Wolhynien  im 
Westen  bis  zum  Becken  der  Kama  und  Wjatka  im  Osten.  Jenseits 
des  Ural  wurden  diese  grauen  Waldböden  im  südlichen  Teile  des 
Gouvernements  Tomsk  angetroffen.  Ein  ihnen  nahe  verwandter  Boden- 
tvpus  wurde  in  Galizien,  in  Ungarn  und  in  Mitteldeutschland  beob- 
achtet Die  Existenz  von  grauen  Waldböden  in  Amerika  kann  kaum 
bezweifelt  werden;  sie  müssen  in  jenen  Staaten  liegen,  wo  die  Prärien 
von  den  Wäldern  abgelöst  zu  werden  beginnen. 

6.  Rasen-  oder  Podsolboden  sind  an  die  Zone  des  Nadel- 
waldes gebunden.  Im  europäischen  Rufsland  nehmen  sie  nicht 
weniger  als  % des  Areals  ein.  Ihre  Grenze  ist  sehr  zerrissen,  und 
sie  bilden  eine  Menge  von  zungenartigen  und  inselartigen  Vorsprüngen 
in  die  benachbarten  Zonen.  Die  charakteristischen  Merkmale  dieser 
Böden  werden  durch  die  Auslaugungsprozesse  bedingt,  welche  unter 
Einwirkung  der  Humussäuren,  Krensäure  und  Akrensäure,  vor  sich 
gegangen  sind.  Zum  Schlüsse  dieser  Auslaugungsprozesse  haben  die 
Zeolithen  und  anderen  kieselhaltigen  Bodenbestandteile  ihre  Basen  ver- 
loren und  pulverförmige  Hydrate  der  Kieselsäure  ausgeschieden. 
Diese  bilden  eben  den  charakteristischen  weifsen  und  graulichen 
mehligen  Stoff,  welcher  als  „Podsol*  bezeichnet  wird  und  den  nie 
fehlenden  Bestandteil  dieses  „Podsolbodens“  bildet.  Zuweilen  bildet 
der  Podsol  nur  eine  untergeordnete  Beimischung,  zuweilen  aber 
verdrängt  er  alle  anderen  Elemente  vollständig.  Die  Rasenpodsolböden 
haben  eine  helle  Farbe.  Sie  enthalten  nie  mehr  als  2 — 3"/ft  Humus,  dafür 
aber  30%  und  darüber  an  Kieselsäure,  ln  jedem  Boden  der  in  Be- 
tracht kommenden  Zone  treten  scharf  ausgeprägt  zwei  Horizonte  zum 


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Vorschein:  ein  oborer,  hellgrauer,  ohne  jode  bestimmte  Struktur  und 
von  wechselndem  Kohäsionsgrad,  je  nach  dem  Gehalt  an  Lehm,  Sand 
und  Humus;  ein  unterer  weifser  mit  gelblichem  oder  bläulichem 
Sohimmer  stellt  ganz  reinen  Podsol  dar.  In  den  untersten  Lagen  dieser 
zweiten  Sohioht  bemerkt  man  zahlreiche  Körner,  Konkretionen, 
Adern  und  selbst  zusammenhängende  Schichten  von  Ortstein,  d.  h. 
einem  dunkelbraunen  Sandstein,  dessen  einzelne  Körnchen  durch 
die  von  oben  durchsickernden  organischen  Stoffe  und  Eisenoxyd  ver- 
kittet sind.  Die  Zone  der  Hasenpodsolböden  setzt  sich  zweifellos  in 
das  Waldgebiet  (die  Taiga)  von  Sibirien  fort,  dooh  ist  der  Boden  dort 
noch  wenig  untersucht.  In  Westeuropa  zieht  sie  sich  in  breiten 
Streifen  durch  Korddeutschland,  Dänemark,  Skandinavien,  Holland  und 
Frankreich.  Anscheinend  sind  auch  in  Nordamerika,  namentlich  in 
den  britischen  Besitzungen,  die  Rasenpodsolböden  in  demselben  Grade 
verbreitet  wie  in  Rufsland. 

7.  Die  Tuudraböden.  Sie  umfassen  das  ganze  Polargebiet 
und  befinden  sich  in  einem  rudimentären  Zustande.  Sie  enthalten 
rohen  Humus,  doch  nur  im  oberflächlichsten  Horizont.  Sie  sind  noch 
wenig  untersucht. 


Alle  wichtigen  Bodentypen  der  Erde  lassen  sich  auf  die  vor- 
stehend beschriebenen  sieben  Hauptgruppen  zurüokführen.  Doch  ist 
das  Antlitz  der  Erde  in  bezug  auf  die  Bodenverteilung  durchaus  nicht 
so  einfach,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  möchte.  Innerhalb 
einer  jeden  Zone  finden  wir  eine  aufserordentliche  Mannigfaltigkeit 
der  Böden.  Es  gibt  zahlreiche  Arten  von  Schwarzerde,  die  sich  sowohl 
im  Aussehen,  als  auch  in  der  Zusammensetzung  voneinander  unter- 
scheiden. So  schwankt,  wie  oben  erwähnt,  der  Ilumusgehalt  zwischen 
4%  und  16%.  Ebenso  zeigt  sich  in  der  Zone  der  Hasenpodsolböden 
eine  grofse  Anzahl  von  Varietäten.  Diese  ganze  grofse  Mannigfaltig- 
keit der  Subtypen  unterliegt  jedoch  einer  strengen  GesetzmäfsigkeiL 
Überall  läfst  sich  die  innige  Beziehung  zur  Natur  des  Muttergesteins 
und  zum  Relief  des  Landes  verfolgen,  und  daher  ist  es  möglich,  die 
Natur  der  Böden  einer  Gegend  gleichsam  vorauszusagen,  wenn  alle 
in  dieser  Gegend  wirksamen  Elemente  oder  Faktoren  der  Bodenbildung 
bekannt  sind.  Anderseits  können  wir  trotz  aller  Mannigfaltigkeit  der 
Untertypen  in  allen  Böden  jene  grofsen  allgemeinen  Züge  verfolgen, 
welche  ihre  Zugehörigkeit  zu  einer  der  genannten  Hauptzonen  be- 
gründen. 


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Die  Buntheit  der  Bodenverteilung  auf  dem  Antlitz  der  Erde  wird 
noch  bedeutend  gesteigert  durch  die  zahllosen  Übergänge,  die  die 
einzelnen  Haupltypen  verbinden.  Nur  in  seltenen  Fallen  beobachten 
wir  auf  der  Erde  sprungweise,  scharfe  Veränderungen  des  Klima  und 
der  Vegetation;  gewöhnlich  erfolgt  der  Wechsel  der  physisch- 
geographisohen  Bedingung  allmählich  und  fast  unmerklich.  Daher 
können  auch  die  Bodenzonen  nicht  scharf  voneinander  getrennt  sein. 
So  bilden  z.  B.  die  grauen  Waldböden  eine  ganze  Reihe  von  Über- 
gangsstufen zu  der  Schwarzerde  einerseits,  zu  den  Podsolboden  ander- 
seits. Aus  demselben  Grunde  stellen  auch  die  Grenzen  der  Zonen 
nirgends  schematisch-regelmärsige  Linien  dar;  sie  sind  aufserordentlich 
gewunden  und  bilden  zahlreiche  Inseln  und  Zungen,  die  ins  benach- 
barte Gebiet  eindringen.  Endlich  umgürtet  keine  einzige  Zone  den 
ganzen  Erdball  in  ununterbrochenem  Band.  Die  typischen  Böden 
treten  nur  bänder-  und  fleckenartig  auf,  bald  sich  verbreiternd,  bald 
verengernd.  Im  Zusammenhang  mit  der  Konfiguration  der  Kontinente 
und  ihrer  Lage  auf  dem  Erdball  können  einzelne  Bodenzonen  ganz 
fehlen.  So  finden  wir  auf  der  Südhemisphäre  gar  keine  grauen  Wald- 
böden, ebensowenig  wie  die  Podsolboden.  Jene  Teile  der  Erdober- 
fläche, wo  diese  Bodenzonen  existieren  könnten,  sind  dort  vom  Meer 
bedeckt. 

Die  strenge  Aufeinanderfolge  der  Bodenzonen  wird  ferner  ge- 
stört durch  die  Einwirkung  lokaler  orographischcr,  geologischer  und 
klimatischer  Bedingungen,  welche  eine  Reihe  von  Bodentypen  hervor- 
bringen, die  das  Gesetz  der  Zonalität  nicht  befolgen,  sondern  nur  hie 
und  da  in  einzelnen  Inseln  und  Flecken  zum  Vorschein  kommen.  Es 
sind  dies  die  sogenannten  Intrazonalen  oder  Azonalen  Böden. 
Der  erstere  Ausdruck  bezieht  sich  auf  nicht  vollständig  ausgebildete 
Humusböden,  der  letztere  auf  solche,  in  deren  Zusammensetzung  das 
noch  unveränderte  Muttergestein  eine  wichtige  Rolle  spielt. 

Selbstverständlich  bieten  die  Intrazonalböden  sowohl  in  ihrer  Zu- 
sammensetzung, als  auch  in  ihren  Eigenschaften  eine  aufserordentliche 
Mannigfaltigkeit  dar.  Wir  wählen  als  Bespiele  die  am  meisten  ver- 
breiteten Arten,  nämlich  die  Salzböden,  die  humosen  Karbonatböden 
und  die  Sumpf-  oder  Moorböden. 

Die  Salzböden  bilden  sioh  in  den  Fällen,  wo  die  Muttergesteine 
Salz  enthalten.  Ihr  Auftreten  ist  nur  in  einem  heifsen  und  trocknen 
Klima  möglich,  wo  der  Mangel  an  Feuchtigkeit  eine  Auslaugung  der 
löslichen  Salze  verhindert.  Die  Salzböden  sind  aus  allen  Weltteilen 
bekannt  und  treten  fleckenweise  in  den  Zonen  der  atmosphärischen 


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Staubböden,  der  Steppen-  und  Sohwarzerdeböden  auf.  Wir  finden  sie 
in  ganz  Süd-Hufsland,  in  Südwest-Sibirien,  in  Transkaspien  und  im 
Turkestan.  Sie  enthalten  etwa  8%  Humus  und  nähern  sioh  in  ihrer 
Farbe  den  Böden  derjenigen  Zone,  in  deren  Bereich  Bie  zum  Vor- 
schein kommen. 

Die  humosen  Karbonatböden  bilden  sich  aus  Kalksteinen,  Kreide 
und  Mergeln  und  zeichnen  sioh  durch  reichen  Qehalt  an  kohlensauren 
Salzen  aus.  Zuweilen  sind  sie  nur  schwach  entwickelt,  zuweilen  sehr 
reich  an  Humus  und  haben  dann  eine  dunkelgraue  Farbe.  Solchen 
Boden  trifft  man  z.  B.  in  den  Gouvernements  Ljublin  und  Radom  an. 

Die  Sumpf-  oder  Moorböden  bilden  sioh  bei  einem  Übersohufs 
an  Feuchtigkeit.  Sie  enthalten  viel  Humus,  in  welchem  organische 
Säuren  vorherrschen.  Sie  haben  die  weiteste  Verbreitung  in  der  Zone 
der  Rasenpodsolböden,  so  auch  in  Rufsland. 

Zu  den  Azonalböden  gehören  die  Skelettböden  oder  die  groben, 
aus  festem  Kiesgerölle  und  Sandgestein  entstandenen  Böden,  sowie  die 
Alluvialböden,  an  deren  Zusammensetzung  die  Flursablagerungen 
wesentlichen  Anteil  nehmen.  Erstere  finden  Bich  in  Gebirgsgegenden, 
letztere  in  Flufstälern.  Die  Alluvialböden,  welche  auch  in  Rufsland  eine 
weite  Verbreitung  haben,  bilden  sioh  wesentlich  unter  dem  Einflufs 
der  Flufsiibersohwemmungen  aus.  Der  mineralische  Bestandteil  der 
Alluvialböden  ist  ziemlich  mannigfaltig;  der  humose  bildet  sich  auf 
Kosten  der  Wiesenpflanzen,  die  die  Übersohwemmungszonen  bevölkern. 
Infolge  des  Feuchtigkeitsüberschusses  enthält  dieser  Boden  eine  grofse 
Menge  von  Säuren.  Beim  Überschreiten  der  Übersohwentmungszone 
bekommt  der  Boden  die  Eigenschaften  derjenigen  Zone,  in  deren  Be- 
reich er  sich  bofindet.  Die  Skelettböden,  zum  Teil  auch  die  Alluvial- 
böden zeigen  charakteristische  Beispiele  der  ersten  Stadien  der  Boden- 
bildung. Von  ihnen  ausgehend  beobachten  wir  eine  ganze  Reihe  von 
übergangsstufen,  die  zum  unveränderten  Muttergestein  hinübcrloiten. 

überhaupt  hat  das  Alter  des  Bodens  eine  sehr  grofse  Bedeutung. 
Die  Vorgänge  der  Verwitterung  erfordern  Zeit,  die  Vegetation  siedelt 
sich  nur  nach  und  nach  auf  den  steinigen  und  sandigen  Flächen  an. 
Je  früher  das  Muttergestein  zutage  getreten  ist,  desto  weiter  sind 
die  Bodenbildungsprozesse  fortgeschritten.  Es  ist  ferner  klar,  dafs  der 
Boden  nicht  mit  einer  zusammenhängenden  Decke  die  Kontinente  der 
Erde  überziehen  kann;  die  Böden  existieren  nur  dort,  wo  alle  zu  ihrer 
Bildung  notwendigen  Bedingungen  gegeben  sind.  So  sind  z.  B.  die 
von  Gletschern  bedeckten  Gegenden  frei  von  jedem  Boden.  In  den 
Tundren  befinden  sich  die  Bodenbildungsprozosso  in  einem  rudiinen- 


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(33 

tären  Zustande.  Ebenso  stellt  der  frische,  vom  Meer  ausgeworfene 
Sand  erst  das  Ausgangsmaterial  dar,  aus  welohem  auf  dem  Wege 
langer  Veränderungen  der  Ackerboden  seinen  Ursprung  nehmen  kann. 

Die  Buntheit  der  Bodenverteilung  auf  dem  Antlitz  der  Erde  wird 
noch  durch  das  Vorhandensein  bedeutender  Erhebungen  gesteigert. 
In  Gebirgsgegenden  sollte  man  erwarten,  dafs  sich  die  Böden  in 
vertikaler  Richtung  vom  Fufs  bis  zum  Gipfel  in  derselben  Reihen- 
folge ablösen,  wie  dies  in  horizontaler  Richtung  vom  Äquator  bis  zum 
Pol  der  Fall  ist.  In  der  Tat  ist  es  dem  Prof.  W.  W.  Dokulsohajew 
bei  einer  seiner  Kaukasusreisen  gelungen,  einen  solchen  gesetzmüfsigen 
Wechsel  der  Bodentypen  festzustellen.  Es  ist  lehrreich,  dafs  er  da  die 
Schwarzerde  gerade  in  einer  Meereshöhe  fand,  in  welcher  die  klima- 
tischen Verhältnisse  denjenigen  der  russischen  Steppe  nahestehen. 


Anmerkung  der  Redaktion.  Die  Fortsetzung  des  Aufsatzes:  „Im 
Reiche  des  Äolus'*  erfolgt  im  nächsten  lieft 


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Die  letzte  Montgolfiere  in  Berlin  soll  nach  einer  Notiz  in  den 
illustrierten  aeronautischen  Mitteilungen  im  Jahre  1874  aufgestiegen 
sein.  Gemeint  ist  natürlich  eine  Montgolfiere  mit  einem  veritablen 
lebenden  Luftschiffer.  Diesmal  war  es  ein  Herr  Bendet  aus  Paris, 
der  schon  eine  Weile  die  Litfafs-Säulen  durch  mächtige  Reklame- 
plakate verziert  hatte.  Er  verhiefs  auf  ihnen,  an  einem  Trapez  auf- 
zusteigen und  dann  allerhand  akrobatische  Kunststücke  zu  verriohten. 
Die  Füllung  sollte  im  Holjäger  oder  im  Albrechtshof  vor  sich  gehen. 
Bendet  verstand  offenbar,  sein  Publikum  zu  nehmen;  denn  er  sprach 
von  einer  ganz  besonders  geheimnisvollen  Gasart,  mit  der  die  Füllung 
vorgenommen  werden  sollte.  Es  war  aber  doch  nichts  anderes  als 
heiTse  Luft.  Der  Zuschauer  fand  auf  dem  Platze  der  Tat  einen  vier- 
eckigen Ofen  aus  Kalksteinen,  etwa  1 >/a  m hoch  und  1 m im  Geviert, 
an  einer  Seite  offen  und  oben  mit  einem  Drahtgitter  bedeckt.  Auf 
diesem  Ofen  hockte  der  grofse  baumwollene  Ballon  und  wurde  einst- 
weilen mit  langen  Stangen  gestützt.  Bald  brannte  ein  lustiges  Stroh- 
feuer unter  ihm  und  loderte  bis  mitten  in  den  Ballon  hinein,  der  sich 
allmählig  aufrichtete,  dehnte  und  reckte,  bis  er  fast  eine  Kugelgestalt 
angenommen  hatte.  Ein  Netzwerk  besafs  er  nicht,  wohl  aber  unten 
an  der  Öffnung  einen  eisernen  Ring  mit  einem  Trapez.  Endlich  er- 
schien der  Luftschiffer  selbst  in  einem  hellen  Matrosenanzug,  stellte 
sich  auf  das  Trapez  und  gab  das  Signal  zur  Auffahrt.  In  diesem 
Augenblick  passierte  ein  Malheur.  Herr  Bendet  wurde  seitwärts  ge- 
schleudert, stiefs  anscheinend  mit  seinem  Schienbein  einen  Teil  des 
Kachelofens  ein,  dann  erhob  er  sich  reifsend  schnell  in  die  Lüfte, 
grüfste  das  staunende  Publikum  freundlich  vom  Trapez  herab,  ver- 
zichtete aber  auf  alle  weiteren  Kunststücke.  Offeubar  wollte  er  glauben 
maohen,  er  habe  sich  bei  der  Auffahrt  eine  ernstliche  Verletzung  zu- 
gezogen. Gleichzeitig  ersohien  seine  Gattin  aufgeregt  auf  dem  Schau- 
platz und  rief  dem  Publikum  zu,  es  sei  ein  goldenes  Medaillon  ver- 
loren gegangen.  Da  sie  aber  französisch  sprach,  erreichte  sie  ihren 
Zweck,  die  Zuschauer  abzulenken,  nur  unvollkommen.  Inzwischen 


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335 


näherte  sich  der  Trapezkünstler  mit  immer  zunehmender  Geschwindig- 
keit wieder  der  Erde  und  stiefs  in  einiger  Entfernung  vom  Auflahrts- 
platz  zu  Boden.  Er  kam  diesmal  mit  heiler  Haut  davon,  soll  aber 
später  bei  einem  ähnlichen  Versuoh  den  Hals  gebrochen  haben.  Für 
die  Folge  untersagte  die  Berliner  Polizei  derartige  Kunststücke.  — Die 
Montgolfliren  sind  durch  die  Gasballons  fast  völlig  verdrängt  worden. 
Man  irrt  jedoch,  wenn  man  glaubt,  sie  fristeten  nur  noch  als  Kinder- 
spielzeug ein  kümmerliches  Dasein.  Für  gewisse  Zwecke  wird  auch 
heute  noch  der  Feuerballon  gute  Dienste  leisten  können,  etwa  als 
Signal  bei  militärischen  Übungen  oder  als  Stationsballon  für  drahtlose 
Telegraphie.  D. 


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Dr.  Job.  Stark:  Dissoziierung  und  Umwandet  ung  chemischer  Atome. 

Braunschweig,  Vieweg  & Sohn.  1903.  55  Seiten. 

Wie  sich  in  der  Physik  und  Chemio  die  atomistieche  Hypothese  der 
Masse  im  Laufe  der  Zeit  als  außerordentlich  fruchtbar  bewiesen  hat,  so  ge- 
winnt heutzutage  die  atomistische  Theorie  der  Elektrizität,  die  Elektronen- 
theorie  (vergl.  Heft  8,  1903  dieser  Zeitschrift)  immer  mehr  an  Boden.  Das  hat 
besonders  darin  seinen  Grund,  daß  die  Eleklronentheorie  in  viele  gänzlich 
verworrene  Gebiete  Ordnung  und  System  gebracht  hat,  dafs  sie,  und  das  ist 
noch  wesentlicher,  neue  Ausblicke  in  unbeschränktem  Mafse  gewährt.  Voll- 
kommen eingebürgert  ist  die  moderne  Hypothese  in  der  Lehre  von  der  elek- 
trolytischen Spaltung  (Dissoziierung).  Kein  Wunder,  fallen  doch  ihre  Grund- 
lagen bereits  ins  Jahr  1800  (de  Grotthus).  Weiter  ausgebildet  wurde  die  neue 
Lehre  von  Faraday  (1834),  Weber  (1871),  Stoney  (1881)  u.  a.  m.  Besonders 
in  neuester  Zeit  sind  unzählige  bedeutende  experimentelle  und  theoretische 
Untersuchungen  über  das  interessante  Problem  der  Dissoziierung  veröffentlicht 
worden.  Der  Verfasser  gibt  im  1.  Teil  seines  Buches  einen  Überblick  über  die 
Elektronen-  und  Ionentheorie  und  wendet  sich  im  2,  Teil  zu  den  Erscheinungen 
der  Radioaktivität,  jenem  rätselhaften  Phänomen,  welches  seit  seiner  Entdeckung 
(Becquerel  1896)  den  Gelehrten  fortwährend  die  gröfsten  Überraschungen  be- 
reitet, von  dem  man  zu  Anfang  glaubte,  es  würde  das  feststehendste  aller  fest- 
stehenden Gesetze  umstofsen,  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie. 
Dr.  Stark  versucht  die  Radioaktivität  als  energetische  Erscheinungsform  einer 
geradläufigen  Umwandelung  chemischer  Atome  zu  erklären,  d.  h.  einer  solchen 
Umwandelung,  bei  der  das  Atom  in  Teile  zerfällt,  die  sich  nicht  wie  bei  der 
Ionisierung  schliefslich  wieder  zu  dem  ursprünglichen  Atom  vereinigen,  son- 
dern die  einen  selbständigen  neuen  Stoff  bilden. 

Das  Büchlein  ist  eine  unveränderte  Sonderausgabe  dreier  Abhandlungen 
des  Verfassers  in  der  naturwissenschaftlichen  Rundschau  (neu  hinzugekommeu 
ist  ein  Anhang  mit  erklärenden  Bemerkungen,  vielen  Literaturnachweisen, 
theoretischen  Auseinandersetzungen  und  ein  Inhaltsverzeichnis).  Es  ist  haupt- 
sächlich für  den  naturwissenschaftlich  vorgebildeten  Laien  bestimmt 


Verlag:  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  Gronait's  Bnchdrnckerel  In  Berlin -Schöneberg. 
Fflr  die  Redaction  verantwortlich : Dr.  P.  Scbwahn  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  nnteraagt. 
Chereetsnngarecbt  Vorbehalten. 


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Fig.  1.  Cumulus.  Basis  1780  m,  Gipfel  2660  m hoch. 


Fig.  2.  Gewitter- Cumulus.  Gipfel  6390  m hoch. 
Tafel  I. 


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Über  Wolkenformen  und  deren  Veränderungen. 

Von  Professor  Ur.  It.  Siirilg  in  Berlin. 

■fcs  sind  gerade  hundert  Jahre  verflossen,  seitdem  der  Engländer 
Luke  Howard  den  Vorschlag  gemacht  hat,  die  unendliche 
Mannigfaltigkeit  des  Wolkenhimmels  durch  einige  wenige  deut- 
liche und  charakteristische  Bezeichnungen  in  ein  System  einzuordnen, 
d.  h.  die  Wolken  zu  klassifizieren.  Mit  glücklichem  Griffe  — man  möchte 
fast  sagen  mit  künstlerischem  Scharfblicke  — beschränkte  er  sich  dabei 
auf  drei  Hauptgruppen,  und  er  hat  es  nicht  zum  wenigsten  der  Ein- 
fachheit seines  Systems  zu  danken,  dafs  die  gleichzeitigen,  aber  viel 
verwickelteren  Klassifikations-Vorschläge  des  berühmten  Lamarck 
nicht  durchdrangen.  Howards  drei  Grundformen:  dio  Haufenwolke 
(Cumulus),  Schichtwolke  (Stratus)  und  Foderwolkc  (Uirrus)  sind  mit 
vollem  Hecht  in  fast  jedem  Schulbuche  der  Physik  zu  findeu,  häufig 
leider  mit  sehr  minderwertigen,  hinter  den  ursprünglichen  Ho  ward  schon 
Zeichnungen  weit  zurüokstehenden  Abbildungen.  Auch  für  die  folgen- 
den Ausführungen,  welche  zeigen  sollen,  wie  sich  in  den  Umformungen 
der  Wolken  der  Kreislauf  der  Atmosphäre  zu  erkennen  gibt,  soll  von 
der  Howardschen  Klassifikation  ausgegangen  werden. 

Wenn  sich  die  Meteorologen  früher  mit  dem  Studium  der  Wolken 
beschäftigten,  so  geschah  dies  hauptsächlich  aus  zwei  Gründen.  Einer- 
seits sollten  die  Wolken  Aufschlüsse  geben  über  die  Luftströmungen 
in  der  Höhe,  andererseits  erwartete  man  von  ihnen  Andeutungen  für 
den  Bestand  oder  Wechsel  des  Witterungscharakters.  Besondere  in 
letzter  Hinsicht  hat  man  sich  meist  zu  grofsen  Hoffnungen  hingegeben. 
Mühselige,  aber  schematische  Beobachtungen  und  statistische  Bearbei- 
tungen derselben  haben  doch  nur  recht  unvollkommene  Wetterregeln 
und  unklare  Vorstellungen  über  die  Vorgängo  im  Luftmeere  ergeben. 

Himmel  and  Erd».  1904.  XVI.  S.  2'2 


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338 


Dagegen  hal  die  Wolkenforsohung  neuerdings  nach  anderer  Richtung 
hin  erhebliche  Fortschritte  gemacht,  teils  durch  physikalische  Unter- 
suchungen über  die  Ursache  der  Wolkenbildung,  teils  durch  sorgfältige 
Messungen  von  Höhe,  Geschwindigkeit  und  Richtung  nach  international 
vereinbartem  Plane,  teils  durch  direkte  Betrachtung  der  Wolken  aus 
nächster  Nähe  bei  Ballonfahrten. 

Die  Frage  nach  den  Ursachen  der  Wolkenbildung  ist  in  dieser 
Zeitschrift  schon  früher  durch  den  Direktor  des  Preufsischen  Meteoro- 
logischen Instituts,  Herrn  von  Hczold,  eingehend  erörtert  worden.1) 
Die  Entstehungsweise  der  grundlegenden  Howardschen  Typen,  viel- 
leicht mit  Ausnahme  der  Cirren,  ist  hiernach  ziemlich  aufgeklärt;  es 
fehlen  jedoch  nooh  manche  Aufschlüsse  darüber,  wie  sich  die  einmal 
gebildeten  Wolken  weiter  entwickeln,  ob  und  welche  Formen  besonders 
charakteristisch  sind  für  gewisse  Witterungszustände,  und  welche  Um- 
bildungen die  Wolkon  erfahren,  wenn  der  Witterungscharakter  ein 
anderer  wird.  An  Stelle  der  älteren  Frage:  Was  sagt  uns  der  Anblick 
des  Wolkenhimmels  über  das  kommende  Wetter  aus,  tritt  neuerdings 
die  spezielle  Aufgabe,  einfach  die  wirklich  stattfindenden  Wolken- 
modifikationen zu  studieren,  d.  h.  nicht  nur  zu  beschreiben  — die 
Literatur  hierüber  läfst  sich  kaum  nooh  überblicken  — , sondern  nun 
auch  messend  zu  verfolgen  und  physikalisch  zu  erklären.  Aus 
gelegentlichen  Notizen  über  die  gerade  vorhandenen  Wolkenformen 
lassen  sich  nur  selten  Schlüsse  für  das  kommende  Wetter  ziehen;  erst 
das  eifrige  Verfolgen  der  an  den  Wolken  sich  vollziehenden  Form- 
änderungen kann  hierfür  benutzt  werden.  Darin  liegen  auch  zum 
Teil  das  Geheimnis  und  der  Erfolg  wetterkundiger  Hirten,  Jäger, 
Müller,  Bergführer  u.  s.  w.  Diese  Leute  begnügen  sich  nicht  damit, 
einmul  einen  Blick  nach  dem  „Wetterwinkel“  zu  werfen  und  dann 
eine  Prognose  zu  stellen,  sondern  ihre  Anschauungen  stützen  sich 
hauptsächlich  auf  das  fortwährende  Beobachten  der  Wolkenänderungen 
vom  frühen  Morgen  bis  Sonnenuntergang.  Soweit  es  angängig  ist, 
sollen  daher  in  diesem  Artikel  die  Wolken  von  ihrer  Entstehung  bis 
zu  ihrer  Auflösung  verfolgt  werden. 

Am  leichtesten  läfst  sich  die  Entwicklung  der  Haufenwolke 
(Cumulus)  studieren.  Wenn  an  einem  warmen,  klaren  Sommermorgen 
die  Sonne  einige  Stunden  geschienen  hat,  dann  bilden  sich  kleine 
Wölkchen,  welche  bald  die  charakteristische  Form  einer  ebenen, 
scharf  abgeschnittenen  unteren  Fläche  und  einer  sanft  abgerundeten 


')  Himmel  und  Erde.  VI.  .Jahrg.  94)  S.  201. 


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oberen  Begrenzung  zeigen  (Tafel  I,  Figur  1).  Die  Erklärung  dieser 
Wolkenform  ist  leicht  gegeben  und  lange  bekannt.  Erwärmt  sich  die 
Luft  am  Erdboden,  so  steigt  sie  in  die  Höhe  und  kühlt  sich  dabei  in- 
folge der  geleisteten  Expansionsarbeit  um  rund  1°  für  je  100  m Er- 
hebung ab,  vorausgesetzt,  dafs  keine  Wärme  von  aufsen  zugefiihrt 
oder  entzogen  wird.  Ist  die  Abkühlung  so  woit  fortgeschritten,  dafs 
der  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luflmasse  sich  als  Wasser  ausscheiden 
mufs,  so  zeigt  sich  die  Höhenlinie  dieses  Prozesses  als  untere  Wolken- 
grenze. Ihre  Höhe  gibt  uns  somit  Aufschluss  über  die  Qieichgewichts- 
verhältnisse in  den  unteren  Luftschichten.  Kennen  wir  die  Temperatur 
und  Feuchtigkeit  unten,  so  können  wir  daraus  die  normale  Höhe  der 
unteren  CumuluBgrenze  berechnen;  haben  wir  aufserdem  die  untere 
Wolkengrenze  direkt  gemessen,  so  zeigt  uns  die  Vergleichung  zwischen 
berechneter  und  gemessener  Wolkenhöhe,  ob  Gleichgewicht  in  der 
dazwischen  liegenden  Luftschicht  herrsoht.  Beispielsweise  erreicht 
eine  aufsteigende  Luftmasse  von  15°  Temperatur  und  60  ®/0  relativer 
Feuchtigkeit  ihren  Sättigungspunkt  bei  5°,  also  wenn  sie  sich  um 
10°  abgekühlt,  d.  h.  um  1000  m gehoben  hat  Hier  müssen  Wolken 
entstehen,  wenn  indifferentes  Gleichgewicht  in  der  Atmosphäre  herrscht. 
Ergibt  aber  die  direkte  Höhenmessung  eine  Cumulus-Basis  von  2('00  m, 
so  kann  sioh  diese  Wolke  nicht  unmittelbar  infolge  der  Erwärmung 
der  untersten  Luftschichten  gebildet  haben,  sondern  man  mufs  nach 
anderen  Ursachen  für  das  Aufquellen  der  Wolken  in  jenen  Höhen 
suchen  und  wird  diese  in  den  meisten  Fällen  in  einem  starken  Luft- 
druckgefälle in  dor  Höhe  finden,  welches  starke  und  ungleichmäfsige 
Luftbewegungen  und  ein  gewaltsames  Emporreifsen  der  Luft  von 
unten  her  bedingt. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  sioh  schon  in  der  Form  der  Cumulus- 
wolke etwas  über  ihre  Entstehung  ausspricht.  Darüber  können  nur 
absolute  Höhenmessungen  Aufschlufs  geben.  Derartige  Messungen 
sind  in  Potsdam  während  der  sogenannten  internationalen  Wolken- 
jahre 1896  und  1897  ausgeführt  worden2),  und  es  hat  sich  dabei 
eine  gute  Übereinstimmung  zwischen  berechneter  und  beobachteter 
Cumulusbasis  ergeben,  wenn  man  die  gewitterartigen  Wolken  aus- 


*)  Die  folgenden  Angaben  stützen  sieh  im  wesentlichen  auf  die  Potsdamer 
Woikonmessungen,  welche  als  Veröffentlichung  des  Kgl.  Preufstscben  Meteoro- 
logischen Instituts  vor  kurzem  erschienen  sind  unter  dem  Titel:  Krgebnisse  der 
Wolkenbeobschtungen  in  Potsdam  und  an  einigen  Hilfsstationen  in  Deutschland 
in  den  Jahren  1896  und  1897.  Von  A.  Sprung  und  R.  Süring.  Berlin 
JAsher  & Co.)  190.'!. 


340 


schlierst;  für  200  Fälle  betrug  der  mittlere  Unterschied  nur  85  m. 
Eine  solche  Abweichung  kann  aber  6chon  entstehen,  wenn  die 
Temperatur  unten  um  1°  oder  die  Feuchtigkeit  um  2%  falsch  ange- 
setzt worden  ist.  Bei  Betrachtung  der  Einzelfälle  zeigen  sich  jedoch 
für  bestimmte  Formen  der  Wolken  tatsächlich  systematische  Ab- 
weichungen. Für  Cumuli  mit  sanft  abgerundeten  Kuppen,  wie  in 
Figur  1,  kann  man  die  Höhe  mit  einem  Fehler  von  etwa  1 % aus 
Temperatur  und  Feuchtigkeit  unten  berechnen.  Etwa  doppelt  so  un- 
sicher ist  die  Rechnung  in  den  häufig  vorkommenden  Fällen,  wo  der 
Gipfel  nicht  sanft  nach  allen  Seiten  abfällt,  sondern  gleichsam  über- 
hängend, meist  nach  vorn  geneigt  ist  Der  obere  Wolkenrand  ist 
dann  in  eine  schneller  bewegte  Luftschicht  gelangt,  welche  nicht  nur 
die  obere  Wolkenteile  nach  vorn  reifst,  sondern  wohl  auch  ein  be- 
schleunigtes Aufsteigen  der  Luft  von  unten  bedingt.  Die  Konden- 
sation tritt  infolgedessen  schon  früher  ein,  als  die  Berechnung  für  ein 
indifferentes  Gleichgewicht  ergibt;  es  herrscht  also,  wenigstens  für 
kurze  Streoken,  labiles  Gleichgewicht,  und  eine  geringfügige  Unregel- 
mäfsigkeit  in  der  Temperaturverteilung  genügt  schon,  um  das  Gleich- 
gewicht auszulösen  und  die  relativ  zu  kalten,  schworen  Luftteilchen 
als  Regenschauer  und  Graupelböe  wieder  nach  unten  zu  schallen. 
Die  besten  Beispiele  für  diesen  Vorgang  findet  man  im  Frühling  im 
sogenannten  „Aprilwetter“,  während  im  Sommer  der  labile  Gleich- 
gewichtszustand häufig  schon  in  ganz  goringer  Höhe,  noch  bevor 
Wolkenbildung  eingetreten  ist,  ausgelöst  wird;  es  entstehen  dann 
kurze,  heftige  Windstöfse  und  Staubwirbel.  In  einigen  Gebirgstälern 
mit  steilen  Wänden,  wo  die  Luft  wie  in  einem  Kamin  emporgesogen 
wird,  z.  B.  im  Ampezzo-Tal  in  den  Dolomiten,  sind  diese  Windstöfse 
um  Mittag  eine  ständige  Begleiterscheinung  heifsen  Wetters.  An  den 
nach  vorn  geneigten  Wolken  lassen  sich  solche  kleinen  Umwälzungen 
der  Luftmassen  manchmal  direkt  beobachten:  in  wenigen  Sekunden 
löst  sich  eine  vorspringende  Wolkenmasse  auf,  d.  h.  sie  verdampft 
im  absteigenden  Strom,  während  sich  an  anderer  Stelle  Wolken 
schnell  wieder  zusammenbaUen.  Derartige  Beobachtungen  lassen  sich 
auoh  für  prognostische  Zwecke  verwerten,  da  sie  uns  frühzeitig  auf 
die  Luftunruhe  in  der  Atmosphäre  aufmerksam  machen. 

Nicht  minder  interessant  als  die  vornüber  geneigten  sind  die 
steil  ansteigenden  und  die  spitz  zulaufenden  Cumulusformen.  Sie 
nehmen  manchmal  die  Gestalt  eines  festen  Turmes  an,  jedoch  zeigt 
die  genauere  Beobachtung,  dafs  diese  Gebilde  sehr  rasch  zerfallen, 
um  neuen,  ähnlichen  Platz  zu  machen,  und  die  Höhenmessung  be- 


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341 


stätigt,  data  sie  sich  nicht  durch  die  gleichmäßige  Wärmebewegung 
vura  Erdboden,  sondern  durch  dynamische  Kräfte  in  der  Höhe,  durch 
Wirbelbildung  entwickelt  haben.  Die  Unterfläche  solcher  Wolken 
liegt  nämlich  meist  erheblich  höher,  als  man  nach  der  Rechnung 
erwarten  sollte.  Am  größten  pflegt  der  Unterschied  bei  Gewitter- 
wolken (Cumulo-Nimbus)  zu  sein  (Tafel  I,  Figur  2).  Die  gigantischen 
oberen  Umrisse  dieser  Wolke,  ihr  unbestimmter,  in  Dunst  verschwim- 
mender  unterer  Rand  unterscheiden  sie  meist  schon  äußerlich  von 
dem  gewöhnlichen  Wärme-Cumulus,  aber  es  Anden  doch  so  zahl- 
reiche Übergänge  zwischen  beiden  Formen  statt,  daß  es  sehr  er- 
wünscht ist,  durch  eine  direkte  Höhenmessung  mehr  Klarheit  in  das 
Wesen  der  Wolken  zu  bringen.  Die  Potsdamer  Messungen  zeigen, 
daß  allen  Haufenwolkcn  mit  ungewöhnlich  hoch  liegender  Basis, 
auch  wenn  sie  zunächst  nicht  gewitterhaft  aussahen,  innerhalb  von 
12  Stunden  ein  Witterungsumsohlag:  Regenböen  oder  Gewitter, 

folgte.  Es  muß  einstweilen  zweifelhaft  bleiben,  ob  es  bei  uns  über- 
haupt vorkommt,  daß  sich  eine  Gewitterwolke  auf  einer  Basis  auf- 
baut, deren  Höhe  der  Kondensationshöhe  der  vom  Boden  aufsteigenden 
Luft  enßpricht;  zuweilen  konnte  sogar  direkt  beobachtet  werden,  daß 
2—3000  m unterhalb  der  Gewitterwolke  regelmäßige  Wärme-Cumuli 
schwammen.  Man  wird  dadurch  zu  der  Ansicht  geführt,  daß  zur 
Gewitterbildung  selten  eine  eintägige  intensive  Überhitzung  des 
Bodens  genügt,  sondern  dafs  erst  durch  mehrtägige  Bildungen  von 
Haufenwolken  feuchte,  relativ  warme  Luftmassen  in  die  Höhe  geführt 
werden  müssen,  welche  dann  erst  eines  neuen  Anstoßes  meist  wohl 
dynamischer  Kräfte,  bedürfen,  um  sich  zur  Gewitterwolke  umzubilden. 
Daß  dieser  Vorgang  über  dem  Flachlande  für  schwere  Gewitter  der 
häufigere  ist,  wird  auch  durch  ältere  Wolkenbeobachtungen  von 
Clement  Ley  indirekt  bestätigt  Ley,  welcher  einer  der  eifrigsten 
Wolkenforsoher  Englands  war,  nennt  als  eines  der  sichersten  Kenn- 
zeichen für  ein  schweres  Gewitter  eine  außerordentlich  zierliche,  hell- 
glänzende Wolkenschicht  auf  welcher  zahlreiche  kleine  Türme  oder 
Protuberanzen  sitzen.  Dieses  Gebilde,  für  welches  es  auch  die  volks- 
tümliche Bezeichnung  „Donnerköpfe“  gibt,  zeigt  offenbar  das  erste 
Stadium  einer  aufsteigenden  Bewegung  an,  welche  später  zur  Ent- 
wickelung der  eigentlichen  Gewitterwolke  führt.  Da  nun  diese 
Wolkenschieht  sohr  hoch  liegt  — selten  unter  2000  m,  meist  über 
3000  m — , und  da  sie  sohon  ganz  früh  morgens  und  spät  abends 
beobachtet  worden  ist,  so  ist  es  ausgeschlossen,  dafs  sie  durch  Er- 
wärmung der  untersten  Lufßchiohten  entstanden  ist.  Die  Wolke  ist 


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342 


somit  geradezu  ein  Beweis  für  die  Bedeutung  der  Vorgänge  in  den 
oberen  Luftschichten  bei  der  üewitterbildung. 

Bisher  war  meist  nur  von  dem  unteren  Wolkenrand  die  Rede; 
es  mufs  daher  noch  auf  die  Frage  eingegangen  werden,  welche  Dimen- 
sionen die  Wolken  erlangen  und  wodurch  die  obere  Abgrenzung 
bedingt  wird.  Auch  hier  haben  diePotsdamerMessungeneinigeAufschlüsse 
gegeben.  Bei  den  Vertikalbewegungen  hat  man  zu  unterscheiden 
zwischen  dem  Aufquollen  der  Cumulusköpfe  und  dem  Heben  der  ganzen 
Wolkenmasse.  Innerhalb  der  scheinbar  so  ruhig  dahinschwebenden 
Haufenwolken  geht  es  recht  stürmisch  her.  Die  Luftschiffer  haben 
wiederholt  berichtet,  dafs  hier  starke  und  unregelmäfsige  Wirbel- 
bewegungen Vorkommen,  welche  den  Ballon  in  heftige  Schwankungen 
versetzen  und  direkt  in  Gefahr  bringen  können.  Es  wird  nicht  zu 
hoch  gegriffen  sein,  wenn  man  annimmt,  dafs  hier  Vertikalgeschwin- 
digkeiten von  mehreren  Metern  in  der  Sekunde  Vorkommen.  Diese 
Wirbelbewegungen  um  eine  horizontale  Achse  hängen  offenbar  mit 
labilen  Gleichgewichtszuständen  bei  dem  Koudensationsprozefs  zu- 
sammen. Infolge  eines  solchen  Aufquellens  erreicht  ein  einfacher 
Cumulus  eine  Dicke  von  etwa  600  m im  Laufe  des  Vormittags.  Das 
Dickenwachstum  scheint  bald  nach  Mittag  aufzuhören,  während  die 
Wirbelbildungen  wohl  noch  einige  Zeit  fortdauern.  Erheblich  gröfsero 
Mächtigkeit  haben  die  Gewitterwolken,  nämlich  im  Mittel  2000  m und 
in  einzelnen  Fällen  bis  zu  6000  in  bei  einer  durchschnittlichen  Höhe 
der  unteren  Wolkenfläche  von  2200  m.  Der  Cumulus  wird  aber  nicht 
nur  dicker  im  Laufe  des  Tages,  sondern  er  steigt  auch  als  Ganzes  in 
die  Höhe,  allerdings  sehr  langsam,  sobald  nur  thermodynamische 
Kräfte  (Temperatursteigerung  der  Luft  am  Erdboden)  wirken.  Die 
Unterfläohe  einer  Haufenwolke  hebt  sich  nur  um  etwa  2 in  in  der 
Minute,  also  im  Laufe  von  12  Stunden  um  etwa  1000  m,  und  zwar 
dauert  dieses  Ansteigen  ziemlich  gleichmäfsig  an  von  der  ersten  Bil- 
dung bis  Sonnenuntergang.  Für  Gewitterwolken  lassen  sich  einst- 
weilen keine  entsprechenden  Daten  geben,  da  die  Wolken  zu  kurzen 
Bestand  haben  und  ihre  unteren  Ränder  häufig  durch  Dunst  und 
andere  Wolkenraassen  verdeckt  sind. 

Für  die  obere  Abgrenzung  der  Wolke  ist  zunächst  die  Kraft 
des  aufsteigenden  Stromes  mafsgebend,  aber  doch  nicht  ausschliefslich. 
Fast  immer  setzt  sich  nämlich  der  Aufbau  der  Atmosphäre  aus  einer 
Reihe  von  Schichten  zusammen,  welche  wegen  ihrer  Verschiedenheit  in 
bezug  auf  Wärmegehalt,  Bewegung  und  Richtung  scharf  voneinander 
getrennt  sind.  Nur  in  Ausnahmefällen  vermag  die  Haufenwolke  in 


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343 


eine  neue  derartige  Atmosphärenschicht  einzudringen,  sondern  sie 
breitet  sich  in  der  darunter  liegenden  aus.  Von  oben  sehen  der- 
artig Wolken  daher  häufig  ganz  anders  aus  als  von  der  Erde,  be- 
sonders am  Nachmittag;  an  Stelle  der  aufquellenden  Köpfe  sieht  man 
eine  ziemlich  ebene,  wenn  auch  vielfach  durchbrochene  Decke,  aus 
welcher  nun  einzelne  Köpfe  wie  Riesenspargel  herausragen.  Aber 
diese  „durchgegangenen"  Cumuli  haben  keine  lange  Lebensdauer;  sie 
trocknen  in  der  anderen  Luftschicht  einfach  weg.  Von  unten  kann 
man  diesen  Prozefs  gegen  Abend  verfolgen,  wenn  die  Haufenwolken 
nicht  mehr  aufquellen:  sie  breiten  sich  alsdann  scbichtförmig  aus, 
so  dafs  sie  als  Kombination  von  Cumulus  und  Stratus,  als  Strato- 
Cumulus  zu  bezeichnen  sind.  Auch  wenn  diese  Wolken  schliefslich 
ganz  verschwinden,  wird  doch  eine  relativ  feuchte  Luftschicht  be- 
stehen bleiben,  welche  später  bei  weiterer  Abkühlung  zu  neuer 
Wolkenbildung  führen  kann.  So  entstehen  jene  groben  Schäfchen- 
wolken (Alto  - Cumuli) , welche  man  häufig  bei  Sonnenaufgang  sehen 
kann.  Je  nachdem  sich  diese  Wrolken  wieder  auflösen  oder  zu 
Cumulus-  und  ähnlichen  Wolken,  z.  B.  den  vorhin  erwähnten 
„Donnerköpfen“  verdichten,  kann  man  auf  Fortbestand  des  guten 
Wetters  oder  auf  einen  Witterungsumschlag  im  I-aufe  des  Tages 
rechnen.  In  dieselbe  Kategorie  läfst  sich  trotz  der  verschiedenen  Form 
der  sogenannte  „trockene“  Nebel  einreihen,  welcher  sich  am  deutlichsten 
in  den  oberen  Teilen  von  Gebirgstälern  zeigt.  Es  ist  dies  ein  aufser- 
ordentlich  feiner  Niederschlag  in  einer  dunstigen  Luftschicht,  so  dafs 
man  im  Zweifel  sein  kann,  ob  man  sich  im  Dunst  oder  im  Nebel  be- 
findet; er  bildet  sich  anscheinend  dort,  wo  ein  vom  Boden  oder  an 
den  Berghangen  aufsteigender  und  deshalb  staubhaltiger  Luftstrom  zur 
Ruhe  gekommen  ist.  Auch  wenn  tagsüber  keine  Wolkenbildung 
eingetreten  ist,  genügt  nachts  oder  gegen  Morgen  — zur  fceit 
des  Temperaturminimums  — eine  geringe  Abkühlung,  um  schwache 
Kondensation  an  den  Staubteilchen  hervorzubringen.  Im  allgemeinen 
wird  ein  solcher  Nebel  das  Kennzeichen  eines  gleichmäfsigen  Luft- 
austausches in  den  unteren  Schichten  und  einer  geringen  Luftbewegung 
sein;  er  gilt  dementsprechend  den  Gebirgsbewohnern  als  Ankündigung 
guten  Weiters.  Auch  den  Luftschiffern  sind  diese  Übergangszustände 
zwischen  Nebel  und  Dunst  wohlbekannt. 

Durch  die  zuletzt  angestellten  Betrachtungen  sind  wir  bereits 
von  der  Besprechung  der  Wolken  des  aufsleigenden  Stromes  zu  den 
Sohicht-  oder  Stratuswolken  hinübergeleitet  worden.  Für  die  Ent- 
stehung von  Schichtwolken  sind  hauptsächlich  zwei  Momente  von  Be^ 


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deutung:  Abkühlung  und  Mischung  ungleich  warmer,  feuchter, 
horizontal  bewegter  Luftmassen.  Bezüglich  der  näheren  Bedingungen 
für  das  Zustandekommen  derartiger  Wolken  kann  auf  den  schon  vor- 
her angezogenen  Artikel  des  Herrn  vonBezold  (besonders  S.  206  und 
210)  verwiesen  werden.  An  dieser  Stelle  kommt  es  mehr  darauf  an, 
zu  zeigen,  in  welcher  Form  Schichtwolken  auftreten.  Die  einfachsten 
und  niedrigsten  Gebilde  dieser  Art  sind  der  Nebel  und  jene  gleich- 
miifsige  graue  Wolkendecke,  welche  so  typisch  ist  für  trübe,  dunkle 
Wintertage.  Für  den  Bestand  dieser  Walken  sind  Abkühlung  von 
unten  und  eine  schneller  bewegte  oder  anders  gerichtete  Luftströmung 
am  obern  Rande  notwendig.  Die  Auflösung  erfolgt  durch  Erwärmung; 
je  nachdem  diese  Vernichtung  von  unten,  d.  h.  vom  Boden  aus,  oder 
von  oben  beginnt,  hat  man  den  Eindruck,  dafs  der  Nebel  bezw.  die 
Wolke  steigt  oder  fällt.  Eine  Wetterregel  besagt,  dafs  auf  „fallenden“ 
Nebel  gutes  Wetter  folgt.  Diese  Regel  wird  dann  eintreffen,  wenn  die 
Auflösung  von  oben  direkt  durch  Sonnenstrahlung  geschieht  — Die 
winterliche  Schichtwolke  kommt  vorwiegend  in  barometrischen  Hoch- 
druckgebieten vor  und  ist  das  Kennzeichen  einer  sehr  stabilen  Luft- 
masse. Ihre  Höhe  liegt  meist  unter  1000  m,  so  dafs  die  gröfseren 
Erhebungen  der  deutschen  Mittelgebirge  über  sie  hinausragen.  Infolge- 
dessen kehren  sich  die  Witterungsunterschiede  zwischen  Tal  und  Berg 
um:  unten  kalte,  feuchte  Luft,  oben  viel  höhere  Temperatur  und  starke 
Sonnenstrahlung.  Von  oben  gesehen  hat  man  alsdann  den  Anblick 
eines  Wolkenmeeres,  da  sich  die  Nebelmassen  in  regelmüfsigen  Ab- 
ständen von  einigen  hundert  Metern  hintereinander  reihen.  Für  diese 
Form  ist  aufser  der  Abkühlung  auch  die  Mischung  verschieden  tempe- 
rierter Luftmassen  mafsgebond. 

Reine  Mischungswolken  sind  in  ihrem  Anfangsstadium  immer 
aufserordentlich  dünn;  fast  alle  zarten  Wolkengebilde  gehören  daher 
zu  dieser  Kategorie.  Zunächst  die  losen  Wolkenfetzen,  welche  bei 
böigein  Wetter  in  geringer  Höhe  schnell  über  uns  hinwegziehen  und 
den  Eindruck  zerrissener  Haufenwolken  machen.  Sie  führen  den 
Namen:  Fracto-Cumulus  — der  Engländer  nennt  sie  einfach  Scud  — , 
obgleich  sie  mit  den  Cumuluswolken  wenig  oder  gamichts  gemein 
haben ; jedenfalls  ist  ihre  Entstehung  wohl  immer  unabhängig 
von  den  Wärmeverhältnissen  am  Erdboden.  In  mittelhohen  Schichten 
erscheinen  die  Mischungswolken  entweder  als  lange  Wellenzüge 
(Tafel  II,  Figur  3)  oder  als  gruppenweise  angeordnete,  flockige 
Massen,  welche  als  Schäfchen-  oder  Lämmerwolken  bekannt  sind 
(Tafel  II,  Figur  4).  Der  Meteorologe  unterscheidet  je  nach  der  Höhe 


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Fig.  3.  Wogenwolken.  Höhe  4820  m,  Wellenlänge  440  m. 


Fig.  4.  Cirro- Cumulus.  Höhe  5780  m. 
Tafel  II. 


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zwei  Arten:  die  derben,  teilweise  schon  schattenwerfenden  Alto- 
Cutnuli  (Höhe  3 — 4000  m)  und  die  kleineren,  zierlichen  und  helleren 
Cirro-Cumuli  (6  — 6000  m). 

Die  Entwicklung  solcher  Mischungswolken  gestaltet  sich  in  den 
einfachsten  Fällen  etwa  folgendermafsen.  Wenn  frühmorgens  der 
Himmel  völlig  wolkenlos  ist,  so  wird  der  Wetterkundige  dies  nicht 
ohne  weiteres  als  das  Anzeichen  eines  schönen  Tages  ansehen,  sondern 
er  wird  mit  verdoppelter  Aufmerksamkeit  die  Färbung  des  Himmels- 
blau beachten.  Er  wird  alsdann  manchmar  einen  matten,  weifsen 
Anflug  bemerken,  der  jedoch  rasch  wieder  verschwindet,  bis  sich 
plötzlich  auf  weite  Erstreckung  hin  wogenförmig  angeordnete  Wolken 
wie  Wellenfurchen  im  Ufersand  vor  den  Augen  des  Beobachters 
bilden.  Ebenso  wie  an  der  Grenzfläche  von  Luft  und  Wasser  bei 
stark  bewegter  Luft  Wellen  entstehen,  treten  auoh  Luftwogen  ein, 
wenn  leichtere  Luft  sohnell  über  schwerere  hinwegstreicht.  Ist  die 
untere  Schicht  nahezu  mit  Dampf  gesättigt,  so  werden  die  in  den 
Wellenbergen  gehobenen  und  dabei  abgekühlten  Luftmassen . ihren 
Wasserdampf  kondensieren  und  als  parallele  Wolkenstreifen  erscheinen 
(Fig.  3).  Liegt  in  geringer  Höhe  darüber  eine  etwas  anders  gerichtete 
Schioht,  dann  bildet  sich  ein  zweites  Wellensystem,  und  die  bereits 
vorhandenen  Wolkenstreifen  werden  abermalB  zerteilt,  so  dafs  die 
ganze  Schicht  ein  Würfel-  oder  rautenförmiges  Aussehen  erhält  (Fig.  4). 
Der  bildliche  Vergleich  mit  einer  über  uns  hinwegziehenden  Herde 
trifft  dann  tatsächlich  gut  zu.  Die  Dimensionen  solcher  Wogenwolken 
lassen  sich  rechnerisch  annähernd  ermitteln  aus  den  Geschwindig- 
keits-  und  Temperaturunterschieden  der  sich  mischenden  Luftmassen. 
Natürlich  ergeben  sich  dabei  sehr  viel  gröfsere  Werte  als  für  Wasser- 
wellen, z.  B.  würden  den  Wellen  einer  sturmbewegten  See  (5  bis  10  m 
Länge)  Luftwellen  von  15  bis  30  km  Abstand  und  mehreren  Kilo- 
metern Höhe  entsprechen.  Wellen  von  dieser  Gröfse  würden  abwärts 
vordringend  selbst  die  Luft  am  Erdboden  in  Bewegung  setzen.  Von 
Helmholtz  hat  auf  die  Weise  das  böige  Wetter  mit  periodischen 
Windstöfsen  und  Regenschauern  in  etwa  einstiindigen  Intervallen 
erklärt. 

Für  die  Wolkenforschung  interessieren  uns  zunäobst  nur  die 
allerersten  Stadien  der  Wogenbildung,  also  die  kürzeren  Wellen,  denn 
bei  der  weiteren  Entwickelung  mit  fortdauernden  Kondensationserschei- 
nungen und  Luftmischungen  verschwindet  der  Eindruck  der  Wogen- 
unordnung bald  wieder.  Es  äufsert  sich  dies  auoh  darin,  dafs  die 
Streifungsrichtung  der  Wogenwolken  nur  verhältnismäßig  selten  genau 


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346 


senkrecht  zur  Zugrichtung  steht  und  dafs  die  Abweichung  von 
einem  rechten  Winkel  durchschnittlich  um  so  gröfser  wird,  je  höher 
die  Wolke  schwebt  Letzteres  rührt  wahrscheinlich  daher,  dafs  bei 
den  zarten  oberen  Wolken  die  Wogenbildung  erst  in  einem  ziemlich 
weit  vorgeschrittenen  Stadium  der  Mischung  für  unser  Auge  sichtbar 
wird.  Was  sich  uns  dann  als  Wogenwolken  zeigt,  6ind  also  meist  schon 
durch  anders  gerichtete  Luftströmungen  stark  verzerrte  Wellen.  Die 
Dimensionen  derselben  wechseln  sehr.  Während  in  den  Schichten 
unterhalb  von  2 km  Höhe  Wellenlängen  bis  zu  2f>0  m vorherrschen, 
kommen  in  der  Cirrusregion  solche  von  2000  m vor;  besonders  be- 
vorzugt ist  jedoch  eine  Höhenlage  von  4000  m und  hier  wiederum 
eine  Wellenlänge  von  45o  m.  Die  Dicke  von  Wogenwolken  ist  gleich- 
falls starken  Schwankungen  unterworfen;  anfangs  naturgemäfs  sehr 
gering,  kann  sie  schon  innerhalb  einer  Stunde  bis  zu  300  m anwachsen. 
Beiläufig  möge  erwähnt  werden,  dafs  Wogenwolken  sich  auch  an  den 
Rändern  ausgedehnter  Schiohtwolken  bilden,  besonders  dann,  wenn  sie 
sich  auflösen.  Die  Wogen  sind  dann  also  das  Endstadium  der  Wolken-' 
bildung  und  werden  um  so  feiner,  je  länger  sie  bestehen. 

Bezüglich  der  weiteren  Entwickelung  von  Mischungswolken  wurde 
soeben  schon  erwähnt,  dafs  meist  mehrere  flache  Luftschichten  von 
verschiedenem  Wärmegehalt  übereinander  liegen,  welche  sioh  allmäh- 
lich vereinigen  und  so  zu  einer  einzigen  Wolkenmasse  von  mehreren 
hundert  Metern  Mächtigkeit  werden.  Von  unten  gesehen  läfst  sich 
liieser  Vorgang  in  der  Regel  nieht  verfolgen,  dagegen  recht  gut  vom 
Ballon  aus,  wie  folgendes  Beispiel  eines  Aufstiegs  von  Berlin  aus  zeigt. 
Bei  unserer  Abfahrt  war  es  mit  Ausnahme  ganz  vereinzelter  hoher 
Cirruswolken  wolkenlos;  etwa  eine  Stunde  später  bildeten  sich  typische 
Alto-Cumuli,  die  in  einer  Höhe  von  2200  m erreicht  und  bei  2500  m 
überflogen  wurden.  Darüber  hatten  sich  inzwischen  noch  drei  weitere 
Wolkenlager  entwickelt,  in  denen  leichter  Schneefall  herrschte,  welche 
aber  trotzdem  so  dünn  waren,  dafs  die  Sonne  hindurohdrang.  Die 
Trennungszonen  waren  um  so  schlechter  zu  definieren,  je  weiter  der 
Tag  fortschritt.  Erst  in  4000  m befanden  wir  uns  dauernd  über 
Wolken,  Beim  Abstieg  schienen  sich  die  verschiedenen  Schichten 
bereits  zu  einer  ziemlich  kompakten  Schneewolke  vereinigt  zu  haben, 
und  wenige  Stunden  nach  der  Landung  folgte  ein  sanfter,  aber  er- 
giebiger Regen.  Da  am  Erdboden  etwa  6°  Wärme  herrschte,  hatte 
sich  der  Schnee  natürlich  in  Regen  aufgelöst.  — Xach  Beobachtungen 
von  unten  können  wir  eigentlich  nur  die  Höhenänderungen  der  in- 
einander übergehenden  Formen  und  die  gleichzeitigen  Witterung«- 


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Änderungen  vergleichen.  Was  die  Formänderungen  Belbst  betrifft,  so 
kann  man  als  Grenzstadien  die  Ausbildung  der  Alto-Cumuli  zur  Regen- 
wolke (Nimbus)  und  die  Ausbildung  zu  den  ballen-  oder  walzen- 
artigen  Gestalten  des  Strato-Cumulus  unterscheiden.  Eine  Zwischenstufe 
in  dieser  Entwicklung  bildet  in  der  Regel  die  strukturlose  Schichtwolke 
(Alto-Stratus),  ein  gleichmäfsiger  Schleier  von  grauer  Farbe,  der  jedoch 
so  dünn  ist,  dafs  mau  die  Lage  der  Sonne  wenigstens  als  hellen  Schimmer 
erkennt.  Überwiegt  nun  in  der  Alto-Slratus-Wolke  der  Mischungs- 
prozefs  über  die  saugende  Wirkung  der  oberen  Luftströmung,  d.  h. 
sind  Geschwindigkeit  und  Richtung  des  oberen  und  unteren  Stromes 
wenig  voneinander  verschieden,  oder  sinkt  sogar  die  Luftmasse  ober- 
halb des  Alto-Stratus  abwärts,  dann  wird  die  Wolke  nicht  nach  oben 
anwachsen  können,  sondern  sie  wird  sich  zerteilen,  in  einzelne  Ballen 
auflösen  und  so  in  die  unbestimmten  Formen  des  Strato-Cumulus  über- 
gehen. Diese  Wolke  macht  immer  einen  unfertigen  Eindruck  und 
bereitet  dadurch  viel  Schwierigkeiten  bei  der  Definition;  bald  ähnelt 
sie  dem  Cumulus  — wenn  nämlich  stellenweise  aufwärts  gerichtete 
Kräfte  ins  Spiel  treten,  — bald  ähnelt  sie  dem  Alto-Stratus  oder  dem 
Alto-Cumulus  oder  der  Regenwolke.  Ihre  vertikale  Mächtigkeit  beträgt 
durchschnittlich  nur  3—400  m;  heAiger  Niederschlag  ist  also  aus  dem 
Strato-Cumulus  nicht  zu  erwarten. 

Weit  wichtiger  a(j>  die  verschiedenartigen  Gestalten  des  Strato- 
Cumulus  ist  die  Entwickelung  der  Mischungswolken  zum  Nimbus. 
Derselbe  entsteht  — wiederum  nur  unter  Berücksichtung  des  einfachsten 
Falles  — infolge  der  stark  aufsteigenden  Bewegung  in  der  Umgebung 
eines  atmosphärischen  Wirbels.  Im  Grenzgebiete  zwischen  barometri- 
schem Maximum  und  Minimum  bilden  sich  die  ersten  Wolken  durch 
Mischung,  und  diese  werden  bei  dem  Näherrücken  des  Minimums  in 
die  Höhe  getrieben.  Der  Nimbus  hat  also  sowohl  mit  dem  Stratus  wie 
mit  dem  Cumulus  manche  Ähnlichkeit;  er  unterscheidet  sich  von  dem 
Stratus  durch  den  gröfseren  Wassergehalt,  er  unterscheidet  sich  von 
dem  Cumulus  durch  das  Fehlen  labiler  Gleichgewichtszustände  im 
Innern  der  Wolke.  Am  besten  erkennt  man  die  Verschiedenheiten  vom 
Luftballon  aus.  Durch  die  Regenw'olke  steigt  der  Ballon  ohne  jegliche 
Schwankungen  und  Wirbelbewegungen  hindurch  und  wird  dabei  bald 
völlig  durchnäfst,  während  in  der  ilaufenwolke  der  Niederschlag  sich 
meist  nur  an  vorspringenden  und  rauhen  Teilen  festsetzt,  d.  h.  die 
Kondensation  beginnt  erst  bei  der  Berührung  mit  festen  Körpern.  Am 
deutlichsten  ist  der  Unterschied  bei  Temperaturen  unter  dem  Gefrier- 
punkt; im  Nimbus  Schnee-  oder  Eisnadelfall,  im  Cumulus  Reif,  bezw. 


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Rauhreif.  Die  Regenwolken  haben  aufserdem  die  bei  weitem  gröfsten 
Dimensionen;  sie  haben  häufig  eine  Dicke  von  3 — 4000  m,  zuweilen 
sogar  über  6000  m und  einen  horizontalen  Durchmesser  von  über 
100  km.  Bei  solchen  Ausmessungen  verliert  man  natürlich  bei  Be- 
obachtung von  unten  den  Überblick  über  die  Formen.  Von  oben  ge- 
sehen hat  die  Regenwolko  eine  leicht  gewellte,  zuweilen  haubenförmige, 
nach  allen  Seiten  sanft  abfallende  Gestalt;  sie  erstreokt  sich  am  höchsten 
im  Zentrum  der  Zyklone. 

In  den  vorhergehenden  Erörterungen  sind  die  wichtigsten  Formen 
der  unteren  und  milteihohen  Wolken  geschildert,  und  es  bleiben  somit 
nur  noch  die  höchsten  Wolken,  die  Cirren  oder  Federwolken  übrig. 
Keine  andere  Wolkenart  zeigt  eine  solche  Fülle  von  Modifikationen  — 
sogar  zu  gleicher  Zeit  und  auf  engem  Raum  beieinander  — , und  man 
begegnet  daher  auch  häufig  einem  gewissen  Pessimismus  bei  der 
Deutung  dieser  Gebilde;  sie  sind  anscheinend  zu  sehr  „entartet“,  um 
ihren  physikalischen  Entwickelungsprozers  verfolgen  zu  können. 
Allerdings  glaubte  man  früher,  dafs  nur  horizontale  Luftströmungen 
für  die  Enstehung  in  Betracht  kämen,  und  dafs  in  den  Höhen 
der  Cirren  (etwa  9000  ml  fast  stets  dieselben  Temperaturen 
herrschten.  Die  Ballonfahrten  und  insbesondere  die  Aufstiege  unbe- 
mannter Registrierballons  haben  jedoch  ergeben,  dafs  in  diesen  Höhen 
die  Temperatursohwankungen  zwar  geringer  sind  als  am  Erdboden, 
aber  doch  immerhin  so  bedeutend,  dafs  für  die  Entwicklung  der  Cirren 
auch  thermodynamische  Kräfte  zu  berücksichtigen  sind.  Auch  in  der 
Cirrusregion  werden  sich  daher  Mischungswolken,  Schiobtwolken 
und  Wolken  des  aufsteigendon  Stromes  bilden,  aber  die  Wolkenränder 
werden  viel  mehr  auseinandergezogen  werden,  da  sie  aus  Eisnadeln 
bestehen  und  da  in  jenen  Höhen  fast  immer  Winde  von  Sturmesslärke 
wehen.  Unter  Bezugnahme  auf  die  vorher  geschilderte  Entwickelungs- 
art der  Mischungswolken  kann  man  wenigstens  einige  Cirrusformen 
jetzt  vollständig  verstehen. 

Die  meisten  Cirren  bilden  sich  wahrscheinlich  in  derselben  Weise 
wie  die  Mischungswolken  in  den  mittleren  Schichten.  Am  reinsten 
spricht  sich  die  Übereinanderlagerung  verschieden  gerichteter  Luft- 
strömungen in  den  Cirruswogen  aus;  auch  diese  Wogen  kann  man 
vor  seinen  Augen  am  blauen  Himmel  entstehen  sehen.  Solche  Wogen- 
wolken aus  Eis  sind  anscheinend  viel  weniger  vergänglich  als  z.  B. 
die  Alto-Cumuli,  und  sie  w'erden  daher  von  den  horizontalen  Luft- 
strömungen weit  fortgeführt  und  zu  Fäden  ausgezogen.  Cirrus- Wogen 
und  Cirrnis-Füden  sieht  man  häufig  zusammen,  und  so  entsteht  wohl 


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Fig.  5.  Cirrus-Kamm.  Höhe  6870  m. 


Fig.  6.  Cirrus  - Schweif.  Höhe  7610  m. 
Tafel  III. 


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I 


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die  charakteristische  Form  des  ausgekämmten  Cirrus:  nämlich  breite 
Wolkenbänder  mit  zarten  Querstreifen.  Tafel  III  Figur  5 stellt  einen 
solchen  Cirrus-Kamm  dar;  die  „Zähne“  des  Kammes  fallen  hier  nahezu 
mit  der  Zugricbtung  des  ganzen  Wolkensystems  zusammen.  Ein  durch 
verschieden  gerichtete  Strömungen  zerzauster  Streifen  — vielleicht 
der  letzte  Rest  einer  feuchten  Strömung  — ist  auch  der  Cirrus- 
Schweif,  welcher  oft  recht  drohend  aussieht,  jedooh  ohne  die  Be- 
ständigkeit des  W’etters  zu  stören  (Tafel  III,  Figur  0).  Wenn  die 
Wolke  am  Horizont  steht,  hat  sie  Ähnlichkeit  mit  einer  aufspritzenden 
Welle,  während  tatsächlich  die  Ausläufer  des  Schweifes  meist  tiefer 
liegen  als  die  dahinter  liegenden  Schichten;  es  handelt  sich  hier  also 
offenbar  um  eine  nach  abwärts  vorrückende  und  dabei  sich  aullösende 
Wolke.  Im  Gegensatz  zu  diesen  fadenförmigen  Wolken  stehen  die 
(lockigen  Formen,  bei  denen  die  zunächst  entstandene  Cirrussohicht 
einen  vertikalen  Antrieb  nach  oben  erhält  und  sich  nun  zu  leicht  ge- 
ballten Cirren  umbildet.  Die  auffälligste  der  hierher  gehörigen  Formen 
ist  der  Cirrus-Schopf  oder  die  Cirrus-Kralle,  nämlich  Cirrus-Streifen  — 
manchmal  von  einer  Schicht  ausgehend  — , welche  sich  vorn  zu  einem 
Knäuel  verdichten.  Höhenmessungen  haben  ergeben,  dafs  dieser 
Knäuel  durchschnittlich  um  350  m höher  liegt  als  die  hinteren  Enden 
der  Streifen.  Mit  der  Abwärtsbewegung  steht  es  wohl  indirekt  im 
Zusammenhang,  dafs  auf  diese  Form  so  häufig  Regen  folgt.  Da  es  meist 
mindestens  12  Stunden  dauert,  bis  die  Umbildungen  so  weit  fortge- 
schritten sind,  dafs  sich  der  Regen  bildet,  so  ist  dieser  Cirrus  für 
Prognosen  gut  verwendbar.  In  naher  Beziehung  zum  Cirrus- Schopf 
stehen  die  Cirrus -Flocken.  Der  Übergang  zwischen  beiden  Formen 
läfst  sich  manchmal  direkt  beobachten;  es  verschwinden  dann  zuerst 
die  Streifen,  und  es  bleibt  nur  der  Schopf  übrig,  welcher  sich  nun 
immer  mehr  ausbreitet  und  sich  manchmal  zu  einer  verfilzten  Schicht 
odor  zu  einer  geschlossenen  Decke  umformt.  Man  pflegt  diese  letztere 
Form  als  Cirro  - Stratus  zu  bezeichnen.  Eine  solche  Cirrus-Decke, 
durch  welche  die  Sonne  — meist  umgeben  von  einem  farbigen  Ringe 
— matt  hindurchscheint,  ist  ein  häufiger  Vorbote  stärkerer  Regenfillle. 
Die  anfangs  hellen  Schichten  werden  allmählich  immer  dunkler,  da 
die  Wolkenbildungen  in  immer  tiefere  Schichten  übergreifen,  bis  der 
weiteren  Entwickelung  duroh  Regenfall  ein  Ende  bereitet  wird. 

W'enn  nun  auch  durch  neuere  Forschungen  manche  Vorgänge  am 
Wolkenhimmel  verständlicher  geworden  sind,  so  zeigt  doch  schon 
die  obige  Darstellung,  dafs  wir  bereits  bei  verhältnismäfsig  einfachen 
Prozessen  an  die  Grenze  unseres  Wissens  kommen.  Aber  anderseits 


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zeigen  auch  die  vorliegenden  Ergebnisse,  dafs  eine  Verfolgung  der 
bisher  eingeschlagenen  Forsohungsmethoden  lohnend  ist,  d.  h.  dafs 
möglichst  eingehende  Messungen  der  Wolken  und  Beobachtungen  bei 
Ballonfahrten  fortgesetzt  werden  müssen.  Es  wäre  sehr  zu  w'ünschen, 
dafs  nicht  nur  staatliche  Institute,  sondern  auch  private  Liebhaber  der 
Naturwissenschaften  ihr  Interesse  der  Wolkenforsohung  zuwenden. 
Dafs  dabei  auch  Erfolge  für  die  praktische  Witterungskunde 
zu  erwarten  sind,  konnte  in  diesem  Aufsatze  nur  beiläufig  erwähnt 
werden. 


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Zur  Entwickelungsgeschichte  der  Lehre  von 
der  Erdbewegung. 

Von  Prof.  Dr.  Wilhelm  Foerster  in  Berlin. 

%% 

*'  'ÜJä  ich  vor  kurzem  in  einem  kleineren,  nicht  akademischen  Kreise 
■i  ' einen  Vortrag  über  die  wissenschaftliche  Bedeutung  des 
griechischen  Astronomen  Ptoleraaeus  gehalten  hatte,  trat  nach 
dem  Schlüsse  des  Vortrages  einer  der  bejahrtesten  Zuhörer  an  mich 
heran  und  bekannte  sieb  als  ganz  unwissend  und  ungläubig  in  der 
Astronomie.  Vor  allem  könne  er  nicht  an  die  Erdbewegung  glauben, 
da  man  doch  irgend  etwas  von  der  Bewegung  der  Erde  merken 
müfsto. 

Solche  Äußerungen  naiven  Unglaubens  sind  für  die  gegen- 
wärtige Zivilisation  ebenso  charakteristisch,  wie  die  jetzt  sehr  häufig 
vorkommenden  Äußerungen  naivsten  Glaubens  au  die  alte  Sterndeuterei, 
nämlich  an  die  Regierung  der  menschlichen  Schicksale  durch  die 
Stellungen  der  Gestirne.  Empfing  ich  doch  selber  in  jüngster  Zeit 
den  Besuch  einer  mir  ganz  fremden  gebildeten  Dame,  welche  mich 
allen  Ernstes  darum  ersuchte,  ihr  auf  Grund  ihrer  (ieburtsstunde  das 
Horoskop  für  ihre  künftigen  Uebensschicksali;  zu  stellen. 

Den  sehr  sicher  auftretenden  älteren  Herrn,  welcher  nicht  an 
die  Bewegung  der  Erde  glauben  konnte,  vermochte  ich  natürlich  nicht 
mit  wenigen  Worten  von  seinen  Zweifeln  zu  heilen.  Ich  konnte  ihm 
nur  empfehlen,  sich  einem  tüohtigen  Volksschullehrer  anzuvertrauen, 
welcher  in  den  höheren  Klassen  einer  Gemeindesohule  mit  dem  be- 
züglichen Lehrgegenstande  betraut  sei,  und  stellte  ihm  anheim,  sich 
dort  die  elementaren  Beweise  von  der  Drehung  der  Erde  und  ihrer 
Bewegung  um  die  Sonne  veranschaulichen  zu  lassen.  Soviel  ich  aus 
der  kurzen  Unterredung  rait  dem  Zweifler  entnehmen  konnte,  bestand 
ein  Hauptgrund,  weshalb  er  an  die  Drehung  der  Erde  nicht  glauben 
konnte,  auch  darin,  dafs  man  eine  solche  Drehung  an  dem  Zurück- 
bleiben fallender  Körper  merken  müsse. 


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352 


Es  gibt  sicherlich  noch  zahlreiche  Menschen,  auch  in  der  Kultur- 
weit,  welche  ähnliche  Bedenken  hegen,  aber  dieselben  nicht  zu  äufsern 
geneigt  sind,  weil  sie  eben  Vertrauen  zur  Wissenschaft  und  soziale 
Bescheidenheit  besitzen.  Sie  haben  besten  Falles  von  diesen  Dingen  in 
der  Schule  gehört,  aber  darüber  doch  so  wenig  nachgedacht,  dafs  sie 
nicht  imstande  sind,  gegenüber  Zweiflern  obiger  Art  selber  irgend 
eine  wirksame  Aufklärung  zu  geben. 

Es  wird  deshalb  gröfseren  Kreisen  willkommen  sein,  an  dieser 
Stelle  einige  Anregungen  zu  jenem  Nachdenken  und  einige  Anhalts- 
punkte dafür  zu  empfangen.  Wir  wollen  hierfür  zunächst  einmal  den 
Wortlaut  der  entsprechenden  Betrachtungen  wiedergeben,  mit  denen 
Ptolemaeus  (140  n.  Chr.)  die  schon  im  Altertum  aufgetauchten  Lehren 
von  der  Bewegung  der  Erde  in  seinem  astronomischen  Lehrbuch  zu 
widerlegen  und  die  Ruhe  der  Erde  zu  beweisen  suoht.  Sodann  soll 
auoh  der  Wortlaut  derjenigen  Darlegungen  raitgeteilt  werden,  mit 
denen  Kopernikus  in  seinem  grofsen  astronomischen  Werke  (1640 
n.  Chr.)  die  Bedenken  deB  Ptolemaeus  bekämpft,  und  zum  Schlufs 
wollen  wir  unserseits  einige  Bemerkungen  über  dieses  Thema  hinzu- 
fügen, denen  sich  eine  kurze  Erläuterung  über  Fragen  der  relativen 
Bewegung  zweckentsprechend  anreihen  wird. 

• * 

Ptolemaeus  spricht  zunächst  im  0.  Kapitel  des  I.  Buches  seines, 
13  Büoher  (Abschnitte)  umfassenden  Lehrbuches  über  die  Möglichkeit 
einer  fortschreitenden  Bewegung  der  Erde. 

An  erster  Stelle  wird  auoh  von  ihm  hierbei  die  Richtung  des 
freien  Falles  schwerer  Körper  gegen  die  Annahme  einer  fortschreitenden 
Ortsveränderung  der  Erde  ins  Qefeoht  geführt  Es  sei  bewieson,  dafs 
diese  Fallrichtung  stets  rechtwinklig  erfolge  zu  einer  Ebene,  welche 
die  Kugelfläche  der  Erde  an  dem  Orte  des  Falles  berühre  (mit  anderen 
W'orten:  zu  der  Niveaufläche);  mithin  ziele  die  Fallrichtung  stets  nach 
dem  Mittelpunkte  der  Erdkugel.  Hierbei  hebt  nun  Ptolemaeus  nicht 
ausdrücklich  hervor,  dafs  die  Fallrichtung  durch  eine  Ortsveränderung 
der  Erde  während  des  Falles  abgelenkt  werden  könne,  sondern  er  er- 
örtert an  dieser  Stelle  nur  in  ziemlich  unbestimmter  Weise  die  Frage, 
welche  Schwierigkeit  sich  ergeben  könne,  wenn  der  Mittelpunkt  der  Erde 
überhaupt  nicht  dauernd  mit  dem  Mittelpunkte  der  Welt  Zusammen- 
falle, der  damals  noch  einen  gewissen  Anspruch  darauf  zu  haben  schien, 
dafs  die  Richtung  des  Falles  oder  der  Anziehungskräfte  nach  ihm 
hinziele. 


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353 

Dagegen  wird  es  an  dieser  Stelle  zur  Sprache  gebracht,  es 
könne  paradox  erscheinen,  dafs  eine  so  grobe  Masse  wie  die  Erde 
weder  auf  einer  Unterlage  ruhen,  noch  von  einer  Bewegung  ge- 
tragen sein  solle.  Von  diesem  Bedenken  sagt  Ptolemaeus,  dafs 
dasselbe  nach  denjenigen  Erfahrungen  urteile,  die  man  mit  kleinen 
Körpern  mache,  und  nicht  die  gewaltige  Gröfse  der  Verhältnisse  im 
Himmelsraume  genügend  in  Betracht  ziehe.  Verglichen  mit  dem  um- 
gebenden Himmelsraume  habe  ja  die  Erde,  so  gewaltig  ihre  Masse 
sei,  nur  die  Gröfse  eines  Punktos,  und  hiernach  sei  es  sehr  wohl  als 
möglich  zu  erachten,  dafs  die  Erde  von  allen  Seiten  des  Universums 
gelenkt  und  festgehalten  werde  durch  die  Kräfte,  welche  das  unend- 
lich grÖfsere  und  aus  ähnlichen  Teilen  zusammengesetzte  Universum 
auf  sie  ausübe.  Alle  leichten  und  zarten  StofTe  würden,  wie  durch 
einen  Wind,  nach  oben,  d.  h.  nach  dem  Umfange  des  Universums  hin- 
getrieben;  dagegen  seien  die  Bewegungen  uller  schweren  und  aus 
dichten  Teilen  zusammengesetzten  Körper  nach  der  Mitte  des  Uni- 
versums, wie  gegen  einen  Mittelpunkt,  gerichtet.  Sie  haben  also  die 
Tendenz,  sich  durch  die  einander  entgegengesetzten  Wir- 
kungen ihrer  Bewegungsrichtungen  und  Stüfse  um  die  Mitte  herum 
zu  gruppieren.  Man  könne  es  aber  verstehen,  dafs  die  Gesamtmasse 
der  Erde,  welche  so  beträchtlich  ist  im  Verhältnis  zu  den  Körpern, 
die  auf  sie  herabfallen,  diese  letzteren  in  ihrem  Fallen  aufnimmt,  ohne 
dafs  deren  Gewichtsgrüfsen  und  Geschwindigkeiten  ihr  selber  auch 
nur  die  geringste  Bewegung  mitteilen. 

Wenn  jedoch  die  Erde  gemeinsam  mit  den  anderen  schweren 
Körpern  eine  Bewegung  im  Baume  hätte,  würde  sie  dieselben  sehr 
bald  an  Geschwindigkeit  der  Bewegung  durch  die  Gröfse  ihrer  Masse 
übertreffen  und  also  die  Tiere  in  der  Luft  und  die  anderen  schweren 
Körper  ohne  anderen  Anhalt  als  die  Luft  hinter  sich  lassen,  ja  sogar 
bald  die  Himmelsräume  verlassen  haben.  Alle  derartigen  Annahmen 
aber  seien,  wie  Ptolemaeus  sich  ausdrückt,  von  der  äufsersten 
Lächerlichkeit,  sogar  in  der  blofsen  Idee. 

Hier  ist  folgendes  zur  Erläuterung  einzufiigen:  Es  war  eine 
schliefslich  erst  von  Galilei  ganz  überwundene  Illusion,  dafs  ein 
Körper  beim  freien  Fall  sich  um  so  schneller  bewege,  je  schwere!-  er 
sei.  Der  Unterschied  zwischen  der  Fallgeschwindigkeit  einer  Blei- 
kugel und  derjenigen  einer  Schneeflocke  oder  einer  Feder  hatte 
bekanntlich  diesen  nachhaltigen  Irrtum  verschuldet,  der  die  ganze 
Bewegungslehre  des  Altertums  und  des  Mittelalters  getrübt  hat,  da 
man  den  Luftwiderstand  ganz  aufser  acht  liefs,  welcher  allein  den 

Himmel  und  Erde.  1804.  XVI  8.  23 


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354 


Unterschied  zwischen  jener  Fallgeschwindigkeit  kleiner  Massen  mit 
relativ  grofsen  Oberflächen  und  der  Fallgeschwindigkeit  grofser  Massen 
mit  relaliv  kleiner  Oberfläche  bedingt,  ein  Unterschied,  der  sich  unter 
anderem  auch  bei  der  Art  des  Eindringens  der  kleinen  und  der  grofsen 
Meteorkörper  in  unsere  Atmosphäre  sehr  bemerklich  macht.  Der 
Sohlufs  aber,  welchen  Ptolemaeus  aus  jener  bekannten  Urteils- 
täuschung  der  alten  Bewegungslehre  auf  eine  ungeheure  Geschwindig- 
keit der  Bewegung  der  ganzen  Erde  zieht,  wenn  dieselbe  erst  einmal 
in  Gang  gebracht  sei,  dieser  Schlufs  ist  wohl  selber  höchst  wunderlich. 

Es  gibt  Leute  — fahrt  Ptolemaeus  fort  — , welche  zwar  den 
obigen  Gründen  gegen  eine  Ortsveränderung  der  Erde  sich  beugen, 
sich  aber  doch  nicht  scheuen,  anzunehmen,  dafs,  während  der  Himmel 
unbeweglich  sei,  die  Erde  innerhalb  eines  Tages  eine  volle  Umdrehung 
um  ihre  Achse  von  West  nach  Ost  ausführe,  oder  dafs  beide,  die 
Erde  und  der  Himmel,  sich  um  eine  und  dieselbe  Achse  dreheD,  und 
zwar  derartig,  dafs  dadurch  die  beobachteten  Erscheinungen  erklärt 
würden.  • 

In  der  Tat,  so  fahrt  Ptolemaeus  fort,  wenn  man  nur  die 
Himmels-Erscheinungen  in  Betracht  ziehe,  hindere  vielleicht  nichts, 
im  Interesse  der  gröfseren  Einfachheit,  eine  solche  Annahme  hinsicht- 
lich der  Drehung  der  Erde  zu  machen,  aber  diese  Leute  fühlen, 
wie  Ptolemaeus  sagt,  gar  nicht,  wie  sehr  in  Betracht  aller  derjenigen 
Erscheinungen,  welche  um  uns  her  und  in  der  Luft  vor  sich  gehen, 
ihre  Meinung  lächerlich  sei. 

Sie  würden  nämlich  genötigt  sein,  zuzugestehen,  dafs  eine  Be- 
wegung der  in  einer  solchen  Umdrehung  befindlichen  Erde  eine  viel 
gröfsere  Geschwindigkeit  haben  müfste,  als  irgend  eine  derjenigen 
Bewegungen,  welche  auf  der  Erde  oder  in  der  Umgebung  der  Erde 
stattfinden,  weil  dabei  in  einer  so  kurzen  Zeit  so  grofse  Umkreise 
beschrieben  werden  müfsten.  Diejenigen  Körper,  welche  nicht  auf  der 
Erde  ruhen,  müfsten  dabei  also  stets  den  Anschein  darbieten,  als  ob 
sie  sich  in  einer  der  Bewegung  der  Erde  entgegengesetzten  Richtung 
bewegten;  und  weder  die  Wolken  noch  irgendein  geworfener  Körper 
oder  eines  der  Tiere,  welche  fliegen,  könnten  jemals  nach  Osten 
bewegt  erscheinen.  Denn  die  Erde  würde  durch  ihre  eigene  Bewe- 
gung nach  Osten  ihnen  immer  in  dieser  Richtung  voraneilen,  der- 
gestalt, dafs  alle  übrigen  Körper  den  Anschein  eines  Zurückweichens 
nach  Westen  darbieten  würden. 

Wenn  man  nun  auch  sagen  wollte,  dafs  die  Atmosphäre  in  der- 
selben Geschwindigkeit  wie  die  Erde  mitbewegt  werde,  so  müfsten 


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355 


doch  die  Körper,  die  sich  in  der  Atmosphäre  befinden,  hinter  dieser 
gemeinsamen  Geschwindigkeit  der  Erde  und  der  Luft  Zurückbleiben, 
oder  wenn  auch  auf  sie  dieselbe  Geschwindigkeit  übertragen  würde, 
als  ob  sie  zusammen  mit  der  Luft  nur  einen  Körper  bildeten,  so  würde 
man  von  diesen  in  der  Luft  enthaltenen  Körpern  keinen  naoh  Osten 
vorausgehen  oder  nach  Westen  Zurückbleiben  sehen,  sondern  sie 
könnten  nur  unbeweglich  in  der  Luft  erscheinen,  und  es  würde  keiner, 
ob  sie  nun  fliegen  oder  ob  sie  geworfen  sind,  seinen  Ort  verändern 
können,  was  wir  doch  fortwährend  Vorgehen  sehen,  ganz  so,  als  ob 
die  Bewegung  der  Erde  ihnen  weder  Hemmung  noch  Beschleunigung 
verursachte. 

Hier  sehen  wir  also  einen  anderen  grofsen  Mangel  der  Bewegungs- 
lehre der  Alten  in  Erscheinung  treten,  nämlich  das  Fehlen  einer 
klaren  und  zutreffenden  Vorstellung  von  dem  Beharren  in  der  Be- 
wegung und  zugleich  von  der  Freiheit  der  relativen  Bewegungen 
innerhalb  eines  gemeinsam  bewegten  Systems  von  Körpern.  Ptole- 
maeus  bemerkt  es  nicht,  dafs,  ebenso  wie  die  Luft  als  mit  der  Erde 
mitbewegt  angenommen  werden  kann,  wie  er  ausdrücklich  als  möglich 
anerkennt,  auch  die  in  der  Luft  befindlichen  Körper,  die  fliegenden 
oder  die  geworfenen,  andauernd  mit  denselben  Bewegungs-Geschwin- 
digkeiten und  -Richtungen  begabt  bleiben,  welche  diejenigen  festen 
Teile  der  Erde  hatten,  von  denen  die  fliegenden  und  geworfenen  Körper 
den  Ausgang  ihres  Fluges  oder  Wurfes  nahmen.  Hierauf  wird  weiter 
unten  im  Anschlufs  an  unsere  Wahrnehmungen  bei  Eisenbahnfahrten 
und  dergleichen  zurückzukommen  sein. 

Zunächst  möge  nun  eine  Zusammenfassung  derjenigen  Betrach- 
tungen folgen,  mit  denen  Kopernikus  die  Ansichten  des  Ptolemaeus 
bekämpfe  In  dem  epochemachenden  Werke  „über  die  kreisförmigen 
Umlaufsbewegungen  der  Weltkörper“  sagt  Kopernikus  im  8.  Kapitel 
des  ersten  der  sechs  Bücher  oder  Abschnitte,  aus  denen  das  Werk 
besteht,  zur  Widerlegung  des  Glaubens  der  Alten,  dafs  die  Erde  in 
der  Mitte  der  Welt,  gleichsam  als  Mittelpunkt,  ruhe,  und  dafs  der 
Himmel  das  Bewegte  sei,  zunächst  das  Folgende: 

Ohne  Grund  fürohtet  Ptolemaeus,  dafs  die  Erde  und  alle  duroh  ihre 
Umdrehung  mitbewegten  irdischen  Gegenstände  durch  das  Wirken  der 
Xaturkräfte  auseinander  gerissen  werden  könnten,  denn  dieses  Wirken 
ist  ein  ganz  anderes  als  dasjenige  der  Technik,  welches  der  mensch- 
liche Geist  zustande  bringen  kann.  Warum  fürchtet  Ptolemaeus 
nicht  dasselbe,  und  zwar  in  viel  höherem  Mafse  von  der  Himmels- 
welt, deren  Bewegung  um  ebensoviel  schneller  sein  müfste,  um  wieviel 

23  • 


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356 

die  Himmelsräume  größer  sind  als  die  Erde?  Oder  ist  etwa  die  Himmels- 
welt so  unermeßlich  grols  dadurch  geworden,  dafs  sie  durch  die  un- 
sägliche Gewalt  einer  solchen  Drehung  von  der  Mitte  hinweg 
geschleudert  wurde  und  zusammenfallen  würde,  wenn  sie  still  stände. 
Wenn  dies  der  Sachverhalt, wäre,  würde  ja  die  Größe  des  Himmels 
ins  Unendliche  von  dannen  gehen;  denn  je  stärker  das  Bewegte 
selber  durch  diesen  Anstoß  in  das  Weite  getrieben  würde,  desto 
größer  müßte  auch  seine  Geschwindigkeit  werden  wegen  des  immer 
wachsenden  Kreisumfanges,  den  es  in  dem  Zeitraum  von  24  Stunden 
zu  durchlaufen  hat;  und  umgekehrt,  wenn  die  Geschwindigkeit  wüchse, 
müßte  auch  die  Ausdehnung  der  Himmelswelt  maßlos  wachsen.  So 
würden  (bei  der  notorisch  konstanten  Tagesdauer)  Geschwindigkeit  und 
Ausdehnung  der  Himmelswelt  sich  gegenseitig  ins  Unbegrenzte 
steigern. 

Kopernikus  fährt  dann  nach  einer  kurzen  Betrachtung  über 
die  Unendlichkeit  der  Welt  folgendermaßen  fort;  Ob  nun  die  Welt 
endlich  oder  unendlich  sei,  wollen  wir  dem  Streite  der  Meinungen 
überlassen;  sicher  bleibt  uns  dies,  daß  die  Erde,  zwischen  Polen  ein- 
geschlossen, von  einer  kugelförmigen  Oberllächo  begrenzt  ist  Warum 
wollen  wir  also  Anstand  nehmen,  eine  von  Natur  ihr  zukommende,  ihrer 
Form  entsprechende  Beweglichkeit  ihr  zuzugestehen,  eher  als  an- 
zunehmen, dafs  die  ganze  Welt,  deren  Grenze  nicht  gekannt  wird  und 
nicht  gekannt  werden  kann,  sich  bewege,  und  warum  wollen  wir 
nioht  bekennen,  daß  der  Schein  einer  täglichen  Umdrehung  dem 
Himmel,  die  Wirklichkeit  derselben  aber  der  Erde  angehöre,  und 
daß  es  sich  daher  hiermit  so  verhalte,  wie  wenn  Virgils  Aeneas 
sagt:  „Wir  laufen  aus  dem  Hafen  aus,  und  Länder  und  Städte  weioheu 
zurück“.  Weil,  wenn  ein  Schiff  ruhig  dahinfährt,  alles,  was  außer- 
halb desselben  ist,  von  den  Schiffern  so  gesehen  wird,  als  ob  es  nach 
dem  Vorbilde  der  Bewegung  des  Schiffes  sich  bewege,  und  die 
Schiffer  umgekehrt  der  Meinung  sein  können,  daß  sie  mit  allem, 
was  sie  bei  sioh  haben,  ruhen:  so  kann  es  sich  ohne  Zweifel  mit  der 
Bewegung  der  Erde  ebenso  verhalten  und  scheinen,  als  ob  die  ganze 
Welt  sich  drehe.  Was  sollen  wir  nun  über  die  Wolken  und  das 
übrige  irgendwie  in  der  Luft  Schwebende  oder  Fallende  oder  in  d e 
Höhe  Steigende  sagen,  als  dafs  nicht  nur  die  Erde  sich  mit  den  ihr  ver- 
bundenen wässerigen  Elementen  so  bewege,  sondern  auch  ein  nicht  ge- 
ringer Teil  der  Luft,  und  was  sonst  noch  auf  dieselbe  Weise  mit  der 
Erde  verknüpft  ist;  — sei  es  nun,  daß  die  zunächst  liegende  Luft, 
mit  erdiger  und  wässeriger  Matorie  vermischt,  derselben  Natur  wie  d e 


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Erde,  folgt,  sei  eB,  dafs  der  Luft  die  Bewegung  mitgeteilt  worden  ist, 
indem  sie  mittels  der  Berührung  mit  der  Erde  und  vermöge  des 
Widerstandes  durch  die  fortwährende  Umdrehung  ganz  derselben  Be- 
wegung teilhaftig  wird.  Man  behauptet  aber  wiederum  zu  gleicher 
Verwunderung,  dafs  die  höchste  Gegend  der  Luft  der  himmlischen 
Bewegung  folge,  was  jene  plötzlioh  erscheinenden  Gestirne,  welche 
von  den  Griechen  Kometen  oder  Bartsterne  genannt  werden,  verraten 
sollen,  für  deren  Entstehung  man  eben  jene  Gegend  anweist  und 
welche  gleich  den  anderen  Gestirnen  ebenfalls  auf-  und  untergehen. 
Wir  können  sagen,  dafs  jener  Teil  der  Luft  wegen  Beiner  grofsen 
Entfernung  von  der  Erde  von  der  irdischen  Bewegung  freigeblieben 
sei.  Daher  wird  die  Luft,  welohe  der  Erde  am  nächsten  liegt,  ruhig 
erscheinen  und  ebenso  die  in  ihr  schwebenden  Gegenstände,  wenn  sie 
nicht  vom  Winde  oder  von  irgend  einer  anderen  äufseren  Kraft,  wie 
es  der  Zufall  mit  sich  bringt,  hin-  und  hergetrieben  werden;  denn 
was  ist  der  Wind  in  der  Luft  anderes,  als  die  Flut  im  Meere? 

Nach  einer  längeren  an  Aristoteles  anknüpfenden  Erörterung 
über  die  gradlinige  und  die  kreisförmige  Bewegung  schliefst  dann 
Kopernikus  die  ganze  Betrachtung  mit  folgenden  Sätzen:  „Es  kommt 
nun  hinzu,  dafs  der  Zustand  der  Unbeweglichkeit  für  edler  und  gött- 
licher gehalten  wird,  als  der  der  Veränderung  und  Unbeständigkeit, 
welcher  letztere  deshalb  eher  der  Erde  als  der  Welt  zukommt,  und 
ich  füge  noch  hinzu,  dafs  es  widersinnig  erscheint,  dem  Enthaltenden 
und  Setzenden  eine  Bewegung  zuzuschreiben  und  nioht  vielmehr  dem 
Enthaltenen  und  Gesetzten,  welches  die  Erde  ist*  Kopernikus 
schliefst  das  betreffende  Kapitel  mit  den  Worten:  „Man  sieht  also,  dafs 
aus  allem  diesem  die  Bewegung  der  Erde  wahrscheinlicher  ist  als 
ihre  Ruhe,  zumal  in  bezug  auf  die  tägliche  Umdrehung,  welche  der 
Erde  am  eigentümlichsten  ist.“ 

Die  obigen  Zitate  aus  den  Orginalwerken  von  Ptolemaeus 
und  Kopernikus  werden  bei  allem  geschichtlichen  und  biogra- 
phischen Interesse,  welches  sie  darbieten,  sehr  gemischte  Eindrücke 
hinterlassen.  So  sehr  die  Auffassungen  von  Kopernikus  offenbar 
die  zum  Teil  sehr  kindlichen  Darlegungen  von  Ptolemaeus  an 
Helligkeit  und  an  Verständnis  der  Bewegungserscheinungen  über- 
ragen, sind  doch  auch  die  obigen  Aufsagungen  von  Kopernikus 
noch  reoht  weit  entfernt  von  beweiskräftiger  Strenge.  Und  noch  viel 
stärker  würde  dieser  Eindruck  sein,  wenn  ich  noch  diejenigen  seiner 
Äufserungen  wiedergegeben  hätte,  in  denen  er  sich  in  symbolisierende 
Betrachtungen  über  Ruhe  und  Bewegung,  sowie  über  die  verschiedenen 


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Arten  der  Bewegung  verliert  und  neben  der  geradlinigen  Bewegung 
nur  der  kreisförmigen  eine  kosmische  Bedeutung  zuspricht. 

Die  gewaltige  und  epochemachende  Leistung  des  Kopernikus 
für  die  Erkenntnis  der  Erdbewegung  ist  in  ganz  anderen  Kapiteln 
seines  Buches  enthalten,  welche  für  den  Mathematiker  und  Astronomen 
den  vollständig  zwingenden  Nachweis  dafür  erbringen,  dafs  die 
Bewegungserscheinungen  der  Planeten  auf  keine  andere  Weise  er- 
schöpfend und  zutreffend  erklärt  werden  können,  als  durch  die  per- 
spektivischen Wirkungen  der  jährlichen  Ortsveränderung  der  Erde,  wo- 
bei sich  dann  die  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  in  voller  Strenge 
mit  dem  Nachweise  ihrer  täglichen  Umdrehung  verbindet.  In  der  Tat 
konnte  ja,  wenn  die  Erde  nicht  mehr  im  Mittelpunkte  der  Himmels- 
welt ruhte,  von  einem  täglichen  Umschwünge  des  Himmels  selber 
um  die  wandernde  Erde  gar  keine  Uede  mehr  sein. 

Später  sind  dann  durch  Kepler,  Galilei  und  Newton  diese 
mathematischen  Nachweise  der  Bewegungen  der  Erde  mit  Hin- 
zuziehung von  immer  feineren  Messungen  zu  einer  völlig  unwiderleg- 
lichen Stärke  entwickelt  worden,  und  naoh  der  Feststellung  der  Mefs- 
barkeit  der  Geschwindigkeit  der  Lichtfortpflanzung  und  des  Wesens 
der  Sternschnuppen-  und  Meteor-Erscheinungen  sind  auch  noch  ganz 
neue  Naohweise  für  alle  jene  Bewegungsvorgänge  hinzugekommen, 
Nachweise,  welche  sich  mit  den  von  Kopernikus  ans  Licht  gestellten 
in  wundervollster  Übereinstimmung  verbinden. 

Der  oben  im  Eingang  erwähnte  ältere  Herr,  welcher  durchaus 
danach  verlangte,  von  der  Bewegung  der  Erde  womöglich  mit  allen 
seinen  Sinnen  deutliche  Anzeichen  zu  spüren,  bevor  er  daran  glaubte, 
er  wird  weder  durch  die  obigen  Äusserungen  von  Kopernikus 
noch  durch  die  oben  erwähnten,  im  Sinne  wissenschaftlicher  Evidenz 
zwingenden  Nachweise  überzeugt  werden. 

Ich  will  daher  für  seinesgleichen  und  noch  mehr  im  Interesse 
der  viel  zahlreicheren  lieben  Leute,  welcho  ihre  Zweifel  haben,  aber 
dieselben  mit  Selbstbescheidung  zurückhalten,  noch  einige  Betrach- 
tungen über  die  Frage  der  Wahrnehmbarkeit  von  Bewegungen  und 
über  die  mitten  in  stärkster  Bewegung  mögliche  Ruheempfindung  an 
dieser  Stelle  hinzufügen  und  auch  nooh  auf  einige  Erscheinungen 
binweisen,  welche  schon  innerhalb  der  Erdenwelt  selber  für  ver- 
feinerte Wahrnehmungen  die  Wirkungen  der  Erdbewegungen  deutlich 
erkennbar  maolien. 

Wenn  wir  an  der  ohne  unsere  direkte  Mitwirkung  vor  sich  gehenden 
Bewegung  eines gröfseren  Massensystems,  z.  B.  irgendeines  Fahrzeuges. 


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das  uns  trägt,  selber  ohne  absichtliche  eigeno  Bewegung  teilnehmen, 
so  gibt  es  schon  auf  der  Erde  zahlreiche  Fälle,  in  denen  wir,  sogar 
bei  grofser  Geschwindigkeit  des  Fahrzeuges,  uns  im  Räume  als  ganz 
unbewegt  empfinden.  Ein  Luftballon,  welcher  Uber  einem  Nebel-  oder 
Wolken-Meere  von  völlig  gleichmäßiger  Oberfläche,  den  wolkenlosen 
blauen  Himmel  Uber  sich,  mit  Sturmgeschwindigkeit  einherfliegt,  ge- 
währt dem  LuftschitTer  ganz  dasselbe  Gefühl  der  Ruhe,  welches  wir 
auf  der  durch  den  Himmelsraum  so  sohnell  bewegten  Erde  empfinden. 
Die  Luftschiffer  in  der  Gondel  sind  dabei  mitten  in  ihrem  schnellen 
Fluge  ebenso  frei  und  ungehindert  in  ihren  eigenen  Stellungs-  und 
Orts- Veränderungen  innerhalb  der  Gondel,  als  ob  sie  in  absoluter 
Ruhe  wären. 

Auch  auf  einem  der  grofsen  Sohnelldampfer  im  Ozean  kann  unter 
Umständen  andauernd  dasselbe  Gefühl  der  ruhevollsten  Unbewegtheit 
eintreten,  wenn  das  Meer  weithin  ganz  still,  das  Ufer  aufser  Sioht 
ist  und  sonstige  Nebenwirkungen  der  Bewegung,  wie  die  Erschütte- 
rungen durch  die  Maschinen,  das  Rauschen  des  Wassers  an  den 
Schiffswänden,  und  der  Luftzug  an  dem  Orte  des  Beobachters  auf 
dem  Schiff  nur  in  geringem  Grade  wahrnehmbar  sind. 

Auf  der  Eisenbahn  ist  ein  solches  Gefühl  der  Ruhe  mitten  in 
schnellster  Bewegung  nur  ganz  vorübergehend  möglich,  weil  dort  die 
bewegten  Fahrzeuge  im  allgemeinen  unregelmäßigere  und  stärkere 
Stöße  sowie  stärkere  und  schnellere  Veränderungen  der  Richtung 
und  Geschwindigkeit  ihrer  Bewegung  erfahren.  Bekanntlich  kann 
man  aber  im  Anfänge  der  Bewegung  eines  Eisenbahnzuges  kurze 
Zeit  lang  sich  noch  für  ruhend  halten  und,  wenn  man  die  Augen 
bloß  auf  einen  benachbarten,  noch  stillstehenden  Eisenbahnzug  richtet, 
diesen  letzteren  irrtümlich  als  den  bereits  in  Bewegung  übergehenden 
an  sehen. 

Anders  wird  dies  freilich,  sobald  man  die  Blicke  nicht  bloß  auf 
solche  Gegenstände  wendet,  welche  selber  in  entsprechender  Weise 
bewegt  sein  können,  sondern  auf  Gegenstände,  von  denen  man 
weiß,  daß  sie  still  stehen.  An  diesen  erkennt  man  dann  sofort,  daß 
man  schon  selber  in  Bewegung  begriffen  ist 

Bei  einer  Eisenbahnfabrt  kann  man  übrigens  in  jedem  Augen- 
blicke eine  Wahrnehmung  machen,  welche  sofort  die  bei  den  oben 
erwähnten  Zweifeln  über  die  Bewegung  der  Erde  eine  gewisse  Rolle 
spielende  Frage  erledigt,  weshalb  denn  die  freifallenden  Gegenstände 
nicht  hinter  der  Bewegung  der  Erde  Zurückbleiben. 

Daß  in  der  Tat,  wie  oben  an  der  bezüglichen  Stelle  schon  be- 


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merkt,  auch  der  freifallende  Gegenstand  sich  noch  in  derselben  Ge- 
schwindigkeit und  Richtung  weiter  bewegt  wie  diejenige,  in  fester 
Verbindung  mit  dem  Erdkörper  stehende  Stelle,  von  welcher  der 
„freie“  Fall  den  Ausgang  nimmt,  kann  man  im  Eisenbahncoupe  sofort 
daran  erkennen,  dafs  irgend  ein  Gegenstand,  der  dort  ins  Fallen 
kommt,  auch  nahezu  lotrecht  herabfällt,  während  er  doch  nach  der 
primitiven  Ansohauung  hinter  der  Bewegung  dos  Wagens  während 
des  Falles  erheblich  Zurückbleiben  müfste.  In  einem  Schnellzuge, 
weloher  eine  Geschwindigkeit  von  etwa  20  Meter  in  der  Sekunde  hat, 
müfste  dieses  Zurückbleiben  in  der  halben  Sekunde,  welche  etwa  ein 
Koffer  braucht,  um  aus  dem  Konsolnetz  in  der  Nähe  der  Decke  des 
Coupes  bis  auf  die  Sitzflächen  desselben  herabzufallen,  nahezu  das 
Acht-  bis  Zehnfache  des  kürzesten  Abstandes  der  beiden  Sitzreihen 
voneinander  betragen.  Die  ganze  Bewegung  würde  sich  also  gemäfs 
der  Auffassung  der  Alten  in  keiner  Weise  als  ein  nahezu  lotrechtes 
Fallen,  sondern  vielmehr,  wenn  der  Gegenstand  an  der  vorderen  Seite 
des  Coupes  herablallt,  als  eine  fast  horizontale  Hin  wegschleuder  Ling- 
vo n der  vorderen  bis  zur  hinteren  Coupöwand  darstellen  müssen. 

Besonders  deutlich  würde  sich  aber  für  den  Zweifler  die  ganze 
Mitbewegung  erkennbar  machen,  wenn  er  selber  aus  dem  Coupe 
hinausliele  oder  spränge  und  dann  mit  den  an  der  Fahrt  nicht  teil- 
nehmenden festen  Gegenständen  der  Bahn  in  sehr  unsanfte  Berührung 
käme.  Gerade  bei  einer  dem  letzteren  Fall  verwandten  Wahrnehmung- 
werden  aber  sehr  leicht  kindliohe  Urteilsfehler  begangen,  wenn  man 
nämlich  einen  sehr  leichten  Gegenstand,  z.  B.  zusammengerolltes 
Papier,  aus  dem  Coupefenster  fallen  läfst  und  dann  infolge  des  starken 
Luftwiderstandes  ein  sofortiges  Zurückbleiben  des  Gegenstandes  be- 
merkt, Dies  erinnert  dann  wieder  an  den  Schlufsfehler,  den  die  ganze 
Bewegungslehre  des  Altertums  in  betreff  der  anscheinend  verschiedenen 
Geschwindigkeit  des  Fallens  sogenannter  schwerer  und  sogenannte»" 
leichter  Körper  infolge  der  Wirkungen  des  Luftwiderstandes  be- 
gangen hat. 

Die  Bewegungen  der  Erde  vollziehen  sich  nun  offenbar,  sowohl 
was  die  Geschwindigkeit  als  die  Richtung  betrifft,  mit  einer  so  voll- 
kommenen Stetigkeit,  dafs  wir  weder  in  den  natürlichen  Bewegungen 
innerhalb  der  Erdenwelt,  z.  B.  in  den  Strömungen  der  Gewässer  und 
der  Luft,  noch  in  den  von  uns  veranstalteten  künstlichen  Bewegungen 
unserer  Fahrzeuge  irgend  etwas  ähnliches  aufzuweisen  haben.  Es 
fehlt  uns  demnach  für  die  gewöhnliche  instinktive  Erfahrung 
jeder  aus  dem  Verlaufe  der  Bewegungen  der  Erde  irgendwie  un- 


36  t 

mittelbar  zu  entnehmende  Anhalt  für  die  Ortsveränderungen  dieses 
unseres  gewaltigen  natürlichen  Fahrzeuges.  Zugleich  sind  wir  im 
llimmelsraume  umgeben  von  Gegenständen,  bei  denen  wir  ihre  von 
uns  deutlioh  wahrgenommene  rolative  Ortsveränderung  im  Raume  sehr 
wohl  als  eine  ihnen  selber  zukommende  Bewegung  in  der- 
selben Weise  annehmen  können,  wie  wir  im  Beginne  der  Bewegung 
unseres  Eisenbahnzuges,  bevor  noch  merkliche  Stöfse  im  Verlaufe 
derselben  eintretcn,  einen  benachbarten,  in  Wirklichkeit  noch  still- 
stehenden Eisenbahnzug  bewegt  zu  sehen  glauben.  Wir  haben  nämlich 
von  vornherein  keine  bestimmten  Anhaltspunkte  dafür,  dafs  die  Ge- 
stirne im  llimmelsraume  an  sich  unbeweglich  seien.  Vielmehr  sehen 
wir  im  HimmelBraume  ganz  deutlich  allerhand  relative  Bewegungen 
der  verschiedenen  Gestirne  gegeneinander,  z.  B.  die  innerhalb  einer 
Stunde  schon  Tür  blofse  Schätzungen  mit  dem  Auge,  also  bereits  für 
die  primitivste  Menschenkultur  erkennbare  Ortsverämlerung  des  Mondes 
unter  den  Sternen  an  der  tlimmelsfläche,  ebenso  die  Ortsveränderungen 
der  Planeten  innerhalb  der  Sternenbilder,  ferner  auch  die  Stern- 
schnuppenersoheinungen,  bei  denen  wir  sogar  die  Illusion  haben,  dafs 
sich  einer  der  Sterne  von  der  Himmelslläche  gelöst  und  in  schnelle 
Bewegung  gesetzt  hat. 

Es  war  also  durchaus  das  Nächstliegende,  dafs  die  Menschheit 
die  relativen  Ortsveränderungen,  die  sie  in  dem  umgebenden  Himmels- 
raume, z.  B.  auch  so  deutlich  bei  den  Auf-  und  Untergängen  der  Gestirne 
wahrnahm,  ausschliefslich  den  Himmelskörpern  zuschrieb  und  unser, 
in  seiner  grofsen  Stetigkeit  so  unmorklich  bewegtes  Fahrzeug  „Erde“ 
zunächst  in  Ruhe  verbleiben  liefs,  bis  dann  die  Zeiten  kamen,  in 
denen  sich  aus  jenen  relativen  Ortsveränderungen  der  Gestirne  an 
der  Himmelsfläche  bestimmte  Bewegungsformen  derselben  ergaben, 
welche  mit  Notwendigkeit  auf  die  Bewegungen  der  Erde  als  eine 
gemeinsame  Ursache  des  blofsen  Augenscheins  jener  relativen  Be- 
wegungen oder  wenigstens  eines  Teiles  derselben  hinwiesen,  geradeso 
wie  wir  schliefslich  die  Bewegungen  unseres  Eisenbahnzuges  aufs 
deutlichste  an  der  systematischen  Art  des  scheinbaren  Zurückweichens 
der  in  verschiedenen  Entfernungen  von  unserem  bewegten  Fahrzeug 
befindlichen  Gegenstände  der  Umgebung  erkennen. 

Übrigens  sind  die  Ortsveränderungen  im  Raume,  welche  uns  in 
der  Erdenwelt  durch  die  verschiedenen  Bewegungen  der  Erde  selber 
erteilt  werden,  bei  aller  vollkommenen  Stetigkeit  doch  keineswegs 
von  solcher  absoluten  Beständigkeit  und  Gleichartigkeit  in  Richtung 
und  Geschwindigkeit,  dafs  nicht  doch  für  eiudringendere  Wahr- 


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302 


nehmungcn  und  für  gründlichere  Deutungen  unserer  Messungen  auch 
schon  innerhalb  der  Erdenwelt  unverkennbare  Wirkungen  der  Be- 
wegungen der  Erde  uachzuweisen  wären. 

Nur  dann,  wenn  ein  aus  vielen  einzelnen  Körpern  und  Massen- 
elementen zusammengesetztes  Massensystem  sowohl  mit  vollkommener 
Stetigkeit,  d.  h.  auch  bei  allen  Veränderungen  der  Richtung  und 
der  Geschwindigkeit  mit  völlig  unterbrechungslosem,  zusammenhän- 
gendem Verlaufe  dieser  Veränderungen,  bewegt  ist,  als  auch  über- 
haupt keine  irgend  in  Betracht  kommenden  Veränderungen  der  Rich- 
tung und  der  Geschwindigkeit  seiner  Bewegungen  erleidet,  und  wenn 
auch  innerhalb  des  Systems  die  umfassende  Bewegung  des  Ganzen 
keine  Verschiedenheiten  der  Richtung  und  der  Geschwindigkeit  der 
Mitbewegungen  an  verschiedenen  Stellen  bedingt,  nur  danu  bleibt  die 
relative  Lage  der  einzelnen  Teile  des  Systems  vollkommen  unabhängig 
von  der  Bewegung  des  ganzen  Systems,  und  nur  dann  können  also 
sämtliche  Bewegungen  innerhalb  des  Systems,  also  in  unserem  Falle 
innerhalb  der  Erdenwelt,  mit  derselben  Freiheit  und  Ungestörtheit 
stattlinden,  als  ob  das  ganze,  beliebig  schnell  bewegte  System  in  ab- 
soluter Ruhe  wäre. 

Diesen  idealen  Bedingungen  entsprechen  die  Bewegungen  des 
Erdkürpers  nicht  vollständig,  denn  durch  die  Drehung  desselben 
werden  an  verschiedenen  Stellen  starke  Verschiedenheiten  der  Geschwin- 
digkeit und  zu  verschiedenen  Zeiten  Verschiedenheiten  der  Richtung 
der  Bewegnng  bedingt,  und  auch  bei  der  Bewegung  der  Erde  um 
die  Sonne  ergeben  sich  für  die  Erdenwelt  zu  verschiedenen  Zeiten 
innerhalb  des  jährlichen  Umlaufes  und  an  verschiedenen  Stellen  der 
Erde  Verschiedenheiten  der  Bewegungsbedingungen,  welche  nicht 
ganz  unmerklich  bleiben  können. 

Nur  bei  denjenigen  Bewegungen,  mit  denen  der  Erdkörper  an 
der  Bewegung  unseres  ganzen  Planetensystems  im  Ilimmelsraum  be- 
teiligt ist,  können  wir  annehmen,  dafs  Jahrhunderte  hindurch  voll- 
kommenste Beständigkeit  der  Richtung  und  Geschwindigkeit  der 
Ortsveränderung  stattfindet,  so  dafs  innerhalb  des  Erdenlebens  durch 
die  letzteren  Bewegungen  keine  besonderen  Verschiedenheiten  der 
Bedingungen  der  relativen  Bewegung  der  einzelnen  Teile  der  Erden- 
welt verursacht  werden.  — 

Von  den  Verschiedenheiten  der  Bewegungen,  welche  durch  die 
Drehung  des  Erdkörpors  verschiedenen  Regionen  der  Erdenwelt 
erteilt  werden,  hat  man  im  allgemeinen  eine  gänzlich  unzureichende 
Vorstellung.  Es  ist  auch  merkwürdig,  dafs  man  sich  im  Altertum  bei 


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J 


363 


den  oben  mit  den  Worten  des  Plolemaeus  wiedergegebenen  Zweifeln 
an  der  Drehung  der  Erde  garnicht  gefragt  hat,  ob  nicht  etwa  die 
starken  Bewegungen  der  Luft,  die  man  in  Gestalt  der  Winde  wahr- 
nahm, von  einem  Zurückbleiben  oder  Yoraneilen  der  Luftmassen 
gegen  die  Drehung  der  Erde  herrühren  könnten,  wie  es  wirklich  der 
Fall  ist.  Man  hatte  schon  damals  ganz  gut  beobachtet,  dafs  die  von 
Norden  kommenden  kälteren  Winde  meistens  als  Nordostwinde  auf- 
traten, d.  h.,  dafs  jene  bewegten  Luftmassen  hinter  der  Drehungs- 
bewegung der  Erde,  wie  sie  zur  Erklärung  des  täglichen  Umschwunges 
des  Himmels  nötig  war,  zurückblieben,  und  dafs  die  von  Süden 
kommenden  wärmeren  Winde  als  Südwestwinde  auftraten,  d.  h.,  dafs 
die  bezüglichen  Luftmassen  der  Bewegung  der  Erde  voraneilten.  Die 
Geschwindigkeiten,  mit  denen  durch  die  Drehung  der  Erde  die  über 
den  verschiedenen  Zonen  lagernden  Lullmassen  bewegt  werden,  sind 
in  den  Regionen  des  Mittelmeeres,  also  der  altgriechischen  Kultur,  auf 
wenige  Grade  von  Breiten-Unterschieden  schon  so  erheblich  ver- 
schieden, dafs  die  Versetzung  einer  Luftmasse  von  der  Halbinsel 
Krim  (Tauris)  in  die  Regionen  von  Athen  an  letzterer  Stelle  schon 
als  ein  gewaltiger  Sturmwind  von  Osten  her  in  Erscheinung  treten 
würde,  und  dafs  anderseits  Luftmassen  aus  der  Breite  des  nördlichen 
Ägyptens  nach  Athen  versetzt,  dort  als  ein  ebenso  gewaltiger  Sturm- 
wind von  Westen  her  auftreten  würden.  Die  Geschwindigkeiten, 
welche  die  auf  der  Erdoberfläche  lagernden  Luftmassen  in  den  ver- 
schiedenen geographischen  Breiten  durch  die  Drehung  der  Erde  an- 
nehmen, betragen  am  Äquator  465  m pro  Sekunde  mittlerer  Sonnen- 
zeit, in  der  Breite  von  Athen  nahezu  365  m,  in  Berlin  283  m,  in 
St.  Petersburg  233  m.  In  der  Zone  von  Athen  ändert  sich  diese  Ge- 
schwindigkeit um  nahe  4'/j  m für  je  100  km  Distanz  in  der  Richtung 
nach  Norden  und  Süden,  abnehmend  nach  Norden,  zunehmend  nach 
Süden.  In  Berlin  beträgt  diese  Veränderung  in  runder  Zahl  je  6 m 
für  je  100  km  Distanz  nach  Norden  und  Süden,  so  dafs  schon  an  den 
Ostseeküsten  die  Mitbewegung  der  Luft  durch  die  Drehung  der  Erde 
soviel  langsamer  ist  als  in  Berlin,  dafs  Berliner  Luft,  an  diese  Küsten 
versetzt,  schon  nicht  mehr  als  blofser  Berliner  Wind,  sondern  bereits 
als  eine  Art  von  Weststurm  erscheinen  würde. 

Natürlich  können  solche  Geschwindigkeits-Differenzen  nur  höchst 
selten  an  der  Erdoberfläche  in  krasse  Wirkung  treten.  Luftmassen, 
die  am  Äquator  aufgestiegen  und  in  grofser  Höhe  in  die  höheren 
Breiten  abgeflossen  sind,  könnten,  wenn  sie  in  der  Höhe  nur  wenig 
von  ihrer  Geschwindigkeit  in  der  Drehungsrichtung  verloren  hätten 


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364 


und  dann  durch  Wirbelbewegungen  nach  unten  gelangten,  an  der 
Erdoberfläche  Orkan-Wirkungen  horvorbringen,  die  alles  zerstören 
würden.  Glücklicherweise  erfolgen  alle  diese  Übergänge  nur  mit  sehr 
starken  Geschwindigkeits-Ausgleichungen  durch  Reibungen.  Aber 
wenn  man  sioh  die  obigen  Geschwindigkeits-Differenzen  der  Drehungs- 
wirkungen in  den  verschiedenen  Zonen  ansieht,  und  wenn  man 
bedenkt,  dafs  Sturmgeschwindigkeiten  von  30  bis  40  m in  der  Sekunde 
schon  furchtbar  zerstörend  wirken  können,  wird  man  doch  inne,  eine 
wie  gewaltige  Erscheinung  diese  Drehung  der  Erde  ist.  Und  ander- 
seits sagt  man  sioh  sofort,  dafs  die  furchtbaren  Orkane,  die  Tornados 
und  die  Typhoons,  die  in  gewissen  Zonen  der  Erde  vorzugsweise  in 
Erscheinung  treten,  und  bei  denen  Geschwindigkeiten  obigen  Grades, 
ja  ganz  vereinzelt  bis  zu  100  m,  beobachtet  sind,  einen  der  „schlagendsten" 
Beweise  für  die  Drohung  der  Erde  liefern,  da  bei  den  grofsen  Luft- 
strömungen, ebenso  wie  bei  den  grofeen  Meeresströmungen  der  Ver- 
lauf der  Gesamt-Erscheinungen  auf  der  Erde  in  umfassendster  Weise 
durch  die  Drehung  der  Erde,  in  Verbindung  mit  den  Temperaturver- 
hältnissen, erklärlich  wird,  während  irgend  eine  andere  Art  der  Er- 
klärung dafür  gänzlich  mangelt. 

Die  nähere  Verfolgung  aller  Wirkungen  der  Drehung  der  Erde 
bis  ins  kleinste  dos  Erdenlebeus  und  der  Erdgestaltung  ist  in  höchstem 
Grade  interessant,  und  man  hat  sioh  auch  in  manchen  wissenschaft- 
lichen Kreisen  alle  Konsequenzen  dieser  Wirkungen  noch  nicht  klar 
gemacht 

Zum  vorläufigen  Abschlufs  dieser  Betrachtungen  will  ich  nur 
noch  bemerken,  dafs  die  genaueste  Beobachtung  des  freien  Falles  und 
der  Fallgeschwindigkeiten  auoh  noch  ganz  zwingende  Naohweisungen 
für  die  Drehung  der  Erde  ergeben  hat. 


I 


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igammmstt 


Im  Reiche  des  Aolus. 

Von  Dr.  Alexander  Kura  polt -Taormina. 

(Fortsetzung.) 

6 V 

<~’l  ^wisohen  I-ipari  und  dem  benachbarten  Saiina  herrscht  lebhafter 
Verkehr.  Täglich  fährt  der  Postdampfer  von  Milazzo  weilet- 
nach  Saiina  und  auch  ilie  „Coreica“,  läuft  regelmiifsig  mehrere 
Reeden  von  Saiina  an.  Ungünstiger  ist  Stromboli  dran,  das  nur  zweimal, 
am  ungünstigsten  Filicudi  und  Alicudi,  die  nur  einmal  wöchentlich  von 
ihm  berührt  werden.  So  ist  ein  Besuch  dieser  beiden  letzteren  eigentlich 
ausgeschlossen,  wenn  man  nicht  die  hohen  Kosten  einer  Segelbarke, 
etwa  vierzig  Lire  aufwenden  oder  gleich  für  acht  Tage,  bis  zur 
nächsten  Ankunft  des  Dampfers,  auf  ihnen  weilen  will.  Schade  um 
Filicudi,  das  wohlbcbaut,  geologisch  interessant  und  an  landschaft- 
lichen Schönheiten  reich  ist.  Den  Blick  von  dem  Monte  Terrione 
nach  Sizilien  hinüber  und  auf  das  Kap  Graziano  rühmt  Bnrgoat 
(S.  204  ff.)  nicht  minder,  wie  die  Grotte  Voimarin  an  der  Westküste, 
die  die  prächtigen  Grotten  Capris  beinahe  über! reffen  dürfte.  Außer- 
dem bewahrt  dem  spürenden  Archäologen  ein  Felsen,  die  „Montag- 
nola",  eine  altgriechische  Inschrift.  Von  Alicudi  freilich  sehnte  sich 
selbst  Bergeat  nach  kaum  dreitägigem  Aufenthalt  wieder  nach 
„Menschen“.  Ein  Pfarrer  und  eine  Lehrerin  sind  dort  die  einzigen 
Kulturträger.  Im  übrigen  sagt  der  Volkswitz  auf  Lipari  von  den  Be- 
wohnern Alicudis,  sie  würden  alle  hundert  Jahre  alt,  weil  es  daselbst 

weder  Arzt  noch  Apotheker  gebe 

So  beschiofs  ich  zunächst,  Stromboli  einen  Besuch  abzustatten. 
Prächtig  ist  diese  kleine  Seereise  zwischen  und  zu  den  einzelnen 
Inseln  hin,  mit  immer  wechselnden  Marinebildern,  heiteren,  lieblichen 
und  düsteren,  ja  majestätischen.  An  Reiz  gewinnt  sie,  wenn  man  sich 
vorstellt,  dafs  diese  Gruppe  von  Inseln  mit  ihren  kaum  zwei  Quadrat- 
meilen Gesamtflächeninbalt  in  Wahrheit  ein  vulkanisches  Gebirge  ist, 
das  nur  mit  den  Spitzen  seiner  bedeutendsten  Gipfel  aus  dem  Meer 
herausragt,  das  an  Höhe  — vom  Meeresgrund  gemessen  — dem  Ätna 


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366 


gleichkommt,  an  Ausdehnung  sein  Massiv  aber  um  das  Fünffache 
übertriffl. 

Der  Himmel  war  ziemlich  trübe  und  verhüllte  die  Küsten  Sizi- 
liens, als  ich  mich  eine  Stunde  vor  Mittag  auf  der  „Corsica“  ein- 
schiffte. Ein  kalter  Wind  aus  Norden  pfiff,  die  See  ging  hoch. 

Im  Fluge  ziehen  Canneto  mit  seinen  blanken  Häusern  und  der 
Pergola  des  Haanschen  Kontors,  dann  die  ausgewaschenen,  überall 
angebohrton  Abhänge  des  weifsen  Monte  l’elato  vorbei.  Die  schöne 
ferne  Gruppe:  Panaria,  Basiluzzo,  Stromboli  bleibt  lange  zur  rechten, 
die  drei  Gebilde  verschieben  sich  beständig.  Bald  taucht  hinter  der 
roten  Lava  der  Punta  Castagna,  wo  die  Rocche  rosse  schauerlich  wild 
ins  Meer  abstürzen,  eine  weiche  blaue  Höhenlinie  auf,  die  Fossa  delle 
Felei  (Farnkrautberg)  der  Insel  Salina  (962  m).  Links  tritt  der 
Bimssteinkrater  gewaltig  heraus,  massige  Kegel  und  Halden,  wild- 
zerklüftete Schuttrinnen  und  Schroffen  — von  Teneriffa  mit  seinen 
minderwertigen  Produkten  abgesehen,  das  einzige,  aber  unerschöpfliche 
Bimssteinreservoir  für  die  ganze  Erde! 

In  der  Bocohe,  dem  Meeresarm  zwischen  Lipari  und  Salina,  er- 
scheinen mit  wunderbar  zarten  Umrissen  ganz  fern  Filicudi  und  Ali- 
oudi,  verschwinden  aber  bald,  als  wir  uns  Salina  nähern.  Auch  von 
hier  zeigt  sich  Salina  überall  hoch  hinauf  mit  Wein  (Malvasier)  be- 
pflanzt, den  oben  Ginster-  und  Farndickicht  ablöst.  Zwischen  dem 
sanft  strahlenden  Grün  tritt  öfters  das  vulkanische  Gestein  dunkel- 
ziegelrot in  stattlichen  Brüchen  zutage. 

„Don  Vincenzo,  wir  sind  bei  Santa  Marina“,  rief,  als  die  „Corsica“ 
tutete  und  alsbald  angesichts  des  sauberen  Strandstädtchens  stoppte, 
ein  Pfarrer  in  die  Kajüte  hinein,  wo  sein  dicker,  kleiner  Amtsbruder 
auf  dem  Sofa  ausgestreokt  — eine  halbe  Leiche  — lag.  Den  hatte 
es  gepackt.  Mühsam  erhob  sich  der  fromme  Herr,  langte  nach  seiner 
schwarzen  Tasche  und  verliefe  wankend  mit  noch  zwei  Pfarrern  das 
Schiff. 

Im  ganzen  waren  neun  Priester  in  Lipari  eingestiegen,  und  alle 
trugen  sie  kleinere  oder  gröfsere  schwarze  Taschen.  Darin  ver- 
wahrten sie,  wie  ich  erfuhr,  nicht  nur  des  Leibes  Nahrung  und  Not- 
durft, sondern  auoh  solche  der  Seele  — nämlich  jeder  ein  Fläschchen 
heiliges  Öl,  von  ihrem  Bischof  am  Gründonnerstag  geweiht  und  ihnen 
feierlich  überreicht,  womit  sie  das  ganze  Jahr  hindurch  nicht  nur  die 
Sterbenden  zu  versehen,  sondern  seltsamerweise  auch  die  Kinder  zu 
taufen  haben. 

Am  fruchtbaren  Ufer  hin  geht  es  durch  die  Bocche  nach  Süden, 


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367 


dann  um  die  Punta  Lingua  herum  nach  Rinelia.  Unter  dem  stumpfen 
Kegel  des  Monte  Porri,  der  trotz  seiner  Steilheit  bis  zur  Hälfte  schräg 
terrassiert  und  gleichfalls  mit  Malvasier  bebaut  ist,  dehnt  sich  der  Ort 
zum  kleineren  Teil  unten  auf  einer  Lavastufe  aus,  zum  gröfseren, 
etwa  100  m höher,  liegt  er  am  Eingang  des  ziemlich  breiten  Tales, 
das  zwischen  Monte  Porri  und  Fossa  delle  Feloi  die  Insel  von  Süden 
nach  Norden  durchschneidet  und  in  zwei  ungleiche  Hälften  teilt. 
Saubere  Häuser,  oben  wie  unten,  mehrere  freundliche  Kirchen  und 
prangende  Gärten.  Diesem  Wohlstand  entsprachen  der  Leibesumfang 
und  die  rosigen,  fettglänzenden  Gesichter  der  drei  Pfarrer,  die  hier 
wieder  ausstiegen.  Die  kleine  Barke  mufste  fünfundzwanzig  Personen 
und  ungefähr  ebensoviele  Koffer,  Kisten  und  Säcke  aufnehmon.  Es 
sah  gefährlioh  aus,  als  sie  abstiefscn  und  dauerte  lange,  ehe  sic  bei 
der  starken  Brandung  die  schmale  Landungsstelle  erreichten.  Die 
-Corsica“  nahm  indessen  unter  gewaltigem  Stampfen  nach  Westen 
ihren  Kurs  und  umkreiste  so  beinahe  die  ganze  Insel.  Längst  waren 
die  Zwillingsgestnlten  von  Alicudi  und  Filicudi  wieder  in  Sicht. 
Während  dann  Alicudi  allmählich  von  Filicudi  vordeckt  wird, 
dehnt  sich  gen  Osten  Lipari,  dem  wir  hier  sozusagen  in  den  Rücken 
gekommen  sind,  in  herrlichem  Profil  aus,  daneben  tritt  Vulcano  in 
seiner  ganzen  Mächtigkeit  hervor.  Wie  schön  sind  diese  Linien  über 
dem  dunkelblauen  Meeresstreifen,  von  der  Punta  del  Rosario  ansetzend, 
in  dem  Monte  Saraoeno  und  der  Fossa  di  Vulcano  gipfelnd!  Und 
weiter  dann  der  Monte  Sant'  Angelo  und  Monte  Chirica,  ihrerseits 
dominierend  auf  ihrem  kleinen  Eiland!  Zwischen  diesen  kühnen 
Schwüngen  liegt  friedlich  eingebettet  die  echt  Claude  Lorrainsche 
Seelandschaft  der  Bocche  di  Vulcano  mit  dem  zierlichen  Vuleanello. 
Nur  zu  schnell  entschwindet  dieses  Bild,  dafür  lugt  plötzlich  von  Nord- 
ost her  der  Stromboli  wieder  um  die  Ecke. 

Nicht  minder  fesselnd  ist  die  Nahsioht  auf  die  Westküste  von 
Salina.  Da  bauen  sich  unter  den  Abstürzen  des  Monte  Porri  eine 
ganze  Reihe  grofser  und  kleiner,  bizarrgeformter  Lavahöhlen  auf,  in 
denen  das  vom  Nordwest  gepeitschte  Meer  sich  mit  voller  Kraft 
bricht,  bald  in  schlanken,  hohen  Fontänen,  bald  in  wuchtig  breiten 
Kaskaden  aufsteigend  und  zurückfallend,  wunderbar  schön.  Auch  ein 
„arco  naturale“  begegnet  uns,  der  dem  von  Capri  an  Originalität  und 
Gröfse  keineswegs  nachsteht.  Eine  ins  Meer  vorspringende  Felsen- 
nase aus  Lava  bildet  ein  regelrechtes  Tor,  wohl  30  in  hoch,  15  m 
breit.  Der  äufserc  Pfeiler,  oben  grün  bewachsen,  mag  etwa  25  m im 
Durchmesser  halten.  Man  kann  über  den  Bogen  hinübergehen. 


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368 


Dieses  Felsentor,  Perciato  piccolo  vom  Volk  genannt,  ist  nach  Ber- 
gest (a.  a.  O.  S.  77)  dadurch  entstanden,  dafs  die  Wogen  hinter  einer 
massigen,  parallel  zur  Küste  verlaufenden  Gangplatte  die  weniger 
widerstandsfähigen  Agglomerate  hnrausgelöst  und  fortgeführt  haben. 
Auf  diese  Weise  sind  alle  ähnlichen  Gebilde,  auob  die  Klippentunnel, 
z.  B.  beim  grofsen  Faraglione  von  Capri,  zu  erklären. 

Hatte  das  Schiff  bisher  nur  gestampft,  so  begann  es  jetzt  auch 
noch  zu  rollen,  da  wir  bei  der  Drehung  nach  Nordost  den  steifen 
Nordwest  in  die  linke  Flanke  bekamen.  Doch  liefs  ich  mich  von 
meinem  Lieblingsplatz,  ganz  vorn  bei  den  eisernen  Ankerhaltern  erst 
vertreiben,  als  ich  von  zwei  unerwarteten  Brechern  gehörig  eingoweicht 
war,  und  erkor  mir  nun  als  Beobachtungsposten  eine  der  hoch  auf- 
gewundenen Schiffstaurollen,  die  zwar  weniger  guten  Sitz,  dafür  aber 
bessere  Handhaben  boten,  wenn  die  „Corsica“  sich  rasselnd  und  ächzend 
einmal  allzutief  zur  Seite  neigte. 

Bald  darauf  passierten  wir  das  weltverlassene  Dörfchen  Pollara, 
im  Halbkreis  eines  ehemaligen  Kraters  gelegen,  den  das  Meer  zur 
Hälfte  weggerissen  hat.  Das  Meer  mufs  hier  einst  mindestens  400  m 
höher  hinaufgereicht  haben  als  heutzutage.  Auf  dem  Boden  des 
l’ollarakraters  finden  wir  eine  quartäre  submarine  Strandablagerung, 
der  die  rings  von  toter  Lava  umstarrte  Ansiedlung  ihre  Fruchtbarkeit, 
ja  überhaupt  ihre  Existenz  verdankt.  In  jener  Urzeit  entstanden  auch 
die  Strandterrassen  von  Rinelia  und  Malfa,  und  es  klingt  wunderbar, 
aber  nach  Bergeats  Ausführungen  nicht  unglaublich,  dafs  die  beiden 
Gipfel  von  Salina  damals  nicht  durch  das  heutige  Tal  Rinella-Malfa, 
sondern  durch  einen  Meeresarm  geschieden  waren. 

Um  zwei  Uhr  stoppte  die  „Corsica“  Malfa  gegenüber.  Hier  hatte 
man  bei  dem  hohen  Wellengang  die  Ankunft  des  bereits  gestern 
fälligen  Dampfers  wohl  auch  heute  noch  nicht  erwartet,  und  als  dann 
endlich  nach  mehrmaligem  Sirenenpfeifen  von  der  elenden  Marine 
eine  Barke  abstiers  und,  von  unserem  Kapitän  mit  einigen  urkriiftigen 
Seemannsflüchen  empfangen,  nahte,  stieg  niemand  aus  und  ein.  Nur 
einige  Wareuballen  gingen  mit  dem  Kran  hinunter,  und  die  Post 
wurde  abgeliefert  und  eingenommen. 

Ich  war  mit  dem  längeren  Aufenthalt  ganz  einverstanden:  mich 
entzückte  der  Blick  auf  das  etwa  150  in  über  dem  Meer  gelegene  Malfa 
und  seine  Umgebung.  Unten  am  düsteren  Strand  hatten  die  Lavablöcke 
nur  einer  schmalen  Sandbucht  Raum  gelassen,  wo  ganze  drei  Barken, 
hinaufgezogen  und  angeseilt,  in  Sicherheit  ruhten.  Ebenso  düster 
drohten  zu  beiden  Seiten  die  beiden  Hauptkegel  der  Insel  mit  ihren 


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grauschwarzen  Häuptern  nieder.  Dies  der  ernste  Rahmen  für  die 
heiter  in  dem  weiten,  grünen  Kessel  eingebettete  Ortschaft  Malfa. 
Lauter  platte  Dächer,  die  viereckigen,  schneeweifsen  Häuschen  in 
Gruppen,  oder  einzeln  zerstreut  zwischen  den  hellgrünen  Getreide- 
feldern und  Weingärten.  Ein  Sonnenblick,  der  erste  dieses  Tages, 
zauberte  auch  auf  der  Fossa  delle  Feloi  eigenartige  Farben  hervor, 
das  Grau  der  Asche,  das  flammende  Gold  der  Ginsterhänge,  das 
Schwarzgrün  der  Farnwildnis  auf  dem  oberen  Teil,  alles  trat  scharf 
heraus.  Man  konnte  den  Weg  sowohl  nach  Kinella  hinüber,  über  den 
Pafs,  als  auch  den  Saumpfad  am  Ufer  nach  Santa  Marina  verfolgen. 

Hinter  Malfa  soblingerte  das  Schiff  wieder  reoht  lustig,  so  dafs 
aufser  einem  alten  Steuermann,  der  auf  der  Kommandobrücke  den 
Kapitän  vertrat,  und  mir  kein  Mensch  auf  Deck  aushielt.  Auch  die 
drei  letzten  Pfarrer  batten  sioh  längst  in  die  verschwiegene  Kajüte 
zurückgezogen. 

Von  mächtiger  Wirkung  sind  die  beiden  überragenden,  klobigen 
Kegel  Monte  Porri  und  Fossa  delle  Felci,  etwa  zwei  Seemeilen  östlich 
von  Malfa  gesehen.  Von  hier  aus  gleichen  sie  sich  völlig  in  GröfBe 
und  Gestalt.  Daher  der  griechische  Name  der  Insel:  Didyme,  das  heifst 
Zwilling.  Bei  der  Weiterfahrt  treten  die  Zwillinge  hintereinander, 
und  ihre  Konturen  schwingen  sich  beinahe  parallel  in  kühnem  Bogen 
zum  Himmel.  Stolz  und  edel  steigt  besonders  die  Linie  der  Punta 
Fontanelle  unter  dem  Monte  Porri  auf. 

Während  in  der  Heoklinie  das  ferne  Filicudi  klein  und  kleiner 
wird,  das  Kap  Graziano,  das  mit  ihm  nur  durch  eine  schmale  Land- 
zunge verbunden  ist,  durch  die  Entfornung  bereits  wie  eine  Insel  für 
sich  erscheint,  wird  der  westliche  Felsen  von  Panaria,  auf  den  wir 
zusteuern,  immor  breiter  und  höher.  Zahlreiche,  trotzig  geborstene 
Klippen  sind  Panaria  vorgelagert  und  ragen  auch  weiter  draufsen  als 
spitze  oder  breite  Zacken  aus  dem  Meer:  Dattilo,  Lisca  Nera,  Lisca 

Bianca,  Bottaro  und  die  gröfste,  aber  wenig  von  Menschen,  nur 
von  wilden  Kaninchen  bewohnte:  Basiluzzo.  Eine  düstere  und  herbe 
Wildheit,  das  ist  der  Eindruck  der  Südküste  von  Panaria.  Nachdem 
wir  den  Felsen  umfahren  haben,  beleben  zuerst  indisohe  Feigen,  dann 
Ölbäume  die  zerrissene,  rostbraune  Lava.  Dann  erscheinen  einige 
Getreidefelder  und  mitten  darin  kleine,  platte  Häuschen,  ziemlich  arm- 
selig. .Jedes  fruchtbringende  Fleckchen  Erde  ist  auf  das  HeiTsigste 
ausgenützt.  Reizend  lauscht  in  halber  Höhe  ein  Kirchlein  mit  mauri- 
schem Turm  aus  den  Oliven  hervor. 

Kurz  vor  vier  Uhr  setzte  sich  die  Maschine  wieder  in  Gang, 

Himmel  nnd  Erde  ISO«  XVI  8.  24 


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um  mioh  zu  dem  Endziel  meiner  heutigen  Tour,  dem  Stromboli, 
zu  fuhren. 

Die  merkwürdigen  Klippen  zur  Rechten  gleiten  wie  Phantome 
vorüber.  Desto  länger  haftet  der  Blick  auf  den  graublauen  Silhouetten 
von  Saliua  und  Filicudi,  die  über  dem  wild  tobenden  Element  fern 
in  erhabener  Ruhe  thronen.  Unablässig  furcht  der  brave  Kiel  die 
silbernschimmernde  Flut.  Der  dräuende  Kegel  des  Stromboli  rückt 
näher  und  näher.  Schon  unterschied  ioh  auf  einer  sohmalen,  grünen 
Niederung  einige  weifse  Punkte  — die  Häuser  des  Dorfes  Qinostra  im 
Südwesten  der  Insel.  Wir  hielten  auf  die  Ostküsle  zu,  an  der  die  zu- 
sammenhängenden Dörfer  San  Vinoenzo  und  San  Bartolo  liegen,  vor 
der  Hand  noch  durch  das  hier  jäh  abstürzende  Massiv  des  Vulkans 
verdeckt  Lange  Aschenkare,  vor  allem  die  Rinella  grande,  nur  selten 
und  spärlich  mit  einer  hohen  Binsenart  bestanden,  ziehen  sich  vom 
Gipfel  bis  zum  Meer  hinunter,  wechselnd  mit  Lavafelsen  von  schreck- 
licher Öde  und  Starre.  Stellenweise  verhüllten  abgerissene  Wolken- 
fetzen den  Grat  dieser  unnahbaren  Schrollen,  die  so  in  der  Phantasie 
bis  hoch  in  den  Himmel  hinein  wuchsen.  Dazu  erschien  in  der  abend- 
lichen Gewitterbeleuchtung  das  Wasser  durch  den  Reflex  des  nahen 
Ufers  stahlblau  und  dann  wieder  moosgrün,  so  dafs  ich  mich  plötzlich 
in  die  Alpen  versetzt  fühlte  und  auf  dem  Königssee  unter  den  Watz- 
mannw’änden  hinzufahren  glaubte. 

* * 

* 

Wie  herrlich,  bo  durchs  wilde  Meer  auf  sicherem  Schiff  zu 
schweifen!  Doch  war  ich,  durchgeschüttelt  und  -geblasen,  nach  bei- 
nahe siebenstündigem  Schaukeln  offen  gestanden  froh,  wieder  festen 
Boden  unter  meinen  Füfsen  zu  wissen  und  strebte  munter  auf  dem 
knirschenden  Lavasand,  der  kohlschwarz  glänzend  die  Marine  von  San 
Vinoenzo  darstellt,  den  Palmen  und  den  orientalischen  Würfelhiiusern 
des  Ortes  zu,  als  einer  der  beiden  letzten  Pfarrer,  die  mit  mir  ausge- 
stiegen waren,  sich  an  mich  mit  der  iibliohen  Frage  wandte:  „Woher 
und  wohin?"  Dann:  „Was  für  eine  Religion  haben  Sie  in  Deutschland? 
Sind  da  die  Orthodoxen?“  „Nein,  die  sind  in  Rufsland.  Bei  uns  ist 
ja  manches  etwas  russisch,  aber  wir  Deutschen  sind  zu  % Protestanten, 
Lutheraner,  und  zu  >/,  römisch-katholisch.“  „Und  Sie  sind  Katholik?“ 
„Nein,  Protestant.  Mit  Verlaub  (con  permesso)“  — damit  empfahl  ioh 
mich,  um  etwaigen  Bekehruugsversuohen  dieses,  wie  mir  schien,  recht 
gerade  aufs  Ziel  losgehenden  Gottesmannes  die  Spitze  abzubrechen, 
und  sah  mir  das  Treiben  am  Ufer  an. 


371 


Die  bunte  Sonntagstracht  der  Weiber  auf  dem  Aschenstrand,  mit 
den  schneeweifsen,  plattdächigen  Häusern  und  grünen  Weingarten  im 
Hintergrund  — welch  färben-  und  lebensfrisches  Bild!  Die  „Corsica“ 
batte  vier  Männer  mitgebracht,  die  mehrere  Jahre  in  Amerika  gewesen 
waren  und  nun,  aus  der  Barke  steigend,  von  den  Ihrigen  froh  be- 
grüfst  wurden. 

In  den  Anblick  versunken,  wurde  ich  von  einem  freundlichen, 
behäbigen  Herrn  angesproohen,  der  sich  mir  als  Don  Antonio  Renda, 
Besitzer  eines  Albergo,  vorstellte. 

„Ist  Euer  Gasthaus  weil  weg?-1 

„Nur  wenige  Sohritte.  Dort  bei  der  grofsen  Palme.“ 

Ich  folgte  ihm  zu  seiner  Palme,  erhielt  ein  nettes  Stübchen  und 
packte  die  Vorräte  meines  Rucksackes  aus:  Salami,  eine  Büohse  Öl- 
sardinen, Käse,  mehrere  grofse  Wecken  Weifsbrot,  ein  Kilo  Äpfel  und 
zwei  Kilo  Apfelsinen. 

Don  Antonio  zog  sein  Gesicht  in  Falten:  „üio  ci  liberal  (Gott 
bewahre  uns!).  Was  haben  Sie  denn  da  alles  mitgebracht?“ 

„In  Lipari  hiefs  es,  auf  Stromboli  gebe  es  nichts  zu  essen.“ 

„Was,  bei  uns  giib’s  nichts  zu  essen?  Ha,  diese  Liparesenl“ 

Er  untersuchte  jedes  einzelne  Stück  der  auf  dem  Tische  aufge- 
stapelten Ladung.  „Weifsbrot,  hm!  Das  fehlt  uns,  ja,  aber  das  andere 
haben  wir  alles  auch  und  vielleicht  besser  als  diese  verworfene 
Rasse  auf  Lipari.“ 

Nun  fürchtete  ich,  von  vornherein  bei  meinem  Gastgeber  in  Un- 
gnade gefallen  zu  sein.  Aber  die  Folge  der  Entdeckung  meiner 
Kontrebande  war  eine  ganz  andere:  er  setzte  vielmehr  seine  Ehre 
darein,  mir  zu  zeigen,  dafs  es  auf  Stromboli  „auch  etwas  gebe“, 
und  traktierte  mich  die  zwei  Tage,  die  ich  bui  ihm  wohnte,  gerade- 
zu fürstlich. 

Die  Reihe  der  etwas  eigenartigen,  aber  keineswegs  zu  unter- 
schätzenden Genüsse  erüffnete  bei  der  Abendtafel  ein  Ragout  von 
wildem  Kaninchen,  das  Don  Antonio  selbst  gefangen  hatte. 

„Und  wie  fängt  man  sie?“ 

„Es  gibt  zwei  Arten,  mit  Drahtschlingen  und  mit  Netzen.  Der 
Draht  wird  an  einem  Pfahl  befestigt  und  die  Schlinge  da  gelegt,  wo 
man  die  Fährten  des  Wildes  sieht.  Das  Tier  geht  immer  dieselben 
Wege.  Gerät  es  nun  in  den  Reifen,  so  strebt  es  vorwärts,  um  dem 
eisernen  Hindernis  zu  entrinnen.  Die  Schlinge  zieht  sich  so  von 
selbst  zu  und  erwürgt  es.“ 

Don  Antonio  hielt  diese  Art  Jagd  für  unehrlich,  eines  gentiluomo 

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für  unwürdig,  obgleich  auch  Frauen  und  Mädchen  aie  mit  grofsem 
Eifer  betrieben:  „Jeder  dumiue  Junge  von  acht  Jahren  legt  schon 
seine  Schlinge.  Ich  zerstöre  sie,  wo  ich  sie  linde.  Denn  sonst 
werden  wir  bald  keine  Kaninchen  mehr  auf  der  Insel  haben.  Zu 
Ostern  sind  meiner  Schätzung  nach  allein  fünfhundert  Stück  als 
Festbraten  hier  verspeist  worden.“ 

„Und  die  ehrliche  Kaninchenjagd  — ?“ 

„Geschieht  mittelst  Frettchen.  Vor  die  Öffnungen  des  Baues 
wird  ein  weitmaschiges  Netz  gelegt  und  mit  Steinen  verankert.  Dann 
läfst  man  das  Frettchen  aus  der  Trommel  in  den  Steinhaufen;  das  jagt 
das  Kaninchen  samt  Familie  heraus.  Sie  wollen  duroh  ihre  Löcher 
entfliehen,  da  verfangen  sie  sich  in  dem  üefleoht.  Ich  stehe  verborgen 
hinter  einem  Felsen,  und  sobald  sich  eines  in  den  Maschen  verwickelt 
hat,  pack'  ioh  es.  Zwei  Sohläge  mit  der  flachen  Hand  hinter 
das  Genick  und  Addio  mondo!  Es  ist  ein  sanfter  Tod  (una  morte 
delieata);  Sissignore.“ 

„Euer  Woin  ist  vorzüglich,  Don  Antonio,  aber  das  Wasser  — ?“ 
„Probieren  Sie,  probieren  Sie!1'  Er  schenkte  mir  ein  Glas  voll  ein 
„Recht  gut.  Habt  Ihr  denn  eine  Quelle  hier?“ 

Eine  elende,  kleine  Quelle,  hooh  oben,  nicht  der  Rede  wert. 
Nein,  das  ist  Zisternenwasser.  Wir  halten  eben  unsere  Zisternen 
rein,  etwas  reiner  als  die  in  Lipari.“ 

Allerdings  läfst  das  Wasser  in  Lipari  einen  höchst  unangenehmen 
Erdenzusatz  durchschmecken. 

„Stromboli“,  fuhr  Don  Antonio  fort,  „erzeugt  keine  Halmfrüchte, 
die  kommen  aus  Tarent,  das  Mehl  zum  Brotbacken  kommt  aus 'Neapel, 
die  Makkaroni  aus  Milazzo,  Holz  und  Kohle  aus  Kalabrien.  Aber  Gott 
sei  Dank,  haben  wir  noch  das  nötige  Kleingeld,  um  das  alles  anzu- 
schaffen. Hier  bauen  wir  nur  Wein,  Malvasier,  viel  besseren  als  auf 
Salina,  Rosinen,  eine  kleine  blaue,  besondere  Art,  auch  ausgezeichnet, 
ferner  Oliven,  Feigen,  Kapern,  nicht  die  wilde  wie  in  Sizilien,  sondern 
die  feine  Stacbelkaper,  in  Gärten  gezogen.  Und  zuletzt,  aber  nicht 
als  schlechtestes  Produkt:  Datteln.“ 

„Was,  reifen  die  hier?“ 

„Ja.  vor  sechzehn  Jahren  pflanzte  ich  die  erste  grofse  Dattel- 
palme. Haben  Sie  gesehen,  was  für  einen  Stamm  sie  schon  hat? 
Kaum  von  einem  Mann  zu  umspannen.  Seit  drei  Jahren  gibt  sie  mir 
Früchte,  über  ein  Quinta!  (=  100  Kilo),  aber  nioht  wie  die  afrika- 
nischen Palmen  im  Dezember,  sondern  Ende  Mai.  Auch  haben  meine 
Datteln  nicht  den  glasigen  Zuckerüberzug  und  keine  Kerne.  Aber 


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sie  schmecken  — er  drehte  den  Daumen  im  Mundwinkel.  Schicke*), 
Signore,  schicke!“  — „Drei  andere  Palmen  habe  ioh  später  gepflanzt 
die  älteste  wird,  denke  ich,  in  zwei  Jahren  auch  schon  Früchte 
bringen.“ 

„Aber  können  von  all  dem  die  dreitausend  Einwohner  leben? 
Die  drei  Dörfer  scheinen  mir  einen  erheblichen  Wohlstand  zu 
verraten.“ 

„In  der  Tat,  es  gibt  keine  Armut  bei  uns.  Jeder  hat  sein 
eigenes  Haus  Keiner  wohnt  zur  Miete.  Das  verdanken  wir  dem 
Wunderland  Amerika.  Sie  werden  wenig  Männer  zwischen  fünfzehn 
und  fünfzig  hier  finden.  Sind  alle  drüben,  um  Dollar!  zu  machen. 
Ach ! was  wären  wir  Italiener  ohne  Amerika!“  Er  lächelte  mitleidig. 
„All  die  schmucken,  weifsen  Häuser,  die  Myriaden  von  lieben,  bis 
hoch  zum  Stromboli  hinauf,  sind  von  dem  Qeld  entstanden,  das  unsere 
Leute  in  Argentinien  und  Neu- York  verdient  haben.“ 

Ich  erzählte  ihm  von  siebzehn  Taorminesen,  die  vor  Jahren 
nach  Buenos  Aires  gefahren  und  nach  drei  Jahren  zurückgekehrt 
seien,  aber  mit  keinem  einzigen  Dollaro,  nur  einem  ganzen  Berg 
Schulden. 

„Ja,  man  darf  nicht  in  Buenos  Aires  bleiben.  Da  sitzen 
allein  40Ü  000  Italiani.  Man  mufs  weit  ins  Innere  reisen,  um  etwas 
zu  finden.  Wir  reohnen  4 -500  Lire  auf  die  Reise.  Denn  das  Billet 
bis  Genua  und  von  da  über  den  Ozean  tut’s  noch  lange  nicht.  Neun- 
zehn Tage  erfordert  die  Überfuhrt,  und  in  neunzehn  weiteren  Tagen 
mufst  du  Arbeit  gefunden  haben,  oder  du  bist  verloren.“ 

„Waren  Sie  auch  drüben?“ 

„Zweimal.  Zuerst  zweiundeinhalb  Jahre,  dann  sogar  fünf.  Ge- 
wöhnlich geht  man  schon  als  junger  Bursche  hin,  lernt  die  Sprache 
— in  Argentinien  spanisch  — , sieht  sich  um  und  verdient  soviel,  dafs 
man  nach  der  Rückkehr  und  nach  Ableistung  der  Militärpflicht  eine 
Frau  heimführen  kann.  Sofort  nach  der  Hochzeit  heifst’s  dann:  von 
neuem  hinüber.“ 

„Mit  oder  ohne?“ 

„Ohne  Frau.  Ich  werde  diesen  Sommer  zwei  meiner  Töchter 
verheiraten.  Beide  Schwiegersöhne  werden  ihre  Frauen  dann  alsbald 
verlassen  und  — 

„Aber,  per  Dio,  warum  heiraten  sie  denn  da  überhaupt?  Und 

•)  Das  englische  chic  ist,  wie  in  unsere  eigene  Sprache,  auch  ins 
Italienische  Ubergegangen. 


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lassen  sieh  das  die  Weiber  gefallen?  Wär's  nicht  besser,  erst  Dollari 
zu  machen  und  dann  zu  freien?’1 

„E  costume  del  paese  (Es  ist  bei  uns  so  Sitte).  Natürlich  ver- 
giefsen  die  guten  Frauchen  ein  paar  Tränen  beim  Abschied.  Aber 
sie  wissen's  nicht  anders." 

„Und  wohin  werden  Ihre  Schwiegersöhne  gehen?“ 

„Nach  New-York  und  Kohlen  auf  die  Dampfer  tragen.  In 
Argentinien  verliert  man  jetzt  zuviel  durch  das  Agio.  Im  New-Yorker 
Hafen  erhalten  die  Kohlenträger  30  Soldi  bei  Tag  und  45  bei 
Nacht,  wohlverstanden,  für  die  Stunde.  Also  verdienen  sie  dort 
an  einem  Tag  soviel,  wie  hier  kaum  in  einer  Woche." 

„Aber  auch  eine  Pferdearbeit." 

„Ja,  manche  spucken  bald  Blut  und  gehen  zum  Teufel.  Aber 
die  starken  gewöhnen  sich  und  haben  dann  jährlich  ihre  zwei,  drei- 
tausend Lire  Reingewinn  sicher.  Sissignore."  — 

Beim  Betreten  der  Insel  hatte  ich  mich  gefragt:  Was  mufs  das 

für  ein  merkwürdiges  Völkchen  sein,  das  mitten  im  einsamen  Meer 
auf  einem  Vulkan  haust,  so  gut  wie  abgeschlossen  von  jedem  Ver- 
kehr, gauz  auf  sich  selbst  gestellt?  Ich  hatte  mir  eingebildet,  dals 
diese  Leuto  fern  von  der  übrigen  Welt  geboren,  auch  fern  von 
ihr  leben  und  sterben.  Nun  erfuhr  ich,  dafs  sie  sich  draufsen  im 
Getümmel  mehr  umsehen  als  die  meisten  Festlandsbewohner  und  da- 
durch einen  weiteren  Gesichtskreis  gewinnen  als  so  mancher  Grofs- 
städter,  z.  B.  der  Neapolitaner,  der  höchst  zufrieden  mit  seinem  schönen 
Neapel  beinahe  nie  über  das  Weichbild  seiner  Vaterstadt  hinauskommt. 
Und  der  Erfolg  bleibt  nicht  aus:  Dort  Lazzaroni,  hier  Signori, 

Padroni.  Aber  mit  welohen  Opfern  wird  dieser  Wohlstand  erkauft! 
Freilich  hat  der  Italiener  eine  ungeheure  Arbeitslust  und  zähe 
Energie;  jede  Arbeit,  die  Geld  bringt,  ist  ihm  recht.  Ebenso  zäh  ist 
aber  auch  seine  Liebe  zur  Heimat  Ist  es  nicht  ein  fürchterliches  Los, 
seine  besten  Jahre  fern  von  allem,  was  einem  vertraut  und  teuer  ist, 
unter  den  härtesten  Entbehrungen  hinbringen  zu  müssen?  Vielleicht 
täuschte  ich  mioh  aber  auch.  Ist  uns,  die  wir  mit  zehn,  elf  Jahren 
aus  der  Provinz  in  die  Kreisstadt  aufs  Gymnasium  kamen,  die  wir 
später  auf  die  Universität  zogen,  denn  der  Abschied  vom  Elternhaus 
so  schwer  geworden?  O nein,  die  Jugend  lockt  das  Neue,  Un- 
bekannte. Und  für  diese  Insulaner  ist  die  Fahrt  übers  grofse  Wasser 
die  eigentliche  Fahrt  ins  Leben;  Amerika  bedeutet  für  sie  die  hohe 
Schule,  die  sie  beziehen  müssen,  um  etwas  tüchtiges  in  der  Welt  zu 
werden.  So  mancher  geht  dabei  zugrunde,  wie  bei  uns  auoh  ein 


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grofser  Prozentsatz  auf  der  Universität  Was  aber  bilfl's?  Discere 
necesse  est,  vivere  non  neoesse! 

Das  war  so  mein  Gedankengang  gewesen,  den  Don  Antonio 
kaum  einmal  mit  seinem  tiefsinnigen:  „Sissignore“  unterbrochen  hatte, 
als  ein  donnerähnliches  Kraohen  zu  meinen  Ohren  drang:  „Ha,  ein 
Gewitter!“ 

„Nein,  das  ist  der  Stromboli.“ 

„Hört  man  das  oft?“ 

„Das  ist  noch  gar  nichts.  Daran  sind  wir  gewöhnt  Da  donnerte 
es  letzten  Oktober  (1902)  ganz  anders.  Tag  und  Nacht,  wie  wenn  ein 
Regiment  Gebirgsartillerie  da  oben  aufgefahren  wäre.  Das  schlimmste 
aber  waren  die  häufigen  Erdbeben.  Einmal  — wir  safsen  gerado 
beim  Abendbrot  — begannen  die  Fenster  plötzlich  zu  rasseln.  Und 
zugleich  schien  es,  als  ob  von  unten  etwas  Unsichtbares  gegen 
unsere  Stühle  stiefse.  Alles  schwankte.  Flaschen  und  Gläser  tanzten 
Polka  auf  dem  Tischtuch.  Wogön  des  bischen  Gepolters  heute  können 
Sie  ruhig  schlafen.  Felice  notte!“ 


(Schlufs  folgt) 


Sensibilisierung  organischer  Gebilde. 

Von  L'r.  mcd.  Axtiiann  in  Erfurt. 

c.,fn  einigen  früheren  Heften  dieser  Zeitschrift  hatten  wir  bereits  Ge- 
legenheit,  eingehend  über  die  Wirkung  der  Lichtstrahlen 
auf  organische  Gebilde  und  krankhafte  Zustände  derselben 
zu  berichten,  insbesondere  mit  Berücksichtigung  der  von  Finsen  in 
Kopenhagen  rühmlichst  ausgebildeten  Lichtheilmethode  für  Haut- 
tuberkulose.1)  Auch  jüngst  erst  konnten  wir  auf  die  Versuche 
Tappeiners  in  Münohen  mit  Fi uoreszenz  I ich t hinweisen, 
welches  sich  in  ähnlicher  Weise  Haut  reizend  und  Bakterien  tötend  er- 
wies wie  die  ultravioletten  Strahlen  nach  Finsen.  — Doch  nicht 
genug  damit!  Wo  so  viele  an  der  Arbeit  sind  und  besonders  die 
moderne  Technik  der  Wissenschaft  eifrig  an  die  Hand  geht,  da  ist  cs 
scbliefslich  kein  Wunder,  wenn  Dinge,  die  gewissermaßen  in  der 
Luft  liegen,  von  sicherer  Hand  mit  überraschender  Schnelligkeit  heraus- 
gegriffen werden. 

So  hat  unter  Zugrundelegung  der  in  der  Photographie  seit  langem 
bekannten  Tatsache  der  „Sensibilisierung“  Dreyer  in  Kopen- 
hagen ein  einfaches  Vorfahren  ersonnen,  um  die  körperlichen 
Gewebe  auch  für  die  nicht  ultravioletten  Strahlen,  welche  sonst 
als  unwirksam  verloren  gehen,  empfindlich  zu  machen. 

Im  großen  und  ganzen  verhält  sich  nämlich  die  Durchdringungs- 
iähigkeit  der  Lichtstrahlen  für  die  Haut  umgekehrt  wie  ihre  reizende, 
bakteriemötende  Kraft.  Das  heisst  also,  die  am  meisten  wirksamen 
Strahlen  haben  entsprechend  geringere  Tiefenwirkung  und  umgekehrt. 
Da  nun  die  ultravioletten  Strahlen,  auf  deren  Hilfe,  wegen  ihrer 
großen  therapeutischen  Wirksamkeit,  wir  bisher  allein  angewiesen 
waren,  höchstens  bis  zu  einer  Tiefe  von  etwa  1,5  mm  in  die  organi- 
schen Gewebe  dringen,  so  waren  wir  bald  an  der  Grenze  unserer 
Leistungsfähigkeit  angelangt,  sofern  es  sich  um  tieferliegende  Krank- 

')  Vorgl.  Heft  11,  1903  und  Heft  Ij,  1904  dieser  Zeitschrift. 


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heitsprozesse  handelte.  Wenn  man  auch  die  oberflächlichen  Gewebe 
duroh  Aufdriioken  einer  Quarzplatte  blutleer  machte,  so  inufsten  doch 
in  den  tieferen  Schichten  die  ultravioletten,  sogenannten  aktinischen 
Strahlen  zugunsten  ihrer  roten  und  gelben  Brüder  Zurückbleiben,  da 
sie  eben  von  der  roten  Farbe  des  Blutes  absorbiert  und  zurückge- 
halten werden. 

Die  Einwirkung  des  Lichtes  auf  den  Organismus  würde  nun 
von  vornherein  eine  viel  machtvollere  sein,  wenn  es  gelänge,  diesen 
Strahlen  von  hoher  Penetrationskraft  und  Tiefenwirkung,  nämlich  dem 
rot-gelben  Teil  des  Spektrums  eine  entsprechende  chemische,  akti- 
nisohe  Wirksamkeit  zu  verleihen.  — Nun  kennt  die  Technik  ein 
Verfahren,  um  photographische  Platten  für  gewisse  Farben  empfäng- 
lich zu  machen,  sogenannte  farbencmpflndliche  Platten  zu  erzeugen, 
die  auoh  auf  rot,  grün  und  gelb  reagieren.  Man  setzt  der  licht- 
empfindlichen Gelatineemulsion  gowisee  lösliche  FarbstofTo,  Sensibili- 
satoren genannt,  je  nach  der  gewünschten  Empfänglichkeit  zu. 

Dieses  Verfahren  der  „Sensibilisierung“  der  Silbersalze  hat 
die  Photochemie  bisher  noch  nicht  genügend  zu  erklären  gewufst, 
und  so  ist  die  praktische  Anwendung  wieder  einmal  der  theoretischen 
Grundlage  vorausgeeilt;  doch  müssen  wir  annehmen,  dafs  der  Vor- 
gang nicht  auf  der  Fluoreszenz,  noch  auf  der  Absorption  gewisser 
Strahlengattungen  heruht. 

Vorstehendes  Prinzip  übertrug  nun  Dreyer,  welcher  übrigens 
schon  April  1903  der  dänischen  Akademie  dor  Wissenschaften  von 
seinen  Untersuchungen  Mitteilung  machte,  auf  animalisches  Gewebe, 
indem  er  dasselbo  mit  sensibilisierenden  Stoffen  imprägnierte.  Er  er- 
reichte auf  diese  Weise,  dafe  zwar,  ebensowenig  wie  in  der  Photo- 
graphie, die  rot-gelben  Strahlen  an  sich  nicht  stärker  aktinisch  wurden, 
wohl  aber  eine  durchweg  ausreichende  Empfindlichkeit  der  Ge- 
webszellen diesen  gegenüber,  um  den  vollen  Einflufs  der  Lioht- 
wirkung  auszunutzen. 

Hauptsächlich  wurde  Erythrosin  verwendet.  Derartig  sensibili- 
sierte organische  Lebewesen,  wie  Infusorien,  Bakterien  und  andere 
Zellengebilde,  verhielten  sich  nunmehr  in  gleicher  Weise  den  sonst 
unwirksamen,  orange  bis  grünen  Strahlen  gegenüber,  wie  den  blau- 
violetten. Selbst  bei  einer  Verdünnung  von  1 : 4000  starben  dieselben 
in  kurzer  Zeit,  zum  Teil  in  Sekunden,  ab.  Es  ist  also  auf  diese  Weise 
möglich,  fast  sämtliche  Strahlen  des  Mischlichtes,  d.  h.  des  gesamten 
Spektrums,  in  gröfserer  oder  geringerer  Tiefe  des  menschlichen  Körpers 
noch  zur  heilkräftigen  Wirkung  zu  bringen.  So  gelang  es  unter 


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anderem  Dreyer,  sensibilisierte  Infusorien  durch  ein  4 mm  dickes 
Hautstück  in  6 — 7 Minuten  zu  tüten,  während  sonst  in  unsensibiiisiertem 
Zustande  tagelange  Belichtung  zum  Absterben  nötig  war. 

In  analoger  Weise  macht  sich  dann  auch  noch  die  Lichtwirkung  in 
der  menschlichen  Haut,  sowie  in  der  darunter  liegenden  Muskulatur  in 
einer  Tiefe  bemerkbar,  wo  sie  sonst  nie  eine  Wirkung  gehabt  haben 
würde,  wenn  man  durch  Einspritzung  die  betreffenden  Gebilde  mit  sensi- 
bilisierenden Lösungen  durchtränkt.  Ja,  man  hat  es  in  der  Hand,  tiefer 
liegende  Schichten  zu  beeinflussen,  während  die  Oberfläche  unver- 
ändert bleibt.  Es  würden  also  auf  diesem  Wege  z.  B.  tuberkulöse 
Herde,  welche  unter  der  Haut  liegen,  ohne  operative  Verletzungen 
behandelt  werden  können.  Das  ist  von  Wichtigkeit  im  Vergleich  mit 
der  Röntgen-  und  H ad iumbehandlung,  sowie  mit  der  ursprünglichen 
Finsentherapie  überhaupt,  wenigstens  theoretisch.  Diese  letzteren 
Strahlengattungen  schädigen  alles,  was  sie  auf  ihrem  Wege  erreichen, 
in  gleioher  Weise,  und  vom  Radium  ist  ja  bekannt,  was  für  tief- 
gehende Verbrennungen  nebenbei  am  Unrechten  Orte  und  unvermutet 
in  Erscheinung  treten.  Man  wird  sogar  durch  stärkere  oder  schwächere 
Farblösungen  eine  gewisse  Dosierung  in  der  Ilaud  haben. 

In  therapeutischem  Sinne  sind,  den  mitgetoilten  Beobach- 
tungen entsprechend,  bereits  auf  der  dermatologischen  Universitäts- 
klinik zu  Breslau  von  Prof.  Neifser  eingehende  Versuche  ange- 
stellt worden2),  welche  blofs  der  weiteren  Bestätigung  bedürfen,  um 
wertvolle  Tatsachen  für  die  Behandlung  gewisser  Hautkrankheiten 
zu  bieten. 

Diese  Dre.versche  Methode  der  Lichtbehandlung  scheint 
eine  bedeutende  Erweiterung  des  Finsen- Verfahrens  darzustelleu,  wenn 
auch  das  eine  nicht  das  andere  ausschliefst,  da  man  doch  darauf  be- 
dacht sein  mufs,  die  Summe  alter  wirksamen  Faktoren  zusammen  zu 
erhalten.  Vielleicht  wird  man  zugunsten  billiger  Bestrahlungsapparate 
durch  Wegfall  der  teueren  Bergkristall-  oder  Quarzlinsen  auf  einen  Teil 
der  ultravioletten  Strahlen  verzichten  können.  Doch  ist  es  neuerdings 
auch  gelungen,  Glassorten  zu  bereiten,  welche  sich  der  Durchlässig- 
keit der  chemischen  Lichtwellcn  gegenüber  günstiger  verhalten, 
zumal  man  den  Lichtkonzentrator  auch  künftig  nicht  wird  entbehren 
wollen. 

Eine  genügend  wissenschaftlich  beglaubigte  Tatsaohe  der 
,,Sensi bilisi  e rung  animalischen  Gewebes“  bietet  aber  insofern 
etwas  überraschendes,  als  sich  anorganische  und  organische  Gebilde 
’)  Deutsche  Medizin.  Wochenschrift,  1904.  Nr.  8. 


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in  gleicher  Weise  verhalten.  Wie  kommt  es,  dafs  die  Atome  der 
lichtempfindlichen  Silberlösung  auf  dieselbe  Art  durch  ein  Färbe- 
mittel beeinflufst  werden,  wie  die  lebenden  Körperzellen?  Nahe- 
liegende physikalisch  - chemische  Vorgänge,  wie  Erregung  von 
Fluoreszenzstrahlen,  welche  aktinische  und  bakterizide  resp. 
zellenreizende  Einflüsse  haben  könnten,  desgl.  Abso  rptions  Vor- 
gänge bestimmter  Lichtwellen  sind  nicht  im  Spiele.  Wie  leioht  fest- 
zustellen.  gibt  es  fluoreszierende  Stoffe,  die  nicht  sensibilisieren  und 
umgekehrt  So  hat  das  allbekannte  Petroleum  eine  sehr  schöne 
Fluoreszenz;  niemand  aber  wird  es  einfallen,  damit  eine  Platte  farben- 
empfindlich machen  zu  wollen.  Andererseits  gibt  es  fluoreszierende 
und  nicht  fluoreszierende  Agentien,  die  nicht  sensibilisieren,  aber  die- 
selben Absorptionsfähigkeiten  aufweisen,  wie  das  oben  genannte  Eryth- 
rosin. Will  man  aber  eine  Giftwirkung  wenigstens  auf  die  Zellen 
annehmen,  so  steht  dem  entgegen,  dafs  die  sensibilisierende  Lösung 
sich  durch  vorhergehende  Beleuchtung  nicht  bakterizide  machen  läfst 
Nur  im  Kontakt  mit  dem  Gewebe,  wie  mit  den  Silbersalzen, 
tritt  sie  bei  Belichtung  in  Aktion. 

Ähnliches  findet  ja  hei  der  Heizung  der  Netzhaut  des  Auges  statt, 
wo  auch  der  rote  Farbstoff  des  Sehpurpurs  die  Vermittlerrolle  der 
Lichtempfindung  spielt,  im  Verein  mit  noch  anderen  Sehstoffen,  welche 
aber  farblos  sind.  Hierbei  ist  zu  beachten,  dafs,  während  Hornhaut 
Iris  und  Linse  die  ultravioletten  Strahlen  verschlucken,  nur  die  rot- 
grüne  und  in  geringem  Mafse  die  blau-violette  Keihe  bis  zum  Hinter- 
grund des  Auges  gelangen  und  die  Nervenelemente  der  Netzhaut  er- 
regen. Darum  ist  uns  auch  eine  mehr  rötliche  Beleuchtung  ange- 
nehmer, weil  eindrucksvoller  und  die  Gegenstände  leichter  erkennbar 
machend.  — 

Vielleicht  hilft  uns  auoh  hier  wieder  die  moderne  Theorie  der 
Lösungen,  indem  sie  uns  Gruppierungen  von  Molekülen  annehmen 
läfst,  welche  durch  ionisierende  Strahlen  verschoben  und  umge- 
lagert werden. 


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Von  den  n-Strahlen  ist  in  neuester  Zeit  aufserordentlich  viel, 
besonders  in  der  populären  Tagesliteratur,  die  Rede  gewesen.  Die 
Wissenschaft  hat  dagegen  von  ihnen  kaum  Notiz  genommen.  Dieser 
Umstand  mag  auffallen.  Wir  sind  in  den  letzten  Jahren  mit  neuen 
unsichtbaren  Strahlenarten  förmlich  überschüttet  worden.  Es  ist 
schwer,  sich  unter  ihnen  noch  auszukennen.  Man  unterscheidet  die 
Gruppe  der  Ätherwellenstrahlen  — zu  ihnen  würden  die  Strahlen 
elektrischer  Kraft,  die  Wärmestrahlen,  die  Lichtstrahlen,  die  ultra- 
violetten Strahlen  gehören  — von  der  Gruppe  der  Korpuskular  Strahlen 
(Kathodenstrahlen,  Kanalstrahlen,  Becquerelstrahlen).1)  Prisma  und 
Magnet  lassen  beide  Strahlengruppen  voneinander  unterscheiden. 
Denn  während  die  Älherwellenstrahlen  durch  das  Prisma  aus  ihrer 
geradon  Bahn  abgelenkt  und  nach  Mafsgabe  ihrer  Schwingungszahl 
und  Wellenlänge  zu  einer  Art  von  Musterkarto  ausgebreitet  werden, 
gehorchen  die  Korpuskularstrahlen,  aus  allerwinzigsten  geradlinig  fort- 
geschleuderten Materieteilchen  bestehend,  dem  Prisma  zwar  nicht,  sie 
werden  aber  durch  einen  Magneten,  je  nach  ihrer  Geschwindigkeit 
und  dem  Vorzeichen  ihrer  elektrischen  Ladung  verschiedenartig  ab- 
gelcnkt.  Nun  entdeckte  im  Jahre  1903  der  französische  Physiker 
Blondlot  neuartige  unsichtbare  Strahlen,  die  er  mit  dem  Namen 
n-Strahlen  (nach  ihrem  Entdeckungsort  Nancy)  belegte.  Nach  seiner 
Ansicht  gehen  diese  Strahlen  fast  von  allen  glühenden  Körpern  aus; 
er  fand  sie  z.  B.  in  den  Strahlen  des  Auerbrenners,  in  den  Strahlen 
der  Sonne,  an  glühenden  Platinblechen,  ja  neuerdings  sogar  an  zu- 
sammengeprefsten  beliebigen  Materialien  und  sogar  am  menschlichen 
Körper.  Diese  n-Strahlen  wirken  nicht  auf  eine  photographische  Schicht 
ein,  haben  dafür  aber  einige  Eigenschaften  sowohl  mit  den  Wärme- 
strahlen, als  mit  den  elektrischen  Wellen  gemein.  Sie  durchdringen 
einige  Körper,  z.  B.  Quarz,  aber  auch  Papier  und  Holz  und  beein- 
flussen sowohl  elektrische  Funkenstrecken,  wie  kleine  Leuchtflämmchen 
und  gewisse  phosphoreszierende  Substanzen.  Nach  Blondlot  miifsle 

')  Vgl.  den  Aufsatz  über  das  Radium,  Heft  7 Seite  294,  1904. 


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man  die  n-Strahlen  folgender mafsen  sehr  leicht  nachweisen  können. 
Von  einem  Auerbrenner,  der  in  einem  Kasten  völlig  lichtdicht  cin- 
gesohlossen  ist,  wird  der  Zylinder  abgenommen,  da  die  n-Strahlen 
nicht  durch  Glas  gehen.  Der  Kasten  besitzt  vor  einer  mit  schwarzem 
Papier  oder  Aluminium  bedeokten  Öffnung  eine  Quarzlinse.  Diese 
Quarzlinse  konzentriert  dann  die  Wirkung  der  n-Strahlen  zu  einer 
Art  von  Brennpunkt,  in  welchem  naoh  den  Angaben  des  französischen 
Physikors  sowohl  ein  winziger  elektrischer  Funke,  wie  eine  kleine 
Gasflamme  heller  aufleuchten  soll.  Auoh  phosphoreszierende  Sub- 
stanzen, z.  B.  das  Kalziumsulflt,  leuchtet  angeblich  an  dieser  Stelle 
heller  auf.  Zweifellos  gehören  die  n-Strahlen  der  Ätherwellenskala 
an,  da  sie  ja  duroh  die  Quarzlinse  gebrochen  werden.  Aus  diesbe- 
züglichen Messungen  mufs  sich  daher  die  Wellenlänge  der  n-Strahlen 
ermitteln  lassen.  Sagnao  findet  sie  zu  etwa  0,2  mm.  Man  könnte 
demnach  die  neuen  Strahlen  sowohl  als  kurze  elektrische  Wellen,  wie 
als  lange  Wärmewellen  bezeichnen.  Sie  treten  fast  mitten  in  eine 
für  uns  bis  jetzt  noch  vorhandene  Lücke  der  Ätherwellenskula.-) 
So  wäre  denn  in  der  Tat  alles  recht  gut  und  schön,  und  man  könnte 
die  Blondlotschen  Untersuchungen  mit  Freude  als  eine  nicht  un- 
wesentliche Bereicherung  unserer  Kenntnisse  begrüfsen,  wenn  es  nur 
sonst  den  anderen,  ruhig  denkenden  und  gewissenhaft  forschenden 
Gelehrten  gelungen  wäre,  die  relativ  sehr  einfachen  Versuche  Blond- 
lots zu  wiederholen.  Das  is  aber  bisher  durchaus  nicht  der  Fall  ge- 
wesen, weder  von  deutscher  noch  von  englischer  Seite  liegt  bisher 
eine  Bestätigung  vor.  Wohl  sind  Erscheinungen  ähnlich  den  von 
Blondlot  angegebenen  beobachtet  worden,  eie  haben  sich  aber  aus- 
nahmslos als  ziemlich  grobe,  subjektive  optische  Täuschungen  aus- 
gewiesen. Inzwischen  fährt  Blondlot  ruhig  fort,  weitere  Veröffent- 
lichungen über  die  n-Slrahlen  zu  bringen.  Wir  müssen  jedoch  darauf 
verzichten,  sie  wiederzugeben,  ehe  nicht  von  kompetenter  Seite  eine 
Bestätigung  der  Blondlotschen  Versuohe  erfolgt.  Dr.  B.  D. 

* 

Ein  Verfahren  zur  Gewinnung  von  wasserfreiem  Alkohol  ohne 
wasserentziehende  Chemikalien,  wie  Chlorcaloium  oder  Atzkalk,  hat 
der  Engländer  Sidney  Young  patentieren  lassen.  Es  wird  nämlich 
einfach  der  wasserhaltige  Alkohol  mit  einer  nicht  zu  hoch  siedenden 

Neuerdings  soll  die  Wellenlänge  (nach  Blondlot)  jedoch  ganz  aufser- 
ordentlich  klein  sein.  Die  n-Strahlen  würden  danach  noch  hinter  die  ultra- 
violetten Strahlen  rangieren. 


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382 


organischen  Flüssigkeit  wie  Benzol,  Chloroform,  Benzin  versetzt  und 
die  Mischung  in  Kolonnenapparaten  destilliert.  Ein  Kolonnenapparat 
besteht  aus  mehreren  hintereinander  geschalteten  Destillationsgefäfsen, 
von  denen  immer  das  nächste  höher  erhitzt  wird  wie  das  vorher- 
gehende, so  dafs  auf  diese  Weise  eine  Trennung  des  ursprünglichen 
Gemisches  in  verschieden  hoch  siedende  Bestandteile  erfolgt.  Dann 
geht  — das  ist  die  Beobachtung  des  Erfinders  — zuerst  ein  Gemisch 
von  Wasser,  Alkohol  und  der  Zusatzfiüssigkeit  über,  bis  alles  WasBer  im 
Destillat  enthalten  ist;  dann  destilliert  eine  Mischung  von  wasserfreiem 
Alkohol  und  der  organischen  Flüssigkeit,  bis  der  Siedepunkt  des  reinen 
Alkohols  erreicht  ist.  Das  zuletzt  genannte  Gemisch  wird  bei  der 
weiteren  Destillation  an  Stelle  der  Zusatzfiüssigkeit  verwendet.  Da  es 
bis  jetzt  noch  nicht  gelungen  ist,  absolut  wasserfreien  Alkohol  her- 
zustellen (die  höchste  Grenze  ist  99,7  pCt.),  so  ist  das  Verfahren  jeden- 
falls von  wissenschaftlichem  Interesse.  Für  die  Darstellung  im  Grofsen 
dürfte  es  von  geringerer  Bedeutung  sein,  da  in  der  Technik  ein  drin- 
gendes Bedürfnis  nach  absolut  wasserfreiem  Alkohol  nicht  vorliegt, 
so  dafs  die  Verteuerung,  die  durch  die  Verwendung  von  organischen 
Flüssigkeiten,  wie  Benzol  etc.,  bedingt  wird,  durch  den  erzielten  Fort- 
schritt praktisch  kaum  genügend  begründet  sein  dürfte. 

Dr.  M.  v.  P. 

$ 

Über  die  Verwendung  des  Acetylens  in  gelöstem  Zustand. 

Dafs  das  Acetylen  (C2  H2)  einen  etwa  dreimal  so  grofsen  Heiz- 
effekt  hat  wie  Leuchtgas,  ist  wohl  bekannt.  Trotzdem  wird  es, 
wenigstens  in  Deutschland,  bis  heute  noch  wenig  angewandt.  Der  Grund 
ist  hauptsächlich  in  zwei  Vorurteilen  zu  suchen,  denen  inan  immer 
wieder  begegnet.  Man  behauptet  nämlich  erstens.  Acetylen  sei  giftig, 
und  zweitens,  es  sei  gefährlich.  Beide  Ansichten  sind  als  durchaus 
veraltet  zu  verworfen.  Giftig  ist  Acetylen  nur,  wenn  es  durch  Phos- 
phor stark  verunreinigt  ist  (z.  B.  in  den  Fahrradlaternen),  es  ist  aber 
eine  Kleinigkeit  und  es  wird  beim  Verbrauch  grüfserer  Mengen  nie 
versäumt,  es  von  Phosphor  zu  befreien;  in  reinem  Zustande  hat  Ace- 
tylen einen  angenehmen  Geruch  (ähnlich  wie  gekochter  Blumenkohl) 
und  ist  durchaus  unschädlich.  Auch  die  Explosivität  des  Acetylens 
braucht  man  heute  nioht  mehr  zu  fürohten,  denn  man  hat  in  Frank- 
reich eine  Methode  ersonnen,  die  das  Gas  auoh  im  komprimierten  Zu- 
stande ungefährlich  und  somit  transportfähig  macht.  Man  löst  nämlich 
das  Aoetylen  in  Aceton  (einer  Flüssigkeit,  die  als  Cberprodukt  bei 


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der  trockenen  Destillation  des  Holzes  entsteht  und  die  Formel 
CH3  CO  CH3  hat).  Ein  Liter  Aoeton  nimmt  pro  Atmosphäre  Druck 
24  Liter  Acetylen  auf;  das  Volumen  vergrößert  sich  dabei  um  4%. 
Die  Lösung  ist  vollkommen  harmlos  und  wäre  ohne  weiteres  trans- 
portfähig, wenn  sie  sich  nioht  beim  Entweichen  des  Acetylens  zu- 
sammenzöge. Dadurch  entstehen  in  den  Behältern  Hohlräume,  die 
sich  mit  komprimiertem  Gas  füllen  und  nun  hochgradig  explosions- 
gefährlich wirken.  Hier  hat  Prof.  Le  Chatelier  in  Paris  den  Aus- 
weg gefunden.  Von  der  Beobachtung  ausgobend,  dafs  die  Kraft  einer 
Explosion  mit  dem  Querschnitt  des  Kaumes,  in  dem  sie  stattfindet, 
stark  abnimmt,  verfiel  er  auf  den  Gedanken,  Transportfluschen  durch 
Füllung  mit  porösem  Material  in  viele  kleine  Zellen  zu  unterteilen 
und  dann  mit  der  Lösung  zu  beschicken.  Er  stellte  zu  diesem  Zwecke 
poröse  Materialien  her,  die  eine  Porosität  bis  zu  80%  aufwiesen.  In 
der  Tat  erwies  sich  die  Idee  als  richtig.  Es  wurde  festgestellt,  dafs 
weder  ein  elektrischer  Funke,  den  man  im  Inneren  einer  Transport- 
flasche überspringen  liefs,  noch  die  Hitze  eines  Schmiedefeuers  eine 
Explosion  hervorzurufen  imstande  waren.  Im  ersten  Fall  trat  eine 
minimale  Drucksteigeruug,  im  zweiten  eine  ruhige  Verbrennung  ein,  als 
das  Gefäfs  durch  die  Hitze  bereits  geborsten  war.  Diese  Versuche 
waren  der  französischen  und  englischen  Polizei  mafsgebend,  den 
Transport  von  Acetylenlösungen  im  weitesten  Umfange  zu  gestatten. 
Gefäfse  nach  Le  Chatelier  nehmen  pro  Liter  Kapazität  im  leeren 
Zustand  und  pro  Atmosphäre  10  1,  also  bei  15  Atmosphären  150  1 
Aoetylengas  auf.  In  Frankreich,  Schweden,  Kufsland  und  Amerika 
verwendet  man  bereits  seit  einiger  Zeit  transportable  Acetylenlüsungen 
zur  Beleuchtung  von  Eisenbahnen,  Strafsenfahrzeugen  und,  wegen  des 
grofsen  Heizwertes  des  Acetylengases,  auch  zum  Betrieb  von  Sauer- 
stoffgebläsen. Dr.  M.  v.  P. 


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Verzeichnis  der  der  Redaktion  zur  Besprechung  eingesandleu  Bücher. 

Anding,  E.  Kritische  Untersuchungen  über  die  Bewegung  der  Sonne  durch 
den  Woltenraum.  München,  F.  Straub,  1901. 

Annalen  der  K.  K.  Universitäts-Sternwarte  in  Wien,  Herausgegehen  von  Ed. 
Weifs,  XVI.  Band,  Wien  1902. 

Annuaire  pour  Tan  1904,  puh  ln4  par  le  burcau  des  longitudes.  Paris,  Oauthier- 
Villara,  1904. 

Astronomischer  Kalender  für  1904  Herausgegeben  von  der  K.  K.  Stern- 
warte zu  Wien.  Der  ganzen  Reihe  CO.  Jahrgang;  der  neuen  Folge 
23.  Jahrgang.  Wien,  Karl  Qerolds  Sohn. 

Auerbach,  F.  Das  Zeifswerk  und  die  Carl  Zeifs-Stifiung  in  Jena.  Jena, 
Gustav  Fischer,  1903. 

Bach,  L.  Licht  am  Himmel  oder  Naturwissenschaftliche  Entdeckungen  eines 
Oberelsassischen  Volksechullohrera.  Rixheiin,  Sutter  & Co.,  1903. 

Borgens  Museums  Aarbog  1903,  udgivet  af  Borgens  Museum,  red.  Dr. 
J.  ßrunchorst.  Heft  I und  Heft  2.  Bergen  1903. 

Bruhns,  W.  Petrographie  (Gesteinskunde).  Mit  15  Figuren.  Sammlung 
Göschen,  Leipzig  1903. 

Bludau,  A Neue  zeitgomäfso  Bearbeitung  von  Sohr- Bergbaus1  Handatlas  über 
alle  Teile  der  Erde.  Unter  Mitwirkung  von  Otto  Heckt.  IX.  Aullage. 
Lieferung  4,  5 und  6.  Glogau,  Carl  Flemming,  1903. 

Classen,  A.  Ausgewählte  Methoden  der  Analytischen  Chemie.  II.  Bd.  Unter 
Mitwirkung  von  H.  Cloeren.  Mit  133  Abbildungen  und  2 Spektraltafeln. 
Braunschweig,  Fried r.  Vieweg  & Sohn,  1903. 

C lassen,  J.  Theorie  der  Elektrizität  und  des  Magnetismus.  I.  Band.  Elektro- 
statik und  Elektrokinetik.  (Sammlung  Schubert  XL VI.)  Leipzig, 
Güschenscher  Verlag,  1903. 

Classen,  J.  Naturwissenschaftliche  Erkenntnis  und  der  Glaube  an  Gott.  Vor- 
trag, gehalten  im  Hamburger  Protestantenvorein.  Hamburg,  C.  fioyten, 
1903. 

Chalikiopoulos,  L.  Sitia.  Die  Osthalbiusel  Kretas.  Eine  geographische 
Studie.  Mit  3 Tafeln  und  8 Abbildungen.  Berlin,  Mittler  & Sohn,  1903. 

Constan,  P.  Coura  elemontairo  d’astronoraie  et  do  Navigation.  Premiere 
partio:  Astronomie.  Paris,  Gauthier-Villars,  1903. 

Dact'jue,  E.  Wie  man  in  Jena  naturwissenschaftlich  beweist.  Stuttgart, 
M.  Kielmann,  1904. 

Dacquö,  E.  Der  Deszendenzgedanke  und  seine  Geschichte  vom  Altertum  bis 
zur  Neuzeit.  München,  Ernst  Reinhardt,  1903. 

(Fortsetzung  folgt) 


Verlag:  Hermann  Paotel  in  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  Dronan'e  ßnchdruckerel  in  Berlin  - SehAneberg. 
Für  die  Eedaetioo  verantwortlich : Dr.  P.  Sehwahn  in  Berlin. 

Unbarechtifter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
ÜbeTeetznngarecht  Vorbehalten. 


^4 


Hospental  mit  der  Ebene  von  Andermatt  und  der  Oberalp. 


Die  Kirchhoffsche  Funktion. 

Von  Professor  Dr.  J.  .SchfUer  in  Potsdam. 

, j m Miirzhefte  des  Jahrganges  l*tl7  dieser  Zeitschrift  hatte  ich  ver- 
sucht,  in  einem  Aufsätze  -Der  Kirchhoffsohe  Satz  und  seine 
Folgerungen“,  den  Kirchhoffschen  Satz,  der  dieGrundlage  der 
Spektralanalyse  und  aller  ihrer  wunderbaren  Ergebnisse  bildet,  dem 
Leser  zu  erklären  und  zu  deuten.  Bei  dieser  Gelegenheit  mufste  auch 
die  Kirchhoffsche  Funktion  besprochen  werden,  und  ich  konnte 
einige  allgemeine  Eigenschaften  derselben  anführen,  durch  deren 
Kenntnis  es  möglich  geworden  war,  die  wichtigste  Tatsache  der  Spek- 
tralanalyse, die  Identität  der  hellen  und  dunklen  Linien  in  den  Spektren 
gasförmiger  Körper  zu  beweisen  und  damit  die  wissenschaftliche 
Spektralanalyse  zu  begründen.  Die  wahre  mathematische  Form  der 
Kirchhoffschen  Funktion  war  damals  noch  nicht  bekannt;  ich  habe 
aber  bereits  darauf  hingewiesen,  dafs  die  ganze  Fruchtbarkeit  der 
Kirchhoffschen  Entdeckung  erst  nach  Auffindung  dieser  Formel  zu- 
tage treten  kann.  Das  ist  nun  heute  geschehen;  in  mühsamer  Arbeit, 
Schritt  für  Schritt,  und  in  inniger  Zusammenwirkung  von  Experiment 
und  Theorie  ist  es  den  Physikern  gelungen,  den  Sohlufsstein  der 
Kirchhoffschen  Entdeckung  einzufügen.  Zahlreiche  Gelehrte  haben 
hieran  gearbeitet,  von  donon  hier  nur  die  folgenden  aufgeführt  seien : 
Kurlbaum,  Lummer,  Pringsheim  in  experimenteller  Beziehung, 
Wien  und  Planck  in  theoretischer  Hinsicht  Nachdem  Wien  der 
Wahrheit  schon  recht  nahe  gekommen  war,  ist  die  definitive  mathe- 
matische Form  Bohliefslioh  von  Planck  aufgestellt  und  bewiesen 
worden;  sie  wird  als  Planck  sehe  Energiegleichung  bezeichnet 

Während  es  gänzlioh  unmöglich  ist,  die  überaus  schwierigen 
theoretischen  Untersuchungen  Plancks  hier  zur  Darstellung  zu  bringen, 

Himmel  und  Krde.  1004  XVI.  9.  05 


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386 


möchte  ich  es  im  folgenden  versuchen,  den  experimentellen  Teil  der 
Untersuchung  zu  erläutern  und  einige  Anwendungen  der  Kirohhoff- 
sohen  Funktion  zu  besprechen. 

Nach  dem  Kirchhoffsohen  Satze  findet  zwischen  der  Ausstrah- 
lung (Emission)  und  der  Aufsaugung  der  Strahlen  (Absorption)  bei 

E 

jeder  Temperatur  und  für  jeden  Körper  die  Beziehung  statt  ^ = e, 

wobei  e die  Emission  eines  sogenannten  absolut  schwarzen  Körpers 
bedeutet.  In  Worten  heifst  dies:  „Das  Verhältnis  der  Emission  zur 
Absorption  ist  für  alle  Körper  dasselbe  und  zwar  gleich  dem  Emissions- 
vermögen des  absolut  schwarzen  Körpers  bei  der  betreffenden  Tempe- 
ratur“. Unter  absolut  schwarzem  Körper  soll  nach  Kirchhoff  ver- 
standen werden  ein  Körper,  der  alle  Strahlen,  die  auf  ihn  fallen, 
gleichgültig  ob  es  Licht-  oder  Wärmestrahlen  sind,  vollständig  absor- 
biert, d.  h.  in  Wärmevermehrung  des  Körpers  umsetzt  Er  darf  also 
weder  reflektieren,  noch  Lioht,  oder  allgemein  Strahlung,  durchlassen. 
Derartige  Körper  gibt  es  in  der  Natur  nicht;  am  nächsten  kommt 
dieser  Bedingung  die  Kohle  in  Form  von  Rufs,  doch  absorbiert  sie  von 
den  Lichtstrahlen  durchaus  nicht  alles,  sondern  nur  98  % unter  den 
günstigsten  Bedingungen. 

Kirchhoff  konnte  nun  schon  selbst  einige  allgemeine  Eigen- 
schaften seiner  Funktion,  oder  also  des  Emissionsvermögens  des 
absolut  schwarzen  Körpers  aufstellen:  Dieses  Emissionsvermögen 

kann  nur  eine  Funktion  von  Temperatur  und  Wellenlänge  der  Strah- 
lung — im  siohtbaren  Teile  der  Strahlung,  also  der  Farbe  — sein, 
und  zwar  mufs  es  eine  einfache  Funktion  sein  (siehe  den  zitierten 
Aufsatz).  Mit  zunehmender  Temperatur  mufs  für  alle  Wellenlängen 
die  Emission  zunehmen,  aber  natürlich  in  verschiedenem  Mafse.  Bei 
ein  und  derselben  Temperatur  ist  die  Emission  für  die  verschiedenen 
Wellenlängen  des  Lichtes  ebenfalls  eine  verschiedene,  in  dem  Sinne, 
dafs  für  eine  bestimmte  Wellenlänge  ein  Maximum  der  Emission 
herrscht  Für  alle  Temperaturen  und  für  alle  Wellenlängen  mufs  die 
Absorption  eine  vollkommene,  d.  h.  A = 1 sein  (nach  der  Definition 
des  schwarzen  Körpers). 

Im  Laufe  der  Zeit  erkannte  man  einige  weitere  spezielle  Eigen- 
schaften der  Kirchhoffschen  Funktion.  Vor  allem  fand  Stefan 
auf  empirischem  Wege  das  naoli  ihm  benannte  Gesetz,  dafs  die  Gesamt- 
strahlung eines  schwarzen  Körpers  mit  der  4ten  Potenz  der  absoluten 
Temperatur  zunehme.  Die  Richtigkeit  dieses  inzwischen  vielfach  mit 
grofsem  Erfolge  angewendeten  Gesetzes  wurde  später  durch  Boltz- 


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387 


mann  theoretisch  bewiesen.  Ferner  fand  man,  dafs  das  Maximum 
der  Strahlung  mit  zunehmender  Temperatur  des  strahlenden  Körpers 
sich  immer  mehr  nach  dem  violetten  Teile  des  Spektrums  verschiebe. 
Alle  diese  Strahlungsgesetze  konnten  nun  natürlich  nur  für  den  ab- 
solut schwarzen  Körper  Gültigkeit  haben;  eine  exakte  Prüfung  der- 
selben im  Laboratorium  konnte  also  erst  stattfinden,  als  es  gelang, 
auf  künstlichem  Wege  einen  absolut  schwarzen  Körper  herzustellon, 
da  die  Natur  einen  solchen  nicht  liefert.  Den  Weg  hierzu  hat  schon 
Kirohhoff  selbst  angegeben.  Er  hat  den  Satz  ausgesprochen,  dafs 
in  jedem  Hohlraum,  dessen  Hülle  für  Strahlung  undurchlässig  ist 
(Metalle)  und  überall  gleicho  Temperatur  besitzt,  die  Strahlung  des 
schwarzen  Körpers  von  der  Hüllentemperatur  herrsche.  Der  Beweis 
hierfür  ist  ein  sehr  einfacher:  Denken  wir  uns  von  einem  Punkte 
dieser  Hülle  einen  Strahl  nach  einer  bestimmten  Richtung  ausgehend, 
so  wird  derselbe  sehr  bald  auf  einen  anderen  Punkt  der  Hülle  auf- 
treffen. Da  nun  das  Material,  aus  dem  die  Hülle  besteht,  nicht 
die  Eigenschaft  eines  absolut  schwarzen  Körpers  besitzt,  so  wird 
nur  ein  Teil  der  Strahlung  absorbiert  werden,  der  übrige  Teil  wird 
weiter  reflektiert,  und  zwar  bei  rauher  Oberfläche  nach  allen  möglichen 
Richtungen  hin.  Verfolgen  wir  einen  dieser  reflektierten  Strahlen  weiter, 
so  wird  er  bald  wieder  irgendwo  die  Hülle  treffen;  hierbei  wird  wieder 
ein  Teil  absorbiert,  das  übrige  reflektiert.  Der  reflektierte  Teil  wird 
immer  kleiner  und  kleiner,  da  ja  jedesmal  Absorption  stattfindet,  und 
schliefslich  nach  unendlich  vielen  Reflexionen  wird  er  Null;  d.  h.  es 
ist  durch  die  Hülle  alles  absorbiert  worden,  und  das  ist  ja  eben 
die  Eigenschaft  des  absolut  schwarzen  Körpers.  Das  gilt  natürlich 
für  alle  Strahlungen,  die  im  Inneren  verlaufen,  und  da  fremde  Strah- 
lung wegen  der  Undurchlässigkeit  der  Hüllo  nicht  hineindringen 
kann,  so  ist  tatsächlich  im  Innern  der  Hülle  die  Strahlung  so,  als  wenn 
die  Hülle  aus  einem  absolut  schwarzen  Körper  bestände. 

Hat  die  Hülle  nun  eine  kleine  Öffnung,  so  tritt  aus  derselben 
die  Strahlung  des  schwarzen  Körpers  aus  und  kann  experimentell 
untersucht  werden.  Es  darf  aber  nicht  verschwiegen  werden,  dafs, 
sobald  eine  Öffnung  in  der  Hülle  ist,  die  Bedingung  zur  Herstellung 
der,  um  es  kurz  auszudrüoken,  „schwarzen"  Strahlung  nicht  mehr 
erfüllt  ist,  da  einerseits  durch  diese  Öffnung  fremde  Strahlung  in 
die  Hülle  eindringt,  anderseits  an  dieser  Stelle  ja  keine  Reflexion 
und  Absorption  mehr  stattfindet.  Es  ist  aber  klar,  dafs  der  hierdurch 
entstehende  Fehler  immer  kleiner  wird,  je  kleiner  die  Öffnung  im 
Verhältnis  zur  Oberfläohe  der  Hülle  wird;  man  hat  es  also  in  der 

25* 


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Hand,  durch  Wahl  der  Dimensionen  der  schwarzen  Strahlung  be- 
liebig nahe  zu  kommen. 

So  leicht  es  hiernach  auch  erscheint,  einen  schwarzen  Körper 
herzustellen,  so  grofs  sind  doch  die  technischen  Schwierigkeiten,  die 
zu  beseitigen  sind,  sobald  es  sich  darum  handelt,  einen  Körper  zu 
konstruieren,  der  mit  einem  hohen  Grade  von  Genauigkeit  die  schwarze 
Strahlung  bei  sehr  verschiedenen,  aber  exakt  zu  bestimmenden  Tempe- 
raturen liefert.  Erst  in  den  letzten  Jahren  ist  es  den  eingangs  ge- 
nannten Physikern  gelungen,  diese  Schwierigkeiten  zu  überwinden. 
Man  ist  hierbei  zu  verschiedenen  Konstruktionen  gelangt,  von  denen 
die  vorteilhafteste  wohl  diejenige  des  elektrisch  geheizten  schwarzen 
Körpers  sein  dürfte,  da  man  hierbei  jede  beliebige  Temperatur  bis 
nahe  an  den  Schmelzpunkt  des  Platins  hin  erreichen  kann. 

Der  „schwarze“  Körper  selbst  besteht  aus  einem  Porzellanrohr 
— ist  also  an  sioh  weifs  — , welohes  vorn  offen  und  hinten  ge- 
schlossen ist  bis  auf  2 kleine  Öffnungen,  die  zur  Durchrührung  dünner 
Drähte  dienen.  Im  Innern  ist  das  Rohr  durch  Diaphragmen  in  ver- 
schiedene Abteilungen  getrennt,  die  aber  durch  die  Öffnungen  der 
Diaphragmen  miteinander  in  Verbindung  stehen.  Aufsen  ist  das  Por- 
zellanrohr mit  einem  dicht  anschliefsenden  Rohr  aus  dünnem  Platin- 
blech umgeben,  und  dieses  wiederum  von  einer  Hülle  aus  Asbest- 
pappe, die  zum  Wärmeschutze  des  Platinbleches  dient  Die  beiden 
Enden  des  Platinrohres  sind  leitend  mit  je  einem  Pole  einer  Stark- 
stromleitung verbunden.  Geht  der  Strom  durch  das  Platinrohr  hin- 
durch, so  wird  dasselbe  erwärmt,  und  zwar  hat  man  es  durch  Regu- 
lierung der  Stromstärke  in  der  Hand,  das  Platinrohr  von  schwachen 
Erwärmungen  an  bis  zur  Weifsgluthitze  zu  heizen. 

Die  Wärme  des  Platinrohres  teilt  sich  nun  allmählich  dem 
Porzellanrohr  mit,  und  nach  längerer  Heizung  mit  einem  gleich- 
förmigen Strom  stellt  sich  Gleichgewicht  her  zwischen  der  durch  den 
Strom  zugeführten  Wärme  und  der  durch  Strahlung  und  Leitung 
nach  aufBen  abgegebenen,  so  dafs  die  hintere  Abteilung  des  Rohres, 
der  eigentlich  schwarze  Körper,  überall  die  gleiche  Temperatur  be- 
sitzt, was  ja  eine  der  Hauptbedingungen  für  die  Herstellung  des 
schwarzen  Körpers  ist.  Wann  dieser  stationäre  Zustand  eintritt,  läfst 
sich  bei  Temperaturen,  die  ein  Glühen  hervorrufen,  leicht  durch  den 
Anblick  erkennen.  In  diesem  Falle  wird,  wie  wir  oben  gesehen, 
das  Material,  aus  dem  die  Hülle  besteht,  gleichgültig;  die  Strahlung 
ist  eben  die  des  schwarzen  Körpers;  die  vorher  noch  erkennbaren 
verschiedenen  Teile  des  Hohlraumes,  besonders  das  Diaphragma  und 


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die  im  Innern  befindlichen  Platindrähte  verschwinden,  und  der  Hohl- 
raum  erscheint  als  völlig  gleichförmig  glühende  Fläche.  Fs 
handelt  sioh  nun  noch  um  die  Ermittelung  der  Temperatur  des  Hohl- 
raumes. Das  geschieht  durch  ein  im  Hohlraum  befindliches  Thermo- 
element, bestehend  aus  Platin  und  einer  Legierung  von  Platin  mit 
Rhodium,  dessen  Drähte  durch  die  vorhin  erwähnten  Öffnungen  in 
der  Hinterwand  der  Porzellanröhre  nach  aufsen  und  zwar  unmittelbar 
in  ein  mit  schmelzendem  Eise  gefülltes  Gefäfs  führen,  so  dafs  sioh 
die  hintere  Lötstelle  des  Elements  stets  in  der  gleiohen  Temperatur 
von  0°  befindet.  Die  Temperatur  selbst  wird,  wie  üblioh,  vermittels 
eines  Galvanometers  gemessen.  Das  ist  in  rohen  Umrissen 
der  absolut  schwarze  Körper,  dessen  Strahlung  duroh  die  vordere 
Rohröffnung  nach  aufBen  gelangt  und  dann  mit  Hilfe  besonderer 
Apparate  gemessen  werden  kann. 

Wir  hatten  festgestellt,  dafs  die  Kirchhoffsche  Funktion  allein 
abhängig  sei  von  der  Temperatur  des  strahlenden  Körpers  und  der 
Wellenlänge  der  Strahlung;  die  Messung  der  Strahlung  behufs  expe- 
rimenteller Ermittelung  der  Kirchhoffschen  Funktion  mufs  demnach 
für  die  verschiedenen  Wellenlängen  getrennt  erfolgen;  die  Strahlung 
mufs  also  im  Spektroskop  erst  nach  ihrer  Wellenlänge  zerlegt  und  dann 
gemessen  werden.  Die  Zerlegung  kann  nicht  mit  einem  gewöhnlichen, 
mit  Glasprismen  und  Glaslinsen  versehenen  Spektroskope  ausgeführt 
werden,  da  die  Strahlen  gröfserer  Wellenlänge,  im  Ultrarot  gelegen, 
duroh  Glas  stark  absorbiert  werden.  Für  Strahlen  gröfser  als  2 u 
(0,002  mm)  ist  das  Glas  überhaupt  ganz  undurchsichtig.  Die  Prismen 
sind  daher  aus  anderen  Materialien  herzustellen,  die  diese  unange- 
nehmen Eigenschaften  des  Glases  nioht  besitzen,  und  das  sind  Stein- 
salz, Flufsspat  und  Sylvin.  Die  Anfertigung  brauchbarer  Liesen  aus 
diesen  Materialen  bietet  aber  gröfsere  Schwierigkeiten,  und  so  ver- 
zichtet man  lieber  auf  deren  Verwendung  und  ersetzt  sie  duroh  sil- 
berne Hohlspiegel. 

Die  eigentliche  Messung  der  Strahlungsenergie  an  den  ver- 
schiedenen Stellen  des  Spektrums  erfordert  die  vollständige  Um- 
setzung in  Wärme.  Als  Auffänger  der  Strahlung  müfste  also  wieder 
ein  schwarzer  Körper  dienen.  Während  es  nun  noch  verhältnis- 
mäfsig  leicht  war,  einen  schwarzen  Körper  zu  konstruieren,  der  zur 
AusBendung  der  Strahlung  dient,  sind  die  Schwierigkeiten  der  Her- 
stellung eines  für  die  Aufnahme  der  Strahlung  geeigneten  Körpers 
bisher  unüberwindlich  gewesen,  und  so  ist  man  auf  die  Verwendung 
einer  berufBten  Fläche  angewiesen,  und  hierin  liegt  eine  Unvoll- 


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kommenheit,  wohl  die  einzige,  der  ganzen  Methode,  da  man  nioht  weife, 
ob  der  Rufs  die  Strahlen  der  verschiedenen  Wellenlängen  alle  gleich- 
mäßig stark  absorbiert,  wie  es  ja  bei  der  Feststellung  ihrer  relativen 
Intensität  notwendig  ist 

Die  Strahlungen,  die  von  Körpern  niedriger  Temperatur  ausgehen, 
sind  nun,  besonders  nach  ihrer  spektralen  Zerlegung,  außerordentlich 
schwach  und  dementsprechend  die  durch  sie  hervorgebrachten  Tem- 
peraturerhöhungen ungemein  gering;  ihre  Nachweisung  oder  gar 
Messung  durch  Thermometer  ist  ganz  ausgeschlossen,  und  selbst  die 
sonst  so  empfindlichen  Thermoelemente  versagen  hierbei.  Es  ist  die 
bolometrisohe  Messungsmethode,  die  allein  nooh  Resultate  liefert. 
Das  Bolometer  besteht  im  wesentlichen  aus  einem  äußerst  dünnen 
Platinstreifen  (0,001  mm  Dicke),  dessen  vordere  Fläche  berufst  ist 
und  die  Strahlung  aufrängt  Durch  den  Streifen  wird  ein  schwacher, 
elektrischer  Strom  geleitet,  dessen  Stärke  mit  Beihilfe  einer  Wheat- 
stoneschen  Brücke  in  einem  äußerst  empfindlichen  Galvanometer 
gemessen  werden  kann.  Die  Stromstärke  ist  abhängig  von  dem 
Widerstande  dos  Bolometerstreifens,  der  seinerseits  wieder  von  seiner 
Temperatur  abhängt:  mit  steigender  Temperatur  nimmt  der  Wider- 
stand zu,  die  Stromstärke  und  damit  der  Galvanometerausschlag  ab. 
Bringt  man  den  Streifen  langsam  nacheinander  an  die  verschiedenen 
Stellen  des  Spektrums,  so  ist  also  auf  dem  angedeuteten  Umwege 
durch  die  verschiedene  Ablenkung  der  Galvanometernadel  die  mit 
der  Strahlungsenergie  zusammenhängende  Temperatur  des  Streifens 
zu  messen.  Es  ist  auf  diese  Weise  möglich  gewesen,  Temperatur- 
unterschiede von  dem  millionsten  Teile  eines  Celsiusgrades  zu  messen. 

Die  hiernach  gewonnenen  Energiekurven  der  Strahlungen  für  die 
verschiedenen  Temperaturen  konnten  nunmehr  mit  den  theoretischen 
Ergebnissen  verglichen  werden,  und  wie  schon  gesagt,  ist  es  schließ- 
lich Planck  gelungen,  auf  theoretischem  Wege  eine  „ Energiegleiohung“, 
p.  h.  die  Ki  rch  hoffsche  Funktion,  abzuleiten,  die  den  Beobachtungen 
völlig  Genüge  leistet.  Diese  Energiegleichung  lehrt,  daß  die  Strahlungs- 
energie des  schwarzen  Körpers  für  jede  Wellenlänge  \ und  für  jede 
absolute  Temperatur  T auszudrücken  ist  durch 


C 


Hierin  ist  C eine  Konstante,  die  nur  für  ein  bestimmtes  Experi- 
ment eine  Bedeutung  hat,  während  c eine  sehr  wichtige  Konstante 
ist,  deren  Wert  experimentell  zu  14  600  ermittelt  wurde,  und  über 
deren  Bedeutung  gleich  noch  einige  Erläuterungen  zu  geben  sind. 


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Die  Plancksche  Gleichung  erfüllt  nun  zunächst  die  schon  von 
Kirchhoff  erkannte  Bedingung,  dafs  sie  als  Naturgesetz  von  einfacher 
Form  sein  müsse,  sie  liefert  eine  kontinuierliche,  mit  einem  Maximal- 
wert versehene  Kurve.  Sie  enthält  ferner  die  Gesetze  der  Strahlung, 
die  schon  früher  erkannt  waren,  und  die  zum  Teil  schon  eingangs 
erwähnt  sind.  In  erster  Linie  erfüllt  sie  das  Stefansche  Gesetz, 
nach  dem  die  Gesamtstrahlung,  also  die  Summe  der  Strahlungen  für 
alle  Wellenlängen  von  Null  bis  Unendlioh,  proportional  der  4.  Potenz 
der  absoluten  Temperatur  ist,  während  das  Maximum  der  Strahlung 
oder  die  Höhe  des  Gipfelpunktes  der  Strahlungskurve  proportional 
mit  der  5.  Potenz  der  absoluten  Temperatur  wächst.  Wir  hatten  be- 
reits erwähnt,  dafs  sich  mit  zunehmender  Temperatur  dieser  Gipfel- 
punkt der  Strahlungskurve  immer  mehr  nach  dem  Violett  verschiebe, 
d.  h.,  dafs  die  Wellenlänge  des  Strahlungsmaximums,  die  mit  l.s» 
bezeichnet  werden  möge,  immer  kleiner  wird.  Der  mathematische, 
ungemein  einfache  Ausdruck  des  „Verschiebungsgesetzes“  lautet: 

>.m«x  ■ T = A, 

wo  A eine  Konstante  ist,  deren  Wert  zu  2940  gefunden  wurde;  hier- 
mit hängt  die  schon  erwähnte  Konstante  c durch  die  einfache  Gleichung 
c = 4-965  A 

zusammen. 

Wie  man  sieht,  sind  die  Energiegleichung  und  alle  mit  ihr 
zusammenhängenden  Strahlungsgesetze  ganz  ungemein  einfacher 
Natur,  so  dafs  sie  jeder  Laie  verstehen  kann  und  man  nicht  ver- 
muten sollte,  dafs  zu  ihrer  Ableitung  ein  besonderes  Mafs  von  mathe- 
matischem Soharfsinn  erforderlioh  gewesen  ist. 

Wir  wollen  uns  nun  mit  den  allgemeinen  Konsequenzen,  die 
sioh  aus  der  Kirchhoffschen  Funktion  ergeben,  beschäftigen,  wobei 
noch  einmal  zu  betonen  ist,  dafs  diese  Konsequenzen  in  Strenge  nur 
für  den  absolut  schwarzen  Körper  gültig  sind.  Da  die  Gesamtstrahlung 
mit  der  4.  Potenz  der  absoluten  Temperatur  wächst,  das  Maximum 
der  Strahlung  aber  mit  der  5.  Potenz,  so  folgt,  dafs  mit  zunehmender 
Temperatur  die  Strahlungskurve  immer  steiler  wird  Wie  mächtig 
aber  solche  Potenzen  wirken  (daher  ja  auch  der  Name),  kann  am 
besten  an  einem  Beispiel  klargelegt  werden.  Zu  dem  Zwecke  wollen 
wir  die  Strahlungsverhältnisse  miteinander  vergleichen  bei  den  Tem- 
peraturen 0°  = 273°  absolut;  1000°  = 1273°  absolut  (Schmelz- 
temperatur des  Silbers)  und  6000n  = 6273°  absolut  (Sonnentemperatur). 

Dann  verhalten  sich  die  entsprechenden  Strahlungsenergien  wie 
2734:  1273 4 : 62734  und  die  entsprechenden  Maxima  der  Strahlungen  wie 


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dieselben  Zahlen  zur  5.  Potenz.  Bezeichnet  man  also  die  Strahlungs- 
intensität des  Körpers  von  0°  mit  1,  so  ist  diejenige  des  Körpers  von  der 
Schmelztemperatur  deB  Silbers  bereits  470  mal  stärker,  diejenige  der 
Sonne  aber  gar  280000  mal  gröfser.  Jetzt  kann  man  verstehen,  weshalb 
uns  die  Strahlung  der  20  Millionen  Meilen  weit  entfernten  Sonne 
unter  Umständen  unerträglich  vorkommt,  während  wir  bei  der  An- 
näherung an  eine  Eismasse  das  Gefühl  einer  scheinbaren  Kälte- 
strahlung haben,  dadurch  veranlagt,  dafs  die  uns  vom  Eise  zukom- 
mende Strahlung  geringer  ist  als  die  von  unserem  wärmeren  Körper 
dem  Eise  zugehende,  wodurch  uns  also  Wärme  entzogen  wird.  Noch 
gewaltiger  werden  die  Unterschiede,  wenn  wir  die  Maxima  der 
Strahlung  betrachten,  also  die  höohsten  Punkte  der  Strahlungskurven. 
Denken  wir  uns  die  Strahlungskurve  bei  0°  aufgezeichnet,  so  dafs 
ihre  Maximalhöhe  nur  1 mm  beträgt,  so  würde  bei  1000°  die  Spitze 
der  Kurve  bereits  2-2  Meter  hoch  liegen,  bei  der  Sonnentemperatur 
sogar  6*4  Kilometer  hoch!  Das  ist  wohl  eine  genügende  Erklärung 
dafür,  dafs  wir  bei  diesen  Betrachtungen  die  umständliche  Beschrei- 
bung duroh  Worte  und  Zahlen  gewählt  haben,  anstatt  der  sonst  viel 
bequemeren  und  anschaulicheren  Darstellung  durch  die  Kurven  selbst. 
Bei  den  folgenden  spezielleren  Anwendungen  der  Kirchhoffschen 
Funktion  kommen  wir  aber  ohne  die  Betrachtung  der  Kurven  selbst 
nicht  davon;  sie  sollen  indessen  für  die  verschiedenen  Temperaturen 
als  von  gleicher  Höhe  dargestellt  werden,  nachdem  wir  uns  bewufst 
geworden  sind,  welche  gewaltigen  Mafsstabreduktionen  hierzu  erforder- 
lich sind. 

Es  möge  als  erstes  Beispiel  der  Wichtigkeit  der  Kirchhoffschen 
Funktion  die  Aufgabe  gelöst  werden,  wie  grofs  der  Verlust  der  Sonnen- 
strahlung ist  infolge  der  Absorption  durch  die  in  unserer  Atmosphäre 
enthaltene  Kohlensäure.  Da  nuch  selbst  auf  den  höchsten  Bergen 
noch  eine  sehr  beträchtliche  Menge  Kohlensäure  in  den  oberhalb  ge- 
legenen Luftsohiohten  vorhanden  ist,  so  kann,  ganz  abgesehen  von 
anderen  Schwierigkeiten,  diese  Aufgabe  duroh  die  Messung  der  Sonnen- 
strahlung selbst  nicht  gelöst  werden;  man  ist  auf  Untersuchungen  im 
Laboratorium  angewiesen.  Hierbei  tritt  nun  die  Schwierigkeit  ein, 
dafs  man  im  Laboratorium  keine  Licht-  oder  Strahlungsquelle  zur 
Verfügung  hat,  deren  Temperatur  auch  nur  annähernd  derjenigen  der 
Sonne  gleichkäme.  Wir  wollen  nun  annehmen,  die  Laboratoriums- 
versuche hätten  ergeben,  dafs  die  Kohlensäureabsorption  aus  der 
Strahlung  eines  schwarzen  Körpers  von  rund  2000°  (Schmelztempera- 
tur des  Platins)  25  °/„  betrage,  und  dafs  sie,  wie  dies  auch  tatsächlich 


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der  Fall  ist,  wesentlich  in  zwei  im  Ultrarot  gelegenen  Spektralgebieten 
zustande  komme,  deren  Wellenlängen  von  0,0023  mm  bis  0,0030  mm 
und  von  0,0039  mm  bis  0,0047  mm  liegen. 

In  der  untenstehenden  Figur  stellt  nun  die  ausgezogene  Linie 
die  Plan  oksohe  Energiekurve  für  die  Temperatur  2000°  dar.  Die 
Ordinaten  (Höhen)  dieser  Kurve  sind  in  einem  beliebigen  Mafsstab 
gegeben,  die  horizontale  Ausdehnung  (Abszissen)  nach  den  Wellen- 


längen in  Tausendsteln  eines  Millimeters  von  0 an  bis  0.005  mm. 
Zur  Orientierung  möge  daran  erinnert  werden,  dafs  sich  das  Gebiet  der 
slohtbaren  Strahlen  von  0,0004  mm  bis  0,0008  mm  erstreokt,  also 
nur  die  durch  die  — — . angedeutete  kurze  Strecke  umfafst.  Wie  man 
sieht,  liegt  der  allergröfste  Teil  dieser  Strahlung  ganz  aufserhalb  des 
sichtbaren  Spektrums  im  Ultrarot.  Das  Maximum  der  Strahlungsenergie 
liegt  bei  der  Wellenlänge  0.0016  mm.  Die  schraffierten  Streifen  geben 
nun  das  Absorptionsgebiet  der  Kohlensäure  an,  und  es  läfst  sioh  leicht 
folgendes  übersehen.  Wenn  die  Kurve  den  Verlauf  der  Strahlungs- 
energie anzeigt,  so  mufs  der  Flächeninhalt  der  Kurve,  von  der  unteren 


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horizontalen  Linie  an  gerechnet,  den  Qesamtenergiebetrag  der  Strah- 
lung darstellen,  und  von  diesem  Gesamtbeträge  gehen  die  beiden 
schraffierten  Flächen,  welche  den  Betrag  der  Absorption  darstellen,  at». 
Die  schraffierten  Flächen  bilden  aber  nur  den  4ten  Teil  der  Gesamt- 
fläche, daher  die  Angabe,  dafs  die  Kohlensäure  bei  einer  Strahlung»— 
quelle  von  2000°  eine  Absorption  von  25%  ausübe,  vollständige 
Absorption  vorausgesetzt. 

Die  punktierte  Linie  ist  nun  die  Strahlungskurve  für  6000  ° 
(Sonnentemperatur),  deren  Spitze  bei  gleichem  Mafsstabe  wie  für  di  e 
2000 n Kurve  ungefähr  50  m hoch  liegen  müfste.  Ihr  Maximum  liegt 
bei  0.0005  mm  Wellenlänge,  und  infolge  ihres  steileren  Anstiegs 
sind  die  im  Ultrarot  gelegenen  Strahlungen  verhältnismäfsig  schwach». 
Die  von  den  schraffierten  Streifen  ausgeschnittenen  Flächenstücke  steiler» 
nun  wiederum  die  Absorption  der  Kohlensäure  dar,  aber  diesmal  ist 
ihr  Inhalt  zu  dem  der  ganzen  Kurve  ein  viel  geringerer,  er  beträg-1 
nur  noch  4 %.  Damit  ist  die  nooh  vor  wenigen  Jahren  völlig  untraä- 
lable  Aufgabe  gelöst:  Die  Absorption  der  Kohlensäure  beträgt  für  di  e 
Sonnenstrahlung  4 %,  geschlossen  aus  Laboratoriumsversuchen,  di«? 
eine  Absorption  von  26  % ergeben  hatten. 

Von  diesem  Beispiel  rein  wissenschaftlicher  Natur  wollen  wi  r 
zu  einer  anderen  Anwendung  übergehen,  welche  zwar  nooh  von 
hoher  wissenschaftlicher  Bedeutung  ist,  aber  auch  in  technischer  Be- 
ziehung wichtig  erscheint,  und  in  gewissem  Sinne  eine  Umkehr  der 
vorhin  gestellten  Aufgabe  ist:  Es  soll  aus  der  Strahlung  die  Tempe- 
ratur des  strahlenden  Körpers  bestimmt  werden.  Von  den  ver- 
schiedenen Methoden,  nach  denen  dies  erfolgen  kann,  möge  hier  mir 
eine,  die  am  einfachsten  zu  erklärende,  angegeben  werden.  Wir  batten 
bereits  das  sogenannte  Verschiebungsgesetz  kennen  gelernt,  i.  m»x . T 
= 2940,  nach  welchem  die  Wellenlänge  der  Maximalstrahlung  mit  zu- 
nehmender Temperatur  immer  mehr  abnimmt.  Den  Effekt  dieser  Ver- 
schiebung, für  die  Vermehrung  der  Temperatur  von  2000°  auf  6000°, 
zeigt  auf  das  deutlichste  die  bereits  benutzte  Figur.  Mifst  man  also 
bei  einem  strahlenden  Körper,  bei  welcher  Wellenlänge  das  Maximum 
seiner  Strahlung  liegt,  so  erhält  man  hieraus  nach  der  obigen  Glei- 
chung ohne  weiteres  die  Temperatur  des  strahlenden  Körpers,  sofern 
derselbe  ein  absolut  schwarzer  ist.  Letzteres  ist  aber  in  der  Praxis 
nioht  der  Fall,  und  deshalb  hat  Pringsheim  auch  die  Strahlungs- 
kurve für  einen  Körper  untersucht,  dessen  Eigenschaften  von  denen 
eines  absolut  sohwarzen  Körpers  sehr  weit  entfernt  sind;  als  solcher 
erschien  blankes  Platin  geeignet,  da  sein  grofses  Refiexionsvermögen, 


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welches  auch  beim  Glühen  bestehen  bleibt,  ihn  vom  schwarzen  Körper 
stark  unterscheidet.  Es  ergab  sich,  dafs  beim  Platin  das  Verschie- 
bungsgesetz ebenfalls  gültig  ist,  dafs  aber  anstatt  der  Konstanten  2940 
der  Wert  2630  zu  setzen  ist  Die  meisten  in  Frage  tretenden  Körper 
liegen  nun  in  bezug  auf  ihre  Strahlungseigenschaften  zwischen  dem 
schwarzen  Körper  und  dem  blanken  Platin;  berechnet  man  also  die 
Temperatur  mit  beiden  Konstanten,  so  wird  der  wahre  Wert  zwischen 
den  beiden  Resultaten  liegen. 

Als  Beispiel  mögen  folgende  Messungen  angeführt  werden 
(Pringsheim): 


ätrahlungsquelle 

X max. 

T (schwarz; 

T (Platin) 

Elektr.  Bogen 

0,0007 

4 200» 

3 760® 

Nernstlampe  . . 

0,0012 

2 450 

2 200 

Gasglühlicht  . . 

0,0012 

2 450 

2 200 

Glühlampe  . . 

0,0014 

2 100 

1 875 

Kerze  .... 

0,0015 

1 960 

1 760 

Es  ist  die  Hoffnung  vorhanden,  dafs  es  gelingen  wird,  in  jedem 
einzelnen  Falle  festzustellen,  ob  die  Strahlungsquelle  sich  in  ihren 
Strahlungseigenschaften  mehr  dom  schwarzen  Körper  oder  dem  Platin 
nähert.  Dadurch  würden  natürlich  die  Grenzen,  innerhalb  deren  die 
wahre  Temperatur  liegt,  enger  gezogen  sein;  aber  auch  so  gibt  diese 
Methode  schon  eine  recht  befriedigende  Genauigkeit,  besonders,  wenn 
man  bedenkt,  dafs  sie  auf  die  höohsten  Temperaturen  anwendbar  ist,  bei 
denen  jegliche  direkte  Temperaturbestimmung  zur  Unmöglichkeit  wird. 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  nun  auf  eine  Frage  übergehen,  die 
von  der  höohsten  Bedeutung  für  die  Leuchttechnik  zu  werden  ver- 
spricht 

Aus  der  vorstehenden  kleinen  Tabelle  ist  zu  ersehen,  dafs  den 
gebräuchlichsten  Lichtquellen,  denen  sich  auch  die  dabei  nicht  an- 
geführte Petroleumlampe  anschliefst  eine  Temperatur  in  der  Höhe 
von  2000°  zukommt;  eine  Ausnahme  bildet  nur  die  elektrische  Bogen- 
lampe. 

Betrachten  w:ir  nun  unsere  Strahlungsenergiekurve  bei  2000°i 
so  sehen  wir,  wie  schon  erwähnt,  dafs  der  bei  weitem  gröfste  Teil 
der  Energie  — und  diese  Energie  stellt  den  Kraftverbrauch  beim 
Leuchten,  also  auch  cum  grano  salis  den  Kostenpunkt  dar  — im 
Ultrarot  liegt  und  demnach  für  das  Sehen  unnötig  ist  ja  nicht 
blofs  unnötig,  sondern  in  vielen  Fällen,  z.  B.  durch  Erhitzung  des 
Kopfes  bei  nahestehender  Arbeitslampe,  direkt  schädlich  wirkt.  Es  wird 


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396 

tatsäohlioh  nur  1 bis  2%  der  Gesamtenergie  wirklich  zum  „Leuchten“ 
verwendet,  d.  h.,  es  findet  eine  ganz  ungeheure  Verschwendung  von 
Energie  und  damit  von  Geld  statt.  Dem  ist  aber  zunäohst  dadurch 
abzuhelfen,  dafs  Leuchtquellen  von  höherer  Temperatur  zur  Ver- 
wendung gelangen,  wobei  das  Maximum  der  Strahlung  immer 
mehr  sich  dem  sichtbaren  Teile  des  Spektrums  nähert.  Welcher  Ge- 
winn dabei  zu  erzielen  ist,  lehrt  der  Umstand,  dafs  die  Gesamtenergie 
der  Strahlung  bekanntlich  mit  der  4 ten  Potenz  der  Temperatur 
wächst,  während  bei  2000°  die  Lichtemission  etwa  mit  der  14ten  Potenz 
zunimmt!  Ein  lehrreiches  Beispiel  dieser  Art  hat  Pringsheim  ge- 
geben. Eine  gewöhnliche  elektrische  Glühlampe  liefert  ihre  normale 
Helligkeit  von  16  Kerzen  bei  45  Volt  Spannung  und  1,3  Ampere 
Stromstärke,  also  bei  einem  Energieverbrauche  von  58,5  Watt.  Für 
ganz  kurze  Zeit  hält  diese  Lampe  eine  starke  Überlastung  aus,  sie 
brennt  noch  bei  96  Volt  und  3 Ampere,  also  bei  285  Watt.  Ihre 
Helligkeit  ist  dann  kaum  noch  zu  ertragen,  sie  beträgt  2080  Kerzen, 
ist  also  um  das  130fache  gestiegen,  während  der  Energieverbrauch 
nur  um  das  5 fache  gewachsen  ist.  Der  Nutzeffekt  ist  also  der 
26  fache.  Dabei  ist  die  Temperatur  des  Kohlefadens  von  2000°  auf 
etwa  3000°  gestiegen.  In  diesem  Zustande  würde  die  Lampe  die 
denkbar  billigste  Lichtquelle  darstellen,  wenn  sie  haltbar  wäre;  aber 
leider  zerreifst  der  Kohlefaden  in  wenigen  Minuten.  Nooh  aufser- 
ordentlich  viel  billiger  arbeitet,  um  diesen  Ausdruck  zu  gebrauchen, 
unsere  Sonne  bei  ihrer  Temperatur  von  6000°.  Aus  der  für  diese 
Temperatur  gültigen  punktierten  Strahlungskurve  ersieht  man,  dafs  be- 
reits 60%,  also  über  die  Hälfte  der  Gesamtstrahlung  in  den  sicht- 
baren Teil  des  Spektrums  fallt,  also  tatsächlich  zum  Leuchten  ver- 
wendet wird. 

Wie  man  erkennt,  steht  unsere  Leuohttechnik  trotz  ihrer  gewal- 
tigen Erfolge  in  den  letzten  Jahrzehnten  noch  immer  auf  einer  sehr 
tiefen  Stufe.  Ihre  Bestrebungen  müssen  nach  zwei  Riohtungen  gehen, 
entweder  Materialien  zu  finden,  die,  etwa  elektrisch  geglüht,  viel 
höhere  Temperaturen  als  die  bis  jetzt  bekannten  auf  längere  Zeit 
aushalten  können,  oder  aber  solche,  deren  Strahlungskurven  stark  von 
derjenigen  des  schwarzen  Körpers  abweichen,  in  dem  Sinne,  dafs 
auch  bei  geringeren  Temperaturen  die  Strahlung  im  Ultrarot  klein 
ist  gegenüber  derjenigen  im  sichtbaren  Teile  des  Spektrums.  Nach 
beiden  Riohtungen  hin  werden  von  den  Technikern  unausgesetzt  Ver- 
suche angestellt,  und  es  werden  immer  weitere  Fortschritte  in  dieser 
Beziehung  zu  erhoffen  sein. 


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397 


In  der  organisirten  Natur  ist  übrigens  diese  Aufgabe  längst  ge- 
löst, und  zwar  in  der  letzteren  Richtung  hin:  Das  recht  intensive 
Leuchten  der  Leuchtapparate  bei  gewissen  Insekten  findet  ohne  merk- 
liche Temperaturerhöhung  statt. 

Wir  sind  damit  scheinbar  weit  von  unserem  eigentlichen  Thema 
abgekommen.  Aus  fast  ganz  abstrakten  mathematischen  Betrachtungen 
über  den  Kirchhoffschen  Satz  und  die  Form  der  Kirchhoffschen 
Funktion  und  aus  den  schwierigsten  experimentellen  Untersuchungen 
auf  dem  Gebiete  der  Wärmestrahlung  sind  wir  in  die  Bestrebungen 
der  modernsten  Technik  hineingelangt.  Aber  nur  scheinbar.  So  wie 
die  stetige  und  beharrliche  wissenschaftliche  Forschung  auf  dem 
Gebiete  der  Strahlung  zunächst  zum  Kirchhoffschen  Satze  und  da- 
mit zur  Begründung  der  Spektralanalyse  geführt  hat,  so  hat  die 
gleiche  Beharrlichkeit  auch  zur  Entdeckung  der  Kirchhoffschen 
Funktion  und  damit  zur  Begründung  einer  quantitativen  Spektral- 
analyse geleitet,  als  deren  Konsequenzen  wir  hier  nur  einige  Probleme 
angeführt  haben. 


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~§i: 

Das  Gotthard-Gebiet  als  Sommer-Aufenthalt 

Von  Professor  Dr.  C.  Koppe  in  Brsunschweig. 

«as  Gotthard-Gebiet  ist  durch  die  Gotthardbahn  erst  eigentlich 
erschlossen  worden.  Als  wir  seinerzeit  mit  den  Arbeiten  für 
den  grofsen  Tunnel  begannen,  gab  es  in  Airolo  und  in 
Gösohenen  je  einen  kleinen  Gasthof.  Di«  Reisenden  übernachteten 
dort  nur,  um  am  andern  Morgen  über  den  Berg  weiter  zu  reisen, 
oder,  wenn  dies  durch  Schneefall  und  Lawinen-Gefahr  unmöglich  ge- 
macht, um  zu  warten,  bis  die  Strafse  und  der  Pafsübergang  wieder 
frei  geworden  waren.  Jetzt  sind  in  Airolo,  abgesehen  von  den 
kleineren  Gasthäusern,  sieben  gröfsere  Hotels,  und  doch  kommt  es 
trotz  der  zahlreichen  Privat-Quartiere  während  der  guten  Jahreszeit 
nicht  selten  vor,  dafs  alles  üborfüllt  ist.  Während  aber  die  übrige 
Schweiz  und  auch  Italien  von  Deutschen  geradezu  überflutet  werden, 
sind  am  Gotthard,  zumal  au  seinem  Südabhange,  unsere  Landsleute 
auffallondorweise  noch  wenig  zahlreich  vertreten,  trotzdem  die  land- 
schaftlichen Schönheiten  und  namentlich  das  herrliche  Klima  den 
Aufenthalt  in  jenen  Gegenden  besonders  genufsreich  gestalten.  Dabei 
ist  der  Gotthard  ungemein  reich  an  lohnenden  Bergpartien  und  Aus- 
flügen aller  Art,  auch  für  diejenigen,  welche  das  ruhige  Geniefsen 
der  prächtigen  Alpenpanoramen  von  unschwer  zu  besteigenden  Berg- 
gipfeln aus  und  die  köstlichen  Hochgebirgslandschaften  mühsameren 
Kletterpartien  verziehen.  Aber  auch  den  Liebhabern  der  letzteren 
bieten  Pizzo  Rotondo,  Leckihorn  etc.  hinreichende  Gelegenheit  zur 
Ausübung  des  Bergsportes.  Die  Gotthardbahn  ermöglicht  einen  so 
leichten  Übergang  von  der  einen  Seite  dos  Gebirges  auf  die  andere, 
dafs  man  die  Wetterscheide,  welche  der  Gotthard  im  wahren  Sinne 
des  Wortes  bildet,  vorteilhafter  benutzen  kann  zur  Auswahl  der 
günstigsten  Witterungsverhällnisse,  als  dies  in  irgend  welchem  anderen 
Teile  der  Alpen  mit  gleicher  Schnelligkeit  und  Bequemlichkeit  aus- 
führbar ist.  Zudem  wechseln  hier  auf  verhiiltnismlfsig  kleinem  Raume 


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391) 

die  Menschen  mit  ihren  Wohnungen,  Sitten,  Gebräuchen,  nationalen 
Eigentümlichkeiten  so  unvermittelt  rasch,  bieten  Süd-  und  Nordseite 
so  verschiedenartige  Bilder  und  Eindrücke,  dafs  ein  Durchwandern  des 
Gotthard-Gebietes  mit  seinen  Tälern,  Höhen  und  stillen  Alponseen  für 
den  mit  offenen  Sinnen  beobachtenden  Reisenden  besonders  genufs- 
reich  sich  gestaltet.  „Vier  Ströme  brausen  hinab  in  das  Tal,  nach 
Abend,  Nord,  Mittag  und  Morgen!"  Rhein,  Rhone,  Reufs  und  Tessin 
entspringen  am  Gotthard.  Der  Rhein  entlliefst  als  Vorderrhein  dem 


Fig.  I.  Bbonegleucber  und  Holet  QleUch. 


stillen  kleinen  Toma-See  zwischen  hohen  Felswänden  am  nordöstlichen 
Abhange  des  Budus  (Sixmadun)  und  stürzt  sich  mit  überschäumender 
Jugendlust  über  mächtiges  Steingctrümmer  das  einsame  Hochtal  hinab. 
Die  Rhone  entquillt  als  stattliches  Gewässer  der  blauen,  prächtigen 
Eisgrotte  am  Rhone-Gletscher  (Fig.  1).  Tessin  und  Reufs  haben  ihre 
Quellen  in  den  Ootthard-Seen,  die  mit  ihrer  stattlichen  Zahl  und  Gröfse 
den  Wasserreichtum  des  Gotthard-Gebietes  bekunden.  Die  Berggipfel 
sind  sehr  zahlreich  und  mannigfaltig  gestaltet.  Die  höchste  Spitze 
bildet  der  steil  aufragende  Pizzo  Rotondo  (3  HIT  m),  westlich  der  Pafs- 
hühe  und  oberhalb  des  Bedretto-Tales  (Fig.  2).  Dieser  Teil  des  Gotthard- 
Gebietes  ist  am  meisten  vergletschert  und  ßrnreioh.  In  einer  starken 
Tagestour  kann  man  ihn  durchwandern,  über  die  Fibia  und  den 


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400 


Pizzo  I.ucendro,  den  „Leuchtenden“,  so  benannt  wegen  seines  präch- 
tigen, blendend  weifsen  Sohneemantels.  An  seinem  Fufse  liegt  der 
gröfste  der  Gotthard-Seen,  der  Lu o endro-See,  dessen  kristallklares 
Wasser  in  die  Reu  Ts  einen  Ab  flu  Ts  hat.  Ein  Pfad  führt  an  seinen 
Ufern  entlang,  und  wunderbar  schön  ist  der  Blick  auf  diesen  herr- 
liohen,  blaugrünen,  stillen  Alpensee  (Fig.  3),  blau,  wo  der  Himmel, 
grün,  wo  die  grünen  Matten  in  seinen  Wassern  sich  spiegeln.  Dazu 
der  grofsartige  Abschlufs  durch  die  Schneeberge  und  Gletscher  in 
seinem  Hintergründe,  vor  allem  den  Piz  Lucendro  mit  dem  breiten, 
bis  zur  kegelförmigen  Spitze  sich  hinziehenden,  jungfräulich  reinen 
Firnfelde,  das  mit  sanft  sich  anschmiegender  Wölbung  gleich  einem 
Königsmantel  über  ihn  ausgebreitet  daliegt.  Andere  Kuppen,  Schnee- 
und  Eisfelder  von  bizarren,  phantastischen  Formen,  zackige  Spitzen 
und  Felsgrate  schliefsen  sich  an,  in  weitem  Bogen  die  grünen 
Ufermatten  und  den  See  umgürtend.  Gleichmäfsig  rauschen  die  her- 
abquellenden Gletscherwasser,  und  leise  plätschern  die  Wellen  am 
Uferrande,  als  wollten  sie  erzählen  von  den  Herrlichkeiten  dieser  ge- 
heimnisvollen Natur,  der  zu  lauschen  auf  sonniger  Alp  im  „dolce 
far  niente“  für  den  ruhesuchenden  Wanderer  eine  wohlige  Er- 
quickung ist. 

Am  Ausflusse  dos  Sees  verhindert  ein  Schutzwebr  das  Austreten 
der  Fisohe,  Forellen,  mit  denen  der  Erbauer  des  Hotel  Prosa  am 
Gotthardpasse,  der  vor  einigen  Jahren  verstorbene  Felix  Lombardi, 
den  Luoendro-See  bevölkert  hat.  Die  junge  ReufB  stürzt  über  das- 
selbe hinweg  und  eilt  strudelnd  und  schäumend  mit  der  Golthard- 
Reufs  zu  Tal.  Der  grofsen  Strafsenwindung  gegenüber  nimmt  sie 
ihren  ersten  bedeutenderen  Zuflufs  auf,  den  aus  dem  Guspistale 
kommenden  Gletscherbaoh  gleichen  Namens.  Die  nördliche  Wand 
dieses  steil  ansteigenden  Quertales  bildet  das  Kastelhorn,  unter  dessen 
scharfem  Grate  in  der  Tiefe  der  Gotthard-Tunnel  hinzieht.  Als  ich  bei 
der  oberirdischen  Absteckung  der  Tunnelaohse  dort  oben  stationierte, 
zeigte  sich  der  Felskamm  an  der  Stelle,  wo  die  Riohtung  der  Aohse 
über  ihn  weggeht,  so  schmal  und  jäb  abfallend,  dafs  kaum  genügend 
Platz  vorhanden  war,  um  ein  Instrument  dort  aufzustellen  und  zwar 
ohne  Dreifufs  direkt  auf  den  Felsen.  Nebel  verdeckten  hartnäckig 
das  rückwärts  nach  Süden  zu  gelegene  Anschlufs  - Signal,  und 
stundenlang  mufste  ich  untätig  dort  oben  ausharren.  Spazierengehen 
konnte  man  auf  dem  verwitterten  und  brüchigen  Grate  nicht,  ich  legte 
mich  daher  auf  den  Kücken  und  schaute  in  die  Wolken,  um  abzu- 
warten und  zu  träumen.  Da  bemerkte  ich  senkrecht  hoch  über  mir 


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401 


einen  mächtigen  Adler,  der  majestätisch  seine  Kreise  beschrieb.  Ich 
liefs  mir  das  Gewehr  reichen  und  mehr  zum  Zeitvertreib  als  in  der 
Hoffnung,  ihn  zu  erlegen,  zielte  ich  nach  ihm,  den  Kopf  rückwärts 
fest  auf  den  Fels  gestützt.  Zweimal  schofs  ich  so  nach  ihm,  aber 
ruhig  zog  er  seine  Kreise  weiter;  beim  dritten  Sohusse  überschlug 
er  sich  und  sohorB  dann  jäh  hinab  in  den  Abgrund.  Dies  war  meine 
erste  und  einzige  Adler-Jagd  in  den  Alpen  am  Gotthard.  Gemsen 
und  Murmeltiere  gibt  es  dort  in  gröfserer  Zahl,  namentlich  die 


Fig.  2.  P&tih&ha  das  Gotthard 

letzteren,  deren  Fleisch  von  meinen  Leuten  gern  gegessen  wurde. 
Kalten  Gemsen-  und  Murmeltier-Kücken  mit  altem  Kirschwasser  habe 
ich  als  kräftiges  Alpen- Frühstück  aus  jener  Zeit  noch  in  guter 
Erinnerung. 

In  langer  gerader  Linie  läuft  die  Gotthard-Strafse  durch  die 
„langweilig  interessante“  Steinode  der  linksufrigen  Bergwand  entlang, 
bis  sich  plötzlich  das  weite  Urserental  auftut,  in  das  die  Keufs  aus 
steiler  enger  Bergsohlucht  hinabstürzt.  Überrascht  duroh  den  schnellen 
Weohsel  der  Szenerie,  weidet  sich  der  Blick  an  den  weiten,  mit 
saftigem  Grün  bedeckten  Matten  Fig.  4 (Titelblatt),  die  im  Beginn  des 
Sommers  mit  Tausenden  von  Alpenblumen  geschmückt  sind.  Hier  Bollen 
einstmals  die  Reste  der  Goten,  die  aus  der  Soblacht  am  Vesuv  sich  ge- 

Himmel  und  Erde.  1901  XVI.  9.  26 


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402 


rettet  hatten,  eine  neue  Heimstätte  gefunden  haben.  Im  Vordergründe 
liegt  das  freundliche  Hospental  (Fig.  4 Titelblatt),  überragt  von  der 
steilen  und  zackigen  Wand  der  Spitzliberge  mit  dem  altersgrauen  Longo- 
bardenturine,  ein  Überbleibsel  und  Wahrzeichen  aus  der  Völkerwande- 
rung. Links  die  prächtige  schneebedeckte  Gruppe  des  Galenstocks 
mit  dem  Tiefengletscher,  rechts  die  vom  Oberalp-Pafs  und  See  (Fig.  6) 
in  vielen  Windungen  herabkommende  Strafse;  die  sich  im  Hauptorte 
des  Urseren-Tales,  dem  hotel-  und  militärreichen  Andermatt  (Fig.  6), 
mit  der  Gotthard-  und  Furka- Strafse  vereinigt,  um  durch  das  Urner 
Loch  und  die  wilden  Schöllenen  mit  der  Teufelsbrücke  in  einer  grofs- 
artigen  Felsenschlucht  an  der  Wasserfassung  für  die  Tunnel-Ventilation 
(Fig.  7)  und  der  alten  Sprengi-Brücke  (Fig.  8)  vorbei  nach  Göschenen 
hinabzuführen. 

Hier  bei  Göschenen  mündet  von  der  linken  Seite  eine  neue  Reufs, 
die  „Göschener-Reufs“,  in  den  HauptOufs  ein.  Der  Name  „Reufs“  ist 
im  Kanton  Uri  sehr  häufig  und  gleichsam  eine  Kollektiv-Bezeichnung, 
die  vielleicht  mit  dem  Worte  „Geräusch“  zusammenhängt.  Die  meisten 
Bergbäche  in  Uri  haben  diesen  Namen;  nach  Verlassen  des  Vierwald- 
stätter Sees  aber  trägt  ihn  nur  noch  der  Hauptflurs. 

Auf  gutem  Wege  mit  mäfsiger  Steigung  gelangt  man,  im  Göschen  er 
Reufstale  aufwärts  wandernd,  nach  einer  halben  Stunde  zu  den  hüb- 
schen Schweizer-Häuschen  des  kleinen  Bergdorfes  Abfrut  und  weiter 
hinauf  über  ein  ödes  Steinfeld,  sehr  bezeichnend  das  „Wüest“  genannt, 
nach  Überschreiten  einer  „stäubenden“  Brücke  durch  eine  enge  Schlucht 
zu  einer  weiten,  prächtigen  Matte,  in  deren  Mitte  das  einsame  Berg- 
dörfchen „Göschener- Alp“  (Fig.  9)  liegt,  umrahmt  von  Gletschern  und 
zackigen  Bergspitzen,  ein  Bild  friedlichsliller  Bergeinsamkeit  in  groß- 
artig schöner  Umgebung.  Der  aus  wenigen  Häusern  und  einer  klein  en 
Kapelle  bestehende  Ort  hat  nur  ca.  60  Einwohner.  Neun  Monate  dauert 
hier  der  Winter  und  neun  Wochen  lang  kommt  die  Sonne  hinter  de® 
„Niine-Stock“  und  dem  „Mittags-Stock“,  die  hier  als  Sonnenuhren  die 
Zeitrechnung  regeln,  gar  nicht  hervor.  Alles  Holz  zum  Feuern  mufs 
von  den  tiefer  gelegenen  Hängen  heraufgetragen  werden.  Brot  wird 
im  Dorfe  nicht  gebacken.  Die  Zimmer  sind  niedrig,  die  Fenster  sei® 
klein,  um  die  kostbare  Wärme  möglichst  lange  zu  halten.  Kartoffel®- 
Polenta  und  an  der  Luft  getrocknetes  Ziegenfleisch  sind  aufser  de' 
Milch  und  dem  Käse  dio  Haupt- Nahrungsmittel.  Hühner  gibt  es  irrt 
Dorfe  nicht.  Der  Kaplan,  ein  würdiger  Greis,  führt  seine  Junggeselle®  - 
Wirtschaft  ohne  jede  weibliche  Beihülfe  ganz  allein;  sein  einfaches 
Zimmer  schmücken  einige  Topfpflanzen,  ausgestopfte  Vögel  und  drei 


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403 


Ki#  3.  Lucendro-See  und  Oletecher 


i-'ijr  5 Obentip  • See  und  Hotel 


20* 


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404 


Gewehre.  In  früheren  Jahren  und  nooh  während  des  Tunnelbaues 
durfte  er  allein  wirten.  Jetzt  liegt  ca.  1 km  oberhalb  des  kleinen 
Ortes  ein  modern  ausgeslattetes  Gasthaus  (Fig.  10)  zwischen  Gletsohern, 
Firnfeldern  und  blumigen  Matten  auf  einer  der  schönsten  Alpen. 

Der  östliche  Teil  des  Gotthard-Gebirges  ist  weniger  vergletschert 
als  der  westliche,  aber  stärker  verwittert  und  wild  zerrissener  als 
dieser.  Sein  höchster  Berggipfel  ist  der  Pizzo  Centrale  (3006  m), 
wohl  der  bekannteste  der  Gotthard-Berge,  auf  dessen  kegelförmiger 
Spitze  ein  grofsartiges  Hoohgebirgs-Panorama  nach  allen  Seiten  frei 
sich  entfaltet,  da  in  seiner  Nähe  kein  anderer  Berg  von  gröfserer  oder 
gleicher  Höhe  ihm  vorgelagert  ist.  Vom  Gotthard-Hotel  erreicht  man 
ihn  auf  gefahrlosem  Wege  in  3—4  Stunden,  und  nur  wenige  mit 
gleich  geringer  Mühe  besteigbare  Spitzen  der  Hochalpen  gewähren 
eine  ähnlich  lohnende  und  umfassende  Rundsicht,  denn  er  trägt  seinen 
Namen  „Centrale“  mit  vollem  Rechte,  und  wahrhaft  grofsartig  ist  die 
Rundsicht  namentlich  gegen  das  Finsteraarhorn  und  die  Galenstock- 
Gruppe  zu. 

Am  Fufse  des  Pizzo  Centrale,  nach  Südwesten  zu,  liegt,  eingc- 
sohlossen  von  hohen,  nackten  Felswänden,  im  einsamen  Val  Torta,  der 
stille,  klare  Sella-See,  ein  Bild  traumhaft  verlorener  Hochgebirgs- 
Ruhe.  Nur  selten  von  Hirten  oder  Jägern  besucht,  herrscht  feier- 
liche Stille  in  seiner  Umgebung.  Tief  unter  ihm  führt  der  Gott- 
hardtunnel durch  das  Herz  des  Gebirges,  aber  kein  Ton  der  rasselnd 
dahin  eilenden  Exprefszüge  dringt  bis  in  jene  Höhen  hinauf.  Das 
kristallklare  Bächlein,  welobes  dem  See  entströmt,  vereinigt  sich 
wenige  Kilometer  unterhalb  mit  dem  Ausflüsse  der  südlich  vom 
Pafsübergange  gelegenen  Gotthard-Seen  bei  einer  kleinen  Talerweite- 
rung, etwas  oberhalb  der  Stelle,  an  welcher  der  Suwarow-Stein  an  die 
blutigen  Kämpfe  der  Russen  mit  den  Franzosen  im  Herbste  des 
Jahres  1799  erinnert,  denen  auch  das  hohe  Felsenkreuz  an  der 
Teufelsbrüoke  gewidmet  ist.  Die  in  den  Seen  vom  Sande  gereinigten, 
krystallklaren  Bergwasser  stürzen  vereinigt  in  zahllosen  Strudeln, 
Kaskaden  und  Wasserfallen  durch  die  Schlucht  der  Tremula,  das  Tal 
des  „Zitterns“,  dem  Süden  zu,  um  nahezu  1000  m tiefer  mit  dem  aus 
dem  Bedretto-Tale  kommenden,  in  einem  hochgelegenen  Alpensee  am 
Nufenen-Passe  entspringenden  Tessin  sich  zum  Hauptflusse  des  Tessin- 
Tales  zu  vereinigen. 

Am  Ausgange  der  Tremula-Schlucht  öffnet  sich  ein  herrlicher 
Blick  auf  das  am  Südabhange  des  Gotthard  gelegene  Airolo  (Fig.  11), 
das  erste  Dorf  italienischer  Zunge  und  Bauart.  Welch  ein  Unterschied 


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Fig.  6.  Aodermatt  mit  Blick  auf  Hotpental  und  die  Furka. 


406 


gegenüber  der  Nordseile  des  Berges  und  dem  von  dunklen  Fels- 
massen eng  eingeschlossenen  Gösohenen.  Eine  Fülle  von  Licht  und 
Sonnenglanz  durchflutet  das  weite  prächtige  Tal  mit  seinen  saftigen 
Alpenweiden  und  grünen  Matten.  Eine  geradezu  üppige  Vegetation 
zeigen  die  Gärten  der  Hotels,  so  dafs  man  sich  viel  weiter  nach 
Süden  versetzt  und  von  rein  italienischer  Luft  umweht  glauben 
möohte.  Das  Klima  Airolos  ist  während  der  guten  Jahreszeit  un- 
gemein  anregend  und  erfrischend,  seine  Lage  prächtig  und  zu  Aus- 
flügen nach  allen  Richtungen  günstig.  Hier  mündet  das  interessanteste 
aller  Quer-  und  Seitentäler  des  Gotthard-Gebietes,  das  Val  Bedretto. 
Sieben  Ortschaften  liegen  in  ihm,  in  Abständen  von  nur  einigen 
Kilometern  von  einander  entfernt  Keines  dieser  Dörfer  ist  von 
Lawinen  verschont  geblieben,  und  in  keinem  der  bewohnten  Alpen- 
täler fallen  gewaltigere  und  gefährlichere  Lawinen  als  im  Bedretto- 
Tale,  so  benannt  nach  dem  Hauptortc  Bedretto,  der  mehrfach  teilweise 
zerstört  und  verschüttet  wurde.  Im  Jahre  1863  wurde  das  halbe  Dorf 
von  einer  Lawine  fortgerissen,  wobei  33  Personen  ihr  Leben  ein- 
büfsten.  Streng  und  furchtbar  ist  hier  der  Winter,  und  von  den 
gewaltigen  Schneemassen,  die  wochenlang  jeden  Verkehr  mit  Nachbar- 
Dörfern  unmöglich  machen,  kann  man  sich  bei  einem  Besuche  im 
Sommer  keine  Vorstellung  machen  Während  des  Tunnelbaues  waren 
wir  auch  im  Winter  einige  Male  dort  Bedretto  hat  nur  ein  .Hotel“ 
und  dieses  nur  ein  Bett  zum  übernachten  für  Besucher.  Der  bar- 
füfsig  einherschreitende  Wirt,  die  dunkeläugige  Wirtin  und  ihr  rot- 
bäckiger Junge  mit  seinen  nackten,  kräftigen  Beinen  waren  Bilder  von 
Gesundheit  und  Lebensfrische.  Ihre  Suppe,  die  sie  gemeinsam  aus 
einer  grofsen  hölzernen  Schüssel  afsen,  während  ich  bei  einem  Glase 
Wein  ihnen  zuschautc,  schmeckte  uffenbar  vortrefflich.  Dabei  schien 
die  Sonne  hell  und  warm  durch  die  offenen  Fenster,  das  ganze  ein 
Bild  behaglichen  Stillebens  im  Hochsommer,  im  wunderbaren  Gegen- 
sätze zur  Wildheit  des  dortigen  Winters. 

Wenige  Kilometer  oberhalb  des  Dorfes  Bedretto  hört  das  Kultur- 
land auf;  bis  dahin  gedeiht  noch  Korn  an  sonnigen  Hängen,  kräftiger 
im  unteren,  spärlicher  und  niedriger  im  oberen  Teile  des  Tales.  Dann 
beginnt  das  Hochtal  mit  seinen  grünen  Matten  und  prächtigen  Alpen- 
weiden, umrahmt  von  dunklen  Tannen,  über  denen  hoch  hinauf  die 
steilen  Felswände  mit  ihren  Firn-  und  Eisfeldern  und  vielgestaltigen, 
zaokigen  Spitzen  emporragen.  Der  Weg  führt  durch  einen  schönen 
Wald  von  Lärchen  und  Wettertannen  immer  am  schäumenden  Tessin 
entlang  steiler  hinauf  zum  Ospizio  alt'  Acqua,  einem  Gasthause  mit 


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407 


Fi]<.  7-  Schöllenen- Schlucht. 


Fix-  8-  Spreng)  • Brücke  in  der  Schöllenen  • Schlacht. 


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408 


kleiner  Kapelle,  am  Fufse  des  Pizzo  Rotondo  und  an  der  Vereini- 
gung des  aus  dem  Wallis  kommenden  Nufenen  - Überganges  mit 
dem  Wege  über  den  Giaeomo-Pafs,  der  in  das  Tal  der  Tooe  mit  dem 
grandiosen  Wasserfalle,  „Cascata  della  Toce“,  führt  Als  ich  das 
letzte  Mal  das  Ospizio  all'  Aoqua  besuchte,  traf  ich  als  Gäste  dort 
einen  Bergsteiger  aus  Luzern,  der  zu  seinem  Vergnügen  allein  in  den 
Gletschern  herumkletterte,  einen  Engländer,  der  in  24  Stunden  von 
London  nach  Airolo  gefahren  war,  um  8 Tage  lang  im  oberen  Bedretto- 


Fig.  U Goickeaeu  - Alp  and  Dorf. 


Tale  Käfer  und  Sohmettcrlinge  zu  sammeln  und  dann  auf  gleiche 
Weise  nach  England  zurüokzureisen,  sowie  als  dritten  im  Bunde  einen 
jungen  Araber,  der  ganz  interessant  zu  erzählen  wufste.  Füge  ich 
noch  den  poetischen  Ergufs  der  Offiziere  eines  praktischen  Kursus 
der  Gotthardbefestigungen  bei,  der  nach  dem  Fremdenbuche  lautet: 
„Ansichtskarten  gibts  hier  keine,  aber  gute  reine  Weine!',  so  dürfte 
dies  zu  einer  leidlichen  Charakteristik  des  Ospizio  all'  Acqua  hin- 
reichend sein,  sowie  auch  seiner  Besucher,  von  denen  ich  niemals 
vernommen  habe,  dafs  einer  derselben  unbefriedigt  von  dannen 
gezogen  ist. 

Ein  Vergleich  des  Bedretto-Tales  mit  dem  Gösohener-Alp-Tale, 
welches  in  gleicher  Höhenlage  parallel  mit  ihm  verläuft,  ist  in  mehr- 


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409 


Fitf.  10.  Götcheoeo  - Alp  and  Hotel 


Fig.  11.  Airolo 


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410 


facher  Hinsicht  interessant  Das  erstere  ist  weit  stärker  bevölkert 
als  das  letztere,  und  trotz  seines  überaus  strengen  Winters  werden 
Korn,  Kartoffeln  und  andere  Feldfrüohte  bis  hoch  hinauf  in  ihm  zur 
Reife  gebracht,  denn  Licht-  und  Sonnenwärme  üben  hier  im  Sommer 
in  ganz  anderem  Grade  ihre  belebende  und  fruohtlreibende  Wir- 
kung aus  als  in  dem  steilen  und  steinigen  Göschener  - Reufs  - Tale. 
Beide  Täler  verhallen  sich  ganz  ähnlich  wie  die  Orte  Airolo  und 
Göschenen  mit  ihren  in  Sitten  und  Lebensgewohnheiten  durchaus  ver- 


Fig.  12.  St&lvedro  - Schlucht. 

schiedenen  Bewohnern.  Wuchs,  Farbe,  Gesichtsausdruck.  Haltung, 
Temperament,  Beschäftigung,  Vergnügen  etc.  der  Menschen  ändern 
sich,  wie  die  Bauart  ihrer  Wohnungen  ganz  unvermittelt  beim  Über- 
gange aus  dem  düstern  Reufs- Tale  im  Norden  des  Gotthard  in  das 
helle  und  weite  Tal  des  Tessin  in  seinem  Süden.  Die  Urner  sind 
schwerfällig  in  ihren  Bewegungen,  schwer  zum  Zorne  gereizt,  offen  und 
freimütig  blicken  sie  aus  ihren  blauen  Augen,  meist  mit  einem  gut- 
mütigen Lächeln  auf  den  rotwangigen  Gesichtern;  die  Tessiner  sind 
leicht  beweglich  und  ebenso  leicht  erregbar,  bei  der  geringsten  Veran- 
lassung auffahrend,  mit  zornigen  Blicken  aus  ihren  dunklen  Augen  und 
mit  wütenden  Geberden  ihre  heftigen  Ausrufe  begleitend,  aber  ebenso 
rasch  auch  wieder  besänftigt,  leichten  Sinnes,  intelligent  und  von 


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411 


rasoher  Auffassung,  der  sie  mit  beredten  Worten  Ausdruck  zu  geben 
verstehen.  Im  Norden  deB  Gotthard  die  hübschen  und  anheimelnden 
Holzbauten,  die  „Schweizerhäuschen“;  auf  der  Südseite  hingegen 
Steinbauten  von  nüchternem  Aussehen.  Aber  in  der  inneren  Aus- 
schmückung der  einfachsten  Räumlichkeiten,  oft  mit  den  primitivsten 
Mitteln,  zeigt  sich  der  künstlerische  Sinn  des  italienischen  National- 
charakters. Graziös  sind  die  Bewegungen  der  Frauen  und  Mädchen, 
wenn  sie  mit  ihren  leichten  Holzpantoffeln,  den  „Soccoli“,  anmutig 
einherschreiten,  malerisch  und  nicht  selten  etwas  theatralisch  die 
Haltung  und  Tracht  der  Männer.  Eine  natürliche  „Gentilezza“  des 
Volkes  im  Verein  mit  dem  sonnig-heiteren  Klima  und  der  herrlichen  Luft 
üben  auf  den  Nordländer  einen  eigenen  Reiz,  der  am  Gotthard  um  so 
deutlicher  hervortritt,  als  der  Übergang  vom  nordischen  Klima  und 
Nationalcharakter  zur  südlichen  Landschaft  und  Bevölkerung  so  rasch 
und  unvermittelt  sich  vollzieht. 

Viele  Wanderer  sind  über  den  Gotthard  gezogen,  von  den  sagen- 
haften Longobarden,  deren  Signaltürme  zum  Teil  noch  als  Ruinen, 
wie  bei  Hospental  und  bei  Airolo  oberhalb  der  Stalvedro  - Schlucht, 
(Fig.  12)  erhalten  sind,  bis  zu  den  Maultiertreibern  und  Karren- 
fiihrern  vergangener  Jahrhunderte  auf  dem  alten  Saumpfade,  und 
weiter  bis  zu  den  modernen  Liebesleuten,  die  ihr  junges  Ehe- 
glück so  hoffnungsfreudig  nach  dem  sonnigen  Süden  führen.  Sie 
haben  es  jetzt  bequemer  als  ehedem.  Am  31.  Dezember  1881  führte 
Alois  Zgraggen,  dessen  lebenswahres  Bildnis  das  Speisezimmer 
des  „Rössli“  in  Göschenen  ziert,  als  Kondukteur  die  letzte  Gotthard- 
Post  im  Schlitten  über  den  Berg.  Seitdem  ist  es  stiller  dort  oben 
geworden.  Dem  Bergwanderer  aber,  der  bewufst  zu  reisen  versteht, 
wurde  der  Gotthard  seit  Eröffnung  der  Eisenbahn  nur  um  so  lieber, 
denn  sie  ermöglicht  ihm,  sein  engeres  und  weiteres  Gebiet  bis  zu  der 
schönsten  Waldlandschaft  unterhalb  Wassen  und  der  grofsartigen 
Dazio-Schlucht  oberhalb  Faido  und  hinauf  im  Maderaner-Tal  mit  dem 
Hüfi-Gletscher  und  in  das  Val  Piora  mit  der  schönsten  Alp,  auf  der 
mehrere  hundert  Kühe  weiden,  dem  idyllischen  Ritom  - See  und  den 
vielen  anderen  stillen  Alpen-Seen  mit  geringerer  Mühe  in  gröfserer 
Vollständigkeit  zu  gemessen. 


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Im  Reiche  des  Aolus. 

Von  Dr.  Alexander  Rnmpell- Taormina. 

(Schluff.) 

4 LS.  m näohsten  Morgen  stieg  ioh  mit  dem  Palraenfreund  und 
Kaninchenjäger  zum  Stromboli  empor.  Ein  kleiner  Junge 
schleppte  den  Proviant  korb.  Erstaunlich,  wie  er  ohne  Sohuh- 
werk  stundenlang  über  die  harte,  oft  spitzige  Lava  balanzierte,  und  wie 
er  ohne  Kopfbedeckung  den  ganzen  Tag  die  Sonne  vertrug.  Wir  hatten 
schönes  Wetter  bekommen;  der  Nord  west,  der  gestern  noch  Sturm  und 
Regen  gebracht,  war  in  reinen  Nord:  Tramontana  maislrale,  den 
„Meisterwind“  umgesprungen.  So  erschien  die  gestern  unsichtbare 
Küste  von  Calabrien  wenigstens  zum  Teil:  das  Kap  Vatioano  mit  der 
Halbinsel  von  Monteleone,  daneben  aus  einer  langen  Wolkenschicht  her- 
ausragend die  Sila  und  die  Schneepyramide  des  Monte  Poüino  (2200  in), 
nördlich  von  Cosenza.  Wir  kamen  an  dem  mitten  in  Weinbergen 
liegenden  Friedhof  vorbei.  Nur  Gestrüpp  hegt  ihn  ein.  Die  langen,  weifs 
getünohtan  Sarkophage,  einige  mit  buntgemusterten  Kacheln  belegt, 
gaben  ihm  etwas  Orientalisches.  Ara  Woge  blühten  wilde  Lupinen, 
blaue  und  auch  die  hier  seltenere  gelbe,  verschiedene  Chrysantemen, 
Cistus,  Asphodolos  und  Ginster.  Durch  ganze  Gebüsche  von  dünnem 
Rohr  (Cannizzole),  das  mit  der  starken  Canna  zusammen  geflochten 
hier  vielfach  zur  Herstellung  von  Zäunen  dient,  gelangten  wir  nach 
anderthalb  Stunden  zur  oberen  Grenze  der  Weinberge  uud  ruhten  auf 
einem  grorsen  Lavablook  aus,  den  der  Vulkan  vor  fünfzehn  Jahren 
bis  hierher  geschleudert  hatte. 

Ich  wunderte  mich,  dafs  der  Wein  hier  nicht  in  Stöcken,  sondern 
an  Schilfrohrgestänge  etwa  einen  halben  Meter  über  der  Erde  gezogen 
wurde.  Das  ist  mühsam  und  teuer;  denn  die  Rohre  kommen  aus 
Sizilien,  je  hundert  Stück  zu  drei  Lire,  Gsell-Fels  sagt,  dafs  „das 
Gitterwerk  zum  Schutz  der  Reben  vor  der  durch  die  Sonnenglut  all- 
zuwarmen Asche“  angebraoht  wird.  Don  Antonio  wollte  davon  nichts 
wissen:  „Costume  del  paese.“ 


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413 


Ebensowenig  wufste  er  Auskunft  zu  geben  über  den  Stromboli- 
ohio, den  letzten  überseeischen  Rest  eines  Nebenkegels  des  Stromboli, 
Nun  war  mir  schon  am  Abend  vorher  ein  sonderbarer  Felsen,  etwa 
1 t/j  Kilometer  draufsen  vor  der  Reede  von  San  Vincenzo,  aufgefallen 
und  dabei  die  Stelle  im  Homer  von  dem  versteinerten  Schiß'  in  den 
Sinn  gekommen,  das  sich  bei  einiger  Phantasie  aus  dieser  merk- 
würdigen Oesteinsbildung  mitten  im  Meer  konstruieren  liefs.  „Wie 
heifst  die  Klippe  da  draufsen,  Don  Antonio?“  „Die  hat  gar  keinen 
Namen.  La  Pietra.  (Der  Felsen.)“  Es  war  aber  doch  der  Strom- 
boliohio, wie  ich  nach  der  Karte  feststellte.  Wie  später  nooh  mehr- 
fach, fand  ich,  dafs  die  Einwohner  sich  um  die  geographischen  Be- 
zeichnungen der  Gelehrten  durchaus  nicht  kümmern,  sondern  ihre 
eigene  Nomenklatur  haben.  Wunderbarer  Gedanke,  dafs  da  ganz 
nabe  dem  Crkrater  ein  Stück  eines  Nebenkegels  herausragt  aus 
den  Fluten,  die  ihn  — er  ist  55  m hoch  — noch  nicht  in 
die  Tiefe  zu  reifsen  vermochten,  und  dafs  diese  kleine  Klippe  die 
allein  sichtbare  Spitze  eines  etwa  2300  m hohen  Berges  ist 
— diese  Meerestiefe  haben  die  Messungen  in  nicht  allzu  grofser 
Ferne  festgcstellt.  Einen  ähnlichen  Eindruck  hätten  wir  auch  vom 
Ätna,  wenn  er  bis  zu  2400  m vom  Meer  bedeckt  wäre.  Dann 
würde  blofs  sein  Haupt  900  m hoch,  wie  jetzt  der  Stromboli 
aus  der  Flut  aufragen  und  nicht  weit  davon  als  kleine  Insel  die 
gewaltige  Montagnola  mit  ihren  ca.  2500  m,  nioht  viel  höher  und 
nicht  viel  anders  als  hier  der  Strombolichio. 

Welch  seltsame  Landschaften,  welche  Geheimnisse  des  Tier- 
und  Pflanzenlebens  verhüllt  auf  ewig  unserem  Auge  diese  ungeheure 
Wassermassel 

Aber  das  sind  Phantasien.  Tauchen  wir  aus  den  grabesdunklen 
Meerestiefen  wieder  zum  fröhlichen  Licht  der  Sonne  auf! 

Bei  600  m Höhe  verlor  sich  mit  den  letzten  Zwergweiden  jeder 
Pflanzenwuchs,  und  ziemlich  mühsam  kletterten  wir  durch  Asche  und 
über  scharfgezackte  Lava  am  Rand  einer  tiefen  Schlucht  aufwärts,  bis 
wir  den  filo  die  zolfo  (filo  = senkrechte  Wand),  den  „Sohwefelfelsen“  vor 
uns  hatten.  Überraschendes  Bild:  aus  etwa  fünfzig  oder  mehr  Öffnungen 
eines  Steilbanges  wirbelte  dichter,  weifser  Qualm  in  zierlichen  Säulen 
empor,  die  sich  oben  mit  einem  stärkeren  Rauch  zusammendrehten, 
der  hinter  dem  filo  heraufkam  und  den  oberen  Teil  des  Berges 
beständig  verhüllte.  Da  auf  einmal  stieg  eine  schwarzbraune  Rauch- 
säule über  dem  weifsen  Dampf  auf,  zerteilte  sich  oben  wie  ein  Spring- 
brunnen und  sank  zurück.  Dieses  Schauspiel  begleitete  zuerst  lautes 


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414 


Krachen,  dann  fernes  Kauschen.  Der  schmutzig  braune  Qualm  ver- 
zog sich,  und  wieder  dampfte  es  ruhig,  gleichmäfsig,  sauber  aus  den 
fünfzig  Löohern  und  Spalten,  als  wäre  niohts  geschehen1). 

Eine  halbe  Stunde  später  hatten  wir  den  Kamm  (die  Liscione) 
erreioht  Da  der  Nordwind  hier  in  800  m Höhe  recht  kräftig  blies, 
hiefs  es,  neben  dem  Grat  hin  sehr  vorsiohtig  treten.  Der  Grat  selbst, 
nur  zwei  Zentimeter  breit,  war  höchstens  fiir  Seiltänzer  gangbar.  Die 
ABche  war  hart,  wie  zusammengefroren,  und  schrägte  sich  nach  beiden 
Seiten  in  steilen  Senkungen  ab.  Der  scharfe  Wind  hatte  sie  dachartig 
zusammengetrieben,  dabei  wie  eine  Diine  wellig  geformt.  Aber  nur 
eine  Strecke  von  etwa  100  Schritten  war  etwas  gefährlich  zu  passieren, 
da  rechts  und  links  in  geringer  Tiefe  senkrecht  abfallende  Felsen 
drohten.  Dann  bot  das  Gefühl  einige  Sicherheit,  dafs  wenigstens  auf 
der  Südseite  die  Bösohung  alsbald  in  eine  kleine  Hochfläche  — „das 
verrufene  Tal“  — überging. 

Vom  Grat  sieht  man  bereits  die  beiden  Gipfel,  den  Cima 
dello  Stromboli  (918  m),  unter  dem  wir  südlich  ausbogen,  und  jenseits 
des  verrufenen  Tales  die  Serra  Vancori,  eine  herrlich  wilde  Fels- 
wand mit  der  Cima  dello  croci2)  (926  m)  als  höchster  Erhebung. 
Altes  Mauerwerk  auf  der  Serra  Vancori  rührte,  wie  mein  Führer  be- 
richtete, von  einer  grofsen  Schiefsübung  her,  die  die  italienische 
Marine  vor  zehn  Jahren  hier  gehalten.  „Da  hatten  die  Franzosen, 
ich  weifs  nicht  wo,  ein  Seefort  gebaut  900  m ü.  M.  Natürlich  wollten 
unsere  Admiräle  wissen,  ob  und  wie  sie  das  eventuell  am  besten  be- 
schiefsen  könnten,  und  so  postierten  sich  die  Panzerschiffe  drüben 
nach  Sonnenaufgang  zu,  eine  Anzahl  Torpedos  zur  Beobachtung  auf 
der  anderen  Seite.  Das  Häuschen  drüben  war  ihre  Scheibe.  Ob  sie’s 
einmal  getroffen  haben,  weifs  ich  nicht.  Aber  die  Kugeln  Dogen  ganz 
gemütlich  über  den  Stromboli  hinweg  und  auf  der  anderen  Seite  ins 
Meer.“ 

Auf  dem  filo  della  fossa  rasteten  wir.  Auch  diese  von  meinem 
Führer  gebrauchte  Bezeichnung  fehlt  auf  den  Karlen.  Der  Punkt 
entspricht  ungefähr  dem  Beobaohtungsplatz:  845  auf  Bergeats 

topographischer  Skizze.  Wir  befanden  uns  hier  ca.  150  m über  der 
sogenannten  Kraterterrasse,  auf  welcher  zurzeit  drei  Krater  noch  zu 
unterscheiden  sind,  ein  vierter  westlicher  ist  (nach  meines  Führers 

')  Dies  die  orste,  von  mir  nur  aus  der  Kerne  W'ahrgenommene  Eruption 
D B Mm. 

')  Nach  der  Karle;  nach  Don  Antonios  Angabe  „Filo  della  portella“. 


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415 


Behauptung)  nicht  mehr  vorhanden,  entweder  in  sich  zusammen- 
gebrochen oder  ins  Meer  abgestiirzt;  nur  schwache  Fumarolen 
bezeichnen  die  Stelle,  wo  nach  Bergeat  im  Oktober  1894  eine 
prachtvolle  Eruption  statttand  (a.  a.  0.  S.  35). 

10h  35m  erfolgte  hier  der  erste  deutlich  beobachtete  Ausbruch 
des  uns  zunächst  liegenden  Kraters  (bei  Bergest  No.  II)  — ein 
furchtbares,  aber  unsagbar  schönos  Erlebnis.  Ein  Rasseln  und 
Krachen  erscholl,  als  ob  hundert  Schränke  durcheinander  gerückt 
würden  oder  als  ob  ein  grofses  Haus  einflele,  zugleioh  stieg  eine 
dicke,  braune  Rauchsäule  etwa  zweihundert  Meter  auf  und  bog  sich 
oben  wie  eine  Palmenkrone  auseinander.  Inmitten  des  dioken 
Qualms  flogen  mit  unheimlicher  Oewalt  schwarze  Schlacken  und  rot- 
glühende Steine  in  Menge  empor  und  sanken  zum  Teil  in  die  Öffnung 
zurüok,  zum  Teil  fielen  sie  aufserhalb  auf  die  Sciarra  nieder,  eine 
bis  zum  Meer  im  Winkel  von  35°  sich  senkende  Geröllhalde.  Dann 
verzog  sich  der  Rauch  zum  Gipfel,  der  darin  mit  seinen  scharfen 
Zaoken  und  mächtigen  Geschieben  ganz  gespensterhaft  erschien  und. 
obwohl  nur  um  hundert  Meter  unseren  Standpunkt  überragend,  zehn- 
fach höher  als  in  Wirklichkeit,  — wie  ein  Riese  der  Schweizer 
Alpen.  Noch  lange,  nachdem  der  Krater  sich  beruhigt  hatte,  sah  man 
die  Steine,  welche  auf  die  Sciarra  gefallen  waren,  lawinenartig  zum 
Meer  hinunter  rollen  und  springen  und  hörte  das  Surren  und  Poltern, 
das  ihre  tolle  Fahrt  begleitete.  Dieses  ganze  Schauspiel  wiederholte 
sich  nun,  bald  stärker,  bald  schwächer,  in  ziemlich  unregelmäfsigen 
Zwischenräumen.  Besonders  eindrucksvoll  waren  die  Paroxismen  von 
11 11  16m,  wo  die  Rauchwolke  bis  zu  250  m über  den  Kraterrand  auf- 
stieg,  also  hundert  Meter  über  unseren  Standpunkt.  Wir  sahen  die 
Steine  mit  einem  flirrenden  Ton  etwa  sechzig  Meter  von  uns  niederfallen, 
der  Grund,  weshalb  Don  Antonio  trotz  meiner  Bitten  nicht  weiter 
nach  der  Terrasse  zu  hinabsteigen  wollte.  Doch  nahmen  wir,  auf  dem 
Grat  ein  Stück  abwärtsgehend,  alsbald  einen  noch  günstigeren  Be- 
obachtungspunkt ein,  dicht  unter  dem  Torreone,  einem  grotesken 
Lavaturm.  Hier  hielten  wir  beinahe  zwei  Stunden  trotz  des  eisigkallen 
Nordwinds  aus,  der  nach  jedem  Ausbruch  uns  einen  kleinen  Aschen- 
regen auf  die  Mütze  blies.  In  den  Pausen  betrachtete  ich  nicht  ohne 
Schauder  die  wüste  Schlaokenwildnis  um  mich  her,  deren  Starre  nur 
in  der  Senkung  unterhalb  der  Cima,  nach  dem  fllo  del  zolfo  hin,  eine 
Menge  kleiner  reizender  Fumarolen  belebten.  Mit  ihnen  trieb  der 
Wind  ein  wunderliches  Spiel:  er  wirbelte  die  zierlichen,  blendend- 
weifsen  Rauchsäulchen  an  derselben  Stelle  minutenlang  herum.  Etwa 


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416 


alle  halbe  Stunden  krachte  es  dazwischen  in  der  Ferne,  wie  Böller- 
schiefsen  bei  einem  Kirchenfest  Das  rührte  von  dem  östlichen 
Krater,  dem  sogenannten  antico  (No.  IV  bei  Bergeat)  her.  No.  III, 
der  sich  vor  einem  Monat  nooh  in  lebhafter  Tätigkeit  befand,  schwieg 
heute.  Von  den  in  der  Anmerkung3)  notierten  Ausbrüchen  habe  ich 
die  von  10h  35m  bis  12h  43m  selbst  gesehen,  die  übrigen  nur  gehört 
Ein  Teil  der  letzteren,  wenn  auch  nur  ein  ganz  geringer,  dürfte 
deshalb  vielleicht  No.  IV  zuzuschreiben  sein. 

Liefsen  die  unterirdischen  Gewalten  einmal  allzulange  auf  sich 
warten,  so  ermunterte  sie  Don  Antonio  mit  lautem  Zuruf:  „Avanti, 
lavoratori  dell’  inferno!  (Vorwärts,  ihr  Arbeiter  der  Hölle)'1,  oder  erzählte 
mir  von  früheren  Besteigungen: 

„Ich  war  noch  ein  Junge,  da  kam  mitten  im  Winter  ein  Eng- 
länder auf  die  Insel,  der  wollte  trotz  scheufslichen  Wetters  durchaus 
hinauf  auf  den  Stromboli,  noch  dazu  nachts.  Da  er  mit  seinen  Lire 
sterline  nicht  knauserte,  so  fanden  sich  einige  Leute  bereit,  ihn  zu  be- 
gleiten. Mit  zwei  Führern  ging’s  bei  Laternenlicht  des  Abends  hin- 
an. Vier  Träger,  darunter  ich,  schleppten  ihm  einen  halben  Kleider- 
schrank an  warmen  Gewändern  aller  Art,  unendlichen  Proviant,  auch 
eine  kleine  Apotheke  mit  Verbandzeug  nach.  Damals  hatte  die 
Kraterterrasse  eine  ganz  andere  Gestalt  als  heute,  wie  sie  denn  auch 
jetzt  noch  sich  beständig  verändert  Aber  es  war  doch  eine  Tollkühn- 
heit, dafs  der  Engländer  — trotz  unserer  Warnung  — bis  zum  Rand 
des  damals  besonders  tätigen  Kratere  ging,  sich  auf  den  Bauch  legte 
und  nun  mit  übergehängtem  Kopf  in  den  feurigen  Schlund  hinab- 
starrte. Kam  dann  die  Explosion,  so  kroch  er  allemal  ein  wenig  zu- 
rück. Aber  dann  gleich  wieder  vor  und  hinuntergestarrt!  Wir 
standen  etwa  zwanzig  Schritt  hinter  ihm.  Er  hatte  uns  alsbald  nach 
unserer  Ankunft  in  die  mitgebrachten  Wollsachen  gesteckt,  Mäntel, 
Tücher  und  Plaids.  Und  alle  halbe  Stunde  kam  er  einmal  zu  uns, 
verteilte  Roastbeef,  Brot  und  Schokolade  und  schenkte  jedem  ein 
Gläschen  Cognao  ein.  Zuweilen  machte  er  auoh  Freiübungen  mit  dem 
Bergstock  gegen  die  barbarische  Kälte,  und  wir  mit  ihm.  Aber  um 
drei  Uhr  morgens  waren  wir  alle  schon  wieder  auf  dem  Rüokzug.  Ein 
Wunder,  dafs  keiner  von  uns,  vor  allem  der  tolle  Engländer  nicht  eine 
von  den  glühenden  Bomben  an  den  Schädel  bekommen  hat,  die  über- 
all neben  uns  niedersausten.“ 

’)  Eruptionen:  9*>  35“,  55“;  10*>,  10“,  15“,  30“,  35“;  lt>>  11“,  15“, 
*25“,  35“,  46“,  55“;  12h  13“,  14m,  42“,  43“,  56“;  lh  3“,  12“,  23“, 

31“,  45m,  57“;  2 h I“,  16",  21“, 32“,  3t“,  45“,  47“,  49“. 


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417 


Allerdings  soll  der  Anblick  der  Eruptionen  bei  Nacht  weit 
interessanter  sein.  Solche  Partien  werden  jetzt  noch  unternommen, 
aber  lieber  in  der  warmen  Jahreszeit.  Man  steigt  dann  etwa  um 
zwei  Uhr  nachmittags  auf,  bleibt  bis  ueun  Uhr  und  kehrt  gegen 
Mitternacht  zurück,  so  dafs  man  den  Ausbruch  bei  Tage  und  auch 
in  der  Dunkelheit  genießt,  wo  der  Feuerschein  sowohl  des  breit  auf- 
schiefsenden  Glutstrahles,  als  auch  der  die  Luft  durchschneidenden 
und  zum  Meer  hinabspringenden  Bomben  außerordentlich  grofsartig 
wirken  muß. 

Nachdem  ich  mich  sattgesehen,  stiegen  wir  an  den  Abhängon 
des  verrufenen  Tales  hinab  nach  dem  westlichen  Rand  des  alten 
Kraters  (filo  della  soiarra),  von  wo  man  das  ungeheure  Trümmerfeld 
überblickt,  auf  welchem  jährlich  Millionen  Tonnen  Lava  ins  Meer 
hinabrollen. 

Das,  wie  erwähnt,  zwisohen  der  Cima  dello  Stromboli  und  den 
Trachytwünden  der  Serra  Vancori  sich  hinziehende  .verrufene  Tal" 
ist  nur  500  m lang  und  wird  von  dem  Weg  durchschnitten,  der  von 
San  Vincenzo  an  der  Nordostseite  mitten  über  den  Berg  nach  Ginostra 
an  der  Südwestküste  führt.  Eine  andere  Landverbindung  gibt  es  in- 
folge der  schroffen  Abstürze  des  Vulkans  nach  allen  Seiten  nicht. 
Aber  sie  wird  nur  seilen  benutzt,  nicht  nur  des  unbequemen  Auf-  und 
Abstiegs  wegen  (über  800  m),  sondern  auch,  weil  er  entgegen  der 
Ansicht  Bergeats  nicht  ungefährlich  ist.  Denn  während  bei  ruhiger 
See  jedermann  die  Barke  zu  dieser  Reise  benutzt,  ist  man  hei 
schlechtem  Wetter  zu  diesem  Übergang  gezwungen,  und  gerade  bei 
hohem  atmosphärischen  Druck  ist  die  Tätigkeit  des  Vulkans  heftiger 
als  sonst,  infolgedessen  auch  die  Gefahr  größer,  von  Bomben,  die 
über  den  Glo  della  fossa  herüberdiegon,  getroffen  zu  werden.  Das 
ganze  Tal  ist  von  Auswürflingen  der  verschiedenen  Krater  angefüllt, 
darunter  sind  raanohe  recht  große  von  tiefschwarzem  Glanze  also 
jüngeren  Datums,  von  den  älteren,  die  grausohwarz  und  von  Wind 
und  Wetter  verschliffen  sind,  leicht  zu  unterscheiden.  Mein  Führer 
z.  B.  hatte  mir  ganz  in  der  Nähe  unseres  Beobachtungsplatzes  einen 
Block  von  etwa  zwanzig  Zentnern  gezeigt,  den  er  bei  seinem  letzten 
Besuch  nicht  wahrgenommen.  Er  war  160  tn  über  den  Kraterrand 
empor  in  gewaltigem  Bogen  herausgcschleudert  worden,  so  dafs  leich- 
tere Stücke  sehr  wohl  über  den  filo  della  fossa  bis  ins  Tal  gelangen 
konnten.  Deshalb  pflanzt  jeder,  der  die  Portella  di  Ginostra  (dun  Ein- 
schnitt des  von  Ginostra  huraufkommendon  Pfades)  und  den  Talweg 
glücklich  passiert  hat,  an  der  Porta  delle  crooi,  wo  der  Weg  sich  nach 

Himmel  und  Erd«  IS04.  XVI  S.  2 7 


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41* 


San  Vincenzo  hinabsenkt,  aus  mitgebrachten  Binsen  ein  Kreuz  und 
steckt  es  ..per  divozione”  in  die  Asche. 

Von  dem  filo  della  sciarra  stiegen  wir  dann  nach  dem  ersten 
jener  beiden  Pafseinsohnitte,  der  Portelia  di  Qinostra  hinunter,  ledig- 
lich der  schönen  Aussicht  wegen.  Hatte  uns  in  der  Lavawüste  bisher 
-als  einziges  Zeichen  von  Vegetation  und  auch  nur  recht  spärlich  der 
sizilianische  Tragant  begrüfst  (den  Don  Antonio  cavoletto,  Kohl,  nannte!), 
so  wirkte  die  Niederschau  auf  die  frischgrüne  Ebene  von  Ginostra  zu 
unsern  Füfsen  jetzt  recht  wohltuend.  Um  die  Kirche  und  die  weifsen 
Häuschen  herum  lagerten  anmutige  Weingärten  und  ein  kleiner 
Olivenhain.  Auch  die  nächste  Nähe  war  nicht  so  düster,  wie  das 
soeben  gesehene  Stück  „inferno“.  Hier  an  der  Südseite  stieg  der 
Ginster  bis  unter  die  Felsen  der  Serra  Vancori  empor,  also  beinahe 
400  tn  höher,  als  auf  der  Nordseite.  Entzückend  aber  war  der  Blick 
aufs  Meer,  auf  sämtliche  Inseln,  grofse  wie  kleine,  vom  nahen  Panaria, 
schwarzblau,  bis  zum  fernen  Alicudi,  in  zartestem  Grau  aus  dem  Meer 
aufragend,  das,  wenn  ich  die  leise,  leise  Kräuselung  des  fast  unbe- 
wegten Spiegels  mit  etwas  Landläutigem  vergleichen  darf,  sich  wie 
eine  riesige  Decke  von  hellblauem  Moiree  ausspannte. 

Den  Rückweg  nahmen  wir  zunächst  durch  das  verrufene  Tal. 
Und  während  wir,  zur  rechten  die  sieben  roten  Basalttürme  der  Serra 
Vancori,  zur  linken  das  vom  Kraterrauch  umwallte  Horn  der  Cima. 
dahinschritten,  hatte  ich  wirklich  den  Eindruck  der  Unterwelt.  Nur 
einmal  flatterte  ein  Distelfalter  vorüber  und  ein  einsames  gelbes  Rot- 
schwänzchen (Codarossa)  flog  von  einem  Basaltblook  zum  anderen, 
sonst  keine  Spur  von  Leben.  Aber  die  tote  Asche  unterbrachen  die 
mannigfaltigen  Farben  des  Eruptionsgesteins,  ich  unterschied  neben 
schwarzen  und  grauen  gelbe,  braune,  rote,  rosa  Laven.  Tausende 
von  grofsen  und  kleinen  Bomben  lagen  umher  (darunter  ein  wüster 
Trumm  von  wenigstens  zweihundert  Zentnern),  in  der  Asche  blinkten 
unzählige  kleine  Kristalle,  sechsseitige,  grauschwarze  Säulchen,  bis 
IV]  cm  lang,  manche  auch  kreuzförmig  ineinander  gewachsen:  Augit- 
nadeln. 

Wir  sammelten  eine  ganze  Menge  davon  zum  Andenken,  steckten 
dann  an  dor  Portelia  delle  croci  jeder  unser  Kreuz,  das  wir  aus  den 
da  herumliegenden  Binsen  verfertigten,  in  die  Erde  und  stiegen  oder 
sprangen  und  glitten  vielmehr  in  der  steilen  Aschenhalde  der  Rinelia 
grando  (auf  der  Karte:  La  Schicciola)  hinab. 

Eine  halbstündige  Rast  an  der  oberen  Grenze  der  bebauten  Zone 
gewährte  einen  wundervollen  Blick  auf  Calabrien,  das  jetzt  völlig 


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wolkenfrei  vom  Monte  Montea  (bei  Belvedere)  bis  zum  Aspromonte 
sich  vor  uns  ausdohnte.  Einzelne  Städte  wie  Monteleone,  Tropea, 
Pizzo  waron  trotz  der  grofsen  Entfernung  16O — 80  km)  als  weifse 
Flecken  zu  erkennen,  ln  der  liehe  über  1400  m lag  noch  reichlicher 
Schnee. 

Die  endgültige  Rückkehr  verzögerte  sich  noch  ein  wenig,  da 
Don  Antonio  auch  hier,  wie  beim  Aufstieg  sämtliche  Weingärten, 
durch  die  wir  kamen,  in  näheren  Augenschein  nahm,  um  sich  zu 
überzeugen,  ob  sie  durch  den  Hagel,  der  vor  einigen  Tagen  hier 
niedergegangen,  golitten  hätten.  Mit  grofser  Befriedigung  teilte  er  mir 
mit,  dafs  nur  in  den  unteren  Lagen,  die  schon  Frucht  angesetzt  hätten, 
alles  „verbrannt“  sei,  während  er  in  seinen  Pflanzungen  weiter  oben 
wenig  Schaden  zu  beklagen  habe. 

Wir  langten  noch  früh  genug  in  der  Casa  Renda  an,  dafs  ich 
auf  der  Terrasse  bei  einer  Flasche  Wein  von  den  Strapazen  dieses 
Tages  ausruhen  konnte,  mitunter  zu  dem  unheimlichen  Berg,  den 
ich  heute  genommen,  emporschauend,  froh,  das  langjährige  Ziel  meiner 
Wünsche  erreicht  zu  haben,  öfter  aber  noch  das  trunkene  Auge 
aufs  Meer  richtend,  das  wenige  Schritte  von  mir  gegen  den  schwarzen 
Aschenstrand  anrauschte.  Dampfer  tauchten  auf  und  verschwanden 
wieder,  grofse  Segler  wiegten  sich  unweit  auf  der  blauen  Flut.  Alles 
war  so  klar,  so  blendend,  so  festlich!  Noch  in  später  Dämmerung 
schimmerte  durch  zwanzig  Meilen  Luftlinie  der  Silbermanlel  des  Monte 
Pollino  herüber. 


Don  nächsten  Vormittag  benutzte  ioh  zu  einem  Spaziergang  auf 
der  Uferebene  duroh  die  Dörfer  San  Vincenzo  und  San  Bartolo  nach 
dem  Louchtturm.  Behaglich  liegen  die  weifsgetünchten,  plattdächigen 
Häuser  mit  ihren  Terrassen  und  Laubengängen  inmitten  der  wohl- 
gepflegten  Weingärten.  Hinter  San  Bartolo  stürzt  die  Lava  in  groß- 
artigen Flüssen,  von  gewaltigen  Gängen  durchsetzt,  zum  Meer.  Ein- 
sam ragt  der  Leuchtturm  als  letzte  menschliche  Siedlung  Uber  der 
Punta  Labronzo  auf.  Nur  wenige  hundert  Sohritt  noch,  dann  ver- 
bieten die  steilen  Felsen  des  Filo  della  Sciarra  ein  weiteres  Vordringen. 
Alle  zehn  Minuten  durchschnittlich  unterbricht  die  grofse  Stille  das 
Krachen  des  hier  ziemlich  nahen  Kraters  und  wird  die  klare  Luft  getrübt 
durch  den  hinter  den  Felsen  aufqualmenden  Rauch  und  die  Staub- 
wolken, die  die  niederrollenden  Bomben  in  der  Soiarra  emporwirbeln. 

Zum  Abschiedsmahl  bedauerte  Don  Antonio,  mir  keine  Waohteln 


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auftischen  zu  können,  da  sie  sich  — jedenfalls  infolge  der  kalten 
Witterung  — noch  nicht  eingestellt  hätten. 

„In  I.ipari  hat  man  mir  erzählt,  dafs  die  Mädchen  Strombolis  auf 
den  Felsen  am  Meer  sitzen  und  so  lieblich  singen,  mit  so  schmelzen- 
der Stimme,  dafs  sie  die  Wachteln  immer  näher  und  näher  zu 
sich  heran  und  endlich  in  ihre  Netze  locken.  Können  Sie  mir  nicht 
ein  solches  Lied  sagen?" 

„Dio  ci  liberal  Was  diese  Liparesen  nicht  alles  von  uns 
wissen!  Übrigens  kümmere  ich  mich  den  Teufel  um  Weiber  und 
Weiberkram.  Freilich  gehen  sie  auf  die  Wachteijagd,  wie  sie  uns 
Männern  auch  die  paar  Kaninchen  noch  wegfangen.  Aber  Lieder 
singen  sie  nicht  dazu,  sondern  locken  die  Wachteln  mit  einem  Ruf, 
ich  glaube:  Kokoko.  Wenn  die  Vögel  dann  ins  Netz  gegangen  6ind, 
springen  diese  falschen  Weiber  aus  ihrem  Versteck  hervor  und 
schlagen  sie  mit  Stöcken  tot.  Sissignore!" 

So  grausam  zerstörte  Don  Antonio  die  märchenhafte  Illusion,, 
die  ich  mir  von  diesen  modernen  Sirenen  zurechtgelegt  hatte. 

Statt  Wachteln  setzte  mir  mein  Wirt  Soppressata,  eine  fein 
gewürzte,  delikate  Wurst  und  noch  einmal  wildes  Kaninchen  vor, 
diesmal  in  einer  pikanten  Kaperntunke.  Als  Nachtisch  gab  es 
amerikanische  Erdnüsse  und  Apfelsinen,  „wie  ich  sie  gewifs  auf  ganz 
Lipari  vergeblich  suchen  würde“.  In  der  Tat,  sie  zerflossen  gerade- 
zu auf  der  Zunge.  Mit  stolzem  Siegerblick  entkorkte  er  — als  letzten 
Trumpf  — eine  Flasche  alten  weifsen  Stromboliweines. 

„Basta,  basta  Don  Antonio!"  wehrte  ich  mit  hochorhobener 

Rechten  ab  — mich  packte  die  Angst  vor  der  drohenden  Rechnung 

„die  Ehre  Strombolis  ist  gerettet!"  Trotz  dieser  üppigen  Bewirtungr 
und  obschon  — was  mich  schon  lange  mit  Sorge  erfüllte  — der 
Kaninchenjäger  diesen  Sommer  gleich  zwei  Töchter  auszusteuern 
hatte,  fiel  die  Rgchung  glimpflich  aus,  und  aufrichtiger  als  so  mancli 
andorem  verschmitzten  „caupo“  des  Südens  schüttelte  ich  ihm  zürn 
Abschied  die  Hand. 

Die  „Corsiea"  brachte  wieder  mehrere  , Amerikaner"  zurück  und 
nahm  neue  Auswanderer  mit,  darunter  zwei  Burschen  von  elf  und 
fünfzehn  Jahren  aus  Ginostra.  Als  wir  — jetzt  die  Wostkuste  der 
Insel  umfahrend  — des  Dörfchens  ansichtig  wurden,  tauschten  die 
beiden  Knaben  mit  ihren  Angehörigen,  die  auf  der  Kirchenterrasse 
standen,  durch  Tücherwinken  und  Hutsehwenken  die  letzten  Grüfse. 

Auch  ich  erhielt  einen  Abschiedssalut,  aber  anderer  Art:  noch 
zweimal  sah  ich  von  Bord  aus  den  breiten  Feuerstrahl  hinter  den 


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grauen  Felsen  aufsleigen  und,  laut  donnernd  brüllte  der  Berg  seinem 
neuen  Freunde  zu:  auf  Wiedersehen! 

Es  dunkelte  bereits,  als  ich  nach  fünfstündiger  Seefahrt  meinen 
Fufs  in  Lipari  wieder  aufs  Land  setzte,  von  Don  Giovanni  herzlich 
bewillkommn 

Zwar  wäre  nooli  mancherlei  zu  sehen  gewesen:  die  heifsen  schon 
im  Altertum  berühmten  Biider  von  S.  Calogero  und  das  bagno  secco, 
gern  hätte  ich  den  Monte  Sant’  Angolo,  den  höchsten  Gipfel  von 
Lipari,  und  auch  die  fossa  delle  felci  auf  Salina  bestiegen  und  dabei 
diese  Insel  von  Kinella  bis  Malfa  durohquert.  Aber  dringende 
Geschäfte  riefen  mich  nach  Hause  zurück.  So  beschlofs  ich,  um 
einen  letzten  grofsen  Eindruck  mit  fortzunehmen,  nur  noch  den  nahen 
Monte  Guardia  (369  m)  zu  besuchen. 

Nach  anderthalbstündigem  mäfsigen  Steigen  von  der  Stadt  Lipari 
südwestlich  die  Kebenbänge  hinauf  streckte  ich  mich  bei  Asphodelos 
und  Cistusröschen  ins  Farnkraut  und  liefs  meine  Blicke  noch  einmal 
über  diese  ganz  einzige  Inselwelt  schweifen. 

Man  hat  sie  alle  hier  beisammen  und  zwar  in  ihrer  ganzen 
Gestalt,  mit  Ausnahme  von  Salina,  deren  Ostküste  der  höhere  Monte 
Sant’  Angelo  verdeckt.  Aber  man  sieht  wenigstens  das  freundliche 
Rinelia  aus  dem  Tal  zwischen  den  beiden  Hauptgipfeln  herauslugen. 
Merkwürdig  klar  leuchten  die  Häuser  des  fernen  Filicudi  herüber. 
Die  eine  Hälfte  des  Horizontes  schliefst  — unendlich  weit  — das 
strahlende  Meer  mit  dem  Himmel  beinahe  in  eins  verschwimmend, 
die  andere  Hälfte  nimmt  Calabrien  von  den  Bergen  bei  Belvedere  bis 
zur  Meerenge  von  Messina,  von  da  Sizilien  vom  Kap  Peloro  bis  zu 
den  Madoniden,  ja  bis  zum  Kap  Gallo  bei  Palermo  ein.  Also  ein  ge- 
waltiges Stück  Erde  überschaut  man  von  diesem  so  niedrigen  Aus- 
sichtspunkt — bis  zum  Kap  Gallo  sind  es  nicht  weniger  als  20,  bis 
Belvedere  sogar  25  geographische  Meilen.  Die  Scirokkowolken  hingen 
nur  noch  im  Süden,  800 — 1300  m hoch. 

Wie  freute  es  mich  daher,  endlich  auoh  den  Ätna  in  seiner 
ganzen  Pracht  zu  begrüfsen!  Er  trug  noch  bis  etwa  1600  m herab 
seinen  Osterschnee.  Energisoh  hob  sich  die  Montagnola  vom  Haupt- 
gipfel ab.  Broit  und  scharf  gegliedert  baute  sich  das  Massiv  über  dem 
niederen  Gewölk  auf,  wie  ein  ganzes  Gebirge. 

Aber  so  wundervoll  das  Panorama  weithin  über  Meer  und  Land, 
es  wird  beherrscht  durch  ein  anderes  Objekt:  die  ganz  nahe  gen  Süden 
vorliegende  Insel  Vulcano,  in  deren  sämtliche  Krater  man  von  hier 
bineinsieht.  In  der  alten  Fossa,  die  vor  acht  Tagen  so  leblos 


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zu  meinen  Füfsen  lag,  erspähte  ich  mit  freiem  Auge  mehrere  grofse 
Fumarolen,  die  sich  also  seitdem  neu  geöffnet  hatten.  Zugleich 
frischten  sich  die  Eindrücke  meines  ersten  Reisetages  auf:  der  seitlioh 
eingebrocliene  Nebenkrater,  wo  die  Schwefelminen  des  Herrn  Toscano 
dampften,  sein  freundliches  Landhaus,  die  Feigenplantage,  die  Bade- 
bucht  und  die  drei  niedlichen  Miniaturkrater  des  Vutcanello.  Höchst 
eigenartig  nimmt  sich  von  hier,  überall  jäh  zum  Meer  abstürzend, 
die  breite  Lavaplattform  aus,  auf  der  sich  die  Vulcanellokrater 
erheben,  wie  ein  grofser,  graubrauner  Pfefferkuohenteig,  rings  mit 
dem  Messer  abgeschnitton. 

Welch  ein  Gegensatz  der  grünen  Hügel  und  Weinberge  von 
San  Salvatore  direkt  unter  mir  zu  der  furchtbaren  Ude  des  gegen- 
überliegenden Eilandes!  Aufser  der  Plantage  des  Herrn  Toscano 
erscheinen  nur  die  Hochflächen  über  den  vier  Kaps,  der  Besitz  meines 
Freundes  Don  Giovanni,  ein  ganz  klein  wenig  bebaut.  Sonst  alles 
da  driibon  von  grausiger  Wüstheit,  Zerrissenheit,  Starre,  Melancholie. 
Besonders  die  vier  Kaps,  in  denen  der  Monte  Saraceno  endet. 
grofse  versteinerto  Ichthyosauren  kriechen  die  knorrigen  Klippen 
weit  ins  Meer  hinaus.  Wie  etwas  Uraltes,  das  gar  nicht  mehr 
auf  unsere  blühende  und  wachsende,  frischlebendige  Erde  pafst, 
etwas,  das  seine  Jugend  hunderttausende  von  Jahren  vor  dem  ersten 
Menschen  hatte,  das  eigentlich  längst  gestorben  ist  — so  ragt  Vulcano 
noch  aus  dem  Meer. 

So  endigten  meine  Gedankon,  wo  sie  sich  zu  konzentrieren  be- 
gonnen hatten,  als  ich  eine  Woche  früher  diesen  Inseln  genaht  war, 
bei  Vulcano.  Stromboli  ist  grofsartiger,  Salinas  lieblicher,  Lipari  aL<- 
weohselungsreicher,  aber  das  originellste  bleibt  doch  Vulcano,  diest*^ 
vielzackige  Riesengerippo  aus  Lava,  begraben  in  der  Asche. 


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Über  die  Wärmeabgabe  von  Radiumpräparaten. 

Will  man  die  Wärmeabgabe  irgend  eines  Körpers  messen,  so 
kann  man  z.  B.  die  Wassermengen  bestimmen,  die  sich  aus  Eis  durch 
Berührung  mit  dem  Körper  bildet.  Man  kennt  nun  die  Wärmemenge, 
die  dazu  gehört  um  1 Gramm  Wasser  von  0"  aus  Eis  von  O”  zu 
schmelzen,  also  auch  die  fragliche  Wärmeabgabe.  Kalls  dieselbe 
dauernd  erfolgt,  läfst  sich  die  Bestimmung  auoh  indirekt  auf  elek- 
trischem Wege  ausführen.  Man  bringt  den  Körper  in  einen  Hohl- 
raum und  mifst  die  Temperatur  des  Raumes,  wenn  sich  ein  stationärer 
Zustand  hergestellt  hat.  Dann  setzt  man  an  dieselbe  Stelle  eine  Draht- 
spirale, durch  die  ein  elektrischer  Strom  fliefst,  und  reguliert  diesen, 
bis  man  dieselbe  Temperatur  orhält.  Dann  erzeugt  der  Strom  dieselbe 
Wärmemenge  in  derselben  Zeit.  Aus  dom  Strom  i und  dem  Wider- 
stand w in  der  Spirale  berechnet  sich  die  Wärmemenge  iJ-w  Kalorien. 
Beide  skizzierten  Methoden  worden  in  neuster  Zeit  zur  Bestimmung 
der  Wärmeabgabe  von  Radiumpräparaten  benutzt.  Curie  und  Laborde 
untersuchten  „radioaklivos“  Barvumchlorid,  kurz  Radiumchlorid  (KaClj). 
Zwei  Eisenblöcke  wurden  mit  jo  einer  Aushöhlung  versehen,  in  die 
eine  brachte  man  gewöhnliches  Baryutnchlorid  in  die  andere  radio- 
aktives. Es  zeigte  sich,  dafs  dann  zwischen  beiden  Ilohlräumen  eine 
konstante  Temperaturdifferenz  vorhanden  war.  Der  Vergleich  mit  der 
elektrisch  geheizten  Spirale  ergab  für  ein  Gramm  Radiumchlorid  eme 
kontinuierliche  Ausstrahlung  von  ca.  70  kleinen  Kalorien  pro  Stunde. 
Nach  Messungen  von  Runge  und  Precht  und  Frau  Curie  hat  das 
Radium  ein  Atomgewicht  von  258  bezw.  225,  Chlor  hat  das  Atomge- 
wicht 35,5.  In  einem  Gramm  Radiumchlorid,  sind  also  ca.  0,76  Gramm 
Radium  enthalten.  Folglich  strahlt  ein  Gramm  reines  Radium 
ca.  100  Kalorien  pro  Stunde  auB. 

In  der  zuerst  angedeuteten  Art  und  Weise  mafs  Precht  die 
Wärmeabgabe  des  Radiumbromids  (Ra  Br2)  und  fand  61,15  Kalorien 
pro  Stunde,  was  auf  Radium  umgerechnet  98,83  Kalorien  pro  Stunde 
ergeben  würde.  Eine  Arbeit  von  ein  Meterkilogramm  entspricht  nun 
einer  Wärmemenge  von  2,35  Grammkalorien.  Da  also  ein  Gramm 


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Radium  oa.  27,4  Grammkalorien  (pro  Sokuride,  donn  die  Arbeit  wird 
auf  die  Sekunde  bezogen)  ausstrahlt,  so  würden  6,45  Kilogramm  dieser 
Substanz  dazu  nötig  sein,  um  ohne  iiufseres  Zutun  dauernd  aus 
ihrem  Vorrat  an  innerer  Energie  die  einer  Pferdestärke  äquivalente 
Wärmemenge  zu  erzeugen.  (Eine  Pferdestärke  = 75  mkg  = 176  g 
Kalorien.)  Leider  kostet  ein  Milligramm  Radium  ungefähr  40  Mark. 
Es  dürfte  daher  vorderhand  den  üblichen  Heizmaterialien  noch  keine 
Konkurrenz  machen.  Dr.  M.  v.  P. 

* 

Über  das  Wesen  der  „Katalyse“.  Katalyse,  d.  h.  Beschleunigung' 
langsam  verlaufender  ohcmisoher  Prozesse  durch  gewisse  Körper,  ist  ein 
Vorgang,  der  weitbekannt  ist  und  im  tagliobon  Leben  im  ausgedehn- 
testen Mafse  zur  Anwendung  gelangt.  Von  den  vielen  Beispielen  sei 
nur  eines  herausgehoben:  der  Gasanzünder.  Man  läfst  Gas  über  eine 
mit  fein  verteiltem  Platin  (schwarzer  Platinmohr)  versehene  „Pille“ 
streichen,  und  in  kürzester  Zeit  sehen  wir,  wie  die  Pille  erglüht  unti 
das  Gas  sich  entzündet,  d.  h.  wie  es  sich  mit  dem  Sauerstoff  der  Luft 
unter  Explosion  vereinigt.  Wras  tut  hier  der  Platinmohr?  Diese 
Frage  drängt  sich  jedem  auf.  Für  den  Hauptvertreter  der  „Kataly- 
satoren“, das  Platin  ist  die  Frage  durch  die  hervorragende  Arbeit  des 
Chemikers  Lothar  VVöhler  „Über  die  Oxydierbarkeit  des  Platins“  nun- 
mehr beantwortet.  (Beriohte  der  Deutschen  Chem.  Ges.  No.  13,  19034. 
Es  bildet  sich  eine  PlatinsauorstofTverbindung,  die  sehr  leicht  reduzier- 
bar ist,  d.  h.  ihren  Sauerstoff  leicht  abgibt.  Solch  frisch  abgege- 
bener Sauerstoff  hat  nun  im  Augenblick  des  Freiwerdens  eine  sehr 
grorse  Oxydationskraft,  daher  also  dio  heftige  „katalytische“  Wirkung". 
So  einfach  diese  Antwort  auch  klingt,  so  schwierig  war  es,  die  darin 
enthaltene  Behauptung  aus  dem  Reich  der  Hypothesen  ins  Gebiet  der 
erwiesenen  Tatsachen  zu  erheben  Bis  zur  Veröffentlichung  Wöhlers 
hielt  man  allgemein  das  Platin  für  das  einzige  nnoxydierbare  Metal  I 
(seine  Unlöslichkeit  in  Säuren  spricht  dafür).  Diese  Ansicht  wider- 
legte Wöhler  durch  folgenden  originellen  Versuch. 

Sehr  reiner  Platinmohr  wurde  6 Wochen  lang  in  einer  Sauer- 
stoffatmosphäre von  109°  bis  280°  erhitzt.  Es  zeigte  sich,  dafs  trotz- 
dem bei  jedesmaliger  Temperatursteigerung  etwas  Wasser  entwich 
(Wasser  wird  mit  grofser  Zähigkeit  festgehalten),  der  Mohr  stetig  an 
Gewicht  zunahm;  und  zwar  betrug  nach  6 Wochen  die  Änderung" 
2,3%.  Ähnliche  Resultate  ergaben  sich  bei  dem  weniger  fein  verteilten 
Platinschwamm  und  sogar  bei  Platinfolie!  Der  Nachweis,  dafs  wirk- 


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425 


lieh  Sauerstoff  an  dem  Platin  haftet,  wurde  zunächst  qualitativ 
duroh  Bläuung  von  Jodkaliumstärke,  empfindliches  Reagens  auf 
Oxydationsmittel,  und  dann  durch  das  veränderte  Verhalten  der  Salz- 
säure gegenüber  geführt.  Während  nämlich  frischer  Platinmohr  sich 
nur  zu  etwa  '/2oo°/o  *n  Salzsäure  löste,  nahm  letztere  von  dem  mit  Sauer- 
stoff behandelten  10 — 16%  auf;  es  ist  dies  für  die  Motuiloxyde 
charakteristisch.  Die  Untersuchung  der  Frage,  welche  quantitative 
Zusammensetzung  die  in  Rede  stehende  Platinsauerstoffverbindung 
habe,  d.  h.  mit  wie  vielen  Sauerstoffatomen  je  ein  Platinatom  gekettet 
sei,  gehörte  wohl  zu  den  schwierigsten  analytisch-chemischen  Arbeiten, 
die  man  sich  vorstellen  kann.  Um  einen  Begriff  davon  zu  geben,  soi 
die  Methode  kurz  an  einem  aus  dem  Beobachtungsmaterial  frei  her- 
ausgogriffenen  Beispiel  erläutert.  In  0,3389  Gramm  mit  Sauerstoff 
behandelten  Platinmohrs  wurde  der  Gehalt  an  metallischem  Platin 
zu  98,52%  an  Wasser  zu  0,82%,  an  Kohlensäure  zu  0,08%  festgestellt 
für  Sauerstoff  bleiben  also  0,66%.  Jetzt  wurden  von  demselben  Mohr 
1,5738  Gramm  in  Salzsäure  zu  lösen  versucht,  der  gelöste  Toil  be- 
stimmt (0,1035  Gramm)  und  ebenso  wie  oben  der  Sauerstoffgehalt  des 
ungelösten  Teiles  prozentisch  gefunden.  Die  Differenz  der  beiden 
Sauerstoffgehalte  ergab  die  Sauerstoffmenge,  die  an  das  gelöste  Platin 
gebunden  war.  Wöhler  fand  so  aus  5 Versuchen  ein  Mittel,  7,36%, 
was  einer  Zusammensetzung  von  der  Formel  Pt  O (Platinoxydul)  ent- 
spricht. Man  kann  sich  denken,  mit  welchem  Geschick  und  welchen 
Vorsichtsmafsregeln  alle  Operationen,  wie  Filtrieren,  Wägen  ctc.  aus- 
gefiihrt  werden  müssen,  wenn  es  sich  darum  handelt,  eine  so  goringe 
prozentische  Menge  Sauerstoff  neben  Platin,  Wasser  und  Kohlensäure 
durch  Differenzbestimmung  noch  genau  naohzuweisen.  Wenn  auoli 
der  Laie  keinen  sehr  präzisen  Begriff  davon  hat  und  haben  kann,  so 
wird  er  doch  eine  ahnende  Bewunderung  für  die  „wissenschaftlich- 
künstlerischen“ Feinheiten  einer  derartigen  Untersuchung  empfinden, 
ganz  abgesehen  davon,  dafs  sie  uns  die  experimentelle  Erkenntnis 
eines  bisher  völlig  unaufgeklärten  Phänomens,  der  bereits  erwähnten 
Katalyse  bringt.  Dr.  v.  P. 


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$$$$  Himmelserscheinungen. 


Übersicht  über  die  Himmelserscheinungen 
für  Juni,  Juli,  August  und  September  1904. !) 

I)  Der  Sternenhimmel,  a)  Am  15.  Juni  um  11  *»,  am  15.  Juli  um  ist  die 
Lage  der  Sternbilder  gegen  den  Horizont  die  folgende:  Der  grofse  Löwe  ist 
im  Westen  im  Untergehen.  Die  Jungfrau  mit  dem  Sterne  1.  üröfse  Spica  im 
Südwesten,  das  markante  Sternbild  des  Skorpions  mit  dem  roten  Antares  im 
Süden  sind  die  interessanteren  Teile  des  Tiorkreisos,  denn  was  von  da  nach 
Osten  folgt,  sind  nur  der  tiefstehende  Schütze  und  der  an  glänzenden  Sternen 
arme  Steinbock.  Zwischen  Jungfrau  und  Skorpion  die  beiden  Sterne  der 
Wage.  Darüber  höher  im  Südsüd  westen  Arcturus  mit  den  andern  hellen 
Sternen  des  grofsen  Bootes  und  die  Halbkreisform  der  nördlichen  Krone  um 
Gemma.  Den  Meridian  nimmt  vollkommen  bis  zum  Zenit  der  Hercules  ein, 
an  den  sich  nach  unten  der  Schlangenträger  anschliefst.  Weiter  nach  Osten 
steht  das  grofse  Dreieck,  gebildet  aus  den  drei  Sternen  erster  Grobe  Wega  in 
tler  Leier  rechts  oben,  Deneb  im  Schwan  links  und  an  der  abwärts  gekehrten 
Spitze  Atair  im  Adler,  symmetrisch  von  £ und  7 Aquilae  eingeschlosseu.  Das 
grofse  Rechteck  des  Pegasus  liegt  über  dem  Ostpunkt.  Wendet  man  sich  nach 
Norden,  wo  das  Auge  iu  konstanter  Höhe  den  bekannten  Polarstern  erblickt, 
so  steht  rechts  etwas  tiefer  als  er  das  W der  Cassiopea,  links  bedeutend  höher 
d^r  grofse  Bär.  Capelia  streift  über  dem  Nordhorizont,  rechts  von  ihr  zeigt  sich 
der  Perseus  mit  der  Spitze  seines  gleichschenkligen  Dreiecks,  Algol  nach  unten. 

b)  Am  15.  August  um  10  Uhr,  am  15.  September  um  8 Uhr  dagegen  sind 
noch  die  Wage  tief  im  Südwesten  und  links  von  ihr  der  Skorpion  zu  sehen. 
Jetzt  ist  die  Zeit,  die  drei  letzten  Sternbilder  des  Tierkreises  zu  studieren,  von 
denen  der  Schütze  den  südlichsten  Teil  des  Meridians  einnimmt,  gegen  den 
der  Steinbock  von  links  ansteigt;  der  Wassermann  liegt  im  Südosten  und  seine 
Sterne  2 Grofse  leiten  ohne  Grenze  über  zu  den  westlichsten  Sternen  des 
Pegasus,  links  von  welchem  nun  auch  die  Andromeda  schon  aufgegangen  ist, 
so  dafs  beide  Sternbilder  zusammen  eine  vergröfserte  Kopie  des  grofsen  Bären 
«larstellen.  Die  oben  beschriebenen  Sternbilder  sind  alle  um  einen  halben 
Quadranten  nach  Westen  gewandert.  Hoch  im  Meridian  steht  das  Dreieck 
Wega-Deueb-Atair.  Davon  links  kommt  Cassiopea  in  die  Höhe,  ihr  folgt  der 
Perseus  und  endlich  die  Capella.  Der  grofse  Bär  steht  links  in  gleicher  Höhe 
mit  dem  Polarstern.  Der  Bootes  steht  im  Westen,  auf  seinen  Hauptstern 
Arcturus  zeigt  die  Deichsel  des  grofsen  Bären.  In  den  klaren  August-  und 
Septembernächteu  ist  die  Milchslrafse  eines  der  prächtigsten  Objekte  des 
Firmaments,  namentlich  ihre  glänzenden  südlichen  Partien  im  Adler,  Schild 
des  Sobieski,  Schlangenträger  und  Schützen,  wo  sie  in  2 Teile  getrennt  verläuft 

J)  Alle  Zeitangaben  in  M.  K.  Z.  und  nach  astronomischer  Zählweise,  d.  h.  die 
Vormittagsstunden  eines  Tages  sind  — mit  Ausnahme  der  Sonnenaufgänge  — 
um  12 h vermehrt  zum  vorigen  Tage  gerechnet 


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427 


Zur  Orientierung  mögen  die  folgenden  Sterne  dienen,  welche  heller  als 
3“.3  sind  und  die  abend»  um  9 Uhr  M.  E.  Z.  kulminieren: 


Tag 

Name 

| R’kUimtion  Dckliiafiu 

Tag 

Name  i -i 

1 %s 

Rektaiccasicn 

Drkliiutieu 

Jui  5 

rt  Hootis 

3.0  13h  50“>  9»  + 18»  52.7' 

Jali  3 1 

a Ophiuchi  1*2.0  17h3C*n3Ia 

+ 12' 

»38.1* 

11 

a Bootiß 

1 14 

11  19  + 19 

41.0 

i«l  2 

t Herculiß  |3.3  17 

36 

4S  4-46 

3.8 

15 

: 7 Hootis 

2.9  M 

28  14  +38 

43.8 

2 

ß Ophiuchi  3.0  17 

38 

46 

-f  4 

36.7 

19 

a Librae 

2.3  14 

45  36  — 15 

38.7 

3 

jx  Herculis  |3.8  17 

42 

44 

4-27 

46.9 

22 

ß Bootiß 

3.0  1 4 

58  22  4-40 

463 

7 

7 Sagittarii  3.3, 17 

59 

42 

— 30 

25.4 

26 

t Bootiß 

3.0  15 

1 1 40  -f  33  40.5 

8 

72 Ophiuchi  3 3 18 

2 

.50 

1+  9 

33.3 

26 

ß Libiae 

2.0  15 

11  53  - 9 

1.7 

12 

1 rt  Serpentis  3.0  18 

16 

23 

— 2 

55.2 

Jiii  1 

a Coronae 

2.0  15 

30  39  4-27 

24 

16 

Wega  1 

18 

33 

14 

4-38 

42.1 

3 

■i  Serpentis 

2.3  15 

39  35  -f  6 

43.7 

20 

3 Sagittarii  2.3  18 

49 

22 

-26 

24.8 

3 

ß Serpentis 

3.3  15 
3.3' 15 

41  47  -f“  15 

43.5 

22 

7 Lyrae  3 3 18 

55 

24  4-32 

33.9 

4 

jx  Serpentis 

44  39  - 3 

8.1 

23 

C Aquilae  3.0  19 

1 

2 

4-  13  43.6 

* 

e Serpentis 

3.3  15 

46  4 4-  4 

46.1 

23 

X Aquilae  3.1 19 

i 

12 

— 5 

1.3 

7 

o Scorpii 

2.3  15 

54  42  — 22 

209 

24 

z Sagittarii  3.1  19 

4 

6 

-21 

10  4 

8 

ß Scorpii 

2.015 

59  .54  — 19 

32.6 

28 

5 Aquilae  3.3 

19 

20 

42 

+ 2 

55.7 

10 

fj  Ophiucbi 

3.0  16 

9 21  — 3 

26.7 

30 

> Cygni  3.0 

19 

26 

54 

+ 27  45.9 

11 

s Ophiuchi 

3.3  16 
3.3  16 

13  17  - 4 

27.4 

S-ft.  2 

7 Aquilae  3.0 

19 

41 

44 

+ 10  23.1 

12 

~ Herculiß 

16  53  4-46 

32.8 

2 

1 Cygni  2.8 

19 

12 

1 

+ 44 

54.3 

13 

7 Herculiß 

3.1  16 

17  43  4- 19 

22,9 

3 

Atair  1.3 

19 

46 

9 

+ 8 

37.3 

14 

a Scorpii 

13,16 

23  34  26 

13.2 

9 

Aquilae  3.0, 

20 

6 

24 

— 1 

6.0 

15 

ß Herculiß 

2.3  16 

26  8 4-21 

42.2 

10 

a*  Capric.  3.3 

20 

12 

46 

- 12 

50.3 

16 

C Ophiuchi 

2.6  16 

31  55  - 10 

22.3 

12 

C.v  gn  i 2.4 

20 

18 

5o 

4-39 

57.4 

18 

rt  Herculiß 

3. 1 116 

39  38  4-  39 

6.5 

15 

’i  Delphin,  3.3 

20 

33 

6 

4-  14 

16.1 

21 

x Ophiuchi 

3.3  16 

53  10  4-  9 

31.6 

17 

a Cygni  1.(1 

20 

38 

12 

+ 44 

56.7 

22 

e Herculiß 

3.3 

56  39  4-  31 

43 

IS 

t Cygni  2.6 

20 

42 

22 

+ 33 

37.1 

24  | 

rt  Ophiuchi 

2.3  17 

4 55  — 15 

36.3 

24 

C Cygni  3.0i21 

8 

54 

+ 29 

50.4 

26 

o Herculis 

3 0 17 

11  8 4 24 

57.4 

29 

ß Aquarii  3.0  21 

26 

33 

- 5 

59.3 

26 

- Herculiß 

3.1  17 

11  44  4-36 

55.4 

2)  Veränderliche  Sterne.  a)  Dem  unbewaffneten  Auge  und  einem 
Opernglas  sind  nur  dio  folgenden  Minima  der  3 helleren  Variabein  des 
Algoltypus  zugänglich: 


Algol  (3  h 2 

m + 40 

0 35*),  Grüfso 

2 «».3— 3m.4. 

Halbe 

Dauer  < 

des 

Mini- 

mums  : 4 V,  h. 

Juli  2 12»  6“ 

Juli 

28 

7 b 27  01 

Aug.  20  5 h 59m 

Sept.  12 

4 h 3 1 m 

5 8 55 

Aug. 

8 

18  43 

31  17 

15 

20 

18 

57 

19  17  0 

11 

15  32 

Sept.  3 14 

4 

23 

15 

46 

22  13  49 

14 

12  21 

6 10 

53 

26 

12 

35 

25  10  38 

17 

9 10 

9 7 

42 

29 

9 

24 

>.  Tauri  (3h  55m  + 120 

14'),  Grüfte  3 ,".4 — lm.5. 

Halbe  Dauer 

des 

Miui- 

mums:  5 h. 

August  18  21h*  23»» 

September 

3 16  *»  52® 

September  19 

12h 

20'» 

22  20 

15 

7 15  44 

23 

11 

13 

26  19 

7 

11  14  36 

27 

10 

5 

30  17 

59 

1 

5 13  28 

Digitized  by  Google 


5 Librae  (I4b  56 m — 8*  8'),  Gröfso  5».0-6®i.  Halbe  Dauer  des  Mini- 
mums: 6*>. 


Juni  1 

17» 

4 m 

Juni 

29 

15 

h 20  m 

Juli  27 

13  8 37  ® 

Aug.  24 

1 1 k 54 

6 

3 

47 

Juli 

4 

7 

3 

Aug.  1 

5 

20 

31 

11  28 

8 

IC 

38 

G 

14 

.54 

3 

13 

11 

Sept.  7 

11  2 

13 

8 

21 

11 

0 

37 

8 

4 

54 

14 

10  36 

15 

1« 

12 

13 

14 

28 

10 

12 

45 

21 

10  IO 

20 

7 

54 

18 

6 

11 

15 

4 

28 

28 

9 45 

22 

15 

4G 

20 

14 

3 

17 

12 

19 

27 

7 

29 

25 

5 

45 

22 

4 

2 

Namentlich  \ Tauri  und  o Librae  bedürfen  der  Beobachtung  auch  von 
seiten  astronomischer  Liebhaber. 

b)  Maxiina  der  helleren  (>  9 — 10 m)  Veränderlichen  von  langer  Periode 


Tag 

Name 

Ort  für  1904 

I!" 

Tag 

Name 

Ort 

für  1904 

— — m 
«•  "ST 

Si  Ä 

Juii  2 

U Aurigae 

5b3f,«n  + 32< 

0‘ 

8-9 

Juli  30 

RCamelop. 

141*  25® + 84®  16' 

s 

5 

U Cygni 

20 

IG 

+ 47 

36 

7-8 

S Ceti 

0 

19 

— 9 51 

7—8 

S Leonis 

11 

6 

+ 5 

59 

9-10 

l»g- 3 

RS  Pegasi 

22 

8 

+ 14 

5 

8 — I» 

8 

W Aquarii  2Ö 

41 

— 4 

26 

» 

4 

R Urs.  maj. 

10 

38 

+ G9  17 

7 

9 

S Librae 

15 

16 

-20 

3 

8 

5 

T Pegasi 

22 

4 

+ 12 

4 

9 

10 

V Draconis 

17 

56 

+ 54 

52 

9 

7 

S Virginis 

13 

28 

- 6 42 

7 

13 

TCapric. 

21 

17 

-15 

34 

9 

9 

Z Cygni 

19 

59 

+ 49  46 

7? 

14 

R Arietis 

2 

1t 

+ 24  37 

6-7 

10 

T Delphini 

20 

41 

+ 16 

3 

8 — 9 

15 

U Virginia 

12 

46 

+ 6 

1 

8 

11 

R Serpent. 

15 

46 

+ 15  25 

6 — 7 

IG 

R Aurigae 

5 

10 

+53 

29 

7 

13 

W Aurigao 

5 

20 

+ 36 

49 

8-9 

V Sagittne 

20 

16 

+ 20  48 

9-10 

16 

U Bootiß 

14 

50 

f 18 

5 

» 

17 

RR  Hercul. 

16 

1 

+ 50 

46 

8—9 

19 

RU  Andrm. 

1 

33 

+38 

11 

9 

20 

RR  Aquarii  21 

10 

- 3 

18 

8-9 

R Pegasi 

23 

2 

+ 10 

2 

7—8 

RS  Hercul. 

17 

IS 

+23 

1 

8 

20 

UX  Cygni 

29 

51 

+ 30 

3 

9-10 

R Lacertac  22 

39 

+41 

53 

9 

22 

RS  Librae 

15 

19 

-22 

34 

8—9 

TSerpontis 

18 

24 

+ ß 

14 

9—10 

24 

RR  Ophiu. 

16 

43 

— 19 

17 

7-S 

21 

TU  Cygni 

19 

43 

+ 48 

50 

9 

26 

Z Delphini 

20 

28 

+ 17 

8 

i> 

25 

R Comae 

II 

59 

+ 19 

19 

7-8 

29 

KColi 

2 

21 

— 0 

36 

8 

2G? 

RX  Sagitt. 

19 

9 

— 18 

59 

9-10 

Z Lyra© 

18 

56 

+ 34 

49 

9 

38 

RT  Lvrae 

13 

5S 

+ 37 

23 

9-10 

30 

U Androm. 

1 

10 

+40 

13 

9 

Juli  5 

RRCassiop. 

23 

51 

+53 

10 

9-10 

S Soorpii 

16 

12 

22 

40 

9— lO 

9 

TW  Cygni 

2t 

2 

+ 29 

2 

9 

R Triang. 

2 

31 

+33 

51 

5—  O 

X Librae 

15 

31 

— 20 

51 

9 — 10 

31 

RV  Aquil. 

i 1 

36 

+ 9 

42 

9 

10 

T Sagittae 

19 

17 

+ 17 

29 

8 

Y Aquarii 

20 

39 

- 5 

11 

8—9 

11 

R Delphini 

20 

10 

+; » 

48 

8-9 

kpl.  1 

X Camelop 

4 

33 

+74 

56 

<4 

U Librae 

15 

3« 

— 20 

53 

9 

Y Librae 

15 

7 

— 5 39 

14 

12? 

RU  Cygni 

21 

37 

+53 

53 

8-9 

3 

S Bootis 

it 

20 

+.54 

14 

8 

16 

V Bootis 

14 

2G 

+39 

17 

7 

6 

R Can.  ven. 

13 

45 

+ 40 

1 

7 — 8 

17 

R Virgin is 

12 

34 

+ v 

31 

7 

SSerpenlis  15 

17 

+ 14 

39 

8 

20? 

RU  Capric. 

20 

27 

— 22 

1 

9 

9 

Z Aquarii 

23 

47 

-16 

23 

8 

20 

R Piscium 

i 

26 

+ 2 

23 

8 

10 

Z Capric. 

21 

5 

-16 

34 

9 

27 

V Cassiop. 

2,\ 

8 

+59 

10 

8 

V Pegasi 

21 

56 

+ ^ 

40 

s 

2p 

SCamelop 

5 

31 

+ 68 

45 

8—9 

13 

T Monoc. 

6 

20 

+ 7 

8 

G 

Digitized  by  Google 


429 


T»g 

Name  Ort  für  1004  =j^2 

a-*»s 

Tag 

Name  Ort  für  1904 

1 33  M 

B.yi.13 

Y.Pegasi  2»  7m  + 13°54'  9-10 

8<p.21 

T Herculi«  186  6“ +31“  0'  7-8 

17 

X Aurigae  6 5 -{-50  15  8 

22 

X Delphi»!  20  51  +17  17  8 

Z Sagittarii  19  14  —21  6 8—9 

R Leo.  min.  9 40  -{-34  57  7 

18 

SHerculis  10  48  +15  6 6-7 

24 

R Vulpec.  >1  0 +23  26  8 

19 

W Coronae  1(5  12  -{-38  2 7 — 8 

27 

XPegasi  21  16  + 14  3 9 

20 

RHemilis  16  2 +18  37  8-9 

29 

U Monoc.  7 26  — 9 35  6-7 

V Sagittae  20  16  -{-20  48  9—  10 

30 

Y Pereei  3 21  +43  50  ! 8-9 

Bei  manchen  dieser  Sterne  sind  die  Daten  auf  einige  Tage  unsicher; 
es  empfiehlt  sich  also,  sie  einigo  Zeit  vorher  aufzusuchen.  Besonders  ver- 
dienstlich ist  das  Verfolgen  eines  Sternes  durch  genaue  Helligkeitsschätzungen 
während  des  Anstiegs  und  daun  wieder  durch  den  Abstieg  seines  Lichtes. 
Mehrere  Maxima  erreichen  in  dieser  Zeit  die  Sterne: 


Name  Ort  für  1904  Zeiten  der  Maxima 


HZ  Cygni 

206 

30» 

+ 46*  IG’ 

8 

Juni 

4,19 

Juli 

>,19 

Aug. 

3,18 

Sept. 

•2,17 

TX  . 

20 

56 

42  13 

8 bis  9 

14,29 

14,29 

12,27 

1 1,26 

vx  . 

20 

54 

39  48 

9 

12 

2,22 

11,31 

20 

f»>  Planeten.  Merkur  ist  am  8.  Juni  in  gröfster  westlicher  Elongation  und 
namentlich  nachher  kurze  Zeit  vor  Sonnenaufgang  im  Stier  zu  sehen.  Am 
31.  Juli  ist  er  am  Abendhimmel  in  Konjunktion  mit  Regulus,  der  31'  südlich 
von  ihm  steht  und  dann  loicht  zu  finden,  am  20.  August  ist  er  in  gröfster 
östlicher  Elongation,  die  aber  ungünstig  für  die  Sichtbarkeit  ist,  weil  er  nicht 
höher  als  im  Äquator  steht. 

Venus  ist  anfangs  Juni  nech  Morgenstern,  aber  der  Sonne  bereits  recht 
nahe,  am  19.  Juni  steht  sie  35*  unter  Mars,  doch  findet  diese  interessante  Be- 
gegnung in  der  hellen  Morgendämmerung  statt.  Am  8.  Juli  geht  Venus  hinter 
der  Sonne  auf  deren  linke  Seite  und  wird  nun  Ahendstern.  Vielleicht  kann  man 
sie  dort  schon  am  11.  August  in  Konjunktion  mit  Regulus  sehen,  der  62*  südlich 
von  ihr  steht.  Anfang  September  kommt  Venus  in  die  Jungfrau  und  passiert 
am  23.  September  II1*  rechtläufig  2°  53'  nördlich  von  deren  Hauplstern  Spica. 

Mars  steht  anfungs  Juni  am  Morgenhiramel  in  unmittelbarer  Nahe  der 
Sonne.  Erst  Anfang  Juli  wird  er  über  p Oeminorutn  sichtbar,  er  geht  um 
15*/4  Uhr  auf.  Er  durchwandert  rechtläufig  die  Zwillinge  und  tritt  am  8.  August 
(Aufgang  143/«  Uhr)  in  den  Krebs,  am  10.  September  (Aufgang  14V«  Uhr)  in  den 
grossen  Löwen,  über  dessen  llauptstern  Regulus  er  am  28.  September 
52*  nördlich  passiert. 

Jupiter  steht  Anfang  Juni  in  den  Fischen  und  geht  14'/,  Uhr  auf. 
Rechtläufig  tritt  er  Anfang  Juli  in  den  Widder  (Aufgang  12 */,  Uhr)  und  behält 
diese  Bewegungsrichtung  bei  bis  zum  19.  August,  wo  er,  9*/*  Uhr  aufgehend,  in 
Stillstand  kommt.  Er  geht  nun  rückläufig  wieder  bis  an  die  Grenze  der  beiden 
Sternbilder  zurück,  wo  er  Ende  September  anlangt.  Er  geht  dann  bereits 
6*/j  Uhr  auf  und  bleibt  bis  gegen  Morgen  sichtbar. 

Saturn  steht  während  der  ganzen  Berichtsperiode  rückläufig  im  Steinhock 
und  geht  zu  Anfang  der  einzelnen  Monate  um  folgende  Zeiten  auf:  Juni  121/*» 
Juli  iO'/j»  August  8*/i,  September  6'/4  Uhr.  Am  10.  August  ist  Saturn  in 
Opposition  mit  der  Sonne,  so  dafs  sein  Aufgang  mit  ihrem  Untergang  zu- 
sammenfällt und  umgekehrt. 


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430 


Uranus  ist  bereits  am  19.  Juni  in  Opposition  mit  der  Sonne  und  bl&ibt 
rückläufig-  rechts  unter  p Sagittarii  bis  zum  4.  September,  wo  er  nach  kurzem 
Stillstand  wieder  nach  links  wandert.  Er  ist  von  Sonnenuntergang  ab  für  «in 
scharfes  Auge  aufzufinden,  zuletzt  geht  er  bereits  81  , Uhr  unter. 

Neptun  ist  am  *27.  Juni  in  Konjunktion  mit  der  Sonne,  also  im  Juni  und 
Juli  nicht  aufzulinden.  Im  August  und  September,  wo  er  am  Morgenhimniel 
rechtläufig  ist,  zeigt  ihn  ein  kleines  Fernrohr  in  G*  33 ® Rektascension  -f-  22°  14' 
Deklination  rechts  unterhalb  von  c Geminorum. 

4)  Japitermonde. 

I.  Trabant.  Eintritt  in  den  Schatten. 


Juni  2 

14»  37® 

21* 

Aug.  12 

9h  88®  3* 

Sept. 

ii 

11h  41® 

5* 

25 

14  47 

55 

19 

1 1 32  18 

18 

13  38 

4;; 

Juli  11 

13  4 

32 

26 

13  211  37 

20 

8 7 

27 

18 

14  58 

35 

Sept  2 

15  21  1 

25 

15  33 

27 

27 

11  21 

9 

4 

9 49  34 

27 

10  2 

23 

Aug.  8 

13  15 

17 

9 

17  15  31 

11.  Trabant 

Eintritt  in  den 

Schatten. 

Juni  13 

14h  56® 

13* 

Aug.  Iß 

14h  15®  351 

Sept. 

10 

11h  17® 

29» 

Juli  15 

14  37 

22 

23 

16  50  27 

17 

13  52 

18 

Aug.  9 

11  40 

38 

Sept.  3 

8 42  41 

24 

16  27 

10 

III.  Trabant.  Juni  39,  Eintritt  12*»  40 ® 53«,  Austritt  14*»  52* 17»;  August  .r> 
Austritt  10t»  51®  4»;  August  12  Eintritt  12*  48®  49»,  Austritt  14*  51®  5";  Sep- 
tember 17  Eintritt  8 i*  56®  40»,  Austritt  10*51®  4 •;  September  24  Eintritt  12*58“ 
8»;  Austritt  14*  51®  26«. 

5)  Von  Meteoren  sind  die  Perseiden  die  bemerkenswertesten,  die  von 
Mitte  Juli  bis  Mitte  August,  namentlich  aber  um  den  10.  August  fallen. 


C)  Sternbederkongen  durch  den  Mond  (sichtbar  für  Berlin): 


Tag 

Name 

Gröfse 

Eintritt 

i Austritt 

d. 

Positions  winket1) 
Eintritts  d.  Austritt« 

Juni 

2t 

S) 

Librae 

4.7 

18* 

8.3® 

13» 

9 

«0 

164" 

213“ 

Juli 

9 

»■ 

Tauri 

4.2 

15 

3 3 

15 

59.9«) 

84 

251 

W 

9 

„ 

4.2 

15 

6.6 

15 

56.0«) 

106 

229 

„ 

9 

a 

„ 

1 

18 

39.7  «j 

19 

43.1 3) 

50 

284 

„ 

10 

11 

l „ 

5.5 

11 

38.2 

15 

25.2 

61 

284 

Aug. 

30 

si 

Ceti 

43 

16 

11.9 

17 

32.3«) 

72 

246 

Sept. 

2 

s* 

Tauri 

5.2 

13 

3.2 

l 18 

34.2 

138 

197 

* 

29 

7 

„ 

4.0 

10 

15.4 

11 

8.8 

47 

285 

„ 

29 

0» 

„ 

4.2 

14 

59.5 

IC 

18.3 

89 

248 

m 

29 

y* 

„ 

4.2 

15 

5.5 

116 

13.3  ! 

110 

226 

m 

29 

Anonyma 

5.0 

16 

21.3 

17 

84  9 

58 

282 

„ 

30 

ii 

1 Tauri 

5.5 

16 

13.7 

117 

33  3 

85 

264 

7)  Konjunktionen  der  5 alten  Planeten  mit  dem  Monde. 


Merkur 

1 Juni 

11 

14h 

Juli 

13  4 h 

August  12 

22h 

September  10 

0h 

Venus 

1 » 

13 

20 

„ 

12  22 

• 11 

20 

10 

15 

Mars 

13 

2 

* 

11  22 

B 9 

17 

7 

9 

Jupiter 

„ . 

. 8 

21 

„ 

6 13 

B 3 

2 u. 

30  9*  „ 

26 

11 

Saturn 

J_  - 

3 

20 

- 

13  u.  28 

6*  „ 24 

9 

- 

20 

11 

')  Gezählt  vom  nördlichsten  Punkte  des  Mondes  nach  links  herum. 

*)  Während  des  Aufgangs.  *)  Nach  dem  Aufgang  der  Sonne,  aber  im  Fern- 
rohr doch  sichtbar. 


Digitized  by  Google 


431 


8)  lloud.  a)  Phasen. 


Letzt.  Viert 

Juni  5 

19h  | 

Juli  5 

12  » 

Au«.  4 

3»- 

i Septbr.  2 

16  h 

Neumond 

13 

10 

12 

18 

11 

- 

9 

10 

Erst.  Viert. 

20 

4 ] 

19 

10 

17 

17 

16 

4 

Vollmond 

27 

9 

20 

23 

25 

14 

24 

i 

b)  Apsiden. 


Erdferne 

Juni  5 Oh 

Erdnähe 

Juli 

II 

17b  i 

Erdferne 

Aug. 

26 

17  h 

Erdnähe 

i-  i 

Erdferne 

30 

9 

Erdniiho 

Sept. 

9 

8 

Erdferne 

Juli  2 18 

Erdnähe 

Aug. 

11 

22 

Erdferne 

Sept. 

22  1!) 

c)  Auf-  und  Untergänge  für  Berlin. 


Tag 

Aufgang 

far 

Untergang 

Berlin 

Tag 

Aufgang  l'nttrgang 
far  Berlin 

Tag 

AU! 

fgang  ! Untergang 
far  Berlin 

Ja»i  1 

10h  40m 

19h 47m 

J.li 

11 

15b  23m 

Gh  25m 

Atg.  20 

3h  40m 

12»  30m 

6 

12 

59 

— 

— 

16 

21 

38 

9 

58 

25 

G 

48 

17  22 

11 

15 

11 

5 

28 

21 

2 

39 

12 

23 

30 

8 

45 

22  40 

16 

20 

0 

10 

16 

26 

7 

15 

16 

25 

Sfjt.  4 

11 

50 

2 51 

21 

1 

9 

12 

48 

31 

9 

31 

21 

38 

9 

18 

5 

6 23 

26 

6 

57 

15 

46 

Aog. 

5 

11 

40 

1 

56 

14 

— 

— 1 

9 1 

Juli  1 

10 

16 

20 

40 

10 

IG 

29 

6 

43 

19 

3 

53  | 

13  12 

6 

12 

12 

0 

55 

15 

2.3 

12 

9 

25 

24 

6 

4 

18  25 

11 

15 

23 

G 

25 

20 

3 

40 

12 

30 

29 

8 

IG 

23  43 

9)  Sonne. 


Sternzeit  f.  den  Zeitgleichung  Aufgang  Untergang 
. onn  ag  mitil.  Berl.  Mittag1)  raittl.  — wahre  Z.  für  Berlin 


Mai 

29 

4» 

26« 

11.0  • 



2 na 

51.3» 

3» 

55® 

8» 

12m 

Juni 

5 

4 

53 

46.9 

— 

1 

48.5 

3 

49 

1 8 

20 

1*2 

5 

21 

22.8 

— 

0 

28.6 

,3 

45 

1 8 

26 

19 

5 

48 

58.7 

+ 

1 

0.S 

3 

44 

8 

29 

26 

G 

16 

34.6 

+ 

2 

.30.8 

3 

46 

8 

30 

Juli 

3 

G 

44 

10.5 

+ 

3 

53.9 

3 

50 

8 

29 

10 

7 

11 

4G.4 

+ 

5 

3.5 

s 

57 

8 

25 

17 

7 

39 

22.3 

+ 

5 

.53.1 

4 

5 

8 

18 

24 

8 

6 

58.2 

+ 

6 

16.6 

4 

15 

8 

9 

31 

8 

31 

34.0 

+ 

G 

11.2 

4 

25 

7 

58 

August 

7 

9 

2 

9.9 

+ 

5 

36.8 

4 

36 

7 

46 

14 

9 

29 

45.K 

-f 

4 

34.3 

4 

47 

7 

32 

21 

9 

57 

21.7 

3 

4.9 

4 

59 

7 

18 

28 

10 

24 

57.5 

+ 

1 

122 

5 

11 

: 7 

2 

Sept. 

4 

10 

52 

33.4 

— 

0 

58.0 

5 

22 

6 

46 

11 

11 

20 

9.3 

3 

19.6 

5 

34 

6 

30 

IS 

11 

47 

45.1 

— 

5 

47.2 

5 

46 

6 

13 

25 

12 

15 

21.0 

— 

8 

14.6 

5 

58 

5 

57 

Okt. 

2 

12 

42 

5G.9 

| — 

10 

33.9 

6 

9 

, 5 

40 

>)  Im  mittl.  Berliner  Mittag  zeigt  eine  nach  M.  E.Z.  gehende  Uhr  01*  6m  25.2 •• 


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Dr.  B.  Donath:  Die  Einrichtungen  zur  Erzeugung  der  Röntgenstrahlen 

2.  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Verlag  von  Reuther  und  Reicta- 
hard,  Berlin. 

Ein  Chirurg  ohne  Röntgeneinrichtung  ist  wie  ein  Truppenführer  ohne 
Fernrohr.  Man  kann  sich  in  vielen,  ja  vielleicht  in  den  meisten  Fällen  auch 
ohne  kUnstlicho  Hilfsmittel,  lediglich  mit  Hilfe  dessen  orientieren,  was  die 
natürlichen  Sinne  uns  sagen.  Aber  wenn  dies  auch  nur  in  einem  gewissen 
Prozentsatz  der  Fälle  unmöglich  ist,  so  macht  man  sich  durch  die  Nichtanwen- 
dung wirksamer  Hilfsmittel  einer  groben  Vernachlässigung  schuldig;  denn  im 
Kampfe  mit  feindlichen  Mächten  gilt  es,  alle  Vorteile  auszunutzen. 

Für  die  Uöntgenstrahlen  dürfte  diese  Erkenntnis  heutzutage  bei  der  Mehr- 
zahl der  Arzte  durchgedrungen  sein,  obwohl  noch  vor  wenigen  Jahren  bedeutende 
Mediziner  es  für  nötig  hielten,  in  den  Wein  des  Enthusiasmus  für  die  neue 
Entdeckung  das  Wasser  der  Skepsis  zu  giefsen.  Der  Erfolg  hat  in  diesem  Falle 
noch  mehr  als  bei  der  Telegraphie  ohne  Draht,  der  zweiten  praktisch  bedeuten- 
den physikalischen  Erfindung  des  letztem  Jahrzehnts,  den  Enthusiasten  Recht 
gegeben. 

Das  obengenannte  Buch  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  den  Arzt,  der  aut 
der  Universität  über  diese  Materie  entwedor  nicht  ausreichend  oder  überhaupt 
nicht  belehrt  worden  ist,  so  weit  mit  ihr  vertraut  zu  machen,  dafs  er  die  Er- 
scheinungen nicht  nur  versteht,  sondern  auch  mit  den  Apparaten  umzugehen 
lernt.  Ja,  man  kann  sagen,  dafs  die  so  überaus  einfache  und  anschauliche 
Darstellungsweise  des  Verfassers  das  Erlernen  einer  praktischen  Betätigung 
aus  einem  Buche  in  diesem  Falle  nicht  als  einen  leeren  Wahn  erscheinen  lafst. 

Die  Einleitung  ist  der  Besprechung  der  einfachsten  Gesetze  des  elek- 
trischen Stroms  gewidmet.  Der  darauf  folgende  Abschnitt  behandelt  die  ver- 
schiedenen Stromquellen  in  ihrer  Verwendbarkeit  für  RÖntgenzwecke.  Sodann 
werden  die  wichtigsten  Apparate,  die  Induktoren,  Unterbrecher  und  Röntgen- 
röhren besprochen,  sämtlich  Gegenstände,  die  heutzutage  nach  anderen  Grund- 
sätzen und  iu  anderen  Formen  hergestellt  werden  als  noch  vor  wenigen  Jahren 
Hierbei  bietet  sich  auch  Gelegenheit,  auf  die  verschiedenen  Arten  von  RÖnt- 
gonstrahlen  einzugehen.  Diese  wichtige  Unterscheidung,  die  zu  der  Auswahl 
der  für  deu  besonderen  Zweck  passenden  Strahlenart  führt,  wird  an  einer 
Tafel  mit  Proboaufnahraen  genauer  klar  gemacht,  wie  denn  überhaupt  das 
Buch  sehr  zahlreiche  (140)  Abbildungen  enthält 

Besondere  Aufmerksamkeit  hat  der  Verfasser  den  Mefsapparaten  zur 
Bestimmung  der  Lago  der  durchleuchteten  Gegenstände  gewidmet.  Der  letzte 
Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  der  Natur  der  Röntgenstrahlen  und  der  ihnen 
verwandten  Strahlenarten,  insbesondere  auch  der  Radiumstrahlen. 

Schon  diese  kurze  Inhaltsangabe  läfst  erkennen,  dafs  das  Buch  viel 
Neues  und  Brauchbares  bietet,  und  wir  wünschen  dieser  zweiten  Auflage  den- 
selben Erfolg,  den  die  erste  gehabt  hat.  Sp. 

Verlag:  Hermann  Paetel  1b  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  'Jronau'a  Buchdruckeref  in  Berlin  - Sehöneberg. 

F6r  die  Bedaelion  verantwortlich : Dr.  P.  Sch  wahn  in  Berlin. 
l'a berechtigtet  Nachdruck  aus  dam  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 

Oberaetionfsiecht  Vorbehalten. 


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Über  unsere  Schutzmittel  gegen  Blitzgefahr. 

Vortrag,  gehalten  in  der  Elektrotechnischen  Gesellschaft  zu  Leipzig. 

Von  Professor  Dr.  Pr.  Neesen  in  Berlin. 

q 

c , ) ti  bezug:  auf  die  Blitzschutzmafsregeln  sind  3 Klassen  der  sohützen- 
,0}  den  Gegenstände  zu  unterscheiden. 

™ 1.  Gebäudeblitzableiter; 

2.  Schwachstromblitzableiter; 

3.  Starkstromblitzableiter. 

Für  Ableiter  der  ersten  Gattung  ist  eine  direkte  Verbindung  der 
ganzen  Anlage  mit  der  Erde  möglich,  für  die  beiden  anderen  nicht. 
Starkstromblitzableiter  erfordern  ein  Mehr  als  die  Schwaohstrom- 
blitzableiter,  weil  bei  ihnen  die  Ableitung  der  Blitzentladung  zur  Erde 
einen  Kurzsohlufs  für  den  Starkstrom  herstellt,  für  dessen  selbsttätige 
Beseitigung  Sorge  zu  tragen  ist. 

Die  Anordnung  des  Ableiters  hängt  in  erster  Linie  mit  der  Beant- 
wortung der  Frage  zusammen,  was  der  Blitzableiter  soll.  Es  scheint 
die  Beantwortung  einfaoh  und  selbstverständlich,  nämlich  dahin:  er 
soll  vor  Blitzschäden  schützen.  Indessen  ist  es  für  die  Konstruktion 
von  Bedeutung,  zu  wissen,  wodurch  der  Blitzableiter  diesen  Schutz 
gewähren  kann.  Die  einen  vertreten  nun  die  Ansicht,  die  Aufgabe 
des  Ableiters  sei  im  wesentlichen  eine  vorbeugende,  insofern,  als  die 
Anlage  hauptsächlich  dazu  bestimmt  ist,  die  in  den  Wolken  ange- 
sammelten Elektrizitätsmengen  duroh  sogenannte  langsame  Entladung 
unschädlich  zu  machen,  bevor  ein  Blitzschlag  erfolgt  ist,  und  dafs 
nebenbei  noch  der  Ableiter  imstande  sein  müsse,  falls  er  dieso  Auf- 
gabe nicht  ganz  erfüllt,  den  Blitzschlag  selbst  aufzunehmen  und  so 
von  der  zu  schützenden  Anlage  fernzuhalten.  Die  anderen  betonen 
aussohliefslich  dio  letzte  Wirkung  und  sehen  die  langsame  Entladung 

Himmel  and  Erde.  1904.  XVI.  10.  i'S 


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434 


als  etwas  ganz  Nebensächliches  an.  Der  Entscheid  für  die  eine  oder 
andere  Ansicht  hat  nicht  allein  theoretisches  Interesse.  Ist  die  erste 
Ansicht  die  richtige,  so  kommt  es  darauf  an,  möglichst  viel  Spitzen 
zu  verwenden  und  diese  in  tadellosem  Zustand  zu  erhalten;  erkennt 
man  dagegen  der  zweiten  das  Übergewicht  zu,  so  fällt  die  Bedeutung 
der  Spitzen  fast  ganz  weg. 

Einen  schlagenden  Beweis,  dafs  die  Spitze  eine  äufserst  gering- 
fügige Holle  spielt,  gibt  folgende  Versuchsanordnung  mit  dem  Blitz- 
ableitermodell von  Chwolson  (Eig.  1). 

Die  in  den  Gewitterwolken  enthaltene  Elektrizitätsmenge  möge 
durch  die  Ladung  der  inneren  Belegung  einer  Leydener  Flasche  a darge- 
stellt werden,  der  dauernd  durch  eine  Elektrisiermaschine  Ladung  zuge- 
führt wird.  Diese  innere  Belegung  steht  mit  einem  Metallslab  in  Ver- 
bindung, auf  welohem  ein  längerer  Arm  b drehbar  angeordnet  ist,  dessen 
eines  Ende  eine  Schale  c trägt.  In  der  Nähe  der  Flasche  und  im  Be- 
reiche der  Schale  befindet  sich  ein  mit  hoher  Fangstange  und  daran 
angeschlossener  Erdleitung  geschütztes  Gebäude.  Stellt  man  nun  den 
Arm  so,  dafs  die  Schale  gerade  über  der  Spitze  der  Fangstange  d 
steht,  so  erfolgt  bei  anhaltender  Drehung  der  Elektrisiermaschine  keine 
Funkenentladung,  weil  tatsächlich  durch  langsame  Entladung  von  der 
Spitze  aus  die  Schale  sofort  entladen  wird.  Wird  indessen  der  Arm,  an 
welchem  die  Schale  sitzt,  von  der  Spitze  entfernt  und  dann  mit  einem 
kleinen  Stofs  nach  dieser  hinbewegt,  so  tritt  stets  eine  Funkenentladung 
auf.  Man  braucht  gar  nicht  einen  besonderen  Stofs  auszuüben,  schon 
die  Anziehung  zwischen  der  Ladung  auf  der  Schale  und  der  influen- 
zierten  Ladung  der  Spitze  genügt,  die  Bewegung  hervorzurufen,  welche 
die  stille,  funkenlose  Entladung  unmöglich  macht.  Wenn  nun  sohon 
so  kleine  Ladungen,  wie  die  einer  Leydener  Flasche,  in  der  Zeit,  während 
welcher  sioh  die  Schale  nähert,  nicht  entladen  werden  können,  so  kann 
das  sicher  nicht  für  die  ungeheuer  viel  gröfseren  elektrischen  Ladungen 
der  Atmosphäre  der  Fall  sein.  Hierzu  gehören  aber  und  aber  Millionen 
Ausströmungsstellen,  wie  solche  vielleicht  in  Blättern  und  Zweigen 
eines  Waldes  gegeben  sind.  Aber  auch  aus  einem  Walde  holt  sich 
der  Blitzschlag  noch  oft  genug  einen  einzelnen  Baum  heraus. 

Es  kommt  somit  auf  die  Beschaffenheit  der  Spitze  nioht  an,  da 
der  Blitzableiter  auch  ohne  scharfe  Spitze  die  Aufgabe  löst,  die  Ent- 
ladung von  den  anderen  Gebäudeteilen  ab  und  auf  sich  zu  lenken. 
In  richtiger  Würdigung  dieses  Umstandes  werden  von  einsichtigen 
Blitzableiter-Fabrikanten  die  früher  so  beliebten  Spitzenkonstruktionen 
aus  Platin,  Kohle  u.s.f.  beiseite  gelassen. 


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433 


Qebüudeblitzableiter. 

Um  die  Gründe  der  Anordnung  für  die  Gebiiudeblitzableiter  zu 
übersehen,  ist  es  nötig,  sich  klar  zu  machen,  was  bei  dem  Herannahen 
einer  elektrisch  geladenen  Wolke  geschieht. 

Alle  Gegenstände  auf  der  Erdoberfläche  laden  sich  entgegen- 
gesetzt wie  diese  Wolke,  besonders  stark  diejenigen,  in  welchen  sich 
die  influenzierte  Elektrizität  ohne  grofse  Verzögerung,  ohne  Wider- 
stand bewegen  kann,  also  die  Leiter.  Wenn  sich  ein  Spannungsunter- 
schied zwischen  Wolke  und  den  einzelnen  Teilen  der  Erdoberfläche  aus- 


Fig.  1. 


bildet,  so  wird  dieser  unter  gleichen  Verhältnissen  gröfser  sein  zwischen 
der  Wolke  und  gut  leitenden  Metallteilen,  vorausgesetzt,  dafs  letztere 
eine  solche  Ausdehnung  haben,  dafs  die  influenzierte,  mit  der  Wolken- 
elektrizität gleichwertige  Elektrizität  nach  entfernteren  Stellen  abfliefsen 
kann.  Nach  solchen  Metallteilen  ist  daher  zunächst  die  Tendenz  der 
Blitzentladung  hin  gerichtet.  Aus  diesem  Grunde  ordnet  man  auf  dem 
Dache  des  Gebäudes  Metallteile  — die  Fangvorrichtungen  — an, 
welche  die  Entladung  auf  sich  ziehen  sollen.  In  der  Ausbildung  dieser 
Fangvorrichtung  tritt  nun  wieder  ein  scharfer  Unterschied  auf,  und  zwar 
unterscheidet  man  eine  ältere,  welche  auf  Vorschlägen,  die  von  Gay 
Lussao  durchgearbeitet  sind,  beruht  und  eine  neuere,  die  sich  an  die 
Erwägungen  des  Belgiers  Melsens  anschliefst.  Die  erstere,  welche  eine 

28* 


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> 


436 

leichtere  Schablone  für  die  Errichtung  von  Blitzableitern  liefert,  gründet 
sich  auf  die  Annahme,  dafs  durch  Anordnung  einer  aufrechten  Metall- 
stange alles,  was  in  einem  gewissen  Kegel  liegt,  dessen  Höbe  diese 
Stange  ist,  vor  Blitzoinschlag  geschützt  sei.  Der  Kegel  wurde  danach 
berechnet,  dafs  jeder  Teil  des  Gebäudes  bei  allen  möglichen  Wolkenlagen 
weiter  von  der  letzteren  entfernt  sein  mufs  als  die  Spitze  der  Fang- 
stange. Viele  traurige  Erfahrungen  haben  gezeigt,  dafs  auf  diese  Hegel 
vom  Schutzkreis  kein  Verlafs  ist  Man  bat  sich  genötigt  gesehen,  den 
Kegel  immer  mehr  einzuschränken,  etwa  darauf,  dars  geschützt  ist,  was 
in  einem  Kegel  liegt,  dessen  Basisradius  das  1 '/j  faohe  der  Höhe  der 
Stange  über  dieser  Basis  ist  Diese  Rogel  wird  von  einer  Zahl  von 
Fabrikanten  beibehalten,  zum  Teil  gewifs,  weil  dieselbe  einen  leichteren 
übersichtlichen  Plan  für  die  Anordnung  der  Stangen  erlaubt 

Der  geringfügige  Unterschied  in  der  geometrischen  Entfernung 
von  Wolke  zum  Gebäudeteil,  geringfügig  im  Vergleich  zu  der  mit 
mehreren  Kilometern  zu  berechnenden  Länge  des  Blitzfunkens,  kann 
aber  diese  Art  der  Schutzberechnung  nicht  rechtfertigen.  Wir  sehen 
schon  bei  unseren  Funkenversuchen  auf  Entfernungen  von  wenigen 
Dezimetern,  dafs  der  Funke  nioht  eine  gerade  Bahn,  nicht  die  kürzeste 
Entfernung  aufsucht.  Er  zeigt  stets  die  eckige  Gestalt,  welche  auch 
dem  Blitze  charakteristisch  ist.  Eine  Menge  anderer  Erscheinungen 
spielen  mit,  welche  auf  den  Blitzgang  Einflurs  haben,  vor  allem  Be- 
wegungen der  Luft,  Bewegungen  der  Ladungen  auf  den  Teilen  des  Ge- 
bäudes, welche  zur  Bildung  von  gefährlichen  Schwingungsknoten 
führen  können.  Denn  es  ist  immer  zu  bedenken,  dafs  man  nicht  mit 
Gleichgewichtszuständen  zu  tun  hat,  sondern  bei  der  raschen  Wolken- 
bewegung mit  Strömungen. 

Daher  war  es  ein  glücklicher  Gedanke  von  Melsens,  für  die 
Anordnung  der  Auffangstangen  den  Grundsatz  aufzustellen,  dafs  an 
Stelle  der  nach  der  Regel  des  Schutzkreises  berechneten  hohen  Fang- 
stangen kleine  Fangstangen  an  alle,  besonders  exponierten  Stellen, 
wie  Schornsteine,  Ventilationsaufsätze,  gesetzt  werden  müfsten,  dafs 
ferner  auch  die  die  Fangstangen  verbindende  metallische  Leitung  als 
Auffangevorrichtung  diene,  welche  die  Dachfirste  zu  bedecken  und  zu 
schützen  hätte.  Die  Leitung  auf  dem  Dache  wird  allerdings  ver- 
wickelter, dafür  aber  spart  man  die  Kosten,  welche  die  Montierung 
hoher  Stangen  verursachen.  Zu  beachten  ist  weiter,  dafs  das  Aus- 
sehen des  Gebäudes  ohne  die  hohen  Stangen  ein  gefälligeres  ist. 

Mit  einer  guten  Auffangvorrichtung  allein  ist  es  nicht  getan. 
Wäre  sie  allein  vorhanden,  so  würden  wir  das  haben,  was  uns  die 


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437 


Blitzröhre  zeigt.  Der  eigentliche  Blitz  ginge  allerdings  zu  einer  Fang- 
stange oder  Firstleitung  über.  Von  den  Enden  derselben  würden  aber 
Funken  zu  benachbarten  Leitern  eventuell  zum  Erdboden  überschlagen 
können.  Denn  die  bei  dem  Inlluenzvorgang  von  der  Wolkenelektrizität 
abgestofsene  gleichnamige  Elektrizität  ruft  ja  auch  Spannungsunter- 
schiede  hervor.  Man  erhält  so  sekundäre  Schläge.  Es  mute  daher  jeder 
auf  der  Firstleitung  angesammelten  Ladung  ein  rascher  Abflufs  in  ein 
so  grofses  Reservoir  ermöglicht  werden,  dafs  die  Spannungen  minimal 
werden.  Ein  solches  Reservoir  bildet  die  Erde;  daher  wird  die  First- 
leitung durch  metallische  Leiter  längs  der  Gebäudewände  verbunden 
mit  besonderen  Leitungen,  die  den  Zweck  haben,  die  Verteilung  der 
angesammelten  Ladung  in  die  Erde  zu  bewirken,  die  sogenannten 
Erdleitungen.  Bei  Bemessung  dieser  und  der  Ableitungen  ist  zu 
beachten,  dafs  in  jedem  Leiter  der  Abflufs  von  Ladungen  eine  gewisse 
Zeit  braucht  und  dafs  sich  während  dieser  Zeit  Spannungen  auf  dem 
Leiter  gegen  benachbarte  Orte  ausbilden  können.  Diese  geben  dann 
wieder  Veranlassung  zu  sekundären  Schlägen.  Daher  ist  die  Öffnung 
mehrerer  Kanäle,  also  mehrerer  Ableitungen  und  Erdleitungen  nötig. 
Wieviel,  das  läfst  sich  allgemein  schwer  beantworten.  Hier  mufs 
ein  gewisses  Verständnis,  ein  gewisses  Gefühl  die  Richtschnur  bilden. 
Als  rohe  Schätzung  wäre  etwa  auf  je  100  qm  Fläche  eine  Ableitung 
und  Erdleitung  zu  rechnen.  Die  Vervielfältigung  der  Ableitungen 
gewährt  auch  den  von  Melsens  stark  betonten  Vorteil,  dafs  dadurch 
die  inneren  Teile  des  Gebäudes  mehr  vor  Ausbildung  elektrischer 
Spannungen  geschützt  werden,  da  der  Ableiter  eine  Art  von  Faraday- 
schein  Käfig  bildet. 

Für  die  Erdleitung  kommen  mannigfache  Konstruktionen  in  Be- 
tracht; am  häufigsten  und  zweckmäßigsten  sind  in  das  Grundwasser 
versenkte  Platten  aus  Kupfer  oder  verzinktem  Eisen,  oder  Gasrohre, 
die  in  das  Grundwasser  getrieben  sind.  Manchmal  ist  das  Grund- 
wasser  aber  so  schwierig  zu  erreichen,  dafs  man  sich  anderer  Mittel 
bedienen  mufs.  Es  empfehlen  sich  dann  strahlenförmig  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  von  den  Enden  der  Ableitung  auslaufende 
Drähte  von  etwa  10  m Länge,  die  dicht  unter  der  Oberfläche  des 
Bodens  zu  verlegen  sind,  etwa  dorthin,  wo  mau  am  häufigsten  noch 
Feuchtigkeit  erwarten  kann,  insbesondere  unter  Grasboden.  Auch 
schmale  Gräben  mit  Füllung  von  Kufskoks  haben  sich  bewährt,  in 
die  ein  Bleiband,  das  an  den  Ableiter  angeschlossen  ist,  eingelegt  ist 

Wie  widersinnig  oft  Anlagen  ausfallen,  die  nach  einem  Schema 
angelegt  werden,  zeigt  die  Ableitung  des  Blitzableiters  auf  einer  Alpen- 


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438 


Schutzhülle.  Um  der  Forderung  nach  Verbindung  mit  dem  Grund- 
wasser zu  genügen,  hatte  man  eine  Leitung  mehrere  Kilometer  lang 
bis  zur  nächsten  Quelle  geführt. 

An  Stelle  der  besonderen  Erdleitungen  kann  und  mufs  wenigstens 
zum  Teil  eine  Verbindung  mit  Gas-  oder  Wasserleitungsrohren  aus 
Metall  treten.  Diese  bilden  eine  so  günstige  Verteilung,  wie  solche 
künstlich  gar  nicht  zu  erreichen  ist.  Man  sollte  aber,  da  diese  Lei- 
tungen abgeschnitten  sein  können,  immer  eine  besondere  Erdleitung 
anordnon. 

Einen  vollständigen  Faradayschen  Käfig  können  wir  im  allgemeinen 
nicht  erreichen,  daher  werden  auch  nach  den  inneren  Teilen  des  Ge- 
bäudes hin  Spannungen  eintreten,  namentlich  nach  denjenigen,  welche 
selbst  eine  grofse  leitende  Fläche  haben,  wie  Gas-  und  Wasserleitungen. 
Heizungsrohre  und  Leitungen,  die  auf  dem  Boden  eines  Gebäudes 
verlaufen,  sollte  man  immer  anschliefsen;  ob  auch  in  den  Fällen,  wo 
diese  Leitungen  nicht  bis  in  das  obere  Geschofs  hineinreichen,  das  ist 
wieder  eine  Frage  des  elektrotechnischen  Taktgefühles.  Sind  die  Lei- 
tungen etwa  10  m unter  der  Blitzabloiterleitung,  dann  dürfte  der  An- 
schlufs  bei  sonst  vortrefflicher  Ableitung  nicht  nötig  sein.  Beachten 
mufs  man  hierbei  auch  die  Lago  der  Ableitungen  zu  den  Wasser- 
leitungsrohren. Nähern  sich  diese  auf  wenige  Meter  und  ist  auf  dem 
Boden  noch  kein  Anschlufs,  so  mufs  derselbe  nach  einer  solchen  An- 
näherungsstelle zu  geschehen. 

Eine  wesentliche  Verminderung  der  Kosten  einer  Blitzableiter- 
anlage, verbunden  mit  einer  Verbesserung,  kann  dadurch  erzielt  werden' 
dafs  gleich  mit  Bau  des  Gebäudes  der  Ableiter  angelegt  und  die 
metallenen  Konstruktionsteilo  des  Baus  als  Teile  jenes  verwandt  werden. 
Die  metallenen  Firstbedeokungen,  die  Traufrinnen,  Metalldächer,  auch 
die  nach  unten  führenden  Traufrühren  eignen  sich  sehr  gut  dazu,  als 
Ersatz  für  besondere  Firstableitung  zu  dienen.  Man  mufs  nur 
in  dieser  Verbilligung  nicht  zu  weit  gehen.  Es  sind  auch  für  Ge- 
bäude, bei  denen  die  gröfste  Sicherheit  vor  Blitzgefahr  angezeigt  war, 
solche  metallenen  Teile  des  Gebäudes  in  die  Ableitung  eingezogen 
worden,  ohne  dafs  die  einzelnen  Teile  unter  sich  gute  Berührung 
hatten.  Die  Berechtigung  wird  in  der  Erwägung  gesucht,  dafs  die 
starken  Spannungen  der  bei  Blitzentladung  in  Frage  kommenden 
Elektrizitätsmengen  die  kleinen  Lücken,  welche  zwischen  dem  Ab- 
fallrohr bestehen,  mit  Leichtigkeit  überspringen.  Das  ist  gewifs  richtig. 
Aber  erstens  können  auch  die  dabei  notwendigerweise  auftretenden 
kleinen  Funken  Brand  erzeugen,  wrofür  ein  Beispiel  vorliegt,  und  dann 


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439 


bringen  diese  Funken  eine  Verzögerung  der  Entladung  und  Schwin- 
gungen der  Ladungen  mit  sich.  Diese  beiden  Umstände  führen  aber 
zu  der  Gefahr  von  Seitenentladungen.  Bei  erstklassigen  Ableitern 
soll  man  alle  solche  Umstände  vermeiden,  durch  welche  die  Wirk- 
samkeit des  Blitzableiters  etwa  abgeschwächt  werden  kann.  Will 
man  dagegen  sich  mit  einem  geringeren  Grade  von  Sohutzwahr- 
scheinlichkeit  begnügen,  also  nur  einen  zweitklassigen  Ableiter  haben, 


Es  hat  vollkommene  Berechtigung,  von  Blitzableitern  mit  ver- 
schiedenem Grade  von  Schutz  zu  sprechen.  Auch  der  weniger 
vollkommene  Ableiter  gibt  noch  besseren  Schutz  wie  gar 
keiner.  Ein  vielfach  gehörtes  Schlagwort  sagt  allerdings  anders:  lieber 
gar  keinen  Ableiter,  wie  einen  unvollkommenen,  denn  der  Blitzab- 
leiter vergröfsert  an  sich  die  Blitzgefahr.  Hierfür  liegt,  von  ganz 
besonders  gestalteten  Ausnahmefällen  abgesehen,  aber  gar  kein  Grund 
vor.  Beim  Herannahen  der  Wolke  wird  nicht  allein  der  Ableiter, 


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440 


sondern  das  ganze  Gebäude  und  die  Oberfläche  der  Erde  geladen;  das 
Ladungevermögen  der  letzteren  wird  stets  außerordentlich  grofs  gegen- 
über dem  des  Gebäudes  sein,  und  dieses  Verhältnis  erfährt  durch  die 
geringe  Metalloberfläche  des  Ableiters  keine  Änderung.  Das  Gebäude 
bietet  aber  für  sich  schon  stärkere  Entladungspunkte  wie  der  um- 
gebende Erdboden,  daher  wird  auch  ohne  Ableiter  der  Blitzschlag 
nach  ihm  hingeriohtet  sein,  wenn  er  den  Ableiter  trifft. 

Gewisse  Gebäudeanlagen  erfordern  eine  ganz  besonders  sorg- 
fältige Schutzvorrichtung  wegen  der  außerordentlichen  Gefahr,  welche 
bei  ihnen  mit  einem  zündenden  Schlag  verbunden  ist,  so  Petroleum- 
tanks, Pulver-  und  vor  allem  Sprengstofffabriken.  Eine  Reihe  von 
Explosionen  infolge  von  Blitzschlag  haben  die  Frage  des  Schutzes 
solcher  Anlagen  wieder  lebhafter  in  Fluß  gebracht.  Der  Berliner 


elektrotechnische  Verein  beschäftigt  sich  augenblicklich  eifrig  damit 
und  kann  hoffentlich  bald  mit  Vorschlägen  hervortreten. 

Bei  den  Petroleumtanks  liegt  die  Gefahr  vor,  daß  die  dicht  über 
jedem  Tank  lagernden  Petroleumdämpfe  durch  den  einschlagenden 
Blitz  entzündet  werden.  An  und  für  sich  brauohte  ohne  diese  Ge- 
fahr der  Tank,  welcher  ja  stets  von  Metall  ist,  gar  keinen  Ableiter, 
sondern  müßte  nur  eine  Erdleitung  erhalten.  Wegen  der  erwähnten 
Dämpfe  ist  es  jedoch  angebracht,  über  den  Tank  und  zwar  in  ziem- 
licher Höhe  über  demselben  ein  engmaschiges  Drahtnetz  auszuspannen, 
welches  eine  gute  Ableitung  zur  Erde  hat.  Ein  Blitzschlag  trifft  dann 
nicht  mehr  die  starke  dampfhaltige  Schicht  direkt  über  dem  Tank. 
Ferner  sollten  die  Mannlöcher  stets  durch  selbsttätig  sich  schließende 
Davysche  Sicherheitsgitter  geschützt  werden. 

Solche  äußere,  von  dem  Gebäude  entfernte  netzartige  Blitzableiter 
werden  z.  B.  auch  bei  der  Anlage  der  Sprengstofffabrik  in  Kremmel 
verwandt,  von  denen  Fig.  2 und  3 ein  Bild  geben,  ln  1 m Entfernung 
über  der  zu  schützenden  Hütte  h sind  Längs-  und  Querdrähte  in  Ab- 


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441 


ständen  von  1 m gespannt  Eiserne  Stangen  auf  der  Krone  des 
einschliefsenden  Walles  bilden  die  Stützpunkte  dieses  Netzes.  Von 
den  Stangen  gehen  die  Erdleitungen  weiter.  Wie  Fig.  3 zeigt,  sind 
an  den  Spitzen  dieser  Stangen  noch  verzweigte  Molsensohe  Fangarme 
angebracht  wohl  unnötiger  Weise. 

Oie  Hütte  hat  dann  noch  einen  zweiten  Schutz  durch  ein  zweites 
weitmaschigeres  Drahtnetz,  wie  solches  auch  auf  Pulvermagazinen  Ver- 
wendung findet. 

Schwachstromblitzableiter. 

Für  die  elektrischen  Anlagen  kommen  zu  der  Gefahr  eines 
Blitzsohlages  in  das  Betriebsgebäude  hinzu  die  Gefahren,  welche  die 
Leitungen  mit  sich  bringen.  Letztere  werden  sich  mit  der  atmo- 
sphärischen Elektrizität  bald  stärker,  bald  schwächer  laden.  Diesen 
wechselnden  Ladungen  entsprechend  ent- 
stehen Strömungen  in  ihnen.  Im  Falle  eines 
Blitzschlages  in  die  Ladung  müssen  diese 
Strömungen  besonders  starke  Werte  anneh- 
men. Die  an  die  Leitung  angeschlossenen 
Apparate  sind  der  Gefahr  dieser  Strömungen 
ausgesetzt,  welohe  auch  ohne  eigentlichen 
Blitzschlag  in  die  Leitung  verderblich  für  die 
Apparate  und  die  in  der  Nähe  befindlichen 
Menschen  sein  können. 

Bei  dem  Aufsuchen  einer  Schutzvorrichtung  hiergegen  ist  es  gut, 
daran  zu  denken,  dafs  diese  Strömungen  im  allgemeinen  nicht  nach 
Art  eines  konstanten  galvanischen  Stroms,  sondern  in  der  Art  von 
Stromstöfsen  verlaufen,  oder  auch  von  elektrischen  Schwingungen, 
welche  sich  auf  dem  Leiter  ausbilden  müssen,  auch  ohne  dafs  in  den 
eigentlichen  Blitzfunken  Ladungen  hin-  und  herschwingen,  wie  viel- 
fach behauptet  ist,  wofür  sich  aber  noch  gar  kein  Beweis  ergeben  hat. 

Abgesehen  von  der  Abschaltung  der  Apparate  von  der  Leitung 
bei  herannahender  Gewittergefahr  hat  man  auf  zwei  Wegen  versucht, 
die  Beschädigungen  zu  vermeiden. 

Die  erste  Klasse  von  Ableitern  basiert  darauf,  selbsttätig  die 
Verbindung  zwischen  Apparaten  und  Leitung  bei  zu  starkem  Strom 
zu  unterbrechen.  Die  zweite  Klasse  sucht  der  Blitzentladung  einen 
Nebenweg  zu  öffnen,  welcher  für  den  gewöhnlichen  Nutzstrom  nicht 
passierbar  ist. 

Zu  der  ersten  Klasse  gehören  vor  allem  die  Schmelzsicherungen, 


Fig.  4. 


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442 


bei  denen  durch  eine  durch  zu  starken  Strom  hervorgerufene  unzu- 
lässige Erwärmung  ein  leicht  schmelzbarer  Metallstreifen  aus  der  Leitung 
herausschmilzt.  Als  Beispiel  sei  eine  bei  Telephonämtern  vielfach 
verwandte  Anordnung  herausgegriffen,  die  sogenannte  Patronen- 
sicherung (Fig.  4).  In  einer  Glasröhre  g sind  Spiraldrähte  befestigt, 
zwischen  welchen  ein  Stück  d aus  leicht  flüssigem  Lot  eingeklemmt 
ist.  IJio  Glasröhre  wird  zwischen  2 federnde  Drähte  f ,,  f,  gebracht, 
von  welchen  der  eine  mit  der  Leitung,  der  andere  mit  dem  Apparat 
in  Verbindung  steht.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  die  Schutzvorrich- 
tungen die  Apparate  vor  eigentlichem  Blitzschlag  nicht  schützen 
können,  denn  hier  wachsen  die  Spannungen  längs  der  Linie  und  den 
damit  verbundenen  Apparaten  so  plötzlich,  dafs  die  Apparate  denselben 
ausgesetzt  sind,  ehe  sie  durch  das  Schmelzen  der  Legierung  abge- 
schaltet werden.  Diese  Sicherungen  können  daher  nur  bei  den  durch 
Wechsel  der  Ladungen  in  der  Atmosphäre  hervorgerufenen  langsam 
verlaufenden  Strömungen  von  geringer  Stärke  in  Betraoht  kommen 
oder  als  Ergänzung  zu  der  zweiten  Klasse  der  Ableiter. 

Der  Zweck  dieser  ist,  der  Blitzentladung  einen  für  den  gewöhn- 
lichen Strom  verschlossenen  Nebenweg  zu  schaffen,  wozu  man  einen 
Nebenweg  zur  Erde  mit  Einschaltung  einer  Funkenstreoke  anbringt. 
Letztere  läfst  die  stark  gespannte  Blitzentladung  durch,  aber  nicht  den 
Nutzstrom  der  Leitung.  Zu  diesem  Behufs  wird  einem  in  der  Leitung 
vor  dem  Apparate  liegenden  Metallstücke  in  geringer  Entfernung,  etwa 
1 mm,  ein  anderes  gegenübergestellt,  welches  zur  Erde  abgeleitet  ist. 
Die  Gestalt  dieser  Metallplatte  ist  mannigfaltig,  z.  B.  Spitze  oder  Platte 
oder  auch  beides  vereinigt,  und  einfacher  Drahtleiter.  Die  Verwen- 
dung von  gegenüberstehenden  Spitzen  oder  Sohneiden  beruht  auf  der 
Erwägung,  dafs  die  Spitzenform  die  Entladung  begünstigt.  Das  ist  aber 
durchaus  nicht  immer  der  Fall,  nur  dann,  wenn  die  Spitze  zu  posi- 
tiver Elektrode  gemacht  wird.  Aber  auch  dann  ist  zu  beachten,  dafs 
bei  Entladung  so  gewaltiger  Mengen,  wie  solche  beim  Blitzschlag  auf- 
treten,  die  kleine  Spitze  überhaupt  nicht  mehr  als  Ausgangspunkt  der 
Entladung  genommen  werden  kann,  sondern  die  ganze  Metallfläche; 
daher  ist  den  Plattenblitzableitern  der  Vorzug  zu  geben. 

Um  den  Übelständen  aus  dem  Wege  zu  gehen,  welche  abge- 
schmolzene Metallteile  bei  den  Plattonableitern  durch  KurzBchlufs  be- 
dingen, wird  mit  Vorteil  an  Stelle  des  Metalles  Kohle  als  Material 
verwandt  Selbstverständlich  mufs  dieselbe  vorzüglich  sein,  darf  nicht 
abbröckeln. 

Weitere  Blitzableiter  enthalten  drahtförmige  Ableiter,  und  stellen 


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443 


sich  somit  als  Umgebung  der  Leitung  selbst  mit  der  zur  Krde  abge- 
leiteten Elektrode  dar  (Fig.  6).  So  wird  mit  Vorteil  bei  unterseeischen 
Kabeln  der  Ableiter  von  Sannders  verwandt.  Mit  der  Linienleitung  L, 
ist  ein  Draht  s verbunden,  weloher  sich  in  einem  zur  Erde  abgeleiteten 
Metallzylinder  8],  m a2  befindet.  Von  den  Enden  des  letzteren  reichen 
noch  querstehende  Spitzen  bis  dicht  an  den  Draht  heran.  An  den 
anderen  Enden  steht  s durch  d in  Verbindung  mit  den  Telegraphen- 
apparaten L2.  Eine  an  dem 

Ende  des  Drahtes  d ange-  

L|  / 

brachte  Unterbrechungsvor-  r 

richtung  d bewirkt,  dafs  bei  V,  •|j m »i  r 

zu  starker  Erwärmung  des  ' *TK,1 -i  ' — i.  i~ * ~]  t» 

Drahtes  durch  Schmelzen  — K 

eines  Lotes  eine  Abschal-  ° © "\ 

\ Erde 

tung  der  Linie  von  den  Erd» 

Apparaten  erfolgt.  Fig.  5. 

Umgekehrt  ist  bei  dem 

Spiralblitzableiter  der  Telephonämter  ein  dünner  Draht  isoliert  um 
einen  zur  Erde  abgeleiteten  Kern  gewickelt.  Bei  einer  starken  atmo- 
sphärischen Entladung  tritt  Übergang  der 
Ladung  zum  Kern  und  gleichzeitig  durch 
Schmelzen  des  Drahtes  Kurzschlufs  zur  VI!  • 

Erde,  also  Verbindung  der  Leitung  mit  "mm  - f, 
der  Erde  ein,  so  dafs  die  Entladung  der  fl  : 

Linie  nicht  mehr  durch  den  Apparat,  son-  * 

dem  direkt  nach  der  Erde  erfolgt.  w.  -i 

Solche  Blitzableiter  werden  in  den  ;j 

Ämtern  vor  den  Apparaten  und  an  vor-  I; 

6Chiedenen  Leitungsstangen  eingeschaltet. 

In  dem  letzten  Falle  geschieht  die  Ver- 
bindung mit  der  zu  schützenden  Leitung 
indessen  in  einer  Art,  welche  Bedenken  Fig.  6. 

erweckt.  Diese  Bedenken  richten  sich 


auch  in  gleicher  Weise  gegen  die  gobräuohliche  Einschaltung  der  nach- 
her zu  besprechenden  Starkstromblitzableiter. 

Die  Platten  der  Stangenblitzableiter  bilden  nämlich  keinen  Teil 
der  Leitung,  sondern  sind  in  Xebenschlurs  an  dieBe  angeschaltet,  wie 
Fig.  6 zeigt.  Von  der  Linienleitung  a zweigt  ein  Draht  b zu  der  einen 
Platte  eines  Plattenblitzableiters  ab,  dessen  andere  über  V zur  Erde 
abgeleitete  Platte  der  Versohlufsdeckel  D ist  Die  Schutzhülle  G be- 


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444 


steht  aus  Porzellan,  um  das  Eindringen  von  Feuchtigkeit  zwischen 
den  beiden  Platten  zu  verhindern.  Diese  Feuchtigkeit  würde  den 
Telegraphierstrom  zur  Erde  ableiten. 

In  dieser  Abzweigung  des  Blitzableiters  von  der  zu  schützenden 
Linienleitung  liegt  das  Fehlerhafte. 

Es  geht  das  aus  einem  Vergleich  mit  einer  Wasserströmung  her- 
vor, die  wenigstens  den  Hauptzügen  nach  ein  gutes  Bild  der  elek- 
trischen Strömung  gibt. 

Zweigt  von  einem  Hauptkanal  aa  (Fig.  7)  ein  Zweigkanal  b ab, 
so  wird  nach  dem  Eintritt  einer  stationären  Strömung  ein  Teil  der  Wasser- 
menge durch  b Abflufs  finden,  entsprechend  den  Querschnitten  und  Ge- 
fällen in  den  beiden  Kanälen  a und  b. 
Ganz  anders,  wenn  plötzlich  eine  Wasser- 
menge mit  grofser  Geschwindigkeit  in  den 
Kanal  a einfällt.  Der  Seitenkanal  nimmt 
von  dieser  zunächst  nur  wenig  auf.  Oder 
es  wird  der  ruhig  dahinfliefsende  Strom 
bei  der  Biegung  d in  dem  Flufsbette  c 
die  Dämme  bei  d nicht  verletzen.  Erfolgt 
indessen  ein  plötzlicher  Wassereinbruch, 
so  liegt  trotz  des  seitlichen  offenen  Fluß- 
bettes die  Gefahr  des  Dammbruchs  bei 
d vor. 

Gleiche  Verhältnisse  bestehen  bei  der 
Wirkung  der  Ableiter.  Liegen  dieselben  in  einer  Nebenschaltung,  so 
gelangt  nicht  die  ganze  Ladung  in  sie  hinein,  welche  die  Leitung  bei 
einem  plötzlichen  Stromstofs  aufzunehmen  hat. 

Liegt  aber  der  Ableiter  direkt  in  der  Leitung,  so  erfolgt  der  ge- 
wünschte Dammbruch,  die  Entladung  zur  Erde,  entsprechend  der  zu- 
letzt genannten  Analogie.  Daher  scheint  es  auch  richtiger  zu  sein,  die 
Plattenblitzableiter  an  Leitung  und  Apparat  zu  schalten,  wie  es  bei 
dem  Ableiter  nach  Fig.  8 geschieht.  Hier  trifft  der  Zuleitungsdraht 
senkrecht  auf  die  Platte  und  senkrecht  zu  der  letzteren,  aber  entgegen- 
gesetzt zum  ersteren  geht  die  Ableitung  zum  Apparat. 

Um  den  elektrischen  Dammdurchbruch  zur  Erde  zu  befördern, 
wird  der  Widerstand,  welchen  auch  die  elektrische  Strömung  einer 
solchen  Richtungsänderung  entgegensetzt,  benutzt,  indem  zwischen 
den  Blitzableiter  und  die  zu  schützenden  Apparate  spiralförmig  auf- 
gewundene Drähte  eingeschaltet  werden,  welche  die  Entladung  durch- 
kreisen muß,  ehe  sie  zu  den  Apparaten  kommt.  Man  nennt  die- 


b 


a a 


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445 


Belben  Selbstinduktionsspulen,  und  den  eigentümlichen  grofsen  Wider- 
stand, welchen  dieselben  plötzlichen  Entladungsstöfsen  entgegensetzen, 
den  Widerstand  der  Selbstinduktion.  Dieser  soheinbare  Widerstand 
rührt  in  Wirklichkeit  her  von  einer  elektromotorischen  Gegenkraft, 
welohe  in  den  Windungen  der  Spule  bei  solchen  plötzlioben  Störungen 
hervorgerufen  wird. 

Umgekehrt  mufs  in  dem  Ableiter  und  seiner  Verbindung  zur 
Erde  möglichst  wenig  Selbstinduktion,  also  möglichst  wenig  Krümmung 
vorhanden  sein. 

Aufser  dem  vorhergenannten  Fehler  bei  manchen  Blitzableiter- 
schaltungen tritt  noch  ein  anderer  auf,  der  fast  alle  Anlagen  trifft, 
auch  die  nachher  zu  besprechenden  Starkstromblitzableiter.  Auch  für 
diese  möge  auf  eine  Analogie  mit  der  Wasserströmung  hingewiesen 
werden.  Will  man  Wassermassen 
von  gefährdeten  Gebieten  ableiteD, 
so  sticht  man  oft  an  anderer  Stelle 
einen  Damm  durch.  Eine  kleine 
Öffnung  genügt  aber  nioht;  die- 
selbe mufs  entsprechend  grofs  ge- 
wählt werden.  Gerade  so  mufs 
die  Stelle,  von  welcher  der  Durch- 
bruch der  auf  der  Linie  ankommen- 
den  Ladung  zur  Erde  erfolgen  soll, 
eine  hinreichende  Ausdehnung  ha- 
ben; es  mufs,  um  den  technischen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  der  Blitz- 
ableiter hinreichende  Kapazität  besitzen.  Man  hat  es  bei  der  Blitzent- 
ladung nicht  mit  Ausgleich  von  Funken  von  enger  Begrenzung  zu 
tun,  sondern  mit  Funkenstrecken  von  Durchmessern  bis  zu  Metern. 
Da  dürfen  nicht  die  Entladungsverhältnisse  mit  unseren  Elektrisier- 
maschinen zugrunde  gelegt  werden. 

Starkstromableiter. 

Die  Starkstromableiter  haben  neben  der  Aufgabe,  die  Entladungen 
der  atmosphärischen  Elektrizität  abzufangen,  noch  die,  den  darauffol- 
genden Kurzschlufs  des  Starkstroms  solbst  aufzuheben.  Denn  wenn 
ein  starker  Funke  zwischen  der  Leitungsplatte  und  der  Erdplatte  eines 
Blitzableiters  überspringt,  wie  das  bei  der  Tätigkeit  des  letzteren  ge- 
schieht, bo  bildet  die  hierdurch  erwärmte  Luft  eine  Lücke  zwischen 
beiden  Platten,  auf  welcher  auch  die  gewöhnlichen  elektrischen  Span- 
nungen der  Betriebe  einen  Ausgleich  linden.  Der  Strom  wird  somit 
hierhin  abgelenkt.  Es  ist  für  den  Nutzstrom  Kurzschlufs  eingetreten. 


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446 


Für  den  genannten  Zweck  sind  eine  grofse  Zahl  von  Vorrich- 
tungen ersonnen,  die  von  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  aus- 
gehen. Über  die  Zweckmäfsigkeit  der  letzteren  kann  zunächst  nur 
die  Erfahrung  Aufschlufs  geben. 

Als  einfaches  Mittel,  deD  Kurzschlufs  zu  vermeiden,  wurde  die 
Vervielfältigung  der  Funkenzahl  im  Blitzableiter  genommen,  so  dafs 
die  Spannung  des  Nutzstromes  diese  Funkenstrecken  auch  naoh  Vor- 
bereitung derselben  durch  den  Blitzschlag  nicht  zu  überbriioken  ver- 
mag. Es  ist  das  bei  den  Plattenblitzableitern  durch  Aufeinander- 
schachtelung  mehrerer  Platten  geschehen,  zwischen  je  zwei  liegt  also 

eine  Funkenstrecke.  In  der  Praxis 
haben  sich  diese  Ableiter  nicht 
bewährt.  Wenn  auch  der  Kurz- 
schlufs  vermieden  wird,  so  war  der 
Ableiter  nicht  imstande,  die  auf  der 
Linie  sich  bildende  Spannung  ganz 
auszugleichen,  so  dafs  vielfach  die 
hinter  dem  Ableiter  liegenden  Ma- 
schinen und  Apparate  zerstört  sind. 

Eino  besser  wirkende  Abart  dieser 
bildet  der  Rollenblitzableiter  (Fig.  9), 
der  darauf  beruht,  dafs  ein  zwischen 
gewissen  Metallen,  z.  B.  Zink,  Alu- 
minium, überschlagender  Funke 
selbst  einen  so  hohen  Widerstand  auf  dieser  Strecke  schafft,  dafs  ein 
zweiter  Funke  sehr  viel  schwerer  übergeht.  Der  Grund  für  den  sich 
entwickelnden  Widerstand  ist  nooh  nicht  klargestellt.  Angenommen 
wird,  dafs  sich  ein  nichtleitender  Überzug  von  Aluminiumoxyd  bildet. 
Das  könnte  aber  nur  an  der  einen  Stelle  des  Funkenüberganges  sein, 
die  anderen  Stellen  müßten  dann  den  Durchgang  noch  gestatten. 

Es  werden  je  nach  den  Betriebsspannungen  mehrere  solcher  Rollen 
hintereinander  geschaltet.  Diese  Ableiter  scheinen  besonders  in 
Amerika  in  Gebrauch  zu  sein.  Auch  bei  uns  haben  sie  sich  in 
Wechselstromanlagen  bewährt,  in  Gleichstromanlagen  weniger. 

Sehr  ausgedehnte  Verbreitung  haben  zur  selbständigen  Aufhebung 
des  Kurzschlusses  die  elektromagnetischen  Funkenlöscher  gefunden. 
Ein  Teil  solcher  Apparate  beruht  darauf,  dafs  der  Kurzschlufs  durch 
eine  Drahtspule  mit  beweglichem  Eisenkern  geleitet  wird  und  durch 
die  Wirkung  der  letzteren  die  Platten,  zwischen  denen  der  Kurzschlufs- 
funken  sich  bildet,  so  weit  voneinander  entfernt  werden,  dafs  der 


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447 


Kurzschlufs  nicht  mehr  unterhalten  werden  kann.  (Siehe  Figur  10 
und  11).  Dabei  ist  es  vorteilhaft,  die  Platten  in  Öl  zu  legen,  wodurch 
die  Geschwindigkeit  des  Abreifsens  ganz  wesentlich  vergrüfsert  wird. 
Fig.  11  zeigt  in  d den  Ölbehälter.  Man  darf  hierbei  die  Drahtspule 
nicht  direkt  in  die  Leitung  legen,  weil  sonst  der  indukte  Widerstand, 
d.  i.  der  besondere  Widerstand  durch  Selbstinduktion,  s.  S.  445,  der 
Entladung  zur  Erde  hinderlich  sein  würde.  Es  müssen  die  Win- 
dungen an  eine  Abzweigung  gelegt  werden,  nach  Fig.  10,  damit  die 
Hauptentladung  zur  Erde  daran  Vorbeigehen  kann. 


t 


Diese  Art  der  Ableiter  hat  sich  in  der  Praxis  besser  als  die 
PlaUenblitzableiter  bewährt,  indessen  nur  für  niedrige  Spannungen  im 
elektrischen  Betriebe.  Sie  werden  allerdings  leicht  zerstört  So 
wurden  in  Rottenburg  im  vergangenen  Jahre  16  Stück  unbrauchbar, 
während  die  darauf  eingeführten  magnetischen  Funkenlöscher  der 
zweiten  Art  seither  keinen  Schaden  erlitten  haben. 

Diese  beruhen  auf  einer  direkten  Einwirkung  des  durch  den 
Kurzschlufs  erzeugten  magnetischen  Feldes  auf  die  Bahn  des  Kurz- 
schlufsfunkens.  Die  von  dem  Eisen  eines  Magnets  ausgehenden 
magnetischen  Kraftlinien  bewegen  den  Funken  genau  wie  jeden  an- 
deren Leiter.  Da  aber  die  Ansatzstellen  des  Funkens  an  den  Orten, 
wo  dieser  sich  bildet,  gegeben  sind,  so  mufs  die  Bewegung  mit  einer 
Verlängerung  des  Funkens  verbunden  sein,  wobei  schliefslich  der 
Funken  abreifsen  mufs,  weil  die  Betriebsspannung  nicht  ausreioht,  einen 


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448 


Funken  von  der  gesteigerten  Länge  zu  unterhalten.  Der  Funken  wird 
von  dem  Magneten  ausgeblasen,  weshalb  dieser  Magnet  Blasmsgnet 
genannt  wird. 

Fig.  12  zeigt  eine  Form  solcher  Ableiter.  Zwischen  den  Stücken 
1,  1,  3,  4 entsteht  der  Kurzschlursfunken,  weloher  von  dem  Elektro- 
magneten A,  den  zugespitzten  Kanten  der  Stücke  1,  2,  3,  4 entlang 
nach  oben  gestofsen  wird.  Diese  Stücke  1,  2,  3,  4 werden  gewöhn- 
lich hornartig  ausgeführt,  wie  Fig.  13  zeigt.  Daher  der  Name  Hörner- 
blitzableiter. 

Auch  ohne  magnetische  Funken- 
löschung wird  bei  diesen  Hörnern 
ein  Aufwärtsbewegen  des  Funkens, 
eine  Verlängerung  der  Funkenbahn 
erzielt,  teils  durch  Aufsteigen  der 
erwärmten  Luft,  teils  durch  elektro- 
magnetische Wirkung.  Fig.  14  zeigt 
das  Bild  eines  hieraut  beruhenden 
Ableiters  von  Siemens  u.  Halske. 
Es  werden  bei  demselben  zwei 
starke  Drähte  einander  entgegen, 
dann  zunächst  einander  parallel, 
und  darauf  scharf  abbiegend  gegen- 
einander weitergeführt,  der  eine 
Draht  ist  mit  der  Leitung,  der  an- 
dere mit  der  Erde  verbunden.  Die 
Entfernung  der  beiden  Leiter  von- 
einander kann  geändert  werden. 
Oewöhnlioh  beträgt  sie  an  der  engsten  Stelle  1 m.  Von  allen  Formen 
scheinen  sich  diese  Hörnerblitzableiter  am  meisten  bewährt  zu  haben, 
wenigstens  nach  Angaben  aus  Deutschland. 

Ein  schwerwiegender  Übelstand  liegt  darin,  dafs  Schnee,  Regen, 
Staub  vielfach  direkte  Verbindung  der  beiden  Drähte  herstellt  und 
dadurch  auoh  ohne  Blitzschlag  Kurzschluss  für  den  Betriebsstrom 
bewirkt.  Daher  denkt  man  jetzt  an  das  Einbauen  des  Apparates  in 
einen  Versohlusskasten. 

Bei  der  Einschaltung  aller  Ableiter  für  Starkströme  wird  der 
S.  444  hervorgehobene  Fehler  gemacht,  dass  dieselben  in  einem  Neben- 
schlufs  liegen.  Damit  verbindet  sich,  dafs  die  Aufnahmefläche  für  die 
elektrische  Entladung,  die  sogenannte  Kapazität,  durchweg  klein  ist. 
Es  werden  diese  beiden  Umstände  wohl  der  Grund  dafür  sein,  dafs  bei 


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449 


jeder  der  genannten  Formen  von  Ableitern  doch  in  einzelnen  Fällen 
Versagen  des  SchutzeB  zu  beklagen  war. 

Dafs  wirklich  die  Beachtung  der  beiden  Punkte  einen  sicheren 
Schutz  bedingen  kann,  dafür  dürfte  als  Beispiel  die  elektrische  Anlage 
des  Nordostseekanales  herangezogen  werden.  Hier  besteht  die  Blitz- 
sicherung in  einem  Staoheldraht,  welcher  längs  des  Betriebskabels  aus- 
gespannt und  alle  200  m mit  der  Erde  ver- 
bunden ist.  Mithin  erfolgt  hier  die  Ent- 
ladung direkt  von  der  Linienleitung  und 
auch  von  grofser  Oberfläche  aus.  Beschädi- 
gungen der  Lampen  oder  Maschinen  durch 
Blitzschlag  sind  bisher  nicht  vorgekommen, 
vielmehr  nur  kleine  Beschädigungen  der 
Kabel. 


Fig.  13.  Fig.  H. 

Solche  Erfahrungen  bilden  den  besten  Lehrmeister  für  die  Wege, 
welche  bei  der  Anordnung  des  Ableiters  zu  gehen  sind.  Dank  der 
Initiative  des  Berliner  elektrotechnischen  Vereins  ist  es  gelungen, 
eine  Sammelslelle  für  die  Erfahrungen  der  Praxis  zu  gründen,  die 
schon  in  ihrer  kurzen  zweijährigen  Tätigkeit  sehr  wichtige  Ergebnisse 
ziehen  konnte.  Die  Hoffnung  erscheint  nicht  zu  kühn,  dafs  durch 
das  Zusammenarbeiten  der  Beteiligten  für  die  Schwach-  und  Stark- 
stromleitungen mit  der  Zeit  ein  ebenso  sicherer  Schutz  gefunden  wird, 
wie  solcher  in  den  Qebäudeblilzableitem  vorliegt. 


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BlmmS  and  Erd«.  1904.  XVI.  10. 


29 


Klima  und  Gletscher. 

Von  Professor  Dr.  R.  von  Lendeafeld  in  Prag. 


- I 2)ie  Bildung  und  das  Wachstum  dar  Firne  und  Gletscher  hängen 
’ty  von  ^el  Menge  des  fallenden  Schnees  und  der  Gröfse  der 
Verluste  ab,  die  sie  durch  Absehmelzung’  und  Verdunstung 
erleiden.  Überwiegt  der  in  fester  Form  fallende  Teil  des  jährlichen 
Niederschlages  den  jährlichen  Verlust,  so  entsteht  ein  dauerndes 
Schneefeld.  Der  Sohnee,  aus  dem  es  besteht,  verwandelt  sieh  all- 
mählich in  Firn  und  der  überschufs  des  Zuwachses  wird  in  Gestalt 
von  Gletscherzungen  in  Gebiete  überwiegenden  Verlustes  vorge- 
schoben. Kommt  der  jährliche  Verlust  dem  jährlichen  Zuwachse 
gleich,  so  wird  der  gefallene  Schnee  immer  wieder  beseitigt,  und  es 
findet  keine  Anhäufung  desselben,  keine  Firn-  und  Glotscherbildung 
statt.  Das  Gebiet  überwiegenden  Zuwachses  nennt  mau  die  Schnee- 
gerion  und  die  Grenze  desselben  die  Schneegrenze. 

Der  Zuwachs,  die  Menge  des  jährlich  ais  Schnee  fallenden 
Niederschlages,  wird  umso  bedeutender  sein,  je  niedriger  die  Tempe- 
ratur, jo  feuchter  die  Luft  und  je  grofser  die  vertikale  Ablenkung 
der  Winde  ist;  der  Verlust  hingegen  wird  mit  der  Wärme  und  der 
Trockenheit  zunehmen. 

Da  die  Luft  nur  in  sehr  geringem  Grade  unmittelbar  durch  die 
Sonnenstrahlung,  hauptsächlich  aber  von  dem  durch  die  Sonne 
erhitzten  Boden  erwärmt  wird,  nimmt  die  Temperatur  mit  zunehmen- 
der Höhe  ab.  Ferner  findet  eine  Temperaturabnahme  vom  Äquator 
gegen  die  Pole  hin  statt,  weil  die  Meere  und  Länder  gegen  Norden  und 
Süden  immer  schiefer  und  schwächer  von  der  Sonne  bestrahlt  werden. 
Wäre  die  Erdoberfläche  glatt  und  überall  aus  demselben  Material  auf- 
gebaut, so  würden  diese  Umstände  zur  Folge  haben,  dafs  die  Wärme 
überall  gleichmäfsig  von  der  Tiefe  gegen  die  Höhe  und  von  den 
Tropen  gegen  die  Pole  abnimmt.  Die  Erdoberfläche  ist  jedoch 
weder  glatt  noch  überall  von  gleicher  Beschaffenheit.  Sie  besteht 
zum  Teil  aus  Landllächcn,  zum  Teil  aus  Wasser,  die  Landmassen 


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451 


sind  sehr  ungleichmäßig  verteilt,  und  die  vertikale  Gliederung  der 
vielgestaltigen  Kontinente  und  Inseln  ist  überaus  mannigfach.  Diese 
Unregelmäßigkeiten  haben  Unregelmäßigkeiten  in  der  Temperatur- 
abnahme mit  der  Höhe  und  gegen  die  Pole  hin  im  Gefolge. 

Der  Wechsel  von  Land  und  Meer  und  der  unregelmäfsige  Ver- 
lauf der  Küsten  beeinträchtigt  die  Stetigkeit  der  Abnahme  der  mitt- 
leren Jahrestemperaturen  gegen  die  Pole  hin,  weil  dadurch  die 
ozeanischen  Strömungen  gewissermaßen  zersplittert,  Zweige  des 
warmen  Stromes  polwürts  und  Zweige  der  kalten  Ströme  äquator- 
wärts  abgelenkt  werden.  Ein  solcher  abgelenkter  Stromzweig  ist 
der  Golfstrom,  welcher  eine  bedeutende  Erhöhung  der  mittleren 
Temperatur  der  von  ihm  berührten  Gebiete  verursacht. 

Die  Stetigkeit  der  Temperaturabnahme  mit  der  Höhe  wird 
durch  die  Unregelmäfsigkeit  der  vertikalen  Gliederung  der  Erdober- 
fläche beeinträchtigt  Sie  ist  in  der  freien  Atmosphäre  und  an 
schmalen,  steil  aufragenden  Gebirgen,  wie  z.  B.  den  neuseeländischen 
Alpen,  rascher  als  an  den  sanfteren  Abhängen  weit  ausgedehnter 
Tafelländer. 

Bezüglich  der  Einwirkung  der  Temperatur  auf  die  Gleßcher- 
entwickelung  ist  hervorzuheben,  daß  die  Stärke  und  Dauer  der 
Kälte,  das  heißt  der  unter  Null  Grad  liegenden  Temperaturen,  die 
Gletscherentwickelung  kaum  merklioh  fördern  kann,  daß  diese  je- 
doch durch  die  Stärke  und  Dauer  der  Wärme,  das  heißt  durch  die 
über  Null  Grad  liegende  Temperatur  wesentlich  beeinträchtigt  wird, 
ln  einem  gleichmäßigen  Klima,  wo  die  Temperaturunterschiede  der 
Jahreszeiten  gering,  die  Winter  milde  und  die  Sommer  verhältnis- 
mäßig kühl  sind,  wird  die  Temperatur  unter  sowohl  als  über  Null  Grad 
geringer  als  in  einem  Klima  mit  gleicher  mittlerer  Jahrestemperatur 
sein,  wo  die  Wärmeunterschiede  der  Jahreszeiten  größer,  die  Winter 
kalt  und  die  Sommer  heiß  sind.  Da  nun,  wie  erwähnt,  die  Tempe- 
ratur unter  Null  das  Uletscherwachstum  nicht  fördert,  wohl  aber  die 
Temperatur  über  Null  die  Eismassen  abscbmilzt  und  die  Menge  des 
in  fester  Form  fallenden  Niederschlages  herabsetzt,  wird  — bei 
gleich  bleibender  jährlicher  Mitteltemperatur  — die  Gleßcherent- 
wickelung  um  so  mehr  begünstigt  werden,  je  gleichmäßiger  das 
Klima  ist. 

Die  Unregelmäßigkeiten  der  Erdoberfläche  geben  nicht  nur  zu 
den  oben  erwähnten  Unregelmäßigkeiten  in  der  Temperaturabnahme 
mit  der  Höhe  und  der  Polnähe,  sondern  auoh,  und  zwar  in  noch 
weit  höherem  Maße,  zu  Unterschieden  in  dem  Grade  der  Ungleich- 
es* 


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mäßigkeit  des  Klimas  Anlafs.  Das  Wasser  wird  im  Sommer  durch 
die  Besonnung  viel  weniger  stark  erwärmt  und  im  Winter  durch 
Ausstrahlung  viel  weniger  stark  abgekühlt  als  das  Festland.  Wo 
grofse  Wasserflächen  sich  ausbreiten,  sind  daher  die  Winter  milde 
und  die  Sommer  kühl,  die  jährlichen  Wärmeschwankungen  geringe, 
die  Tomperaturverhältnisse  ozeanisch.  Inmitten  der  Kontinente  hin- 
gegen sind  die  Winter  streng,  die  Sommer  beils,  die  jährlichen 
Wärmeschwankungen  grofs,  die  Temperaturverhältnisse  kontinental. 

Hieraus  ergibt  sich,  dafs  die  Temperalurverhältnisse  kleiner, 
fern  von  den  Kontinentalmassen  liegender  Inseln  gleichmäßige, 
ozeanische  sein  werden,  dafs  an  den  Küsten  großer  Länder  ebenfalls 
eine  mehr  gloichmäfsige  Wärme  herrschen  wird  und  dafs  die  jähr- 
lichen Temperaturschwankungen  von  den  Küsten  gegen  das  Innere 
der  Kontinente  hin  zunehmen  werden.  Europa  bildet  den  west- 
lichen Randteil  des  euraaischen  Kontinentes,  und  wir  wissen,  dafs 
an  den  Westküsten  von  England  und  Irland  die  Winter  milde  und 
die  Sommer  kühl  sind  und  dafs  nach  Osten  gegen  das  Innere 
hin  der  Temperaturunterschied  zwischen  diesen  Jahreszeiten  immer 
größer  wird. 

Die  Feuchtigkeit  ist  insofern  von  der  Temperatur  abhängig,  als 
die  Luft  um  so  mehr  Wasserdunst  aufzunehmen  und  zu  halten  ver- 
mag, je  wärmer  sie  ist.  Die  Luftfeuchtigkeit  ist  demgemäß  in  den 
Tropen  im  allgemeinen  am  größten  und  nimmt  von  hier  gegen  die 
Pole  hin  ab.  Die  Feuchtigkeit  ist  aber  auch  von  der  Beschaffenheit 
der  Erdoberfläche  abhängig,  sie  ist  über  dem  Meere  größer  als  über 
dem  Festlande  und  wird  auch,  wie  die  Mitteltemperatur  und  die  jähr- 
liche Wärmeschwankung,  durch  die  Anordnung  der  Kontinente  und 
Ozeane  beeinflußt.  Wo  ein  warmer  Meerstromzweig  in  höhere  Breiten 
vordringt,  ist  sie  größer  als  an  anderen,  unter  derselben  geographischen 
Breite  liegenden  Orten;  auf  kleinen  landfernen  Inseln  ist  sie  größer 
als  auf  den  Kontinenten,  und  auf  letzteren  nimmt  sie  von  der  Küste 
gegen  das  Innere  ab. 

Vertikale  Ablenkungen  der  im  allgemeinen  horizontal  wehen- 
den Winde  werden  durch  Erwärmung  und  Abkühlung  der  Luft  so- 
wie durch  die  Unregelmäßigkeiten  der  Oberflächen  bewirkt,  über 
welche  der  Wind  hinweht.  Die  Erwärmung  der  Luft  in  den  Tropen 
und  über  sonnenbestrahlten  Landmassen  auch  außerhalb  derselben 
veranlaßt  ein  Leichterwerden  und  Emporsteigen.  Die  Abkühlung 
der  in  großer  Höhe  vom  Äquatorialgebiete  über  dem  Passat  zu  den 
Polen  zurückströmenden  Luft  hat  zur  Folge,  dafs  diese  sich  ver- 


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dichtet,  schwerer  wird  und  in  der  gemäfsigten  Zone  zum  Erdboden 
herabsteigt.  Der  an  einen  Berg-  oder  Plateauabhang  herankommende 
Wind  wird  duroh  diesen  zum  Ausweichen  nach  oben  gezwungen  und 
so  nach  aufwärts  abgelenkt.  Anderseits  wird  oft  auch  beobachtet, 
dafs  ein  über  ein  flebirge  oder  Tafelland  hinwehender  Höhenwind, 
am  Rand  der  Erhebung  angelangt,  in  die  Tiefe  hinabsteigt. 

Diese  vertikalen  Luftbewegungen  haben  Temperaturverände- 
rungen der  Luft  zur  Folge,  sei  es,  dafs  sie  zur  Mischung  ver- 
schieden warmer  Luftschichten  Anlafs  geben,  sei  es,  daß  die  beim 
Emporsteigen  erfolgende  Ausdehnung  eine  Abkühlung,  und  die  beim 
Herabsinken  erfolgende  Zusammendrückung  eine  Erwärmung  be- 
wirkt. Durch  die  Abkühlung  wird  die  Fähigkeit  der  Luft,  Wasser- 
dunst zu  halten  (ihre  Feuchtigkeitskapazität),  herabgesetzt,  durch 
Erwärmung  wird  dieselbe  erhöht.  Aufsteigende  Luftbewegungen,  die 
zu  einer  Abkühlung  führen,  werden  daher  Ausscheidung  von  Wasser- 
dunst in  flüssiger  oder  fester  Form,  der  dann  als  Regen  oder  Schnee 
herabfallt,  zur  Folge  haben.  Absteigende  Luftbewegungen  aber,  welche 
zu  einer  Erhöhung  der  Temperatur  führen,  werden  keine  Nieder- 
schlagsbildung veranlassen. 

Wie  die  Feuchtigkeit  nimmt  ganz  im  allgemeinen  auch  die 
Niederschlagsmenge  vom  Äquator  gegen  die  Pole  und  vom  Welt- 
meer gegen  die  mittleren  Teile  der  Kontinente  hin  ab.  In  der  ge- 
mäßigten Zone  sind  die  Regen  bringenden  Winde  in  der  Regel 
Teile  der  von  den  Tropen  zurückkehrenden  Luftströmung,  die  sich 
anfangs  in  grofser  Höhe  über  den  Passatwind  hinweg  bewegt,  hier  in 
der  gemäfsigten  Zone  aber,  wie  oben  erwähnt,  zur  Tiefe  hinabsinkt.  Der 
Erddrehung  wegen  erscheinen  dieso  vom  Äquator  kommenden  Luft- 
strömungen in  den  gemäfsigten  Zonen  als  westliohe  Winde. 
Kommt  ein  solcher  Wind,  nachdem  er  bis  zur  Erdoberfläche  herab- 
gestiegen ist,  an  eine  Landmasse  heran,  so  wird  er  durch  diese  zu 
einer  Bewegung  nach  oben  gezwungen,  welche  so  lange  anhält,  bis 
der  Wind  den  höchsten  Teil  des  Kontinents  erreicht  hat.  Bei 
diesem  Ansteigen  wird  die  Luft  ausgedehnt  und  abgekühlt,  so  dafs 
sie  viel  Feuchtigkeit  fallen  lassen  mufs.  Die  Menge  des  solcherart 
erzeugten  Niederschlages  wird  im  allgemeinen  dort  am  größten  sein, 
wo  die  (westliche)  Abdachung  des  Kontinents  am  steilsten  ist  und 
der  Aufstieg  der  Luft  am  raschesten  erfolgt.  Während  des  Ilinauf- 
wehens  über  die  Wrestabdachung  der  Landmasse  eines  ungewöhnlich 
großen  Teiles  ihrer  Feuchtigkeit  beraubt,  läßt  die  Luft  jenseits  der 
Höhe,  im  Osten,  nur  mehr  wenig  Schnee  und  Regen  fallen.  Deshalb 


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sind  die  westlichen  Abhänge  der  Gebirge  und  Tafelländer  nieder- 
schlagsreicher als  die  Ostabhänge,  und  deshalb  nimmt  auf  grofsen 
Kontinenten  die  Niederschlagsmenge  im  allgemeinen  von  Westen 
nach  Osten  ab. 

Von  dem  jährlichen  Niederschlage  fällt  ein  um  so  gröfserer  Teil 
als  Schnee  herab,  je  länger  die  Temperatur  unter  Null  ist  In  den 
Polargebieten,  namentlich  in  den  südlichen,  ist  die  Temperatur  so 
niedrig,  dafs  der  gesamte  Niederschlag,  auch  der  im  Hochsommer 
unten  am  Meeresspiegel  fallende,  Sohnee  ist.  In  den  Tropen 
schneit  es  nur  in  sehr  bedeutenden  Höhen,  von  3500 — 4600  Meter 
aufwärts.  In  den  zwischen  diesen  Extremen  liegenden  Zonen  fällt  je 
nach  der  geographischen  Breite,  der  Meereshöhe,  der  Jahreszeit  und 
den  besonderen  örtlichen  Verhältnissen  ein  gröfserer  oder  geringerer 
Teil  des  jährlichen  Niederschlages  als  Sohnee  herab. 

Wir  wollen  nun  untersuchen,  wie  die  Gletscherentwickelung  in 
den  verschiedenen  Erdteilen  durch  diese  Verhältnisse  beeinflufst  wird. 

Was  zunächst  die  Temperaturabnahme  mit  zunehmender  Höhe 
und  Polnähe  anlangt,  so  bemerken  wir,  dafs  dieser  entsprechend  im 
allgemeinen  in  den  Tropen  die  Schneegrenze  am  höchsten  liegt  und 
die  Gletscher  am  kleinsten  sind,  und  dafs  von  hier  aus  gegen  die 
Pole  hin  die  erste  immer  tiefer  herabsteigt  und  die  letzten  immer 
gröfser  werden.  Zwischen  20°  südl.  und  20°  nördl.  Breite  liegt  die 
Schneegrenze  in  Höhen  von  4280  Meter  (am  Orizaba  in  Nord- 
amerika) bis  6920  Meter  (am  Sajame  in  Südamerika).  In  der  nörd- 
lichen Halbkugel  nimmt  von  hier  aus  die  Höhenlage  der  Schnee- 
grenze erst  — bis  zum  40sten  Breitengrade  — allmählich  dann,  zwi- 
schen 40°  und  60°  sehr  rasch,  und  hierauf  zwischen  60°  und  90° 
wieder  ganz  allmählich  ab.  Unmittelbar  bis  zum  Meeresspiegel  steigt 
im  Norden  die  Schneegrenze  nicht  herab;  sie  liegt  selbst  unter 
82°  nördl.  Breite,  auf  Franz  Josefs-Land,  immer  noch  100 — 300  Meter 
über  dem  Meere.  Auf  der  Südbalbkugel  wird  ebenfalls  erst  eine 
allmähliche,  dann  eine  rasche  und  hierauf  wieder  eine  allmähliche  Ab- 
nahme der  Höhe  der  Schneegrenze  gegen  den  Pol  hin  beobachtet; 
doch  liegt  hier  die  durch  die  rasche  Abnahme  gebildete  Stufe  dem 
Äquator  um  etwa  10°  näher  als  im  Norden,  und  in  der  Antarktis 
steigt  die  Schneegrenze  bis  zum  Meeresspiegel  herab. 

Die  Erwärmung  durch  polwärts  gerichtete  warme  Meeresstrom- 
zweige kommt  nicht  in  einem  Ansteigen  der  Sohneegrenze  oder 
einem  Kleinerwerden  der  Gletscher  zum  Ausdruck,  weil  dieser 
Faktor  durch  die  von  solchen  Stromzweigen  zugleich  mit  der 


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Temperaturerhöhung  hcrvorgorufene  Erhöhung  der  Feuchtigkeit  und 
Niederschlagsmenge  aufgehoben,  häufig  sogar  in  die  gegenteilige 
Wirkung,  in  ein  Herabsteigen  der  Schneegrenze  und  eine  Vergröfse- 
rung  der  Gletscher  verwandelt  wird. 

Um  so  deutlicher  kommt  bei  der  Gletscherentwickelung  die  Wir- 
kung des  Unterschiedes  zwischen  grofsen  und  kleinen  jährlichen 
Wärraeschwankungen,  kontinentalen  und  ozeanischen  Temperaturver- 
hiiltnissen  zum  Ausdruck.  Auf  der  Nordhalbkugel,  wo  die  Land- 
massen einen  grofsen  Raum  einnehmen,  herrschen  im  allgemeinen 
mehr  kontinentale,  auf  der  Südhalbkugel,  wo  die  Landflächen  ver- 
hältnismäfsig  klein  sind,  mehr  ozeanische  Temperaturverhältnisse. 
Während  auf  der  Nordhalbkugel  zwisohen  dem  40sten  und  60sten 
Breitengrade  die  Schneegrenze  1590  (Mount  Baker  in  Nordamerika) 
bis  3810  Meter  (Kaukasus)  über  dem  Meere  liegt,  wird  sie  in  den- 
selben südlichen  Breiten  in  Höhen  von  300  (Kergueleninseln)  bis 
2380  Meter  (Nordinsel  von  Neuseeland)  angetroffen.  Auch  die  oben 
erwähnte  Tatsache,  dafs  in  hohen  südliohen  Breiten  die  Schneegrenze 
bis  zum  Meere  herabsteigt,  während  das  im  nördliohen  Polargebiet, 
vermutlich  nicht  einmal  am  Pol  selbst,  der  Fall  ist,  wird  zum  Teil 
auf  jenen  klimatischen  Unterschied  der  beiden  Hemisphären  zurück- 
zuführen sein.  Und  ebenso  wie  in  der  Antarktis  die  Schneelinie 
tiefer  als  in  der  Arktis  liegt,  ist  auch  die  Gletscherentwickelung  im 
südlichen  Polargebiete  eine  viel  bedeutendere  als  im  nördlichen. 
Während  man  im  Norden  fast  überall  ohne  besondere  Schwierig- 
keiten bis  zum  70sten  Breitengrade  Vordringen  kann,  das  Meer  im 
Sommer  stellenweise  bis  zum  BOsten  Grade  offen  ist,  und  nur  vom 
Winde  hin  und  her  gewehtes  Packeis  und  von  Landgletschern 
stammende  Eisberge  auf  dem  Wasser  schwimmen,  hemmen  im  Süden 
zumeist  schon  zwischen  05°  und  68°  südl.  Breite,  nur  zwischen 
dem  Viktoria-  und  Edwardslande  erst  bei  78°,  hohe  Eismauern  das 
Vordringen  der  Schiffe,  und  mächtige,  fast  gar  nicht  bewegliche 
Gletschermassen  bedecken  in  gleicher  Weise  Meer  und  Land. 

Die  Gleichmäfsigkeit  der  Temperaturverhältnisse  und  der  Reich- 
tum an  Niederschlägen  ozeanischer  Gebiete  bedingen  eine  tiefe  Lage 
der  Schneegrenze  und  eine  mächtige  Entwickelung  der  Gletscher  auf 
aufsertropisohen,  landfern  im  Weltmeer  gelegenen,  gebirgigen  Inseln; 
die  Ungleichmäfsigkeit  der  Temperaturverhältnisse  und  die  Armut  an 
Niederschlägen  kontinentaler  Gebiete  dagegen  eine  hohe  Lage  der 
Schneegrenze  und  eine  geringe  Entwiokelung  der  Gletscher  auf  Ge- 
birgen, welche  aus  dem  mittleren  Teile  grofser  Landmassen  empor- 


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ragen.  Dies  kommt  aufs  deutlichste  zum  Ausdruck,  wenn  wir  die  neu- 
seeländischen Alpen  mit  dem  Tien  Shan  vergleichen.  Beide  sind  un- 
gefähr 43°  vom  Äquator  entfernt  In  dem  ersten,  mitten  im  Welt- 
meere aufragenden  Gebirge  liegt  die  Schneegrenze  durchschnittlich 
2000  Meter  hoch,  und  ist  die  Gletsoherentwickelung,  trotzdem  die 
Berge  dort  (in  der  Aorangigruppe)  nur  wenig  über  3000  Meter  an- 
steigen,  sehr  bedeutend.  Der  gröfste  Gletscher  ist  28  Kilometer  lang 
und  der  tiefstgehende  reicht  bis  213  Meter  über  das  Meer  herab. 
In  dem  letzten,  dem  mittleren  Teile  des  eurasisohen  Kontinentes  ent- 
ragenden  Gebirge,  liegt  die  Schneegrenze  durchschnittlich  4600  Meter 
hoch,  und  ist  die  Vergletscherung,  trotzdem,  dafs  die  Haupterhebung 
des  Tien  Shan  (im  Chan  Tengri)  bis  über  7000  Meter  ansteigt,  ge- 
ring. Der  gröfste  Gletscher  ist  nur  24  Kilometer  lang  und  der 
tiefstgehende  reicht  nur  bis  zu  einer  Höhe  von  3300  Meter  herab. 
Wir  haben  also  hier  in  Gebieten  derselben  geographischen  Breite 
Höhenunterschiede  der  Schneegrenze  von  2500  und  der  Lage  der 
Gletscherstirnen  von  2100  Meter. 

In  einer  ähnlichen,  aber  etwas  weniger  auffallenden  Weise 
kommt  auch  die  Zunahme  der  Temperaturschwankungen  von  der 
Küste  gegen  das  Innere  der  Kontinente  und  die  Abnahme  der 
Niederschlagsmenge  auf  den  einzelnen  Landmassen  von  Westen  nach 
Osten  in  Unterschieden  der  Höhe  der  Schneegrenze  und  der  Gröfse 
der  Gletscher  zum  Ausdruck.  Am  W'estende  des  mediterranen  Ge- 
birgssystems,  in  der  Nähe  des  Atlantischen  Ozeans,  am  Nordabhange 
der  Pyrenäen  liegt  die  Schneegrenze  unter  43°  nördl.  Breite  in  einer 
Höhe  von  2800  m;  gegen  das  Innere  von  Eurasien  nach  Osten  hin 
steigt  sie  — in  derselben  geographischen  Breite  — immer  höher,  im 
Kaukasus  zu  3810  und  im  Tien  Schan,  wie  erwähnt,  zu  4500  m empor. 
Der  Einflufs  des  Umstandes,  dafs  die  Niederschlagsmenge  auf  jener 
Seite  eines  Gebirges,  an  welcher  die  Schnee  und  Regen  bringenden, 
vom  Äquator  kommenden,  westlichen,  in  der  Nordhemisphäre  südwest- 
lichen, in  der  Südhemisphäre  nordwestlichen  Winde  emporwehen’ 
grörser  als  an  der  entgegengesetzten  Seite,  an  welcher  sie  herabwehen, 
ist,  veranlafst  es,  dafs  vielerorts  die  Schneegrenze  am  (wärmeren) 
Äquatorialwesthang  tiefer  als  am  (kälteren)  Polarostabhang  liegt  Am 
Sulitelma  in  Norwegen  liegt  die  Schneegrenze  an  der  Westseite  1000. 
an  der  Ostseite  1300  m;  in  der  Aorangigruppe  in  Neuseeland  am 
Nordwestabhange  1850,  am  Südostabhange  2100  m über  dem  Meere. 

Steile  Abhänge  veranlassen  bedeutendere  und  plötzlichere  Ab- 
lenkungen der  horizontalen  Winde  in  vertikaler  Richtung  als  gleich 


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hohe,  sanft  geneigte.  Dies  und  die  raschere  Temperaturabnahme  mit 
der  Höhe  in  schmalen  Hochgebirgen  hat  zur  Folge,  dafs  im  allge- 
meinen die  Schneegrenze  in  solchen  tiefer  als  auf  gleich  hohen  Tafel- 
ländern liegt  Da  sich  jedoch  die  Gletscher  auf  breiten  Hochflächen 
viel  besser  als  in  schmalen,  zerrissenen  Gebirgen  entwickeln  können, 
führt  dieses  Verhältnis  nicht  dazu,  dafs  diu  Gletscher  schmaler  Ge- 
birge gröfser  als  jene  von  Landschaften  sind,  die  einen  mehr  plateau- 
artigen  Charakter  besitzen. 

Wenn  wir  nun  diese  Verhältnisse  überblioken,  so  kommen  wir 
zu  dem  Schlüsse,  dafs  die  Gletscherentwickelung  zwar  wohl  von  der 
Temperatur  abhängt  und,  der  allgemeinen  Verteilung  der  Wärme  auf 
der  Erdoberfläche  entsprechend,  vom  Äquator  gegen  die  Pole  hin  zu- 
nimmt, dafs  sie  aber  auch  im  ausgedehntesten  Mafse  von  dem  Grade 
der  jährlichen  Wärmeschwankung  und  der  Feuchtigkeit  beeinflufst 
wird,  also  von  Umständen,  die  zum  grofsen  Teile  durch  die  Verteilung 
des  Wassers  und  des  Landes  und  die  Gestaltung  des  letzteren  be- 
dingt werden. 

& weicht  aber  die  Höhenlage  der  Schneegrenze  nicht  nur  in- 
folge des  Einflusses  der  L'nregelmäfsigkeit  der  Erdoberfläche  vieler- 
orts beträchtlich  von  jener  ab,  die  sie  der  geographischen  Breite 
gemäfs  haben  sollte,  sondern  sie  ist  auch  an  ein  und  demselben 
Orte  bedeutenden  Schwankungen  unterworfen,  die  dann  — verstärkt 
— in  Schwankungen  der  Höhenlage  der  Gletscherenden  zum  Aus- 
druck kommen.  Eis  ist  allgemein  bekannt,  dafs  die  Lage  der  Enden 
unserer  Alpengletscher  nicht  unverändert  bleibt,  sondern  fortwähren- 
den Schwankungen  unterworfen  ist.  Die  Eisströmo  pflegen  eine  Reihe 
von  Jahren  hindurch  mehr  oder  weniger  stetig  zurückzugehen,  um 
dann  wieder  vorzurücken.  Diese  Gletscherschwankungen  der  Jetzt- 
zeit scheinen  periodisch  stattzuflnden  und  dürften  — zum  Teil  wenig- 
stens — der  Brückn  ersohen  35jährigen  Periode  entsprechen.  Ob 
in  früheren  Jahrhunderten  der  letzten  zwei  Jahrtausende  gröfsere 
Veränderungen  der  Eisströme  als  die  in  neuerer  Zeit  beobachteten 
stattgefunden  haben,  läfst  sioh  schwer  sagen,  denn  es  gibt  wohl  auf 
solche  im  Altertum  und  Mittelalter  stattgefundene  Schwankungen  hin- 
weisende Überlieferungen  und  Befunde,  aber  diese  haben  der  Kritik 
kaum  standzuhalten  vermocht. 

Weit  gröfseren  Schwankungen  als  jenen  der  Jetztzeit  sind  die 
Gletscher  der  Vorzeit  unterworfen  gewesen.  Es  ist  bekannt,  dafs  in 
vorhistorischer  Zeit  beträchtliche  Teile  von  Europa  und  Nordamerika 
mit  Gletschern  bedeckt  waren.  Dänemark,  Norddeutschland,  Nord- 


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rufsland,  Schottland,  Nord-  und  Mittelengland,  Kanada  und  die  nörd- 
lichen Vereinigten  Staaten  lagen  damals  unter  mehr  oder  weniger  zu- 
sammenhängenden Bisdecken  begraben.  Gleichzeitig  erfüllten  mächtige 
Gletsoher  die  Haupttäler  unserer  Alpen  und  breiteten  sich  weit  über 
die  Vorlande  aus.  Auch  die  Gletscher  andrer  Gebirge  der  Nordhalb- 
kugel waren  zu  jener  Zeit  groteer  als  jetzt.  Die  Untersuchung 
der  von  den  vorhistorischen  Gletsohern  zurückgelassenen  Spuren 
hat  gezeigt,  dafs  damals  die  Gletscher  nicht  etwa  Btetig  bis  zu  ihrer 
gröfsten  Ausdehnung  angewachsen  und  dann  wieder  zurückgegangen 
sind,  sondern  dafs  Perioden  mächtiger  Gletscherentwickelung  mit 
solchen  abwcohselten,  in  denen  das  Klima  milder  und  die  Gletsoher 
klein  waren,  kleiner  vielleicht  als  jetzt  Penck  und  Brückner 
haben  nachgewiesen,  dafs  im  Gebiete  der  europäischen  Alpen  vier 
durch  solche  milde,  eisarme  Perioden  getrennte  Zeiten  starker  Glet- 
scherentwickelung aufeinander  gefolgt  sind  und  dafs  die  Ausdehnung, 
welche  die  Alpengletscher  in  diesen  vier  Biszeiten  erlangten,  ungleich 
grofs  war.  Zur  Zeit  der  gröfsten  Gletschercntwickelung  reichte  die 
nordeuropäische  Eisdecke  bis  zum  50.  Grad  nördlicher  Breite,  die  nord- 
amerikanische vielleicht  noch  weiter  nach  Süden,  und  die  gröfsten 
Eisströme  der  Alpen  erlangten  Dimensionen  von  3000  (Inngletscher) 
bis  5000  (Rheingletscher)  Quadratkilometern. 

Aus  diesen  Ergebnissen  habeu  manche  den  Schlufs  gezogen,  dafs 
zu  der  Zeit  maximaler  Gletscherentwickelung  die  ganze  nördliche 
Halbkugel  einer  Vergletscherung  ausgesetzt  gewesen  sei,  derart,  dafs 
eine  zusammenhängende  Eiskappe  alle  nördlich  vom  50.°  nördl.  Breite 
gelegenen  Gebiete  bedeckt  habe  und  dars  die  weiter  südlich  auf- 
ragenden Hochgebirge  in  gleichem  und  zwar  in  ähnlichem  Mafse  wie 
die  Alpen  stärker  vergletschert  waren  als  gegenwärtig.  Dem  ist 
jedoch  nicht  so.  Die  grofse  Eisdecke,  welche  vom  skandinavischen 
Hochlande  ausstrahlte,  erstreokte  sich  nur  bis  zum  Ural.  In  diesem 
Gebirge  selbst,  sowie  östlich  davon  in  Nordasien  sind  keine  Spuren 
einer  gröfseren,  einseitigen  Vergletscherung  gefunden  worden,  und 
dieses  von  Eisspuren  freie  Gebiet  erstreckt  sich  nach  den  neuesten 
Ergebnissen  der  Polarforschungen  von  Sverdrup  und  Schei  bis  zum 
westlichen  Teile  der  im  Norden  von  Nordamerika  gelegenen,  arktischen 
Inselwelt 

Ebenso  ungleich  ist  auch  der  Grad  der  Vergletscherung  der 
eurasischen  Hochgebirge  gewesen:  in  keinem  anderen  nördlichen 
Hochgebirge  war  die  Vergletscherung  zur  Eiszeit  so  bedeutend  wie 
in  unseren  Alpen.  In  den  Pyrenäen  und  im  Kaukasus  reichten  damals 


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die  Gletscher  nicht  bis  in  die  Vorlande  hinab,  um  sich  dort  wie 
im  Alpenvorlande  fächerförmig  auszubreiten.  Noch  geringer  als  in 
den  genannten  war  die  eiszeitliche  Vergletscherung  in  den  zentral- 
asiatischen Ketten.  Auch  die  nordamerikanischen  Gebirge  scheinen 
damals  lange  nicht  so  stark  vergletschert  gewesen  zu  sein  wie  die 
europäischen  Alpen. 

Auch  in  der  südlichen  Hemisphäre  sind  Spuren  ausgedehnter, 
vorzeitlicher  Vergletscherungen  angetroffen  worden.  Im  südlichen  Teile 
der  Anden  von  Südamerika  haben  mindestens  zwei  Gletschervorstöfse, 
ein  gröfserer  und  ein  kleinerer  stattgefunden;  in  Neuseeland  reichten 
einstens  die  westlichen  Gletscher  bis  zum  Meere  herab;  und  auch  die 
jetzt  ganz  eisfreien  australischen  Alpen  waren  einst,  sicher  einmal, 
vermutlich  sogar  zweimal,  in  ihren  höheren  Teilen  mit  Gletschern  be- 
deckt. Weniger  sicher  ist  der  Nachweis  von  vorzeitlichen  Gletscher- 
spuren in  Südafrika. 

In  den  tropischen  Hochgebirgen  von  Afrika  und  Amerika  hat 
man  ebenfalls  Anzeichen  einer  früheren,  weiteren  Ausbreitung  der 
Gletscher  angetroffen,  und  soeben  ist  es  H.  Meyer  gelungen,  unter 
dem  Äquator,  in  Ecuador,  am  Chimborazo  und  an  anderen  Hochgipfeln 
nachzuweisen,  dafs  hier  einstmals  die  Gletscher  1000  m weiter  als 
gegenwärtig  herabgereicht  haben. 

Die  jetzigen  Qletscherschwankungen  sind,  wenigstens  soweit  sie 
konform  der  Brücknerschen  35jährigen  Periode  stattfinden,  wohl 
zweifellos  auf  die  periodischen  Änderungen  in  der  Intensität  der 
Sonnenstrahlung  zuriickzuführon.  Pencks  Vermutung,  dafs  in  den 
gemäfsigten  Zonen  beider  Hemisphären  überall,  wo  Spuren  einer  vor- 
zeitlichen Vergletscherung  gefunden  worden  sind,  die  Schneegrenze 
zur  Zeit  des  bedeutendsten  Vorstofses  um  den  gleiohen  Betrag  von 
ungefähr  1200  m tiefer  lag  als  gegenwärtig,  sowie  der  erwähnte  Nach- 
weis, dafs  unter  dem  Äquator  die  Gletscher  einstens  ebenfalls  um 
einen  ähnlichen  Betrag  (von  1000  m)  tiefer  als  jetzt  hinabreichten, 
sprechen  für  die  Annahme,  dafs  diese  vorzeitlichen  grofsen,  ebenso 
wie  jene  jetztzeitlichen  kleinen  Gletscherschwankungen  Änderungen 
der  Intonsitiit  der  Sonnenstrahlung  oder  einer  anderen  aufserirdischen 
Ursache  ihre  Entstehung  verdanken.  Anderseits  zeigt  uns  aber  die 
oben  dargelegte  Gröfse  des  Einflusses  der  Verteilung  von  Wasser  und 
Land  und  der  Gestaltung  des  letzteren  auf  das  Klima  und  duroh  dieses 
auf  die  Gletscherentwickelung,  dafs  auch  terrestrische  Ursachen  hin- 
reichen könnten,  um  die  vorzeitlichen  Gletschervorstöfse  zu  erklären. 
Die  von  Penck  vermutete  Gleichheit  der  Höhendifferenz  zwischen 


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460 


der  jetzigen  und  der  eiszeitlichen  Schneegrenze  ist  nicht  erwiesen 
und  scheint  mir  nicht  allgemeine  Geltung  zu  haben.  Nach  dem  von 
mir  in  Neuseeland  gewonnenen  Eindrücke  ist  diese  Höhendifferenz 
dort  nicht  einmal  halb  so  grofs  wie  etwa  in  don  europäischen  Alpen. 
Auch  die  gröfsere  vorzeitliche  Vergletscherung  äquatorialer  Hochge- 
birge ist  kein  Beweis  für  die  kosmische  Natur  der  Ursachen  der  Eis- 
zeiten — ich  wenigstens  zweifle  nicht,  dals  eine  Überflutung  des 
Amazonenstrombeckens  und  anderer  Teile  von  Südamerika  wohl  hin- 
reichen würde,  um  die  Gletscher  des  Chimborazo  bis  zu  jenem 
Niveau  herabsteigen  zu  machen,  in  dem  Meyer  nooh  Gletscher- 
spuren fand. 

Eine  gute  Vorstellung  von  dem  grofsen  Einflüsse  der  lokalen, 
das  Klima  bestimmenden  Umstände  auf  die  Gletscherentwickelung  und 
eine  befriedigende  Antwort  auf  die  Frage,  ob  terrestrische  Verände- 
rungen hinreichen  würden,  die  grofse  eiszeitliche  Vergletscherung  von 
Nord-  und  Mitteleuropa  horbeizuführen,  erhalten  wir,  wenn  wir  uns 
die  jetzigen  klimatisohen  und  glazialen  Verhältnisse  der  Südhemi- 
sphäre als  in  Europa  herrschend  vorstellen.  Die  neuseeländischen 
Alpen  liegen  in  derselben  Äquatorferne  (43°)  und  sind  ebenso  hoch 
wie  die  Pyrenäen.  Hier  müfsten  dann  also  Gletscher  von  der  Gröfse 
der  neuseeländischen  Vorkommen,  die,  wie  in  Neuseeland,  bis  zu  ein 
paar  hundert  Metern  über  das  Meer  herabsteigen,  so  dafs  die  Ver- 
gletscherung der  Pyrenäen  eine  stärkere  sein  würde,  als  sie  es  zur 
Eiszeit  tatsächlich  war.  Die  Patagonischen  Gebirge  liegen  in  derselben 
Breite  (47°)  wie  die  europäischen  Alpen,  sind  aber  nicht  so  hoch  wie 
diese,  ln  Patagonien  reichen  gegenwärtig  die  Gletscher  bis  zum 
Meere  herab.  Bei  gleichem  Lokalklima  müfsten  in  den  Alpen,  ihrer 
gröfseren  Höhe  wegen,  die  Eisströme  noch  gröfser  als  in  Patagonien 
sein.  Auch  hier  bleibt  die  maximale,  eiszeitliche  Vergletscherung 
hinter  jener  zurück,  welche  unter  der  gemachten  Voraussetzung  ein- 
treten  würde.  In  Kerguelen  (49  72°)  liegt,  wie  erwähnt,  die  Schnee- 
grenze 300  m über  dem  Meere.  Es  würden  also  — im  Norden  gleiche 
glaziale  Verhältnisse  vorausgesetzt  — der  unter  derselben  (nördliohen) 
Breite  liegende  Argonnenwald,  der  Odenwald,  die  Böhmen  einfassen- 
den Gebirge  und  die  Nordkarpaten  vergletschert  sein  und  zwar  auch 
mehr  als  sie  es  zur  Eiszeit  waren.  In  der  SUdhalbkugel  sind  die 
nicht  hohen,  zwischen  00°  und  70°  geogr.  Breite  gelegenen  Inseln 
ganz  und  gar  vergletschert.  Unter  gleichen  Verhältnissen  müfste  das 
viel  höhere,  in  derselben  Äquatorferne  gelegene  skandinavische  Hoch- 
land noch  viel  mehr  vergletschert  und  wohl  imstande  gewesen  sein, 


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solche  oder  noch  gröfsere  Eismassen  an  das  umgebende  Tiefland  ab- 
zugeben, wie  sie  zur  Eiszeit  über  Norddeutschland  ausgebreitet  waren. 

Würden  bei  uns  dasselbe  Klima  und  dieselbe  Vergletscherung 
herrschen,  welche  in  gleichen  Breiten  auf  der  Südhalbkugel  gegen- 
wärtig tatsächlich  herrschen,  so  würde  also  Europa  stärker  vergletschert 
sein,  als  es  zur  Eiszeit  jemals  war.  Würde  im  eurasischen  Gebiete 
ein  relatives  Versinken  des  Landes  um  einige  hundert  Meter  eintreten, 
so  würden  einesteils  Verhältnisse  (grüfsere  Wasserausbreitung)  ge- 
schaffen, welche  das  Klima  viel  feuchter,  gleichmäfsiger,  ozeanischer, 
dem  jetzigen  Klima  der  Südhalbkogel  ähnlicher  machen  müfsten;  und 
anderenteils  würde  die  Vergletscherung  auf  jenes  Mafs  reduziert, 
welches  sie  in  der  Eiszeit  tatsächlich  erreichte. 

Wir  sehen  also,  dars  das  uns  zu  Gebote  stehende  Beobachtungs- 
material und  die  daraus  sich  ergebenden  Schlüsse  keine  sichere  Antwort 
auf  die  Frage  nach  der  Ursache  der  Eiszeit  geben.  Sie  zeigen  vielmehr, 
dars  Veränderungen  in  der  Verteilung  von  Wasser  und  [.and  und  in  der 
Gestaltung  des  letzteren,  wie  sie  im  Laufe  geologischer  Zeiten  statt- 
finden, hinreichen,  um  einmal  in  diesem,  einmal  in  jenem  Gebiete  ein 
solches  Anwachsen  der  Gletscher  hervorzurufen,  wie  es  in  der  Eiszeit 
stattgefunden  hat.  Sie  sprechen  aber  auch  durchaus  nicht  gegen  die 
Annahme,  dafs  die  die  Eiszeiten  charakterisierenden  Vergröfserungen 
der  Gletscher  ohne  Veränderungen  der  Erdoberfläche  und  überall 
gleichzeitig  stattgefunden  hätten;  wäre  dies  aber  der  Fall,  so  müfste 
natürlich  die  Ursache  der  Eiszeit  eine  außerirdische  sein. 

Und  ebensowenig  wie  diese,  können  wir  eine  andere,  praktisch 
viel  wichtigere  Frage,  nämlich  die  Frage  beantworten,  ob  in  Zukunft 
die  Gletscher  wieder  eiszeitliche  Dimensionen  annehmen  werden.  Wahr- 
scheinlich ist  es  wohl,  dafs  dies  geschehen  wird  und  die  Stätten  der 
nördlichen  Städte  Petersburg,  Berlin  und  London  unter  den  vor- 
rückenden Eismassen  werden  begraben  werden,  aber  bis  dahin  hat 
es  jedenfalls  nooh  gute  Weile.  Genug  für  den  Tag  ist  das  Übel  des- 
selben; es  mögen  sich  unsere  Nachkommen  selber  um  die  etwa  noch 
zu  gewärtigende  fünfte  europäische  Eiszeit  bekümmern! 


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Zur  Gewitterkunde  in  Nord-  und  Mitteldeutschland. 

Von  l’rofossor  I >r.  Th.  Arendt  in  Berlin. 

zahlreichen  nml  zum  Teil  recht  eingehenden  Studien  der  letzten 
ilcy  .Jahre  über  das  elektrische  Verhalten  der  Atmosphäre  in  weiter 
räumlicher  Ausdehnung  haben  nicht  nur  eine  Reihe  von 
Gesetzmäfsigkeiten  über  den  täglichen  und  jährlichen  Verlauf  dieser 
Vorgänge  enthüllt,  sondern  auch  zu  äufserst  bemerkenswerten  Auf- 
schlüssen über  den  wechselnden  Charakter  der  Luftelektrizität  bei 
verschiedenartigen  meteorologischen  Verhältnissen  geführt.  Von  be- 
sonderer Wichtigkeit  waren  hierbei  die  Ergebnisse,  welche  bei  Ge- 
legenheit von  Ballonfahrten  in  gröfseron  Erhebungen  über  der  Erd- 
oberfläche erzielt  wurden  und  die  es  ermöglichten,  einen  Einblick  in 
den  elektrischen  Zustand  der  freien  Atmosphäre  zu  gewinnen.  Da 
die  betreffenden  Messungen  naturgemäfs  fast  ausschiiefslich  bei  Witte- 
rungslagen  stattfanden,  welche  eine  Gefährdung  der  Balloninsassezi 
durch  elektrische  Ursachen  im  Luftmeere  ausschlossen,  so  fehlt  es 
vorläufig  noch  immer  an  solchem  Bcobachtungsmaterial,  welches  gerade 
für  die  Gewitierforschung  von  gröfstem  Nutzen  gewesen  wäre. 

Dieser  Mangel  macht  sich  um  so  fühlbarer  bemerkbar,  als  die 
Vorgänge  beim  Gewitter  auch  in  rein  meteorologischer  Hinsicht  noch 
viel  Rätselhaftes  enthalten.  Die  Schwierigkeiten,  den  ursächlichen 
Zusammenhang  zwischen  den  elektrischen  und  meteorologischen  Er- 
scheinungen beim  Gewitter  zu  erklären,  sind  aber  dadurch  noeb 
besonders  gesteigert,  dafs  es  sich  nicht  nur  um  Ergründung  der  Be- 
dingungen in  den  höheren,  schwer  zugänglichen  Luftschichten  handelt, 
sondern  auch  Einflüsse  in  der  Nähe  der  Erdoberfläche  vorhanden 
sind,  die  sich  zum  grofsen  Teile  noch  unserer  Kenntnis  entziehen. 
Darauf  deuten  sowohl  die  Ungleichheiten  in  der  Verteilung  der  Blitz- 
schläge hin,  wie  auch  die  auffallenden  Unterschiede,  welohe  sich  in  ört- 
licher Beziehung  in  der  jährlichen  Häufigkeit  der  Gewitter  kundgeben. 

Aus  diesen  Gründen  bat  nicht  nur  die  meteorologische  Wissen- 
schaft das  weitgehendste  Interesse  an  einer  genaueren  Kenntnis  dieser" 


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463 


Verhältnisse,  sondern  auch  weite  Kreise  der  Bevölkerung  verfolgen 
alle  Fortschritte  auf  diesem  Gebiete,  die  für  das  praktische  Leben 
eine  so  hohe  Bedeutung  besitzen,  mit  gröfster  Spannung.  Beläuft  sich 
doch  nach  einer  Schätzung  von  berufener  Seite  der  jährlich  in  Deutsch- 
land allein  durch  Blitzschläge  angerichtete  Schaden  auf  nahe 
8 000  000  Mark,  was  einem  beträchtlichen  Verlust  an  Nationalvermögen 
gleichkommt.  Diese  Zahl  bleibt  aber  noch  erheblich  hinter  derjenigen 
zurück,  welche  die  durch  einen  häufigeren  Begleiter  des  Gewitters, 
den  Hagel,  hervorgerufenen  Zerstörungen  zum  Ausdruck  bringt.  Nach 
den  Mitteilungen  des  Königlich  Preußischen  Statistischen  Bureaus 
bezifferten  sich  die  von  den  Versicherungsgesellschaften  für  die 
durch  Hagelschläge  innerhalb  Preufsens  entstandenen  Schädigungen 
an  Feldfrüchten  ausgezahlten  Summen  — wobei  nicht  ganz  43%  des 
Landes  bei  den  Landgemeinden,  80%  bei  den  Gutsbezirken  versichert 
war  — beispielsweise  im  Jahre  1898  auf  nahezu  27  OOOoOO  Mark.  Diese 
Zahlen  reden  eine  sehr  deutliche  Sprache  von  den  Verlusten,  welohe 
vornehmlich  die  deutsche  Landwirtschaft  zu  tragen  hat. 

über  die  örtliche  und  zeitliche  Verteilung  der  Blitzschläge  in 
Deutschland  liegen  mehrere  eingehende  Untersuchungen  vor,  welche 
sich  auf  das  umfassende  statistische  Material  der  öffentlichen  Feuer- 
Versicherungsanstalten  stützen.  Von  diesen  Abhandlungen  verdienen 
diejenigen  der  Herren  von  Bezold  und  Kassner  (Merseburg)  hier 
besonders  hervorgehoben  zu  werden,  da  dieselben  auch  der  Gewittor- 
forschung  eine  wesentliche  Förderung  brachten.  Unter  anderem 
enthielten  diese  Arbeiten  auch  wertvolle  Hinweise  über  die  ungleiche 
Verbreitung  der  Gewitter.  Diese  Folgerungen  gründeten  sich  vor- 
nehmlich auf  eine  wohl  zuerst  von  Herrn  von  Bezold  gemachte 
Wahrnehmung,  dafs  „die  geographische  Verteilung  der  Blitzschläge 
sich  im  allgemeinen  so  innig  an  die  aus  den  Beobachtungen  der  meteo- 
rologischen Stationen  gewonnenen  Ergebnisse  über  den  Ausgangspunkt 
und  die  Vorbereitungs weise  der  Gewitter  anschliefst.“  Eine  gewisse 
Einschränkung  werden  die  auf  Grund  dieser  Annahme  gezogenen 
Sohtüsse  insofern  erfahren  müssen,  als  das  statistische  Material  der 
Versicherungsgesellschaften  doch  nur  die  durch  Blitzschläge  beschä- 
digten Gebäude  umfaßt  und  somit  eine  größere  Zahl  von  Gegenständen, 
wie  Bäume,  unberücksichtigt  bleibt.  Zuverlässigen  Meldungen  zufolge 
ist  aber  die  Zahl  der  vom  Blitz  getroffenen  Bäume  keineswegs  gering, 
wie  vornehmlich  die  seit  vielen  Jahren  von  der  Lippeschcn  Forstver- 
waltung in  den  dortigen  Waldungen  geübte  strenge  Kontrolle  dargetan 
hat.  Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dafs  solche  Erhebungen  bisher  nicht  in 


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gröfserem  Umfange  durchgeführt  worden  sind,  da  dann  leicht  entschieden 
werden  könnte,  ob  tatsächlich  in  früherer  Zeit  die  Bäume  — oder  all- 
gemeiner Wälder  — weit  häufiger  durch  Blitzschläge  heimgesucht 
wurden  und  erst  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  eine  bemerkens- 
werte Steigerung  der  Blitzgefahr  für  Gebäude  eingetreten  ist.  Es  hat 
nicht  an  Versuchen  gefehlt,  auf  diese  Weise  die  aus  der  Versicherungs- 
statistik erkannte  Zunahme  der  Blitzschläge  in  Gebäude  zu  erklären. 
Danach  wäre  die  absolute  Zahl  der  elektrischen  Entladungen  zur  Erde 
in  greiseren  Gebieten  unverändert  geblieben  und  nur  die  Bedingungen 
für  das  Zustandekommen  derselben  hätten  sich  in  betreff  der  Waldungen 
ungünstiger,  bezüglich  der  Ortschaften  günstiger  gestaltet  Dero  gegen- 
über möchte  ich  darauf  verweisen,  dafs  sich  eine  auffallende  Überein- 
stimmung im  Verlauf  der  Häufigkeitszahlen  für  Blitzschläge  in  Ge- 
bäude und  der  Gewittertage  ergeben  hat,  indem  auch  die  letzteren  an 
Zahl  zugenommen  haben.  Zum  Nachweise  des  Zusammenhanges  beider 
Vorgänge  war  es  notwendig,  entsprechend  dem  bei  der  Bearbeitung 
der  Blitzschlagstatistik  geübten  Verfahren  auch  eine  gröfsere  Zahl  von 
meteorologischen  Stationen  zu  Gruppen  zu  vereinigen.  Über  das  Er- 
gebnis dieser  Untersuchung  ist  an  anderer  Stelle  ausführlicher  berichtet 
worden. 

Dem  weitgehenden  Bedürfnis  nach  genauerer  Kenntnis  der  Ge- 
witterverhältnisse Nord-  und  Mitteldeutschlands  wurde  bereits  bei  der 
Reorganisation  des  Königlich  Preufsischen  Meteorologischen  Instituts  im 
Jahre  1886  von  Horrn  von  Bezold  daduroh  Rechnung  getragen,  da[s 
eine  eigene  Abteilung  für  .Gewitter  und  aufserordentliche  Vorkomm- 
nisse“ geschaffen  wurde,  in  der  unter  anderem  zurzeit  die  von 
ca.  1400  Beobachtern  fortlaufend  eingesandten  Berichte  über  alle  Einzel- 
heiten beim  Auftreten  von  Gewittern  am  Orte  zur  Ansammlung  ge- 
langen. Um  das  oben  genannte  Jahr  wurdo  auch  eine  erhebliche  Vermeh- 
rung der  Gewitterstationen  im  Boobachtungsnetze  zuerst  angebahnt, 
und  somit  wurden  die  ersten  vorbereitenden  Schritte  für  ein  ein- 
gehendes Studium  der  Gewitter  getan.  Leider  traten  in  den  zunächst 
nachfolgenden  Jahren  noch  Störungen  mancher  Art  ein,  wie  häufiger 
Beobaohterweohsel  u.  s.  w.,  die  nicht  selten  eine  Verlegung  der  Station 
nach  einem  benachbarten  Orte  nach  sich  zogen  — Änderungen,  die  die 
Verwendbarkeit  des  vorhandenen  Materials  für  verschiedene  Fragen 
einsohränkten. 

Beim  Entwurf  der  beiliegenden  Karte  (Titelblatt),  welche  ein  Bild 
von  der  räumlichen  Verteilung  der  Gewitter  auf  Grund  zehnjähriger 
Beobachtungen  gibt,  konnten  nahe  an  900  Stationen  Verwendung 


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finden;  die  übrigen  Berichte  mufsten  wegen  zu  liiiufig  auftretender 
Lücken  bei  der  Bearbeitung  ausgeschlossen  bleiben.  Streng  genommen 
bringt  die  Karte  nicht  die  mittlere  jährliche  Häufigkeit  der  „Gewitter“ 
zur  Darstellung,  sondern  diejenige  der  „Gewittertage“  in  meteoro- 
logischem Sinne,  indem  die  jährliche  Zahl  der  Tage  mit  Gewittern 
an  einem  einzelnen  Orte  oder  dessen  gröfserer  Nähe  zugrunde  gelegt 
wurde.  An  der  Hand  einer  kleinen  Tabelle,  welche  ich  bereits  früher 
veröffentlicht  habe,  ist  es  indessen  keineswegs  schwierig,  sich  aus  den 
Angaben  der  Karte  eine  Vorstellung  von  der  Verteilung  der  „Gewitter“ 
zu  bilden. 

Noch  ein  anderer  Punkt  bedarf  einer  kurzen  Erläuterung.  Die 
meteorologischen  Beobachter  sind  angewiesen,  zwischen  Nah-  und 
Ferngewitlern  zu  unterscheiden,  wobei  die  ZeitdifTerenz  zwischen 
Blitz  und  Donner  maßgebend  ist;  beträgt  dieselbe  über  10  Sekunden 
oder  ist  überhaupt  nur  Donner  wahrgenommen  worden,  so  hat  man 
es  nach  der  meteorologischen  „Anleitung“  mit  einem  Ferngewitter 
zu  tun,  anderenfalls  lag  ein  Nahgewitter  vor.  Bei  der  Vergleichung 
der  Iläufigkeitszahlen  von  Gewittern  und  Blitzschlägen  an  einem  Orte 
wird  man  sich  meist  auf  Nahgewitter  beschränken,  während  man  mit 
Vorteil  zur  Charakterisierung  gröfserer  Gebiete,  für  welche  nur  die 
Beobachtungen  von  einer  Anzahl  von  Stationen  vorliegen,  besser  die 
Summen  von  Nah-  und  Ferngewittern  verwertet.  Diese  Unterscheidung 
zwischen  Nah-  und  Ferngewittern  gewährt  auch  den  Vorzug,  örtliche 
Einflüsse  auf  die  Fortpflanzung  der  Gewitter  leichter  erkennen  zu 
können.  Fafst  man  zum  Beispiel  den  prozentischen  Anteil  der  Fern- 
gewitter an  der  Jahressumme  der  Gewitter  unter  Berücksichtigung  der 
Zugrichtungen  genauer  in  das  Auge,  so  treten  uns  in  diesen  Angaben 
gröfsere  Verschiedenheiten  entgegen,  die  darauf  scbliefsen  lassen,  dafe 
nach  der  einen  oder  anderen  Richtung  hin  Bedingungen  bestehen, 
welche  der  Weiterentwickelung  der  Gewitter  nicht  günstig  sind,  ln 
den  meisten  Fällen  geschieht  dieselbe  in  lang  entwickelter  Front, 
doch  können  auch  gewisse  atmosphärische  Verhältnisse  zu  einer  ab- 
weichenden Ausbreitung  der  Gewitter  führen  oder  auch  die  Ent- 
stehung mehrerer  Gewitterzentra  in  geringer  räumlicher  Entfernung 
bedingen,  die  dann  meist  nur  eine  mäfsige  Entwickelung  aufweisen. 
Bei  besonders  häufigem  Auftreten  dieser  Gewittertypen  kann  die  Jahres- 
summe der  Gewitter  von  verschiedenen  Orten  innerhalb  eines  ver- 
hältnismäfsig  kleinen  Gebietes  bemerkenswerte  Ungleichheiten  zeigen, 
worauf  ich  später  nochmals  zurückkommen  werde. 

Ein  interessantes  Beispiel  für  den  Gowitterreichtum  eines  ein- 

Himm.l  und  Erde.  1»4.  XVI.  10.  30 


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zelnen  Tages  bietet  der  22.  Juni  1898,  an  dem  innerhalb  des  preußi- 
schen Beobachtungsnetzes  weit  über  20  Gewitter  unterschieden  werden 
konnten.  Blitzschläge  und  Hagelfiille  richteten  an  diesem  Tage  ganz 
aufsergewöhnliche  Zerstörungen  an.  Durch  den  Hagel  wurde  in 
Preußen  allein  nach  den  Angaben  der  Versicherungsgesellschaften 
ein  Schaden  von  8308289  Mark  angerichtet,  der  sich  vornehmlich  auf 
die  folgenden  Kreise  verteilte: 


Saatzig 

Wongrowitz 

Neumarkt 

Wanzlebon 

Stadt  Magdeburg  . . . 

Wolmirstedt 

Neuhaldensleben  . . . 
Oschersleben  . . . . 

Beckum 

Lüdinghausen  . . . . 

Rees 

Mors 

Köln-Land 

Bergheim 

Euskirchen 

Düren 

Aachen-Land  . . . . 


1220  qkm 

189  781 

M. 

1035 

71 

117  438 

11 

711 

H 

156  411 

11 

544 

»1 

499  804 

11 

150  000 

11 

696 

11 

1 422  947 

11 

677 

11 

153  629 

11 

604 

11 

1 139  000 

11 

687 

M 

448  290 

11 

697 

11 

356  000 

n 

524 

11 

123  491 

ii 

565 

11 

117  420 

ii 

217  768 

ii 

363 

11 

455  000 

366 

11 

159  830 

»i 

563 

11 

837  580 

136  808 

H 

An  diesem  Tage  gelangten  auch  ganz  verschiedene  Gewittertypen 
zur  Erscheinung,  von  denen  ich  hier  einige  charakteristische  Fälle 
zur  Anschauung  bringen  möchte,  die  auoh  zu  weitorgehenden  Betrach- 
tungen Anlaß  geben.  Der  Verlauf  dieser  Gewitter  wurde  nach  dem 
Vorgänge  des  Herrn  von  Bezold  zur  Darstellung  gebracht,  indem 
die  Zeitpunkte  des  ersten  Donners  nach  M.  E.  Z.  an  den  einzelnen 
Beobachtungsstationen  in  eine  Karte  eingetragen  und  die  Orte  mit 
übereinstimmender  Zeit  durch  Linien  verbunden  wurden,  welche  man 
mit  dem  Namen  „Isobronten“  zu  bezeichnen  pflegt.  Die  Entfernung  der 
aufeinanderfolgenden  Isobronten,  die  man  in  stündlichen  oder  halb- 
stündlichen Intervallen  gewöhnlich  auszieht,  bietet  dann  in  der  Haupt- 
zugrichtung betrachtet,  gleichzeitig  ein  Maß  für  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit des  Gewitters  über  den  verschiedenen  Landstrecken. 
Da  die  Beobachtungsorte  zum  Teil  in  größerer  Entfernung  von  ein- 
ander liegen  (ca.  20  — 30  kmt,  so  setzt  dieses  Verfahren  voraus,  daß 


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das  Gowitter  in  der  entsprechenden  Zeit  über  der  Gegend  zwischen 
zwei  Beobachtungeorten  gleichfalls  gestanden  hat,  eino  Voraussetzung 
die  nicht  immer  statthaft  ist.  Bei  Verwendung  eines  dichten  Be. 
obachtungsnetzes  gewinnt  es  vielmehr  den  Anschein,  als  ob  man  es 
in  der  Tat  nicht  mit  einer  langen  zusammenhängenden  Gewitterwolke 
zu  tun  hat;  auf  Grund  der  beim  Entwerfen  zahlreicher  Isobronten- 
karten  gewonnenen  Erfahrungen  neige  ich  vielmehr  der  Auffassung 
zu,  dafs  das  Vordringen  des  Gewitters  sich  gewissermafsen  ähnlich 
gestaltet,  wie  etwa  ein  Wasserstrom  in  einer  noch  trockenen  Ebene 
vordringt,  hier  und  da  einzelne  Strahlen  voraussendend,  die  sich  bald 
wieder  vereinigen,  bis  dann  schliefslich  wohl  auch  die  meisten  der  so 
gebildeten  Inselchen  verschwinden.  Die  ungleiche  Geschwindigkeit 
des  Gewitters  in  den  beifolgenden  Karten  (Fig.  1 und  2)  über  einzelnen 
Gebieten  ist  hier  zum  gröfsten  Teile  darauf  zurückzuführen,  dafs  über 
dieselben  bereits  vorher  an  demselben  Tage  Gewitter  hinweggezogen 
waren,  die  Bedingungen  hinterlassen  haben,  unter  denen  die  Fort- 
pflanzung schneller  vor  sich  zu  gehen  pflegt.  Auch  möchte  ich  nicht 
verabsäumen  darauf  hinzuweisen,  dafs  Flüsse  und  Gebirge  keinen 
Einflufs  auf  die  Fortbewegung  der  Gewitter  erkennen  liefsen. 

Nach  diesen  Ausführungen  wende  ich  mich  der  „Gewitterkarte“ 
selbst  zu,  in  der  die  Linien  gleicher  mittlerer  jährlicher  Häufigkeit  der 
Gewittertage  nach  fortschreitenden  Unterschieden  von  3 Tagen  gezeich- 
net sind.  Bei  dom  Umfange  und  der  Zuverlässigkeit  des  verwendeten 
Materials,  das  nur  in  den  Grenzgebieten  infolge  des  Mangels  an 
Stationen  gröfsere  Lücken  aufweist,  war  eine  solche  Abgrenzung  ohne 
Schwierigkeiten  durchführbar.  Auf  diese  Weise  gewinnt  man  nicht 
nur  einen  schärferen  Einblick  in  die  häufig  recht  auffallende  Ungleich- 
heit in  der  Gewitterverteilung  auf  räumlich  beschränktem  Gebiete, 
sondern  man  kann  unter  diesen  Umständen  die  mittleren  Jahressummen 
leichter  zu  den  graphischen  Darstellungen,  welche  die  Niederschlags- 
verhältnisse und  Blitzschlaghäufigkeit  veranschaulichen,  in  Beziehung 
setzen.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  die  Gewitter  einen 
recht  beträchtlichen  Anteil  an  der  Jahressnmme  der  Niederschläge 
liefern  können  und  die  Betrachtung  der  von  Herrn  Hellmann  auf 
Grund  zehnjähriger  Messungen  — welche  fast  denselben  Zeitraum  und 
dieselben  Jahre  umfassen,  die  bei  der  „Gewilterkarte“  berücksichtigt 
wurden  — entworfenen  „Niederschlagskarten“  (Verlag:  D.  Reimer- 
Berlin)  führt  zu  dem  Glauben,  dafs  einzelne  prenfsische  Provinzen 
besonders  regelmäfsig  mit  ergiebigen  Gewitterregen  versehen  werden. 
Man  vergleiche  zu  dem  Zwecke  die  folgenden,  von  Herrn  Hellmann 


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bekannt  gegebenen  Jahressummon  mit  den  entsprechenden  Angaben 


der  „Gewitterkarte“: 

Nied«r<chUg*hoh«  im  Jahr, 

Posen  ....  513  mm 
Westpreufsen  . 541  „ 

Brandenburg . . 566  „ 
Sachsen  . . . 593  „ 
Pommern  . . . 599  „ 

Ostpreufsen  . . 600  „ 


Vledmchlafabohe  im  Jahr, 

Schlesien  ....  680  mm 
Hannover  ....  690  „ 
Hessen-Nassau  . . 692  „ 
Schleswig-Holstein  . 718  „ 
Rheinprovinz  . . . 754  ; 
Westfalen  ....  804  „ 


Verfolgt  man  die  Linien  gleicher  Gewitterhäußgkeit,  von  Norden 
nach  Süden  fortschreitend,  so  fällt  vor  allem  der  folgende  Umstand 
auf.  Während  sich  der  Verlauf  derselben  an  den  Küsten  im  grofsen 
und  ganzen,  nur  hier  und  da  von  Ausläufern  nach  Süden  unterbrochen, 
westöstlich  gestaltet,  verschwindet  diese  Eigentümlichkeit  mehr  und 
mehr,  je  weiter  man  nach  Süden  vordringt,  wo  sich  die  Tendenz  zur 
Inselbildung  in  starkem  Mafse  geltend  macht,  indem  sich  hier  ver- 
einzelt die  jährliche  Zahl  der  Gewittertage  schneller  häuft  als  in  den 
nördlicher  gelegenen  Gegenden.  Ferner  bestehen  starko  Gegensätze 
bezüglich  des  jährlichen  Gewitterreichtums  zwischen  dem  Osten  und 
Westen,  vornehmlich  zwischen  Nordwesten  und  Südosten  der  Monarchie. 
Umfassendere  Gebiete  mit  einer  unverhältnismäfsig  hohen  Zahl  von 
Gewittertagen  findet  man  in  Westfalen,  Hessen -Nassau,  Hannover, 
Schlesien;  aber  auch  die  Havelniedcrung  weist  bemerkenswerte  Be- 
träge auf.  Die  kleinsten  Werte  zeigt  der  gröfsero  Teil  Posens,  die 
Ostseeküste  und  die  Nordgrenze  von  Schleswig  - Holstein.  Von  den 
Gebirgsgegenden  zeichnet  sich  insbesondere  der  Harz  durch  eine  ge- 
ringe Zahl  von  Gewittertagen  aus. 

Nach  den  Angaben  der  „Gewitterkarte“  schwankt  die  mittlere 
Jahressumme  der  Gewittertage  innerhalb  des  preußischen  Beobach- 
tungsnetzes zwischen  12  und  30  Tagen;  unter  12  Gewittertage  weisen 
nur  wenige  Gebiete  auf;  die  Zahl  30  wurde  indessen  vielfach  noch  über- 
schritten. Eine  weitergehende  Unterscheidung  in  der  Karle  hätte 
jedoch  den  Einblick  in  dieselbe  beeinträchtigt  und  so  unterblieb  die 
Abgrenzung  der  Zone  mit  33  Gewittertagon.  Schliefslich  mag  nicht 
unerwähnt  bleiben,  dafs  in  weiten  Landstrecken  östlich  und  südöst- 
lich von  Wilhelmshaven  die  Zahl  der  Gowittertage  allenthalben  nahezu 
20  betrug,  woraus  hervorgeht,  dafs  der  grofsen  Ausbuchtung  der  Linien 
eine  tiefergehende  Bedeutung  abgeht.  Derartige  Unsicherheiten  hätten 
sich  vermeiden  lassen,  wenn  man  die  Mittelwerte  aus  den  bekannten 


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JahresBummen  der  Gewitterlago  der  Stationen  innerhalb  der  einzelnen 
Abgrenzungen  bestimmt  und  diese  der  endgültigen  Darstellung  zu- 
grunde gelegt  hätte.  Von  der  Ausführung  des  Gedankens  hielten 
mich  indessen  gewisse  Erwägungen  ab. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dafs  das  Bild  der  „Gewitterkarte“ 
bei  Verwendung  langjähriger  Beobachtungsreihen  und  bei  Berück- 
sichtigung einer  beträchtlich  greiseren  Zahl  von  Stationen  ein  etwas 
anderes  Aussehen  gewinnt,  indem  die  absoluten  Häufigkeitszahlen 
andere  Beträge  aufweisen  und  auch  die  Grenzen  der  einzelnen  Orts- 
gruppen eine  Veränderung  erfahren;  der  allgemeine  Charaktor  der 
Karte  wird  derselbe  bleiben. 

Im  Hinblick  auf  die  früher  von  den  Herren  von  Bezold  und 
Kassner  (Merseburg)  aus  Blitzschlagstudien  gefundenen  Ergebnisse 
könnte  man  leicht  zu  der  Auflassung  gelangen,  dafs  die  längeron,  zu- 
sammenhängenden Gebiete  mit  grofserGewilterhäufigkeit  mit  Zugstrafsen 
der  Gewitter  gleichbedeutend  sind.  Dem  möchte  ich  nicht  ohne  weiteres 
zustimmen,  wobei  für  mich  die  folgenden  Überlegungen  mafsgebend 
sind.  Die  Herkunft  und  Zugrichtung  der  Gewitter  ist  häufig  eine 
wechselnde,  und  somit  setzt  sich  auch  die  Jahressumme  der  Gewitter 
bezw.  der  Gewittertage  aus  Angaben  zusammen,  welche  von  Ort  zu 
Ort  recht  verschiedenartig  sein  können.  Im  allgemeinen  freilich  kommen 
bei  uns  die  meisten  Gewitter  aus  Westen  und  Südwesten  herauf- 
gezogen, aber  es  behauptet  sich  noch  eine  andere  Gesetzmäfsigkeit, 
die  ausspricht,  dafs  daneben  einzelne  Zugrichtungen  mit  dem  Wechsel 
der  Jahreszeiten  bevorzugt  werden.  Nach  dem  mir  vorliegenden 
umfangreichen  Material  bestehen  bezüglich  der  Änderung  der  Zug- 
richtungen der  Gewitter  ähnliche  Verhältnisse  wie  beim  Lufttransport 
in  den  unteren  Luftschichten  über  Norddeutschland,  indem  sich  auch 
hier  im  Frühjahr  eine  östliche  Komponente  scharf  bemerkbar  macht, 
während  mit  Fortschreiten  der  Jahreszeiten  bis  zum  Spätsommer  mehr 
und  mehr  die  Luftbewegung  aus  Südwesten  und  dann  aus  Westen 
vorherrschend  wird;  späterhin  schreitet  die  Drehung  im  Sinne  der 
W’indrose  im  allgemeinen  nicht  weiter  fort.  In  bezug  auf  die  Gewitter 
macht  die  deutsche  Nordseeküste  davon  insofern  eine  Ausnahme, 
als  sie  vornehmlich  im  Spätherbst  eine  gröfsere  Zahl  von  Gewittern 
aus  West  und  Westnordwest  aufweist. 

Ferner  ist  zu  beachten,  dafs  verschiedene  atmosphärische  Be- 
dingungen zur  Entstehung  von  Gowiltern  führen  können,  die  aber 
dann  auch  in  meteorologischer  Hinsicht  sowohl  bezüglich  der  Dauer 
wie  auch  der  Ausdehnung  ein  ungleiches  Verhalten  an  den  Tag 


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legen,  das  sich  oft  noch  in  den  dasselbe  begleitenden  Erscheinungen, 
wie  in  der  Intensität  der  Niederschläge,  Hagel,  Häufigkeit  der  Blitz- 
schläge u.  s.  w.,  aussprioht.  Bei  dem  häufigen  Auftreten  von  Gewittern 
mit  geringer  Entwickelung  kann  es  leicht  kommen,  dafs  die  Jahres- 
summen benachbarter  Orte  stärkere  Abweichungen  aufweisen.  Nach 
einem  Bericht  in  den  Veröffentlichungen  der  Königlich  Bayerischen 
Zentralanstalt  für  Meteorologie  sollen  einzelne  Jahrgänge  derartige 
Gewittertypen  in  grofser  Häufigkeit  zeigen. 

Die  Bedenken  werden  noch  vermehrt,  wenn  man  sioh  die  Unter- 
schiede in  der  jährlichen  Verteilung  der  Gewittertage  in  räumlicher  Hin- 
sicht vergegenwärtigt.  Indem  ich  bezüglich  der  näheren  Einzelheiten 
darüber  auf  die  demnächst  erscheinende  ausführliche  Untersuchung  in 
den  Abhandlungen  des  Königlich  Preufsischen  Meteorologischen  In- 
stituts verweise,  wo  der  Gegenstand  unter  Wiedergabe  zahlreicher 
Tabellen  behandelt  ist,  beschränke  ich  mich  hier  durauf  in  einer  Karte 
diejenigen  Gebiete  kenntlich  zu  machen,  welche  auf  Grund  dergröfseren 
Übereinstimmung  in  der  jährlichen  Gewilterperiode  zusammengefafst 
werden  konnten  (Fig.  3).  Beim  Versuch,  durch  Vergleichung  dieser 
Karte  mit  derjenigen,  welche  die  mittlere  Häufigkeit  wiedergibt,  Be- 
ziehungen zwischen  den  entsprechenden  Gebieten  zu  ermitteln,  wird 
man  bald  erkennen,  dafs  ein  derartiges  Bemühen  nur  zu  einem  zweifel- 
haften Erfolg  führt.  Tatsächlich  setzen  sioh  die  gleichen  oder  nahezu 
gleichen  mittleren  Jahrcssummen  der  Gewittertage  in  verhältnismäfsig 
räumlich  geringerer  Entfernung  aus  einzelnen  Dekadensummen  zu- 
sammen, die  zu  denselben  Zeiten  häufiger  hinsichtlich  ihrer  Beträge 
merklich  von  einander  abweiohen. 

Aus  diesen  Gründen  glaube  ich  nicht,  dafs  sich  aus  der  „Gewitter- 
karte“ ein  einwandfreier  Nachweis  für  die  Richtigkeit  der  oben  gts- 
äufserten  Ansicht  folgern  liifst,  die  vieles  für  sich  hat.  Nachdem 
bereits  früher  meteorologische  Betrachtungen  die  Begünstigung  der 
Gewitterbildung  durch  örtliche  Verhältnisse  und  somit  das  Vorhanden- 
sein von  „Gewitterherden"  und  „Gewitterzugstrafsen"  wahrscheinlich 
gemacht  haben,  hat  diese  Annahme  in  der  letzten  Zeit'  in  den  Er- 
gebnissen luftelektrischer  Studien,  die  sich  auf  die  Abhängigkeit  der 
Intensität  der  begleitenden  Erscheinungen  des  Gewitters  von  der 
Örtlichkeit  beziehen,  eine  weitere  Stütze  gefunden.  Es  wäre  zu  wün- 
schen, dafs  das  Gewittermaterial  selbst  daraufhin  einer  eingehenden 
Prüfung  unterzogen  würde,  wobei  man  mit  Vorteil  von  Isobronten- 
karten  Gebrauch  machen  kann. 


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Ein  interessanter  Säkular  - Gedenktag. 

(Zum  17.  Juni  1904) 

Zu  den  anziehendsten  naturwissenschaftlichen  Problemen  gehört 
die  Forschung  über  den  Instinkt  der  Tiere.  Betrachtet  man  die  Vögel 
bei  ihrem  Nesterbau,  die  Biber  bei  ihrem  Dammbau,  so  ist  man  leicht 
geneigt  anzunehmen,  dafs  diese  unter  allen  Tieren  den  entwickeltsten 
Instinkt  haben,  und  doch  sind  cs  nicht  diese,  sondern  die  Insekten. 
Seinen  höchsten  Ausdruck  findet  dieser  bei  den  Bienen,  deren  Kon- 
struktionen denen  der  gelehrtesten  Geometer  in  nichts  nachstehen,  und 
vor  allem  aber  in  den  Ameisen,  welche  die  Lebensgewohnheiten  der 
Menschen  so  gut  wiedergeben,  dafs  man  anzunehmen  geneigt  ist,  dafs 
die  Menschen  ohne  ihre  Erziehung  keinen  höheren  Instinkt  besäfsen. 
Dieser  anziehende  Gegenstand  ist  auch  gehörig  besprochen  und  in 
Büchern  verarbeitet,  sowio  experimentell  behandelt  worden.  Wir 
brauchen  nur  auf  Sibylle  von  Merian,  auf  Röaumur,  auf  de  Geer, 
auf  den  bekannten  Blattlausbeobachter  Bonnet  hinzuweisen,  die  alle 
m 19.  Jahrhundert  recht  wirksam  tätig  waren.  Später  haben  sich  auf 
diesem  Felde  Blanchard,  Professor  zu  Paris,  Ludwig  Büchner, 
Häckel  und  Darwin  — in  seinem  „Ursprung  der  Gattungen"  — 
speziell  für  Ameisen  Mayr  in  Wien  rühmlich  hervorgetan. 

Das  Uauplverdienst  gebührt  jedoch  dem  Schweizer  Peter  Huber, 
dessen  1810  in  erster  und  1869  in  erneuerter  Auflage  erschienenes 
Buch  über  die  Ameisen  das  Gebäude  der  eifrigen  Studien  seiner  Vor- 
gänger in  würdiger  Weise  krönt.  Während  sein  Vater,  Franz  Huber, 
obwohl  blind,  die  Beobachtung  des  Bienenlebens  zu  seinem  Studium 
macht  und,  wie  die  meisten  der  oben  Erwähnten,  die  ärgsten  Plagen 
und  Mühen  nicht  scheut,  hat  sich  Peter  Dank  durch  seine  wahrhaft 
merkwürdigen  Entdeckungen  und  seine  bewundernswerte  Ausdauer 
erworben. 

Er  bevölkert  nicht  nur  seinen  Garten  und  die  Terrasse  seines 
Hauses  mit  Ameisen,  sondern  auch  sein  Zimmer  und  seine  entsprechend 
hergerichteten  Tische.  Damit  aber  diese  ungewohnten  Quartiere  seinen 
„Afterparteien"  nicht  allzugrofses  Unbehagen  verursachen  und  damit 
sie  auch  in  der  neuen  Situation  zu  arbeiten  sich  entschliefsen,  stellt 


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er  künstliches  Wetter  her,  latst  er  je  nach  Bedürfnis  Trockenheit  und 
Nässe  eintreten.  Regnen  läfst  er,  indem  er  mehrere  Stunden  hinter- 
einander aus  nassen  Bürsten  mit  der  Hand  Wasser  ausspritzt.  Er 
verschwendet  an  sie  mit  solcher  Unermüdlichkeit  schmackhafte  Süßig- 
keiten und  meteorologische  Surrogate,  dafs  sie  sich  sogar  die  Fächer 
des  Schreibtisches  als  Wohnung  gefallen  lassen.  Endlich  scheinen 
ihn  diese  kleinen  Wesen  sogar  zu  lieben.  Es  fällt  ihm  deshalb  auch 
schwer,  ein  entscheidendes  Projekt,  das  er  schon  längst  hegt,  zur  Aus- 
führung zu  bringen,  nämlich  zwei  Ameisenhaufen  miteinander  ins 
Handgemenge  geraten  zu  lassen.  Er  zögert,  er  kann  sich  nicht  ent- 
schließen, mit  dem  Casus  belli,  der  den  Armeen  als  Signal  zum  Beginne 
des  Gemetzels  dienen  soll,  horvorzutreten.  Er  findet  sich  selbst  mit 
Vorwänden  ab,  um  die  ..Freveltat"  aufzusohieben.  „Ich  habe  seit 
langer  Zeit  über  das  Experiment  nachgedacht“,  sagt  er,  „und  es  immer 
wieder  aufgegeben,  denn  ich  habe  meine  Gefangenen  doch  gar  zu 
gerne."  Das  heißt  zartfühlend  sein!  Die  heutigen  Entomologen 
kennen  eine  derartige  Schonung  nicht,  sie  fahren  mit  Schaufel  und 
Spaten  drein. 

Der  17.  Juni  1804  ist  ein  denkwürdiger  Tag  für  die  Biologie. 
An  ihm  machte  Huber  eine  staunenswerte  Entdeckung.  Bevor  wir 
näher  auf  diese  eingehen,  müssen  wir  einiges  Allgemeine  voraus- 
schicken.  Wer  Ameisenhaufen  studiert  hat,  weiß,  dafs  sich  in  denen 
der  fahlroten  Art  (Formica  fusca)  Labyrinthe  von  niedrigen  Sälen, 
Bogengängen  und  Wegen  vorfinden,  die  zu  geräumigen  Zellen  führen. 
Diese  sind  mit  Puppen,  die  noch  von  ihren  Kokons  umhüllt  sind,  und 
mit  unbeweglichen  Larven  angefüllt.  Jene  Ameise,  die  ab-  und  zugeht 
und  größer  ist  als  alle  anderen,  ist  ein  Weibchen.  Die  Arbeiter 
haben  kein  Geschlecht.  Das  Weibchen  legt  Eier,  welche  einige  das 
Weibchen  umgebende  Arbeiter  nehmen,  und  zu  kleinen  Häufchen 
gruppieren.  Die  daraus  entstehenden  Würmer  würden  ohne  die 
Arbeiter  zugrunde  gehen,  denn  ihr  ganzes  Wissen  besteht  darin, 
daß  sie  den  Kopf  erheben  können,  wenn  sie  zu  essen  haben  wollen. 
Wenn  sie  ihren  Hunger  so  kundgegeben  haben,  eilen  die  Arbeiter 
herbei  und  reichen  ihnen  die  nahrhaften  Säfte,  die  sie  auf  dem  Felde 
gesammelt.  Nach  der  Fütterung  werden  die  Wickelkinder  gesonnt 
Die  Arbeiter  tragen  sie  hinauf  und  legen  sie  auf  der  Oberfläche  aus. 
Regnet  es  oder  ist  die  Hitze  zu  groß,  so  bringen  sie  dieselben  in  Säle 
von  jeweilig  entsprechender  Temperatur.  Zur  Zeit  der  Metamorphose 
hat  sich  die  Larve  einen  Kokon  gesponnen,  aus  welchem  sie  jedoch 
ebenfalls  nicht  allein  herauszukriechen  vermag.  Auch  dabei  müssen 


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ihr  die  Arbeiter  behilflich  sein,  indem  sie  die  Seide  durchschneiden, 
die  Schale  zerreifsen  und  das  ganz  schwache  Tierchen  befreien,  worauf 
die  leeren  Kokons  dann  in  entfernte  Zellen  gegeben  werden.  So  ent- 
stehen Männchen,  Weibchen  und  Oesohlechtsloso.  Die  Männcheu  und 
Weibchen  fliegen  fort,  und  nur  einige  der  letzteren  kehren  später  zu- 
rück, um  Eier  zu  legen.  Die  .Neutralen"  verlassen  den  Ameisenhaufen 
garnicht;  sobald  sie  ein  wenig  kräftig  geworden,  verrichten  sie  alle 
Arbeiten,  die  ihnen,  ohne  dafs  sie  dieselben  irgendwie  lernen,  der  In- 
stinkt eingibt:  Ausbesserung  und  Instandhaltung  des  Hauses  im  Innern, 
HerbeischafTung  nützlicher  Stoffe,  Erbeutung  von  Blattläusen  — be- 
kanntlich die  Milchlieferanten  der  Ameisen  — Verproviantierung  u.  s.  w. 
Das  sind  gewifs  schon  aufserordentliche  Instinkte,  aber  es  gibt  einen 
Instinkt,  mit  dem  wir  uns  näher  beschäftigen  müssen,  der  speziell  bei 
gewissen  Gattungen  ausgebildet  und  unstreitig  der  höchste  ist,  den 
man  bisher  bei  den  Tieren  kennt 

An  dem  obengenannten  Tage  nun  promenierte  der  in  Genf  an- 
sässige Huber  zwisohen  4 und  5 Uhr  nachmittags  in  der  Umgebung 
dieser  Stadt.  Da  wurde  er  eines  Schwarmes  grofser  roter  Ameisen 
gewahr,  die  des  Weges  daherkamen.  Der  Marsch  ging  in  guter  Ordnung 
vor  sich.  Die  Front  hatte  eine  Breite  von  3 — 4 Zoll,  während  die  Länge 
des  Zuges  8 — 10  Fufs  betrug.  Huber  folgte  ihm,  überstieg  mit  ihm 
eine  Hecke  und  befand  sich  nun  auf  einer  Wiese.  Das  hohe  Gras 
war  dem  Vorechreiten  der  Ameisen  offenbar  hinderlich,  aber  davon 
lietsen  sie  sich  nicht  anfecbten.  Sie  hatten  ein  Ziel  vor  Augen, 
welches  sie  zu  erreichen  strebten.  Es  war  dies  ein  Nest  einer  anderen 
Gattung  von  Ameisen,  der  schwarzgrauen,  deren  Behausung  sich 
etwa  zwanzig  Schritte  von  der  Hecke  im  Graso  befand.  Einigo 
der  Schwarzen,  wahrscheinlich  als  Schildwachen  amtierend,  umgaben 
den  Haufen  und  zogen,  sobald  sie  in  den  nahenden  Fremden  Feinde 
erkannt  hatten,  auf  diese  los,  einige  alarmierten  die  Mitbürger  im 
Innern.  Die  Belagerten  kamen  in  grofser  Menge  heraus.  Die  An- 
greifer fielen  über  sie  her  und  warfen  sie  nach  einem  kurzen,  aber 
sehr  lebhaften  Kampfe  in  ihr  Loch  zurück.  Ein  Korps  der  Roten 
stürzt  den  Besiegten  in  die  Eingänge  nach.  Andere  arbeiten  eifrig 
mit  den  Zähnen,  um  an  den  Seitenteilen  des  Ameisenhaufens  eine 
Öffnung  zu  schaffen.  Es  gelingt,  und  der  dritte  Teil  der  Truppen 
dringt  duroh  die  entstandene  Bresche  in  die  eroberte  Stadt.  Huber 
hatte  schon  Ameisenschlachten  und  -Vertilgungen  gesehen  und  setzte 
voraus,  dafs  man  sich  in  den  unterirdischen  Gewölben  erwürgen 
werde.  Wie  grofs  war  daher  sein  Erstaunen,  als  nach  3 — 4 Minuten 


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die  Roten  in  voller  Eile  wieder  herauskamen  und  jede  von  ihnen  eine 
Larvd  oder  Puppe  von  den  Schwarzen  trug!  Die  Angreifer  legten 
nunmehr  dieselbe  Strecke  auf  dieselbe  Art  zurück;  wie  siegekommen 
waren,  überschritten  sie  die  Hecke  und  richteten  sich  dann  gegen  ein 
in  voller  Reife  stehendes  Kornfeld.  Der  rechtschaffene  Genfer  Bürger, 
der  ihnen  abermals  gefolgt  war,  hatte  zuviel  Achtung  vor  fremdem 
Eigentum,  um  es  auch  ferner  zu  tun. 

Diese  „Expedition“  erregte  bei  Huber  ein  leicht  begreifliches 
Erstaunen.  Er  forschte  nach  und  entdeckte  zu  seiner  nicht  geringen 
Überraschung,  dafs  manche  Ameisenhaufen  gemeinsam  von  zwei  Arten, 
die  zwei  Kasten  bilden,  bewohnt  sind.  Die  einen  nennt  er  Amazonen 
oder  Soldaten  — „Kamen,  die  ihrem  kriegerischen  Charakter  analog 
sind“,  wie  er  sich  selbst  ausdrüokt  — , die  anderen  „Auxiliaires“,  was 
wir  hier  mit  Arbeiter  oder  Gesinde  übersetzen  würden,  dooh  pafst  die 
letztere  Bezeichnung,  wenn  auch  dem  Sinne  nach,  nicht  auf  die  Stel- 
lung, die  diese  Kaste  einnimmt  Denn  diese  allein  entscheidet  Uber 
die  materiellen  Interessen  der  Gemeinschaft,  über  Vergriifserungen  und 
Erweiterungen,  über  die  Notwendigkeit  von  Auswanderungen  und  die 
dazu  zu  verwendenden  Örtlichkeiten.  Freilich  plagt  sie  sich  dafür 
auch  gehörig:  sie  tut  alles,  was  wir  oben  bei  den  Arbeitern  erwähnt. 
Sie  sorgt  für  die  Haushaltung,  öffnet  die  Tore  des  Morgens  und 
schliefst  sie  am  Abend;  sie  sucht  die  Nahrung  und  nährt  sich,  die 
Soldaten  und  die  Larven.  Sie  erzieht  endlich  sowohl  die  eigenen  ge- 
flügelten Larven  als  die  ungefliigclten  der  Amazonen. 

Die  Soldaten  arbeiten  gar  nicht,  sie  haben  sich  nur  mit  Kriegs- 
führung, mit  Raub  von  Puppen  und  Larven  zu  befassen.  An  jedem 
schönen  Tage  ziehen  sie  bei  Sonnenuntergang  gegen  die  in  der  Um- 
gebung befindlichen  arbeitsamen  und  friedlichen  „Kollegen“  zu  Felde 
und  brandschatzen,  was  das  Zeug  hält  Sonst  sind  sie  den  ganzen 
Tag  hindurch  Müssiggänger,  geradezu  Faullenzer.  Huber  vermutete, 
dafs  die  Herren  Krieger  von  ihren  Unterhaltern  wohl  abhängig  sein 
dürften  und  machte  ein  diese  Meinung  vollkommen  bestätigendes  Ex- 
periment, welches  dartat,  dafs  die  wilden  Schlachtenhelden  von  Haus- 
wirtschaft keinen  Begriff  haben  und  sich  zu  keiner  häuslichen  Arbeit 
verstehen  können.  Huber  belegte  nämlich  den  Boden  einer  ver- 
glasten Schublade  mit  Erde,  brachte  darauf  30  Amazonen  und  eine  ge- 
wisse Anzahl  von  Larven  und  Puppen,  zur  Hälfte  aus  Soldaten,  zur 
Hälfte  aus  Arbeitern  bestehend.  Zur  Nahrung  legte  er  in  die  Ecke  ein 
bischen  Honig.  Anfangs  machten  die  Amazonen  Miene,  sich  um  die 
Larven  zu  bekümmern  und  trugen  sie  ein  wenig  umher,  gar  bald  aber 


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477 


hörten  sie  mit  dieser  Beschäftigung  auf.  Nicht  einmal  essen  konnten 
sie  allein,  so  dafs  nach  2 Tagen  bereits  einige  neben  dem  Honig 
Hungers  starben.  Alle  übrigen  waren  jedoch  kraftlos,  trotzdem  sie 
auch  sonst  gar  nichts  getan  hatten,  nicht  einmal  eine  Zelle  gebaut. 
Nun  brachte  Huber  eine  Arbeiterin  herbei,  und  diese  einzig  und  allein 
stellte  die  Ordnung  wieder  her,  machte  ein  Kämmerohen  in  die  Erde, 
gab  die  .Jungen“  hinein,  befreite  die  Puppen  aus  den  Kokons  und 
retteto  allen  noch  Lebenden  das  Leben.  Doch  kann  man  nicht  sagen, 
dafs  eine  der  Kasten  in  der  Gemeinschaft  die  Regierung  oder  gar 
Despotismus  ausübt.  L.  K. 


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Verzeichnis  der  der  Redaktion  zur  Besprechung  eingesandten  Bücher. 

(Fortsetzung  aus  No.  8.) 

Daune  mann,  Fr.  Gmndrifs  einer  Geschichte  der  Naturwissenschaften. 
11.  Band.  II.  Aufl.  Leipzig,  Wilh.  Engelmann,  1904. 

Donath,  B.  Die  Einrichtungen  zur  Erzeugung  der  Röntgenstrahlen.  Zweite 
verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Mit  140  Abbildungen  im  Text  und 
3 Tafeln.  Berlin,  Reuther  & Reicbard,  1903. 

Eder,  J.  M.  Jahrbuch  für  Photographie  und  Reproduktionstechnik  für  das 
Jahr  1903.  Unter  Mitwirkung  hervorragender  Fachmänner.  XVII.  Jahr- 
gang. Mit  220  Abbildungen  im  Text  und  27  Kunstbeilagen.  Halle  a.  S., 
Wilh.  Knapp,  1903. 

Eder,  J.  M.  Die  Photographie  mit  Chlorsiiber- Gelatine.  Mit  20  Abbildungen. 
Fünfte  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Halle  a.  S.,  Wilh.  Knapp, 
1903. 

Ergebnisse  der  Meteorologischen  Beobachtungen  an  den  Landesstationen  in 
Bosnien-Herzegowina  im  Jahre  1899.  Herausgegeben  von  der  ßosnisch- 
Herzegowinischen  Landesregierung.  Wien  1902. 

Esser,  P.  Das  Pflanzenmaterial  für  den  botanischen  Unterricht.  I.  Teil.  An- 
zucht, Vermehrung  und  Kultur  der  Pflanzen. 

Einer,  Fr.  u.  E.  Hasche k.  Wellenlängen-Tabellen  für  spektralanalytische 
Untersuchungen  auf  Grund  der  ultravioletten  Bogenspektren  der  Ele- 
mente. I.  und  II.  Teil.  Leipzig  und  Wien,  Fr.  Deuticke,  1904. 

Ferchland,  P.  Grundrifs  der  reinen  und  angewandten  Elektrochemie.  Mit 
59  Figuren  im  Text.  Halle  a.  S.,  Wilh.  Knapp,  1903. 

Flammarion,  C.  Gott  in  der  Natur.  Aus  dem  Französischen  mit  Genehmi- 
gung des  Verfassers  übersetzt  von  Ph.  Fr.  Geiguli.  Hallo  a.  S.,  Otto 
Hendel. 

Fortschritte  der  Physik.  Dargeslellt  von  der  Deutschen  Physikalischen  Ge- 
sellschaft. Halbmonatliches  Literaturverzeichnis,  redigiert  von  Karl 
Scheel  und  Rieh.  Afsmann.  2.  Jahrgang  8 24,  3.  Jahrgang  1—10. 

Gelcich,  E.  Die  astronomische  Bestimmung  der  geographischen  Koordinaten. 
Mit  40  Holzschnitten  im  Texte.  Leipzig  und  Wien,  Fr.  Deuticke,  1904. 

Haentzschel,  E.  Das  Erdsphäroid  und  seine  Abbildung.  Mit  IG  Textabbil- 
dungen. Leipzig,  B.  G.  Teubner. 

Harpe rath,  L.  Sind  die  Grundlagen  der  heutigen  Astronomie,  Physik, 
Chemie  haltbar?  Vortrag,  gehalten  in  der  75.  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  und  Arzte  zu  Cassel.  Berlin,  Mayer  & Müller,  1903. 

Helfen  stein,  A.  Die  Energie  und  ihre  Formen.  Leipzig  und  Wien,  Fr. 
Deuticke,  1903. 

v.  Hübl,  A.  Die  Ozotypic.  Ein  Verfahren  zur  Herstellung  von  Pigment* 
kopien  ohne  Übertragung.  (Enzyklopädie  der  Photographie,  Heft  47.) 
Halle  a,  S.,  Wilh.  Knapp,  1903. 


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479 


Hübners,  O,  Geographisch-statistische  Tabellen  aller  Ländor  der  Erde.  Her- 
ausgegeben von  Prof.  Fr.  v.  Juraschek.  Ausgabe  1903. 

Kollert,  J.  Katechismus  der  Physik.  Sechste  verbesserte  und  vermehrte 
Auflage.  Mit  304  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen.  Leipzig,  J.  J. 
Weber,  1903. 

Kraus,  H.  u.  C.  E.  Motion.  The  fundamental  principles  of  racchanics,  or  the 
mechanicR  of  the  universe.  New  York  1903, 

Kropotkin,  P.  Gegenseitige  Hilfe  in  der  Entwickelung.  Autorisierte  deutsche 
Ausgabe,  besorgt  von  Gustav  Landauer.  Leipzig,  Th.  Thomas,  1904. 

Lichtneckert.  J.  Neue  wissenschaftliche  Lebenslehre  des  Weltalls.  Der 
Ideal-  oder  Selbstzwcckmatcrialismus  als  die  absolute  Philosophie.  Leipzig. 
Oswald  Mutze,  1904. 

Monaco,  A.  Eine  Seern an nB  - Laufbahn.  Autorisierte  Übersetzung  aus  dem 
Französischen  von  Alfr.  H.  Fried.  Berlin,  Boll  & Pickardt,  1903. 

Mühlberg,  F.  Zweck  und  Umfang  des  Unterrichts  in  der  Naturgeschichte  an 
höheren  Mittelschulen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Gymnasien. 
Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner,  1903. 

Müller,  A.  Nicolaus  Copernicus,  der  Altmeister  der  neuen  Astronomie.  Ein 
Lebens-  und  Kulturbild.  Freiburg  i.  Br.  Herdersche  Verlagshandlung. 

Nippoldt,  A.  Erdmagnetismus,  Erdstrom  und  Polarlicht.  Mit  3 Tafeln  und 
14  Figuren.  Leipzig,  Göschenscher  Verlag,  1903. 

Observation s of  variable  stars  made  in  the  years  1884 — 1390.  Part  I.  The 
Observations.  J.  G.  Hagen  8.  J.  Washington  D.  C.  1901. 

Pernter,  J.  M.  Allerlei  Methoden,  das  Wetter  zu  prophezeien.  Vortrag,  ge- 
halten den  14.  Januar  1903.  Mit  8 Abbildungen  im  Text.  Wien  1903. 

Peters,  C.  Sonne  und  Seele.  Leipzig,  Aug.  Preis,  1903. 

Pizzigholli,  G.  Anleitung  zur  Photographie.  Mit  ‘205  in  den  Text  ge- 
druckten Abbildungen  und  24  Tafeln.  Elfte  vermehrte  und  verbesserte 
Auflage. 

Pizzighelii,  G.  Die  photographischen  Prozesse.  Dargestellt  für  Amateure 
und  Touristen.  Dritte  verbesserte  Auflage,  bearbeitet  von  Curt 
Mischewski.  Mit  221  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen.  (Handbuch 
der  Photographie.  Bd.  II.)  Halle  a.  8.,  Wilh.  Knapp,  1903. 

Pietzmann,  G.  Die  Beobachtungen  der  Lufttemperatur  während  der  totalen 
Sonnenfinsternis  vom  22.  Januar  1898  in  Indien.  Mit  2 Tafeln  No.  XX 
bis  XXI.  Halle,  Ehrhardt  Karras,  1903. 

Plafsmann.  J.  Mathematische  Geographie.  Ein  Leitfaden,  zunächst  für  die 
oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten.  Fünfte  verbesserte  Auflage.  Mit 
50  in  den  Text  gedruckten  Figuren  und  einer  grofsen  Sternkarte.  Pader- 
born, Ferd.  Schöningh,  1903. 

Portig,  G.  Die  Gruudzüge  der  monistischen  und  dualistischen  Weltanschau- 
ung unter  Berücksichtigung  des  neuesten  Standes  der  Naturwissenschaft. 
1.— 3.  Tausend.  Stuttgart,  Max  Kielmann,  1904. 

Publications  of  the  Lick  Observatory.  Vol,  VI.  University  of  California 
publications. 

Ramsay,  W.  Einige  Betrachtungen  über  das  periodische  Gesotz  der  Elemente. 
Vortrag  auf  der  78.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  zu 
Cassel.  Leipzig,  Joh.  Ambros.  Barth,  1903. 

Redlich,  R.  Vom  Drachen  zu  Babel.  (Sonderabdruck.)  Bruunschweig,  Friedr. 
Vieweg  & Sohn,  1903. 

Re  1 1b t ab,  L.  Die  elektrische  Telegraphie.  Mit  19  Figuren.  Leipzig,  Göschen- 
scher Verlag,  1903. 


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480 

Sch i aparelli,  G.  L'Astrcnomia  nell'  Antico  Testamente.  Milano,  Ulrico 
Hoopli,  1903. 

Schice,  P.  Schülerübungen  in  der  elementaren  Astronomie.  Mit  zwei  in  den 
Text  gedruckten  Figuren.  Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1903. 

Schoenichen,  W.  Die  Abstammungslehre  im  Unterrichte  der  Schule.  Mit 
14  Figuren  im  Text  und  2 schematischen  Darstellungen.  Leipzig,  B.  G. 
Teubner,  1903. 

Schmidt,  W.  Astronomische  Erdkunde.  Mit  81  Holzschnitten  im  Text  und 
3 lithogr.  Tafeln.  Leipzig,  Fr.  Deuticke,  1903. 

Schubert,  Theodor.  Die  Entstehung  der  Planeten-  Sonnen-  und  Doppelstern- 
systeme  und  aller  Bewegungen  in  denselben  aus  den  Elementen  ihrer 
Bahnlinien  nachgewiesen.  Kunzlau.  G.  Krouschmer,  1903. 

Stadelmann,  H.  Das  Wesen  der  Psychose  auf  Grundlage  moderner  natur- 
wissenschaftlicher  Anschauung.  Heft  I.  Das  psychische  Geschehen. 
Würz  bürg,  Ballhorn  & Gramer  Nacht,  1904. 

Stark,  J.  Die  Dissoziierung  und  Leitung  chemischer  Atome.  Braunschweig. 
Friedr.  Vieweg  & Sohn,  1903. 

Stolze,  F.  Chemio  für  Photographen.  Unter  besonderer  Berücksichtigung 
des  photographischen  Fachunterrichtes.  Hallo  a.  S,  Wilh  Knapp,  1903. 

Untersuchung  über  die  Eigenbewegung  von  Sterneh  in  der  Zone  65 ° — 70° 
nördlicher  Deklination  von  J.  Fr.  Schroeter.  Christiania,  Faritius  u. 
Sonner  A/S. 

v.  Uslar,  M.  Das  Gold.  Sein  Vorkommen,  seine  Gewinnung  und  Bearbei- 
tung. Mit  19  Abbildungen  im  Texte  und  2 Tafeln.  Halle  a.  S,  Wilh. 
Knapp,  1903. 

Veröffentlichungen  des  Königlichen  Astronomischen  Rechen-Instituts  zu 
Berlin  No.  22.  Genäherte  Oppositions-Ephemeriden  von  41  kleinen  Pla- 
neten für  1904,  Januar  bis  August.  Unter  Mitwirkung  mehrerer  Astro- 
nomen. 

Veröffentlichungen  dos  Hydrographischen  Amtes  der  Kaiserlichen  und 
Königlichen  Kriegs-Marine  in  Pola.  Gruppe  II:  Jahrbuch  der  Meteoro- 
logischen, Erdmagnetischen  und  Seismischen  Beobachtungen.  Neue  Folge 
VII.  Band.  Beobachtungen  des  Jahres  1902.  Gruppe  V:  Internationale 
erdmagnetische  Cooperation  1902—1903.  Erdmagnetische  Siraultan-Beob- 
achtungen  während  der  Südpolarforschung  in  den  Jahren  1902—1903. 
Pola,  Gerold  & Sohn,  1903. 

Wiessner,  V.  Das  Werden  der  Welt  und  ihre  Zukunft.  Wien,  Stähelia  & 
Lauenstein,  1903. 

Wislicenus,  W.  Die  Lehre  von  den  Grundstoffen.  Tübingen,  Franz 
Pietzcker,  1903. 

Zehn  der,  L.  Das  Leben  im  Weltall.  Mit  1 Tafel.  Tübingen.  J.  C.  B.  Mohr, 
1904. 


Verlag:  Hermann  Paetel  in  Merlin.  — Druck : Wilhelm  Gronau’«  ßnehdrackerei  In  Berlin  - Bchdneberg. 
Für  die  Redactioo  verantwortlich : Dr.  P.  Scbwaho  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  unterlagt. 

Übereet  langer  echt  Vorbehalten. 


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Fig.  18.  Inneres  einer  vollständigen  Station  für  Funkentelegraphie. 


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Entwickelungsgang  der  drahtlosen  Telegraphie. 

Von  Dr.  phil  (iual»v  Eichhorn  in  Berlin. 

Pnlglie  alten  Vorstellungen  über  unvermittelte  Fernwirkungen  elek- 
jTcyt  trischer  Kräfte  waren  duroh  die  urwüobsig  natürlichen  An- 
schauungen von  Michael  Faraday  ins  Wanken  gebraoht,  aber 
erst  das  Genie  eines  Maxwell  erlabte  die  ganze  Oröfse  und  Origi- 
nalität dieser  Denkungsweise;  sie  begeisterte  ihn  zur  Ausgestaltung 
eines  Meisterwerkes,  das  wie  durch  Wirkung  einer  wissenschaftlichen 
Intuition  entstanden  zu  sein  scheint  Max  welle  elektromagnetische 
Licbttheorie  ist  eins  der  gewaltigsten  Denkmäler  menschlichen  Ver- 
mögens. Wie  Licht,  so  sollten  auch  elektrische  Kraftausbreitungen 
nioht  zeitlos  den  Kaum  überspringen,  sondern  dieselbe  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit von  300000  Kilometern  in  der  Sekunde  besitzen;  ja 
beide  Phänomene  sollten  überhaupt  qualitativ  nichts  Differentes  sein  und 
sich  nur  durch  ihre  Wellenlängen  voneinander  unterscheiden.  Zur  Wahr- 
nehmung ungeheuer  ecbneller  Lichtschwingungen,  denen  Wellenlängen 
von  einigen  zehntausendstel  Millimeter  zugehörig  sind,  besitzen  wir  ein 
Organ,  nämlich  das  Auge;  es  fehlt  uns  ein  solches  dagegen  für  die  viel 
langsameren  elektrischen  Schwingungen  mit  Wellenlängen  von  hunderten 
und  tausenden  von  Metern.  Beide  Erscheinungen  spielen  sich  ab  in 
dem  Medium,  auf  dessen  Annahme  wir  mit  Notwendigkeit  hingewiesen 
sind;  es  erfüllt  wie  ein  gewaltiger  Ozean  den  ganzen  Weltenraum;  es 
ist  ein  gewisses  Etwas  von  unmefsbarer  Feinheit  und  doch  mit  Eigen- 
schaften einer  idealen  Flüssigkeit,  alle  Materie  durchdringend,  ja  in 
offenbarer  Beziehung  zu  ihr  und  dennoch  von  bestimmter,  elastisoher 
Starrheit;  wir  nennen  dieses  Medium  den  „ Weltäther'.  Über  seine 
Wesenheit  ist  die  wissenschaftliche  Diskussion  nooh  nicht  abgeschlossen, 
über  seine  reale  Existenz  scheint  jedooh  kein  Zweifel  mehr  zu  bestehen, 

nimm«]  and  Erd*.  1904.  XVI.  11.  31 


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482 


und  die  neuesten  Forschungen  über  Elektronen  führen  vielleicht  schon 
in  kurzem  zu  mehr  adäquaten  Begriffen. 

Wenn  es  möglich  war,  künstlich  solche  elektrischen  Wellen  im 
Äther  zu  erzeugen  und  ihre  Ausbreitung  zu  verfolgen,  so  war  durch 
Maxwells  geniale  Theorie  ein  festes  Fundament  gelegt  für  eine  neue 
Vorstellungaweise  elektrischer  Kraftausbreitung,  welche  auch  dem 
natürlichen  Geiste  verständlich  sein  mufste. 

Das  war  zunächst  nicht  der  Fall,  ja,  da  die  Natur  uns  ein  Organ 
für  die  direkte  Wahrnehmung  elektrischer  Wellen  versagt  bat,  schien 
es  überhaupt  fraglich,  ob  es  je  gelingen  würde,  den  fehlenden,  aber 
erforderlichen  experimentellen  Nachweis  derselben  zu  erbringen. 

Da  trat  unser  Heinrich  Rudolf  Hertz  auf  den  Plan.  Eine 
ganz  ungewöhnlich  experimentelle  Geschicklichkeit,  ein  selten  feiner 
Sinn  für  die  Wahrnehmung  unscheinbarer  Regungen  von  Naturge- 
setzen stellen  ihn  direkt  an  die  Seite  von  Faraday;  mit  Maxwell 
verbindet  ihn  dieselbe  mathematische  Begabung  und  Befähigung  zu 
sohärfster  logischer  Deduktion.  Ein  qualvolles  Geschick  schien  dieses 
Genie,  das  der  Mensohheit  so  viel  versprach,  in  einer  kurzen 
Spanne  Zeit  zu  höchster  Intensität  entfacht  zu  haben,  um  es  dann  jäh 
und  grausam  zu  vernichten. 

Heinrich  Hertz  legte  durch  seine  klassischen  „Untersuchungen 
über  die  Ausbreitung  elektrischer  Kraft“  den  fehlenden  Schlufsstein 
in  dem  Fundament,  auf  dem  nun  bald  ein  mächtiger  Bau  sich  erheben 
sollte. 


Betrachten  wir  nun  in  aller  Kürze,  wie  Hertz  vorging,  um 
sohnelle  elektrische  Schwingungen  im  Äther  zu  erzeugen,  welche 
Wellen' aussenden  mufsten,  und  wie  er  solche  dann  nachwies. 

Fig.  1 zeigt  sohematisch  den  Erzeuger  der  Oszillationen,  den  „Os- 
zillator“. 

Zwei  Metallplatten  sind  durch  einen  Draht  miteinander  verbunden, 
der  durch  eine  kleine  Funkenstrecke  F,  F2  unterbrochen  ist.  Durch 
eine  Elektrisiermaschine  oder  von  den  Sekundärpolen  eines  Induk- 
toriums  aus  w'erden  die  Platten  entgegengesetzt  bis  zu  einem  ihrer 
Kapazität  entsprechenden  Maximum  geladen,  dann  setzt  die  Entladung 
ein  vermittels  eines  Funkens  zwischen  Ft  und  F._,.  und  es  bildet  sioh  ein 
elektrischer  Strom.  Derselbe  schwillt  an  bis  zu  einem  gröfsten  Wert 
und  ladet  nun,  weiterfliefsend,  weil  er  nicht  plötzlich  aufhören  kann, 
die  Platten  in  entgegengesetztem  Sinne.  Dann  wiederholt  sich  das 


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483 


Spiel  in  umgekehrter  Richtung,  und  wir  hätten  in  «Ile  Ewig- 
keit fortdauernd  dasselbe  wechselnde  Bild,  wenn  nicht  Energie- 
verluste die  Schwingungen  immer  kleiner  und  kleiner  werden  liersen 
und  sie  endlich  ganz  zum  Verklingen  brächten.  Man  denke  an  ein 
Pendel,  das  man  aus  seiner  Ruhelage  gehoben  hat  und  dann  losläfst; 
es  schwingt  hin  und  her,  theoretisch  für  alle  Zeiten,  in  Wirklichkeit 
nur  eine  längere  oder  kürzere  Zeit,  bis  seine  Energie  infolge  von  Ver- 
lusten durch  Reibung  und  Luftwiderstand  verbraucht  ist.  Diese  Ana- 
logie führt  uns  aber  nooh  weiter.  Die  Schwingungsdauer  des  Pendels 
hängt  bekanntlich  von  seinen  Dimensionen  ab,  und  bei  dem  elektrischen 
System  der  sioh  entladenden  Platten  ist  es  nicht  anders.  Im  letzteren 
Palle  sind  es  die  Werte  der  Kapazität  und  Selbstinduktion,  welohe  die 
Schwingungsdauer  bestimmen.  Die  Kapazität  ist  die  Gröfse  der  elek- 
trischen Aufnahmefähigkeit  der  Platten  bei  einer  bestimmten  Spannung, 


Kig.  I 


genau  wie  etwa  eine  Flasche  ein  gewisses  Fassungsvermögen  lür  Luft 
bei  einem  bestimmten  Druck  hat  Die  andere  Gröfse,  die  Selbst- 
induktion ist  eigentlich  der  für  elektrische  Schwingungen  spezifische 
Faktor;  sie  hängt  ab  von  der  Form  des  Leiters  und  hat  in  Spulenform 
ihren  gröfsten  Wort  Sie  ist  es,  welche  dem  Vorgang  das  Charak- 
teristikum verleiht,  so  dafs  es  aussieht  als  hätten  wir  es  bei  der 
Elektrizität  mit  bestimmten  Massen  zu  tun,  die  Beharrungsvermögen 
haben.  Das  ist  nun  zwar  nicht  ganz  wörtlioh  zutreffend,  doch  ist  in 
den  Wirkungsäufserungen  eine  solche  Analogie  vorhanden,  dafs  wir 
die  Selbstinduktion  als  das  elektromagnetische  Beharrungsvermögen 
bezeichnen  können. 

Wie  die  Figur  1 erkennen  läfst  bildet  die  Strombahn  in  diesem 
Hertzschen  Oszillator  keinen  metallisch  geschlossenen  Kreis;  die 
Elektrizität  schwingt  vielmehr  in  einer  offenen  Strombahn  zwischen 
den  Platten  durch  den  verbindenden  Draht  und  die  Funkenstreoke 
hin  und  her.  Das  ist  sehr  wesentlich,  wie  wir  noch  später  klarer 
einsehen  werden,  denn  nur  eine  offene  Strombahn  vermag  die  Energie 
nach  aufsen  abzugeben,  und  nur  so  hat  Hertz  die  Möglichkeit  einer 
elektrischen  Ausstrahlung  realisiert. 

.31* 


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484 


Betrachten  wir  nun  weiter  die  Methode,  mit  welcher  Hertz  das 
Vorhandensein  elektrischer  Wellen  im  Räume  nachwies,  so  bekommen 
wir  erst  einen  richtigen  Begriff  von  seinem  Genie  und  seiner  Geschick- 
lichkeit. 

Hertz  sagte  sich,  dafs  die  elektrischen  Schwingungen  wieder 
schwingende  elektrische  Ströme  in  entfernten  Leitern  erzeugen  und 
sich  durch  Funkenbildung  daselbst  verraten  müfsten,  wenn  zwischen 
„Oszillator“  und  „Resonator“  — so  nannte  Hertz  den  Tür  seine  Zwecke 
besonders  konstruierten,  entfernten  Leiter  — die  Bedingung  der  Reso- 
nanz verwirklicht  war.  Wie  wir  noch  sehen  werden,  ist  das  Produkt 
aus  Kapazität  und  Selbstinduktion  das  Mafs  für  die  Schwingungsdauer 
bei  elektrischen  Oszillationen,  welohe  also  in  beiden  Fällen  numerisch 
denselben  Wert  haben  mufs. 

Bezüglich  des  Prinzips  der  Resonanz  erinnere  man  sich  daran, 
dafs  eine  erregte  Stimmgabel  eine  andere  zum  Mittönen  ohne  Berührung 
bringen  kann,  wenn  beide  ganz  gleiche  Sohwingungsdauer  besitzen. 

Figur  2 zeigt  den  Hertzsohen  „Resonator“. 

Ein  Metallring  ist  durch  eine  minimale  Luftstrecke  zwischen  den 
Kugeln  F,  und  F2  unterbrochen,  die  durch  eine  Mikrometerschraube 
in  ihrem  Abstand  voneinander  verstellbar  sind.  Mit  diesem  Reso- 
nator tastete  Hertz  den  Raum  ab,  in  welchem  er  elektrische  Wellen 
erzeugte,  nachdem  er  vorher  durch  längeren  Aufenthalt  in  völliger 
Dunkelheit  sein  Auge  auoh  für  die  schwächste  Lichtwirkung  empfäng- 
lich gemacht  hatte.  Aus  den  auftretenden  mikroskopisch  kleinen 
Fünkchen,  aus  ihrer  wechselnden  Gröfse,  ihrem  Verschwinden  und 
Wiederauftauchen  zog  Hertz  die  Schlüsse  über  die  Art  der  Ausbrei- 
tung der  elektrischen  Kraft  im  Raum;  er  wiederholte  quasi  rein  optisch, 
jedooh  mit  Apparaten,  die  den  spezifischen  Eigenschaften  und  Längen 
seiner  elektrischen  Wellen  angepafst  waren,  sämtliche  Versuche  über 
Reflexion,  Brechung,  Beugung  und  Polarisation,  ja  er  mafs  sogar  durah 
Ausbildung  stehender  Wellen  in  dem  beschränkten  Raum  seines  Labo- 
ratoriums den  genauen  Wert  der  gewaltigen  Fortpflanzungsgeschwin- 
digkeit elektrischer  Wellen. 

Hertz  beschäftigte  sioh  in  diesen  Versuchen  mit  Oszillationen, 
bei  denen  die  Elektrizität  50  millionenmal  in  der  Sekunde  hin  und 
her  schwang  und  die  sich  ausbreitenden  Wellen  eine  Länge  von  6 m 
hatten.  Später  gingen  er  selbst  und  andere  Forscher  zur  Erzeugung 
immer  schnellerer  Schwingungen  über,  um  möglichst  kurze  Wellen 
zu  erhalten.  Es  ist  sehr  interessant,  sich  eine  Vorstellung  zu  machen 
über  die  Dimensionen  einer  Strombahn,  die  fähig  wäre,  so  schnelle 


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485 


Ätherschwingungen  zu  erzeugen,  dafs  letztere  uns  als  Lioht,  welches 
ja  nichts  anderes  sein  eoll  wie  eine  elektrische  Oszillation,  erscheinen 
würden.  Eine  einfaohe  Rechnung  weist  uns  sofort  auf  atomistische 
Dimensionen  hin,  und  es  dürfte  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs,  wenn 
wir  befähigt  wären,  elektrische  Vibrationen  in  solchen  atomistisohen 
Stromkreisen  direkt  hervorzubringen  und  aufreohtzuerhaiten,  wir  die 
Methode  gefunden  hätten,  in  direkter  Weise  Lioht  zu  erzeugen.  Unsere 
heutige  Methode,  naoh  der  wir  erst  die  Molekeln 
durch  Wärme  erschüttern  müssen,  um  sukzessive 
zu  den  Lichtstrahlen  zu  gelangen,  ist  die  denkbar 
unökonomisohste;  es  ist  etwa  so,  als  erzeugten 
wir  das  ganze  Sturmgebraus  von  Tönen  einer 
Orgel,  um  ein  hohes  Register  darin  mit  wahrzu- 
nehmen. 

Sofort  naohdem  diese  Aufsehen  erregenden 
Hertz  sehen  Versuche  bekannt  geworden  waren,  Fig.  2. 

erhielt  Hertz  von  dem  ba.yerisohen  Ingenieur 
Huber  eine  Anfrage,  ob  sich  auf  Grund  derselben  eine  Telegraphie 
ohne  metallisohen  Leiter  ausbilden  lasse. 

Hertz  antwortete  verneinend,  was  wohl  niemand  verwundern 
wird  angesichts  der  Hilfsmittel,  mit  denen  Hertz  operierte,  und  mit 


Fig.  3. 

denen  wohl  ein  Künstler  seines  Berufes  Meisterhaftes  leisten  konnte, 
die  aber  dennoch  für  praktische  Anwendung  von  vornherein  als  gänz- 
lich ungeeignet  erscheinen  mufeten. 

Da  machte  im  Jahre  1890  der  Franzose  Branly  eine  merk- 
würdige Entdeckung,  welche  mit  einem  Schlage  diese  aufserliohe 
Schwierigkeit  beseitigte  und  zur  Herstellung  eines  kleinen  Instrumentes 
führte,  welches  heute  die  Seele  der  praktischen  „Telegraphie  ohne 
Draht“  bildet,  nämlich  des  Cohärers  oder  Fritters.  Derselbe  besteht 
aus  Metallfeilioht  oder  Metallkörnern,  welohe  sich  in  einem  kleinen 
Raum  zwischen  zwei  sich  nahe  gegenüberstehenden  Metallflächen  be- 
finden. Das  Ganze  wird  in  ein  Röhrohen  von  Hartgummi  oder  Glas 
eingeschlossen,  wie  es  Fig.  3 erkennen  läfst 

Infolge  von  Oxydation  an  seiner  Oberfläohe  setzt  dieses  fein 
zerteilte  Metall,  in  einen  schwachen  Stromkreis  eingeschaltet,  für  ge- 
wöhnlich dem  Durchgang  des  Stromes  einen  unüberwindlichen  Wider- 


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48« 

stand  entgegen.  Sobald  nun  aber  elektrisohe  Wellen  auftreffen,  sinkt 
der  Widerstand  plötzlich  auf  einen  sehr  kleinen  Wert,  und  der  Strom 
kann  passieren. 

Man  stellt  sich  den  Vorgang  so  vor,  dafs  durch  den  Einflufs  der 
Wellen  nioht  wahrnehmbare  kleine  Fünkchen  zwisohen  den  Metall- 
teilchen übergehen  und  letztere  dadurch  gewissermafsen  aneinander 
„gefrittet“  werden.  Es  bildet  sich  eine  rein  metallische  Brüoke,  welche 
der  Strom  leicht  passieren  kann,  die  aber  durch  geringe  mechanische 
Erschütterung  wieder  zum  Einsturz  zu  bringen  ist. 

Jetzt  hatte  man  einen  äufserst  empfindlichen  Indikator  für 
elektrische  Impulse,  der  auch  für  praktische 
S 7 \ Zweoke  verwendbar  war;  dennooh  sehen 

\ ' ' wir  erst  im  Jahre  1895  die  erste  Anwendung’ 

y [ \ desselben  aufserhalb  des  Laboratoriums. 

/ ly  Professor  Popo  ff  in  Kronstadt  Bohaltete 

T / nämlioh  in  den  Stromkreis  eines  Elementes 

/ / \ den  Cohärer  noch  mit  einem  Relais  zu- 

\ i ) sammen,  wie  es  in  der  gewöhnlichen  Tele- 

\ v.  graphie  benutzt  wird.  In  üblicher  Weise 

/ / \ konnte  nun  vermittels  des  Relais  in  einem 

Z. L/  angeschlossenen  stärkeren  Batteriestrom  ein 

! Morseschreiber,  gleichzeitig  aber  auch  eine 

elektrische  Klingel  betätigt  werden,  deren 
Klöppel  den  Cohärer,  sobald  er  leitend  geworden  war,  durch  einen 
sanften  Schlag  aufrüttelte  und  ihn  so  in  seinen  gewöhnlichen,  nicht 
leitenden  Zustand  zurückversetzte. 

Den  einen  Pol  des  Cohärers  verband  Popoff  mit  einem  Blitz- 
ableiter, während  er  den  anderen  Pol  mit  der  Erde  in  Verbindung 
brachte.  Diese  Einrichtung  diente  zunächst  zur  Registrierung  von  luft- 
elektrisohen  Entladungen,  die  auf  diese  Weise  automatisch  zeitlioh  ver- 
folgt werden  konnten.  Popoff  sprach  aber  bereits  den  Gedanken  aus, 
dafs  seine  Anordnungen  zweifellos  einen  zuverlässigen  „Empfänger“ 
für  eine  drahtlose  Telegraphie  abgeben  würden.  Es  fehle  für  letztere 
jetzt  eigentlich  nur  noch  ein  kräftiger  „Geber“  zum  Aussenden  ge- 
nügend intensiver  elektrischer  Impulse,  um  gröfsere  Entfernungen 
telegraphisch  ohne  Drahtverbindung  zu  überbrücken. 

Mit  einigem  Erstaunen  wird  wohl  mancher  Leser  in  den  bis- 
herigen Erörterungen  den  Namen  von  Marooni  vermifst  haben,  der 
doch  so  vielfach  als  der  Erfinder  der  drahtlosen  Telegraphie  ge- 
priesen wird.  Das  ist  eine  Übertreibung,  an  der  Marooni  selbst 


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487 


wohl  die  geringste  Schuld  hat.  An  den  prinzipiellen  Errungenschaften 
hat  Marconi  kein  eigenes  Verdienst,  dagegen  entfaltete  er  ein  be- 
merkenswertes Talent,  das  im  wesentlichen  Bekannte  auszugestalten 
und  es  für  praktische  Zwecke  erst  wirklich  brauchbar  zu  machen.  Auch 
rnufs  man  die  Energie  und  rastlose  Tätigkeit  bewundern,  mit  denen 
er  die  sich  ihm  entgegenstellenden  Hindernisse  zu  überwinden  wufste. 
Marconi  hatte  die  Vorlesungen  bei  Professor  Righi  in  Bologna  ge- 
hört, in  denen  sich  jener  viel  mit  der  Wiederholung  der  Hertzschen 
Versuche  beschäftigte  und  besonders  darauf  bedacht  war,  mit  mög- 
lichst schnellen  Schwingungen, 
also  sehr  kleinen  Wellenlängen, 
zu  arbeiten.  Fig.  4 zeigt  schema- 
tisch die  Anordnung  von  Righi. 

Das  Induktorium  ladet  zu- 
nächst die  kleinen  Kugeln;  diese 
entladen  sich  dann  auf  die  grofsen 
„Oszillatorkugeln“,  und  sobald 
ein  Funke  zwischen  letzteren 
überschlägt,  entstehen  die  wirk- 
samen Oszillationen, deren  Wellen- 
längen von  den  Dimensionen 
dieser  Kugeln  abhängen.  Righi 
gelangte  so  zu  Wellenlängen  von 
nur  einigen  Millimetern. 

Marconi,  der  seine  Versuche  auf  dem  Landguts  seines  Vaters 
begann,  hielt  sich  zunächst  eng  an  die  Righischen  Dispositionen; 
weiter  fand  er  aber  sehr  bald  heraus,  dafs  die  Fernwirkung  ganz  be- 
trächtlich gesteigert  werden  könne,  wenn  er  den  einen  Pol  mit  einem 
hoch  in  die  Luft  geführten  Draht  verband  und  den  anderen  an  die 
Erde  legte.  Fig.  5 zeigt  diese  Dispositionen  mit  der  einfachen  Funken- 
strecke F,  Fj,  wie  solche  Marconi  später  benutzte. 

Nach  dem  Vorhergesagten  dürfte  eine  weitere  Erläuterung  nicht 
erforderlich  sein.  Im  übrigen  haben  wir  ein  Beispiel  dafür,  dafs  ge- 
legentlich prinzipiell  unrichtige  Anschauungen  und  Motive  dennoch  auf 
den  richtigen  Weg  und  zu  grofsen  Resultaten  führen  können.  Marconi 
glaubte  nämlioh,  mit  den  kleinen  RighiBOhen  Wellen  zu  operieren, 
und  schrieb  dem  Luftdraht  keine  andere  Funktion  zu,  als  die  Aus- 
strahlung auf  seiner  ganzen  Länge  zu  vermitteln.  In  Wirklichkeit 
war  das  Ganze  nichts  anderes  als  ein  vertikaler  Hertzscher  Oszil- 
lator, und  die  Wellenlänge  betrug  jedesmal  die  vierfache  Länge  der 


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488 


von  Marooni  benutzten  Luftdrähte.  Wir  werden  auf  diesen  wichtigen 
Gegenstand  später  nooh  einmal  zurüokkommen,  weshalb  wir  uns  an 
dieser  Stelle  mit  dem  blofsen  Hinweis  begnügen  können. 

Als  „Empfänger“  benutzte  Marooni  die  früher  beschriebenen 
Anordnungen  von  Popoff  — man  sagt  unabhängig  von  letzterem, 
aber  jedenfalls  nach  ihm.  Fig.  6 zeigt  die  ganze  Schaltung. 

In  diesen  Empfangsdispositionen,  deren  Arbeitsweise  wir  klar- 
gelegt haben,  ist  der  eine  Pol  des  Cobärers  ebenfalls  mit  einem  Luft- 
draht in  Verbindung  gebracht,  während  der  andere  Pol  mit  der  Erde 
verbunden  ist. 


Coharer 


Fig.  G. 

Jeder  elektrische  Impuls  erzeugt  in  diesem  System  auf  dem 
Morseschreiber  einen  Punkt  und  viele  Impulse  in  rascher  Aufeinander- 
folge einen  Strich,  so  dafs  wir  duroh  kürzeres  oder  längeres  Aussenden 
von  elektrischen  Wellen  nach  dem  Morsealphabet  telegraphieren 
können. 

In  tatkräftiger  Weise  unterstützt  von  dem  verdienstvollen  Chef 
des  englischen  Telegraphenwesens  Preece  hat  Marooni  seine  Ver- 
suche in  immer  grösferem  Mafsstabe  ausfuhren  können  und  dann  zum 
erstenmal  tatsächlich  über  viele  Kilometer  ohne  Drahtverbindung 
telegraphiert. 

Trotz  aller  Anstrengungen  langte  dann  aber  Marooni  sehr  bald 
an  den  Grenzen  der  Wirksamkeit  an.  Woran  lag  dies?  Diese  Frage 
vollständig  beantwortet  und  den  weiteren,  richtigen  Weg  gewiesen  zu 


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489 


haben,  der  zu  ganz  ungeahnten  Fortschritten  und  Leistungen  führte, 
ist  das  alleinige,  grofse  Verdienst  von  Professor  Braun  in  Strafsburg. 
Seine  Priorität  und  die  Richtigkeit  seiner  zielbewufsten  Anschauungen 
ist  heute  allgemein  anerkannt,  nachdem  die  Fehde  zwischen  ihm 
und  Slaby-Arco,  deren  selbständige  Verdienste  nicht  verkannt 
werden  dürfen,  kürzlich  zu  Ende  gebracht  wurde.  Aus  der  ehe- 
maligen Firma  Qesellschaft  für  drahtlose  Telegraphie,  System  Professor 
Braun  - Siemens  & Halske,  und  der  Abteilung  der  Allgemeinen 
Elektrizitätsgesellsohaft  für  Funkentelegraphie,  System  Slaby-Arco, 
hat  sich  nunmehr  die  „Qesellschaft  für  drahtlose  Telegraphie,  System 
Telefunken“,  zu  vereinter  vermehrter  Tätigkeit  gebildet. 

Auch  Marconi  hatte  sehr  bald  die  gewaltige  Überlegenheit  des 
Braunschen  Systems  erkannt  und  benutzt  dasselbe  ebenfalls  heute 
ausBchliefslich.  Dieses  Verfahren  könnte  ihm  mit  Fug  und  Reoht  von 
der  Deutschen  Qesellschaft  als  widerrechtliche  Patentverletzung  be- 
stritten werden,  aber  zum  Kriegführen  gehört  Geld  und  nochmals 
Geld,  und  in  diesem  Punkte  ist  die  deutsche  Gesellschaft  der  grofszügig 
organisierten  Marooni-Gesellsohaft  noch  bei  weitem  nicht  ebenbürtig. 

Um  die  Überlegungen  von  Professor  Braun  zu  verstehen, 
müssen  wir  einen  Augenblick  zu  den  Uertzschen  Versuchen  zurüok- 
kehren  und  uns  die  wissenschaftlichen  Prinzipien  derselben  vor  Augen 
führen.  Hertz  hatte  in  seinen  speziellen  Dispositionen  nur  eine  be- 
sondere Anwendung  gemaoht,  nämlich  die  schon  lange  vor  ihm  be- 
kannten Tatsaohe  benutzt,  dafs  Ladungs-  oder  Entladungs-Ersoheinungen 
in  einer  Strombahn,  die  Kapazität  und  Selbstinduktion  enthält,  unter 
gewissen  Bedingungen  einen  oszillatorischen  Charakter  haben  müssen. 

Helmholtz  hatte  bereits  darauf  hingewiesen  mit  Bezug  auf  die 
Entladungen  von  Leydener  Flaschen. 

Sir  W.  Thomson  (Lord  Kelvin)  in  England  und  Kirchhoff 
in  Deutschland  griffen  dann  unabhängig  voneinander  das  Problem 
rein  mathematisch  an  und  gelangten  zu  berühmten  Formulierungen, 
welche  die  Vorgänge  vollständig  beschreiben.  Nicht  in  allen  Fällen 
erhalten  wir  bei  elektrischen  Entladungen  die  besprochenen  Schwin- 
gungen, sondern  es  mufs  in  der  Beziehung  zwischen  Kapazität,  Selbst- 
induktion und  Widerstand  eine  ganz  bestimmte  Bedingung  erfüllt  sein, 
deren  Berücksichtigung  natürlich  auch  für  die  Praxis  der  drahtlosen 
Telegraphie  eine  Notwendigkeit  ist. 

Die  Rechnung  liefert  ferner  einen  bestimmten  Ausdruck  für  die 
Dauer  der  erzeugten  elektrischen  Schwingungen,  und  zwar  ist  das 


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490 

Produkt  aus  Kapazität  und  Selbstinduktion  ein  Mats  für  die  Schwin- 
gungsdauer. 

Feddersen  verifizierte  dann  durch  äufserst  geschickte  Versuche 
die  Theorie  bis  in  alle  Einzelheiten,  und  viele  Physiker  naoh  ihm 
haben  besonders  die  Formel  für  die  Schwingungsdauer  in  weiten 
Orenzen  empirisch  geprüft  und  sie  in  völliger  Übereinstimmung  mit 
den  experimentellen  Ergebnissen  gefunden.  Für  den  mathematischen 
Naturforscher  hat  dies  ein  besonderes  Interesse,  weil  es  zeigt,  wie  die 
Reohnung  zu  Resultaten  führen  kann,  die  vorauszusehen  wir  nicht 
imstande  waren,  weil  unser  Vorstellungsvermögen  den  unaufhörlich 
veränderlichen  Vorgängen  nicht  folgen  kann. 

Auf  diesem  Boden  bekannter  wissenschaftlicher  Tatsachen  stand 
Hertz,  als  er  seinen  Oszillator  konstruierte,  der 
elektrische  Schwingungen  sowohl  erzeugte  als 
aussandte. 

Als  Professor  Braun  seine  Kraft  in  den 
Dienst  der  praktischen  Telegraphie  ohne  Draht 
stellte,  wies  er  sofort  auf  zwei  Cbelstände  dieser 
Anordnung,  welohe  ja  Marconi  benutzte,  hin. 
Erstens  konnte  der  Luftdraht  infolge  seiner  ge- 
ringen Kapazität  nur  sehr  kleine  Energiemengen 
aufnehmen,  und  zweitens  wurde  dieses  Wenige 
sofort  ausgestrahlt,  so  dafs  gewissermafsen  nur  kurze  stofsartige  Im- 
pulse erzeugt  wurden.  Die  spezifische  Eigenschaft  der  offenen  Strom- 
bahn, die  empfangene  Energie  sofort  an  die  Umgebung  abzuführen, 
macht  sie  gänzlich  ungeeignet  zur  Erzeugung  der  elektrischen 
Oszillationen. 

Sollten  starke  Fernwirkungen  erzielt  werden,  so  waren  gröfsere 
Energiemengen  erforderlich;  es  mufste  eine  intensive  elektrische  Os- 
zillation erzeugt  und  wie  ein  kräftiger,  langgezogener  Ton  möglichst 
lange  aufrechterhalten  werden. 

Nach  diesem  Qedankengang  benutzte  Professor  Braun  zur  Er- 
zeugung elektrischer  Schwingungen  einen  geschlossenen  Schwingungs- 
kreis, der  auch  grofse  Energiemengen  aufspeichern  konnte  (siehe 
Fig.  7). 

Ein  System  von  Leydener  Flaschen  C,  Cj,  die  bekanntlich 
enorme  Elektrizitätsmengen  aufnehmen  können,  bildet  zusammen  mit 
einer  Selbstinduktionsspule  L einen  elektrischen  Sohwingungskreis, 
der  bei  der  Entladung  durch  die  Funkenstrecke  F,  Fj  vollständig 
geschlossen  ist. 


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4U1 

Wären  keinerlei  Energieverluste  vorhanden,  so  wurden  einge- 
leitete Schwingungen  in  dieser  geschlossenen  Strombahn  ad  infinilum 
fortdauern  .müssen.  Diese  Verluste  sind  aber  faktisch  nicht  ganz  ver- 
meidbar, und  es  ist  besonders  die  Funkenstrecke,  welche  einen  grofsen 
Anteil  daran  hat;  ihre  Beseitigung  ist  eins  der  erstrebenswertesten 
Probleme  in  der  drahtlosen  Telegraphie.  Die  Schwingungen  klingen 
doch  allmählich  ab  infolge  der  „Dämpfung“  durch  Energieverluste, 
welche  aber  hier  auf  das  kleinste  Mafs  reduziert  ist. 

Da  es  nun  aber  für  jeden 
Punkt,  durch  weloben  die  Elektrizi- 
tätsmenge in  dieser  Kreisbahn  {liefst, 
einen  symmetrisch  gelegenen  Punkt 
gibt,  duroh  welchen  die  gleiche 
Elektrizitätsmenge  sich  nach  ent- 
gegengesetzter Richtung  bewegt,  so 
müssen  Wirkungen  nach  aufsen 
sioh  fast  vollständig  aufheben. 

Nennenswerte  Ausstrahlungen 
elektrischer  Kraft  sind  daher  mit 
dem  geschlossenen  Schwingungs- 
kreis unmöglich. 

Das  leistet  aber  gerade  die 
offene  Strombahn  eines  Hertzschen 
Oszillators.  Hier  wird  die  Energie 
sofort  abgegeben,  und  die  elektro- 
magnetische Strahlung  wandert  mit 
Lichtgeschwindigkeit  in  den  Kaum  ^ 

hinaus. 

Eine  Verbindung  der  offenen  mit  der  geschlossenen  Strombahn 
war  daher  die  logische  Konsequenz,  zu  der  Professor  Braun  auf 
Grund  seiner  klaren  Anschauungen  geführt  wurde. 

Diese  Koppelung  kann  nun  entweder  direkt  oder  induktiv  elek- 
tromagnetisch geschehen,  wie  es  Figg.  8 und  9 veranschaulichen. 

Kurz  zusammenfassend,  können  wir  sagen,  dafs  der  geschlossene 
Kreis,  in  welohem  die  Schwingungen  eingeleitet  werden,  ein  grofses 
Energiereservoir  repräsentiert,  welohes  der  offenen  Strombahn  die 
stark  ausstrahlende  Energie  unaufhörlich  nachliefern  mufs. 

Ein  wesentliches  Moment  ist  aber  noch  zu  berücksichtigen,  wenn 
wir  dieses  ganze  System  zu  gröfster  Leistung  bringen  wollen. 

Der  elektrisch  angestofsene  Luftdraht  schwingt,  wie  es  Professor 


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492 


Slaby  in  einem  fesselnden  Vortrag  gezeigt  hat,  immer  so,  dafs  an 
seinem  freien  Ende  ein  Spannungsmaximum,  also  Wellenbauch,  auf- 
tritt  und  seine  vierfache  Länge  eine  ganze  Wellenlänge  ergeben 
würde.  Ferner  zeigte  aber  Experiment  und  Rechnung,  dafs  auch  in 
jedem  Falle  der  geschlossene  Schwingungskreis  seine  spezifische 
Schwingung  dem  Luftdraht  aufzwingt.  Wollen  wir  also  maximale 
Wirkung  erzielen,  so  haben  wir  dafür  Sorge  zu  tragen,  dafs  die  ent- 


zum 
JnduAlor  Q 


% 


V 

9 


l ! 6 

trete 

Afetaty>6aCte 

t/der 

Fig.  St. 


stehenden  Schwingungen  in  Übereinstimmung  gebracht  werden,  d.  h, 
dafs  wir  auf  die  Ausbildung  von  Resonanz  hinarbeiten  müssen. 

Man  erinnere  sich  des  bekannten  akustischen  Phänomens,  dafs 
eine  angeschlagene,  frei  gehaltene  Stimmgabel  fast  nicht  hörbar  ist; 
es  wird  aber  sofort  ein  Ton  wahrnehmbar,  wenn  wir  sie  mit  einem 
Resonanzboden  verbinden.  Hat  dieser  nun  dieselbe  Eigenschwingung 
wie  die  Stimmgabel,  so  erzielt  man  die  maximale  Tonstärke,  ln 
unserem  Falle  entspricht  der  Stimmgabel  der  geschlossene  Schwin- 
gungskreis, dem  Luftdraht  der  Resonanzboden.  Es  wird  in  über- 
tragenem Sinne  ein  elektrischer  Ton  von  ganz  bestimmter  Höhe  erzeugt, 
der  durch  die  allmählich  zu  ihrem  vollen  Wert  anwachsende  Reso- 


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493 


nanz  in  maximaler  Stärke  nun  hinüberklingt  zu  den  gleiohgestimmten 
Empfangsdispositionen,  um  sie  kräftig  anzuregen. 

Die  prinzipielle  Funktion  des  Empfängers  haben  wir  bereits 
früher  klargelegt;  selbstredend  blieben  aber  auch  hier  nach  den  ge- 
wonnenen Einsichten  die  alten  Anordnungen  nicht  lange  bestehen. 

Anstatt  den  Luftdraht  direkt  an  den  Cohärer  zu  legen,  verband 
man  ihn  ebenfalls  zunächst  mit  einem  geschlossenen  Schwingungs- 
kreis, der  natürlich  bezüglich  der  Kapazität  und  Selbstinduktion 
so  dimensioniert  sein  mufs,  dafs  er  die  vom  .Geber“  kommende 


*1 

MetaUj. 

Mir, 

£rck 

ilaJU 

r 

f 

Fig.  10. 


CoKarer 


Welle  aufnehmen  kann.  Ebenso  wie  im  „Geber“,  so  erfordert  auch 
im  .Empfänger“  die  Anlegung  des  Luftdrahtes  an  einer  Stelle  des 
Schwingungskreises  eine  ausbalanzierende  Kapazität  an  einer  Symmetrie- 
stelle. Dieses  elektrische  Gegengewicht  hat  einen  bestimmten  Wert, 
der  empirisch  festzustellen  ist;  vor  kurzem  wurde  derselbe  auoh 
rechnerisch  ermittelt  vom  Professor  Drude,  der  überhaupt  viele  ein- 
schlägigen Verhältnisse  der  drahtlosen  Telegraphie  gründlich  theoretisch 
klargestellt  hat  Gelegentlich  genügt  auch  eine  gute  Erdverbindung 
für  praktische  Zwecke.  Die  Wirkungsweise  des  empfangenden 
Schwingungskreises  erhellt  sehr  deutlich  aus  einem  Vergleich,  den 
Professor  Braun  heranzuziehen  pflegt;  er  sagt,  dafs  derselbe  Bich 
nämlich  verhalte  wie  eine  grofse  Glocke,  die  auoh  durch  sehr  kleine 


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494 


Anstüfse  in  Schwingung  versetzt  und  endlich  zum  Tönen  gebracht 
werden  kann,  wenn  solche  unaufhörlich  im  richtigen  Tempo  erfolgen. 

Die  Übertragung  der  Impulse  auf  den  Cohärer  geschieht  durch 
einen  zweiten  geschlossenen  Kreis,  der  induktiv  von  dem  offenen 
Sohwingungskreis  erregt  wird,  wie  es  Fig.  10  erkennen  läfst. 

Wir  können  auch  etwa  sagen,  dafs  die  elektrischen  Strahlungen 


fig.  II. 

in  einer  solchen  Anordnung  wie  durch  eine  Linse  gesammelt  und  so 
in  konzentrierter  Form  auf  dem  Cohärer  zur  Wirksamkeit  gebracht 
werden. 

Im  Vorhergehendem  konnte  es  uns  natürlich  nur  darum  zu  tun 
sein,  die  Grundprinzipien  der  drahtlosen  Telegraphie  zu  beschreiben, 
da  uns  die  Erörterung  aller  wissenschaftlichen  und  technischen  Einzel- 
heiten zu  weit  fuhren  würde.  Nur  in  einem  Punkte  wird  der  Leser 


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495 


noch  eine  Aufklärung  beanspruchen,  nämlich  über  die  Möglichkeit 
der  Störungsfreiheit  und  Abstimmung  bei  gleichzeitiger  Tätigkeit 
mehrerer  Stationen. 

Wir  haben  bereits  gesehen,  dars  man  darauf  bedaoht  gewesen 
ist,  durch  den  „Geber“  nur  eine  einzige,  möglichst  kräftige,  reine 
Sohwingung  zu  erzeugen,  und  auf  diese  allein  sollte  ein  korrespon- 
dierender, passend  konstruierter,  „Empfänger"  ansprechen.  Um  dies 


nun  aber  wirklich  zur  Ausführung  zu  bringen,  inuls  man  noch  eine 
ganz  bestimmte  Vorbedingung  erfüllen;  es  ist  nämlioh  die  „Dämpfung“ 
so  klein  wie  möglich  zu  machen.  Interessant  ist  es,  zu  konstatieren, 
wie  bei  dem  Geber  im  primären,  geschlossenen  Sohwingungskreis 
anoh  nur  geringe  Vergrößerungen  des  Ohmschen  Widerstandes,  der 
daselbst  die  Dämpfung  mitbestimmt,  in  ganz  enormer  Weise  die  Inten- 
sität der  Resonanzschwingung  im  Luftdraht  und  so  die  Fernwirkling 


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496 


herabsetzen.  Es  ist  dies  jedoch  kaum  zu  verwundern,  da  in  normalen 
Dispositionen  zur  Erzeugung  einer  300  Meter-Welle  die  theoretische 
Grenze  schon  bei  60  Ohm  liegen  kann. 

Bei  bezüglichen  Untersuchungen  des  .Empfängers“  auf  den 
grofsen  Ostseestationen  Safsnitz  — Grofs  Möllen,  Figuren  11  und  12, 
welche  für  Professor  Braun  (Siemens  & Halske)  zu  leiten,  Verfasser 
dieses  Aufsatzes  die  Ehre  hatte,  stellte  es  sich  heraus,  dafs  eine  ein- 
fache Anordnung  nach  Fig.  10  für  eine  feinere  Abstimmung  ungeeignet 
war,  weil  sie  wie  ein  einziges  System  funktionierte,  das  durch  die 


I m : ■ 


I 


, : 

Fig.  13. 

Ausätze  (Luftdraht  — Platte  oder  Erde)  enorm  gedämpft  wurde. 
Gründliche  theoretische  Untersuchungen  konnten  allein  weiterhelfen, 
und  in  dieser  Hinsioht  sind  die  grundlegenden  Arbeiten  von  Professor 
M.  Wien,  Aachen,  an  erster  Stelle  zu  erwähnen.  Auoh  mein  späterer 
Mitarbeiter  und  Freund,  Dr.  Mandelstam  in  Strafsburg,  hatte  mathe- 
matisch und  experimentell  bereits  Klarheit  zu  schaffen  versucht,  und 
in  gemeinsamer  harmonischer  Arbeit  gingen  wir  dann  auf  das  ge- 
steckte Ziel  los. 

Wir  gelangten  zu  Abänderungen  (die  in  dieser  Abhandlung  nicht 
diskutiert  werden  können),  welche  nicht  nur  eine  völlige  Störungs- 
freiheit, sondern  auch  eine  absolut  sichere  Mehrfachtelegraphie  herbei- 
führten. Es  sohien  uns  unumgänglich,  darauf  hinzuweisen,  da  in  letzter 


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I 


497 


Zeit  wiederholt  in  Fach-  und  Tages-Zeilungen  behauptet  wurde,  dafs 
bisher  keine  genügend  scharfe  Abstimmung  zu  erzielen  gewesen  wäre. 

Im  Frühjahr  1903  konnten  wir  bereits  den  erschienenen  Ver- 
tretern des  Torpedo -Versuchs  - Kommandos  diese  sichere  Mehrfaoh- 
telegraphie  vorführen,  nachdem  wir  sohon  seit  Monaten  täglich  mit 
der  Marinefunkenstation  auf  Arkona  (ca.  30  Kilometer  von  Safsnitz) 
und  unserer  Gegenstation  in  Gr.  Möllen  (ca.  170  Kilometer  von  Safs- 
nitz)  gleichzeitig  ohne  irgend  welche  Storung  gearbeitet  hatten. 


Kiff-  14. 

Bei  der  Vorführuug  entfernte  sich  S.  M.  S.  .Nymphe-,  deren 
Funkenstation  mit  einer  Welle  arbeitete,  welche  nur  um  etwa  15  % 
gegen  die  Wellenlänge  unserer  Stationen  abwich,  langsam  in  der 
Richtung  nach  Gr.-Möllen,  indem  sie  ebenso  wie  wir  der  Station 
Gr.-Möllen  permanent  Telegramme  gab. 

Bei  10  Kilometer  Entfernung  begann  schon  die  Störungsfreiheit; 
von  15  Kilometer  ab  wurden  die  differenten  Telegramme  in  tadelloser 
Reinheit  gleichzeitig  auf  2 Empfangs-Apparaten  registriert,  welche  in 
besonderer  Weise  mit  demselben  Luftdralit  in  Safsnitz  in  Verbindung 
standen. 

Himmel  und  Erde  19M  XVI.  II.  32 


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498 


Da  alle  Kondensatoren  veränderlich  waren  und  jede  beliebige 
Einstellung  erzielt  werden  konnte,  so  liefs  sich  auoh  ein  bestimmtes 
Telegramm,  bald  der  Schiffs-  bald  der  Land-Station,  auswählen,  um 
es  auf  dem  einen  oder  anderen  Apparat  oder  auf  beiden  zugleich  nach 
Belieben  zu  produzieren. 

Durch  solche  und  ähnliche  Variationen  bestand  die  Abstimmung 
oder  besser  die  drahtlose  Mehrfachtelegraphie  glänzend  ihre 
Feuerprobe. 

Diese  Tatsachen  zeigen  zur  Evidenz,  dafs  der  richtige  Weg  ge- 


Fig.  15. 


funden  ist,  auf  welchem  man  weiterschreiten  muTs,  um  Abstimmung 
bezw.  Störungsfreiheit  in  noch  immer  engeren  Grenzen  zu  ermög- 
lichen. Wir  werden  aber  durch  solche  Ergebnisse  auch  direkt  auf  die 
Grenzen  der  Anwendung  der  drahtlosen  Telegraphie  hingewiesen; 
letztere  liegen  da,  wo  absolute  Geheimhaltung  die  conditio  sine  qua 
non  ist.  Hat  man  einmal  Kenntnis  bekommen,  dafs  fremde  elektrische 
Wellen  sich  heranwälzen,  was  mit  dem  Mikrophon-Telephon-Hörer, 
welchem  wir  später  noch  einige  Worte  widmen  werden,  in  jedem 
Moment  mühelos  festzustellen  ist,  so  kann  man  innerhalb  eines  ge- 
wissen Bereichs  fast  immer  in  kurzer  Zeit  die  richtigen  Einstellungen 
deB  Schwingungskreises  finden,  um  die  fremden  Zeichen  auf  dem 
Morseschreiber  erscheinen  zu  lassen. 


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4510 


Das  Gebiet  segensreicher  Nutzbarmachung  der  drahtlosen  Tele- 
graphie. auch  mit  dieser  Beschränkung,  ist  dennoch  weit  ausgedehnt, 
aber  man  darf  sich  keinesfalls  der  Torheit  schuldig  machen,  der 
Telegraphie  mit  Draht  ein  baldiges  Ende  zu  prophezeien. 

Um  das  Geschilderte  noch  bildlich  zu  veranschaulichen,  lassen 
wir  nun  eine  Anzahl  von  Photographien  folgen,  die  dem  Verfasser 
dieses  Aufsatzes  von  der  Gesellschaft  für  drahtlose  Telegraphie  in 
freundlicher  Weise  zur  Verfügung  gestellt  wurden. 


Fig.  16. 


Der  Kohärer  oder  Fritter  wird  in  2 Ausführungen,  wie  es 
Fig.  13  erkennen  läfst,  angewendet. 

Der  Stahlkohärer  besteht  aus  2 Stahlelektroden,  die  verschieb- 
bar (zu  diesem  Zwecke  dienen  die  Schrauben  und  Spirale)  in  einem 
Hartgummiröhrchen  angebracht  sind.  Zwischen  den  hochpolierten 
Innenflächen  der  Elektroden  werden  in  einen  kleinen  Zwischenraum 
eine  geringe  Anzahl  gehärteter  Stahlkörner  gefüllt;  je  kleiner  ihre 
Anzahl,  um  so  empfindlicher  arbeitet  der  Kohärer;  durch  Vermehrung 
oder  Verminderung  der  Körner  sowie  durch  Verschieben  der  Elek- 
troden kann  man  jede  gewünschte  Empfindlichkeit  einstellon. 

Bei  der  zweiten  Ausführung  des  Fritters  befinden  sioh  zwei 
Silberelektroden  in  einem  evakuierten  Glasröhrohen;  ihre  Endflächen 

32* 


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sind  so  geschliffen,  dafs  ein  kleiner  keilförmiger  Zwischenraum  ent- 
steht; in  letzterem  befinden  sich  Silber-  und  Nickel-Körner. 

Durch  Drehung  des  Fritters  kann  man  die  bestimmte  Anzahl 
Körner  in  einen  gröfseren  oder  kleineren  Raum  bringen  und  so  die 
Empfindlichkeit  regulieren. 

Fig.  14  zeigt  den  Empfangsapparat  mit  Stahlkohärer. 

Auf  dem  zurückklappbaren  Deckel  des  Apparats  befindet  sich 
Relais  und  Kohärer  mit  Klopfer;  vorn  ist  der  Morseschreiber  ange- 
bracht. Im  Innern  des  Kastens  sind  die  Elemente  für  den  Relaiskreis 


Fig.  17. 


sowie  eine  stärkere  Batterie  für  den  Morse  und  Klopfer  montiert, 
aufserdem  aber  auoh  noch  eine  Anzahl  von  Vorrichtungen,  welche 
jeden  störenden  Einflufs  der  Stromkreise  auf  den  Kohärer  vernichten. 

Fig.  15  veranschaulicht  einen  prinzipiell  gleich  konstruierten 
Empfangsapparat,  jedoch  ist  hier  der  Kohärer  durch  ein  kürzlich  von 
Ingenieur  Schloemilch  hergesteiltos  Instrument,  den  „Detektor", 
ersetzt.  Schloemilch  fand  nämlich,  dafs  durch  elektrische  Wellen 
der  Widerstand  einer  gewöhnlichen  Polarisationszelle  verändert  wird, 
und  durch  besondere  Dimensionierung  der  Elektroden  dieser  kleinen 
elektrolytisohen  Zelle  brachte  er  sie  in  ihrer  Wirksamkeit  zu  hoher 
Vollkommenheit.  Kohärer  und  Detektor  haben  dasselbe  Arbeitsprinzip: 
der  letztere  kann  jedoch  aufserdem  als  Ersatz  für  den  Mikrophontele- 
phonempfänger dienen,  welcher  in  Fig.  lti  abgebildet  ist. 


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301 


Wir  erfuhren  bereits,  dafs  eine  solche  ingeniöse  Vorrichtung 
jede  beabsichtigte  Geheimhaltung  von  drahtlosen  Telegrammen  zu- 
schanden maoht  Wie  die  Photographie  erkennen  läfst,  ist  ein  Trocken- 
element mit  einem  Mikrophon-Kontakt  und  Telephon  zusammenge- 
schaltet. Die  auf  den  Luftdraht  auftreffenden  elektrischen  Impulse 
werden  an  den  Mikrophonkontakt,  welcher  anderseits  mit  der  Erde 
in  Verbindung  steht,  herangefiihrt  und  verändern  dessen  Widerstand. 
Auf  diese  Weise  entstehen  Stromschwankungen,  auf  welche  das  Tele- 
phon reagiert,  und  in  demselben  hört  man  nun  deutlich  kürzer  oder 


Kig.  1!). 


länger  andauernde  charakteristische  Geräusche,  welche  den  Punkten 
und  Strichen  der  telegraphierten  Morsezeichen  entsprechen.  In  Safs- 
nitz  gelang  es  sogar,  diesen  „Hörer“  durch  besondere  Schaltung  mit 
dem  ganzen  Schwingungskreis  als  präzises  Abstimmungsinstrument 
zu  benutzen.  Sobald  nämlich  die  richtigen  Einstellungen  des  Sobwin- 
gungskreises  gefunden  waren,  wurde  die  Stärke  der  Geräusche  im 
Telephon  ein  deutliches  Maximum,  und  man  brauchte  dann  blofs  auf 
den  Kohärer  umzuschalten,  um  die  Zeichen  auch  auf  dem  Morse  er- 
scheinen zu  lassen.  Dabei  zeigte  es  sich  indes,  dafs  erst  eine  kleine 
Korrektion  erforderlich  war,  welche  durch  nichts  anderes  hervorge- 
rufen wurde,  als  durch  die  eigene  Kapazität  des  Kohärers,  welche  auf 
diese  Weise  zum  erstenmal  bestimmt  wurde. 

Fig.  17  gibt  uns  ein  Bild  des  „Wellenmessers“,  des  wichtigen 


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502 


Instruments,  um  die  wirksame  Welle  im  Geber  zu  erkennen.  Man 
läfst  direkt  oder  induktiv  die  zu  untersuchende  Schwingung  auf  diesen 
Wellenmesser,  der  selbt  ein  geschlossener  Schwingungskreis  ist,  in 
dem  sich  noch  ein  Hiefs'sches  Thermometer  (links  in  der  Photographie) 
befindet,  einwirken  und  variiert  die  Einstellung  des  grofsen  Konden- 
sators (in  der  Mitte  der  Abbildung)  so  lange,  bis  das  Thermometer  die 
Ausbildung  maximaler  Strömung  anzeigt;  dann  ist  Resonanz  ein- 
getreten durch  Erzeugung  derselben  Schwingung  wie  diejenige,  welche 


Fig.  20. 

eingewirkt  hat.  Aus  dem  Wert  der  Selbstinduktion  (Spule  rechts  in 
der  Photographie)  und  der  abzulesenden  Einstellung  des  geaichten 
Kondensators  ergibt  sich  dann  rechnerisch  in  einfacher  Weise  die 
Länge  der  wirksamen  Welle.  In  den  neuesten  Ausführungen  des 
Instruments  liest  man  die  Wellenlängen  sogar  direkt  auf  einer  an- 
gebrachten Skala  ab,  und  durch  beigegebene  Spulen  von  verschiedener 
Selbstinduktion  lassen  sich  die  Messungen  in  einem  sehr  grofsen 
Bereioh  ausführen. 

Fig.  18  (Titelblatt)  führt  uns  das  Innere  einer  vollständigen 
Station  vor  Augen. 

Auf  dem  Tische  befinden  sich  rechts  die  Empfangsanordnungen, 
welche  wir  bereits  beschrieben  haben,  links  der  „Geber-Schwingungs- 


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503 


kreis“;  im  letzteren  sind  zwei  Qruppen  von  Leydener  Flaschen  in 
Röhrenform  angewendet,  um  grofse  und  veränderliche  Kapazitäten  zur 
Verfügung  zu  haben.  Hinter  dem  Flasohensystem  steht  der  „Trans 
formator“,  und  in  diesem  befinden  sich  (unter  ausgekoohtem  Paraffinöl 
wegen  der  auftretenden  enormen  Spannungen)  die  Primärspule,  welche 
zusammen  mit  den  Leydener  Flaschen  den  geschlossenen  Schwin- 
gungskreis bildet,  ferner  eine  Sekundärspule  zur  induktiven  Erregung, 
welche  in  Verbindung  ist  einerseits  mit  dem  Luftdraht,  anderseits 
mit  der  unter  dem  Tisch  hängenden  Zinktrommel,  welche  die  früher 
beschriebene  Oegenkapazität  repräsentieren  soll. 

Durch  einen  Umschalter  auf  der  Schalttafel  lassen  sich  Luftdraht 
und  Oegenkapazität  mit  den  Empfangs-  und  Qebe-Dispositionen  ab- 
wechselnd verbinden.  Letztere  werden  geladen  duroh  einen  Induktor 
(unter  dem  Tisch),  dessen  primärer  Stromkreis  in  bekannter  Weise 
durch  den  daneben  stehenden  elektrolytischen  NVehnelt-Unterbreoher 
(oder  einen  Quecksilberturbinen-Unterbrecher)  in  rascher  Folge  ge- 
öffnet und  geschlossen  wird,  solange  man  durch  Niederdrücken  eines 
„Tasters“  die  Stromquelle  anschliefst  Dieser  Taster  befindet  sich  in 
der  Mitte  auf  dem  Tisch  zwischen  Qober  und  Empfänger,  und  durch 
kürzeres  oder  längeres  Niederhalten  telegraphiert  man  also  nach  den 
Morsezeiohen. 

Es  ist  bekannt,  welohe  ausgedehnte  praktische  Anwendung  die 
drahtlose  Telegraphie  bereits  gefunden  hat.  Sie  leistet  heute  schon 
unschätzbare  Dienste  im  Lotsenverkehr  wie  überhaupt  im  Sicherheits- 
und Nachrichten-Dienst  für  die  Schiffe,  ferner  zu  militärischen  Zweoken 
in  Heer  und  Marine.  Besonders  erwähnen  möchten  wir  die  fahrbaren 
Funkentelegraphenstationen  der  Luftsohifferabteilung  in  der  deutschen 
Armee,  welohe  in  den  letzten  Kaisermanövern  durch  drahtlose  Über- 
mittelung der  Korpsbefehle,  wie  überhaupt  durch  sichere  Aufreoht- 
haltung  einer  Verbindung  des  Generalkommandos  mit  den  verschie- 
denen Heeresabteilungen  auch  auf  grofse  Entfernungen  sich  glänzend 
bewährten. 

Fig.  19  und  20  geben  uns  ein  vollständiges  Bild  dieser  wichtigen 
Anwendung  der  drahtlosen  Telegraphie.  Von  einer  Beschreibung  im 
einzelnen  dürfen  wir  nach  vorher  Gesagtem  absehen  und  uns  auf  den 
Hinweis  beschränken,  dafs  bei  diesen  fahrbaren  Stationen  der  Luft- 
draht durch  Drachen  oder  Ballons  in  die  Höhe  geführt  wird. 

Es  steht  fest,  dafs  Marconi  mit  seiner  Riesenstation  in  Poldhu 
(England)  Uber  Tausende  von  Kilometern  bis  an  das  Mittelländische 
Meer  drahtlos  telegraphiert  hat.  Auch  für  das  deutsche  System 


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504 


existiert  eine  Entfernungsfrage  prinzipiell  nicht  mehr,  da  es  nach  den 
neuesten  Versuchen  von  Professor  Braun  jetzt  möglioh  ist,  jede  be- 
liebig grofse  Energiemenge  als  elektrische  Weilen  in  den  Raum 
hinauszuBenden. 

Manche  Probleme  harren  noch  der  Lösung,  aber  nach  ihrem 
Werdegang  dürfen  wir  der  drahtlosen  Telegraphie  auch  für  die  Zukunft 
das  beste  PrognoBtikon  stellen. 


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1 

Aus  der  naturwissenschaftlichen  Technik  des 
Altertums. 

Vou  t)r  AxmiBH  in  Erfurt. 

ei  dem  noch  immer  zur  Diskussion  siehenden  „ Babel- Bibel- 
Thema“  sind  naturgemäfs  die  Augen  aller  Gebildeten  erneut 
den  alten  Kulturstätten  des  Orients  zugewandt,  und  je  nach 
seiner  Geistesrichtung  sucht  ein  jeder  an  der  Ausbeute  des  Gefundenen 
teilzunehmen  und  ihm  geläufige  Ideenverbindungen  daran  zu  knüpfen. 
Wenn  nun  auoh  in  Ninive  undBabylon,  soweit  wenigstens  bis  jetzt  für 
weitere  Kreise  bekannt  geworden  ist,  das  Meiste  für  die  Theologen 
und  Philologen  ausgegraben  zu  sein  scheint,  so  bedarf  es  vielleicht 
nur  des  Hinweises  auf  erfolgreiche,  ältere  naturwissenschaftliche 
Spekulationen  bei  früheren  Ausgrabungen  und  Bibelstudien,  um  die 
Hoffnung  zu  hegen,  dafs  man  auch  dort  in  Assyrien  etwas  für  die 
praktische  Verwendung  der  Naturkräfte  finden  möge.  Denn  es  ist 
nicht  anzunehmen,  dafs  der  Bewohner  des  fernen  Ostens  bei  der  ihm 
eigenen  Erfindungsgabe  und  hoben  Kultur  achtloser  an  den  gewaltigen 
Offenbarungen  mancher  Naturkraft  vorübergegangen  sein  sollte,  wie 
seine  westlichen  Nachbaren  und  biblischen  Geschichtsgenoasen,  die 
Ägypter  und  Juden.  Es  möge  darum  gestattet  sein,  über  die  be- 
kannteren, dahin  zielenden  Bestrebungen  eine  kurze  Betrachtung  an- 
zustellen. 

Von  den  Ägyptern  wenigstens  scheint  es  festzustehen,  dafs  die 
Priesterkaste  magische  Geheimnisse  auf  Grund  praktischer  Traditionen 
bewahrte,  welche  sich  auf  unleugbare  Kenntnisse  naturwissenschaft- 
licher und  speziell  elektrischer  Vorgänge  stützen  müssen. 

Auch  in  weiteren  Kreisen  sind  die  Inschriften  des  altägyptischen 
Tempels  von  Edfu  und  Dendrah  bekannt,  welche  besagen,  dafs  die 
das  Gebäude  überragenden  Masten  zur  Abwehr  des  himmlischen  Un- 
wetters bestimmt  seien.  Diese  Mastbäume  aus  Holz,  30 — 10  m hocb, 
waren  oben  spitz  und  mit  Kupfer  besohlagen.  In  Med  inet  Abu 


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506 


waren  die  Spitzen  der  von  Ramses  HI.  um  1300  v.  Chr.  daselbst 
errichteten  Bäume  sogar  vergoldet.  Also,  wenigstens,  was  die  Auffange- 
stangen anbelangt,  eine  sohr  vollkommene  Blitzableiteranlage.  Dieselben 
befanden  sich  anscheinend  aber  nur  vor  der  Fassade  der  Tempelhalle, 
und  darum  ist  es  zweifelhaft,  ob  sie  imstande  waren,  die  ganze  aus- 
gedehnte Tempelanlage  zu  schützen,  wozu  nach  modernen  Ansichten 
eine  sehr  grofse,  zweckmäfsig  verteilte  Anzahl  von  Auffangestangen 
nötig  gewesen  wäre.  Somit  liegt  der  Gedanke  nahe,  dafs  die  wenigen, 
aber  sehr  hohen  Spitzen  mehr  physikalischen  Experimenten  zur  Be- 
wirkung staunenerregonder  Vorgänge  bei  den  Zeremonien  des  Kultus 
dienten.  Dazu  kommt,  dafs  Ägypten  in  der  gewitterarmen  Zone  liegt, 
eine  dringende  Blitzgefahr  mithin  kaum  bpstand.  Dafs  diese  Flaggen- 
masten sicher  imstande  waren,  analog  dem  Drachen  Franklins,  die 
Luftelektrizität  aufzusaugen  und  herabzuleiten,  wohin  die  Priester  sie 
haben  wollten,  ist,  zumal  bei  dem  trockenen  Klima  in  der  Nähe  des 
Wüstensandes,  keine  Frage.  Man  konnte  so  mittels  himmlischer 
Funken  Opferfeuer  entzünden  zum  Schrecken  der  Gläubigen,  von 
denen  gelegentlich  auch  manchmal  einer,  wenn  er  der  Priesterschaft 
nicht  pafste,  sehr  bequem  auf  dem  modernsten  Wege  der  Hinrichtung 
in  das  Totenreioh  befördert  wurde.  Wahrscheinlich  aber  wurden  die 
Gesetze  der  Blitzleitung  mehr  instinktiv  erfafst  und  ausgenützt,  indem 
diese  Ausnutzung  sehr  gut  zu  dem  ägyptischen  Kult  der  personifizierten 
Naturkräfte  parste. 

Ähnliche  Erwägungen  mögen  wohl  Michaelis  in  Göttingen 
bei  seinen  historisch-kritischen  Betrachtungen  geleitet  haben,  als  er 
bei  einer  freien,  poetischen  Übersetzung  des  29.  Psalmes  einen  Hin- 
weis zu  entdecken  glaubte,  dafs  auch  den  Juden  schon  die  Wirkung 
des  Blitzableiters  bekannt  gewesen,  und  sie  bewufst  dieselbe  zum  Schutz 
ihres  Tempels  verwendet  hätten.  Diese  Erörterungen  Bind  allerdings 
schon  etwas  lange  her,  sie  stammen  aus  Mitte  und  Ende  des  lä.  Jahr- 
hunderts, doch  gerade  darum  verdienen  sie  wohl  bei  dem  augenblioklioh 
herrschenden  Interesse  für  den  Orient  eine  neue  Würdigung;  sei  es 
auch  nur,  um  dem  Freund  der  Naturwissenschaften  eine  gewisse  An- 
regung zu  gewährenl  — Michaelis  glaubte  in  dem  betreffenden 
Psalm  neben  der  gefeierten  Herrlichkeit  des  Tempels  ganz  besonders 
die  Sicherheit  des  Heiligtums  gegen  Unwetter  gerühmt,  und  es  ist 
in  der  Tat  auffallend,  dafs  in  einem  gewitterreichen  Lande  ein  derart 
exponiertes  Bauwerk,  wie  der  hochragende  salomonische  Tempel, 
anscheinend  von  stärkeren  Blitzschlägen  verschont  blieb.  Ein  der- 
artiges Ereignis  wäre  sicher  von  den  alten  Schriftstellern  doch  über- 


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507 


liefert  worden.  Wir  müssen  un9  darum  nach  Vorrichtungen  umsehen, 
welche  geeignet  waren,  den  Blitz  zu  bannen. 

Nach  verschiedenen  Überlieferungen  befanden  sioh  auf  dem 
Tempeldache  zahlreiche  Metallspitzen,  welche  die  Vögel  abhalten  sollten, 
das  Heiligtum  zu  verunzieren.  Ähnlich  wohl,  wie  man  es  auch  jetzt 
noch  bisweilen  auf  Turmknäufen  findet.  Über  die  Länge  dieser  Spitzen 
ist  freilich  zunächst  nichts  gesagt.  Es  würde  auch  der  Theorie 
des  Blitzableiters  nicht  widersprechen,  falls  die  Spitzen  kurz  gewesen 
wären,  wenn  sie  nur  an  hervorragenden  Ecken  und  Enden  des  Baues 
nicht  fehlten.  Der  bekannte  Historiker  Josephus,  dem  wir  ein  gut 
Teil  der  Tempelbeschreibung  verdanken,  erzählt  aber  eingehend,  wie 
bei  der  Eroberung  Jerusalems  durch  Titus  der  Tempel  gleich  einer 
Festung  bis  zuletzt  heftig  verteidigt  wurde,  ln  ihrer  höchsten  Not 
brachen  die  Leviten,  mangels  anderer  Wurfgeschosse,  die  metallenen 
Spitzen  von  dem  Dache,  um  sie  gegen  die  Feinde  zu  sohleudern. 
Darum  kann  man  wohl  annebmen,  es  habe  sich  dabei  auoh  um  längere, 
wurfspeerähnliche  Stangen  nach  Art  von  Blitzableitern  gehandelt. 
Verfolgt  man  aber  den  Weg  der  Blitzableitung  weiter,  so  findot  man, 
dafs  zunächst  das  goldene  Dach  und  dessen  anschliefsende  mächtige, 
kupferne  Röhrenleitungen,  welche  das  Regenwasser  in  grofse,  unter- 
irdische Zisternen  führten,  vorzüglich  zu  Leitungszwecken  geeignet 
waren.  Jede  stärkere  elektrische  Entladung  mufste  unter  diesen  Um- 
ständen ohne  Schwierigkeiten  unschädlich  ausgeglichen  werden.  So 
bildete  das  ganze  Qebiiude  mit  seinen  vielfachen  Metallbedeckungen 
einen  sog.  Fa raday sehen  Käfig,  gleich  diesem  unverletzlich. 

Doch  könnte  man  eiuwenden,  diese  Einrichtungen  seien  zufällige 
gowesen,  ein  unbewufstes  Nützlichkeilsprinzip.  Der  Tempel  blieb  vom 
Blitz  verschont,  uud  man  hielt  das  der  Heiligkeit  einer  geweihten 
Stätte  als  ein  Wunder  zu  gute.  Heutzutage  freilich  trägt  sogar  die 
Peterskirche  in  Rom  bewufst  Blitzableiter.  Wenn  man  indessen  be- 
denkt, dafs  das  Nationalheiligtum  der  Juden  aus  der  ursprünglichen, 
mosaischen  Stiftshütte  hervorgegangen  ist,  so  kann  man  in  deren 
Grundzügen  sehr  wohl  Anhaltspunkte  für  unsere  Ansohauung  ge- 
winnen. 

Nach  der  Schilderung  des  alten  Testamentes  bestand  die  ursprüng- 
liche Stiftshütte  aus  einem  Gerüst  hoher  Stangen,  einer  Art  Zelt,  mit 
seidenen  Teppichen  behängt,  welche  die  Wände  bildeten.  Es  wurden 
so  verschiedene  Räume  umgrenzt  Zunächst  das  Allerheiligste,  darum 
der  Vorhof.  Ausdrücklich  aus  trookenem,  seltenen  Föhrenholz  ge- 
arbeitet trugen  diese  Stangen  Metallspitzen  und  waren  mittels  goldener 


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508 


Ketten  untereinander  verbunden.  Letztere,  welche  selbstverständlich 
gute  Leitungen  an  ausreichend  isolierten  Fläohen,  Föhrenholz  und 
Seide,  abgeben,  konzentrierten  sioh  nach  der  Mitte  zu  und  endigten 
auf  der  Bundeslade.  Wenn  also,  wie  Uber  dem  Drachen  Franklins, 
eine  Gewitterwolke  über  den  Spitzen  der  Stiftshütte  lagerte,  so  mufste 
ihre  elektrische  Kraft  von  diesen  angesogen  und  in  das  Innere  des 
Heiligtums  geleitet  werden.  Im  kleinen  kann  man  bekanntlich  dieses 
Prinzip  deB  Blitzableiters  sehr  sohön  erkennen,  wenn  man  eine  Nadel 
dem  Konduktor  der  Elektrisiermaschine  nähert. 

In  gleicher  Weise  auffallend,  wie  bei  den  Stangen  der  Umgebung, 
ist  nun,  dafs  auch  die  Bundeslade  aus  Föhrenholz  gezimmert  war. 
Dieses,  in  dem  biblischen  Lande  gar  nicht  heimische,  und  nioht  einmal 
so  edel  wie  das  Zedernholz  Kleinasiens,  gab  aber  eine  gute,  isolierende 
Fläche  für  elektrische  Spannungen  ab.  Aus  diesem,  ausdrücklich  als 
trocken  vorgeschriebenem  Holze  wurde  ein  viereckiger  Kasten,  eine 
Lade  hergeriohtet,  innen  und  aufsen  mit  Goldblech  beschlagen.  Man 
erkennt  somit  immer  deutlicher  die  Art  der  Leydener  Flasche.  Auch 
diese  besteht  ja  lediglich  aus  zwei  elektrisch  leitenden  Fläohen,  getrennt 
durch  das  isolierende  Glas.  In  einem  derartigen  Apparat  kann  man 
eine  grofse  Elektrizitätsmenge  ansammeln,  um  sie  dann  mit  einem- 
male  unter  grofser  Kraftentfaltung  zu  entladen.  Das  geschieht  filr 
gewöhnliob,  wie  jedermann  aus  dem  physikalischen  Unterricht  weifs, 
durch  leitende  Verbindung  der  beiden  voneinander  durch  Isolation 
getrennten  Metallflächen.  Macht  man  dieses  Experiment  durch  Be- 
rührung mit  den  Händen,  so  erhält  man,  je  nach  der  Gröfse  der 
Leydener  Flasohe,  einen  mehr  oder  weniger  heftigen  elektrischen 
Schlag  unter  Funkenbildung.  Ein  Vergleich  mit  dem  aus  der  Bundes- 
lade hervorbrechenden,  himmlischen  Feuer  liegt  ohne  weiteres  auf 
der  Hand,  ebenso  aber  auch,  dafs  die  Ladung  dieses  ganz  gewaltigen 
elektrischen  Kondensators  dann  besonders  stark  und  gefährlich  war, 
wenn  sich  eine  Gewitterwolke  über  das  Heiligtum  der  Israeliten 
lagerte.  In  der  biblischen  Geschichte  wird  das  letztere  Faktum  öfters 
bei  grofsen  Ereignissen  erwähnt,  und  Moses  und  auch  Aaron  ver- 
mieden es  dann  regelmäßig,  das  Allerheiligste  zu  betreten,  weil  sie 
die  Gefahr  kannten,  nämlich  vom  Blitz  erschlagen  zu  werden.  Dieses 
Sohicksal  wurde  indessen  denen  zu  teil,  die  teils  unberufen  sich  der 
Bundeslade  näherten,  teils  von  den  Priestern  beauftragt  wurden,  ein 
Sühneopfer  auf  dem  Deckel  niederzulegen.  So  erzählen  die  Bücher 
Moses  eine  ganze  Anzahl  derartiger  Vorfälle,  wohin  nicht  zuletzt  die 
Bestrafung  der  Rotte  Korah  gehören  dürfte.  Auoh  Delitzsch  findet 


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es  sonderbar,  dafs  man  später  von  der  ruhmreichen  Bundeslade,  nach- 
dem sie  vordem  ihre  eigentümliche  Kraft  so  bewährt,  gar  nichts  mehr 
hört.  — Nach  Erbeutung  derselben  durch  die  Philister  wurde  sie 
wieder  zurückgegeben  und  nach  dem  kleinen  judäischen  Grenzort  B§th- 
Schemesch  gebracht,  wo  die  unvorsichtigen  Bewohner  beim  Anschauen 
und  Berühren  in  gröfserer  Zahl  ihr  Leben  einbüfsen.  Dann  wird  von 
der  Lade  nichts  weiter  erwähnt.  Delitzsch  scheint  diese  Angaben 
überhaupt  für  sagenhaft  zu  halten  und  erklärt  das  Verschwinden  der- 
artiger Berichte  mit  dem  Eintreten  der  historischen  Zeit  Mögen  auch 
diese,  soweit  sie  das  gestürzte  Götzenbild  im  Dagonstempel  zu  Asdod 
und  die  Vorfälle  zu  Beth-Schemesch  betreffen,  sagenhaft  übertrieben 
und  unwahr  sein,  so  sind  es  doch  Abklänge  einer  früheren  wirkungs- 
reichen Epoche  und  dessen,  was  man  glaubte,  der  heiligen  Lade  Zu- 
trauen zu  müssen. 

Durch  die  Entfernungder  Bundeslade  aus  ihrer  gewohnten  Umgebung 
hatte  diese  natürlich  ihre  Kraft  verloren,  denn  sie  konnte  den  räuberi- 
schen Feinden  auch  dann  nicht  schaden,  selbst  wenn  sie  das  Geheim- 
nis der  elektrischen  Ladung  gekannt  hätten.  — Von  dieser  Erwägung 
ausgehend,  wäre  allerdings  der  Einwand  möglich,  wie  kam  es,  dafs 
die  Lade  im  Kriege,  auf  dem  Zuge  des  Volkes  Israel  durch  die  Wüste, 
ihre  geheimnisvolle  Wirkung  äufserte.  wenn  sie  ihren  Platz  hinter 
den  seidenen  Wänden  des  Stiftshütte  aufgeben  mufste.  Alsdann  wurde 
sie  an  lange  Stangen,  ebenfalls  aus  Föhrenholz  und  durch  vorhandene 
goldene  Hinge  gesteckt,  von  Leviten  getragen.  Ehe  man  sie  aber 
mit  ins  Feld  nahm,  mufste  sie  von  den  Priestern,  da  sie  niemand 
berühren  durfte,  eingewickelt  werden.  Während  des  Marsches  brannte 
auf  dem  goldenen  Deckel  ein  dauerndes  Feuer,  und  dessen  Rauch 
war  es,  welcher  die  Elektrizität  aus  der  Luft  herabzog.  Rauch,  im 
Grunde  genommen  lediglich  fein  verteilte  Kohle  und  stark  erhitzte 
Verbrennungsgase,  bildet  einen  vorzüglichen  elektrischen  Leiter.  Man 
kann  sich  sehr  schön  von  dieser  Tatsache  experimentell  überzeugen, 
sofern  mag  ein  Stückchen  Feuerschwamm  auf  die  Spitze  des  Elektro- 
meters steckt  und  entzündet  Sobald  sich  die  Rauchsäule  ruhig  in 
die  Lüfte  erhebt,  gerät  der  Mefsapparat  in  Tätigkeit.  Der  Blitz  sucht 
sich  ja  auch  mit  Vorliebe  verrufste  Sohornsteine,  zu  denen  er  durch 
die  aufsteigende,  warme  Verbrennungsluft  hingelockt  wird,  zum  Ein- 
schlagen aus. 

So  verlor  die  Bundeslade  selbst  auf  dem  Marsohe  ihre  Staunen 
und  Schrecken  erregenden  Eigenschaften  nicht,  welche  sie  allerdings 
in  Feindeshänden  nicht  wiedererlangte,  ebenso  in  späteren  Zeiten  im 


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5 J 0 


Salomonischen  Tempel  nicht,  falls  sie  überhaupt  noch  vorhanden  war. 
Von  Wundern  im  späteren  Nationalheiligtum  hören  wir  nichts  mehr, 
und  man  scheint  daher  von  dem  Wunderbaren  mehr  zum  Praktischen, 
dem  Schutz  des  kostbaren  Tempelbaues  gegen  Unwetter,  übergegangen 
zu  sein.  — Indem  wir  im  vorstehenden  den  Anregungen  Miohaelis, 
Rendavids  und  Lichten  berge,  des  geistreich-satirisohen  Physikers, 
alle  drei  ihrerzeit  Zierden  der  Göttinger  Universität,  gefolgt  sind, 
müssen  wir  es  uns  natürlich  versagen,  jeden  einzelnen  besonders  zu 
Worte  kommen  zu  lassen.  Auch  soll  darum  nicht  gesagt  sein,  dafs 
M oses  und  die  Propheten  des  alten  Testamentes  bewufst  sich  der- 
artiger Experimente  zur  Täuschung  des  israelitischen  Volkes  bedient 
hätten.  Selbst  dann,  wenn  sich  alle  diese  Dingo  aus  den  rituellen 
Einrichtungen  des  religiösen  Kultus  ergeben,  auf  selbstverständlichem, 
unbeabsichtigten  Wege,  so  konnten  sie  immer  des  Wunderbaren  genug 
für  den  Patriarchen  Moses  selbst  bergen.  Von  den  Lehrmeistern 
des  auserwählten  Volkes,  den  Ägyptern,  wird  man  wohl  weniger 
geneigt  sein  dürfen,  dieses  anzunehmen,  vielmehr,  dafs  eben  die 
Priesterkaste  geheimes  Wissen  zur  Herrschaft  ausbeutete. 

Von  einer  derartigen,  in  gewissem  Sinne  technischen  Anwendung 
der  Naturkräfte  findet  sich  bei  den  späteren  Völkern  wenig  in 
das  Auge  Fallende,  wenn  wir  nicht  zur  Unterstützung  der  Glaub- 
würdigkeit obiger  Kenntnisse  das  Ende  des  dritten  römischen  Königs, 
Tullus  Hostilius,  heranziehen  wollen. 

Bekanntlich  war  sein  Vorgänger  Numa  Pompilius  ein  sehr 
frommer  Herrscher,  unter  dem  es  die  Götter  gut  hatten,  denen  beson- 
ders im  einzelnen  neue  Kulte  eingerichtet  wurden.  So  hatte  Numa 
auch  dem  Jupiter  elicius  einen  Tempel  gebaut,  wo  er  als  pontifex 
maximus  den  vom  Himmel  „herbeigelockten“  Jupi  t er  verehrte.  Wenn 
man  nun  annimmt,  dafs  der  Gott,  analog  wie  boi  anderen  sagenhaften 
Erscheinungen  und  Offenbarungen,  auch  dort  nirht  gut  anders,  wie 
im  Feuer  erscheinen  konnte,  so  ergibt  Bich  ein  Fingerzeig,  ob  man 
nicht  in  ähnlicher  Weise,  wie  die  Ägypter,  den  Gott  aus  den  Gewitter- 
wolken herablockte.  Die  Sage  erzählt  geradezu,  Numa  habe  unter 
Beihilfe  der  Egeria  erfahren,  wie  man  das  himmlisohe  Feuer  aus  den 
Wolken  zur  Erde  ziehe!  Während  seinem  Vorgänger  Numa  das 
Experiment  dauernd  glückte,  vernachlässigte  der  kriegerische  Tullus 
zunächst  die  Pflege  der  Religion,  und  die  geheime  Wissenschaft  geriet 
in  Vergessenheit.  Als  sich  nun  der  König  nach  kriegerischer  Ver- 
gangenheit zur  Ruhe  setzen  wollte,  da  mochte  er  den  alten  Kult  wieder 
aufleben  lassen.  Doch  Mangel  an  Übung  oder  Unkenntnis  liefsen 


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511 


ihn  wohl  die  nötige  Vorsicht  vergessen,  und  Jupiter  elicius  erschlug 
ihn  mit  dem  Blitz.  Für  die  Wahrscheinlichkeit  dieser  Episode  scheint 
die  Überlieferung  zu  sprechen,  dafs  Tullns  das  dem  Jupiter  geweihte 
Opfer  in  der  früher  üblichen  Weise  durch  „vom  Himmel  herabkommen- 
des Feuer“  entzünden  wollte,  wobei  er  „etwas  am  Ritus“,  natürlich  dem 
Gott  zum  Zorne  versah.  Ferner  soll  N'uma  bedeutende  Kenntnisse 
der  Naturkräfte  gehabt  und  sie  in  mystischen  Schriften  niedergelegt 
haben,  welche  dann  später  aufgefunden,  als  verderblich,  weil  die 
Religion  gefährdend,  verbrannt  wurden.  Dieser  Fund,  welcher 
400  Jahre  nach  NumasTode  in  oder  bei  seinem  Grabmal  nach  einer 
Überschwemmung  gemacht  sein  soll,  beweist  freilich  nicht  dessen 
Autorschaft.  Man  will  sogar  wissen,  dafs  es  pythagoräische  Schriften 
gewesen,  doch  traute  man  sie  wenigstens  dem  Könige  zu.  So  gingen 
wohl  die  letzten  Spuren  geheimer  Naturwissenschaft  im  alten  Rom 
verloren.  Von  Versuchen  auf  elektrischem  Gebiete  wenigstens  hören 
wir  in  der  ganzen  späteren  römischen  Geschichte  nichts  Hervorragendes 
mehr.  Somit  blieb  es  bei  dieser  vereinzelten  Kenntnis.  — 

Später  hat  sich  das  materielle  Römertum  nicht  weiter  zu  natur- 
wissenschaftlichen Forschungen  und  Entdeckungen  verleiten  lassen. 
Schwerlich  wird  man  die  Vorführungen  der  Magier  und  Gaukler, 
besonders  der  Kaiserzeit,  als  etwas  anderes,  wie  das  gleiche,  wa9  un- 
sere modernen  Tausendkünstler  treiben,  ansehen  können,  nämlich  als 
höchst  oberflächliche,  routinierte  Experimente  und  keine  tiefere  Natur- 
erkenntnis. Wenn  auch  die  Zauberei  und  Geisterbeschwörung  bei 
allen  Völkern  des  Altertums  in  Blüte  stand,  so  verdammten  doch  die 
ersten  Philosophen  die  Magier.  Democritos  liefs  sich  duroh  sie 
nicht  einsohüchtern,  Plato  wollte  sie  eingesperrt  wissen.  Epicur 
hielt  das  Zauberwesen  für  töricht,  weil  alles  in  der  Natur  gesetzmässig 
und  natürlich  zugehen  müsse.  Hippokrates,  Theophrast, 
Aristoteles  suchen  mit  wissenschaftlichen  Untersuschungen  einer  spär- 
lichen Phantasie  entgegenzutreten,  und  bekannt  ist  Ciceros  elegante 
Abhandlung  „de  Di  vinatione“,  über  die  Unvernunft  des  Aberglaubens. 
Tacittis  aber  charakterisiert  die  Magier  als  „eine  Gattung  Menschen, 
treulos  den  Mächtigen,  täuschend  den  Hoffenden“.  — Dooh  kommen  auch 
entgegengesetzte  Ansichten  vor.  So  scheint  der  so  zielbewusste  und. 
wie  man  annehraen  sollte,  nüchterne  M.  P.  Cato  der  Zauberei  und 
dem  Aberglauben  sehr  zugetan  gewesen  zu  Bein:  wenigstens  empfiehlt 
er  die  tollsten  Zaubersprüche  und  Formeln  zur  Heilung  von  äufseren 
Verletzungen,  wie  Verrenkungen  und  Brüchen.1)  — Darum  kann  es  nicht 

')  Vgl.  Schleyden,  Studien. 


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512 


Wunder  nehmen,  dafs  gerade  die  Machthaber  manchmal  wirklichen 
Erfindungen  mifstrauisoh  gegenüberstanden,  wie  die  Erzählung  von 
dom  berühmten, unzerbrechlichen  Becher  deB  Tib  erius  beweist.  Diesem 
bot  ein  Künstler  — Faber  nennt  ihn  kurzweg  Petronius,  welcher 
die  Geschichte  zuerst  im  Gastmahl  des  Tri  ma  Ich  io  erzählt,  — einen 
gläsernen  Becher  von  solcher  Haltbarkeit  dar,  „dafs  er  nicht  mehr 
zerbrechlich  war,  wie  goldene  oder  silberne  Gefäfse.“  Scheinbar  un- 
absichtlich liefs  er  ihn  fallen,  worüber  der  Kaiser  sehr  erschrak,  weil 
ihm  dafs  Gefäfs  gar  wohl  gefiel  und  er  dasselbe  nun  mehr  zerbrochen 
wähnte.  Doch  der  Erfinder  zog  einen  kleinen  Hammer  hervor,  wo- 
rauf er  mit  wenigen  Schlägen  die  ursprüngliche  Form  des  Glases  zu- 
recht trieb.  Das  Wohlgefallen  des  kaiserlichen  Tyrannen  aber  ge- 
reichte ihm  zum  Verhängnis.  Nach  der  hinterlistigen  Frage  an  den 
Künstler,  ob  er  allein  im  Besitz  dieses  Geheimnisses  sei,  und  dessen 
bejahender  Antwort  liefs  er  ihm  den  Kopf  absohlagen  mit  der  ebenso 
einfachen  wie  verblüffenden  Motivierung:  „wenn  solohe  Kunst  weiter 
bekannt  werde,  würden  Gold  und  Silber  hinfort  nicht  mehr  wert  sein 
als  Tonerde!“  Und  der  ältere  Plinius  setzt  nooh  hinzu,  dafs  man 
auch  das  Laboratorium  des  betreffenden  Teohnikers  zerstört  habe,  da- 
mit Gold  und  Silber  ihren  Wert  nicht  verlören.  — Der  Ausdruck 
quasi  lutum,  „als  Ton  (Lehm)“,  hat  denn  auoh  die  moderne  Vermutung 
wachgerufen,  man  könnte  es  hier  vielleicht  mit  Aluminiuum  zu  tun 
haben.3) 

Nooh  heute  zerbricht  sich  die  Wissenschaft  den  Kopf  darüber, 
was  das  für  ein  eigentümlicher  Stoff  gewesen  sein  kann.  Schade,  dafs 
er  uns  verloren  ging!  Hier  hätte  die  moderne  Zeit  in  der  Technik 
wirklich  einmal  etwas  aus  dem  Altertum  lernen  können. 

Wie  aber  die  alten  Naturphilosophen  wenig  Beobachtungssinn 
und  Neigung  befafsen,  Überliefertes  naohzuprüfen,  so  nahmen  sie  auch 
die  eigentümlichen,  anziehenden  Eigenschaften  des  Bernsteins,  Elek- 
tron, ohne  weiteres  hin.  Es  kümmerte  sie  nicht,  etwa  Vergleiche 
mit  ähnlichen  Substanzen,  Harzen  u.  s.  w.  anzustellen.  So  erzählt 
Theophrast  von  Eresus  von  einem  Körper,  den  er  den  „Ly nku rer“ 
(Xu-jxoüpt'iv)  nennt.  Derselbe  hat  ähnliche  Kraftäufserungen  wie  der 
Bernstein.  Wahrscheinlich  hat  er  den  Turmalin  gemeint,  wenigstens 
ist  die  Rede  von  einem  sehr  harten  Stein,  der  zu  Petschaften  gebraucht 
w’urde,  also  doch  von  einem  Mineral.  Er  hatte  damit  die  jetzt  unter  dem 
Namen  Pyroelektrizität  bekannte  Art  entdeckt;  freilich  handelt  es  sich 
bei  deren  Hervorrufen  weniger  um  Reiben,  wie  beim  Bernstein,  als  um 

’)  Nach  einer  Mitteilung  von  E.  Krause  im  Prometheus. 


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fine  Erwärmung,  somit  einen  Temperaturkontrast  desSteinesinit  seiner 
Umgebung,  welcher  die  Elektrizität  frei  werden  läfsl.  — Da,  wo  man 
aber  wirklich  einmal  eine  Analogie  fand,  war  sie  falsch.  Wie  z.  B. 
Thaies  von  Milet  erzählt:  „es  sei,  als  ob  eine  Seele  den  Bernstein, 
wie  den  Magnetstein  durchdringe,  welcher  Eisen  anziehe,  wie 
jener  leichte  Körperchen.“  Obwohl  hier  eine  schöne  Gelegenheit 
wäre,  den  üblichen  Seherblick  eines  Weltweisen,  der  den  Zusammen- 
hang zwischen  Elektrizität  und  Magnetismus  geahnt  habe,  zu  rühmen, 
so  wird  jedermann  das  rein  Äufserliche  dieses  Vergleiches  erkennen, 
der  nicht  im  mindesten  geeignet  war,  Aufklärung  über  die  beiden 
Körpern  entströmende  Kraftentfaltung  zu  schaffen.  Nicht  einmal  die 
Polarität  des  Magnetismus  hatte  man  erfafst,  geschweige  denn  seine 
Kiohtkraft  nach  Norden,  eine  Tatsache,  welche  geeignet  gewesen  wäre 
das  gesamte  Altertum  umzugestalten! 

Hier  zeigt  sich  dann  wieder  einmal  die  Ironie  des  Schicksals, 
wenn  man  auf  Grund  der  Berichte  Alexander  v.  Humboldts  an- 
nehmen will,  dafs  der  Kompafs  von  einem  hauptsächlich  auf  dem 
Lande  heimischen  Volke  erfunden  sei.  Wie  Humboldt  angibt, 
hatten  die  Chinesen  bereits  zur  Zeit  des  Kodros  und  der  Herakliden 
eigentümliche  Wagen,  mit  denen  sie  die  unermefslichen  Steppen 
ihres  Landes  durchfuhren.  Auf  diesen  Wagen  war  eine  kleine 
menschliche  Figur  angebracht,  deren  ausgestreckter  Arm  unausgesetzt 
nach  Süden  zeigte.  Man  darf  wohl  glauben,  dafs  es  sich  hierbei  um 
die  Rieh  tu  ngsli  nie  einer  Magnetnadel  handelte;  wie  wäre  es 
auch  sonst  möglich  gewesen,  in  den  unendlichen  Wüsten  der  Tartarei 
den  sicheren  Weg  zu  finden.  Später  übertrug  man  die  Vorteile  des 
magnetischen  Wegweisers  auch  auf  die  Schiffahrt.  Diese  Reisewagen 
hiefsen  naoh  Angabe  des  chinesischen  Historikers  Schunatsian 
f 180  v.  Chr.)  Tschhi-nau-kin  und  wurden  vom  Kaiser  Tsching-Wang 
(1100  v.  Chr.)  Gesandten  aus  Tonkin  und  Cochinchina  mitgegeben, 
auf  dafs  sie  ihre  südliche  Heimat  wieder  linden  könnten.  Somit 
brauchten  diese  nur  die  Wagendeichsel  parallel  dem  magnetischen 
Arm  zu  stellen,  um  unausgesetzt  nach  Süden  zu  reisen,  wo  sie  tat- 
sächlich wohlbehalten  anlangten. 

Was  aber  die  physiologischen  Wirkungen  der  Elektrizität  be- 
trifft, so  ersohöpfte  sich  die  Kenntnis  derselben  mit  der  Wissenschaft, 
.dafs  der  Zitteraal  heftige  Erschütterungen  von  sich  gäbe,  wenn  man 
ihn  unvorsichtig  anfasse“.  Selbst  Plinius  erzählt  das  ohne  weiteres 
den  älteren  Autoren,  wie  Aristoteles,  nach,  ohne  nur  den  Versuch 
einer  Nachprüfung  zu  machen,  da  er  doch  sicher  an  der  Küste  des 

Himmel  and  Erde.  J904,  XVI.  11.  33 


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514 


Mittelländischen  Meeres  wenigstens  den  dort  häufigen  Zitterrochen, 
Raja  Torpedo  genannt,  hätte  erhalten  können.  Dieser  Fisch  wird 
wohl  jetzt  noch,  wie  auch  im  Altertum,  in  Neapel  feilgehalten.  — So 
kann  es  denn  nicht  wundernehmen,  dafs  selbst  die  berühmte  römische 
Kriegskunst,  so  praktisch  sie  auch  sonst  weniger  komplizierte, 
mechanische  Errungenschaften,  wie  zur  Konstruktion  von  Belagerungs- 
maschinen,  zu  Hilfe  nahm,  beim  Zusammenstufs  mit  einem  natur- 
wissenschaftlich feiner  gebildetem  Volke  teilweise  Schaden  nehmen 
raufste. 

Wenn  auoh  die  Orieohen  selbst  nioht  allzuviel  von  naturwissen- 
schaftlicher Technik  besafsen,  so  galt  das  doch  nicht  so  sehr  von  ihren 
westlichen  Kolonien  in  späterer  Zeit,  da  sich  diese  infolge  von  Handel 
und  Schiffahrt  besonders  mit  den  Völkern  der  Küste  Afrikas  in 
regem  Verkehr  befanden.  So  brauchen  wir  auch  kein  Bedenken  zu 
tragen,  den  Erzählungen  über  den  berühmten  Syrakuser  Archimedes 
selbst  da  eine  gewisse  Glaubwürdigkeit  zu  schenken,  wo  sie  nicht 
von  allerersten  Historikern  miterwähnt  werden.  Sehen  wir  daher  von 
den  sonstigen  erwiesenen  Leistungen  wohl  des  gröfsten  Teohnikers 
des  klassischen  Altertumes,  der  Erfindung  und  eingehenden 
Verwendung  der  Schraube,  des  Hebels  und  Flaschenzuges,  sowie  des 
hydrostatischen  Gesetzes  ab,  so  interessiert  uns  besonders  die  Dar- 
stellung über  die  sinnreiche  Verteidigung  seiner  Vaterstadt. 

Bekanntlich  boII  Arohimedes  im  Jahre  212  die  Schiffe  der 
römischen  Belagerer  von  den  Wällen  der  Stadt  Syrakus  nicht  blors 
durch  besonders  gefährliche  Wurfgeschosse  bedroht,  sondern  direkt 
mittels  Brennspiegel  entzündet  und  verbrannt  haben.  Trotz  der 
späteren  Zeiten  ist  der  bündige  Beweis  hierfür  nicht  zu  erbringen,  da 
Historiker,  wie  Livius  und  Plutarch,  hiervon  niohts  wissen,  und 
die  Bücher  derer,  die  davon  wufsten,  wenigstens  nach  Angabe  des 
Mittelalters,  verloren  gegangen  sind.  Aber  da  man  das  Experiment  dem 
Geiste  eines  Archimedes  wohl  Zutrauen  kann,  so  folgen  wir  gern 
den  hierüber  angestellten  Versuchen. 

Zuerst  nahm  der  bekannte,  gelehrte  Jesuitenpater  Ki roher,  ein 
aufserordentlich  universeller  Forscher  des  17.  Jahrhunderts,  Veran- 
lassung, die  Möglichkeit  der  betreffenden  Angaben  durch  Versuche  zu 
prüfen.  Da  von  eigentlichen  Hohlspiegeln  genügender  Gröfse  bei 
Archimedes  wohl  nioht  die  Rede  sein  konnte,  so  vereinigte  er  fünf 
Planspiegel  miteinander,  mit  denen  er  in  einer  Entfernung  von  einigen 
30  Metern  eine  bedeutende  Hitzewirkung  erzielte.  Er  besuchte  auch 
den  Schauplatz  der  Belagerung  und  glaubte  aus  den  örtlichen  Ver- 


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hältnissen  gemeinsam  mit  dem  Konfrater  Schott  die  Möglichkeit,  ja 
Wahrscheinlichkeit  der  Überlieferung  feststellen  zu  können.  Die  Ver- 
suche Kirohers  sind  noch  von  anderer  Seite  erweitert  worden.  Unter 
anderen  konstruierte  Büffon  ein  grofses  Oesteil  von  108  Planspiegeln, 
deren  Reflex  sich  zusammen  auf  einen  Punkt  werfen  liefe.  Es  gelang 
ihm,  damit  auf  eine  Entfernung  von  200  Fufs  nicht  nur  Holzplanken  zu 
entzünden,  sondern  auch  alle  Metallarten  zu  schmelzen.  Das  war  also 
mehr  eine  Art  Fayettenspiogel,  statt  eines  einzigen  Hohlspiegels, 
und  gerade  hierin  soheint  auoh  die  praktische  Möglichkeit  des  Ver- 
brennens der  feindlichen  Flotte  zu  liegen.  Archimedes  konnte 
nämlich  so  jeden  einzelnen  Spiegel  auf  die  beabsichtigte  Entfernung 
und  Brennweite  einstellen,  ohne  dafs  der  Feind  etwas  davon  gewahr 
wurde.  Die  Römer  würden  ihm  sonst  wohl  auf  eine  andere  Weise 
wieder  heimgeleuchtet  haben ! 

Man  richtete  zunächst  e i n e Spiegelscheibe  mit  ihrem  Lichtschein 
auf  den  Schiffsrumpf,  darauf  eine  folgende,  welche  ihren  Schein  mit 
dem  vorhergehenden  vereinte,  dann  desgleichen  eine  dritte,  indem  man 
die  Vorsicht  gebrauchte,  die  schon  eingestellten  Spiegelfacetten  abzu- 
blenden. So  konnte  niemand  auf  dem  Sohiffe  wissen,  was  unter 
seinem  Gesichtspunkte,  d.  h.  unter  seinen  Füfsen  vorging,  da  er  den 
Brennpunkt  an  der  Bordwand  nicht  sab.  bis  dann  mit  einem  Male 
sämtliche  Spiegel  enthüllt  wurden  und  augenblicklich  der  Brand  er- 
folgte, zumal  bei  den  Strahlen  einer  fast  afrikanischen  Sonne. 

In  der  Wissenschaft  des  Archimedes  freilich  zeigt  sich  bereits 
ein  vollendetes  System  im  Gegensatz  zu  früheren  Rudimenten  und 
zerstreuten,  empirischen  Einzelkonntnissen  naturwissenschaftlicher 
Dinge.  Leider  kennen  wir  aber  den  Stand  der  Naturwissenschaften  vor 
Archimedes  nicht  zur  Genüge,  um  den  Wert  seiner  persönlichen 
Leistungen  voll  einsohätzen  zu  können.  Wie  dürftig  leider  die  Aus- 
beute bezüglich  unseres  Themas  ist,  ergibt  sioli  daraus,  dafs  wir  so- 
gar die  Sage  zu  Hilfe  nehmen  mufsten,  um  einiges  Brauchbare  zu 
finden.  Es  war  eine  Art  beginnender  Kristallisationsprozesse  ver- 
sprengter einzelner  Kenntnisse  der  Vergangenheit  unter  bewufster  An- 
wendung für  das  praktische  Leben. 

Wenn  wir  eben  diese  Vergangenheit  mit  ihren  dunklen  Offen- 
barungen zum  Ausgangspunkt  unserer  gelegentlicher  Kenntnis  ent- 
springenden Betrachtungen  genommen  haben,  so  dürfte  zum  Schluss 
der  Hinweis  gestattet  sein,  dafs  alle  diese  lückenhafte,  naturwissen- 
schaftliche Technik  der  Gesamtheit  einer  längst  entschwundenen 
Urphysik  entstammen  mögen.  — Sie  sind  Reste  einer  im  Schutt 

33* 


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der  Zeiten  begrabenen  wissenschaftlichen  Blüteperiode,  die  lange  vor 
der  Herrschaft  der  Pharaonen  lag.  Um  der  Historie  willen  soll 
man  auoh  nach  ihnen  suchen  I Was  aber  die  Tatsachen  selbst  anbe- 
langt, so  können  wir  bezüglich  der  technischen  Wissenschaften  ge- 
trost trotz  des  Famulus  Wagner  sagen,  wenn  wir  uns  in  den  Geist 
der  Vorzeiten  versenken,  dafs  wir  Freude  empfinden: 

„Zu  schauen,  wie  vor  uns  ein  weiser  Mann  gedacht, 

Und  wie  wirs  dann  — zuletzt  so  herrlich  weit  gebracht.“ 


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Suggestion  und  Gesellschaft. 

Von  Eduard  Sokai  in  Berlin  - Charlottenbur#. 

• h s ist  ein»  offene  Streitfrage  von  grofsier  prinzipieller  Bedeutung, 
."Vc.  ob  die  psychischen  Erscheinungen  und  Vorgänge  den  physika- 
liechen  Prozessen  (im  weitesten  Sinne  des  Wortes)  gleichgestellt 
werden  können.  Die  hohe  Wichtigkeit  dieses  Problems  ftir  das  Ge- 
samtbild einer  naturwissenschaftlichen  Weltanschauung  leuohtet  von 
selbst  ein;  es  gehört  zu  jenen  Kolumbus-Eiern  der  Forschung  — für  die 
uns  bis  jetzt  noch  der  Kolumbus  fehlt.  In  der  fortlaufenden  Reihe  der 
physikalisch-chemischen  Prozesse,  in  welcher  naoh  dem  ehernen  Gesetz 
der  Erhaltung  der  Energie  jede  Einnahme  und  Ausgabe  gebuoht  ist, 
gibt  es,  streng  genommen,  keinen  Platz  fiir  den  fremden  Eindringling 
der  psychischen  Phänomene,  die,  ohne  selbst  einer  quantitativen 
Messung  zugänglich  zu  sein,  in  der  objektiven  Welt  quantitative,  nach 
Zahl  und  Gewicht  mefsbare  Veränderungen,  Störungen  des  sonst  eiu- 
getretenen  Verlaufes  hervorrufeu  müfsten.  Der  Übergang  eines  quan- 
titativ nicht  bestimmten  Etwas,  also  in  diesem  Falle  der  psychischen 
Prozesse,  in  quantitative  physikalische  Energieumwandlungen  müfste 
nach  unseren  gegenwärtigen  naturwissenschaftlichen  Anschauungen 
einem  Wunder  gleichgestellt  werden. 

Aber  auch  die  gegenteilige  Auffassung,  die  sich  uns  als  einzige 
Alternative  darbietet,  stofst  auf  bedeutende  Schwierigkeiten.  Diese 
Alternative  besteht  dann,  dafs  die  Vorgänge  in  der  physischen  und 
psychischen  Welt  einander  parallel  laufen,  ohne  sich  gegen- 
seitig zu  beeinflussen.  Physische  und  psychische  Ereignisse 
wären  nach  dieser  Auffassung  wie  Buchstaben  zweier  wildfremder 
Alphabete  regellos  aneinander  gekettet,  so  dafs  es  nur  ein  Zufall  wäre, 
wenn  ein  Wort  in  der  einen  Sprache  zusammengestellt,  auch  in  der 
anderen  einen  Sinn  ergäbe.  Die  deutsche  Philosophie  hat  für  diese 
eigentümliche,  nicht  ursächliche  Verknüpfung  einen  eigenen  terminus 
technicus,  „Parallelersoheinungen“,  „Epiphänomena“,  eingefiihrt.  Die 
Menschen  würden  im  Sinne  dieser  Anschauung  leben  und  bandeln, 


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Staaten  gründen,  Gedichte  verfaseen,  sich  Wohltaten  erweisen  oder 
in  rasender  Wut  gegeneinander  toben,  dies  alles  — getrieben  durch 
rein  physische  Triebe  und  Kräfte,  als  ob  das  Denken,  Fühlen  und 
Wollen  gar  nicht  existierte.  Jene  Gestalten  grofser  Dichter,  wo  die 
Natur  selbst  auf  frischer  Tat  ertappt  zu  sein  und  der  Schleier,  welcher 
über  dem  Geheimnis  der  Schöpfung  ruht,  gelüftet  erscheint,  würden 
demnach,  wenn  die  Kausalität  psychischer  Vorgänge  geleugnet  wird, 
nur  von  einer  fabelhaften  Kenntnis  des  psychischen  Organismus  Zeugnis 
ablegen;  das  Wort  vom  Dichterblick,  „der  Herz  und  Nieren  prüft“, 
müfste  in  seiner  nackten  buchstäblichen  Brutalität  wahr  sein. 

Wenn  nun  irgend  etwas  aus  dem  gewaltigen  Gebiete  psychischer 
Dokumente  gegen  diese  Auffassung  Protest  einlegt  und  für  eine  physi- 
kalische Auffassung  spricht,  so  sind  es  die  Phänomene  der  Suggestion, 
welche  der  berühmte  russische  Gehirnphysiologe  W.  v.  Bechterew  in 
einer  soeben  erschienenen  Abhandlung  einer  knappen,  aber  meister- 
haften Diskussion  unterworfen  hat.  Nirgends  tritt  uns  so  deutlich  das 
Mirsverhältnis  zwischen  dem  verschwindend  kleinen  Impuls  und  seiner 
nachhaltigen,  intensiven  Wirkung  entgegen.  Der  „unbewufste“  psy- 
chische Vorgang,  mit  dem  der  moderne  Psycholog  ebenso  geläufig 
operieren  mufs,  wie  der  Chemiker  mit  dem  „Atom“,  welches  auch 
naturgemäfs  niemals  der  sinnliohen  Wahrnehmung  zugeführt  werden 
kann,  scheint  berufen,  diese  Lücken  auszufüllen,  den  Abgrund  natur- 
philosophisoher  Zweifel,  der  sich  sonst  hier  jäh  auftun  müfste,  zu 
überbrücken.  Das  Wesentliche  an  dem  Menschen  ist  für  den  modernen 
Psychologen  nicht  das  „Pleinair“  der  klar  bewufsten  Ideen  und  Vor- 
stellungen, sondern  das  halb  unbewufste  Dämmerlicht  der  Begierden, 
Triebe  und  Instinkte,  welche  auf  seine  Handlungen  den  bestimmenden 
Einflufs  ausüben.  Und  wenn  andererseits  der  wissenschaftlichen 
Psychologie  unserer  Zeit  so  häufig  der  Vorwurf  gemacht  wird,  dafs 
sie  mit  dem  wirklichen  Menschenleben,  mit  seinen  Leiden  und  Freuden, 
seinen  Kämpfen  und  Sorgen  nur  weniges  gemein  hat  und  die  Fülle 
der  Erscheinungen  zu  schematischen  Abstraktionen  verkommen  läfst, 
so  können  die  Versuche,  die  Janet  in  Paris  und  Bechterew  in 
Sl  Petersburg  über  die  von  ersterem  sogenannte  „Influence  somnam- 
bulique  et  le  besoin  de  direction“  angestellt  haben,  wohl  als  Antwort 
darauf  gelten.  Diese  Forsoher  gingen  zunächst  von  der  Beobachtung 
hypnotischer  Sohlafzustände  bei  Hysterischen  aus.  Man  ist  zuweilen 
imstande,  bei  Hysterischen  auch  die  schwersten  Krankheitssymptome 
durch  Suggestion  zeitweise  vollständig  zum  Verschwinden  zu  bringen. 
Zunächst  sind  die  Krankon  dann  von  allen  lästigen  Erscheinungen 


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frei,  ihr  Ernährungszustand  ist  befriedigend,  ihre  geistigen  Tätigkeiten 
sind  wieder  hergestellt.  Nach  einiger,  meist  nicht  sehr  langen  Zeit  treten 
jedoch  alle  früheren  Storungen  wieder  ein.  Dabei  macht  sich  ein 
merkwürdiges  Symptom  bemerkbar.  Wie  bei  dem  Gebrauch  der 
Narcotica,  tritt  mit  impulsiver  Gewalt  das  Bedürfnis  nach  Wieder- 
holung der  hypnotischen  Einwirkung  und  zwar  in  immer  kürzeren 
Zeiträumen  auf.  Die  Person  des  Hypnotiseurs  erlangt  auf  dun  Kranken 
eine  fast  unbeschränkte  Gewalt  und  füllt  sein  ganzes  Sinnen  und 
Denken  aus.  Vor  Jahren  kam  einmal,  wie  Janet  erzählt,  ein  junger 
Arzt  zu  Charcot  und  bat  ihn  um  ein  Mittel,  durch  welches  er  sich 
eines  hysterischen  Mädohens  entledigen  könnte,  an  dem  von  ihm  eine 
derartige  ominöse  Wunderkur  vollzogen  wurde.  Würde  man  solohe 
Kranke  je  24  Stunden  hypnotisieren,  bo  würden  sie  ihr  Leben  in 
einem  anscheinend  normalen  Zustande  verbringen,  aber  ihre  Persön- 
lichkeit wäre  im  Grunde  eine  andere  geworden  und  würde  sogar  in 
den  kleinsten  Willensakten  zum  Hypnotiseur  in  einem  Verhältnis  skla- 
vischer Abhängigkeit  stehen.  Von  diesen  krassen  und  unheimlichen 
Fällen  führen  zahlreiche  Übergänge  zum  normalen  Leben.  Gar  nicht 
so  selten  sind  Individuen,  welche  nur  mit  Mühe  oder  überhaupt  uicht 
zu  der  geringfügigsten  Willensentscheidung  sich  aufrafTen  können. 
Sie  bestürmen  den  Arzt  mit  den  minutiösesten  Fragen:  Soll  ich  essen? 
Soll  ich  ausgehen?  Soll  ich  aufstehen?  und  folgen  automatisch,  wenn 
auch  nicht  lange,  seinen  Vorschriften  — einem  Uhrwerk  gleich,  das 
nur  für  kurze  Zeit  aufgezogen  werden  kann  — . Manchmal  treten  diese 
Erscheinungen  bei  ihnen  plötzlich  aus  Anlafs  besonderer  Ereignisse, 
die  eine  wichtige  Entschliefsung  erfordern,  auf.  ln  die  Salpötriere 
kommen  jährlich  einige  Dutzend  Mädchen,  die  aus  Anlafs  eines 
Heiratsantrages  von  dieser  Krankheit  der  Aboulie  (Willenlosigkeit) 
befallen  werden.  Man  heilt  sie,  wie  Janet  mitteilt,  gewöhnlich  dadurch, 
dafs  man  für  sie  die  Entscheidung  fällt.  Dann  kommt  die  grofse 
Zahl  der  gewohnheitsmäfsigen  moralischen  SelbBtankläger,  die  je 
einige  Monate  in  zerknirschter  Oemütsstimmung  den  Arzt  aufsueben, 
auf  eine  tröstliche  Zusprache  sehr  leicht  sich  beruhigen,  um  nach 
einigen  Monaten  wiederzukommen.  Mehr  oder  weniger  Sklavennaturen 
sind  wir,  wie  es  scheint,  alle,  und  die  Herrschaft,  die  dämonisohe 
Willensriesen  über  uns  erlangen  können,  ist  demnach  leicht  erklärlich. 

Nach  Bechterew  ist  Suggestion  nichts  anderes,  als  ,die  unmittel- 
bare Übertragung  oder  Impfung  bestimmter  Seelenzustände  mit  Um- 
gehung des  Willens,  ja  nicht  selten  auch  des  Bewußtseins  des  auf- 
nehmenden Individuums".  Darin  ist  gemäfs  seiner  Auffassung  der 


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520 


wesentliche  Unterschied  gegeben  gegenüber  der  Überzeugung,  welche 
nioht  anders  wirksam  ist,  als  unter  Zuhilfenahme  logischen  Nach- 
denkens und  bei  voller  Beteiligung  des  persönlichen  Bowufstseins. 
Der  Weg  der  Suggestion  fuhrt  „nicht  durch  den  Haupteingang,  sondern 
sozusagen  von  der  Hintertreppe  aus  in  die  inneren  Gemächer  der 
Seele“.  — Als  zwei  der  Suggestion  nahe  verwandte  Formen  psychischer 
Beeinflussung  erwähnt  Bechterew  den  Befehl  und  das  Beispiel:  Beide 
wirken  in  gewissen  Beziehungen  zweifellos  nach  der  Art  der  Suggestion 
und  sind  dann  von  dieser  nicht  unterscheidbar.  In  anderen  Beziehungen 
aber,  so  weit  sie  sich  an  den  Verstand  wenden,  stehen  sie  der  logischen 
Überzeugung  sehr  nahe. 

Bekannt  ist  die  ansteckende  Wirkung  der  Selbstmordmanie,  sowie 
der  anarchistischen  Verbrechen.  Auch  das  militärische  Kriegs- 
kommando verdankt  seine  Wirkung  gewifs  nioht  ausschliefslich  der 
Furcht  vor  Strafe,  sondern  es  handelt  sich  immer  zugleich  um  sugges- 
tive Vorgänge,  um  unmittelbare  Cberimpfung  einer  bestimmten  Idee. 
Es  ist  ohne  weiteres  klar,  dafs  der  suggestiven  Übertragung  psychischer 
Zustände  sehr  viel  zahlreichere  Wege  offen  sind  als  der  Überzeugung. 
Überredung  führt  im  allgemeinen  nur  zum  Ziele,  wo  sie  sich  an  einen 
gesunden  und  klaren  Verstand  wendet.  Die  Erfolge  der  Suggestion 
sind  im  allgemeinen  am  auffallendsten  bei  geringer  logischer  Ent- 
wickelung, bei  Kindern  und  im  einfachen  Volke.  Es  fällt  ihr  daher 
in  unserer  Erziehung  fraglos  eine  nicht  zu  unterschätzende  Rolle  zu. 

Trotzdem  also  die  Suggestion  in  diesem  Sinne  so  alt  ist,  wie  der 
geistige  Verkehr  der  Menschen  untereinander,  so  ist  doch  ein  intimerer 
Einblick  in  die  Natur  des  suggestiven  Einflusses  erst  in  neuerer  Zeit 
ermöglicht  worden  durch  die  Entwickelung  der  Lehre  von  der  künst- 
lichen oder  beabsichtigten  Suggestion.  Wie  über  die  Verbreitung  von 
Infektionen  noch  in  neuerer  Zeit  die  allerverworrensten  Anschauungen 
herrschten,  bis  es  gelang,  die  betreffenden  Mikroben  in  Reinkulturen 
zu  züchten  und  damit  künstliche  Impfungen  vorzunehmen,  so  gab  es 
auch  in  Beziehung  auf  die  Suggestion  und  das  psychische  Kontagium 
nur  eine  Reihe  unklarer  und  wesenloser  Vorstellungen,  solange  die 
Bedingungeil  künstlicher  Überimpfungen  von  Seelenzuständen  mittels 
beabsichtigter  Suggestion  unbekannt  waren. 

Der  Versuch  hat  dargetan,  dars  solche  vorsetzliche  Impfung  am 
leichtesten  zu  verwirklichen  ist  bei  einem  besonderen  Zustande  des 
Bewußtseins,  den  man  Hypnose  nennt,  und  der  nach  Bechterews  Da- 
fürhalten lediglich  als  eine  künstlich  erzeugte  Varietät  des  normalen 
Schlafes  sich  darstellt.  — In  der  Hypnose  gelingen  bekanntlich  die 


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allerverschicdensten  Suggestionen;  doch  es  steht  dahin,  ob  es  möglich 
sei,  einem  Hypnotisierten  alles  zu  suggerieren,  was  wir  wünschen. 
Nach  Ansicht  einiger  Autoren  gibt  es  überhaupt  keine  Einschränkung 
für  die  Suggestion,  während  andere  daran  festhalten,  es  könne  in  der 
Hypnose  nur  das  suggeriert  werden,  was  der  psyohischen  Natur  des 
Hypnotisierten  entspreche.  Praktisch  und  in  sozialwissenschaftlicher 
Beziehung  handelt  es  sich  hierbei  im  wesentlichen  um  das  Suggerieren 
von  verbrecherischen  Handlungen.  Eis  wurde  behauptet,  dafs  der  Hyp- 
notisierte auf  suggestivem  Wege  zu  jedem  beliebigen  Verbrechen  ver- 
anlafst  werden  kann.  Andere  sind  hinwiederum  geneigt,  diese  Be- 
hauptung auf  eine  allzuweitgehende  Verallgemeinerung  von  Labora- 
toriumsbeobachtungen zurückzuführen. 

Bechterew  selbst  vermag  sich  nach  seinen  zahlreichen  Erfah- 
rungen nicht  denjenigen  anzusohliefsen,  welche  der  Suggestion  den 
Wert  eines  übermächtigen  Agens  zusohreiben,  mit  dem  sich  in  der 
Hypnose  alles  Erdenkliche  erzielen  liefse.  Nach  seiner  Ansicht  steht 
die  Kraft  der  Suggestion  nicht  allein  in  Abhängigkeit  von  richtiger 
Handhabung  und  Aufrechterhaltung  der  Suggestion,  sondern  auch  von 
dem  Boden,  auf  welchen  letztere  lallt,  also  von  den  psychischen  Eigen- 
schaften des  der  Suggestion  sich  unterwerfenden  Mediums.  Der  psy- 
chische Widerstand,  welcher  der  Suggestion  im  Zustande  der  Hypnose 
entgegentritt,  hängt  wesentlich  davon  ab,  inwieweit  das  zu  Suggerie- 
rende Bich  im  Widerspruch  befindet  mit  dem  Ideengange,  mit  den  Nei- 
gungen und  Überzeugungen  des  Mediums.  Fällt  dieser  Widerspruch 
weg,  so  wirkt  die  Suggestion  ausgiebig  und  prompt  Einer  starken 
Natur  gegenüber  mit  entgegengesetzten  Anschauungen  kann  sie  sich 
machtlos  erweisen.  Dies  verringert  indessen  in  keiner  Weise  die  hohe 
Bedeutung  der  Suggestion  als  psychisches  Agens.  Naturen  mit  starkem 
Charakter  und  unwandelbaren  Ideen  findet  man  nicht  allzuhäufig; 
wie  grofs  dagegen  ist  die  Zahl  jener  moralischen  Krüppel,  die  sich 
von  Verbrechen,  von  Unsittlichkeit  und  Antastung  fremden  Eigentums 
nur  durch  die  Furcht  vor  dem  Gesetze  abgehalten  fühlen.  Genügt  es 
da  nioht,  solchen  Individuen  in  der  Hypnose  die  Möglichkeit  der 
Straflosigkeit  zu  suggerieren,  jene  Furcht  vor  gesetzlicher  Ahndung 
einzuschläfern  und  zugleich  in  ihrer  Phäntasie  gewisse  vorteilhafte 
Seiten  der  verbrecherischen  Handlungsweise  hervorzuheben,  um  sie 
zur  Ausführung  von  Verbrechen  geneigt  zu  machen,  zu  welcher  sie 
sich  sonst  nimmer  entschlossen  hätten? 

Fragen  wir  nun,  wie  es  möglich  sei,  dafs  die  Ideen  oder  Seelen- 
zustände dritter  Personen  auf  uns  überimpft  werden  und  uns  ihrem 


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Einflüsse  unterordnen,  so  ist  die  Annahme  wohl  begründet,  diese  psy- 
chische Vakzination  gehe  ausschliefslich  vor  sioh  durch  Vermittelung 
unserer  Sinnesorgane.  Hierbei  fallt  unfraglioh  die  wesentlichste  Holle 
dem  Gehörorgane  zu,  da  im  allgemeinen  die  Suggestion  durch  das 
gesprochene  Wort  als  die  am  weitesten  verbreitete  und  zugleich  an- 
scheinend als  die  wirksamste  Form  der  Suggestion  zu  betrachten  ist. 
Allein  auch  andere  Organe,  vor  allem  das  Sehorgan,  können  als  Ver- 
mittler der  Suggestion  auftreten.  Man  denke  an  Wirkungen  mimischer 
Bewegungen  und  Gestikulationen.  Sehr  wenige  Personen  sind  im- 
stande. dem  ansteckenden  Einflüsse  des  Gähnens  zu  widerstehen.  Der 
Anblick  des  Zitronenessens  ruft  bei  vielen  Leuten  unwillkürliches  Zu- 
sammenpressen der  Lippen  und  reichliche  Speichelabsonderung  her- 
vor. Auch  an  den  Beispielen  von  suggestiven  Einwirkungen  mittels 
des  Tast-  und  Muskelsinnes  fehlt  es  nicht  Ein  klassisches  Beispiel 
für  diese  Gruppe  ist  der  Fall  jenes  zum  Tode  verurteilten  Verbrechers, 
dem  bei  geschlossenen  Augen  suggeriert  wurde,  es  sei  eine  seiner 
Venen  geöffnet  worden  und  daraus  ergiefse  sich  ein  ununterbrochener 
Blutstrom.  Nach  einigen  Minuten  fand  man  den  Mann  tot,  wiewohl 
nicht  Blut,  sondern  nur  warmes  Wasser  an  seinem  Körper  herabge- 
rieselt war.  Was  Suggestion  durch  das  Muskelgefühl  anlangt,  so  sind 
hierüber  in  der  Pariser  Salpetriere  mehrfach  Untersuchungen  an 
Hysterischen  angestellt  worden,  wobei  diese  Art  von  Suggestion  sich 
in  manchen  Fällen  als  sehr  wirksam  bewertet.  Wurden  einer  Hyste- 
rischen im  hypnotischen  Schlafe  die  Hiinde  zum  Gebet  gefaltet,  so 
nahmen  ihre  Gesichtszüge  sofort  einen  flehenden  Ausdruck  an.  In 
einem  anderen  Falle,  als  man  ihre  rechte  Hand  zur  Faust  geballt 
hatte,  zeigten  sich  auch  drohende  Mienen  auf  dem  Antlitze  der 
Kranken.  Tat  doch  bereits  Pascal  den  grimmigen  Ausspruch:  „Für 
die  meisten  Menschen  genüge  es,  um  fromm  zu  werden,  dafs  sie  sich 
mit  Weihwasser  besprengen  und  verrückte  Gebärden  annehmen.“ 

Wir  haben  bereits  früher  erwähnt,  dafs  es  zweifellos  Individuen 
gibt,  welche  allen  Suggestivwirkungen  widerstehen.  Es  dürften  wohl 
gerade  diese  die  vollständigen,  vielleicht  „autosuggestiven“  Individuen 
sein,  welche  auf  andere  die  mächtigsten  Suggestivwirkungen  ausüben. 
In  einem  geistreichen  Vorworte  zur  Beohtere wschen  Abhandlung 
weist  Flechsig  darauf  hin,  wie  die  Geschiohte  und  speziell  die 
Kulturgeschichte  so  mächtige  Wirkungen  der  Suggestion  aufweist,  dafs 
kaum  ein  Historiker  achtlos  an  diesen  Erscheinungen  vorübergehen 
darf.  Nioht  nur  bei  der  Entstehung  religiöser  Seiten  pathologischen 
Charakters,  bei  Kampfepidemien,  in  der  „Besessenheit“  des  Mittelalters 


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52a 


u.  dg!,  m.  zeigt  sich  ihre  Wirkung,  sie  reicht  unendlich  viel  weiter, 
ln  einem  gewissen  Sinne  kann  man  sogar  nach  Flechsig  die  Ge- 
schichte des  menschlichen  Intellekts  als  einen  ununterbrochenen 
Kampf  zwischen  Hypnotiseuren  und  Anti  Suggestion  taten  auffassen. 
Während  die  Wissenschaft,  insbesondere  die  exakten  Naturwissen- 
schaften, darauf  ausgehen,  alle  Suggestirwirkungen  aus  der  Betrach- 
tung der  Welt  zu  entfernen,  zielen  eine  ganze  Anzahl  mäohtiger  Fak- 
toren heute  wie  vor  Jahrtausenden  dahin,  der  Menschheit  im  wesent- 
lichen auf  suggestivem  Wege  zu  einem  befriedigenden  Dasein  zu  ver- 
helfen. Man  kann  daher  wohl  die  Frage  aufwerfen,  ob  das  Ziel  der 
Menschheitsentwickelung  die  Befreiung  von  allen  suggestiven  Ein- 
flüssen oder  die  vollkommene  Unterwerfung  unter  die  Herrschaft  mehr 
oder  minder  phantastischer  Autosuggestionen  sein  wird.  Ist  letzteres 
der  Fall,  so  sind  die  exakten  Naturforscher  auf  dem  Irrweg  und  ein 
Helmholtz  lediglich  ein  Fehlgriff  der  Schöpfung.  Die  Beantwortung 
dieser  Frage  tritt  jedoch  selbst  aus  dem  Bereiche  der  naturwissen- 
schaftlichen Untersuchung  heraus  und  mufs  der  individuellen  Welt- 
anschauung Vorbehalten  bleiben. 


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Der  Längenunterschied  zwischen  Greenwich  und  Potsdam  ist 
m Jahre  1903  durch  die  Herren  Geheimrat  Th.  Albrecht  und 
B.  Wanach  neu  bestimmt  worden.  Der  Anlafs  zu  dieser  Neubeob- 
achtung war  dadurch  gegeben,  dafs  die  folgenden  3 vorhandenen 
Längen  bestimm  ungen 

Greenwich — Potsdam  ausgeführt  1896  von  englischer  Seite, 

Potsdam — Berlin  „ 1891  vom  preufsischen  geodäti- 

schen Institut, 

und  Berlin — Greenwich  „ 1876  durch  eine  Beteiligung  der 

Berliner  Sternwarte  an  den  österreichischen  Längenbestimmungsarbeiten 
in  ihrer  algebraischen  Summe  nicht  den  Wert  Null  ergaben,  sondern 
0.’225.  Diesen  beträchtlichen  Fehler  in  der  Bestimmung  der  funda- 
mentalen, die  llauptmeridiane  beider  Länder  verbindenden  Grüfse  galt 
es  wegzuschaffen.  Den  Beobachtern  wurde  seitens  der  deutschen  und 
englischen  Telegraphenverwaltung  ein  Telegraphendraht  Potsdam — 
Berlin  — Bacton  — London  — Greenwich  zur  Verfügung  gestellt.  Die 
eigentliche  Längenbestimmung  wird  nun  dadurch  erhalten,  dafs  be- 
liebige Signale,  die  der  Beobachter  auf  der  einen  Station  durch  Druck 
auf  einen  Taster  erzeugt,  sich  sowohl  direkt  am  Ort  auf  einen  mit 
der  Beobachtungsuhr  verbundenen  Chronographen  aufzeichnen,  als  auch 
durch  den  Telegraphendraht  auf  einem  mit  der  Beobachtungsuhr  der 
anderen  Station  verbundenen  Chronographen  sich  registrieren.  Es  ist 
dann  noch  notwendig,  die  Fehler  der  Beobachtungsuhren,  in  deren 
beiden  Zeitangaben  sich  die  Tasterdrucke  sonach  ausdriicken  lassen, 
durch  Beobachtungen  von  Sterndurohgängen  zu  bestimmen,  um  sofort 
den  wahren  Zeit-  oder  Längenunterschied  zu  erhalten.  Die  besondere 
Methode  des  geodätischen  Instituts,  der  die  hohe  Genauigkeit  des 
definitiven  Resultates  zuzusohreihen  ist,  besteht  nun  nioht  darin,  die 
Durchgänge  der  Sterne  an  den  Fäden  des  1‘assageninstrumentes  zu 
beobachten  und  die  Zeit  des  Durchgangs  entweder  nach  den  Schlägen 
einer  Uhr  zu  hören  oder  durch  Druck  auf  einen  elektrischen  Taster 
zu  registrieren,  sondern  darin,  mit  einer  Schraube  einen  beweglichen 
Faden  der  Bewegung  des  Sterns  nachzuführen,  so  dafs  er  stets  das 
Sternscheibcheu  halbiert.  Au  der  Schraubentrommel  sind  elektrische 


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520 


Kontakte,  die  automatisch  Signale  auf  den  Chronographen  geben,  sobald 
die  Drehung  der  Schraube  sie  an  einer  leitenden  Zunge  vorüber  führt. 

Von  den  sonstigen  Vorsichtsmaßregeln,  die  zur  Erhöhung  der 
Genauigkeit  beachtet  wurden,  sei  nur  erwähnt  die  Einschaltung  einer 
334  km  langen  Drahtleitung  London — Bedford — Leice6ter— Dunstable 
— London  auf  der  englischen  Seite  der  Nordsee,  damit  der  elektrische 
Strom  auf  beiden  Seiten  des  425  km  langen  submarinen  Kabels  eine 
nahezu  gleich  grofse  Landstrecke  (522  km  diesseits,  569  km  jenseits) 
zu  durchlaufen  hatte,  ferner  der  Wechsel  von  Instrument  und  Beob- 
achter während  der  Arbeiten  zur  Beseitigung  der  „persönlichen“  Fehler. 

Das  Resultat  ist  denn  auch  ein  glänzendes:  Als  Wanach  in 
Potsdam  und  Albrecht  in  Greenwich  beobachtete,  ergab  sioh  für  den 
Längenuntersohied  52m  16."051,  und  genau  dasselbe  Resultat,  bis  auf 
die  Tausendte!  Sekunde  identisch,  ergab  sioh,  als  Albrecht  in  Green- 
wich und  Wanach  in  Potsdam  stationiert  war.  Die  wahrscheinliche 
Unsicherheit  des  Gesamtmittels  aus  24  Abenden  belief  sioh  nur  auf 
O.”003.  Unter  Zuziehung  des  Längenunterschiedes  Berlin— Potsdam 
von  1891  von  1“  18.*721  ergibt  sich  hieraus  der  Zeitunterschied 
Berlin — Greenwich  53“  34. "772. 

Für  diesen  Wert  wurde  bislang  angenommen  53”  34."91,  also 
0."  14  zuviel,  und  um  diesen  Betrag  gingen  also  bislang  sämtliche 
deutschen  Uhren  falsch.  Dieselben  zeigen  bekanntlich  mitteleuropäische 
Zeit,  d.  h.  eine  Stunde  mehr  als  die  Greenwioher  Normaluhr. 
Da  aber  von  dieser  die  Zeit  nicht  direkt  übermittelt  werden  konnte, 
richteten  sich  alle  deutschen  Telegraphen-  und  Bahnhofsuhren  und  nach 
diesen  die  Taschenuhren  nach  dem  Zeitaignal,  welches  jeden  Morgen  um 
8 Uhr  von  der  Berliner  Sternwarte  ausgegeben  wurde.  Hier  wurde 
die  richtige  Berliner  Zeit  bestimmt  und  diese  durch  Hinzufügung  von 
6“  25."  09  in  M.E.Z.  verwandelt.  Es  hätte  aber  hinzugefügt  werden 
sollen  und  wird  künftig  hinzugefügt  werden  6“  26." 23. 

Wie  genau  die  neue  definitive  Bestimmung  des  Meridianunter- 
schiedes Berlin— Greenwich  ist,  ergibt  sich  aus  der  Kombination  der 
ausgeglichenen  Längend ifferenz  Berlin — Paris  44“  13.’890  mit  der 
Summe  folgender  neuerdings  erhaltenen  Zeitunterschiede 

Greenwioh  — Leiden  =.  — 17“  56."  100 

Leiden — Paris  =4-8“  35."213 
Berlin — Greenwich  = 4-  63“  34."772 

Summe  = Berlin — Paris  = 44“  I3."885 

also  nur  5/iooo  Sekunden  von  der  direkten  Bestimmung  verschieden. 

Rp. 


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526 


Die  Dissertation  der  Frau  S.  Curie  ist  neuerdings  in  einer  von 
Professor  W.  Kaufmann  in  Göttingen  besorgten  deutschen  Aus- 
gabe bei  Friedrich  Vieweg  & Sohn  in  Braunschweig  er- 
schienen. — Bei  dem  außerordentlichen  Interesse,  das  die  radioaktiven 
Substanzen  verdienen  und  in  neuester  Zeit  selbst  in  den  Kreisen  der 
Laien  gefunden  haben,  ist  die  Arbeit  der  Frau  Curie  mit  Freude  zu 
begrüfsen.  Sie  eröffnet  die  Reihe  der  naturwissenschaftlichen 
und  mathematischen  Monographien,  die  in  zwangloser  Folge  erschei- 
nen und,  von  namhaften  Gelehrten  geschrieben,  alles  Wichtige  und 
Wissenswerte  der  einzelnen  Spezialgebiete  behandeln  sollen.  Pro- 
fessor Eilhardt  Wiedemann  in  Erlangen  hat  sich  an  die  Spitze 
dieses  offenbar  der  französischen  Soientia  ähnelnden  grofsen  Unter- 
nehmens gestellt.  Vergleicht  man  die  deutsche  Übersetzung  mit  der 
französischen  Originalarbeit  der  Frau  Curie,  so  fallt  zunächst  eine 
nicht  unwesentliche  Bereicherung  des  Stoffes  auf,  die  offenbar  durch 
private  Mitteilungen  an  den  Übersetzer  entstanden  ist.  Besonders 
wertvoll  sind  fernerhin  Literaturnachweise  und  kurze  Anmerkungen 
aus  der  Feder  von  Professor  Kaufmann  selbst.  Es  erübrigt  sich, 
an  dieser  Stelle  auf  den  Inhalt  der  Schrift  einzugehen,  da  wir  erst 
vor  kurzem  einen  längeren  Aufsatz  über  die  radioaktiven  Substanzen 
(vergleiche  Heft  7,  Jahrgang  16,  1904  dieser  Zeitschrift)  gebraoht 
haben.  Wir  werden  jedoch  in  Zukunft  auf  die  weiteren  Bände  der 
Monographienreihe,  welche  den  Kollektivtitel  „die  Wissenschaft“  führt, 
jedesmal  nach  dem  Erscheinen  der  betreffenden  Arbeit  noch  beson- 
ders aufmerksam  machen.  Heute  begnügen  wir  uns  mit  dem  Hinweis 
auf  eine  zweite  Monographie  von  Professor  G.  C.  Sohmidt  über  die 
Kathodenstrahlen  und  überlassen  es  dem  Referenten,  gelegentlich  in 
der  Rubrik  „Bibliographisches“  über  dieses  Buch  zu  sprechen.  D. 

t 

Die  Analyse  schwingender  Bewegungen  läßt  sich  in  besonders 
einfacher  und  praktischer  Weise  vermittels  eines  von  Grimsehl  in 
Hamburg  angegebenen  Apparates  ausführen.  Durch  die  Bildebene 
eines  Fernrohrs  kann  man  eine  photographische  Platte  fallen  lassen. 
Stellt  man  das  Fernrohr  auf  eine  schwingende  Saite  ein,  die  vertikal 
vor  dem  horizontalen  Faden  einer  Glühlampe  ausgespannt  ist,  so  sieht 
man  eine  dunkle  Unterbrechung  des  leuchtenden  Fadens,  die  sich 
schnell  hin  und  her  bewegt  Auf  der  durch  die  Bildebene  fallenden 
photographischen  Platte  zeigt  sich  nach  dem  Entwickeln  eine  schön 


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ausgebildete  Wellenlinie.  Ist  die  Fallgeschwindigkeit  der  Platte  durch 
einen  Vorversuch  ermittelt  worden,  so  ergibt  sich  aus  der  Ausmessung 
der  Wellenlinie  die  Scbwingungszahl  der  Saite.  Auch  die  Tonhöhe 
von  Sirenen  ist  auf  diese  Weise  mefsbar,  indem  man  einen  Liohtstrahl 
durch  die  Löcherreihen  fallen  läfst.  Man  erhält  dann  eine  Reihe 
Punkte,  aus  deren  Anzahl  auf  die  Sohwingungszahl  des  Sirenentones 
geschlossen  werden  kann  (unter  der  Voraussetzung,  dafs  die  Fallge- 
schwindigkeit der  Platte  bekannt  ist).  Die  Punkte  haben  infolge  der 
beschleunigten  Fallbewegung  natürlich  keinen  gleichmäfsigeu  Abstand 
voneinander.  Wehnelt  bat  übrigens  bereits  vor  mehreren  Jahren 
(vergl.  Wiedemanns  Annalen)  Aufnahmen  von  Wechselstromkurven, 
Kondensatorschwingungen  etc.  durch  die  Photographie  eines  abge- 
lenkten Kathodenflecks  („Braunsche  Röhre“)  gemacht  und  sioh  dazu 
in  ähnlicher  Weise  einer  beweglichen,  photographischen  Platte  bedient, 
nur  dafs  sie  bei  ihm  in  horizontaler  Richtung  auf  einem  kleinen 
Wägelchen  vorbeigefahren  wurde. 

Die  Schwingungen  von  Saiten  sind  in  sehr  eleganter  Weise  be- 
reits von  Helm  hol  tz  (Lehre  von  den  Tonempfindungen)  auf  opti- 
schem Wege  studiert  worden.  Immerhin  hat  die  Qrimsehische  An- 
ordnung für  Demonstrationszwecke  ihrer  einfachen  Handhabung  wegen 
grofse  Vorzüge.  Dr.  M.  v.  P. 


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Dr.  P.  Spie»:  Die  Erzeugung  uud  die  physikalischen  Ei  xeu^chaften 
der  Röntgen  strahlen.  Berlin.  Verlag  von  Leonhardt  Simin  Nf.  1904. 

Die  Spieeache  Broschüre  bildet  das  achte  Heft  der  modernen  ärztlichen 
Bibliothek  und  ist  geeignet,  dem  Benutzer  von  RÖntgenstrshlen-Einrichtungen 
als  erste  Einführung  zu  dienen.  Sowohl  die  Induktoren,  wie  die  Unterbrecher 
und  die  Einrichtungen  zum  Anschluß  dieser  wesentlichen  Instrumente  an  die 
Akkumulatoren* Batterie,  sowie  auch  an  die  elektrische  Zentrale  werden  kurz, 
aber  doch  für  das  Bedürfnis  de«  Arztes  genügend  ausführlich  besprochen,  ebenso 
einige  der  gangbarsten  Röhrentypen.  Der  Text  ist  klar  und  dem  Zweck 
des  Buches  durchaus  angemessen.  Am  besten  gibt  sich  der  Verfasser  natur- 
gemäß dort,  wo  er  zum  Leser  als  Physiker  sprechen  darf.  Dort  erhebt  sich 
seine  Darstellung  zur  Höhe  einer  pädagogisch  geschickten  Leistung.  Bo  z.  B. 
in  dem  Kapitel  über  die  Lichtstrahlen  und  ihre  Verwandten,  sowie  über  die 
Lichtstrahlen  im  allgemeinen,  ferner  über  die  Fluoreszenz  und  über  die 
physikalischen  Eigenschaften  der  Röntgenstrahlen.  Die  Bchlufsbemerkung 
über  das  photographische  Verfahren  halten  wir  indes  nicht  für  ausführlich 
genug,  um  dem  Anfänger  einen  genügenden  Anhalt  zu  geben.  Ein  Anhang 
über  die  Zusammenstellung  von  Instrumentarien  mit  ungefährer  Preisangabe 
der  einzelnen  Apparate  bildet  den  Soblufs  und  dürfte  vielen  willkommen  »ein. 
Vielleicht  berücksichtigt  der  Verfasser  in  der  nächsten  Auflage,  die  wir  dem 
höchst  brauchbaren  Büchlein  recht  bald  wünschen,  auch  die  Induktoren  von 
nur  etwa  15  cm  Schlagweite,  die  im  Verein  mit  dem  Wehnelt-Unterbrecher  für 
die  Praxis  durchaus  ausreichende  Resultate  ergeben.  D. 


Verlag:  Hernann  Paatal  in  Berlin  — Druck:  Wilhelm  Oroiu'i  Fochdrockerei  In  Berlin  - Schöne  her  f. 
Für  die  Redaktion  verantwortlich  j Dr.  P.  Üekvthn  in  Berlin. 

Uaberechtigter  Nachdruck  ans  den  Inhalt  dieser  Zeitschrift  nntereagt. 

^benetz aagei echt  Vorbehalten. 


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Tafel  I. 


Okularende  des  großen  Refraktors  der  Yerkes  Sternwarte 
mit  dem  Spektroheliographen. 


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Die  Kalziumbilder  der  Sonne. 

Von  Professor  Dr.  J.  Schriller  in  Potsdam. 

Ss  ist  eine  ganz  eigenartige  wissenschaftliche  Technik,  welche  wir 
hier  mit  ihren  Resultaten,  die  von  hoher  Bedeutung  für  die 
Kenntnis  der  Konstitution  unserer  Sonne  zu  werden  versprechen, 
weiteren  Kreisen  bekannt  geben  möchten.  Sie  ist  eigenartig  und 
gerade  deshalb  schwierig  zu  verstehen;  man  mufs  ziemlich  weit  aus- 
bolen,  um  ihre  Prinzipien  klar  zu  legen. 

Es  darf  als  allgemein  bekannt  vorausgesetzt  werden,  dafs  ober- 
halb der  scheinbaren  Sonnenoberfläche,  der  Photosphäre,  sich  Gas- 
eruptionen von  gewaltiger  Ausdehnung  in  die  dünnere  Sonnenatmo- 
sphäre erheben.  Sie  sind  bei  den  ersten  Beobachtungen  totaler  Sonnen- 
finsternisse als  rötlich  gefärbte  Hervorragungen  am  Sonnenrande  gesehen 
worden  und  haben  damals  bereits  ihren  Namen  „Sonnenprotuberanzen“ 
erhalten.  Wie  die  Untersuchung  im  Spcktroskopo  lehrt,  bestehen  sie 
wesentlich  aus  Wasserstoff,  Helium  und  Kalziumdampf,  und  der  Umstand, 
dafs  sie  für  gewöhnlich  nicht  sichtbar  sind,  beruht  einfach  darauf,  dafs 
ihre  Helligkeit  viel  geringer  ist  als  diejenige  der  durch  die  Sonne  beleuch- 
teten Erdatmosphäre  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  der  Sonne.  Be- 
kanntlich kann  das  Auge  nur  Dinge  wahrnehmen,  die  gegen  ihre 
Umgebung  einen  Helligkeitsunterschied  von  mindestens  1 bis  2% 
besitzen.  Für  deutliche  Sichtbarkeit  ist  ein  viel  gröfserer  Unterschied 
erforderlioh,  der  „Kontrast“  mufB  möglichst  grofs  sein.  Bezeichnet 
man  die  Helligkeit  einer  Protuberanz  mit  h,  die  Helligkeit  der  be- 
leuchteten Erdatmosphäre  in  unmittelbarer  Nähe  der  Sonne  mit  H,  so 
ist  die  scheinbare  Helligkeit  der  Protuberanz  h +-  H,  und  das  Ver- 
hältnis hiervon  gegen  die  Helligkeit  der  Umgebung  H also  der  Kon- 
trast — **  ist  unterhalb  der  oben  angegebenen  Grenze  gelegen, 

xi 

Himmel  und  Erde.  190«.  XVI.  12.  .14 


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530 


Bei  totalen  Sonnenfinsternissen  ist  aber  die  Erdatmosphäre  durch 
den  Mond  beschattet;  H wird  dann  sehr  klein,  sogar  kleiner  als  h,  und 

mithin  ist  ^ ^ ^ eine  sehr  morkliche  Gröfse,  die  Protuberanz  also 

sichtbar.  Das  ist  mutatis  mutandis  genau  derselbe  Vorgang,  der  die 
Unsichtbarkeit  der  Sterne  bei  Tage,  und  ihre  Sichtbarkeit  bei  Nacht 
bedingt. 

Mit  Hilfe  des  Spektroskopes  können  nun  die  Protuberanzen  am 
Sonnenrande  jederzeit  zur  Sichtbarkeit  gebracht  werden  und  zwar 
wieder  genau  nach  demselben  Prinzipe.  Die  erhellte  Erdatmosphäre 
gibt  ein  wesentlich  kontinuierliches  Spektrum,  d.  h.  das  Licht  derselben, 
welches  auf  den  Spalt  des  SpektroskopeB  fällt,  wird  in  ein  langes 
Band  ausgezogen  und  daher  sehr  stark  geschwächt  und  zwar  um  so 


Spalt 


C -Linie  f-Linia 


fto/A 


Blau 


Spectrum 

Fig.  1. 


mehr,  je  stärker  die  Zerstreuung  des  Spektroskopes  ist.  Das  Spek- 
trum der  Protuberanz  besteht  aber  als  Gasspektrum  aus  hellen  Linien, 
deren  Helligkeit  mit  zunehmender  Zerstreuung  des  Spektroskopes  nur 
unwesentlich  geändert  wird.  Nur  ihre  Abstände  werden  hierdurch  ver- 
gröfsert,  und  so  kann  man  leicht  eine  Anordnung  finden,  bei  welcher 
die  Protuberanzlinien  blendend  hell  auf  mattem  Untergrund  erscheinen. 
Ist  nun  die  Spaltöffnung  des  Spektroskopes  (Fig.  1,  links)  so  grofs, 
dafs  sie  das  Bild  der  Protuberanz  umfafst,  so  erscheinen  natürlich  im 
Spektrum  statt  des  linienförmigen  Spaltbildes  die  Spektrallinien  von 
der  Form  der  Protuberanz,  wie  dies  durch  die  rechte  Seite  der  Figur  1 
an  den  Wasserstofflinien  erläutert  wird. 

Man  sieht  also  im  Spektroskope  die  Protuberanz,  je  nach  der  be- 
nutzten Wasserstofflinie,  in  rotem,  grün-blauem  oder  blau-violettem 
Lichte  in  ihrer  wahren  Gestalt  und  kann  ihre  zeitlichen,  oft  sehr  rapiden 
Formänderungen  in  aller  Deutlichkeit  verfolgen.  Ist  die  Protuberanz 
sehr  grofs,  so  mufs  der  Spalt  des  Spektroskopes  verhältnismäfsig  weit 
geöffnet  werden,  uud  damit  nimmt  wieder  die  Helligkeit  des  spek- 


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531 


traten  Hintergrundes  zu,  bis  schliefslioli  der  Kontrast  zu  gering  wird, 
um  die  Protuberanz  erkennen  zu  lassen.  Man  kann  dann  wieder 
duroh  Vermehrung  der  Zerstreuung  das  kontinuierliche  Spektrum  ab- 
schwächen. Bei  der  Konstruktion  der  „Protuberanzspektroskope“  mufs 
natürliob  auf  ulle  diese  Dinge  Kücksicht  genommen  werden. 

Wenn  mau  von  einem  Protuberanzspektroskope  das  Okular  ent- 
fernt und  dafür  eine  photographische  Platte  einsetzt,  so  steht  natürlich 
nichts  im  Wege,  die  Protuberanz  zu  photographieren.  Man  hat  in  der 
Tat  derartige  Aufnahmen  mehrfach  ausgeführt. 

Bei  der  Verwendung  der  Protuberanzspektroskope  ist  man  ge- 
zwungen, den  Sonnenrand  naoh  Protuteranzen  abzusuchen,  was  grofse 
Übung  erfordert  und  ziemlich  langwierig  ist  Man  ist  daher  schon 
vor  vielen  Jahren  auf  den  Gedanken  gekommen,  Spektroskope  zu 
konstruieren,  welche  unmittelbar  den  ganzen  Sonnenrand  mit  allen 
Protuberanzen  zur  photographischen  Abbildung  bringen  sollten.  Prak- 
tische Erfolge  sind  bis  zum  Jahre  1889  bei  diesen  Versuchen  nicht 
erzielt  worden,  was  zum  Teil  an  der  mangelhaften  Konstruktion  der 
Apparate,  zum  Teil  aber  auch  an  dem  Umstande  gelegen  hat,  dafs 
man  zur  photographischen  Aufnahme  die  im  violettem  Teile  des 
Spektrums  gelegenen  Wasserstofflinien  verwendete.  Denn  während 
die  zur  optisohen  Beobachtung  der  Protuberanzen  allein  benutzte  rote 
C-Linie  des  Wasserstoffes  sehr  schürf  ist,  also  auch  scharfe  Bilder 
der  Protuberanzen  erzeugt,  sind  die  weiter  nach  Violett  zu  gelegenen 
Wasserstofflinien  verwaschen,  geben  also  unscharfe  Bilder. 

Im  letzten  Jahrzehnte  des  vorigen  Jahrhunderts  wurden  nun  die 
Bemühungen  des  amerikanischen  Astronomen  Haie  durch  über- 
raschende Erfolge  gekrönt.  Es  gelang  ihm,  einen  Apparat,  Spektro- 
heliograph  genannt,  zu  konstruieren,  der  in  wenigen  Minuten  ein  Bild 
des  ganzen  Sonnenrandes  in  voller  Schärfe  zeichnete.  Die  Sohärfe 
der  Bilder  wurde  daduroh  erzielt,  dafs  Haie  statt  der  ungeeigneten 
Wasserstofflinien  eine  an  der  Grenze  des  Ultraviolett  gelegene  Kal- 
ziumlinie verwendete,  die  im  Spektrum  der  Protuberanzen  stets  vor- 
handen ist. 

Damit  war  der  ursprüngliche  Zweck  der  Untersuchungen  Haies 
erreicht  Aber  wie  es  so  häufig  bei  Erfindungen  oder  Entdeckungen 
zu  geschehen  pflegt,  zeigte  sich  sehr  bald,  dafs  der  Spektrohelio- 
graph  geeignet  war,  über  andere  Phänomene  in  der  Sonnenatmosphäre 
Aufschlufs  zu  geben,  deren  Studium  bisher  sehr  erschwert  und  in- 
folgedessen ziemlich  vernachlässigt  war,  nämlich  über  die  Sonnen- 
fackeln, die  wegen  ihres  geringen  Kontrastes  gegen  die  allgemeine 

34* 


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Photosphäre  auf  dem  gröfsten  Teile  der  Sonnenscheibe  nioht  zu  erkennen 
waren  und  nur  in  unmittelbarer  Nähe  des  Sonnenrandes  beobachtet 
werden  konnten.  Gegenüber  den  überraschenden  Resultaten,  die  nun- 
mehr auf  diesem  Gebiote  zutage  gefördert  wurden,  mufste  der  ursprüng- 
liche Zweck  des  Spektrobeliographen  immer  mehr  zurücktreten,  und 
so  beziehen  sich  die  neuesten  Ergebnisse  nur  noch  auf  die  Sonnen- 
fackeln. ln  den  letzten  Jahren  hat  Haie  den  Spektroheliographen  in 
verbesserter  Form  mit  dem  mächtigsten  Fernrohr  der  Erde,  dem  grofsen 
Refraktor  der  Yerkes  Sternwarte,  in  Verbindung  gebracht  und  damit 
j Resultate  erzielt,  die  nicht  blofs  in  bezug  auf 
ihre  äufsore  Schönheit  Bewunderung  verdienen, 
sondern  auch  von  besonderer  epochemachender 
Bedeutung  für  die  Physik  der  Sonne  sind. 

Es  mögen  nun  zunächst  die  Prinzipien 
des  Spektroheliographen  in  seiner  letzten  Form 
klargelegt  werden.  Das  Äufsere  desselben  ist 
auf  der  Tafel  1 zu  erkennen,  auf  weloher  das 
Okularende  des  grofsen  Refraktors  mit  dem 
Spektroheliographen  dargestellt  ist. 

Das  Spektroskop  desselben  unterscheidet 
sich  nur  wenig  von  einem  gewöhnlichen  Spek- 
troskope. Der  oinzigo  Unterschied  besteht  in 
der  Anbringung  eines  verstellbaren  Spiegels, 
durch  wclohen  erreicht  wird,  dafs  das  in  den 
Spalt  fallende  Licht  parallel  zu  seiner  Ein- 
fallsrichtung zurückkehrt,  ln  der  schematischen  Darstellung  des  Spek- 
troskopdurchschnitts (Fig.  21  befindet  sich  bei  S der  Spalt  Das 
duroh  denselben  eindringende  Lichtbündel  wird  durch  die  Kollimator- 
linse C parallel  gemaoht  und  fällt  alsdann  auf  den  Spiegel  G,  von 
welchem  es  zu  den  Prismen  P,  und  Pj  reflektiert  wird.  Nach  dem 
Durchgänge  durch  die  Prismen  ist  das  Lichlbündel  in  seine  Spektral- 
farben zerlegt  und  wird  durch  das  Objektiv  B des  Beobachtungs- 
fernrohrs als  Spektrum  auf  eine  in  der  Brennebene  befindliche  photo- 
graphische Platte  projiziert.  Es  sei  noch  erwähnt  dafs  der  Spiegel  G 
duroh  ein  reflektierendes  Diffraklionsgitler  ersetzt  werden  kann,  durch 
welches  das  Licht  ebenfalls  in  die  Spektralfarben  zerlegt  wird.  Bei 
dieser  Anordnung  wird  natürlich  eine  beträchtlich  gröfsere  Zerstreuung 
erzielt  die  für  manche  Zwecke  vorteilhafter  ist  als  die  geringe,  allein 
duroh  die  Prismen  erzeugte. 

Die  Einrichtungen,  welche  den  Apparat  von  einem  gewöhn- 


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533 


I 


\\ 


Li 


Hohen  Spektroskope  unterscheiden,  sind  nun  die  folgenden.  Dicht 
vor  der  photographischen  Platte  F ist  eine  Metallplatte  angebracht, 
in  weloher  ein  feiner  Spalt  von  der  Form  der  zu  benutzenden  Spek- 
trallinien eingeschnitten  ist  — bekanntlich  sind  die  Spektrallinien  bei 
der  Anwendung  von  Prismen  gekrümmt.  Diese  Platte  ist  verschieb- 
bar und  kanu  so  gestellt  werden,  dafs  sie  genau  mit  der  Spektral- 
linie koinzidiert.  In  diesem  Falle  ist  also  alles  Licht  bis  auf  das  Licht 
dieser  einzigen  Spektrallinie  von  der  photographischen  Platte  abge- 
halten. Wir  wollen  nun  vorausschicken,  die  gewählte  Spektrallinie, 
eine  Linie  des  Kalziums,  sei  zwar  im  allgemeinen  dunkel,  also  eine 
Absorptionslinie.  aber  an  gewissen  Stellen  der  Sonne  hell.  Fs  ist  dann 
klar,  dafs  bei  der  Projektion  des  Sonnenbildes  auf  den  Spalt  des 
Spektroskops,  nur  die  Stellen 
der  Linie  auf  die  photographi- 
sche Platte  wirken,  welche  den 
hellen  Stellen  auf  der  Sonne  ent- 
sprechen. Die  beistehende  sche- 
matische Figur  möge  dies  er- 
läutern. 

Durch  den  Kefraktor  werde 
das  Sonnenbild  (Fig.  3,  rechts) 
auf  den  Spalt  des  Spektroskopes 
S,  projiziert;  die  Sonnensoheibe  enthalte  zwei  Stellen  (schraffiert  au- 
gedeutet), welche  die  Kalziumlinie  hell  geben.  Dann  müssen  auf  der 
photographischen  Platte  (Fig.  3,  links)  entsprechend  zwei  Linienstücke 
(schwarz  angedeutet)  der  Linie  L,  abgebildet  werden.  Hätte  sich  der 
Spalt  bei  S;  befunden,  so  wäre  nur  das  eine  obere  Linienstück  in  Lj 
und  zwar,  entsprechend  dem  gröfseren  Durchmesser  des  „Kalzium- 
fleokes“,  an  dieser  Stelle  etwas  länger  als  in  L[  aufgenommen  worden. 
Würde  man  also  den  Spalt  fortwährend  um  eine  Kleinigkeit  verstellen 
und  bei  jeder  Verstellung  eine  Aufnahme  auf  einer  anderen  Stelle  der 
photographischen  Platte  machen,  so  würde  man  nachher  die  abgebildeten 
Linienstücke  zusammensetzen  und  aus  ihnen  dann  die  Figur  der  beiden 
Kalziumflecke  erkennen  können.  Das  geschieht  nun  auf  kompliziertem 
Wege  in  ganz  kontinuierlicher  Weise  beim  Spektroheliographen,  indem 
durch  langsame  Drehung  des  Fernrohrs  um  die  Deklinationsachse  das 
ganze  Sonnenbild  über  den  Spalt  hinweggeführt  wird,  während  die  photo- 
graphische Platte  sioh  gleichzeitig  mit  genau  derselben  Geschwindigkeit 
hinter  dem  zweiten  Spalt  versohiebt.  Das  Resultat  ist  eine  getreue  Ab- 
bildung aller  derjenigen  Stellen  der  Sonnensoheibe,  welche  die  Kalzium- 


FS*.  3. 


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534 


linie  hell  zeigen,  d.  h.  ein  Kalziumbild  der  Sonne,  auf  dem  man  tatsäch- 
lich nur  den  hellglühenden  Kalziumdampf  in  der  Sonnenatmosphäre  sieht, 
sonst  nichts.  Die  Methode  läfst  sich  naturgemäß  auf  alle  anderen  Ele- 
mente, deren  Linien  auf  der  Sonnenscheibe  an  einzelnen  Stellen  hell 
erscheinen,  ausdehnen,  sofern  man  nur  die  entsprechenden  Spektrallinien 
benutzt.  So  kann  man  vor  allein  auch  Wasserst  offbilder  erzeugen. 

Dafs  bei  dem  Spektroheliographen  die  Kontrastwirkung  zwischen 
heller  Linie  und  Hintergrund  eine  sehr  viel  kräftigere  ist  als  bei  den 
Protuberanzspektroskopen,  liegt  auf  der  Hand,  denn  bei  ihm  ist  der 
Hintergrund  völlig  schwarz,  da  durch  die  Metallplatte  alles  störende 
Licht  abgeschnitten  ist. 

Welche  aufsergewöhulich  grofsen  Dimensionen  der  auf  Tafel  I 
abgebildete  Spektroheliograph  besitzt,  wird  man  leicht  aus  der  Angabe 
ersehen,  dafs  das  Fokalbild  der  Sonne  im  grofsen  Refraktor  der 
Yerkes  Sternwarte  einen  Durchmesser  von  18  cm  hat.  Eine  ent- 
sprechende Höhe  müssen  also  auch  z.  B.  die  Prismen  besitzen. 

In  betreff  der  bis  jetzt  mit  diesem  Instrument  erreichten  Ergeb- 
nisse können  wir  uns  kurz  fassen,  da  Haie  seine  Hypothesen  hierüber 
selbst  nur  als  „Arbeitshypothesen“  bezeichnet.  Als  sicher  hat  sich 
herausgestellt,  dafs  diejenigen  Teile  der  Sonnenoberfläohe,  welche  im 
leuchtenden  Kalziumdampf  erscheinen,  sehr  nahe  mit  den  Fackeln  zu- 
sammenfallen,  oder  mit  anderen  Worten,  dafs  die  Kalziumbilder  der 
Sonne  die  Fackelbilder  sind  und  damit  den  grofsen  Vorteil  bieten,  nun- 
mehr das  Verhalten  der  Fackeln  auf  der  ganzen  Sonnenscheibe  sicht- 
bar zu  machen,  während  eie  im  Fernrohr  nur  in  der  Nähe  des  Randes 
beobachtet  werden  können.  Es  scheint  aber  so,  als  wenn  sich  die 
leuchtenden  Kalziumdämpfe  auch  zuweilen  an  Stellen  zeigten,  die  frei 
von  den  eigentlichen  Fackeln  sind.  Aus  diesem  Grunde  hat  auch 
Haie  für  die  hellen  Kalziumwolken  einen  neuen,  im  übrigen  nicht 
gerade  sehr  geschmackvollen  Namen  eingeführt:  „Calciumflocculi.“ 

Die  besseren,  bei  vorzüglichen  Luftzuständen  erhaltenen  Haie- 
schen Aufnahmen  zeigen  eine  sehr  feine  Struktur  der  Flooouli.  Diese 
setzen  sich  aus  ganz  kleinen  Elementen  zusammen,  die  ihrer  Gröfse 
und  Form  nach  mit  den  bekannten,  auf  der  ganzen  Sonnenscheibe 
sichtbaren  hellen  Körnern,  welche  die  Granulation  der  Sonnenober- 
fläche bedingen,  übereinstimmen  und  wahrscheinlich  auch  mit  ihnen 
identisch  sind,  indem  sie  die  obersten  Spitzen  derselben  bilden. 

Haie  geht  aber  noch  weiter.  Da  die  Kalziumlinien  vom  Sonnen- 
rande nach  aufsen  spitz  zulaufen,  an  dem  Rande  aber  stark  ver- 
bretiert  sind,  wie  das  infolge  des  nach  unten  zunehmenden  Druckes 


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lafel  II. 


Kalziumbild  der  Sonnenscheibe.  1903,  August  iz. 


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536 


natürlich  ist,  so  nimmt  Haie  an,  dafs  die  Mitte  und  die  Ränder  der 
verbreiterten  Kalziumlinien  im  Sonnenspektrum  verschiedenen  Höhen 
über  der  Photosphäre  entsprechen,  dafs  man  daher  Bilder  aus  ver- 
schiedenen Niveauflächen  der  Sonnenatmosphäre  erhält,  je  nachdem 
der  zweite  Spalt  des  Spektroheliographen  auf  die  Mitte  oder  auf  die 
Randpartien  der  Kalziumlinie  gesetzt  wird.  Zukünftige  Forschungen 
müssen  über  die  Richtigkeit  dieser  Hypothese  entscheiden,  und  es 
hat  daher  wenig  Zweck,  jetzt  schon  an  dieser  Stelle  uns  in  diese 


Fig.  4. 


theoretischen  Betrachtungen  zu  vertiefen.  Dagegen  kann  der  Leser 
nur  durch  eigene  Anschauung  sich  eine  Vorstellung  von  der  Schönheit 
der  Haieschen  Autnahmen  und  von  ihrer  wissenschaftlichen  Bedeu- 
tung bilden.  Es  sind  daher  dieser  Beschreibung  mehrere  verkleinerte 
photographische  Reproduktionen  Halescher  Aufnahmen  beigegeben, 
denen  ich  einige  kurze  Erläuterungen  zufüge. 

Tafel  II.  Die  ganze  Sonnenoberfläche  erscheint  bedeckt  mit 
kleinen  und  kleinsten  Flocculi,  die  sich  besonders  im  unteren,  südlichen 
Teile  der  Sonnenscheibe  in  der  Gegend  der  dort  vorhandenen  Fackeln 
zu  gewaltigen  Wolken  zusammenballen.  Die  Fleckenkerne  selbst 
treten  als  kleine  dunkle  Öffnungen  in  den  KalziuinwolkeD  hervor. 


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536 


Tafel  111.  Der  Sonnendeck  selbst  erscheint  in  der  Form,  wie  bei 
direkter  photographischer  Aufnahme.  Er  ist  aber  umgeben  und  teilweise 
durchzogen  von  Anhäufungen  von  Kalziumdampf,  deren  feinere 
Struktur  gut  zu  erkennen  ist;  auch  die  weitere  Umgebung  des  Flecks 
ist  mit  Flooculis  erfüllt.  Die  obere  Aufnahme  entspricht  naoh  der 
Haieschen  Theorie  der  tiefsten  Schicht  des  Kalziumdampfes;  sie 
zeigt  die  einzelnen  Figurationen  viel  weniger  intensiv  und  deutlieh 
als  die  untere  Aufnahme,  die  von  einem  höheren  Niveau  in  der  Sonnen- 
atmospbäre  stammt. 

Fig.  4 zeigt  ungemein  dichte  Anhäufung  des  Kalziumdampfes  als 
Begleitung  der  grofsen  Fleckengruppe  vom  Oktober  1903.  Die  Längs- 
ausdehnung dieser  Wolke  entspricht  dem  5.  Teile  des  Sonnendurch- 
mesBers,  beträgt  also  40  OüO  geographische  Meilen. 


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Tafel  III. 


Tieferes  Niveau  in  der  Sonnenatmosphäre. 


Höheres  Niveau  in  der  Sonnenatmosphäre. 
Kalziumbild  des  Sonnendecks.  1903,  Oktober  9. 


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f 

«1 

4 

Neueste  Forschungen  über  den  elektrischen  Strom. 

Von  Professor  B.  Weinstein  in  Berlin. 

Ss  ist  nicht  meine  Absicht,  dem  Leser  eine  Lehre  des  elektrischen 
Stromes  vorzutragen,  die  Wirkungen  dieser  Ercheinung  und 
ihre  Gesetze  ins  Licht  zu  stellen.  Ich  beabsichtige  vielmehr,  grund- 
legende Untersuchungen  früherer  und  neuester  Zeit  in  ihrer  Bedeutung 
vorzuführen  und  Schlüsse  auf  die  Natur  oder  wenigstens  auf  die  Theorie 
des  elektrischen  Stromes  zu  ziehen,  und  auch  einiges  zu  sagen,  was 
bisher  noch  nicht  gesagt  ist. 

Der  Leser  würde  mir  wahrscheinlich  die  Theorie  gern  schenken, 
wenn  ich  ihm  nur  über  das  Wesen  dos  Stromes  etwas  mitteilen  könnte. 
Allein  der  Stand  unseres  Wissens  auf  diesem  Gebiete  (äfst  kaum  mehr 
als  Vermutungen  zu,  und  selbst  diese  in  so  unbestimmter  Form,  so 
umschleiert  von  allen  möglichen  Vorbehalten,  dafs  viel  mehr  als  ein 
Bild  mit  ganz  verschwommenen  Umrissen  nicht  zum  Vorschein  kommt. 
Man  sieht  wohl  etwas,  ohne  jedoch  sagen  zu  können,  was  dieses 
Etwas  vorstellt.  Es  ist  höchst  seltsam,  dafs  ein  Gegenstand,  der  doch 
sozusagen  auf  der  Slrafse  liegt  und  der  sich  so  real  bemerkbar  maoht, 
dafs  vor  seiner  Berührung  auf  langen  Tafeln  polizeilich  gewarnt  wird, 
sich  vor  den  alles  durchdringenden  Augen  der  Wissenschaft  so  unfind- 
bar  verstecken  kann.  Der  elektrmohe  Strom  führt  wohl  das  geheim- 
nisvollste Dasein  aller  Gegenstände  der  Natur,  die  Seele  vielleicht 
ausgenommen,  wiewohl  bei  dieser  ein  gut  Teil  des  Verborgenseins 
von  der  chinesischen  Mauer  aus  Vorurteilen  herrührt,  mit  der  wir  sie 
so  ängstlich  umgeben,  damit  sie  uns  nicht  von  räuberischen  Materialisten 
gestohlen  wird,  was  wahrlich  Welten  von  Kraft  nicht  möglich  sein 
möchte.  Von  dem  was  bleibend  ist  suchen  wir  wohl  ebenfalls  die 
Erklärung.  Was  und  woher  die  Substanz?  Wer  gab  die  Energie? 
Dooh  suchen  wir  resigniert  mit  dem  sicheren  Bewufstsein,  dafs  wir 
doch  nichts  finden  werden.  Aber  was  kommt  und  geht,  worüber  wir 
so  offenbare  Maoht  haben,  dafs  wir  es  schaffen  und  vernichten,  senden 
wohin  wir  wollen,  nach  unserem  Belieben  arbeiten  lassen  können; 


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53S 


davon  nicht  zu  wissen,  womit  wir  es  zu  tun  haben,  ist  fast  ärgerlich. 
Ich  werde  den  elektrischen  Strom  bald  als  Gegenstand,  bald  al6  Er- 
scheinung oder  als  Vorgang  bezeichnen,  da  man  noch  nicht  weifs, 
aus  welcher  Klasse  von  Namen  man  ihn  nennen  soll.  Gibt  es  doch 
Forscher,  die  ihn  sogar  zu  dem  mathematischen  Begriff  einer  Kraft- 
achse verflüchtigen,  wie  denn  auch  die  handgreifliche  Materie  oft 
selber  als  ein  Haufen  von  Kraftzentren  bezeichnet  worden  ist  und 
noch  bezeichnet  wird.  Die  Namen,  die  ich  wähle,  sollen  also  zunächst 
nur  der  Bequemlichkeit  und  dem  Wunsch,  Gleichklang  zu  vermeiden, 
erwachsen  sein  und  freilich  auch  zu  schon  vorausgenommenen  Bildern 
passen. 

Der  elektrische  Strom  ist  eine  anscheinend  sehr  zusammengesetzte 
Erscheinung,  wenigstens,  wenn  wir  als  elektrischen  Strom  dasjenige 
definieren,  was  elektromagnetische  Wirkungen  hervorruft.  Er  besteht 
aus  mehreren  Teilen,  die  einzeln  oder  beliebig  verbunden  auftreten 
können.  Da  dieses  einen  Hauptpunkt  der  ganzen  Untersuchung  bildet, 
mufs  ich  darauf  näher  eingehen.  Was  wir  gewöhnlich  als  elektrischen 
Strom  bezeichnen,  ist  der  Leitungsstrom.  Einfacher  Anschauung 
zufolge,  der  ich  zunächst  nachgehe,  fliefst  bei  diesem  die  Elektrizität 
im  Leiter,  wie  Wasser  in  einem  Rohr.  Wer  nur  eine  Art  Elektrizität 
zuläfst,  etwa  die  sogenannte  negative,  und  die  zweite  Art  Elektrizität 
in  einem  Mangel  an  dieser  einen  Art  erblickt,  setzt  voraus,  dafs 
im  Leitungsstrom  nur  diese  eine  Elektrizität  sich  bewegt.  Wer  die 
Existenz  zweier  Elektrizitäten  zugesteht,  neben  der  negativen  die 
positive,  mufs  sie  beide  ineinander  nach  entgegengesetzten  Rich- 
tungen strömen  lassen.  Der  Körper,  durch  den  die  Elektrizität 
fliefst,  setzt  ihrer  Bewegung  einen  gewissen  Widerstand  ent- 
gegen, den  man  ähnlich  einem  Reibungswiderstand  auffafst,  und 
indem  der  Widerstand  überwunden  wird,  entsteht  wie  bei  der  Über- 
windung von  Reibung  Wärme.  Diese  Wärme  ist  für  den  Leitungs- 
strom sehr  charakteristisch.  Da  ein  Widerstand  überwunden  werden  mufs. 
bedarf  es  für  den  Strom  einer  treibenden  Kraft,  das  ist  die  elektro- 
motorische Kraft.  In  den  Leitern  wird  sie  durch  die  ungleiche 
elektrische  Spannung  geliefert,  welche  in  ihnen  herrscht  Diese  ihrer- 
seits verdankt  ihre  Entstehung  der  sogenannten  freien  Elektrizität 
Die  freie  Elektrizität  darf  nicht  mit  dem  elektrischen  Strom  verwechselt 
werden,  sie  bewegt  sich  nicht  sondern  bleibt  während  des  ganzen 
Strom  Vorganges  fest  liegen.  Aufserdem  befindet  sie  sich,  sofern  der 
Leiter  keine  Ungleichheiten  in  seiner  inneren  Beschaffenheit  zeigt 
nur  auf  der  Oberfläche  des  Leiters.  Sind  solche  Ungleichheiten  vor- 


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handen,  so  kann  freie  haftende  Elektrizität  auch  an  der  Berührungs- 
fläche ungleichartiger  Teile  besteben.  Man  sieht  schon,  selbst  der 
Leitungsstrom  ist  keine  einfache  Erscheinung;  er  besteht  aus  mindestens 
zwei  Erscheinungen,  dem  eigentlichen  Strom  innerhalb  des  Leiters 
und  der  ihn  treibenden  freien  Elektrizität  auf  der  Oberfläche  des 
Leiters  und  an  den  Grenzflächen;  letztere  sind  eben  die  Flächen,  an 
denen  die  gleichartige  Beschaffenheit  des  Leiters  unterbrochen  ist. 
Diese  Flächen  nennen  wir.  wenn  sie  sioh  innerhalb  des  Leiters  be- 
finden, Grenzschichten;  solche  sind  beispielsweise  die  „Lötstellen“ 
an  Thermoelementen.  Beenden  die  Grenzflächen  den  Leiter,  so  heifsen 
sie  im  beschränkten  Fall,  dafs  andere  Leiter  durch  sie  mit  dem 
betreffenden  Leiter  in  Verbindung  stehen,  Pole,  sonst,  wenn 
beispielsweise  Flüssigkeiten  oder  Gase  an  sie  stofsen  oder  sie 
umgeben,  Elektroden,  wie  Kupfer  und  Zink  in  dem  Daniellschen 
Element,  Kohle  und  Zink  im  Bunsen-Element,  die  Platindrähte  oder 
Aluminiumscheibchen  in  den  Geifslersohen  und  Kön  t gen  röhren  u.  s.  f. 
Die  Spannungsdifferenz  der  froion  Elektrizitäten  an  diesen  Elektroden 
ist  es,  was  man  gewöhnlich  als  elektromotorische  Kraft  des  Daniellschen 
Elements,  des  Bunsen-Elements  u.  s.  f.  versteht.  Doch  spricht  man 
auch  von  Polspanuung,  Klemmspannung,  was  dasselbe  sein  soll,  indem 
man  von  den  Polen  als  Enden  des  Leiters  ausgeht.  Tatsächlich 
haben  wir  an  jeder  Stelle  Spannung  und  an  jeder  Stelle  besondere 
elektromotorische  Kraft  als  Spannungsuntersohied  Tür  eine  Streoken- 
einheit  der  Stromhahn.  Doch  kann  es  Vorkommen  und  ist  sogar 
praktisch  das  gewöhnliche,  dafs  die  elektromotorische  Kraft  längs  der 
ganzen  Bahn  des  Stromes  einen  und  denselben  Betrag  aufweist;  als- 
dann braucht  man  sie  nicht  für  die  verschiedenen  Stellen  zu  unter- 
scheiden. Das  ist,  ich  möchte  sagen,  das  Abc  des  Leitungstromes,  aber 
wie  der  Leser  schon  sieht,  stehen  doch  mehr  Worte  als  Bilder  auf 
dem  Blatt. 

Um  zu  Bildern  zu  gelangen,  machen  wir  Gebrauch  von  der  so 
berühmt  gewordenen  Elektronenlehre.  Dieser  zufolge  enthält  jeder 
Körper  in  seinen  kleinsten,  ihn  chemisch  noch  bestimmenden  Teilchen 
Elektrizität  beider  Art  Man  nennt  diese  kleinen  Teilchen  bekanntlich 
Molekeln.  Eine  Molekel  Wasser  — ich  mache  als  Sohulmeister,  der 
ioh  hier  bin,  darauf  aufmerksam,  dafs  es  riohtig  die  Molekel  (mole- 
cula)  heifsen  niufs,  wenn  auch  viel  öfter  das  Molekül  gesagt  und  ge- 
schrieben wird;  gar  das  Molekel  zu  sagen,  halte  ioh  wegen  der  zweiten 
Silbe  für  halb  bösartig  — ist  das  kleinste  Teilchen  Wasser,  welches 
chemisch  noch  als  Wasser  angesprochen  werden  kann;  ein  kleineres 


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Teilchen  als  diese  Molekel  würde  chemisch  nicht  mehr  Wasser  sein. 
Wohlgemerkt:  chemisch,  naoh  der  chemischen  Zusammensetzung'; 
physikalisch  darf  man  die  Teilung  nicht  entfernt  soweit  treiben ; lange 
bevor  man  zur  Molekel  gelangt  ist,  haben  die  Teile  physikalisch 
ihre  Eigenschaften  als  Wasser  geändert  Eine  solche  Molekel  nun 
ist  schon  nach  uralten  Theorien  — als  welche  gegenwärtig,  wo  jeden 
Tag  was  Neues  wäohst,  Theorien  gelten,  die  unsere  Grofsväter  oder 
gar  Väter  geschaffen  haben  — in  sich  nooh  zusammengesetzt.  Sie  be- 
steht aus  noch  kleineren  Teilchen,  die  wir,  wenn  sie  die  aller-  aller- 
letzten sind,  die  weiter  nioht  geteilt  werden  können,  Uratome  nennen, 
oder  einfach  Atome.  Dooh  können  solohe  Atome  in  der  Molekel 
noch  für  sich  besondere  Komplexe  bilden,  die  dann  als  Unter- 
molekeln anzuspreohen  sein  würden.  Man  nimmt  nun  an,  dafs  jede 
Molokel  in  eine  Anzahl  Atome,  oder  Atomkomplexe,  zerfallt,  deren 
jedes  eine  gewisse  Menge  Elektrizität  von  Urbeginn  enthält  die  also  mit 
ihr  verbunden  ist  Diese  Elektrizität  ist  das  hochberühmte  Elektron. 
Es  ist  ein  Individuum  wie  das  Atom,  mit  dem  es  sioh  versohwistert 
hat.  Das  Elektron  kann  aber  positiv  oder  negativ  sein.  Also  jede 
Molekel  enthält  positive  und  negative  Elektronen.  Begeisterte  An- 
hänger dieser  Elektronen  haben  sogar  angenommen,  dafs  sie  allein 
die  Molekeln  der  Körper  bilden.  Leiohten  Herzens  haben  sie  die 
Träger  der  Elektronen,  die  Atome,  herausgeschmissen,  und  da  doch 
gleichwohl  die  Substanz  nicht  fortgeleugnet  werden  kann,  haben  sie 
die  Elektronen  selbst  zu  Substanz  gemacht.  Alle  Substanz  soll  reine 
Elektrizität  sein  nichts  anderes.  Man  steht  dieser  elektrischen  Ortho- 
doxie etwas  verblüfft  gegenüber.  Indessen  so  weit  sind  wir  noch 
nioht,  denn  die  Substanz  hat  eine  furchtbare  Waffe,  mit  der  sie  sich 
verteidigt;  ihre  absolute  Faulheit,  ihre  Trägheit,  wogegen  die  Elek- 
trizität ein  ungemeiner  Leichtfufs  ist  Wir  lassen  also  beiden  ihr 
Recht,  den  Atomen  wie  den  Elektronen.  Die  Gesamtmenge  negativer 
Elektronen,  gemessen  in  Elektrizität,  soll  genau  so  grofs  sein  wie  die  der 
positiven.  Gleichwohl  können  und  sollen  die  Anzahlen  negativer  Elek- 
tronen gröfser  unter  Umständen  sogar  sehr  viel  gröfser  sein  als  die 
der  positiven,  so  dafs  ein  negatives  Elektron  sich  nur  klein  gegenüber 
einem  positiven  ausnehmen  würde.  Auch  sonst  sollen  sich  die  nega- 
tiven Elektronen  anders  verhalten  wie  die  positiven,  namentlich  sollen 
sie  sioh  weit  leichter  von  ihren  Trägern,  den  Atomen,  entfernen  oder 
mit  diesen  bewegen  können  als  die  positiven.  In  der  Tat  ist  es  nur 
in  sehr  wenigen,  dazu  nioht  einmal  ganz  zweifelfreien  Fällen  gelungen, 
von  den  Atomen  losgelöste  positive  Elektronen  festzustellen  (bei  den 


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Kanalstrahlen),  während  die  negativen  oft  und  leicht,  so  in  den 
.Strahlungserscheinungen  der  sogenannten  Kathode,  sich  auf  Wander- 
schaft begeben.  Bildet  eine  gewisse  Zahl  Atome  mit  ihren  positiven 
Elektronen  einen  zusammenhaltenden  Komplex,  so  gehören  dazu  andere, 
ebenfalls  einen  Komplex  ausmachende  Atome  mit  negativen  Elektronen. 
Zusammen  sind  sie  die  ganze  Molekel  oder  eine  Untermolekel.  In 
beiden  Fällen  nennen  wir  jeden  dieser  Komplexe  ein  Ion,  und  zwar 
den  ersten  ein  positives,  den  zweiten  ein  negatives.  Beide  heifsen  sie 
die  Ionen  der  Molekel  oder  der  Untermolekel.  Ion  ist  ein  „Wandern- 
des“; wir  werden  bald  sagen,  warum  der  Name  zutrifft.  Im  Plural 
sollte  er  richtig  Ionten  lauten,  aber  die  Bezeichnung  Ionen  hat  sich 
unausrottbar  eingebürgert. 

Eine  Molekel  kann  aus  einem  Ionenpaar  bestehen  oder  aus 
mehreren  solchen  Ionenpaaren.  Es  kann  Vorkommen,  dafs  in  jedem 
Paar  die  Ionen  fest  Zusammenhalten,  so  dafs  bei  irgend  welchen  Zer- 
teilungen der  Molekeln  immer  nur  Untermolekeln  erhalten  werden. 
Indessen  kann  es  auch  geschehen,  dafs  ein  Paar  oder  mehrere  Paare 
sich  in  ihre  Ionen  zerlegen.  Das  mufs  sich  sofort  verraten,  denn 
dann  enthalten  die  Teile,  in  die  die  Molekel  auseinandergegangen  ist, 
auf  einer  Seite  mehr  positive,  auf  der  anderen  mehr  negative  Elek- 
trizität, sie  sind  also  nach  aufsen  positiv  oder  negativ  elektrisch,  was 
im  ersten  Fall  nicht  stattfindet,  weil  genau  soviel  positive  wie  nega- 
tive Elektrizität  vorhanden  ist.  Wir  nennen  Körper,  deren  Molekeln 
in  Ionen  zerfallen  können,  Elektrolyte,  solche,  bei  denen  der  Zer- 
fall nur  in  Ionenpaaren  zu  geschehen  vermag,  Niohtelektrolyte. 
Aufserdem  kann  es  Vorkommen,  dafs  der  Zerfall  nicht  die  Molekeln 
selbst  betrifft,  sondern  ihre  Elektronen,  die  Elektronen  entfernen  sich 
ganz  oder  zum  Teil  von  ihren  Atomen,  sie  sind  dann  ihrerseits  freie 
Atome,  Elektrizität  und  werden  gerade  dann  als  Elektronen  bezeichnet. 
Dieses  betrifft,  wie  bemerkt,  namentlich  die  negativen  Elektronen  und 
findet  vor  allem  statt  in  und  an  den  Metallen. 

Nunmehr  können  wir  sagen,  wie  man  sich  gegenwärtig  die 
Leitung  eines  Stromes  vorstellt  Wir  nehmen  zunächst  ein  Metall  als 
Strombahn.  Wirkt  an  irgend  einer  Fläche  im  Innern  des  Metalls  eine 
elektrische  Kraft,  so  trennt  sie  dort  die  negativen  Elektronen  von 
ihren  Atomen  und  treibt  sie  auf  der  einen  Seite  der  Fläche  nach  vor- 
wärts, auf  der  anderen  Seite  zieht  sie  sie  zu  sich  hin.  Die  ge- 
triebenen Elektronen  treiben  ihrerseits  die  vor  ihnen  liegenden  von 
den  Atomen  fort  und  vor  sich  hin.  Indem  dieses  durch  das  ganze 
Metall  geschieht,  findet  gleichsam  ein  Strömen  der  Elektronen  des 


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Metalls  von  der  einen  Seite  des  Sitzes  der  elektromotorischen  Kraft 
zu  der  anderen  in  geschlossener  Bahn  statt.  Je  stärker  die  Kraft, 
desto  mehr  Elektronen  kann  sie  von  den  Atomen  lösen  und  treiben 
und  mit  desto  gröfserer  Geschwindigkeit,  das  huifst  mit  desto 
rascherem  Wechsel  der  Elektronen  an  jeder  Stelle;  desto  stärker  also 
der  Strom.  Aufserdem  kommt  noch  in  Betracht,  dafs  die  Elektronen 
sich  nioht  ohne  weiteres  von  den  Atomen  trennen  lassen,  und  ferner, 
dafs  sie  sich  auoh  nicht  frei  zwischen  den  Molekeln  zu  bewegen  ver- 
mögen. Das  bedingt  den  elektrischen  Widerstand,  den  die  Molekel 
leistet,  und  der  in  seiner  Höhe  nach  der  Natur  des  Metalls  sich 
richtet. 

Den  Vorgang  selbst  kann  man  sich  übrigens  in  doppelter  Weise 
denken.  Entweder  geht  die  Bewegung  der  Elektronen  nur  von  Mo- 
lekelschicht zu  Molekelschicht,  so  dafs  jedes  vorliegende  Elektron 
von  einem  nachfolgenden  von  seinem  Atom  vertrieben  oder  ab- 
gesprengt wird,  indem  sich  letzteres  an  die  Stelle  des  anderen  Elek- 
trons auf  das  betreffende  Atom  lagert,  ln  diesem  Falle  ist  die  Be- 
schaffenheit des  leitenden  Körpers  gar  nicht  geändert,  denn  in  jedem 
Augenblick  hat  jedes  Atom  sein  Elektron;  es  tritt  nur  nach  einer 
Richtung  stattfindende  Auswechselung  der  Elektronen  ein,  und  höch- 
stens Molekeln  einiger  Schichten  besitzen  keine  Elektronen  oder  nicht 
so  viele,  wie  sonst  ihnen  zukommen  würden,  weil  diese  Elektronen 
gerade  losgerissen  sind  und  sich  in  Bewegung  zu  den  anderen 
Schichten  befinden,  während  der  Ersatz  noch  nioht  herangenaht  ist. 
In  der  anderen  Vorstellung  kann  man  sich  die  Elektronen  ganz  oder 
zum  Teil  von  den  Atomen  vertrieben  und  zwischen  den  Molekeln  als 
einen  Schwarm  sich  bewegend  denken.  Der  Strom  ist  hier  wirklich 
ein  Strom  von  Elektrizität,  nämlich  von  Elektronen,  und  der  be- 
treffende Körper  als  solcher  besteht  aus  mehr  oder  weniger  Mole- 
keln mit  Elektronen,  zwischen  welchen  andere,  freie  Elektronen  ziehen. 
Bei  dieser  Vorstellung  sollte  man  die  Beschaffenheit  des  Körpers  als  ver- 
ändert ansehen,  was  aber  mit  Sicherheit  nur  in  gewissen  Fällen  fest- 
gestellt scheint,  auf  die  noch  zurückzukummen  ist.  Am  zweckmäßigsten 
wird  man  von  beiden  Vorstellungen  zugleich  Gebrauch  machen,  also 
sowohl  Austausch,  als  Sohwärmen  der  Elektronen  annehmen.  Wie  dem 
aber  auoh  sei,  so  lehrt  diese  Anschauung,  dafs  ein  elektrischer  Strom 
nioht  fremde  Elektrizität  durch  einen  Körper  führt,  sondern  nur  in 
einer  Bewegung  der  dem  Körper  eigenen  Elektrizität  besteht  Das 
fremde  ist  lediglich  die  diese  Bewegung  veranlassende  elektro- 
motorische Kraft. 


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Woher  kommt  aber  nun  die  sogenannte  freie  und  ruhende  Elek- 
trizität auf  der  Oberfläche  des  Leiters  und  überhaupt  an  jeder  Fläche, 
welohe  zwei  verschieden  geartete  Stoffe  trennt?  Die  nächste  Antwort 
wäre,  ebenfalls  aus  dem  Körper  oder  aus  den  Körpern.  Verfolgen 
wir  erst  den  Fall  eines  Leiters,  der  aus  zwei  sioh  in  einer  Fläche 
berührenden  Metallen  besteht.  Da  die  Elektronen  an  den  Atomen 
immerhin  haften,  wird  angenommen,  dafs  eine  gewisse  Anziehung 
zwischen  ihnen  und  diesen  Atomen  besteht.  Es  kann  auch  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dafs  namentlich  die  positiven  Elektronen  von 
ihren  Atomen  festgehalten  werden,  und  zwar,  je  nach  der  Be- 
schaffenheit der  betreffenden  Körper,  mit  mehr  oder  weniger  Kraft. 
So  wird  von  Körpern,  die  sich  in  einer  Flüssigkeit,  z.  B.  einer  Säure 
leicht  lösen,  angenommen,  dafs  die  Molekeln  in  Ionen  zerfallen  und 
ein  Ion  mit  den  positiven  Elektronen  in  die  Flüssigkeit  geht.  Da- 
gegen soll  bei  Körpern,  die  sich  nicht  lösen,  ein  Zerfall  der  Molekeln  nicht 
stattfinden,  und  statt  dessen  sollen  die  positiven  Elektronen  sich  von 
ihren  Atomen  trennen  und  in  die  Lösung  gehen.  Bei  Körpern  erster 
Art  halten  also  die  Atome  ihre  positiven  Elektronen  fest,  und  wenn 
letztere  durch  eine  elektrische  Kraft  in  die  Flüssigkeit  getrieben 
werden,  fahren  sie  auf  ihren  Trägern,  den  Atomen,  hinein.  Atome  von 
Körpern  der  zweiten  Art  lassen  die  positiven  Elektronen  leicht  los, 
die  dann  für  sich  der  treibenden  Kraft  folgen  können.  Diese  Be- 
trachtung ist  von  höohster  Wichtigkeit  für  die  Elektrolyse  und  über- 
haupt für  die  Zersetzung  der  Substanzen,  für  die  Dissoziation,  worauf 
bald  zurückzukommen  ist.  Also  die  Substanzen  üben  Kraft  wirk  ungen 
auf  die  Elektronen  aus,  und  zwar  je  nach  ihrer  Art  und  auch  je  nach 
der  Art  der  Elektronen  verschieden.  Stofsen  nun  zwei  Substanzen 
aneinander,  so  wird  jede  von  ihnen  zunächst  die  eigenen  Elektronen 
festhalten,  aufserdem  aber  auch  die  Elektronen  der  anderen  Substanz 
heranziehen.  Da  die  Anziehung  wesentlich  die  positiven  Elektronen 
betrifft,  so  wird  die  stärkere  Substanz  diese  Elektronen  der  anderen 
Substanz  an  sich  raffen;  an  der  Grenzfläche  entsteht  so  ein  Ansturm 
positiver  Elektronen.  Indem  aber  die  schwächere  Substanz  positive 
Elektronen  verliert,  werden  negative  in  ihr  frei,  und  diese  folgen  den 
positiven  Elektronen,  soweit  die  neben  diesen  Wirkungen  auch  be- 
stehenden rein  elektrischen  Kräfte  es  zulassen.  So  bildet  sich  an 
der  Grenzfläche  eine  zweite  Schicht  von  Elektronen,  und  es  befinden 
sich  an  dieser  Grenzfläche  zwei  Schichten  Elektronen,  eine  Schicht 
positiver  und  eine  andere  negativer  Elektronen.  Bekanntlich  nennt 
man  die  in  diesen  Schichten  vorhandene  Elektrizität  Berührungs- 


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*Kontakt-)Elektrizität  oder  auch  Volta-Elektrizität.  Die  vor- 
stehende Anschauung  aber,  ohne  das  Mittel  der  Elektronen,  hat  Helm- 
holtz  vor  langer  Zeit  entwickelt.  Sie  ist,  wie  ich  bemerken  will,  mit 
vielen  Schwierigkeiten  verbunden,  aber  erheblich  besser  sind  andere 
Theorien,  die  man  noch  aufgestellt  hat,  auoh  nicht.  So  6ind  die  freien 
ruhenden  Elektrizitäten  an  der  Grenzfläche  zwischen  zwei  Leitern 
ermittelt. 

Nun  die  Elektrizität  an  der  Oberfläche  eines  Leiters.  Diese  Ober- 
fläche ist  die  Grenzfläche  zwischen  dem  Leiter  und  dem  ihn  umgebenden 
Nichtleiter  (z.  B.  Luft).  Von  einem  Nichtleiter  müssen  wir  annehmen, 
dafs  seine  Elektronen  weder  für  sich  noch  mit  ihren  Atomen  sich  aus 
den  Molekeln  zu  entfernen  vermögen,  und  dafs  auch  in  ihn  weder 
freie  noch  an  Ionen  gebundene  Elektronen  eintreten  können,  (was 
natürlich  nicht  ausschliefst,  dafs  unter  Umständen  Molekeln  doch  in 
Ionen  zerfallen  und  dafs  auch  fremden  Molekeln  oder  Ionen  paaren 
der  Eingang  und  der  Durchgang  gestattet  wird.)  Haben  sich  hiernach  an 
der  Oberfläche  eines  Leiters  Elektronen  aus  den  Molekeln,  mit  oder  ohne 
ihre  Atome  abgelöst,  so  bleiben  sie  daselbst  und  können  sich  nicht  in 
dem  Nichtleiter  verbreiten.  Nun  aber,  warum  bewegen  sie  sich  nicht 
entlang  der  Oberfläche  des  Leiters?  Hier  weifs  ich,  da  die  gewöhn- 
lichen elektrischen  Kräfte  mir  nicht  auszureichen  scheinen.  Keine 
andere  Aushilfe  als  die  Annahme,  dafs  die  Nichtleiter  die  Elektronen 
mit  grofser  Kraft  anziehen  und  sie  auf  diese  Weise  an  der  Oberfläche 
festhalten.  Da  sie  ferner  selbst  keine  Elektronen  abgeben,  findet  sich 
an  dieser  Oberfläche  nur  eine  Schicht  von  entweder  negativen  oder 
positiven  Elektronen.  Ist  der  den  Leiter  umgebende  Körper  kein  ab- 
soluter Niohtleiter,  so  tritt  eine  Mischung  der  beiden  Fälle  ein;  wir 
haben  zwei  ruhende  Elektronenschichten,  nur  dafs  eine  dieser  Schichten 
stärker  ist  als  die  andere  und  dafs  Elektronen  die  Schichten  durch- 
queren können,  wie  dieses  bei  den  zuerst  behandelten  Grenzschichten 
zwischen  zwei  Leitern  der  Fall  ist 

In  gewissen  Fällen  bleiben  die  Elektronen  der  Grenzschichten 
nicht  unbewegt  an  ihrem  Orte,  dann  nämlich,  wenn  zwischen  den  ver- 
schiedenen Teilen  des  zusammengesetzten  Leiters  Temperaturdifferenzen 
bestehen.  Es  tritt  dann  zufolge  dieser  Wärmeunterschiede  eine  trei- 
bende elektromotorische  Kraft  auf,  welche  die  Elektronen  an  den 
Grenzschichten  wie  im  Leitungsstrom  vorwärts  schiebt  Der  so  ent- 
stehende Strom  ist  bekanntlich  der  Thermostrom.  Wie  durch 
Wärmeuntersohiede  eine  elektromotorische  Kraft  hervorgebracht  wird, 
ist  noch  recht  dunkel.  Wir  können  lediglich  annehmen,  dafs  durch 


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solche  Unterschiede  auch  Unterschiede  in  dem  Aufbau  der  Molekeln 
verursacht  werden,  mittelbar  also  auch  in  der  Verteilung  der  Elek- 
tronen. Wo  ein  Wärmeüberschufs  besteht,  werden  die  Molekeln  auf- 
gelockert; dadurch  werden  die  Elektronen  freier  und  geben  Kraft- 
einwirkungen leiohter  nach  als  die  Elektronen  derjenigen  Molekeln, 
die  keine  Auflockerung  erfahren  haben.  Die  Krafteinwirkungen  aber 
können  von  den  Molekeln  selbst  herstaramen,  entweder  aus  Fern- 
wirkung oder  durch  Stösse.  In  letalerer  Hinsicht  nimmt  man  be- 
kanntlich an,  dafs  die  Molekeln  der  Körper  sioh  in  steter  zitternder 
Bewegung  befindon,  wobei  sie  fortwährend  aneinanderprallen.  Sind 
die  Molekeln  überall  durchschnittlich  gleich  gebaut  und  in  gleicher 
Bewegung,  so  kann  sich  durch  das  Aneinanderprallen  im  Durohschnitt 
niohts  ändern.  Sobald  jedooh  durch  Wiirmeuugleichheiten  auch  Ungleich- 
heiten im  Bau  und  in  der  Bewegung  der  Molekeln  hervorgerufen  werden, 
müssen  die  Wirkungen  des  Aneinanderprallens  an  verschiedenen 
Stellen  verschieden  sein.  Es  werden  an  Stellen  grÖfserer  Auflockerung 
und  hastigerer  Bewegung,  das  ist  an  Stellen  höherer  Temperatur, 
mehr  Elektronen  durch  die  Stöfse  der  Molekeln  von  don  Atomen  ab- 
gesprengt als  an  anderen.  Indessen  spielen  hier  auch  diejenigen 
Kräfte  mit,  welche  — wie  wir  bei  der  Kontaktelektrizität  sahen  — von 
den  Molekeln  auf  die  Elektronen  ausgeübt  werden,  denn  in  absolut 
homogenen  Körpern  vermögen  Wärmeungleichheiten  elektrische  Ströme 
anscheinend  nicht  zu  verursachen.  Thermoströme  sind  wohl  nur  vor- 
handen, wenn  Wärmeungleichheiten  verschiedene  Leiter,  wie  Leiter 
aus  Wismut  und  Antimon  betreffen,  oder  einen  Leiter  zwar  von  chemisch 
überall  gleicher  Substanz,  der  aber  durch  besondere  Behandlung  an 
verschiedenen  Stellen  voneinander  abweichende  physikalische  Eigen- 
schaften erhalten  hat. 

Wenn  ein  Leiter  eine  ringsgeschlossene  Bahn  bietet,  bewegen 
sich  die  Elektronen  in  dieser  Bahn.  Ist  dieselbe  an  irgend  einer 
Stelle  unterbrochen,  so  prallen  die  Elektronen  an  dieser  Stelle  an;  sie 
wirken  dadurch  auf  die  ihnen  folgenden  zurück,  und  in  kurzer  Zeit 
kommt  alles,  falls  die  treibende  Kraft  nicht  hinreicht,  das  Hindernis  zu 
überwinden,  zum  Stillstand;  es  ist  kein  Strom  mehr  vorhanden.  Gleich- 
wohl kann,  wenn  die  elektromotorische  Kraft  noch  besteht,  der  Zustand 
der  Elektronen  im  Leiter  nicht  der  nämliche  sein,  als  wenn  auf  den 
Leiter  überhaupt  nichts  wirkte;  dagegen  spricht  schon  der  Umstand, 
dafs  die  freie  Elektrizität  erhalten  bleibt.  Die  Elektronen  in  einem 
solohon  Leiter  müssen  also  anders  verteilt  sein  als  im  Falle  absoluter 
Ruhe.  Ändert  sich  die  elektromotorische  Kraft,  so  ändert  sich  die 

Himmel  und  Erde.  1004.  XVI.  12.  35 


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Verteilung  der  Elektronen;  letztere  bewegen  sich  rasch  in  ihre  neuen 
Stellungen.  Oeht  die  Änderung  der  elektromotorischen  Kraft  periodisch 
vor  sich,  so  tritt  das  nämliche  in  der  Verteilung,  also  auch  in  der  Be- 
wegung der  Elektronen  ein.  Wir  haben  dann  sogenannte  elektrische 
Schwingungen  im  Leiter,  die  sioh  bekanntlich  auf  den  den  Kaum 
erfüllenden  Äther  übertragen.  Während  aber  die  Schwingungen  im 
Leiter  noch  zu  den  Leitungsströmen  gehören,  sind  die  Schwingungen 
im  Äther  Ströme  ganz  anderer  Art,  wie  später  gezeigt  werden  soll. 

Unter  Umständen  kann  die  elektromotorische  Kraft  so  grofs 
werden,  dafs  die  Elektronen  das  Hindernis  überwinden.  Sie  stürmen 
dann  aus  dem  Leiter,  allein  oder  mit  Atomen  des  Leiters,  wie  ein  Sprüh- 
feuer heraus  und  geben  so  die  verschiedenen  Strahlengattungen, 
namentlich  die  Kathoden  st  rahl  en.  Die  Geschwindigkeit,  mit  der 
sie  sich  dabei  bewegen,  kann  aurserordentlich  grofs  werden;  wir  kennen 
Fälle,  in  denen  sie  an  50  000  und  mehr  km  für  die  Sekunde  betrug,  was 
mehr  als  hinreiohen  würde,  ein  Elektron  in  der  Sekunde  ganz  um  die 
Erde  herumzujagen.  So  ungeheure  Geschwindigkeiten  würden  an 
Stellen,  die  dem  Anprallen  der  Elektronen  ausgesetzt  sind,  furchtbare 
Verwüstungen  anrichten,  wenn  ihre  Massen  nur  irgend  erheblich  wären. 
Diese  sind  aber,  falls  sie  überhaupt  bestehen,  aufserordentlicb  minimal. 
Der  Durchmesser  der  Elektronen  verhält  sioh  zu  demjenigen  einer 
Billardkugel,  wie  die  Gröfse  eines  Fixsternes  zu  dem  die  Fixsterne 
im  Durchschnitt  trennenden  Zwischenraum.  Es  hat  jemand  gesagt, 
dafs,  wenn  wir  ein  Stück  Platin  so  betrachten  könnten  wie  das  Weltall, 
dieser  so  dichte  Körper  uns  so  leer  Vorkommen  würde  wie  dieses 
Weltall,  und  die  Elektronen  wären  die  Sonnen  darin;  so  unbändig 
winzig  sind  die  letzteren.  Dafs  aber  die  Elektronen  an  Stellen,  wo  sie 
aufprallen,  gleichwohl  sehr  augenfällige  Wirkungen  hervorbringen,  ist 
jedem  Leser  aus  den  Geisl  er  sehen  Röhren  und  den  Röntgen-Röhren, 
bekannt.  Es  ist  bezeichnend,  dafs  der  Elektronenstrom  zwar  von 
einem  Ende  deB  Leiters,  von  der  sogenannten  Kathode  ausgeht,  aber 
nicht  nach  dem  anderen  Ende,  der  sogenannten  Anode,  hinzielt,  son- 
dern unbekümmert  um  diese  seinen  geraden  Weg  nimmt.  Die  Anode 
spielt  dabei  eine  merkwürdig  untergeordnete  Rolle.  In  der  Tat  sind  diese 
Elektronenströme  nicht  mehr  die  Fortsetzung  dos  Stromes,  der  den 
Leiter  durchzieht,  sie  sind  besondere,  Leitungsströmen  nicht  zu  ver- 
gleichende Ströme.  Wir  müssen  annehmen,  dafs  in  den  Geifsler- 
schen  Röhren  neben  ihnen  noch  etwas  vorgeht,  was  von  Kathode  zu 
Anode  gerichtet  ist,  falls  eine  solche  vorhanden  ist.  Darauf  komme 
ich  ebenfalls  zurück. 


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547 

Nun  wollen  wir  noch  einen  dritten  Fall  betrachten.  Wir  schalten 
an  der  Unterbrechungsetelle  des  Leiters  eine  Flüssigkeit  ein,  d.  b.  wir 
tauchen  die  Enden  des  Leiters,  durch  den  der  Strom  geht,  in  eine 
Flüssigkeit  Gehört  diese  Flüssigkeit  den  Niohtelektrolyten  an,  so 
ist  dieser  Fall  von  den  voraufgehenden  Fallen  nicht  verschieden. 
Anders  jedoch,  wenn  die  Flüssigkeit  ein  Elektrolyt  ist.  Löst  sich  der 
Leiter  in  dieser  Flüssigkeit  nicht,  so  treten,  durch  den  Strom  getrieben, 
von  einem  Ende  negative,  vom  anderen  Ende  positive  Elektronen  in 
die  Flüssigkeit  ein,  oder,  was  meist  angenommen  wird  und  denselben 
Erfolg  bat  es  treten  von  beiden  Enden  positive,  aber  von  dem  einen 
mehr  als  vom  anderen  ein.  Das  erstere  ist  eine  bequemere  Ausdrucks- 
weise. Da  die  Molekeln  der  Flüssigkeit  selbst  Elektronen  ent- 
halten, können  die  in  die  Flüssigkeit  gehenden  Elektronen  des 
Leiters  nicht  ohne  Einflufs  auf  jene  sein.  Die  eintretenden  negativen 
vertreiben  die  negativen,  die  positiven  die  gleichbenannten  Elektronen 
der  Flüssigkeitsmolekeln.  So  entsteht  in  der  Flüssigkeit  ein  Wandern 
negativer  Elektronen  nach  der  Seite  hin,  wo  die  positiven  ausgetreten 
sind,  und  positiver  nach  der  entgegengesetzten  Richtung.  Verhielte  sich 
nun  die  Flüssigkeit  wie  ein  gewöhnlicher  Leiter,  so  brächte  das  nichts 
neues,  es  wäre  ein  gewöhnlicher  l.eitungsstrom.  Aber  wenn  die  Elek- 
tronen der  Flüssigkeiten  sich  nur  zugleich  mit  ihren  Atomen  bewegen 
und  die  Molekeln  aus  Ionen  bestehen,  trifft  die  Wanderung  nioht  sowohl 
die  Elektronen  der  Flüssigkeit  als  vielmehr  deren  Ionen.  Ein  Ion 
geht  von  der  Anode  zur  Kathode,  ein  anderes  von  der  Kathode  zur 
Anode.  Jedes  dieser  Ionen  trägt  Elektronen  einer  Art  mit  sich,  und 
sobald  die  Ionen  an  die  Leiterenden  gelangt  sind,  nehmen  diese  die 
Elektronen  auf  und  die  Ionen  bleiben  von  ihren  Elektronen  frei,  unge- 
laden an  den  Elektroden  liegen.  Die  aufgenommenen  Elektronen  durch- 
ziehen den  Leiter  nach  entgegengesetzten  Richtungen  und  gelangen 
wieder  in  die  Flüssigkeit.  So  setzt  sich  das  Spiel  fort,  solange  die 
Flüssigkeit  noch  in  Ionen  zerlegbare  Molekeln  besitzt;  sind  diese  ver- 
schwunden, so  hört  es  auf;  der  Strom  ist  unterbrochen.  Man  sieht, 
welche  Ähnlichkeit  diese  Art  der  Stromleitung,  die  elektrolytische 
Stromleitung,  mit  der  früher  behandelten  hat.  nur  dafs  die  Elektronen 
sozusagen  huckepack  von  einem  zum  anderen  Ende  getragen  werden. 
Die  Geschwindigkeit  dieser  Beförderung  der  Elektronen,  die  Wan- 
derungsgesohwindigkeit  der  Ionen,  steht  in  einem  schreienden 
Gegensatz  zu  der  vorhin  geschilderten  Geschwindigkeit,  mit  der  diu 
Elektronen  selbst  sich  zu  bewegen  vermögen;  sie  entspricht  kaum 
dem  Krieohen  einer  Schnecke,  ln  einfachen  Experimenten,  wenn 

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das  Spannungsgefälle  der  Elektrizität  für  ein  Centimeter  Weglänge  ein 
Volt  beträgt,  ist  sie  durchschnittlich  nur  wenige  Tausendteile  des  Milli- 
meters auf  die  Sekunde.  Sie  kann  aufserdem  für  das  eine  Ion  einen 
anderen  Wert  haben  wie  für  das  zweite.  So  beträgt  sie  in  einer 
Kochsalzlösung  für  das  eine  Ion  des  Kochsalzes,  nämlich  das  Natrium, 
etwa  3 Tausendteile,  für  das  andere  Ion,  nämlich  das  Chlor,  gegen 
5 Tausendteile  Millimeter.  Der  Vorgang  selbst  ist  dabei  so  zu  denken, 
dafs  nioht  etwa  ein  Ion  die  ganze  Flüssigkeit  durchwandert,  sondern 
dafs  es  sich  nur  bis  zur  nächsten  Molekel  bewegt,  dort  das  ihm 
gleiche  Ion  vertreibt  und  sich  an  dessen  Stelle  setzt.  Daher  bleibt 
die  Flüssigkeit  in  ihrer  Masse  an  sich  unzersetzt,  nur  dafs  sie  immer 
mehr  zersetzbare  Molekel  verliert.  Die  zersetzten  Teile,  die  freien 
Ionen,  finden  sich  erst  an  den  Enden,  den  Elektroden  des  Leiters, 
und  können  — wio  es  auch  geschieht  — dort  gewonnen  werden.  Es 
wird  den  Leser  noch  interessieren,  zu  erfahren,  dafs  die  Ionen  ganz 
ungeheure  Mengen  Elektrizität  mit  sich  führen,  z.  B.  ein  Gramm  eines 
Natriumion  soviel,  dafs  man  damit  einen  Strom  von  1 Ampere  Stärke, 
was  schon  ein  ganz  achtbarer  Strom  ist,  fast  anderthalb  Stunden  er- 
halten könnte.  Die  Kraft,  welche  zur  Bewegung  dieses  Gramms 
Natriumion  erforderlich  ist,  liifst  sich  vergleichen  mit  dem  Druck, 
den  etwa  6000  Kilogramm  auf  ein  Quadratcentimeter  aufgetürmt,  auf 
dieses  Flächenstück  ausüben  würden.  Die  Kölner  Domtürme  drücken 
auf  ihr  Fundament  sicher  noch  nioht  mit  dem  hundertsten  Teil  dieser 
Kraft.  Es  enthalten  also  die  Körper  ganz  unglaubliche  Energieen  in 
sich  aufgespeichert.  Nur  schade,  dafs  wir  ihrer  nicht  ohne  weiteres 
habhaft  werden  können. 

Wir  kehren  jetzt  zu  dem  Fall  einer  durch  einen  Nichtleiter  unter- 
brochenen Strombahn  zurück.  Wir  sahen  schon,  dafs  unter  Umständen 
von  der  Unterbrechungsstelle  ein  Strom  Elektronen  ausgeht,  der  die 
Kathodenstrahlen,  Röntgenstrahlen  usw.  bildet,  jedoch  nur  unter  Um- 
ständen, und  diese  Umstände  werden  dem  Leser  jetzt  bekannt  sein.  Ge- 
schieht aber  sonst  in  der  Umgebung  des  Leiters  niohts?  Lange  hat  man 
das  angenommen,  bis  die  Untersuchungen  von  Faraday  und  Maxwell, 
welche  in  den  Entdeckungen  von  Heinrich  Hertz  gipfelten,  die 
Wissenschaft  eines  anderen  belehrten  und  so  eine  völlige  Umwandlung 
nicht  blofs  der  Lehre  der  Elektrizität,  sondern  auoh  des  Lichtes  her- 
beiführten. Denken  wir  uns  eine  ungeladene  Metallkugel  und  ver- 
binden sie  durch  einen  Draht  mit  einer  Elektrisiermaschine  oder  einer 
anderen  Elektrizitätsquelle.  Es  strömt  Elektrizität  dann  durch  den  Draht 
in  die  Kugel.  Was  das  bedeutet  und  wie  lange  das  dauert,  wissen  wir 


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schon.  Was  geht  aber  in  der  Umgebung  der  Kugel,  in  der  Luft  und 
in  dem  alles  füllenden  Äther  wahrend  des  Einströmens  der  Elektri- 
zität in  die  Kugel  vor  sioh?  Die  Antwort  ist:  es  tritt  dort  eben- 
falls eine  Bewegung  von  Elektrizität  ein,  welche  mit  dem  Strom  in 
der  Kugel  Schritt  hält,  sioh  weiter  und  weiter  bis  in  die  Unendlich- 
keit ausdehnt  und  ihrerseits,  wie  die  Elektrizität  die  Kugel,  so  auch  den 
unendlichen  Raum  in  einen  besonderen  Zustand  versetzt  Nennen  wir 
den  Zustand  der  Kugei  den  der  Elektrisierung,  so  hat  man  den 
Zustand  der  Umgebung  als  den  der  Polarisierung  bezeichnet.  Und 
heifst  der  Strom,  der  die  Kugel  ladet,  Leitungsstrom  oder  Elektri- 
sierungsstrom, so  soll  der  Strom  in  der  Umgebung  als  Polari- 
sierungsstrom (nicht  zu  verwechseln  mit  dem  bekannten  Polari- 
sationsstrom) von  ihm  unterschieden  werden.  Das  ist  also  die  zweite 
Stromart  mit  der  wir  es  zu  tun  haben,  die  auch  Vorschiebungs- 
strom und  auch  Induzierungsstrom  (wohl  zu  unterscheiden 
vom  bekannten  Induktionsstrom)  genannt  wird.  Nach  der  Elektronen- 
theorie besteht  ein  Leitungsstrom  wesentlich  in  einem  Strom  von 
negativen  Elektronen,  so  in  Metallen;  oder  in  zwei  einander  entgegen 
gerichteten  Strömen  von  Elektronen,  einem  Strom  negativer,  einem 
anderen  positiver  Elektronen,  so  namentlich  in  Elektrolyten;  die  Elek- 
tronen dabei  frei  oder  an  ihre  Träger,  die  Atome,  gebunden  gedacht. 
Hauptsache  ist,  dafs  dabei  ein  Transport  der  Elektronen  von  einem 
Ort  nach  einem  anderen  slattfindet,  wenn  auch  für  jedes  Elektron 
nur  durch  eine  kurze  Strecke,  und  dafs  die  Bewegungen  der  beiden 
Elektronenarten,  wenn  sioh  beide  Arten  bewegen,  durcheinander- 
gehen. Die  Bahnen  können  verschieden  sein  und  die  Geschwindig- 
keiten voneinander  abw’eichen;  die  Bewegung  der  einen  Elektronenart 
kann  zugleich  gänzlich  unabhängig  von  der  der  anderen  sein. 

Nicht  also  bei  dem  Polarisierungsstrom I Die  Erfahrung  hat  ge- 
lehrt, dafs  durch  diesen  Strom  nirgends  Elektrizität  frei  wird,  wie 
beim  Leitungsstrom.  Das  führt  zu  der  Annahme,  dafs  die  Elek- 
tronen beider  Art  immer  aneinander  gebunden  bleiben;  besteht  der 
Polarisierungsstrom  in  einer  Elektronenbewegung,  so  kann  er  nur 
die  Molekel  als  Ganzes  oder  mindestens  Ionen  paare  betreffen, 
nicht  Ionen  vereinzelt.  Lange,  bevor  man  von  Elektronen  sprach,  hat 
man  sich  vom  Polarisierungsstrom  eine  bestimmte  Vorstellung  gemacht, 
indem  man  auf  eine  andere  Erscheinung  zurückging,  für  die  man 
schon  eine  Vorstellung  besafs,  nämlich  auf  den  Magnetismus.  Ein 
Körper,  der  Magnet  werden  kann,  soll  aus  einer  Unzahl  bunt  durchein- 
ander gewürfelter  außerordentlich  kleiner  Magnete  bestehen,  die  man 


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Molek ularmagnete  nennt,  und  die  nur  deshalb  sich  nach  aufsen 
nicht  bemerkbar  machen,  weil  sie  eben  einen  ordnungsiosen  Haufen 
bilden,  in  dem  Nordpole  und  Südpole  nach  allen  Richtungen  in 
durchschnittlich  gleicher  Menge  hinweisen.  Die  Magnetisierung  be- 
steht darin,  dafs  diese  Molekularmagnete,  ohne  ihre  Lage  im  Körper 
zu  ändern,  so  gedreht  werden,  dafs  nunmehr  ihre  Nordpole  wesent- 
lich nach  einer,  ihre  Südpole  wesentlich  nach  der  entgegengesetzten 
Richtung  hinzeigen.  Der  Körper  wird  nach  aufsen  zum  wirklichen 
Magnet  mit  zwei  Polen,  er  ist  polarisiert,  und  den  Vorgang,  durch 
den  er  da<u  wird,  können  wir  als  Polarisierungsvorgang  bezeichnen. 
Was  geschieht  aber  dabei  mit  Bezug  auf  die  beiden  Magnetismen? 
Wir  denken  uns  innerhalb  des  Körpers,  etwa  senkrecht  zur  magneti- 
sierenden Kraft  ein  Flächenstück;  es  wird  eine  Reihe  von  Mole- 
kularmagneten durohschneiden.  Wirkt  nun  die  Kraft,  so  drehen  sich 
diese  Molekularmagnete  und  ihre  Nordpole  schieben  sich  durch  die 
Fläche  nach  der  einen,  ihre  Südpole  nach  der  anderen  Richtung. 
Das  ist  so,  als  wenn  sioh  durch  die  Fläohe  Nordmagnetismus  nach 
der  einen,  Südmagnetismus  nach  der  anderen  Richtung  bewegt,  während 
gleichwohl  die  Magnetismen  auf  ihren  Molekularmagneten  verbleiben, 
also  nicht  frei  voneinander  werden.  So  kommen  wir  zu  einem  mag- 
netischen Verschiebungsstrom  oder  Polarisierungsstrom.  Setzen  wir 
jetzt  an  Stelle  jedes  Molekularmagneten  ein  unzerlegbares  Ionenpaar 
oder  überhaupt  ein  Gebilde  mit  zwei  entgegengesetzten,  untrennbaren 
elektrischen  Ladungen,  so  haben  wir  die  Vorstellung  der  elektrischen 
Polarisierung  und  des  elektrischen  Polarisierungs-  oder  Versohiebungs- 
stromes.  Der  Polarisierungsstrom  bringt  die  Polarisierung  hervor 
und  ändert  sie;  sein  Mafs  ist  also  die  Änderung  der  Polarisierung. 
Jeder  elektrische  Zustand  in  einem  Körper  ist  mit  einem  Polarisierungs- 
zustand in  seiner  Umgebung  verbunden,  jeder  elektrische  Strom  mit 
einem  Polarisierungsstrom  in  dieser  Umgebung,  der  so  lange  anbält, 
bis  die  Polarisierung  eine  bestimmte  Höhe  erreicht  hat.  Ist  der  Strom 
konstant  geworden,  so  hört  der  Polarisierungsstrom  auf,  da  nun  kein 
Anlafs  zur  Änderung  der  Polarisierung  mehr  vorhanden  ist.  Aber 
indem  die  Polarisierung  sich  duroh  den  ganzen  Raum  verbreitet,  geht 
der  Polarisierungsstrom  mehr  und  mehr  ins  Weite;  er  pflanzt  sich 
durch  den  Raum  fort  wie  das  Licht,  und  in  der  Tat  auch  mit  der 
Geschwindigkeit  des  Lichtes.  Er  stellt  überall  die  den  Umständen 
angepafste  Polarisierung  her. 

Fassen  wir  jetzt  einen  unterbrochenen  Leiter  ins  Auge.  Es  be- 
ginnt an  ihm  eine  elektrische  Kraft  zu  wirken.  Wie  wir  wissen,  ent- 


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steht  dann  ein  Leitungsstromstofs  in  ihtn,  der  so  lange  anhält,  als  die 
Kraft  anwäohst,  oder  überhaupt  sich  ändert.  Zwischen  den  Enden  in 
der  Unterbreohungsstelle  geht  zugleich  die  Polarisierung  der  Umgebung 
vor  sioh,  also  ein  Polarisierungsstrom.  Daraus  folgt,  dafs  dieser 
Polarisierungsstrom  wie  die  Fortsetzung  des  Leitungsstromes  anzu- 
sehen ist,  er  schliefst  den  sonst  offenen  Leitungsstrom.  Und  so  hat 
Maxwell  den  Satz  aufgestellt,  dafs  'offene  Ströme  überhaupt  nicht 
bestehen,  dafa  ein  jeder  Strom  geschlossen  ist.  Leitungsstrom  und 
Polarisierungsstrom  zusammen  geben  einen  ganzen,  in  sioh 
zurücklaufenden  Strom.  Dieser  Satz  und  die  Einführung  der 
Polarisierungsströme  überhaupt  gehört  zu  den  folgenschwersten  Er- 
rungenschaften der  Naturlehre.  Aber  der  Satz  selbst  ist  nur  richtig, 
wenn  die  Körper,  in  denen  die  Ströme,  Leitungs-  und  Polarisierungs- 
ströme, sich  bewegen,  in  Ruhe  verharren.  Sobald  diese  Körper  sich 
bewegen,  treten  neue  Erscheinungen  auf,  die  gleichfalls  als  Strömo 
betrachtet  werden  können,  oder  doch  wenigstens  in  gewisser  Hinsicht 
die  Rolle  von  solchen  spielen  und  die  nun  mit  den  anderen  Strömen 
den  in  sich  zurücklaufenden  geschlossenen  Strom  bilden;  ohne  diese 
neuen  Ströme  würde  im  Falle  der  Bewegung  der  stromführenden 
Körper  die  Bahn  der  beiden  behandelten  Ströme  offen  bleiben  können 
und  unter  Umständen  offen  bleiben.  Wir  wenden  uns  zu  diesen 
neuen  Strömen,  zunächst  zu  dem  zuerst  erkannten  und  neuerdings  zur 
höchsten  Bedeutung  gelangten,  dem  sogenannten  Konvektionsstrom. 
Aber  es  bedarf  noch  einer  kurzen  Vorbereitung. 

Wir  erkennen  jede  Erscheinung  an  ihren  Wirkungen.  Diese 
Wirkungen  können  an  der  Stelle  stattfinden,  wo  die  Erscheinung  sich 
abspielt,  oder  an  Orten  aufserhalb  dieser  Stelle.  Ein  Leitungsstrom 
iibt  nun  Wirkungen,  sowohl  dort,  wo  er  sich  befindet,  als  wo  er  sich 
nicht  befindet,  aus.  Zu  den  Wirkungen  erster  Art  gehört  vor  allem  die 
Erwärmung  seiner  Bahn  und  die  Zersetzung  der  Elektrolyts,  falls  seine 
Bahn  durch  sie  fuhrt.  Die  Wirkungen  der  zweiten  Art  bestehen 
wesentlich  in  den  Anziehungen  und  Abstofsungen  auf  andere  Ströme 
und  auf  Magnete  und  in  der  Hervorbringung  von  Strömen  und  Mag- 
netismus. Das  sind  Kraftwirkungen,  die  man  unter  dem  Namen 
der  elektromagnetischen  Wirkungen  zusammenfafst.  Man  ver- 
langt nun  nicht  von  dem,  was  man  Strom  nennt,  dafs  er  alle  nur 
je  beobachteten  Wirkungen  gleichzeitig  aufweist,  namentlich  sieht  man 
unter  Umständen  gerade  von  den  Wirkungen  der  ersten  Art,  den  in- 
ternen Wirkungen  ab.  Erwarten  rnufs  man  jedoch  von  jeder  Erschei- 
nung, die  als  Strom  angesprochen  werden  soll,  dafs  sie  die  elektro- 


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magnetischen  Wirkungen  mitführt;  und  die  Erfahrung  hat  gelehrt, 
dafs,  wenn  eine  dieser  Wirkungen  vorhanden  ist,  auch  alle  anderen 
bestehen  oder  wenigstens  bestehen  können.  Also  es  kann  elektrische 
Ströme  geben,  die  ihre  Bahn  nicht  erwärmen  und  Elektrolyte  nicht 
zersetzen,  die  also  als  Ströme  keine  innere  Energie  besitzen,  son- 
dern alles  nach  aufsen  wenden.  Das  wird  vielfach  übersehen,  und 
es  entstehen  so  Mißverständnisse  und  Unrichtigkeiten  aller  Art.  Koch 
bitte  ich  den  Leser  beachten  zu  wollen,  dafs  auch  das  Wort  „Ströme' 
unterstrichen  ist;  ioh  meine  damit,  dafs  etwas  als  Strom  keine  innere 
Energie  zu  haben  braucht,  die  ihm  im  übrigen  wohl  zukommen  darf 
und  wird.  Denn  wir  wissen,  dafs  Körper  in  Bewegung  ganz  andere 
Eigenschaften  haben  können  als  in  Ruhe;  und  diese  neuen  Eigen- 
schaften brauchen  die  anderen  nicht  im  geringsten  zu  beeinflussen. 
Es  mag  Elektrizität  als  Strom  innerlich  ganz  energielos  sein  und  als 
Elektrizität  eine  ungeheure  innere  Energie  besitzen.  Das  also  voraus- 
geschickt. 

Es  hat  nun  schon  Wilhelm  Weber  vermutet,  dafs  Elektrizität 
elektromagnetische  Wirkungen  ausübt,  wenn  sie  überhaupt  in  Be- 
wegung ist,  nicht  blofs  in  der  von  uns  als  elektrischer  Strom  be- 
zeichnetcn  Weise,  sondern  auch  wenn  sie  durch  den  Kaum  auf  irgend 
eine  Weise  geführt  wird.  Ein  mit  Elektrizität  geladener  Körper,  dem 
in  der  Ruhe  gar  keine  elektromagnetischen  Wirkungen  zukommen, 
würde  solche  Wirkungen  äufsern,  sobald  er  in  Bewegung  ist;  er 
würde  beispielsweise  eine  Magnetnadel  in  Drehung  versetzen,  einen 
Strom  anziehen  oder  abstofsen,  in  Leitern  Ströme  induzieren  usw. 
in  gleicher  Weise  und  nach  den  Gesetzen  der  Leitungsströme.  Die 
Bahn,  die  ein  solcher  Körper  durcheilt,  würde  sich  wie  ein  Strom  ver- 
halten, und  die  Wirkung  wäre  proportional  der  Ladung  des  Körpers 
und  der  Geschwindigkeit  der  Bewegung.  Das  wäre  der  Konvek- 
tionsstrom. Man  übersieht  sofort,  dafs  ein  solcher  Strom  an 
jeder  Stelle  der  Bahn  nur  vorhanden  ist  in  dem  Augenblick,  in 
welchem  der  geladene  Körper  diese  Stelle  passiert,  sonst  aber  nicht, 
also  dafs  nicht  etwa  die  ganze  Bahn  elektromagnetische  Wirkung  aus- 
übt, sondern  nur  die  eben  vom  Körper  eingenommene  Stelle.  Wir 
schreiben  bekanntlich  einem  elektrischen  Strom  magnetisobe  Kraft- 
linien zu,  welche  den  Strom  umkreisen.  Ein  Leitungsstrom  hat  an  allen 
Stellen  rings  um  seine  Bahn  solche  Kraftlinien,  die  fest  im  Raum 
bleiben,  solange  der  Strom  sich  nicht  ändert.  Bei  einem  Konvektions- 
strom würden  sich  ebenfalls  solche  Kraftlinien  ausbilden,  aber  nur 
um  den  geladenen  Körper,  und  sie  würden  von  diesem  entlang  seiner 


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Bahn  mitgeführt.  Ist  die  Geschwindigkeit  sehr  grofs  und  die  Bahn 
nicht  zu  lang,  so  kann  die  Erscheinung  nach  aufsen  hin  sich  so 
geltend  machen,  als  wenn  die  ganze  Bahn  von  Kraftlinien  umringt 
ist,  wie  ja  ein  rasch  bewegter,  leuchtender  Körper  den  Eindruck  einer 
leuchtenden  Linie  macht.  Aber  gleiohwohl  bleibt  der  Unterschied 
bestehen.  Zweitens  erwärmt  ein  solcher  Konvektionsstrom  seine 
Bahn  nicht  in  der  Weise,  wie  ein  Leitungsstrom  es  tut;  er  hat  keine 
innere  Energie,  denn  was  er  an  innerer  Energie  besitzt,  kommt  der 
Ladung  als  solcher  zu,  nicht  dieser  Ladung  als  bewegten  Gegenstand. 
Von  der  lebendigen  Kraft  der  Bewegung  ist  dabei  abzusehen,  die  be- 
sitzt jeder  bewegte  Körper.  Trotz  der  Gleichheit  der  elektro- 
magnetischen 'Wirkungen  sind  also  erhebliche  Unterschiede  zwischen 
Konvektionsstrom  und  Leitungsstrom  vorhanden. 

Wie  aber  steht  es  mit  jenen  Wirkungen?  Sie  scheinen  durch 
die  mannigfachsten  Experimente  mit  ziemlicher  Sicherheit  nach- 
gewiesen zu  sein.  Man  hat  geladene  Soheiben  um  ihre  Aohse  sich 
drehen  lassen  und  bemerkt,  dufs  durch  die  Scheiben  Magnetnadeln  im 
erwarteten  Sinne  bewegt  wurden.  Man  hat  während  der  Drehung  die 
Ladung  der  Scheiben  variieren  lassen  und  festgestellt,  dafs  dadurch  in 
anderen  Leitern  Ströme  induziert  wurden.  Die  Experimente  sind 
sehr  diffizil,  aber  ihr  Ergebnis  scheint  Zweifeln  nicht  zu  unterliegen, 
denn  sie  sind  zu  zahlreich  und  nach  den  verschiedensten  Methoden 
ausgeführt.  Wir  werden  aber  bald  sehen,  dafs  gleichwohl  sehr  er- 
hebliche Zweifel  bestehen,  die  jedoch  von  der  Theorie  ausgehen.  Für 
die  Elektronentheorie  zwar  scheint  die  Annahme  der  Konvektions- 
ströme sehr  günstig.  Was  von  einem  geladenen  Körper  gilt,  findet 
auf  beliebig  viele  solcher  Körper  Anwendung.  Ein  Schwarm  von 
Elektronen  würde  gleichfalls  elektromagnetisch  wirken,  und  das  ist 
der  Fall  z.  B.  bei  den  Kathodenstrahlen,  die  man  ja  so  recht  als 
Elektronenschwärme  betrachtet.  Besteht  ferner  ein  Leitungsstrom  in 
einem  Metall,  z.  B.  in  einem  Draht,  ebenfalls  in  bewegten  Elektronen, 
so  wäre  verständlich,  warum  elektromagnetische  Wirkungen  vorhanden 
sind.  In  den  Kathodenstrahlen  sind  die  bewegten  Elektrizitätsmengen 
gering,  dafür  aber,  wie  schon  bemerkt,  die  Geschwindigkeiten  aufser- 
ordentlich  grofs;  in  den  metallischen  Leitern  umgekehrt  die  Ge- 
schwindigkeiten unbedeutend,  dafür  aber  die  Elektrizitätsmengen  sehr 
ins  Gewicht  fallend.  Wie  ist  nun  die  einem  Konvektionsstrom  an  sich 
nicht  zukommende  Erwärmung  der  Bahn  beim  Leitungsstrom  zu  er- 
klären? Lediglich  durch  den  Widerstand,  den  die  Bewegung  der 
Elektronen  innerhalb  des  Leiters  findet,  und  der  wie  Reibung  wirkt. 


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Es  haben  einige  Forscher  auch  gemeint,  ein  eigentlicher  Widerstand 
sei  nicht  vorhanden,  sondern  indem  ein  Elektron  sich  zwischen  an- 
deren Elektronen  und  zwischen  Molekeln  und  Atomen  hindurch  be- 
wegt, müssen  sich  infolge  der  Einwirkungen  auf  dasselbe  fortwährend 
seine  Kraftlinien  ändern,  und  dieser  Vorgang  trete  nach  aufsen  als 
Erwärmung  zutage. 

Nun  ist  aber  noch  eins  zu  beachten.  Zwei  Körper  von  gleicher 
Bewegung  aber  entgegengesetzter  Ladung  wirken  wie  zwei  entgegen- 
geriohtete  Ströme.  In  dem  Moment,  wo  sie  zugleich  dieselbe  Stelle 
der  Bahn  in  gleicher  Richtung  passieren,  müssen  an  dieser  Stelle  alle 
elektromagnetischen  Wirkungen  verschwinden.  Haben  jedoch  die 
Körper  entgegengesetzte  Ladungen  und  entgegengesetzte  Bewegungen, 
so  wirken  sie  wie  gleichgerichtete  Ströme;  ihre  Wirkungen  summieren 
sich.  Der  Leitungsstrom  in  Metallen  soll  in  Strömon  wesentlich  nur 
einer  Art  der  Elektronen  bestehen,  der  negativen;  hier  ist  die  elektro- 
magnetische Wirkung  einfach,  ln  Elektrolyten  bewegen  sich  beide 
Elektronenarten,  aber  da  sie  einander  entgegen  sich  durchziehen, 
wirken  sie  wie  ein  Doppelstrom  in  gleichem  Sinne. 

Stellen  wir  uns  jetzt  vor,  dafs  zwei  entgegengesetzt,  sonst  gleich 
stark  geladene  Körper  sich  zusammen  dicht  nebeneinander  bewegen, 
so  sollten  sie  dem  obigen  zufolge  fast  gar  keine  elektromagnetische 
Wirkung  ausüben.  Gleichwohl  ist  eine  solche  Wirkung,  wie  Röntgen 
nachgewiesen  hat.  vorhanden,  und  zwar  nicht  etwa  — worauf  man 
zuerst  raten  würde  — blofs  eine  Differenzwirkung.  Das  folgende 
nun  kann  ich  nicht  klar  machen,  ohne  ein  wenig  auf  Theorie  ein- 
zugehen. 

Eine  Theorie  soll  alle  Verhältnisse  der  betreffenden  Erscheinung 
in  Formeln  zusammenfassen.  Da  wir  nun  bei  der  Elektrizität  keines- 
wegs mit  allen  Verhältnissen  vertraut  oder  auch  nur  bekannt  sind, 
kann  eine  Theorie  für  sie  einstweilen  nur  auf  Grund  vorgefafster  An- 
sichten aufgestellt  werden.  Die  erste  Theorie,  wesentlich  von  Wil- 
helm Weber  herrührend,  berücksichtigte  oder  vielmehr  kannte  nur 
den  Leitungsstrom  in  Metallen.  Erweitert  wurde  sie  durch  Clausius 
auch  auf  den  Leitungsstrom  in  Elektrolyten  und  von  W.  Thomson 
(jetzt  Lord  Kelvin)  auf  den  als  Thermostrom  bezeichneten  Leitungs- 
strom. Maxwell  stellte  dann  eine  Theorie  auf,  welche  den 
Leitungsstrom  und  den  Polarisierungsstrom  umfafste  und  die  noch 
gegenwärtig  für  ruhende  Substanzen  als  mafsgebend  angesehen 
werden  mufs,  selbst  wenn  man  von  den  Anschauungen,  die  ihr  zu 
Grunde  liegen  und  über  die  der  Verfasser  an  einer  anderen  Stelle 


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dieser  Zeitschrift  gehandelt  hat,  zugunsten  der  jetzt  sehr  in  Mode 
stehenden  Elektronen  absehen  sollte.  Maxwells  Theorie  ist  von 
Heinrich  Hertz  für  bewegte  Substanzen  erweitert  worden. 

Wenn  man  nun  von  dieser  letzten,  allgemeinsten  Theorie 
(iebrauch  macht,  so  zeigt  sich,  dafs  sie  den  Leilungsstrom,  den 
Polarisierungsstrom  und  den  Konvektionsstrom  enthält.  Aurserdein 
aber  ist  in  ihr  noch  ein  Strom  angezeigt,  und  diesen  hat  man  für  die  oben 
angeführte  Beobachtung  von  Röntgen  verantwortlich  gemacht  und 
ihn  deshalb  als  Röntgonstrom  bezeichnet.  Das  wäre  also  der  vierte 
Strom.  Wie  ist  aber  dieser  Strom  vorzustellen?  Hier  mufs  nun  der 
Verfasser  eine  wunderliche,  ihn  Belbst,  als  er  sie  fand,  überraschende 
Bemerkung  machen.  Der  Röntgenstrom  steckt,  wie  gesagt,  mit  den 
drei  anderen  Strömen  in  der  Hertzschen  Theorie,  das  heifst  in  den 
von  Hertz  aufgestellten  Gleichungen.  Wenn  man  aber  die  für  ihn 
geltenden  Ausdrücke  entwickelt,  so  findet  man,  dafs  er  seinerseits 
kein  einfacher  Strom  ist,  wie  etwa  der  Konvektionsstrom  oder  der 
Polarisierungsstrom,  sondern  sich  aus  drei  Strömen  zusammensetzt. 
Einer  bängt  ab  von  den  relativen  Bewegungen  der  Substanzen  zu- 
einander und  von  dem  absoluten  Polarisierungszustand.  Der  zweite 
ist  bestimmt  durch  die  relative  Polarisierung  der  Substanzteile  zu- 
einander und  durch  die  absolute  Geschwindigkeit  Man  sieht  wie 
sich  diese  beiden  Ströme  zu  einem  Pendant  ergänzen:  relative  Be- 
wegung, absoluter  Polarisierungszustand;  absolute  Bewegung,  relativer 
Polarisierungszustand,  ln  beiden  Strömen  kommt  das  Verhalten 
der  Substanzen  gegeneinander  in  Frage,  im  ersten  Strom  mit 
Bezug  auf  die  Bewegung,  im  zweiten  mit  Bezug  auf  die  Polarisierung. 
Ich  möchte  diese  Ströme  als  ersten  und  zweiten  Röntgenstrom 
bezeichnen. 

Nun  aber  der  dritte  Strom.  Mit  ihm  habe  ich  gezögert,  weil  er 
ein  böser  Bruder  für  die  wundervolle  Hertzsche  Theorie  ist;  er  droht 
sie  ganz  wegzuschwemmen.  Nämlich  dieser  dritte  Röntgenstrom  ist 
der  Konvektionsstrom  in  zweiter  Auflage.  Das  ist  an  sich  nicht  schlimm, 
wenn  der  Strom  nur  nicht  fatalerweise  dem  Konvektionsstrom  erster 
Auflage  schnurstracks  entgegenliefe.  So  aber  hebt  er  diesen  spurlos 
auf,  und  das  besagt:  Nach  der  Hertzschen  Theorie  gibt  es  gar 
keinen  Konvektionsstrom.  Also  mufs  eines  fallen,  der  Kon- 
vektionsstrom oder  die  Hertzsche  Theorie.  Wie  kann  man  da  noch 
zweifelhaft  sein?  Natürlich  die  Theorie!  Der  Konvektionsstrom  ist 
eine  zu  schöne  Erfindung,  gegenwärtig  ja  der  Strom  par  excellence; 
wer  wird  ihn  missen  wollen?  Und  die  Hertzsche  Theorie,  hat  sie 


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nicht  auch  aus  anderem  Grunde  schon  Anzweifelung  erfahren  müssen? 
Damit  verhalt  es  sich  so. 

Alle  Erscheinungen  kommen  uns  an  Körpern  zur  Wahrnehmung, 
verbreitet  aber  werden  sie  einer  grofsen  Zahl  nach  durch  den  soge- 
nannten Äther,  der  den  Kaum  erfüllen  und  alle  Körper  durchdringen 
soll.  Gewisse  Erscheinungen,  die  man  beim  Licht  beobachtet  hat, 
sollen  nun  die  Annahme  notwendig  gemacht  haben,  dafs,  wenn  Sub- 
stanzen sich  bewegen,  der  in  ihnen  enthaltene  Äther  sich  ebenfalls 
bewegt,  aber  mit  anderer  Geschwindigkeit  als  die  Substanzen. 
Nun  betrachtet  die  gegenwärtige  Wissenschaft  die  Lichterscheinungen 
als  dem  Gebiete  der  elektromagnetischen  Vorgänge  angehörend.  Die 
Hertzsche  Theorie  sollte  also  jene  hervorgehobene,  besondere  Licht- 
ersoheinung  ebenfalls  enthalten.  Das  tut  sie  aber  nicht,  weil,  wie  man 
sagt,  in  ihr  der  Äther  als  absolut  ruhend  angenommen  ist.  Also 
kann  diese  Theorie  schon  aus  diesem  Grunde  nicht  riohtig  sein.  Aber 
der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  hat  bemerkt,  dafs  eine  geringfügige  Ände- 
rung in  dieser  Theorie,  nicht  der  Theorie  selbst,  schon  ausreicht,  jenen 
Einwand  niederzuschlagen.  Ein  solcher  kann  also  nicht  geltend  ge- 
macht werden.  Und  wo  nehmen  wir  eine  bessere  Theorie  her  als  die 
Hertzsche?  Es  sind  eine  Menge  Versuche  gemaoht  worden,  um  bessere 
Theorien  aufzustellen.  Von  allen  mit  Recht  den  meisten  Beifall  gefunden 
hat  die  von  Lorentz  aufgestellte,  welche  eine  Art  Elektronentheorie 
ist.  All  diese  Theorien  sind  aber  entsetzlich  kompliziert  und  undurch- 
sichtig und,  was  die  Hauptsache  ist:  von  jener  Schwierigkeit  hinsicht- 
lich des  Konveklionsstromes,  auf  die  man  aber  früher  nicht  geachtet 
hat,  sind  sie  doch  nicht  ganz  frei.  Wie  steht  es  aber  nun  mit  dem 
Konvektionsstrom?  Ist  er  denn  wirklich  absolut  sicher  nachgewiesen? 
Die  Wahrheit  gestanden,  ich  weifs  es  nicht.  Es  konkurrieren  mit  ihm 
die  Röntgen  ströme,  und  namentlich  tritt  mit  ihm  in  Wettbewerb  der 
zweite  Rönlgenstrom,  der  ja  auch  von  den  absoluten  Geschwindig- 
keiten abhängt,  wenn  auch  nicht  in  allen  Fällen  von  der  absoluten 
Ladung.  Es  ist  sehr  wohl  möglich,  dafs  bei  den  bisher  gewählten 
Versuchsanordnungen  gerade  dieser  zweite  Röntgenstrom  die  Haupt- 
rolle gespielt  hat.  Ich  kann  mich  auf  weitläufigere  Erörterungen  an 
dieser  Stelle  nicht  einlassen.  Die  Sache  selbst  ist  aber  so  wichtig, 
namentlich  für  die  Elektronentheorie,  dafs  neue  Versuche  unter  ge- 
nauester Berücksichtigung  der  Hertzsohen,  gegebenenfalls  in  dem 
oben  bezeiohneten  Sinne  einer  etwas  verbesserten  Theorie  am  Platze 
wären.  Ich  möchte  an  dieser  Stelle  auf  eins  nur  aufmerksam  machen. 

Ein  elektrisch  geladener  Körper  soll  in  Bewegung  um  sich  ein 


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Kraftfeld  entwickeln,  das  ihm  in  der  Kühe  nicht  zukommt.  Das  ist 
ganz  unmöglich  ohne  Verbrauch  von  Arbeit,  Energie.  Also  folgt,  dafs 
zur  Bewegung  eines  geladenen  Körpers  eine  gröfsere  Energie  gehört 
als  zu  der  eines  gleichen  nicht  geladenen.  Ein  geladener  Körper 
mufs  sich  einem  nichtgeladenen  gegenüber  in  der  Bewegung  wie  ein 
massigerer  verhalten;  denn  indem  er  das  neue  Kraftfeld  schafTl,  ver- 
braucht er  eben,  wie  gesagt,  von  der  Bewegungsenergie  einen  Teil 
hierfür.  Bewegte  geladene  Körper  sollten  sioh  so  verhalten,  wie  wenn 
sie  durch  die  Ladung  an  Masse  zugenommen  hätten,  und  da  bei  der 
SohalTung  des  Kraftfeldes  auch  die  Geschwindigkeit  konkurriert,  sollte 
diese  scheinbare  Massenzunahme  mit  der  Ladung  und  der  Ge- 
schwindigkeit wachsen.  Ob  diese  so  wichtige  Schlufsfolgerung  je 
durch  Versuche  hinreichend  geprüft  ist,  weife  ich  nicht;  sie  wäre  eine 
Art  ezperiinentum  crucis.  Es  fehlt  gar  viel,  dafs  wir  selbst  in  diese 
so  wuchtigen  Verhältnisse  hinreichende  Einsicht  hätten.  Aber  zu 
solchen  Untersuchungen  gehört  Geld  und  wieder  Geld,  Zeit  und 
wieder  Zeit,  und  beides  pflegt  insbesondere  Leuten,  welche  Aufsätze 
schreiben,  zu  fehlen.  Ich  möchte  mich  aber  gegen  den  Verdacht  ver- 
wahren, als  ob  ich  gegen  den  Konvektionsstrom  voreingenommen 
wäre.  Es  bietet  mir  freilich  viele  Schwierigkeit,  mir  vorzustellen,  dafs 
ein  Körper,  ohne  mit  seiner  Umgebung  in  Konkurrenz  zu  treten, 
allein  dadurch  ganz  neue  Wirkungen  hervorbringen  soll,  dafe  er  sich 
auf  den  Weg  macht.  Man  halte  nicht  die  lebendige  Kraft  der  Be- 
wegung als  Beispiel  vor,  denn  diese  ist  nach  au fsen  garnioht  vor- 
handen, solange  der  Körper  sioh  ungestört  bewegt.  Erst  wenn  die 
Bewegung  aufgehalten  wird,  also  wenn  der  Bewegungszustand  geändert 
oder  gar  aufgehoben  wird,  kommt  Bio  zur  Erscheinung.  Dagegen  soll 
für  einen  in  Bewegung  begriffenen  elektrischen  Körper  das  elektro- 
magnetische Kraftfeld  nach  aufsen  vorhanden  sein;  die  Magnetnadel 
soll  immer  beeinflufet  sein,  solange  der  Körper  sich  bewegt.  Das  ist 
doch  etwas  anderes,  und  man  fragt  Bich,  wie  das  ermöglicht  sein  soll. 
Da  kommt  man  ganz  von  selbst  zu  der  Ansicht,  dafs  eine  Tugend,  die 
in  einem  Gegenstände  niemals  vorhanden  gewesen  ist,  solange  er 
ruhte,  die  ihm  in  keiner  Weise  innegewohnt  hat,  nur  dadurch  infolge 
der  Bewegung  hervorgerufen  werden  könnte,  dafs  der  Körper  nunmehr 
in  einem  anderen  Verhältnis  zu  seiner  Umgebung  steht  Und  das 
führt  geradeswegs  in  das  Bett  der  beiden  Röntgenströme.  Ich  treibe  hier 
keine  Hegelsche  Philosophie  und  will  nioht  aus  Gedankenschlüssen 
allein  zu  einem  Sohlufe  auf  das  Wesen  einer  Erscheinung  kommen, 
aber  beachtenswert  scheint  mir  die  Überlegung  gleichwohl  zu  sein. 


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Zuletzt  noch  ein  Wort  zur  Beruhigung  des  Elektronenliebhabers. 
Wenn  der  Konvektionsstrom  versiegt,  fallt  dann  auch  die  Elektronen- 
lehre? Bewahre!  Sie  kann  ruhig  bleiben.  Wir  haben  ja  nooh  den 
zweiten  Röntgenstrom,  der  sich  wundervoll  auf  sie  anwenden  läfst. 
Den  Schaden  hat  nur  der  Mathematiker,  der  sich  dann  mit  etwas 
komplizierten  Formeln  plagen  mufs.  Aber  der  weifs  sioh  in  Geduld 
zu  fassen  und  nimmt  höchstens  einen  gröfseren  Bogen.  Ich  werde 
dem  Leser  hierüber  in  einem  nächsten  Aufsatz  etwas  sagen,  ebenso 
über  die  Anwendung  der  Elektronentheorie  auf  manche  Fragen  der 
Himmelsmechanik. 


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^iiiiimmiMMiiiiiiiiiiiiimHiiiiiiitmiiiMiiiiiiiiiminimiiiMmMiimmMMiMiiiinmiiiiiMiimiiif] 


Nutzbarmachung  des  Luftstickstoffes  für  die 
Landwirtschaft. 

Von  Dr  K.  Müller  in  Potsdam, 

i ie  durch  sorgfältige  Kulturversucho  erwiesen  ist  sind  fiir  den 
Lebensunterhalt  der  Pflanzen  bestimmte  Nährstoffe  unumgäng- 
lich notwendig,  ist  für  den  Aufbau  derselben  eine  Reihe  von 
Elementen  — Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff',  Stickstoff,  Schwefel, 
Phosphor,  Kalium,  Calcium,  Magnesium  und  Eisen  — so  unentbehrlich, 
dafs  keine  normale  Entwickelung  möglich  ist,  wenn  auch  nur  eines  dieser 
Elemente  fehlt.  Natürlich  werden  nicht  alle  diese  Stoffe  als  Elemente, 
sondern  größtenteils  in  chemischen  Bindungen  von  den  Pflanzen  auf- 
genommen.  So  entstammt  der  Kohlenstoff,  der  die  Grundlage  jeder 
organischen  Substanz  bildet,  bei  grünen  Pflanzen  dem  Kohlendioxyd 
der  Luft.  Durch  Vermittelung  der  Spaltöffnungen  mit  dieser  auf- 
genommen, wird  dasselbe  unter  Mitwirkung  des  Lichtes  durch  das 
Chlorophyll  oder  Blattgrün  allmählich  ahgebaut  und  in  alle  die  Kohien- 
stoffverbindungen,  welche  näohst  dem  Wasser  die  Hauptmenge  des 
Pflatizenleibes  bilden,  in  Stärke,  Zucker  und  Zellulose  übergeführt. 
Alle  anderen  Stoffe  entnimmt  die  Pflanze  fast  sämtlich  dem  Erdboden, 
so  in  erster  Linie  das  Wasser,  mit  dem  gleichzeitig  auch  Stickstoff, 
Sohwefel,  Phosphor  u.  s.  w.  in  Form  von  Salzen  in  die  Pflanze  Ein- 
gang finden.  Kohlendioxyd  und  im  wesentlichen  auch  Wasser  stehen 
ja  in  der  Atmosphäre  immer  zur  Verfügung;  anders  dagegen  ist  es 
mit  dem  Stickstoff  und  den  übrigen  Nährstoffen,  die  dem  Erdboden 
entnommen  werden  müssen,  bestellt.  Wold  vermögen  manohe  Pflanzen, 
wie  die  Leguminosen,  den  Stickstoff  der  Luft  durch  Vermittelung  der 
Wurzelbakterien  direkt  aufzunehmon,  gewöhnlich  aber  rnufs  derselbe 
in  Form  von  salpetersauren  Salzen  oder  Ammoniak  vorliegen,  Ver- 
bindungen, die  wie  die  sonstigen  dem  Erdboden  entlehnten  Nährstoffe 
zwar  immer  von  neuom  wieder  in  diesem  entstehen,  dem  Boden  aber 
da,  wo  er  mit  Kulturpflanzen  bestellt  ist,  schneller  entzogen  worden. 


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als  dafür  auf  natürlichem  Wege  Ersatz  geschaffen  wird.  Dessen  ist 
sich  die  Landwirtschaft  auch  schon  frühzeitig  bewufst  geworden.  Seit 
Jahrhunderten  kennt  sie  die  Bedeutung  des  Stalldüngers,  und  von 
jeher  hat  sie  den  Oehalt  der  Ackererde  an  solchen  Nährstoffen  durch 
Düngung  oder  Brachlegung  zu  erhöhen  gesucht. 

Aber  solche  Behelfe,  so  schreibt  Witt,  welche  einer  intuitiven 
Erkenntnis  entsprangen,  konnten  auf  die  Dauer  nicht  genügen,  und 
vor  allem  hatte  man  mit  ihnen  nie  zu  einer  intensiven  Bodenbewirt- 
schaftung kommen  können.  Eine  solche  wurde  erst  möglich  duroh  die 
uns  von  Liebig  erschlossene  Erkenntnis  von  der  Ernährung  der 
Pflanze.  Durch  diese  wissenschaftliche  flrofstat  sind  wir  in  den  Stand 
gesetzt  worden,  den  Boden  zum  blofsen  Träger  des  Pflanzenlebens  zu 
machen,  für  den  Unterhalt  desselben  aber  ebenso  willkürlich  zu  sorgen, 
wie  wir  mit  dom  Erträgnis  verfahren.  Wir  sind  heute  in  der  Lage, 
dem  Ackerboden  durch  künstliche  Mittel,  die  man  unter  dem  Namen 
Kunstdünger  zusainmenfafst,  jederzeit  wieder  zuzuführen,  was  ihm  an 
Nährstoffen  entzogen  ist,  somit  durch  sachgemäße  Anwendung  künst- 
licher Düngemittel  eine  ausgedehntere  und  zugleich  intensivere  Kultur 
des  Bodens,  ein  erhöhteres  Ernteergebnis  zu  erzielen. 

Namentlich  drei  Substanzen  sind  es  nun,  für  deren  Bedarf  die 
der  Landwirtschaft  direkt  und  in  nächster  Nähe  zugänglichen  Quellen 
nicht  ausreichen,  nämlich  Phosphor,  Kalt  und  Stickstoff  für  deren 
Beschaffung  in  geeignet  konzentrierter  und  leicht  assimilierbarer  Form 
sie  deshalb  den  Handel  und  die  Technik  in  Anspruch  nehmen  mufs. 

Genügte  solchen  Anforderungen  bis  zur  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts die  Zufuhr  von  Knochenmehl  und  Peruguano,  so  trat  bei 
letzterem  infolge  rasch  gesteigerten  Bedarfes  eine  schnelle  Erschöpfung 
der  immerhin  nur  begrenzten  Vorräte  ein.  Ebenso  war  die  Zufuhr 
von  Knochenmehl  und  anderen  animalischen  Düngestoffen,  wie  Horn-, 
Blut-  und  Fleisohmehl,  welche  ja  nur  der  landwirtschaftlichen  Produktion 
anderer  Länder  entnommen  werden  konnten,  eine  beschränkte;  sie 
verminderte  sich  sogar  stetig,  nachdem  die  betreffenden  Produktions- 
länder den  Wert  dieser  Stoffe  für  ihren  eigenen  Ackerbau  selbst  er- 
kannten und  ausnutzten. 

Infolge  der  so  erwachsenen  Notlage  ging  man  daran,  dem 
Mineralreich  zu  entnehmen,  was  für  die  Landwirtschaft  verwertbar 
gemacht  werden  konnte.  Phosphat-  und  Kalisalzlager  wurden  er- 
schlossen, erstere  an  den  verschiedensten  Orten,  z.  B.  in  Florida,  Karo- 
lina  und  Algier  in  so  gewaltiger  Ausdehnung,  dafs  noch  für  Genera- 
tionen daran  kein  Mangel  sein  dürfte,  umsomehr,  als  daneben  noch 


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eine  weitere  schier  unerschöpfliche  Quelle  von  Phosphorsäure  ent- 
deckt ist,  die  Thomasschlacke  nämlich.  Kalisalze  bietet  in  ungeheurer 
Menge  die  norddeutsche  Tiefebene  dar,  und  an  Stelle  des  Peruguanos 
verwendet  man  in  erster  Linie  den  Chili-  oder  Natronsalpeter,  der  in 
mächtigen  Lagern  an  der  Westküste  Südamerikas  entdeckt  wurde,  des 
weiteren  aber  auch  die  Ammoniaksalze,  welche  als  Nebenprodukt  der 
trockenen  Destillation  der  Steinkohle  zuerst  in  den  Gasanstalten  und 
später  auch  in  den  Kokereien  in  Form  von  schwefelsaurem  Ammoniak 
erhalten  wurden.  Zwar  ist  die  Form,  in  welcher  die  Pflanze  den 
Stickstoff  am  willigsten  aufnimmt,  die  der  salpetersauren  Salze,  da 
aber  die  in  keinem  Boden  fehlenden  sogenannten  nitriflzierenden  Boden- 
bakterien befähigt  sind,  Ammoniaksalze  mit  grofser  Schnelligkeit  in 
salpetersaure  Salze  umzuwandeln,  so  können  auch  diese  als  Stickstoff- 
dünger verwendet  werden. 

Die  Verwendung  des  Chilisalpeters,  die  anfangs  nur  zu  technischen 
Zwecken  erfolgte,  datiert  für  die  Landwirtschaft  etwa  aus  dem  Jahre  1860. 
Damals  betrug  nach  Frank  der  Gesamtexport  dieses  Salzes  von  der 
Westküste  Amerikas  68  500  Tonnen,  1900  dagegen  1 453  000  Tonnen. 
Davon  verbraucht  die  deutsche  Landwirtschaft  rund  500  000  Tonnen 
im  ungefähren  Werte  von  90  Mill.  Mark,  eine  Menge,  die  aber  durch- 
aus noch  sleigerungsfähig  ist,  sogar  bis  auf  das  Doppelte  erhöht 
werden  könnte.  Wie  nun  auf  Grund  neuerer  Untersuchungen  an- 
genommen werden  darf,  sind  die  Salpeterlager  in  Chile  in  etwa  30, 
spätestens  aber  in  40  Jahren  erschöpft.  Ob  innerhalb  dieser  Zeit  neue, 
ebenso  leicht  abzubauende  Salpelerlager  entdeckt  werden,  ist  zum 
mindesten  zweifelhaft;  dabei  ist  es  sicher,  dafs  für  den  dann  fehlenden 
Salpeter  durch  schwefelsaures  Ammoniak  kein  ausreichender  Ersatz 
gesohaffen  werden  kann.  Denn  wenn  die  Produktion  desselben  auch 
noch  erhöht  werden  kann  — sie  betrug  1900  fast  500  000  Tonnen, 
von  denen  Deutschland  150  000  Tonnen  im  Werte  von  30  Mill.  ver- 
brauchte — , so  sind  ihr  doch  Grenzen  gesetzt  dadurch,  dafs  sie  als 
Nebenprodukt  anderer  Industrien  von  deren  Entwickelung  abhängig 
ist  Ersätz  mufs  aber  geschaffen  werden,  denn  sonst  wird  es,  wie 
Gerlach  und  Wagner  schreiben,  der  Landwirtschaft  in  den  ge- 
mäfsigten  Zonen  nicht  mehr  möglich  sein,  der  Konkurrenz  der 
tropischen  und  subtropischen  Länder  entgegenzutreten,  ln  diesen  Ge- 
bieten liefert  die  Natur  den  Pflanzen  weit  gröfsero  Mengen  wirksamer 
Stickstoffverbindungen  infolge  starker  elektrischer  Entladungen  in  der 
Atmosphäre,  reichlicher  Niederschläge  und  einer  immerwährenden, 
nicht  durch  eine  Kälteperiode  unterbrocheneu  Tätigkeit  der  stickstoff- 

Hlmmtl  and  Erd«  1804.  XVI  IX 


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502 


sammelnden  Bodenbakterien.  Die  Stiokstolfdüngung  hat  für  die 
tropischen  und  subtropischen  Gebiete  nicht  jene  Bedeutung,  welohe 
sie  für  Deutschland  und  die  übrigen,  in  der  gernäfsigten  Zone  liegenden 
Länder  besitzt.  Es  ist  daher  sehr  wohl  erklärlich,  dafs  diese  Angelegen- 
heit die  landwirtschaftlichen  Kreise  zur  Zeit  im  ausgedehnten  Mafse 
beschäftigt 

Bedenkt  man  nun,  dafs  vier  Fünftel  unserer  Atmosphäre  aus 
Stickstoff  bestehen,  dafs  die  über  einem  Hektar  Erdoberfläche  ruhende 
Luftsäule  zirka  80  000  Tonnen  Stickstoff  enthält,  also  ebensoviel  wie 
die  jährlich  nach  Deutschland  importierte  Menge  von  600  000  Tonnen 
Chilisalpeter,  so  wird  es  erklärlich  erscheinen,  dafs  die  Chemiker  aller 
Länder  seit  langem  bemüht  sind,  diesen  Stickstoff  zur  Herstellung  von 
Stickstoffverbindungen,  die  für  die  Industrie  wie  die  Landwirtschaft 
nutzbar  gemacht  werden  können,  zu  verwerten.  Nach  mancherlei 
Mifserfolgen  scheint  dieses  Problem  nun  endlich  gelöst  zu  sein.  Es 
hat  sich  in  Berlin  in  Verbindung  mit  der  Firma  Siemens  und  Halske 
bereits  eine  Gesellschaft  (Deutsche  CyanidgesellBchaft)  gebildet,  deren 
wesentliche  Aufgabe  es  ist,  unter  Heranziehung  des  atmosphärischen 
Stickstoffs  Cyan  Verbindungen  und  ähnliche  zu  gewinnen. 

Als  Grundlage  aller  diesbezüglichen  Versuche  diente  die  vor 
mehreren  Jahren  von  Frank  und  Caro  gemachte  Beobachtung,  dafe 
beim  Überleiten  von  reinem  Stickstoff  über  glühendes  Baryumkarbid 
beide  Stoffe  eine  Verbindung  eingehen.  Den  Bemühungen  Pflegers 
gelang  es  dann,  das  Baryumkarbid  durch  das  billigere  Calciumkarbid 
zu  ersetzen,  durch  jene  Verbindung,  die  aus  gebranntem  Kalk  und 
Kohle  im  elektrischen  Ofen  gewonnen  wird,  und  die  bekanntlich  zur  Er- 
zeugung des  Azetylengases  dient.  Prefst  man  atmosphärische  Luft, 
die  man  durch  Überleiten  über  glühendes  Kupfer  von  Sauerstoff  befreit 
hat,  in  geschmolzenes  Kalziumkarbid,  so  entsteht  eine  Verbindung,  die 
der  Chemiker  Cyanamid  nennt  Die  dabei  vor  sich  gehende  Reaktion 
läfst  sich  durch  nachfolgende  Formelgleichung  ausdrücken: 

Ca  Cj  -|-  Nj  = Ca  CNj  -f  C 

Kalziumkarbid  -+-  Stickstoff  = Kalziumcyanamid  -(-  Kohlenstoff. 

Das  Kalziumkarbid,  das  als  75  bis  80  proz.  Produkt  in  den  Be- 
trieb geht,  nimmt  bei  richtiger  Leitung  des  Prozesses,  der  im  Muffel- 
betrieb mit  freiem  Feuer  ebensogut  wie  im  elektrischen  Wärme- 
strahlungsofen vor  sich  geht  zwischen  85  und  96  Prozent  der 
theoretischen  Stiokstoffmenge  auf  und  bildet  nach  Erlwein  eine  mit 
Kalk  und  Kohle  verunreinigte,  schwarz  gefärbte  Kalzittmcyanamid- 
masse  mit  20 — 23,6  Prozent  fixierten  Stickstoffs. 


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Weitere  Versuohe  Erlweins  haben  gezeigt  dafs  es  gar  nicht 
einmal  nötig  ist,  fertig  gebildetes  Kalziumkarbid  zu  benutzen,  dafs  viel- 
mehr ein  Gemisch  von  Kalk  und  Kohle  im  elektrischen  Ofen  den 
Stickstoff  ebenfalls  leicht  absorbiert. 

Ca  O + 2 C + 2 N = Ca  C N,  + CO 
Kalk  + Kohle  -4-  Stickstoff  = Kalziumcyanamid  -f-  Kohlenoxyd. 

Damit  war  nun  ein  so  billiges  Arbeiten  gesichert,  dafs  bei  den 
auch  im  grofsen  sehr  günstigen  Ausbeuten  der  Wettbewerb  mit  den 
natürlichen  Stiokstoifquellen  gesichert  war,  vorausgesetzt  natürlich, 
dafs  sich  der  Düngewert  des  Kalziumcyanamids  dem  des  Chilisalpeters 
und  des  schwefelsauren  Ammoniaks  als  nicht  allzu  unterlegen  erwies. 
Die  Tatsache,  dafs  sich  der  gesamte  StiokstolT  des  Calciumcyanamids 
durch  Erhitzen  mit  Wasser  unter  hohem  Druck  glatt  in  Ammoniak 
umsetzen  liefs  (Ca  CN2  + 3H20  = Ca  C03  + 2 NH3),  führte  vor  allem 
zu  der  Schlußfolgerung,  dafs  auch  das  nach  den  obengenannten 
Methoden  dargestellte  rohe  Kalziumcyanamid  als  ein  für  die  Pflanzen- 
ernährung  direkt  brauchbares  Stiokstofldüngemittel  verwendbar  sein 
könne.  Da  es  aber  ein  in  der  agrikultur-chemisohen  Forschung  bisher 
noch  nirgends  erprobtes  Material  war,  so  konnte  für  die  Ermittelung 
seines  Verhaltens  nur  der  direkte  Vegetations versuch  Aufschluß  geben. 

Solche  Versuche  sind  nun  von  Prof.  Wagner  in  Darmstadt  und 
Dr.  Gerlach  in  Posen  seit  dem  Frühjahr  1901  in  grofser  Zahl  und 
unter  mannigfachen  Variationen,  sowohl  in  Vegetationsgefiirsen  als  auf 
freiem  Lande  angestellt  worden.  Nach  dem  bis  jetzt  über  diese  Ver- 
suche vorliegenden  Bericht,  der  in  der  landwirtschaftlichen  Presse 
veröffentlicht  ist,  trat  der  Stickstoff  des  rohen  Kalziumcyanamids,  dem 
man  den  Namen  „Kalkstiokstoff“  gegeben  hat,  schnell  in  Wirkung 
und  übte  bei  den  Versuchen  in  Vegetationsgefäfsen  fast  die  gleiche 
Wirkung  aus  wie  der  Salpoterstickstoff.  Wurde  der  Kalkstiokstoff 
in  Mengen  angewandt,  wie  dies  beim  Salpeterstickstoff  gebräuchlich 
ist,  so  zeigte  er  keine  schädlichen  Wirkungen.  1 gr  Stioketoff,  in  Form 
von  Kalkstickstoff,  konnte  pro  Gefäfs  (6 — 10  kg  Erde)  zu  Hafer,  Gerste 
Senf  und  Möhren  ohne  Nachteil  gegeben  werden.  Es  ist  dies  eine 
Menge,  welche  in  der  Praxis  niemals  ausgestreut  wird.  Bei  den  Feld- 
versuchen wurden  bisher  90  kg  Stickstoff  pro  Hektar  in  Form  jenes 
Düngemittels  gegeben.  Auch  hier  trat  keine  Sohädigung  der  Pflanzen 
ein.  Dagegen  blieb  die  Wirkung  des  Kalkstickstoffes  bei  allen  Feld- 
versuchen hinter  derjenigen  des  Salpeterstickstoffs  zurück.  Die  höchste 
Ausnutzung,  welche  ira  Vergleich  zum  Salpeterstickstoff  beobachtet 

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worden  ist,  betrug  96  Prozent,  in  den  meisten  Fällen  aber  stellte  sie 
sieh  bedeutend  niedriger.  Es  kann  dies  aber  wohl  kaum  befremden, 
wenn  man  bedenkt,  dafs  die  Erfahrungen  über  die  zweckmäfsigste  Art 
und  Zeit  der  Anwendung  noch  recht  geringe  sind;  hat  es  doch  bei  so 
einfachen  DüngestofTen,  wie  schwefelsaures  Ammoniak  und  Chilisal- 
peter, Jahrzehnte  erfordert,  bis  in  dieser  Beziehung  feste  Erfahrungs- 
sätze geschaffen  waren.  Immerhin  hat  man  es,  und  dies  zeigen  be- 
sonders die  ausgeführten  Vegetationsversuche,  mit  einem  recht 
beachtenswerten  stickstoffhaltigen  Düngemittel  zu  tun,  welches  die 
Agrikulturchemiker  und  Landwirte  in  den  nächsten  Jahren  reichlioh 
beschäftigen  wird. 

Ein  anderer  Weg,  den  freien  Stickstoff  der  Luft  für  die  Land- 
wirtschaft nutzbar  zu  machen,  ist  auf  der  längst  bekannten  Beobach- 
tung gegründet,  dafs  beim  Durchschlagen  elektrischer  Funken  durch 
die  feuchte  Atmosphäre  geringe  Mengen  von  Salpetersäure  resp.  sal- 
petersaurer Salze  entstehen.  Unter  der  Einwirkung  des  Blitzes  ver- 
binden sich  nämlich  Stickstoff  und  Sauerstoff  der  Luft  zu  sogenanntem 
Stickstoffoxyd,  aus  dem  dann  unter  weiterer  Sauerstoffaufnahme  das 
Stickstoffdioxyd  entsteht  Dieses  setzt  sioh  aber  mit  Wasser  in  Sal- 
petersäure und  Stickstoffoxyd  um,  und  da  letzteres  mit  Sauerstoff  wieder 
Stickstoffdioxyd  bildet,  so  kann  schliefslich  sämtlicher  Stickstoff  in 
Salpetersäure  übergeführt  werden. 

N + O = NO 

Stickstoff  -4-  Sauerstoff  = Stickstoffoxyd 
2 NO  -)-  O,  = 2 N02  (Stickstoffdioxyd) 

3 N02  + HjO  = 2 HNOj  + NO. 

(Salpetersäure) 

Diese  Prozesse  auch  im  Laboratorium  auszuführen  und  so  weit 
auszubilden,  dafs  gröfsere  Mengen  Salpetersäure  resp.  salpetersaurer 
Salze  aus  der  atmosphärischen  Luft  gewonnen  werden  können,  ist  nun 
den  fortgesetzten  Bemühungen  der  Technik  neuerdings  gelungen.  Zu 
diesem  Zwecke  wird  eine  grofse  drehbare  Trommel,  deren  Innenwand 
mit  zahllosen  feinen  Metallstiften  bedeckt  ist,  in  rasche  Umdrehung 
versetzt  Die  Achse  dieser  Trommel  besteht  aus  einer  W’alze,  die  mit 
ebensolchen  Metallstiften  versehen  ist  Diese  Stifte  einerseits  sowie 
diejenigen  der  Innenwand  anderseits  stehen  mit  je  einem  Pole  einer 
Batterie  in  Verbindung.  Versetzt  man  nun  die  Trommel  in  rasche  Um- 
drehung, während  gleichzeitig  die  Walze  ebenso  rasoh  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  gedreht  wird,  so  springen  zwisohen  den  Metall- 


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spitzen,  die  hierbei  rasohaneinander  vorbeigleiten,  unzählige  elektrisohe 
Funken  über,  so  dafs  gewissermafsen  im  Innern  der  Trommel  ein 
Gewitter  im  kleinen  entsteht  Leitet  man  während  dieses  Gewitters 
Luft  durch  die  Trommel,  so  gehen  die  oben  aufgeführten  Prozesse  vor 
sioh.  Unter  Zugrundelegung  dieser  Versuohsanordnung  hat  sich  am 
Niagarafall  bereits  ein  Unternehmen  gebildet,  welohes  Gleichströme 
von  10  000  Volt  erzeugt  und  mit  Hilfe  derselben  den  Sauerstoff  und 
Stiokstoff  der  Luft  vereinigt  Ähnliche  Versuche  sind  von  Muth- 
mann  und  Hofer  ausgeführt  worden,  die  Wechselströme  von  2000 
bis  4000  Volt  auf  die  atmosphärische  Luft  einwirken  lassen,  und 
des  weiteren  durch  die  Firma  Siemens  und  Halske  unter  Leitung 
Dr.  Erlweins  in  Angriff  genommen.  So  darf  denn  wohl  mit  Sicher- 
heit angenommen  werden,  dafs  die  Frage  der  Salpetersäuregewinnung 
aus  der  atmosphärischen  Luft  in  Kürze  so  gelöst  sein  wird,  dafs  auch 
auf  diesem  Wege  der  Landwirtschaft  ein  Ersatz  für  den  Chilisalpeter 
geboten  werden  kann.  So  berechnet  von  Lepel,  dafs,  wenn  die 
Pferdekraftslunde  2 Pfg.  kostet,  sich  auf  diese  Weise  das  Kilo  Salpeter- 
stickstoff für  1,00  bis  1,10  M.  gewinnen  läfst,  eine  Rechnung,  deren 
Richtigkeit  die  Zukunft  allerdings  erst  lehren  mufs. 

Der  Vollständigkeit  halber  sei  noch  erwähnt,  dafs  sich  vielleicht 
noch  auf  einem  dritten  Wege  der  Luftstiokstoff  für  die  Landwirtschaft 
nutzbar  machen  läfst.  Gewisse  Metalle,  z.  B.  Magnesium,  Blei, 
Kalzium  haben  nämlich  die  Eigenschaft,  im  geschmolzenen  Zustande 
den  freien  Stickstoff  zu  absorbieren,  wobei  z.  B.  aus  3 Atomen  Mag- 
nesium und  2 Atomen  Stickstoff  Magnesiumstickstoff  entsteht,  der  sich 
bei  der  Einwirkung  von  Wasser  in  Magnesiumoxyd  und  Ammoniak 
umsetzt. 

3 Mg  f 2 N = Mg,  N, 

Mg,  N,  -f  3 HjO  = 3 MgO  + 2 NH,. 

Damit  wäre  also  die  Möglichkeit  gegeben,  Aminoniaksalze  zu 
gewinnen.  Doch  läfst  es  sich,  so  schreibt  Prof.  Gerlach,  zur  Zeit 
noch  gar  nicht  übersehen,  ob  die  vorgenannten  Prozesse  so  verlaufen, 
dafs  die  Gewinnung  des  Luftstickstoffs  im  grofsen  erreicht  werden  kann. 

Nach  alledem  darf  wohl  behauptet  werden,  dafs  die  Landwirt- 
schaft der  Erschöpfung  der  Salpeterlager  in  Chile  ohne  jede  Besorgnis 
entgegensehen  kann,  dafs  es  in  kürzester  Zeit  möglioh  sein  wird,  ihr 
mit  Hilfe  der  Chemie  und  Elektrizität  die  nötigen  Mengen  Kalkstick- 
stoff und  schwefelsauren  Ammoniaks  resp.  salpetersaurer  Salze  zu 
liefern.  Gewifs  werden  die  besprochenen  Verfahren  für  die  Gewinnung 


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des  Luftstickstoffs  noch  hier  und  da  der  Verbesserung  und  Ausgestal- 
tung bedürfen.  So  viel  aber  ist  auch  heute  sohon  sioher,  dafs  es  dem 
ausdauernden  Streben  in  erster  Linie  deutscher  Gelehrten  endgültig 
gelungen  ist,  ein  Problem  zu  lösen,  das  die  wissenschaftliche  Welt 
ein  volles  Jahrhundert  hindurch  beschäftigt  hat,  nämlich  den  Stick- 
stoff der  Atmosphäre  zu  binden,  ihn  in  unsere  Dienste  zu  zwingen 
und  der  Teohnik  wie  der  Landwirtschaft  nutzbar  zu  machen. 


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Strahlenbrechung  im  interplanetaren  Raume. 

Prof.  Sohaeberle,  Direktor  der  Sternwarte  in  Ann  Arbor,  erörtert 
die  Frage,  ob  die  Lichtstrahlen  der  Sterne  gradlinig  zu  uns  gelangen, 
ehe  sie  in  die  Erdatmosphäre  eintreten.  Ebenso  wie  infolge  der  Erd- 
anziehung die  Dichte  der  Luitschichten  nach  unten  zunimmt,  so  könnte 
auoh  der  Weltäther  sich  um  ein  so  überwiegendes  Massenzentrum, 
wie  die  Sonne  es  ist,  verdichten  und  die  Sonnenkugel  mit  kon- 
zentrischen Schichten  nach  der  Mitte  zu  immer  diohteren  Weltäthers 
umgeben.  Das  wäre  eine  sehr  grofse  Sonnenatmosphiire,  die  vielleicht 
schon  jenseits  der  Neptunsbahn  ohne  scharfe  Grenze  nach  aufsen  be- 
ginnt und  nach  innen  ebenfalls  ohne  soharfe  Grenze  in  die  eigentliche 
Sonnenkorona  übergeht.  In  dieser  Sonnenatmosphäre  würden  die  Licht- 
strahlen der  Sterne  eine  Brechung  beim  Durchdringen  bis  zur  Erde 
erleiden,  eine  Refraktion,  die  in  jährlicher  Periode  veränderlich  wäre. 
Denn  die  Strecke,  die  der  Lichtstrahl  in  dieser  verdichteten  Äther- 
kugel zurückzulugen  hätte,  ist  abhängig  von  der  Stellung  der  Erde 
auf  ihrer  Hahn.  Sie  ist  am  kürzesten,  wenn  die  Erde  die  gleiche 
Länge  hat  wie  der  Stern,  und  am  längsten,  wenn  die  Längen  der  Erde 
und  des  Sterns  180°  verschieden  sind.  Das  Wichtigste  au  dieser 
hypothetischen  Refraktion  ist  jedoch,  dafs  sie  einer  anderen  Verschie- 
bung von  jährlicher  Periode  gerade  entgegenwirkt,  nämlich  der  Paral- 
laxe. Das  wird  sofort  eingesehen,  wenn  man  sich  das  aus  Erde — 
Sonne — Stern  gebildete  Dreieck  vor  Augen  stellt.  Der  Liohtstrahl 
Stern — Erde  wird  durch  die  Refraktion  nach  dem  Einfallslot  hinge- 
brochen, und  da  dieses  Einfallslot  im  Momente,  wo  der  Strahl  die  Erde 
erreichte,  die  Linie  Erde — Sonne  selbst  ist,  so  vergröfsert  die  Refraktion 
den  Winkel  Stern  — Erde  — Sonne.  Der  Stern  erscheint  uns  also  von 
seiner  mittleren  Lage  nach  der  Seite  weggeschoben,  auf  weloher  sich 
die  Sonne  nicht  befindet.  Infolge  der  Parallaxe  aber  erscheinen  uns 
die  Sterne  von  ihrem  wahren  Orte,  d.  h.  von  der  Sonne  aus  gesehen, 
naoh  der  Seite  verschoben,  wo  die  Sonne  steht;  beide  Male  erfolgen  die 
scheinbaren  Verschiebungen  in  der  Ebene  des  Dreieoks  Erde— Stern — 
Sonne,  aber  nach  verschiedenen  Seiten  des  Visionsradius.  Die  Folge  ist 


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5tS8 


nun  die,  dafs  sämtliche  Parallaxen  zu  klein  gemessen  werden,  da  wir 
stets  nur  die  Differenz:  Parallaxe  minus  Refraktion  messen  und  die 
Konstante  dieser  Refraktion  noch  unbekannt  ist.  Da  es  Sterne  gibt,  die 
tatsächlich  unmefsbar  weit  entfernt  sind,  also  in  Wahrheit  die  Parallaxe 
Null  haben,  während  die  Refraktion,  wenn  sie  vorhanden  ist,  für  jeden 
Stern  merklioh  ist,  so  würde  man  bei  solch  unendlich  weit  entfernten  Ster- 
nen dann  eine  negative  Parallaxe  messen.  Tatsächlich  sind  solche  nega- 
tiven Parallaxen  gemessen;  dieselben  konnten  aber  bislang  immer 
entweder  als  Ausdruck  von  Beobachtungsfehlern  angesehen  oder  dem 
Umstande  zugeschrieben  werden,  dafs  der  Stern  entfernter  war  als 
die  Vergleichssterne.  Die  Konstante  dieser  Ätherrefraktion  würde 
also  gleich  der  gröfsten  negativen  Parallaxe  sein,  die  je  gemessen  wird, 
allerdings  nicht  auf  differentiellem  Wege,  da  die  Ätberrefraktionen 
für  einander  nahestehende  Sterne  den  gleichen  Betrag  haben  und  die 
Messungen  relativer  Parallaxen  daher  von  ihrer  Wirkung  frei  sind. 
Nur  die  Bestimmung  absoluter  Parallaxen  mit  dem  Meridiankreise 
kann  die  Frage  zur  Entscheidung  bringen.  Diese  Methode  hat  aber 
wieder  den  Nachteil,  dafe  man  sie  auf  die  ganz  schwachen  Sterne,  die 
vermutlich  am  weitesten  entfernt  sind,  nicht  anwenden  kann,  weil  sie 
für  dieses  Instrument  zu  sohwaoh  sind. 

Die  Ätherrefraktion  kann  schliefslioh  auch  veränderlich  sein,  wenn 
die  Wärmestrahlung  der  Sonne  Schwankungen  teils  unregelmäfsiger, 
teils  periodischer  Art  unterworfen  ist  Alles  in  allem  wird  durch  die 
Annahme  der  hypothetischen  Ätherrefraktion  die  Frage  der  Sternparall- 
axen noch  delikater,  als  sie  schon  ist. 

t 

Spezifische  Wirkungen  des  Fluoreszenzlichtes. 

Die  verschiedenen  Strahlenarten  lassen  die  Wissenschaft  jetzt 
nicht  zur  Ruhe  kommen.  Noch  tobt  der  Streit  über  die  wirkliche 
oder  zugesprochene  Wirkung  der  im  gewöhnlichen  Misohlioht,  d.  h. 
im  gesamten  Licht  der  Sonne  oder  anderer  künstlicher  Lichtquellen 
enthaltenen  verschiedenen  Strahlengattungen,  denen  sich  nicht  minder 
die  Erörterung  über  Röntgen-  und  Radiumstrahlen  anschliefst  — da  ist 
man  schon  wieder  einen  Schritt  weiter  gegangen  und  hat  diesmal  eine 
schon  seit  langen  Zeiten  bekannte  Lichtart  in  den  Kreis  der  Be- 
trachtungen gezogen.  Und  zwar  sehr  mit  Recht,  wie  wir  den  Mit- 
teilungen Tappeiners  und  Jesioneks  in  der  Münch.  Med.  Wochen- 
schrift*) entnehmen. 

•)  Münch.  Med.  Wochenschrift  Nr.  17.  1903. 


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569 

Allen  ist  das  Leuchten  gewisser  Stoffe  bekannt,  nachdem  sie 
dem  Einfluss  einer  anderweiten  Lichtquelle  ausgesetzt  waren,  die 
sogenannte  Fluoreszenz.  So  leuohtet  z.  B.  der  Barium  - Platin- 
Cvanürschirm  unter  dem  Einfluss  der  Röntgen-  und  Becquerelstrahlen 
auf,  indem  er  duroh  diese  lediglich  auf  dem  Umwege  des  Fluores- 
zierens  die  Netzhaut  des  Auges  erregt  Wenn  man  so  eine  zeitlang 
über  dem  Zweck  das  altbekannte  Mittel  dazu  vernachlässigte,  so  sucht 
inan  auoh  diesem  nunmehr  gereoht  zu  werden. 

O.  Raab  fand  bereits  bei  Versuchen  mit  fluoreszierenden  Stoffen, 
dafs  verschiedene,  an  sioh,  d.  h.  im  Dunkeln  wenig  giftige  Stoffe, 
wenn  sie  im  Licht  zum  Fluoreszieren  gelangten,  eine  erhebliche  Gift- 
wirkung auf  niedere  Organismen,  wie  Infusorien,  ausübten, 
und  das  sogar  noch  in  selbst  millionenfacher  Verdünnung.  Da  diese 
Wirkung  ausbleibt  wenn  das  zutretende  Licht  die  Fluoreszenz  er- 
regenden Strahlen  nicht  mehr  enthält,  so  müfste  man  dieselbe  mit 
dieser  in  Zusammenhang  befindlich  erachten.  Auf  Grund  dieser  Er- 
wägungen prüfte  man  auch  den  Einflufs  auf  Enzyme  und  Fermente* 
wobei  sich  ganz  analog  zeigte,  dafs  diese  selbst  bei  sehr  grofser  Ver- 
dünnung des  fluoreszierenden  Farbstoffes  unter  Zutritt  von  Luft  ihre 
spezifische  Wirksamkeit  nahezu  oder  vollständig  einbüfsten.  Ähnlioh 
verhielten  sich  auch  Toxine. 

Doch  scheinen  nicht  alle  fluoreszierenden  Substanzen  die  gleich 
starke  Wirkung  zu  haben,  Vielmehr  nur  solche,  deren  Lichtabsorption 
im  rein  blauen  und  grünen  Teil  des  Spektrums  liegt.  Das  sind 
also  die  erregenden,  auslosenden  Strahlen,  deren  Abschlufs  durch  ein 
■ geeignetes  Filter,  als  Experimentum  crucis,  die  Giftwirkung  des  er- 
zeugten Fluoreszenzlichtes  auslöschen. 

Den  erwähnten  Angriffsobjekten  gegenüber  sind  nun  nicht  alle 
derartigen  Farblösungen  gleichwertig;  einige  wirken  mehr  auf  Zellen, 
andere  auf  Toxine  und  Fermente.  Am  stärksten  erwies  sich  das 
Eosin,  ein  in  der  mikroskopischen  Technik  bekanntes  Färbemittel, 
welches  auf  alle  Testobjekte  einwirkte  und  z.  B.  in  einer  Verdünnung 
von  1 : 400  000  noch  einen  hemmenden  Einflufs  auf  die  Umwandlung 
der  Stärke  zeigte. 

Da  bezüglich  der  Toxine,  als  Produkte  der  krankheitserregenden 
Bakterien,  ihr  schädlicher  Einflufs  für  den  menschlichen  Körper  be- 
kannt ist,  so  war  es  nur  natürlich,  dafs,  wie  bei  den  anderen  Strahlen- 
arten, auch  hier  eine  K ranken behandlung  in  geeigneten  Fällen 
aussichtsreich  erschien.  Man  ging  also  von  der  Ansicht  aus,  eine 
unter  Einflufs  des  Lichtes  fluoreszierende  Farblösung  mufs,  mit  er- 


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krankten  Gewebsteilen  des  Körpers  in  Berührung  gebracht,  ihre  Gift- 
wirkung auf  die  vorhandenen  Toxine,  d.  h.  auf  die  schädlichen  Pro- 
dukte der  Krankheitserreger  entfalten  und  so  Heilung  bewirken. 

Hierzu  verwendeten  Tappeiner  und  Jesionek  auf  der  Mün- 
chener Klinik  eine  5 prozentige,  wässerige  Kosinlösung,  welche 
fortgesetzt  auf  die  Krankheitsherde  während  der  Bestrahlung  mit 
Sonnen-  oder  starkem  elektrischen  Bogenlicht  aufgepinselt  wurde. 
Natürlich  konnten  zunächst  nur  oberflächliche  Erkrankungen  der 
Haut,  möglichst  parasitärer  Natur,  in  Frage  kommen.  — Die  Erfolge 
waren  aufserordentlich  interessant  und  günstig;  die  betreffenden  Krank- 
heitsvorgänge wurden  schnell  gebessert,  teilweise  fürs  erste  geheilt, 
so  dafs  diese  Behandlungsmethode  der  weiteren  Verfolgung  wert  er- 
scheint Freilich  muss  man  alle  derartigen  Reaktionen  krankhafter 
Vorgänge  bezüglich  endgültiger  Beseitigung  mit  grofser  Vorsicht  be- 
trachten, da  es  eine  spezielle  Eigentümlichkeit  parasitärer,  besonders 
bösartiger  Hautkrankheiten  ist,  stellenweise  unter  dem  Einflufs  irgend 
eines  reizenden  Mittels,  wohin  auch  die  Fluoreszenzstrahlen  gehören, 
zu  vernarben,  während  der  krankhafte  Vorgang  an  anderen  Partien 
von  neuem  einsetzt.  Das  gilt  auch  insbesondere  von  den  kürzlich  für 
die  Behandlung  des  Krebses  so  hoch  gepriesenen  Röntgen  - und 
den  diesen  nahestehenden  Becquerelstrahleu.  Sie  bieten  in  gleicher 
Weise,  wie  schon  vielfach  gebrauchte  medikamentöse  Stoffe,  eine  Art 
Ätzmittel  dar.  welohes  allerdings  unserer  modernen  Technik  besser 
entspricht  als  der  Höllensteinstift  und  dergleichen.  Mit  Recht  hat 
darum  kürzlioh  v.  Bergmann  in  medizinischen  Kreisen  Berlins  ein 
erlösendes  Wort  gesprochen,  indem  er  auf  Grund  seiner  vielseitigen  • 
Erfahrung  die  Ärzteschaft  und  indirekt  auch  das  Publikum  vor  über- 
triebenen Experimenten  und  Hoffnungen  in  obigem  Sinne  warnte. 

Dr.  med.  Ax mann- Erfurt 


§ 

Über  den  Zusammenhang  zwischen  optischen  und  elektrischen 
Eigenschaften  der  Metalle  und  über  gewisse  Schlüsse,  die  man 
daraus  auf  den  Aufbau  der  Materie  ziehen  kann. 

In  einer  1903  in  dem  Berichte  der  Deutschen  Physikalischen 
Gesellschaft  erschienenen  Arbeit  haben  Hagen  und  Rubens  einen 
eigentümlichen  Zusammenhang  zwischen  dem  optischen  Reflexionsver- 
mögen von  Metallen  für  lange  Älherwellen  und  ihrer  Leitfähigkeit 
konstatiert.  Es  ist  auf  den  ersten  Blick  nicht  einzusehen,  wie  zwei 


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571 


scheinbar  so  grundverschiedene  Eigenschaften,  wie  optische  Reflexion 
und  elektrische  Leitfähigkeit,  irgendwie  miteinander  korrespondieren 
können. 

Die  Oröfse  der  Leitfähigkeit  charakterisiert  die  Fortbewegungs- 
fähigkeit der  kleinsten  Atomunterteile,  der  Elektronen,  durch  die 
Materie  hindurch  (vergl.  diese  Zeitschrift,  Maiheft  1903).  Das  Re- 
flexionsvermögen  charakterisiert  die  Fähigkeit  einer  Metallfläche,  auf- 
fallendes Licht  zurückzuwerfen.  Spiegel  derselben  Form  von  ver- 
schiedenen Metallen  erscheinen  verschieden  „bell“,  wenn  man  sie  be- 
leuchtet, haben  also  verschiedenes  Reflexionsvermögen.  Auch  dies 
Reflexionsvermögen  für  Lichtwollen  steht  mit  der  Bewegung  der  Elek- 
tronen in  engem  Zusammenhang,  und  zwar  mit  der  „Eigenschwin- 
gungsdauer“ derselben. 

Hat  z.  B.  in  einem  „Ätherwellenzug“  (aus  verschiedenen  Farben 
zusammengesetzter  Strahl)  eine  Welle  gerade  dieselbe  Schwingungs- 
dauer, wie  eine  „Elektronensorte“  in  den  Atomen  der  Metalloberfläche, 
so  findet  „Resonanz“  statt  (vergl.  diese  Zeitschrift,  Augustheft  1901), 
d.  h.  die  Energie  der  Wellen  wird  verbraucht,  um  die  Bewegung  der 
Elektronen  zu  verstärken,  die  Welle  wird  absorbiert. 

Auch  wenn  keine  Resonanz  eintritt,  wird  ein  Teil  der  Energie 
verbraucht,  um  die  Oberfläche  der  Elektronen  in  erzwungene  Schwin- 
gungen zu  versetzen.  Diese  Energie  wird  nun  nicht  von  der  Eigen- 
periode, sondern  lediglich  von  der  Beweglichkeit  der  Elektronen  in 
der  Materie  abhängen.  Wenn  uns  so  ein  Zusammenhang  zwischen 
Reflexionsvermögen  und  Leitfähigkeit  schon  bedeutend  wahrschein- 
> Hoher  gemacht  ist,  so  überzeugt  uns  die  Theorie  von  Maxwell 
vollends,  indem  sie  diesen  Zusammenhang  mathematisch  ausdrückt. 
Sie  behauptet  nämlich,  dafs  das  Produkt  aus  der  eindringenden  Inten- 
sität (E)  (also  der  nicht  reflektierte  Teil  der  Ätherwelle)  und  der 
Wurzel  auB  der  Leitfähigkeit  (k)  bei  allen  Metallen  einen  konstanten 
Wert  (C)  haben  müsse,  eine  bestimmte  Wellenlänge  (i)  vorausgesetzt. 
Mathematisch  würde  sich  die  Formel  Ej  k = C»  ergeben.  Die 
Schwierigkeit,  an  der  alle  früheren  experimentellen  Untersuchungen 
über  diesen  Gegenstand  scheiterten,  bilden  die  obenerwähnten  Reso- 
nanzerscheinungen, die  in  der  Maxwellsohen  Theorie  nicht  in  Be- 
traoht  gezogen  werden.  Um  die  Schwierigkeit  zu  umgehen,  bedienten 
sich  Hagen  und  Rubens  langer  Wärmewellen  von  0,012  bis  0,025 
Millimeter  (während  die  Länge  der  gelben  Lichtwellen  0,006  mm  be- 
trägt). Es  gelang  ihnen  in  der  Tat,  die  Maxwellsche  Beziehung 
zu  bestätigen,  und  zwar  bei  Silber,  Gold,  Kupfer,  Platin,  Nickel  und 


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672 


16  Legierungen,  die  in  wechselnder  Zusammenstellung  die  Metalle 
Silber,  Gold,  Platin,  Nickel,  Eisen,  Zink,  Cadmium,  Zinn,  Blei,  Alu- 
minium, Magnesium,  Wismut  und  Kupfer  enthielten. 

Nachdem  so  der  von  der  Theorie  verlangte  Zusammenhang  ein- 
mal festgestelit  ist,  können  wir  umgekehrt  aus  den  Abweichungen 
von  der  Theorie  bei  der  Reflexion  bestimmter  kürzerer  Lichtwellen 
auf  Resonanzerscheinungen,  also  auf  die  Eigenschwingungsdauer  der 
Metall-Elektronen  scbliefsen.  Wir  können  z.  B.  sofort  mit  Sicherheit 
behaupten,  dafs  die  Perioden  der  Metallelektronensohwingungen  der 
Gröfse  nach  in  dasselbe  Gebiet  fallen,  wie  die  der  sichtbaren  Äther- 
wellen. 

Durch  die  Untersuchungen  von  Hagen  und  Rubens  hat  die 
moderne  physikalische  Theorie  wieder  eine  neue  Stütze  erhalten,  und 
wir  werden  mehr  und  mehr  in  der  freudigen  Überzeugung  bestärkt, 
dafs  wir  mit  der  Anschauungsweise  eines  gesetzmiifsigen  Zusammen- 
hangs aller  Naturerscheinungen  auf  dem  richtigen  Wege  sind. 

Dr.  M.  v.  P. 

f 

Die  Heissdampflokomotive  steht  momentan  duroh  die  Versuche 
auf  der  Strecke  Marienfelde-Zossen  im  Vordergrund  des  Interesses. 
Von  vornherein  war  es  nicht  die  Absicht  der  Dampfteohniker,  mit  dem 
elektrischen  Sohnellbahnwagen  zu  konkurrieren,  aber  sie  haben  sich 
die  schöne  Gelegenheit,  auf  einem  ausnahmsweise  starken  und 
gesicherten  Oberbau  fahren  zu  können,  nioht  entgehen  lassen.  Es 
entsteht  sogar  die  Frage,  ob  es  nioht  ein  unabweisbares  Bedürfnis 
ist,  für  ein  so  gewaltiges  industrielles  Unternehmen,  wie  es  die  Staats- 
eisenbahn-Verwaltung darstellt,  eine  eigene  und  zwar  bedeutend  län- 
gere Strecke  lediglich  für  Proben  und  Versuche  zu  besitzen.  Das 
im  vorigen  Jahre  von  dem  Verein  Deutscher  Maschinen-Ingenieure 
erlassene  Preisausschreiben,  betreffend  den  Entwurf  einer  modernen 
Dampflokomotive,  hat  insofern  Erfolg  gehabt,  als  von  fünf  Entwürfen 
wenigstens  einer  und  zwar  derjenige  des  Ober-Ingenieurs  Peglow  von 
der  Berliner  Maschinenbau-Aktiengesellschaft  vormals  L.  Sohwartz- 
kopff  prämiiert  werden  konnte.  Da  eine  erhöhte  Leistungsfähigkeit 
der  Lokomotive  zugleich  mit  einer  erhöhten  Wirtschaftlichkeit  Hand 
in  Hand  gehen  mufs,  so  haben  im  allgemeinen  die  Konstrukteure  mit 
den  althergebrachten  Formen  der  Maschine  insofern  gebrochen,  als 
sie  statt  des  Zweizylinder-Systems  das  Vier-  oder  Dreizylinder- 
System,  letzteres  im  sogenannten  Compound -Verbände  der  Zy- 


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573 


linder,  angewendet  haben.  Am  meisten  Aussicht  scheint  jedoch 
die  zweizylindrige  Maschine  mit  Überhitzung  des  Dampfes  auf  Ein- 
führung in  die  Praxis  zu  haben.  Bei  ihr  wird  nioht  der  feuohte,  aus 
dem  Kessel  entströmende  Dampf  sogleioh  in  die  Zylinder  geleitet, 
sondern  zunäohst  durch  einen  in  der  Rauchkammer  unterdem  Schornstein 
liegenden  und  von  den  heissen  Abgasen  umströmten  Überhitzer  ge- 
leitet. Man  hat  dann  den  Vorteil,  trockenen  Dampf  in  den  Zylinder 
zu  bekommen,  der  dort  seine  Energie  ökonomischer  und  vollständiger 
abgibt  Eine  nach  dem  Plan  des  Baurats  Garbe  hergestellte  Maschine 
hat  auf  der  allerdings  sehr  ebenen  Marienfelder  Versuchsetrecke  mit 
einer  Belastung  von  drei  D-Zugwagen  eine  Höchstgeschwindigkeit 
von  135  km  in  der  Stunde  erreioht.  Es  ist  ja  selbstverständlich,  dafs 
sich  unsere  gewöhnlichen  Eisenbahnstreoken  mit  einer  so  enormen 
Geschwindigkeit  wegen  ihres  leichteren  Oberbaues  und  namentlich 
wegen  der  stärkeren  Steigungsverhaltnisse  und  scharfen  Krümmungen 
nicht  befahren  lassen.  Es  steht  aber  dooh  zu  hoffen,  dafs  die  Heifs- 
dampf-Lokomotive  berufen  ist,  wenigstens  auf  einigen  Strecken  eine 
geringe  Steigerung  des  Schnollzugverkehrs,  etwa  bis  auf  100  km  pro 
Stunde,  zu  ermöglichen.  Im  Lokalbetriebe  dürfte  sie  vor  allen  Dingen 
eine  gröfsere  Ersparnis  an  Betriebskosten  mit  sich  bringen.  Der  auf- 
merksame Beobachter  kann  jetzt  bereits  vor  den  Zügen  der  Berliner 
Stadtbahn,  namentlich  im  Vorortverkehr,  dreifach  gekuppelte  und  an 
ihrem  starken  Vorbau  unter  dem  Schornstein  erkenntliche  Heifsdampf- 
lokomotiven  bemerken.  Dieser  neue  Maschinentypus  zeichnet  sich 
auch  sonst  durch  die  dem  amerikanischen  Vorbild  ähnelnde  außer- 
ordentlich hohe  Lage  des  Kessels  aus.  D. 

* 


Muscheln  als  Überträger  von  Typhusbazlllen. 

Vor  allem  die  Herzmuschel  (Cardiumedule)  wie  gewisse  andere 
kleine  Muscheln  sind,  wie  .Nature“  berichtet,  für  die  ärmere  Bevölke- 
rung Londons  eine  willkommene  Speise.  Leider  ist  aber  mit  dem 
Gemtfs  dieser  mit  Kanalstoffen  behafteten  Mollusken  leicht  eine  Über- 
tragung von  Typhusbazillen  verbunden.  Selbst  das  Abkochen  der 
Muscheln  kann  die  Gefahr  nicht  ganz  beseitigen.  Da  nämlich  einer- 
seits die  Typhusbazillen  nur  durch  längeres  Kochen  absterben,  durch 
eine  derartige  Behandlung  die  Marktware  aber  zusammensohrumpft 
und  unansehnlich  wird,  so  wird  das  Abkochen  der  Muscheln  in  sehr 


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574 


oberflächlicher  Weise  vorgenoramen:  die  gefüllten  Netze  werden  nur 
kurze  Zeit  in  siedendes  Wasser  gehalten,  aber  noch  bevor  das  duroh 
die  verhältnismäfsig  kalten  Musoheln  abgekühlte  Wasser  von  neuem 
zu  kochen  beginnt,  wieder  horausgezogen.  Auf  Grund  von  ein- 
gehenden Versuchen  der  Fishmongers  Company  erweist  Bich  die 
Behandlung  der  Musoheln  mit  Dampf  als  viel  geeigneteres  Desinfek- 
tionsmittel. Zwar  verlieren  die  Mollusken  durch  eine  Dampfbehand- 
lung von  10  Minuten  ihr  gutes  Aussehen,  sind  aber  dann  schon 
nahezu  keimfrei  und  selbst  unschädlich,  wenn  man  dieses  von  den 
ärmeren  Schichten  der  Bevölkerung  so  begehrte  Gonufsmittel  nur 
6 Minuten  der  Einwirkung  des  Dampfes  aussetzt.  Duroh  dieses  Ver- 
fahren kann  man  daher  die  Konsumenten  vor  einer  Infektion  durch 
den  mit  Recht  gefürohteten  Typhusbazillus  einigermafsen  schützen. 

Dr.  Martin  Heidrich. 


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Webers  illustrierte  Katechismen.  Leipzig.  Verlag  von  J.  J.  Weber. 

No.  57.  Kollert,  Prof.  Dr.  Julius.  Katechismus  der  Physik.  Sechste 
verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  1903.  593  S.  Preis  7 M. 

No.  70.  Huber,  Katechismus  der  Mechanik.  Siebente  Auflage,  neu  he* 
arbeitet  von  Prof.  Walther  Lange.  190*2.  *269  S.  Preis  3,50  M. 

Die  Brauchbarkeit  und  Beliebtheit  der  vorliegenden  Bücher  folgt  schon 
aus  der  Zahl  der  Auflagen,  die  in  einer  kurzen  Reihe  von  Jahren  erforderlich 
gewesen  sind.  Bei  beiden  Büchern  haben  die  Verfasser  dauernd  durch  mehr 
oder  weniger  tiefgreifende  Umarbeitungen  dafür  gesorgt,  dafs  kein  Stillstand 
ein  tritt.  Sicher  ist  das  Fortschreiten  mit  der  Zeit  nützlich  und  wünschenswert 
Man  kann  aber  auch  des  Outen  zu  viel  tun.  Ein  Katechismus  bann  nur  ein 
kurzer  Abrifs  des  Wichtigsten  sein  wollen,  nicht  ein  Handbuch,  das  bis  auf 
den  Moment  des  Abschlusses  alles  enthält.  Gehören  die  neuesten  Arbeiten,  z.  B. 
die  von  Blondlot,  in  einen  Katechismus?  Dafs  er  die  Polarisation  der  Röntgen- 
slrahlen  nachgewiesen  hat,  ist  ja  schon  überholt,  Blondlot  hat  ganz  neueStrahlen 
entdeckt,  doch  hat  sie  nach  den  Mitteilungen  der  Naturforscherversammlung 
1903  anscheinend  bis  dahin  niemand  aufser  ihm  gesehen.  Bis  solch  Neuestes 
besser  geklärt  ist,  braucht  ein  Katechismus  wohl  nicht  davon  zu  sprechen.  — Ob 
ferner  ein  Leser  sich  aus  den  wenigen  Zeilen  8.  246  Über  die  Protuberanzen  ein 
Bild  machen  kann,  ohne  die  Kum morsche  Abhandlung  übor  den  zur  Ober- 
fläche eines  Planeten  zurückkehrenden  Strahl  und  die  Theorie  über  die  Gasnatur 
der  Sonne  zu  kennen?  — Zur  Verbesserung  sei  empfohlen  die  Notiz  auf  S.  446 
über  Nebenscbltifs-  und  Hauptstromlampen;  bei  der  Nebenschlufslampe  fehlt  eine 
Angabe  darüber,  wie  der  Bogen  durch  eine  Spiralfeder  zustande  kommt. 
Auch  dürften  die  Hauplstromlampen,  die  in  der  Regina-,  Liliputlampe  usw. 
vielen  vor  Augen  kommen,  nicht  so  kurz  erledigt  werden;  ebenso  findet  man 
heute  so  oft  Effoktkohlen  mit  Metallzusatz,  so  dafs  auch  sie  Erwähnung  finden 
müssen.  S.  255  steht  ein  sionstörender  Druckfehler:  die  Stäbchen  sind  nicht  ge- 
meint, sondern  zweimal  die  Zapfen.  — Zur  Gewinnung  von  fester  Kohlensäure 
(S.  319)  bedarf  man  keiner  Kältemischung;  man  neigt  die  Flasche,  bindet  einen 
Beutel  vor  die  Öffnung  und  läfst  das  Gas  ausströme»,  daun  füllt  sich  der 
Beutel  ganz  von  allein  mit  fester  Kohlensäure.  — Bei  den  Notizen  über  die 
Kältomischungen  (8.  318)  fehlt  die  Anfangstemperatur  der  Bestandteile,  die 
doch  für  das  Resultat  wichtig  ist.  A.  S. 

Dr.  Ludwig  Re II stab:  Die  elektrische  Telegraphie.  Mit  19  Figuren. 
Leipzig.  Göschen  1903.  Sammlung  Göschen  No.  17*2.  Preis  0,80  M. 

Der  Verfasser  bespricht  zunächst  einige  allgemeine  Fragen,  aus  denen 
besonders  die  Behandlung  der  Leitungen,  Schaltungen  und  wichtigsten 
Messungen  genannt  seien;  daran  schliefst  sich  eine  Beschreibung  der  wichtigsten 
Systeme  des  Ferndruckers,  der  automatischen  Schnelltelegraphie,  Kabel-  und 
Funkentelegraphie.  Die  Auswahl  des  dargestellten  Stoffes  und  die  Art  der 
Behandlung  ist  vortrefflich.  A.  S. 


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676 


Dr.  Felix  Auerbach,  ProF.:  Das  Zeisswerk  und  die  Carl-Zciss-Stiflung 
iu  Jena.  Ihre  wissenschaftliche,  technische  und  soziale  Entwickelung 
und  Bedeutung,  für  weitere  Kreise  dargestellt  Mit  78  Abbildungen 
im  Text  Jena  1903.  Fischer.  109  S. 

Ähnlich  wie  Krupp  trotz  aller  pekuniären  und  technischen  Schwierig- 
keiten seine  Ideen  über  die  Verarbeitung  des  Qufsstahls  bis  zum  glänzenden 
Erfolg  durchgeführt  hat,  so  hat  auch  Carl  Zeiss,  der  1846  unter  den  aller- 
kleinsten Verhältnissen  eine  Werkstatt  in  Jena  einrichtete,  sich  allmählich, 
nach  damaliger  Methode  rein  empirisch,  zu  guten  Mikroskopen  durchgearbeitet 
und  hat  später,  aller  Qefahren  und  Opfer  ungeachtet  die  Empirie  fallen  lassen,  um 
— besonders  unter  der  Hilfe  von  Ernst  Abbe  — die  Konstruktion  von  Mikro- 
skopen nach  rein  theoretischen  Unterlagen  zu  beginnen.  Was  damit  geleistet 
worden  ist  i*t  bekannt.  Dank  der  Unterstützung  des  preußischen  Kultus- 
ministeriums unter  Oofsler  konnte  Zeiss  mit  Otto  Schott  zusammen  1884 
die  Jenaer  Glasfabrik  Schott  und  Genossen  errichten,  der  wir  schwer  schmelz- 
bares Glas  für  Thermometer  und  chemische  Geräte,  sowie  mannigfache  Gläser 
für  optische  Zwecke  verdanken.  Was  die  Firma  Zeiss  sonst  noch  an  Meß- 
apparaten,  Fernrohren  usw.  geleistet  hat,  dürfte  den  Lesern  von  „Himmel  und 
Erde“  im  allgemeinen  bekannt  sein.  Weniger  genau  bekannt  aber  dürfte  es 
sein,  wie  grofs  für  Jena  die  wirtschaftliche  Bedeutung  der  Fabrik  ist,  die  über 
1400  Angestellte  besitzt,  über  2 Millionen  Mark  an  Löhnen  und  Gehältern  zahlt, 
einen  Umsatz  von  etwa  4 Millionen  hat  und  allein  für  gemeinnützige  Zwecke 
(Universität  u.  a.)  über  3 Millionen  bisher  gespendet  hat. 

Dr.  P.  Ferchland:  Grundrift  der  reinen  und  angewandten  Elektro- 
chemie. Halle  a.  S.  1903.  Knapp.  271  S. 

Das  Buch  gehört  in  die  Reihe  der  von  Engelhardt  herausgegebenen 
Monographien  über  angewandte  Elektrochemie.  Es  enthält  einen  Abschnitt  über 
die  Elektrolyse,  in  dem  die  grundlegenden  Theorieu  und  Versuche  von 
Faraday,  Hittorf,  Clausius,  Arrhenius,  Kohlrausch  und  Nernst 
u.  a.  für  den  Laien  sehr  verständlich  dargcstellt  sind.  Der  zweite  Abschnitt 
behandelt  die  Änderungen  der  Energie  bei  elektrischen  Prozessen,  der  letzte 
gibt  kurze  Nachrichten  über  einige  technische  Elektrolysen.  Ziel,  Umfang 
und  die  Behandlungsweise  des  Stoffes  entsprechen  ungefähr  dem  bekannten  und 
sehr  verbreiteten  Leitfaden  von  Lüpke,  dem  das  vorliegende  Buch  gleich- 
wertig an  die  Seite  treten  kann. 


Verlag:  Hermann  Paetel  in  Berlin.  — Druck:  Wilhelm  Gronan’a  Bnchdrockerel  in  Berlin -Sthdneberg. 
Für  die  Kedactien  verantwortlich : Dr.  P.  Schwahn  in  Berlin. 

Unberechtigter  Nachdruck  na»  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 

Überaetz ungerecht  Vorbehalten. 


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Einzelne  Hefte  1 Mk.  60  Pfg. 


XVI.JAMRO.  SEPTEMBER  1904  HEFT  12 


UND  ERDE 


ILLUSTRIERTE  NATURWISSENSCHAFTLICHE 

MONATSSCHRIFT 


.3EN  VON  DER  GESELLSCHAFT 

„URANIA“ 


REDAKTEUR  DR.  P.  SCHWAHN 


BERLIN 

VERLAG  VON  HERMANN  PAETEL 


Preis  vierteljährlich  3 Mk.  60  Pfg. 


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WltHlHf  Füfttaut:  Jnltna  Flntsch,  Berlin  O-,  taifnutrM/^ 
Das  Inhalts -Verzeichnis  befindet  sich  am  Scblufs  des  Heftes. 


G.  A.  Schultze, 


Constante 

elektromotorische 

Kraft. 


Hoher  Nutzeffekt 


Geringer  Gas- 
verbrauch. 


Keine  Polarisation, 
daher  keine 
Erscb&pfong. 


Betriebsstörungen 

ausgeschlossen. 


Keine  Dhmpfe, 
kein  Gerach. 


iT 


Inhalts -Verzeichnis. 

September  1WO-1. 


Grössere  Aufsatze.  s*u. 

Die  Kulziumbildf  r der  Sonor.  Von  Professor  Dr.  J.  Seheiner,  Potsdam  529 
Neueste  Forschungen  Uber  den  elektrischen  Strom.  Von  Professor 

B.  Weinstein,  Berlin 537 

Nutzbarmachung  des  Lnftstickstoffes  für  die  Landwirtschaft.  Von  Ür. 

K Müller,  Potsdam  559 

Mitteilungen. 

Strahlenbrechung  im  interplanetaren  Kannte 6G7 

Spezifische  Wirkung  de.  Flaoreszenzlichles 668 

Ober  den  Zusammenhang  zwischen  opti.eheu  nid  elektrischen  Kigeu- 

schaften  der  Metalle 670 

Die  lleifsdamprlokomvlive 672 

Muscheln  als  ('bertriiger  vnn  T.vpbnsbnzillen 678 

Bibliographisches. 

Httcherbesprerhuagcn  676 


Redaktionelle  Mitteilungen,  Jtuslauschexem/ilare  anderer  Zeit- 
schriften, sowie  Einsendungen  der  Mutoren  sind  an  die  Adresse 
„Himmel  und  Erde,  ßerlin  IP„  Taubensl rasse  48140“,  zu  senden. 

Itautriltuisrii  »uf  «Ho  ZmUchrift  ..HmnuH  und  Krdo"  uiml  nicht  an  dl*  tle*oU»rliaft  1'rtiul», 
Bondern  hu  dio  V«>rl.»K'‘buolihandlunjt  Hermann  Partei,  Herl  in  W.t  ElashoiMtr.  12,  au  richlcu. 
Probeheft«  verwendet  die  VerlttgwbuilihBiullunf  gratl». 

Dio  Herrn  Aktionäre  der  Oeselliichnft  iruma  dagegen  wollen  ihren  Antrag  »>«f  fruiou 
bezug  der  Zeitschrift  Hlrumcl  und  Erd©“  direkt  an  dio  (toarllisrliaft  i'rwii»  richten. 


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19*  llrxug  dnrrh  die  |»Iiotogra|»ht»rhen  Handlungen, 


Geschäftliche  Mitteilungen. 


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Unserer  heutigen  Nummer.  liegt  ein  Prospekt  des  Camera -ürotavertrlek 
„Union“,  Ilnco  Stockig  & Co.,  Dresden,  bei,  den  wir  der  freundlichen  Beachtung 
unserer  verenrlichen  Leser  angelegentlich  empfehlen.  Die  Kxped.  der  Zeitschrift 

Die  Momentanfnahme  ist  heute  unstreitbar  der  wichtigste  Teil  der  Photo* 
graphie,  denn  nur  sie  ermöglicht  eine  vollkommen  naturgetreue  Wiedergabe. 
Merkwürdig  ist  nur,  data  viele  Amateure  so  bescheidene  Ansprüche  an  ihre 
Cameras  stellen,  sie  meinen,  die  interessanten  Sprungaufuahnien  usw.  seien  nur 
von  einem  raffinierten  Berufsphotographen  fertigzubringen.  Dooh  ist  nichts 
leichter  als  die  Aufnahme  eines  Augeoblicksbildes.  Allerdings  gehört  dazu  ein 
Apparat  mit  guter  Verschlufstechnik,  sowie  ein  lichtstarkes  Glas.  Apparate, 
die  beides  vereinigen,  sind  die  bekannten  Union* Cameras,  und  da  diese 
auteerdem  unter  erleichterten  Zahlungsbedingungen  abgegeben  werden,  erklärt 
sich  daraus  die  aufeerordentliche  Verbreitung,  die  diese  Apparate  gefunden 
haben.  Der  neueste  Prospekt  über  Union-Cameras  liegt  unserem  heutigen 
Blatte  bei. _ _ 

„Agfa“*  Photo-Handbuch.  Welcher  Beliebtheit  sich  dieses  kleine  Workchen 
ia  Interessentenkreisen  erfreut,  beweist  wohl  am  besten  der  Umstand,  data 
dasselbe  in  der  relativ  kurzen  Zeit  «eines  Erscheinens  bereits  in  ca.  35000  Exem- 
plaren verkauft  worden  ist  und  nouerdiugs  nach  Mitteilung  der  Herausgeberin, 
der  bekannten  Aktien -Gesellschaft  für  Anilin -Fabrikation  schon  wieder  in 
10 000  Exemplaren  aulgelegt  wird.  Dos  Bändchen  bietet  allerdings  auch  in. dem 
verbältnismätaig  engen  Rahmen  von  etwa«  mehr  als  100  Textseiten  eine  solche 
Fülle  des  Wissenswerten,  nicht  nur  für  den  Anfänger,  sondern  auch  manches 
Interessante  für  den  Fachmann,  dass  seine  Beschaffung  jedermann  empfohlen 
worden  kann,  um  so  mehr,  als  dasselbe  bei  geschmackvoller  Ausstattung  und 
dauerhaftem  Leinencinband  zu  dem  erstaunlich  billigen  Preis  von  IM)  Pfg. 
käuflich  ist.  Neben  sorgfältig  ausgearbeiteten  Gebrauchsanweisungen  dor 
diversen  „Agfa*- Entwickler,  „Agfa-*- Spezialitäten,  „Agfa--Platten  und  -Filme, 
sowie  der  „Isolar“- Fabrikate,  auf  die  gonannto  Firma  Patente  fast  aller  Kultur- 
staaten besitzt,  findet  man  erprobte  Rezepte,  praktische  Winke  und  Notizen, 
Gutachten  erster  Autoritäten,  Mitteilungen  über  Packungen  und  Preise,  Em- 
plindiichkeitsangaben,  Belichtungstabdlen  usw.  Wir  können  dom  „Agfa*- 
Photo-  Handbuch  nur  weiterhin  Erfolg  wünschen. 


Inserate  (für  die  zweigespaltene  Petitzeile  oder  deren  Raum  30  Pf., 
sind  an  die  Verlagsbuchhandlung  llcrmaun  Partei,  Berlin  W.  30.  Elssholzstr.  12, 

einzusendeu.  — Beilagen  nach  besonderer  Vereinbarung. 


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Deutsches  Handelsmuseum 

Offizielles  Orian  des  Bundes  der  Kanfieite. 


Eine  neue*  wirtschafts-politische  Zeitschrift  grösseren  Stiles,  welche 
unter  Kettung  des  Direktors  der  Zentralstelle  für  Vorbereitung  von 
Handelsverträgen,  Herrn  l)r.  Vosberg-Rekow  und  hervorragender  an- 
derer Fachmänner  herausgegeben  wird,  erscheint  vom  I.  Januar  1904 
ab  in  Unterzeichneten  Verlage. 

Das  „Deutsche  Hundeismuseum**  ist  bestimmt  für  die  gesamten 
Bewegungen  im  Kaufmannsstande,  in  den  kaufmännischen-  und  Erwerbs- 
kreisen, in  den  kaufmännischen  Korporationen  und  Vereinen  einen  Mittel- 
punkt ab* u geben,  es  ist  ferner  bestimmt,  nach  der  ganzen  Art  seiner 
Auslage  ein 

volkswirtschaftliches  Zentral  ■ Organ 

zu  werden,  welches  sich  an  ein  grosses  Publikum  wendet,  und  ins* 
besondere  den  Kreisen  des  Handels  und  der  Industrie  dienstbar  sein 
wird,  wobei  es  für  seine  Abonnenten  und  Leser  einen  volkswirtschaft- 
lichen Nachrichtendienst  etablieren  wird,  welcher  mit  Kat  und  Tat  den 
Geschäftsleuten  zur  Hand  gehen  soll. 

Als  offizielles  Organ  des  Bundes  der  Kaufleute,  der  gegenwärtig 
über  8ooo  Mitglieder  zahlt,  wird  das  „Deutsche  Handrlsimiseum‘k  von 
vornherein  in  einer  Auflage  von  ioooo  Exemplaren  erscheinen  und 
bildet  somit  gleichzeitig  ein 

Insertions-Organ  ersten  Ranges, 

volle  Gewähr  bietend  für  eine  umfassende  Verbreitung  unter  den 
Geschäftsinhabern  der  verschiedenen  Branchen,  unter  allen  Ortsgruppen 
des  Bundes  der  Kaufleute  und  den  zahlreichen  den»  Bunde  angeschlossenen 
Korporationen  und  Vereinen. 

Allen  Kreisen  des  Handels,  Verkehrs  und  der  Industrie  sei  daher 
ein  Abonnement  auf  dieses  Organ,  wie  es  bisher  in  Deutschland  nicht 
besteht,  angelegentlichst  empfohlen. 

Das  Handelsmuseum  erscheint  monatlich  einmal  und  kostet  in» 
Abonnement  M.  7.50.  Bei  Insertionsaufträgen  stehen  Prospekte  über 
Preisberechnung  kostenlos  zur  Verfügung. 

BERLIN  W.  30. 

Hermann  Paetel,  Verlagsbuchhandlung. 


Als  Band  III  der  XXX.  Abteilung  der  Vereinsveröffentlichungen  ist  erschienen: 

Vom  Mittelmeer  zum  Pontus 

von  Dr.  Ernst  von  der  Nahmer. 

Mit  20  Abbildungen  und  einer  Karte. 

Inhaltsverzeichnis:  I.  Die  deutschen  Ausgrabungen  in  Pricne.  — 11.  Vom 
Mittelmeer  zuin  Pontus.  Konia  — Kararnan.  Im  hohen  Taurus.  Am  Mittelmeer.  Ein 
Zwischenspiel.  Portae  Kilikiac.  Kaisarich.  Siwas.  Tokat.  Ammassia.  Samsun.  — 
III.  Eine  vergessene  Provinz.  Kastamuni.  Anatolischcs  Städtelcbcn.  Im  pontlschcn 
Wahl  und  Gebirge.  Dornröschens  Stadt, 

Berlin  NV.  30.  Allgemeiner  Verein  für  Deutsche  Litteratur. 


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i’er3jfenllid;l  Sie  ncneftcii  IPerfe  Ser  erften  lebeuSen  Pleiter  uitS 
Piebterlmien  nnS  bringt  wertvolle  Beiträge  Ser  bervorrngmSflcit 
Eclcljrten  nnS  piiMIjlften  über  Sie  mannigfartjften  fragen  aus  allen 
(ßebleten  Ser  ll'lileiifdinft,  lluiift  unS  f Iterntur.  Hegclm5fjig  mibmel 
fte  Sen  (Cagesereignijtrn  — von  parteiintereffen  unbeeinflußt  - eine 
poltlifdie  SlmtSfd.Mii,  ftaltct  jebes  lieft  mit  einer  literarifdieit  2luitS> 
fdniu  aus,  unS  gibt  fo  ein  umfniietiSes  IUIS  vom  moSeriien  tfielftes 
leben,  r-te  ift  Sat;er  atidi,  wie  raum  eine  zweite  Seiitfdie  3elt= 
fdrrlft,  geeignet,  ein  griffiges  Hanb  jroifdjeu  Sen  Pentfd>en  im 
AusiaiiSc  nnS  Sen  lanSsleuten  in  Ser  lieimat  berjuftellen. 

Pie  „Peutfdtc  HtinSfdniu"  erfdftitit  in  lllonatslieften  von  (0  liogen 
tbO  Seiten  gr.  R°  am  £rftcn.  fomie  in  lialbmouatsl)eftcu  von  5 Sogen 
ho  Seiten  am  Srfteu  nnS  j'ünfjehnten  eines  jeSen  lllotiats;  Ser  Ein- 
tritt in  Sas  Abonnement  farm  jcSerjeit  erfolgen. 

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