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Astron.
Ofcs.
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Himmel und Erde.
Illustrierte naturwissenschaftliche Monatsschrift.
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Himmel und Erde.
Illustrierte
naturwissenschaftliche Monatsschrift
Herausgegeben
von der
GESELLSCHAFT URANIA ZU BERLIN.
Redakteur: Dr. P. Schwahn.
XVI. Jahrgang.
BERLIN.
Verlag von Hermann Paetel.
1904.
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Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Übersetzungareoht Vorbehalten.
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71 Ti
Verzeichnis der Mitarbeiter
am XVI. Bande der illustrierten naturwissenschaftlichen Monatsschrift
„Himmel und Erde“.
Angenheister, Dr. G., in Heidelberg
159.
Arendt, Prof. Dr. Th., in Berlin 462.
Axmann, Dr., in Erfurt 376. 505. 568.
Donath, Dr. B., in Berlin 47. 84. 145.
188. 190. 191. 192. 283. 234. 240. 286.
288. 289. 334. 385. 380. 526. 528. 572.
Eichhorn, Dr., in Berlin 481.
Fischer, Prof. Dr. K. T., in München 1.
Foerster, Prof. Dr. W., in Berlin 851.
Heidrich, Dr. M., in Berlin 22. 573.
Kätscher, B., in Budapest 40. 136. 181.
228. 473.
leinpeter, Dr., in Gmunden 68. 129.
oppe, Prof. Dr. C., in Braunschweig
193. 398.
Lenden feld, Prof. Dr. R. von, in Prag
4.50.
Lüderitz, M., in Berlin 240.
Müller, Dr. K., in Potsdam 104. 559.
Neesen, Prof. Dr. Fr., in Berlin 433.
Pirani, Dr. N. von, in Aachen 96. 142.
143. 144. 186. 187. 234. 881. 382. 423.
424. 526. 570.
Rauter, Dr. G., in Berlin 77.
Ristenpart, Dr. F., in Berlin 44. 46.
91. 93. 141. 235. 241. 426. 524. 567.
Rumpelt, Dr. Alexander, in Taormina
171. 219. 271. 365. 412.
Sch ein er, Prof. Dr. J., in Potsdam
385. 529.
Schmidt, Dr. A., in Friedenau 575.
576.
Sch wahn, Dr. P., in Berlin 49. 115.
Sokal, Ed., in Berlin 32. 97. 279. 517.
Spies, Prof. Dr. P., in Posen 432.
Süring, Prof. Dr. R., in Berlin 337.
Tschulok, S., in Zürich 212. 322.
Weinstein, Prof. Dr. B., in Berlin
312. 537.
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Inhalt des sechzehnten Bandes.
Grössere Aufsätze. S(ll,
•Die (i ran d begriffe einer rein mechanischen Naturerkliirung. Von Prüf. Dr.
K- t, Fisc her in München , , . . , ^ . , . l
Die künstliche Darstellung organischer Naturprodukte. Von Dr M. Heid rieh
in Berlin . , , , . . . , £!
Die Krsrhöpfung «ler Energie. Von Kd. Sokal in Koriin . . ... :VJ
Langlebigkeit und Kntartnng. Von B. Kätscher in Budapest 40
*Die llühlemiell von St. üaaiian, Von Dr P. Sch wahn in ßgrliu . 41L LLä
Moderne Naturphilosophie. Von Dr. Kleinpeter in Gmunden . . R8. 1 St>
Von der Deutschen Städte • Ausstellung in Dresden. Von I >r. G. Kauter
»» Berlin , ± , , , « . , , , . , < * , , , , * , . , , II
1'her Leben und Tod. Von Kd Sokal in Merlin . . .... ?)?
Die Verbreitung ansteckender Krankheiten durch die Mücken. Von Dr.
K. Müller in Estiadam. , , . , . . « , , = , , , , « , , , « UH
Der Robbenfang auf Alaska. Von L. Kätscher in Budapest 130
•Drahtlose Telephonie» Von Dr. B. Donath in Berlin 14*>
Sinnesorgane und physikalische Instrumente. Von Dr. O. A ngenheister
in Heidelberg ..... 159
•itn Reiche des \olus. Von Dr. A. Ru tn t» e 1 1 -Taormina. 171. 219. 271. 3tS.>. Utf
Die Kelhvaclisbildnng bei Leithen. Von IV Kätscher in Budapest . . . 181
* Die Kinheitliehkeit der Längenmafse und Längenmessungen. Von Prof. Dr.
C. Koppe in Braunschweig lftA
Der Ackerboden und seine tiesrhichte. Von A. P. Netschajew. Übersetat
aua dem ttugaiflcheii von tf...Tg.g.h.u.l.ü.k-la.- Zürich ■ . , -1.‘,
Die IVarsallsche Leid-Rohrpost. Vron Leop. K atacher in Budapest . , 328
•l’ber die Mondaufnahmen von Loewy nnd Duiseux und über Veränderungen
auf der Momloherliiiche. Von Dr. R Risten part. . . 241
Neuere Forschungen über Lehirn nnd Bewnfstsein. Vo» Ed. Sokal in Berlin 27t»
IRadinm. Vm.h Pr U, D.o.n.a.t h in. .Berlin , , , t ± * • • • , •
Über die Popularisierung der Wissenschaften. V»u Prof. Dr. B, Weinstein
iü Berlin , . , , . » , . = * , i , . , . , , > = » : ÜLJ
•Über Wolk^nformen nnd deren Veränderungen. Von l'ruf !>?. K. süring
in Berlin j • : &S7
Zur Entuirkelungsgesrhichte der hehre von der Krdbewegnng. Von Prof, Dr.
Wilh. Rannitt ln Berlin . . lül
Sensibilisierung organischer Lebilde. Von Dr. nied. Axmann in Erfurt . .TO
•Die KirrJiImfE&f-liP- Funktion. Von Pr*jf. Dr. J. Sr hei nur in Potsdam üzli
•Das (iotthard-Lebiet als Soniineraufenthalt. Von Prof. Dr. C. Koppe in
Btaunschwcig ....
•Über unsere Schutzmittel gegen Blitzgefahr. Von Professor Dr. Fr. Neesen
in Berlin ■ ■ ■ - ■ - 4:i:>
Klima und Lletscher. Von Prof, Dr. K. von Len den fehl in Prag 450
138820
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vm
Inhalt.
Salt«
•Zar (ie'vittrrkunde ja Xurd- and Mitteldeutschland. Van Prof. Dr. Th. Arendt
in Berlin , . . , . . . . . . . . . . . . . . , 1£2
* Entwickelnngsgang der drahtlosen Telegraphie. VonUr. Uustav Eichhorn
in Berlin . , . . . . . . , , , . . . . , . . . . . ■ ■ *81
Aas der aatamajemiiiafiUcheB Technik des AJlcrlana. Von Dr, Ammann
in Erfurt . , , . * . * * . * . . . . . . , . . . 505
Suggestion and Besell9cliaft. Von Eduard Sokal in Berlin-Charlottonburg 517
Die Kaliiambilder der Saaae. Van Prof. £>r. J. Scfaeinar in Potsdam ■ 529
Neuest« Forschungen Uber den elektriaehea Strom. Von Prof. B. Weinstein
in Berlin . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . 532
Nutzbarmachung des Stickstoffes fiir die Landwirtschaft. Von Dr. K. Müller
in Potsdam 559
Mitteilungen.
Pie nähern totale Mondfinsternis vom II. April 1903 4*
Der Begleiter des Polarsterns 46
•Die Drehung der Polarisationsehen« elektrischer Wellen *7
•Physikalisches tob der Naturforscher- Versammlnng in Cassel M
Der Stern 85 Pegasi 91
Parallele des Sterns B. D. 37° 4131 Ul
Blasgefdfse von hoher Widerstandsfähigkeit I*-’
Schmelzpnnktbcstimmnng hei hohen Temperaturen 143
Ersatz des Platins in tiliihlampen 188
Magncsinm-Alanilninniicgiernngen 186
Über ..Titantheraiit“ 187
Zur Reinignng antiker Bronsen ISS
X-Strahlennntersuchnng diluvialer Knochenreste 23.1
Magnetische Tonscherben 234
Erstickung von Bränden mittels schwefliger Sknre 234
Filierte Klangschwingnngen 286
Die letzte MontgolHbre in Berlin 33t
Von den n-Strahlen 380
Ein Verfahren tnr Uewinnnng von wasserfreie» Alkohol ohne wasser-
entxiehende Chemikalien . . . i . . . 3S1
Über die Verwendung des Acetylens iB gelbstem Zustand 382
Über die Wärmeabgabe von KadinniprUparaten 4-23
Uber das Wesen der „Katalyse“ . . 424
Ein interessanter Süknlar-Bcdenktag 473
Der Lkngennnterschied zwischen Greenwich nnd Potsdam 324
Di« Dissertation der Frau S. Curie 526
Die Analyse schwingender Bewegnngen 3'lfi
Strahlenbrechung im interplanetaren Rannte 5f.7
Spezifische Wirknngen des Fluoreszenzlichtea 568
über den Zusammenhang »wischen optischen nnd elektrischen Eigenschaften
der Metalle . ■ . ■ . . . 570
Die Heifsdampflokonotive 57 1
Muscheln als Überträger von Typhnsbaiillen 573
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IX
Bibliographisches. s.„«
Ostwald, W,; Die Schule der Chemie 90
Weiler: Lehrbuch der Physik 144
Jochmann: Grundrifa der Experimentalphysik 190
Clafsen, A.: Ausgewählte Methoden der analytischen Chemie 191
Jahrboeb der Photographie and Reproduktionstechnik 1903 192
(irtinwald, F.: Die Hereteilung der Akkumulatoren 240
Farat Albert l YOl MPMCtf.: Eine Seemanns-Laufbahn 240
Branns, R.: Das Mineralreich 2S8
Stark. Pr. Job.: Disaoziierung und Umwandlung chemischer Atome . .
Verzeichnis der der Redaktion znr Besprechung cingcsandten Bücher . 3&4. 4Ts
Donath, Dr. B. : Die Einrichtungen zur Erzeugung der Röntgenatrahlcn . 432
Sples, Pr. P.: Die Erzeugung und die physikalischen Eigenschaften der
Röntgenstrahlen 52S
Weber» illnstrierter Katechismus . , * , * , . , * : , * , . ■ .
Reilstab, Dr. L.: Die elektrische Telegraphie fi75
Aaerbach, Prof. F.: Daa Zeifawerk und die Carl-Zeifs-Stiftung 570
Ferchland, Dr. F.: Qrundrife der reinen und angewandten Elektrochemie 570
Himmelserscheinungen.
Für Dezember 1903, Januar und Februar 1904 93
„ Marz, April und Mai 1904 235
„ Juni, Juli, August und September 1904 4*20
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Namen- und Sachregister
zum sechzehnten Bande.
Acetylens in gelöstem Zustand,
über die Verwendung des, 1182.
Ackerboden, Der und seine Ge-
schieht«*, 212. 322.
Äolus. Im Reiche des 171. 219. 271.
365. 412.
A kkumulstoren, Herstellung der.
Von F. Grünfeld 240.
Alaska, Der Robbenfang auf 136.
A 1 ko hol ohne wasserentziehende Che-
mikalien, Ein Verfahren zur Ge-
winnung von wasserfreiem 381.
Altertums, Aus der naturwissen-
schaftlichen Technik des 505.
Aluminiumlegierungen, Mag-
nesium- 186.
Analyse, Dio, schwiugender Be-
wegungen 526.
Analytischen Chemie, Ausge-
wählte Methoden der, von A.Cl&ssen
191.
Ansteckender Krankheiten durch
die Mücken, Die Verbreitung 96.
Antiker Bronzen, Zur Reinigung
18$.
Atome, Dissoziierung und Umwand-
lung chemischer, von Joh. Stark 336.
Auerbach, F. : Das Zeifswerk und
die Carl -Zeits-Stiftung in Jena 576.
Ausgewählte Methoden der ana-
lytischen Chemie, von A.Ciasaen 191.
Begleiter des Polarsterns 46.
Bewegungen, Die Analyse schwin-
gender 526.
Bewufstsein, Neuere Forschungen
über Gehirn und 279.
Blitzgefahr, Über unsere Schutz-
mittel gegen 433.
Bränden, Erstickung von, mittels
schwelliger Saure, 234.
Brauns, R. : Das Mineralreich 288.
Bronzen, Zur Reinigung antiker 188.
Bücher, Verzeichnis der der Re-
daktion zur Besprechung einge-
sandten 384. 478.
Cassel, Physikalisches von der Natur-
forscherversammlung in 84.
Chemischer Atome. Dissoziierung
und Umwandlung, von Joh. Stark 336.
Chemie, Die Schule der, von W. Ost-
wald 96.
C lassen, A.: Ausgewählte Methoden
der analytischen Chemie 191.
Curie, Die Dissertation der FrauS. 526.
Darstellung organischer Natur-
produkte, Künstliche 22.
Deutsche Städte-Ausstellung in
Dresden, Von der 77.
Diluvialer Knochenreste, X-Strah-
lenuntereuchung 233.
Dissertation der Frau S. Curie 526.
Dissoziierung und Umwandlung
chemischer Atome, vou Joh. Stark 3 $6.
Donath, ß : Die Einrichtungen zur
Erzeugung der Röntgenstrahlen 432.
Drahtlosen Telegraphie, Ent-
wickelungRgang der 481.
Drahtlose Telephonie 145.
Drehung der Polarisationsebene
elektrischer Wellen 47.
Einheitlichkeit der Längenmaße
und Läugeumessungen 193. *
Einrichtungen zur Erzeugung von
Röntgenstrahlen, von B. Donath 432.
Elektrischer Wellen, Die Drehung
der Polarisationsebene 47.
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XII
Inhalt.
Elektrochemie, Grundrifs der
reinen und angewandten. Von Dr.
P. Ferchland 576.
Elektrischen Eigenschaften der
Motnllo, Über den Zusammenhang
zwischen optischen und 570.
Elektrischen Strom, Neueste For-
schungen über den 537.
FÜnergie, Erschöpfung der 32.
Entartung und Langlebigkeit 40.
Entwickelungsgang der drahtlosen
Telegraphie 481.
Entwickelungsgeschichte der
Lehre von der Erdbewegung 351.
Erdbewegung, Zur Entwickelung*-
geschichte der Lehre von dor 351.
Ersatz des Platins in Glühlampen 186.
Erschöpfung der Energie 32.
Erstickung von Bränden mittels
schwefliger Säure 234.
Erzeugung und die physikalischen
Eigenschaften der Röntgenstrahlen
528.
Experimentalphysik, Grundrifs
der, von O. Hermes und P. Spies 190.
Ferch land, P.: Grundrifs der reinen
und angewandten Elektrochemie 576.
F'ettwachsbildu ng bei Leichen 181.
Fixierte Klan gsch wingungen286.
Fluoreszenzlichtes, Spezifische
Wirkungen des 568.
Forschungen über den elektrischen
Strom, Neueste 537.
Funktion, Kirchhoffsche 385.
Fürst Albert I. von Monaco: Eine
Seemanns-Laufbahn 240.
Gedenktag, Ein interessanter Säku-
lar- 472.
Gehirn und Bewufstsein, Neuere
Forschungen über 279.
Geld-Rohrpost, Die Pearsallsche
228
Geschichte, Der Ackerbau und seine
212. 322.
Gesellschaft, Suggestion und 517.
Gewinnung von wasserfreiem Al-
kohol ohne wasserenl ziehende Che-
mikalien, Verfahren zur 381.
Gewitterkunde in Nord- und Mittel-
deutschland 462.
Glasgefäfse von hoher Widerstands-
fähigkeit 142.
Gletscher, Klima und 450.
Glühlampen, Ersatz des Platins in 186.
Gotthard - Gebiet als Sommorauf-
enthalt 398.
Green wi oh, Der Längenunterschied
zwischen, und Potsdam 524.
Grundbegriffe einer rein mecha-
nischen Naturerklärung 1.
Grünwald, F.: Die Herstellung der
Akkumulatoren 240.
Heifsdampflokomotive, Die 572.
Hermes, O., und Spies, P., .Joch mann:
Grundrifs der Experimentalphysik
190.
Herstellung der Akkumulatoren,
von F. Grünwald 240.
Himmelserscheinungen 93. 235.
426.
Hohen Temperaturen, Schmelz-
punktbestimmung bei 143.
Höh len weit von St. Canzian, Die
49. 115.
Jahrbuch der Photographie und Re-
produktionstechnik 192.
Instrumente, Sinnesorgane und
physikalische 159.
Interessanter Säkular - Gedenktag
472.
Interplanetaren Raume, Strahlen-
brechung im 567.
Jochmann: Grundrifs der Experi-
mentalphysik von O. Hermes und
P. Spies 190.
Kalziumbilder der Sonne 529.
Katalyse, Über das Wesen der 424.
Katechismen, Weber1* illustrierte
575.
Kirchhoffsche Funktion 385.
Klangschwingungen, Fixierte 286.
Klima und Gletscher 450.
Knochenreste, X- Strahlenunter-
suchung diluvialer 233.
Künstliche Darstellung orga-
nischer Naturprodukte 22.
Länge nmafse u. Längenmessungen,
Einheitlichkeit der 193.
Längenmessungen, Einheitlichkeit
der Längenmafse und 193.
Längenunterschied, Der, zwischen
Greenwich und Potsdam 524.
Land w irtsc haft, Nutzbarmachung
des Luftstickstoffes für die 559.
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Inhalt
XIII
Langlebigkeit und Entartung 40.
Leben und Tod, Über 97.
Lehrbuch der Physik, von Weiler 144.
Lehre von der Erdbewegung, Zur
Entwickelungsgeschichte der 351.
Leichen, Die Fettwachabildung bei 181.
Letzte Montgolfiöre in Berlin .‘134.
Loewy u. Puiseux, Über die Mond-
aufnahmen von, und über Ver-
änderungen auf der Mondoberfläche
241.
Luftstickstoffes für die Landwirt-
schaft, Nutzbarmachung des 559.
Magnesium - Aluminiumlegierungen
186.
Magnetische Tonacherben 234.
Metalle, Über den Zusammenhang
zwischen optischen und elektrischen
Eigenschaften der 570.
Mineralreich, Das, von R Brauns
288.
Moderne Naturphilosophie 68. 129.
Monaco, Fürst Albert I. von: Eine
Seemanns-Laufbahn 240.
Mondaufnahmen von Loewy und
Puiseux und Veränderungen auf
der Mondoberfläche 241.
Mondfinsternis vom 11. April 1903,
Die nahezu totale 44.
Montgolfi&re in Berlin, Die letzte
334.
Mücken, Die Verbreitung an-
steckender Krankheiten durch die
104.
Muscheln als Überträger von Ty-
phusbazillen 573.
Naturerklärung, Die O rund begriffe
einer rein mechanischen 1.
Naturforscherversammlung in
Cassel, Physikalisches von der 84.
Naturphilosophie, Moderne 68. 129.
Naturprodukte, Die künstliche Dar-
stellung organischer 22.
Naturwissenschaftlichen Technik
des Altertums, Aus der 505.
Neuere Forschungen über Gehirn
und Bewufstsein 279.
Neueste Forschungen über den
elektrischen Strom 537.
Nord- und Mitteldeutschland, Zur
Gewitterkunde in 462.
N-Strahlen, Von den 380.
Nutzbarmachung des Luftslick-
stoffcs für die Landwirtschaft 559.
Optischen und elektrischen Eigen-
schaften der Metalle, Über den Zu-
sammenhang zwischen 573.
Organischer Gebilde, Sensibili-
sierung 37G.
Ost wald, W.: Die Schule der Chemie
96.
Parallaxe des Sterns B. D. 37° 4131 —
141.
Pearsallsche Geldrohrpost 228.
Pegasi, Der Stern 85, 91.
Photographie und Reproduktions-
technik, Jahrbuch der 192.
Physik, Lehrbuch der, von Weiler
144.
Physikalische Instrumente, Sinnes-
organe und 159.
Physikalisches von der Natur-
forscher-Versammlung in Cassel 84.
Physikalischen Eigenschaften der
Röntgenstrahlen, Die Erzeugung
und die 528.
Platins, Ersatz des, in Glühlampen
186.
Polarisationsebene elektrischer
Wellen, Die Drehung der 47.
Polarsterns, Begleiter des 46.
Popularisierung der Wissen-
schaften 312.
Potsdam, Der Längenunterschied
zwischen Greenwich und 524.
Radium 289.
Radiumpräparaten, Über die
Wärmeabgabe von 423.
Reiche des Äolus, Im 171. 219. 271.
365. 412.
Reinigung antiker Bronzen, Zur 188.
Rellstab, L. : Die elektrische Tele-
graphie 575.
Reproduktionstechnik, Jahrbuch
der Photographie und 192.
Robbenfang auf Alaska 136.
Röntgenstrahlen, Die Erzeugung
und die physikalischen Eigen-
schaften der 528.
Röntgenstrahlen, Einrichtung zur
Erzeugung von, von B. Donath 432.
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XIV
Inhalt.
Säkular-Ge denk tag, Interessanter
472.
Seeinan n s - Lau fhahn von Fürst
Albert I. von Monaco 240.
Sensibilisierung organischer Ge-
bilde 370.
Sinnesorgane und physikalische
Instrumente 159.
Sommeraufenthalt, Das Gotthard-
Gebiet als 398.
Sonne, Kalziumbilder der 529.
Suggestion und Gesellschaft 517.
Schmelzpunktbestimmung bei
hohen Temperaturen 143.
Schule der Chemie, von W. Ostwald 96.
Schutzmittel gegen Blitzgefahr 433.
Sch welliger Saure, Erstickung von
Bränden mittels 234.
Schwingender Bewegungen, Die
Analyse 526.
Spies, P. : Die Erzeugung und die
physikalischen Eigenschaften der
Röutgenstrahlen 528.
Spezifische Wirkungen des Fluor-
eszenzlichtes 568
Städte- Ausstellung in Dresden,
Von der Deutschen 77.
Stark, Job.: Dissoziierung und Um-
wandlung chemischer Atome 336.
St. Canzian, Dio Höhlen weit von 49.
115.
Stern 85 Pegasi 91.
Sterns B. D. 37° 4131, Parallaxe des
141.
Strahlenbrechung im interplane-
taren Raume 567.
Strom, Neueste Forschungen über
den elektrischen 537.
Technik des Altertums, Aus der
naturwissenschaAlichen 505.
Telegraphie, Entwickelungsgang
der drahtlosen 481.
Telegraphie, Die elektrische. Von
Dr Ludw. Reilstab 575.
Telephonie, Drahtlose 145.
Tem peraturen, Schmelzpunktbe-
Stimmung bei hohen 143.
Titantherniit, über 187.
Tod und Leben, Über 97.
Tonscherben, Magnetische 234.
Totale Mondfinsternis, Die nahe-
zu totale, vom 11. April 1903 44.
Typhusbazillen, Muscheln als
Überträger von 573.
Überträger von Typhusbazillen.
Muscheln als 573.
Umwandlung chemischer Atome,
Dissoziieruug und, von Joh. Stark 336.
Veränderungen auf der Mond-
oberfläche und über die Moud-
aufnahmen von Loewy u. Puiseux 241.
Veränderungen, Über Wolken-
formen und deren 337.
Verbreitung ansteckender Krank-
heiten durch die Mücken, Die 104.
Verfahren zur Gewinnung von
wasserfreiem Alkohol ohne wasscr-
entzichende Chemikalien 381.
Verwendung des Acetylens in ge-
löstem Zustand 382.
Von den N-Strahlen 380,
Von der Deutschen Städte-Aus-
stellung in Dresden 77.
Wärmeabgabe von Kadiumprupa-
raten 423.
W assereutziehende Chemikalien,
Ein Verfahren zur Gewinnung von
wasserfreiem Alkohol ohne 381.
Weber’s illustrierte Katechismen 574.
Weiler: Lehrbuch der Physik 144.
Wesen der Katalyse 424.
Widerstandsfähigkeit, Qlasge-
fiifse von hoher 142.
Wirkungen des Fluoreszenzlichtes,
Spezifische 568
Wissenschaften, Über die Popu-
larisierung der 312.
Wolkenformeu und deren Ver-
änderungen 337.
X-Strahlenuutersuchung dilu-
vialer Knochenreste 233.
Zeifswerk, Das und die Carl - Zeifs-
Stiftung in Jona. Von Prof. Dr.
F. Auerbach 576.
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Die Grundbegriffe einer rein mechanischen
Naturerklärung.*)
Von Dr. K. T. Flacher,
a. o. Professor der K, Technischen Hochschule München.
c-^Keit die Menschen denken können, haben sie versucht, sioh die
>K Vorgänge, die sie um sich sehen, nach ihren menschlichen Be-
“ griffen zureoht zu legen. Wir wissen, dafs eine Kerze in der
Luft brennt, und dafs dies daher kommt, dafs der Sauerstoff sieb mit
dem Stearin (d. i. mit Kohlenwasserstoffen) verbindet und dabei eine
starke Wärme entwickelt wird, die sich in der Flamme äußert. Das
Produkt der Verbindung ist Wasserdampf und ein Gas, das man
Kohlensäure nennt Letztere ist das Gas, das wir aufser dem atmo-
sphärischen Stickstoff ausatmen, wenn wir in unserem Körper den ein-
geatmeten Sauerstoff zur Verbrennung der Nahrung verbraucht haben.
Wir wissen ferner, dafs die Kerze in Kohlensäure nicht zu brennon
vermag.
Versuoh: Eine Kerze wird in ein oa. 1 Liter fassendes Becher-
glas gestellt, welches einmal gewöhnliche Luft enthält und einmal
vor dem Einbringen der Kerze mit Kohlensäure gefüllt wird. Die
Kohlensäure wird entweder direkt durch ein nicht zu enges, bis auf
den Boden reichendes Glasrohr in das Becherglas hineingeatmet, oder
mittelst Marmor und Salzsäure im Kippschen Apparat erzeugt und
duroh das Glasrohr eingeluBsen.
Die alten Griechen hätten sich diesen Vorgang so erklärt, dafs
Liebe und Hafs die einzelnen Stoffe veranlagt, sich entweder zu ver-
einigen oder abzustofsen. Sauerstoff und Stearinpartikelchen würden
in dieser Auffassung einander zugetan sein, Kohlensäure dagegen
•) Nach einem im Münchener Volksbildungsverein gehaltenen Experi-
mentalTortrag bearbeitet.
HiminH und Erd« 1908. XVI. I. 1
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a
würde gegen die Stearinpartikeln Abneigung haben. Was die grie-
chischen Philosophen mit dieser Erklärung tatsächlich getan haben,
ist nur, dafs sie die ihnen zunächst ganz fremde Erscheinung des
Brennens einer Kerze, d. h. die Verbindung von Sauerstoff mit Stearin,
bezw. die Nichtvereinigung von Kohlensäure und Stearin, auf Er-
scheinungen zurüokführten, welche sie aus dem Leben kannten, wo
Liebe und llafs die Mensohen zu gegenseitiger Unterstützung oder
Vernichtung treibt.
Nach dem modernen Standpunkt macht man sich zunächst keine
bestimmte Vorstellung über das Brennen der Kerze, man sieht erst
naoh, was geschieht Da zeigt die Erfahrung, dafs Fett oder Stearin
mit Sauerstoff verbrennt, dafs dagegen Fett mit Kohlensäure nicht
verbrennt. Wir können ferner durch den Versuch sehen, dafs bei der
Verbrennung ein Gas entsteht, nämlich Kohlensäure, d. i, Verbin-
dung (Verbrennungsprodukt) von Kohle und dem wesentlichen Be-
standteile aller Säuren, dem Sauerstoff. Wir beobachten soweit ein-
fach, was in der Natur geschieht. Aber dann können wir einen
Schlufs ziehen, nämlich: wenn die Kerze beim Verbrennen Kohlen-
säure entwickelt, so mufs eine Kerze im abgeschlossenen Raume ver-
löschen, da sie beim Brennen jo länger, je mehr Sauerstoff aus der
Luft verzehrt und Kohlensäure entwickelt.
1. Versuch: Über eine brennende, niedrige Kerze wird das oben
genannte Becherglas gestülpt; die Kerze verlischt nach ca. J/2 Minute.
Am oberen Teile des Beoherglases schlägt sich innen Tau (Ver-
brennungsprodukt, Wasserdampf) nieder, der bei Beleuchtung mit
einer matten Glühlampe weithin sichtbar ist.
Warum aber der Sauerstoff und das Stearin sich verbinden,
darüber machen wir zunächst keinen weiteren Erklärungsversuch,
weil wir vorläufig nichts anderes tatsächlich beobachten, auf das wir
die Hinneigung des Sauerstoffs zum Stearin zurückführen könnten.
Dies einfache Beispiel boII eine wesentliche Forderung illustrieren,
welche wir an uns stellen müssen, wenn wir Naturvorgänge erklären
wollen, nämlich die Forderung, nicht eine Erklärung zu geben, welche
lediglioh unserem Gehirne entsprungen ist, sondern zunächst objektiv
die einzelnen Momente festzustellen, welche beim tatsäch-
lichen Vorgang auftreten, und erst dann aus beobachteten
Momenten auf schon bekannte oder neue zu schliefsen.
Die Welt und zwar auoh die unscheinbare leblose Materie, die nioht
gut oder böse genannt werden kann, müssen wir erst kennen lernen,
wenn wir sie verstehen wollen.
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3
Das Gesetz vom Beharrungsvermögen oder der Trägheit
der Materie.
2. Als zweites Beispiel wollen wir eine Frage nehmen, die wohl
seit Jahrtausenden gestellt worden ist: warum bewogen sioh die Pla-
neten, insonderheit unsere Erde, auf ungefähr kreisförmigen oder ge-
nauer elliptischen Bahnen um die Sonne?
Die Alten hatten die Antwort sehr einfach zusammenphilosophiert.
Es käme, sagten die Grieohen, daher, dafs die Kreisbewegung die
einfachste Bewegung wäre; ein Körper beschreibe, wenn man ihn
sich selbst Uberlasse, eine kreisförmige Bahn, weil — und das ist
sehr wichtig — nur bei der Kreisbewegung ein Körper im Laufe der
Fig. 1.
Zeit immer wieder in seine alte Lage zurUckkehre. Es hat diese
Ansicht etwas Bestechendes und wird auch heutzutage vom Laien
noch ausgesprochen, sie ist aber falsch und übereilt. Wir können
nicht aus uns heraus entwickeln, wie ein Körper sich bewegt, wenn
er sich selbst überlassen wird; wir müssen erst die Natur darüber
befragen, d. h. wir müssen ein Experiment*) anstellen:
Ich lasse mit Hilfe einer Sohwungmasohine (Fig. 1) eine Kugel K
im Kreise rotieren; sie zeichnet ihre Bahn auf einer berufsten und
feststehenden Glastafel, welohe zentral durchbohrt ist, ab. Zunächst
ist die Kugel durch einen Ansatz 11 von einer an der Drehachse be-
festigten Feder B gehalten und beschreibt auf der Glastafel einen
•) Dieser und die folgenden Versuche sind eingehend beschrieben in
K. T. Fischer, Neuere Versuche zur Mechanik der festen und flüssigen
Körper. 65 8. Teubner 130?.
1*
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4
Kreis. Wenn die Drehung rascher erfolgt, schlüpft die Nase H aus
der Feder B, und die Kugel bewegt sioh auf der Glasplatte horizontal
frei ohne äufsere Einwirkung weiter. Welohe Bahn beschreibt sie?
Der Versuch ergibt, dafs die Bahn eine gerade Linie ist (Fig. 2,A).
Ihre Richtung ist diejenige, welche der Körper in dem Momente
hat, in dem er auB der Feder entschlüpft, also frei wird, d. h. in der
Sprache der Geometrie : die Richtung ist die Tangente, welche die
Kurve in jenem Punkte hat, in dem der Körper frei wird. Die Kugel
würde sioh immer mit gleicher Geschwindigkeit weiterbewegen, wenn
die Glasplatte grofs genug und gar keine Reibung vorhanden wäre.
Je besser man die Reibung vermeidet, um so genauer gilt das
Gesetz, das uns hier als Erfahrungstatsache entgegentritt und den
Namen Beharrungs- oder Trägheitsgesetz fuhrt (gefunden von
Galilei 1638): Kein Körper kann von selbst aus der Ruhe in
Be wegung übergehen, auch nioht von selbst seine Richtung
und Geschwindigkeit ändern. Wo ein Körper seinen Zu-
stand, seine Riohtung oder Geschwindigkeit ändert, ist eine
Einwirkung seitens eines zweiten Körpers oder mehrerer
Körper erkennbar, welche wir „Kraft“ nennen, und zwar in
Erinnerung an die Muskelkraft, deren sich lebende Wesen bedienen,
um Bewegungen zu verursachen oder zu verändern. Bei unserem
Versuche ist die Einwirkung oder Kraft die Feder gewesen; sie hörte
mit dem Momente des Freiwerdens der Kugel auf.
Wir sind nicht ganz vorsichtig gewesen, wenn wir schlechtweg
sagten, der Körper beschreibe eine gerade Linie. Wir müfsten ge-
nauer hinzufügen: relativ zur Umgebung, welche selbst ruht, also
etwa relativ zu uns. Wenn wir z. B. den Körper auf eine mit der
Feder rotierende Platte aufselzen und dasselbe Experiment (Fig. 1
rechts) ausfuhren, so sehen wir, dafs zwar relativ gegen uns auch noch
dasselbe geschieht wie vorher, d. h. die Kugel nach dem Freiwerden
eine gerade Linie beschreibt, dagegen beschreibt sie relativ gegen die
rotierende Platte eine spiralige Kurve.
Der Versuch ergibt die in Fig. 2, B dargestellte Kurve.
Nach E. Mach müfsten wir oben sagen, der sich selbst über-
lassene Körper beschreibe eine gerade Linie relativ gegen den
Fixsternhimmel.
Das Gesetz vom Beharrungsvermögen ist das Grundgesetz aller
Materie. Alles, was wir fühlen, greifen und auf der Wage wägen
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5
können, alle Materialien, z. B. Holz, Stein, Wasser, Luft, gehorchen ihm
und gehorchen ihm überall; auch sehen wir hier auf der Erde oder
auf dem Monde oder der Sonne dieses Gesetz erfüllt, ja in dem grofsen
H B
> drct-
rtxbr i
3 •} J
6 1
1—
■ 1 1 1
I 1 1 1 1 i i 1 1
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 I 1 1 1
1 1 i 1 1
Fig. 2.
Laboratorium unseres Weltschöpfers, dem Himmelsraume, finden wir
dasselbe viel vollkommener bestätigt als in dem beschränkten Gebiete
unserer physikalischen Institute. Aus dem genannten Erfahrungs-
satz verstehen wir sofort folgenden Versuch:
Es wird ein Glas zum Teil mit Wasser
gefüllt und an einer Schnur befestigt (Fig. 3).
Bewegt man das Glas im Kreise herum, so
(liefst das Wasser nicht aus, denn es will immer
in gerader Linie, also vom Kreise fortfliegen,
wird also gegen das Glas drücken, statt aus dem
Glase auszulaufen. Es wird dadurch aber auch
meine Hand von dem Glase gewissermaßen fort-
zuziehen versucht und so die Schnur gespannt.
Es muß, wie man sagt, eine nach dem Zentrum
der Kreisbewegung gerichtete Kraft, die „Zen tri- Fig. 3.
petalkraftu, auftreten, und diese Kraft wird um so
stärker sein müssen, je rascher die Drehung erfolgt und je größer
der Radius des Kreises ist. Die genaue mathematische Verfolgung
des Vorgangs zeigt, daß die Kraft im selben Verhältnis wie das
Quadrat der Geschwindigkeit des Körpers zunimmt und im gleichen
Verhältnisse abnimmt, in dem der Radius des Kreises wächst.
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6
3. Verstehen wir jetzt vielleicht, warum die Planeten sich un-
gefähr in kreisförmigen Bahnen um die Sonne bewegen? Wenn jedor
Planet durch eine Kraft von der Sonne angezogen wird, wenn ge-
wissermaßen etwas zwischen Sonne und Planeten ähnlich wirkt wie
unsere Schnur, so dafs die Hand die Sonne, das Glasgefäfs mit Wasser
den Planeten und die Spannung in der Schnur die Kraft veranschau-
licht, die wir freilich nicht direkt sinnlich wahrnehmen können, die
aber vorhanden ist, dann wäre uns die Planetenbewegung ebenso
verständlich wie die des Glases Wasser. Wäre keine Kraft vorhanden,
welche Planeten und Sonne gewissermaßen aneinander bindet, so
würden die Planeten nach dem Trägheißgesetze in geraden Bahnen,
der eine dahin, der andere dorthin sich bewegen und ohne Zusammen-
stoß nie wieder in ihre alte Lage zurückkehren. Der Engländer
Newton (1642 — 1726) hat zuerst die Vermutung ausgesprochen, daß
in der Tat eine solche Kraft zwisohen Sonne und Erde vorhanden sei,
ja, dafs sie überhaupt immer zwischen zwei materiellen Körpern auf-
trete; es hat dann Cavendish (1798) durch den Versuch gezeigt,
daß zwei Körper sich stets anziehen, ohne daß man beson-
deres an ihnen wahmimmt. Zwei 10-Kilostücke, deren Mittelpunkte
10 cm voneinander entfernt sind, suchen sich mit einer Kraft zu
nähern, welche dem Gewicht von ca. 7/i«oo mf? entspricht. Das ist
eine reoht kleine Größe, und kein Wunder, wenn wir sie ohno be-
sonderes Studium gar nicht bemerken, weil die Reibung auf der Unter-
lage unvergleichlich viel größer ist. Ein 1000-Kilostück würde das
10-Kilostück bereits mit 7 mg anziehen und ein 1000-Kilostück ein
anderes 1000-Kilostück mit 7000 mg, falls die Entfernung der Mittel-
punkte in allen Fällen 10 cm bliebe — das wäre schon 7 g. Sonne
und Planeten sind trotz der großen Entfernungen voneinander durch
Kräfte aneinander gehalten, welche ausreichen, um die Planeten vom
Verlassen der elliptischen Bahn abzuhalten, und zwar weil die Planeten
und namentlich die Sonne so ungeheure Größe haben.
Die Kraft, von welcher wir hier reden, nennt man in der Physik
die allgemeine Gravitationskraft. Gravitationskraft heißt auf
deußch Schwerkraft, d. i. die Kraft, welche die Körper auf der Erde
schwer oder leicht erscheinen läßt Wir werden sogleich sehen, daß
in der Tat die Schwerkraft ein spezieller Fall der allgemeinen Körper-
anziehung sein muß, wenn unsere Vermutung, dafs eine solche existiert,
sich als richtig erweisen soll. Die Erde muß doch 1 Kilostüok ebenso
gewiß anziehen wie 1 Kilostück ein anderes, da die Erde aus dem-
selben Material besteht wie die anderen Körper. Nun die tägliche
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7
Erfahrung zeigt uns, dafs Körper zur Erde fallen. Der Teller, der
unserer Hand entgleitet und auf dem Boden wegen der Geschwindig-
keit, die er beim Fallen erfährt, zerbricht, zeigt dies so gut, wie der
Regen, der zur Erde niederfällt. Auch das genauere Studium zeigt das-
selbe. Wir wollen uns einmal genau ansehen, wie ein Körper frei fällt,
Ich habe hier (Fig. 4) eine —
berufste Glasplatte DD, welche
durch einen dünnen Faden R auf-
gehängt ist Wenn ich den Faden
abbrenne, so fällt die Platte. Um
zu sehen, wie sie fällt, lasse ich
eine Stimmgabel, die mit der Holz-
klammer K angeregt wurde, da-
mit ihre Zinken in vibrierende
Bewegung geraten, auf der Platte
Aufzeichnungen machen. An der
einen Zinke ist nämlich ein dün-
ner Stahlstift befestigt, welcher
auf der berufsten Platte gerade
aufliegt und in den Rufs eine
Kurve einritzt
Die Aufzeichnung läfst uns
erkennen, ob die Bewegung der
Platte gloichrnäfsig geschah oder
nicht wenn die Stimmgabel immer
die gleiche Zeit zu einer Schwin-
gung braucht, was tatsächlich der
Fall ist Bis die Stimmgabelzinke
wieder in die alte Lage kommt,
iBt die Platte jeweils ein Stück
weit gefallen, und so können wir
an der eingeritzten Kurve direkt Pig, 4,
ablesen, welche Wege die Platte
in gleichen Zeitintervallen (Schwingungsdauer der Gabel) zurück-
gelegt hat.
4. Fall-Versuch. Ich setze die Stimmgabel in Schwingungen
indem ich die Klemme K abziehe und brenne den Faden ab. Die
P
ns
Platte fällt und zeichnet die Kurve der Fig. 5 (Kurve mit 0 gr. be-
zeichnet) auf. Legt man einen Mafsstab über die Kurve und mifst
den Abstand ihrer Windungen aus, so kann mau berechnen, wde die
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8
Bewegung zugenommen hat. Bestäubt man die Platte mit Hilfe eines
Spray - Apparates, wie er beim Inhalieren verwandt wird, mit einer
Schellaok-Alkohol-Lösung, so kann ohne Gefahr eine Millimeterskala
(Fig. 6) Uber dieselbe gelegt werden. Man erkennt deutlioh, wie die
Strecken, um welohe die Platte während eines Hin- und Herganges
der Stimmgabelzinke gefallen ist, immer grörser wurden, je länger der
Fall gedauert hat.
Nimmt man als Zeitintervall je 3 Vollschwingungen (Dauer einer
solchen *= j!(, sec) an und mifst, welche Strecken die Platte in den
ersten 3, 6, 9 usw. Perioden gefallen ist, so ergibt sich die folgende
Tabelle aus der Fallkurve:
Tabelle.
Volle Schwingungsdauer der Stimmgabel Tssg^gSec; Längen in mm.
1X3*
2X3*
3X3 1
4X3*
5X3*
6X3*
7X3*
8X3*
9X3*
10X3*
UX3*
12X3*
13X3*
14X3*
15X3*
16X3*
S
3
m
u
3
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I* II
r~ s,-
2.0
3.3
u0
5.3
9.8
4.5
1.50
6.0
2.0o
15.8
7.2
2.4.
23.0
31.7
8.7
2.90
41.6
9.9
3.3,
11.4
3.8„
53.0
65.8
12.8
4.2,
14.2
4.7,
80.0
95.4
15.4
5.1,
112.3
16.9
5.63
130.6
18.3
6.10
150.2
19.6
6.53
20.8
6.93
171.0
22.0
7.33
193.0
-1 i
■3^2«
Ä *2 c* g
8 -S
xx a m
o r w
* s Ä
> XX g
3 « -
N c>
1.10X256
1.50X256
etc.
etc.
0.40
0.50
0.40
0.50
0.40
0.50
0.47
0.46
0.36
0.50
0.47
0.43
0.40
0.40
Mittelwert: 0.44,
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9
Der Zuwachs der
durohsohnittliohen
Geschwindigkeit
t>n pro 3 t Sekunden, aus-
gedruckt in wäre
demnach 0.44 2 X 256;
und der Zuwachs pro
1 Sekunde wird:
0.44.X256 0.44,X25fi'
3t ~ 3
= 0.147 X 256»
= 96.5X100“” oder
Wir sagen in einem
solchen Falle, der Kör-
per habe eine gleich-
förmig beschleu-
nigte Bewegung aus-
geführt, im Gegensatz
zu der gleichförmigen
Bewegung, die dann
vorhanden ist, wenn die
Geschwindigkeit mit der
Zeit sioh nicht ändert,
d. h. wenn der Körper
zu allen Zeiten dieselbe
Geschwindigkeit wie zu
Anfang beibehält.
Die angeführte Zahl
für die Beschleunigung,
d. i. den „Geschwindig-
keitszuwaohs pro Se-
kunde“,ist etwas kleiner,
als sie Bich ergibt, wenn
man die Versuche oft
wiederholt und die Rei-
bung der Schreibspitze,
sowie den Luftwider-
i n in
*) Hier sind S Kurven dargestellt, welche sich
ergeben, wenn die Platte bezw. mit 0 g r., 50 gr,
100 gr. überschüssiger Belastung versehen ist.
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stand, welchen die fallende Platte erfährt, tunlichst vermindert. Die
besten, zum Teil naoh anderen Methoden, namentlich aus Peudelbe-
wegungen gefundenen Werte der Schwerebeschleunigung liefern das
Mittel:
i^Og cm für einen unter 45° geographischer Breite liegen-
k sec3 den Ort.
Es wird also die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers
nach jeder Sekunde um rund 981 — m wachsen, d. h. nach der ersten
sec
Sekunde hat er die Geschwindigkeit 981 cm per Sekunde, am
Schlüsse der zweiten Sekunde 2X981 cm usw.
g heifst allgemein die Beschleunigung des freien Falles
auf der Erde (auch kurz Fallbeschleunigung). Dieser Zahlenwert
bleibt erfahrungsgemäfs derselbe, welche Körper man auch frei
fallen läfst, einerlei aus welchem Stoffe sie bestehen und welche Gröfse,
Gestalt, Temperatur oder Aggregatzustand sie haben — solange man
nur den Fall frei vor sich gehen läfst, d. h. störende Nebenumstände,
wie Reibungen oder Luftwiderstand ausschliefst, und keine anderen
als rein senkreohte Bewegungen für alle Teilohen des Körpers ein-
treten. Diese Unabhängigkeit des freien Falls vom Material und der
Gestalt des Körpers ist aus Fig. 5 ersichtlich; sie gibt drei auf der-
selben Platte nacheinander aufgenommene Kurven getreu wieder, die
dadurch erhalten wurden, dafs man einmal die Platte allein, dann die
mit 50 g Bleidraht und schliefslich mit 100 g Messing belastete Platte
in der geschilderten Weiso fallen liefs.
Es bestätigen somit alle Versuche, dafs allo Körper, wie auch wir
selbst, durch eine Anziehungskraft zur Erde hingezogen werden.
5. Hier haben wir den Fall einer Platte verfolgt. Wio verhält
es sich aber mit der Erde? Sollte diese nicht auch in Frage zu ziehen
sein, nachdem wir annehmen müssen, dafs die Anziehung zwischen
Erde und Platte spielt? Freilich dürfen wir die Erde nicht aufser
Betracht lassen ! Aber hier liegt eine grofse Ungleichheit vor, was
die Masse anbelangt. Die Platte ist nur ein kleines Ding gegenüber
der Riesin Erde. Wir wollen hier (Fig. 7) eine Zinkwalze A durch
eine Spiralfeder mit einer leichten Rolle B verbinden; die Spiralfeder
soll die gegenseitige Anziehung versinnlichen. Ich entferne A und B
voneinander, wodurch ich gleichzeitig die Feder spanne, und lasse
plötzlich A und B im selben Augenblicke frei. Die Zinkwalze geht
dann nur wenig vom Platze, während die kleine Rolle einen grofsen
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Weg mit rasoh zunehmender Geschwindigkeit zurücklegt. Also: der
massigere, gröfsere Körper wird durch dieselbe Einwirkung langsamer
in Bewegung gesetzt als der kleinere, leichtere. Genau so verhält es
sich mit der Erde; wo immer zwei Körper miteinander in Wechsel-
wirkung treten, müssen beide eine Veränderung erfahren.
Nehmen wir z. B. einen kleinen Elektromotor (Fig. 8). Es be-
wegt sich in ihm ein drehbarer Teil A, der sogenannte Anker, gegen
einen feststehenden Teil, den Magneten M, wenn man dem Elektro-
motor einen elektrischen Strom zufuhrt. Diese beiden Teile wirken
wechselseitig aufeinander. Um dies zu zeigen, hänge ich den Motor
so auf, dafs beide Teile freies Spiel haben
und nioht der eine, der Magnet, durch den
Tisch in seiner Bewegung gehindert wird.
Man sieht dann, dafs der eine Teil in einem
Sinne rotiert, der andere im entgegengesetzten
Sinne.
Oder wir nehmen eine elektrische Eisen-
bahn (Fig. 9), die auf einem beweglichen
Gleise fahren kann, indem das kreisförmige
Gleise etwa auf die Achse eines Velociped-
pcdals aufgeschraubt ist, dessen Kähmen auf
einem Zeichenbrett bei P festgeklemmt ist.
Der Eisenbahnwagen kann nur dadurch vor-
wärts kommen, dafs seine Räder gegen die
Sohienen drücken und dafs zwischen Rädern
und Schienen Reibung besteht. Es wird also
zwischen Schienen und Wagenrädern
ein Druck auftreten: dieser treibt die Schienen nach rückwärts, den
Wagen nach vorwärts, und deswegen bewegt sich sowohl die Schiene
als auch der Wagen, wenn man die Schienen nicht fest mit der Erde
verbunden hat.
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Ich habe hier zwei Beispiele vorgeführt, welche ein zweites,
ganz allgemeines, durch die Erfahrung gegebenes mechanisches Prinzip
vor Augen führen sollen: das Prinzip der Oleiohheit von Aktion
und Reaktion oder von Wirkung und Gegenwirkung. Wir
können es so aussprechen: Wenn zwei Körper aufeinander
eine Wirkung ausüben, so äufsert sich diese an jedem von
ihnen, und zwar ist die Wirkung auf den einen Körper
entgegengesetzt gerichtet, wie die auf den andern. Die
Gröfse der Wirkung auf den einen Körper ist gleich der
Gegenwirkung auf den andern.
Wiederholen wir noch oinmal den Versuch mit den beiden durch
eine Spiralfeder verbundenen Walzen (Fig. 7). Wenn wir die Wechsel-
wirkung durch die Spiralfeder uns anschaulich machen, welche die
zwei Walzen verbindet, so ist ja klar, dafs die Spiralfeder beide Körper
gleich stark ziehen wird, nur nach entgegengesetzten Richtungen.
Hierin ist das Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung
ausgesprochen.
6. Der Massenbegriff. W'arum bewegen sich aber dann
die beiden Walzen, wenn die eine grofs und die andere klein
ist, verschieden? Das ist eine Frage, die sich sofort aufdrängen
raufs, und dio in der Tat eine wichtige Rolle in der Mechanik spielt.
Wir können Bie nicht so einfach beantworten. Wären dio beiden
Körper auB gleichem Material, so würde es uns ja nicht wundern,
wenn der gröfsere Körper sich langsamer bewegt als der kleinere;
denn im Leben sehen wir täglich, dafs gröfsere Körper träger sind
als kleinere. Aber das Merkwürdige ist, dafs manchmal auch Körper
aus verschiedenem Stoff, von verschiedener Form, Gröfse oder Tempe-
ratur durch ein und dieselbe Bowegungsursaohe in die gleiche Be-
wegung versetzt werden.
Massenversuoh: Ich habe hier (Fig. 7) eine Walze aus Holz A,
eine aus Blei B und eine aus Messing C; die Formen sind recht
verschieden und auch das Material. Ich will die Feder zwisohen
zweien von ihnen anspanneu und dann froilaasen. Es treffen sich dann
die Körper genau in der Mitte, wenn ich sie gleichzeitig freigebe.
Man würde in der Tat bei genauerem Zusehen finden, dafs die Körper
die gleiche Bewegung machen, namentlich wenn wir die Drehung
der Walzen ganz verhindern könnten. Was ist nun das, was die
Körper veranlagt, sich so gleich zu verhalten in bezug auf das „In-
bewegunggesetztwerden“. Die Farbe ist es nicht, der Stoff ist es
auch nicht Wir finden überhaupt äufserlich nichts, was die beiden
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Walzen gleich haben; wir müssen uns daher damit begnügen, zu
konstatieren, dato eine
Eigenschaft ihnen ge-
mein ist, und wollen, so
lange wir einen inneren
Grund nicht finden können,
wenigstens einen Kamen
einfuhrenl Wirwollen sagen,
die Körper haben gleiohe
Masse oder sie haben
dieselbe Trägheit Die
grorse Zinkwalze und die
kleine Bleiwalze, werden
wir dann folgerichtig sagen,
haben verschiedene Massen
oder verschiedene Trägheit,
wenn wir etwa sehen, dafssie
durch dieselbe Bewegungs-
ursache in verschiedene Be-
wegung gesetzt werden. Wir
wollen aber noch genauere
Angaben machen, um zahlen-
mäfsige Unterscheidungen
treffen zu können. Wir wollen
jedem Körper eine be-
stimmte Zahl zuweisen,
durch die wir angebon, wie
träge er ist, d. h. wie leioht
er in Bewegung gesetzt
werden kann. Und diese
Zahl wollen wir Masson-
zahl oder kurzweg Masse
nennen. Am besten geschieht
dies so, wie die Entwicke-
lung der Mechanik gezeigt
hat, dafs man jeden Körper,
dessen Mas6enzahl bestimmt
werden soll, einer und der-
selben äufseren Einwirkung unterwirft, und diese Einwirkung gleich
stark sein läfst, also etwa eine gespannte Feder nimmt. Es wird
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Kig. ü.
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dann dor Körper wie die freifallende Platte in Bewegung kommen, und
seine Geschwindigkeit wird im selben Mafse wachsen wie die Zeit,
während der er sich bewegt hat Er wird eine gleiohförmig be-
schleunigte Bewegung ausfiihren. Wir nehmen irgend einen Körper,
z. B. 1 com Wasser von 4° Celsius, das wir etwa erst zu Eis gefrieren
lassen, damit wir mit ihm leiohter Versuche anstellen können. Mit
diesem Körper, den wir 1 Gramm nennen, wollen wir alle Körper
vergleichen und wollen sagen: die Masse dieses Körpers wollen wir
die Masse 1 nennen. Derselbe erfahre durch eine bestimmte Ein-
wirkung, etwa eine immer gleich stark gespannt erhaltene Spiralfeder,
einen immer gleich starken Antrieb, oder, wie wir gleich sagen wollen,
eine gleich starke Kraft. Wir sehen nun zu, welchen Geschwindig-
keitszuwachs er in der Sekunde erfährt; beispielsweise betrage der-
selbe 10 Meter in der Sekunde. Nehmen wir dann einen anderen
Körper, dessen Massenzahl wir bestimmen wollen, lassen auf diesen
dieselbe Feder, d. h. dieselbe Kraft, wirken und beobachten, welche
Beschleunigung dieser jetzt erfährt. Ist seine Beschleunigung nur etwa
•/2 mal so grofs wie die des Stückes Eis, so sagen wir — definieren
also! — seine Masse sei zweimal so grofs als die des EisstückeR, oder
kurz seine Masse sei diejenige von 2 Gramm, da wir die Masse des
ccm Wasser 1 Gramm nannten. Ist die Beschleunigung nur ein Drittel,
so sagt man, seine Masse sei diejenige von 3 Gramm. Allgemein sagt
man mit dem Mathematiker: die Massenzahl m' eines Körpers
soll gegeben sein durch das umgekehrte Verhältnis der
Beschleunigung b' des Körpers und derjenigen b der Ein-
heitsmasse, also
m'/l = b/b', so dafs m' = — in Gramm zahlenmäfsig ausgedrückt ist.
b'
7. Für die Grölse der Kraft wird man dann am einfachsten
den Wert angeben, den wir erhalten, wonn wir die Beschleunigung
mit der Massenzahl multiplizieren, also
m' X b' = 1 • b
würden wir als Kraft definieren, die in dem betreffenden Falle
gewirkt hat. Da wir gewohnt sind, uns Kräfte durch gespannte
Spiralfedern zu versinnliohen, so werden wir nach dieser Doflnitions-
einführung sofort fragen, ob denn dann auch zwei fast gleiche und gleich
gespannte Spiralfedern an derselben Masse m' die doppelte Be-
schleunigung bervorbringen wie eine allein? Dies ist tatsächlich der
Fall, und darum ist die genannte Definition der Kraft ein zweck-
mäfsiger Begriff, weil er einerseits aus den Bewegungsvorgängen
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nahe gelegt ist und andererseits nicht im Widerspruch steht mit unserer,
duroh statische Vorgänge hervorgerufenen Vorstellung von Kräften.
8. Sie werden fragen, wozu denn diese Klügelei, wozu diese
Namen und Einführungen? Der Grund ist der: hat inan diese Begriffe
eingeführt, die eigentlich nichts weiter sind als recht klare und be-
stimmte Bezeichnungen dessen, was wir beobachten können, so
gelingt es uns in der Tat, alle rein mechanischen Bewegungen, auch
kompliziertere, uns zurechtzulegen und — das ist die Hauptsache
— zu berechnen. Die Berechnung der Bewegung der Himmels-
Fig. 10. Die Rinne E F kann in A U an (las Reirsbrctt angeheftel werden,
damit man die Horizonlalliewegung isoliert verfolgen kann.
körper und zahlloser Mechanismen, welche Menschenkunst erdacht
hat, läfst sich mit den angeführten Erfahrungssätzen, dem Beharrungs-
gesetz, dem Gesetz von Wirkung und Gegenwirkung und dem Be-
griffe der Masse und Kraft, wie wir sie eingeführt haben, bewerk-
stelligen. Manches Spielzeug erklärt sich durch sie in einfacher
Weise, z. B. die neuen Pariser Spielzeuge, welche das Gehen von
Menschen nachahmen. Dahin gehört jene gehende Figur, bei welcher
mittelst eineB Federuhrwerkes pendelnde Verdrehungen der Füfse (aus
Blei) gegen den Oberkörper bewirkt werden und infolge der Trägheit
in den Momenten der Bewegungsumkehrungen ein Vorwärtsgleiten
der Füfse auf einem glatten Tische eintritt.
9. Ein Gesetz habe ich noch anzuführen, nämlich den Erfahrungs-
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satz, welcher uns sagt, wie sich ein Körper bewegt, der gleichzeitig
verschiedene Bewegungen ausführen soll. Ich habe hier (Fig. 10) ein
beruhtes Reifsbrett und kann eine Kugel K fallen lassen, die erst ein
Stück weit in einer Rinne CK geführt wird. Wegen der Soll werkraft
wird die Kugel da, wo sie die Bahn verläfst, nach abwärts fallen, etwa
um die Höhe, die H über G liegt; wegen der Bewegung auf der Rinne
wird sie im Punkte K eine horizontale Geschwindigkeit haben und nach
dem Trägheitsgesetze sich horizontal mit dieser Geschwindigkeit noch
weiter bewegen. Die Erfahrung zeigt, dafs die Kugel beide Aufgaben zu
erfüllen sucht; sie fällt nämlich um den vertikalen Abstand des Punktes
II von G und kommt vorwärts um die horizontale Entfernung des
Punktes G von H. Natürlich mufs sie dann nach G kommen; mathe-
matisch gesprochen heifst das: sie befindet sioh im vierten Eck-
punkt des Parallelogramms, welches aus den Wegen, die die
Kugel unter Einflufs der einzelnen Wirkungen zu machen hätte, kon-
struiert werden kann. Ebenso wie die Wege sich durch die Parallelo-
grammkonstruktion linden lassen, kann man auch die Beschleunigung,
welche aus zwei verschiedenen Einzelbeschleunigungen resultiert, sowie
auch die resultierende Kraft aus einem solchen Parallelogramm zeich-
nerisch und rechnerisch linden, da ja die Beschleunigungen und Kräfte
aus den Wegen bestimmt sind.
10. Haben wir mechanische Vorgänge blofs unter Benutzung der
Begriffe von Masse und Kraft und der Erfahrungssätze des Beharrungs-
vermögens, der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung und des
Parallelogramms der W ego oder Kräfte uns verständlich gemacht und
zahlenuiäfsig richtig bestimmt, so gebraucht der Physiker dafür den
Ausdruck, der Vorgang sei meohanisch erklärt. Erklären heifst
also für den Naturforscher nichts weiter als Zurückführen kompli-
zierterer auf einfachere Vorgänge und Begriffe. Ob die angeführten
Begriffe die einfachsten sind, wissen wir nicht. Man hat vermutet,
dafs Körper aus verschiedenen Stoffen deswegen gleiche Trägheit, d. h.
gleiche Masse besitzen, weil alle Stoffe, auch die scheinbar verschieden-
artigsten, aus einem und demselben Urstoff zusammengesetzt seien.
Es würden danach auch die Atome der verschiedenen Körper sich aus
einem und demselben Urstoff aufbauen; es würden die Urstoffleilchen
oder „Corpuskeln“, wie sie der englische Physiker J. J. Thomson
nennt, nur verschieden gruppiert zu sein brauchen, um nach
aufsenhin und chemisch verschiedenartig zu wirken. Aber diese An-
schauung ist nooh nicht genügend sicher gestellt und noch nicht ge-
nügend zahlenmäfsig prüfbar gewesen. So lange dies aber nicht
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geschehen kann, ist dieselbe von nicht allzu grofsem Werte. Sie ist
nicht mehr als eine Ansicht oder =
O M
Hypothese, aber noch keine ge- — —
stutzte Erklärung. , J?Co
Die Naturvorgänge über- - - ~p
hau pt mechanisch erklären, V _
würde heifsen, alles, was wir iT _
wahrnehmen, durch roechani- V _
sehe Vorgänge verständlich _ ft!
machen oder auf die ange- ‘ y
führten mechanischen Grund- !
begriffe zurückführen. y
11. Den Druck, den ein Gas, , 'l'
das etwa in einen Ballon einge- ■ — O —
schlossen ist, ausübt, kann man — — y “ “
sich z. B. rein mechanisch erklären, ^ ~
indem man annimmt, dafs das Gas i — rh —
aus einzelnen kleinsten Teilchen, - 0 —
"t —
sogen. Molekülen, besteht und diese - ~ —
mit grofser Geschwindigkeit bis - o —
zu 1000 und mehr Metern in der 1 ■ V _
Sekunde in dem Räume herum- 7 - Fi —
fliegen, in dem sie eingesperrt sind. 1 ~~ 1 1 _
Der Druck, den sie auf die Ge- -j ■- — ~ V _
fäfswand ausüben, würde einfach ^ 1L
^ — 335 —
dem Druck entsprechen, den etwa 1 1 1
eine bewegte Flintenkugel auf eino - - yi
Wand ausübt, auf die sie slofst. — V
Die Übertragung des Lichtes fr***"~ • ■ ri
von der Sonne zu uns und zu un- jH~ yi
serem Auge hat man sich so zu- F- •• V
recht gelegt, als wäre zwischen h — rn ~
der Sonne und der Erde ein sehr ~~ - — ij —
feiner, leicht beweglicher Stoff, der ilpy-m — 5 -
sogenannte Weltäther, vorhanden, x ~~Tr~~~S —
Auf der Sonne denkt man sich = -■ — — —Qi —
Teilchen in lebhafter W
der Bewegung, wie sie ein Pendel ®
ausführt, und diese schwingende Bewegung denkt man sich durch den
Äther hindurch wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche oder die
Himmel und Erd« 19TO XVI t. 2
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Fig. II. BC ist ein von Sinti von getragenen Mannesmannrohr und trügt an Bindfäden ßleizylinder, die achaial durch-
bohr und von einer Uumtni»« hinir UG durchzogen Bind. Wird am einen Ende A eine Bewegung mit der Hand eiu-
geleitet, so pflanzt sieh dieselbe als , Well enboweguug“ durch die OumTiiischnur fort.
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Wellen in dem Modell der zu unserem Auge übertragen (Fig. 11). —
Diese mechanische Erklärung der Fortpflanzung des Liohtes ist bis
in die neueste Zeit hinein mafsgebend gewesen und sehr genau mathe-
matisch in ihren Einzelheiten verfolgt worden. In ähnlicher Weise,
denkt man sich, werden die Störungen, welche das elektrische
Funkenspiel in demselben Medium Weltäther hervorruft, an entferntere
Punkte weitergetragen. Die drahtlose Telegraphie macht Gebrauch
von der Fortpflanzung dieser Störungen, und vielleicht wird man durch
die Versuche mit drahtloser Telegraphie noch genauere Einzelheiten
über die Art der Ausbreitung solcher elektrischer Störungen, die von
unserem Landsmanne, dem leider so früh verstorbenen Heinrich
Hertz, zum ersten Mal im Jahre 1883 untersucht wurden, erfahren.
Über das, was in einer Flamme vor sioh geht, hat schon der
griechische Dichter Lucrez eine Ansicht ausgesprochen und gedacht
es seien in der Flamme kleine Teilchen in lebhafter Bewegung, und
die Flamme sei um so heifser, je lebhafter die Bewegung dieser kleinsten
Teilchen sei. Es hat damit Lucrez bereits über die Flamme etwas
ähnliches gedacht wie wir oben unter einem Gase, in dem wir auch
rasch bewegte Moleküle annahmen, die den Druck des Gases her-
vorbringen sollten. Auch einen festen und flüssigen Körper kann
man sich aus kleinsten Teilohen, sogen. Molekülen, bestehend denken,
die nicht in voller Kühe sind, sondern um bestimmte Lagen hin und
herpendeln und herumrotieren. Führt man einem Körper Wärme zu,
so würde das nichts anderes bedeuten, als dafs man diese Bewegung
lebhafter mache. Das, was wir als Wärme empfinden, wäre hiernach
nichts weiter alB eine lebhafte Bewegung der kleinsten, wenn auch
selbst mit dem stärksten Mikroskope nicht mehr wahrnehmbaren
Teilchen, der sogen. Moleküle des Körpers, durch welche auch die
Wellenbewegung im Weltäther veranlafst wird.
Recht verständlich werden uns dadurch folgende Vorgänge:
Erhitzt man einen festen Körper Btärker und immer stärker, so wissen
wir, dafs er schmilzt. Jeder Körper, selbst Stein, kann geschmolzen
werden, wenn man Temperatur und Druck passend wählt. Caloium-
carbid entsteht ja so, dafs Kohle und Kalk im elektrischen Lichtbogen
bis zum Schmelzen erhitzt werden; das Sohmelzen tritt dann ein,
wenn die kleinsten Teilohen des Körpers viel lebhafter und freier
gew orden sind, als es im festen Zustande der Fall ist Bei noch weiterem
Erhitzen tritt Verdampfung ein, die wir beim siedenden Wasser ja so
deutlich beobachten können. In unserem mechanischen Bilde
über die Konstitution der Materie ist dies so zu erklären, dafs in
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einer stark erhitzten Flüssigkeit die kleinsten Teilchen zum Teil so
enorme Geschwindigkeit annehmen können, dafs einzelne von ihnen
aus der Flüssigkeit herausschiefsen und in den darüber befindlichen
Kaum als Dampf fortfiiegen. Dafs der Schall durch mechanische
Veränderungen der Luft oder durch das zwischen Schallquelle und
unserem Ohre befindliche Zwischenmedium fortgepflanzt wird, ist eine
uns heutzutage recht gut bekannte Tatsache. Es geschieht diese Fort-
pflanzung einfach in der Weise, dafs bei der Bewegung der Stimin-
gabelzinken oder der Luft in einer tönenden Pfeife in deren Umgebung
kleine Drucksohwankungen der Luft hervorgerufen werden, die sich
einfach in derselben weiter fortverbreiten, bis sie an das Trommel-
fell des Ohres gelangen und dort die Schallempfindung in uns auslösen.
12. Aber wir kennen auch physikalische Erscheinungen, die wir
noch nioht, ohne in Widersprüche zu geraten, auf rein mechanische
Vorgänge zurückführen können, d h. unter dem Bilde mechanischer
Vorgänge uns deuten können. Als Beispiel will ich eine Wirkung
des elektrischen Stromes anführen. Zwar eine Eigenschaft des elek-
trischen Stromes, nämlich aus einer Salzlösung ein Metall abzuscheiden,
wie das in der Galvanoplastik geschieht, wäre noch mechanisch ver-
ständlich. Wir können einen solchen Metallüberzug herstellen, indem
wir in Kupfervitriollösung 2 Platten eintauchen, eine Kupferplatte und
eine Platinplatte. Wenn der elektrische Strom durch die Kupferplatte
in die Vitriollösung eingeleitet und durch das Platinblech heraus-
geleitet wird, so schlägt sich an der Platinplatte Kupfer nieder. Gleich-
zeitig wird von der Kupferplatte Kupfer aufgelöst, und es sieht so
aus, als ob die Elektrizität durch die Flüssigkeit transportiert würde,
indem sie mit den Kupferteilchen wandert, welche an dem Kupfer-
blech abgelöst und an dem Ptatinbleoh ausgeschieden werden. In der
Tat ist dieses Bild durchaus zulässig, und wir hätten damit eine mecha-
nische Erklärung der Elektrolyse. Allein eine andere wichtige Wirkung
des elektrischen Stromes können wir uns nicht mehr mechanisch einfach
zurechtlegen, nämlich die Ablenkung einer Magnetnadel, welche sich
in der Nähe des den elektrischen Strom führenden Drahtes befindet.
Diese Erscheinung und noch gar manche andere kann man sich
noch nicht auf einfache Weise mechanisch erklären. Könnte man auch
diese und die anderen Erscheinungen, die ich nicht alle anführen
will, auf rein mechanische Wirkungen zurüokführen, so wären dio
Vorgänge, welche der Physiker studiert und welche an der leblosen
Materie sich abspielen, mechanisch erklärt. Die Erklärungen könnten
im Laufe der Zeit noch verbessert werden, wenn die mechanischen
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Grundbegriffe und Grundgesetze, welche wir heute kennen gelernt
haben, auf noch einfachere zurückgeführt werden könnten, d. h. wenn
wir sie selbst wieder aus anderen, einfacheren Erscheinungen als der
des Beharrungsvermögens, der Wirkung und Gegenwirkung usw.
ableiten könnten. Es scheint dies aber wenig wahrscheinlich. Ja,
es zweifeln heute wohl viele Physiker selbst daran, dato es überhaupt
einmal möglich sein wird, alle Erscheinungen der unbelobten Natur
auf mechanische Weise zu erklären.
Wie viel weniger wahrscheinlich aber mufs es dann sein,
dafs wir die Vorgänge des Lebens, die Gesetze der Entwiokelung der
Pflanzen und Tiere, die Betätigungen der Seele und unsere Empfin-
dungen je mechanisch erklären können. Glaube und Liebe, Hafs,
Freude und Trauer, Mitleid und Furcht, Entstehen und Verlöschen
des Lebens können wir uns noch nicht durch einfache mechanische
Vorgänge deuten. Fast möchte ich sagen, glücklicherweise. Denn
so ist der Mensch, der Leib und Seele hat, eben doch noch mehr
als ein Mechanismus, noch mehr als eine Maschine. Zwar viele Lebens-
betätigungen, wie z. B. das Gehen, erfolgen mit derselben Regel-
mäfsigkeit wie die Bewegungen einer Maschine und gehorchen den-
selben mechanischen Gesetzen wie die Maschinen aus Stahl und Eisen,
und mit derselben Ausnahmslosigkeit, Aber die Äufserungen und
Empfindungen des Göttlichen im Menschen, der Psyche, bleiben frei
von den Gesetzen, die das Staubgeborne verfolgen mufs, dem keine
freie Seele iniiowohnt. Sollen wir das bedauern? Würden uns die
herrlichen Werke unseres Schiller und Goethe, die launischen
fröhlichen und traurigen Weisen eines Heine mehr ergreifen, wenn
wir einen Mechanismus uns denken könnten, der sie entstehen liefs?
Würden die Äufserungen und Empfindungen unserer Seele, die An-
lage und Schicksale zur Auslösung bringen, eine höhere Weihe tragen,
wenn wir sie mechanisch analysieren könnten? Könnten die Klage
der Elsa, die Arie Sarastros, die aus der gemütvollen Seele Webers
dringenden Akkorde im Freischütz mächtiger auf unsere Sinne wirken
und die Gottesgabe Musik, welche die schönste und innerlichste, über-
all auf der Welt unmittelbar verständliche Seelensprache ist, uns tiefer
rühren und mehr erfreuen, wenn wir blofs Würsten, dafa die mecha-
nische Bewegung der Stimmbänder rein mechanisch durch die Luft
zu unserem Ohre fortgepfianzt wird? Sondern wenn wir auch einen
Mechanismus uns denken könnten, nach dem diese mechanischen Ein-
drücke die Regungen unseres Herzens und Gemütes auslösen? Ich
denke: nein!
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13. Und darum wollen wir nieht trauern, wenn die Versuche,
die psychischen Vorgänge mechanisch zu erklären, bisher alle ge-
scheitert sind. Um so frischer und rastloser aber wollen wir daran
arbeiten, zunächst die physikalischen Naturvorgänge dadurch ge-
nauer kennen zu lernen, dafs wir uns, so weit wie möglich, mecha-
nische Erklärungen und Vorstellungen zu bilden versuchen. Im
Kampfe mit der Materie ist die mechanische Denkweise ein starker
Helfershelfer, wenn sie auch auf geistigem Gebiete hilflos ist wie
ein Kind. Die grofsen Fortschritte der Technik ruhen auf dem
Fundament der Mechanik, und wichtige Ideen und Forschungen sind
aus dem Bedürfnis des Menschen hervorgegangen, sich die Vorgänge
in der Natur, so weit wie möglich, mechanisch zu erklären.
Unverzagt wollen wir daran glauben, dafs auch in Zukunft der
Menschheit durch unausgesetzte Versuche, unbekannte Erscheinungen
durch die uns vertrautesten Vorgänge, nämlich die der Mechanik, zu
erklären, mancher schöne Erfolg erkämpft werden kann, wenn auch
unseres Altmeisters Goethe Wort ewig wahr bleiben wird: dafs „alles
Vergängliche nur ein Gleichnis“ ist!
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friiOiflixiPWinN PTf^üTrJ &T^triQti»gO*i3Lin3i<inJC]|^tr,rikiN^r^^><*tni>i Iflfii^ßl
Die künstliche Darstellung organischer Naturprodukte.
Von Dr. Martin Heidricb in Berlin.
ohin wir in der Natur auch blicken mögen, überall beobachten
>i y-y' wir das Prinzip der Sparsamkeit. Betrachtest du z. B.
67 die Blüte eines Hahnenfuhes, die mit ihrem prächtigen, gold-
gelben Glanze der Wiese den ersten Frühlingsschtmick verleiht, ge-
nauer, so wirst du bemerken, dafs all diese Pracht nur der Oberseite
der Kronenblätter zukommt, während die Unterseite, die ja nicht ge-
sehen wird, bei weitem unscheinbarer gefärbt ist. Ähnliche Beobach-
tungen kannst du an jedem Organismus anstellen. Kaum aber dürfte
es für die weise und sparsame Verteilung der gesamten Energie in
dem Reiche der Natur einen besseren Beweis geben als den, dafs der
Chemiker trotz der gröfsten Bemühungen, Naturprodukte künst-
lich herzustellen, blofs in sehr wenigen Fallen das ebenso hohe,
wie erstrebenswerte Ziel erreicht hat. Nur unter Anwendung grofser
Energiemengen gelingt es ihm, das zu leisten, was die Natur allem
Anscheine nach mit so leichten Mitteln, gleichsam spielend, hervor-
zubringen vermag. Wie erklärt sich dieses sohneekengleiche Vorwärts-
kommen in einer Zeit, wo in den Naturwissenschaften jede Einzel-
diszipliu mit Stolz sich rühmen kann, es „so herrlich weit gebracht“
zu haben? Wie Zoologie und Botanik Tausende von verschiedenen
Spezies der Erforschung darbieten, so umfafst das Reich der orga-
nischen Chemie eine schier erdrückende Fülle von Verbindungen, die
teils in der Natur selbst Vorkommen, teils in den Laboratorien durch
die Kunst des Chemikers entstehen. Während aber der Zoologe und
Botaniker seine Pflegekinder meist nach rein äufseren Charakteren
ins System einordnen kann, hat der Chemiker eine weit schwierigere
Aufgabe zu bewältigen. Er muh seiner „Spezies“ mit einer Unzahl
von Reagentien auf den Leib rücken, muh sie in ihre Bestandteile zu
zerlegen oder „abzubauen“ suchen und mit bereits bekannten Ver-
bindungen zu identifizieren trachten. Zwar erfährt der Organiker
durch seine gut durchgeführte Analyse die Mengenverhältnisse
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von Kohlenstoff, Wasserstoff. Sauerstoff unil Stickstoff, welche die zu
untersuchende Substanz enthält, nie aber kann er dadurch allein eine
Reinigung eines etwa vorhandenen Gemisches bewirken, nie von
einem völlig unbekannten Körper eine einwandfreie Vorstellung über
die mannigfache „Struktur“, die gegenseitige I>agerung der einzelnen
Atome erhalten, die in verschiedenen Materien zwar in gleichen
Mengenverhältnissen vorhanden sein, trotzdem aber in völlig
heterogener Weise untereinander angeordnet sein können („isomere“
Körper).
Dagegen befindet sich der Chemiker in viel glücklicherer Lage
bei der Untersuchung anorganisoher Verbindungen, da er durch die
Elementaranalyse sehr wohl eine Trennung eines Gemisches erzielen
und die Frage nach dem Prozentgehalt der einzelnen Elemente, bei-
spielsweise eines Minerals, in systematischer Reihenfolge entscheiden
kann.
Mit dieser Tätigkeit des „Analysierens“ ist für den Anorganiker
die Hauptaufgabe in den meisten Fällen erledigt; für den Organiker
erhebt sich eine neue Schwierigkeit. Er hat nun die Aufgabe, aus
den einzelnen Bausteinen das niedergelegte Haus nachträglich wieder
aufzubauen, ein Problem, das um so dornenvoller ist, als die innere
Einrichtung des Gebäudes keineswegs immer mit wünschenswerter
Klarheit bekannt ist. Auf diesem Wege gelangt der Forscher von
einfachen Verbindungen zu komplizierteren: er führt eine „Syn-
these“ aus.
Schon von diesem Gesichtspunkte aus kann man es sehr wohl
verstehen, warum die organische Chemie viel jünger als die an-
organische ist. Überhaupt wurde die Chemie, wie die Geschichte der
exakten Wissenschaften uns lehrt, deshalb mit am spätesten als wahre
Wissenschaft behandelt, weil sie von ihren Jüngern ein besonders ent-
wickeltes Vorstellungsvermögen fordert, weil sie nicht nur, wie ihre
Schwesterwissenschaft, die Physik, nach der Erkenntnis der äufseren
Eigenschaften der Stoffe sowie ihrer Zustände (Gleichgewicht und Be-
wegung) strebt, sondern nach ihrem innersten Wesen selbst fragt.
Infolge dieser grofsen Anforderung an das menschliche An-
schauungsvermögen und au die praktische Erfahrung wollte es lange
Zeit nicht gelingen, aus den „Elementen“, jenen Grundstoffen, die bisher
auf keine Weise in weitere gleichartige Bestandteile zerlegt werden
konnten, Produkte, wie sie die Natur darbietet, synthetisch darzu-
stellen. Ja, man gab sich unter dem Einflufs der Naturphilosophie
der Meinung hin, die organischen Substanzen liefsen sich überhaupt
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nicht künstlich gewinnen, weil sie unter dem EinQufs einer geheimnis-
vollen Kraft, der „Lebenskraft“, gebildet würden. Lange Zeit hat
diese lähmende Hypothese, die freilich nur zu nahe lag, die Wissen-
schaft beherrscht, bis sie im Prinzip widerlegt wurde durch die künst-
liche Darstellung eines typischen Absoheidungsproduktes des Organis-
mus: des Harnstoffs.
Im Jahre 1828 stellte Wühler diesen Körper dar aus Cyansäure
und Ammoniak, die damals beide noch als anorganisch bezeicbnet
wurden. Freilich war damit der das Wesen der organischen Verbin-
dungen verhüllende Schleier noch nicht ganz gelüftet. So leicht war
die „Lebenskraft“ nicht totzuschlagen. Vielmehr hielt man noch eine
Zeit lang mit Berzelius an der Ansicht fest, dafs die organischen
Verbindungen durch den Einflufs jener rätselhaften Energiequelle ge-
bildet würden, auf welche die chemischen Kräfte nur eine zerstörende
Wirkung ausübten. Allein bald folgte eine Synthese der anderen.
Es gelang Kolbe (1843) die künstliche Darstellung der Essigsäure
aus den Elementen Schwefel, Kohlenstoff und Chlor; es wurden später
ferner synthetisiert die Harnsäure sowie ihre zahlreichen Verwandten,
das im Kaffee und Tee enthaltene Kaffein, das in den Kakaobohnen
wirksame Theobromin (EX Fischer) und andere Körper. Kurz, es
wurde immer aufs neue bewiesen: die chemischen Elemente in der an-
organischen, wie organischen Welt unterliegen denselben Gesetzen,
und organische Verbindungen sind weiter nichts als Verbindungen
des Kohlenstoffs, anorganische also die aller anderen Elemente.
So hatte diese für die theoretische Entwickelung der organischen
Chemie überaus denkwürdige Darstellung des Harnstoffs zugleich eine
Basis geschaffen, von der aus sich im Laufe der Zeit Aufschlüsse
von fundamentaler Bedeutung über das Wesen der organischen Ver-
bindungen gewinnen liefsen. Nach jener denkwürdigen, wissenschaft-
lichen Tat war es ja nur noch eine Frage der Zeit, andere Natur-
produkte zu synthetisieren. Es sei gestattet, auf die wichtigsten dieser
Synthesen etwas näher im folgenden einzugehen.
Im forensischen Leben spielen jene Produkte eine gewisse Rolle,
welche sich in den verwesenden tierischen Organismen bilden: die
sogenannten Ptomaine oder Leichengifte. Es liegt nämlich bei einer
chemischen Untersuchung eines bereits in Verwesung übergehenden
menschlichen Leichnams die Möglichkeit nicht allzufern, diese äufserst
unangenehm riechenden Leichengifte mit einigen starkgiftigen Pflanzen-
alkaloiden, z. B. dem Coniin, dem bekannten Gifte der Schierlings-
pflanze (Coniium maculatum), zu verwechseln. Häufig genug ist
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in der Tat die wissenschaftliche Untersuchung irregeleitet worden, als
man noch keine Kenntnis von der Existenz jener Ptomai'ne hatte.
Ladenburg war es Vorbehalten, dieselben aus verhältnismäfsig ein-
fachen Körpern zu synthetisieren. Derselbe Forscher zeigte auch den
Weg, z. B. das Cadaverin, einen Repräsentanten der genannten Pto-
raa'ine, in Piperidin überzufiihren, das Reduktionsprodukt des Pyridins,
das sich neben seinen Derivaten, dem Picolin und anderen, im Stein-
kohlenteer und Knochenöl vorfindet. Aus letzterem (Pieolin) stellte
ebenfalls Laden bürg das bereits erwähnte Coniin dar, das erste
Alkaloid, — so heifsen im allgemeinen die stickstoffhaltigen Pflanzen-
gifte — , welches auf synthetischem Wege überhaupt dargestellt wurde.
Duroh diesen Schritt wurde die wissenschaftliche Forsohung auf diesem
so aufserordentlich schwierigen Gebiete mächtig angeregt. Das im
Pfeffer vorkommende Piperin w urde künstlich dargestellt, und andere
Alkaloide wurden in ihrer Struktur oft mit gutem Erfolge zu er-
forschen versucht Allerdings sind hier die Fortschritte der Chemie
nicht übermäfsig grofs. Immerhin kann sie in Anbetracht der überaus
schwierigen Aufgabe auch auf die wenigen Resultate schon jetzt stolz
sein, wenn sie auch bei ihren Bestrebungen, andere im Pflanzenreiche
vorkommende Produkte zu gewinnen, reichere Früchte geerntet hat.
Die Pflanzen beziehen ihre Nährstoffe aus zwei verschiedenen
Regionen: die stickstoffhaltigen Substanzen (Nährsalze sowie das
Wasser) entziehen sie im allgemeinen mit Hilfe ihrer Wurzeln dem
Boden ; aus der Luft entnehmen sie einen weiteren wichtigen Bestand-
teil ihrer Kost, nämlich das Kohlendioxyd (meist Kohlonsäurc genannt).
Zwar liest man oft, die Pflanze „atme“ Kohlensäure ein. So wenig
es aber statthaft ist, zu sagen, der Mensch atme seine Nahrung ein,
so wenig ist ein analoger Ausdruck am Platze für die Kohlensäure-
aufnahme der Pflanzen. Letztere ist ein Prozefs der Nahrungsauf-
nahme, comme il faut. Aus den genannten, sehr einfachen Nahrungs-
Stoffen baut nun die Pflanze das ganze riesige Heer der organischen
Verbindungen auf, die ihren Leib zusammensetzen (Zucker, Stärke,
Cellulose, Fette usw.). Um aber diese Synthesen bewirken zu
können, ist eine Energie nötig. Diese gewährt die Sonne. Ihre
Strahlen sind es, die die Kohlensäure zerlegen in Kohlenstoff und
Sauerstoff, ein bedeutsamer Vorgang, durch den die Pflanze imstande
ist, uns und allen tierischen Organismen den für das Leben unent-
behrlichen Sauerstoff zu liefern. Aus dem zurüokbleibenden Sauer-
stoff baut dann die Pflanze ihren Leib auf. Ferner ist es auf diesen
Prozefs zurückzuführen, dafs wir Steinkohlen, Braunkohlen, Torf, die
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Reste einer längst untergegangenen Pflanzenwelt, als Wärmequellen
benutzen können, da bei der Verbrennung des Kohlenstoffs zu Kohlen-
säure jetzt ebensoviel Wärme frei wird, als früher Sonnenenergie
nötig war, um Kohlensäure in Kohlenstoff und Sauerstoff zu zerlegen.
Bei der Verbrennung entsteht Kohlensäure aber nur dann, wenn die
Luftzufuhr unbeschränkt bleibt. Dagegen bildet sich bei unge-
nügendem Luftzutritt das starkgiftige Kohlenoxyd. Kohlensäure
stellt also eine höhere Oxydationsstufe des Kohlenstoffs dar als
Kohlenoxyd, ja, sie ist die höchstmögliche Sauerstoffverbindung des
Kohlenstoffs. Aus alledem ist ersichtlioh. dafs der in der Pflanze sich
abspielende Prozefs der Assimilation auf einer Reduktion, d. h.
auf einer Zuführung von Wasserstoff, beziehungsweise Entziehung von
Sauerstoff, beruhen mufs. Als erstes Reduktionsprodukt käme dann
die Ameisensäure in Betracht, ein Stoff, der in der Tat in manchen
Pflanzen gefunden wird, z. B. in den Brennesseln. Auch auf künst-
lichem Wege ist die Reduktion der Kohlensäure zu Ameisensäure
mittels metallischen Kaliums gelungen.
Jedooh von gröfserer Bedeutung für die Lösung des Problems
der Assimilation ist ein anderes Reduktionsprodukt der Kohlensäure:
der Formaldehyd. Zwar ist es bisher nicht gelungen, ihn in der
Pflanze nachzuweisen, aber dem Chemiker (Loew) ist es geglückt,
aus demselben durch „Polymerisation" ein zuckerähnliches Produkt
zu erhalten. Auch Butlerow war bereits früher bei der Einwirkung
von Kalkmilch auf ein Polymerisationsprodukt desselben Aldehyds
zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Schliefslich synthetisierte der auf
diesem Gebiete hochverdiente E. Fischer den in den süfsen Früchten
enthaltenen Traubenzucker und viele mit ihm verwandte Körper.
Gleichzeitig klärte er ihre Konstitution sowie ihr Verhältnis zuein-
ander auf.
Warum indessen eine Pflanze in gröfseren Mengen Zucker pro-
duziert, warum z. B. das bereits mehrfach erwähnte, so gefährliche
Coniin sich gerade in der Schierlingspflanze bildet, die in ihrer un-
mittelbaren Nachbarschaft gedeihenden Pflanzen hingegen vollkommen
unschuldig sind, über diese und ähnliche Fragen kann der Chemiker
ebensowenig Aufschlufs geben, als er sich die Bildung von Farb-
und Riechstoffen in den Pflanzen zu erklären vermag. Die schöne,
mannigfache Farbenpracht und der zauberische Duft, wie ihn so
zahlreiche Kinder Floras uns darbieten, sind ihm bisher noch ein
grofses Rätsel. Obwohl er genau über die Zusammensetzung des
Pflanzenbodens, bisweilen sogar über die gebildeten Färb- und Rieoh-
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Stoffe selbt orientiert ist, ist ihm das „Wie“ und „Warum“ verborgen
geblieben.
Bei den künstlichen Riechstoffen hat man zunächst sehr
wohl zu unterscheiden zwischen Produkten, die den natürlichen voll-
kommen entsprechen, und solchen, die nur den Geruch nachahmen,
aber andere chemische Zusammensetzung haben. Zur letzteren Klasse
gehört z. B. der künstliche Moschus, der eine ganz andere Zusammen-
setzung als der im Pflanzen- und Tierreiche vorkommende Riechstoff
aufweist, sowie das in verdünnter Lösung angenehm nach Veilchen
riechende Jonon. So lange man die künstliche Gewinnung dieses
Stoffes noch nicht kannte, war man, wie bei der Darstellung von
Riechstoffen überhaupt, auf die Verarbeitung von Pflanzen, hier haupt-
sächlich auf die Veilchenwurzel (Iris florentina) angewiesen. Aus
dieser wurde durch Wasserdampfdestillation ein nach Veiloheu rie-
chender Stoff, das Iron, gewonnen. Für die Gewinnung auch nur
weniger Gramme war eine gehörige Menge Veilchenwurzeln nötig.
Trotz seines dadurch hohen Preises fand das Iron indessen in Erman-
gelung eines besseren Produktes eine Zeitlang in der Parfümerie An-
wendung. Auch in den Veilchenblüten, die einen uns bis jetzt noch
unbekannten Riechstoff enthalten, sind doch nur Bruchteile von Milli-
grammen des so geschätzten Stoffes vorhanden, wenn wir auch bereits
nach wenigen Atemzügen den Duft eines einzigen Veilchenstraufses
im Zimmer deutlich wahrzunehmen vermögen. Wiederum ein treff-
licher Beweis für das Prinzip der Sparsamkeit im Haushalte der
Xatur!
Um so gröfseren Wert mufs man daher dem Verdienste des
Mannes zuschreiben, der es uns durch die künstliche Darstellung dos
Jonons ermöglichte, uns den von allen Dichtern gepriesenen Wohl-
geruch des Veilchens auf bequemere und billigere Weise zu beschaffen
und noch dazu in Quantitäten, wie sie uns die ganze Welt mit all
ihren Veilchen nicht darzubieten vermag! Der scharfsinnige, leider
allzu früh verstorbene Forscher, jener unermüdliche Pionier auf dem
Gebiete der Riechstoffe, Ferdinand Tiemann war es, der durch die
Synthese des Jonons die Welt ,zutn zweiten Male in gleicher Weise
in Erstaunen versetzte, wie einige Jahre zuvor durch die künstliche
Gewinnung des in der Vanilleschote vorhandenen würzigen Va-
nillins.
• Aus Citral und Aceton bildet sich zunäohst durch Kondensation
ein geruchloses Produkt, das sogenannte „Pseudojonon.“ — Das Citral
ist neben Citronellal der Hauptbestandteil des Zitronenöls, aufserdem
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aber noch insofern recht interessant, als es sich durch Jodwasserstoff-
säure in Cytnol, einen Kohlenwasserstoff, der in naher Beziehung zum
Kampfer steht, durch Oxydation in Lävulinsäure überführen läfst. Da
sich diese Säure auch aus den Zuckern (Kohlehydraten) künstlich ge-
winnen läf8t, so ist hieraus die grofse Bedeutung der Kohlehydrate
als Baumaterialien der Pflanzen ohne weitere Erklärung ersichtlich'
wenn wir auch die Beantwortung der Frage, auf welche Weise jenes
Cilral in den Pflanzen aus den Kohlehydraten entsteht, schuldig bleiben
müssen. — Durch Kochen mit Säure geht dann das Pseudojonon unter
Uinlagerung der Atome in Jonon über, das bekannte rieohende Prinzip
des Veilchens, der Weinblüte und wahrscheinlich auch der Teerose.
Wie früher der Veilchenduft nur aus den Veilchen, so konnte
auch das Bittermandelöl, der Benzaldehyd, nur aus bitteren Man-
deln produziert werden, während es jetzt viel billiger und leichter in
grijfseren Mengen, deren besonders die Farbstofftechnik bedarf, aus
dem im Steinkohlenteer enthaltenen Toluol dargestellt wird.
Ferner konnte jenes bekannte wirksame Prinzip des Wald-
meisters, das Cumarin, früher nur aus den Tonkabohnen (Dipterix
odorata) gewonnen werden. Jetzt aber wird dieser zur Parfümerie
des Tabaks ebenso, wie in der Toiletteseifenfabrikation angewandte
Riechstoff aus dem nach blühenden Spiräen duftenden Salicylaldehyd
synthetisiert. Auch der charakterische Bestandteil des aus den chi-
nesischen Zimtcassiablättern destillierten Cassiaöles sowie der des auf
demselben Wege aus der Rinde des eigentlichen Zimtbaumes ge-
wonnenen Ceylon - Zimtöles, der Zimtaldehyd, wird heutzutage
aus Benzaldehyd synthetisch erhalten. Die dem Zimtaldehyd ent-
sprechende Zimtsäure läfst sieh nun ihrerseits durch eine vorsichtige
Behandlung in Phenylacetaldehyd überführen, einen angenehm nach
Hyazinthen riechenden Stoff. Damit ist aber die Reihe der wichtigeren
künstlichen Riechstoffe noch keineswegs erschöpft. So erweist sich
der so allgemein beliebte, künstliohe Fliederduft als Terpineol, ein
Alkohol, der sich aus Pinen, dem Hauptbestandteil des deutschen und
amerikanischen Terpentinöls, durch Einwirkung von Säuren gewinnen
läfst, ferner der Geruch der Tannen- und Fichtennadeln als Ester des sich
in der Natur vorfindenden Kampfers (Borneol). Derselbe ist sehr wohl
von dem gewöhnlichen oder Japan-Kampfer zu unterscheiden. Letz-
terer enthält nämlich zwei Wasserstoffe weniger als das Borneol und
läfst sich daher durch Reduktion in ersteren überführen. Der Japan-
Kampfer selbst wird in Japan aus den Wurzeln und dem Holze des
Kampferbaumes durch Wasserdampfdestillation neben Kampferöl ge-
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wonnen. Aus diesem Begleitöl des Kampfers kann man nun ziemliob
leicht einen in der Seifenparfiimerie viel angewandten Stoff, das Safrol,
isolieren. Dieses Safrol lafst sich schliefslich in jenes im Heliotrop be-
findliche, hochgeschätzte Heliotropin oder Piperonal überfuhren, und
zwar in ähnlicher Weise, wie der charakteristische Bestandteil des Nelken-
öles, Eugenol, in das rieohende Prinzip der Vanilleschoto, das Vanillin.
Das Vanillin findet sich bis etwa zu 2 pCt. in einer den tro-
pischen Gegenden Amerikas angehörenden Orchidee, der Vanille, und in
einer etwas duftenden Abart derselben, der Vanillon - Pflanze, neben
Heliotropin. Das gemeinschaftliche Vorkommen der beiden Riech-
stoffe legt den Gedanken an eine nahe verwandtschaftliche Beziehung
nahe. In der Tat bestätigt auch die wissenschaftliche Forschung diese
nicht allzu fern liegende Vermutung. Das Vanillin erweist sich nämlich
als Monomethyläther des Protocatecohualdehyds, das Piperonal als Mono-
methylenäther desselben Aldehyds. Damit ist ein gewisser Zusammen-
hang der beiden Riechstoffe mit dem Protocatecchualdehyd, sowie den
Gerbstoffen und dem in vielen von ihnen enthaltenen Brenzcatecchin
gefunden, zugleich aber auch eine Beziehung des Heliotropins zur
Piperinsätire, die ihrerseits aus dem im Pfeffer befindlichen Piperin
gewonnen werden kann, bewiesen. Auf Grund dieses wissenschaft-
lichen Nachweises können wir es jetzt einigermafsen verstehen, dafs
man vom Guajacol,1) dem im Buohenholzteer enthaltenen Methyl-
äther des genannten Brenzcatecchins, zum Vanillin, vom Piperin zum
Heliotropin gelangen kann.
Jedenfalls war mit diesem Ergebnis ein glänzender wissenschaft-
licher Erfolg errungen, der allerdings erst im Laufe der Zeit durch
die spekulativen Bestrebungen der Technik auch einen praktischen Wert
erhielt. So wurde das Vanillin eine Zeitlang aus dem in den Nadel-
bäumen vorkommenden Coniferin durch Oxydation gewonnen. Heut-
zutage wird es hingegen viel billiger aus dem Eugenol, dem charak-
teristischen Bestandteile des schon im fünfzehnten Jahrhundert aus den
getrockneten Blüten des Nelkenbaumes destillierten Nelkenöles, auf
ähnlichem Wege technisch dargestellt, wie Piperonal aus Safrol. Der
Preis des Heliotropins beläuft sich zur Zeit auf etwa 30 M. pro 1 Kilo,
der des Vanillins betrug 1876 7000 M., 1897 nur noch 120 M. pro
l Kilo und ist seitdem bei dem billigen Preise des Nelkenöls sicher-
lich noch weiter gefallen. Fürwahr glänzende Resultate, die nur da-
durch zustande kommen konnten, dars Wissenschaft und Technik Hand
in Hand gingen!
') Träger des Juchtenparfüms.
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Die Wahrheit des soeben ausgesprochenen Salzes tritt noch
deutlicher auf dem Gebiete der Farbstofftechnik hervor. Diese hat
heute einen so gewaltigen Umfang erhalten, dafs man Bände schreiben
müf8te, wollte man ihre Errungenschaften nur einigerraafsen würdigen.
Hier wollen wir uns lediglich auf die beiden aus dem Pflanzenreiche
stammenden künstlich dargestellten Produkte beschränken: auf das
in der Krappwurzel enthaltene Alizarin und den aus den Indigufera-
Arten stammenden Indigo. Wer hätte es sich vor 30 Jahren träumen
lassen, dafs die Synthese der beiden genannten, mit Recht höchst
geschätzten Farbstoffe in so glänzender Weise gelingen würde, wer
daran gedacht, dafs die Technik dadurch einen so gewaltigen Einfluss
auch auf die kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausüben
würde! In der Tat sind die noch vor Jahren blühenden Krapp-
pflanzungen Südfrankreichs und Algiers so gut wie verschwunden,
und auch die Indigokulturcn Indiens, der Sunda-Inseln und anderer
Gebiete werden früher oder später infolge der Errungenschaften der
neuesten Zeit durch die Kunst des Chemikers vernichtet werden.
Was zunächst das Alizarin anbelangt, so fanden Liebermann
und Oraebe, dafs sich der Krappfarbstoff durch Reduktion (Glühen
mit Zinkstaub) in das im Teer enthaltene Anthracen überführen läfst.
Auf Grund dieses Resultats glückte dann die Synthese auf umge-
kehrtem Wege durch Oxydation des Anthracens zu Anthrachinon und
durch eine geeignete Behandlung dieses letzteren Stoffes in einer
Weise, dafs seit jener Entdeckung der wegen seiner „Echtheit“ ge-
schätzte rote Krappfarbstoff, mit dem z. B. heute noch die roten
Hosen der französischen Armee gefärbt werden, viel reiner, billiger
und bequemer ausschliefslioh auf synthetischem Wege hergestellt wird.
Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Indigo. Nur erforderte es
hier eine jahrzehntelange Arbeit und ein angestrengtes Studium, ehe man
mit dem natürlichen Indigo in Konkurrenz treten konnte. Erst als
man das im Steinkohlenteer enthaltene Naphthalin für die Indigofabri-
kation zu verwerten verstand, konnten die wissenschaftlichen Arbeiten
v. Baeyers und die praktischen Studien Heumanns einen in die
Wagschale fallenden Erfolg davontragen. In dem Naphthalin nämlioh
halte man ein Rohmaterial gefunden, das einerseits billig, andererseits
in beliebigen, ja fast unbeschränkten Mengen zu haben ist. Werden
doch jährlich etwa 40 — 50000 Tonnen3) Naphthalin gewonnen, wovon
aber bis vor kurzem nur 15000 Tonnen für die Technik praktische
*) Brunck, Festschrift.
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Verwendung fanden, während der Rest zu Rufs verbrannt wurde.
Dieser Vorrat an Naphthalin, früher so gut wie wertlos, genügt aber
vollkommen, um daraus den für den Konsum der gesamten Welt
nötigen Indigo zu gewinnen. Auf die äufserst komplizierte Dar-
stellung des künstlichen Indigos einzugehen, würde hier zu weit
führen; es sei mir vielmehr gestattet, auf eine Abhandlung von
Dr. Hermann Wagner „Über natürliche Farben und Farbstoffe“3)
zu verweisen.
Wie bereits hervorgehoben, ist das Verschwinden der Indigo-
kulturen nur noch eine Frage der Zeit. Deutschland deckt schon
jetzt vollkommen seinen eigenen Bedarf. Die jährliche Produktion
der Badischen Anilin- und Soda - Fabrik entspricht etwa einem Ge-
biet von 100000 ha4) Land. Bald werden wir auch ernstlich an
einen Wettbewerb mit dem natürlichen Indigo auf dem grofsen Welt-
markt denken können, vielleicht sogar zum Sogen für Indien selbst,
da dann die ungeheuren Flächen, die die Kultur der Indigopflanzen
erfordert, für das periodisch von Hungersnot gepeinigte Land zum
Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung ständen.
Deutschland scheint also in dieser Beziehung dazu berufen zu
sein, die Rolle des schon seit Jahrtausenden wegen seines Indigos
berühmten Indiens zu übernehmen. Darauf können wir mit Recht
stolz sein, aber es legt dieser gute Ausblick in die Zukunft auch die
Mahnung nahe, nicht allein auf technischem Gebiete weiter zu streben,
sondern vor allem auch theoretisch das schon stattliche Gebäude der
modernsten exakten Wissenschaft mehr und mehr auszubauen und
in der Erkenntnis von dem innersten Wesen der Stoffe der Wahrheit
näher und näher zu kommen. Das ernste, ideale Suchen und Streben
nach Wahrheit der deutschen Chemiker vor allen andern war es ja
in erster Linie, das diese köstlichen Früchte: die künstliche Dar-
stellung so manoher, für uns unentbehrlicher Naturprodukte, zeitigte.
*) Vergl. Diese Zeitachr. Jahrg. XIV, Septemberheft 1902.
*) Brunck, Festschrift.
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Die Erschöpfung der Energie.*)
^ Von Eduard Sekal in Berlin.
CoI^)er Physikalische Begriff der Energie ist nicht blofs eine wissen-
> Je) schuftlicbe Abstraktion, sondern hat auch eine mehr unmittel-
bare, handgreifliche Bedeutung. Alle Beziehungen des mensch-
lichen Lebens sind nichts anderes als ein Markt der Energiegröfseo :
mag es sich um Nahrungsmittel, um Beleuchtung oder um geistige
Leistungen handeln, stets hat der Käufer ein wesentliches Interesse
an den Energiemengen, die er bekommt oder eintauscht. Ein fran-
zösischer Nationalökonom hat sogar einmal den vorläufig noch paradox
klingenden Ausspruch getan, eine ideale Währung müfste sich direkt
auf Energtewerle beziehen. Es ist die grofse Aufgabe der Technik
(im weitesten Sinne dieses Wortes), die mannigfaltigen Energievorräte
der Natur in möglichst ökonomischer und zweckentsprechender Weise
auszunutzen. Dieselben sind in den meisten Fällen nicht direkt ver-
wendbar. Die Luftströmungen als Orkane und Winde, die Erdbeben
und tellurischen Katastrophen, die Kraft der Wasserfälle und Flüsse
können entweder gar nicht oder nur mittelbar in unsern Dienst ge-
stellt werden. Ein Kilogramm Dynamit, einen Würfel von ungefähr
90 Millimeter Seite einnehmend, kann schon in ca 0,00002 Sekunden
gegen 2000000 Kilogrammmeter Arbeitsleistung entwickeln, aber auch
diese ungeheuren Energievorräte der explosiven Substanzen können
praktischen Zwecken nur in beschranktem Mafse dienstbar gemacht
werden. Die Naturkräfte, deren Wirken wir täglich um uns beobachten,
als Wärme, Licht, Elektrizität, chemische Affinität usw. können
wechselseitig ineinander, sowie auch in mechanische Arbeit über-
gehen, um! die Äquivalente und Gesetze, nach welchen diese Um-
wandlung erfolgt, sind zum Teil mit grofser Genauigkeit gemessen
und erkannt worden. Aber zwischen der demokratischen Gleich-
wertigkeit der Energieformen beim wissenschaftlichen Experiment und
*) f’rof. Clemens Winkler: Wann endet das Zeitalter der Verbren-
nung? Tübingen PtO’J.
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33
ihrer gleichmäßigen praktischen Verwendbarkeit für die Bedürfnisse
und Zwecke des täglichen Lebens gähnt eine gewaltige Kluft, welche
zu überbrücken eben die Hauptaufgabe der Technik ist.
Die Form, in der wir die Energie in den meisten Fällen be-
nutzen, ist die mechanische Arbeitsleistung, die in einer bestimmten
Richtung vor sich gehende Massenbewegung, welche einen gewissen
Widerstand zu überwinden imstande ist. Und da ist cs zunächst
klar, dafs die mechanische Arbeit uns fast nirgends in der Natur in
direkt verwendbarer Form geboten ist. Die gewaltigen Massenver-
schiebungen in der Natur, als Erdbeben, Winde, Meeres- und Flufs-
strömungen, sind eben wegen ihres gewaltsamen, chaotischen Charakters
für die direkte Verwendung in den meisten Fällen gar nicht zugäng-
lich. Um uns daher z. B. in der Dampfmaschine mechanische Arbeit
zu verschaffen, sind wir gezwungen, den Druok des Wasserdampfes
bei hoher Temperatur zu benutzen, also zur Wärme und zur chemischen
Energie der Kohle unsere Zuflucht zu nehmen. Die chemische Energie,
welche die räumlich und zeitlich konzentrierteste aller Energieformen
ist, bildet als Energie der Kohle im Prozeß der Verbrennung den
weitaus größten Teil unseres disponiblen Arbeitsvorrates.
Dieses rätselhafte, scheinbar wesenlose und doch so gewaltige
Etwas, welches wir zu freier Verfügung in erster Linie von der Kohle
empfangen: die Energie hat nun, wie Bergbauforscher Professor
Winkler in der eingangs erwähnten glänzenden Abhandlung schildert,
dem Menschen den Erdball unterworfen. Der Leib der Erde ist um-
gürtet mit dem ehernen Schienennetze, auf dem wir mit der Ge-
schwindigkeit des Vogels von Land zu Land fliegen; unbekümmert
um Sturm und Wetter durchfurchen wir in schwimmenden Palästen
dio Ozeane; innerhalb weniger Augenblicke verständigen wir uns
durch Drähte mit den Antipoden; wir halten das gesprochene Wort
auf der Walze des Phonographen fest und vermögen es noch wieder-
klingen zu lassen, wenn sein Sprecher längst nicht mehr unter den
liebenden weilt. All diese und zahlreiche andere Errungenschaften
legen beredtes Zeugnis dafür ab, wie fruchtbringend das Fragespiel
der Forschung geworden ist. Der Forschungs- und Erfindungsdrang,
der unser Zeitalter kennzeichnet, hat aber eine mächtige, materielle
Stütze gefunden in der Heranziehung der fossilen Kohle zur Wärme-
erzeugung. Sie ist es im Grunde genommen, der wir unmittelbar
oder mittelbar die verzeiohneten Erfolge verdanken. Durch die Ver-
brennung fossiler Kohle wurde der Mensch instand gesetzt, im
großen Maßstab Wärme zu erzeugen, und als ihm diese einmal zu>
nimm«! und Brdo. 1Ö03. XVI. 1 3
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34
Verfügung staml, lernte er in rascher Aufeinanderfolge sie in andere
Energieformen umzusetzen. So ist denn unser Zeitalter tatsächlich
zum Zeitalter der Verbrennung geworden, und die nie dagewesene
Kraft- und Maohtenttältung, zu welcher der Kulturmensch während
desselben gelangte, ist, wenn auch nicht ausschliefslich, so doch
hauptsächlich auf die Ausnutzung fossilen Brennmaterials zurückzu-
führen.
Dies ist nach Winkler der grofse Wurf, der dem 19. Jahr-
hundert gelungen wie keinem anderen vorher. Eigentlich möchte
man staunen, dafs diese Periode des Aufschwungs so spät gekommen
ist. Jedenfalls ist es Tatsache, dafs die Menschheit seit ihrem Be-
stehen aohtlos über die Schätze an fossiler Kohle unter ihren Füfsen
dahingewandelt ist, ohne sie zu heben und zu verwerten. Bei allen
alten Kulturvölkern war es immer nur die Kraft der Muskeln und
Sehnen, die man aufbot, um all das Grofse zu leisten, was uns noch
heute in gerechtes Staunen versetzt, und Tausende von Menschen und
Tieren mögen grausam in solcher Kraflleistung hingeopfert worden
sein, um Riesenwerke, wie den Turm zu Babel oder die Pyramiden,
zu schaffen.
So ist es geblieben bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts und
darüber hinaus. Man kannte die fossile Kohle, aber man verstand
nicht, sie zu vorwenden, nicht einmal zur Wärme, viel weniger zur
Krafterzeugung. Es ist bekannt, dafs die Benutzung der Zwiokauer
Steinkohle als Heizmaterial früher verboten war, und Winkler er-
innert sich noch aus seiner Jugend, dafs der Vorschlag, sie als Brenn-
stoff beim Glasschmelzen zu verwenden, mit Entrüstung zurückgewiesen
wurde, in der Überzeugung, dafs damit kein anderes als ein schwarzes,
unbrauchbares Glas erhalten werden könnte.
Aber dann kam die Entdeckung der Dampfkraft, und wie mit
einem Zauberschlag begann alles sich zu ändern. Der Pfiff der ersten
Lokomotive war das Signal zum Beginn einer neuen Ära. Und in
dem Mofs, als Erfindung um Erfindung aus dem Menschenhirn heraus-
wuchs, die schwache Menschenkraft sich vertausendfachte, die Mensch-
heit selbst sich in einen rastlos hin und her flutenden Strom ver-
wandelte, begann man den fossilen Brennstoff zu heben, und es ent-
faltete sich eine bergmännische Tätigkeit, wie die Welt sie ebenfalls
noch nie zuvor gesehen hat. Die riesigen Braunkohlenlager Böhmens
befinden sich bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium des
Abbaues; in Brüx allein sollen — allerdings als bisher erreichtes
Maximum — an einem einzigen Tage des Juni 1899 2038 Waggon-
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ladungen zur Abfertigung gelangt sein; die Steinkohlenforderung
Englands belief sieh 1898 auf 220 Millionen, diejenige der ganzen
Erde auf etwa 600 Millionen Tonnen. Halten wir auch weise haus
mit dem uns in den Schufs gefallenen Gute? Nach Winkler müssen
wir diese Frage entschieden verneinen. In Wirklichkeit hausen wir
darin wie der Hamster im Weizen. Wir machen es eben wie jedes
andere Geschöpf und schwelgen im Überilufs, so lange wir ihn haben.
Sollen wir uns deshalb Skrupel machen? Eigentlich wohl nicht!
Unsere Aufgabe kann es nicht sein, Vorsehung zu spielen; was wo-
durch Fleifs und Geistcslat errungen haben, ist unser rechtmäfsiges
Eigentum, und im übrigen möge das bekannte Wort gelten: Nach uns
die Sintflut!
Dennoch empfinden wir es zuweilen wie einen inneren Vorwurf,
dars wir die fossile Kohlo ohne alle Rücksicht auf die früher oder
später drohende Erschöpfung ihrer Fundstätten durch Verbrennung
vernichten. Es ist die Stimme der Vernunft, welche sich erhebt
um uns daran zu mahnen, dafs das kostbare Gut, welches wir jetzt
lustig veigeuden, nicht uachwächst, sondern dafs es unwiederbringlich
verloren ist. Mögen wir uns auch um viel spätere Generationen nicht
kümmern, auf die Kinder und Kindeskinder spinnen sich die Fäden
der Liebe und Fürsorge duoh hinüber, und sie sind es vielleicht sohon,
die wir schädigen, wenn wir die Kohle, deren sie dereinst zu ihrer
Existenz bedürfen, die sie vielleicht aus bitterer Not heraus schmerz-
lich herbeiwünschen werden, keineswegs allein dem wirklichen Be-
dürfnis, sondern iu weitgehendem Mafs auch den Zwecken des Luxus
und des Vergnügens opfern, noch dazu unter Erzielung einer Wärme-
ausnutzung, ob deren Mangelhaftigkeit uns das Gefühl der Scham be-
schleicheu könnte. Denn wenn auch die Verbrennung der Kohle iu
einer Luft vom StickslofTgehalt der Erdatmosphäre, namentlich bei An-
wendung natürlichen Essenzugs, gar nicht ohne namhafte Wärineein-
bufse zu bewirken ist, so sollte mau doch darauf bedacht sein, diese
auf das tunlichst niedrige Mafs herabzuziehen. Beim Betrieb in-
dustrieller Heizanlagen bat man in dieser Hinsicht bereits erfreuliche
Fortschritte gemacht, in Haus und Küche aber sündigt man in haar-
sträubendster Weise weiter. So ist z. B. nach Winkler die Miß-
handlung der au sich ganz zweckmäßig konstruierten eisernen Re-
gulieröfen eine fast allgemeine; man öffnet deren Türen, ruiniert oft
schon bei der erstmaligen Benutzung ihre Verschlüsse durch Über-
heizung und jagt den grössten Teil der darin entwickelten Wärme durch
den Schornstein ins Freie. Derartige Fälle ließen sich viele an-
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führen; unvergleichlich bedeutender als die immerhin geringfügige
Verschwendung aus Leichtsinn ist freilich diejenige, welche wir not-
gedrungen durch die Unvollkommenheit unserer technischen Hilfs-
mittel begehen. Unter unseren technischen Energiequellen nimmt gegen-
wärtig die Dampfmaschino unbestritten den ersten Platz ein. Man
vergegenwärtige sich aber einmal, ein wie unvollkommenes Ding noch
in unserer Zeit der hochstehenden Technik und trotz aller im ein.
zelnen bewunderungswürdigen Erfindungen eigentlich diese wesent-
lichste Energiequelle ist! Von der Energie der verbrennenden Kohle
erhalten wir in Gestalt mechanischer Arbeit im allerbesten Fall nicht
mohr als 15 pCt. Noch ungünstiger stellen sich die Verhältnisse, wenn
es sich um die Gewinnung von elektrischer Energie handelt. Vielleicht
wird uns dieses Jahrhundert die von den Elektrochemikern angestrebte
Darstellung der «elektrischen Energie direkt aus Kohle“ bringen,
welche die Dampfmasohine ersetzen und die Macht des Menschen über
die Natur vervielfachen würde!
Die Frage des Zuendegehens des natürlichen Bestandes un
fossiler Kohle ist nach Winkler aus dem einfachen Grunde eine sehr
ernste, weil ja die Entwicklung der gegenwärtig führenden Kultur-
staaten, das Anwachsen ihrer Bevölkerung, ja, bis zu einem gewissen
Grad die Existenzfähigkeit dieser Bevölkerung sich auf die Wärmo
und Krafterzeugung durch fossile Kohle gründet. Sowie die Kohlen-
lager dieser Staaten aufgebraucht sind, mufs jedenfalls bei ihnen eine
Reaktion eintreten; sie können nicht mehr an der Spitze der Kultur-
bewegung bleiben; auf die Periode stürmischen Aufschwungs wird
diejenige des Niedergangs, einer sich zwar allmählich aber unaufhaltsam
vollziehenden Verkümmerung folgen. Verarmung und Entvölkerung
müssen bei ihnen eintreten, und wenn sie noch etwas retten in dieser
zukünftigen Öde, so ist es der Wissensschatz, den sie im „Zeitalter
der Verbrennung* zusammengetragen haben. Er wird sie vor jähem
Absturz in die Tiefe bewahren, aber sie werden „wie ein Vogel mit
gebrochenen Schwingen sein, der nur noch flattern, aber nicht mehr
fliegen kann“.
Die viel verbreitete Ansicht, dafs es dereinst nicht nur gelingen
werde, den Energiovorrat der Kohle viel besser auszunutzen, sondern
auch an die Stelle der Verbrennungswärme fossiler Kohle eine an-
dere, gleichwertige, ja vielleicht noch reichlicher fliefsonde Energie-
quelle zu setzen, verrät nach der Ansicht von Winkler zwar ein an
sich berechtigtes Vertrauen in die menschliche Erfindungsgabe, beruht
aber nichtsdestoweniger zumeist auf einem fundamentalen Irrtum. Denn
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die fossile Kohle ist ein Produkt der Zustände, wie sie früher auf
Erden geherrscht haben, zu einer Zeit, wo die Eigenwärme unseres
Planeten eine gröfsere war als heute und die Sonneneuergie in höherem
Mafs auf ihm zur Wirkung gelangte. Wir wissen, dars zu jener Zeit
die Erde einem mäohtigen Treibhaus glich, dessen dichte, mit Kohlen-
säure und Wasserdampf beladene Dunstatmosphäre den Nahrungs-
speioher für eine aus wasserreicher Niederung gigantisch empor-
wuohernde Flora bildete, wie sie nach Ansicht mancher Astronomen
jetzt vielleicht den Planeten Mars bedecken mag. Was heute noch in
Überresten von dieser früheren Pflanzenwelt vorhanden ist, bildet den-
jenigen Teil, der in den Perioden des Umsturzes, wie sie der Faltungs-
prozefs der alternden Erde mit sich brachte, verschüttet und begraben
worden ist; ein anderer ist in Gestalt von gasförmigen Vormoderungs-
und Oxydationsprodukten zur Atmosphäre zurückgekehrt und befindet
sich wieder im grofsen Schöpfungskreislauf; er ersteht — und das
Gleiche ist auch bei der Verbrennungskohlonsäure der Fall — immer
wieder in den Pflanzenformen der Gegenwart, die im Vergleich mit
den Riesen der Vergangenheit den Niedergang des pflanzlichen Lebens
auf Erden erkennen lassen und wohl zur Verstärkung der irdischen
Humusdecke beizutragen, nicht aber Kohlenflöze zu bilden vermögen.
Das kohlenstoffhaltige, pflanzenbildende Material ist zwar noch vor-
handen, aber es gelangt nicht mehr zu dem Massenumsatz und der
Massenaufhäufung wie in früherer geologischer Zeit.
So lassen sich denn nach Winkler die Aufhäufungen von fos-
siler Kohle grofsen, natürlichen Akkumulatoren vergleichen, in welohen
sich die Sonnenenergie vergangener Zeiten aufgespeichert findet.
Wenn sie einmal erschöpft sein werden, ist der Menschheit das Macht-
mittel, welches sie in unseren Tagen grofs und stark gemacht hat,
für immer entzogen, und es bleibt ihr nur noch die unmittelbare
Energiequelle der gegenwärtigen Sonnenstrahlung. Auch diese fliefst
reichlich weit über menschlichen Bedarf, aber noch verstehen wir es
keineswegs, sie zu fassen, wir werden sie auch schwer fassen lernen,
und selbst wenn uns das gelingen sollte, wird ihre Handhabung wahr-
scheinlich an Einfachheit und Befjuemlichkeit derjenigen der brenn-
baren Substanz naebstehen. Allerdings hat es sich gezeigt, dafs
Prophezeiungen in wissenschaftlichen Dingen zumeist nur dazu da
sind, um von dem nachströmenden Flufs der Tatsachen widerlegt zu
werden.
So sollte es denn eigentlich als ein Gebot der höheren sittlichen
Vernunft erscheinen, der zwecklosen Vergeudung von fossiler Kohle
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mit aller Kraft entjreg'en zutreten, und doch würde jede hierauf gerich-
tete Mahnung — worüber sich Winkler keinen Täuschungen hin-
gibt — in den Wind gesprochen sein. An eine Beschränkung des
Kohlenverbrauchs ist fürs nächste gar nicht zu denken, im Gegenteil,
es wird derselbe eine fortgesetzte Steigerung erfahren, wahrscheinlich
sogar in einer ungeheuren Progression. Hier gibt es kein Hemmen
und Eindämmen, und nur zweierlei läfst sich nach Winkler tun,
nämlich erstens: eine bessere Ausnutzung der Verbrennungswärme
anstreben, und zweitens: die Zeit nutzen, um andere Energiequellen
zu erschliefsen, bevor, wenigstens lokal, wirklicher Mangel an Kohle
eintritt.
über die Frage, ob man Anlass hat, jetzt schon um die baldige
Erschöpfung der in erreichbarer Tiefe auf der ganzen Erde vorhan-
denen Kohlenvorräte in ihrer Gesamtheit besorgt zu sein, können die
Ansichten natürlich sehr auseinandergehen; nach der Ansicht von
Winkler wäre diese Besorgnis eine unbegründete. Die Kultur wird
nach seiner Meinung noch lange im Zeichen der Verbrennung stehen,
und das Zeitalter der Verbrennung kann eine Dauer von vielen Jahr-
hunderten haben. Es ist zwar nicht zu leugnen, dafs der Abbau der
his jetzt erschlossenen Fundstätten unheimlich schnell vorwärts schreitet;
da aber weite Gebiete der Erde kaum bekannt sind, so fehlt uns jedes
Urteil, ob und in welohem Umfang sie unterirdische Kohlenschätze
hergen. Das Innere von Asien, Afrika, Australien, zum Teil auch von
Amerika umfafst ungeheure Flächenräume, die in dieser Hinsicht eine
vollkommene terra incognita bilden, und denen gegenüber die bis jetzt
dem Kohlenbergbau erschlossenen Gebiete ob ihrer Kleinheit fast ver-
schwinden. Andererseits ist man fast überall, wo man in fremdem
Lande auf Kohle schürfte, glücklich gewesen. Die Japaner bezwangen
die Eingeborenen der Insel Formosa und entdeckten dabei unvermutet
mächtige Kohlenlager, die kleine deutsche Besitzung in China weist
Kohle auf, Kohle fand sich in Niederländisch-Indien, in Südafrika, in
Neu-Seeland, ja selbst in den arktischen Gebieten, in Grönland, auf
der Bäreninsel, und sie lagert vielleicht auch auf Franz Joseph-Land.
— Wenn somit die Zeit wirklichen Mangels an Kohle noch sehr fern-
liegend erscheint, sobald man das ganze, weite Gebiet der Erdober-
fläche in Betracht zieht, so wird sie doch nach Ansicht von Winkler
für einzelne Länder und Völker bald genug heraufziehen, und für diese
ist dann wirtschaftlicher Niedergang die unausbleibliche Folge. Solcher
Niedergang bedroht Böhmen, England, ferner Deutschland, Belgien,
Frankreich und andere europäische Staaten. Aber mit ihm endet
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keineswegs das Zeitalter der Verbrennung auf Erden, sondern es hat
bis auf weiteres nur eine Verschiebung der Verhältnisse zur Folge.
Die Kultur wird der Kohle nachziehen, und wenn hier blühende In-
dustriestätten in Trümmer sinken, so werden anderwärts neue erstehen
und zu glänzender Entfaltung kommen. Das Werden und Vergehen,
welohes den Grundzug alles Naturgeschehens bildet, macht sich auch
hier geltend, aber der kurzlebige Mensch mit seinem flüchtigen Schick-
sal ist hierbei nur der einzelne Tropfen einer gewaltigen Woge,
der ewig zu bestehen scheint, weil — stets ein anderer an seine
Stelle tritt.
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Langlebigkeit und Entartung.
Von B. Kätscher in Budapest.
\(Tm „Forum“ erschien jüngst ein bemerkenswerter Artikel von W. R,
■! Thayler, in welchem dieser Autor seiner Meinung Ausdruck
gibt, dafs es Unsinn sei, zu behaupten, wir stünden unter dom
Reichen der Entartung; das 19 Jahrhundert habe sich vielmehr vor
allen vorangegangenen durch die Langlebigkeit der Menschen aus-
gezeichnet, denn in den letzten hundert Jahren habe sich laut authen-
tischer, statistischer Daten das Leben der zivilisierten Menschen von
dem Durchschnittsalter 30 auf 40 Jahre verlängert. Die vorherrschende
Phrase, dafs wir „zu rasch leben“, entbehre jeder Berechtigung.
Die Langlebigkeit kann als Prüfstein des Nutzens der modernen
Zustände gelten, unter ungünstigen Lebensbedingungen kann niemand
alt werden. Es heifst allgemein, dafs unter allen Genies die Dichter
am frühesten sterben; ihre Feuerseele zehre den Körper auf. Thayler
beweist mit trockenen Ziffern, dafs diese These nicht stichhaltig sei.
Er führt 46 Dichter an, die ein Durchschnittsalter von 66 Jahren
erreichten — darunter Shelley und Keats, die sehr früh starben.
Landor und Manzoni waren 89, Whittier 85, Tennyson 83,
Wordsworth 80, Börenger und Browning 87 Jahre alt, als sic
aus dem Leben schieden. Von den 46 Diohternamen, die er anführt,
erreichten nur 7 nicht das Durchschnittsalter von 40 Jahren.
Auoh die Maler gehören zu einer Menschenklasse, der man ein
leicht erregbares Temperament zusohreibt, was das Leben abkürzen
soll; und doch starb unter 39 Malern, die der Verfasser anfuhrt, nur
ein einziger unter 40 Jahren. Das Durchschnittsalter der anderen
belief sieh auf 66. Das höchste Alter erreichte Co rn elius, or starb
mit 89, nach ihm kommt Watts mit 80; der jüngste, Fortuny, starb
mit 36 Jahren. Das Durchschnittsalter von 30 Musikern beträgt
62 Jahre, der älteste unter ihnen war Auber, der es auf 89 brachte,
der jüngste Schubert, der schon mit 31 Jahren vom Tode hinweg-
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strafft wurde. Von den dreifsig erreichten vier ein Altor von über 80,
neun zwischen 70 und 80, sieben zwischen 60 und 70, während nur
vier unter 30 Jahren starben.
Das Durchschnittsalter von 26 Novellisten betrügt 63, das von
40 anderen Schriftstellern 67 Jahre. 66 Oeistlioho — Erzbischöfe,
Bischöfe und Kardinale, bei denen man ein langes Leben voraussetzt,
sind ausgeschlossen — haben ein Durchschnittsalter von 66 Jahren
erreicht; an der Spitze derselben steht der verstorbene Dr. Martineau
mit der netten Jahreszahl von 94 und am Schlufs Itobertson, der
mit 37 Jahren starb. 36 berühmte Frauen haben das nicht zu ver-
achtende Durchschnittsalter von 69 Jahren zu verzeichnen — ein
neuerlicher Beweis von der Zähigkeit und Ausdauer des Frauen-
geschlechtes, welcher das Sprichwort „Weiber und Katzen sind nicht
umzubringen“ bekräftigt. Die Gründerin des ersten Frauenklubs,
Mary Somerville, steht mit 92 Jahren an der Spitze der Frauenliste.
Emilie Bronte am Schlufs derselben — sie zählte kaum dreifsig,
als sie aus dem Leben sohied. Von den 35 berühmten Frauen, die
unser Autor anführt, erreichten nur fünf nicht das Alter von 60 Jahren,
nicht weniger als 19 überschritten die Siebzig.
Den Rekord der Langlebigkeit mufs man unbedingt den Ge-
schichtsschreibern zuerkennen. Thayler führt 38 mit einem Durch-
schnittsalter von 73 Jahren an. Der Senior unter ihnen war Ranke
mit seinen 91 Jahren, Buckle war genau um ein halbes Jahrhundert
jünger, als er das Zeitliche segnete. Nicht weniger als 14 unter diesen
38 Geschichtsschreibern wurden 80 Jahre alt. Das Durchschnittsalter
der Philosophen beträgt 65. Die Forscher und Erfinder kommen
gleich nach den Geschichtsschreibern. Das Durchschnittsalter der 68
berühmtesten Forscher aller Länder beläuft sich auf 72 Jahre.
11 unter ihnen — als ältester H umboldt — starben über 80 Jahre alt.
In der Welt der Praktiker ist der Durchschnitt ein noch höherer.
Das Durchschnittsalter eines Agitators beträgt 69 Jahre; es pendelt
zwischen Kossuth 92 und Lassalle 39. Generale und Admirale
weisen in Amerika ein Durchschnittsalter von 66, in Europa von
71 Jahren auf. Der älteste Name auf der Liste ist der Radetzkys
mit 92, der jüngste der Skobeleffs mit 39 Jahren. Die Präsidenten
der Vereinigten Staaten erreichen das annehmbare Durchschnittsalter
von 67 Jahren, die britischen Premierminister das von 77, die in der
Öffentlichkeit stehenden Briten überleben die Amerikaner derselben
Lebensstellung um 6 Jahre. Das allgemeine Durchschnittsalter von
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42
112 europäischen und amerikanischen in der Öffentlichkeit stehenden
Männern beläuft sich auf 71 Jahre.
Thayler weist weiterhin nach, dafs die Durchschnittslebensdauer
der angeführten Gruppen und Individuen 69 Jahre und 8 Monate
beträgt:
46 Dichter Durchschnittsalter 66 Jahre
39 Maler und Bildhauer . . „ 66 .,
30 Musiker „ 62 „
26 Belletristen „ 63 .,
40 Schriftsteller . . . • . „ 67 „
22 Geistliche „ 66 ,,
•35 Frauen ........ ., 69 „
18 Philosophen „ 65 .,
38 Historiker ., 73 ,.
58 Forscher und Erfinder . „ 72
14 Agitatoren ., 69 „
48 Generale und Admirale . „ 71 *
112 Staatsmänner ., 71 ,.
ist gleich einer Durchschnittssumme von 68 Jahren und 8 Monaten.
Es lärst sich einwenden, dafs eine beträchtliche Anzahl dieser
Persönlichkeiten schon im 18. Jahrhundert geboren und erzogen
worden ist und starb, ehe die schädlichen Zustände des 19. Jahr-
hunderts zur vollen Geltung kamen. Das ist wohl richtig, aber nach
genauer Prüfung werden wir auch finden, dafs die meisten der vor-
erwähnten Langlebigen ihre eigentliche Berühmtheit erst im Laufe
des 19. Jahrhunderts erlangten. Man kann füglich 1820 als das Jahr
bezeichnen, in welchem die allgemeine Aufnahme der Dampfkraft eine
Revolution im Fabriks- und Verkehrswesen hervorrief. Erst 1840
begannen die Eisenbahnen, Menschen und Waren in gröfseretn Um-
fange nach allen Weltrichtungen zu befördern. 1860 kam der elek-
trische Telegraph erst zur allgemeinen Anwendung. Seit 1860 ver-
drängt eine grofse Erfindung die andere, und die Menschheit ist in
dio Periode der Raschlebigkeit hineingedrängt worden. Wir können
also dreist behaupten, dafs die gegenwärtigen Zustände seit etwa einem
halben Jahrhundert bestehen, und dafs, wenn sie wirklich schädlich
wären, ihre Wirkungen sich an jenen Männern hätten geltend machen
müssen, die um das Jahr 1850 in ihrer Blüte standen.
Von dieser These ausgehend, erklärt Thayler, dafs es heutzu-
tage keinerlei Degenerationen gibt: „Die großen Übel, die uns ent-
gegentreten, sind : Armut, ökonomische Ungleichheiten, Korruption im
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öffentlichen Leben, Betrügereien im Handel, Spiel, Unwissenheit, Ver-
nachlässigung der Kinder, ihre unverantwortliche Ausnutzung in den
Fabriken, Pauperismus, Verbrechen und Sensationsjournalistik. Aber
standen all diese Laster aufser einigen wenigen nicht auch zur Zeit,
da Elisabeth Königin und Borgia Papst wur, in vollster Blüte?
Waren sie denn nicht vor dem goldenen Zeitalter des Augu stus
schon alt? Damals herrschten auch noch andere Greuel, welche
mittlerweile von den Kulturvölkern ausgerotlet wurden: wie religiöser
Fanatismus, welcher gleichzeitig an hundert Stellen Feuer entzündete
und es jahrhundertelang hell lodern liefs, blutdürstiger Aberglaube,
dem neun Millionen Seelen zum Opfer fielen, Sklaverei, gewohnheits-
mäfsige Grausamkeit, gerichtliche Folterung und andere Brutalitäten,
deren Namen wir gar nioht aussprechen können, Blutopfer, Dienstbar-
keit der Frauen, durch Unwissenheit und Unvernunft veranlagte Ver-
nachlässigung der Kinder, Krüppel und Irren, Mifshandlung der
Tiere u. s. w.“
Der Irrtum der Degenerationsprediger liegt in ihrer falschen
Diagnose. Sie gehen darauf aus, aus der Liste der Genies die Ent-
artung zu beweisen, indem sie jede Abweichung vom Normalmenschen
als solche bezeichnen.
Aber der Normalmensch ist nur eine Abstraktion, eine Figur
von gewisser Höhe, gewissem Gewicht und gewissen Proportionen —
sonst nichts. Der krankhafte Psychologe vergleicht diese Figur mit
dem Genie und findet, dafs Darwin, der an Übelkeiten litt, und
Carl.vle, der ein Dyspeptiker war, von dem Idealnormalmenschen
abwichen, also degeneriert gewesen sein mufsten
Aber wie sehr entstellt er mit dieser These die Wahrheit!
Diese bedeutenden Männer, wie alle anderen geistigen Koryphäen seit
Urbeginn der Welt, waren nicht infolge ihrer Leiden bedeutend, son-
dern trotz derselben! Krankheiten gab es zu allen Zeiten und in
allen Ländern, nur schenkt man ihnen heute, wo die so lange ver-
nachlässigte Hygiene zum Schofskind der Medizin geworden, mehr
Beachtung. Die verminderte Sterblichkeitsziffer in den Qrofsstädten
beweist klar und deutlich, dafs das so beliebt gewordene Schlagwort
„Degeneration des Menschengeschlechts" nur eine falsche Mär ist,
der wir keinen Glauben schenken dürfen. „Auf zum Licht, zu immer
gröfserer physischer und geistiger Vollendung!“ sei das Schlagwort
des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Schwarzseher sollen uns nicht
bange machen, sie sollen tauben Ohren predigen!
Die nahezu totale Mondfinsternis vom u. April 1903.
Es ist bekannt, dals bei totalen Mondfinsternissen der verfinsterte
Mond auch dem unbewaffneten Auge meist in einem braunroten
Farbentone sichtbar bleibt, dessen Stärke allerdings von Finsternis
zu Finsternis wechselt. Dieso Beleuchtung rührt von der Erdatmo-
sphäre her, die für einen Beobachter auf dem Monde während einer
solchen Finsternis die völlig schwarze Scheibe der Erde etwa wie ein
rötlich angehauchter Heiligenschein umschwebt. Bei der letzten Mond-
finsternis war nun der Mond nicht nur dem unbewaffneten Auge bis
auf das schmale, aus dem Schatten hervorragende Stückchen des
nördlichen Bandes völlig unsichtbar, sondern auch im Fernrohr nahm
man nur eine grauschwarze Färbung ohne jeden roten Ton wahr,
wie übereinstimmend berichtet wird. Wenigstens für die Beobach-
tungen mit dem Fernrohr kann man dies nicht durch die Übcrstrahlung
der schwachrot leuohtenden Sohattenpartien von seiten des sichtbar
gebliebenen Randstücks erklären. Man hat nun in ähnlichen Fällen,
wo der verfinsterte Mond ganz verschwand, zu der Annahme ge-
griffen, dafs, wenn grofse Wolkenmassen über jenen Gegenden der
Erde schweben, die für den Mond am Rand der Erdscheibe liegen,
für die der Mond also eben auf- oder untergeht, diese Wolken erheb-
liche Teile jener Strahlen der unter- bzw. aufgehenden Sonne ab-
fangen würden, die dem Monde den zarten Schleier um die Nachtseite
der Erde weben. Einerseits werden aber solohe Wolkensoharen kaum
längs eines gröfsten Kreises um die ganze Erde ununterbrochen lagern,
andererseits reichen auch Wolken nur bis in geringe Höhen, und
zwischen und über den Wolken würde noch Licht genug durch-
passieren. Der Mondbewohner könnte nur gerade aus diesen Lücken
die Verteilung der 'Wolkenmassen in diesem gröfsten Kreise studieren.
Herr Johnson in Bridport gibt nun eine andere Erklärung für
die so sehr seltene Erscheinung der völligen Unsichtbarkeit des ver-
finsterten Mondes mit unbewaffnetem Auge, die immerhin der Beach-
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tung wert ist. Er glaubt gefunden zu haben, dafs dieselbe stets bei
Finsternissen eintritt, die sich ein, höchstens zwei Jahre nach starken
vulkanischen Ausbrüchen ereignen. Wir wissen aus den Dämmerungs-
erscheinungen, welche noch lange nach dem Ausbruch des Krakatoa
1883 und ebenso nach dem des Mont Pelö im vorigen Jahre auf-
traten, dafs die feinsten Aschenteile der Auswurfprodukte allmählich
sehr hoohschwebend sich rings über die ganze Erde verteilen. Be-
finden sich alBO die niederen Schichten der Atmosphäre nach aufsen
ganz durch eine solche volle Kugelschale feinster Asche abge-
schlossen, so erscheint diese allerdings geeignet, Sonnenstrahlen,
welche fast tangential durch die Kugelschale gehen, also erhebliche
Strecken der Aschenschicht durohdringen müfsten, ganz abzufangen.
Johnson stellt in Parallele die letzte Mondfinsternis mit den Kata-
strophen im Karaibischen Meere im Vorjahre, die Mondfinsternisse
vom 4. Oktober 1884 und 30. März 1885 mit dem Ausbruche des
Krakatoa 1883, die Finsternis vom 10. Juni 1816 mit der Eruption
des Mayon auf den Philippinen 1814 und führt weiter die Mond-
finsternis vom 18 Mai 1761 an, von der Wargentin in Stockholm
berichtet, dafs er auch im Fernrohr nicht die leiseste Spur des ver-
finsterten Mondes zu entdecken vermochte. Zwei Jahre vorher fand
in der Nacht vom 28. zum 29. September 1759 die Bildung des Vul-
kans Jorullo in Mexiko statt, der, 270 km von der See und 320 km
von einem tätigen Vulkan entfernt, einen Landstrich von 12 Quadrat-
kilometern Flächeninhalt bis zu 160 m emporwulstete, in welchem
inmitten zahlreicher feuerspeiender Kegel 6 Berge von 400 — 500 in
Höhe entstanden, deren gröfster Vulkan, der Jorullo, bis zum Februar
1760 seine feuerspeiende Tätigkeit forlsetzte. Zu einer noch früheren
Finsternis mit unsichtbarem Monde vom April 1642, die Wcndelinus
erwähnt, pafst ein Ausbruch des Tunguragua auf den Philippinen 1641,
und zu einer von Tyoho beschriebenen von 1588 die schrecklichen
Ausbrüche der beiden Fucgos de Guatemala im Jahre 1586. Dio
nächste Mondfinsternis vom 6. Oktober 1903, die noch unter ähnlichen
Bedingungen wie die letzte stattfinden raufs und somit als Prüfstein
der Joh nsonschen Theorie dienen kann, ist leider nur in Asien und
Australien sichtbar, wird also nicht viel beobachtet werden.
Zur Erklärung einer anderen, ebenfalls seltenen Erscheinung bei
Mondfinsternissen hat der jüngst verstorbene Observator der Stern-
warte in Bonn, Fr. Deichmüller, noch wenige Woohcn vor seinem
Tode in A. N. 3866 Stellung genommen. Wir meinen die Fortsetzung
des Erdschattens außerhalb der Mondscheibe. Er beobachtete die-
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gelbe aui 11. April d. J. beim Fortscbreitea des Schaltens auf dem
Monde und hält sie lediglich für eine Kontrastwirkung, die nur dann
zum Bewußtsein kommt, wenu der bereits verfinsterte Teil des Mondes
einförmig grau ist. Deichmüller fand die Umgebung des Mondes
neben den noch leuchtenden Partien tiefblau, in der Komplementär-
farbe des glänzendgelben Mondes erscheinend, neben den bereits ver-
finsterten ebenso bleigrau wie jene, sogar ohne dafs der Mondrand
erkennbar war. Die beiden verschieden gefärbten Teile des Uimmels-
grundes wurden duroh eine scharfe, bis auf einige Bogenminuten vom
Mondrand nach aufsen zu verfolgende Trennungslinie geschieden, die,
lediglich auf Augentäuschung beruhend, doch genau in der Fort-
setzung des Schattenrandes auf dem Monde verlaufen mußte. Die
Erscheinung tritt naoh Deichmüller nur ein, wenn der verfinsterte
Teil des Mondes nahezu ganz verschwindet, also sehr selten; ist er
rotbraun gefärbt, so tritt auch neben ihm ein wenngleich schwächeres
Blau als Himmelsgrund auf ohne scharfe Trennungslinie gegen die
Partie neben den noch beleuchteten Mondesteilen. llp.
$
Der Begleiter des Polarsterns, ein Stern 9. Gröfse, scheint nach
Beobachtungen von Dr. Jost in Heidelberg, die sich vom 8. No-
vember 1902 bis 26. Februar 1903 erstreckten, veränderlich zu sein.
Verglichen mit 4 polnahen Sternen, deren Helligkeit soharf gegen die
Miiller-Kempfschen Plejadensterne bestimmt wurde, ergaben sich
dabei für die photometrischen Größen des Polarisbegleiters Werte,
die zwischen 8m Ö2 und 9“1 64 liegen, also zweifellos eine wirkliche
Lichlschwankung anzeigen, wenngleich die bisherigen Beobachtungen
die Dauer der Periode noch nicht sicher erkennen lassen. Dafs der
Polarsternbegleiter in den Meridianfernrohren bei Beobachtung der
Kulmination des Hauptsterns sehr verschieden gut sichtbar war, ist
gewiß schon vielen Astronomen aufgefallen, man war indes wohl
meistens geneigt, dies allein auf die wechselnde Luftdurchsichtigkett
zu schieben. Der Begleiter gehört dem System des Polarsterns phy-
sisch an; er hat, seit er gemessen ist, Distanz und Positionswinkel
gegen den Hauptstern noch nicht merklich geändert, obwohl sich
dieser um 0"042 in R. A. jährlich bewegt; der Begleiter geht also
mit ln dem Licht des Hauptslerns 2m2 bergen sich für uns be-
kanntlich 3 Sterne, die das Spektroskop uns offenbart hat. Zwei von
ihnen laufen in 4 Tagen mit 3 km Geschwindigkeit im Visionsradius
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umeinander. Das System, welches sie mit einem dritten Stern bilden,
schwingt in mehr als 15 Jahren mit etwa 6 km Geschwindigkeit um
den gemeinsamen Schwerpunkt. Hierzu tritt nun die Veränderlichkeit
des 4. Sterns des Systems, der optisch trennbar ist, als weitere Eigen-
tümlichkeit. Die schärfere Festlegung des letzteren ist wohl auch
Liebhabern der Astronomie mit geeigneten Instrumenten möglich.
Rp.
t
Die Drehung der Polarisationsebene elektrischer Wellen. Nach-
dem durch die genialen Untersuchungen unseres unvergeßlichen Lands-
mannes Heinrich Hertz die Ätherwellennatur der Strahlen elek-
trischer Kraft nachgewiesen war, gelang es auch bald, alle jene Er-
scheinungen an den elektrischen Strahlen nachzuweisen, welche man
am Licht längst kannte. Schon Hertz selbst stellte die Reflexion
und Brechbarkeit elektrischer Strahlung fest. Späterhin gelang es
C. Bose, die Drehung der Polarisationsebene nachzuweisen, indem er
die elektrischen Strahlen durch ein Bündel gedrillter Jutefasern schickte.
Zieht man die Analogie der Lichtstrahlen heran, so findet man also
die Jutefasern in gleicher Weise auf die elektrischen Strahlon ein-
wirkend, wie etwa Quarz und Zucker auf Lichtstrahlen. Wie wir einer
italienischen Fachzeitschrift entnehmen, hat nunmehr Carbasso die
Drehung durch ein fast noch einfacheres Mittel dargetan. Schon aus
den Untersuchungen Righis ging mit GewifBheit hervor, daß sich
Holz elektrischen Wellen gegenüber kristallähnlich verhält. Car-
basso konstruiert nun aus Holzplatten folgendermaßen einen Apparat
zur Drehung der elektrischen Polarisationsebene. Er schneidet sechs-
kantige Holztafeln von etwa 15 cm Seiten parallel zu den Holzfasern
heraus und legt sie in größerer Zahl so aufeinander, daß ihre Fasern
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um 120° gegeneinander gedreht werden. Nach seinen Angaben ver-
mögen Tafeln von 2,5 cm Dicke allerdings noch keine mefsbare
Drehung hervorzurufen. Bei einer Dicke von 5 cm beträgt aber der
nachweisbare Wert der Drehung schon 8 — 10°, bei noch grüfserer
Schichtdicke natürlich entsprechend mehr. Die Drehung erfolgt in
demselben Sinne, in dem auoh die Holztafeln gegeneinander versetzt
worden sind.
Wir haben zum besseren Verständnis des Vorganges eine Skizze
beigefügt, welche die Drehung der Polarisationsebene durch den Holz-
plattensatz C veranschaulicht. Der mit einem Oscillator ausgerüstete
Hertzsche Spiegel A sendet nur elektrische Wellen in der vertikalen
Schwingungsebene aus. Der Strahl ist also bereits durch seine
Entstehung polarisiert und kann daher durch den Cohärerspiegel B
nur dann aufgefangen werden, wenn dieser ebenfalls vertikal steht.
Sonst läuft er sich an ihm tot. Dieser Fall würde bei der in der
Figur dargestellten Situation eintreten, wenn nicht der in den Strahlen-
gang gebrachte Holzplattensatz eine Drehung der Polarisationsebenc
bewirkte. Die dargestellte Wendung um 90° läfst sich allerdings
nicht erreichen; der Versuch verläuft vielmehr folgendermarsen: Die
anfangs gleichsinnig stehenden Spiegel werden gegeneinander so ver-
dreht, dafs der Cohärer gerade nicht mehr anspricht. Wird dann der
Plattensatz in den Gang der Strahlen gestellt, so tritt der Cohärer
sofort wieder in Tätigkeit, falls die Drehung der Holzlasern im Sinne
der vorangegangenen Spiegeldrehung besteht. B. D.
♦
Verlag: Hermann Paetel in Berlin. — l>rock: Wilhelm Gronau'» Bucbdrockerei ln Berlin - Scbäneberg.
Pfir die Bedaction verantwortlic h : Dr P. Schvrnhn io Berlin.
Unberechtigter Nachdruck an« dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Chereetsnngcrecht Vorbehalten.
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In der Höhlenwelt von St. Canzian: Letzte Rekaschwinde.
Aufcenonimen von Francesco Hen<|iie in Triest.
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Die Höhlenwelt von St. Canzian.
_ __ Von Dr. P. Srhwabn in Berlin.
-6^ [5 1 her allerlei merkwürdige Entdeckungen im Reiche der Unter-
t/srTp weit konnte man jüngst in den Tageblättern lesen. Im Wald-
stättenkanton Schwyz wurde durch kühne Forscher eine im-
posante Höhlenwelt erschlossen, auf Capri gelang es den Bemühungen
eines deutschen Malers, in das Felsenloch einzudringen, welches den
Zugang zu einer neuen Qrotte an der grauen Steilküste dieses Eilandes
bildet. Wunderliche Hinge sind dabei berichtet worden. So konnte
man bei dem einen Höblenfunde von einem Niagara lesen, der die
unterirdischen Räume - durchtosen soll, bei dem anderen von einem
Lichtzauber und einer Praoht der Kalksinterbildungen, denen gegen-
über das Kleinod Capris, die weltberühmte „Qrotta azzurra“, weit in
den Sohatten tritt
Etwas sensationell angehaucht erscheinen diese Erzählungen.
Vielleicht eraohtet man es ab und zu für geboten, zu den übrigen
grandiosen Naturszenerien der Schweiz und des Felseneilands am
Golfe der Parthenope noch ein paar andere hinzuzufügen, damit die
Wunder vollständig werden und der Bergfex in diesen beiden Dorados
der reiselustigen Welt auch bei unterirdischen Wanderungen auf seine
Kosten kommen könne.
Vorläufig wird der Höhlen fround gut tun abzu warten, was an
diesen Berichten Wahres bleibt Er kann dies um so mehr, als der
krainische und der küstenländische Karst genug Gelegenheit bieten
die Sohrecknisse der Unterwelt kennen zu lernen.
Wenn von den Höhlen des Karstes die Rede ist, denkt man in
erster Linie an die Adelsberger Qrotte. Sie ist weltbekannt; sohon
auf der Sohulbank haben wir von ihr gehört. Bereits im Jahre 1213
Bimmel un.l Kr.ln IW». XVI. 2. 4
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BO
wurde sie von Mensohen betreten, und seitdem die erste gründliehe
Beschreibung von dem Krainer Chronisten Valvasor 1689 gegeben
wurde, ist sie vielfaoh Gegenstand begeisterter Schilderungen geworden.
In dem Mähe wie der Ruhm dieser Höhlenwelt verkündet worden iet,
wird sie von Soharen Fremder besucht. Zu ihr wandelt der Brite,
der an den Rasaltsäulen der Fingalsgrotte gestanden, zu ihr der Skan-
dinavier, dem der Donner seines Rjukanfos in den Ohren gellt, ihr
opfert auoh der Deutsche gern ein paar Stunden, wenn er über das
öde Steinmeer des KarsteB der blauen Adria zustrebt.
Die Adelsborger Grotte verdankt ihren Weltruf nicht nur ihrer
eigenartigen Natur, sondern auoh der rührigen Tätigkeit der Grotten-
verwaltung, die für das „Wunder von Adelsberg“ geschickt Reklame
zu machen verstand. Findet man doch auf allen Stationen der öster-
reichischen Südbahn, selbst in Tirol, mächtige Plakate, die den Preis
der Grotte verkünden, die von den bezaubernden Reizen einer unter-
irdischen Wanderung bei magischer ßeleuohtung erzählen und endlich
all’ jenen Komfort versprechen, den Adelsberg in Form vornehmer
Hotels darbietet.
Ein wenig Reklame für Adelsberg ist schon deshalb geboten,
weil nicht weit davon im küstenländischen Karst ein anderes Natur-
wunder viel von sich reden macht. Es sind die Rekahöhlen bei
St. Canzian sowie die im Jahre 1884 entdeckte Kronprinz Rudolf-Grotte
unweit der SUdbahnstation Divaöa. An Gröfse und Wildheit übertreffen
diese Rekahöhlen bei weitem die Adelsberger Grotte und, was ihnen
an Gestaltenreiohtum abgeht, das ersetzt die nahe Kronprinz Rudolf-
Höhle durch wundervolle Tropfsteinbildungen. Eins haben aber die
küstenländischen Grotten sioher voraus: den Reiz der Ursprünglich-
keit und Neuheit. Denn wohin der TouristenBtrom sich ergiefst, wo
man einer gewaltigen Natur durch allerlei KunstBtüoke und LichtefTekte
Zwang antut, wie dies in Adelsberg geschieht, da wird der Besuch
der Unterwelt zu einer Salonpromenade; der Wanderer empfindet
nichts mehr von dem angenehmen Grausen, das ihn sonBt wohl beim
Betreten der Hallen Proserpinas beschleicht.
Tatsache ist auch, daf6 die Adelsberger Grotte, bevor sie elektrisch
beleuohtet wurde, aufserordentlioh viel unter dem Qualm des Faokel-
lichtes zu leiden gehabt hat. So manche der früher herrlich glitzern-
den Tropfsteinbildungen sind dadurch in ein nichtssagendes graues
Gewand gehüllt worden. Die Höhlen von Divaöa prangen dagegen
in reinster Jungfräulichkeit, sie sind von dem Schwarm der Touristen
fast unberührt geblieben, denn merkwürdigerweise hat Bich die Ge-
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meindeverwaltung von Divaca nicht dazu verstehen können, für das
„Weltwunder der Reka“ die Reklametrommel zu schlagen.
Wir werden heute unseren Lesern von den Rekakatarakten be-
richten und von den Säulenaltären der Qeister, welche dort in finsteren
Nischen so vieler noch unbetretener Katakomben stehen. Wie eine
moderne Robinsonade klingt die Erforschung dieser Höhlenwelt.
Aber bevor wir in das unterirdische Labyrinth eindringen, ein
paar Worte über die Gegend von Divaöa und St. Canzian sowie über
die merkwürdige Natur des Karstes.
Die Landschaft, welche „Karst“ benannt wird, beginnt unmittelbar
südlich von der krainiscben Hauptstadt Laibach. Indessen sind in
Krain die typischen Erscheinungen der Verkarstung durch üppigen
Waldbestand teilweise maskiert. Der Reisende, welcher auf der Süd-
bahn nach Triest oder Fiume fährt, merkt in Krain kaum etwas von den
Steinwüsten und den dort sich geheimnisvoll öffnenden Verliesen, die
in das Reich der Nacht führen. Nur ab und zu erblickt er zwischen
urwaldäbnliohen Tannen und Buchen kreisförmige Bodenvertiefungen,
die sogenannten Dolinen, als einzige Anzeiohen der unterirdischen
Zerklüftung. Erst nachdem die Stationen Adelsberg und St Peter er-
reicht sind, beginnt die eigentliche Hochfläche des Karstes, und hier
sieht man sich rings umgeben von versteinerten Wogenbergen und
-Tälern; es ist ein Felsenmeer im geologischen Sinne. Moränenartig
sind die grauen, flimmernden Kalktrümmer daselbst über die Land-
schaft zerstreut sie verleihen ihr das Aussehen eines maurisohen Fried-
hofes mit stellenweise aufgerichteten Monolithen. Dem Auge macht
dieses Bild chaotischer Zerstörung den Eindruck als hätten die Ele-
mente hier furchtbar gehaust Doch ist der Prozefs der Verkarstung
kein gewaltsamer gewesen, Bondern ein verhältnismäfsig langsamer;
er ist auch nur zum geringsten Teil durch die Entwaldung der Hoch-
fläohe bedingt worden.*) Der Grund der Bodenzertrümmerung liegt
vielmehr in den klimatischen Verhältnissen und in der Qesteins-
beechaffenheit selbst, welche einer fortschreitenden oberirdischen und
unterirdischen Erosion die Wege bahnten. Dem Walten dieser Natur-
kräfte ist es zu danken, dafs einer der merkwürdigsten und sehens-
würdigsten Landstriche geschaffen wurde, zerrüttet und unterwühlt,
voll Höhlen und Riesenquellen mit landschaftlichen Kontrasten, welche
die kühnste Phantasie vergeblich ersinnen würde.
*) Dafs die Venezianer in Istrien und Dalmatien ihren gewaltigen Holz-
t>edarf gedeckt haben, stellt fest. Ob aber dadurch die Verödung nnd Ver-
karstung dieser Länder herbeigefiihrt ist, erscheint zweifelhaft, ln Dalmatien
haben die Ziegen sicherlich mehr den Waldbestand vernichtet
4*
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Mitten in dieser steinigen Wildnis des Karstes, etwa aut halbem
Wege zwischen St. Peter und Triest, liegt die Südbahnstation Divaöa.
Hier entsteigen wir dem Zuge, um nach St. Canzian zu wandern. Zu-
vor aber wollen wir in der dicht beim Bahnhof liegenden Wirtschaft
von J. Mahortschitsch einkehren und uns bei einem Qlase Wein auf
die Sehenswürdigkeiten der Unterwelt ein wenig vorbereiten lassen.
Der ortskundige Gastherr, der den stolzen Titel eines „Grottenvaters“
führt, weifs allerlei merkwürdige Dinge über die säulengeschmüokten
Hallen der nahen Kronprinz Kudolf - Grotte zu berichten, deren
Entdecker, Gregor Siberna, sich inzwischen eingefunden hat, um
uns nötigenfalls als Führer zu dienen. Auch der schauerliche Ab-
grund des Schlangenloohes, der slavischen „Kacna Jama“ — ein Ab-
grund, welcher dicht beim Orte 200 m in die Tiefe reicht und sich
kilometerlang unter Divaöa hinzieht — , bildet den Mittelpunkt des Ge-
spräches. Nur von den Höhlen bei St. Canzian will unser biederer Wirt
nichts wissen; dies verbietet ihm selbstverständlich der Lokalpatriotis-
mus. Dafs auch der löbliche Magistrat von Divaöa während unserer
Unterhaltung in die Diskussion gezogen und dessen mangelnde Unter-
nehmungslust im Gegensatz zu der Rührigkeit, die man in Adelsberg
entfaltet, nicht gerade sehr vorteilhaft beurteilt wird, darf ich wohl
verraten; ja ioh mufs dem Grottenvater von Divaöa durchaus bei-
stiminen, wenn er sich und dem Orte goldene Borge von dem not-
wendigen Requisit jeden Erfolges, von ein wenig Reklame für die
Höhlenwelt dieser Gegend, versprioht.
Vorläufig vertrösten wir unseren Wirt damit, dafs wir die Kron-
prinz Rudolf-Grotte, vielleicht auch die Kaöna Jama bei der Rückkehr
würdigen werden und treten die Wanderung nach Sh Canzian an.
Sie führt uns zunächst nach dem Dörfchen Gradisohce mitten
in den Bereich der eigenartigen Karstszenerien. Es ist nicht über-
trieben, wenn man behauptet, dafs an keiner Stelle des grofsen Alpen-
gebietes sioh dem Reisenden eine derartige Überraschung darbietet
wie hier. Geht man grofsen und wilden Szenerien des Hochgebirges
entgegen, so naht man sich ihnen in keiner Weise unvorbereitet.
Hier, wo wir die Wunder der Unterwelt schauen, ist es anders! Auf
fast ebener Fläche sohreitet der Wanderer fort, und die gewaltigen
Schrecknisse der zerrissenen und zerklüfteten Erdkruste enthüllen
sioh hier nicht über seinem Haupte, sondern zu seinen Füfseu.
Einen Anblick, wie man ihn auf der Mondoberlläche haben
würde, bietet die Rundschau bei Gradisohce. Wir schauen in ein
Gewirr von kraterähnlichen Schlünden, wir stehen vor einer ganzen
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Kette von Dolinen, deren gröfste, die Jablana, nioht weniger als 380 m
in die Tiefe reicht Diese Dolinen sind zugleich die „Blumentöpfe
des Karstes“. In ihnen grünt und blüht es, während oben in der
St. C&nsian mit Dolinen.
Aufgenommen von Francesco Bonquo in Triest.
Steinwüste nur spärliches Buschwerk gedeiht, über welches im Winter
die Bora fegt die den Baumwuchs nicht duldet.
Bald hinter Gradisohce wird die grofse Doline von St. Canzian
erreicht, das eigentliche Wunder dieser Gegend, welches die Geheim-
nisse der Keka umschliefst Wir betreten am Westrande dos Felsen-
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kessels einen aufgemauerten Aussichtspunkt, die sogenannte Stephanie-
warte (Fig. S. 63). Von dort eröffent Rioh ein imposanter Einblick in
den zerklüfteten Kiesensohl und. ln der Tiefe desselben, 160 m unter
uns, verschwindet die Keka im Reiche der Nacht, nachdem sie uns
gegenüber unter dem Plateau von St, Canzi&n ihrem finsteren Ge-
fängnis entschlüpft ist Wir schauen in die dunklen Grotten und
Gänge, in die schwarzen Verliese, durch welche der Strom rauscht,
wir hören das Summen seiner stürzenden Wasser am Grunde des
Schlundes, aber die Situation ist schwer zu begreifen, denn ein Wirrsal
von Felsstaffeln und Kiffen zwischen Buschwerk und Blöcken ver-
deckt uns den Blick. Das Ganze wirkt so verwirrend, dafs man sich
nur mit Hilfe einer guten Karte zu orientieren vermag (siehe das
Kärtohen S. 65). Die Doline selbst ist durch einen 60 m hohen Querriegel
in zwei Kessel getrennt, in die sogenannte „Grofse und Kleine Dolina“.
Die Reka, welche dort drüben unter dem Plateau von Sh
Canzian nach kurzer Gefangenschaft aus dem Felsen kommt, durob-
strömt zuvörderst den kleinen Trichter, durchbrioht mit Biaffelförmi-
gem Gefälle den erwähnten Riegel unter einem Felsentor, um 10 m
tief in den grofsen Trichter hinabzustürzen und gleich darauf ein
teichartiges Becken in demselben zu bilden. Alsdann iliefst sie mittels
eines Kataraktes aus letzterem ab und verschwindet am Grunde der
160 m hohen Dolinenwand fast unmittelbar unter der Stephaniewarte,
auf der sieb unser Standpunkt befindet. Hier tritt nun der Flufs
seine rätselhafte Wanderung in die Unterwelt an. Die nächtlichen
Hallen, die er durchrausoht, hat man nur etwa 1 Kilometer verfolgen
können; sein weiteres Schicksal ist ein tiefes Geheimnis, denn nur
Vermutungen sind es, dass man in dem zwischen Duino und Mon-
falcone in die Adria mündenden Timavo den Abflufs dieses merk-
würdigen aoherontisohen Wassers gesucht hat.
Die Umgebung der Doline fesselt nicht minder den Blick wie das
Wunder der Tiefe. Drüben, jenseits dos Riesensohlundes, thront auf
gewaltiger Felsmauer das Dorf St. Canzian mit dem schlanken Turm
des dem heiligen Cantianus geweihten Kirchleins. Und weiter sohweift
das Auge gen Osten über die gleifsenden Steintrümmer bis zum fernen
Horizont, wo das weifse Haupt des Krainer Schneeberges und die
graue Felsenmauer des Nanos in den blauen Himmel des Südens
ragen. Es ist ein formenreiches, überraschendes Bild; ein heroischer
Zug liegt in dieser Landschaft des Karstes!
Doch nun hinab in die gewaltigen, von dem Toben und Rauschen
der Reka erfüllten Dome. Gegenüber der Stephaniewarto, dicht neben
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St. Canziau befinden eich die wenigen Häuser von Malawun. Hüne
darunter, das Gasthaus des J. Gombatsoh .Zu den Canzianer Grotten",
bildet den Sammelpunkt aller Höhlenfahrer. Hier findet man neben
guter Verpflegung Führer für die unterirdische Wanderung sowie die
dazu nötigen Requisiten, als Kerzen, Fackeln, Magnesiumband u.s. w. Die
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schlichten Räume des Wirtshauses haben manche hochromantisohe Ge-
schichte erzählen hören, als vor wenigen Jahren kühne Pioniere die
ersten Entdeckungsfahrten mit ihren gruseligen Zwischenfällen in das
naohterfüllte Reioh der Reka unternahmen. Wer heute dasselbe be-
sucht, hat es freilich leichter. Durch die Fürsorge der Sektion Küsten-
land des Deutschen und österreichischen Alpenvereins sind die be-
denklichsten Hindernisse beseitigt und die Pfade gebahnt worden.
Zwar wird dafür eine kleine Eintrittsgebühr erhoben, doch kommt’die-
selbe lediglich der weiteren Ersohliefsung und Erforschung der Höhlen-
welt zugute. Wir leisten die bescheidene Beisteuer um so freudi-
ger, als es noch gewaltiger Mittel bedarf, um ‘die Rekawunder der
Touristenwelt voll zu ersohliefsen, und die Höhlenwanderung an sich
ein äufserst billiges Vergnügen ist. Der Führerlohn beträgt für den
einzelnen Besucher nur 20 kr pro Stunde, und wenn mehrere Zu-
sammengehen, zahlt jede Person gar nur 10 kr pro Stunde. Gewifs
billige Verhältnisse, wenn man bedenkt, wie tief man oft in die Tasche
greifen mufs, um unter kundiger Leitung einen Bergriesen der Sohweiz
zu erobern!
Ehe wir in die Doline hinabsteigen und den Spaziergang durch
die unterirdischen Räume antreten, bedarf es noch einer kleinen Orien-
tierung auf der Oberwelt. Dort hinter St. Canzian liegt die Stelle, wo
die Reka zuerst ihren nächtliohen Lauf beginnt, wo sie unter dem
Felsenplateau des genannten Ortes vorsohwindet. Dorthin wollen wir
wandern I Unterwegs treffen wir gleich hinter dem Friedhof von
St. Canzian auf einen merkwürdigen Nalurschaoht; es ist der Abgrund
der Okrogtica, ein Looh von unheimlicher Tiefe, aus dem das Brausen
des acherontisohen Wassers an unser Ohr dringt. Unser Führer er-
greift einen Stein und wirft ihn in den Trichter hinab; erst nach fünf
Sekunden verkündet ' dumpfes Krachen die Ankunft desselben, und
polternd fällt er dann über eine Steinhalde in das Wasser hinab. Es
dünkt eine Kühnheit, dafs der Mensch es gewagt hat, auf diesem unter-
wühlten Boden ein ganzes Dorf anzubauen.
Gleich hinter der Okroglica fällt das Plateau von St Canzian sehr
steil gegen den nun sichtbar werdenden Rekaflufs ab. In tief ein-
geschnittenem Bette sohlängelt sich der Strom heran, mit dem Grün
seines Wassers das Grau des Gesteines belebend. Alte zerfallene
Mühlen und die Ruinen der Burg Neukofel geben seinen Ufern ein
romantisches Gepräge, weit öffnet sich das obere Rekatal, aus dem
freundliche Dörfer, Wiesen und angebaute Fluren und in dämmernder
Ferne der Krainer Sohneeberg uns entgegen winken.
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Wir steigen die Halde hinab und befinden uns an der Slelle,
wo der Flurs zum ersten Male in die Felsen eindringt. Schaumend
stürzt er über kleine Wasserfalle und Stromschnellen in sein Gefäng-
nis hinein. Das Tur, durch «-elches er demselben zustrebt (Fig. S. 67),
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Reka-Eintritt la die MahorUchiUchhölxle.
Aufgenommen vom Verfasser.
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hat eine Höhe von beiläufig 30 m und eine Breite von 10 m. Hell
flutet das Tageslicht in das Innere hinein, geisterhaft spiegeln aioh die
vorsohwimmenden Felskonturen auf dem dunklen Wasserspiegel der
Reka, bis endlioh peohsohwarze Naeht ihren weiteren Ijuif verhüllt.
Der unterirdische Dom, welchen der Strom zuerst durcbrauaoht,
zählt, was das Spiel der Farben betrifft, zu den herrliohaten von
St. Canzian. Fs ist die Mahortachitsohhöhle, von welcher sich eine
seitliche Halle — die Czoerniggrotte — abzweigt.
An diese Höhle knüpft sich eine merkwürdige Episode. Jahr-
hunderte vergingen, ohne dafs ein Menschenkind es gewagt hätte, über
das Portal hinaus auf dem nächtlichen Strom vorzudringen. Da ver-
suchte im Jahre 1884 ein waghalsiger Pionier dieser Höhlenwelt,
J. Marinitsch, die Durchfahrt vom Reka-Tor nach der kleinen Doline.
Sein Boot wurde von einem Wasserfall erfafst und am Felsen zer-
trümmert, Marinitsoh selbst wie durch ein Wunder gerettet, naohdem
er durch drei Fälle fortgerissen ward. Es gelang ihm, sich an eine
Felseuplatte zu klammern und auf dieselbe zu schwingen. Volle zwölf
Stunden lang safs er hier in der Stockfinsternis gefangen, den Tod
vor Augen, bis es den Anstrengungen seiner Frounde gelang, ihn
aus dieser verzweifelten Lage zu befreien. Später freilich hat der
unverzagte Grotten forscher noch einmal das Wagnis unternommen
und mit mehr Glück dieselbe Strecke flufsaufwärts in einem Boote
zurückgelegt.
Obwohl die Mahortsohitschhöhle nach dem Urteile mancher Tou-
risten hinsichtlich ihrer Licht- und FarbenefTekte mit der Blauen Grotte
auf Capri wetteifern soll, wird sie dooh viel weniger als die übrigen
Räume der Canzianer Höhlenwelt besuoht. Die Sektion Küstenland
hat noch nicht die Mittel gefunden, um diese hochinteressante örtlioh-
keit zu erschliefsen, und so lassen die Zugänge zu derselben vieles zu
wünschen übrig. Mögen begüterte Verehrer der Alpenwelt ihr Soherf-
lein beitragen, damit das gröfste Naturwunder Österreichs bald in seiner
ganzen Vollständigkeit der reisenden Welt eröffnet wird!
Vorläufig beschränken sich die Grottenfahrer auf den Besuch
der westlioh von der grofsen Dolina liegenden Wasserhöhlen; sie bilden
den Anfang jener ununterbrochenen Kette unterirdischer Hallen, welche
die Reka zu ihrem nächtlichen Lauf benutzt. Den Zugang zu diesem
Grottenkomplex vermittelt der „Alpenvereinsweg“; er führt von
St. Canzian am Gasthaus des Grottenvaters Gombatsch vorüber auf
dem die grofse und kleine Doline trennenden Felsgrat entlang und dann
weiter abwärts bis zum Grunde der grofsen Doline. Breite Steinstufen
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bieten dem Fufse Sicherheit, gute eiserne Geländer dienen der Hand
als Stütze, wo der Pfad über das schlüpfrige Gestein hinabführt.
Dieser Alpenvereinsweg ist der steinerne Ariadnefaden, der den Gast
von St Canzian zu all den wundersamen Sohaustücken führt, die sioh
aus wilden Wasserbrodeln, finsteren Toren, Felsabstürzen und aus-
sichtsreichen Warten zusammensetzen.
Bekfcfall and Tomm&ainibrflcke.
Aufgenommen von M. Schäber in Adelsberg.
Gleich zu Anfang desselben liegt die Marinitsohwarte mit präch-
tigem Blick in die kleine Doline und auf die gewaltige Felsmauer,
die das Dorf St Canzian trägt. Weiter sohreitend schauen wir in
den] klaffenden Spalt der „Riesentorklamm“, durch den die Keka
sich stürzt, um ihre tosenden Wasser am Grunde der grofsen Doline
in einem kleinen Seebecken zu sammeln. Unter der hohen Wölbung
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dieses Naturbogens befindet sich auf vorspringender Felsenkanzel über
den sohäumenden Wallungen, die an den Felsen sich brechen und
ihre hellen Garben gegen die dunklen Wände sohleudern, ein weiterer
Aussichtspunkt, die „Guttenberghalle“. Die Szenerie ist grofsartig;
sie gewährt einen Anbliok, wie man ihn ähnlich nur in der berühmten
Lichtenstein- und Kitzlochklamm geniefsen kann.
Schreiten wir weiter. Es folgt die „Tommasinibrücke“*); sie
sohwingt sich in Kirchturmshöhe über den hier lim breiten Abgrund
(Fig. S. 69). Ein Gefühl der Beklemmung erfafst uns boim Hinabschauen
in die Tiefe; krampfhaft erfafst unsere Hand das Geländer der Brücke.
Das Schauerliche wird durch das Tosen des Stromes vermehrt, der
hier einen harten Kampf mit dem Felsen besteht. Bald sohief6t er in
ausgewaschener Rinne reifsend dahin; bald gleitet er in verborgenen
Höhlungen gurgelnd und wirbelnd umher; dann wieder gilt es für ihn,
starre Klippen zu übersetzen, oder sein brausendes Wasser flattert im
stäubenden Sturz jählings hinab, um drunten, gleich siedender Milch
schäumend, sich im tiefen, dunklen Felsbecken zu sammeln. An den
Schründen leuchtet das helle Grün einiger Büsche, es zeigen sich
Blumen im schwankenden Hauche der ungestümen Najaden. Ein
Künstler könnte hier Dutzende von Veduten finden, die Aufsehen
in unsern Kunsthallen erregen würden, aber er fehlt in diesem ver-
nachlässigten Winkel des Karstes! Die landläufige Gedankenlosigkeit
einiger Schriftsteller, welche von der Öde, Wildheit und Eintönigkeit
der Karstlandschaften reden, wird noch lange die reisende Welt von
denselben fern halten.
Hinter der Tommasinibrüoke macht unser Führer Halt Er be-
deutet uns, dafs es zweckmäfsig sei, den Überzieher abzulegen sowie
auch sonstige überflüssige Dinge zurückzulassen. Dann zündet er die
mitgebrachten Kerzen an und führt uns in einen Felstunnel, den wir
in gebückter Haltung durchschreiten. Beim Eintritt in diesen „Natur-
stollen“ empfängt uns dumpfes Sausen und ein Geräusch ähnlich dem
der Poohwerke. Je weiter wir eindringen, desto lebhafter wird der
Lärm, der von den Wasserfällen der Klamm herrührt. Und nun, beim
Verlassen des dunklen Ganges erschließt sich ein neues, grofsartiges
Sohaustüok dieser Wasser- und Felsenwelt. Wir befinden uns hier
hart an den tosenden Wellen der Reka und geniefsen einen unver-
gefslichen Einblick in ihr wütendes Spiel. Der Aussichtspunkt, den
wir betreten haben, heifst die Obiasserwarte, so benannt nach Frau
•) Benannt nach dem Karstforscber Mutius von Tommaaini.
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Joseph ine Oblasser aus Triest, welche die nötigen Geldmittel zur
Anlage gespendet hat.
Vom Stollen führt der Weg hinab in den Grund der grofsen
Doline, einen von Steinen, Geröll und Felsblöcken erfüllten Kessel, in
dem die Keka sich zum kleinen Seebecken aufgestuut hat, um dann
Abatieg in der Doline tn den Höhlen.
Aufgenommen von M. Schaber in Adclsberg.
nach mehroren Wasserfallen unter einer verhältnismäßig niedrigen
Felsenwölbung zu verschwinden. Der direkte Weg zu den nächt-
liohen Wassern ist also verschlossen, inan muls zu ihnen auf Um-
wegen durch die weite Halle der Schmidlgrotte gelangen, deren
dunkles Eingangsportal 30 m über der Stelle liegt, wo der Strom sich
in den Felsen stürzt. Zur Schmidlgrotte führt der „Plenkersteg“, ein
außerordentlich kühn angelegter Pfad (Fig. S. 61), der sich hoch an den
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Wanden, teilweise unter überhängendem FelB, hinsieht, jedoch so duroh
doppelte Eisengitter gesichert ist, dafs allen Fatalitäten vorgebeugt zu
sein scheint, wenn man die nötige Vorsicht nioht ausser aoht läfst.
Nun endlich sind wir am Eingänge der Qrottenwelt. Wir haben
die Sohmidlgrotte betreten, und unter der Leitung des kundigen
Führers kann jetzt die nächtliche Wanderung durch die endlosen
Katakomben der Reka beginnen. Aber bevor wir die Kerzen an-
steoken und uns marsohbereit machen, laden die hier aufgestellten
Ränke ein wenig zur Rast ein. Hat der Gang uns auf dem steinigen
Pfade warm gemacht, so wäre es auch außerdem gar nioht ratsam, sich
in erhitztem und übermüdetem Zustande in die feuohtkalten Räume zu
begeben, wo teilweise ein starker Luftzug herrscht. Inzwischen sehen
wir uns in der Grotte ein wenig um. Eis ist eine mäohtige Halle von
80 m Länge und 30 m Höhe, die durch das weite Eingangsportal fast
tageshell erleuchtet wird. Ihr Boden besteht aus angesohwemmtem
Lehm, ihre Decke schmüoken zahlreiche wunderliche Tropfsteinge-
bilde, während bizarre Steinformen die Wände kulissenartig bedecken.
Welke Kränze, die in den Nischen hängen, Bildnisse und allerlei
sonderbare Idole erregen unsere Aufmerksamkeit Auf Befragen er-
klärt uns unser Führer, dafs sie von den Grottenfeiern herstammen,
welche die Triestiner alljährlich hier abhalten. Ohne Mystik wird es
bei diesen Festen nicht abgehen, und wahrlich kein Ort auf der Welt
scheint geeigneter, mystische Vorstellungen und Gedanken anzuregen,
als diese dunklen, von schwarzer Naoht und brausendem Wasser er-
füllten Räume, welche sich tief in das Reich des Pluto, das nooh keines
Menschen Fufs betreten hat verlieren. Mit Strickleitern, Seilen, Balken,
Kähnen, Fackeln und Laternen hat man dieses Reich zu erobern ge-
sucht; dies sind neben einer tüohtigen Portion Tollkühnheit die
Waffen, mit denen man den Geistern der Unterwelt zu Leibe geben
mufs. Ein wahres Arsenal solcher für den Grottenforscher not-
wendiger Requisiten findet man denn auch in der Sohmidlgrotte auf-
gestapelt die deswegen der , Hafen“ genannt wird.
Unser Führer zündet jetzt die Lichte an und fordert zum
Weitergehen auf. In Gedanken versunken, welche der ungewohnten
Situation entsprechen, folgen wir ihm bis ans Ende der Sohmidlgrotte,
wo der Weg links abbiegt. Allmählich wird es finster; jetzt tun die
Kerzen ihre Schuldigkeit; vorsichtig setzen wir den Fufs auf den
schlüpfrigen Roden, fester umschlingt die Hand das Geländer. Die
Stelle, welche wir passieren, heilst die „Böse Ecke“. Das Prädikat
„böse“ ist freilich heute nicht mehr anwendbar, da durch Sprengungen
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alles Bedenkliche beseitigt ist und eine eigentliche Befahr nioht vor-
liegt Früher mufste sie auf einem sobuhbreiten Felsband kriechend
umklettert werden.
Mit jedem Sohritt, den wir tun, tönt das Kauschen der Rekafalle
kräftiger an unser Ohr; es dringt aus dem „Rudolf- Dom '*), unserem
nächsten Ziele, su uns. Ein Wasserfall in der Unterwelt, der vielleicht
einen Meter hooh ist, bringt unter Mitwirkung des Widerhalles ein
Getöse hervor, wie droben unter der Sonne ein mächtiger Katarakt.
Ein jeder, der diese finsteren Verliese betritt, mufs deshalb zunächst
eine gewisse Soheu überwinden, welohe die aufsergewöhnlichen Ver-
hältnisse einer unterirdischen Wanderung mit sich bringen.
Der Führer ist vorausgeeilt, er bereitet eine kleine Überraschung
vor, indem er von hochgelegener Stelle aus ein Magnesiumband ent-
zündet Plötslich wird der ganze Raum von einem magischen Schimmer
erfüllt; staunend bemerken wir, dafs wir uns in einer gewaltigen Halle
befinden. Ee ist der Rudolf-Dom, in welchen die Reka von aufsen
her, von der grofsen Dolina hereinströmt. Noch sendet der Tag seine
Liohtfluten in die dämmerliohe Höhle duroh das niedrige Portal, das
dem Flusse Eingang gewährt, aber im Hintergründe da gähnt uns
die schwarze Nacht entgegen, da hören wir unausgesetzt den Donner
des Wassers, von welchem alle diese finsteren Hallen zu beben
scheinen. Prachtvoll zeigen sich bei dem grellen Magnesiumlicht die
drei Fälle des Rudolf-Domes, und wie eine phantastische Traumgestalt
bewegt sich unser Führer auf schwindligen Pfaden an der überhangen-
den Felswand. Wie der Mann dorthin gelangt ist, bleibt uns ein
Rätsel. Wir erfahren später von ihm, dafs derartige Pfade als Rettungs-
wege dienen. Wenn die Reka nach heftigen Regengüssen plötzlich
mit unheimlicher Schnelligkeit ansohwillt und die Höhlenräume bis zu
30 m Höhe über den normalen Stand mit ihren entfesselten Wasser-
massen anfüllt, dann bleibt dem überraschten Grottenforscher kein
anderer Ausweg, als die erwähnten Balkenstege hoch an den Ge-
wänden zu erklimmen, um so dem sicheren Tode zu entrinnen. Wer
tiefer in die Geheimnisse der Reka eindringen will, der mufs sich
überhaupt mit solchen Rettungswegen vertraut machen, denn an den
Ufern des Stromes führt dort kein Weg. Gleitet er aus, so wird seine
Leiche fortgeschwemmt in Gegenden, wohin niemals eine Ahnung des
Tages gedrungen ist.
*) Der Rudolf-Dom ist nach dom Bergingenieur .Josef Rudolf, die
Schmidlgrotle nach dom Reichs-Oeologcn Dr. Adolf Sch midi bonaunt worden.
Beide Männer haben sich um die Erforschung der Karsthöhlen besonders ver-
dient gemacht
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Weiter geht unsere Wanderung in das Reich des Orkus. Über
das Belvedere und das Cilli-Kap schreitend, treten wir in eine zweite,
riesige Halle ein, in welcher der Strom sich seeartig erweitert. Es
ist der Svetinadom. Seinen Namen erhielt er von dem Triestcr
Brunnenmeister Svetina, der im Jahre 1840 die erste unterirdische
Bereisung der Canzianer Groltenwelt im Boote unternahm und nach
seiner Beschreibung bis zum Cilli-Kap und in den sich anschließen-
den 80 m langen Kanal, der in den erwähnten Dom führt, gelangt
sein will. Es ist dies freilich nur eine geringe Strecke in dasjenige
Gebiet hinein, welches bereits die Nacht bedeckt.
Der Svetinadom ist noch imposanter als der Kudolfdoin. Seine
gewölbte Decke erhebt sich 70 in hoch, einem mit Wolken bedeckten
Himmel gleichend. Spitzige glatte Felsen ziehen sich an den Ufern
hin, so dafs man nur auf Briickensteigen vorwärts kommt; trümmer-
hafte Steinblöcke und Rille bieten den heran rauschenden Fluten Wider-
stand, brausende Katarakte erfüllen den Raum mit nervenerschüttern-
dem Getöse. Der mächtigste ist der sechste, welcher mit 7 m hohem
Schwall am Ende des Svetinadomes hinabslürzt. In der Nähe dieses
Domes, etwas abseits von der Reka UDd höher gelegen als diese, be-
findet sich eine Seitengrotte, die sogenannte Brunnengrotte (Fig. S. 65),
welche eine geologische Merkwürdigkeit der Höhlcnwelt birgt. An
die Felswand angelehnt, bauen sich da staffelförmig eine Reihe prächtiger
Kalksinterbecken auf, von denen einige über 1 m tief sind und über 1 m
Durchmesser haben. Wer den Yellowstoncpark Nordamerikas kennt,
wer Abbildungen der jetzt zerstörten Tetarataquelle am Rotomahana
auf Neuseeland gesehen hat, dem fällt sofort die Ähnlichkeit dieser
Gebilde mit der Brunnenlerrasse von St. Canzian auf, nur dafs jene
viel mächtiger sind und durch Inkrustate in allen Farbentönen leuchten,
während hier in der Unterwelt blofs der graue Kieselsinter zur Geltung
kommt.
Mit dem Svetinadom und seinen Nebenhallen ist das Ende
unserer finsteren Wanderung noch nicht erreicht. Noch liegt vor uns
eine Reihe erschlossener, wunderbar erscheinender, unterirdischer
Bilder. Zerrissen ist hier von schwacher, doch tatkräftiger Menschen-
hand der Vorhang, den Mutter Natur über ihre Werko gebreitet, und
besiegt grollt in der Tiefe der einstige Wächter des nun folgenden
Riosondomes. Pulver und Meifsel haben der stellenweise senkrechten
Wand, an der ein Weilergehen unmöglich schien, einen Steig abge-
rungen.
Aber was ist dies für ein Steig! Kaum schuhbreit führt er über
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glattes Gestein oder über schwankende Balken an der senkrechten
Bnnwengrott«.
Aufgenommen von M. Schaber in Adelsberg.
Felswand entlang. Lotrecht unter uns, in Dunkel gehüllt, donnert
Bimmel and Erde. 1908. XVI. 2. 5
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der Strom; eine an der Wand hinlaufende EisenstaDge ist der einzige
Führer, der uns leitet und stützt; jeder Schritt erheischt die gröfste
Vorsicht und ungeteilte Aufmerksamkeit Und so gute Dienste auch
bisher die Kerze geleistet hat, hier wird sie hinderlioh, denn sie blendet
das Auge und erleuchtet nur einen kleinen Umkreis. Hier mufs die
Fackel als Pfadfinder dienen. Ängstlichen und schwindligen Personen
ist es nicht anzuraten, weiterzugehen; man mufs schon ein geübter
Tourist sein und Selbstvertrauen in sich fühlen, um allen Zufällig-
keiten stand zu halten. Die Nacht ist keines Menschen Freund, wie
viel weniger aber hier an der Seite des brüllenden Stromes!
Ist der siebente Rekaläll auf diesem halsbrecherischen Pfade
passiert, dann erschließt sich dem kühnen Eindringling plötzlich
eine neue, gewaltige Halle — der Müllerdom. An Umfang und Höhe
können weder Rudolf- noch Svetina-Dom mit ihm konkurrieren. Die
Decke wölbt sich bei 80 m über den Flufs, dessen Spiegel anfangs
einem seeartigen Becken zwischen riesigen Steintrümmern und glatten
Wänden gleicht. W’o aber die Reka aus diesem Raume stürzt, da
befindet sioh wiederum ein Tummelplatz der entfesselten Wassergeister,
deren Stimmen das Echo hundertfach verstärkt zurüoksendet. Der
Müllerdom ist zweifellos der Glanzpunkt der Canzianer Grottenwelt.
Die Eindrücke, welche man dort sammelt, bleiben auf ewig in der
Erinnerung, sie sind so aufsergewöhnlicher Art, dafs die Einbildungs-
kraft nichts hinzuzufügen braucht, um sich das Totenreich der Alten
auszumalen.
Wer jetzt noch weiter will, der mufs entweder ein Boot benutzen
und mit ihm die Fahrt ins Ungewisse antreten — eine Fahrt auf
Heben und Tod — , oder er mufs auf Eisenstiften und ausgemeifselten
Tritten an den Felswänden weiterklimmen, wie es einst die wackeren
Erforscher dieser Unterwelt taten. Nach dem zehnten Wasserfall, der
die Grenze des Müllerdomes bildet, windet sich die Reka in zahl-
reichen Katarakten durch einen klammartigen Tunnel von nur 6 bis
8 rn Breite hinduroh. Es ist der Hankekanal, der beim sechzehnten
Wasserfall wiederum in eine geräumige Halle, in den Hankedom
leitet. Und abermals engt sich der Strom zusammen und erreicht
zuletzt den gröfsten aller bisher erschlossenen Höhlenräume, den
Alpenvereinsdom (siehe Titelblatt). Er wurde seinerzeit von den Ent-
deckern im Kahne bis zum achtzehnten Fall befahren. Weiter kam
die nächtliche Argonautenfahrt nicht; was dahinter liegt, hat noch
keines Menschen Auge geschaut. Einen Kilometer weit hat man den
unterirdischen Lauf der Reka erkundet. Mögen starke und mutige
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Arme aioh beben, um den Schleier zu lüften, mit welchem die grofee
Isis den Lauf dieses Stromes Beit Anbeginn der Zeiten verhüllt hat!
Und wie freudig begrüfst man das helle Tageslicht, wenn man
nach stundenlanger Wanderung all’ die schaurige Schönheit dieser
Unterwelt genossen hat und nun, durch das Portal der Sohmidlgrotte
schreitend, wieder den klaren, blauen -Himmel über sich schaut. Das
Qrün der Bäume und Sträucher mutet doppelt freudig an; man findet
hundert Schönheiten an Dingen, die man früher kaum beaohtet hat.
Der Mensch ist eben nicht für die Finsternis geboren, er ist ein Kind
des Lichtes!
(Schlafe folgt.)
5*
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Moderne Naturphilosophie.
Von Dr. Kleiap«ter in Gmunden.
OnlQJie denkende Betrachtung der Natur war die erste Tätigkeits-
äufserung des erwachenden menschlichen Intellektes; Natur-
phiiosopheu waren die ersten Weisen des Altertums. Sehr
bescheiden waren freilich, an dem heutigen Mafsstab gemessen, ihre
Leistungen — ein Zeichen eben, dafs wir es herrlich weit gebracht!
Dafs es so gekommen, daran war wieder die Beschäftigung mit der
Natur hauptsächlich schuld. An ihr fand der menschliche Geist den
nötigen festen Rückhalt gegen die Schrankenlosigkeit seiner Phantasie,
sie war es — nach einer Idee Volkrnanns, eines der Vertreter der
neueren Naturphilosophie — , die die Ausbildung fester logischer Denk-
formen bedingt hat
Das Verhältnis des menschlichen Geistes zur Natur, seine Art,
dieselbe aufzufassen, und die Wertschätzung derselben war freilioh im
Laufe der Jahrhunderte sehr grofsen Schwankungen unterworfen, und
dementsprechend hat auch das Wort „Naturphilosophie“ sehr ver-
schiedenen Sinn angenommen; haben sich doch Newton und Schei-
ling dessolben in gleicher Weise zur Bezeichnung ihrer so ungleichen
Sohöpfungen bedient.
Wenn wir von der weiteren Vergangenheit absehen, so hat doch
auch im Laufe des 19. Jahrhunderts zweimal ein völliger Umschwung
inbezug auf die Auflassung des Verhältnisses der Philosophie zur
Naturwissenschaft Platz gegriffen. Das erste Drittel desselben zeigt die
Naturwissenschaft — wenigstens auf deutschem Boden — in einer uns
heute ganz unbegreiflichen Abhängigkeit von unsinniger „System“-
spekulation, das zweite sieht sie von der Philosophie völlig getrennt
und letztere selbst so gut wie vom Schauplatz verschwunden, im
dritten endlich ersteht auf dem Boden der Naturwissenschaft eine neue
Philosophie.
Diese dritte Phase der Kntwickeiung, in der wir noch beute stehen.
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ist es nun, deren Art und Bedeutung zu schildern Aufgabe der nach-
folgenden kleinen Skizze bildet.
Im Gegensatz zur ersten Periode, in der die Systemphilosophie
nioht nur eine unbestrittene eigene feste Position inne hatte, Bondern
von derselben aus auoh die Einzel Wissenschaften beherrschte und re-
gelte, hat in unseren Tagen die Naturwissenschaft nioht nur eine längst
allgemein anerkannte Selbständigkeit errungen, sondern geht nun auch
daran, ihrerseits auf die Gestaltung der Philosophie entscheidenden
Einflurs zu üben. Zunäohst hat es sich herausgestellt, dafs die Un-
abhängigkeit der Philosophie von der empirischen Wissenschaft in
Wirklichkeit nioht so grofs ist, als eB wohl den Ansohein haben
möchte; die grofsen naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahr-
hunderts haben auoh auf die Gestaltung der modernen Philosophie
einen sehr nachhaltigen Einflufs geübt. Zweitens hat sioh auch auf
dem Gebiete der exakten Wissenschaften, insbesondere dem der Mathe-
matik und Physik, das Bedürfnis naoh allgemeineren logischen oder,
wenn man will, philosophischen Untersuchungen herausgestellt. Es
war das eben die Folge der weit getriebenen Bpezialforsohung, die
eine schärfere Begriffsbestimmung in vielen Fällen nötig machte,
während sich in anderen die Unmöglichkeit der Erreichung dieses
Zieles auf gewöhnlichem Woge herausstellte und dann erst recht die
Notwendigkeit einer kritisohen Untersuchung der allgemeinen Grund-
lagen und Methoden hervortrat. Da nun aber die vorhandene Phi-
losophie diesen Ansprüchen zu genügen in keiner Weise in der Lage
war, so mufete die Naturwissenschaft selbst an die Aufgabe gehen,
sich eine Philosophie zu schaffen, und damit ist denn im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts das gerade entgegengesetzte Bild von der Situ-
ation im ersten Drittel entstanden; die Philosophie im Banne der
exakten Forschung.
Damit ist denn eine Aufgabe, die sich bereits das 18. Jahr-
hundert gestellt hatte, wieder in den Vordergrund des Interesses
gerückt; die der Schaffung einer wissenschaftlichen Philosophie.
Kants Hoffnung auf dieselbe ist freilich in grotesker Weise durch
die Systemmacherei seiner Naohfolger getäuscht worden; da aber
Kant nur von der exakten Wissenschaft seinerZeitausgehen konnte,
die in theoretischer Beziehung noch auf sehr tiefer Stufe stand —
wirkliche wissenschaftliche Strenge wurde erst ein Bedürfnis des 19.
Jahrhunderts — so war das Fiasko nicht weiter verwunderlich. Liefse
sioh aber Kants Methode nioht jetzt mit gegründeter Aussicht auf
Erfolg unter Zugrundelegung der Errungenschaften der modernen
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exakten Forschung wiederholen? Das ist eine Frage, die von vielen
Seiten in bejahendem Sinne beantwortet wurde und zwar sowohl von
philosophischer wie von naturwissenschaftlicher Seite. Die Wissen-
schaft mufs natürlich auf das wirklioh Erfahrbare und Beweisbare be-
schränkt bleiben; soll die Philosophie Wissenschaft sein, mufs sie an
diesem Kennzeichen derselben teilhaben; wie aber unterscheidet sie
sich dann von den Einzel Wissenschaften? Sie bat die Grundbegriffe
derselben zu bearbeiten und miteinander in Einklang zu bringen,
war die Antwort Herb arts, der geschichtlich der erste Philosoph ist,
der in den Kreisen der exakten Forschung — man denke nur an
Riemann — Beachtung gefunden hat; so ähnlich lautet auch die Ant-
wort Wundts. Allein dieser Antwort fehlt es an wirklicher Befrie-
digung, sie erweist sich bald als unzureichend. Wer die Grundbegriffe
einer Wissenschaft bearbeiten will, darf mit nichten Laie in diesem
Spezialfach sein. Die Folgen der Verkennung dieser Sachlage sind
selbst einem Gelehrten von so wahrhaft universalem Wissen wie
Wundt nioht erspart geblieben; seine Logik der Mathematik und
Physik sind aus diesem Grunde unzureichend, sie tragen in wichtigen
Punkten das Gepräge des Laienhaften an sich. Verhältnismäfsig leioht
fällt die Antwort auf obige Frage den Anhängern Kants — nicht
nur den orthodoxen, sondern auch den Fortbildnern seiner Lehre, den
Neukantianern Lange, Windelband, Cohen, Natorp, Lieb-
mann, Riehl, Adickes u. a. — sie erklären als Aufgabe der wissen-
schaftlichen Philosophie die Feststellung der apriorischen Elemente,
die sich ihnen aus dem Begriffe der Wissenschaft überhaupt ergeben
— eine Erklärung, die für jene bedeutungslos wird, die an die Existenz
solcher Elemente oder wenigstens die Möglichkeit ihrer Absonderung
nicht glauben. Aber auoh diese letzteren geben zu, dafs die Be-
schaffenheit unseres Wissens von der unseres Erkenntnisorgans ab-
hängig sein müsse, und erblicken in der Erforschung desselben das
Ziel der Philosophie. Je nach der Fassung dieser Aufgabe teilen
sie sich allerdings in sehr verschiedene Gruppen; die einen erblicken
in der Psychologie die Grundwissenschaft (Lipps, Brentano und seine
Schule, die in Österreich zum Teil das Erbe Herbarts angetreten
hat), andere betonen mehr die logische Seite (Schuppe und die An-
hänger der immanenten Philosophie), wieder andere gehen mit Ave-
narius von der „reinen“ Erfahrung aus oder bewegen eich im en-
geren Anschluss an die positive Wissenschaft (Positivisten).
Es ist üblich geworden, die so aufgefafste Philosophie oder bez.
diesen Teil derselben Erkenntnislehre zu nennen. Ein grofser Teil
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der Denker der Gegenwart hält ihn für den einzig berechtigten; ihm ist
Philosophie Erkenntnislehre und Erkenntnislehre Wissenschaft, .erste“
Wissenschaft im Sinne des Aristoteles. Sehr vielen Philosophen ge-
nügt dies aber nicht, sie erblicken vielmehr ihre eigentliche Aufgabe
jenseits der Grenzen der Wissenschaft. Sie lehren: Philosophie ist
nicht Wissenschaft, sondern Kunst; ihre Aufgabe die Schaffung einer
alle3 umfassenden Lebens- und Weltanschauung, die, der Kontrolle
durch die wissenschaftliche Forschung entrüokt. ein von den Resul-
taten derselben unabhängiges Dasein zu führen sich erlauben darf.
Diese doppelte Auffassung vom Wesen der Philosophie tritt
auch auf dem Gebiete der von den Vertretern der exakten Forschung
geschaffenen Naturphilosophie zutage: wir haben Naturphilosophen im
ersten und solche im zweiten Sinne des Wortes. Der Wert der beiden
Gruppen ist ein recht verschiedener, denn nur die wissenschaftliche
Philosophie vermag offenbar aus der Verbindung mit der Wissenschaft
Nutzen zu ziehen; für die Dichtung umfassender metaphysischer
Systeme erweist sich die Beschäftigung mit einer eng umgrenzten
Spezialwissenschaft eher als ein Hindernis. Tatsächlich haben meta-
physische Systeme von Naturforschern sehr dazu beigetragen, die auf
dem Boden der exakten Wissenschaft erwachsene Philosophie zu dis-
kreditieren. Diese letztere wird es nun sein, von der im folgenden
näher gesprochen werden soll.
Ihren Ursprung nahm sie bei sehr verschiedenen Forschern, die
ihre Gedanken unabhängig voneinander oft ziemlich weit entwickelt
haben, ohne von ihren gleichartigen Bestrebungen Kenntnis zu nehmen.
Das hatte natürlich eine sehr verschiedene Ausbildung der Form nach
zur Folge und erschwert die Übersicht und die Vergleichbarkeit ihrer
Leistungen. Man kann dieselben chronologisch deshalb nioht gut
gliedern; besser empfiehlt sich die Einteilung nach dem Grade des
Eingehens auf Fragen allgemeiner Natur in solche, die nur gelegent-
lich der Beschäftigung mit speziellen Fragen ihrer Wissenschaft er-
kenntnistheoretische Gesichtspunkte entwickelt haben und dabei Be-
weise ihrer Einsicht in die allgemeinen Fragen der Wissenschafts-
lehre geliefert haben, und in solohe, die die Aufstellung eigener philo-
sophischer Anschauungen als Selbstzweck betrieben haben.
In die erste Kategorie gehören in gewissem Sinne alle grofsen
bahnbrechenden Geister; im engeren Sinne wären etwa Faraday,
Maxwell, Lord Kelvin (Sir William Thomson), Julius Robert
Maier, Helmholtz, Kirchhoff, Heinrich Hertz, Ostwald und
Volkmann, von Mathematikern Gauss, Grassmann, Riemann,
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Felix Klein, Hilbert, Poincare zu nennen. Die Liste kann na-
türlich auf Vollständigkeit keinen Anspruch erheben und ist not-
wendigerweise willkürlich abgegrenzt. Besonders hervorzuheben wäre
Maxwell, auf dessen bahnbrechende elektrische Arbeiten erkenntnis-
theoretische Gesichtspunkte mafsgebend waren und der bereits einige
Hauptsätze der modernen Erkenntnistheorie ausgesprochen hat, ohne
indes zu völliger Klarheit durchzudringen; Kirchhoff, dessen Aus-
spruch von der Beschreibung als Aufgabe der Mechanik seinerzeit so
grofses Staunen hervorgerufen und der vielleicht als erster die Dar-
stellung der mathematischen Physik mit einiger Konsequenz nach
diesem Prinzip behandelt hat; Heinrich Hertz, der nioht nur in
elektrischer, sondern auch in erkenntnistheoretischer Beziehung in die
Fufstapfen Max welle getreten ist und nach beiden Richtungen hin
die Leistungen seines Vorbildes wesentlich ergänzt hat.
Zur zweiten Gruppe gehören Mach, Stallo, Clifford und
Pearson. Ihre Ansichten decken sich zwar nicht vollkommen, doch
stimmen sie in den wesentlichen Punkten genügend überein, nur dafs der
eine die eine Seite, der undere eine audere mehr hervorhebt, so dafs
wenigstens bis zu einem gewissen Grade eine gegenseitige Ergänzung
stattfindet. Dieser Komplex bildet ein wohlabgerundetes, geschlossenes
Ganzes, ein wirkliches philosophisches System, das aus dem Boden der
exakten Wissenschaft hervorgewachsen ist und wohl allen Anspruch
darauf erheben kann, fortan nicht nur den Grundstock einer jeden
philosophischen Anschauung zu bilden, sondern auoh als Kanon der
Erkenntnislehre einen heilsamen kritischen Einflufs auf die formelle
Gestaltung der exakten Wissenschaft auszuüben.
Dasjenige Ziel also, das sich zuerst Kant gesetzt hat, eine wissen-
schaftliche Philosophie zu schaffen, die einerseits als Vorbedingung
zu einer jeden künftigen Metaphysik zu gelten, andererseits zur exakten
Wissenschaft die Prinzipien zu geben hätte, hat meines Erachtens
Mach — der Hauptschöpfer dieser modernen naturwissenschaftlichen
Erkenntniskritik — , wenn auch nicht nach den Erwartungen Kants,
wirklich erreicht.
Was Kant gehofft und nicht vermocht hatte, die Schaffung einer
wissenschaftlichen, erkenntniskritisohen Philosophie hat Mach in einer
Weise erreloht, die der Nachwelt nicht viel Spielraum für ihre er-
gänzende Tätigkeit läfst. Jahrtausendalte Irrtümer sind beseitigt und
auf überraschend einfache Weise ist ein Verständnis für das Wesen
der Wissenschaft gewonnen worden.
Das Prinzip, von dem Mach ausgegangen war, ist das der
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exakten Wissenschaften, das Prinzip absoluter Voraussetzungslosigkeit.
Zwar hatte Desoartes dasselbe bereits in die Philosophie eingelührt
und daduroh den Anspruoh auf den Namen des Vaters der modernen
Philosophie sich errungen, aber welcher Unterschied besteht in der
Konsequenz der Durchführung desselben bei Descartes und Mach!
Bei jenem bleibt es eine vorübergehende Episode, ein Durchgangs-
punkt, der allzu schnell wieder verlassen wird; bei Maoh wurden seine
Konsequenzen, was eben das Charakteristische ist, nach beiden ent-
gegengesetzten Hauptrichtungen, der idealistischen und realistischen
zugleioh gezogen.
In ersterer Beziehung bildet es ein Hauptverdienst Maohs, gegen
den Wahn eines apriorischen Wissens auf dem Gebiete der Natur-
wissenschaft beharrlich angekämpft zu haben. Durch historisch -
kritisohe Untersuchung des Waohstums der Wissenschaft hat Maoh
den unwiderleglichen Beweis erbracht, dafs auch die allgemeinsten
Sätze der Physik keinen höheren Grad von Gewifsheit besitzen als
die allgemein als empirisch anerkannten. Die Scheidewand, die Kant
zwischen reiner und empirischer Naturwissenschaft aufrichten zu müssen
geglaubt hat, verlor damit ihren Halt.
Anderseits wurde aber Mach einer anderen Forderung des
Idealismus gerecht, der nach der „Idealität“, wenn man so sagen darf,
aller unserer Erfahrungselemente. Der Inhalt aller unserer Wahr-
nehmungen ist zunächst subjektiver Natur. Wir haben kein Hecht zu
sagen, wir sähen einen Körper; das, was uns wirklich vorliegt, ist ein
Komplex von Gesichtsempflndungen, die also subjektiver Natur sind.
Den „Körper“ denken wir hinzu, er ist eine Zutat, eine Dichtung un-
seres Geistes, aber nicht etwas tatsächlich Gegebenes. Ebenso subjek-
tiver Natur sind natürlich unsere Begriffe. Atome, Massen, Kräfte,
Energien sind alles von unserem Geiste geschaffene Hilfsmittel der
Wissenschaft, die dazu zu dienen bestimmt sind, Erfahrungen wieder-
zugeben. Die Erkenntnis dieses Sachverhaltes verdanken wir eben-
falls Maoh, sie ist eine, die selbst von seinen Oegnern anerkannt
zu werden beginnt, wie z. B. von Boltzmann.
Vielon wird diese Anschauung wunderlich, ja träumerisoh Vor-
kommen. Auf den ersten Blick erscheint es allerdings, als ob danach
unser Leben ein blofBer Traum wäre. Aber dem ist nicht so. Aus
dem Umstande nämlich, dafs alle unsere Wahrnehmungen, also der
ganze Inhalt unserer Erfahrungen, unserer Erlebnisse subjektiver
Natur ist, folgt nämlich gar nicht, dafs das Erleben dieses Inhaltes
eine 8aohe unseres Beliebens ist. Unwillkürlich denkt aber jeder bei
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etwas Subjektivem an eine rein willkürliehe Sache, die in das Be-
lieben eines jeden einzelnen gestellt ist. Das ist eine Täusohung
Unsere Vorstellungen oder, sagen wir lieber, unsere Erlebnisse ver-
fallen von selbst in zwei deutlich geschiedene Klassen: in eine Gruppe,
deren Eintreten oder Nichteintreten vom Belieben unseres Willens ab-
hängt, und dahin gehören die meisten Vorstellungen im engeren Sinne
des Wortes, nämlich das, „was man Bich blofs denkt“, und in andere,
die uns aufgezwungen, aufgenötigt werden; das sind die sogenannten
objektiven Erlebnisse, die der Realist durch die Existenz fremder
Körper erklärt, die Kant durch das Ding an eich, Berkeley durch
den Willen Gottes bewirkt werden liefs. Das ist nun eine Zutat un-
serer selbst, eine metaphysische Hypothese, aber keine gegebene Tat-
sache, und diese Feststellung ist für manche Zwecke nicht ohne Belang.
Der von Kant angestrebte Ausgleich zwischen Idealismus und
Realismus ist somit von Mach in wesentlich anderer Form durch-
gefiihrt worden; subjektiver Natur sind nicht nur die Raum- und
Zeitformen, sondern alle unsere Empfindungen in ihrer Gesamtheit,
d. h. sowohl der Materie als der Form nach. Das sohliefst indes ihre
objektive Bedeutung nioht aus; dieselbe liegt in allen jenen unserer Er-
lebnisse, die sich uns als gegebene Tatsachen ohne, ja gegen unsern
Willen aufdrängen. Eben deshalb ist aber eine apodiktische Gewissheit
auf dem Gebiete der Tatsachenwelt durohaus ausgeschlossen; es ist
unstatthaft, mit Kant zugunsten der allgemeinsten Sätze der Physik
eine Ausnahme zuzulassen. Die Mathematik kann auf physikalischem
Gebiete nichts beweisen; der bekannte Ausspruoh Kants, dafs jede
Disziplin nur insoweit Wissenschaft sei, als in ihr Mathematik ent-
halten ist, entbehrt somit einer rechtlichen Begründung.
Indessen darf daraus wieder nicht gefolgert werden, dass damit
dem Empirismus im Sinne von etwa John Stuart Mill das Wort
geredet sei, dessen Logik, wie sich Mach gelegentlich persönlich
ausgedrückt hat, mit Unrecht so grosse Verbreitung in den Kreisen
deutscher Naturforschung gefunden habe. Das liegt darin begründet,
dafs alle unsere Begriffe, unsere Denkmitlel subjektiver Natur, Kon-
struktionen unseres Geistes sind. Sie befolgen somit die Gesetze, die
wir ihnen auferlegen, und wir sind innerhalb gewisser Grenzen im-
stande, verschiedene Begriffskonstruktionen auszuführen. Von einein
und demselben Tatsachengebiet sind oft mehrere Theorien möglich,
von denen keine falsch zu sein braucht, wenn auch der Grad ihrer
Zweckmässigkeit ein verschiedener sein kann.
Daraus entsteht dann die Aufgabe, von mehreren richtigen
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Theorien die zweckentsprechendste auszuwählen. Mach begreift sie
unter dem Namen der Gedankenanpassung 'an die Tatsachen. Aber
noch einer zweiten Forderung subjektiver Natur mufs die Wissen-
schaft Genüge leisten: ihr Zweck ist ja, durch Beschreibung der Er-
fahrungen anderer uns eigeno Erfahrungen zu ersparen, also ein
ökonomischer. Eis folgt daraus, dafs die Wissenschaft desto besser
ihre Bestimmung erfüllt, je leichter sie es uns macht, uns ihren Inhalt
anzueignen. Schon um Erfahrung überhaupt mitteilen zu können, ist
eine Vereinfachung derselben notwendig. Durch Fortsetzung dieses
Prozesses der Vereinfachung enstehen die allgemeinen einfachsten
Grundsätze der Naturwissenschaft.
Die Wissenschaft bat also, so wie etwa die Technik, die Aufgabe,
Zwecke zu erfüllen, sie ist insofern immer eine normative, und muss
vor allem den Gesetzen der Logik Genüge leisten; nur darf daraus
nooh gar nicht auf ihre Richtigkeit geschlossen werden; eine Theorie
kann sehr wohl logisch zulässig, physikalisch aber unrichtig sein. Die
Anforderungen der Logik bilden zwar notwendige, aber nicht hin-
reichende Bedingungen für die Giltigkeit einer physikalischen Theorie.
Eis ist natürlich unmöglich, Mache so vielseitiger Tätigkeit auf
dem Gebiete der WiBsenscbaftslehre innerhalb des engen Rahmens
dieser Skizze gerecht zu werden; nur die allgemeinen Grundsätze
seiner Theorie der Erkenntnis konnten hier angeführt w’erden. Diese
stellen aber schon gegenüber den landläufigen Ansichten in Philo-
sophie und Naturwissenschaft eine so gewaltige Revolution der Denk-
art vor, dafs es freilich nicht allzu verwunderlich sein kann, wenn
seine Prinzipien von fachmännischer, insbesondere von philosophischer
Seite noch immer Mifsdeutungen, selbst gröbster Art, ausgesetzt sind.
Eis wird hierin oft das unglaublichste geleistet. So findet ein Pro-
fessor der Philosophie an einer süddeutschen Universität es für un-
möglich, das Brechungsgesetz in der Optik auf Elmpfindungen zurück-
zuführen, und meint. Mach hätte die phänomenologischen Gesetze,
in die sioh einmal die ganze Physik werde auflösen lassen, nicht ge-
funden, und es sei bei der ganzen Sachlage nicht zu erwarten, dafs
er sie jemals finden werde. Nun ist allerdings keine dieser Eventuali-
täten notwendig; die phänomenologischen Gesetze der Physik sind
nämlioh bereits da, es sind das alles jene, wo nicht von der Be-
wegung fiktiver Massen, wie etwa in der kinetischen Gastheorie, oder
überhaupt von verborgenen Mechanismen die Rede ist, also sozusagen
alle wirklichen Gesetze der Physik. Newtons Gravitationsgesetz ist
ein klassisches Beispiel einer rein phänomenologischen Beschreibung.
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Derselbe Kritiker findet es mit der Menschenwürde nicht vereinbar,
dafs wir uns mit jener Oewifsheit (dee unmittelbaren Erlebens) sollten
zufriedengeben müssen, die auch der mühselig über den Boden
kriechenden Sohnecke zukommt. Nun ee wäre ja ganz sohön, wenn
wir ein besonderes Weisheitsorakel in uns hätten, aber „bis jetzt hat
niemand es gefunden, noch ist bei der ganzen Sachlage zu erwarten,
dafs es jemals werde gefunden werden“. Die wirkliche Gewifsheit,
die uns zu Gebote steht, ist allerdings nur eine individuelle und mo-
mentane; und diese scharfe Sohneide ist zwar allerdings außerstande,
stolze metaphysische Luftschlösser zu tragen ; sie zu zertrümmern, hat sie
sich aber bis jetzt immer noch stark genug erwiesen. Die Bestätigung
durch diese unmittelbare Erfahrung ist nie imstande, die Richtigkeit
einer physikalischen Hypothese zu erweisen; wohl aber vermag die
Nichtbestätigung ihre Unrichtigkeit mit aller Schärfe darzutun. Mit
diesem negativen Kriterium müssen wir uns zufrieden geben, mag es
uns nun reoht sein oder nicht.
Lange Zeit stand Mach mit seinen Gedanken einsam und un-
verstanden da. Sie datieren nämlich aus dem Anfang der sechziger
Jahre, aber erst nach dem Erscheinen der „Mechanik in ihrer Ent-
wickelung, historisch kritisch dargestellt“ (1883, begannen sie in weitere
Kreise zu dringen). Duroh das Eintreten von Kirchhoff und Hertz
wurde die naturwissenschaftliche Welt veranlafst, nicht nur von ihnen
Notiz zu nehmen, sondern auch deren Berechtigung in wichtigen
Punkten anzuerkennen, und mit Befriedigung konnte Maoh kon-
statieren, dafs einzelne seiner Aufstellungen bereits den Charakter
von Schlagworten angenommen haben. Sehr gering ist hingegen das
Verständnis, das Mach bisher in philosophischen Kreisen gefunden.
Der Gedankenkreis von Avenarius, die immanente Philosophie, und
vor allem H. Cornelius in München sind fast die einzigen ihm
näherstehenden, doch hat nur letzterer ausdrücklich auf ihn Bezug
genommen, wie er denn auch vielleicht der einzige ist, der Maoh sehe
Gedanken weiter gebildet hat. Die eigentlichen, tonangebenden Philo-
sophen verschiedenster Richtung haben cs aber bisher noch nicht
einmal zu einem Verständnis des Sinnes der Machschen Ausfüh-
rungen gebracht
Unter diesen Umständen mufste es Mach zu besonderer Be-
friedigung gereichen, geistesverwandte Denker, die gleich ihm zugleich
auf dem Boden der exakten Wissenschaft und der Philosophie stehen,
aufzufinden. Es sind das die bereits genannten Stallo, Clifford
und Poarson. (Schlufs folgt.)
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Von der Deutschen Städte-Ausstellung in Dresden.
Von Dr. (Instar Kanter in Charlottenburg.
-'ä/YAon den zahlreichen Gebieten, die auf der Dresdener Städte*
> Ausstellung dieses Jahres in so anschaulicher Weise vertreten
waren, dürfte vielleicht das der Beseitigung der städtischen
Abfälle tür die Leser dieser Zeitschrift von dem gröfsten Interesse
sein. Die städtischen Abfälle sind wesentlich zweierlei Art, nämlich
einmal die flüssigen und sodann die festen. Erstere, die vom reinen
Regenwasser bis zu den Abgängen der Abortanlagen alle Arten von
nicht oder mehr oder weniger verunreinigten sowie von ganz flüssigen
oder breiförmigen Stoffen in sich fassen, werden der Regel naoh
mittelst Kanalisation beseitigt, während die festen Abfälle, die nicht
nur alles das in sich begreifen, was unter dem Namen Muli bekannt
ist, sondern wozu auoh die Abgänge der Schlachthäuser und Ab-
deckereien gehören, in verschiedener Weise abgefahren und wohl am
zweokmäfsigsten durch Hitze unschädlich gemacht werden.
Was zunächst die Beseitigung der Abwässer anbetrifli, so ist es
nicht zu empfehlen, Regenwasser und Schmutzwasser unterschiedslos
miteinander zu vermengen, da einmal dadurch bei einer vorzunehmen-
den Reinigung der Abwässer viel zu grofse FUissigkeitsmengen be-
handelt werden müssen, und da andererseits in dem Falle, wo die vor-
handenen Reinigungsanlagen versagen, und wo man etwa nach grofsen
Regengüssen einen Teil der Abwässer ungereinigt in die Waaseriäufe
einlassen raufe, das in dem Gemisch enthaltene Sehmutzwasser auf
diese letzteren, insbesondere auf die darin lebenden Fische, sehr
unheilvoll einwirkt.
Unter diesen Umständen findet denn auch das System der so-
genannten Trennkanaiisation vielfachen Eingang. Gewöhnlich legt man
hierbei gesonderte Kanalleitungen für Schmutzwässer und für Regen-
wiieser an, wobei erstere unmittelbar vor den Häusern zu beiden
Seiten zu verlaufen, letztere sioii dagegen in der Mitte des Fahr-
dammes zu befinden pflegen.
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Ein SyBtem, das von der Firma Windschild & Langelott in
Cossebaude bei Dresden ausgestellt war, vermeidet hierbei die Not-
wendigkeit doppelter Kanalanlagen, indem innerhalb eines einzigen
KanalrohreB durch eine Trennungswand zwei übereinanderliegende
und vollständig voneinander geschiedene Abteilungen sich befinden,
wovon die untere, kleinere für Sohmutzwasser, die obere, gröfsere
für Kegenwasser dient. Geeignete Spiilanlagen sind vorgesehen, wobei
sioh mit dem Sohmutzkanal in Verbindung stehende Behälter durch
langsamen Wasserzulauf allmählich füllen und dann plötzlich das in
ihnen enthaltene Wasser in den Kanal ergiefsen. Hierdurch werden
dann die in ihm abgelagerten Sinkstofle fortgespült. Da, wo Zu-
leitungen von Strafsen wasser in den Kanal einmünden, die geeignet
sind, Schlamm und Sand in ihn hineinzubringen, ist eine aus einem
in einer Versenkung liegenden Eimer bestehende Fangvorrichtung
angebracht, die diese Stoffe aufnimmt und von Zeit zu Zeit entleert
werden kann.
Ein anderes System der Trennkanalisation führen Gebr. Körting
in Hannover vor, wobei die Abortanlagen mit einem sogenannten Fall-
rohrkasten versehen sind, der mit einer luftleer gemachten Leitung in
Verbindung steht. Der Fallrohrkasten ist so eingerichtet, dafs die
Abfälle zwar in diese Leitung hineingesaugt werden, dafs aber Luft
nicht in diese gelangen kann, und somit ein Stauen ihres Inhaltes
durch Luftblasenbildung unmöglich wird. Die Rohre führen dann in
schmiedeeiserne Behälter, von wo aus die Stoffe beliebig abgeführt
werden können. Dies System eignet sich besonders für die Ver-
wendung in Fabriken, Krankenhäusern und ähnlichen geschlossenen
von zahlreichen Menschen besetzten Anlagen.
Auch die Stadt Kiel hat die Abfuhr der Fäkalien von derjenigen
des übrigen Abwassers vollständig getrennt, indem sie sioh zur An-
lage einer Poudrettefabrik entschlossen hat. Hierbei beßnden sioh in
den einzelnen Haushaltungen Eimer aus verzinktem Eisenblech, die
am Boden zunächst mit einer Lage Torfmull versehen sind. Die Eimer
werden zweimal wöchentlich abgeholt, und ihr Inhalt wird nach dem
Ansäuren mittelst Schwefelsäure zu Poudrette eingedampft, die nach
den Untersuchungen der Landwirtschaftlichen Versuchsstation zu Kiel
durchschnittlich etwa 11% Wasser, 6'/j% Stickstoff, 3% Phosphor-
säure und 3 % Kali enthält. Die Abfälle ergeben somit einen recht
brauchbaren Düngor und werden als solcher an die Landwirtschaft
verkauft. Das Unternehmen arbeitet nicht nur in gesundheitlicher
sondern auch in finanzieller Hinsicht recht zufriedenstellend.
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Die Stadt Halle a. S. bedient sich zur Reinigung ihrer Abwässer
in einem ihrer sechs Kanalisationssysteme, wobei diese sohlierslich
in die Saale abgelassen werden müssen, einer Anlage nach Müller
& Nahnsen. Hierbei gelangen die Abwässer zunäohst in einen so-
genannten Vorbrunnen, worin sioh die spezifisch schweren Teile, wie
Sand u. s. w., absetzen, und von da aus in mühlradartig konstruierte
und sich durch die Strömung der Abwässer bewegende Behälter, die
die Menge des Wassers zu messen und danach den Zusatz an Chemi-
kalien einzurichten gestatten. Die Gase, die sich bei dem Einrühren
der Chemikalien entwickeln, werden in einem besonderen Ofen ver-
brannt Als Fällungsmittel dienen schwefelsaure Tonerde, Kieselsäure-
hydrat und Kalkmilch. Alsdann durchfiiefsen die Abwässer noch
mehrere Siebe, woduroh Holz, Kork und andere Sohwimmstoffe zurück-
gehalten werden, und kommen schliefslich in den eigentlichen Klär-
raum, der nach unten triohterartig zuläuft und zum Absetzenlassen
der Niederschläge dient. Ein zweiter Klärbrunnen vollendet den Vor-
gang. Der Schlamm wird abgeprefst und der Landwirtschaft unent-
geltlich übergeben.
Das Verfahren von Rothe & Degener arbeitet in der Weise,
dafs es die in den Abwässern enthaltenen organischen StofTe durch
das Aufnahmevermögen einer künstlichen Humussohioht unschädlich
zu machen sucht. Zu diesem Zwecke wird den Abwässern ein dünner
Brei von mit Wasser angemachter, gemahlener Braunkohle zugesetzt.
Nachdem deren Einwirkung eine kurze Zeitlang stattgefunden hat,
wird eine zur rasohen Fällung der noch in der Sohwebe befindlichen
HumusstotTe genügende Menge von gelösten Eisenaluminium- und
Magnesiumsalzen zugeführt. Dieses Verfahren ist insbesondere von
einer Kommission der Stadt Köpenick empfohlen worden. Eine inter-
essante Weiterbildung davon hat die Gasmotorenfabrik Deutz auf der
Ausstellung vorgeführt, indem sie den so ausgefällten Niederschlag
nach dem Abpressen und Trocknen in Generatoren vergast und das
gewonnene Gas in einer eigens konstruierten, bei dem nur geringen
Brennwert des Gases besonders stark gehaltenen Maschine in Kraft
umsetzt. Auf diese Weise sollen sioh die städtischen Abfälle mit Vor-
teil zur Erzeugung von Kraft, insbesondere zum Betriebe einer elektri-
schen Zentrale nutzbar machen lassen.
Die von Hermann Liebold in Dresden-A. ausgestellte Fäkalien-
kläranlage beruht auf ganz anderen Grundsätzen, nämlich auf der
sogenannten Selbstreinigung der Abwässer. Hierbei werden für eine
Kläranlage zwei oder mehrere Kessel verwendet. Der erste, kleinere
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stellt den sogenannten Vorklärer dar, während der zweite oder dritte
seiner Tätigkeit entsprechend, Hauptklärer genannt wird. Die Klärung
geht folgendermaßen vor sich: Das von den Klosetts kommende Kohr
taucht in den Vorklärer bis kurz über den Boden ein, duroh welche
Anordnung die spezifisch schwersten Stoffe am Boden liegen bleiben.
Im übrigen Vorklärerinhalt vollzieht sich ständig eine Scheidung der
Sink- und Sohwebestoffe; erstere sinken zu Boden und letztere bilden
un der Oberfläche des Kessels eine weiche Masse. Gleichzeitig mit
dieser mechanischen Sedimentation beginnt die Tätigkeit ärober und
anärober Kleinlebewesen. Diese spalten die in- den Abgängen ent-
haltenen, zusammengesetzteren organischen Verbindungen, bis ihnen
der Stickstoff vollständig entzogen ist. Hierdurch hört aber auoh die
Lebensfähigkeit der äroben Mikroorganismen auf, während die an-
äroben Mikroorganismen ohne ihn bestehen können. Zwischen den
obersten und untersten Schichten des Klärinhaltes wird sioh dann
eine schwaoh trübe Flüssigkeit bilden, die mehr oder weniger noch
von kleinen organischen Teilen durohsetzt ist. Durch ein hebelartiges
Rohr, das bis ungefähr in die Mitte des Vorklärers eintaucht, wird
diese Flüssigkeit in den Hauptklärer übergeführt, und zwar wieder so,
dafs das Eintauohrohr kurz über dem Boden mündet, während das
Ausgangsrohr bis zur Mitte des Klärinhaltes reicht. Im Hauptklärer
vollzieht sich derselbe Prozeß wie im Vorklärer; Sink- und Sohwebe-
stoffe werden geschieden, und die äroben Mikroorganismen sorgen für
den weiteren Zerfall. Im allgemeinen Leben nennt man letzteren
Vorgang faulige oder Sumpfgasgärung. Duroh die Spaltung des
Fäces werden Gase frei, die die Klärer nicht absorbieren. Über dem
Klärinhalt befindet sioh ein leerer Raum, in dem sioh die Gase,
Schwefelwasserstoff und Ammoniak, sammeln können, und von wo sie
mittelst eines sogenannten Vergasers abgeführt werden. Letzterer ist
ein kleiner, gußeiserner Kessel, der zu zwei Dritteln seines Inhaltes
mit Glyzerin gefüllt ist. Das Gasrohr von den beiden Klärkesseln
taucht ein Stück in das Glyzerin ein, und die Gase treten duroh diese
Füllung in den oberen Raum des Kessels und können von hier aus
in ein übergehendes Rohr oder ins Freie geführt werden. Explosionen
und Vergiftungen durch diese Gase sind daher vollständig aus-
geschlossen. Die Gasentwickelung beträgt im Monat höchstens 20 Liter.
Die Kontrolle der Kessel zur Entfernung der angesetzten Masse erfolgt
durchschnittlich alle zwei bis drei Jahre.
Vorliegende Zeugnisse, insbesondere solche von den Behörden
der Stadt Zürich, sprechen sich sehr günBtig über die Reinigung der
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Fäkalien naeh diesem System aus, und auch ein Qutaohten des
Hygienischen Instituts der Universität München lautet dahin, dafs so
gereinigte Abwässer unbedenklich in Seen, Flüsse usw. eingeleitet
werden können, und dafs man von Abwässern einen höheren Orad
von Reinheit nioht erlangen könne, als er mit dem besprochenen
System erzielt werde. Auch zeigten die untersuchten Abwässer eine
solche Beschaffenheit, dafs sie dem weiteren Prozeß der oxydierenden
Selbstreinigung keine Schwierigkeiten entgegensetzten und daher un-
bedenklich auch auf Rieselfelder geleitet werden könnten.
Auch die Firma Sch weder & Cie. in Grofs-Lichterfelde führt
Abwasserreinigungsanlagen nach dem sogenannten biologischen Faul-
kammerverfahren aus, und zwar nioht im unmittelbaren Ansohlufs an
Abortanlagen, sondern in gröfserem Mafsstabe Pur die Reinigung
städtischer Spüljaucben und für ähnliche Abwässer.
Ebenso führt die Allgemeine Städtereinigungs-Oesellsohaft
in Wiesbaden Anlagen nach ähnlichem System aus, wobei die Wässer
zunächst in einen sogenannten Faulraum gelangen, in dem eine weit-
gehende mechanische Reinigung und geeignete Vorbehandlung für die
weitere Reinigung duroh das Oxydationsfllter erfolgt Vom Faulraum
gelangt das vorgereinigte Abwasser in den Ausgleichs- und Vorrats-
bebälter, aus dem das Wasser naoh den Oxydationsfiltem abgelassen
wird. Dieses Ablassen geschieht je nach Lage des Falls sowohl
selbsttätig, als nach einer bestimmten vorgeschriebenen Betriebsordnung
durch einen Wärter im Nebendienst In den Oxydationsfiltem ver-
bleibt das Wasser 2 bis 2'/j Stunden und wird alsdann auf das Nacb-
filter abgelassen, aus dem es klar, färb- und geruchlos sowie haltbar,
ohne weiter in Fäulnis überzugehen, heraustritt. Auoh ist eine be-
sondere Desinfektionsabteilung vorgesehen, in der dem Wasser im
Fall von Epidemien noch besonders Desinfektionsmittel zugesetzt
werden können.
Was die Beseitigung der festen Abfälle anbetrifft, so ist es all-
seitig wohl als unrationell anerkannt, das Müll einfach ins Freie zu
führen und dort aufzuhäufen oder ihn zum Bestreuen von Feldern
zu benutzen. Hierbei wird zwar ein Teil der darin enthaltenen Stoffe
als Dünger verwertet, aber alle diejenigen Bestandteile des Mülls, die
zu diesem Zwecke nicht geeignet sind, insbesondere Olas-, Porzellan-
und Metallteile, bilden eine recht unangenehme Belastung der Felder.
Auoh wird bei diesem Verfahren keinerlei Anstalt getroffen, die
gesundheitsschädlichen Teile des Mülls zu vernichten. Wenn auch
bereits zahlreiche 8yBteme bestehen und auch in verschiedenen Bei-
Himmel und Erd». 190«. XVI. X 6
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spielen in Dresden vorgeführt werden, die eine staubfreie Müllabfuhr
gestatten, so ist dooh eine Durchwühlung des Mülls da, wo es ab-
geladen wird, nicht ausgeschlossen, die bekanntlich durch gewerbs-
mäßige Lumpensammler ganz regelmäfsig erfolgt, und zwar manches
nooh Brauchbare zutage fördert, aber auch die darin enthaltenen
gesundheitsschädlichen Keime überallhin verschleppt. Allen diesen
Übelsländen kann nur vorgebeugt werden, wenn das Müll sofort an
eine Stelle gefahren wird, wo er gänzlich unschädlich gemacht wird.
Dies ist nur dann der Fall, wenn die Mülleimer unmittelbar in eine
Verbrennungsanstalt entleert werden. Inwiefern eine derartige Anlage
Kosten erfordert, ist je nach den - örtliohen Verhältnissen sehr ver-
schieden, da in manchen Gegenden sehr viel brennbare Stoffe auf das
Müll gelangen, und demnach die Zugabe von Brennmaterial fast oder
ganz unnötig wird, während unter anderen Verhältnissen eine mehr
oder weniger grofse Menge an Brennstoff verbraucht wird. Conrad
Bauer in Nieder-Schönhausen bei Berlin gibt auf der Ausstellung
Einzelheiten über sein System zur Beseitigung des Mülls und zur
Herstellung von Steinen aus den bei der Müllverbrennung erhaltenen
Schlacken.
H. Kori in Berlin W. stellt gleichfalls Verbrennungsöfen für Ab-
fälle aller Art aus, die zwar nicht in erster Linie für die Müll-
verbrennung ganzer Städte, sondern für die Beseitigung von Abfällen
in Krankenhäusern, Schlachthöfen und dergleichen berechnet sind.
Die Öfen sind je nach der Menge zu bewältigender Abfälle verschieden
konstruiert. Die gröfsten Öfen, bei denen insbesondere auch die Be-
seitigung von Kehricht in Betracht kommt, sind so eingerichtet, dafs
dessen Verbrennungswärme möglichst ausgenutzt ist, und enthalten
außerdem noch eine besondere Feuerung zur vollständigen Beseitigung
der etwa noch in dem entweichenden Rauch enthaltenen unverbrannten
Gase und Rufsteile.
Riohard Schneider in Dresden stellte in der Sonderausstellung
des Feuerbestattungsvereins einen Ofen zur Verbrennung von Leichen
aus, ein Gebiet, das ja mit dem hier zu besprechenden in engster
Verbindung steht. Die Leichenvorbrennungsfrage ist im übrigen ein
Gegenstand, über den man sehr verschiedener Ansicht sein kann, und
die man jedenfalls nur vom Standpunkte der Zweckmäfsigkeit aus
beurteilen sollte, während sie leider vielfach zum Gegenstand des
Parteistreites geworden ist und mit Gründen erörtert wird, die eigentlich
mit der Saohe selber gar nichts zu tun haben.
Gehen wir nun auf ein anderes Gebiet der Beseitigung fester
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•Abfälle über, so wäre nooh die Industrie der Abdeckerei zu erwähnen,
die sioh allmählich zu einem wesentlichen Nebenbetrieb der städtischen
SohlachthofanUgen entwickelt hat So führt z. B. die Stadt Dresden
ein Modell des Maschinenraumes ihrer Abdeckerei vor, in dem sioh
die zur Zersetzung der Tierkörper dienenden Podewilsschen
Trommeln befinden, auoh Proben der in der Anstalt erzeugten Stoffe
und eine Tabelle über den wechselnden Gehalt des zu Futterzwecken
dienenden Tierkörpermehls sind vorhanden. Man macht sich von der
Wichtigkeit dieser Anlage einen Begriff, wenn man hört, dafs sie im
Jahre 1898 mit einem Kostenaufwand von 1 50 000 Mark errichtet
worden ist. Die darin befindlichen Apparate nach Podewils besitzen
jeder einen Fassungsraum von 1250 kg. Es sind grofse, schmiede-
eiserne, mit Dampfmantel versehene Zylinder, in denen die Kadaver,
Tierteile und dergleichen durch eingeleitete, gespannte Wasserdämpfe
bis zum Zerfall aller Teile gedämpft und nach Abscheidung des Fettes
unter Rotation der Trommel, deren Mantel durch Dampf erhitzt wird,
zu einem hochwertigen Futtermehl — Tierkörpermehl — verarbeitet
werden. Die ganze Verarbeitung erfolgt ohne nennenswerte Geruohs-
belästigung in dem dampfdioht abgeschlossenen Apparatensystem. Die
beim Dämpfen und Trocknen des Rohmaterials entstehenden Gase
werden durch eine Luftpumpe abgesaugt, in einem Einspritzkonden-
sator niedergeschlagen und, soweit hier nioht kondensiert, der Dampf-
kesselfeuerung zugeführt. Das Dämpfen dauert etwa 4 Stunden, das
Trocknen 6 bis 12 Stunden. Die fertigen Produkte, Fett und Tier-
körpermehl, belästigen nioht duroh ihren Qeruoh und finden leicht
Absatz. Bei Beseitigung des im Jahre 1902 der Abdeckerei über-
gebenen Rohmaterials im Gewichte von etwa 300000 kg wurden etwa
30000 kg Fett und 76000 kg Tierkörpermehl gewonnen. Es ist ein
sehr wertvolles Futtermittel und hat durchschnittlich folgende Zu-
sammensetzung:
Stickstoff .... 9,23 % Phosphorsäure . . 7,26 %
RohproteVn .... 67,67% Asche 18,81%
Fett 16,81% Wasser 6,24%
^ | §&*
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Physikalisches von der Naturforscherversammlung ln Cassel.
Der Herkules auf der Höhe des Habiohtswaldes sah auf bunt-
beflaggte Strafsenreihen und festlich geschmückte Plätze. Herrlicher
Herbstsonnenschein wetteiferte mit den Bürgern des sonst so stillen
Cassel, die von Nah und Fern herbeigeströmten Gäste, die Ritter der
geistigen Tat, die Pioniere der Wahrheit freundlich zu begrüfsen.
Schöne Tage in der Tat nach langen kalten Regenwochen, aber auch
Tage fruchtbarer und fördernder Arbeit, denen die Teilnehmer an der
76. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte ein gutes An-
denken bewahren werden. Cassel war günstig gewählt. Der engere
Rahmen, in dem sich diesmal, wie auoh schon im letzten Jahre in
Karlsbad, die Ereignisse abspielten, mußte naturgemäfs einen festeren
Zusammenschluß der Teilnehmer herbeifiihren. Ein reger Gedanken-
austausch förderte so Forschung und Fortschritt und zeigte die Ver-
sammlung auf der ihr würdigen Höhe, obwohl keine grofse wissen-
schaftliche Tat, keine neue Wahrheit — wir sprechen von der physi-
kalischen Abteilung — von hoher Tribüne herab verkündet wurde.
Fragt man nach den Aufgaben des Naturforschers, so gedenkt
man nicht allein jener zahlreichen Entdeckungen und Geistes-
funde, an deren subtiler Ausarbeitung dio Wissenschaft tätig ist,
sondern auch vor allem jener offenbaren Lücken in unserer natur-
wissenschaftlichen Erkenntnis. Eine Naturforscherversammlung wäre
der Ort, von der Ausfüllung dieser Lücken zu reden. Ihrer gibt es
genug. So sind wir beispielsweise von der spektralen Verteilung
strahlender Energie noch keineswegs zur Zufriedenheit unterrichtet.
Gäbe es ein Prisma von allgemeiner Durchlässigkeit, so würde es eine
Musterkarte aller strahlenden Ausbreitungsvorgänge von den elektri-
schen Wellen bis zu den Strahlen chemischer Wirksamkeit entwerfen.
Denn ein Prisma hat ja die Eigenschaft, zu analysieren, zu sortieren,
das Mit- und Ineinander in ein übersichtliches Nebeneinander zu ver-
wandeln. Gäbe es also ein für alle Strahlengattungen durchlässiges
Prisma, wie wir es der Einfachheit halber voraussehen und zeichnen
wollen (Fig. 1), so könnte man mit ihm folgendes Experiment anstellen.
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Man könnte einen Strahl elektrischer Wellen auf das Prisma leiten
und würde dann bemerken, dafs dieser nicht allein aus seiner gerad-
linigen Richtung abgelenkt wird, sondern dafs hinter dem Prisma ein
breites Band, ein Spektrum erscheint, welohes die elektrischen Strahlen
nach ihrer Wellenlänge geordnet nebeneinander enthält. Und zwar
werden die langen Wellen am wenigsten, die kurzen am stärksten aus
der geraden Riohtung abgelenkt. Das Spektrum der elektrischen
Strahlen enthält Wellen von vielen Metern Länge bis herab zu wenigen
Millimetern. Genau so verläuft der Versuch für die Wärme- und
Liohtwellen, nur dafs die Gesamtablenkung dieser Strahlengruppen
eine gröfsere ist. Dabei gehen die Wärmewellen ohne Sprung in die
Liohtwellen und die Liohtwellen Bchliefslich in die Wellenstrahlen
chemisoher Kraft Uber, nur zwisohen den kürzten elektrischen Wellen
und den längsten Wärmewellen klafft, wie es auch die Abbildung er-
kennen läfst, eine grofse Lüoke. Hier liegt ein unbekanntes Gebiet
von etwa fünf Schwingungsoktaven. Wir werden darauf noch zurück-
kommen.
Den elektrischen Wellen widmete Professur Drude einen demon-
strativen Vortrag, in dem er vor allem mit Recht auf die befruchtende
Wechselwirkung zwisohen Wissenschaft und Teohnik auf diesem Gebiet
hinwies. Sind doch die elektrischen Wellen, von unserem grofsen
Heinrioh Hertz zum ersten Mal im engen Rahmen des Laboratoriums
experimentell dargeBtellt und studiert, zu den Trägern der drahtlosen
Telegramme geworden. Dabei hat sich in kaum geahnter Weise auob
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86
im Bereiche der elektrischen Wellen alles das bestätigt, was mit dem
Begriff der Schwingung so eng zusammenhängt. Auch bei den Ein-
richtungen für drahtlose Telegraphie, und zwar in allen einzelnen
Gliedern des Mechanismus sowie für die wechselseitigen Beziehungen
der Stationen untereinander, ist für die Güte und Stärke der Energie-
übertragung einzig und allein jene Abstimmung und jener Zusammen-
klang erforderlich, den inan in der Akustik als Resonanz zu be-
zeichnen pflegt. Es ist daher für den Physiker sowohl wie für den
Teohniker von eminentester Bedeutung, die Anzahl der Eigenschwin-
gungen und damit die Wellenlänge eines jeden elektrischen Schwin-
gungssystems zu kennen. Das ist wirklich nicht viel schwieriger als
das Abhören einer Stimmgabelschwingung aus der Höhe des Tones
denn es besteht ein festes Verhältnis zwischen den Abmessungen und
der Beschaffenheit eines Schwingungskieises und seiner Schwingungs-
zahl. Die Anzahl der Schwingungen aber in einer Sekunde, hinein-
dividiert in die Geschwindigkeit der elektrischen Wellen, nämlioh
300000 km (d. i. die Strecke, welche die Wellen in einer Sekunde zu-
rüoklegen), ergibt die Wellenlänge. Volle Resonanz zwischen zwei
Schwingungskreisen tritt ebenso wie zwischen zwei Stimmgabeln nur
dann auf, wenn Schwingungsgleichbeit vorhanden ist, wenn also beide
Systeme, akustisch gesprochen, denselben Ton geben. Nun kann man
eine ganze Reihe von Schwingungssystemen bekannter Wellenlänge
bereit halten und unter ihnen so lange auswählen, bis eine Resonanz mit
dem zu untersuchenden System unbekannter Schwingungszahl eintritt.
Oder man verfährt auch so, dafs man einen in bekannter Weise
variablen Schwingungskreis zur Analyse verwendet. Jedenfalls ist
der Vorgang ein aufserordentlich einfacher, denn das zur Untersuchung
dienende Schwingungssystem ist kein komplizierter Apparat, bewahre,
ein Stück Drahtspule auf einein Glaszylinder oder, in verfeinerter
Form, ein Gestell mit zwei Drähten, über die hin eine verschiebbare
Metallbrücke läuft. Tritt Resonanz ein, so zeigen sich elektrische
Schwingungserscheinungen, die am Funkenspiel oder am Aufleuchten
einer kleinen Qeislerschen Röhro leicht erkannt werden. Was Professor
Drude zeigte, war im Prinzip nicht neu, aber durch die geschickte
Art der Anordnung überzeugend und wertvoll. Ohne Übertreibung
konnte er sagen, dafs wir nunmehr in der Lage sind, in wenigen
Sekunden die Wellenlänge irgend eines elektrisch schwingenden
Systems mit einem Fehler von nur etwa 1 Prozent zu bestimmen. Das
ist ein beachtenswerter Fortschritt.
Die Antenne (d. i. der hoch auf die Masten gezogene Sendedraht)
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87
und das elektrische Entladungssystem, welches der Antenne die aus-
zustrahlende Energie übermittelt, stehen miteinander also ebenfalls im
Abhängigkeitsverhältnis der Resonanz. Das ist Haupterfordernis. Es
ist aber sohliefslich auch nioht gleiohgiltig, wie die Antenne in elektri-
sche Schwingungen versetzt wird. Könnte man in ihr Schwingungen
durch einen stetig fliehenden Strom erregen, so wäre für die Energie-
übertragung viel gewonnen. Analogien für derartige Übertragungs-
verhältnisse gibt es in der Akustik genug; man denke nur an das
Anblasen einer Pfeife durch einen gleichmäfsigen Luftstrom und an
die Schwingungen einer Geigensaite unter dem gleiohmäfsigen Strich
des Bogens. Es entsteht hier offenbar ein neues Problem, das gelöst
sein will und zweifellos in der Zukunft gelöst werden wird. Professor
Simon konnte bereits über recht ermutigende, von ihm in Göttingen
angestellte Versuohe berichten. Er wird sie fortsetzen, sobald er über
eine Gleichstrommaschine von sehr hoher Spannung (10000 Volt oder
mehr) verfügt
Wir erwähnten bereits eingangs, dafs es einen für alle Ather-
strablen durchlässigen Stoff leider nicht gibt. Glas leistet für elektri-
sche Wellen und Lichtwellen gute Dienste, für Wärmewellen ist es
dagegen ein fast undurchsichtiger Körper. Auch ultraviolette Strahlen
durchdringen es nicht Quarz, Steinsalz, Flufsspat, Sylvin u. a.
nähern sich dem Ideal bereits mehr, aber auoh sie versagen den
langen Wärmewellen gegenüber. Und das ist sehr bedauerlich, denn
gerade zwischen den langen Wärmewellen und den kurzen elektrischen
Wellen liegt das von uns bereits charakterisierte unbekannte Gebiet
von 5 Schwingungsoktaven. Die kürzesten bisher gemessenen elektri-
schen Wellen haben immerhin nooh eine sichtbare Gröfse, die längsten
Wärmewellen jedoch nur eine Länge von 0,06 mm. Welcher Art
mögen nun die Ätherstrahlen dieses unbekannten Gebietes sein? Er-
wartet uns hier eine besondere Überraschung oder gehen irgendwo
beide Schwingungsgruppen allmählich und unmerkbar ineinander über,
ohne einer ganz neuen, bisher noch unbekannten Strahlenart zwischen
sich Raum zu gewähren? Wir können diese Frage heute nicht mit
voller Sicherheit beantworten, soviel aber ist sicher, dafs mit Erfolg
jenem Gebiete zugestrebt wird, wo die Wärmewellen elektrische Eigen-
schaften bekommen und wo man die Strahlen elektrischer Kraft auoh
als Wärmestrahlen bezeichnen darf.
Es wird unsere Leser gewifs interessieren, zu erfahren, wie man
die langen Wärmewellen nachweist, obschon sie auf unser grobes Ge-
fühl selbstredend gar keinen Eindruck mehr ausüben. Unser Gefühl
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88
versagt bereits Wärmestrahlen gegenüber von etwa einem Tausendstel
Millimeter Wellenlänge; man hat aber noch Wärmewellen von 60 fach
greiserer Länge erkannt und genau bestimmt Das Verdienst auf
diesem Gebiet bahnbrechend vorgegangen zu sein, gebührt Professor
Rubens- Cbarlottenburg, der ebenfalls, unter Vorführung sehr inter-
essanter Versuche, in der Abteilungssitzung über seine Arbeiten
referierte. Wir wollen seine Versuchsanordnung mit wenigen Worten
beschreiben. Eb gibt eine Reihe von Stoffen, welche die kürzeren
Wärmewellen hindurohlassen, die längeren dagegen reflektieren. Für
die letzteren wirken sie also wie ein metallisoher Spiegel. Glas läfst
alle Lichtstrahlen fast anstandslos hindurch und ebenso die Wärme-
strahlen bis etwa zu einer Wellenlänge von drei Tausendstel Millimetern.
Quarz gebt hierin weiter; es ist durchsichtig noch für etwa dreimal
solange Wellen, für längere Wellen wird es zum Spiegel. Steinsalz
spiegelt bei 30 Tausendstel, Fiufsspat bei 60 Tausendstel und 8ylvin
gar erst bei 70 Tausendstel Millimeter Wellenlänge. Nun denke man
sich folgende Anordnung. Von irgend einer Wärmequelle, sagen wir
einem gewöhnlichen Auerbrenner S iFig. 2}, der ohne Zylinder brennt
— Glas läfst ja längere Wärmewellen nioht hindurch — , fallt ein
Strahlenbündel auf eine Platte a aus Fiufsspat. Fiufsspat läfst die
Lichtstrahlen und die kürzeren Wärmewellen hinduroh, die längeren
Wärmewellen dagegen reflektiert er und wirft sie auf die Platte b.
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89
Hier wiederholt eich derselbe Vorgang noch einmal. Sollten etwa
noch einige Lichtstrahlen oder kurzwellige Wärmestrahlen in dem
reflektierten Bündel vorhanden gewesen sein, so werden sie hier hin-
dnrchgelassen ; die langen Wärmewellen werden wiederum reflektiert
und fallen auf die Platte o. Es spielt sioh also ein ähnlicher Vorgang
ab, wie beim Sieben von Sand. Hat schtiefslich eine vier bis fünf-
malige Reflexion stattgefunden, so sind keine licht- und kurzwelligen
Wärmestrahlen mehr vorhanden. Was da übrig bleibt, sind die er-
wünschten langwelligen Strahlen, „Rest“-Strah len, wie Bie Rubens mit
Recht nennt. Sie lassen sioh mit Hilfe der Thermometersäule (T),
dem hoohempflndliohen Thermometer des Physikers, nachweisen, auch
kann man an ihnen bemerken, dafs sie sich in einigen Eigenschaften
bereits den elektrischen Strahlen nähern.
Während man so von beiden Seiten her das unbekannte Land
vorsichtig abbaut, um ja nichts zu übersehen, hat der Franzose
Blond lot einen kühnen Griff mitten hinein getan und an glühenden
Körpern — auch im Sonnenlioht — eine unsichtbare, mit teilweiser
Durchdringungsfähigkeit undurchsichtiger Körper begabte, brechbare,
jedooh niobt chemisoh wirksame dunkle Strahlung entdeckt, die an-
scheinend einer sehr langen Weliengattung angehört und ihren Platz
zwischen den kürzesten elektrischen Wellen und den längsten Wärme-
wellen hat. Auoh von diesen Blondlotschen N-Strahlen — so genannt,
weil sie in der Universität Nancy entdeckt wurden — war auf der
Naturforsohervorsammlung die Rede. Leider liegt eine Bestätigung
der aufsehenerregendenVersuohe Blondlots noch von keiner Seite vor.
Wichtiger fast noch als die Messungen an den Reststrahlen sind
jedoch die Rubensschen Versuobe über die Reflexionsfähigkeit der
Metalle für lange Wärmewellen und ihr elektrisches Leitvermögen-
Aber, wird der Leser ausrufen, das sind doch zwei Dinge, die offenbar
miteinander garniohts zu tun haben! Keineswegs. Er erinnert sich
vielleicht, einmal gehört zu haben, dafs auch die Wärmeleitfähigkeit
und der elektrische Widerstand Beziehungen zu einander haben, und
zwar so, dafs erstere sioh zu letzterem angenähert reziprok verhält
Das sind doch auoh soheinbar ganz heterogene Dinge. Naoh der
Maxwellsohen elektromagnetischen Liohttheorie mufs man vielmehr
derlei Beziehungen durchaus erwarten, und wenn man sie bisher hin-
sichtlich der Spiegelfähigkeit und des Leitvermögens nicht fand, so
lag dies lediglich an einer ungünstigen Versuchsanordnung Prüft
man Platin, Gold und Silber in bezug auf sichtbare oder ultraviolette
Strahlen, so wird man allerdings bemerken, dafs Platin diese weit
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90
vollkommener reflektiert als Gold und Silber, obgleioh das Leitver-
mögen des Platins weit geringer ist als das der letztgenannten beiden
Metalle. Im Gebiet der langon Wärme wellen kehrt sioh das Verhältnis
jedoch direkt um. Noch deutlicher tritt dies Verhältnis beim Wismut
hervor, das im sichtbaren Spektrum kaum merklich hindurchläist,
während die Durchlässigkeit im Ultrarot mehrere Prozent beträgt Es
liegt dies an den Eigenschwingungen der Moleküle — den Resunanz-
erscheinungen also — , die durch die kürzeren Wellen erregt werden.
Führt man nach Rubens alle Messungen mit langen Wellen aus,
wobei die Komplikationen und Störungen verschwinden, so zeigt sich
wirklich der Zusammenhang in kaum geahnter Klarheit Es ist nämliob
das Reflexionsvermögen der Metalle umgekehrt proportional der
Quadratwurzel aus ihrem elektrischen Leitungsvermögen. Das ist
eine ebenso einfache, wie hoch erfreuliche neue Bestätigung der
elektromagnetischen Liohttheorie.
Sohliefslich wäre nooh von den chemisch wirksamen, äufserst
kurzwelligen, dunklen Strahlen jenseit vom Violett des Lichtspektrums
zu reden. Sio sind als Haupterreger der Fluoreszenz, der chemischen
Umwandlung und als Ursache elektrischer Entladungsvorgänge nicht
minder interessant als alle übrigen. Leider ist Glas jedoch für sie so
gut wie garnicht durchlässig, und das ist im Interesse photographischer
Forschung sehr zu bedauern. Denn die Platte kann hinter Glaslinsen
ihre volle chemische Kraft garnicht entfalten. Da ist es denn mit
Freude zu begrüfsen, dafs Schott und Genossen in Jena auf der
Naturforscherversaminlung mit stark ultraviolett durchlässigen Gläsern
hervortraten und sowohl Cron- wie Flintglas von der neuen Art aus-
stellten. Zwar kann das eigenartige Glas an Durchlässigkeit nicht
mit dem Quarz wetteifern, es ist aber für viele Fälle von bedeut-
samem Wert. So konnte Herr Zschimmer Himmelsphotographien,
durch alte und neue Gläser gewonnen, nebeneinander stellen, auf denen
der Fortschritt sofort in die Augen sprang. Die hinter ultraviolett
durchlässigen Gläsern hergestellten Aufnahmen enthielten nämlich
etwa */s Qröfsenklasse mehr Sterne, der Gesamtzahl nach also einen
beträchtlichen Zuwachs. Es gibt aber auch Gebilde am Himmel, die,
wie einige Nebel, nur ultraviolettes Licht aussenden und daher über-
haupt nur auf photographischem Wege zu entdecken sind. An ihnen
dürften sich die neuen Linsen ganz besonders bewähren.
So wäre von der letzten Naturforsoherversammlung in Cassel nooh
viel Interessantes zu berichten, insbesondere von den im Vordergründe
alles Interesses stehenden radioaktiven Substanzen und von dem sehr
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bedeutsamen Vortrag Ramsays über die Verwandlung von Radium
in Helium. Auch über die mit der Versammlung verbundene Aus-
stellung ist noch viel zu sagen. Doch darüber ein andermal.
Dr. B. D.
$
Der Stern 85 Pegasi nst ein von Burnham 1878 entdeckter
Doppelstern, dessen HauptBtern 6 " 7 und dessen Begleiter nur 11”- 3
ist. Der Begleiter beschreibt eine sehr enge Bahn von nur 0". 78
halber greiser Axe in 26.7 Jahren um den Hauptstern. 85 PegaBi
besitzt nach Bossert die beträchtliche jährliche Eigenbewegung von
-f- 0'. 93 in R. A. und — 0*. 99 in Deol. oder von 1*. 29 im gröfsten
Kreise im Positionswinkel 140°. Der Stern B. D. + 26°. 4736, 9“ 0
stand, als Otto Struve ihn 1861 zuerst mafs, 33* im Posiüonswinkel,
114° von dem Doppelstern entfernt, von dem Struve damals nur den
Hauptstern sah, und konnte daher für einen entfernten Begleiter gelten.
Die später ausgeführten Anschlüsse zeigten aber in den rasch sich
ändernden Positionswinkeln und Distanzen nichts von einer Umlaufs-
bewegung des Sterns 9“- um 86 Pegasi, sondern nur, dafs letzterer
geradlinig sich an der Sphäre bewegte. Im Jahre 1873 war der Ab-
stand der beiden Sterne auf den kleinsten Betrag von 14* gesunken,
von da ab nimmt die Entfernung der nur optisch verknüpften Sterne
unaufhörlich zu. Im Jahre 1888 war 85 Pegasi, der zu Struves
Zeiten in kleinerer R. A. dem schwachen Sterne voranging, unter den-
selben getreten, so dafs beide im selben Stundenkreise standen, von
da ab steht der helle Stern dauernd östlich von dem schwachen. 32 Be-
stimmungen von Positionswinkel und Distanz des Sternes 9" gegen
86 Pegasi hat nun Comstock, der Direktor des Washburn Obser-
vatory, benutzt, um zu untersuchen, wo in dem physischen System
welches 86 Pegasi mit dem Stern ll“- 3 bildet, der Schwerpunkt liegt,
denn dieser ist es, der sich gradlinig an dem Sterne 9m’ vorbei-
bewegt, während der Hauptstern 6m- 7 in 26.7 Jahren um den Schwer-
punkt rotiert mit einer halben grofsen Achse, die sich zu der der Bahn
des Begleiters um den Hauptstern, 0' 78, verhält wie die blasse des
Begleiters zu der Summe der Massen. Da der Begleiter nur den
174. Teil des Liohtes des Hauptsterns hat, sollte man für seine Masse
ebenfalls nur einen geringen Bruchteil der Masse des Hauptsterns er-
warten, und dann würde praktisch der Hauptstern selbst die gerad-
linige Bewegung ausführen. Überraschender Weise erhielt jedoch
Comstook für dies eben bezeichnete Massenverhältnis aus der Be-
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92
handlung der R. A.-Ditferenzen gegen den Stern 9“ den Wert 0.604,
aus den Decl.-Differenzen 0.684, in reeht guter Übereinstimmung
Nimmt man das Mittel 0.62, so ist dies die Masse des schwächeren
Sterns, wenn man die Summe der Massen = 1 setzt, und 0.88 wird
die Masse des helleren Sterns. Der 174 mal heller leuchtende Stern
ist also der an Masse und damit wahrscheinlich auoh an Ausdehnung
kleinere, der schwächere Stern mufs sioh somit in bedeutend abge-
kühlterem Stadium befinden wie der hellere, der dem zweiten Spektral-
typus angehört. Selbst wenn die Zahl 0.62 noch erheblioh fehlerhaft
sein sollte, so könnte immerhin der hellere Stern im Vergleich zum
schwachen doch nur eine Masse besitzen, die nioht entfernt seiner
überlegenen Heiligkeit entspricht. Solohe scheinbar abnormen Ver-
hältnisse bestehen bekanntlich auch im Siriussystem, wo der Haupt-
stern rund 1000 mal so hell ist wie der Begleiter und dooh nur die
doppelte Masse hat.
Die Parallaxe des Sterns 85 Pegasi ist zu etwa 0.04 nach den
bisherigen Messungen anzunehmen, damit wird die halbe grofse Achse
der Bahn des Sterns 11“ um den Hauptstern 19*/j Erdbahnradien und
die Massen, welche in dieser dem Sonnenabstand des Uranus gleiohen
Entfernung eine Umlaufsbewegung in 25.7 Jahren erzeugen, besitzen
zusammen 1 1 */4 mal soviel Masse als die Sonne, wenn sie nun im
Verhältnis 0.38 : 0.62 stehen, so ist die hellere Komponente von 85 Pe-
gasi 4>/4, die schwächere 7 mal so sehwer wie die Sonne. Wegen der
Unsicherheit der Parallaxe ist das Resultat über die Summe der Massen
nooh recht unsioher, jedenfalls aber sind die Körper der Sonne an
Oröfse überlegen. Rp.
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Himmelserscheinungen.
Übersicht über die Himmelserscheinungen
für Dezember 1903, Januar und Februar 1904 *).
1) Der Sternenhimmel. In diesem Zeitabschnitt bietet der Sternenhimmel
abends im Siidosten ein glänzendes Bild. Die Gruppe von 8 Sternen erster
Gröfse, welche in den Sternbildern des grofsen und kleinen Hundes, des Orion,
des Stiers, der Zwillinge und des Fuhrmanns nahe beisammen stehen, ist
zwar Mitte Dezember noch nicht vollständig bei Anbruch der Nacht aufge-
gangen, aber von 8 Ubr ab im Osten sichtbar. Mitte Februar steht diese
reiche Stemgruppe um 8 Uhr abends bereits im Silden, und es kommt in
Regulus im grofsen Löwen, dann im Ostnordoaten noch ein neunter Stern
erster Gröfse hinzu. Die rechts davon gelegenen Sternbilder sind entsprechend
ateruärmer. Anfang Dezember ist noch der Adler kurze Zeit im Westen zu
sehen, länger Pegasus mit der dem Zenilh näheren Andromeda, tief im äüden
der Wallflsch, höher die Fisohe und der Widder. Das Zenith passieren der
Reihe nach Cassiopea, Perseus, Fuhrmann und grofser Bär, die vom Nord-
osthimmel heraufwandern. Zur Orientierung mögen folgende hellere Sterne
dienen, die abends um 9 Uhr mitteleuropäischer Zeit kulminieren:
Name
Gröfse
Rektaszension
Deklination
1. Dezember
C Ceti
3.0
lh
47 m
— 10»
48’
5.
a Arietis
2.0
2
1
+ 23
0
16.
7 Ceti
3.3
1
38
+ 2
50
20.
a Ceti
2.3
2
57
+ 3
43
25.
0 Tauri
3.6
8
20
+ 8
41
29.
i Eridani
3.0
8
39
— 10
5
3. Januar
A Tauri
3.4 — 4.2
8
55
+ 12
18
8. .
7 Tauri
4.0
4
14
+ 15
23
12. .
a Tauri
1
4
30
+ 16
19
17. ,
t Aurigao
3.0
4
51
+ 33
1
22. .
la Aurigae
1
5
9
+ 45
54
Iß Orionis
1
5
10
— 8
18
27. .
c Orionis
2.0
5
31
— 1
16
1. Februar
a Orionis
1—1.4
5
50
+ 7
23
6.
tj Geminor.
3.2-4 2
6
9
+ 22
32
8.
ß Canis maj
2.6
6
18
- 17
54
14. .
a Canis maj
1
6
41
— 16
35
20.
5 Canis m^j
2.0
7
4
— 26
14
26.
a Geminor.
2
7
28
+ 32
6
2) Veränderliche Sterne, a) Dem unbewaffneten Auge und kleineren
Instrumenten sind zugänglich nur die folgenden Minima der 3 helleren Variabein
vom Algoltypus:
Algol (3h 2“, + 40° 35') Gröfse 2®.3-3m.4: Dez. 3<l 7b 44m, Md
18b 59m, 17 d 15l> 48™, 20<i 12b 37m, 23*1 9b 26™, 2ßd 6h 15m;
Jan. 6<» 17b 31®, 9d 14h 20®, 12* 11b 9m, |5d 7b 58™, 29*
16b 3m; Febr. I* 12* 62®, 4d 9b 41™, 7* 6h 30™, IS* 17b
46m, 21d 14b 35™, 24* 11b 24®, 27* 8b 13®.
J) Alle Zeitangaben in M. E. Z. und nach astronomischer Zählweise, d. h. die
Vormittagsstunden eines Tages sind — mit Ausnahme der Sonnenaufgänge —
um 12b vermehrt zum vorigen Tage gerechnet.
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94
X Tauri (3b 55® '-f- 12° 14‘) Gröfse 3“.4 — 4 “.5: Jan. 24 14*» 55“, 64
13h 47®, 104 1*2*» 39“, 144 l|h 31“, 184 io*» 23“, 224 9*» I6“l
26 d 8*» 8“, 304 7*» 0“.
8 Librae (14*» 56“ — 8° 8r) Gröfse 5—45.7: Dez. 214 19h 7“, 284 18b
41“; Jan.44 18*» 15“, 114 17*» 49“, 18d 17*» 23“, 254 ißh 57»;
Febr. Id 16*» 31“, 8d 16*» 5“, 154 15*» 39“, 224 15h 13m.
b) Ina Dezember 1903’) erreichen ferner folgende hellere Veränderliche
ihr Maxiraum:
Name
Ort für 1903
Helligk. Zeit
des Maximum
Helligk. in
Minimum
Dauer
der Periode
R Arietis
f 2h
Um
+ 24»
37'
8
Dbz. 12
11.7-13
1864
R Trianguli
2
31
+ 33
50
5.6
Dez. 6
11.7
268
gX Ceti
3
15
— 1
25
9
Dez. 4
<12.5
unsicher
T Leporis
5
1
— 22
2
8
Dez. 7
10.9
360
X Aurigae
6
5
+ 50
14
8
Dez. 1
7
?
U Canis min.
7
36
+ 8
36
9
Dez. 21
12.3-13.5
410
R Canum ven.
13
45
+ 40
1
7.8
Dez. 15
11.5
338
RS Virginia
u
23
+ 5
7
7
Dez. 15
12
360
|X Aquarii
22
13
— 21
22
8.9
Dez. 26
13
811
JV Cassiopeae
23
8
+ 59
10
8
Dez. 11
12.4
229
3) Planeten.
M
orkur
ist am 31.
Dez.
in grösster östlicher Elongation
19'/j0 von der Sonne entfernt, also Abendstern, aber seines tiefen Standes (— 22°)
wegen doch kaum zu sehen, am 9. Febr. in grösster westlicher Elongation (26®)
Morgenstern, aber wieder nur in — 20°Dekl. Venus ist in Jungfrau, Wage, Skorpion,
Schlangenträger, Schätzen und endlich im Steinbock, Morgenstern und rückt
langsam der Sonne näher; am 6. Jan. steht sie 1 */, 0 über {3 Scorpii. Mars ist
rechtläufig im Schützen, Steinbock, Wassermann und zuletzt in den Fischen;
• er überholt am 20. Dez. 13*» den im Steinbock sehr langsam rechtläufigen
Saturn (Mars 33 1 südlich), der Mitte Jan. in den Sonnenstrahlen verschwindet,
und am 25. Febr. 18*» den Jupiter (Mars 30’ nördlich), der im Wassermann
langsam rechtläuflg sich bewegt. Uranus steht auf der Verbindungslinie der
Sterno |x Sagitt&rii und 9 Scorpii, ersterem immer näher kommend und erst im
Februar als Morgenstern sichtbar. Neptun ist dicht bei fx Gemmorum zu finden.
4) Jupitermonle. In Mitteleuropa sind von den Finsternissen die folgenden
zu beobachten :
I. Trabant. Austritte aus dem Schatten. Dez. 3 4 9*» 31“ 37«, 124 5h 56“
3«, 194 7h 51m 36«, 264 9h -17“ 6«, 284 4*» 15h 59«; Jan.
44 6*» 11“ 24«, 114 8b 6“ 45«, 274 6b 26“ 3«; Febr. 34 8b
21“ 10« , 194 fih 39m 65».
II. Trabant. Austritte aus dom Schatten. Dez. 14 5b 6“ 38», 8d 7h 44m
19«, 154 JO*» 22“ 8»; Jan. 24 4b 57“ 39«, 94 7*> 35“ 55»;
Febr. 104 7h 28“ 11».
III. Trabant. Dez. 274 6h 40m 17« Austritt; Jan. 34 7*» 53“ 50» Eintritt:
Febr. 84 6b 47“ 38» Austritt.
IV. Trabant. Jan. 314 6b 23“ 31» Austritt.
5) Von Meteoren fallen vom 6.— 13. Dec. die 9 Geminiden, vom 1. — 3. Jan.
die u Herculiden.
*) Die Angaben für Jan. und Febr. 1904 werden später mitgeteilt werden.
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95
6) Sternbedefkanpes durch den Mond (sichtbar für Berlin): Positionswink.1)
des des
Tug
Name
Qröase
Austritt
Eintritt
Eintr. Austr.
f>. Dezember X
Geminorum
3.8
188 46m
198
1 43m
96 285
10.
•
Leonis
4.8
14 18
15
4
158 244
31.
a
Tauri
1
13 52
14
9
161 192
1. Januar
111
Tauri
5.5
7 23
7
55
142 202
2. „
26.
Geminorum
5.5
14 53
15
37
52 324
5. .
•
Leonis
36
11 22
12
24
127 265
30.
X
Geminorum
3.8
16 8
17
1
95 285
8. Februar
8
Librae
4.7
16 59
17
43
160 231
12.
P'
Sagittarii
4.0
17 28
18
18
44 313
24.
•
Tauri
1
7 18
8
33
74 271
29. *
•
Leonis
3.6
10 5
11
8
135 263
7) Mond.
Phase
Aufgang
Untergang
Vollmond
4.
Dez. 7h 4h 17m
208 9m
Erdnähe
6. De*. 228
Letztes Viert
11.
. 0 12
26
0 21
Neumond
18.
.10 20
8
4 6
Erdferne 22. „ 23
Erstes Viert
26.
. 15 —
—
12 2
Vollmond
2.
Jan. 19 3
50
19 49
Erdnähe
4, Jan. 1
Letztes Viert
9.
. 10 12
43
23 47
Neumond
17.
. 5 20
7
4 39
Erdferne
19. . 12
Erstes Viert.
25.
. 10 23
28
13 6
Vollmond
l.Febr. 6 5
1
19 50
Erdnähe
l.Febr. 13
Letztes Viert
7.
. 23 12
52
22 50
Neumond
16.
. 0 19
33
5 34
Erdferne
15. . 13
Erstes Viert
24.
. 0 23
22
14 12
8) Sonne.
Sternzeit f. den
Zeitgleicbung. Sonnenaufg. Sonnenunterg.
mittl. Berl. Mittag1.
mittl. —
wahre Z.
für Berlin.
1. Dezember
16:
8 36m 51.2«
— 11 "> 13.0*
78
55®
3 h Mm
8.
17
4 7.1
— 8
25.3
8
4
3 51
15.
17
31 43.0
- 5
12.8
8
12
3 49
22.
17
59 18.9
— 1
45.9
8
17
3 51
29.
18
26 54.8
+ 1
42.9
8
19
3 56
5. Januar
18
54 30.7
+ 5
1.8
8
19
4 3
12.
19
22 6.6
+ 8
1.3
8
15
4 18
19. .
19
49 42.5
+ io
32.8
8
9
4 24
26.
20
17 18.4
+ 12
28.9
8
1
4 36
2. Februar
20
44 54.3
+ is
45.2
7
51
4 49
9.
21
12 30.1
+ 1«
21.6
7
39
5 3
16.
21
40 6.0
+ H
20.0
7
25
5 16
23.
22
7 41.9
+ 13
42.9
7
11
5 29
>) Gezählt vom nördlichsten Punkte des Mondes nach links herum.
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1
W. Ostwald: Die Behüte der Chemie. Erste Einführung in die Chemie
für jedermann. Erster Teil: Allgemeines. Verlag von Vieweg, Braun-
schweig 1903. 186 Seiten.
Wenn ein wissenschaftliches Buch für jedermann bestimmt ist, so muto
es den Stoff in spannender, interessanter, gefälliger Form bringen, es mufs bei
aller wissenschaftlichen Genauigkeit leicht verständlich sein, es mufs den Leser
nicht nur überzeugen, sondern auch erfreuen. Das ist eine grobe und schöne
Aufgabe. Prof. Ostwalds Schule der Chemie ist ein Buch für jedermann im
schönsten Sinne des Wortes. An der Hand einer gemütlichen Unterhaltung
zwischen einem Lehrer und einem Schüler, dessen Standpunkt der eines be-
gabten Kindes vou 10— 12 Jahren ist, werden wir zunächst in die Grundbegriffe
dor physikalisch 'chemischen Wissenschaft eingeführt: Was ist ein Stoff, was
ist eine Eigonschaft, was ist eine Lösung, wie kommt der Mensch dazu, ein
Metermaß* und ein Thermometer zu besitzen, was versteht man unter Dichte
u. s. w. Dann gehts über das Phänomen der Verbrennung zum ersten chemi-
schen Element, dem Sauerstoff. Hierauf wird erklärt, was eine chemische Ver-
bindung, was ein Element sei; es folgen die verschiedenen Elemente; dazwischen
kommt ein Kapitel über „Stetigkeit und Genauigkeit", wo der Schüler über
die Unvollkommenheiten der physikalischen Messungen aufgeklärt wird —
eins entwickelt sich im Laufe des Gesprächs logisch aus dem anderen, zwanglos
und natürlich; überall ist der heitere, naive Gesprächston beibeh<en, stets
wird nur an alltägliche Erfahrungen angeknüpft, die jedes Kind schon ge-
macht hat, oder es werden Experimente angegobcn, die jedes Kind machen
oder sicher verstehen kann, und diese Experimente durch Zeichnungen er-
läutert, die bei einer verblüffenden Einfachheit alles Wesentliche enthalten.
Ein Kind von 10—12 Jahren fühlt sich sympathisch berührt durch die Ant-
worten und Einwürfe des „Schülers“, die geradezu erstaunliche Naturwahrheit
besitzen, es lernt spielend. (Verfasser dieses Referates hat das bei seiner
11jährigen Schwester experimentell festgestellt 1). Der Erwachsene liest lächelnd
ein paar Seiten, und wenn er zu Ende gelesen hat, merkt er auf einmal, dafs
er, ohne zu wollen, etwas dazu gelernt hat, etwas jetzt viel klarer sieht als
vorher. Kurzum, dor erste Teil des O st wald sehen Buches (der zweite wird
hoffentlich bald folgen) gehört zweifellos zu don bedeutendsten populär-wissen-
schaftlichen Büchern, die jemals erschienen sind. Er sollte in keinem Hause
fehlen, in dem man darauf bedacht ist, deu Kindern von frühester Jugend an
Liebe und Interesse für die Naturerscheinungen eiuzuflöfsen. Dr. M^v. P.
Verlag: Hermann Paetel in Berlin. — brock : Wilhelm Gronau’« Bnehdrackerel in Berlin -Bebdneberg.
Für die Kedaclion verantwortlich : Dr P. Sehwahn in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck am dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Übersetzen gerecht Vorbehalten.
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Abstieg zu den Hohlen.
Aufcenomiiii'n von Francesco Benqui- in Triest.
Tominz-Grotte.
Aiifjrenniiiiiien von Frnncesco Henque in Triest.
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Über Leben und Tod.
Von Ed. Sokal. Brrlin-Charlottenburg.
merkwürdigste Lebensphänomen ist der Tod. Dafs jedes
.f* Werden, jedes Entstehen in der lebenden Natur, dafs das
kleinste Klümpohen protoplasmatischer Materie ebenso wie der
komplizierteste Organismus den Keim des Unterganges in sich trägt,
erscheint dem oberflächlichen Blick vielleicht selbstverständlich, der
tiefer eindringenden Forschung ein geheimnisvolles Rätsel. Seit
jeher ein Tummelplatz der metaphysischen Spekulation, ist die Frage
nach dem Ursprung des Todes, nach seiner biologischen Bedeutung,
nach seiner physiologischen Erklärung erst in neuester Zeit Gegen-
stand einer streng wissenschaftlichen Diskussion geworden.
Wir wollen die psychologische Seite der Frage, die Geschichte
der Todesidee in der Entwicklung des Menschengeschlechtes, hier nur
kurz berühren. Die Zeit ist längst vorbei, da man den Wilden für
ein Wesen hielt, das mit mächtig übersohäumender Phantasie begabt,
spielend, gleichsam in bewufster Selbsttäuschung, die Wälder und
Schluchten mit Geschöpfen seiner Einbildungskraft bevölkerte, die
Ahnen aus ihren Gräbern erwachen und in die Kämpfe der Lebenden
eingreifen hiefs, um sie willkürlich, nachdem die Komödie ausgespielt,
wieder hinter dem Vorhang verschwinden zu lassen. Herbert
Spencers und anderer Forschungen haben diesen Wahn wohl für
immer beseitigt. W’ir wissen nunmehr, dafs die Auffassung des Todes
als einer Art Schattenlebens, der wir fast bei allen Naturvölkern be-
gegnen, nicht der Ausflufs einer visionären Phantasie, sondern das
natürliche, logische Produkt einer mangelhaften Interpretation der
Traumerscheinungen war, und ein furchtbarer, verhängnisvoller Moment
mag es gewesen sein, als zum ersten Male der Geist eines Menschen
die Entdeckung des Todes gemacht hatte, als zum ersten Male der
Htmrosl und Erd». Jena. XVI. 3 7
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98
Mensch in dem brechenden Auge des Verwundeten den Abschied auf
Nimmerwiedersehen erkannte.
Der Standpunkt der Naturwissenschaft in der Frage nach den
Ursaohen des Todes ist nioht leioht zu präzisieren. Noch immer klafft
ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen den Wissenschaften von der
toten und der lebenden Materie, und je weiter die naturwissenschaft-
liche Erkenntnis fortsohreitet, dosto mehr Schwierigkeiten türmen sich
auf dem Weg der physikalisch- chemischen Erklärungsmethode von
Lebensphänomenen. Sie ist im Prinzipe unanfechtbar, praktisch fast
nur in den gröbsten Umrissen durchführbar. Man hat die Bewegung
des Protoplasmas mit Seifenemulsion verglichen; zur Veranschaulichung
seiner Konstitution einen neuen Aggregatzustand — den „fest-flüssigen-
— herangezogen und ist auf diesem Wege nirgends zu weiteren Aus-
blicken gelangt und nur selten über eine mehr oder weniger ver-
steckte Tautologie hinausgekommen. Die chemische Untersuchungs-
methode hat zu fruchtbareren Gesichtspunkten geführt. Die gewaltige
räumliohe Konzentration der chemischen Energie, die Eigenschaft
mancher chemischer Körper, der „Fermente", unter gewissen Umstän-
den grofse Vorräte von potentieller Energie in lebendige Kraft über-
gehen zu lassen, weisen schon bei oberflächlichster Betrachtung darauf
hin, in den chemischen Kräften das Wesen des Lebensprozesses zu
suchen. Es wäre jedoch Selbsttäuschung zu glauben, dafs wir auf
diesem schwierigen Gebiete mehr als die ersten, schwankenden Ver-
suche zu verzeichnen haben. Die chemisohe Natur der Eiweifskörper,
dieser für den Lebensprozefs wichtigsten Substanzen, ist noch in voll-
ständiges Dunkel gehüllt, und so lange dies der Fall, ist die Route
duroh die exakten Naturwissenschaften zu den tieferen Lebensproblemen
gleiohsam durch einen Felsblock verlegt.
Aber ein anderer Weg steht uns offen, wie besonders Robert
Franceschini in seiner trefflichen Abhandlung: „Die Abgrenzung
der Biologie der Wissenschaft" hervorgehoben: der Weg, den Darwin
durch seine Zuohtwahltheorie als einer der ersten mit ungeahntem
Erfolge betreten: die biologfische Forschungsmethode. Diese geht
nioht darauf aus, das Leben direkt aus dem Spiel der Atome zu er-
klären, sie operiert mit Gröfsen zweiter Ordnung, mit den empirisch
gegebenen Tatsachen, der Erblichkeit, der Gewohnheit usw., und sucht
durch deren sinnreiche Verknüpfung eine unabhängige, selbständige
Wissenschaft des Lebens auszugestalten.
Von ihren Gesichtspunkten ausgehend hat August Weismann
in neuester Zeit die Frage nach den Ursachen des Todes behandelt
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99
Untersuchungen über die „Dauer des Lebens“ — wohl die
ersten, die systematisch über diesen Gegenstand angestellt wurden —
bilden das Anfangsglied in der festgefügten Kette der Weismann-
sehen Ausführungen. „Die organischen Körper sind vergänglich,
indem sioh das Leben mit einem Sohein von Unsterblichkeit von
einem zum anderen Individuum erhält, vergehen die Individuen selbst.“
Dieser natur- philosophisch angehauchte Ausspruch von Johannes
Müller, für welchen Weismann das Adjektivum ..inhaltsschwer"
gewählt hat, bildete bis Weismann den Inbegriff all dessen, was
man in dieser Frage zu sagen wufste.
Lassrn wir die allgemeine Richtigkeit dieses Satzes einstweilen
dahingestellt, so ist dooh so viel aufser Zweifel, dafs das Leben des
Individuums seine natürlichen Grenzen hat, wenigstens bei all
den Tieren und Pflanzen, welche der nicht naturforsohende Mensch zu
beobachten gewohnt ist. Eis ist auch weiter aufser allem Zweifel, dafs
diese Grenzen je nach der Tier- oder Pflanzenart sehr verschieden
weit gesteokt sind.
Man wird zunächst geneigt sein, den Grund für dieses verschie-
dene Verhalten in der körperlichen Verschiedenheit der Arten, in der
Verschiedenheit von Bau und Misohung bei den einzelnen Organismen
zu suohen. ln der Tat laufen alle Erklärungsversuche, die bis
Weismann aufgestellt worden sind, auf diese Vorstellung hinaus.
Dennoch genügt diese Erklärung nioht. Allerdings mufs in
letzter iDstanz die Ursache der Lebensdauer im Organismus selbst
liegen, da sie sioh nioht außerhalb desselben befinden kann, allein
Bau und Mischung, kurz die physiologische Konstitution des Körpers
sind nioht die einzigen Momente, welche die Dauer des Lebens be-
stimmen. Das erkennt man sofort wenn man versuoht, die vorliegen-
den Tatsachen aus diesen Momenten allein abzuleiten.
Zunächst kommt hier in Betracht: die Körpergröfse. — Die
längste Lebensdauer von allen Organismen der Erde besitzen die
grofsen Bäume. Die Adansonien der Kapverdischen Inseln sollen
6000 Jahre alt werden. Unter den Tieren sind es auch wiederum die
gröfsten, welche das höchste Alter erreichen; der Walfisch lebt sicher-
lich einige Jahrhunderte, der Elefant wird 200 Jahre alt, und es hält
nicht schwer, nach abwärts eine Reihe von Tieren aufzuführen, bei
welchen die Lebensdauer ungefähr parallel der Körpergröfse abzu-
nehmen scheint.
Sieht man sioh aber etwas genauer um, so findet man, dafs das-
selbe Alter von 200 Jahren, welches der Elefant erreicht, auch von
7*
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100
viel kleineren Tieren, wie Hecht und Karpfen erreicht wird; 40 Jahre
alt wird aufser dem Pferd auch die Kröte und die Katze und die
etwa faustgrofse See-Anemone besitzt eine Lebensdauer von mehr als
50 Jahren. — Wenn also auoh im allgemeinen gesagt werden kann,
dafs Wachstum und Lebensdauer bei grofsen Tieren gröfser sind als
bei kleinen, so besteht dooh kein festes Verhältnis zwischen beiden,
und Flourens war im Irrtum, wenn er glaubte, die Lebensdauer be-
trage stets das Fünffache der Wachstumsdauer.
Das zweite, rein physiologische Moment, welches die Lebens-
dauer beeinflufst, ist die Raschheit oder Langsamkeit, mit welcher das
Leben dahinfliefst, kurz ausgedrüokt: das Tempo des Stoffwechsels
und der Lebensprozesse.
In diesem Sinne sagt Lotze in seinem .Mikrokosmus“: „Große
und rastlose Beweglichkeit reibt die organische Masse auf, und die
Bohnellfüfsigen Geschlechter der jagdbaren Tiere, die Ilunde, selbst
die Affen stehen an Lebensdauer sowohl dem Menschen als den
gröfseren Raubtieren nach, die durch einzelne kraftvolle Anstrengungen
ihre Bedürfnisse befriedigen" — .die Trägheit der Amphibien gestatte
dagegen auch den kleineren unter ihnen eine gröfsere Lebens-
zähigkeit.“
Ganz gewifs ist etwas Richtiges an dieser Bemerkung. Dennoch
wäre es ein grofser Irrtum, wollte man glauben, dafs Scbnellebigkeit
notwendig auoh kürzeres Leben bedinge. Die schnellebenden Vögel
haben trotzdem eine sehr lange Lebensdauer, sie erreichen, ja über-
treffen darin die trägen Amphibien gleicher Körpergröße. Man darf
sich den Organismus nicht als einen Haufen Brennstoff vorstellen,
der um so früher zu Asche zusammensinkt, je kleiner er ist und je
rascher er brennt, sondern als ein Feuer, in das immer neue Scheite
hineingeworfen werden können und das so lange unterhalten wird, als
es eben nötig ist, mag es nun schnell oder langsam brennen.
Wie wollten wir es von jenem Standpunkte aus erklären, dafs
die Weibchen und Arbeiterinnen der Ameisen mehrere Jahre leben,
während die Männchen kaum ein paar Wochen ausdauern? Beide
Geschlechter unterscheiden sich weder durch Körpergröfse irgend er-
heblich, noch durch Komplikation des Baues, nooh durch das Tempo
des Stoffwechsels, sie sind nach allen diesen drei Richtungen nahezu
als identisch anzusehen, und dennoch solch ein Unterschied in der
normalen Dauer des Lebens!
Durch all dies soheint jedenfalls so viel bewiesen zu sein, dafs
die physiologischen Verhältnisse sicherlich nicht die einzigen Regu-
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101
latoren der Lebensdauer sind, dafs sie allein es nicht sind, welohe die
Stärke der Feder der Lebensuhr bestimmen, dafs vielmehr in Uhren
von nahezu gleicher Beschaffenheit Federn verschiedener Stärke ein-
gesetzt werden können !
Hiermit sind wir aber zu einem Grundgedanken der Weis-
mannschen Theorie gelangt Die äufeeren Lebensbedingungen sind
es, welche (nach Weismann) durch den Selektionsprozess die
Lebensdauer der Organismen in erster Linie normieren. Für jeden,
der überhaupt einmal den Selektionsprozess durchgedacht hat, ist es
ohne weiteres klar, dafs bei einer solchen Regulierung der Lebens-
dauer lediglich das Interesse der Art, nicht etwa das des Individuums
in Betracht kommen kann. Fs ist für die Art an und für sich gleich-
gültig, ob das Individuum länger oder kürzer lebt, für sie kommt es
nur darauf an, dafs die Leistungen des Individuums für die Art ihr
gesichert werden. Diese Leistungen bestehen in der Fortpflanzung,
in der Hervorbringung eines für den Bestand der Art genügenden
Ersatzes der durch Tod abgehenden Individuen und eventuell nooh
in der Brutpflege, wenn die Eltern ihre Spröfslinge beschützen und
und ernähren. Wir worden also erwarten müssen, dafs im allge-
meinen das Leben die Fortpflanzungszeit nicht erheblich überdauere,
es sei denn, dafs die betreffende Art Brutpflege ausübe.
So finden wir es in der Tat. Alle Säugetiere, alle Vögel über-
leben ihre Fortpflanzungszeit, auf der anderen Seite hört z. B. bei
allen Insekten — mit einziger Ausnahme der Arten mit Brutpflege —
das Leben mit der Fortpflanzung auf.
Es kann nicht unsere Absicht sein, hier die Ausführungen Weis-
manns bis ins spezielle zu verfolgen, wir müssen darauf verzichten,
die zahllosen Belege, seine scharfsinnigen Erklärungsversuche der
scheinbaren Ausnahmen usw. hier des näheren zu beleuchten. Aber
sein Gedankengang führt auch geradewegs auf eines der schwierigsten
Probleme der ganzen Physiologie, auf die Frage nach dein Ursprung
des Todes.
„Der Tod ist in letzter Instanz eine Anpassungs-
er sch ei n ung.- So paradox dieser Satz auoh klingen mag, ebenso
einfach und konsequent ergibt er sich aus dem vorhergegangenen.
Weismann sagt:
„Ich glaube nicht, dafs das Leben deshalb auf ein bestimmtes
Mafs der Dauer gesetzt ist, weil es seiner Natur nach nicht unbegrenzt
sein könnte, sondern weil eine unbegrenzte Dauer des (nicht mehr
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102
reproduzierenden) Individuums für die Art ein ganz unzweckmäßiger
Luxus wäre.“
„Es kann selbstverständlich nicht im geringsten bezweifelt
werden, dafs die höheren Organismen, so wie sie nun einmal sind
den Keim des Todes in sich tragen, es fragt sich nur, warum und
aus welchen Motiven sie so geworden sind, und da glaube ich, mufs
der Tod nur als eine Zweck mäßigt ei tseinrichtung, als eine Konzession
an die äußeren LebenBbedingungen, nioht als eine absolute im Wesen
des Lebens begründete Notwendigkeit aufgefafst werden.“
Oer Tod, d. h. die Begrenztheit der Lebensdauer, ist
nämlioh gar nicht ein allen Organismen zukommendes
Attribut Es gibt eine große Zahl von niederen Organismen (Amöben,
einzellige Algen, Infusorien usw.), die nioht sterben müssen. Wohl
sind auch sie zerstörbar; Siedehitze, Kalilauge, Gifte töten sie, aber
so lange die für ihr Leben nötigen äußeren Bedingungen vorhanden
sind, so lange leben sie; sie tragen also die Fähigkeit ewiger Dauer
in sioh.
Man hat öfters den Teilungsprozeß der Amöben so aufgefafst,
aß sei das Leben des Individuums mit seiner Teilung beschlossen,
als enßtünden aus ihm nun zwei neue Individuen, als falle hier Tod
und ForlpQanzung zusammen. In Wahrheit kann man doch aber hier
nicht von Tod reden! wo ist denn die Leiche? was stirbt denn ab?
Nichte; der Körper des Tieres zerteilt sich in zwei nahezu gleiohe
Stücke, von denen jedes dem Muttertier vollkommen ähnlich ist. Ja,
denken wir uns eine Amöbe mit Selbstbewußtsein begabt, so ist nicht
daran zu zweifeln, daß nach der Teilung jede Hälfte die andere für
die Tochter und sioh selbst für das ursprüngliche Individuum an-
sehen würde!
Aber gehen wir weiterl — Da die vielzelligen Tiere und Pflanzen
nach der Darwinschen Theorie aus den einzelligen hervorgegangen
sind, so fragt es sich nun, wie denn diesen die Anlage zu ewiger
Dauer abhanden gekommen ist?
Dies hängt nun wohl mit der Arbeitsteilung zusammen, die
zwischen den Zellen der vielzelligen Organismen eintrat und dieselben
von Stufe zu Stufe zu immer komplizierterer Gestaltung hinleitete.
Mögen auch vielleicht die ersten vielzelligen Organismen Klümp-
ohen gleichartiger Zellen gewesen sein, so muß sioh dooh bald eine
Ungleiohartigkeit unter ihnen ausgebildet haben. Sohon allein durch
ihre Lage werden einige Zellen geeigneter gewesen sein, die Ernäh-
rung der Kolonie zu besorgen, andere die Fortpflanzung zu über-
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108
nehmen. Es mufete sich so ein Gegensatz zweier Zellgruppen bilden,
die man als somatische und propagatorische, als Körperzellen und
Fortpflanzungszellen bezeichnen könnte. Den Propagationszellen
konnte die Fälligkeit unbegrenzter Vermehrung nicht verloren gehen,
andernfalls würde ein Krlösohen der betreffenden Art eingetreten sein;
dafs sie aber den somatischen Zellen mehr und mehr entzogen wurde,
data sie sohlietaliob auf eine bestimmte, wenn auch eine sehr grobe
Zahl von Zellgenerationen beschrankt wurde, erklärt sich aus der
Unmöglichkeit, das Individuum vor Unfällen absolut zu schützen, und
der daraus resultierenden Hinfälligkeit desselben, welche es für die
Art überflüssig macht. Bei einzelligen Tieren war es nicht
möglioh, den normalen Tod einzuführen, weil Individuum
und Fortpflanzungszelle noch ein und dasselbe waren; bei
den höheren Organismen trennten sich somatische und Propagations-
zellen; der Tod wurde möglioh, die unbegrenzte Lebensdauer über-
flüssig, und der unerbittliche Zuohtwahlprozefs liefe sie wie alles Über-
flüssige verschwinden.
Aber der Tod ist nur scheinbar, denn er ist nicht vollständig
ln dem ewigen Wechsel der lebenden Organismen bleibt aufeer dem
Schein der Unsterblichkeit auoh etwas anderes erhalten. Jene ur-
sprünglichen Zellengenerationen, deren Existenz wir naoh dem Satze
„Omne vivum ex vivo- einfach als gegeben annehmen müssen, diese
Stammeitem der ganzen lebenden Welt, aus welohen durch Teilung
und Differenzierung allmählioh die kompliziertesten Organismen her-
vorgegangen sind, sie sind auch in den zusammengesetztesten Lebe-
wesen als Eizellen und Samenkörper enthalten. Die Geschlechtszellen
sind unsterblich; sie haben sich neben der stärket! amöboiden Beweg-
lichkeit auch die unbegrenzte Vermehrungsfähigkeit, also die beideu
wesentlichsten Eigenschaften der einzelligen Organismen erhalten.
Und so erscheinen uns im Liohte dieser Theorie alle Organismen des
Weltalls nach dem Ausdrucke von Pflüger als „ Stamm- und Bluts-
verwandte-; die Erblichkeit selbst ist nichts mehr als der einfache
Ausdruck dieser Kontinuität des Keimplasmas, der normale Tod eine
Anpasaungserscheinung, eine Aufopferung des Individuums im Inter-
esse der Gattung.
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Die Verbreitung ansteckender Krankheiten durch die
Mücken.
Von Dr. K Müller in Potsdam.
s\'VV enn iD neul'8tc'r Zeit die Wissenschaft den Stechmücken oder
■ jrr>r Moskitos trau/, besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, so
ist dies darauf zurückzuführen, dafs man unter ihnen Arten
entdeckt hat, welche die Überträger mehrerer, dem Menschen
recht gefährlicher Krankheiten sind. Wurden diese Tiere bisher nur
als aufdringliche und lästige Gäste betrachtet, so ist jetzt mit Sicher-
heit bewiesen, dafs die in den tropischen Ländern nicht seltene Fila-
riosis, die Malaria und das gelbe Fieber duroh den Stich infizierter
Moskitos dem Menschen übermittelt werden, dafs diese die Zwischen-
wirte für die Erreger der vorgenannten Krankheiten sind und diese
Krankheitserreger nur dann ihren Entwickelungsgang vollenden kön-
nen, wenn sie in den Körper der Mücken gelangen.
Als Stechmücken oder Moskitos bezeichnet man die Angehörigen
einer Insektenfamilie aus der Ordnung der Zweiflügler. Es sind samt
und sonders kleine Insekteu von schmächtigem Körperbau, deren
Larven und Puppen in stehenden Gewässern leben und unter denen
nicht wenige durch ihre Beutegier sowohl Menschen wie Tieren
lästig werden. Alle sind mit einem Säugrüssel versehen, der so lang
oder länger ist wie der halbe Körper. Derselbe besteht aus einer
unvollständigen Scheide, dem Labium, in welcher sechs Stilette liegen.
Beim Stechen dringen die sechs Stilette in die Haut ein, während die
Scheide draufsen bleibt und sioh nach hinten krümmt Diese hat die
Form eines offenen Kanals und ist an der inneren wie äufseren Ober-
fläche mit Chitinbaut ausgekleidet. An der äufseren Oberfläche ist
die Chitinhaut ziemlich dicht, an der inneren dagegen zart.
Eingeteilt wird die Familie der Stechmücken in zwölf Gattungen,
von denen zwei hier für uns in Betracht kommen: die Gattung Culex
und die Gattung Anopheles. Die Angehörigen beider Gattungen
werden kurzweg Mücken genannt, obgleich sie auch für den Laien
nioht allzuschwer von einander zu unterscheiden sind. Während
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106
nämlich die Anophelen beim Sitzen ihr Hinterteil aufwärts gerichtet
haben, wenden es die Culexarten bei dieser Gelegenheit gerade nach
unten und nähern es der Unterlage, auf der sie sitzen.
Die erste Krankheit nun, als deren Überträger die Mücken be-
kannt geworden sind, ist die Filariosis. Es ist dies ein sohweres
Leiden der wannen Länder, das eine Reiho sehr verschiedener Symp-
tome darbietet und das durch das Eindringen einer Nematode in den
menschlichen Organismus hervorgerufen wird. Diese Nematode,
Kilaria bancrofti resp. Fil. sanguinis hominis kennt man last aus allen
tropischen Ländern, so aus dem Süden der Vereinigten Staaten, aus
Brasilien, Ägypten, Algerien, Indien, China, Japan, Australien u. a.
ln dem letztgenannten Lande, in Brisbane in Queensland, hat Dr. J.
Bancroft 1876 die geschlechtsreifen Weibchen dieses Fadenwurmes
beim Öffnen eines LympbgeschwUres am Arme eines Erkrankten ent-
deckt, während die Larven desselben schon früher beobaohtet waren.
Das Weibchen erreicht eine Länge von 70 — 80 mm, während das
Männchen nur etwa 40 mm lang wird.
Der normale Aufenthalt der geschlechtsreifen Tiere sind wohl
die Lymphgefiifse. Infolge von Lymphstauungen, die die Filarien
hervorrufen, entstehen an verschiedenen Körperstellen, vor allem an
den unteren Extremitäten, Geschwülste, die dem Beine ein plumpes
Aussehen geben, so dafs es an dasjenige eines Elefanten erinnert
(Elephantiasis). Derartige Beulen sollen zuweilen eine wahrhaft
gräfsliche Entwickelung annehmen; soll doch beispielsweise im Jahre
1899 im Krankenhaus von Saint-Louis am Senegal ein Neger operiert
sein, der eine solche Beule von 42 kg Gewicht trug.
Das Weibchen gebiert lebendige Junge, welche aus den Lymph-
gefäßen in den Blutkreislauf gelangen und hier ebenfalls mancherlei
Störungen hervorrufen. Eigentümlich ist die zuerst von Manson
studierte Erscheinung, dafs man die Larven immer nur in Blutproben
findet, die nach Sonnenuntergang von dem Kranken entnommen sind.
Die Zahl der in diesen gefundenen Larven ist anfangs gering, steigt
dann aber ganz bedeutend bis gegen Mitternacht, um von da ab wieder
zu sinken; von Mittag bis zum Abend findet man im Blute der Haut
keine Filarien.
Dieses periodische Auftreten der Larven in der äufseren Blut-
bahn brachte nun Manson, einen englisohen Arzt, auf den Gedanken,
dafs die Mücken, die ja ihre blutsaugende Tätigkeit auch nachts üben,
in inniger Beziehung zur Weiterentwickelung der Filarialarven
und somit zur Verbreitung der Filariosis ständen. Und tatsächlich
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106
gelang es ihm auch zu beweisen, dafs die Stechmücke mit dem Blute
die Filarialarven aufsaugt, dafs diese dann die Uarmwaud derselben
durchbrechen und sloh in den Muskeln ihres Thorax weiter ent-
wickeln, ohne jedoch bis zur Geschlechtsreife zu gelangen. Um er-
küren zu können, wie sich der Entwickelungszyklus der Filaria voll-
endet, griff Manson zur Hypothese. Ein grofser Teil der Mücken,
besonders der Weibohen, die ja ihre Eier ins Wasser legen, geht in
diesem zugrunde. Ihr Leichnam zerfällt, und die bisher in diesen
eingeschlossenen Filarialarven werden frei und gelangen ins Wasser,
mit dem sie gelegentlich von Menschen verschluckt werden, um in
diesen dann ihren Entwiokelungsgang zu besohliefsen. Nach und
nach wurden bei Manson Zweifel an der Hiohtigkeit dieser seiner Hy-
pothese rege, und so nahm er denn 1897 im Verein mit Banoroft
und Low das Studium der Filarialarven wieder auf, um endgültig
Klarheit darüber zu schaffen, wie diese in den Menschen gelangen.
Befördert wurde die Lösung dieser Frage besonders dadurch, dafs
Urassi und Noä die Entwickelungsgeschichte eines anderen Faden-
wurmes, der Filaria immitis, aufdeoktcn, deren Larven im Blut der
Hunde auftreten. Diese werden mit dem Blute von Mücken beim
Saugen aufgenommen, verlassen jedoch bald den Müokendarm und
dringen in die Malpighischen Gefäfse ein. Hier machen sie eine
Reihe von Änderungen durch, häuten sich und durohbreohen am
zwölften Tage nach der Infektion der Mücken das bewohnte Organ,
wobei sie in die Leibesböhle gelangen. Mit dieser steht das anfangs
erwähnte Labium des Säugrüssels in offener Kommunikation, in
welches dann ein Teil der Larven eindringt. Wie schon gesagt,
dringt das Labium beim Stechen nicht in die Haut, sondern biegt
siob hierbei winklig nach hinten um, doch spaltet sich dabei aus
mechanischen Gründen die die Oberfläohe desselben überziehende
Chitinhaut an ihrer dünnsten Stelle, und die Filarien werden aus dem
Labium herausgestofsen. Sie gelangen dabei zwischen Labium und
Stilette und finden so die Wunde, die ihnen den Weg in das Blut-
gefäfssystem öffnet. Die Filarialarven fahren nun fort, sich in dem
gestochenen Hund zu entwickeln, werden nach einigen Monaten ge-
sohlechtsreif, befruchten sich und fangen an, das Blut ihres Wirtes
mit jungen Larveu zu bevölkern. Die am Mensohen unmöglichen
Experimente, so schreibt Grassi, konnten nun an Hunden ausgefübrt
und wiederholt werden, und waren auf diese Weise ganz sichere Re-
sultate zu erzielen. Die Filaria immitis verbringt ihre Jugendzeit
mithin in der Stechmücke, wird geschlechtsreif und reproduziert sioh
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nur im Hunde. Und ganz entsprechend wird nun auch, so konnte
man weiter scbliefsen, der Entwickelungsgang der menschlichen
Filarialarven vollendet werden. Wie die vorgenannten drei Forscher
restgestellt haben, bleiben namlioh diese Larven nicht etwa in den
Thoraxmuskeln eingesohlossen. Nach ungefähr 17 Tagen verlassen
sie vielmehr ihren Aufenthaltsort, setzen sich in Bewegung und ge-
langen schliefslioh in das Labium des Säugrüssels, von wo aus sie
dann wie die Larven der Fil. immitis in den Menschen übergehen,
um dort bis zur Geschlechtsreife beranzuwachsen. Der Fadenwurm
geht also vom Menschen auf die Mücke über und kehrt dann von
der Mücke zum Menschen zurück; das Wasser hat somit mit der
Übertragung dieser Krankheit nichts zu tun.
Aufser Culex pipiens können auch gewisse Anophelesarten die
Zwisohenwirte der Filaria für den Menschen sein. Da sioh für die
Entwickelung der Hundefllaria nicht nur alle Anophelesarten, sondern
auch mehr oder weniger die der Gattung Culex angehörenden Stech-
mücken eignen, so ergibt sieb, dafs für die verschiedenen Filariaarten
keine besondere Auswahl ihrer Zwischenwirte existiert. Ein Unter-
schied für die einzelnen Arten scheint nur in bezug auf die Organe
der Moskitos festzustehen — hier die Malpighisohen Gefäfse, dort
die Thoraxmuskeln — . deren sioh dieselben für ihre Weitorentwicke-
lung bedienen.
Dieselbe Kolle, wie bei der besprochenen Krankheit, spielen die
Mücken bei der Malaria oder dem Sumpffieber. Diese beginnt be-
kanntlich ganz plötzlich mit Frostgefühl oder Schüttelfrost ln we-
nigen Stunden steigt die Temperatur auf 40—41° C., hält sich einige
Stunden und fällt dann unter Schweifssekretion rasch wieder ab. Auf
einen solchen Anfall folgt eine Pause von ein oder zwei Tagen bis
zur Wiederholung, und sprioht man demzufolge von einer Tertiana mit
Anlall an jedem dritten, von einer Quartana mit Anfall an jedem
vierten Tage. Stellt sich das Fieber täglioh ein, so haben wir es
aller Wahrscheinlichkeit naob, wie wir später nooh sehen werden,
nicht mit einer einfachen, sondern mit einer doppelten resp. mehr-
fachen Infektion zu tun, dooh soll auoh, entgegen der Ansicht vieler
Autoren nach Cetti im Sommer und Herbst eine wirkliche Quotidiana
Vorkommen. Unter den Tertianiiebern werden klinisch zwei Modi-
fikationen unterschieden: die milde, im Frühjahr auftretende Frühjahrs-
tertiana und das schwere Sommerherbstfieber, mit welch letzterer Form
die tropische Malaria identisch ist. Sie wird auch als maligne oder
pemioiöse Form bezeichnet, da Bich die Anfälle in die Länge ziehen.
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also einander nähern und so ein kontinuierliches Fieber erzeugen.
Jedenfalls zeigen alle diese Formen, welche in ihrer Gefährlichkeit
ganz verschieden sein können, als charakteristische Erscheinung den
rhythmischen Verlauf des Fiebers, wenn schon auch Koch in Ost-
afrika und Niederländisoh-Indien bei malariakranken Kindern das
gänzliche Fehlen desselben beobachten konnte.
Seit der Entdeckung der Krankheitserreger duroh den französi-
schen Militärarzt Laveran im Jahre 1880 weifs man, dafs die Malaria
duroh die rasche Vermehrung besonderer Parasiten im Blut erzeugt
wird. Diese Tierchen, die zur Klasse der Sporozoen gehören, bestehen
aus einer einzigen Zelle, und es sind für die Entstehung des Sumpf-
fiebers beim Menschen mit Sicherheit drei Arten nachgewiesen. Es
sind dies das Plasmodium malariae, dem man das viertägige, das PI.
vivax, dem das dreitägige und die Laverania malariae, der das Tropen-
fieber zugeschrieben wird.
Die Malariaparasiten bewohnen die roten Blutkörperchen. Kurz
nach der Infektion eines solchen finden wir in demselben den Para-
siten in Form eines kleinen Kügelohens, welches allmählich heran-
wächst und einen immer gröfseren Raum im Inneren des roten Blut-
körperchens einnimmt, bis es schliefslich fast die Gröfse desselben
erreioht hat. Jetzt beginnt es sich in 9—12 radiär gestellte, bimför-
mige Körper zu sondern, die sich schliefslich unter Zurücklassung eines
Restkörpers, welcher aus unbrauchbaren Substanzen des Mutterkörpers,
besonders einem sohwSrzlichen Pigment u. s. w. besteht, von einander
trennen. Indem diese Körperchen, die sogenannten Merozoiten, neue
Blutkörperchen angehen, bedingen sie den folgenden Fieberanfall.
Der ganze Entwiokelungsgang erfolgt bei Plasmodium malariae in
72 Stunden. Die neuentstandenen Merozoiten machen nun denselben
Entwickelungsgang ebenfalls innerhalb dieser Zeit durch, und sofort
und jedesmal tritt, wenn dieser vollendet ist, ein neuer Fieberanfall
auf, daher die regelinäfsige Wiederkehr desselben an jedem vierten
Tage. Ist der Mensch am folgenden oder übernäohsten Tage naoh
der ersten Infektion von neuem infiziert worden, ihm also eine zweite
Gruppe von Krankheitserregern eingeimpft worden, so wird diese
ihren Entwiokelungsgang mit entsprechendem Zeitunterschiede von
der ursprünglichen vollenden, das Fieber also einen doppelt viertägigen
Charakter zeigen. Es wird je zwei Fiebertage geben, die duroh einen
fieberfreien Tag getrennt sind. Eine dritte Infektion und demzufolge
eine dritte Gruppe von Krankheitserregern wird den dreifaoh vier-
tägigen, d. h. den tägliohen Typhus erzeugen. Haben wir es mit
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Plasmodium vivax zu tun, so wird der Entwiokelungsgang des Para-
siten nach 48 Stunden vollendet und dementsprechend an jedem dritten
Tage ein Fieberanfall hervorgerufen. Worin die Ursache zu suchen
ist, dafs mit der jedesmaligen Vermehrung des Parasiten ein Fieber-
anfall Hand in Hand geht, ist mit Sicherheit noch nicht nachgewiesen.
Wahrscheinlich wird entweder seitens des angreifenden Parasiten oder
der sich zur Wehr setzenden roten Blutkörperchen eine giftige
Substanz abgeschieden, die ins Blut gelangt und infolge ihrer Ver-
breitung durch die Adern auf das Nervensystem einwirkt und so die
Fiebersymptome hervorruft
Der bei der Vermehrung des Parasiten übrig gebliebene Rest-
körper, welcher, wie schon gesagt, hauptsächlich aus Pigment den
sogenannten Malariakörnern besteht, wird von den weifeen Blut-
körperchen aufgenommen, meist in der Milz, der Leber, den Nieren,
dem Gehirn u. s. w. deponiert, daher denn jene Organe eine schwärz-
liche oder erdfahle Farbe zeigen, die bei der Obduktion das Kenn-
zeichen der Malaria ist
WTie gelangt nun aber der Malariaparasit in das Blut des ge-
sunden Menschen? Niemand konnte vor ungefähr einem Jahrzehnt
auch nur mit einiger Sicherheit den Weg angeben, auf dem die In-
fektion erfolgte, keine der vorgebrachten Hypothesen war im Stande,
alle gemachten Erfahrungen zu erklären, denn wenn man auch die
Existenz von Malariakeimen in der Luft voraussetzte und ihr Ein-
dringen duroh die Luftwege annahm, so blieb es z. B. doch rätsel-
haft warum die Keime nur in geringer Höhe über dem Boden oder
nur in bestimmten Räumen vieler Häuser Vorkommen, warum sie nicht
überall hin duroh Luftströmungen verbreitet werden u. s. w.
Erst die allerneueste Zeit hat hierüber Klarheit gebracht Meh-
rere Forsoher sind ziemlich gleichzeitig und ganz unabhängig von
einander auf die Idee gekommen, dafs auch bei der Malaria die Stech-
mücken eine Rolle spielen. Die Anschauung, dafs diese das Sumpf-
tieber verbreiten, ist übrigens nioht neu und unter den Eingeborenen
der verschiedensten Gegenden schon lange bekannt gewesen; fand
doch Koch, dafs die Neger Ostafrikas sogar für Fieber und Steoh-
mücken ein und dasselbe Wort gebrauchen. Dooh erst Mansons
Untersuchungen über den Entwickelungsgang der Filaria hat die
Malariaforschung auf den richtigen Weg gewiesen. Durch diesen
Forscher zu eingehender Untersuchung angeregt, gelang es Rofs,
den Nachweis zu erbringen, dafs ein Malariaparasit der Vögel seine
weitere Entwickelung im Darm einer Stechmücke (Culex pipiens) voll-
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zieht, eich dort vermehrt und darauf in die Speicheldrüse übergeht,
aus welober er dann durch den Stich der Moskitos wieder zu dem
Vogel zurüokkehrt. Damit hatte die Moskito-Malariatheorie wenigstens
für die Malaria der Vögel positive Begründung erfahren und konnte
somit ihre Geltung für die Malaria des Menschen als höohRt wahr-
scheinlich angenommen werden. Hier setzten nun Untersuchungen
italienischer Forscher, besonders Grassis, ein, dem es nicht nur ge-
lang, diejenigen Moskitoarten (Arten der Gattung Anopheles), welche
duroh ihren Stich die Malaria auf den Menschen übertragen, nachzu-
weisen, sondern auch die Entwickelung der Parasiten im Körper der
Müoken auf das genaueste zu verfolgen.
Wie oben beschrieben ist, pflanzen sich die Malariaparasiten im
menschlichen Blute auf ungeschlechtlichem Wege durch sogenannte
Schizogonie fort. Neben den Produkten dieser Fortpflanzung beob-
achtete man aber im Blut, allerdings erst nach mehrtägiger Krank-
heitsdauer, noch die sogenannten Halbmonde oder Sioheln, die sioh
schliefslich zu verschieden gestalteten Gebilden zweierlei Art differen-
zierten. In ihnen haben wir nun die zur Paarung bestimmten Indi-
viduen, die Gameten, vor uns; das eine, kugeliobe, ist weiblichen, das
andere männlichen Geschlechts. Dies letztere ist aber in Wirklich-
keit nicht nur ein Individuum, sondern, um einen an die Blumenhooh-
zeit erinnernden Ausdruck zu gebrauchen, ein Antheridium, aus dem
4, 6 auch 7 männliche Elemente hervorgehen können.
Die Paarung geht nun niemals im Blut des Fieberkranken vor
sioh, sondern ausschliefslich im Darm des Moskitos; gelangen die
Gameten nicht dorthin, so gehen eie im Blute des Menschen zugrunde.
Im anderen Falle, wenn sie also rechtzeitig in den Körper der Mücke
gekommen sind, vereinigen sich die männliohen mit den weiblichen
Gameten, vorausgesetzt allerdings, dafs diese bei dem Übergang in
den Magen der Müoke keine zu starke Temperaturerniedrigung er-
fahren, da sie sonst von ihrem neuen Wirte verdaut werden. Aus
der Verschmelzung geht ein rundlicher Körper hervor, der sich als-
bald in ein bewegliches Würmchen verwandelt, welches nach kurzer
Zeit den Magenraum verläfst und sioh in der Magenwand einnistet.
Hier wächst es gewaltig heran und wird zu einem schon mit blofsem
Auge erkennbaren kugeligen Gebilde (Amphiont), das, ausgewachsen,
im Innern aus Tauenden von verlängerten Spindeln besteht In einem
gewissen Moment berstet dieses auseinander und entleert die Sporo-
zoiten genannten, sehr beweglichen Spindeln in die Leibeshöhle
seines Wirtes. Auf Grund eines wunderbaren Gesetzes sammeln sioh.
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etwa 12 Tage nach der Infizierung, die Sporozoiten in den Speichel-
drüsen, vielleicht angezogen duroh eine eigentümliche, von diesen
letztem abgesonderte Substanz. Wenn die Mücke jetzt sticht, entleert
sie mit dem Speichel auch die Sporozoiten in die Wunde. Während
diese nun im Körper der Tiere zugrunde gehen, vermehren sie sich
in dem des Menschen und beginnen auf diese Weise die ungeschlacht*
liehe Generation. Die Malariaparasiten des Menschen machen also
einen Generationswechsel duroh und bedürfen zur völligen Entwicke-
lung zweier verschiedener Organismen; die ungeschlechtliche Ent-
wickelung geschieht im Blut des Menschen, die geschleohtliohe im
Körper von Anophelesarten. Die Übertragung auf den Menschen ge-
schieht ausschliefslich durch den Stich von Anopheles, die in ihren
Speicheldrüsen reife Sporozoiten der entsprechenden Plasmodien be-
herbergen und die Infektion der Anopheles ausschliefslich duroh
Saugen am Körper malariakranker Menschen. Ein Anopheles, der
keinen Malariakranken gestochen, oder wenn dies geschehen, selbst
noch ohne infizierte Speicheldrüsen ist, kann die Malaria nicht über-
tragen.
Die Anophelesarten, deren Larven hauptsächlich in kleinen, oft
austrocknenden Tümpeln leben, suchen gewöhnlich nachts die Be-
hausungen der Menschen auf, fliegen niemals hoch, sondern halten
sich mit Vorliebe wenige Meter über dem Erdboden auf. Die
im Herbst befruchteten Weibchen überwinern an gesohiitzten Stellen
im Freien oder in Häusern, Kellern, unter Treppen, in Ställen, Scheunen
u. s. w. und sind die Erzeuger der ersten Generation des nächsten
Jahres. Jedenfalls erklären sich aus der Lebensgeschiohte dieser
Tiere zahlreiche, bisher unverstandene Erfahrungen, die die Malaria
betreffen.
Wie die Zitronenbäume neue Blüten neben den Früchten zeitigen,
so begann, sohroibt Grass i, während die Lösung des Malariapro-
blems reifte, auch sohon die des gelben Fiebers zu keimen.
Das gelbe Fieber, der Tropentyphus oder vomito negro, ist be-
kanntlich die schwerste der Krankheiten, die in den tropisohen Ländern
wüten. Gewöhnlich beginnt dieses Leiden mit sehr heftigem Kopfweh
und Fieber, dann tritt Übelkeit und Erbreohen hinzu, das von einer
schmerzhaften Empfindung in der Magengegend begleitet wird. Diese
erste Periode dauert drei bis vier Tage. Danach erfolgt Erbreohen
schwarz gefärbten Blutes, während gleichzeitig mehr oder weniger stark
ausgeprägte Gelbsuoht auftritt Der Kranke wird, wenn nicht Genesung
eintritt, in der Zeit vom vierten bis zum achten Tage dahingerafft.
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Die Hypothese, dafs auch das gelbe Fieber durah Moskitos ver-
breitet werden könnte, existiert 6chon seit Jahren und wurde von
Finlay aufgestellt Aber erst in neuster Zeit fand sie eine derartige
Bestätigung in experimentellen Tatsachen, hauptsächlich durah die
Beobachtung Reeds, Carrols und Agramontes, dafs man mit ab-
soluter Gewißheit behaupten kann, dafs das gelbe Fieber ausschließ-
lich durch Stechmüoken verbreitet wird. Der Krankheitserreger ist,
da der Sanarellische Bazillus nicht mehr als solcher gelten kann, un-
bekannt, aber die Tatsache, dafs zur Übertragung der Krankheit eine
Periode von zwölf oder mehr Tagen naoh Aufnahme des infizierten
Blutes von seiten der Stechmücke nötig ist, d. h. also eine gleiche
Periode, wie sie die Malariaparasiten innerhalb des Anopheleskörpers
brauchen, um in die Speicheldrüsen zu gelangen, die Tatsache ferner
dafs daB gelbe Fieber Bich nur durch die Moskitos verbreitet, lassen
vermuten, dafs es sich um einen Parasiten handelt, welcher von dem
der Malaria nioht sehr verschieden ist. Diese Verbreitungsweise er-
scheint, so schreibt Grassi, um so mehr einleuchtend, als die Mos-
kitos, mit welchen man bis jetzt die Infektion erzielt hat, in Kuropa
nicht Vorkommen. Auf alle Fälle kann man annehmen, dafs sich das
gelbe Fieber nicht durch die gewöhnlichen Stechmücken (Culex pipiens)
noch durch die Malariastechmücken (Anopheles) zu verbreiten vermag.
Diese Umstände sind von sehr grofsem Interesse, da hierdurch die
sonderbare Beschränkung der geographischen Verbreitung des gelben
Fiebers aufs schlagendste erklärt wäre. Als Verbreiter des gelben
Fiebers wird Culex fasciatus bezeichnet.
Zur experimentellen Feststellung der angeführten Tatsachen hatte
man im November 1900 in der Umgegend von Quemado auf Cuba auf
einem unbebauten, gesunden und trocknen Terrain eine Art Sanitäts-
lager aufgesohlagen, das aus 13 Personen, darunter 2 Ärzte, bestand.
Alle waren junge, kräftige, gesunde Menschen, die vorher einer sorg-
fältigen Quarantäne unterworfen, somit also frei von etwaigen An-
steckungskeimen des gelben Fiebers waren. Das Lager war schließ-
lich noch von einem Sanitätskordon umgeben. Die Ärzte hatten zu
ihrer Verfügung eine Sammlung lebender Steohmücken, die vor kürzerer
oder längerer Zeit an gelbem Fieber erkrankte Personen gestochen
hatten; des weiteren führten sie aus Fieberlazaretten stammende,
verunreinigte Bettwäsche mit sich. Das Ergebnis der Versuche ist
oben bereite geschildert: alle in den passenden Fristen, d. h. 12 Tage
nach der Infektion der Mücken von diesen gestochenen Personen,
von denen übrigens keine an den Versuchen, zu denen sie sioh frei-
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willig erboten hatten, gestorben ist, erkrankten am gelben Fieber.
Anderseits blieben alle diejenigen gesund, welche sich den bis dahin
für ansteckend geltenden Ursachen ausgesetzt hatten, z. B. in einem
Zimmer mit mangelhafter Ventilation bei feuohtwarmer Temperatur
von 38° auf der von Fieberkranken verunreinigten Bettwäsche schliefen
Somit war also unzweifelhaft festgestellt, dafs das gelbe Fieber durch,
die Mücken verbreitet wird, dafs diese sich infizieren, indem sie das
Blot der von dieser Krankheit befallenen Menschen aufsaugen. Wenn
auch der Krankheitserreger selbst bis heut noch nicht ermittelt ist, so
ist doch mit Sicherheit anzunehmen, dafs er im Körper der Mücken
einen Teil seines Entwickelungsganges durchmacht, und dafs dieser
Parasit, wie schon gesagt, dem der Malaria nicht unähnlioh ist.
Wie wir gesehen haben, sind es also bei allen drei Krankheiten,
der Filariosis, der Malaria und dem gelben Fieber die Müoken, welche
die Übertragung auf den Menschen vermitteln, während anderseits
die Mücken wieder dadurch, daß sie das Blut erkrankter Menschen
aufsaugen, infiziert werden. Mit dieser Erkenntnis waren nun die
Wege gewiesen, die einzuschlagen sind, um die Verbreitung dieser
drei Krankheiten zu verhindern. Man mufs nach Möglichkeit ver-
hüten, dafs der Mensch durch Mücken gestochen wird, zu welchem
Zweok man zu den Moskitonetzen sowie zu Drahtgittern vor Fenstern
und Türen seine Zuflucht genommen hat. Gras ei hat gerade dieses
Mittel in den von der Malaria heimgesuchten Gegenden Italiens mit
grofsem Erfolge durchgeführt. „Das von mir in der Umgebung von
Paestum an mehr als hundert Personen gemachte Experiment, welches
mit allen nur wünschenswerten Vorsiohtsmafsregeln ausgefiihrt wurde,
hat in schlagender Weise dargetan, dafs es genügt, sich vor den
Anophelesstichen zu sdhützen, um sich erfolgreich vor Malaria zu be-
wahren.“
Ein zweites Mittel, dafs gegen die genannten Krankheiten ins
Feld geführt wird, besteht in möglichster Vernichtung der Müoken,
dadurch, dafs man die Umgebung menschlicher Wohnungen möglichst
trocken legt, alle Ansammlungen stehender Wässer hindert, oder sie
durch Hineingiefsen von Petroleum für die Entwickelung der Mücken-
larven untunlich macht. Schliefslich mufs man danach trachten, die
Mücken vor Ansteckung zu schützen, indem man verhindert, dafs sie
Erkrankte stechen und sich so infizieren. Welche Erfolge durch
zweckmäfsige Anwendung dieser drei Mittel erzielt werden können,
ist bisher ja hauptsächlich nur in Italien im Kampfe gegen die Malaria
und unter der sachgemäßen Leitung Grassis erprobt worden, mit so
Himmel und Erde. 1901. XVI. S. 8
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gutem Erfolge aber, dafs der vorgenannte Forsoher so manche un-
bebaute Steppe, die lediglich der Malaria wegen gemieden wurde, in
wenigen Jahren schon in fruchtbares Feld mit blühenden Dörfern
umzuwandeln hofft Und was hier für Italien erhofft wird, das, so
wollen wir wünschen, mag auch da gelingen, wo das gelbe Fieber
bisher Tausende von Mensohen alljährlich dahinrafft, wo die Filaria
so manohes Opfer fordert Mögen die Tropen so eines ihrer furchtbarsten
Schreokon entkleidet werden und die Kolonien in den warmen Ländern
dadurch für uns zu wirklichen Quellen der Fruchtbarkeit und des
Reichtums werden.
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Die Höhlenwelt von St. Canzian.
Von Dr. P. Schwelte in B. rlin,
(Schlüte.)
-GMyl nsere Darstellung der Rekawunder würde unvollständig sein,
PÄmi w nn wir nicht mit ein paar Worten der Männer gedenken,
die >:ähe und unerschrocken, modernen Argonauten gleich, zuerst
den Kampf mit den wilden Elementen und der Finsternis wagten, deren
Energie wir die Ersohliefsung dieser Höhlenwelt zu danken haben.
Die früheren Jahrhunderte vergingen, ohne dafs man auf dem
nächtlichen Strom über das Portal hinaus vordrang. Es war schon
eine Leistung, wenn ein Bauer oder Taubenjäger es wagte, bis in den
Grund der grofsen Dolina hinabzusteigen. Der erste, welcher die
unterirdischen Gewässer befuhr, war, wie schon erwähnt, der Triester
Brunnenmeister Svetina (1840). Dafs er nicht weit kam, ist be-
greiflich. Erst 1860 beginnt die Geschichte der planmäßigen Ent-
deckungsreisen. in diesem Jahre wurde Dr. Adolf Schmidt aus
Wien beauftragt, den unterirdischen Lauf der Reka zu untersuchen,
weil der Flufs der S idt Triest zur Versorgung mit Wasser dienen
sollte. Mit vier Bergknappen aus Idria und anderen mutigen Männern
machle er sich an die Arbeit; es gelang ihm auch bei dem niedrigen
Waseerstand des Winters 1851 bis zum sechsten Fall, also bis zum
Ende des Svetinadomes vorzudrmgen. Hier aber machte eine plötzlioh
eiDtretende Hochflut ein weiteres Fortkommen unmöglich. Die Männer
mußten ihre Boote im Stiche lassen und entrannen der Gefahr des
Ertrinkens nur mit äußerster Mühe, indem sie längs der steilen
Felsufer kletternd wieder das Tageslicht erreichten.
Dreiunddreißig Jahre verflossen, ohne dafs wieder einmal von
den Menschen der Versuch gemacht wurde, an dem schwarzen Schleier
zu rühren, welcher das Geheimnis des acherontischeu Stromes verhüllte.
Da im Jahre 1884 wurden von einem Häuflein kühner Grottenforscher
auf Veranlassung der Sektion Küstenland des Deutschen und öster-
reichischen Alpenvereins die unterirdischen Entdeckungsfahrten wieder
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aufgenommen, und zwar diesmal mit einem Heroismus und einer Tat-
kraft, welche aufrichtige Bewunderung herausfordern und in der Ge-
schichte der alpinen Wagnisse als glänzendes Beispiel dastehen. Die
Namen dieser Pioniere der Unterwelt sind: Anton Hanke, Joseph
Marinitscb, Friedrich und Heinrich Müller, Carl Hoffmann
und einige mehr. Durch Beschaffung vorzüglicher Geräte, wie zu-
sammenstellbaren Holzleitern, Striokleitern, zerlegbaren Booten, aller
Arten von Tauen, von Balken, Fackeln und Leuchten, wurden die-
selben von der Sektion in den Stand gesetzt, sich an die Lösung der
grofsen Aufgabe zu wagen. Schon das HerabschalTen dieses Materials
in die grofse Dolina bis an das Ufer der Reka erforderte viel An-
strengung, da es zur Winterszeit geschah, wo dio Wände mit Glatteis
bedeckt waren und die Reisenden bei der ansässigen Bevölkerung
keine Unterstützung fanden. Kein Bauer der Umgebung hätte es ge-
wagt, sie bei diesem Unternehmen zu begleiten.
Am 30. März wurde das Boot unter grofsen Schwierigkeiten —
damals gab es ja in dieser Höhlenwelt weder Weg noch Steg — von
der heutigen Schmidl-Grotte nach dem Rudolfdom befördert und den
tosenden Fluten der Reka anvertraut. Man gelangte auf demselben
nach außerordentlichen Anstrengungen in die grofse Halle, welche
dem früheren Reisenden zu Ehren Svetina-Dom getauft wurde. Die
Schnellen und Katarakte bis zu diesem Raume waren glücklioh be-
zwungen, nun aber kam man zum sechsten Wasserfall, dem mächtigsten
von allen, welcher schon der Schmidlschen Expedition ein Ziel gesetzt
hatte. Der ungünstige Wassersland verbot damals, es mit diesem ge-
fährlichen Gegner aufzunehmen. Immerhin diente dieser erste Vorstofs
als Rekognoszierungsfahrt Die Reisenden erblickten bei dem grellen
Lichte ihrer Magnesiumlampen auf dem rechten Ufer des Falles einen
hohen Felsen, den sie Lorelei-Felsen tauften und später als Operations-
basis wählten. Auch wollte das Auge erst an den Anbliok der wüten-
den Gewässer, das Ohr an ihren gewaltigen Donner gewöhnt sein, ehe
man sich mit dem Gedanken vertraut machen konnte, diesen Cerberus
der Unterwelt eines Tages zu überwinden.
Im Herbst des Jahres 1884 trat niedriger Wasserstand ein. Am
9. November konnten dio Grottenforscher abermals ans Werk gehen,
jetzt mit dem eisernen Willen, das schwierige Unternehmen zu lösen.
Auch bei den Bauern hatten sie durch die bisherigen Erfolge Ver-
trauen gowonnen; sechs derselben fanden sich bereit, an den Arbeiten
teilzunehmen. Drei Boote wurden im Rudolfdom zu Wasser gelassen.
Hanke befand sich im ersten, Müller folgte im zweiten. Um sieb
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gegenseitig besser verständigen zu können, hatte man die Boote durch
ein Sohlepptsu verbunden. Aber auch so reichte die menschliche
Stimmkraft gegenüber dem gewaltigen Tosen des Stromes nicht aus;
alle Aufträge muhten durch Hornsignale übermittelt, jeder Schritt in
die ewige Nacht duroh künstliche Beleuchtung erkämpft werden. Als
AbsUsgplad su dsu Hohlsu
Aufgi-nommen von M. Schaber in Ailelabcrg.
drittes und letztes Boot trat das Hauptsohiff^ die „Keks. in Aktion,
vollbeladen mit Menschen und den für die unterirdische Argonauten-
fahrt notwendigen Requisiten.
Da erscholl durch die Nacht ein Hornsignal und verkündete,
dato Hanke als erster glüoklioh beim sechsten Wasserfall angelangt
war. Bald waren auoh die übrigen kühnen Pioniere daselbst ver-
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sammelt, und bei dem damaligen niedrigen Wasserstand gelang es
ihnen, zu Fufs bis zum Lorelei-Felsen vorzudringen. Auf demselben
wurde kurzer Kriegsrat gehalten und die Rollen verteilt, dann ging
es an die Arbeit Eisenpflöcke werden in den Fels getrieben, um
daran die Strickleitern zu befestigen. Am Wasserfall klingt der
Meifsel, ungezählte Male fällt der Hammer auf ihn nieder, während
die Reka ihr brausendes Konzert daneben vollführt. Marinitsch ist
inzwischen mit den Vorbereitungen zu einem Brückenschläge über den
Strom beschäftigt, der zur leichteren Herabschaffung des Materials
dienen soll. Mitgebrachte Feuerleitern finden für diesen Zweck Ver-
wendung, sie schaffen nur einen schwankenden Steg über den Rücken
des ungebärdigen Flusses.
Endlich ist alles Nötige für die Überwindung des Wasserfalls
vorbereitet Nun gilt es ein Doppelboot über den sieben Meter tiefen
Strudel herabzulassen. Eine Strickleiter von 10 m Länge wird an
dem Eisenpflock befestigt; senkrecht fällt sie gegen den Flufs ab und
urreioht unten einen winzigen Vorsprung, der gerade Halt genug für
einen Fufs bot immer aber noch einen Meter über dem Strom lag.
Hanke, der bei der Entdeckungsreise stets voraus war, steigt
auf der Leiter, das Seil um den Leib geschlungen, zuerst in die Tiefe.
„Atemlos sehen wir übrigen'1, so erzählt Friedrich Müller,*)
„ihm nach in den finsteren Kessel. Zischend und brodelnd gährt es
da unten; die erregte Phantasie läfsl uns glauben, der Flufs würfe mit
doppelter Gewalt seine Fluten in die Enge, um den unentweihlen Ort
zu schützen vor den kecken Eindringlingen. Wohl alle beschleicht
ein Gefühl, ähnlich wie es der junge Soldat empfindet, wenn er zum
ersten Male den Donner der Kanonen und das Pfeifen der Kugeln in
heifser Feldschlaoht hört.“
Während man oben auf dem Felsen in banger Sorge harrt, er-
tönt plötzlich das Hifthorn aus der dunklen Tiefe und verkündet, dafs
der Führer glücklich auf der Felsplatte Fufs gefafst hat. Endloser
Jubel, dann machte man sioh daran, das Boot an drei Strioken über
den Sturz hinabzulassen. Hanke soll es unten in Empfang nehmen.
Sein Posten ist ein gefährlichen denn der eine Fufs schwebt über
dem Wasser, der andere ruht auf der winzigen Platte; die eine Hand
umklammert die Striokleiter, die andere soll den Stapellauf leiten.
Nach vieler Mühe gelingt es endlich, das Boot über den Fall hinab-
zubringen; wenn auch halb mit Wasser angefüllt, schaukelt es unten
*) Friedrich Müller: Führer in die Orotlen und Höhlen von St. Can-
zian, Triest, 1887.
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auf dem erregten Element, kaum zwei Meter vom tosenden FaU ent-
entfernt. Ein Hornsignal verkündet das Gelingen der siebenstündigen
Arbeit; ein Hurrah vom Gipfel des Felsens antwortet darauf. Freudig
erregt klettert nun die Gesellschaft auf der dem Boote zugewandten
Seite des Loreleifelsens hinab. Der Stapellauf war glücklich vollzogen,
nun galt es. weitervordringen in die unerforschte Nacht hinein.
Parti« Ln d«r groben Dolin«.
Aufgenommen von M. Schaber in Adelsberg.
Die Schwimmer werden hervorgeholt, um die Kiohtung, be-
sonders aber die Stärke des abweisenden Flusses zu untersuchen.
Es sind dies Korkplatten mit aufgesestzten Lichtern, die an einer
Leine der Flut überlassen wurden und mit rasender Geschwindigkeit
gleioh gespenstischen Irrwischen im Reiohe der Schatten forttrieben.
Ihre kreisende Bewegung deutete das Dasein von Flutungen an, ihr
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plötzliohes Versoh winden in die Tiefe brachte den Grottenfahrern die
Gewifsheit dafe ein gefährlicher Katarakt in der Nähe sei. In dieser
Weise wurde das Fahrwasser erkundet, und nachdem man sich
überzeugt hatte, dafs der Strom unterhalb des sechsten Falles kein
zu reifsendes Gefälle hatte, wurde das Boot abgelassen. Hanke
allein bestieg es, während die anderen vorläufig zurückblieben.
Bald verkündeten jedooh Hornsignale, dafs er einen günstigen Lan-
dungsplatz gefunden, und nun wurde die ganze Expedition dorthin
übergesetzt.
In stummer Erwartung harrten die übrigen der kommenden
Dinge, nur Friedrich Müller allein unternahm es, über Klippen
und Wassertümpel in die Finsternis einzudringen. Es gelang ihm,
einen Hügel zu erklettern, der eine Orientierung ermöglichte; hier
hörte er auch das Brausen des siebenten und aohten Rekafalles. Als
er auf dem Gipfel des Hügels, fünfzig Meter über dem Strom, das
Magnesiumfeuer anziindete, bot sich ein wunderbarer Anblick dar.
Wie ein Grottengespenst bewegte sioh seine Sohattengestalt, riesenhaft
vergrüfsert, über die Wasser gegen aas Gewölbe hinauf. Die Bäume,
welche bisher keines Mensohen Fufs betreten hatte, leuchteten zum
ersten Male im Glanze des Lichtes, und gleichsam als ob sie sioh
freuten, der ewigen Finsternis entrissen zu sein, strahlten die Tropf-
steingebilde an den Decken und Wänden wie Tausende von funkeln-
den Diademen den Eindringlingen entgegen. Den Eindruck sohildert
Müller mit den Worten: „Dieses Stüok Unterwelt in dem starren
Glanze der Kalkspatkristalle glich einer von Nordlichtern über-
strahlten Polarnacht“
An jenem für die Erschliefsung der Canzianer Grottenwelt be-
deutungsvollen Tage gelangten die Forscher uur bis zum siebenten
Fall. Der elfstündige Kampf mit dem Wasser, mit den Felsen und der
Finsternis hatte ihre Kräfte bis auf das äufserste erschöpft; man sah
sich zur Rückkehr gezwungen. Der Erfolg aber war gesichert denn
der sechste Fall, dieser gefährliche Cerberus der Unterwelt, war be-
zwungen.
Im Jahre 1 885 und den folgenden Jahren haben die wackeren
Pioniere ihre Entdeckungsreisen fortgesetzt. Sie gelangten in den
Müllerdom, sie erschlossen dann weiter eine lange Fluoht von Hallen,
Klammen und seeartigen Erweiterungen des Flusses, bis schliefslich
der mäohtige Alpenvereinsdom mit dem achtzehnten Katarakt dem
weiteren Vordringen ein Ziel setzte. Was dahinter liegt ist vorläufig
noch unbekannt; es ist auch noch rätselhaft auf welohem Wege die
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Reka bis zum Meer« gelangt, lat der Timavo bei Schlote Duino an
der Adria ihr Abflute, so würde bis dahin ihr unterirdischer Lauf in
der Luftlinie gegen 40 Kilometer betragen, während doch bisher nur
ein Kilometer erforscht ist. Wie mag sich dieser Lauf gestalten?
Werden neue stolze Hallen sich öffnen, oder wird der Strom unter
Felsen verschwinden? Schwerlich dürfte das Geheimnis dieses ver-
hüllten Wasserlaufes jemals enträtselt werden. Man hat gehofft, date
man am Grunde anderer unterirdischer Hohlräutne des küstenländisohen
Karstes dem verschwundenen Strom wieder begegnen werde, man ist
tief hinabgestiegen, beispielsweise in das Schlangenloch bei Divafa, in
der Meinung, man werde dort auf Wasser stoteen, aber alle diese ein-
schlägigen Forschungen haben sioh als trügerisch erwiesen. Wohl
mögen die übrigen Höhlungen mit der Heka in Verbindung stehen
und von ihrem Wasser, wenigstens teilweise, geschaffen worden sein,
aber im Laufe der Jahrtausende hat sich der Strom tiefer und tiefer
in den Kalkfels eingegraben. Das Wasser ist aus ihnen gewichen,
ähnlich wie es aus der Schmidt-Grotte und aus der gewaltigen Tominz-
Grotte versohwunden ist, die sich an der nördliohen Wand der grofsen
Dolina befindet.
Wer Stalagmiten und andere Launen der Tropfsteinbildung be-
wundern will, der wird nach der Rückkehr aus den Wasserhöhlen
von St. Canzian dieser Tominzgrotte einen Besuch abstalten. ln der
Lehmschioht ihres Bodens hat man in mäteiger Tiefe allerhand
prähistorische Funde gemacht und Knochenreste aufgedeckt, ein Beweis
dafür, date diese Höhle schon in der Vorzeit trocken lag und date die
Steinzeitmensohen sioh in ihr häuslich niedergelassen hatten.
Verlassen wir jetzt den Schauplatz dieser Welt der Wunder und
Seltsamkeiten und wenden uns zurück nach Divaöa. Gregor Siberna,
der eine wahre Maulwurfstätigkeit in der dortigen Gegend entfaltet
hat, erwartet uns daselbst, um uns neuen, überraschenden Schaustücken
entgegen zu führen. Er will uns nach den prachtvollen, ja einzig da-
stehenden Tropfsteinhallen leiten, welche den Namen „Kronprinz
Rudolf-Grotte“ führen. Sie sind von ihm im Jahre 1884 entdeckt
worden. Siberna ist stolz darauf, und in der Tat bat er einen kost-
baren Fund gemacht, für den die Gemeinde Divaöa sich dem Manne
dankbar erweisen sollte. Aber Undank ist nun einmal der Welt
Lohn; diese alte Weisheit glaubt unser Führer auch an sioh er-
fahren zu haben. Mit Vorliebe bezeichnet er sioh in der Unterhaltung
als „den gröfsten Lump von Divaöa“, der den Fremden naohlaufen mute,
um ein paar Kreuzer zu verdienen.
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Unser Weg führt uns über den Bahnhof von Divaöa nach Westen
am Oeleise der Istrianer Staatsbahn entlang. Nach halbstündiger
Wanderung treffen wir auf eine kleine Doline, an derem Grunde ein
hölzernes Pförtchen den Zugang zur Kronprinz Rudolf-Grotte ver-
mittelt. llafs wir auoh hier wieder die unterirdischen Räume durch
Wegarbsiton in der Tomiugrott«.
Aufgenommen von Francesco Benque in Triest
eine Doline betreten, ist sehr natürlich. Wo nämlich die Deoke eines
Hohlraumes in die Tiefe gebrochen ist, hat sie mit ihrem Bruch-
material einen grofsen Teil des Sohachtes erfüllt, und an der Ober-
fläche entstanden jene gerundeten, trichterförmigen Einsenkungen, eben
die Dolinen, an deren Wänden sich meist die schwarzen Portale zu
den Verliesen der Unterwelt öffnen.
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Wir haben die hölzerne Schranke passiert und befinden uns
nun abermals im Reiche der Nacht. Wiederum spenden Kerzen ihr
spärliches Licht, und neugierig spähen wir in die Schatten, in denen
sich der Pfad verliert. Tiefer und tiefer dringen wir ein in die näoht-
lichen Hallen, wo alles Leben erlisoht. Totenstille erfüllt die Räume,
TropfiUinbildungon in der Krooprin*- Rudolf- Grotte.
Aufgeaommon von Francenco Benque in Trieal.
kein Wasserfall verkündet, wie in den Rekahöhlen, die Anwesenheit
eines unterirdischen Stromes.
Der Führer zündet das Magnesiumfeuer an und grelles Licht Outet
durch das Schattenreich. Wir befinden uns in einem gewaltigen Dom
und überschauen seine gleifsenden Wände bis hoch hinauf zu der mit
steinernen Festons der Stalaktiten gezierten Deoke. Was hier die
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Kunstfertigkeit der Natur zum Erstaunen des Besuchers an herrlioben
Werken vorfiihrt, ist schwer zu sohildern. Da stehen Hunderte von
Säulen in den kolossalsten Dimensionen und von allen Farbenstufen
zwisohen dem blendensten Weifs und Braunrot, da hängen von der
Deoke herunter Gebilde, welche eine tauschende Ähnlichkeit mit Vor-
hängen, Draperien und Teppichen haben. Der Faltenwurf ist so voll-
endet, dafs man ein Werk von Menschenhand vor sich zu haben meint,
und das ganze Gebilde so durchsichtig, dafs Bich die Streifen von
rötlicher Farbe deutlich erkennen lassen, die gleich einer Bordüre den
gelbweifsen Fond umsäumen. Auoh merkwürdige zeltartige Sinter-
bildungen springen aus den Wänden hervor. Die Phantasie der Führer
hat ihnen allerhand Namen gegeben, wie etwa , Baldachin des türki-
schen Sultans“ oder „Thronsessel“ eines exotischen Herrschers. Die
sogenannte „Schatzkammer“ der Kronprinz Rudolf-Grotte ist voll von
solch merkwürdigen Naturspielen, die der fallende Tropfen in Jahr-
tausende langer Arbeit geschaffen hat. Oft haben sie täuschende
Ähnlichkeit mit den organischen Gebilden der Oberwelt, Da sehen
wir steinerne Kobolde, Drachen und Sphinxe, Löwen und Greifen und
anderes steinernes Getier, da finden wir an den Wandungen zarte
Korallen, die Blumenkelchen, Federkronen und Blütenstengeln gleichen.
Eine eingehende Beschreibung all der Eindrücke, die wir empfangen,
würde hier nichts nutzen. Mag ein jeder selbst in diese Kunstgalerie
der Unterwelt hinabsteigen und die Wunderdinge anstaunen, welche
die Allmeisterin Natur hervorgezaubert hat. Es ist ein labyrinthi-
sches Wirrsal von Gängen und Hallen, die wir durchsohreiten müssen,
ehe wir wieder den Ausgang der Kronprinz Rudolf-Grotte erreioben.
Sie ist gegen 600 m lang, doch fallt sie nur in mäfsige Tiefe ab.
Freilich in allen Teilen ist auoh sie noch nicht erforscht; finstere
Schachte, in die man hier und dort hineinblickt und in die hinabzu-
steigen noch kein Mensch gewagt hat, mögen in tiefere Stockwerke
führen.
Unweit der Kronprinz Rudolf-Grotte in der Nähe des Dorfes
Corgnale liegt nooh ein weiterer Höhlenkomplex. Auch er birgt grofs-
artige Tropfsteinbildungen, vermag aber nicht die Einbildungskraft in
gleicher Weise anzuregen wie die vorhin geschilderte Tropfsteinhöhle
Wir unterlassen daher die Beschreibung dieser „Grotte von Corgnale'
und wollen nur nooh auf eine Merkwürdigkeit hinweiBen, welche
auch denjenigen in Erstaunen setzen wird, der vielerlei gesehen auf
dem weiten Erdenrund.
Etwa 20 Minuten von Divaöa entfernt, in der Nähe des Treff-
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punktes der Istrianer Staatsbahn und Südbahn, öffnet sich im Erd-
boden ein Sohaoht von scheinbar unermefslicher Tiefe. Es ist die
alavisohe Kacna Jams, zu deutsch das „Sohlangenlooh“. Dasselbe
vermittelt den Zugang zu einer sich kilometerlang erstreckenden, bis
jetzt noch wenig durchforschten Höhlenwelt. Der Bahnhof von Divaöa
ist darauf erbaut, die schweren Züge der SUdbahn rollen darüber
hinweg, ohne dafs die von der Natur geschaffenen Widerlager wanken.
Immer mehr gewinnt die Vorstellung Boden, dafs die feste Erddecke
in diesem Karstgebiete niohts anderes ist, als eine Aufeinanderfolge
von Oewölbedecken und Felsenbogen, von solcher Mächtigkeit freilioh,
dafs Erdsenkungen und damit zusammenhängende Einsturzbeben nur
äufserst selten eintreten. Wenn es in den Küstengegenden der
Adria rumort, was ja häufig vorkommt, ist meist nicht der Zusammen-
bruch unterirdischer Huhlräutne daran schuld, sondern der Umstand,
dafs die Erdrinde daselbst jüngere Brüche aufweist, an denen nooh
fortdauernd Umlagerungen der Bruohschollen stattQnden.
Wer in den Schlund der Kacma Jama hinab will, der mufs
über ein gutes Mafs von Unerschrockenheit und über starke Nerven
verfugen, ganz abgesehen davon, dafs er Talent zuin Klettern be-
sitzen mufs.
Ist man ein kurzes Stück über Felsen und eingehauene Stufen
gekroohen, dann geht es abwärts in den grauenhaften Sohlund, und
zwar auf Strick- und Holzleitern an teils senkrechten, teils über-
hangenden Wänden. Hundert Meter tief mufs in dieser Weise Stufe
für Stufe des Leiterweges zurückgelegt werden, oben und unten der
gähnende Abgrund — wahrlich ein Unternehmen, dem gegenüber das
Erklimmen eines Doloinitriesen als ein Kinderspiel erscheint. Es
kommt hinzu, dafs man den häuGg eintretenden Steinschlägen bei dieser
Kletterpartie nicht ausweichen kann, während es der Bergsteiger meist
in der Hand hat, derartige gefährliche Stellen zu vermeiden.
Nach hundert Metern kommt erst die eigentliche Orubenfahrt.
Man mufs nun in einen Förderkorb steigen und sich vermittelst einer
Winde in die weitere Tiefe abseilen lassen Zwei Männer arbeiten
oben an dem Haspel; ihnen und der Haltbarkeit des Seiles, das hier
keine polizeilichen Prüfungen durchzumachen hat, ist das Leben an-
vertraut. Der Schacht, durch welchen die Abfahrt erfolgt, ist kaum
mehr als 6 bis 6 m breit Um unliebsame Berührungen mit den Felsen-
zacken zu vermeiden, mufs der Orottenfahrer daher das Leitseil er-
greifen und den Korb geschiokt an Ecken und Kanten vorbei in
die finstere Tiefe hinabdirigieren.
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Ist inan in dieser Weise 60 m in den engen Sehlot abwärts ge-
sohwebt, so beginnt eine wahre unterirdische Luftschiffahrt. Mac er-
reicht die Deoke eines gewaltigen Domes, der 52 m Höhe hat,
und mufs in denselben ganz frei abfahren, so dafs die ganze Fahrt
mit dem Haspel 112 m beträgt. Die Landung erfolgt schliefslich auf
einem Trümmerberg in einer Tiefe von 212 m unter dem Erdboden.
Der Grund der Höhle ist aber nooh immer niobt erreicht, denn dicht
neben dem Geröllberg gähnt ein neuer Schlot von 40 m Tiefe.
Die Kacna Jaroa ist ebenfalls von Gregor Siberna entdeckt
worden. Dieser Höhlenfinder hat auch zuerst die halsbrecherische
Kletterei in ihren Schlund gewagt. Als er aber das, was er dort unten
gesehen, schildern sollte, war er begreiflicherweise nicht imstande, die
wissenschaftliche Neugier der Höhlenforscher zu befriedigen, ge-
schweige denn die Frage zu beantworten, ob etwa die Reka am
Grunde der Höhle wieder angetroffen wird. Diese naheliegende Ver-
mulung gab die Veranlassung zu einer genaueren Durchforschung
des „Schlangenloches“, durch Bergrat Hanke, einen der Triumviren
der Höhlenwelt von St. Canzian. Es zeigte sich dabei, dafs der oben
erwähnte Dom oine ganz kolossale Längenausdehnung besitzt, nämlich
sich nahezu einen Kilometer weit unter der Südbahn und dem Bahn-
hof von DivaÖa hiczieht. Deutlich vernahm Hanke in der Grotte das
dumpfe Rollen der oben verkehrenden Eisenbahnzüge.
Den ganzen Höhlenkomplex vermochte der kühne Pionier freilich
nicht zu durchforschen. Seitengänge, die in noch unbekannte Regionen
führen und so eng sind, dafs ein Mensch sie nur kriechend passieren
konnte, wurden mehrfach angetroffen. Die mächtige Halle selbst er-
wies sich als eine sogenannte trockene Höhle mit auffallend geringer
Stalagmitenbildung. Ihr Boden besteht aus Steinen, Sand und Lehm,
verläuft anfangs eben, fällt aber dann steil zu einem Wasser ab. Die
hier abgelassenen Schwimmer wurden fortgetragen, bekundeten also
das Dasein eines unterirdischen Flufslaufes. Ob derselbe mit der
Reka identisch ist, wagt Hanke nicht zu entscheiden, wohl aber
spricht der Umstand, dafe die Reka im Alpen vereinsdom einen nord-
westlichen Lauf einschlägt, d. h. die Richtung auf Divaöa zu verfolgt,
sehr zugunsten dieser Annahme.
In die Kacna Jama wagen sioh nur selten Touristen hinab. Dies
ist begreiflich, wenn man in Betracht zieht, mit welchen Zufälligkeiten
und Gefahren bei einer solchen Grottenfahrt zu rechnen ist. Ganz
abgesehen von der Schwierigkeit des Abstieges und der Finsternis,
gegen welche die dunkelste Naoht auf der Erdoberfläche verhältnis-
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mäfsig noch bell erscheint, ist man in den unterirdischen Katakomben
niemals gegen plötzlich eintretendes Hochwasser geschützt. Man stelle
sich ferner die peinliche Situation vor, in welche man gerät, wenn
durch irgendwelche Umstände die Lichter erlöschen und die mit-
gebrachten Zündhölzer infolge der Nässe ihre Dienste versagen. Wo
ist dann der Ariadnefaden, weloher den verirrten Grottenfahrer durch
das kilometerlange Labyrinth von Hallen und Gängen in der Stock-
finsternis wieder an das freie Tageslicht leitet? Unser Führer Gregor
Siberna behauptet zwar, dafs er in einem solchen kritischen Falle
genug Lokalkenntnis besitzte, um auoh ohne l.ioht den Ausgang zu
finden. In der Kronprinz Rudolf-Grotte hat er in der Tat den Beweis
erbraobt, ob es ihm aber in der Kacna Jama möglich gewesen wäre,
wagen wir zu bezweifeln.
Ähnliche Naturschachte wie die Kacna Jama gibt es in der Um-
gebung von Divada und im küstenländischen Karst noch mehrere
Unter andern öffnet sich 400 in nördlich von dem hier beschriebenen
Schacht die „Kosova Jama“ oder das „Amselloch“. In dasselbe soll
vor Jahren einmal ein Mädchen mit einem Ochsengespann hinein-
gestürzt sein. Die Schürze der Verunglückten, sowie das Joch der
Zugtiere sind dann später vom Timavo ausgespült worden.
Es sei schliofslich noch der Schacht von Trebitsoh erwähnt, der
6 km nordöstlich von Triest liegt. Seine Tiefe beträgt 243 m, er endigt
in einem 90 m hohen Dom mit vielen Abzweigungen. Dieses
Kluftsystem wurde „Lindner - Höhle“ benannt. Im Jahre 1840 kam
H. Lindner, der überall nach Quellen suchte, um die Stadt Triest
mit Wasser zu versorgen, auf den kühnen Gedanken, in die unbekannte
Tiefe hinabzusteigen. Sechs Bergleute aus Idria, die seinen Mut und
seine Entschlossenheit teilten, schlossen sich ihm an. Nach neun-
monatlicher Arbeit gelangten Lindner und seine Genossen endlich
auf den Boden der Grotte in einer Tiefe von über 300 m unter dem
Kreidekalkplateau des Karstes, und hier flofs in der Tat ein Gewässer,
wahrscheinlich die Reka, zu ihren Füfsen. Jetzt steigt man auf Leitern
in diese durch Triestiner Alpinisten zugänglich gemachte Grottenwelt
hinab.
Beschliefsen wir hiermit unsere Wanderungen durch die unter-
irdischen Gefilde von St. Canzian. Der unermüdliche Ergründer dieser
Höhlenwelt, Friedrich Müller in Triest, sagt mit vollem Recht:
„Die im Sonnenglanz prangenden Alpen mit ihren mächtigen himmel-
anstrebenden Spitzen und Höhen, ihren prächtigen Ausblicken auf das
ferne Land, auf Tal und See, bergen nicht alle Schönheit der Natur
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in sich. Nicht nur hooh oben an unersteiglicher Felswand, auf
brüchigem Grat und Fetsenband, auf schneebedecktem Gletscher
kann der kühne Mann seinen Mut zeigen. Ebenbürtig stellt sich
der Oberwelt dunkle Schwester, die Unterwelt, in die Reihen der
Wettstreiterinnen um den Preis der Sohönheit. Wer in ihren
Katakomben gewandelt, ihre wunderbaren Gebilde, die Werke von
Jahrtausenden erschaut hat, der wird sich hingezogen fühlen zu den
finsteren Raumen, in denen ein Lichtblitz phantastische, ungeahnte
Bilder dem Auge hervorzaubert. Mit dem grellen Lichtschein er-
wacht das Leben in den soblummernden Gestalten. Glitzernd schlingt
der farbige Sintermantel seinen Faltenwurf über die Felsen, wie von
Edelsteinen blinkt es tausendfach am Boden. Weifse Säulen erfüllen
gleich Denkmälern diese ernsten, weihevollen Kammern des Berges.
Welche Gegensätze bieten die dunklen Räume von dem kaum ver-
nehmbaren Geräusch der fallenden Wassertropfen, welche unermüdlich
an den Tropfsteinen in dem totenstillen Raum weiterbauen, bis zum
donnernden Getöse der Wasserhöhlen, in welchen sich die Hoohflut
wälzt und den Boden wanken macht!“
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Moderne Naturphilosophie.
Von Pr Kleisptter in '«iminden.
II.
charakteristische Leistung B. Stallos ist die systematische
ritik der mechanischen Atomtheorie und der darauf gegrün-
ten oder damit in engem Zusammenhang stehenden Lehren
bezw. Hypothesen der modernen exakten Wissenschaft. Der Anspruch,
den dieselbe erhebt, ein von Metaphysik freies, und über dieBe erha-
benes System von Wahrheiten zu sein, das sich wohl erlauben dürfe,
auf metaphysische Spekulationen mit kiihier Verachtung herabzusehen,
sei mit nichten gegründet; selbst den gröfsten Männern der Wissen-
schaft sei es keineswegs geglückl, sich den Banden der metaphysischen
Spekulation zu entziehen.
Unsere moderne Naturwissenschaft von den Nachwehen der antik-
mittelalterlichen Metaphysik zu befreien, erklärt Stallo als eine der
dringendsten wissenschaftlichen Aufgaben der Gegenwart; hierzu bei-
zutragen, schrieb er seine vor zwei Jahren in deutscher Ausgabe er-
schienenen, von Mach durch ein Vorwort einbegleiteten „Begriffe und
Theorien der modernen Physik*. Vier Grundirrtümer sind es danach,
die dem metaphysischen Denken eigen sind: erstens der Glaube, dafs
jeder Begriff das Gegenstück einer bestimmten objektiven Realität sei,
und dafs es somit soviel Dinge als Begriffe gebe, zweitens die An-
nahme, dafs die allgemeineren Begriffe und die ihnen entsprechenden
Realitäten die ersten, die spezielleren die späteren sind, ferner die, dafs
die Aufeinanderfolge in der Entstehung der Begriffe identisoh mit der
Aufeinanderfolge in der Entstehung der Dinge sei, und viertens endlich,
dafs die Dinge unabhängig von ihren Beziehungen „an sich* exi-
stieren. In eindringlich überzeugender Weise zeigt nun Stallo, wie
diese charakteristischen Grundirrtümer der antik-mittelalterlichen Spe-
kulation auch unseren modernsten Theorien an haften, ja wie die Natur-
anschauungen der meisten Naturforscher und die grundlegenden Hy-
pothesen der modernen Wissenschaft, der Physik, der Chemie, ja auch
Ulmmal and Erda ISO». XVI 3 9
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der Mathematik durchaus von derselben durchdrungen sind. Ebenso
leicht gelingt natürlich Stalle auf Grund seiner Ausführungen von
bewundernswert schlichter Klarheit die Abfertigung der metaphysischen
Systeme der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, die er mit we-
nigen Worten abtut. In den Einzelnheiten findet sich sehr oft eine
überraschend vollkommene Übereinstimmung mit den Darlegungen
Machs.
B. Stallo war Deutschamerikaner. Er verliefs in jungen Jahren
seine oldenburgische Heimat als Sohn eines armen Landschullehrers,
der nicht die Mittel besafs, ihn auf ein Gymnasium zu schicken. Er
erwarb sich als Self-made-man in der neuen Welt nicht nur die nö-
tigen wissenschaftlichen Kenntnisse, sondern brachte es auch in seinem
Berufe zum angesehenen Advokaten und schlierslich unter Cleveland
zum Gesandten der Vereinigten Staaten am Quirinal. Er starb am
6. Januar 1900 in seiner Villa zu Florenz, wohin er sich ins Privat-
leben zurückgezogen hatte.
Ein Mann von ganz eigener Originalität war der Engländer
William Kingdon Clifford. Im Alter von "26 Jahren bestieg er
auf Maxwells Vorschlag den Lehrstuhl für angewandte Mathematik
und Mechanik an der Londoner Universität und überraschte die mathe-
matische Welt duroh die Fülle, wie namentlich durch die Originalität
seiner meist geometrischen Arbeiten, die durchweg auf Prinzipien-
fragen gerichtet waren; so ist er z. B. einer der Hauptvertreter der
nicht-euklidischen Geometrie auf englischem Boden. Doch bald wurde
immer mächtiger der Drang in ihm, sich den grofsen Fragen von uni-
verseller wissenschaftlicher Bedeutung hinzugeben und nach Kräften
an ihrer Lösung zu arbeiten. E« war einer seiner Lieblingsgedanken,
dafs es ein Gebiet, von dem die wissenschaftliche Betrachtungsweise
ausgeschlossen sein solle, nicht geben dürfe; mit ebenso staunens-
werter Energie wie seltener Geschicklichkeit hat er die Methode exakt
wissenschaftlicher Forschung auf Gebiete übertragen, die von derselben
nicht allzu häufig heimgesucht zu werden pflegen und weitab von
seinem eigentlichen Arbeitsfelde gelegen waren, wie die der Ethik,
des Rechtes, der Religion, fm Gegensatz zu Mach und Stallo ist er
kein unbedingter Verächter der Metaphysik, wenn er auch scharf die
Grenze zwischen ihr und der strengen Wissenschaft innezuhalten ver-
steht Wie diese aber wendet er sich mit der beifsenden Schärfe seiner
stark satvrisohen, an Kraftstellen recht ergiebigen Schreibweise gegen
die Verfechter des Apriorismus auf physikalischem Gebiete: „wenn
Leute über irgend einen Gegenstand hoffnungslos unwissend sind, so
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streiten sie Uber die Quelle ihres Wissens; so behaupteten denn auch
in unserem Falle viele, dafs wir dies a priori Wülsten.“ Andererseits
teilt er mit Berkeley und Mach die Ansioht von der Idealität (bestw.
Subjektivität) aller unserer Erfahrungselemente. In seinen metaphy-
sischen Spekulationen wurde er wesentlich von Spinoza, Spenoer
und Darwin beeioflufst; sein Urteil über die landläufige Metaphysik
ist deshalb aber nicht um ein Haar glimpflicher. Von einem Be-
kannten erzählte er: .Er will ein Buch über Metaphysik schreiben
und ist wie geschaffen dazu; die Klarheit, mit der er seiner Meinung
nach die Dinge versteht, und seine totale Unfähigkeit, das wenige,
was er weife, auszudrücken, werden ihm sicherlich sein Glück als
Philosoph machen lassen.“ Und von den Systemen eines Philosophen
findet er, „ lafs die Vollständigkeit und Symmetrie derselben seiner
kolossalen Ignoranz proportional ist, da es ja doch viel leiohter ist, ein
leeres Zimmer anzufüllen wie ein volles.“ Dabei war Clifford im
persönlichen Verkehr der liebenswürdigste Gesellschafter, dem niemand
gram sein konnte.
Von besonderer Bedeutung sind seine kritischen Untersuchungen
über Fragen der Ethik, des Hechtes, der Religion, da ja dies Gebiete
sind, die von Mach wie Stallo nicht in den Kreis ihrer Betrach-
tungen gezogen worden sind. Es ist namentlich die letztere, die einer
sehr scharfen Beurteilung vom ethischen Standpunkte unterworfen wird.
Einig mit Plato in der Verurteilung der Sünden der Götter, verwirft
er dooh dessen Ausweg, das Lehren derselben gesetzlich zu ver-
bieten. Schlechte Götter dürfen nioht verehrt werden; hat Jupiter die
Schandtaten wirklioh begangen, die von ihm erzählt werden, so darf
er eben nicht verehrt werden. Nun zeigt Clifford, dafs Jupiter
durchaus nicht die einzige Gottheit ist, der unmoralische Handlungen
vorzuwerfen sind. Mit Nachdruck wendet sich sodann Clifford gegen
das Walten der Priesterschaft. Den heutigen kläglichen Zustand der
mohamedanischen Länder schreibt er auf das Kerbholz ihrer Priester.
Würde eine Priesterscbaft selbst eine vollkommene Moralität als eine
unfehlbare Offenbarung lehren, so würde dies nur zur Zerstörung aller
Moral führen, denn moralisches Handeln bedarf der Übung und diese
wird duroh das befehlende W'ort des Priesters unterbunden.
Virchows Rede ..Über die Freiheit der Wissenschaft im mo-
dernen Staat“ gab Clifford Veranlassung, seine Meinung über das
Lehren derselben auszuspreohen, die dahin geht, „eine Lehre erst dann
vorzutragen, bis die Natur ihrer Evidenz verstanden werden kann “
So sei es z. B. verkehrt, in der Chemie mit der Atomtheorie zu be-
9*
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ginnen, bevor die Tatsachen, die für eie sprechen, auseinandergesetzt
worden sind; so sei es auoh übel angebracht, die Fortdauer nach dem
Tode, die nach dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens eine blofse
Vermutung sei, kleinen Kindern zu lehren, was nur Aberglauben zu
erzeugen geeignet sei.
Leider war Clifford nur eine kurze Spanne Zeit zu wirken
vergönnt; sein rastloser Arbeitseifer, der selbst dann nooh keine
Schonung kannte, als sioh bereits deutliche Anzeichen eines ernsten
LungenleidenB eingestellt hatten, führte sein frühes Ende herbei. Er
starb 34 Jahre alt 1879 auf Madeira.
Karl Pearson ist der gegenwärtige Inhaber der Cliffordscben
Lehrkanzel auf der Londoner Universität. In seinem Buche „The
grammar of Science“, das vor kurzem in 2. Auflage erschienen ist,
unterwirft er die erkenntnistheoretiscben Grundlagen der exakten
Wissenschaft einer ähnlichen Kritik wie Mach. Sein Standpunkt ist
in mancher Beziehung noch radikaler, ihm speziell eigentümlich ist
die Ausdehnung der erkenntniskritischen Methode auf das Gebiet der
Biologie. Das Buch ist mit einem fröhlichen, wohl nicht überall be-
rechtigten, aber doch auch bei so schwierigen Fragen wohltuenden
Optimismus geschrieben; läfst sioh freilich auch manches nicht so
leicht erledigen, so kann doch der Leser an der Lektüre des Buches
frischen Mut schöpfen, dessen man doch bei Untersuchung so heikler
und oft aussichtslos scheinender Fragen gar sehr bedarf
Das sind die Hauptvertreter der naturwissenschaftlichen Er-
kenntniskritik; sie dürften die einzigen sein, die in bewufster Weise
die Schöpfungen der Naturwissenschaft einer erkenntniskritisohen
Analyse unterworfen und dabei den Blick auf das Ganze nicht aufser
Acht gelassen haben. Das Ergebnis ist eine wissenschaftliche Er-
kenntnistheorie, die für exakte Wissenschaft und Philosophie von
gleich bindender Bedeutung ist Zwei Erkenntniskritiker, die aller-
dings das Gebiet der Physik nicht überschritten haben, möchte ioh
noch besonders hervorheben: Heinrich Hertz und P. Volkmann
in Königsberg. Ersterer entwarf in der berühmten philosophischen
Einleitung zu seinen nachgelassenen Prinzipien der Meohanik eine
Theorie von der Bedeutung physikalischer Hypothesen, die in allen
wesentlichen Punkten mit den Ansichten Machs, auf den er sieb
ausdrücklich beruft, übereinstimmt und sioh nur in der Ausdruoks-
weise, die der in der Physik bisher üblichen nähersteht und strengen
Anforderungen nicht immer ganz genügt, unterscheidet. Entgegen
den Ansichten der zeitgenössischen Physik und übereinstimmend mit
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Mach hebt hier Hertz die subjektive Natur unserer physikalischen
Begriffe hervor, die als Schöpfungen unseres Geistes der Willkür wie
den Gesetzen desselben unterliegen; sie müssen erstens logisch zu-
lässig, zweitens physikalisch richtig Bein, worüber nur die jeweilige
Erfahrung entscheiden kann, und können sich trotzdem noch von
einander unterscheiden, d. h. sie Bind durch diese zwei Forderungen
noch nicht eindeutig bestimmt; eB kommt nun noch eine dritte hinzu,
die der Zweckmäßigkeit, die auf die Auswahl der Theorien von Ein-
fluß ist, ohne aber imstande zu sein, dieselbe eindeutig zu bestimmen;
die Ansichten darüber, welche physikalische Theorie die geeiguetste
ist. können vielmehr verschieden sein und bleiben.
P. Volkmann hat in seinen „Erkenntnistheoretischen Grund-
zügen der Naturwissenschaft“, wie in einigen kleineren Schriften und
in der „Einführung in das Studium der theoretischen Physik“ unter
Zugrundelegung einer abweichenden Terminologie Ansichten ausge-
sprochen, die sioh zum Teil denen von Mach nähern, zum Teil von
denselben allerdings auch nach Berücksichtigung der anders gearteten
Ausdrucksweise verschieden bleiben. Eine Ergänzung zu demselben
bietet er durch die Aufstellung seines Prinzips der „Isolation“ und
„Superposition“, das von Mach akzeptiert wurde.
Die Ansichten dieser auf exakter Grundlage stehenden Philo-
sophen bilden einen in sich recht wohl abgerundeten Komplex, der
allem Anscheine nach berufen erscheint, den so lange ersehnten
Grundstock gemeinsamer allgemein wissenschaftlicher Überzeugungen
zu bilden. Ihm schließen sich noch auf philosophischer Seite die
Anschauungen einer Heihe von Denkern an, die mit der exakten
Wissenschaft in innigem Kontakt stehen, wie insbesondere H. Cornelius
und einige Vertreter der empiriokritischen (Petzold t) und immanenten
Philosophie (Schuppe, v. Leclair, v. Schu be rt - Solde rn, Kei-
bel u. a.i.
Aber auch außerhalb dieses hier näher gekennzeichneten Kreises
wird von naturwissenschaftlicher Seite an der Ausbildung einer eigenen
Philosophie emsig gearbeitet. Eine der Hauptrichtungen auf diesem
Gebiete ist die energetische Schule, deren führendes Haupt, Prof.
W. Ostwald in Leipzig, besondere Vorlesungen über Naturphilo-
sophie hält, die vor kurzem auch in Druck erschienen sind, und eine
eigene Zeitschrift, die „Annalen für Naturphilosophie“ herausgibt.
Eine andere Richtung folgt dem Gedankenkreise von Brentano, wie
z. B. A. Höf ler in Wien. Aberauoh Vertreter der biologischen Wissen-
schaften beginnen sich zum Worte zu melden. So hat z. B. der
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Botaniker Reinke in Kiel ein eigenes naturphilosophisches System
sich ausgedacht, das er in seinem Buche „Die Welt als Tat- ent-
wickelt, und von hervorragender Seite (Nägelsbach, Hertwig,
Branco) ist die Frage naoh der Lebenskraft wieder zur Diskussion
gebracht worden — ein Zeichen von der beginnenden Erkenntnis der
Haltlosigkeit der mechanischen Erklärungsversuche.
Freilich ist nicht zu verkennen, dafs die Versuohe, aus dem
naturwissenschaftlichen Boden heraus ein naturphilosophisches, meta-
physisches System erstehen zu lassen, noch vielfach den Charakter
des Unreifen tragen. Die exakte Wissenschaft kann eben nur dort
einen sicheren Führer abgeben, wo es sioh wirklich nur um Be-
arbeitung wissenschaftlicher Fragen handelt. Und den Komplex der-
selben den Händen zünftiger Philosophen, aber wissenschaftlicher
Laien entrungen zu haben, bildet eine der Haupterrungenschaften
Mache und seiner Oesinnungsgenossen. Man wird fortan wissenschaft-
liche Fragen auch allgemeinerer Natur nur. mehr auf wissenschaft-
lichem Boden zum Austrag bringen können, alles andere aber mit
ruhigem Gewissen unter die Rubrik „haltloses Gesohwätz" rechnen
dürfen.
„Die höchste Philosophie des Naturforschers besteht darin, eine
unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abge-
schlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen-, äufsert sich Mach in
seiner Mechanik. Viele Fragen können heute noch nicht beantwortet
werden; nioht alle Mensohen aber vertragen die Resignation, die in den
obigen Worten gelegen ist Dann entstehen metaphysische Systeme, über
deren Wert oder Unwert ja die Ansichten noch einige Zeit ausein-
andergehen. Eines aber wird inan unbedingt verlangen müssen,
nämlich dafs sie mit den gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft
nioht in Konflikt geraten.
Das gelingt leider den wenigsten philosophischen Systemen der
Gegenwart Auoh die Beschäftigung mit der Naturwissenschaft ist
kein Universalmittel dagegen, wie so manche naiven, mit mehr oder
weniger Pomp unter Berufung auf die Naturwissenschaft sich an-
kündenden Systeme in drastischer Weise lehren. Man kann ein
Naturforscher vom Rufe Uaeckels sein und dooh in ganz unsinniger
Weise Lösung von Problemen suchen und meinen sie gefunden zu
haben, wo dooh nicht einmal ein Verständnis dieser Probleme über-
haupt vorliegt! Ja man kann sogar noch ein gröfserer Naturforscher
sein, kann sich auch mit erkenntnistheoretischen Fragen der Natur-
wissenschaft beschäftigt und ihnen in mancher Beziehung Verständnis
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135
entgegengebracht haben, ohne dooh dem Schicksale zu enlgehen, über
etwas vom eigenen Spezialfachs ferner Liegendes ganz haltloses Zeug
zusainmenzureden — wie man aus Akademieberiohten der letzten Jahre
ersehen kann.
Es ist also immerhin Vorsicht geboten gegenüber philosophischen
Auseinandersetzungen von naturwissenschaftlicher Seite. Gewisse
Anzeichen, wie z. B. der grofse buchhändlerische Erfolg von Haeckels
Welträtseln zeigen, wie wenig dieselbe von Seiten des grofsen Publi-
kums geübt wird, lehren aber aueb wohl mit genügender Deutlichkeit,
mit welcher Begierde in der Gegenwart philosophischen Veröffent-
lichungen aus naturwissenschaftlichem Lager entgegengesehen wird.
Die Empfänglichkeit des Publikums wäre also da, und gewifs
ist der unserem Zeitalter gemachte Vorwurf, als ob es der philo-
sophischen Betrachtung abhold wäre, ganz und gar ungerechtfertigt.
Ganz im Gegenteill „Nie hat es ein philosophischeres Zeitalter in der
Wissenschaft gegeben als das gegenwärtige" — wie Alois Kiehl,
der feinsinnige Philosoph, den bekanntlich die philosophische Fakultät
der W'iener Hochschule als Nachfolger Mache in Vorschlag ge-
bracht hatte, mit Recht bemerkt. Immer mehr und mehr wird die
Wissenschaft philosophisch, zuerst die Mathematik, dann die Physik,
Chemie, Biologie. So möge denn auch bald die Zeit kommen, wo die
Philosophie wissenschaftlich würde!
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Der Robbenfang auf Alaska.
Von U K»t«cher in Budapest.
PnlRlie Vereinigten Staaten Nordamerikas erwarben 1867 von Rufs-
>TT'- land das nachmalige „Territorium Alaska". Die Russen freuten
sich, diese ihnen lästig gewordene Kolonie für ein sobönes
Stüek Geldes (7 Millionen Dollars in Gold!) loggeworden au sein.
Heute ist jenes riesige Gebiet am bekanntesten durch die grofsen
Ooldfunde, welche seit einigen Jahren dort gemacht werden und sehr
einträglich zu werden versprechen. Bis dahin jedoch brachte es nichts
ein, denn die geförderten Mineralien, Kohle, Kupfer, Eisen, waren leib
der Menge, teils der Giite nach unlohnend, und an Landwirtschaft ist
nicht zu denken, weil die fast ewigen Nebel und Regeufalle das Ge-
treide und das Gemüse nicht reifen lassen. Der wichtigste Ausbeu-
tungsartikei des Landes ist aber, wie wir sehen werden, das Seebundfell.
Alaska ist gewifs ein grofses Wunderland, aber trotzdem ist
sehr zu bezweifeln, ob dasselbe jemals ein beliebtes Touristeugebiet
werden wird. Seine Küstenszenerie ist an steiler und zerklüfteter
Grofsartigkeit wohl unübertroffen, begrenzt von Hunderten von pitto-
resken Inseln mit einem Festlande, das sich an vielen Punkten plötz-
lich Hunderte und Tausende von Fufs hoch erhebt, sich aber dann
abplattet, je mehr sich die Küste in der Richtung der Bebringstrafse
nach dem Eismeere zuwendet. Hier trifft man die letzte Spur der
Rocky Mountains, hier liegen im Hintergründe einige prachtvolle Kegel
gleich St. Elias, Fairweather und Wrangei, und grofse Tannenwälder,
Hunderte von englischen Quadratmeilen bedeckend. Eisberge, die nur
von den grönländisohen übertroffen werden, nehmen ihren Weg nach
der Küste gleich mächtigen Strömen. Der Jukonflufs windet sich auf
seinem langen Lauf durch Wüsten, durch Fels- und Bergsohluohten,
um mittels der vieiarmigen Deltas in die Behringsee zu münden und
sich mit seinen Nebenflüssen über das Land zu ergiefsen. Das Ganze
schliefst mit der langen, fadengleiohen Linie vulkanischer Inseln ab.
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187
die sich halbwegs bis zur asiatischen Küste hin erstreoken, gleich dem
gestrandeten Rüokgrat eines grofsen Walfisches.
Für den Jagdliebhaber gibt es hier reichliches Wild, für den
geübten Eisläufer und den kühnen Bergsteiger viel Vergnügen und
Arbeit. Für den Geologen, der die ausgedehnte Eiswirkung auf die
Erddecke an der Quelle beobachten will, dürfte sich schwerlich ein
zweites so ergiebiges und zugängliches Feld finden. Der gewöhnliche
Tourist wird aber vermutlich vorziehen, auf einem der feinen Dampfer
des Stillen Ozeans, welche regelmäßig von San Franzisco auslaufen,
einen fiüohtigen Besuch dem Lande zu machen; aber auch ein solcher
kurzer Besuch wird bei ihm Eindrücke hinterlassen, die nicht so bald
vergessen werden.
Unter den Eingeborenen zeigt sioh eine bedeutende Rassenver-
schiedenheit ln der Nachbarschaft von Sitka, in nordöstlicher Rich-
tung, finden sich Stämme, welche den Nordamerika - Indianern nahe
verwandt sind. An der ganzen Küste des Territoriums und auf den
Inseln, welche das Hauptland umgeben, herrsobt ein Volksstamm,
welcher nach Bau und Spraohe unzweifelhaft von dem Eskimo ab-
stammt Der Unterschied zwischen ihm und dem Grönländischen Stamm
ist nur ein solcher, wie er infolge langer Trennung und Anbequemung
an andere Existenzbedingungen sich zu entwickeln pflegt
Die Alaska- Eskimos oder Innunto sind häufig grofse und kräf-
tige Männer, mehr mongolisch in den Gesichtszügen alB die Grön-
länder und häufig mit einer Mischung von russischem Blut, wie dies
nicht anders zu erwarten ist. Die Eingeborenen auf der anderen Seite
der Aleutischen Inseln sind in Bau und Wesen sehr verschieden von
allen anderen Alaskern; sie sind ohne Zweifel von dem asiatischen
Festlande herübergekommen und zählten wahrscheinlich 10000 zur
Zeit als sioh die Russen zuerst zeigten. Gegenwärtig sohätzt man ihre
Zahl auf höchstens 1400. Eine 6tarke Vermischung mit russischem
Blute ist im aleutischen Volke wahrnehmbar, und alle sind fromme
Mitglieder der griechischen Kirche, zu deren Unterhalt sie unter sich
reichlich beisteuern. Die sehr gemischten Aleutier auf den Pribyloff-
Inseln leben in besonders guten Verhältnissen unter der Verwaltung
der Alaskaner Handelsgesellschaft welohe das ausschliefsliche Recht
auf die Pelzrobben besitzt, welohe auf den Inseln St Paul und St.
George Vorkommen. Die jährliche Tötung von Robben ist hier auf
100000 beschränkt und da den Eingeborenen 40 Cents (166 Pfennig)
für jedes Fell bewilligt werden, so geht daraus hervor, dafs deren
Einnahme beträchtlich sein mufs. ln der Tat werden sie von ihren
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Nachbarn auf dem Fest lande mit neidischen Blicken angesehen. Die
Robbe, von welchen diese Inseln nach Myriaden wimmeln, ist die
eigentliche Pelzrobbe (Callorhinus ursinus) und ein ganz anderes Tier
als die Haarrobbe (Phoca vetulina), von welcher der gewöhnliche, im
Volke herrschende Begriff der Schwimmfüfsler stammt. Die Pelzrobbe
(Callorhinus ursinus), welohe zur Sommerzeit und zum Haar- und
Pelzwechsel in so grofeen Mengen nach diesen Inseln übersiedelt,
dafs es fast unglaublich erscheint, ist von allen SchwimmfUrslem die
am höchsten entwickelte Gattung. Der alljährliche, umwandelbare
Massenzug der Tiere nach diesen kleinen, flachen Inseln ist schwer zu
erklären. Der etagenartige, felsige Charakter dieser Küsten scheint
den Tieren besonders zu behagen.
Die männliohen Robben beginnen im Mai hier anzukommen, und
anfangs Juni treten die Kämpfe um die einzelnen Lagerstätten ein, vom
frühen Morgen bis spät in die Nacht dauern dieselben ohne Unter-
brechung, bis einer oder zuweilen auch beide Kämpfende den Tod
Anden. Der Nachwuchs unter sechs Jahren, wenn auch in der Nähe der
Wassergrenze des Farailiensitzes herumflankierend, läfst sich nicht auf
Kämpfe ein; es sind erst die sechs und sieben Jahre alten Robben, die
ausschwärmen und die älteren Lagerbesilzer zum Kampfe reizen. Eine
junge Robbe ist jedoch in der Regel kein ebenbürtiger Gegner für
eine 15 — 20 Jahre alte, vorausgesetzt, dafs das alte Tier seine Fang-
zähne noch besitzt. Diese Kraftproben zwischen den Senioren und
dem Nachwuchs dauern so lange fort, bis die Lagerplätze verteilt sind.
Nach Ankunft der weiblichen Robben und der Niederlassung über
das ganze Gebiet des Zuchtgrundes bis gegen den 15. Juli spätestens
Anden nur wenige Kämpfe statt. Die Kämpfe zwischen den alten und
volljährigen Tieren werden meistens oder ausschliefslich mit dem Ge-
bifs ausgefoohton. Die beiden Kämpfenden fassen einander mit den
Zähnen, und wenn sie so mit den Fängen Zusammenhängen, kann nur
die größere Stärke des einen oder des anderen bei dem Versuch,
wieder loszukommen, sie trennen. Hierdurch entstehen gewaltige
Wunden, denn die scharfen Sohneidezähne reifsen tiefe Löoher in das
Fell und furchen das Fettpolster bis auf die Rippenbänder auf.
Die Abschlachtung dieser Tiere um ihrer Felle willen ist pein-
lich und ekelhaft. Die Engrossohläohterei beginnt sehr bald nach dem
ersten Eintreffen der männlichen Tiere und ist in wenigen Woohen
beendigt, denn durch jede Verzögerung verschlechtert sioh der Pelz.
Ohne grofse Schwierigkeiten bringen einige Eingeborene, wenn sie
des Morgens zeitig in die Felsen gehen es fertig, einige hundert
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Robben von ihren Gefährten zu trennen und mit einer Geschwindigkeit
von einer halben englischen Meile in der Stunde bis zum eigentlichen
Schlachtplatze zu treiben. Die armen Tiere haben bei der Operation
des Abschlachtens schrecklich zu leiden, viele gehen auch schon auf
dem kurzen Wege zur Schlächterei zu Grunde.
Nachdem 1000 — 2000 Tiere auf diese Weise in Herden zusaminen-
gebraoht sind, werden 100—150 davon abgesondert und nach einer
Stelle getrieben, wo sie, dicht in einen Haufen zusammengedrängt, von
den Leuten getötet werden: unmittelbar nachher wird ihnen das Fell
abgezogen, da andernfalls der Pelz bedeutend an Wert verlieren würde.
Merkwürdig bleibt, dafs trotz dieser grausamen Behandlung die klugen
Tiere immer wieder an dieselbe Stelle zurückkehren und zwar in un-
geschwächter Zahl.
Eis liegt im Interesse der Handelsgesellschaft, alles zu vermeiden,
was die jährliche Pelzernte vermindern könnte, und wenn deren Ver-
treter sich auf die gesetzliche Zahl von jährlioh 100000 Stück be-
schränken, dann ist nicht zu fürchten, dafs der Stamm sich vermindern
werde. Indes ist es ja bekannt, wie sehr sich die Walfische und die
verschiedenen Robbenarten in den Regionen der Eismeere vermindert
haben, und zwar nur infolge der rücksichtslosen Schlächterei. E>eilioh
besteht zwisohen diesen und den Pelzrobben der Unterschied, dafs
die letzteren sich von selbst einflnden, um gefangen und getötet zu
werden, während die anderen über den ganzen arktischen Ozean ge-
jagt werden müssen. Elliot schätzt die Zahl der in der Brutzeit 1874
auf den Inseln St. Paul und St. George vorhanden gewesenen Pelz-
robben auf über drei Millionen.
Aufser der Pelzrobbe werden nooh andere Tiere derselben Fa-
milie gefangen, der Seelöwe, die Haarrobbe und das Walrofs. Die
Seeotter ist ein Tier, welches in den früheren russischen Zeiten zu
Zehntausenden gefangen wurde; heute würde eine Jagdgesellschaft von
Eingeborenen sich glücklich preisen, wenn sie im Tage sechs Stück
bekäme. Wir lassen eine Beschreibung der von den Eingeborenen
angewendeten Art, diese Tiere jetzt zu fangen, hier folgen.
Dreifsig bis vierzig Leute fahren in ihren Bidarkas oder Kanues
nach dem Jagdgrunde und bleiben dort drei Monate. Wenn das Wetter
nioht nebelig und das Meer nicht sehr unruhig ist, fahren diese
Boote in einer langen Reihe hintereinander in regelmäßigen Zwischen-
räumen von 100 Fufs. In dieser Ordnung rudern die Leute ruhig
und langsam über das Wasser, jeder von ihnen mit waohsamem Auge
das vor ihm sich wälzende Wasser durchdringend, um das geringste
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140
Zeichen von der Anwesenheit einer Otter nicht zu übersehen, für den
Fall, dafs das stets sehr schlaue Tier nur ein wenig die Spitze
seines dicken Kopfes zum Atemschöpfen oder zum Beobachten
zeigen sollte.
Plötzlioh wird eine • »tter entdeckt, scheinbar schlafend; nun gibt
der Entdecker ein Zeichen, welches auf der ganzen Linie aufgenommen
wird. Kein Wort wird gesprochen, kein Ruder bewegt; aber das vor-
sichtige, schlaue Tier hat dennoch die Gefahr erkannt und mit kräf-
tigen Stöfsen mittelst seiner (lossigen Hinterbeine geht es in die Tiefe,
während der Jäger seine schnelle Bidarka zu plötzlichem Stillstand
bringt — unmittelbar über dem von dem Verschwinden der Otter noch
bewegten Wasser. Er erhebt sein Ruder hoch in die Luft und hält
es da so, während die anderen sich um ihn herumlegen in einem
Kreise von etwa einem halben Kilometer im Durchmesser. Die Otter
ist niedergegangen und mufs bald irgendwo innerhalb des Gesichts-
kreises wieder heraufkommen; 15—20 Minuten des Untertauchens
zwingen das Tier, wieder an der Oberfläche zu erscheinen. Sobald
seine Schnauze daselbst siohtbar wird, erhebt der es entdeckende
Jäger ein wildes Geschrei und stürzt gegen die Stelle. Das plötzliche
Geschrei hat die Otter wieder nach der Tiefe getrieben, aber zu schnell
und zu plötzlich, als dafs sie entsprechend Luft hätte einatmen können.
Das war aber gerade die Absicht des Jägers gewesen, und er nimmt
eine Stellung an dem Punkte, wo das Tier zuletzt auftauobte, hebt Bein
Ruder in die Höhe, und der Kreis wird aufs neue gebildet In dieser
Weise wird die Otter zwei bis drei Stunden lang gezwungen, zu tauchen
und wieder zu tauchen, ohne einen Augenblick Zeit zum vollen Atmen
zu haben, bis das Tier schliefslich halb erstiokt ein leiohtes Opfer
seiner Feinde wird. Während dieser ganzen Zeit haben die Aleuten
fortwährend ihre Speere nach dem Tiere geschleudert, sobald sie ihm
nahe genug kamen. Derjenige, dem es gelingt, das Tier richtig zu
treffen, ist der glückliche Eigentümer desselben. In dieser Weise geht
die kleine Flotte weiter, zuweilen recht glücklioh in der Begegnung
des begehrten Wildes; aber es vergehen zuweilen auch Wochen, ohne
dafs es zu einer Kreisbildung kommt
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Parallaxe des Sterns B. D. 37° 4131. In A. N. 3590 hatte der
verstorbene Direktor der Sternwarte in Güttingen, Prof. Schur, be-
richtet, dals er bei einer neuen Parallaxenbetimmung des uns zweit-
nächsten Sternes 61 Cygni gefunden habe, dafs einer der von ihm als
Anschlufsstern benutzten Sterne, nämlich BD 37 0 4131 eine Parall-
axendifferenz gegen 61 Cygni von O.'O besitze, mit anderen Worten,
uns ungefähr ebenso nahe sei, wie der bekannte Doppelstern im
Schwan. Das Resultat schien zwar nicht besonders gesichert, da die
Messungen erhebliche Abweichungen unter sieb zeigten, auch mufste
es befremdend erscheinen, dafs der fragliche Stern nicht die geringste
Eigenbewegung zeigte. Hätte sioh also die grofse Parallaxe (Schur
gab sie zu 0.“ 6 an) bestätigt, so mufste der Stern mit unserer Sonne
ein System bilden, dessen Komponenten parallel und gleich schnell
im Raume sioh bewegten, wie wir solche ja mehrfach unter den Sternen
kennen. Am bekanntesten ist das System der 5 Sterne fl, 7, i, s, ; des
grofsen Bären. Die Sonne wäre danach ein Doppelstern gewesen,
wie so viele unter den uns zunächst umgebenden Sternen. Prof.
Schur selbst war es nicht mehr möglioh, durch eigens angestellte
Messungen das Resultat zu sichern. Herr Osten Bergstrand in
Upsala hat dann auf photographischem Wege diese Untersuchung
unternommen. Auf 13 Platten, die zwischen dem 13. September 1899
und dem 11. August 1900 aufgenommen waren, wurde der verdächtige
Stern gegen 6 Nachbarsterne in rechtwinkligen Koordinatendifferenzen
ausgemessen, und für die Abhängigkeit derselben von der hypothe-
tischen Parallaxe wurden 2X6X13 = 156 Bedingungsgleichungen
erhalten, welche im Mittel für die gesuchte Parallaxe nur den Wert
0.' 04 mit einem wahrscheinlichen Fehler von dem fünften Teile dieser
Oröfse ergaben. Danach soheint BD. 37° 4131 zwar eine mefsbare
Parallaxe zu besitzen, aber keineswegs von der behaupteten Oröfse,
sodafs alle oben gezogenen Sohlufsfolgerungen hinfällig sind. Rp.
t
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Glasgefäfse von hoher Widerstandsfähigkeit sind die von
Heraus in Hanau fabrizierten Gefiirse aus geschmolzenem Quarz.
Ihre Herstellung ist mit ziemlich erheblichen Schwierigkeiten verknüpft.
Zum Sohmelzen des Quarzes ist eine Temperatur von 2000° erforder-
lich; man mufs daher Tiegel aus reinem Iridiummetall anwenden, dessen
Sohmelzpunkt bei 2450° liegt (Platin schmilzt schon bei 1775°). Bei
der Bearbeitung des geschmolzenen Materials werden zum Betrieb des
Knallgasgebläses grofse Mengen von Sauerstoff gebraucht; beim Ver-
blasen der Gefäfse mufs der Arbeiter grofse Aufmerksamkeit und
Ausdauer an den Tag legen. Durch die Bildung von Untersalpeter-
säure infolge der teilweisen Vereinigung von Sauerstoff und Stickstoff
der Luft bei der in Betracht kommenden kolossalen Temperatur wird
seine Gesundheit angegriffen. Dies alles hat natürlich zur Folge, dafs
die Quarzgefiifse sehr teuer sind (der Preis für ein Gramm beträgt
oa. 1 Mark). Dafür sind die Vorteile, die sie bieten, auch eminent
grofse. Der Hauplvorzug der Quarzgefäfse ist ihre vollkommene Un-
empfindlichkeit gegen Temperalurschwankungen. Man kann hell-
glühende Quarzgefäfse ohne weiteres in kaltes Wasser werfen; dies
kommt daher, dafs der Ausdehnungskoeffizient des Quarzes nur etwa
'/io von dem des Glases beträgt. Aus demselben Grunde lassen sich
Gefäfse, die irgendwo durch Anstofsen ein Loch bekommen haben,
ohne weiteres durch Einsetzen von kleinen Stücken flicken.
Die Durchsichtigkeit des Quarzglases erlaubt es, die sich inner-
halb abspielenden Vorgänge zu beobachten; seiner Durchlässigkeit für
ultraviolette Strahlen (im Gegensatz zu Glas) wegen eignet es sich
vorzüglioh für Vacuumröhren. Auch zur Herstellung von Thermometern
dürfte es seiner geringen Ausdehnungsfähigkeit wegen sehr gut
brauchbar sein, ln Form von Schmelztiegeln für chemische Zwecke
zeichnet sich Quarz vor Platin dadurch aus, dafs er auch im glühen-
den Zustande keine Flammengase durchläfst, ein Umstand, der für
viele quantitative Analysen von gröfster Bedeutung ist. Beim Arbeiten
mit Quarzgefärson mufs man sich hüten, sie vor dem Erhitzen mit den
Fingern anzufassen, da selbst die geringen Mengen von Alkali, die
sich auf der Haut befinden, Entglasungserscheinungen hervorrufen. —
Falls die Quarzglasindustrie sich so weiterentwickelt, wie sie ange-
fangen hat, falls vor allem durch Vervollkommnung der Fabrikations-
methode der Preis geringer wird, ist es zweifellos, dafs die Quarz-
gläser durch ihre eminenten Vorzüge besonders im Laboratorium alle
übrigen Glassorten mit Leichtigkeit verdrängen werden. M. v. P.
t
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143
Schmelzpunktsbestimmuog bei hohen Temperaturen. Auf dem
V. internationalen Kongrefs für angewandte Chemie führte Herr Prot
Hempel eine Methode vor, die es gestattet, Schmelzpunktsbestimmungen
bei hohen Temperaturen auszuführen. Die Substanz, welche untersucht
werden soll, befindet sich in einem ausgebohrten Block aus Rügener
Kreide, welcher 4 Öffnungen hat, zwei seitliche und zwei nach oben
führende. Die zwei seitlichen sind durch die Zuleitungen des elektri-
schen Stromes (Kohle) verschlossen, duroh die dritte wird ein dünner
Kohlestift so gesteckt, dafs er lose auf der Substanz ruht Dieser
Stift löst beim Heruntersinken einen elektrischen Kontakt aus, duroh
den ein Läutewerk zum Ertönen gebracht wird. Hierdurch wird also
dem Beobachter angezeigt, wenn die Substanz im Liohtbogen zu
schmelzen anfängt. Die Temperatur wird photometrisch aus der
Helligkeit der Oberfläche des Schmelzflusses bestimmt. Dazu befindet
sioh über dem zweiten nach oben führenden Loch in dem Kreideblock
ein Spiegel, der das von der Fläche ausgestrahlte Lioht auf einen
Photometersohirm wirft Hempel mafs vermittels dieser Methode
Schmelzpunkte bis 2200 0 (Magnesia), öanz abgesehen von dem
wissenschaftlichen Interesse dürfte das Hempelsche Verfahren sehr
wertvoll für technische Zwecke sein, denn auch wenn man keine
Temperaturmessungen machen will, kommt es oft darauf an, den Zeit-
punkt, an dem eine Masse in Flufs gerät, genau und sicher zu er-
kennen. M. v. P,
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Weiler: Lehrbuch der Physik in 4 Bänden (Mechanik, Kalorik, Optik,
Magnetismus u. Elektrizität). Verlag Ton J. F, Schreiber in MÜncheu.
Im ganzen 593 Seiten.
ln einer Beziehung steht Weilers Pbysikbuch unter allen LehrbGchem
ähnlichen Inhalts einzig da: Es ist bunt illustriert. Das Experiment ist gut
gelungen und dürfte Nachahmung finden. Durch die Kolorierung wird dem
Leser die Vorstellung der beschriebenen Apparate bedeutend erleichtert, wenn
sie kompliziert sind, und auch die schematisch einfachen Skizzen prägen sich
dem Gedächtnis leichter ein. Einer guten Illustration sollte aber unbedingt
auch eine gute Darstellung ebenbürtig zur Seite stehen. Dafs dies der Fall sei,
kann man bei dem vorliegenden Bu<*h mit dem besten Willen nicht behaupten.
Der Verfasser sagt in der Einleitung zu dem Bande über Elektrizität, er habe
sich bemüht, den Stoff scharf zu gliedern. Das hat er auch getan und zwar
so scharf, dafs der Text zu kurz gekommen ist. Die Einteilung leidet au einer
grofsen Willkürlicbkeit, Z. B. S. 67 der Optik: Der photographische Prozefs:
a) Negativ -Prozefs, b) Positiv -Prozefs, c) Wichtigkeit der Photographie,
d) Photographieren in der Dunkelkammer mittels eines feinen Loches. Und
so weiter — in jedem Paragraphen ein anderes Einteilungsprinzip, wenn man
das ein Prinzip nennen will. Derngernäfs fohlt zwischen den Abschnitten stets
der Übergang. Der Ausdruck ist oft schwer verständlich, oft werden zur Er-
klärung eines Vorganges Analogieen zu Hülfe genommen, die schworer ver-
ständlich sind als der Vorgang selbst. — Wenn man so das Weilerache Buch
nicht gerade für den Zweck empfehlen kann, für den es der Verfasser bestimmt
hat, d. h. als Lesebuch für Lernende (für Schulen ist es wohl auch viel zu
umfangreich), so wird es doch dem Lehrer, besonders dem jüngeren, an einer
höheren Schule eine willkommene Stütze beim physikalischen Unterricht sein.
Die meisten jungen Lehrer, welche Physik unterrichten, sind von Haus aus
Mathematiker und haben als sotcho eine aufserordentlich geringe Übung im
selbständigen Experimentieren, besonders wenn ihnen, wie das in einer Schule
nicht anders zu erwarten ist, keine sehr glänzenden Hülfsmittel zur Verfügung
stehen. Jeder Lehrer aber, der das Weiler sehe Buch besitzt, kann sich an
der Hand der anschaulichen Figuren selbst diesen oder jenen Apparat zu-
sammenseteen, der in der Sammlung fehlt; er übt sich, mit einfachen Mitteln
elegante Versuche auszuführen. Der gebotene Stoff ist exporimeutcll und
theoretisch reichhaltig genug, um jedem Schulplan gerecht zu werden; der Text
ist für den Lehrer, der die Materie beherrscht, hinreichend. Dr. M. v. P.
Verlag: Hamann Paetel In Berlin. — Druck: Wilhelm Gronau'« Ruebiruckerel in Berlin - Sehöneberf
Fflr die Redaetion verantwortlich : Dr P. Sch wahn in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt dieeer Zeitschrift anlereagt.
Überaetxnng Brecht Vorbehalten.
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Lichtelektrische Übertragung der Sprache.
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Drahtlose Telephonie.
Von Dr. B, Donath in Berlin.
c<^Vn/ienn e,n8'&e Arbeit die Minuten zu Sekunden macht und er-
jgrgjf eignisreicho Zeiten verkürzt erscheinen, so müssen die letzten
Jahre im Fluge dahin gegangen sein. Welch eine Fülle
neuer Erscheinungen! Mehrtausendpferdige Dampf- und Dynamo-
maschinen, Ozeandampfer mit Personenzuggeschwindigkeit, automati-
sche Fernsprechämter, die Entdeckung der Röntgenstrahlen und der
rätselhaften radioaktiven Substanzen, automobile Strafsenwagen, die
drahtlose Telegraphie, ferner die Bemühungen, die Farben der Aufsen-
welt duroh ein mechanisches Verfahren zu reproduzieren, die Ent-
deckung der Edelgase, die Energieübertragung auf grofse Entfer-
nungen und die elektrischen Schnellbahnversuche — alles dies und
noch vieles andere mehr drängt sich zu einem sinnverwirrenden
Durcheinander in dem letzten Jahrzehnt zusammen. Daboi wird die
Erde für unser subjektives EmpSnden sichtlich kleiner. Was unseren
Vätern in weiter Ferne lag, scheint nun in greifbarer Nähe. Städte
rücken aneinander, Weltteile werden zu Ländern, der stolze Ozean
zum Meere, die Meere zum Teich. Das Wort umläuft den Planeten
in wenigen Sekunden; Zeit und Raum haben ihre alte Bewertung
verloren.
Und doch ist schliefslich der Fall des Steines zur Erde nicht
weniger merkwürdig und im Grunde nicht erklärlicher als dio Ver-
flüssigung der Luft, die Fähigkeit der Pflanze, Blüten zu treiben, nicht
weniger rätselhaft wie das prasselnde Funkenspiel eines Hochspan-
nungs-Transformators. Aber die Laienwelt, und das ist das Publikum
zu 99 pCt., will das Schaustück, das wissenschaftliche Feuerwerk,
kurz etwas von Sensation nach seiner Meinung, und diesem Ver-
Himmel und Krda 1904 XVI. 4. 10
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14t;
langen mute man ofl mehr als nötig nachgeben sehr zum Schaden
einer wirklich ehrlichen und einsichtsvollen, in den richtigen Grenzen
sich bewegenden Popularisierung der Wissenschaft; der goldene
Geistesschutz blieb für das Volk größtenteils ungehoben.
Mit wissenschaftlicher und technischer Sensation ist also das
Publikum ganz nach seinem Geschmack versorgt worden. Bei den
Röntgenstrahlen kam der Sinn Tür das Mysteriöse, bei den Sohnell-
bahnversuohen etwa die Rekordsucht auf ihre Rechnung; verstanden
und nach ihrem technischen wie wirtschaltlichen W'ert richtig einge-
sohiilzt wurden diese Erscheinungen nur von wenigen. Oer beste
Vortrag für jedermann über die eminente wissenschaftliche Bedeu-
tung der Röntgenstrahlen ohne Reproduktion der gespensterhalten
Knochenschatten, eine noch so gute, gemeinverständliche Darlegung
über den technischen Gewinn aus den Sohnellbahnversuohen ohne
kinematographische Darstellung dos sausenden Wagens und die übli-
chen hellseherischen Blicke in die Zukunft würde zum zweiten
Male wahrscheinlich vor leeren Bänken gehalten werden. Immer das
alte Lied und das alte Leid. Als seinerzeit der vortreffliche Simon in
einen geistvollen Vortrag zum Besten der Lambertsohen Nordpol-
Expedition hielt, braohte er kaum 30 Mark zusammen, während ein
zu demselben Zwecke und am gleichen Abend veranstalteter Ball
einen Reinertrag von über 1000 Mark hatte.
Die drahtlose Telephonie — obgleich sie effektvoll genüg ist —
hat nicht ganz die verdiente Beachtung im Publikum gefunden. Wenn
man beute selbst den Gebildeten danach fragt, so wird er kaum
etwas anderes zu sagen wissen, als dafs die Sache jedenfalls so
ähnlich sei wie die drahtlose Telegraphie. Und damit bat er noch
nicht einmal recht. Die drahtlose Telephonie hat mit elektrischen
Wellen gar nichts zu tun; sie beruht der Hauptsache nach auf dem
höchst merkwürdigen Verhalten des Selens, sein elektrisches Leitungs-
vermögen mit der Stärke der Beleuchtung zu ändern. Wir kommen
darauf weiter unten noch ausführlich zurück. Vorerst mögen einmal
Versuche besprochen sein, die ohne Verwendung elektrischer Wellen
auf eine drahtlose Zeicheniibertragung hinzielen und die, namentlich
in physikalischer Beziehung, vielleicht noch interessanter sind als die
Selenexperimente selbst.
Im Jahre 1887 machte unser grosser Landsmann Heinrich
Hertz eino sehr beachtenswerte Entdeckung. Er fand nämlich, dafs
ein elektrischer Funke, wie er etwa zwischen den beiden Elektroden
eines Funkeninduktors entsteht, von einem anderen Funken aus der
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147
Ferne in absonderlicher Weise beeinflußt wird, solange beide Funken,
wir möchten sagen, einander sehen können. Tritt irgend ein Hin-
dernis, etwa eine Pappscheibe, zwischen die Funken, so hört die Beein-
flussung auf, und zwar sobald das Hindernis in die Gesichtslinie gelangt.
Wollte man das Ilertzsche Experiment in seiner klassischen Form
auf dem Experimentiertisch aufbauen, so hätte es etwa folgendermaßen
auszusehen: Zwei Funkeninduktoren I und II (Fig. 1) von möglichst
gleicher Gröfsc befinden sich in bezug auf ihre Primärwiokelung in
Hintereinanderschaltung und werden durch ein und denselben Unter-
brecher U betätigt. Diese Vorsichtsmaßregel ist unbedingt nötig, da
andernfalls ein absolut gleichzeitiges Auftreten beider Funken, dio
Klg. I.
einander ja beeinflussen sollen, nicht zu erwarton wäre. Der Abstand
der Funkeninduktoren kann etwa */a m betragen; ist er viel größer,
so wird das Experiment unsicher. Arbeiten beide Instrumente, so
tritt an den Elektroden bei A und B die bekannte rasche Aufein-
anderfolge von Funken ein. Nun verfährt man weiter folgender-
maßen: Man hält einen Pappschirm S zwischen die beiden Funken-
strecken und zieht dann die Elektroden bei B so weit auseinander,
bis die Entladungen eben aufhören. Der erforderliche Abstand läßt
sich bald herausprobieren. Damit ist alles für die Vorbereitung des
Versuches getan. Entfernt man nun den Schirm, so tritt das Funken-
spiel bei B sofort wieder auf; es erlischt, sobald der Schirm da-
zwischentritt, und dieses Spiel läßt sich beliebig oft wiederholen.
Ohne Frage beeinflußt also der Funken bei A die Entladung bei B
in förderndem Sinne. Visiert der aufmerksame Beobachter über die
Funkenstrecken hin, so sieht er allemal dann den Funken bei B er-
löschen, wenn das Hindernis in die Oesichtslinie tritt. Zweifellos gi-
lt)»
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148
sohieht also die Beeinflussung durch eine von A ausgehende Strahlung,
über deren Charakter man sich bald klar werden kann. Hertz
konnte nachweisen, dafs es sich weder um ein elektrisches Phänomen,
noch um eine bisher unbekannte Wirkung des von dem Funken A
ausgehenden Lichtes handelt Was die Entladung bei B begünstigt,
sind vielmehr Ätherwellen von so geringer Ausdehnung, dafs sie vom
Auge als Licht nicht mehr empfunden werden. — Uns sllen ist
die scheidende und analysierende Kraft eines Prismas bekannt.
Fällt weifses Licht auf ein Glasprisma, so wird es zum spektralen
Farbenfäoher auseinandergelegt Was vor dem Prisma vereinigt
den Eindruck Weifs hervorrief, löst sich hinter dem Prisma in ein
Nebeneinander der Farbenbestandteile auf. Aber diese Farben-
skala hat noch eine ganz besondere Bedeutung; sie enthält die Farben-
komponenten des weifsen Lichtes zugleich geordnet nach ihren Wellen-
längen und Sohwingungszahlen, vom tiefen Rot beginnend über Gelb,
Grün, Blau bis zum tiefen VioletL Die violetten Farbenstrahlen haben
eine Wellenlänge von nur etwa 0,0004 mm. Damit ist aber das Spek-
trum noch keineswegs zu Ende; es hört nur auf, ein Lichtspektrum
zu sein, da unser Auge noch kürzeren Wellen gegenüber versagt.
Jenseits des Violett, im sogenannten „Ultraviolett“, folgt noch eine ganze
Gruppe von (natürlich unsichtbaren) Strahlen, deren Existenz sich aber
z. B. auf der photographischen Platte verrät. Die allerkurzwelligsten
von ihnen rufen das Hertzsche Phänomen hervor. Dafs die Licht-
strahlen die Erreger nicht sind, kann man auf sehr einfache Weise
dartun. Man braucht nur eine Glasplatte zwischen die Funken-
strecken zu halten, um den gleichen Effekt wie mit einem un-
durchsichtigen Sohirm hervorzurufen. Glas ist offenbar für Licht-
strahlen durchlässig, für ultraviolette Strahlen aber so gut wie un-
durchlässig. Quarz dagegen behält z. ß. seine Durchlässigkeit auch
für kurzwellige Strahlen.
Jede Lichtquelle mit grofsem Reichtum an ultravioletten Strahlen
läfst sich zu dem Versuch verwenden; es braucht gerade kein Funke
zu sein. Magnesiumlicht und elektrisches Bogenlioht tun dieselben
Dienste, eine Kerze versagt dagegen fast ganz. Im Grunde spielt
sich der Vorgang immer so ab, dafs zunächst durch die Bestrahlung
negative Ladung freigemacht wird, ein Faktum, dem Hertz bereits
volle Beachtung schenkte. Man kann mithin den lichtelektrisohen
Entladungsversuch auch ohne die kostspieligen Induktoren zeigen, in-
dem man Licht auf den womöglich aus amalgamiertem Zink beste-
henden Knopf eines negativ geladenen Goldblattelektroskopes fallen
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149
läfst. Die Blättchen sinken sofort zusammen, sie halten jedoch inne,
wenn eine Glasscheibe in den Gang der Strahlen tritt.
Typisch und höchst charakteristisch wird das Hertzsohe Phä-
nomen aber erst in verdünnten Gasen. Sind beide Elektroden der
beeinflufsten Funkenstrecke — wir wollen sie die passive nennen — •
in eine nicht allzu hochgradig evakuierte Röhre eingeschlossen und
werden die Elektroden in geeigneter Weise elektrisch aufgeladen, so
tritt ein Funkenstrom schon bei relativ schwacher Bestrahlung fast
augenblicklich auf. Selbstverständlich darf aber die Vakuumröhre
nicht gänzlich aus Glas bestehen; denn Glas ist ja für die ultravio-
letten Strahlen ein undurchsichtiger Körper. Man verschliefst die
Röhre meist mit einer Quarzplatte oder Quarzlinse.
Zickler gebührt das Verdienst, den Hertzschen Versuch für
eine Telegraphie mit ultravioletten Strahlen ausgebildet zu haben.
Kig. 2.
Prinzipiell hat er wenig neues hinzugefügt, in Einzelheiten zeugen aber
seine Einrichtungen wie seine Versuche von grofsem Geschick und
zäher Ausdauer in der Erreichung des Möglichen. Wir wollen an der
Hand einer generellen Schaltungsskizze versuchen, die Anordnung
seiner Apparate wiederzugeben. 1 (Fig. 2) ist die Aufgabestation, be-
stehend aus einer starken elektrischen Bogenlampe mit einem Quarz-
kondensator L„ der die Strahlen parallel macht und in die Ferne
schickt Die Empfangsstation (.II) wird durch die Zicklerröhre Z re-
präsentiert. Sie enthält in wenigen Millimetern Abstand voneinander
zwei Elektroden e, beide aus Platin, jedoch von verschiedener Ober-
fläche, die eine kugelig, die andere in einer rautenförmigen, nach
vorn geneigten Platte endigend. Durch die Quarzlinie Lj werden die
einfallenden Strahlen auf die Rautenfläohe konzentriert Ist der
Funkeninduktor j, der die Röhre betreibt, richtig eingestellt und mit
Strom passend belastet, so setzt der Funkenstrom zwisohen den Elek-
troden ein, sobald die Raute bestrahlt wird. An und für sich genügt
diese Einrichtung bereits vollständig zu einer Zeichengebung; denn
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160
man könnte sich denken, dafs durch zeitweise Abblendung des Strahles
auf der Sendestation mittelst des Schirmes g kurze und lange Zeichen
nach Art des Morsealphabets gegeben und von einem Beobachter auf
der Empfangsstation am Rh.vthmus des Funkenspieles erkannt werden.
Zur Demonstration eignet sich der Versuch in dieser Form nicht, da
nur wenige die Entladung zugleich sehen können. In solchen Fällen
habe ich bei Vorträgen in der Urania mit der Zioklerröhre eine
Geifslerröhre r in denselben Stromkreis geschaltet, die dann bei jeder
Entladung hell aufleuchtet.
Der gröfste und sofort ins Auge fallende Vorzug der Zickler-
schen Telegraphie mit ultravioletten Strahlen ist die absolute Geheim-
haltung der Depesche. Das funkentelegraphisohe Wort bleibt allen
Abstimmungsversuohen zum Trotz und bei allen gegenteiligen Ver-
sicherungen in des Wortes eigentlichster Bedeutung noch immer vogel-
frei; die rein optischen Signale mit dem Scheinwerfer, oder bei Tage
mit dem Heliographen laufen dagegen Gefahr, von dem Kundigen ent-
ziffert zu werden; was in dem Lichtstrahl zwisohen den Zicklerschen
Stationen vor sich geht, wird niemand gewahr. Denn die ultravioletten
Begleiter des elektrischen Kohlenlichtes sind unsichtbar, jede Glas-
scheibe kann zur Abdeckung und Zeichengebung dienen, während der
Lichtstrahl für das Auge kaum merklich verändert wird, auch läfst
sich der Strahlenkegel so genau auf einen bestimmten Punkt richten,
dafs ein seitliches Abfangen der Depesche aufser dem Bereiche der
Möglichkeit liegt.
Wenn man trotz dieser Vorzüge von der Telegraphie mit ultra-
violettem Licht nur wenig gehört hat, so ist dies wohl begründet.
Nicht als ob man sioh an der Vergänglichkeit der Zeichen stiefse.
Es ist ein Leichtes, das Funkenspiet in ein lautes akustisches Signal,
ja selbst mit Hilfe des Morseapparates in gedruckte Zeichen zu ver-
wandeln. Es bietet auch keinerlei Schwierigkeit, eine passende Geber-
blende aus Glas zu konstruieren, die das Telegramm in exaktester Weise
aufgibt. Man könnte sogar selbst daran denken, mit Hilfe der Zickler-
schen Anordnung das gesprochene Wort zu übermitteln, — nur eines
kann man leider nicht, und gerade das ist von prinzipieller Bedeutung:
den Abstand der Stationen auf das praktisch erwünschte Mafs bringen.
Während nämlich die Luft fiir Lichtstrahlen leidlich durchlässig ist,
wirkt sie auf die ultraviolette Strahlung schon in verhältnismäfsig ge-
ringen Schichtendicken wie ein trübes, stark absorbierendes Medium,
und zwar auch dann, wenn sie optisch ganz klar erscheint. Wenn
Zickler noch bis auf etwa 1 '/•> km leserliohe Zeichen abgeben konnte,
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151
so mufs man in der Tat seiner Ausdauer und seinem Geschiok alle
Achtung tollen. Anfangs gelangen die Versuche nur auf etwa 50 m.
Von der Absorptionsfähigkeit der Luft für ultraviolette Strahlen kann
sich jeder überzeugen, der elektrische Bogenlampen aus der Ferne
beobaohtet. Er wird dann sicher bemerken, wie ihr ausgesprochen
bläuliches Licht ganz verschwindet und, was den Farbenton anbelangt,
sich kaum noch von dem einer Gasglühlichtlaterne unterscheiden
läfst. Wer einmal den neuen Helgoländer Leuohtturm aus grofser Ent-
fernung beobaohtet hat, wird sicher auf alles andere, nur nicht auf
elektrisches Bogenlicht geraten haben. Denn der am Horizont wan-
dernde Schein sieht eher rötlich als weifs oder gar bläulich aus.
Für eine rein optisohe Zeichengebung ist diese Filterfähigkeit
der Luft kaum von Bedeutung, da ja ohnehin die kurzwelligen Strahlen
nur wenig auf das Auge einwirken; die Zioklersche Telegraphie
steht und fällt jedoch mit diesem Umstand, denn sie ist allein auf
die ultravioletten Strahlen angewiesen. Die Luftteilchen sind offenbar
Hindernisse für diese Strahlung und gleichsam Klippen in der Licht-
wellenbrandung. Wie eine Wasserwelle, wenn sie grofs und ausge-
dehnt genug ist, um den Felsen zusammenschlägt oder ihn überspült
und dann weitereilt, dagegen zerschellt, wenn sie nur kurz ist, so
kommen die roten Lichtwellen am ehesten über die Luftklippen fort,
während die kürzeren blauen oder gar violetten und ultravioletten an
ihnen zugrundo gehen. Man hat ultraviolette Strahlen von etwa nur
zwcitausendstel Millimeter Länge nacbgewiesen, die nicht einmal mehr
eine Hand breit Luft zu durchdringen vermögen.
Gerade wie die lichtelektrisohe Telegraphie benutzt auch die
drahtlose Telephonie das von einer starken Lichtquelle ausgehende
Strahlenbündei und dessen Intensitätsschwankungen zur Zeichenüber-
mittelung. Aber sie hat vor der Zicklerschen Telegraphie zunächst
den großen Vorzug, sich der durchdringungsfähigen Lichtstrahlen
selbst bedienen zu können, ohne jedoch die Intensitätsschwankungen
für das Auge sichtbar werden zu lassen. Die Sprechströme und die
durch sie veranlafsten Veränderungen in der Lichtstärke sind viel zu
frecjuent, als dafs das Auge ihnen zu folgen vermöchte. Sie sichern
die Geheimhaltung des Gesprächs vollkommen. Freilich stehen diesen
Unleugbaren Vorteilen auch Nachteile gegenüber, von denen weiter
Unten die Rede sein wird.
Die drahtlose Telephonie beruht auf den in vieler Beziehung
höchst merkwürdigen Eigenschaften de6 Selens. Das Selen ist zwar
cJem Schwefel chemisch verwandt, besitzt aber gleich dem Kohlenstoff
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152
und dem Phosphor eine Proteusnatur. Es tauoht in zwei verschie-
denen Gestalten suf. Die eine Form — und zwar die gewöhnliche
— zeigt den interessanten Körper in einem spröden, glasigen Zu-
stande; seine Farbe ist fast schwarz, die elektrisohe Leitfähigkeit so
gut wie Kuli. Sobald jedoch das glasige Selen eine Zeitlang auf etwa
1(10° C. erwärmt wird, verändert es sein Aussehen und seine Eigen-
schaften. Es ist nun dunkelgrau, graphitähnlioh und ein leidlich guter
Leiter der Elektrizität; aber es hat noch eine ganz besondere Eigen-
schaft; es läfst den Strom bei Tage leichter hindurch als bei Nacht,
oder, mit anderen Worten, sein Widerstand ist von der Intensität der
Beleuchtung abhängig. Diese merkwürdige Tatsache wurde im Jahre
1873 von dem Elektriker Willoughby Smith, nach andoren von
dessen Gehilfen May rein zufällig entdeckt, als es sich um die Her-
stellung sehr hoher Leitungswiderstände handelte. Man kann das
Verhalten des Selens etwa folgendermaßen zeigen. Eine Tafel aus
kristallinischem Selen (s. Fig. 3a) steht einerseits mit einer galvani-
schen Batterie, anderseits mit einem Stromstärke-Meßinstrument (in
der Mitte der Abbildung) in Verbindung. Wenn dieses Meßinstrument
nicht außerordentlich empfindlich ist und nioht etwa schon bei einer
Stromstärke von nur Viooo Amp. einen merkbaren Ausschlag zeigt, so
wird es zunächst fast gar keine Angaben machen, denn die Selentafel
besitzt einen ungemein hohen Widerstand, vorausgesetzt, daß sie im
Dunkeln steht. Fällt nun irgend ein Lichtstrahl auf das Selen — z. B.
von der Kerzenflamme K (Fig. 3b) — , so verändern sich die Verhältnisse
auf der Stelle. Der Zeiger des Meßinstrumentes läuft über die Skala hin
und meldet eine erhöhte Stromstärke. Ohne Frage ist also der Lei-
tungswiderstand des Selens durch die Bestrahlung vermindert worden.
Untersucht man verschiedene Liohtarten, so wird man blaues und vio-
lettes Licht weniger wirksam finden als rotes und gelbes, Strahlen also,
die zugleioh eine Wärmewirkung ausüben. Mit dem Beginn der Belioh-
tung sinkt der Widerstand fast augenblicklich, aber er fällt nooh eine
kurze Zeit, wenn die Belichtung sohon aufgehört hat. Diese Trägheit
des Selens und seine begrenzte Fälligkeit, sehr schnellen Intensitäts-
schwankungen der Beleuchtung ausgiebig zu folgen, sind sein Un-
glück; sie haben viele auf den seltsamen Körper gesetzte Hoffnungen
zu nichte gemacht.
Was mag nun wohl im Selen bei der Belichtung vor sioh
gehen? Offenbar handelt es sioh um einen Vorgang an der Ober-
fläche, denn das Licht dringt in den grauschwarzen, glänzenden Körper
kaum ein. Sollten etwa hier noch Spuren der alten, glasigen Selen-
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153
form zurückgeblieben sein und vorübergehend in den kristallinischen
Zustand zurückverwandelt werden, ein Prozefs, der sich natürlich bei
seinen engen Grenzen und der Geschwindigkeit, mit der er sich in
vielen Pallen abspielt, dem forschenden Auge ganz entzieht? Oder
sollten etwa gewisse Beimengungen des Selens für den Ablauf der
Erscheinung viel wichtiger sein, als man anfangs annahm? Auch
diese Vermutung trifft einstweilen noch, gerade wie die erste, ins Un-
gewisse; vielleicht ist keine von ihnen richtig. Hier eröffnet sich in
der Tat der wissenschaftlichen Forschung ein interessantes Gebiet.
Auch das Selen sollte einmal das Allerweltsmittel Tür allerhand
Probleme sein; manche sind noch heute dieser Meinung. Eine Schar
F'g 3.
von mehr oder minder professionsmäfsigen Erfindern fiel über den
neuen Stoff her und verarbeitete ihn zu allerhand Millionenprojektcu.
Keines von ihnen war realisierbar, auch nicht die verständigeren, so
z. ß. das Problem, mit Hilfe des Selens lebendige Abbildungen der
Natur, wie sie auf der Mattscheibe des photographischen Apparates
zu sehen sind, telegraphisch in die Ferne zu übertragen. Dieser
Versuch scheiterte hauptsächlich an der Trägheit wie an gewissen
Ermüdungserscheinungen des Selens. Trotzdem ist und bleibt das
Selen für gewisse Zwecke ein wertvoller Körper. So könnte es viel-
leicht — eine geeignete Konstruktion aller Nebenapparate vorausge-
setzt — dazu dienen, einzelne Laternen oder ganze Gruppen bei be-
ginnender Dämmerung oder dichtem Nebel anzustecken und beim
Morgengrauen zu löschen, Blickfeuer an weit vorgelagerten Bojen zu
unterhalten oder doch über Tag auszuschalten, Lichtquellen miteinander
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154
zu vergleichen und anderes mehr. Auch für die drahtlose Telephonie
ist es in gewissen Grenzen geeignet.
Die drahtlose Telephonie ist weit älter als die drahtlose Tele-
graphie. Bald nachdem Graham Bell das Telephon im Jahre 1877
zum zweiten Male erfunden und in praktische Gestalt gebracht hatte
(der erste Erfinder war bekanntlich, ebenso wie derjenige des Mikro-
phons Philipp Reis), dachte er daran, die photoelektrischen Eigen-
schaften des Selens für die Lautübertragung auszunutzen. Die von
ihm erfundene Anordnung ist folgende: Die Schallmembran eines
Sprachrohrs wird durch eine sehr dünne, versilberte Glas- oder Glim-
merscheibe gebildet Fällt ein Sonnenstrahl oder auch ein Bündel
künstlich parallel gemachter Lichtstrahlen von einer Bogenlampe auf
die Membran, so werden die6e Strahlen von der spiegelnden Membran
zurüokgeworfen und gehen parallel gerichtet in die Ferne. Spricht
man jedoch in das Kohr, so wird die Membran im Rhythmus der
Schallwellen nach der einen oder anderen Seite durcbgedrückt;
sie bildet also bald einen Konvex-, bald einen Konkavspiegel,
ln unmittelbarer Folge davon werden die von ihr reflektierten
Lichtstrahlen bald auseinandergeworfen, bald zusammengezogen und
konzentriert. Fällt das reflektierte Strahlenbündel auf eine Selen-
zelle, so sieht man wohl, wie diese rhythmischen Beleuchtungsschwan-
kungen ausgesetzt wird und wie schliefslich diese Lichtschwankungen
in Stromschwankungen und dann in Schallschwankungen umgesetzt
werden können, wenn in dem Stromkreis der Selenzelle eine Batterie
und ein Telephon liegt. Im Telephon hört man dann ab, was auf der
anderen Station in das Sprachrohr gerufen wird. Übertrager der
Sprache und gleichsam die Brücke, auf der sie hineilt, ist der beide
Stationen verbindende Lichtstrahl.
Es gelang Bell und Tainter seinerzeit, bis auf etwa 200 m Ent-
fernung die menschliche Sprache, wenn auch schwach, so doch ver-
ständlich, zu übermitteln. Wenn man trotzdem von den Versuchen später
nicht mehr viel gehört hat und auch in der Angelegenheit nicht viel mehr
getan worden ist, so lag dies wohl in der Hauptsache an der aussichts-
losen Unzulänglichkeit des Sendeapparates. Erst im Jahre 1001 kam
wieder Bewegung in die Versuche, als Simon in Erlangen, jetzt in
Göttingen, die sogenannte singende Bogenlampe entdeckte. Die Leser
von „Himmel und Erde“ kennen das Prinzip der singenden Bogenlampe
bereits aus dem Jahrgang XIV, Heft 1. In Kürze mag hier noch ein-
mal mitgeteilt sein, dafs der Lichtbogen einer elektrischen Kohlen-
lampe das den Laut reproduzierende Telephon mit einem gewissen
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155
Erfolge zu ersetzen vermag, da anscheinend sein Volumen unter dem
Einflufs rhythmischer Stromschwankungen variiert und so Schall-
wellen an die umgebende Luft abgibt. Zum Ansprechen der Lampe
verwendet man ein Mikrophon, dessen Stromkreis den Lampen-
stromkreis elektromagnetisch beeinflufst So lagern sich die Sprech-
ströme gewissermafsen über den Lampenstrom hin. Wenn die dadurch
auftretenden Lichtschwankungen zwar zu gering sind und auch zu
schnell verlaufen, als dafs sie vom Auge direkt empfunden werden
könnten, so genügen sie doch, um sich am Selen zu betätigen. Frei-
lich kommt auch hier wieder die Trägheit des Selens und seine Un-
it I
fäbigkeit, die Schwankungen in voller Gröfse zu reproduzieren,
bindernd in Frage.
Fig. 4 stellt eine der gebräuchlichsten Schaltungsformen für die
Telephonie ohne Draht — man könnte sie auch photoelektrische
Telephonie nennen — dar. Auf der Station I (der Sendestation) be-
findet sich das Mikrophon M, die Mikrophonbatterie B und, demselben
Stromkreis angchörend, noch die dünnere Wickelung W, eines Trans-
formators.
Ein Transformator besteht im Prinzip aus zwei voneinander
unabhängigen Urahlwickelungen auf einem Eisenkern; er gestattet,
zwei Stromkreise voneinander abhängig zu machen, ohne dafs sie
einen Teil der Leitung gemeinsam hätten. Wenn die beiden Wicke-
lungen W j und Wj in der Figur nebeneinander erscheinen statt in-
einander verschränkt, so geschieht dies nur der besseren Übersicht-
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1 56
lichkeit wegen. W2 gehört einem Stromkreise an, der aufser der
Dynamomaschine D bezügl. oiner adäquaten Batterie noch die Bogen-
lampe L enthält Sie steht im Brennpunkt eines parabolischen Hohl-
spiegels und sendet ihr paralloles Strahlenbündel der Empfangsstation
II zu. Dort befindet sich im Brennpunkt eines Hohlspiegels die Selen-
zelle S; sie liegt zusammen mit einer Batterie B 1 und einem Telephon
T1 in einem Stromkreis. In der schon vorher geschilderten Weise
nimmt die Bogenlampe die Stromschwankungen im Mikrophonkreise
auf und überträgt sie als Lichtschwankungen auf den Spiegel der
Empfangsstation und auf die Selenzelle. Durch die Stromschwankungen
im Seienstromkreis wird die Membran des Telephons in Bewegung
gesetzt und gibt das gesprochene Wort wieder. Die Empfangsvor-
richtung mit der Selenzelle ist nooli einmal auf Figur 5 abgcbildet
Begreiflicherweise hat man an der Selenzelle viel herumstudiert
und herumprobiert, ohne aber den alten Fehler der Trägheit besei-
tigen oder auch nur ein durchweg gleichmäfsiges Fabrikat erzielen
zu können. Anfangs waren die tafelförmigen Zellen (Figur 3) sehr
beliebt, neuerdings hat jedoch Huhmer mit Erfolg zylinderförmige im
Vakuum (S in Figur 5) verwendet. Möglicherweise können noch weitere
Verbesserungen erzielt werden.
Blättert der Leser zurück, so findet er, dem Aufsatz vorgeheftet,
eine Darstellung des Selenversuches in der Urania. Der Geberschein-
werfer ist hier durch eine Linsen Vorrichtung ersetzt, um die Bogen-
lampe, deren lautes Geschwätz Btören würde, nach allen Seiten schall-
dioht abBChliefsen zu können. Denn man glaube ja nicht etwa, dafs
das Experiment objektiv ist in dem Sinne einer lauten und für jeder-
mann im Saale vernehmlichen Wiedergabe der Sprache. Die Laut-
wirkung ist sehr gering und entspricht keineswegs der Stärke der
sonst gehörten Telephongespräche; man mufs schon die Hörer dicht
an die Ohren drücken und sich auch sonst gegen alle Nebengeräusche
möglichst schützen, um alles zu verstehen. Dagegen überrascht die
Klangreinheit; alle unangenehmen, schnarrenden und quäkenden Töne,
wie man sie an der Bogenlampe selbst hört, sind völlig versohwunden,
sogar die Klangfarbe der Stimme kommt in überraschender Weise
zum Ausdruck. Bei einer lauten Wiedergabe dürften wohl die Ver-
hältnisse ganz anders liegen. — Jeder Zuhörer tritt also am Schlufs
der Vorlesung an den Empfangsapparat heran, während gleichzeitig
eine Blende den Lichtstrahl zeitweise abschneidet und die Übertragung
unterbricht
Nach den Untersuchungen von Simon und Reioh in Göttingen
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157
ist die Änderung der Lichtintensität vorzugsweise im Krater der posi-
tiven Bogenlichtkohle zu suchen. Kin sonderbarer Vorgang in der
Tal! Der Bogenlichtstrom ist ein wahrer Rie6e gegen die durch die
Schallwellen im Mikrophonkreis hervorgerufenen Stromschwankungen;
und doch drückt der Kleinere dem Oröfseren den Stempol seiner
Eigenart auf. Im Rhythmus der Sprachschwingungen verändert die
plumpe Kohle ihre Temperatur oft tausendmal und mehr in einer
einzigen Sekunde; in ihrem anscheinend ruhigen Licht schwebt und
webt der ganze Klangzauher der menschlichen Sprache.
Fig. 5.
Es hat sich als günstig herausgcstellt, die Lampe nicht mit zu
grofser Stromstärke brennen zu lassen. Vier bis fünf Ampere genügen
auf kurze Entfernungen vollkommen, eine höhere Stromstärke schadet
sogar mehr als sie nützt. — Sch I iefslich kann man auch des Bogen-
lichtes und überhaupt jeglicher Mithilfe der Elektrizität ganz entraten;
mehrere Wege führen zur Lösung desselben Problems. Schon Bell
selbst hat ja die an einer beweglichen Membran gespiegelten Son-
nenstrahlen zur Lautübertragung benutzt. Jede Lichtquelle, deren In-
tensität sich durch Schallwellen beeinflussen läfst, kann prinzipiell
an die Stelle der Bogenlampe treten, etwa ein Knallgasbrenner mit
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158
beweglicher Kalkplatte, eine manometrische Gasflamme u. s. f. Auch
das Selen braucht man schlierslich nicht einmal. Läfst man z. ß. die
Lichtstrahlen auf irgendwelche Körper fallen, so beginnt die ihnen
anhaftende Lufthülle zu tönen, ßerufste Gegenstände namentlich, so
etwa in einem Glasrohr eingeschlossene Glimmerstückohen oder Bruch-
teile von Glühlampenfäden, geben recht respektable Wirkungen. Ein
von dem Glasbebälter ausgehender Schlauch wird dann als Hörrohr
benutzt Vielleicht haben alle diese Methoden einmal eine Bedeutung,
wenn sie zunächst auch vor der photoelektrischen zurüokstehen müssen.
Selbstverständlich ist es ganz niüfsig, von den Aussichten der
drahtlosen Telephonie zu reden. Wir haben es erlebt, dafs ganz un-
scheinbare Entdeckungen zu förmlichen Umwälzungen auf technischem,
wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet geführt haben, während
man von anfangs viel verheizenden Neuerungen gar nicht mehr
spricht Übertriebene Hoffnungen bleiben zudem meist unerfüllt. Bis
jetzt gelingen die photoelektrischen Versuche — eine günstige Atmo-
sphäre vorausgesetzt — auf einige Kilometer Entfernung, etwas weiter,
wenn man auf eine Wiedergabe der Sprache verzichtet und sich mit
Morsezeiohen begnügt; auch kann man schlierslich das gesprochene Wort
mit dem Poulsenschen Telegraphon elektromagnetisch oder mit Hilfe
eines bewegten Filmstreifens kinematographisch fixieren. Diese Me-
thoden sind natürlich noch unsicher und erst in der Ausbildung be-
griffen. In gewissen Fällen und in engeren Grenzen wird aber die
photoelektrische Telephonie schon jetzt gute Dienste leisten können,
so etwa beim Verkehr von Sohiffen untereinander oder wenn es sich
darum handelt, vom Leuchtturm aus mit einem Fahrzeug auf See in
Verbindung zu treten. Das ist für den Anfang gewifs schon genug.
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Sinnesorgane und physikalische Instrumente.
«Von Dr. G. Asgesheiater in Heidelberg.
ie Kinematik oder Lehre von den Bewegungen ohne Berück-
sichtigung der Trägheit der Massen ist wie die reine Baum-
und Zeitlehre ein Zweig der Mathematik, nämlich die auf den
Begriff der Bewegung angewandte Mathematik. Sie sagt niohts dar-
über aus, ob *8 Bewegung gibt oder nicht, auch nichts darüber, wenn
es eine Bewegung gibt, ob sie unter logisohen Gesetzen stehe oder
nicht; sie sagt nur, wenn es Bewegung nach logischen Gesetzen gibt,
so mufs sie so und so sein.1) Die Kinematik ist also wie die Mathe-
matik eine rein formale Wissenschaft, die soweit wie die Mathematik
unabhängig von unserer durch sinnliche Wahrnehmung erworbenen Er-
fahrung ist. Sie hat soviel wie diese apodiktische Gewifsheit, aber eben-
falls auch keinen realen Erkenntniswert; denn zu entscheiden, ob es
Bewegung nach rein logischen Gesetzen gibt, dazu ist die Erfahrung,
also die sinnliche Wahrnehmung, notwendig.
Geht man also von der reinen Bewegungslehre zur Lehre von
der Bewegung der trägen Massen, zur Physik über, so müssen alle
Fragen vor den Richterstuhl der Erfahrung gebracht und dort ent-
schieden werden. Hier verliert die Physik als Wissenschaft ihre apo-
diktische Gewifsheit, denn die Erhebung der Erfahrung zur Suprema
lex enthält etwas Hypothetisches. Sie setzt nämlich voraus, dafs
zwischen unseren sinnlichen Wahrnehmungen, und damit zwischen den
durch sie bedingten Zuständen unseres Bewufstseins in uns, und den
Naturvorgängen aufser uns ein Zusammenhang bestehe.
Die Sinne sind die Tore, durch welche die Kenntnis von dem
Geschehen aufser uns in unser Bewufstsein eingeht. Die Empfindlin-
gen, die durch die Beizung unserer Sinne in uns wachgerufen werden,
sind die Bilder der Welt in unserem Bewufstsein. Welcher Zusam-
j Vcrgl. E. v. Hartman», Weltanschauung d. modernen Phy-ik, 1?| -
160
menhang besteht nun zwischen den Bildern in uns und den Natur-
vorgängen aufser uns?
Um diese ftir das Naturerkennen wichtige Frage zu lösen, mülste
man die Gesetze, welche die Naturvorgänge auteer uns beherrschen,
die physikalischen, sowie die, welche für die Bewutetseinsvorgänge,
die Bewegung der Bilder in uns, gelten, die psychologischen, kennen
und die Funktionen der Vermittler dieser Bilder, die physiologischen
Funktionen der Sinnesorgane. Dann könnte man die mathematische
Funktion linden, welche die Bewutetseinsbilder und das äuteere Ge-
schehen aneinander bindet, und man würde dadurch, mehr wie ein
Bild, eine apodiktisch gewisse Kenntnis des Weltgeschehens erlangen.
Aber inan hat weder dieBe mathematische Funktion, nooh was zu
ihrer Bildung gehört; und was wir von der Welt kennen, ist nichts
als ein Bild, das die nun gerade mal so und so gebaute camera ob-
soura unserer Sinne in unser Bewufetsein hineinprojiziert. Wieweit
es durch diese Projektion verzerrt und entstellt wird, und wie man
aus den Eigenschaften des Bildes die Eigenschaften der Bilderreger,
der Dinge aufser uns, ermittelt, das suchen wir nooh zu erfahren.
Wieweit es bisher gelungen ist, die Eigentümlichkeiten unserer Welt-
bildvermittler, unserer Sinne, zu erkennen und sich von ihnen unab-
hängig zu machen, soll weiter auseinandergesetzt werden.
Was wir äuteeres Geschehen nennen, ist Wanderung (Ortsver-
änderung) oder Wandlung der Energie. Phänomene der ersten Art
sind Planetenbewegungen, Wärmeleitung, Lichtstrahlung; Phänomene
der zweiten Art sind Übergang von Wärme oder von elektrischer
Energie in mechanische Energie oder in Licht, wie bei den thermo-
dynamischen und elektrischen Maschinen, oder wie beim Gewitter,
Sturm und Blitz, wo ein Teil der Energie sich noch in akustische
Energie, Donner, umsetzt.
Was wir wahrnehmen, ist Änderung der Eigenenergie unserer
Sinnosorgane. Eine dauernde Reizung ruft keine Änderung der
Eigeuenergie unserer Sinne hervor und wird deshalb auch nioht wabr-
genomtnen. So nehmen wir die Aderfiguren der Netzhaut Tür ge-
wöhnlich nicht wahr, weil ihr Bild (Schattenbild) immer auf dieselbe
Stelle der lichtempfindlichen Schicht lallt, und die Gewöhnung daran
macht, dafs es nicht wahrgenommen wird. Bei dom Versuch von
Purkinje wird das Bild der Aderfigur durch eine seitliche Beleuch-
tung künstlich auf eine ungewohnte Stelle geworfen und infolgedessen
dort auch wahrgenommen. Bei jeder Sinneswahrnehmung werden
Bewegungen des Äthers oder der Luft oder sonstiger unsere Sinne
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161
erregender Materien in Bewegungszustände unserer peripheren Sinnes-
nerven umgesetzt. Von hier leiten Nervenfasern die Störung bis zu
den Sinneszentren des Orofegehirns, wobei diesen l.eitungsfaaern
wahrscheinlich eine ähnliche Aufgabe zukommt wie elektrischen
Leitungsdrähten, die z. B. beim Telephon nicht etwa den Schall selbst
fortleiten, sondern nur eine durch ihn erzeugte Schwankung in der
elektrischen Stromintensität. Welcher Effekt am Ende der Leitungs-
babn erzielt wird, hängt davon ab, welche Empfangsapparate dort ein-
geschaltet sind.
Aufseres Geschehen ist also Wanderung oder Wandlung der
Energie aufser uns, innere Erfahrung beruht auf Änderung der Eigon-
energie unserer Sinnesorgane. Welches ist nun der Zusammenhang
zwischen beiden? Besteht eine quantitativ gesetzmäfsige Beziehung
zwischen äufserem Geschehen (Reiz) und Empfindung? Wie stark mufs
ein Reiz sein, um überhaupt wahrgenommen zu werden? Sind die
Empfindungen miteinander vergleichbar, wie es die Reize sind?
Um den letzten Funkt gleioh vorweg zu nehmen, so kann mau
sagen, dafs ein Vergleichen der Empfindungen verschiedener Sinnes-
organe etwas Unmögliches ist. Die Schallempfindung ist z. B. durch-
aus etwas sui generis, das weder mit einer Farben-, Gesohmacks- noch
Wärmeempfindung verglichen werden kann. Man sprioht wohl von
Farbentönen, und manche harmonische Beziehung der Musik hat im
Reich der Farben ein Analogon; so stehen die Sohwingungszahlen der
Farben, die die schönste Zusammenstellung ergeben, in demselben Ver-
hältnis wie die Schwingungszahlen der Töne der wohlklingendsten
Akkorde; der berühmten Triade der italienischen Meister; Rot-Grün-
Violett würde in der Musik der ungemeine angenehme Quart-Sext-
Akkord d-g-h von Q-dur entsprechen; aber von einem wirklichen
Vergleichen bestimmter Tonempfindungen mit bestimmten Furben-
oder Geruchsempfindungen kann doch wohl nicht die Rede sein. Dafs
sich dagegen die Reize sehr wohl vergleichen lassen, zeigt die
Physik; in manchen Fällen gelingt es ihr sogar nachzuweisen, dafs
dort, wo uns die Sinne qualitativ verschiedene, gänzlich unvergleich-
bare Bilder liefern, Vorgänge gleicher Art stattfinden. So führt sie
uns zu der Erkenntnis, dafs Licht-, Wärme- und elektrische Strahlung
sich nur durch ihre Wellenlänge unterscheiden, dafs Töne und
pendelnde Bewegung kleiner Massen ein und dasselbe sind.
Aber nicht nur dafs Empfindungen verschiedener Organe unver-
gleichbar sind, eine gesetzmäfsige Beziehung zwischen quantitativ
verschiedenen Empfindungen ein und desselben Organs und den sie
Himmel und Erde. IWU XVI 4 H
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hervorrufenden Reizen läfst, sich auch nicht mit Sicherheit nach-
weisen. So mufa zunächst der Reiz einen Schwellenwert über-
schreiten, um überhaupt eine Empfindung waohzurufen. Wird der
Reiz weiter gesteigert, so wird zunächst auoh die Empfindung eine
stärkere, ob aber, wie vielfach behauptet worden ist, die Empfindung
proportional ist dem natürlichen Logarithmus des Reizes (E = oonst.
log nat R), ob überhaupt eine mathematisch ausdrückbare Gesetz-
mäfsigkeit zwischen Reiz und Empfindung besteht, ist zum mindesten
sehr zweifelhaft; jedenfalls aber ist sicher, dafs eine Bolche Gesetz-
mäfsigkeit nur zwischen bestimmten Grenzen bestehen kann; denn
während die Stärke des äufseren Reizes beliebig gesteigert werden
kann, überschreitet die Stärke der Empfindung eine gewisse obere
Grenze niemals. Dieses Maximum der Empfindung tritt schon bei
einer verhältnismäfsig geringen Reizstärke ein; eine weitere Steigerung
des Reizes bewirkt nicht nur nicht mehr eine quantitative Zunahme
der Empfindung, sondern sogar eine zunehmende Ermüdung und
Erschöpfung der peripheren Sinnesorgane. Würden wir also von
unseren direkten Empfindungen auf die äufseren Vorgänge schliefsen,
so könnten wir uns oft ein falsches Urteil über dieselben bilden.
Dieses sind genügende Gründe, den Standpunkt des naiven
Beschauers zu verlassen und sich möglichst von der spezifischen
Eigenschaft unserer Sinnesorgane unabhängig zu machen, wenn
man zu einem einheitlichen, den wirklichen Naturvorgängen mehr
entsprechenden Weltbilde gelangen will, was die Natur in höherem
Mafse auszunutzen ermöglicht. Dies tut die Physik.
Bei der Erforschung der Beziehungen zwischen den für unsere
sinnliche Wahrnehmung qualitativ verschiedenen Vorgängen in der
Natur richtet die Physik ihre Aufmerksamkeit stark auf jene Be-
ziehungen, welohe alle physikalischen Vorgänge zu einer besonderen
Art von Vorgängen besitzen, nämlich zu den mechanischen Vor-
gängen; denn alle Naturphänomene sind in intimer Weise mit
mechanischen Vorgängen verbunden; so dehnt die Wärme die Körper
aus, der Schall bewegt ihre Massen pendelförmig, der Magnetismus
läfst sie sich anziehen und abstofsen oder indifferent gegeneinander
verhalten, die Elektrizität wirkt bewegend auf die Massen, und, wenn
eie selbst in Bewegung ist, auf benachbarte Magnete. Solche
mechanische Begleiterscheinungen benutzt die Physik als gemein-
sames Mafs und Vergleichsmittel für die unseren Sinnen heterogen
erscheinenden Phänomene. Alle Naturvorgänge werden dadurch dem
Urteil eines einzigen Sinnes, nämlich dem Urteil des Gesichtssinnes
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unterworfen, denn die mechanischen Bewegungserscheinungen fallen
alle in den Wahrnehmungsbereich des Gesichtssinnes. Dadurch, dafs
wir die Naturvorgiinge an ihren mechanischen Wirkungen studieren,
liegen die Verhältnisse in zweifacher Weise recht günstig, nämlich
erstens sind uns die meohanisohen Fundamentalgesetze von Kindheit
an durch unsere körperlichen Bewegungen auf das innigste vertraut,
und ferner können wir durch unsere Tastorgane die mechanischen
Bewegungen kontrollieren.
Die physikalischen Mefsinstrumente, welche die mechanischen
Begleitersoheinungen anzeigen und zugleich auch messen, sind ihrem
Zweck entsprechend vorwiegend Dangen-, Zeit- und Massenmefs-
instrumente, denn Raum, Zeit und Masse sind die Gröfsen —
Dimensionen — , deren gegenseitige Veränderlichkeit die Mechanik
darstellt. Ihre Einheiten sind cm, gr, sec. Diese Instrumente be-
sitzen nicht die störenden Fehler unserer Sinne. Bei ihnen herrscht
gesetzmäfsige, mathematisch ausdrüokbare Beziehung zwischen Reiz
und Empfindung oder, wie man es bei ihnen nennt, zwischen Be-
lastung und Ausschlag. Die gesetzmäfsige Beziehung zwischen beiden
herzuleiten, ist Aufgabe der Mechanik. Diese findet solohe Be-
ziehungen, wie z. B. das Hebelgesetz für Massenmefsinstrumente und
das Pendelgesetz für Zeitmefsinstrumente.
Mit diesen Instrumenten können nun die mechanischen Be-
gleiterscheinungen der Änderungen der verschiedenen Energiearten
gemessen und verglichen werden. Diese Möglichkeit ist eine der
wichtigsten Errungenschaften der modernen Xaturerkennlnis und eine
Hauptursache des Aufschwungs der Teohnik; denn nur dadurch, dafs
für alle Energiearten ein gemeinsames Mafs gefunden war, konnte die
Technik sie vergleichen und rechnerisch ihre Änderungen verfolgen.
— Bei Dampfmaschinen findet eine Wandlung von Wärme in
mechanische Energie statt. Die mechanische Energie wird praktisch
gemessen durch Pferdekräfte. Eine Pferdekraft ist gleich 75 kg-m,
d. h. gleich einer Kraft, die 76 Kilogramm in einer Sekunde
einen Meter hoch hebt. Die Wärmeenergie wird gemessen durch
Kilogramm-Kalorie d. h. durch jene Wärmemenge, die ein Liter
Wasser von 0° auf 1° erwärmt. Dieser Effekt, die Erwärmung eines
Liter Wassers von 0° auf 1°, kann auch durch mechanische Arbeit
— das Wasser wird gerührt, dadurch Reibung und Wärme erzeugt —
erreicht werden. Die gleiche Temperatursteigerung wird in beiden
Fällen durch die gleiche Volumenvergröfserung des Quecksilbers im
Thermometer gemessen. Die mechanische Arbeit, die zu obiger
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Temperatur-Steigerung notwendig ist, ist gleiob 480,7 kg-m. Man setzt
deshalb 1 kg-Kalorie äquivalent 430,7 kg-m.
Bei einer elektrischen Strafsenbahn treibt eine Dampfmaschine
eine Dynamomaschine; diese liefert den elektrischen Strom, den
der Strafsenbahnwagen aus dem Leitungsdraht entnimmt und in
mechanische Arbeit umsetzt. Hier ist also Wandlung von Wärme in
mechanische, von mechanischer in elektrische und sohliefslioh von
elektrischer in mechanische Energie vorhanden. Die praktische Ein-
heit der elektrischen Stromarbeit pro Sekunde ist das Volt-Ampere
oder Watt Dies ist der mechanische Effekt von 0,102 kg-m, den ein
Strom von 1 Ampere Stromstärke in einem Draht, an dessen Enden
die Spannung 1 Volt herrscht, in der Sekunde hervorbringt. Ge-
messen wird der Effekt durch die Bewegung eines Magneten, die
durch den vorbeifliefsenden elektrischen Strom veranlafst wird. Die
Bewegung des Magneten fordert eine ganz bestimmte, mefsbare,
mechanische Energie, die der elektrischen Stromenergie äquivalent
gesetzt wird. 1 Volt-Ampere = 0,102 kg-m = *^^ =0,000 237 Kalorien.
Die Stärke eines elektrischen Stromes kann an seiner Wärme-
wirkung gemessen werden; die in einem Stromkreis erzeugte Wärme
ist dem Quadrat der Stromstärke proportional; die erzeugte Wärme
mifst man an der Ausdehnung des erwärmten Körpers selbst, oder
an der Temperaturerhöhung eines diesen Körper umgebenden Bades.
Ferner findet man in der chemischen Wirkung des Stromes noch ein
Mafs für seine Stärke. Das Gewicht des pro Sekunde aus einer
bestimmten Silbernitratlösung durch die Wirkung eines Stromes von
1 Ampöre Stärke ausgeschiedenen Silbers dient hier als Einheit
(0,00 1118 gr). Bei chemischen Prozessen kann man die entwickelte
oder absorbierte Wärme, die sogenannte Wärmetönung in Kalorien
und damit in Kilogramm-Metern messen und so als Mafs und Vergleichs-
mittel benutzen. So werden Energiearten, die in unserer sinnlichen
Empfindung unvergleichbar sind, nach gleichem Mafs gemessen. Da-
durch ist man z. B. in der Lage, die einer Maschine zugeführte
Energie mit der Arbeit zu vergleichen, die dio Maschine zu leisten
imstande ist; bei der Dampfmaschine die vom Kesselwasser aufge-
nommene Wärme mit der in Pferdekräften gemessenen Arbeit, die die
Maschine ausführt. Aus beiden berechnet sich die durch Strahlung
und Reibung verlorene Energie. — Eine Bogenlampe verbraucht etwa
880 Watt (16 Ampere, 65 Volt) oder 0,21 kg-Kalorien. Die Licht-
stärke ist etwa 1600 Kerzen. Ein Gasbrenner, der etwa 0,22 kg-
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Kalorien pro Sekunde verbraucht, hat nur 15 Kerzen Stärke.I 2) Die
elektriaohe Energie zeigt sich hier stark überlegen.
Dies Messen und Vergleichen der Energie ist jedoch nioht die
einzige Leistung der physikalischen Instrumente. Ihre grofse Be-
deutung liegt auch vor allem darin, dafs sie den Wahrnehmungs-
bereicb unserer Sinne erweitern, indem sie den Schwellenwert des
Reizes herabmindern. Beschränken wir unB auf den Gesichtssinn,
an den sieb ja die Experimentalphysik fast ausschliefslich wendet
<selbst bei akustischen Versuchen vielfach), so haben wir von einer
dreifachen Leistungsfähigkeit unserer Augen bezw. unserer physi-
kalischen Instrumente zu reden, nämlich von der Fähigkeit:
1. Lichtstärken überhaupt und als verschieden zu erkennen,
2. nahe beieinander liegende Gröfsen nooh aisgetrennt wabrzunebmen.
3. Farbentöne zu unterscheiden.
Wir werden im folgenden sehen, um wieviel die Instrumente
die Leistungsfähigkeit unserer Augen erhöhen.
Eine mechanische Energie von 10~8 erg, gleich ungefähr
10-“ kg-m oder * I6 kg-m, erhält das Auge von einem Stern 8ter
Gröfse, der eine Helligkeit von etwa Meterkerzen besitzt, die
Helligkeit einor Kerze in 10 Kilometer Entfernung. Dies ist das
Minimum von Helligkeit, das ein unbewaffnetes Auge wahrnehmen
kann. Die Empßndlichkeit des Auges ist eine ungeheure, denn der
Energieflufs, den ein Auge mit 3 mm Pupillenöffnung von einer Kerze in
1 Meter Entfernung pro Sekunde empfängt, ist etwa gleich ein erg und
müfste etwa ein Jahr und 89 Tage fliefsen, um 1 Gramm Wasser um
1 0 Celsius zu erwärmen.3)
Das Fernrohr erhöht die Leistungsfähigkeit des Auges noch be-
deutend. Das Fernrohr kann die Helligkeit eines Sternes vergrüfsern>
während die seines Hintergrundes nioht vergröfsert wird, sondern
eventuell (bei Überschreitung der Norraalvergröfserung) verringert
wird; so hebt sich der Stern deutlicher vom Hintergrund ab und
kann mit einem grofsen Fernrohr eventuell bei Tage gesehen werden.
Während das blofse Auge Sterne bis zur 6. Gröfse wahrnimmt und
deren etwa 6000 zählen kann, macht das Fernrohr im ganzen etwa
30 — 40 Millionen allein stehender Sterne sichtbar und löst Nebel-
I ) Warburg, Experimental- hysik.
J) Drude, Optik.
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flecken in Sternhaufen auf, deren Licht Jahrtausende braucht, um bis
zu uns zu gelangen. Die photographische Platte nimmt Sterne bis
zur 14. Qröfse wahr. Viele Sterne ändern mit der Zeit ihre Licht-
stärke; diese Zu- oder Abnahme ihrer Lichtintensität läfst sich photo-
metrisch bestimmen und daraus ihre Entfernung berechnen. Elin In-
strument, das geringe Intensitätsschwankungen des Sternenlichtes
erkennen läfst, ist hierzu notwendig. Im Astrophotometer besitzt die
Astronomie ein solches.
Wie uns das Fernrohr in immer grössere Tiefen des Weltalls
trägt, so erschliefst uns das Mikroskop die Welt des Kleinen. Das
unbewaffnete Auge erschaut in der deutlichen Sehweite, 25 cm vom
Auge entfernt, zwei Punkte, die einen Abstand von 0,145 mm besitzen,
unter einem Winkel von 2'. Dies ist der Grenzwinkel der bequemen
Untorscheidbarkeit. Punkte, die näher zusammenliegen, wird das Auge
nicht mehr getrennt wahrnehmen können, sondern nur als einen
einzigen Punkt erkennen. Das Linsensystem unseres Auges ist eben
derart gebaut und die Verteilung der liohtempflndliohen Elemente unserer
Netzhaut eine solche, dafs erst bei einem Winkel von 2' zwei ver-
schiedene Elemente der Netzhaut erregt werden. Dies ist aber not-
wendig, wenn wir die zwei Punkte getrennt sehen sollen. Das
Mikroskop ermöglicht es nun, von zwei Punkten, die nur 0,00016 mm
voneinander entfernt sind, dem Auge ein Bild darzubieten, in dem ihr
Abstand gleich 0,145 mm also unter dem Grenzwinkel 2' erscheint,
die Punkte also getrennt wahrgenommen werden können. Die Leistungs-
fähigkeit des Auges ist dadurch um das 900 fache erhöht, die Mikro-
struktur der organischen und anorganischen Gebilde erkennbar gemacht.
Die Erfolge der Bakteriologie und mikroskopischen Anatomie sind
dadurch möglich geworden. Ganz nouerdings ist es nun gelungen,
die Leistungsfähigkeit des Mikroskups nochmals gewaltig zu erhöhen.
Durch besondere Anordnung der Beleuchtung können noch Bilder
von Teilchen entworfen werden, deren Durchmesser kleiner als ein
Hunderttausendstel Millimeter ist, eine Gröfse, die der für Moleküle
berechneten nahe kommt.4) Mit dieser neuen Einrichtung hat man fest-
steilen können, dafs Farbstoffe, die für chemisch reine Farbstoffe gelten,
aus zwei oder drei Arten von verschiedenfarbigen Teilchen bestehen.
Um bei einer Grundfarbe eine Änderung des Farbentons mit
dem Auge wahrzunehmen, mufs man die Wellenlänge bei rot um
Viu, bei gelb um V771 ändern, während mit Hilfe eines feinen Gitters
4) Auf der letzten Naturforscherversammlung sind darüber Versuche
von Siedentopf u. Zsigmondy angostollt wordon.
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von einer halben Million Strichen und eines Spektralapparats noch
eine Änderung von Vsoooo der Wellenlänge erkennbar gemacht wird.
Es wird ein solcher Apparat also zwei Spcktrallinien von >. und
\ + goöoo Wellenlänge noch getrennt zeigen. Eine für die Spektral-
analyse wichtige Tatsache.
Der Spektralapparat zerlegt die Mischfarben in ihre Grundfarben;
dies ist eine Leistung, die das blofse Auge nicht auszuführen im-
stande ist. Das Ohr kann Töne verschiedener Wellenlänge, die in
einen Klang zusammentönen, wie beim Orchester, und gleichzeitig das
Trommelfell treffen, einzeln wahrnebmen. Das Ohr zerlegt den Klang
in seine einzelnen Töne, die Luftwelle in ihre Einzelschwingungen,
wie man mathematisch eine nichtpendelartige Schwingung nach dem
Fourriersoben Satze in eine Reihe von pendelartigen zerlegon
kann. Das Auge besitzt für Licht verschiedener WTellen)änge keine
entsprechende Fähigkeit und sieht deshalb einen glühenden Körper,
der mehrere Spektralfarben aussendet, in einer einzigen Mischfarbe,
z. B. die Sonne weife. Der Spektralapparat zerlegt die Mischfarben
in die Farben jener Wellenlänge, die der leuchtende Körper aus-
sendet, und gibt damit oin Mittel an die Hand, von der Art des aus-
gesandten Lichtes auf die Natur des Körpers zu schliefsen ; denn
jeder Körper, der im Spektralapparat zum Verdampfen und Leuohten
gebracht wird, sendet seiner chemisohen Konstitution entsprechend
Licht ganz bestimmter Wellenlänge aus, das im Spektralapparat sich
als eine Reihe ganz bestimmter Lichtlinien zu erkennen gibt. Darauf
beruht die Methode der Spetralanalyse, die uns die chemisohe Kon-
stitution der Erd- und Himmelskörper erkennen läfst.
Aufserdem gibt uns das Spektrum eines leuohtendcn Körpers
noch Aufschlufs Uber seinen Bewegungszustand Denn wie auf ein
Schiff, das stromaufwärts fährt, mehr Stromwellen in der Zeiteinheit
treffen, als wenn es verankert ruht, und wie ein Ton höher klingt,
wenn man sich ihm entgegen bewegt, oder was im selben Sinne wirkt,
die Tonquelle dem Ohre nähert (z. B. eine im Fahren pfeifende Loko-
motive), weil dann mehr Wellen in der Zeiteinheit auf das Ohr treffen,
so mufs auch ein Körper höher, d. b. violetter leuchten, wenn er sich
uns nähert, als wenn er ruht, weil dann mehr Lichtwellen in der
Zeiteinheit auf unser Auge treffen. In der Sprache der Spektralanalyse
heifst dies, es müssen sich seine Spektrallinien nach rechts (violett)
oder nach links (rot) verschieben, je nachdem er sich nähert oder ent-
fernt. Die Grösse der Verschiebung einer bestimmten Linie, z. B. der
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dunkeln Wasserstofflinie des Fixsterns Sirius, ist mefsbar, indem man
das Spektrum des Sirius mit dem eines ruhenden, Wasserstoff ent-
haltenden, leuchtenden Körpers vergleicht. Aus dieser Grösse lässt
sioh die Vergriifserung bezw. Verminderung der Entfernung zwischen
Fixstern und Erde bereohnen. Für den Sirius ergab sioh, dafs der
Abstand zwischen ihm und der Erde sich in jeder Sekunde um
9 Meilen vergröfsert.
Die Leistungsfähigkeit anderer physikalischer Instrumente steh t
den hier angeführten in keiner Weise nach. Wie z. B. die Wage und
das Barometer (Manometer, Drucklibellen) Massen und Drucke, dass;
elektrische Thermometer Temperaturen tausendmal besser mifst als
wir mit unseren Organen, das sind allbekannte Tatsachen.
Mit solchen die Sinne erweiternden Instrumenten, mit Hilfe der*
mechanischen Beobachtungsmethode und der mathematischen Aus-
wertung ihrer Resultate ergibt sich die überraschende Tatsache, dals
Vorgänge, die dem naiven Beschauer qualitativ verschieden erscheinen,
sich als wesensgleich erweisen. So sind Wärmestrahlung, Licht- und
elektrische Strahlung nicht blofs vergleichbar, sondern Erscheinungen
ganz derselben Art, nämlich Ätherschwingungen.
Die Moleküle eines Körpers sind in steter Bewegung; steigt die
Intensität dieser Molekularbewegung, so steigt für unser Gefühl die
Temperatur des Körpers. Was wir wahrnehmen, ist das Summations-
phänomen der einzelnen Pendelschwingungen, der einzelnen Stöfse
der Moleküle. Durch die heftige Bewegung der Moleküle wird der
den Körper durchdringende und umgebende Äther in Mitleidenschaft
gezogen, der Äther gerät auch in Bewegung, und nach allen Seiten
hin pflanzt sich diese Störung des Gleichgewichtszustandes des Äthers
wellenförmig fort; wir sagen, der Körper strahlt Wärme aus. Die
Länge dieser Ätherwellen ist kleiner als 0,062 mm. Wird der Körper
wärmer und wärmer, d. h. seine Molekularschwingung heftiger, so
ändert sich auch die Sohwingung des mitleidonden Äthers. Die
Schwingungen desselben erfolgen rascher, die Wellen, die diesen Zustand
nach allen Seiten hin fortpflanzen, werden kürzer. Ist seine Schwingungs-
zahl bis auf 400 Billionen gewachsen, oder beträgt die Welllenlänge
nur mehr 0,00075 mm, so wird die Retina unseres Auges von diesen
Wellen, wenn sie darauf treffen, erregt. Wir haben eine Licht-
empflndung, wir sagen, der Körper glüht, er leuchtet rot. Wird die
Schwingungszahl noch grösser, und dadurch die Wellenlänge noch
kleiner, so treten die Spektralfarben nacheinander auf, vom rot bis
/um violett, wo sie 0,00037 mm beträgt. Wird die Wellenlänge noch
169
kleiner, so wird unser Auge davon nicht mehr afflziert; es sind die
ultravioletten, die Radium- und Röntgenslrahlon, die nur durch die
photographische Platte und durch Fluorescenzerscheinungen wahr-
genommen werden können. Die Wellenlänge der Röntgenstrahlen
soll noch 1000 mal5) kleiner als die der ultravioletten sein, so
klein, dar» selbst Metalle und Holz sich ihnen gegenüber wie ein
Sieb verhalten. Ebensowenig sind Ätherwellen, die länger als
0,062 mm sind, für unsere Sinne wahrnehmbar. Es gibt solche
Wellen; ihre Länge liegt zwischen 6 mm und mehreren Kilometern.
Es sind dies die elektrischen Wellen, wie sie bei der Telegraphie
ohne Draht benutzt werden. Sie gehen duroh unsem ganzen Körper
hindurch, ohne dafs wir das Geringste wahrnehmen. Das Intervall
zwischen Wärmewellen (0,06 mm) und elektrischen Wellen (6 mm)
galt lange als unausgefiillt. Die neuerdings von Blondlot6) ent-
deckten Nancy-Strahlen liegen ihrer Wellenlänge naoh in diesem
Intervall (zwischen 0,06 und 6 mm). Es sind Strahlen, die auch im
Sonnenlicht enthalten sind, dem Auge aber unsichtbar bleiben. Sie
vermögen Holz und dünnes Metallblech zu durohdringen, Glas und
W asser dagegen nicht
Alle diese Strahlen, ob wir sie Iiadium-, X-, Lioht-, Wärme-,
Nancy-, elektrische Strahlen nennen, bestehen aus Ätherwellen,
die sich nur durch ihre Länge unterscheiden. Was unser Auge wahr-
nimmt ist nur der allergeringste Teil dieser Strahlen. Sehen wir
selbst von den elektrischen, Nancy-, Radium- und Röntgenstrahlen
ab; von einem glühenden Körper werden Wellen von 0,00 019 bis
0,061 1 mm ausgesandt, also, um in einem Bilde der Akustik zu sprechen,
8,3 Oktaven, von denen unser Auge nur eine Oktave, rot bis violett
wahrnimmt Die ultraroten Strahlen erregen die Netzhaut nioht, die
ultravioletten gelangen für gewöhnlich gar nicht bis zur Netzhaut; sie
werden vorher duroh die Augenmedien absorbiert Das Ohr ist
günstiger gestellt, die Musik benutzt etwa 7 Oktaven. C„ der grofsen
Orgel besitzt etwa 16, und die Piccoloflöte hat Töne von 4752
Schwingungen. Töne, die höher oder tiefer liegen, mehr oder weniger
Schwingungen haben, werden in der Musik nicht verwendet; wahr-
nehmen können wir für gewöhnlich solche von etwa 8 — 40 000
Schwingungen. Dort sind die Grenzen, die die Leistungsfähigkeit
') Wiedemanns Annalen der Physik, 1903.
“) Comptcs rendus 1903. Die Ansichten über die Existenz der Blandlot-
Strahlen sind noch nicht geklärt (Amn. der Redaktion.)
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unseres Ohres beschränken. Darüber hinaus nehmen wir mit dom
Ohr nichts mehr wahr.
Die Äther- und Luftschwingungen sind die Boten, die Kunde
bringen vom Weltgeschehen. Was uns die Sinne mit Hilfe dieser
Schwingungen von den Formen, Farben und Tönen der Welt erzählen,
sind nur Ausschnitte von dem, was wirklich ist und geschieht. Die
Physik ist es, die diese Segmente zu erweitern, zu einem einheit-
lichen Ganzen zu ergänzen sucht.
Fassen wir zum Schlufs kurz den bisherigen Gedaukengang
zusammen.
Die Kenntnis von dem aufserhalb unseres Bewufstseins statt-
findenden Weltgeschehen, von der Wanderung und W'andelung der
Energie erhalten wir durch das Tor unserer Sinne. Die qualitativ
verschiedenen Empfindungen, die uns die Sinne liefern, sind weder
untereinander vergleichbar, nooh ist uns zwisohen Reiz und Emp-
findung ein und desselben Sinnes eine quantitative, mathematisch
ausdrüokbare Gesetzmäfsigkeit bekannt. Die Physik beobachtet die
mechanischen Begleiterscheinungen der Naturphänomene und findet
darin eine Methode und ein Mafs, auch qualitativ Verschiedenes
zu vergleichen und zu messen. Die Instrumente, die Bie zu ihren
Messungen braucht, besitzen mathematisch ausdrüokbare Beziehungen
zwischen Belastung und Ausschlag. Diese Beziehungen sucht und
findet die mathematische Physik, die Mechanik. Die Instrumente
erweitern den Wahrnehmungsbereicb der Sinne. (Fernrohr, Mikro-
skop, Spektralapparat.)
Die Verfolgung der Naturvorgänge mit solchen Instrumenten und
mit mathematischen Hilfsmitteln führen zu der Einsicht, dafs das, was
den Sinnen qualitativ verschieden erscheint, nicht nur vergleichbar ist,
sondern sogar wesensgleich sein kann z. B. Licht und Wärme.
So entkleidet die Physik das naive W’eltbild langsam seines
sinnenfälligen, bunten Schmuckes, vergleicht Unvergleichbares, löst
Heterogenes in Ähnliches oder gar Gleiches auf; findet mathematische
Formeln, nach denen scheinbar weit voneinander Liegendes sich
regelt, wie das Massenanziehungsgesetz, das Tür Himmelskörper so
gut wie für elektrische und magnetische Massen gilt. Der wirre
Zauber der kaleidoskopartig wechselnden Sinnenwelt weicht unerbitt-
licher Gesetzmäfsigkeit. Grofse, alle Erscheinungen beherrschende
Weltgesetze, wie die von der Erhaltung der Materie und der Energie,
erheben sich wie ruhende Pole in der Erscheinungen Flucht, deuten
auf einheitliche Konstruktion des W’eltganzen und auf ewige Dauer.
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|
Im Reiche des Äolus.
Von llr. Alexander Rumpelt -Taormina
426 vor Chr. machen die Athener von Rhegion an der Meerenge
von Messina aus den vergeblichen Versuch, Lipara zu erobern.
260 vor C'hr. im Anfang des ersten Punisehen Krieges wird der
Konsul Cornelius Scipio mit siebzehn Schiffen im Hafen von Lipara
von den Karthagern gefangen genommen.
Diese Daten mufs der Primaner wissen, wenn er das Maturitäts-
examen bestehen will.
Dafs der Stromboli einer der wenigen tätigen Vulkane Europas
ist, braucht er nicht gelernt zu haben.
Der Kaufmann weifs noch, dafs von den Liparischen Inseln die
besten Kapern, der beste Malvasier und Bimsstein kommt.
Damit erschöpft sich so ziemlich die Kenntnis des Mitteleuropas™
von diesen Insein. Der Durchschnittsreisende, der Italien gewöhn-
lich in wenigen Wochen abhetzt, hat weder Zeit noch Lust, Bie zu
besuohen. Er erblickt sie nur aus der Ferne, von der Nordküste
Siziliens oder auf der Fahrt von Neapel naoh Messina, Wie ein in
der Mitte abgescimittener Zuckerhut ragt aus dem offenen Meer der
Stromboli, — 921 m hoch — eine wunderbare Erscheinung. Noch
seltsamer wirkte es auf mich, als ich vor Jahren, in den Gebirgen um
Palermo streifend, auf einmal ganz weit draufsen im Meer zwei Ge-
bilde entdeckte, beide nebeneinander von der Form eineB umge-
stürzten Asches. Wenn ich oft die merkwürdigsten Wolkenfornm-
tionen beobachtet hatte — ein Hauptreiz dieser südiiohen Küsten — ,
das konnten keine Wolken sein. Und richtig, Kompafs und Karte
auf die beiden Silhouetten eingestellt, belehrten mich: es waren die
Inseln Alicuri, 668 in, und Filicuri, 773 m hoch, die, nicht weniger als
16 geographische Meilen von mir entfernt, aus dem äufsereten Meer
aufstiegen.
Die Äolischen oder Liparisohen Insein sind durchweg vulkanisch,
und daher bilden den Hauptteil der Besucher die Geologen, die mit
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dem Spitzhammer überall loehauen und wühlen und klopfen und
ganze Säcke voll der verschiedensten Gesteine mit fortnehmen. Aber
auch für den Laien, der ein wenig Sinn für poetisohe Sage und alte
Geschichte übrig behalten hat, lohnt siob ein Besuch dieser land-
schaftlich herrlichen, mit einem köstliohen Klima gesegneten Eilande.
Läfst er sich durch die etwas mangelhafte Unterkunft und Verpflegung
den Humor nicht verderben und ist er genug Philosoph und Psycho-
log, um sich an den Qalgengesichtern, die ihm in der Verbrecherkolonie
Lipari auf Schritt und Tritt begegnen, nicht zu stofsen, so wird er
von diesem Ausflug einen kostbaren Schatz ganz eigenartiger Erinne-
rungen nach Hause tragen.
Wie gelangt man ins Reich des Äolus?
Im Hinblick auf den geringen Post- und Frachtverkehr sind die
Verbindungen keineswegs ungünstig. Dreimal in der Woche geht
mitternachts der mittelgrofse Dampfer „Coreica“ von Messina nach
Lipari, besucht abwechselnd einige andere Inseln und kehrt denselben
Tag zurüok. Da ich meine Nachtruhe nicht unnötigerweise opfern
wollte, zog ich es vor, den kleinen Postdampfer zu benutzen, der täglich
zwischen Milazzo und Lipari hin- und herfährt. Milazzo erreioht der
Schnellzug von Messina in einer Stunde.
An einem frischen Aprilmorgen des Jahres 1903 stach ioh in
See. Die beleidigend nüchterne Hafenstrafse mit dem gewaltigen
spanischen Kastell darüber, der Friedhof mit seinen scbmuoken Toten-
häuschen ziehen rasch vorüber. Beinahe eine halbe Stunde gleitet
dann das Sohiffchen an den Ölhainen der langen Landzunge von
Milazzo hin, von deren Höhen die Villen reicher Kaufherren übers
Meer hinausblicken.
Originell war das Fahrkartenlösen. Kaum hatten wir den Hafen
verlassen, so rief einer: Far i biglietti! Sämtliohe sieben Passagiere
begaben sich zum Schalter und nahmen ihre Karten. Naoh fünf
Minuten kam derselbe Rufer mit der Zange, knipste und behielt die
Karten. Die reine Aufmunterung zum .Schwarzfahren“, diese Art
Kontrolle!
Am äufsersten Ende der Landzunge grüfst aus dunklen Oliven
der kalkweifse Leuchtturm von der Klippe nieder. Das Schiff biegt
um das Kap herum, und schon treten die beiden nächsten Inseln,
Vulcano und Lipari, in ihrer ganzen Breite hervor, durch eine schmale
Wasserstrafse, die Bocche di Vulcano, geschieden. Auf einem der
eisernen Ankerhalter vorn am Bug sitzend, lafs' ich mioh nach langer
Pause wieder einmal auf dem Meer wiegen und halte fleifsig Umschau.
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Hinter mir bleibt im weiten Umkreis die Küste Siziliens zurück, von
den Nebroden bei Messina bis zu den Madoniden bei Termini Im
Norden aber steigen aus dem Seedunst allmählich Panaria und Strom-
boli, dazwischen der kleine Felsen Basiluzzo klar empor. Uber dem
östlichen Kap von Lipari, der Doppelkuppe des Monte Rosa, schimmert
es in der Morgeosonne grellweifs auf — das sind die beiden Bims-
steinberge. Nicht lange, so nähern wir uns Vulcano. Moosgrüne
Hänge wechseln mit rosenroter Lava — der erste der vielen Farben-
effekte, die mich auf diesen Inseln erwarteten. Aber bald weicht das
karge Grün einer gänzlich vegetationslosen, sohwarzgrauen Lava;
überall lange, öde Sohuttrinnen, wildzerklüftele Felsenabstürze. Da
der Hauptkrater, starr, klobig, düster drohend. Dio kleine Gruppe
des Vulcanello daneben zeichnet sioh in elegant geschwungener Linie
gegen den Himmel ab. Im Hintergrund tauchen einsame Klippen
auL die höchste ein leibhaftiger Doppelgänger des grofsen Faraglione
von Capri.
Nach zweistündiger Fahrt gliedert sioh die weifse Steinmasse,
auf die wir zusteuern, zu Häusern und Türmen. Sie wird überragt von
einem breiten, scheinbar unnahbaren, grauen Felsen mit den Ruinen
einer grofsen Festung, dem „castello“. Ich schlug meinen Ilomer auf,
X. Gesang: Odysseus erzählt den Phäaken seine Begegnung mit dem
Windgott, der nach der Meinung der Alten (Diodor) auf den Äolischen
Inseln1) hauste.
Eine echt komische Figur, dieser Alte: halb Dämon, halb Iosel-
könig, der in seinem Palast mit seiner Frau und seinen zwölf Kindern
bei Flötenmusik immerfort schmaust, -tausend köstliche Speisen", und
nur zuweilen seine Windgeschäfte erledigt, indem er diesen oder jenen
losläfst und den, der gerade weht, wieder in den Sack steckt. Von
der Schulbank her haftet wohl nooh manchem im Gedächtnis, wie
Odysseus dann vom Westwind getrieben — die anderen Winde steckten
im Schlauch — nach neun Tagen endlich die Wachtfouer von lthaka
wiedersieht, aber ermattet von der langen Mühe einschläft. Da öffnen
seine vorwitzigen Gefährten den geheimnisvollen Schlauch. Und im
Nu entsausen die Winde, dos Schiff wird wieder ins » Weltmeer" ge-
trieben, zurück nach Lipari (Äolia). Odysseus will um einen neuen
guten Wind bitten, aber des prächtigen Alten Geduld ist zu Ende:
Hebe Dich eilig hinweg von der Insel, Du ärgster der
Menschen!
’) Strabo verlegt den eigentlichen Sitz des Aolus auf Strongyie
(Stromboli).
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Es wird ewig bewundernswert bleiben, wie Homer in seiner
kindlich-naiven Weise verstanden hat, ein so trauriges Begebnis, wie
das nochmalige Versohlagen werden von der Heimat, ein so furcht-
bares Eleinentarereignis, wie den Schirokkosturm auf offenem Meer,
mit der Würze feinsten Humors zu durcbtränken.
Ist Homer nicht vielleicht selbst in jungen Jahren hier gewesen,
hat hier einen originellen Inselkönig da oben auf seiner stattlichen
Burg hausen sehen, hat die Mythe vom Äolus, der hier vielleicht
göttlich verehrt wurde, gehört, und als er dann im reifen Alter die
.Odyssee" dichtete, schlossen sich jene Eindrücke: die wie Stahl in
der Sonne schimmernden, glatt abfallenden Bimssteinwände und das
hohe Felsenschlofs in seiner Phantasie zur blinkenden Burg des
Äolus zusammen. Wenn die älteste Griechenkolonie auf Sizilien,
Naxos, erst 751 v. Chr. gegründet wurde, so bestand doch Jahrhun-
derte zuvor schon ein eifriger Seeverkehr mit dem fernen Westen.
Beweis: Das etwa 1000 v. Chr. angelegte Cumae bei Neapel und die
Erwägung, dafs einem so gewichtigen Schritt wie der Auswanderung
einer nach vielen Hunderten zählenden Menschenmenge und ihrer
endgültigen Niederlassung im Barbarenlande eine langjährige, genaue
Erforschung der zu besiedelnden Örtlichkeit vorausgehen mufste.
Homer flicht seinem Epos mit Vorliebe gerade in Sizilien lokalisierte
Sagen ein, z. B. die von den Cyklopen, von Scylla und Charybdis, er
gibt gerade die siziÜBohe Landschaft in so treuen Bildern wieder, dafs
ich für meine Person nicht daran zweifle, dafs er die Insel mit eigenen
Augen gesehen hat.
* •
Aus dieser Versenkung ins graue Altertum rief mich die pfeifende
Sirene in die Gegenwart zurück. Das SchiCT stoppte. Eine Barke
führte mich ans Land. Um des ewigen Ärgers mit den Gepäck-
trägern überhoben zu sein, nahm ich meinen Bucksaok selbst auf
die Sohultem und bahnte mir mit dem Stock einen Weg durch die
gaffende Menge.
Wie freute ich mich, im Gasthof des Don Franoesoo Traina
einen Teil des Werkes: .Die Äolischen Inseln“, von Prof. Alfred
Bergeat vorzufinden. Dann brachte der Wirt stolzen Blickes auch
die Photographie dieses seines „amico“ herbei, der vor Jahren lange
Zeit bei ihm gewohnt habe. Wie ein Grufs aus der fernen Heimat
berührte mich das unternehmungslustige, jugendfrische, echt deutsche
Antlitz.
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Ich spazierte durch die etwas altmodisch gepflasterten, aber
sauber gehaltenen Strafsen und freute mich an dem Wohlstand, der
aus den schmuoken Häusern, den freundlichen Kirohen zu mir sprach.
Nur wunderte ioh mich, an Denkmälern weder den üblichen Gari-
baldi, noch Viktor Emanuel oder Humbert I. vorzufinden, son-
dern nur den heiligen Bartholomäus. Ihm ist am Hafen aus weifsem
Marmor ein Standbild erriohtet vom Ordo populusque Lipareensis,
also vom Domkapitel und Volk von Lipari, und zwar, so lautet die
klerikal-demokratische Inschrift weiter, weil dieser ihr stets gegen-
wärtiger (praesentissimusl) Patron die Äolischen Inseln 1864 vor der
lues asiatica, der Cholera, sicher beschützt habe, die damals bekannt-
lich im nahen Sizilien wütete. Als ich dann auf einem hochgelegenen
Platz ein palastähnliches Gebäude in gotischem Stil bewunderte, ge-
sellte sioh ein Herr zu mir, der mir bedeutete, das sei das Sohulhaus
(man vernahm auoh laut deklamierende Kinderstimmen aus dem
Innern). Auf meine Frage, warum es statt der Fenster Bretterver-
schläge habe, antwortete er mir, die Gemeinde habe kein Geld mehr,
diesen Palazzo fertig zu bauen. Das liefe nun allerdings auf eine
heillose Finanzwirtschaft schliefsen. Dieses Haus schätzte ich auf
wenigstens 100 000 Lire, und jetzt langte es nicht einmal mehr zu
den Fensterscheiben.
Don Giovanni erbot sioh, mich aufs Kastell zu begleiten.
Durch mehrere Tore an patrouillierenden Wachen vorbei geht es
aufwärts, dann durch eine Kaserne in ein Gewirr von engen, finsteren
Gassen. Die Kaserne sperrt die Verbrecherkolonie von der Aufsen-
welt ab. Ich hatte Gelegenheit, in einen der seohzehn grofsen Säle
(cameroni) zu blicken, in denen die achthundert Verbannten sohlafen
und hausen: zwei lange Reihen ärmlicher Betten einander gegenüber
in einem stallähnlichen, sohlecht beleuchteten Raum von dürftigster
Ausstattung. Die Ordnung ist sehr streng. Zwar dürfen die „ooatti“
aufser an Bonn- und Feiertagen morgens von aoht bis zwölf Uhr und
dann wieder bis zum Trompetensignal gegen Abend in der Stadt sich
aufbalten, diese aber nicht verlassen, auch dürfen sie keine Stöoke oder
Messer bei sich tragen, keine Versammlungen oder Unterhaltungen
besuchen. Eine Stunde vor Ave Maria, d. h. im Winter schon vor
vier Uhr, werden die Gefangenensäle geschlossen. Die kleinsten Ver-
gehen werden mit wochenlangem Arrest, schwerere mit Isolier- und
Dunkelzelle, Zwangsjacke (camicia di forza) und Ketten bestraft. Zum
Mittagsappell müssen sie sich alle im Kastell einfinden und erhalten vom
Staat die massettu, das tägliche Zehrgeld in Höhe von fünfzig Centesimi.
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Auoh andere Staaten haben ja die Zwange Verschickung. Rufs -
land hat sein Sibirien und die Insel Saohalin, auf der allein 30 000
gemeingefährliche Individuen zum Heile der Gesamtheit isoliert sind,
Frankreich hat sein Cayenne. So wird man es dem italienischen
Staat, der an so sohweren sozialen Schäden wie Cammorra, Mafia,
Anarchismus krankt, nioht verargen dürfen, wenn er seine schlimmen
Elemente in ähnlicher Weise unschädlich zu machen sucht. Dafs er
dazu in Nachahmung des aitrömisohen Vorbildes seine Inseln benutzt,
wird man begreifen, wenn schon bedauern, dafs landBohaftlioh so
schöne und interessante Punkte, wie die Liparischen, die Ägadischen
und namentlich die Ponza-Inseln dadurch vom Besuch der reise-
lustigen Menschheit beinahe ausgeschlossen werden. Auch leiden
natürlich die Bewohner der Strafkolonien. In Lipari sind die ooatti
verhafst und gefürchtet, die Weiber nennen sie verächtlich sterrati (die
Entwurzelten). Von ihren zehn Soldi täglioh können sie kaum leben.
So ereignen sioh oft Diebstähle und Verbrechen wider die Person.
Was an dem gegenwärtigen System des domicilio coatto mit
Recht getadelt wird, ist folgendes:
1. wird cs nioht duroh richterliches Urteil, sondern duroh Ver-
fügung der Verwaltungsbehörde verhängt und zwar nach
Verbüfsung der längeren oder kürzeren Freiheitsstrafe. Da-
durch wird besonders politischen Verbrechern gegenüber der
Willkür Tor und Tür geöffnet;
2. besieht kein Arbeitszwang. So werden diese Hunderte ver-
lorener Existenzen im Müfsigang bestärkt, die noch nicht
ganz verdorbenen in der Tat dazu erzogen. Diese gehen
überdies bei dem jahrelangen, engen Zusammenleben mit
schlimmen und sohlimmsten Elementen hier in eine wahre
Hochschule des Lasters. Um sich bei den Vorgesetzten lieb
Kind zu machen und bald wieder wegzukommen, spielen
viele den Spitzel und Angebor. Daher das Sprichwort: settc-
cento coatti — settemila spie (700 Verbannte, 7000 Spione).
Kurz, es ist die Hölle auf Erden, namentlich für die politi-
schen Verbrecher: Redakteure demokratischer Blätter, Partei-
führer u. s. w., die oft aus den gebildetsten Kreisen stammen ;
denn das ist
3. meiner Meinung nach der gröfste Übelstand dieser Einrichtung,
dafs die gemeinsten Büsowiohte: Betrüger, Mörder, Räuber,
Taschendiebe mit politischen Gefangenen, solohen, die wegen
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Aufreizung, Majestätsbeleidigung und ähnlichem verurteilt
waren, zusammengesperrt werden.
4. bedeutet es eine ungeheure Belastung des Budgets. Italien
besitzt sieben solcher Strafkolonien. Bei einem Durchschnitts-
bestand von achthundert Köpfen kostet die von Lipari allein
dem Staat täglich 400 Lire, das sind jährlich etwa 150 000 Lire
nur an Kostgeldern, wofür die Empfänger keine Hand rühren.
Die Mauern der Festung umschliefsen eine ganze kleine Stadt
für sich mit Kaufläden, Barbierstuben, Kneipen u. s. w., alle von ehe-
maligen Verbannten gehalten. Überall sieht man die Sträflinge in
ihren derben, braunen Zwilliohsachen herumlungern und -hocken,
von der tödlichsten Langweile geplagt. Die Anstaltskleidung tragen
nur die Armen, die besser Gestellton dürfen sich auf eigene Kosten
bürgerlich kleiden und sind dann nur an ihrer Physiognomie und
Haltung zu erkennen. Aber unschwer. Denn aus ihnen spricht die
ganze Stufenleiter des menschlichen Lasters — hier können Psychiater
und Untersuchungsrichter Studien machen. Der scheue, unsichere
Seitenblick des einen verrät den Einbrecher, der stolze, verächtliche
Gesichtszug eines anderen den sizilianisoben Strafsenräuber. ln
diesen Augen lauert der bestiengleiche Blutdurst des Mörders, in
jenen die schlecht verhohlene Rachsucht des Anarchisten. Viele sind
offenbar epileptisch und halb irre, gehören eigentlich ins Narrenhaus.
Mehrere grüfsten mich, wohl weil sie in mir einen Regierungsbeamten
vermuteten, auf den sie einen guten Eindruck machen wollten.
Plötzlioh hallen durch die enge Gasse militärische Schritte. Ich
wende mich um und gewahre etwa ein Dutzend Dreimaster, Säbel
und Gewehre — ein Gefangenentransport.
Eben ist die „Corsica“ aus Messina gekommen und hat aus
dem Zentralgefängnis daselbst wie gewöhnlich neue unfreiwillige Be-
wohner der Insel zugeführt. Einige tragen einen kleinen Sack, einen
Koffer auf dem Rüeken, andere sind beinahe elegant gekleidet und
sehen intelligent aus, die meisten, zerlumpt, tragen das Kainszeichen
an der Stirn. Zu zwei und zwei mit Handschellen aneinander ge-
schlossen trotten sie zwischen den Carabiniori dahin. Ihr übernäch-
tiges Aussehen verstärkt den melancholischen Eindruck.
Sie werden in ein Wachtzimmer geführt und ihrer Ketten ent-
ledigt — wir sahen es durchs offene Fenster — und erhalten den
foglio di permanza, den Ausweisschein, den sie immer bei sich führen
und auf Verlangen vorzeigen müssen. Dann treten sie heraus, zuerst
Himmel und Erde. 1901. XVI. 4. ]*2
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ein höchst unmotiviert lächelndes, krankhaft gestikulierendes Männ-
chen, das uns mehrmals mit dem Blick eines hungrigen Hundes um-
kreiste, — gewifs ein Taschendieb. Dann zwei echte Mafiosen, mit
dem auch durch langen Korker ungebrochenen Verbreoherstolz, end-
lich auch die beiden Eleganten, weniger ergeben in ihr Schicksal, das
sie verdammt, nach Verbüfsung ihrer Strafe nun noch zwei, drei, viel-
leicht fünf Jahre fern von Heimat und Familie beständig mit dem Ab-
schaum der Menschheit zusammen zu hausen.
„Jetzt sind’s wenige, nur achthundert“, meinte Don Giovanni.
„Aber 1898 nach dem Aufstand von Mailand, da lieferten uns die
Kriegsgerichte so viele her, dafs die Zahl auf 1200 stieg.“
Wir traten in den Dom. Denn sonderbarerweise erhebt sich
mitten in der Verbrecherstadt die Hauptkirche, und der Bischof, ge-
folgt von seinen 24 Priestern, führt die grofsen Prozessionen mitten
durch dieses traurige Asyl. Die Kirohe ist dem heiligen Bartholomäus
gewidmet, auf einem Altar kann man den Patron der Stadt in seinem
ganzen Glanze bewundern: lebensgrofs, in Silber getrieben, ein alter,
bärtiger Mann mit ziemlich geistlosem Gesichtsausdruck, trotz der
goldnen, ganz altertümlichen Krone, die ihm aufgestülpt ist, sehr
traurig dreinblickend. Kein Wunder — über dem reohten Arm trägt
er seine eigene Haut, die ihm eben abgezogen worden ist, wie mir
Don Giovanni auseinandersetzte. Nun erst verstand ioh die merk-
würdige Bildung seines Körpers, an dem die Rippen und Muskeln
ganz unnatürlich hervortraten. Der Arme war geschunden worden
und zutn Zeichen seines Märtyrertums hielt er in der einen Hand ein
grofses, vergoldetes Fleischermesser, in der anderen eine Blume, alles
aus Silber. Ich fragte meinen Begleiter, wie der Apostel zu der Ehre
käme, gerade hier so intensiv verehrt zu werden. „Er ist allerdings
in Kleinasien geschunden worden“, sagte Don Giovanni nachdenk-
lich. „Aber seine Gebeine sind eines Tages in einer Kiste übers
Meer geschwommen und in Lipari gelandet. Seit der Zeit ist er unser
Heiliger.“
In der Sakristei, wo eine Porträtsammlung die liparischen
Bischöfe der letzten zwei Jahrhunderte vorführt, liefs ich mir den
sonderbaren Monsignore Tüdaro zeigen, der vor etwa fünfzig Jahren
eine hier aufgedeckte römische Bäderanlage wieder zuschütten liefs,
damit — keine Fremden auf seine Insel kämen. Also der Standpunkt
des Tiroler Klerus und der chinesischen Mandarinen. Der Monsignore
hatte nichts Fanatisches oder besonders Rückschrittliches in seiner
Miene, und ich konnte nicht umhin, ihm ein wenig recht zu geben.
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Solch eia Inselzustand hat immer etwas Einsames, sagt Goethe
von dem groben, dem Festland doch so nahen Sizilien. Um wie viel
mehr gilt das von diesen kleinen, entlegenen Inseln! Dies Gefühl der
Abgeschlossenheit gibt zugleich das Bewufstsein, nur auf sioh selbst
gestellt zu sein und erzeugt mit dem Mifstrauen gegen fremde Iiilfe
das Vertrauen lediglich auf die eigene Kraft. Und viel stärker ist
infolgedessen das Gefühl der Zusammengehörigkeit So kommt es,
dafs wir schon im grauen Altertum hier eine eigentümliche Staats-
Verfassung vorfinden. Die Liparäer lebten nämlich, wie Diodor
(V. Buch 9. Kap.) erzählt, in gemeinsamen Speisegenossensohaften ; die
ganze Insel war gemeinschaftliches Eigentum und wurdo von dem
einen Teil der Bewohner im brüderlichen Verein bebaut, während der
andere Teil dem Meer seine Schätze abgewann und gegen Seeräuber
und sonstige Neider dieses stillen Glückes zu Felde zog, so gegen
die Etrusker im 6. Jahrhundert, gegen die Athener 415, später gegen
die Karthager. Vor mehr als 2000 Jahren bereits war hier, wenigstens
in groben Zügen, das Ideal des sozialistischen Zukunftgstaates ver-
wirklicht Und wie stark die Liparäer waren, lehrt ihre Unbesieg-
barkeit: Die Athener, die im Winter 427/26 mit dreifsig Schiffen
einen Angriff auf die Äolischen Inseln unternahmen, konnten nur das
flache Land und die unbewohnten Inseln Hiera (= Vulcano), Didyme
(= Panaria), Slrongyle (=• Stromboli) verwüsten, deren Felder die
Liparäer von Lipari aus bebauten, diese selbst in ihrer festen Stadt und
Burg aber nicht bezwingen.
Und wenn sie auch von den Kriegsstürmen der Völkerwanderung
vom Norden her und den Baubzügen des von Süden immer wieder
andringenden Islams nicht ganz verschont blieben, im allgemeinen
haben die Insulaner stets für sich ein still-zufriedenes Dasein geführt.
Wie die alten Namen sich fast unverändert erhalten haben, so sind
die Inseln noch heute unberührt von den vorüberrollenden Jahr-
hunderten, Jahrtausenden. Keine Fahrstrafse und infolgedessen weder
Pferd noch Wagen sind zu erblicken. Den Transport auf den holprigen
Saumwegen besorgen Esel und Maultier. Ihre Fische, die sie kein
essen, und ihr Bimsstein, sowie Kapern, Malvasier, Feigen, die sie
weithin verschicken, das sind die nie versiegenden Quellen ihres
Lebensunterhalts. Welohe Ruhe, welcher Friede weht uns hier an!
Indem ich die milden, edlen Züge des fremdenfeindlichen Bischofs
betrachtete, kam mir der Gedanke: möglich, dab er in erster Linie
die Ketzer von der ihm anvertrauten Herde fernhalten wollte. Aber
vielleicht hatte er auch drauben den erbitterten Kampf ums Dasein
180
gesehen, wie die Menschen, in den grofßon Städten zusammengepfercht,
naoh Gewinn und LebenBgenufs gieren und je reicher, desto unzu-
friedener werden, hatte geBehen, wie in mancher Fremdenstadt sich
zwar der Wohlstand einzelner hebt, aber auoh durch das böse Beispiel,
nämlioh durch die Ansprüche und den Luxus der Gäste, die grofse
Masse nur anmafsender, fauler, überhaupt in jeder Beziehung sittlich
minderwertiger wird. Davor wollte der Monsignore sein arbeitsames,
behaglich dahinlebendes Inselvölkohen bewahren.
Von der Höhe des Kastells geniefst man einen reizenden Blick
auf den kleinen Hafen, auf die platten Dächer des Städtchens mit den
schmucken Kirchen dazwischen. Dahinter in gefälligen Linien auf-
steigend, prangen Gärten und Weinberge, überall durohsetzt von
blinkenden Meierhöfen. Ein freundliches Grün hat die Tufflandschaft
dieses südlichen Teiles der Insel überkleidet und zieht sich bis zu
den drei höchsten Erhebungen, den Monti Guardia, Giardina und Sant'
Angelo hinauf, die die Stadt überragen. Das gewaltige Bimsstein-
massiv der nördlichen Inselhälfte bleibt verdeckt.
Don Antonio zeigte mir von den Bastionen aus den recht be-
scheidenen Palast des Bischofs, dann das desto stattlichere Schwestern-
haus. 22 Nonnen unterrichten da 700 Mädchen. Selten wird man in
Unteritalien mit seinen 60—70 pCt Analphabeten im Durchschnitt
einem 60 stark besuchten Schulunterricht begegnen. Auch ein Zeichen
des Wohlstandes.
(Fortsetzung folfft.)
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Die Fettwachsbildung bei Leichen.
Von 8. Kfltsrlif r in Budapest.
„Es gibt mohr Ding' im Himmel und auf Erden,
Als eure Schulwoiaheit sich träumen Iftfat."
fu diesen dürfte es wohl auch gehören, dafs die Natur in ihrer
Werkstätte zuweilen Kunststücke vollführt und Probleme löst,
an denen alle Weisheit und Wissenschaft der Menschen zu
schänden wird. Einen wunden Punkt im modernen Qrofsstadtleben
bilden die Friedhöfe. Viele Ärzte und Hygieniker sprechen sich gegen
dieselben aus und befürworten das System der Leiohenverbrennung.
Von dieser wollen Vorurteil und vermeintliche Pietät jedoch nichts
wissen. Dichter und Gelehrte befassen sich' mit diesem Gegenstand,
ohne zu einem endgiltigen Ergebnis zu gelangen. Selbst die furcht-
bare und fruchtbare Phantasie eines E. A. Poe und E. T. A. Hoffmann
hat kein Mittel gefunden, wie man menschliche Leichen wirklich ge-
fahrlos in alle Ewigkeit erhalten könnte, ja, wie sie sich sogar für die
Nachwelt nutzbringend verwerten liefsen. Die Natur, diese rücksichts-
lose Herrscherin über Zeit und Ewigkeit, zeigt uns den Weg. Es
mag merkwürdig und verblüffend klingen, aber es ist eine wissen-
schaftlich erwiesene Tatsache, dafs jeder von uns, der in feuchte Erde
bestattet wird, sich in Seife verwandeln kann. In Indien gibt es
einen Flufs Hooghly, der angeb! ioh die Eigenschaft besitzt, ertrunkene
Menschen in kürzester Zeit in Seife zu verwandeln. Wir brauchen
jedoch gar nicht nach Indien zu gehen. In dem medizinischen Museum
des Columbia-Kollegiums kann jeder Besucher einen Glassarg sehen,
in welchem die Leiche eines schönen jungen, zu Seife verwandelten
Weibes ruht. Und im Museum der pennsylvanisohen Universität wird
der zu Seife verwandelte Körper eineB Mannes aufbewahrt. Beides
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ist Seife bester Sorte, mit der man sich jederzeit die Hände waschen
könnte.
Das ist kein Soherz und keine Zeitungsente. Die Schönheit der
„Seifenvenus“, wie man die im Columbia-Kollegium ausgestellte Tote
nennt, dürfte alle irdischen Schönheiten überdauern und bis zum Tage
des jüngsten Gerichts unverändert bleiben. Sie war das Opfer einer
Choleraepidemie, welche in der ersten Hälfte des vergangenen Jahr-
hunderts in New-York wütete, und wurde in ein Massengrab versenkt.
Der Staat liefe sich’s nicht träumen, dafs er ein unfreiwilliger Seifen-
fabrikant geworden sei. Als man viele Jahre später jenen Teil des
Friedhofs demolierte, in welchem sie begraben worden war, fand man
die „Seifenvenus“ zwischen einer Anzahl vollständig verwester Leichen.
Sie sah aus, als ob sie schliefe und jeden Augenblick die Lider mit
den langen Wimpern aufschlagen könnte. Eine tadellos erhaltene
Mumie ohne die soheufsliohe Einpackung; ihre Arme waren rosig
und wohlgerundet, das Gesicht wie von Wachs, mit einem leichten
Sohmerzenszug um die bleichen Lippen; das Haar wellig und braun,
wie es im Leben gewesen.
Kurz nach der Ausgrabung berichtete Dr. Dalton in einer Ver-
sammlung der Pathologischen Gesellschaft in New-York folgendes
über den seltsamen Fund: „Die Leiche wurde 1832 begraben. Man
fand sie kürzlich in einem Massengrab, in welohes man zahlreiche,
an der Cholera Verstorbene versenkt hatte. Der Sarg dieser Frau
befand sich ungefähr zwanzig Fufs tief unter der Erdoberfläche ; unter
demselben lagen drei Reihen Särge, über demselben neun bis zehn.
Die oberste Sargreihe war mit drei bis vier Fufs fester Erde bedeckt.
Der direkt unter diesem Sarge befindliche Boden war sehr feucht;
über demselben stand sogar etwas Grundwasser, und hier fand man
einige zu Fettwachs oder Seife verwandelte Leichen. Die hier vor-
geführte Frau war die tadelloseste unter ihnen. Der Körper war so
mattweifs wie er jetzt ist. Als man ihn ausgrub, strömte er einen
käsigen, erdigen, ammoniakalischen Geruch aus; seither hat sich der
käsige und erdige Geruch gänzlich verloren und nur der ammoniakalische
ist geblieben. Ich glaube, dafs sich diese verseifte Schönheit unge-
zählte Jahrhunderte lang unverändert erhalten kann, wenn man sie
an einem richtigen Ort auf bewahrt.“
Die Leiche des Mannes, welche im anatomischen Museum der
pennsylvanisohen Universität zu sehen ist, wurde vor der amerika-
nischen Revolution auf einem Friedhof des niedrig gelegenen Teiles
von Philadelphia begraben. Als sich die Strafsen dieses Stadtteils
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ausdehnten und man den Friedhof durohschneiden mufste, wurden
zahlreiche Särge ausgehoben, um sie auf einen anderen Friedhof zu
überführen, ln der Hoffnung, an den ausgegrabenen Leiohen inter-
essante Studien machen zu können, kamen einige Gelehrte auf den
Friedhof, darunter auch der berühmte amerikanische Naturforscher
Dr. JoBef Leidy, der in helles Entzücken geriet, als er den in ein
Stück Seife verwandelten Mann erblickte. Dies war ein Fall von
Verseifung, wie man ihn seit vielen Jahren nicht so vollkommen ge-
funden hatte. Leidy reklamierte den Fund im Interesse der Wissen-
schaft sofort von der Friedhofsbehörde, aber diese verweigerte die
Herausgabe mit der Begründung, dafs nur ein Verwandter das Recht
auf die Leiche habe. Dor „Seifenmann“ war notorisch bereits im
18. Jahrhundert begraben worden, der findige Doktor erklärte jedoch
vor dem öffentlichen Notar, dafs der Verstorbene sein Bruder sei.
Daraufhin wurde ihm der interessante Fund ohne weiteres ausge-
händigt; und er brachte ihn in dem bereits erwähnten Museum unter.
Die interessantesten Beriohte über Verseifung des menschlichen
Körpers kommen aus dem fernen Osten. Indien, dieses Land der
Wunder, bringt die vollkommensten und meisten Verseifungen hervor.
Dr. S. C. Mackensie, der lange in Kalkutta Polizeiarzt war, hat
viele zu Seife verwandelte Leiohen mit eigenen Augen gesehen und
geprüft Ja, er behauptet mit aller Bestimmtheit, dafs im Hooghly-
Flufs die Verseifung viel rasoher und tadelloser vor sich gehe als
sonstwo in der Welt. Wir geben ihm das Wort:
„Der sehr warme, von Feuchtigkeit durchtränkte, weiche und
poröse Boden von Unter-Bengalen fördert diesen Vorgang und hat
die Eigenschaft, in drei bis vier Tagen eine in einem Holzsarg be-
grabene Leiche zu verseifen. Fünf Fälle, die ich persönlich prüfte,
beweisen, dafs im Hooghly - Flufs während der kalten Saison im
Februar — in 16 bis 16 Tagen nicht nur die Oberfläche der Leiche,
sondern auch sechs der inneren Organe sioh verseift hatten. Im Mai
trat die vollständige Verseifung des Körpers schon nach drei Tagen
ein; in den heifsen, regnerischen Monaten September und Oktober
habe ich in drei Fällen nach acht bis zehn Stunden eine vollkom-
mene innere und äufsere Verseifung beobachtet. Die vollkommenste
bei Henry James Leslie, einem Matrosen, der im Rausch in den
Hooghly gefallen war. Nach acht bis zehn Stunden fischte man seine
Leiche heraus, und es zeigte sich, dafs sogar Herz, Nieren und Magen
bereits verseift waren. Ein amerikanischer Arzt, Dr. Üandy, erzählt
ebenfalls einen höchst interessanten Fall von Verseifung aus seiner
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eigenen Praxis. In einem Orte am Michigan grub man den Sarg
einer bereits seit acht Jahren auf einer kleinen Insel begrabenen
Frau aus. Das Grab war von einem Sumpf umgeben, der viele
organische Substanzen enthielt. Als man den Sarg aufheben wollte,
erwies er sioh so sohwer, dafs man Verdacht schöpfte und ihn
zu öffnen beschlofs. Nachdem man eine dünne feuchte Erdschicht
entfernt, bot sich den Anwesenden ein seltsamer Anblick. Die Tote
lag unverändert wie am Begräbnistage im Sarge. Da sioh bei der
Berührung der Körper hart erwies, verbreitete sich das Gerücht, die
Frau sei versteinert, doch fand man bald, dafs sie sich durch irgend
einen merkwürdigen chemischen Prozefs in Seife verwandelt habe.
Solche Verseifungen menschlicher Körper sind seit länger als
einem Jahrhundert bekannt. Den ersten Fall entdeckte man auf einem
Pariser Friedhof. Orfila und Fouroey, die sich mit dieser Frage
lebhaft beschäftigten, erklären den chemischen Vorgang folgender-
mafsen: Nur Fettwachs enthaltende Leichen sind der Verseifung
ausgesetzt, und zwar verwandeln sie sich zumeist in ammoniakalische,
zuweilen aber auch in ammoniak- und kalkhaltige Seife. Anfangs
sind sie nur atnmoniakalisch. Das Ammoniak wird durch die Zer-
setzung der stickstofTgesättigten Muskelgewebe erzeugt; dieses ver-
bindet sich dann mit dem ranzig gewordenen Fettgewebe und ver-
wandelt sich durch Feuchtigkeitseinflüsse in ammoniakalische Seife.
Eine einzeln begrabene Leiche verwandelt sich nur selten in Seife,
denn das durch die Zersetzung der Muskelgewebe entstandene Am-
moniak wird in den Flüssigkeiten des Körpers aufgelöst, diese wieder
werden von der Erde aufgesaugt, so dafs sie sich mit dem Fett nicht
verbinden können, um eine Verseifung zu ermöglichen. Wird aber
eine Leiche von anderen umgeben, so erzeugen die oben in Ver-
wesung übergegangenen Leichen ammoniakalische Flüssigkeiten.
Diese werden durch Hegen hinabgespült, sickern in den neunten oder
zehnten Sarg; das W’asser wird selbstverständlich immer ammoniak-
haltiger, und wenn es sich sohliefslioh mit dem Fett der untersten
Leiohen verbindet, erzeugt es Verseifung.
Die «Seifenvenus“ im medizinischen Museum des Columbia-
Kollegiums ist also keine Zauberei, sondern nur eine aus der Werk-
statt der Natur hervorgegangene Musterarbeit, die wert ist, von den
Ärzten und Chemikern des zwanzigsten Jahrhunderts ins Auge gefafst
zu werden. Wenn unsere Toten künftig auf künstliche Weise in acht
bis zehn Stunden «verseift“ werden können, wie jener im Ilooghly er-
trunkene Matrose, wie bald wurde dann bei Epidemien die Ansteckungs-
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gefabr vermieden sein! Auch der Pietät könnte man Genüge tun,
denn die in einer architektonisch schönen Halle in Glassärgen aulge-
stellten .Verseiften“ böten einen angenehmeren Anblick als - unsere
jetzigen Gräber, unter denen die von Würmern zernagten und ver-
westen Überreste unserer Lieben ruhen. Der Verseifungsprozefs
wäre vielleicht auch billiger als die jetzigen hohen Begräbnis- oder
Verbrennungskosten.
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Ersatz des Platins in Glühlampen. Bekanntlich müssen die
Slromzuführungen der Glühlampen an der Stelle, wo sie durch das
Glas hindurchtreten, aus Platin bestehen; denn nur dies Metall läfst
sich ohne Schwierigkeit dicht oinschmelzen. Es liegt dies einerseits
daran, dafs der Ausdehnungskoeffizient des Platins sehr nahe dieselbe
Oröfse bat wie der des Glases und dafs sich das schmelzende Glas
vollkommen luftdicht an diu stets blanke Oberfläche des schwer
oxydierbaren Metalls anlegt. Der stetig steigende Preis des Platins
(z. Zt. 3 Mark das Gramm) macht es begreiflich, dafs man naoh einem
billigeren Ersatz für dasselbe sucht. In Frankreich ist der Versuch
gemacht worden, Nickelstahldraht zum Einschmelzen zu verwenden,
doch ist er daran gescheitert, dafs sich das Material beim Erhitzen
mit einer Oxydschicht bedeckt. Auch ist es nicht ganz leicht, den
zur Erzielung des richtigen Ausdehnungskoeffizienten geeigneten
Nickelzusatz ausfindig zu machen. Mehr Erfolg verspricht man sich
in neuester Zeit von einem Kitt, vermittelst dessen man jeden belie-
bigen Draht lufldicht einkitten kann. Derselbe wird von der fran-
zösischen Glühlampengesellschaft hergestellt; über seine Zusammen-
setzung ist bis jetzt niohts Näheres bekannt, ln seiner Konsistenz
ähnelt er dem reinen Wachs, dabei trocknet er nicht in der Kälte
und schmilzt nioht in der Wärme. Seine Verwendung ist sehr ein-
fach. Man bringt ihn in einen Behälter, durch welchen die Zuleitungs-
drähte führen, und setzt diesen am Grunde der Lampe an Falls sich
die Erfindung bewährt, so werden die Glühlampen zweifellos eine be-
deutende Preisermäfsigung erfahren. Dr. v. P.
t
Magnesium-Aluminiumlegierungen. Dafs das Aluminium trotz
seiner Billigkeit nicht allgemein zur Herstellung von Instrumenten,
Gefäfsen, Schüsseln etc. verwendet wird, liegt an seiner mangelhaften
Bearbeitbarkeit und seiner unzureichenden Festigkeit und Widerstands-
fähigkeit. Es läfst sich schlecht drehen, verschmiert die Feilen, gibt
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schlechte Gewinde, die sich nuoh kurzer Zeit festsetzen, und zeigt
geringe Beständigkeit gegen die Einflüsse der Feuchtigkeit Schon
früh kam man auf die Idee, die mechanischen Eigenschaften des Alu-
miniums durch Zusatz anderer Metalle zu verbessern, wie man es
schon lange mit dem Kupfer (Bronze und Messing) machte. Ebenso
wie bei den vorgenannten Legierungen wurde als Zusatz ein ver-
wandtes Metall gewählt und zwar Magnesium. Man erhielt jedoch
nur spröde und mechanisch unbrauchbare Produkte. Der Grund war
einfach darin zu suchen, dafs man den Zusatz an Magnesium zu grofs
genommen hatte. Ludwig Mach gelang es endlich, durch Beimen-
gung von 10—30 Teilen Magnesium zu 100 Teilen Aluminium höchst
bearbeitbare und widerstandsfähige Legierungen herzustellen. 10 Teile
Magnesium brachten die Eigenschaften des gewalzten Zinks hervor,
15 Teile die des Messinggusses, 20 — 26 Teile die des gezogenen
Messings etc. Falls es gelingt, das Zusatzmetall Magnesium, das bis
jetzt technisch noch zu teuer ist, in grofsen Massen billig herzustellen
(das Rohmaterial ist völlig wertlos), so ist es wahrscheinlich, dafs das
-Magnatium" die gröfste Verbreitung erringen wird. Einen wesent-
lichen Vorzug vor den Schwermetallegierungen des Aluminiums
dürfte das geringe spezifische Gewicht des Magnesiums bedingen
(Magnesium 1,7, Aluminium 2,7. dagegen Kupfer 8,9).
Dr. M. v. P.
*
Über „Titanthermit“.
Eine kurze Mitteilung über Lötung von Eisen mit Eisen ver-
mittelst des Goldschmidtschen „Thermitverfahrens“ findet sich be-
reits im Januarheft 1903 dieser Zeitschrift. Es soll hier von einer
anders gearteten Verwendung des Thermits die Rede sein. Zuvor
mag noch einmal kurz gesagt sein, was man unter Thermit versteht:
Thermit ist ein inniges Gemisch, das im wesentlichen aus Aluminium
und einer Eisen-Sauerstoffverbindung besteht. Es hat die Eigenschaft,
einmal entzündet, ohne äufsere Zufuhr von Sauerstoff in sich weiter
zu brennen. Der Sauerstoff, der zum Brennen benötigt wird, mufs
also der Eisenverbindung entzogen werden, und os schmilzt daher ein
sehr reines, dünnflüssiges Eisen aus dem Thermit aus, welches
schätzungsweise eine Temperatur von 3000 0 hat. Dieses wird haupt-
sächlich zum Schweifsen und Löten von Eisen auf Eisen benutzt. Zur
Darstellung des Eisens im grofsen wäre das Verfahren zu teuer. Da-
gegen wird es mit Vorteil angewendet, um die Eigenschaften des
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Gufaeisens zu verbessern. Es handelt sich vorzüglich um zwei wich-
tige Aufgaben: Das Flufseisen von den darin gelösten Metalloxyden
zu befreien und Gase wie Stickstoff, die z. B. beim Formen in innige
Berührung mit der flüssigen Masse kommen, wegzuschaffen; denn
diese würden bei der Abkühlung zur Bildung von Poren im Gufs-
eisenstück Anlafs geben. Es ist allbekannt, dafs das schwedische
Eisen wegen seiner vorzüglichen Eigenschaften allen anderen Eisen-
sorten vorgezogen wird. Man suchte nach dem Grunde und fand ihn
in der Anwesenheit von Titan in den schwedischen Erzen. (Titan ist
ein seltenes Element, welches im sogenannten „periodischen System“
der Elemente in der Kohlenstoffgruppe hinter dem Silicium steht).
Es hat die Eigenschaft, Gase, besonders Stickstoff, zu binden. Auf
diese Beobachtung gründet sioh das Goldschmidtsche Verfahren der
Anwendung von „Titanthermit“ zur Erzielung eines poren- und oxyd-
freien Gufseisens. Thermitmischung, der Titan zugesetzt ist, wird in
Büohsen aus Blech verpackt, die Büchse an einem langen Eisenstab
angebracht und dann in das flüssige Metall hineingestofsen. Durch
die Hitze des Bades entzündet sich sofort das Thermit, die Blechbüchse
wird aufgelöst und die Schlaoke steigt nach oben. Das Bad kommt
während der Reaktion, die 1 1 /2 — 2 Minuten dauert, in kräftige Wallung,
so dafs eine vollkommen gleiohmäfsige Durchmischung erreioht wird.
Die Menge des zuzusetzenden Thermits beläuft sioh auf '/s — V« pCL
vom Gewicht des Metallbades. Falls man nur eine durchmischende
Wirkung erzielen will, kann man ebenfalls das Titanthermit mit
Erfolg anwenden, z. B. wenn man dem bereits aus dem Ofen in die
Giefspfanne strömenden Eisen duroh Zusatz von Ferromangan oder
Ferrosilicium eine gröfsere Härte bezw. Weichheit geben will; ebenso
wenn man zur Erzielung einer besonderen Festigkeit Stahlabfälle in
gröfseren Mengen mit einsohmilzL Immer dient die Büchsenreaktion
dazu, das Material homogen und dicht zu machen.
Dr. M. v. P.
*
Zur Reinigung antiker Bronzen machte Professor Rhouso-
pulos in der Chemischen Zeitschrift von Professor Ahrens einige
Bemerkungen von allgemeinem Interesse. Nach seinem Verfahren
wurde die Reinigung und Wiederherstellung sowohl der Bronzen auf
der Akropolis, als auch jener wundervollen Funde vorgenommen, die
vor Antikythera mehr als 2000 Jahre lang auf dem Meeresgründe
geruht haben. Dafs derartige Gegenstände oft bis zur Unkenntlichkeit
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verändert sind, versteht sich von selbst. Seealgen, Salzwasser und
Druck haben das Ihrige getan, um auch den letzten Rest von innerem
Halt zu zerstören. So veränderte Stücke fallen dann meist trotz
aller Konservierungskünste der völligen Vernichtung anheim. Selbst
ein trockener Aufbewahrungsplatz im Museum kann sie nicht mehr
schützen. Bisweilen aber ist das korrodierte und zernagte Aussehen
nur ein rein äufserlicher Effekt, und die wertvolle Reliquie schlummert
unversehrt unter ihrer unansehnlichen Umhüllung von Sohlammkrusten,
Kalk- und Kieselverbindungen oder einer Sohicht von Metalloxyden.
Dann ist sie zu retten. Eine sachverständige, chemische und im
Grunde aufserordentlich einfache Behandlung fördert sie wieder zu-
tage. Der Gegenstand wird mit einem Zinkstreifen umwickelt und in
eine Lösung von verdünnter Salzsäure gelegt. Dann tritt in bekannter
Weise Elektrolyse ein, und das Zink löst sich unter Bildung von
Wasserstoff auf. Gleichzeitig beginnt der Reinigungsprozefs. Der
entstandene Wasserstoff nämlich macht sich an den Bronzegegenstand
und reduziert die entstellenden Kupferverbindungen wiederum zu
metallisch festem Kupfer. Bronzen, die nach diesem elektrolytischen
Verfahren behandelt wurden, sind in der Tat kaum noch wioderzuer-
kennen und überrasohen in höchstem Mafso durch ihre fast unver-
sehrten Formen. Sind irgendwelche Spuren chemischer Verunreini-
gungen zurückgeblieben, so können allerdings neue Zerstörungen be-
fürchtet werden. Deshalb folgt der chemischen Reinigung noch eine
mehr mechanische mit Hilfe von Pottasche und Sodalösung und duroh
Behandlung mit reinen Metallbürsten. Eine Erhitzung über gelindem
Feuer in einer Einhüllung von trockenen Sägespänen beseitigt dann
auch nooh die letzten Spuren von Feuchtigkeit. Werden die gerei-
nigten Gegenstände vorsichtig mit einer feinen Schicht von reinem
Wachs eingerieben, so erhalten sie eine Widerstandsfähigkeit, welche
den Einflüssen der Witterung durch Jahrhunderte zu trotzen vermag.
Soweit der Bericht des griechischen Professors. Wir wollen bemer-
ken, dafs das von ihm geschilderte Verfahren hier zu Lande durchaus
nicht unbekannt und neu ist. Es wird schon seit längerer Zeit zur
Konservierung der Bronze-Altertümer unserer Museen mit bestem Er-
folge angewendet (vgl. auch „Himmel und Erde“, Jahrg. XIV, Seite 476).
D.
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Jochmau n: Grundrifs der Experimentalphysik. Horausgegeben und
bearboitot von O. Hermes und 1*. Spios. Verlag von Winckelmann
& Söhne, Berlin.
Das beliebte und allgemein geschätzte Srhulbuch liegt nunmehr in fünf-
zehnter Autlage vor. Es hat sich sowohl nach Form als Inhalt sehr verändert
und, wie wir gleich vorweg bemerken wollen, auch zu seinem Vorteil. Schon
die Ausstattung ist eine wesentlich bessere geworden: gutes Papier und guter
Druck, dazu eine grofso Anzahl neuer oder umgezeichneter, immer aber in-
struktiver Figuren. Ein Dreifarbendruck und eine Spektrahafel fallen besondere
auf, letztere namentlich durch die Richtigkoit und Leuchtkraft ihrer Farben
Mit der Ausstattung kann man daher wohl zufrieden sein, aber auch mit dem
Inhalt, der nicht nur viel reichhaltiger, sondern vor allem auch klarer und über-
sichtlicher geworden ist. So haben die Abschnitte über Wärme, Spektral-
analyse, über das magnetische Kraftfeld, über den Funkeninduktor, über elek-
trische Lampen, über Röntgenstrahlen und Radiumstrahlen eine gesunde Umar-
beitung erfahren; auch sehen wir in dem Abschnitt Über Interferenzfarben eine
gute Abbildung der durch stehende Lichtwellen erzeugten Streifen in einer photo-
graphischen Schicht Bei der Behandlung des Gramm eschen Ringes hätten
wir vielleicht einen umgekehrten Gang der Darstellung gewünscht. Eis em-
pfiehlt sich sehr, zu zeigen, wie zunächst bei Bewegung allein der Wickelung
in einem homogenen Felde die elektromotorischen Kräfte auch in den Win-
dungselo inonten der einzelnen Ringhälften einander entgegenwirken und wie
dann erst durch Einfügung dos Eisenringes eine Strömung ermöglicht wird.
Doch das ist schliefslich Ansichts- und Geschmackssache. Man wird jedenfalls
keine Seite des Buches losen können, ohne sich nicht an dor Anordnung des Stoffes
und der Darstellung zu erfreuen. Die Neubearbeitung des Werkes seitens
der Herren Herausgeber — man sieht insbesondere unschwer die Spies«
sehe Einwirkung — ist eine sehr eingehende und liebevolle gewesen. Der
aufmerksame Leser erkennt dies nicht sowohl an den neuen Abschnitten,
als vielmehr an gewissen kleinen Änderungen, Zusätzen, Parenthesen und
Fortlassungen im Text, denen oft eine wesentliche Klärung zu danken ist.
Die reichlich eingestreuten Beispiele aus der Praxis sind gut gewählt (so
z. B. Radfahrer und Gyrometor bei der kreisförmigen Zentral bewegumr,
Explosionsmotore und Dampfturbinen bei der Expansion u. s. f.), sie beloben
den Stoff und halten vor allem glücklich die einoin elementaren Lehrbuche
der Physik gesteckten Grenzen inue. Möge das Buch auch im neuen Gewände
wiederum den Kreis seiner Freunde erweitern. — über die Gesamtanordnung
und Auswahl des Stoffes wird man dem Pädagogen von Fach das Urteil über-
lassen müssen, nur bezüglich dos vorn II. Hauptsatz der Wärmetheorio (§ 244)
handelnden Abschnitts möchten wir uns norh eine Bemerkung erlauben. Die
ältere Auflage enthält vom II Hauptsatz überhaupt nichts, und das ist sicher
eine argo Lücke. Gewifs darf man heute dem älteren Schüler den Begriff der
Energie Wertigkeiten und der Entropie nicht mehr verschweigen, ob man aber in
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der Darlegung so weit gehen darf wie die Verfasser und zwar mit einer eloinentar-
mathematiachcn Behandlung, die am Ende doch nicht ausreicht, steht dahin.
Jedenfalls dürfte dieser Teil des Buches der am meisten umstrittene und be-
strittene werden. Wir hatten den Eindruck, als sei er mehr für den Lehrer als
für den Schüler geschrieben. Der Lehrer schaut die Dingo vom erhabenen Stand-
punkt an — oder sollte es doch tun — , der Schüler aber klimmt empor und
macht die Bekanntschaft neuer und jedenfalls schwer zu umfassender Begriffe
zum ersten Male. Er mufs sich unseres Erachtens an der vortrefflich zubereiteten
und klug dargeboteuen, aber doch schwer verdaulichen Speise den Mageu
verderben Dringt er aber wirklich hindurch, versteht er in der Tat, daTs
numerisch gleich der Entropie nur bei ideal umkehrbaren Prozessen,
in Wirklichkeit aber stets gröfser ist und so jenes Wärmeverlustmufs darstellt,
das überhaupt eine Veränderung ermöglicht, so wird er leicht eine Anzahl von
Prozessen konstruieren können, in denen eine Entwertung höherer Energie zu
Wärme gar nicht vorkommt (Swinburne). Soll man ihm dann auf elemen-
tarer Grundlage beweisen, dafs auch in solchen Fällen die Entropie zunimnit?
Damit hätte sich die Universität und die technische Hochschule zu befassen.
Also mit einem Wort: Was da in» § 244 zu lesen ist, ist für den Fachmann
recht erfreulich und in der Tat mit den unzulänglichen Mitteln der elemen-
taren Mathematik vortrefflich dargestellt, für den Schüler jedoch wäre
weniger mehr gewesen. Vielleicht versucht man es einmal ganz ohne Mathematik,
etwa: Nur bei einem Übergang von einem Körper höherer zu einem Körper tieferer
Temperatur kann Wärme Arbeit leisten (etwa wie fallendes Wasser, Sa di Carnot).
Der Vergleich ist jedoch nicht völlig zutreffend, da nicht die unveränderte
Wärmemenge, sondern nur ein Teil davon auf tieferem Temperaturniveau an-
langt. Der andere Teil verschwindet und wird in mechanische Aibeit verwandelt
(Clausius). (II. Hauptsatz.] Die ganze durch Arbeit erzeugte Warme kann
daher nicht wieder in mechanische Arbeit etc. zurückverwandelt werden, ein
Teil geht bei dem Prozefs auf einen Körper niederer Temperatur über. (Energie-
wertigkeit, Degradation.] Von der GesamUftiergie des Weltalls ist ein Betrag
bereits als Wärme auf kältere Körper übergegangen; er wächst ständig und
stellt gewissermafsen den Gewinn der Natur bei dem Tauschgeschäft dar
(Entropie). Mit dem völligen Ausgleich aller Wärmeunterschiedo ist swar die
Qesaintenergiemenge unverändert gel dielen, die Bedingung für die Rückver-
wandelung in andere, höhere Energieformen (II. Hauptsatz) jedoch verloren
gegangen. Ende des Weltprozesses. Das Gesetz von der Erhaltung der Energio
geht auch aus diesen Überlegungen unversehrt hervor. — Für eine neue Auf-
lage, die wir dem vortrefflichen Buche recht bald wünschen, möchten wir der-
artige Erwägungen anheim geben. Dr. B. D.
('lassen, A.: Ausgewählte Methoden der aualylisehen Chemie. Brauu-
achweig. Verlag von Friedrich Vioweg A Sohn. 1903. II. Band.
Wir haben gelegentlich des Erscheinens des ersten Bandes von Classens
analytischer Chemie bereits unser Urteil über das Buch abgegeben und hraucheu
diesem heute nicht mehr allzuviel hinzuzufügen. Der zweite Band hält sich
durchaus auf der Höhe des ersten und gibt ein recht anschauliches Bild über
die Analyse der Metalloide. Wir betrachten es als oinen Vorzug, wenn sich
der Verfasser von vornherein an den Studierenden, bezüglich den Chemiker
von Fach wendet. Dies erspart ihm manche Weitläufigkeit. Zunächst wird
Sauerstoff und Ozon abgehandolt und deren Bestimmung besprochen. Die
folgenden Kapitel sind der Wasseranalyse, sowohl in wissenschaftlicher wie
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m praktischer Beziehung1 gewidmet. Dann folgen Schwefel und die Halogene
mit ihren Säuren, ferner die Besprechung einiger wichtiger Explosivstoffe
und die Herstellung des Argons und Heliums. Später erscheinen in sehr sach-
gemäfser Darstellung Phosphor, Bor, Silizium, Kohlenstoff, die Karbonate und
Perkarbonate. Sehr erwünscht dürfte den meisten Lesern auch eine sehr ein-
gehende instruktive Darstellung der Elementaranalyse sein, die den Beschlufs
des ClassenBchen Buches bildet Die Ausstattung ist wie bei Yieweg stets,
eine vorzügliche, die Darstellung der Edelgasspektra, offenbar aus dem Erd-
m annschen Buche herübergenommen, sogar ganz vortrefflich. Wir empfehlen
auch den zweiten Band des Werkes dem Chemiker von Fach. D.
Jahrbuch der Photographie und Reproduktionstechnik 1903. Verlag
von Wilhelm Knapp, Halle a./S.
Eders Jahrbuch steht auch diesmal wieder ganz auf der gewohnten
Höhe. Der Bericht über die Fortschritte der Technik ist sehr vollständig, sach»
gemäfs und läfst kaum eine Lücke offen. Fachmann und Amateur werden in
ihm viel Neues finden und genug davon in ihre Praxis übernehmen können.
Von den zahlreichen Originalarbeiten erwähnen wir die Aufsätze „Über stereo-
skopische Photographie in natürlicher Qröfse“ von Elschnig in Wien, „Unter-
suchungen über Kürperfarbenphotographio* von R. Neuhauss, „Der Fort-
schritt im Dreifärbendruckverfahron“ von Husnik, „Der Stereokomparatoi"
von J. Rheden, „Untersuchungen über die Sensibilisierung durch Farbstoffe4
von v. Hübl, „Draehenpliojtographie“ von R. Thiolo, „Dreifarbeugummidruck“
von R. Rapp. Von den kleineren Notizen interessiert besonders die Katatypie,
aus dem Anhang die neue Objektivprüfungsmethode von Hart mann. — Drys-
dales Methode zur Bestimmung der relativ gröfsten Blendenöffnung ist keines-
wegs neu; Ref. benutzt sie bereits seit mehreren .Jahren. Dem Coxinverfahren
wünschen wir im nächsten Jahrbuch eine viel kürzere Behandlung, vielleicht
einen Nachruf. B. D.
Vertag: Hermann i'aetel in Berlin. — Druck: Wilhelm Gronao'a Buchdrockerel ln Berlin -Scbdneberg.
Für die Bednction verantwortlich i Dr. P. Sehwahn in'Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aas dem Inhalt dieser Zeitschrift nntereagt,
Überaetrongnecht Vorbehalten.
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Bomben vom Ausbruch des Volcano im Jahre 1888.
Der Explosionskrater des Volcano-Ausbruchs von 1888.
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Die Einheitlichkeit der Längenmaße und Längen-
messungen.
Von Prof. Dr. C. Koppe in Braunschweig.
oljßW LängenmafBP, deren man sich bis vor wenig mehr ale einem
itrt Jahrhundert allgemein bediente, waren fast sämtlich von be-
stimmten Teilen des menschlichen Körpers abgenommen, wie
Fufs, Schritt, Spanne, Elle, Klafter etc. Die gebräuchlichste Mars-
einheit bildete der Fufs, aber so ungleich derselbe bei den einzelnen
Menschen ist, so verschieden waren die Längenmafse ursprünglich
selbst in nahe benachbarten Ländern, so dafs der „Sachsenspiegel",
eine Darstellung des Rechtes im Mittelalter, die Bemerkung enthält,
dafs man selten zwei Länder, ja kaum zwei Städte finden wird, die
einerlei Mafs haben. — Wie sich diese Verhältnisse geändert haben,
geht aus einem Berichte hervor, den J. R. Benott, Direktor des
internationalen Mafs- und Gewichts- Bureaus in Paris, der letzten allge-
meinen Konferenz der internationalen Erdmessung vor kurzem ab
stattete. Hiernaoh wurden im Jahre 1903 drei Mefsstangen, von denen
eine dem „servioe geographique“ der französischen Armee, eine zweite
der geodätischen Kommission von Mexico, die dritte dem internatio-
nalen Bureau selbst gehören, in ihrem Pavillon zu Bröteuil genau
verglichen. Drei weitere dort anzuferligende und zu vergleichende
Längenmefs- Apparate von gleicher Beschaffenheit sind bestimmt für
das Zentral-Bureau in Rufsland, die geodätische Kommission von Japan
und die Normaleichungs-Kommission in Berlin. Aufser diesen unter
sich identischen Apparaten wurden Anfang des Jahres zur Verglei-
chung eingesandt die Mefsstange, mit der kurz vorher eine Basis bei
Quito in der Republik Equador gemessen worden war, eine andere,
welche der General-Direktion des Vermessungswesens in Ägypten
Himmel and Erde. 14104. XVI. 5-
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gehört, und eine dritte, der Akademie zu Stockholm gehörig, die zur
Basismessung auf Spitzbergen in den letzten Jahren gedient hat. Aus
der Gesamtheit dieser Vergleichungen, schliefst der Bericht, wird
nicht nur eine scharfe Bestimmung jedes einzelnen Apparates folgen,
sondern ihre Resultate werden eine wertvolle Einheitlichkeit in
der allgemeinen Geodäsie des Erdkörpers an seinen entferntesten und
verschiedensten Stellen herbeizuführen berufen sein.
Es soll im folgenden in Kürze eine übersichtliche Darlegung
gegeben werden, auf welchem Wege man von einer geradezu baby-
lonischen Verwirrung in den Längenmaßen und Längenbestimmungen
durch die Erdmessungs-Arbeiten zu einer unseren internationalen Ver-
kehrsbedürfnissen auch in praktischer Hinsicht unentbehrlichen Ein-
heitlichkeit gelangt ist, wohl einer der glänzendsten Beweise für
die alte, den menschlichen Oeist stets zu neuen Anstrengungen an-
spornende Erfahrung, dafs und wie sehr die Erforschung wissen-
schaftlicher Wahrheiten um dieser selbst willen doch in der
Folge den praktischen Bedürfnissen der Mensohheit zugute
kommt — Die Frage nach der Größe und Gestalt der Erde hat die
Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt. Solange dieselbe als eine
Kugel angesehen wurde — und dies war seit Pythagoras bis vor zwei
Jahrhunderten der Fall — genügte die Ermittelung eines Teiles ihres
Umfanges nach Längen- und Bogenmaß, um die ganze Lange ihres
größten Kugelkreises und damit auoh den Erdradius zu berechnen.
Geht man von einem Orte in Nord-Süd-Riohtung so weit bis der
Himmelspol — in erster Näherung der Polarstern — um einen Grad
mehr oder weniger hoch über dem Horizonte liegt so findet man für
den hierzu notwendigen Weg in runder Zahl eine Länge von 1 1 1 km
und schliefst daraus, daß der ganze Umfang 360 mal größer ist oder
genauer 40 000 km. Die zu einer eolchen „Gradmessung“ erforder-
liche Längenbestimmung wurde bis zur Einführung der Trian-
gulierungsmethode duroh direkte Messung der ganzen Grad-
strecke ausgeführt. So bestimmte der aiexandrinisobe große Geo-
meter Eratosthenes 200 — 300 Jahre n. Chr. einen Bogen zwischen
Syene und Alexandrien, Posidonius etwa 100 Jahre später einen
solohen zwischen Alexandrien und Rhodus, aus denen sie den Erd-
umfang zu 250 000 und 240 000 Stadien (ä 186 m) berechneten, d. i.
um mehr als den zehnten Teil zu groß. Dem wahren Werte wesent-
lich näher kamen die Araber, die unter dem Kalifen Almansor im
neunten Jahrhundert n. Chr. in der Ebene von Mesopotamien eine
Gradmessung ausführten. Ihre Maßeinheit war die „Elle“ ä 144
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Gerstenkorn-Breiten, deren Länge nach der Einteilung der Nilmesser
in Ägypten noch bestimmt werden konnte. Im Jabre 1526 male der
Franzose Fernei einen Bogen zwischen Paris und Amiens nach
Fufsmafs, wobei er die Zahl der Umdrehungen eineB Wagenrades zur
Längenbestimmung benutzte; er führte so die erste Gradmessung
in unserem Erdteile aus, die zugleioh duroh Zufall ein der Wahrheit
sehr nahe kommendes Resultat für die Länge des Erdradius lieferte.
Diese ersten Versuche, die Gröfse der Erde zu ermitteln, konnten
ihrer Natur nach nur zu wenig genauen Ergebnissen führen, zumal
die Längenbeetimmungen mehr auf Schätzungen als auf wirklichen
Messungen im heutigen Sinne des Wortes beruhten. Einen wesent-
lichen Schritt weiter kam der Niederländer Snellius, der anstaü der
direkten Längenmessung des ganzen Bogens eine indirekte Ab-
leitung seiner Gröfse aus einer weit kürzeren Strecke
mit Hilfe von Dreieoksmessungen einfübrte. Diese
Triangulierungsmethode ist seitdem immer weiter
ausgebildet worden und wird nioht nur bei Grad-
messungen, sondern auch zur Längenübertragung bei
den Landesaufnahmen ganz allgemein benutzt Mifst
man in einem Dreiecke eine Seite und die Winkel, so
kann man die Länge der beiden anderen Seiten leioht
berechnen. Reiht man an das so bestimmte erste Drei-
eck ein zweites, so dafs es mit ihm eine Seite gemeinsam hat, so
braucht man in ihm nur die Winkel zu messen, um auch seine Seiten-
längen berechnen zu können. An das zweite Dreieck kann man in
gleiober Weise ein drittes ansetzen und so fort vom Anfangspunkte
des Bogens bis zu seinem Endpunkte, deren lineare Entfernung dann
aus der sie verbindenden Kette von Dreiecken unschwer abzuleiten
ist. Snellius, der sich nach seinem grofsen Vorgänger in Alexan-
drien „Eratosth en es Batavus- nannte, mafs im Anfänge des sieb-
zehnten Jahrhunderts eine Standlinie von ca. 87 rheinländisohen
Ruten, etwas über 300 m. Aus dieser Basis leitete er durch Drei-
ecksverbindungen (Fig. 1) und Winkelmessungen die mehr als 12mal
längere Linie L(eiden) — S(öterwoude) ab und scblofs an diese dann
einige dreifsig gröfsere Dreieoke an bis zum andern Endpunkte des
zu bestimmenden Gradbogens, der bei Bergen lag. Der Bogen von
einem Grade erhielt hiernach eine, wie sich später zeigte, bis auf
einige Zehntel Prozente richtige Länge. Zur Längenmessung selbst
dienten hölzerne Mefsstangen, die auf dem Boden geradlinig aneinander
gelegt wurden von einem Endpunkte der Basis bis zum anderen.
13*
Fig. 1.
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196
Im weiteren Verlaufe des siebzehnten und dann auch im acht-
zehnten Jahrhundert waren es hauptsächlich die Franzosen, welche
zahlreiche und wichtige Gradmessungsarbeiten ausführten. Newton
hatte aus theoretischen Betrachtungen den Schlufs gezogen, die Erde
könne nioht — wie seither angenommen — kugelförmig sein, sondern
sie müsse infolge ihrer Rotation die Gestalt eines an den Polen abge-
platteten Umdrehungs-Ellipsoides haben. War dies richtig, dann mufsten
Gradmessungen in nördlicheren Teilen der Erde gröfsere Werte der
Gradlänge ergeben als solohe in der Nähe des Äquators, da von diesem
auf dem Wege zu don Polen die Krümmung der Erdoberfläche dann
eine immer schwächere wird. Nun ergaben aber die Gradmessungen,
welohe Picard und später CasBini in verschiedenen Teilen Frank-
reichs ausführten, das gerade Gegenteil, denn im Norden des Landes
wurde die lineare Länge eines Meridiangrades anstatt gröfser um ein
beträchtliches Stück kleiner als im Süden erhalten. Cassini und
mit ihm die Gelehrten Frankreichs schlossen demzufolge, dafs die
Erde eine nach den Polen zu verlängerte Gestalt habe, während die
Bingländerauf Newtons Seite standen und an der abgeplatteten Form
festhielten. Um diese wissenschaftliche Streitfrage zur Entscheidung
zu bringen, sandte die französische Akademie der Wissenschaften
1736 zwei Expeditionen aus, die eine naoh Peru, die andere nach
Lappland, um Gradmessungen unter möglichst verschiedenen geo-
graphischen Breiten auszuführen. Gleichzeitig wurde auch in Frank-
reich selbst eine Revision der älteren Messungen vorgenommen. Das
Resultat aller dieser Beobachtungen war die unzweideutige Feststel-
lung einer nach den Polen zu abgeplatteten Erdgestalt.
Jede der beiden vorerwähnten Expeditionen hatte zur einheitlichen
Mafsvergleichung einen 6 Pariser Fufs langen Normal mafsstab, eine
„Toise“, mitgenommen, von denen die „Toise von Peru“ unbe-
schädigt wieder nach Paris zurückkam. Dieselbe wurde dann zum
französischen Norinalmafse erklärt, und als gegen Ende des achtzehnten
Jahrhunderts das Metermafs in Frankreich eingeführt werden sollte,
einer erstmaligen Bestimmung der Länge des Meters als zehnmillion-
sten Teiles des nördlichen Meridian -Quadranten zugrunde gelegt.
Seine genauere Feststellung erfolgte durch eine neue Gradmessung in
Frankreich, zu welcher zum ersten Male ein bimetallischer Basis-
mefsapparat durch Borda konstruiert wurde.
Zu den ersten Basismessungen seit Snellius waren, wie bereits
erwähnt, hölzerne Mefslatten benutzt worden. Um dieselben haltbarer
und besser vergleichbar zu machen, versah man sie an den Enden mit
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Metall besohlägen, analog wie bei den Mefestangen, welche heute von
den Landmessern und Ingenieuren benutzt zu werden pflegen. Ur-
sprünglich wurden dieselben beim Messen unmittelbar aneinander-
gelegt, später liefe man zwischen ihnen einen kleinen Zwischenraum,
damit keine stofsende oder zwängende Wirkung eintreten konnte, und
mafs ihren jeweiligen Abstand gesondert mit einem kleinen Anlege-
Mafsstabe oder mittelst eines zwischengeschobenen Mefskeils. Mit den
Fortschritten der Geodäsie durch Erfindung deB Fernrohrs, der Libelle,
der genauen Teilmaschinen u. s. w. erwies sich das Holz mehr und
mehr als ein zur Konstruktion von Basismefsapparaten wenig geeig-
netes Material, da es durch Wärme und Feuchtigkeit unregelmäfsige
Veränderungen erleidet. Nach Versuchen mit Glasstäben und Glas-
röhren ging man zu Metallstangen über, deren Temperatur mit Hilfe
von Thermometern bestimmt wurde, um nach dem Ausdehnungs-
Koeffizienten des Metalls die Länge der Mefsstange auf eine „Normal-
temperatur“ reduzieren zu können. Um die mittlere Stangentempe-
ratur genauer zu ermitteln, machte Borda bei seinem neuen Basis-
mefsapparate diesen selbst zu einem Metall-Thermometer, indem
er zwei gleiche, aber aus verschiedenen Metallen, Platin und Kupfer,
gearbeitete Stäbe von 2 ToiBen Länge aufeinanderlegte, am einen Ende
fest miteinander verschraubte, im übrigen aber frei beweglioh liefs,
so dafs sie sioh jeweils den Anforderungen der Temperatur ent-
sprechend ausdehnen konnten. Der Abstand ihrer freien Enden wurde
genau gemessen und gestattete einen Rüokschlufs auf die jeweilige
mittlere Temperatur der beiden Stangen, von denen dann die eine
als eigentliche Mefsstange zur Bestimmung der Länge der Basis be-
nutzt wurde, während die andere gleichsam als Thermometer diente.
Zu dem Bordasohen Apparate gehörten 4 solohe biinetallisohe Stangen,
die bei der Basismessung voreinander gelegt und durch kleine
Schieber zur Berührung gebracht wurden. Mit ihnen mafsen zunächst
Delambre und Möohain für die grofse französische Gradmessung
zur genaueren Bestimmung des Metermafses zwei Grundlinien von je
ca. 6000 Toisen Länge, die eine bei Melun, die andere bei Per-
pignan, weiche das allgemeinste Interesse, namentlich der ganzen
wissenschaftlichen Welt, erregten. In der Folge wurden dann nooh
mehrere andere Grundlinien für die Triangulierung Frankreichs mit
dem gleichen Apparate gemessen, und als zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts die Erdmessung, die bis dahin gleiohsam eine französische
Wissenschaft gewesen war, ihre glänzendsten Vertreter in Deutsch-
land, namentlich durch Gaues und Bessel, fand, behielt letzterer bei
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seiner berühmten Orsdmessung in Ostpreufsen das bimetallische
Prinzip bei und konstruierte für seine Basismessung einen dem
Bordaseben entsprechenden Apparat, jedoch mit Anbringung wesent-
licher Vervollkommnungen. Dieser Besselsohe Basis-Mefsappa-
rat, der aus 4 Doppelstangen — Zink und Eisen — besteht, und bei
weiohem die Zwisohenriiume zwischen den keilförmigen Stangenenden
vermittelst kleiner zwischengeachobener Mefskeile gemessen wurden
(vgl. Fig. 2), ging später in den Besitz des preußischen General-
stabes über, der dann im Laufe des vergangenen Jahrhunderts sämt-
liche Basismessungen mit ihm vornahm, welche bei der Triangulierung
und Landesaufnahme Preußens als Grundlagen für die Langenbestim-
mungen dienten. Auch in anderen Ländern wurden mit den Fort-
schritten der Geodäsie immer zahlreichere und genauere Basismessun-
gen vorgenommen, wobei
gleichzeitig ein neues Prin-
zip der Längenbestimmung,
dasjenige der „optischen “
Kontaktmessung mehr und
Z Zink £ Ei tan H Hoiaantaaiaft
mehr in den Vordergrund
trat.
Bei den erwähnten Basis-
mefaapparaten wurden die
Pi« 2. Mefsstangen, wenn auch
nicht mehr unmittelbar mit
ihren Enden, so doch mittelst kleiner Sohieber oder Mefskeile zur
„mechanischen“ Berührung gebracht. Da eine solche Berührung
ganz ohne Druck auf die Stangenenden nicht ausführbar ist, so kam
man auf den Qedanken, anstatt der Endmafse zur Vermeidung jeg-
lichen Druckes Striohmafse zu benutzen. Der erste, welcher einen
auf diesem Prinzipe des optischen Kontaktes beruhenden Mefs-
apparat konstruierte, scheint Hassler gewesen zu sein. Er benutzte
eine Metallstange von 4 Toisen Länge, auf deren nahe an den beiden
Enden angebraohte Marken je ein Mikroskop mit seinem Fadenkreuze
scharf eingestellt wurde. Die Entfernung der beiden in der Basislinie
auf Stativen fest aufgestellten Mikroskope entsprach somit genau der
Stangenlange. Wurde nun die Stange in der zu messenden Linie so
weit vorgeschoben, bis ihr Anfangspunkt unter das vordere Mikroskop 2
fiel und auf ihren Endpunkt ein drittes Mikroskop eingestellt, so war
dieses dann um die doppelte Stangenlange vom Mikroskop 1 entfernt.
Eine Wiederholung des gleichen Verfahrens ergab beim vierten
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19»
Mikroskope 3 Stangenlangen und so fort von einem Endpunkte
der Basis bis tum anderen das gesuchte IJingenmafs derselben duroh
„ optische“ Aneinanderreihung der Stangenlängen, wozu naturgemifs
eine Mefsstange genügte. Hassler mafs mit seinem Apparate gegen
Ende des 18. Jahrhunderts zunächst eine Basis in der Sohweiz
Kig. :t
und später mehrere Orundlinien für die Küstenaufnahme der Ver-
einigten Staaten von Nord-Amerika. In der Folge wurde der Basis-
mefsapparat mit ..optischem“ Kontakte immer weiter vervollkommnet,
namentlich durch den Mechaniker Brunner in Paris, der um die
Mitte des vergangenen Jahrhunderts im Aufträge der spanischen Re-
gierung und später auch Tür andere Staaten vorzüglioh gearbeitete
derartige Instrumente anfertigte. An einer Messung mit dem spani-
Digitized by Google
•200
sohen Apparate hatte ich Gelegenheit, mioh zu beteiligen. Dieselbe war
um so interessanter, als sie von Spaniern in der Sehweiz ausge-
führt und dann von den Schweizern wiederholt wurde. Das ging
folgendermafsen zu: Im Oktober 1853 hatte die spanische Regierung
den Entschlufs zur Vornahme einer neuen Landesvermessung gefafst.
Die dieserhalb berufene Kommission begann ihre Arbeiten mit Her-
Fig. 4.
Stellung eines Basismefsapparates durch den Mechaniker Brunner
in Paris nach den Angaben des Generals Ibanez, welch letzterer
nach dessen Vollendung eine 16 km lange Grundlinie bei Madride-
rs im Jahre 1858 mit solcher Genauigkeit mafs, dafs die Überlegen-
heit des Brunn ersehen Basismefsapparates allgemein anerkannt
wurde. Wenige Jahre darauf gründete der preufsisohe General
Baeyer die „Europäische Gradmessung“, eine Vereinigung der
Staaten Europas zur Erforschung der Oberllächeu-Gestaltung unseres
Kontinentes, die sich zwei Jahrzehnte später zur „Internationalen
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■JO!
Erdmessung“ erweiterte, der grofsartigsten und umfassendsten wis-
senschaftlichen Vereinigung aller Kulturstaaten der Welt zur ge-
meinsamen Forschung mit gegenseitiger Förderung der Einheitlichkeit
des Vorgehens. Als nun zu Anfang der achtziger Jahre die Schweiz
Grundlinien für ihre Gradmessungsarbeiten messen mufste und keinen
geeigneten Basismefsapparat besafs, erbot sich Spanien, den seinigen
h'ig. 3.
zu diesem Zwecke leihweise zur Verfügung zu stellen, und General
Ibanez übernahm cb, diesen Apparat nicht nur nach der Schweiz
transportieren zu lassen, sondern in eigener Person mit seinem bereits
eingeübten Personal den Schweizern im Gebrauche desselben An-
leitung zu geben und eine Basis hierzu vor ihren Augen zu messen.
Die Instrumente mit allem Zubehör wurden Mitte August 1880 in
einem eigenen Waggon von Madrid naoh Aarberg bei Bern transpor-
tiert, und am 20. August traf General Ibanez mit dem Kommandanten
Cassado, 12 Offizieren und 10 Unteroffizieren vom geographisch-
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2U2
statistischen Institut Spaniens daselbst ein. Der Unterzeichnete, welcher
damals für die schweizerische Gradmessungs-Koinmission arbeitete,
war beauftragt worden, eine geeignete Strecke für die Basismessung
auszusuchen. Dieselbe wurde auf der nahezu ebenen und auf 2,4 km
Lange geradlinigen Landstrafse von Aarberg nach Neuenburg gewählt,
an den Endpunkten durch eingemauerte Oranitpfeiler mit eingesetzten
Metallbolzen dauerhaft bezeichnet und in Strecken von ungefähr
400 m Lange eingeteilt, die nach der Anweisung des Generals
Ibanez zur Vergleichung bei der Wiederholung der Messungen be-
nutzt werden sollten. Am 22. August morgens 4 Uhr wurde zur ersten
Basismessung ausgerückt. Das Wetter war trübe und den Beobach-
tungen wenig günstig. Erst naoh 5 Uhr war es hinreichend Tag ge-
worden, um die Miren, lotrechte Metallstäbe (Fig. 3), mit denen die
Riohlung der Basis bezeichnet war, deutlioh erkennen zu können.
Über dem Anfangspunkte der Basis, der duroh ein feines Kreuz im
Metallbolzen des daselbst eingemauerten Steinpfeilers bezeichnet war,
wurde ein .Mikroskop-Theodolit“ (Fig. 4) aufgestellt, sein genau
lotrecht gestelltes Fernrohr zunächst durch horizontales Verschie-
ben des ganzen Instruments scharf auf den Basis- Anfangspunkt ge-
bracht und dann in horizontaler Lage (Fig. 5) auf die Riehtungs-
Mire geführt. Das seitlich am Theodoliten angebrachte „Mikroskop*
bezeichnete dann mit seinem feinen Fadenkreuze den „optischen*
Anfangspunkt der Basis, über welchen dann die 4 m lange Mefsstange
mit ihrem Anfangsstriche gebracht wurde, indem man dieselbe so
lange verschob, bis dieser Strich genau unter das Fadenkreuz des
Mikroskopes fiel.
Auf den Endstricb der Mefsstange stellte ein anderer Beobachter
das Mikroskop eines zweiten ebensolchen Instrumentes scharf ein,
so dafs zwischen den Mikroskopen I und 2 nun genau der Abstand
einer Stangenlänge war. Nachdem Temperatur und Neigung der
Stange am Thermometer und Niveau abgelesen waren, wurde die
Mefsstange auf Kommando vorsichtig aufgehoben, um ihre I^nge
vorwärts getragen und auf in der Basislinie bereits aufgeslellte weitere
zwei Auflage-Stative (Fig 6) gelegt, um dann auf diesen so lange hin
und her geschoben zu werden, bis ihr Anfangsstrich genau unter das
Mikroskop 2 fiel. Das am Ende der Stange aufgestellte und über
deren Endstrich gebrachte dritte Mikroskop hatte, nachdem sein
Fadenkreuz durch Verschieben genau mit dem Striohe auf der
Stange zum Zusammenfällen gebracht war, dann seinerseits eine Ent-
fernung vom Basisanfange gleich der zweifachen Stangenlänge und so
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203
fort.1) Die Messung geschah in 6 transportablen Zelten (Fig. 7), und so-
bald das hinterste Zelt frei geworden war, wurde es von 6 Arbeitern
aufgehoben und vorn in der Linie wieder angesetzt. Während in den
hinteren Zelten eingestellt und gemessen wird, sind in den vorderen
die Gehilfen beschäftigt, die nötigen Vorbereitungen zu trefTen, Stative
für die Mikroskop-Theodolite und Auflagedreifüfse für die MefBstange
Ki«-. li.
in passenden Abständen aufzustellen, einzurichten und mit Hilfe von
hölzernen Hilfs-Mefsstäben auch in der Höhenlage bo anzuordnen,
dafs bei der Messung selbst nur noch kleinere Verschiebungen der
Mefsstange wie der Mikroskop-Theodolite erforderlich sind, um die
nötigen Koincidenzen herbeizuführen.
Jeder Beobachter und jeder Gehilfe hat seine bestimmte Arbeit,
Diese Mikroskope bezeichnen und messen eine der Basislinie parallele
und ibr genau gleich lange Strecke im Abstande des Mikroskops von der Mitte
des Instruments.
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204
die sioh von Stangenlage zu Stangenlage wiederholt, und eines jeden
Aufgabe ist so berechnet, dafs er Zeit hat, sie auszuführen, ohne
seinen Nachbar zu hindern und ohne die Arbeit zu verzögern. So
schreitet die Messung gfeichroärsig fort, ruhig, stetig und rasch, ge-
führt von den auf das „fertig" der Beobachter gegebenen kurzen
Kommandoworten des Leiters der ganzen Unternehmung, hier des
Generals Ibanez selbst. Zur gesamten Ausrüstung für die Basis-
messung gehörten aufser der 4 m langen Mefsstaoge 4 Mikroskop-
Theodolite, 6 Stative zur Aufstellung derselben, 4 metailne Unterlags-
Apparate für die Mefsstange mit 10 hölzernen Dreifüfsen dazu (Fig. 8),
2 hölzerne Mefsschablonen von je 4 m Länge, Miren usw. Um 5 h 48 in
früh war die Messung begonnen worden und trotz des feinen nieder-
rieselnden Regens, der sich nach und nach zu einem tüchtigen Land-
regen entwickelte, wurde dieselbe iri etwas weniger als 3 Stunden
Fig 7
ohne Unterbrechung programmraäfsig auf 800 m Lange durcbgeführt.
Au den zwei folgenden Tagen wurden in gleicher Weise wieder je
800 m gemessen, somit in 3 Tagen die ganze 2400 m lange Basis,
ln Abständen von je 400 m zu 400 m waren auf in den Boden ein-
gelassenen kleineren Steinpfeilern mit horizontalen Metallplatten durch
optisches Herabloten feste Marken für die gemessene Länge ange-
bracht worden, die bei der zweiten Messung wieder mit eingemessen
wurden, um aus den kleinen sich hierbei ergebenden Differenzen ein
Urteil über die Genauigkeit der ganzen Arbeit zu erhalten.
Am Nachmittage des 24. August wurden die Instrumente, Zelte
und sämtliche Gerätschaften nach dem Basisanfange zurücktranspor-
tiert, alle Apparate einer sorgfältigen Prüfung unterworfen und noch
an demselben Abend die nötigen Vorbereitungen getroffen, um am
folgenden Morgen die zweite Messung sofort beginnen zu können.
Am 25., 26. und 27. August wurde dieselbe programmmäfsig in ganz
analoger Weise durcbgeführt, dann kamen die Schweizer, acht
Genie-Offiziere und zehn Unteroffiziere unter Leitung des Oberst
Dumur an die Reihe, um nun ihrerseits eine dritte Messung der
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206
gleichen Grundlinie nach dem Vorbilde der Spanier und unter deren
Anleitung vorzunehmen, zugleioh als Einübung für die weiteren
selbständig auszuführenden Basismessungen in anderen Teilen der
Schweiz. Am Naohmittage des 27. August, einige Stunden naohdem
die Spanier ihre zweite Messung beendigt hatten, wurden sohweize-
risoherseits die ersten vorbereitenden Versuche gemacht. Am fol-
Fiif. 8.
genden Morgen stellte General Ibanez zu jedem Beobachter einen
seiner Offiziere, und zwar denselben, welcher bei den vorhergehenden
Messungen die gleiche Operation vorgenommen hatte, die der be-
treffende schweizerische Beobachter nun seinerseits ausführen mufste.
Nach etwa 30 Stangenlagen rief er seine Leute zurück, das schweize-
rische Personal arbeitete unter Leitung des Oberst Dumur selbständig
weiter, und grofs war die Freude, als sich beim ersten Festpunkte
nur eine Differenz von einem halben Millimeter gegenüber der spa-
nischen Messung ergab. Nun ging es rascher vorwärts, und nach
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206
drei Tagen hatten auoh die Schweizer die ganze Basis gemessen.
Das Resultat stimmte auf 3 mm mit demjenigen der Spanier überein,
und das Mittel aus allen 3 Längenmessungen der 2400 m langen
Grundlinie erhielt nur einen mittelbaren Fehler um wenig mehr als
einen Millimeter.
Die Genauigkeit der Basismessung würde hiernach mehr als
ein Milliontel der Länge betragen, wenn nur die reinen Messungs-
fehler in Betraoht kämen. Das ist aber keineswegs der Fall, denn
eine weitere und beträchtlichere Fehlerquelle ist die Unsicherheit,
welche in der richtigen Ermittelung der Temperatur der Mefs-
stangen zurüokbleibt. Der Ausdehnungs-Koeffizient des Eisens ist
nahezu ein Hunderttausendstel der Länge für 1 0 C., derjenige des
Zinks etwa doppelt so grofs. Die mittlere Stangentemperatur mufs
somit bis auf weniger als 0,1 0 C. riohtig bestimmt werden, wenn die
Unsicherheit der Längenmessung infolge der angenommenen Stangen-
temperatur nioht gröfser werden soll als die reinen Messungsfehler.
Das ist aber nach allen vorliegenden Erfahrungen auoh bei den
bimetaliisoben Mefsstangen nur sehr schwer zu erreichen, denn so-
bald Veränderungen der Temperatur eintreten, folgt das eine Metall
denselben rascher als das andere, und der jeweilige Abstand der
freien Stangenenden gibt dann nicht mehr die mittlere Stangentempe-
ratur richtig an. General Schreiber bat als Vorstand der preußi-
schen Landesaufnahme bei den mit dem Besselschen Basismeß-
apparate für dieselbe ausgeführten Längenmessungen besonders ein-
gehende V ersuche in dieser Richtung angestellt. Er fand, dass das
Zink bei Temperatur-Veränderungen diesen stets rascher folgt als
das Eisen und dass die hieraus entspringenden Fehler in der Längen-
bestimmung die eigentlichen Messungsfehler beträchtlich übersteigen.
Diese ganz allgemein bestätigte Erfahrung führte dazu, auoh wieder
einmetallige Mefsstangen zu benutzen und deren Temperatur durch
eingelassene Thermometer zu ermitteln. Auoh die vorerwähnte, bei
den schweizerischen Basismessungen benutzte Mefsstange des Generals
Ibaiiez bestand nur aus Eisen, und nicht mehr, wie bei seinem
ersten Apparate, aus zwei Metallen, weil auch er gefunden hatte, dafs
die in dieselbe gut eingelassenen 4 Quecksilber-Thermometer ihre
mittlere Temperatur genauer bestimmen ließen als das bimetallische
Thermometer der Doppelstangen. Aber auch die Temperaturbestim-
mung mit den Queoksilber-Thermometern ließ so viel zu wünschen
übrig, dafs andere den bimetaliisohen Stangen den Vorzug gaben und
diese beibehielten. Jedenfalls wurde die Unsicherheit in der Tempe-
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207
raturbestimmung als ein grofser Übelstand ganz allgemein empfunden
und ihre Beseitigung als Hauptaufgabe zur Vervollkommnung der
Basismessungen bezeichnet. Die Amerikaner legten daher, um dies
zu erreichen, bei ihren Basismessungen für die „Küstenaufnahme“
die MefsstaDge ihrer ganzen Länge nach in Bis, um dieselbe auf
konstanter Temperatur zu erhalten, und liefsen nur ihre beiden
Endstriohe so weit frei, dafs die Mikroskope auf sie eingestellt werden
konnten.
Da der lange Biskasten schwer 2U transportieren ist, bauten sie
der Basis entlang ein Schienengeleise, legten den Kasten mit der Mefe-
stange auf einen Rollwagen und fuhren diesen an den dem Schienen-
geleise entlang aufgeetellten Mikroskop-Theodoliten nach und nach
vorbei. Auf solohe Weise vermieden sie die Temperaturfehler fast
gänzlich, und die erreichte Genauigkeit betrug in Wirklichkeit mehr
als ein Millionstel der Lange. Dieses amerikanische Verfahren hatte
aber einen Übelstand: es wurde zu teuer und umständlich für eine
allgemeinere und hinreichend ausgedehnte Anwendung desselben.
Seit dem Beginn der wissenschaftlichen Gradmessungen sind weit
mehr als hundert Grundlinien bereits gemessen worden; die Fort-
schritte der Geodäsie und die Ausdehnung der Erdmessungsarbeiten
auf immer weitere und zum grofsen Teil noch gänzlich unerforschte
Gebiete lassen es als äufserst wünschenswert und wichtig erscheinen,
einen Apparat zu konstruieren, mit dem LSngenraessungen nicht nur
genau, sondern auch leioht und ohne zu grofse Kosten ausgeführt
werden können. Ein Mittel hierzu scheint jetzt in der Tat gefunden
worden zu sein, und zwar von dem Mitarbeiter am internationalen
Mafs- und Qewiohts-Bureau in Paris, M. Ch. Bd. G ui Hau me, duroh
Entdeckung von N icke I-Stahl- Legier ungen, die sich gegen Tempe-
raturschwankungen in bezug auf Längenänderungen nahezu unemp-
findlich sich verhalten.
Duroh die Einführung des Metermafses war in die Mafs-
syBteme der verschiedenen Länder nach und nach eine immer gröfsere
Einheitlichkeit gebracht worden. Mit der steigenden Zunahme der
Genauigkeits-Anforderungen empfand man es aber als einen nach-
teilig wirkenden Umstand, dafs das Meter als solches für die
Präzisions- Messungen nicht mehr genau genug bestimmt war. Nach
seiner Definition sollte es der zehnmillionste Teil des nördliohen
Meridian-Quadranten sein, aber weder die „Toise von Peru“, nach
der seinerzeit das Meter provisorisch bestimmt wurde, nooh auch das
nach der grofsen französischen Gradmessung am Ende des 18. Jahrhun-
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208
derts an ge fertigte „Normalmeter“ aus Platin entsprechen den heutigen
Anfordeningen an ein genaues „Urmafs“. Auf Anregung der inter-
nationalen Erdmessung wurde daher im Jahre 1876 ein internatio-
nales Mafs- und Gewichtsbureau begründet mit Sitz in Paris«
dessen vernehmlichste Aufgabe die Anfertigung eines allen Anforde-
rungen entsprechenden „Normalmeterstabes“ bildete. Unter Leitung
von Sainte-Claire-Deville wurde ’ ein solches „Urmafs“ aus
Platin-Iridium hergestellt, und alle beteiligten Staaten haben ge-
naue Kopien desselben, weiohe den Anforderungen der Wissenschaft
und einheitlichen Mafsvergleichung entsprechen, in den letzten Jahr-
zehnten erhalten.
Dem internationalen Bureau in Paris verblieb nach Anfertigung
der neuen Urmafse für Meter und Kilogramm die weitere Aufgabe
der Mafsvergleiohungen und vornehmlich auch der genauen Längen-
bestimmung und Vergleichung aller geodätischen Mefsstangen, die
ihm von den verschiedenen Staaten zugesandt werden. Zu diesem
Zwecke sind naturgemäfs metronomische Untersuchungen verschie-
denster Art erforderlich. Bei einer solohen fand der Direktor des
Institutes, M. Benott, im Jahre 1895, dafs eine Legierung von 22 pCt.
Niokel und 3 pCt. Chrom mit Stahl einen Ausdehnungs-Koefllzienten
nahe wie Messing hat. Sein Adjunkt, Guillaume, verfolgte das
Studium der Nickel-Stahl-Legierungen weiter und dehnte es auf die
verschiedensten Mischungsverhältnisse aus, wobei ihm die Stahlwerke
der Gesellschaft Commentry-Fourohambault die notigen Proben
herstellten und hilfreich zur Hand gingen. Es ergab sich unter man-
cherlei Eigentümlichkeiten im Verhalten der verschiedenen Legie-
rungen, dafs diese von 25 pCt. Nickelgehalt an mit weiterer Zunahme
desselben einen immer kleineren Ausdehnungs-Koeffizienten erhalten;
bei 36 pCt Nickelgehalt beträgt derselbe nur noch etwa ein Mil-
liontel der Länge, dann aber nimmt die Ausdehnung bei gröfserem
Nickelgehalte wieder zu. Eine Nickel-Stahl-Legierung von 86 pCt.
Nickelgehalt hat somit einen zehnmal kleineren Ausdehnungs-
Koeffizienten als Platin, Eisen oder irgend ein Metall mit der ge-
ringsten Ausdehnung durch die Wärme. Diese Nickel-Stahl-Legierung
wurde mit dem Namen „Invar“ belegt und auf ihre Brauchbarkeit
für verschiedene instrumenteile Zwecke, namentlich auch zur Herstel-
lung geodätischer Mefsstangen, eingehender untersucht. Die Resultate
mehrjähriger Prüfungen, zumal auch in Hinsicht auf Längenverände-
rungen bei verschiedenartiger Behandlung und mit der Zeit, fielen so
günstig aus, dafs Direktor Benoit sich entschlofs, Mefsstangen aus
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209
Invar durch die Stahlwerke von Commentry-Fourchambault hersteilen
zu lassen. Dieselben haben einen I förmigen Querschnitt (Fig. 9), sind
4 m lang und wiegen 26 kg. Für den Gebrauch zu geodätischen
Messungen wird die Stange aus Invar in einen Kasten aus Aluminium
eingefügt, so dafs sie vollständig von diesem Metall umgeben und
gegen äufsere Einwirkungen beim Transport geschützt ist. Kleine,
mit Klappen verschlietsbare Öffnungen dienen zu Mikroskop-Einstel-
lungen auf die Endstriche, zum Ablesen der im Kasten angebrachten
Thermometer u. s. w. Trotz des Schutzkastens wiegt der ganze Apparat
nioht mehr als 65 kg, d. h. etwa 15 kg weniger als die meisten seit-
herigen Basismefsapparate. Wie eingangs erwähnt, wurden im letzten
Jahre 3 solche Mefestangen aus Invar bereits fertiggestellt; 3 weitere
sind in Arbeit, darunter eine für die Normal-Eiohungs-Kommission
in Berlin.
Eine weitere aussichtsreiche Verwertung findet
das Invar zur Herstellung von „Mefsdrähten“
für Basismessungen zweiter Ordnung. Bei den
oben besprochenen Basismessungen erster Ordnung
wird die gröfstmögliohe Genauigkeit angestrebt, und
eine solche von rund 1:1000000 ist, wie erwähnt,
von den Amerikanern mit ihrem Eisapparate erreicht.
Die Längenmessungen der Landmesser und Ingenieure sind im
allgemeinen ausreichend genau, wenn eine Abweichung von 1 : 1000
nicht überschritten wird. Zwischen diesen beiden Genauigkeitsgrenzen
ist der Abstand sehr grofs, aber nicht minder bedeutend auch der
Unterschied der erforderlichen Aufwendungen an Zeit und Mitteln.*!
Für manche Zwecke und Verhältnisse, wie z. B. geodätische
Messungen in unkultivierten Ländern, Aufnahmen in den Kolonien
u. dergl., treten Basismessungen zweiter Ordnung in ihr Keobt, wenn
mit diesen unter Aufwendung geringerer Mittel eine ausreichende
Genauigkeit erzielt werden kann. Mitte der achtziger Jahre maohte
E. J äderin der schwedischen Akademie der Wissenschaften die Mit-
teilung, dafs er mit Hilfe von Metalldrähten von 20 — 50 in Länge eine
verhältnismäfsig höbe Genauigkeit der Längenmessung in folgender
Weise erreicht habe. Die Mefsdrähte wurden über feste Holzstativu
gelegt, die in der Basislinie aufgestellt waren, und so angespannt, dafs
an ihren Enden angebrachte Federkraftwagen eine genau bestimmte
Zeigerstellung angaben. Die Dynamometer werden an in der Linie
*1 Die früher besprochene Rasismessimg in der Schweiz kostete, abgesehen
von Gehältern der Beamten, Trsnaporlkoatcn etc., täglich ungefähr 500 hl.
Himmel und Erde. 1W4 XVI & 14
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210
eingerammte, feste Pfähle angehängt, um die Auflager-Stative zu ent-
lasten. Diese tragen je eine aufreobtstehende, feine Nadel, bei welcher
die Millimeterteilung der Drahtenden abgelesen wird, wenn der Mefs-
draht die riohtige Spannung hat. Der Abstand der Stativnadeln teilt
die Basis somit in eine Anzahl mit Hilfe des Mefsdrahtes genau zu
bestimmender Strecken. Um den Temperatureinflufs auf die Länge
des Mefsdrahtes zu berücksichtigen, werden Drähte aus verschiedenen
Metallen, z. B. Stahl und Messing, benutzt Die Messungen mit dem
einen und dem anderen folgen zeitlioh unmittelbar aufeinander; beide
Drähte sind vernickelt, um bei gleioh beschaffener Oberfläche eine
möglichst gleichartige Einwirkung der Temperaturschwankungen zu
erhalten. Die letzteren bilden auch hier die hauptsächlichste und nur
schwer in genügendem Mafse einzuschränkende Fehlerquelle.
Eine praktische Anwendung dieses Verfahrens maohte Ende der
neunziger Jahre Oberst Deinert bei der Landesvermessung von
Chile, jedoch mit eigenartiger Modifikation der Berücksichtigung des
Einflusses von Temperaturschwankungen. Deinert spannte zwei
Stahlbänder von je 50 m Länge nebeneinander aus und streckte die-
selben mit Hilfe von eingeschalteten Federkraftwagen bis zu einer
bestimmten Zeigerstellung der letzteren. Sich selbst überlassen, zeigten
die Dynamometer dann bei jeder Temperatursohwankung eine andere
Spannung. Diese Spannungsänderungen gestatteten einen Rück-
schlufs auf die Temperaturveränderungen und gaben dieselben rascher
zu erkennen als aufgehängte Quecksilber -Thermometer. Deinert
kam daher auf den Gedanken, das eine Stahlband, welches an seinem
Platze belassen wurde, zur Temperaturkorrektion des anderen, das zur
Basismessung diente, zu benutzen. Ein Gehilfe beobachtete die infolge
der Temperaturschwankungen am Dynamometer des stationären Bandes
auftretenden Änderungen in der Zeigerstellung und teilte diese jeweils
sofort durch Telephon oder optische Signale dem mit der Messung
mittelst des anderen Bandes beschäftigten Personal mit. Dadurch
wurde dieses in den Stand gesetzt, eine entsprechende Änderung der
Spannung seines Bandes vorzunehmen, um so den Einilufs der Tempe-
raturänderungen auszugleichen. Die 7 — 8 km lange Basis wurde in
solcher Weise zweimal gemessen mit einer mittleren Geschwindigkeit
von 1 km in der Stunde und einer Abweichung von nur 18 mm der
beiden Resultate. Wie weit der Temperatureinflufs durch dieses Ver-
fahren beseitigt wurde, läfst sich kaum genau beurteilen, jedenfalls
aber ist die mit so geringen Mitteln in kurzer Zeit erreichte Genauig-
keit der Längenmessuug eine verhältnismäfsig sehr grofse, soweit nur
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211
die eigentlichen Messungsfehler in Betraoht kommen, und wird die
Unsicherheit auch hier vornehmlich noch duroh den Temperaturein-
flufs bedingt.
Auch bei den Basismessungen zweiter Ordnung mit Meisbändern
und Melsdrähten tritt nunmehr das „lnvaru hellend ein, da sioh aus
dieser Nickel-Stahl-Legierung unschwer derartige Längenmelsapparate
mit einem Ausdehnungs-Koeffizienten von weniger als 1:1 000 000 für
1 * C. hersteilen lassen. Der Direktor des internationalen Mals- und
Gewiohts-Bureaus, J. R. Benott, berichtete der letzten Versammlung
der internationalen Erdmessung von zahlreichen und eingehenden
Untersuchungen, die er mit seinem Adjunkten Guillaume in dieser
Richtung angestellt hat und die zu durohaus günstigen Resultaten
führten. Infolgedessen wurde mit Hilfe der Stahlwerke von Com-
mcntry-Fourchambault und Decazeville ein Depot fertiger Mefs-
drähte aus „Invar“ im internationalen Bureau errichtet, die gonau
untersucht und verglichen sind, so dals allen Anforderungen direkt
entsprochen werden kann. Solche haben Bich bereits immer zahl-
reicher eingestellt, für Frankreich selbst wie für das Ausland, dar-
unter auch für das preufsische geodätische Institut auf dem Telegraphen-
berge bei Potsdam, welches zugleich Zentralbureau der internationalen
Erdmessung ist. In der Kapkolonie wurde vor kurzem eine Basis-
messung mit Invar-Mefsdrähten mit gutem Erfolge ausgeführt, und
auoh die beiden interessanten Gradmessungs- Expeditionen der Neu-
zeit, die schwedisch-russische, die in Spitzbergen milst, und die fran-
zösische, welche in Peru die nahezu vor zwei Jahrhunderten dort
ausgefiihrte Gradmessung mit allen Hilfsmitteln der Neuzeit wieder-
holt, sind aufser mit Basismelsapparaten erster Ordnung nach dem
früheren Systeme auoh mit Melsdrähten aus „Invar“ ausgerüstet.
Unzweifelhaft werden sioh die letzteren infolge ihrer leichten Hand-
habung und Transportfahigkeit bei geringen Kosten und verhältnis-
mäfsig hoher Leistungsfähigkeit bald ein weiteres Anwendungsgebiet
erobern und zur immer gröfsercn Einheitlichkeit der Längenmafse und
Längenmessungen nioht unwesentlich beitragen.
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Der Ackerboden und seine Geschichte.
Von A. P. Notsehajew.
Aus dem Russischen übersetzt von ä Tsctmtek- Zürich.
fer Boden ist der Träger der Fruchtbarkeit eines Landes, die
Gewahr seines Wohlstandes. Kein Wunder, dafs er seil alter»
her die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich lenkte und den
Gegenstand sorgfältigen Studiums bildete. Nichtsdestoweniger - trug
noch vor kaum dreifsig Jahren die Bodenkunde einen rein praktischen
Charakter und war als spezielles Wissensgebiet nur für Landwirte von
Interesse. In letzter Zeit bat sich aber die Sachlage verändert Man
hat begonnen, den Boden, als eins der verbreitetsten geologischen
Bildungen, von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu erforschen.
Die moderne Wissenschaft berücksichtigt nicht nur diejenigen von
seinen Eigenschaften, welche für das POanzenwachstum in Betracht
kommen, sondern sucht auch die Bedingungen seiner Entstehung klar
zu stellen, sein Leben zu verfolgen und die Gesetze seiner Verbrei-
tung festzustellen. Von diesem Standpunkt aus ersohoint der Boden
allen anderen Naturkörpern ebenbürtig, die an der Zusammensetzung
der Erdrinde und an der Bildung der Erdoberfläche teilnehmen. Die
Bodenkunde ist nicht mehr eine ausschließlich angewandte Disziplin,
sondern sie tritt in innige Verbindung zu der Geologie, Petrographie
und Mineralogie. Dank den Arbeiten vieler Spezialforscher ha! die
junge Wissenschaft riesige Fortschritte gemacht und konnte bald ihren
Horizont erweitern. Erst vor wenigen Jahren wurde definitiv festge-
stellt, dafs die Verbreitung der Bodenarten auf der Erdoberfläche keine
zufällige ist. Die wichtigsten Bodentypen sind in regelmii feigen Zonen
oder Gürteln angeordnet, welche sich in der Richtung vom Äquator
nach den Polen in gesetzmäßiger Folge ablösen. Angesichts dieser
außerordentlich wichtigen Entdeckung gewannen die Bodentypen auch
für den Geographen ein erhöhtes Interesse.
Die Bodenkunde als selbständige Wissenschaft hatte ihre Wiege
in Rußland, woselbst auch ihr Jugendaller verflossen ist. Die gruml-
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213
lugende Untersuchung von Rupreoht über die Schwarzerde (1866)
wurde zu ihrem Fundament, und der stattliche Hau der neuen Wissen-
schaft wurde von Professor W. W. Do kutsch ajew in Gemeinschaft
mit seinen zahlreichen Schillern ausgeführt, unter denen dem unlängst
verstorbenen Prof. N. M. Ssibirzew die definitive Formulierung des
Gesetzes von der zonalen Verbreitung der Bodentypen zur besonderen
Ehre gereicht. Erst in allerletzter Zeit begann sich die Bodenkunde
auch in Amerika zu entwickeln, wo die neue Riohtung in dem kali-
fornischen Professor Hilgard einen Vertreter fand.
Worin liegt die Ursache einer so verspäteten Entfaltung der
Wissenschaft vom Boden? Warum blieb Westeuropa, welches sonst
auf allen Gebieten des Wissens obenan steht, im Studium dieser ober-
flächlichsten, der Beobachtung leicht zugänglichen geologischen Bil-
dung so sehr im Rückstand? Diese, auf den ersten Bliok so auffallende
Tatsache erklärt sich aufserordentlioh einfach. In Westeuropa gibt
es fast keine ursprünglichen, natürlichen Böden mehr. Sie sind alle
durch die Hand des Menschen vollkommen verändert Da gibt es
keinen Flecken Land, welcher nioht aufgelookert, mit dem Mutter-
gestein oder dem Untergrund vermisoht, mit verschiedenem Material
gedüngt wäre, — kurzum, die Böden von Westeuropa sind durch die
Kultur verändert bis zum völligen Verlust ihres ursprünglichen Aus-
sehens und ihrer natürlichen Eigenschaften. In Rufsland liegen noch
Hunderte Millionen von DeBsätinen ') jungfräulichen, vom Pflug unbe-
rührten Bodens. Überhaupt hatte sich bis jetzt der russische Land-
und Ackerbau in einem weit geringeren Grade der klimatischen und
der Bodenverhältnisse des Landes bemächtigt, als vielmehr sich selbst
ihnen unterworfen. In Rufsland finden wir nur halbwilde Böden,
in denen die von der Natur selbst verliehenen Eigenschaften gegen-
über den von der Kultur hineingetragenen unbedingt vorherrschen.
Auf diesen Böden wurde auch die neue Wissenschaft geboren, und
die Früchte ihrer Forschung waren reich. Amerika mit seinem „Neu-
land", mit seinen ausgedehnten, häufig noch jungfräulichen Ebenen,
seinen Prärien, seinen Wäldern und Wüsten lieferte ein noch anschau-
licheres und vollständigeres Material zum Verständnis und zum Studium
der natürlichen Böden, und es sollten sioh daher dem engen Kreis
der russischen Bodenforsoher bald die amerikanischen Gelehrten an-
schliefsen.
Der Mangel natürlicher Böden in Westeuropa war auch die Ur-
sache davon, dafs sich dort nicht einmal ein richtiger Begriff des
') I Dess. = 1,09 ha.
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214
Bodens auszubilden vermochte. Einige Forscher verstanden unter
dem Boden die oberfläohliohsten Schichten der Erdkruste, andere — jene
Erdsohicht, in weloher sioh die Pflanzen wurzeln ausbroiten; andere
wieder identifizierten den Boden mit dem Horizont der Ackererde.
Alle diese unklaren Definitionen entbehrten jeder .festen wissenschaft-
lichen Grundlage und stützten sich auf rein zufällige Merkmale der
in Westeuropa vorherrschenden künstlichen Böden Eret Professor
Dokutschajew war es Vorbehalten, diesem Begriff eine ganz klare
und vollkommen wissenschaftliche Definition zu geben. Nach ihm ist
der Boden jene oberflächlichste Schicht der Erdrinde, welche durch
die vereinigte Einwirkung von Klima, Atmosphäre, Wasser, Tier- und
Pflanzenwelt verändert wurde. Es ist dies ein vollkommen selbstän-
diger Naturkörper mit einem bestimmten Komplex von Eigenschaften,
die ihm zukommen. Er entsteht infolge von mannigfaltigen, zuweilen
sehr komplizierten Prozessen und unterliegt, wie jedes geologische
Gebilde, stetigen Veränderungen. Kurz, der Boden hat, wie alles auf
der Erde, sein eigenes Leben, über dessen Gesetze die Wissenschaft
uns aufzuklären hat.
Wie bildet sich nun der Boden? Welche Faktoren erzeugen
diese oberflächlichste Sohicht der Erde und häufen sie an? Eine klare
Antwort auf diese Fragen liefert uns jenes grofsartige Experiment,
welches die Natur selbBt an den im Jahre 1116 von den Nowgorodern
erbauten Festungsmauern von Staraja Ladoga am Wolchowflufs ange-
stellt hat. Die Mauern dieses Baues legten vor dem Akademiker
Ruprecht und dem Professor Dokutschajew ein beredtes Zeugnis
davon ab, wie sich der Boden überhaupt bildet. Bei diesen grofs-
artigen Ruinen wurde der feste Grund zur russischen Bodenkunde
gelegt
Die Mauer war oben von einer mehrere Zoll dioken, erdigen
Sohicht bedeckt, und das fesselte die Aufmerksamkeit der Gelehrten.
Sohon auf den ersten Blick war es klar, dafs diese dunkle Deoke
mit dem sie unterlagernden Material nichts gemeinsam hatte. Die
Festung war aus massigen Kalksteinplatten und aus Kieselsteinen zu-
sammengelegt worden. Das Gestein ist hart und gibt unter dem
Hammerschlag Funken; seine Farbe ist hellgrau, stellenweise grün-
lich. Demgegenüber ist die die Mauer überziehende erdige Deoke
locker und läfst sich unter den Fingern zerreiben; sie ist in ihrer
ganzen Masse homogen und hat eine kaffeegraue Farbe. In der Zu-
sammensetzung herrschen sandige und tonige Partikelchen vor, wäh-
rend Kalk fast gar nicht vertreten ist; der Humus spielt eine ansehn-
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liohe Rolle. Kurz, auf den Mauern von Staraja Ladoga fand sich eine
echte Bodenschicht vor. Ihre auffallende Eigentümlichkeit besteht darin,
dafs sie unter den Augen der Menschen in verhältnismäfsig kurzer,
historisch nachweisbarer Zeitspanne entstanden ist
Das Auftreten des Bodens auf den Festungsmauern von Staraja
Ladoga war die Folge ihrer lange andauernden Verwitterung. Die
Schwankungen der Temperatur, Hitze und Frost Wasser und Kohlen-
säure arbeiteten während 7 */2 Jahrhunderten an der Zerkleinerung
und Umänderung des Materials, aus welchem die Mauern aufgebaut
worden waren.
Alle löslichen Teile, vor allem der Kalk, wurden durch das
Wasser weggeführt In der aufgelookerten Schicht siedelte sich die
Vegetation an. Von Jahr zu Jahr wurde sie mannigfaltiger und
üppiger. Die abgestorbenen Pflanzenteile blieben an Ort und Stelle
und verwandelten sich bei ihrer Verwesung in Humus, welcher, sioh
immer mehr anhäufend, der erdigen Schicht ihre eigenartige Farbe
verlieh. So bildete sich der Boden auf dieser Festungsmauer, so
bildet sioh der Boden überhaupt. Seine mineralischen Elemente stellen
den veränderten, verwitterten Rückstand des Muttergesteins dar; die
organischen Bestandteile verdankt er der vereinten Arbeit der Pflanzen
und Tiere. Somit lassen sich die Vorgänge der Bodenbildung auf
die Verwitterung der Qesteinsarten unter wechselnder Ein- und Mit-
wirkung tierischer und pflanzlicher Organismen zurückführen.
Bekanntlich sind Wasser und Kohlensäure die Hauptfaktoren der
Verwitterung. Eine ungeheure Bedeutung haben auch die Temperatur-
schwankungen. In der Sahara, wie überhaupt in den Wüsten, erfolgt
die Zerstörung der Gesteine infolge des einfachen Wechsels von Hitze
und Kälte, von Erwärmung und Abkühlung. In kalten Klimaten
spielt der Frost eine wichtige Rolle. Das Wasser dringt in die Fels-
spalten ein, gefriert hier und entwickelt infolge der Ausdehnung eine
grofse Kraft. Wird eine gufseiserne Hohlkugel mit Wasser gefüllt und
mit abgeschlossener Öffnung dem Frost ausgesetzt, so wird sie durch das
gefrierende Wasser auseinandergetrieben. So werden auch ganze Felsen
gesprengt und zerstört Die anhaltende Wirkung der Temperatur-
schwankungen und des gefrierenden Wassers zerbröckelt sie immer
mehr und läfst sie zu Kies und Sand zerfallen. Aufser diesen rein
mechanischen Veränderunaen erfolgt aber auch eine chemische Verände-
rung der Qesteinsarten. Das Wasser laugt mit Leichtigkeit alle lösliohen
Bestandteile aus. Diese Wirksamkeit wird durch die aus der Luft auf-
genommene Kohlensäure gesteigert. Selbst die trägsten Mineralien, wie
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es z. B. die Silikate in ihrer Mehrzahl sind, werden vom Wasser nach
und nach zersetzt. Die Natur der Silikate bleibt freilioh bis jetzt in
manchen Beziehungen noch unaufgeklärt, weil sie den in unseren
Laboratorien zur Anwendung gelangenden Reagentien gegenüber außer-
ordentlich widerstandsfähig sind. Doch haben Prof. J. Lemberg und
sein Schüler Dr. Tugut duroh ihre interessanten Experimente dargetan,
dafs die Silikate unter hohem Druck, hoher Temperatur und lange an-
dauernder Einwirkung gelbst von außerordentlich verdünnten Losungen
kohlensaurer Salze sowie von destilliertem Wasser leioht angegriffen
werden; sie gehen dann ebenso leicht wie andere Verbindungen die
mannigfaltigsten Reaktionen ein. Nach Prof. Lemberg vermag das
Wasser unbedingt alles, selbst Gold und Silber, aufzulösen, nur
sind dazu eine bedeutende Zeit und ungeheure Mengen des Lösungs-
mittels erforderlich. Da wir aber nicht im Stande sind, mit denselben
großen Mengen zu arbeiten, wie sie in der freien Natur zur Anwen-
dung kommen, so ersetzen wir sie bei unseren Laboratoriumsversuohen
durch gesteigerten Druck und hohe Temperatur. Es ist aber sehr
wahrscheinlich, dafs viele von den Veränderungen, die wir unter so
exklusiven Bedingungen bewirken, in der freien Natur auf Schritt
und Tritt von selbst stattfinden. Die Chemie der Silikate steckt noch
in den Kinderschuhen; der aufkeimende Wissenszweig wird früher oder
später eine große praktische Bedeutung erlangen und möglicherweise
auf dem Gebiete der Landwirtschaft das leisten, was die organische
Chemie auf demjenigen der Industrie leistet. Die Zusammensetzung
des Bodens wird sich dereinst duroh genaue Formeln ausdriioken,
die in ihm erfolgenden Veränderungen in chemische Gleichungen
fassen lassen. Schon heute führten die Versuche von Prof. Lem-
berg zu einem höohst wichtigen Ergebnis; sie klärten uns über die
Herkunft und die Natur jener Verbindungen auf, duroh welche das
Absorptionsvermögen der Böden bedingt wird.
Im Grunde genommen lassen sich sämtliche Veränderungen der
kieselerdehaltigen Verbindungen, die an der Zusammensetzung der
Gesteinsarten hervorragenden Auteil nehmen, auf eine Hydration,
d. h. auf eine Verbindung mit Wasser zurückführen. In der Reihe
dieser hydratisierten Zersetzungsprodukte sind zweifellos diejenigen
Silikate am merkwürdigsten, welche in jedem Boden anwesend Bind
und sich unter der Einwirkung schwacher Salzlösungen leicht ver-
ändern. Sie absorbieren die zum Pfianzenleben unentbehrlichen Basen
und geben sie dann nach und nach an das kohlensäurehaltige Wasser
ab. Infolgedessen werden z. B. die duroh den Boden passierenden
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Kalisalzlösungen sofort verändert: das Kalium wird vom Boden fest-
gehalten, anstatt desselben finden wir Natrium.
Durch diese komplizierten Vorgänge der chemischen Verwitte-
rung erhält das zerbröckelte Gestein neue, die Entwickelung der
Vegetation begünstigende Eigenschaften, indem es die für das Leben
der Pflanze unentbehrlichen Stoffe festhält, fixiert. Es ist begreiflich,
dars der verwitterte, mineralische Bestandteil des Bodens in seiner
Zusammensetzung und in seinen Eigenschaften von dem darunter-
liegenden Muttergestein abweicht: gewisse Bestandteile des letzteren
sind durch das Wasser entfuhrt worden, andere sind bis zum völligen
Verlust ihrer ursprünglichen Eigenschaften verändert. Zahlreiche Be-
obachtungen haben gezeigt, dals unter ähnlichen klimatischen
und hydrologischen Bedingungen die Verwitterungspro-
dukte der verschiedensten Gesteinsarten einander sehr
nahe kommen, mit anderen Worten: innerhalb der Grenzen
eines gegebenen physi kalisch -geographischen Gebietes ist
die mineralische Zusammensetzung des Bodens eine mehr
oder weniger gleichartige.
Neben den eigentlichen hydrochemischen Prozessen erscheinen
die Pflanzen als die wichtigsten Bodenbildner. Selbst die nackten
Felsen können nicht für unbewohnbar gelten: bei völligem Mangel
einer Bodenschicht erscheinen hier Flechten — die Pioniere der Vege-
tation. Indem sie in ihren Körpersäften bedeutende Mengen von
Oxalsäure (bis zu 5*%) enthalten, vermögen sie dadurch die Gesteine
zu zersetzen und ihnen gewisse Mineralstoffe zu entziehen. Bei ihrer
Verwesung liefern sie aber einer geringen Bodenschicht den Ursprung,
auf welcher sich dann schon etwas gröfsere, wenn auch immer noch
anspruchslose Pflanzenarten zu befestigen vermögen, so z. B. das
Heidekraut. Die Wurzeln solcher Pflanzen wirken nicht nur che-
misch, sondern auch mechanisch, indem sie in die feinsten Spulten
eindringen und dieselben bei ihrem Waohstum erweitern. Die Wurzeln
gröfserer Bäume sprengen auf diese Weise ganze Felsblöcke ab, wo-
für man in waldigen Schluchten zahlreiche Beispiele findet. Von den
senkrechten Felsen trennen sich keilförmige Blöcke ab und stürzen
dann hinunter. So arbeiten die Baumwurzeln unausgesetzt an der
Vorbereitung der Felsstürze. Kleinere Pflanzen, wie Heidekraut,
Flechten, Moose, erzielen geringere Wirkungen, sie wirken aber
durch ihre Masse und lockern nach und nach die Gesteinsoberfläche
so weit auf, dafs man von einer Bodenschicht sprechen kann, auf
welcher sich dann andere, weit mannigfaltigere und anspruchsvollere
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Pflanzen ansiedeln. Hat aber die Vegetation den Felsen mit einer
zusammenhängenden Decke überkleidet, dann wird ihre chemische
Einwirkung eine gewaltige. Die abgestorbenen Pflanzenteile bilden
bei ihrer Verwesung unter freiem Luftzutritt Kohlensäure und Wasser,
deren Rolle bei der Verwitterung der Felsarten wir bereits kennen.
Häufen sich aber die Pflanzenreste in grofsen Mengen an, so wird
ihre rasche Zerstörung unmöglich. Es erfolgt dann eine langsame
Zersetzung, bei welcher nioht nur Kohlensäure und Wasser, sondern
auch eine Reihe von organischen Verbindungen, darunter verschiedene
Säuren entstehen, die als starke Lösungsmittel wirken und die weitere
Veränderung der mineralischen Bodenbestandteile fördern. Indem sie
sich von Jahr zu Jahr anhäufen, bilden diese verwesenden Pflanzen-
reste jenen Komplex von organischen Verbindungen, welcher den
Namen „Humus“ trägt. Der Humus verleiht dem Boden auch seine
mehr oder minder dunkle Farbe.
(Fortsetzung folgt.)
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ffi
1
fxigfrJiri iSI isirJOf rfl lei rillö f0 pjmtOOTnl
Im Reiche des Äolus.
Von Dr Alexander Rumpelt -Taormina.
(Fortsetzung.)
ich ein anderer Gott hat auf den Liparischen Inseln eine Enklave
oder besser ein Absteigequartier, der sonst in der Tiefe des
Ätna mit seinen schwarzen Gesellen am Feuer steht und
hämmert: Hephäst oder Vulkanus. Die Insel Volcano trägt heute
noch seinen Namen, wie sie zur Zeit der Griechen Hiera Hephaistu,
die dem Hephäst heilige hiefs.
„Die Liparäer bilden sich ein, Hephästos habe in Hiera seine
Schmiede, weil man hei Nachtzeit ein starkes Feuer und den Tag über
Rauch von der Insel aufsteigen sieht.“ So Thuoydides (III. Buch,
88. Kap.), der, angekränkelt von der Zweifelsucht des hochkultivierten
Athen jener Tage, schon nicht mehr so recht an die alten frommen
Märchen glaubt
Die Liparäer aber glaubten ganz ernstlich an ihren rauhen Feuer-
gott, der auf allen ihren Münzen wiederkehrt, entweder als Büste mit
einer runden Kappe über den Ohren oder in ganzer Figur, nackt
sitzend, den Hammer in der Hand. Die Rückseite der meist seltenen
und schönen Münzen weist hingegen auf die Bedeutung, die das Meer
für die Bewohner hatte, durch Darstellung eines Nachens, eines Scbiffs-
vorderteils oder eines springenden Delfins hin. Eine Menge alter
Schriftsteller1) erwähnen Volcano, ein Beweis dafür, welchen Eindruck
der feuerspeiende Berg mitten im Meere auf die abergläubische Phantasie
der Menschen von jeher ausgeübt hat. Nooh im frühesten Mittelalter, wo
man Volcano für die Hölle des Theodor ich hielt, war Vulcania, wie
ee damals hiefs, ein Deportationsort für schwere Verbrecher. Das geht
aus Cassiodor hervor, der in einem Reskript (Variae III. 47) einen
Edelmann, der einen anderen im Streit ersohlagen hat, zur lebensläng-
lichen Verbannung ebendahin verurteilt Die Stelle ist für die da-
') Die Literatur hat Prof. Berireat a. a. O. 8. 205 ft. zusammeniretragen.
220
malige Auflassung vulkanischer Erscheinungen charakteristisch, und
da sie auch Bergest nur kurz berührt, obsohon sie geeignet ist, die
Frage nach der Entstehung von Vuloanello ihrer Lösung näher zu
bringen, so kann ich cs mir nicht versagen, sie hier mitzuteilen und
zwar getreu dem Original mit seinem weitschweifigen, blumenreiohen
Stil, womit der höchste richterliche Beamte des Ostgotenreiohes das
Urteil aussohmückt. ..Da (auf Vulcania) soll der Mörder mit dem
mörderischen Feuer zusammen hausen, das dort seit Jahrhunderten
die Eingeweide der Erde verzehrt Und doch bleibt trotz des an-
dauernden Brandes die Masse der Insel unversehrt, weil nämlich die
unverwüstliche Schöpferkraft der Natur das Gestein immer wieder
ersetzt (!), welches das gefräfsige Feuer vertilgt hat An diesem Ort
soll er fern der Welt, aus der er einen andern grausam entfernt hat,
als Einsiedler leben wie der Salamander, der sein Dasein im Feuer
zubringt!“ Dann schliefst der merkwürdige Richterspruch mit einer
nochmaligen Abschweifung auf naturwissenschaftliches Gebiet: „Es
melden aber die alten Geschichtsschreiber, dafs diese insei aus den
Meereswellen feurig glühend hervorgebrochen sei in demselben Jahre,
da llannibal am Hofe des Königs Prusias Gift nahm. Es ist doch
höchst wunderbar, dafs ein von solchem Feuer erglühender Berg
von den Meeresfluten verborgen gehalten wurde und die Flamme, die
soviel Wasser bedeckte, dort beständig lebendig bleiben konnte.“
Es ist klar, dafs die letzten Worte sioh nioht auf die Insel Vol-
cano selbst beziehen, deren Vorhandensein viel früher bezeugt ist,
sondern jedenfalls auf die kleine Kratergruppe des Volcanello, die
nördlich von dem Hauptstock der Insel gelegen ist. Erst der grofse
Ausbruoh von 1650 füllte (nach Fazellus) die bis dabin freie Durch-
fahrt mit vulkanisohen Auswürfen zu, so dafs Volcanello jetzt die
nördliche Spitze der Insel Volcano bildet.
Nun fällt Hannibals Selbstmord in das Jahr 183 v. Chr., und
Cassiodors Gewährsmänner waren Orosius und Livius, der im
39. Buch, Kap. öfi das Entstehen einer Insel unweit Siziliens in Han-
nibals Todesjahr erwähnt. Damit wäre die Frage entschieden, wenn
dem nicht eine Stelle bei Aristoteles entgegenstände, der eine ganz
ähnliche Naturerscheinung beriohtet, die sich iin vierten Jahrhundert in
der Nähe von Lipara zutrug.2) — Diese seit alters her berühmte und
merkwürdige Insel beBChlofs ich noch am Nachmittag meiner Ankunft
zu besuchen, da der anhaltende Westwind schwere See zu bringen
drohte und mir die Überfahrt später vielleicht unmöglich machen würde.
*) Genaueres hierüber siehe hei Prof. Bergest a. a. O, S. 199 ff.
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So stieg ich mit meinem Mentor in eine Segelbarke und liefs
mioh zunächst von zwei Fischern an der Ostkiiste hinrudem. bis wir
in der Nähe der Meerenge (Bocche di Volcano) einen vorzüglichen
Wind bekamen, so d&fs das grorse Dreiecksegel aufgezogen werden
konnte. Prächtig schofs das Boot dahin, mit der Backbordseite sich
tief, fast bis zur Höhe der aufzischenden Wellen überneigend. Don
Giovanni, ein Freund des Schwefelbergwerksdirektors auf Volcano,
hatte Briefe an diesen zu überbringen. Denn Briefträger gibt es auf
Volcano ebensowenig wie eine regelrechte Post. Nur einmal in d> r
Woche legt die ,.Cor6ioa“ daselbst an, aber nioht am nördlichen, sondern
am südlichen Ende der Insel. Zugleich wollte mein Begleiter, der glück-
liche Besitzer von vier Kaps auf Volcano war, seinen Weinbauer be-
suchen, den er da auf dem Westabhang des Monte Lentia sitzen hatte.
Bald nach der Ausfahrt hatten wir ein kleines, anregendes Inter-
mezzo. Eine Fischerbarke kam uns entgegen, und ihre Insassen ver-
ständigten unsere Fischer schon von weitem, sie hätten einen tamburo,
eine Trommel gefangen. Ich liefs, als sich die Boote begegneten,
halten und gewahrte auf dem Steuersitz einen sonderbaren Fisch,
weifsgläozend, etwa dreiviertel Meter lang und ebenso hoch, aber
ziemlich schmal. Er gehörte offenbar zur Klasse derCipuddi (Zwiebel-
fische). Sein auffallend geringer Umfang rührte daher, dafs man, wie
ich erfuhr, seine .Henkersmahlzeit“, eine Unzahl kleiner Fische, be-
reits aus dem Magen entfernt hatte. Trotzdem und obschon ihm noch
dazu sämtliche Flossen abgeschnitten waren, damit er sich hübsch
ruhig verhalte, lebte er noch, was durch ein starkes Keuchen und die
Bewegung der Augen kenntlich wurde. Bald zog er das Auge ganz
nach innen, so dafs es völlig hinter einer dicken, weifson Haut ver-
schwand, bald drehte er es wieder heraus.
„Und wie habt ihr ihn gefangen?“ .Der Kerl war betrunken.“
.Was, betrunken?“ .Ja, wir sahen ihn treiben, fuhren hin, und da
liefs er sich ohne weiteres packen. An den Augenhöhlen hoben wir
ihn heraus und hinein in den Kahn.“ .Wie viel wiegt er wohl?“
•Sechzig Kilo wird er haben.“ .Und ist das Fleisch efsbar?“ .Aus-
gezeichnet, da schlagen wir unsere dreifsig, vierzig Lire heraus.“
Froh des unverhofften Fanges ruderten die beiden ihre jappende,
äugen verdrehende Beute nach dem Hafen. Don Qiovanni erklärte
den seltsamen Fall damit, dafs der Trommelfisch nach der reichlichen
Mahlzeit jedenfalls an die Oberfläche des Meeres gekommen sei,
um sich zu sonnen und ungestört seinen Frafs zu verdauen. Da
habe ihn der Schlaf überkommen, so dafs er von dem Nahen dei
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Barke nichts gemerkt habe. „Womit hätte er sioh betrinken sollen?
Mit Seewasser? Nein, er war das Opfer eines unbedachten Nach-
mittagsschläfchens geworden.“
„Es gibt wohl viele merkwürdige Fische hier?* „Ja, z. B. wurde
im vorigen Jahr ein Capidoglio gefangen.“
Die Augen der beiden Fischer blitzten, und oft unterbrachen sie
Don Giovanni mit Erläuterungen und Berichtigungen, als er mir
folgendes erzählte:
„Im August 1902 bemerkten die Wachen der Palamitara unter
dem Kap des Monte Rosa eine ungewöhnliche Bewegung der Netze.
Im Sommer kommen dort nämlich die Palämiti (ein mittelgrofser, sehr
wohlschmeckender Fisoh) zu Millionen vorbei, um zu laichen. Und
ähnlich wie man am Festland und auf Sizilien die Tonnaren auslegt
lur die Thunfisohe, so ist die Palamitara ein ganzes System von Tauen
und Netzen, um die Palämiti abzufangen. Die Waohen benachrich-
tigten durch Zeichen die Kameraden am Ufer; sechs Boote zu je vier
Rudern stiefsen ab. Bald sah man, was geschehen: eine Flosse
tauchte heraus von der Gröfse einer Ozeandampferschraube, dann
ein Kopf wie ein kleines Gebirge. Hoch sohlug das WasBer ringsum
auf. Ein ungeheurer Wal hatte sioh in dem Netzwerk verstrickt und
suchte vergeblich, sich zu befreien. Man liefs ihn eine Zeitlang toben,
bis er, völlig von den starken Pfriemgrasnetzen umschnürt, allmählich
matter um sich sohlug. Da nahten sich ihm die Kühnsten, warfen
ein starkes Tau hinter der Schwanzflosse um den Leib des Tieres
herum, knüpften die Schlinge, und nun zogen die seohs Boote, im
ganzen vierundzwanzig Ruder, das Ungetüm in die Nähe des Ufers.
Den Riesen ans Land zu bringen, war unmöglich. Um ihn zu töten,
stach man mit Messern, man hieb mit Beilen auf ihn ein, man be-
schofs ihn aus Revolvern und Pistolen. Alles umsonstl Endlich ge-
lang es, mit einem der gröfsten Fleischermesser seine Weiohen zu
öffnen. Eine ganze Barkenlast blutiger Eingeweide quoll heraus, und
im Nu hatte sich auch sohon ein Hai eingestellt, der sich das köstliche
Futter wohl schmecken liefs. Der Hai wurde ebenso erlegt wie auch
noch ein kleinerer Wal, der alsbald herzugeschwommen kam, jeden-
falls das Kind des grofsen Capidoglio. Als es mit ihm zu Ende war,
zog mau ihn an den Strand. Er mafs 33 m in der Länge. Mehrere
Hektoliter Öl wurden ihm abgezapft — schlechtes öl, nur für die Ma-
schinen. Aber da der Kadaver — Sie können es sich denken, anfangs
August — bald in Verwesung überging und den Gestank kein Mensch
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ertragen konnte, wurde er zerstückelt und auf den Monte Rosa an
eine öde Stelle gebracht.“
„Und da liegt er noch heute?"
„Nein, einige Monate Bpäter kam ein englischer Professor. Der
hat das Skelett für das Museum in London mit sieh genommen.
Tausend Lire hat er bezahlt, und das war nicht zu viel; denn das
Ungeheuer halte den Fischern ihre grofse schöne Palamitara voll-
ständig zerstört.“ —
Durch die Bocche di Voloano tauchten alsbald die schon vom
Dampfer flüchtig beobachteten Klippen wieder auf, die Petra lunga
mit ihrer Durchfahrt, die hier sichtbar wurde, und der scoglio Minarda,
weit draufsen, beständig von den Wogen umrausoht, nur von Möwen
bewohnt. Im Hintergrund kamen die beiden blauen Kegel von Fili-
cudi und Alicudi zum Vorschein. Dieses präohtige Seestück rahmten
rechts die freundlich grünen Abhänge des Monte Guardia, links, voll
starrer Öde, die niedrige Lavaterrasse des Volcanello ein.
Und jetzt nähern wir uns diesem „zierliohsten Vulkangebilde
der liparischen Inselwelt“ (Bergeat), d. b. dem östlichsten der kleinen
Drillingskrater, dessen eine Hälfte ins Meer gesunken ist, und dem
wir im Vorübergleiten sozusagen ins Herz sehen.
Wild durcheinander geworfenes, brüchiges Gestein, rotleuchtend.
Eine kräftige, schwarze Rippe durchzieht es von unten nach oben.
Den Bruob bedecken zu beiden Seiten sich hinaufschiebende Lava-
schichten; das war mein Eindruck. Damit der Leser ein noch klareres
Bild gewinne, füge ioh die Beschreibung dieses wichtigen geologischen
Punktes durch Bergeat (S. 196) an: „Wie wenn man eine Zwiebel
entblättert, so dafs unter jedem äufseren Blatt noch ein Stück von der
Fläche des nächstfolgenden inneren zutage liegt, so ist jener kleine
Kegel nicht einfach angeschnitten, sondern die einzelnen ineinander
geschachtelten Schalen von Tuff und Schlacken sind teilweise in ihrer
vollen Fläche freigelegt, und im Innern sieht mau die grobschlackige,
von einem Lavagang durchsetzte Kernmasse.“
Bald darauf landeten wir in einer kleinen Buoht und klommen
zwischen Ginsterbüschen empor. Zwei Arten unterschied ich, den
Besenginster (ginestra etnensis) und weiter oben einen in Büscheln
prächtig goldgelb blühenden. Das frische Grün und Gelb des
Pflanzenwuchses vermehrte nooh die Buntscheckigkeit der Forgia
vecohina („alte Schmiede“), wie dieser muldenförmige Abhang heilst.
Es hob sich belebend von der rostbraunen Lava und der tiefschwarzen
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Asche weiter oben ab, wo dann noch ein anderes Gelb zwischen
weifsen Dampfwolken aufleuchtete: die Sohwefelstufen der Fumarolen.
Bald von aller Vegetation verlassen, ging es steil den Zickzack-
weg zura Krater hinauf. Vergebens halte ich in der Nähe der Pietre
Gotte („gebratene Steine“), eines kleinen Obsidianstromes, nach den
berühmten Bomben gesucht, die der Krater beim Ausbruch 1888 — 90
hierher, etwa zwei Kilometer duroh die Luft, berausgeschleudert hatte.
Auch diese Bomben3), im Volumen von etwa zehn bis fünfzehn Kubik-
metern, hatte ein Engländer für ein Museum erstanden und mitge-
nommen. Wie e6 möglich war, solche Kolosse fortzubewegen und in
die Barke zu bringen, ist mir ebenso rätselhaft geblieben wie der
Umstand, dafs der Kran eines gewöhnlichen Dampfers eine so grofse
Last heben konnte, ohne zu brechen.
„Hoffentlich haben die Engländer den Krater Stehen lassen,
sonst bleiben wir lieber gleioh unten.“ Don Giovanni versicherte
mir, dafs sie den noch nicht mitgenommen hätten.
Auf halber Höhe der Forgia vecchina kamen wir an einem
Schwefelofen vorbei. Er besteht aus einer Ringmauer mit einer kleinen
Öffnung, nur wenig über der Erde. Die Ringmauer wird mit dem
schwefelhaltigen Gestein, das bereits in der Nähe lagerte, angefüllt,
letzteres angezündet, und das „Öl“, wie man hier den verflüssigten
Schwefel nennt, fliefst durch ein Bleirohr, das man in die Öffnung
steokt, in die darunter aufgestellte Holzform. Also dasselbe primitive
System wie in den kleineren Schwefelgruben im Innern Siziliens. Von
hier an begleitete uns der Capo, der Aufseher der acht in der Forgia
arbeitenden „coatti“. Er ist gleichfalls ein ehemaliger Sträfling, der
wie so manoher andere auf den Inseln geblieben war, sioh verheiratet
hatte und nun in ehrlicher Arbeit sein früheres Sündenleben sühnte.
Niemand fragte danach, was er verbrochen hatte. Ja, er bekleidete
sogar eine Art Ehrenamt, indem er die Aufsicht über die Sträflinge
erhalten und damit die Verantwortung übernommen hatte, dafs diese
nicht heimlich entflohen. Jeden Abend schlofs er die acht Mann in
eine Baracke am Strand ein, und am Morgen liefs er sie wieder
heraus.
Schwor keuchend auf dem steilen, schlüpfrigen Pfad kamen uns
jetzt vier der Sträflinge entgegen, jeder einen Sack Gestein im Ge-
wicht von sechzig bis siebzig Kilo auf dem Rücken. Wir traten bei-
seite. „Warum sind es so wenige?“ fragte ich den Capo. „Die Aus-
beute ist viel geringer als früher, wo drei, ja vierhundert Leute hier
3) von Bergoat auf Tafel XXI abgebildet.
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gearbeitet haben sollen. Aber wir sind jetzt auf neue reichhaltige
Lager gestofsen, und das'Gesuch ist schon eingereioht, dafs wir weitere
vierzehn coatti bekommen.“
Es ist nämlich eine besondere Vergünstigung, die nur bei guter
Führung erteilt wird, außerhalb des Kastells auf der Nachbarinsel
zu hausen und zu arbeiten 1 Der Tageslohn beträgt 1 Lira 50 Cts.
(1,20 M ), nicht viel im Hinblick auf die sohwere Mühe, aber doch
auch nicht weniger als ein Landarbeiter in Sizilien für zwölfstündiges
Erdhacken bekommt.
Nach etwa einer halben Stunde Steigens wehte uns ein heifser,
höchst übelriechender Qualm entgegen, echter Schwefelwasserstoff.
Wir kamon zu den Kumarolen. Aus breiten, überall mit Schwefel
beschlagenen Spalten quoll der atembenehmende Dampf. Mitten in
dem Qualm stand ein Häuer, der das gelöste Gestein den vier anderen
Trägern in ihre Säcke füllte. Es wird nur Tagbau getrieben, die
heifsen Schwefelstüoke kühlen schnell ab.
Der Capo hielt uns wie ein gewiegter schweizer Bergführer
sicher an der Hand, als es galt, über einige abschüssige Platten zu
balanzieren. Dann, als wir auf den Piano delle Fumarole kamen, wurde
der Weg, den sich jeder selbst in der Asche zwischen den zahlreichen
Bomben suchte, besser. Nicht lange, so standen wir am Rande der
„fossa di Vulcano“ und sahen in den Krater hinein.
Er bildet eigentlich nur noch eine historisch-geologische Merk-
würdigkeit. Sein Durchmesser hat sich nach Bergeat (S. 181) von
600 Metern auf 200 Meter in der Richtung N.N.W.— S.S.O und auf 140
Meter in der Achse W.S.W. — O.S.O. verringert, sein Boden infolge der
Aufschüttung durch die Eruption von 1888 — 18110 um etwa fünfzig Meter
erhöht. Man schätzt die in den Krater damals zurückgefallenen Aus-
wurfsmassen auf 75,000 Kubikmeter. So bietet der Anblick der fossa,
den frühere Beschreiber nicht genug rühmen konnten, jetzt niolits Groß-
artiges mehr. Bergeat fand den Krater 1804 schon im Solfataren-
zustand, aber dieser ausgezeichnete Beobachter erweckt durch Wort
und Bild doch die Vorstellung einer noch ziemlioh lebhaften Tätigkeit.
Ich sah nur an zwei Stellen ganz kleine Dampfwölkchen aufsteigen,
im übrigen war alles graue, totenstille Einförmigkeit. So scheint es,
dafs nach jenem gewaltigen letzten Paroxismus die fossa di Vulcano
sioh dem Zustand völliger Ruhe immer mehr nähert.
Ein wenig enttäuscht wandte ich mich von diesem Bilde starrer
Öde nach Norden und genofs zura ersten Male den köstlichen Blick
auf sämtliche sieben Inseln des Archipels. Im Vorblick über dem
nimmst und Kr.il). 19CH. XVI. S. 15
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Vulcanello ruht Lipari breit, behaglich in den Wellen, überragt von
den beiden Oipfeln des benachbarten Salina. Zur linken erheben
sich die beiden Kegel: Filicudi und Alicudi, zur rechten das steil-
abfallende Panaria, daneben die kleine Insel Basiluzzo, ganz fern der
Stromboli aus den strahlenden Fluten. Zu Füfsen aber glanzten von
der Sandbank zwischen uns und dem Vulcanello im sanften Lioht
der Nachmittagssonne grüne Weingärten und eine grofse Feigen-
plantago herauf. Vor wenigen Jahren erst auf dem durch die Erup-
tion völlig verwüsteten Grund angelegt, zeigen sie, wie schnell in
diesem gosegneten Klima die Natur imstande ist, die von ihr ge-
schlagenen Wunden wieder zu heilen.
Für den Besuch beim Weinbauer war es leider zu spät geworden.
Dafür folgten wir der Einladung des Direktors, und nachdem ich seine
reiche Sammlung vulkanischer Mineralien, darunter besonders herr-
liche Schwefelkristalle besichtigt hatte, verbrachte ich auf der Terrasse
seines Landhauses, umduftet von Beseda und Glyoinien, ein gemüt-
liches Tee6tündchen. Ich erfuhr, dafs der ganze nördliohe Teil der
Insel nebst dem Abbaurecht bereits seit 1870 einem Engländer Stefen-
son aus Glasgow gehöre, der aber noch nie dieses sein Besitztum
betreten habe. Die Ausbeute an Salmiak, Borsäure und Schwefel war
vor dem Ausbruch ziemlioh reich gewesen, von 1873 — 76 jährlich im
Durchsohnilt 8 Tonnen Borsäure, 20 Tonnen Salmiak und 240 Tonnen
Schwefel (die Tonne = 20 Zentner). Da hatte der Ausbruch in der
Nacht vom 3. zum 4. August 1888 mit seinen glühenden Bomben die
Borsäurefabrik in eine Ruine verwandelt, das Schwefellager ausge-
brannt und auch das Wohnhaus arg beschädigt. Der damalige Di-
rektor war nach den ersten Schüssen, die ein heftiges Erdbeben
begleitete, mit seiner Frau aus dem Bett gesprungen und auf den
Vulcanello geflohen, wo beide nur mit dem Nötigsten bekleidet, am
nächsten Morgen gefunden wurden, halb tot vor Angst und Sohrecken.
„Ich bewundere Sie, gnädige Frau“, sagte ich zu der Signora
Toscano, die alsbald mit zwei reizenden kleinen Mädohen an der
Hand ersohien, „dafs Sie es hier zu Füfsen dieses schlafenden Un-
geheuers aushalten können, in dieser Einsamkeit, von der übrigen
Welt vollständig abgeschnitten“.
„Oh, ich habe es hier doch ganz gut. Sehen Sie da unseren
schönen Gemüse-, Obst- und Blumengarten, dort den nahen Badestrand,
wo wir uns im Sommer erfrischen, und da diese wundervolle Seeland-
schaft nach Salina und Alicudi hin. Mein Mann hat seine Geschäfte
mit der Sohwefelsiederei, dem Wiederaufbau der Fabrik, vor allem
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mit der groben Weinpflanzung und der neuen Feigen plantage. Ich
habe im Hause genug Arbeit. Wir haben lange Jahre in der groben
Welt gelebt, in Messina, Petersburg, Odessa — ich bin eine Russin
— und kennen sie zur Genüge. Da tut uns jetzt die Ruhe, der Friede
hier unendlich wohl. Und wie gut bekommt den Kindern das gesunde
Klima!“ Sie zog das gröbere Mädchen an sich, sagte ihm etwas ins
Ohr, worauf die beiden Kinder verschwanden und alsbald mit einem
schönen Straub wiedererschienen, den sie mir zum Andenken über-
reichten. Denn schon drängten die Fischer zur Abfahrt, da sieb im
Westen ein böses, schwarzes Wetter aufbaute.
Ich nahm von diesen „einsamen Menschen“ nioht ohne tiefen
Anteil Absohied. Wir bestiegen unsere Rarke und gingen mit einem
steifen W.N.W. pfeilgeschwind durch die erregten Wogen zurück.
15'
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Die Pearsallsche Geld-Rohrpost
Von Leopold Katsrlirr in Budapest
«er Telegraph und da« Tolephon arbeiten schnell, eignen sich aber
nicht zur Beförderung greifbarer Dinge. Da tritt die pneumatische
Röhre in ihre Rechte — teils als die bekannte Rohrpost der
europäischen Millionenstädte, teils als das in den grofsen Handels-
emporien der Vereinigten Staaten eingeführte Batohellersche System
pneumatischer Post- und Paketröhren. Die pneumatische Röhre besitzt
einen dem Telegraph und dem Telephon fohlenden Vorzug: sie ist ein
Beförderungsmittel. Für kurze Strecken — also etwa innerhalb
einer und derselben Stadt — ist ein gutes pneumatisches System sogar
das denkbar rascheste und zuverlässigste Beförderungsmittel von
Schriftstücken, Paketen und sogar Telegrammen. In London und
New York, in Boston und Philadelphia verschickt das Hauptpostamt
die Ortsdepesehen nicht per Draht, sondern per Rohr. Ein weiterer
Vorteil des letzteren ist die grofse Einfachheit des Betriebs.
Bekanntlich wird die zur Anwendung gelangende Luft entweder
im komprimierten Zustand hinter der Beförderung» buchse her gesohickt
oder vor ihrangesogeö, d. h. die Apparate werden entweder durch Druck
oder durch Vakuum betrieben. In beiden Fällen kamt es zweierlei Lufl-
stromanwendungen geben: entweder eine unaufhörliche oder eine
zeitweilige, auf die jeweilige Beförderungszeit beschränkte. Heute
will ich die Leser mit einem zwar noch neuen, aber doch schon sott
mehreren Jahren in der nordamorikanischen Union vorzüglich be-
währten pneumatischen Vakuumsystem mit kontinuierlichem Luftstrom
bekannt machen — dem „Pearsallschen.“ Der Erfinder, Albert
W. Pearsall, ist seit Jahrzehnten als ein hervorragender Fachmann
ui pneumaticis anerkannt. Speziell im Gebiete der Luftröhren für
geschäftliche Kassenzwecke hatte er bereits mehrere Erfindungen ge-
macht, die Anklang fanden, ehe er das in idealer Weise vervoll-
kommnte System ausbildete, von dein ich sprechen will und von dessen
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229
Einführung erstaunlicherweise in Europa noch ebensowenig zu sehen
ist wie von der des umfangreichen Batchellerschen Systems*), ob-
gleich beide Systeme in ihrer Anwendung auf Handel und Wandel
glänzende Lichtseiten ohne jeden Nachteil aufweisen.
Pearsall (oder eigentlich die New Yorker „The Pearsall Pneu-
matic Tube and Power Company“) stellt Röhren von vier verschiedenen
Durchmessern her: 2>/4 Zoll, 3, 4 und 5 Zoll. Am gebräuchlichsten
ist das kleinste Modell, von dem es zwei Arten gibt: für Geld und
für Briefe, Botschaften oder andere Papiere. Am üblichsten ist das
Bargeldbeförderungsrohrsvstem, wie es die grofsen Geschäftshäuser,
die nur gegen bar verkaufen, jetzt anwenden, um die zahllosen Be-
träge, die täglioh von den Kunden bezahlt werden, in ein Kassen-
zimmer zu sohioken und das zum Herausgeben notwendige Kleingeld
von dort zu erhalten. Das Dreizollrohr befördert zusammengefaltete
Zeitungen, Gerichtsakten und andere Drucksachen oder Schriftstücke
von angemessener Gröfse. Für die gröfseren Gegenstände sind die
Vier- und FUnfzollröhren bestimmt. Auf Bestellung können auch
6— 7zöllige Anlagen hergestellt werden; noch gröfsere (8 — 12 Zoll)
gehören bereits dem Batchellerschen System an.
Alle Firmen, die die Pearsallsche üeldrohrpost — so kann man
sie wohl um besten nenuen — benutzen, vereinigen das ganze
Kassenwesen in einem Saal und verbinden diesen mit mehreren
Punkten des Warenhauses. Jeder von einem Kunden bezahlte Betrag
wird, zusammen mit einem Verkaufszettel (Buchhaltungsbeleg), durch
das dem betr. Verkäufer nächstliegende Rohr in den Kassensaal ge-
schickt; sollte Kleingeld zum Herausgeben erforderlich sein, so ist es
in wenigen Sekunden da. Soll die Zahlung für einen Einkauf erst
bei Ablieferung des Pakets erfolgen, bo wird die Rechnung ebenfalls
in den Kassensaal befördert (und zwar in Büchsen, die sich von den
gewöhnlichen unterscheiden), um von dort uneröffnet über eine kurze
pneumatische Verbindungslinie zum „Ablieferungs- Kassenpult“ zu
gelangen.
Ein Kassenbeamter vermag, je nach der Lebhaftigkeit des je-
weiligen Geschäftsganges, 5 bis 10 Linien zu bedienen. Deshalb sind
die Linien im Kassenraum in Gruppen von 5 bis 10 Röhren geteilt.
Die Zentralisierung aller Kassierer in einem Saal — die notwendige
Folge der Anwendung Pearsallscher Anlagen — erhöht deren
Arbeitsfähigkeit bedeutend. Auch sonst ist das neue System ein sehr
*) Vergl. den Aufsatz „tiinimel und Erde“, Jahrg. XIV, 8. 81.
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230
zeitsparendes. Da kein Verkäufer in einem Gesohäft ohne pneu-
matische Geldpost, wenn nicht Irrtümer entstehen sollen, einen zweiten
oder gar dritten Kunden bedienen kann, ehe der erste sein Kleingeld
erhalten hat, geht viel Verkaufszeit verloren, was in einem vielbesuchten
Laden — namentlich in den grofsartigcn Kaufhäusern der Union, sowie
denjenigen in Paris, London u. s. w. — die Anstellung einer gewissen
Mehranzahl von Verkäufern nach sich zieht. Die Benutzung Pearsall-
scher Röhrenanlagen maoht eine Anzahl Kommis überflüssig, abgesehen
davon, dafs die Käufer nicht lange zu warten brauchen, bis sie an die
Reibe kommen oder Kleingeld erhalten. Überdies werden die Boten
erspart, die das Geld zum Schalter und das herausgegebene Kleingeld
zurückbringen. Alles in allem ist die Regieverringerung bei der An-
wendung Pearsallsoher Rohren eine sehr erhebliche; ein hervor-
ragendes New Yorker Warenhaus schätzt die mittelst ihrer sechzig
pneumatischen Linien erzielte Regieersparnis auf volle 20 pCt.l
Der Bau der Anlagen ist ungemein einfach. Sie nehmen wenig
Raum ein, können nicht leicht in Unordnung geraten, vertragen nach
Belieben eine senk- oder eine wagreohte Lage, arbeiten infolge sinn-
reicher Vorrichtungen geräuschlos, lassen sich nach Bedarf im Sou-
terrain oder in den oberen Stockwerken anbringen und haben ein ele-
gantes Äufsere. Ein eigenartiger dicker Lacküberzug erhält die Röhren
dauernd schön. Ein weiterer Vorzug ist, dafs die Beförderungs-
geschwindigkeit durch Abänderungen des Vakuums geregelt werden
kann. Die übliche beträgt ca. 6 m pro Sekunde, dooh lassen sich
auoh 12 m und bei Röhren mit gröfserem Durchmesser noch mehr
erzielen.
Was nun die technische Seite betrifft, so lehrt die Erfahrung,
dafs Vakuumsysteme bei kurzen Entfernungen weniger Kraft erfor-
dern und dafs der Dauerstrom überdies den Vorteil bietet, in einem
gegebenen Zeitraum mehr Büchsen befördern zu können als der un-
unterbrochene Strom, bei welchem mit einer zweiten Büchse gewartet
werden mufs, bis die erste ihren Bestimmungsort erreioht hat. Bei
Dauerstrom können mehrere Büchsen gleichzeitig unterwegs sein.
Auch vollzieht sich die Büchsenbeförderung beim IJauer-Vakuum-
system in viel einfacherer Weise als bei den anderen Systemen
— ein Punkt von entscheidender Wichtigkeit, wenn es sich um die
Bedienung mehrerer Linien durch eine Person handelt, wie dies bei
Pearsalls Geldrohrpost der Fall ist. Der Hauptsache nach besteht der
Büchsenbeförderungsvorgang darin, dafs die Büchse durch eine Öff-
nung („inlet“) im Absende-Apparat („receiver“) in den Luftstrom
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231
gelangt; dann schiefst sie von selber davon, bis sie den Bestimmungs-
ort erreicht.
Gehen wir auf die technischen Einzelheiten über, soweit sie
unsere Leser interessieren dürften. Der Mantel der Büchse ist von
etwas kleinerem Durchmesser als die Röhre und ist an beiden Enden
mit Filzpuffern von bester Qualität und grofser Dauerhaftigkeit ver-
sehen. die zur Sohonung der Büchsen unterwegs dienen und gleich-
zeitig das Auflallen auf das Pult bei der Ankunft dämpfen. Die ge-
raden wie die gebogenen Röhren bestehen aus Messing — entweder
hartgelötetem oder nahtlos gezogenem; die Verbindungsstellen werden
durch Bekleidung der aufeinander treffenden Kohrenden mit einer
knapp passenden Muffe hergestellt. Es bleibt sich hinsichtlich des
Betriebes gleich, ob die Büchsen hinauf oder hinunter befördert
werden. Selbstverständlich unterscheiden sich die Betriebsstationen
der Kassensäle wesentlich von denen der Verkaufsräume. Über den
Mechanismus sei nachstehend nur das Notwendigste mitgeteilL
Der Luftstrom geht in der einen Richtung durch das eine, in der
anderen durch das andere Rohr, wobei zu beachten ist, dafs beim
Vakuumsystem der Druck durchweg — ausgenommen am Beginn der
Linie — schwächer ist als der der Atmosphäre. Da die Luft reich-
lich in die Absendeöffnung strömt, besteht die letztere lediglich aus
einer glockenförmigen, die Einschaltung der Büchse erleichternden
Mündung am offenen Ende (oder Anfang) des Rohrs. Im Verkaufs-
raum sind diese Mündungen mittels einer Angeltiir verschlossen, die
beim Abschicken der Büchse mit einem Finger geöflnet wird, um sich
nach deren Aufnahme selbsttätig zu schliefsen. Was nun die An-
kunft betrifft, so ist der Ausgang gewöhnlich mit einer biegsamen
Klappe vorschlossen, welche im geeigneten Augenblick von der an-
kommenden Büchse automatisch geöflnet wird, sich nach deren Aus-
tritt von selbst schliefst und durch den Druck der Atmosphäre ge-
schlossen gehalten wird, ln den Stationen der Verkaufsräume fällt
die Büchse einfach auf das Pult; in denen des Kassensaales gleitet
sie in eine abschüssige Rinne, aus der der Kassierer sie entnimmt.
Hat er momentan keine Zeit, so können mehrere Büchsen in der Rinne
das Herausnehmen abwarten. Damit bei den Kassierern kein Zweifel
entstehen könne über die Verkaufsstelle, von der eine Büchse lier-
rührt, hat jede Stelle ihre Nummer, welche auch auf allen zu ihr ge-
hörigen Büchsen in schwarzer Emaillierung erscheint. Die weiter
oben erwähnten Büchsen, die die Rechnungen der erst bei Abliefe-
rung ins Haus zu bezahlenden Einkäufe enthaltcu, unterscheiden sich
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232
von den Geldbüchsen duroli ihre roten Filzpuffer; die anderen Puffer
sind schwarz.
Die Handhabung der zur Beförderung von Briefen und anderen
Schriftstücken bestimmten Linien gleicht im wesentlichen der der Geld-
linien. Um die für diesen Dienst unerläfslichen, gröfseren Büchsen
zulassen zu können, bringt Pearsall hier Rohrbiegungen von be-
sonders langem Radius an. Speziell bei den Netzen mit Röhren von
3 bis 5 Zoll Durchmesser ist dafür gesorgt, dafs auch die empfind-
lichsten und gebrechlichsten Gegenstände durch die Beförderung nicht
Schaden leiden. Zu diesem Behuf sind sinnreiche, erschütterungs-
dämpfende und geräuschlose Vorrichtungen vorhanden. Schliefslich
sei noch erwähnt, dafs Pearsall für die Betriebskraft seines
Systems keine bestimmten Vorschriften macht. Die betr. Anlagen
können nach Belieben, oder nach den besonderen Umständen, ent-
weder Gebläse oder Kompressionsmaschinen oder „Inspiratoren1' an-
wenden. Bei ganz kleinen Anlagen wird in der Regel ein „Inspira-
tor1' genügen, bei Druckluftsystemen gewöhnlich eine Kompressions-
masohine, bei Vakuum zumeist ein Gebläse am Platze sein; doch
werden wohl fast immer Raumrücksiohten und der Kostenpunkt ent-
scheidend bleiben. Der Inspirator ist natürlich am kleinsten und
billigsten, doch verbraucht er verhältnismäfsig mehr „Kraft“ als das
Gebläse oder die Kompression. Wo ein Gebläse benutzt wird, kann
es entweder durch eine Dampfmaschine oder durch einen elektrischen
Motor betrieben werden. Ersterenfalls empfiehlt sich als das spar-
samste Verfahren bei grofsen Anlagen ein mit einer vertikalen
Maschine unmittelbar verbundenes Gebläse. Handelt es sioh um einen
Motor, so erfolgt die Verbindung mit dem Gebläse durch Treibriemen
oder durch Transmission. Der in letzterem Falle sonst übliche laute
Lärm ist durch ein von Pearsall ersonnenes Verfahren vermieden.
Wir haben es da also mit einer ebenso einfachen wie genialen
Erfindung zu tun, einer neuen praktischen Anwendung des pneu-
matischen Prinzips, einer weiteren Ausgestaltung des Rohrpostwesens.
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X-Strahlenuntersuchung diluvialer Knochenreste. Es dürfte nur
wenigen bekannt sein, dafs nicht nur die Röntgendurchstrahlung
lebender Körper der Wissenschaft die wichtigsten Ergebnisse geliefert
hat. ln vieler Hinsioht gestalten sich an der Leiche die Aufnahme-
bedingungen sogar weit günstiger als am lebenden Individuum. Die
Strahlen werden zwar auch hier durch die Fleischpartien wesentlich
aufgehalten, aber doch nicht so stark zerstreut wie in lebender
Substanz. Allerdings ist die Verwaschung der Knochenschatten
immer noch stark genug, um ein Erkennen aller feineren Struk-
turformen unmöglich zu machen. Beim Skelett fallen alle stören-
den Nebenerscheinungen naturgemäß fort, und der innere Aufbau der
Knochen zeigt sich in überraschender Deutlichkeit — Gelegentlich
der Untersuchung diluvialer Knochenreste, insbesondere derjenigen des
Neandertal - Menschen, ist die Ansicht aufgetaucht, es handele sich
bei dem Skelett mehr um eine pathologische Abnormität als um eine,
einer ganzen Hasse zukommende typische Bildung. Im wirren Streit
der Meinungen über diesen Gegenstand haben nunmehr die Röntgen-
strahlen in gewichtiger Weise das Wort ergriffen. Otto Walkhoff
teilte vor einiger Zeit in den Sitzungsberichten der Münohener Aka-
demie der Wissenschaften mit, dafB der radiographische Befund beim
Neandertal - Menschen eine pathologische Bildung völlig ausschlösse
Da die Nahtlinien der Extremitäten auf ein junges Individuum hin-
deuteten, könne auch der Schädel, wie vielfach angenommen sei, nicht
einem Greise angehört haben. Es handele sich wahrscheinlich um
einen Menschen vor dem dreißigsten Lebensjahre. Auch zeige der
Verlauf der ßälkchen in den Schenkelknochen mit Sicherheit, dafs
das Individuum aufrecht gegangen sei. Sehr interessant sind eben-
falls die Untersuchungen Walkhoffs an dem sogenannten Spvfund.
Die Kieferreste weisen dort eine Entwickelung auf, wie wir sie heute
als pathologisch bezeichnen würden. Es handelt sich nämlich um
Kauwerkzeuge von mehr als respektablen Dimensionen. Der Röntgen-
befund Bpricht jedoch gegen eine krankhafte Bildung. Man darf also
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234
annehmen, dafs unsere Kauwerkzeuge infolge bequemerer Nahrungs-
zufuhr in der Rückbildung begriffen sind, vielleicht zugunsten der
Sohädelbildung. D.
$
Magnetische Tonscherben. Im Jahre 1899 hatte Folgheraiter
bei der Untersuchung von griechischen und etruskisohen Tongefäßen
eine höchst merkwürdige Entdeckung gemacht, er fand sie fast
ausnahmslos magnetisch. Aus den Spuren von Magnetismus konnte
er gleichzeitig sehr scharfsinnige und interessante Schlüsse auf die
Schwankungen der erdmagnetisohen Inklination in längst vergangenen
Zeiten ziehen. Seine Untersuchungen sind neuerdings, wie ein fran-
zösisches Fachblatt meldet, von L. Meroanton wieder aufgenommen
und auf eine grofse Anzahl aus der Bronzezeit stammender und in
den Pfahlbauten der Schweizer Seen aufgefundener Tonsoherben aus-
gedehnt worden. Auch hier zeigten sich wiederum unverkennbare
Spuren von Magnetismus. Aber der Brand der Qefäfse war seiner-
zeit ein sehr unregelmäßiger gewesen; auch batte der Forscher eben
leider nur Scherben und Bruchstücke in den Händen. Er zögert da-
her, besonders da auch über die ursprüngliche Situation der Getäfse
wenig mehr festzustellen war, weitergehende Sohlüsse zu ziehen. Nur
an zwei Uefäfsen konnten etwas sichere Daten gefunden werden, und
diese lassen denn darauf schließen , daß in der Bronzezeit und in
der Nähe des Neuchateler Sees die magnetische Inklination eine mehr
nördliche gewesen sein muß. Bei der unverkennbaren Subtilität
dieser Versuche wird man, wie Mercanton selbst sagt, noch weit
mehr Beobacbtungsmaterial abwarten müssen. Er selbst hält die
Untersuchungen aber keineswegs für aussichtslos, fordert vielmehr
seine Fachgenossen auf, auch den magnetischen Eigenschaften der
Fundstücke fürderhin eine größere Beachtung zu schenken; denn ein
einziger sicherer Befund, der genaue Angaben über die Richtung der
Inklination gewinnen ließe, könnte alle bisherigen Funde mit einem
Schlage zu den wertvollsten Beweisstücken machen. D.
*
Erstickung von Bränden mittels schwefliger Säure. Die Duft
wird von der Brandstelle abgesaugt und der darin vorhandene Sauer-
stoff in einem von Clayton angegebenen Apparat zur Verbrennung
von Sohwefel verwandt. Das so erzeugte Gas (schweflige Säure, S02)
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235
wird nun, nachdem es eine Kühlvorrichlung durchlaufen hat, in den
gefährdeten Raum eiugeleitet, woselbst es die abgeBaugle Luft ersetzt.
Der Sauerstoffmangel bewirkt in kürzester Zeit ein Ersticken des
Feuers. Das Absaugen der Luft und die Zuleitung der schwefligen
Säure erfolgt durch Rohre oder Schläuche. Am günstigsten ist es
natürliob, wenn der gefährdete Raum gut abgedichtet ist, so dafs keine
Zufuhr von Sauerstoff von aufsen stattfinden kann. Dies läfst sich
z. B. auf SohilTen erreichen. Man kann auch noch weiter gehen und
Räume, die selbstentzündliche Substanzen oder feuergefährliche Ma-
terialien enthalten, von vornherein mit dem das füllen. Dann ist
jeder Brandgefahr vorgebeugt. Versuohe haben ergeben, dafs bei An-
wesenheit von 5 pCt schwefliger Säure die Entstehung von Bränden
schon nicht mehr zu befürchten ist Brennendes Petroleum, Naphtha,
Öl etc. konnte augenblicklich gelöscht werden, Holzkohle, Heu, Baum-
wolle (also Materialien, welche die Wärme schlecht leiten) naoh einiger
Zeit. Der Claytonsohe Apparat wird entweder direkt an Ort und
Stelle aufgestellt, oder mittels geeigneter Beförderungsmittel (Fracht-
wagen, kleine Dampfschiffe) an die Brandstelle herangefahren. Auf
den Schiffen des Norddeutschen Lloyd wird er — und das war sogar
seine ursprüngliche Bestimmung — auch zur Vertilgung von Unge-
ziefer angewendet. M. v. P.
UHHH Himmelserscheinungen. $$$$
Übersicht über die Himmelserscheinungen
für März, April und Mai 1904. ')
1) Der .Sternenhimmel. Am 15. März um 1 2h , am 15. April um lü*>, am
15. Mai um 81' int die Lage der Sternbilder gegen den Horizont folgende: Im
Westen int dos Sternbild des Orion, jetzt oin aufrecht stehendes Kreuz im 1,'nter-
gehen. Darüber stehen die Zwillinge und links von ihnen Procyon,, während
der grofse Löwe mit Regulus eben den Meridian passiert hat, hierunter findet
sich das langgestreckte Sternbild der Wasserschlange, genau im Meridian der
') Alle Zeitangaben in M. E. Z. und nach astronomischer Zählwoiso, d. h. die
Vormittagestunden eines Tages sind — mit Ausnahme der Sonnenaufgänge —
um 12h vermehrt zum vorigen Tage gerechnet
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23»5
Becher, davon link» der Rabe. Im Osten konunt das grofse Sternbild der Jung-
frau mit der Spioa gegen die Mittagslinie heran, darüber eteht der gleichfalls
bedeutende Bootes mit Arctur. Die beiden Sterne der Wage sind eben im
Südosten aufgegangen. Im Zenit steht der Himmelswagen, die Deichsel nach
Osten gerichtet, von ihm südlich die Jagdhunde. Wendet man den Blick nach
Norden, so steht hoch zwischen dem grofeen und dem kleinen Bären der Drachen,
dessen Sternreihe nach Osten auf den Herkules hinabführt. Daneben steht Wega
tief im Nordosten, ihr gegenüber Capelia im Nordwesten: die Cassiopeia findet
sich tief am Nordhorizont. Zur Orientierung mögen folgende hellere Sterne
dienen, die abends um 9 Uhr M. E. Z. kulminieren:
Tau
-j» Rtktaumioi
co
Ptkliulitn
frkr.29
3 Gemin. 1.3 7h 39°> 27« -f- 28*
’15.5'
|ß Leonis
2.0 llb44m
10«
1+ 15*
' 6.5’
llrz 6
t Navis 3.0 8 3
27
-24
1.6
' iß Virgin.
3.3 1 1
45
42
!+ 2
18.3
i«
e Hydrae 3.3 8 41
42
|+ 6
46.3
6 t Corvi
2.0 12
5
11
i 22
5.2
18
C Hydrae 3.3 8 .30
19
!+ 6
18.7
8 7 Corvi
2.0 12
10
52
1- 17
0.5
24
40 Lyncis 3. 3 9 15
13
1+34
47.9
11 i Corvi
2.3 12
24
5 t
1- 15
58.9
26
i Hydrae 2.0 9 22
52
— 8
14.5
12 3 Corvi
2.3 12
29
20
-22
52.0
31
s Leonis 3.0 9 40
24
+ 24
13.0
14 7 Virginia
3.0 12
36
48
- o
55.4
April 3
u Leonis 1.3 10 3
16
+ 12
26.2
18 o Virginia
3.0 12
50
46
+ 3
55.1
7
; Leonis 3.0 10 1 1
21
+ 23
53.8
20 e Virginia 2.6 12
57
24
+ 11
28.5
16
v Hydrae 3.3 10 44
53
— 15
41.5
24 7 Hydrae 3.2 13
13
42
— 22
39.9
22
o Leonis 2.3 11 9
0
+ 21
3.0
25 7 Virginia 1.0 13
20
8
- 10
39.6
24
JCrateris3.8 11 14
•
32
- 14
15.5
28 ' Virginia 3.3 13
29
48
!- o
6.3
2) Veränderliche Sterne, a) Dem unbewaffneten Auge und kleineren
Instrumenten sind nur die folgenden Minima der 3 helleren Variabein des
Algoltypus zugänglich:
Algol (3b 2m — |- 40° 35% Gröfso 2m.3 — 3m.4. Halbe Dauer des Mini«
mums : 4 1 h.
März 1
5b
Im
März
18
9 b
55 m April
7
llh38*»
April 24
166 3| m
9
19
29
21
0
44
10
8 27
27
13 20
12 16
17
April
1
18
0
13
5 16
30
10 9
15
13
6
4
14
49
21
19 42
>. Tauri (3b 5.r,m -{-1*2° 14'), Gröfso 3m.4— 4®.5. Halbe Dauer des Mini
mums: 5 b.
März 25 15 b lim, März 29 14b 3“.
2 Librae (14 b 56m — 8° 8'), Gröfse 5 Halbe Dauer des Mini-
mums: 6 b.
März 5
6t
1 31 m
März
26
5
h 14 m
April 13
206
5 m
Mai 9
101
1 30 m
7
14
22
2S
13
5
16
3
56
11
18
22
12
6
5
30
20
56
18
11
48
16
10
4
14
13
57
April
2
4
48
20
19
39
18
17
56
16
21
48
4
12
39
25
11
22
23
9
39
19
5
39
6
20
81
27
19
13
25
17
30
21
13
31
t
9
4
22
Mai 2
10
56
30
9
13
23
21
22
11
12
13
4
18
47
Namentlich >. Tauri und 5 Librae bedürfen der Beobachtung auch von
seiten astronomischer Liebhaber.
b) Maxima der helleren (> 9 — 10 m) Veränderlichen von langer Periode.
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237
Tag
Name
Ort für 1904 = - 2
Tag
Name
Orl ffir 1904
fco ^
lla
bri 4
Y Cephci
01i 112® -[-79* 50* 8 — 9
+.12
T Can. min.
7h29»i_ U*57
9 10
ß
R Andrem.
0
19
+ 38 3 7
14
U Lyrae
19
17
- 37 12
8
7
S Scorpii
16
12
-22 40 9-10
17
V Oemin.
7
18
+ 13 16
8-9
8
V Coronae
15
46
+89 51 7-8
18
T Can ven.
12
23
+ 32 2
8—9
9
R Hydrae
13
25
- 22 47 5
24
RR Librae
15
51
-18 1
8-9
11
KU Aquil.
20
8
+ 12 42 9
RT Librae
15
1
- 18 22
8—9
RR Ccphei
2
31
-1 80 44 9
30
U Cassiop
o
41
47 44
8—9?
S Lyrae
1»
9
+ 25 51 9
RT Cygni
19
41
+48 32
6-7
12
V Sagittae
20
16
+ 20 49 19—10
lai 2
R Bootis
14
33
+ 27 9
7
14
RT Oph.
17
52
1 11 11 1 9
3
RV Aquil.
19
36
9 42
9
w „
16
16
— 7 29 9
V Cygni
20
38
4 17 48
87
IC
RZ Hereul.
18
33
+ 25 58 | 9
4
R Aquilae
19
2
4- 8 3
7
17
W Aquilac
19
10
— 7 13 7-8
X Gemin.
6
41
j 30 22
8—9
20
V Oph.
16
21
— 12 12 7
S Urs. mii
12
40
+ 61 37
8
21
RV Here.
16
57
+31 22 9
7
S Cygni
20
5
+ 57 43
9-10
RT. „
17
7
+ 27 10 9
W Librae
15
32
- 15 51
9-10
il
SOphiuchi
16
99
— 16 58 8-9
9
T Draconis
17
55
■ 58 14
8
26
Z Aurigap
5
54
+ 53 17 9
11
R Vulpec.
21
0
+23 26
8
27
U Cancri
8
30
+ 19 13 1 9
12
S Lyncls
6
36
+.58 0
9-10
28
U Hereul is
16
22
+ 19 7 j 7
17
W Lyrae
18
12
-4-86 38
8-9
99
U Mono«-.
7
26
— 9 35 6-7
18
W t'assiop.
0
49
+58 ;;
8
30 ')
o Ceti
2
15
— 3 24 3-5
19
X Hydrao
9
31
-14 16
9
31
Y Delphini
20
37
- 11 32 9—10
20
RZ Cygni
20
49
17 0
9
Ap. 1
ST Cygni
20
31
54 88 9
26
Z Aquilac
20
10
- 6 26
9
2
X Camel.
4
33
-1-74 56 9
V Aurigae
6
17
+ 47 43
8-9
*
U Draconis
19
10
67 7 9—40
29
X Cephei
21
3
+ 82 41
9-10
9
X Aurigae
6
5
+ 50 45 8
31
T Urs. mai
12
32
— 60 1
7-8
10
T Herculis
18
7
+ 31 0 9—10
Z Cephei
2
14
+81 14
9-10
11
T Cephei
21
8
+ 68 6 6
RT Virgin.
12
58
+ 5 42
S 9
Bei manchen dieser Sterne sind die Daten auf mehrere Tage unsicher,
dieselben müssen also einige Zeit vorher bereits aufgesucht werden.
Mehrere Maxim* erreichen in dieser Zeit die Sterne:
Name
Ort für 1904
Holliirk. im
Maximum
Zeiten der Maxima
TX Cygni
20h 5Gm +42" 13’
8 bis 9 m
Mürz 3, 18 April 2, 16 Mai 1.16,34
7X .
20 54
89 48
9
4, 24 13 3,23
SZ .
20 80
46 16
| 8
5,20 4,19 5,20
T Monocei otis
6 20
7 8
6
8 4 1,28
3) Planeten. Merkur ist am *21. April in gröfster östlicher Elongation und
uin diese Zeit bequem am Abendhimmel sichtbar, da er erst 9% Uhr untergeht.
Er steht unterhalb der Plejaden. Venus ist im Steinbock, Wassermann und
’) Das eigentliche Maximum der Mira läfst sich nicht beobachten, weil
der Stern am 30. Marz der Sonne zu nahe ist, nur der Anstieg des Lichtes
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238
von Anfang April an in den Fischen Morgenstern in abnehmendem Glanze.
Sie rückt der Sonne näher und verschwindet Anfang Mai beim Eintritt in den
Widder in den Sonnenstrahlen. Am 7. März 16b steht sie nur 20' nördlich von
Saturn, am 22. April 23 11 nur 30 1 südlich vom Jupiter. Mars wird abends wieder
bequemer sichtbar, da er in höhere Deklinationen kommt Er steht Anfang
März in den Fischen, tritt am 7. April in den Widder, wird aber dann allmäh-
lich von der Sonne eingebolt, mit der er am 30. Mai in Konjunktion ist Jupiter
in den Fischen recht läufig ist nur noch Anfang März abends kurze Zeit zu
sehen, schon am 27. ist er in Konjunktion mit der Sonne. Am Morgenhimmel
wird er Ende April dicht bei Venus wieder sichtbar. Saturn rechtläufig irn
Steinbock ist am Morgenhimmel sichtbar, anfangs dicht bei Venus. Am letzten
Mai kommt er in Stillstand und geht dann schon 127s L’hr auf. Uranus anfangs
rechtläufig, vom 3. April an rückläufig rechts unter u Sagittarii, geht vom
25. April ab vor Mitternacht auf. Neptun vom 14. März an rechtläufig nähert
sich immer mehr dom Sterne tu Geminorum, dem er am 8. Mai bis auf 10' von
Süden nahekommt, so dass er dann leicht gefunden werden kann.
4) Jupitermomle. In Mitteleuropa sind von den Finsternissen nur die beiden
folgenden zu beobachten:
I. Trabant Eintritt in den Schatten. Mai 17«t 16b 20® 37».
III. Trabant „ „ „ * 25 16 33 54.
5) Von Meteoren sind besonders die Tage vom 19.— 23. April belebt, wo
die Lyriden fallen. Das Zodiakallicht ist den März hindurch abends hei Fehlen
störenden Lichtes zu sehen.
6) Sternbedecknngen durch den Mond (sichtbar für Berlin»:
Tag
|
Name
Gröfse
Eintritt
Austritt
PositionBwinkel1)
d. Eintritts d. Austritt»
März 22
#• Tauri
4.2
101* 54.6«
11b
41.2“
118°
236’
#« .
4.2
11
6 3
11
33.1
147
207
. 23
Ml .
5.5
ll
99
11
56.3
58
306
. *5
/. Geminorum
3.8
10
14.2
11
18.4
96
285
Mai 7
X Capricorni
5.3
14
27.2
15
39.4
72
259
. 21
r> Leonis
3 6
9
57.4
10
38.2
156
242
7) Mond
Phase
Phase
Phase
Vollmond
März 1
16b
Letzt. Viert April 7
7h !
Letzt. Viert
Mai 7
1 b
Letzt. Viert
8
14
Neumond
15
11
Neumond
15
0
Neumond
16
19
Erst. Viert
22
18
Erst. Viert
21
23
Erst. Viert
24
11
Vollmond
29
12
Vollmond
28
22
Vollmond
31
2
Erdnähe
März 1
9 h
Erdferne
April 10
10 h
Erdferne
Mai 8
5h
Erdferne
13
19 l
Erdnäht
26
7
Erdnähe
22
11
Erdnähe
29
11
*) Gezählt vom nördlichsten Punkte des Mondes nach links herum.
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239
Tag
Aufgang
for
Untergang
Bei lin
Tag
Aofean*
for
Untergang
Berlin
Tag
Aufgang Untergang
for Harlin
lin 1
5* 1 1 “
18h 50“
April 5
12h 36“
21h
27“
1» 5
1 2h 42m
22h
2“
6
11
44
21
23
10
15
41
1
16
10
14
54
2
12
n
16
9
0
28
13
17
39
6
37
15
17
15
7
46
16
IS
SS
5
32
20
20
58
11
58
20
22
14
12
15
21
20
39
10
59
*25
1
43
15
16
25
3
20
14
43
26
0
11
13
34
30
8
11
17
48
30
9
f»
17
54
»i
6
45
18
14
i
i
8) Sonne.
Sonntair Sternzeit f. den ; Zeitgleichung Aufgang Untergang
g rnittl. Berl Mittag mittl. — wahre Z. für Berlin
Febr. 28
| 22 h
27 m
24.7.
+
12“
56.7 >
7h
0“
5h
39“
März 6
22
55
0.5
+
ii
21.2
6
44
0
52
13
23
22
36.4
+
9
41.9
6
28
6
4
20
23
50
12.3
+
7
41.4
6
12
6
17
27 |
0
17
48.1
+
5
33.8
5
55
6
29
April 3 ■
0
45
24.0
+
3
25.9
5
39
6
41
10
1
12
59.8
+
1
25.2
5
23
6
53
17
I
40
35.7
—
0
21.6
5
7
7
5
24
2
8
11.6
—
1
50.3
4
52
7
ie
Mai 1
4
35
47.5
—
2
56.8
4
38
7
30
8
3
3
23.3
—
3
36.9
4
24 |
7
41
15
3
30
59.2
—
3
48.5
4
13
7
53
22
3
.58
35.1
—
3
32.4
4
3
8
3
29
4
26
11.0
—
s
51.3
3
55
8
12
Am 16. März von loh 36®.5 bin 21 h 45“. 0 findet eine ringförmige Sonnen-
finatemia statt, welche aber in Kuropa gänzlich unsichtbar ist.
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F. Grünwald: Die Herstellung der Akkumulatoren. Halle. Verlag von
Wilh. Knapp.
Der kleine, im Taschenformat musgegebene Leitfaden ist trotz seines ge-
ringen Umfangs außerordentlich reichhaltig. Dor Autor versteht es, alles
Wesentliche über die Geschichte der Blei-Akkumulatoren, über die Verarbei-
tung der Rohmaterialien, Über das physikalische und praktische Verhalten der
Zellen im Betriebe und über dib Anwendung und Schaltuog dor Akkurau-
latoren-Batterien mit Geschick und verständlich zu sagen. Für den Fachmann
dürfte das Grünwaldsche Büchlein ein recht angenehmes und nützliches
Vademekum sein. D.
Fürst Albert I. von Monaco: Eine Seemanns-Laufbahn. Verlag von
Boll & Pickardt, Berlin. Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen
von Alfred H. Fried.
Die ‘ses Werk von Fürst Albert von Monaco: „Eine Seeinan nslau f-
bahn“ ist ein Bild seines eigenen Lebens. Nicht daß der Verfasser seine
Erlebnisse in chronologischer Folge anoinandei reihte, er läfst vielmehr in wohl-
gelungener Schilderung an uns vorüberziehen, was der Seemannsberuf Unange-
nehmes und Schweres bietet und speziell ihm geboten hat: seine erste See-
mannszeit in der spanischen Marine, die in ihm die Lust zu selbständiger
Seefahrt weckte, die Erwerbung einer eigenen Jacht, auf der er seine Reisen
zunächst nur seiner grossen Liebe zum Meere wegen unternahm, wie dann
aber allmählich das Interesse an der Erforschung des Meeres in ihm erwachte.
Weiter schildert er, wie er die Meere vom beifsen Äquator zum eisigen Nord
durchquerte und durchforschte. Hieran schliefsen sich Beschreibungen eines
Cyklons, der Jagd auf einen Potwal und weiter Aufzeichnungen über kauf-
männische und wissenschaftliche Verwertung erbeuteter Meereserzeugnisse.
Das Werk, das Sr. Majestät Kaiser Wilhelm II. gewidmet ist, sei allen, die Be-
lehrung in unterhaltender Form wünschen, auf* wärmste empfohlen. L.
Verlag: Hermann Paetel in Berlin. — Druck : Wilhelm Gronau’« Buchdrucker«! in Berlin - Schäneberg.
Pftr die BedneUon verantwortlich : Dr. P. Sch wahn in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Übersetsungsreeht Vorbehalten.
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Kig. 3. Mare Serenitatis-Archimedes-Plato.
(Aus dem photographischen Mondatlss von Loewy und Puiseux, Tafel XXUI.)
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Über die Mondaufnahmen von Loewy und Puiseux
und über Veränderungen auf der Mondoberiläche.
Von Dr. F. Riatespsrt in Berlin.
'"vjßlie gewaltigen Hilfsmittel, welche eine weit vorgeschrittene Teeh-
-‘fcvl nik in Anwendung der Entdeckungen des vergangenen Jahr-
hunderts auf die Beobachtungskunst in die Hand der Himmels-
forschung gegeben hat, haben den Astronomen stets weiter und
tiefer in den Weltraum geführt. War vor der Photographie und
Spektroskopie des Himmels das Planetensystem das wesentliche
Arbeitsfeld der physisohen Astronomie, so enthüllt uns die Pho-
tographie jetzt Nebel, die kein Fernrohr mit noch so grofser Ob-
jektivöffnung jemals dem menschlichen Auge zeigen würde, und dem
Spektroskop wird mit Erfolg die Aufgabe zugemutet, die Atmosphären
von Sonnen zu untersuchen, deren Entfernung sich als unmefsbar
grofs herausgestellt hat Im Planetensystem allerdings vermag die
Photographie, von Sonne und Mond abgesehen, unsere Kenntnis über
die Oberflächen seiner Olieder nicht zu erweitern ; die Brennpunkt-
bilder der PlanetenBcheiben sind alle zu klein, um ohne eine sehr
starke Vergröfserung besondere Einzelheiten erkennen zu lassen, und
da ist es vorteilhafter, diese starke Vergröfserung direkt am Fern-
rohr auf den Planeten selbst anzuwenden, anstatt die Platte zwischen-
zuscbalten, deren Silberkorn sonst mit vergrößert wird und an
natürlicher Größe die Brennpunktbilder feiner Planetendetails über-
trifft. Der Mond aber, so sollte man meinen, sei duroh die zahlreichen
Arbeiten sorgfältiger Beobachter, wie Mädler, Lobrmann und
Schmidt um die Mitte, durch Klein. Fauth, Krieger u. a. am Ende
des 19. Jahrhunderts so genau durchforscht, daß hier nichts weiter zu
tun bliebe, als die bekannten, großen Züge des Mondantlitzes in
noch sorgfältigerer Detailarbeit zu prüfen, als es bisher geschehen ist.
Himmel und Erde. 1904. XVI. 6 16
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242
Nooh manche kleinen Krater und Hügel mögen unentdeckt sein; die vor-
handenen Karten um diese zu bereichern, ist eine namentlich für Ama-
teure verdienstliche Arbeit, kann aber unsere Ansichten über unsern
Satelliten kaum in wesentlichen Punkten weiterführen. So dürfte
man also auoh wohl von der Photographie nur eine genauere
Zeichnung der Einzelheiten der Mondoberfläohe erwarten und ihr
darum nicht gerade eine epochemachende Wandlung unserer Mond-
studien zuschreiben, wenn nioht eine fundamentale Frage zur Be-
urteilung der Mondformationen nur von ihr in objektiver Weise be-
antwortet würde, nämlich die nach den verschiedenen Helligkeitsab-
stufungen auf der Mondscheibe. Diese, die von nicht zu unter-
schätzender Wichtigkeit für alle selenographisohen Aufgaben sind,
kann auch der feinste Stift des geübtesten Zeichners me in so natur-
getreuer Nachbildung wiedergeben wie die völlig objektive Platte '),
und das gleiche gilt von den kleineren Unebenheiten des Bodens, deren
verschiedene Höhe man im Fernrohr an der Länge des Schatten-
wurfs so getreu erkennt, dafs ein an Mondbeobachtungen geübtes Auge
sogleich einen plastischen Eindruck hat; diesen kann wahrheitsgetreu
nur die Photographie wiedergeben, nicht der am Fernrohr zeichnende
Beobachter, der zur genauen Aufnahme einer Gegend viel mehr Stunden
nötig hat, als dafs der Sonnenstand über dem Monde für inzwischen
unverändert gelten dürfte. Da in der messenden Astronomie die
Photographie der direkten Beobachtung überall da überlegen ist, wo
es sich um Massen beobachtungen handelt, so darf nur nebenbei
erwähnt werden, dafB auch für die Bestimmung der Borgeehöhen aus
der Schattenlänge und der Kratertiefen und Böschungswinkel der
Krater aus den Momenten, wann die Sonnenstrahlen den Kraterboden
erreichen, durolt eine Aufnahme sofort für alle günstig zur Licht-
grenze gelegenen Objekte die Beobachtungszeit festgelegt ist, und die
Messung an der Platte dann in aller Ruhe am Mefsapparat in
bequemer Körperhaltung vorgenommen werden kann, während am
Fernrohr für jeden Krater die Beobachtungszeit eine andere ist;
aufserdem ist die aufgewendete Zeit natürlich eine weit längere, da es
unmöglich ist, alle Objekte durchzumessen, solange die Beleuchtung
günstig bleibt; auch ist das Arbeiten am Fernrohr zumal in kalten
Winternäohten weit weniger bequem. Ein besonderer Vorzug der
photographischen Fixierung des Mondbildes besteht aber in der Mög-
lichkeit, zwei Aufnahmen derselben Gegend, die zu verschiedenen Zeiten
*) Zumal, wenn man nach dem Vorgänge Ritcheys am Yerkes-Refraktor
neben den gewöhnlichen auch farbenempfindliche Platten verwendet.
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243
bei ganz anderen Einfallswinkeln der Sonnenstrahlen aufgenommen
sind, nebeneinander zu legen und durch den Vergleich auseinanderzu-
sondern, was Beleuohtungseffekt und was Natur der Mondformation ist
l)a wir aus dem reichen Sohatze der uns vorliegenden Aufnahmen lauter
verschiedene Mondgebiete gewählt haben, so ist nur bei zweien
und auch da nur ein kleines Stück zur Vergleichung gemeinsam,
nämlich die Wallebene Plato mit Umgebung in der linken unteren
Ecke von Blatt XI und der rechten unteren von Blatt XXIII. Dafs
der kleine Berg Pico, der in der Verlängerung der kleinen Achse
der Ellipse des Plato um die Länge der grofsen Achse nach oben
entfernt liegt rechts oben eine muldenförmige Vertiefung hat, erkennt
man erst aus dem Schattenwurf auf Blatt XI, umgekehrt den steilen
Abfall der linken unteren Seite nur auf Blatt XXIII; ohne dieses
Nebeneinanderhallen beider Blätter könnte man an ein gleichförmiges
sanftes Ansteigen der beleuchteten Hälfte beide Male denken.
Die Photographie des Mondes erlaubt nun auoh Vergröfserungen
wegen der beträchtlichen Qröfse des natürlichen Brennpunktbildes.
Originalatifnahmen werden in gröfserer Zahl angefertigt in Amerika
auf der Lick-Sternwarte. der Harvard-Sternwarte und auf deren
Filialstation, der Bergsternwarte bei Arequipa in den Anden, endlich
in Europa auf der Pariser Sternwarte. Die Originale sind von den
Sternwarten selbst mäfsig, rund auf das 10 fache, vergrößert und in
Karten herausgegeben. Von einem Lick-Negative hat Prinz in Brüssel
3 verschiedene Stellen resp. 8, 24 und 33 mal vergröfsert, anderseits hat
Weinek in Prag Originalnegative aller 3 Sternwarten 24 mal vergröfsert,
und zwar meist in Einzeldarstellungen grofser Krater und ihrer un-
mittelbaren Umgebung bei verschiedener Beleuchtung. Es ist daraus
ein grofser Mondatlas von 10 Lieferungen mit im ganzen 200 Blättern
im Format 26 :31 cm entstanden. Ohne den Wert dieses Unternehmens
irgendwie unterschätzen zu wollen, kommen doch für Studien über den
Aufbau und die Entstehungsgeschichte des Mondes die geringer ver-
größerten Darstellungen deshalb mehr in Betracht, weil sie ein
gröfseres Stück der Mondscheibe auf einmal zu überblicken gestatten
und damit Kontraste vor Augen führen, welche höohst lehrreiche
Fingerzeige über Selenogonie an die Hand geben. Unter den karto-
graphischen, gering vergrößerten Darstellungen zeichnen sich die
Pariser Mondaufnahmen von Loewy und Puiseux durch ihre
wunderbare Schärfe der Wiedergabe und Feinheit der Details aus.
Sie sind mit dem Equatoröal coüdö, dem „Ellenbogenfernrohr“ von
15 Zoll Öffnung erhalten. Dieses seinen Namen mit Recht führende
16*
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244
Teleskop besteht zunächst aus einem festliegenden, polwärts geriohteten
Rohre, dessen Neigung gegen den Horizont gleich der geographischen
Breite ist; mit seinem oberen Ende, welches das Okular resp, die
photographische Platte trägt, tritt es in ein ßeobaohtungszimmer ein und
endigt über einem Tische, vor welchem der Beobachter weit bequemer
— und im Winter wärmer — sitzt, als auf dem bestkonstruierten Beob-
achtungsstuhl in den Kuppeln unserer grofsen Refraktoren. Dieses
festliegende Rohr läfst sich nur um seine eigene Achse drehen. An
seinem unteren Ende sitzt unter rechtem Winkel, mit ihm fest ver-
bunden, ein zweites Rohr, dessen anderes Ende das Objektiv trägt; da,
wo beide Rohre zusammenBtofsen, befindet sich ein gegen beide um
45° geneigter Spiegel, der die vom Objektiv kommenden Licht-
strahlen nach dem Okular reflektiert Eine halbe Umdrehung des
Okularrohres führt nun das Objektiv vom Ost- zum Westpunkte des
Horizontes immer im Himmelsäquator, und nur genau in diesem
stehende Sterne könnten ohne weitere Hilfsmittel beobachtet werden.
Nun aber befindet sich vor dem Objektiv noch ein Spiegel, der, vom
Okular aus verstellbar, um beliebige Winkel gegen das Objektiv
geneigt werden kann, so dafs sich mit dieser doppelten Spiegelung
der ganze Himmel erreichen läfst. Im Brennpunkte dieses Fernrohres
wird äas Mondbild durchschnittlich — der soheinbare Durch-
messer des Mondes entfernt sich für Erdnähe und Erdferne um l/,8
naoh beiden Seiten von dem mittleren Werte — 18 cm grofs
erhalten. Die Exposition auf Lumiere-Platteri dauerte je naoh der
Erhellung des Mondes durch das Sonnenlicht zwischen 1 und 1 ■/,
Sekunden und stieg nur in Ausnahmefällen auf 3 Sekunden. Trotz
dieser kurzen Expositionszeit genügte es nicht, das Fernrohr durch das
Uhrwerk, welches die tägliche Umdrehungsbewegung der Erde aufhebt,
dem Monde nachzutreiben, sondern es mufste auf die eigene Be-
wegung des Mondes Rücksicht genommen werden. Diese beträgt, da
der Mond in 27 */s Tagen die ganzen 24 Rektaszensionsstunden
durchläuft, zu deren scheinbarer Durchdrehung die Sterne einen
Sterntag brauohen, durchschnittlich Yjj der betreffenden Zeit, während
welcher die Bewegung betrachtet wird, also bei 1 */2 Zeitsekunden Ex-
position */is Zeitsekunde d. h. s/6 Bogensekunde, oder da der Mond
einen scheinbaren Halbmesser von 1865" hat, hätte sich der Mond
während dieser Expositionszeit um den 2200. Teil seines Durch-
messers bewegt, weloher, wie gesagt, 180 mm auf den Originalplatten
beträgt, also um fast '/io mm, und bei den durchschnittlich 10 maligen
Vergröfserungen desselben also um rund 1 mm, so dafs trotz der kurzen
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245
Exposition ein ganz verschwommenes Bild entstanden wäre. Loe wj und
Puiseux liefsen, abgesehen von den ersten 5 Aufnahmen, bei welchen
sie die Uhrbewegung des Fernrohres der Mondgesohwindigkeit ent-
sprechend abänderten und in Deklination — in welcher sich der Mond ja
Fig. 1. Capnanu, BulliaJd. Guasndi.
(Tafel VIII. Loewy und Puiseux).
auch bewegt — mit der Hand nachdrehten, das Fernrohr gänzlich
unbewegt und konstruierten einen Apparat 2), der den Plattenhalter am
Okular, welcher sich beliebig drehen liefe, mittels einer Schraube, die
von einem Uhrwerk getrieben wurde, in eine genau der augenblick-
lichen Bahngeschwindigkeit des Mondes entsprechende Bewegung
*) Deuxiime fascicule B. 6 ff.
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246
verseifte, nachdem die Bewegungsriohtung vorher der wahren am
Himmel duroh Drehen des Okulars gleich gemacht war. Diese Vor-
richtung verlangt für jede Aufnahme eine besondere Vorausberech-
nung und besondere Auswahl der Zahnzahl der Räder des Uhr-
werks, aber sie bewirkt zweifellos mit die ausgezeichnete Schärfe der
erhaltenen Aufnahmen.
Die feinsten, eben noch auf der Originalaufnahme für sich unter-
scheidbaren Punkte haben auf dem Monde einen wahren linearen
Durohmesser von 2'/, km; das soheint entmutigend, da das Auge direkt
bei lOOOfacher Vergrößerung an lichtstarken Fernrohren noch Einzel-
objekte als solche wahrnimmt, die 100 m, ja, wenn sie glänzend be-
leuchtet sind, 50 m wahren Durchmesser haben. Es liegt dies an dem
relativ groben photographischen Korn, das t/io mm Durchmesser auf
den empfindlichsten Platten hat, und Gegenstände, die kleiner sind
wie es selbst, nicht mehr zeichnet. Indes liegt kein Grund vor,
deshalb auf die photographischen Mondaufnahmen zu verzichten; man
mufs sie eben nur unter den oben besprochenen Gesichtspunkten be-
trachten, wesentlich als Übersichten über gröfsere Mondpartien zu
dienen, und man könnte ihre Vergrößerungen vielleicht als Unterlage
benutzen, um nun bei sehr guter Luftbeschaffenheit mit sehr starken
Vergrößerungen weitere Details einzuzeichnen. Indessen hat das
allerfeinste Monddetail eigentlich wenig wissenschaftliches Interesse.
Der Grenzmaßstal) von 50 m, der erreichbar ist, ist derart, daß er
Ansiedlungen jetzt lebender sowie Steinbauwerke verschwundener
Generationen etwaiger Mondbewohner uns zeigen müßte. Das gänz-
liche Fehlen derartiger Andeutungen beweist das Fehlen ihrer in-
tellektuellen Urheber zu irgendeiner Zeit auf dem Monde. Eine Kar-
tierung des Mondbodens in allen nur wahrnehmbaren Einzelheiten
hat nur da Zweok, wo man Veränderungen vermutet und diese durch
Überwachung der betr. Gegend feststellen will.
Aus den Originalaufnahmon ist nun ein bestimmtes Stück von
besonderem Interesse durchschnittlich 1 1 mal vergrößert auf Blättern
von 50 : 60 om Format dargestellt, und von solohen Bind von 1896 an bis
jetzt 7 Lieferungen von insgesamt 42 Blättern erschienen. Auf jedem
Blatte ist das Datum der Aufnahme, die auf das Originalklischee an-
gewandte Vergrößerung und ferner angegeben, wie groß der Mond-
durchmesser sein würde, wenn der ganze Mond in gleichem Verhältnis
dargestellt würde. Dieser schwankt für die Pariser Aufnahmen zwischen
1,26 m und 2,72 m; der Atlas der Lick-Sternwarte hat 0,9 m, Weineks
Atlas 3 m für den Monddurchmesser gleichen Maßstabs. Die größte
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247
gezeichnete Mundkarte ist die von Schmidt in Athen mit 2 m Durch-
messer.
Jeder der Pariser Kartenlieferungen ist ein Textheft mitgegeben,
welches, aufser einer Beschreibung der auf dem Titelblatt der Liefe-
rung abgebildeten Originalaufnahme, eine genaue Schilderung jedes
Blattes mit Angabe der Lage seiner Hauptformationen in Hundert-
teilen der Breiten- und Höhenausdehnung der Karte, zu welchem
Ende dieselbe an jeder Seite 10 kleine Ziffern trägt, enthält, als wert-
vollstes jedoch die „Introduolion,“ welche fortlaufend die Ansichten der
Herausgeber über Aufbau und Entstehung der Mondrinde nach ver-
gleichenden Studien der Vergröfserungen wiedergibt: Ansichten,
welche geeignet sind, manche bisherige Meinung über den Mond
zu berichtigen, und welche durch die jedem Leser mögliche Be-
trachtung der photographierten Mondoberfläche selbst wesentlich ge-
stützt werden.
Die Aufgabe, aus diesen 42 Blättern 4 der schönsten und inter-
essantesten für , Himmel und Erde ' zur Keproduktion auszuwählen, war
eine sehr schwierige; denn schön sind diese herrlich plastischen Mond-
bilder alle, ja tnan kann duroh Aufstellung derselben in geeigneter
Entfernung und Betrachtung mit einem Opernglas — zum Aussohlufs
störender Seitenliohter — vollkommen dem Eindruck unterliegen, als
betrachte man im Fernrohr den Mond oder vielmehr als schwebe man
in Höhe von einigen Tausend Kilometern Uber der Mondoberfläche
und erkenne genau die kleinsten Unebenheiten in dem faltigen Ant-
litz unseres Satelliten. Die Auswahl war indes eingeschränkt, da die
Berliner Sternwarte, welche die Reproduktion dieser Blätter hier freund-
lichst gestattet, die letzte Lieferung noch nioht und zwei andere über-
haupt nicht erhalten halte. Gelegentlich sollen noch einzelne Blätter
der anderen Lieferungen mit begleitendem Text wiedergegeben werden.
Die 4 Aufnahmen unseres Aufsatzes tragen die Nummern VIII,
XI, XVIII, XXIII und sind hier fortlaufend als Fig. 1 — 4 bezeichnet
Die übrigen Daten sind aus folgender Tabelle zu entnehmen:
u
Sa Blatt
£ :
>1 i
Original-
Aufnahme
« £
O. « Ot
-o 5
u V, «
© o fr-
5».s
«
1 £
u =
©
>
1 -r
= S
^3 m
-c ©
5 B
a
Überschrift
i !vin
23. 4. 1896
10
14.0
2.14
Capuauus, Bulliald, (iaasendi
2 XI
23. 4. 1896
10
14.0
2.44
Mare Imbrium, Sinus lridurn,
Plato
3 XXIII
19. 9. 1894
21
9.9
1.66
Mare Sereuilatis, Arehimedes,
Plato
4 XVIU
29. 9. 1896
22
14.75
2.40
Südpol, Clavius, Longomontanus
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248
Unter dem Alter des Mondes ist die seit dem letzten Neumonde ver-
flossene Zeit zu verstehen; es entspricht somit rund das erste Viertel
dem Alter 7, das letzte dem Alter 22, der Vollmond dem Alter 15.
Über den Karten des Pariser Atlas liegen aus Seidenpapier herge-
stellte durchsichtige Blätter mit Aufschrift der Hauptformationen.
Alle Blätter sind so gestellt, wie sie sich im umkehrenden Fernrohr
zeigen würden, also Norden unten, Osten (von der Erde aus gesehen)
rechts. Da hier das ursprüngliche Format 50 : 60 in unseren Figuren
auf 12 Va : 15 verkleinert ist. so sind die Vergröfserungszahlen des
Pariser Originals und der angegebene Monddurchmesser durch 4 zu
dividieren.
Aus den Beschreibungen des Begleittextes von Loewy und
Puiseux heben wir die Hauptpunkte heraus, die zugleioh die An-
sichten der Herausgeber über die Bildung und die Zeitfolge der ein-
zelnen Formationen erkennen lassen.
Tafel VIII (Fig. 1) stellt eine Gegend des Mondes dar, welche
ungefähr in der Mitte des südöstlichen Mondquadranten liegt, da wo
drei der sogenannten Mondmeere — sogenannt, denn auch Loewy
und Puiseux denken sie sich ebenfalls nicht mit Wasser erfüllt —
zusammenstofsen, das Mare Humorum von rechts, das Mare Nubiunt
von links und der Oceanus Procellarum von unten; keine dieser
drei Ebenen ist auf der Karte ganz dargestellt; die letztgenannte, durch
das Riphaengebirge, welches nur unten ein wenig hineinschaut, vom
Mare Nubium getrennte ist am unvollständigsten. Die zerrissenen Ge-
birgsbrocken, welohe mitten in der Karte liegen und sich nach dem
gewaltigen Krater Gassendi3) (88 km Durchmesser) rechts unten hin-
ziehen, stellen sich anscheinend als Reste eines frühor bestehenden,
grofBen zusammenhängenden Gebirgszuges dar, der zur Hälfte ver-
sunken ist, so dafs nur nooh die oberen Teile der höheren Bergspitzen
aus der Flut, wie die Inseln im Cykladenmeer, herausragen. Aus
welcher Flut? Hier müssen wir die Ansicht der Verfasser einschalten,
dafs die grofsen Mondmeere durch Einbrüche eines Teiles der festen
Mondrinde entstanden sind, sobald der Kruste duroh Zusammenziehung
des noch flüssigen Innern die Unterstützung fehlte. Es ist ohne
weiteres verständlich, dafs die eingebroohene Stelle nahezu kreis-
förmig begrenzt war, und so dürfte sioh die Kreisform der meisten
Mondmeere erklären. Die aus den Bruchspalten austretende Lava
*) Date die Mondkrater den Namen von Astronomen des Altertums und
Mittelalters und zwar meist recht unbekannter tragen, hat Arago zu dem
Ausspruch veranlaßt: la lune eat la cimetiöre dea astronomes.
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249
überflutete den Boden des jetzt entstehenden Meeresbeckens und drang
dabei auch in das Innere einzelner Krater. Dieselben füllten sich
teilweise mit Lava, sobald ihre Wände an einigen Stellen dafür
niedrig genug waren. Dies Schicksal traf z. B. Hippalus, dessen ganze
SUdostwand überflutet ist, ferner Agatharchides und den anonymen
Kig 2. Man Imbrlom, Sinai Iridam, Plato.
(Tafel XI. Loewy und Puiseux.)
Krater in der Mitte der Karte, Lee und Doppelmayer, sowie die beiden
Krater am Südrand des Mare Humorum. Die fast völlig ebene Gestal-
tung des Innern dieser fünf Krater kann nur durcn Erstarrung einer ein-
gedrungenen flüssigen Masse erklärt werden. Dieser Einbruoh der
Gegend, welche jetzt das Mare Humorum einnimmt, wird aber vor allem
durch die drei Rillen bewiesen, welche ungefähr parallel zu seinem
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250
Rande auf der Mitte unserer Karte zu sehen sind, und duroh die drei
dazu parallelen Terrainfalten, welche Adern gleioh östlich von jenen
hinziehen. Man mufs nur mehrere sukzessive Einbrüche annehmen, die
konzentrisch immer weiter vordrangen. Wo der herabgeneigte Teil sich
vom stehenbleibenden trennte, entstand eine Spalte; in diese drang
zwar auch die Lava ein, denn man sieht deutlich die Gleichheit de3
Niveaus der westlichsten Spalte und des Innern des anonymen Kra-
ters, doch vermochte sie dieselbe nicht ganz zu füllen. Die aus der
Mitte des Meeres ausgellossene Lava flutete in Brandungswellen nach
dessen Rande hin, und die zähflüssige Masse erstarrte, als der Wulst in-
zwischen zu lest geworden war, um zurückfliefsen zu können, zu jenen
Adern, die ungefähr konzentrisch zur Meeresmitte (die etwa auf dem
Rand des Bildes liegen würde) und parallel den Terrainspalten sein
morsten. Es ist verständlich, dafs nach Abschlufs dieses Prozesses
sowohl die Spalten wie die Adern Stellen geringerer Festigkeit der
Mondrinde sein muhten und daher besonders leicht von den eigent-
lichen vulkanischen Eruptionen durchbrochen werden konnten. Hier-
durch können nur die kleineren Krater aufgebaut sein, dagegen nicht
die gröfseren, wegen des beträchtlichen Durchmessers. So ist es denn
kein Zufall, dafs genau auf der westlichsten Rille zwei hübsche und
ziemlich tiefe Krater sich aufgebaut haben, die in ihrem Gebiet die
Rille mit Lava ausgefüllt und vollständig verwisoht haben, während
eine Anzahl kleiner und kleinster Krater im Westteil des Mare Hu-
morum in der Nähe jener Adern entstanden ist.
Man kann somit eine chronologische Reihenfolge für die Ent-
stehung der Gebilde dieses Teiles der Mondoberfläche aufstellen, da
jedes Gebilde älter sein mufs als ein anderes, das an seiner Umge-
staltung beteiligt ist So würden wir folgende 5 selenologisohen
Epoohen zu unterscheiden haben:
1. Erscheinung der Wallebencn Gasseudi und Hippalus und der
jetzt verschwundenen Gebilde im Gebiet des Mare Humorum;
2. Senkung der mittleren Partie des jetzigen Mare Humorum, die
sich schrittweise bis zu den jetzt noch stehenden Wallebenen aus-
dehnte und auch diese z. T. einsinken liefs;
3. Ergiefsung flüssiger Massen aus dem Innern, welche die nie-
drigeren Teile der Randwälle der benachbarten Wallebenen über-
deckten und in diese hineinfluteten.
4. Bildung der Adern im Weslteile des Mare Humorum durch
Erstarren der Brandungswellen und Entstehung der Spaltenzüge durch
neue geringe Senkungen;
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251
5. Aufbau der mittelgrofscn Krater auf der westlichsten Spalte,
der beiden kleinen Krater auf der östlichsten und inmitten des Innern
des halbversunkenen Hippalus und derjenigen im Westteile des Mare
Humorum.
Auch im Mare Nubium (links auf der Karte) finden sich solohe
untergesunkenen Krater, in deren Inneres die Flutwelle eingedrungen
ist, wie z. B. bei Kies und Lubiniezki. Bei dem zwisoben beiden ge-
legenen schönen Kinggebirge Bulliald kann man zweifeln, ob eB vor der
Flutwelle existierte, da sein Wall im Norden die jetzige Bodenhöhe
nicht übersteigt, also der Flutwelle hätte Eintritt gewähren können, und
dennoch das Innere weit tiefer liegt als das Mare Nubium und der
vielgipfelige Zentralberg noch steht, obwohl er, wie gewöhnlich, sehr
niedrig ist. Oie Verfasser glauben hier eher an eine nachträgliche
Erhebung duroh inneren Druck aus dem schon festgewordenen Meer,
deren Inneres wieder eingestürzt sei. Der Zentralberg kann etwa
duroh einen Rückschlag des flüssigen Mondinnern erzeugt sein, analog
einem Versuch, den H. Ebert zur Herstellung künstlicher Mondkrater
gemacht hat.
Kamsden, der raittelgrofse Krater mit tiefem Schatten, auf der Karte
oben etwas reohts der Mitte, stöfst unten an drei flache Killen an, die
die Form eines grofsen lateinischen N bilden; zwei von ihnen setzen
sich auch südlich von Kamsden fort, ohne diesen Krater zu unter-
brechen, so dafs derselbe jüngeren Datums sein mufs. In der
prachtvollen Kingebene Gassendi rechts unten erreicht der Rand wall
eine Höhe bis zu 3000 m, senkt sioh aber im Süden ganz zur Mare-
ebene hinab; das höchst unebene Innere dieses Kinggebirges verdankt
wohl einer späteren Erhebung seine Gestaltung. Der in den nördlichen
Ramiwall eingebaute Nebenkrater Gassendi A, natürlich späteren Ur-
sprungs als der Hauptkrater, hat gar eine Tiefe von 4000 m.
Der weifse, ziemlich sobarfe Strich, der den Krater Kies östlich
der Mitte ganz durohselzt und dabei sich gegen den ansteigenden
äufseren Randwall von Bulliald C verbreitert, gehört ebenso wie der
viel breitere und weniger gerade links davon verlaufende Streifen
dem Strahlensystem des Hauptkraters Tyoho an, welcher weit links
oben außerhalb der Karte liegt Die Verfasser halten diese nur bei
Vollmond sichtbaren Strahlensysteme, die über Hunderte von Kilo-
metern über die Mondoberfläche fortlaufen, für den Weg ausgestreuter
Aschenreste dieses einstigen Vulkans. Interessant sind nooh die
beiden einander auf den ersten Blick sich wie Zwillinge gleichenden
Wailebenen Mercator und Camp&nus links oberhalb der drei Killen.
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252
Mercator ist ganz eben im Innern, Campanus bat einen Zentralberg
und mehrere kleine Krater auf seiner Innenfläohe. Eine merkwürdige
Ausnahme unter den Kingebenen bildet Hesiod (am linken Rande,
oben), der anstatt des Kegelberges eine genau zentral gelegene Krater-
grube hat; nooh mehr staunenswert ist es, dafs diese so gut sicht-
bare Formation auf der sorgfältigen Mädlersohen Karte fehlt. Auch
bei dem inittelgrofsen Krater CichuB (unweit des oberen Randes,
links), der südöstlich einen kleinen Randkrater trägt, ist zu erwähnen,
dafs Schröter, der Selenograph von Lilienthal, diesen Randkrater
auf drei unabhängig angefertigten Zeichnungen bedeutend gröfser dar-
stellt, als neuere Zeichnungen und die Photographie ihn geben.
Tafel XI (Fig. 2.) zeigt uns den nördlicheren Teil des Nordost-
quadranten des Mondes und in ihm auf der linken und oberen Hälfte
der Karte das gröfste der Mondmeere, das Mare Imbrium (auch
Pluviarum, franz. „mer des pluies“) und den Kranz der Gebirge,
welohe dasselbe im Norden und Osten einschliefsen. Die westliche
Umwallung dieses Meeres duroh die Bergzüge der Apenninen, des
Kaukasus und der Alpen ist auf nächster Tafel XXIII (Fig. 3) wieder-
gegeben. Fünfmal so grofs als das Mare Crisium und dreimal so
ausgedehnt wie das Mare Serenitatis (s. Fig. 3) nimmt das Mare
Imbrium den Schauplatz der gröfsten Einsturzkatastrophe auf der uns
sichtbaren Mondhälfte ein. Die saubere und scharf definierte Aus-
arbeitung der wenigen Krater und Trichter, welche die ungeheure
ebene Fläoho in der linken Hälfte unseres Blattes unterbrechen, be-
weisen die spätere, nach Erstarrung des Meeres erfolgte Entstehung
dieser Mondgebilde. Aber auch hier wird man den Einsturz in
wenigstens zwei Etappen vorgegangen annehmen. Der erste Vorgang
betraf die Bildung einer riesengrofsen Wallebene, deren Umkreis
jetzt nur noch zur gröfseren Hälfte steht und als Sinus Iridum den
östlichsten Teil des Mare Imbrium bildet Diese kreisförmige Wall-
ebene hat einen Durchmesser von 216 km und erscheint nur des-
halb als Halbellipse, weil sie bereits so weit am Ostrand des Mondes
liegt, dafs sich ihr horizontaler Durchmesser perspektivisch verkürzt.
Der zweite Einsturz der gröfseren Westhälfte des Mare Imbrium rifs
den ganzen Westwall dieser grofsen Wallebene mit und vereinigte
die beiden Meere. Die Lage des früheren Westwalls zeigt jetzt nur
noch eine dreimal sich gabelnde Ader an, die von dem nördlichsten
Punkt des Sinus Iridum, dem 2900 m steil abfallenden Kap Laplace
nach dem weit fluoberen Kap Heraclides führt dieses allerdings nicht
ganz erreicht, sondern als bedeutend verstärkte Doppelader nach oben
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253
zu, nach dem Krater Caroline Heraohel, einem vulkanischen Produkt
einer spateren Epoche, sioh wendet. Die Terrainfalte endigt nach links
sich kehrend, oben auf unserem Blatte, ohne den glänzend weifsen Fleck
„Lahire“, einen isolierten Berggipfel, zu erreichen, der auf Mädlers
Karte fehlt, von Schröter und Webb aber in sternähnliohem Glanze
als Mittelpunkt eines Strahlensystems, das auf der Photographie fehlt,
gezeichnet ist Das reguläre Kinggebirge in der linken oberen Ecke
ist Lambert, dessen Randwall 700 m über dem Meere, aber 1800 m
über dem Kraterinnern liegt; auch zwisohen ihm und Caroline Herschel
streicht eine Terrain falte.
Zieht mau eine gerade Ljnie von Lambert nach dem Kap
i.aplace, so trifft man auf dreiviertel des Weges einen, Lambert nur
wenig an Gröfse nachstehenden Krater, den Helicon, und dicht links
unterhalb desselben den Leverrier. Es ist höchst auffallend, dafs die
beiden Selenographen des 17. Jahrhunderts, Riccioli und Hevelius.
nur den ersten Krater verzeichnen und nicht den zweiten, der doch
kaum übersehbar daneben liegt.
Während der Bergkranz, der den Sinus Iridum umschliefst, zu
Höhen von 4000 — 6000 m, emporsteigt am höchsten in der Nähe
des Kraters Sharp, der von der aufgehenden Sonne erst auf der
Westhälfte seines Randwatles erleuohtet ist. wird die Küste nörd-
lich vom Kap Laplace weit Qaoher. Ihr parallel ziehen nach Nord-
westen ausbiegend eine Reihe von Gebilden, die offenbar früher im
Zusammenhang mit der Küste gestanden haben: zuerst ein einsamer
Bergkegel, dann die „Gerade Reibe“, nämlich fünf Bergkrater oder
Kraterberge, hierauf die Teneriffaberge direkt oberhalb des Plato, und
endlich der mächtige Gipfel des Pico (2400 m). Die Verfasser be-
trachten diese Linie als früher zusammenhängend und als damalige
Grenze des Mare Imbrium, bis eine weitere Seukung ihren Fufs unter
den Meeresspiegel verlegt und das Meer bis an seine jetzige Grenze
ausgedehnt hat Auch die zahllosen kleinen Krater, mit denen das
noob stehende Bergland durchsetzt ist ordnen sich in mehrere der
Küste oder vielmehr den Küsten parallele Reihen, denn auch die Süd-
westküste des Mare Frigoris läuft der Nordostküste des Mare Imbrium
parallel.
Ganz unten links findet sich die höchst interessante Wallebene
Plato, die nur wegen ihrer hohen Nordbreite elliptisch erscheint Die
eigenartige schwarze Färbung ihres vollkommen ebenen Innern, wegen
welober sie von Hevelius den Namen „Laous niger“ erhalten hat
nimmt nach Westen noch ein wenig zu, obwohl hier, wo der Schatten
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254
aufhört, die Sonnenstrahlen steiler einfallen als im Osten. Es ist eine
Eigentümlichkeit des Plato, dafs er mit gegen Mittag steigender Sonne
nicht heller, sondern dunkler wird, eine schwer erklärbare Tatsache.
Der Randwall Platos steigt im Westen bis 28o0 m an, ist im übrigen
nur mäfsig uneben und hat 96 km Durohmesser. Weit gröfser ist
der Krater J. Berschel, am rechten unteren Rande unseres Blattes,
dessen stark gezackter Randwall gewaltige Unebenheiten des Bodens
um8ohliefst; eine Bergkette durchsetzt das ganze Innere von oben
nach unten.
Tafel XX11I (Fig. 3) zeigt den westlichen Teil des grofsen Mare
ltnbrium, der sich in Färbung und Bodengestaltung vollkommen von
dem östliohen Teil auf der vorigen Karte unterscheidet und der duroh
die Oebirgsmassive der Apenninen von dem kleinen Mare Vaporum,
oben auf der Karte, durch das Massiv des Kaukasus von dem Mare
Serenitatis, endlich durch das Massiv der Alpen von dem Mare Frigoris,
dessen Fortsetzung wir auf dem vorigen Blatte sahen, getrennt wird.
Die ganze Karte nimmt auf dem Mittelmeridian des Mondes etwa die
Mitte zwischen Äquator und Südpol ein. Im Mare Serenitatis finden
wir wieder eine Anzahl Terrainfalten, sowie Adern und einzelne
vulkanisohe Krater ganz wie in Fig. 1, darunter den sohönen Bessel
im oberen Drittel des kreisförmigen Meeres. Nehmen wir hierfür die
gleichen Erklärungen wie oben an, so können wir auoh bezüglich der
isolierten Bergkegel im Nordteile des Mare ltnbrium, nämlich des Pico
südlich von Plato und des Piton südlioh der Alpen, wegen ihrer grofsen
Höhe von rund 2000 m nicht an Emportreibungen über das bereits
erstarrte Meeresniveau denken, sondern sie mögen mit einer Berg-
gruppe nördlich von Arohimedes, die nur bis 1600 rn Höhe ansteigt,
Überreste, und zwar die höchsten Gipfel eines untergesunkenen,
gröfseren Gebirges sein, welches bei Bildung des Mare Imbrium ein-
brach. Mit untergesunken ist damals auch Cassini, dessen Randwall
bis auf wenige hundert Meter von den Glutmassen, die erstarrend eine
ebene Oberfläche erhielten, angefüllt wurde, dooh gelang es den vul-
kanischen Eruptionen später noch 2 kleine Krater einzubauen. Archi-
medes wurde durch das Bergmassiv im Süden gehalten und Bank nicht
ganz so tief ein. Indem wir auch hier die weifse Färbung grofser
Teile des Mare Imbrium als vulkanisohe Asche betrachten, fallen uns
zwei dunklere Stellen am Rande des Apennin und des Kaukasus
auf; die eine, südwestlich von Archimedes, ist der Palus Putredinis,
die andere, westlich von Aristillus, der Palus Nebularum. Beide sind
integrierende Bestandteile des Mare Imbrium und nur durch ihre
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255
Farbe auffällig. Der Rand dieses grofsen Meeres gegen alle es hier
begrenzenden Gebirgszüge stellt sich bei mehr streifendem Einfall
des Lichtes, als es in dieser Karte der Fall ist, als ein schwach ge-
senktes Tal heraus, das hier nur duroh die dunklere Farbe der Rand-
linie sich ausprägt Es erinnert dies an die Eigenschaft manoher
Erdmeere, deren Boden an den Küsten nicht steigt, sondern abfallt,
wie z. B. die Nordsee an der norwegischen Küste. Bei Beseitigung
des Wassers würde man hier vom Ufer aus in eine steil abfallende
Tiefe blicken.
Das Mare Frigoris ist eines der wenigen Mondmeere, welche
nicht ungefähr kreisförmig sind. Man möchte deshalb fast an seiner
Existenz als selbständiges Meer zweifeln. In der Tat steht es mit dem
Mare Imbrium durch eine Meerenge, die am Ostrand des Kaukasus
entlang läuft, in Verbindung; anderseits findet eine zweite Kommu-
nikation am Ostrand des Mare Imbrium statt. Wollte man in dieser
Weise das Depressionsgebiet des Mare Imbrium nooh gröfser und
dabei wieder kreisförmig annehmen, so hätte die ganze Alpenkette an
dieser Senkung teilnehmen müssen, ohne ganz eingetaucht zu werden.
Die wesentlich geringere Höhe der Alpengipfel im Vergleich mit
Kaukasus und Apennin unterstützt diese Theorie.
Die stahlgraue Farbe, in weloher der gröfsere Teil des Mare
Serenitatis erscheint, dehnt sich auch an zwei Stellen auf die um-
gebenden Gebirge aus, nämlich im Südosten und im Nordwesten, hier
schon nahe der Tagesgrenze. Die Verfasser sehen diese Gebirgsteile
als jüngeren Ursprungs an, indem sie noch unter der flüssigen Deoke
des Meeres geschützt lagen, als die vulkanische Asche von den be-
nachbarten tätigen Vulkanen herüberwehte und iin Meere spurlos ver-
schwand. Erst als die Vulkane erloschen waren, tauchten sie infolge
inneren Druckes auf und erhielten so den stahlgrauen Ton, den das
allmählich erstarrende Meer annahm.
Alle Bergketten dieser Gegend sind durch Quertäler, die man
bei genauerem Zusehen leicht erkennt, in Rechtecke geteilt; so der
Kaukasus in vier solcher, wobei freilich das südlichste seine Südwest-
ecke infolge von Senkung an das Mare Serenitatis bis auf einen iso-
lierten Berg hat abgeben mÜBsen. In den Alpen schneidet das grofse
Quertal, die „Gletscherspalte", die 150 km Länge und 4 km Breite hat
und recht wenig glücklich so benannt worden ist, in dem oberen Teile
ebenfalls ein Rechteck ab. Diese rechteckige Uliederung der Gebirgs-
stöcke, die so gar keine Ähnlichkeit mit dem Aufbau unserer irdischen
Gebirge hat, bei denen sioh die auswaschende Tätigkeit des Wassers
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25ti
in der regeltnäfaigon Talgliederung zeigt, erklären die Verfasser auf
folgende Weise: Als die Mondoberfläohe noch ganz glutflüssig war
und eben zu erkalten begann, bildeten sioh auf ihr einzelne Erkal-
tungssohlacken, die auf der glutflüssigen Masse durch die Winde ein*
hergetrieben wurden. Wie nun auf unseren Seen Eisschollen, die
gegeneinander getrieben werden, hervorstehende Zacken ihrer Ränder
so lange abstofsen, bis sie eine nahezu geradlinige Kante erhalten
haben, dann aber längs dieser Kante zusatnmenfrieren, so fanden auch
„Lötungen“ der Mondschollen längs gerader Linien statt. Die noch
bestehenden zusammengelöteten Teile haben das höchste Alter unter
allen Mondformationen. Die trennenden „Lötstellen“ der Apenninen
und des Kaukasus gehen verlängert durch die Randwälle mehrerer
grofsen Krater. Das pafst gut zu der Theorie der Verfasser, weil diese
Lötstellen schwächer sind als ihre Umgebung und auftreibenden Kräften
von unten sich leiohter öffnen.
Sowohl die Alpen wie die Apenninen tragen auf ihrer höheren,
nach dem Mare Imbrium steil abfallenden Seite eine grofse Anzahl
Krater, deren Öffnungen man auf unserem Blatte bei dem hohen Sonnen-
stände nicht sieht, da die Innenwände wohl mit stark das Lioht reflek-
tierender Lava bedeckt sind. Aber auch die grofsen Krater Auto-
Ivcos und Aristillus müssen tätig gewesen sein, wie man aus den
starken Aschenanhäufungen in ihrer unmittelbaren Umgebung sieht,
namentlich sind diejenigen in der Wallebene Archimedes, deren ebenes
Innere mit vier weifseu, nioht ganz parallelen Streifen überzogen ist,
deren beide obere von Autolycos, deren untere von Aristillus herzu-
kommen soheinen, als vom Winde herbeigewehte Auswurfsprodukte
zu betrachten. Ganz gewaltig ist infolge dieser Aschenstreifen der
Kontrast zwischen den sonst sich gleichenden Wallebenen Archimedes
und Plato. Wenn auch Plato so ganz schwarz ist, so beweist dies
naoh Auffassung von Loewy und Puiseux doch nicht, dafs er von
keiner verwehten Asche erreicht wurde, sondern dafs sein Inneres
noch flüssig war, als die umliegenden Vulkane tätig waren, und dafs
deren Asche spurlos darin verBank.
Während wir auf den anderen 3 Blättern grofse Meere oder
wenigstens Meeresteile erblickten, fehlen diese auf Blatt XVIII (Fig. 4),
welches den Südpol des Mondes im letzten Viertel, also nur die Ost-
hälfte desselben bei untergehender Sonne darstellt, ganz. Auch Berg-
ketten fehlen hier, es ist eine zusammenhängende Kratermasse.
WTeder sind die Krater infolge der Nähe des Mondrandes perspektivisch
zu Ellipsen deformiert. Der streifende Einfall des Lichtes namentlich
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257
im Westen der dargestellten Gegend liifst die Sohatten lang hinfallen
und erlaubt daraus, mit Sicherheit die Höhe der sohattenwerfenden
Objekte zu berechnen. Gerade in der Nähe des 8üdpols Anden sioh
die gröfsten Bodenerhebungen. Dort liegt, ganz oben auf der Karte,
der Krater Newton, bei dem der viergezackte Schattenwurf auf dem
unebenen Boden des Innern die Konturen des Ostwalles abzeiohneL
Da auch der beleuchtete Westwall die gleiche Höhe hat, und die
Sonne bei der Polnähe des Objekts sich kaum zu 20 0 scheinbarer
Höhe über den Horizont dieser Gegenden erhebt, so werden die
tiefsten Stellen des Kraterinnorn nie von einem Sonnenstrahle ge-
troffen. Auch die Erde sieht man von dort nioht. Umgekehrt ist
das Hochplateau, welohes südöstlich von Newton über den Mondrand
emporragt, über 8000 m hoch und dabei dem Pole so nahe, dafs es
stets von den streifenden Sonnenstrahlen getroffen wird. Diese kommen
ihm auch, wenn alle Täler ringsum in Nacht liegen, noch von jenseits
des Poles zu. Es bildet eine Erhebung der Dörfelberge, die hier dem
Mondrand entlang laufen und mehr im Osten eine nooh beträchtlichere
Bergmasse über den Kand emporragen lassen; für letztere hat Mädler
eine Höhe von 8000 m bereonet, wohl die gröfste auf der sichtbaren
Mondhälfte.
Unter den Wallebenen ist die des Clavius, ungefähr in der Mitte
der Lichtgrenze, weitaus die gröfste und interessanteste. Sie ist niobt
streng elliptisoh, sondern hat eine mehr rhomboidale Form, wie übri-
gens manche der Krater in dieser Gegend, unter andern die fast genau
in gerader Richtung liegenden 6 Krater Gruemborger (dessen Inneres
ganz im Schatten liegt bis auf den Westwall), Blanoanus, Scheiner,
Rost und Schiller (am rechten Rande, nur halb sichtbar), deren Ver-
bindungslinie südlich an Clavius vorbeistreift. Diese Anordnung ist
eine Stütze der Schollentheorie der Verfasser. Der Randwall des Clavius
ist doppelt, aber an vielen Stellen zerstört, namentlich an der Nord-
seite, wo der innere Wall nur noch aus einer Reihe einzelner Zacken
besteht, und in der Mitte des Südrandes; letztere ist duroh Senkung
verschwunden, so dafs nun eine Reihe von Furchen von dem ebenen
Kraterinnern nach Süden führt Zwei Ringgebirge vulkanischen Ur-
sprungs sind in den westlichen Teil des Randwalles oben und unten
eingebaut, deren Zentralberge eben nooh aus dem tiefen Schattenwurf
herausragen. Besonders hooh ist der Westwall des zwischen beiden
eingebauten Kraters Clavius D, dessen langer Sohattenkegel an der
inneren Böschung des Westwalles des Ilauptkraters emporklettert.
Die vielen ganz kleinen Krater, die den Boden von Clavius übersäen,
Himmel und Erde. 1904. XVI. 6. 17
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258
können nach den Verfassern teilweise als Locher angesehen werden,
welohe Meteore von riesiger Oröfse in den Kraterboden gesohlagen
haben. Diese Meteore sausen auf den luftlosen Mond in unvermin-
derter Geschwindigkeit und Gröfse herab, während die Lufthülle der
Erde ihre Wucht hemmt und sie zerspringen läfst und so die Erd-
kruste vor ihnen sohützt. Erwähnt sei nooh die sehr grofse Wallebene
Longoinontanus, nordöstlich von Clavius, wegen des ebenfalls doppel-
ten Handwalles, der zahllose kleine Krater auf seiner Kammlinie
trägt und im Norden mit dicht aneinandergebauten Kratern gefüllt ist.
ln der linken unteren Ecke der Tafel (Pig. 4) liegt, ebensoweit von
unten wie vom linken Rande entfernt, der T.vcho, der bei hohem
Mittagsstande der Sonne ein Mittelpunkt weit über die Mondober-
iläche hinlaufender Strablensysteme ist, von denen hier bei unter-
gehender Sonne niohts zu sehen ist. Gerade die oberste Spitze
seines Zentralberges ragt aus dem Schatten, der das ganze Innere bis
zum Pufse des Westwalles füllt, heraus. Würde der Zentralberg
genau in der Mitte der Schattenerstreokung liegen, so würde aus
dieser Tatsache für ihn die halbe Höhe des sohattenwerfenden Ost-
walles folgen, da er nun ein wenig weiter entfernt liegt, so ist er
etwas niedriger als die halbe Höhe des Ostwalles. Von der früheren
starken eruptivon Tätigkeit des Tycho zeugt naoh den Verfassern
die weifsgraue Färbung der nördlich und östlich von ihm gelegenen
Partien im Gegensatz zu der dunkelgrauen der oberen Hälfte. Diese
sollen Asche darstellen. Ein aufmerksames Auge findet z. B. über
den Boden des Longomontanus zwei, über den des davon nördlichen
Wilhelm I einen Aschenstrich hinlaufen, die genau auf den Zentral-
berg des Tyoho zielen.
Nachdem wir dem Leser durch die Beschreibung der vier repro-
duzierten Mondphotographien die Beweise für die Einzelhei'en der
Loewy- und Puiseuxschen Mondbildungstheorie an die Hand ge-
geben haben, können wir jetzt an eine zusammenhängende Darstellung
dieser im wesentlichen vulkanischen Theorie gehen Einer vulka-
nischen Deutung der Mondgebilde sind zwar von jeher zwei Argu-
mente enlgegengehalten worden: erstlich der beträchtliche Durchmesser
der grofsen Ringgebirge des Mondes, von rund 100 Kilometern,
welcher alle die Erdvulkane so gewaltig iibertrifTt; zweitens das Fehlen
einer Atmosphäre auf dem Monde, während doch jeder Ausbruch eines
Erdvulkans von Gas- und Wasserdampfausbrüohen begleitet ist Wo
aber ist auf dem Monde dieses Wasser, wo sind die Gase geblieben,
die eine Atmosphäre um ihn weben müfsten. Aus deren Fehlen frei-
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259
lieh kann man nur folgern, dafs jetzt auf dem Monde keine vulka-
nischen Kräfte in grofsem Marsstabe mehr wirksam sein können,
nioht aber, dafs dies auch früher so gewesen. Tatsächlich nehmen
die Verfasser die Existenz von Wasser und Luft zu früheren Zeiten
Fi#. 4. Südpol. Cltrini, LongoBooUnu.
(Tafel XVIII. Loewy und Puiaeux.)
auf dem Monde an. Teils sind beide nach ihrer Ansicht bei der
Qesteinsbildung von dem Mondinnern gebunden worden, teils sind sie,
die Luft zuerst, später der Wasserdampf, der sioh aus dem Wasser
infolge fehlenden Druckes von oben bildete, dem Monde duroh die
Atomgesohwindigkeilen dieser Oase entführt worden. Diese Atom-
geschwindigkeiten übertreffen nämlich im Maximum die Geschwindig-
17»
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260
keit, mit welcher ein vom Monde direkt fortgeächleuderter Körper
von ihm sioh entfernen mofs, um die Anziehungskraft zu überwinden.
Diese Geschwindigkeit beträgt nämlich beim Monde nur 2400 m.
Außerdem erscheint es nioht ausgeschlossen, dafs der Mond noch jetzt
eine sehr dünne Atmosphäre besitzt, denn die Sternbedeckungen geben
einen etwas kleineren Wert für den Monddurchmesser als direkte
Durohmesserbestimmungen. Wenn nämlich duroh eine geringe Ab-
lenkung der von dem Fixstern kommenden Lichtstrahlen der bereits
hinter den Mond getretene Stern noch sichtbar bleibt und anderseits
vor dem geometrischen Austritt des Sternes auf der anderen Seite der
Scheibe die Strahlenbrechung den Stern bereits sichtbar werden
läfst, so wird die Bedeckungszeit und damit der daraus berechnete
Monddurohmesser zu klein erhalten. Anderseits mufste wegen der
rascheren Abkühlung des kleineren Mondes die Menge eingeschlossener
Oase eine relativ stärkere sein als auf der gröfseren Erde, und
dies würde in Verbindung mit der geringeren Schwerkraft eine vul-
kanisohe Tätigkeit begünstigen. Dazu kommt endlich, dafs der Mond
sioh aus den äufsersten Schichten des noch glutflüssigen Erdballes los-
gelöst hat, welche die leiohteren Stoffe enthielten — tatsächlich ist sein
spezifisches Gewicht nur s/s von dem der Erde — , so dafs auch seine
Kruste leiohter zu durchbrechen ist als diejenige unseres Planeten.
Nimmt man mit den Verfassern an, dafs hiermit die Einwürfe
gegen ihre vulkanische Theorie hinreichend widerlegt sind, so kann
man ihnen auf ihrem Gedankengang folgen, der nun auch sofort die
Entstehung der Mondgebilde chronologisch ordnet. Zuerst erschienen
auf der glutflüssigen Masse Erkaltungsschlacken, die, von Strömungen
hin- und hergetrieben, miteinander zusammenstiersen und schliefslich
längs geradlinig abgestofsener Kanten miteinander verschmolzen; die
Verbindungslinien sind aber sichtbar geblieben und werden durch die
Photographien oft auf weite Streoken der jetzigen Mondoberfläche
klargelegt. Eine zweite selenologisohe Epoche beginnt, nachdem auch
die von Sohollen freigebliebenen Teile der Kinde erstarrt waren.
Hatte nämlich damals der Mond noch nicht eine Umdrehungszeit, die
seiner Umlaufszeit um die Erde gleich war, so erzeugte die Erde in
seinem gutflüssigen Innern eine Flutwelle, ähnlich wie sie der Mond in
der irdischen Wasserhülle erzeugt, und der Druck dieser Flutwelle gegen
die noch schwache Rinde vermochte diese zu durchbreohen und zu über-
fluten. Die erstarrten, ausgetretenen Massen verdecken die früher
sichtbaren Lotlinien und erzeugen den Anbliok einer zusammenhän-
genden Ebene. Nachdem nun die Kinde allmählich fester geworden
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261
ist, vermögen in der dritten Periode nur starke Drucke sie emporzu-
heben. Haben diese Drucke ihr Zentrum in einer gewissen Tiefe,
etwa in einer starken Gasentwickelung, so wird der Druck sich kugel-
förmig um dieselbe fortpflanzen, also auoh die Oberfläche des Mondes
zu einem Kugelsegment emporzuwölben sich bestreben. Ein Kugel-
segment setzt aber auf der kugelförmigen Mondoberfläche selbstver-
ständlich in einem Kreise auf, und damit ist ungezwungen die Kreis-
form aller Wallebenen und Kinggebirge erklärt. War nämlich der Druok
so stark geworden dafs er die emporgewölbte Kinde durchbraoh und
die eingeschlossenen Oase entwichen, so stürzten die Bruchstücke des
Kugelsegments in die Tiefe, während rings ein kreisförmiger Wall
stehen blieb. Die Bruchstücke schmolzen in der glutllüssigen Lava
wieder ein und bildeten nach der Erstarrung eine vollkommene Ebene;
denkbar ist aber auch, dafs bei schrägem Einsturz eines solohen Bruch-
stücks eine Ecke emporgerichtet blieb und nun einen Bergkegel im
Innern einer Wallebene darstellt, um den rings die Lava glatt ver-
schmolz.
In der vierten Periode bilden sich nun durch stärkere Zusammen-
ziehung des flüssigen Innern gegenüber derjenigen der festen Rinde
gewaltige Hohlräume, in welche grofse Gebiete der Oberfläche sich auf
einmal oder in mehreren Etappen hineinsenken: so entstehen die
grofsen Meere. Über die eingesunkenen Gegenden flutet die innere
Lava hinweg und nivelliert alles, blofs die höchsten Gebirge ragen
nooh mit ihren Gipfeln als ein Inselmeer über die allmählich voll-
kommen eben erstarrende Oberfläche empor Fester und dichter wird
die Kinde des Mondes, aber die ohcmischen Kräfte des glutflüssigen
Innern ruhen nicht, doch setzt das feste Gefüge der Oberfläche jetzt
den Qasentwiokelungen einen energischeren Widerstand entgegen.
Erst wenn der innere Druck zu stark geworden ist, siegt er, dann aber
■•xplosionsartig, und wirft einen regelrechten, feuerspeienden Vulkan
an der Oberfläche auf. Er benutzt dabei vorzugsweise die weniger
widerstandsfähigen Stellen der Kinde, also die alten .Lötstellen“, die
Bergkränze, welohe die Meere, und die Kämme, welche die Wallebenen
einsohhßfsen, deren Gefüge bei benachbarten Einstürzen gelockert sein
mochte, auch die feinen Adern, welche die Meere überziehen, ln dieser
fünften Periode war der Mond mit zahlreichen, tätigen Vulkanen be-
deckt, und ihre Asche wurde durch die Winde in der damals noch
vorhandenen Atmosphäre geradlinig fortgetragen und lagerte sich in
Streifen ab. Dafs :*ie so erzeugten glänzenden Striche nicht Eis sein
können, leuchtet ohne weiteres ein, da die Temperatur der äquatorialen
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262
tiegenden des Mondes um Mittag nach Very4) auf 180° C. steigt, die
Streifen aber beständig sind. Nasmyth und Carpenter haben die
gröfseren von ihnen für Bodenspallen erklärt, die durch starken Druck
von einem Punkte aus strahlenförmig geöffnet worden seien; in diese
drang die Lava ein und erzeugte beim Erstarren eine besonders
glänzende Oberfläche. Dooh wird diese Theorie durch einen Blick
auf die Loewy- und Puiseuxschen Photographien wiederlegt. Nur
vom Wind getragene Asche kann sich so verteilen, wie das Auge es
hier sieht. Bewiesen wird dies vor allem dadurch, dafs die Aschen-
striche, wenn sie einer Gebirgswand begegnen, dieselbe zwar über-
schreiten, vor der Bergwand aber breiter werden und hinter ihr dünner
wieder anfangen, genau wie es sein mufs, da die niedrigen Winde
die Asche gegen die Bergwand werfen, die sie an sich heruntergleiten
liefs. Hingegen schützte die Wand die unmittelbar hinter ihr befind-
liche Ebene vor Asche. Anderseits sind die Streifen bisweilen duroh
Meere oder das Innere grofser Wallebenen unterbrochen, deun die
dort einfallende Asche sank, als die betreffenden Flächen noch nicht
erstarrt waren, spurlos unter. Wegen der Rolle, die der Wind bei der
Ausbreitung der Asche spielte, die wieder ohne Luft nicht denkbar
war, können wir nun zwisohen älteren und jüngeren Vulkanen unter-
scheiden; sobald die Atmosphäre so dünn geworden war wie jetzt,
konnten keine weiten Aschentransporte mehr stattfinden, und die Aus-
wurfsprodukte mufsten sämtlich in unmittelbarer Nähe des Auswurfs-
kraters niederfallen, was natürlich vorher auch schon, jetzt aber aus-
schliefslioh geschah. So wird man Copernicus für jünger halten als
Tycho, dessen Aschenstreifen mehr als den vierten Teil eines gröfsten
Kreises einnehmen, Kepler wieder für jünger als Copernicus. Das
glänzende Licht der Abhänge dieser bei Vollmond so prächtig strahlen-
den Krater mag von übergeflossener Lava herrühren. Verlegt man
anderseits die Bildung einzelner Hauptvulkane auch in Epochen zu-
rück, wo das Innere der Wallebenen noch nicht fest geworden war, so
kann man von mehreren in der Aschenflugriohtung desselben Vulkans
liegenden Gebilden das relative Alter feststellen, je nachdem die Ge-
bilde die Asche zeigen, also damals fest waren, oder nicht. So ist im
Gebiete des Tycho Clavius älter als Longomontanus, und dieser wieder
älter als Pitatus, ebenso ist das Mare Humorum älter als das Mare
Nubium.
Nooh einen anderen Mafsstab für den Altersunterschied der Mond-
gebilde gewährt ihr relativer Erhaltungszustand. Seit die Atmosphäre
•) Astrophysical Journal vol. VIII p. 1!>9. u 2K5.
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263
des Mondes so dünn geworden ist wie jetzt, ist die Oberfläche noch
stärker als vorher Temperaturschwankungen im Laufe eines Mond-
tages, also innerhalb 29'/* Erdtagen ausgesetzt, Schwankungen, die
jetzt von 180° über Null im Mittag bis auf wenigstens 200° unter
Null während der 14tägigen Nacht gehen, und diese müssen zerstörend
auf das feste Gefüge der Gesteine der Kraterwände wirken. Die durch
Ausdehnung und Zusammenziebung abgesprengten Stücke müssen
herunterrollen und der Bergkamm ein immer mehr zackiges Aussehen
bekommen. " Je wilder und zerrissener also ein Itinggebirge ist, desto
älter wird es relativ sein; auch dies beweist das höbe Alter des Clavius.
Soll man nun die Kräfte, welche nach den Verfassern in diesen
fünf Perioden das Antlitz des Mondes gefurcht haben, als hiermit
erlosohen annehmen, so dafs die sechste Periode nur die Gesteins-
zerbröckelung unter der Wärmesohwankung umfafst, oder wird immer
noch Zug um Zug von dem feinen Grabstichel der Zeit in das uns
strahlend zugewandte Gesicht unseres Satelliten gegraben? Ist der
Mond tot oder altert er weiter? Mit anderen Worten, finden noch
Veränderungen auf dem Monde statt? Dafs der Mond für höher or-
ganisiertes Leben tot ist, erscheint fraglos: nicht so leicht läfst sich
entscheiden, ob aber auch für das niederste Leben, für das 'Waohstum
von Algen und Moosen, immer die Anwesenheit stark verdünnter
Luft und geringer Feuchtigkeit vorauszusetzen ist Hierfür ist es be-
zeichnend, dafs Farbenänderungen gewisser Mondgebiete sich mit
steigender Sonne vollzogen haben, die als solche sowohl von direkten
Beobachtern, wie auch von Loewy und Puiseux als Helligkeits-
änderungen photographiert und bei der Vergleichung mehrerer Platten
derselben Gegend, die unter verschiedenen Beleuohtungsphasen standen,
entdeckt worden sind. Da der Tag des Mondes und sein Jahr identisch
ist, nämlich gleich einem synodischen Umlauf, so würde durch eine
bescheidene Vegetation, deren Wachstum sioh der gleichen Periode
einfügen mufs, eine solche Farbenänderung erklärbar sein. Auch das
Dunklerwerden des Plato mit steigender Sonne ist vielleicht hierher
zu rechnen. Sollte die vollkommen ebene, dunkle Fläche, auf der gar
kein Asobenstreifen liegt, noch nicht ganz fest sein, so müfste sie
allerdings mit inneren Wärmequellen in Verbindung stehen, wie der
rote Fleck auf Jupiter, wie der Feuersee des Kilauea, an welche diese
Fläche merkwürdig erinnert.
Verlangen wir aber gröfsere Veränderungen auf der Mondober-
fiäche zu sehen, wirkliche Konturenänderungen seiner Gebilde, so ist
diese Forderung sohon sehr hochgespannt. Wir fragen zum Vergleiche,
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264
was denn für Veränderungen an der Erdoberfläche vor sich gehen,
die, aus Mondentfernung mit einem mittelstarken Fernrohr betraohtet,
von uns noch bemerkt werden könnten. Es würde sich um Objekte
von V2 km Griifse handeln. Wenn weiter beachtet wird, dafs wir
alles direkt von oben, also stark verkleinert betrachten, so dürfte es
zweifelhaft sein, ob wir z. B. die Zerstörung der Krakatauinsel 1883,
von der ein Stück stehen blieb, und die Senkung des Auswurfs-
kegels des Mont Pelö im Jahre 1901 in ihren Wirkungen vom Monde
aus hätten beobachten können, wenn der eigentliche vulkanische Aus-
bruch zufällig nicht gesehen worden wäre, zumal wenn nur Zeich-
nungen des früheren Zustandes vorhanden gewesen wären, die man
doch auch für unzuverlässig halten dürfte. Es mufs sich also um
sehr beträchtliche Änderungen im Antlitz des Mondes handeln, wenn
man dieselben als sicher konstatiert ansehen will.
Aber bei aller Vorsicht dürfen wir doch einige Veränderungen
auf dem Monde als sicher konstatiert gelten lassen. Eine viel beob-
achtete Gegend unseres Trabanten ist das Rillensystem des Hyginus,
das etwa 300 km nordwestlich der Mondmitte liegt Innerhalb des-
selben entdeckte Klein in Köln am 19. Mai 1877 „einen grofsen
schwarzen, schattenerfüllten Krater ohne Wall", den er früher in dieser
Gegend nie bemerkt hatte, obwohl er sehr auffällig am Abhange eines
kleinen Berges liegt Dieser als Hyginus N bezeichnete Krater wurde
darauf von mehreren Beobachtern konstatiert und seine Umgebung viel
gezeichnet Merkwürdigerweise fand Krieger dabei einen zweiten
neuen Krater, den er Hyginus N' nannte, in dieser von ihm und den
anderen so häufig durchforschten Gegend. Konnte man bei der ersten
Entdeckung noch zweifeln, ob nicht ein blofses Übersehen des schon
längst existierenden Kraters durch die früheren Beobachter vorlag, so
nicht mehr bei dem zweiten Krater, nachdem die Gegend so oft unter-
sucht war. Anderseits macht der zweite Krater auch die physische
Entstehung des ersten plausibler, da in einer Gegend, wo einmal eine
Veränderung eingetreten ist, eine zweite in dem beunruhigten Boden
leichter möglich ist. Besonders beweiskräftig erscheint mir aber der
Krater Linnö im östlichen Teile des Mare Serenitatis (s. Fig. 3). Dieser
Krater ist von Lohrmann und Mädler als ein Berg mit Krateröffnung
in der Ebene des Meeres beschrieben worden. Er warf in der Nähe der
Liohtgrenze einen so starken Schatten und trat so deutlich hervor, dafs
er von beiden als Ausgangspunkt für Abstandsmessungen anderer
Mondobjekte, als sogenannter Fixpunkt erster Ordnung, benutzt wurde.
Auch Schmidt sah ihn bereits vor 1843 in dieser Beschaffenheit.
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26 n
Später aber fand er ihn nur als einen weiben Fleok wieder, der über-
haupt keinen Schatten mehr warf, der also zu Messungszweoken völlig
ungeeignet war. Hier raubte also inzwischen ein Ausbruch aus dem
Krater stattgefunden haben. Die Lava überflutete die Abhänge, dachte
sie so sanft gegen die Ebene ab, dafs kein Schattenwurf mehr mög-
lich war und der Krater bei jeder Beleuchtung nur als weifser
Fleck mit ganz kleiner Grube ira Innern sichtbar ist. Die Ver-
änderung ist deswegen unbezweifelbar, weil sich noch jetzt die
Tätigkeit des Kraters l.innö beobachten läfst. Fickering, der
Direktor der Sternwarte des Harvard College, kam auf den Ge-
danken, den Durohmesser des Lichtfleckes Linnö öfter und besonders
vor und nach einer totalen Mondfinsternis messen zu lassen. Er fand
ihn nach Ablauf der Verfinsterung stets gröfser als vorher. Bei
einer Messung 1898 bestimmte Douglass so eine Vergröberung des
Lichtfleckes um 0".57, etw-a '/4 des Durchmessers. Bei der Finster-
nis vom 16. Oktober 1902 aber fand eine Verdoppelung der Grobe
des Lichtfleckes statt, die sogar direkt auffällig war, so dab Linne
nach Aufhören der Finsternis nur durch seine Lage gegen andere
Krater erkennbar war, nicht aber durch sein Aussehen allein. Die
Messungen seines Durchmessers geschahen mit dem Fadenmikro-
ineter und begannen 3 1 ■ s Stunden, bevor der Erdschatten Linnö
erreichte; sie gaben 2 Vs Stunden lang unverändert den Wert i".l im
Mittel. Kaum aber hatte der Halbschatten der Erde, dem Auge nicht
wahrnehmbar, wohl aber der Berechnung nach, I.innö überschritten,
als der Durchmesser ganz regelmäbig gröber wurde, und kurz bevor
der Kernschatten Linnö erreichte, ward 3".22 dafür gemessen. Nun
verschwand Linnö in der Dunkelheit. Als er nach 2 '/j stündigem
Verweilen im Schattenkegel wieder im lialbschaiten sichtbar wurde,
hatte sich der Durchmesser auf 5". 6 erhöht. Die Messungen
konnten, da Wolken dazwischen traten, nicht weit genug fortgesetzt
werden, um zu beobachten, ob nun wieder eine Abnahme des Licht-
fleckes .stattfand. Eine 4 Tage später ausgeführte Messung ergab den
Durchmesser zu 4". 6 1 , also kleiner als unmittelbar nach Ende der
Finsternis, doch immer noch gröfser als vor ihrem Beginn. Die Er-
klärung, die W. H. Pickering, der Beobachter der letzten Erschei-
nung hierfür gibt, ist folgende: Linnö war vor der Finsternis „tätig“,
d. h. er spie zwar nicht Feuer, lieb aber eine Dampfwolke aus seinem
Krater ausströmen, die als solche natürlich nicht von der Erde aus zu
beobachten war. Als nun plötzlich die Mittagstemperatur — der
Mond war 8 */2 Tage alt — , welche rund + 180° betragen haben mau-.
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266
durch die Finsternis unterbrochen wurde, innerhalb deren die Tempe-
ratur wie in der Mondnacht auf — 200° heruntergeht, schlug sich
der Wasserdampf als Eis auf den Krater ringsum nieder, welohes
von der die Öffnung umgebenden Lava in der Helligkeit nicht zu
unterscheiden war, so dafs der Liohtfleok nachher entsprechend ver-
gröfsert erschien. Vier Tage später hatte die Sonnenstrahlung erst
einen Teil des Eises wieder verdampft Dieser Vorgang ist schwer
zu begreifen, und wir überlassen die Verantwortung für diese Erklä-
rung ihrem Urheber. Es wird sich aber bei künftigen Finsternissen
lohnen, den Durchmesser des Linnö vor und nachher zu messen; auch
Liebhaber können, wenn ihre Refraktoren Fadenmikrometer haben,
hierbei mitwirken. Dafs aber I.inne sein ganzes Aussehen verändert
hat und noch verändert, läfst sich nicht mehr bezweifeln.
Es ist hier der Ort, einige Berichte über Beobachtung feuer-
speiender Berge auf dem Monde aus dem Ende des 18. und dem
Anfang des 19. Jahrhunderts der Vergessenheit zu entreifsen. Bei
aller Vorsicht wird man nicht umhin können, zuzugestehen, dafs das,
was die Beobachter, von denen drei durch ihre sonstige astronomische
Tätigkeit über jeden Zweifel einer bewufsten oder unbewufsten
Täusohung erhaben sind, gesehen haben, nichts anderes sein kann,
als der Ausbruch eines tätigen Vulkans.
Wir geben zunäohst die Berichte, die sich sämtlioh in den Phi-
losophical Transactions of the Royal Society of London finden, der
Zeitfolge nach auszugsweise wieder:
William Hersohel berichtet im Jahrgang 1787 dieser Sitzungs-
berichte S. 229 — 231: „Am 19. April 1787 83/4h abends bemerkte ich
drei Vulkane an verschiedenen Stellen der dunkeln Seite des zu-
nehmenden Mondes. Zwei waren schon nahe am Erlöschen (oder
umgekehrt, sie bereiteten eine Eruption vor, was sich naoh einem
Mondumlauf entsoheiden lassen wird). Der dritte zeigt gegenwärtig
einen Ausbruch von Feuer oder leuchtender Materie. Sein Abstand
vom Nordrand des Mondes wurde zu 3' 67". 3 gemessen.“
Am folgenden Tage 8h 6m abends brannte der Vulkan mit noch
gröfserer Heftigkeit. Sein scheinbarer Durohmesser konnte der
Schätzung naoh nioht unter 3" betragen und war mindestens doppelt
so grofs wie der des 3. Jupitermondes, auf den Hersohel, da Jupiter
nahe stand, das Teleskop richtete. Der wahre Durchmesser der leuch-
tenden oder brennenden Materie mufs etwa 6 km gewesen sein. Die
anderen beiden Vulkane lagen mehr nach der Mondmitte zu und
glichen breiten, ziemlioh schwachen Nebeln, deren Helligkeit nach
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267
der Mitte stufenweise zunimmt, ohne soharf begrenzten leuchtenden
Fleck. Der Erdsohein gestattete damals Hersohel, in seinem zehn-
fufsigen Reflektor die Konturen der Mondgebilde auf der Nachtseite
unseres Trabanten zu erkennen; er konnte die drei Vulkane deutlich
von den ihm bekannten Formationen unterscheiden. Die Umgegend
um den tätigen Vulkan war schwach von dessen Reflexlicht erhellt
und wurde mit der Entfernung von ihm zusehends dunkler.
Diese Eruption glioh einer früher von Hersohel am 4. Mai
1783 beobachteten, nur dafs damals der LichtQeok zwar viel heller
(gleioh einem Sterne 4. Qröfse für das unbewaffnete Auge), aber viel
kleiner war. Einen genaueren Berioht über diesen früheren Ausbruoh
versprach Herschel demnächst zu geben, er ist aber unseres Wissens
nirgends veröffentlicht worden.
Der Bericht über die nächste Erscheinung findet sioh im Jahr-
gang 1 71*4 S. 429 — 440 in vier Briefen des einen Beobachters, des
Architekten William Wilkins zu Norwioh, und in einer sorgfältigen
Diskussion der Erscheinung nebst Mitteilung der Angaben des anderen
Beobachters, des Bedienten Thomas Stretton zu Clerkenwell bei
London, durch den Royal Astronomer, Rev. Nevil Maskelyne. Der Ort,
an welchem ein Stern im Monde von beiden Beobachtern übereinstim-
mend gesehen wurde, ist in drei beigegebenen Zeichnungen dargestellt
und würde zu dem von Herschel gesehenen Vulkan ungefähr passen,
zumal beide Beobachter nur nach Augenmafs gezeichnet haben. Die
Zeit war am 7. März 1794 gegen 8 Uhr abends. Der Stern war sicht-
bar, als beide Beobachter den Mond betrachteten, verschwand aber nach
wenigen Minuten für ihr unbewaffnetes Auge für immer. Dieser Um-
stand würde dafür sprechen, dafs man es mit einer zu Ende gehenden
Eruption eines Mondvulkans zu tun hat, und dafs nicht eine Verwechse-
lung mit dem Stern Aldebaran vorliegen kann, der am gleiohen Abend
vom Monde bedeckt worden war — eine Möglichkeit, die Maskelyne
streift. Zur Zeit der Beobachtung des Phänomens war Aldebaran seit
einer halben Stunde wieder ausgetreten, und der eine Beobachter erklärt
diesen Stern aufserbalb des Mondes gleichzeitig gesehen zu haben,
während beide den für eine Eruption zu haltenden Stern deutlioh
innerhalb des Umkreises der vom Erdsohein erhellten Partie des da-
mals 5 Tage alten Mondes gesehen haben wollen. Maskelyne weist
auf die Ähnlichkeit des von Herschel beobachteten, eben berichteten
Phänomens hin und erwähnt, dafs auch Dominio Cassini einmal
mit dem unbewaffneten Auge einen Liohtfleok in der Helligkeit eines
Sternes 3. Oröfse im dunkeln Teil des Mondes beobachtet habe.
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•268
Die beiden letzten derartigen Erscheinungen stammen aus dem
Jahre 1821, und zwar beobachtete zunächst Kapitän Henry Kater,
wie er in den Transactions 1821 S. 130 — 132 berichtet, am 4. Februar
auf dem 2 Tage alten Monde mit einem New ton sehen Fernrohr von
6l/4 Zoll Öffnung und 74 facher Vergröfserung einen Lichtfleck. Der-
selbe stimmte nach einer angefertigten Zeichnung ungefähr mit der von
Herschel und den Beobachtern von 1794 angegebenen Position Uber-
ein und wurde von Kater mit der Mitte des Ringgebirges Aristarch
am Ostrande des Mare Imbrium — er liegt zu südlich, um auf unserer
Fig. 2 noch sichtbar zu sein — identifiziert. Es war ö'/j Uhr abends;
der Liohtfieok hatte 3—4 Sekunden Durchmesser und glich einem
kleinen Nebelfleck. Die Helligkeit war sehr wechselnd. Ein leuch-
tender Punkt gleich einem Sterne 6. bis 7. Gröfse erschien in seiner
Mitte und versohwand ebenso plötzlich wieder mehrmals innerhalb
weniger Sekunden. Am folgenden Abende liefs Kater, der persönlich
verhindert war, durch zwei Freunde das Phänomen beobachten, die
es wahrnahmen, wenngleich in geringerer Helligkeit, woran indessen
die geringere Durchsichtigkeit der Luft Schuld sein konnte. Am G.
Februar beobachtete Kater wieder selbst und zeigte die Erscheinung,
die noch schwächer geworden war, einem andern Mitglied der Royal
Sooiety. Das slernartige Aufleuchten inmitten des hellen Flecks war
weniger häufig. Am 7. Februar war das Phänomen noch schwächer
geworden und hätte von einem Beobachter, der seinen genauen Ort
auf dem Monde nicht kannte, kaum wahrgenommen werden können;
dooh mochte dies ebenso eine Folge des überstrahlenden Lichtes des
immer mehr zunehmenden Mondes sein, der inzwischen fünf Tage alt
geworden war, wie auf einer wirklichen Abnahme beruhen.
Die andere Beobachtung aus dem gleichen Jahre 1821 ist in
Kapstadt gemacht und in den Transactions 1822 S. 237—238 mitgeteilt.
Sie rührt von Rev. Fearon Fallows her, dem ersten Direktor der
später so tätigen Kapstern warte. Mit unbewaffnetem Auge sah der
junge Astronom am 28. November 8 Uhr abends bei herrlich klarem
Himmel einen weifslichen Fleck auf der dunkeln Seite des Mondrandes;
der Mond war 4 — 5 Tage alt. Sein Assistent Fayror bestätigte die
Wahrnehmung des in beträchtlichem Glanze leuchtenden Flecks. Rev.
Fearon Fallows besafs damals überhaupt noch kein Fernrohr, doch
lieh ihm sein Assistent einen 4füfsigen Dollond von lOOfacher Ver-
gröfserung, und nun sah er den bereits vorher wahrgenommenen Fleck
in der Helligkeit eines Sternes 6. Gröfse und drei andere viel kleinere
von denen jedoch einer heller leuchtete als der zuerst allein erblickte
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grofse Fleck. Dieser grofse Fleck war von einer nebelartigen Erschei-
nung umgeben, der kleine glanzende dagegen nicht. Die beiden anderen
kleinen schwächeren Flecke gliohen kleinen Nebeln ohne zentrale
Lichtpunkte, nur mit Helligkeitszunahme gegen die Mitte. Am folgen-
den Abende, den 29. November, war der grofse Fleck mindestens
ebenso hell wie vorher, der kleine glänzende Fleck aber war ver-
schwunden, die beiden anderen waren fast unsichtbar. Von diesem
Tage an war es trübe. Leidergibt Fallows die Position des Kraters
nioht genauer an; man kann aus seiner Ausdrucksweise nur schliefsen
dafs derselbe unweit des Mondrandes gelegen war. Es könnte also
wohl derselbe Aristarch sein, den auch Kater gesehen hatte.
Es erschien gerechtfertigt, die Berichte über diese Wahrneh-
mungen auf dem Monde in solcher Ausführlichkeit und unter möglichst
wortgetreuer Wiedergabe des englischen Ausdrucks hier anzufübren,
denn sie sind in keiner neuen Mondbesohreibung erwähnt und scheinen
überhaupt völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Liest man sie
sorgfältig durch, so kann man in ihnen nur die getreue Schilderung
des Ausbruohes von Mondvulkanen erkennen. Die Nebelflecke sind
Kauch- und Asohenwolken, die über den Kratern sohweben; der darin
aufblitzende Lichtkern ein neuer Ausbruch, die leuchtenden Flecke
ohne umgebenden Nebel eben ausgetretene, noch glühende Lava, die
matten Nebeldecke ohne Lichtkern vielleicht bereits weggewehte
Asohenwolken.
Wären diese Berichte der Philosophical Transactions bekannter
gewesen, so würde der Zweifel an der Kealität der oben geschilderten
kleinen Änderungen auf dem Monde, die durch Ungenauigkeiten der
Zeichnungen zu erklären seien, sich weniger sicher hervorgewagt
haben. Was Herschel, Kater und Fallows gesehen haben und
mit ihrem Namen decken, beruht auf keiner Sinnestäuschung. Die
meisten der berichteten Ausbrüche lassen sioh auf Aristaroh beziehen,
dessen letzte von Menschen beobachtete Tätigkeit somit über 80 Jahre
zurüokliegt. Man könnte dann durch nichts die Annahme rechtfertigen,
dafs 1821 überhaupt der letzte Ausbruch des Vulkans stattgefunden
habe, und es müfste als durohaus möglich bezeichnet werden, dafs diese
oder eine der kommenden Generationen von Erdbewohnern Zeuge
wird, wie von neuem das jugendliche innere Feuer unseres oft für
tot erklärten Trabanten die scheinbar starre, aber vielerorts noch
lockere Kruste durchbricht. Da solche Wahrnehmungen kaum mög-
lich sind, wenn die betreffende Mondgegend Tag hat, so sollte es bei
Beobachtungen am unvollständig erleuobteten Monde zur Regel ge-
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macht werden, auoh den dunklen Mondpartien einen prüfenden Blick
zu sohenken, um testzustellen, ob nicht ein LicbtpUnktchen die Tätig-
keit eines kleinen Vulkans verrät. Die Anfertigung einer genauen
Zeichnung, die Gegenwart von Zeugen, denen nioht gesagt wird, was
sie sehen sollen, ist dann im Falle einer solchen Wahrnehmung die
Hauptsache. Mit dieser Überwachung der dunklen Mondseite fallt
wieder dem Liebhaber der Astronomie ein dankbares Arbeitsgebiet
zu, dankbar insofern, als sioh wissenschaftliche Forschung und
ästhetischer Genufs dabei vereinigen. Denn stets von neuem lohnend
ist ein Blick in das Antlitz des treuen Begleiters der Erde, und um
wie viel mehr, wenn wir hoffen dürfen, die soheinbare Todesstarre
desselben durch neue Lebensregungen durcbbreohen zu Beben.
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T- . ”-^7: .,:j j 1- %. /.cJbj.cg
li«»
Im Reiche des Äolus.
Von Dr. tlfzander Rumpelt -Taormina.
«(Fortsetzung.)
en folgenden Tag benutzte ich - wieder unter Giovanni«
Führung — zu einem Ausflug nach dem Bimssteingebiet im
Norden. Es umfafst etwa ein Drittel der 38 Quadratkilometer
grofeeti Insel. In dem Fischerdorf Canneto, das wir über einen kleinen
P&fs westlich vom Monte Rosa erreichten, suchte ich zunächst das
Kontor der Bimssteinexportfinna Haan (Dresden* auf, an deren Proku-
risten, Herrn Schubert, ich eine Empfehlung hatte. Er empfing mich
als engeren Landsmann sehr liebenswürdig. Aber wie erstaunte ich,
als er mich zwei weiteren Herren aus Chemnitz und Kötzscbenbroda
vorstelltet In diesem abgelegenen Inseldorf drei Sachsen auf einmal!
So sehr ich mich freute, nach langer Zeit die so melodischen Laute
meiner Heimat wieder zu vernehmen, trennte ich mich doch bald, da
ich sah, dttfs die drei Sachsen teils mit mehreren Leuten zu verhandeln,
teils Wichtige« zu schreiben hatten — Verträge, die ein Notar dem
Chemnitzer und einem italienischen Schreiber zugleich diktierte. „Wir
haben eine grofae Sache vor. Ich erklär' es Ihnen später. Sie essen
doch mit uns zu Mittag?“
Das nahm ich dankend an und schritt mit Don Giovanni für-
bafs. Zunächst noch an der weifsen Häuserfront von Canneto den
Strand entlang, auf den sioh weit vorlagernden grauweifsen Bimsstein-
berg, den Monte Pelato zu. Am Ende des Dorfes führt ein ge-
pflasterter Saumpfad steil empor nach dem Weiler Canneto Superiore
und von da in die Fossa binnea. den „weifsen Graben“, ein Tal
zwischen dem Monte Pelato und dem anderen Bimssteinberg, dem
Monte Chirica. Der Eingang des Tales ist „wildromantisch“. Weifse
Wände, mit Ginster bewachsen, fallen rechts und links ab. Sie
gleichen infolge der starken Erosion ein wenig den Sandsteinbildungen
der sächsischen Schweiz. Später weitet sich das Tal, bei einer neuen
stattiichen Kirche präsentiert sich zum ersten Male der mächtige, nach
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272
Süden aufgebroohene Monte Chirica. Auch er soheint von oben bis
unten aus Bimsstein zu bestehen.
Er scheint — in Wahrheit bilden, wie Bergeat in seinem
Werk S. 96 und S. 117 naohgewiesen hat, das Gerüst des Monte Chirioa.
basaltähnliche Baven, das des Monte Pelato alte Obsidianmassen,
welche beide durch den später darauf erflossenen Bimsstein nur ver-
hüllt werden.
Hier nun ist alles grauweifs, wie schmutziger Frühlingsschnee.
Der Pflanzenwuchs an den Abhängen ist sehr kümmerlich. Hingegen
gedeihen im Talboden auf dem ßimssteingrund vorzügliche Reben.
Weiterhin fand ich Kartoffeln, Erbsen und andere Gemüse angebaut.
Die Ursache dieser unerwarteten Fruchtbarkeit schreibe ich der
starken Bewässerung zu, die das ringsum abgeschlossene Tal ermög-
licht. Wenn von den zahllosen ausgewaschenen Rissen und Rillen
der Bergwände das Wasser der langen, ergiebigen Winterregeu nieder-
geht, so ist es leicht, grofse Mengen davon auf die Felder abzu-
leiten. Vermöge seiner Porosität saugt es der Bimssteinboden auf und
bewahrt es lange Zeit nooh in geringer Tiefe.
Schon beim Aufstieg waren uns Männer und Weiber, einmal
ein Zug von aoht Mädoben begegnet, die in Säcken oder Körben
das kostbare Gestein aus den Bergwerken nach Canneto hinunter-
trugen. Den Kopf bedeckt eine kolossale Haube aus grober Lein-
wand, wie eine Kapuzinerkappe geformt. Sie schützt die Augen vor
dem feinen Staub und, tief auf den Rücken niederfallend, schont
sie auch die Kleidung. Bald holten wir drei Kinder ein, als sie
in der gleiohen Tracht, mit leeren Säcken über der Schulter, herauf-
stiegen. Die beiden Schwestern waren elf und neun, der Knabe, ihr
Bruder, gar erst sieben Jahre alL Don Giovanni meinte, duroh das
tägliche Lastentragen in so jungem Alter erhielten die Gestalten etwa»
Krummes und blieben im Wachstum zurück. Mir ist das kaum auf-
gefallen, zum mindesten habe ich hier nicht soloh elend verbogene
und frühwelke Krüppelkinder, ebensowenig bei den Erwachsenen solofi
abgezehrte und hoffnungslose Leidensgesichter wahrgenommon, wie
in den sizilianisohen Schwefelgruben.
Der Betrieb ist beim Bimsstein auch ein völlig anderer. Jeder*,
der hier Grund und Boden hat, schürft danach, sammelt die gefun —
denen Stücke, trocknet sie und verkauft sie dann an die Exporthäuser*
in Canneto. Ein grofses Terrain besitzt die Gemeinde Lipari. Auf ihm
hat jeder Bürger das Recht, den Berg überall anzubohren, wo er nur*
will. Dooh geschieht das nicht unrationell, wie man auf den ersten Bliolc
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anzunehmen geneigt ist, wenn man gleioh den Löchern eines Schwam-
mes die unzähligen Stollen besonders im Monte Pelato sieht, die in
ihn hineingetrieben sind. Gewöhnlich gilt es nämlich erst eine grorse
Schicht tauben Gesteins, wertloser Mischerde zu durchbrechen, ehe
man auf reichhaltige Gänge kommt. So tun sich denn gewöhnlich
zehn bis zwölf Leute zusammen und arbeiten auf Teilung. Oft ge-
winnen sie die ersten Monate kaum das Öl für die Lampe, aber dann
••rzielen sie in kurzer Zeit drei- bis vierhundert Lire.
Und auch die Gemeinde zieht einen erheblichen Nutzen. Sie
hat an den Zugängen des Tales einen Wachtdienst eingeriohtet. Die
Wächter wiegen in ihren Holzhäusohen auf grofsen Wagen jeden Sack,
der davongetragen wird, und stellen die Bescheinigung darüber aus.
Weiter unten kontrolliert ein anderer städtischer Beamter Saok und
Schein, prüft die Qualität und vermerkt sie auf dem Schein. Jeden
Sonntag haben sioh die Träger beim Zolleinnebmer (esattore) zu
melden und die auf sie entfallende Steuer für die letzte Woohe zu
erlegen. Für je hundert Kilo werden im allgemeinen zwei Lire er-
hoben, für die besseren Sorten etwas mehr. Diese Abgabe hat dem
Stadtsäckel früher in den guten Jahren Uber 100 000 Lire eingebracht,
später freilich infolge falscher Spekulationen viel weniger. Die Krise
ist noch nicht beendet, und eben die drei Sachsen unten in Canneto
sind es, die sie einer glücklichen Lösung entgegen zu führen be-
flissen sind.
Als mir Don Giovanni diese Verhältnisse andeutete, wurde mir
nicht nur klar, warum die Stadt Lipari einen so ansehnlichen Wohl-
stand aufweist, sondern auch, warum sie jetzt nicht einmal für die
Fenstersoheiben ihres Schulpalastes das nötige Kleingeld flüssig hat.
Wir stiegen in eine der Bimssteingruben. Ihre Stelle bezeichnen
regelmäfsig eine gröfsere oder kleinere Halde des herausgebrachten
tauben Gesteins und eine Holzhütte, worin Handwerkszeug, Körbe und
der Proviant verwahrt werden. Neben der Hütte führt dann im Winkel
von 46 0 ein Gang in die Erde. Die Stufen, im ganzen 260, waren
niedrig (16 cm) und gut ausgetreten. Nur mufste man sich etwas
büoken, um nioht oben anzustofsen. Wir hatten erst wenige der in
Seitennisohen alle zehn Schritt aufgestellten Lämpchen passiert, da
begegneten uns mit vollen Körben auf dem Nacken Weiber, weifB,
als ob sie aus der Mühle kämen, und Männer, nur mit Hose und
der oben beschriebenen Saokhaube bekleidet. Braunrote, prächtig
gebaute Körper zeigten nicht nur Burschen von vierzehn, sondern
auch ein Mann von sechzig Jahren. In dieser Grube trägt jeder seine
Himmel und Erde. 1904. XVI ». |8
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Last von der Schürfstelle bis ans Tageslicht. In einer nahen gröfseren
mit dreihundert Meter Tiefe, hörte ioh, sind vier Zwischenstationen
eingerichtet, wo die einzelnen Träger sich ablösen. Mühe und Er-
holung wechseln so in angemessener Weise. Man sohont hier eben
die Leute mehr, achtet in ihnen immer nooh den Menschen. An der
tiefsten Stelle unserer Grube, wo eine schöne, breite Ader weifs-
glänzenden Gesteins (je weifser, desto kostbarer) hervortrat, safs ein
Häuer in einer kaum ein und einviertel Meter hohen Höhle und
schlug mit der Hacke von der Decke den Bimsstein los. Von jedem,
auoh nur leichten Hieb fiel ein Block von zwanzig bis dreifsig Kilo
herunter. Das sah etwas gefährlich aus und ist es auch. Denn
manchmal bricht das angrenzende Gestein nach. Verschüttungen
kommen alljährlich vor, und wenn sie unbemerkt bleiben, ist der also
lebendig Begrabene unrettbar dem Erstickungs- oder Hungertode ver-
fallen. Stütz- oder Deckbalken anzubringen, wäre viel zu kostspielig.
Nur zu beiden Seiten und über der Stollenmündung werden ein paar
Mauersteine, Gestänge und Gestrüpp eingefügt, damit das Hegenwasser
nicht eines schönen Tags das ganze Bergwerk zusammenschwemmt.
Wir kauerten uns mit unseren Lainpohen im Halbkreis um den
Häuer herum und sahen eine W'eile seiner Arbeit zu. Die Blöcke
zerfielen meist am Boden schon in mehrere Stücke und liefsen sich
mit den Händen leicht zerbrechen. Ein Häuer arbeitet in dieser un-
angenehmen Stellung (sitzend oder hockend) sechs bis zehn Stunden
täglioh. Länger kann es keiner aushalten, schon infolge der schlechten
Luft. Bei der mangelnden Ventilation dürfen sie ihre Lämpohen nur
mit geruchlosem reinen Olivenöl tränken.
Wir atmeten befreit auf, als wir, weife wie die Müller, endlich
das liebe Himmelslicht wieder begrüfsten, stäubten uns gegenseitig
ab und setzten unsern Marsch zur Fossa delle Roccbe rosse fort.
Von dieser luftigen Warte sieht man auf einen gewaltigen, dunkel-
roten Lavastrom (die roccbe rosse) hernieder. Er ist einst aus dem
geborstenen Krater, dessen höchste südliche Randumwallung heute
der Monte Pelato darstellt, durch den Bimsstein hindurohgebroohen
und bis ins Meer geflossen, wie man deutlich verfolgen kann. Das
Grauweifs des Monte Pelato und das leuchtende Rot der Lava stimmen
köstlich zusammen. Der obere Teil dieses breiten Stromes ist bereits
bewachsen und trägt da, wo der Bimsstein ihn überkleidet, sogar einige
Felder, Weingärten und die Häuser des dürftigen Örtchens Castagna.
Den gröfsten Gegensatz bietet der Blick naoh der anderen Seite dem
Meere zu, auf die Abhänge des Monte Chirica. Eine grofse, weifse
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Wüste. Weiter unten, wo der Ginster schon Fufs gefafst hat, nehmen
sich dazwischen die vegetationslosen Flächen aus wie riesige Linnen,
zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet. Merkwürdig fielen mir mitten
in dieser durchaus hellfarbigen Umgebung die zahlreichen Stücke
glasigen, pechschwarzen Obsidians auf, die in den Felsen eingesprengt
waren oder auch lose auf dem Wege herumlagen. loh las einige auf,
das schönste ziert nooh heute meinen Schreibtisoh.
Köstlich von diesem Punkt ist aber auch die Aussioht in die
Ferne, auf die westlichen und nördliohen Inseln. Nach dem Strom*
boli vor allem mufste ich immer wieder hinüberschauen. Starr, un-
gegliedert lag dies eigenartige Schattenbild über den Wassern. Trotz
der grofsen Entfernung beobachtete ich genau, wie es zuerst eine
dicke Wolkenhaube trug, die der Wind alsbald wegfegte. Dann er-
neuerte sich der Qualm — wohl das Zeichen, dafs wieder eine Erup-
tion stattgefunden hatte. Ein unheimlicher Geselle, dieser Stromboli.
■Hingegen das nahe, freundliche Salina! Mit seinem herüberleuchtenden
Städtchen SaDta Marina, seinen überall verstreuten Bauernhäuschen,
seinen reichen Malvasier - Pflanzungen bis weit hinauf zum sonnig-
strahlenden Gipfel ersohien es mir die Verkörperung eines uralten
Ideales der Menschheit, eine von den glücklichen Inseln.
Vater Helios halte schon den Zenith erklommen. Herrlich duftete
in der Fossa bianca der goldene Ginster, umsummt von honigsuohen-
den Bienen, als wir nach einein letzten Blick in die Runde nach
Canneto zurüokwanderten.
• •
Im Kontor wurden noch immer Verträge diktiert. Herr Schubert
klärte mioh bald darübor auf:
„Meine Firma erstrebt das Bimssteinmonopol der ganzen Welt
und will zunächst auf zwanzig Jahre das Abbaurecht des gesamten
Bimssteins auf der Insel pachten. Mit der Gemeinde habe ich schon
abgeschlossen. Sie erhält 65 000 Lire jährlich, ohne dafür den kleinen
■Finger zu rühren. Sie ist gern darauf eingegangen; denn sie erzielte
in den letzten Jahren infolge früherer Überproduktion so gut wie
nichts. Auoh mit etwa neunzig Grundbesitzern sind wir im reinen;
das war ziemlioh schwierig, weil die Leute meist niobt lesen und
schreiben können und sehr mifstrauisoh sind. Dazu die Verhandlungen
im Inseldialekt, den ich allerdings leidlich beherrsche. Alle Grund-
stücke mufsten ausgemessen, der Boden auf Qualität und Quantität
des Bimssteins untersucht und begutachtet werden. Von diesen neun-
18*
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zig Privaten bekommt der eine dreihundert, der andere fünfhundert
Lire jährlich; ee sind aber auoh gröfsere Besitzer dabei, denen wir
dreitausend, fünftausend, ja zehntausend Lire Paoht zahlen. Jeder
will natürlich soviel als moglioh herausschlagen. Nun gilt es noch
mit etwa zwanzig abzuschliefsen — noch drei Woohen schwere Arbeit.
Dann können wir der ganzen Welt die Preise diktieren.“
„Wird denn nirgends sonst auf dem ganzen Erdball Bimsstein
gefunden? “
„Nur noch auf Teneriffa. Der Teneriffa-pumioe ist leichter, aber
nicht so weifs, auoh rauher und sohärfer als der hiesige und weit
poröser, hat also ein viel beschränkteres Absatzgebiet. Wir fürohten
die Konkurrenz nicht.“
„Wird die Überwachung nicht sehr schwierig und kostspielig sein?“
„Wir werden natürlich Kontroll beamte anstellen. Ich kenne
hier durch langjährigen Aufenthalt so ziemlioh jeden, werde mir die
zuverlässigsten auasuohen und sie gut bezahlen. 8ie werden in der
Hauptsaohe aber nur die Ausfuhr überwachen. So wird’s einfacher.
Die ganze Ausfuhr liegt in unseren Händen. Wer dabei betroffen
wird, dafs er ohne unser Wissen und Auftrag das kleinste Stuok
Bimsstein verlädt, ist sohon als Schuldiger entlarvt.“
Ich konnte .nioht umhin, den erst 27 jährigen, ziemlioh kleinen
und zarten Herrn, der mir das alles mit geschäftsmäfsiger Ruhe aus-
einandersetzte, zu bewundern. Welche Energie in der Überwindung
aller erdenklichen Schwierigkeiten und Hindernisse, was für eine diplo-
matische Begabung gehörte dazu, dieses Unternehmen zum glücklichen
Ende zu führen! Und welche Umsicht und Berücksichtigung aller
möglichen wichtigen Umstände hatte, ehe man überhaupt den ersten
Sohritt tun konnte, das kaufmännische Kalkül erfordert! Hier handelte
es sich um Hunderttausende, die jährlich gewonnen, aber auch — ver-
loren werden konnten, wie denn eine von den Insulanern vor einigen
Jahren mit der gleichen Absicht gegründete Gesellschaft „Eolia“ nach
zwei Jahren bereits in Konkurs verfallen war, da sie es nioht erreicht
hatte, sämtlichen Bimsstein in ihrer Hand zu vereinigen und so den
Wettbewerb von vornherein zu ersticken.*)
•) Ich habe dieser Angelegenheit mehr Worte gewidmet, als ihr in einer
wissenschaftlichen Zeitschrift vielleicht zu gebühren scheint. Aber ich halle
das Bimssteinmonopoi der Firma Haan in Dresden für ein geradezu glänzen-
des Beispiel deutscher Unternehmungslust im Auslande, das wohl auch weitere
Kreise interessieren dürfte, und zugleich für einen erfreulichen Beweis, wie der
deutsche Kaufmann Dinge, die früher nur die Engländer fertig brachten, jetzt
auch zu bewältigen verstoht.
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Nach der gemeinsamen Tafel führte mich Herr Schubert in
die Magazine und Arbeitsräume.
In grofsen Baracken lag das grauweifse Mineral bis an die Deoke
aufgeechichtet. Etwa ein Dutzend Mädchen und Frauen safeen herum
und feilten faustgrofse Stücke. Die so von erdigen Bestandteilen be-
freiten Stücke bewerten sich ungefähr um % höher als die unge-
reinigten. Die Preise zeigen eine grofse Verschiedenheit, wie folgende
Tabelle ausweist; ein Quintale = hundert Kilogramm kosten von:
Parapara Frasca, unbearbeitetes Mittelgut . . 20, — Lire
Limata nera, schwärzlicher, gefeilter Bimsstein 19, — „
Limata dubiosa, desgl. halbweifs- halbschwarz 27, — „
Limata bianca, desgl. weifs 40, — „
Limata fina, desgl. Auslese 70, — „
Pezzame, Abfälle, Aussohufs 1,40 „
Hingegen:
Fiore, Blume, d. h. Auslese besonders leichter
und weifaer Qualität 250, —
Primo Fiore, beste Qualität 400,— , „
Diese letzten edelsten Sorten, die z. B. zum Schleifen von Violin-
saiten dienen, werden sorgfältig in Kisten in Holzwolle verpackt, das
Mittelgut in Tonnen. Fünf Böttcher und ebensoviele Tischler arbeiten be-
ständig nur für das „imballagio“. Das Pezzame aber geht in die Mühle.
Eine solche Bimssteinmühle ist sehr sehenswert Die Stücke
werden in einen grofsen Holztriohter geschüttet. Oben sitzt ein
Knabe, der sie in kleinen Portionen nacheinander in die Öffnung
sobiebt, durch welche sie zwischen die Mühlsteine fallen. Das Mehl
rinnt in Körbe. Die vollen Körbe werden zu den Trockenöfen ge-
tragen, wo unter langsamem Kohlenfeuer auf eisernen Rosten das
Mehl trocknet, beständig mit eisernen Haken hin und hergerührt.
Von den Rosten geht es durch Röhren in die Buratti, grofse acht-
seitige Holzbehälter. In ihnen wirbelt eine spiralförmige Eisenstange
das Bimssteinmehl durcheinander und wirft es gegen verschiedene
Drahtsiebe. Durch das erste geht das feinste, durch das letzte das
gröbste Mehl durch und fällt in unten befestigte 8ücke. Ist ein Saok
gefüllt, so wird er zugeschnürt und ist dann versandfertig. Das
feinste Mehl mit einem Korn von etwa 1 / j 0 mm brauchen die Waohs-
tuchfabriken und Glasschleifereien.
Zum Feilen des geringeren Materials bedient man sich auch
eiserner Trommeln, die gedreht werden. Durch kleine Löcher fällt
der Staub, der sich durch die Reibung ablöst, heraus.
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Als wir später unter der Pergola vor dem Kontor bei einer guten
Zigarre safsen, mit dem Blick auf das weite Meer und den mächtig
qualmenden Stromboli, kamen immer noch Männer und Weiber mit
den schweren Lasten von den Gruben her, an uns vorüber, schweifs-
triefend, völlig erschöpft. Und selbst die Kinder von vier Jahren
suchen aus fröhlichem Spiel ein ernstes Geschäft zu machen. Auch
sie arbeiten schon in der Bimssteinbranche mit, indem sie, wie ich
bemerkte, mit Holzstäbchen den Ufersand durchstochern und kleine
Stücke, die Straquature, d. h. was das Meer auswirft, herauswühlen.
Für einen Korb von vierzig Kilo bekommen sie in der Mühle eine
halbe Lira (40 Pf.). Nicht viel, aber es hilft der Familie mit wirt-
schaften.
Alles nährt sich von den Schätzen der weifsen Berge, der „mon-
tagna d’oro“, wie sie im Volksmunde heifsen.
Hier liegt das Gold tatsächlich auf der Strafse. Glücklich, wer
einen Bimssteinhügel auf Lipari sein eigen nennt, aber womöglich
mit — primo flore
(Fortsetzung folgt.)
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Neuere Forschungen über Gehirn und Bewufstsein.
Von Rdaard Knkal. Berlin -Charlottenburg
ir sind in der Werkstätte des Mikroskopikere. Eine graue
Masse, an die sieh ein fein geädertes, von roten Strängen durch-
zogenes Spinngewebe eng ansehmiegt, liegt vor uns. Es ist
das Gehirn mit seinen Hüllen. Diese weiche, nach allen Riobtuugen
von Beichten und tiefen Furchen durchzogene Masse ist also der Sitz
der psyichischen Funktionen, der Herd des Gebens und Empfindens,
das Schlachtfeld aller Instinkte und Leidenschaften. Während überall
sonst die anatomische Untersuchung i häufig schon der flüchtige An-
blick eines Organes) uns Aufschlufs über seine Funktion zu erteilen
vermag, läfst sie uns hier ratlos im Stiche. Es ist dies leicht zu be-
greifen. Jedwede andere Organtätigkeit besteht (allgemein gesagt)
in Bewegung, sei es griirserer Massen, sei es kleinster Teilchen oder
endlich der ohemischen Atome, sin knüpft an die sinnliche Wahr-
nehmung an, Ursache und Wirkung sind Oröfsen gleicher Ordnung.
Hier ist nichts dergleichen zu finden. Mit fieberhafter Neugierde
pochen wir an das geheimnisvolle Tor, wo wir das Wesen unseres
Ich zu finden hollen. Es gibt nach, und was uns entgegenblickt, ist
das wohlbekannte Alltagsgesicht, da wir den innersten Kern zu
erfassen strebten. Es ist, um ein Bild Th. Fechners zu gebrauchen,
als wären wir in einen Kreis gebannt, dessen Aufaen- und Innenseite
uns einzeln zugänglich sind, aber niemals gleichzeilig übersehen
werden können. Wir können mühselig und langsam den physio-
logischen Vorgängen im Gehirn nachforschen, — nichts ist uns
leiohter zugänglich und wohl vertrauter als unser eigenes Seelen-
leben; als Übergang zwischen beiden jedoch klafft ein jäher Abgrund
duroh alle Gebiete unseres Wissens, und weder die Phantasien der
Naturphilosophie noch die Erfahrungen und Schlüsse der Wissen-
schaft vermögen bis jetzt eine Brücke über ihn zu schlagen.
Vor mehr als hundert Jahren, erzählt uns Professor Edinger
in einer kürzlich erschienenen vortrefflichen Abhandlung unter dem
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Titel „Hirnanatomie und Psychologie", erschien in Königsberg,
„unserem Kant" gewidmet, ein kleines Buch über „das Organ der
Seele“. — Der Besten einer aus damaliger Zeit, Samuel Thomas
Sömmering, zeigte darin, dafs eigentlich für den Sitz des „Sensorium
commune“, worunter er im wesentlichen Bewufstsein, Intelligenz etc.
versteht, nur ein einziger Teil des Gehirns in Frage kommen könnte,
die Flüssigkeit nämlich, welche die Hirnventrikel erfüllt. Nur sie
vermöge die letzten Elnden der Hirnnerven, welche Sömmering bis
in die Ventrikelwände verfolgt hatte, untereinander in Beziehung zu
bringen, sie allein kann daher die Vermittelung unter den mannig-
fachen, dem Organismus zugeleiteten Eindrücken übernehmen, um
sie zu einem Ganzen zu verbinden. In gelehrter und oft überaus
geistreicher Weise wird dieser Satz zu beweisen gesucht, und schliefs-
lich wird gezeigt, wie diese Annahme alle Bedingungen erfüllt, welche
von den Gelehrten des Jahrhunderts für das Organ des „gemeinsamen
Sensoriums“ erfordert worden waren.
Diese Sömin eringsohe Hypothese ist nur ein letzter Ausläufer
der langen lieihe von Hypothesen, die während des ganzen achtzehnten
Jahrhunderts die Gelehrten beschäftigt haben. Erst seit den Unter-
suchungen von Flourens bewegen sioh die Forschungen über den
Sitz der Seelentätigkeiten in einer anderen Dichtung. Flourens hat
zuerst den Satz ausgesprochen, dafs Gedächtnis, Wille. Bewufstsein
an die Hemisphären geknüpft Beien. Bald nachher hat die Ent-
deckung der Sprachzentren durch Broca (Paris) und die grofse Ent-
deckung Hitzigs und Fritschs (Berlin) von der Lokalisation zahl-
reicher anderen Fähigkeiten im Grofshirn die Mehrzahl der Forscher
im wesentlichen zu der Ansicht gebracht, dafs die sogenannten
höheren Seelenlätigkeiten an die Grofshirnrinde gebunden sein müfsten.
In dem von Flechsig neuerdings ausgebauten System hat dann diese
Ansicht die ausführlichste Durcharbeitung und Begründung erfahren.
Für Flechsig besteht der ganze Grofshirnmantel aus einer Anzahl
von Zentren. Die ausgedehntesten derselben sollen diejenigen sein,
welche, nicht direkt mit Sinnesapparaten in Verbindung stehend, im
wesentlichen mächtige Assoziationsapparate sind. Über vierzig
Einzelgebiete der Hirnrinde kann Flechsig entwiekelungsge-
schiohtlich heute abscheiden; kaum der vierte Teil davon war den
anderen vor ihm bekannt. Allerdings sind die Fleohsigschen An-
gaben heute noch keineswegs allgemein akzeptiert, vielmehr besteht
noch eine lebhaft geführte Diskussion einesteils über seine Angabe,
dafs es anatomisch unterscheidbare Sinnes- und Assoziations-
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Zentren gebe, und anderseits über die Verwertung, die Flechsig
seinen entwickelungsgeschichtlich nachweisbaren Territorien für die
Gesamtauffassung des psychischen Geschehens gibt.
Dieser Riesenbau der anatomisoh-physiologischen Forschung ist
ein wahrer Babelbau der Erkenntnis, die von den materiellen
Grundlagen des Nervensystems zu den Höhen der psychischen Vor-
gänge zu gelangen suoht. Immer wieder hat man den Versuch
gemacht, die physiopsyohologisohe Entwiokelungsreihe im Tierreiche
durchzudenken und die ersten Regungen des Bewufstseins bis
in frühe Tierstufen zurückzu verfolgen.
Immer wieder ist man aber an einen Punkt gestofsen, der zu-
nächst ein Halt gebot. Wir haben keine Ahnung davon, welohes
die Elementarbedingungen dafür sind, dafs ein Teil der vom
Nervensystem geleisteten Arbeit dem „Träger“ bewufst
werde, und wir wissen nicht, ob das psychische Geschehen als
äquivalente Energieform in das Räderwerk des Organismus
eingreifen kann oder nur eine ohnmächtige Parall elersoheinung,
ein „Epiphänomen“ der physiologischen Gehirnvorgänge darstellt.
Diese Frage ist bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft
nicht spruchreif und dürfte es kaum in absehbarer Zeit sein. An
ihre Stelle setzt daher Edinger eine viel bescheidenere Frage,
welche dafür den nioht zu untersohätzenden Vorteil darbietet, lösbar
zu sein. Sie lautet: Wie weit können wir die Handlungen
und das gesamte Wesen eines Tieres aus der Kenntnis der
anatomischen Grundlagen und ihrer Eigenschaften heraus
erklären?
In der oben erwähnten meisterhaften Abhandlung setzt es sich
Edinger zum Ziele, naohzuweisen, wie weit wir, von den frühesten
Daseinsformen des Tierreiches ausgehend, in der Erklärung und dem
Verständnis der tierischen Bewegungen gelangen können, ohne
die Hypothese eines tierisohen Bewufstseins zu Hilfe zu
nehmen. Wir besitzen kein scharfes, unmittelbares Kriterium für
das erste „Erwachen des Bewufstseins“ in der Natur, da wir
das Vorhandensein desselben doch immer nur aus der Analogie der
tierischen Handlungen zu unseren eigenen erschliefsen können.
„Eine Vielheit der bestimmenden Motive bewegt uns in der
Annahme eines bewufsten Willens, einfache und eindeutig
bestimmende Motive lassen uns auf einen vorgebildeten
Mechanismus schliefsen,“ hat bereits Meynert in klassischer
Weise ausgesprochen. Die Edingersche Methode bildet demnaoh
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eine willkommene Ergänzung zu der sonst üblichen Betrachtungs-
weise; wie bei Tunnelbauten kann auch hier der wissen-
schaftliche Pfad von zwei verschiedenen Kichtungen her
angebahnt werden, und sohon hören die Arbeiter auf der
einen Seite die rüstigen Hammerschläge der anderen Schar,
mit der sie sich über kurz oder lang vereinigen müssen. —
Von verschiedenen Erscheinungen, welche an niederen Tieren
beobachtet werden und die zunächst durchaus den Charakter freier
VVillenshandlungen tragen, ist in letzter Zeit nachgewiesen worden,
dafs sie sich als direkt abhängig von chemischen und physikalischen
Kräften darstellen lassen. Sie treten, wenn die gleichen Ver-
hältnisse hergestellt werden, mit dergleichen Gesetzmäfsig-
keit auf, wie etwa die Eisen feilspäne in Bewegung ge-
raten, wenn ein Magnet sich nähert. Da es sich allemal um
Bewegungen handelt, deren Richtung beliebig duroh Ansetzung der
betreffenden Kräfte beeinflufst werden kann, so treffen die Namen
Elektrotropismus, Heliotropismus, Geotropismus, Chemotropis-
mus u. s. w. ziemtioh gut das Wesen des Vorganges. Die Er-
scheinungen der „Tropismen“ sind namentlich durch Engelmann,
Löb und Verworn trefflich beschrieben und untersucht worden.
Wir wissen jetzt, dafs das Licht, die Wärme, der elektrische Strom,
die Schwerkraft u. s. w. niedere Tiere ganz ebenso beeinflussen, wie
das von Pfeffer und anderen für die Pflanzen nachgewiesen worden
ist. Noch vor zwanzig Jahren durfte Bunge in der Einleitung seiner
physiologischen Chemie es als einen Beweis dafür anführen, wie weit
hinab in die Tierreihe psychische Kräfte reichen, wenn ein Infusorium,
die Vampyrella, unter einem Gemisch von Algen nur eine, die
Spirogyra aufsuoht und anbohrt. Heute wissen wir, dafs eine ganze
Anzahl chemischer Körper Pflanzenkeime und niedere Tiere direkt
an sich heranziehen oder von sich abstofsen, und wir wissen, dafs
bestimmte Pflanzen eben bestimmte solcher Körper abscheiden. Der
ganze Vorgang wird, wenn auch nicht eigentlich verständlich, so
doch durchsichtig, und es wird nicht notwendig, dem Infusorium ein
bestimmtes Untersoheidungsvermögen zuzuerteilen. Löb hat in geist-
reicher Weise diese „Tropismen“ benutzt, die Tiere zu absolut un-
zweokmäfsigen oder für sie verderblichen Handlungen zu zwingen.
Röhrenwürmer zum Beispiel zwängen sich unter allen Umständen in
vorhandene Öffnungen, sie gehen selbst in hell belichtete Glasröhren,
in denen sie unfehlbar absterben müssen, weil der Zwang gröfser ist
als die hindernde Kraft des Lichtes. Die Tropismen sind an zahl-
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reichen Beispielen gut studiert, auch ist wie in dem vorgenannten
Beispiele mehrfach das Verhältnis der einzelnen, auf ein Tier gleich-
zeitig einwirkenden Kräfte zu dem Tiere selbst genauer erforscht
Andere anscheinend überaus überlegt zweckmäfsige Handlungen
niederer Tiere liefsen sich direkt nachmachen. So bauten künstliche
Amöben, die Kutnblex aus Chloroformtropfen und anderem dar-
gestellt hatte. Häuser aus Quarzkörnchen ganz ähnlich, ja ganz
gleich wie ähnliche lebende Tiere; sie umflossen ebenso
wie diese vorgelegte kleine Fremdkörper, wenn diese von
bestimmter, zu ihrer chemischen Konstitution passen der Be-
schaffenheit waren, nahmen sie in sich auf und lösten sie,
ganz wie wirkliche Tiere. Wie niemand daran denken wird,
diesen Automaten Verstand zuzuschreiben, so liegt auch bis jetzt kein
zwingender Anlafs vor, die gleichen Handlungen, wenn niedere Tiere
sie vollziehen, auf etwas anderes als auf deren Bau und seine Eigen-
schaften zurückzuführen.
Die Untersuchungen von Löb, Friedländer, Bethe, von
Preyer und von v. Uexküll haben in vieler Beziehung neue Wege
eröffnet und neue Anschauungen ungebahnt. Wir haben erfahren,
dafs durch bestimmte Reize in absolut sicherer Weise be-
stimmte Reflexbogen in Tätigkeit gebracht werden können,
dafs zum Beispiel der chemische Reiz der Nahrung direkt die Mund-
teile in entsprechende Bewegung setzt. Selbst dann, wenn iler Kopf
vom Oesamttiere abgetrennt ist, saugt zum Beispiel der Bienenrüssel
Honig ein. Andere Reize veranlassen das Kopfende zum Einleiten
einer Vorwärtsbewegung, und diese können so kräftig wirken, dafs
sie zu absolut unzweckmäfsigcm Handeln führen. So zerreifst zum
Beispiel eine Planarie, der man künstlich zwei Köpfe erzeugt
hat (Löb), beim Vorankriechen manchmal den ganzen Rumpf in zwei
Stücke, weil jedes Kopfende einzeln vorauseilt. Wenn man zwei
Arme eines Seesternes (Preyer) mühevoll in eine enge Flasohe
drückt, so zwängt sich, ihnen folgend, nachher das ganze Tier in
den Kaum, wo es elend zu Grunde gehen mufs. Das abgeschnittene
Kopfende eines Sandbohrwurmes beginnt sofort Bohrbewegungen,
wenn es auf dem Objektträger mit feinem Sande bestreut wird, und
der Bienenstachel sticht, wenn das auf dem Objektträger liegende
abgeschnittene Hinterleibende des Tieres berührt wird. Ein konstanter
Reiz, nicht etwa Rache, Zorn oder Verteidigungstrieb, löst hier die
leicht zu mifsdeutende Handlung aus. Solcher Einzelreflexe, deren
Apparat sich gelegentlich ohne Schaden vom Gesamttiere trennen läfst
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sind bereits viele bekannt, und für einzelne Tiere, zum Beispiel für
Caroinus maenas, den Bethe genau untersucht hat, aber auch für
andere Krebse und rnanohe Würmer (Lob) ist es gelungen, fast das
ganze Verhalten des Tieres auf Einzelleistungen von Apparaten zurück-
zuführen, die anatomisch gut bekannt sind.
In den meisten Fällen aber kommt es bekanntlich zu einem
Gesamtnervensystem, dem die einzelnen Apparate auf- oder einge-
lagert sind. Schon kennen wir auch einzelne soloher Systeme ge-
nauer, und schon können wir uns auf Grund unserer Kenntnisse
vorstellen, wie etwa das Fortkrieohen eines Wurmes auf einen be-
stimmten Reiz hin zustande kommt, wie der Mechanismus ist, der
jetzt den Vorderabschnitt und dann geordnet weiter hinten liegende
Teile in koordinierte Bewegung bringt. Zuweilen erhalten sich neben
einem relativ unbedeutenden Gesamtnervensystem die peripher liegen-
den Reflexapparate in grofser Selbständigkeit. So haben die Unter-
suchungen von v. Uexküll gezeigt, dafs die ganze Oberfläche der
Seeigel mit den mannigfachsten Apparaten bedeckt ist, welche, ganz
odor bis zu gewissem Grade selbständig arbeitend dem Gesarattiere
die Nahrung zuführen, es putzen, es in geordneter Weise vom Platze
bewegen. Ein Hund, heifst es bei diesem Autor, bewegt seine Beine
beim Gehen, der Seeigel wird von seinen Bewegungsapparaten fort-
bewegt. Der Name .Reflexrepublik“, den v. Uexküll der-
artigen Anordnungen gegeben hat, ist durchaus treffend.
Zahlreiche von den Physiologen gemachte Erfahrungen über die
Reflexe wurden durch solohe Forschungen erst anatomisch verständ-
lich. Eine derselben ist besonders geeignet, zu zeigen, wie die nüch-
terne Untersuchung Vorstellungen, die vom rein menschlichen Stand-
punkte aus sich entwickelt haben, zu korrigieren vermag. Bekannt-
lich umarmen im Frühjahre die Frösche .liebend“ ihre Weibchen.
„Keine Macht“, heifst es diesbezüglich in einem modernen
Werke, „vermag die Liebenden zu trennen . . . „ sie lassen sich, ein
schönes Beispiel lur den Menschen, lieber zerstückeln, al6 dafs sie
die Geliebte losliefsen“. Versuche, die bereits Goltz angestellt hat,
haben nun gezeigt, dafs in der Begattungszeit die Haut des Weib-
chens, auch des toten, ja des mit Ovarien ausgestopflen toten Männchens
den Umklammerungsreflux auslöst, sobald sie mit der Innenseite der
Froschpfoten in Berührung gebracht wird. Man kann den Frosch,
von hinten nach vorn gebend, bis zum Halsmarke zerstückeln, ohne
dafs er losläfst, oder man kann ihn, vom Kopfe rüokwärts sohreitend,
ebenso verletzen — das Resultat bleibt das gleiche. Der Ring,
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welcher vom Halsmarke und den beiden Armen gebildet
wird, ganz losgelöst vom Gesamttiere, verhält sich noch
immer wie der „liebende Frosoh“; wenn nur jemand die Annahme
machte, dafs das Bewufstsein für diese Handlung eben ira Halsmarke
okalisiert sei, so data der Versuoh gar nichts für die rein mechanische
Natur der Umarmungen bewiese, so müfste er, wie Edinger mit
Recht betont, dooh erst irgendeinen Beweis für seine Behauptung
erbringen. -Für den unbefangenen Beobachter genügt so lange die
einfachere Annahme, bis nicht Erscheinungen entdeckt werden,
welohe durch sie nicht erklärbar sind.
Man wird zugeben müssen, dafs auoh diese anscheinend „un-
psychologische" Betrachtungsweise der Seelenäusserungen der Tiere
zu Resultaten führt, die zur Vereinfachung und Klarstellung eigent-
lich psychologischer Probleme herangezogen werden können. Auf
diesem Wege wird man zu einem Punkte kommen, wo die
Annahme eines Bewufstseins notwendig wi rd, aber zweifellos
rüokt dieser Punkt immer weiter hinaus, und klärt sich die Frage-
stellung bei solchem Vorgehen ständig. Erst dann, wenn wir ohne
Annahme eines Bewufstseins einzelne Handlungen nicht mehr zu er-
klären vermögen, erst dann wird die Zeit gekommen sein, wo man
dem näher zu präzisierenden und heute nooh halb mystischen Problem
des Bewufstseins wieder abwärts in der Reihe der Tiere wird nacb-
gehen können. Ein ganz neues Arbeitsgebiet mit präziser Frage-
stellung erschliefst sioh hier vorläufig dem rastlos strebenden For-
schergeiste. Der Tag wird kommen, wo die beidon heute
getrennten Riohtungen der gleiohen Wissenschaft vereint
an die Lösung der höheren Probleme herantreten werden.
Anmerkung der Redaktion. Die Fortsetzung des Aufsatzes: „Der Acker-
boden und seine Geschichte“ erfolgt im nächsten Heft.
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Fixierte Klangschwingungen.
Chladni hat als erster duroh Aufstreuen von Sand auf klingende
Olas- oder Melallplatten die Schwingungsformen tönender Körper für
verschiedene Tonhöhen nachgewiesen. Auf alle denkenden Menschen
mufs der primitive Chladnische Versuch, den ein jeder in der Urania
selbst anstellen kann, einen tiefen Eindruck machen. Da ist ein ein-
faches Stück Messingblech: man streicht es mit einem Bogen und ver-
setzt es so in Schwingungen. Durch Veränderung der Streichart wird
der Ton ein anderer, aber kein Auge sieht etwas von den mysteriösen
Vorgängen in der Platte. Ua verraten plötzlioh die hüpfenden,
tanzenden Sandkörnchen das ganze Geheimnis und gewähren einen
Einbliok in einen Vorgang von wunderbarer und vollkommener Art.
Unsere Phantasie vermag ihn sich nicht zarter und feiner vorzustellen.
Nach Chladni haben andere Physiker ähnliche Methoden zur Sicht-
barmachung von Tönen benutzt, z. B. Kundt, indem er feinen Lyko-
podiumstaub in tönende Glasröhren einsohlofs. Die Staubteilchen
wirbeln an den Stellen stärkster Bewegung empor, bleiben an den
Ruhepunkten liegen und zeigen so dem erstaunten Auge das Vor-
handensein stehender Wellengebilde. Wo das Staubverfahren versagt,
mufs die manometrische im Takt der Sohallsohwingungen hüpfende
Flamme und der Drehspiegel herhalten, um die Schwingungen zu er-
kennen und zu messen. Allersubtilste Vorgänge werden mit dem
Mikroskop verfolgt, so z. B. in der von uns früher schon beschrie-
benen Camera acustica des Physikers Richard Ewald, ln diesem
relativ einfachen Apparat, der fast in allen Teilen dem menschlichen
Ohr nachgebildet ist, fällt ein Lichtstrahl auf eine Kautschukmembran
von außerordentlich geringen Abmessungen, wird von dort reflektiert
und gelangt schließlich durch ein Mikroskop in das Auge des Be-
schauers. Hier werden die feinsten Schwingungen der Membrane
sichtbar oder lassen sich auf einer rotierenden photographischen Platte
fixieren. Photographierte Vokale sind heute gar nichts Seltenes mehr.
Aber so vollkommen und erstaunlich alle diese Apparate sein mögen
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einen Fohler haben sie samt und sonders: Uie in ihnen hin- und her-
schwingenden Teile besitzen eine Masse und daher auch eine gewisse
Trägheit. Den allerfeinsten Oberschwingungen, wie sie ira Klang-
zauber der menschlichen Stimme vorhanden sind, vermögen sie nicht
mehr zu folgen. In neuerer Zeit sind jedoch gewichtlose Systeme
mit grofsem Erfolg zur Anwendung gelangt. So konnte z. B. ein
Kathodenstrahi, desseu Masse praktisch gleich Null gesetzt werden
darf, akustisch beeinllufst und zur Aufzeichnung seiner Bahn auf einer
photographischen Platte genötigt werden. Auoh kann man nunmehr
Schallschwingungen ohne das grobe Mittel sichtbar bewegter Masse-
teilchen für das Auge erkenntlich maohen. So hat Moritz Weerth,
wie wir in den Annalen der Physik lesen, ganz neuerdings den Vor-
gang an der Schneide einer Orgelpfeife auf höchst eigenartige und
sinnreiche Weise verfolgt Er macht den duroh die Pfeife gehenden
Luftstrom mit Tabaksqualm sichtbar und beobachtet ihn in intermit-
tierendem Licht, d. h. bei einer Reihenfolge von Lichtstöfsen, deren
Tempo dem der Schallschwingungen angenähert gleich ist Infolge
einer optischen Täuschung wird dann der Schwingungsvorgang so
weit verlangsamt, dafs man ihn bequem studieren kann. Wirklioh
gewähren die Weerthschen Resultate einen ganz eigenartigen und
neuen Einblick in die Mechanik der Pfeifentöne. Der aus dem Spalt
gegen die Schneide dringende Luftstrom benimmt sich genau so, als
wäre er ein Metallziingelchen. Er schlägt bald nach aufsen, bald
naoh innen an der Schneide vorbei und bildet so eine lange Kette
einander aufsen und innen in verschobener Symmetrie gegenüber-
stehender Luftwülste. Diese Art der Untersuchung des Unsichtbaren
dürfte nooh viele Früchte tragen. D.
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Brauns, H. : Das Mineralreich. 1. Lieferung. Stuttgart, F. Lehmann. 1903.
Wenn die anderen Lieferungen der ersten entsprechen, so mufs das
Brauneeche Tafelwerk eine hervorragende Publikation werden. Jeder Freund
der Geologie sollte sich damit bekannt machen. Die Reproduktionen, gröfsten-
teils koloriert, sind hervorragend gut; der kurze, erklärende Text in bestem
Sinne populär. Die vorliegende erste Lieferung enthält Abbildungen vom
Rauchtopas, Turmalin, Gold, Platin u. a. nebst den zugehörigen Beschreibungen
und Definitionen. Später wird dem Ganzen eine Einleitung über die Form,
sowie die chemischen und physikalischen Eigenschaften der dargestellten
Minerale voraugehen. Wir behalten uns vor, dem Prachtwerk, sobald es voll-
ständig erschienen ist, eine ausführliche Besprechung zu widmen. Schon jetzt
glauben wir es jedoch zur Anschaffung bestens empfehlen zu können. Der
Name des Verfassers bürgt für die Güte. B. D.
Verleg: Hermann Pustel ln Berlin. — Druck: Wilhelm Gronau’* Buchdrucker#! in Berlin ~8eh6seberg.
Pfir die Bedaetiem verantwortlich : Dr. P. Sehwahn In Berlin.
Unberechtigter Nachdruck au* dem Inhalt dleaer Zeitschrift untersagt,
übersetxuafirecht Vorbehalten.
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Fig. 10. Vergleichsaufnahmen mit Radium- und Röntgenstrahlen.
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Radium.
Von Dr. B. Donath in Berlin.
V ortrag,
gehalten in der Urania am 30. Januar I904.1)
-'tytfior uns *'eS* e'n höchst unscheinbares Pulver. Es ist nur sehr
jUv'o wenig, etwa 10 Milligramm; eine gewöhnliche Wage vermöchte
es gar nicht nachzuweisen. Auch würde niemand zögern, es
mit dem Tuche hinwegzuwischen, wenn es ihm zufällig irgendwo be-
gegnete, so unscheinbar sieht es aus. Aber der Physiker hütet diese
wenigen Stäubchen wie sein Auge, er bettet sie in eine blanke Messing-
hülse, legt diese in ein Etui und vergilbt nie, letzteres sorgfältig ein-
zuschliefsen, wenn er das Laboratorium verläfst. Das Pulver ist
Radium; ein einziges Gramm von ihm kostet 12 000 Mark, in aller-
reinster Form sogar neuerdings bis zu 100 000 Mark.
Was rechtfertigt nur diesen unglaublichen Preis, der den des
Goldes, des Platins, des Diamanten weit hinter sich zurückläfst?
Warum bezahlt man ihn ohne Murren und ist froh, wenn man
überhaupt etwas von der Substanz erhält? Ist denn das Radium etwa
der Stein der Weisen, ist es der Zauberring, um den der kundige
Magier im Märchen sein ganzes Vermögen anbot? Beides nicht; aber
etwas ist es doch; ein wissenschaftliches Rätsel in mancher Hinsicht.
Wir wollen sehen, was es mit diesem Radiumrätsel auf sich hat.
Seit der Entdeckung Röntgens sind fast 10 Jahre ins Land ge-
gangen, aber in uns allen zittert noch die Erregung über die neue
Erscheinung nach. Man erinnert sich, welch ein Staunen und Ver-
wundern damals durch die Welt ging, zugleich ein Enthusiasmus
■) Der Vortrag ist liier verkürzt wiedergegeben, auch musste, da die
Demonstraiioasversuche nur gestreift werden konnten, in der Form manches
geändert werden.
Htmm«l und Erd». IS04. XVL 7. 19
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sondergleichen. Strahlen waren entdeckt, denen kein Geheimnis stand-
hielt, die durch Kisten und Kasten, Tische und Wände drangen, denen
es selbst ein leiohtes war, das Skelett eines lebendigen Menschen im
Schattenrirs auf die photographische Platte zu bannen. Das maohte
vor allem den beispiellosen populären Erfolg der Würzburger Ent-
deckung aus. Aber das Interessanteste wurde doch nur von wenigen
beachtet und in seiner vollen Tragweite gewürdigt: die spröde Unter-
ordnung der Röntgenstrahlen unter die Reihe der schonbekannten
Erscheinungen. Hier setzte die Wissenschaft mit ruhiger und steter
Arbeit ein, sie beschäftigte sich vornehmlich mit der seinerzeit ganz
ohne Beispiel dastehenden Eigenschaft der neuen Strahlen, sich durch
ein Prisma nicht brechen zu lassen. Auch heute ist die gelehrte
Diskussion über die physikalische Natur der Röntgenstrahlen noch
nicht geschlossen, wennschon sich die kritische Wagschale immer
mehr zugunsten einer eigenartigen Ätherwellenerklärung neigt. Aber
Jahre werden noch vergehen, ehe alle Schleier vor dem X-Strahlen-
phänomen zerrissen sind.
Heute kommen die Röntgenstrahlen für die öffentliche Meinung
kaum noch wesentlich in Frage; die Gewohnheit hat auch dieser
sonderbarsten aller Erscheinungen den Stempel der Alltäglichkeit auf-
gedrückt. Allo Welt spricht nunmehr vom „Radium“ als von etwas
ganz Besonderem, Neuem und Staunenswertem. Und dooh sind beide
Entdeckungen fast gleich alt; für das grofse Publikum verschwand
aber das Radiumphänomen — wenn man es damals auch noch nicht
so nannte — in den Strahlen und dem Glanze der Röntgenschen Ent-
deckung, denn es konnte nicht mit den gleichen äufseren Effekten
aufwarten wie diese. Jetzt tritt das neue Gestirn um so deutlicher
hervor, nachdem es am wissenschaftlichen Himmel schon lange ge-
leuchtet hat.
Unendlich viel ist in der letzten Zeit über das Radium geschrieben
und gelesen worden. Nicht immer von Berufenen. Schon aus diesem
Grunde ist es schwierig, in einem zwar gemeinverständlichen, aber
natürlich auf voller wissenschaftlicher Grundlage aufgebauten Vortrage
dieses Thema aufzugreifen. Es ist zwar durchaus nicht alles falsch,
was bishor in sogenannter populärer Form Uber das Radium ge-
schrieben wurde, aber es ist wohl geeignet, beim Leser falsche Vor-
stellungen bezüglich der Grössenordnung der Erscheinung hervorzu-
rufen. Um hierfür nur zwei oder drei Beispiele anzuführen: Man er-
fährt z. B. von den unheilvollen Wirkungen der Radiumstrahlung auf
den menschlichen Organismus und zieht sioh in erklärlicher Scheu
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vor jedem radioaktiven Präparat auf weite Entfernung zurück. Diese
Furcht ist ganz übertrieben, denn es bedarf schon einer langdauernden
unmittelbaren Berührung der Haut, um Verbrennungsersoheinungen
hervorzurufen. Oder man hört: in der Nähe von Radium werde hexa-
gonales Schwefelzink (die sogenannte Sidotsohe Blende) zum Schau-
platz eines wahren Feuerwerkes von sprühenden Funken. Der Laie
tritt also erwartungsvoll an den Versuch heran, aber er sieht zunächst
meist garnichts. Erst wenn seine Augen sich lange genug an die
Finsternis gewöhnt haben, bemerkt er auf der Blende einen äufserst
feinen, das radioaktive Präparat umspielenden Lichtschimmer, und
beugt er sich ganz tief herab, so entdeokt er wohl auch naoli mehreren
Minuten wirklich jenes unstäte Funkeln mit der Lupe. Hochinter-
essant ist ja die Erscheinung auch in dieser Form, aber der naive
Beschauer ist doch enttäuscht; er hat sich etwas ganz anderes vor-
gestellt. So geht es ihm auch mit den anderen Kadiumersoheinungen,
denn sein Blick ist Tür den Wert und das Wesen der Sache noch
nicht geschärft. Endlich hat mau auch gesagt, das Radiumphänomen
drohe die ürundfesten unserer bisherigen Naturanschauung zu er-
schüttern. Das ist bedenklich und, wie wir nicht anders sagen
können, eine ganz unstatthafte Konzession an den sensationellen Ge-
schmack des grofsen Publikums. Sicherlich wird man hier und dort
eine neue Benennung einfübren, eine an und für sich sohon nicht
mehr reoht glaubhafte Vorstellung beseitigen — die Säulen unserer
modernen Naturansohauung, darunter verstehen wir vornehmlich das
Gesetz von der Erhaltung der Energie und seine Begleiter, bleiben
aber unversehrt. Wir haben auch nicht die geringste Veranlassung,
das alte, wundervolle, festgefügte Bauwerk in Trümmer zu legen,
ehe wir auoh nur einen Baustein zur Errichtung eines neuen zur
Verfügung haben.
Will man die wissenschaftliche Bedeutung des Radiums ver-
stehen, so mufs man sich zunächst mit einer Reibe schon seit längerer
Zeit bekannter Erscheinungen, insbesondere mit den Kathoden- und
Kanalstrahlen beschäftigen. Die Entstehung der Kathodenstrahlen
läfst sich am besten an einer verbältnismäfsig einfachen Apparatur
zeigen, aber auoh leicht beschreiben. Mau denke sich ein nicht zu
enges, etwa 60 cm langes Glasrohr, wie man es von den Geifsler-
röhren her kennt, auf beiden Enden mit eingeschmolzenen Platindraht-
stücken (Elektroden) versehen. Die eine Elektrode möge mit einer
fast den ganzen Rohrquerschnitt ausfüllenden runden Platte — meist
aus Aluminium bestehend — ausgerüstet sein. Die gesamte, mit Luft
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ungefüllte Röh^e stellt einen grolsen Widerstand für den Übergang
des elektrischen Stromes dar und bleibt völlig liohtleer, selbst wenn
es 6ich um eine Stromquelle von vielen tausend Volt Spannung
handelt. Die Verhältnisse ändern sich aber bei der Evakuation der
Röhre. Stetig saugt die Luftpumpe ein Luftteilchen nach dem anderen
fort, und als hätten diese allein ein Hindernis für die Entladung ge-
bildet, zuckt plötzlich ein rötlich-violetter Lichtschimmer duroh das
Kohr hin und schlägt eine Brücke zwischen den Elektroden. Wir
wollen die Spitzenelektrode mit dem positiven, die Plattenelektrode
mit dem negativen Pol der Hochspannungs-Stromquelle verbinden und
die Platte als „Kathode1* bezeichnen. Farbe und Form der Entladungs-
erscheinung hängen von der Natur des oingeschlossenen, verdünnten
Gases, wie von dem Evakuationsgrade ab. Schon gleioh anfangs be-
merkt der aufmerksame Beobachter zwei typisch verschiedene Erschei-
nungen in der Köhre: das unstäte bläulich-rote Lichtband an der
positiven Spitze hängend, von ihr ausgehend und fast die ganzo Köhre
durchziehend, und ein die plattenförmige Kathode umspielendes bläu-
liches Leuchten. Man bezeichnet letzteres als das negative Glimmlicht
Beide Erscheinungen ändern ihr räumliches Verhältnis zueinander
mit fortschreitender Luftverdünnung, und zwar drängt sich das Glimm-
licht von der Kathode aus immer weiter in der Röhre vor und schiebt
das positive Licht schliefslich bis auf einen kleinen Stumpf zurück.
Dann erfüllt das Glimmlicht den ganzen Kaum Man kommt mit einer
gewöhnlichen Luftpumpe nicht weiter und mufs schon eine Queck-
silberluflpumpe zu Hilfe nehmen. Nun wird das bläuliche Glimmlicht
immer durchscheiniger, verschwindet für das Auge ganz, und bald hat
man den Eindruck, als sei das Kohr völlig leer. Aber die alte Er-
scheinung ist nur von einer neuen abgelöst worden: die Innenwandung
dos Rohres selbst, namentlich auf dom der Kathode gegenüberliegenden
Ende, beginnt zu leuchten, sehr verschieden, je nach der Art des
Glases, meist aber in einem grüngelblichen Farbton. Der Physiker
pflegt dieses eigentümliche und unter dem Einflufs irgend einer sicht-
baren oder unsichtbaren Ursache entstehende Selbstleuohten als
„Fluoreszenz1* zu bezeichnen. (Besonders interessant ist z. B. die
Fluoreszenz des Baryumplatincyanürs unter dem Einflufs der Ilöntgon-
strahlen). Auch hier liegt eine besondere, dem spähenden Auge direkt
verborgene Ursache für das Leuchten der Glaswand vor: unsichtbare
Strahlen, die senkrecht von der Fläche der Kathode ausgehen, von
undurchlässigen Körpern im Innern der Rühre auf der Glaswand
einen Schatten entwerfen und so den Sitz ihres Ursprungs an der
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Kathode verraten. Entdockt wurden diese „Kathodenstrahlen“ durch
Hittorf (1869), populär aber erst durch den Engländer Crookes (1879),
wissenschaftlich untersucht hauptsächlich durch Lenard, Ooldstein u. a.
Man mag über die philosophisch, bisweilen auch etwas transzendent
angehauchten Ansichten Crookes' denken, wie man will, jedenfalls
hat er es verstanden, nioht nur äufserst effektvolle Leuchtröhren her-
zustellen, in denen allerhand Körper wie Korallen, Calciumsulfat,
Kalkspat, Hexagonit u. s. f. unter dem Einflufs der Kathodenstrahlen
Fig. 1. A u. ü. Magnetische Ablenkung der Kathodenitrehlen und Entitehnng
der Xanalitrehlen.
in schönster Farbenfluoreszenz erstrahlen, sondern vor allem auch
eine Theorie der Erscheinung zu liefern, wie man sie sich sinnfälliger
kaum denken kann. Für ihn sind die Kuthodenstrahlen keine Äther-
wellcn wie die strahlenden Erscheinungen der elektrischen Kraft, der
Wärme, des Lichtes, sondern veritable kleinste Teilchen, die, mit dem
elektrischen Fluid gleichsam beladen, eine schnelle Wanderung durch
den luftverdünnten Raum antreten, etwa so, wie auch erhitzte und be-
wegte Luflteilchen einen Wärmetransport ausführen können. Crookes
glaubt unter seinen Händen und im Bereich seiner Prüfung endlich
die kleinen, unteilbaren Teilchen zu haben, von denen man voraus-
setzt, dafs sie die Grundlage des Weltalls bilden; seine rege Phantasie
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berührt das Grenzgebiet zwischen Materie und Kraft. — Auch heute
gilt noch diese Crookessche Theorie, nur ist sie wesentlich verfeinert
worden. Man hält wirklich die Kathodenstrahlen für (negativ)
elektrisch beladene Materie in unterteiltester Form, gleichsam für die
Elementarquanten der Materie, behaftet mit den Elementarquanten
der elektrischen Ladung. „Elektronen“ nennt der Physiker diese
Teilchen. Sie sind jedenfalls, wie man aus ihren Eigenschaften weifs,
über alle Begriffe klein, geradezu winzig sogar gegen das Atom des
Chemikers.
Es ist gelungen, die Geschwindigkeit dieser merkwürdigen Elek-
tronen, die heute bei der Aufklärung gewisser Naturerscheinungen
eine so grofse Holle spielen, zu messen. Seltsam in der Tat, denn
keines Menschen Auge hat je ein Elektron erbliokt und wird es
jemals in Zukunft erblicken. Aber die Messung ist — im Prinzip
wenigstens — einfacher als man denkt, sie stützt sich auf die
magnetische Ablenkbarkeit der Kathodenstrahlen. Nähern wir einen
Magnetpol einem Bündel Kathodenstrahlen, deren Spur durch irgend
eine fluoreszierende Substanz sichtbar gemacht ist (Fig. 1 A), so be-
merken wir sofort, wie das Strahlenbündel seine gerade Richtung
verläfet Es steht unter dem Einflüsse des Magneten wie ein beweg-
licher elektrischer Strom, und ein Strom sind ja auch die von der
Kathode fortgeschleuderten, mit negativer Ladung behafteten Elek-
tronen. Auch der Weg zur Bestimmung ihrer Geschwindigkeit ist
nun gegeben. Hierzu eine Analogie: Eine Gewehrkugel würde sich
geradlinig fortbewegen, wenn nicht aufser der Stofekraft noch andere
Kräfte auf sie zur Einwirkung kämen. Sie schlägt, von der Erd-
schwere herabgezogen, unterhalb des Zentrums ein und zwar um so
tiefer, je langsamer sie fliegt. Aus der Flugbahn und der Grörse
der ablenkenden Kraft läfet sich die Geschwindigkeit der Kugel be-
rechnen. Ähnlich bei den Kathodenstrahlen, die ja scbliefslich auch
niohts anderes sind als winzige Geschosse. Die ablenkende Kraft
wird durch den Magneten repräsentiert, die Bahn ist die sichtbare
Fluoreszenzspur. Auch die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen
läfet sich also berechnen; aber auf wie gewaltige Zahlen stofeen wir
da! Geschwindigkeiten von 1600 km bis zu 100000 km und mehr
in einer Sekunde, je nach der Höhe der angewandten elektrischen
Spannung (man vergleiche sie mit dem Druck der Pulvergase beim
Gewehr) sind gemessen. Da versteht man freilich, wie unter dem
Aufprall dieser Strahlen aus Körperchen („Korpuskularstrahlen“) jene
Wärme- und Leuchtwirkungen auf der Glaswand oder sonst auf
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2!I5
anderen, von den Kathodenstrahlen getroffenen Körpern hervorgerufen
werden können.
Unter geeigneten Umständen sendet eine derartige hocbevakuierte
Entladungsröhre noch eine andere Art von Strahlen aus, die, entgegen-
gesetzt der Kathodenstrahlung (KL Fig. 1 B), aus einer in der Mitte
des Kohres befindlichen und siebartig durchlöcherten Kathode (K)
austreten. Sie kommen geradeswegs aus den Kanälen der Kathode
Fig. 2. Henri Becquerel
hervor und wurden deshalb von ihrem Entdecker, Professor Goldstein
in Berlin (1886) „Kanalstrahlen" genannt (Kn. Fig. 1 B). Sie prä-
sentieren sioh als eine rasch bewegte Schar positiver Korpuskeln,
denn ein Magnet lenkt sie — ein ganz klein wenig zwar nur — ent-
gegengesetzt wie die Kathodenstrahlen ab.
Nun sind wir immer nooh nicht mit der Beschaffung der für das
Verständnis der Radiumerscheinung erforderlichen Vorkenntnisse
fertig. Es geht nämlich noch eine dritte unsichtbare Strahlenart von
der Vakuumröhre aus, typisch verschieden insofern von den Kathoden-
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und Kanalstrahlen, als sie den engen Bezirk der Röhre verlörst und
in den Raum hinaustritt: die Röntgenstrahlen, magnetisch unablenkbar
und vor allem, wie schon eingangs erwähnt, durch ihr ablehnendes
Verhalten einem Prisma gegenüber bemerkenswert. Es kann nicht
in unserer Absicht liegen, lange bei den Röntgenstrahlen zu ver-
weilen, nur im Vorübergehen betrachten wir die besondere Konstruk-
tion der Röhre, die chemische (photographische» Wirkung der Röntgen-
strahlen und ihre Fähigkeit, gewisse Körper, z. B. das Baryum-
platincvaniir zum Leuchten zu bringen. Sie selbst sind unsichtbar.
Ein drittes Reagens auf Rüntgenstrahlen lernen wir beim Radium
kennen.
Wir wenden uns nun der Geschichte der Radium-Entdeokung zu.
Im Jahre 1896 machte der französische Physiker Becquerel (Fig. 2)
eine sehr merkwürdige, damals jedoch nur unter den Fachleuten Auf-
sehen erregende Entdeckung. Einige von ihm untersuchte Uran-
verbindungen zeigten sich nämlich begabt mit einer unsichtbaren,
aber außerordentlich durchdringenden und dem Röntgenphänomen
anscheinend eng verwandten Strahlung. Insbesondere liefs sich auch
eine Veränderung der photographischen Schicht durch dicke Em-
ballagen hindurch nachweisen. Ein höchst sonderbarer Vorgang in
der Tat! Da liegt ein Uransalz — sagen wir Urannitrat oder Uran-
kaliumsulfat — wohlverwahrt in einein kleinen Pappschächtelchen
gleich vielen anderen Mixturen und Pulvern auf dem Arbeitstische
des Chemikers. Niemand ahnt, dafs gerade von ihm ein geheimnis-
volles Etwas ausgeht, durch die Wände der Schachtel dringt, und sich
dann, unseren Sinnen völlig unmerklich, im Raume ausbreitet. Erst
die in der Nähe liegende photographische Platte verrät die neuartige
Erscheinung. Nun könnte es sich ja freilich um einen rein chemischen
Vorgang handeln, also etwa um ein stark penetrierendes und die
photographische Schicht schliefslioh angreifendes Gas. Derartige Wir-
kungen sind wohlbekannt. Aber seltsamerweise hinterläfst ein recht
undurchlässiger, zwischen dem Uransalz und der photographischen
Platte im Raume stehender Gegenstand auf der letzteren eine Art von
Schattenbild; und wenn man von diesem Schatten aus über den Gegen-
stand hin visiert, so gelangt man geradeswegs zum Uranpräparat.
Es geht also eine Strahlung vom Urausalz aus, unsichtbar,
durchdringend und auf die photographische Platte einwirkend. Der
Versuch kann seiner Einfachheit wegen von jedermann angestellt
werden. Man legt eine photographische Platte auf den Tisch und
zwar in ihrer Kassette, denn die Strahlen sollen ja gerade ihre
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Durchdringungskraft zeigen. Oben auf den Kassettendeekel, der
zweckmäfsig niobt aus Metall besteht, streut man in Form irgend
einer Figur etwas von dem käuflichen Urannitrat, einem grünlich-
gelben Salz. Meist schon nach zwei bis drei Tagen kann man
dann die Wirkung der Strahlung durch die Entwickelung der Platte naoli-
weisen. Ganz deutlich erscheint die aufgestreute Salzflgur als Schwär-
zung, noch charakteristischer auf der Kopie als ein diffuser Licht-
schimmer. Wir haben eine derartige Platte mit dem Worte „Uran“
in Fig. 3 reproduziert Will mau die strahlende Ausbreitung der
Wirkung demonstrieren, so braucht man nur irgend einen metallenen
Gegenstand, etwa einen Schlüssel, in einer Pappschachtel auf den
Fig. 3. Chemische Wirkung des Urannitrmta.
Kassettendeckei zu stellen und auf diu Schachtel in Oestalt eines
kleinen Häufchens etwas Uraunitrat zu schaufeln. Der Erfolg bleibt
sicher nicht aus, wenn er bisweilen auch etwas lange, etwa acht bis
vierzehn Tage auf sich warten läfst. Der Schattenwurf des Schlüssels
ist unverkennbar (Fig. 4).
Becquerel hatte seinerzeit den neuen Strahlen den Namen
„Uranstrahlen“ gegeben, da er eine spezifische Eigenschaft des Urans
entdeckt zu haben glaubte. Heute nennt man sie ganz allgemein
„Becquerelstrahlen“, weil es sich inzwischen herausgestellt hat, dafs
nicht das Uran, sondern gewisse in seiner Begleitung vorkommende
andere Stoffe die eigentlichen Strahlenspender sind. Es ist das un-
bestrittene Verdienst des in letzter Zeit vielgenannten und nächst
Becquerel mit dem Nobelpreis geschmückten französischen Physiker-
Ehepaars Curie, die radioaktiven Bestandteile der Pechblende auf
chemischem Wege abgeschieden zu haben. Sie nannten den einen
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Körper „Radium- d. h. das Strahlende, und den anderen 'Polonium.2)
Es ist aber zweifelhaft, ob das in seiner Strahlungskraft rasch nach-
lassende Polonium wirklioh primär aktiv ist; auoh ist der Strahlungs-
charakter des Poloniums gegen den des Radiums wesentlich verschieden.
Wirklioh primär radioaktive Körper gehören in der Natur zu
den gröfsten Seltenheiten, induziert radioaktive trifft man dagegen,
wie wir später sehen werden, fast überall an. Mit Sicherheit dürfen,
aufser dem Radium selbst, nur noch die von O. C. Schmidt disku-
tierten Thorverbindungen, iusonderheit das Thoriumbydroxyd für
primär radioaktiv gelten.
Wo das Uran in der Erdrinde auftritt, darf man auch Radium
vermuten. Am ausgiebigsten läfst es sich aus der Joachimsthaler
Plechblende, einem Uranerz, das aufser in Böhmen in geringerer
Quantität und Qualität auch noch in Sachsen, Schweden, England
und Amerika vorkommt, gewinnen. Aber wie wenig Radium steckt
selbst in der Pechblende! Man hat einmal gesagt, es sei leichter
Qold aus dem Meerwasser als Radium aus der Pechblende zu ge-
winnen. Damit hat es ungefähr seine Richtigkeit, denn die Radium-
fabrikation — wenn man von einer solchen schon reden darf — ge-
hört wirklich zu den schwierigen Dingen. Es ist natürlich nicht
unsere Absicht, an dieser Stelle eine ausführliche Beschreibung des
Prozesses zu geben oder den Leser gar durch ein Labyrinth chemischer
Formeln zu führen; mit einer kurzen Darstellung der ersten Gewinnungs-
etappe, dem sogenannten gros traitement der Franzosen mag es genug
sein. Es lohnt sich kaum anzufangen, wenn man nicht etwa 1000 kg
Rohmaterial, d. h. Pechblende, der bereits der Urangehalt entzogen
ist, zur Hand hat. Diese Masse enthält die meisten akzessorischen
Metallbestandteile der Pechblende als Sulfate; auoh das Radium tritt
als Sulfat auf, und ein glücklicher Umstand will, dafs dies Radium-
sulfat schwerer löslich ist als die übrigen. So läuft denn also das
erste Stadium der Radiumgewinnung auf eine Art von chemischer
Auflösung und Wäsche hinaus. Der Prozefs vollzieht sich in grofsen
Fässern, denn es bedarf fürs erste einiger Chemikalien, besonders
Salzsäure und Sohwefelsäure, Karbonate und noch einiger anderer
Substanzen im Gewichte von etwa 5000 kg, dazu Wasser im Gewichte
von 50 000 kg. In angestrengtester Tätigkeit müssen wissenschaftlich
gebildete Männer den etwa 2—3 Monate dauernden Vorgang über-
wachen, da von der ganzen ungeheuren Masse begreiflicherweise auch
nicht ein kostbares Gramm verloren gehen soll.
•) Frau Curie ist eine Polin.
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Endlich ist man am Ziele und hat alles in allem etwa 7 kg
Material erhalten, in dem nun allerdings alles vorhandene Radium
in Gestalt eines sehr unreinen Radiumbromids steckt. Legt man
für die Radioaktivität irgend ein Mals zugrunde und nennt da-
nach die StrahlungskraCt der Pechblende 6, so würde die Wirk-
samkeit der aus dem ersten Prozefs hervorgegangenen Masse mit
etwa UO zu beziffern sein. Nun beginnt eine neue Phase der Radium-
gewinnung, das sogenannte fractionnement, in dem das Material bis
auf wenige Gramm zusammensohmilzt. In demselben Mafse aber wie
die gleichgültigen Bestandteile eliminiert werden, wächst die Strahlungs-
Fig. 4. Wirkung der Becquerelstrahlung.
fiihigkeit; sie ist nun etwa gleich 1900. Meist begnügt man sich je-
doch damit noch nicht und schafft schlierslich ein Radiumbromid von
der Aktivität bis zu 1000 000 und darüber. Freilioh sind es dann nur
noch Bruchteile eines Grammes, und dies ist alles, was von Radium
in einer Rohmasse von 1000 kg stockte. Figur 6 zeigt inmitten einer
Messinghülse 10 Milligramm Radiumbromid konzentriertester Art
(Aktivität gleich 800000) in natürlicher Gröfse, ein wertvolles Stück
für eine physikalische Sammlung.
Wir haben schon anfangs von den irrigen, im Publikum über
das Radium verbreiteten Ansichten gesprochen. Sie äufsorn sich
namentlich in mehr oder minder naiven Anfragen: „Wird man mit
dem Radium einmal elektrisches Licht machen, Elektromotors be-
treiben, die Zimmer heizen?" Nein, ganz gewifs nicht! „Ja, welchen
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:tOO
praktischen Nutzen hat denn dann das Radium überhaupt?“ — Alle diese
unglücklichen Fragen sind entstanden durch die schlimme Meinung,
das Radium sei ein Wunder, es schaffo seine Energieleistung um-
sonst, gleichsam aus dem Nichts. Wenn sich überhaupt, aufser der
geradezu eminenten wissenschaftlichen Bedeutung, ein Vorteil für die
Praxis greifen läfst, so ist es die physiologische Wirkung des Radiums.
Niemand zweifelt heute mehr daran, dafs die Radiumstrahlung auf
das organischo Gewebe des tierischen oder pflanzlichen Körpers, viel-
leicht sogar auf das Zentralnervensystem selbst einzuwirken vermag.
Schon mancher, der mit Radium umging, hat dies zu seinem Leidwesen
erfahren. Heftige Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, selbst juckende
Rötungen, sogar offene Wunden waren die Folge. Becquerel selbst hat
unseres Wissens durch unvorsichtiges Tragen eines starken Radium-
präparates in der Westentasche eine offene Wunde
nahe der Milz davongetragen. Ga die Oberhaut
meist völlig und auch die Unterhaut teilweise
zerstört ist, handelt es sioh dann allemal um eine
recht bösartige Erscheinung; die Wunde ver-
harscht nicht, kann sich nur von den Rändern
aus zusammenziehen, und der oft monatelang vor-
handene Defekt bildet die Eingangspforte für
allerhand Infektionen. 3)
Niedere Organismen gehen unter den Radium-
strahlen völlig zugrunde, und dieser Umstand eröffnet immerhin eine
gewisse Perspektive für die Behandlung von Infektionskrankheiten.
U. a. haben Aschkinass und Caspari den Einflufs radioaktiver Stoffe
auf Bakterienkolonien studiert und jedenfalls mit Sicherheit, wenn auch
nicht eine völlige Abtötung in allen Fällen, so dooh eine Verminderung
der Fortpflanzungsfähigkeit festgestellt. Andere Forscher haben sogar
Einspritzungen von Radium in den Blutkreislauf infektionskranker
Tiere vorgenommen. Auch der Lupus wird, wie es scheint, mit Erfolg
bestrahlt. Alle diese Versuche befinden sich aber zunächst noch im
ersten Stadium ihrer Entwickelung; es hiefse der Wissenschaft vor-
greifen und ihr mehr schaden als nützen, wollte man hierüber schon
Einzelheiten mitteilen oder gar in irgend einer Richtung Hoffnungen
erweoken.
Alles Interesse konzentriert sich naturgemäfs auf die wissenschaft-
liche Bedeutung des Radiumpbänomens. Was sind die Radiumstrahlen?
J) Dio Verletzung ist also äufserlich einer Brandwunde dritten Urades
sehr ähnlich.
Kig. 5. 10 Milligramm
Radium 'nattlrl. OröTio;
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■•{Ql
Sind es Ätherwellen gleich den strahlenden Erscheinungen des Lichtes,
der Wärme, der elektrischen Energie, unterschieden nur von diesen
durch ihre Frequenz und Wellenlänge; oder sind es Korpuskular-
strahlen, ähnlich den Kathoden- und Kanalstrahlen, vielleicht auch den
Röntgenstrahlen? — Wir müssen uns fürs erste an das halten, was
Fig. 6. Photographische Wirkung der Pechblende.
wir beobachten, und das ist nicht allzuviel. Unsere Sinne reagieren,
wie es scheint, direkt gar nicht auf die Radiumstrahlung, wir sind also
von vornherein auf Umwege, Transformation, indirekte Heobachtungs-
methoden angewiesen. Gleichsam im Dunkeln tastend, gehen wir
vor und suchen zunächst nach Reagenzien, die uns als künstliche
Sinne dienon sollen. Drei von typischem Wert haben wir bisher bei-
einander, zunächst die photographische Platte, deren Eigenschaft,
anders und in gewissem Sinne auch mehr zu sehen als unser Auge,
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302
der Forschung schon inanohen unschätzbaren Dienst geleistet bat
Die photographische Platte verriet die radioaktiven Substanzen zuerst.
Sie bewährt sich auch zur Aufsuchung der radiumhaltigen Peohblende.
Wir haben ein aus Joachimsthal in Böhmen stammendes Gesteinsstück
auf eine in schwarzes Papier eingeschlagene photographische Platte
gelegt und es dort einen Tag oder noch länger belassen. Wirklich
zeigt sich bei der Entwickelung eine dunkle verschwommene Spur
(auf dem Positiv hell; unterer Teil der Abbildung 6): die strah-
lende Einwirkung der Peohblende. Das Gesteinsstück selbt (oberer
Teil der Abbildung), dessen Lage während der Einwirkung durch
eine punktierte Linie markiert ist, blieb als indifferent ohne Einflufs,
man erkennt aber an ihm sohon äufserlich die dunkle Bande des
Pechblendeganges. Selbstverständlich ist das aus der Peohblende
gewonnene hochkonzentrierte Radiumbromid aufserordentlich viel
wirksamer; da genügt bereits eino sekundenlange Einwirkung, um
eine deutlioh sichtbare Spur auf der Platte hervorzurufen. Beispiels-
weise kann man in ziemlioh flottem Zuge einen Buohstaben auf die
Schicht schreiben.
Das zweite Reagens auf Radiumstrahlen sind fluoreszierende
Substanzen, insonderheit das auch zum Nachweis der Röntgenstrahlen
dienende Barvumplatincyanür. Wir bringen im ganz verfinsterten
Raume unser Radiumpräparat an den Baryumleuchtschirm heran und
sofort erscheint ein kleines Sternchen, lichtschwach zwar, aber dem
ausgeruhten Auge gut erkennbar. Die unsichtbaren Radiumstrahlen
werden nun zum Teil in Lichtstrahlen umgesetzt, sie bringen schliefs-
lich aus einiger Entfernung den ganzen Leuchtschirm zur Fluoreszenz.
Das geübte Augo erkennt dann sogar den Schalten der Finger vor
der ruhig schimmernden Fläche, aber, obgleich die Hand offenbar
durchstrahlt wird, von den Knochen keine Spur. Wir werden auf
diesen sonderbaren Umstand noch zurückkommen. Sogar das Radium-
bromid selbst leuohtet eine Wenigkeit, wenn auch lange nicht so
stark wie der Leuchtschirm, und dieses Phänomen gab Veranlassung,
vom Radium als von einer „ewigen Lampe“ zu reden, wie denn über-
haupt Halbwissen und Phantasterei ein liebevolles Interesse an der
Radiumerscheinung genommen haben. Es sind aber im Grunde nur
die Unreinigkeiten am Präparat, die in engster Berührung mit dem
Radium selbst zunächst von den Strahlen getroffen werden und in
Fluoreszenzsohwingungen geraten. Man denke sich etwa reinstes
pulverisiertes Radium mit Barvumplatincyanür vermischt und man
hätte ein Leuchtpräparat par excellonce. Unreines Radiumbromid
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303
leuchtet in bläulichem Licht, aber dies Leuchten ist doch t.vpisch von
der allgemein als Phosphoreszenz bezeichneten Erscheinung insofern
verschieden, als es nicht einer vorangehenden Belichtung bedarf und
der Lichtton auoh nicht im Laufe kurzer Zeit abklingt. Das von uns
vorgelegte Leuohtpräparat ruht seit einigen Jahren in seinem finsteren
Etui. Trotzdem strahlt es in unverminderter Kraft; es wird nach
tausend Jahren vielleicht noch gerade so leuohten wie heutel
Auf die Nerven der Netzhaut scheint das Radium direkt nioht
einzuwirken, und doch spürt man einen deutlichen, diffusen Licht-
schimmer, wenn man das Präparat gegen das geschlossene Augenlid
oder auoh nur seitlich an das Schläfenbein legt. Leider hat man da-
rauihin unseren armen blinden Mitmenschen Hoffnungen auf die teilweise
Wiedererlangung der Sehkraft gemaoht — ein wahrhaft gewissenloser
Streich. Was wir empfinden, ist die Fluoreszenz der Linse, des
Glaskörpers, am Ende auch der Fettmassen im Auge, und dazu gehören
gesunde Netzhautnerven. Wer die nicht hat, empfindet auch indirekt
von der Wirkung der Radiumstrahlen nichts, und wer sie hat, aber
einen Fehler an der Hornhaut oder an der Linse besitzt, dem kann
man auch nichts weiter geben, als eine vage Vorstellung von Hellig-
keit, nicht einmal den Eindruck eines Scbattengebildes, da die
Fluoreszenz des Glaskörpers jede Kontur unterwäscht. Ganz zu
sohweigen natürlich von der schädigenden Wirkung der Strahlung
auf den Augapfel.
Und nun das dritte Mittel zum Nachweis der Radiumstrahlung;
es ist das dankbarste für die Demonstration. Vor der Projektions-
lampe steht ein uns allen von den Schulversuchen her bekanntes
Qoldblattelektroskop und deutet mit den gespreizten Blättchen
seinen elektrischen latdungszustand an. Kaum erscheint jedoch das
Radiumpräparat in der Nähe, so fallen die Ulättohen sofort zusammen.
Die bisher so gut isolierende Zimmerluft ist leitend geworden und
hat die elektrische Ladung beseitigt Es würde uns begreiflicherweise
zu weit führen, hier den besonderen Ursachen, gewifsermassen der
Mechanik dieses Leitendwerdens nacbzuspüren, wir begnügen uns mit
dem Hinweis auf die außerordentliche Zuverlässigkeit des Versuohes.
Das Elektroskop ist in der Tat das feinste Reagens auf das Vor-
handensein radiaoktiver Substanzen, es hat in den letzten Jahren
wahre Enthüllungen über die Rolle der Radioaktivität im Haushalt der
Natur gebracht. Doch darüber später. Wenn es nur auf einen
qualitativen Versuch ankommt, so kann man auoh einen arbeitenden
Funkeninduktor aufslellen, dessen Spannung gerade nicht mehr nus-
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reicht, um eine Luflstrecke zwischen zwei an seine Pole geschlossenen
Metallkugeln zu überwinden. Hier treten sofort mit dem Erscheinen
des Radiums die Funken ein. Die Ursache ist dieselbe: ein Leitend-
werden der Luft. Man kann auch die schlechte Leitung zu einem
elektrischen Glockenspiel durch Bestrahlung soweit verbessern, dafs
dieses zu läuten beginnt, wobei man selbstverständlich auf die ledig-
lich auslösende Energio der Radiuinstrahlung hinweisen und der
irrigen Meinung entgegentreten wird, als sei es etwa die Arbeits-
leistung des Radiums selbst, die dort den Klöppel hin- und herführt.
Man kann schliefslich auch — doch das grenzt schon an Spielerei
und dazu darf keine Demonstration ausarten. Sie ist ein Beweisstück
oder ein Wegweiser, ein Markstein vielleicht auch im logischen Flusse
der belehrenden Darstellung, niemals ein vergnüglicher Aufenthalt.
Noch immer haben wir die Frage nach dem Wesen der Hadium-
strahlen nicht beantwortet. Eine Vermutung drängt sich jedoch
förmlich auf. Wir sahen die Radiumstrahlen den Baryumschirm zu
Leuchtschwingungen erregen, chemische Verbindungen lösen, die Luft
leitfähig machen, Brandwunden schlagen — alles dies sind auch
Eigenschaften der Röntgenstrablen. Sollten die Radiumstrahlen am
Ende Röntgenstrahlen sein? So ungofähr haben wir damit wirklich
das Richtige getrolTen, wir wissen in der Tat einen Teil der Radium-
strahlung mit nichts anderem als aufserordentlich durchdringenden
Röntgenstrahlen zu vergleichen. Seltsamerweise sendet aber das
Radiumpräparat eine ganze Kollektion von Strahlen aus, die in ihrer
Wirkung recht verschieden sind und uns durchaus an schon bekannte
Strahlen erinnern, da sie magnetisch beeinflufst werden. Läfst man
ein feines Bündel von Radiumstrahlen durch den engen Schlitz einer
Bleiblende (Fig. 7 B) fallen und über einen Leuchtschirm oder eine
photographische Platte hinstreichen, wo ihre Spur nachweisbar wird,
so sieht man das Bündel bei Annäherung eines Magneten (S) asym-
metrisch verbreitert. Ein Teil der Strahlen geht gradlinig fort, es ist
der röntgenstrahlenähnliche Bestandteil (in der Figur als ^-Strahlung
bezeichnet), charakterisiert durch grofse Durchdringungsfähigkeit,
chemische Wirkung und Ionisierungskraft.4) Ein anderer Bestandteil
weicht gleich zur Seile ab, ganz im Sinne der Kathodenstrahlung
(^-Strahlen der Figur); was liegt also näher, als ihn für einen rasend
schnell bewegten Schwarm negativ geladener Korpuskeln zu halten?
Schliefslich läfst sich noch mit einiger Mühe ein dritter Strahlenbe-
4) Darunter versteht mail die Fähigkeit der Strahlung, die Luft elektrisch
leitend zu machen.
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805
standteil entdecken. Er bestellt wahrscheinlich aus positiv geladenen
Korpuskeln, denn er wird entgegengesetzt der ji-Strahlung magnetisch
abgelenkt; man pflegt ihn als a-Strahlung zu bezeichnen,') offenbar
ist er den Kanalstrahlen ähnlich. Wie das l’risma den Ätherwellen-
strahlen (Elektrizität, Wärme, Lioht) verschiedene Wege anweist und
sie nach ihrer äohwingungszahl und Wellenlänge zu einem Spektrum
nebeneinandorreiht, so ordnet das magnetisohe Feld die Korpuskular-
strahlen naoh dem Vorzeiohen ihrer elektrischen Ladung und ihrer
Geschwindigkeit Nur den ungeladenen Teilohen gegenüber (^-Strahlen)
versagt der Magnet und es bleibt uns unbenommen, sie für Kor-
puskeln oder eine unter dem Anprall der Elektronen am eigenen
— -Ol StraAUn
yStrah/m
Flg. 7. Magnetische Ablenkung der Radi (uns trabten
Körper des Präparates entstehende Ätherwellenfolge eigenartiger Struk-
tur zu halten. Jedenfalls haben diese drei vom Iiadium ausgesandten
Strahlenarten einige Eigenschaften miteinander gemein, andere wieder
nicht. Alle bringen, wenn auch mit sehr verschiedener Intensität,
fluoreszierende Körper zum Leuohten, am wenigstens die a-Strahlen,
am stärksten die ^-Strahlen. Die a-Strahlen durchdringen kaum dünne
Papierblältchen, die 'i-Strahlen penetrieren dagegen bedeutend stärker,
und die -[-Strahlen sind so durchdringungskräftig, dafs sie selbst vor
dicken Bleiplatten nur ungern Halt maohen; man kann bei kräftigen
Präparaten ihre Wirkung noch durch einen eisernen Ambofs hindurch
nachweison. Dafür ist allerdings ihre photographische Wirkung fast
Null, während die jf- und p-Strahlen leicht ihre Spur auf der Platte
einzeichnen. Die Ionisierung der Luft geht vorzugsweise von den
a-Strahlen aus. Das von den Curies entdeckte Polonium scheint be-
l) Die Masse der negativ geladenen Teilchen ist etwa gleich dem 2000sten
Teil des Wasscrstoflatorns. Die positiven Korpuskeln sind noch nicht isoliert,
doch dürfte ihre Masse von der Oröfaenordnung des Wasserstolfatoms seihst sein.
Himmel und Erde. 1904. XVI. 7. 20
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306
sonders mit dieser Strahlung behaftet zu sein, läfst aber bald nach
und kommt daher in Verdacht, nicht primär radioaktiv zu sein, ein
Epitheton, das sich eher auf das von Marek wald hergestellte, eben-
falls a-strahlige, Radiotellur anwenden läfst.
So würde denn also das Radium drei deutlioh unterscheidbare
Strahlensorten, von denen zwei als Korpuskularstrahien den Kathoden-
und Kanalstrahlen ähneln, die dritte mit den Röntgenstrahlen ver-
gleichbar ist, in den Raum hinaussenden. Doch damit nooh nicht
genug. Es geht nooh etwas anderes vom Radium aus, und das ist
allem Ansohein naoh ein relativ träge fliefsendes, ebenfalls radio-
aktives, hauptsächlich mit der i - Strahlung auftretendes, positiv ge-
ladenes Gas, die sogenannte radioaktive „Emanation“. Sie nimmt unser
gröfstes Interesse in Anspruch, denn sie ist der Erreger der soge-
nannten „induzierten Radioaktivität“. Schleichend, unsichtbar
breitet sich die Emanation nach allen Seiten aus, sie krieoht in alle
Ritzen und heftet sich an die Gegenstände, besonders wenn diese
negativ elektrisch geladen sind. Wir haben ein Geldstüok in die
Nähe eines, die Emanation vorzugsweise entwickelnden Präparates ge-
bracht und dadurch ist es radioaktiv geworden. Es vermag die Luft zu
ionisieren und sich selbst auf einer photographischen Platte abzubilden,
da das Relief der Prägung, wegen seiner gröfseren Nähe, auf die Schicht
stärker einwirkt als der Grund (Fig. 8). Aber diese Radioaktivität
ist eben nur „induziert“, sie ist nicht von Dauer, und schon nach
wenigen Stunden oder Tagen würden wir keine Spur mehr davon
linden. Hierhin gehört auch jene Erscheinung, über die durch eine
gefährliche populär-wissenschaftliche Tagesliteratur ganz falsche Vor-
stellungen verbreitet sind, an der sich die blühende Phantasie mehr
als eines Halbwissers Genüge geleistet hat. Legt man ein radio-
aktives Präparat, am besten den schon erwähnten Giese Ischen
Emanationskörper, auf einen Schirm von Zinkblende, so schimmert
der Schirm rings um das Präparat weifslich auf, aber das geübte
Auge bemerkt bald einen typischen Unterschied gegen das ruhige
Leuchten am Baryumplatinoyanür. Ein Schwarm funkelnder Punkte
umspielt den Emanationskörper und huscht beim leisesten Luftzug
fort, um gleich wieder zu erscheinen. Die Sidolblendc „szintilliert*
wie man sagt. Oder man hat auch wohl dieses eigenartige, von
Crookes entdeckte blitzende Leuohten mit dem Anblick des ge-
stirnten, von Myriaden funkelnder Sternenschwärme durchglühten
Nachthimmels im Teleskop verglichen; kein Bild ist gut genug ge-
wesen, um der Erscheinung zu dienen. Aber, wie gesagt, nur das
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307
sehr geübte und ganz ausgeruhte Auge sieht sie überhaupt. Die
-Urania“ hat den Vorzug, in Herrn Kranz einen zugleich wissen-
schaftlich und künstlerisch gebildeten Mitarbeiter zu besitzen;
er hat versucht, den Eindruck des Phänomens in Fig. 9 wieder-
zugeben. Doch was ist eine tote Darstellung gegen das lebendige
Funkeln der natürlichen Erscheinung I — Übrigens leuchtet die Sidot-
blende auch bei unsanfter Berührung mit einem Hämmerohen oder
unter dem Fingernagel, und wahrscheinlich handelt es sioh dabei um
eine Zertrümmerung der kleinen
Kristalle. Sollte vielleicht auch
unter dem Anprall der a-Strahlen
ein Zerfall molekularer Art statt-
finden?
Schon seit geraumer Zeit kann
man sich des Eindruckes nicht er-
wehren, als spiele die Radioak-
tivität im Haushalt der Natur eine
hervorragende Rolle. Das Elek-
troskop verrät radioaktive Eigen-
schaften der Luft und des Wassers.6)
Gewisse mit Radium bestrahlte Kri-
stalle, wie Flußspat und Kalkspat,
leuchten vorübergehend bei der
Erwärmung, sie leuchten auch,
wenn man sie frisch aus dem Erd-
boden holt, aber dann nur ein ein-
ziges Mal; sie mögen also wohl
jahrtausendelang im Sohofs der Erde radioaktiv bestrahlt worden sein.
Elster und Geitel konnten nachweisen, dafs in Kellerräumen oder
auoh in freier Luft aufgespannte und negativ geladene Drähte durch
eine offenbar aus dem Erdboden stammende Emanation stark genug
radioaktiv wurden, um mit ihnen photographische Wirkungen ausüben
zu können; sie sahen auch die im Keller negativ geladene Sidotsche
Blende allmählich ins Szintillieren geraten — kurz und gut überall
Anzeichen der Radioaktivität. Dieser Faktor im Naturgetriebe ist uns
bisher entgangen. Wozu er dient, warum er vielleicht ganz unent-
*) Namentlich haben nach den Untersuchungen Strutts die Thcrmal-
Wässcr der englischen Stadt Bath Radiumspuren gezeigt. Da der Einfiufs
radioaktiver Körper auf den menschlichen Organismus unverkennbar ist, hat
man scherzweise von diesen Kadmtnspuren als dem „Brunnengeist“ der heifsen
Quellen gesprochen.
>0*
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behrlieh ist und nun und nimmer ausgeschaltet werden könnte, wer
will das heute schon sagen. Vielleicht stehen die radioaktiven Er-
scheinungen mit den Vorgängen der atmosphärischen Elektrizität im
engsten Zusammenhänge.
Gegenüber den anziehenden, vom Radium in die Diskussion
hineingetragenen wissenschaftlichen Problemen verschwinden in der
Tat die mehr praktischen fast ganz. Man hat gemeint, einmal die
Röntgenröhre durch das viel bequemere radioaktive Präparat ersetzen
Fig. U. Blintilliersn der Sidotbleode
zu können, aber wer einmal Vergleichsaufnahmen mit Ra-Strahlen und
X-Strahlen nebeneinander gesehen hat (vgl. die diesem Aufsatz bei-
gegebene Tafel Fig. 10), wird sofort eines besseren belehrt sein. Die
Form der Aufnahme wäre ja freilich einfach genug: auf dem Tisch
die Kassette mit der Platte, dann etwa die Hand und in einiger Höhe
darüber an einem Stativ das Radiumbromid (Fig. 11). Aber im
Effekt sind beide Aufnahmen unvergleichbar. Die Röntgenstrahlen
haben genau zwischen Fleisoh, Knochen und Metall unterschieden,
die Hauptmasse der Radiumstrahlen scheint jedoch gar nicht durch die
Hand gegangen zu sein (wirklich sind die weniger durebdringungs-
fahigen a und 3-Strahlen zurückgehalten worden); was aber hindurch-
gegangen ist (die -(-Strahlen), hat eine so grofse Durchdringungskraft,
<lafs Dichteunterschiede, wie die zwischen Fleisch und Knochen, gar
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nicht mehr in Frage kommen. Kaum, dafs noch das Metall an seinem
tieferen Schattenwurf kenntlich wird. Selbst wenn also der gewaltige
Unterschied in den Expositionszeiten — die Radiumaufnahme dauerte
über 1 Stunde, die Röntgenaufnahme kanm 1 Sekunde — nicht in
Krage käme, könnte von einer Konkurrenz beider Strahlenquellen
in diesem Sinne keine Rede sein.
Schliefsiich dürfen wir nicht unerwähnt lassen, dafs das Radium
auoh dauernd Wasserstoff und Sauerstoff abgibt und, vielleicht als
Folge davon, Wärme. Und diese Wärmeabgabe ist gar nioht so
gering; sie beträgt nach Curie und Labordeetwa 113, nach Runge
und Precht etwa 99 kleine Kalorien, d. h. H,4 kg Radium würden
die einer Pferdestärke entsprechende Wärmemenge liefern. Sofort
taucht für jeden denkenden Menschen die Frage auf: Wie lange liefert
denn 1 kg Radium diese Energie? — Da kommen wir an den Punkt,
dem man als das eigentliche Radiumrätsel bezeichnet hat. Jeder Arbeit
leistende Mensch gibt seine Energie aus und bedarf, soll anders er
in seiner Arbeit nioht naohlassen, der ständigen Zufuhr von neuer
Energie in Gestalt von Nahrungsmitteln; auch jeder Dampfkessel gibt
sich aus, wenn er nicht geheizt wird, und die Maschine bleibt stehen; ein
Licht zehrt, um strahlen zu können, die in seiner eigenen Körpersub-
stanz steckende Energie auf, dann erlischt es; selbst eine Röntgen-
röhre bedarf der dauernden Zufuhr von elektrischer Energie, um ihre
auch heute noch so rätselvollen Strahlen auszusenden. Aber das Ra-
dium arbeitet fort und fort, cs zerhämmert die chemischen Verbin-
dungen, es rüttelt an den Molekülen gewisser Körper, bis sie leuchten,
es reifst die festen Verbände der Elektrizitätsatome auseinander, es
entwickelt Wärme, — überall macht es sich zu schaffen — doch
noch niemand hat eine Erschöpfung an ihm bemerkt, niemand weifs,
woher es seinen Verlust deckt, kurz, über die Nahrungszufuhr des
Radiums ist man sich noch recht im Unklaren. Scheinbar schafft
es Energie ans dem Nichts, aber doch eben nur scheinbar. Denn
kein ernster Wissenschaftler wird glauben, die Radiumstrahlung stehe
im Widerspruch zum Satz von der Erhaltung der Energie, dem
Grundgesetz, auf dem die moderne Naturwissenschaft begründet ist
und Sieg auf Sieg errungen hat. Mit blofsem Erstaunen, mit Hypo-
thesen und Phantastereien ist da niohts gemacht, man forsche wissen-
schaftlich, messe und rechne. Da irgend ein Hintertürchen absolut
nicht zu finden ist, durch welches das Radium etwa unbemerkt seine
Energie wieder beziehen könne, indem es vielleicht nur einen Energie-
transformator darstellt, so mufs man einstweilen schon annehmen,
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es decke die Ausgabe aus seinem eigenen Körper. Aber wo soll
denn diese Energie in einem so winzigen Körper stecken, hören wir
ausrufen! Da weifs man Rat. Nach den Berechnungen von
Helmholtz gehören ganz gewaltige Energiemengen dazu, um bei-
spielsweise 1 Milligramm Wasser in seine Elektrizitätsatome auseinander
zu reifsen. Selbst in etwa 1000 Meter Entfernung würden die frei-
gewordenen positiven und negativen Elektrizitätsmengen einander noch
mit der schier unglaublichen Kraft von 100000 kg anziehen. Warum
sollten also nicht auch aus einem Gramm Radium infolge einer all-
Fi|C II. Anordnung etnar Rndlnmnnfnnlun«.
mählichen atomistischen Umlagerung ganz gewaltige Energiemengen im
Laufe von vielleicht Jahrtausenden frei werden können, ein Vorgang
freilich, zu dessen qualitativem Nachweis ein Menschenleben gar nicht
auBreicht. Die Untersuchungen Ramsays und Soddys deuten über-
dies auf eine allmähliche Verwandlung der Radiumemanation in Helium
hin, ein höchst merkwürdiges, staunenswertes Faktum, denn Radium ist
ein Element und Helium auch. Ein Element in ein anderes verwandeln,
heifst aber moderne Alohimie treiben, und ein Forscher von der Be-
deutung und der Gewissenhaftigkeit Ramsays mag lange mit sich
gekämpft haben, ehe er diese Entdeckung kundgab. Wir wissen
aber vorderhand nichts Besseres als: Auch das Radium mufs ein-
mal aufhören, Strahlen auszusenden und als Radium zu existieren,
geradesogut wie eine Kerze strahlend ihre Energie verausgabt, herab-
brennt und dann keine Kerze mehr ist; aber das Radium besitzt un-
geheure, im festen Zusammenhänge seiner atomistischen Struktur
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aufgespeicherte Energievorräte und geht haushälterisch damit um —
der Proiefs läuft vielleicht erst in Jahrtausenden ab.
Vieles ist ja freilich auoh heute noch für uns an diesem Phänomen
rätselhaft; aber die Wissenschaft wird das Radiumrätsel lösen und
dann einen gewaltigen Schritt vorwärts getan haben auf dem Wege
zu einer einfachen und einheitlichen Naturanschauung.
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Über die Popularisierung der Wissenschaften.
Von Prof. Pr. B. Weiastei» in Berlin.
o JftVs Thema ist ein recht aites und oft behandeltes. Ich würde e»
iTcy nicht gewagt haben, den Lesern von .Himmel und Erde" eine
nochmalige Besprechung zu bieten, wenn nicht ein bestimmter
Anlafs hierzu Vorlage. Herr Professor Foerster, dessen Name mit
der Wissenschaft der Astronomie verwachsen ist, hat im dritten Bandt-
dea vom deutschen Verlagshaus Bong & Co. herausgegebenen Werke»
.Weltall und Menschheit“ einen Absohnitt „Die Erforschung des Welt-
alls“ veröffentlicht. Dem Charakter des genannten Werltes angemessen,
welches für breite Schichten des Volkes bestimmt ist, mufste auch
diese Arbeit in ieichtfafsliehem Tone gehalten, populär sein. Es hätte
nahe gelegen, eine Besprechung dieser Arbeit in dem hierfür bestimmten
Teile dieser Zeitschrift zu liefern. Allein eine solche Besprechung,
wenn sie nicht eine blofse Anzeige oder alberne Lobhudelei sein soll,
konnte ohne genaueres Eingehen auf den Inhalt und auf die Frage,
wie der Aufgabe der Popularisierung gerecht geworden ist, keinen
Wert haben, und da hierfür Raum in jenem Teile nicht vorhanden
ist, habe ich mit Billigung der Redaktion die Form eines Aufsatzes
gewählt, in der die Besprechung, wenn sie auch Hauptzweck ist, dooh
in allgemeinen Auseinandersetzungen verwebt werden soll.
Einen Wissenszweig populär daratellen, heifst: nicht dem Publikum
die interessanten Ergebnisse mitteilen, sondern die betreffenden Lehren
und die gewonnenen Erkenntnisse in verständlicher Sprache vorfiihren,
dafs ein Überblick über das Wesen der betreffenden Wissenschaft
gewonnen wird und über ihre Bedeutung für geistiges und praktisches
Leben. Gegen diese Forderung wird ganz aufserordcntlioh oft und viel
gesündigt. Es erscheinen jahraus jahrein populäre Abhandlungen und
Bücher, deren Inhalt fast wertlos ist und die sogar oft genug Anlafs
zur Verbreitung ganz schiefer Ansichten und selbst falscher Behaup-
tungen geben. Es scheint, als ob manche ihre Hauptaufgabe bei Ab-
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fassung eines populären Werkes darin sehen, mit möglichst vielen
Worten möglichst wenig zu sagen. Neue Aussichten, die ein Forscher
nur andeutet, werden mit breitem Pinsel und grellen Farben hingemalt,
als handelte es sich um Darstellung sicher durchforschten Landes.
Behauptungen, deren Bereich die Wissenschaft eng umschränkt, werden
ins Ungemessene vertrieben und bei Mangel der Kenntnisse, die ihre
Grundlage bilden, gänzlich falsch angewendet. Schuld an solcher Ent-
artung der populären Darstellung der Wissenschaften sind zu sehr
grofsem Teile die Zeitungen und die niohlfachwissenschaftliohen Zeit-
schriften. Es ist kaum zu glauben, welch ein Unsinn manchmal dem
Publikum in Form des wissenschaftlichen Berichtes aufgetischt wird.
Ich erinnere mich eines Falles, in welohem in einer sehr angesehenen
Zeitung ein Referat Uber die Darstellung flüssigen Sauerstoffs gegeben
wurde. Das Referat war einer französischen Veröffentlichung ent-
nommen und dort war gesagt, dafs der betreffende Experimentator zur
Darstellung des Sauerstoffs sich des potasse chlorst bedient hätte. Flugs
übersetzte der Herr Berichterstatter potasse mit Pottasche, und da er zwar
das Wort Chloral oft genug gehört hatte, mit dem chlorst aber nichts
anzufangen wufste, hielt er das t am Schlufs für einen Druokfehler statt
1, und kam so zu der geistvollen Behauptung, der Sauerstoff wäre aus
Pottasche- Chloral hergestellt worden. Eine solohe Übersetzung hätte
natürlich nicht geschrieben werden können, wenn der betreffende Be-
richterstatter auf dem Wissensgebiete der Chemie nicht so ganz und
gar kenntnielos gewesen wäre. Das ist kein vereinzelter, sondern nur
ein typischer Fall; wer sich Mühe geben wollte, unsere Zeitungen und
Zeitschriften in ihren wissenschaftlichen Mitteilungen etwas genauer
zu prüfen, würde eine wunderliohe Blumenleso halten.
Nun ist allerdings nioht zu verkennen, dafs die Popularisierung der
Naturwissenschaften mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist.
Es erfordert keine Dbermäfsigen Kenntnisse, den Inhalt eines theologi-
schen Werkes in sich aufzunehmen. Selbst juristischen und national-
ökonomischen Auseinandersetzungen zu folgen, ist nicht allzuschwer.
Überhaupt gehören hierher alle rein geistigen Wissenschaften,
sowie die erzählenden und diejenigen, welche sich auf eine geringe
Zahl von Gegenständen beziehen, die jedermann, wenn auch nicht dem
Wesen, so dooh der Sache nach gelänfig sind. So paradox es viel-
leicht klingt, so möchte ich dooh die Behauptung aufstellen, dafs man
die Sprache schlecht beherrscht, wenn man nicht selbst ein mathe-
matisches Werk ohne Formeln und Figuren zu schreiben vermag.
Kant hat das in seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie
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314
des Himmels“ getan. Allein mit den eigentlichen Naturwissenschaften
ist es anders bestellt. Sie erfordern eine Menge von Sonderkennt-
nissen, die man nur nach langem Studium erhält, und diese Sonder-
kenntnisse stehen vielfach vereinzelt nebeneinander, so dafs das Ge-
dächtnis ungemein beschwert wird. Dazu kommt, dafs die Natur-
wissenschaften sich viele Namen haben schaffen müssen, welche für
ganze Ersoheinungsklassen stehen, vom nicht hinreichend Unterrichteten
aber leicht als Namen für Gegenstände aufgefafst und weiteigegeben
werden. Solche Namen sind z. B. elektrischer Strom, Energie. Mancher
Schriftsteller, der in einem populären Werke mit diesen Namen wie mit
den alltäglichsten Dingen herumarbeitet, würde in tödliche Verlegen-
heit geraten, wenn er sagen sollte, was er eigentlich unter ihnen ver-
steht. Und diese Namen sind nicht einmal zu den eigentlichen soge-
nannten termini teohnioi zu rechnen, davon gerade die Naturwissen-
schaften fast eine Legion besitzen, und mit denen man bekannt sein
mufs, wenn man die Faohveröffentlichungen verstehen will. Aber
könnten nicht diese Faohveröffentlichungen selbt verständlicher gehalten
sein? Gewifs! Der Fachmann verlangt das aber nicht und braucht es
nicht. Zwischenwerke zwischen reiner Wissenschaftlichkeit und all-
gemeiner Verständlichkeit werden zwar geschrieben, verkaufen sich
jedoch schlecht, weil sie der Fachmann wegen Weitläufigkeit, das
Publikum wegen doch nicht hinreichender Verständlichkeit ablehnt.
Es ist oft behauptet worden, dafs dem Publikum überhaupt nur
an den sogenannten interessanten Ergebnissen der Wissenschaft liegt,
dafs es ärgerlich diejenigen Seiten überechliigt, die im höheren Sinne
des Wortes belehrend sein sollen ; wie in manchen Gesellschaften,
wenn es sioh nicht gerade um Vertiefung eines Klatsohes handelt, es
zum guten Ton gehört, das Gesprächsthema möglichst oft zu ändern
damit ja keine Unterhaltung herauskommt, welche vom Zuhörer
geistige Anstrengung oder gar Äufserung geistiger Tätigkeit er-
fordert. Das mag und wird für einen Teil des Publikums der Fall
sein. Aber wer zwingt einen, für diese Leute zu schreiben, für welche
selbst das geistig ärmlichste Mahl zu schade ist? Dagegen gibt es
immerhin eine grofse Zahl von Menschen, die etwas mehr von einer
Wissenschaft kennen lernen will als die Modeerscheinungen, die viel-
fach sogar hohen geistigen Hunger hat. Wenige von den populären
Büchern, mit denen der Markt überschwemmt wird, sind geeignet,
diesen geistigen Hunger zu stillen; weitaus die meisten bieten leeren
Schaum statt guter Kost, manche nur Kieselsteine.
Ein populäres Werk, wenn es nicht rein erzählend ist, mufs
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seinen Gegenstand im inneren Wesen erfassen und behandeln.
Gegen diesen Satz wird am meistens gefehlt, und nicht blofs in populären
Werken; selbst streng wissenschaftliche Werke lassen oft genug über
das Wesen dessen, was vorgetragen wird, im Unklaren. Solche Werke
belasten das Gedächtnis aufserordentlich, weil die Warte fehlt, von
der aus das Ganze zu überblioken ist, und diese wird eben von den letzten
Grundlagen der Wissenschaft und von ihrem besonderen Zweok,
welche ihr Wesen ausmachen und die ganze Darlegung und Ent-
wickelung ihrer Lehren ordnen, gegeben. Die Wissenschaften
schreiten in der Regel vom Einzelnen zum Allgemeinen fort; selbst
von genialen Naturen werden sie auf Grund von Einzelheiten gefördert
oder geschaffen, nur dafs diesen eine gerioge Zahl solchor Einzel-
heiten genügt, um das Ganze divinatorisch zu erkennen. Ob man päda-
gogisch die induktive oder deduktive Methode zu wählen hat, hängt
vom Lernenden und vom Lehrer ab, wohl auoh vom betreffenden
Wissensgebiete. Hier lassen sich nur Durchschnittsregeln geben, die
sich naturgemäfs wesentlich nach den Lernenden zu richten haben
und sich auch richten. In populären Werken, die dooh der Haupt-
sache naoh für einen Kreis bereits geistig entwickelter Leser berechnet
sind, scheint mir der Vortrag vom Allgemeinen zum Besonderen der
zweckmäßigere. Er stellt den Leser sofort auf einen höheren Stand-
punkt, so daß er mehr seinen Lehrer begleitet als ihm folgt. Er ist
auch für den Leser, der doch bald wissen möchte, wo das hinaus will,
nicht so ermüdend, wie wenn er einen Fuß naoh dem andern in die
Schrittspuren seines Führers setzen muß, wobei er notwendig immer
auf diese Spuren zu achten hat und so weder Umgegend noch die
Ferne sehen kann. Daß das nicht immer angängig sein wird, will
ich zugeben, aber wenigstens darf der Leser nicht zu lange über das
Wesen der Sache im Unklaren gelassen werden.
Eine zweite Forderung für populäre Werke ist möglichst klare
Darlegung des Hand werk Bmaterials, wozu namentlich auch die zu
benutzenden Kunstausdrüoke gehören. Ich würde es für ganz ver-
kehrt halten, wenn jemand in dem Wunsche, möglichst populär zu
sein, dieses Handwerksmaterial verstecken wollte. Gewisse termini
technici sind unumgänglich, wenn die Ausdrucksweise nioht sehr
schleppend sein soll. Trifft der Leser sie anderweitig, so weiß er
ihre Bedeutung nicht. Anderseits müssen diese termini genau ihrer
Bedeutung nach angegeben sein, damit der Leser nicht mit ihnen wie
so mancher mit den Fremdworten umgeht. Auch dagegen wird recht
oft gesündigt, vielleicht in den exakten Wissenschaften weit weniger
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als in den philosophischen und ästhetischen, wo der Sinn manoher
Auseinandersetzung undurchdringlich ist, weil der Herr Verfasser es
verschmäht hat, anzugeben, was er mit den besonderen Worten hat
ausdrücken wollen. Meist sind diese Worte lateinisoh oder griechisch
gebildet, die Übersetzung soll selbstverständlich die Bedeutung geben.
Aber wir sind schon bei vielen Worten unserer eigenen Muttersprache
im Zweifel, wie wir sie deuten sollen, weil sie mehrere Deutungen zu-
lassen. Aufserdem wandelt sioh ja die Bedeutung der Worte mit der
Zeit. Hierüber habe ich mich an einer anderen Stelle in dieser Zeit-
schrift eingehender ausgelassen.
Sodann soll ein populäres Werk klar geschrieben sein. Das
verlangt vor allem, dafs der Verfasser selbst sein Thema voll beherrscht.
Es ist schon bemerkt, wie wenig das oft der Fall ist. Es ist freilich
kein Buch so sohlecht, dafs man aus ihm nicht einiges lernen konnte.
Des geringen wegen kauft aber der Leser das Buch nicht, und ein
Verfasser, der nicht über seinem Thema steht, wird seinen Leser
einige Vokabeln aus der Sprache der betreffenden Wissenschaft lehren,
nicht aber diese Sprache selbst. Das ist so klar, dafs hierüber kein
Wort verloren werden sollte.
Nun aber kommt eine Forderung, die dem Gebiete des Geschmacks
angehört und sogar namentlich bei Fachleuten Anstois erregt. Ein
populäres Werk soll gut geschrieben sein. Den Herren der Wissen-
schaft wird oft vorgeworfen, dafs sie das nicht verstehen, sondern
ihre Gelehrsamkeit faustdick in schweren, oft nicht zu entwirrenden
Sätzen vortragen. Dieser Vorwurf traf früher mehr zu; gegenwärtig
beherrschen auch die Gelehrten die Sprache gut Ich will das Deutsch
der Zeitungen nicht übermäfsig loben, man liest oft genug, selbst in
besseren Blättern, liederlichst gebaute Sätze. Aber man wird den
Zeitungen nicht bestreiten können, dafs sie im allgemeinen in auffallend
klarer und guter Sprache geschrieben sind und dafs sie nicht wenig
dazu beigetragen haben, unsere Spraohe durohzukneten und durchzu-
arbeiten und mit weit verbreiteten treffenden Ausdruoksmitteln zu
bereichern. Sie sind eben für die weitesten Schichten des Volkes be-
stimmt und müssen sich verstäudlich machen. Das abstofsend
Banausische so vieler unserer Tagesblätter liegt am wenigsten in ihrer
Sprache, die im Gegenteil selbst in kleinsten Käseblättohen immer
noch bis zu einem gewissen Grade eine gewählte ist, sondern in
ihrem Inhalt, der dem jämmerlichsten GesellBohaftsklatsch und den
schauerlichen Nachtseiten des Menschen so breitspurig gewidmet ist
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Der sprachliche Einflurs der Zeitungen ist nicht zu unterschätzen, und
er hat sich zweifellos auch in der Schreibweise unserer Gelehrten
geltend gemaoht Su abstrakt geschriebene Bücher, wie sie frühere
Generationen haben verdauen müssen, kommen nicht mehr auf den
Markt. Viele Gelehrte sohreiben sogar eher ein elegantes Deutsch.
Der Forderung der guten Sprache wird also gegenwärtig im allge-
meinen genügt. Bis zu einem gewissen Grade murs die Spraohe
auch lebhaft sein. Wir haben doch Ausrufungszeichen, Frage-
zeichen und Gedankenstriche, warum sie scheuen? Etwa um die
klassische Kühe der Antiken zu wahren? Aber den antiken Schrift-
stellern ist es gar nicht eingefallen, auf diese vorzüglichen Mittel,
das Interesse zu erhalten, zu verzichten. Wer das behauptet, hat
weder Demosthenes, noch Tliukydides gelesen und kennt seinen
Platon herzlich wenig. Es sind auch nicht gerade die angenehmsten
Sohriften Goethes, in denen die olympische Kühe waltet und milde
Ausdrücke herrschen, während dagegen seine italienischen Keisen,
von dem abgedroschenen Beispiel des Werther zu schweigen, Gluten
und Flammen im Herzen entfachen. Zur Lebhaftigkeit der Spraohe
gehört auch die Einflechtung guter Bilder, die übrigens auch
an sich nicht zu entbehren sind, wenn eine körperliche Welt in
Worten und doch vorstellbar geschildert -werden soll. Etwas zuviel
Phantasie bei der Wahl von Bildern schätze ich in populären Werken
immer noch höher als zu dürftiges Ersinnen, denn der Mensch kann
einmal die Welt des Soheinos nicht entbehren und freut sich ihrer
mannigfaohen Gestaltung.
Nun hat man, fortgerissen durch dio aufserordentlichen Fort-
schritte auf dem Gebiete der graphischen Künste, angefangen, in die
Bücher eine solohe Fülle von wirklichen Bildern hineinzutragen, dafs
das Wortbild fast enlbohrt werden kann. Ich kommo hier auf einen
etwas wunden Punkt in unserer Buohentwiokelung zu sprechen. Die
Abbildungen beginnen den Text zu überwuchern, und es besteht
dringende Gefahr, dafs unsere Bücher zu Bilderbüchern berabsinken.
Wir gehen diesem Ende anscheinend mit Riesenschritten entgegen.
Selbst für Bücher über darstellende Kunst kann das nicht erwünscht
sein. Ein Buch und eine Bildersammlung sind zwei durchaus ver-
schiedene Gegenstände; in der Tat werden sie ja auch vielfach getrennt
gehalten, man gibt einen Band Text und einen Band Abbildungen
oder Tafeln. Aber gerade bei den wissenschaftliche Fragen be-
handelnden Werken geschieht das nicht, und kann das auch nicht
geschehen, weil ja die Bilder — nicht wie in der Kunst — nur
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Nebensache sind. Sie sollten also auch hier Nebensache bleiben und
nicht dem Worte den Raum verkümmern.
Herr Professor Fo erster hat dem Verfasser gegenüber öfter
die Befürchtung ausgesprochen, ob nicht in seinem Werke in bezug
auf Abbildungen etwas zu viel getan sei. Der Befürchtung wäre
vielleicht zuzustimmen, wenn nicht der grofse Gelehrte in der Lage
gewesen wäre, über den Umfang des Textes selbst bestimmen zu
dürfen und sich ihn nioht verkümmern zu lassen. Aufserdem, was
würde es nützen, sioh der Modernen entgegenzustellen; dieses zarte
Wesen hat einen ehernen Schritt, mit dem sie vielfach gute Einsicht
und beste Gewohnheit niedertritt Die Abbildungen in dem Werke,
das uns hier beschäftigt, sind dreierlei Art: erläuternd, historisch, dar-
stellend. Über die Abbildungen der ersten Art ist niohts zu sagen, sie
sind notwendig, um das Wort zu unterstützen; es ist aber bemerkens-
wert, dafs gerade ihrer die geringste Zahl vorhanden ist In der Tat
braucht auoh der Herr Verfasser nioht viel seine eindringlichen
Mitteilungen zu erläutern. Hier entscheidet die Darstellungskunst des
Forschers, die Bilder stecken schon in den Worten und müssen nur
hin und wieder aus dem Text inB Weifse hinüberfliefsen. Bei weitem
die meisten der Abbildungen sind historischer Bedeutung. Von diesen
stehen uns menschlich nahe die Antlitze der Fürsten in der astrono-
mischen Wissenschaft Wir sehen den behäbigen Patrizier Hevel, die
langgezogenen Züge des Kopernikus mit dem wie betend halb-
geöffneten Mund, Tycho Brahe mit dem Gesichtsausdrucke des etwas
junkerlichen Adligen und dann Kepler, von den Genannten wohl
der genialste, und, wie sich’s für das Genie schickt, ein Mann des
Unglücks und der Entbehrung. Ptolemäus habe ich übergangen;
in dem auch nur als „angeblich“ bezeichneton Porträt sieht der Herr
aus, wie wenn er nicht die Feder des Gelehrten gesohwungen hätte,
sondern ein Schwert als ehrenfestor Ritter. Wir haben dann die
Gewaltigen Galilei und Newton, den grofsen Huyghens und auf
einer besonderen Tafel, mit Beobachtungen neben ihrem Herrn Gemahl
beschäftigt, die anscheinend sehr ansehnliche Gattin He v eis. Naoh
einer Dame sollte es eigentlich nichts Erwähnenswertes mehr geben, aber
Herschel, Alexander v. Humboldt und Bonpland, Schiaparelli
können nicht gut übergangen werden. Es hiefse trockene Gelehrsam-
keit allzusehr zur Schau tragen, wenn man sich über solche Abbildungen
nicht freute; am Ende interessiert uns doch nicht blofs die Tat, sondern
auch der, welcher sie vollbracht hat. Warum soll es in der Wissen-
schaft anders sein als auf anderen Gebieten? Es kann nur willkommen
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geheifsen werden, wenn auch im Fachwissenschaftliohen dem
Menschlichen mehr Hechte eingeräumt werden. Unsere ganze Zeit-
richtung geht auf das Menschliche, und das ist gut, denn da ist am meisten
und segensreichsten zu wirken. Von dem Herrn Verfasser des in
Frage stehenden Werkes ist bekannt, wie sehr ihn die rein mensch-
lichen Probleme beschäftigt haben und noch beschäftigen.
Die anderen historischen Abbildungen veransohau liehen frühere
Apparate und Einrichtungen Tür Himmelsbeobachtungen: sie haben
wissenschaftliches Interesse, insofern sie zugleich die einfachen Be-
obachtungsmethoden erläutern, aber auch kulturelles für den Stand
der Technik früherer Jahrhunderte und fremder Völker. Kulturelle
Bedeutung ist auch den Abbildungen zuzuschreiben, welche frühere
Vorstellungen über Himmelserscheinungen und Welten bau betreffen.
Hier kommen die Mythologie und Astrologie zu ihrem Recht, und
wenn man daran denkt, dafs der Ägypter seine Weltansicht mehr als
4000 Jahre für richtig gehalten hat, wir dagegen unseren Weltbau
vor kaum 400 Jahren errichtet haben und nicht darauf schwören
können, wie die Zukunft ihn weiter bilden wird, so wäre es eigentlich
Überhebung, die Meinungen der alten Kulturnationen, deren Tüchtig-
keit wir aus den Ausgrabungen mehr und mehr bewundern und an-
staunen lernen, als altes Gerümpel zu betraohten und in einem um-
fassenderen Werke unberücksichtigt zu lassen. Die dritte Klasse von
Abbildungen ist für die Belehrung die wichtigste. Die Darstellung von
Sonne, Mond, Planeten, Kometen, meteorischen Erscheinungen u. s. w.
darf in einem solchen Werke gar nicht fehlen. Dafs manche dieser
Darstellungen durch landschaftliche Zugabe interessant gestaltet sind,
wer kann das splitterriohternd tadeln?
Ich habe mich bei den Abbildungen in dem Foersterschen Werke
lange aufgehalten und sie gern analysiert, weil ich ein Bedenken zer-
streuen wollte, welches, wie bemerkt, der Herr Verfasser selbst gehabt
hat. Wahrscheinlich werden sich sehr viele darüber wundern, dafs das
nötig gewesen sein sollte; ich glaube sogur, dafs nur wenige diesen
unterhaltenden und belehrenden Schmuck nunmehr ontbehren möchten.
Über den Text zu sprechen, steht mir nur soweit zu, als mir die
Materie selbst nicht fremd ist und als es die Form betrifft. Mir scheint
in dem Werke nichts übergangen, was die rechnende, beobachtende
und beschreibende Astronomie betrifft. Der sohöne erste Satz der Ein-
leitung lautet: „Es soll an dieser Stelle versucht werden, weiten Kreisen
eine möglichst einleuchtende Vorstellung von der grofsen astronomi-
schen Forsohungs- und Gestaltungsarbeit zu geben, durch welche die
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Menschheit bis zu der gegenwärtigen Stufe ihrer Auffassung vom Welt-
all und von der erhabenen Gesetzmäfsigkeit seiner Erscheinungen ge-
langt ist.“ Oie Aufgabe ist in wenigen Worten klar und einfach
umschrieben. Persönlich habe ich vom Weltall eine etwas andere
Auffassung als sie im Werke niedergelegt ist, denn mich dünkt, dafs
die starre gegenseitige Gebundenheit der Weltkörper sich nicht wird auf-
recht erhalten lassen, und dafs man zur Anerkennung von Individualitäten
gelangen wird. Aber das kommt nicht in Betracht Die Hauptsache
ist die verblüffende Einheitlichkeit der Welt bis in dio tiefsten bisher er-
forschten Tiefen, und das leitet auch die Gruudstimmung des Werkes.
Man kann sich manchmal darüber ärgern, dafs die Wissenschaft sich
so erpicht darauf zeigt, alles möglichst auf das Alltägliche zurückzu-
führen, aber etwas anderes würden wir auoli nicht erfassen können,
denn für Märchen und Mythen sind wir nicht mehr zugänglich.
Von dem Inhalt des Werkes eine Übersicht zu geben, darf ich unter-
lassen; es handelt sich hier nicht um eine magere Aufzählung. Die
Darstellungskunst des Verfassers hat gestattet, Fragen selbst fast rein
fachwissenschaftlichen Charakters zu behandeln. An populären Büchern
über Astronomie, die ja seit jeher die populärste Wissenschaft ge-
wesen ist, hat es zu keiner Zeit gefehlt und fehlt es auch gegen-
wärtig niolit. Wus diesem Werke den Vorrang sichert, ist der hohe
Standpunkt, von dem es geschrieben ist Dafs der Verfasser infolge-
dessen erheblichen Gedankenanteil vom Leser verlangt, ist sein gutes
Hecht. Ein Autor, der seine Leser ohne Gegenleistung läfst, hat ein
Schulbuch geschrieben; und jedes nach seiner Art. Einen Mangel des
Werkes möchte ich nicht unerwähnt lassen; es ist in einem Zuge ge-
schrieben, ohne Teilung in Kapitel oder Abschnitte, nur Nebenschriften
kennzeichnen den Inhalt der Abschnitte. Bei der streng eingehaltenen
Methode, welche sich befolgt findet, wäre es vielleicht möglich ge-
wesen, den Satz mehr zu unterteilen. Warum das nicht geschehen
ist, weirs ich nicht, aber das Auge vermifst die Kuhepunkte, die ihm
abschnittliche Überschriften gewähren, und ich fürchte, dafs auch das
Lesen dadurch etwas erschwert ist, denn dem Auge folgt der Geist
und auch dieser harrt gern an manchen Stellen und kann dann zu-
rückschauen.
Was endlich die Sprache anbetrifft, so ist diese rein individuell
zu bemessen. Der Herr Verfasser schreibt einen so bestimmten Stil,
dafs er au zwei Sätzen sofort zu erkennen ist. Auch das ist sein
gutes Hecht, und es ist alles bei grofsem Reichtum der Bilder und
Worte klar und anschaulich.
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Als Herr Professor Foerster mit mir von diesem Werke zum
ersten Male sprach, sagte er, er hätte den Wunsch gehabt, einmal von
recht vielen gelesen zu werden, denn die faohwissensohaftlichen Ver-
öffentlichungen hätten einen gar kleinen Leserkreis. Ich bin der Über-
zeugung, dafs sein Wunsoh in reichem Mafse erfüllt ist, und das liegt
auch im Interesse der Wissenschaft und ihrer Verbreitung.
Himmel und Erde. 1904. XVI. 7.
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Der Ackerboden und seine Geschichte.
Von A. P. Netschajew.
Aus dem Russischen übersetzt von S. Taebulok-Zürich.
(Schlufs.)
• (j; ndlich wurde in neuester Zeit atioh die hervorragende Bedeutung
.ä ^ der Mikroorganismen erkannt, welche im Boden die mannigfallig-
^ sten physikalisch-chemischen Prozesse vollbringen. So wird z. B.
einer der wichtigsten Bestandteile des Bodens, der Salpeter, der
Träger des für die Pflanzen unentbehrlichen Stickstoffs, durch die
Lebenstätigkeit eines besonderen Mikroorganismus aus Ammoniak und
Ammoniak Verbindungen erzeugt Die biologische Natur des Vorgangs
der Salpeterbildung (Nitrifikation) wurde 1877 durch Scbliising und
Münz aufgeklärt, und die nitrifizierenden Bakterien erhielten den
Namen Nitrobakterien. Man hat Gründe, anzunehmen, dafs dieser
Mikroorganismus sogar die Fähigkeit besitzt, elementaren, aus der
Luft aufgenommenen Stickstoff in Nitrate umzu wandeln. Wenigstens
wurde selbst auf völlig nackten Felsen die Anwesenheit von Nitro-
bakterien konstatiert. Indem sie hier in ungeheurer Zahl auftreten
und in die feinsten Felsspalten eindringen, üben sie wahrscheinlich
dieselbe Wirkung aus wie die Flechten und Moose. Es wurde die
Vermutung ausgesprochen, das Faulhorn im Berner Oberlande werde
fast ausschließlich durch Mikroorganismen zerstört Es ist wohl mög-
lich, dafs der Zerfall und die Auflockerung bedeutender Gesteins-
massen der unsichtbaren Arbeit der Nitrobakterien zuzuschreiben ist
Auch die Tiere nehmen einen sichtbaren Anteil an den Vor-
gängen der Bodenbildung. Besonders beachtenswert ist die Tätigkeit
der Regenwürmer, die zuerst von Darwin untersucht wurde. Die
Regenwürmer durchsetzen den Boden mit unzähligen langen Gängen,
verschlucken Erde, lassen sie durch ihren Verdauungskanal passieren
und werfen sie dann an die Oberfläche in Form von ovalen oder
kugelförmigen Anhäufungen. Jedermann kann diese Häufchen Erde
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im Garten und Feld bemerken. Sie haben keinen dauernden Bestand
— der erste Kegen vernichtet sie. Indem der Wurm die nichtzer-
setzten organischen Reste verschluckt, verwandelt er sie in Humus
und wirft sie auf die Oberfläche. l)a die Würmer aber ihre Nah-
rung den tieferliegenden Schichten entnehmen, bewirken sie aufserdem
eine gleichmäfsigere Durchmischung der BodenbeBtandteile. Die Tätig-
keit der Würmer ist in einigen Gegenden überraschend. In England
könnten die Auswürfe dieser Tiere das ganze Land mit einer Sohicht
von t/a om Dicke bedecken, in Madagaskar sogar mit einer solchen
Schicht von 2 cm. Die Wälder von Dänemark haben aussohliefslich
den Würmern ihren fruchtbaren Boden zu verdanken. Die Ziesel,
Hamster, Murmeltiere und andere Nager spielen eine nicht minder
wichtige Rollo. In den südrussischen Steppen werfen sie Erdhaufen
aus, die zuweilen den zehnten Teil der Oberfläche bedeoken und bis
zu 18 — 25 Kubikmeter pro Quadratkilometer des Areals ausmachen.
Dio Insektenlarven üben zuweilen auch durch ihre massenhafte Ver-
einigung eine grofsartige Wirkung aus; manchmal konnte man schon
bis zu 5 Millionen Larven pro Quadratkilometer zählen.
Zwar ist in gewissen Fällen die Tätigkeit der Tiere ungeheuer,
aber nichtsdestoweniger fällt der Hauptanteil an der Bereicherung des
Bodens mit Humus, und somit an der Bodenbildung im allgemeinen, den
Pflanzen zu. Die verschiedenen Arten der Vegetation üben bei ihrem
vorherrschenden oder ausschlicfslichen Vorkommen eine verschiedene
Wirkung aus und bedingen einen bestimmten Aufbau und eine be-
stimmte Zusammensetzung der Böden. Die Bäume entsenden ihre
wassersuchenden Wurzeln in die Tiefe der Gesteine und breiten 6ie
auf grofse Entfernungen aus, können daher keine derartige Anhäufung
von Humus veranlassen, wie eine Grasdecke. Anderseits zerklüften
die Bäume mit ihren Wurzeln das Gestein in verschiedenen Rich-
tungen und veranlassen einen Zorfall des Urspruugsgestoins in lauter
Polyeder, was im Volke als nussartige Struktur des Bodens bezeichnet
wird. Anders w'irkt die Grasvegotation. Die Graswurzeln, zu einem
feinmaschigen Netz verflochten, liefern bei ihrer Verwesung grofse Men-
gen von Humus und bewirken eine vollkommene Durchmisohung der
organischen und der mineralischen Bodenbestandteile. Daher sind die
Steppenböden viel homogener als die Waldböden und übertreffen die
letzteren an Humusgehalt. So wird durch den Charakter der Vegetation
die Zusammensetzung und die Struktur des Bodens bedingt, und daher
werden innerhalb einer gegebenen physikalisch-hydrogra-
phischen Region, die du roh das Vorherrschen gewisser
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Vegetationsformen charakterisier! ist, auch die Böden mehr
oder weniger gleichartig sein.
Eine große Bedeutung für den Prozeß der Bodenbildung kommt
auch dem Klima zu. So muss sich z. B. im Südosten von Rufsland,
wo bei starkem Wassermangel ein Cberschufs an Wärme und Licht
herrscht, wo der Sommer lang und der Winter kurz ist, der Humus
außerordentlich langsam anhäufen. Hier ist der jährliche Zuwachs
der Vegetation fast genau gleich dem jährlichen Abgang an Humus;
daher ist der Boden durch geringen Gehalt an organischen Bestand-
teilen und dementsprechend durch eine schwache Färbung charakteri-
siert. Umgekehrt liegt das Verhältnis in Nordrufsland, wo bei der
weiten Verbreitung von Seen und Sümpfen ein Überschuß an Feuchtig-
keit besteht, und wo der jährliche Zuwachs an Humus den jährlichen
Abgang desselben übertrifft. Hier sind die dunklen Moorböden weit
verbreitet. Im äußersten Norden, wo der Sommer und die Vege-
tationsperiode kurz sind, sind die Bodenbildungsprozesse nur schwach
ausgesprochen. Endlich nimmt in den Ländern mit trockenem Kon-
tinentalklima, in nächster Nachbarschaft der Wüste, auch der Wind,
der große Staubmassen transportiert, einen wichtigen Anteil an der
Bildung der Bodenschicht. Kurz, die Eigenschaften des Bodens stehen
in innigem Zusammenhang mit dem Klima des Landes, und daher
müssen innerhalb eines gegebenen physikalisch-geographi-
schen Gebietes, sofern die klimatischen Verhältnisse
gleichartig bleiben, uueh die Böden mehr oder weniger
gleichartig sein.
Die Kenntnis der Bedingungen, unter denen die Böden entstehen,
führt uns zu einer höchst wichtigen Schlußfolgerung. Die Zusammen-
setzung, der Bau, die Farbe und überhaupt alle Haupteigenschaften
des Bodens werden durch die allgemeinen, in dem gegebenen physiko- /
geographischen Gebiet herrschenden Bedingungen bestimmt, also vor
allem durch Klima und Art der Vegetation. Ferner verwischt ja auch die
einfache Verwitterung, sofern sie unter analogen geographischen Verhält-
nissen verläuft, die ursprüngliche Verschiedenheit der Gesteinsarten.
Mit Rücksicht darauf kann aber die Verbreitung der hauptsäch-
lichen Bodentypen über die Erdoberfläche keine zufällige sein. Da
sowohl die klimatischen als die Vegetationszonen sich in gewisser
Folge vom Äquator bis zu den Polen ablösen, so müssen auch die
Böden in Zonen oder Gürteln, die einander in derselben Richtung
folgen, angeordnet sein. Professor N. M. Ssibirzew, der dieses Ge-
setz definitiv festgestellt hat, unterscheidet folgende sieben Bodenzonen:
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1. Zone der Lateritböden. Dies sind die Buden der tropi-
sohen und subtropischen Länder, wo die hohe Temperatur und Feuchtig-
keit eine tief eingreifende Verwitterung des Muttergesteins begünstigen
und zugleich eine energische Lebenstätigkeit der Bakterien, eine schnelle
Zersetzung der Pflanzenreste, eine reichliche Anhäufung salpetersaurer
Salze u. s. w.
Gebildet haben sich diese Böden aus Latenten, eigenartigen roten,
porösen Gesteinen, die in äquatorialen Gegenden eine weite Verbrei-
tung haben und ihrerseits durch Zerstörung von Gebirgen entstan-
den waren. Nach Richthofen „wächst die Mächtigkeit der lockeren
Lateritschicht fortwährend auf Kosten der sie unterlagernden Gesteine,
deren Zerstörung immer tiefer greift“. Übrigens erfolgt die Zunahme
dieser Ablagerung auch von der Oberfläche her: das fliefsende Wasser
und der Wind tragen feste Teilchen herbei, die sich ebenfalls in La-
tent verwandeln. Verschiedene Gosteinsarten, wie z. B. Gneise und
kristallinische Schiefer, Sedimente und Eruptivgesteine (etwa Basalte),
liefern das Material zur Bildung des Laterits, doch sind die mechani-
schen und chemischen Vorgänge, die diese Gesteinsart erzeugen, in
den Einzelheiten noch nicht aufgeklärt. Der durch die Tätigkeit der
tropischen Vegetation und der Würmer umgebildete Laterit gibt den
genannten Lateritböden den Ursprung. Diese Lateritböden haben einen
wechselnden Gehalt an Humus, gewöhnlich 1 — 2 °/0. Ihre Farbe ist
gelb, rot, himbeerrot oder schokoladenbraun; sie sind reich an Zer-
setzungsprodukten verschiedener Silikate. Man findet sie in Südost-
asien, Afrika, im tropischen Amerika, doch sind sie noch wenig unter-
sucht. Als Vertreter dieses Typus kann der indische „Regur“ dienen.
Diesem Typus nähern sich vielleicht auch einige rötliche Böden in
den heifsen und feuchten Gegenden Transkaukasiens, — Verwitte-
rungsprodukte des Grundgebirges auf primärer Lagerstätte.
■ 2. Atmosphiirenstaub- oder äolische Löfsböden sind in
den Zentralteilen der Kontinente verbreitet, wo ein scharf ausgespro-
chenes Kontinentalklima herrscht und wo die Verwitterung von einem
Ausblasen der Verwitterungsprodukte begleitet wird. Die Böden
dieses Typus entstehen unter der Mitwirkung einer Grasvegetation
aus Löfs, roter Erde und anderen staubartigen Ablagerungen und sind
in der Farbe hell, aschgrau, gelblichgrau oder rötlich. Die chemische
Zusammensetzung steht derjenigen dos Mutterbodens nahe. Sie sind
arm an Humus, von dem sie gewöhnlich 1 °/oi nie aber mehr als
2 Vs % enthalten und erreichen bei klumpig-mehliger, staubiger oder
feinkörniger Struktur zuweilen eine bedeutende Mächtigkeit. Zu diesem
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Typus gehören die Löfsböden von Turkeslan und Transkaspien, wo
es nur im Frühling und im Herbst regnet und wo im Sommer die
Hitze bis zu 60 0 C. steigt Die Luft ist immer mit einem gelblichen,
staubigen Nebel erfüllt. Hier entsteht die Humusschicht selbst unter
der Mitwirkung der atmosphärischen Ablagerungen. Im allgemeinen
ist der Boden dieser Gegend für das Pflanzen Wachstum günstig, doch
verlangen die Kulturfelder eine künstliche Bewässerung. Aufser
der aralokaspischen Niederung umfafst die in Rede stehende Boden-
zone einen beträchtlichen Teil des asiatischen Kontinents, nämlich:
die Lörsgebiete von China, den Nordwesten von Indien, den Iran,
Arabien — und in der Fortsetzung auch Nordafrika. In den Trocken-
gebieten von Amerika werden ebenfalls solche Staubböden beobachtet.
In der Südhemisphäre findet sich als Vertreter dieses Typus die rote
Erde des Hottentotten- und Betschuanalandes (Südafrika).
3. Die Böden der trockenen Steppen oder die Wüsten -
Steppenböden. Hierher gehören die Böden der Artemisia- und der
Artemisia-Kaktussteppen der nördlichen und südlichen Hemisphäre.
Sie bilden sich aus tonigera und sandigem Muttergestein und zeigen
eine braune oder graue Färbung. In letzterem Falle stellen sie auch
eine Reihe von Übergängen zur Schwarzerde dar. Die Zone dieser
Böden umfafst im europäischen Rufsland eine breite Fläche zwischen
dem Ural und dem Unterlauf der Wolga und setzt sioh fort in das
Manytschgebiet, in die Steppenzone der Krimhalbinsel und der Küsten
des Schwarzen Meeres. Im asiatischen Rufsland gehören Teile der
Gebiete Ural, Turgei, Akmolinsk und Ssemipalatinsk dieser Zone an.
In diesem ganzen, weiten Gebiet erfolgt die Verwitterung unter dem
Einflufs sporadischer Niederschläge und mangelnder Bodenfeuchtig-
keit. Die jährliche Niederschlagsmenge schwankt hier zwischen 30
und 40 cm. Mehr als ein Drittel davon entfällt auf die Sommer-
monate und unterliegt daher einer intensiven Verdunstung. Die
Sommerhitzen werden von versengenden Winden begleitet. Im Winter
herrscht strenge Kälte und wehen schneidige Winde (Schnee-
stürme, Burans), die den Schnee von der Steppe wegblasen.
Die Böden liegen daher lange Zeit vollkommen trocken, weshalb
die Verwitterungsprozesse nur sehr langsam fortsohreiten und nicht
auf eine beträchtliche Tiefe vorzudringen vermögen. Unter ge-
wissen Bedingungen entstehen sogar staubige Produkte. Die Vege-
tation dieser trockenen Steppe, die an die anhaltende, versengende
Hitze angepafst ist, siodelt sich in Horsten an und läfst den Boden
dazwischen völlig nackt. Unter den dörrenden Sonnenstrahlen
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verbrennt eie vollständig und zerfallt in Staub, der dann über die
Steppe hintreibt.
An Humus enthalten diese Böden etwa 2 n/„. Ihre Kultur wird
durch den Wassermangel erschwert. Die dunklen, kastanienbraunen
Böden liefern in günstigen Jahren vorzügliche Erträge an Weizen
und anderen Zerealien. Im Gebiete der hellbraunen Böden ist die
Viehzucht verbreitet. In Westeuropa gehören zu diesem Bodentypus
die Desertos des Innern von Spanien. In Nordamerika treffen wir
analoge Bodenarten in den Staaten Kalifornien, Kolorado, Neu-
Mexiko u. a. Zwar werden im Klima dieser Gegenden keine so ex-
tremen Temperaturschwankungen beobachtet wie in den trockenen
Steppen von Kufsland, aber der Mangel an Feuchtigkeit ist auch hier
maßgebend. Die Vegetation besteht auch hier aus stachligen und
kriechenden Kräutern, die gruppenweise wachsen, ferner aus Kaktus-
pflanzen und aus flachgedrückten Sträuchern. Auf der Südhemi-
sphäre sind die Böden dieses Typus in einigen Gegenden von Süd-
amerika vertreten.
4. Die Sohwarzerde oder Tschernosemböden sind an
Grasebenen oder Prärien der gemäfsigten Zone gebunden. Am voll-
kommensten entwickeln sie sich auf mergeligem oder mergelig tonigein
Muttergestein; sie bilden eine unterbrochene Zone um die ganze Erde,
und zwar finden wir sie in Osteuropa und in den entsprechenden
Teilen von Asien und Nordamerika, aber auch auf der Südhemisphäre
in dem Gebiet der südamerikanischen Pampas. Als charakteristischer
Vertreter dieses Bodentypus kann uns die russische Schwarzerde
(Tchernosem) dienen, welche im südlichen Drittel des europäischen
Kufsland ein Areal von 80 bis 100 Millionen Dessätinen (1 Dessätin
= 1,09 Hektar) einnimmt. Bald sich verbreiternd, bald sich ver-
engernd zieht sich der Streifen Schwarzerde von den Süd westgrenzen
Kufslands bis zur südlichen Hälfte der Uralkette. Die Breite des
Streifens schwankt zwischen 350 und 1000 Werst. Östlich vom Ural
findet die Schwarzerde ihre Fortsetzung in den südlichen Kreisen des
Gouvernements Perm, in den benachbarten Teilen des Gouvernements
Ufa, sowie im asiatischen Kufsland, namentlich in den Steppenteilen
der Gouvernements Tobolsk und Tomsk, zum Teil auoh der Gebiete
Akmolinsk und Ssemipalatinsk. in Ostsibirien bildet die Schwarzerde
keinen zusammenhängenden Gürtel, sondern kommt nur ileckeuweise
vor. Alle diese zusammenhängenden und inselartigen Tsohernosem-
vorkommnisse liegen in Kufsland zwischen 44° und 57 u N. Br. In
seinem Belief ist das Tschernosemgebiet durchaus Ebene, nur hie und
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da ist die Oberfläche der Steppe von Tobeln durchfurcht. Das Klima ist
vorwiegend kontinental, die jährliche Regenmenge schwankt zwischen
46 und 50 cm, und davon entfallen auf die Vegetationsperiode nicht
mehr als 30 cm. Gegenwärtig ist die Dürre eine gewöhnliche Er-
scheinung, doch waren die Feuchtigkeitsverhältnisse günstiger, bevor
die Steppe in Anbau genommen wurde. Das Schwarzerdegebiet von
Rufsland war nie ein Moor, wie es einige Gelehrten glaubten, sondern
stellte immer eine Grassteppe oder Prärie dar, wie sie noch jetzt in
Sibirien erhalten ist. Das typische Muttergestein ist der Löfs. Der
obere Horizont desselben ist dicht durchdrungen von Humusstoffen —
das ist eben die Schwarzerde. Übrigens entwickelt sich Schwarzerde
auch auf Kreide, auf Tonen, Mergeln u. s. w. Der Humusgehalt der
Schwarzerde ist im Durchschnitt 6—8—10%, doch kann er in extremen
Fällen bis auf 4% fallen und bis auf 16% steigen. Man kann somit
nach dem Humusgehalt mehrere Arten von Schwarzerde unterscheiden.
Der mineralische Bestandteil trägt nach den Analysen von Professor
Kostytschew wesentlich den Charakter des Muttergesteins, die
Struktur ist körnig. In Zeiten der Dürre zeigt die Schwarzerde eine
Tendenz zum Zerstäuben. Ungefähr mit denselben Eigenschuften tritt
die Schwarzerde in der ungarischen Ebene (Banat) und in Nordamerika
auf. Die Schwarzerde von der Südhemisphäre, etwa aus den Prärien
von Parana und Uruguay, ist der russischen Schwarzerde zum Ver-
wechseln ähnlich. Sie ist nach der Aussage von Professor N. M.
Ssibirzew von dem Tschernosera des Gouvernements Charkow oder
Poltawa nicht zu unterscheiden.
5. Graue Waldböden, auch die Böden der „ schwarzen“ Laub-
wälder. Sie sind in der sogenannten Vorsteppe (Predstepje) oder jener
Übergangszone zwischen Wald und Stoppe verbreitet, welche einen
vom Wald annektierten Teil der prähistorischen Steppe darstellt.
Diese grauen Waldböden stellen daher gewissermafsen eine degradierte,
d. h. durch die Arbeit der Wald Vegetation umgeänderte Schwarzerde
dar. Selbstverständlich bieten diese Böden eine Reihe unmerklicher
Übergänge zu den Böden der folgenden Zone. Hat der Wald vor relativ
kurzer Zeit die Steppe überzogen! dann finden wir in dem von ihm er-
oberten Gebiete die Schwarzerde in der ersten Stufe der Umbildung
vor. Hat aber die Waldvegetation längere Zeit eingewirkt, so finden
wir eine typische graue Erde mit drei scharf ausgeprägten Horizonten:
einen oberen l'/jbisö Decimeter mächtig, fast ohne jede Spur einer
bestimmten Struktur und durch graue, graubraune, oder dunkelgraue
Farbe auffallend. Der folgende Horizont zeigt die charakteristische
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nufsförmige Struktur, d. h. runde oder polyedrischc Brocken durch
leinen Quarz und mehlige Kieselerde getrennt; zu unterst endlich
finden wir das verwitterte Muttergestein — allerlei Tone, Mergel, Löfs
u. s. w. Der Humusgehalt sohwankt im oberen Horizont zwischen
3% — 6%, fällt im mittleren bis auf 2% — 1%. Höchst merkwürdig
sind die Versuche von Professor Kostytschew, welcher den Über-
gang von Schwarzerde in Waldboden künstlich reproduzierte. Zu
diesem Zwecke füllte er ein zylindrisches Gefafs mit Schwarzerde,
bedeckte es mit Blättern und unterhielt während drei Jahren die aus-
reichende Feuchtigkeit. Der Tschernosem verwandelte sich in graue
Erde mit 2>/2 % Humus. Dieses lehrreiche Experiment zeigt in an-
schaulicher Weise, wie sich die grauen Waldböden gebildet haben.
Die Zone dieser Böden hat einen vielfach geschlängelten Umrifs und
löst sich am Rande häuGg in Inseln auf. Sie zieht sich durch ganz
Zentralrufsland von den Gouvernements Ljublin und Wolhynien im
Westen bis zum Becken der Kama und Wjatka im Osten. Jenseits
des Ural wurden diese grauen Waldböden im südlichen Teile des
Gouvernements Tomsk angetroffen. Ein ihnen nahe verwandter Boden-
tvpus wurde in Galizien, in Ungarn und in Mitteldeutschland beob-
achtet Die Existenz von grauen Waldböden in Amerika kann kaum
bezweifelt werden; sie müssen in jenen Staaten liegen, wo die Prärien
von den Wäldern abgelöst zu werden beginnen.
6. Rasen- oder Podsolboden sind an die Zone des Nadel-
waldes gebunden. Im europäischen Rufsland nehmen sie nicht
weniger als % des Areals ein. Ihre Grenze ist sehr zerrissen, und
sie bilden eine Menge von zungenartigen und inselartigen Vorsprüngen
in die benachbarten Zonen. Die charakteristischen Merkmale dieser
Böden werden durch die Auslaugungsprozesse bedingt, welche unter
Einwirkung der Humussäuren, Krensäure und Akrensäure, vor sich
gegangen sind. Zum Schlüsse dieser Auslaugungsprozesse haben die
Zeolithen und anderen kieselhaltigen Bodenbestandteile ihre Basen ver-
loren und pulverförmige Hydrate der Kieselsäure ausgeschieden.
Diese bilden eben den charakteristischen weifsen und graulichen
mehligen Stoff, welcher als „Podsol* bezeichnet wird und den nie
fehlenden Bestandteil dieses „Podsolbodens“ bildet. Zuweilen bildet
der Podsol nur eine untergeordnete Beimischung, zuweilen aber
verdrängt er alle anderen Elemente vollständig. Die Rasenpodsolböden
haben eine helle Farbe. Sie enthalten nie mehr als 2 — 3"/ft Humus, dafür
aber 30% und darüber an Kieselsäure, ln jedem Boden der in Be-
tracht kommenden Zone treten scharf ausgeprägt zwei Horizonte zum
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Vorschein: ein oborer, hellgrauer, ohne jode bestimmte Struktur und
von wechselndem Kohäsionsgrad, je nach dem Gehalt an Lehm, Sand
und Humus; ein unterer weifser mit gelblichem oder bläulichem
Sohimmer stellt ganz reinen Podsol dar. In den untersten Lagen dieser
zweiten Sohioht bemerkt man zahlreiche Körner, Konkretionen,
Adern und selbst zusammenhängende Schichten von Ortstein, d. h.
einem dunkelbraunen Sandstein, dessen einzelne Körnchen durch
die von oben durchsickernden organischen Stoffe und Eisenoxyd ver-
kittet sind. Die Zone der Hasenpodsolböden setzt sich zweifellos in
das Waldgebiet (die Taiga) von Sibirien fort, dooh ist der Boden dort
noch wenig untersucht. In Westeuropa zieht sie sich in breiten
Streifen durch Korddeutschland, Dänemark, Skandinavien, Holland und
Frankreich. Anscheinend sind auch in Nordamerika, namentlich in
den britischen Besitzungen, die Rasenpodsolböden in demselben Grade
verbreitet wie in Rufsland.
7. Die Tuudraböden. Sie umfassen das ganze Polargebiet
und befinden sich in einem rudimentären Zustande. Sie enthalten
rohen Humus, doch nur im oberflächlichsten Horizont. Sie sind noch
wenig untersucht.
Alle wichtigen Bodentypen der Erde lassen sich auf die vor-
stehend beschriebenen sieben Hauptgruppen zurüokführen. Doch ist
das Antlitz der Erde in bezug auf die Bodenverteilung durchaus nicht
so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Innerhalb
einer jeden Zone finden wir eine aufserordentliche Mannigfaltigkeit
der Böden. Es gibt zahlreiche Arten von Schwarzerde, die sich sowohl
im Aussehen, als auch in der Zusammensetzung voneinander unter-
scheiden. So schwankt, wie oben erwähnt, der Ilumusgehalt zwischen
4% und 16%. Ebenso zeigt sich in der Zone der Hasenpodsolböden
eine grofse Anzahl von Varietäten. Diese ganze grofse Mannigfaltig-
keit der Subtypen unterliegt jedoch einer strengen GesetzmäfsigkeiL
Überall läfst sich die innige Beziehung zur Natur des Muttergesteins
und zum Relief des Landes verfolgen, und daher ist es möglich, die
Natur der Böden einer Gegend gleichsam vorauszusagen, wenn alle
in dieser Gegend wirksamen Elemente oder Faktoren der Bodenbildung
bekannt sind. Anderseits können wir trotz aller Mannigfaltigkeit der
Untertypen in allen Böden jene grofsen allgemeinen Züge verfolgen,
welche ihre Zugehörigkeit zu einer der genannten Hauptzonen be-
gründen.
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Die Buntheit der Bodenverteilung auf dem Antlitz der Erde wird
noch bedeutend gesteigert durch die zahllosen Übergänge, die die
einzelnen Haupltypen verbinden. Nur in seltenen Fallen beobachten
wir auf der Erde sprungweise, scharfe Veränderungen des Klima und
der Vegetation; gewöhnlich erfolgt der Wechsel der physisch-
geographisohen Bedingung allmählich und fast unmerklich. Daher
können auch die Bodenzonen nicht scharf voneinander getrennt sein.
So bilden z. B. die grauen Waldböden eine ganze Reihe von Über-
gangsstufen zu der Schwarzerde einerseits, zu den Podsolboden ander-
seits. Aus demselben Grunde stellen auch die Grenzen der Zonen
nirgends schematisch-regelmärsige Linien dar; sie sind aufserordentlich
gewunden und bilden zahlreiche Inseln und Zungen, die ins benach-
barte Gebiet eindringen. Endlich umgürtet keine einzige Zone den
ganzen Erdball in ununterbrochenem Band. Die typischen Böden
treten nur bänder- und fleckenartig auf, bald sich verbreiternd, bald
verengernd. Im Zusammenhang mit der Konfiguration der Kontinente
und ihrer Lage auf dem Erdball können einzelne Bodenzonen ganz
fehlen. So finden wir auf der Südhemisphäre gar keine grauen Wald-
böden, ebensowenig wie die Podsolboden. Jene Teile der Erdober-
fläche, wo diese Bodenzonen existieren könnten, sind dort vom Meer
bedeckt.
Die strenge Aufeinanderfolge der Bodenzonen wird ferner ge-
stört durch die Einwirkung lokaler orographischcr, geologischer und
klimatischer Bedingungen, welche eine Reihe von Bodentypen hervor-
bringen, die das Gesetz der Zonalität nicht befolgen, sondern nur hie
und da in einzelnen Inseln und Flecken zum Vorschein kommen. Es
sind dies die sogenannten Intrazonalen oder Azonalen Böden.
Der erstere Ausdruck bezieht sich auf nicht vollständig ausgebildete
Humusböden, der letztere auf solche, in deren Zusammensetzung das
noch unveränderte Muttergestein eine wichtige Rolle spielt.
Selbstverständlich bieten die Intrazonalböden sowohl in ihrer Zu-
sammensetzung, als auch in ihren Eigenschaften eine aufserordentliche
Mannigfaltigkeit dar. Wir wählen als Bespiele die am meisten ver-
breiteten Arten, nämlich die Salzböden, die humosen Karbonatböden
und die Sumpf- oder Moorböden.
Die Salzböden bilden sioh in den Fällen, wo die Muttergesteine
Salz enthalten. Ihr Auftreten ist nur in einem heifsen und trocknen
Klima möglich, wo der Mangel an Feuchtigkeit eine Auslaugung der
löslichen Salze verhindert. Die Salzböden sind aus allen Weltteilen
bekannt und treten fleckenweise in den Zonen der atmosphärischen
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Staubböden, der Steppen- und Sohwarzerdeböden auf. Wir finden sie
in ganz Süd-Hufsland, in Südwest-Sibirien, in Transkaspien und im
Turkestan. Sie enthalten etwa 8% Humus und nähern sioh in ihrer
Farbe den Böden derjenigen Zone, in deren Bereich Bie zum Vor-
schein kommen.
Die humosen Karbonatböden bilden sich aus Kalksteinen, Kreide
und Mergeln und zeichnen sioh durch reichen Qehalt an kohlensauren
Salzen aus. Zuweilen sind sie nur schwach entwickelt, zuweilen sehr
reich an Humus und haben dann eine dunkelgraue Farbe. Solchen
Boden trifft man z. B. in den Gouvernements Ljublin und Radom an.
Die Sumpf- oder Moorböden bilden sioh bei einem Übersohufs
an Feuchtigkeit. Sie enthalten viel Humus, in welchem organische
Säuren vorherrschen. Sie haben die weiteste Verbreitung in der Zone
der Rasenpodsolböden, so auch in Rufsland.
Zu den Azonalböden gehören die Skelettböden oder die groben,
aus festem Kiesgerölle und Sandgestein entstandenen Böden, sowie die
Alluvialböden, an deren Zusammensetzung die Flursablagerungen
wesentlichen Anteil nehmen. Erstere finden Bich in Gebirgsgegenden,
letztere in Flufstälern. Die Alluvialböden, welche auch in Rufsland eine
weite Verbreitung haben, bilden sioh wesentlich unter dem Einflufs
der Flufsiibersohwemmungen aus. Der mineralische Bestandteil der
Alluvialböden ist ziemlich mannigfaltig; der humose bildet sich auf
Kosten der Wiesenpflanzen, die die Übersohwemmungszonen bevölkern.
Infolge des Feuchtigkeitsüberschusses enthält dieser Boden eine grofse
Menge von Säuren. Beim Überschreiten der Übersohwentmungszone
bekommt der Boden die Eigenschaften derjenigen Zone, in deren Be-
reich er sich bofindet. Die Skelettböden, zum Teil auch die Alluvial-
böden zeigen charakteristische Beispiele der ersten Stadien der Boden-
bildung. Von ihnen ausgehend beobachten wir eine ganze Reihe von
übergangsstufen, die zum unveränderten Muttergestein hinübcrloiten.
überhaupt hat das Alter des Bodens eine sehr grofse Bedeutung.
Die Vorgänge der Verwitterung erfordern Zeit, die Vegetation siedelt
sich nur nach und nach auf den steinigen und sandigen Flächen an.
Je früher das Muttergestein zutage getreten ist, desto weiter sind
die Bodenbildungsprozesse fortgeschritten. Es ist ferner klar, dafs der
Boden nicht mit einer zusammenhängenden Decke die Kontinente der
Erde überziehen kann; die Böden existieren nur dort, wo alle zu ihrer
Bildung notwendigen Bedingungen gegeben sind. So sind z. B. die
von Gletschern bedeckten Gegenden frei von jedem Boden. In den
Tundren befinden sich die Bodenbildungsprozosso in einem rudiinen-
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tären Zustande. Ebenso stellt der frische, vom Meer ausgeworfene
Sand erst das Ausgangsmaterial dar, aus welohem auf dem Wege
langer Veränderungen der Ackerboden seinen Ursprung nehmen kann.
Die Buntheit der Bodenverteilung auf dem Antlitz der Erde wird
noch durch das Vorhandensein bedeutender Erhebungen gesteigert.
In Gebirgsgegenden sollte man erwarten, dafs sich die Böden in
vertikaler Richtung vom Fufs bis zum Gipfel in derselben Reihen-
folge ablösen, wie dies in horizontaler Richtung vom Äquator bis zum
Pol der Fall ist. In der Tat ist es dem Prof. W. W. Dokulsohajew
bei einer seiner Kaukasusreisen gelungen, einen solchen gesetzmüfsigen
Wechsel der Bodentypen festzustellen. Es ist lehrreich, dafs er da die
Schwarzerde gerade in einer Meereshöhe fand, in welcher die klima-
tischen Verhältnisse denjenigen der russischen Steppe nahestehen.
Anmerkung der Redaktion. Die Fortsetzung des Aufsatzes: „Im
Reiche des Äolus'* erfolgt im nächsten lieft
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Die letzte Montgolfiere in Berlin soll nach einer Notiz in den
illustrierten aeronautischen Mitteilungen im Jahre 1874 aufgestiegen
sein. Gemeint ist natürlich eine Montgolfiere mit einem veritablen
lebenden Luftschiffer. Diesmal war es ein Herr Bendet aus Paris,
der schon eine Weile die Litfafs-Säulen durch mächtige Reklame-
plakate verziert hatte. Er verhiefs auf ihnen, an einem Trapez auf-
zusteigen und dann allerhand akrobatische Kunststücke zu verriohten.
Die Füllung sollte im Holjäger oder im Albrechtshof vor sich gehen.
Bendet verstand offenbar, sein Publikum zu nehmen; denn er sprach
von einer ganz besonders geheimnisvollen Gasart, mit der die Füllung
vorgenommen werden sollte. Es war aber doch nichts anderes als
heiTse Luft. Der Zuschauer fand auf dem Platze der Tat einen vier-
eckigen Ofen aus Kalksteinen, etwa 1 >/a m hoch und 1 m im Geviert,
an einer Seite offen und oben mit einem Drahtgitter bedeckt. Auf
diesem Ofen hockte der grofse baumwollene Ballon und wurde einst-
weilen mit langen Stangen gestützt. Bald brannte ein lustiges Stroh-
feuer unter ihm und loderte bis mitten in den Ballon hinein, der sich
allmählig aufrichtete, dehnte und reckte, bis er fast eine Kugelgestalt
angenommen hatte. Ein Netzwerk besafs er nicht, wohl aber unten
an der Öffnung einen eisernen Ring mit einem Trapez. Endlich er-
schien der Luftschiffer selbst in einem hellen Matrosenanzug, stellte
sich auf das Trapez und gab das Signal zur Auffahrt. In diesem
Augenblick passierte ein Malheur. Herr Bendet wurde seitwärts ge-
schleudert, stiefs anscheinend mit seinem Schienbein einen Teil des
Kachelofens ein, dann erhob er sich reifsend schnell in die Lüfte,
grüfste das staunende Publikum freundlich vom Trapez herab, ver-
zichtete aber auf alle weiteren Kunststücke. Offeubar wollte er glauben
maohen, er habe sich bei der Auffahrt eine ernstliche Verletzung zu-
gezogen. Gleichzeitig ersohien seine Gattin aufgeregt auf dem Schau-
platz und rief dem Publikum zu, es sei ein goldenes Medaillon ver-
loren gegangen. Da sie aber französisch sprach, erreichte sie ihren
Zweck, die Zuschauer abzulenken, nur unvollkommen. Inzwischen
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näherte sich der Trapezkünstler mit immer zunehmender Geschwindig-
keit wieder der Erde und stiefs in einiger Entfernung vom Auflahrts-
platz zu Boden. Er kam diesmal mit heiler Haut davon, soll aber
später bei einem ähnlichen Versuoh den Hals gebrochen haben. Für
die Folge untersagte die Berliner Polizei derartige Kunststücke. — Die
Montgolfliren sind durch die Gasballons fast völlig verdrängt worden.
Man irrt jedoch, wenn man glaubt, sie fristeten nur noch als Kinder-
spielzeug ein kümmerliches Dasein. Für gewisse Zwecke wird auch
heute noch der Feuerballon gute Dienste leisten können, etwa als
Signal bei militärischen Übungen oder als Stationsballon für drahtlose
Telegraphie. D.
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Dr. Job. Stark: Dissoziierung und Umwandet ung chemischer Atome.
Braunschweig, Vieweg & Sohn. 1903. 55 Seiten.
Wie sich in der Physik und Chemio die atomistieche Hypothese der
Masse im Laufe der Zeit als außerordentlich fruchtbar bewiesen hat, so ge-
winnt heutzutage die atomistische Theorie der Elektrizität, die Elektronen-
theorie (vergl. Heft 8, 1903 dieser Zeitschrift) immer mehr an Boden. Das hat
besonders darin seinen Grund, daß die Eleklronentheorie in viele gänzlich
verworrene Gebiete Ordnung und System gebracht hat, dafs sie, und das ist
noch wesentlicher, neue Ausblicke in unbeschränktem Mafse gewährt. Voll-
kommen eingebürgert ist die moderne Hypothese in der Lehre von der elek-
trolytischen Spaltung (Dissoziierung). Kein Wunder, fallen doch ihre Grund-
lagen bereits ins Jahr 1800 (de Grotthus). Weiter ausgebildet wurde die neue
Lehre von Faraday (1834), Weber (1871), Stoney (1881) u. a. m. Besonders
in neuester Zeit sind unzählige bedeutende experimentelle und theoretische
Untersuchungen über das interessante Problem der Dissoziierung veröffentlicht
worden. Der Verfasser gibt im 1. Teil seines Buches einen Überblick über die
Elektronen- und Ionentheorie und wendet sich im 2, Teil zu den Erscheinungen
der Radioaktivität, jenem rätselhaften Phänomen, welches seit seiner Entdeckung
(Becquerel 1896) den Gelehrten fortwährend die gröfsten Überraschungen be-
reitet, von dem man zu Anfang glaubte, es würde das feststehendste aller fest-
stehenden Gesetze umstofsen, das Gesetz von der Erhaltung der Energie.
Dr. Stark versucht die Radioaktivität als energetische Erscheinungsform einer
geradläufigen Umwandelung chemischer Atome zu erklären, d. h. einer solchen
Umwandelung, bei der das Atom in Teile zerfällt, die sich nicht wie bei der
Ionisierung schliefslich wieder zu dem ursprünglichen Atom vereinigen, son-
dern die einen selbständigen neuen Stoff bilden.
Das Büchlein ist eine unveränderte Sonderausgabe dreier Abhandlungen
des Verfassers in der naturwissenschaftlichen Rundschau (neu hinzugekommeu
ist ein Anhang mit erklärenden Bemerkungen, vielen Literaturnachweisen,
theoretischen Auseinandersetzungen und ein Inhaltsverzeichnis). Es ist haupt-
sächlich für den naturwissenschaftlich vorgebildeten Laien bestimmt
Verlag: Hermann Paetel in Berlin. — Druck: Wilhelm Gronait's Bnchdrnckerel In Berlin -Schöneberg.
Fflr die Redaction verantwortlich : Dr. P. Scbwahn in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt dieser Zeitschrift nnteraagt.
Chereetsnngarecbt Vorbehalten.
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Fig. 1. Cumulus. Basis 1780 m, Gipfel 2660 m hoch.
Fig. 2. Gewitter- Cumulus. Gipfel 6390 m hoch.
Tafel I.
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Über Wolkenformen und deren Veränderungen.
Von Professor Ur. It. Siirilg in Berlin.
■fcs sind gerade hundert Jahre verflossen, seitdem der Engländer
Luke Howard den Vorschlag gemacht hat, die unendliche
Mannigfaltigkeit des Wolkenhimmels durch einige wenige deut-
liche und charakteristische Bezeichnungen in ein System einzuordnen,
d. h. die Wolken zu klassifizieren. Mit glücklichem Griffe — man möchte
fast sagen mit künstlerischem Scharfblicke — beschränkte er sich dabei
auf drei Hauptgruppen, und er hat es nicht zum wenigsten der Ein-
fachheit seines Systems zu danken, dafs die gleichzeitigen, aber viel
verwickelteren Klassifikations-Vorschläge des berühmten Lamarck
nicht durchdrangen. Howards drei Grundformen: dio Haufenwolke
(Cumulus), Schichtwolke (Stratus) und Foderwolkc (Uirrus) sind mit
vollem Hecht in fast jedem Schulbuche der Physik zu findeu, häufig
leider mit sehr minderwertigen, hinter den ursprünglichen Ho ward schon
Zeichnungen weit zurüokstehenden Abbildungen. Auch für die folgen-
den Ausführungen, welche zeigen sollen, wie sich in den Umformungen
der Wolken der Kreislauf der Atmosphäre zu erkennen gibt, soll von
der Howardschen Klassifikation ausgegangen werden.
Wenn sich die Meteorologen früher mit dem Studium der Wolken
beschäftigten, so geschah dies hauptsächlich aus zwei Gründen. Einer-
seits sollten die Wolken Aufschlüsse geben über die Luftströmungen
in der Höhe, andererseits erwartete man von ihnen Andeutungen für
den Bestand oder Wechsel des Witterungscharakters. Besondere in
letzter Hinsicht hat man sich meist zu grofsen Hoffnungen hingegeben.
Mühselige, aber schematische Beobachtungen und statistische Bearbei-
tungen derselben haben doch nur recht unvollkommene Wetterregeln
und unklare Vorstellungen über die Vorgängo im Luftmeere ergeben.
Himmel and Erd». 1904. XVI. S. 2'2
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Dagegen hal die Wolkenforsohung neuerdings nach anderer Richtung
hin erhebliche Fortschritte gemacht, teils durch physikalische Unter-
suchungen über die Ursache der Wolkenbildung, teils durch sorgfältige
Messungen von Höhe, Geschwindigkeit und Richtung nach international
vereinbartem Plane, teils durch direkte Betrachtung der Wolken aus
nächster Nähe bei Ballonfahrten.
Die Frage nach den Ursachen der Wolkenbildung ist in dieser
Zeitschrift schon früher durch den Direktor des Preufsischen Meteoro-
logischen Instituts, Herrn von Hczold, eingehend erörtert worden.1)
Die Entstehungsweise der grundlegenden Howardschen Typen, viel-
leicht mit Ausnahme der Cirren, ist hiernach ziemlich aufgeklärt; es
fehlen jedoch nooh manche Aufschlüsse darüber, wie sich die einmal
gebildeten Wolken weiter entwickeln, ob und welche Formen besonders
charakteristisch sind für gewisse Witterungszustände, und welche Um-
bildungen die Wolkon erfahren, wenn der Witterungscharakter ein
anderer wird. An Stelle der älteren Frage: Was sagt uns der Anblick
des Wolkenhimmels über das kommende Wetter aus, tritt neuerdings
die spezielle Aufgabe, einfach die wirklich stattfindenden Wolken-
modifikationen zu studieren, d. h. nicht nur zu beschreiben — die
Literatur hierüber läfst sich kaum nooh überblicken — , sondern nun
auch messend zu verfolgen und physikalisch zu erklären. Aus
gelegentlichen Notizen über die gerade vorhandenen Wolkenformen
lassen sich nur selten Schlüsse für das kommende Wetter ziehen; erst
das eifrige Verfolgen der an den Wolken sich vollziehenden Form-
änderungen kann hierfür benutzt werden. Darin liegen auch zum
Teil das Geheimnis und der Erfolg wetterkundiger Hirten, Jäger,
Müller, Bergführer u. s. w. Diese Leute begnügen sich nicht damit,
einmul einen Blick nach dem „Wetterwinkel“ zu werfen und dann
eine Prognose zu stellen, sondern ihre Anschauungen stützen sich
hauptsächlich auf das fortwährende Beobachten der Wolkenänderungen
vom frühen Morgen bis Sonnenuntergang. Soweit es angängig ist,
sollen daher in diesem Artikel die Wolken von ihrer Entstehung bis
zu ihrer Auflösung verfolgt werden.
Am leichtesten läfst sich die Entwicklung der Haufenwolke
(Cumulus) studieren. Wenn an einem warmen, klaren Sommermorgen
die Sonne einige Stunden geschienen hat, dann bilden sich kleine
Wölkchen, welche bald die charakteristische Form einer ebenen,
scharf abgeschnittenen unteren Fläche und einer sanft abgerundeten
') Himmel und Erde. VI. .Jahrg. 94) S. 201.
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oberen Begrenzung zeigen (Tafel I, Figur 1). Die Erklärung dieser
Wolkenform ist leicht gegeben und lange bekannt. Erwärmt sich die
Luft am Erdboden, so steigt sie in die Höhe und kühlt sich dabei in-
folge der geleisteten Expansionsarbeit um rund 1° für je 100 m Er-
hebung ab, vorausgesetzt, dafs keine Wärme von aufsen zugefiihrt
oder entzogen wird. Ist die Abkühlung so woit fortgeschritten, dafs
der Feuchtigkeitsgehalt der Luflmasse sich als Wasser ausscheiden
mufs, so zeigt sich die Höhenlinie dieses Prozesses als untere Wolken-
grenze. Ihre Höhe gibt uns somit Aufschluss über die Qieichgewichts-
verhältnisse in den unteren Luftschichten. Kennen wir die Temperatur
und Feuchtigkeit unten, so können wir daraus die normale Höhe der
unteren CumuluBgrenze berechnen; haben wir aufserdem die untere
Wolkengrenze direkt gemessen, so zeigt uns die Vergleichung zwischen
berechneter und gemessener Wolkenhöhe, ob Gleichgewicht in der
dazwischen liegenden Luftschicht herrsoht. Beispielsweise erreicht
eine aufsteigende Luftmasse von 15° Temperatur und 60 ®/0 relativer
Feuchtigkeit ihren Sättigungspunkt bei 5°, also wenn sie sich um
10° abgekühlt, d. h. um 1000 m gehoben hat Hier müssen Wolken
entstehen, wenn indifferentes Gleichgewicht in der Atmosphäre herrscht.
Ergibt aber die direkte Höhenmessung eine Cumulus-Basis von 2('00 m,
so kann sioh diese Wolke nicht unmittelbar infolge der Erwärmung
der untersten Luftschichten gebildet haben, sondern man mufs nach
anderen Ursachen für das Aufquellen der Wolken in jenen Höhen
suchen und wird diese in den meisten Fällen in einem starken Luft-
druckgefälle in dor Höhe finden, welches starke und ungleichmäfsige
Luftbewegungen und ein gewaltsames Emporreifsen der Luft von
unten her bedingt.
Es fragt sich nun, ob sioh schon in der Form der Cumulus-
wolke etwas über ihre Entstehung ausspricht. Darüber können nur
absolute Höhenmessungen Aufschlufs geben. Derartige Messungen
sind in Potsdam während der sogenannten internationalen Wolken-
jahre 1896 und 1897 ausgeführt worden2), und es hat sich dabei
eine gute Übereinstimmung zwischen berechneter und beobachteter
Cumulusbasis ergeben, wenn man die gewitterartigen Wolken aus-
*) Die folgenden Angaben stützen sieh im wesentlichen auf die Potsdamer
Woikonmessungen, welche als Veröffentlichung des Kgl. Preufstscben Meteoro-
logischen Instituts vor kurzem erschienen sind unter dem Titel: Krgebnisse der
Wolkenbeobschtungen in Potsdam und an einigen Hilfsstationen in Deutschland
in den Jahren 1896 und 1897. Von A. Sprung und R. Süring. Berlin
JAsher & Co.) 190.'!.
340
schlierst; für 200 Fälle betrug der mittlere Unterschied nur 85 m.
Eine solche Abweichung kann aber 6chon entstehen, wenn die
Temperatur unten um 1° oder die Feuchtigkeit um 2% falsch ange-
setzt worden ist. Bei Betrachtung der Einzelfälle zeigen sich jedoch
für bestimmte Formen der Wolken tatsächlich systematische Ab-
weichungen. Für Cumuli mit sanft abgerundeten Kuppen, wie in
Figur 1, kann man die Höhe mit einem Fehler von etwa 1 % aus
Temperatur und Feuchtigkeit unten berechnen. Etwa doppelt so un-
sicher ist die Rechnung in den häufig vorkommenden Fällen, wo der
Gipfel nicht sanft nach allen Seiten abfällt, sondern gleichsam über-
hängend, meist nach vorn geneigt ist Der obere Wolkenrand ist
dann in eine schneller bewegte Luftschicht gelangt, welche nicht nur
die obere Wolkenteile nach vorn reifst, sondern wohl auch ein be-
schleunigtes Aufsteigen der Luft von unten bedingt. Die Konden-
sation tritt infolgedessen schon früher ein, als die Berechnung für ein
indifferentes Gleichgewicht ergibt; es herrscht also, wenigstens für
kurze Streoken, labiles Gleichgewicht, und eine geringfügige Unregel-
mäfsigkeit in der Temperaturverteilung genügt schon, um das Gleich-
gewicht auszulösen und die relativ zu kalten, schworen Luftteilchen
als Regenschauer und Graupelböe wieder nach unten zu schallen.
Die besten Beispiele für diesen Vorgang findet man im Frühling im
sogenannten „Aprilwetter“, während im Sommer der labile Gleich-
gewichtszustand häufig schon in ganz goringer Höhe, noch bevor
Wolkenbildung eingetreten ist, ausgelöst wird; es entstehen dann
kurze, heftige Windstöfse und Staubwirbel. In einigen Gebirgstälern
mit steilen Wänden, wo die Luft wie in einem Kamin emporgesogen
wird, z. B. im Ampezzo-Tal in den Dolomiten, sind diese Windstöfse
um Mittag eine ständige Begleiterscheinung heifsen Wetters. An den
nach vorn geneigten Wolken lassen sich solche kleinen Umwälzungen
der Luftmassen manchmal direkt beobachten: in wenigen Sekunden
löst sich eine vorspringende Wolkenmasse auf, d. h. sie verdampft
im absteigenden Strom, während sich an anderer Stelle Wolken
schnell wieder zusammenbaUen. Derartige Beobachtungen lassen sich
auoh für prognostische Zwecke verwerten, da sie uns frühzeitig auf
die Luftunruhe in der Atmosphäre aufmerksam machen.
Nicht minder interessant als die vornüber geneigten sind die
steil ansteigenden und die spitz zulaufenden Cumulusformen. Sie
nehmen manchmal die Gestalt eines festen Turmes an, jedoch zeigt
die genauere Beobachtung, dafs diese Gebilde sehr rasch zerfallen,
um neuen, ähnlichen Platz zu machen, und die Höhenmessung be-
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341
stätigt, data sie sich nicht durch die gleichmäßige Wärmebewegung
vura Erdboden, sondern durch dynamische Kräfte in der Höhe, durch
Wirbelbildung entwickelt haben. Die Unterfläche solcher Wolken
liegt nämlich meist erheblich höher, als man nach der Rechnung
erwarten sollte. Am größten pflegt der Unterschied bei Gewitter-
wolken (Cumulo-Nimbus) zu sein (Tafel I, Figur 2). Die gigantischen
oberen Umrisse dieser Wolke, ihr unbestimmter, in Dunst verschwim-
mender unterer Rand unterscheiden sie meist schon äußerlich von
dem gewöhnlichen Wärme-Cumulus, aber es Anden doch so zahl-
reiche Übergänge zwischen beiden Formen statt, daß es sehr er-
wünscht ist, durch eine direkte Höhenmessung mehr Klarheit in das
Wesen der Wolken zu bringen. Die Potsdamer Messungen zeigen,
daß allen Haufenwolkcn mit ungewöhnlich hoch liegender Basis,
auch wenn sie zunächst nicht gewitterhaft aussahen, innerhalb von
12 Stunden ein Witterungsumsohlag: Regenböen oder Gewitter,
folgte. Es muß einstweilen zweifelhaft bleiben, ob es bei uns über-
haupt vorkommt, daß sich eine Gewitterwolke auf einer Basis auf-
baut, deren Höhe der Kondensationshöhe der vom Boden aufsteigenden
Luft enßpricht; zuweilen konnte sogar direkt beobachtet werden, daß
2—3000 m unterhalb der Gewitterwolke regelmäßige Wärme-Cumuli
schwammen. Man wird dadurch zu der Ansicht geführt, daß zur
Gewitterbildung selten eine eintägige intensive Überhitzung des
Bodens genügt, sondern dafs erst durch mehrtägige Bildungen von
Haufenwolken feuchte, relativ warme Luftmassen in die Höhe geführt
werden müssen, welche dann erst eines neuen Anstoßes meist wohl
dynamischer Kräfte, bedürfen, um sich zur Gewitterwolke umzubilden.
Daß dieser Vorgang über dem Flachlande für schwere Gewitter der
häufigere ist, wird auch durch ältere Wolkenbeobachtungen von
Clement Ley indirekt bestätigt Ley, welcher einer der eifrigsten
Wolkenforsoher Englands war, nennt als eines der sichersten Kenn-
zeichen für ein schweres Gewitter eine außerordentlich zierliche, hell-
glänzende Wolkenschicht auf welcher zahlreiche kleine Türme oder
Protuberanzen sitzen. Dieses Gebilde, für welches es auch die volks-
tümliche Bezeichnung „Donnerköpfe“ gibt, zeigt offenbar das erste
Stadium einer aufsteigenden Bewegung an, welche später zur Ent-
wickelung der eigentlichen Gewitterwolke führt. Da nun diese
Wolkenschieht sohr hoch liegt — selten unter 2000 m, meist über
3000 m — , und da sie sohon ganz früh morgens und spät abends
beobachtet worden ist, so ist es ausgeschlossen, dafs sie durch Er-
wärmung der untersten Lufßchiohten entstanden ist. Die Wolke ist
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somit geradezu ein Beweis für die Bedeutung der Vorgänge in den
oberen Luftschichten bei der üewitterbildung.
Bisher war meist nur von dem unteren Wolkenrand die Rede;
es mufs daher noch auf die Frage eingegangen werden, welche Dimen-
sionen die Wolken erlangen und wodurch die obere Abgrenzung
bedingt wird. Auch hier haben diePotsdamerMessungeneinigeAufschlüsse
gegeben. Bei den Vertikalbewegungen hat man zu unterscheiden
zwischen dem Aufquollen der Cumulusköpfe und dem Heben der ganzen
Wolkenmasse. Innerhalb der scheinbar so ruhig dahinschwebenden
Haufenwolken geht es recht stürmisch her. Die Luftschiffer haben
wiederholt berichtet, dafs hier starke und unregelmäfsige Wirbel-
bewegungen Vorkommen, welche den Ballon in heftige Schwankungen
versetzen und direkt in Gefahr bringen können. Es wird nicht zu
hoch gegriffen sein, wenn man annimmt, dafs hier Vertikalgeschwin-
digkeiten von mehreren Metern in der Sekunde Vorkommen. Diese
Wirbelbewegungen um eine horizontale Achse hängen offenbar mit
labilen Gleichgewichtszuständen bei dem Koudensationsprozefs zu-
sammen. Infolge eines solchen Aufquellens erreicht ein einfacher
Cumulus eine Dicke von etwa 600 m im Laufe des Vormittags. Das
Dickenwachstum scheint bald nach Mittag aufzuhören, während die
Wirbelbildungen wohl noch einige Zeit fortdauern. Erheblich gröfsero
Mächtigkeit haben die Gewitterwolken, nämlich im Mittel 2000 m und
in einzelnen Fällen bis zu 6000 in bei einer durchschnittlichen Höhe
der unteren Wolkenfläche von 2200 m. Der Cumulus wird aber nicht
nur dicker im Laufe des Tages, sondern er steigt auch als Ganzes in
die Höhe, allerdings sehr langsam, sobald nur thermodynamische
Kräfte (Temperatursteigerung der Luft am Erdboden) wirken. Die
Unterfläohe einer Haufenwolke hebt sich nur um etwa 2 in in der
Minute, also im Laufe von 12 Stunden um etwa 1000 m, und zwar
dauert dieses Ansteigen ziemlich gleichmäfsig an von der ersten Bil-
dung bis Sonnenuntergang. Für Gewitterwolken lassen sich einst-
weilen keine entsprechenden Daten geben, da die Wolken zu kurzen
Bestand haben und ihre unteren Ränder häufig durch Dunst und
andere Wolkenraassen verdeckt sind.
Für die obere Abgrenzung der Wolke ist zunächst die Kraft
des aufsteigenden Stromes mafsgebend, aber doch nicht ausschliefslich.
Fast immer setzt sich nämlich der Aufbau der Atmosphäre aus einer
Reihe von Schichten zusammen, welche wegen ihrer Verschiedenheit in
bezug auf Wärmegehalt, Bewegung und Richtung scharf voneinander
getrennt sind. Nur in Ausnahmefällen vermag die Haufenwolke in
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eine neue derartige Atmosphärenschicht einzudringen, sondern sie
breitet sich in der darunter liegenden aus. Von oben sehen der-
artig Wolken daher häufig ganz anders aus als von der Erde, be-
sonders am Nachmittag; an Stelle der aufquellenden Köpfe sieht man
eine ziemlich ebene, wenn auch vielfach durchbrochene Decke, aus
welcher nun einzelne Köpfe wie Riesenspargel herausragen. Aber
diese „durchgegangenen" Cumuli haben keine lange Lebensdauer; sie
trocknen in der anderen Luftschicht einfach weg. Von unten kann
man diesen Prozefs gegen Abend verfolgen, wenn die Haufenwolken
nicht mehr aufquellen: sie breiten sich alsdann scbichtförmig aus,
so dafs sie als Kombination von Cumulus und Stratus, als Strato-
Cumulus zu bezeichnen sind. Auch wenn diese Wolken schliefslich
ganz verschwinden, wird doch eine relativ feuchte Luftschicht be-
stehen bleiben, welche später bei weiterer Abkühlung zu neuer
Wolkenbildung führen kann. So entstehen jene groben Schäfchen-
wolken (Alto - Cumuli) , welche man häufig bei Sonnenaufgang sehen
kann. Je nachdem sich diese Wrolken wieder auflösen oder zu
Cumulus- und ähnlichen Wolken, z. B. den vorhin erwähnten
„Donnerköpfen“ verdichten, kann man auf Fortbestand des guten
Wetters oder auf einen Witterungsumschlag im I-aufe des Tages
rechnen. In dieselbe Kategorie läfst sich trotz der verschiedenen Form
der sogenannte „trockene“ Nebel einreihen, welcher sich am deutlichsten
in den oberen Teilen von Gebirgstälern zeigt. Es ist dies ein aufser-
ordentlich feiner Niederschlag in einer dunstigen Luftschicht, so dafs
man im Zweifel sein kann, ob man sich im Dunst oder im Nebel be-
findet; er bildet sich anscheinend dort, wo ein vom Boden oder an
den Berghangen aufsteigender und deshalb staubhaltiger Luftstrom zur
Ruhe gekommen ist. Auch wenn tagsüber keine Wolkenbildung
eingetreten ist, genügt nachts oder gegen Morgen — zur fceit
des Temperaturminimums — eine geringe Abkühlung, um schwache
Kondensation an den Staubteilchen hervorzubringen. Im allgemeinen
wird ein solcher Nebel das Kennzeichen eines gleichmäfsigen Luft-
austausches in den unteren Schichten und einer geringen Luftbewegung
sein; er gilt dementsprechend den Gebirgsbewohnern als Ankündigung
guten Weiters. Auch den Luftschiffern sind diese Übergangszustände
zwischen Nebel und Dunst wohlbekannt.
Durch die zuletzt angestellten Betrachtungen sind wir bereits
von der Besprechung der Wolken des aufsleigenden Stromes zu den
Sohicht- oder Stratuswolken hinübergeleitet worden. Für die Ent-
stehung von Schichtwolken sind hauptsächlich zwei Momente von Be^
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deutung: Abkühlung und Mischung ungleich warmer, feuchter,
horizontal bewegter Luftmassen. Bezüglich der näheren Bedingungen
für das Zustandekommen derartiger Wolken kann auf den schon vor-
her angezogenen Artikel des Herrn vonBezold (besonders S. 206 und
210) verwiesen werden. An dieser Stelle kommt es mehr darauf an,
zu zeigen, in welcher Form Schichtwolken auftreten. Die einfachsten
und niedrigsten Gebilde dieser Art sind der Nebel und jene gleich-
miifsige graue Wolkendecke, welche so typisch ist für trübe, dunkle
Wintertage. Für den Bestand dieser Walken sind Abkühlung von
unten und eine schneller bewegte oder anders gerichtete Luftströmung
am obern Rande notwendig. Die Auflösung erfolgt durch Erwärmung;
je nachdem diese Vernichtung von unten, d. h. vom Boden aus, oder
von oben beginnt, hat man den Eindruck, dafs der Nebel bezw. die
Wolke steigt oder fällt. Eine Wetterregel besagt, dafs auf „fallenden“
Nebel gutes Wetter folgt. Diese Regel wird dann eintreffen, wenn die
Auflösung von oben direkt durch Sonnenstrahlung geschieht — Die
winterliche Schichtwolke kommt vorwiegend in barometrischen Hoch-
druckgebieten vor und ist das Kennzeichen einer sehr stabilen Luft-
masse. Ihre Höhe liegt meist unter 1000 m, so dafs die gröfseren
Erhebungen der deutschen Mittelgebirge über sie hinausragen. Infolge-
dessen kehren sich die Witterungsunterschiede zwischen Tal und Berg
um: unten kalte, feuchte Luft, oben viel höhere Temperatur und starke
Sonnenstrahlung. Von oben gesehen hat man alsdann den Anblick
eines Wolkenmeeres, da sich die Nebelmassen in regelmüfsigen Ab-
ständen von einigen hundert Metern hintereinander reihen. Für diese
Form ist aufser der Abkühlung auch die Mischung verschieden tempe-
rierter Luftmassen mafsgebond.
Reine Mischungswolken sind in ihrem Anfangsstadium immer
aufserordentlich dünn; fast alle zarten Wolkengebilde gehören daher
zu dieser Kategorie. Zunächst die losen Wolkenfetzen, welche bei
böigein Wetter in geringer Höhe schnell über uns hinwegziehen und
den Eindruck zerrissener Haufenwolken machen. Sie führen den
Namen: Fracto-Cumulus — der Engländer nennt sie einfach Scud — ,
obgleich sie mit den Cumuluswolken wenig oder gamichts gemein
haben ; jedenfalls ist ihre Entstehung wohl immer unabhängig
von den Wärmeverhältnissen am Erdboden. In mittelhohen Schichten
erscheinen die Mischungswolken entweder als lange Wellenzüge
(Tafel II, Figur 3) oder als gruppenweise angeordnete, flockige
Massen, welche als Schäfchen- oder Lämmerwolken bekannt sind
(Tafel II, Figur 4). Der Meteorologe unterscheidet je nach der Höhe
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Fig. 3. Wogenwolken. Höhe 4820 m, Wellenlänge 440 m.
Fig. 4. Cirro- Cumulus. Höhe 5780 m.
Tafel II.
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zwei Arten: die derben, teilweise schon schattenwerfenden Alto-
Cutnuli (Höhe 3 — 4000 m) und die kleineren, zierlichen und helleren
Cirro-Cumuli (6 — 6000 m).
Die Entwicklung solcher Mischungswolken gestaltet sich in den
einfachsten Fällen etwa folgendermafsen. Wenn frühmorgens der
Himmel völlig wolkenlos ist, so wird der Wetterkundige dies nicht
ohne weiteres als das Anzeichen eines schönen Tages ansehen, sondern
er wird mit verdoppelter Aufmerksamkeit die Färbung des Himmels-
blau beachten. Er wird alsdann manchmar einen matten, weifsen
Anflug bemerken, der jedoch rasch wieder verschwindet, bis sich
plötzlich auf weite Erstreckung hin wogenförmig angeordnete Wolken
wie Wellenfurchen im Ufersand vor den Augen des Beobachters
bilden. Ebenso wie an der Grenzfläche von Luft und Wasser bei
stark bewegter Luft Wellen entstehen, treten auoh Luftwogen ein,
wenn leichtere Luft sohnell über schwerere hinwegstreicht. Ist die
untere Schicht nahezu mit Dampf gesättigt, so werden die in den
Wellenbergen gehobenen und dabei abgekühlten Luftmassen . ihren
Wasserdampf kondensieren und als parallele Wolkenstreifen erscheinen
(Fig. 3). Liegt in geringer Höhe darüber eine etwas anders gerichtete
Schioht, dann bildet sich ein zweites Wellensystem, und die bereits
vorhandenen Wolkenstreifen werden abermalB zerteilt, so dafs die
ganze Schicht ein Würfel- oder rautenförmiges Aussehen erhält (Fig. 4).
Der bildliche Vergleich mit einer über uns hinwegziehenden Herde
trifft dann tatsächlich gut zu. Die Dimensionen solcher Wogenwolken
lassen sich rechnerisch annähernd ermitteln aus den Geschwindig-
keits- und Temperaturunterschieden der sich mischenden Luftmassen.
Natürlich ergeben sich dabei sehr viel gröfsere Werte als für Wasser-
wellen, z. B. würden den Wellen einer sturmbewegten See (5 bis 10 m
Länge) Luftwellen von 15 bis 30 km Abstand und mehreren Kilo-
metern Höhe entsprechen. Wellen von dieser Gröfse würden abwärts
vordringend selbst die Luft am Erdboden in Bewegung setzen. Von
Helmholtz hat auf die Weise das böige Wetter mit periodischen
Windstöfsen und Regenschauern in etwa einstiindigen Intervallen
erklärt.
Für die Wolkenforschung interessieren uns zunäobst nur die
allerersten Stadien der Wogenbildung, also die kürzeren Wellen, denn
bei der weiteren Entwickelung mit fortdauernden Kondensationserschei-
nungen und Luftmischungen verschwindet der Eindruck der Wogen-
unordnung bald wieder. Es äufsert sich dies auoh darin, dafs die
Streifungsrichtung der Wogenwolken nur verhältnismäßig selten genau
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senkrecht zur Zugrichtung steht und dafs die Abweichung von
einem rechten Winkel durchschnittlich um so gröfser wird, je höher
die Wolke schwebt Letzteres rührt wahrscheinlich daher, dafs bei
den zarten oberen Wolken die Wogenbildung erst in einem ziemlich
weit vorgeschrittenen Stadium der Mischung für unser Auge sichtbar
wird. Was sich uns dann als Wogenwolken zeigt, 6ind also meist schon
durch anders gerichtete Luftströmungen stark verzerrte Wellen. Die
Dimensionen derselben wechseln sehr. Während in den Schichten
unterhalb von 2 km Höhe Wellenlängen bis zu 2f>0 m vorherrschen,
kommen in der Cirrusregion solche von 2000 m vor; besonders be-
vorzugt ist jedoch eine Höhenlage von 4000 m und hier wiederum
eine Wellenlänge von 45o m. Die Dicke von Wogenwolken ist gleich-
falls starken Schwankungen unterworfen; anfangs naturgemäfs sehr
gering, kann sie schon innerhalb einer Stunde bis zu 300 m anwachsen.
Beiläufig möge erwähnt werden, dafs Wogenwolken sich auch an den
Rändern ausgedehnter Schiohtwolken bilden, besonders dann, wenn sie
sich auflösen. Die Wogen sind dann also das Endstadium der Wolken-'
bildung und werden um so feiner, je länger sie bestehen.
Bezüglich der weiteren Entwickelung von Mischungswolken wurde
soeben schon erwähnt, dafs meist mehrere flache Luftschichten von
verschiedenem Wärmegehalt übereinander liegen, welche sioh allmäh-
lich vereinigen und so zu einer einzigen Wolkenmasse von mehreren
hundert Metern Mächtigkeit werden. Von unten gesehen läfst sich
liieser Vorgang in der Regel nieht verfolgen, dagegen recht gut vom
Ballon aus, wie folgendes Beispiel eines Aufstiegs von Berlin aus zeigt.
Bei unserer Abfahrt war es mit Ausnahme ganz vereinzelter hoher
Cirruswolken wolkenlos; etwa eine Stunde später bildeten sich typische
Alto-Cumuli, die in einer Höhe von 2200 m erreicht und bei 2500 m
überflogen wurden. Darüber hatten sich inzwischen noch drei weitere
Wolkenlager entwickelt, in denen leichter Schneefall herrschte, welche
aber trotzdem so dünn waren, dafs die Sonne hindurohdrang. Die
Trennungszonen waren um so schlechter zu definieren, je weiter der
Tag fortschritt. Erst in 4000 m befanden wir uns dauernd über
Wolken, Beim Abstieg schienen sich die verschiedenen Schichten
bereits zu einer ziemlich kompakten Schneewolke vereinigt zu haben,
und wenige Stunden nach der Landung folgte ein sanfter, aber er-
giebiger Regen. Da am Erdboden etwa 6° Wärme herrschte, hatte
sich der Schnee natürlich in Regen aufgelöst. — Xach Beobachtungen
von unten können wir eigentlich nur die Höhenänderungen der in-
einander übergehenden Formen und die gleichzeitigen Witterung«-
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Änderungen vergleichen. Was die Formänderungen Belbst betrifft, so
kann man als Grenzstadien die Ausbildung der Alto-Cumuli zur Regen-
wolke (Nimbus) und die Ausbildung zu den ballen- oder walzen-
artigen Gestalten des Strato-Cumulus unterscheiden. Eine Zwischenstufe
in dieser Entwicklung bildet in der Regel die strukturlose Schichtwolke
(Alto-Stratus), ein gleichmäfsiger Schleier von grauer Farbe, der jedoch
so dünn ist, dafs mau die Lage der Sonne wenigstens als hellen Schimmer
erkennt. Überwiegt nun in der Alto-Slratus-Wolke der Mischungs-
prozefs über die saugende Wirkung der oberen Luftströmung, d. h.
sind Geschwindigkeit und Richtung des oberen und unteren Stromes
wenig voneinander verschieden, oder sinkt sogar die Luftmasse ober-
halb des Alto-Stratus abwärts, dann wird die Wolke nicht nach oben
anwachsen können, sondern sie wird sich zerteilen, in einzelne Ballen
auflösen und so in die unbestimmten Formen des Strato-Cumulus über-
gehen. Diese Wolke macht immer einen unfertigen Eindruck und
bereitet dadurch viel Schwierigkeiten bei der Definition; bald ähnelt
sie dem Cumulus — wenn nämlich stellenweise aufwärts gerichtete
Kräfte ins Spiel treten, — bald ähnelt sie dem Alto-Stratus oder dem
Alto-Cumulus oder der Regenwolke. Ihre vertikale Mächtigkeit beträgt
durchschnittlich nur 3—400 m; heAiger Niederschlag ist also aus dem
Strato-Cumulus nicht zu erwarten.
Weit wichtiger a(j> die verschiedenartigen Gestalten des Strato-
Cumulus ist die Entwickelung der Mischungswolken zum Nimbus.
Derselbe entsteht — wiederum nur unter Berücksichtung des einfachsten
Falles — infolge der stark aufsteigenden Bewegung in der Umgebung
eines atmosphärischen Wirbels. Im Grenzgebiete zwischen barometri-
schem Maximum und Minimum bilden sich die ersten Wolken durch
Mischung, und diese werden bei dem Näherrücken des Minimums in
die Höhe getrieben. Der Nimbus hat also sowohl mit dem Stratus wie
mit dem Cumulus manche Ähnlichkeit; er unterscheidet sich von dem
Stratus durch den gröfseren Wassergehalt, er unterscheidet sich von
dem Cumulus durch das Fehlen labiler Gleichgewichtszustände im
Innern der Wolke. Am besten erkennt man die Verschiedenheiten vom
Luftballon aus. Durch die Regenw'olke steigt der Ballon ohne jegliche
Schwankungen und Wirbelbewegungen hindurch und wird dabei bald
völlig durchnäfst, während in der ilaufenwolke der Niederschlag sich
meist nur an vorspringenden und rauhen Teilen festsetzt, d. h. die
Kondensation beginnt erst bei der Berührung mit festen Körpern. Am
deutlichsten ist der Unterschied bei Temperaturen unter dem Gefrier-
punkt; im Nimbus Schnee- oder Eisnadelfall, im Cumulus Reif, bezw.
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Rauhreif. Die Regenwolken haben aufserdem die bei weitem gröfsten
Dimensionen; sie haben häufig eine Dicke von 3 — 4000 m, zuweilen
sogar über 6000 m und einen horizontalen Durchmesser von über
100 km. Bei solchen Ausmessungen verliert man natürlich bei Be-
obachtung von unten den Überblick über die Formen. Von oben ge-
sehen hat die Regenwolko eine leicht gewellte, zuweilen haubenförmige,
nach allen Seiten sanft abfallende Gestalt; sie erstreokt sich am höchsten
im Zentrum der Zyklone.
In den vorhergehenden Erörterungen sind die wichtigsten Formen
der unteren und milteihohen Wolken geschildert, und es bleiben somit
nur noch die höchsten Wolken, die Cirren oder Federwolken übrig.
Keine andere Wolkenart zeigt eine solche Fülle von Modifikationen —
sogar zu gleicher Zeit und auf engem Raum beieinander — , und man
begegnet daher auch häufig einem gewissen Pessimismus bei der
Deutung dieser Gebilde; sie sind anscheinend zu sehr „entartet“, um
ihren physikalischen Entwickelungsprozers verfolgen zu können.
Allerdings glaubte man früher, dafs nur horizontale Luftströmungen
für die Enstehung in Betracht kämen, und dafs in den Höhen
der Cirren (etwa 9000 ml fast stets dieselben Temperaturen
herrschten. Die Ballonfahrten und insbesondere die Aufstiege unbe-
mannter Registrierballons haben jedoch ergeben, dafs in diesen Höhen
die Temperatursohwankungen zwar geringer sind als am Erdboden,
aber doch immerhin so bedeutend, dafs für die Entwicklung der Cirren
auch thermodynamische Kräfte zu berücksichtigen sind. Auch in der
Cirrusregion werden sich daher Mischungswolken, Schiobtwolken
und Wolken des aufsteigendon Stromes bilden, aber die Wolkenränder
werden viel mehr auseinandergezogen werden, da sie aus Eisnadeln
bestehen und da in jenen Höhen fast immer Winde von Sturmesslärke
wehen. Unter Bezugnahme auf die vorher geschilderte Entwickelungs-
art der Mischungswolken kann man wenigstens einige Cirrusformen
jetzt vollständig verstehen.
Die meisten Cirren bilden sich wahrscheinlich in derselben Weise
wie die Mischungswolken in den mittleren Schichten. Am reinsten
spricht sich die Übereinanderlagerung verschieden gerichteter Luft-
strömungen in den Cirruswogen aus; auch diese Wogen kann man
vor seinen Augen am blauen Himmel entstehen sehen. Solche Wogen-
wolken aus Eis sind anscheinend viel weniger vergänglich als z. B.
die Alto-Cumuli, und sie w'erden daher von den horizontalen Luft-
strömungen weit fortgeführt und zu Fäden ausgezogen. Cirrus- Wogen
und Cirrnis-Füden sieht man häufig zusammen, und so entsteht wohl
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Fig. 5. Cirrus-Kamm. Höhe 6870 m.
Fig. 6. Cirrus - Schweif. Höhe 7610 m.
Tafel III.
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I
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die charakteristische Form des ausgekämmten Cirrus: nämlich breite
Wolkenbänder mit zarten Querstreifen. Tafel III Figur 5 stellt einen
solchen Cirrus-Kamm dar; die „Zähne“ des Kammes fallen hier nahezu
mit der Zugricbtung des ganzen Wolkensystems zusammen. Ein durch
verschieden gerichtete Strömungen zerzauster Streifen — vielleicht
der letzte Rest einer feuchten Strömung — ist auch der Cirrus-
Schweif, welcher oft recht drohend aussieht, jedooh ohne die Be-
ständigkeit des W’etters zu stören (Tafel III, Figur 0). Wenn die
Wolke am Horizont steht, hat sie Ähnlichkeit mit einer aufspritzenden
Welle, während tatsächlich die Ausläufer des Schweifes meist tiefer
liegen als die dahinter liegenden Schichten; es handelt sich hier also
offenbar um eine nach abwärts vorrückende und dabei sich aullösende
Wolke. Im Gegensatz zu diesen fadenförmigen Wolken stehen die
(lockigen Formen, bei denen die zunächst entstandene Cirrussohicht
einen vertikalen Antrieb nach oben erhält und sich nun zu leicht ge-
ballten Cirren umbildet. Die auffälligste der hierher gehörigen Formen
ist der Cirrus-Schopf oder die Cirrus-Kralle, nämlich Cirrus-Streifen —
manchmal von einer Schicht ausgehend — , welche sich vorn zu einem
Knäuel verdichten. Höhenmessungen haben ergeben, dafs dieser
Knäuel durchschnittlich um 350 m höher liegt als die hinteren Enden
der Streifen. Mit der Abwärtsbewegung steht es wohl indirekt im
Zusammenhang, dafs auf diese Form so häufig Regen folgt. Da es meist
mindestens 12 Stunden dauert, bis die Umbildungen so weit fortge-
schritten sind, dafs sich der Regen bildet, so ist dieser Cirrus für
Prognosen gut verwendbar. In naher Beziehung zum Cirrus- Schopf
stehen die Cirrus -Flocken. Der Übergang zwischen beiden Formen
läfst sich manchmal direkt beobachten; es verschwinden dann zuerst
die Streifen, und es bleibt nur der Schopf übrig, welcher sich nun
immer mehr ausbreitet und sich manchmal zu einer verfilzten Schicht
odor zu einer geschlossenen Decke umformt. Man pflegt diese letztere
Form als Cirro - Stratus zu bezeichnen. Eine solche Cirrus-Decke,
durch welche die Sonne — meist umgeben von einem farbigen Ringe
— matt hindurchscheint, ist ein häufiger Vorbote stärkerer Regenfillle.
Die anfangs hellen Schichten werden allmählich immer dunkler, da
die Wolkenbildungen in immer tiefere Schichten übergreifen, bis der
weiteren Entwickelung duroh Regenfall ein Ende bereitet wird.
W'enn nun auch durch neuere Forschungen manche Vorgänge am
Wolkenhimmel verständlicher geworden sind, so zeigt doch schon
die obige Darstellung, dafs wir bereits bei verhältnismäfsig einfachen
Prozessen an die Grenze unseres Wissens kommen. Aber anderseits
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zeigen auch die vorliegenden Ergebnisse, dafs eine Verfolgung der
bisher eingeschlagenen Forsohungsmethoden lohnend ist, d. h. dafs
möglichst eingehende Messungen der Wolken und Beobachtungen bei
Ballonfahrten fortgesetzt werden müssen. Es wäre sehr zu w'ünschen,
dafs nicht nur staatliche Institute, sondern auch private Liebhaber der
Naturwissenschaften ihr Interesse der Wolkenforsohung zuwenden.
Dafs dabei auch Erfolge für die praktische Witterungskunde
zu erwarten sind, konnte in diesem Aufsatze nur beiläufig erwähnt
werden.
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Zur Entwickelungsgeschichte der Lehre von
der Erdbewegung.
Von Prof. Dr. Wilhelm Foerster in Berlin.
%%
*' 'ÜJä ich vor kurzem in einem kleineren, nicht akademischen Kreise
■i ' einen Vortrag über die wissenschaftliche Bedeutung des
griechischen Astronomen Ptoleraaeus gehalten hatte, trat nach
dem Schlüsse des Vortrages einer der bejahrtesten Zuhörer an mich
heran und bekannte sieb als ganz unwissend und ungläubig in der
Astronomie. Vor allem könne er nicht an die Erdbewegung glauben,
da man doch irgend etwas von der Bewegung der Erde merken
müfsto.
Solche Äußerungen naiven Unglaubens sind für die gegen-
wärtige Zivilisation ebenso charakteristisch, wie die jetzt sehr häufig
vorkommenden Äußerungen naivsten Glaubens au die alte Sterndeuterei,
nämlich an die Regierung der menschlichen Schicksale durch die
Stellungen der Gestirne. Empfing ich doch selber in jüngster Zeit
den Besuch einer mir ganz fremden gebildeten Dame, welche mich
allen Ernstes darum ersuchte, ihr auf Grund ihrer (ieburtsstunde das
Horoskop für ihre künftigen Uebensschicksali; zu stellen.
Den sehr sicher auftretenden älteren Herrn, welcher nicht an
die Bewegung der Erde glauben konnte, vermochte ich natürlich nicht
mit wenigen Worten von seinen Zweifeln zu heilen. Ich konnte ihm
nur empfehlen, sich einem tüohtigen Volksschullehrer anzuvertrauen,
welcher in den höheren Klassen einer Gemeindesohule mit dem be-
züglichen Lehrgegenstande betraut sei, und stellte ihm anheim, sich
dort die elementaren Beweise von der Drehung der Erde und ihrer
Bewegung um die Sonne veranschaulichen zu lassen. Soviel ich aus
der kurzen Unterredung rait dem Zweifler entnehmen konnte, bestand
ein Hauptgrund, weshalb er an die Drehung der Erde nicht glauben
konnte, auch darin, dafs man eine solche Drehung an dem Zurück-
bleiben fallender Körper merken müsse.
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Es gibt sicherlich noch zahlreiche Menschen, auch in der Kultur-
weit, welche ähnliche Bedenken hegen, aber dieselben nicht zu äufsern
geneigt sind, weil sie eben Vertrauen zur Wissenschaft und soziale
Bescheidenheit besitzen. Sie haben besten Falles von diesen Dingen in
der Schule gehört, aber darüber doch so wenig nachgedacht, dafs sie
nicht imstande sind, gegenüber Zweiflern obiger Art selber irgend
eine wirksame Aufklärung zu geben.
Es wird deshalb gröfseren Kreisen willkommen sein, an dieser
Stelle einige Anregungen zu jenem Nachdenken und einige Anhalts-
punkte dafür zu empfangen. Wir wollen hierfür zunächst einmal den
Wortlaut der entsprechenden Betrachtungen wiedergeben, mit denen
Ptolemaeus (140 n. Chr.) die schon im Altertum aufgetauchten Lehren
von der Bewegung der Erde in seinem astronomischen Lehrbuch zu
widerlegen und die Ruhe der Erde zu beweisen suoht. Sodann soll
auoh der Wortlaut derjenigen Darlegungen raitgeteilt werden, mit
denen Kopernikus in seinem grofsen astronomischen Werke (1640
n. Chr.) die Bedenken deB Ptolemaeus bekämpft, und zum Schlufs
wollen wir unserseits einige Bemerkungen über dieses Thema hinzu-
fügen, denen sich eine kurze Erläuterung über Fragen der relativen
Bewegung zweckentsprechend anreihen wird.
• *
Ptolemaeus spricht zunächst im 0. Kapitel des I. Buches seines,
13 Büoher (Abschnitte) umfassenden Lehrbuches über die Möglichkeit
einer fortschreitenden Bewegung der Erde.
An erster Stelle wird auoh von ihm hierbei die Richtung des
freien Falles schwerer Körper gegen die Annahme einer fortschreitenden
Ortsveränderung der Erde ins Qefeoht geführt Es sei bewieson, dafs
diese Fallrichtung stets rechtwinklig erfolge zu einer Ebene, welche
die Kugelfläche der Erde an dem Orte des Falles berühre (mit anderen
W'orten: zu der Niveaufläche); mithin ziele die Fallrichtung stets nach
dem Mittelpunkte der Erdkugel. Hierbei hebt nun Ptolemaeus nicht
ausdrücklich hervor, dafs die Fallrichtung durch eine Ortsveränderung
der Erde während des Falles abgelenkt werden könne, sondern er er-
örtert an dieser Stelle nur in ziemlich unbestimmter Weise die Frage,
welche Schwierigkeit sich ergeben könne, wenn der Mittelpunkt der Erde
überhaupt nicht dauernd mit dem Mittelpunkte der Welt Zusammen-
falle, der damals noch einen gewissen Anspruch darauf zu haben schien,
dafs die Richtung des Falles oder der Anziehungskräfte nach ihm
hinziele.
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Dagegen wird es an dieser Stelle zur Sprache gebracht, es
könne paradox erscheinen, dafs eine so grobe Masse wie die Erde
weder auf einer Unterlage ruhen, noch von einer Bewegung ge-
tragen sein solle. Von diesem Bedenken sagt Ptolemaeus, dafs
dasselbe nach denjenigen Erfahrungen urteile, die man mit kleinen
Körpern mache, und nicht die gewaltige Gröfse der Verhältnisse im
Himmelsraume genügend in Betracht ziehe. Verglichen mit dem um-
gebenden Himmelsraume habe ja die Erde, so gewaltig ihre Masse
sei, nur die Gröfse eines Punktos, und hiernach sei es sehr wohl als
möglich zu erachten, dafs die Erde von allen Seiten des Universums
gelenkt und festgehalten werde durch die Kräfte, welche das unend-
lich grÖfsere und aus ähnlichen Teilen zusammengesetzte Universum
auf sie ausübe. Alle leichten und zarten StofTe würden, wie durch
einen Wind, nach oben, d. h. nach dem Umfange des Universums hin-
getrieben; dagegen seien die Bewegungen uller schweren und aus
dichten Teilen zusammengesetzten Körper nach der Mitte des Uni-
versums, wie gegen einen Mittelpunkt, gerichtet. Sie haben also die
Tendenz, sich durch die einander entgegengesetzten Wir-
kungen ihrer Bewegungsrichtungen und Stüfse um die Mitte herum
zu gruppieren. Man könne es aber verstehen, dafs die Gesamtmasse
der Erde, welche so beträchtlich ist im Verhältnis zu den Körpern,
die auf sie herabfallen, diese letzteren in ihrem Fallen aufnimmt, ohne
dafs deren Gewichtsgrüfsen und Geschwindigkeiten ihr selber auch
nur die geringste Bewegung mitteilen.
Wenn jedoch die Erde gemeinsam mit den anderen schweren
Körpern eine Bewegung im Baume hätte, würde sie dieselben sehr
bald an Geschwindigkeit der Bewegung durch die Gröfse ihrer Masse
übertreffen und also die Tiere in der Luft und die anderen schweren
Körper ohne anderen Anhalt als die Luft hinter sich lassen, ja sogar
bald die Himmelsräume verlassen haben. Alle derartigen Annahmen
aber seien, wie Ptolemaeus sich ausdrückt, von der äufsersten
Lächerlichkeit, sogar in der blofsen Idee.
Hier ist folgendes zur Erläuterung einzufiigen: Es war eine
schliefslich erst von Galilei ganz überwundene Illusion, dafs ein
Körper beim freien Fall sich um so schneller bewege, je schwere!- er
sei. Der Unterschied zwischen der Fallgeschwindigkeit einer Blei-
kugel und derjenigen einer Schneeflocke oder einer Feder hatte
bekanntlich diesen nachhaltigen Irrtum verschuldet, der die ganze
Bewegungslehre des Altertums und des Mittelalters getrübt hat, da
man den Luftwiderstand ganz aufser acht liefs, welcher allein den
Himmel und Erde. 1804. XVI 8. 23
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Unterschied zwischen jener Fallgeschwindigkeit kleiner Massen mit
relativ grofsen Oberflächen und der Fallgeschwindigkeit grofser Massen
mit relaliv kleiner Oberfläche bedingt, ein Unterschied, der sich unter
anderem auch bei der Art des Eindringens der kleinen und der grofsen
Meteorkörper in unsere Atmosphäre sehr bemerklich macht. Der
Sohlufs aber, welchen Ptolemaeus aus jener bekannten Urteils-
täuschung der alten Bewegungslehre auf eine ungeheure Geschwindig-
keit der Bewegung der ganzen Erde zieht, wenn dieselbe erst einmal
in Gang gebracht sei, dieser Schlufs ist wohl selber höchst wunderlich.
Es gibt Leute — fahrt Ptolemaeus fort — , welche zwar den
obigen Gründen gegen eine Ortsveränderung der Erde sich beugen,
sich aber doch nicht scheuen, anzunehmen, dafs, während der Himmel
unbeweglich sei, die Erde innerhalb eines Tages eine volle Umdrehung
um ihre Achse von West nach Ost ausführe, oder dafs beide, die
Erde und der Himmel, sich um eine und dieselbe Achse dreheD, und
zwar derartig, dafs dadurch die beobachteten Erscheinungen erklärt
würden. •
In der Tat, so fahrt Ptolemaeus fort, wenn man nur die
Himmels-Erscheinungen in Betracht ziehe, hindere vielleicht nichts,
im Interesse der gröfseren Einfachheit, eine solche Annahme hinsicht-
lich der Drehung der Erde zu machen, aber diese Leute fühlen,
wie Ptolemaeus sagt, gar nicht, wie sehr in Betracht aller derjenigen
Erscheinungen, welche um uns her und in der Luft vor sich gehen,
ihre Meinung lächerlich sei.
Sie würden nämlich genötigt sein, zuzugestehen, dafs eine Be-
wegung der in einer solchen Umdrehung befindlichen Erde eine viel
gröfsere Geschwindigkeit haben müfste, als irgend eine derjenigen
Bewegungen, welche auf der Erde oder in der Umgebung der Erde
stattfinden, weil dabei in einer so kurzen Zeit so grofse Umkreise
beschrieben werden müfsten. Diejenigen Körper, welche nicht auf der
Erde ruhen, müfsten dabei also stets den Anschein darbieten, als ob
sie sich in einer der Bewegung der Erde entgegengesetzten Richtung
bewegten; und weder die Wolken noch irgendein geworfener Körper
oder eines der Tiere, welche fliegen, könnten jemals nach Osten
bewegt erscheinen. Denn die Erde würde durch ihre eigene Bewe-
gung nach Osten ihnen immer in dieser Richtung voraneilen, der-
gestalt, dafs alle übrigen Körper den Anschein eines Zurückweichens
nach Westen darbieten würden.
Wenn man nun auch sagen wollte, dafs die Atmosphäre in der-
selben Geschwindigkeit wie die Erde mitbewegt werde, so müfsten
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doch die Körper, die sich in der Atmosphäre befinden, hinter dieser
gemeinsamen Geschwindigkeit der Erde und der Luft Zurückbleiben,
oder wenn auch auf sie dieselbe Geschwindigkeit übertragen würde,
als ob sie zusammen mit der Luft nur einen Körper bildeten, so würde
man von diesen in der Luft enthaltenen Körpern keinen naoh Osten
vorausgehen oder nach Westen Zurückbleiben sehen, sondern sie
könnten nur unbeweglich in der Luft erscheinen, und es würde keiner,
ob sie nun fliegen oder ob sie geworfen sind, seinen Ort verändern
können, was wir doch fortwährend Vorgehen sehen, ganz so, als ob
die Bewegung der Erde ihnen weder Hemmung noch Beschleunigung
verursachte.
Hier sehen wir also einen anderen grofsen Mangel der Bewegungs-
lehre der Alten in Erscheinung treten, nämlich das Fehlen einer
klaren und zutreffenden Vorstellung von dem Beharren in der Be-
wegung und zugleich von der Freiheit der relativen Bewegungen
innerhalb eines gemeinsam bewegten Systems von Körpern. Ptole-
maeus bemerkt es nicht, dafs, ebenso wie die Luft als mit der Erde
mitbewegt angenommen werden kann, wie er ausdrücklich als möglich
anerkennt, auch die in der Luft befindlichen Körper, die fliegenden
oder die geworfenen, andauernd mit denselben Bewegungs-Geschwin-
digkeiten und -Richtungen begabt bleiben, welche diejenigen festen
Teile der Erde hatten, von denen die fliegenden und geworfenen Körper
den Ausgang ihres Fluges oder Wurfes nahmen. Hierauf wird weiter
unten im Anschlufs an unsere Wahrnehmungen bei Eisenbahnfahrten
und dergleichen zurückzukommen sein.
Zunächst möge nun eine Zusammenfassung derjenigen Betrach-
tungen folgen, mit denen Kopernikus die Ansichten des Ptolemaeus
bekämpfe In dem epochemachenden Werke „über die kreisförmigen
Umlaufsbewegungen der Weltkörper“ sagt Kopernikus im 8. Kapitel
des ersten der sechs Bücher oder Abschnitte, aus denen das Werk
besteht, zur Widerlegung des Glaubens der Alten, dafs die Erde in
der Mitte der Welt, gleichsam als Mittelpunkt, ruhe, und dafs der
Himmel das Bewegte sei, zunächst das Folgende:
Ohne Grund fürohtet Ptolemaeus, dafs die Erde und alle duroh ihre
Umdrehung mitbewegten irdischen Gegenstände durch das Wirken der
Xaturkräfte auseinander gerissen werden könnten, denn dieses Wirken
ist ein ganz anderes als dasjenige der Technik, welches der mensch-
liche Geist zustande bringen kann. Warum fürchtet Ptolemaeus
nicht dasselbe, und zwar in viel höherem Mafse von der Himmels-
welt, deren Bewegung um ebensoviel schneller sein müfste, um wieviel
23 •
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die Himmelsräume größer sind als die Erde? Oder ist etwa die Himmels-
welt so unermeßlich grols dadurch geworden, dafs sie durch die un-
sägliche Gewalt einer solchen Drehung von der Mitte hinweg
geschleudert wurde und zusammenfallen würde, wenn sie still stände.
Wenn dies der Sachverhalt, wäre, würde ja die Größe des Himmels
ins Unendliche von dannen gehen; denn je stärker das Bewegte
selber durch diesen Anstoß in das Weite getrieben würde, desto
größer müßte auch seine Geschwindigkeit werden wegen des immer
wachsenden Kreisumfanges, den es in dem Zeitraum von 24 Stunden
zu durchlaufen hat; und umgekehrt, wenn die Geschwindigkeit wüchse,
müßte auch die Ausdehnung der Himmelswelt maßlos wachsen. So
würden (bei der notorisch konstanten Tagesdauer) Geschwindigkeit und
Ausdehnung der Himmelswelt sich gegenseitig ins Unbegrenzte
steigern.
Kopernikus fährt dann nach einer kurzen Betrachtung über
die Unendlichkeit der Welt folgendermaßen fort; Ob nun die Welt
endlich oder unendlich sei, wollen wir dem Streite der Meinungen
überlassen; sicher bleibt uns dies, daß die Erde, zwischen Polen ein-
geschlossen, von einer kugelförmigen Oberllächo begrenzt ist Warum
wollen wir also Anstand nehmen, eine von Natur ihr zukommende, ihrer
Form entsprechende Beweglichkeit ihr zuzugestehen, eher als an-
zunehmen, dafs die ganze Welt, deren Grenze nicht gekannt wird und
nicht gekannt werden kann, sich bewege, und warum wollen wir
nioht bekennen, daß der Schein einer täglichen Umdrehung dem
Himmel, die Wirklichkeit derselben aber der Erde angehöre, und
daß es sich daher hiermit so verhalte, wie wenn Virgils Aeneas
sagt: „Wir laufen aus dem Hafen aus, und Länder und Städte weioheu
zurück“. Weil, wenn ein Schiff ruhig dahinfährt, alles, was außer-
halb desselben ist, von den Schiffern so gesehen wird, als ob es nach
dem Vorbilde der Bewegung des Schiffes sich bewege, und die
Schiffer umgekehrt der Meinung sein können, daß sie mit allem,
was sie bei sioh haben, ruhen: so kann es sich ohne Zweifel mit der
Bewegung der Erde ebenso verhalten und scheinen, als ob die ganze
Welt sich drehe. Was sollen wir nun über die Wolken und das
übrige irgendwie in der Luft Schwebende oder Fallende oder in d e
Höhe Steigende sagen, als dafs nicht nur die Erde sich mit den ihr ver-
bundenen wässerigen Elementen so bewege, sondern auch ein nicht ge-
ringer Teil der Luft, und was sonst noch auf dieselbe Weise mit der
Erde verknüpft ist; — sei es nun, daß die zunächst liegende Luft,
mit erdiger und wässeriger Matorie vermischt, derselben Natur wie d e
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Erde, folgt, sei eB, dafs der Luft die Bewegung mitgeteilt worden ist,
indem sie mittels der Berührung mit der Erde und vermöge des
Widerstandes durch die fortwährende Umdrehung ganz derselben Be-
wegung teilhaftig wird. Man behauptet aber wiederum zu gleicher
Verwunderung, dafs die höchste Gegend der Luft der himmlischen
Bewegung folge, was jene plötzlioh erscheinenden Gestirne, welche
von den Griechen Kometen oder Bartsterne genannt werden, verraten
sollen, für deren Entstehung man eben jene Gegend anweist und
welche gleich den anderen Gestirnen ebenfalls auf- und untergehen.
Wir können sagen, dafs jener Teil der Luft wegen Beiner grofsen
Entfernung von der Erde von der irdischen Bewegung freigeblieben
sei. Daher wird die Luft, welohe der Erde am nächsten liegt, ruhig
erscheinen und ebenso die in ihr schwebenden Gegenstände, wenn sie
nicht vom Winde oder von irgend einer anderen äufseren Kraft, wie
es der Zufall mit sich bringt, hin- und hergetrieben werden; denn
was ist der Wind in der Luft anderes, als die Flut im Meere?
Nach einer längeren an Aristoteles anknüpfenden Erörterung
über die gradlinige und die kreisförmige Bewegung schliefst dann
Kopernikus die ganze Betrachtung mit folgenden Sätzen: „Es kommt
nun hinzu, dafs der Zustand der Unbeweglichkeit für edler und gött-
licher gehalten wird, als der der Veränderung und Unbeständigkeit,
welcher letztere deshalb eher der Erde als der Welt zukommt, und
ich füge noch hinzu, dafs es widersinnig erscheint, dem Enthaltenden
und Setzenden eine Bewegung zuzuschreiben und nioht vielmehr dem
Enthaltenen und Gesetzten, welches die Erde ist* Kopernikus
schliefst das betreffende Kapitel mit den Worten: „Man sieht also, dafs
aus allem diesem die Bewegung der Erde wahrscheinlicher ist als
ihre Ruhe, zumal in bezug auf die tägliche Umdrehung, welche der
Erde am eigentümlichsten ist.“
Die obigen Zitate aus den Orginalwerken von Ptolemaeus
und Kopernikus werden bei allem geschichtlichen und biogra-
phischen Interesse, welches sie darbieten, sehr gemischte Eindrücke
hinterlassen. So sehr die Auffassungen von Kopernikus offenbar
die zum Teil sehr kindlichen Darlegungen von Ptolemaeus an
Helligkeit und an Verständnis der Bewegungserscheinungen über-
ragen, sind doch auch die obigen Aufsagungen von Kopernikus
noch reoht weit entfernt von beweiskräftiger Strenge. Und noch viel
stärker würde dieser Eindruck sein, wenn ich noch diejenigen seiner
Äufserungen wiedergegeben hätte, in denen er sich in symbolisierende
Betrachtungen über Ruhe und Bewegung, sowie über die verschiedenen
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Arten der Bewegung verliert und neben der geradlinigen Bewegung
nur der kreisförmigen eine kosmische Bedeutung zuspricht.
Die gewaltige und epochemachende Leistung des Kopernikus
für die Erkenntnis der Erdbewegung ist in ganz anderen Kapiteln
seines Buches enthalten, welche für den Mathematiker und Astronomen
den vollständig zwingenden Nachweis dafür erbringen, dafs die
Bewegungserscheinungen der Planeten auf keine andere Weise er-
schöpfend und zutreffend erklärt werden können, als durch die per-
spektivischen Wirkungen der jährlichen Ortsveränderung der Erde, wo-
bei sich dann die Bewegung der Erde um die Sonne in voller Strenge
mit dem Nachweise ihrer täglichen Umdrehung verbindet. In der Tat
konnte ja, wenn die Erde nicht mehr im Mittelpunkte der Himmels-
welt ruhte, von einem täglichen Umschwünge des Himmels selber
um die wandernde Erde gar keine Uede mehr sein.
Später sind dann durch Kepler, Galilei und Newton diese
mathematischen Nachweise der Bewegungen der Erde mit Hin-
zuziehung von immer feineren Messungen zu einer völlig unwiderleg-
lichen Stärke entwickelt worden, und naoh der Feststellung der Mefs-
barkeit der Geschwindigkeit der Lichtfortpflanzung und des Wesens
der Sternschnuppen- und Meteor-Erscheinungen sind auch noch ganz
neue Naohweise für alle jene Bewegungsvorgänge hinzugekommen,
Nachweise, welche sich mit den von Kopernikus ans Licht gestellten
in wundervollster Übereinstimmung verbinden.
Der oben im Eingang erwähnte ältere Herr, welcher durchaus
danach verlangte, von der Bewegung der Erde womöglich mit allen
seinen Sinnen deutliche Anzeichen zu spüren, bevor er daran glaubte,
er wird weder durch die obigen Äusserungen von Kopernikus
noch durch die oben erwähnten, im Sinne wissenschaftlicher Evidenz
zwingenden Nachweise überzeugt werden.
Ich will daher für seinesgleichen und noch mehr im Interesse
der viel zahlreicheren lieben Leute, welcho ihre Zweifel haben, aber
dieselben mit Selbstbescheidung zurückhalten, noch einige Betrach-
tungen über die Frage der Wahrnehmbarkeit von Bewegungen und
über die mitten in stärkster Bewegung mögliche Ruheempfindung an
dieser Stelle hinzufügen und auch nooh auf einige Erscheinungen
binweisen, welche schon innerhalb der Erdenwelt selber für ver-
feinerte Wahrnehmungen die Wirkungen der Erdbewegungen deutlich
erkennbar maolien.
Wenn wir an der ohne unsere direkte Mitwirkung vor sich gehenden
Bewegung eines gröfseren Massensystems, z. B. irgendeines Fahrzeuges.
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das uns trägt, selber ohne absichtliche eigeno Bewegung teilnehmen,
so gibt es schon auf der Erde zahlreiche Fälle, in denen wir, sogar
bei grofser Geschwindigkeit des Fahrzeuges, uns im Räume als ganz
unbewegt empfinden. Ein Luftballon, welcher Uber einem Nebel- oder
Wolken-Meere von völlig gleichmäßiger Oberfläche, den wolkenlosen
blauen Himmel Uber sich, mit Sturmgeschwindigkeit einherfliegt, ge-
währt dem LuftschitTer ganz dasselbe Gefühl der Ruhe, welches wir
auf der durch den Himmelsraum so sohnell bewegten Erde empfinden.
Die Luftschiffer in der Gondel sind dabei mitten in ihrem schnellen
Fluge ebenso frei und ungehindert in ihren eigenen Stellungs- und
Orts- Veränderungen innerhalb der Gondel, als ob sie in absoluter
Ruhe wären.
Auch auf einem der grofsen Sohnelldampfer im Ozean kann unter
Umständen andauernd dasselbe Gefühl der ruhevollsten Unbewegtheit
eintreten, wenn das Meer weithin ganz still, das Ufer aufser Sioht
ist und sonstige Nebenwirkungen der Bewegung, wie die Erschütte-
rungen durch die Maschinen, das Rauschen des Wassers an den
Schiffswänden, und der Luftzug an dem Orte des Beobachters auf
dem Schiff nur in geringem Grade wahrnehmbar sind.
Auf der Eisenbahn ist ein solches Gefühl der Ruhe mitten in
schnellster Bewegung nur ganz vorübergehend möglich, weil dort die
bewegten Fahrzeuge im allgemeinen unregelmäßigere und stärkere
Stöße sowie stärkere und schnellere Veränderungen der Richtung
und Geschwindigkeit ihrer Bewegung erfahren. Bekanntlich kann
man aber im Anfänge der Bewegung eines Eisenbahnzuges kurze
Zeit lang sich noch für ruhend halten und, wenn man die Augen
bloß auf einen benachbarten, noch stillstehenden Eisenbahnzug richtet,
diesen letzteren irrtümlich als den bereits in Bewegung übergehenden
an sehen.
Anders wird dies freilich, sobald man die Blicke nicht bloß auf
solche Gegenstände wendet, welche selber in entsprechender Weise
bewegt sein können, sondern auf Gegenstände, von denen man
weiß, daß sie still stehen. An diesen erkennt man dann sofort, daß
man schon selber in Bewegung begriffen ist
Bei einer Eisenbahnfabrt kann man übrigens in jedem Augen-
blicke eine Wahrnehmung machen, welche sofort die bei den oben
erwähnten Zweifeln über die Bewegung der Erde eine gewisse Rolle
spielende Frage erledigt, weshalb denn die freifallenden Gegenstände
nicht hinter der Bewegung der Erde Zurückbleiben.
Daß in der Tat, wie oben an der bezüglichen Stelle schon be-
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merkt, auch der freifallende Gegenstand sich noch in derselben Ge-
schwindigkeit und Richtung weiter bewegt wie diejenige, in fester
Verbindung mit dem Erdkörper stehende Stelle, von welcher der
„freie“ Fall den Ausgang nimmt, kann man im Eisenbahncoupe sofort
daran erkennen, dafs irgend ein Gegenstand, der dort ins Fallen
kommt, auch nahezu lotrecht herabfällt, während er doch nach der
primitiven Ansohauung hinter der Bewegung dos Wagens während
des Falles erheblich Zurückbleiben müfste. In einem Schnellzuge,
weloher eine Geschwindigkeit von etwa 20 Meter in der Sekunde hat,
müfste dieses Zurückbleiben in der halben Sekunde, welche etwa ein
Koffer braucht, um aus dem Konsolnetz in der Nähe der Decke des
Coupes bis auf die Sitzflächen desselben herabzufallen, nahezu das
Acht- bis Zehnfache des kürzesten Abstandes der beiden Sitzreihen
voneinander betragen. Die ganze Bewegung würde sich also gemäfs
der Auffassung der Alten in keiner Weise als ein nahezu lotrechtes
Fallen, sondern vielmehr, wenn der Gegenstand an der vorderen Seite
des Coupes herablallt, als eine fast horizontale Hin wegschleuder Ling-
vo n der vorderen bis zur hinteren Coupöwand darstellen müssen.
Besonders deutlich würde sich aber für den Zweifler die ganze
Mitbewegung erkennbar machen, wenn er selber aus dem Coupe
hinausliele oder spränge und dann mit den an der Fahrt nicht teil-
nehmenden festen Gegenständen der Bahn in sehr unsanfte Berührung
käme. Gerade bei einer dem letzteren Fall verwandten Wahrnehmung-
werden aber sehr leicht kindliohe Urteilsfehler begangen, wenn man
nämlich einen sehr leichten Gegenstand, z. B. zusammengerolltes
Papier, aus dem Coupefenster fallen läfst und dann infolge des starken
Luftwiderstandes ein sofortiges Zurückbleiben des Gegenstandes be-
merkt, Dies erinnert dann wieder an den Schlufsfehler, den die ganze
Bewegungslehre des Altertums in betreff der anscheinend verschiedenen
Geschwindigkeit des Fallens sogenannter schwerer und sogenannte»"
leichter Körper infolge der Wirkungen des Luftwiderstandes be-
gangen hat.
Die Bewegungen der Erde vollziehen sich nun offenbar, sowohl
was die Geschwindigkeit als die Richtung betrifft, mit einer so voll-
kommenen Stetigkeit, dafs wir weder in den natürlichen Bewegungen
innerhalb der Erdenwelt, z. B. in den Strömungen der Gewässer und
der Luft, noch in den von uns veranstalteten künstlichen Bewegungen
unserer Fahrzeuge irgend etwas ähnliches aufzuweisen haben. Es
fehlt uns demnach für die gewöhnliche instinktive Erfahrung
jeder aus dem Verlaufe der Bewegungen der Erde irgendwie un-
36 t
mittelbar zu entnehmende Anhalt für die Ortsveränderungen dieses
unseres gewaltigen natürlichen Fahrzeuges. Zugleich sind wir im
llimmelsraume umgeben von Gegenständen, bei denen wir ihre von
uns deutlioh wahrgenommene rolative Ortsveränderung im Raume sehr
wohl als eine ihnen selber zukommende Bewegung in der-
selben Weise annehmen können, wie wir im Beginne der Bewegung
unseres Eisenbahnzuges, bevor noch merkliche Stöfse im Verlaufe
derselben eintretcn, einen benachbarten, in Wirklichkeit noch still-
stehenden Eisenbahnzug bewegt zu sehen glauben. Wir haben nämlich
von vornherein keine bestimmten Anhaltspunkte dafür, dafs die Ge-
stirne im llimmelsraume an sich unbeweglich seien. Vielmehr sehen
wir im HimmelBraume ganz deutlich allerhand relative Bewegungen
der verschiedenen Gestirne gegeneinander, z. B. die innerhalb einer
Stunde schon Tür blofse Schätzungen mit dem Auge, also bereits für
die primitivste Menschenkultur erkennbare Ortsverämlerung des Mondes
unter den Sternen an der tlimmelsfläche, ebenso die Ortsveränderungen
der Planeten innerhalb der Sternenbilder, ferner auch die Stern-
schnuppenersoheinungen, bei denen wir sogar die Illusion haben, dafs
sich einer der Sterne von der Himmelslläche gelöst und in schnelle
Bewegung gesetzt hat.
Es war also durchaus das Nächstliegende, dafs die Menschheit
die relativen Ortsveränderungen, die sie in dem umgebenden Himmels-
raume, z. B. auch so deutlich bei den Auf- und Untergängen der Gestirne
wahrnahm, ausschliefslich den Himmelskörpern zuschrieb und unser,
in seiner grofsen Stetigkeit so unmorklich bewegtes Fahrzeug „Erde“
zunächst in Ruhe verbleiben liefs, bis dann die Zeiten kamen, in
denen sich aus jenen relativen Ortsveränderungen der Gestirne an
der Himmelsfläche bestimmte Bewegungsformen derselben ergaben,
welche mit Notwendigkeit auf die Bewegungen der Erde als eine
gemeinsame Ursache des blofsen Augenscheins jener relativen Be-
wegungen oder wenigstens eines Teiles derselben hinwiesen, geradeso
wie wir schliefslich die Bewegungen unseres Eisenbahnzuges aufs
deutlichste an der systematischen Art des scheinbaren Zurückweichens
der in verschiedenen Entfernungen von unserem bewegten Fahrzeug
befindlichen Gegenstände der Umgebung erkennen.
Übrigens sind die Ortsveränderungen im Raume, welche uns in
der Erdenwelt durch die verschiedenen Bewegungen der Erde selber
erteilt werden, bei aller vollkommenen Stetigkeit doch keineswegs
von solcher absoluten Beständigkeit und Gleichartigkeit in Richtung
und Geschwindigkeit, dafs nicht doch für eiudringendere Wahr-
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nehmungcn und für gründlichere Deutungen unserer Messungen auch
schon innerhalb der Erdenwelt unverkennbare Wirkungen der Be-
wegungen der Erde uachzuweisen wären.
Nur dann, wenn ein aus vielen einzelnen Körpern und Massen-
elementen zusammengesetztes Massensystem sowohl mit vollkommener
Stetigkeit, d. h. auch bei allen Veränderungen der Richtung und
der Geschwindigkeit mit völlig unterbrechungslosem, zusammenhän-
gendem Verlaufe dieser Veränderungen, bewegt ist, als auch über-
haupt keine irgend in Betracht kommenden Veränderungen der Rich-
tung und der Geschwindigkeit seiner Bewegungen erleidet, und wenn
auch innerhalb des Systems die umfassende Bewegung des Ganzen
keine Verschiedenheiten der Richtung und der Geschwindigkeit der
Mitbewegungen an verschiedenen Stellen bedingt, nur danu bleibt die
relative Lage der einzelnen Teile des Systems vollkommen unabhängig
von der Bewegung des ganzen Systems, und nur dann können also
sämtliche Bewegungen innerhalb des Systems, also in unserem Falle
innerhalb der Erdenwelt, mit derselben Freiheit und Ungestörtheit
stattlinden, als ob das ganze, beliebig schnell bewegte System in ab-
soluter Ruhe wäre.
Diesen idealen Bedingungen entsprechen die Bewegungen des
Erdkürpers nicht vollständig, denn durch die Drehung desselben
werden an verschiedenen Stellen starke Verschiedenheiten der Geschwin-
digkeit und zu verschiedenen Zeiten Verschiedenheiten der Richtung
der Bewegnng bedingt, und auch bei der Bewegung der Erde um
die Sonne ergeben sich für die Erdenwelt zu verschiedenen Zeiten
innerhalb des jährlichen Umlaufes und an verschiedenen Stellen der
Erde Verschiedenheiten der Bewegungsbedingungen, welche nicht
ganz unmerklich bleiben können.
Nur bei denjenigen Bewegungen, mit denen der Erdkörper an
der Bewegung unseres ganzen Planetensystems im Ilimmelsraum be-
teiligt ist, können wir annehmen, dafs Jahrhunderte hindurch voll-
kommenste Beständigkeit der Richtung und Geschwindigkeit der
Ortsveränderung stattfindet, so dafs innerhalb des Erdenlebens durch
die letzteren Bewegungen keine besonderen Verschiedenheiten der
Bedingungen der relativen Bewegung der einzelnen Teile der Erden-
welt verursacht werden. —
Von den Verschiedenheiten der Bewegungen, welche durch die
Drehung des Erdkörpors verschiedenen Regionen der Erdenwelt
erteilt werden, hat man im allgemeinen eine gänzlich unzureichende
Vorstellung. Es ist auch merkwürdig, dafs man sich im Altertum bei
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den oben mit den Worten des Plolemaeus wiedergegebenen Zweifeln
an der Drehung der Erde garnicht gefragt hat, ob nicht etwa die
starken Bewegungen der Luft, die man in Gestalt der Winde wahr-
nahm, von einem Zurückbleiben oder Yoraneilen der Luftmassen
gegen die Drehung der Erde herrühren könnten, wie es wirklich der
Fall ist. Man hatte schon damals ganz gut beobachtet, dafs die von
Norden kommenden kälteren Winde meistens als Nordostwinde auf-
traten, d. h., dafs jene bewegten Luftmassen hinter der Drehungs-
bewegung der Erde, wie sie zur Erklärung des täglichen Umschwunges
des Himmels nötig war, zurückblieben, und dafs die von Süden
kommenden wärmeren Winde als Südwestwinde auftraten, d. h., dafs
die bezüglichen Luftmassen der Bewegung der Erde voraneilten. Die
Geschwindigkeiten, mit denen durch die Drehung der Erde die über
den verschiedenen Zonen lagernden Lullmassen bewegt werden, sind
in den Regionen des Mittelmeeres, also der altgriechischen Kultur, auf
wenige Grade von Breiten-Unterschieden schon so erheblich ver-
schieden, dafs die Versetzung einer Luftmasse von der Halbinsel
Krim (Tauris) in die Regionen von Athen an letzterer Stelle schon
als ein gewaltiger Sturmwind von Osten her in Erscheinung treten
würde, und dafs anderseits Luftmassen aus der Breite des nördlichen
Ägyptens nach Athen versetzt, dort als ein ebenso gewaltiger Sturm-
wind von Westen her auftreten würden. Die Geschwindigkeiten,
welche die auf der Erdoberfläche lagernden Luftmassen in den ver-
schiedenen geographischen Breiten durch die Drehung der Erde an-
nehmen, betragen am Äquator 465 m pro Sekunde mittlerer Sonnen-
zeit, in der Breite von Athen nahezu 365 m, in Berlin 283 m, in
St. Petersburg 233 m. In der Zone von Athen ändert sich diese Ge-
schwindigkeit um nahe 4'/j m für je 100 km Distanz in der Richtung
nach Norden und Süden, abnehmend nach Norden, zunehmend nach
Süden. In Berlin beträgt diese Veränderung in runder Zahl je 6 m
für je 100 km Distanz nach Norden und Süden, so dafs schon an den
Ostseeküsten die Mitbewegung der Luft durch die Drehung der Erde
soviel langsamer ist als in Berlin, dafs Berliner Luft, an diese Küsten
versetzt, schon nicht mehr als blofser Berliner Wind, sondern bereits
als eine Art von Weststurm erscheinen würde.
Natürlich können solche Geschwindigkeits-Differenzen nur höchst
selten an der Erdoberfläche in krasse Wirkung treten. Luftmassen,
die am Äquator aufgestiegen und in grofser Höhe in die höheren
Breiten abgeflossen sind, könnten, wenn sie in der Höhe nur wenig
von ihrer Geschwindigkeit in der Drehungsrichtung verloren hätten
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und dann durch Wirbelbewegungen nach unten gelangten, an der
Erdoberfläche Orkan-Wirkungen horvorbringen, die alles zerstören
würden. Glücklicherweise erfolgen alle diese Übergänge nur mit sehr
starken Geschwindigkeits-Ausgleichungen durch Reibungen. Aber
wenn man sioh die obigen Geschwindigkeits-Differenzen der Drehungs-
wirkungen in den verschiedenen Zonen ansieht, und wenn man
bedenkt, dafs Sturmgeschwindigkeiten von 30 bis 40 m in der Sekunde
schon furchtbar zerstörend wirken können, wird man doch inne, eine
wie gewaltige Erscheinung diese Drehung der Erde ist. Und ander-
seits sagt man sioh sofort, dafs die furchtbaren Orkane, die Tornados
und die Typhoons, die in gewissen Zonen der Erde vorzugsweise in
Erscheinung treten, und bei denen Geschwindigkeiten obigen Grades,
ja ganz vereinzelt bis zu 100 m, beobachtet sind, einen der „schlagendsten"
Beweise für die Drohung der Erde liefern, da bei den grofsen Luft-
strömungen, ebenso wie bei den grofeen Meeresströmungen der Ver-
lauf der Gesamt-Erscheinungen auf der Erde in umfassendster Weise
durch die Drehung der Erde, in Verbindung mit den Temperaturver-
hältnissen, erklärlich wird, während irgend eine andere Art der Er-
klärung dafür gänzlich mangelt.
Die nähere Verfolgung aller Wirkungen der Drehung der Erde
bis ins kleinste dos Erdenlebeus und der Erdgestaltung ist in höchstem
Grade interessant, und man hat sioh auch in manchen wissenschaft-
lichen Kreisen alle Konsequenzen dieser Wirkungen noch nicht klar
gemacht
Zum vorläufigen Abschlufs dieser Betrachtungen will ich nur
noch bemerken, dafs die genaueste Beobachtung des freien Falles und
der Fallgeschwindigkeiten auoh noch ganz zwingende Naohweisungen
für die Drehung der Erde ergeben hat.
I
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igammmstt
Im Reiche des Aolus.
Von Dr. Alexander Kura polt -Taormina.
(Fortsetzung.)
6 V
<~’l ^wisohen I-ipari und dem benachbarten Saiina herrscht lebhafter
Verkehr. Täglich fährt der Postdampfer von Milazzo weilet-
nach Saiina und auch ilie „Coreica“, läuft regelmiifsig mehrere
Reeden von Saiina an. Ungünstiger ist Stromboli dran, das nur zweimal,
am ungünstigsten Filicudi und Alicudi, die nur einmal wöchentlich von
ihm berührt werden. So ist ein Besuch dieser beiden letzteren eigentlich
ausgeschlossen, wenn man nicht die hohen Kosten einer Segelbarke,
etwa vierzig Lire aufwenden oder gleich für acht Tage, bis zur
nächsten Ankunft des Dampfers, auf ihnen weilen will. Schade um
Filicudi, das wohlbcbaut, geologisch interessant und an landschaft-
lichen Schönheiten reich ist. Den Blick von dem Monte Terrione
nach Sizilien hinüber und auf das Kap Graziano rühmt Bnrgoat
(S. 204 ff.) nicht minder, wie die Grotte Voimarin an der Westküste,
die die prächtigen Grotten Capris beinahe über! reffen dürfte. Außer-
dem bewahrt dem spürenden Archäologen ein Felsen, die „Montag-
nola", eine altgriechische Inschrift. Von Alicudi freilich sehnte sich
selbst Bergeat nach kaum dreitägigem Aufenthalt wieder nach
„Menschen“. Ein Pfarrer und eine Lehrerin sind dort die einzigen
Kulturträger. Im übrigen sagt der Volkswitz auf Lipari von den Be-
wohnern Alicudis, sie würden alle hundert Jahre alt, weil es daselbst
weder Arzt noch Apotheker gebe
So beschiofs ich zunächst, Stromboli einen Besuch abzustatten.
Prächtig ist diese kleine Seereise zwischen und zu den einzelnen
Inseln hin, mit immer wechselnden Marinebildern, heiteren, lieblichen
und düsteren, ja majestätischen. An Reiz gewinnt sie, wenn man sich
vorstellt, dafs diese Gruppe von Inseln mit ihren kaum zwei Quadrat-
meilen Gesamtflächeninbalt in Wahrheit ein vulkanisches Gebirge ist,
das nur mit den Spitzen seiner bedeutendsten Gipfel aus dem Meer
herausragt, das an Höhe — vom Meeresgrund gemessen — dem Ätna
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gleichkommt, an Ausdehnung sein Massiv aber um das Fünffache
übertriffl.
Der Himmel war ziemlich trübe und verhüllte die Küsten Sizi-
liens, als ich mich eine Stunde vor Mittag auf der „Corsica“ ein-
schiffte. Ein kalter Wind aus Norden pfiff, die See ging hoch.
Im Fluge ziehen Canneto mit seinen blanken Häusern und der
Pergola des Haanschen Kontors, dann die ausgewaschenen, überall
angebohrton Abhänge des weifsen Monte l’elato vorbei. Die schöne
ferne Gruppe: Panaria, Basiluzzo, Stromboli bleibt lange zur rechten,
die drei Gebilde verschieben sich beständig. Bald taucht hinter der
roten Lava der Punta Castagna, wo die Rocche rosse schauerlich wild
ins Meer abstürzen, eine weiche blaue Höhenlinie auf, die Fossa delle
Felei (Farnkrautberg) der Insel Salina (962 m). Links tritt der
Bimssteinkrater gewaltig heraus, massige Kegel und Halden, wild-
zerklüftete Schuttrinnen und Schroffen — von Teneriffa mit seinen
minderwertigen Produkten abgesehen, das einzige, aber unerschöpfliche
Bimssteinreservoir für die ganze Erde!
In der Bocohe, dem Meeresarm zwischen Lipari und Salina, er-
scheinen mit wunderbar zarten Umrissen ganz fern Filicudi und Ali-
oudi, verschwinden aber bald, als wir uns Salina nähern. Auch von
hier zeigt sich Salina überall hoch hinauf mit Wein (Malvasier) be-
pflanzt, den oben Ginster- und Farndickicht ablöst. Zwischen dem
sanft strahlenden Grün tritt öfters das vulkanische Gestein dunkel-
ziegelrot in stattlichen Brüchen zutage.
„Don Vincenzo, wir sind bei Santa Marina“, rief, als die „Corsica“
tutete und alsbald angesichts des sauberen Strandstädtchens stoppte,
ein Pfarrer in die Kajüte hinein, wo sein dicker, kleiner Amtsbruder
auf dem Sofa ausgestreokt — eine halbe Leiche — lag. Den hatte
es gepackt. Mühsam erhob sich der fromme Herr, langte nach seiner
schwarzen Tasche und verliefe wankend mit noch zwei Pfarrern das
Schiff.
Im ganzen waren neun Priester in Lipari eingestiegen, und alle
trugen sie kleinere oder gröfsere schwarze Taschen. Darin ver-
wahrten sie, wie ich erfuhr, nicht nur des Leibes Nahrung und Not-
durft, sondern auoh solche der Seele — nämlich jeder ein Fläschchen
heiliges Öl, von ihrem Bischof am Gründonnerstag geweiht und ihnen
feierlich überreicht, womit sie das ganze Jahr hindurch nicht nur die
Sterbenden zu versehen, sondern seltsamerweise auch die Kinder zu
taufen haben.
Am fruchtbaren Ufer hin geht es durch die Bocche nach Süden,
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dann um die Punta Lingua herum nach Rinelia. Unter dem stumpfen
Kegel des Monte Porri, der trotz seiner Steilheit bis zur Hälfte schräg
terrassiert und gleichfalls mit Malvasier bebaut ist, dehnt sich der Ort
zum kleineren Teil unten auf einer Lavastufe aus, zum gröfseren,
etwa 100 m höher, liegt er am Eingang des ziemlich breiten Tales,
das zwischen Monte Porri und Fossa delle Feloi die Insel von Süden
nach Norden durchschneidet und in zwei ungleiche Hälften teilt.
Saubere Häuser, oben wie unten, mehrere freundliche Kirchen und
prangende Gärten. Diesem Wohlstand entsprachen der Leibesumfang
und die rosigen, fettglänzenden Gesichter der drei Pfarrer, die hier
wieder ausstiegen. Die kleine Barke mufste fünfundzwanzig Personen
und ungefähr ebensoviele Koffer, Kisten und Säcke aufnehmon. Es
sah gefährlioh aus, als sie abstiefscn und dauerte lange, ehe sic bei
der starken Brandung die schmale Landungsstelle erreichten. Die
-Corsica“ nahm indessen unter gewaltigem Stampfen nach Westen
ihren Kurs und umkreiste so beinahe die ganze Insel. Längst waren
die Zwillingsgestnlten von Alicudi und Filicudi wieder in Sicht.
Während dann Alicudi allmählich von Filicudi vordeckt wird,
dehnt sich gen Osten Lipari, dem wir hier sozusagen in den Rücken
gekommen sind, in herrlichem Profil aus, daneben tritt Vulcano in
seiner ganzen Mächtigkeit hervor. Wie schön sind diese Linien über
dem dunkelblauen Meeresstreifen, von der Punta del Rosario ansetzend,
in dem Monte Saraoeno und der Fossa di Vulcano gipfelnd! Und
weiter dann der Monte Sant' Angelo und Monte Chirica, ihrerseits
dominierend auf ihrem kleinen Eiland! Zwischen diesen kühnen
Schwüngen liegt friedlich eingebettet die echt Claude Lorrainsche
Seelandschaft der Bocche di Vulcano mit dem zierlichen Vuleanello.
Nur zu schnell entschwindet dieses Bild, dafür lugt plötzlich von Nord-
ost her der Stromboli wieder um die Ecke.
Nicht minder fesselnd ist die Nahsioht auf die Westküste von
Salina. Da bauen sich unter den Abstürzen des Monte Porri eine
ganze Reihe grofser und kleiner, bizarrgeformter Lavahöhlen auf, in
denen das vom Nordwest gepeitschte Meer sich mit voller Kraft
bricht, bald in schlanken, hohen Fontänen, bald in wuchtig breiten
Kaskaden aufsteigend und zurückfallend, wunderbar schön. Auch ein
„arco naturale“ begegnet uns, der dem von Capri an Originalität und
Gröfse keineswegs nachsteht. Eine ins Meer vorspringende Felsen-
nase aus Lava bildet ein regelrechtes Tor, wohl 30 in hoch, 15 m
breit. Der äufserc Pfeiler, oben grün bewachsen, mag etwa 25 m im
Durchmesser halten. Man kann über den Bogen hinübergehen.
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Dieses Felsentor, Perciato piccolo vom Volk genannt, ist nach Ber-
gest (a. a. O. S. 77) dadurch entstanden, dafs die Wogen hinter einer
massigen, parallel zur Küste verlaufenden Gangplatte die weniger
widerstandsfähigen Agglomerate hnrausgelöst und fortgeführt haben.
Auf diese Weise sind alle ähnlichen Gebilde, auob die Klippentunnel,
z. B. beim grofsen Faraglione von Capri, zu erklären.
Hatte das Schiff bisher nur gestampft, so begann es jetzt auch
noch zu rollen, da wir bei der Drehung nach Nordost den steifen
Nordwest in die linke Flanke bekamen. Doch liefs ich mich von
meinem Lieblingsplatz, ganz vorn bei den eisernen Ankerhaltern erst
vertreiben, als ich von zwei unerwarteten Brechern gehörig eingoweicht
war, und erkor mir nun als Beobachtungsposten eine der hoch auf-
gewundenen Schiffstaurollen, die zwar weniger guten Sitz, dafür aber
bessere Handhaben boten, wenn die „Corsica“ sich rasselnd und ächzend
einmal allzutief zur Seite neigte.
Bald darauf passierten wir das weltverlassene Dörfchen Pollara,
im Halbkreis eines ehemaligen Kraters gelegen, den das Meer zur
Hälfte weggerissen hat. Das Meer mufs hier einst mindestens 400 m
höher hinaufgereicht haben als heutzutage. Auf dem Boden des
l’ollarakraters finden wir eine quartäre submarine Strandablagerung,
der die rings von toter Lava umstarrte Ansiedlung ihre Fruchtbarkeit,
ja überhaupt ihre Existenz verdankt. In jener Urzeit entstanden auch
die Strandterrassen von Rinelia und Malfa, und es klingt wunderbar,
aber nach Bergeats Ausführungen nicht unglaublich, dafs die beiden
Gipfel von Salina damals nicht durch das heutige Tal Rinella-Malfa,
sondern durch einen Meeresarm geschieden waren.
Um zwei Uhr stoppte die „Corsica“ Malfa gegenüber. Hier hatte
man bei dem hohen Wellengang die Ankunft des bereits gestern
fälligen Dampfers wohl auch heute noch nicht erwartet, und als dann
endlich nach mehrmaligem Sirenenpfeifen von der elenden Marine
eine Barke abstiers und, von unserem Kapitän mit einigen urkriiftigen
Seemannsflüchen empfangen, nahte, stieg niemand aus und ein. Nur
einige Wareuballen gingen mit dem Kran hinunter, und die Post
wurde abgeliefert und eingenommen.
Ich war mit dem längeren Aufenthalt ganz einverstanden: mich
entzückte der Blick auf das etwa 150 in über dem Meer gelegene Malfa
und seine Umgebung. Unten am düsteren Strand hatten die Lavablöcke
nur einer schmalen Sandbucht Raum gelassen, wo ganze drei Barken,
hinaufgezogen und angeseilt, in Sicherheit ruhten. Ebenso düster
drohten zu beiden Seiten die beiden Hauptkegel der Insel mit ihren
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grauschwarzen Häuptern nieder. Dies der ernste Rahmen für die
heiter in dem weiten, grünen Kessel eingebettete Ortschaft Malfa.
Lauter platte Dächer, die viereckigen, schneeweifsen Häuschen in
Gruppen, oder einzeln zerstreut zwischen den hellgrünen Getreide-
feldern und Weingärten. Ein Sonnenblick, der erste dieses Tages,
zauberte auch auf der Fossa delle Feloi eigenartige Farben hervor,
das Grau der Asche, das flammende Gold der Ginsterhänge, das
Schwarzgrün der Farnwildnis auf dem oberen Teil, alles trat scharf
heraus. Man konnte den Weg sowohl nach Kinella hinüber, über den
Pafs, als auch den Saumpfad am Ufer nach Santa Marina verfolgen.
Hinter Malfa soblingerte das Schiff wieder reoht lustig, so dafs
aufser einem alten Steuermann, der auf der Kommandobrücke den
Kapitän vertrat, und mir kein Mensch auf Deck aushielt. Auch die
drei letzten Pfarrer batten sioh längst in die verschwiegene Kajüte
zurückgezogen.
Von mächtiger Wirkung sind die beiden überragenden, klobigen
Kegel Monte Porri und Fossa delle Felci, etwa zwei Seemeilen östlich
von Malfa gesehen. Von hier aus gleichen sie sich völlig in GröfBe
und Gestalt. Daher der griechische Name der Insel: Didyme, das heifst
Zwilling. Bei der Weiterfahrt treten die Zwillinge hintereinander,
und ihre Konturen schwingen sich beinahe parallel in kühnem Bogen
zum Himmel. Stolz und edel steigt besonders die Linie der Punta
Fontanelle unter dem Monte Porri auf.
Während in der Heoklinie das ferne Filicudi klein und kleiner
wird, das Kap Graziano, das mit ihm nur durch eine schmale Land-
zunge verbunden ist, durch die Entfornung bereits wie eine Insel für
sich erscheint, wird der westliche Felsen von Panaria, auf den wir
zusteuern, immor breiter und höher. Zahlreiche, trotzig geborstene
Klippen sind Panaria vorgelagert und ragen auch weiter draufsen als
spitze oder breite Zacken aus dem Meer: Dattilo, Lisca Nera, Lisca
Bianca, Bottaro und die gröfste, aber wenig von Menschen, nur
von wilden Kaninchen bewohnte: Basiluzzo. Eine düstere und herbe
Wildheit, das ist der Eindruck der Südküste von Panaria. Nachdem
wir den Felsen umfahren haben, beleben zuerst indisohe Feigen, dann
Ölbäume die zerrissene, rostbraune Lava. Dann erscheinen einige
Getreidefelder und mitten darin kleine, platte Häuschen, ziemlich arm-
selig. .Jedes fruchtbringende Fleckchen Erde ist auf das HeiTsigste
ausgenützt. Reizend lauscht in halber Höhe ein Kirchlein mit mauri-
schem Turm aus den Oliven hervor.
Kurz vor vier Uhr setzte sich die Maschine wieder in Gang,
Himmel nnd Erde ISO« XVI 8. 24
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370
um mioh zu dem Endziel meiner heutigen Tour, dem Stromboli,
zu fuhren.
Die merkwürdigen Klippen zur Rechten gleiten wie Phantome
vorüber. Desto länger haftet der Blick auf den graublauen Silhouetten
von Saliua und Filicudi, die über dem wild tobenden Element fern
in erhabener Ruhe thronen. Unablässig furcht der brave Kiel die
silbernschimmernde Flut. Der dräuende Kegel des Stromboli rückt
näher und näher. Schon unterschied ioh auf einer sohmalen, grünen
Niederung einige weifse Punkte — die Häuser des Dorfes Qinostra im
Südwesten der Insel. Wir hielten auf die Ostküsle zu, an der die zu-
sammenhängenden Dörfer San Vinoenzo und San Bartolo liegen, vor
der Hand noch durch das hier jäh abstürzende Massiv des Vulkans
verdeckt Lange Aschenkare, vor allem die Rinella grande, nur selten
und spärlich mit einer hohen Binsenart bestanden, ziehen sich vom
Gipfel bis zum Meer hinunter, wechselnd mit Lavafelsen von schreck-
licher Öde und Starre. Stellenweise verhüllten abgerissene Wolken-
fetzen den Grat dieser unnahbaren Schrollen, die so in der Phantasie
bis hoch in den Himmel hinein wuchsen. Dazu erschien in der abend-
lichen Gewitterbeleuchtung das Wasser durch den Reflex des nahen
Ufers stahlblau und dann wieder moosgrün, so dafs ich mich plötzlich
in die Alpen versetzt fühlte und auf dem Königssee unter den Watz-
mannw’änden hinzufahren glaubte.
* *
*
Wie herrlich, bo durchs wilde Meer auf sicherem Schiff zu
schweifen! Doch war ich, durchgeschüttelt und -geblasen, nach bei-
nahe siebenstündigem Schaukeln offen gestanden froh, wieder festen
Boden unter meinen Füfsen zu wissen und strebte munter auf dem
knirschenden Lavasand, der kohlschwarz glänzend die Marine von San
Vinoenzo darstellt, den Palmen und den orientalischen Würfelhiiusern
des Ortes zu, als einer der beiden letzten Pfarrer, die mit mir ausge-
stiegen waren, sich an mich mit der iibliohen Frage wandte: „Woher
und wohin?" Dann: „Was für eine Religion haben Sie in Deutschland?
Sind da die Orthodoxen?“ „Nein, die sind in Rufsland. Bei uns ist
ja manches etwas russisch, aber wir Deutschen sind zu % Protestanten,
Lutheraner, und zu >/, römisch-katholisch.“ „Und Sie sind Katholik?“
„Nein, Protestant. Mit Verlaub (con permesso)“ — damit empfahl ioh
mich, um etwaigen Bekehruugsversuohen dieses, wie mir schien, recht
gerade aufs Ziel losgehenden Gottesmannes die Spitze abzubrechen,
und sah mir das Treiben am Ufer an.
371
Die bunte Sonntagstracht der Weiber auf dem Aschenstrand, mit
den schneeweifsen, plattdächigen Häusern und grünen Weingarten im
Hintergrund — welch färben- und lebensfrisches Bild! Die „Corsica“
batte vier Männer mitgebracht, die mehrere Jahre in Amerika gewesen
waren und nun, aus der Barke steigend, von den Ihrigen froh be-
grüfst wurden.
In den Anblick versunken, wurde ich von einem freundlichen,
behäbigen Herrn angesproohen, der sich mir als Don Antonio Renda,
Besitzer eines Albergo, vorstellte.
„Ist Euer Gasthaus weil weg?-1
„Nur wenige Sohritte. Dort bei der grofsen Palme.“
Ich folgte ihm zu seiner Palme, erhielt ein nettes Stübchen und
packte die Vorräte meines Rucksackes aus: Salami, eine Büohse Öl-
sardinen, Käse, mehrere grofse Wecken Weifsbrot, ein Kilo Äpfel und
zwei Kilo Apfelsinen.
Don Antonio zog sein Gesicht in Falten: „üio ci liberal (Gott
bewahre uns!). Was haben Sie denn da alles mitgebracht?“
„In Lipari hiefs es, auf Stromboli gebe es nichts zu essen.“
„Was, bei uns giib’s nichts zu essen? Ha, diese Liparesenl“
Er untersuchte jedes einzelne Stück der auf dem Tische aufge-
stapelten Ladung. „Weifsbrot, hm! Das fehlt uns, ja, aber das andere
haben wir alles auch und vielleicht besser als diese verworfene
Rasse auf Lipari.“
Nun fürchtete ich, von vornherein bei meinem Gastgeber in Un-
gnade gefallen zu sein. Aber die Folge der Entdeckung meiner
Kontrebande war eine ganz andere: er setzte vielmehr seine Ehre
darein, mir zu zeigen, dafs es auf Stromboli „auch etwas gebe“,
und traktierte mich die zwei Tage, die ich bui ihm wohnte, gerade-
zu fürstlich.
Die Reihe der etwas eigenartigen, aber keineswegs zu unter-
schätzenden Genüsse erüffnete bei der Abendtafel ein Ragout von
wildem Kaninchen, das Don Antonio selbst gefangen hatte.
„Und wie fängt man sie?“
„Es gibt zwei Arten, mit Drahtschlingen und mit Netzen. Der
Draht wird an einem Pfahl befestigt und die Schlinge da gelegt, wo
man die Fährten des Wildes sieht. Das Tier geht immer dieselben
Wege. Gerät es nun in den Reifen, so strebt es vorwärts, um dem
eisernen Hindernis zu entrinnen. Die Schlinge zieht sich so von
selbst zu und erwürgt es.“
Don Antonio hielt diese Art Jagd für unehrlich, eines gentiluomo
24»
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für unwürdig, obgleich auch Frauen und Mädchen aie mit grofsem
Eifer betrieben: „Jeder dumiue Junge von acht Jahren legt schon
seine Schlinge. Ich zerstöre sie, wo ich sie linde. Denn sonst
werden wir bald keine Kaninchen mehr auf der Insel haben. Zu
Ostern sind meiner Schätzung nach allein fünfhundert Stück als
Festbraten hier verspeist worden.“
„Und die ehrliche Kaninchenjagd — ?“
„Geschieht mittelst Frettchen. Vor die Öffnungen des Baues
wird ein weitmaschiges Netz gelegt und mit Steinen verankert. Dann
läfst man das Frettchen aus der Trommel in den Steinhaufen; das jagt
das Kaninchen samt Familie heraus. Sie wollen duroh ihre Löcher
entfliehen, da verfangen sie sich in dem üefleoht. Ich stehe verborgen
hinter einem Felsen, und sobald sich eines in den Maschen verwickelt
hat, pack' ioh es. Zwei Sohläge mit der flachen Hand hinter
das Genick und Addio mondo! Es ist ein sanfter Tod (una morte
delieata); Sissignore.“
„Euer Woin ist vorzüglich, Don Antonio, aber das Wasser — ?“
„Probieren Sie, probieren Sie!1' Er schenkte mir ein Glas voll ein
„Recht gut. Habt Ihr denn eine Quelle hier?“
Eine elende, kleine Quelle, hooh oben, nicht der Rede wert.
Nein, das ist Zisternenwasser. Wir halten eben unsere Zisternen
rein, etwas reiner als die in Lipari.“
Allerdings läfst das Wasser in Lipari einen höchst unangenehmen
Erdenzusatz durchschmecken.
„Stromboli“, fuhr Don Antonio fort, „erzeugt keine Halmfrüchte,
die kommen aus Tarent, das Mehl zum Brotbacken kommt aus 'Neapel,
die Makkaroni aus Milazzo, Holz und Kohle aus Kalabrien. Aber Gott
sei Dank, haben wir noch das nötige Kleingeld, um das alles anzu-
schaffen. Hier bauen wir nur Wein, Malvasier, viel besseren als auf
Salina, Rosinen, eine kleine blaue, besondere Art, auch ausgezeichnet,
ferner Oliven, Feigen, Kapern, nicht die wilde wie in Sizilien, sondern
die feine Stacbelkaper, in Gärten gezogen. Und zuletzt, aber nicht
als schlechtestes Produkt: Datteln.“
„Was, reifen die hier?“
„Ja. vor sechzehn Jahren pflanzte ich die erste grofse Dattel-
palme. Haben Sie gesehen, was für einen Stamm sie schon hat?
Kaum von einem Mann zu umspannen. Seit drei Jahren gibt sie mir
Früchte, über ein Quinta! (= 100 Kilo), aber nioht wie die afrika-
nischen Palmen im Dezember, sondern Ende Mai. Auch haben meine
Datteln nicht den glasigen Zuckerüberzug und keine Kerne. Aber
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sie schmecken — er drehte den Daumen im Mundwinkel. Schicke*),
Signore, schicke!“ — „Drei andere Palmen habe ioh später gepflanzt
die älteste wird, denke ich, in zwei Jahren auch schon Früchte
bringen.“
„Aber können von all dem die dreitausend Einwohner leben?
Die drei Dörfer scheinen mir einen erheblichen Wohlstand zu
verraten.“
„In der Tat, es gibt keine Armut bei uns. Jeder hat sein
eigenes Haus Keiner wohnt zur Miete. Das verdanken wir dem
Wunderland Amerika. Sie werden wenig Männer zwischen fünfzehn
und fünfzig hier finden. Sind alle drüben, um Dollar! zu machen.
Ach ! was wären wir Italiener ohne Amerika!“ Er lächelte mitleidig.
„All die schmucken, weifsen Häuser, die Myriaden von lieben, bis
hoch zum Stromboli hinauf, sind von dem Qeld entstanden, das unsere
Leute in Argentinien und Neu- York verdient haben.“
Ich erzählte ihm von siebzehn Taorminesen, die vor Jahren
nach Buenos Aires gefahren und nach drei Jahren zurückgekehrt
seien, aber mit keinem einzigen Dollaro, nur einem ganzen Berg
Schulden.
„Ja, man darf nicht in Buenos Aires bleiben. Da sitzen
allein 40Ü 000 Italiani. Man mufs weit ins Innere reisen, um etwas
zu finden. Wir reohnen 4 -500 Lire auf die Reise. Denn das Billet
bis Genua und von da über den Ozean tut’s noch lange nicht. Neun-
zehn Tage erfordert die Überfuhrt, und in neunzehn weiteren Tagen
mufst du Arbeit gefunden haben, oder du bist verloren.“
„Waren Sie auch drüben?“
„Zweimal. Zuerst zweiundeinhalb Jahre, dann sogar fünf. Ge-
wöhnlich geht man schon als junger Bursche hin, lernt die Sprache
— in Argentinien spanisch — , sieht sich um und verdient soviel, dafs
man nach der Rückkehr und nach Ableistung der Militärpflicht eine
Frau heimführen kann. Sofort nach der Hochzeit heifst’s dann: von
neuem hinüber.“
„Mit oder ohne?“
„Ohne Frau. Ich werde diesen Sommer zwei meiner Töchter
verheiraten. Beide Schwiegersöhne werden ihre Frauen dann alsbald
verlassen und —
„Aber, per Dio, warum heiraten sie denn da überhaupt? Und
•) Das englische chic ist, wie in unsere eigene Sprache, auch ins
Italienische Ubergegangen.
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lassen sieh das die Weiber gefallen? Wär's nicht besser, erst Dollari
zu machen und dann zu freien?’1
„E costume del paese (Es ist bei uns so Sitte). Natürlich ver-
giefsen die guten Frauchen ein paar Tränen beim Abschied. Aber
sie wissen's nicht anders."
„Und wohin werden Ihre Schwiegersöhne gehen?“
„Nach New-York und Kohlen auf die Dampfer tragen. In
Argentinien verliert man jetzt zuviel durch das Agio. Im New-Yorker
Hafen erhalten die Kohlenträger 30 Soldi bei Tag und 45 bei
Nacht, wohlverstanden, für die Stunde. Also verdienen sie dort
an einem Tag soviel, wie hier kaum in einer Woche."
„Aber auch eine Pferdearbeit."
„Ja, manche spucken bald Blut und gehen zum Teufel. Aber
die starken gewöhnen sich und haben dann jährlich ihre zwei, drei-
tausend Lire Reingewinn sicher. Sissignore." —
Beim Betreten der Insel hatte ich mich gefragt: Was mufs das
für ein merkwürdiges Völkchen sein, das mitten im einsamen Meer
auf einem Vulkan haust, so gut wie abgeschlossen von jedem Ver-
kehr, gauz auf sich selbst gestellt? Ich hatte mir eingebildet, dals
diese Leuto fern von der übrigen Welt geboren, auch fern von
ihr leben und sterben. Nun erfuhr ich, dafs sie sich draufsen im
Getümmel mehr umsehen als die meisten Festlandsbewohner und da-
durch einen weiteren Gesichtskreis gewinnen als so mancher Grofs-
städter, z. B. der Neapolitaner, der höchst zufrieden mit seinem schönen
Neapel beinahe nie über das Weichbild seiner Vaterstadt hinauskommt.
Und der Erfolg bleibt nicht aus: Dort Lazzaroni, hier Signori,
Padroni. Aber mit welohen Opfern wird dieser Wohlstand erkauft!
Freilich hat der Italiener eine ungeheure Arbeitslust und zähe
Energie; jede Arbeit, die Geld bringt, ist ihm recht. Ebenso zäh ist
aber auch seine Liebe zur Heimat Ist es nicht ein fürchterliches Los,
seine besten Jahre fern von allem, was einem vertraut und teuer ist,
unter den härtesten Entbehrungen hinbringen zu müssen? Vielleicht
täuschte ich mioh aber auch. Ist uns, die wir mit zehn, elf Jahren
aus der Provinz in die Kreisstadt aufs Gymnasium kamen, die wir
später auf die Universität zogen, denn der Abschied vom Elternhaus
so schwer geworden? O nein, die Jugend lockt das Neue, Un-
bekannte. Und für diese Insulaner ist die Fahrt übers grofse Wasser
die eigentliche Fahrt ins Leben; Amerika bedeutet für sie die hohe
Schule, die sie beziehen müssen, um etwas tüchtiges in der Welt zu
werden. So mancher geht dabei zugrunde, wie bei uns auoh ein
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grofser Prozentsatz auf der Universität Was aber bilfl's? Discere
necesse est, vivere non neoesse!
Das war so mein Gedankengang gewesen, den Don Antonio
kaum einmal mit seinem tiefsinnigen: „Sissignore“ unterbrochen hatte,
als ein donnerähnliches Kraohen zu meinen Ohren drang: „Ha, ein
Gewitter!“
„Nein, das ist der Stromboli.“
„Hört man das oft?“
„Das ist noch gar nichts. Daran sind wir gewöhnt Da donnerte
es letzten Oktober (1902) ganz anders. Tag und Nacht, wie wenn ein
Regiment Gebirgsartillerie da oben aufgefahren wäre. Das schlimmste
aber waren die häufigen Erdbeben. Einmal — wir safsen gerado
beim Abendbrot — begannen die Fenster plötzlich zu rasseln. Und
zugleich schien es, als ob von unten etwas Unsichtbares gegen
unsere Stühle stiefse. Alles schwankte. Flaschen und Gläser tanzten
Polka auf dem Tischtuch. Wogön des bischen Gepolters heute können
Sie ruhig schlafen. Felice notte!“
(Schlufs folgt)
Sensibilisierung organischer Gebilde.
Von L'r. mcd. Axtiiann in Erfurt.
c.,fn einigen früheren Heften dieser Zeitschrift hatten wir bereits Ge-
legenheit, eingehend über die Wirkung der Lichtstrahlen
auf organische Gebilde und krankhafte Zustände derselben
zu berichten, insbesondere mit Berücksichtigung der von Finsen in
Kopenhagen rühmlichst ausgebildeten Lichtheilmethode für Haut-
tuberkulose.1) Auch jüngst erst konnten wir auf die Versuche
Tappeiners in Münohen mit Fi uoreszenz I ich t hinweisen,
welches sich in ähnlicher Weise Haut reizend und Bakterien tötend er-
wies wie die ultravioletten Strahlen nach Finsen. — Doch nicht
genug damit! Wo so viele an der Arbeit sind und besonders die
moderne Technik der Wissenschaft eifrig an die Hand geht, da ist cs
scbliefslich kein Wunder, wenn Dinge, die gewissermaßen in der
Luft liegen, von sicherer Hand mit überraschender Schnelligkeit heraus-
gegriffen werden.
So hat unter Zugrundelegung der in der Photographie seit langem
bekannten Tatsache der „Sensibilisierung“ Dreyer in Kopen-
hagen ein einfaches Vorfahren ersonnen, um die körperlichen
Gewebe auch für die nicht ultravioletten Strahlen, welche sonst
als unwirksam verloren gehen, empfindlich zu machen.
Im großen und ganzen verhält sich nämlich die Durchdringungs-
iähigkeit der Lichtstrahlen für die Haut umgekehrt wie ihre reizende,
bakteriemötende Kraft. Das heisst also, die am meisten wirksamen
Strahlen haben entsprechend geringere Tiefenwirkung und umgekehrt.
Da nun die ultravioletten Strahlen, auf deren Hilfe, wegen ihrer
großen therapeutischen Wirksamkeit, wir bisher allein angewiesen
waren, höchstens bis zu einer Tiefe von etwa 1,5 mm in die organi-
schen Gewebe dringen, so waren wir bald an der Grenze unserer
Leistungsfähigkeit angelangt, sofern es sich um tieferliegende Krank-
') Vorgl. Heft 11, 1903 und Heft Ij, 1904 dieser Zeitschrift.
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heitsprozesse handelte. Wenn man auch die oberflächlichen Gewebe
duroh Aufdriioken einer Quarzplatte blutleer machte, so inufsten doch
in den tieferen Schichten die ultravioletten, sogenannten aktinischen
Strahlen zugunsten ihrer roten und gelben Brüder Zurückbleiben, da
sie eben von der roten Farbe des Blutes absorbiert und zurückge-
halten werden.
Die Einwirkung des Lichtes auf den Organismus würde nun
von vornherein eine viel machtvollere sein, wenn es gelänge, diesen
Strahlen von hoher Penetrationskraft und Tiefenwirkung, nämlich dem
rot-gelben Teil des Spektrums eine entsprechende chemische, akti-
nisohe Wirksamkeit zu verleihen. — Nun kennt die Technik ein
Verfahren, um photographische Platten für gewisse Farben empfäng-
lich zu machen, sogenannte farbencmpflndliche Platten zu erzeugen,
die auoh auf rot, grün und gelb reagieren. Man setzt der licht-
empfindlichen Gelatineemulsion gowisee lösliche FarbstofTo, Sensibili-
satoren genannt, je nach der gewünschten Empfänglichkeit zu.
Dieses Verfahren der „Sensibilisierung“ der Silbersalze hat
die Photochemie bisher noch nicht genügend zu erklären gewufst,
und so ist die praktische Anwendung wieder einmal der theoretischen
Grundlage vorausgeeilt; doch müssen wir annehmen, dafs der Vor-
gang nicht auf der Fluoreszenz, noch auf der Absorption gewisser
Strahlengattungen heruht.
Vorstehendes Prinzip übertrug nun Dreyer, welcher übrigens
schon April 1903 der dänischen Akademie dor Wissenschaften von
seinen Untersuchungen Mitteilung machte, auf animalisches Gewebe,
indem er dasselbo mit sensibilisierenden Stoffen imprägnierte. Er er-
reichte auf diese Weise, dafe zwar, ebensowenig wie in der Photo-
graphie, die rot-gelben Strahlen an sich nicht stärker aktinisch wurden,
wohl aber eine durchweg ausreichende Empfindlichkeit der Ge-
webszellen diesen gegenüber, um den vollen Einflufs der Lioht-
wirkung auszunutzen.
Hauptsächlich wurde Erythrosin verwendet. Derartig sensibili-
sierte organische Lebewesen, wie Infusorien, Bakterien und andere
Zellengebilde, verhielten sich nunmehr in gleicher Weise den sonst
unwirksamen, orange bis grünen Strahlen gegenüber, wie den blau-
violetten. Selbst bei einer Verdünnung von 1 : 4000 starben dieselben
in kurzer Zeit, zum Teil in Sekunden, ab. Es ist also auf diese Weise
möglich, fast sämtliche Strahlen des Mischlichtes, d. h. des gesamten
Spektrums, in gröfserer oder geringerer Tiefe des menschlichen Körpers
noch zur heilkräftigen Wirkung zu bringen. So gelang es unter
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anderem Dreyer, sensibilisierte Infusorien durch ein 4 mm dickes
Hautstück in 6 — 7 Minuten zu tüten, während sonst in unsensibiiisiertem
Zustande tagelange Belichtung zum Absterben nötig war.
In analoger Weise macht sich dann auch noch die Lichtwirkung in
der menschlichen Haut, sowie in der darunter liegenden Muskulatur in
einer Tiefe bemerkbar, wo sie sonst nie eine Wirkung gehabt haben
würde, wenn man durch Einspritzung die betreffenden Gebilde mit sensi-
bilisierenden Lösungen durchtränkt. Ja, man hat es in der Hand, tiefer
liegende Schichten zu beeinflussen, während die Oberfläche unver-
ändert bleibt. Es würden also auf diesem Wege z. B. tuberkulöse
Herde, welche unter der Haut liegen, ohne operative Verletzungen
behandelt werden können. Das ist von Wichtigkeit im Vergleich mit
der Röntgen- und H ad iumbehandlung, sowie mit der ursprünglichen
Finsentherapie überhaupt, wenigstens theoretisch. Diese letzteren
Strahlengattungen schädigen alles, was sie auf ihrem Wege erreichen,
in gleioher Weise, und vom Radium ist ja bekannt, was für tief-
gehende Verbrennungen nebenbei am Unrechten Orte und unvermutet
in Erscheinung treten. Man wird sogar durch stärkere oder schwächere
Farblösungen eine gewisse Dosierung in der Ilaud haben.
In therapeutischem Sinne sind, den mitgetoilten Beobach-
tungen entsprechend, bereits auf der dermatologischen Universitäts-
klinik zu Breslau von Prof. Neifser eingehende Versuche ange-
stellt worden2), welche blofs der weiteren Bestätigung bedürfen, um
wertvolle Tatsachen für die Behandlung gewisser Hautkrankheiten
zu bieten.
Diese Dre.versche Methode der Lichtbehandlung scheint
eine bedeutende Erweiterung des Finsen- Verfahrens darzustelleu, wenn
auch das eine nicht das andere ausschliefst, da man doch darauf be-
dacht sein mufs, die Summe alter wirksamen Faktoren zusammen zu
erhalten. Vielleicht wird man zugunsten billiger Bestrahlungsapparate
durch Wegfall der teueren Bergkristall- oder Quarzlinsen auf einen Teil
der ultravioletten Strahlen verzichten können. Doch ist es neuerdings
auch gelungen, Glassorten zu bereiten, welche sich der Durchlässig-
keit der chemischen Lichtwellcn gegenüber günstiger verhalten,
zumal man den Lichtkonzentrator auch künftig nicht wird entbehren
wollen.
Eine genügend wissenschaftlich beglaubigte Tatsaohe der
,,Sensi bilisi e rung animalischen Gewebes“ bietet aber insofern
etwas überraschendes, als sich anorganische und organische Gebilde
’) Deutsche Medizin. Wochenschrift, 1904. Nr. 8.
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in gleicher Weise verhalten. Wie kommt es, dafs die Atome der
lichtempfindlichen Silberlösung auf dieselbe Art durch ein Färbe-
mittel beeinflufst werden, wie die lebenden Körperzellen? Nahe-
liegende physikalisch - chemische Vorgänge, wie Erregung von
Fluoreszenzstrahlen, welche aktinische und bakterizide resp.
zellenreizende Einflüsse haben könnten, desgl. Abso rptions Vor-
gänge bestimmter Lichtwellen sind nicht im Spiele. Wie leioht fest-
zustellen. gibt es fluoreszierende Stoffe, die nicht sensibilisieren und
umgekehrt So hat das allbekannte Petroleum eine sehr schöne
Fluoreszenz; niemand aber wird es einfallen, damit eine Platte farben-
empfindlich machen zu wollen. Andererseits gibt es fluoreszierende
und nicht fluoreszierende Agentien, die nicht sensibilisieren, aber die-
selben Absorptionsfähigkeiten aufweisen, wie das oben genannte Eryth-
rosin. Will man aber eine Giftwirkung wenigstens auf die Zellen
annehmen, so steht dem entgegen, dafs die sensibilisierende Lösung
sich durch vorhergehende Beleuchtung nicht bakterizide machen läfst
Nur im Kontakt mit dem Gewebe, wie mit den Silbersalzen,
tritt sie bei Belichtung in Aktion.
Ähnliches findet ja hei der Heizung der Netzhaut des Auges statt,
wo auch der rote Farbstoff des Sehpurpurs die Vermittlerrolle der
Lichtempfindung spielt, im Verein mit noch anderen Sehstoffen, welche
aber farblos sind. Hierbei ist zu beachten, dafs, während Hornhaut
Iris und Linse die ultravioletten Strahlen verschlucken, nur die rot-
grüne und in geringem Mafse die blau-violette Keihe bis zum Hinter-
grund des Auges gelangen und die Nervenelemente der Netzhaut er-
regen. Darum ist uns auch eine mehr rötliche Beleuchtung ange-
nehmer, weil eindrucksvoller und die Gegenstände leichter erkennbar
machend. —
Vielleicht hilft uns auoh hier wieder die moderne Theorie der
Lösungen, indem sie uns Gruppierungen von Molekülen annehmen
läfst, welche durch ionisierende Strahlen verschoben und umge-
lagert werden.
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Von den n-Strahlen ist in neuester Zeit aufserordentlich viel,
besonders in der populären Tagesliteratur, die Rede gewesen. Die
Wissenschaft hat dagegen von ihnen kaum Notiz genommen. Dieser
Umstand mag auffallen. Wir sind in den letzten Jahren mit neuen
unsichtbaren Strahlenarten förmlich überschüttet worden. Es ist
schwer, sich unter ihnen noch auszukennen. Man unterscheidet die
Gruppe der Ätherwellenstrahlen — zu ihnen würden die Strahlen
elektrischer Kraft, die Wärmestrahlen, die Lichtstrahlen, die ultra-
violetten Strahlen gehören — von der Gruppe der Korpuskular Strahlen
(Kathodenstrahlen, Kanalstrahlen, Becquerelstrahlen).1) Prisma und
Magnet lassen beide Strahlengruppen voneinander unterscheiden.
Denn während die Älherwellenstrahlen durch das Prisma aus ihrer
geradon Bahn abgelenkt und nach Mafsgabe ihrer Schwingungszahl
und Wellenlänge zu einer Art von Musterkarto ausgebreitet werden,
gehorchen die Korpuskularstrahlen, aus allerwinzigsten geradlinig fort-
geschleuderten Materieteilchen bestehend, dem Prisma zwar nicht, sie
werden aber durch einen Magneten, je nach ihrer Geschwindigkeit
und dem Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung verschiedenartig ab-
gelcnkt. Nun entdeckte im Jahre 1903 der französische Physiker
Blondlot neuartige unsichtbare Strahlen, die er mit dem Namen
n-Strahlen (nach ihrem Entdeckungsort Nancy) belegte. Nach seiner
Ansicht gehen diese Strahlen fast von allen glühenden Körpern aus;
er fand sie z. B. in den Strahlen des Auerbrenners, in den Strahlen
der Sonne, an glühenden Platinblechen, ja neuerdings sogar an zu-
sammengeprefsten beliebigen Materialien und sogar am menschlichen
Körper. Diese n-Strahlen wirken nicht auf eine photographische Schicht
ein, haben dafür aber einige Eigenschaften sowohl mit den Wärme-
strahlen, als mit den elektrischen Wellen gemein. Sie durchdringen
einige Körper, z. B. Quarz, aber auch Papier und Holz und beein-
flussen sowohl elektrische Funkenstrecken, wie kleine Leuchtflämmchen
und gewisse phosphoreszierende Substanzen. Nach Blondlot miifsle
') Vgl. den Aufsatz über das Radium, Heft 7 Seite 294, 1904.
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man die n-Strahlen folgender mafsen sehr leicht nachweisen können.
Von einem Auerbrenner, der in einem Kasten völlig lichtdicht cin-
gesohlossen ist, wird der Zylinder abgenommen, da die n-Strahlen
nicht durch Glas gehen. Der Kasten besitzt vor einer mit schwarzem
Papier oder Aluminium bedeokten Öffnung eine Quarzlinse. Diese
Quarzlinse konzentriert dann die Wirkung der n-Strahlen zu einer
Art von Brennpunkt, in welchem naoh den Angaben des französischen
Physikors sowohl ein winziger elektrischer Funke, wie eine kleine
Gasflamme heller aufleuchten soll. Auoh phosphoreszierende Sub-
stanzen, z. B. das Kalziumsulflt, leuchtet angeblich an dieser Stelle
heller auf. Zweifellos gehören die n-Strahlen der Ätherwellenskala
an, da sie ja duroh die Quarzlinse gebrochen werden. Aus diesbe-
züglichen Messungen mufs sich daher die Wellenlänge der n-Strahlen
ermitteln lassen. Sagnao findet sie zu etwa 0,2 mm. Man könnte
demnach die neuen Strahlen sowohl als kurze elektrische Wellen, wie
als lange Wärmewellen bezeichnen. Sie treten fast mitten in eine
für uns bis jetzt noch vorhandene Lücke der Ätherwellenskula.-)
So wäre denn in der Tat alles recht gut und schön, und man könnte
die Blondlotschen Untersuchungen mit Freude als eine nicht un-
wesentliche Bereicherung unserer Kenntnisse begrüfsen, wenn es nur
sonst den anderen, ruhig denkenden und gewissenhaft forschenden
Gelehrten gelungen wäre, die relativ sehr einfachen Versuche Blond-
lots zu wiederholen. Das is aber bisher durchaus nicht der Fall ge-
wesen, weder von deutscher noch von englischer Seite liegt bisher
eine Bestätigung vor. Wohl sind Erscheinungen ähnlich den von
Blondlot angegebenen beobachtet worden, eie haben sich aber aus-
nahmslos als ziemlich grobe, subjektive optische Täuschungen aus-
gewiesen. Inzwischen fährt Blondlot ruhig fort, weitere Veröffent-
lichungen über die n-Slrahlen zu bringen. Wir müssen jedoch darauf
verzichten, sie wiederzugeben, ehe nicht von kompetenter Seite eine
Bestätigung der Blondlotschen Versuohe erfolgt. Dr. B. D.
*
Ein Verfahren zur Gewinnung von wasserfreiem Alkohol ohne
wasserentziehende Chemikalien, wie Chlorcaloium oder Atzkalk, hat
der Engländer Sidney Young patentieren lassen. Es wird nämlich
einfach der wasserhaltige Alkohol mit einer nicht zu hoch siedenden
Neuerdings soll die Wellenlänge (nach Blondlot) jedoch ganz aufser-
ordentlich klein sein. Die n-Strahlen würden danach noch hinter die ultra-
violetten Strahlen rangieren.
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organischen Flüssigkeit wie Benzol, Chloroform, Benzin versetzt und
die Mischung in Kolonnenapparaten destilliert. Ein Kolonnenapparat
besteht aus mehreren hintereinander geschalteten Destillationsgefäfsen,
von denen immer das nächste höher erhitzt wird wie das vorher-
gehende, so dafs auf diese Weise eine Trennung des ursprünglichen
Gemisches in verschieden hoch siedende Bestandteile erfolgt. Dann
geht — das ist die Beobachtung des Erfinders — zuerst ein Gemisch
von Wasser, Alkohol und der Zusatzfiüssigkeit über, bis alles WasBer im
Destillat enthalten ist; dann destilliert eine Mischung von wasserfreiem
Alkohol und der organischen Flüssigkeit, bis der Siedepunkt des reinen
Alkohols erreicht ist. Das zuletzt genannte Gemisch wird bei der
weiteren Destillation an Stelle der Zusatzfiüssigkeit verwendet. Da es
bis jetzt noch nicht gelungen ist, absolut wasserfreien Alkohol her-
zustellen (die höchste Grenze ist 99,7 pCt.), so ist das Verfahren jeden-
falls von wissenschaftlichem Interesse. Für die Darstellung im Grofsen
dürfte es von geringerer Bedeutung sein, da in der Technik ein drin-
gendes Bedürfnis nach absolut wasserfreiem Alkohol nicht vorliegt,
so dafs die Verteuerung, die durch die Verwendung von organischen
Flüssigkeiten, wie Benzol etc., bedingt wird, durch den erzielten Fort-
schritt praktisch kaum genügend begründet sein dürfte.
Dr. M. v. P.
$
Über die Verwendung des Acetylens in gelöstem Zustand.
Dafs das Acetylen (C2 H2) einen etwa dreimal so grofsen Heiz-
effekt hat wie Leuchtgas, ist wohl bekannt. Trotzdem wird es,
wenigstens in Deutschland, bis heute noch wenig angewandt. Der Grund
ist hauptsächlich in zwei Vorurteilen zu suchen, denen inan immer
wieder begegnet. Man behauptet nämlich erstens. Acetylen sei giftig,
und zweitens, es sei gefährlich. Beide Ansichten sind als durchaus
veraltet zu verworfen. Giftig ist Acetylen nur, wenn es durch Phos-
phor stark verunreinigt ist (z. B. in den Fahrradlaternen), es ist aber
eine Kleinigkeit und es wird beim Verbrauch grüfserer Mengen nie
versäumt, es von Phosphor zu befreien; in reinem Zustande hat Ace-
tylen einen angenehmen Geruch (ähnlich wie gekochter Blumenkohl)
und ist durchaus unschädlich. Auch die Explosivität des Acetylens
braucht man heute nioht mehr zu fürohten, denn man hat in Frank-
reich eine Methode ersonnen, die das Gas auoh im komprimierten Zu-
stande ungefährlich und somit transportfähig macht. Man löst nämlich
das Aoetylen in Aceton (einer Flüssigkeit, die als Cberprodukt bei
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der trockenen Destillation des Holzes entsteht und die Formel
CH3 CO CH3 hat). Ein Liter Aoeton nimmt pro Atmosphäre Druck
24 Liter Acetylen auf; das Volumen vergrößert sich dabei um 4%.
Die Lösung ist vollkommen harmlos und wäre ohne weiteres trans-
portfähig, wenn sie sich nioht beim Entweichen des Acetylens zu-
sammenzöge. Dadurch entstehen in den Behältern Hohlräume, die
sich mit komprimiertem Gas füllen und nun hochgradig explosions-
gefährlich wirken. Hier hat Prof. Le Chatelier in Paris den Aus-
weg gefunden. Von der Beobachtung ausgobend, dafs die Kraft einer
Explosion mit dem Querschnitt des Kaumes, in dem sie stattfindet,
stark abnimmt, verfiel er auf den Gedanken, Transportfluschen durch
Füllung mit porösem Material in viele kleine Zellen zu unterteilen
und dann mit der Lösung zu beschicken. Er stellte zu diesem Zwecke
poröse Materialien her, die eine Porosität bis zu 80% aufwiesen. In
der Tat erwies sich die Idee als richtig. Es wurde festgestellt, dafs
weder ein elektrischer Funke, den man im Inneren einer Transport-
flasche überspringen liefs, noch die Hitze eines Schmiedefeuers eine
Explosion hervorzurufen imstande waren. Im ersten Fall trat eine
minimale Drucksteigeruug, im zweiten eine ruhige Verbrennung ein, als
das Gefäfs durch die Hitze bereits geborsten war. Diese Versuche
waren der französischen und englischen Polizei mafsgebend, den
Transport von Acetylenlösungen im weitesten Umfange zu gestatten.
Gefäfse nach Le Chatelier nehmen pro Liter Kapazität im leeren
Zustand und pro Atmosphäre 10 1, also bei 15 Atmosphären 150 1
Aoetylengas auf. In Frankreich, Schweden, Kufsland und Amerika
verwendet man bereits seit einiger Zeit transportable Acetylenlüsungen
zur Beleuchtung von Eisenbahnen, Strafsenfahrzeugen und, wegen des
grofsen Heizwertes des Acetylengases, auch zum Betrieb von Sauer-
stoffgebläsen. Dr. M. v. P.
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Verzeichnis der der Redaktion zur Besprechung eingesandleu Bücher.
Anding, E. Kritische Untersuchungen über die Bewegung der Sonne durch
den Woltenraum. München, F. Straub, 1901.
Annalen der K. K. Universitäts-Sternwarte in Wien, Herausgegehen von Ed.
Weifs, XVI. Band, Wien 1902.
Annuaire pour Tan 1904, puh ln4 par le burcau des longitudes. Paris, Oauthier-
Villara, 1904.
Astronomischer Kalender für 1904 Herausgegeben von der K. K. Stern-
warte zu Wien. Der ganzen Reihe CO. Jahrgang; der neuen Folge
23. Jahrgang. Wien, Karl Qerolds Sohn.
Auerbach, F. Das Zeifswerk und die Carl Zeifs-Stifiung in Jena. Jena,
Gustav Fischer, 1903.
Bach, L. Licht am Himmel oder Naturwissenschaftliche Entdeckungen eines
Oberelsassischen Volksechullohrera. Rixheiin, Sutter & Co., 1903.
Borgens Museums Aarbog 1903, udgivet af Borgens Museum, red. Dr.
J. ßrunchorst. Heft I und Heft 2. Bergen 1903.
Bruhns, W. Petrographie (Gesteinskunde). Mit 15 Figuren. Sammlung
Göschen, Leipzig 1903.
Bludau, A Neue zeitgomäfso Bearbeitung von Sohr- Bergbaus1 Handatlas über
alle Teile der Erde. Unter Mitwirkung von Otto Heckt. IX. Aullage.
Lieferung 4, 5 und 6. Glogau, Carl Flemming, 1903.
Classen, A. Ausgewählte Methoden der Analytischen Chemie. II. Bd. Unter
Mitwirkung von H. Cloeren. Mit 133 Abbildungen und 2 Spektraltafeln.
Braunschweig, Fried r. Vieweg & Sohn, 1903.
C lassen, J. Theorie der Elektrizität und des Magnetismus. I. Band. Elektro-
statik und Elektrokinetik. (Sammlung Schubert XL VI.) Leipzig,
Güschenscher Verlag, 1903.
Classen, J. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und der Glaube an Gott. Vor-
trag, gehalten im Hamburger Protestantenvorein. Hamburg, C. fioyten,
1903.
Chalikiopoulos, L. Sitia. Die Osthalbiusel Kretas. Eine geographische
Studie. Mit 3 Tafeln und 8 Abbildungen. Berlin, Mittler & Sohn, 1903.
Constan, P. Coura elemontairo d’astronoraie et do Navigation. Premiere
partio: Astronomie. Paris, Gauthier-Villars, 1903.
Dact'jue, E. Wie man in Jena naturwissenschaftlich beweist. Stuttgart,
M. Kielmann, 1904.
Dacquö, E. Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte vom Altertum bis
zur Neuzeit. München, Ernst Reinhardt, 1903.
(Fortsetzung folgt)
Verlag: Hermann Paotel in Berlin. — Druck: Wilhelm Dronan'e ßnchdruckerel in Berlin - SehAneberg.
Für die Eedaetioo verantwortlich : Dr. P. Sehwahn in Berlin.
Unbarechtifter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
ÜbeTeetznngarecht Vorbehalten.
^4
Hospental mit der Ebene von Andermatt und der Oberalp.
Die Kirchhoffsche Funktion.
Von Professor Dr. J. .SchfUer in Potsdam.
, j m Miirzhefte des Jahrganges l*tl7 dieser Zeitschrift hatte ich ver-
sucht, in einem Aufsätze -Der Kirchhoffsohe Satz und seine
Folgerungen“, den Kirchhoffschen Satz, der dieGrundlage der
Spektralanalyse und aller ihrer wunderbaren Ergebnisse bildet, dem
Leser zu erklären und zu deuten. Bei dieser Gelegenheit mufste auch
die Kirchhoffsche Funktion besprochen werden, und ich konnte
einige allgemeine Eigenschaften derselben anführen, durch deren
Kenntnis es möglich geworden war, die wichtigste Tatsache der Spek-
tralanalyse, die Identität der hellen und dunklen Linien in den Spektren
gasförmiger Körper zu beweisen und damit die wissenschaftliche
Spektralanalyse zu begründen. Die wahre mathematische Form der
Kirchhoffschen Funktion war damals noch nicht bekannt; ich habe
aber bereits darauf hingewiesen, dafs die ganze Fruchtbarkeit der
Kirchhoffschen Entdeckung erst nach Auffindung dieser Formel zu-
tage treten kann. Das ist nun heute geschehen; in mühsamer Arbeit,
Schritt für Schritt, und in inniger Zusammenwirkung von Experiment
und Theorie ist es den Physikern gelungen, den Sohlufsstein der
Kirchhoffschen Entdeckung einzufügen. Zahlreiche Gelehrte haben
hieran gearbeitet, von donon hier nur die folgenden aufgeführt seien :
Kurlbaum, Lummer, Pringsheim in experimenteller Beziehung,
Wien und Planck in theoretischer Hinsicht Nachdem Wien der
Wahrheit schon recht nahe gekommen war, ist die definitive mathe-
matische Form Bohliefslioh von Planck aufgestellt und bewiesen
worden; sie wird als Planck sehe Energiegleichung bezeichnet
Während es gänzlioh unmöglich ist, die überaus schwierigen
theoretischen Untersuchungen Plancks hier zur Darstellung zu bringen,
Himmel und Krde. 1004 XVI. 9. 05
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möchte ich es im folgenden versuchen, den experimentellen Teil der
Untersuchung zu erläutern und einige Anwendungen der Kirohhoff-
sohen Funktion zu besprechen.
Nach dem Kirchhoffsohen Satze findet zwischen der Ausstrah-
lung (Emission) und der Aufsaugung der Strahlen (Absorption) bei
E
jeder Temperatur und für jeden Körper die Beziehung statt ^ = e,
wobei e die Emission eines sogenannten absolut schwarzen Körpers
bedeutet. In Worten heifst dies: „Das Verhältnis der Emission zur
Absorption ist für alle Körper dasselbe und zwar gleich dem Emissions-
vermögen des absolut schwarzen Körpers bei der betreffenden Tempe-
ratur“. Unter absolut schwarzem Körper soll nach Kirchhoff ver-
standen werden ein Körper, der alle Strahlen, die auf ihn fallen,
gleichgültig ob es Licht- oder Wärmestrahlen sind, vollständig absor-
biert, d. h. in Wärmevermehrung des Körpers umsetzt Er darf also
weder reflektieren, noch Lioht, oder allgemein Strahlung, durchlassen.
Derartige Körper gibt es in der Natur nicht; am nächsten kommt
dieser Bedingung die Kohle in Form von Rufs, doch absorbiert sie von
den Lichtstrahlen durchaus nicht alles, sondern nur 98 % unter den
günstigsten Bedingungen.
Kirchhoff konnte nun schon selbst einige allgemeine Eigen-
schaften seiner Funktion, oder also des Emissionsvermögens des
absolut schwarzen Körpers aufstellen: Dieses Emissionsvermögen
kann nur eine Funktion von Temperatur und Wellenlänge der Strah-
lung — im siohtbaren Teile der Strahlung, also der Farbe — sein,
und zwar mufs es eine einfache Funktion sein (siehe den zitierten
Aufsatz). Mit zunehmender Temperatur mufs für alle Wellenlängen
die Emission zunehmen, aber natürlich in verschiedenem Mafse. Bei
ein und derselben Temperatur ist die Emission für die verschiedenen
Wellenlängen des Lichtes ebenfalls eine verschiedene, in dem Sinne,
dafs für eine bestimmte Wellenlänge ein Maximum der Emission
herrscht Für alle Temperaturen und für alle Wellenlängen mufs die
Absorption eine vollkommene, d. h. A = 1 sein (nach der Definition
des schwarzen Körpers).
Im Laufe der Zeit erkannte man einige weitere spezielle Eigen-
schaften der Kirchhoffschen Funktion. Vor allem fand Stefan
auf empirischem Wege das naoli ihm benannte Gesetz, dafs die Gesamt-
strahlung eines schwarzen Körpers mit der 4ten Potenz der absoluten
Temperatur zunehme. Die Richtigkeit dieses inzwischen vielfach mit
grofsem Erfolge angewendeten Gesetzes wurde später durch Boltz-
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mann theoretisch bewiesen. Ferner fand man, dafs das Maximum
der Strahlung mit zunehmender Temperatur des strahlenden Körpers
sich immer mehr nach dem violetten Teile des Spektrums verschiebe.
Alle diese Strahlungsgesetze konnten nun natürlich nur für den ab-
solut schwarzen Körper Gültigkeit haben; eine exakte Prüfung der-
selben im Laboratorium konnte also erst stattfinden, als es gelang,
auf künstlichem Wege einen absolut schwarzen Körper herzustellon,
da die Natur einen solchen nicht liefert. Den Weg hierzu hat schon
Kirohhoff selbst angegeben. Er hat den Satz ausgesprochen, dafs
in jedem Hohlraum, dessen Hülle für Strahlung undurchlässig ist
(Metalle) und überall gleicho Temperatur besitzt, die Strahlung des
schwarzen Körpers von der Hüllentemperatur herrsche. Der Beweis
hierfür ist ein sehr einfacher: Denken wir uns von einem Punkte
dieser Hülle einen Strahl nach einer bestimmten Richtung ausgehend,
so wird derselbe sehr bald auf einen anderen Punkt der Hülle auf-
treffen. Da nun das Material, aus dem die Hülle besteht, nicht
die Eigenschaft eines absolut schwarzen Körpers besitzt, so wird
nur ein Teil der Strahlung absorbiert werden, der übrige Teil wird
weiter reflektiert, und zwar bei rauher Oberfläche nach allen möglichen
Richtungen hin. Verfolgen wir einen dieser reflektierten Strahlen weiter,
so wird er bald wieder irgendwo die Hülle treffen; hierbei wird wieder
ein Teil absorbiert, das übrige reflektiert. Der reflektierte Teil wird
immer kleiner und kleiner, da ja jedesmal Absorption stattfindet, und
schliefslich nach unendlich vielen Reflexionen wird er Null; d. h. es
ist durch die Hülle alles absorbiert worden, und das ist ja eben
die Eigenschaft des absolut schwarzen Körpers. Das gilt natürlich
für alle Strahlungen, die im Inneren verlaufen, und da fremde Strah-
lung wegen der Undurchlässigkeit der Hüllo nicht hineindringen
kann, so ist tatsächlich im Innern der Hülle die Strahlung so, als wenn
die Hülle aus einem absolut schwarzen Körper bestände.
Hat die Hülle nun eine kleine Öffnung, so tritt aus derselben
die Strahlung des schwarzen Körpers aus und kann experimentell
untersucht werden. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dafs,
sobald eine Öffnung in der Hülle ist, die Bedingung zur Herstellung
der, um es kurz auszudrüoken, „schwarzen" Strahlung nicht mehr
erfüllt ist, da einerseits durch diese Öffnung fremde Strahlung in
die Hülle eindringt, anderseits an dieser Stelle ja keine Reflexion
und Absorption mehr stattfindet. Es ist aber klar, dafs der hierdurch
entstehende Fehler immer kleiner wird, je kleiner die Öffnung im
Verhältnis zur Oberfläohe der Hülle wird; man hat es also in der
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Hand, durch Wahl der Dimensionen der schwarzen Strahlung be-
liebig nahe zu kommen.
So leicht es hiernach auch erscheint, einen schwarzen Körper
herzustellen, so grofs sind doch die technischen Schwierigkeiten, die
zu beseitigen sind, sobald es sich darum handelt, einen Körper zu
konstruieren, der mit einem hohen Grade von Genauigkeit die schwarze
Strahlung bei sehr verschiedenen, aber exakt zu bestimmenden Tempe-
raturen liefert. Erst in den letzten Jahren ist es den eingangs ge-
nannten Physikern gelungen, diese Schwierigkeiten zu überwinden.
Man ist hierbei zu verschiedenen Konstruktionen gelangt, von denen
die vorteilhafteste wohl diejenige des elektrisch geheizten schwarzen
Körpers sein dürfte, da man hierbei jede beliebige Temperatur bis
nahe an den Schmelzpunkt des Platins hin erreichen kann.
Der „schwarze“ Körper selbst besteht aus einem Porzellanrohr
— ist also an sioh weifs — , welohes vorn offen und hinten ge-
schlossen ist bis auf 2 kleine Öffnungen, die zur Durchrührung dünner
Drähte dienen. Im Innern ist das Rohr durch Diaphragmen in ver-
schiedene Abteilungen getrennt, die aber durch die Öffnungen der
Diaphragmen miteinander in Verbindung stehen. Aufsen ist das Por-
zellanrohr mit einem dicht anschliefsenden Rohr aus dünnem Platin-
blech umgeben, und dieses wiederum von einer Hülle aus Asbest-
pappe, die zum Wärmeschutze des Platinbleches dient Die beiden
Enden des Platinrohres sind leitend mit je einem Pole einer Stark-
stromleitung verbunden. Geht der Strom durch das Platinrohr hin-
durch, so wird dasselbe erwärmt, und zwar hat man es durch Regu-
lierung der Stromstärke in der Hand, das Platinrohr von schwachen
Erwärmungen an bis zur Weifsgluthitze zu heizen.
Die Wärme des Platinrohres teilt sich nun allmählich dem
Porzellanrohr mit, und nach längerer Heizung mit einem gleich-
förmigen Strom stellt sich Gleichgewicht her zwischen der durch den
Strom zugeführten Wärme und der durch Strahlung und Leitung
nach aufBen abgegebenen, so dafs die hintere Abteilung des Rohres,
der eigentlich schwarze Körper, überall die gleiche Temperatur be-
sitzt, was ja eine der Hauptbedingungen für die Herstellung des
schwarzen Körpers ist. Wann dieser stationäre Zustand eintritt, läfst
sich bei Temperaturen, die ein Glühen hervorrufen, leicht durch den
Anblick erkennen. In diesem Falle wird, wie wir oben gesehen,
das Material, aus dem die Hülle besteht, gleichgültig; die Strahlung
ist eben die des schwarzen Körpers; die vorher noch erkennbaren
verschiedenen Teile des Hohlraumes, besonders das Diaphragma und
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die im Innern befindlichen Platindrähte verschwinden, und der Hohl-
raum erscheint als völlig gleichförmig glühende Fläche. Fs
handelt sioh nun noch um die Ermittelung der Temperatur des Hohl-
raumes. Das geschieht durch ein im Hohlraum befindliches Thermo-
element, bestehend aus Platin und einer Legierung von Platin mit
Rhodium, dessen Drähte durch die vorhin erwähnten Öffnungen in
der Hinterwand der Porzellanröhre nach aufsen und zwar unmittelbar
in ein mit schmelzendem Eise gefülltes Gefäfs führen, so dafs sioh
die hintere Lötstelle des Elements stets in der gleiohen Temperatur
von 0° befindet. Die Temperatur selbst wird, wie üblioh, vermittels
eines Galvanometers gemessen. Das ist in rohen Umrissen
der absolut schwarze Körper, dessen Strahlung duroh die vordere
Rohröffnung nach aufBen gelangt und dann mit Hilfe besonderer
Apparate gemessen werden kann.
Wir hatten festgestellt, dafs die Kirchhoffsche Funktion allein
abhängig sei von der Temperatur des strahlenden Körpers und der
Wellenlänge der Strahlung; die Messung der Strahlung behufs expe-
rimenteller Ermittelung der Kirchhoffschen Funktion mufs demnach
für die verschiedenen Wellenlängen getrennt erfolgen; die Strahlung
mufs also im Spektroskop erst nach ihrer Wellenlänge zerlegt und dann
gemessen werden. Die Zerlegung kann nicht mit einem gewöhnlichen,
mit Glasprismen und Glaslinsen versehenen Spektroskope ausgeführt
werden, da die Strahlen gröfserer Wellenlänge, im Ultrarot gelegen,
duroh Glas stark absorbiert werden. Für Strahlen gröfser als 2 u
(0,002 mm) ist das Glas überhaupt ganz undurchsichtig. Die Prismen
sind daher aus anderen Materialien herzustellen, die diese unange-
nehmen Eigenschaften des Glases nioht besitzen, und das sind Stein-
salz, Flufsspat und Sylvin. Die Anfertigung brauchbarer Liesen aus
diesen Materialen bietet aber gröfsere Schwierigkeiten, und so ver-
zichtet man lieber auf deren Verwendung und ersetzt sie duroh sil-
berne Hohlspiegel.
Die eigentliche Messung der Strahlungsenergie an den ver-
schiedenen Stellen des Spektrums erfordert die vollständige Um-
setzung in Wärme. Als Auffänger der Strahlung müfste also wieder
ein schwarzer Körper dienen. Während es nun noch verhältnis-
mäfsig leicht war, einen schwarzen Körper zu konstruieren, der zur
AusBendung der Strahlung dient, sind die Schwierigkeiten der Her-
stellung eines für die Aufnahme der Strahlung geeigneten Körpers
bisher unüberwindlich gewesen, und so ist man auf die Verwendung
einer berufBten Fläche angewiesen, und hierin liegt eine Unvoll-
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kommenheit, wohl die einzige, der ganzen Methode, da man nioht weife,
ob der Rufs die Strahlen der verschiedenen Wellenlängen alle gleich-
mäßig stark absorbiert, wie es ja bei der Feststellung ihrer relativen
Intensität notwendig ist
Die Strahlungen, die von Körpern niedriger Temperatur ausgehen,
sind nun, besonders nach ihrer spektralen Zerlegung, außerordentlich
schwach und dementsprechend die durch sie hervorgebrachten Tem-
peraturerhöhungen ungemein gering; ihre Nachweisung oder gar
Messung durch Thermometer ist ganz ausgeschlossen, und selbst die
sonst so empfindlichen Thermoelemente versagen hierbei. Es ist die
bolometrisohe Messungsmethode, die allein nooh Resultate liefert.
Das Bolometer besteht im wesentlichen aus einem äußerst dünnen
Platinstreifen (0,001 mm Dicke), dessen vordere Fläche berufst ist
und die Strahlung aufrängt Durch den Streifen wird ein schwacher,
elektrischer Strom geleitet, dessen Stärke mit Beihilfe einer Wheat-
stoneschen Brücke in einem äußerst empfindlichen Galvanometer
gemessen werden kann. Die Stromstärke ist abhängig von dem
Widerstande dos Bolometerstreifens, der seinerseits wieder von seiner
Temperatur abhängt: mit steigender Temperatur nimmt der Wider-
stand zu, die Stromstärke und damit der Galvanometerausschlag ab.
Bringt man den Streifen langsam nacheinander an die verschiedenen
Stellen des Spektrums, so ist also auf dem angedeuteten Umwege
durch die verschiedene Ablenkung der Galvanometernadel die mit
der Strahlungsenergie zusammenhängende Temperatur des Streifens
zu messen. Es ist auf diese Weise möglich gewesen, Temperatur-
unterschiede von dem millionsten Teile eines Celsiusgrades zu messen.
Die hiernach gewonnenen Energiekurven der Strahlungen für die
verschiedenen Temperaturen konnten nunmehr mit den theoretischen
Ergebnissen verglichen werden, und wie schon gesagt, ist es schließ-
lich Planck gelungen, auf theoretischem Wege eine „ Energiegleiohung“,
p. h. die Ki rch hoffsche Funktion, abzuleiten, die den Beobachtungen
völlig Genüge leistet. Diese Energiegleichung lehrt, daß die Strahlungs-
energie des schwarzen Körpers für jede Wellenlänge \ und für jede
absolute Temperatur T auszudrücken ist durch
C
Hierin ist C eine Konstante, die nur für ein bestimmtes Experi-
ment eine Bedeutung hat, während c eine sehr wichtige Konstante
ist, deren Wert experimentell zu 14 600 ermittelt wurde, und über
deren Bedeutung gleich noch einige Erläuterungen zu geben sind.
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Die Plancksche Gleichung erfüllt nun zunächst die schon von
Kirchhoff erkannte Bedingung, dafs sie als Naturgesetz von einfacher
Form sein müsse, sie liefert eine kontinuierliche, mit einem Maximal-
wert versehene Kurve. Sie enthält ferner die Gesetze der Strahlung,
die schon früher erkannt waren, und die zum Teil schon eingangs
erwähnt sind. In erster Linie erfüllt sie das Stefansche Gesetz,
nach dem die Gesamtstrahlung, also die Summe der Strahlungen für
alle Wellenlängen von Null bis Unendlioh, proportional der 4. Potenz
der absoluten Temperatur ist, während das Maximum der Strahlung
oder die Höhe des Gipfelpunktes der Strahlungskurve proportional
mit der 5. Potenz der absoluten Temperatur wächst. Wir hatten be-
reits erwähnt, dafs sich mit zunehmender Temperatur dieser Gipfel-
punkt der Strahlungskurve immer mehr nach dem Violett verschiebe,
d. h., dafs die Wellenlänge des Strahlungsmaximums, die mit l.s»
bezeichnet werden möge, immer kleiner wird. Der mathematische,
ungemein einfache Ausdruck des „Verschiebungsgesetzes“ lautet:
>.m«x ■ T = A,
wo A eine Konstante ist, deren Wert zu 2940 gefunden wurde; hier-
mit hängt die schon erwähnte Konstante c durch die einfache Gleichung
c = 4-965 A
zusammen.
Wie man sieht, sind die Energiegleichung und alle mit ihr
zusammenhängenden Strahlungsgesetze ganz ungemein einfacher
Natur, so dafs sie jeder Laie verstehen kann und man nicht ver-
muten sollte, dafs zu ihrer Ableitung ein besonderes Mafs von mathe-
matischem Soharfsinn erforderlioh gewesen ist.
Wir wollen uns nun mit den allgemeinen Konsequenzen, die
sioh aus der Kirchhoffschen Funktion ergeben, beschäftigen, wobei
noch einmal zu betonen ist, dafs diese Konsequenzen in Strenge nur
für den absolut schwarzen Körper gültig sind. Da die Gesamtstrahlung
mit der 4. Potenz der absoluten Temperatur wächst, das Maximum
der Strahlung aber mit der 5. Potenz, so folgt, dafs mit zunehmender
Temperatur die Strahlungskurve immer steiler wird Wie mächtig
aber solche Potenzen wirken (daher ja auch der Name), kann am
besten an einem Beispiel klargelegt werden. Zu dem Zwecke wollen
wir die Strahlungsverhältnisse miteinander vergleichen bei den Tem-
peraturen 0° = 273° absolut; 1000° = 1273° absolut (Schmelz-
temperatur des Silbers) und 6000n = 6273° absolut (Sonnentemperatur).
Dann verhalten sich die entsprechenden Strahlungsenergien wie
2734: 1273 4 : 62734 und die entsprechenden Maxima der Strahlungen wie
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dieselben Zahlen zur 5. Potenz. Bezeichnet man also die Strahlungs-
intensität des Körpers von 0° mit 1, so ist diejenige des Körpers von der
Schmelztemperatur deB Silbers bereits 470 mal stärker, diejenige der
Sonne aber gar 280000 mal gröfser. Jetzt kann man verstehen, weshalb
uns die Strahlung der 20 Millionen Meilen weit entfernten Sonne
unter Umständen unerträglich vorkommt, während wir bei der An-
näherung an eine Eismasse das Gefühl einer scheinbaren Kälte-
strahlung haben, dadurch veranlagt, dafs die uns vom Eise zukom-
mende Strahlung geringer ist als die von unserem wärmeren Körper
dem Eise zugehende, wodurch uns also Wärme entzogen wird. Noch
gewaltiger werden die Unterschiede, wenn wir die Maxima der
Strahlung betrachten, also die höohsten Punkte der Strahlungskurven.
Denken wir uns die Strahlungskurve bei 0° aufgezeichnet, so dafs
ihre Maximalhöhe nur 1 mm beträgt, so würde bei 1000° die Spitze
der Kurve bereits 2-2 Meter hoch liegen, bei der Sonnentemperatur
sogar 6*4 Kilometer hoch! Das ist wohl eine genügende Erklärung
dafür, dafs wir bei diesen Betrachtungen die umständliche Beschrei-
bung duroh Worte und Zahlen gewählt haben, anstatt der sonst viel
bequemeren und anschaulicheren Darstellung durch die Kurven selbst.
Bei den folgenden spezielleren Anwendungen der Kirchhoffschen
Funktion kommen wir aber ohne die Betrachtung der Kurven selbst
nicht davon; sie sollen indessen für die verschiedenen Temperaturen
als von gleicher Höhe dargestellt werden, nachdem wir uns bewufst
geworden sind, welche gewaltigen Mafsstabreduktionen hierzu erforder-
lich sind.
Es möge als erstes Beispiel der Wichtigkeit der Kirchhoffschen
Funktion die Aufgabe gelöst werden, wie grofs der Verlust der Sonnen-
strahlung ist infolge der Absorption durch die in unserer Atmosphäre
enthaltene Kohlensäure. Da nuch selbst auf den höchsten Bergen
noch eine sehr beträchtliche Menge Kohlensäure in den oberhalb ge-
legenen Luftsohiohten vorhanden ist, so kann, ganz abgesehen von
anderen Schwierigkeiten, diese Aufgabe duroh die Messung der Sonnen-
strahlung selbst nicht gelöst werden; man ist auf Untersuchungen im
Laboratorium angewiesen. Hierbei tritt nun die Schwierigkeit ein,
dafs man im Laboratorium keine Licht- oder Strahlungsquelle zur
Verfügung hat, deren Temperatur auch nur annähernd derjenigen der
Sonne gleichkäme. Wir wollen nun annehmen, die Laboratoriums-
versuche hätten ergeben, dafs die Kohlensäureabsorption aus der
Strahlung eines schwarzen Körpers von rund 2000° (Schmelztempera-
tur des Platins) 25 °/„ betrage, und dafs sie, wie dies auch tatsächlich
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der Fall ist, wesentlich in zwei im Ultrarot gelegenen Spektralgebieten
zustande komme, deren Wellenlängen von 0,0023 mm bis 0,0030 mm
und von 0,0039 mm bis 0,0047 mm liegen.
In der untenstehenden Figur stellt nun die ausgezogene Linie
die Plan oksohe Energiekurve für die Temperatur 2000° dar. Die
Ordinaten (Höhen) dieser Kurve sind in einem beliebigen Mafsstab
gegeben, die horizontale Ausdehnung (Abszissen) nach den Wellen-
längen in Tausendsteln eines Millimeters von 0 an bis 0.005 mm.
Zur Orientierung möge daran erinnert werden, dafs sich das Gebiet der
slohtbaren Strahlen von 0,0004 mm bis 0,0008 mm erstreokt, also
nur die durch die — — . angedeutete kurze Strecke umfafst. Wie man
sieht, liegt der allergröfste Teil dieser Strahlung ganz aufserhalb des
sichtbaren Spektrums im Ultrarot. Das Maximum der Strahlungsenergie
liegt bei der Wellenlänge 0.0016 mm. Die schraffierten Streifen geben
nun das Absorptionsgebiet der Kohlensäure an, und es läfst sioh leicht
folgendes übersehen. Wenn die Kurve den Verlauf der Strahlungs-
energie anzeigt, so mufs der Flächeninhalt der Kurve, von der unteren
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horizontalen Linie an gerechnet, den Qesamtenergiebetrag der Strah-
lung darstellen, und von diesem Gesamtbeträge gehen die beiden
schraffierten Flächen, welche den Betrag der Absorption darstellen, at».
Die schraffierten Flächen bilden aber nur den 4ten Teil der Gesamt-
fläche, daher die Angabe, dafs die Kohlensäure bei einer Strahlung»—
quelle von 2000° eine Absorption von 25% ausübe, vollständige
Absorption vorausgesetzt.
Die punktierte Linie ist nun die Strahlungskurve für 6000 °
(Sonnentemperatur), deren Spitze bei gleichem Mafsstabe wie für di e
2000 n Kurve ungefähr 50 m hoch liegen müfste. Ihr Maximum liegt
bei 0.0005 mm Wellenlänge, und infolge ihres steileren Anstiegs
sind die im Ultrarot gelegenen Strahlungen verhältnismäfsig schwach».
Die von den schraffierten Streifen ausgeschnittenen Flächenstücke steiler»
nun wiederum die Absorption der Kohlensäure dar, aber diesmal ist
ihr Inhalt zu dem der ganzen Kurve ein viel geringerer, er beträg-1
nur noch 4 %. Damit ist die nooh vor wenigen Jahren völlig untraä-
lable Aufgabe gelöst: Die Absorption der Kohlensäure beträgt für di e
Sonnenstrahlung 4 %, geschlossen aus Laboratoriumsversuchen, di«?
eine Absorption von 26 % ergeben hatten.
Von diesem Beispiel rein wissenschaftlicher Natur wollen wi r
zu einer anderen Anwendung übergehen, welche zwar nooh von
hoher wissenschaftlicher Bedeutung ist, aber auch in technischer Be-
ziehung wichtig erscheint, und in gewissem Sinne eine Umkehr der
vorhin gestellten Aufgabe ist: Es soll aus der Strahlung die Tempe-
ratur des strahlenden Körpers bestimmt werden. Von den ver-
schiedenen Methoden, nach denen dies erfolgen kann, möge hier mir
eine, die am einfachsten zu erklärende, angegeben werden. Wir batten
bereits das sogenannte Verschiebungsgesetz kennen gelernt, i. m»x . T
= 2940, nach welchem die Wellenlänge der Maximalstrahlung mit zu-
nehmender Temperatur immer mehr abnimmt. Den Effekt dieser Ver-
schiebung, für die Vermehrung der Temperatur von 2000° auf 6000°,
zeigt auf das deutlichste die bereits benutzte Figur. Mifst man also
bei einem strahlenden Körper, bei welcher Wellenlänge das Maximum
seiner Strahlung liegt, so erhält man hieraus nach der obigen Glei-
chung ohne weiteres die Temperatur des strahlenden Körpers, sofern
derselbe ein absolut schwarzer ist. Letzteres ist aber in der Praxis
nioht der Fall, und deshalb hat Pringsheim auch die Strahlungs-
kurve für einen Körper untersucht, dessen Eigenschaften von denen
eines absolut sohwarzen Körpers sehr weit entfernt sind; als solcher
erschien blankes Platin geeignet, da sein grofses Refiexionsvermögen,
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welches auch beim Glühen bestehen bleibt, ihn vom schwarzen Körper
stark unterscheidet. Es ergab sich, dafs beim Platin das Verschie-
bungsgesetz ebenfalls gültig ist, dafs aber anstatt der Konstanten 2940
der Wert 2630 zu setzen ist Die meisten in Frage tretenden Körper
liegen nun in bezug auf ihre Strahlungseigenschaften zwischen dem
schwarzen Körper und dem blanken Platin; berechnet man also die
Temperatur mit beiden Konstanten, so wird der wahre Wert zwischen
den beiden Resultaten liegen.
Als Beispiel mögen folgende Messungen angeführt werden
(Pringsheim):
ätrahlungsquelle
X max.
T (schwarz;
T (Platin)
Elektr. Bogen
0,0007
4 200»
3 760®
Nernstlampe . .
0,0012
2 450
2 200
Gasglühlicht . .
0,0012
2 450
2 200
Glühlampe . .
0,0014
2 100
1 875
Kerze ....
0,0015
1 960
1 760
Es ist die Hoffnung vorhanden, dafs es gelingen wird, in jedem
einzelnen Falle festzustellen, ob die Strahlungsquelle sich in ihren
Strahlungseigenschaften mehr dom schwarzen Körper oder dem Platin
nähert. Dadurch würden natürlich die Grenzen, innerhalb deren die
wahre Temperatur liegt, enger gezogen sein; aber auch so gibt diese
Methode schon eine recht befriedigende Genauigkeit, besonders, wenn
man bedenkt, dafs sie auf die höohsten Temperaturen anwendbar ist, bei
denen jegliche direkte Temperaturbestimmung zur Unmöglichkeit wird.
Zum Schlüsse wollen wir nun auf eine Frage übergehen, die
von der höohsten Bedeutung für die Leuchttechnik zu werden ver-
spricht
Aus der vorstehenden kleinen Tabelle ist zu ersehen, dafs den
gebräuchlichsten Lichtquellen, denen sich auch die dabei nicht an-
geführte Petroleumlampe anschliefst eine Temperatur in der Höhe
von 2000° zukommt; eine Ausnahme bildet nur die elektrische Bogen-
lampe.
Betrachten w:ir nun unsere Strahlungsenergiekurve bei 2000°i
so sehen wir, wie schon erwähnt, dafs der bei weitem gröfste Teil
der Energie — und diese Energie stellt den Kraftverbrauch beim
Leuchten, also auch cum grano salis den Kostenpunkt dar — im
Ultrarot liegt und demnach für das Sehen unnötig ist ja nicht
blofs unnötig, sondern in vielen Fällen, z. B. durch Erhitzung des
Kopfes bei nahestehender Arbeitslampe, direkt schädlich wirkt. Es wird
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tatsäohlioh nur 1 bis 2% der Gesamtenergie wirklich zum „Leuchten“
verwendet, d. h., es findet eine ganz ungeheure Verschwendung von
Energie und damit von Geld statt. Dem ist aber zunäohst dadurch
abzuhelfen, dafs Leuchtquellen von höherer Temperatur zur Ver-
wendung gelangen, wobei das Maximum der Strahlung immer
mehr sich dem sichtbaren Teile des Spektrums nähert. Welcher Ge-
winn dabei zu erzielen ist, lehrt der Umstand, dafs die Gesamtenergie
der Strahlung bekanntlich mit der 4 ten Potenz der Temperatur
wächst, während bei 2000° die Lichtemission etwa mit der 14ten Potenz
zunimmt! Ein lehrreiches Beispiel dieser Art hat Pringsheim ge-
geben. Eine gewöhnliche elektrische Glühlampe liefert ihre normale
Helligkeit von 16 Kerzen bei 45 Volt Spannung und 1,3 Ampere
Stromstärke, also bei einem Energieverbrauche von 58,5 Watt. Für
ganz kurze Zeit hält diese Lampe eine starke Überlastung aus, sie
brennt noch bei 96 Volt und 3 Ampere, also bei 285 Watt. Ihre
Helligkeit ist dann kaum noch zu ertragen, sie beträgt 2080 Kerzen,
ist also um das 130fache gestiegen, während der Energieverbrauch
nur um das 5 fache gewachsen ist. Der Nutzeffekt ist also der
26 fache. Dabei ist die Temperatur des Kohlefadens von 2000° auf
etwa 3000° gestiegen. In diesem Zustande würde die Lampe die
denkbar billigste Lichtquelle darstellen, wenn sie haltbar wäre; aber
leider zerreifst der Kohlefaden in wenigen Minuten. Nooh aufser-
ordentlich viel billiger arbeitet, um diesen Ausdruck zu gebrauchen,
unsere Sonne bei ihrer Temperatur von 6000°. Aus der für diese
Temperatur gültigen punktierten Strahlungskurve ersieht man, dafs be-
reits 60%, also über die Hälfte der Gesamtstrahlung in den sicht-
baren Teil des Spektrums fallt, also tatsächlich zum Leuchten ver-
wendet wird.
Wie man erkennt, steht unsere Leuohttechnik trotz ihrer gewal-
tigen Erfolge in den letzten Jahrzehnten noch immer auf einer sehr
tiefen Stufe. Ihre Bestrebungen müssen nach zwei Riohtungen gehen,
entweder Materialien zu finden, die, etwa elektrisch geglüht, viel
höhere Temperaturen als die bis jetzt bekannten auf längere Zeit
aushalten können, oder aber solche, deren Strahlungskurven stark von
derjenigen des schwarzen Körpers abweichen, in dem Sinne, dafs
auch bei geringeren Temperaturen die Strahlung im Ultrarot klein
ist gegenüber derjenigen im sichtbaren Teile des Spektrums. Nach
beiden Riohtungen hin werden von den Technikern unausgesetzt Ver-
suche angestellt, und es werden immer weitere Fortschritte in dieser
Beziehung zu erhoffen sein.
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In der organisirten Natur ist übrigens diese Aufgabe längst ge-
löst, und zwar in der letzteren Richtung hin: Das recht intensive
Leuchten der Leuchtapparate bei gewissen Insekten findet ohne merk-
liche Temperaturerhöhung statt.
Wir sind damit scheinbar weit von unserem eigentlichen Thema
abgekommen. Aus fast ganz abstrakten mathematischen Betrachtungen
über den Kirchhoffschen Satz und die Form der Kirchhoffschen
Funktion und aus den schwierigsten experimentellen Untersuchungen
auf dem Gebiete der Wärmestrahlung sind wir in die Bestrebungen
der modernsten Technik hineingelangt. Aber nur scheinbar. So wie
die stetige und beharrliche wissenschaftliche Forschung auf dem
Gebiete der Strahlung zunächst zum Kirchhoffschen Satze und da-
mit zur Begründung der Spektralanalyse geführt hat, so hat die
gleiche Beharrlichkeit auch zur Entdeckung der Kirchhoffschen
Funktion und damit zur Begründung einer quantitativen Spektral-
analyse geleitet, als deren Konsequenzen wir hier nur einige Probleme
angeführt haben.
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~§i:
Das Gotthard-Gebiet als Sommer-Aufenthalt
Von Professor Dr. C. Koppe in Brsunschweig.
«as Gotthard-Gebiet ist durch die Gotthardbahn erst eigentlich
erschlossen worden. Als wir seinerzeit mit den Arbeiten für
den grofsen Tunnel begannen, gab es in Airolo und in
Gösohenen je einen kleinen Gasthof. Di« Reisenden übernachteten
dort nur, um am andern Morgen über den Berg weiter zu reisen,
oder, wenn dies durch Schneefall und Lawinen-Gefahr unmöglich ge-
macht, um zu warten, bis die Strafse und der Pafsübergang wieder
frei geworden waren. Jetzt sind in Airolo, abgesehen von den
kleineren Gasthäusern, sieben gröfsere Hotels, und doch kommt es
trotz der zahlreichen Privat-Quartiere während der guten Jahreszeit
nicht selten vor, dafs alles üborfüllt ist. Während aber die übrige
Schweiz und auch Italien von Deutschen geradezu überflutet werden,
sind am Gotthard, zumal au seinem Südabhange, unsere Landsleute
auffallondorweise noch wenig zahlreich vertreten, trotzdem die land-
schaftlichen Schönheiten und namentlich das herrliche Klima den
Aufenthalt in jenen Gegenden besonders genufsreich gestalten. Dabei
ist der Gotthard ungemein reich an lohnenden Bergpartien und Aus-
flügen aller Art, auch für diejenigen, welche das ruhige Geniefsen
der prächtigen Alpenpanoramen von unschwer zu besteigenden Berg-
gipfeln aus und die köstlichen Hochgebirgslandschaften mühsameren
Kletterpartien verziehen. Aber auch den Liebhabern der letzteren
bieten Pizzo Rotondo, Leckihorn etc. hinreichende Gelegenheit zur
Ausübung des Bergsportes. Die Gotthardbahn ermöglicht einen so
leichten Übergang von der einen Seite dos Gebirges auf die andere,
dafs man die Wetterscheide, welche der Gotthard im wahren Sinne
des Wortes bildet, vorteilhafter benutzen kann zur Auswahl der
günstigsten Witterungsverhällnisse, als dies in irgend welchem anderen
Teile der Alpen mit gleicher Schnelligkeit und Bequemlichkeit aus-
führbar ist. Zudem wechseln hier auf verhiiltnismlfsig kleinem Raume
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die Menschen mit ihren Wohnungen, Sitten, Gebräuchen, nationalen
Eigentümlichkeiten so unvermittelt rasch, bieten Süd- und Nordseite
so verschiedenartige Bilder und Eindrücke, dafs ein Durchwandern des
Gotthard-Gebietes mit seinen Tälern, Höhen und stillen Alponseen für
den mit offenen Sinnen beobachtenden Reisenden besonders genufs-
reich sich gestaltet. „Vier Ströme brausen hinab in das Tal, nach
Abend, Nord, Mittag und Morgen!" Rhein, Rhone, Reufs und Tessin
entspringen am Gotthard. Der Rhein entlliefst als Vorderrhein dem
Fig. I. Bbonegleucber und Holet QleUch.
stillen kleinen Toma-See zwischen hohen Felswänden am nordöstlichen
Abhange des Budus (Sixmadun) und stürzt sich mit überschäumender
Jugendlust über mächtiges Steingctrümmer das einsame Hochtal hinab.
Die Rhone entquillt als stattliches Gewässer der blauen, prächtigen
Eisgrotte am Rhone-Gletscher (Fig. 1). Tessin und Reufs haben ihre
Quellen in den Ootthard-Seen, die mit ihrer stattlichen Zahl und Gröfse
den Wasserreichtum des Gotthard-Gebietes bekunden. Die Berggipfel
sind sehr zahlreich und mannigfaltig gestaltet. Die höchste Spitze
bildet der steil aufragende Pizzo Rotondo (3 HIT m), westlich der Pafs-
hühe und oberhalb des Bedretto-Tales (Fig. 2). Dieser Teil des Gotthard-
Gebietes ist am meisten vergletschert und ßrnreioh. In einer starken
Tagestour kann man ihn durchwandern, über die Fibia und den
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Pizzo I.ucendro, den „Leuchtenden“, so benannt wegen seines präch-
tigen, blendend weifsen Sohneemantels. An seinem Fufse liegt der
gröfste der Gotthard-Seen, der Lu o endro-See, dessen kristallklares
Wasser in die Reu Ts einen Ab flu Ts hat. Ein Pfad führt an seinen
Ufern entlang, und wunderbar schön ist der Blick auf diesen herr-
liohen, blaugrünen, stillen Alpensee (Fig. 3), blau, wo der Himmel,
grün, wo die grünen Matten in seinen Wassern sich spiegeln. Dazu
der grofsartige Abschlufs durch die Schneeberge und Gletscher in
seinem Hintergründe, vor allem den Piz Lucendro mit dem breiten,
bis zur kegelförmigen Spitze sich hinziehenden, jungfräulich reinen
Firnfelde, das mit sanft sich anschmiegender Wölbung gleich einem
Königsmantel über ihn ausgebreitet daliegt. Andere Kuppen, Schnee-
und Eisfelder von bizarren, phantastischen Formen, zackige Spitzen
und Felsgrate schliefsen sich an, in weitem Bogen die grünen
Ufermatten und den See umgürtend. Gleichmäfsig rauschen die her-
abquellenden Gletscherwasser, und leise plätschern die Wellen am
Uferrande, als wollten sie erzählen von den Herrlichkeiten dieser ge-
heimnisvollen Natur, der zu lauschen auf sonniger Alp im „dolce
far niente“ für den ruhesuchenden Wanderer eine wohlige Er-
quickung ist.
Am Ausflusse dos Sees verhindert ein Schutzwebr das Austreten
der Fisohe, Forellen, mit denen der Erbauer des Hotel Prosa am
Gotthardpasse, der vor einigen Jahren verstorbene Felix Lombardi,
den Luoendro-See bevölkert hat. Die junge ReufB stürzt über das-
selbe hinweg und eilt strudelnd und schäumend mit der Golthard-
Reufs zu Tal. Der grofsen Strafsenwindung gegenüber nimmt sie
ihren ersten bedeutenderen Zuflufs auf, den aus dem Guspistale
kommenden Gletscherbaoh gleichen Namens. Die nördliche Wand
dieses steil ansteigenden Quertales bildet das Kastelhorn, unter dessen
scharfem Grate in der Tiefe der Gotthard-Tunnel hinzieht. Als ich bei
der oberirdischen Absteckung der Tunnelaohse dort oben stationierte,
zeigte sich der Felskamm an der Stelle, wo die Riohtung der Aohse
über ihn weggeht, so schmal und jäb abfallend, dafs kaum genügend
Platz vorhanden war, um ein Instrument dort aufzustellen und zwar
ohne Dreifufs direkt auf den Felsen. Nebel verdeckten hartnäckig
das rückwärts nach Süden zu gelegene Anschlufs - Signal, und
stundenlang mufste ich untätig dort oben ausharren. Spazierengehen
konnte man auf dem verwitterten und brüchigen Grate nicht, ich legte
mich daher auf den Kücken und schaute in die Wolken, um abzu-
warten und zu träumen. Da bemerkte ich senkrecht hoch über mir
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einen mächtigen Adler, der majestätisch seine Kreise beschrieb. Ich
liefs mir das Gewehr reichen und mehr zum Zeitvertreib als in der
Hoffnung, ihn zu erlegen, zielte ich nach ihm, den Kopf rückwärts
fest auf den Fels gestützt. Zweimal schofs ich so nach ihm, aber
ruhig zog er seine Kreise weiter; beim dritten Sohusse überschlug
er sich und sohorB dann jäh hinab in den Abgrund. Dies war meine
erste und einzige Adler-Jagd in den Alpen am Gotthard. Gemsen
und Murmeltiere gibt es dort in gröfserer Zahl, namentlich die
Fig. 2. P&tih&ha das Gotthard
letzteren, deren Fleisch von meinen Leuten gern gegessen wurde.
Kalten Gemsen- und Murmeltier-Kücken mit altem Kirschwasser habe
ich als kräftiges Alpen- Frühstück aus jener Zeit noch in guter
Erinnerung.
In langer gerader Linie läuft die Gotthard-Strafse durch die
„langweilig interessante“ Steinode der linksufrigen Bergwand entlang,
bis sich plötzlich das weite Urserental auftut, in das die Keufs aus
steiler enger Bergsohlucht hinabstürzt. Überrascht duroh den schnellen
Weohsel der Szenerie, weidet sich der Blick an den weiten, mit
saftigem Grün bedeckten Matten Fig. 4 (Titelblatt), die im Beginn des
Sommers mit Tausenden von Alpenblumen geschmückt sind. Hier Bollen
einstmals die Reste der Goten, die aus der Soblacht am Vesuv sich ge-
Himmel und Erde. 1901 XVI. 9. 26
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402
rettet hatten, eine neue Heimstätte gefunden haben. Im Vordergründe
liegt das freundliche Hospental (Fig. 4 Titelblatt), überragt von der
steilen und zackigen Wand der Spitzliberge mit dem altersgrauen Longo-
bardenturine, ein Überbleibsel und Wahrzeichen aus der Völkerwande-
rung. Links die prächtige schneebedeckte Gruppe des Galenstocks
mit dem Tiefengletscher, rechts die vom Oberalp-Pafs und See (Fig. 6)
in vielen Windungen herabkommende Strafse; die sich im Hauptorte
des Urseren-Tales, dem hotel- und militärreichen Andermatt (Fig. 6),
mit der Gotthard- und Furka- Strafse vereinigt, um durch das Urner
Loch und die wilden Schöllenen mit der Teufelsbrücke in einer grofs-
artigen Felsenschlucht an der Wasserfassung für die Tunnel-Ventilation
(Fig. 7) und der alten Sprengi-Brücke (Fig. 8) vorbei nach Göschenen
hinabzuführen.
Hier bei Göschenen mündet von der linken Seite eine neue Reufs,
die „Göschener-Reufs“, in den HauptOufs ein. Der Name „Reufs“ ist
im Kanton Uri sehr häufig und gleichsam eine Kollektiv-Bezeichnung,
die vielleicht mit dem Worte „Geräusch“ zusammenhängt. Die meisten
Bergbäche in Uri haben diesen Namen; nach Verlassen des Vierwald-
stätter Sees aber trägt ihn nur noch der Hauptflurs.
Auf gutem Wege mit mäfsiger Steigung gelangt man, im Göschen er
Reufstale aufwärts wandernd, nach einer halben Stunde zu den hüb-
schen Schweizer-Häuschen des kleinen Bergdorfes Abfrut und weiter
hinauf über ein ödes Steinfeld, sehr bezeichnend das „Wüest“ genannt,
nach Überschreiten einer „stäubenden“ Brücke durch eine enge Schlucht
zu einer weiten, prächtigen Matte, in deren Mitte das einsame Berg-
dörfchen „Göschener- Alp“ (Fig. 9) liegt, umrahmt von Gletschern und
zackigen Bergspitzen, ein Bild friedlichsliller Bergeinsamkeit in groß-
artig schöner Umgebung. Der aus wenigen Häusern und einer klein en
Kapelle bestehende Ort hat nur ca. 60 Einwohner. Neun Monate dauert
hier der Winter und neun Wochen lang kommt die Sonne hinter de®
„Niine-Stock“ und dem „Mittags-Stock“, die hier als Sonnenuhren die
Zeitrechnung regeln, gar nicht hervor. Alles Holz zum Feuern mufs
von den tiefer gelegenen Hängen heraufgetragen werden. Brot wird
im Dorfe nicht gebacken. Die Zimmer sind niedrig, die Fenster sei®
klein, um die kostbare Wärme möglichst lange zu halten. Kartoffel®-
Polenta und an der Luft getrocknetes Ziegenfleisch sind aufser de'
Milch und dem Käse dio Haupt- Nahrungsmittel. Hühner gibt es irrt
Dorfe nicht. Der Kaplan, ein würdiger Greis, führt seine Junggeselle® -
Wirtschaft ohne jede weibliche Beihülfe ganz allein; sein einfaches
Zimmer schmücken einige Topfpflanzen, ausgestopfte Vögel und drei
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Ki# 3. Lucendro-See und Oletecher
i-'ijr 5 Obentip • See und Hotel
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Gewehre. In früheren Jahren und nooh während des Tunnelbaues
durfte er allein wirten. Jetzt liegt ca. 1 km oberhalb des kleinen
Ortes ein modern ausgeslattetes Gasthaus (Fig. 10) zwischen Gletsohern,
Firnfeldern und blumigen Matten auf einer der schönsten Alpen.
Der östliche Teil des Gotthard-Gebirges ist weniger vergletschert
als der westliche, aber stärker verwittert und wild zerrissener als
dieser. Sein höchster Berggipfel ist der Pizzo Centrale (3006 m),
wohl der bekannteste der Gotthard-Berge, auf dessen kegelförmiger
Spitze ein grofsartiges Hoohgebirgs-Panorama nach allen Seiten frei
sich entfaltet, da in seiner Nähe kein anderer Berg von gröfserer oder
gleicher Höhe ihm vorgelagert ist. Vom Gotthard-Hotel erreicht man
ihn auf gefahrlosem Wege in 3—4 Stunden, und nur wenige mit
gleich geringer Mühe besteigbare Spitzen der Hochalpen gewähren
eine ähnlich lohnende und umfassende Rundsicht, denn er trägt seinen
Namen „Centrale“ mit vollem Rechte, und wahrhaft grofsartig ist die
Rundsicht namentlich gegen das Finsteraarhorn und die Galenstock-
Gruppe zu.
Am Fufse des Pizzo Centrale, nach Südwesten zu, liegt, eingc-
sohlossen von hohen, nackten Felswänden, im einsamen Val Torta, der
stille, klare Sella-See, ein Bild traumhaft verlorener Hochgebirgs-
Ruhe. Nur selten von Hirten oder Jägern besucht, herrscht feier-
liche Stille in seiner Umgebung. Tief unter ihm führt der Gott-
hardtunnel durch das Herz des Gebirges, aber kein Ton der rasselnd
dahin eilenden Exprefszüge dringt bis in jene Höhen hinauf. Das
kristallklare Bächlein, welobes dem See entströmt, vereinigt sich
wenige Kilometer unterhalb mit dem Ausflüsse der südlich vom
Pafsübergange gelegenen Gotthard-Seen bei einer kleinen Talerweite-
rung, etwas oberhalb der Stelle, an welcher der Suwarow-Stein an die
blutigen Kämpfe der Russen mit den Franzosen im Herbste des
Jahres 1799 erinnert, denen auch das hohe Felsenkreuz an der
Teufelsbrüoke gewidmet ist. Die in den Seen vom Sande gereinigten,
krystallklaren Bergwasser stürzen vereinigt in zahllosen Strudeln,
Kaskaden und Wasserfallen durch die Schlucht der Tremula, das Tal
des „Zitterns“, dem Süden zu, um nahezu 1000 m tiefer mit dem aus
dem Bedretto-Tale kommenden, in einem hochgelegenen Alpensee am
Nufenen-Passe entspringenden Tessin sich zum Hauptflusse des Tessin-
Tales zu vereinigen.
Am Ausgange der Tremula-Schlucht öffnet sich ein herrlicher
Blick auf das am Südabhange des Gotthard gelegene Airolo (Fig. 11),
das erste Dorf italienischer Zunge und Bauart. Welch ein Unterschied
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Fig. 6. Aodermatt mit Blick auf Hotpental und die Furka.
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gegenüber der Nordseile des Berges und dem von dunklen Fels-
massen eng eingeschlossenen Gösohenen. Eine Fülle von Licht und
Sonnenglanz durchflutet das weite prächtige Tal mit seinen saftigen
Alpenweiden und grünen Matten. Eine geradezu üppige Vegetation
zeigen die Gärten der Hotels, so dafs man sich viel weiter nach
Süden versetzt und von rein italienischer Luft umweht glauben
möohte. Das Klima Airolos ist während der guten Jahreszeit un-
gemein anregend und erfrischend, seine Lage prächtig und zu Aus-
flügen nach allen Richtungen günstig. Hier mündet das interessanteste
aller Quer- und Seitentäler des Gotthard-Gebietes, das Val Bedretto.
Sieben Ortschaften liegen in ihm, in Abständen von nur einigen
Kilometern von einander entfernt Keines dieser Dörfer ist von
Lawinen verschont geblieben, und in keinem der bewohnten Alpen-
täler fallen gewaltigere und gefährlichere Lawinen als im Bedretto-
Tale, so benannt nach dem Hauptortc Bedretto, der mehrfach teilweise
zerstört und verschüttet wurde. Im Jahre 1863 wurde das halbe Dorf
von einer Lawine fortgerissen, wobei 33 Personen ihr Leben ein-
büfsten. Streng und furchtbar ist hier der Winter, und von den
gewaltigen Schneemassen, die wochenlang jeden Verkehr mit Nachbar-
Dörfern unmöglich machen, kann man sich bei einem Besuche im
Sommer keine Vorstellung machen Während des Tunnelbaues waren
wir auch im Winter einige Male dort Bedretto hat nur ein .Hotel“
und dieses nur ein Bett zum übernachten für Besucher. Der bar-
füfsig einherschreitende Wirt, die dunkeläugige Wirtin und ihr rot-
bäckiger Junge mit seinen nackten, kräftigen Beinen waren Bilder von
Gesundheit und Lebensfrische. Ihre Suppe, die sie gemeinsam aus
einer grofsen hölzernen Schüssel afsen, während ich bei einem Glase
Wein ihnen zuschautc, schmeckte uffenbar vortrefflich. Dabei schien
die Sonne hell und warm durch die offenen Fenster, das ganze ein
Bild behaglichen Stillebens im Hochsommer, im wunderbaren Gegen-
sätze zur Wildheit des dortigen Winters.
Wenige Kilometer oberhalb des Dorfes Bedretto hört das Kultur-
land auf; bis dahin gedeiht noch Korn an sonnigen Hängen, kräftiger
im unteren, spärlicher und niedriger im oberen Teile des Tales. Dann
beginnt das Hochtal mit seinen grünen Matten und prächtigen Alpen-
weiden, umrahmt von dunklen Tannen, über denen hoch hinauf die
steilen Felswände mit ihren Firn- und Eisfeldern und vielgestaltigen,
zaokigen Spitzen emporragen. Der Weg führt durch einen schönen
Wald von Lärchen und Wettertannen immer am schäumenden Tessin
entlang steiler hinauf zum Ospizio alt' Acqua, einem Gasthause mit
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Fi]<. 7- Schöllenen- Schlucht.
Fix- 8- Spreng) • Brücke in der Schöllenen • Schlacht.
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kleiner Kapelle, am Fufse des Pizzo Rotondo und an der Vereini-
gung des aus dem Wallis kommenden Nufenen - Überganges mit
dem Wege über den Giaeomo-Pafs, der in das Tal der Tooe mit dem
grandiosen Wasserfalle, „Cascata della Toce“, führt Als ich das
letzte Mal das Ospizio all' Aoqua besuchte, traf ich als Gäste dort
einen Bergsteiger aus Luzern, der zu seinem Vergnügen allein in den
Gletschern herumkletterte, einen Engländer, der in 24 Stunden von
London nach Airolo gefahren war, um 8 Tage lang im oberen Bedretto-
Fig. U Goickeaeu - Alp and Dorf.
Tale Käfer und Sohmettcrlinge zu sammeln und dann auf gleiche
Weise nach England zurüokzureisen, sowie als dritten im Bunde einen
jungen Araber, der ganz interessant zu erzählen wufste. Füge ich
noch den poetischen Ergufs der Offiziere eines praktischen Kursus
der Gotthardbefestigungen bei, der nach dem Fremdenbuche lautet:
„Ansichtskarten gibts hier keine, aber gute reine Weine!', so dürfte
dies zu einer leidlichen Charakteristik des Ospizio all' Acqua hin-
reichend sein, sowie auch seiner Besucher, von denen ich niemals
vernommen habe, dafs einer derselben unbefriedigt von dannen
gezogen ist.
Ein Vergleich des Bedretto-Tales mit dem Gösohener-Alp-Tale,
welches in gleicher Höhenlage parallel mit ihm verläuft, ist in mehr-
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Fitf. 10. Götcheoeo - Alp and Hotel
Fig. 11. Airolo
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410
facher Hinsicht interessant Das erstere ist weit stärker bevölkert
als das letztere, und trotz seines überaus strengen Winters werden
Korn, Kartoffeln und andere Feldfrüohte bis hoch hinauf in ihm zur
Reife gebracht, denn Licht- und Sonnenwärme üben hier im Sommer
in ganz anderem Grade ihre belebende und fruohtlreibende Wir-
kung aus als in dem steilen und steinigen Göschener - Reufs - Tale.
Beide Täler verhallen sich ganz ähnlich wie die Orte Airolo und
Göschenen mit ihren in Sitten und Lebensgewohnheiten durchaus ver-
Fig. 12. St&lvedro - Schlucht.
schiedenen Bewohnern. Wuchs, Farbe, Gesichtsausdruck. Haltung,
Temperament, Beschäftigung, Vergnügen etc. der Menschen ändern
sich, wie die Bauart ihrer Wohnungen ganz unvermittelt beim Über-
gange aus dem düstern Reufs- Tale im Norden des Gotthard in das
helle und weite Tal des Tessin in seinem Süden. Die Urner sind
schwerfällig in ihren Bewegungen, schwer zum Zorne gereizt, offen und
freimütig blicken sie aus ihren blauen Augen, meist mit einem gut-
mütigen Lächeln auf den rotwangigen Gesichtern; die Tessiner sind
leicht beweglich und ebenso leicht erregbar, bei der geringsten Veran-
lassung auffahrend, mit zornigen Blicken aus ihren dunklen Augen und
mit wütenden Geberden ihre heftigen Ausrufe begleitend, aber ebenso
rasch auch wieder besänftigt, leichten Sinnes, intelligent und von
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rasoher Auffassung, der sie mit beredten Worten Ausdruck zu geben
verstehen. Im Norden deB Gotthard die hübschen und anheimelnden
Holzbauten, die „Schweizerhäuschen“; auf der Südseite hingegen
Steinbauten von nüchternem Aussehen. Aber in der inneren Aus-
schmückung der einfachsten Räumlichkeiten, oft mit den primitivsten
Mitteln, zeigt sich der künstlerische Sinn des italienischen National-
charakters. Graziös sind die Bewegungen der Frauen und Mädchen,
wenn sie mit ihren leichten Holzpantoffeln, den „Soccoli“, anmutig
einherschreiten, malerisch und nicht selten etwas theatralisch die
Haltung und Tracht der Männer. Eine natürliche „Gentilezza“ des
Volkes im Verein mit dem sonnig-heiteren Klima und der herrlichen Luft
üben auf den Nordländer einen eigenen Reiz, der am Gotthard um so
deutlicher hervortritt, als der Übergang vom nordischen Klima und
Nationalcharakter zur südlichen Landschaft und Bevölkerung so rasch
und unvermittelt sich vollzieht.
Viele Wanderer sind über den Gotthard gezogen, von den sagen-
haften Longobarden, deren Signaltürme zum Teil noch als Ruinen,
wie bei Hospental und bei Airolo oberhalb der Stalvedro - Schlucht,
(Fig. 12) erhalten sind, bis zu den Maultiertreibern und Karren-
fiihrern vergangener Jahrhunderte auf dem alten Saumpfade, und
weiter bis zu den modernen Liebesleuten, die ihr junges Ehe-
glück so hoffnungsfreudig nach dem sonnigen Süden führen. Sie
haben es jetzt bequemer als ehedem. Am 31. Dezember 1881 führte
Alois Zgraggen, dessen lebenswahres Bildnis das Speisezimmer
des „Rössli“ in Göschenen ziert, als Kondukteur die letzte Gotthard-
Post im Schlitten über den Berg. Seitdem ist es stiller dort oben
geworden. Dem Bergwanderer aber, der bewufst zu reisen versteht,
wurde der Gotthard seit Eröffnung der Eisenbahn nur um so lieber,
denn sie ermöglicht ihm, sein engeres und weiteres Gebiet bis zu der
schönsten Waldlandschaft unterhalb Wassen und der grofsartigen
Dazio-Schlucht oberhalb Faido und hinauf im Maderaner-Tal mit dem
Hüfi-Gletscher und in das Val Piora mit der schönsten Alp, auf der
mehrere hundert Kühe weiden, dem idyllischen Ritom - See und den
vielen anderen stillen Alpen-Seen mit geringerer Mühe in gröfserer
Vollständigkeit zu gemessen.
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Im Reiche des Aolus.
Von Dr. Alexander Rnmpell- Taormina.
(Schluff.)
4 LS. m näohsten Morgen stieg ioh mit dem Palraenfreund und
Kaninchenjäger zum Stromboli empor. Ein kleiner Junge
schleppte den Proviant korb. Erstaunlich, wie er ohne Sohuh-
werk stundenlang über die harte, oft spitzige Lava balanzierte, und wie
er ohne Kopfbedeckung den ganzen Tag die Sonne vertrug. Wir hatten
schönes Wetter bekommen; der Nord west, der gestern noch Sturm und
Regen gebracht, war in reinen Nord: Tramontana maislrale, den
„Meisterwind“ umgesprungen. So erschien die gestern unsichtbare
Küste von Calabrien wenigstens zum Teil: das Kap Vatioano mit der
Halbinsel von Monteleone, daneben aus einer langen Wolkenschicht her-
ausragend die Sila und die Schneepyramide des Monte Poüino (2200 in),
nördlich von Cosenza. Wir kamen an dem mitten in Weinbergen
liegenden Friedhof vorbei. Nur Gestrüpp hegt ihn ein. Die langen, weifs
getünohtan Sarkophage, einige mit buntgemusterten Kacheln belegt,
gaben ihm etwas Orientalisches. Ara Woge blühten wilde Lupinen,
blaue und auch die hier seltenere gelbe, verschiedene Chrysantemen,
Cistus, Asphodolos und Ginster. Durch ganze Gebüsche von dünnem
Rohr (Cannizzole), das mit der starken Canna zusammen geflochten
hier vielfach zur Herstellung von Zäunen dient, gelangten wir nach
anderthalb Stunden zur oberen Grenze der Weinberge uud ruhten auf
einem grorsen Lavablook aus, den der Vulkan vor fünfzehn Jahren
bis hierher geschleudert hatte.
Ich wunderte mich, dafs der Wein hier nicht in Stöcken, sondern
an Schilfrohrgestänge etwa einen halben Meter über der Erde gezogen
wurde. Das ist mühsam und teuer; denn die Rohre kommen aus
Sizilien, je hundert Stück zu drei Lire, Gsell-Fels sagt, dafs „das
Gitterwerk zum Schutz der Reben vor der durch die Sonnenglut all-
zuwarmen Asche“ angebraoht wird. Don Antonio wollte davon nichts
wissen: „Costume del paese.“
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413
Ebensowenig wufste er Auskunft zu geben über den Stromboli-
ohio, den letzten überseeischen Rest eines Nebenkegels des Stromboli,
Nun war mir schon am Abend vorher ein sonderbarer Felsen, etwa
1 t/j Kilometer draufsen vor der Reede von San Vincenzo, aufgefallen
und dabei die Stelle im Homer von dem versteinerten Schiß' in den
Sinn gekommen, das sich bei einiger Phantasie aus dieser merk-
würdigen Oesteinsbildung mitten im Meer konstruieren liefs. „Wie
heifst die Klippe da draufsen, Don Antonio?“ „Die hat gar keinen
Namen. La Pietra. (Der Felsen.)“ Es war aber doch der Strom-
boliohio, wie ich nach der Karte feststellte. Wie später nooh mehr-
fach, fand ich, dafs die Einwohner sich um die geographischen Be-
zeichnungen der Gelehrten durchaus nicht kümmern, sondern ihre
eigene Nomenklatur haben. Wunderbarer Gedanke, dafs da ganz
nabe dem Crkrater ein Stück eines Nebenkegels herausragt aus
den Fluten, die ihn — er ist 55 m hoch — noch nicht in
die Tiefe zu reifsen vermochten, und dafs diese kleine Klippe die
allein sichtbare Spitze eines etwa 2300 m hohen Berges ist
— diese Meerestiefe haben die Messungen in nicht allzu grofser
Ferne festgcstellt. Einen ähnlichen Eindruck hätten wir auch vom
Ätna, wenn er bis zu 2400 m vom Meer bedeckt wäre. Dann
würde blofs sein Haupt 900 m hoch, wie jetzt der Stromboli
aus der Flut aufragen und nicht weit davon als kleine Insel die
gewaltige Montagnola mit ihren ca. 2500 m, nioht viel höher und
nicht viel anders als hier der Strombolichio.
Welch seltsame Landschaften, welche Geheimnisse des Tier-
und Pflanzenlebens verhüllt auf ewig unserem Auge diese ungeheure
Wassermassel
Aber das sind Phantasien. Tauchen wir aus den grabesdunklen
Meerestiefen wieder zum fröhlichen Licht der Sonne auf!
Bei 600 m Höhe verlor sich mit den letzten Zwergweiden jeder
Pflanzenwuchs, und ziemlich mühsam kletterten wir durch Asche und
über scharfgezackte Lava am Rand einer tiefen Schlucht aufwärts, bis
wir den filo die zolfo (filo = senkrechte Wand), den „Sohwefelfelsen“ vor
uns hatten. Überraschendes Bild: aus etwa fünfzig oder mehr Öffnungen
eines Steilbanges wirbelte dichter, weifser Qualm in zierlichen Säulen
empor, die sich oben mit einem stärkeren Rauch zusammendrehten,
der hinter dem filo heraufkam und den oberen Teil des Berges
beständig verhüllte. Da auf einmal stieg eine schwarzbraune Rauch-
säule über dem weifsen Dampf auf, zerteilte sich oben wie ein Spring-
brunnen und sank zurück. Dieses Schauspiel begleitete zuerst lautes
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Krachen, dann fernes Kauschen. Der schmutzig braune Qualm ver-
zog sich, und wieder dampfte es ruhig, gleichmäfsig, sauber aus den
fünfzig Löohern und Spalten, als wäre niohts geschehen1).
Eine halbe Stunde später hatten wir den Kamm (die Liscione)
erreioht Da der Nordwind hier in 800 m Höhe recht kräftig blies,
hiefs es, neben dem Grat hin sehr vorsiohtig treten. Der Grat selbst,
nur zwei Zentimeter breit, war höchstens fiir Seiltänzer gangbar. Die
ABche war hart, wie zusammengefroren, und schrägte sich nach beiden
Seiten in steilen Senkungen ab. Der scharfe Wind hatte sie dachartig
zusammengetrieben, dabei wie eine Diine wellig geformt. Aber nur
eine Strecke von etwa 100 Schritten war etwas gefährlich zu passieren,
da rechts und links in geringer Tiefe senkrecht abfallende Felsen
drohten. Dann bot das Gefühl einige Sicherheit, dafs wenigstens auf
der Südseite die Bösohung alsbald in eine kleine Hochfläche — „das
verrufene Tal“ — überging.
Vom Grat sieht man bereits die beiden Gipfel, den Cima
dello Stromboli (918 m), unter dem wir südlich ausbogen, und jenseits
des verrufenen Tales die Serra Vancori, eine herrlich wilde Fels-
wand mit der Cima dello croci2) (926 m) als höchster Erhebung.
Altes Mauerwerk auf der Serra Vancori rührte, wie mein Führer be-
richtete, von einer grofsen Schiefsübung her, die die italienische
Marine vor zehn Jahren hier gehalten. „Da hatten die Franzosen,
ich weifs nicht wo, ein Seefort gebaut 900 m ü. M. Natürlich wollten
unsere Admiräle wissen, ob und wie sie das eventuell am besten be-
schiefsen könnten, und so postierten sich die Panzerschiffe drüben
nach Sonnenaufgang zu, eine Anzahl Torpedos zur Beobachtung auf
der anderen Seite. Das Häuschen drüben war ihre Scheibe. Ob sie’s
einmal getroffen haben, weifs ich nicht. Aber die Kugeln Dogen ganz
gemütlich über den Stromboli hinweg und auf der anderen Seite ins
Meer.“
Auf dem filo della fossa rasteten wir. Auch diese von meinem
Führer gebrauchte Bezeichnung fehlt auf den Karlen. Der Punkt
entspricht ungefähr dem Beobaohtungsplatz: 845 auf Bergeats
topographischer Skizze. Wir befanden uns hier ca. 150 m über der
sogenannten Kraterterrasse, auf welcher zurzeit drei Krater noch zu
unterscheiden sind, ein vierter westlicher ist (nach meines Führers
') Dies die orste, von mir nur aus der Kerne W'ahrgenommene Eruption
D B Mm.
') Nach der Karle; nach Don Antonios Angabe „Filo della portella“.
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Behauptung) nicht mehr vorhanden, entweder in sich zusammen-
gebrochen oder ins Meer abgestiirzt; nur schwache Fumarolen
bezeichnen die Stelle, wo nach Bergeat im Oktober 1894 eine
prachtvolle Eruption statttand (a. a. 0. S. 35).
10h 35m erfolgte hier der erste deutlich beobachtete Ausbruch
des uns zunächst liegenden Kraters (bei Bergest No. II) — ein
furchtbares, aber unsagbar schönos Erlebnis. Ein Rasseln und
Krachen erscholl, als ob hundert Schränke durcheinander gerückt
würden oder als ob ein grofses Haus einflele, zugleioh stieg eine
dicke, braune Rauchsäule etwa zweihundert Meter auf und bog sich
oben wie eine Palmenkrone auseinander. Inmitten des dioken
Qualms flogen mit unheimlicher Oewalt schwarze Schlacken und rot-
glühende Steine in Menge empor und sanken zum Teil in die Öffnung
zurüok, zum Teil fielen sie aufserhalb auf die Sciarra nieder, eine
bis zum Meer im Winkel von 35° sich senkende Geröllhalde. Dann
verzog sich der Rauch zum Gipfel, der darin mit seinen scharfen
Zaoken und mächtigen Geschieben ganz gespensterhaft erschien und.
obwohl nur um hundert Meter unseren Standpunkt überragend, zehn-
fach höher als in Wirklichkeit, — wie ein Riese der Schweizer
Alpen. Noch lange, nachdem der Krater sich beruhigt hatte, sah man
die Steine, welche auf die Sciarra gefallen waren, lawinenartig zum
Meer hinunter rollen und springen und hörte das Surren und Poltern,
das ihre tolle Fahrt begleitete. Dieses ganze Schauspiel wiederholte
sich nun, bald stärker, bald schwächer, in ziemlich unregelmäfsigen
Zwischenräumen. Besonders eindrucksvoll waren die Paroxismen von
11 11 16m, wo die Rauchwolke bis zu 250 m über den Kraterrand auf-
stieg, also hundert Meter über unseren Standpunkt. Wir sahen die
Steine mit einem flirrenden Ton etwa sechzig Meter von uns niederfallen,
der Grund, weshalb Don Antonio trotz meiner Bitten nicht weiter
nach der Terrasse zu hinabsteigen wollte. Doch nahmen wir, auf dem
Grat ein Stück abwärtsgehend, alsbald einen noch günstigeren Be-
obachtungspunkt ein, dicht unter dem Torreone, einem grotesken
Lavaturm. Hier hielten wir beinahe zwei Stunden trotz des eisigkallen
Nordwinds aus, der nach jedem Ausbruch uns einen kleinen Aschen-
regen auf die Mütze blies. In den Pausen betrachtete ich nicht ohne
Schauder die wüste Schlaokenwildnis um mich her, deren Starre nur
in der Senkung unterhalb der Cima, nach dem fllo del zolfo hin, eine
Menge kleiner reizender Fumarolen belebten. Mit ihnen trieb der
Wind ein wunderliches Spiel: er wirbelte die zierlichen, blendend-
weifsen Rauchsäulchen an derselben Stelle minutenlang herum. Etwa
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alle halbe Stunden krachte es dazwischen in der Ferne, wie Böller-
schiefsen bei einem Kirchenfest Das rührte von dem östlichen
Krater, dem sogenannten antico (No. IV bei Bergeat) her. No. III,
der sich vor einem Monat nooh in lebhafter Tätigkeit befand, schwieg
heute. Von den in der Anmerkung3) notierten Ausbrüchen habe ich
die von 10h 35m bis 12h 43m selbst gesehen, die übrigen nur gehört
Ein Teil der letzteren, wenn auch nur ein ganz geringer, dürfte
deshalb vielleicht No. IV zuzuschreiben sein.
Liefsen die unterirdischen Gewalten einmal allzulange auf sich
warten, so ermunterte sie Don Antonio mit lautem Zuruf: „Avanti,
lavoratori dell’ inferno! (Vorwärts, ihr Arbeiter der Hölle)'1, oder erzählte
mir von früheren Besteigungen:
„Ich war noch ein Junge, da kam mitten im Winter ein Eng-
länder auf die Insel, der wollte trotz scheufslichen Wetters durchaus
hinauf auf den Stromboli, noch dazu nachts. Da er mit seinen Lire
sterline nicht knauserte, so fanden sich einige Leute bereit, ihn zu be-
gleiten. Mit zwei Führern ging’s bei Laternenlicht des Abends hin-
an. Vier Träger, darunter ich, schleppten ihm einen halben Kleider-
schrank an warmen Gewändern aller Art, unendlichen Proviant, auch
eine kleine Apotheke mit Verbandzeug nach. Damals hatte die
Kraterterrasse eine ganz andere Gestalt als heute, wie sie denn auch
jetzt noch sich beständig verändert Aber es war doch eine Tollkühn-
heit, dafs der Engländer — trotz unserer Warnung — bis zum Rand
des damals besonders tätigen Kratere ging, sich auf den Bauch legte
und nun mit übergehängtem Kopf in den feurigen Schlund hinab-
starrte. Kam dann die Explosion, so kroch er allemal ein wenig zu-
rück. Aber dann gleich wieder vor und hinuntergestarrt! Wir
standen etwa zwanzig Schritt hinter ihm. Er hatte uns alsbald nach
unserer Ankunft in die mitgebrachten Wollsachen gesteckt, Mäntel,
Tücher und Plaids. Und alle halbe Stunde kam er einmal zu uns,
verteilte Roastbeef, Brot und Schokolade und schenkte jedem ein
Gläschen Cognao ein. Zuweilen machte er auoh Freiübungen mit dem
Bergstock gegen die barbarische Kälte, und wir mit ihm. Aber um
drei Uhr morgens waren wir alle schon wieder auf dem Rüokzug. Ein
Wunder, dafs keiner von uns, vor allem der tolle Engländer nicht eine
von den glühenden Bomben an den Schädel bekommen hat, die über-
all neben uns niedersausten.“
’) Eruptionen: 9*> 35“, 55“; 10*>, 10“, 15“, 30“, 35“; lt>> 11“, 15“,
*25“, 35“, 46“, 55“; 12h 13“, 14m, 42“, 43“, 56“; lh 3“, 12“, 23“,
31“, 45m, 57“; 2 h I“, 16", 21“, 32“, 3t“, 45“, 47“, 49“.
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Allerdings soll der Anblick der Eruptionen bei Nacht weit
interessanter sein. Solche Partien werden jetzt noch unternommen,
aber lieber in der warmen Jahreszeit. Man steigt dann etwa um
zwei Uhr nachmittags auf, bleibt bis ueun Uhr und kehrt gegen
Mitternacht zurück, so dafs man den Ausbruch bei Tage und auch
in der Dunkelheit genießt, wo der Feuerschein sowohl des breit auf-
schiefsenden Glutstrahles, als auch der die Luft durchschneidenden
und zum Meer hinabspringenden Bomben außerordentlich grofsartig
wirken muß.
Nachdem ich mich sattgesehen, stiegen wir an den Abhängon
des verrufenen Tales hinab nach dem westlichen Rand des alten
Kraters (filo della soiarra), von wo man das ungeheure Trümmerfeld
überblickt, auf welchem jährlich Millionen Tonnen Lava ins Meer
hinabrollen.
Das, wie erwähnt, zwisohen der Cima dello Stromboli und den
Trachytwünden der Serra Vancori sich hinziehende .verrufene Tal"
ist nur 500 m lang und wird von dem Weg durchschnitten, der von
San Vincenzo an der Nordostseite mitten über den Berg nach Ginostra
an der Südwestküste führt. Eine andere Landverbindung gibt es in-
folge der schroffen Abstürze des Vulkans nach allen Seiten nicht.
Aber sie wird nur seilen benutzt, nicht nur des unbequemen Auf- und
Abstiegs wegen (über 800 m), sondern auch, weil er entgegen der
Ansicht Bergeats nicht ungefährlich ist. Denn während bei ruhiger
See jedermann die Barke zu dieser Reise benutzt, ist man hei
schlechtem Wetter zu diesem Übergang gezwungen, und gerade bei
hohem atmosphärischen Druck ist die Tätigkeit des Vulkans heftiger
als sonst, infolgedessen auch die Gefahr größer, von Bomben, die
über den Glo della fossa herüberdiegon, getroffen zu werden. Das
ganze Tal ist von Auswürflingen der verschiedenen Krater angefüllt,
darunter sind raanohe recht große von tiefschwarzem Glanze also
jüngeren Datums, von den älteren, die grausohwarz und von Wind
und Wetter verschliffen sind, leicht zu unterscheiden. Mein Führer
z. B. hatte mir ganz in der Nähe unseres Beobachtungsplatzes einen
Block von etwa zwanzig Zentnern gezeigt, den er bei seinem letzten
Besuch nicht wahrgenommen. Er war 160 tn über den Kraterrand
empor in gewaltigem Bogen herausgcschleudert worden, so dafs leich-
tere Stücke sehr wohl über den filo della fossa bis ins Tal gelangen
konnten. Deshalb pflanzt jeder, der die Portella di Ginostra (dun Ein-
schnitt des von Ginostra huraufkommendon Pfades) und den Talweg
glücklich passiert hat, an der Porta delle crooi, wo der Weg sich nach
Himmel und Erd« IS04. XVI S. 2 7
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San Vincenzo hinabsenkt, aus mitgebrachten Binsen ein Kreuz und
steckt es ..per divozione” in die Asche.
Von dem filo della sciarra stiegen wir dann nach dem ersten
jener beiden Pafseinsohnitte, der Portelia di Qinostra hinunter, ledig-
lich der schönen Aussicht wegen. Hatte uns in der Lavawüste bisher
-als einziges Zeichen von Vegetation und auch nur recht spärlich der
sizilianische Tragant begrüfst (den Don Antonio cavoletto, Kohl, nannte!),
so wirkte die Niederschau auf die frischgrüne Ebene von Ginostra zu
unsern Füfsen jetzt recht wohltuend. Um die Kirche und die weifsen
Häuschen herum lagerten anmutige Weingärten und ein kleiner
Olivenhain. Auch die nächste Nähe war nicht so düster, wie das
soeben gesehene Stück „inferno“. Hier an der Südseite stieg der
Ginster bis unter die Felsen der Serra Vancori empor, also beinahe
400 tn höher, als auf der Nordseite. Entzückend aber war der Blick
aufs Meer, auf sämtliche Inseln, grofse wie kleine, vom nahen Panaria,
schwarzblau, bis zum fernen Alicudi, in zartestem Grau aus dem Meer
aufragend, das, wenn ich die leise, leise Kräuselung des fast unbe-
wegten Spiegels mit etwas Landläutigem vergleichen darf, sich wie
eine riesige Decke von hellblauem Moiree ausspannte.
Den Rückweg nahmen wir zunächst durch das verrufene Tal.
Und während wir, zur rechten die sieben roten Basalttürme der Serra
Vancori, zur linken das vom Kraterrauch umwallte Horn der Cima.
dahinschritten, hatte ich wirklich den Eindruck der Unterwelt. Nur
einmal flatterte ein Distelfalter vorüber und ein einsames gelbes Rot-
schwänzchen (Codarossa) flog von einem Basaltblook zum anderen,
sonst keine Spur von Leben. Aber die tote Asche unterbrachen die
mannigfaltigen Farben des Eruptionsgesteins, ich unterschied neben
schwarzen und grauen gelbe, braune, rote, rosa Laven. Tausende
von grofsen und kleinen Bomben lagen umher (darunter ein wüster
Trumm von wenigstens zweihundert Zentnern), in der Asche blinkten
unzählige kleine Kristalle, sechsseitige, grauschwarze Säulchen, bis
IV] cm lang, manche auch kreuzförmig ineinander gewachsen: Augit-
nadeln.
Wir sammelten eine ganze Menge davon zum Andenken, steckten
dann an dor Portelia delle croci jeder unser Kreuz, das wir aus den
da herumliegenden Binsen verfertigten, in die Erde und stiegen oder
sprangen und glitten vielmehr in der steilen Aschenhalde der Rinelia
grando (auf der Karte: La Schicciola) hinab.
Eine halbstündige Rast an der oberen Grenze der bebauten Zone
gewährte einen wundervollen Blick auf Calabrien, das jetzt völlig
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wolkenfrei vom Monte Montea (bei Belvedere) bis zum Aspromonte
sich vor uns ausdohnte. Einzelne Städte wie Monteleone, Tropea,
Pizzo waron trotz der grofsen Entfernung 16O — 80 km) als weifse
Flecken zu erkennen, ln der liehe über 1400 m lag noch reichlicher
Schnee.
Die endgültige Rückkehr verzögerte sich noch ein wenig, da
Don Antonio auch hier, wie beim Aufstieg sämtliche Weingärten,
durch die wir kamen, in näheren Augenschein nahm, um sich zu
überzeugen, ob sie durch den Hagel, der vor einigen Tagen hier
niedergegangen, golitten hätten. Mit grofser Befriedigung teilte er mir
mit, dafs nur in den unteren Lagen, die schon Frucht angesetzt hätten,
alles „verbrannt“ sei, während er in seinen Pflanzungen weiter oben
wenig Schaden zu beklagen habe.
Wir langten noch früh genug in der Casa Renda an, dafs ich
auf der Terrasse bei einer Flasche Wein von den Strapazen dieses
Tages ausruhen konnte, mitunter zu dem unheimlichen Berg, den
ich heute genommen, emporschauend, froh, das langjährige Ziel meiner
Wünsche erreicht zu haben, öfter aber noch das trunkene Auge
aufs Meer richtend, das wenige Schritte von mir gegen den schwarzen
Aschenstrand anrauschte. Dampfer tauchten auf und verschwanden
wieder, grofse Segler wiegten sich unweit auf der blauen Flut. Alles
war so klar, so blendend, so festlich! Noch in später Dämmerung
schimmerte durch zwanzig Meilen Luftlinie der Silbermanlel des Monte
Pollino herüber.
Don nächsten Vormittag benutzte ioh zu einem Spaziergang auf
der Uferebene duroh die Dörfer San Vincenzo und San Bartolo nach
dem Louchtturm. Behaglich liegen die weifsgetünchten, plattdächigen
Häuser mit ihren Terrassen und Laubengängen inmitten der wohl-
gepflegten Weingärten. Hinter San Bartolo stürzt die Lava in groß-
artigen Flüssen, von gewaltigen Gängen durchsetzt, zum Meer. Ein-
sam ragt der Leuchtturm als letzte menschliche Siedlung Uber der
Punta Labronzo auf. Nur wenige hundert Sohritt noch, dann ver-
bieten die steilen Felsen des Filo della Sciarra ein weiteres Vordringen.
Alle zehn Minuten durchschnittlich unterbricht die grofse Stille das
Krachen des hier ziemlich nahen Kraters und wird die klare Luft getrübt
durch den hinter den Felsen aufqualmenden Rauch und die Staub-
wolken, die die niederrollenden Bomben in der Soiarra emporwirbeln.
Zum Abschiedsmahl bedauerte Don Antonio, mir keine Waohteln
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auftischen zu können, da sie sich — jedenfalls infolge der kalten
Witterung — noch nicht eingestellt hätten.
„In I.ipari hat man mir erzählt, dafs die Mädchen Strombolis auf
den Felsen am Meer sitzen und so lieblich singen, mit so schmelzen-
der Stimme, dafs sie die Wachteln immer näher und näher zu
sich heran und endlich in ihre Netze locken. Können Sie mir nicht
ein solches Lied sagen?"
„Dio ci liberal Was diese Liparesen nicht alles von uns
wissen! Übrigens kümmere ich mich den Teufel um Weiber und
Weiberkram. Freilich gehen sie auf die Wachteijagd, wie sie uns
Männern auch die paar Kaninchen noch wegfangen. Aber Lieder
singen sie nicht dazu, sondern locken die Wachteln mit einem Ruf,
ich glaube: Kokoko. Wenn die Vögel dann ins Netz gegangen 6ind,
springen diese falschen Weiber aus ihrem Versteck hervor und
schlagen sie mit Stöcken tot. Sissignore!"
So grausam zerstörte Don Antonio die märchenhafte Illusion,,
die ich mir von diesen modernen Sirenen zurechtgelegt hatte.
Statt Wachteln setzte mir mein Wirt Soppressata, eine fein
gewürzte, delikate Wurst und noch einmal wildes Kaninchen vor,
diesmal in einer pikanten Kaperntunke. Als Nachtisch gab es
amerikanische Erdnüsse und Apfelsinen, „wie ich sie gewifs auf ganz
Lipari vergeblich suchen würde“. In der Tat, sie zerflossen gerade-
zu auf der Zunge. Mit stolzem Siegerblick entkorkte er — als letzten
Trumpf — eine Flasche alten weifsen Stromboliweines.
„Basta, basta Don Antonio!" wehrte ich mit hochorhobener
Rechten ab — mich packte die Angst vor der drohenden Rechnung
„die Ehre Strombolis ist gerettet!" Trotz dieser üppigen Bewirtungr
und obschon — was mich schon lange mit Sorge erfüllte — der
Kaninchenjäger diesen Sommer gleich zwei Töchter auszusteuern
hatte, fiel die Rgchung glimpflich aus, und aufrichtiger als so mancli
andorem verschmitzten „caupo“ des Südens schüttelte ich ihm zürn
Abschied die Hand.
Die „Corsiea" brachte wieder mehrere , Amerikaner" zurück und
nahm neue Auswanderer mit, darunter zwei Burschen von elf und
fünfzehn Jahren aus Ginostra. Als wir — jetzt die Wostkuste der
Insel umfahrend — des Dörfchens ansichtig wurden, tauschten die
beiden Knaben mit ihren Angehörigen, die auf der Kirchenterrasse
standen, durch Tücherwinken und Hutsehwenken die letzten Grüfse.
Auch ich erhielt einen Abschiedssalut, aber anderer Art: noch
zweimal sah ich von Bord aus den breiten Feuerstrahl hinter den
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grauen Felsen aufsleigen und, laut donnernd brüllte der Berg seinem
neuen Freunde zu: auf Wiedersehen!
Es dunkelte bereits, als ich nach fünfstündiger Seefahrt meinen
Fufs in Lipari wieder aufs Land setzte, von Don Giovanni herzlich
bewillkommn
Zwar wäre nooli mancherlei zu sehen gewesen: die heifsen schon
im Altertum berühmten Biider von S. Calogero und das bagno secco,
gern hätte ich den Monte Sant’ Angolo, den höchsten Gipfel von
Lipari, und auch die fossa delle felci auf Salina bestiegen und dabei
diese Insel von Kinella bis Malfa durohquert. Aber dringende
Geschäfte riefen mich nach Hause zurück. So beschlofs ich, um
einen letzten grofsen Eindruck mit fortzunehmen, nur noch den nahen
Monte Guardia (369 m) zu besuchen.
Nach anderthalbstündigem mäfsigen Steigen von der Stadt Lipari
südwestlich die Kebenbänge hinauf streckte ich mich bei Asphodelos
und Cistusröschen ins Farnkraut und liefs meine Blicke noch einmal
über diese ganz einzige Inselwelt schweifen.
Man hat sie alle hier beisammen und zwar in ihrer ganzen
Gestalt, mit Ausnahme von Salina, deren Ostküste der höhere Monte
Sant’ Angelo verdeckt. Aber man sieht wenigstens das freundliche
Rinelia aus dem Tal zwischen den beiden Hauptgipfeln herauslugen.
Merkwürdig klar leuchten die Häuser des fernen Filicudi herüber.
Die eine Hälfte des Horizontes schliefst — unendlich weit — das
strahlende Meer mit dem Himmel beinahe in eins verschwimmend,
die andere Hälfte nimmt Calabrien von den Bergen bei Belvedere bis
zur Meerenge von Messina, von da Sizilien vom Kap Peloro bis zu
den Madoniden, ja bis zum Kap Gallo bei Palermo ein. Also ein ge-
waltiges Stück Erde überschaut man von diesem so niedrigen Aus-
sichtspunkt — bis zum Kap Gallo sind es nicht weniger als 20, bis
Belvedere sogar 25 geographische Meilen. Die Scirokkowolken hingen
nur noch im Süden, 800 — 1300 m hoch.
Wie freute es mich daher, endlich auoh den Ätna in seiner
ganzen Pracht zu begrüfsen! Er trug noch bis etwa 1600 m herab
seinen Osterschnee. Energisoh hob sich die Montagnola vom Haupt-
gipfel ab. Broit und scharf gegliedert baute sich das Massiv über dem
niederen Gewölk auf, wie ein ganzes Gebirge.
Aber so wundervoll das Panorama weithin über Meer und Land,
es wird beherrscht durch ein anderes Objekt: die ganz nahe gen Süden
vorliegende Insel Vulcano, in deren sämtliche Krater man von hier
bineinsieht. In der alten Fossa, die vor acht Tagen so leblos
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zu meinen Füfsen lag, erspähte ich mit freiem Auge mehrere grofse
Fumarolen, die sich also seitdem neu geöffnet hatten. Zugleich
frischten sich die Eindrücke meines ersten Reisetages auf: der seitlioh
eingebrocliene Nebenkrater, wo die Schwefelminen des Herrn Toscano
dampften, sein freundliches Landhaus, die Feigenplantage, die Bade-
bucht und die drei niedlichen Miniaturkrater des Vutcanello. Höchst
eigenartig nimmt sich von hier, überall jäh zum Meer abstürzend,
die breite Lavaplattform aus, auf der sich die Vulcanellokrater
erheben, wie ein grofser, graubrauner Pfefferkuohenteig, rings mit
dem Messer abgeschnitton.
Welch ein Gegensatz der grünen Hügel und Weinberge von
San Salvatore direkt unter mir zu der furchtbaren Ude des gegen-
überliegenden Eilandes! Aufser der Plantage des Herrn Toscano
erscheinen nur die Hochflächen über den vier Kaps, der Besitz meines
Freundes Don Giovanni, ein ganz klein wenig bebaut. Sonst alles
da driibon von grausiger Wüstheit, Zerrissenheit, Starre, Melancholie.
Besonders die vier Kaps, in denen der Monte Saraceno endet.
grofse versteinerto Ichthyosauren kriechen die knorrigen Klippen
weit ins Meer hinaus. Wie etwas Uraltes, das gar nicht mehr
auf unsere blühende und wachsende, frischlebendige Erde pafst,
etwas, das seine Jugend hunderttausende von Jahren vor dem ersten
Menschen hatte, das eigentlich längst gestorben ist — so ragt Vulcano
noch aus dem Meer.
So endigten meine Gedankon, wo sie sich zu konzentrieren be-
gonnen hatten, als ich eine Woche früher diesen Inseln genaht war,
bei Vulcano. Stromboli ist grofsartiger, Salinas lieblicher, Lipari aL<-
weohselungsreicher, aber das originellste bleibt doch Vulcano, diest*^
vielzackige Riesengerippo aus Lava, begraben in der Asche.
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Über die Wärmeabgabe von Radiumpräparaten.
Will man die Wärmeabgabe irgend eines Körpers messen, so
kann man z. B. die Wassermengen bestimmen, die sich aus Eis durch
Berührung mit dem Körper bildet. Man kennt nun die Wärmemenge,
die dazu gehört um 1 Gramm Wasser von 0" aus Eis von O” zu
schmelzen, also auch die fragliche Wärmeabgabe. Kalls dieselbe
dauernd erfolgt, läfst sich die Bestimmung auoh indirekt auf elek-
trischem Wege ausführen. Man bringt den Körper in einen Hohl-
raum und mifst die Temperatur des Raumes, wenn sich ein stationärer
Zustand hergestellt hat. Dann setzt man an dieselbe Stelle eine Draht-
spirale, durch die ein elektrischer Strom fliefst, und reguliert diesen,
bis man dieselbe Temperatur orhält. Dann erzeugt der Strom dieselbe
Wärmemenge in derselben Zeit. Aus dom Strom i und dem Wider-
stand w in der Spirale berechnet sich die Wärmemenge iJ-w Kalorien.
Beide skizzierten Methoden worden in neuster Zeit zur Bestimmung
der Wärmeabgabe von Radiumpräparaten benutzt. Curie und Laborde
untersuchten „radioaklivos“ Barvumchlorid, kurz Radiumchlorid (KaClj).
Zwei Eisenblöcke wurden mit jo einer Aushöhlung versehen, in die
eine brachte man gewöhnliches Baryutnchlorid in die andere radio-
aktives. Es zeigte sich, dafs dann zwischen beiden Ilohlräumen eine
konstante Temperaturdifferenz vorhanden war. Der Vergleich mit der
elektrisch geheizten Spirale ergab für ein Gramm Radiumchlorid eme
kontinuierliche Ausstrahlung von ca. 70 kleinen Kalorien pro Stunde.
Nach Messungen von Runge und Precht und Frau Curie hat das
Radium ein Atomgewicht von 258 bezw. 225, Chlor hat das Atomge-
wicht 35,5. In einem Gramm Radiumchlorid, sind also ca. 0,76 Gramm
Radium enthalten. Folglich strahlt ein Gramm reines Radium
ca. 100 Kalorien pro Stunde auB.
In der zuerst angedeuteten Art und Weise mafs Precht die
Wärmeabgabe des Radiumbromids (Ra Br2) und fand 61,15 Kalorien
pro Stunde, was auf Radium umgerechnet 98,83 Kalorien pro Stunde
ergeben würde. Eine Arbeit von ein Meterkilogramm entspricht nun
einer Wärmemenge von 2,35 Grammkalorien. Da also ein Gramm
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424
Radium oa. 27,4 Grammkalorien (pro Sokuride, donn die Arbeit wird
auf die Sekunde bezogen) ausstrahlt, so würden 6,45 Kilogramm dieser
Substanz dazu nötig sein, um ohne iiufseres Zutun dauernd aus
ihrem Vorrat an innerer Energie die einer Pferdestärke äquivalente
Wärmemenge zu erzeugen. (Eine Pferdestärke = 75 mkg = 176 g
Kalorien.) Leider kostet ein Milligramm Radium ungefähr 40 Mark.
Es dürfte daher vorderhand den üblichen Heizmaterialien noch keine
Konkurrenz machen. Dr. M. v. P.
*
Über das Wesen der „Katalyse“. Katalyse, d. h. Beschleunigung'
langsam verlaufender ohcmisoher Prozesse durch gewisse Körper, ist ein
Vorgang, der weitbekannt ist und im tagliobon Leben im ausgedehn-
testen Mafse zur Anwendung gelangt. Von den vielen Beispielen sei
nur eines herausgehoben: der Gasanzünder. Man läfst Gas über eine
mit fein verteiltem Platin (schwarzer Platinmohr) versehene „Pille“
streichen, und in kürzester Zeit sehen wir, wie die Pille erglüht unti
das Gas sich entzündet, d. h. wie es sich mit dem Sauerstoff der Luft
unter Explosion vereinigt. Wras tut hier der Platinmohr? Diese
Frage drängt sich jedem auf. Für den Hauptvertreter der „Kataly-
satoren“, das Platin ist die Frage durch die hervorragende Arbeit des
Chemikers Lothar VVöhler „Über die Oxydierbarkeit des Platins“ nun-
mehr beantwortet. (Beriohte der Deutschen Chem. Ges. No. 13, 19034.
Es bildet sich eine PlatinsauorstofTverbindung, die sehr leicht reduzier-
bar ist, d. h. ihren Sauerstoff leicht abgibt. Solch frisch abgege-
bener Sauerstoff hat nun im Augenblick des Freiwerdens eine sehr
grorse Oxydationskraft, daher also dio heftige „katalytische“ Wirkung".
So einfach diese Antwort auch klingt, so schwierig war es, die darin
enthaltene Behauptung aus dem Reich der Hypothesen ins Gebiet der
erwiesenen Tatsachen zu erheben Bis zur Veröffentlichung Wöhlers
hielt man allgemein das Platin für das einzige nnoxydierbare Metal I
(seine Unlöslichkeit in Säuren spricht dafür). Diese Ansicht wider-
legte Wöhler durch folgenden originellen Versuch.
Sehr reiner Platinmohr wurde 6 Wochen lang in einer Sauer-
stoffatmosphäre von 109° bis 280° erhitzt. Es zeigte sich, dafs trotz-
dem bei jedesmaliger Temperatursteigerung etwas Wasser entwich
(Wasser wird mit grofser Zähigkeit festgehalten), der Mohr stetig an
Gewicht zunahm; und zwar betrug nach 6 Wochen die Änderung"
2,3%. Ähnliche Resultate ergaben sich bei dem weniger fein verteilten
Platinschwamm und sogar bei Platinfolie! Der Nachweis, dafs wirk-
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425
lieh Sauerstoff an dem Platin haftet, wurde zunächst qualitativ
duroh Bläuung von Jodkaliumstärke, empfindliches Reagens auf
Oxydationsmittel, und dann durch das veränderte Verhalten der Salz-
säure gegenüber geführt. Während nämlich frischer Platinmohr sich
nur zu etwa '/2oo°/o *n Salzsäure löste, nahm letztere von dem mit Sauer-
stoff behandelten 10 — 16% auf; es ist dies für die Motuiloxyde
charakteristisch. Die Untersuchung der Frage, welche quantitative
Zusammensetzung die in Rede stehende Platinsauerstoffverbindung
habe, d. h. mit wie vielen Sauerstoffatomen je ein Platinatom gekettet
sei, gehörte wohl zu den schwierigsten analytisch-chemischen Arbeiten,
die man sich vorstellen kann. Um einen Begriff davon zu geben, soi
die Methode kurz an einem aus dem Beobachtungsmaterial frei her-
ausgogriffenen Beispiel erläutert. In 0,3389 Gramm mit Sauerstoff
behandelten Platinmohrs wurde der Gehalt an metallischem Platin
zu 98,52% an Wasser zu 0,82%, an Kohlensäure zu 0,08% festgestellt
für Sauerstoff bleiben also 0,66%. Jetzt wurden von demselben Mohr
1,5738 Gramm in Salzsäure zu lösen versucht, der gelöste Toil be-
stimmt (0,1035 Gramm) und ebenso wie oben der Sauerstoffgehalt des
ungelösten Teiles prozentisch gefunden. Die Differenz der beiden
Sauerstoffgehalte ergab die Sauerstoffmenge, die an das gelöste Platin
gebunden war. Wöhler fand so aus 5 Versuchen ein Mittel, 7,36%,
was einer Zusammensetzung von der Formel Pt O (Platinoxydul) ent-
spricht. Man kann sich denken, mit welchem Geschick und welchen
Vorsichtsmafsregeln alle Operationen, wie Filtrieren, Wägen ctc. aus-
gefiihrt werden müssen, wenn es sich darum handelt, eine so goringe
prozentische Menge Sauerstoff neben Platin, Wasser und Kohlensäure
durch Differenzbestimmung noch genau naohzuweisen. Wenn auoli
der Laie keinen sehr präzisen Begriff davon hat und haben kann, so
wird er doch eine ahnende Bewunderung für die „wissenschaftlich-
künstlerischen“ Feinheiten einer derartigen Untersuchung empfinden,
ganz abgesehen davon, dafs sie uns die experimentelle Erkenntnis
eines bisher völlig unaufgeklärten Phänomens, der bereits erwähnten
Katalyse bringt. Dr. v. P.
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$$$$ Himmelserscheinungen.
Übersicht über die Himmelserscheinungen
für Juni, Juli, August und September 1904. !)
I) Der Sternenhimmel, a) Am 15. Juni um 11 *», am 15. Juli um ist die
Lage der Sternbilder gegen den Horizont die folgende: Der grofse Löwe ist
im Westen im Untergehen. Die Jungfrau mit dem Sterne 1. üröfse Spica im
Südwesten, das markante Sternbild des Skorpions mit dem roten Antares im
Süden sind die interessanteren Teile des Tiorkreisos, denn was von da nach
Osten folgt, sind nur der tiefstehende Schütze und der an glänzenden Sternen
arme Steinbock. Zwischen Jungfrau und Skorpion die beiden Sterne der
Wage. Darüber höher im Südsüd westen Arcturus mit den andern hellen
Sternen des grofsen Bootes und die Halbkreisform der nördlichen Krone um
Gemma. Den Meridian nimmt vollkommen bis zum Zenit der Hercules ein,
an den sich nach unten der Schlangenträger anschliefst. Weiter nach Osten
steht das grofse Dreieck, gebildet aus den drei Sternen erster Grobe Wega in
tler Leier rechts oben, Deneb im Schwan links und an der abwärts gekehrten
Spitze Atair im Adler, symmetrisch von £ und 7 Aquilae eingeschlosseu. Das
grofse Rechteck des Pegasus liegt über dem Ostpunkt. Wendet man sich nach
Norden, wo das Auge iu konstanter Höhe den bekannten Polarstern erblickt,
so steht rechts etwas tiefer als er das W der Cassiopea, links bedeutend höher
d^r grofse Bär. Capelia streift über dem Nordhorizont, rechts von ihr zeigt sich
der Perseus mit der Spitze seines gleichschenkligen Dreiecks, Algol nach unten.
b) Am 15. August um 10 Uhr, am 15. September um 8 Uhr dagegen sind
noch die Wage tief im Südwesten und links von ihr der Skorpion zu sehen.
Jetzt ist die Zeit, die drei letzten Sternbilder des Tierkreises zu studieren, von
denen der Schütze den südlichsten Teil des Meridians einnimmt, gegen den
der Steinbock von links ansteigt; der Wassermann liegt im Südosten und seine
Sterne 2 Grofse leiten ohne Grenze über zu den westlichsten Sternen des
Pegasus, links von welchem nun auch die Andromeda schon aufgegangen ist,
so dafs beide Sternbilder zusammen eine vergröfserte Kopie des grofsen Bären
«larstellen. Die oben beschriebenen Sternbilder sind alle um einen halben
Quadranten nach Westen gewandert. Hoch im Meridian steht das Dreieck
Wega-Deueb-Atair. Davon links kommt Cassiopea in die Höhe, ihr folgt der
Perseus und endlich die Capella. Der grofse Bär steht links in gleicher Höhe
mit dem Polarstern. Der Bootes steht im Westen, auf seinen Hauptstern
Arcturus zeigt die Deichsel des grofsen Bären. In den klaren August- und
Septembernächteu ist die Milchslrafse eines der prächtigsten Objekte des
Firmaments, namentlich ihre glänzenden südlichen Partien im Adler, Schild
des Sobieski, Schlangenträger und Schützen, wo sie in 2 Teile getrennt verläuft
J) Alle Zeitangaben in M. K. Z. und nach astronomischer Zählweise, d. h. die
Vormittagsstunden eines Tages sind — mit Ausnahme der Sonnenaufgänge —
um 12 h vermehrt zum vorigen Tage gerechnet
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427
Zur Orientierung mögen die folgenden Sterne dienen, welche heller als
3“.3 sind und die abend» um 9 Uhr M. E. Z. kulminieren:
Tag
Name
| R’kUimtion Dckliiafiu
Tag
Name i -i
1 %s
Rektaiccasicn
Drkliiutieu
Jui 5
rt Hootis
3.0 13h 50“> 9» + 18» 52.7'
Jali 3 1
a Ophiuchi 1*2.0 17h3C*n3Ia
+ 12'
»38.1*
11
a Bootiß
1 14
11 19 + 19
41.0
i«l 2
t Herculiß |3.3 17
36
4S 4-46
3.8
15
: 7 Hootis
2.9 M
28 14 +38
43.8
2
ß Ophiuchi 3.0 17
38
46
-f 4
36.7
19
a Librae
2.3 14
45 36 — 15
38.7
3
jx Herculis |3.8 17
42
44
4-27
46.9
22
ß Bootiß
3.0 1 4
58 22 4-40
463
7
7 Sagittarii 3.3, 17
59
42
— 30
25.4
26
t Bootiß
3.0 15
1 1 40 -f 33 40.5
8
72 Ophiuchi 3 3 18
2
.50
1+ 9
33.3
26
ß Libiae
2.0 15
11 53 - 9
1.7
12
1 rt Serpentis 3.0 18
16
23
— 2
55.2
Jiii 1
a Coronae
2.0 15
30 39 4-27
24
16
Wega 1
18
33
14
4-38
42.1
3
■i Serpentis
2.3 15
39 35 -f 6
43.7
20
3 Sagittarii 2.3 18
49
22
-26
24.8
3
ß Serpentis
3.3 15
3.3' 15
41 47 -f“ 15
43.5
22
7 Lyrae 3 3 18
55
24 4-32
33.9
4
jx Serpentis
44 39 - 3
8.1
23
C Aquilae 3.0 19
1
2
4- 13 43.6
*
e Serpentis
3.3 15
46 4 4- 4
46.1
23
X Aquilae 3.1 19
i
12
— 5
1.3
7
o Scorpii
2.3 15
54 42 — 22
209
24
z Sagittarii 3.1 19
4
6
-21
10 4
8
ß Scorpii
2.015
59 .54 — 19
32.6
28
5 Aquilae 3.3
19
20
42
+ 2
55.7
10
fj Ophiucbi
3.0 16
9 21 — 3
26.7
30
> Cygni 3.0
19
26
54
+ 27 45.9
11
s Ophiuchi
3.3 16
3.3 16
13 17 - 4
27.4
S-ft. 2
7 Aquilae 3.0
19
41
44
+ 10 23.1
12
~ Herculiß
16 53 4-46
32.8
2
1 Cygni 2.8
19
12
1
+ 44
54.3
13
7 Herculiß
3.1 16
17 43 4- 19
22,9
3
Atair 1.3
19
46
9
+ 8
37.3
14
a Scorpii
13,16
23 34 26
13.2
9
Aquilae 3.0,
20
6
24
— 1
6.0
15
ß Herculiß
2.3 16
26 8 4-21
42.2
10
a* Capric. 3.3
20
12
46
- 12
50.3
16
C Ophiuchi
2.6 16
31 55 - 10
22.3
12
C.v gn i 2.4
20
18
5o
4-39
57.4
18
rt Herculiß
3. 1 116
39 38 4- 39
6.5
15
’i Delphin, 3.3
20
33
6
4- 14
16.1
21
x Ophiuchi
3.3 16
53 10 4- 9
31.6
17
a Cygni 1.(1
20
38
12
+ 44
56.7
22
e Herculiß
3.3
56 39 4- 31
43
IS
t Cygni 2.6
20
42
22
+ 33
37.1
24 |
rt Ophiuchi
2.3 17
4 55 — 15
36.3
24
C Cygni 3.0i21
8
54
+ 29
50.4
26
o Herculis
3 0 17
11 8 4 24
57.4
29
ß Aquarii 3.0 21
26
33
- 5
59.3
26
- Herculiß
3.1 17
11 44 4-36
55.4
2) Veränderliche Sterne. a) Dem unbewaffneten Auge und einem
Opernglas sind nur dio folgenden Minima der 3 helleren Variabein des
Algoltypus zugänglich:
Algol (3 h 2
m + 40
0 35*), Grüfso
2 «».3— 3m.4.
Halbe
Dauer <
des
Mini-
mums : 4 V, h.
Juli 2 12» 6“
Juli
28
7 b 27 01
Aug. 20 5 h 59m
Sept. 12
4 h 3 1 m
5 8 55
Aug.
8
18 43
31 17
15
20
18
57
19 17 0
11
15 32
Sept. 3 14
4
23
15
46
22 13 49
14
12 21
6 10
53
26
12
35
25 10 38
17
9 10
9 7
42
29
9
24
>. Tauri (3h 55m + 120
14'), Grüfte 3 ,".4 — lm.5.
Halbe Dauer
des
Miui-
mums: 5 h.
August 18 21h* 23»»
September
3 16 *» 52®
September 19
12h
20'»
22 20
15
7 15 44
23
11
13
26 19
7
11 14 36
27
10
5
30 17
59
1
5 13 28
Digitized by Google
5 Librae (I4b 56 m — 8* 8'), Gröfso 5».0-6®i. Halbe Dauer des Mini-
mums: 6*>.
Juni 1
17»
4 m
Juni
29
15
h 20 m
Juli 27
13 8 37 ®
Aug. 24
1 1 k 54
6
3
47
Juli
4
7
3
Aug. 1
5
20
31
11 28
8
IC
38
G
14
.54
3
13
11
Sept. 7
11 2
13
8
21
11
0
37
8
4
54
14
10 36
15
1«
12
13
14
28
10
12
45
21
10 IO
20
7
54
18
6
11
15
4
28
28
9 45
22
15
4G
20
14
3
17
12
19
27
7
29
25
5
45
22
4
2
Namentlich \ Tauri und o Librae bedürfen der Beobachtung auch von
seiten astronomischer Liebhaber.
b) Maxiina der helleren (> 9 — 10 m) Veränderlichen von langer Periode
Tag
Name
Ort für 1904
I!"
Tag
Name
Ort
für 1904
— — m
«• "ST
Si Ä
Juii 2
U Aurigae
5b3f,«n + 32<
0‘
8-9
Juli 30
RCamelop.
141* 25® + 84® 16'
s
5
U Cygni
20
IG
+ 47
36
7-8
S Ceti
0
19
— 9 51
7—8
S Leonis
11
6
+ 5
59
9-10
l»g- 3
RS Pegasi
22
8
+ 14
5
8 — I»
8
W Aquarii 2Ö
41
— 4
26
»
4
R Urs. maj.
10
38
+ G9 17
7
9
S Librae
15
16
-20
3
8
5
T Pegasi
22
4
+ 12
4
9
10
V Draconis
17
56
+ 54
52
9
7
S Virginis
13
28
- 6 42
7
13
TCapric.
21
17
-15
34
9
9
Z Cygni
19
59
+ 49 46
7?
14
R Arietis
2
1t
+ 24 37
6-7
10
T Delphini
20
41
+ 16
3
8 — 9
15
U Virginia
12
46
+ 6
1
8
11
R Serpent.
15
46
+ 15 25
6 — 7
IG
R Aurigae
5
10
+53
29
7
13
W Aurigao
5
20
+ 36
49
8-9
V Sagittne
20
16
+ 20 48
9-10
16
U Bootiß
14
50
f 18
5
»
17
RR Hercul.
16
1
+ 50
46
8—9
19
RU Andrm.
1
33
+38
11
9
20
RR Aquarii 21
10
- 3
18
8-9
R Pegasi
23
2
+ 10
2
7—8
RS Hercul.
17
IS
+23
1
8
20
UX Cygni
29
51
+ 30
3
9-10
R Lacertac 22
39
+41
53
9
22
RS Librae
15
19
-22
34
8—9
TSerpontis
18
24
+ ß
14
9—10
24
RR Ophiu.
16
43
— 19
17
7-S
21
TU Cygni
19
43
+ 48
50
9
26
Z Delphini
20
28
+ 17
8
i>
25
R Comae
II
59
+ 19
19
7-8
29
KColi
2
21
— 0
36
8
2G?
RX Sagitt.
19
9
— 18
59
9-10
Z Lyra©
18
56
+ 34
49
9
38
RT Lvrae
13
5S
+ 37
23
9-10
30
U Androm.
1
10
+40
13
9
Juli 5
RRCassiop.
23
51
+53
10
9-10
S Soorpii
16
12
22
40
9— lO
9
TW Cygni
2t
2
+ 29
2
9
R Triang.
2
31
+33
51
5— O
X Librae
15
31
— 20
51
9 — 10
31
RV Aquil.
i 1
36
+ 9
42
9
10
T Sagittae
19
17
+ 17
29
8
Y Aquarii
20
39
- 5
11
8—9
11
R Delphini
20
10
+; »
48
8-9
kpl. 1
X Camelop
4
33
+74
56
<4
U Librae
15
3«
— 20
53
9
Y Librae
15
7
— 5 39
14
12?
RU Cygni
21
37
+53
53
8-9
3
S Bootis
it
20
+.54
14
8
16
V Bootis
14
2G
+39
17
7
6
R Can. ven.
13
45
+ 40
1
7 — 8
17
R Virgin is
12
34
+ v
31
7
SSerpenlis 15
17
+ 14
39
8
20?
RU Capric.
20
27
— 22
1
9
9
Z Aquarii
23
47
-16
23
8
20
R Piscium
i
26
+ 2
23
8
10
Z Capric.
21
5
-16
34
9
27
V Cassiop.
2,\
8
+59
10
8
V Pegasi
21
56
+ ^
40
s
2p
SCamelop
5
31
+ 68
45
8—9
13
T Monoc.
6
20
+ 7
8
G
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429
T»g
Name Ort für 1004 =j^2
a-*»s
Tag
Name Ort für 1904
1 33 M
B.yi.13
Y.Pegasi 2» 7m + 13°54' 9-10
8<p.21
T Herculi« 186 6“ +31“ 0' 7-8
17
X Aurigae 6 5 -{-50 15 8
22
X Delphi»! 20 51 +17 17 8
Z Sagittarii 19 14 —21 6 8—9
R Leo. min. 9 40 -{-34 57 7
18
SHerculis 10 48 +15 6 6-7
24
R Vulpec. >1 0 +23 26 8
19
W Coronae 1(5 12 -{-38 2 7 — 8
27
XPegasi 21 16 + 14 3 9
20
RHemilis 16 2 +18 37 8-9
29
U Monoc. 7 26 — 9 35 6-7
V Sagittae 20 16 -{-20 48 9— 10
30
Y Pereei 3 21 +43 50 ! 8-9
Bei manchen dieser Sterne sind die Daten auf einige Tage unsicher;
es empfiehlt sich also, sie einigo Zeit vorher aufzusuchen. Besonders ver-
dienstlich ist das Verfolgen eines Sternes durch genaue Helligkeitsschätzungen
während des Anstiegs und daun wieder durch den Abstieg seines Lichtes.
Mehrere Maxima erreichen in dieser Zeit die Sterne:
Name Ort für 1904 Zeiten der Maxima
HZ Cygni
206
30»
+ 46* IG’
8
Juni
4,19
Juli
>,19
Aug.
3,18
Sept.
•2,17
TX .
20
56
42 13
8 bis 9
14,29
14,29
12,27
1 1,26
vx .
20
54
39 48
9
12
2,22
11,31
20
f»> Planeten. Merkur ist am 8. Juni in gröfster westlicher Elongation und
namentlich nachher kurze Zeit vor Sonnenaufgang im Stier zu sehen. Am
31. Juli ist er am Abendhimmel in Konjunktion mit Regulus, der 31' südlich
von ihm steht und dann loicht zu finden, am 20. August ist er in gröfster
östlicher Elongation, die aber ungünstig für die Sichtbarkeit ist, weil er nicht
höher als im Äquator steht.
Venus ist anfangs Juni nech Morgenstern, aber der Sonne bereits recht
nahe, am 19. Juni steht sie 35* unter Mars, doch findet diese interessante Be-
gegnung in der hellen Morgendämmerung statt. Am 8. Juli geht Venus hinter
der Sonne auf deren linke Seite und wird nun Ahendstern. Vielleicht kann man
sie dort schon am 11. August in Konjunktion mit Regulus sehen, der 62* südlich
von ihr steht. Anfang September kommt Venus in die Jungfrau und passiert
am 23. September II1* rechtläufig 2° 53' nördlich von deren Hauplstern Spica.
Mars steht anfungs Juni am Morgenhiramel in unmittelbarer Nahe der
Sonne. Erst Anfang Juli wird er über p Oeminorutn sichtbar, er geht um
15*/4 Uhr auf. Er durchwandert rechtläufig die Zwillinge und tritt am 8. August
(Aufgang 143/« Uhr) in den Krebs, am 10. September (Aufgang 14V« Uhr) in den
grossen Löwen, über dessen llauptstern Regulus er am 28. September
52* nördlich passiert.
Jupiter steht Anfang Juni in den Fischen und geht 14'/, Uhr auf.
Rechtläufig tritt er Anfang Juli in den Widder (Aufgang 12 */, Uhr) und behält
diese Bewegungsrichtung bei bis zum 19. August, wo er, 9*/* Uhr aufgehend, in
Stillstand kommt. Er geht nun rückläufig wieder bis an die Grenze der beiden
Sternbilder zurück, wo er Ende September anlangt. Er geht dann bereits
6*/j Uhr auf und bleibt bis gegen Morgen sichtbar.
Saturn steht während der ganzen Berichtsperiode rückläufig im Steinhock
und geht zu Anfang der einzelnen Monate um folgende Zeiten auf: Juni 121/*»
Juli iO'/j» August 8*/i, September 6'/4 Uhr. Am 10. August ist Saturn in
Opposition mit der Sonne, so dafs sein Aufgang mit ihrem Untergang zu-
sammenfällt und umgekehrt.
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430
Uranus ist bereits am 19. Juni in Opposition mit der Sonne und bl&ibt
rückläufig- rechts unter p Sagittarii bis zum 4. September, wo er nach kurzem
Stillstand wieder nach links wandert. Er ist von Sonnenuntergang ab für «in
scharfes Auge aufzufinden, zuletzt geht er bereits 81 , Uhr unter.
Neptun ist am *27. Juni in Konjunktion mit der Sonne, also im Juni und
Juli nicht aufzulinden. Im August und September, wo er am Morgenhimniel
rechtläufig ist, zeigt ihn ein kleines Fernrohr in G* 33 ® Rektascension -f- 22° 14'
Deklination rechts unterhalb von c Geminorum.
4) Japitermonde.
I. Trabant. Eintritt in den Schatten.
Juni 2
14» 37®
21*
Aug. 12
9h 88® 3*
Sept.
ii
11h 41®
5*
25
14 47
55
19
1 1 32 18
18
13 38
4;;
Juli 11
13 4
32
26
13 211 37
20
8 7
27
18
14 58
35
Sept 2
15 21 1
25
15 33
27
27
11 21
9
4
9 49 34
27
10 2
23
Aug. 8
13 15
17
9
17 15 31
11. Trabant
Eintritt in den
Schatten.
Juni 13
14h 56®
13*
Aug. Iß
14h 15® 351
Sept.
10
11h 17®
29»
Juli 15
14 37
22
23
16 50 27
17
13 52
18
Aug. 9
11 40
38
Sept. 3
8 42 41
24
16 27
10
III. Trabant. Juni 39, Eintritt 12*» 40 ® 53«, Austritt 14*» 52* 17»; August .r>
Austritt 10t» 51® 4»; August 12 Eintritt 12* 48® 49», Austritt 14* 51® 5"; Sep-
tember 17 Eintritt 8 i* 56® 40», Austritt 10*51® 4 •; September 24 Eintritt 12*58“
8»; Austritt 14* 51® 26«.
5) Von Meteoren sind die Perseiden die bemerkenswertesten, die von
Mitte Juli bis Mitte August, namentlich aber um den 10. August fallen.
C) Sternbederkongen durch den Mond (sichtbar für Berlin):
Tag
Name
Gröfse
Eintritt
i Austritt
d.
Positions winket1)
Eintritts d. Austritt«
Juni
2t
S)
Librae
4.7
18*
8.3®
13»
9
«0
164"
213“
Juli
9
»■
Tauri
4.2
15
3 3
15
59.9«)
84
251
W
9
„
4.2
15
6.6
15
56.0«)
106
229
„
9
a
„
1
18
39.7 «j
19
43.1 3)
50
284
„
10
11
l „
5.5
11
38.2
15
25.2
61
284
Aug.
30
si
Ceti
43
16
11.9
17
32.3«)
72
246
Sept.
2
s*
Tauri
5.2
13
3.2
l 18
34.2
138
197
*
29
7
„
4.0
10
15.4
11
8.8
47
285
„
29
0»
„
4.2
14
59.5
IC
18.3
89
248
m
29
y*
„
4.2
15
5.5
116
13.3 !
110
226
m
29
Anonyma
5.0
16
21.3
17
84 9
58
282
„
30
ii
1 Tauri
5.5
16
13.7
117
33 3
85
264
7) Konjunktionen der 5 alten Planeten mit dem Monde.
Merkur
1 Juni
11
14h
Juli
13 4 h
August 12
22h
September 10
0h
Venus
1 »
13
20
„
12 22
• 11
20
10
15
Mars
13
2
*
11 22
B 9
17
7
9
Jupiter
„ .
. 8
21
„
6 13
B 3
2 u.
30 9* „
26
11
Saturn
J_ -
3
20
-
13 u. 28
6* „ 24
9
-
20
11
') Gezählt vom nördlichsten Punkte des Mondes nach links herum.
*) Während des Aufgangs. *) Nach dem Aufgang der Sonne, aber im Fern-
rohr doch sichtbar.
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431
8) lloud. a) Phasen.
Letzt. Viert
Juni 5
19h |
Juli 5
12 »
Au«. 4
3»-
i Septbr. 2
16 h
Neumond
13
10
12
18
11
-
9
10
Erst. Viert.
20
4 ]
19
10
17
17
16
4
Vollmond
27
9
20
23
25
14
24
i
b) Apsiden.
Erdferne
Juni 5 Oh
Erdnähe
Juli
II
17b i
Erdferne
Aug.
26
17 h
Erdnähe
i- i
Erdferne
30
9
Erdniiho
Sept.
9
8
Erdferne
Juli 2 18
Erdnähe
Aug.
11
22
Erdferne
Sept.
22 1!)
c) Auf- und Untergänge für Berlin.
Tag
Aufgang
far
Untergang
Berlin
Tag
Aufgang l'nttrgang
far Berlin
Tag
AU!
fgang ! Untergang
far Berlin
Ja»i 1
10h 40m
19h 47m
J.li
11
15b 23m
Gh 25m
Atg. 20
3h 40m
12» 30m
6
12
59
—
—
16
21
38
9
58
25
G
48
17 22
11
15
11
5
28
21
2
39
12
23
30
8
45
22 40
16
20
0
10
16
26
7
15
16
25
Sfjt. 4
11
50
2 51
21
1
9
12
48
31
9
31
21
38
9
18
5
6 23
26
6
57
15
46
Aog.
5
11
40
1
56
14
—
— 1
9 1
Juli 1
10
16
20
40
10
IG
29
6
43
19
3
53 |
13 12
6
12
12
0
55
15
2.3
12
9
25
24
6
4
18 25
11
15
23
G
25
20
3
40
12
30
29
8
IG
23 43
9) Sonne.
Sternzeit f. den Zeitgleichung Aufgang Untergang
. onn ag mitil. Berl. Mittag1) raittl. — wahre Z. für Berlin
Mai
29
4»
26«
11.0 •
2 na
51.3»
3»
55®
8»
12m
Juni
5
4
53
46.9
—
1
48.5
3
49
1 8
20
1*2
5
21
22.8
—
0
28.6
,3
45
1 8
26
19
5
48
58.7
+
1
0.S
3
44
8
29
26
G
16
34.6
+
2
.30.8
3
46
8
30
Juli
3
G
44
10.5
+
3
53.9
3
50
8
29
10
7
11
4G.4
+
5
3.5
s
57
8
25
17
7
39
22.3
+
5
.53.1
4
5
8
18
24
8
6
58.2
+
6
16.6
4
15
8
9
31
8
31
34.0
+
G
11.2
4
25
7
58
August
7
9
2
9.9
+
5
36.8
4
36
7
46
14
9
29
45.K
-f
4
34.3
4
47
7
32
21
9
57
21.7
3
4.9
4
59
7
18
28
10
24
57.5
+
1
122
5
11
: 7
2
Sept.
4
10
52
33.4
—
0
58.0
5
22
6
46
11
11
20
9.3
3
19.6
5
34
6
30
IS
11
47
45.1
—
5
47.2
5
46
6
13
25
12
15
21.0
—
8
14.6
5
58
5
57
Okt.
2
12
42
5G.9
| —
10
33.9
6
9
, 5
40
>) Im mittl. Berliner Mittag zeigt eine nach M. E.Z. gehende Uhr 01* 6m 25.2 ••
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Dr. B. Donath: Die Einrichtungen zur Erzeugung der Röntgenstrahlen
2. verbesserte und vermehrte Auflage. Verlag von Reuther und Reicta-
hard, Berlin.
Ein Chirurg ohne Röntgeneinrichtung ist wie ein Truppenführer ohne
Fernrohr. Man kann sich in vielen, ja vielleicht in den meisten Fällen auch
ohne kUnstlicho Hilfsmittel, lediglich mit Hilfe dessen orientieren, was die
natürlichen Sinne uns sagen. Aber wenn dies auch nur in einem gewissen
Prozentsatz der Fälle unmöglich ist, so macht man sich durch die Nichtanwen-
dung wirksamer Hilfsmittel einer groben Vernachlässigung schuldig; denn im
Kampfe mit feindlichen Mächten gilt es, alle Vorteile auszunutzen.
Für die Uöntgenstrahlen dürfte diese Erkenntnis heutzutage bei der Mehr-
zahl der Arzte durchgedrungen sein, obwohl noch vor wenigen Jahren bedeutende
Mediziner es für nötig hielten, in den Wein des Enthusiasmus für die neue
Entdeckung das Wasser der Skepsis zu giefsen. Der Erfolg hat in diesem Falle
noch mehr als bei der Telegraphie ohne Draht, der zweiten praktisch bedeuten-
den physikalischen Erfindung des letztem Jahrzehnts, den Enthusiasten Recht
gegeben.
Das obengenannte Buch hat sich die Aufgabe gestellt, den Arzt, der aut
der Universität über diese Materie entwedor nicht ausreichend oder überhaupt
nicht belehrt worden ist, so weit mit ihr vertraut zu machen, dafs er die Er-
scheinungen nicht nur versteht, sondern auch mit den Apparaten umzugehen
lernt. Ja, man kann sagen, dafs die so überaus einfache und anschauliche
Darstellungsweise des Verfassers das Erlernen einer praktischen Betätigung
aus einem Buche in diesem Falle nicht als einen leeren Wahn erscheinen lafst.
Die Einleitung ist der Besprechung der einfachsten Gesetze des elek-
trischen Stroms gewidmet. Der darauf folgende Abschnitt behandelt die ver-
schiedenen Stromquellen in ihrer Verwendbarkeit für RÖntgenzwecke. Sodann
werden die wichtigsten Apparate, die Induktoren, Unterbrecher und Röntgen-
röhren besprochen, sämtlich Gegenstände, die heutzutage nach anderen Grund-
sätzen und iu anderen Formen hergestellt werden als noch vor wenigen Jahren
Hierbei bietet sich auch Gelegenheit, auf die verschiedenen Arten von RÖnt-
gonstrahlen einzugehen. Diese wichtige Unterscheidung, die zu der Auswahl
der für deu besonderen Zweck passenden Strahlenart führt, wird an einer
Tafel mit Proboaufnahraen genauer klar gemacht, wie denn überhaupt das
Buch sehr zahlreiche (140) Abbildungen enthält
Besondere Aufmerksamkeit hat der Verfasser den Mefsapparaten zur
Bestimmung der Lago der durchleuchteten Gegenstände gewidmet. Der letzte
Abschnitt beschäftigt sich mit der Natur der Röntgenstrahlen und der ihnen
verwandten Strahlenarten, insbesondere auch der Radiumstrahlen.
Schon diese kurze Inhaltsangabe läfst erkennen, dafs das Buch viel
Neues und Brauchbares bietet, und wir wünschen dieser zweiten Auflage den-
selben Erfolg, den die erste gehabt hat. Sp.
Verlag: Hermann Paetel 1b Berlin. — Druck: Wilhelm 'Jronau'a Buchdruckeref in Berlin - Sehöneberg.
F6r die Bedaelion verantwortlich : Dr. P. Sch wahn in Berlin.
l'a berechtigtet Nachdruck aus dam Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Oberaetionfsiecht Vorbehalten.
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Über unsere Schutzmittel gegen Blitzgefahr.
Vortrag, gehalten in der Elektrotechnischen Gesellschaft zu Leipzig.
Von Professor Dr. Pr. Neesen in Berlin.
q
c , ) ti bezug: auf die Blitzschutzmafsregeln sind 3 Klassen der sohützen-
,0} den Gegenstände zu unterscheiden.
™ 1. Gebäudeblitzableiter;
2. Schwachstromblitzableiter;
3. Starkstromblitzableiter.
Für Ableiter der ersten Gattung ist eine direkte Verbindung der
ganzen Anlage mit der Erde möglich, für die beiden anderen nicht.
Starkstromblitzableiter erfordern ein Mehr als die Schwaohstrom-
blitzableiter, weil bei ihnen die Ableitung der Blitzentladung zur Erde
einen Kurzsohlufs für den Starkstrom herstellt, für dessen selbsttätige
Beseitigung Sorge zu tragen ist.
Die Anordnung des Ableiters hängt in erster Linie mit der Beant-
wortung der Frage zusammen, was der Blitzableiter soll. Es scheint
die Beantwortung einfaoh und selbstverständlich, nämlich dahin: er
soll vor Blitzschäden schützen. Indessen ist es für die Konstruktion
von Bedeutung, zu wissen, wodurch der Blitzableiter diesen Schutz
gewähren kann. Die einen vertreten nun die Ansicht, die Aufgabe
des Ableiters sei im wesentlichen eine vorbeugende, insofern, als die
Anlage hauptsächlich dazu bestimmt ist, die in den Wolken ange-
sammelten Elektrizitätsmengen duroh sogenannte langsame Entladung
unschädlich zu machen, bevor ein Blitzschlag erfolgt ist, und dafs
nebenbei noch der Ableiter imstande sein müsse, falls er dieso Auf-
gabe nicht ganz erfüllt, den Blitzschlag selbst aufzunehmen und so
von der zu schützenden Anlage fernzuhalten. Die anderen betonen
aussohliefslich dio letzte Wirkung und sehen die langsame Entladung
Himmel and Erde. 1904. XVI. 10. i'S
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434
als etwas ganz Nebensächliches an. Der Entscheid für die eine oder
andere Ansicht hat nicht allein theoretisches Interesse. Ist die erste
Ansicht die richtige, so kommt es darauf an, möglichst viel Spitzen
zu verwenden und diese in tadellosem Zustand zu erhalten; erkennt
man dagegen der zweiten das Übergewicht zu, so fällt die Bedeutung
der Spitzen fast ganz weg.
Einen schlagenden Beweis, dafs die Spitze eine äufserst gering-
fügige Holle spielt, gibt folgende Versuchsanordnung mit dem Blitz-
ableitermodell von Chwolson (Eig. 1).
Die in den Gewitterwolken enthaltene Elektrizitätsmenge möge
durch die Ladung der inneren Belegung einer Leydener Flasche a darge-
stellt werden, der dauernd durch eine Elektrisiermaschine Ladung zuge-
führt wird. Diese innere Belegung steht mit einem Metallslab in Ver-
bindung, auf welohem ein längerer Arm b drehbar angeordnet ist, dessen
eines Ende eine Schale c trägt. In der Nähe der Flasche und im Be-
reiche der Schale befindet sich ein mit hoher Fangstange und daran
angeschlossener Erdleitung geschütztes Gebäude. Stellt man nun den
Arm so, dafs die Schale gerade über der Spitze der Fangstange d
steht, so erfolgt bei anhaltender Drehung der Elektrisiermaschine keine
Funkenentladung, weil tatsächlich durch langsame Entladung von der
Spitze aus die Schale sofort entladen wird. Wird indessen der Arm, an
welchem die Schale sitzt, von der Spitze entfernt und dann mit einem
kleinen Stofs nach dieser hinbewegt, so tritt stets eine Funkenentladung
auf. Man braucht gar nicht einen besonderen Stofs auszuüben, schon
die Anziehung zwischen der Ladung auf der Schale und der influen-
zierten Ladung der Spitze genügt, die Bewegung hervorzurufen, welche
die stille, funkenlose Entladung unmöglich macht. Wenn nun sohon
so kleine Ladungen, wie die einer Leydener Flasche, in der Zeit, während
welcher sioh die Schale nähert, nicht entladen werden können, so kann
das sicher nicht für die ungeheuer viel gröfseren elektrischen Ladungen
der Atmosphäre der Fall sein. Hierzu gehören aber und aber Millionen
Ausströmungsstellen, wie solche vielleicht in Blättern und Zweigen
eines Waldes gegeben sind. Aber auch aus einem Walde holt sich
der Blitzschlag noch oft genug einen einzelnen Baum heraus.
Es kommt somit auf die Beschaffenheit der Spitze nioht an, da
der Blitzableiter auch ohne scharfe Spitze die Aufgabe löst, die Ent-
ladung von den anderen Gebäudeteilen ab und auf sich zu lenken.
In richtiger Würdigung dieses Umstandes werden von einsichtigen
Blitzableiter-Fabrikanten die früher so beliebten Spitzenkonstruktionen
aus Platin, Kohle u.s.f. beiseite gelassen.
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433
Qebüudeblitzableiter.
Um die Gründe der Anordnung für die Gebiiudeblitzableiter zu
übersehen, ist es nötig, sich klar zu machen, was bei dem Herannahen
einer elektrisch geladenen Wolke geschieht.
Alle Gegenstände auf der Erdoberfläche laden sich entgegen-
gesetzt wie diese Wolke, besonders stark diejenigen, in welchen sich
die influenzierte Elektrizität ohne grofse Verzögerung, ohne Wider-
stand bewegen kann, also die Leiter. Wenn sich ein Spannungsunter-
schied zwischen Wolke und den einzelnen Teilen der Erdoberfläche aus-
Fig. 1.
bildet, so wird dieser unter gleichen Verhältnissen gröfser sein zwischen
der Wolke und gut leitenden Metallteilen, vorausgesetzt, dafs letztere
eine solche Ausdehnung haben, dafs die influenzierte, mit der Wolken-
elektrizität gleichwertige Elektrizität nach entfernteren Stellen abfliefsen
kann. Nach solchen Metallteilen ist daher zunächst die Tendenz der
Blitzentladung hin gerichtet. Aus diesem Grunde ordnet man auf dem
Dache des Gebäudes Metallteile — die Fangvorrichtungen — an,
welche die Entladung auf sich ziehen sollen. In der Ausbildung dieser
Fangvorrichtung tritt nun wieder ein scharfer Unterschied auf, und zwar
unterscheidet man eine ältere, welche auf Vorschlägen, die von Gay
Lussao durchgearbeitet sind, beruht und eine neuere, die sich an die
Erwägungen des Belgiers Melsens anschliefst. Die erstere, welche eine
28*
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>
436
leichtere Schablone für die Errichtung von Blitzableitern liefert, gründet
sich auf die Annahme, dafs durch Anordnung einer aufrechten Metall-
stange alles, was in einem gewissen Kegel liegt, dessen Höbe diese
Stange ist, vor Blitzoinschlag geschützt sei. Der Kegel wurde danach
berechnet, dafs jeder Teil des Gebäudes bei allen möglichen Wolkenlagen
weiter von der letzteren entfernt sein mufs als die Spitze der Fang-
stange. Viele traurige Erfahrungen haben gezeigt, dafs auf diese Hegel
vom Schutzkreis kein Verlafs ist Man bat sich genötigt gesehen, den
Kegel immer mehr einzuschränken, etwa darauf, dars geschützt ist, was
in einem Kegel liegt, dessen Basisradius das 1 '/j faohe der Höhe der
Stange über dieser Basis ist Diese Rogel wird von einer Zahl von
Fabrikanten beibehalten, zum Teil gewifs, weil dieselbe einen leichteren
übersichtlichen Plan für die Anordnung der Stangen erlaubt
Der geringfügige Unterschied in der geometrischen Entfernung
von Wolke zum Gebäudeteil, geringfügig im Vergleich zu der mit
mehreren Kilometern zu berechnenden Länge des Blitzfunkens, kann
aber diese Art der Schutzberechnung nicht rechtfertigen. Wir sehen
schon bei unseren Funkenversuchen auf Entfernungen von wenigen
Dezimetern, dafs der Funke nioht eine gerade Bahn, nicht die kürzeste
Entfernung aufsucht. Er zeigt stets die eckige Gestalt, welche auch
dem Blitze charakteristisch ist. Eine Menge anderer Erscheinungen
spielen mit, welche auf den Blitzgang Einflurs haben, vor allem Be-
wegungen der Luft, Bewegungen der Ladungen auf den Teilen des Ge-
bäudes, welche zur Bildung von gefährlichen Schwingungsknoten
führen können. Denn es ist immer zu bedenken, dafs man nicht mit
Gleichgewichtszuständen zu tun hat, sondern bei der raschen Wolken-
bewegung mit Strömungen.
Daher war es ein glücklicher Gedanke von Melsens, für die
Anordnung der Auffangstangen den Grundsatz aufzustellen, dafs an
Stelle der nach der Regel des Schutzkreises berechneten hohen Fang-
stangen kleine Fangstangen an alle, besonders exponierten Stellen,
wie Schornsteine, Ventilationsaufsätze, gesetzt werden müfsten, dafs
ferner auch die die Fangstangen verbindende metallische Leitung als
Auffangevorrichtung diene, welche die Dachfirste zu bedecken und zu
schützen hätte. Die Leitung auf dem Dache wird allerdings ver-
wickelter, dafür aber spart man die Kosten, welche die Montierung
hoher Stangen verursachen. Zu beachten ist weiter, dafs das Aus-
sehen des Gebäudes ohne die hohen Stangen ein gefälligeres ist.
Mit einer guten Auffangvorrichtung allein ist es nicht getan.
Wäre sie allein vorhanden, so würden wir das haben, was uns die
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Blitzröhre zeigt. Der eigentliche Blitz ginge allerdings zu einer Fang-
stange oder Firstleitung über. Von den Enden derselben würden aber
Funken zu benachbarten Leitern eventuell zum Erdboden überschlagen
können. Denn die bei dem Inlluenzvorgang von der Wolkenelektrizität
abgestofsene gleichnamige Elektrizität ruft ja auch Spannungsunter-
schiede hervor. Man erhält so sekundäre Schläge. Es mute daher jeder
auf der Firstleitung angesammelten Ladung ein rascher Abflufs in ein
so grofses Reservoir ermöglicht werden, dafs die Spannungen minimal
werden. Ein solches Reservoir bildet die Erde; daher wird die First-
leitung durch metallische Leiter längs der Gebäudewände verbunden
mit besonderen Leitungen, die den Zweck haben, die Verteilung der
angesammelten Ladung in die Erde zu bewirken, die sogenannten
Erdleitungen. Bei Bemessung dieser und der Ableitungen ist zu
beachten, dafs in jedem Leiter der Abflufs von Ladungen eine gewisse
Zeit braucht und dafs sich während dieser Zeit Spannungen auf dem
Leiter gegen benachbarte Orte ausbilden können. Diese geben dann
wieder Veranlassung zu sekundären Schlägen. Daher ist die Öffnung
mehrerer Kanäle, also mehrerer Ableitungen und Erdleitungen nötig.
Wieviel, das läfst sich allgemein schwer beantworten. Hier mufs
ein gewisses Verständnis, ein gewisses Gefühl die Richtschnur bilden.
Als rohe Schätzung wäre etwa auf je 100 qm Fläche eine Ableitung
und Erdleitung zu rechnen. Die Vervielfältigung der Ableitungen
gewährt auch den von Melsens stark betonten Vorteil, dafs dadurch
die inneren Teile des Gebäudes mehr vor Ausbildung elektrischer
Spannungen geschützt werden, da der Ableiter eine Art von Faraday-
schein Käfig bildet.
Für die Erdleitung kommen mannigfache Konstruktionen in Be-
tracht; am häufigsten und zweckmäßigsten sind in das Grundwasser
versenkte Platten aus Kupfer oder verzinktem Eisen, oder Gasrohre,
die in das Grundwasser getrieben sind. Manchmal ist das Grund-
wasser aber so schwierig zu erreichen, dafs man sich anderer Mittel
bedienen mufs. Es empfehlen sich dann strahlenförmig nach ver-
schiedenen Richtungen von den Enden der Ableitung auslaufende
Drähte von etwa 10 m Länge, die dicht unter der Oberfläche des
Bodens zu verlegen sind, etwa dorthin, wo mau am häufigsten noch
Feuchtigkeit erwarten kann, insbesondere unter Grasboden. Auch
schmale Gräben mit Füllung von Kufskoks haben sich bewährt, in
die ein Bleiband, das an den Ableiter angeschlossen ist, eingelegt ist
Wie widersinnig oft Anlagen ausfallen, die nach einem Schema
angelegt werden, zeigt die Ableitung des Blitzableiters auf einer Alpen-
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Schutzhülle. Um der Forderung nach Verbindung mit dem Grund-
wasser zu genügen, hatte man eine Leitung mehrere Kilometer lang
bis zur nächsten Quelle geführt.
An Stelle der besonderen Erdleitungen kann und mufs wenigstens
zum Teil eine Verbindung mit Gas- oder Wasserleitungsrohren aus
Metall treten. Diese bilden eine so günstige Verteilung, wie solche
künstlich gar nicht zu erreichen ist. Man sollte aber, da diese Lei-
tungen abgeschnitten sein können, immer eine besondere Erdleitung
anordnon.
Einen vollständigen Faradayschen Käfig können wir im allgemeinen
nicht erreichen, daher werden auch nach den inneren Teilen des Ge-
bäudes hin Spannungen eintreten, namentlich nach denjenigen, welche
selbst eine grofse leitende Fläche haben, wie Gas- und Wasserleitungen.
Heizungsrohre und Leitungen, die auf dem Boden eines Gebäudes
verlaufen, sollte man immer anschliefsen; ob auch in den Fällen, wo
diese Leitungen nicht bis in das obere Geschofs hineinreichen, das ist
wieder eine Frage des elektrotechnischen Taktgefühles. Sind die Lei-
tungen etwa 10 m unter der Blitzabloiterleitung, dann dürfte der An-
schlufs bei sonst vortrefflicher Ableitung nicht nötig sein. Beachten
mufs man hierbei auch die Lago der Ableitungen zu den Wasser-
leitungsrohren. Nähern sich diese auf wenige Meter und ist auf dem
Boden noch kein Anschlufs, so mufs derselbe nach einer solchen An-
näherungsstelle zu geschehen.
Eine wesentliche Verminderung der Kosten einer Blitzableiter-
anlage, verbunden mit einer Verbesserung, kann dadurch erzielt werden'
dafs gleich mit Bau des Gebäudes der Ableiter angelegt und die
metallenen Konstruktionsteilo des Baus als Teile jenes verwandt werden.
Die metallenen Firstbedeokungen, die Traufrinnen, Metalldächer, auch
die nach unten führenden Traufrühren eignen sich sehr gut dazu, als
Ersatz für besondere Firstableitung zu dienen. Man mufs nur
in dieser Verbilligung nicht zu weit gehen. Es sind auch für Ge-
bäude, bei denen die gröfste Sicherheit vor Blitzgefahr angezeigt war,
solche metallenen Teile des Gebäudes in die Ableitung eingezogen
worden, ohne dafs die einzelnen Teile unter sich gute Berührung
hatten. Die Berechtigung wird in der Erwägung gesucht, dafs die
starken Spannungen der bei Blitzentladung in Frage kommenden
Elektrizitätsmengen die kleinen Lücken, welche zwischen dem Ab-
fallrohr bestehen, mit Leichtigkeit überspringen. Das ist gewifs richtig.
Aber erstens können auch die dabei notwendigerweise auftretenden
kleinen Funken Brand erzeugen, wrofür ein Beispiel vorliegt, und dann
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bringen diese Funken eine Verzögerung der Entladung und Schwin-
gungen der Ladungen mit sich. Diese beiden Umstände führen aber
zu der Gefahr von Seitenentladungen. Bei erstklassigen Ableitern
soll man alle solche Umstände vermeiden, durch welche die Wirk-
samkeit des Blitzableiters etwa abgeschwächt werden kann. Will
man dagegen sich mit einem geringeren Grade von Sohutzwahr-
scheinlichkeit begnügen, also nur einen zweitklassigen Ableiter haben,
Es hat vollkommene Berechtigung, von Blitzableitern mit ver-
schiedenem Grade von Schutz zu sprechen. Auch der weniger
vollkommene Ableiter gibt noch besseren Schutz wie gar
keiner. Ein vielfach gehörtes Schlagwort sagt allerdings anders: lieber
gar keinen Ableiter, wie einen unvollkommenen, denn der Blitzab-
leiter vergröfsert an sich die Blitzgefahr. Hierfür liegt, von ganz
besonders gestalteten Ausnahmefällen abgesehen, aber gar kein Grund
vor. Beim Herannahen der Wolke wird nicht allein der Ableiter,
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sondern das ganze Gebäude und die Oberfläche der Erde geladen; das
Ladungevermögen der letzteren wird stets außerordentlich grofs gegen-
über dem des Gebäudes sein, und dieses Verhältnis erfährt durch die
geringe Metalloberfläche des Ableiters keine Änderung. Das Gebäude
bietet aber für sich schon stärkere Entladungspunkte wie der um-
gebende Erdboden, daher wird auch ohne Ableiter der Blitzschlag
nach ihm hingeriohtet sein, wenn er den Ableiter trifft.
Gewisse Gebäudeanlagen erfordern eine ganz besonders sorg-
fältige Schutzvorrichtung wegen der außerordentlichen Gefahr, welche
bei ihnen mit einem zündenden Schlag verbunden ist, so Petroleum-
tanks, Pulver- und vor allem Sprengstofffabriken. Eine Reihe von
Explosionen infolge von Blitzschlag haben die Frage des Schutzes
solcher Anlagen wieder lebhafter in Fluß gebracht. Der Berliner
elektrotechnische Verein beschäftigt sich augenblicklich eifrig damit
und kann hoffentlich bald mit Vorschlägen hervortreten.
Bei den Petroleumtanks liegt die Gefahr vor, daß die dicht über
jedem Tank lagernden Petroleumdämpfe durch den einschlagenden
Blitz entzündet werden. An und für sich brauohte ohne diese Ge-
fahr der Tank, welcher ja stets von Metall ist, gar keinen Ableiter,
sondern müßte nur eine Erdleitung erhalten. Wegen der erwähnten
Dämpfe ist es jedoch angebracht, über den Tank und zwar in ziem-
licher Höhe über demselben ein engmaschiges Drahtnetz auszuspannen,
welches eine gute Ableitung zur Erde hat. Ein Blitzschlag trifft dann
nicht mehr die starke dampfhaltige Schicht direkt über dem Tank.
Ferner sollten die Mannlöcher stets durch selbsttätig sich schließende
Davysche Sicherheitsgitter geschützt werden.
Solche äußere, von dem Gebäude entfernte netzartige Blitzableiter
werden z. B. auch bei der Anlage der Sprengstofffabrik in Kremmel
verwandt, von denen Fig. 2 und 3 ein Bild geben, ln 1 m Entfernung
über der zu schützenden Hütte h sind Längs- und Querdrähte in Ab-
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ständen von 1 m gespannt Eiserne Stangen auf der Krone des
einschliefsenden Walles bilden die Stützpunkte dieses Netzes. Von
den Stangen gehen die Erdleitungen weiter. Wie Fig. 3 zeigt, sind
an den Spitzen dieser Stangen noch verzweigte Molsensohe Fangarme
angebracht wohl unnötiger Weise.
Oie Hütte hat dann noch einen zweiten Schutz durch ein zweites
weitmaschigeres Drahtnetz, wie solches auch auf Pulvermagazinen Ver-
wendung findet.
Schwachstromblitzableiter.
Für die elektrischen Anlagen kommen zu der Gefahr eines
Blitzsohlages in das Betriebsgebäude hinzu die Gefahren, welche die
Leitungen mit sich bringen. Letztere werden sich mit der atmo-
sphärischen Elektrizität bald stärker, bald schwächer laden. Diesen
wechselnden Ladungen entsprechend ent-
stehen Strömungen in ihnen. Im Falle eines
Blitzschlages in die Ladung müssen diese
Strömungen besonders starke Werte anneh-
men. Die an die Leitung angeschlossenen
Apparate sind der Gefahr dieser Strömungen
ausgesetzt, welohe auch ohne eigentlichen
Blitzschlag in die Leitung verderblich für die
Apparate und die in der Nähe befindlichen
Menschen sein können.
Bei dem Aufsuchen einer Schutzvorrichtung hiergegen ist es gut,
daran zu denken, dafs diese Strömungen im allgemeinen nicht nach
Art eines konstanten galvanischen Stroms, sondern in der Art von
Stromstöfsen verlaufen, oder auch von elektrischen Schwingungen,
welche sich auf dem Leiter ausbilden müssen, auch ohne dafs in den
eigentlichen Blitzfunken Ladungen hin- und herschwingen, wie viel-
fach behauptet ist, wofür sich aber noch gar kein Beweis ergeben hat.
Abgesehen von der Abschaltung der Apparate von der Leitung
bei herannahender Gewittergefahr hat man auf zwei Wegen versucht,
die Beschädigungen zu vermeiden.
Die erste Klasse von Ableitern basiert darauf, selbsttätig die
Verbindung zwischen Apparaten und Leitung bei zu starkem Strom
zu unterbrechen. Die zweite Klasse sucht der Blitzentladung einen
Nebenweg zu öffnen, welcher für den gewöhnlichen Nutzstrom nicht
passierbar ist.
Zu der ersten Klasse gehören vor allem die Schmelzsicherungen,
Fig. 4.
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bei denen durch eine durch zu starken Strom hervorgerufene unzu-
lässige Erwärmung ein leicht schmelzbarer Metallstreifen aus der Leitung
herausschmilzt. Als Beispiel sei eine bei Telephonämtern vielfach
verwandte Anordnung herausgegriffen, die sogenannte Patronen-
sicherung (Fig. 4). In einer Glasröhre g sind Spiraldrähte befestigt,
zwischen welchen ein Stück d aus leicht flüssigem Lot eingeklemmt
ist. IJio Glasröhre wird zwischen 2 federnde Drähte f ,, f, gebracht,
von welchen der eine mit der Leitung, der andere mit dem Apparat
in Verbindung steht. Es liegt auf der Hand, dafs die Schutzvorrich-
tungen die Apparate vor eigentlichem Blitzschlag nicht schützen
können, denn hier wachsen die Spannungen längs der Linie und den
damit verbundenen Apparaten so plötzlich, dafs die Apparate denselben
ausgesetzt sind, ehe sie durch das Schmelzen der Legierung abge-
schaltet werden. Diese Sicherungen können daher nur bei den durch
Wechsel der Ladungen in der Atmosphäre hervorgerufenen langsam
verlaufenden Strömungen von geringer Stärke in Betraoht kommen
oder als Ergänzung zu der zweiten Klasse der Ableiter.
Der Zweck dieser ist, der Blitzentladung einen für den gewöhn-
lichen Strom verschlossenen Nebenweg zu schaffen, wozu man einen
Nebenweg zur Erde mit Einschaltung einer Funkenstreoke anbringt.
Letztere läfst die stark gespannte Blitzentladung durch, aber nicht den
Nutzstrom der Leitung. Zu diesem Behufs wird einem in der Leitung
vor dem Apparate liegenden Metallstücke in geringer Entfernung, etwa
1 mm, ein anderes gegenübergestellt, welches zur Erde abgeleitet ist.
Die Gestalt dieser Metallplatte ist mannigfaltig, z. B. Spitze oder Platte
oder auch beides vereinigt, und einfacher Drahtleiter. Die Verwen-
dung von gegenüberstehenden Spitzen oder Sohneiden beruht auf der
Erwägung, dafs die Spitzenform die Entladung begünstigt. Das ist aber
durchaus nicht immer der Fall, nur dann, wenn die Spitze zu posi-
tiver Elektrode gemacht wird. Aber auch dann ist zu beachten, dafs
bei Entladung so gewaltiger Mengen, wie solche beim Blitzschlag auf-
treten, die kleine Spitze überhaupt nicht mehr als Ausgangspunkt der
Entladung genommen werden kann, sondern die ganze Metallfläche;
daher ist den Plattenblitzableitern der Vorzug zu geben.
Um den Übelständen aus dem Wege zu gehen, welche abge-
schmolzene Metallteile bei den Plattonableitern durch KurzBchlufs be-
dingen, wird mit Vorteil an Stelle des Metalles Kohle als Material
verwandt Selbstverständlich mufs dieselbe vorzüglich sein, darf nicht
abbröckeln.
Weitere Blitzableiter enthalten drahtförmige Ableiter, und stellen
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sich somit als Umgebung der Leitung selbst mit der zur Krde abge-
leiteten Elektrode dar (Fig. 6). So wird mit Vorteil bei unterseeischen
Kabeln der Ableiter von Sannders verwandt. Mit der Linienleitung L,
ist ein Draht s verbunden, weloher sich in einem zur Erde abgeleiteten
Metallzylinder 8], m a2 befindet. Von den Enden des letzteren reichen
noch querstehende Spitzen bis dicht an den Draht heran. An den
anderen Enden steht s durch d in Verbindung mit den Telegraphen-
apparaten L2. Eine an dem
Ende des Drahtes d ange-
L| /
brachte Unterbrechungsvor- r
richtung d bewirkt, dafs bei V, •|j m »i r
zu starker Erwärmung des ' *TK,1 -i ' — i. i~ * ~] t»
Drahtes durch Schmelzen — K
eines Lotes eine Abschal- ° © "\
\ Erde
tung der Linie von den Erd»
Apparaten erfolgt. Fig. 5.
Umgekehrt ist bei dem
Spiralblitzableiter der Telephonämter ein dünner Draht isoliert um
einen zur Erde abgeleiteten Kern gewickelt. Bei einer starken atmo-
sphärischen Entladung tritt Übergang der
Ladung zum Kern und gleichzeitig durch
Schmelzen des Drahtes Kurzschlufs zur VI! •
Erde, also Verbindung der Leitung mit "mm - f,
der Erde ein, so dafs die Entladung der fl :
Linie nicht mehr durch den Apparat, son- *
dem direkt nach der Erde erfolgt. w. -i
Solche Blitzableiter werden in den ;j
Ämtern vor den Apparaten und an vor- I;
6Chiedenen Leitungsstangen eingeschaltet.
In dem letzten Falle geschieht die Ver-
bindung mit der zu schützenden Leitung
indessen in einer Art, welche Bedenken Fig. 6.
erweckt. Diese Bedenken richten sich
auch in gleicher Weise gegen die gobräuohliche Einschaltung der nach-
her zu besprechenden Starkstromblitzableiter.
Die Platten der Stangenblitzableiter bilden nämlich keinen Teil
der Leitung, sondern sind in Xebenschlurs an dieBe angeschaltet, wie
Fig. 6 zeigt. Von der Linienleitung a zweigt ein Draht b zu der einen
Platte eines Plattenblitzableiters ab, dessen andere über V zur Erde
abgeleitete Platte der Versohlufsdeckel D ist Die Schutzhülle G be-
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steht aus Porzellan, um das Eindringen von Feuchtigkeit zwischen
den beiden Platten zu verhindern. Diese Feuchtigkeit würde den
Telegraphierstrom zur Erde ableiten.
In dieser Abzweigung des Blitzableiters von der zu schützenden
Linienleitung liegt das Fehlerhafte.
Es geht das aus einem Vergleich mit einer Wasserströmung her-
vor, die wenigstens den Hauptzügen nach ein gutes Bild der elek-
trischen Strömung gibt.
Zweigt von einem Hauptkanal aa (Fig. 7) ein Zweigkanal b ab,
so wird nach dem Eintritt einer stationären Strömung ein Teil der Wasser-
menge durch b Abflufs finden, entsprechend den Querschnitten und Ge-
fällen in den beiden Kanälen a und b.
Ganz anders, wenn plötzlich eine Wasser-
menge mit grofser Geschwindigkeit in den
Kanal a einfällt. Der Seitenkanal nimmt
von dieser zunächst nur wenig auf. Oder
es wird der ruhig dahinfliefsende Strom
bei der Biegung d in dem Flufsbette c
die Dämme bei d nicht verletzen. Erfolgt
indessen ein plötzlicher Wassereinbruch,
so liegt trotz des seitlichen offenen Fluß-
bettes die Gefahr des Dammbruchs bei
d vor.
Gleiche Verhältnisse bestehen bei der
Wirkung der Ableiter. Liegen dieselben in einer Nebenschaltung, so
gelangt nicht die ganze Ladung in sie hinein, welche die Leitung bei
einem plötzlichen Stromstofs aufzunehmen hat.
Liegt aber der Ableiter direkt in der Leitung, so erfolgt der ge-
wünschte Dammbruch, die Entladung zur Erde, entsprechend der zu-
letzt genannten Analogie. Daher scheint es auch richtiger zu sein, die
Plattenblitzableiter an Leitung und Apparat zu schalten, wie es bei
dem Ableiter nach Fig. 8 geschieht. Hier trifft der Zuleitungsdraht
senkrecht auf die Platte und senkrecht zu der letzteren, aber entgegen-
gesetzt zum ersteren geht die Ableitung zum Apparat.
Um den elektrischen Dammdurchbruch zur Erde zu befördern,
wird der Widerstand, welchen auch die elektrische Strömung einer
solchen Richtungsänderung entgegensetzt, benutzt, indem zwischen
den Blitzableiter und die zu schützenden Apparate spiralförmig auf-
gewundene Drähte eingeschaltet werden, welche die Entladung durch-
kreisen muß, ehe sie zu den Apparaten kommt. Man nennt die-
b
a a
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Belben Selbstinduktionsspulen, und den eigentümlichen grofsen Wider-
stand, welchen dieselben plötzlichen Entladungsstöfsen entgegensetzen,
den Widerstand der Selbstinduktion. Dieser soheinbare Widerstand
rührt in Wirklichkeit her von einer elektromotorischen Gegenkraft,
welohe in den Windungen der Spule bei solchen plötzlioben Störungen
hervorgerufen wird.
Umgekehrt mufs in dem Ableiter und seiner Verbindung zur
Erde möglichst wenig Selbstinduktion, also möglichst wenig Krümmung
vorhanden sein.
Aufser dem vorhergenannten Fehler bei manchen Blitzableiter-
schaltungen tritt noch ein anderer auf, der fast alle Anlagen trifft,
auch die nachher zu besprechenden Starkstromblitzableiter. Auch für
diese möge auf eine Analogie mit der Wasserströmung hingewiesen
werden. Will man Wassermassen
von gefährdeten Gebieten ableiteD,
so sticht man oft an anderer Stelle
einen Damm durch. Eine kleine
Öffnung genügt aber nioht; die-
selbe mufs entsprechend grofs ge-
wählt werden. Gerade so mufs
die Stelle, von welcher der Durch-
bruch der auf der Linie ankommen-
den Ladung zur Erde erfolgen soll,
eine hinreichende Ausdehnung ha-
ben; es mufs, um den technischen Ausdruck zu gebrauchen, der Blitz-
ableiter hinreichende Kapazität besitzen. Man hat es bei der Blitzent-
ladung nicht mit Ausgleich von Funken von enger Begrenzung zu
tun, sondern mit Funkenstrecken von Durchmessern bis zu Metern.
Da dürfen nicht die Entladungsverhältnisse mit unseren Elektrisier-
maschinen zugrunde gelegt werden.
Starkstromableiter.
Die Starkstromableiter haben neben der Aufgabe, die Entladungen
der atmosphärischen Elektrizität abzufangen, noch die, den darauffol-
genden Kurzschlufs des Starkstroms solbst aufzuheben. Denn wenn
ein starker Funke zwischen der Leitungsplatte und der Erdplatte eines
Blitzableiters überspringt, wie das bei der Tätigkeit des letzteren ge-
schieht, bo bildet die hierdurch erwärmte Luft eine Lücke zwischen
beiden Platten, auf welcher auch die gewöhnlichen elektrischen Span-
nungen der Betriebe einen Ausgleich linden. Der Strom wird somit
hierhin abgelenkt. Es ist für den Nutzstrom Kurzschlufs eingetreten.
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Für den genannten Zweck sind eine grofse Zahl von Vorrich-
tungen ersonnen, die von den verschiedensten Gesichtspunkten aus-
gehen. Über die Zweckmäfsigkeit der letzteren kann zunächst nur
die Erfahrung Aufschlufs geben.
Als einfaches Mittel, deD Kurzschlufs zu vermeiden, wurde die
Vervielfältigung der Funkenzahl im Blitzableiter genommen, so dafs
die Spannung des Nutzstromes diese Funkenstrecken auch naoh Vor-
bereitung derselben durch den Blitzschlag nicht zu überbriioken ver-
mag. Es ist das bei den Plattenblitzableitern durch Aufeinander-
schachtelung mehrerer Platten geschehen, zwischen je zwei liegt also
eine Funkenstrecke. In der Praxis
haben sich diese Ableiter nicht
bewährt. Wenn auch der Kurz-
schlufs vermieden wird, so war der
Ableiter nicht imstande, die auf der
Linie sich bildende Spannung ganz
auszugleichen, so dafs vielfach die
hinter dem Ableiter liegenden Ma-
schinen und Apparate zerstört sind.
Eino besser wirkende Abart dieser
bildet der Rollenblitzableiter (Fig. 9),
der darauf beruht, dafs ein zwischen
gewissen Metallen, z. B. Zink, Alu-
minium, überschlagender Funke
selbst einen so hohen Widerstand auf dieser Strecke schafft, dafs ein
zweiter Funke sehr viel schwerer übergeht. Der Grund für den sich
entwickelnden Widerstand ist nooh nicht klargestellt. Angenommen
wird, dafs sich ein nichtleitender Überzug von Aluminiumoxyd bildet.
Das könnte aber nur an der einen Stelle des Funkenüberganges sein,
die anderen Stellen müßten dann den Durchgang noch gestatten.
Es werden je nach den Betriebsspannungen mehrere solcher Rollen
hintereinander geschaltet. Diese Ableiter scheinen besonders in
Amerika in Gebrauch zu sein. Auch bei uns haben sie sich in
Wechselstromanlagen bewährt, in Gleichstromanlagen weniger.
Sehr ausgedehnte Verbreitung haben zur selbständigen Aufhebung
des Kurzschlusses die elektromagnetischen Funkenlöscher gefunden.
Ein Teil solcher Apparate beruht darauf, dafs der Kurzschlufs durch
eine Drahtspule mit beweglichem Eisenkern geleitet wird und durch
die Wirkung der letzteren die Platten, zwischen denen der Kurzschlufs-
funken sich bildet, so weit voneinander entfernt werden, dafs der
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Kurzschlufs nicht mehr unterhalten werden kann. (Siehe Figur 10
und 11). Dabei ist es vorteilhaft, die Platten in Öl zu legen, wodurch
die Geschwindigkeit des Abreifsens ganz wesentlich vergrüfsert wird.
Fig. 11 zeigt in d den Ölbehälter. Man darf hierbei die Drahtspule
nicht direkt in die Leitung legen, weil sonst der indukte Widerstand,
d. i. der besondere Widerstand durch Selbstinduktion, s. S. 445, der
Entladung zur Erde hinderlich sein würde. Es müssen die Win-
dungen an eine Abzweigung gelegt werden, nach Fig. 10, damit die
Hauptentladung zur Erde daran Vorbeigehen kann.
t
Diese Art der Ableiter hat sich in der Praxis besser als die
PlaUenblitzableiter bewährt, indessen nur für niedrige Spannungen im
elektrischen Betriebe. Sie werden allerdings leicht zerstört So
wurden in Rottenburg im vergangenen Jahre 16 Stück unbrauchbar,
während die darauf eingeführten magnetischen Funkenlöscher der
zweiten Art seither keinen Schaden erlitten haben.
Diese beruhen auf einer direkten Einwirkung des durch den
Kurzschlufs erzeugten magnetischen Feldes auf die Bahn des Kurz-
schlufsfunkens. Die von dem Eisen eines Magnets ausgehenden
magnetischen Kraftlinien bewegen den Funken genau wie jeden an-
deren Leiter. Da aber die Ansatzstellen des Funkens an den Orten,
wo dieser sich bildet, gegeben sind, so mufs die Bewegung mit einer
Verlängerung des Funkens verbunden sein, wobei schliefslich der
Funken abreifsen mufs, weil die Betriebsspannung nicht ausreioht, einen
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Funken von der gesteigerten Länge zu unterhalten. Der Funken wird
von dem Magneten ausgeblasen, weshalb dieser Magnet Blasmsgnet
genannt wird.
Fig. 12 zeigt eine Form solcher Ableiter. Zwischen den Stücken
1, 1, 3, 4 entsteht der Kurzschlursfunken, weloher von dem Elektro-
magneten A, den zugespitzten Kanten der Stücke 1, 2, 3, 4 entlang
nach oben gestofsen wird. Diese Stücke 1, 2, 3, 4 werden gewöhn-
lich hornartig ausgeführt, wie Fig. 13 zeigt. Daher der Name Hörner-
blitzableiter.
Auch ohne magnetische Funken-
löschung wird bei diesen Hörnern
ein Aufwärtsbewegen des Funkens,
eine Verlängerung der Funkenbahn
erzielt, teils durch Aufsteigen der
erwärmten Luft, teils durch elektro-
magnetische Wirkung. Fig. 14 zeigt
das Bild eines hieraut beruhenden
Ableiters von Siemens u. Halske.
Es werden bei demselben zwei
starke Drähte einander entgegen,
dann zunächst einander parallel,
und darauf scharf abbiegend gegen-
einander weitergeführt, der eine
Draht ist mit der Leitung, der an-
dere mit der Erde verbunden. Die
Entfernung der beiden Leiter von-
einander kann geändert werden.
Oewöhnlioh beträgt sie an der engsten Stelle 1 m. Von allen Formen
scheinen sich diese Hörnerblitzableiter am meisten bewährt zu haben,
wenigstens nach Angaben aus Deutschland.
Ein schwerwiegender Übelstand liegt darin, dafs Schnee, Regen,
Staub vielfach direkte Verbindung der beiden Drähte herstellt und
dadurch auoh ohne Blitzschlag Kurzschluss für den Betriebsstrom
bewirkt. Daher denkt man jetzt an das Einbauen des Apparates in
einen Versohlusskasten.
Bei der Einschaltung aller Ableiter für Starkströme wird der
S. 444 hervorgehobene Fehler gemacht, dass dieselben in einem Neben-
schlufs liegen. Damit verbindet sich, dafs die Aufnahmefläche für die
elektrische Entladung, die sogenannte Kapazität, durchweg klein ist.
Es werden diese beiden Umstände wohl der Grund dafür sein, dafs bei
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jeder der genannten Formen von Ableitern doch in einzelnen Fällen
Versagen des SchutzeB zu beklagen war.
Dafs wirklich die Beachtung der beiden Punkte einen sicheren
Schutz bedingen kann, dafür dürfte als Beispiel die elektrische Anlage
des Nordostseekanales herangezogen werden. Hier besteht die Blitz-
sicherung in einem Staoheldraht, welcher längs des Betriebskabels aus-
gespannt und alle 200 m mit der Erde ver-
bunden ist. Mithin erfolgt hier die Ent-
ladung direkt von der Linienleitung und
auch von grofser Oberfläche aus. Beschädi-
gungen der Lampen oder Maschinen durch
Blitzschlag sind bisher nicht vorgekommen,
vielmehr nur kleine Beschädigungen der
Kabel.
Fig. 13. Fig. H.
Solche Erfahrungen bilden den besten Lehrmeister für die Wege,
welche bei der Anordnung des Ableiters zu gehen sind. Dank der
Initiative des Berliner elektrotechnischen Vereins ist es gelungen,
eine Sammelslelle für die Erfahrungen der Praxis zu gründen, die
schon in ihrer kurzen zweijährigen Tätigkeit sehr wichtige Ergebnisse
ziehen konnte. Die Hoffnung erscheint nicht zu kühn, dafs durch
das Zusammenarbeiten der Beteiligten für die Schwach- und Stark-
stromleitungen mit der Zeit ein ebenso sicherer Schutz gefunden wird,
wie solcher in den Qebäudeblilzableitem vorliegt.
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BlmmS and Erd«. 1904. XVI. 10.
29
Klima und Gletscher.
Von Professor Dr. R. von Lendeafeld in Prag.
- I 2)ie Bildung und das Wachstum dar Firne und Gletscher hängen
’ty von ^el Menge des fallenden Schnees und der Gröfse der
Verluste ab, die sie durch Absehmelzung’ und Verdunstung
erleiden. Überwiegt der in fester Form fallende Teil des jährlichen
Niederschlages den jährlichen Verlust, so entsteht ein dauerndes
Schneefeld. Der Sohnee, aus dem es besteht, verwandelt sieh all-
mählich in Firn und der überschufs des Zuwachses wird in Gestalt
von Gletscherzungen in Gebiete überwiegenden Verlustes vorge-
schoben. Kommt der jährliche Verlust dem jährlichen Zuwachse
gleich, so wird der gefallene Schnee immer wieder beseitigt, und es
findet keine Anhäufung desselben, keine Firn- und Glotscherbildung
statt. Das Gebiet überwiegenden Zuwachses nennt mau die Schnee-
gerion und die Grenze desselben die Schneegrenze.
Der Zuwachs, die Menge des jährlich ais Schnee fallenden
Niederschlages, wird umso bedeutender sein, je niedriger die Tempe-
ratur, jo feuchter die Luft und je grofser die vertikale Ablenkung
der Winde ist; der Verlust hingegen wird mit der Wärme und der
Trockenheit zunehmen.
Da die Luft nur in sehr geringem Grade unmittelbar durch die
Sonnenstrahlung, hauptsächlich aber von dem durch die Sonne
erhitzten Boden erwärmt wird, nimmt die Temperatur mit zunehmen-
der Höhe ab. Ferner findet eine Temperaturabnahme vom Äquator
gegen die Pole hin statt, weil die Meere und Länder gegen Norden und
Süden immer schiefer und schwächer von der Sonne bestrahlt werden.
Wäre die Erdoberfläche glatt und überall aus demselben Material auf-
gebaut, so würden diese Umstände zur Folge haben, dafs die Wärme
überall gleichmäfsig von der Tiefe gegen die Höhe und von den
Tropen gegen die Pole abnimmt. Die Erdoberfläche ist jedoch
weder glatt noch überall von gleicher Beschaffenheit. Sie besteht
zum Teil aus Landllächcn, zum Teil aus Wasser, die Landmassen
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sind sehr ungleichmäßig verteilt, und die vertikale Gliederung der
vielgestaltigen Kontinente und Inseln ist überaus mannigfach. Diese
Unregelmäßigkeiten haben Unregelmäßigkeiten in der Temperatur-
abnahme mit der Höhe und gegen die Pole hin im Gefolge.
Der Wechsel von Land und Meer und der unregelmäfsige Ver-
lauf der Küsten beeinträchtigt die Stetigkeit der Abnahme der mitt-
leren Jahrestemperaturen gegen die Pole hin, weil dadurch die
ozeanischen Strömungen gewissermaßen zersplittert, Zweige des
warmen Stromes polwürts und Zweige der kalten Ströme äquator-
wärts abgelenkt werden. Ein solcher abgelenkter Stromzweig ist
der Golfstrom, welcher eine bedeutende Erhöhung der mittleren
Temperatur der von ihm berührten Gebiete verursacht.
Die Stetigkeit der Temperaturabnahme mit der Höhe wird
durch die Unregelmäfsigkeit der vertikalen Gliederung der Erdober-
fläche beeinträchtigt Sie ist in der freien Atmosphäre und an
schmalen, steil aufragenden Gebirgen, wie z. B. den neuseeländischen
Alpen, rascher als an den sanfteren Abhängen weit ausgedehnter
Tafelländer.
Bezüglich der Einwirkung der Temperatur auf die Gleßcher-
entwickelung ist hervorzuheben, daß die Stärke und Dauer der
Kälte, das heißt der unter Null Grad liegenden Temperaturen, die
Gletscherentwickelung kaum merklioh fördern kann, daß diese je-
doch durch die Stärke und Dauer der Wärme, das heißt durch die
über Null Grad liegende Temperatur wesentlich beeinträchtigt wird,
ln einem gleichmäßigen Klima, wo die Temperaturunterschiede der
Jahreszeiten gering, die Winter milde und die Sommer verhältnis-
mäßig kühl sind, wird die Temperatur unter sowohl als über Null Grad
geringer als in einem Klima mit gleicher mittlerer Jahrestemperatur
sein, wo die Wärmeunterschiede der Jahreszeiten größer, die Winter
kalt und die Sommer heiß sind. Da nun, wie erwähnt, die Tempe-
ratur unter Null das Uletscherwachstum nicht fördert, wohl aber die
Temperatur über Null die Eismassen abscbmilzt und die Menge des
in fester Form fallenden Niederschlages herabsetzt, wird — bei
gleich bleibender jährlicher Mitteltemperatur — die Gleßcherent-
wickelung um so mehr begünstigt werden, je gleichmäßiger das
Klima ist.
Die Unregelmäßigkeiten der Erdoberfläche geben nicht nur zu
den oben erwähnten Unregelmäßigkeiten in der Temperaturabnahme
mit der Höhe und der Polnähe, sondern auoh, und zwar in noch
weit höherem Maße, zu Unterschieden in dem Grade der Ungleich-
es*
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mäßigkeit des Klimas Anlafs. Das Wasser wird im Sommer durch
die Besonnung viel weniger stark erwärmt und im Winter durch
Ausstrahlung viel weniger stark abgekühlt als das Festland. Wo
grofse Wasserflächen sich ausbreiten, sind daher die Winter milde
und die Sommer kühl, die jährlichen Wärmeschwankungen geringe,
die Tomperaturverhältnisse ozeanisch. Inmitten der Kontinente hin-
gegen sind die Winter streng, die Sommer beils, die jährlichen
Wärmeschwankungen grofs, die Temperaturverhältnisse kontinental.
Hieraus ergibt sich, dafs die Temperalurverhältnisse kleiner,
fern von den Kontinentalmassen liegender Inseln gleichmäßige,
ozeanische sein werden, dafs an den Küsten großer Länder ebenfalls
eine mehr gloichmäfsige Wärme herrschen wird und dafs die jähr-
lichen Temperaturschwankungen von den Küsten gegen das Innere
der Kontinente hin zunehmen werden. Europa bildet den west-
lichen Randteil des euraaischen Kontinentes, und wir wissen, dafs
an den Westküsten von England und Irland die Winter milde und
die Sommer kühl sind und dafs nach Osten gegen das Innere
hin der Temperaturunterschied zwischen diesen Jahreszeiten immer
größer wird.
Die Feuchtigkeit ist insofern von der Temperatur abhängig, als
die Luft um so mehr Wasserdunst aufzunehmen und zu halten ver-
mag, je wärmer sie ist. Die Luftfeuchtigkeit ist demgemäß in den
Tropen im allgemeinen am größten und nimmt von hier gegen die
Pole hin ab. Die Feuchtigkeit ist aber auch von der Beschaffenheit
der Erdoberfläche abhängig, sie ist über dem Meere größer als über
dem Festlande und wird auch, wie die Mitteltemperatur und die jähr-
liche Wärmeschwankung, durch die Anordnung der Kontinente und
Ozeane beeinflußt. Wo ein warmer Meerstromzweig in höhere Breiten
vordringt, ist sie größer als an anderen, unter derselben geographischen
Breite liegenden Orten; auf kleinen landfernen Inseln ist sie größer
als auf den Kontinenten, und auf letzteren nimmt sie von der Küste
gegen das Innere ab.
Vertikale Ablenkungen der im allgemeinen horizontal wehen-
den Winde werden durch Erwärmung und Abkühlung der Luft so-
wie durch die Unregelmäßigkeiten der Oberflächen bewirkt, über
welche der Wind hinweht. Die Erwärmung der Luft in den Tropen
und über sonnenbestrahlten Landmassen auch außerhalb derselben
veranlaßt ein Leichterwerden und Emporsteigen. Die Abkühlung
der in großer Höhe vom Äquatorialgebiete über dem Passat zu den
Polen zurückströmenden Luft hat zur Folge, dafs diese sich ver-
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dichtet, schwerer wird und in der gemäfsigten Zone zum Erdboden
herabsteigt. Der an einen Berg- oder Plateauabhang herankommende
Wind wird duroh diesen zum Ausweichen nach oben gezwungen und
so nach aufwärts abgelenkt. Anderseits wird oft auch beobachtet,
dafs ein über ein flebirge oder Tafelland hinwehender Höhenwind,
am Rand der Erhebung angelangt, in die Tiefe hinabsteigt.
Diese vertikalen Luftbewegungen haben Temperaturverände-
rungen der Luft zur Folge, sei es, dafs sie zur Mischung ver-
schieden warmer Luftschichten Anlafs geben, sei es, daß die beim
Emporsteigen erfolgende Ausdehnung eine Abkühlung, und die beim
Herabsinken erfolgende Zusammendrückung eine Erwärmung be-
wirkt. Durch die Abkühlung wird die Fähigkeit der Luft, Wasser-
dunst zu halten (ihre Feuchtigkeitskapazität), herabgesetzt, durch
Erwärmung wird dieselbe erhöht. Aufsteigende Luftbewegungen, die
zu einer Abkühlung führen, werden daher Ausscheidung von Wasser-
dunst in flüssiger oder fester Form, der dann als Regen oder Schnee
herabfallt, zur Folge haben. Absteigende Luftbewegungen aber, welche
zu einer Erhöhung der Temperatur führen, werden keine Nieder-
schlagsbildung veranlassen.
Wie die Feuchtigkeit nimmt ganz im allgemeinen auch die
Niederschlagsmenge vom Äquator gegen die Pole und vom Welt-
meer gegen die mittleren Teile der Kontinente hin ab. In der ge-
mäßigten Zone sind die Regen bringenden Winde in der Regel
Teile der von den Tropen zurückkehrenden Luftströmung, die sich
anfangs in grofser Höhe über den Passatwind hinweg bewegt, hier in
der gemäfsigten Zone aber, wie oben erwähnt, zur Tiefe hinabsinkt. Der
Erddrehung wegen erscheinen dieso vom Äquator kommenden Luft-
strömungen in den gemäfsigten Zonen als westliohe Winde.
Kommt ein solcher Wind, nachdem er bis zur Erdoberfläche herab-
gestiegen ist, an eine Landmasse heran, so wird er durch diese zu
einer Bewegung nach oben gezwungen, welche so lange anhält, bis
der Wind den höchsten Teil des Kontinents erreicht hat. Bei
diesem Ansteigen wird die Luft ausgedehnt und abgekühlt, so dafs
sie viel Feuchtigkeit fallen lassen mufs. Die Menge des solcherart
erzeugten Niederschlages wird im allgemeinen dort am größten sein,
wo die (westliche) Abdachung des Kontinents am steilsten ist und
der Aufstieg der Luft am raschesten erfolgt. Während des Ilinauf-
wehens über die Wrestabdachung der Landmasse eines ungewöhnlich
großen Teiles ihrer Feuchtigkeit beraubt, läßt die Luft jenseits der
Höhe, im Osten, nur mehr wenig Schnee und Regen fallen. Deshalb
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sind die westlichen Abhänge der Gebirge und Tafelländer nieder-
schlagsreicher als die Ostabhänge, und deshalb nimmt auf grofsen
Kontinenten die Niederschlagsmenge im allgemeinen von Westen
nach Osten ab.
Von dem jährlichen Niederschlage fällt ein um so gröfserer Teil
als Schnee herab, je länger die Temperatur unter Null ist In den
Polargebieten, namentlich in den südlichen, ist die Temperatur so
niedrig, dafs der gesamte Niederschlag, auch der im Hochsommer
unten am Meeresspiegel fallende, Sohnee ist. In den Tropen
schneit es nur in sehr bedeutenden Höhen, von 3500 — 4600 Meter
aufwärts. In den zwischen diesen Extremen liegenden Zonen fällt je
nach der geographischen Breite, der Meereshöhe, der Jahreszeit und
den besonderen örtlichen Verhältnissen ein gröfserer oder geringerer
Teil des jährlichen Niederschlages als Sohnee herab.
Wir wollen nun untersuchen, wie die Gletscherentwickelung in
den verschiedenen Erdteilen durch diese Verhältnisse beeinflufst wird.
Was zunächst die Temperaturabnahme mit zunehmender Höhe
und Polnähe anlangt, so bemerken wir, dafs dieser entsprechend im
allgemeinen in den Tropen die Schneegrenze am höchsten liegt und
die Gletscher am kleinsten sind, und dafs von hier aus gegen die
Pole hin die erste immer tiefer herabsteigt und die letzten immer
gröfser werden. Zwischen 20° südl. und 20° nördl. Breite liegt die
Schneegrenze in Höhen von 4280 Meter (am Orizaba in Nord-
amerika) bis 6920 Meter (am Sajame in Südamerika). In der nörd-
lichen Halbkugel nimmt von hier aus die Höhenlage der Schnee-
grenze erst — bis zum 40sten Breitengrade — allmählich dann, zwi-
schen 40° und 60° sehr rasch, und hierauf zwischen 60° und 90°
wieder ganz allmählich ab. Unmittelbar bis zum Meeresspiegel steigt
im Norden die Schneegrenze nicht herab; sie liegt selbst unter
82° nördl. Breite, auf Franz Josefs-Land, immer noch 100 — 300 Meter
über dem Meere. Auf der Südbalbkugel wird ebenfalls erst eine
allmähliche, dann eine rasche und hierauf wieder eine allmähliche Ab-
nahme der Höhe der Schneegrenze gegen den Pol hin beobachtet;
doch liegt hier die durch die rasche Abnahme gebildete Stufe dem
Äquator um etwa 10° näher als im Norden, und in der Antarktis
steigt die Schneegrenze bis zum Meeresspiegel herab.
Die Erwärmung durch polwärts gerichtete warme Meeresstrom-
zweige kommt nicht in einem Ansteigen der Sohneegrenze oder
einem Kleinerwerden der Gletscher zum Ausdruck, weil dieser
Faktor durch die von solchen Stromzweigen zugleich mit der
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Temperaturerhöhung hcrvorgorufene Erhöhung der Feuchtigkeit und
Niederschlagsmenge aufgehoben, häufig sogar in die gegenteilige
Wirkung, in ein Herabsteigen der Schneegrenze und eine Vergröfse-
rung der Gletscher verwandelt wird.
Um so deutlicher kommt bei der Gletscherentwickelung die Wir-
kung des Unterschiedes zwischen grofsen und kleinen jährlichen
Wärraeschwankungen, kontinentalen und ozeanischen Temperaturver-
hiiltnissen zum Ausdruck. Auf der Nordhalbkugel, wo die Land-
massen einen grofsen Raum einnehmen, herrschen im allgemeinen
mehr kontinentale, auf der Südhalbkugel, wo die Landflächen ver-
hältnismäfsig klein sind, mehr ozeanische Temperaturverhältnisse.
Während auf der Nordhalbkugel zwisohen dem 40sten und 60sten
Breitengrade die Schneegrenze 1590 (Mount Baker in Nordamerika)
bis 3810 Meter (Kaukasus) über dem Meere liegt, wird sie in den-
selben südlichen Breiten in Höhen von 300 (Kergueleninseln) bis
2380 Meter (Nordinsel von Neuseeland) angetroffen. Auch die oben
erwähnte Tatsache, dafs in hohen südliohen Breiten die Schneegrenze
bis zum Meere herabsteigt, während das im nördliohen Polargebiet,
vermutlich nicht einmal am Pol selbst, der Fall ist, wird zum Teil
auf jenen klimatischen Unterschied der beiden Hemisphären zurück-
zuführen sein. Und ebenso wie in der Antarktis die Schneelinie
tiefer als in der Arktis liegt, ist auch die Gletscherentwickelung im
südlichen Polargebiete eine viel bedeutendere als im nördlichen.
Während man im Norden fast überall ohne besondere Schwierig-
keiten bis zum 70sten Breitengrade Vordringen kann, das Meer im
Sommer stellenweise bis zum BOsten Grade offen ist, und nur vom
Winde hin und her gewehtes Packeis und von Landgletschern
stammende Eisberge auf dem Wasser schwimmen, hemmen im Süden
zumeist schon zwischen 05° und 68° südl. Breite, nur zwischen
dem Viktoria- und Edwardslande erst bei 78°, hohe Eismauern das
Vordringen der Schiffe, und mächtige, fast gar nicht bewegliche
Gletschermassen bedecken in gleicher Weise Meer und Land.
Die Gleichmäfsigkeit der Temperaturverhältnisse und der Reich-
tum an Niederschlägen ozeanischer Gebiete bedingen eine tiefe Lage
der Schneegrenze und eine mächtige Entwickelung der Gletscher auf
aufsertropisohen, landfern im Weltmeer gelegenen, gebirgigen Inseln;
die Ungleichmäfsigkeit der Temperaturverhältnisse und die Armut an
Niederschlägen kontinentaler Gebiete dagegen eine hohe Lage der
Schneegrenze und eine geringe Entwiokelung der Gletscher auf Ge-
birgen, welche aus dem mittleren Teile grofser Landmassen empor-
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ragen. Dies kommt aufs deutlichste zum Ausdruck, wenn wir die neu-
seeländischen Alpen mit dem Tien Shan vergleichen. Beide sind un-
gefähr 43° vom Äquator entfernt In dem ersten, mitten im Welt-
meere aufragenden Gebirge liegt die Schneegrenze durchschnittlich
2000 Meter hoch, und ist die Gletsoherentwickelung, trotzdem die
Berge dort (in der Aorangigruppe) nur wenig über 3000 Meter an-
steigen, sehr bedeutend. Der gröfste Gletscher ist 28 Kilometer lang
und der tiefstgehende reicht bis 213 Meter über das Meer herab.
In dem letzten, dem mittleren Teile des eurasisohen Kontinentes ent-
ragenden Gebirge, liegt die Schneegrenze durchschnittlich 4600 Meter
hoch, und ist die Vergletscherung, trotzdem, dafs die Haupterhebung
des Tien Shan (im Chan Tengri) bis über 7000 Meter ansteigt, ge-
ring. Der gröfste Gletscher ist nur 24 Kilometer lang und der
tiefstgehende reicht nur bis zu einer Höhe von 3300 Meter herab.
Wir haben also hier in Gebieten derselben geographischen Breite
Höhenunterschiede der Schneegrenze von 2500 und der Lage der
Gletscherstirnen von 2100 Meter.
In einer ähnlichen, aber etwas weniger auffallenden Weise
kommt auch die Zunahme der Temperaturschwankungen von der
Küste gegen das Innere der Kontinente und die Abnahme der
Niederschlagsmenge auf den einzelnen Landmassen von Westen nach
Osten in Unterschieden der Höhe der Schneegrenze und der Gröfse
der Gletscher zum Ausdruck. Am W'estende des mediterranen Ge-
birgssystems, in der Nähe des Atlantischen Ozeans, am Nordabhange
der Pyrenäen liegt die Schneegrenze unter 43° nördl. Breite in einer
Höhe von 2800 m; gegen das Innere von Eurasien nach Osten hin
steigt sie — in derselben geographischen Breite — immer höher, im
Kaukasus zu 3810 und im Tien Schan, wie erwähnt, zu 4500 m empor.
Der Einflufs des Umstandes, dafs die Niederschlagsmenge auf jener
Seite eines Gebirges, an welcher die Schnee und Regen bringenden,
vom Äquator kommenden, westlichen, in der Nordhemisphäre südwest-
lichen, in der Südhemisphäre nordwestlichen Winde emporwehen’
grörser als an der entgegengesetzten Seite, an welcher sie herabwehen,
ist, veranlafst es, dafs vielerorts die Schneegrenze am (wärmeren)
Äquatorialwesthang tiefer als am (kälteren) Polarostabhang liegt Am
Sulitelma in Norwegen liegt die Schneegrenze an der Westseite 1000.
an der Ostseite 1300 m; in der Aorangigruppe in Neuseeland am
Nordwestabhange 1850, am Südostabhange 2100 m über dem Meere.
Steile Abhänge veranlassen bedeutendere und plötzlichere Ab-
lenkungen der horizontalen Winde in vertikaler Richtung als gleich
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hohe, sanft geneigte. Dies und die raschere Temperaturabnahme mit
der Höhe in schmalen Hochgebirgen hat zur Folge, dafs im allge-
meinen die Schneegrenze in solchen tiefer als auf gleich hohen Tafel-
ländern liegt Da sich jedoch die Gletscher auf breiten Hochflächen
viel besser als in schmalen, zerrissenen Gebirgen entwickeln können,
führt dieses Verhältnis nicht dazu, dafs diu Gletscher schmaler Ge-
birge gröfser als jene von Landschaften sind, die einen mehr plateau-
artigen Charakter besitzen.
Wenn wir nun diese Verhältnisse überblioken, so kommen wir
zu dem Schlüsse, dafs die Gletscherentwickelung zwar wohl von der
Temperatur abhängt und, der allgemeinen Verteilung der Wärme auf
der Erdoberfläche entsprechend, vom Äquator gegen die Pole hin zu-
nimmt, dafs sie aber auch im ausgedehntesten Mafse von dem Grade
der jährlichen Wärmeschwankung und der Feuchtigkeit beeinflufst
wird, also von Umständen, die zum grofsen Teile durch die Verteilung
des Wassers und des Landes und die Gestaltung des letzteren be-
dingt werden.
& weicht aber die Höhenlage der Schneegrenze nicht nur in-
folge des Einflusses der L'nregelmäfsigkeit der Erdoberfläche vieler-
orts beträchtlich von jener ab, die sie der geographischen Breite
gemäfs haben sollte, sondern sie ist auch an ein und demselben
Orte bedeutenden Schwankungen unterworfen, die dann — verstärkt
— in Schwankungen der Höhenlage der Gletscherenden zum Aus-
druck kommen. Eis ist allgemein bekannt, dafs die Lage der Enden
unserer Alpengletscher nicht unverändert bleibt, sondern fortwähren-
den Schwankungen unterworfen ist. Die Eisströmo pflegen eine Reihe
von Jahren hindurch mehr oder weniger stetig zurückzugehen, um
dann wieder vorzurücken. Diese Gletscherschwankungen der Jetzt-
zeit scheinen periodisch stattzuflnden und dürften — zum Teil wenig-
stens — der Brückn ersohen 35jährigen Periode entsprechen. Ob
in früheren Jahrhunderten der letzten zwei Jahrtausende gröfsere
Veränderungen der Eisströme als die in neuerer Zeit beobachteten
stattgefunden haben, läfst sioh schwer sagen, denn es gibt wohl auf
solche im Altertum und Mittelalter stattgefundene Schwankungen hin-
weisende Überlieferungen und Befunde, aber diese haben der Kritik
kaum standzuhalten vermocht.
Weit gröfseren Schwankungen als jenen der Jetztzeit sind die
Gletscher der Vorzeit unterworfen gewesen. Es ist bekannt, dafs in
vorhistorischer Zeit beträchtliche Teile von Europa und Nordamerika
mit Gletschern bedeckt waren. Dänemark, Norddeutschland, Nord-
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rufsland, Schottland, Nord- und Mittelengland, Kanada und die nörd-
lichen Vereinigten Staaten lagen damals unter mehr oder weniger zu-
sammenhängenden Bisdecken begraben. Gleichzeitig erfüllten mächtige
Gletsoher die Haupttäler unserer Alpen und breiteten sich weit über
die Vorlande aus. Auch die Gletscher andrer Gebirge der Nordhalb-
kugel waren zu jener Zeit groteer als jetzt. Die Untersuchung
der von den vorhistorischen Gletsohern zurückgelassenen Spuren
hat gezeigt, dafs damals die Gletscher nicht etwa Btetig bis zu ihrer
gröfsten Ausdehnung angewachsen und dann wieder zurückgegangen
sind, sondern dafs Perioden mächtiger Gletscherentwickelung mit
solchen abwcohselten, in denen das Klima milder und die Gletsoher
klein waren, kleiner vielleicht als jetzt Penck und Brückner
haben nachgewiesen, dafs im Gebiete der europäischen Alpen vier
durch solche milde, eisarme Perioden getrennte Zeiten starker Glet-
scherentwickelung aufeinander gefolgt sind und dafs die Ausdehnung,
welche die Alpengletscher in diesen vier Biszeiten erlangten, ungleich
grofs war. Zur Zeit der gröfsten Gletschercntwickelung reichte die
nordeuropäische Eisdecke bis zum 50. Grad nördlicher Breite, die nord-
amerikanische vielleicht noch weiter nach Süden, und die gröfsten
Eisströme der Alpen erlangten Dimensionen von 3000 (Inngletscher)
bis 5000 (Rheingletscher) Quadratkilometern.
Aus diesen Ergebnissen habeu manche den Schlufs gezogen, dafs
zu der Zeit maximaler Gletscherentwickelung die ganze nördliche
Halbkugel einer Vergletscherung ausgesetzt gewesen sei, derart, dafs
eine zusammenhängende Eiskappe alle nördlich vom 50.° nördl. Breite
gelegenen Gebiete bedeckt habe und dars die weiter südlich auf-
ragenden Hochgebirge in gleichem und zwar in ähnlichem Mafse wie
die Alpen stärker vergletschert waren als gegenwärtig. Dem ist
jedoch nicht so. Die grofse Eisdecke, welche vom skandinavischen
Hochlande ausstrahlte, erstreokte sich nur bis zum Ural. In diesem
Gebirge selbst, sowie östlich davon in Nordasien sind keine Spuren
einer gröfseren, einseitigen Vergletscherung gefunden worden, und
dieses von Eisspuren freie Gebiet erstreckt sich nach den neuesten
Ergebnissen der Polarforschungen von Sverdrup und Schei bis zum
westlichen Teile der im Norden von Nordamerika gelegenen, arktischen
Inselwelt
Ebenso ungleich ist auch der Grad der Vergletscherung der
eurasischen Hochgebirge gewesen: in keinem anderen nördlichen
Hochgebirge war die Vergletscherung zur Eiszeit so bedeutend wie
in unseren Alpen. In den Pyrenäen und im Kaukasus reichten damals
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die Gletscher nicht bis in die Vorlande hinab, um sich dort wie
im Alpenvorlande fächerförmig auszubreiten. Noch geringer als in
den genannten war die eiszeitliche Vergletscherung in den zentral-
asiatischen Ketten. Auch die nordamerikanischen Gebirge scheinen
damals lange nicht so stark vergletschert gewesen zu sein wie die
europäischen Alpen.
Auch in der südlichen Hemisphäre sind Spuren ausgedehnter,
vorzeitlicher Vergletscherungen angetroffen worden. Im südlichen Teile
der Anden von Südamerika haben mindestens zwei Gletschervorstöfse,
ein gröfserer und ein kleinerer stattgefunden; in Neuseeland reichten
einstens die westlichen Gletscher bis zum Meere herab; und auch die
jetzt ganz eisfreien australischen Alpen waren einst, sicher einmal,
vermutlich sogar zweimal, in ihren höheren Teilen mit Gletschern be-
deckt. Weniger sicher ist der Nachweis von vorzeitlichen Gletscher-
spuren in Südafrika.
In den tropischen Hochgebirgen von Afrika und Amerika hat
man ebenfalls Anzeichen einer früheren, weiteren Ausbreitung der
Gletscher angetroffen, und soeben ist es H. Meyer gelungen, unter
dem Äquator, in Ecuador, am Chimborazo und an anderen Hochgipfeln
nachzuweisen, dafs hier einstmals die Gletscher 1000 m weiter als
gegenwärtig herabgereicht haben.
Die jetzigen Qletscherschwankungen sind, wenigstens soweit sie
konform der Brücknerschen 35jährigen Periode stattfinden, wohl
zweifellos auf die periodischen Änderungen in der Intensität der
Sonnenstrahlung zuriickzuführon. Pencks Vermutung, dafs in den
gemäfsigten Zonen beider Hemisphären überall, wo Spuren einer vor-
zeitlichen Vergletscherung gefunden worden sind, die Schneegrenze
zur Zeit des bedeutendsten Vorstofses um den gleiohen Betrag von
ungefähr 1200 m tiefer lag als gegenwärtig, sowie der erwähnte Nach-
weis, dafs unter dem Äquator die Gletscher einstens ebenfalls um
einen ähnlichen Betrag (von 1000 m) tiefer als jetzt hinabreichten,
sprechen für die Annahme, dafs diese vorzeitlichen grofsen, ebenso
wie jene jetztzeitlichen kleinen Gletscherschwankungen Änderungen
der Intonsitiit der Sonnenstrahlung oder einer anderen aufserirdischen
Ursache ihre Entstehung verdanken. Anderseits zeigt uns aber die
oben dargelegte Gröfse des Einflusses der Verteilung von Wasser und
Land und der Gestaltung des letzteren auf das Klima und duroh dieses
auf die Gletscherentwickelung, dafs auch terrestrische Ursachen hin-
reichen könnten, um die vorzeitlichen Gletschervorstöfse zu erklären.
Die von Penck vermutete Gleichheit der Höhendifferenz zwischen
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der jetzigen und der eiszeitlichen Schneegrenze ist nicht erwiesen
und scheint mir nicht allgemeine Geltung zu haben. Nach dem von
mir in Neuseeland gewonnenen Eindrücke ist diese Höhendifferenz
dort nicht einmal halb so grofs wie etwa in don europäischen Alpen.
Auch die gröfsere vorzeitliche Vergletscherung äquatorialer Hochge-
birge ist kein Beweis für die kosmische Natur der Ursachen der Eis-
zeiten — ich wenigstens zweifle nicht, dals eine Überflutung des
Amazonenstrombeckens und anderer Teile von Südamerika wohl hin-
reichen würde, um die Gletscher des Chimborazo bis zu jenem
Niveau herabsteigen zu machen, in dem Meyer nooh Gletscher-
spuren fand.
Eine gute Vorstellung von dem grofsen Einflüsse der lokalen,
das Klima bestimmenden Umstände auf die Gletscherentwickelung und
eine befriedigende Antwort auf die Frage, ob terrestrische Verände-
rungen hinreichen würden, die grofse eiszeitliche Vergletscherung von
Nord- und Mitteleuropa horbeizuführen, erhalten wir, wenn wir uns
die jetzigen klimatisohen und glazialen Verhältnisse der Südhemi-
sphäre als in Europa herrschend vorstellen. Die neuseeländischen
Alpen liegen in derselben Äquatorferne (43°) und sind ebenso hoch
wie die Pyrenäen. Hier müfsten dann also Gletscher von der Gröfse
der neuseeländischen Vorkommen, die, wie in Neuseeland, bis zu ein
paar hundert Metern über das Meer herabsteigen, so dafs die Ver-
gletscherung der Pyrenäen eine stärkere sein würde, als sie es zur
Eiszeit tatsächlich war. Die Patagonischen Gebirge liegen in derselben
Breite (47°) wie die europäischen Alpen, sind aber nicht so hoch wie
diese, ln Patagonien reichen gegenwärtig die Gletscher bis zum
Meere herab. Bei gleichem Lokalklima müfsten in den Alpen, ihrer
gröfseren Höhe wegen, die Eisströme noch gröfser als in Patagonien
sein. Auch hier bleibt die maximale, eiszeitliche Vergletscherung
hinter jener zurück, welche unter der gemachten Voraussetzung ein-
treten würde. In Kerguelen (49 72°) liegt, wie erwähnt, die Schnee-
grenze 300 m über dem Meere. Es würden also — im Norden gleiche
glaziale Verhältnisse vorausgesetzt — der unter derselben (nördliohen)
Breite liegende Argonnenwald, der Odenwald, die Böhmen einfassen-
den Gebirge und die Nordkarpaten vergletschert sein und zwar auch
mehr als sie es zur Eiszeit waren. In der SUdhalbkugel sind die
nicht hohen, zwischen 00° und 70° geogr. Breite gelegenen Inseln
ganz und gar vergletschert. Unter gleichen Verhältnissen müfste das
viel höhere, in derselben Äquatorferne gelegene skandinavische Hoch-
land noch viel mehr vergletschert und wohl imstande gewesen sein,
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solche oder noch gröfsere Eismassen an das umgebende Tiefland ab-
zugeben, wie sie zur Eiszeit über Norddeutschland ausgebreitet waren.
Würden bei uns dasselbe Klima und dieselbe Vergletscherung
herrschen, welche in gleichen Breiten auf der Südhalbkugel gegen-
wärtig tatsächlich herrschen, so würde also Europa stärker vergletschert
sein, als es zur Eiszeit jemals war. Würde im eurasischen Gebiete
ein relatives Versinken des Landes um einige hundert Meter eintreten,
so würden einesteils Verhältnisse (grüfsere Wasserausbreitung) ge-
schaffen, welche das Klima viel feuchter, gleichmäfsiger, ozeanischer,
dem jetzigen Klima der Südhalbkogel ähnlicher machen müfsten; und
anderenteils würde die Vergletscherung auf jenes Mafs reduziert,
welches sie in der Eiszeit tatsächlich erreichte.
Wir sehen also, dars das uns zu Gebote stehende Beobachtungs-
material und die daraus sich ergebenden Schlüsse keine sichere Antwort
auf die Frage nach der Ursache der Eiszeit geben. Sie zeigen vielmehr,
dars Veränderungen in der Verteilung von Wasser und [.and und in der
Gestaltung des letzteren, wie sie im Laufe geologischer Zeiten statt-
finden, hinreichen, um einmal in diesem, einmal in jenem Gebiete ein
solches Anwachsen der Gletscher hervorzurufen, wie es in der Eiszeit
stattgefunden hat. Sie sprechen aber auch durchaus nicht gegen die
Annahme, dafs die die Eiszeiten charakterisierenden Vergröfserungen
der Gletscher ohne Veränderungen der Erdoberfläche und überall
gleichzeitig stattgefunden hätten; wäre dies aber der Fall, so müfste
natürlich die Ursache der Eiszeit eine außerirdische sein.
Und ebensowenig wie diese, können wir eine andere, praktisch
viel wichtigere Frage, nämlich die Frage beantworten, ob in Zukunft
die Gletscher wieder eiszeitliche Dimensionen annehmen werden. Wahr-
scheinlich ist es wohl, dafs dies geschehen wird und die Stätten der
nördlichen Städte Petersburg, Berlin und London unter den vor-
rückenden Eismassen werden begraben werden, aber bis dahin hat
es jedenfalls nooh gute Weile. Genug für den Tag ist das Übel des-
selben; es mögen sich unsere Nachkommen selber um die etwa noch
zu gewärtigende fünfte europäische Eiszeit bekümmern!
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Zur Gewitterkunde in Nord- und Mitteldeutschland.
Von l’rofossor I >r. Th. Arendt in Berlin.
zahlreichen nml zum Teil recht eingehenden Studien der letzten
ilcy .Jahre über das elektrische Verhalten der Atmosphäre in weiter
räumlicher Ausdehnung haben nicht nur eine Reihe von
Gesetzmäfsigkeiten über den täglichen und jährlichen Verlauf dieser
Vorgänge enthüllt, sondern auch zu äufserst bemerkenswerten Auf-
schlüssen über den wechselnden Charakter der Luftelektrizität bei
verschiedenartigen meteorologischen Verhältnissen geführt. Von be-
sonderer Wichtigkeit waren hierbei die Ergebnisse, welche bei Ge-
legenheit von Ballonfahrten in gröfseron Erhebungen über der Erd-
oberfläche erzielt wurden und die es ermöglichten, einen Einblick in
den elektrischen Zustand der freien Atmosphäre zu gewinnen. Da
die betreffenden Messungen naturgemäfs fast ausschiiefslich bei Witte-
rungslagen stattfanden, welche eine Gefährdung der Balloninsassezi
durch elektrische Ursachen im Luftmeere ausschlossen, so fehlt es
vorläufig noch immer an solchem Bcobachtungsmaterial, welches gerade
für die Gewitierforschung von gröfstem Nutzen gewesen wäre.
Dieser Mangel macht sich um so fühlbarer bemerkbar, als die
Vorgänge beim Gewitter auch in rein meteorologischer Hinsicht noch
viel Rätselhaftes enthalten. Die Schwierigkeiten, den ursächlichen
Zusammenhang zwischen den elektrischen und meteorologischen Er-
scheinungen beim Gewitter zu erklären, sind aber dadurch noeb
besonders gesteigert, dafs es sich nicht nur um Ergründung der Be-
dingungen in den höheren, schwer zugänglichen Luftschichten handelt,
sondern auch Einflüsse in der Nähe der Erdoberfläche vorhanden
sind, die sich zum grofsen Teile noch unserer Kenntnis entziehen.
Darauf deuten sowohl die Ungleichheiten in der Verteilung der Blitz-
schläge hin, wie auch die auffallenden Unterschiede, welohe sich in ört-
licher Beziehung in der jährlichen Häufigkeit der Gewitter kundgeben.
Aus diesen Gründen bat nicht nur die meteorologische Wissen-
schaft das weitgehendste Interesse an einer genaueren Kenntnis dieser"
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Verhältnisse, sondern auch weite Kreise der Bevölkerung verfolgen
alle Fortschritte auf diesem Gebiete, die für das praktische Leben
eine so hohe Bedeutung besitzen, mit gröfster Spannung. Beläuft sich
doch nach einer Schätzung von berufener Seite der jährlich in Deutsch-
land allein durch Blitzschläge angerichtete Schaden auf nahe
8 000 000 Mark, was einem beträchtlichen Verlust an Nationalvermögen
gleichkommt. Diese Zahl bleibt aber noch erheblich hinter derjenigen
zurück, welche die durch einen häufigeren Begleiter des Gewitters,
den Hagel, hervorgerufenen Zerstörungen zum Ausdruck bringt. Nach
den Mitteilungen des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus
bezifferten sich die von den Versicherungsgesellschaften für die
durch Hagelschläge innerhalb Preufsens entstandenen Schädigungen
an Feldfrüchten ausgezahlten Summen — wobei nicht ganz 43% des
Landes bei den Landgemeinden, 80% bei den Gutsbezirken versichert
war — beispielsweise im Jahre 1898 auf nahezu 27 OOOoOO Mark. Diese
Zahlen reden eine sehr deutliche Sprache von den Verlusten, welohe
vornehmlich die deutsche Landwirtschaft zu tragen hat.
über die örtliche und zeitliche Verteilung der Blitzschläge in
Deutschland liegen mehrere eingehende Untersuchungen vor, welche
sich auf das umfassende statistische Material der öffentlichen Feuer-
Versicherungsanstalten stützen. Von diesen Abhandlungen verdienen
diejenigen der Herren von Bezold und Kassner (Merseburg) hier
besonders hervorgehoben zu werden, da dieselben auch der Gewittor-
forschung eine wesentliche Förderung brachten. Unter anderem
enthielten diese Arbeiten auch wertvolle Hinweise über die ungleiche
Verbreitung der Gewitter. Diese Folgerungen gründeten sich vor-
nehmlich auf eine wohl zuerst von Herrn von Bezold gemachte
Wahrnehmung, dafs „die geographische Verteilung der Blitzschläge
sich im allgemeinen so innig an die aus den Beobachtungen der meteo-
rologischen Stationen gewonnenen Ergebnisse über den Ausgangspunkt
und die Vorbereitungs weise der Gewitter anschliefst.“ Eine gewisse
Einschränkung werden die auf Grund dieser Annahme gezogenen
Sohtüsse insofern erfahren müssen, als das statistische Material der
Versicherungsgesellschaften doch nur die durch Blitzschläge beschä-
digten Gebäude umfaßt und somit eine größere Zahl von Gegenständen,
wie Bäume, unberücksichtigt bleibt. Zuverlässigen Meldungen zufolge
ist aber die Zahl der vom Blitz getroffenen Bäume keineswegs gering,
wie vornehmlich die seit vielen Jahren von der Lippeschcn Forstver-
waltung in den dortigen Waldungen geübte strenge Kontrolle dargetan
hat. Es ist sehr zu bedauern, dafs solche Erhebungen bisher nicht in
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gröfserem Umfange durchgeführt worden sind, da dann leicht entschieden
werden könnte, ob tatsächlich in früherer Zeit die Bäume — oder all-
gemeiner Wälder — weit häufiger durch Blitzschläge heimgesucht
wurden und erst im Laufe der letzten Jahrzehnte eine bemerkens-
werte Steigerung der Blitzgefahr für Gebäude eingetreten ist. Es hat
nicht an Versuchen gefehlt, auf diese Weise die aus der Versicherungs-
statistik erkannte Zunahme der Blitzschläge in Gebäude zu erklären.
Danach wäre die absolute Zahl der elektrischen Entladungen zur Erde
in greiseren Gebieten unverändert geblieben und nur die Bedingungen
für das Zustandekommen derselben hätten sich in betreff der Waldungen
ungünstiger, bezüglich der Ortschaften günstiger gestaltet Dero gegen-
über möchte ich darauf verweisen, dafs sich eine auffallende Überein-
stimmung im Verlauf der Häufigkeitszahlen für Blitzschläge in Ge-
bäude und der Gewittertage ergeben hat, indem auch die letzteren an
Zahl zugenommen haben. Zum Nachweise des Zusammenhanges beider
Vorgänge war es notwendig, entsprechend dem bei der Bearbeitung
der Blitzschlagstatistik geübten Verfahren auch eine gröfsere Zahl von
meteorologischen Stationen zu Gruppen zu vereinigen. Über das Er-
gebnis dieser Untersuchung ist an anderer Stelle ausführlicher berichtet
worden.
Dem weitgehenden Bedürfnis nach genauerer Kenntnis der Ge-
witterverhältnisse Nord- und Mitteldeutschlands wurde bereits bei der
Reorganisation des Königlich Preufsischen Meteorologischen Instituts im
Jahre 1886 von Horrn von Bezold daduroh Rechnung getragen, da[s
eine eigene Abteilung für .Gewitter und aufserordentliche Vorkomm-
nisse“ geschaffen wurde, in der unter anderem zurzeit die von
ca. 1400 Beobachtern fortlaufend eingesandten Berichte über alle Einzel-
heiten beim Auftreten von Gewittern am Orte zur Ansammlung ge-
langen. Um das oben genannte Jahr wurdo auch eine erhebliche Vermeh-
rung der Gewitterstationen im Boobachtungsnetze zuerst angebahnt,
und somit wurden die ersten vorbereitenden Schritte für ein ein-
gehendes Studium der Gewitter getan. Leider traten in den zunächst
nachfolgenden Jahren noch Störungen mancher Art ein, wie häufiger
Beobaohterweohsel u. s. w., die nicht selten eine Verlegung der Station
nach einem benachbarten Orte nach sich zogen — Änderungen, die die
Verwendbarkeit des vorhandenen Materials für verschiedene Fragen
einsohränkten.
Beim Entwurf der beiliegenden Karte (Titelblatt), welche ein Bild
von der räumlichen Verteilung der Gewitter auf Grund zehnjähriger
Beobachtungen gibt, konnten nahe an 900 Stationen Verwendung
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finden; die übrigen Berichte mufsten wegen zu liiiufig auftretender
Lücken bei der Bearbeitung ausgeschlossen bleiben. Streng genommen
bringt die Karte nicht die mittlere jährliche Häufigkeit der „Gewitter“
zur Darstellung, sondern diejenige der „Gewittertage“ in meteoro-
logischem Sinne, indem die jährliche Zahl der Tage mit Gewittern
an einem einzelnen Orte oder dessen gröfserer Nähe zugrunde gelegt
wurde. An der Hand einer kleinen Tabelle, welche ich bereits früher
veröffentlicht habe, ist es indessen keineswegs schwierig, sich aus den
Angaben der Karte eine Vorstellung von der Verteilung der „Gewitter“
zu bilden.
Noch ein anderer Punkt bedarf einer kurzen Erläuterung. Die
meteorologischen Beobachter sind angewiesen, zwischen Nah- und
Ferngewitlern zu unterscheiden, wobei die ZeitdifTerenz zwischen
Blitz und Donner maßgebend ist; beträgt dieselbe über 10 Sekunden
oder ist überhaupt nur Donner wahrgenommen worden, so hat man
es nach der meteorologischen „Anleitung“ mit einem Ferngewitter
zu tun, anderenfalls lag ein Nahgewitter vor. Bei der Vergleichung
der Iläufigkeitszahlen von Gewittern und Blitzschlägen an einem Orte
wird man sich meist auf Nahgewitter beschränken, während man mit
Vorteil zur Charakterisierung gröfserer Gebiete, für welche nur die
Beobachtungen von einer Anzahl von Stationen vorliegen, besser die
Summen von Nah- und Ferngewittern verwertet. Diese Unterscheidung
zwischen Nah- und Ferngewittern gewährt auch den Vorzug, örtliche
Einflüsse auf die Fortpflanzung der Gewitter leichter erkennen zu
können. Fafst man zum Beispiel den prozentischen Anteil der Fern-
gewitter an der Jahressumme der Gewitter unter Berücksichtigung der
Zugrichtungen genauer in das Auge, so treten uns in diesen Angaben
gröfsere Verschiedenheiten entgegen, die darauf scbliefsen lassen, dafe
nach der einen oder anderen Richtung hin Bedingungen bestehen,
welche der Weiterentwickelung der Gewitter nicht günstig sind, ln
den meisten Fällen geschieht dieselbe in lang entwickelter Front,
doch können auch gewisse atmosphärische Verhältnisse zu einer ab-
weichenden Ausbreitung der Gewitter führen oder auch die Ent-
stehung mehrerer Gewitterzentra in geringer räumlicher Entfernung
bedingen, die dann meist nur eine mäfsige Entwickelung aufweisen.
Bei besonders häufigem Auftreten dieser Gewittertypen kann die Jahres-
summe der Gewitter von verschiedenen Orten innerhalb eines ver-
hältnismäfsig kleinen Gebietes bemerkenswerte Ungleichheiten zeigen,
worauf ich später nochmals zurückkommen werde.
Ein interessantes Beispiel für den Gowitterreichtum eines ein-
Himm.l und Erde. 1»4. XVI. 10. 30
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zelnen Tages bietet der 22. Juni 1898, an dem innerhalb des preußi-
schen Beobachtungsnetzes weit über 20 Gewitter unterschieden werden
konnten. Blitzschläge und Hagelfiille richteten an diesem Tage ganz
aufsergewöhnliche Zerstörungen an. Durch den Hagel wurde in
Preußen allein nach den Angaben der Versicherungsgesellschaften
ein Schaden von 8308289 Mark angerichtet, der sich vornehmlich auf
die folgenden Kreise verteilte:
Saatzig
Wongrowitz
Neumarkt
Wanzlebon
Stadt Magdeburg . . .
Wolmirstedt
Neuhaldensleben . . .
Oschersleben . . . .
Beckum
Lüdinghausen . . . .
Rees
Mors
Köln-Land
Bergheim
Euskirchen
Düren
Aachen-Land . . . .
1220 qkm
189 781
M.
1035
71
117 438
11
711
H
156 411
11
544
»1
499 804
11
150 000
11
696
11
1 422 947
11
677
11
153 629
11
604
11
1 139 000
11
687
M
448 290
11
697
11
356 000
n
524
11
123 491
ii
565
11
117 420
ii
217 768
ii
363
11
455 000
366
11
159 830
»i
563
11
837 580
136 808
H
An diesem Tage gelangten auch ganz verschiedene Gewittertypen
zur Erscheinung, von denen ich hier einige charakteristische Fälle
zur Anschauung bringen möchte, die auoh zu weitorgehenden Betrach-
tungen Anlaß geben. Der Verlauf dieser Gewitter wurde nach dem
Vorgänge des Herrn von Bezold zur Darstellung gebracht, indem
die Zeitpunkte des ersten Donners nach M. E. Z. an den einzelnen
Beobachtungsstationen in eine Karte eingetragen und die Orte mit
übereinstimmender Zeit durch Linien verbunden wurden, welche man
mit dem Namen „Isobronten“ zu bezeichnen pflegt. Die Entfernung der
aufeinanderfolgenden Isobronten, die man in stündlichen oder halb-
stündlichen Intervallen gewöhnlich auszieht, bietet dann in der Haupt-
zugrichtung betrachtet, gleichzeitig ein Maß für die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit des Gewitters über den verschiedenen Landstrecken.
Da die Beobachtungsorte zum Teil in größerer Entfernung von ein-
ander liegen (ca. 20 — 30 kmt, so setzt dieses Verfahren voraus, daß
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468
das Gowitter in der entsprechenden Zeit über der Gegend zwischen
zwei Beobachtungeorten gleichfalls gestanden hat, eino Voraussetzung
die nicht immer statthaft ist. Bei Verwendung eines dichten Be.
obachtungsnetzes gewinnt es vielmehr den Anschein, als ob man es
in der Tat nicht mit einer langen zusammenhängenden Gewitterwolke
zu tun hat; auf Grund der beim Entwerfen zahlreicher Isobronten-
karten gewonnenen Erfahrungen neige ich vielmehr der Auffassung
zu, dafs das Vordringen des Gewitters sich gewissermafsen ähnlich
gestaltet, wie etwa ein Wasserstrom in einer noch trockenen Ebene
vordringt, hier und da einzelne Strahlen voraussendend, die sich bald
wieder vereinigen, bis dann schliefslich wohl auch die meisten der so
gebildeten Inselchen verschwinden. Die ungleiche Geschwindigkeit
des Gewitters in den beifolgenden Karten (Fig. 1 und 2) über einzelnen
Gebieten ist hier zum gröfsten Teile darauf zurückzuführen, dafs über
dieselben bereits vorher an demselben Tage Gewitter hinweggezogen
waren, die Bedingungen hinterlassen haben, unter denen die Fort-
pflanzung schneller vor sich zu gehen pflegt. Auch möchte ich nicht
verabsäumen darauf hinzuweisen, dafs Flüsse und Gebirge keinen
Einflufs auf die Fortbewegung der Gewitter erkennen liefsen.
Nach diesen Ausführungen wende ich mich der „Gewitterkarte“
selbst zu, in der die Linien gleicher mittlerer jährlicher Häufigkeit der
Gewittertage nach fortschreitenden Unterschieden von 3 Tagen gezeich-
net sind. Bei dom Umfange und der Zuverlässigkeit des verwendeten
Materials, das nur in den Grenzgebieten infolge des Mangels an
Stationen gröfsere Lücken aufweist, war eine solche Abgrenzung ohne
Schwierigkeiten durchführbar. Auf diese Weise gewinnt man nicht
nur einen schärferen Einblick in die häufig recht auffallende Ungleich-
heit in der Gewitterverteilung auf räumlich beschränktem Gebiete,
sondern man kann unter diesen Umständen die mittleren Jahressummen
leichter zu den graphischen Darstellungen, welche die Niederschlags-
verhältnisse und Blitzschlaghäufigkeit veranschaulichen, in Beziehung
setzen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dafs die Gewitter einen
recht beträchtlichen Anteil an der Jahressnmme der Niederschläge
liefern können und die Betrachtung der von Herrn Hellmann auf
Grund zehnjähriger Messungen — welche fast denselben Zeitraum und
dieselben Jahre umfassen, die bei der „Gewilterkarte“ berücksichtigt
wurden — entworfenen „Niederschlagskarten“ (Verlag: D. Reimer-
Berlin) führt zu dem Glauben, dafs einzelne prenfsische Provinzen
besonders regelmäfsig mit ergiebigen Gewitterregen versehen werden.
Man vergleiche zu dem Zwecke die folgenden, von Herrn Hellmann
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bekannt gegebenen Jahressummon mit den entsprechenden Angaben
der „Gewitterkarte“:
Nied«r<chUg*hoh« im Jahr,
Posen .... 513 mm
Westpreufsen . 541 „
Brandenburg . . 566 „
Sachsen . . . 593 „
Pommern . . . 599 „
Ostpreufsen . . 600 „
Vledmchlafabohe im Jahr,
Schlesien .... 680 mm
Hannover .... 690 „
Hessen-Nassau . . 692 „
Schleswig-Holstein . 718 „
Rheinprovinz . . . 754 ;
Westfalen .... 804 „
Verfolgt man die Linien gleicher Gewitterhäußgkeit, von Norden
nach Süden fortschreitend, so fällt vor allem der folgende Umstand
auf. Während sich der Verlauf derselben an den Küsten im grofsen
und ganzen, nur hier und da von Ausläufern nach Süden unterbrochen,
westöstlich gestaltet, verschwindet diese Eigentümlichkeit mehr und
mehr, je weiter man nach Süden vordringt, wo sich die Tendenz zur
Inselbildung in starkem Mafse geltend macht, indem sich hier ver-
einzelt die jährliche Zahl der Gewittertage schneller häuft als in den
nördlicher gelegenen Gegenden. Ferner bestehen starko Gegensätze
bezüglich des jährlichen Gewitterreichtums zwischen dem Osten und
Westen, vornehmlich zwischen Nordwesten und Südosten der Monarchie.
Umfassendere Gebiete mit einer unverhältnismäfsig hohen Zahl von
Gewittertagen findet man in Westfalen, Hessen -Nassau, Hannover,
Schlesien; aber auch die Havelniedcrung weist bemerkenswerte Be-
träge auf. Die kleinsten Werte zeigt der gröfsero Teil Posens, die
Ostseeküste und die Nordgrenze von Schleswig - Holstein. Von den
Gebirgsgegenden zeichnet sich insbesondere der Harz durch eine ge-
ringe Zahl von Gewittertagen aus.
Nach den Angaben der „Gewitterkarte“ schwankt die mittlere
Jahressumme der Gewittertage innerhalb des preußischen Beobach-
tungsnetzes zwischen 12 und 30 Tagen; unter 12 Gewittertage weisen
nur wenige Gebiete auf; die Zahl 30 wurde indessen vielfach noch über-
schritten. Eine weitergehende Unterscheidung in der Karle hätte
jedoch den Einblick in dieselbe beeinträchtigt und so unterblieb die
Abgrenzung der Zone mit 33 Gewittertagon. Schliefslich mag nicht
unerwähnt bleiben, dafs in weiten Landstrecken östlich und südöst-
lich von Wilhelmshaven die Zahl der Gowittertage allenthalben nahezu
20 betrug, woraus hervorgeht, dafs der grofsen Ausbuchtung der Linien
eine tiefergehende Bedeutung abgeht. Derartige Unsicherheiten hätten
sich vermeiden lassen, wenn man die Mittelwerte aus den bekannten
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JahresBummen der Gewitterlago der Stationen innerhalb der einzelnen
Abgrenzungen bestimmt und diese der endgültigen Darstellung zu-
grunde gelegt hätte. Von der Ausführung des Gedankens hielten
mich indessen gewisse Erwägungen ab.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dafs das Bild der „Gewitterkarte“
bei Verwendung langjähriger Beobachtungsreihen und bei Berück-
sichtigung einer beträchtlich greiseren Zahl von Stationen ein etwas
anderes Aussehen gewinnt, indem die absoluten Häufigkeitszahlen
andere Beträge aufweisen und auch die Grenzen der einzelnen Orts-
gruppen eine Veränderung erfahren; der allgemeine Charaktor der
Karte wird derselbe bleiben.
Im Hinblick auf die früher von den Herren von Bezold und
Kassner (Merseburg) aus Blitzschlagstudien gefundenen Ergebnisse
könnte man leicht zu der Auflassung gelangen, dafs die längeron, zu-
sammenhängenden Gebiete mit grofserGewilterhäufigkeit mit Zugstrafsen
der Gewitter gleichbedeutend sind. Dem möchte ich nicht ohne weiteres
zustimmen, wobei für mich die folgenden Überlegungen mafsgebend
sind. Die Herkunft und Zugrichtung der Gewitter ist häufig eine
wechselnde, und somit setzt sich auch die Jahressumme der Gewitter
bezw. der Gewittertage aus Angaben zusammen, welche von Ort zu
Ort recht verschiedenartig sein können. Im allgemeinen freilich kommen
bei uns die meisten Gewitter aus Westen und Südwesten herauf-
gezogen, aber es behauptet sich noch eine andere Gesetzmäfsigkeit,
die ausspricht, dafs daneben einzelne Zugrichtungen mit dem Wechsel
der Jahreszeiten bevorzugt werden. Nach dem mir vorliegenden
umfangreichen Material bestehen bezüglich der Änderung der Zug-
richtungen der Gewitter ähnliche Verhältnisse wie beim Lufttransport
in den unteren Luftschichten über Norddeutschland, indem sich auch
hier im Frühjahr eine östliche Komponente scharf bemerkbar macht,
während mit Fortschreiten der Jahreszeiten bis zum Spätsommer mehr
und mehr die Luftbewegung aus Südwesten und dann aus Westen
vorherrschend wird; späterhin schreitet die Drehung im Sinne der
W’indrose im allgemeinen nicht weiter fort. In bezug auf die Gewitter
macht die deutsche Nordseeküste davon insofern eine Ausnahme,
als sie vornehmlich im Spätherbst eine gröfsere Zahl von Gewittern
aus West und Westnordwest aufweist.
Ferner ist zu beachten, dafs verschiedene atmosphärische Be-
dingungen zur Entstehung von Gowiltern führen können, die aber
dann auch in meteorologischer Hinsicht sowohl bezüglich der Dauer
wie auch der Ausdehnung ein ungleiches Verhalten an den Tag
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legen, das sich oft noch in den dasselbe begleitenden Erscheinungen,
wie in der Intensität der Niederschläge, Hagel, Häufigkeit der Blitz-
schläge u. s. w., aussprioht. Bei dem häufigen Auftreten von Gewittern
mit geringer Entwickelung kann es leicht kommen, dafs die Jahres-
summen benachbarter Orte stärkere Abweichungen aufweisen. Nach
einem Bericht in den Veröffentlichungen der Königlich Bayerischen
Zentralanstalt für Meteorologie sollen einzelne Jahrgänge derartige
Gewittertypen in grofser Häufigkeit zeigen.
Die Bedenken werden noch vermehrt, wenn man sioh die Unter-
schiede in der jährlichen Verteilung der Gewittertage in räumlicher Hin-
sicht vergegenwärtigt. Indem ich bezüglich der näheren Einzelheiten
darüber auf die demnächst erscheinende ausführliche Untersuchung in
den Abhandlungen des Königlich Preufsischen Meteorologischen In-
stituts verweise, wo der Gegenstand unter Wiedergabe zahlreicher
Tabellen behandelt ist, beschränke ich mich hier durauf in einer Karte
diejenigen Gebiete kenntlich zu machen, welche auf Grund dergröfseren
Übereinstimmung in der jährlichen Gewilterperiode zusammengefafst
werden konnten (Fig. 3). Beim Versuch, durch Vergleichung dieser
Karte mit derjenigen, welche die mittlere Häufigkeit wiedergibt, Be-
ziehungen zwischen den entsprechenden Gebieten zu ermitteln, wird
man bald erkennen, dafs ein derartiges Bemühen nur zu einem zweifel-
haften Erfolg führt. Tatsächlich setzen sioh die gleichen oder nahezu
gleichen mittleren Jahrcssummen der Gewittertage in verhältnismäfsig
räumlich geringerer Entfernung aus einzelnen Dekadensummen zu-
sammen, die zu denselben Zeiten häufiger hinsichtlich ihrer Beträge
merklich von einander abweiohen.
Aus diesen Gründen glaube ich nicht, dafs sich aus der „Gewitter-
karte“ ein einwandfreier Nachweis für die Richtigkeit der oben gts-
äufserten Ansicht folgern liifst, die vieles für sich hat. Nachdem
bereits früher meteorologische Betrachtungen die Begünstigung der
Gewitterbildung durch örtliche Verhältnisse und somit das Vorhanden-
sein von „Gewitterherden" und „Gewitterzugstrafsen" wahrscheinlich
gemacht haben, hat diese Annahme in der letzten Zeit' in den Er-
gebnissen luftelektrischer Studien, die sich auf die Abhängigkeit der
Intensität der begleitenden Erscheinungen des Gewitters von der
Örtlichkeit beziehen, eine weitere Stütze gefunden. Es wäre zu wün-
schen, dafs das Gewittermaterial selbst daraufhin einer eingehenden
Prüfung unterzogen würde, wobei man mit Vorteil von Isobronten-
karten Gebrauch machen kann.
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Ein interessanter Säkular - Gedenktag.
(Zum 17. Juni 1904)
Zu den anziehendsten naturwissenschaftlichen Problemen gehört
die Forschung über den Instinkt der Tiere. Betrachtet man die Vögel
bei ihrem Nesterbau, die Biber bei ihrem Dammbau, so ist man leicht
geneigt anzunehmen, dafs diese unter allen Tieren den entwickeltsten
Instinkt haben, und doch sind cs nicht diese, sondern die Insekten.
Seinen höchsten Ausdruck findet dieser bei den Bienen, deren Kon-
struktionen denen der gelehrtesten Geometer in nichts nachstehen, und
vor allem aber in den Ameisen, welche die Lebensgewohnheiten der
Menschen so gut wiedergeben, dafs man anzunehmen geneigt ist, dafs
die Menschen ohne ihre Erziehung keinen höheren Instinkt besäfsen.
Dieser anziehende Gegenstand ist auch gehörig besprochen und in
Büchern verarbeitet, sowio experimentell behandelt worden. Wir
brauchen nur auf Sibylle von Merian, auf Röaumur, auf de Geer,
auf den bekannten Blattlausbeobachter Bonnet hinzuweisen, die alle
m 19. Jahrhundert recht wirksam tätig waren. Später haben sich auf
diesem Felde Blanchard, Professor zu Paris, Ludwig Büchner,
Häckel und Darwin — in seinem „Ursprung der Gattungen" —
speziell für Ameisen Mayr in Wien rühmlich hervorgetan.
Das Uauplverdienst gebührt jedoch dem Schweizer Peter Huber,
dessen 1810 in erster und 1869 in erneuerter Auflage erschienenes
Buch über die Ameisen das Gebäude der eifrigen Studien seiner Vor-
gänger in würdiger Weise krönt. Während sein Vater, Franz Huber,
obwohl blind, die Beobachtung des Bienenlebens zu seinem Studium
macht und, wie die meisten der oben Erwähnten, die ärgsten Plagen
und Mühen nicht scheut, hat sich Peter Dank durch seine wahrhaft
merkwürdigen Entdeckungen und seine bewundernswerte Ausdauer
erworben.
Er bevölkert nicht nur seinen Garten und die Terrasse seines
Hauses mit Ameisen, sondern auch sein Zimmer und seine entsprechend
hergerichteten Tische. Damit aber diese ungewohnten Quartiere seinen
„Afterparteien" nicht allzugrofses Unbehagen verursachen und damit
sie auch in der neuen Situation zu arbeiten sich entschliefsen, stellt
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er künstliches Wetter her, latst er je nach Bedürfnis Trockenheit und
Nässe eintreten. Regnen läfst er, indem er mehrere Stunden hinter-
einander aus nassen Bürsten mit der Hand Wasser ausspritzt. Er
verschwendet an sie mit solcher Unermüdlichkeit schmackhafte Süßig-
keiten und meteorologische Surrogate, dafs sie sich sogar die Fächer
des Schreibtisches als Wohnung gefallen lassen. Endlich scheinen
ihn diese kleinen Wesen sogar zu lieben. Es fällt ihm deshalb auch
schwer, ein entscheidendes Projekt, das er schon längst hegt, zur Aus-
führung zu bringen, nämlich zwei Ameisenhaufen miteinander ins
Handgemenge geraten zu lassen. Er zögert, er kann sich nicht ent-
schließen, mit dem Casus belli, der den Armeen als Signal zum Beginne
des Gemetzels dienen soll, horvorzutreten. Er findet sich selbst mit
Vorwänden ab, um die ..Freveltat" aufzusohieben. „Ich habe seit
langer Zeit über das Experiment nachgedacht“, sagt er, „und es immer
wieder aufgegeben, denn ich habe meine Gefangenen doch gar zu
gerne." Das heißt zartfühlend sein! Die heutigen Entomologen
kennen eine derartige Schonung nicht, sie fahren mit Schaufel und
Spaten drein.
Der 17. Juni 1804 ist ein denkwürdiger Tag für die Biologie.
An ihm machte Huber eine staunenswerte Entdeckung. Bevor wir
näher auf diese eingehen, müssen wir einiges Allgemeine voraus-
schicken. Wer Ameisenhaufen studiert hat, weiß, dafs sich in denen
der fahlroten Art (Formica fusca) Labyrinthe von niedrigen Sälen,
Bogengängen und Wegen vorfinden, die zu geräumigen Zellen führen.
Diese sind mit Puppen, die noch von ihren Kokons umhüllt sind, und
mit unbeweglichen Larven angefüllt. Jene Ameise, die ab- und zugeht
und größer ist als alle anderen, ist ein Weibchen. Die Arbeiter
haben kein Geschlecht. Das Weibchen legt Eier, welche einige das
Weibchen umgebende Arbeiter nehmen, und zu kleinen Häufchen
gruppieren. Die daraus entstehenden Würmer würden ohne die
Arbeiter zugrunde gehen, denn ihr ganzes Wissen besteht darin,
daß sie den Kopf erheben können, wenn sie zu essen haben wollen.
Wenn sie ihren Hunger so kundgegeben haben, eilen die Arbeiter
herbei und reichen ihnen die nahrhaften Säfte, die sie auf dem Felde
gesammelt. Nach der Fütterung werden die Wickelkinder gesonnt
Die Arbeiter tragen sie hinauf und legen sie auf der Oberfläche aus.
Regnet es oder ist die Hitze zu groß, so bringen sie dieselben in Säle
von jeweilig entsprechender Temperatur. Zur Zeit der Metamorphose
hat sich die Larve einen Kokon gesponnen, aus welchem sie jedoch
ebenfalls nicht allein herauszukriechen vermag. Auch dabei müssen
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ihr die Arbeiter behilflich sein, indem sie die Seide durchschneiden,
die Schale zerreifsen und das ganz schwache Tierchen befreien, worauf
die leeren Kokons dann in entfernte Zellen gegeben werden. So ent-
stehen Männchen, Weibchen und Oesohlechtsloso. Die Männcheu und
Weibchen fliegen fort, und nur einige der letzteren kehren später zu-
rück, um Eier zu legen. Die .Neutralen" verlassen den Ameisenhaufen
garnicht; sobald sie ein wenig kräftig geworden, verrichten sie alle
Arbeiten, die ihnen, ohne dafs sie dieselben irgendwie lernen, der In-
stinkt eingibt: Ausbesserung und Instandhaltung des Hauses im Innern,
HerbeischafTung nützlicher Stoffe, Erbeutung von Blattläusen — be-
kanntlich die Milchlieferanten der Ameisen — Verproviantierung u. s. w.
Das sind gewifs schon aufserordentliche Instinkte, aber es gibt einen
Instinkt, mit dem wir uns näher beschäftigen müssen, der speziell bei
gewissen Gattungen ausgebildet und unstreitig der höchste ist, den
man bisher bei den Tieren kennt
An dem obengenannten Tage nun promenierte der in Genf an-
sässige Huber zwisohen 4 und 5 Uhr nachmittags in der Umgebung
dieser Stadt. Da wurde er eines Schwarmes grofser roter Ameisen
gewahr, die des Weges daherkamen. Der Marsch ging in guter Ordnung
vor sich. Die Front hatte eine Breite von 3 — 4 Zoll, während die Länge
des Zuges 8 — 10 Fufs betrug. Huber folgte ihm, überstieg mit ihm
eine Hecke und befand sich nun auf einer Wiese. Das hohe Gras
war dem Vorechreiten der Ameisen offenbar hinderlich, aber davon
lietsen sie sich nicht anfecbten. Sie hatten ein Ziel vor Augen,
welches sie zu erreichen strebten. Es war dies ein Nest einer anderen
Gattung von Ameisen, der schwarzgrauen, deren Behausung sich
etwa zwanzig Schritte von der Hecke im Graso befand. Einigo
der Schwarzen, wahrscheinlich als Schildwachen amtierend, umgaben
den Haufen und zogen, sobald sie in den nahenden Fremden Feinde
erkannt hatten, auf diese los, einige alarmierten die Mitbürger im
Innern. Die Belagerten kamen in grofser Menge heraus. Die An-
greifer fielen über sie her und warfen sie nach einem kurzen, aber
sehr lebhaften Kampfe in ihr Loch zurück. Ein Korps der Roten
stürzt den Besiegten in die Eingänge nach. Andere arbeiten eifrig
mit den Zähnen, um an den Seitenteilen des Ameisenhaufens eine
Öffnung zu schaffen. Es gelingt, und der dritte Teil der Truppen
dringt duroh die entstandene Bresche in die eroberte Stadt. Huber
hatte schon Ameisenschlachten und -Vertilgungen gesehen und setzte
voraus, dafs man sich in den unterirdischen Gewölben erwürgen
werde. Wie grofs war daher sein Erstaunen, als nach 3 — 4 Minuten
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die Roten in voller Eile wieder herauskamen und jede von ihnen eine
Larvd oder Puppe von den Schwarzen trug! Die Angreifer legten
nunmehr dieselbe Strecke auf dieselbe Art zurück; wie siegekommen
waren, überschritten sie die Hecke und richteten sich dann gegen ein
in voller Reife stehendes Kornfeld. Der rechtschaffene Genfer Bürger,
der ihnen abermals gefolgt war, hatte zuviel Achtung vor fremdem
Eigentum, um es auch ferner zu tun.
Diese „Expedition“ erregte bei Huber ein leicht begreifliches
Erstaunen. Er forschte nach und entdeckte zu seiner nicht geringen
Überraschung, dafs manche Ameisenhaufen gemeinsam von zwei Arten,
die zwei Kasten bilden, bewohnt sind. Die einen nennt er Amazonen
oder Soldaten — „Kamen, die ihrem kriegerischen Charakter analog
sind“, wie er sich selbst ausdrüokt — , die anderen „Auxiliaires“, was
wir hier mit Arbeiter oder Gesinde übersetzen würden, dooh pafst die
letztere Bezeichnung, wenn auch dem Sinne nach, nicht auf die Stel-
lung, die diese Kaste einnimmt Denn diese allein entscheidet Uber
die materiellen Interessen der Gemeinschaft, über Vergriifserungen und
Erweiterungen, über die Notwendigkeit von Auswanderungen und die
dazu zu verwendenden Örtlichkeiten. Freilich plagt sie sich dafür
auch gehörig: sie tut alles, was wir oben bei den Arbeitern erwähnt.
Sie sorgt für die Haushaltung, öffnet die Tore des Morgens und
schliefst sie am Abend; sie sucht die Nahrung und nährt sich, die
Soldaten und die Larven. Sie erzieht endlich sowohl die eigenen ge-
flügelten Larven als die ungefliigclten der Amazonen.
Die Soldaten arbeiten gar nicht, sie haben sich nur mit Kriegs-
führung, mit Raub von Puppen und Larven zu befassen. An jedem
schönen Tage ziehen sie bei Sonnenuntergang gegen die in der Um-
gebung befindlichen arbeitsamen und friedlichen „Kollegen“ zu Felde
und brandschatzen, was das Zeug hält Sonst sind sie den ganzen
Tag hindurch Müssiggänger, geradezu Faullenzer. Huber vermutete,
dafs die Herren Krieger von ihren Unterhaltern wohl abhängig sein
dürften und machte ein diese Meinung vollkommen bestätigendes Ex-
periment, welches dartat, dafs die wilden Schlachtenhelden von Haus-
wirtschaft keinen Begriff haben und sich zu keiner häuslichen Arbeit
verstehen können. Huber belegte nämlich den Boden einer ver-
glasten Schublade mit Erde, brachte darauf 30 Amazonen und eine ge-
wisse Anzahl von Larven und Puppen, zur Hälfte aus Soldaten, zur
Hälfte aus Arbeitern bestehend. Zur Nahrung legte er in die Ecke ein
bischen Honig. Anfangs machten die Amazonen Miene, sich um die
Larven zu bekümmern und trugen sie ein wenig umher, gar bald aber
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hörten sie mit dieser Beschäftigung auf. Nicht einmal essen konnten
sie allein, so dafs nach 2 Tagen bereits einige neben dem Honig
Hungers starben. Alle übrigen waren jedoch kraftlos, trotzdem sie
auch sonst gar nichts getan hatten, nicht einmal eine Zelle gebaut.
Nun brachte Huber eine Arbeiterin herbei, und diese einzig und allein
stellte die Ordnung wieder her, machte ein Kämmerohen in die Erde,
gab die .Jungen“ hinein, befreite die Puppen aus den Kokons und
retteto allen noch Lebenden das Leben. Doch kann man nicht sagen,
dafs eine der Kasten in der Gemeinschaft die Regierung oder gar
Despotismus ausübt. L. K.
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Verzeichnis der der Redaktion zur Besprechung eingesandten Bücher.
(Fortsetzung aus No. 8.)
Daune mann, Fr. Gmndrifs einer Geschichte der Naturwissenschaften.
11. Band. II. Aufl. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1904.
Donath, B. Die Einrichtungen zur Erzeugung der Röntgenstrahlen. Zweite
verbesserte und vermehrte Auflage. Mit 140 Abbildungen im Text und
3 Tafeln. Berlin, Reuther & Reicbard, 1903.
Eder, J. M. Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das
Jahr 1903. Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner. XVII. Jahr-
gang. Mit 220 Abbildungen im Text und 27 Kunstbeilagen. Halle a. S.,
Wilh. Knapp, 1903.
Eder, J. M. Die Photographie mit Chlorsiiber- Gelatine. Mit 20 Abbildungen.
Fünfte vermehrte und verbesserte Auflage. Halle a. S., Wilh. Knapp,
1903.
Ergebnisse der Meteorologischen Beobachtungen an den Landesstationen in
Bosnien-Herzegowina im Jahre 1899. Herausgegeben von der ßosnisch-
Herzegowinischen Landesregierung. Wien 1902.
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Verlag: Hermann Paetel in Merlin. — Druck : Wilhelm Gronau’« ßnehdrackerei In Berlin - Bchdneberg.
Für die Redactioo verantwortlich : Dr. P. Scbwaho in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt dieser Zeitschrift unterlagt.
Übereet langer echt Vorbehalten.
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Fig. 18. Inneres einer vollständigen Station für Funkentelegraphie.
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Entwickelungsgang der drahtlosen Telegraphie.
Von Dr. phil (iual»v Eichhorn in Berlin.
Pnlglie alten Vorstellungen über unvermittelte Fernwirkungen elek-
jTcyt trischer Kräfte waren duroh die urwüobsig natürlichen An-
schauungen von Michael Faraday ins Wanken gebraoht, aber
erst das Genie eines Maxwell erlabte die ganze Oröfse und Origi-
nalität dieser Denkungsweise; sie begeisterte ihn zur Ausgestaltung
eines Meisterwerkes, das wie durch Wirkung einer wissenschaftlichen
Intuition entstanden zu sein scheint Max welle elektromagnetische
Licbttheorie ist eins der gewaltigsten Denkmäler menschlichen Ver-
mögens. Wie Licht, so sollten auch elektrische Kraftausbreitungen
nioht zeitlos den Kaum überspringen, sondern dieselbe Fortpflanzungs-
geschwindigkeit von 300000 Kilometern in der Sekunde besitzen; ja
beide Phänomene sollten überhaupt qualitativ nichts Differentes sein und
sich nur durch ihre Wellenlängen voneinander unterscheiden. Zur Wahr-
nehmung ungeheuer ecbneller Lichtschwingungen, denen Wellenlängen
von einigen zehntausendstel Millimeter zugehörig sind, besitzen wir ein
Organ, nämlich das Auge; es fehlt uns ein solches dagegen für die viel
langsameren elektrischen Schwingungen mit Wellenlängen von hunderten
und tausenden von Metern. Beide Erscheinungen spielen sich ab in
dem Medium, auf dessen Annahme wir mit Notwendigkeit hingewiesen
sind; es erfüllt wie ein gewaltiger Ozean den ganzen Weltenraum; es
ist ein gewisses Etwas von unmefsbarer Feinheit und doch mit Eigen-
schaften einer idealen Flüssigkeit, alle Materie durchdringend, ja in
offenbarer Beziehung zu ihr und dennoch von bestimmter, elastisoher
Starrheit; wir nennen dieses Medium den „ Weltäther'. Über seine
Wesenheit ist die wissenschaftliche Diskussion nooh nicht abgeschlossen,
über seine reale Existenz scheint jedooh kein Zweifel mehr zu bestehen,
nimm«] and Erd*. 1904. XVI. 11. 31
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482
und die neuesten Forschungen über Elektronen führen vielleicht schon
in kurzem zu mehr adäquaten Begriffen.
Wenn es möglich war, künstlich solche elektrischen Wellen im
Äther zu erzeugen und ihre Ausbreitung zu verfolgen, so war durch
Maxwells geniale Theorie ein festes Fundament gelegt für eine neue
Vorstellungaweise elektrischer Kraftausbreitung, welche auch dem
natürlichen Geiste verständlich sein mufste.
Das war zunächst nicht der Fall, ja, da die Natur uns ein Organ
für die direkte Wahrnehmung elektrischer Wellen versagt bat, schien
es überhaupt fraglich, ob es je gelingen würde, den fehlenden, aber
erforderlichen experimentellen Nachweis derselben zu erbringen.
Da trat unser Heinrich Rudolf Hertz auf den Plan. Eine
ganz ungewöhnlich experimentelle Geschicklichkeit, ein selten feiner
Sinn für die Wahrnehmung unscheinbarer Regungen von Naturge-
setzen stellen ihn direkt an die Seite von Faraday; mit Maxwell
verbindet ihn dieselbe mathematische Begabung und Befähigung zu
sohärfster logischer Deduktion. Ein qualvolles Geschick schien dieses
Genie, das der Mensohheit so viel versprach, in einer kurzen
Spanne Zeit zu höchster Intensität entfacht zu haben, um es dann jäh
und grausam zu vernichten.
Heinrich Hertz legte durch seine klassischen „Untersuchungen
über die Ausbreitung elektrischer Kraft“ den fehlenden Schlufsstein
in dem Fundament, auf dem nun bald ein mächtiger Bau sich erheben
sollte.
Betrachten wir nun in aller Kürze, wie Hertz vorging, um
sohnelle elektrische Schwingungen im Äther zu erzeugen, welche
Wellen' aussenden mufsten, und wie er solche dann nachwies.
Fig. 1 zeigt sohematisch den Erzeuger der Oszillationen, den „Os-
zillator“.
Zwei Metallplatten sind durch einen Draht miteinander verbunden,
der durch eine kleine Funkenstrecke F, F2 unterbrochen ist. Durch
eine Elektrisiermaschine oder von den Sekundärpolen eines Induk-
toriums aus w'erden die Platten entgegengesetzt bis zu einem ihrer
Kapazität entsprechenden Maximum geladen, dann setzt die Entladung
ein vermittels eines Funkens zwischen Ft und F._,. und es bildet sioh ein
elektrischer Strom. Derselbe schwillt an bis zu einem gröfsten Wert
und ladet nun, weiterfliefsend, weil er nicht plötzlich aufhören kann,
die Platten in entgegengesetztem Sinne. Dann wiederholt sich das
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Spiel in umgekehrter Richtung, und wir hätten in «Ile Ewig-
keit fortdauernd dasselbe wechselnde Bild, wenn nicht Energie-
verluste die Schwingungen immer kleiner und kleiner werden liersen
und sie endlich ganz zum Verklingen brächten. Man denke an ein
Pendel, das man aus seiner Ruhelage gehoben hat und dann losläfst;
es schwingt hin und her, theoretisch für alle Zeiten, in Wirklichkeit
nur eine längere oder kürzere Zeit, bis seine Energie infolge von Ver-
lusten durch Reibung und Luftwiderstand verbraucht ist. Diese Ana-
logie führt uns aber nooh weiter. Die Schwingungsdauer des Pendels
hängt bekanntlich von seinen Dimensionen ab, und bei dem elektrischen
System der sioh entladenden Platten ist es nicht anders. Im letzteren
Palle sind es die Werte der Kapazität und Selbstinduktion, welohe die
Schwingungsdauer bestimmen. Die Kapazität ist die Gröfse der elek-
trischen Aufnahmefähigkeit der Platten bei einer bestimmten Spannung,
Kig. I
genau wie etwa eine Flasche ein gewisses Fassungsvermögen lür Luft
bei einem bestimmten Druck hat Die andere Gröfse, die Selbst-
induktion ist eigentlich der für elektrische Schwingungen spezifische
Faktor; sie hängt ab von der Form des Leiters und hat in Spulenform
ihren gröfsten Wort Sie ist es, welche dem Vorgang das Charak-
teristikum verleiht, so dafs es aussieht als hätten wir es bei der
Elektrizität mit bestimmten Massen zu tun, die Beharrungsvermögen
haben. Das ist nun zwar nicht ganz wörtlioh zutreffend, doch ist in
den Wirkungsäufserungen eine solche Analogie vorhanden, dafs wir
die Selbstinduktion als das elektromagnetische Beharrungsvermögen
bezeichnen können.
Wie die Figur 1 erkennen läfst bildet die Strombahn in diesem
Hertzschen Oszillator keinen metallisch geschlossenen Kreis; die
Elektrizität schwingt vielmehr in einer offenen Strombahn zwischen
den Platten durch den verbindenden Draht und die Funkenstreoke
hin und her. Das ist sehr wesentlich, wie wir noch später klarer
einsehen werden, denn nur eine offene Strombahn vermag die Energie
nach aufsen abzugeben, und nur so hat Hertz die Möglichkeit einer
elektrischen Ausstrahlung realisiert.
.31*
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Betrachten wir nun weiter die Methode, mit welcher Hertz das
Vorhandensein elektrischer Wellen im Räume nachwies, so bekommen
wir erst einen richtigen Begriff von seinem Genie und seiner Geschick-
lichkeit.
Hertz sagte sich, dafs die elektrischen Schwingungen wieder
schwingende elektrische Ströme in entfernten Leitern erzeugen und
sich durch Funkenbildung daselbst verraten müfsten, wenn zwischen
„Oszillator“ und „Resonator“ — so nannte Hertz den Tür seine Zwecke
besonders konstruierten, entfernten Leiter — die Bedingung der Reso-
nanz verwirklicht war. Wie wir noch sehen werden, ist das Produkt
aus Kapazität und Selbstinduktion das Mafs für die Schwingungsdauer
bei elektrischen Oszillationen, welohe also in beiden Fällen numerisch
denselben Wert haben mufs.
Bezüglich des Prinzips der Resonanz erinnere man sich daran,
dafs eine erregte Stimmgabel eine andere zum Mittönen ohne Berührung
bringen kann, wenn beide ganz gleiche Sohwingungsdauer besitzen.
Figur 2 zeigt den Hertzsohen „Resonator“.
Ein Metallring ist durch eine minimale Luftstrecke zwischen den
Kugeln F, und F2 unterbrochen, die durch eine Mikrometerschraube
in ihrem Abstand voneinander verstellbar sind. Mit diesem Reso-
nator tastete Hertz den Raum ab, in welchem er elektrische Wellen
erzeugte, nachdem er vorher durch längeren Aufenthalt in völliger
Dunkelheit sein Auge auoh für die schwächste Lichtwirkung empfäng-
lich gemacht hatte. Aus den auftretenden mikroskopisch kleinen
Fünkchen, aus ihrer wechselnden Gröfse, ihrem Verschwinden und
Wiederauftauchen zog Hertz die Schlüsse über die Art der Ausbrei-
tung der elektrischen Kraft im Raum; er wiederholte quasi rein optisch,
jedooh mit Apparaten, die den spezifischen Eigenschaften und Längen
seiner elektrischen Wellen angepafst waren, sämtliche Versuche über
Reflexion, Brechung, Beugung und Polarisation, ja er mafs sogar durah
Ausbildung stehender Wellen in dem beschränkten Raum seines Labo-
ratoriums den genauen Wert der gewaltigen Fortpflanzungsgeschwin-
digkeit elektrischer Wellen.
Hertz beschäftigte sioh in diesen Versuchen mit Oszillationen,
bei denen die Elektrizität 50 millionenmal in der Sekunde hin und
her schwang und die sich ausbreitenden Wellen eine Länge von 6 m
hatten. Später gingen er selbst und andere Forscher zur Erzeugung
immer schnellerer Schwingungen über, um möglichst kurze Wellen
zu erhalten. Es ist sehr interessant, sich eine Vorstellung zu machen
über die Dimensionen einer Strombahn, die fähig wäre, so schnelle
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Ätherschwingungen zu erzeugen, dafs letztere uns als Lioht, welches
ja nichts anderes sein eoll wie eine elektrische Oszillation, erscheinen
würden. Eine einfaohe Rechnung weist uns sofort auf atomistische
Dimensionen hin, und es dürfte keinem Zweifel unterliegen, dafs, wenn
wir befähigt wären, elektrische Vibrationen in solchen atomistisohen
Stromkreisen direkt hervorzubringen und aufreohtzuerhaiten, wir die
Methode gefunden hätten, in direkter Weise Lioht zu erzeugen. Unsere
heutige Methode, naoh der wir erst die Molekeln
durch Wärme erschüttern müssen, um sukzessive
zu den Lichtstrahlen zu gelangen, ist die denkbar
unökonomisohste; es ist etwa so, als erzeugten
wir das ganze Sturmgebraus von Tönen einer
Orgel, um ein hohes Register darin mit wahrzu-
nehmen.
Sofort naohdem diese Aufsehen erregenden
Hertz sehen Versuche bekannt geworden waren, Fig. 2.
erhielt Hertz von dem ba.yerisohen Ingenieur
Huber eine Anfrage, ob sich auf Grund derselben eine Telegraphie
ohne metallisohen Leiter ausbilden lasse.
Hertz antwortete verneinend, was wohl niemand verwundern
wird angesichts der Hilfsmittel, mit denen Hertz operierte, und mit
Fig. 3.
denen wohl ein Künstler seines Berufes Meisterhaftes leisten konnte,
die aber dennoch für praktische Anwendung von vornherein als gänz-
lich ungeeignet erscheinen mufeten.
Da machte im Jahre 1890 der Franzose Branly eine merk-
würdige Entdeckung, welche mit einem Schlage diese aufserliohe
Schwierigkeit beseitigte und zur Herstellung eines kleinen Instrumentes
führte, welches heute die Seele der praktischen „Telegraphie ohne
Draht“ bildet, nämlich des Cohärers oder Fritters. Derselbe besteht
aus Metallfeilioht oder Metallkörnern, welohe sich in einem kleinen
Raum zwischen zwei sich nahe gegenüberstehenden Metallflächen be-
finden. Das Ganze wird in ein Röhrohen von Hartgummi oder Glas
eingeschlossen, wie es Fig. 3 erkennen läfst
Infolge von Oxydation an seiner Oberfläohe setzt dieses fein
zerteilte Metall, in einen schwachen Stromkreis eingeschaltet, für ge-
wöhnlich dem Durchgang des Stromes einen unüberwindlichen Wider-
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stand entgegen. Sobald nun aber elektrisohe Wellen auftreffen, sinkt
der Widerstand plötzlich auf einen sehr kleinen Wert, und der Strom
kann passieren.
Man stellt sich den Vorgang so vor, dafs durch den Einflufs der
Wellen nioht wahrnehmbare kleine Fünkchen zwisohen den Metall-
teilchen übergehen und letztere dadurch gewissermafsen aneinander
„gefrittet“ werden. Es bildet sich eine rein metallische Brüoke, welche
der Strom leicht passieren kann, die aber durch geringe mechanische
Erschütterung wieder zum Einsturz zu bringen ist.
Jetzt hatte man einen äufserst empfindlichen Indikator für
elektrische Impulse, der auch für praktische
S 7 \ Zweoke verwendbar war; dennooh sehen
\ ' ' wir erst im Jahre 1895 die erste Anwendung’
y [ \ desselben aufserhalb des Laboratoriums.
/ ly Professor Popo ff in Kronstadt Bohaltete
T / nämlioh in den Stromkreis eines Elementes
/ / \ den Cohärer noch mit einem Relais zu-
\ i ) sammen, wie es in der gewöhnlichen Tele-
\ v. graphie benutzt wird. In üblicher Weise
/ / \ konnte nun vermittels des Relais in einem
Z. L/ angeschlossenen stärkeren Batteriestrom ein
! Morseschreiber, gleichzeitig aber auch eine
elektrische Klingel betätigt werden, deren
Klöppel den Cohärer, sobald er leitend geworden war, durch einen
sanften Schlag aufrüttelte und ihn so in seinen gewöhnlichen, nicht
leitenden Zustand zurückversetzte.
Den einen Pol des Cohärers verband Popoff mit einem Blitz-
ableiter, während er den anderen Pol mit der Erde in Verbindung
brachte. Diese Einrichtung diente zunächst zur Registrierung von luft-
elektrisohen Entladungen, die auf diese Weise automatisch zeitlioh ver-
folgt werden konnten. Popoff sprach aber bereits den Gedanken aus,
dafs seine Anordnungen zweifellos einen zuverlässigen „Empfänger“
für eine drahtlose Telegraphie abgeben würden. Es fehle für letztere
jetzt eigentlich nur noch ein kräftiger „Geber“ zum Aussenden ge-
nügend intensiver elektrischer Impulse, um gröfsere Entfernungen
telegraphisch ohne Drahtverbindung zu überbrücken.
Mit einigem Erstaunen wird wohl mancher Leser in den bis-
herigen Erörterungen den Namen von Marooni vermifst haben, der
doch so vielfach als der Erfinder der drahtlosen Telegraphie ge-
priesen wird. Das ist eine Übertreibung, an der Marooni selbst
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wohl die geringste Schuld hat. An den prinzipiellen Errungenschaften
hat Marconi kein eigenes Verdienst, dagegen entfaltete er ein be-
merkenswertes Talent, das im wesentlichen Bekannte auszugestalten
und es für praktische Zwecke erst wirklich brauchbar zu machen. Auch
rnufs man die Energie und rastlose Tätigkeit bewundern, mit denen
er die sich ihm entgegenstellenden Hindernisse zu überwinden wufste.
Marconi hatte die Vorlesungen bei Professor Righi in Bologna ge-
hört, in denen sich jener viel mit der Wiederholung der Hertzschen
Versuche beschäftigte und besonders darauf bedacht war, mit mög-
lichst schnellen Schwingungen,
also sehr kleinen Wellenlängen,
zu arbeiten. Fig. 4 zeigt schema-
tisch die Anordnung von Righi.
Das Induktorium ladet zu-
nächst die kleinen Kugeln; diese
entladen sich dann auf die grofsen
„Oszillatorkugeln“, und sobald
ein Funke zwischen letzteren
überschlägt, entstehen die wirk-
samen Oszillationen, deren Wellen-
längen von den Dimensionen
dieser Kugeln abhängen. Righi
gelangte so zu Wellenlängen von
nur einigen Millimetern.
Marconi, der seine Versuche auf dem Landguts seines Vaters
begann, hielt sich zunächst eng an die Righischen Dispositionen;
weiter fand er aber sehr bald heraus, dafs die Fernwirkung ganz be-
trächtlich gesteigert werden könne, wenn er den einen Pol mit einem
hoch in die Luft geführten Draht verband und den anderen an die
Erde legte. Fig. 5 zeigt diese Dispositionen mit der einfachen Funken-
strecke F, Fj, wie solche Marconi später benutzte.
Nach dem Vorhergesagten dürfte eine weitere Erläuterung nicht
erforderlich sein. Im übrigen haben wir ein Beispiel dafür, dafs ge-
legentlich prinzipiell unrichtige Anschauungen und Motive dennoch auf
den richtigen Weg und zu grofsen Resultaten führen können. Marconi
glaubte nämlioh, mit den kleinen RighiBOhen Wellen zu operieren,
und schrieb dem Luftdraht keine andere Funktion zu, als die Aus-
strahlung auf seiner ganzen Länge zu vermitteln. In Wirklichkeit
war das Ganze nichts anderes als ein vertikaler Hertzscher Oszil-
lator, und die Wellenlänge betrug jedesmal die vierfache Länge der
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von Marooni benutzten Luftdrähte. Wir werden auf diesen wichtigen
Gegenstand später nooh einmal zurüokkommen, weshalb wir uns an
dieser Stelle mit dem blofsen Hinweis begnügen können.
Als „Empfänger“ benutzte Marooni die früher beschriebenen
Anordnungen von Popoff — man sagt unabhängig von letzterem,
aber jedenfalls nach ihm. Fig. 6 zeigt die ganze Schaltung.
In diesen Empfangsdispositionen, deren Arbeitsweise wir klar-
gelegt haben, ist der eine Pol des Cobärers ebenfalls mit einem Luft-
draht in Verbindung gebracht, während der andere Pol mit der Erde
verbunden ist.
Coharer
Fig. G.
Jeder elektrische Impuls erzeugt in diesem System auf dem
Morseschreiber einen Punkt und viele Impulse in rascher Aufeinander-
folge einen Strich, so dafs wir duroh kürzeres oder längeres Aussenden
von elektrischen Wellen nach dem Morsealphabet telegraphieren
können.
In tatkräftiger Weise unterstützt von dem verdienstvollen Chef
des englischen Telegraphenwesens Preece hat Marooni seine Ver-
suche in immer grösferem Mafsstabe ausfuhren können und dann zum
erstenmal tatsächlich über viele Kilometer ohne Drahtverbindung
telegraphiert.
Trotz aller Anstrengungen langte dann aber Marooni sehr bald
an den Grenzen der Wirksamkeit an. Woran lag dies? Diese Frage
vollständig beantwortet und den weiteren, richtigen Weg gewiesen zu
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haben, der zu ganz ungeahnten Fortschritten und Leistungen führte,
ist das alleinige, grofse Verdienst von Professor Braun in Strafsburg.
Seine Priorität und die Richtigkeit seiner zielbewufsten Anschauungen
ist heute allgemein anerkannt, nachdem die Fehde zwischen ihm
und Slaby-Arco, deren selbständige Verdienste nicht verkannt
werden dürfen, kürzlich zu Ende gebracht wurde. Aus der ehe-
maligen Firma Qesellschaft für drahtlose Telegraphie, System Professor
Braun - Siemens & Halske, und der Abteilung der Allgemeinen
Elektrizitätsgesellsohaft für Funkentelegraphie, System Slaby-Arco,
hat sich nunmehr die „Qesellschaft für drahtlose Telegraphie, System
Telefunken“, zu vereinter vermehrter Tätigkeit gebildet.
Auch Marconi hatte sehr bald die gewaltige Überlegenheit des
Braunschen Systems erkannt und benutzt dasselbe ebenfalls heute
ausBchliefslich. Dieses Verfahren könnte ihm mit Fug und Reoht von
der Deutschen Qesellschaft als widerrechtliche Patentverletzung be-
stritten werden, aber zum Kriegführen gehört Geld und nochmals
Geld, und in diesem Punkte ist die deutsche Gesellschaft der grofszügig
organisierten Marooni-Gesellsohaft noch bei weitem nicht ebenbürtig.
Um die Überlegungen von Professor Braun zu verstehen,
müssen wir einen Augenblick zu den Uertzschen Versuchen zurüok-
kehren und uns die wissenschaftlichen Prinzipien derselben vor Augen
führen. Hertz hatte in seinen speziellen Dispositionen nur eine be-
sondere Anwendung gemaoht, nämlich die schon lange vor ihm be-
kannten Tatsaohe benutzt, dafs Ladungs- oder Entladungs-Ersoheinungen
in einer Strombahn, die Kapazität und Selbstinduktion enthält, unter
gewissen Bedingungen einen oszillatorischen Charakter haben müssen.
Helmholtz hatte bereits darauf hingewiesen mit Bezug auf die
Entladungen von Leydener Flaschen.
Sir W. Thomson (Lord Kelvin) in England und Kirchhoff
in Deutschland griffen dann unabhängig voneinander das Problem
rein mathematisch an und gelangten zu berühmten Formulierungen,
welche die Vorgänge vollständig beschreiben. Nicht in allen Fällen
erhalten wir bei elektrischen Entladungen die besprochenen Schwin-
gungen, sondern es mufs in der Beziehung zwischen Kapazität, Selbst-
induktion und Widerstand eine ganz bestimmte Bedingung erfüllt sein,
deren Berücksichtigung natürlich auch für die Praxis der drahtlosen
Telegraphie eine Notwendigkeit ist.
Die Rechnung liefert ferner einen bestimmten Ausdruck für die
Dauer der erzeugten elektrischen Schwingungen, und zwar ist das
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Produkt aus Kapazität und Selbstinduktion ein Mats für die Schwin-
gungsdauer.
Feddersen verifizierte dann durch äufserst geschickte Versuche
die Theorie bis in alle Einzelheiten, und viele Physiker naoh ihm
haben besonders die Formel für die Schwingungsdauer in weiten
Orenzen empirisch geprüft und sie in völliger Übereinstimmung mit
den experimentellen Ergebnissen gefunden. Für den mathematischen
Naturforscher hat dies ein besonderes Interesse, weil es zeigt, wie die
Reohnung zu Resultaten führen kann, die vorauszusehen wir nicht
imstande waren, weil unser Vorstellungsvermögen den unaufhörlich
veränderlichen Vorgängen nicht folgen kann.
Auf diesem Boden bekannter wissenschaftlicher Tatsachen stand
Hertz, als er seinen Oszillator konstruierte, der
elektrische Schwingungen sowohl erzeugte als
aussandte.
Als Professor Braun seine Kraft in den
Dienst der praktischen Telegraphie ohne Draht
stellte, wies er sofort auf zwei Cbelstände dieser
Anordnung, welohe ja Marconi benutzte, hin.
Erstens konnte der Luftdraht infolge seiner ge-
ringen Kapazität nur sehr kleine Energiemengen
aufnehmen, und zweitens wurde dieses Wenige
sofort ausgestrahlt, so dafs gewissermafsen nur kurze stofsartige Im-
pulse erzeugt wurden. Die spezifische Eigenschaft der offenen Strom-
bahn, die empfangene Energie sofort an die Umgebung abzuführen,
macht sie gänzlich ungeeignet zur Erzeugung der elektrischen
Oszillationen.
Sollten starke Fernwirkungen erzielt werden, so waren gröfsere
Energiemengen erforderlich; es mufste eine intensive elektrische Os-
zillation erzeugt und wie ein kräftiger, langgezogener Ton möglichst
lange aufrechterhalten werden.
Nach diesem Qedankengang benutzte Professor Braun zur Er-
zeugung elektrischer Schwingungen einen geschlossenen Schwingungs-
kreis, der auch grofse Energiemengen aufspeichern konnte (siehe
Fig. 7).
Ein System von Leydener Flaschen C, Cj, die bekanntlich
enorme Elektrizitätsmengen aufnehmen können, bildet zusammen mit
einer Selbstinduktionsspule L einen elektrischen Sohwingungskreis,
der bei der Entladung durch die Funkenstrecke F, Fj vollständig
geschlossen ist.
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4U1
Wären keinerlei Energieverluste vorhanden, so wurden einge-
leitete Schwingungen in dieser geschlossenen Strombahn ad infinilum
fortdauern .müssen. Diese Verluste sind aber faktisch nicht ganz ver-
meidbar, und es ist besonders die Funkenstrecke, welche einen grofsen
Anteil daran hat; ihre Beseitigung ist eins der erstrebenswertesten
Probleme in der drahtlosen Telegraphie. Die Schwingungen klingen
doch allmählich ab infolge der „Dämpfung“ durch Energieverluste,
welche aber hier auf das kleinste Mafs reduziert ist.
Da es nun aber für jeden
Punkt, durch weloben die Elektrizi-
tätsmenge in dieser Kreisbahn {liefst,
einen symmetrisch gelegenen Punkt
gibt, duroh welchen die gleiche
Elektrizitätsmenge sich nach ent-
gegengesetzter Richtung bewegt, so
müssen Wirkungen nach aufsen
sioh fast vollständig aufheben.
Nennenswerte Ausstrahlungen
elektrischer Kraft sind daher mit
dem geschlossenen Schwingungs-
kreis unmöglich.
Das leistet aber gerade die
offene Strombahn eines Hertzschen
Oszillators. Hier wird die Energie
sofort abgegeben, und die elektro-
magnetische Strahlung wandert mit
Lichtgeschwindigkeit in den Kaum ^
hinaus.
Eine Verbindung der offenen mit der geschlossenen Strombahn
war daher die logische Konsequenz, zu der Professor Braun auf
Grund seiner klaren Anschauungen geführt wurde.
Diese Koppelung kann nun entweder direkt oder induktiv elek-
tromagnetisch geschehen, wie es Figg. 8 und 9 veranschaulichen.
Kurz zusammenfassend, können wir sagen, dafs der geschlossene
Kreis, in welohem die Schwingungen eingeleitet werden, ein grofses
Energiereservoir repräsentiert, welohes der offenen Strombahn die
stark ausstrahlende Energie unaufhörlich nachliefern mufs.
Ein wesentliches Moment ist aber noch zu berücksichtigen, wenn
wir dieses ganze System zu gröfster Leistung bringen wollen.
Der elektrisch angestofsene Luftdraht schwingt, wie es Professor
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492
Slaby in einem fesselnden Vortrag gezeigt hat, immer so, dafs an
seinem freien Ende ein Spannungsmaximum, also Wellenbauch, auf-
tritt und seine vierfache Länge eine ganze Wellenlänge ergeben
würde. Ferner zeigte aber Experiment und Rechnung, dafs auch in
jedem Falle der geschlossene Schwingungskreis seine spezifische
Schwingung dem Luftdraht aufzwingt. Wollen wir also maximale
Wirkung erzielen, so haben wir dafür Sorge zu tragen, dafs die ent-
zum
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trete
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Fig. St.
stehenden Schwingungen in Übereinstimmung gebracht werden, d. h,
dafs wir auf die Ausbildung von Resonanz hinarbeiten müssen.
Man erinnere sich des bekannten akustischen Phänomens, dafs
eine angeschlagene, frei gehaltene Stimmgabel fast nicht hörbar ist;
es wird aber sofort ein Ton wahrnehmbar, wenn wir sie mit einem
Resonanzboden verbinden. Hat dieser nun dieselbe Eigenschwingung
wie die Stimmgabel, so erzielt man die maximale Tonstärke, ln
unserem Falle entspricht der Stimmgabel der geschlossene Schwin-
gungskreis, dem Luftdraht der Resonanzboden. Es wird in über-
tragenem Sinne ein elektrischer Ton von ganz bestimmter Höhe erzeugt,
der durch die allmählich zu ihrem vollen Wert anwachsende Reso-
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493
nanz in maximaler Stärke nun hinüberklingt zu den gleiohgestimmten
Empfangsdispositionen, um sie kräftig anzuregen.
Die prinzipielle Funktion des Empfängers haben wir bereits
früher klargelegt; selbstredend blieben aber auch hier nach den ge-
wonnenen Einsichten die alten Anordnungen nicht lange bestehen.
Anstatt den Luftdraht direkt an den Cohärer zu legen, verband
man ihn ebenfalls zunächst mit einem geschlossenen Schwingungs-
kreis, der natürlich bezüglich der Kapazität und Selbstinduktion
so dimensioniert sein mufs, dafs er die vom .Geber“ kommende
*1
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Fig. 10.
CoKarer
Welle aufnehmen kann. Ebenso wie im „Geber“, so erfordert auch
im .Empfänger“ die Anlegung des Luftdrahtes an einer Stelle des
Schwingungskreises eine ausbalanzierende Kapazität an einer Symmetrie-
stelle. Dieses elektrische Gegengewicht hat einen bestimmten Wert,
der empirisch festzustellen ist; vor kurzem wurde derselbe auoh
rechnerisch ermittelt vom Professor Drude, der überhaupt viele ein-
schlägigen Verhältnisse der drahtlosen Telegraphie gründlich theoretisch
klargestellt hat Gelegentlich genügt auch eine gute Erdverbindung
für praktische Zwecke. Die Wirkungsweise des empfangenden
Schwingungskreises erhellt sehr deutlich aus einem Vergleich, den
Professor Braun heranzuziehen pflegt; er sagt, dafs derselbe Bich
nämlich verhalte wie eine grofse Glocke, die auoh durch sehr kleine
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494
Anstüfse in Schwingung versetzt und endlich zum Tönen gebracht
werden kann, wenn solche unaufhörlich im richtigen Tempo erfolgen.
Die Übertragung der Impulse auf den Cohärer geschieht durch
einen zweiten geschlossenen Kreis, der induktiv von dem offenen
Sohwingungskreis erregt wird, wie es Fig. 10 erkennen läfst.
Wir können auch etwa sagen, dafs die elektrischen Strahlungen
fig. II.
in einer solchen Anordnung wie durch eine Linse gesammelt und so
in konzentrierter Form auf dem Cohärer zur Wirksamkeit gebracht
werden.
Im Vorhergehendem konnte es uns natürlich nur darum zu tun
sein, die Grundprinzipien der drahtlosen Telegraphie zu beschreiben,
da uns die Erörterung aller wissenschaftlichen und technischen Einzel-
heiten zu weit fuhren würde. Nur in einem Punkte wird der Leser
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495
noch eine Aufklärung beanspruchen, nämlich über die Möglichkeit
der Störungsfreiheit und Abstimmung bei gleichzeitiger Tätigkeit
mehrerer Stationen.
Wir haben bereits gesehen, dars man darauf bedaoht gewesen
ist, durch den „Geber“ nur eine einzige, möglichst kräftige, reine
Sohwingung zu erzeugen, und auf diese allein sollte ein korrespon-
dierender, passend konstruierter, „Empfänger" ansprechen. Um dies
nun aber wirklich zur Ausführung zu bringen, inuls man noch eine
ganz bestimmte Vorbedingung erfüllen; es ist nämlioh die „Dämpfung“
so klein wie möglich zu machen. Interessant ist es, zu konstatieren,
wie bei dem Geber im primären, geschlossenen Sohwingungskreis
anoh nur geringe Vergrößerungen des Ohmschen Widerstandes, der
daselbst die Dämpfung mitbestimmt, in ganz enormer Weise die Inten-
sität der Resonanzschwingung im Luftdraht und so die Fernwirkling
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496
herabsetzen. Es ist dies jedoch kaum zu verwundern, da in normalen
Dispositionen zur Erzeugung einer 300 Meter-Welle die theoretische
Grenze schon bei 60 Ohm liegen kann.
Bei bezüglichen Untersuchungen des .Empfängers“ auf den
grofsen Ostseestationen Safsnitz — Grofs Möllen, Figuren 11 und 12,
welche für Professor Braun (Siemens & Halske) zu leiten, Verfasser
dieses Aufsatzes die Ehre hatte, stellte es sich heraus, dafs eine ein-
fache Anordnung nach Fig. 10 für eine feinere Abstimmung ungeeignet
war, weil sie wie ein einziges System funktionierte, das durch die
I m : ■
I
, :
Fig. 13.
Ausätze (Luftdraht — Platte oder Erde) enorm gedämpft wurde.
Gründliche theoretische Untersuchungen konnten allein weiterhelfen,
und in dieser Hinsioht sind die grundlegenden Arbeiten von Professor
M. Wien, Aachen, an erster Stelle zu erwähnen. Auoh mein späterer
Mitarbeiter und Freund, Dr. Mandelstam in Strafsburg, hatte mathe-
matisch und experimentell bereits Klarheit zu schaffen versucht, und
in gemeinsamer harmonischer Arbeit gingen wir dann auf das ge-
steckte Ziel los.
Wir gelangten zu Abänderungen (die in dieser Abhandlung nicht
diskutiert werden können), welche nicht nur eine völlige Störungs-
freiheit, sondern auch eine absolut sichere Mehrfachtelegraphie herbei-
führten. Es sohien uns unumgänglich, darauf hinzuweisen, da in letzter
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I
497
Zeit wiederholt in Fach- und Tages-Zeilungen behauptet wurde, dafs
bisher keine genügend scharfe Abstimmung zu erzielen gewesen wäre.
Im Frühjahr 1903 konnten wir bereits den erschienenen Ver-
tretern des Torpedo -Versuchs - Kommandos diese sichere Mehrfaoh-
telegraphie vorführen, nachdem wir sohon seit Monaten täglich mit
der Marinefunkenstation auf Arkona (ca. 30 Kilometer von Safsnitz)
und unserer Gegenstation in Gr. Möllen (ca. 170 Kilometer von Safs-
nitz) gleichzeitig ohne irgend welche Storung gearbeitet hatten.
Kiff- 14.
Bei der Vorführuug entfernte sich S. M. S. .Nymphe-, deren
Funkenstation mit einer Welle arbeitete, welche nur um etwa 15 %
gegen die Wellenlänge unserer Stationen abwich, langsam in der
Richtung nach Gr.-Möllen, indem sie ebenso wie wir der Station
Gr.-Möllen permanent Telegramme gab.
Bei 10 Kilometer Entfernung begann schon die Störungsfreiheit;
von 15 Kilometer ab wurden die differenten Telegramme in tadelloser
Reinheit gleichzeitig auf 2 Empfangs-Apparaten registriert, welche in
besonderer Weise mit demselben Luftdralit in Safsnitz in Verbindung
standen.
Himmel und Erde 19M XVI. II. 32
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498
Da alle Kondensatoren veränderlich waren und jede beliebige
Einstellung erzielt werden konnte, so liefs sich auoh ein bestimmtes
Telegramm, bald der Schiffs- bald der Land-Station, auswählen, um
es auf dem einen oder anderen Apparat oder auf beiden zugleich nach
Belieben zu produzieren.
Durch solche und ähnliche Variationen bestand die Abstimmung
oder besser die drahtlose Mehrfachtelegraphie glänzend ihre
Feuerprobe.
Diese Tatsachen zeigen zur Evidenz, dafs der richtige Weg ge-
Fig. 15.
funden ist, auf welchem man weiterschreiten muTs, um Abstimmung
bezw. Störungsfreiheit in noch immer engeren Grenzen zu ermög-
lichen. Wir werden aber durch solche Ergebnisse auch direkt auf die
Grenzen der Anwendung der drahtlosen Telegraphie hingewiesen;
letztere liegen da, wo absolute Geheimhaltung die conditio sine qua
non ist. Hat man einmal Kenntnis bekommen, dafs fremde elektrische
Wellen sich heranwälzen, was mit dem Mikrophon-Telephon-Hörer,
welchem wir später noch einige Worte widmen werden, in jedem
Moment mühelos festzustellen ist, so kann man innerhalb eines ge-
wissen Bereichs fast immer in kurzer Zeit die richtigen Einstellungen
deB Schwingungskreises finden, um die fremden Zeichen auf dem
Morseschreiber erscheinen zu lassen.
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4510
Das Gebiet segensreicher Nutzbarmachung der drahtlosen Tele-
graphie. auch mit dieser Beschränkung, ist dennoch weit ausgedehnt,
aber man darf sich keinesfalls der Torheit schuldig machen, der
Telegraphie mit Draht ein baldiges Ende zu prophezeien.
Um das Geschilderte noch bildlich zu veranschaulichen, lassen
wir nun eine Anzahl von Photographien folgen, die dem Verfasser
dieses Aufsatzes von der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie in
freundlicher Weise zur Verfügung gestellt wurden.
Fig. 16.
Der Kohärer oder Fritter wird in 2 Ausführungen, wie es
Fig. 13 erkennen läfst, angewendet.
Der Stahlkohärer besteht aus 2 Stahlelektroden, die verschieb-
bar (zu diesem Zwecke dienen die Schrauben und Spirale) in einem
Hartgummiröhrchen angebracht sind. Zwischen den hochpolierten
Innenflächen der Elektroden werden in einen kleinen Zwischenraum
eine geringe Anzahl gehärteter Stahlkörner gefüllt; je kleiner ihre
Anzahl, um so empfindlicher arbeitet der Kohärer; durch Vermehrung
oder Verminderung der Körner sowie durch Verschieben der Elek-
troden kann man jede gewünschte Empfindlichkeit einstellon.
Bei der zweiten Ausführung des Fritters befinden sioh zwei
Silberelektroden in einem evakuierten Glasröhrohen; ihre Endflächen
32*
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sind so geschliffen, dafs ein kleiner keilförmiger Zwischenraum ent-
steht; in letzterem befinden sich Silber- und Nickel-Körner.
Durch Drehung des Fritters kann man die bestimmte Anzahl
Körner in einen gröfseren oder kleineren Raum bringen und so die
Empfindlichkeit regulieren.
Fig. 14 zeigt den Empfangsapparat mit Stahlkohärer.
Auf dem zurückklappbaren Deckel des Apparats befindet sich
Relais und Kohärer mit Klopfer; vorn ist der Morseschreiber ange-
bracht. Im Innern des Kastens sind die Elemente für den Relaiskreis
Fig. 17.
sowie eine stärkere Batterie für den Morse und Klopfer montiert,
aufserdem aber auoh noch eine Anzahl von Vorrichtungen, welche
jeden störenden Einflufs der Stromkreise auf den Kohärer vernichten.
Fig. 15 veranschaulicht einen prinzipiell gleich konstruierten
Empfangsapparat, jedoch ist hier der Kohärer durch ein kürzlich von
Ingenieur Schloemilch hergesteiltos Instrument, den „Detektor",
ersetzt. Schloemilch fand nämlich, dafs durch elektrische Wellen
der Widerstand einer gewöhnlichen Polarisationszelle verändert wird,
und durch besondere Dimensionierung der Elektroden dieser kleinen
elektrolytisohen Zelle brachte er sie in ihrer Wirksamkeit zu hoher
Vollkommenheit. Kohärer und Detektor haben dasselbe Arbeitsprinzip:
der letztere kann jedoch aufserdem als Ersatz für den Mikrophontele-
phonempfänger dienen, welcher in Fig. lti abgebildet ist.
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301
Wir erfuhren bereits, dafs eine solche ingeniöse Vorrichtung
jede beabsichtigte Geheimhaltung von drahtlosen Telegrammen zu-
schanden maoht Wie die Photographie erkennen läfst, ist ein Trocken-
element mit einem Mikrophon-Kontakt und Telephon zusammenge-
schaltet. Die auf den Luftdraht auftreffenden elektrischen Impulse
werden an den Mikrophonkontakt, welcher anderseits mit der Erde
in Verbindung steht, herangefiihrt und verändern dessen Widerstand.
Auf diese Weise entstehen Stromschwankungen, auf welche das Tele-
phon reagiert, und in demselben hört man nun deutlich kürzer oder
Kig. 1!).
länger andauernde charakteristische Geräusche, welche den Punkten
und Strichen der telegraphierten Morsezeichen entsprechen. In Safs-
nitz gelang es sogar, diesen „Hörer“ durch besondere Schaltung mit
dem ganzen Schwingungskreis als präzises Abstimmungsinstrument
zu benutzen. Sobald nämlich die richtigen Einstellungen des Sobwin-
gungskreises gefunden waren, wurde die Stärke der Geräusche im
Telephon ein deutliches Maximum, und man brauchte dann blofs auf
den Kohärer umzuschalten, um die Zeichen auch auf dem Morse er-
scheinen zu lassen. Dabei zeigte es sich indes, dafs erst eine kleine
Korrektion erforderlich war, welche durch nichts anderes hervorge-
rufen wurde, als durch die eigene Kapazität des Kohärers, welche auf
diese Weise zum erstenmal bestimmt wurde.
Fig. 17 gibt uns ein Bild des „Wellenmessers“, des wichtigen
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502
Instruments, um die wirksame Welle im Geber zu erkennen. Man
läfst direkt oder induktiv die zu untersuchende Schwingung auf diesen
Wellenmesser, der selbt ein geschlossener Schwingungskreis ist, in
dem sich noch ein Hiefs'sches Thermometer (links in der Photographie)
befindet, einwirken und variiert die Einstellung des grofsen Konden-
sators (in der Mitte der Abbildung) so lange, bis das Thermometer die
Ausbildung maximaler Strömung anzeigt; dann ist Resonanz ein-
getreten durch Erzeugung derselben Schwingung wie diejenige, welche
Fig. 20.
eingewirkt hat. Aus dem Wert der Selbstinduktion (Spule rechts in
der Photographie) und der abzulesenden Einstellung des geaichten
Kondensators ergibt sich dann rechnerisch in einfacher Weise die
Länge der wirksamen Welle. In den neuesten Ausführungen des
Instruments liest man die Wellenlängen sogar direkt auf einer an-
gebrachten Skala ab, und durch beigegebene Spulen von verschiedener
Selbstinduktion lassen sich die Messungen in einem sehr grofsen
Bereioh ausführen.
Fig. 18 (Titelblatt) führt uns das Innere einer vollständigen
Station vor Augen.
Auf dem Tische befinden sich rechts die Empfangsanordnungen,
welche wir bereits beschrieben haben, links der „Geber-Schwingungs-
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503
kreis“; im letzteren sind zwei Qruppen von Leydener Flaschen in
Röhrenform angewendet, um grofse und veränderliche Kapazitäten zur
Verfügung zu haben. Hinter dem Flasohensystem steht der „Trans
formator“, und in diesem befinden sich (unter ausgekoohtem Paraffinöl
wegen der auftretenden enormen Spannungen) die Primärspule, welche
zusammen mit den Leydener Flaschen den geschlossenen Schwin-
gungskreis bildet, ferner eine Sekundärspule zur induktiven Erregung,
welche in Verbindung ist einerseits mit dem Luftdraht, anderseits
mit der unter dem Tisch hängenden Zinktrommel, welche die früher
beschriebene Oegenkapazität repräsentieren soll.
Durch einen Umschalter auf der Schalttafel lassen sich Luftdraht
und Oegenkapazität mit den Empfangs- und Qebe-Dispositionen ab-
wechselnd verbinden. Letztere werden geladen duroh einen Induktor
(unter dem Tisch), dessen primärer Stromkreis in bekannter Weise
durch den daneben stehenden elektrolytischen NVehnelt-Unterbreoher
(oder einen Quecksilberturbinen-Unterbrecher) in rascher Folge ge-
öffnet und geschlossen wird, solange man durch Niederdrücken eines
„Tasters“ die Stromquelle anschliefst Dieser Taster befindet sich in
der Mitte auf dem Tisch zwischen Qober und Empfänger, und durch
kürzeres oder längeres Niederhalten telegraphiert man also nach den
Morsezeiohen.
Es ist bekannt, welohe ausgedehnte praktische Anwendung die
drahtlose Telegraphie bereits gefunden hat. Sie leistet heute schon
unschätzbare Dienste im Lotsenverkehr wie überhaupt im Sicherheits-
und Nachrichten-Dienst für die Schiffe, ferner zu militärischen Zweoken
in Heer und Marine. Besonders erwähnen möchten wir die fahrbaren
Funkentelegraphenstationen der Luftsohifferabteilung in der deutschen
Armee, welohe in den letzten Kaisermanövern durch drahtlose Über-
mittelung der Korpsbefehle, wie überhaupt durch sichere Aufreoht-
haltung einer Verbindung des Generalkommandos mit den verschie-
denen Heeresabteilungen auch auf grofse Entfernungen sich glänzend
bewährten.
Fig. 19 und 20 geben uns ein vollständiges Bild dieser wichtigen
Anwendung der drahtlosen Telegraphie. Von einer Beschreibung im
einzelnen dürfen wir nach vorher Gesagtem absehen und uns auf den
Hinweis beschränken, dafs bei diesen fahrbaren Stationen der Luft-
draht durch Drachen oder Ballons in die Höhe geführt wird.
Es steht fest, dafs Marconi mit seiner Riesenstation in Poldhu
(England) Uber Tausende von Kilometern bis an das Mittelländische
Meer drahtlos telegraphiert hat. Auch für das deutsche System
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existiert eine Entfernungsfrage prinzipiell nicht mehr, da es nach den
neuesten Versuchen von Professor Braun jetzt möglioh ist, jede be-
liebig grofse Energiemenge als elektrische Weilen in den Raum
hinauszuBenden.
Manche Probleme harren noch der Lösung, aber nach ihrem
Werdegang dürfen wir der drahtlosen Telegraphie auch für die Zukunft
das beste PrognoBtikon stellen.
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1
Aus der naturwissenschaftlichen Technik des
Altertums.
Vou t)r AxmiBH in Erfurt.
ei dem noch immer zur Diskussion siehenden „ Babel- Bibel-
Thema“ sind naturgemäfs die Augen aller Gebildeten erneut
den alten Kulturstätten des Orients zugewandt, und je nach
seiner Geistesrichtung sucht ein jeder an der Ausbeute des Gefundenen
teilzunehmen und ihm geläufige Ideenverbindungen daran zu knüpfen.
Wenn nun auoh in Ninive undBabylon, soweit wenigstens bis jetzt für
weitere Kreise bekannt geworden ist, das Meiste für die Theologen
und Philologen ausgegraben zu sein scheint, so bedarf es vielleicht
nur des Hinweises auf erfolgreiche, ältere naturwissenschaftliche
Spekulationen bei früheren Ausgrabungen und Bibelstudien, um die
Hoffnung zu hegen, dafs man auch dort in Assyrien etwas für die
praktische Verwendung der Naturkräfte finden möge. Denn es ist
nicht anzunehmen, dafs der Bewohner des fernen Ostens bei der ihm
eigenen Erfindungsgabe und hoben Kultur achtloser an den gewaltigen
Offenbarungen mancher Naturkraft vorübergegangen sein sollte, wie
seine westlichen Nachbaren und biblischen Geschichtsgenoasen, die
Ägypter und Juden. Es möge darum gestattet sein, über die be-
kannteren, dahin zielenden Bestrebungen eine kurze Betrachtung an-
zustellen.
Von den Ägyptern wenigstens scheint es festzustehen, dafs die
Priesterkaste magische Geheimnisse auf Grund praktischer Traditionen
bewahrte, welche sich auf unleugbare Kenntnisse naturwissenschaft-
licher und speziell elektrischer Vorgänge stützen müssen.
Auch in weiteren Kreisen sind die Inschriften des altägyptischen
Tempels von Edfu und Dendrah bekannt, welche besagen, dafs die
das Gebäude überragenden Masten zur Abwehr des himmlischen Un-
wetters bestimmt seien. Diese Mastbäume aus Holz, 30 — 10 m hocb,
waren oben spitz und mit Kupfer besohlagen. In Med inet Abu
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waren die Spitzen der von Ramses HI. um 1300 v. Chr. daselbst
errichteten Bäume sogar vergoldet. Also, wenigstens, was die Auffange-
stangen anbelangt, eine sohr vollkommene Blitzableiteranlage. Dieselben
befanden sich anscheinend aber nur vor der Fassade der Tempelhalle,
und darum ist es zweifelhaft, ob sie imstande waren, die ganze aus-
gedehnte Tempelanlage zu schützen, wozu nach modernen Ansichten
eine sehr grofse, zweckmäfsig verteilte Anzahl von Auffangestangen
nötig gewesen wäre. Somit liegt der Gedanke nahe, dafs die wenigen,
aber sehr hohen Spitzen mehr physikalischen Experimenten zur Be-
wirkung staunenerregonder Vorgänge bei den Zeremonien des Kultus
dienten. Dazu kommt, dafs Ägypten in der gewitterarmen Zone liegt,
eine dringende Blitzgefahr mithin kaum bpstand. Dafs diese Flaggen-
masten sicher imstande waren, analog dem Drachen Franklins, die
Luftelektrizität aufzusaugen und herabzuleiten, wohin die Priester sie
haben wollten, ist, zumal bei dem trockenen Klima in der Nähe des
Wüstensandes, keine Frage. Man konnte so mittels himmlischer
Funken Opferfeuer entzünden zum Schrecken der Gläubigen, von
denen gelegentlich auch manchmal einer, wenn er der Priesterschaft
nicht pafste, sehr bequem auf dem modernsten Wege der Hinrichtung
in das Totenreioh befördert wurde. Wahrscheinlich aber wurden die
Gesetze der Blitzleitung mehr instinktiv erfafst und ausgenützt, indem
diese Ausnutzung sehr gut zu dem ägyptischen Kult der personifizierten
Naturkräfte parste.
Ähnliche Erwägungen mögen wohl Michaelis in Göttingen
bei seinen historisch-kritischen Betrachtungen geleitet haben, als er
bei einer freien, poetischen Übersetzung des 29. Psalmes einen Hin-
weis zu entdecken glaubte, dafs auch den Juden schon die Wirkung
des Blitzableiters bekannt gewesen, und sie bewufst dieselbe zum Schutz
ihres Tempels verwendet hätten. Diese Erörterungen Bind allerdings
schon etwas lange her, sie stammen aus Mitte und Ende des lä. Jahr-
hunderts, doch gerade darum verdienen sie wohl bei dem augenblioklioh
herrschenden Interesse für den Orient eine neue Würdigung; sei es
auch nur, um dem Freund der Naturwissenschaften eine gewisse An-
regung zu gewährenl — Michaelis glaubte in dem betreffenden
Psalm neben der gefeierten Herrlichkeit des Tempels ganz besonders
die Sicherheit des Heiligtums gegen Unwetter gerühmt, und es ist
in der Tat auffallend, dafs in einem gewitterreichen Lande ein derart
exponiertes Bauwerk, wie der hochragende salomonische Tempel,
anscheinend von stärkeren Blitzschlägen verschont blieb. Ein der-
artiges Ereignis wäre sicher von den alten Schriftstellern doch über-
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liefert worden. Wir müssen un9 darum nach Vorrichtungen umsehen,
welche geeignet waren, den Blitz zu bannen.
Nach verschiedenen Überlieferungen befanden sioh auf dem
Tempeldache zahlreiche Metallspitzen, welche die Vögel abhalten sollten,
das Heiligtum zu verunzieren. Ähnlich wohl, wie man es auch jetzt
noch bisweilen auf Turmknäufen findet. Über die Länge dieser Spitzen
ist freilich zunächst nichts gesagt. Es würde auch der Theorie
des Blitzableiters nicht widersprechen, falls die Spitzen kurz gewesen
wären, wenn sie nur an hervorragenden Ecken und Enden des Baues
nicht fehlten. Der bekannte Historiker Josephus, dem wir ein gut
Teil der Tempelbeschreibung verdanken, erzählt aber eingehend, wie
bei der Eroberung Jerusalems durch Titus der Tempel gleich einer
Festung bis zuletzt heftig verteidigt wurde, ln ihrer höchsten Not
brachen die Leviten, mangels anderer Wurfgeschosse, die metallenen
Spitzen von dem Dache, um sie gegen die Feinde zu sohleudern.
Darum kann man wohl annebmen, es habe sich dabei auoh um längere,
wurfspeerähnliche Stangen nach Art von Blitzableitern gehandelt.
Verfolgt man aber den Weg der Blitzableitung weiter, so findot man,
dafs zunächst das goldene Dach und dessen anschliefsende mächtige,
kupferne Röhrenleitungen, welche das Regenwasser in grofse, unter-
irdische Zisternen führten, vorzüglich zu Leitungszwecken geeignet
waren. Jede stärkere elektrische Entladung mufste unter diesen Um-
ständen ohne Schwierigkeiten unschädlich ausgeglichen werden. So
bildete das ganze Qebiiude mit seinen vielfachen Metallbedeckungen
einen sog. Fa raday sehen Käfig, gleich diesem unverletzlich.
Doch könnte man eiuwenden, diese Einrichtungen seien zufällige
gowesen, ein unbewufstes Nützlichkeilsprinzip. Der Tempel blieb vom
Blitz verschont, uud man hielt das der Heiligkeit einer geweihten
Stätte als ein Wunder zu gute. Heutzutage freilich trägt sogar die
Peterskirche in Rom bewufst Blitzableiter. Wenn man indessen be-
denkt, dafs das Nationalheiligtum der Juden aus der ursprünglichen,
mosaischen Stiftshütte hervorgegangen ist, so kann man in deren
Grundzügen sehr wohl Anhaltspunkte für unsere Ansohauung ge-
winnen.
Nach der Schilderung des alten Testamentes bestand die ursprüng-
liche Stiftshütte aus einem Gerüst hoher Stangen, einer Art Zelt, mit
seidenen Teppichen behängt, welche die Wände bildeten. Es wurden
so verschiedene Räume umgrenzt Zunächst das Allerheiligste, darum
der Vorhof. Ausdrücklich aus trookenem, seltenen Föhrenholz ge-
arbeitet trugen diese Stangen Metallspitzen und waren mittels goldener
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508
Ketten untereinander verbunden. Letztere, welche selbstverständlich
gute Leitungen an ausreichend isolierten Fläohen, Föhrenholz und
Seide, abgeben, konzentrierten sioh nach der Mitte zu und endigten
auf der Bundeslade. Wenn also, wie Uber dem Drachen Franklins,
eine Gewitterwolke über den Spitzen der Stiftshütte lagerte, so mufste
ihre elektrische Kraft von diesen angesogen und in das Innere des
Heiligtums geleitet werden. Im kleinen kann man bekanntlich dieses
Prinzip deB Blitzableiters sehr sohön erkennen, wenn man eine Nadel
dem Konduktor der Elektrisiermaschine nähert.
In gleicher Weise auffallend, wie bei den Stangen der Umgebung,
ist nun, dafs auch die Bundeslade aus Föhrenholz gezimmert war.
Dieses, in dem biblischen Lande gar nicht heimische, und nioht einmal
so edel wie das Zedernholz Kleinasiens, gab aber eine gute, isolierende
Fläche für elektrische Spannungen ab. Aus diesem, ausdrücklich als
trocken vorgeschriebenem Holze wurde ein viereckiger Kasten, eine
Lade hergeriohtet, innen und aufsen mit Goldblech beschlagen. Man
erkennt somit immer deutlicher die Art der Leydener Flasche. Auch
diese besteht ja lediglich aus zwei elektrisch leitenden Fläohen, getrennt
durch das isolierende Glas. In einem derartigen Apparat kann man
eine grofse Elektrizitätsmenge ansammeln, um sie dann mit einem-
male unter grofser Kraftentfaltung zu entladen. Das geschieht filr
gewöhnliob, wie jedermann aus dem physikalischen Unterricht weifs,
durch leitende Verbindung der beiden voneinander durch Isolation
getrennten Metallflächen. Macht man dieses Experiment durch Be-
rührung mit den Händen, so erhält man, je nach der Gröfse der
Leydener Flasohe, einen mehr oder weniger heftigen elektrischen
Schlag unter Funkenbildung. Ein Vergleich mit dem aus der Bundes-
lade hervorbrechenden, himmlischen Feuer liegt ohne weiteres auf
der Hand, ebenso aber auch, dafs die Ladung dieses ganz gewaltigen
elektrischen Kondensators dann besonders stark und gefährlich war,
wenn sich eine Gewitterwolke über das Heiligtum der Israeliten
lagerte. In der biblischen Geschichte wird das letztere Faktum öfters
bei grofsen Ereignissen erwähnt, und Moses und auch Aaron ver-
mieden es dann regelmäßig, das Allerheiligste zu betreten, weil sie
die Gefahr kannten, nämlich vom Blitz erschlagen zu werden. Dieses
Sohicksal wurde indessen denen zu teil, die teils unberufen sich der
Bundeslade näherten, teils von den Priestern beauftragt wurden, ein
Sühneopfer auf dem Deckel niederzulegen. So erzählen die Bücher
Moses eine ganze Anzahl derartiger Vorfälle, wohin nicht zuletzt die
Bestrafung der Rotte Korah gehören dürfte. Auoh Delitzsch findet
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es sonderbar, dafs man später von der ruhmreichen Bundeslade, nach-
dem sie vordem ihre eigentümliche Kraft so bewährt, gar nichts mehr
hört. — Nach Erbeutung derselben durch die Philister wurde sie
wieder zurückgegeben und nach dem kleinen judäischen Grenzort B§th-
Schemesch gebracht, wo die unvorsichtigen Bewohner beim Anschauen
und Berühren in gröfserer Zahl ihr Leben einbüfsen. Dann wird von
der Lade nichts weiter erwähnt. Delitzsch scheint diese Angaben
überhaupt für sagenhaft zu halten und erklärt das Verschwinden der-
artiger Berichte mit dem Eintreten der historischen Zeit Mögen auch
diese, soweit sie das gestürzte Götzenbild im Dagonstempel zu Asdod
und die Vorfälle zu Beth-Schemesch betreffen, sagenhaft übertrieben
und unwahr sein, so sind es doch Abklänge einer früheren wirkungs-
reichen Epoche und dessen, was man glaubte, der heiligen Lade Zu-
trauen zu müssen.
Durch die Entfernungder Bundeslade aus ihrer gewohnten Umgebung
hatte diese natürlich ihre Kraft verloren, denn sie konnte den räuberi-
schen Feinden auch dann nicht schaden, selbst wenn sie das Geheim-
nis der elektrischen Ladung gekannt hätten. — Von dieser Erwägung
ausgehend, wäre allerdings der Einwand möglich, wie kam es, dafs
die Lade im Kriege, auf dem Zuge des Volkes Israel durch die Wüste,
ihre geheimnisvolle Wirkung äufserte. wenn sie ihren Platz hinter
den seidenen Wänden des Stiftshütte aufgeben mufste. Alsdann wurde
sie an lange Stangen, ebenfalls aus Föhrenholz und durch vorhandene
goldene Hinge gesteckt, von Leviten getragen. Ehe man sie aber
mit ins Feld nahm, mufste sie von den Priestern, da sie niemand
berühren durfte, eingewickelt werden. Während des Marsches brannte
auf dem goldenen Deckel ein dauerndes Feuer, und dessen Rauch
war es, welcher die Elektrizität aus der Luft herabzog. Rauch, im
Grunde genommen lediglich fein verteilte Kohle und stark erhitzte
Verbrennungsgase, bildet einen vorzüglichen elektrischen Leiter. Man
kann sich sehr schön von dieser Tatsache experimentell überzeugen,
sofern mag ein Stückchen Feuerschwamm auf die Spitze des Elektro-
meters steckt und entzündet Sobald sich die Rauchsäule ruhig in
die Lüfte erhebt, gerät der Mefsapparat in Tätigkeit. Der Blitz sucht
sich ja auch mit Vorliebe verrufste Sohornsteine, zu denen er durch
die aufsteigende, warme Verbrennungsluft hingelockt wird, zum Ein-
schlagen aus.
So verlor die Bundeslade selbst auf dem Marsohe ihre Staunen
und Schrecken erregenden Eigenschaften nicht, welche sie allerdings
in Feindeshänden nicht wiedererlangte, ebenso in späteren Zeiten im
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Salomonischen Tempel nicht, falls sie überhaupt noch vorhanden war.
Von Wundern im späteren Nationalheiligtum hören wir nichts mehr,
und man scheint daher von dem Wunderbaren mehr zum Praktischen,
dem Schutz des kostbaren Tempelbaues gegen Unwetter, übergegangen
zu sein. — Indem wir im vorstehenden den Anregungen Miohaelis,
Rendavids und Lichten berge, des geistreich-satirisohen Physikers,
alle drei ihrerzeit Zierden der Göttinger Universität, gefolgt sind,
müssen wir es uns natürlich versagen, jeden einzelnen besonders zu
Worte kommen zu lassen. Auch soll darum nicht gesagt sein, dafs
M oses und die Propheten des alten Testamentes bewufst sich der-
artiger Experimente zur Täuschung des israelitischen Volkes bedient
hätten. Selbst dann, wenn sich alle diese Dingo aus den rituellen
Einrichtungen des religiösen Kultus ergeben, auf selbstverständlichem,
unbeabsichtigten Wege, so konnten sie immer des Wunderbaren genug
für den Patriarchen Moses selbst bergen. Von den Lehrmeistern
des auserwählten Volkes, den Ägyptern, wird man wohl weniger
geneigt sein dürfen, dieses anzunehmen, vielmehr, dafs eben die
Priesterkaste geheimes Wissen zur Herrschaft ausbeutete.
Von einer derartigen, in gewissem Sinne technischen Anwendung
der Naturkräfte findet sich bei den späteren Völkern wenig in
das Auge Fallende, wenn wir nicht zur Unterstützung der Glaub-
würdigkeit obiger Kenntnisse das Ende des dritten römischen Königs,
Tullus Hostilius, heranziehen wollen.
Bekanntlich war sein Vorgänger Numa Pompilius ein sehr
frommer Herrscher, unter dem es die Götter gut hatten, denen beson-
ders im einzelnen neue Kulte eingerichtet wurden. So hatte Numa
auch dem Jupiter elicius einen Tempel gebaut, wo er als pontifex
maximus den vom Himmel „herbeigelockten“ Jupi t er verehrte. Wenn
man nun annimmt, dafs der Gott, analog wie boi anderen sagenhaften
Erscheinungen und Offenbarungen, auch dort nirht gut anders, wie
im Feuer erscheinen konnte, so ergibt Bich ein Fingerzeig, ob man
nicht in ähnlicher Weise, wie die Ägypter, den Gott aus den Gewitter-
wolken herablockte. Die Sage erzählt geradezu, Numa habe unter
Beihilfe der Egeria erfahren, wie man das himmlisohe Feuer aus den
Wolken zur Erde ziehe! Während seinem Vorgänger Numa das
Experiment dauernd glückte, vernachlässigte der kriegerische Tullus
zunächst die Pflege der Religion, und die geheime Wissenschaft geriet
in Vergessenheit. Als sich nun der König nach kriegerischer Ver-
gangenheit zur Ruhe setzen wollte, da mochte er den alten Kult wieder
aufleben lassen. Doch Mangel an Übung oder Unkenntnis liefsen
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ihn wohl die nötige Vorsicht vergessen, und Jupiter elicius erschlug
ihn mit dem Blitz. Für die Wahrscheinlichkeit dieser Episode scheint
die Überlieferung zu sprechen, dafs Tullns das dem Jupiter geweihte
Opfer in der früher üblichen Weise durch „vom Himmel herabkommen-
des Feuer“ entzünden wollte, wobei er „etwas am Ritus“, natürlich dem
Gott zum Zorne versah. Ferner soll N'uma bedeutende Kenntnisse
der Naturkräfte gehabt und sie in mystischen Schriften niedergelegt
haben, welche dann später aufgefunden, als verderblich, weil die
Religion gefährdend, verbrannt wurden. Dieser Fund, welcher
400 Jahre nach NumasTode in oder bei seinem Grabmal nach einer
Überschwemmung gemacht sein soll, beweist freilich nicht dessen
Autorschaft. Man will sogar wissen, dafs es pythagoräische Schriften
gewesen, doch traute man sie wenigstens dem Könige zu. So gingen
wohl die letzten Spuren geheimer Naturwissenschaft im alten Rom
verloren. Von Versuchen auf elektrischem Gebiete wenigstens hören
wir in der ganzen späteren römischen Geschichte nichts Hervorragendes
mehr. Somit blieb es bei dieser vereinzelten Kenntnis. —
Später hat sich das materielle Römertum nicht weiter zu natur-
wissenschaftlichen Forschungen und Entdeckungen verleiten lassen.
Schwerlich wird man die Vorführungen der Magier und Gaukler,
besonders der Kaiserzeit, als etwas anderes, wie das gleiche, wa9 un-
sere modernen Tausendkünstler treiben, ansehen können, nämlich als
höchst oberflächliche, routinierte Experimente und keine tiefere Natur-
erkenntnis. Wenn auch die Zauberei und Geisterbeschwörung bei
allen Völkern des Altertums in Blüte stand, so verdammten doch die
ersten Philosophen die Magier. Democritos liefs sich duroh sie
nicht einsohüchtern, Plato wollte sie eingesperrt wissen. Epicur
hielt das Zauberwesen für töricht, weil alles in der Natur gesetzmässig
und natürlich zugehen müsse. Hippokrates, Theophrast,
Aristoteles suchen mit wissenschaftlichen Untersuschungen einer spär-
lichen Phantasie entgegenzutreten, und bekannt ist Ciceros elegante
Abhandlung „de Di vinatione“, über die Unvernunft des Aberglaubens.
Tacittis aber charakterisiert die Magier als „eine Gattung Menschen,
treulos den Mächtigen, täuschend den Hoffenden“. — Dooh kommen auch
entgegengesetzte Ansichten vor. So scheint der so zielbewusste und.
wie man annehraen sollte, nüchterne M. P. Cato der Zauberei und
dem Aberglauben sehr zugetan gewesen zu Bein: wenigstens empfiehlt
er die tollsten Zaubersprüche und Formeln zur Heilung von äufseren
Verletzungen, wie Verrenkungen und Brüchen.1) — Darum kann es nicht
') Vgl. Schleyden, Studien.
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Wunder nehmen, dafs gerade die Machthaber manchmal wirklichen
Erfindungen mifstrauisoh gegenüberstanden, wie die Erzählung von
dom berühmten, unzerbrechlichen Becher deB Tib erius beweist. Diesem
bot ein Künstler — Faber nennt ihn kurzweg Petronius, welcher
die Geschichte zuerst im Gastmahl des Tri ma Ich io erzählt, — einen
gläsernen Becher von solcher Haltbarkeit dar, „dafs er nicht mehr
zerbrechlich war, wie goldene oder silberne Gefäfse.“ Scheinbar un-
absichtlich liefs er ihn fallen, worüber der Kaiser sehr erschrak, weil
ihm dafs Gefäfs gar wohl gefiel und er dasselbe nun mehr zerbrochen
wähnte. Doch der Erfinder zog einen kleinen Hammer hervor, wo-
rauf er mit wenigen Schlägen die ursprüngliche Form des Glases zu-
recht trieb. Das Wohlgefallen des kaiserlichen Tyrannen aber ge-
reichte ihm zum Verhängnis. Nach der hinterlistigen Frage an den
Künstler, ob er allein im Besitz dieses Geheimnisses sei, und dessen
bejahender Antwort liefs er ihm den Kopf absohlagen mit der ebenso
einfachen wie verblüffenden Motivierung: „wenn solohe Kunst weiter
bekannt werde, würden Gold und Silber hinfort nicht mehr wert sein
als Tonerde!“ Und der ältere Plinius setzt nooh hinzu, dafs man
auch das Laboratorium des betreffenden Teohnikers zerstört habe, da-
mit Gold und Silber ihren Wert nicht verlören. — Der Ausdruck
quasi lutum, „als Ton (Lehm)“, hat denn auoh die moderne Vermutung
wachgerufen, man könnte es hier vielleicht mit Aluminiuum zu tun
haben.3)
Nooh heute zerbricht sich die Wissenschaft den Kopf darüber,
was das für ein eigentümlicher Stoff gewesen sein kann. Schade, dafs
er uns verloren ging! Hier hätte die moderne Zeit in der Technik
wirklich einmal etwas aus dem Altertum lernen können.
Wie aber die alten Naturphilosophen wenig Beobachtungssinn
und Neigung befafsen, Überliefertes naohzuprüfen, so nahmen sie auch
die eigentümlichen, anziehenden Eigenschaften des Bernsteins, Elek-
tron, ohne weiteres hin. Es kümmerte sie nicht, etwa Vergleiche
mit ähnlichen Substanzen, Harzen u. s. w. anzustellen. So erzählt
Theophrast von Eresus von einem Körper, den er den „Ly nku rer“
(Xu-jxoüpt'iv) nennt. Derselbe hat ähnliche Kraftäufserungen wie der
Bernstein. Wahrscheinlich hat er den Turmalin gemeint, wenigstens
ist die Rede von einem sehr harten Stein, der zu Petschaften gebraucht
w’urde, also doch von einem Mineral. Er hatte damit die jetzt unter dem
Namen Pyroelektrizität bekannte Art entdeckt; freilich handelt es sich
bei deren Hervorrufen weniger um Reiben, wie beim Bernstein, als um
’) Nach einer Mitteilung von E. Krause im Prometheus.
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fine Erwärmung, somit einen Temperaturkontrast desSteinesinit seiner
Umgebung, welcher die Elektrizität frei werden läfsl. — Da, wo man
aber wirklich einmal eine Analogie fand, war sie falsch. Wie z. B.
Thaies von Milet erzählt: „es sei, als ob eine Seele den Bernstein,
wie den Magnetstein durchdringe, welcher Eisen anziehe, wie
jener leichte Körperchen.“ Obwohl hier eine schöne Gelegenheit
wäre, den üblichen Seherblick eines Weltweisen, der den Zusammen-
hang zwischen Elektrizität und Magnetismus geahnt habe, zu rühmen,
so wird jedermann das rein Äufserliche dieses Vergleiches erkennen,
der nicht im mindesten geeignet war, Aufklärung über die beiden
Körpern entströmende Kraftentfaltung zu schaffen. Nicht einmal die
Polarität des Magnetismus hatte man erfafst, geschweige denn seine
Kiohtkraft nach Norden, eine Tatsache, welche geeignet gewesen wäre
das gesamte Altertum umzugestalten!
Hier zeigt sich dann wieder einmal die Ironie des Schicksals,
wenn man auf Grund der Berichte Alexander v. Humboldts an-
nehmen will, dafs der Kompafs von einem hauptsächlich auf dem
Lande heimischen Volke erfunden sei. Wie Humboldt angibt,
hatten die Chinesen bereits zur Zeit des Kodros und der Herakliden
eigentümliche Wagen, mit denen sie die unermefslichen Steppen
ihres Landes durchfuhren. Auf diesen Wagen war eine kleine
menschliche Figur angebracht, deren ausgestreckter Arm unausgesetzt
nach Süden zeigte. Man darf wohl glauben, dafs es sich hierbei um
die Rieh tu ngsli nie einer Magnetnadel handelte; wie wäre es
auch sonst möglich gewesen, in den unendlichen Wüsten der Tartarei
den sicheren Weg zu finden. Später übertrug man die Vorteile des
magnetischen Wegweisers auch auf die Schiffahrt. Diese Reisewagen
hiefsen naoh Angabe des chinesischen Historikers Schunatsian
f 180 v. Chr.) Tschhi-nau-kin und wurden vom Kaiser Tsching-Wang
(1100 v. Chr.) Gesandten aus Tonkin und Cochinchina mitgegeben,
auf dafs sie ihre südliche Heimat wieder linden könnten. Somit
brauchten diese nur die Wagendeichsel parallel dem magnetischen
Arm zu stellen, um unausgesetzt nach Süden zu reisen, wo sie tat-
sächlich wohlbehalten anlangten.
Was aber die physiologischen Wirkungen der Elektrizität be-
trifft, so ersohöpfte sich die Kenntnis derselben mit der Wissenschaft,
.dafs der Zitteraal heftige Erschütterungen von sich gäbe, wenn man
ihn unvorsichtig anfasse“. Selbst Plinius erzählt das ohne weiteres
den älteren Autoren, wie Aristoteles, nach, ohne nur den Versuch
einer Nachprüfung zu machen, da er doch sicher an der Küste des
Himmel and Erde. J904, XVI. 11. 33
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Mittelländischen Meeres wenigstens den dort häufigen Zitterrochen,
Raja Torpedo genannt, hätte erhalten können. Dieser Fisch wird
wohl jetzt noch, wie auch im Altertum, in Neapel feilgehalten. — So
kann es denn nicht wundernehmen, dafs selbst die berühmte römische
Kriegskunst, so praktisch sie auch sonst weniger komplizierte,
mechanische Errungenschaften, wie zur Konstruktion von Belagerungs-
maschinen, zu Hilfe nahm, beim Zusammenstufs mit einem natur-
wissenschaftlich feiner gebildetem Volke teilweise Schaden nehmen
raufste.
Wenn auoh die Orieohen selbst nioht allzuviel von naturwissen-
schaftlicher Technik besafsen, so galt das doch nicht so sehr von ihren
westlichen Kolonien in späterer Zeit, da sich diese infolge von Handel
und Schiffahrt besonders mit den Völkern der Küste Afrikas in
regem Verkehr befanden. So brauchen wir auch kein Bedenken zu
tragen, den Erzählungen über den berühmten Syrakuser Archimedes
selbst da eine gewisse Glaubwürdigkeit zu schenken, wo sie nicht
von allerersten Historikern miterwähnt werden. Sehen wir daher von
den sonstigen erwiesenen Leistungen wohl des gröfsten Teohnikers
des klassischen Altertumes, der Erfindung und eingehenden
Verwendung der Schraube, des Hebels und Flaschenzuges, sowie des
hydrostatischen Gesetzes ab, so interessiert uns besonders die Dar-
stellung über die sinnreiche Verteidigung seiner Vaterstadt.
Bekanntlich boII Arohimedes im Jahre 212 die Schiffe der
römischen Belagerer von den Wällen der Stadt Syrakus nicht blors
durch besonders gefährliche Wurfgeschosse bedroht, sondern direkt
mittels Brennspiegel entzündet und verbrannt haben. Trotz der
späteren Zeiten ist der bündige Beweis hierfür nicht zu erbringen, da
Historiker, wie Livius und Plutarch, hiervon niohts wissen, und
die Bücher derer, die davon wufsten, wenigstens nach Angabe des
Mittelalters, verloren gegangen sind. Aber da man das Experiment dem
Geiste eines Archimedes wohl Zutrauen kann, so folgen wir gern
den hierüber angestellten Versuchen.
Zuerst nahm der bekannte, gelehrte Jesuitenpater Ki roher, ein
aufserordentlich universeller Forscher des 17. Jahrhunderts, Veran-
lassung, die Möglichkeit der betreffenden Angaben durch Versuche zu
prüfen. Da von eigentlichen Hohlspiegeln genügender Gröfse bei
Archimedes wohl nioht die Rede sein konnte, so vereinigte er fünf
Planspiegel miteinander, mit denen er in einer Entfernung von einigen
30 Metern eine bedeutende Hitzewirkung erzielte. Er besuchte auch
den Schauplatz der Belagerung und glaubte aus den örtlichen Ver-
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hältnissen gemeinsam mit dem Konfrater Schott die Möglichkeit, ja
Wahrscheinlichkeit der Überlieferung feststellen zu können. Die Ver-
suche Kirohers sind noch von anderer Seite erweitert worden. Unter
anderen konstruierte Büffon ein grofses Oesteil von 108 Planspiegeln,
deren Reflex sich zusammen auf einen Punkt werfen liefe. Es gelang
ihm, damit auf eine Entfernung von 200 Fufs nicht nur Holzplanken zu
entzünden, sondern auch alle Metallarten zu schmelzen. Das war also
mehr eine Art Fayettenspiogel, statt eines einzigen Hohlspiegels,
und gerade hierin soheint auoh die praktische Möglichkeit des Ver-
brennens der feindlichen Flotte zu liegen. Archimedes konnte
nämlich so jeden einzelnen Spiegel auf die beabsichtigte Entfernung
und Brennweite einstellen, ohne dafs der Feind etwas davon gewahr
wurde. Die Römer würden ihm sonst wohl auf eine andere Weise
wieder heimgeleuchtet haben !
Man richtete zunächst e i n e Spiegelscheibe mit ihrem Lichtschein
auf den Schiffsrumpf, darauf eine folgende, welche ihren Schein mit
dem vorhergehenden vereinte, dann desgleichen eine dritte, indem man
die Vorsicht gebrauchte, die schon eingestellten Spiegelfacetten abzu-
blenden. So konnte niemand auf dem Sohiffe wissen, was unter
seinem Gesichtspunkte, d. h. unter seinen Füfsen vorging, da er den
Brennpunkt an der Bordwand nicht sab. bis dann mit einem Male
sämtliche Spiegel enthüllt wurden und augenblicklich der Brand er-
folgte, zumal bei den Strahlen einer fast afrikanischen Sonne.
In der Wissenschaft des Archimedes freilich zeigt sich bereits
ein vollendetes System im Gegensatz zu früheren Rudimenten und
zerstreuten, empirischen Einzelkonntnissen naturwissenschaftlicher
Dinge. Leider kennen wir aber den Stand der Naturwissenschaften vor
Archimedes nicht zur Genüge, um den Wert seiner persönlichen
Leistungen voll einsohätzen zu können. Wie dürftig leider die Aus-
beute bezüglich unseres Themas ist, ergibt sioli daraus, dafs wir so-
gar die Sage zu Hilfe nehmen mufsten, um einiges Brauchbare zu
finden. Es war eine Art beginnender Kristallisationsprozesse ver-
sprengter einzelner Kenntnisse der Vergangenheit unter bewufster An-
wendung für das praktische Leben.
Wenn wir eben diese Vergangenheit mit ihren dunklen Offen-
barungen zum Ausgangspunkt unserer gelegentlicher Kenntnis ent-
springenden Betrachtungen genommen haben, so dürfte zum Schluss
der Hinweis gestattet sein, dafs alle diese lückenhafte, naturwissen-
schaftliche Technik der Gesamtheit einer längst entschwundenen
Urphysik entstammen mögen. — Sie sind Reste einer im Schutt
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der Zeiten begrabenen wissenschaftlichen Blüteperiode, die lange vor
der Herrschaft der Pharaonen lag. Um der Historie willen soll
man auoh nach ihnen suchen I Was aber die Tatsachen selbst anbe-
langt, so können wir bezüglich der technischen Wissenschaften ge-
trost trotz des Famulus Wagner sagen, wenn wir uns in den Geist
der Vorzeiten versenken, dafs wir Freude empfinden:
„Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wirs dann — zuletzt so herrlich weit gebracht.“
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Suggestion und Gesellschaft.
Von Eduard Sokai in Berlin - Charlottenbur#.
• h s ist ein» offene Streitfrage von grofsier prinzipieller Bedeutung,
."Vc. ob die psychischen Erscheinungen und Vorgänge den physika-
liechen Prozessen (im weitesten Sinne des Wortes) gleichgestellt
werden können. Die hohe Wichtigkeit dieses Problems ftir das Ge-
samtbild einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung leuohtet von
selbst ein; es gehört zu jenen Kolumbus-Eiern der Forschung — für die
uns bis jetzt noch der Kolumbus fehlt. In der fortlaufenden Reihe der
physikalisch-chemischen Prozesse, in welcher naoh dem ehernen Gesetz
der Erhaltung der Energie jede Einnahme und Ausgabe gebuoht ist,
gibt es, streng genommen, keinen Platz fiir den fremden Eindringling
der psychischen Phänomene, die, ohne selbst einer quantitativen
Messung zugänglich zu sein, in der objektiven Welt quantitative, nach
Zahl und Gewicht mefsbare Veränderungen, Störungen des sonst eiu-
getretenen Verlaufes hervorrufeu müfsten. Der Übergang eines quan-
titativ nicht bestimmten Etwas, also in diesem Falle der psychischen
Prozesse, in quantitative physikalische Energieumwandlungen müfste
nach unseren gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Anschauungen
einem Wunder gleichgestellt werden.
Aber auch die gegenteilige Auffassung, die sich uns als einzige
Alternative darbietet, stofst auf bedeutende Schwierigkeiten. Diese
Alternative besteht dann, dafs die Vorgänge in der physischen und
psychischen Welt einander parallel laufen, ohne sich gegen-
seitig zu beeinflussen. Physische und psychische Ereignisse
wären nach dieser Auffassung wie Buchstaben zweier wildfremder
Alphabete regellos aneinander gekettet, so dafs es nur ein Zufall wäre,
wenn ein Wort in der einen Sprache zusammengestellt, auch in der
anderen einen Sinn ergäbe. Die deutsche Philosophie hat für diese
eigentümliche, nicht ursächliche Verknüpfung einen eigenen terminus
technicus, „Parallelersoheinungen“, „Epiphänomena“, eingefiihrt. Die
Menschen würden im Sinne dieser Anschauung leben und bandeln,
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Staaten gründen, Gedichte verfaseen, sich Wohltaten erweisen oder
in rasender Wut gegeneinander toben, dies alles — getrieben durch
rein physische Triebe und Kräfte, als ob das Denken, Fühlen und
Wollen gar nicht existierte. Jene Gestalten grofser Dichter, wo die
Natur selbst auf frischer Tat ertappt zu sein und der Schleier, welcher
über dem Geheimnis der Schöpfung ruht, gelüftet erscheint, würden
demnach, wenn die Kausalität psychischer Vorgänge geleugnet wird,
nur von einer fabelhaften Kenntnis des psychischen Organismus Zeugnis
ablegen; das Wort vom Dichterblick, „der Herz und Nieren prüft“,
müfste in seiner nackten buchstäblichen Brutalität wahr sein.
Wenn nun irgend etwas aus dem gewaltigen Gebiete psychischer
Dokumente gegen diese Auffassung Protest einlegt und für eine physi-
kalische Auffassung spricht, so sind es die Phänomene der Suggestion,
welche der berühmte russische Gehirnphysiologe W. v. Bechterew in
einer soeben erschienenen Abhandlung einer knappen, aber meister-
haften Diskussion unterworfen hat. Nirgends tritt uns so deutlich das
Mirsverhältnis zwischen dem verschwindend kleinen Impuls und seiner
nachhaltigen, intensiven Wirkung entgegen. Der „unbewufste“ psy-
chische Vorgang, mit dem der moderne Psycholog ebenso geläufig
operieren mufs, wie der Chemiker mit dem „Atom“, welches auch
naturgemäfs niemals der sinnliohen Wahrnehmung zugeführt werden
kann, scheint berufen, diese Lücken auszufüllen, den Abgrund natur-
philosophisoher Zweifel, der sich sonst hier jäh auftun müfste, zu
überbrücken. Das Wesentliche an dem Menschen ist für den modernen
Psychologen nicht das „Pleinair“ der klar bewufsten Ideen und Vor-
stellungen, sondern das halb unbewufste Dämmerlicht der Begierden,
Triebe und Instinkte, welche auf seine Handlungen den bestimmenden
Einflufs ausüben. Und wenn andererseits der wissenschaftlichen
Psychologie unserer Zeit so häufig der Vorwurf gemacht wird, dafs
sie mit dem wirklichen Menschenleben, mit seinen Leiden und Freuden,
seinen Kämpfen und Sorgen nur weniges gemein hat und die Fülle
der Erscheinungen zu schematischen Abstraktionen verkommen läfst,
so können die Versuche, die Janet in Paris und Bechterew in
Sl Petersburg über die von ersterem sogenannte „Influence somnam-
bulique et le besoin de direction“ angestellt haben, wohl als Antwort
darauf gelten. Diese Forsoher gingen zunächst von der Beobachtung
hypnotischer Sohlafzustände bei Hysterischen aus. Man ist zuweilen
imstande, bei Hysterischen auch die schwersten Krankheitssymptome
durch Suggestion zeitweise vollständig zum Verschwinden zu bringen.
Zunächst sind die Krankon dann von allen lästigen Erscheinungen
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frei, ihr Ernährungszustand ist befriedigend, ihre geistigen Tätigkeiten
sind wieder hergestellt. Nach einiger, meist nicht sehr langen Zeit treten
jedoch alle früheren Storungen wieder ein. Dabei macht sich ein
merkwürdiges Symptom bemerkbar. Wie bei dem Gebrauch der
Narcotica, tritt mit impulsiver Gewalt das Bedürfnis nach Wieder-
holung der hypnotischen Einwirkung und zwar in immer kürzeren
Zeiträumen auf. Die Person des Hypnotiseurs erlangt auf dun Kranken
eine fast unbeschränkte Gewalt und füllt sein ganzes Sinnen und
Denken aus. Vor Jahren kam einmal, wie Janet erzählt, ein junger
Arzt zu Charcot und bat ihn um ein Mittel, durch welches er sich
eines hysterischen Mädohens entledigen könnte, an dem von ihm eine
derartige ominöse Wunderkur vollzogen wurde. Würde man solohe
Kranke je 24 Stunden hypnotisieren, bo würden sie ihr Leben in
einem anscheinend normalen Zustande verbringen, aber ihre Persön-
lichkeit wäre im Grunde eine andere geworden und würde sogar in
den kleinsten Willensakten zum Hypnotiseur in einem Verhältnis skla-
vischer Abhängigkeit stehen. Von diesen krassen und unheimlichen
Fällen führen zahlreiche Übergänge zum normalen Leben. Gar nicht
so selten sind Individuen, welche nur mit Mühe oder überhaupt uicht
zu der geringfügigsten Willensentscheidung sich aufrafTen können.
Sie bestürmen den Arzt mit den minutiösesten Fragen: Soll ich essen?
Soll ich ausgehen? Soll ich aufstehen? und folgen automatisch, wenn
auch nicht lange, seinen Vorschriften — einem Uhrwerk gleich, das
nur für kurze Zeit aufgezogen werden kann — . Manchmal treten diese
Erscheinungen bei ihnen plötzlich aus Anlafs besonderer Ereignisse,
die eine wichtige Entschliefsung erfordern, auf. ln die Salpötriere
kommen jährlich einige Dutzend Mädchen, die aus Anlafs eines
Heiratsantrages von dieser Krankheit der Aboulie (Willenlosigkeit)
befallen werden. Man heilt sie, wie Janet mitteilt, gewöhnlich dadurch,
dafs man für sie die Entscheidung fällt. Dann kommt die grofse
Zahl der gewohnheitsmäfsigen moralischen SelbBtankläger, die je
einige Monate in zerknirschter Oemütsstimmung den Arzt aufsueben,
auf eine tröstliche Zusprache sehr leicht sich beruhigen, um nach
einigen Monaten wiederzukommen. Mehr oder weniger Sklavennaturen
sind wir, wie es scheint, alle, und die Herrschaft, die dämonisohe
Willensriesen über uns erlangen können, ist demnach leicht erklärlich.
Nach Bechterew ist Suggestion nichts anderes, als ,die unmittel-
bare Übertragung oder Impfung bestimmter Seelenzustände mit Um-
gehung des Willens, ja nicht selten auch des Bewußtseins des auf-
nehmenden Individuums". Darin ist gemäfs seiner Auffassung der
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wesentliche Unterschied gegeben gegenüber der Überzeugung, welche
nioht anders wirksam ist, als unter Zuhilfenahme logischen Nach-
denkens und bei voller Beteiligung des persönlichen Bowufstseins.
Der Weg der Suggestion fuhrt „nicht durch den Haupteingang, sondern
sozusagen von der Hintertreppe aus in die inneren Gemächer der
Seele“. — Als zwei der Suggestion nahe verwandte Formen psychischer
Beeinflussung erwähnt Bechterew den Befehl und das Beispiel: Beide
wirken in gewissen Beziehungen zweifellos nach der Art der Suggestion
und sind dann von dieser nicht unterscheidbar. In anderen Beziehungen
aber, so weit sie sich an den Verstand wenden, stehen sie der logischen
Überzeugung sehr nahe.
Bekannt ist die ansteckende Wirkung der Selbstmordmanie, sowie
der anarchistischen Verbrechen. Auch das militärische Kriegs-
kommando verdankt seine Wirkung gewifs nioht ausschliefslich der
Furcht vor Strafe, sondern es handelt sich immer zugleich um sugges-
tive Vorgänge, um unmittelbare Cberimpfung einer bestimmten Idee.
Es ist ohne weiteres klar, dafs der suggestiven Übertragung psychischer
Zustände sehr viel zahlreichere Wege offen sind als der Überzeugung.
Überredung führt im allgemeinen nur zum Ziele, wo sie sich an einen
gesunden und klaren Verstand wendet. Die Erfolge der Suggestion
sind im allgemeinen am auffallendsten bei geringer logischer Ent-
wickelung, bei Kindern und im einfachen Volke. Es fällt ihr daher
in unserer Erziehung fraglos eine nicht zu unterschätzende Rolle zu.
Trotzdem also die Suggestion in diesem Sinne so alt ist, wie der
geistige Verkehr der Menschen untereinander, so ist doch ein intimerer
Einblick in die Natur des suggestiven Einflusses erst in neuerer Zeit
ermöglicht worden durch die Entwickelung der Lehre von der künst-
lichen oder beabsichtigten Suggestion. Wie über die Verbreitung von
Infektionen noch in neuerer Zeit die allerverworrensten Anschauungen
herrschten, bis es gelang, die betreffenden Mikroben in Reinkulturen
zu züchten und damit künstliche Impfungen vorzunehmen, so gab es
auch in Beziehung auf die Suggestion und das psychische Kontagium
nur eine Reihe unklarer und wesenloser Vorstellungen, solange die
Bedingungeil künstlicher Überimpfungen von Seelenzuständen mittels
beabsichtigter Suggestion unbekannt waren.
Der Versuch hat dargetan, dars solche vorsetzliche Impfung am
leichtesten zu verwirklichen ist bei einem besonderen Zustande des
Bewußtseins, den man Hypnose nennt, und der nach Bechterews Da-
fürhalten lediglich als eine künstlich erzeugte Varietät des normalen
Schlafes sich darstellt. — In der Hypnose gelingen bekanntlich die
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allerverschicdensten Suggestionen; doch es steht dahin, ob es möglich
sei, einem Hypnotisierten alles zu suggerieren, was wir wünschen.
Nach Ansicht einiger Autoren gibt es überhaupt keine Einschränkung
für die Suggestion, während andere daran festhalten, es könne in der
Hypnose nur das suggeriert werden, was der psyohischen Natur des
Hypnotisierten entspreche. Praktisch und in sozialwissenschaftlicher
Beziehung handelt es sich hierbei im wesentlichen um das Suggerieren
von verbrecherischen Handlungen. Eis wurde behauptet, dafs der Hyp-
notisierte auf suggestivem Wege zu jedem beliebigen Verbrechen ver-
anlafst werden kann. Andere sind hinwiederum geneigt, diese Be-
hauptung auf eine allzuweitgehende Verallgemeinerung von Labora-
toriumsbeobachtungen zurückzuführen.
Bechterew selbst vermag sich nach seinen zahlreichen Erfah-
rungen nicht denjenigen anzusohliefsen, welche der Suggestion den
Wert eines übermächtigen Agens zusohreiben, mit dem sich in der
Hypnose alles Erdenkliche erzielen liefse. Nach seiner Ansicht steht
die Kraft der Suggestion nicht allein in Abhängigkeit von richtiger
Handhabung und Aufrechterhaltung der Suggestion, sondern auch von
dem Boden, auf welchen letztere lallt, also von den psychischen Eigen-
schaften des der Suggestion sich unterwerfenden Mediums. Der psy-
chische Widerstand, welcher der Suggestion im Zustande der Hypnose
entgegentritt, hängt wesentlich davon ab, inwieweit das zu Suggerie-
rende Bich im Widerspruch befindet mit dem Ideengange, mit den Nei-
gungen und Überzeugungen des Mediums. Fällt dieser Widerspruch
weg, so wirkt die Suggestion ausgiebig und prompt Einer starken
Natur gegenüber mit entgegengesetzten Anschauungen kann sie sich
machtlos erweisen. Dies verringert indessen in keiner Weise die hohe
Bedeutung der Suggestion als psychisches Agens. Naturen mit starkem
Charakter und unwandelbaren Ideen findet man nicht allzuhäufig;
wie grofs dagegen ist die Zahl jener moralischen Krüppel, die sich
von Verbrechen, von Unsittlichkeit und Antastung fremden Eigentums
nur durch die Furcht vor dem Gesetze abgehalten fühlen. Genügt es
da nioht, solchen Individuen in der Hypnose die Möglichkeit der
Straflosigkeit zu suggerieren, jene Furcht vor gesetzlicher Ahndung
einzuschläfern und zugleich in ihrer Phäntasie gewisse vorteilhafte
Seiten der verbrecherischen Handlungsweise hervorzuheben, um sie
zur Ausführung von Verbrechen geneigt zu machen, zu welcher sie
sich sonst nimmer entschlossen hätten?
Fragen wir nun, wie es möglich sei, dafs die Ideen oder Seelen-
zustände dritter Personen auf uns überimpft werden und uns ihrem
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Einflüsse unterordnen, so ist die Annahme wohl begründet, diese psy-
chische Vakzination gehe ausschliefslich vor sioh durch Vermittelung
unserer Sinnesorgane. Hierbei fallt unfraglioh die wesentlichste Holle
dem Gehörorgane zu, da im allgemeinen die Suggestion durch das
gesprochene Wort als die am weitesten verbreitete und zugleich an-
scheinend als die wirksamste Form der Suggestion zu betrachten ist.
Allein auch andere Organe, vor allem das Sehorgan, können als Ver-
mittler der Suggestion auftreten. Man denke an Wirkungen mimischer
Bewegungen und Gestikulationen. Sehr wenige Personen sind im-
stande. dem ansteckenden Einflüsse des Gähnens zu widerstehen. Der
Anblick des Zitronenessens ruft bei vielen Leuten unwillkürliches Zu-
sammenpressen der Lippen und reichliche Speichelabsonderung her-
vor. Auch an den Beispielen von suggestiven Einwirkungen mittels
des Tast- und Muskelsinnes fehlt es nicht Ein klassisches Beispiel
für diese Gruppe ist der Fall jenes zum Tode verurteilten Verbrechers,
dem bei geschlossenen Augen suggeriert wurde, es sei eine seiner
Venen geöffnet worden und daraus ergiefse sich ein ununterbrochener
Blutstrom. Nach einigen Minuten fand man den Mann tot, wiewohl
nicht Blut, sondern nur warmes Wasser an seinem Körper herabge-
rieselt war. Was Suggestion durch das Muskelgefühl anlangt, so sind
hierüber in der Pariser Salpetriere mehrfach Untersuchungen an
Hysterischen angestellt worden, wobei diese Art von Suggestion sich
in manchen Fällen als sehr wirksam bewertet. Wurden einer Hyste-
rischen im hypnotischen Schlafe die Hiinde zum Gebet gefaltet, so
nahmen ihre Gesichtszüge sofort einen flehenden Ausdruck an. In
einem anderen Falle, als man ihre rechte Hand zur Faust geballt
hatte, zeigten sich auch drohende Mienen auf dem Antlitze der
Kranken. Tat doch bereits Pascal den grimmigen Ausspruch: „Für
die meisten Menschen genüge es, um fromm zu werden, dafs sie sich
mit Weihwasser besprengen und verrückte Gebärden annehmen.“
Wir haben bereits früher erwähnt, dafs es zweifellos Individuen
gibt, welche allen Suggestivwirkungen widerstehen. Es dürften wohl
gerade diese die vollständigen, vielleicht „autosuggestiven“ Individuen
sein, welche auf andere die mächtigsten Suggestivwirkungen ausüben.
In einem geistreichen Vorworte zur Beohtere wschen Abhandlung
weist Flechsig darauf hin, wie die Geschiohte und speziell die
Kulturgeschichte so mächtige Wirkungen der Suggestion aufweist, dafs
kaum ein Historiker achtlos an diesen Erscheinungen vorübergehen
darf. Nioht nur bei der Entstehung religiöser Seiten pathologischen
Charakters, bei Kampfepidemien, in der „Besessenheit“ des Mittelalters
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u. dg!, m. zeigt sich ihre Wirkung, sie reicht unendlich viel weiter,
ln einem gewissen Sinne kann man sogar nach Flechsig die Ge-
schichte des menschlichen Intellekts als einen ununterbrochenen
Kampf zwischen Hypnotiseuren und Anti Suggestion taten auffassen.
Während die Wissenschaft, insbesondere die exakten Naturwissen-
schaften, darauf ausgehen, alle Suggestirwirkungen aus der Betrach-
tung der Welt zu entfernen, zielen eine ganze Anzahl mäohtiger Fak-
toren heute wie vor Jahrtausenden dahin, der Menschheit im wesent-
lichen auf suggestivem Wege zu einem befriedigenden Dasein zu ver-
helfen. Man kann daher wohl die Frage aufwerfen, ob das Ziel der
Menschheitsentwickelung die Befreiung von allen suggestiven Ein-
flüssen oder die vollkommene Unterwerfung unter die Herrschaft mehr
oder minder phantastischer Autosuggestionen sein wird. Ist letzteres
der Fall, so sind die exakten Naturforscher auf dem Irrweg und ein
Helmholtz lediglich ein Fehlgriff der Schöpfung. Die Beantwortung
dieser Frage tritt jedoch selbst aus dem Bereiche der naturwissen-
schaftlichen Untersuchung heraus und mufs der individuellen Welt-
anschauung Vorbehalten bleiben.
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Der Längenunterschied zwischen Greenwich und Potsdam ist
m Jahre 1903 durch die Herren Geheimrat Th. Albrecht und
B. Wanach neu bestimmt worden. Der Anlafs zu dieser Neubeob-
achtung war dadurch gegeben, dafs die folgenden 3 vorhandenen
Längen bestimm ungen
Greenwich — Potsdam ausgeführt 1896 von englischer Seite,
Potsdam — Berlin „ 1891 vom preufsischen geodäti-
schen Institut,
und Berlin — Greenwich „ 1876 durch eine Beteiligung der
Berliner Sternwarte an den österreichischen Längenbestimmungsarbeiten
in ihrer algebraischen Summe nicht den Wert Null ergaben, sondern
0.’225. Diesen beträchtlichen Fehler in der Bestimmung der funda-
mentalen, die llauptmeridiane beider Länder verbindenden Grüfse galt
es wegzuschaffen. Den Beobachtern wurde seitens der deutschen und
englischen Telegraphenverwaltung ein Telegraphendraht Potsdam —
Berlin — Bacton — London — Greenwich zur Verfügung gestellt. Die
eigentliche Längenbestimmung wird nun dadurch erhalten, dafs be-
liebige Signale, die der Beobachter auf der einen Station durch Druck
auf einen Taster erzeugt, sich sowohl direkt am Ort auf einen mit
der Beobachtungsuhr verbundenen Chronographen aufzeichnen, als auch
durch den Telegraphendraht auf einem mit der Beobachtungsuhr der
anderen Station verbundenen Chronographen sich registrieren. Es ist
dann noch notwendig, die Fehler der Beobachtungsuhren, in deren
beiden Zeitangaben sich die Tasterdrucke sonach ausdriicken lassen,
durch Beobachtungen von Sterndurohgängen zu bestimmen, um sofort
den wahren Zeit- oder Längenunterschied zu erhalten. Die besondere
Methode des geodätischen Instituts, der die hohe Genauigkeit des
definitiven Resultates zuzusohreihen ist, besteht nun nioht darin, die
Durchgänge der Sterne an den Fäden des 1‘assageninstrumentes zu
beobachten und die Zeit des Durchgangs entweder nach den Schlägen
einer Uhr zu hören oder durch Druck auf einen elektrischen Taster
zu registrieren, sondern darin, mit einer Schraube einen beweglichen
Faden der Bewegung des Sterns nachzuführen, so dafs er stets das
Sternscheibcheu halbiert. Au der Schraubentrommel sind elektrische
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520
Kontakte, die automatisch Signale auf den Chronographen geben, sobald
die Drehung der Schraube sie an einer leitenden Zunge vorüber führt.
Von den sonstigen Vorsichtsmaßregeln, die zur Erhöhung der
Genauigkeit beachtet wurden, sei nur erwähnt die Einschaltung einer
334 km langen Drahtleitung London — Bedford — Leice6ter— Dunstable
— London auf der englischen Seite der Nordsee, damit der elektrische
Strom auf beiden Seiten des 425 km langen submarinen Kabels eine
nahezu gleich grofse Landstrecke (522 km diesseits, 569 km jenseits)
zu durchlaufen hatte, ferner der Wechsel von Instrument und Beob-
achter während der Arbeiten zur Beseitigung der „persönlichen“ Fehler.
Das Resultat ist denn auch ein glänzendes: Als Wanach in
Potsdam und Albrecht in Greenwich beobachtete, ergab sioh für den
Längenuntersohied 52m 16."051, und genau dasselbe Resultat, bis auf
die Tausendte! Sekunde identisch, ergab sioh, als Albrecht in Green-
wich und Wanach in Potsdam stationiert war. Die wahrscheinliche
Unsicherheit des Gesamtmittels aus 24 Abenden belief sioh nur auf
O.”003. Unter Zuziehung des Längenunterschiedes Berlin— Potsdam
von 1891 von 1“ 18.*721 ergibt sich hieraus der Zeitunterschied
Berlin — Greenwich 53“ 34. "772.
Für diesen Wert wurde bislang angenommen 53” 34."91, also
0." 14 zuviel, und um diesen Betrag gingen also bislang sämtliche
deutschen Uhren falsch. Dieselben zeigen bekanntlich mitteleuropäische
Zeit, d. h. eine Stunde mehr als die Greenwioher Normaluhr.
Da aber von dieser die Zeit nicht direkt übermittelt werden konnte,
richteten sich alle deutschen Telegraphen- und Bahnhofsuhren und nach
diesen die Taschenuhren nach dem Zeitaignal, welches jeden Morgen um
8 Uhr von der Berliner Sternwarte ausgegeben wurde. Hier wurde
die richtige Berliner Zeit bestimmt und diese durch Hinzufügung von
6“ 25." 09 in M.E.Z. verwandelt. Es hätte aber hinzugefügt werden
sollen und wird künftig hinzugefügt werden 6“ 26." 23.
Wie genau die neue definitive Bestimmung des Meridianunter-
schiedes Berlin— Greenwich ist, ergibt sich aus der Kombination der
ausgeglichenen Längend ifferenz Berlin — Paris 44“ 13.’890 mit der
Summe folgender neuerdings erhaltenen Zeitunterschiede
Greenwioh — Leiden =. — 17“ 56." 100
Leiden — Paris =4-8“ 35."213
Berlin — Greenwich = 4- 63“ 34."772
Summe = Berlin — Paris = 44“ I3."885
also nur 5/iooo Sekunden von der direkten Bestimmung verschieden.
Rp.
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526
Die Dissertation der Frau S. Curie ist neuerdings in einer von
Professor W. Kaufmann in Göttingen besorgten deutschen Aus-
gabe bei Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig er-
schienen. — Bei dem außerordentlichen Interesse, das die radioaktiven
Substanzen verdienen und in neuester Zeit selbst in den Kreisen der
Laien gefunden haben, ist die Arbeit der Frau Curie mit Freude zu
begrüfsen. Sie eröffnet die Reihe der naturwissenschaftlichen
und mathematischen Monographien, die in zwangloser Folge erschei-
nen und, von namhaften Gelehrten geschrieben, alles Wichtige und
Wissenswerte der einzelnen Spezialgebiete behandeln sollen. Pro-
fessor Eilhardt Wiedemann in Erlangen hat sich an die Spitze
dieses offenbar der französischen Soientia ähnelnden grofsen Unter-
nehmens gestellt. Vergleicht man die deutsche Übersetzung mit der
französischen Originalarbeit der Frau Curie, so fallt zunächst eine
nicht unwesentliche Bereicherung des Stoffes auf, die offenbar durch
private Mitteilungen an den Übersetzer entstanden ist. Besonders
wertvoll sind fernerhin Literaturnachweise und kurze Anmerkungen
aus der Feder von Professor Kaufmann selbst. Es erübrigt sich,
an dieser Stelle auf den Inhalt der Schrift einzugehen, da wir erst
vor kurzem einen längeren Aufsatz über die radioaktiven Substanzen
(vergleiche Heft 7, Jahrgang 16, 1904 dieser Zeitschrift) gebraoht
haben. Wir werden jedoch in Zukunft auf die weiteren Bände der
Monographienreihe, welche den Kollektivtitel „die Wissenschaft“ führt,
jedesmal nach dem Erscheinen der betreffenden Arbeit noch beson-
ders aufmerksam machen. Heute begnügen wir uns mit dem Hinweis
auf eine zweite Monographie von Professor G. C. Sohmidt über die
Kathodenstrahlen und überlassen es dem Referenten, gelegentlich in
der Rubrik „Bibliographisches“ über dieses Buch zu sprechen. D.
t
Die Analyse schwingender Bewegungen läßt sich in besonders
einfacher und praktischer Weise vermittels eines von Grimsehl in
Hamburg angegebenen Apparates ausführen. Durch die Bildebene
eines Fernrohrs kann man eine photographische Platte fallen lassen.
Stellt man das Fernrohr auf eine schwingende Saite ein, die vertikal
vor dem horizontalen Faden einer Glühlampe ausgespannt ist, so sieht
man eine dunkle Unterbrechung des leuchtenden Fadens, die sich
schnell hin und her bewegt Auf der durch die Bildebene fallenden
photographischen Platte zeigt sich nach dem Entwickeln eine schön
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527
ausgebildete Wellenlinie. Ist die Fallgeschwindigkeit der Platte durch
einen Vorversuch ermittelt worden, so ergibt sich aus der Ausmessung
der Wellenlinie die Scbwingungszahl der Saite. Auch die Tonhöhe
von Sirenen ist auf diese Weise mefsbar, indem man einen Liohtstrahl
durch die Löcherreihen fallen läfst. Man erhält dann eine Reihe
Punkte, aus deren Anzahl auf die Sohwingungszahl des Sirenentones
geschlossen werden kann (unter der Voraussetzung, dafs die Fallge-
schwindigkeit der Platte bekannt ist). Die Punkte haben infolge der
beschleunigten Fallbewegung natürlich keinen gleichmäfsigeu Abstand
voneinander. Wehnelt bat übrigens bereits vor mehreren Jahren
(vergl. Wiedemanns Annalen) Aufnahmen von Wechselstromkurven,
Kondensatorschwingungen etc. durch die Photographie eines abge-
lenkten Kathodenflecks („Braunsche Röhre“) gemacht und sioh dazu
in ähnlicher Weise einer beweglichen, photographischen Platte bedient,
nur dafs sie bei ihm in horizontaler Richtung auf einem kleinen
Wägelchen vorbeigefahren wurde.
Die Schwingungen von Saiten sind in sehr eleganter Weise be-
reits von Helm hol tz (Lehre von den Tonempfindungen) auf opti-
schem Wege studiert worden. Immerhin hat die Qrimsehische An-
ordnung für Demonstrationszwecke ihrer einfachen Handhabung wegen
grofse Vorzüge. Dr. M. v. P.
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Dr. P. Spie»: Die Erzeugung uud die physikalischen Ei xeu^chaften
der Röntgen strahlen. Berlin. Verlag von Leonhardt Simin Nf. 1904.
Die Spieeache Broschüre bildet das achte Heft der modernen ärztlichen
Bibliothek und ist geeignet, dem Benutzer von RÖntgenstrshlen-Einrichtungen
als erste Einführung zu dienen. Sowohl die Induktoren, wie die Unterbrecher
und die Einrichtungen zum Anschluß dieser wesentlichen Instrumente an die
Akkumulatoren* Batterie, sowie auch an die elektrische Zentrale werden kurz,
aber doch für das Bedürfnis de« Arztes genügend ausführlich besprochen, ebenso
einige der gangbarsten Röhrentypen. Der Text ist klar und dem Zweck
des Buches durchaus angemessen. Am besten gibt sich der Verfasser natur-
gemäß dort, wo er zum Leser als Physiker sprechen darf. Dort erhebt sich
seine Darstellung zur Höhe einer pädagogisch geschickten Leistung. Bo z. B.
in dem Kapitel über die Lichtstrahlen und ihre Verwandten, sowie über die
Lichtstrahlen im allgemeinen, ferner über die Fluoreszenz und über die
physikalischen Eigenschaften der Röntgenstrahlen. Die Bchlufsbemerkung
über das photographische Verfahren halten wir indes nicht für ausführlich
genug, um dem Anfänger einen genügenden Anhalt zu geben. Ein Anhang
über die Zusammenstellung von Instrumentarien mit ungefährer Preisangabe
der einzelnen Apparate bildet den Soblufs und dürfte vielen willkommen »ein.
Vielleicht berücksichtigt der Verfasser in der nächsten Auflage, die wir dem
höchst brauchbaren Büchlein recht bald wünschen, auch die Induktoren von
nur etwa 15 cm Schlagweite, die im Verein mit dem Wehnelt-Unterbrecher für
die Praxis durchaus ausreichende Resultate ergeben. D.
Verlag: Hernann Paatal in Berlin — Druck: Wilhelm Oroiu'i Fochdrockerei In Berlin - Schöne her f.
Für die Redaktion verantwortlich j Dr. P. Üekvthn in Berlin.
Uaberechtigter Nachdruck ans den Inhalt dieser Zeitschrift nntereagt.
^benetz aagei echt Vorbehalten.
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Tafel I.
Okularende des großen Refraktors der Yerkes Sternwarte
mit dem Spektroheliographen.
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Die Kalziumbilder der Sonne.
Von Professor Dr. J. Schriller in Potsdam.
Ss ist eine ganz eigenartige wissenschaftliche Technik, welche wir
hier mit ihren Resultaten, die von hoher Bedeutung für die
Kenntnis der Konstitution unserer Sonne zu werden versprechen,
weiteren Kreisen bekannt geben möchten. Sie ist eigenartig und
gerade deshalb schwierig zu verstehen; man mufs ziemlich weit aus-
bolen, um ihre Prinzipien klar zu legen.
Es darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dafs ober-
halb der scheinbaren Sonnenoberfläche, der Photosphäre, sich Gas-
eruptionen von gewaltiger Ausdehnung in die dünnere Sonnenatmo-
sphäre erheben. Sie sind bei den ersten Beobachtungen totaler Sonnen-
finsternisse als rötlich gefärbte Hervorragungen am Sonnenrande gesehen
worden und haben damals bereits ihren Namen „Sonnenprotuberanzen“
erhalten. Wie die Untersuchung im Spcktroskopo lehrt, bestehen sie
wesentlich aus Wasserstoff, Helium und Kalziumdampf, und der Umstand,
dafs sie für gewöhnlich nicht sichtbar sind, beruht einfach darauf, dafs
ihre Helligkeit viel geringer ist als diejenige der durch die Sonne beleuch-
teten Erdatmosphäre in unmittelbarer Nachbarschaft der Sonne. Be-
kanntlich kann das Auge nur Dinge wahrnehmen, die gegen ihre
Umgebung einen Helligkeitsunterschied von mindestens 1 bis 2%
besitzen. Für deutliche Sichtbarkeit ist ein viel gröfserer Unterschied
erforderlioh, der „Kontrast“ mufB möglichst grofs sein. Bezeichnet
man die Helligkeit einer Protuberanz mit h, die Helligkeit der be-
leuchteten Erdatmosphäre in unmittelbarer Nähe der Sonne mit H, so
ist die scheinbare Helligkeit der Protuberanz h +- H, und das Ver-
hältnis hiervon gegen die Helligkeit der Umgebung H also der Kon-
trast — ** ist unterhalb der oben angegebenen Grenze gelegen,
xi
Himmel und Erde. 190«. XVI. 12. .14
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530
Bei totalen Sonnenfinsternissen ist aber die Erdatmosphäre durch
den Mond beschattet; H wird dann sehr klein, sogar kleiner als h, und
mithin ist ^ ^ ^ eine sehr morkliche Gröfse, die Protuberanz also
sichtbar. Das ist mutatis mutandis genau derselbe Vorgang, der die
Unsichtbarkeit der Sterne bei Tage, und ihre Sichtbarkeit bei Nacht
bedingt.
Mit Hilfe des Spektroskopes können nun die Protuberanzen am
Sonnenrande jederzeit zur Sichtbarkeit gebracht werden und zwar
wieder genau nach demselben Prinzipe. Die erhellte Erdatmosphäre
gibt ein wesentlich kontinuierliches Spektrum, d. h. das Licht derselben,
welches auf den Spalt des SpektroskopeB fällt, wird in ein langes
Band ausgezogen und daher sehr stark geschwächt und zwar um so
Spalt
C -Linie f-Linia
fto/A
Blau
Spectrum
Fig. 1.
mehr, je stärker die Zerstreuung des Spektroskopes ist. Das Spek-
trum der Protuberanz besteht aber als Gasspektrum aus hellen Linien,
deren Helligkeit mit zunehmender Zerstreuung des Spektroskopes nur
unwesentlich geändert wird. Nur ihre Abstände werden hierdurch ver-
gröfsert, und so kann man leicht eine Anordnung finden, bei welcher
die Protuberanzlinien blendend hell auf mattem Untergrund erscheinen.
Ist nun die Spaltöffnung des Spektroskopes (Fig. 1, links) so grofs,
dafs sie das Bild der Protuberanz umfafst, so erscheinen natürlich im
Spektrum statt des linienförmigen Spaltbildes die Spektrallinien von
der Form der Protuberanz, wie dies durch die rechte Seite der Figur 1
an den Wasserstofflinien erläutert wird.
Man sieht also im Spektroskope die Protuberanz, je nach der be-
nutzten Wasserstofflinie, in rotem, grün-blauem oder blau-violettem
Lichte in ihrer wahren Gestalt und kann ihre zeitlichen, oft sehr rapiden
Formänderungen in aller Deutlichkeit verfolgen. Ist die Protuberanz
sehr grofs, so mufs der Spalt des Spektroskopes verhältnismäfsig weit
geöffnet werden, uud damit nimmt wieder die Helligkeit des spek-
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531
traten Hintergrundes zu, bis schliefslioli der Kontrast zu gering wird,
um die Protuberanz erkennen zu lassen. Man kann dann wieder
duroh Vermehrung der Zerstreuung das kontinuierliche Spektrum ab-
schwächen. Bei der Konstruktion der „Protuberanzspektroskope“ mufs
natürliob auf ulle diese Dinge Kücksicht genommen werden.
Wenn mau von einem Protuberanzspektroskope das Okular ent-
fernt und dafür eine photographische Platte einsetzt, so steht natürlich
nichts im Wege, die Protuberanz zu photographieren. Man hat in der
Tat derartige Aufnahmen mehrfach ausgeführt.
Bei der Verwendung der Protuberanzspektroskope ist man ge-
zwungen, den Sonnenrand naoh Protuteranzen abzusuchen, was grofse
Übung erfordert und ziemlich langwierig ist Man ist daher schon
vor vielen Jahren auf den Gedanken gekommen, Spektroskope zu
konstruieren, welche unmittelbar den ganzen Sonnenrand mit allen
Protuberanzen zur photographischen Abbildung bringen sollten. Prak-
tische Erfolge sind bis zum Jahre 1889 bei diesen Versuchen nicht
erzielt worden, was zum Teil an der mangelhaften Konstruktion der
Apparate, zum Teil aber auch an dem Umstande gelegen hat, dafs
man zur photographischen Aufnahme die im violettem Teile des
Spektrums gelegenen Wasserstofflinien verwendete. Denn während
die zur optisohen Beobachtung der Protuberanzen allein benutzte rote
C-Linie des Wasserstoffes sehr schürf ist, also auch scharfe Bilder
der Protuberanzen erzeugt, sind die weiter nach Violett zu gelegenen
Wasserstofflinien verwaschen, geben also unscharfe Bilder.
Im letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts wurden nun die
Bemühungen des amerikanischen Astronomen Haie durch über-
raschende Erfolge gekrönt. Es gelang ihm, einen Apparat, Spektro-
heliograph genannt, zu konstruieren, der in wenigen Minuten ein Bild
des ganzen Sonnenrandes in voller Schärfe zeichnete. Die Sohärfe
der Bilder wurde daduroh erzielt, dafs Haie statt der ungeeigneten
Wasserstofflinien eine an der Grenze des Ultraviolett gelegene Kal-
ziumlinie verwendete, die im Spektrum der Protuberanzen stets vor-
handen ist.
Damit war der ursprüngliche Zweck der Untersuchungen Haies
erreicht Aber wie es so häufig bei Erfindungen oder Entdeckungen
zu geschehen pflegt, zeigte sich sehr bald, dafs der Spektrohelio-
graph geeignet war, über andere Phänomene in der Sonnenatmosphäre
Aufschlufs zu geben, deren Studium bisher sehr erschwert und in-
folgedessen ziemlich vernachlässigt war, nämlich über die Sonnen-
fackeln, die wegen ihres geringen Kontrastes gegen die allgemeine
34*
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Photosphäre auf dem gröfsten Teile der Sonnenscheibe nioht zu erkennen
waren und nur in unmittelbarer Nähe des Sonnenrandes beobachtet
werden konnten. Gegenüber den überraschenden Resultaten, die nun-
mehr auf diesem Gebiote zutage gefördert wurden, mufste der ursprüng-
liche Zweck des Spektrobeliographen immer mehr zurücktreten, und
so beziehen sich die neuesten Ergebnisse nur noch auf die Sonnen-
fackeln. ln den letzten Jahren hat Haie den Spektroheliographen in
verbesserter Form mit dem mächtigsten Fernrohr der Erde, dem grofsen
Refraktor der Yerkes Sternwarte, in Verbindung gebracht und damit
j Resultate erzielt, die nicht blofs in bezug auf
ihre äufsore Schönheit Bewunderung verdienen,
sondern auch von besonderer epochemachender
Bedeutung für die Physik der Sonne sind.
Es mögen nun zunächst die Prinzipien
des Spektroheliographen in seiner letzten Form
klargelegt werden. Das Äufsere desselben ist
auf der Tafel 1 zu erkennen, auf weloher das
Okularende des grofsen Refraktors mit dem
Spektroheliographen dargestellt ist.
Das Spektroskop desselben unterscheidet
sich nur wenig von einem gewöhnlichen Spek-
troskope. Der oinzigo Unterschied besteht in
der Anbringung eines verstellbaren Spiegels,
durch wclohen erreicht wird, dafs das in den
Spalt fallende Licht parallel zu seiner Ein-
fallsrichtung zurückkehrt, ln der schematischen Darstellung des Spek-
troskopdurchschnitts (Fig. 21 befindet sich bei S der Spalt Das
duroh denselben eindringende Lichtbündel wird durch die Kollimator-
linse C parallel gemaoht und fällt alsdann auf den Spiegel G, von
welchem es zu den Prismen P, und Pj reflektiert wird. Nach dem
Durchgänge durch die Prismen ist das Lichlbündel in seine Spektral-
farben zerlegt und wird durch das Objektiv B des Beobachtungs-
fernrohrs als Spektrum auf eine in der Brennebene befindliche photo-
graphische Platte projiziert. Es sei noch erwähnt dafs der Spiegel G
duroh ein reflektierendes Diffraklionsgitler ersetzt werden kann, durch
welches das Licht ebenfalls in die Spektralfarben zerlegt wird. Bei
dieser Anordnung wird natürlich eine beträchtlich gröfsere Zerstreuung
erzielt die für manche Zwecke vorteilhafter ist als die geringe, allein
duroh die Prismen erzeugte.
Die Einrichtungen, welche den Apparat von einem gewöhn-
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533
I
\\
Li
Hohen Spektroskope unterscheiden, sind nun die folgenden. Dicht
vor der photographischen Platte F ist eine Metallplatte angebracht,
in weloher ein feiner Spalt von der Form der zu benutzenden Spek-
trallinien eingeschnitten ist — bekanntlich sind die Spektrallinien bei
der Anwendung von Prismen gekrümmt. Diese Platte ist verschieb-
bar und kanu so gestellt werden, dafs sie genau mit der Spektral-
linie koinzidiert. In diesem Falle ist also alles Licht bis auf das Licht
dieser einzigen Spektrallinie von der photographischen Platte abge-
halten. Wir wollen nun vorausschicken, die gewählte Spektrallinie,
eine Linie des Kalziums, sei zwar im allgemeinen dunkel, also eine
Absorptionslinie. aber an gewissen Stellen der Sonne hell. Fs ist dann
klar, dafs bei der Projektion des Sonnenbildes auf den Spalt des
Spektroskops, nur die Stellen
der Linie auf die photographi-
sche Platte wirken, welche den
hellen Stellen auf der Sonne ent-
sprechen. Die beistehende sche-
matische Figur möge dies er-
läutern.
Durch den Kefraktor werde
das Sonnenbild (Fig. 3, rechts)
auf den Spalt des Spektroskopes
S, projiziert; die Sonnensoheibe enthalte zwei Stellen (schraffiert au-
gedeutet), welche die Kalziumlinie hell geben. Dann müssen auf der
photographischen Platte (Fig. 3, links) entsprechend zwei Linienstücke
(schwarz angedeutet) der Linie L, abgebildet werden. Hätte sich der
Spalt bei S; befunden, so wäre nur das eine obere Linienstück in Lj
und zwar, entsprechend dem gröfseren Durchmesser des „Kalzium-
fleokes“, an dieser Stelle etwas länger als in L[ aufgenommen worden.
Würde man also den Spalt fortwährend um eine Kleinigkeit verstellen
und bei jeder Verstellung eine Aufnahme auf einer anderen Stelle der
photographischen Platte machen, so würde man nachher die abgebildeten
Linienstücke zusammensetzen und aus ihnen dann die Figur der beiden
Kalziumflecke erkennen können. Das geschieht nun auf kompliziertem
Wege in ganz kontinuierlicher Weise beim Spektroheliographen, indem
durch langsame Drehung des Fernrohrs um die Deklinationsachse das
ganze Sonnenbild über den Spalt hinweggeführt wird, während die photo-
graphische Platte sioh gleichzeitig mit genau derselben Geschwindigkeit
hinter dem zweiten Spalt versohiebt. Das Resultat ist eine getreue Ab-
bildung aller derjenigen Stellen der Sonnensoheibe, welche die Kalzium-
FS*. 3.
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linie hell zeigen, d. h. ein Kalziumbild der Sonne, auf dem man tatsäch-
lich nur den hellglühenden Kalziumdampf in der Sonnenatmosphäre sieht,
sonst nichts. Die Methode läfst sich naturgemäß auf alle anderen Ele-
mente, deren Linien auf der Sonnenscheibe an einzelnen Stellen hell
erscheinen, ausdehnen, sofern man nur die entsprechenden Spektrallinien
benutzt. So kann man vor allein auch Wasserst offbilder erzeugen.
Dafs bei dem Spektroheliographen die Kontrastwirkung zwischen
heller Linie und Hintergrund eine sehr viel kräftigere ist als bei den
Protuberanzspektroskopen, liegt auf der Hand, denn bei ihm ist der
Hintergrund völlig schwarz, da durch die Metallplatte alles störende
Licht abgeschnitten ist.
Welche aufsergewöhulich grofsen Dimensionen der auf Tafel I
abgebildete Spektroheliograph besitzt, wird man leicht aus der Angabe
ersehen, dafs das Fokalbild der Sonne im grofsen Refraktor der
Yerkes Sternwarte einen Durchmesser von 18 cm hat. Eine ent-
sprechende Höhe müssen also auch z. B. die Prismen besitzen.
In betreff der bis jetzt mit diesem Instrument erreichten Ergeb-
nisse können wir uns kurz fassen, da Haie seine Hypothesen hierüber
selbst nur als „Arbeitshypothesen“ bezeichnet. Als sicher hat sich
herausgestellt, dafs diejenigen Teile der Sonnenoberfläohe, welche im
leuchtenden Kalziumdampf erscheinen, sehr nahe mit den Fackeln zu-
sammenfallen, oder mit anderen Worten, dafs die Kalziumbilder der
Sonne die Fackelbilder sind und damit den grofsen Vorteil bieten, nun-
mehr das Verhalten der Fackeln auf der ganzen Sonnenscheibe sicht-
bar zu machen, während eie im Fernrohr nur in der Nähe des Randes
beobachtet werden können. Es scheint aber so, als wenn sich die
leuchtenden Kalziumdämpfe auch zuweilen an Stellen zeigten, die frei
von den eigentlichen Fackeln sind. Aus diesem Grunde hat auch
Haie für die hellen Kalziumwolken einen neuen, im übrigen nicht
gerade sehr geschmackvollen Namen eingeführt: „Calciumflocculi.“
Die besseren, bei vorzüglichen Luftzuständen erhaltenen Haie-
schen Aufnahmen zeigen eine sehr feine Struktur der Flooouli. Diese
setzen sich aus ganz kleinen Elementen zusammen, die ihrer Gröfse
und Form nach mit den bekannten, auf der ganzen Sonnenscheibe
sichtbaren hellen Körnern, welche die Granulation der Sonnenober-
fläche bedingen, übereinstimmen und wahrscheinlich auch mit ihnen
identisch sind, indem sie die obersten Spitzen derselben bilden.
Haie geht aber noch weiter. Da die Kalziumlinien vom Sonnen-
rande nach aufsen spitz zulaufen, an dem Rande aber stark ver-
bretiert sind, wie das infolge des nach unten zunehmenden Druckes
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lafel II.
Kalziumbild der Sonnenscheibe. 1903, August iz.
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natürlich ist, so nimmt Haie an, dafs die Mitte und die Ränder der
verbreiterten Kalziumlinien im Sonnenspektrum verschiedenen Höhen
über der Photosphäre entsprechen, dafs man daher Bilder aus ver-
schiedenen Niveauflächen der Sonnenatmosphäre erhält, je nachdem
der zweite Spalt des Spektroheliographen auf die Mitte oder auf die
Randpartien der Kalziumlinie gesetzt wird. Zukünftige Forschungen
müssen über die Richtigkeit dieser Hypothese entscheiden, und es
hat daher wenig Zweck, jetzt schon an dieser Stelle uns in diese
Fig. 4.
theoretischen Betrachtungen zu vertiefen. Dagegen kann der Leser
nur durch eigene Anschauung sich eine Vorstellung von der Schönheit
der Haieschen Autnahmen und von ihrer wissenschaftlichen Bedeu-
tung bilden. Es sind daher dieser Beschreibung mehrere verkleinerte
photographische Reproduktionen Halescher Aufnahmen beigegeben,
denen ich einige kurze Erläuterungen zufüge.
Tafel II. Die ganze Sonnenoberfläche erscheint bedeckt mit
kleinen und kleinsten Flocculi, die sich besonders im unteren, südlichen
Teile der Sonnenscheibe in der Gegend der dort vorhandenen Fackeln
zu gewaltigen Wolken zusammenballen. Die Fleckenkerne selbst
treten als kleine dunkle Öffnungen in den KalziuinwolkeD hervor.
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Tafel 111. Der Sonnendeck selbst erscheint in der Form, wie bei
direkter photographischer Aufnahme. Er ist aber umgeben und teilweise
durchzogen von Anhäufungen von Kalziumdampf, deren feinere
Struktur gut zu erkennen ist; auch die weitere Umgebung des Flecks
ist mit Flooculis erfüllt. Die obere Aufnahme entspricht naoh der
Haieschen Theorie der tiefsten Schicht des Kalziumdampfes; sie
zeigt die einzelnen Figurationen viel weniger intensiv und deutlieh
als die untere Aufnahme, die von einem höheren Niveau in der Sonnen-
atmospbäre stammt.
Fig. 4 zeigt ungemein dichte Anhäufung des Kalziumdampfes als
Begleitung der grofsen Fleckengruppe vom Oktober 1903. Die Längs-
ausdehnung dieser Wolke entspricht dem 5. Teile des Sonnendurch-
mesBers, beträgt also 40 OüO geographische Meilen.
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Tafel III.
Tieferes Niveau in der Sonnenatmosphäre.
Höheres Niveau in der Sonnenatmosphäre.
Kalziumbild des Sonnendecks. 1903, Oktober 9.
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f
«1
4
Neueste Forschungen über den elektrischen Strom.
Von Professor B. Weinstein in Berlin.
Ss ist nicht meine Absicht, dem Leser eine Lehre des elektrischen
Stromes vorzutragen, die Wirkungen dieser Ercheinung und
ihre Gesetze ins Licht zu stellen. Ich beabsichtige vielmehr, grund-
legende Untersuchungen früherer und neuester Zeit in ihrer Bedeutung
vorzuführen und Schlüsse auf die Natur oder wenigstens auf die Theorie
des elektrischen Stromes zu ziehen, und auch einiges zu sagen, was
bisher noch nicht gesagt ist.
Der Leser würde mir wahrscheinlich die Theorie gern schenken,
wenn ich ihm nur über das Wesen dos Stromes etwas mitteilen könnte.
Allein der Stand unseres Wissens auf diesem Gebiete (äfst kaum mehr
als Vermutungen zu, und selbst diese in so unbestimmter Form, so
umschleiert von allen möglichen Vorbehalten, dafs viel mehr als ein
Bild mit ganz verschwommenen Umrissen nicht zum Vorschein kommt.
Man sieht wohl etwas, ohne jedoch sagen zu können, was dieses
Etwas vorstellt. Es ist höchst seltsam, dafs ein Gegenstand, der doch
sozusagen auf der Slrafse liegt und der sich so real bemerkbar maoht,
dafs vor seiner Berührung auf langen Tafeln polizeilich gewarnt wird,
sich vor den alles durchdringenden Augen der Wissenschaft so unfind-
bar verstecken kann. Der elektrmohe Strom führt wohl das geheim-
nisvollste Dasein aller Gegenstände der Natur, die Seele vielleicht
ausgenommen, wiewohl bei dieser ein gut Teil des Verborgenseins
von der chinesischen Mauer aus Vorurteilen herrührt, mit der wir sie
so ängstlich umgeben, damit sie uns nicht von räuberischen Materialisten
gestohlen wird, was wahrlich Welten von Kraft nicht möglich sein
möchte. Von dem was bleibend ist suchen wir wohl ebenfalls die
Erklärung. Was und woher die Substanz? Wer gab die Energie?
Dooh suchen wir resigniert mit dem sicheren Bewufstsein, dafs wir
doch nichts finden werden. Aber was kommt und geht, worüber wir
so offenbare Maoht haben, dafs wir es schaffen und vernichten, senden
wohin wir wollen, nach unserem Belieben arbeiten lassen können;
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53S
davon nicht zu wissen, womit wir es zu tun haben, ist fast ärgerlich.
Ich werde den elektrischen Strom bald als Gegenstand, bald al6 Er-
scheinung oder als Vorgang bezeichnen, da man noch nicht weifs,
aus welcher Klasse von Namen man ihn nennen soll. Gibt es doch
Forscher, die ihn sogar zu dem mathematischen Begriff einer Kraft-
achse verflüchtigen, wie denn auch die handgreifliche Materie oft
selber als ein Haufen von Kraftzentren bezeichnet worden ist und
noch bezeichnet wird. Die Namen, die ich wähle, sollen also zunächst
nur der Bequemlichkeit und dem Wunsch, Gleichklang zu vermeiden,
erwachsen sein und freilich auch zu schon vorausgenommenen Bildern
passen.
Der elektrische Strom ist eine anscheinend sehr zusammengesetzte
Erscheinung, wenigstens, wenn wir als elektrischen Strom dasjenige
definieren, was elektromagnetische Wirkungen hervorruft. Er besteht
aus mehreren Teilen, die einzeln oder beliebig verbunden auftreten
können. Da dieses einen Hauptpunkt der ganzen Untersuchung bildet,
mufs ich darauf näher eingehen. Was wir gewöhnlich als elektrischen
Strom bezeichnen, ist der Leitungsstrom. Einfacher Anschauung
zufolge, der ich zunächst nachgehe, fliefst bei diesem die Elektrizität
im Leiter, wie Wasser in einem Rohr. Wer nur eine Art Elektrizität
zuläfst, etwa die sogenannte negative, und die zweite Art Elektrizität
in einem Mangel an dieser einen Art erblickt, setzt voraus, dafs
im Leitungsstrom nur diese eine Elektrizität sich bewegt. Wer die
Existenz zweier Elektrizitäten zugesteht, neben der negativen die
positive, mufs sie beide ineinander nach entgegengesetzten Rich-
tungen strömen lassen. Der Körper, durch den die Elektrizität
fliefst, setzt ihrer Bewegung einen gewissen Widerstand ent-
gegen, den man ähnlich einem Reibungswiderstand auffafst, und
indem der Widerstand überwunden wird, entsteht wie bei der Über-
windung von Reibung Wärme. Diese Wärme ist für den Leitungs-
strom sehr charakteristisch. Da ein Widerstand überwunden werden mufs.
bedarf es für den Strom einer treibenden Kraft, das ist die elektro-
motorische Kraft. In den Leitern wird sie durch die ungleiche
elektrische Spannung geliefert, welche in ihnen herrscht Diese ihrer-
seits verdankt ihre Entstehung der sogenannten freien Elektrizität
Die freie Elektrizität darf nicht mit dem elektrischen Strom verwechselt
werden, sie bewegt sich nicht sondern bleibt während des ganzen
Strom Vorganges fest liegen. Aufserdem befindet sie sich, sofern der
Leiter keine Ungleichheiten in seiner inneren Beschaffenheit zeigt
nur auf der Oberfläche des Leiters. Sind solche Ungleichheiten vor-
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handen, so kann freie haftende Elektrizität auch an der Berührungs-
fläche ungleichartiger Teile besteben. Man sieht schon, selbst der
Leitungsstrom ist keine einfache Erscheinung; er besteht aus mindestens
zwei Erscheinungen, dem eigentlichen Strom innerhalb des Leiters
und der ihn treibenden freien Elektrizität auf der Oberfläche des
Leiters und an den Grenzflächen; letztere sind eben die Flächen, an
denen die gleichartige Beschaffenheit des Leiters unterbrochen ist.
Diese Flächen nennen wir. wenn sie sioh innerhalb des Leiters be-
finden, Grenzschichten; solche sind beispielsweise die „Lötstellen“
an Thermoelementen. Beenden die Grenzflächen den Leiter, so heifsen
sie im beschränkten Fall, dafs andere Leiter durch sie mit dem
betreffenden Leiter in Verbindung stehen, Pole, sonst, wenn
beispielsweise Flüssigkeiten oder Gase an sie stofsen oder sie
umgeben, Elektroden, wie Kupfer und Zink in dem Daniellschen
Element, Kohle und Zink im Bunsen-Element, die Platindrähte oder
Aluminiumscheibchen in den Geifslersohen und Kön t gen röhren u. s. f.
Die Spannungsdifferenz der froion Elektrizitäten an diesen Elektroden
ist es, was man gewöhnlich als elektromotorische Kraft des Daniellschen
Elements, des Bunsen-Elements u. s. f. versteht. Doch spricht man
auch von Polspanuung, Klemmspannung, was dasselbe sein soll, indem
man von den Polen als Enden des Leiters ausgeht. Tatsächlich
haben wir an jeder Stelle Spannung und an jeder Stelle besondere
elektromotorische Kraft als Spannungsuntersohied Tür eine Streoken-
einheit der Stromhahn. Doch kann es Vorkommen und ist sogar
praktisch das gewöhnliche, dafs die elektromotorische Kraft längs der
ganzen Bahn des Stromes einen und denselben Betrag aufweist; als-
dann braucht man sie nicht für die verschiedenen Stellen zu unter-
scheiden. Das ist, ich möchte sagen, das Abc des Leitungstromes, aber
wie der Leser schon sieht, stehen doch mehr Worte als Bilder auf
dem Blatt.
Um zu Bildern zu gelangen, machen wir Gebrauch von der so
berühmt gewordenen Elektronenlehre. Dieser zufolge enthält jeder
Körper in seinen kleinsten, ihn chemisch noch bestimmenden Teilchen
Elektrizität beider Art Man nennt diese kleinen Teilchen bekanntlich
Molekeln. Eine Molekel Wasser — ich mache als Sohulmeister, der
ioh hier bin, darauf aufmerksam, dafs es riohtig die Molekel (mole-
cula) heifsen niufs, wenn auch viel öfter das Molekül gesagt und ge-
schrieben wird; gar das Molekel zu sagen, halte ioh wegen der zweiten
Silbe für halb bösartig — ist das kleinste Teilchen Wasser, welches
chemisch noch als Wasser angesprochen werden kann; ein kleineres
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Teilchen als diese Molekel würde chemisch nicht mehr Wasser sein.
Wohlgemerkt: chemisch, naoh der chemischen Zusammensetzung';
physikalisch darf man die Teilung nicht entfernt soweit treiben ; lange
bevor man zur Molekel gelangt ist, haben die Teile physikalisch
ihre Eigenschaften als Wasser geändert Eine solche Molekel nun
ist schon nach uralten Theorien — als welche gegenwärtig, wo jeden
Tag was Neues wäohst, Theorien gelten, die unsere Grofsväter oder
gar Väter geschaffen haben — in sich nooh zusammengesetzt. Sie be-
steht aus noch kleineren Teilchen, die wir, wenn sie die aller- aller-
letzten sind, die weiter nioht geteilt werden können, Uratome nennen,
oder einfach Atome. Dooh können solohe Atome in der Molekel
noch für sich besondere Komplexe bilden, die dann als Unter-
molekeln anzuspreohen sein würden. Man nimmt nun an, dafs jede
Molokel in eine Anzahl Atome, oder Atomkomplexe, zerfallt, deren
jedes eine gewisse Menge Elektrizität von Urbeginn enthält die also mit
ihr verbunden ist Diese Elektrizität ist das hochberühmte Elektron.
Es ist ein Individuum wie das Atom, mit dem es sioh versohwistert
hat. Das Elektron kann aber positiv oder negativ sein. Also jede
Molekel enthält positive und negative Elektronen. Begeisterte An-
hänger dieser Elektronen haben sogar angenommen, dafs sie allein
die Molekeln der Körper bilden. Leiohten Herzens haben sie die
Träger der Elektronen, die Atome, herausgeschmissen, und da doch
gleichwohl die Substanz nicht fortgeleugnet werden kann, haben sie
die Elektronen selbst zu Substanz gemacht. Alle Substanz soll reine
Elektrizität sein nichts anderes. Man steht dieser elektrischen Ortho-
doxie etwas verblüfft gegenüber. Indessen so weit sind wir noch
nioht, denn die Substanz hat eine furchtbare Waffe, mit der sie sich
verteidigt; ihre absolute Faulheit, ihre Trägheit, wogegen die Elek-
trizität ein ungemeiner Leichtfufs ist Wir lassen also beiden ihr
Recht, den Atomen wie den Elektronen. Die Gesamtmenge negativer
Elektronen, gemessen in Elektrizität, soll genau so grofs sein wie die der
positiven. Gleichwohl können und sollen die Anzahlen negativer Elek-
tronen gröfser unter Umständen sogar sehr viel gröfser sein als die
der positiven, so dafs ein negatives Elektron sich nur klein gegenüber
einem positiven ausnehmen würde. Auch sonst sollen sich die nega-
tiven Elektronen anders verhalten wie die positiven, namentlich sollen
sie sioh weit leichter von ihren Trägern, den Atomen, entfernen oder
mit diesen bewegen können als die positiven. In der Tat ist es nur
in sehr wenigen, dazu nioht einmal ganz zweifelfreien Fällen gelungen,
von den Atomen losgelöste positive Elektronen festzustellen (bei den
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Kanalstrahlen), während die negativen oft und leicht, so in den
.Strahlungserscheinungen der sogenannten Kathode, sich auf Wander-
schaft begeben. Bildet eine gewisse Zahl Atome mit ihren positiven
Elektronen einen zusammenhaltenden Komplex, so gehören dazu andere,
ebenfalls einen Komplex ausmachende Atome mit negativen Elektronen.
Zusammen sind sie die ganze Molekel oder eine Untermolekel. In
beiden Fällen nennen wir jeden dieser Komplexe ein Ion, und zwar
den ersten ein positives, den zweiten ein negatives. Beide heifsen sie
die Ionen der Molekel oder der Untermolekel. Ion ist ein „Wandern-
des“; wir werden bald sagen, warum der Name zutrifft. Im Plural
sollte er richtig Ionten lauten, aber die Bezeichnung Ionen hat sich
unausrottbar eingebürgert.
Eine Molekel kann aus einem Ionenpaar bestehen oder aus
mehreren solchen Ionenpaaren. Es kann Vorkommen, dafs in jedem
Paar die Ionen fest Zusammenhalten, so dafs bei irgend welchen Zer-
teilungen der Molekeln immer nur Untermolekeln erhalten werden.
Indessen kann es auch geschehen, dafs ein Paar oder mehrere Paare
sich in ihre Ionen zerlegen. Das mufs sich sofort verraten, denn
dann enthalten die Teile, in die die Molekel auseinandergegangen ist,
auf einer Seite mehr positive, auf der anderen mehr negative Elek-
trizität, sie sind also nach aufsen positiv oder negativ elektrisch, was
im ersten Fall nicht stattfindet, weil genau soviel positive wie nega-
tive Elektrizität vorhanden ist. Wir nennen Körper, deren Molekeln
in Ionen zerfallen können, Elektrolyte, solche, bei denen der Zer-
fall nur in Ionenpaaren zu geschehen vermag, Niohtelektrolyte.
Aufserdem kann es Vorkommen, dafs der Zerfall nicht die Molekeln
selbst betrifft, sondern ihre Elektronen, die Elektronen entfernen sich
ganz oder zum Teil von ihren Atomen, sie sind dann ihrerseits freie
Atome, Elektrizität und werden gerade dann als Elektronen bezeichnet.
Dieses betrifft, wie bemerkt, namentlich die negativen Elektronen und
findet vor allem statt in und an den Metallen.
Nunmehr können wir sagen, wie man sich gegenwärtig die
Leitung eines Stromes vorstellt Wir nehmen zunächst ein Metall als
Strombahn. Wirkt an irgend einer Fläche im Innern des Metalls eine
elektrische Kraft, so trennt sie dort die negativen Elektronen von
ihren Atomen und treibt sie auf der einen Seite der Fläche nach vor-
wärts, auf der anderen Seite zieht sie sie zu sich hin. Die ge-
triebenen Elektronen treiben ihrerseits die vor ihnen liegenden von
den Atomen fort und vor sich hin. Indem dieses durch das ganze
Metall geschieht, findet gleichsam ein Strömen der Elektronen des
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Metalls von der einen Seite des Sitzes der elektromotorischen Kraft
zu der anderen in geschlossener Bahn statt. Je stärker die Kraft,
desto mehr Elektronen kann sie von den Atomen lösen und treiben
und mit desto gröfserer Geschwindigkeit, das huifst mit desto
rascherem Wechsel der Elektronen an jeder Stelle; desto stärker also
der Strom. Aufserdem kommt noch in Betracht, dafs die Elektronen
sich nioht ohne weiteres von den Atomen trennen lassen, und ferner,
dafs sie sich auoh nicht frei zwischen den Molekeln zu bewegen ver-
mögen. Das bedingt den elektrischen Widerstand, den die Molekel
leistet, und der in seiner Höhe nach der Natur des Metalls sich
richtet.
Den Vorgang selbst kann man sich übrigens in doppelter Weise
denken. Entweder geht die Bewegung der Elektronen nur von Mo-
lekelschicht zu Molekelschicht, so dafs jedes vorliegende Elektron
von einem nachfolgenden von seinem Atom vertrieben oder ab-
gesprengt wird, indem sich letzteres an die Stelle des anderen Elek-
trons auf das betreffende Atom lagert, ln diesem Falle ist die Be-
schaffenheit des leitenden Körpers gar nicht geändert, denn in jedem
Augenblick hat jedes Atom sein Elektron; es tritt nur nach einer
Richtung stattfindende Auswechselung der Elektronen ein, und höch-
stens Molekeln einiger Schichten besitzen keine Elektronen oder nicht
so viele, wie sonst ihnen zukommen würden, weil diese Elektronen
gerade losgerissen sind und sich in Bewegung zu den anderen
Schichten befinden, während der Ersatz noch nioht herangenaht ist.
In der anderen Vorstellung kann man sich die Elektronen ganz oder
zum Teil von den Atomen vertrieben und zwischen den Molekeln als
einen Schwarm sich bewegend denken. Der Strom ist hier wirklich
ein Strom von Elektrizität, nämlich von Elektronen, und der be-
treffende Körper als solcher besteht aus mehr oder weniger Mole-
keln mit Elektronen, zwischen welchen andere, freie Elektronen ziehen.
Bei dieser Vorstellung sollte man die Beschaffenheit des Körpers als ver-
ändert ansehen, was aber mit Sicherheit nur in gewissen Fällen fest-
gestellt scheint, auf die noch zurückzukummen ist. Am zweckmäßigsten
wird man von beiden Vorstellungen zugleich Gebrauch machen, also
sowohl Austausch, als Sohwärmen der Elektronen annehmen. Wie dem
aber auoh sei, so lehrt diese Anschauung, dafs ein elektrischer Strom
nioht fremde Elektrizität durch einen Körper führt, sondern nur in
einer Bewegung der dem Körper eigenen Elektrizität besteht Das
fremde ist lediglich die diese Bewegung veranlassende elektro-
motorische Kraft.
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Woher kommt aber nun die sogenannte freie und ruhende Elek-
trizität auf der Oberfläche des Leiters und überhaupt an jeder Fläche,
welohe zwei verschieden geartete Stoffe trennt? Die nächste Antwort
wäre, ebenfalls aus dem Körper oder aus den Körpern. Verfolgen
wir erst den Fall eines Leiters, der aus zwei sioh in einer Fläche
berührenden Metallen besteht. Da die Elektronen an den Atomen
immerhin haften, wird angenommen, dafs eine gewisse Anziehung
zwischen ihnen und diesen Atomen besteht. Es kann auch keinem
Zweifel unterliegen, dafs namentlich die positiven Elektronen von
ihren Atomen festgehalten werden, und zwar, je nach der Be-
schaffenheit der betreffenden Körper, mit mehr oder weniger Kraft.
So wird von Körpern, die sich in einer Flüssigkeit, z. B. einer Säure
leicht lösen, angenommen, dafs die Molekeln in Ionen zerfallen und
ein Ion mit den positiven Elektronen in die Flüssigkeit geht. Da-
gegen soll bei Körpern, die sich nicht lösen, ein Zerfall der Molekeln nicht
stattfinden, und statt dessen sollen die positiven Elektronen sich von
ihren Atomen trennen und in die Lösung gehen. Bei Körpern erster
Art halten also die Atome ihre positiven Elektronen fest, und wenn
letztere durch eine elektrische Kraft in die Flüssigkeit getrieben
werden, fahren sie auf ihren Trägern, den Atomen, hinein. Atome von
Körpern der zweiten Art lassen die positiven Elektronen leicht los,
die dann für sich der treibenden Kraft folgen können. Diese Be-
trachtung ist von höohster Wichtigkeit für die Elektrolyse und über-
haupt für die Zersetzung der Substanzen, für die Dissoziation, worauf
bald zurückzukommen ist. Also die Substanzen üben Kraft wirk ungen
auf die Elektronen aus, und zwar je nach ihrer Art und auch je nach
der Art der Elektronen verschieden. Stofsen nun zwei Substanzen
aneinander, so wird jede von ihnen zunächst die eigenen Elektronen
festhalten, aufserdem aber auch die Elektronen der anderen Substanz
heranziehen. Da die Anziehung wesentlich die positiven Elektronen
betrifft, so wird die stärkere Substanz diese Elektronen der anderen
Substanz an sich raffen; an der Grenzfläche entsteht so ein Ansturm
positiver Elektronen. Indem aber die schwächere Substanz positive
Elektronen verliert, werden negative in ihr frei, und diese folgen den
positiven Elektronen, soweit die neben diesen Wirkungen auch be-
stehenden rein elektrischen Kräfte es zulassen. So bildet sich an
der Grenzfläche eine zweite Schicht von Elektronen, und es befinden
sich an dieser Grenzfläche zwei Schichten Elektronen, eine Schicht
positiver und eine andere negativer Elektronen. Bekanntlich nennt
man die in diesen Schichten vorhandene Elektrizität Berührungs-
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*Kontakt-)Elektrizität oder auch Volta-Elektrizität. Die vor-
stehende Anschauung aber, ohne das Mittel der Elektronen, hat Helm-
holtz vor langer Zeit entwickelt. Sie ist, wie ich bemerken will, mit
vielen Schwierigkeiten verbunden, aber erheblich besser sind andere
Theorien, die man noch aufgestellt hat, auoh nicht. So 6ind die freien
ruhenden Elektrizitäten an der Grenzfläche zwischen zwei Leitern
ermittelt.
Nun die Elektrizität an der Oberfläche eines Leiters. Diese Ober-
fläche ist die Grenzfläche zwischen dem Leiter und dem ihn umgebenden
Nichtleiter (z. B. Luft). Von einem Nichtleiter müssen wir annehmen,
dafs seine Elektronen weder für sich noch mit ihren Atomen sich aus
den Molekeln zu entfernen vermögen, und dafs auch in ihn weder
freie noch an Ionen gebundene Elektronen eintreten können, (was
natürlich nicht ausschliefst, dafs unter Umständen Molekeln doch in
Ionen zerfallen und dafs auch fremden Molekeln oder Ionen paaren
der Eingang und der Durchgang gestattet wird.) Haben sich hiernach an
der Oberfläche eines Leiters Elektronen aus den Molekeln, mit oder ohne
ihre Atome abgelöst, so bleiben sie daselbst und können sich nicht in
dem Nichtleiter verbreiten. Nun aber, warum bewegen sie sich nicht
entlang der Oberfläche des Leiters? Hier weifs ich, da die gewöhn-
lichen elektrischen Kräfte mir nicht auszureichen scheinen. Keine
andere Aushilfe als die Annahme, dafs die Nichtleiter die Elektronen
mit grofser Kraft anziehen und sie auf diese Weise an der Oberfläche
festhalten. Da sie ferner selbst keine Elektronen abgeben, findet sich
an dieser Oberfläche nur eine Schicht von entweder negativen oder
positiven Elektronen. Ist der den Leiter umgebende Körper kein ab-
soluter Niohtleiter, so tritt eine Mischung der beiden Fälle ein; wir
haben zwei ruhende Elektronenschichten, nur dafs eine dieser Schichten
stärker ist als die andere und dafs Elektronen die Schichten durch-
queren können, wie dieses bei den zuerst behandelten Grenzschichten
zwischen zwei Leitern der Fall ist
In gewissen Fällen bleiben die Elektronen der Grenzschichten
nicht unbewegt an ihrem Orte, dann nämlich, wenn zwischen den ver-
schiedenen Teilen des zusammengesetzten Leiters Temperaturdifferenzen
bestehen. Es tritt dann zufolge dieser Wärmeunterschiede eine trei-
bende elektromotorische Kraft auf, welche die Elektronen an den
Grenzschichten wie im Leitungsstrom vorwärts schiebt Der so ent-
stehende Strom ist bekanntlich der Thermostrom. Wie durch
Wärmeuntersohiede eine elektromotorische Kraft hervorgebracht wird,
ist noch recht dunkel. Wir können lediglich annehmen, dafs durch
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solche Unterschiede auch Unterschiede in dem Aufbau der Molekeln
verursacht werden, mittelbar also auch in der Verteilung der Elek-
tronen. Wo ein Wärmeüberschufs besteht, werden die Molekeln auf-
gelockert; dadurch werden die Elektronen freier und geben Kraft-
einwirkungen leiohter nach als die Elektronen derjenigen Molekeln,
die keine Auflockerung erfahren haben. Die Krafteinwirkungen aber
können von den Molekeln selbst herstaramen, entweder aus Fern-
wirkung oder durch Stösse. In letalerer Hinsicht nimmt man be-
kanntlich an, dafs die Molekeln der Körper sioh in steter zitternder
Bewegung befindon, wobei sie fortwährend aneinanderprallen. Sind
die Molekeln überall durchschnittlich gleich gebaut und in gleicher
Bewegung, so kann sich durch das Aneinanderprallen im Durohschnitt
niohts ändern. Sobald jedooh durch Wiirmeuugleichheiten auch Ungleich-
heiten im Bau und in der Bewegung der Molekeln hervorgerufen werden,
müssen die Wirkungen des Aneinanderprallens an verschiedenen
Stellen verschieden sein. Es werden an Stellen grÖfserer Auflockerung
und hastigerer Bewegung, das ist an Stellen höherer Temperatur,
mehr Elektronen durch die Stöfse der Molekeln von don Atomen ab-
gesprengt als an anderen. Indessen spielen hier auch diejenigen
Kräfte mit, welche — wie wir bei der Kontaktelektrizität sahen — von
den Molekeln auf die Elektronen ausgeübt werden, denn in absolut
homogenen Körpern vermögen Wärmeungleichheiten elektrische Ströme
anscheinend nicht zu verursachen. Thermoströme sind wohl nur vor-
handen, wenn Wärmeungleichheiten verschiedene Leiter, wie Leiter
aus Wismut und Antimon betreffen, oder einen Leiter zwar von chemisch
überall gleicher Substanz, der aber durch besondere Behandlung an
verschiedenen Stellen voneinander abweichende physikalische Eigen-
schaften erhalten hat.
Wenn ein Leiter eine ringsgeschlossene Bahn bietet, bewegen
sich die Elektronen in dieser Bahn. Ist dieselbe an irgend einer
Stelle unterbrochen, so prallen die Elektronen an dieser Stelle an; sie
wirken dadurch auf die ihnen folgenden zurück, und in kurzer Zeit
kommt alles, falls die treibende Kraft nicht hinreicht, das Hindernis zu
überwinden, zum Stillstand; es ist kein Strom mehr vorhanden. Gleich-
wohl kann, wenn die elektromotorische Kraft noch besteht, der Zustand
der Elektronen im Leiter nicht der nämliche sein, als wenn auf den
Leiter überhaupt nichts wirkte; dagegen spricht schon der Umstand,
dafs die freie Elektrizität erhalten bleibt. Die Elektronen in einem
solohon Leiter müssen also anders verteilt sein als im Falle absoluter
Ruhe. Ändert sich die elektromotorische Kraft, so ändert sich die
Himmel und Erde. 1004. XVI. 12. 35
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Verteilung der Elektronen; letztere bewegen sich rasch in ihre neuen
Stellungen. Oeht die Änderung der elektromotorischen Kraft periodisch
vor sich, so tritt das nämliche in der Verteilung, also auch in der Be-
wegung der Elektronen ein. Wir haben dann sogenannte elektrische
Schwingungen im Leiter, die sioh bekanntlich auf den den Kaum
erfüllenden Äther übertragen. Während aber die Schwingungen im
Leiter noch zu den Leitungsströmen gehören, sind die Schwingungen
im Äther Ströme ganz anderer Art, wie später gezeigt werden soll.
Unter Umständen kann die elektromotorische Kraft so grofs
werden, dafs die Elektronen das Hindernis überwinden. Sie stürmen
dann aus dem Leiter, allein oder mit Atomen des Leiters, wie ein Sprüh-
feuer heraus und geben so die verschiedenen Strahlengattungen,
namentlich die Kathoden st rahl en. Die Geschwindigkeit, mit der
sie sich dabei bewegen, kann aurserordentlich grofs werden; wir kennen
Fälle, in denen sie an 50 000 und mehr km für die Sekunde betrug, was
mehr als hinreiohen würde, ein Elektron in der Sekunde ganz um die
Erde herumzujagen. So ungeheure Geschwindigkeiten würden an
Stellen, die dem Anprallen der Elektronen ausgesetzt sind, furchtbare
Verwüstungen anrichten, wenn ihre Massen nur irgend erheblich wären.
Diese sind aber, falls sie überhaupt bestehen, aufserordentlicb minimal.
Der Durchmesser der Elektronen verhält sioh zu demjenigen einer
Billardkugel, wie die Gröfse eines Fixsternes zu dem die Fixsterne
im Durchschnitt trennenden Zwischenraum. Es hat jemand gesagt,
dafs, wenn wir ein Stück Platin so betrachten könnten wie das Weltall,
dieser so dichte Körper uns so leer Vorkommen würde wie dieses
Weltall, und die Elektronen wären die Sonnen darin; so unbändig
winzig sind die letzteren. Dafs aber die Elektronen an Stellen, wo sie
aufprallen, gleichwohl sehr augenfällige Wirkungen hervorbringen, ist
jedem Leser aus den Geisl er sehen Röhren und den Röntgen-Röhren,
bekannt. Es ist bezeichnend, dafs der Elektronenstrom zwar von
einem Ende deB Leiters, von der sogenannten Kathode ausgeht, aber
nicht nach dem anderen Ende, der sogenannten Anode, hinzielt, son-
dern unbekümmert um diese seinen geraden Weg nimmt. Die Anode
spielt dabei eine merkwürdig untergeordnete Rolle. In der Tat sind diese
Elektronenströme nicht mehr die Fortsetzung dos Stromes, der den
Leiter durchzieht, sie sind besondere, Leitungsströmen nicht zu ver-
gleichende Ströme. Wir müssen annehmen, dafs in den Geifsler-
schen Röhren neben ihnen noch etwas vorgeht, was von Kathode zu
Anode gerichtet ist, falls eine solche vorhanden ist. Darauf komme
ich ebenfalls zurück.
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Nun wollen wir noch einen dritten Fall betrachten. Wir schalten
an der Unterbrechungsetelle des Leiters eine Flüssigkeit ein, d. b. wir
tauchen die Enden des Leiters, durch den der Strom geht, in eine
Flüssigkeit Gehört diese Flüssigkeit den Niohtelektrolyten an, so
ist dieser Fall von den voraufgehenden Fallen nicht verschieden.
Anders jedoch, wenn die Flüssigkeit ein Elektrolyt ist. Löst sich der
Leiter in dieser Flüssigkeit nicht, so treten, durch den Strom getrieben,
von einem Ende negative, vom anderen Ende positive Elektronen in
die Flüssigkeit ein, oder, was meist angenommen wird und denselben
Erfolg bat es treten von beiden Enden positive, aber von dem einen
mehr als vom anderen ein. Das erstere ist eine bequemere Ausdrucks-
weise. Da die Molekeln der Flüssigkeit selbst Elektronen ent-
halten, können die in die Flüssigkeit gehenden Elektronen des
Leiters nicht ohne Einflufs auf jene sein. Die eintretenden negativen
vertreiben die negativen, die positiven die gleichbenannten Elektronen
der Flüssigkeitsmolekeln. So entsteht in der Flüssigkeit ein Wandern
negativer Elektronen nach der Seite hin, wo die positiven ausgetreten
sind, und positiver nach der entgegengesetzten Richtung. Verhielte sich
nun die Flüssigkeit wie ein gewöhnlicher Leiter, so brächte das nichts
neues, es wäre ein gewöhnlicher l.eitungsstrom. Aber wenn die Elek-
tronen der Flüssigkeiten sich nur zugleich mit ihren Atomen bewegen
und die Molekeln aus Ionen bestehen, trifft die Wanderung nioht sowohl
die Elektronen der Flüssigkeit als vielmehr deren Ionen. Ein Ion
geht von der Anode zur Kathode, ein anderes von der Kathode zur
Anode. Jedes dieser Ionen trägt Elektronen einer Art mit sich, und
sobald die Ionen an die Leiterenden gelangt sind, nehmen diese die
Elektronen auf und die Ionen bleiben von ihren Elektronen frei, unge-
laden an den Elektroden liegen. Die aufgenommenen Elektronen durch-
ziehen den Leiter nach entgegengesetzten Richtungen und gelangen
wieder in die Flüssigkeit. So setzt sich das Spiel fort, solange die
Flüssigkeit noch in Ionen zerlegbare Molekeln besitzt; sind diese ver-
schwunden, so hört es auf; der Strom ist unterbrochen. Man sieht,
welche Ähnlichkeit diese Art der Stromleitung, die elektrolytische
Stromleitung, mit der früher behandelten hat. nur dafs die Elektronen
sozusagen huckepack von einem zum anderen Ende getragen werden.
Die Geschwindigkeit dieser Beförderung der Elektronen, die Wan-
derungsgesohwindigkeit der Ionen, steht in einem schreienden
Gegensatz zu der vorhin geschilderten Geschwindigkeit, mit der diu
Elektronen selbst sich zu bewegen vermögen; sie entspricht kaum
dem Krieohen einer Schnecke, ln einfachen Experimenten, wenn
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das Spannungsgefälle der Elektrizität für ein Centimeter Weglänge ein
Volt beträgt, ist sie durchschnittlich nur wenige Tausendteile des Milli-
meters auf die Sekunde. Sie kann aufserdem für das eine Ion einen
anderen Wert haben wie für das zweite. So beträgt sie in einer
Kochsalzlösung für das eine Ion des Kochsalzes, nämlich das Natrium,
etwa 3 Tausendteile, für das andere Ion, nämlich das Chlor, gegen
5 Tausendteile Millimeter. Der Vorgang selbst ist dabei so zu denken,
dafs nioht etwa ein Ion die ganze Flüssigkeit durchwandert, sondern
dafs es sich nur bis zur nächsten Molekel bewegt, dort das ihm
gleiche Ion vertreibt und sich an dessen Stelle setzt. Daher bleibt
die Flüssigkeit in ihrer Masse an sich unzersetzt, nur dafs sie immer
mehr zersetzbare Molekel verliert. Die zersetzten Teile, die freien
Ionen, finden sich erst an den Enden, den Elektroden des Leiters,
und können — wio es auch geschieht — dort gewonnen werden. Es
wird den Leser noch interessieren, zu erfahren, dafs die Ionen ganz
ungeheure Mengen Elektrizität mit sich führen, z. B. ein Gramm eines
Natriumion soviel, dafs man damit einen Strom von 1 Ampere Stärke,
was schon ein ganz achtbarer Strom ist, fast anderthalb Stunden er-
halten könnte. Die Kraft, welche zur Bewegung dieses Gramms
Natriumion erforderlich ist, liifst sich vergleichen mit dem Druck,
den etwa 6000 Kilogramm auf ein Quadratcentimeter aufgetürmt, auf
dieses Flächenstück ausüben würden. Die Kölner Domtürme drücken
auf ihr Fundament sicher noch nioht mit dem hundertsten Teil dieser
Kraft. Es enthalten also die Körper ganz unglaubliche Energieen in
sich aufgespeichert. Nur schade, dafs wir ihrer nicht ohne weiteres
habhaft werden können.
Wir kehren jetzt zu dem Fall einer durch einen Nichtleiter unter-
brochenen Strombahn zurück. Wir sahen schon, dafs unter Umständen
von der Unterbrechungsstelle ein Strom Elektronen ausgeht, der die
Kathodenstrahlen, Röntgenstrahlen usw. bildet, jedoch nur unter Um-
ständen, und diese Umstände werden dem Leser jetzt bekannt sein. Ge-
schieht aber sonst in der Umgebung des Leiters niohts? Lange hat man
das angenommen, bis die Untersuchungen von Faraday und Maxwell,
welche in den Entdeckungen von Heinrich Hertz gipfelten, die
Wissenschaft eines anderen belehrten und so eine völlige Umwandlung
nicht blofs der Lehre der Elektrizität, sondern auoh des Lichtes her-
beiführten. Denken wir uns eine ungeladene Metallkugel und ver-
binden sie durch einen Draht mit einer Elektrisiermaschine oder einer
anderen Elektrizitätsquelle. Es strömt Elektrizität dann durch den Draht
in die Kugel. Was das bedeutet und wie lange das dauert, wissen wir
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schon. Was geht aber in der Umgebung der Kugel, in der Luft und
in dem alles füllenden Äther wahrend des Einströmens der Elektri-
zität in die Kugel vor sioh? Die Antwort ist: es tritt dort eben-
falls eine Bewegung von Elektrizität ein, welche mit dem Strom in
der Kugel Schritt hält, sioh weiter und weiter bis in die Unendlich-
keit ausdehnt und ihrerseits, wie die Elektrizität die Kugel, so auch den
unendlichen Raum in einen besonderen Zustand versetzt Nennen wir
den Zustand der Kugei den der Elektrisierung, so hat man den
Zustand der Umgebung als den der Polarisierung bezeichnet. Und
heifst der Strom, der die Kugel ladet, Leitungsstrom oder Elektri-
sierungsstrom, so soll der Strom in der Umgebung als Polari-
sierungsstrom (nicht zu verwechseln mit dem bekannten Polari-
sationsstrom) von ihm unterschieden werden. Das ist also die zweite
Stromart mit der wir es zu tun haben, die auch Vorschiebungs-
strom und auch Induzierungsstrom (wohl zu unterscheiden
vom bekannten Induktionsstrom) genannt wird. Nach der Elektronen-
theorie besteht ein Leitungsstrom wesentlich in einem Strom von
negativen Elektronen, so in Metallen; oder in zwei einander entgegen
gerichteten Strömen von Elektronen, einem Strom negativer, einem
anderen positiver Elektronen, so namentlich in Elektrolyten; die Elek-
tronen dabei frei oder an ihre Träger, die Atome, gebunden gedacht.
Hauptsache ist, dafs dabei ein Transport der Elektronen von einem
Ort nach einem anderen slattfindet, wenn auch für jedes Elektron
nur durch eine kurze Strecke, und dafs die Bewegungen der beiden
Elektronenarten, wenn sioh beide Arten bewegen, durcheinander-
gehen. Die Bahnen können verschieden sein und die Geschwindig-
keiten voneinander abw’eichen; die Bewegung der einen Elektronenart
kann zugleich gänzlich unabhängig von der der anderen sein.
Nicht also bei dem Polarisierungsstrom I Die Erfahrung hat ge-
lehrt, dafs durch diesen Strom nirgends Elektrizität frei wird, wie
beim Leitungsstrom. Das führt zu der Annahme, dafs die Elek-
tronen beider Art immer aneinander gebunden bleiben; besteht der
Polarisierungsstrom in einer Elektronenbewegung, so kann er nur
die Molekel als Ganzes oder mindestens Ionen paare betreffen,
nicht Ionen vereinzelt. Lange, bevor man von Elektronen sprach, hat
man sich vom Polarisierungsstrom eine bestimmte Vorstellung gemacht,
indem man auf eine andere Erscheinung zurückging, für die man
schon eine Vorstellung besafs, nämlich auf den Magnetismus. Ein
Körper, der Magnet werden kann, soll aus einer Unzahl bunt durchein-
ander gewürfelter außerordentlich kleiner Magnete bestehen, die man
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Molek ularmagnete nennt, und die nur deshalb sich nach aufsen
nicht bemerkbar machen, weil sie eben einen ordnungsiosen Haufen
bilden, in dem Nordpole und Südpole nach allen Richtungen in
durchschnittlich gleicher Menge hinweisen. Die Magnetisierung be-
steht darin, dafs diese Molekularmagnete, ohne ihre Lage im Körper
zu ändern, so gedreht werden, dafs nunmehr ihre Nordpole wesent-
lich nach einer, ihre Südpole wesentlich nach der entgegengesetzten
Richtung hinzeigen. Der Körper wird nach aufsen zum wirklichen
Magnet mit zwei Polen, er ist polarisiert, und den Vorgang, durch
den er da<u wird, können wir als Polarisierungsvorgang bezeichnen.
Was geschieht aber dabei mit Bezug auf die beiden Magnetismen?
Wir denken uns innerhalb des Körpers, etwa senkrecht zur magneti-
sierenden Kraft ein Flächenstück; es wird eine Reihe von Mole-
kularmagneten durohschneiden. Wirkt nun die Kraft, so drehen sich
diese Molekularmagnete und ihre Nordpole schieben sich durch die
Fläche nach der einen, ihre Südpole nach der anderen Richtung.
Das ist so, als wenn sioh durch die Fläohe Nordmagnetismus nach
der einen, Südmagnetismus nach der anderen Richtung bewegt, während
gleichwohl die Magnetismen auf ihren Molekularmagneten verbleiben,
also nicht frei voneinander werden. So kommen wir zu einem mag-
netischen Verschiebungsstrom oder Polarisierungsstrom. Setzen wir
jetzt an Stelle jedes Molekularmagneten ein unzerlegbares Ionenpaar
oder überhaupt ein Gebilde mit zwei entgegengesetzten, untrennbaren
elektrischen Ladungen, so haben wir die Vorstellung der elektrischen
Polarisierung und des elektrischen Polarisierungs- oder Versohiebungs-
stromes. Der Polarisierungsstrom bringt die Polarisierung hervor
und ändert sie; sein Mafs ist also die Änderung der Polarisierung.
Jeder elektrische Zustand in einem Körper ist mit einem Polarisierungs-
zustand in seiner Umgebung verbunden, jeder elektrische Strom mit
einem Polarisierungsstrom in dieser Umgebung, der so lange anbält,
bis die Polarisierung eine bestimmte Höhe erreicht hat. Ist der Strom
konstant geworden, so hört der Polarisierungsstrom auf, da nun kein
Anlafs zur Änderung der Polarisierung mehr vorhanden ist. Aber
indem die Polarisierung sich duroh den ganzen Raum verbreitet, geht
der Polarisierungsstrom mehr und mehr ins Weite; er pflanzt sich
durch den Raum fort wie das Licht, und in der Tat auch mit der
Geschwindigkeit des Lichtes. Er stellt überall die den Umständen
angepafste Polarisierung her.
Fassen wir jetzt einen unterbrochenen Leiter ins Auge. Es be-
ginnt an ihm eine elektrische Kraft zu wirken. Wie wir wissen, ent-
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steht dann ein Leitungsstromstofs in ihtn, der so lange anhält, als die
Kraft anwäohst, oder überhaupt sich ändert. Zwischen den Enden in
der Unterbreohungsstelle geht zugleich die Polarisierung der Umgebung
vor sioh, also ein Polarisierungsstrom. Daraus folgt, dafs dieser
Polarisierungsstrom wie die Fortsetzung des Leitungsstromes anzu-
sehen ist, er schliefst den sonst offenen Leitungsstrom. Und so hat
Maxwell den Satz aufgestellt, dafs 'offene Ströme überhaupt nicht
bestehen, dafa ein jeder Strom geschlossen ist. Leitungsstrom und
Polarisierungsstrom zusammen geben einen ganzen, in sioh
zurücklaufenden Strom. Dieser Satz und die Einführung der
Polarisierungsströme überhaupt gehört zu den folgenschwersten Er-
rungenschaften der Naturlehre. Aber der Satz selbst ist nur richtig,
wenn die Körper, in denen die Ströme, Leitungs- und Polarisierungs-
ströme, sich bewegen, in Ruhe verharren. Sobald diese Körper sich
bewegen, treten neue Erscheinungen auf, die gleichfalls als Strömo
betrachtet werden können, oder doch wenigstens in gewisser Hinsicht
die Rolle von solchen spielen und die nun mit den anderen Strömen
den in sich zurücklaufenden geschlossenen Strom bilden; ohne diese
neuen Ströme würde im Falle der Bewegung der stromführenden
Körper die Bahn der beiden behandelten Ströme offen bleiben können
und unter Umständen offen bleiben. Wir wenden uns zu diesen
neuen Strömen, zunächst zu dem zuerst erkannten und neuerdings zur
höchsten Bedeutung gelangten, dem sogenannten Konvektionsstrom.
Aber es bedarf noch einer kurzen Vorbereitung.
Wir erkennen jede Erscheinung an ihren Wirkungen. Diese
Wirkungen können an der Stelle stattfinden, wo die Erscheinung sich
abspielt, oder an Orten aufserhalb dieser Stelle. Ein Leitungsstrom
iibt nun Wirkungen, sowohl dort, wo er sich befindet, als wo er sich
nicht befindet, aus. Zu den Wirkungen erster Art gehört vor allem die
Erwärmung seiner Bahn und die Zersetzung der Elektrolyts, falls seine
Bahn durch sie fuhrt. Die Wirkungen der zweiten Art bestehen
wesentlich in den Anziehungen und Abstofsungen auf andere Ströme
und auf Magnete und in der Hervorbringung von Strömen und Mag-
netismus. Das sind Kraftwirkungen, die man unter dem Namen
der elektromagnetischen Wirkungen zusammenfafst. Man ver-
langt nun nicht von dem, was man Strom nennt, dafs er alle nur
je beobachteten Wirkungen gleichzeitig aufweist, namentlich sieht man
unter Umständen gerade von den Wirkungen der ersten Art, den in-
ternen Wirkungen ab. Erwarten rnufs man jedoch von jeder Erschei-
nung, die als Strom angesprochen werden soll, dafs sie die elektro-
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magnetischen Wirkungen mitführt; und die Erfahrung hat gelehrt,
dafs, wenn eine dieser Wirkungen vorhanden ist, auch alle anderen
bestehen oder wenigstens bestehen können. Also es kann elektrische
Ströme geben, die ihre Bahn nicht erwärmen und Elektrolyte nicht
zersetzen, die also als Ströme keine innere Energie besitzen, son-
dern alles nach aufsen wenden. Das wird vielfach übersehen, und
es entstehen so Mißverständnisse und Unrichtigkeiten aller Art. Koch
bitte ich den Leser beachten zu wollen, dafs auch das Wort „Ströme'
unterstrichen ist; ioh meine damit, dafs etwas als Strom keine innere
Energie zu haben braucht, die ihm im übrigen wohl zukommen darf
und wird. Denn wir wissen, dafs Körper in Bewegung ganz andere
Eigenschaften haben können als in Ruhe; und diese neuen Eigen-
schaften brauchen die anderen nicht im geringsten zu beeinflussen.
Es mag Elektrizität als Strom innerlich ganz energielos sein und als
Elektrizität eine ungeheure innere Energie besitzen. Das also voraus-
geschickt.
Es hat nun schon Wilhelm Weber vermutet, dafs Elektrizität
elektromagnetische Wirkungen ausübt, wenn sie überhaupt in Be-
wegung ist, nicht blofs in der von uns als elektrischer Strom be-
zeichnetcn Weise, sondern auch wenn sie durch den Kaum auf irgend
eine Weise geführt wird. Ein mit Elektrizität geladener Körper, dem
in der Ruhe gar keine elektromagnetischen Wirkungen zukommen,
würde solche Wirkungen äufsern, sobald er in Bewegung ist; er
würde beispielsweise eine Magnetnadel in Drehung versetzen, einen
Strom anziehen oder abstofsen, in Leitern Ströme induzieren usw.
in gleicher Weise und nach den Gesetzen der Leitungsströme. Die
Bahn, die ein solcher Körper durcheilt, würde sich wie ein Strom ver-
halten, und die Wirkung wäre proportional der Ladung des Körpers
und der Geschwindigkeit der Bewegung. Das wäre der Konvek-
tionsstrom. Man übersieht sofort, dafs ein solcher Strom an
jeder Stelle der Bahn nur vorhanden ist in dem Augenblick, in
welchem der geladene Körper diese Stelle passiert, sonst aber nicht,
also dafs nicht etwa die ganze Bahn elektromagnetische Wirkung aus-
übt, sondern nur die eben vom Körper eingenommene Stelle. Wir
schreiben bekanntlich einem elektrischen Strom magnetisobe Kraft-
linien zu, welche den Strom umkreisen. Ein Leitungsstrom hat an allen
Stellen rings um seine Bahn solche Kraftlinien, die fest im Raum
bleiben, solange der Strom sich nicht ändert. Bei einem Konvektions-
strom würden sich ebenfalls solche Kraftlinien ausbilden, aber nur
um den geladenen Körper, und sie würden von diesem entlang seiner
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Bahn mitgeführt. Ist die Geschwindigkeit sehr grofs und die Bahn
nicht zu lang, so kann die Erscheinung nach aufsen hin sich so
geltend machen, als wenn die ganze Bahn von Kraftlinien umringt
ist, wie ja ein rasch bewegter, leuchtender Körper den Eindruck einer
leuchtenden Linie macht. Aber gleiohwohl bleibt der Unterschied
bestehen. Zweitens erwärmt ein solcher Konvektionsstrom seine
Bahn nicht in der Weise, wie ein Leitungsstrom es tut; er hat keine
innere Energie, denn was er an innerer Energie besitzt, kommt der
Ladung als solcher zu, nicht dieser Ladung als bewegten Gegenstand.
Von der lebendigen Kraft der Bewegung ist dabei abzusehen, die be-
sitzt jeder bewegte Körper. Trotz der Gleichheit der elektro-
magnetischen 'Wirkungen sind also erhebliche Unterschiede zwischen
Konvektionsstrom und Leitungsstrom vorhanden.
Wie aber steht es mit jenen Wirkungen? Sie scheinen durch
die mannigfachsten Experimente mit ziemlicher Sicherheit nach-
gewiesen zu sein. Man hat geladene Soheiben um ihre Aohse sich
drehen lassen und bemerkt, dufs durch die Scheiben Magnetnadeln im
erwarteten Sinne bewegt wurden. Man hat während der Drehung die
Ladung der Scheiben variieren lassen und festgestellt, dafs dadurch in
anderen Leitern Ströme induziert wurden. Die Experimente sind
sehr diffizil, aber ihr Ergebnis scheint Zweifeln nicht zu unterliegen,
denn sie sind zu zahlreich und nach den verschiedensten Methoden
ausgeführt. Wir werden aber bald sehen, dafs gleichwohl sehr er-
hebliche Zweifel bestehen, die jedoch von der Theorie ausgehen. Für
die Elektronentheorie zwar scheint die Annahme der Konvektions-
ströme sehr günstig. Was von einem geladenen Körper gilt, findet
auf beliebig viele solcher Körper Anwendung. Ein Schwarm von
Elektronen würde gleichfalls elektromagnetisch wirken, und das ist
der Fall z. B. bei den Kathodenstrahlen, die man ja so recht als
Elektronenschwärme betrachtet. Besteht ferner ein Leitungsstrom in
einem Metall, z. B. in einem Draht, ebenfalls in bewegten Elektronen,
so wäre verständlich, warum elektromagnetische Wirkungen vorhanden
sind. In den Kathodenstrahlen sind die bewegten Elektrizitätsmengen
gering, dafür aber, wie schon bemerkt, die Geschwindigkeiten aufser-
ordentlich grofs; in den metallischen Leitern umgekehrt die Ge-
schwindigkeiten unbedeutend, dafür aber die Elektrizitätsmengen sehr
ins Gewicht fallend. Wie ist nun die einem Konvektionsstrom an sich
nicht zukommende Erwärmung der Bahn beim Leitungsstrom zu er-
klären? Lediglich durch den Widerstand, den die Bewegung der
Elektronen innerhalb des Leiters findet, und der wie Reibung wirkt.
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Es haben einige Forscher auch gemeint, ein eigentlicher Widerstand
sei nicht vorhanden, sondern indem ein Elektron sich zwischen an-
deren Elektronen und zwischen Molekeln und Atomen hindurch be-
wegt, müssen sich infolge der Einwirkungen auf dasselbe fortwährend
seine Kraftlinien ändern, und dieser Vorgang trete nach aufsen als
Erwärmung zutage.
Nun ist aber noch eins zu beachten. Zwei Körper von gleicher
Bewegung aber entgegengesetzter Ladung wirken wie zwei entgegen-
geriohtete Ströme. In dem Moment, wo sie zugleich dieselbe Stelle
der Bahn in gleicher Richtung passieren, müssen an dieser Stelle alle
elektromagnetischen Wirkungen verschwinden. Haben jedoch die
Körper entgegengesetzte Ladungen und entgegengesetzte Bewegungen,
so wirken sie wie gleichgerichtete Ströme; ihre Wirkungen summieren
sich. Der Leitungsstrom in Metallen soll in Strömon wesentlich nur
einer Art der Elektronen bestehen, der negativen; hier ist die elektro-
magnetische Wirkung einfach, ln Elektrolyten bewegen sich beide
Elektronenarten, aber da sie einander entgegen sich durchziehen,
wirken sie wie ein Doppelstrom in gleichem Sinne.
Stellen wir uns jetzt vor, dafs zwei entgegengesetzt, sonst gleich
stark geladene Körper sich zusammen dicht nebeneinander bewegen,
so sollten sie dem obigen zufolge fast gar keine elektromagnetische
Wirkung ausüben. Gleichwohl ist eine solche Wirkung, wie Röntgen
nachgewiesen hat. vorhanden, und zwar nicht etwa — worauf man
zuerst raten würde — blofs eine Differenzwirkung. Das folgende
nun kann ich nicht klar machen, ohne ein wenig auf Theorie ein-
zugehen.
Eine Theorie soll alle Verhältnisse der betreffenden Erscheinung
in Formeln zusammenfassen. Da wir nun bei der Elektrizität keines-
wegs mit allen Verhältnissen vertraut oder auch nur bekannt sind,
kann eine Theorie für sie einstweilen nur auf Grund vorgefafster An-
sichten aufgestellt werden. Die erste Theorie, wesentlich von Wil-
helm Weber herrührend, berücksichtigte oder vielmehr kannte nur
den Leitungsstrom in Metallen. Erweitert wurde sie durch Clausius
auch auf den Leitungsstrom in Elektrolyten und von W. Thomson
(jetzt Lord Kelvin) auf den als Thermostrom bezeichneten Leitungs-
strom. Maxwell stellte dann eine Theorie auf, welche den
Leitungsstrom und den Polarisierungsstrom umfafste und die noch
gegenwärtig für ruhende Substanzen als mafsgebend angesehen
werden mufs, selbst wenn man von den Anschauungen, die ihr zu
Grunde liegen und über die der Verfasser an einer anderen Stelle
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dieser Zeitschrift gehandelt hat, zugunsten der jetzt sehr in Mode
stehenden Elektronen absehen sollte. Maxwells Theorie ist von
Heinrich Hertz für bewegte Substanzen erweitert worden.
Wenn man nun von dieser letzten, allgemeinsten Theorie
(iebrauch macht, so zeigt sich, dafs sie den Leilungsstrom, den
Polarisierungsstrom und den Konvektionsstrom enthält. Aurserdein
aber ist in ihr noch ein Strom angezeigt, und diesen hat man für die oben
angeführte Beobachtung von Röntgen verantwortlich gemacht und
ihn deshalb als Röntgonstrom bezeichnet. Das wäre also der vierte
Strom. Wie ist aber dieser Strom vorzustellen? Hier mufs nun der
Verfasser eine wunderliche, ihn Belbst, als er sie fand, überraschende
Bemerkung machen. Der Röntgenstrom steckt, wie gesagt, mit den
drei anderen Strömen in der Hertzschen Theorie, das heifst in den
von Hertz aufgestellten Gleichungen. Wenn man aber die für ihn
geltenden Ausdrücke entwickelt, so findet man, dafs er seinerseits
kein einfacher Strom ist, wie etwa der Konvektionsstrom oder der
Polarisierungsstrom, sondern sich aus drei Strömen zusammensetzt.
Einer bängt ab von den relativen Bewegungen der Substanzen zu-
einander und von dem absoluten Polarisierungszustand. Der zweite
ist bestimmt durch die relative Polarisierung der Substanzteile zu-
einander und durch die absolute Geschwindigkeit Man sieht wie
sich diese beiden Ströme zu einem Pendant ergänzen: relative Be-
wegung, absoluter Polarisierungszustand; absolute Bewegung, relativer
Polarisierungszustand, ln beiden Strömen kommt das Verhalten
der Substanzen gegeneinander in Frage, im ersten Strom mit
Bezug auf die Bewegung, im zweiten mit Bezug auf die Polarisierung.
Ich möchte diese Ströme als ersten und zweiten Röntgenstrom
bezeichnen.
Nun aber der dritte Strom. Mit ihm habe ich gezögert, weil er
ein böser Bruder für die wundervolle Hertzsche Theorie ist; er droht
sie ganz wegzuschwemmen. Nämlich dieser dritte Röntgenstrom ist
der Konvektionsstrom in zweiter Auflage. Das ist an sich nicht schlimm,
wenn der Strom nur nicht fatalerweise dem Konvektionsstrom erster
Auflage schnurstracks entgegenliefe. So aber hebt er diesen spurlos
auf, und das besagt: Nach der Hertzschen Theorie gibt es gar
keinen Konvektionsstrom. Also mufs eines fallen, der Kon-
vektionsstrom oder die Hertzsche Theorie. Wie kann man da noch
zweifelhaft sein? Natürlich die Theorie! Der Konvektionsstrom ist
eine zu schöne Erfindung, gegenwärtig ja der Strom par excellence;
wer wird ihn missen wollen? Und die Hertzsche Theorie, hat sie
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nicht auch aus anderem Grunde schon Anzweifelung erfahren müssen?
Damit verhalt es sich so.
Alle Erscheinungen kommen uns an Körpern zur Wahrnehmung,
verbreitet aber werden sie einer grofsen Zahl nach durch den soge-
nannten Äther, der den Kaum erfüllen und alle Körper durchdringen
soll. Gewisse Erscheinungen, die man beim Licht beobachtet hat,
sollen nun die Annahme notwendig gemacht haben, dafs, wenn Sub-
stanzen sich bewegen, der in ihnen enthaltene Äther sich ebenfalls
bewegt, aber mit anderer Geschwindigkeit als die Substanzen.
Nun betrachtet die gegenwärtige Wissenschaft die Lichterscheinungen
als dem Gebiete der elektromagnetischen Vorgänge angehörend. Die
Hertzsche Theorie sollte also jene hervorgehobene, besondere Licht-
ersoheinung ebenfalls enthalten. Das tut sie aber nicht, weil, wie man
sagt, in ihr der Äther als absolut ruhend angenommen ist. Also
kann diese Theorie schon aus diesem Grunde nicht riohtig sein. Aber
der Verfasser dieses Aufsatzes hat bemerkt, dafs eine geringfügige Ände-
rung in dieser Theorie, nicht der Theorie selbst, schon ausreicht, jenen
Einwand niederzuschlagen. Ein solcher kann also nicht geltend ge-
macht werden. Und wo nehmen wir eine bessere Theorie her als die
Hertzsche? Es sind eine Menge Versuche gemaoht worden, um bessere
Theorien aufzustellen. Von allen mit Recht den meisten Beifall gefunden
hat die von Lorentz aufgestellte, welche eine Art Elektronentheorie
ist. All diese Theorien sind aber entsetzlich kompliziert und undurch-
sichtig und, was die Hauptsache ist: von jener Schwierigkeit hinsicht-
lich des Konveklionsstromes, auf die man aber früher nicht geachtet
hat, sind sie doch nicht ganz frei. Wie steht es aber nun mit dem
Konvektionsstrom? Ist er denn wirklich absolut sicher nachgewiesen?
Die Wahrheit gestanden, ich weifs es nicht. Es konkurrieren mit ihm
die Röntgen ströme, und namentlich tritt mit ihm in Wettbewerb der
zweite Rönlgenstrom, der ja auch von den absoluten Geschwindig-
keiten abhängt, wenn auch nicht in allen Fällen von der absoluten
Ladung. Es ist sehr wohl möglich, dafs bei den bisher gewählten
Versuchsanordnungen gerade dieser zweite Röntgenstrom die Haupt-
rolle gespielt hat. Ich kann mich auf weitläufigere Erörterungen an
dieser Stelle nicht einlassen. Die Sache selbst ist aber so wichtig,
namentlich für die Elektronentheorie, dafs neue Versuche unter ge-
nauester Berücksichtigung der Hertzsohen, gegebenenfalls in dem
oben bezeiohneten Sinne einer etwas verbesserten Theorie am Platze
wären. Ich möchte an dieser Stelle auf eins nur aufmerksam machen.
Ein elektrisch geladener Körper soll in Bewegung um sich ein
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Kraftfeld entwickeln, das ihm in der Kühe nicht zukommt. Das ist
ganz unmöglich ohne Verbrauch von Arbeit, Energie. Also folgt, dafs
zur Bewegung eines geladenen Körpers eine gröfsere Energie gehört
als zu der eines gleichen nicht geladenen. Ein geladener Körper
mufs sich einem nichtgeladenen gegenüber in der Bewegung wie ein
massigerer verhalten; denn indem er das neue Kraftfeld schafTl, ver-
braucht er eben, wie gesagt, von der Bewegungsenergie einen Teil
hierfür. Bewegte geladene Körper sollten sioh so verhalten, wie wenn
sie durch die Ladung an Masse zugenommen hätten, und da bei der
SohalTung des Kraftfeldes auch die Geschwindigkeit konkurriert, sollte
diese scheinbare Massenzunahme mit der Ladung und der Ge-
schwindigkeit wachsen. Ob diese so wichtige Schlufsfolgerung je
durch Versuche hinreichend geprüft ist, weife ich nicht; sie wäre eine
Art ezperiinentum crucis. Es fehlt gar viel, dafs wir selbst in diese
so wuchtigen Verhältnisse hinreichende Einsicht hätten. Aber zu
solchen Untersuchungen gehört Geld und wieder Geld, Zeit und
wieder Zeit, und beides pflegt insbesondere Leuten, welche Aufsätze
schreiben, zu fehlen. Ich möchte mich aber gegen den Verdacht ver-
wahren, als ob ich gegen den Konvektionsstrom voreingenommen
wäre. Es bietet mir freilich viele Schwierigkeit, mir vorzustellen, dafs
ein Körper, ohne mit seiner Umgebung in Konkurrenz zu treten,
allein dadurch ganz neue Wirkungen hervorbringen soll, dafe er sich
auf den Weg macht. Man halte nicht die lebendige Kraft der Be-
wegung als Beispiel vor, denn diese ist nach au fsen garnioht vor-
handen, solange der Körper sioh ungestört bewegt. Erst wenn die
Bewegung aufgehalten wird, also wenn der Bewegungszustand geändert
oder gar aufgehoben wird, kommt Bio zur Erscheinung. Dagegen soll
für einen in Bewegung begriffenen elektrischen Körper das elektro-
magnetische Kraftfeld nach aufsen vorhanden sein; die Magnetnadel
soll immer beeinflufet sein, solange der Körper sich bewegt. Das ist
doch etwas anderes, und man fragt Bich, wie das ermöglicht sein soll.
Da kommt man ganz von selbst zu der Ansicht, dafs eine Tugend, die
in einem Gegenstände niemals vorhanden gewesen ist, solange er
ruhte, die ihm in keiner Weise innegewohnt hat, nur dadurch infolge
der Bewegung hervorgerufen werden könnte, dafs der Körper nunmehr
in einem anderen Verhältnis zu seiner Umgebung steht Und das
führt geradeswegs in das Bett der beiden Röntgenströme. Ich treibe hier
keine Hegelsche Philosophie und will nioht aus Gedankenschlüssen
allein zu einem Sohlufe auf das Wesen einer Erscheinung kommen,
aber beachtenswert scheint mir die Überlegung gleichwohl zu sein.
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Zuletzt noch ein Wort zur Beruhigung des Elektronenliebhabers.
Wenn der Konvektionsstrom versiegt, fallt dann auch die Elektronen-
lehre? Bewahre! Sie kann ruhig bleiben. Wir haben ja nooh den
zweiten Röntgenstrom, der sich wundervoll auf sie anwenden läfst.
Den Schaden hat nur der Mathematiker, der sich dann mit etwas
komplizierten Formeln plagen mufs. Aber der weifs sioh in Geduld
zu fassen und nimmt höchstens einen gröfseren Bogen. Ich werde
dem Leser hierüber in einem nächsten Aufsatz etwas sagen, ebenso
über die Anwendung der Elektronentheorie auf manche Fragen der
Himmelsmechanik.
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4iHiiiMMmiiiiiiiii(iiiiiitiiiiiiiiiiiHni»iMiiiiittiiiMiiiiiiii immun ninniniimmi«n*nii»nn»Hi»;
^iiiiimmiMMiiiiiiiiiiiiimHiiiiiiitmiiiMiiiiiiiiiminimiiiMmMiimmMMiMiiiinmiiiiiMiimiiif]
Nutzbarmachung des Luftstickstoffes für die
Landwirtschaft.
Von Dr K. Müller in Potsdam,
i ie durch sorgfältige Kulturversucho erwiesen ist sind fiir den
Lebensunterhalt der Pflanzen bestimmte Nährstoffe unumgäng-
lich notwendig, ist für den Aufbau derselben eine Reihe von
Elementen — Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff', Stickstoff, Schwefel,
Phosphor, Kalium, Calcium, Magnesium und Eisen — so unentbehrlich,
dafs keine normale Entwickelung möglich ist, wenn auch nur eines dieser
Elemente fehlt. Natürlich werden nicht alle diese Stoffe als Elemente,
sondern größtenteils in chemischen Bindungen von den Pflanzen auf-
genommen. So entstammt der Kohlenstoff, der die Grundlage jeder
organischen Substanz bildet, bei grünen Pflanzen dem Kohlendioxyd
der Luft. Durch Vermittelung der Spaltöffnungen mit dieser auf-
genommen, wird dasselbe unter Mitwirkung des Lichtes durch das
Chlorophyll oder Blattgrün allmählich ahgebaut und in alle die Kohien-
stoffverbindungen, welche näohst dem Wasser die Hauptmenge des
Pflatizenleibes bilden, in Stärke, Zucker und Zellulose übergeführt.
Alle anderen Stoffe entnimmt die Pflanze fast sämtlich dem Erdboden,
so in erster Linie das Wasser, mit dem gleichzeitig auch Stickstoff,
Sohwefel, Phosphor u. s. w. in Form von Salzen in die Pflanze Ein-
gang finden. Kohlendioxyd und im wesentlichen auch Wasser stehen
ja in der Atmosphäre immer zur Verfügung; anders dagegen ist es
mit dem Stickstoff und den übrigen Nährstoffen, die dem Erdboden
entnommen werden müssen, bestellt. Wold vermögen manohe Pflanzen,
wie die Leguminosen, den Stickstoff der Luft durch Vermittelung der
Wurzelbakterien direkt aufzunehmon, gewöhnlich aber rnufs derselbe
in Form von salpetersauren Salzen oder Ammoniak vorliegen, Ver-
bindungen, die wie die sonstigen dem Erdboden entlehnten Nährstoffe
zwar immer von neuom wieder in diesem entstehen, dem Boden aber
da, wo er mit Kulturpflanzen bestellt ist, schneller entzogen worden.
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als dafür auf natürlichem Wege Ersatz geschaffen wird. Dessen ist
sich die Landwirtschaft auch schon frühzeitig bewufst geworden. Seit
Jahrhunderten kennt sie die Bedeutung des Stalldüngers, und von
jeher hat sie den Oehalt der Ackererde an solchen Nährstoffen durch
Düngung oder Brachlegung zu erhöhen gesucht.
Aber solche Behelfe, so schreibt Witt, welche einer intuitiven
Erkenntnis entsprangen, konnten auf die Dauer nicht genügen, und
vor allem hatte man mit ihnen nie zu einer intensiven Bodenbewirt-
schaftung kommen können. Eine solche wurde erst möglich duroh die
uns von Liebig erschlossene Erkenntnis von der Ernährung der
Pflanze. Durch diese wissenschaftliche flrofstat sind wir in den Stand
gesetzt worden, den Boden zum blofsen Träger des Pflanzenlebens zu
machen, für den Unterhalt desselben aber ebenso willkürlich zu sorgen,
wie wir mit dom Erträgnis verfahren. Wir sind heute in der Lage,
dem Ackerboden durch künstliche Mittel, die man unter dem Namen
Kunstdünger zusainmenfafst, jederzeit wieder zuzuführen, was ihm an
Nährstoffen entzogen ist, somit durch sachgemäße Anwendung künst-
licher Düngemittel eine ausgedehntere und zugleich intensivere Kultur
des Bodens, ein erhöhteres Ernteergebnis zu erzielen.
Namentlich drei Substanzen sind es nun, für deren Bedarf die
der Landwirtschaft direkt und in nächster Nähe zugänglichen Quellen
nicht ausreichen, nämlich Phosphor, Kalt und Stickstoff für deren
Beschaffung in geeignet konzentrierter und leicht assimilierbarer Form
sie deshalb den Handel und die Technik in Anspruch nehmen mufs.
Genügte solchen Anforderungen bis zur Mitte des vorigen Jahr-
hunderts die Zufuhr von Knochenmehl und Peruguano, so trat bei
letzterem infolge rasch gesteigerten Bedarfes eine schnelle Erschöpfung
der immerhin nur begrenzten Vorräte ein. Ebenso war die Zufuhr
von Knochenmehl und anderen animalischen Düngestoffen, wie Horn-,
Blut- und Fleisohmehl, welche ja nur der landwirtschaftlichen Produktion
anderer Länder entnommen werden konnten, eine beschränkte; sie
verminderte sich sogar stetig, nachdem die betreffenden Produktions-
länder den Wert dieser Stoffe für ihren eigenen Ackerbau selbst er-
kannten und ausnutzten.
Infolge der so erwachsenen Notlage ging man daran, dem
Mineralreich zu entnehmen, was für die Landwirtschaft verwertbar
gemacht werden konnte. Phosphat- und Kalisalzlager wurden er-
schlossen, erstere an den verschiedensten Orten, z. B. in Florida, Karo-
lina und Algier in so gewaltiger Ausdehnung, dafs noch für Genera-
tionen daran kein Mangel sein dürfte, umsomehr, als daneben noch
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eine weitere schier unerschöpfliche Quelle von Phosphorsäure ent-
deckt ist, die Thomasschlacke nämlich. Kalisalze bietet in ungeheurer
Menge die norddeutsche Tiefebene dar, und an Stelle des Peruguanos
verwendet man in erster Linie den Chili- oder Natronsalpeter, der in
mächtigen Lagern an der Westküste Südamerikas entdeckt wurde, des
weiteren aber auch die Ammoniaksalze, welche als Nebenprodukt der
trockenen Destillation der Steinkohle zuerst in den Gasanstalten und
später auch in den Kokereien in Form von schwefelsaurem Ammoniak
erhalten wurden. Zwar ist die Form, in welcher die Pflanze den
Stickstoff am willigsten aufnimmt, die der salpetersauren Salze, da
aber die in keinem Boden fehlenden sogenannten nitriflzierenden Boden-
bakterien befähigt sind, Ammoniaksalze mit grofser Schnelligkeit in
salpetersaure Salze umzuwandeln, so können auch diese als Stickstoff-
dünger verwendet werden.
Die Verwendung des Chilisalpeters, die anfangs nur zu technischen
Zwecken erfolgte, datiert für die Landwirtschaft etwa aus dem Jahre 1860.
Damals betrug nach Frank der Gesamtexport dieses Salzes von der
Westküste Amerikas 68 500 Tonnen, 1900 dagegen 1 453 000 Tonnen.
Davon verbraucht die deutsche Landwirtschaft rund 500 000 Tonnen
im ungefähren Werte von 90 Mill. Mark, eine Menge, die aber durch-
aus noch sleigerungsfähig ist, sogar bis auf das Doppelte erhöht
werden könnte. Wie nun auf Grund neuerer Untersuchungen an-
genommen werden darf, sind die Salpeterlager in Chile in etwa 30,
spätestens aber in 40 Jahren erschöpft. Ob innerhalb dieser Zeit neue,
ebenso leicht abzubauende Salpelerlager entdeckt werden, ist zum
mindesten zweifelhaft; dabei ist es sicher, dafs für den dann fehlenden
Salpeter durch schwefelsaures Ammoniak kein ausreichender Ersatz
gesohaffen werden kann. Denn wenn die Produktion desselben auch
noch erhöht werden kann — sie betrug 1900 fast 500 000 Tonnen,
von denen Deutschland 150 000 Tonnen im Werte von 30 Mill. ver-
brauchte — , so sind ihr doch Grenzen gesetzt dadurch, dafs sie als
Nebenprodukt anderer Industrien von deren Entwickelung abhängig
ist Ersätz mufs aber geschaffen werden, denn sonst wird es, wie
Gerlach und Wagner schreiben, der Landwirtschaft in den ge-
mäfsigten Zonen nicht mehr möglich sein, der Konkurrenz der
tropischen und subtropischen Länder entgegenzutreten, ln diesen Ge-
bieten liefert die Natur den Pflanzen weit gröfsero Mengen wirksamer
Stickstoffverbindungen infolge starker elektrischer Entladungen in der
Atmosphäre, reichlicher Niederschläge und einer immerwährenden,
nicht durch eine Kälteperiode unterbrocheneu Tätigkeit der stickstoff-
Hlmmtl and Erd« 1804. XVI IX
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sammelnden Bodenbakterien. Die Stiokstolfdüngung hat für die
tropischen und subtropischen Gebiete nicht jene Bedeutung, welohe
sie für Deutschland und die übrigen, in der gernäfsigten Zone liegenden
Länder besitzt. Es ist daher sehr wohl erklärlich, dafs diese Angelegen-
heit die landwirtschaftlichen Kreise zur Zeit im ausgedehnten Mafse
beschäftigt
Bedenkt man nun, dafs vier Fünftel unserer Atmosphäre aus
Stickstoff bestehen, dafs die über einem Hektar Erdoberfläche ruhende
Luftsäule zirka 80 000 Tonnen Stickstoff enthält, also ebensoviel wie
die jährlich nach Deutschland importierte Menge von 600 000 Tonnen
Chilisalpeter, so wird es erklärlich erscheinen, dafs die Chemiker aller
Länder seit langem bemüht sind, diesen Stickstoff zur Herstellung von
Stickstoffverbindungen, die für die Industrie wie die Landwirtschaft
nutzbar gemacht werden können, zu verwerten. Nach mancherlei
Mifserfolgen scheint dieses Problem nun endlich gelöst zu sein. Es
hat sich in Berlin in Verbindung mit der Firma Siemens und Halske
bereits eine Gesellschaft (Deutsche CyanidgesellBchaft) gebildet, deren
wesentliche Aufgabe es ist, unter Heranziehung des atmosphärischen
Stickstoffs Cyan Verbindungen und ähnliche zu gewinnen.
Als Grundlage aller diesbezüglichen Versuche diente die vor
mehreren Jahren von Frank und Caro gemachte Beobachtung, dafe
beim Überleiten von reinem Stickstoff über glühendes Baryumkarbid
beide Stoffe eine Verbindung eingehen. Den Bemühungen Pflegers
gelang es dann, das Baryumkarbid durch das billigere Calciumkarbid
zu ersetzen, durch jene Verbindung, die aus gebranntem Kalk und
Kohle im elektrischen Ofen gewonnen wird, und die bekanntlich zur Er-
zeugung des Azetylengases dient. Prefst man atmosphärische Luft,
die man durch Überleiten über glühendes Kupfer von Sauerstoff befreit
hat, in geschmolzenes Kalziumkarbid, so entsteht eine Verbindung, die
der Chemiker Cyanamid nennt Die dabei vor sich gehende Reaktion
läfst sich durch nachfolgende Formelgleichung ausdrücken:
Ca Cj -|- Nj = Ca CNj -f C
Kalziumkarbid -+- Stickstoff = Kalziumcyanamid -(- Kohlenstoff.
Das Kalziumkarbid, das als 75 bis 80 proz. Produkt in den Be-
trieb geht, nimmt bei richtiger Leitung des Prozesses, der im Muffel-
betrieb mit freiem Feuer ebensogut wie im elektrischen Wärme-
strahlungsofen vor sich geht zwischen 85 und 96 Prozent der
theoretischen Stiokstoffmenge auf und bildet nach Erlwein eine mit
Kalk und Kohle verunreinigte, schwarz gefärbte Kalzittmcyanamid-
masse mit 20 — 23,6 Prozent fixierten Stickstoffs.
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Weitere Versuohe Erlweins haben gezeigt dafs es gar nicht
einmal nötig ist, fertig gebildetes Kalziumkarbid zu benutzen, dafs viel-
mehr ein Gemisch von Kalk und Kohle im elektrischen Ofen den
Stickstoff ebenfalls leicht absorbiert.
Ca O + 2 C + 2 N = Ca C N, + CO
Kalk + Kohle -4- Stickstoff = Kalziumcyanamid -f- Kohlenoxyd.
Damit war nun ein so billiges Arbeiten gesichert, dafs bei den
auch im grofsen sehr günstigen Ausbeuten der Wettbewerb mit den
natürlichen Stiokstoifquellen gesichert war, vorausgesetzt natürlich,
dafs sich der Düngewert des Kalziumcyanamids dem des Chilisalpeters
und des schwefelsauren Ammoniaks als nicht allzu unterlegen erwies.
Die Tatsache, dafs sich der gesamte StiokstolT des Calciumcyanamids
durch Erhitzen mit Wasser unter hohem Druck glatt in Ammoniak
umsetzen liefs (Ca CN2 + 3H20 = Ca C03 + 2 NH3), führte vor allem
zu der Schlußfolgerung, dafs auch das nach den obengenannten
Methoden dargestellte rohe Kalziumcyanamid als ein für die Pflanzen-
ernährung direkt brauchbares Stiokstofldüngemittel verwendbar sein
könne. Da es aber ein in der agrikultur-chemisohen Forschung bisher
noch nirgends erprobtes Material war, so konnte für die Ermittelung
seines Verhaltens nur der direkte Vegetations versuch Aufschluß geben.
Solche Versuche sind nun von Prof. Wagner in Darmstadt und
Dr. Gerlach in Posen seit dem Frühjahr 1901 in grofser Zahl und
unter mannigfachen Variationen, sowohl in Vegetationsgefiirsen als auf
freiem Lande angestellt worden. Nach dem bis jetzt über diese Ver-
suche vorliegenden Bericht, der in der landwirtschaftlichen Presse
veröffentlicht ist, trat der Stickstoff des rohen Kalziumcyanamids, dem
man den Namen „Kalkstiokstoff“ gegeben hat, schnell in Wirkung
und übte bei den Versuchen in Vegetationsgefäfsen fast die gleiche
Wirkung aus wie der Salpoterstickstoff. Wurde der Kalkstiokstoff
in Mengen angewandt, wie dies beim Salpeterstickstoff gebräuchlich
ist, so zeigte er keine schädlichen Wirkungen. 1 gr Stioketoff, in Form
von Kalkstickstoff, konnte pro Gefäfs (6 — 10 kg Erde) zu Hafer, Gerste
Senf und Möhren ohne Nachteil gegeben werden. Es ist dies eine
Menge, welche in der Praxis niemals ausgestreut wird. Bei den Feld-
versuchen wurden bisher 90 kg Stickstoff pro Hektar in Form jenes
Düngemittels gegeben. Auch hier trat keine Sohädigung der Pflanzen
ein. Dagegen blieb die Wirkung des Kalkstickstoffes bei allen Feld-
versuchen hinter derjenigen des Salpeterstickstoffs zurück. Die höchste
Ausnutzung, welche ira Vergleich zum Salpeterstickstoff beobachtet
86*
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564
worden ist, betrug 96 Prozent, in den meisten Fällen aber stellte sie
sieh bedeutend niedriger. Es kann dies aber wohl kaum befremden,
wenn man bedenkt, dafs die Erfahrungen über die zweckmäfsigste Art
und Zeit der Anwendung noch recht geringe sind; hat es doch bei so
einfachen DüngestofTen, wie schwefelsaures Ammoniak und Chilisal-
peter, Jahrzehnte erfordert, bis in dieser Beziehung feste Erfahrungs-
sätze geschaffen waren. Immerhin hat man es, und dies zeigen be-
sonders die ausgeführten Vegetationsversuche, mit einem recht
beachtenswerten stickstoffhaltigen Düngemittel zu tun, welches die
Agrikulturchemiker und Landwirte in den nächsten Jahren reichlioh
beschäftigen wird.
Ein anderer Weg, den freien Stickstoff der Luft für die Land-
wirtschaft nutzbar zu machen, ist auf der längst bekannten Beobach-
tung gegründet, dafs beim Durchschlagen elektrischer Funken durch
die feuchte Atmosphäre geringe Mengen von Salpetersäure resp. sal-
petersaurer Salze entstehen. Unter der Einwirkung des Blitzes ver-
binden sich nämlich Stickstoff und Sauerstoff der Luft zu sogenanntem
Stickstoffoxyd, aus dem dann unter weiterer Sauerstoffaufnahme das
Stickstoffdioxyd entsteht Dieses setzt sioh aber mit Wasser in Sal-
petersäure und Stickstoffoxyd um, und da letzteres mit Sauerstoff wieder
Stickstoffdioxyd bildet, so kann schliefslich sämtlicher Stickstoff in
Salpetersäure übergeführt werden.
N + O = NO
Stickstoff -4- Sauerstoff = Stickstoffoxyd
2 NO -)- O, = 2 N02 (Stickstoffdioxyd)
3 N02 + HjO = 2 HNOj + NO.
(Salpetersäure)
Diese Prozesse auch im Laboratorium auszuführen und so weit
auszubilden, dafs gröfsere Mengen Salpetersäure resp. salpetersaurer
Salze aus der atmosphärischen Luft gewonnen werden können, ist nun
den fortgesetzten Bemühungen der Technik neuerdings gelungen. Zu
diesem Zwecke wird eine grofse drehbare Trommel, deren Innenwand
mit zahllosen feinen Metallstiften bedeckt ist, in rasche Umdrehung
versetzt Die Achse dieser Trommel besteht aus einer W’alze, die mit
ebensolchen Metallstiften versehen ist Diese Stifte einerseits sowie
diejenigen der Innenwand anderseits stehen mit je einem Pole einer
Batterie in Verbindung. Versetzt man nun die Trommel in rasche Um-
drehung, während gleichzeitig die Walze ebenso rasoh in entgegen-
gesetzter Richtung gedreht wird, so springen zwisohen den Metall-
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spitzen, die hierbei rasohaneinander vorbeigleiten, unzählige elektrisohe
Funken über, so dafs gewissermafsen im Innern der Trommel ein
Gewitter im kleinen entsteht Leitet man während dieses Gewitters
Luft durch die Trommel, so gehen die oben aufgeführten Prozesse vor
sioh. Unter Zugrundelegung dieser Versuohsanordnung hat sich am
Niagarafall bereits ein Unternehmen gebildet, welohes Gleichströme
von 10 000 Volt erzeugt und mit Hilfe derselben den Sauerstoff und
Stiokstoff der Luft vereinigt Ähnliche Versuche sind von Muth-
mann und Hofer ausgeführt worden, die Wechselströme von 2000
bis 4000 Volt auf die atmosphärische Luft einwirken lassen, und
des weiteren durch die Firma Siemens und Halske unter Leitung
Dr. Erlweins in Angriff genommen. So darf denn wohl mit Sicher-
heit angenommen werden, dafs die Frage der Salpetersäuregewinnung
aus der atmosphärischen Luft in Kürze so gelöst sein wird, dafs auch
auf diesem Wege der Landwirtschaft ein Ersatz für den Chilisalpeter
geboten werden kann. So berechnet von Lepel, dafs, wenn die
Pferdekraftslunde 2 Pfg. kostet, sich auf diese Weise das Kilo Salpeter-
stickstoff für 1,00 bis 1,10 M. gewinnen läfst, eine Rechnung, deren
Richtigkeit die Zukunft allerdings erst lehren mufs.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dafs sich vielleicht
noch auf einem dritten Wege der Luftstiokstoff für die Landwirtschaft
nutzbar machen läfst. Gewisse Metalle, z. B. Magnesium, Blei,
Kalzium haben nämlich die Eigenschaft, im geschmolzenen Zustande
den freien Stickstoff zu absorbieren, wobei z. B. aus 3 Atomen Mag-
nesium und 2 Atomen Stickstoff Magnesiumstickstoff entsteht, der sich
bei der Einwirkung von Wasser in Magnesiumoxyd und Ammoniak
umsetzt.
3 Mg f 2 N = Mg, N,
Mg, N, -f 3 HjO = 3 MgO + 2 NH,.
Damit wäre also die Möglichkeit gegeben, Aminoniaksalze zu
gewinnen. Doch läfst es sich, so schreibt Prof. Gerlach, zur Zeit
noch gar nicht übersehen, ob die vorgenannten Prozesse so verlaufen,
dafs die Gewinnung des Luftstickstoffs im grofsen erreicht werden kann.
Nach alledem darf wohl behauptet werden, dafs die Landwirt-
schaft der Erschöpfung der Salpeterlager in Chile ohne jede Besorgnis
entgegensehen kann, dafs es in kürzester Zeit möglioh sein wird, ihr
mit Hilfe der Chemie und Elektrizität die nötigen Mengen Kalkstick-
stoff und schwefelsauren Ammoniaks resp. salpetersaurer Salze zu
liefern. Gewifs werden die besprochenen Verfahren für die Gewinnung
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des Luftstickstoffs noch hier und da der Verbesserung und Ausgestal-
tung bedürfen. So viel aber ist auch heute sohon sioher, dafs es dem
ausdauernden Streben in erster Linie deutscher Gelehrten endgültig
gelungen ist, ein Problem zu lösen, das die wissenschaftliche Welt
ein volles Jahrhundert hindurch beschäftigt hat, nämlich den Stick-
stoff der Atmosphäre zu binden, ihn in unsere Dienste zu zwingen
und der Teohnik wie der Landwirtschaft nutzbar zu machen.
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Strahlenbrechung im interplanetaren Raume.
Prof. Sohaeberle, Direktor der Sternwarte in Ann Arbor, erörtert
die Frage, ob die Lichtstrahlen der Sterne gradlinig zu uns gelangen,
ehe sie in die Erdatmosphäre eintreten. Ebenso wie infolge der Erd-
anziehung die Dichte der Luitschichten nach unten zunimmt, so könnte
auoh der Weltäther sich um ein so überwiegendes Massenzentrum,
wie die Sonne es ist, verdichten und die Sonnenkugel mit kon-
zentrischen Schichten nach der Mitte zu immer diohteren Weltäthers
umgeben. Das wäre eine sehr grofse Sonnenatmosphiire, die vielleicht
schon jenseits der Neptunsbahn ohne scharfe Grenze nach aufsen be-
ginnt und nach innen ebenfalls ohne soharfe Grenze in die eigentliche
Sonnenkorona übergeht. In dieser Sonnenatmosphäre würden die Licht-
strahlen der Sterne eine Brechung beim Durchdringen bis zur Erde
erleiden, eine Refraktion, die in jährlicher Periode veränderlich wäre.
Denn die Strecke, die der Lichtstrahl in dieser verdichteten Äther-
kugel zurückzulugen hätte, ist abhängig von der Stellung der Erde
auf ihrer Hahn. Sie ist am kürzesten, wenn die Erde die gleiche
Länge hat wie der Stern, und am längsten, wenn die Längen der Erde
und des Sterns 180° verschieden sind. Das Wichtigste au dieser
hypothetischen Refraktion ist jedoch, dafs sie einer anderen Verschie-
bung von jährlicher Periode gerade entgegenwirkt, nämlich der Paral-
laxe. Das wird sofort eingesehen, wenn man sich das aus Erde —
Sonne — Stern gebildete Dreieck vor Augen stellt. Der Liohtstrahl
Stern — Erde wird durch die Refraktion nach dem Einfallslot hinge-
brochen, und da dieses Einfallslot im Momente, wo der Strahl die Erde
erreichte, die Linie Erde — Sonne selbst ist, so vergröfsert die Refraktion
den Winkel Stern — Erde — Sonne. Der Stern erscheint uns also von
seiner mittleren Lage nach der Seite weggeschoben, auf weloher sich
die Sonne nicht befindet. Infolge der Parallaxe aber erscheinen uns
die Sterne von ihrem wahren Orte, d. h. von der Sonne aus gesehen,
naoh der Seite verschoben, wo die Sonne steht; beide Male erfolgen die
scheinbaren Verschiebungen in der Ebene des Dreieoks Erde— Stern —
Sonne, aber nach verschiedenen Seiten des Visionsradius. Die Folge ist
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nun die, dafs sämtliche Parallaxen zu klein gemessen werden, da wir
stets nur die Differenz: Parallaxe minus Refraktion messen und die
Konstante dieser Refraktion noch unbekannt ist. Da es Sterne gibt, die
tatsächlich unmefsbar weit entfernt sind, also in Wahrheit die Parallaxe
Null haben, während die Refraktion, wenn sie vorhanden ist, für jeden
Stern merklioh ist, so würde man bei solch unendlich weit entfernten Ster-
nen dann eine negative Parallaxe messen. Tatsächlich sind solche nega-
tiven Parallaxen gemessen; dieselben konnten aber bislang immer
entweder als Ausdruck von Beobachtungsfehlern angesehen oder dem
Umstande zugeschrieben werden, dafs der Stern entfernter war als
die Vergleichssterne. Die Konstante dieser Ätherrefraktion würde
also gleich der gröfsten negativen Parallaxe sein, die je gemessen wird,
allerdings nicht auf differentiellem Wege, da die Ätberrefraktionen
für einander nahestehende Sterne den gleichen Betrag haben und die
Messungen relativer Parallaxen daher von ihrer Wirkung frei sind.
Nur die Bestimmung absoluter Parallaxen mit dem Meridiankreise
kann die Frage zur Entscheidung bringen. Diese Methode hat aber
wieder den Nachteil, dafe man sie auf die ganz schwachen Sterne, die
vermutlich am weitesten entfernt sind, nicht anwenden kann, weil sie
für dieses Instrument zu sohwaoh sind.
Die Ätherrefraktion kann schliefslioh auch veränderlich sein, wenn
die Wärmestrahlung der Sonne Schwankungen teils unregelmäfsiger,
teils periodischer Art unterworfen ist Alles in allem wird durch die
Annahme der hypothetischen Ätherrefraktion die Frage der Sternparall-
axen noch delikater, als sie schon ist.
t
Spezifische Wirkungen des Fluoreszenzlichtes.
Die verschiedenen Strahlenarten lassen die Wissenschaft jetzt
nicht zur Ruhe kommen. Noch tobt der Streit über die wirkliche
oder zugesprochene Wirkung der im gewöhnlichen Misohlioht, d. h.
im gesamten Licht der Sonne oder anderer künstlicher Lichtquellen
enthaltenen verschiedenen Strahlengattungen, denen sich nicht minder
die Erörterung über Röntgen- und Radiumstrahlen anschliefst — da ist
man schon wieder einen Schritt weiter gegangen und hat diesmal eine
schon seit langen Zeiten bekannte Lichtart in den Kreis der Be-
trachtungen gezogen. Und zwar sehr mit Recht, wie wir den Mit-
teilungen Tappeiners und Jesioneks in der Münch. Med. Wochen-
schrift*) entnehmen.
•) Münch. Med. Wochenschrift Nr. 17. 1903.
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Allen ist das Leuchten gewisser Stoffe bekannt, nachdem sie
dem Einfluss einer anderweiten Lichtquelle ausgesetzt waren, die
sogenannte Fluoreszenz. So leuohtet z. B. der Barium - Platin-
Cvanürschirm unter dem Einfluss der Röntgen- und Becquerelstrahlen
auf, indem er duroh diese lediglich auf dem Umwege des Fluores-
zierens die Netzhaut des Auges erregt Wenn man so eine zeitlang
über dem Zweck das altbekannte Mittel dazu vernachlässigte, so sucht
inan auoh diesem nunmehr gereoht zu werden.
O. Raab fand bereits bei Versuchen mit fluoreszierenden Stoffen,
dafs verschiedene, an sioh, d. h. im Dunkeln wenig giftige Stoffe,
wenn sie im Licht zum Fluoreszieren gelangten, eine erhebliche Gift-
wirkung auf niedere Organismen, wie Infusorien, ausübten,
und das sogar noch in selbst millionenfacher Verdünnung. Da diese
Wirkung ausbleibt wenn das zutretende Licht die Fluoreszenz er-
regenden Strahlen nicht mehr enthält, so müfste man dieselbe mit
dieser in Zusammenhang befindlich erachten. Auf Grund dieser Er-
wägungen prüfte man auch den Einflufs auf Enzyme und Fermente*
wobei sich ganz analog zeigte, dafs diese selbst bei sehr grofser Ver-
dünnung des fluoreszierenden Farbstoffes unter Zutritt von Luft ihre
spezifische Wirksamkeit nahezu oder vollständig einbüfsten. Ähnlioh
verhielten sich auch Toxine.
Doch scheinen nicht alle fluoreszierenden Substanzen die gleich
starke Wirkung zu haben, Vielmehr nur solche, deren Lichtabsorption
im rein blauen und grünen Teil des Spektrums liegt. Das sind
also die erregenden, auslosenden Strahlen, deren Abschlufs durch ein
■ geeignetes Filter, als Experimentum crucis, die Giftwirkung des er-
zeugten Fluoreszenzlichtes auslöschen.
Den erwähnten Angriffsobjekten gegenüber sind nun nicht alle
derartigen Farblösungen gleichwertig; einige wirken mehr auf Zellen,
andere auf Toxine und Fermente. Am stärksten erwies sich das
Eosin, ein in der mikroskopischen Technik bekanntes Färbemittel,
welches auf alle Testobjekte einwirkte und z. B. in einer Verdünnung
von 1 : 400 000 noch einen hemmenden Einflufs auf die Umwandlung
der Stärke zeigte.
Da bezüglich der Toxine, als Produkte der krankheitserregenden
Bakterien, ihr schädlicher Einflufs für den menschlichen Körper be-
kannt ist, so war es nur natürlich, dafs, wie bei den anderen Strahlen-
arten, auch hier eine K ranken behandlung in geeigneten Fällen
aussichtsreich erschien. Man ging also von der Ansicht aus, eine
unter Einflufs des Lichtes fluoreszierende Farblösung mufs, mit er-
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570
krankten Gewebsteilen des Körpers in Berührung gebracht, ihre Gift-
wirkung auf die vorhandenen Toxine, d. h. auf die schädlichen Pro-
dukte der Krankheitserreger entfalten und so Heilung bewirken.
Hierzu verwendeten Tappeiner und Jesionek auf der Mün-
chener Klinik eine 5 prozentige, wässerige Kosinlösung, welche
fortgesetzt auf die Krankheitsherde während der Bestrahlung mit
Sonnen- oder starkem elektrischen Bogenlicht aufgepinselt wurde.
Natürlich konnten zunächst nur oberflächliche Erkrankungen der
Haut, möglichst parasitärer Natur, in Frage kommen. — Die Erfolge
waren aufserordentlich interessant und günstig; die betreffenden Krank-
heitsvorgänge wurden schnell gebessert, teilweise fürs erste geheilt,
so dafs diese Behandlungsmethode der weiteren Verfolgung wert er-
scheint Freilich muss man alle derartigen Reaktionen krankhafter
Vorgänge bezüglich endgültiger Beseitigung mit grofser Vorsicht be-
trachten, da es eine spezielle Eigentümlichkeit parasitärer, besonders
bösartiger Hautkrankheiten ist, stellenweise unter dem Einflufs irgend
eines reizenden Mittels, wohin auch die Fluoreszenzstrahlen gehören,
zu vernarben, während der krankhafte Vorgang an anderen Partien
von neuem einsetzt. Das gilt auch insbesondere von den kürzlich für
die Behandlung des Krebses so hoch gepriesenen Röntgen - und
den diesen nahestehenden Becquerelstrahleu. Sie bieten in gleicher
Weise, wie schon vielfach gebrauchte medikamentöse Stoffe, eine Art
Ätzmittel dar. welohes allerdings unserer modernen Technik besser
entspricht als der Höllensteinstift und dergleichen. Mit Recht hat
darum kürzlioh v. Bergmann in medizinischen Kreisen Berlins ein
erlösendes Wort gesprochen, indem er auf Grund seiner vielseitigen •
Erfahrung die Ärzteschaft und indirekt auch das Publikum vor über-
triebenen Experimenten und Hoffnungen in obigem Sinne warnte.
Dr. med. Ax mann- Erfurt
§
Über den Zusammenhang zwischen optischen und elektrischen
Eigenschaften der Metalle und über gewisse Schlüsse, die man
daraus auf den Aufbau der Materie ziehen kann.
In einer 1903 in dem Berichte der Deutschen Physikalischen
Gesellschaft erschienenen Arbeit haben Hagen und Rubens einen
eigentümlichen Zusammenhang zwischen dem optischen Reflexionsver-
mögen von Metallen für lange Älherwellen und ihrer Leitfähigkeit
konstatiert. Es ist auf den ersten Blick nicht einzusehen, wie zwei
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scheinbar so grundverschiedene Eigenschaften, wie optische Reflexion
und elektrische Leitfähigkeit, irgendwie miteinander korrespondieren
können.
Die Oröfse der Leitfähigkeit charakterisiert die Fortbewegungs-
fähigkeit der kleinsten Atomunterteile, der Elektronen, durch die
Materie hindurch (vergl. diese Zeitschrift, Maiheft 1903). Das Re-
flexionsvermögen charakterisiert die Fähigkeit einer Metallfläche, auf-
fallendes Licht zurückzuwerfen. Spiegel derselben Form von ver-
schiedenen Metallen erscheinen verschieden „bell“, wenn man sie be-
leuchtet, haben also verschiedenes Reflexionsvermögen. Auch dies
Reflexionsvermögen für Lichtwollen steht mit der Bewegung der Elek-
tronen in engem Zusammenhang, und zwar mit der „Eigenschwin-
gungsdauer“ derselben.
Hat z. B. in einem „Ätherwellenzug“ (aus verschiedenen Farben
zusammengesetzter Strahl) eine Welle gerade dieselbe Schwingungs-
dauer, wie eine „Elektronensorte“ in den Atomen der Metalloberfläche,
so findet „Resonanz“ statt (vergl. diese Zeitschrift, Augustheft 1901),
d. h. die Energie der Wellen wird verbraucht, um die Bewegung der
Elektronen zu verstärken, die Welle wird absorbiert.
Auch wenn keine Resonanz eintritt, wird ein Teil der Energie
verbraucht, um die Oberfläche der Elektronen in erzwungene Schwin-
gungen zu versetzen. Diese Energie wird nun nicht von der Eigen-
periode, sondern lediglich von der Beweglichkeit der Elektronen in
der Materie abhängen. Wenn uns so ein Zusammenhang zwischen
Reflexionsvermögen und Leitfähigkeit schon bedeutend wahrschein-
> Hoher gemacht ist, so überzeugt uns die Theorie von Maxwell
vollends, indem sie diesen Zusammenhang mathematisch ausdrückt.
Sie behauptet nämlich, dafs das Produkt aus der eindringenden Inten-
sität (E) (also der nicht reflektierte Teil der Ätherwelle) und der
Wurzel auB der Leitfähigkeit (k) bei allen Metallen einen konstanten
Wert (C) haben müsse, eine bestimmte Wellenlänge (i) vorausgesetzt.
Mathematisch würde sich die Formel Ej k = C» ergeben. Die
Schwierigkeit, an der alle früheren experimentellen Untersuchungen
über diesen Gegenstand scheiterten, bilden die obenerwähnten Reso-
nanzerscheinungen, die in der Maxwellsohen Theorie nicht in Be-
traoht gezogen werden. Um die Schwierigkeit zu umgehen, bedienten
sich Hagen und Rubens langer Wärmewellen von 0,012 bis 0,025
Millimeter (während die Länge der gelben Lichtwellen 0,006 mm be-
trägt). Es gelang ihnen in der Tat, die Maxwellsche Beziehung
zu bestätigen, und zwar bei Silber, Gold, Kupfer, Platin, Nickel und
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16 Legierungen, die in wechselnder Zusammenstellung die Metalle
Silber, Gold, Platin, Nickel, Eisen, Zink, Cadmium, Zinn, Blei, Alu-
minium, Magnesium, Wismut und Kupfer enthielten.
Nachdem so der von der Theorie verlangte Zusammenhang ein-
mal festgestelit ist, können wir umgekehrt aus den Abweichungen
von der Theorie bei der Reflexion bestimmter kürzerer Lichtwellen
auf Resonanzerscheinungen, also auf die Eigenschwingungsdauer der
Metall-Elektronen scbliefsen. Wir können z. B. sofort mit Sicherheit
behaupten, dafs die Perioden der Metallelektronensohwingungen der
Gröfse nach in dasselbe Gebiet fallen, wie die der sichtbaren Äther-
wellen.
Durch die Untersuchungen von Hagen und Rubens hat die
moderne physikalische Theorie wieder eine neue Stütze erhalten, und
wir werden mehr und mehr in der freudigen Überzeugung bestärkt,
dafs wir mit der Anschauungsweise eines gesetzmiifsigen Zusammen-
hangs aller Naturerscheinungen auf dem richtigen Wege sind.
Dr. M. v. P.
f
Die Heissdampflokomotive steht momentan duroh die Versuche
auf der Strecke Marienfelde-Zossen im Vordergrund des Interesses.
Von vornherein war es nicht die Absicht der Dampfteohniker, mit dem
elektrischen Sohnellbahnwagen zu konkurrieren, aber sie haben sich
die schöne Gelegenheit, auf einem ausnahmsweise starken und
gesicherten Oberbau fahren zu können, nioht entgehen lassen. Es
entsteht sogar die Frage, ob es nioht ein unabweisbares Bedürfnis
ist, für ein so gewaltiges industrielles Unternehmen, wie es die Staats-
eisenbahn-Verwaltung darstellt, eine eigene und zwar bedeutend län-
gere Strecke lediglich für Proben und Versuche zu besitzen. Das
im vorigen Jahre von dem Verein Deutscher Maschinen-Ingenieure
erlassene Preisausschreiben, betreffend den Entwurf einer modernen
Dampflokomotive, hat insofern Erfolg gehabt, als von fünf Entwürfen
wenigstens einer und zwar derjenige des Ober-Ingenieurs Peglow von
der Berliner Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals L. Sohwartz-
kopff prämiiert werden konnte. Da eine erhöhte Leistungsfähigkeit
der Lokomotive zugleich mit einer erhöhten Wirtschaftlichkeit Hand
in Hand gehen mufs, so haben im allgemeinen die Konstrukteure mit
den althergebrachten Formen der Maschine insofern gebrochen, als
sie statt des Zweizylinder-Systems das Vier- oder Dreizylinder-
System, letzteres im sogenannten Compound -Verbände der Zy-
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linder, angewendet haben. Am meisten Aussicht scheint jedoch
die zweizylindrige Maschine mit Überhitzung des Dampfes auf Ein-
führung in die Praxis zu haben. Bei ihr wird nioht der feuohte, aus
dem Kessel entströmende Dampf sogleioh in die Zylinder geleitet,
sondern zunäohst durch einen in der Rauchkammer unterdem Schornstein
liegenden und von den heissen Abgasen umströmten Überhitzer ge-
leitet. Man hat dann den Vorteil, trockenen Dampf in den Zylinder
zu bekommen, der dort seine Energie ökonomischer und vollständiger
abgibt Eine nach dem Plan des Baurats Garbe hergestellte Maschine
hat auf der allerdings sehr ebenen Marienfelder Versuchsetrecke mit
einer Belastung von drei D-Zugwagen eine Höchstgeschwindigkeit
von 135 km in der Stunde erreioht. Es ist ja selbstverständlich, dafs
sich unsere gewöhnlichen Eisenbahnstreoken mit einer so enormen
Geschwindigkeit wegen ihres leichteren Oberbaues und namentlich
wegen der stärkeren Steigungsverhaltnisse und scharfen Krümmungen
nicht befahren lassen. Es steht aber dooh zu hoffen, dafs die Heifs-
dampf-Lokomotive berufen ist, wenigstens auf einigen Strecken eine
geringe Steigerung des Schnollzugverkehrs, etwa bis auf 100 km pro
Stunde, zu ermöglichen. Im Lokalbetriebe dürfte sie vor allen Dingen
eine gröfsere Ersparnis an Betriebskosten mit sich bringen. Der auf-
merksame Beobachter kann jetzt bereits vor den Zügen der Berliner
Stadtbahn, namentlich im Vorortverkehr, dreifach gekuppelte und an
ihrem starken Vorbau unter dem Schornstein erkenntliche Heifsdampf-
lokomotiven bemerken. Dieser neue Maschinentypus zeichnet sich
auch sonst durch die dem amerikanischen Vorbild ähnelnde außer-
ordentlich hohe Lage des Kessels aus. D.
*
Muscheln als Überträger von Typhusbazlllen.
Vor allem die Herzmuschel (Cardiumedule) wie gewisse andere
kleine Muscheln sind, wie .Nature“ berichtet, für die ärmere Bevölke-
rung Londons eine willkommene Speise. Leider ist aber mit dem
Gemtfs dieser mit Kanalstoffen behafteten Mollusken leicht eine Über-
tragung von Typhusbazillen verbunden. Selbst das Abkochen der
Muscheln kann die Gefahr nicht ganz beseitigen. Da nämlich einer-
seits die Typhusbazillen nur durch längeres Kochen absterben, durch
eine derartige Behandlung die Marktware aber zusammensohrumpft
und unansehnlich wird, so wird das Abkochen der Muscheln in sehr
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oberflächlicher Weise vorgenoramen: die gefüllten Netze werden nur
kurze Zeit in siedendes Wasser gehalten, aber noch bevor das duroh
die verhältnismäfsig kalten Musoheln abgekühlte Wasser von neuem
zu kochen beginnt, wieder horausgezogen. Auf Grund von ein-
gehenden Versuchen der Fishmongers Company erweist Bich die
Behandlung der Musoheln mit Dampf als viel geeigneteres Desinfek-
tionsmittel. Zwar verlieren die Mollusken durch eine Dampfbehand-
lung von 10 Minuten ihr gutes Aussehen, sind aber dann schon
nahezu keimfrei und selbst unschädlich, wenn man dieses von den
ärmeren Schichten der Bevölkerung so begehrte Gonufsmittel nur
6 Minuten der Einwirkung des Dampfes aussetzt. Duroh dieses Ver-
fahren kann man daher die Konsumenten vor einer Infektion durch
den mit Recht gefürohteten Typhusbazillus einigermafsen schützen.
Dr. Martin Heidrich.
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Webers illustrierte Katechismen. Leipzig. Verlag von J. J. Weber.
No. 57. Kollert, Prof. Dr. Julius. Katechismus der Physik. Sechste
verbesserte und vermehrte Auflage. 1903. 593 S. Preis 7 M.
No. 70. Huber, Katechismus der Mechanik. Siebente Auflage, neu he*
arbeitet von Prof. Walther Lange. 190*2. *269 S. Preis 3,50 M.
Die Brauchbarkeit und Beliebtheit der vorliegenden Bücher folgt schon
aus der Zahl der Auflagen, die in einer kurzen Reihe von Jahren erforderlich
gewesen sind. Bei beiden Büchern haben die Verfasser dauernd durch mehr
oder weniger tiefgreifende Umarbeitungen dafür gesorgt, dafs kein Stillstand
ein tritt. Sicher ist das Fortschreiten mit der Zeit nützlich und wünschenswert
Man kann aber auch des Outen zu viel tun. Ein Katechismus bann nur ein
kurzer Abrifs des Wichtigsten sein wollen, nicht ein Handbuch, das bis auf
den Moment des Abschlusses alles enthält. Gehören die neuesten Arbeiten, z. B.
die von Blondlot, in einen Katechismus? Dafs er die Polarisation der Röntgen-
slrahlen nachgewiesen hat, ist ja schon überholt, Blondlot hat ganz neueStrahlen
entdeckt, doch hat sie nach den Mitteilungen der Naturforscherversammlung
1903 anscheinend bis dahin niemand aufser ihm gesehen. Bis solch Neuestes
besser geklärt ist, braucht ein Katechismus wohl nicht davon zu sprechen. — Ob
ferner ein Leser sich aus den wenigen Zeilen 8. 246 Über die Protuberanzen ein
Bild machen kann, ohne die Kum morsche Abhandlung übor den zur Ober-
fläche eines Planeten zurückkehrenden Strahl und die Theorie über die Gasnatur
der Sonne zu kennen? — Zur Verbesserung sei empfohlen die Notiz auf S. 446
über Nebenscbltifs- und Hauptstromlampen; bei der Nebenschlufslampe fehlt eine
Angabe darüber, wie der Bogen durch eine Spiralfeder zustande kommt.
Auch dürften die Hauplstromlampen, die in der Regina-, Liliputlampe usw.
vielen vor Augen kommen, nicht so kurz erledigt werden; ebenso findet man
heute so oft Effoktkohlen mit Metallzusatz, so dafs auch sie Erwähnung finden
müssen. S. 255 steht ein sionstörender Druckfehler: die Stäbchen sind nicht ge-
meint, sondern zweimal die Zapfen. — Zur Gewinnung von fester Kohlensäure
(S. 319) bedarf man keiner Kältemischung; man neigt die Flasche, bindet einen
Beutel vor die Öffnung und läfst das Gas ausströme», daun füllt sich der
Beutel ganz von allein mit fester Kohlensäure. — Bei den Notizen über die
Kältomischungen (8. 318) fehlt die Anfangstemperatur der Bestandteile, die
doch für das Resultat wichtig ist. A. S.
Dr. Ludwig Re II stab: Die elektrische Telegraphie. Mit 19 Figuren.
Leipzig. Göschen 1903. Sammlung Göschen No. 17*2. Preis 0,80 M.
Der Verfasser bespricht zunächst einige allgemeine Fragen, aus denen
besonders die Behandlung der Leitungen, Schaltungen und wichtigsten
Messungen genannt seien; daran schliefst sich eine Beschreibung der wichtigsten
Systeme des Ferndruckers, der automatischen Schnelltelegraphie, Kabel- und
Funkentelegraphie. Die Auswahl des dargestellten Stoffes und die Art der
Behandlung ist vortrefflich. A. S.
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676
Dr. Felix Auerbach, ProF.: Das Zeisswerk und die Carl-Zciss-Stiflung
iu Jena. Ihre wissenschaftliche, technische und soziale Entwickelung
und Bedeutung, für weitere Kreise dargestellt Mit 78 Abbildungen
im Text Jena 1903. Fischer. 109 S.
Ähnlich wie Krupp trotz aller pekuniären und technischen Schwierig-
keiten seine Ideen über die Verarbeitung des Qufsstahls bis zum glänzenden
Erfolg durchgeführt hat, so hat auch Carl Zeiss, der 1846 unter den aller-
kleinsten Verhältnissen eine Werkstatt in Jena einrichtete, sich allmählich,
nach damaliger Methode rein empirisch, zu guten Mikroskopen durchgearbeitet
und hat später, aller Qefahren und Opfer ungeachtet die Empirie fallen lassen, um
— besonders unter der Hilfe von Ernst Abbe — die Konstruktion von Mikro-
skopen nach rein theoretischen Unterlagen zu beginnen. Was damit geleistet
worden ist i*t bekannt. Dank der Unterstützung des preußischen Kultus-
ministeriums unter Oofsler konnte Zeiss mit Otto Schott zusammen 1884
die Jenaer Glasfabrik Schott und Genossen errichten, der wir schwer schmelz-
bares Glas für Thermometer und chemische Geräte, sowie mannigfache Gläser
für optische Zwecke verdanken. Was die Firma Zeiss sonst noch an Meß-
apparaten, Fernrohren usw. geleistet hat, dürfte den Lesern von „Himmel und
Erde“ im allgemeinen bekannt sein. Weniger genau bekannt aber dürfte es
sein, wie grofs für Jena die wirtschaftliche Bedeutung der Fabrik ist, die über
1400 Angestellte besitzt, über 2 Millionen Mark an Löhnen und Gehältern zahlt,
einen Umsatz von etwa 4 Millionen hat und allein für gemeinnützige Zwecke
(Universität u. a.) über 3 Millionen bisher gespendet hat.
Dr. P. Ferchland: Grundrift der reinen und angewandten Elektro-
chemie. Halle a. S. 1903. Knapp. 271 S.
Das Buch gehört in die Reihe der von Engelhardt herausgegebenen
Monographien über angewandte Elektrochemie. Es enthält einen Abschnitt über
die Elektrolyse, in dem die grundlegenden Theorieu und Versuche von
Faraday, Hittorf, Clausius, Arrhenius, Kohlrausch und Nernst
u. a. für den Laien sehr verständlich dargcstellt sind. Der zweite Abschnitt
behandelt die Änderungen der Energie bei elektrischen Prozessen, der letzte
gibt kurze Nachrichten über einige technische Elektrolysen. Ziel, Umfang
und die Behandlungsweise des Stoffes entsprechen ungefähr dem bekannten und
sehr verbreiteten Leitfaden von Lüpke, dem das vorliegende Buch gleich-
wertig an die Seite treten kann.
Verlag: Hermann Paetel in Berlin. — Druck: Wilhelm Gronan’a Bnchdrockerel in Berlin -Sthdneberg.
Für die Kedactien verantwortlich : Dr. P. Schwahn in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck na» dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt.
Überaetz ungerecht Vorbehalten.
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Einzelne Hefte 1 Mk. 60 Pfg.
XVI.JAMRO. SEPTEMBER 1904 HEFT 12
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ILLUSTRIERTE NATURWISSENSCHAFTLICHE
MONATSSCHRIFT
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„URANIA“
REDAKTEUR DR. P. SCHWAHN
BERLIN
VERLAG VON HERMANN PAETEL
Preis vierteljährlich 3 Mk. 60 Pfg.
Aren Ob. die QildHi<|H| mHner
t. Gegründet
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Hermann Wanschaff
Gegründet ^
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Das Inhalts -Verzeichnis befindet sich am Scblufs des Heftes.
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Hoher Nutzeffekt
Geringer Gas-
verbrauch.
Keine Polarisation,
daher keine
Erscb&pfong.
Betriebsstörungen
ausgeschlossen.
Keine Dhmpfe,
kein Gerach.
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Inhalts -Verzeichnis.
September 1WO-1.
Grössere Aufsatze. s*u.
Die Kulziumbildf r der Sonor. Von Professor Dr. J. Seheiner, Potsdam 529
Neueste Forschungen Uber den elektrischen Strom. Von Professor
B. Weinstein, Berlin 537
Nutzbarmachung des Lnftstickstoffes für die Landwirtschaft. Von Ür.
K Müller, Potsdam 559
Mitteilungen.
Strahlenbrechung im interplanetaren Kannte 6G7
Spezifische Wirkung de. Flaoreszenzlichles 668
Ober den Zusammenhang zwischen opti.eheu nid elektrischen Kigeu-
schaften der Metalle 670
Die lleifsdamprlokomvlive 672
Muscheln als ('bertriiger vnn T.vpbnsbnzillen 678
Bibliographisches.
Httcherbesprerhuagcn 676
Redaktionelle Mitteilungen, Jtuslauschexem/ilare anderer Zeit-
schriften, sowie Einsendungen der Mutoren sind an die Adresse
„Himmel und Erde, ßerlin IP„ Taubensl rasse 48140“, zu senden.
Itautriltuisrii »uf «Ho ZmUchrift ..HmnuH und Krdo" uiml nicht an dl* tle*oU»rliaft 1'rtiul»,
Bondern hu dio V«>rl.»K'‘buolihandlunjt Hermann Partei, Herl in W.t ElashoiMtr. 12, au richlcu.
Probeheft« verwendet die VerlttgwbuilihBiullunf gratl».
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Unserer heutigen Nummer. liegt ein Prospekt des Camera -ürotavertrlek
„Union“, Ilnco Stockig & Co., Dresden, bei, den wir der freundlichen Beachtung
unserer verenrlichen Leser angelegentlich empfehlen. Die Kxped. der Zeitschrift
Die Momentanfnahme ist heute unstreitbar der wichtigste Teil der Photo*
graphie, denn nur sie ermöglicht eine vollkommen naturgetreue Wiedergabe.
Merkwürdig ist nur, data viele Amateure so bescheidene Ansprüche an ihre
Cameras stellen, sie meinen, die interessanten Sprungaufuahnien usw. seien nur
von einem raffinierten Berufsphotographen fertigzubringen. Dooh ist nichts
leichter als die Aufnahme eines Augeoblicksbildes. Allerdings gehört dazu ein
Apparat mit guter Verschlufstechnik, sowie ein lichtstarkes Glas. Apparate,
die beides vereinigen, sind die bekannten Union* Cameras, und da diese
auteerdem unter erleichterten Zahlungsbedingungen abgegeben werden, erklärt
sich daraus die aufeerordentliche Verbreitung, die diese Apparate gefunden
haben. Der neueste Prospekt über Union-Cameras liegt unserem heutigen
Blatte bei. _ _
„Agfa“* Photo-Handbuch. Welcher Beliebtheit sich dieses kleine Workchen
ia Interessentenkreisen erfreut, beweist wohl am besten der Umstand, data
dasselbe in der relativ kurzen Zeit «eines Erscheinens bereits in ca. 35000 Exem-
plaren verkauft worden ist und nouerdiugs nach Mitteilung der Herausgeberin,
der bekannten Aktien -Gesellschaft für Anilin -Fabrikation schon wieder in
10 000 Exemplaren aulgelegt wird. Dos Bändchen bietet allerdings auch in. dem
verbältnismätaig engen Rahmen von etwa« mehr als 100 Textseiten eine solche
Fülle des Wissenswerten, nicht nur für den Anfänger, sondern auch manches
Interessante für den Fachmann, dass seine Beschaffung jedermann empfohlen
worden kann, um so mehr, als dasselbe bei geschmackvoller Ausstattung und
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Deutsches Handelsmuseum
Offizielles Orian des Bundes der Kanfieite.
Eine neue* wirtschafts-politische Zeitschrift grösseren Stiles, welche
unter Kettung des Direktors der Zentralstelle für Vorbereitung von
Handelsverträgen, Herrn l)r. Vosberg-Rekow und hervorragender an-
derer Fachmänner herausgegeben wird, erscheint vom I. Januar 1904
ab in Unterzeichneten Verlage.
Das „Deutsche Hundeismuseum** ist bestimmt für die gesamten
Bewegungen im Kaufmannsstande, in den kaufmännischen- und Erwerbs-
kreisen, in den kaufmännischen Korporationen und Vereinen einen Mittel-
punkt ab* u geben, es ist ferner bestimmt, nach der ganzen Art seiner
Auslage ein
volkswirtschaftliches Zentral ■ Organ
zu werden, welches sich an ein grosses Publikum wendet, und ins*
besondere den Kreisen des Handels und der Industrie dienstbar sein
wird, wobei es für seine Abonnenten und Leser einen volkswirtschaft-
lichen Nachrichtendienst etablieren wird, welcher mit Kat und Tat den
Geschäftsleuten zur Hand gehen soll.
Als offizielles Organ des Bundes der Kaufleute, der gegenwärtig
über 8ooo Mitglieder zahlt, wird das „Deutsche Handrlsimiseum‘k von
vornherein in einer Auflage von ioooo Exemplaren erscheinen und
bildet somit gleichzeitig ein
Insertions-Organ ersten Ranges,
volle Gewähr bietend für eine umfassende Verbreitung unter den
Geschäftsinhabern der verschiedenen Branchen, unter allen Ortsgruppen
des Bundes der Kaufleute und den zahlreichen den» Bunde angeschlossenen
Korporationen und Vereinen.
Allen Kreisen des Handels, Verkehrs und der Industrie sei daher
ein Abonnement auf dieses Organ, wie es bisher in Deutschland nicht
besteht, angelegentlichst empfohlen.
Das Handelsmuseum erscheint monatlich einmal und kostet in»
Abonnement M. 7.50. Bei Insertionsaufträgen stehen Prospekte über
Preisberechnung kostenlos zur Verfügung.
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Mittelmeer zuin Pontus. Konia — Kararnan. Im hohen Taurus. Am Mittelmeer. Ein
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Piebterlmien nnS bringt wertvolle Beiträge Ser bervorrngmSflcit
Eclcljrten nnS piiMIjlften über Sie mannigfartjften fragen aus allen
(ßebleten Ser ll'lileiifdinft, lluiift unS f Iterntur. Hegclm5fjig mibmel
fte Sen (Cagesereignijtrn — von parteiintereffen unbeeinflußt - eine
poltlifdie SlmtSfd.Mii, ftaltct jebes lieft mit einer literarifdieit 2luitS>
fdniu aus, unS gibt fo ein umfniietiSes IUIS vom moSeriien tfielftes
leben, r-te ift Sat;er atidi, wie raum eine zweite Seiitfdie 3elt=
fdrrlft, geeignet, ein griffiges Hanb jroifdjeu Sen Pentfd>en im
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