Die
schuhmache
in Bayern
Ernst Francke
HARVARD UNIVERSITY
GRADUATE SCHOOL
OF BUSINESS
ADMINISTRATION
BAKER LIBRARY
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MCXCHBNER
Volkswirtschaftliche Studien.
HEKAUSQEüEBEN VON
LUJO BRENTANO und W ALTHER LÖTZ.
ERSTES STÜCK:
Die Schuhmacherei in Bayern.
Ein Beitrag zur Kenntnis unserer gewerblichen Betriebsformen.
VON
D" ERNST FRANCKE.
STUTTGART 1893.
VERLAG DER J. G. C OTTA'SCHEN BUCHHANDLUNG
NACHFOLGER.
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DIE
Schuhmacherei in Bayern
Em BEITRAG
zur Kenntnis unserer gewerblichen Betriebsformen.
VON
ERNST FRÄNCKE,
DOCTOR DER STAATSWIRTSCHAFT.
STUTTGART 1893.
VERLAG DER J. G. COTTA'SCHEN BUCHHANDLUNG
NACHFOLGER.
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ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
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KOL. SACHS. GEHEIM. HOFRAT
IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT
GEWIDMET.
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Vorwort
Für die Betrachtung eines einzelnen Gewerbes nach seiner
wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung sowie nach seiner
historischen und technischen Entwickelung bietet die Schuh-
macherei in Bayern ein günstiges Feld. Gerade Bayern ist in
der Zusammensetzung seiner Bevölkerung, in der Mischung
von rein landwirtschaftlichen Produktionsgebieten mit solchen
von reger gewerblicher Thätigkeit, von grösseren Städten und
zerstreuten Ansiedelungen ein geeignetes Land, um die räum-
liche Verteilung eines Gewerbes in ihren Einzelheiten zu unter-
suchen. Die bayerischen Verhältnisse mögen in dieser Hin-
sicht vielleicht die allgemein in Deutschland herrschenden mit
ziemlicher Genauigkeit abspiegeln.
Andrerseits ist auch die Schuhmacherei ein für solche Be-
trachtungen ergiebiges Gewerbe. Die Zahl der in ihr thätigen
Personen ist stets eine sehr grosse gewesen, sie ist auf dem
Lande bis in die entlegensten Gebirgsdörfer ebenso zu finden
wie in jeder Stadt. Alle Formen des Betriebes sind in ihr
scharf ausgeprägt, vom Arbeiten auf der Stör angefangen bis
zum grossen Fabrikunternehmen mit davon abhängiger Haus-
industrie, von der Verwendung primitivsten Handwerkszeuges
bis zur Aufstellung sinnreich konstruierter, leistungsfähiger
Arbeitsmaschinen mit Motorenbetrieb. Auch in die sozialen
und wirtschaftlichen Zustände der in der Schuhmacherei thätigen
Personen ergeben sich bei einer näheren Untersuchung mancher-
lei Einblicke, die ihrerseits wieder Schlüsse auf allgemeinere
Verhältnisse zulassen.
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I
- VIII
Die nachfolgenden Erörterungen zerfallen in zwei Haupt-
abschnitte, von denen der erste die Statistik und Topographie
der bayerischen Schuhmacherbevölkerung, die Entwickelung, die
Technik und die Organisation des Betriebes, der zweite sodann
die wirtschaftlichen und sozialen Zustände der in diesem Ge-
werbe thätigen Personen sowie die korporativen Organisationen
der Schuhmacher behandeln soll. Daran schliesst sich die Zu-
sammenfassung der Ergebnisse sowie eine Betrachtung über
die mutmassliche weitere Entwickelung des Gewerbes.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle all
denen zu danken, die mich bei dieser Arbeit unterstützt haben,
vor allem Herrn Geh. Hof rat Prof. Dr. Brentano und Herrn
Prof. Dr. Lötz in München, aber auch den zahlreichen Herren aus
den Reihen der Arbeitgeber wie der Arbeiter in der bayerischen
Schuhmacherei, die mir — in erfreulichstem Gegensatz zu
manch abschlägigem Bescheide von Behörden — stets in
freundlicher Bereitwilligkeit mit Aufschlüssen an die Hand ge-
gangen sind.
München, im August 1893.
Der Verfasser.
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort . . . VI II
Erster Teil:
Statistik, Technik und Betrieb der Schuhmacherei in Bayern.
I. Statistik und Topographie der Schnhmacherbevölkerung in
Bayern 1
Vergleich der Zahl der Schuhmacher mit der in an -
dem deutschen Ländern. — Statistisches. ■ — Verteilung
in Stadt und Land, im Königreich.
II. Die Entwickelung der Schnhmacherbeviilkerting nnd die Ge -
werbepolitik in Bayern 13
Die „ücbersetzung" des Gewerbes. — Anklagen gegen
die Gewerbefreiheit. — Entwickelung der Gewerhepolitik
im rechtsrheinischen Bayern; Heimats- und Khegeset/gehung.
-- Ihr EinHuss auf Zahl und Verteilung der Schnhmacher-
bevölkerung. — Die Verhältnisse in der Rheinpfalz. —
Meister und Gehilfen. — Die deutsche Gewerbepolitik und
das Handwerk-
HI. Der Umschwung des Verkehrs sowie der Technik in der
Schnhmacherei . , , , , , , , . , , „ , , : : 22
Verkelnsgeh genheit Vorbedingung der Grossindustrie.
— Macht des Herkommens in der Schuhmacherei. — Kin
- X
S.-it.-
führung neuer Techniken von Amerika. — Die Nähmaschine.
— Arbeitsteilung. — Die . modernen Schuhverfertigungs-
maschinen. — Beschreibung des Betriebs einer grossen
Schuhfabrik. — Leistungsfähigkeit des Fabrikbetriebs. —
Der Maschinenarbeiter.
IV. Die Schuhmacherei in Pirmasens 42
Pirmasens' Entwickelung ein Beleg für die bisherigen
Erörterungen. — Bescheidene Anfange. — Hausfleis.s, Werk-
stattbetrieb, Hausierhandel. — Beginn des kaufmännischen
und fabrikmässigen Betriebs. — Die Grossindustrie, ihr
Wachstum, die Krisis. — Gegenwärtiger Stand.
V. Der Grossbetrieb >>0
TW Arbeiter und die Maschine im Grosshetrieh dpr
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Arbeitsteilung
und Arbeitsverzettelung. ■ - Die Gross
Industrie der !"
Schuhmacherei in England und in Nord-
ame.rika.
VI. Das Handwerk 79
Statistik des Kleinbetriebs. - Tendenz der Entwicke -
lung. — Vorherrschen des Zwergbetriebs. — Die Störarbeit.
— Die Schuhmacherei in Verbindung mit Landwirtschafts -
betrieb. — Das Handwerk in den Städten. — Die Pro -
duktion im Werkstattbetrieb. — Die Konkurrenz zwischen
Gross- und Kleinbetrieb. — Die Notlage des Handwerks
in der Schuhmacherei. — Werkzeug- und Kraftmaschinen
im Kleingewerbe.
VII. Die Hausindustrie . . , . , , = .. = = .. = .. .. : : ^
Die Heimarbeit, in der Schuhmacherei erst neueren Da -
tums. — Die Hausindustrie des Grossbetriebs, ihre Ver-
breitung in Bayern und ihr Betrieb. — Die Hausindustrie
des Kleingewerbes, die , Logisarbeit *.
VIII. Die Schuhmacherei in den staatlichen Betrieben . . . . . 109
Die Beschaffung des Bedarfs an Schuhzeug für das
Militär; Maschinenarbeit in den Militärwerkstätten. — Die
Schuhmacherei in den Strafanstalten: Statistisches; Kon -
kurrenz mit dem freien Gewerbe.
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- XI
TX. Produktionskosten und Preise
Seit.'
12*
Die Vorteile des Grossbetriebs beim Einkauf des Roh -
materials. — Das Handwerk und die Löhne. — Produktions-
kosten und Preise im Kleinbetrieb und in der mechanischen
Fabrikation. — Die Grossindustrie ein wirtschaftlicher und
sozialer Fortschritt. — Die Qualität der Waren.
X. Der Schuhwarenmarkt 143
Per Konsum ;in Schuhwaren. — Markte und Pulten. —
Das Laden- und Magazingeschäft. — Der Wandel in der
Produktion und im Konsum. — Der Grosshandel. — Die
Zollverhältnisse. — Export und Import.
Schlnsswort zum ersten Teil 1G2
Zweiter Teil:
Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände der bayerischen
Schuhmacherbevölkerung.
XI. Arbeitgeber nnd Arbeiter W*
Einst und Jetzt: Meister und Fabrikant, Gesellen und
Arbeiter. — Frauen- und Kinderarbeit. — Ungelernte Ar-
beiter. — Das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Ar-
beitern im Handwerk und in der Grossindustrie.
a) Die Arbeitslöhne. Die Löhne im Kleinbetrieb, in
der Hausindustrie, im Grossbetrieb ; die Lohnzahlung.
b) Die Arbeitszeit. Langer Arbeitstag im Handwerk,
kürzerer in der Fabrik; die Sonntagsarbeit.
c) Die Arbeitsräume. Werkstatt, Heimarbeit, Fabrik.
d) Die Arbeitsordnung. Gesetzliche Bestimmungen
über Fabrikordnung; Klagen der Arbeiter. Mangel einer
Arbeitsordnung im Kleinbetrieb. — Vergleichung der Ar-
beitsbedingungen im Gross- und Kleinbetrieb.
XIII. Die Lebenshaltung der bayerischen Schnhmacher . . . 200
Angaben über Wohnung und Ernährung der Schuh -
macher in Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. — Die Zu-
stände in Pirmasens. — Krankheit und Sterblichkeit in
der Schuhmacherbevölkerung. — Unfallstatistik im Gross-
betrieb. — Muskelarbeit uud Nervenanspannung.
XII. Die Arbeitsbedingungen
179
XII —
XIV. Die korporativen Verbände und ihre Bestrebungen . . . . 218
Geringe Zahl der organisiert. Schuhmacher. — 1. Das Ge -
nossenschaftswesen. —2. Die Verbände d. Arbeitgeber: a) Die
Innungen; Statistik und Bedeutung. Fachbildung. — b) Der
Verband der deutschen Schuh- und Schäftefabrikanten und
seine Bestrebungen. — 3. Die Gewerkschaftsbewegung; Ge-
schichtliches. — Der Verein deutscher Schuhmacher; die
Zentralkranken- und Sterbekasse. — Arbeitsstreitigkeiten.
XV. Schlnsswort; Ergebnisse nnd Betrachtungen 240
Erster Teil:
Statistik, Technik und Betrieb
der Schuhmacherei in Bayern.
I.
Statistik und Topographie der Schuhmacher-
Bevölkerung in Bayern.
Obwohl Bayern noch bis auf den heutigen Tag weit mehr
Agrikultur- als Industriestaat ist, zählt es doch zu denjenigen
deutschen Ländern, die eine verhältnismässig starke Handwerker-
bevölkerung besitzen 1 ). Die grosse Anzahl mittlerer und kleiner
Städte, das rege gewerbliche Leben in Franken und der Rhein-
pfalz, aber auch die Zersplitterung des Grundbesitzes, die den
Betrieb eines Handwerkes zur Ergänzung des Einkommens
nahelegt, mögen hierzu beigetragen haben. Und unter den Ge-
werbetreibenden nehmen von alters her die Schuhmacher wie
fast überall in Deutschland so auch in Bayern durch ihre Zahl
einen hervorragenden Platz ein; nach der Berufsstatistik von
1882 treffen in Bayern von 1000 Personen 501,8 auf die Gruppe
Landwirtschaft, von den einzelnen Abteilungen der Gewerbe
sind die unter „Bekleidung und Reinigung 41 sowie unter „Bau-
gewerbe" die stärksten mit je 53 auf 1000 Personen, und
in der ersteren gehören wieder 34,3 0, o der Schuhmacherei
an. Insgesamt zogen vor elf Jahren aus diesem Gewerbe
124 570 Menschen, das waren fast 2 1 j-2 °/o der damaligen Be-
völkerung, als Erwerbstätige, Angehörige und Dienende ganz
oder teilweise ihren Lebensunterhalt. So stattlich diese Zahl
ist, so wird die Schuhmacherbevölkerung Bayerns an Grösse
relativ doch von der im Königreich Sachsen und Württemberg
übertroffen, während Preussen und das Reich im ganzen zurück-
bleiben. Das Verhältnis in den grösseren deutschen Ländern
l ) Vergl. GL Schindler, Geschichte des deutschen Kleingewerbes
S. 122.
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 1
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2
wird durch folgende Uebersicht erkennbar. Auf je 1000 Per-
sonen kamen 1882 in der Schuhmacherei Thätige in
Preussen ... 83 Sachsen . . . 102
Baden .... 90 Württemberg . 117
Bayern .... 92 Reich ... 89.
Leider steht für die Statistik der bayerischen Schuhmacher-
bevölkerung aus der Gegenwart wenig amtliches Material zu
Gebote, da die letzte Aufnahme der Gewerbe am 5. Juni 1882 *)
erfolgt ist. Allerdings veröffentlicht das königlich statistische
Amt alljährlich eine Uebersicht der an- und abgemeldeten Ge-
werbe; unter ihnen ist auch die Schuhmacherei, Gruppe XIII b,
und zwar geordnet nach Regierungsbezirken , unmittelbaren
Städten und Bezirksämtern. Da für diese statistischen Auf-
nahmen indessen ganz andere Gesichtspunkte massgebend sind
wie für die Berufszählung, so ist eine direkte Fortführung der
statistischen Ziffern von 1882 bis auf die Gegenwart nicht mög-
lich. Wir geben daher zunächst eine Uebersicht über den
Stand des Schuhmachergewerbes in Bayern nach der Zählung
vom 5. Juni 1882 und fügen daran die aus einer Vergleichung
der Anmeldungen und Niederlegungen in der Schuhmacherei
von 1883 — 91 sich ergebenden Zahlen.
Unter nicht weniger als 19 Bezeichnungen 2 ) zählt die
Berufsstatistik von 1882 in 81582 Haupt- und 3554 Neben-
betrieben 33 025 Personen auf, die die Schuhmacherei selb-
ständig, als Geschäftsleiter, betreiben; in der Hausindustrie sind
selbständig thätig 1713 Personen; nicht leitende Beamte, kauf-
männisches und Aufsichtspersonal gibt es 125; als Gehilfen,
Lehrlinge, Fabrikarbeiter sowie erwerbstätige Familienange-
hörige werden 21011 gezählt. Rechnet man noch die nicht
erwerbstätigen Angehörigen sowie die dienenden Personen
') Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern , herausgegeben
vom königl. statist. Bureau, Heft 48, 49, 50.
2 ) Diese .sind: Alträussler, Bändelschuhmachor, Damenschuhmacher,
Endschuhmacher , Fleckschuhmacher, Flickschuster, Frauenschuhmacher,
Gamaschenfabrikanten, Hausschuhmacher, Herrenschuhmacher, Pantoffel-
macher, Salbandschuhmacher, Schäfte- und Vqrschuhfabrikanten, Schuh-
flechter, Schuhflicker, Schuhmacher, Schuhfabrikanten, Tuchschuhmacher,
Winterschuhmacher.
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— 3 -
dazu, so erhalten wir die bereits erwähnte Ziffer von 124570
Menschen, die in Haupt- und Nebenberuf von der Schuhmacherei
leben J ).
Wenden wir uns zunächst den Hauptberufen zu 2 ), so sind
in ihnen beschäftigt als Geschäftsleiter 30 972 Personen, 187 in
der Verwaltung und 17 066 Gehilfen, Lehrlinge und Fabrik-
arbeiter. Im ganzen also 48 225 Personen in. 31 582 Haupt-
betrieben. Schon aus diesen beiden Zahlen geht klar hervor,
dass die Schuhmacherei in Bayern in der ungeheuren Mehr-
zahl in Zwergbetrieben ausgeübt wird. Ein weiteres Eingehen
auf die amtlichen Daten macht dies noch mehr ersichtlich.
Denn nicht weniger als 67.2 °/o , nämlich 21 229 Betriebe,
werden nur von einer einzigen Person, dem Besitzer selbst, ge-
führt, während nur 32,8 °/o, nämlich 10353 Betriebe, mit Ge-
hilfen arbeiten, und von diesen letzteren wieder haben nur
1,3% oder 139 Betriebe mehr als fünf Gehilfen, und werden
daher von der amtlichen Statistik als Grossbetriebe aufgeführt.
Während die Alleinbetriebe 21 229 Personen, 44 °/o der Gesamt-
zahl der Erwerbsthätigen , beschäftigen, sind in den Gehilfen-
betrieben 26 996 (56» thätig; davon treffen aber 23901 auf
die Kleinbetriebe mit ein bis fünf Gehilfen, und hier wiederum
sind die Betriebe mit ein und zwei Gehilfen so überwiegend,
dass die anderen ziffermässig kaum in Betracht kommen. In
den Grossbetrieben waren dagegen Mitte 1882 nur 3095 Per-
sonen beschäftigt.
Wie auch anderwärts ist die Schuhmacherei in Bayern
vielfach mit Nebenberufen verbunden und zwar in ganz beson-
derem Masse mit der Landwirtschaft, die insgesamt 20820
in unserem Gewerbe thätige Personen betreiben. Hierbei ist
zu unterscheiden zwischen solchen, deren Hauptberuf Schuh-
macherei ist: von diesen sind 17 335 (14 879 selbständige Ge-
werbetreibende, 450 Hausindustrielle, 2016 Gehilfen und er-
werbstätige Familienmitglieder) in ihrem Nebenberuf landwirt-
schaftlich thätig; und zwischen solchen, deren vorwiegende Be-
schäftigung die Landwirtschaft ist und die nur nebenbei etwas
') Vergl. die Tabelle auf S. 8.
2 ) Statist. Beiträge Heft 49 und 50.
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Schuhmacherei treiben. Wie die Zahl dieser letzteren verhält-
nismässig gering ist, so ist auch die Menge der in Industrie,
Baugewerbe, Handel und Verkehr, Lohnarbeit und persönlichem
Dienste, in Staats-, Gemeinde- und Kirchendienst als einem
ständigen Nebenerwerb thätigen Schuhmacher ziemlich unbe-
deutend, nämlich im ganzen 1708.
Wie verteilt sich nun diese Schuhmacherbevölkerung über
das Königreich, zunächst über Stadt und Land? Bei Beant-
wortung dieser Frage lässt uns leider die Statistik abermals
im Stich. Denn sie scheidet für die einzelnen Gewerbe nur
die unmittelbaren Städte rechts des Rheins und die elf grösseren
Städte der Pfalz, sodann die Bezirksämter aus, nicht aber die
diesen letzteren unterstellten ca. 200 städtischen Gemeinwesen.
Da aber die nicht unmittelbaren Städte durchweg ziemlich
gering an Zahl der Bevölkerung und nicht hervorragend durch
gewerbliche Betriebsamkeit sind, so werden sich die Verhält-
nisse in ihnen nicht allzusehr von denen des umliegenden platten
Landes unterscheiden. So kann man mit einigem Anspruch,
das Richtige zu treffen, als Gegensatz von Stadt und Land
wohl einerseits die unmittelbaren und pfälzischen Städte und
andererseits die Bezirksämter hinstellen. Und da finden wir,
dass auf 10000 Einwohner in den Städten 137 Schuhmacher,
auf die gleiche Zahl in den Bezirksämtern aber nur 81 treffen;
die Verhältniszahlen für 1847, wo allerdings die Einteilung
von Stadt und Land nicht ganz identisch mit der von 1882
ist, sind 130 und 94. Man sieht, die Proportionen haben sich
im Laufe der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gar nicht so
gewaltig verschoben und in Bayern ist die Dichtigkeit der
Schuhmacherbevölkerung in Stadt und Land entfernt nicht so
verschieden, wie z. B. im Königreich Sachsen, für welches
Schöne 1 -) folgende Zahlen mitteilt : 1846 auf 10000 Einwohner
des flachen Landes 47 Schuhmacher, 1875 auch erst nur 56,
auf 10 000 Einwohner in den Städten dagegen 1846 232 und
1875 160 Schuhmacher.
') Moritz Schöne, Die moderne Entwicklung des Schuhmacher-
gewerbes in historischer, statistischer und technischer Hinsicht (Jena,
Gustav Fischer 1888).
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— 5
Allerdings weisen die einzelnen Landesteile in Bayern
ziemlich erhebliche Verschiedenheiten in den Dichtigkeitsgraden
der Schuhmacherbevölkerung auf, wie aus nachstehender Tabelle
erhellt, die die Zahlen der durchschnittlich jährlich beschäf-
tigten Personen für 1882 nachweist:
Zahl der Beschäftigte Auf je 10 Oflo Einw.
Hauptbetriebe Personen kommen Schuhmacher
Oberbayern 4625 7271 75
Niederbayern 2955 4576 69
Pfalz 5960 9801 148
Oberpfalz 2410 3659 68
Oberfranken 3806 5959 ' 102
Mittelfranken 4040 6434 97
Unterfranken 4118 6080 95
Schwaben 3662 5334 83
Königreich 31582 49114 92
Danach haben die vorwiegend Ackerbau und Viehzucht
treibenden Kreise Oberpfalz und Niederbayern die geringste
Schuhmacherzahl, ihnen folgt Oberbayern, das auf gleicher
Stufe stehen würde, wenn nicht München mit seinen 1 40(3 Be-
trieben und 2338 in ihnen beschäftigten Personen (98 auf
10000 Einw.) hier die Verhältniszahi wesentlich emporschnellte.
Auch Schwaben bleibt noch unter dem Durchschnitt im ge-
samten Königreich, den andererseits die drei gewerbefleissigen
fränkischen Kreise übersteigen, während die Pfalz, dank der
dort entwickelten Grossindustrie, eine überaus starke Schuh-
macherbevölkerung aufweist. Sieht man von der Rheinpfalz
ab, die noch 1847 die geringste Proportion aufwies (65 Schuh-
macher auf je 10 000 Einw.) und in der dann seit Ende der
fünfziger Jahre ein rapider Aufschwung unseres Gewerbes
kam, so ist im wesentlichen die räumliche Verteilung im rechts-
rheinischen Bayern in diesem Jahrhundert die gleiche geblieben:
das eigentliche Altbayern, Ober-, Niederbayern und Oberpfalz,
wo Landwirtschaft die ganz vorwiegende Beschäftigung bildet,
haben die relativ geringere, die drei Franken die stärkere
Dichtigkeit in der Schuhmacherbevölkerung, zwischen beiden
Landesteilen steht Schwaben, wo neben dem Ackerbau und der
Viehzucht auch die Gewerbe in zahlreichen alten städtischen
Gemeinwesen blühen, in der Mitte. — Die Verarbeitung der be-
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rufsstatistischen Ergebnisse zählt für die Schuhmacherei die
genauen Daten in 43 Städten und 148 Bezirksämtern auf 1 ).
Wir gewinnen aus ihnen folgendes Bild über die räumliche
Verteilung der Schuhmacherbevölkerung in Bayern: Obenan
steht ganz isoliert Pirmasens Stadt mit 221,4, sodann Pirmasens
Bezirksamt mit 32,15 Schuhmachern unter 1000 Einwohnern.
Das war 1882; seit den letzten 10 Jahren ist indessen dort die
Schuhmacherbevölkerung, namentlich im Bezirksamt, noch er-
heblich gewachsen. In weitem Abstände, aber immer noch sehr
erheblich, erweist sich die Stadt Schweinfurt mit 24,9 Schustern
unter 1000 Seelen als zweites Centrum der bayerischen Schuh-
macherei. Die Städte Zweibrücken und Neustadt a. H., ferner
Speyer und Dürckheim gravitieren nach dem Mittelpunkt der
Pfälzer Schuhindustrie, die neuerdings auch in Kirchheimbolanden
kräftig emporwächst. Eine weitere sehr starke Schusterbevöl-
kerung (über 12,5 unter 1000 Köpfen) hat eine grosse Anzahl
kleinerer Städte in Mittelfranken, der Rheinpfalz, Unterfranken
und Schwaben, meist Sitzen alten Gewerbefleisses, die in
Sitte und Brauch an der Tradition hängen, wie Dinkelsbühl,
Schwabach, Nördlingen, Rothenburg, Eichstätt, Kaufbeuren etc.
Von den grösseren Städten ist Bamberg am meisten mit Schuh-
machern gesegnet (15,1 unter 1000), dann kommt das betrieb-
reiche Fürth, ferner Hof, Passau, Nürnberg, Würzburg, die
alle noch etwas über 10 Schuhmacher unter 1000 Einwohnern
zählen. München dagegen erreicht diese Ziffer nicht ganz (9,8),
Augsburg hat noch weniger. Auch auf dem flachen Lande
fehlt es nicht an Centren der Schuhmacherei und da steht, ab-
gesehen von dem Bezirksamt Pirmasens mit seiner starken
Hausindustrie, Oberfranken mit Naila (17,5), Kulmbach (14,2),
Rehau (12,4), Wunsiedel (11,9), Stadtsteinach (11,6) obenan;
hier ist auch der Sitz einer kümmerlich sich haltenden Haus-
industrie. Fast drei Viertel indessen der sämtlichen Bezirks-
ämter, nämlich 109, haben nur zwischen 10 und 6 Schuhmachern
auf 1000 Köpfe ihrer Bevölkerung; nur 16, meist in Ober- und
Unterfranken, hie und da in Mittelfranken und Schwaben haben
etwas höhere Durchschnittszahlen.
») Statist. Beiträge Heft 50 S. CLVIII ft".
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- 7 —
Am schwächsten ist unser Gewerbe vertreten in manchen
Teilen Altbayerns und vereinzelt in den agrarischen Gegenden
Schwabens. Das Alpenvorland, in dem sich Überdies noch die
Märkte mehrerer Städte mit ihrer Nähe für die dortigen Schuh-
macher bemerklich machen, und ganz besonders der bayerische
Wald, wo in sieben Bezirksämtern die Zahl der Schuster auf
vier unter 1000 Seelen her untersinkt, sind die Wüste unseres
Gewerbes. Armut und Bedürfnislosigkeit der Bewohner mögen
die Ursache sein, dass hier auch in der Zeit, da allenthalben
der Kleinbetrieb in unserem Gewerbe vorherrschte, wenig Schuh-
macherbetriebe entstanden und demgemäss heute auch nur
wenige Reste desselben zu finden sind.
Wenn ich mich im vorstehenden darauf beschränkt habe,
nur in grossen Zügen einen Abriss der Statistik und Topo-
graphie der Schuhmachereibevölkerung in Bayern zu geben,
ohne weiter in Einzelheiten einzugehen, so hat mich dabei die
Besorgnis geleitet, auf Grund des mehr als elf Jahre alten
Material es der Berufszählung vom 5. Juni 1882 vielleicht Auf-
stellungen zu machen und Schlüsse zu ziehen, die für die heu-
tigen Verhältnisse, namentlich bei der starken Entwickelung
der damals noch in ihren Anfängen befindlichen Grossindustrie
nicht mehr zutreffen würden. Eine Ergänzung bis auf die
Gegenwart geschieht, wenigstens bis zu einem gewissen Grade,
von 1882 nun allerdings durch die alljährlich erfolgenden Ver-
öffentlichungen des königlich statistischen Bureaus über die
An- und Abmeldungen der Gewerbe, in denen (wie schon oben
bemerkt) unter Gruppe XIII b die Schuhmacherei nach unmittel-
baren Städten, Bezirksämtern und Regierungsbezirken gesondert
aufgeführt wird. Diese Meldungen erfolgen für Zwecke der
Veranlagung zur Gewerbesteuer. Keineswegs bedeuten indessen
die Anmeldungen, dass lauter neue Betriebe errichtet worden
sind, und ebensowenig die Abmeldungen, dass die betreffende
Anzahl Betriebe fortan aufhöre zu existieren, sondern in den
meisten Fällen ist damit nur gesagt, dass bereits bestehende
Betriebe ihren Inhaber wechseln: der bisherige meldet sich ab,
der neue meldet sich an. Die Differenz zwischen beiden Ziffern
ergibt dann allerdings den Zuwachs bezw. die Minderung an
Betrieben. Doch erfahren wir aus dieser amtlichen Statistik
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kein Wort über Art und Umfang der angemeldeten und nieder-
gelegten Betriebe: ob sie der Grossindustrie, dem Handwerk,
der Heimarbeit angehören, ob sie Haupt- oder Nebenbetriebe
sind, ob in ihnen der Inhaber allein oder mit Gehilfen und
Lehrlingen arbeitet. Das Fehlen dieser Angaben mindert
natürlich den Wert der Statistik über die Bewegung des Schuh-
machergewerbes in Bayern während der Jahre 1883 bis 1891
— für das Jahr 1892 sind die Ergebnisse noch nicht ver-
öffentlicht worden — ganz erheblich; in Anbetracht des Um-
standes aber, dass diese amtlichen Mitteilungen die einzigen
verfügbaren sind, die bis nahe auf die Gegenwart führen, möchte
ich sie zur Ergänzung der Resultate der Berufszählung von
1882 doch nicht unbeachtet lassen. Aus der „Zeitschrift des
königlich bayerischen statistischen Bureaus", Jahrgang 16 — 24,
gewinnen wir folgende Uebersicht:
a) Anmeldungen:
Königreich
Unmittelb. Städte
Bezirksämter
1883
2606
529
2077
1884
2516
560
1956
1885
2778
639
2139
1886
2403
585
1818
1887
2842
782
2060
1888
2440
606
1834
1889
2t)2y
700
2222
1890
2391
671
1720
1891
2849
786
2063
b) Niederlegungen:
Königreich
Unmittelb. Städte
Bezirksämter
1883
2883
650
2233
1884
1927
384
1543
1885
2556
521
2035
1886
1X94
406
1488
1887
2714
636
2078
1888
2168
539
1629
1889
2731
664
2067
1890
2159
602
1557
1891
3069
825
2244
Eine graphische Darstellung führt die Bewegung im Schuh-
machergewerbe während der neun Jahre 1883—91 noch viel
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deutlicher vor Augen, als die obigen Zahlen dies zu thun ver-
mögen.
Anmeldungen and Abmeldungen im Schuhmachergewerbe Bayerns
tu den Jahren 1883—1891.
1883
1884
1885
1886
1887
1S88
1889
1890
1891
3200
1
3100
3000
2900
9800
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1000
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Anmeldungen für das gunze Königreich.
, die Bezirksämter allein.
„ die unmittelbaren Städte.
Abmeldungen für da* ganze Kfinigreioh.
r „ die Itezirka&mter allein.
„ die unmittelbaren Städte
Auf den ersten Blick fällt bei diesem Bilde die vollkom-
mene Regelm'ässigkeit des Auf- und Niederganges in der Be-
wegung abwechselnd Jahr um Jahr auf und zwar sowohl in
den An- wie in den Abmeldungen. Die starken Schwankungen
der Kurve für das ganze Königreich werden indessen im wesent-
lichen bewirkt durch die Bewegung des Gewerbes in den Be-
Erkliirung:
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11 —
zirksämtern, also dem platten Lande und den kleinen Städten,
während die Entwickelung in den unmittelbaren Städten eine
stetigere Tendenz aufweist. Die Linien der Anmeldungen und
der Niederlegungen gehen in den Bezirksämtern mit Ausnahme
von 1883 und 1891 in ziemlich parallelen Abständen; ein Jahr
mit vielen Anmeldungen weist auch regelmässige viele Nieder-
legungen auf, was sich sehr einfach aus der schon berührten
Thatsache erklärt, dass wir es hier zumeist mit einem Wechsel
des Inhabers des Betriebes zu thun haben. Indessen tiber-
trifft die Zahl der Anmeldungen doch zumeist die der Nieder-
legungen in den Städten und auf dem Lande, es findet also
eine Mehrung der Schuhmachereibetriebe statt; nur 1883 und
1891 war überall die Summe der eingegangenen Betriebe
grösser, 1887 war dies der Fall ausserdem bei den Bezirks-
ämtern. Fassen wir die An- und Abmeldungen in Gruppen von
je drei Jahren zusammen, so erhalten wir folgende Uebersicht:
1883—1886 angemeldet in den Städten:
1728,
abgemeldet: 1555, Mehrung: 173
1886-1888 „ r ,
1973,
1581, „ 392
1889-1891 „ „ r
2157,
2091, „ 66
1883-1891
5858,
5227, 631
1883— 1885 angemeldet in den Bezirksämtern :
6172,
abgemeldet: 5811, Mehrung: 361
1886-1888 „ „
5712,
5195, „ 517
1SS9 1891 P „ p r
6005,
5868, „ 137
1883-1891
17889,
16874, 1015
1883—1885 angemeldet im Königreich:
7900,
abgemeldet: 7366, Mehrung: 534
1886 1888 „ „ „
76*5,
6776, „ 909
1889-1891
8162,
7959, . 203
1883-1891
23747,
22101, 1646
Die Bewegung im Schuhmachergewerbe vollzieht sich
keineswegs gleichmässig in allen Teilen des Landes. Die
Mehrung in den Städten kommt fast ausschliesslich auf Rech-
nung der wenigen Grossstädte, München und Nürnberg, deren
Bevölkerung im letzten Dezennium sehr stark gewachsen ist,
dann Würzburg und Augsburg. In dem Centrum der baye-
rischen Schuhindustrie in Pirmasens, Pfalz bemerken wir 1883
eine starke Minderung der Betriebe, wohl als Folge einer Kon-
zentration des Gewerbes zum Grossbetrieb, dann 1891 abermals
eine erhebliche Abnahme, weil eine schwere Krisis herein-
gebrochen war. Oberbayern und Niederbayern, sowie Mittel-
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12 -
franken zeigen im ganzen eine steigende Tendenz, Ober- und
Unterfranken schwanken auf und nieder, Oberpfalz und Schwaben
stagnieren. Doch sind die Unterschiede in den einzelnen Landes-
teilen immerhin nicht so bedeutend, dass eine Untersuchung
bis ins Detail wesentliche Momente zu Tage förderte, zumal
in den letzten Jahren bei Zunahme der Zahl der Besitzwechsel
— einem Symptom der wachsenden Unbehaglichkeit im Klein-
betriebe — die Mehrung neuer Betriebe eine recht geringe ist.
Mitte 1882 gab es in Bayern 35 180 Haupt- und Neben-
betriebe in der Schuhmacherei, bis 1891 waren 1646 (Differenz
der An- und der Abmeldungen) neu hinzugekommen, die Ge-
samtzahl belief sich also auf 30 782 Betriebe. Die Bevölke-
rung des Königreiches betrug 1882 5 337 620 Seelen (berechnet
aus dem Ergebnis der Volkszählung vom 1. Dezember 1880
+ der jährlichen Zunahme von 0,7 °/o für 1 1 '* Jahre, da die
Berufszählung am 5. Juni 1882 stattfand); es kam also auf
151,9 Seelen ein Schuhmachereibetrieb. Bei einer Bevölkerung
von 5 029 938 Seelen im Jahre 1891 (berechnet aus der Volks-
zählung vom 1. Dezember 1890 -f- der Jahreszunahme aus
dem Jahrfünft 1885—90) fallt auf einen Betrieb eine Zahl
von 152,8 Köpfen. Die Mehrung der Schuhmachereibetriebe
ist also ein wenig hinter dem Wachstum der Bevölkerung zu-
rückgeblieben — das ist das Endergebnis, zu dem die Betrach-
tung des, wie wir nochmals betonen, recht dürftigen statistischen
Materiales führt. Freilich ist die Minderung der Proportion
zwischen der Einwohnerzahl und der Menge der Betriebe nicht
entfernt so stark wie die innere Umwandlung in unserem Ge-
werbe, die eine völlige Verschiebung der Verhältnisse bedeutet
(vergl. Kapitel 3, 4 und 5).
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IL
Die Entwickelung der Schuhmacherbevölkerung und
die Gewerbepolitik in Bayern.
Wenn Bayern, trotzdem es vorwiegend ein landwirtschaft-
liches Produktionsgebiet ist, von jeher eine starke Handwerker-
bevölkerung gehabt hat, so erscheint es uns auch begreiflich,
dass die Klagen, die Gewerbe seien „übersetzt", in unserem
Lande immer einen besonders lebhaften Widerhall gefunden
haben. Diese Klagen über bedrohliche Konkurrenz scheinen
so alt wie das Handwerk selbst, das augenscheinlich von seinem
sprichwörtlichen „goldenen Boden" niemals recht überzeugt war.
Ruft doch schon Sebastian Brant zu einer Zeit, die für eine
Glanzepoche gewerblicher Arbeit gilt, am Ausgang des 15. Jahr-
hunderts, in seinem „Narren schiff" aus: „Kein Handwerk steht
mehr in seim Wert — Es ist all übersetzt, beschwert!"
Gegen diese Not suchte man Abhilfe in der Gewerbepolitik des
Staates, und jede Verrückung der Schranken zu grösserer Frei-
heit galt als der Beginn gänzlichen Untergangs. So ging das
vom 15. Juli bis 18. August 1848 zu Frankfurt a. M. tagende
Handwerkerparlament, das durch ein Verbot des Fabriksystems
die Welt in den alten Geleisen zu erhalten meinte, bei seinen
Beratungen aus von einem „feierlichen, von Millionen Unglück-
licher besiegelten Proteste gegen die Gewerbefreiheit", die da-
mals doch nur in einem Teile Deutschlands bestand, — und
in den Teilen, wo sie nicht bestand, wurde über dieselbe „Ueber-
setzung" geklagt! Freilich wurden dann die Fesseln oft so
eng und drückend, dass die Gewerbefreiheit in einzelnon Teilen
Deutschlands den Widerstand der Kleingewerbetreibenden nicht
fand, als sie eingeführt wurde, sondern man sie bisweilen so-
gar wie eine Erlösung begrüsste. Erst später, nämlich in dem
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14
Augenblick, in welchem die thatsächliche Konkurrenz fühlbar
wurde, sah man in ihr die Wurzel alles Unheils. Auch die
Schuhmacher 1 ) sind in solchen Klagen bis auf den heutigen
Tag nicht zurückgeblieben. Der am 30. September 1872 in
München tagende 1. Bayerische Schuhmachertag fasste eine
gehamischte Resolution gegen „die schrankenlose Gewerbefrei-
heit 44 , der er die Entwickelung der das Handwerk ruinieren-
den Grossindustrie zur Last legte. Und es bedarf kaum de
Erinnerung, dass ein solcher Protest seitdem hundertfältige
Nachfolge gefunden hat 2 ).
Es scheint daher wohl am Platze, an einem einzelnen Ge-
werbe zu untersuchen, wieweit die Aenderungen in der Gewerbe-
politik es zifternmässig beeinflusst haben, ob in der That die
Gewerbefreiheit als gesetzgeberische Massnahrae eine „Ueber-
setzung" des Handwerks bewirkt hat. Und gerade die Schuh-
macherei scheint zu einer solchen Erörterung besonders ge-
eignet.
Wie wir gesehen haben, zählt Bayern verhältnismässig
viel Schuhmacher; es war stets eines der am leichtesten und
mit den wenigsten Mitteln zu ergreifenden Gewerbe, der Zu-
drang war immer ein grosser, die Masse der Meister und Ge-
hilfen ist in schlechter Lage, „der hungernde, verarmte Schuh-
macher mit zahlreicher Kinderschar ist im Armenwesen der
Städte eine fast typische Erscheinung" 3 ). Freilich über den
Umschwung in der Art und Intensität des Betriebes gibt uns
die Statistik keine genügenden Aufschlüsse, wir müssen uns
zunächst auf eine Verfolgung der Personalstatistik beschränken.
') Der bekannte Schuhmaehermeister Panse aus Berlin gehörte zu
den Heissspornen des Frankfurter Handwerkerparlamentes.
2 ) Auf dem Schuhmachertage zu München am 12. August 1888 er-
klärte ein Redner (R i d -München) , „dass durch die Gewerbefreiheit von
1868 das Schuhmachergewerbe am meisten gelitten habe". Der Jahres-
bericht der Handels- und Gewerbekammer von Oberbayern für 1891 be-
merkt (S. 89): „Gleichwie in früheren Jahren beklagt auch dieses Mal die
Schuhmacherinnung r. d. I. einen weiteren Rückgang des Gewerbes,
dessen Hebung sie einzig und allein von der Einführung obligatorischer
Innungen erhofft. Die Konkurrenz ausländischer Schuhwaren wünscht
sie durch Erhöhung der Eingangszölle erschwert.*
*) G. Schmoll er, Gesch. des deutschen Kleingewerbes S. 630.
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15
Material dazu bieten für Bayern die gewerblichen Aufnahmen,
die der Staat oder das Reich in den Jahren 1847, 1861, 1875
und 1882 veranstaltet haben; ferner Rudharts 1825 erschienene
Schrift „Ueber den Zustand des Königreichs Bayern", G. Mayr
in einer im 6. Bande von Hildebrands Jahrbuch veröffentlichten
Abhandlung, sowie Gr. Schmollers „ Geschichte des deutschen
Kleingewerbes". Wenn ich mich im folgenden nur auf die
Hauptziffern der jeweiligen Grösse der bayerischen Schuhmacher-
bevölkerung beschränke, so geschieht dies einmal, um die Ueber-
sichtlichkeit zu erhöhen, vornehmlich aber, weil die verschiedenen
statistischen Aufnahmen keineswegs in allen Punkten eine gültige
Vergleichung ermöglichen, da die vier Gewerbestatistiken so-
wohl von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen, als auch
verschiedene Einteilung und Gruppierung haben, so dass man
den Zahlenmassen bisweilen mit dem Gefühle gegenübersteht,
das der Dichter in die Worte kleidet: „So hat er die Teile in
der Hand, fehlt leider nur das geistige Band!"
Eine Betrachtung der Entwickelung der Schuhmacher-
bevölkerung im Hinblick auf den Gang der Gewerbepolitik
muss unterscheiden zwischen den sieben Kreisen des König-
reichs rechts des Rheins und der Rheinpfalz. Diese letztere
erhielt, als sie an Frankreich kam, die Gewerbefreiheit schon
zu Anfang des Jahrhunderts, und darin wurde mit dem Ueber-
gang 1810 an Bayern bis auf die Reichsgewerbeordnung nichts
geändert. Das rechtsrheinische Bayern aber erfuhr eine viel
langsamere, mit starken Schwankungen verknüpfte gewerbe-
politische Entwickelung. Zwar ging schon die Montgelassche
Verwaltung daran, das entartete Zunftwesen in seinen Grund-
lagen zu erschüttern und eine Reihe erheblicher Missstände zu
beseitigen 1 ). Zu einer dieses gesamte Gebiet planvoll regeln-
den Gesetzgebung ist es jedoch damals nicht gekommen. Im
einzelnen durchbrach der Staat die Zunftschranken durch Er-
teilung von Gewerbekonzessionen, zahlreiche Erlasse ergingen
zur Abschaffung von Handwerksmissbräuchen, es wurden für
einzelne Gewerbe aus polizeilichen Rücksichten Betriebsnormen
erlassen, die Rechtsverhältnisse des gewerblichen Hilfspersonals
') Max Seydel, Bayer. Staatsrecht Band 1, S. 323.
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16 —
wurden in einer weiteren Gruppe von Verordnungen einer Rege-
lung unterstellt, die Wanderpflicht wurde aufgehoben, auch in
die Bestimmung des Arbeitslohnes wurde wiederholt einge-
griffen 1 ).
Eine einheitliche Gestaltung des Gewerberechtes strebte
sodann das Gesetz vom 11. September 1825 an; danach war
zur selbständigen Ausübung jedes Gewerbes eine Konzession
nötig; Vorbedingung zur Erlangung der Erlaubnis war aber
die persönliche Fähigkeit des Bewerbers, die durch Nachweis
entsprechender Vorbereitung und durch Prüfung vor einer
Kommission darzuthun war. Das sicherlich bescheidene Mass
gewerblicher Freiheit, das dieses Gesetz brachte, wurde durch
ungeschickte Ausführung noch stark verkümmert 2 ). Trotzdem
aber erhoben sich aus gewerblichen Kreisen die heftigsten An-
griffe dagegen , und der Landtag von 1831, geradezu über-
schwemmt von einer Flut von Petitionen, richtete nicht weniger
als T>1 Anträge an die Krone, die vom Geiste des kräftigsten
Rückschrittes beseelt waren. Auch die Regierung entzog sich
diesen Vorstellungen nicht. Eine Verordnung vom Jahre 1834
wies das Ministerium an, dem Gewerbegesetze einen „die In-
teressen der Industrie, jene der Gemeinden und den Nahrungs-
stand der schon vorhandenen Gewerbsinhaber gleichmässig
schützenden Vollzug* angedeihen zu lassen.
Eine starke Stütze fand diese schroffe Wendung der Ge-
werbepolitik in der Heimats- und Ehegesetzgebung, von der
J. v. Rudhart 1833 drastisch sagt: „Der Widerspruch gegen
Heiraten und Niederlassungen ist so gross, dass er in einen
allgemeinen Krieg der bereits Ansässigen gegen die heran-
wachsende Generation ausgeartet ist, welche ihnen das natür-
liche Recht, Luft zu atmen und sich an dem allernährenden
Tische der Vorsehung zu setzen, seinen eigenen Herd zu grün-
den, sich redlich zu ernähren und den auch dem Aermsten
teuren Namen des Gatten und Vaters zu verdienen, mühevoll
1 ) Vergl. hierzu J. Kaizl, Der Kampf um Gewerberecht und Ge-
werbefreiheit in Bayern von 1799 — 1808.
2 ) J. von Kudhart, Ueber die politische Stellung des König-
reichs Bayern i. J. 1833.
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17 —
abkämpfen müssen." Wer Meister werden wollte, musste sich
ein Realrecht kaufen, eine Konzession erwerben oder in die
Zunft hineinheiraten. Solche Realrechte waren in der Schuh-
macherei nicht billig. Es werden Fälle aufgeführt aus den
Jahren 1837—1852, wo sie 1100—1800 fl. kosteten, allerdings
in der Hauptstadt, München, während in der dicht daneben
liegenden Vorstadt Au ein Realrecht schon um 100 fl. zu haben
war. Die zum 000jährigen Jubiläum der Schuhmachermeister-
innung München iin Jahre 1890 herausgegebene Festschrift
erzählt, dass ein tüchtiger Meister, dessen Probestück 1840
„praktisch und theoretisch richtig befunden" wurde, in seiner
Vaterstadt München erst 13 Jahre später ein selbständiges Ge-
werbe ausüben durfte, „da der hohe Rat der Stadt die damals
bestehende Zahl selbständiger Schuhmacher im Verhältnis zur
Bevölkerung auf 225 festgesetzt hatte". Em andrer Schuh-
machergehilfe „heiratete eine Witfrau mit drei Kindern,
wodurch er das gesegnete Schuhmacherhandwerk ausüben
durfte".
Aber alle diese Beschränkungen und Erschwerungen ge-
nügten noch immer nicht; die leidenschaftlichen Klagen schwollen
immer mehr an, in den fünfziger Jahren sprach man von der
„guten alten Zeit", wo es keine Uebersetzung des Handwerks
gegeben habe, wie von einer feststehenden Thatsache 1 ). Und
diesem Drängen gaben Landtag und Krone nach. In der
230 Paragraphen umfassenden Instruktion vom 17. Dezember 1853
wurden die ursprünglich liberalen Tendenzen des Gesetzes von
1825 in ihr völliges Gegenteil verkehrt. Diese Vollzugsanwei-
sung fällt überdies in eine Zeit voll schlimmer Ungunst der
Zustände. Die Jahre von 1840—1801 weisen eine sehr spär-
liche Zunahme der Bevölkerung auf, nur um 4.1° o wächst die
Zahl der Einwohner im ganzen Königreich in diesen 15 Jahren.
Teilweise herrschten ausserordentlich hohe Getreidepreise; von
1848 49 bis 1855 50 stieg der Preis für den Scheffel Roggen
von 8 bis auf 21 und 23 fl. Die Auswanderung war eine sehr
starke: rund 169000 Personen wandten dem Vaterlande den
') Gg. Mayr a. a. O.
Franc ke, Die Schuhmacherei iu Bayern. 2
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— 18 —
Rücken x ). Die allgemeine Unzufriedenheit rief daher bald nach
Heilmitteln, und schon wenige Jahre nach jener, den Gipfel-
punkt der seitherigen Entwickelung kennzeichnenden Instruk-
tion von 1853 erfolgte der Umschlag, indem der Landtag jetzt
die Gewerbefreiheit forderte 2 ). Bis zum Erlass eines auf dem
Boden dieser Bitte stehenden Gesetzes wurden in den Jahren
1862 und 1803 königliche Verordnungen veröffentlicht, die in
der freiheitlichen Gestaltung des Gewerbepolizeirechtes so weit
gingen, als der Buchstabe des Gesetzes vom Jahre 1825 nur
irgend gestattete 3 ). Zugleich wurden wesentliche Erleichte-
rungen für Niederlassung und Verehelichung gewährt, bis dann
1868 mit den übrigen Sozialgesetzen auch die Gewerbefreiheit
in ganz Bayern eingeführt wurde.
Im grossen betrachtet stellt sich also der Gang der Ge-
werbepolitik im rechtsrheinischen Bayern folgendermassen : Seit
1808 Einschränkung des Zunftwesens und seiner Missbräuche,
1825 liberale Tendenzen, dann aber seit 1833 in zunehmendem
Masse bis Ende der fünfziger Jahre reaktionäre Umkehr, von
da ab allmähliche Entwickelung bis zur völligen Gewerbefrei-
heit. Wie stellte sich zu diesen Schwankungen nun die Schuh-
macherbevölkerung jeweils? Natürlich ist hier nicht die ab-
soluteGrösse massgebend, sondern das Verhältnis zur Bevölkerung,
und da ergibt sich ein Resultat, das den Gegnern der Gewerbe-
freiheit auffallend erscheinen mag: die Proportion nämlich
zwischen der Zahl der Einwohner und der in der Schuhmacherei
Thätigen sinkt stetig trotz aller Aenderungen in der Gewerbe-
politik, mögen sie nun reaktionär oder fortschrittlich ausfallen.
Die älteste mir zu Gebote stehende Ziffer ist den von
J. Rudhart mitgeteilten Steuerkatastern des Jahres 1822 ent-
nommen. Danach kam durchschnittlich im rechtsrheinischen
Bayern, mit Ausnahme des damals noch eine besondere Gewerbe-
steuer erhebenden Untermainkreises , ein Schuhmachermeister
auf 38 Familien. Nimmt man für diese Zeit das 1847 be-
') Krieg, Auswanderungswesen in Bayern. Schriften des Vereins
für Sozialpolitik. Bd. 52.
2 ) Vergl. J. Kaizl a. a. 0. S. 120.
3 ) M. Seydel, Bayer. Staatsrecht, Bd. V, S. 6.V2.
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19 —
stehende Verhältnis zwischen Meister und Gehilfen wie 10 : 7
an und rechnet man, wie damals üblich, die Familie zu 4 a /s
Köpfen, so erhalten wir auf 1750 Köpfe 17 Schuhmacher, auf
10000 Einwohner kommen mithin im Jahre 1822 rund 97.
Indessen ist dies doch mehr eine Schätzung als eine Rechnung.
Ganz genau aber lässt sich von 1847 ab bis zum Jahre 1882
das Verhältnis im rechtsrheinischen Bayern darthun in folgen-
der Uebersicht:
Im Jahre Zahl der in der Schuh * Bevölkerungs- Auf je 10 ooo Einw.
macherei thätigen Pers. Ziffer kommen Schuhmacher
1847 40 006 3 896 404 102.7
1861 38 410 4 081768 94.1
1875 40134 4 381 136 91,6
1882 38 318 4 607 497 83,2
Im rechtsrheinischen Bayern hat also die mit Gesetz vom
30. Januar 1868 eingeführte Gewerbefreiheit eine Zunahme der
relativen Grösse der Schuhmacherbevölkerung nicht gebracht,
sondern im Gegenteil zeigt sich 1875 eine geringe, 1882 aber
eine sehr starke Abnahme im Verhältnis zur stetig wachsen-
den Bevölkerung trotz des steigenden Konsums an Schuhwaren
gegenüber den unter dem Einfluss einer scharf reaktionären
Gewerbepolitik stehenden Ziffern von 1847 und 18(31 , wobei
noch in Betracht zu ziehen ist, dass der rapide Fall von 1847
auf 1861 der bereits erwähnten ausserordentlichen Ungunst der
Zeiten mehr zuzuschreiben ist als der Verschärfung der Ge-
werbepolizei.
Einen ähnlichen Gang der Entwicklung weist die Schuh-
macherbevölkerung auf dem flachen Lande des ganzen König-
reiches auf. In sämtlichen Bezirksämtern, zu denen allerdings,
wie schon bemerkt, auch die zahlreichen kleinen Landstädtchen
ohne unmittelbare Verfassung gehören, kamen im Jahre:
1847 94 in der Schuhmacherei thätige Personen auf je 10 000 Einw.
18(51 91 , , „ h n n n * »
187.5 87 , , „ „ * n » ff 1,
1882 81 „ „ „ „ „ »»ff »
Also auch hier, trotz der Einführung der Gewerbefreiheit,
ein stetiger Rückgang in der Verhältniszahl zwischen Schuh-
machern und Einwohnern. Anders allerdings scheint es in den
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20 —
unmittelbaren und den elf grösseren Städten der Pfalz, für die
die Statistik eine Ausscheidung bringt 1 ). Es kamen im Jahre:
1847 130 in der Schuhmacherei thätige Personen auf je 10 000 Einw.
1861 115 , * - T P P P P p
1875 145 pr v p r r r p p
1882 l»i< p p p p p p p p p
Auf einen Rückgang bis 18t>l ist danach eine erhebliche
Zunahme der Schuhmacherbevölkerung in den bayerischen Städten
bis 1875 gefolgt; von da ab tritt wieder eine Abnahme zu Tage.
Blickt man indessen genau zu, so ist diese Flutwelle weniger
hervorgebracht durch die 1868 im rechtsrheinischen Bayern ein-
geführte Gewerbefreiheit, sondern vornehmlich durch die Ent-
wicklung, die die Schuhmacherei in der von keinem Wechsel
der Gewerbepolitik berührten Rheinpfalz genommen hat. Von
1861 — 1875 ist hier die Zahl der Schuhmacher um 65 ° o ge-
wachsen, und zwar kommt diese Steigerung vornehmlich auf Rech-
nung der 1861 noch gar nicht mitgerechneten Stadt Pirmasens
mit ihrer inzwischen stattlich aufgeblühten Grossindustrie. Somit
dürfte auch für die bayerischen Städte die allgemeine Regel gelten.
Betrachten wir nun die Verhältnisse in der seit Beginn
des Jahrhunderts die Gewerbefreiheit besitzenden Rheinpfalz,
so können wir folgende Uebersicht erhalten:
Zahl der Schuhmacher Bevölkerungszahl k ** & ^huhmSer
1847 3991 608 470 65
1861 5891 608 069 97
1875 9024 641 254 140
1882 9718 677 281 143
In der Pfalz ist also der Gang der Dinge genau umge-
kehrt wie im rechtsrheinischen Bayern. Zuerst trotz der fast
ein halbes Jahrhundert bestehenden Gewerbefreiheit eine sehr
schwache Schuhmacherbevölkerung, dann eine erhebliche Zu-
nahme bis 1861 und eine geradezu enorme bis 1875, die sich
noch weiter fortsetzt. Man wird nicht gut in der Gewerbe-
freiheit die Ursache dieser Entwickelung finden können, da
') Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dasa weder die Zahl der
unmittelbaren Städte in den Jahren der vier Aufnahmen die gleiche ist.
noch die der pfalzischen Städte, von denen 1847 gar keine, 1861 nur vier
mitgerechnet werden.
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I
— 21 —
diese ja während der ganzen Periode gleichmässig bestand,
sondern andre Umstände hierfür beiziehen müssen und zwar
vor allem die dank dem Umschwung in Verkehr und Technik
eintretenden Anfänge eines zu immer grösserer Bedeutung an-
wachsenden Grossbetriebes der Schuhmacherei in der bayeri-
schen Pfalz.
Richtig ist allerdings, dass im rechtsrheinischen Bayern
die Gewerbefreiheit sowie die Erleichterung der Niederlassung
eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Meistern und Ge-
hilfen innerhalb der Schuhmacherbevölkerung mit sich gebracht
hat. Die Zahl der selbständigen Betriebsinhaber ist gewachsen,
die der Gesellen und Lehrlinge hat sich verringert, wie nach-
stehende kleine Tabelle für je 10 000 Einwohner aufweist:
Selbständige Betriebs- Gehilfen Schuhmacher über-
Im Jahre Inhaber und Lehrlinge haupt
1847 56 42 98
1861 51 43 94
1875 61 37 98
1882 58 84 92
Aus der Statistik der An- und Abmeldungen im Schuh-
machergewerbe von 1882 — 1891 ergibt sich, wie wir in Kap. I
gesehen haben, dass die Mehrung der Zahl der Betriebe mit
dem Wachstum der Bevölkerung nicht ganz gleichen Schritt
gehalten hat, sondern ein wenig zurückgeblieben ist; vermut-
lich ist dies für die Zahl der in der Schuhmacherei thätigen
Personen noch mehr als für die Anzahl der Betriebe der Fall.
Man sieht, der Umschwung in der Entwickelungsreihe ist
zwischen 1861 und 1875 erfolgt. Abgesehen aber von dem
Umstände, dass die Veränderungen, ziffernraässig betrachtet,
sich gar nicht als übermässig gross darstellen, muss man sagen,
dass sie wirtschaftlich und sozial nicht die üblen Folgen ge-
habt haben können, die ihnen häufig der Lobredner früherer
Zeiten zuschreibt. Der alternde, in seinen Lebenshoffnungen ver-
kümmerte Geselle, der durch den Zunftzwang sich den Weg
zum selbständigen Gewerbebetriebe verschlossen sah und der
im Konkubinate lebte, weil ihm das Gesetz die Ehe unmöglich
machte, ist gewiss keine besonders sozial anmutende und wirt-
schaftlich taugliche Gestalt.
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Nach den vorstehenden Erörterungen wird man den Schluss
gerechtfertigt finden, dass die Einwirkung der Gewerbepolitik
auf die Entwickelung des Handwerks, wenigstens was die Schuh-
macherei betrifft, häufig weit überschätzt wird. Die Zünfte
haben das Aufkommen der Grossindustrie nicht hindern können ;
sie haben sogar in den Bevölkerungszentren, wo wenige Meister
und viele Gehilfen waren, die Bildung relativ grosser Betriebe
unterstützt, indem sie einseitig den Meister in seinem Nahrung-s-
stande zu erhalten suchten. Wir haben an unsren bayerischen
Verhältnissen, mit dem Unterschiede der Gewerbepolitik in den
beiden Teilen des Königreiches, im kleineren das Analogon der
Zustände in ganz Deutschland. Das nach dem Frieden von
Tilsit geschaffene Preussen und die vorübergehend in französi-
schen Händen gewesenen deutschen Länder hatten gewerbliche
Freiheit seit dem Beginne des Jahrhunderts, die übrigen Ge-
biete unsres Vaterlandes erhielten sie erst in den sechziger
Jahren. Trotzdem ist der Gang der Entwickelung von Gewerbe
und Industrie hier wie dort ganz unabhängig davon fortge-
schritten. Und als nach dem Kriege von 1870 71 ein riesiger
wirtschaftlicher Aufschwung eintrat, als die Löhne zuerst in
der Grossindustrie , dann in Landwirtschaft und Handwerk
stiegen und ebenso die Preise der Lebensmittel und der Woh-
nungen, als unter diesen Zuständen das vielfach in veraltetem
Betriebe steckengebliebene Kleingewerbe schwer litt und die
Zünftleragitation begann, da ertönte die Klage wider die Ge-
werbefreiheit aus allen Ecken und Enden; auch in den deut-
schen Ländern, die seit 00 — 70 Jahren bereits die Gewerbe-
freiheit besessen hatten, wurde nunmehr die Gewerbeordnung
von 1869/7 1, die ihnen wenig oder gar nichts Neues gebracht
hatte, auf einmal verantwortlich für alle Uebel gemacht 1 ).
Den geradezu revolutionären Umschwung im Handwerk
hat nicht die Aenderung in der Gewerbepolitik des Staates ge-
bracht, sondern der Umsturz ist eine Folge der Entwickelung
des Verkehres und der Technik. Für die Schuhmacherei in
Bayern lässt sich dies beweiskräftig darthun.
') Vergl. hierzu auch Dr. Thilo Hampke, Der Befähigungsnach-
weis im Handwerk. Jena 1892, S. 8 ff.
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III.
Der Umschwung des Verkehrs sowie der Technik
in der Schuhmacherei.
Wenn ich in diesem Abschnitt den Einfluss der Verände-
rungen in den Verkehrsverhältnissen auf die Entwicklung der
bayerischen Schuhmacherei berühre, so kann es mir nicht in
den Sinn kommen, denselben im einzelnen mit Daten und
Zahlen darthun zu wollen. Ein solcher Beweis ist für das
einzelne Gewerbe der Schuhmacherei nicht exakt zu führen.
Andrerseits aber ist es notwendig, auf die Thatsache zu ver-
weisen, dass die ungeheure Veränderung des Verkehrs, wie sie
seit der Mitte dieses Jahrhunderts unser gesamtes Wirtschafts-
leben von Grund aus umgestaltet hat, auch die gewerbliche
Produktion in der Schuhmacherei stark beeinflusst hat 1 ).
Dieser neue Verkehr, sagt G. Schm oller, hat „das
Grösste wie das Kleinste geändert. Ueberall und in allen
Beziehungen hat er die Fäden des wirtschaftlichen Lebens
auseinandergezogen, künstlicher und komplizierter geknüpft, er
hat geschäftlich und lokal — dem Wohnort nach — die
Menschen anders gruppiert, er hat den Handel wie die Pro-
duktion, die Anschauungen und Bedürfnisse der Menschen wie
ihre Sitten und Lebensgewohnheiten umgestaltet. Durch diesen
Verkehr vor allem ist es anders geworden in der Welt" 2 ).
Diese Revolution durchbrach mit Naturnotwendigkeit die engen
Schranken, in die das Zunftwesen oder ein bureaukratisches
Konzessionssystem die Gewerbe gepfercht hatte. Freizügigkeit
und Gewerbefreiheit sind unausbleibliche, logische Konsequenzen
*) Vergl. in G. Schmollers deutschem Kleingewerbe den Abschnitt
„Die Umgestaltung von Produktion und Verkehr" S. 157—254.
2 ) A. a. 0. S. 174 f.
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des Umschwungs im Verkehr, und erst dieser letztere konnte
auch die Neugestaltung der Produktion vermittelst technischer
Erfindungen zur Entwicklung und vollen Keife bringen. Was
hätte es der Grossindustrie in der Schuhmacherei genützt, wenn
die vollkommensten Maschinen die Herstellung billiger und
guter Massenartikel ermöglicht hätten, und nun wären diese
Massen in den Magazinen gelegen und vermodert, da keine
Eisenbahnen und Dampfschiffe sie in jene Länder bringen
konnten, deren Bevölkerung Begehr nach Schuhzeug hatte,
während die Standorte jener Grossindustrie mit ihrem Verbrauch
natürlich nicht entfernt an die Produktion heranreichten.
Gerade die Geschichte der Technik des Schuhmacherei-
betriebes in Bayern zeigt, dass nicht die Gewerbefreiheit, son-
dern die Erweiterung des Marktes durch die modernen Ver-
kehrsmittel die Absatzverhältnisse der Grossindustrie erst ge-
schaffen haben 1 ).
Bis zu Ende des ersten Drittels dieses Jahrhunderts ist
die überkommene Produktionsart kaum geändert worden; ab-
gesehen von der Einführung des Walkverfahrens, das man aus
Frankreich bekam; 1806 sollen in Deutschland die ersten ge-
walkten Stiefel verfertigt worden sein. So tausendfältig die
Formen sind, die Bedürfnis und Mode für die Bekleidung des
menschlichen Fusses vorgeschrieben haben, so einfach und ein-
tönig blieb die Technik. Das primitivste Werkzeug, das der
Kleinmeister heute noch in seiner Werkstatt handhabt, ist in
allen wesentlichen Stücken das gleiche, das seit Jahrhunderten
in Gebrauch ist. Wie schwer da Aenderungen Eingang finden,
beweist folgender kleiner Zug. Ein Schuhmacher , der an
derben Hausschuhen die Ausputzarbeit besorgte, während seine
Frau die gelieferten Schaft- und Bodenteile zusammennähte,
klagte mir, seine Frau nähe viel flinker mit zwei Nadeln als
er, da er in seiner Lehrzeit nur mit Borsten zu nähen gelernt
l ) In Mittekleutschland zeigen sich Anfange eines Grossbetriebes
bereits Ende der vierziger Jahre, in Mainz, Frankfurt a. M., Erfurt, das
1849 b Grossbetriebe der Schuhmacherei mit 148 Personen besass. Hier
aber war das Eisenbahnnetz auch schon früher entwickelt als im all-
gemeinen in Bayern, dessen Schienenwege erst von 1800 bis 1875 sich an
Länge verdreifachten.
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habe und es ihm daher jetzt auf die andere Art nicht flecken
wolle. An dieser Stagnation der Technik mag ja früher auch
die enge Einschränkung in die Zunftordnungen einige Schuld
getragen haben ; wer beständig ängstlich darüber wacht, dass
nur ja keine Uebergriffe in seine Gerechtsame, keine Beein-
trächtigung seines Nahrungsstandes geschieht, und gegen jeden
Frevler erbitterte Rechtsstreitigkeiten führt 1 ), wie dies bis
Mitte dieses Jahrhunderts in Bayern geschah, wer in eifer-
süchtig gehüteten alten Bräuchen die Hauptehre seines Gewerbes
erblickt, der wird wenig Sinn auf eine neue, Zeit und Kraft
sparende Herstellung des Produktes verwenden. Aber in der
Pfalz war es trotz der Gewerbefreiheit im grossen und ganzen
auch nicht viel anders; denn es fehlte der Absatz auf dem
Weltmarkt, der einerseits einen Druck ausübte, zu verbesserter
Technik überzugehen, andrerseits die vermehrten Produkte
aufnahm, welche die verbesserte Technik geschaffen.
Auch die Ausbildung der Lehrlinge, deren Mangelhaftig-
keit in den ständigen Klagen über die schlimmen Wirkungen
der Gewerbefreiheit jetzt eine so grosse Rolle spielt, liess schon
bei den alten Meistern sehr viel zu wünschen übrig. Genau
als ob es auf unsre Tage gehen sollte, lesen wir z. B. von
Meistern aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts: „In der
Lehre ging es ihm so recht wie einem Schusterlehrling: statt
sein Handwerk zu lernen, musste er Hausarbeit verrichten,
und so ging er mit einer dunklen Ahnung von der Schuh-
macherei und wenig Geld im Sacke in die Fremde . . . Sein
Lehrherr verwendete ihn zu allen Handarbeiten, so dass nach
bestandener Lehrzeit dem Freigesprochenen sein Handwerk ein
spanisches Dorf war" 2 ). Wie schwer es dem Gehilfen dann
wurde, am Orte oder auf der Wanderschaft sich zum tüchtigen
Arbeiter auszubilden, schildert Moritz Schöne in seinem be-
reits citierten Buche ausführlich und anschaulich: als Aussen-
arbeiter, Logis- und Sitzgeselle ist er ganz auf sich selbst
l ) Vergl. A. Schlichthörle, Die Gewerbebefugnisse der Haupt- und
Residenzstadt München. Krlangen 1845.
*) Das Schubmacherhundwerk in seiner Entwickelung. Festschrift
zum 600jährigen Jubiläum der Münchner Schuhmacherinnung, München
1890. S. 39 und 70.
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angewiesen und in den Werkstätten hüten Meister und ältere
Gehilfen ihre kleinen Geheimnisse, Handgriffe und Fertigkeiten,
um die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkte nicht zu vermehren.
Der Anstoss zu Aenderungen in der Technik kam denn
auch von auswärts und zwar von dem Lande, in dem sich
überhaupt der Umschwung in dem Betriebe der Schuh-
macherei von Grund aus vollzogen hat, von Nordamerika.
Vereinzelte Versuche, die Sohlen mit Metallstiften oder mit
Schrauben am Schafte zu befestigen, die bereits 1809 be-
gannen x ), blieben ohne besondere Wirkung; Ende der dreissiger
Jahre begann der deutsche Schuhmacher, Holzstifte zum An-
nageln zu verwenden, nachdem ein von Amerika zurückge-
kehrter sächsischer Schuhmacher dies Verfahren mitgebracht
hatte 2 ). Von durchgreifender Bedeutung aber wurde erst die
Nähmaschine, die ums Jahr 1850 von Amerika nach Deutsch-
land kam, wie ein Wunder bestaunt und als Rarität auf Jahr-
märkten gezeigt. Es gelang bald, sie auch für die derbere
Arbeit des Schuhmachers geeignet zu raachen a ), und sie wurde
von diesem freudig als Gehilfin bei der Anfertigung der Schäfte
begrüsst. „Denn die Schaftarbeit mit ihren viel Sorgfalt in
der Ausführung beanspruchenden Nähten, die sich nicht dem
prüfenden Auge des Beobachters entziehen, wie das meist bei
J ) In diesem Jahre wurde dem Amerikaner David M. Randolph
ein solches Verfahren patentiert und kurz darauf für die englischen
Militärwerkstätten erworben.
2 ) Importeur der Nagelarbeit ist Schuhmachermeister Krantz, der
sie von Amerika nach Dresden brachte. \n den Jahren 1830—1835
bildete sich ein Verein in Dresden, dessen Mitglieder die Auswanderung
in Gemeinschaft vorzunehmen gedachten und diese durch gegenseitige
Hilfe sich erleichtern wollten. Der Verein sandte den Schuhmacher-
meister Krantz, der mehrere Sprachen sprechen konnte, als Vertrauens-
mann hinüber, damit er getreu die Lage und Verhältnisse der Arbeiter
schildern sollte. Krantz hatte bei einem kundigen Meister in Philadelphia
die Methode des amerikanischen Nageins gelernt. 1838 kam Krantz
nach Dresden zurück. Seine Kenntnis des Nageins lehrte er jedem für
5 Thaler und lieferte die Holznägel selbst. Ein Schuhmachermeister
Andersen erfand dann die erste Stiftschneidemaschine (Goth. Schuh-
macherzeitung 1887, Nr. 8).
3 ) 1851 wurde die Howe-Nähmaschine für das Heften von Ober-
teilen adaptiert.
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— 27
der Bodenarbeit der Fall ist, war oft der mühevollste Teil des
ganzen Werkes. Gesucht waren die Arbeiter, die eine schöne
gleichmässige Naht steppten. Das aber vollbrachte die Ma-
schine in überraschend sicherer und dazu schneller Weise"
Die vielfachen Verbesserungen der Nähmaschine, ihre An-
passung an alle nur erdenkliche Art der Schaftbereitung, ebenso
wie die Ermässigung des Kaufpreises begünstigten ihre Einfüh-
rung in die Werkstatt des Schuhmachers. Aber man griff doch
anfangs nur in den grösseren Betrieben zu dieser mechanischen
Hilfe. In Pirmasens waren noch im Jahre 1864 in 13 grös-
seren und 63 kleineren Fabriken nur 66 Nähmaschinen bei
rund 1700 Arbeitern 2 ). Noch 1875 kamen auf 100 Klein-
betriebe im Deutschen Reich nur 7,9 Nähmaschinen. Selbst-
verständlich wurden sie anfangs ausschliesslich durch mensch-
liche Kraft in Bewegung gesetzt; verzeichnet doch die Ge-
werbestatistik von 1875 erst einen einzigen Motorenbetrieb für
Schuhmacherei in Bayern und nur 24 Nähmaschinen, die in
diesem durch die mechanische Kraft bewegt wurden! Gerade
weil auch in grösseren Bevölkerungscentren die Nähmaschine
nicht sofort überall Zutritt fand, bildete sich eine bis dahin
ungekannte fabrikmässige Herstellung der Schäfte aller Formen
und Grössen in einzelnen Betrieben aus, die mit einer oder
mehreren Maschinen sich nun ausschliesslich auf diese Teil-
arbeit warfen und ihre Erzeugnisse dann an andre Schuhmache-
reien verkauften, die lieber etwas mehr Geld aufwandten, als
sich der mühsamen , viel Zeit raubenden und doch nicht so
exakte Arbeit liefernden Anfertigung dieser Schäfte mit der
Hand zu unterziehen. Solche Schuhsteppereien und Schäfte-
fabriken, die 1861 noch nicht in der bayerischen Gewerbe-
zählung aufgeführt werden, müssen lohnenden Absatz gefunden
haben; denn 1875 wurden im Königreiche schon 86 mit sechs
bis zehn Gehilfen und 19 mit 11 — 50 Hilfskräften gezählt 3 ). So
1 ) M. Schöne, a. a. O. S. 51.
2 ) Bericht der Handels- und Gewerbekammer der Pfalz.
3 ) Bayer. Berufsstatistik von 1875. — Wie ausserordentlich be-
scheiden die Verwendung von Maschinen im Königreich Bayern für die
Schuhmacherei noch 1875 war, erhellt aus folgenden Daten der amt-
lichen Statistik : Umtriebsmaschinen im Grossbetriebe der Schuhmacherei
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tritt schon mit der allerersten Maschine im Schuhmachergewerbe
der Fabrikbetrieb mit den charakteristischen Kennzeichen der
Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung auf. Allerdings war ja
auch der Werkstatt eine Teilung der Arbeit schon nicht fremd
gewesen. Der Meister und die gewandteren Gesellen besorgten
meist die Schaftarbeit, den andern Gehilfen blieb die Boden-
arbeit. Aber die Ausbildung eigentlicher Arbeitsvirtuosen
konnte gerade in der Schuhmacherei weniger Platz greifen, weil
in der Mehrzahl der Betriebe nur eine Person thätig ist, so
dass eine Teilung der Arbeit schon deshalb gar nicht statt-
finden konnte.
Stellte die Maschine nun auch den Schaft her, so dauerte
es noch einige Zeit, bis sie den ganzen Schuh fertigte. „Der
vollständige Uebergang zur Maschine, sagt ein Bericht von
der Pariser Weltausstellung hat sich seit kaum zwei Jahren
und sozusagen plötzlich vollzogen. Den Anstoss gab das in-
dustrielle Amerika. Mehr als drei Jahrtausende, seit der Zeit
der Pharaonen, hat man die Schuhe einfach mit der Hand ge-
arbeitet, jetzt ist die rein mechanische Anfertigung gelungen. 4 "
Bis zu dem heutigen Tage haben die Vereinigten Staaten von
Nordamerika diese ihre führende Position in der Herstellung
sinnreich konstruierter Maschinen für die Schuhmacherei be-
hauptet. Nicht nur, dass weitaus die meisten Erfindungen
und Verbesserungen auf diesem Gebiete von ihnen ausgehen,
die dortigen Fabrikanten sorgen auch mit grosser Rührigkeit
für den Absatz und Vertrieb ihrer Maschinen in Deutschland,
nur 1 in der Pfalz mit 5 Pferdekräften. Unter der Rubrik „ Wichtigste
Arbeitsmaschinen und Vorrichtungen der Grossbetriebe " erscheint bei
der Schuhmacherei lediglich die Nähmaschine und zwar in Oberbayern 53,
in Niederbayern 15, in der Pfalz 132, Oberpfalz 14, Oberfranken 18.
Mittelfranken 13, Unterfranken 8, Schwaben 17, im Königreich 270. Da-
von wurden nur 24 mit mechanischer Kraft betrieben, die andern 246
mit Trittbewegung und von diesen letzteren wiederum waren nur 212
durchschnittlich in Arbeit. Wenn auch diese Angaben nicht ganz zu-
treffen, da um jene Zeit in Pirmasens bereits andre Maschinen in Be-
trieb waren, so kann man aus ihnen doch immerhin mit ziemlicher
Sicherheit darauf schliessen, wie die Schuhmacherei sogar in der Gross-
industiie bis vor 20 Jahren ganz vorwiegend Handbetrieb war.
') Deutsche Ausstellungszeitg. v. 20. Mai 1867.
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— 20 -
-wo sie jetzt durch Vermittlung zahlreicher Agenten und Filialen
in den grossen Fabriken ebenso schnell eingeführt werden, wie
in ihrem Heimatlande selbst. Und trotzdem nicht wenige Fa-
briken bei uns auch auf diesem Felde Tüchtiges leisten und
zwar zu erheblich billigeren Preisen, so ziehen doch die Be-
sitzer unsrer ersten Schuhetablissements die teueren amerikani-
schen Maschinen vor, weil sie exakter gearbeitet seien. Ein
Fabrikant sagte mir hierüber: „Unsre amerikanischen Maschinen
gehen vom ersten Tage der Aufstellung an mit vollendeter
Sicherheit und Genauigkeit, bei den deutschen muss häufig der
Monteur geholt, da und dort etwas geändert werden, ehe sie
zur Zufriedenheit laufen." Dieser Vorzug der amerikanischen
Produkte mag neben andern Ursachen auch in der von Schön-
hof *) stark betonten Thatsache begründet sein, dass ihre Teile
ausschliesslich selbst wieder von Maschinen gearbeitet werden.
Dadurch werden sie genauer im Passen und bieten den sehr
grossen Vorteil, dass die einzelnen Glieder jederzeit leicht er-
setzt werden können, indem man einfach die Nummer des be-
treffenden Teiles angibt.
„Die Sohlennähmaschine erschien auf dem Weltmarkt und
mit ihrem Einfluss machte sie das bescheidene Wirken und
Streben des Kleinmeisters zum überwundenen Standpunkt. Eine
Vereinigung von Zahnrädern über schwerem Rahmen, welche
eine pfriemenartige Nadel einen halben Zoll oder mehr tief
durch hartes Leder treibt, liess grosse Fabriken und selbst
Städte erblühen/ Mit diesen Worten schildert eine ameri-
kanische Zeitschrift, Harpers Monthly. die Bedeutung der 18()2
von Mc Kay erfundenen Sohlennähmaschine für die Entwicke-
lung der Schuhmacherei. Diese erste Konstruktion hat seit-
dem fast unzählige andre Systeme zur Nachfolge gehabt ; auch
Deutschland hat sich auf diesem Gebiete nicht unrühmlich be-
teiligt. Allmählich wurden für alle andern Teiloperationen
Maschinen in Anwendung gebracht und jetzt kann der „eiserne
Schuhmacher" 2 ) den Stiefel fix und fertig herstellen, wenn dies
') Economy of high wages. New York 1892. S. 101.
2 ) Diese Bezeichnung wurde zuerst auf eine von dem Deutsch-
amerikaner Keats erfundene, leistungsfähige Schuhmaschine angewandt.
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30 -
auch meist bei uns noch nicht geschieht: von der Stanzmaschine
wandern die Teile durch 20—30 verschiedene Vorrichtungen,
bis eine Wichsmaschine dem fertigen Produkt den letzten
Glanz verleiht. Alle diese Maschinen sind auch mit der Hand
oder dem Fuss des Menschen zu betreiben. Zur vollen Aus-
nützung gelangen sie aber erst bei Verwendung mechanischer
Kraft, wie sie Wasser, Dampf, Gas, Heissluft, Elektrizität u. s. w.
bieten. In ganz Deutschland bestanden 1875 nur fünf mecha-
nische Betriebe in der Schuhmachergrossindustrie 1 ) — 1882
zählt die Statistik schon 14 allein in Bayern, davon 11 in der
Pfalz. Heute hat jeder wirkliche Grossbetrieb mechanische
Kraft zur Verwendung, in Pirmasens allein 00 und mehr. In
der Vereinigung der Kraft- und der Werkzeugmaschinen, also
im Kapital, liegt neben dem kaufmännisch geregelten Kauf
des Rohmateriales und dem Absatz die ungeheuere Ueberlegen-
heit der Fabrik über die handwerksmässige Produktion be-
gründet. „Wenn für das Kleingewerbe hie und da auch noch
eine kleine Verbesserung technischer Hilfsmittel stattfindet, so
schreitet die grosse moderne Industrie infolge der täglich sich
mehrenden Verbesserungen aller Hilfsmaschinen mit Sieben-
meilenstiefeln voran; denn alle wichtigeren Erfindungen kom-
men nur der Grossindustrie zugute, weil sie für das Handwerk
zu unrentabel und kostspielig wären" (Schuhmacher-Fachblatt).
Steigerung der Produktion, Billigkeit der Ware und kauf-
männische Organisation des Betriebes sind die nächsten Wir-
kungen dieses Entwicklungsganges, denen die Handarbeit die
Solidität und Eleganz ihrer Ware, sowie die Macht des Her-
kommens in der Beschaffung des Schuhwerkes entgegenstellt.
Wie lange noch ? Das darf man wohl jetzt schon fragen.
Eine blosse katalogartige Aufzählung der hundertlei Ma-
schinen, selbst wenn eine absolute Vollständigkeit zu erreichen
wäre, würde nun gewiss kein Bild von dem geben, worauf es doch
allein ankommt: von ihrer Verwendung und ihrer Leistungs-
Sie kostete seiner Zeit 4500 Mark und lieferte zusammen mit einer
Hilfsmaschine das 5— f>fache Produkt wie der Handarbeiter, was damals
als ganz erstaunliche Leistung galt.
') In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wurden bereits
18"»7 Sohlenstanzmaschinen von Dampfkraft getrieben.
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fähigkeit. Und darum wird die Schilderung des Betriebes in
einer grossen mechanischen Schuhfabrik vorzuziehen sein. Als
Beispiel sei ein thatsächlich , wenn auch nicht in Bayern, so
doch in Süddeutschland existierendes Etablissement von grossem
Rufe gewählt; „ von dieser Fabrik können wir alle lernen," sagte
mir ein Unternehmer in Pirmasens. Sie liefert nur feine Ware
und arbeitet mit den neuesten Maschinen; gegründet ist sie
18G0 als Handbetrieb, ihr Aufschwung datiert seit der Ein-
führung amerikanischer Maschinen 1867 08.
Das in freier Gegend stehende, vor zwei bis drei Jahren
neu errichtete Gebäude ist ein stattlicher Ziegelrohbau mit Par-
terre und erstem Stock; Kontor und Maschinenraum bilden
besondere Baulichkeiten dicht daneben im Garten. Die Kraft
wird geliefert durch eine Dampfmaschine, ein Gasmotor dient
zur Reserve. Sämtliche Räume haben elektrische Beleuchtung
und Dampfheizung; bei Tage sorgen grosse Fenster an der
Aussenseite und nach dem Hofe für reichliche Lichtzufuhr;
Exhaustoren führen Staub und Lederabfälle ins Freie. Die
Ventilation ist gut, die Arbeitssäle geräumig und hoch: „In
einer Schuhmacherei kann nicht Platz genug sein," sagte mir
der Besitzer. Inmitten des Gebäudes ist ein grosser Hof;
dieser ist mit Glas gedeckt, auf dem asphaltierten Boden stehen
Tische und Bänke, er dient den Arbeitern während der Pausen
zum Aufenthalt. Wir beginnen unsre Wanderung, entsprechend
dem Gang der Arbeit, im ersten Stock. Aus einem kleinen
Vorratsraum treten wir in die Zuschneiderei für die Schaft-
teile. Hier werden die Modelle geliefert, in Papier ausge-
schnitten und dann in Zinkblech oder starker Pappe ausgestanzt.
Die Mode greift auch in den fabrikmässigen Betrieb stark ein,
sie steigert die Zahl der ohnehin schon durch das Bedürfnis
gegebenen Sorten mit ihren Abstufungen für Kinder, Damen
und Herren immer mehr. Nach den blechernen Schablonen
schneiden mit dem Messer meist jüngere Arbeiter aus Leder
und Zeug die einzelnen Teile des Schaftes aus. Diese werden
sortiert und gehen zunächst zum Zurichten ; hier werden Leder-
und Futterteile, Gummizüge und Verzierungen mit Dextrin zu-
sammengeklebt und kommen hierauf zu den Stepperinnen unter
die Nähmaschine. — Früher musste die Arbeiterin mit dem
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Fuss die Nähmaschine in Bewegung setzen; dies hat in grös-
seren Fabriken jetzt ganz aufgehört : die Maschinen, von ver-
schiedenem Kaliber und Konstruktion, je nach der zu bewäl-
tigenden Aufgabe, sind zu je vier bis fünf an langen Tischen
befestigt, durch Transmissionen verbunden und werden durch
Dampf getrieben. Eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit der
Maschine und eine Verminderung der Anstrengung der Step-
perin ist die Folge. Perforiermaschinen dienen zur Verzierung
mancher Schaftteile, eine Knopflochmaschine macht in einem
Arbeitstage 1200 Löcher fix und fertig, eine andre Maschine
näht die Knöpfe an. Vielfach werden „blinde" Knöpfe ver-
wendet, d. h. solche, die nur als Zierat dienen. Ueberhaupt
hat die Ausschmückung des Schaftes, besonders durch zierliche
Näherei, starke Fortschritte gemacht. Alle diese Einzelarbeiten
nehmen für jeden Schaft nur Bruchteile einer Minute, manch-
mal nur ein paar Sekunden in Anspruch. An diesen Saal, in
dem nur Mädchen und Frauen beschäftigt sind, reihen sich
s ein kleines Magazin für Zuthaten , ein Lagerraum und ein
Zimmer, wo die Schäfteteile sortiert werden, um sie der wei-
teren Verarbeitung zu überliefern.
Gehört so der erste Stock dem oberen Teile der Fuss-
bekleidung, dem Schafte, so wird im Parterre der Boden, das
heisst Sohle und Absatz, hergestellt. Auch hier betreten wir
zunächst ein kleines Lager, das das für den Tag benötigte
Sohlleder liefert. Automatische Maschinen stanzen im Haupt-
raum mit eisernen Formen die Sohlen aus; die Zahl solcher
Formen ist natürlich sehr gross, bei jedem Arbeiter stehen
zwei bis drei umfangreiche Regale. Ebenso werden Kappen
und Absatzflecke ausgestanzt und letztere in Pressen zum Ab-
satz vereinigt. Besondere Maschinen schrägen die Brandsohle
an den Rändern ab. Dann werden die zusammengehörigen
Teile sortiert und es beginnt die wichtige Arbeit des Zu-
sammenfügens von Schaft und Boden, das sogen. Zwicken.
Auch dies kann von Maschinen verrichtet werden; 20 und
mehr Systeme hierfür sind in Amerika erfunden worden und
erst kürzlich ist in Deutschland eine neue Zwickmaschine pa-
tentiert worden.
Aber unsre Fabrikanten halten von all diesen Vorrich-
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tungen gegenwärtig noch nicht viel : sie seien sehr kompliziert,
arbeiteten langsam, erforderten viel Umsicht in der Zurichtung
und Hessen sich schwer an die sehr verschiedenen Schuhfacons
anpassen. Das Zwicken ist daher die einzige Teilarbeit, die
auch im Fabrikbetrieb bei uns fast ausschliesslich noch mit
der Hand hergestellt wird. Und begreiflich erscheint dies in
der That, wenn man der Arbeit eines Zwickers zusieht : Nach
Einfügen der Kappe wird der Schaft über den Leisten *) ge-
zogen, dieser mit der Metallseite nach oben auf einen eisernen
Ständer gesteckt, dann die Brandsohle aufgelegt und mit drei
Nägeln leicht am Leisten befestigt. Nun fasst der Arbeiter
mit der Zange den Rand des Schaftes erst vorn, biegt ihn
um und befestigt ihn an der Sohle mit sehr spitzen kleinen
Nägeln, sogen. Täcks, dann übt er dieselbe Operation hinten
und an den beiden Seiten aus. Die Arbeit erfordert Kraft, Ge-
wandtheit und Genauigkeit; je nach der Stärke der Schuh teile
nimmt sie verschieden viel Zeit in Anspruch. Ein sehr tüch-
tiger Zwicker kann bis drei Dutzend Paar leichter Schuhe
täglich fertigen, d. i., den Arbeitstag in der Fabrik zu elf Stun-
den gerechnet, neun bis zehn Minuten für den einzelnen Schuh.
Nachdem Schaft und Brandsohle aufgezwickt sind, wird eine
besondere Verstärkung des Gelenkes aufgelegt, eine dünne
Sohlenlage in das Innere des Schuhes gefügt und die äussere
Ledersohle leicht befestigt.
So kommt der Stiefel zum Nähen oder Stiften. Dies ge-
schieht wiederum lediglich mit Maschinen. Zuvor wird noch
in diejenigen Schuhe, die genäht werden sollen, eine Rinne
im Sohlenleder zur Aufnahme der Naht gerissen. Für Näh-
maschinen für Sohlenarbeit hat man verschiedene Systeme, die
in den grossen Fabriken nebeneinander im Gebrauche sind. Noch
immer trifft man vielfach die älteste, die berühmt gewordene
Mc Kay-Maschine, die zuerst Boden und Schaft auf mechanischem
Wege zusammennähen lehrte und damit eine förmliche Revo-
lution im Betriebe erzeugte. Vollkommener als sie ist die
*) Ein gut eingerichtetes Schuhgeschäft muss ungefähr 50 ver-
schiedene Arten von Leisten aufweisen, von denen jede einzelne Art
wieder 9 Sorten enthält. Manche Fabrik besitzt 3—5000 Paar Leisten,
und bei jedem Modewechsel müssen neue angeschafft werden.
Francke, Die Schuhmacherei in Bayer». 3
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Gross-Gelbdoppelraaschine, die mit Doppelsteppstich in weissem
Faden die eigentliche Verbindungsnaht, mit gelbem eine Ziernaht
am Sohlenrande herstellt. Daneben stehen Keats-, Goodyear-,
Larrabee-, Mansfeld-Maschinen und viele andere im Gebrauch.
Noch interessanter ist das Befestigen mit Stiften. Ein System
von Maschinen bohrt mit zwei Ahlen in der Sohle die Löcher
vor, schneidet von einem Holzband die Stifte ab, drückt sie
in den Stiefel in zwei Reihen nebeneinander, glättet die Spitzen
innen und schneidet die Enden aussen ab — alles in auto-
matischem Gang. Eine andre Maschine stiftet mit dünnem
Metalldraht, der in langer Reihe, Stift an Stift, von ihr selbst
geführt und zerteilt wird. Das Nähen und Stiften beansprucht
für ein Paar Schuhe etwa zwei bis drei Minuten. Nun wird
noch der Absatz befestigt, der durch eine starke, ebenfalls sich
selbst regulierende Presse aufgedrückt und angenagelt wird.
Damit ist der Schuh im Rohen fertig und es kommt nun
die letzte Reihe von Verrichtungen, das Ausputzen. Auch
hier sind, aber erst seit neuester Zeit, mehrere Gattungen von
Maschinen thätig. Zuerst drückt die Sohlenglättmaschine die für
die Naht gerissene Rinne wieder zu. Der Absatz wird aussen
abgefräst und an der Stirnseite abgeschnitten, die Ränder der
Sohle ebenfalls abgefräst. Mit Glaspapier und Raspeln auf
rasch sich drehenden Walzen wird die nötige Glätte von Ab-
satz und Sohlenrand erzielt, die Poliermaschinen verleihen ihnen,
nachdem die Schwärze vorher anfgetragen worden, den Glanz.
Endlich wird die Sohle selbst geschabt und geputzt und nach
einem Farbenanstrich mit grossen Bürsten abgerieben. Nun
ist nur noch nötig, Fabrikmarke, Modellbezeichnung und
Grössennummer dem Schuh einzupressen, und die betreffenden
Paare wandern in den Lagerraum, wo sie in sauberen Kartons
aufgestapelt liegen, bis sie versandt werden.
Nochmals betone ich, dass diese Schilderung des Betriebes
in einer grossen Schuhfabrik nicht ein konstruiertes, gleich-
sam ideales Beispiel gibt, sondern thatsächlich vorhandenen
Verhältnissen entspricht. Selbstverständlich weichen andre
Fabriken von diesem Paradigma im einzelnen vielfach ab, so-
wohl was die Räumlichkeiten als was die Zahl und Art der
aufgestellten Maschinen betrifft, je nach der Menge der be-
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schäftigten Arbeiter und der Warensorte, die zumeist erzeugt
wird. Im grossen und ganzen aber trifft das Bild in den
wesentlichen Zügen des Betriebes bei gut eingerichteten Fa-
briken überall zu. Dies mag auch mitbestimmend sein für
die mir bei den Fabrikanten entgegentretende Ueberzeugung, die
darin einig sind, dass die maschinellen Einrichtungen sicherlich
in kürzester Zeit weitere wesentliche Vervollkommnungen er-
fahren würden. Ein sehr rühriger Fabrikbesitzer in Pirmasens,
der fast ausschliesslich hochelegante Ware, darunter viele Spezia-
litäten, fertigt, sagte mir, die Rastlosigkeit, mit der die Ameri-
kaner Erfindungen und Verbesserungen in der Schuhfabrikation
nachgingen, habe freilich für die deutschen Unternehmer etwas
Bedrückendes, indem sie gezwungen würden, alle Augenblicke
mit neuen teuren Maschinen Experimente zu machen; das sei
nicht nur kostspielig, sondern störe auch bisweilen den Gang
des Betriebes. So habe er binnen verhältnismässig wenigen
Jahren einen grossen Teil von seiner Maschineneinrichtung,
der ihm 35000 M. gekostet habe, durch neue ersetzen müssen.
Immer wieder träten Erfindungen auf, die der mechanischen
Schuhmacherei auch die Vorzüge des Handbetriebes, die
grössere Geschmeidigkeit bei gleicher Haltbarkeit und feinere
Ausstattung, zuführten. Wie enorm rasch diese Entwickelung
für manche Teilarbeit fortschreitet, beweise, dass binnen drei
Jahren in der Erfindung leistungsfähiger Ausputzmaschinen
soviel erreicht worden sei, dass man jetzt das Achtfache an
Arbeit mit nur der doppelten Arbeiterzahl fertigstelle. Jetzt
sei eine Maschine aufgekommen, die ganz nach Art der Hand
Schaft und Boden nähe. Trotz der Kosten und der fort-
währenden Aenderungen in der Art des Betriebes sei es aber
für die deutschen Fabrikanten unerlasslich, sich aller Errungen-
schaften einer stetig fortschreitenden Technik zu bedienen,
um konkurrenzfähig zu bleiben, da sonst eine Zunahme des
Imports, die jetzt schon merkbar sei, nicht ausbleiben würde.
Er wie zahlreiche andre Fabrikanten erwarten mit Bestimmt-
heit, dass in Bälde Amerika mit wirklich leistungsfähigen
Zwickmaschinen auftreten würde: „wir haben sie noch nicht,
aber sie kommen ohne Zweifel!" Damit würde abermals wie
nach Erfindung der Mc Kay-Maschine, eine Umwälzung in der
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Fabrikation erfolgen, indem durch die Maschine dann auch das
letzte Glied in der Kette von Teilarbeiten, bei dem jetzt noch
ausschliesslich die menschliche Hand allein thätig sei, rascher
und billiger hergestellt werden können l ).
*) Auf der Weltausstellung zu Paris im Jahre 1889 waren von
Amerikanern und auch von Franzosen Zwickmaschinen verschiedener
Konstruktionen zu sehen. Die Kunde von der Erfindung leistungsfähiger
Zwickmaschinen ging wie ein Lauffeuer durch die Schuhmacherbevölke-
rung ; man rühme ihr alle möglichen Vorteile nach , sie sei von unge-
lernten Arbeitern zu bedienen und arbeite 50% billiger als die mensch-
liche Arbeitskraft, wobei sie täglich 3 — 400 Paar Stiefel fertige. „Uns
schaudert, " ruft ein belgischer Korrespondent im „Schuhmacherfachblatt*
1889 Nr. 12 aus, „bei dem Gedanken, dass diese Maschine wieder (?) so
und so viele Tausende von Kollegen brotlos macht, sobald sie ihren
Einzug auf dem Kontinente hält." Der Reichstagsabgeordnete W. Bock,
selbst gelernter Schuhmacher, berichtet über die Maschine, die er im
Betrieb sah, dann später: Sie liefere nahezu tadellose Arbeit und sei
sehr leistungsfähig; die Stiefel seien sehr gut vorgeholt und sehr fest
gezwickt gewesen. Mit dieser Maschine (System Paine) zwicke der Ar-
beiter das Paar Stiefel in 2—3 Minuten. Der Preis betrage 6000 Frcs.,
angeblich dürfe sie vorderhand nicht nach Europa verkauft werden. —
Bis zur Stunde scheinen sich indessen weder die grossen Befürchtungen
noch die Hoffnungen, die in Kreisen der deutschen Schuhmacher auf
diese Zwickmaschine gesetzt wurden , irgendwie realisiert zu haben.
Neuerdings ist wieder viel von einer „Erfurter Aufzwickmaschine * die
Rede. In dem Katalog der Firma A. Schick, Frankfurt a. M.. wird von
dieser Erfindung folgendes berichtet: „Welcher Schuhmacher hätte vor
etwa 15 Jahren geglaubt, dass das Zwicken, diese für das ganze Ge-
lingen des Schuhes massgebende Arbeit, jemals durch Maschinen aus-
geführt werden könnte! Dieser Unglaube, diese Zweifel haben ihre be-
rechtigten Gründe, die hauptsächlich in der sehr grossen Verschieden-
artigkeit des Leders liegen. Und doch ist es gelungen , eine Maschine
zu erfinden, welche die Handzwickerei vollständig ersetzt. Verschiedene
Köpfe haben sich mit der Lösung dieser Aufgabe beschäftigt und Re-
sultate zu Tage gefördert, die nur teilweise den Anforderungen genügten,
welche man an eine „ Zwickmaschine " stellen rauss. Eine neu kon-
struierte Maschine, die den Namen „Erfurter Aufzwickmaschine" führt,
lässt jedoch alle diese Resultate weit hinter sich in Bezug auf Leistungs-
fähigkeit und Gelingen der auf ihr gezwickten Schuhe und Stiefel. Da-
zu kommt als weiterer Vorzug, dass der Schaft durch einen Klebstoff
an der Brandsohle festgehalten und nur einige Stifte an Kappe und
Spitze eingetrieben werden ; dieses Einschlagen von Stiften ist aber ab-
solut nicht identisch mit dem „Zwicken", d. h. die Anwendung der
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Wie gross ist nun die Leistungsfähigkeit einer Schuh-
fabrik? .
Die Antwort auf diese Frage muss sehr verschieden aus-
fallen; denn es kommt nicht nur die Grösse und Ausrüstung
des Etablissements (Zahl der Arbeiter und Maschinen), son-
Handzwickzange ist nicht mehr nötig! Die Vorarbeiten, welche den
Schuh resp. Schaft für die Maschine präparieren , sind die folgenden :
Die Kappe wird eingeklebt, Futter mit Schaft durch eine am Rand
laufende Naht verbunden und der innere Futterrand fingerbreit mit einem
Klebstoff bestrichen. Dann wird der Schaft über den mit Brandsohle
versehenen Leisten übergeholt, d. h. durch je einen Stift an Kappe und
Spitz befestigt, die Brandsohle am Rand ebenfalls fingerbreit mit
Klebstoff bestrichen und der Schuh ist für die Maschine fertig. Er wird
jetzt in diese eingespannt, dergestalt, dass er senkrecht feststeht! Durch
einen Handgriff des die Maschine bedienenden Mannes erfassen sinnreich
gruppierte Zangen Spitze und Seiten des Schaftrandes und spannen das
Leder straff auf den Leisten. Durch Niederdrücken eines Hebels werden
nun gleichzeitig von oben und unten je eine Gabel , von beiden Seiten
je ein mit Fingern versehener Seitenbalken nach dem eingespannten
Schuh zu in Bewegung gesetzt, Gabeln und Finger schmiegen sich genau
den Konturen des Leistens an, walken sozusagen das Leder gleichzeitig
an allen Punkten über den Leisten und halten es , nach Lösung der
Zangen und nachdem der Hebel ganz heruntergedrückt ist, auf der
Brandsohle fest. Der Klebstoff haftet sofort; der Hebel und mit ihm
Gabeln und Finger werden in die Höhe resp. nach unten und zur Seite
geführt, und der gezwickte Schuh wird aus der Maschine genommen.
Alle diese Manipulationen erfordern einen Zeitaufwand von einer Minute.
„Die Einführung der Maschine sichert," so wird in diesem Prospekte
weiter angeführt, „dem Fabrikanten eine wesentliche Ersparnis an Löhnen
im Vergleich zu denen der Hand zwickerei. Bei zehnstündiger Arbeits-
zeit vermag ein geübter Maschinenzwicker 25 Dutzend Damensachen zu
zwicken , welche Arbeitsleistung bei Mädchen- und Kinderschuhen sich
bis auf 30 Dutzend erhöht. Die Maschine wird in vier Grössen gebaut:
1. für Herrenarbeit, 2. für Damenarbeit, 3. für Mädchenarbeit, 4. für
Kinderarbeit. Grösseren Fabrikanten ist zu empfehlen , für jede dieser
Gattungen eine Maschine aufzustellen. Da sie für Handbetrieb ein-
gerichtet sind, können sie in jedem Räume untergebracht werden. Ausser-
dem wird noch eine kombinierte Maschine gebaut, auf welcher Mädchen-
und Damenstiefel von 25 — 42 gezwickt werden; man hat nur einige Teile
auszuwechseln, um die Maschine von Damen- auf Mädchensachen und
umgekehrt einzustellen. Das Umstellen erfordert einen Zeitaufwand von
etwa zehn Minuten/ — Eine Kontrolle dieser Angaben habe ich nicht
erlangen können.
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— 38 —
dern ebensosehr auch die Art des Produktes in Betracht:
grobe, billige Ware wird rascher hergestellt als feine, Stoff-
schuhe rascher als Lederstiefel. Durchschnittsziffern von all-
gemeiner Gültigkeit lassen sich ungemein schwer geben. Die
Fabrik z. B., deren Betrieb wir oben geschildert haben, rühmt
sich in einem Prospekt, dass sie gar nicht darnach strebe,
8 — 10000 Paar wöchentlich zu liefern, da sie ausschliesslich
auf die Güte der Erzeugnisse den Hauptwert lege; sie wird,
je nach dem Geschäftsgang, bei etwa 250 Arbeitern vielleicht
täglich etwa 700—800 Paar fertigen. Eine Erfurter Fabrik,
die 300 Arbeiter zählte, hatte eine Wochenproduktion von
rund 1000 Dutzend Paar. Eine grössere Fabrik in Pirmasens,
die alle Sorten Schuhwerk macht, gute und zahlreiche Maschinen
hat und etwa 150 Arbeiter bei sich, ausserdem aber eine
grössere Anzahl von Stepperinnen in deren Wohnung, und
Hausarbeiter in Stadt und Umgegend beschäftigt, stellt täglich
400 Paar Schuhe für Erwachsene und 800 Paar für kleine
Kinder her. Es gibt indessen in Pirmasens mehrere Etablis-
sements, die diese Produktion weit überbieten und bis zu
15 — 1800 Paar gröbere und mittlere Ware täglich anfertigen
können. Keine erreicht indessen eine Schweizer Fabrik, die
täglich über 4000 Paar Schuhe aller Sorten liefert.
Auch diese Leistungen werden von nordamerikanischen
Schuhfabriken noch in den Schatten gestellt. Hier soll durch-
schnittlich ein Arbeiter in zehnstündiger Arbeitszeit etwa neun
bis zehn Paar Schuhe anfertigen können. In deutschen Fa-
briken wird im allgemeinen das Mittel bei elf- bis zwölf-
stündiger Arbeitszeit vier bis fünf Paar pro Tag und Arbeiter
betragen, während im handwerksmässigen Betrieb dieses Quan-
tum wöchentlich schon die Leistung eines leidlich geschickten
und fleissigen Schuhmachers bei zwölf- bis vierzehnstündiger,
ja häufig noch viel längerer Arbeitszeit darstellt. In Massa-
chusetts, dem Hauptsitz der Schuhfabrikation in Nordamerika,
wo in 982 Fabriken von 61650 Arbeitern im Jahre 1880 für
96000000 Dollars Schuhwerk produziert wurde, kamen 1845
auf einen äusserst gewandten Schuhmacher jährlich 455 Paar
Stiefel und Schuhe, 1875 dagegen mit Hilfe der Maschinen
2205 Paar; jetzt rechnet man auf den Arbeiter eine mögliche
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1
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Jahresproduktion von nahezu 3000 Paar J ). Noch einige No-
tizen über die Leistungsfähigkeit von Schuh verfertigungs-
maschinen ! Eine neue amerikanische Sohlenschneidemaschine
schneidet die grösste Männersohle in sechs Sekunden, eine
Frauenschuhsohle in vier Sekunden aus — das sind bei zehn-
stündigem Betrieb 6 — 9000 Sohlen täglich. Eine Holzabsatz-
fräsmaschine liefert 160 Dutzend Absätze täglich. Die Keats-
Sohlen- Näh- und Doppelmaschine garantiert eine Leistung
von 500 Stichen in der Minute, eine Knopflochmaschine
250 — 300 Umdrehungen in der Minute, und W. Bock sah, wie
auf der Pariser Ausstellung in sechs Minuten 26 Knopflöcher
sauber und solid durch eine Arbeiterin mit ihr hergestellt
wurden. Sohlennähmaschinen, die täglich 2 — 300 Paar nähen
und doppeln, besitzen noch keine besonders hervorragende
Leistungsfähigkeit; es gibt deren, die 5—600 Paar bei mecha-
nischem Betriebe liefern können, während ein Handarbeiter
schon äusserst geschickt sein muss, um mit aller Anspannung
die gleiche Arbeit pro Paar, die die Maschine in 1 l js Minuten
fertigt, in 20 — 30 Minuten herzustellen.
Mit Hilfe des Kingschen Heel-Trimmers (Absatzbeschneide-
maschine) kann ein Mann täglich 300 Paar Schuhe beschneiden,
eine Arbeit, die drei bis vier Personen erfordert, wenn sie
mit der Hand gethan werden soll. Bei Anwendung der Absatz-
maschine können ein Mann und ein Knabe täglich 300 Paar
Absätze aufnageln; es wären fünf Personen erforderlich, um
dieselbe Arbeit mit der Hand zu verrichten. Auf der Sand-
papiermaschine kann ein Arbeiter 300 Paar Schuhe täglich
reinigen und glätten; dazu wären vier Handarbeiter not-
wendig 2 ). Ein Fabrikant in Pirmasens liess vor meinen Augen
ein Paar derbe Männerstutzen mit Gummizügen, einfacher Sohle,
ohne Verzierung der Schäfte herstellen; der Preis stellt sich
im Dutzend auf 66—70 M. Ich begleitete den Stiefel bei
allen Operationen, denen er unterzogen wurde, und wanderte
*) Schippel, Das moderne Elend, S. 20.
*) Diese Angaben sind zum Teil dem Jahresberichte des Verein.
Staaten-Arbeitsbureaus für 1886, erstattet von Caroli D. Wright, ent-
nommen.
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mit ihm von einem Raum der Fabrik zum andern, vom Zu-
schneiden bis zum Einschlagen der Fabrikmarke auf die Sohle;
in einer halben Stunde etwa war das ganze Paar hergestellt,
wobei allerdings jeder Stiefel seine besondere Reihe von Ma-
schinen durchlief. Für den Handarbeiter dagegen ist ein Paar
Schuhe zu fertigen eine stramme Tagesleistung.
Acht bis zehn Paar Stiefel pro Kopf und Tag mag die
Grenze der Produktion zur Zeit in einer vorzüglich eingerich-
teten grossen Schuhfabrik bezeichnen, ein Paar pro Kopf und
Tag — allerdings bei einem weit längeren Arbeitstage — im
Kleinbetrieb ohne jede maschinelle Vorrichtung. Aber diese
den Umschwung der Technik charakterisierende Differenz der
Maximalleistungen hier und dort wird in Deutschland sehr
selten erreicht oder gar dauernd eingehalten werden. Gegen-
wärtig ist die technische Ausrüstung unsrer Grossindustrie
vielfach noch hinter der in der nordamerikanischen Union und
neuestens in Australien üblichen ein ziemliches Stück zurück.
Noch mehr freilich in dem Typus des Arbeiters, der diese
Maschinen zu bedienen hat 1 ). Wie in der englischen Baum-
wollspinnerei, so hat sich in der Schuhfabrikation von Massa-
chusetts jene Individualität herausgebildet, die man als den
für die Maschine geborenen und erzogenen Industriearbeiter
bezeichnen kann. „Als der Mann der Zukunft — so schildert
ihn G. v. Schulze-Gaevernitz 2 ) — findet er in der Vergangen-
heit nicht seinesgleichen. Nicht die körperliche Kraft ist es,
welche ihn auszeichnet, denn die geforderten Bewegungskräfte
leistet die Maschine. Aber er gleicht auch nicht dem Arbeits-
virtuosen der sogen. Manufaktur, welcher auf Grund weit-
gehender Arbeitsteilung wenige Handgriffe zur Vollkommenheit
verrichtet. Vollkommener leistet sie nun die Werkzeugs-
maschine, welche mehr und mehr das Gebiet der mechani-
schen' Arbeit ergreift. Den Menschen damit aus dem Nexus
der immer weiter fortschreitenden Arbeitsteilung befreiend,
fordert die vollkommene Maschine lediglich Beaufsichtigung.
l ) Vergl. ,1. Schönhof, Consular report Nr. 90 vom August 1888.
'-) Der Grossbetrieb, ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt.
Leipzig 1*92.
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Bei wachsenden Dimensionen und Geschwindigkeiten, ihrer zu-
nehmenden Produktionskraft und Kompliziertheit wird dagegen
vom Arbeiter eine stets gesteigerte Geistesanspannung, ein
Eingehen auf die in ihr verkörperten Gedanken der Technik
verlangt. Der ihr dienende Mensch sollte ein Sohn des Zeit-
alters der Naturwissenschaft sein." Es wäre thöricht zu leug-
nen, dass wir von diesem Typus in Deutschland, und speziell
in unsrem Gewerbe noch weit entfernt sind. Aber mit jeder
Erhöhung der Leistungsfähigkeit unsrer Arbeiter in den Fabrik-
betrieben wird auch die Produktionskraft der Maschine und
damit wieder die Ueberlegenheit der Grossindustrie über das
Handwerk sich noch weiter steigern.
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■r
IV.
Die Schuhmacherei in Pirmasens.
Unter den Gesichtspunkten der bisherigen Erörterungen
verdient die pfälzische Stadt Pirmasens eine besondere Be-
achtung. Denn hier konzentriert sich die bayerische Schuh-
macherei sowohl räumlich mit weitaus dem höchsten Prozent-
satze der Schuhmacherbevölkerung als auch die Entwicklung
der Technik des Betriebes am klarsten hervortritt. Die Ge-
schichte unsres Gewerbes in Pirmasens ist ein vorzügliches
Beispiel, wie aus den kleinsten und bescheidensten Anfängen
unter der Einwirkung geänderter Verkehrsbedingungen und
der Maschinenarbeit sich eine Grossindustrie herausbildet, wäh-
rend die in der Pfalz seit Anfang dieses Jahrhunderts bestehende
Gewerbefreiheit, bevor diese Entwickelungsfaktoren thätig waren,
die Schuhmacherei ganz in den althergebrachten Formen des
Handwerks gelassen hatte. Leider messen die Quellen für eine
Geschichte der Schuhmacherei in Pirmasens sehr dürftig: Lit-
teratur liegt so gut wie gar nicht vor, ich war auf einige mir
freundlich zur Verfügung gestellten magistratische Akten und
persönliche Mitteilungen angewiesen; für die neueste Zeit geben
die Berichte der pfälzischen Handels- und Gewerbekammer so-
wie des Fabrikinspektors einige Aufschlüsse.
Der Ursprung der Schuhmacherei in Pirmasens entbehrt
nicht eines komischen Beigeschmackes. Das während des Dreissig-
jährigen Krieges bis zur Vernichtung mitgenommene alte Städt-
chen erfuhr einen Aufschwung, als Landgraf Ludwig IX. die
Residenz in dem hanau-hessischen Ländchen von Buchsweiler
nach Pirmasens verlegte, um dort, weniger beachtet von dem
französischen Nachbar, seiner Vorliebe für Soldaten und Exer-
zieren leben zu können. Die „langen Kerls", die er dort nach
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dem Muster Friedrich Wilhelms I. von Preussen in den Jahren
1740—1790 drillte, leben noch im Gedächtnisse der Pfälzer,
die hochgewachsene Leute noch heutzutage gerne „Pirmasen-
ser - nennen. Denn der sorgsame Landesvater erlaubte oder
befahl seinen Soldaten das Heiraten. 1789 zählte die Stadt
über 9000 Einwohner, da aber hiervon 2400 Mann Grenadiere
und 25 Husaren waren, die zumeist einen Hausstand hatten,
so bestand die Bevölkerung wesentlich aus den Familien der
Soldaten und Hofbediensteten. Die schmale Löhnung reichte
zum Leben nicht aus, mit dem Feldbau ist in der vielfach
felsigen Gegend nicht viel zu machen, so warfen sich die
Soldatenfrauen auf eine Arbeit, die ihnen nahe lag: sie strickten
und häkelten wollene, gefütterte Schuhe, die „Schlappen", für
den Verkauf und konnten so täglich einen Batzen verdienen.
Weiber und Mädchen, später auch Männer zogen mit der
Ware in grossen Körben auf dem Kopfe ins Land hinaus und
fanden bald nicht nur im Umkreis von Pirmasens, sondern
auch den Rhein entlang, in Holland und der Schweiz, ferner
in Frankreich wegen der Billigkeit der Schuhe guten Absatz.
Dieser Hausierhandel ist für die Entwickelung der Schuh-
macherei in Pirmasens ganz unumgänglich gewesen; die Sol-
datenfrauen, die die Ware herstellten, konnten natürlich einen
regelrechten kaufmännischen Absatz nicht einrichten, eine Ver-
sendung der Produkte in Masse nach Niederlagen und Märkten
war ohnehin bei den unentwickelten Verkehrs Verhältnissen
schwer thunlich, die Hausierer allein konnten wirksam den
Vertrieb der in sehr kleinen Posten erzeugten, «aber durch die
Zahl der Arbeitenden doch beträchtlich anwachsenden Waren-
menge bewerkstelligen. Die Thätigkeit der „lustigen Schuh-
mädchen a , wie sie ein Bericht nennt, bietet einen nicht un-
wichtigen Zug in der Geschichte des Hausierwesens, gegen
den heutzutage dieselben Argumente ins Feld zu führen wieder
Mode geworden ist, die vor 100 Jahren gebraucht wurden
') Vergl. z. B. „Geschichte des Nürnbergischen Handels" von Dia-
konus Roth (Nürnberg 1801), wo es u. a. heisst: „Es ist allbekannt, dass
in- und ausländische Juden, herumstreichende Welsche, Savoyarden, Ti-
roler, Schweizer u. a. das ganze Jahr hindurch mit allen nur erdenk-
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— 44 —
Nach dem Tode des Landgrafen verlor die Stadt Resi-
denz, Militär und Hofhaltung. Die zurückbleibenden Soldaten
traten nun zum Teil ihren Familien in der Herstellung und
dem Vertrieb der Schuhwaren zur Seite, da das Gewerbe be-
reits leidlich ging, sie wurden kleine Meister, der gelegent-
liche oder notgedrungene, immer aber etwas systemlose Haus-
fleiss wurde zum Handwerksbetrieb. Die Söhne wurden Ge-
hilfen und Lehrlinge, Arbeitskräfte auch von auswärts stellten
sich ein, zumal als 1803 ein gewisser Joss auf den Gedanken
kam, das zu dieser Zeit als Ersatz des teuren Saffianleders
aufgekommene gefärbte Schafleder zu Hausschuhen zu ver-
wenden. „Der reissende Absatz dieser schafledernen Schuhe, 44
so sagt ein vom Bürgermeister Grein er zu Pirmasens anläss-
lich der Dritten pfälzischen Gewerbeaussteilung 1872 erstat-
teter amtlicher Bericht, „auf den Messen und Märkten Frank-
reichs und im Hausierhandel brachte ein lohnendes Geschäft
und war für viele andre Schuhmacher bestimmend, dem Joss
in seinem Gewerbe, farbige schaf lederne Schuhe herzustellen
und auswärts verkaufen zu lassen, zu folgen." Allerdings die
liehen Waren ... auf dem umliegenden Lande und in der Stadt selbst
Schleichhandel treiben. Dies ist eine der Hauptursachen vom heutigen
Verfall des Nahrungs-, Handwerks- und Handelsstandes. Diese Hausierer
. . . rauben den Bürgern ihre Nahrung und ihren Erwerb, schleppen das
Geld aus dem Lande und überlassen den Bürgern die Erfüllung der
Pflicht, die zur Erhaltung des Staats ausgeschriebenen Abgaben zu ent-
richten und die übrigen Staatslasten zu tragen. Noch nicht genug! Auch
einheimische unberechtigte Leute hausieren Waren . . . Fuhrleute halten
in den Wirtshäusern , wo sie einkehren , Niederlagen von Waren . . .
Die Gesetze eifern vergeblich dawider. So oft sie auch erneuert werden,
so sind sie doch ohne Wirkung. Nur Anstalten zur strengen Aufsicht
auf die Uebertreter der Gesetze, nur nachdrückliche Bestrafung des
Hausierens kann dieses Uebel hindern; ganz vertilgen können dieses
Uebel nur edlere Gesinnungen der Bürger. Nicht einmal der Käufer
gewinnt bei diesem Hausieren ; und wenn er gewinnt, so ist gewiss sein
Gewinn sehr gering und unbedeutend. Ueberdies wird er mit Mass und
Gewicht betrogen, bekommt statt guter, echter, dauerhafter Waren nur
schlechte: der gering scheinende Preis der Waren lockt ihn an, sich
davon grössere Menge, als er gerade nötig hat, anzuschaffen und wendet
auf deren Einkauf das Geld, das er zum Einkauf roher Materialien weit
vorteilhafter hätte gebrauchen können."
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Ware war sehr billig, aber auch äusserst gering an Qualität;
man sagte sprichwörtlich von ihr: „Die Schuhe sind zum Ver-
kaufen und nicht zum Verlaufen." Wie ärmlicb es bei der Her-
stellung zuging, beweist die Thatsache, dass zum Futter der Schuhe
vielfach abgelegte Betttücher aus Kasernen verwendet wurden.
Die unruhigen Zeitläufte, unter denen auch Pirmasens zu
leiden hatte, fanden ihren Abschluss mit dem 181(3 erfolgenden
Uebergang der Pfalz an Bayern. In magistratischen Akten
von Pirmasens habe ich in dem Entwürfe eines Berichtes die
Bemerkung gefunden, dass die Stadt sich im Laufe der näch-
sten Jahrzehnte keiner speziellen Fürsorge der bayerischen Re-
gierung zu erfreuen gehabt habe, nachdrücklich wird dagegen
betont, dass die Errichtung des Zollvereins, bei dem die Zoll-
schranken im Innern Deutschlands wegfielen, dem Vertriebe
der Schuherzeugnisse sehr förderlich gewesen sei. Zum Be-
weise wird angeführt, wie die auch an Qualität verbesserte
Ware allmählich nicht mehr ausschliesslich durch Hausierer,
sondern in wachsendem Masse vom Fuhrmann in Wagen-
ladungen nach Stapelplätzen und später an die Eisenbahn ge-
fahren wurden; von da gingen sie dann auch in grössere Städte,
selbst nach Paris und Amerika. Die erste überseeische Be-
stellung, so wird erzählt, habe ein Schuhmacher erhalten, der
einen Korb Waren von Pirmasens nach Hamburg gebracht
habe. Trotz lebhaften Bedenkens wegen des Risiko habe er
die Lieferung ausgeführt, und das Geschäft habe sich dermassen
entwickelt, dass der Schuhmacher — Peter Kaiser war sein
Name — bald von seinem Schemel aufstehen, einen Gross-
betrieb einrichten und später Leiter und Besitzer der grössten
jetzt noch florierenden Fabrik in seinem Heimatorte werden
konnte. Immerhin ist aber bis in die zweite Hälfte der fünf-
ziger Jahre das Wesen des Betriebes zu Pirmasens sich gleich
geblieben. „Verleger" waren dort unbekannt Fabriken und
') Dies ist eine Erscheinung, für die ich keine bündige Erklärung
gefunden habe. Sollte die gewerbliche Stagnation, die in der durch die
Kriege sehr erschöpften Pfalz bis fast in die Mitte des Jahrhunderts
herrschte, im Verein mit der abseits von der grossen Verkehrsstrasse
befindlichen Lage von Pirmasens nicht mitgewirkt haben, dass die ge-
werbliche Thätigkeit erst so spät kaufmännisch organisiert wurde?
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Grossbetriebe gab es nicht, sondern nur Handwerksmeister und
Manufakturwesen. Die ersten genauen Ziffern liegen mir aus
dem Jahre 1854 vor; damals waren in dem 6400 Einwohner
zählenden Orte thätig 161 Meister, 700 Gesellen, 212 Schuh-
trägerinnen, 400 Frauen und Mädchen, die sich mit Einbändein
und Bückein abgaben. Täglich wurden 150 Dutzend Paar ge-
fertigt, im Preise von 5 — 9 Gulden das Dutzend. Der Um-
schlag betrug 315 000 Gulden im Jahre; die Arbeitslöhne waren
48 Kreuzer für ein Dutzend, das Einbändein wurde mit 4 Kreu-
zern das Dutzend bezahlt.
Binnen wenigen Jahren aber sollte sich eine Veränderung
vollziehen, und zwar ist deutlich erkennbar, dass zwei Fak-
toren sie bewirkten. Dank dem Umschwung in den Verkehrs-
verhältnissen und der dadurch gegebenen Möglichkeit des
Massenabsatzes von Waren tritt der Kaufmann als Mittelsmann
und Organisator in das Gewerbe ein und sodann beginnt, aller-
dings zuerst bescheiden, dann aber mit wachsender Energie die
Maschine, das Kapital eine fruchtbare Thätigkeit. Schon im
Herbste 1860 sind aus einem magistratischen Berichte die
Wirkungen dieser beiden Faktoren in der Steigerung der Pro-
duktion bei gleichzeitiger Konzentrierung des Betriebes zu er-
sehen. Damals gab es bereits vier grössere Betriebe, sogen.
„ Fabriken", die Zahl der selbständigen Schuhmacher ist von
161 auf 112, die der Schuhmädchen sogar von 219 auf 109
gesunken, obwohl für das Hausieren der Schuhe per Dutzend
1 fl. 12 kr. bis 2 fl. 20 kr. bezahlt wurde. Dagegen wurden
jährlich 1 264 000 Paar Schuhe im Werthe von 1 000 000 fl.
hergestellt, also etwa das Dreifache wie vor sechs Jahren;
aber immer noch sind es lediglich mit Ledersohlen versehene
Stoffschuhe aus Stramin, Plüsch, Rips, Atlas, Chenille, Royal,
Filz, Lasting mit und ohne Gummizüge, von 6 — 30 fl. für das
Dutzend. Die einst so viel begehrten schafledernen Schuhe
(Preis per Dutzend 6 — 8 fl.) werden fast nicht mehr gemacht.
Die Entwickelung geht nun rasch in gerader Linie vorwärts.
Ein Handelskammerbericht schreibt vom Jahre 1864, dass in
Pirmasens 13 grössere und 63 kleinere Fabriken mit 17 Hand-
lungsdienern und Commis, 54 Zuschneidern, 1154 Arbeitern
und 466 Arbeiterinnen existieren : 66 Nähmaschinen, 1 Sohlen-
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schneid- und 1 Sohlenplättmaschine seien in Thätigkeit, um
2 600000 Paar Frauen- und Kinderschuhe im Werthe von
2 000 000 fl. zu erzeugen. In vier Jahren hatte sich, wie man
sieht, die Warenmenge verdoppelt, die Zahl der Betriebe bei
steigender Arbeiterzahl stark vermindert, die Maschine und
der Kaufmann machten sich geltend. Noch schärfer lässt sich
dies erkennen aus dem bereits erwähnten Bericht des Bürger-
meisters Greiner für 1872. Es gab damals in Pirmasens:
12 grössere, 36 kleinere Fabriken 1 ) mit 18 Buchhaltern, 54
Reisenden, 18 Zahlmeistern und Commis (ausserdem noch aus-
wärtige Agenten), 133 Zuschneider und Verpacker, 192 Magazin-
arbeiter, 3273 Arbeiter und Arbeiterinnen 2 ). Zum erstenmal
treten bestimmte Angaben über die Hausindustrie, die erst mit
der Fabrik wie eine Art Rückbildung wieder sich einstellt,
auf. Sehr viele Personen, so konstatiert der Bürgermeister,
arbeiten für die Fabriken in der eigenen Wohnung und wohnen
deshalb in den umliegenden Orten, selbst bis in die Nähe von
Annweiler, Bitsch, Dahn, Weissenburg; auch in verschiedenen
Strafanstalten sind Häftlinge für die Pirraasenser Schuhfabriken
in Thätigkeit. Für einzelne Teile der Schuhe ist die Hand
schon fast von der Maschine verdrängt worden. Wir sehen
46 Sohlenschneidmaschinen , 6 Absatzpressen, 2 Lederwalzen,
10 Sohlenschraubmaschinen, 2 Montierungsmaschinen, 63 wei-
tere Hilfsmaschinen, 212 Nähmaschinen 3 ) in Gebrauch. Ihr
') Diese, Fabriken genannten Betriebe waren nach unsern heutigen
Begriffen immerhin noch ziemlich klein : 1875 zählt die amtliche Statistik
in der ganzen Pfalz nur sieben Betriebe mit 6 —10, elf mit 11—50, drei
mit mehr als 50 Arbeitern.
2 ) Diese Angaben Greiners stimmen nicht mit den Zahlen der Ge-
werbestatistik für 1875 überein; diese gibt für die ganze Pfalz bei
5550 Haupt- und Nebenbetrieben 5671 Geschäftsleiter und 3454 Gehilfen
an. Greiner weist soviel Arbeiter allein der Pirmasenser Industrie zu.
Vermutlich erklärt sich die Differenz daher, dass Greiner die für die
Fabriken als Hausindustrielle thätigen Personen in der Stadt Pirmasens
und Umgegend als Arbeiter mitzählt, während die amtliche Statistik sie
als selbständige Unternehmer aufführt.
3 ) Die amtliche Statistik von 1875 zählt für die ganze Pfalz im Gross-
betrieb 108 durch menschliche und 24 durch mechanische Kraft bewegte
Nähmaschinen auf, Greiner zählt für Pirmasens offenbar auch die im Klein-
betriebe zumeist nur für Stoffschuhe verwendeten Nähmaschinen mit.
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— 48 —
Erzeugnis ist fast 3 600000 Paar Schuhe im Werte von 4 1 ,* Mil-
lionen Gulden. Das Verzeichnis der gebräuchlichsten Waren
zählt 22 Sorten Sommer- und 10 Sorten Winterschuhe in ver-
schiedenen Grössen, mit Preisen von 6 — 50 fl. per Dutzend und
Macherlöhnen von 1 3 4 — 10 fl. auf. Pirmasenser Ware hat
jetzt eine feste Position auf dem Weltmarkte errungen, sie geht
in alle Länder Deutschlands, die Schweiz, Holland und Belgien,
Frankreich, England, übers Meer. Immer noch werden fast
nur Beschuhungen für Frauen, Mädchen und Kinder herge-
stellt. Die Löhne für Nebenarbeiterinnen in den Fabriken be-
tragen täglich 20 kr. bis 1 fl., Stepperinnen können von 0 bis
12 fl. wöchentlich verdienen, Zuschneider etwas mehr, Sohlen-
drücker 8 — 10 fl. Geschätzt wird, dass ein Schuhmacher
wöchentlich im Durchschnitt Ware im Werte von 30 fl. liefert.
Auch eine Leistenfabrik hatte sich etabliert, die jährlich 1500
Dutzend Leisten fertigte, etwa die Hälfte des Pirmasenser Be-
darfs. Nur sie und noch eine einzige Schuhfabrik verwendeten
bereits Dampfkraft. In gerechtem Stolz auf den Aufschwung
schliesst Bürgermeister Grein er seinen Bericht mit den Wor-
ten, dass „in Pirmasens jedes fleissige Glied der Bevölkerung
ein gedeihliches Auskommen findet, Faulenzer und Lumpen
ausgenommen".
Mit dieser Entwicklung der Industrie hielt indessen das
Wachstum der Stadt nicht gleichen Schritt; die Seelenzahl
stieg in den 30 Jahren, von 1840—1870, nur von 6410 auf
8675, während allerdings die Steuerkraft sich verdreifachte.
Mächtige Schritte vorwärts machte Pirmasens dagegen mit der
Beschaffung von Gas und Wasser; 1874 wurde eine Gasanstalt
errichtet, die auch bald eine bequeme Kraft für den Motoren-
betrieb lieferte, während erst 1879 eine mit Mühe und Not
engagierte englische Gesellschaft die Wasserleitung fertigstellte
und die Stadt damit die Möglichkeit erhielt, die bisher sehr
zurückgebliebene Bauthätigkeit zu fördern. Noch wichtiger war
jedoch die am 25. November 1875 dem Verkehr übergebene
Bahnverbindung Pirmasens — Bibermühle. Schon seit Jahren
besass die Pfalz ein Bahnnetz, schon 1857 war das wenicre
Meilen entfernte Zweibrücken der Wohlthat einer Eisenbahn
teilhaftig geworden, aber alles Drängen nach Anschluss war
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vergeblich gewesen ; meinte doch ein Oberingenieur, den gan-
zen Verkehr mit Pirmasens bewältige man mit einem Waggon
täglich! Endlich wurde die Strecke, aber nur als eingeleisige
Zweigbahn, gebaut, und als Seitenstück zu jener spöttischen
Bemerkung mag dienen, dass unlängst an eine grosse Gerberei
in Pirmasens, die in Schiffsladungen Quebrachohölzer von Ar-
gentinien bezieht, die Bitte von seiten der Bahnbehörde ge-
richtet worden sein soll, ob sie die Hölzer nicht in kleineren
Posten beziehen könne, da die Bewältigung eines so grossen
Quantums für die Bahn sehr störend sei. Noch heute aber
entbehrt Pirmasens der direkten Bahnverbindung nach Kaisers-
lautern im Norden und dem Elsass im Süden, und das ist die
ständige Klage der sonst gar nicht nach Hilfe und Unter-
stützung rufenden Bürger der Stadt Indessen ist schon die
dürftige Zweigbahn ein starker Hebel des wirtschaftlichen Fort-
schrittes geworden, und der Verkehr von Pirmasens auf Post
und Eisenbahn nimmt einen stattlichen Rang in Bayern ein.
So betrug 1891 laut dem Bericht der Pfälzer Handels- und
Gewerbekammer der Gütertransport 10000000 kg Versandt
und 42 Millionen Empfang, an Postanweisungen wurden ein-
bezahlt 4 1 /s Millionen und ausbezahlt 8^7 Millionen Mark, die
Zahl der ein- und ausgehenden Briefe, Mustersendungen, Druck-
sachen etc. belief sich auf fast 2000000; Postpakete werden
in der lebhaftesten Geschäftszeit an manchen Tagen bis zu 2000
aufgegeben. Die Bevölkerung der Stadt hat sich seit 1870
nahezu verdreifacht (jetzt ungefähr 23 000 Seelen), die Gesamt-
steuern ergeben jährlich 280000 M., der Schuldenstand ist
907000 M. Die Bankanstalten hatten 1891 einen Wechsel-
verkehr von 24000000, der Giroverkehr bei der Reichsbank-
nebenstelle belief sich auf 10000000 M. Die Bauthätigkeit
war äusserst rege; der schöne rote Vogesensandstein liefert
prächtiges Material, man sieht viele eben vollendete und noch
im Werden begriffene Neubauten, Schulen, Fabriken, Wohn-
! ) Nach Zeitungsberichten soll Ende 1892 die Direktion der Pfälzer
Bahnen sich entschieden geweigert haben, die Bahn nach Kaiserslautern
zu bauen, da sie sich nicht rentiere, weil es keinen genügenden Verkehr
dort gebe. Der alte Trugschluss!
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 4
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50 —
häuser, auch für Arbeiter. Jetzt plant die Stadtverwaltung die
Errichtung einer elektrischen Zentralanlage. Man glaubt in
der Bürgerschaft felsenfest an eine weitere günstige Entwicke-
lung der Stadt und blickt stolz auf das bereits Erreichte.
Dass diese Fortschritte im wesentlichen die Folge günsti-
gerer Verkehrsverhältnisse und zunehmender Verwendung der
Maschinenarbeit sind, erhellt aus den Berichten, die das Be-
zirksgremium von Pirmasens im Laufe der letzten 15 Jahre
an die Pfalzer Handels- und Gewerbekammer erstattet hat und
die in den Mitteilungen der seit 1879 in Thätigkeit getretenen
Fabrikinspektoren eine Ergänzung finden. Bis 1890/91 ist die
Entwickelung eine stetig aufsteigende, bisweilen rapide. Nicht
nur, dass die Zahl und der Umfang der Betriebe wächst, son-
dern die Fabrikation bemächtigt sich auch immer weiterer Ge-
biete; neben der Herstellung von Stoffschuhen kommt mehr
und mehr auch die Anfertigung von ledernem Schuhwerk aller
Sorten in Schwung. Eine weitgehende Arbeitsteilung findet
statt und ermöglicht das Aufkommen und Wachsen einer Haus-
industrie, die schliesslich in Stadt und Land Tausende in den
Dienst der Fabriken stellt. Die kleinen Schuhmacherwerk-
stätten dagegen, mit selbständigem Handbetrieb, verschwinden
fast ganz. Einige Citate aus den angeführten Berichten mögen
ein Bild von der Entwickelung geben. 1879 ! ): „Die Schuh-
fabriken in Pirmasens hatten alle stets genügende Beschäfti-
gung, und es ist dieselbe in den letzten drei Monaten durch
Exportaufträge aus Südamerika gesteigert worden . . . Die
Preise der Fabrikate sind infolge grosser Konkurrenz zurück-
gegangen . . . Die Arbeiter in den zahlreichen Schuhfabriken
von Pirmasens erfreuen sich im allgemeinen eines besseren
Lohnes als in andern Industriezweigen der Pfalz ..." 1880 -):
„Der Arbeiterstand war bei den meisten wie 1879, bei einigen
bis 15 °;o stärker. Die Beschäftigung desgleichen . . . Der
Export . . . geht nach Frankreich, Belgien, Holland, England,
Dänemark, Schweden, Norwegen, Italien, Schweiz, ferner nach
') Jahresberichte der königl. bayer. Fabrikinspektoren 1879, S. 120
bis 121.
2 ) Jahresberichte der königl. bayer. Fabrikinspektoren 1880, S. 155
bis 150.
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— ol —
Amerika und Australien. 1 * 1882 *): »Die Schuhwarenindustrie
in Pirmasens hat auch im Jahr 1882 gute Fortschritte gemacht
und dürfte der Umschlag bei einem Mehr von etwa 10 °/o die
Summe von 12 000 000 M. erreichen. Zu danken ist die Zu-
nahme des Geschäftsumfanges dem ausgedehnten mechanischen
Betriebe. Die Preise waren trotzdem billiger als 1881. Das
überseeische Geschäft ging das ganze Jahr gut ... In der
Nachfrage nach besseren Schuhwaren ist entschiedene Besse-
rung eingetreten." Für 1883 2 ) wird wiederum eine Zunahme
um 10 °/o aufgeführt; „die Nachfrage nach guten Schuhen
wachst*. Die Zahl der Arbeiter hat sich vermehrt, trotzdem
wurden vielfache Ueberstunden nötig. Die Zahl der Postpakete
ohne Wertangabe stieg von 123012 Versandt in 1882 auf
163242 Stück im Jahr 1883 („Ledermarkt' 1 ). 1884 3 ): „Die
Schuhfabriken waren in sehr lebhafter Weise thätig; seit Mitte
1 883 hat ein grosser Aufschwung stattgefunden, ältere Fabriken
wurden ausgedehnt, neue errichtet. Die Arbeiterzahl in den
Fabriken selbst hat um 600 zugenommen, die Hausindustrie
hat ebenfalls eine nicht unbedeutende Ausdehnung erfahren."
1 886 4 ) weist abermals eine Mehrproduktion auf, das Export-
geschäft und das im Inland nimmt zu, aber die Verkaufspreise
sinken weiter. Neu errichtet wurden sieben Fabriken im Jahre
1887 5 ). 1888 6 ): „Die Geschäftslage der riesig entwickelten
Schuhfabrikation wurde von den Fabrikanten mit befriedigend 1 "
und ,sehr befriedigend 4 bezeichnet. Doch sollen sich die Preise
infolge der noch im Wachsen begriffenen grossen Konkurrenz
schwer halten lassen. Auch beginnt der Export nach Süd-
amerika, woselbst nun ebenfalls Schuhfabriken entstehen, etwas
nachzulassen." 1889 wurden unter heftigem Widerstreben der
Arbeiter neue Maschinen für die Ausputzarbeit von mehreren
Fabriken eingestellt und 19 neue Schuhfabriken gegründet,
und 1890 gar 29, auch wurde in den bestehenden die Arbeiter-
') Jahresbericht der Handels- u. Gewerbekammer der Pfalz 1882, S. 86.
2 ) Handelakammerbericht der Pfalz 1883, S. 82.
3 ) Fabrikinspektorenbericht 1884 S. 66.
4 ) Handelskammerbericbt 1886 S. 89.
5 ) Fabrikinspektorenbericht 1887.
G ) Fabrikinspektorenbericht 1888 S. 99.
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zahl vermehrt. Dies ist die Zeit, wo eine vorwiegend im Klein-
gewerbe verbreitete Schuhmacherzeitung schreibt: „ Bekanntlich
fürchtet sich alle Welt in Deutschland und auch im Auslande
vor der Pirmasenser Konkurrenz!" Aber schon knistert es in
den Mauern des staatlichen Gebäudes, drei kleinere Fabriken
müssen den Betrieb einstellen, und 1891 bricht dann die Krise
aus, die alle charakteristischen Merkmale einer solchen zeigt:
anfangs geht das Geschäft gut, ein Betrieb nach dem andern
will an der günstigen Konjunktur teilnehmen, massenhaft wird
Kapital hineingesteckt und massenhaft wird produziert, der
Markt wird überfüllt, die Preise sinken, die Waren finden
keinen Absatz mehr, es ist kein Geld da, um den Verpflich-
tungen nachzukommen. Dazu kam für die Pirmasenser Indu-
strie noch der besondere Uebelstand, dass der Export durch
politische Wirren und Geldkrisen in Südamerika, durch enorme
Zollerhöhungen in Australien und der Schweiz lahmgelegt
wurde.
Und noch ein weiteres Moment hat den Ausbruch der
Krisis in Pirmasens wesentlich beschleunigt. Von jeher war
es dort üblich, leicht und auf lange Zeit Kredit zu gewähren.
Die überaus bescheidenen Anfänge der dortigen Industrie, wo
bar Geld rar war, machen das erklärlich: der Gerber bezog
seine Häute vom Händler und bezahlte sie erst, wenn er seiner-
seits vom Schuster Geld bekam, und dieser Hess im Laden,
bei Metzger und Bäcker, aufschreiben, bis sein Hausiermädchen
mit leerem Korb und vollem Beutel heimkam. Diese Gewohn-
heit langfristiger Kredite wich auch nicht, als die Geschäfte
seit Ende der fünfziger Jahre mehr und mehr nach kauf-
männischen Prinzipien gehandhabt wurden. Und als auswärtige
Lieferanten sahen, dass sie bisher immer zu ihrem Gelde ge-
kommen, wollten sie sich die Konjunktur zu Nutze machen
und warfen , wie sich mir gegenüber ein Mitglied des Pirma-
senser Handelsgremiums ausdrückte, „den Leuten Rohstoffe und
Maschinen geradezu an den Hals". Mir wurde von einem Fall
erzählt, wo auf diese Weise Kredite bis 200000 M. gewährt
wurden. „Mit einer gewissen Frivolität* — so heisst es in
einer Fachzeitung — „sandten die Lieferanten bei Bestellungen
das Dreifache. Geschickte Werkmeister und Modellschneider,
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die einige tausend Mark erspart hatten, wurden förmlich ge-
drängt, selbständige Betriebe einzurichten; in ein, zwei Zimmern
ihrer Wohnung wurden Maschinen aufgestellt, die ,Fabrik 4 war
fertig und produzierte drauf los. Die zum Betriebe nötigen
kaufmännischen Kenntnisse fehlten fast vollständig, eine ge-
ordnete Buchführung existierte oft nicht. Vor den Zahltagen,
vor dem Verfall der Wechsel erschienen Händler und Grossisten
von auswärts und kauften zu Spottpreisen die Vorräte auf.
Das Ende war natürlich der Krach vieler mittlerer und kleiner
Betriebe." Der Fabrikinspektor teilt für 1891 mit, dass 12 Schuh-
fabriken mit 333 Arbeitern eingegangen seien, ausserdem noch
eine Menge kleinster Betriebe in Stadt und Bezirksamt Pirmasens,
im ganzen 160 1 ). Natürlich beschränkten sich die Folgen der
Krisis nicht auf die unmittelbar Betroffenen, sondern drückten
auf die gesamte Schuhindustrie. Die Preise fielen immer mehr,
die sonst durchschnittlich II 1 /» Stunden betragende Arbeitszeit
wurde vielfach gekürzt, teilweise bis zu 8 Stunden, die Löhne
sanken bei Akkordsätzen um 5 — 10 °o, bei Zeitlohn, nament-
lich bei den besser Bezahlten, von 24 und 23 M. auf 22 — 20
wöchentlich und mehr. Dazu machte sich die Teuerung des
Jahres 1891 in Pirmasens, das ohnehin sehr hohe Lebens-
mittelpreise hat, stark fühlbar; allerdings gingen dagegen die
Mieten um 10°/o herab.
Am schlimmsten waren viele Hausindustrielle daran; sie
hatten nicht vollauf und regelmässig zu thun, wenn auch
manche von ihnen, die geschicktesten, in einigen Fabriken Auf-
nahme fanden. Denn hier wurden trotz der Krisis wenig Ar-
beiter entlassen, lieber kürzte man die Arbeitszeit; nach dem
Bericht der Handelskammer 2 ) sind sogar im Krisenjahr in den
arbeitenden Fabriken 80 ältere Arbeiter mehr eingestellt, aber
60 jugendliche weniger als im Jahre vorher. 150—100 Ar-
beiter sind wegen Mangels an Beschäftigung von Pirmasens
fortgezogen, 50—60 blieben ohne Arbeit. Trotz des Krachs
wurden 1891 zwei neue kleine Fabriken errichtet. Vielleicht
wird man der heute in Pirmasens herrschenden Ansicht nicht
1 ) 1891, Handel9kammerbericht der Pfalz.
2 ) 1891, II. Teil S. 92.
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unrecht geben können, dass diese zum Teil aus rein lokalen
Ursachen entstandene Krisis weniger als eine Kalamität, sondern
als ein freilich nicht schmerzlos verlaufener Gesundungsprozess
zu betrachten sei, dessen Folgen sich jetzt schon in günstiger
Weise geltend machen. Von den Gestürzten sind auch manche
durch ihre Gläubiger wieder auf die Beine gestellt worden,
damit doch nicht alles verloren gehe. Freilich ist eine aber-
malige Krisis nicht ausgeschlossen, von manchen wird sie so-
gar gewünscht, um eine stärkere Konzentration des Betriebes
zu erreichen. Als ich im Herbste 1892 in Pirmasens war,
hörte ich von den grossen Fabrikanten durchweg die Befriedi-
gung äussern, dass das solide Geschäft wieder festen Boden
unter den Füssen habe. Wenn man auch mit erheblich ge-
ringerem Nutzen arbeite, als in der Glanzzeit Mitte der achtziger
Jahre, so sei der Geschäftsgang doch nicht unbefriedigend Vi.
Freilich der Export sei grossen teils unwiederbringlich verloren,
um so mehr aber suCht man den heimischen Bedarf an Schuh-
waren zu erobern, als mächtiger Konkurrent des Handwerkers.
Ueber den gegenwärtigen Stand der Schuhfabrikation in
Pirmasens existieren ziffernmässig genaue amtliche Daten nicht.
In folgendem kann ich daher nur Mitteilungen von approxima-
tivem Werte geben, wie ich sie von Behörden, Fabrikanten
und Arbeitern persönlich erfragen konnte; wenn diese Daten
auch in manchen Einzelheiten nicht exakt sein mögen, so geben
sie doch im ganzen ein ziemlich zutreffendes Bild. Ende 1892
bestanden in Pirmasens: 98 Schuhfabriken, 6 Schuhabsatz-
fabriken, 1 Leistfabrik, mehrere kleine Rosettenfabriken, 14
grosse Gerbereien, darunter einige von Weltruf, 25 Lederhand-
lungen und Schuhgrossisten, ferner Etablissements für die in
Schuhfabriken verwendeten Maschinen, ausserdem 12 — 15 Schuh-
machermeister, die aber teilweise auch fertige Waren in Läden
') Der Bericht des Fabrikinspektors der Pfalz für 1892 konstatiert,
dass in der zweiten Hälfte des Jahres in der Schuhindustrie ein solcher
Aufschwung eintrat, dass die Bestellungen trotz bedeutender Mehrein-
stellungen von Arbeitskräften und trotz Ueberstunden kaum bewältigt
werden konnten. Die Schuhindustrie war in den letzten Monaten 1892
in einer so günstigen Lage wie in den letzten Jahren ; doch vermochten
sich trotz der starken Nachfrage die Preise nicht zu bessern.
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führen. Die Arbeiterzahl in diesen sämtlichen Fabriken wird
auf rund 5000 geschätzt, dazu kommen noch etwa 4500 in
der Stadt wohnende Hausindustrielle, die ausschliesslich, und
5000 auf den Dörfern wohnende, die meist neben landwirt-
schaftlicher Beschäftigung für die Fabriken arbeiten. Also im
ganzen annähernd 14 — 15000 Arbeiter, was meines Erachtens
indessen etwas zu hoch gegriffen ist. Von den Schuhfabriken
sind 10 — 12 grosse Etablissements mit durchschnittlich 150 bis
250 Arbeitern in der Fabrik selbst, zahlreichen Heimarbeitern
und voller Ausrüstung mit den modernen Maschinen. Die
Nähmaschine ist in Tausenden von Exemplaren thätig, in keinem
Hause der Stadt fehlt sie, in den Dörfern dagegen trifft man
sie nur selten. Etwa 40 Fabriken, darunter die sämtlichen
Gerbereien, haben Dampfbetrieb, 40 andre Gasmotoren, der
bayerische Dampfkesselrevisionsverein zählte 1891 in Pirmasens
80 Mitglieder mit 92 Kesseln. Der Warenumschlag wird auf
etwa 35 Millionen Mark geschätzt bei 12—14 Millionen Paar
Schuhen. Fabriziert wird jede Sorte Schuhzeug, vom kleinsten
und geringsten Kinderschuh an, vom ordinärsten Pantoffel zu
6 — 8 das Dutzend bis zu der elegantesten Beschuhung von
20 M. und darüber das Paar. Im allgemeinen aber wird mehr
mittlere und mindere Ware für den Massenkonsum erzeugt als
feine. Die Durchschnittsqualität ist seit einigen Jahren wieder
etwas zurückgegangen. Das Musterzimmer eines grossen Fabri-
kanten weist vielleicht 5—600 verschiedene Nummern auf:
Schlappen und Atlasballschuhe, Kinderschuhe und derbe Manns-
stiefel, Damenstiefeletten und Touristenschuhe, alles nur Er-
denkliche, was man aus Stoff und Leder für den menschlichen
Fuss anfertigen kann, steht hier nebeneinander. Die Fabrikation
zerfällt in zwei Saisons: für Winter- und für Sommerware;
eine etwas flauere Zeit von sechs Wochen schiebt sich im Herbst,
je nach der Witterung übrigens kürzer oder länger, dazwischen.
Doch macht sich Stillstand oder auch nur Flauheit des Ge-
schäftes lange nicht so stark geltend, wie z. B. in England.
Der Vertrieb der Ware ist sehr verschieden: manche Fabri-
kanten verkaufen nur an Grossisten am Platze oder auswärts,
sehr wenige haben Filialen oder eigene Verkaufstellen; die
meisten grösseren und mittleren verkehren direkt mit den
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Händlern und Magazin besitzern in den Städten, die kleinen
beschicken auch Märkte, Dulten und Messen oder lassen sogar
ihre Waren hausieren.
Wie die gesamte Industrie in Pirmasens von äusserst be-
scheidenen Anfängen ihren Ausgang genommen hat, so blicken
auch gerade die grossen Fabriken auf einen ähnlichen Ent-
wickelungsgang zurück. Das älteste und bedeutendste Etablisse-
ment ist 1838 gegründet; sein erster Inhaber hat 20 Jahre
selbst in der Schusterwerkstatt auf dem Schemel gesessen und
Ahle und Pechdraht geführt, ehe er einen fabrikraässigen Be-
trieb einrichtete. Mehrere andre, jetzt sehr stattliche Fabriken
reichen in die sechziger und den Anfang der siebziger Jahre
zurück und haben ebenfalls sehr klein begonnen und erst mit
wachsendem Geschäft ihre Gebäude und Maschinen vermehrt.
Später hat sich dann auch das Kapital dieser lohnenden An-
lage zugewandt, ohne dass die Unternehmer früher dem Ge-
werbe angehört hatten. Dagegen gibt es meines Wissens nur
eine einzige Aktiengesellschaft in Pirmasens, die von der
Münchener Bank gegründeten „ Vereinigten Schuhfabriken in
Cassel und Pirmasens", die im Jahre 1801 mit einer starken
Unterbilanz abschlössen.
Zum Schluss dieses Abschnittes noch ein „Zukunftsbild"
aus Pirmasens!
Am 31. März 1893 brachte der „Pirmasenser Anzeiger"
einen längeren Artikel, in dem die Vereinigung der Mehrzahl
der Pirmasenser Schuhfabriken zu einer Riesenaktiengesellschaft
gemeldet wurde. Das Wesentliche dieses Artikels lautete fol-
gendermassen : (31 Firmen mit zusammen 8723 Arbeitern haben
sich unter der neuen Firma „Kooperative Schuhfabriken Pirma-
sens, Aktiengesellschaft" vereinigt. Das Aktienkapital beträgt
17 1 /* Millionen Mark, eingeteilt in 17500 Aktien a 1000 M.
6224 Aktien wurden den bisherigen Fabrikinhabern, entsprechend
dem Stand des in ihren Geschäften nachgewiesenen eigenen
Kapitals, zugeteilt, 11276 Aktien wurden von den Bankhäusern
Aug. Schneider & Co. und Filiale der Pfälzischen Bank über-
nommen.
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Der Aufsichtsrat wird jährlich gewählt, der General-
direktor alle drei Jahre. Die Arbeit wird unter den einzelnen
Fabriken so geregelt werden, dass 6 Fabriken bloss Herren-
stiefel, 3 bloss Herrenpromenadeschuhe, 14 bloss Daraenstiefel,
8 nur Damenpromenadeschuhe , 16 bloss Damenhausschuhe,
5 bloss Herrenhausschuhe und die übrigen 9 nur Kinder- und
Mädchenartikel fabrizieren werden. Die einzelnen Fabriken
teilen sich die Arbeit dann nochmals insofern, dass die eine
bloss grobe, die andre mittlere, die dritte nur feine Qualitäten
herstellen wird; insbesondere soll auch in Bezug auf die Ma-
terialien eine eingehende Teilung stattfinden, so dass die eine
Fabrik z. B. bloss Rossleder, die andre bloss Lasting und eine
dritte ausschliesslich Ziegenleder verarbeitet. In einem neu
zu erbauenden Direktionspalais werden auch alle Korrespon-
denzen, die Buchhaltung etc. erledigt. Die bisherigen Fabri-
kanten übernehmen als Betriebsleiter die Beaufsichtigung der
Fabrikation und können ihre ganze Thatkraft auf die Vervoll-
kommnung der Ware legen. Den in den bisherigen Fabriken
angestellten 321 Reisenden und Agenten wurde für 1. Juli
gekündigt. Von diesem Tage ab wird Deutschland nur noch
von 12 Reisenden mit den Mustern der kooperativen Schuh-
fabriken besucht werden, während in einigen Hauptplätzen des
Auslandes Agenten angestellt werden. Die jährlich dadurch
erzielten Minderausgaben für Reisespesen und Vertrieb der
Waren belaufen sich auf über 1 Million Mark. Die General-
direktion verteilt die eingehenden Aufträge an die zutreffenden
Einzelbetriebe. Die fertigen Waren werden alle in ein riesiges
Lagerhaus am Bahnhofe geliefert und von da aus versandt.
Die erzeugte Warenmenge wird im ersten Jahre 1 Million
Dutzend Paar Schuhe und Stiefel mit einem Verkaufswert von
über 30 Millionen Mark sein. Es besteht kein Zweifel, dass der
Umsatz sich bedeutend vermehren wird, denn die neue Gesell-
schaft wird nicht nur die billigsten und besten, sondern auch
die am sorgfältigsten ausgeführten Schuhwaren auf den Markt
bringen.
Sobald der Erfolg des Unternehmens gesichert ist, so
wird ein Schritt weiter gemacht auf dem eingeschlagenen
Wege: In 7 riesigen Etablissements, die direkt neben dem
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Lagerhaus gebaut werden sollen, wird dann die gesamte Fabri-
kation konzentriert werden; hierdurch wird eine weitere wesent-
liche Ersparnis in Bezug auf die Fabrikationsunkosten durch
Wegfall von 54 Werkmeister- und 210 Aufseherstellen, durch
billigeren Kraftbetrieb etc. erzielt werden. Die bisherigen
Fabriklokalitäten werden dann zu Arbeiterwohnungen einge-
richtet. Der dadurch vereinnahmte Mietzins amortisiert die
3 1 /'* Millionen, die die Fabrikneubauten erfordern, in ganz
kurzer Zeit. —
So die Mitteilungen des Pirmasenser Blattes, die nicht nur
in Fachkreisen das grösste Aufsehen erregten. Sie wanderten
in sehr viele Tageszeitungen über, in der Schuhmacherpresse
wurde wochenlang des langen und breiten über die Folgen
dieser Riesengründung für die Entwickelung der deutschen Schuh-
industrie und für die Arbeiterverhältnisse geschrieben, sogar
wissenschaftliche Organe, wie das „ Sozialpolitische Zentralblatt",
brachten erst Ende Mai die Angaben des „ Pirmasenser Anzeigers*
und der „Vorwärts" behandelte noch später (am 15. Juni d. J.)
diese neueste Schöpfung des „Kapitalismus * in einem flammen-
den Leitartikel.
Ich habe mich direkt mit der Bitte um Aufklärung
an den Vorstand des Bezirksgremiums der pfälzischen Han-
dels- und Gewerbekammer, Herrn Kommerzienrat August
Schneider in Pirmasens, den Inhaber eines der beiden angeb-
lich mit der Finanzierung der neuen Aktiengesellschaft be-
trauten Bankhäuser, gewendet und von ihm unterm 17. Mai
die bündige Auskunft erhalten, dass die „Mitteilungen über
eine Fusion einer grösseren Anzahl hiesiger Schuhfabriken einem
Aprilscherz entsprungen sind, den sich ein hiesiger Witzbold
am 1. April in dem Lokalblättchen geleistet hat. Es ist dem-
nach an der Sache gar nichts und wird hier auch
nichts Aehnliches geplant." Bezeichnend ist es aber jeden-
falls, dass dieser Aprilscherz so viele Gläubige, auch in urteils-
fähigen und sachverständigen Kreisen, monatelang gefunden
hat: die Möglichkeit einer solchen Fusion zu Einem Riesen-
betrieb ist damit anerkannt, und wenn auch zur Zeit derartiges
in Pirmasens nicht geplant wird, so halten wir für die Zukunft
die praktische Verwirklichung dieses „Scherzes" dann nicht
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— 59
für ausgeschlossen, wenn bei fortgesetzter Konkurrenz und
hartnäckigem Unterbieten die Marktlage die Pirmasenser Fabri-
kanten, deren Kapital in den Etablissements festliegt, nötigt,
durch einen Zusammenschluss, ein Kartell eine weitere Ver-
schlechterung der Konjunktur zu verhüten. Dann stände
am Schluss der vom Hausfleiss bis zur Grossindustrie typisch
verlaufenen Entwickelungsreihe der Schuhmacherei in Pir-
masens das letzte, jetzt noch fehlende Glied: der Riesen-
betrieb!
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V.
Der Grossbetrieb.
Wenn wir den Grossbetrieb der Schuhmacherei in Bayern,
der sich alle Vorteile der Technik und des Verkehrs zu nutze
macht, näher ansehen, so werden wir uns am passendsten wie-
der an das praktische Beispiel von Pirmasens halten.
Gewiss hat Bayern noch an andern Orten grosse Schuh-
fabriken, so namentlich in Schweinfurt, das auch im Ausland
einen trefflichen Ruf wegen der Güte seiner Produkte hat,
dann in Kirchheimbolanden und andern Orten der Rheinpfalz
(Neustadt a. H., Zweibrücken, Speyer etc.), ferner mit wach-
sendem Aufschwung in Nürnberg-Fürth (hauptsächlich für Stoff-
und Zeugschuhe); es existiert fast keine grössere Stadt im
Lande , ' die nicht eine oder mehrere mechanische Schuhfabriken
hätte, München hat z. B. Ende 1892 15 Schuhfabriken, dar-
unter mehrere ziemlich leistungsfähige ; auch in kleineren Orten,
wie in Naila, Kempten, Kulmbach, Kronach u. s. w., existieren
solche. Aber einmal bieten alle diese Betriebe kaum etwas,
das nicht in Pirmasens auch zu sehen wäre, und sodann hat
vor ihnen allen die pfälzische Schustermetropole voraus die
stärkste Konzentration der Betriebe an einem Orte mit allen
Abstufungen in Grösse und Leistungsfähigkeit und die älteste
Tradition des Gewerbes. Pirmasens hat nicht ohne Grund
nahezu 100 Schuhfabriken auf engen Raum zusammengedrängt.
Anlass zu beständigen Neugründungen gerade hier, etwas ent-
legen von der Heerstrasse des grossen Verkehrs, bot vorwie-
gend der Umstand, dass im Laufe der 100jährigen Entwicke-
lung der Schuhindustrie sich eine Ueberlieferung, eine Geschick-
lichkeit, eine Anpassung der Arbeiter an die Erfordernisse des
Gewerbes herausgebildet hatten, die den Unternehmern trotz
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— Gi-
rier höheren Löhne günstige Bedingungen bot. Man fühlt die
Wichtigkeit dieser Thatsache nicht nur unbestimmt in Fabri-
kantenkreisen, sondern ist sich ihrer Bedeutung klar bewusst;
das Kind, so wurde z. B. mir gegenüber betont, das beständig
der Hantierung seiner Eltern zusehe und dessen Spielzeug
Lederschnitzel und andre Abfälle bildeten, greife, auch abge-
sehen von der Vererbung geistiger und körperlicher Anlagen,
später mit viel grösserem Geschicke die Arbeit an. Freilich
wurde dem gegenüber auch wieder hervorgehoben, dass es
nicht leicht sei, die auf eine bestimmte Technik eingeschulten
Arbeiter zu Aenderungen in den Arbeitsgewohnheiten zu
bringen.
Der Uebergang von der Handarbeit zur Maschine ist, wie
wohl überall, auch in Pirmasens nicht glatt von statten ge-
gangen. Als die Sohlennähmaschinen aufkamen, entstand eine
Bestürzung unter den Schuhmachern, die nun fürchteten , dass
viele Leute, die sonst mit der Hand die Sohle und den Schaft
vereinigt hatten, überflüssig werden würden, und es kam sogar
zu kleineren Exzessen. Von Seite des Bezirksamtes wurde Be-
richt eingefordert und das abermals vom Bürgermeister Greiner
erstattete Referat lautete: es sei zutreffend, dass die Arbeiter
die neuen Maschinen sehr fürchteten, da sie deswegen Ent-
lassung und Brotlosigkeit besorgten. Aber diese Angst sei
ganz und gar grundlos, gerade in der Einführung der Maschi-
nen und dem rastlosen Streben der Fabrikanten nach dem
Neuesten liege der Grund des Gedeihens der Industrie: „Je
mehr Maschinen irgendwo im Betrieb, desto mehr Arbeiter
sind nötig, und desto mehr hat sich der Verdienst gesteigert. 8
Aehnlich war es, als die Ausputzmaschinen zuerst nach Pirma-
sens kamen. Da herrschte im Februar 1889 grosse Aufregung
unter den Arbeitern, die von dieser neuen „Revolution" in der
Herstellungs weise Lohnreduktionen und Entlassungen fürchteten.
Um die tiefgehende Erbitterung zu beschwichtigen, erliessen
die Fabrikanten eine „Aufklärung", die aber nicht viel fruch-
tete. Mehr bewirkte die damals noch steigende Konjunktur,
die alle Hände vollauf beschäftigte.
Auch heute noch sind die Arbeiter in Pirmasens über die
Fortschritte der Technik nicht völlig beruhigt. Auch sie sehen
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zwar den endgültigen Triumph der mechanischen Herstellung
der Fussbekleidung als unausweichlich an, können sich aber
vielfach einer gewissen Angst vor den sie persönlich betreffen-
den Konsequenzen nicht erwehren. Namentlich erfüllt sie die
Aussicht, dass über kurz oder lang eine verbesserte Zwick-
maschine auch für diese Teilarbeit die hier bisher noch allein
thätige Hand beseitigen wird, mit Besorgnis.
Der Arbeiter, der sein Fach gründlich versteht, lernt nicht
gern um ; gerade den besseren und geschickteren Leuten kommt
es schwer an, gewissermassen wieder von neuem zu beginnen;
ihr Stolz leidet darunter, der Einfluss der Sitte und des Her-
kommens wirkt mächtig mit. Deswegen sträuben sich auch
heutzutage gelernte Schuhmacher oft noch, in eine Fabrik zu
gehen, wo sie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen
finden, weil es ihnen nicht behagt, immer nur eine Teilarbeit
auszuführen, sie wollen nicht „ Maschinenknechte " sein. Zu
diesem psychologischen kommt noch ein materielles Moment:
Jede Verbesserung der Maschine führt auch zu grösserer Lei-
stungsfähigkeit und damit meist zu einer Herabsetzung der
Stücklöhne. Aber bis nun der Arbeiter, dessen Leistungsfähig-
keit ja gerade in der Ausführung einer bestimmten einzelnen
Operation lag, mit den neuen Vorrichtungen so weit vertraut
ist, dass er mehr Ware in derselben Zeit liefern kann als bis-
her, erleidet er allerdings eine Minderung des Verdienstes, und
daher weigert er sich, die neue Maschine zu bedienen. So ist
es wiederholt vorgekommen, dass in Pirmasens Fabrikanten bei
der Einführung neuer Maschinen lieber gelernte Arbeiter ent-
liessen und Neulinge einstellten — allerdings wohl kaum zu
ihrem eigenen Vorteile, der eine allmähliche Ueberleitung in
die neue Technik mit gelernten Arbeitern erfordert hätte.
Eine genaue Statistik des Grossbetriebs in der bayerischen
Schuhmacherei nach Zahl der Anlagen, der Arbeiter und der
Umtriebs- wie Werkzeugmaschinen zu geben ist mir leider
nicht möglich. Denn die rasche Entwickelung in dem letzten
Jahrzehnt, wie wir sie in dem vorhergehenden Abschnitte an
einem konkreten Beispiel kennen gelernt haben, wie sie aber
typisch für die gesamte Schuhwarenindustrie ist, verbietet hier
die Zahlen der letzten amtlichen Aufnahme von 1882 als irgend-
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- 03 -
wie massgebend zu betrachten 1 ). Auch die im ersten Kapitel
versuchte Ergänzung der Statistik bis zur Gegenwart aus den
amtlichen Veröffentlichungen über An- und Abmeldungen der
Gewerbe lässt uns hier im Stich, da sie keinen Aufschluss über
den Umfang der Betriebe, ob Kleinbetrieb oder Fabrik, gibt,
sondern höchstens über die Zahl der neu errichteten oder nieder-
gelegten Betriebe. Und eine weitere Schwierigkeit liegt in dem
Umstände, dass in der Gewerbestatistik von 1882 nur die Zahl
der in einem Betriebe beschäftigten Arbeiter für den Unter-
schied zwischen Gross- und Kleinbetrieb entscheidet: zu ersteren
gehören alle solche, die mehr als fünf Gehilfen oder Lehrlinge
zählen. Nun kann aber eine Schuhmacherei, die 15 Gehilfen
und ein paar Nähmaschinen beschäftigt, recht gut sich durch-
aus in den Geleisen handwerksmässigen Betriebs halten, wäh-
rend z. B. eine Schuhstepperei, deren Inhaber mit vier bis fünf
Gehilfen lediglich eine bestimmte Sorte Schäfte produziert, mit
Kecht den Namen einer kleinen Fabrik verdient. Es ist viel
eher die Art und der Zweck des Betriebs als die Zahl der
menschlichen Hilfskräfte, die den wirklichen Grossbetrieb von
dem Handwerk scheidet.
Der Vollständigkeit halber jedoch und um zu zeigen, wie
bescheiden die Schuhwarengrossindustrie in Bayern noch vor
wenigen Jahren war, seien hier folgende Daten angeführt. Die
gewerbliche Aufnahme von 1801 macht Uberhaupt noch keinen
Unterschied zwischen Gross- und Kleinbetrieb; mechanische
Kraft wird in der Schuhmacherei nicht verwendet; Arbeits-
maschinen werden nicht besonders aufgeführt und sind sicher
auch nur ganz vereinzelt im Betrieb gewesen. Für die Berufs-
statistiken 1875 und 1882 ergibt sich nachstehende Uebersicht:
Zahl dpr RptrifthP Davon sind Betriebe mit
/.am aer Betriebe 6 _ 10 Perg n _ 6() Perg über 50 Perg
1875 128 92 33 3
1882 139 75 45 19
■7-1,1 »^o^üft In einem Betrieb iw^k* Arbeits- (Näh ) Maschinen
P fl l„ fl ? darchschn. Pers. ""SS,™ mit mit
Personen beschäftigt masewnen Trittwerk mec han. Kraft
1875 1610 12 1 24f> 24
1882 3095 22 14 nicht mitgeteilt
') So schreibt auch die Broschüre „Die Lage der deutschen Schuh-
machergehilfen * von L. Freiwald (Gotha, W. Bock) im Jahre 1890 über
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64 —
Es ist also die Zahl der Betriebe von 1875 — 1882 nur
sehr wenig gewachsen, aber die Grösse der einzelnen ziemlich
stark; die Anzahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter hat sich
nahezu verdoppelt, die der Kraftmaschinen sich von 1 auf 14
erhöht. Die Pfalz hat weitaus den Löwenanteil an dieser Ent-
wickelung. Im Besitze des Staates und des Reiches waren 1882
13 Grossbetriebe mit 401 Personen, die in Militär Werkstätten
oder in Gefangenenanstalten verwendet wurden. Die beiden
grössten Städte, München und Nürnberg, hatten 25 Grossbetriebe
mit 286 Arbeitern und 8 mit 123 Gehilfen, ohne Verwendung
mechanischer Kraft. Ausser den Grossbetrieben mit mehr als
5 Gehilfen, die für die Fabrikation fertiger Schuhwaren in der
Pfalz, für Schuhstepperei in Oberbayern ihre stärkste Verbrei-
tung haben, zählt die Gewerbestatistik für 1875 noch 17 Klein-
betriebe mit fabrikmässiger Produktion auf, nämlich 16 Schäfte-
fabriken (8 davon in Oberbayern) und 1 „Schuhfabrik" in
Schwaben, die unter dieser stolzen Bezeichnung mit 1 Geschäfts-
leiter, aber ohne jeden Gehilfen oder Lehrling arbeitete! —
Aus diesen Ziffern ist, wie gesagt, für die Gegenwart nur das
eine zu entnehmen , dass die fabrikmässige Erzeugung von
Schuhwaren in Bayern recht jungen Datums ist.
Ein zwar für die Gegenwart zuverlässiges, aber nicht direkt
mit den statistischen Angaben der Jahre 1875 und 1882 ver-
gleichbares, weil auf ganz andern Grundlagen basiertes Material
bezüglich des Grossbetriebes erhalte ich durch das Entgegen-
kommen der nach dem Gesetze über die Unfallversicherung er-
richteten Bekleidungsindustrie-Berufsgenossenschaft (Nr. 41 nach
der Bekanntmachung vom 22. Mai 1885), der die Schuhmacherei
angehört. Die Berufszählung von 1882 betrachtete als „ Gross-
betrieb ft jeden Betrieb, der mehr als 5 Hilfskräfte beschäftigt,
dagegen gelten als „fabrikmässige Betriebe" nach der Recht-
sprechung und Verwaltungspraxis des Reichsversicherungsamtes
solche, in denen 1. Dampfkessel oder durch elementare Kraft
die Gewerbestatistik von 1882: „Seitdem sind acht Jahre verflossen,
währenddem die Schuhfabrikation eine bedeutende Ausdehnung erfahren
hat. Die nächste Gewerbestatistik wird für die Schuhindustrie ganz andre
Zahlen liefern und zugleich eine gründliche Verschiebung ihres Verhält-
nisses zum Handwerk nachweisen."
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— 65 —
(Wind, Wasser, Dampf, Gas, Heissluft etc.) bewegte Trieb-
räder zur Verwendung kommen; 2. mindestens 10 Arbeiter
regelmässig beschäftigt werden; 3. auch solche Schuhmacher-
betriebe, die bei einer Beschäftigung von weniger Personen
doch wegen ihrer weitgehenden Arbeitsteilung und wegen Ver-
wendung von Näh-, Stanz-, Walzmaschinen etc., ferner wegen
ihrer erheblichen Produktion für den Massenabsatz im Gegen-
satz zu rein handwerksmässigem Betriebe stehen. Nach diesen
Normen waren auf Grund des Gesetzes betreffend die Unfall-
versicherung vom 6. Juli 1884 versicherungspflichtig:
Schuhfabriken, Schäftefabriken und Schuhmachereien in Bayern.
Jahr Zahl der Betriebe Zahl der Arbeiter
1886 105 3752
1887 104 4062
1888 118 5042
1889 125 5465
1890 148 5978
1891 157 6350
1892 175 6054
Diese Betriebe befinden sich in folgenden bayerischen Orten :
Augsburg, Annweiler, Bamberg, Bayreuth, Burgkundstadt, Fürth,
Hof, Herzogenaurach, Hauenstein, Kempten, Kaiserslautern, Kirch-
heimbolanden, Landstuhl, Mering, Merzalben, München, Münchs-
weiler, Naila, Neustadt a. H., Nürnberg, Oberhausen, Pirmasens,
Regensburg, Rodalben, Simten, Schwabach, Schweinfurt, St. Ing-
bert, Speyer, Tölz, Thaleischweiler, Zweibrücken ; fast alle Kreise
des Königreiches sind also beteiligt, weitaus am stärksten räum-
lich und numerisch die Pfalz (mit allein 108 fabrikmässigen
Betrieben), dann Oberbayern, Mittel- und Oberfranken; in den
übrigen Kreisen gibt es nur vereinzelt Schuhfabriken, Nieder-
bayern hat gar keine.
Wir ersehen aus dieser Liste eine stetige Zunahme der
fabrikmässigen Betriebe — ihre Zahl steigt in 7 Jahren um
70°/o; ebenso wächst die Zahl der Arbeiter ununterbrochen bis
zum Jahre 1892, wo die Krisis in Pirmasens einen gering-
fügigen Rückschlag veranlasst, der inzwischen nach den neuesten
amtlichen Berichten des pfälzischen Fabrikinspektors bei der
günstigen Entwickelung des Geschäftes bereits wieder ausge-
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 5
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-Ge-
glichen sein dürfte. Zu beachten ist indessen, dass die Steige-
rung in der Zahl der versicherten Betriebe und Arbeiter wohl
nicht allein auf die thatsächliche Vermehrung der grösseren
Betriebe und deren Arbeiterschaft zurückzuführen sein wird,
sondern teilweise auch damit zusammenhängen mag, dass erst
allmählich im Laufe der Jahre nach Inkrafttreten des Unfall-
versicherungsgesetzes der Begriff der versicherungspflichtigen
Schuhmacherbetriebe sich in der Praxis geklärt und fixiert hat
und erst mit der Zeit die hiernach versicherungspflichtigen Be-
triebe ermittelt und in das Kataster der Berufsgenossenschaft
aufgenommen worden sind. Andrerseits aber hat, wie wir
bereits bei der Betrachtung der Verhältnisse in Pirmasens ge-
sehen haben, gerade in den letzten Jahren die Zahl der Haus-
industriellen, die für den Fabrikbetrieb thätig sind, sehr stark
zugenommen. Diese sind nicht versicherungspflichtig und
werden daher in der obigen Tabelle nicht mitaufgeführt, so
dass wir über die jetzt thatsächlich im Schuhmachereigross-
betrieb Bayerns beschäftigten Arbeiter auch aus diesen An-
gaben keinen Anhalt bekommen. Nur das eine wird uns aufs
neue bestätigt, dass sowohl die Anzahl der fabrikmässigen Be-
triebe als auch ihrer Arbeiter in verhältnismässig kurzer Zeit
ganz erheblich angewachsen ist.
Um sich nun von der Art des Betriebes eine Vorstellung
zu machen, ist es geraten, die Gruppen von Operationen im
einzelnen zu untersuchen, in die die Herstellung jedes Schuhes
zerfällt. Diese sind: 1. das Entwerfen des Musters und das
Zuschneiden der Teile sowohl für den Schaft als für den Boden,
2. die Vereinigung der Schaftteile, 3. die Bodenarbeit, 4. das
Ausputzen. Sehen wir uns diese, wieder in eine Menge von
Unterarbeiten zerfallenden Hauptgruppen darauf hin an, wo,
wie und von wem sie ausgeübt werden.
1. Nach den Angaben des Fabrikanten, der hier den An-
forderungen der Mode und des Marktes mehr Rechnung tragen
muss, als ihm zumeist lieb ist, entwirft der Werkmeister oder
in kleineren Betrieben der Besitzer selbst das Modell, das für
die Schaftteile in Pappe oder Blech ausgeführt wird, während
die hölzernen Leisten und die eisernen Formen für die Sohlen
und die Absätze durchgängig in besonderen Fabriken gearbeitet
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werden. Dann werden die Schaftteile, Leder oder Zeugstoffe
samt dem Futter nach den Mustern durch die Hand mit dem
Messer, seltener mit Modeln auf Holzbrettern (neuerdings wer-
den Glastafeln empfohlen) ausgeschnitten, die Bodenteile aber
durch Maschinen ausgestanzt. Zu dieser Arbeit gehört ein
gewisses Mass von Kenntnis und Erfahrung, um das Leder und
die Stoffe gehörig auszunutzen. Fast ausschliesslich werden in
dieser Gruppe Männer verwendet, denen hie und da jugendliche
Arbeiter Handreichungen leisten. Da der Fabrikant begreif-
licherweise das wertvolle Material stets unter seinen Augen
behalten will, wird dieser erste Komplex von Operationen stets
nur in der Fabrik selbst ausgeführt.
2. Die zweite Arbeit, die Vereinigung der Schaftteile,
fällt ausschliesslich weiblichen Arbeitern zu. Abgesehen von
dem Sortieren der Teile und dem Zusammeupappen derselben
mit Dextrin, wofür es indessen jetzt auch schon Pappmaschinen
geben soll, tritt jetzt hier die Maschine allein in Thätigkeit,
und zwar teils in der Fabrik, teils im Hause der Arbeiterin.
Die Schäfte gehen durch die Nähmaschinen; je nach dem Ge-
schmack des Fabrikanten sowie des Arbeiters oder der Laune
des Publikums werden sie dann verziert, teils mit Nähten, teils
auf der Perforiermaschine ; Knopflöcher, Oesen und Knöpfe —
alles wird von besonderen Maschinen hergestellt oder befestigt.
Diese Verzierungen des Schaftes werden meist in der Fabrik
gemacht, das Zusammennähen der einzelnen Tejle aber auf den
einfacher konstruierten Nähmaschinen sehr viel in der Haus-
industrie, doch nur in der Stadt Pirmasens, nicht in den um-
liegenden Dörfern. Die Arbeitgeber finden es aus Rücksichten
auf Platzersparnis vorteilhaft, Stepperinnen in deren Wohnungen
zu beschäftigen, und ausserdem wollen diese selbst nach Schluss
der Fabrik durch Hausarbeit ihren Verdienst erhöhen. So steht
fast in jeder Schuhmacherbehausung zu Pirmasens eine durch
wöchentliche oder monatliche Abzahlung von 2 — 10 M., freilich
mit 40 — 50°,o Preisaufschlag, erworbene Nähmaschine, die oft
bis nach Mitternacht gehen muss.
3. Die Bodenarbeit, die das Aufzwicken der Sohle und
deren feste Vereinigung mit dem Schaft, sowie Bau und Be-
festigung des Absatzes umfasst, bringt eine starke Differenzie-
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68 -
rung der einzelnen Operationen mit sich. Hier kommen zu-
nächst Stoff und Bestimmung der Schuhware in Betracht.
Handelt es sich um Schuhe und Stiefel aus Leder oder andrem
derben Material für Erwachsene, so wird die Bodenarbeit fast
ausschliesslich in der Fabrik von männlichen Arbeitern, teils
mit der Hand, teils mit der Maschine, hergestellt. Das Zwicken
geschieht, wie wir bereits gesehen haben, durchweg mit der
Hand ; die Befestigung der Sohle am Schaft, sei es durch Nähte,
sei es durch Stifte aus Holz oder Draht, wird von Maschinen
mannigfacher Konstruktion ausgeführt, Bau und Befestigung des
Absatzes ebenfalls durch Maschinen, natürlich in der Fabrik
selbst, falls nicht die Absätze bezogen werden 1 ). Anders ge-
staltet sich der Hergang bei Zeugstoff- und bei Kinderschuhen;
hier ist die Fertigstellung der Ware Domäne der Hausindustrie
in Stadt und Land. In Sätzen zu je einem Dutzend werden
alle einzelnen Teile, sortiert, zusammengeheftet, die Schäfte
bereits fertig genäht, den Hausindustriellen hinausgegeben und
von diesen nur mit der Hand unter Anwendung der einfachsten
Werkzeuge nach althergebrachter Technik vereinigt. Das Ein-
fassen mit Bändern bei Hausschuhen, das Aufnähen von Roset-
ten und andern Zieraten etc. geschieht, nachdem die Ware an
die Fabrik zurückgeliefert worden ist, wieder bei andern Haus-
arbeitern. Für diese Arten von Ware wird auch die
4. Gruppe von Einzelarbeiten, das Ausputzen, von Haus-
industriellen gleich mitbesorgt. Bei der Ware aus Leder aber
zerfällt diese Operation, die dem Schuh ein gefälliges und
elegantes Aussehen gibt, in eine Menge von Einzelheiten: Ab-
fräsen, Abglasen, Schwärzen, Färben, Polieren, Bürsten etc.
Für all dies gibt es Maschinen in den Fabriken, die von männ-
lichen Arbeitern mit Verwendung jugendlicher Gehilfen bedient
werden. Aber die höchste Eleganz der Arbeit wird nach Aus-
sage der Fabrikanten hier doch von der Hand geliefert, die
Maschine erreicht diesen Grad nicht und erfordert andrerseits
gutes Material bei der Ware. So wird zum Teil das Ausputzen
') Pirmasens hat mehrere Absatzfabriken, in denen aus Holz (nament-
lich für Damen-, Haus- und Ballschuhe) und Leder mit Verwendung von
Abfall und Kunstleder, „factice", die Absätze , gebaut 6 werden.
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— 69 -
trotz der vorhandenen Maschinen nicht in der Fabrik, sondern
zu Hause von geschickten und gut bezahlten Arbeitern, viel-
fach gelernten Handwerkern, besorgt; die Frau arbeitet mit,
bisweilen helfen auch Kinder. Doch arbeitet, wie in der ganzen
Hausindustrie, jede Familie in der eigenen Wohnung für sich,
gemeinsame Werkstätten gibt es ebensowenig wie eine Ver-
einigung mehrerer Arbeiter unter einem Vormann.
Man wird zugeben, dass in der hier geschilderten Art des
Betriebes die Arbeitsteilung vielfach in eine Arbeits Verzettelung
zerfallen ist. Die Vorteile des Grossbetriebes in einer Fabrik,
die Konzentration der Arbeit, scheinen zum Teil freiwillig auf-
gegeben zu sein. Welche Gründe haben nun die Pirmasenser
Fabrikanten zu diesem System einer Kombination von Hand-
und Maschinenarbeit, von Fabrikbetrieb und Hausindustrie be-
wogen? Meines Erachtens sind die Motive dreierlei Art. Zu-
nächst glaubt der Fabrikant bei diesem System billiger 1 )
produzieren zu können. Arbeitet ein Teil seiner Leute zu
Hause, so braucht er weniger Räume und Produktionsinstru-
mente, er spart also am Kapital. Die Arbeit in der Fabrik
fällt unter die Gewerbeordnung; der vom Staate angestellte
Inspektor fordert, dass Licht und Luft herrschen, dass die
Pausen innegehalten, dass die Löhne nach den gesetzlichen
Bestimmungen gezahlt werden. Die mit den Arbeitern ver-
einbarte Fabrikordnung setzt genau die Arbeitszeit fest, die
Löhne sind durch Vertrag geregelt, und wenn ja auch Lohn-
drückereien stattfinden, so bietet der natürliche Zusammenhalt
der Arbeiter in einer Fabrik doch einigen Schutz auch ohne
gewerkschaftliche Vereinigung. Die Versicherungsgesetzgebung
zieht ferner den Arbeitgeber zu Beiträgen für die in der Fabrik
beschäftigten Arbeiter heran. Das alles fällt bei der Haus-
industrie weg; der Unternehmer kümmert sich nicht im min-
') Vergl. auch Sartor ius von Waltershausen (Nordamerikan.
Gewerkschaften. Berl. 1886 S. 125) : „Die in Europa noch so vielfach
übliche Hausindustrie bildet den schärfsten Gegensatz zu der amerika-
nischen arbeitsparenden Fabrik. Die ausserordentliche Billigkeit der
Handarbeit lässt es dem Kapitalisten rentabler erscheinen, bei dem alten
Systeme zu verharren, als eine neue volkswirtschaftlich weit produktivere
Methode zu ergreifen."
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- 70 —
desten darum, wie die Heimarbeiter leben, wie lange sie arbeiten,
ob Frau und Kinder sich mitabrackern; er hat sie auch mit
den Löhnen ganz in der Hand, denn sie entbehren jeder Spur
von Organisation und unterbieten sich eher gegenseitig in ihren
Forderungen. Sieht aber der Fabrikant bei der Hausindustrie
einzig darauf, dass die Ware pünktlich, ordentlich und billigst
geliefert wird, so nötigt ihn sogar die Technik, heute noch bei
vielen Warensorten die Handarbeit vorzuziehen. Die Schnellig-
keit und Präzision der Maschinenarbeit kann noch nicht alle
Vorzüge der Handarbeit wett machen. Schühchen z. B. für
kleine Kinder, die in Pirmasens alljährlich millionenweise, in
Hunderten von Sorten, aus Leder und Zeug gefertigt werden,
kann die Maschine natürlich auch liefern, aber nicht so zier-
lich und leicht, sondern plumper, eckiger, schwerer als die
Hand. Bei hocheleganter Ware kommt der Unterschied der
Arbeitskosten für das Ausputzen, die für Handarbeit das Dop-
pelte und Dreifache betragen, weniger in Betracht gegenüber
der Güte des Produktes. Zarte, helle Stoffe werden in der
Hausarbeit, wo sie nur durch wenige Hände gehen, mehr ge-
schont, als wenn sie von einer Maschine zur andern bei 12 — 15
verschiedenen Manipulationen wandern müssen. Umgekehrt
erfordert die derb anpackende Maschine vielfach besseres und
teureres Material, als der Fabrikant der Konkurrenz wegen für
die geringeren Sorten des Massenkonsums aufwenden will, und
so wird der höhere Satz der Arbeitskosten für die menschliche
Hand durch die Ersparnis an Material bei weitem ausgeglichen.
Hier wird nun allerdings die Güte der Ware oft wesentlich,
trotz oder gerade wegen der Handarbeit, Schaden leiden. Massen
von Pappdeckel werden z. B. als Einlagen zum „Boden* und
für die Kappen verwendet; Kunstleder, d. h. aus Lederabfällen
durch hydraulischen Druck zusammengepresste Platten, spielt
auch eine Rolle beim Absatzbau, alte Patrontaschen und Feuer-
eimer finden ebenfalls willkommene Aufnahme , nicht minder
sind die Schäfte aus billigen Stoffen, die zwar die Nähmaschine
aushalten, sonst aber etwas behutsam behandelt sein wollen.
Noch ein weiteres Moment begünstigt die beregte Ver-
zettelung der Arbeit auch im Grossbetriebe unsres Gewerbes
auf Kosten der Konzentration in der Fabrik, nämlich die Not-
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wendigkeit, eine Unsumme von verschiedenen Sorten herzu-
stellen , um auf dem Markte in erfolgreichem Wettbewerb zu
bleiben. Wir haben schon mehrfach erwähnt, dass in den
meisten Fabriken von Pirmasens Hunderte von verschiedenen
Artikeln hergestellt werden. Wenn auch manche Fabrikanten
in diesem Umstände sogar einen Vorzug zu erblicken ver-
meinen, indem ihnen auf diese Weise die gründlichste Aus-
nützung des Materials bis zum letzten Stückchen ermöglicht
werde , so heisst das doch wohl aus der Not eine Tugend
machen. Denn in Wahrheit sind sie zu dieser Methode der
Fabrikation gezwungen durch die Ansprüche aus ihren Kunden-
kreisen. Ein erfahrener Beurteiler dieser Verhältnisse schreibt
darüber 1 ): „Die Aufträge, die der Fabrikant in Deutschland
bekommt, sind klein, voll Details und Veränderungen, die ge-
nau befolgt werden müssen. Ein Markt verlangt dies, der
andre jenes. Niemand kann auf Vorrat arbeiten und das Be-
dürfnis eines mehr als launenhaften Gewerbes vorhersehen.*
Dies ist vollständig richtig, und unter diesen steten Verände-
rungen, die Mode, Geschmack, Konkurrenz erzeugen, leidet die
Massenfabrikation, wie sie die Maschine allein liefern kann.
Die Musterkarte wird unabsehbar, die Kosten für Modelle,
Schablonen, Leisten, Zuschneiden immer grösser, es leidet die
Geschwindigkeit und Stätigkeit der Arbeit in der Fabrik, und
der Unternehmer sieht sich nach Hausindustriellen um, die
dann ihrerseits um geringeren Lohn, ein jeder ein paar Sorten
nur, das ganze Jahr hindurch, mit Weib und Kind arbeiten
und, wie mir von dieser Seite oft wiederholt wurde, froh sind,
wenn sie nur vom frühen Morgen bis spät in die Nacht zu
thun haben, um ein bescheidenes Leben führen zu können.
Die gleichen oder doch ähnliche Verhältnisse im Gross-
betriebe der Schuhmacherei herrschen auch in England. Dieser
Industriezweig verwendet dort sogar vielfach noch weniger
Maschinenarbeit, als dies in Deutschland der Fall ist. In Lon-
don, wo sich eine Schuhmacherbevölkerung von rund 20000
Köpfen in Ostlondon und Hackney zusammendrängt 2 ), giebt es
*) J. Schönhof, Consular reports Nro. 96.
*) Vergl. hierüber das Werk von Ch. Booth : Labour and life of the
people. Vol. I. East-London p. 241—308. Bootmaking, by David E. Schloss.
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fast gar keine grösseren Fabriken, dagegen sehr viele kleine
Betriebe, die in ihren Werkstätten , einem oder zwei Zimmern
gewöhnlicher Mietshäuser, lediglich das Zuschneiden der Schäfte
und das Ausstanzen der Bodenteile besorgen. Genäht werden
die Schäfte ausschliesslich auf Maschinen im Hause der Arbei-
terinnen, die sich oft in Gruppen (teams) zu drei, vier, selten
mehr unter der Leitung einer Frau, die das Zimmer und die
Maschinen beschafft, zusammenthun. Die Operation des making
(Vereinigung von Schaft und Boden) erfolgt gleichfalls fast
immer in der Hausindustrie; doch arbeitet hier der meist ge-
lernte Schuhmacher gewöhnlich allein für sich, nur von seinem
Sohne oder einem Jungen unterstützt. Selten in Ostlondon,
öfter in Westlondon finden sich für diese Arbeit cooperative
Workshops: eine Anzahl Bodenarbeiter mietet gemeinsam eine
Werkstatt. Auch kommt es vor, dass das Annähen der Sohle
von Maschinen besorgt wird, deren Besitzer nur für diesen Teil
der Arbeit von den zahlreichen Arbeitern aufgesucht werden.
Die im Rohen fertiggestellten Stiefel wandern dann wieder
in die Fabrik oder den Laden zurück und werden von da zur
letzten Operation, dem sogen, finishing (Ausputzen) an Heim-
arbeiter hinausgegeben ; für diese Teilarbeit ist das vielberufene
sweating-system ganz vorwiegend im Schwünge 1 ). In der
Schuhmacherei wird dies System folgendermassen gehandhabt:
Die Arbeit, z. B. das Ausputzen von 10 Dutzend Paar Stie-
feln, wird im ganzen an eine bestimmte Person zu einem kon-
traktlich festgestellten Preise überlassen — der sweater *) mietet
sich dann selbst die Leute zur Ausführung der Arbeit, er be-
zahlt sie im Zeitlohn und hat nun ein Interesse daran, sie
möglichst auszunutzen, um an Löhnen zu sparen und seinen
Profit zu vergrössern. Die Lohnverteilung bei den Schuh-
') Siehe die Reports der vom Hause der Lords 1888 89 mit der
Untersuchung des sweating-system betrauten besonderen Kommission.
1. Report 406.
*) Wir folgen hier dem Sprachgebrauche ; in der Schuhwarenbranche
wird ausnahmsweise sweater nicht im aktiven, sondern im passiven Sinn
gebraucht — sweater ist hier das Opfer des Systems. Aber auch die
Reports brauchen das Wort bei den Schubmachern im sonst allgemein
üblichen Sinne des „ Schweissaustreibers \
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machern ist stets folgende : Die eine Hälfte erhält der sweater t
in die andere teilen sich die Arbeiter. Finishing erfordert für
die meisten Hantierungen so gut wie gar keine Geschicklich-
keit, namentlich seit verbesserte Werkzeuge in Anwendung
kommen; der Zufluss von Juden aus Osteuropa hat das An-
gebot von Arbeit in Ostlondon enorm gesteigert, und so sind
Zustände gekommen, die die öffentliche Aufmerksamkeit in
hohem Grade erregt haben: „Die Sklaverei hat Amerika den
Rücken gewendet und sich in Ostlondon niedergelassen *), "
sagte einer der Zeugen vor der zur Untersuchung dieser Not-
stände eingesetzten Oberhauskommission. In engen, dumpfen,
schmutzigen Räumen, den sweaters-dens, sitzen hier meist 4,
bisweilen aber auch 8 — 10 Menschen, 16, 18, ja auch 20 Stun-
den während der 4 — 5 Monate flotten Geschäftsgangs, rastlos über
ihre Arbeit gebückt, die Mahlzeiten, fast nur Brot, Kaffee, Thee
und Heringe, nehmen sie ein, ohne sich vom Arbeitsschemel
zu erheben, der Verdienst ist, hochgerechnet, 12 sh. wöchent-
lich im Jahresdurchschnitt 2 ). Diese überaus billigen und eif-
rigen Arbeiter, die allerdings gewöhnlich minderwertige Ware
liefern, erhalten auch Aufträge von den grossen Centren der
Schuhfabrikation in der Provinz zugewiesen. Hier sind in
Leicester, Northampton, Stafford, Leeds, Norwich allerdings
Betriebe von einem Umfange, wie wir sie in Deutschland kaum
haben. Leeds fertigt meist ordinäre, derbe Schuhe für Män-
ner, Stafford excelliert in feinem Damenschuhzeug, Northamp-
ton dürfte mehr Pirmasens gleichen, da es ebenso wie dies
mit Verwendung einer starken, aber in der letzten Zeit wieder
zu Gunsten des Fabriksystems abnehmenden Hausindustrie in
den benachbarten Dörfern alle möglichen Sorten Ware her-
stellt. Ein sehr bedeutender Platz für Schuhfabrikation ist
Leicester (bei 180 000 Einwohnern 225 Fabriken); von einer
leitenden Fabrik dort gibt J. Schönhof folgende Schilderung 3 ):
») I. Report 411.
J ) Vergl. u. a. die Aussagen von A. White, S. Wildmann,
M. Feilwell, S. Hirsch, S. Rosenberg im 1. Report und die zu-
sammenfassende Darstellung über Boots and shoes im V. Report.
3 ) J. Schön hof, Reports from the consuls of the United States.
Nro. 96. August 1888. Washington.
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- 74 -
Das Etablissement beschäftigt 1200 Arbeiter in der Fabrik,
ausserdem aber noch viele zu Hause; es besitzt 80 eigene
Läden im ganzen Königreich, eine Zweigfabrik in Leeds, grosse
Gerbereien; sein Export geht über die ganze Welt; die Muster-
karte umfasst 7 — 800 Nummern. Die Leiter hatten alle nur
erdenklichen Maschinen, meist amerikanischen Ursprungs, ein-
geführt, aber sehr viele wieder aufgegeben; ein ganzer Keller
liegt voll von diesem kostspieligen „alten Eisen". Die Arbeiter
gingen ungern an die Maschine, sie wollten trotz der grösseren
Leistung der Maschine keine Minderung der Stücklöhne an-
nehmen; Handarbeit sei billiger; je weniger Maschinen desto
besser, behauptete der unsern Gewährsmann herumführende
Besitzer der Fabrik J ).
Die Berechtigung dieser Ansichten wird sehr erschüttert,
wenn wir den Stand der Schuhfabrikation in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika betrachten. Hier haben nationale
Eigenart und gewerbliches Erfordernis im Bekleidungsgewerbe
vollständig mit der Arbeitsmethode der alten Kulturländer ge-
brochen. Der Handwerker ist im Verschwinden, meist sind es
nur Eingewanderte, viele Deutsche darunter, die noch in der
Werkstatt sitzen. Die Maschine fabriziert und der Konsument
kauft fertige Ware. Amerika war durch seine kolossal an-
wachsende Bevölkerung, den Zug nach den unbetretenen Wild-
nissen des Westens, das plötzliche Entstehen neuer Staaten
mit Millionen Einwohnern zu dieser Entwickelung gezwungen.
Denn die Arbeitskräfte warfen sich mit Energie auf die Feld-
bestellung; mit ihren Früchten tauschte man die Produkte
') Die grösate Schuhfabrik der Welt soll die der englischen Gross-
handelsgenossenschaft (Konsumverein) gehörende Fabrik in Leicester sein.
Gegründet wurde sie 1874; sie produzierte im ersten Jahre für 34 000
Pfund Sterling Ware. 1891 für 290 000 Pfund. Die Fabrik, die mit elek-
trischem Licht und hauptsächlich amerikanischen Maschinen aufs voll-
kommenste ausgestattet ist, kann bis 2500 Arbeiter beschäftigen; im
Vorjahr waren in ihr thätig 489 Männer, 481 Frauen, 160 Mädchen und
284 Burschen, im ganzen 1414 Personen. Sie erzeugt wöchentlich 22 000
bis 23 000 Paar in allen Preisanlagen; ihr Lederkonsum beläuft sich auf
18 000 kg wöchentlich. — Die „Riesen- Aktienfabrik* in Pirmasens, von
deren Projekt auf S. 50 f. die Rede ist , würde die Fabrik in Leicester
allerdings noch um ein Vielfaches überragen.
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- 75
des industriellen Ostens ein, für die Handwerke hatte man
im Westen weder Geschick noch Zeit und Sinn. Auch im
Osten hängen jetzt nur noch die „Künstler" unter den Schnei-
dern und Schustern ihre vergoldeten Schilder heraus und locken
den wählerischen Geschmack an; aber die Massen suchen die
Warenlager auf, um ihre Blösse decken zu können. Die Männer
finden jetzt schon dort alles, was sie brauchen, und für die
Frauen wird's mit jedem Jahr vollständiger. Das bringt eine
völlige Umwandlung der Industrie und des Handels mit sich 1 ).
In Riesenbetrieben konzentriert sich die Schuhfabrikation und
in jeder Fabrik wieder auf wenige Artikel. „Die Besichtigung
einer amerikanischen Schuhfabrik," sagt J. Schönhof in sei-
nem erwähnten Konsularbericht , „zeigt uns die völlige Be-
freiung der Arbeit von jeder Anwendung der Muskelkraft. Die
Hand des Arbeiters wird, mit Ausnahme des Zuschneidens
(cutting) und des Zwickens (lasting), nur gebraucht, einen
Mechanismus zu leiten . . . Dieser selbst wird in Thätigkeit
gesetzt und erhalten durch mechanische Kraft, der Arbeiter
hat nur zu dirigieren. Gross aber ist die nötige Aufmerksam-
keit, schnell die Bewegung, um einen stattlichen Betrag Arbeit
in sehr kurzer Zeit korrekt und sauber zu leisten. Es ist un-
möglich hier, wie Hans Sachs in Poesie, oder wie Jakob
Böhme in mystische Grübeleien sich zu versenken. Traum-
land hat keine Stätte in einer Massachusetts- Schuhfabrik, der
Träumer würde bald schmerzhaft spüren, wie die Maschine
seine Finger packt."
Die Arbeitsteilung ist vollständig durchgeführt, in einer
Fabrik mit (500 Arbeitern sind vielleicht keine 25, die genau
dieselben Verrichtungen auszuführen haben. Hausindustrie gibt
es kaum, sweating gar nicht. Und diese Fabriken, deren
Maschinen „alles können, nur nicht sprechen," arbeiten nur
für einen Markt, wenden diesem alle Aufmerksamkeit zu und
produzieren in jeder Saison nur wenige Sorten Ware. Die
Unternehmer können also das Material in grössten Mengen
einkaufen und verfügen über eine Arbeiterschar von so viel
*) J. Schönhof, Economy of high wages. New- York und London
1892 S. 356 f.
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— 7(3 —
nervöser Intelligenz, Stetigkeit und Geschicklichkeit wie nir-
gends in der alten Welt. Kein Wunder, dass unter diesen Ver-
hältnissen die Bevölkerung der nordamerikanischen Union ihren
Schuhbedarf für 1880 im Werte von 207000000 Dollars
(875000 000 M.), abgesehen von der Einfuhr, mit der Hälfte
der Arbeiterzahl bewältigte, die Deutschland in vorwiegend
handwerksmässigem Betriebe und geringerem Verbrauche an
Schuhwerk nötig hat. In Deutschland waren 1882 bei 45 Mil-
lionen Einwohnern 247 779 Hauptbetriebe mit 404 278 Per-
sonen in der Schuhmacherei thätig 1 ). Nach dem Census von
1880 waren in 1959 Fabriken 111152 Arbeiter beschäftigt
(davon allein in dem Staate Massachusetts 61051 Arbeiter in
982 Fabriken); das Kleingewerbe zählte 82 927 Personen in
etwa 15000 Werkstätten. In den Fabriken wurden für 1 CG 000 000
Dollars Ware geliefert, im Kleingewerbe für 41000000. Die
Zahl der produzierten Stiefel und Schuhe belief sich auf
125^2 Millionen Paar.
Die Arbeitslöhne in den Fabriken machen rund eine
Summe von 43 000 000 Dollars aus und ergaben einen
Durchschnittsverdienst von 387 ^ Dollars pro Kopf. In den
Fabriken war ein Kapital von 43000000 Dollars festgelegt;
ihr Materialverbrauch belief sich auf 102 1 /* Millionen *). Sogar
die Flickerei ist fabrikmässig organisiert und es wird ein hand-
festes, nieht ungeschicktes Ergebnis erzielt. Ueber die mit
diesem ganzen System der Schuhmacherei gewonnenen Resul-
tate spricht sich H. A. Schneider „Die Schuhmacherei auf
der Weltausstellung in Philadelphia" höchst anerkennend aus 3 );
er hält die Nachahmung dieser Zustände in Deutschland für
sehr notwendig.
Dabei ist die Entwickelung des Grossbetriebes in der Schuh-
J ) Berufszählung vom 5. Juni 1882.
*) Ein Vergleich des Census von 1880 mit dem von 1850 verdeut-
licht das Wachstum des Grossbetriebs: 1850 waren in 11 305 Fabriken mit
13 Mill. Dollars Anlagekapital 105 254 Personen beschäftigt, die jährlich
Rohmaterial im Werte von 23 4 /s Millionen zu Schuhwerk im Werte von
54 Millionen verarbeiteten. Die Löhne betrugen insgesamt 21 2 /3 Mil-
lionen, der Durchschnittslohn 205 V« Dollars.
3 ) In Conrads Jahrbüchern 1883 I.
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- 77
macherei der Union 1 ), die bis jetzt vorwiegend in den Neu-Eng-
landstaaten ihren Sitz hatte, noch keineswegs abgeschlossen. „Die
neueZählung(1890), u sagt Schönhof 2 ), „wird ohneZweifel aber-
mals einen grossen Fortschritt zu Gunsten fertiger Waren zei-
gen, die das Werkstattgeschäft ganz zurückdrängen" 3 ). Ein and-
rer Autor, Sartorius v. Waltershausen, behauptet gar, dass
30 — 40000 Arbeiter den ganzen Schuhbedarf der Union zur
Genüge decken könnten, wenn man auf den Kopf der Bevöl-
kerung einen Bedarf von 2 Paaren rechnet 4 ). Bei dieser
Konzentration des Betriebes kann es auch weiter nicht auf-
fallen, dass in Nordamerika die Arbeitskosten sich wesentlich
geringer stellen, um 50 — 80 °/o als in England und Deutsch-
land, die Löhne aber gleichzeitig eine Höhe erreicht haben,
die unsre Schuhmacher mit recht trüben Gefühlen erfüllen
müssen; denn sie betragen im Durchschnitte mindestens das
Doppelte, aber auch oft das Drei- und Vierfache der Sätze,
die bei uns in der Schuhmacherei, namentlich im Handwerk
und in der Hausindustrie gezahlt werden in Befolgung des
falschen Prinzips, das Maximum von Leistung für das Minimum
von Lohn bei möglichst langer Arbeitszeit zu verlangen. In
Deutschland gehören die Schuhmacher durchaus unter die am
allerschlechtesten bezahlten Gewerbe ; für die Schusterei gilt
im besonderen, was H. Herkner als allgemeinen Satz auf-
stellt: „Das geringe Einkommen, das unsre Arbeiterbevölke-
rung bezieht, ist jedenfalls eine der wesentlichsten Ursachen
für die gerade in Deutschland noch so grosse Ausdehnung
rückständiger Betriebsformen. Hausindustrien, Kleingewerbe,
die mit einer unvollkommenen maschinellen Ausrüstung und
einer ungenügend entwickelten Arbeitsteilung arbeiten, be-
haupten sich noch weit über die Zeit hinaus, für welche sie
') Eine interessante Schilderung der Schuhmacherstadt Brockton,
Mass., giebt John Graham Brocksim „ Sozialpol. Centralbl." 1892.
*) Economy of high wages p. 358.
8 ) Die Verarbeitung des Census von 1890 Abt. IV, Manufactures,
war mir bis jetzt nicht zugänglich.
4 ) Sartorius von Waltershausen, Die nordamerikan. Ge-
werkschaften unter dem Einflüsse der fortschreitenden Produktionstechnik.
Berlin 1886 S. 112.
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- 78 -
eine absolute Berechtigung besassen" l ). In Nordamerika aber
stehen viele Arbeiter in den mechanischen Schuhfabriken mit
unter den höchstbezahlten, ihre Löhne werden nur von denen
weniger andrer Gewerbe übertroffen. Nach Schönhof (Eco-
nomy of high wages p. 373) beträgt in den Fabriken von
Lynn, Mass., bei 9 — lOstündigem Arbeitstage der Wochenlohn
für Männer durchschnittlich 51 M., für Frauen 30 M., in Lei-
cester (England) bei lOstüudiger Arbeit 28 — 36 M., resp.
15—18 M., in Berliner Fabriken 20—30 M. für Männer, in
Frankfurt a. M. 18—31 M. für Männer, 9 — 15 M. für Frauen.
In Pirmasens wechselt bei llstündigem Arbeitstage in den
Fabriken der Lohn für Männer wöchentlich zwischen 15 und
30 M., für Frauen 10 — 18 M. In der dortigen Hausindustrie
verdient die Familie bei 14 — 16stündiger Arbeit 2 — 3 M. täg-
lich, für Oberfranken berichtet die amtliche Denkschrift über
die Landwirtschaft in Bayern (1889) von einem täglichen Lohn
von durchschnittlich 1 M. 20 Pf. in der Schuhmacher - Haus-
industrie. Beim sweating-system in London in 16 — 18-, ja
20stündiger Arbeitszeit beträgt der Wochenlohn 12 M. Für
Deutschland gibt E. Engel (Preuss. stat. Zeitschrift) 1878 als
Durchschnittswochenlohn der Gehilfen im Handwerksbetrieb bei
13 — 17stündiger Arbeit 12 M. 50 Pf. an; der Lohn sinkt aber
sehr häufig noch erheblich tiefer.
') H. Herkner, Die soziale Reform als Gebot des wirtschaftlichen
Fortschritts. Leipzig 1891 S. 81.
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VI.
Das Handwerk.
Für eine noch heute zutreffende Betrachtung des Klein-
gewerbes in der Schuhmacherei giebt die Berufszählung vom
5. Juni 1882 etwas zuverlässigere Anhaltspunkte als für den
Grossbetrieb, nämlich insofern, als wir aus einer Vergleichung
der Daten von 1875 und 1882 im Zusammenhalt mit den Ueber-
sichten der An- und Abmeldungen der Gewerbe von 1883—1891
wenigstens ziemlich deutlich die Richtung erkennen können,
in der aller Wahrscheinlichkeit nach sich das Kleingewerbe
seitdem bewegt hat. Diese Ziffern sind folgende:
Zahl der
Zahl de * In ihnen Von den Kleinbetrieben waren beschäftigten
,,am Kleinbetr. sind thätig Gehilfen
ohne Oeh. mit Geh u. Lehrlinge
1875 30 631 47 548 19 172 11459 10 917
1882 31443 45 230 21229 10 214 13 687
Somit hatte sich die Zahl der Kleinbetriebe, zu welchen
die amtlichen Aufnahmen alle Betriebe bis zu fünf Gehilfen
und Lehrlingen rechnen, von 1875 — 1882 um 812 (2 1 /* °o) ver-
mehrt, die Zahl der in ihnen beschäftigten Personen aber war
um 2318 (5°;o) gefallen. Gestiegen war die Zahl der Allein-
betriebe, in denen der Meister ohne jede Hilfskraft arbeitet,
nämlich um 2057, d. i. um 10,7 °o ; gefallen war infolgedessen
die Zahl der Gehilfenbetriebe und noch mehr der in ihnen thätigen
Gehilfen und Lehrlinge, die ersteren um 1245 Betriebe = 10,9 %
und die letzteren um 3230 Gehilfen = 19 °/o. Die Tendenz der
Entwickelung ging also schon von 1875 — 1882 energisch auf
eine Verringerung des Umfangs der Einzelbetriebe
im Handwerk bei gleichzeitiger schwacher Ver-
mehrung ihrer Anzahl; nicht nur arbeiten mehr Meister
ohne Gehilfen (67,2 °;o aller Kleinbetriebe im Jahre 1882 gegen
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- 80 —
62,3 °/o fünf Jahre vorher), sondern auch die Gehilfenbetriebe
selbst sind noch kleiner geworden: im Durchschnitt treffen auf
einen Gehilfen-Kleinbetrieb im Jahre 1875 1,48 Gehilfen, 1882
aber nur noch 1,34. Ist diese Wendung bereits vor 10 und 1 5 Jah-
ren bei massig steigendem Grossbetrieb eingetreten, so besteht
höchste Wahrscheinlichkeit, dass seitdem bis auf den heutigen
Tag bei der enormen Zunahme der Fabrikindustrie in der
Schuhmacherei die Entwickelung des Handwerkes den gleichen
Gang mit beschleunigter Geschwindigkeit eingehalten hat. Dafür
spricht auch die im ersten Kapitel gegebene Darlegung aus
den Angaben des königlichen statistischen Bureaus über die Be-
wegung im Schuhmachergewerbe während der Jahre 1883 bis
1891: in diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Betriebe absolut,
wenn auch nicht ganz im gleichen Verhältnisse wie die Be-
völkerung weiter vermehrt, und zwar bis 1885 jährlich durch-
schnittlich um 0,5 °/o , von 1886 — 1888 durchschnittlich pro
Jahr um 1 °/o und 1889—1891 nur um 0,2 °/o. Die starke
Zahl der An- und Abmeldungen, die von 1883 — 1891 im
ganzen über ein Drittel der 1882 bestehenden Betriebe berührt,
lässt, da sie zumeist auf Besitzwecbsel beruht, auf eine Un-
ruhe im Gewerbe schliessen, die nicht eine rasche Entwicke-
lung sum Günstigen, sondern ein wechselndes Unbehagen der
kleinen Schuhmacher verrät.
Eine weitere Stütze erhält diese Mutmassung in dem
1875 — 1882 hervortretenden Wachstum der Zahl solcher Be-
triebe, die neben der Schuhmacherei noch eine andre Beschäfti-
gung, und zwar in Bayern vorwiegend Landwirtschaft, treiben.
Und nicht nur aus der Bewirtschaftung einer Landparzelle
neben der Schuhmacherei suchen mehr Personen einen Zu-
schuss zum Lebensunterhalt zu gewinnen, auch die Zahl der-
jenigen hat sich vermehrt, die aus den andern Gewerben, ferner
aus kleinen Aemtchen des Staats-, Gemeinde- und Kirchen-
dienstes einer Ergänzung ihrer kärglichen Einnahmen erzielen.
Freilich aber steigt auch die Zahl der Personen, die neben
ihrer Hauptbeschäftigung in müssigen Stunden Schuhmacherei
treiben. Sieht man nun noch weiter, dass bereits 1875 (für
1882 macht die Statistik eine solche Ausscheidung leider nicht)
von sämtlichen 11449 Gehilfenbetrieben 7682, also rund zwei
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Drittel, nur einen einzigen Gehilfen beschäftigen, 2619, etwa
ein Viertel, nur 2 Hilfskräfte, und dass die Anzahl der 3 bis
5 Gehilfen und Lehrlinge verwendenden Betriebe ganz rapide
(771 mit 3, 267 mit 4 und 120 mit 5) sinkt, so wird man
schwerlich Widerspruch erfahren, wenn man feststellt, dass
heutzutage das Handwerk in der Schuhmacherei Bayerns sich
in denkbar kleine Betriebe zersplittert hat, und zwar auf Kosten
der mittleren Werkstätten, denen die Entwickelung der Gross-
industrie am schärfsten zugesetzt hat. Die gleiche Thatsache
gilt übrigens für die Schuhmacherbevölkerung im ganzen Reich,
wenn sie auch in einzelnen Gegenden nicht so klar hervor-
tritt. : ) Dies allein aber lässt schon vermuten, dass diese
Zwergbetriebe ihren Inhabern in der Regel nur eine kümmer-
liche Existenz gewähren; es konstatiert z. B. auch ausdrücklich
das Generalsekretariat des deutschen Handelstages bereits 1881:
„Das Schuhmachergewerbe liegt in einer schweren Krisis, da
seine Weiterexistenz mit den täglich vermehrten und mit vervoll-
kommneteren Maschinen arbeitenden Schuhfabriken kämpft." 2 )
Es bedarf keines Nachweises im einzelnen, dass seit den letzten
10 — 12 Jahren hier keine Wendung zum Bessern für das Hand-
werk eingetreten ist. So bemerkt der Jahresbericht der Handels-
und Gewerbekammer von Oberbayern, wo die Schuhmacherei
zumeist im Kleinbetrieb vertreten ist, für 1892 anf S. 127:
„Die ungünstige Lage des Schuhmachergewerbes hielt im
Berichtsjahre an und gab zu lebhaften Klagen Anlass" , und
auf S. 172 wird mitgeteilt: „Die beiden Schuhmachermeister-
Innungen zu München klagen übereinstimmend über die schlimme
Lage dieses Gewerbes, die sich im Berichtsjahre noch weiter ver-
schärfte. Die Ueberproduktion der Fabriken, die Ueberschwem-
mung mit Schundware, der Hausierhandel, die Abzahlungs-
geschäfte, die Militär Werkstätten und Zuchthausarbeiten werden
als Gründe des Rückganges des Gewerbes bezeichnet. ,Wen
sollte es wundern, schreibt die Schuhmachermeister-Innung 1. d. I.,
wenn ein solches Gewerbe zu Grunde geht, wenn tausend Fa-
milien trotz Fleisses und Tüchtigkeit rückwärts kommen und
') Vergl. auch M. Schöne, a. a. 0. S. 18 u. 19.
2 ) Das deutsche Wirtschaftsjahr 1881 S. 506.
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 6
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82 —
ihren Untergang vor Augen sehen! 4 * Der Abgeordnete Biehl
hat bereits im Jahre 1886 in der bayerischen Abgeordneten-
kammer gesagt 1 ); „Gerade die Schuhmacher und Schneider
sind es, die heutzutage auf ihrem Geschäfte absolut nicht mehr
fortkommen. Gehen Sie doch den einzelnen Verhältnissen
näher und Sie werden finden, dass sich diese Leute als Chor-
diener, als Hochzeitlader, als Laternenanzünder und »lies
Mögliche ihren Unterhalt erschaffen müssen, aber durch ihr
Handwerk nicht mehr in der Lage sind, ihre Familien zu er-
nähren."
Nun kann man sich aber nicht verhehlen, dass gerade in
Bayern, wo die Ziffer der kleinsten Betriebe unter den Durch-
schnitt im Reiche sinkt, ein Teil der Ursachen dieser Lage in
dem zähen Festhalten an überlieferten Sitten liegt, wie wir es
namentlich in Altbayern finden. Wenn Frederic Eden er-
zählt 2 ), dass noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Bauer
in Hochschottland Weber, Walker, Färber, Gerber, Schuster
in einer Person war, — every man Jack of all Trades and
master of none! — , so liegt die Zeit, wo es in den vom Ver-
kehr abgelegenen Höfen des Gebirgsvorlandes ebenso zuging,
für Bayern noch gar nicht so weit hinter uns. Und noch
heute ist in den Alpengegenden, in Niederbayern und der Ober-
pfalz, aber auch in den fränkischen Kreisen, eine Art des
Schustereibetriebes üblich, die sich sonst in Deutschland, ab-
gesehen von Baden und Württemberg, wenig mehr findet 3 ).
Das ist das Arbeiten auf der Stör. Der Schuster, ebenso sein
Kollege, der Schneider, kommt als technischer Gehilfe 4 ) ins
Haus, er bringt nur seine primitiven Werkzeuge und höchstens
ein paar Zuthaten mit, den Rohstoff, das Leder oder das Tuch,
liefert der Bauer selbst. Vom mittleren Inn erzählt die „Ba-
varia u 5 ): „Alle Arbeiten der Handwerker . . . werden auf der
») 188f>. Sitzung vom 21. April, Stenogr. Ber. Band VI. Nr. 176 S. 407.
2 ) State of the poor I. 558 f.
3 ) Hiernach zu berichtigen Schöne, Schuhmacherei S. 61.
4 ) In Bezug auf die Reichsversicherungsgcset/.gebung gilt er aber
als selbständiger Gewerbetreibender (Entscheidung des württembergischen
Landes- Versicherungsamtes vom 7. Okt. 189*2).
6 ) Bavaria I. 1. Abth. S. 283.
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- 83 -
sogen. Stör besorgt." Und dies ist heute noch so wie vor
30 — 40 Jahren. Wer auf Gebirgswanderungen in Bauernhöfen
einkehrt, kann oft genug sehen, dass das Wohnzimmer in eine
Schusterwerkstätte umgewandelt ist. Von einem bayerischen
Bezirksamt aus unsern Alpen liegen mir hierüber genauere
Daten vor.
Der räumlich grosse Distrikt ist schwach bevölkert und
zerstreut besiedelt; von den 17 Gemeinden sind nur einige
grössere Ortschaften, neben geschlossenen Dörfern finden sich
sehr viel weit voneinander entfernte Einzelhöfe. Auf je
1000 Einwohner kommen fünf Schuhmachermeister, was wenig
hinter der Durchschnittsziffer des Königreiches zurückbleibt.
Hier ist die Störarbeit noch sehr im Schwange. Bei den
Arbeitskontrakten der Knechte und Mägde ist es üblich, neben
dem Lohn und der Kost auch die Verabreichung eines Ge-
wandes, sowie 1—2 Paar Schuhe im Jahre zu bedingen. Mit
der Verdrängung der Verpflichtung der Dienstboten auf ein
Jahr durch die wöchentliche Löhnung kommt zwar diese Sitte
in Abnahme, hält sich aber doch noch in den besseren Bauern-
wirtschaften , die auf tüchtige und ständige Dienstboten viel
treben. Selbstverständlich wird in erster Linie der Schuhbedarf
des Eigentümers und seiner Familie durch die Störarbeit gedeckt.
Das nötige Leder tauscht der Bauer vom Landgerber gegen
Lohrinde ein. Die Arbeitszeit auf der Stör ist von 5 Uhr früh
bis 7 Uhr abends, der selbständige Schuhmacher erhält, je
nachdem er allein oder mit Gehilfen kommt, 1 ^2 — 3 Mark
täglich Lohn in bar, ausserdem die Kost; es wird etwas besser
gekocht als gewöhnlich und vormittags wie nachmittags je eine
Mass Bier verabreicht. Der Gehilfe bekommt vom Meister
wöchentlich o Mark Lohn und die Kost. Auf den Jahrmärkten
der beiden grösseren Orte dieses Bezirks sieht man nicht wie
im Flachland Stände mit meist ziemlich ordinären Schuhen
und Stiefeln, es fehlt offenbar an Absatz für fertige Ware.
Die Verhältnisse des Gebirges erfordern garantirt solides Schuh-
werk, und diese Gewähr glaubt der Bauer in der Herstellung
auf der Stör zu finden, wo unter seinen Augen aus dem von
ihm selbst gelieferten Leder die Stiefel gefertigt werden. Aehnlich
wie in diesem alpinen Bezirksamt Bayerns, dem die Ver-
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— 84 —
hältnisse meistenteils in unsern Gebirgsgegenden gleichen werden,
wird auch auf dem platten Lande Oberfrankens der Schuh-
bedarf gedeckt. Auch dort ist es Sitte, dass der Bauer, auch
der wohlhabende Bauer, seine Stiefel und Schuhe nicht fertig
kauft und auch nicht beim Schuhmacher auf feste Rechnung
bestellt; der Bauer kauft beim Gerber oder Lederhändler in
der Stadt das Leder eigenhändig ein und lässt dann den Orts-
schuster in sein Haus kommen zur Anfertigung der Schuhe
und Stiefel für sich, seine Familie und sein Gesinde. Der
Schuster bekommt Essen und Trinken im Hause des Bauern
und ausserdem einen kleinen Geldlohn pro Tag oder, was
bemerkenswert ist, pro Paar fertiger Schuhe, deren Herstellung
als eine gute Tagesleistung gilt. Die Sitte, „auf der Stör"
arbeiten zu lassen, ist also, nach diesen beiden, aus ganz ver-
schiedenen Teilen des Landes stammenden Beispielen zu
schliessen, viel mehr in Bayern verbreitet, als bisweilen an-
genommen wird.
Geradezu eine über das ganze Land fast gleichmässig ver-
teilte Besonderheit des bayerischen Schuh macherhandwerks ist
aber die ganz ausserordentlich häufige Verbindung mit dem
Betriebe der Landwirtschaft. Früher erblickte man in dieser
damals bei den meisten Gewerben üblichen Vereinigung, für
welche sowohl die Kleinheit des lokalen Marktes wie die Natur
des Landbaues förderlich waren, unter allen Umständen einen
nicht genug zu rühmenden Segen; ein ebenso gründlicher wie
einsichtsvoller Kenner von Land und Leuten Bayerns, Ignaz
v. Rudhart, schreibt aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts :
„In Bayern sind die Gewerbetreibenden nicht in grossen Fabrik-
häusern, nicht in Städten zusammengepfercht, sondern über
Städte, Märkte und das Land verbreitet, was nicht nur den Vor-
teil gewährt, dass die Gewerbe der Landwirtschaft nähergelegt
sind, sondern auch die Industrie besser gepflegt und den Gewerbe-
treibenden ein selbständiges, sorgenfreies Leben gegönnt ist . . .
Ein solcher Gewerbsmann bringt es zwar selten zu grossem, glän-
zendem Reichtum, aber die meisten durch Fleiss und Häuslichkeit
zur bürgerlichen Wohlhabenheit. Die Verbindung des Grund-
besitzes mit den Gewerben erleichtert ihm seine Subsistenz. Er
geniesst das Glück, am eigenen Herde sein Herr und Familien -
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- 85 —
vater zu sein 44 etc. 1 ) So willig wir auch heute noch manche
soziale Vorzüge dieses Idylls anerkennen, so darf man doch
die bei steigender Technik und geänderter Produktionsart immer
schärfer sich zeigende Kehrseite nicht übersehen, die aufweist,
dass die Intensität des Betriebes weder in dem einen noch im
andern Berufszweige von solcher Verkuppelung eine Förderung
zu erwarten hat, sondern in veralteten Schablonen zurück-
bleibt, konkurrenzunfähig und wirtschaftlich untauglich wird.
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass wir in Bayern
nicht in manchen Ortschaften des flachen Landes Handwerks-
meister haben, die in der Schuhmacherei ganz Vorzügliches
leisten. In der Kegel aber genügen die Landschuhmacher
technisch nur geringen Anforderungen.
Was nun die Schuhmacherei speziell anbetrifft, so hat sich
die alte Gewohnheit hier sehr mächtig erwiesen. Im König-
reich Preussen waren 1875 nur (>,4 % aller Betriebe mit Land-
wirtschaft verbunden, im Königreich Sachsen noch weniger,
in Bayern aber 34 n ;o. Und die Aufnahme von 1882 weist noch
eine Zunahme auf, die allerdings in den Nebenbetrieben teil-
weise aus einer Aenderung der Zählungsmethode herrührt.
Jedenfalls geht aber aus den Ziffern von diesem Jahre das auch
für die Gegenwart gültige Resultat hervor, dass auf dem Lande
in der Regel die Schuhmacherei im Hauptbetrieb allein ihren
Mann nicht nährt, sondern eine Zubusse aus der Feldbestellung
nötig macht. Ueber die Verhältnisse 1882 gibt folgende Ueber-
sicht Aufschluss:
I. Schuhmacherei als Hauptberuf:
1. Selbständige Betriebsinhaber
von 29 004 trieben U 326 Landwirtsch. selbständig u. 553 als Tagl.
2. Selbständige Hausarbeiter
von 1609 trieben 397 Landwirtlisch. „ „ 53 „ ,
3. Gehilfen, Lehrlinge, Fabrikarbeiter und
erwerbstätige Familienglieder
von 20 62*3 trieben 191 Landwirtsch. , „ 1825 „ „
l ) J. v. Kudhart, Ueber die politische Stellung des Königreiches
Bayern im Jahr 1833 S. 58 f.
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— 86 —
II. Schuhmacherei als Nebenberuf:
1. Selbständige Betriebsinhaber:
3422 sind dem Hauptberuf nach Landwirte
2. Heimarbeiter 29 , „ r *
8. Gehilfen etc. 22 » ,
Somit waren 1882 von 55874 in Haupt- und Nebenberuf
Schuhmacherei treibenden Personen nicht weniger als 20818
auch gleichzeitig in der Landwirtschaft thätig, oder, wenn wir
die unter Nr. II aufgeführten als wenig erheblich beiseite
lassen, von den 48225 Schuhmachern im Hauptberuf waren
17345, das sind 3b* °/o, zugleich Landwirte, selbständige sowohl
als im Taglohn arbeitende. Zu letzteren stellen die Schuh-
machereibetriebsinhaber nur ein kleines Kontingent, ein grösseres
die Gehilfen, die begreiflicherweise nur eine geringe Anzahl
Grundeigentümer aufweisen. Dagegen ist fast die Hälfte sämt-
licher Schuhmachermeister Bayerns im Besitze von eigenem
Grund und Boden ; dieser wird in den allermeisten Fällen freilich
nur eine winzige Parzelle darstellen, die der Meister mit Hilfe
seiner Familienangehörigen in den von seinen gewerblichen
Verrichtungen nicht beanspruchten Zeiten bestellt. Könnte
man, was leider nach dem amtlichen Material nicht möglich
ist, die Zahl der Betriebe, ihrer Inhaber und Gehilfen genau
nach dem Wohnsitz in den Städten und dem flachen Lande
aussondern, so würde sich natürlich für das letztere ein noch
weit stärkerer Prozentsatz der mit Landwirtschaft verbundenen
Schuhmachereibetriebe herausstellen. Am meisten ist in dieser
Hinsicht Schwaben bedacht, dann folgen Oberpfalz, Nieder-
und Oberbayern, hierauf Unter-, Mittel- und Oberfranken,
zuletzt die Rheinpfalz, wo aber immer noch fast doppelt so viele
Schuhmacher 1875 in der Landwirtschaft thätig waren als in
Hannover, das in dieser Hinsicht obenan unter den Provinzen
Preussens steht. Förmliche Schuhmacherdörfer, wie in Galizien,
wo jeder Haus- und Grundbesitzer selbständig das Gewerbe
treibt, wie dies C. v. Paygert ausführlich schildert 1 ), hat
l ) Die soziale und wirtschaftliche Lage der galizischen Schuhmacher.
Eine Studie über Hausindustrie und Handwerk von Dr. C. v. Paygert.
Leipzig 1891.
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Bayern allerdings nicht, wenn mau nicht die von der Gross-
industrie abhängigen Ortschaften mit starker Bevölkerung von
Heimarbeitern in der südwestlichen Rheinpfalz dahin rechnen will.
Auch von den sonstigen, im Schuhmachergewerbe üblichen
Nebenbeschäftigungen wird ein Teil auf dem flachen Lande
gebräuchlich sein. Doch ist ihre Gesamtzahl ziemlich gering-
fügig: 1882 waren in Industrie und Baugewerbe 170, in Handel
und Verkehr 747, in Lohnarbeit und persönlichen Dienst-
leistungen 15 und im Staats-^ Gemeinde- und Kirchendienst
408 Schuhmacher, meist selbständige Betriebsinhaber, thätig.
Noch weniger kommt wirtschaftlich in Betracht die Zahl der-
jenigen, die Schuhmacherei nur nebenher in der freien Zeit,
die ihnen ihr Hauptberuf lässt, treiben: sie betragt nur 955,
während 3473 in der Landwirtschaft thätige Personen mitunter
zur Nebenbeschäftigung Ahle und Pechdraht ergreifen.
Schon die Thatsache allein, dass in Bayern, abweichend
hierin von den meisten andren Gegenden Deutschlands, der
kleine Schuhmacher fast ausschliesslich Landwirtschaft als
Nebengewerbe treibt, um aus ihr den nötigen Zuschuss für
seine Existenz zu gewinnen, lässt es von vornherein wahr-
scheinlich sein, dass in den Städten, wo dieser Erwerbszweig
natürlich abgeschnitten ist, die Bedrängnis der Inhaber kleiner
Betriebe noch schärfer hervortritt. Zwar ist hier der Ver-
brauch an Schuhwaren nach Menge und Qualität ein erheblich
stärkerer, aber dieser Vorteil wird wettgemacht durch die grössere
Zahl der Schuhmacher in den Städten; wir haben ja gesehen,
dass auf je 10000 Einwohner der Bezirksämter 81 in unsrem
Gewerbe thätigo Personen kamen, während die unmittelbaren
Städte des Königreiches und die 11 grösseren Städte der Pfalz
unter je 10000 Köpfen 137 Schuhmacher zählten. Je kleiner
die Stadt, so kann man fast als allgemein gültige Regel auf-
stellen, desto mehr Schuhmacher überhaupt, und zwar wächst
hier die Zahl der Selbständigen und verringert sich die Zahl
der Gehilfen. Mit der Bevölkerung der Städte nimmt dagegen
die Zahl der Betriebe ab, ihr Umfang aber zu. Diese Er-
scheinung tritt in der Entwickelung unsres Gewerbes im ganzen
Lauf des Jahrhunderts hervor und ist unschwer zu erklären:
Die ursprünglich durch Zunft oder Konzession geregelten Ver-
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hältnisse in kleinen Städten bleiben auch nach Einführung der
Gewerbefreiheit in einer gewissen Stabilität, der Umschwung
in Verkehr und Technik berührt sie nur wenig, die Kon-
kurrenz treibt nicht zur Anspannung aller Kräfte, wie in den
Grossstädten, wo der untüchtige Meister seine Selbständigkeit
nicht aufrecht erhalten kann; der Zufluss von Gehilfen vom
Lande nach den Bevölkerungscentren macht sich ebenfalls
geltend. Abgesehen von den Standorten der Grossindustrie,
also in erster Linie Pirmasens und Umgegend, in zweiter
Schweinfurt, finden wir den höchsten Prozentsatz der Schuh-
macherbevölkerung in den zahlreichen kleinen unmittelbaren
Städten Frankens und Schwabens (17 — 14 Schuster auf 1000 Ein-
wohner), während München, Nürnberg, Würzburg, Augsburg
durchschnittlich nur etwa zehn Schuhmacher in der gleichen
Zahl Seelen aufweisen.
Wie sehr sich nun selbst in den grössten Orten Bayerns
die Schuhmacherei in kleine und kleinste Betriebe verzettelt,
dafür erhalten wir Anhaltspunkte aus der Statistik unsres Ge-
werbes in München und Nürnberg. Im Jahre 1882 hatte
München bei rund 230000 Bewohnern 1406 Schuhmacherei-
betriebe, in denen 2338 Personen beschäftigt waren. Davon
wurden aber mehr als 5 ,7 nur von dem Inhaber allein, ohne
Gehilfen oder Lehrling geführt, während 383 mit 384 Geschäfts-
leitern und 953 Hilfspersonen arbeiteten. Aber auch die enorme
Mehrzahl dieser Gehilfenbetriebe hatte nur einen oder zwei Hilfs-
kräfte neben dem Meister: 349 Geschäfte gehörten in die Kate-
gorie der Kleinbetriebe (bis fünf Gehilfen inkl.) und hatten
018 Gesellen und Lehrlinge, zehn Hauptbetriebe beschäftigten
23 Heimarbeiter und nur 15 arbeiteten mit 6 — 10, nur 10 mit
11 und mehr Gehilfen. Mechanische Kraft hatte damals kein
einziger Betrieb. Am Ende des Jahres 1892 war trotz der
starken Vermehrung der Bevölkerungszahl (rund 300000 Seelen)
die Summe der selbständigen Betriebe im Handwerk sogar
etwas gesunken, auf 13G9 1 ); sehr verbreitet aber hatte sich
*) Diese Angaben sind dem von der Handels- und Gewerbekammer
für Oberbayern herausgegebenen Adressbuch 1893, Anhang des von
der Polizeidirektion veranstalteten allgemeinen Adressbuchs der Stadt
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dagegen der Verkauf in fertigen Schuhwaren in Läden der
Schuhmachernleister und 25 grossen Handlungen und Nieder-
lagen; an Schuh- und Schäftefabriken bestanden 1892 in
München und nächster Umgebung 15, die meisten mit mo-
torischer Kraft, Wasser oder Dampf. Ebenso ist es in Nürn-
berg: 006 Betriebe zählen im Jahre 1882 1048 Personen; in
403 arbeitet der Meister allein in der Werkstatt, in 203 sind
auch Hilfskräfte, und zwar haben 193 Kleinbetriebe insgesamt
nur 305 Gehilfen und Lehrlinge, zwei Geschäfte haben nur
Hausindustrielle, 8 sind Grossbetriebe mit mehr als 5 Arbeitern.
Im Jahre 1892 aber giebt es in der Stadt des Hans Sachs (378
Einzelbetriebe, darunter nur etwa 12 mit je 3 — 6 Gehilfen und
80 mit 1 — 2, eingerechnet diese 92 Meister etwa 200 Betriebs-
inhaber, die zeitweise andre Meister für sich arbeiten lassen,
während die übrigen, fast 500 an der Zahl, meist Flickschuster
und Heimarbeiter sind, die zum Teil Lehrlinge haben, grössten-
teils jedoch nicht. Etwa 20 dieser Betriebe handeln zugleich
mit fertigen Schuhwaren, ausserdem aber sind noch an 30 Schub-
laden und Fabrikniederlagen vorhanden. „Als Nürnberg noch
65000 Seelen hatte, zählte es 250 Meister und 500 Gehilfen, die
sicheren Nahrungsstand hatten. Heute, wo die Stadt 150000
Einwohner hat, besitzt es nur 828 in der Schuhmacherei thätige
Personen, davon sind aber 678 »selbständige Meister 4 und nur
150 Gehilfen. Der Umschwung ist auf die inzwischen ent-
standenen Schuhwarenlager zurückzuführen, in denen das Publi-
kum billig einzukaufen gewöhnt ist. Ein Meister, der beispiels-
weise vor 20 Jahren noch 24 Gehilfen beschäftigte, hat heute
nur noch 6. In Nürnberg ist jetzt das Schuhmachergewerbe
wohl das unlohnendste und schlechtest bezahlte." (Private
Mitteilungen.)
Liegen die Verhältnisse derart in den beiden grössten
Städten des Landes, wo doch jedenfalls der Schuhwarenkonsum
entsprechend der stärkeren Kaufkraft der Bevölkerung minde-
stens nicht geringer ist als anderswo, so wird die Verzettelung
unsres Gewerbes in Zwergbetriebe in den kleineren Städten
München, entnommen; eine völlige Genauigkeit, wie sie der amtlichen
Statistik möglich ist, dürfte ihnen nicht zukommen.
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wohl noch stärker sein. Und seit den letzten 10 Jahren hat
sie allgemein zugenommen, da die rapide Entwicklung der
Grossindustrie, wie bereits erwähnt, besonders die Handwerks-
betriebe mittleren Umfangs dezimiert hat, es wird die Zahl
der grösseren Geschäfte vielleicht hie und da noch etwas ge-
wachsen sein, und wie auf dem flachen Lande, so gilt auch
für die Stadt der Satz, dass die überwiegende Mehrzahl der
selbständigen Schuhmacher, ohne Gehilfen, allein in der Werk-
statt sitzt.
Wie gestaltet sich nun die Produktion der handwerks-
mässigen Schuhmacherei in Stadt und Land? Die eine Art
des Betriebes kennen wir schon, das ist die Arbeit auf der
Stör, sie ist nur noch auf dem Lande üblich. Die zweite ist
die eigentliche Kundenschuhmacherei. Der Meister wartet, bis
er Aufträge erhält, und führt diese aus, indem er entweder den
ganzen Schuh oder Stiefel selbst herstellt oder den fertigen
Schaft kauft, ihn über den passenden Leist schlägt, dann den
Boden, Sohle und Absatz, die er selbst zurichtet, befestigt und
zuletzt sein Produkt ausputzt. Dies geschieht vorwiegend in
der Werkstatt selbst, seltener bei Sitzgesellen und Heim-
arbeitern. Neuerdings sind von Aerzten *) und Schuhmachern
löbliche Bestrebungen gemacht worden, die Schuhe genau dem
anatomischen Bau und den physiologischen Bedürfnissen des
menschlichen Fusses anzupassen; auch haben sich besondere
Spezialisten für orthopädisches Schuhwerk in grossen Städten
gebildet. Man legt grossen Wert auf Ausbildung in Fach-
kursen, Fachschulen, durch Konkurrenzen in Preisausschreiben
und Ausstellungen, und es ist nicht zu leugnen, dass diese
Bestrebungen auch gute Erfolge erzielen.
Der Kundenschuhmacher besorgt auch die Reparaturen;
') Hier sind besonders zu nennen Generalarzt Dr. Paul Starcke
n Berlin, gest. am 17. August 1885, und Prof. Hermann von Meyer
in Zürich, gest. 21. Juli 1892. — Schon vor 100 Jahren hatte der hollän-
dische Anatom Peter Kamper nachdrücklichst die Wichtigkeit der
Kenntnis von Bau und Physiologie des menschliehen Fusses für die
Schuhmacherei betont. — Von Schuhmachern sind Knöfel in Wien,
Franke in Artern, Busch in Erfurt u. a. eifrig für die Fachbildung
ihrer Kollegen eingetreten, schriftstellerisch sowohl wie praktisch.
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nebenbei aber gibt es noch zahlreiche Flickschuster, meist
herabgekommene oder wenig leistungsfähige Meister, die nur
Altarbeit liefern; ihre Zahl wächst ständig. Eine immer grössere
Ausdehnung hat die Schuhstepperei und Schäftefabrikation
auch im Kleingewerbe gewonnen. Entweder fertigt der In-
haber im Verein mit einigen Stepperinnen auf der Nähmaschine
die Schäfte im Auftrag des Schuhmachers und nach Mass,
wobei ihm das zugeschnittene Material geliefert wird, oder er
arbeitet selbständig mit eigenem Material auf Vorrat und ver-
kauft an den Meister oder an Ladenbesitzer. In der Regel
kaufen die kleinen Kundenschuhmacher ihren Bedarf an Schäften
für bessere Ware fertig ein, da sie nicht das erforderliche
Material und die nötige Uebung besitzen, diese in gleicher
Zierlichkeit herzustellen, falls sie überhaupt eine Nähmaschine
besitzen. In den feinen Kundengeschäften werden dagegen alle
Teile des Schuhes in der Werkstatt selbst gefertigt, wobei der
Meister oder ein Vorarbeiter das Leder zuschneidet, Frauen
auf der Maschine die Schäfte nähen und die männlichen Ge-
hilfen die Bodenarbeit verrichten, während die Lehrlinge, ab-
gesehen von der Verwendung in der Hausarbeit, ihre Kunst
zunächst an ordinärer Flickerei erproben müssen.
Eine Einrichtung der Neuzeit sind in den grösseren Städten
die Läden mit Schuhbedarfsartikeln, die neben Schäften und
Futter alle Fournituren, wie Nägel, Garn, Wichse, Wachs, ferner
Werkzeuge, Leisten u. s. w. führen. Auch die Ladengeschäfte
vieler Lederhändler bieten Schäfte und Schaftteile zum Ver-
kaufe aus.
Der Kundenschuhmacher leidet begreiflicherweise unter
der Unsicherheit des Geschäftsganges. Kommen die Bestellungen
nicht zahlreich genug, so dass der Betrieb nicht standig voll
beschäftigt ist, so greift der Meister zum Nebenerwerb — in
erster Linie also in Bayern ausserhalb der Städte zu landwirt-
schaftlicher Thätigkeit, oder er arbeitet auf Vorrat. Die Er-
zeugung fertiger, nicht auf ein bestimmtes Individuum zuge-
schnittener Ware ist in unserm Gewerbe sehr alt, hat aber
allerdings erst in der Neuzeit erheblich zugenommen. Der
Schuhmacher auf dem Lande übt diese Produktion geradeso wie
jener in der Stadt. Aber der Vertrieb nimmt bei beiden einen
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verschiedenen Weg. Vom Lande resp. den kleineren Orten
kommen zumeist die derben, ordinären Schuhe und Stiefel, die
wir neben der Fabrikware auf den zahlreichen Krammärkten,
Messen und Dulten sehen; entweder befährt der Schuster selbst,
vielleicht auch ein Familienmitglied diese Märkte, oder er ver-
kauft seine Ware an Händler. Der Schuhmacher in der grös-
seren Stadt aber wird seinen Vorrat vorwiegend in Läden und
Magazinen los und zwar in eigenen oder fremden. Immer
mehr wird er neben dem Handwerker auch Kaufmann, das ist
sein Nebenberuf, der täglich mehr in den Vordergrund tritt.
Erst legt er nur selbstproduzierte Schuhe ins Schaufenster, den
Verkauf führt meist die Frau oder die Tochter, neben dem
kleinen Laden ist die Werkstatt, die zugleich Wohn- und
Schlafzimmer ist. Geht das Geschäft, so rückt der Schwer-
punkt vielfach ganz vom Handwerk in den Handel, die Wünsche
und Bedürfnisse seines Publikums veranlassen ihn, zu grösserer
Auswahl auch von andern Meistern und besonders von Fabriken
hergestellte Ware sich anzuschaffen, die er billiger zu kaufen
bekommt. An zahlreichen Läden kann man jetzt lesen, dass
hier der Schuhmachermeister N. N. auch Arbeit auf Mass und
Reparaturen besorge; das Handwerk ist so sehr zurückgetreten,
dass der Betriebsinhaber sich gedrängt fühlt, seine fast ver-
gessenen Fähigkeiten besonders herauszustreichen. Hält er
aber seine Produkte nicht in eigenem Laden feil, so liefert er
für andre; die grossen Schuhmagazine , die hauptsächlich
Fabrikwaren führen, beschäftigen doch meist auch einige Ge-
werbsmeister am Ort. Die Massenerzeugung fertiger Ware
und ihr Verkauf drücken natürlich wieder auf die kleinen
Kundenschuhmacher, die immer mehr an selbständigen Be-
stellungen für Neuarbeit verlieren, so dass das bittere Wort
entstehen kann : Der Kleinmeister repariert heutzutage die zer-
rissene Fabrikware!
Alle Uebelstände des modernen Zwergbetriebes im Hand-
werk machen sich gerade in der Schuhmacherei besonders fühl-
bar *). Viele Kleinmeister haben nicht genug Kapital, um sich
') Ein trauriges Bild von den württembergischen Zuständen, daa
aber auch für Bayern durchweg zutrifft, entwirft der Jahresbericht der
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eine Nähmaschine oder verbesserte Werkzeuge zu kaufen; da
sie den Rohstoff nur in kleinen Portionen oder auf Kredit
nehmen müssen, bekommen sie vom Lederhändler leicht minder-
wertiges Material ; sie müssen, wollen sie überhaupt Bestellungen
erhalten, lange Kredite, auch an unsichere Zahler, geben.
Schliesslich sinken sie in Abhängigkeit von grösseren Geschäften
oder zu Altflickern herab, manche stehen vom Schemel auf
und ergreifen eine andre Hantierung, andre suchen Zuflucht
im Grossbetriebe 1 ), wo man jüngere gelernte Arbeiter gerne
willkommen heisst, die älteren aber nicht mehr verwenden will.
Diese Notlage der kleinen Schuhmacher wird sicher noch
zunehmen; denn wir stehen erst im Anfange der Entwickelung
der Grossindustrie. Erst seit 20 Jahren macht sich ihre Kon-
kurrenz fühlbar und nun, wo der Export sich mehr und mehr
eingeengt hat, wird der heimische Markt mit verdoppeltem
Eifer aufgesucht. Bisher war auch noch die teilweise gering-
wertige Qualität der Fabrikware ein Schutz für das Handwerk.
Je mehr aber deren Güte sich hebt und die Produktionskosten
sich verringern, desto schärfer wird der Kleinbetrieb seine Ohn-
macht empfinden. Diese Bedrängnis äussert sich zuerst in den
Städten, wo die Beschaffung fertigen Schuhzeugs in zahlreichen
und eleganten Läden bei reicher Auswahl und hilligen Preisen
Handeigkammer von Stuttgart bereits im Jahre 1884; es heisst da u. a. :
„Für die kleingewerbliche Schuhmacherei wird die Situation von Jahr
zu Jahr infolge des fortschreitenden Ueberganges des Schuhmacher-
gewerbes vom Hand- zum Maschinenbetrieb immer ungünstiger, die
mechanische Schuhfabrikation deckt sich mit Umgehung des Lederhänd-
lers grösstenteils beim Fabrikanten. Die Kundschaft andrerseits, nament-
lich aus der städtischen und weiblichen Bevölkerung, kauft beinahe aus-
schliesslich in den Magazinen des Fabrikanten selbst oder beim Zwischen-
händler, so dass das Kleingewerbe mehr und mehr auf die Landbevölke-
rung angewiesen ist. Diese aber hat wenig verfügbare Mittel und zahlt
daher sehr schleppend. Ueberall hört man Klagen über schlechten Geld-
eingang. Schuhmacher, die nach 10—12 Monaten bezahlen, werden noch
zu den guten und kreditfähigen gerechnet. Viele, die früher gute Ge-
schäfte hatten, sind zu Schuhflickern herabgesunken und können ihre
Gläubiger gar nicht mehr befriedigen."
') „Ich war früher selbst Meister und beschäftigte Leute, konnte
aber meine Familie nicht so durchbringen wie jetzt , wo ich Maschinen-
knecht bin," erklärt in einem Schuhmacherblatt ein Fabrikarbeiter.
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jedem allezeit geboten ist. Aber auch auf dem flachen Lande
ist die Notlage zu spüren. Auch hier nimmt das Begehren
nach fertiger Ware zu; der Bauer geht in die nächste Stadt
oder wartet den Markt ab. Ein Landschuster sagte mir mit
grimmigem Humor: „Wenn der Bauer Geld hat, dann kauft
er sich fertige Stiefel im Laden, wo er bar bezahlen muss;
hat er keins, so bestellt er sich ein Paar beim Schuhmacher
und bleibt's schuldig!"
Namentlich hat die Grossindustrie die Preise in starken,
billigen Arbeiterstiefeln gedrückt, von denen Eschwege, Kassel,
Backnang, Balingen, Tuttlingen, Kevlaar so haltbare Ware
liefern, dass der Schuhmacher trotz des Auftrags des Kunden
es bisweilen vorteilhafter findet, nicht selbst den Stiefel her-
zustellen, weil er das Leder nicht so gut und billig bekommt,
sondern ein annähernd passendes Paar im Magazin zu kaufen,
über den Leist zu schlagen und dem Besteller, der doch eigens
für seinen Fuss gemachte Stiefel haben will, mit einem Preis-
zuschlag zu verkaufen *). Und wie in den Alleinbetrieben, so
geht's in den kleinen Gehilfengeschäften, wo der Meister am
Schlüsse der Woche oft nicht weiss, woher das Geld nehmen,
um die Gehilfen auszuzahlen. Hier wird dann am Lohn abge-
zwackt, die Arbeitszeit verlängert, der Sonntag mit heran-
gezogen, hier blüht die Lehrlingszüchterei, damit man die selb-
ständige Existenz kümmerlich fortführen kann. Es ist richtig,
was man oft hören kann: Die Konkurrenzfähigkeit des Hand-
werks in der Schuhmacherei gegenüber der Grossindustrie be-
ruht zum Teil in der grössten Ausnutzung der Arbeitskräfte
bei niederem Lohn und langer Arbeitszeit. Dabei ist nach-
drücklichst zu betonen, dass die meisten kleinen Meister nicht
um ein Haar besser leben als ihre Gehilfen.
') Aus den Vereinigten Staaten wird im „ Schuh macher-Fachblatt"
1892 Nro. 2 von einem Mitarbeiter in Chicago der gleiche Trick be-
richtet: Die Kundenschuhmacher im Osten Nordamerikas lassen sich
nicht selten 6 Dollars für ein Paar angemessene , handgemachte Schuhe
bezahlen, geben das Mass in die Fabrik, wo sie für das Zuschneiden nach
dem Mass 25 Cents extra bezahlen. Binnen einigen Tagen bekommen
sie für 3'/ 4 Dollars ein Paar hübsch gemachte Fabrikschuhe, die nun
dem Kunden als selbstgemachte, handgenähte Schuhe für 6 Dollars über-
geben werden.
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Daneben wird es natürlich immer Betriebe geben, in denen
das Handwerk, vielleicht eine Spezialität, oder in Verbindung
mit einem Ladengeschäft, vortrefflich geht und eine Ware von
vorzüglicher Qualität geliefert wird. Aber wie im gesamten
Wirtschaftsleben eines Volkes stets und überall der Massen-
konsum die entscheidende Rolle spielt, so ändern auch in der
Schuhmacherei der Luxus und der wählerische Geschmack
wohlhabender Kunden so gut wie nichts an der Gresamtlage
des Gewerbes.
Nun hat man in wohlmeinendster Absicht vielfach den
Rat erteilt, man solle im Handwerk den Grossbetrieb mit seinen
eigenen Waffen schlagen, indem man verbesserte Werkzeuge,
Maschinen, mechanische Kraft und genossenschaftliche Ver-
einigung einführe. Es möge gestattet sein, in wenigen Worten
im Zusammenhange dieses Abschnitts noch zu erörtern, wie
weit dieser Vorschlag auf die Schuhmacherei bisher Anwendung
gefunden hat oder überhaupt Durchführung finden kann. Nicht
bloss manche Nationalökonomen, sondern auch Lehrbücher der
Schuhmacherei *) raten, die Leistungsfähigkeit der Handwerks-
betriebe auf diesem Wege zu stärken. Rodegast 2 ) empfiehlt
nicht weniger als 13 neue Werkzeuge und Hilfsmaschinen in
den Werkstätten einzuführen , und zwar 1. die wichtigste von
allen die Nähmaschine, 2. die Knopf lochmaschine, 3. die Riem-
chen-Umbiegmaschine, 4. den Nahtausreiber, 5. die Oesen- und
Hakeneinsetzmaschine, 6. die Auslochzange — diese alle für
die ^chaftarbeit. Der Bodenarbeit sollen dienen: 7. die Fleck-,
8. die Kappenstangen, 9. die Kappen- und Kederschürfmaschine,
10. der Arbeitsständer, 11. der Absatz-, 12. der Schnitt- und
13. der Risshobel. Mit Ausnahme der Näh- und Knopfloch-
maschine, von denen die erstere 120 — 150, die andre 360 M.
kostet, bewegen sich die Preise aller dieser Vorrichtungen zwi-
schen 20 und 50 M. Die Zahl der für den Handwerksbetrieb
verwendbaren Verbesserungen ist mit dieser Liste entfernt
') Solche Handbücher sind z. B. : H. A. Schneider, Moderne
Schuhfabrikation, Weimar 1877; Knöfel, Lehrbuch der Fussbekleidungs-
kunst. Leipzig 1879; Rodegast,' Die Fussbekleidungskunst, 1888;
Franke, Die Schuhmacherei. Artern 1887.
2 ) A. a. O. S. 161—165.
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nicht erschöpft; es gibt da Einfassmaschinen, Locheisennadeln,
Faltenerzeuger für Stulpenstiefel, Walkmaschinen, Kantenhobel,
Uinbugmaschinen , Aufpapp- und Bügelmaschinen, Nähappa-
rate etc. etc. — die Menge dieser Vorrichtungen ist Legion
und täglich werden neue konstruiert und angepriesen. —
Sicherlich würde auch der Kleinbetrieb von manchen dieser
Werkzeuge wesentliche Vorteile haben, obwohl viele Meister
selbst diese geringen Kosten nicht aufbringen können. Nament-
lich erscheint uns mit C. v. Paygert 1 ) die allgemeine Ein-
führung der Arbeitsständer, deren es zahlreiche Arten gibt,
sehr wünschenswert, der dem Schuhmacher ermöglicht, die
vorgebeugte Haltung bei der „Schossarbeit* mit der stehenden
zu vertauschen. Seine Wichtigkeit für die Gesundheit leuchtet
ein, wenn man bedenkt, dass man bei kranken Handwerkern
40 °/o Magenleidende, bei den Schustern speziell aber G7°,o ge-
funden hat, was dem beständigen gekrümmten Sitzen zuge-
schrieben wird. Nicht weniger leidet dabei die Lungenthätig-
keit 8 ); von 100 Schuhmachern und Schneidern sterben nach
Neumanns Untersuchungen 60 an Tuberkulose. Auch diesem
Uebel könnte die Verwendung des etwa 40 M. kostenden
Arbeitsständers steuern. Wenn aber Dr. v. Paygert meiut,
alle diese Werkzeuge sollten in keiner Schuhmacherei fehlen,
die 3 — 5 Gehilfen beschäftige, so kann man zwar diesen Wunsch
vollkommen teilen, muss aber doch gleichzeitig darauf ver-
weisen, wie äusserst gering die Zahl solcher Betriebe in Bayern
ist, nämlich noch keine 3°,o der Gesamtziffer. Selbst wenn
also alle diese Betriebe nach den Hilfsmaschinen griffen, würde
dies an der Situation der gesamten Schuhmacherei zu Gunsten
des Handwerks sehr wenig bessern.
Noch weniger würde dies der Fall sein, wenn man die
grossen Gehilfenbetriebe, in denen die Handarbeit noch vor-
herrscht, mit ähnlichen Maschinen ausstatten würde, wie sie
in den mechanischen Schuhfabriken gebräuchlich sind. Sohlen-
nähmaschinen z. B. sind hie und da im Gebrauch. Aber einer
weiteren Ausdehnung ihrer Verwendung stehen verschiedene
*) Die galizischen Schuhmacher S. 72 f.
') M. Poppert, Gewerbehygiene. Stuttgart S. 67 f.
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Gründe entgegen. Auch jetzt sind solche Maschinen noch so
teuer, dass nur bemittelte Meister sie anschaffen können *). Zu
ihrer wirksamen Ausnützung erfordern sie mechanische Kraft
und auch diese ist, trotz aller für das Kleingewerbe kon-
struierten Motoren, ziemlich kostspielig 2 ), mag Wasser, Gas,
Heissluft, Elektrizität oder Druckluft die Kraft liefern. So-
dann aber und vornehmlich muss man fragen, wo ist denn der
Handwerksbetrieb in der Schuhmacherei in Bayern, der eben
wirklicher Handwerksbetrieb noch ist und bleiben will, aber für
solche Arbeits- und Kraftmaschinen genügend Verwendung
hätte? Wo ist das Mass- und Kundengeschäft — und wenn
es selbst 25 — 30 Gehilfen und Lehrlinge beschäftigte, die täg-
lich 20 — 25 Paar Stiefeln fertigen — das wirklich Vorteil von
einer Sohlennähmaschine, von einer Absatzpresse etc. hätte,
die jenes Quantum Ware in einer halben Stunde fertig stellen
und dann müssig stehen a ) ? Um die kostbaren Maschinen aus-
') Die 1870 noch 4000 M. kostende Mc Kay-Maschine wird jetzt
zwar von sächsischen Fabrikanten um 600 M. geliefert, von Amerika
oder England bezogen kostet sie 11—1200 M., für die meisten Schuh-
macher ganz unerschwingliche Summen.
-) Z. B. eine in Fürstenfeldbruck, unweit München, 1892 mit Be-
nutzung billiger Wasserkraft ins Leben gerufene elektrische Anlage für
Beleuchtung und Kraft, die sehr gerühmt wird, fordert für 1 Pferdekraft
eine Jahresmiete von 360 M. {Vortrag im polytechn. Verein München
am 7. Nov. 1892.) Ein Gasmotor von V* Pferdekraft erheischt 775 M.
Anschaffungskosten, von V- Pferdekraft 1365 M. ; bei billigstem Gaspreis
von 10 Pfg. pro Kubikmeter würden sich für letztere Maschine die Be-
triebskosten (samt Verzinsung und Amortisation) bei 3000 Arbeitsstunden
jährlich auf 394 M. stellen. Für Druckluftmotoren von 1 2 Pferdekraft
berechnet die Firma A. Riedinger u. Comp, bei 3000 Arbeitsstunden
jährlich im Pauschalabschluss 300 M., für eine gewöhnliche Nähmaschine
90 M. (Näheres siehe im „Journal für Gasbeleuchtung und Wasser-
versorgung'. Jahrg. 1891 S. 369 ff. und 495 ff.)
8 ) Thatsächlich gibt es meines Wissens in der Schuhmacherei
Bayerns keinen eigentlichen Handwerksbetrieb, der mechanische Kraft
verwendete, während für andre Gewerbe dies ziemlich häufig der Fall
ist. Ein mir von der Direktion der Gasgesellschaft in München zur Ver-
fügung gestelltes Verzeichnis der bis 30. Juni 1892 im Betriebe befind-
lichen Gasmotoren für gewerbliche Zwecke in München weist 220 An-
lagen mit 236 Motoren und 853* 4 Pferdekräften und einen Gasverbrauch
von 706 323 cbm im Jahre 1891,92 auf. Es sind in der Liste 34 ver-
Francke, !>ift Sohuhmaolieni in Bayern. 7
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zunützen, würde der Meister ganz sicher seine Produktions-
weise ändern, er würde die Werkstatt in eine Fabrik um-
wandeln, nicht die geschickte Hand des Schuhmachers und
nicht die individuelle Anpassung an die Wünsche des Kunden,
sondern die rastlose Arbeit der Maschine und die Massen-
produktion würden die Hauptsache werden. Wir hätten einen
Handwerksbetrieb weniger, eine mechanische Schuhfabrik
mehr — ein Entwickelungsgang , der ja in unserm Gewerbe
sehr häufig ist. Oder aber es müssten sich mehrere Meister
zu einem genossenschaftlichen Betriebe vereinigen, um die ge-
meinsam beschafften Maschinen auszunützen. Denkbar wäre
dies in einzelnen grossen Städten ja, wenn es auch bisher in
Bayern nicht praktisch erprobt worden ist. In jedem Falle
aber, auch in dem letzteren, würde der kapitalkräftigere, mit
Maschinen arbeitende Meister eben doch nur eine vereinzelte
Erscheinung bleiben, und die Notlage der zahlreichen Zwerg-
betriebe in Stadt und Land, der eigentlichen Handwerker, die
von früh bis tief in die Nacht in dumpfer Werkstatt über die
Arbeit gebückt sitzen, nur noch vermehren. Denn er wäre
gezwungen, den Kreis seiner Kunden und Abnehmer zu er-
weitern und mit billigen Preisen seine kleinen Kollegen zu
drücken. Wirksam wäre freilich diesen Zuständen Abhilfe zu
schaffen, wenn der Verbrauch an Schuhwaren in Deutschland
namhaft zunähme! In der That ist dieser zur Zeit noch ziem-
lich gering und wir fürchten, es wird auch noch lange dauern,
bis die Steigerung der Nachfrage der Produktionsfähigkeit in
der modernen Schuhmacherei entspricht. Bis aber die grossen
Massen jenen Anteil am Volkseinkommen haben, der ihnen
erheblich mehr Aufwand für Schuhzeug gestattet als jetzt, bis
dahin wird der Sieg der Grossindustrie über das Handwerk in
der Schuhmacherei vollständig auch bei uns entschieden sein.
schiedene Gewerbe und Anstalten, darunter auch Bäckereien, Metzgereien,
Schneidereien aufgeführt, aber keine einzige Schuhmacherei. Die andern
Kraftmotoren kommen aber für unser Gewerbe hier noch weniger in
Betracht
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VII.
Die Hausindustrie.
Eine eigentliche Hausindustrie ist in der Schuhmacherei
verhältnismässig erst jungen Datums. Und zwar trifft dies
besonders für Bayern zu. In anderen Ländern, wie im König-
reich Sachsen der Marktflecken Groitzsch, der den Ursprung
seiner Schuhwarenmanufaktur romantisch genug auf die Kreuz-
züge zurückführt *), in der preussischen Provinz Sachsen die
Gegend von Erfurt, in der Mark dann die altberühmte Schuster-
stadt Kalau, in Württemberg im Schwarzwaldkreis, in Oester-
reichisch-Galizien das Schuh macherdorf Uhnow, von dem uns
C. v. Paygert eine lebensvolle Beschreibung gegeben hat 2 ),
besteht schon seit längerer Zeit eine ausgebreitete Marktschuh-
macherei, die eine allmählich sich vom handwerksmässigen Be-
triebe absondernde Heimarbeit begünstigt. Denn anstatt mit
den eigenen Produkten selber den Markt zu befahren, Zeit zu
versäumen und ein geschäftliches Risiko zu wagen, überliess
der kleine Meister mit der Ausbreitung und Verdichtung des
Verkehrs diese Aufgabe des Vertriebs besonderen Händlern,
die allmählich dann auch dazu übergingen, dem Schuhmacher
das Rohmaterial, Leder und Zuthaten zu liefern, so dass er
aus dem Gewerbetreibenden sich in einen Hausindustriellen ver-
*) Es wird dort die Legende gepflegt, ein abenteuernder Schuster-
gesell sei in der Zeit der Kreuzzüge nach dem Orient gekommen, dort
in Gefangenschaft geraten und zur Arbeit angehalten worden. Da habe
er Fabrikation und Verwendung des Saffianleders kennen gelernt und
diese nach seiner, von Fährlichkeiten mancher Art verzögerten Rückkehr
in die Heimat in Groitzsch den Freunden vom Handwerk mitgeteilt.
3 ) In den „ Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen"
O. Schmollers, Band XI Heft 1.
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— 100 —
wandelte, der mit Weib und Kind, aber meist ohne weitere
Gehilfen nicht mehr für eigene Rechnung, sondern für die
eines Verlegers arbeitete. In Bayern ist die einen derartigen
Umbildungsprozess begünstigende Marktschuhmacherei in irgend-
wie massgebender Bedeutung nicht vorhanden; von der Rhön
wird allerdings ebenso wie aus Oberfranken berichtet, dass dort
eine Hausindustrie der Marktschuhmacherei sich höchst kümmer-
lich hält, aber doch nur in minimalem Umfange.
Gleichwohl aber haben wir eine starke Hausindustrie in
der Schuhmacherei und zwar im Anschluss und aus Anlass der
Entstehung und Entwicklung der mechanischen Schuhwaren-
industrie. Es hat sich da eine Art rückläufiger Bewegung
eingestellt: während sonst im allgemeinen die Heimarbeit und
das Verlagssystem der Fabrik vorausgeht und von dieser ver-
drängt und aufgesogen wird, ruft in der Schuhmacherei gerade
der Grossbetrieb die Hausindustrie erst ins Leben. Das hängt
aufs innigste mit dem Wesen der Maschinenarbeit in unserem
Gewerbe zusammen, die nicht nur zur Bedienung und Aushilfe
in einzelnen Operationen des Herstellungsprozesses, sondern für
ganze Teile der Erzeugung von Schuhwaren des selbständigen
Eingreifens der menschlichen Hand entweder nicht bezw. noch
nicht entbehren kann, weil die mechanische Fabrikation diese
und jene Teilarbeit gar nicht oder nur unvollkommen herstellt,
oder nicht entbehren will, weil bei Handarbeit die Produktions-
kosten zur Zeit bei uns sich noch niedriger stellen. Ein Wort
von nicht zu verkennendem Gewicht spricht seit einigen Jahren
unsere neue Versicherungsgesetzgebung bei Ausbildung der
Heimarbeit mit: für den in seiner Fabrik stehenden Arbeiter
muss der Unternehmer Beiträge zahlen, für den von ihm be-
schäftigten Hausiudustriellen braucht er es nicht, der gilt recht-
lich als „ selbständiger Betriebsinhaber K , so abhängig er that-
sächlich auch sein mag. Dieser Umstand bewirkt u. A., dass
z. B. in Pirmasens mindestens ebensoviele Heimarbeiter von
den Fabrikanten benützt werden als Fabrikarbeiter.
So haben wir im 3. und 4. Abschnitt gesehen, dass in
Pirmasenz bis zu Ende der fünfziger Jahre trotz der grossen
Anzahl von Schuhmachern und der ganz stattlichen Waren-
mengen die Art des Betriebes durch etwa 70 Jahre hindurch
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101 —
in denselben Bahnen geblieben war; erst gelegentlicher oder
notgedrungener Hausfleiss, dann eine Unmasse kleiner Meister
erzeugten und vertrieben ihre Produkte auf eigene Rechnung.
Sofort aber mit der Einführung mechanischer Fabrikation und
kaufmännischer Geschäftsgebarung entwickelte sich eine Haus-
industrie, die zu Anfang der sechziger Jahre beginnt, sich all-
mählich ausbreitet, die umliegenden Dörfer ergreift und, gleichen
Schritt mit der Entwicklung des Fabriken wesens haltend, dort
jetzt auf einen Umkreis von 4 — 6 Stunden um Pirmasens und
in der Stadt selbst Tausenden von Menschen Beschäftigung
gibt. Noch für das Jahr 1882 hatte die Berufszählung vom
5. Juni ds. Js. an „Selbständigen, die zu Hause auf fremde
Rechnung arbeiten", im ganzen Königreich nur 1660 und unter
diesen nur 125 Frauen gezählt; davon waren ohne Nebenberuf
1205, von den 464 mit Nebenberufen trieben 450 Landwirt-
schaft, zumeist selbständig, nur 53 als Taglöhner. Die Zahl
ihrer Angehörigen ohne Erwerbsthätigkeit in der Schuhmacherei
betrug im Alter über 14 Jahre 10 Personen männlichen und
1166 weiblichen Geschlechts, im Alter unter 14 Jahren 1302
und 1278, zusammen also 3756. Die Gesamtzahl der Er-
werbstätigen, Dienenden und Angehörigen, die von der Schuh-
macherhausarbeit ihren Lebensunterhalt ganz oder vorzugsweise
bezogen, belief sich 1882 auf 5457 Personen. Dazu kamen
41 Hausindustrielle, im Nebenberuf als Schuhmacher Thätige,
von denen 29 ihrem Hauptberuf nach Landwirte waren. Die
ganz überwiegende Mehrzahl der Hausindustriellen kam auf
die Rheinpfalz, die Provinzen des rechtsrheinischen Bayerns
wiesen Heimarbeiter nur ganz sporadisch auf 1 ).
Diese statistischen Angaben sind heute völlig veraltet,
eine neue Aufnahme der Gewerbe würde ein sowohl nach der
Zahl der Hausindustriellen wie nach dem Wachstum ihrer
Standorte gänzlich verändertes Bild geben. Man kann sagen:
Wo eine wirklich leistungsfähige Grossindustrie in der Schuh-
macherei mit mechanischem Betriebe entstanden ist und noch
') Nach der Gewerbestatistik von 1882 waren in der Schuhmacher-
Hausindustrie in ganz Deutschland 1612 Arbeitgeber (Verleger) und
15 363 Arbeiter beschäftigt. Von den Verlegern arbeiteten 80,8 °/o mit
einer Anzahl von unter 10 Personen.
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102 -
entsteht, siedelt sich um sie herum eine mehr oder weniger
ausgebreitete Hausindustrie an. Das ist nicht nur in Pirmasens
der Fall, wenn auch hier in hervorragendstem Masse. Wir
finden Heimarbeiter überall in Bayern, wo grössere Schuhfabriken
sind, in pfälzischen Städten, wie an der nördlichen Grenze
Oberfrankens ') , in Schweinfurt und Nürnberg wie in Ober-
bayern; z. B. sind erst in den letzten Jahren in zwei Nachbar-
orten Münchens Schuhfabriken entstanden, die meist Filz- und
Hausschuhe haltbarer , aber ordinärer Qualität erzeugen, und
sofort haben sich in diesen Dörfern ganze Familien diesem
Erwerbszweige zugewandt und arbeiten für die Fabriken als
Hausindustrielle.
Wenn man indessen mit eigenen Augen sehen will, wie
eine derartige Entwickelung sich vollzieht und welchen Umfang
sie in kurzer Zeit annimmt, so muss ich wiederum, wie schon
so oft, auf Pirmasens verweisen. Nicht nur, dass sehr viele
der in den dortigen Fabriken beschäftigten Arbeiter, ganz vor-
zugsweise die Stepperinnen, nach Schluss der Arbeitszeit in
der Fabrik noch stundenlang bis tief in die Nacht hinein an
der eigenen Nähmaschine sitzen, um für Rechnung des Fabri-
kanten nach Hause mitgenommene Arbeit anzufertigen, es
werden auch ganze Teiloperationen ausschliesslich oder doch
*) Nach amtlichen Erhebungen, die 1890 über den Personalbestand
in der Hausindustrie des Regierungsbezirkes Oberfranken vorgenommen
worden sind, beschäftigten sich dort mit Lappen- und Schuhwaren-
fabrikation 220 Heimarbeiter (Jahresbericht des Generalkomitees des
landw. Vereins in Bayern für das Jahr 1870 S. 141). Eine Aeusserung
des landwirtschaftlichen Kreiskoraitees für Oberfranken beweist, dass man
in diesen Kreisen der Hausindustrie abhold ist; es wird da gesagt: „Auf
diese Weise gehen im Laufe der Zeit der praktischen Landwirtschaft
Arbeitskräfte verloren und selbst, wenn die Hausindustrie als sozialpoli-
tisches Mittel aufgefasst wird, um durch Schaffung gewerblichen Neben-
verdienstes auf dem Lande den Zug nach den Städten zu verhindern,
werden nicht landwirtschaftliche Arbeiter oder ein Kleingütlerstand er-
halten, sondern gewerbliche Arbeiter auf dem Lande gewonnen, welche
so gut wie vollständig für die Landwirtschaft verloren sind — oder wenn
solche Arbeiter doch in Verwendung gezogen werden, zu erheblichem
Lohndruck Veranlassung geben. Vom landwirtschaftlichen Standpunkte
aus kann daher eine Förderung der Hausindustrie auf dem Lande nicht
befürwortet werden."
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— 103 -
vielfach als Heimarbeit betrieben. Ich habe dies schon bei
der Besprechung des Grossindustriebetriebes berühren müssen:
das Ausputzen des eleganten und teuren Schuhwerkes fällt
Hausindustriellen zu, ebenso vielfach das Steppen und Ausnähen,
ferner das Einfassen mit Bändern und Befestigen von Rosetten
und Zieraten, ganz besonders aber die Vereinigung der Schaft-
und der Bodenteile bei Filz- und Stoff- sowie bei Kleinkinder-
schuhen.
Diese letztere Arbeit bildet auch die wesentliche Domäne
der Hausindustrie auf dem Lande. In den Ortschaften Lem-
berg, Erlenbrunn, Hilst, Vinningen, Lehrbach, Simmten, Nieder-
simmten, ja selbst bis in die Gegend von Kaiserslautern, Zwei-
brücken, Dahn, Annweiler und Weissenburg wohnen diese
Heimarbeiter. Den südwestlichen Teil des Pfälzer Landes bilden
die Ausläufer der Vogesen ; das Terrain ist hügelig, wasserarm,
viel mit Wald bestanden, der Boden felsig oder nur mit dünner
Krume bedeckt. Hier gedeihen Ackerbau und Viehzucht
schlecht, die Leute bauen meist Kartoffeln, dann Roggen und
Hafer, wenige Handelsgewächse. Den meisten Grundbesitzern,
die überdies vorwiegend winzige Parzellen nur bewirtschaften,
weist ebenso die Not wie der Beschäftigungsmangel die haus-
industrielle Thätigkeit an, und die Pirmasenser Fabrikanten
haben von diesem Angebot fleissiger, williger und billiger
Arbeitskräfte, deren technische Geschicklichkeit für die nicht
allzu hohen Ansprüche vieler Massenprodukte bald hinreichte,
mit Eifer Gebrauch gemacht; sparten sie doch an Kapital für
die Beschaffung von Arbeitsräumen und machte sich ferner
ihre Ueberlegenheit gegenüber dieser zerstreut wohnenden und
jedes Zusammenhaltes entbehrenden hausindustriellen Bevöl-
kerung mit besonderem Nachdruck geltend ! Ihre Klagen gehen
nur dahin , dass bisweilen gerade in den Zeiten, wo der Ge-
schäftsgang am flottesten ist, die Heimarbeiter auf dem Lande
sie im Stich lassen, weil sie mit der Feldbestellung oder der
Ernte beschäftigt sind. ] ) Andrerseits darf man nicht verkennen;
') Dagegen wird in den Schriften des Vereins f. Sozialpolitik Bd. 54
S. 194 gesagt: „In der Gegend von Pirmasens verdienen Leute von 17
bis 18 Jahren schon oft (?) 18 M. und mehr die Woche beim Anfertigen
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104
dass , angesichts der gegebenen Bodenverhältnisse, die Ein-
führung der Hausindustrie in der Umgegend von Pirmasens
Tausenden von Menschen Verdienst gegeben hat, der eine
massige Steigerung der Lebenshaltung zur Folge hatte. Die
Hausarbeiter auf dem Lande sind im allgemeinen besser daran
als die in der Stadt; manche Dörfer, wo mit Ausnahme des
Pfarrers und des Lehrers, des Wirtes und einiger Bauern die
ganze Bevölkerung , 3 i — 7 /s der Bewohner , Schuhe machen,
erfreuen sich eines bescheidenen Wohlstandes, wie das Aus-
sehen der Häuser, Kirche und Schule beweist.
Der Betrieb selbst wird in folgender Weise gehandhabt:
Ein Mitglied der Familie, der Mann oder die Frau, meist aber
heranwachsende Kinder holen vom Fabrikanten, der einen
ständigen Kreis von Heimarbeitern beschäftigt, das Material,
durchweg Halbfabrikate, d. h. die fertigen Schäfte und die Boden-
teile. Diese werden in Sortimenten von je einem Dutzend
zusammengebunden und mit einem Zettel versehen, auf dem
der Name der Fabrik, des Heimarbeiters und die Warengattung
verzeichnet steht; wer den Zettel, der bei Ablieferung der
fertigen Ware als Bescheinigung dient, verliert, muss eine
Geldstrafe (50 Pf. gewöhnlich) zahlen. In Körben wird das
Material nach Hause getragen und nun arbeiten Mann und
Frau und die noch schulpflichtigen oder nicht andern Berufen
zugewandten Angehörigen, wenn sie nicht, was zumeist der
Fall ist, die lohnendere Arbeit in der Fabrik vorziehen, von
früh bis spät an der Fertigstellung der Schuhe. Es wird
durchweg nur mit der Hand gearbeitet mit Hilfe des alther-
kömmlichen Werkzeuges, ohne jede Maschine. Die Leute sind,
wie ich öfter bemerkt habe, ganz stolz auf diese primitive
Technik; „das kann die Maschine nicht machen, da ist unsere
Handarbeit doch besser*, hörte ich wiederholt sagen. Meist
näht die Frau Schaft und Boden zusammen, die Tochter hilft
ihr ; der Mann besorgt die anstrengendere Arbeit des Ausputzens.
Die Zuthaten, die sogen. Furnituren muss der Heimarbeiter
selbst liefern: Schusterpapp, Holz- und Drahtstifte, Faden,
von Schuhen — es bleiben manchmal die Felder unbebaut, während die
Söhne von Kleinbauern Schuhe anfertigen".
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— 105 —
Wachs, Tinte; ausserdem muss er der Fabrik eine Vergütung
für die Benützung der von ihr gelieferten Leisten zahlen. So
gehen ihm von seinem kargen Verdienste noch wöchentlich
30 — 50 Pf. ab. Die Arbeitsmenge, die er liefern kann,
ist sehr verschieden je nach seiner Fertigkeit und den Hilfs-
personen, aber noch mehr nach der Art des Schuhwerkes. Von
feinerer Ware liefert eine Heimarbeiterfamilie in einem langen
Arbeitstage vielleicht nur 1 Dutzend Paar, von gröberer 2 — 3
Dutzend, Kinderschuhe 1 — l 1 /* und 2 Dutzend Paar. Fast
durchweg wird „gewendete Arbeit" gemacht, d. h. Schaft und
Boden werden so zusammengenäht, dass die Innenseiten zuerst
nach aussen stehen und zuletzt gewendet werden müssen. Hat
der Arbeiter ein Quantum Ware fertig, so wird sie wieder im
Korbe zum Fabrikanten getragen und neues Material geholt. Dies
geschieht meist Mittwoch und Samstag, aber auch an andern
Tagen. Natürlich wird mit den weiten Wegen und dem Warten
auf neue Arbeit viel Zeit verbraucht; man klagt hierüber auch,
ist aber doch froh, wenn man nur überhaupt in leidlicher
Regelmässigkeit beschäftigt wird.
So ist etwa in Bayern die Organisation der Hausindustrie
der Schuhmacherei, soweit sie im Anschluss an die Gross-
industrie besteht. Je mehr sich diese aber der lediglich mecha-
nischen Fabrikation und der Herstellung besserer Ware zu-
wendet, desto mehr wird die Heimarbeit aufgesogen werden.
Dies ist in Nordamerika bereits geschehen und nach neuesten
Berichten aus England beginnt auch da dieser Prozess sich zu
vollziehen.
Aber auch das Kleingewerbe, der handwerksmässige Betrieb
der Schuhmacherei hat seine Hausindustrie, das sogen. „Sitz-
wesen " , die „ Logisarbeit a . Auch sie ist eine Schöpfung der
Neuzeit. Solange die Ordnung der Zunft, das Konzessionssystem,
die strengen Heimat- und Ehegesetze es dem Gehilfen erschwerten,
einen eigenen Hausstand zu gründen, arbeiteten die Gesellen
ausschliesslich in der Werkstatt. Das änderte sich aber,
als die Schranken fielen. „Mit dem verheirateten Gesellen
beginnt im Schuhmachergewerbe die Hausindustrie. Der beschei-
dene Verdienst in der Werkstätte reicht nicht aus zur Deckung
der Haushaltungskosten, der Gehilfe ist daher bestrebt, einen
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Nebenerwerb zu finden. Dieser bietet sich ihm dar durch Arbeit
für eigene Rechnung ; Verwandte, ein Freund oder ein Nachbar
geben ihm Aufträge. Solange er in der Werkstätte unter der
beständigen oder zeitweiligen Aufsicht des Geschäftsinhabers
arbeitet, ist er in Verlegenheit, die eigenen Kunden zu befrie-
digen, und doch reicht ihr Auftrag nicht aus, einen selbstän-
digen Betrieb zu errichten. Um aus diesem Dilemma herauszu-
kommen, wird der Geschäftsinhaber gebeten, seinen verheirateten
Arbeitern die Arbeit in deren Wohnung zu geben. Dies geschieht,
und nun wird Tag und Nacht gearbeitet, um einerseits den
Meister und andrerseits die eigenen Kunden zu befriedigen.
Ein anderer Arbeiter etabliert sich als Gewerbetreibender, doch
da sich die Kundschaft nicht im erwarteten Masse einfindet,
sieht er sich gezwungen, noch nebenbei für einen anderen
Geschäftsinhaber zu arbeiten. ... Je mehr die Vorteile, die
diese Produktionsform für sie bietet, von den Unternehmern
erkannt wurden, desto mehr wandten sie sich ihr zu. Vielfach
wurden die Werkstätten vollständig aufgegeben und alle Ge-
hilfen ausser dem Hause beschäftigt; der Gewerbetreibende
hielt sich dann nur noch einen Wochenarbeiter auf Reparaturen,
dem irgendwo im Hause ein Arbeitsplätzchen angewiesen wurde.
Häufiger wohl ist es anzutreffen, dass neben den Arbeitern in
eigener Werkstätte noch einer oder auch mehrere ausserhalb
derselben beschäftigt wurden/
Diese einem aus Fachkreisen stammenden Schriftchen 1 )
entnommene Schilderung über die Entstehung der „ Logisarbeit *
ist im wesentlichen zutreffend. Doch hat sich allmählich so-
wohl bei den Arbeitern als bei den Meistern ein Umschwung
in der Beurteilung des Sitzwesens zu dessen Ungunsten voll-
zogen. Die selbständigen Handwerker, die sich anfangs freuten,
bei der Hausarbeit an den Kosten für die Werkstatt zu sparen,
vermuten in dem Logisarbeiter einen heimlichen Konkurrenten
und Gewerbestörer, der ihrer Kontrolle entzogen ist; sie ver-
dächtigen ihn oft des „ Pfuschens Ä , des eigenmächtigen Ver-
brauchs der gelieferten Rohstoffe und der Abspenstigmachung
! ) Die Lage der deutschen Sehuhmachergehilfen. Gotha, Verlag
von Wilhelm Bock, 1890.
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— 107 —
von Kunden hinter ihrem Rücken. Klagen darüber kann man
vielfach hören und lesen. Die Gehilfen aber — und nament-
lich die organisierten Arbeiter — erblicken in dem „ Sitzwesen *
eine Gefahr für die gemeinsame Regelung von Arbeitszeit und
Lohn. Denn natürlich zieht der Logisarbeiter Frau und Kin-
der mit zur Arbeit heran, jedes Glied seiner Familie wird Pro-
duktionskraft. Es wird ohne feste Zeitbegrenzung gearbeitet,
vielleicht fangt mau morgens eine Stunde später an, als es
in der Werkstatt geschieht , dafür sitzt man des Abends um
so länger. Logisarbeit wird zwar vielfach teurer bezahlt, um
die vom Meister an der Werkstatt ersparten Kosten auszu-
gleichen — in München z. B. nach einem von der Innung 1880
vorgelegten Lohntarif 10 — 15°;o höher als die Stücklöhne, die
in der Werkstatt gezahlt werden. Gleichwohl drücken die Sitz-
gesellen auf die Löhne, weil sie an ihrer Familie billige Ar-
beitskräfte, die ganz gehörig ausgenützt werden, besitzen.
Ausserdem sagt man ihnen nach, dass sie sich technisch nicht
fortbilden, weil ihnen der Ansporn, der in gemeinsamer Arbeit
liegt, fehlt. Und ferner erweisen sie sich erfahrungsgemäss
in ihrer selbständigen Vereinsamung den Versuchen, die Ge-
hilfen korporativ zu organisieren, abgeneigt 1 ).
Uebrigens kommt diese Form der Hausindustrie, die sich
an das Kleingewerbe anschliesst, in Bayern seltener vor als in
andern Ländern, namentlich in Oesterreich, aber auch sonst in
Deutschland, wo der Meister bisweilen nur Zuschneider und
Händler und sein einziger Lehrling hauptsächlich damit be-
schäftigt ist, die Arbeit an die Sitzgesellen hinauszutragen und
wieder zu holen. Seiner Natur nach ist das Sitzwesen, um
Kundschaft zu erlangen, auf die grösseren Städte angewiesen.
') In den Gehilfenversammlungen bilden die Proteste gegen die
„Logisarbeiter" ein oft wiederkehrendes Thema. Am 15. Nov. 1886 be-
schlo8s in Wien eine Vereinigung der Gehilfen gegen das Sitzwesen vor-
zugehen, nachdem einige Tage vorher auch die Meister sich gegen das-
selbe ausgesprochen hatten. Nebenbei sei bemerkt, dass in dem Ende
März 1893 auagebrochenen Berliner Schneiderstreik, der sich namentlich
gegen die Konfektionsgeschäfte richtete, unter den Forderungen der Ge-
hilfen auch das Verlangen nach Beseitigung der Logisarbeit und Wieder-
einführung der früher üblichen Werkstattarbeit war.
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Nach der Statistik vom 5. Juni 1882 hatte aber z. B. München
nur 20 Betriebe, die 25 Heimarbeiter beschäftigten, Nürnberg
10 mit 15 Arbeitern. Und seitdem wird eine starke Zunahme
schwerlich eingetreten sein. Auch jetzt beschäftigen Hand-
werksmeister in München mit grosser und feiner Kunden-
schuhmacherei nur 1 — 2 Sitzgesellen. Man wird also im wesent-
lichen, wenn man von der Hausindustrie in der bayerischen
Schuhmacherei spricht, die in Verbindung mit der Grossindustrie
stehende Heimatarbeit meinen.
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VIII.
Die Schuhmacherei in den staatlichen Betrieben.
Gewissermassen nur als Anhang zu der in den vorher-
gehenden Erörterungen gegebenen Schilderung des modernen
Schuhmachereibetriebes mit seinen drei Hauptformen : Handwerk,
Hausindustrie, Grossindustrie, sei an dieser Stelle auch eine
kurze Darlegung über die Produktion von Schuhwaren ein-
geschaltet, die der Staat Bayern veranlasst, sei es ganz auf
seine Rechnung als Unternehmer, sei es im Verein mit Pri-
vaten. Das erstere ist in den Militär Werkstätten der Fall, das
zweite in den Strafanstalten. Aus beiden, das sei gleich be-
merkt, werden wir für Organisation und Technik der Schuh-
macherei schwerlich Neues lernen können, auch wenn der Ein-
blick in diese staatlichen Betriebe ein genauerer wäre, als er
mir verstattet wurde. Denn hier wie dort begegnen wir ähn-
lichen Formen , wie im freien Gewerbebetriebe. Doch ist es
nötig, dieses Gebiet der Schuh waren produktion nicht unbe-
rührt zu lassen, weil die Konkurrenz der staatlichen Schuh-
macherei ein stetiges Kapitel in den Klagen unsrer Gewerbe-
treibenden bildet.
Um den Betrieb in den bayerischen Militärwerkstätten
kennen zu lernen, wandte ich mich in einer Eingabe an das
königl. Kriegsministerium. Leider erhielt ich unterm 12. Fe-
bruar 1893 den ablehnenden Bescheid, „dass Veröffentlichungen
über die Organisation und den Betrieb der Militär-Schuhmacher-
werkstätten, insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang mit
den für den Fall einer Mobilmachung erforderlichen Massnahmen
nicht thunlich sind, und daher das Kriegsministerium zu seinem
Bedauern nicht in der Lage ist, Ihnen in fraglicher Richtung
nähere Information zu erteilen." Die Begründung dieses Be-
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— 110 —
scheides verbietet mir selbstverständlich jeden Versuch, diese
mangelnden Informationen nun etwa auf andern Wegen mir zu
verschaffen, und ich muss mich begnügen, darauf zu verweisen,
wie es bekannt ist, dass die deutsche Militärverwaltung immer
mehr darauf bedacht ist, den gesamten Bedarf an Stiefeln für
<3ie Armee in eigenen Werkstätten mit den Oekonomiehand-
werkern zu decken. Die Einführung von Hilfsmaschinen ist
in den Militärwerkstätten schon älteren Datums. In den bayeri-
schen Regimentsschuhmachereien finden wir zu Beginn der
$0er Jahre bereits zum grossen Teil die Anwendung von Ma-
schinen an Stelle der Handarbeit und nicht zum Schaden der
erzeugten Ware. Ich finde in Fachblättern mehrfach hervor-
gehoben, wie die bayerische Militärverwaltung sehr darauf
halte, dass der Soldat dauerhafte und bequeme Fussbekleidung
bekomme *) — bei der enormen Wichtigkeit, die gutes Schuh-
zeug für die Marschleistung des Militärs hat, nur zu begreif-
lich! Dies ist wohl auch der Hauptgrund, warum die Auf-
träge der Militärverwaltung an Innungen, Handwerksmeister,
Fabriken, die früher nicht unbeträchtlich waren, immer mehr
eingeschränkt werden, da man die Beschaffung vorzüglichen
Materials und die Herstellung eines allen Strapazen gewach-
senen Produktes selbst überwachen will. Jetzt ist, wie ich
höre, jede grössere Militärwerkstätte mit einem Maschinen-
.ap parat, namentlich Sohlennähmaschinen, ausgerüstet, durch-
aus leistungsfähig, die gefertigten Stiefel werden von Fach-
männern wegen ihrer Haltbarkeit sehr gelobt 2 ). Es wird bei
-den Regimentsschuhmachereien in geräumigen, luftigen Werk-
stätten gearbeitet ; ausser gelernten Schuhmachern werden auch
Hilfsarbeiter verwendet. Die Arbeitszeit beträgt durchschnitt-
lich 10 Stunden, der monatlich ausbezahlte Geldlohn 25 Pf.
pro Tag. Von dem Arbeiter werden etwa zwei Paar Stiefel
im Tage gefertigt. Die Verwaltung ist auch darauf bedacht,
die gewerbliche Ausbildung ihrer Arbeiter zu heben ; Zuschnei-
der von Militärwerkstätten wurden des öfteren angewiesen, die
l ) Vergl. die Schrift von Oberst Brand in Lindau: „Des deutschen
Soldaten Fuss und seine Bekleidung".
a ) Vergl. Sitzung des deutschen Reichstages vom 18. Januar 1893.
Sten. Ber. S. 574 ff.
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— 111 —
von Schuhniachervereinigungen periodisch abgehaltenen Fach-
kurse zu besuchen. Wie sehr der Betrieb der Militärschuh-
machereien neuerdings ein rein fabrikmässiger geworden ist,
erhellt aus einer Klage, die die Schuh machernieisterinnung
München 1. d. I. führt: Der Maschinenbetrieb der Militär-
werkstätten trage zur Abnahme der Zahl tüchtiger Arbeiter
bei; „wir haben die Ueberzeugung, dass die Militärwerkstätten
die grösste Schuld daran tragen. Der Schuhmacher wird, wenn
auch nicht felddiensttauglich, so doch als Oekonomiehandwerker
eingezogen; wenn nun derselbe auch die besten Anlagen zu
seinem Gewerbe bei der Einreihung besitzt und nur mehr der
Vervollständigung bedarf, so tritt er nach Ablauf seiner Militär-
zeit als schablonenmässiger Fabrikarbeiter ins private
Leben zurück, unfähig, selbständig ein Stück anfertigen zu
können 1 )." Auch die Beschwerden, dass in den Militärwerk-
stätten für private Kundschaft gearbeitet und damit dem freien
Gewerbe Konkurrenz gemacht werde, verstummen nicht, ob-
wohl das Kriegsministerium bereits in der Beratung des Mi-
litäretats für 1885/86 im Landtage 8 ) erklärt hat, dass die
Oekonomiehandwerker die fiskalischen Lokale für Civilarbeiten
nur in den dienstfreien Stunden und nur gegen Entrichtung
der hierfür festgesetzten Servicesätze benützen dürfen und über-
dies die vorgeschriebene Gewerbesteuer bezahlen müssen, so
dass sie auch nicht unter günstigeren Verhältnissen arbeiten
als die Kleinhandwerker. Anlass zu dieser Erklärung des Chefs
der Militärverwaltung hatte der aus dem Hause der Abgeord-
neten vorgebrachte Wunsch gegeben, es möge in den Oeko-
noraiewerkstätten die Arbeit für Private überhaupt verboten
werden.
Einige, wenn auch nicht sehr tiefgehende Aufschlüsse
über die Organisation der Militärschuhmacherwerkstätten im
allgemeinen gibt eine Verhandlung in der Budgetkommission
des deutschen Reichstags vom 4. Februar 1893. Bei Kapitel 26
des Militäretats, das von den Bekleidungsämtern handelt, wurde
') Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer von Oberbayern
für das Jahr 1892 S. 172.
*) Sten. Ber. der Verhandlungen der Kammer d. Abg., 18. Finanz-
periode, Band IV. Nro. 96 S. 29.
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— 112 —
von einem Abgeordneten die jetzige Organisation insofern be-
mängelt, als die Offiziere, die als Leiter und Beamte funktio-
nieren, nur zur Disposition gestellte, nicht avancierungsfähige
Offiziere seien. Es sei das erste Erfordernis für ein praktisches
Arbeiten, namentlich der grossen Schuhfabriken, dass die Werk-
stattoffiziere zu Rang und Stellung der Vorstandsoffiziere be-
fördert werden können, um die Sachkenntnis, die in der Werk-
statt erworben ist, auf die Vorstände zu übertragen. Die
Vertreter der Heeresverwaltung stimmten prinzipiell diesen
Ausführungen zu und versprachen Prüfung der gegebenen An-
regung für den nächsten Etat. Wie für das Tuch, so solle
auch für Leinensachen und Leder der Kauf für die ganze
Armee, wenn irgend thunlich, stattfinden, während bisher noch
vielfach die Regimenter einkaufen. Das Schuhwerk werde heute
schon zu zwei Dritteln von den Bekleiduiigsämtern geliefert.
Durch Einführung der Maschinen in den Bekleidungsämtern
sei die Zahl der Oekonomiehandwerker seit 1887 trotz der
Verstärkung der Armee um 25 °/o vermindert worden. Die
Lederankäufe würden nicht nur bei grossen Lieferanten ge-
macht, sondern bei Gerbervereinigungen, welche, wie in Berlin,
Magdeburg, Breslau, Hannover, der Verwaltung ihre Muster und
Preise vorführen. Da seien mitunter sechzig und mehr Ger-
bereien in einer solchen Vereinigung, so dass auch die kleineren
Betriebe berücksichtigt werden könnten. Abgeordneter Singer
(Sozialdemokrat) bekämpfte die Beschäftigung der Strafanstalten
durch die Militärverwaltung, während von andrer Seite gerade
die Beschäftigung der Strafanstalten als ein besonders glück-
licher Ausweg gegenüber den Klagen, welche vom freien Hand-
werk gegen die Konkurrenz der Strafanstalten erhoben würden,
betrachtet wurde. (Bericht der Weserzeitung vom 5. Februar
1893.) Diese für die Reichsmilitärverwaltung gültigen Mit-
teilungen werden im wesentlichen auch für die Verhältnisse in
Bayern zutreffen, und hiermit muss ich aus den oben an-
gegebenen Gründen dies Thema verlassen.
Weit stärker als über die Geschäftsbeeinträchtigung durch
die Militärwerkstätten, denen gegenüber man sich meist mit der
Einsicht ihrer Unabänderlichkeit in Resignation fügt, ertönt
fortgesetzt die Beschwerde des freien Handwerks über die
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- 113 —
systematische Konkurrenz der Schuhmacherei in den Straf-
anstalten. „Die Zuchthausarbeiten, welche durch billige Ar-
beitskräfte und Verwendung minder guten Materials im Vorteil
sind, beeinflussen das Schuhmacherhandwerk sehr ungünstig" *).
Auch in bayerischen Handelskammerberichten (im Jahresbericht
für Oberbayern 1892 werden die Zuchthausarbeiten als einer
der Hauptgründe für den Rückgang der handwerksmässigen
Schuhmacherei genannt), auf Handwerkertagen und in den
Landtagsverhandlungen spielt diese Behauptung eine oft wieder-
kehrende Rolle. Es verlohnt sich daher wohl der Mühe, der
Angelegenheit hier etwas näher zu treten.
In den Strafanstalten des Königreiches werden Gefangene
in der Schuhmacherei beschäftigt für den eigenen Bedarf der
Anstalten, für Aufträge der Heeresverwaltung, für Rechnung
von Gewerbetreibenden, für Rechnung der Anstalten zum Ver-
kaufe überhaupt, dann für Rechnung von Privaten. Die letz-
tere Kategorie kommt wegen der äusserst geringen Zahl der
für sie in Arbeit stehenden Sträflinge (in den letzten sechs
Jahren zwischen 1 und 6) gar nicht in Betracht, die Deckung
des eigenen Schuhbedarfs in den Anstalten durch Gefangene
wird niemand anfechten wollen, und wie schon bemerkt, die
Aufträge der Militärverwaltung werden vermutlich gerade in
der Schuhmacherei auch zu Gunsten eines zentralisierten Be-
triebes abnehmen. Ueberdies sind die Verwaltungen der Straf-
anstalten selbst sehr wenig entzückt, wenn sie Lieferungen für
das Heer erhalten, da das Militär als übermässig genauer und
anspruchsvoller Abnehmer gilt. Es bleibt also die Arbeit für
Rechnung von Gewerbetreibenden zu berücksichtigen als Kon-
kurrenz für das freie Gewerbe. Die alljährlich im Amtsblatt
des bayerischen Justizministeriums erfolgende Publikation einer
Uebersicht über die Beschäftigung der Häftlinge in den Straf-
anstalten gestattet, genau festzustellen, welchen Umfang nach
der Personenzahl dieser Zweig der Schuhmacherei besitzt. Ich
habe in folgender kleinen Tabelle die betreffenden Zahlen aus
*) Das deutsche Wirtschaftsjahr 1881. Nach den Jahresberichten
der Handelskammern dargestellt von dem Generalsekretariat des deut-
schen Handelstages. Berlin 1882 S. 507.
Francke, Di* Schuhmacherei in Bayern. 8
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— 1U —
den Jahrgängen des Justizministerialblattes seit 1880 ausge-
schrieben :
Am waren für Rechnung von Gewerbetreibenden in den bayer. Strafanstalten
31. Dez. beschäftigt
Lederschuhmacher
Schäftemacher
Filzschuhmacher
(nur Männer)
(Männer)
(Männex - )
(Weiber)
1880
607 (inklusive Schäftemacher u. Filzschuhmacher)
73
1881
424
162
72
1882
409
50
o t
18*3
413
37
22
1884
444
29
23
1885
411
17
21
1886
378
33
1887
465
28
33
1888
454
21
32
1889
404
20
32
14
1890
472
18
30
14
1891
354
21
29
4
1892
zur Zeit noch nicht veröffentlicht
Die Herstellung wird teils nach Art der Heimarbeit (bei
Filzschuhen), teils im Handwerk, teils auf mechanischem Wege
mit Benützung einzelner Maschinen betrieben. Die Lieferungen
erfolgen an Gewerbetreibende, die sowohl in als ausserhalb
Bayerns ihren Sitz haben. Diese Unternehmer liefern das Roh-
material, auch Halbfabrikate, wie Schäfte; sie stellen einen
Teil der Maschinen selber. Pirmasenser Fabrikanten haben schon
in den siebziger Jahren in den Strafanstalten von Kaisers-
lautern und Kaisheim arbeiten lassen ; auf der Plassenburg bei
Kulmbach fertigen, wie mir mitgeteilt wird, etwa 100 Häft-
linge Fussbekleidungsstücke für zwei grosse Schuhwarenhändler
in Würzburg und Frankfurt a. M. jahraus jahrein an; auch
das Zuchthaus in München hat teilweise mechanischen Betrieb,
wenn er sich auch zumeist auf die Verwendung von Näh-
maschinen beschränkt, und arbeitet für Münchener und Nürn-
berger Gewerbetreibende.
Aus der mitgeteilten Uebersicht folgt, dass im grossen
und ganzen, abgesehen von einzelnen Schwankungen, die Zahl
der mit Schuhmacherei für Rechnung von Gewerbetreibenden
beschäftigten Strafgefangenen seit zwölf Jahren abgenommen
hat; 1880 waren es 680, 1891 nur 408. Sehr zurückgegangen
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— 115 —
ist die früher erheblich stärkere Fabrikation von Filzschuhen;
1881 waren 234 Personen (1(52 Männer und 72 Frauen) in
den Strafanstalten in ihr verwendet, zehn Jahre später nur
noch 33, darunter 4 Frauen. Eine ebenfalls geringe wirt-
schaftliche Bedeutung haben die paar Schäftemacher. Es blei-
ben also nur die Lederschuhmacher übrig, die von Belang sein
können.
Diese sind zum Teil gelernte Schuhmacher, die eine Frei-
heitsstrafe zu verbüssen haben — und bei der tiefen Depression
unsres Gewerbes ist der Anteil der Schuhmacherbevölkerung
an der Kriminalistik nicht gering *) — , zum geringeren Teile
aber erst in der Haft „neu angesetzte" Arbeiter. Um nun
genaue Anhaltspunkte über die Tragweite ihrer Konkurrenz
mit dem freien Gewerbe zu erhalten, wäre es notwendig, so-
wohl den Prozentsatz der gelernten und der „neu angesetzten u
Arbeiter in den Strafanstalts-Schuhmachereien als auch die
Produktionskosten der Gefangenenarbeit, sowie schliesslich die
für Rechnung auswärtiger Unternehmer hergestellte Waren-
menge zu kennen. Zu diesem Zwecke reichte ich ein Gesuch
um Information bei dem königl. bayerischen Staatsministerium
der Justiz ein : leider hat dies das gleiche Schicksal einer
völligen Abweisung erfahren wie meine Eingabe an das königl.
Kriegsministerium; denn unterm 31. Mai 1803 ist mir „im
Auftrag Sr. Excellenz des Herrn Staatsministers der Justiz"
eröffnet worden, dass meinem Ansuchen „mit Rücksicht auf
das dienstliche Interesse und um der Konsequenzen willen eine
Folge nicht gegeben werden konnte". So bin ich genötigt,
mich bei nachstehenden Erörterungen, deren Lückenhaftigkeit
mir demnach nicht zur Last fallen möge, im wesentlichen auf
die wiederholten Verhandlungen des bayerischen Landtags über
die Gefängnisarbeit und auf die von Fabrikanten, die in Straf-
anstalten arbeiten lassen, bereitwilligst erteilten Auskünfte zu
beziehen.
Schuhmacher und Schneider sind diejenigen Gewerbe, die
*) Der bekannte sozialdemokratische Führer Wilh. Bock, selbst
gelernter Schuhmacher, hat diese Thatsache in einer Rede zu München
im Jahr 1835 ausdrücklich hervorgehoben.
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sich nahezu am meisten über die Konkurrenz der Strafanstalten
beschweren. In der Sitzung vom 26. Februar 1886 der bayeri-
schen Abgeordnetenkammer bemerkte der Referent des Petitions-
ausschusses, dass von den für Rechnung von Gewerbetreibenden
arbeitenden Gefangenen die Schuhmacher am schwersten zu
leiden haben; und in der Sitzung vom 29. April 1886 wieder-
holte derselbe Abgeordnete diese Behauptung. Im Jahre 1884
protestierten die Schuhmachermeister Münchens in einer Ein-
gabe an die Kammer gegen die Konkurrenz, die aus der Ge-
fängnisarbeit für das freie Gewerbe fliesse. 1886 lag dem Ab-
geordnetenhaus eine Petition des bayerischen Handwerkerbundes
des Inhalts vor: es solle der Gewerbebetrieb in den Straf-
anstalten ganz beseitigt oder doch verringert werden ; ihr hatten
sich weitere 96 gleichlautende Petitionen angeschlossen, von
denen zehn von Schuhmacherinnungen und Vereinigungen aus
allen Teilen des rechtsrheinischen Baverns herrührten. Be-
sonders eingehend aber beschäftigte sich eine am 29. April
1886 in der Zweiten Kammer gepflogene Beratung mit einer
Eingabe der Schuhmachermeisterinnung zu Amberg, welche die
Aufhebung der Schuh raacherarbeit nach Mass in der Straf-
anstalt dieser Stadt verlangte. Schon auf dem allgemeinen
Handwerkertag zu Nürnberg im September 1885 hatte ein
Redner zum Beweise, wie gering die staatliche Fürsorge für
das Handwerk sei, unter anderem behauptet, in der Strafanstalt
Amberg sei unter den 13 — 1400 Insassen ein starker Schuh-
machereibetrieb eingeführt, der für etwa 200 Privatkunden
nach Mass arbeite. Diese Angabe gab der Amberger Innung
dann Veranlassung, eine Petition einzureichen; unter beweg-
licher Klage über ihren Notstand — früher hätten sie 100 Ge-
hilfen gehabt, jetzt ständen nur 20 in Beschäftigung! — wurde
der Rückgang des Gewerbes in Amberg auf die überhand-
nehmende Bedienung von Privatkunden durch die Gefängnis-
schuhmacherei zurückgeführt. Beigefügt war dieser Petition J )
ein Verzeichnis von 76 solcher Kunden mit dem Bemerken,
diese Zahl könne man verdrei- und vervierfachen; in einem
Nachtrag vervollständigte die Innung ihr Verzeichnis auf
*) XI. Petitionsverzeichnis A 239, Budgetperiode 1885/86.
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- 117
164 Namen. Dass diese Angaben nicht unbegründet waren,
beweist der Umstand, dass nach vorläufigen Erhebungen das
Justizministerium in einem Erlass vom 13. November 1885
das Arbeiten der Strafanstalten für Private aufs strengste
untersagte. Gleichwohl beschloss der Petitionsausschuss der
Abgeordnetenkammer, dass diese Angelegenheit damit nicht
ihr Bewenden haben, sondern im Plenum zur Beratung ge-
langen solle.
Der Referent, Abgeordneter Biehl, legte in der Sitzung
vom 29. April 1886 J ) zum Beweise, wie stark die Preise der
im freien Gewerbe hergestellten Schuhwaren durch die Straf-
anstalten unterboten würden, eine Anzahl Rechnungen vor, die
von dem Amberger Gefängnis für Privatkunden ausgestellt
worden waren, und verglich damit die von ihm in Erfahrung
gebrachten Preisangaben der Schuhmachermeisterinnung Mün-
chen. Danach sollen bezahlt worden sein in
Amberg München Art des Produktes
(Strafanstalts-Schuhroacherei) (freies Gewerbe)
2 M. 10 Pf. 5 M. f. Frauenstiefeletten-Englisieren
1 „ 50 „ 3 „ „1 Paar Stiefelsohlen
3 „ 70 , 8 „ „ Herrenstiefel-Englisieren
5 , — T 10. „1 Paar Damenzeugstiefel
6 „ bis 6 M. 20 Pf. 12 „ „ 1 „ Damenled erstiefel
3 „ 75 Pf. 9 r „ 1 „ Damenhalbschuhe
2 „ 60 „ 4 r , Stiefel-Sohlen mit Fleck
5„20„ 13, „ 1 Paar Herrenhalbschuhe
6 „ 80 r 12 r i*l ]i Herrenvorschuhe.
Im Petitionsausschuss war dem Referenten eingewendet
worden, die von der Schuhmacherinnung München angegebenen,
die Amberger Gefangenenarbeiten teilweise um das Doppelte
und mehr übersteigenden Preise verstünden sich augenschein-
lich für besondere Qualitäten; anderswo, namentlich auf dem
Lande, würde erheblich billiger geliefert. In der That gab
der Referent zu, dass nach seinen Erkundigungen in den Orten
Dachau und Landau a. I. für das Englisieren eines Paares
Herrenstiefel nur 5 M. (in München 8 M., in der Strafanstalt
Amberg 3 M. 70 Pfg.) bezahlt werde; ein Paar Herrenvorschuhe
!) Stenogr. Ber. Band VI, Nro. 176 S. 403—408.
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koste hier 9 M. 50 Pf. (in München 12 M., im Araberger
Gefängnis 6 M. 80 Pf.) — die Preise in kleineren Orten
nähern sich also denen der Strafanstalts-Schuhmacherei er-
heblich.
Der Vertreter der Staatsregierung, der langjährige, im
Frühjahr 1893 verstorbene Referent für das Gefängniswesen,
Ministerialrat von Reissenbach, konstatierte in seiner Ent-
gegnung zunächst noch einmal, dass die königl. Justizverwal-
tung am 13. November 1885 der Strafanstalt Amberg die , ge-
messene Weisung" habe zugehen lassen, in der Folge für
Private keinerlei Schuhmacherwaren, und zwar weder Neu-
arbeit noch Reparaturen, herzustellen, und führte dann die
amtlichen Erhebungen vor, die allerdings die Behauptungen
der Amberger Schuhmacherinnung stark abschwächten. In der
genannten Strafanstalt würden durchschnittlich nur 30 und
etliche Gefangene mit Schuhmacherei beschäftigt; lediglich 5
von ihnen vermöchten Arbeiten zu liefern, die denen eines
mittelmässigen Gesellen gleichkämen, alle übrigen ständen auf
dem Niveau von Lehrlingen im freien Gewerbe. Diese Häft-
linge lieferten das Schuhwerk für 1300 Gefangene, sodann für
eine Reihe von Amtsgefängnissen, für 50 Beamte und Be-
dienstete mit ihren Familien, ausserdem arbeiteten sie noch
für die Militärverwaltung. Somit bliebe also wenig Zeit für
Privatkunden übrig; im Jahre 1883 sei nur für 33 Kunden
in der Stadt mit einer Einnahme von 1178 M. 58 Pf. ge-
arbeitet worden, 1884 für 35 Private mit 1245 M. 00 Pf.
Rechne man hiervon die Auslagen der Anstalt für Leder und
Zubehör ab, so verbleibe für Arbeitslohn höchstens eine Rein-
einnahme von 350 M. Auch den Preisangaben des Referenten
trat der Regierungskommissar entgegen; wolle man wirklich
vergleichbare Daten haben , so müsse man die im freien Ge-
werbe zu Amberg selbst üblichen Warenpreise mit denen der
Strafanstalt dort zusammenstellen, und da ergebe sich folgendes:
Amberg Art des Produktes
Strafanstalt freies Gewerbe
4—5 M. 5—6 M. 1 Paar Stiefel fertigen
3 M. u. mehr bis 4 M. Vorschuhen
2 M. 20 Pf. bis 3 M. 70 Pf. Frauenzeugstiefel.
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Bei diesen geringfügigen Preisunterschieden l ) komme noch
in Betracht, dass die in der Gefängnisschuhmacherei hergestellte
Arbeit durchaus nicht tadellos und nichts weniger als elegant
sei. Im Petitionsausschusse habe ihm ein Parteigenosse des
Referenten gesagt, in seiner Heimat auf dem Lande seien
höhere Preise für Schuhwaren, als sie die Amberger Straf-
anstalt fordere, nicht üblich. Für den Rückgang des freien
Schuhmachergewerbes in Amberg gebe es ganz andre Gründe:
von 18G8— 1884 sei dort die Zahl der selbständigen Meister
von 32 auf 54 gestiegen, zahlreiche Läden und Lager mit
fertigen Schuhwaren seien entstanden, die Dulten im Frühjahr
und im Herbst würden oft von 40 — 50 auswärtigen Schuh-
machern besucht. Die königl. Justizverwaltung verneine daher,
dass die Strafanstalt Amberg dem freien Schuhmachergewerbe
dieser Stadt fühlbare, geschweige denn bedrückende Kon-
kurrenz mache.
Nichtsdestoweniger Hess sich die handwerkerfreundliche
Mehrheit der Kammer der Abgeordneten durch diese Dar-
legungen der königl. Staatsregierung nicht abhalten, die Petition
gemäss dem Ausschussantrage „zur Kenntnisnahme" zu em-
pfehlen — zum Beweis, dass sie in diesem besonderen Falle
die Schlussfolgerung, zu der die Justizverwaltung auf Grund
ihrer Erhebungen gekommen war, nicht anerkenne.
Aber nicht nur bei einem speziellen Anlass, sondern im
Prinzip haben sich im Punkte der Gefängnisarbeit die königl.
bayerische Justizverwaltung und die der Handwerkerbewegung
') Weitere Mitteilungen über die in Strafanstalten üblichen Löhne
für Schuhmacherarbeiten entnehme ich Darlegungen des Regierungs-
vertretera in der Kammer der Abgeordneten, Sitzung vom 23. Jan. 1884.
Gegenüber einer Behauptung, in den Zuchthäusern würde für die An-
fertigung eines Paars Damcnstiefel 23 Pf. gezahlt, konstatierte die
Justizverwaltung: in Wahrheit stelle sich nach den dermalen geltenden
Lohntarifen der Arbeitslohn für die Herstellung eines Paars Frauenstiefel
(aus Zeug oder Leder) zum mindesten auf 80 — 00 Pf. und steige bis
1 M. .50 Pf. und 1 M. T-ü Pf. Die unteren Lohnsätze gälten nur für ganz
ordinäre Arbeit ; überhaupt sei die gesamte Arbeitsleistung, weil die ein-
zelnen Bestandteile des Stiefels, Sohlen. Schäfte, Futter, fix und fertig zu-
gerichtet vom Unternehmer geliefert und mit Zuhilfenahme der gleichfalls
von ihm gestellten Maschinen vereinigt würden, eine einfache und mässige.
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freundlich gesinnte Mehrheit der Abgeordnetenkammer längere
Jahre hindurch schroff gegenübergestanden. Einig war mau
nur darin, dass die Häftlinge systematisch zur Arbeit ange-
halten werden müssten. Ueber die Art der Beschäftigung
aber herrschte starke Meinungsverschiedenheit. Die Vertreter
der Regierung bezogen sich auf § 15 des Reichsstrafgesetz-
buches, der vorschreibt, dass die zur Zuchthausstrafe Verurteilten
arbeiten müssen und die Insassen der Gefängnisse in ange-
messener Weise beschäftigt werden können. „Die Arbeit ist
also ein Teil der Strafe, zugleich aber die wirksamste Hand-
habung bei Vollstreckung derselben. Ohne Arbeit wäre Zucht
und Ordnung in den Strafanstalten nicht aufrecht zu erhalten;
die Gefangenen würden körperlich und geistig verkommen,
wenn man sie unbeschäftigt lassen wollte; denn ohne Arbeit
gibt es weder eine Gesundheit des Leibes noch eine Gesund-
heit der Seele und des Geistes, und wie der Müssiggang der
Anfang aller Laster, in der Freiheit wie im Kerker, ist, so
ist auch die Gewöhnung an eine geregelte Thätigkeit, an an-
haltende Arbeit der erste Schritt zur Besserung. Die Arbeit,
meine Herren, zu der man die Gefangenen anzuhalten hat,
darf nicht eine rein mechanische, geisttötende sein. Wir können
in unsrem Zeitalter nicht mehr zur Tretmühle, wir können
nicht mehr zum Steinsägen, nicht mehr zu den früher einge-
führten Arbeiten zurückkehren, die den Körper siech machten
und den Geist abstumpften. Bei der rein mechanischen Arbeit
geht das rein erziehliche Moment ab. Meine Herren! Die
Arbeit, die vom Gefangenen zu fordern ist, muss ihm das Be-
wusstsein einer fruchtbringenden Thätigkeit und die Möglich-
keit gewähren, sich durch dieselbe nach der Entlassung auf
ehrliche Weise sein Brot zu verdienen .... Keine andre
Thätigkeit erfüllt aber alle Erfordernisse, die im Interesse
eines gedeihlichen Strafvollzugs gestellt werden müssen, so
vollkommen als gerade die Beschäftigung mit gewerblichen
Arbeiten. Dieselbe kann daher in den Strafanstalten niemals
ganz entbehrt werden." So der Kommissar des königt, Justiz-
ministeriums s ). Und bei derselben Gelegenheit wandte sich
*) Bayer. Abgeordnetenkammer, Sitzung vom 26. Februar 1886.
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121
der Justizminister von Fäustle gegen eine von zahlreichen
Unterschriften bedeckte Handwerkerpetition, die eine Beseiti-
gung der gewerblichen Arbeit in den Strafanstalten ersuchte,
mit den Worten, diese Petition versetze „ mindestens um ein
Jahrhundert in der Anschauung über die Gefaugenenarbeit"
zurück. „Bei den kurzzeitigen Freiheitsstrafen, welche in der
Regel erkannt werden — so fuhr der Minister fort — kehren
die Leute schon in verhältnismässig kürzerer Zeit wieder in
die Freiheit zurück. Sollen wir diese Leute in den Straf-
anstalten geistig versumpfen lassen, sollen wir sie, auf den
Besserungszweck verzichtend, zu rein mechanischen und geist-
tötenden Arbeiten zwingen und sie unfähig machen, sich, wenn
sie ihre Freiheit erlangen, durch ehrlichen Erwerb ihr Brot
zu verdienen? Und wer trägt dann den Schaden, wenn wir
hier Versäumnisse begehen? Nicht der Staat, sondern die Ge-
meinden tragen den Schaden, wenn wir die Leute in solchem
Zustande an sie zurücksenden, wie dies die Petition des Hand-
werkerbundes zur unwillkürlichen Folge haben würde
Ich leugne ja nicht, dass die Arbeit in den Strafanstalten hie
und da dem Gewerbe eine Konkurrenz bereitet. Allein das
ist eben auch eines von den notwendigen Uebeln, von denen
man in der Welt viele hinnehmen muss."
Auf der andren Seite wollte man eine derartige Argumen-
tation der Justizverwaltung durchaus nicht gelten lassen. Durch
die Konkurrenz der Strafanstaltsarbeit, so entgegneten die
Handwerker und ihre Freunde, würden die freien Gewerbe-
treibenden in doppelter Weise getroffen: einmal müssten sie
als Steuerzahler zu dem kostspieligen Unterhalt der Gefangenen
beitragen, dann aber würde ihnen noch eine in manchen Ge-
werben geradezu bedrückende Konkurrenz von den Strafanstalten
bereitet. „Es wird wohl keinem Zweifel unterliegen . . ., dass
die Preise der Zuchthausarbeit bei Festsetzung der freien Arbeit
massgebend sind," erklärte der Referent, Abgeordneter Biehl.
Es sollten nur solche Betriebszweige gewählt werden, durch
die das einheimische Handwerk so wenig als möglich geschädigt
und der Verdienst der freien Arbeiter nicht gemindert werde.
Besonders geeignet sei hier die Verwendung von Häftlingen
für Kulturarbeiten, für Zwecke der Militärverwaltung und für
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Herstellung von Halbfabrikaten. Wenn die Justizverwaltung
die Beschäftigung mit rein mechanischen Arbeiten verwerfe,
so solle man doch bedenken, dass der freie Arbeiter vor solchen
nicht zurückschrecken dürfe, wenn er leben wolle. Das sei
ein böses Stück sozialen Elends, dass es den Zuchthäuslern
besser gehe als den freien Arbeitern, deren Arbeitstag ein
viel längerer sei und deren Löhne durch die vom Zuchthause
geforderten Preise gedrückt würden. Zum Beweise wurde aber-
mals auf die Schuhmacherei Bezug genommen: „Von der Zucht-
hausverwaltung wird für ein Paar Herrenstiefel 1 M. 40 Pf.
bis 1 M. 50 Pf. verlangt; für ein Paar Damenstiefel 1 M. Der
freie Arbeiter muss, wenn er überhaupt nur einigermassen eine
erträgliche Existenz finden will, für ein Paar Herrenstiefel
3 M. und für ein Paar Damenstiefel 2 '/a M. als Normalpreise
(d. h. Löhne) verlangen. Nun ist dieser Normalpreis von den
anständigen Geschäften, die sich noch einer anständigen Kund-
schaft erfreuen, noch einzuhalten möglich, während in vielen
Geschäften die Schneider und Schuster arbeiten müssen vom
frühen Morgen bis zum späten Abend und einen derartigen
Taglohn, wie ich ihn für einen freien Arbeiter nach den
Normalpreisen fixiert habe, absolut nicht erreichen können . . .
Mit Recht können die Schneider und Schuster sich beklagen;
denn gerade diese Gewerbsarbeiten werden in den Zuchthäusern
in Masse verfertigt und gerade in diesen Gewerben ist die
Konkurrenz des Zuchthauses am allerfühlbarsten* Um diese
Missstände zu heben, wurden verschiedene Mittel vorgeschlagen
und zwar ausser der gänzlichen Beseitigung der gewerblichen
Arbeiten in den Strafanstalten weniger ' radikale Wege als da
sind: eine bessere Art der Vergebung der Zuchthausarbeit
sowohl durch Submission unter Grossindustriellen, als auch
durch Heranziehung von Handwerksmeistern als Unternehmer
mit Vermittelung der Innungen, ferner aber eine namhafte
Steigerung des Arbeitsertrages in den Strafanstalten 2 ).
*) Sitzung der bayer. Abgeordnetenkammer vom 24. Jan. 1884; aus
einer Rede des Abgeordneten Biehl.
2 ) Kin am 23. Januar 1884 in der Abgeordnetenkammer verhandelter
Antrag Ostermann verlangte Erhöhung aus dem Arbeitsverdienste der
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Die Widerlegung mancher dieser Einwände und Forde-
rungen wurde der königl. Staatsregierung nicht eben schwer.
Wenn man, so wurde geltend gemacht, stärkere Verwendung
der Sträflinge für sogen. Kulturarbeiten verlange, so stehe dem
zunächst entgegen, dass überhaupt nur bei der Hälfte der An-
stalten Gelegenheit hierzu in Grundbesitz gegeben sei; über-
dies würden jetzt schon Gefangene in Steinbrüchen, ebenso hei
grösseren Erd- und Korrektionsarbeiten beschäftigt. Unthun-
lich aber sei die Heranziehung zu Eisenbahn- und Kanalbauten,
zu Entwässerung von Mooren und zu Aufforstungsarbeiten,
weil § 16 des Reichsstrafgesetzbuches die Verwendung der Ge-
fangenen ausserhalb des Gefängnisses von ihrer Zustimmung
abhängig mache und die strenge Trennung der Häftlinge von
freien Arbeitern vorschreibe; auch die Rücksichten auf die
Disziplin, die nötige Bewachung, den Schutz der öffentlichen
Sicherheit und die hohen Kosten der Unterbringung schlössen
diesen Weg aus. Was ferner die Arbeiten für die Militär-
verwaltung anlange, so seien hier mancherlei, von Erfolg be-
gleitete Versuche gemacht worden, und es würde daher mit
den Lieferungen fortgefahren T ); indessen würden sich „mili-
tärische Ausrüstungsgegenstände, deren Anfertigung besondere
Geschicklichkeit erheischt, nach den durchschnittlichen Leistungen
der gewerblichen Arbeiter in den Strafanstalten in der Qualität,
wie sie von der Militärverwaltung beansprucht werden muss.
nicht herstellen lassen" (Sitzung vom 2l>. Februar 1880). Auch
die weitere Forderung, man solle besonders die Erzeugung von
Halbfabrikaten in den Zuchthäusern betreiben, sei vielfach
schon erfüllt, wie die Verwendung von Häftlingen bei An-
fertigung von Brillengestellen und Goldleisten bezeuge.
Aber, so ging die Beweisführung der königl. bayerischen
Justizverwaltung zu Gunsten der gewerblichen Arbeit in den
Gefängnissen weiter, wenn selbst alle diese vorgeschlagenen
Auskunftsmittel noch weit stärker herangezogen werden könnten,
Gefangenen von G3G 500 M., wie im Budget vorgesehen war, auf 1 Mil-
lion, eventuell 800 000 M.
') Die Gegenstände dieser Lieferungen weiden in dem stenogr. Be-
richt über dio Verhandlung der bayer. Abgeordnetenkammer vom 20. -Tan.
1888 einzeln aufgeführt; Schuhmaeherarbeiten sind nicht darunter.
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124 -
„so bleibt doch immerhin ein Ueberschuss, ein erklecklicher
Ueberschuss von gewerblichen Arbeitern den Strafanstalten,
die eben auch beschäftigt werden müssen, denen eine frucht-
bringende Thätigkeit zuzuweisen ist, die sie befähigt, nach
ihrer Entlassung aus der Strafanstalt das Handwerk, welches
sie in der Freiheit erlernt haben, wieder zu betreiben und da-
mit ehrlich ihr Brot zu verdienen." Alljährlich gehen Tau-
sende von gewerblichen Arbeitern als Gefangene in die Straf-
anstalten neu zu; so z. B. im Jahre 1884 waren von 5151
neu eingelieferten Häftlingen nicht weniger als 2489 eines Hand-
werks kundig, diese aber wurden nicht sämtlich, sondern nur
1967 von ihnen für Rechnung von Gewerbetreibenden ver-
wendet. Sollten nun hier die Preise und Löhne erhöht werden,
einmal um die Konkurrenz mit der freien Arbeit abzuschwächen,
sodann um durch Erhöhung des pro Kopf 90 — 100 M. be-
tragenden Arbeitsverdienstes die aus dem gemeinen Säckel
fliessenden Unterhaltskosten der Gefangenen (rund 250 M. pro
Person) herabzusetzen, so befindet man sich nach der Ansicht
des bayerischen Justizministeriums, der übrigens im Jahre 1884
der Referent, Abgeordneter Walter, beipflichtete, mit diesem
Verlangen in völliger Unkenntnis der thatsächlichen Verhält-
nisse. Es sei völlig falsch, zu meinen, als ob eine riesige
Nachfrage nach Zuchthausarbeit bestehe; im Gegenteil müsse
man froh sein, wenn man für die Strafgefangenen überhaupt
gewerbliche Arbeit erhalte. „Die Anstalts Verwaltungen klagen
seit langer Zeit über den Mangel jeglicher Konkurrenz von
Arbeitgebern. Es besteht absolut keine Nachfrage nach Ar-
beitskräften der Anstalten, die Verwaltungen müssen umgekehrt
seit geraumer Zeit die Arbeit suchen." Eingehende Erwägungen
und Erhebungen hätten ergeben, dass eine Steigerung der
Preise und Löhne nicht angängig sei. „Richtig ist ja, dass
die Preise der in den Strafanstalten angefertigten Gewerbe-
erzeugnisse und die Löhne der mit gewerblichen Arbeiten für
Unternehmer beschäftigten Gefangenen zumeist, aber keines-
wegs ausnahmslos etwas niedriger sind, als die Preise der Er-
zeugnisse der Gewerbetreibenden und die Löhne der freien
Arbeiter; allein nach den Verhältnissen, unter denen in Straf-
anstalten gearbeitet wird, ist dies nicht anders möglich.*
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Den von den Gegnern der gewerblichen Arbeit in den
Strafanstalten vorgebrachten Vorteilen der billigen Arbeit, da
die Gefangenen vom Staat erhalten werden, der Ersparnis an
Arbeitsräumen, Licht, Heizung u. s. w., die man bei grösserem
Betrieb für den Unternehmer vielleicht pro Kopf und Tag auf
80 Pfg. bis 1 M. veranschlagen kann, stellte die königl. Justiz-
verwaltung in der Sitzung vom 23. Januar 1884 folgende Nach-
teile gegenüber: das Material der gewerblichen Arbeiter in
den Strafanstalten ist schlecht, die Leute, die meist in der
Freiheit in ihrem Berufe nicht viel taugten, sind untüchtig,
unaufmerksam, leichtsinnig, sie arbeiten mit Widerwillen und
Unfleiss; nur 1 unter 12 Sträflingen steht auf der Höhe der
Leistungsfähigkeit guter freier Arbeiter. Sodann erwachsen
dem Arbeitgeber mannigfache Auslagen, die der freie Gewerbe-
treibende nicht hat. Die meisten Unternehmer lassen in An-
stalten arbeiten, die weit von ihrem Wohnorte entfernt sind.
„Nach den bestehenden Arbeitsverträgen hat der Arbeitgeber
sämtliche zu verarbeitende Stoffe und Materialien und alle Zu-
behörungen bis herunter zum Schusterpech und bis zum Näh-
faden, nicht minder auch die erforderlichen Maschinen fracht-
frei der Anstalt zu liefern und ebenso auch die Fracht für
die abgehenden fertigen Arbeiten und für alle sonstigen Sen-
dungen zu tragen." Die Unternehmer müssen ferner am Sitze
der Strafanstalt, deren Insassen sie beschäftigen, Werkführer
zur Unterweisung der Gefangenen, oder Buchhalter, Handlungs-
gehilfen zur Vermittelung des geschäftlichen Verkehrs zwischen
der Verwaltung und dem Arbeitgeber und seinen Kunden auf-
stellen und unterhalten. Die tägliche Arbeitszeit der Gefangenen
ist infolge der Unterbrechungen (Gottesdienst, Schule, Bewegung
im Freien) um mindestens ein Vierteil kürzer als der Arbeits-
tag des freien Arbeiters. Das mindert ebenfalls die Lohnhöhe.
Ueberdies ist der vereinbarte Tagelohn für jeden Gefangenen
von dem ersten Tage seiner Zuweisung zu dem betreffenden
Beschäftigungszweige an, also auch für die ganze Dauer der
Lehrzeit, in vollem Betrage zu entrichten. Nicht ohne Be-
deutung für die Kalkulierung der Löhne ist schliesslich der
Umstand, dass die Arbeitsverträge jede Haftung der Anstalt
für absichtliches oder fahrlässiges Verpfuschen von Arbeiten,
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für Verderben und Verschleudern von Arbeitsmaterial, für die
Beschädigung von Maschinen absolut ablehnen, bei dem schul-
digen Gefangenen aber wird mit Ersatzansprüchen meist nichts
zu holen sein.
Die Minderwertigkeit der Gefangenenarbeit, insbesondere
was die Schuhmacherei betrifft, betont einer unsrer ersten
bayerischen Schuhfabrikanten in einem Brief an mich folgender-
massen: „Ich lasse seit mehr denn 20 Jahren im Zuchthause
arbeiten. Im Laufe der Jahre hat sich jedoch die Qualität der
Arbeit derart verschlechtert und andrerseits diejenige in den
Fabriken durch die Maschinen so gebessert, dass ich seit ge-
raumer Zeit nur noch meine geringsten Artikel, nämlich die
sogen. Lederschlappen dort machen lasse. Die Löhne sind
6* — 10 0 /o niedriger als jene für freie Arbeiter, dagegen hat
man den Nachteil, dass die Arbeit, wie sie geliefert wird, ge-
nommen werden muss; ein grosser Teil der Lohnersparnis geht
durch minderwertige Arbeit verloren." Dass diese Angabe
richtig ist, kann ich aus eigener Wahrnehmung bezeugen; die
in Strafanstalten hergestellten Schuhwaren, die mir zu Gesichte
kamen, sind nach Qualität der Stoffe wie der Arbeit recht
geringe Produkte, allerdings dafür auch äusserst billig. Und
gerade das ist es, wonach der Konsument fragt, und was den
freien Gewerbetreibenden bedrückt, so dass ich die Ansicht
des eben erwähnten Fabrikanten, „in Bayern seien die Klagen
des Handwerks über die Konkurrenz der Gefängnisarbeit, was
<lie Schuhmacher anbetreffe, durchaus nicht gerechtfertigt,"
nicht ohne weiteres unterschreiben möchte. Denn wir geraten
hier in ein Dilemma: Wenn es auch durchaus zutrifft, dass
die Strafanstalt heutzutage die Pflicht hat, ihre Insassen zu
befähigen, nach ihrer Entlassung im erlernten Gewerbe ihren
Unterhalt zu verdienen und so der Heimatgemeinde Lasten
und dem Gefängnis Rückfällige zu ersparen, so muss doch
andrerseits betont werden, dass in einem dermassen notleidenden
Gewerbe, wie es die Schuhmacherei als Kleinbetrieb gegen-
wärtig ist, eine jede, auch durch die geringste Verschärfung
der Konkurrenz sich fühlbar machende weitere Verschlechterung
auf dem Arbeitsmarkte die Löhne noch tiefer sinken lässt;
ungenügendes Einkommen aber treibt zu Verbrechen und Ver-
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127
gehen gegen das Eigentum, und so züchten sich die Straf-
anstalten durch die in ihnen betriebene Konkurrenz mit der
freien Arbeit selbst wieder ein Kontingent neuer Insassen.
Da nun aber die königl. bayerische Justizverwaltung, trotz
aller Erklärungen ihres Wohlwollens für Handwerk und freies
Gewerbe, die sie in den Jahren 1878, 1884, 1880 und 1888
im Landtage abgegeben hat, auf dem Standpunkte beharrt,
sie könne aus den oben angegebenen Gründen die auf Rech-
nung von Unternehmern betriebene gewerbliche Arbeit in den
Strafanstalten nicht missen, werde aber nach wie vor darauf
bedacht sein, etwaige Missbräuche und Schädigungen des lokalen
Gewerbestandes zu beseitigen J ) , so ist wenigstens das Eine
zu wünschen, dass bei der Gefängnisschuhmacherei nur solche
Häftlinge verwendet werden, die in der Freiheit gelernte Schuh-
macher waren; „Lehrlinge neu ansetzen" in den Zuchthäusern
und Gefängnissen hiesse nicht nur die Konkurrenz mit dem
freien Gewerbe verschärfen, sondern auch nach ihrer Frei-
lassung den ohnehin überfüllten Arbeitsmarkt des Schuhmacher-
gewerbes noch mit untüchtigen Leuten weiter bevölkern. Die
aus der S. 114 mitgeteilten Tabelle ersichtliche Minderung
der mit Schuhmacherarbeiten in den Strafanstalten Bayerns
beschäftigten Personenzahl berechtigt zu der Annahme, dass
die königl. Justizverwaltung wenigstens dies Ziel vor Augen
habe.
') Krklärung des Justizministers in der Abgeordnetenkammer am
26. Jan. 1888, der gegenüber der Führer der bayer. Handwerker, Abge-
ordneter Biehl, konstatierte, dass seit einigen Jahren sich manches ge-
bessert habe und ihm Klagen nicht mehr zu Ohren gekommen seien.
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IX.
Produktionskosten und Preise.
Ergibt schon ein Blick in die Organisation des Betriebes,
wie bedeutend die mechanische Schuh Warenfabrikation dem
Handwerk überlegen ist, so wird dies durch eine Betrachtung
der Produktionskosten in Gross- und Kleinbetrieb noch deut-
licher. Bei einer Berechnung der Produktionskosten in der
Schuhmacherei, die wesentlich für den Stand der Verkaufs-
preise massgebend sind, kommen in Betracht: 1. Zinsen und
Amortisation der Kosten für Arbeitsräume, sowie der verwen-
deten Werkzeuge und Maschinen — also der Aufwand für
Verzinsung und Tilgung des Kapitals; 2. Kosten für Roh-
materialien und Zubehör; 3. Arbeitskosten, sowohl die an Ar-
beiter gezahlten Löhne als auch der dem Inhaber des Betriebes
für seine Mühewaltung zukommende Lohn.
Hieraus erhellt ohne weiteres, wie ausserordentlich ver-
schieden in der Wirklichkeit, selbst innerhalb eines so be-
grenzten Gebietes, wie es Bayern ist, sich die Kosten der Her-
stellung von Schuhwaren gestalten müssen. Das liegt schon
in der Natur der Dinge. Denn die Produktionsbedingungen
weisen eben eine so unendliche Mannigfaltigkeit auf, dass sie
schwerlich auch nur bei zwei Betrieben vollkommen identisch
sein werden. Nicht einmal in den primitivsten Stadien der
Schuhmacherei ist hier Uebereinstimmung zu erzielen. Schon
in der Störarbeit macht es einen Unterschied, ob der Bauer,
wie dies in dem Gebirgsvorlande Oberbayerns vielfach der Fall
ist, das Leder vom Landgerber gegen Lohrinde eintauscht,
oder ob er, wie meist in Franken, den Rohstoff mit Geld be-
zahlt; ist der Geldlohn hier und dort auch vielleicht bis auf
den Pfennig derselbe, so wird eine solche Gleichheit bei der
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129 —
gereichten Kost nie zu finden sein. Der Landschuhmacher, der
im eigenen Häuschen auf eigener Grundparzelle sitzt und zum
Teil noch in Naturalwirtschaft lebt, wird notwendigerweise die-
selbe Qualität Mannsstiefel mit andern Kosten herstellen als
der Handwerksmeister der Kleinstadt, der zur Miete wohnt und
jeden Bissen Brot kaufen muss, aber dabei eine Nähmaschine
besitzt. Und ganz unübersehbar wird die Verschiedenartigkeit
der Produktionsbedingungen und damit der Herstellungskosten,
wenn wir die lange Liste der Betriebe im Handwerk ohne und
mit Gehilfen, nur mit den einfachsten Werkzeugen oder mit
Hilfsmaschinen, in der Hausindustrie nach ihren Standorten und
in der mechanischen Schuhfabrikation betrachten, die hier in ein
paar Hofzimmern eines gewöhnlichen Hauses mit einigen Näh-
maschinen, einer Sohlenstanzpresse und einer alten Sohlennäh-
maschine arbeitet, dort in einem Riesengebäude mit hellen und
luftigen Räumen Hunderte von Arbeitern zur Bedienung höchst
sinureich konstruierter und leistungsfähiger Maschinen ver-
wendet.
Auch in der Schuhmacherei wird mit der Kleinheit der
Betriebe das Mass der Schwierigkeiten wachsen, die im Mangel
an Kapital und an Beherrschung des Marktes begründet liegen.
Im grossen und ganzen sind schlechtere Rohstoffe und unter-
geordnetere Werkzeuge, sowie Verlust geschäftlicher Vorteile,
wie Stetigkeit des Betriebes und geregelter Absatz, die Folgen.
Wer auch nur den ersten Schritt in dies gewerbliche Gebiet
hinein thut, wird sofort von allen Seiten die Bestätigung hier-
für finden, bald im klagenden Tone gegeben von den Klein-
meistern und den von ihnen in Lohn und Lebenshaltung ab-
hängigen Gehilfen, bald von der siegreichen Konkurrenz der
Grossindustrie. Der kleine Handwerksmann kann sich vor allen
Dingen den Hauptrohstoff, das Leder, gar nicht in solcher
Güte und zu solchen Preisen verschaffen, wie der Schuhfabrikant.
Die grossen, mit allen Hilfsmitteln der Technik arbeitenden
Gerbereien, die ein an Qualität und Billigkeit gleich hervor-
ragendes Produkt liefern, geben natürlich nur en gros ab. Von
ihnen bezieht also direkt nur der Grossindustrielle oder der
Lederhändler. Selbst Handwerksmeister, die mehrere Gesellen
beschäftigen, haben keinen so starken Bedarf, dass sie mit
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 9
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130
Vorteil das Leder vom Fabrikanten beziehen könnten. Sie
kaufen billiger beim Händler, der doch auch wieder seinen
Profit macht. Die Zwergbetriebe nun gar, die hauptsächlich
von Flickarbeit leben und, wenn einmal ein Kunde sich zu
ihnen verirrt, für diesen erst ein Pöstchen Leder, womöglich
noch auf Kredit kaufen, müssen eben mit dem Material vorlieb
nehmen, das ihnen der Händler verabfolgt. Und wie mit dem
Leder geht es gleicherweise auch mit den übrigen Zuthaten.
So hat von vornherein der kapitalkräftige Unternehmer schon
einen grossen Vorsprung dadurch, dass er in Masse und bar
sein Material einkauft.
Auf dem Markte aber, beim Absätze und Vertrieb der
Schuhwaren fragt der Käufer nicht, unter welchen Bedingungen
die Arbeit hergestellt worden ist, sondern er sieht allein auf
die Güte und Dauerhaftigkeit des Produktes und den Preis.
Liefert der Handbetrieb bessere Ware, so wird der Konsument
auch einen höheren Preis zahlen, aber auch nur bis zu einem
gewissen Grade 1 ). Um also konkurrieren zu können mit den
Erzeugnissen der mechanischen Schuhfabrikation, wird das
Handwerk, da es im Wettbewerb mit den Hilfsmitteln des
Kapitals unterliegt, die sonstigen Produktionskosten herab-
drücken, vornehmlich die Arbeitslöhne. Und dies geschieht in
der That bis zu einem traurigen Grade. In der Schuhmacherei
werden Löhne, sowohl Stück- wie Wochenlöhne gezahlt, bei
denen es kaum begreiflich ist, wie man dabei leben kann.
Aber auch die kleinen Meister sind oft nicht um ein Haar
besser daran, ihre Lebensführung ist um nichts höher als die
der meisten Gehilfen, höchstens dass sie noch den Kopf voll
von Sorgen haben, wie sie ihren Betrieb selbständig erhalten
') Nacli einem Streik in Nürnberg im Frühjahr 1890 stellten die
vereinigten Schuhmachermeister einen Warentarif auf; man hoffte da-
durch einmal die an die Gehilfen zugestandene Lohnerhöhung wieder
auszugleichen und sodann auch durch eine solche Vereinbarung der
Preise die Konkurrenz unter den Meistern zu beseitigen. Aber das
Mittel hatte die gegenteilige Wirkung: das Publikum antwortete auf
den Tarif, indem es noch weit lebhafter als zuvor die Schuhwarenlager
auswärtiger Fabriken in Anspruch nahm, so dass seitdem die Lage der
Meister sich noch weiter verschlechtert hat.
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131 -
können. In verschiedenen Teilen Deutschlands werden Löhne
gezahlt, die es nun allerdings ermöglichen — namentlich in
der Herstellung von Marktware — mit den Fabrikerzeugnissen
die Konkurrenz im Preise auszuhalten, wenn auch die Qualität
des Produktes darunter leidet, noch mehr freilich Leben und
Gesundheit der Arbeiter. Doch diese Fragen sollen hier nur
gestreift werden; sie werden bei der Erörterung der sozialen
und wirtschaftlichen Zustände in der bayerischen Schuhmacherei
noch zur Erörterung kommen müssen.
Im folgenden soll nun versucht werden, an typischen Bei-
spielen die Produktionskosten im Kleinbetrieb wie im Gross-
betrieb zu berechnen. Leider bin ich nicht im stände, diese
Paradigmata von dem wirklichen Leben des Gewerbes wört-
lich abzuschreiben. Denn um einen stichhaltigen Vergleich
zu erhalten, muss ich annehmen, dass unter völlig identischen
Bedingungen der äusseren Umgebung, also an Einem Orte und
zu gleicher Zeit in all den verschiedenen Betrieben auch genau
die gleiche Gattung Ware hergestellt wird, was natürlich
nirgends thatsächlich der Fall ist. Die nachstehenden Aus-
führungen und Berechnungen beruhen also auf Konstruktionen.
Ich habe mich aber bemüht, der Wirklichkeit möglichst nahe
zu kommen, indem die Zahlen für Kapitalzins und Amortisation,
Kosten für Rohstoife, Arbeitslöhne, Preise jeweils den gebräuch-
lichen entsprechen. Keineswegs verkenne ich, dass die von
mir angewendete Methode des Vergleichs der Produktionskosten
nicht einwandsfrei sei; aber sie gibt immerhin ein in den Haupt-
zügen richtiges und vor allem instruktives Schema, wie es
durch Vergleich von Lohnlisten und Preistarifen, die sich auf
ganz heterogenen Grundlagen aufbauen, nimmermehr zu er-
reichen ist. Ich führe diesen Versuch an folgenden Beispielen
durch :
1. Der Betriebsinhaber arbeitet allein ohne Hilfskraft und
ohne Maschine. Er bewohnt ein Zimmer und einen Neben-
raum und zahlt dafür 150 M. jährlich; davon kommen 100 M.,
also bei 50 Arbeitswochen 2 M. wöchentlich Miete auf das als
Werkstatt benützte Zimmer. Seine Arbeitszeit beträgt 14 Stun-
den täglich, am Sonntag fünf bis sechs Stunden. In der Woche
vermag er fünf Paar derbe lederne Männerstutzen zu fertigen,
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— 132 —
das Material dazu, Leder, Futter, Gummizüge kostet ihn, da
er es im Detail infolge Mangels an Kapital einkaufen muss,
pro Paar 4 M. 50 Pf. (2 M. 20 Pf. die Schäfte, 1 M. 60 Pf.
Sohlen und Absätze, 70 Pf. Futter etc.). Sein Wochenbudget
wird dann folgendermassen lauten:
Ausgaben: Miete 2 M. — Pf.
Feuerung und Licht — „ 50 „
Furnituren (das sind Zuthaten, wie Wachs, Faden, Holz-
und Drahtstifte, Schwärze etc.) — „ 40 „
Abnützung und Amortisation von Werkzeugen ... — „ 20 „
Rohstoffe 22 , 50 „
Einnahmen: Diesen Ausgaben steht nun einzig und allein
der Erlös aus den verkauften fünf Paar Stiefeln gegenüber.
Der Marktpreis schwankt dafür zwischen 6 und 8 M. Nehmen
wir den günstigsten Fall an, so hat er 40 M. Einnahme er-
zielt. Es bleibt ihm also ein Rest von 14 M. 40 Pf. als Lohn
seiner Wochenarbeit.
II. Ein zweiter Meister beschäftigt in seiner Werkstatt
ebenfalls keine Hilfskraft, aber er hat eine Nähmaschine, an
der seine Frau hie und da mitarbeitet. Dadurch gelingt es
ihm, bei gleicher Arbeitszeit seine wöchentliche Produktion
auf sechs Paar Stiefel von gleicher Qualität zu steigern. Seine
Wohnungsverhältnisse sind die gleichen wie die seines Kollegen
unter I; auch er muss die Rohstoffe im kleinen einkaufen.
Da er mehr Stiefel erzeugt und eine Nähmaschine benützt,
die er durch Abzahlung zum Preise von 150 M. erworben hat,
muss er sowohl für Furnituren als für Werkzeugkonto mehr
ausgeben. In der Woche bezahlt er:
Um seinen Konkurrenten, der das Paar um 8 M. verkauft,
zu drücken, schlägt er seine sechs Paar etwas niedriger los
25 M. 60 Pf.
Miete
Feuerung und Licht . .
Furnituren
Maschine und Werkzeuge
Rohstoffe
07
2 M. — Pf.
- „ 50 ,
- . 40 „
- . 70 ,
Summa 30 M. 60 Pf.
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— 133 —
und erlöst dafür 6 X 7 M. 75 Pf. = 4(3 M. 50 Pf. Es bleiben
ihm also 15 M. 90 Pf. Wochenverdienst.
III. In demselben Ort beschäftigt ein dritter Meister zwei
Gesellen; ausserdem hat er eine Nähmaschine. Er braucht
eine etwas grössere Werkstatt als seine beiden Kollegen vom
Handwerk; auch die Kosten für Werkzeuge, sowie Feuerung
und Licht erhöhen sich etwas. Dagegen fallen die Furnituren
weg für ihn, da diese herkömmlicherweise die Gehilfen selbst
stellen und des Meisters Arbeit sich im wesentlichen auf Zu-
schneiden, Schaftsteppen und Vorrichten beschränkt. Die Ge-
sellen stehen der eine im Stücklohn mit einem Durchschnitts-
verdienst von 14 M. die Woche, der andere im Wochenlohn
(5 M.) mit ganzer Kost und Logis beim Meister, was für diesen
letzteren noch weitere 7 M. ausmacht. Ich bemerke dazu, dass
diese Löhne leidliche Durchschnittsverdienste sind. Zufolge
besserer Umstände bekommt er das Rohmaterial etwas billiger,
sagen wir um 25 Pf. pro Paar. Bei gleicher Arbeitszeit wie
in den vorhergehenden Beispielen fertigen Meister und Gehilfen
in einer Woche 10 Paar Stiefel von gleicher Qualität Die
Ausgaben des Betriebsinhabers stellen sich demgemäss wie folgt:
Verkauft er seine 16 Paar Stiefel sogar zu noch etwas
billigerem Preise, als dies der zweite Meister that, nämlich
nur zu 7 M. 50 Pf., so hat er immer noch einen Gesamterlös
von 120 M., also einen Wochenverdienst von 21 M., der den
Lohn für seine eigene Arbeit, sei es die als Betriebsinhaber,
sei es die als Mitarbeiter geleistete, darstellt.
IV. Das Geschäft, das wir jetzt betrachten wollen, ist ein
grösserer Gehilfenbetrieb, der fünf Gesellen, einen Lehrling,
zwei Nähmaschinen neuester Konstruktion und verschiedene
verbesserte Werkzeuge und Hilfsmaschinen hat, aber noch
keinerlei mechanische Kraft verwendet. Die Wochenproduktion
beläuft sich auf 40 Paar Stiefel der gleichen Gattung, wie in
Miete für Werkstatt . .
Feuerung und Licht . .
Maschine und Werkzeuge
Löhne für 2 Gehilfen
Materialien
3 M.
1 ,
1 B
26 „
68 „
99 M.
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- 134
den vorhergehenden Beispielen. Natürlich steigen die Aus-
gaben für Werkstatt und Werkzeug, noch mehr das Lohnkonto,
dagegen sinken die Materialienpreise, da der kapitalkräftigere
Betriebsinhaber sich schon einigermassen die Vorteile des En-
gros-Einkaufes der Rohstoffe nutzbar machen kann. Nun können
wir sein Budget in nachstehenden Ziffern fixieren, alles für eine
Woche:
Miete für Werkstatt oM,
Feuerung und Licht 2 „
Maschinen und Werkzeuge .... 3 ,
Löhne für 5 Gehilfen 05 „
Rohstoffe ....... . . . 160 ,
Summe der Ausgaben wöchentlich 235 M.
Selbst wenn er jetzt seine Wochenproduktion von 40 Paar
Stiefel zum Preise von nur 6 M. 50 Pf. verkauft, so hat er
bei 270 M. Erlös immer noch 35 M. Ueberschuss über die Her-
stellungskosten.
Y. Erheblich andre Ziffern erhalten wir, wenn wir nun
zum Fabrikbetriebe übergehen. Betrachten wir die Produktions-
kosten in einem kleineren Etablissement, das nur 20 männ-
liche und weibliche Arbeiter beschäftigt. Die Fabrik ist nur
zum Teil mit Maschinen ausgerüstet; zwar werden die Schäfte
sämtlich auf mechanischem Wege hergestellt und ebenso alle
Stiefel auf der Sohlennähmaschine genäht, aber das Aufzwicken
und Ausputzen wird mit der Hand besorgt. Ein dreipferde-
kräftiger Gasmotor genügt für den erforderlichen Kraftaufwand.
Der Besitzer des Betriebs leitet den kaufmännischen Teil des
Geschäfts, sein Werkführer ist zugleich erster Zuschneider.
Für den Bau der Arbeitsräume sind 30 000 M. notwendig ge-
wesen, die mit 10°/o verzinst und amortisiert werden. Die
Anschaffung der Maschinen inkl. des Gasmotors hat 20000 M.
gekostet, Zinsen und Amortisation berechnet der Besitzer hier
mit 15°/o. Die Löhne wechseln sehr je nach der Art der Ar-
beit und der Leistungsfähigkeit des Arbeiters; ich habe sie
nach den mir vorliegenden Lohnlisten einer mittleren Fabrik
in Pirmasens berechnet. Der Gaspreis ist 14 Pfennig pro
Kubikmeter (Münchener Gaspreis für gewerbliche Zwecke).
Heizung und Beleuchtung wird vom Gasmotor mit besorgt.
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— 135 -
Die effektive Arbeitszeit beträgt 11 — 11 1 2 Stunden laut Fabrik-
ordnung. Wird ein und dieselbe Sorte Schuhzeug, wie vorher
angenommen, gefertigt, so beliiuft sich die Wochenleistung auf
etwa 400 Paar, die in mehreren Magazinen verschiedener Städte
Absatz finden. Da diese natürlich auch noch einen Profit
machen wollen, muss der Fabrikant billiger liefern als der
Handwerksmeister; er wird sich, da ein Abzwacken bei den
Löhnen nicht viel ausmachen kann, daher möglichst bemühen,
die Rohstoffe durch günstige Abschlüsse billig einzukaufen.
Am Schlüsse der Woche kann er nun folgende Bilanz auf-
stellen :
Verzinsung und Amortisation des Baukapitals . G0 M.
Verzinsung und Amortisation der Maschinen . . 00 ,
Betriebskraft, Heizung und Beleuchtung ... 25 „
Arbeitslöhne 375 ,
Rohstoffkonto 1500 r
Summe der Ausgaben 2020 M.
An Einnahmen hat er, da das Magazin das Paar Stiefel
schon zum Preise von ö M. 25 Pf. verkaufen will, um der Kon-
kurrenz siegreich zu begegnen, 400 X 5 M. 50 Pf. = 2200 M.,
also einen Ueberschuss der Einnahmen über die Ausgaben von
180 M. selbst bei erheblich höheren Durchschnittslöhnen und
niedrigeren Verkaufspreisen infolge des billigeren Bezuges an
Material und der weitaus überlegenen Leistungsfähigkeit seines
Betriebes.
VI. Als letztes dieser Reihe von Beispielen sei eine grössere
Fabrik gewählt, die weit mehr Anlagekosten sowohl für den
Bau als für ihre Maschinenausrüstung erfordert hat. Sie ar-
beitet mit 100 Hilfskräften nur in mechanischem Betriebe (mit
Ausnahme des Zwickens) und einem 15pferdekräftigen Gas-
motor. Die Löhne sind etwas höher, die Quoten für Zinsen
und Amortisation die gleichen wie im Beispiel V und auch bei
den Rohstoffen ist es nicht gelungen, eine weitere Reduktion
herbeizuführen. Bei der scharfen Konkurrenz auf dem Markte
versucht der Fabrikant es, vorwiegend zu exportieren. Seine
Wochenproduktion beträgt infolge des vollständig durchgeführten
Maschinenbetriebes 2500 Paar, die schlanken Absatz finden,
deren Preise aber von den hohen Zollsätzen des Exportlandes
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— 186 —
(20 °/o des Herstellungspreises) gedrückt werden. Eine Ueber-
sicht seines Geschäftes am Wochenschluss lässt folgende Aus-
gaben ersehen:
Zinsen und Amortisation des Baukapitals (80 000 M. zu 10 °/o) 100 M.
Zinsen und Amortisation des Maschinenkontos (G0 000 M. zu
15» 180 ,
Betriebskraft, Heizung und Beleuchtung 100 „
Arbeitslöhne 2200 „
Rohstoffe 9375 r
Summe der Wochenausgaben 12 015 M.
Selbst bei einem Preise des Fabrikates von nur 5 M. pro
Paar (2500 x 5 M. = 12 500 M.) hat er einen Ueberschuss
von 485 M. über die Betriebskosten und der Verkäufer im
Exportlande kann inkl. Frachtspesen und Zoll das Paar bei
einem Preise von 7 M. noch mit respektablem Profit verkaufen
Der frühere amerikanische Konsul, Herr J. Schönhof, hat
in seinem wiederholt angeführten Konsularbericht Nr. 9(5 von
einem Versuche berichtet, den er angestellt hat, um die Höhe
der Arbeitskosten für ein Paar guter Damenstiefel in Amerika,
England, Deutschland und Oesterreich zu ermitteln und sie in
einen Vergleich mit den Arbeitslöhnen zu bringen. Damit ist
aber nur ein Teil der gesamten Produktionskosten bekannt ge-
geben, und zudem beschränkt sich Schönhof lediglich auf die
') In der „Goth. Schuhmacherzeitung* 1887 Nr. 5 wird folgendes
Beispiel über Produktionskosten in Fabrik- und Handbetrieb mitgeteilt :
„Nehmen wir eine Fabrik mit nur 100 Arbeitern und ihr gegenüber
einen Meister mit 8 Gesellen, deren es heutzutage nur noch wenige gibt.
In dieser Fabrik können täglich 300 Paar gelbgenähte Damenstiefel ge-
fertigt werden. Der Lohn für ein derartig gefertigtes Paar Stiefel be-
trägt 75 Pf. Verkauft worden sie mit 0 M. das Paar. Der Meister
fertigt den Tag 8 Paar. Der Lohn für ein Paar beträgt 2 M. 75 Pf.
Verkauft werden sie im niedrigsten Falle mit 10 M. Der Verdienst des
Meisters beträgt an einem derartigen Paar Stiefel 2 M., macht also die
Woche bei einer Produktion von 48 Paaren 9Ü M. In der Fabrik wer-
den aber 1800 Paar produziert die Woche. Wenn nun der Fabrikherr
an einem Paar bloss 25 Pf. Verdienst nimmt, beläuft sich immerhin sein
wöchentlicher Verdienst auf 450 M. Wir sehen also, dass der Fabrik-
besitzer infolge der Maschinen ein Paar Stiefel um '/s billiger liefern
kann und sogar bei achtmal weniger Verdienst am Paare dem Meister
gegenüber immer noch ziemlich fünfmal mehr verdient."
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V17 -
Vergleichung toii Fabrikware der verschiedenen Länder, Hand-
werksprodukte zieht er gar nicht in Betracht. So wertvoll
dies für seinen Zweck ist, nachzuweisen nämlich, dass die Ar-
beitskosten sinken mit wachsender Lohnhöhe infolge der ge-
steigerten Betriebintensität, so erschien es mir ungleich inter-
essanter, in Einem Lande, hier also Bayern, die sämtlichen
Herstellungskosten für die Erzeugnisse der verschiedenen Be-
triebe in Handwerk und Fabrik vergleichen zu können. Ich
bemerke, dass ich bei den mitgeteilten Beispielen bemüht war,
die Ausgaben im Kleingewerbe thunlichst niedrig darzustellen,
dagegen für die Grossindustrie hohe Ziffern einzusetzen. Un-
berücksichtigt musste natürlich bleiben, dass in Wirklichkeit
keiner der sechs aufgeführten paradigmatischen Betriebe das
ganze, zu 50 Arbeitswochen angenommene Geschäftsjahr fort-
während mit gleicher Intensität dieselbe Ware produzieren kann,
sondern mannigfaltigen Schwankungen unterliegen muss.
Aber selbst bei allen Vorbehalten gegen den unternom-
menen Versuch möchte ich ihn doch noch von andern Gesichts-
punkten aus einer Betrachtung unterwerfen, nämlich die Frage
stellen: Wie verhalten sich in den verschiedenen Betrieben
Arbeitslohn, sonstige Produktionskosten, Arbeitszeit, Preise und
Einnahmeüberschuss? Nach den sechs Beispielen geordnet,
ergibt sich da folgende Tabelle:
Für ein Paar Stiefel betragen
7.
Art des Betriebes
1.
die Arbeits-
1 2 |
1
Kosten
<■
5-
a. r
«chu
»
t-her-
d.
Der
Wochen-
lohn des
Arbeiters
beträat
koston (nur
für Gehilfen)
Kapital-
zin-eii
des
Rohstoffs
Arbeits«
zeit
Verkaufs-
preis
Preises
lllier die
Produk-
»:..... .1 -t
M
Pf.
Pf.
M-
Pf- |
Stunden
M.
Pf
M
Pf-
M-
I. Meister allein
Ü2
1
50
17—18
s
o
88
II- .
(SO
4
50 I
11—15
7
75
2
05 ,
III. Meister mit 2 Geh-
1
31 1 4
4
25!
14-15
7
50
1
31 V 4 '
13
IV. Meister mit 5 Geh.
1
«21 o
1 25
4
_ !
13-14
(j
5<>
87 1,, 1
13
V. Fabrik mit 20 Arb-
i
3
75
3' 3
5
50
45
18
75
VI. Fabrik uiit 100 Arb.
•
3
15 i
***
5
1»-;
r
Die kleine Uebersicht entbehrt nicht des lehrreichen Cha-
rakters. Was die Arbeitskosten im Verhältnis zum Arbeits-
lohn betrifft, so ergibt ein Blick auf die Rubriken 1 und 7,
dass selbst bei nahezu dem doppelten Durchschnittslohne in
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— 138 —
einer gut eingerichteten Fabrik die Kosten der Arbeit fast nur
die Hälfte betragen. Dass der Kleinbetrieb sowohl für den
Rohstoff mehr zahlen, als auch ganz erheblich höhere Kapital-
zinsen pro Paar aufwenden muss, als die Grossindustrie, be-
weisen die Rubriken 2 und 3. Je grösser der Betrieb, desto
geringer die Generalkosten. Den Unterschied der Leistungs-
fähigkeit zwischen Hand- und Maschinenbetrieb veranschau-
licht Rubrik 4; dasselbe Paar Stiefel, zu dem der allein und
mit primitivem Werkzeug in seiner Werkstatt arbeitende Klein-
meister 14 — 18 Stunden braucht, liefert die Grossindustrie in
2 1 ? — 3'/2 Stunden — und fügen wir dazu: in ganz grossen
mechanischen Betrieben in noch weniger Zeit! Eine der Fol-
gen dieser beschleunigten Herstellung ist die Möglichkeit er-
heblicher Abkürzung der Arbeitszeit, wie sie die Fabrik gegen-
über der Werkstatt in der That besitzt. Rubrik 5 zeigt die
Unterschiede im Preis des fertigen Produktes in den sechs Be-
trieben auf: dieselbe Ware, die der Kleinmeister um 7 1 /* bis
8 Mark direkt an den Konsumenten verkauft, liefert der Fa-
brikant dem Händler für — 0 Mark, der nun allerdings noch
seinen Profit beim Verkaufe daraufschlägt. Die kolossale Stei-
gerung der Produktion und des Absatzes gestattet, wie in
Rubrik 6 ersichtlich, dem grossen Fabrikanten, sich mit einem
minimalen Gewinn am einzelnen Paar zu begnügen, der klei-
nere Fabrikant muss hier schon höher greifen, noch höher
natürlich der Handwerksmeister, und zwar desto höher, je
kleiner sein Betrieb ist. In allen wesentlichen Punkten stim-
men die Angaben der Tabelle mit den von mir bei Fabrikanten,
aus Lohnlisten und Tarifen, sowie aus der gerade in diesem
Punkte spärlichen Literaturnachweisen gesammelten Daten;
allerdings dürften in Wirklichkeit die Arbeitskosten im mecha-
nischen Betriebe sich um 10-50 > (auf 1 M. bis 1 M. oO.Pf.) 1 )
höher stellen, da nirgends mit einer das ganze Jahr hindurch
gleichbleibenden Intensität dieselbe Ware erzeugt wird, jeder
l ) Vergl. Schöne a. a. 0. S. 88 und Stenogr. Bericht des Deutschen
Reichstags, Sitzung vom 18. Jan. S. 574 f. Entschieden viel zu hoch
gibt J. Schönhof in dem öfter citierten Konsularbericht die Arbeitskosten
für deutsche Fabriken an, sein Irrtum liegt namentlich in der zu hohen
Berechnung der Arbeitskosten für das Aufzwicken.
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139 -
Wechsel in den Warensorten an sich aber schon die Arbeits-
kosten erhöhen muss. Im allgemeinen wird mir versichert
dass bei gut gehenden Artikeln 1 y'i — 1 /s der gesamten Pro-
duktionskosten auf die Löhne kommen, und dass Handarbeit
2— 3mal teurer ist als mechanischer Betrieb.
Unbeschadet der Abweichungen im einzelnen können wir
aus den vorstehenden Erörterungen den nachstehenden all-
gemeinen Schluss ziehen: Der mechanische Grossbetrieb unsres
Gewerbes ermöglicht bei niedrigeren Preisen der Ware höhere
Löhne zu zahlen und kürzere Arbeitszeit zu gestatten, als dies
das Handwerk zu thun vermag Auch in der Schuhmacherei
zeigt sich die in zahlreichen andern Gewerben unumstösslich
festgestellte Thatsache, dass die Steigerung der Produktion
eines Betriebes, unter grösstmöglicher Abwälzung der bisher
von dem Körper des Menschen gelieferten Kraftanspannung
auf Umtrieb- und Werkzeugmaschinen , Hand in Hand geht
sowohl mit einer besseren Rentabilität für den Unternehmer
als mit günstigeren Arbeitsbedingungen für die Arbeiter. Auch
in der Schuhwarenindustrie bedeutet die mechanische Fabri-
kation im grossen nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern
auch einen sozialreformatorischen Fortschritt, und es gilt von
ihr, was J. Schönhof in seinem Buche Economy of high
*) In Nordamerika ist dies noch weit mehr der Fall als bei uns.
H. D. Richardson schreibt im Londoner Journal of Boot und Shoe Trade :
Die amerikanischen Fabrikanten zahlen pro Paar viel geringere Löhne
als die europäischen. In England, Deutschland, Oesterreich bekommen
die schlechtest bezahlten Arbeiter für ein Paar ebensoviel Lohn, als die
Fabrikanten in Massachusetts und Maine für dieselbe Arbeit bezahlen.
Aber der Wochenverdienst des amerikanischen Arbeiters ist bei kürzerer
Arbeitszeit 2— 3mal so hoch als der des europäischen Handwerkers. Das
System, nach welchem seine Arbeit gethan wird, die Bereitwilligkeit des
Arbeitgebers, allen und jeden arbeitfördernden Mechanismus einzuführen,
und seine eigene Entschlossenheit, ein grosses Arbeits- und Lohnkonto
zu erreichen, alles das trägt dazu bei, dies Konto vom Standpunkt eines
europäischen Arbeiters oder Arbeitgebers zu einem sehr bedeutenden zu
machen . . . Wenn die Arbeit reichlich ist, so scheint der Leistungs-
fähigkeit des von der Maschine unterstützten Arbeiters nur eine schwache
Grenze gesteckt zu sein, und sein Durchschnittsverdienst nähert sich oft
dem Dreifachen desjenigen seines englischen Kollegen und beträgt das
4— 5fache des Schuhmacherverdienstes in Deutschland und Oesterreich."
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— 140 -
wages S. 31 und 35 sagt: „Billige Arbeit ist nicht gleich-
bedeutend mit billiger Produktion, im Gegenteil: es gehen
niedrige Produktionskosten mit hohen Löhnen Hand in Hand . . .
Hohe Löhne bilden einen Ansporn, Maschinen zu verbessern
oder zu erfinden, um Zeit zu sparen, niedrige Löhne veranlassen
in veralteten Methoden zu verharren!"
Ein Einwand sei hier noch kurz berührt. Ja, hört man
sagen, es ist wahr: die Fabrik produziert billiger und darum
sind auch die Preise ihrer Waren niedriger. Aber Handarbeit
ist besser und dauerhafter, und das Material, das der Hand-
werksmeister für seine Stiefel und Schuhe nimmt, ist an Qua-
lität dem in der Fabrik verwendeten überlegen. Vielfach trifft
dies Bedenken thatsiichlich zu. Wir haben schon früher an
mehreren Stellen betont, dass die Grossindustrie grosse Massen
geringwerthiger Waren auf den heimischen Markt wirft oder
zur Ausfuhr bringt, deren einziger Vorzug eine erstaunliche
Billigkeit ist. Dies Streben, in erster Linie durch niedrige
Preise und nicht durch Qualität ein ausgebreitetes Absatzfeld
zu erobern, hat dem Rufe der mechanischen Schuhfabrikation
viel geschadet und dem Handwerk ebensoviel genützt. Aber
es ist doch zweierlei zu beachten: Schund zu produzieren, ist
kein ausschliessliches Privilegium der Schuhwarengrossindustrie,
sondern findet sich auch bei der Handarbeit in beklagens-
wertem Masse, und hier ebenso wohl in der Markt- wie in
der Kundenschuhmacherei; auch hier tritt oft das Bestreben zu
Tage, durch Billigkeit zu imponieren, und da werden die Löhne
gedrückt, schlechteres Material verwendet und dann zu Schleu-
derpreisen verkauft. Und ferner ist ebensowenig wie beim
Handwerk auch bei der mechanischen Herstellung eines Schuhes
die geringe Qualität eine notwendige Folge des Herstellungs-
prozesses an sich. Im Gegenteil; das sachverständige Urteil
geht im allgemeinen dahin, dass der „eiserne Schuhmacher"
heute ebenso dauerhaft und nahezu ebenso elegant arbeiten
könne, als der Handwerker 1 ). Die Technik der mechanischen
•) Gerühmt wird schon die Feinheit und Sauberkeit der amerika-
nischen Schuhfabrikate auf der Weltauastellung zu Philadelphia 1877.
Namentlich wird auch bemerkt, dass die Fabrikware durchschnittlich
mehr der normalen Form des menschlichen Fusses angepasst sei, als
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- 141 -
Fabrikation ist in wenigen Jahren so rapid vorgeschritten, dass
es selbst gewiegten Kennern oft schwer fällt, zu entscheiden,
ob ein Stiefel mit der Hand genäht ist oder auf der Maschine.
(Vgl. in Kap. III die Ausführungen über die technischen Fort-
schritte in der Schuhfabrikation.) Und täglich fast, so kann
man sagen, tauchen neue Erfindungen auf, vermittels deren
nicht nur rascher und billiger, sondern auch feiner und solider
gearbeitet werden kann. Diejenigen Schuhfabrikanten aber,
die über grössere Kapitalien verfügen und weiter sehen, als
auf einen bloss augenblicklichen Vorteil, sind bemüht, die aller-
besten Rohstoffe mit allen Vorteilen des Grosskaufes zu er-
werben, wie sie dem unbemittelten Kleinmeister gar nicht zur
Verfügung stehen. Unsre bayerische Schuhfabrikation war
einige Zeit, was die Güte der Produkte anbetraf, allerdings
nicht auf der Höhe der Leistungsfähigkeit; aber seit einigen
Jahren besitzen wir neben den billige Massenartikel erzeugen-
den Fabriken Etablissements in Pirmasens, Schweinfurt, Kirch-
heim-Bolanden, München, Nürnberg etc., die an Güte, Festig-
keit und Eleganz ihrer Waren von keinem andern deutschen
Fabrikate, aber auch von keiner Handarbeit übertroffen werden
und doch dabei den Vorzug erheblich geringerer Preise haben.
Ein drastisches Wort , das ich in einer Fachzeitung fand, be-
zeichnet die Situation ziemlich treffend: Das Publikum kann
zum Preise der Meisterschundware die Primaware der Fabrik
kaufen 1 ). In der Reichstagssitzung vom 18. Januar 1893 sprach
sich der Abgeordnete W. Bock, Führer der Gewerkvereins-
bewegung in der deutschen Schuhmacherei und selbst ein
dies viele Handwerksmeister verstünden. (H. A. Schneider, in Conrads
Jahrbuch 1883 I.)
l ) Eine bis ins Detail gehende Vergleichung der Preise für Mass-
und Kundenware und derjenigen in einem Schuhwarenmagazin lässt
sich bei der enormen Menge der einzelnen Posten nicht durchführen,
selbst angenommen , die hier wie dort vorhandenen Waren seien der
Qualität nach in den betreffenden Sorten ganz die gleichen. Ein Waren-
preistarif der vereinigten Schuhmachermeister Nürnbergs zählt für Herren-
arbeiten 26, für Knaben arbeiten 23, für Damenarbeiten 28, für Mädchen-
arbeiten 19 und für Kinderarbeiten 8 verschiedene Posten auf, insgesamt
also 104, jede aber in drei verschiedenen Qualitäten = 312 im ganzen.
Ein vor mir liegender Katalog aber eines grossen Münchener Schuh-
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zünftig losgesprochener Schuhmacher, folgendermassen aus
gegenüber einem Zuruf, die Fabrikarbeit tauge nicht viel: „Ich
kann dem Kollegen S . . . . nur erklären, dass er Arbeit, die in
Schuhfabriken gefertigt wird, nicht kennt. Dieselbe ist dauer-
haft und elegant und steht der Handarbeit nicht nach;
wenn Sie ein derartiges Urteil über die Schuhindustrie fällen,
kennen Sie dieselbe nicht. Es mag allerdings auch schlechte
Arbeit darunter sein. Das ist auch bei Handarbeit der Fall.
In unsern Militärwerkstätten, wo doch ganz gewiss ein dauer-
haftes Produkt für die Soldaten gefordert wird, wird alles mit
Maschinen genäht und genagelt ; ich glaube, der Herr Kollege
wird mit seinen Stiefeln nicht so viel Strapazen machen, als
von den Soldaten verlangt wird, und doch sind Missstände nicht
bekannt geworden" l ). Die Freunde des Handwerks haben diese
Angaben des Herrn Abgeordneten Bock nicht bestritten 2 ).
warenmagazins hat 1010 Artikel aufgezählt, von denen die meisten wie-
der in verschiedenen Grössen auf Lager gehalten werden. Greift man
Stichproben aus beiden heraus, die annähernd gleiche Ware betreffen,
so findet man durchgängig die Fabrikate im Magazin um 25 — 40% bil-
liger als die Erzeugnisse der Hand.
') Stenogr. Bericht S. 574 f.
2 ) Ueber die Schuhfabriken im Grossherzogtum Baden äussert sich
der im Auftrage des grossherzoglichen Ministeriums des Innern heraus-
gegebene Jahresbericht der Fabrikinspektion für 1892 S. 13 wie folgt:
r Die grosse Produktion dieses Industriezweiges und die daraus hervor-
gegangenen niederen Preise haben die Bekleidung der Arbeiter wesent-
lich verbessert, zumal sie auch im allgemeinen solide und gute Ware
liefern."
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X.
Der Schuhwarenmarkt.
Nachdem ich in den vorhergehenden Erörterungen versucht
habe, einen Ueberblick über Organisation und Betrieb der
bayerischen Schuhmacherei in der Gegenwart zu geben, liegt
mir noch ob, zum Schluss des I. Abschnittes, der von der
Statistik, Technik und Organisation der bayerischen Schuh-
macherei handelt, einige Worte über den Schuhwarenmarkt zu
sagen. Wie gestalten sich unter der heutigen Produktionsweise
die Absatzverhältnisse, und zwar sowohl im Inlande wie im
Auslande ?
Die Beantwortung des ersten Theils dieser Frage würde
an Interesse wesentlich gewinnen, wenn es gelänge, genaue
Angaben über den Verbrauch an Schuhwaren im Inlande bei-
zubringen. Aber in dieser Hinsicht sind wir lediglich auf
Mutmassungen angewiesen, da amtliche Erhebungen gar nicht
und private Mitteilungen nur in Haushaltungsbudgets von
Einzelfamilien, hie und da zerstreut, vorliegen. Während uns
der zehnte Census der nordamerikanischen Union ganz genaue
Daten über die Produktion an Schuhwaren verschafft hat —
1880 wurden in den Vereinigten Staaten 125 478 511 Paar
Schuhe und Stiefel gefertigt, etwa 2 1 .> Paar pro Kopf der
Bevölkerung, wozu noch die namentlich nach den Südstaaten
gehende, übrigens nicht sehr erhebliche Einfuhr tritt — , gehen
für Deutschland die Versuche einer Berechnung sehr weit aus-
einander. Eine Petition des deutschen Schuhmacherbundes, die
1885 mit der Bitte um erhöhten Zollschutz gegen die Einfuhr
von Schuhwaren an den Reichstag gelangte, behauptet, es seien
450000 Personen in der deutschen Schuhmacherei thätig; von
diesen könne jede jährlich 300 kg Schuhe anfertigen; der Kon-
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sum sei aber viel geringer als die Möglichkeit der Produktion;
mit der Hälfte der gegenwärtig vorhandenen Schuhmacher
reiche man jetzt schon aus für den Bedarf, wenn nur Hand-
arbeit geliefert werde, bei teilweiser Verwendung von Maschi-
nen genüge schon ein Viertel. Es seien also etwa 300 000
Schuhmacher für Neuarbeit überflüssig ; diese müssten sich von
Flickarbeit nähren, griffen zu allerhand Nebenbeschäftigung und
lebten in grossem Elend. Der „ Ledermarkt eine vom Stand-
punkt der Arbeitgeber in der Lederindustrie geführte Zeitschrift,
glaubt, dass die Angaben dieser Petition, was Zahl der Schuh-
macher und Produktionsfähigkeit anlange, zu hoch gegriffen
sei; er berechnet einen jährlichen Lederverbrauch von 300 Mil-
lionen Mark mit einer Produktion von 140 Millionen Paar
Schuhen im Werte von 800 Millionen Mark. Nach dem Stand
der Bevölkerung in der Mitte der achtziger Jahre kämen auf
jeden Deutschen sonach annähernd drei Paar Schuhe im Werte
von 18 M. jährlich oder, wenn man Ausfuhr und Einfuhr mit-
berechnet, 2 1 ,2 Paar mit 15 M. jährlich. Schon erheblich
niedriger greift die Schätzung einer bedeutenden Fabrik von
Schuhmaschinen, C. S. Larrabee & Co., die nur 90 Millionen
Paar Jahresproduktion annimmt, also zwei Paar pro Kopf.
Vergleichen wir aber mit diesen Angaben die Summen,
die für Bekleidung in dem Etat selbst gut situierter Arbeiter-
familien ausgeworfen sind, so erscheint uns die alljährlich er-
zeugte und im Inlande verbrauchte Menge von Schuhwaren
auch in der niedrigsten der mitgeteilten Schätzungen als immer
noch zu hoch gegriffen. Ein Berliner Metallarbeiter mit Frau
und drei Kindern hatte für den Bedarf an Kleidung, Hausrat
und Beschuhung freilich 360 M. ausgesetzt; da wäre es ja
denkbar, dass hiervon auch zehn Paar Stiefel im Werte von
rund 60 M. bestritten werden könnten. Aber dieser Metall-
arbeiter hatte auch ein Einkommen von 1665 M. *) Bei einem
Leipziger Buchdrucker , der nur zwei Kinder hatte , konnten
von dem Einkommen mit 1362 M. nur 174 M. 40 Pf. für
Bekleidung etc. verwendet werden, und es heisst ausdrücklich:
„Um das Schuhwerk zu sparen, laufen die Kinder in der wär-
l ) „Vorwärts", Jahrgang 8, Nr. 41.
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meren Jahreszeit barfuss 1 )." Aus Schlesien berichtet Dr. Lange 2 ):
„Besonders gespart wird an der Fussbekleidung. Kinder und
Frauen gehen stets barfuss, solange die Witterung es nur irgend
erlaubt. Schuhe und Stiefel werden von ihnen nur beim Kirch-
gange oder bei feierlichen Gelegenheiten angezogen. Und
Männer sieht man in der Provinz Schlesien öfter ohne Schuh-
zeug als in andern Provinzen." Ist es in Bayern in vielen
Gegenden des platten Landes wohl anders? Eine Frankfurter
Taglöhnerfamilie mit einem Kinde konnte bei einem Ein-
kommen von nur 745 M. 92 Pf. für Kleidung, Mobiliar, Schuh-
werk 70 M. 15 Pf. ausgeben: da ist gewiss nicht anzunehmen,
dass von dieser letzteren Summe die Hälfte (sechs Paar a
6 M. = 36 M.) auf Beschuhung fallen kann. Im Bezirke
der Amtshauptmannschaft Zittau (Königreich Sachsen) wurden
von dem Amtshauptmann v. Schlieben Beobachtungen über
die Lebenshaltung verheirateter Handwerker angestellt; bei
einer Jahresausgabe, die zwischen 305 und 779 M. schwankt,
betrugen die Ausgaben für Kleider, Stiefel und Mobiliar zwischen
14 und 56 M. 3 ) Nach der Lohnstatistik der deutschen Berufs-
genossenschaften aus dem Jahre 1885, die die Angehörigen von
57 Berufsgenossenschaften umfasst, beträgt das Durchschnitts-
einkommen des deutschen Arbeiters nur 049 M. Der der Be-
rechnung der Unfallrente zu Grunde gelegte Jahresarbeits-
verdienst land- und forstwirtschaftlicher Arbeiter schwankt
nach den Mitteilungen der Verwaltungsbehörden zwischen 200
und 660 M.; im südlichen und westlichen Deutschland bewegt
sich der Verdienst der Mehrzahl der Arbeiter zwischen 370 und
430 M., unter dem ersteren Satze bleiben grosse Teile von
Oberfranken, Niederbayern, Oberpfalz, auch Unterfrankens. Im
Königreich Sachsen hatten 1888 42°/o der Steuerpflichtigen eine
Einnahme bis 500 M. und 29 °/o zwischen 500 und 800 M.,
in Baden 22 °/o bis 500 und 41 °/o zwischen 600 und 1000 M.
') Schriften des Vereins f. Sozialpolitik, Band 45. S. 469 f.
2 ) Die deutsche Hausindustrie, Band 4. Leipzig 1890. S. 116.
8 ) Weiteres, sehr übersichtlich aus einer Menge von Einzelunter-
suchungen zusammengestelltes Material findet man bei Herkner, Soziale
Reform, S. 58—63, und bei Hampke, Ausgabebudgets der Privatwirt-
schaften, Conrads Jahrbücher, Band 4, Heft 6. 1888.
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 10
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— 140 -
In Preussen waren 1892/93, laut Mitteilung der „Denk-
schrift" (S. 24) zu den Miquelschen Steuerentwürfen, von der
29 895 224 Seelen zählenden Bevölkerung 20945227, d. i. etwa
70 °/o der gesamten Bevölkerung, von der direkten Staatssteuer
befreit, da sie ein Einkommen unter 900 M. bezogen.
Zieht man diese Ziffern in Betracht, so wird uns eine in
der Reichsenquete über die Sonntagsruhe ') enthaltene Aeusse-
rung aus Magdeburg, 90 °,o der Bevölkerung im Reich besitze
nur ein Paar Stiefel, nicht ganz unglaubwürdig erscheinen.
Auch sonst finden sich ähnliche Behauptungen vielfach in
Schuhmacherblättern. Wie dem auch sei, das steht jedenfalls
fest, dass der Verbrauch an Schuhwaren in Deutschland —
und Bayern macht in dieser Beziehung natürlich keine Aus-
nahme — ein verhältnismässig geringer ist. Für Deutschland
oder doch für manche Gebiete trifft des englischen National-
ökonomen Senior Ansicht über die verschiedenen Grade der
Dringlichkeit des Bedürfnisses an Schuhwerk in seinem Heimat-
lande heute noch leider annähernd zu, nämlich dass Schuhe
und Stiefel für Engländer ein Ding der Notwendigkeit seien,
in Schottland für die untersten Klassen ein Luxus, für die
mittleren ein Erfordernis des Anstandes 2 ). Mit einer Besse-
rung der allgemeinen Lebenshaltung, namentlich mit einer
Steigerung der Löhne bei den gewerblichen Arbeitern, würde
unzweifelhaft auch ein Wachstum der Nachfrage von Schuh-
werk sich einstellen. In Nordamerika verausgabt eine Familie
durchschnittlich 16 Dollars = 68 M. für Schuhwerk 3 ); einem
grossen Teil der Not und des Elends in der deutschen Schuh-
macherbevölkerung wäre abgeholfen, wenn der Konsum an
Schuhwaren bei uns auf eine ähnliche Höhe des Bedarfs stiege!
Indessen wie hoch oder wie niedrig sich exakt auch der
') Berlin 1887, 2. Band, S. 436-447.
*) Es ist kein seltener Anblick, dass in Centren der deutschen
Schuhfabrikation, wo Millionen und Millionen von Schuhen jährlich her-
gestellt werden, der ärmere Teil der Bevölkerung barfuss geht, um zu
sparen — gerade wie in Schlesien, Böhmen und Mähren, wo die Weber,
die die Leinwand in enormen Massen erzeugen, sehr oft nicht ein ein-
ziges Hemd besitzen.
8 ) Senatsreport Nr. 986.
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deutsche Schuhwarenverbrauch belaufen möge, jedenfalls ist
zuzugeben, dass die Geringfügigkeit der Mittel, die der un-
geheuren Mehrzahl der deutschen Bevölkerung für die Deckung
ihres Bedarfs an Beschuhung zur Verfügung stehen, auch einen
starken Einfluss ausübt auf die Art des Vertriebes der Waren.
Denn die Mehrzahl der Käufer muss notgedrungen sich dahin
wenden, wo sie die Waren billig bekommt. Und das ist nicht
beim Kundenschuhmacher der Fall, wie wir dies bei Erörterung
der Produktionskosten gesehen haben. Der Marktschuhmacher,
der nur wenige Sorten in Massen mit stark gedrückten Löhnen
herstellt, hat im Schuhwarenhandel schon unter der alten gewerb-
lichen Ordnung sich ein wachsendes Absatzgebiet erobert — sehr
zum Aerger der zünftigen und konzessionierten Schuhmacher.
Bereits vor der Zeit der Eisenbahnen gingen die Pirma-
senser Schuhmädchen zu Hunderten hausieren und besuchten
Messen und Märkte, das „Permasenser Schlappewei" war am
Rhein und am Main eine volkstümliche Gestalt. J. G. Hoff-
mann, der Vater der preussischen Statistik, meinte schon 1839,
die noch heute bestehende höhere Zahl der Schuhmacher gegen-
über den Schneidern gehe wesentlich auf den vielfach üblichen
Jahrmarktsbesuch der Schuster, der so viel Zeit koste, zurück.
Freilich fügte er schon damals hinzu: „Die Schuhmacher be-
ziehen die Jahrmärkte in dem Masse mehr, wenn ihr Gewerbe-
betrieb armseliger wird Auch heute noch hat sich, obwohl
in Bayern die Marktschuhmacherei nicht eine Konzentration
des Betriebs erreicht hat, wie sie z. B. in Kalau, Groitzsch,
Erfurt besteht, der Besuch von Märkten, Messen und Dulten
mit Schuhwaren stark erhalten. An Gelegenheit fehlt es dabei
in unserm engeren Vaterlande nicht. Sind auch Schuhe und
Stiefel von den Wochenmärkten ausgeschlossen 2 ) , so halten
die 41 unmittelbaren und 203 übrigen Städte, sowie die 419
Marktgemeinden etc. doch im Jahre mehr als 2000 Krammärkte,
Messen und Dulten ab; davon sind viele mehrtägig, ja in
grösseren Städten dauern manche wochenlang. Ich will na-
türlich nicht behaupten, dass Schuhmacher auf all diesen Märkten
l ) Die Bevölkerung des preuss. Staates S. 120.
*) § 66 der Gewerbeordnung.
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148 —
ihre Ware feilhalten ; aber es geschieht doch häufig genug. In
den grösseren Orten stehen dann ganze Budenreihen, in denen
derbe Lederstiefel und Filzschuhe verkauft werden. Eigentliche
Schuhwarenmärkte habe ich indessen nur für das über 1000 Ein-
wohner zählende Pfarrdorf Bischberg bei Bamberg ausfindig
machen können, das deren sechs im Jahre veranstaltet. Die
Lieferanten für diesen Marktverkehr sind keineswegs nur in-
ländische Gewerbsmeister, besonders aus ländlichen Distrikten,
z. B. Osterhofen, Triftern, dem Algäu. Mehr und mehr kon-
kurriert auch hier mit Erfolg die Fabrikware, sowohl bayerische
als auch württembergische, thüringische und neuerdings schwei-
zerische, die Schuhfabrikanten von Balingen, Tuttlingen, Back-
nang haben guten Absatz nach Bayern.
Ob dieser Marktverkauf in der neuesten Zeit sich überall
auf der alten Höhe erhält, ist schwer zu sagen. In Pirmasens
hörte ich, dass in den Jahren unmittelbar vor der Krisis 1890, 91,
als eine Anzahl kleiner Fabriken ihre Ware um jeden Preis
abzusetzen bemüht war. der Besuch von Märkten ebenso wie
das Hausieren gegen früher zugenommen habe, nach dem
»Krach" aber wieder zurückgehe *). Der konservative Zug in
den Gebräuchen unsres Volkes wird auch dem Marktverkaufe
von Schuhwaren vermutlich ein längeres Dasein bewahren, als
er wirtschaftlich berechtigt ist.
4 ) Eine Statistik des Marktverkehrs in Nürnberg, die ich der
Freundlichkeit des dortigen Magistrates verdanke und in der Anlage
beifüge, weist für die letzten 15 Jahre eine stetige Abnahme auf.
Verzeichnis der Schuhwareuliändler anf den Nürnberger Messen.
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Denn was man früher eben ausschliesslich oder vor-
zugsweise zeitweilig auf dem Markte suchte, findet man
heutzutage nun alle Zeit im Laden, vom Verschlag in der
Werkstatt an, wo der Meister die nicht bestellten Stiefel und
Schuhe auslegt, bis zum eleganten Magazin mit seiner Un-
menge von Sorten in allen Grössen, Formen und Stoffen.
Man darf wohl sagen, dass in keinem andern Gewerbe das
Ladengeschäft in kurzer Zeit eine solche Ausdehnung erfahren
hat als in der Schuhmacherei; höchstens ist das Gleiche noch
in der Konfektionsbranche für Kleider der Fall. Der Ver-
kauf im Laden existierte schon, als die mechanische Schuh-
fabrikation noch ganz unbekannt war. Der Meister, der auf
Vorrat gearbeitet hatte, weil die Kunden ausblieben, der aber
seine Zeit und Arbeitskraft nicht auf den Jahrmärkten ver-
lieren wollte, richtete sich einen Laden ein. Der Verkauf im-
portierter Schuhwaren war auch während der Zünftezeit den
berufsmässigen Kauf leuten gestattet, und die Hutmacher durften
Filzschuhe führen Aber beherrschend wurde das Laden-
geschäft doch erst mit dem Aufkommen der Fabrik. Die Um-
wandlung in der Produktion musste vorausgehen, ehe auch der
Schuhwarenkonsunient die Wandlung von der Bestellung beim
Handwerker zum Einkauf fertiger Ware vollziehen konnte.
Einer unsrer ersten deutschen Schuhwarenfabrikanten hat
mir erzählt, wie er sich im Anfang der siebziger Jahre noch
abgemüht habe, seine Ware zu vertreiben. Eine Reise durch
Süddeutschland war nahezu ergebnislos; überall bekam er für
seine elegante, auf wohlhabende Käufer berechneten Produkte
die Antwort: „Die fertige Ware können wir nicht verkaufen,
jeder lässt beim Schuhmacher für sieh arbeiten." Nur in einer
grossen Stadt Frankens zeigte sich ein vor dem Bankerott
stehender Schuhmacher bereit, die Fabrikware feilzuhalten,
wenn man ihm einen Laden einrichte. Heute hat dasselbe
Etablissement Verkaufsstellen an Hunderten von Orten in
Deutschland, und in jener Stadt bestehen zur Zeit an 30 Schuh-
warenläden. Im Fachverein der Münchener Schuhmacher sagte
ein Redner im Jahre 1885; „Die Schuhfabrikanten verkaufen
») Vergl. Schlichthörle a. a. 0.
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ihre Erzeugnisse als gemischte Waren bei jedem Kaufmann
und Krämer, in allen Städten und Marktflecken und Dörfern.
Auch die Kleinmeister sind gezwungen, solche Ware zu kaufen,
um damit zu handeln. Und sie begnügen sich damit, wenn
sie bei einem Paar 1 M. verdienen, ohne weitere Schererei und
Arbeit zu haben; daran denken sie nicht, dass, wenn sie das-
selbe Paar selbst gut und praktisch verfertigt hätten, sie 3 M.
verdienen könnten." Gewiss — wenn nicht eben dann auch
die Preise höher wären !
Nirgends ist dieser gründliche Umschlag in der Art der
Beschaffung des Schuhbedarfs natürlich mehr zu beobachten
als in grösseren Städten. Man gehe z. B. mit aufmerksamem
Blick durch die Strassen Münchens ! In den besten Geschäfts-
lagen finden wir grosse, stattlich eingerichtete Schuhwaren-
handlungen und Bazare, von denen einige zwei und mehr
Niederlagen haben. Teilweise bezeichnen sie sich schon in
der Firma als Verkaufsstellen von Fabriken: Frankfurter,
Mainzer, Wiener Magazin, sächsische und deutsche Schuh-
raanufaktur; andre gehören geradezu auswärtigen Fabrikanten
in Baden, der Rheinpfalz. Die meisten Magazine haben Waren
verschiedener Etablissements, daneben bisweilen auch in eigenen
Werkstätten hergestellte Produkte. Engrosgeschäfte, Schuh-
grossisten vermitteln für die kleineren Magazine und die zahl-
reichen Läden der Handwerksmeister den Bezug der Fabrik-
ware. Der Zug der Zeit ist so stark, dass auch sehr viele
Innungsmeister trotz der Begeisterung für zünftige Arbeit und
Befähigungsnachweis Läden errichten und Fabrikware in ihnen
ausbieten.
Oft befinden sich Werkstatt und Wohnung des Meisters
in einer Stadtlage, wo die Mieten billiger sind, der Laden aber
im teuren Zentrum der Geschäfte. Auch kommt es vor, dass
trotz des Handbetriebs der Meister schon soweit Kaufmann
geworden ist, dass er mehr als eine Verkaufsstelle besitzt.
Ausserdem gibt es ganze Reihen kleiner Läden, in denen ge-
ringwertige Schuhwaren aufgespeichert sind; Handlungen mit
gemischten Waren führen auch Schuhe und Stiefel: ich kenne
sogar Läden, wo frisches Obst einträchtig mit altem Schuh-
werk zum Verkauf ausgeboten wird. Fast alle Trödler halten
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auch Stiefel feil; neuerdings findet man in den Anzeigen der
Zeitungen eine besonders eifrige Nachfrage nach getragenen
Schuhen. Ja wir sehen, dass die Stiefelputzer auf den Strassen
ihren bescheidenen Apparat mit ein bis zwei Reihen blank ge-
wichster alter Stiefel garnieren, um bedürftigen Kunden sofort
dienen zu können. Halten wir dies mit dem reichen Angebot
auf den Dulten mehrmals des Jahres zusammen, so wird man
sagen können: der Verbrauch an fertigem Schuhwerk steigt in
neuester Zeit ganz bedeutend. Er steigt aber nicht nur in
den ärmeren Bevölkerungsschichten, deren Mittellosigkeit sie
nötigt, vorzugsweise auf niedere Preise zu achten, sondern auch
in den kaufkräftigeren, die bis vor wenig Jahren noch zumeist
beim Kundenschuhmacher arbeiten Hessen. Die vervollkomm-
nete Technik in der mechanischen Schuhfabrikation und die
damit Hand in Hand gehende Verbilligung der Produktion,
das Streben nach Eleganz und Solidität der Arbeit und der
Rohstoffe, das unsre besseren Fabriken beweisen, die will-
kommene Möglichkeit, sich jederzeit in den verschiedenen Läden
den Bedarf auf der Stelle verschaffen zu können, endlich die
Einrichtung von Reparaturwerkstätten bei den grösseren Ma-
gazinen, was sehr wichtig ist, weil viele Handwerker Fabrik-
ware nur ungern reparieren — all dies hat den Vertrieb von
fertigen Schuhwaren im Inlande neuerdings mächtig gehoben 1 ).
Es gibt Läden in Bayern, deren Umsatz sich bis auf 300 000 M.
im Jahre beläuft; das bedeutet zum mindesten einen Verkauf
von 30000 Paar im Jahre, 100 pro Tag. Gerade Bayern wird
jetzt von Schuhfabrikanten als günstiges Absatzgebiet be-
zeichnet 2 ).
*) „In der Schuhmacherei ist es durch mannigfaltige Erfindungen
der Grossindustrie gelungen, sich in hohem Masse den individuellen Be-
dürfnissen anzupassen ; denn es wird z. B. in grossen Schuhfabriken jede
Fussform in so viel Spezialitäten angefertigt, dass jeder, wenn er nicht
ganz anormale Fussbildung besitzt und die nötige Geduld darauf ver-
wendet, um die verschiedenen Nummern durchzuprobieren, passende
Stiefel in einem derartigen Geschäft finden muss." Hampkc, Befähigungs-
nachweis; Jena 1892, S. 13.
2 ) Am 7. Febr. 1887 wurde eine Schuhbörse mit Markt jeden Mon-
tag und Freitag in Berlin gegründet, der indessen für das spezielle Ge-
biet unsrer Betrachtung nicht von Belang ist.
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Und, wenn nicht alles täuscht, wird dieser Kampf der
Fabrik mit dem Kleingewerbe in Bayern wie in ganz Deutsch-
land sich noch erheblich verschärfen. Denn die günstigsten
Zeiten des Exports, den die Grossindustrie als lukrativeres und
glatteres Geschäft bevorzugte, sind vorbei, wohl unwieder-
bringlich vorbei. Noch in der Mitte der achtziger Jahre konnte
der „Ledermarkt" triumphierend ausrufen: „Deutsches Schuh-
werk wird einstens die dominierende Rolle auf dem Welt-
markte spielen. Der Anlauf ist dazu genommen, vielumworbene
Absatzgebiete sind bereits durch deutschen Gewerbefleiss er-
obert, und vergeblich suchen die konkurrierenden Länder unsern
Siegeszug auf dem Gebiete der Industrie zu hemmen. Frank-
reich ist bereits von unsern Schuhfabriken besiegt, und Eng-
land wehrt sich vergeblich gegen das gleiche Schicksal . . .
Unser deutsches Schuhwerk zeigt weder das Raffinement und
die Genialität des Luxus, wie sie der Franzose seinem Erzeug-
nisse zu verleihen pflegt, noch das Plumpe und die durch
schlechtes Material bedingte Billigkeit der englischen Schuh-
waren, aber tiberall, wo eine gediegene und dauerhafte Mittel-
qualität verlangt wird, da erobert die deutsche Schuhindustrie
die Absatzgebiete und hält sie dauernd fest. Noch sind zwar
die Ziffern, welche unsern Schuhwarenexport veranschaulichen,
lange nicht zu jener Höhe gelangt, wie diejenigen unsrer ex-
portierenden Nachbarländer, allein es sind die unsrigen in fort-
währendem Steigen, die letzteren dagegen im Niedergange. In
fünf Jahren schon wird das Ziffernverhältnis ein ganz andres
sein und Deutschland dann an erster Stelle rangieren. Die
grosse Masse der Konsumenten verlangt gerade die gediegene
Mittelqualität, wie sie Deutschland liefert, und wenn heute der
Export noch nicht bedeutsamer darin ist, so hat dies den
Mangel an Vorräten zur Ausfuhr als Ursache. Die deutsche
Schuhindustrie — wir haben damit nur den Grossbetrieb im
Auge — ist noch jung, und ihre Lieferungen reichen bislang
kaum zur Deckung des Inlandbedarfs aus , mit ihrer Ver-
größerung wächst der Export. Und es wird viel und bedeu-
tend gegenwärtig in den Schuhfabriken vergrössert, ohne dass
man eine Ueberproduktion oder das Schwinden eines normalen
Verdienstes zu befürchten hätte. Unsre Schuhfabrikation wird
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sich in nicht ferner Zeit zu einer der ersten Exportindustrien
des Landes gestalten."
So der „ Ledermarkt * vor neun Jahren. Leider sind die
Dinge nicht so gekommen, wie er siegesfroh prophezeit hat.
Ein kurzer Blick auf die Entwickelung unsres Schuhwaren-
handels mit dem Auslande wird dies bestätigen. Auch hier,
wie so oft im Laufe dieser Darlegungen, lässt uns leider die
amtliche Statistik wieder im Stich ; es sind nämlich in den
betreffenden Positionen der Uebersichten über Export und Im-
port einmal Schuhe und Stiefel mit sehr heterogenen Gegen-
ständen (Gummiwaren, Portefeuille- und Taschnerarbeiten, sogar
Wagen mit Lederverwendung) zusammengeworfen, sodann sind
zu verschiedenen Zeiten diese verschiedenen Gegenstände nicht
immer in gleichen Gruppen vereinigt, und schliesslich sind die
Waren bei der Ausfuhr nicht nach den Provenienzländern aus-
geschieden. Erschwert uns der letztere Umstand sehr, den
ziffernmässigen Anteil speziell der bayerischen Schuhmacherei
an der Ausfuhr festzustellen , so nötigen uns die andern dazu,
den Gang der Entwickelung nur in allgemeinen Umrissen zu
skizzieren, wobei mancherlei Einzelheiten dem Zweifel und der
Anfechtung ausgesetzt sind. Immerhin ist es möglich, auf
Grund dieser Daten ein ungefähres Bild von unserm auswär-
tigen Schuhhandel zu gewinnen.
Von alters her exportiert Bayern mehr Schuhwaren, als
es einführt. Rudhart schreibt 1825 in seinem Werke „Ueber
den Zustand des Königreichs Bayern" auf S. 73 des 2. Bandes:
„Selbst an Schuhmacher waren , in Ansehung deren die Kon-
kurrenz Frankreichs ein Aergernis gibt, empfängt das Ausland
mehr von Bayern als dieses von jenem, indem die Ausfuhr in
fünf Jahren 1819/20— 1823/24 1513,8 Zentner und einen Wert
von 93876* n\, dagegen die Einfuhr nicht einmal die Hälfte,
nämlich 714,7 Centner und einen Wert von 43 896 fl. betragen
hat, und obgleich viele Mainzer, Frankfurter, Strassburger und
Pariser Schuhe zur Befriedigung der Vorliebe für das Aus-
ländische über die Grenze hereingebracht werden, so trägt
doch auch manche Frau unter dem Namen eines französischen
Schuhs einen bayerischen, welchen ihr aber statt des geschick-
ten Schuhmachers nur teurer der Kaufmann gebracht hat."
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— 154 —
Bei der Schilderung der Entwickelung der Schuhindustrie
in Pirmasens wurde bereits darauf verwiesen, wie die Bildung
des Zollvereins belebend auf den Vertrieb der Waren wirkte.
Denn in den ersten Dezennien unsres Jahrhunderts hemmte
ein über ganz Europa ausgebreitetes System prohibitiver Zölle
den Verkehr auch zwischen den nächsten Nachbarstaaten. Von
den 30 verschiedenen Staaten Deutschlands besass jeder die
eigene Zollhoheit. Das kleine Gebiet der Rheinpfalz war ringsum
eingeschlossen von Zollschranken, und die Pirmasenser Hausierer
mit ihren Körben voll „ Schlappen", die rheinab und rheinauf
nach den Niederlanden und der Schweiz sowie nach Frankreich
zogen, mussten wohl oft genug an den Schlagbäumen, deutschen
wie fremdländischen , Halt machen, um ihre ärmliche Ware zu
verzollen. So lässt es sich begreifen, dass der Vertrieb eine
wesentliche Förderung erhielt, als nach dem Beitritt Bayerns
(am 22. März 1833) mit 1. Januar 1834 der Zollverein ins
Leben trat und für Deutschland ein gemeinsames Zoll- und
Handelssystem schuf, innerhalb dessen Grenzen die Ware frei
nach allen Richtungen ging. Die umliegenden Staaten allerdings,
namentlich Frankreich, hielten ebenso wie Deutschland nach
auswärts, am Zollschutz fest, bis in den (iOer Jahren der Um-
schwung eintrat. Bis dahin stiegen zwar die Einfuhr- und
AusfuhrzilFern , aber doch ohne absolut eine allzugrosse Be-
deutung für das deutsche Wirtschaftsleben zu gewinnen. Nach
Bienengräber, Zollvereinsstatistik S. 390 u. ff., ergeben sich
folgende Ziffern:
Grobe Lederwaren *).
Im Durchschnitt
Einfuhr
Ausfuhr
Mehrausfuhr
1842—1846
869 Ctr.
2428 Ctr.
1 559 Ctr.
1847—1850
750 *
3436 „
2 686 „
1851-1854
1697 „
5513 „
3816 „
1855—1859
2457 „
11415 ,
8958 ,
1860-1864
3 885 „
20 160 „
16 781 „
Grobe Lederwaren wurden berechnet mit 70 Thalern für den
') Unter dieser Position sind zu verstehen: Grobe Schuhmacher-,
Sattler- und Täschnerwaren aus Leder oder Gummi etc.; Zollsatz:
10 Thaler für den Centner.
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— 155 —
Centner; ihre Einfuhr machte also im Durchschnitt 1860 — 1804
27950 Thaler und ihre Ausfuhr 1411620 Thlr. aus.
Feine Lederwaren 1 ).
Im Durchschnitt Einfuhr Ausfuhr Mehrausfuhr
1843-1846 181 Ctr. 1249 Ctr. 1068 Ctr.
1847-1850
171 ,
1509 „
1338
1851-1854
967 „
1892 „
925
1855-1859
2 584 „
5 382 „
2798
1860-1864
1412 ,
11944 „
10532
Feine Lederwaren wurden berechnet mit 200 Thalern pro Cent-
ner, die Einfuhr im Durchschnitt 1860 — 64 belief sich also
auf 282400 Thaler, die Ausfuhr auf 2 388800. Die Haupt-
einfuhrländer waren Oesterreich, Frankreich, Belgien, Holland
und England; über die Ausfuhr sagt Bienengräber: „Es gehen
aus dem Zollverein namentlich viel Schuhmacherwaren aus
den in Berlin, Erfurt, Gotha, Mainz bestehenden grossen Schuh-
fabriken, welche bedeutende Lager fertigen Schuhzeuges halten
und allen Anforderungen zu genügen im stände sind, fast nach
allen Ländern, selbst nach Amerika und Australien." Bayern
nahm kurz vor dem Inkrafttreten des deutsch-französischen
Handelsvertrages mit folgenden Ziffern an diesem internationalen
Handel teil:
Bayern 1864 Grobe Lederwaren Feine Lederwaren
Einfuhr Ausfuhr Einfuhr Ausfuhr
266 Ctr. 1413 Ctr. 65 Ctr. 537 Ctr.
Das ist, nach heutigem Gelde umgerechnet, eine Einfuhr von
insgesamt 94 860 M. und eine Ausfuhr von 618930 M., zwar
das 12- und 20 fache der betreffenden Ziffern um die 20er Jahre
dieses Jahrhunderts, aber absolut höchst geringfügig.
Am 1. Juli 1865 trat der Vertrag des Zollvereins mit
Frankreich in Kraft; er brachte eine wesentliche Herabsetzung
der Zölle, die bis 1879 für grobe Schuhmacherwaren 24 M.
für 100 kg und für feine 60 resp. 42 M. betrug, also weniger
denn die Hälfte als vorher. Diesem Vertrage mit Frank-
*) Dazu gehörten feine Leder- und Portefeuillearbeiten, Sattel- und
Reitzeuge, feine Schuhe aller Art. Zollsatz : 22 Thaler Tür den Centner.
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150 —
reich folgten bald weitere mit Oesterreich, Grossbritannien,
Belgien und Italien; im Jahre 1868 erfolgte bei der Position
„feine Lederwaren* eine abermalige kleine Zollermässigung.
Trotz dieser Erleichterung des Verkehrs vom Auslande nach
dem Zollverein, der natürlicb auch eine Erleichterung des Ex-
portes gegenüberstand, änderten sich in den nächsten Jahren
die Ein- und Ausfuhrziffern für Lederwaren nicht allzustark:
die Verkehrsmöglichkeit war gegeben, das Eisenbahnnetz hatte
bereits eine stattliche Ausdehnung gewonnen, aber noch hatte
sich bei uns die Revolution in der Technik und Produktions-
weise der Schuhwaren nicht vollzogen. Diese begann erst,
wie wir gesehen haben, mit ziemlich bescheidenen Anfängen
um die Wende der 70er Jahre und erst 10—12 Jahre später
trat ein gewaltiger Aufschwung ein, an dem auch Bayern
namentlich mit Pirmasens und sodann mit Schweinfurt Anteil
hatte. Von 1804 an steigen die Ziffern des Imports bis 1871
nur von 259 auf 588 Tonnen; 1872 weist schon eine Einfuhr
von 848 Tonnen auf, die bis 1879 mit einigen Schwankungen
auf 1050 Tonnen sich beläuft. Die Ausfuhr aber beweist,
dass Deutschland in unsrem Gewerbe seine Ueberlegenheit
aufrecht erhält: nach vorübergehendem starken Rückgang in
den Jahren 1863 — 67, einem sprunghaften Aufschwung 1868
und abermaligem Sinken bis 1871 geht sie ziemlich konstant
in die Höhe, bis sie 1879 mit 2470 Tonnen ihren überhaupt
höchsten Stand erreicht hat.
Die radikale Umkehr unsrer deutschen Wirtschaftspolitik
im Jahre 1879 Hess auch den Handel mit Schuhwaren nicht
unberührt. Trotz des vergleichsweise günstigen Verhältnisses
zwischen Import und Export wurden die Zölle für grobe Sorten
von 24 M. auf 50 M. für den Doppelzentner, für feine von
42 und 60 M. auf 70 und 100 M. erhöht. Aber mit diesem
neuen Tarif vom 15. Juli 1879 war die Schuhwarenindustrie
keineswegs zufrieden. Die mechanische Fabrikation beklagte
vornehmlich, dass ihr nun der Bezug von mancherlei Materialien
aus dem Auslande verteuert sei ! ) ; gewisse Ledersorten, dann
*) Handelskaramerberiehte der Pfalz aus den Jahren 1881 (S. 86)
und 1883 (S. 82).
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157 —
Lederabfälle, Schuhgarne, Schuhnägel, Posamenterien, Besatz-
artikel, Rosetten u. dgl. müssten noch vom Auslande bezogen
und verzollt werden. Andrerseits wurden Klagen laut über
die Konkurrenz des Auslandes in fertigen Schuhen, namentlich
von seiten Oesterreich- Ungarns und Frankreichs. So beschloss
Anfang 1883 der Schuhmachermeisterverein in München eine
Petition an den Reichstag zu richten, es solle der Eingangszoll
auf grobe Schuhwaren mit 200 M. und auf feine mit 300 M.
für 100 kg festgesetzt werden, da das beimische Gewerbe
immer mehr in Verfall komme. Diese Petition wurde 1885
vom Zentralvorstand des deutschen Schuhmacherinnungsbundes
in abgeschwächter Form wiederholt, man begnügte sich mit
einer Verdreifachung der bestehenden Zölle, wehrte sich aber
gegen den Beschluss des Reichstages, den Zoll auf Leinen-
nähzwirn von 36 auf 70 M. für 100 kg zu erhöhen. Beide
Petitionen blieben fruchtlos, und was die Wünsche auf Schutz
des heimischen Kleingewerbes durch Absperrung ausländischen
Schuhwerkes betrifft, so bemerkt das „Schuhmacherfachblatt 14
dazu: „Die Einfuhr fremder Schuhwaren kommt gegenüber
unsrer Ausfuhr kaum in Betracht; wir möchten das Land
kennen lernen, das mit Pirmasens, Brandenburg, Kalau etc.
konkurrieren könnte!" Nicht die ausländische, nein die inlän-
dische Grossindustrie bedrängt auf dem heimischen Markte das
Handwerk.
Die folgende, der amtlichen deutschen Warenstatistik ent-
nommene Tabelle zeigt den Gang des Schuhwarenhandels bis
auf die Gegenwart, angefangen von der Einführung des neuen
Zolltarifs. (Siehe S. 158.)
Vor dem Inkrafttreten des neuen Zolltarifs hatte die Ein-
fuhr im Jahre 1879 1050 Tonnen betragen, sie sank bereits
1880 auf 818 Tonnen im Werte von 0 2 a Millionen, um bis
1891 auf 1377 Tonnen im Werte von 16 Millionen M. anzu-
steigen; 1892 weist wieder ein Sinken der Einfuhr auf, das
augenscheinlich mit dem energischen Wettbewerb der deutschen
Schuhwarenfabrikanten auf dem heimischen Markte zusammen-
hängt. Diese Ziffern werden aber ganz enorm überboten von
der Entwickelung der Ausfuhr. 1879 waren 2470 Tonnen
ausgeführt worden, 1880 schon 4521 im Werte von 60 Millionen r
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158 -
*ilso das 6fache der Einfuhr im gleichen Jahre. Der Export
wuchs dann rapid an und erreichte im Jahre 1887 mit 6421
Tonnen im Werte von 114 Millionen M. den Höhepunkt, von
dem er seitdem erst langsamer, dann aber schroffer abfiel, bis
■er im vergangenen Jahre nur noch rund 4000 Tonnen mit
59 Millionen M. Wert betrug. Die ersten Monate des Jahres
1893 weisen ein weiteres Sinken auf.
Einfuhr
Ausfuhr
Feine Leder-
Grobe Leder-
Feine Leder-
Grobe Leder-
waren
waren
waren
waren
Tonnen
1000 M.
Tonnen
1000 M.
Tonnen
1000 M.
Tonnen
1000 M.
1880
345
6 214
473
3 457
3 340
50094
1181
9450
1881
352
6 327
443
3142
4 235
63 527
1141
8 902
1882
356
6401
437
3096
4728
70925
1212
9456
1883
353
6 348
421
2 991
4693
93850
1262
9 841
1884 '
445
8005
395
2809
| 4 815
96 308
1344
10482
1885 ;
486
8 607
311
2060
j 4 444
88 262
1090
8173
1886 j
502
8 899
292
1872
5 084
100 723
1035
7558
1887 |
559
9902
349
2 247 ,
5 376
106493
1045
7 625
18*8
527
8 956
439
2 629 i
1 »>o<o
104042
998
6 987
1889
527
8806
434
2 395
4449
83041
1018
6921
1890
730
12 692
522
2949
4060
75863
1060
7 208
1891
797
13 473
578
3050
3878
70577
1061
6 684
1892
500
8998
448
2341
3 091
53596
913
5 753
Was sind die Gründe dieses Aufschwungs und der ihm
so bald folgenden Abnahme? Wir können sie ziemlich genau
an der Haud der Berichte über den Geschäftsgang der bayeri-
schen Schuhfabriken in der Pfalz und in Unterfranken, die fast
allein für die Ausfuhr in Betracht kommen, erkennen. Mit der
Zunahme des Grossbetriebes dehnte sich zunächst das Export-
geschäft, nicht das Inlandgeschäft, aus. Die Schweiz, die
Niederlande, Südamerika, dann Australien und Rumänien waren
gute Kunden, England bezog ebensowohl ganz feine, wie auch
ganz ordinäre Waren 1 ), während es Schuhwerk mittlerer
Qualität aus Deutschland nicht importierte. Nach Rumänien
*) Vergl. Booth, Labour and life in London, Band 2, S. 270
und 295.
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— 159 —
ging früher viel Ware aus Oesterreich, diese Ausfuhr hörte
mit der Kündigung des österreichisch-rumänischen Handels-
vertrages auf und Deutschland trat an seine Stelle, bis Oester-
reich infolge neuer Zollvereinbarungen wieder siegreich vor-
drang. Der Markt in Frankreich ging der deutschen Schuh-
warenindustrie am frühesten verloren: schon 1882 klagen die
Fabrikanten in Pirmasens, dass die willkürliche Auslegung des
Zolltarif es ihnen die Ausfuhr dorthin unmöglich mache; Zoll-
erhöhungen wirkten dabei hemmend mit. Klagen wurden bald
auch laut über die Erschwerungen der Ausfuhr nach der
Schweiz, wo überdies eine starke mechanische Fabrikation im
eigenen Lande heranwuchs; doch ist erst seit 1891, wo der
Zoll von 30 auf 60 Franken erhöht wurde und ausserdem eine
wenig coulante Handhabung der Tarif bestimmungen sich geltend
machte, speziell der bayerische Schuhwarenexport von Schwein-
furt und Pirmasens nach der Schweiz ganz erheblich ein-
geschränkt worden. Oesterreich und Russland gingen unsrem
Geschäfte auch Mitte der 80er Jahre nahezu verloren. Dagegen
stieg die Einfuhr stark nach Belgien und besonders Holland,
ferner Dänemark, Norwegen und Schweden, sowie den über-
seeischen Ländern, nach den La Plata- Staaten, nach Brasilien
und nach Australien. Das ging fort bis zum Ende der 80er
Jahre. Inzwischen aber hatte sich auch jenseits des Meeres
eine leistungsfähige Grossindustrie entwickelt; in Mexiko, in
Brasilien, in Argentinien entstanden Fabriken, Australiens me-
chanische Schuhfabrikation nahm einen mächtigen Aufschwung;
in letzterem Lande wurden zugleich die Zölle enorm erhöht,
bis zu 50 — 60 °/o des Wertes der eingeführten Waren. In
Südamerika aber vernichteten die politischen und finanziellen
Krisen in Brasilien und Argentinien den deutschen Schuhhandel
ganz, und nun wo die Verhältnisse sich nach dieser Richtung
wieder gebessert haben, ist die deutsche Industrie vom dortigen
Markte verdrängt sowohl durch die inzwischen dort im Inlande
herangewachsene Produktion als durch den Import von Nord-
amerika So wurde das Absatzgebiet unsrer Industrie immer
*) Ein Schubwarenfabrikant in Pirmasens sagte mir im Herbst 1892 :
„Wir können wohl Schiffsladungen Stiefel und Schuhe nach Argentinien
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1130 —
mehr eingeschränkt und die Handelsverträge vom Jahre 1892
haben in den Augen der Schuhfabrikanten schwerlich günstige
Wirkungen: man befürchtet infolge der allerdings nur massig
herabgesetzten Einfuhrzölle Erleichterungen der Einfuhr aus
Oesterreich und Frankreich, während ersteres Land seinerseits
ganz unerhebliche Konzessionen gewährt habe; es müsse ab-
gewartet werden, ob es der Industrie gelingen werde, im In-
lande die Konkurrenz des Auslandes zu bestehen. Schon jetzt
muss zugegeben werden, dass Wien und Paris in feinen Damen-
artikeln, England in Spezialitäten für Herren, die Schweiz mit
derber Mittelware nicht ohne Erfolg in den Wettbewerb auf
dem heimischen Markte eingetreten sind; in jedem grossen
Schuhgeschäfte findet man diese ausländischen Schuhwaren,
und bei weitblickenden Fabrikanten begegnet man bereits der
ernsthaften Besorgnis, dass Nordamerika mit seiner nament-
lich in Massachusetts enorm entwickelten, über höchst voll-
kommene Maschinen und leistungsfähige Arbeiter verfügenden
Grossindustrie dereinst Massen von Schuhwaren auf den
deutschen Markt werfen könne
Dieser Umschwung auf dem Weltmarkt, der sich seit 1887
leider zu Ungunsten der deutschen Fabrikate vollzogen und
ebenso in einem Erstarken der ausländischen Grossindustrie
senden, aber wir kriegen kein Geld dafür/ Umgekehrt hat die Gross-
gerberei von der Finanzkrisis in Argentinien profitiert, indem sie bei
ihren Einkäufen von Häuten und Gerbhölzern ganz erheblichen Nutzen
vom hohen Goldagio ziehen konnte, sobald sie imstande war, grosse
Kapitalien in Gold bei dortigen Banken zu deponieren.
l ) Nach den monatlichen Nachweisen über den auswärtigen Handel
des deutschen Zollgebietes (herausgegeben vom kaiserl. Statist. Amte),
Dezemberheft 1892, ist die Ausfuhr grober Lederwaren am bedeutend-
sten nach der Schweiz (2718 Doppelcentner), dann kommen in absteigen-
der Folge die Niederlande, Russland, Schweden, Oesterreich-Ungarn,
Dänemark, Grossbritannien, Norwegen, Frankreich, Nordamerika, Belgien,
Rumänien; bei feinen Lederwaren steht Grossbritannien obenan (10212
Doppelcentner), es folgen Nordamerika, Schweden, Schweiz, Dänemark,
Oesterreich- Ungarn, Frankreich, Belgien, Italien, Russland, Australien,
Rumänien. Für die Einfuhr feiner Lederwaren (der Import grober Waren
ist sehr geringfügig) liefert Oesterreich-Ungarn die starke Hälfte des
ganzen Betrages , in den Rest teilen sich Frankreich , Belgien , Gross-
britannien, Schweiz und Niederlande.
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101 —
für Schuhbekleidung wie in Zollmassnahmen und Finanzkrisen
seine Gründe hat, muss notwendig auch das Schuhmacherhand-
werk in Deutschland empfindlich berühren. Denn in unsern
einheimischen Schuhfabriken ist zu viel Kapital festgelegt, als
dass sie ihre Produktion wesentlich einschränken könnten; sie
müssen fortarbeiten, und da ihnen der Export beschränkt
worden ist, suchen sie mit verstärktem Eifer den Absatz im
Innern auf und machen der Handarbeit noch mehr Konkurrenz
als zuvor 1 ). Billige Einkäufe der Rohmaterialien , billige
Produktionskosten, kaufmännischer Betrieb sind ihre mächtigen
Waffen, denen das Handwerk keinerlei durchgreifende Abwehr
entgegenzusetzen hat. Die Bedachtnahme auf Solidität und
Eleganz bei der Fabrikware in Verbindung mit niederen Preisen
und die leichte Beschaffungsmöglichkeit in zahlreichen Läden
erleichtern immer mehr den Verbrauch fertigen Schuhwerks.
Der Wettbewerb des „eisernen Schuhmachers" mit dem ehr-
samen Handwerksmeister dauert noch keine 20 Jahre, und schon
ist der Sieg des ersteren entschieden.
*) Diese Erscheinung ist natürlich nicht auf Deutschland be-
schränkt, sie tritt anderswo noch scharfer hervor. Als mit dem Zoll-
krieg zwischen Oesterreich und Rumänien der Export der sehr leistungs-
fähigen österreichischen Schuhfabriken nach dem Donaulande plötzlich
stockte, errichteten die Fabrikanten zahlreiche Magazine und Läden in
den grossen Städten des Inlandes. In Wien wandte sich ihnen der Kon-
sum so stark zu, dass — trotz Befähigungsnachweis — die Handwerker,
Meister und Gehilfen über die Bedrängnis der Schuhmacherei in bitterste
Klagen ausbrachen. In Krakau, wo eine Wiener Firma ebenfalls Maga-
zine eröffnete, kam es Ende 1888 sogar zu Gewalttätigkeiten ; Schuh-
macher rotteten sich zusammen und plünderten die Läden des über-
mächtigen Konkurrenten.
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 11
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Schlusswort zum ersten Teil.
Ueberblicken wir den Gang der bisherigen Erörterungen,
so erhalten wir folgendes summarische Ergebnis: Bayern be-
sitzt eine sehr starke Schuhmacherbevölkerung in einer Ueber-
zahl winziger Einzelbetriebe. Diesen Zustand hat die Gewerbe-
freiheit nicht erst geschaffen, er bestand seit alters auch inner-
halb der Schranken zünftlerischer oder polizeilicher Ordnung
des Gewerbes. Wohl aber hat die nach dem Umschwuner in
den Verkehrsverhältnissen zur Herrschaft gelangende Revo-
lution in der Technik der Schuhmacherei, die eine bis dahin
ganz unbekannte Grossindustrie schuf, die schon früher vor-
handene Bedrängnis des Handwerks sehr verschärft, da die
mechanische Fabrikation mit enormer Ersparnis an Zeit und
Kosten produziert. Die rasch sich entfaltende Grossindustrie
mit starkem Export, die sich durch ungünstige Konjunkturen
allmählich wieder vom Weltmarkte abgedrängt sah, warf sich
mit verstärkter Wucht auf den heimischen Mcirkt. Da sie
billige und gute Ware liefert, wandte sich auch die Nachfrage
mit steigender Intensität ihr zu. Unzweifelhaft hat von dieser
Entwickelung Vorteil gezogen der Konsument von Schuhwaren,
namentlich die minder bemittelten Volksklassen. Ebenso un-
zweifelhaft sieht sich dadurch benachteiligt das Kleingewerbe.
Es ist nun im zweiten Teil die Frage zu beantworten, wie hat
dieser Prozess die soziale und wirtschaftliche Lage der Schuh-
machereibevölkerung selbst beeinflusst?
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Zweiter Teil:
Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände
der bayerischen Schuhmacherbevölkerung.
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XL
Arbeitgeber und Arbeiter.
Mit dem Verfall der alten gewerblichen Ordnung, bestand
sie nun in der Zunft oder in einem vom Staate gehandhabten
Konzessionswesen, hat sich überall eine Verschiebung innerhalb
der gewerbetreibenden Bevölkerung vollzogen, die durch die
Umgestaltung des Verkehrs und die Entwickelung der indu-
striellen Technik mächtig gefördert wurde. Hatte früher der
Lehrling nach zurückgelegter 3 — 4jähriger Lehrzeit die Ge-
sellenprüfung bestanden, die Wanderjahre durchgemacht und
das Meisterstück gefertigt, so musste er, falls er nicht ein
Meisterssohn war oder glücklich in die Zunft heiratete, lange
Zeit warten, bis er selbständiger Inhaber eines Betriebes wurde;
oft erreichte er das Ziel gar nicht. Das wurde mit der Ge-
werbefreiheit anders. Der Geselle erlangte im Handwerk das
Recht, wann, wie und wo es ihm zusagte oder er es vermochte,
sein Gewerbe selbständig auszuüben. Daneben brachte der
Grossbetrieb in der Fabrik es mit sich, dass einerseits nicht
im Gewerbe ausgebildete Arbeitgeber vermöge ihres Kapitals
oder auf Grund ihrer kaufmännischen Kenntnisse an die Spitze
industrieller Unternehmungen traten und andrerseits Frauen,
jugendliche Arbeiter und Kinder in Berufsarten eindrangen,
die bisher den Männern vorbehalten gewesen waren; schliess-
lich ermöglichte der mechanische Betrieb die Heranziehung un-
gelernter Arbeiter, die beim Handwerk durch dessen Eigenart
oder durch die alte gewerbliche Ordnung ausgeschlossen bleiben
mussten.
Diese innerliche Umbildung der gewerblichen Bevölkerung
zeigt sich auch in der Schuhmacherei Bayerns; allerdings tritt
sie hier ziemlich spät auf. Eine namhafte Bedeutung besitzt
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- 160 -
sie erst seit einem Jahrzehnt, seit der kräftigen Entwickelung
der mechanischen Schuhfabrikation.
Und auch hier wiederum sind die Kreise, aus denen die Ar-
beitgeber stammen, bis jetzt noch verhältnismässig weniger be-
rührt als die Arbeiter. Heutzutage sind in der Grossindustrie
die meisten Betriebe noch herausgewachsen aus dem Handwerk
oder doch aus kleingewerblichen Anfängen. Die Geschäfts-
kenntnis, die Erfahrung und die Energie gelernter Fachmänner
haben sich hier bis jetzt als wichtigere Faktoren einer gesunden
Entwickelung gezeigt als der blosse Kapitalbesitz. Indessen
ist doch in unsrem Zweige der Grossindustrie ebenfalls sehr früh
die einsichtige Verbindung mit Kaufleuten eingetreten, um den
Absatz der Waren zu organisiren. ^ Die Regel ist auch jetzt
noch, dass die Fabrik vom Vater, der selbst sein Gewerbe
gründlich gelernt hat, auf den Sohn sich vererbt, der seiner-
seits in der Fabrik und im Komptoir aufgewachsen ist. Eine
in Pirmasens von einer Bank begründete Aktiengesellschaft
hat schlimme Jahre hinter sich; jüngst erst ist aus der
Vereinigung bereits bestehender Fabriken in Nürnberg eine
grosse Gesellschaft auf Aktien entstanden, und bei weiterer
Prosperität des Geschäftes halten wir es nicht für ausgeschlossen,
dass kapitalkräftiger kaufmännischer Unternehmungsgeist auch
in der bayerischen Schuhwaren-Grossindustrie eine bedeutsamere
Rolle spielt als bisher, indem das Kapital an die erste Stelle
tritt und dem Techniker die zweite zuweist.
Im Handwerk der Schuhmacherei trifft die Bezeichnung
„ Arbeitgeber" nur auf den kleineren Teil der Inhaber selb-
ständiger Betriebe zu; schon 1882 arbeiteten ja 67 unter je
100 Meistern in Bayern allein, ohne Gehilfen und Lehrlinge,
in ihrer Werkstatt, und es ist der Gang der Entwickelung, dass
die Zahl der Meister stetig im Verhältnis zu den Gehilfen zu-
nimmt; die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit, die Er-
leichterung der Ansässigraachung und der Veränderung führen
im Kleinbetrieb zu dieser Tendenz. Jeder Gehilfe sucht bald
Meister zu werden; wer dies Ziel nicht erreicht, betrachtet sein
Leben als verfehlt; der „ewige Geselle", den die alte gewerb-
liche Ordnung als regelrechten Stand kannte, ist verschwunden.
Zu dieser Erscheinung gewähren die Ergebnisse der Berufs-
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1G7 —
Zählung vom 5. Juni 1882 einige Aufschlüsse, indem das
königlich bayerische statistische Amt eine Gliederung der
Betriebsinhaber und der Hilfspersonen nach Alter und Ver-
ehelichung aufgestellt hat J ), die ich in folgender kleiner Ta-
belle verwerte:
Nach den Ergebnissen der Berufszählung vom 5. Juni 1382 waren
Stand im
Civil-
! 15-20
im Lebensalter:
in Summa
ZU-
unter
j 2O--30
;30-40
40— ü<t 50-tiO
tl« - 70 70 J- ii.
ledig
verh-
Berufe
»Und
15 J.
1 Jahre
Jahre
| Jahre
Juhre
i Jahre
Jahre
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verw.
sanim.
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250
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7,7
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I. Selb-
ständige
verh.
309»;
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1943K
1075
113
20690
verw.
9
1!»
41
15
2S
15
In München standen 1888 nach einer vom dortigen Fach-
verein der Schuhmacher veranstalteten Enquete von den Ge-
hilfen (ohne die Lehrlinge) im Alter von:
unter 20 Jahren 20-30 Jahren 30—40 Jahren über 40 Jahren
18,5 °/o, G4 °/o, 14,6 7°. 2,9 %.
Man ersieht aus diesen Zahlen, dass die enorme Mehrzahl
der Gehilfen bis zum 30. Lebensjahre selbständige Meister mit
eigenem Hauswesen geworden sind. Noch nicht 1 °;o sämtlicher
Betriebsinhaber ist unter 20 Jahren, dagegen gehören 55°/o der
Hilfspersonen, natürlich alle noch ledig, dieser Altersklasse
an. Schon in der Zeit vom 20. — 30. Jahre ändert sich das
Verhältnis wesentlich (in diesem Alter stehen 17° o aller Meister,
von denen drei Fünftel verheiratet sind, und 33 °o sämtlicher
Gehilfen, die fast noch alle unverehelicht sind), und vom
30. Jahre an dreht sich die Proportion völlig um: Gehilfen,
die das 30. Lebensjahr überschritten und es noch nicht zu
eigenem Betrieb gebracht haben, gibt es nur noch 12°/o der
Gesamtzahl, und hiervon nehmen diejenigen, welche über
40 Jahre alt sind, nur die Hälfte ein ; die Zahl der Verheirateten
und Verwitweten wächst. Umgekehrt sind von den Meistern
über 81°,o mehr als 30 Jahre alt und unter ihnen zählen die
*) Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern, 49. Heft.
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— 1(38 —
Ehescheuen nur 6 vom 100. Für Bayern, kann man sagen,
liegt somit die Grenze für die Etablierung eines selbständigen
Schuhmachereibetriebes mit gleichzeitiger Verehelichung zu-
meist um das 30. Lebensjahr herum, und nur verhältnismässig
wenige Gehilfen erreichen dies Ziel später oder gar nicht *).
Dieser starke Zudrang zum selbständigen Betrieb führt in
das ohnehin bedrängte Kleingewerbe der Schuhmacherei ein
Moment der Beweglichkeit, die sich bis zur Unruhe steigert.
Der Gehilfe errichtet in der Regel zwischen dem 25. — 35. Jahre
ein eigenes Geschäft, er verspürt bald die Ungunst der Zeiten, so
werden Hammer und Ahle wieder fortgelegt und etwas andres
versucht, während ein Nachfolger in der Werkstatt glücklicher
zu sein hofft *). Betrachtet man die statistischen Angaben über
die An- und Abmeldungen der Gewerbe in Bayern unter dem
Gesichtspunkte, dass es sich meist um Besitzwechsel handelt,
bei denen je eine Niederlegung einer Neu-Anmeldung gegenüber-
steht, so erhalten wir als Jahresdurchschnitt für 1883 — 1891
die Zahl von 1228 Schuhmachereibetrieben, in dem letzten
Triennium sogar von 132G, die ihre Inhaber jährlich gewechselt
haben, das sind jeweils 39 — 41 Betriebe unter 1000 im Königreich.
Und zwar scheint es, als ob etwa eine Zeit von nur 2 Jahren
hinreiche, um viele Schuhmacher von der Aussichtslosigkeit
ihres selbständigen Fortkommens im Handwerk zu überzeugen,
da mit grosser Regelmässigkeit die Kurven der An- und Ab-
meldungen ein ums andre Jahr steigen. (Vergl. die graphische
Darstellung auf S. 10.) Auch die wachsende Zunahme der,
zumeist landwirtschaftlichen Nebenbeschäftigung in unsrem Ge-
werbe illustriert dessen sorgenvolle Unruhe. Nicht minder die
relativ grosse Anzahl der Konkurse: nach dem „Statistischen
') Das weibliche Geschlecht ist unter den Arbeitgebern nur ganz
verschwindend vertreten (1882 mit 294 Betriebsinhaberinnen; meist sind
es Witwen [255], die das ihnen hinterlassene Geschäft fortführen).
2 ) Die bereits mehrfach citierte Broschüre , Die Lage der deutschen
Schuhmachergehilfen" (Gotha 1890) spricht von einer regelrechten Flucht
der Berufsgenossen ; in der bayerischen Abgeordnetenkammer wurde
wiederholt darauf hingewiesen, wie gerade die Schuhmacher neben den
Schneidern es seien, die am meisten ihr Gewerbe verliessen, um als
Laternenanzünder, Musiker, Hochzeitlader, Dienstmänner etc. ihren Unter-
halt zu suchen.
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1 G9
Jahrbuch des deutschen Reiches" für 1802 steht unter sämt-
lichen Berufsklassen Gruppe XIII „Bekleidung und Reinigung"
in der Konkursstatistik an zweiter Stelle — nur die Handels-
gewerbe übertreffen sie noch weitaus — , und hier wiederum
weisen die Schuhmacher die höchste Zahl der Konkurse auf,
nämlich 324 in 1891 und 289 in 1892.
Viel tiefer gehen, wie bereits bemerkt, die Veränderungen
und Verschiebungen in der Arbeiterbevölkerung des Schuh-
machergewerbes. Das eine Moment, das Verschwinden des
zu ewiger Unselbständigkeit verurteilten Gesellentums im
Kleinbetrieb, haben wir eben besprochen. Daneben aber ist
in der Grossindustrie ein besonderer Arbeiterstand heran-
gewachsen, in dem nur wenige ganz ausgezeichnete Arbeiter
es bis zum Fabrikanten bringen. Der Maschinenbetrieb lässt
die Konkurrenz der Frauen- und Kinderarbeit scharf hervor-
treten, die im Handwerk, abgesehen von gelegentlichen Hand-
reichungen der Famjlienglieder des Meisters , ausgeschlossen
war. Die Nähmaschine indessen, die seit einigen 30 Jahren
eine riesige Verbreitung in allen Betriebsformen der Schuh-
macherei gefunden hat, wurde bald zur Domäne der Frauen-
arbeit — auch im Kleingewerbe, wo meist Frauen und Töchter
der Inhaber, viel seltener eigene Lohnarbeiterinnen das Nähen
und Steppen der Schäfte besorgen. In der Fabrik hat die Lohn-
arbeiterin den Mann aus diesem einen Operationsgebiet gänzlich
verdrängt; abgesehen vom Zuschneiden ist die Schaftarbeit durch-
aus in den Händen von Frauen und Mädchen. Und die von
der Grossindustrie ins Leben gerufene Heimarbeit hat ebenfalls
weibliche Arbeitskräfte in sehr grossem Umfange herangezogen.
Hier müssen auch die Kinder von zartem Alter an ihren An-
teil an der Arbeit tragen, während in der Fabrik doch wenig-
stens eine Grenze nach unten gesetzlich bestimmt ist und die
Art der Beschäftigung, die auch in der Bedienung der Ma-
schinen ein bestimmtes Mass von Aufmerksamkeit, Gewandt-
heit und Kraft voraussetzt, der übermässigen Verwendung
kindlicher Hände eine Schranke zieht.
Dies Eindringen weiblicher und kindlicher Arbeit in die
Schuhmacherei hat mit der mechanischen Fabrikation das gleiche
Datum der Entstehung. In England, in Nordamerika, in der
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— 170 —
Schweiz ist dies ebenso der Fall wie in Deutschland. Wie
rapide sich hier ein Umschwung vollziehen kann, beweist ein
im „ Schuhmacherfachblatt " Jahrgang 1889 Nr. 5 erzähltes
Vorkommnis. In einer mitteldeutschen Stadt waren bis zum
Jahre 1888 fast ausschliesslich männliche Handarbeiter in den
Schuhmacherei- Grossbetrieben beschäftigt. Nun führten deren
Inhaber plötzlich (vermutlich infolge von Lohnsteigerungen)
viele und leistungsfähige Maschinen neu ein, entliessen zahl-
reiche der verhältnismässig hochgelohnten Arbeiter und stellten
Frauen und Kinder ein. Die entlassenen Schuhmacher aber
etablierten sich als „selbständige Meister" mit Zwergbetrieben
ohne Gehilfen und Lehrlinge, d. h. sie wurden in Wirklich-
keit Lohnarbeiter und Flicker für andre Meister. Diese völlige
Umwälzung vollzog sich nahezu mit einem Schlage! Einige
ziffernmässige Belege mögen ferner darthun, in welchem Um-
fange die weibliche Arbeiterin bei der Herstellung von Schuh-
waren im grossen Verwendung findet. In den Jahren 1874
und 75 wurden vom Reiche Erhebungen über die Verhältnisse
der Fabrikarbeiterinnen und der jugendlichen Fabrikarbeiter
veranstaltet 1 ); sie umfassten alle Betriebe, die zehn Personen
und mehr beschäftigten, in einer grossen Anzahl von Industrie-
zweigen — unter diesen ist indessen die Schuhmacherei nicht.
Und in der That zählt die Gewerbestatistik des Jahres 1875
in Bayern unter dem Arbeiterpersonal nur 592 Frauen und
Mädchen (558 unter der Rubrik Gehilfen, 24 bei den Lehr-
lingen resp. jugendlichen Arbeitern); im Grossbetrieb (Geschäft
mit mehr als 5 Gehilfen) wurden nur 282 Arbeiterinnen über
16 Jahre, 20 zwischen 14 und 1(3 Jahren und 4 mit 12—14
Jahren gezählt. Auch die Aufnahme vom 5. Juni 1882 zeigt
erst eine geringe Zunahme: 744 weibliche Arbeitskräfte im
Gross- und Kleinbetrieb und 125 in der Hausindustrie. Das
hat sich gründlich geändert. In den Berichten der bayerischen
Fabrikinspektoren, die mangels andrer Daten uns hier als
Quelle dienen müssen, werden schon im ersten Jahre (1879)
l ) Diese zum Zwecke der Gewinnung von Material für die Erörte-
rungen der Arbeiterschutzfrage angestellten Erhebungen sind vom Reichs-
kanzleramt 1S77 veröffentlicht.
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171
vereinzelte Betriebe aufgeführt, in denen die weiblichen Ar-
beiterinnen 60—120% der männlichen ausmachen. 1880 wurden
in der Rheinpfalz 20 Schuhfabriken inspiziert mit insgesamt
305 Arbeiterinnen unter einem Personal von 980. Im Bericht
für das Jahr 1882 wird von dem Inspektor für Franken und
die Oberpfalz bemerkt: „In den Schuh- und Schäftefabriken
stehen männliche und weibliche Arbeiter sich an Zahl gleich" ;
in fünf inspizierten Betrieben mit 344 Personen waren 100 weib-
liche; für die Rheinpfalz wird das gleiche berichtet. 1808 heisst
es von Mittelfranken, dass in der Schuhschäftefabrikation 70° o
weibliche Arbeiterinnen thätig seien; in der Pfalz waren in
HO Betrieben 817 Arbeiterinnen, darunter 143 jugendliche.
1889 wird abermals für die Pfalz konstatiert, dass in den
Schuhfabriken weibliche Arbeitskräfte „in hervorragendem
Masse" verwendet wurden und etwa die Hälfte der männlichen
Arbeiter betrugen. 1890 werden ca. 000 Arbeiterinnen in der
pfälzischen Schuhindustrie neu eingestellt. Ein Blick in die
Praxis bestätigt für die Gegenwart, aus der genaue statistische
Angaben zur Zeit nach dieser Richtung hin nicht vorliegen,
dass der Anteil der Frauenarbeit im Schuhmacherei- Gross-
betrieb recht umfangreich ist 1 ).
Die Verwendung von Kindern und jugendlichen Personen
ist dagegen, was die Fabriken betrifft, in entschiedener Ab-
nahme begriffen; in der Hausindustrie allerdings muss „jedes
Kind sich durch irgend eine kleine Arbeit und Hilfeleistung
nützlich machen" 2 ). Kinder finden sich als in Fabriken thätig
überhaupt im ganzen nur wenig verzeichnet; weit häufiger
treten schon die jugendlichen Arbeiter (14 — 16 Jahre) auf; sie
steigen in der Rheinpfalz in Gruppe XIII, zu der die Schuh-
macherei gehört, von 1880—1882 von o auf 9°/o sämtlicher
Arbeiter in den inspizierten Betrieben. 1883 waren in Ober-
bayern unter 12 Grossbetrieben mit 373 Arbeitern sogar 89
unter 16 Jahren; 1885 in der Pfalz in 25 Schuhfabriken unter
*) In England waren 1881 in unsrem Gewerbe beschäftigt 180884
Männer und 35 672 Frauen. In der Schweiz weist die amtliche Statistik
in 33 Schuhfabriken 1890 Männer und 1865 Frauen auf für das Jahr 1890.
a ) Jahresbericht der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrgang 1879,
S. 121.
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— 172
1096 indessen nur 210; 1887 in 5 Betrieben Frankens mit
199 Arbeitern gar nur 4 jugendliche, was ein seltener Aus-
nahmsfall sein dürfte. In 7 Fabriken der Pfalz waren 1887
gegenüber 459 Erwachsenen 12 Kinder und 48 jugendliche
Arbeiter; in Unterfranken wurden in 3 Betrieben 218 Er-
wachsene und 13 Jugendliche getroffen. 1888 arbeiteten in
9 Fabriken Mittelfrankens 287 Erwachsene und 29 Jugendliche,
in der Pfalz unter 2117 Arbeitern in 30 Fabriken 101 Kinder
und 395 Jugendliche, in 2 Betrieben Unterfrankens mit 254
Arbeitern nur 15 Jugendliche. Für 1892 konstatieren die Be-
richte als Wirkung des Arbeiterschutzgesetzes vom 1. Juni 1891
ein fast völliges Verschwinden der Kinderarbeit; Klagen über
unpassende, übermässig anstrengende Verwendung jugendlicher
Arbeiter werden nicht vorgebracht.
Es erscheint mir daher als eine Uebertreibung, wenn in
Schuhmacherblättern des öfteren behauptet wird, heute schon
sei in den mechanischen Schuhfabriken der gelernte Schuh-
-
macher ganz entbehrlich; Kinder und Frauen sowie beliebige
männliche Arbeiter könnten dabei Verwendung finden. Was
die „Kinder" anbetrifft, so haben die Bestimmungen der Ge-
werbe-Ordnung ihren Einfluss nicht verfehlt. Im Jahre 1881
kündigte z. B. ein grosser Teil der Schuhfabrikanten in Pirma-
sens, erbittert über die vermeintlich ungerechtfertigte Mole-
stierung, die sofortige Entlassung der jugendlichen Arbeiter
an J ), besann sich dann aber später eines Besseren. In der
Arbeiterschaft laufen Erzählungen um, wie dieser und jener
Fabrikant beim unvermuteten Nahen des staatlichen Aufsichts-
beamten Kinder in Kisten verborgen habe, um sich der lästigen
Kontrolle zu entziehen ; es wird aber zugegeben, dass derartige
Trics der Vergangenheit angehören. Nicht in den Fabriken
liegt der Schaden der Kinderarbeit, sondern in der Hausindustrie
mit ihren dumpfen Räumen, überlanger Arbeitszeit und un-
passender Beschäftigung, die jeder amtlichen Kontrolle ent-
behren. — In Bezug auf die Frauenarbeit im Grossbetriebe
ist zu konstatieren, dass sie zwar die gesamte Schaftarbeit in
') Jahresbericht der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrgang 1881,
S. 76.
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— 173 —
gesichertem Besitze hält — das wird als unabänderliche That-
sache hingenommen — , dagegen sind keinerlei Anzeichen zu
erblicken, dass Frauen und Mädchen in andern Teilarbeiten
der Schuhmacherei, vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, stän-
digen Boden fassen. Das Zuschneiden, Ausstanzen, Zwicken,
Ausputzen, die gesamte Bodenarbeit ist in den Händen der
Männer und wird ihnen verbleiben, auch wenn die Maschine
die Alleinherrscherin im Grossbetriebe geworden ist, da diese
Arbeiten Materialkenntnis, körperliche Kraft, besondere Ge-
wandtheit und Anspannung beanspruchen. Je höhere An-
forderungen die Maschine an die geistige Leistungsfähigkeit
des Arbeiters stellen und die Muskelanstrengung verringern
wird, um so mehr wird auch die Verwendung „ungelernter"
Arbeiter schwinden. Schon jetzt werden sie nicht gerne heran-
gezogen, in der Regel rekrutieren sich die erwachsenen Arbeiter
in der Schuhwaren-Grossindustrie aus den Jugendlichen und
dem Handwerkerstande. Einsichtige Fabrikanten stellen mit
Vorliebe gelernte Schuhmacher ein, und es ist eine häufig zu
hörende Beschwerde auf der einen Seite, dass ein gewisser
„ Zunftstolz " den Uebertritt vom Kleingewerbe in den mecha-
nischen Betrieb hindere, auf der andern, dass die Grossindustrie
dem Handwerk durch höhere Löhne und bessere Arbeits-
bedingungen gute Arbeitskräfte entziehe.
Und, so wird man fragen müssen, ist der Kleinbetrieb
auf die Dauer imstande, für guten Nachwuchs zu sorgen ? Die
Lehrlingsfrage ist gerade im Schuhmachergewerbe kein heiteres
Kapitel. Die auf Beschluss des Bundesrates vom 19. Fe-
bruar 1875 vorgenommenen „Erhebungen über die Verhältnisse der
Lehrlinge, Gesellen und Fabrikarbeiter" l ) konstatieren (S. 22 f.):
„Die Klagen über den derzeitigen Zustand der Lehrlingsbildung
sind weit verbreitet und laufen namentlich darauf hinaus, dass
die meisten Lehrlinge den Meister während der Lehrzeit mehr-
mals wechseln und, ohne den Ablauf der Lehrzeit abzuwarten,
in den Gesellenstand übertreten/ Später (S. o4j55) wird aber
auch festgestellt, dass gerade im Bekleidungsgewerbe die Ar-
beitszeit für Lehrlinge übermässig lang ist und (S. 64) dass
*) Zusammengestellt im Reichskanzleramt. Berlin 1877.
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174 —
in vielen Geschäften, namentlich auch bei den Schuhmachern,
dem Lehrling nach dem Schluss der gewöhnlichen Arbeitszeit
die Reinigung der Werkstätte, die Ablieferung der fertigen
Waren an die Besteller und teilweise auch häusliche Dienst-
leistungen obliegen. Diese Erscheinungen sind aber keineswegs
notwendige Wirkungen der Gewerbefreiheit, und die Klagen
über mangelhafte Fachausbildung der Lehrlinge sind unter
der alten gewerblichen Ordnung nicht minder laut geworden
(vergl. S. 25). Neuerdings macht sich ein ernsthaftes und
tiefer dringendes Bestreben hie und da geltend, Wandel zum
Bessern zu schaffen ; es gibt in Bayern einzelne Innungen, die
das Aufdingen und ebenso das Freisprechen der Lehrlinge in
feierlicher Weise vornehmen, um die Bedeutsamkeit dieser
Schritte einzuprägen; es werden Lehrbriefe ausgestellt und von
den städtischen Behörden bestätigt (so in München); Fach-
schulen und Fachkurse sollen für eine gründlichere Ausbildung
sorgen, Ausstellungen zeigen, was die Lehrlinge gelernt haben.
Zuweilen erfolgt auch eine öffentliche Warnung vor leicht-
fertigem Zudrang zur Schuhmacherei, die ein übersetztes Ge-
werbe . sei. Im Gegensatz hierzu begegnet man aber auch
Fällen schlimmer Lehrlingszüchterei zur Durchführung einer
„ Schmutzkonkurrenz " .
Der jugendliche Arbeiter in der Fabrik hat gleich im An-
fange ein günstigeres Los als der Handwerkerlehrling. In den
1870 — 80er Jahren, als der mechanische Betrieb seinen Auf-
schwung nahm, war zeitweilig starker Begehr nach Arbeits-
kräften. Die gelernten Schuhmacher aber waren schwer aus
ihren gewohnten Geleisen zu bringen, für die neuen Maschinen
musste ein tüchtiges Personal erst herangebildet werden. Darum
treffen wir auch in Schuhfabriken so viele junge Leute, die,
in der Umgegend der Industrie-Standorte ansässig, vielfach die
landwirtschaftliche Arbeit niedergelegt haben, um die lohnendere
Beschäftigung der Fabrik aufzusuchen 1 ). Hier verdient der
') Vergl. „Verhältnisse der Landarbeiter" Band II, Schriften des
Vereins für Sozialpolitik L1V, S. 152 und 194: „Obgleich sich die er-
wachsenen Kinder männlichen Geschlechts zwar meist noch den landwirt-
schaftlichen Arbeiten widmen, ist doch die Zahl derer, die ein Handwerk
erlernen oder zur Industrie übergehen, nicht klein. . . . Die Freiheit der
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175
Knabe oder das Mädchen schon nach wenigen Wochen Geld;
nach einigen Jahren werden sie Zwicker oder Stepperinnen
mit relativ guten Löhnen. Diese Aussicht lockt natürlich die
jungen Leute. Sie bedenken nicht, dass die Arbeit in der
Fabrik ihnen nur in den allerseltensten Fällen den Weg zu
eigener Selbständigkeit im Betriebe eröffnet, dass die rastlose
Bedienung der Maschine, die so wenig körperliche Anstrengung
zu erfordern scheint, um so mehr die Nerven und das Gehirn
in Anspruch nimmt, und dass mit Ausnahme weniger vorzüg-
licher Arbeiter der Fabrikant sie bei Abnahme ihrer Leistungs-
fähigkeit niedriger löhnt oder in die Heimarbeit mit all ihrer
Not verweist. Das Los des alternden Arbeiters im haus-
industriellen Grossbetriebe, der sich zu Hause mit Weib und
Kind um kärglichen Lohn abplackt und der von den ohnedies
mässigen Rechten der Alters- und Invalidenversicherung auch
noch ausgeschlossen ist, steht dem in weiten Kreisen des Klein-
betriebes unseres Gewerbes herrschenden Elend nicht nach,
der jugendliche und in mittleren Jahren stehende Fabrik-
arbeiter dagegen ist dem Lehrling und dem Gehilfen im all-
gemeinen weit überlegen.
Es erübrigt, in diesem Zusammenhange noch einige Worte
zu sagen über das Verhältnis, das zwischen Arbeitgebern und
Arbeitern und das innerhalb einer jeden dieser beiden Kate-
gorien zwischen den Angehörigen des Grossbetriebes und des
Handwerks herrscht. Im Kleinbetrieb ist der wirtschaftliche
und der soziale Unterschied zwischen den überwiegend allein in
der Werkstatt arbeitenden Meistern und den Gehilfen vielfach
ganz verwischt. Beiden geht es oft so schlecht, dass sie sich
solidarisch fühlen. „Der Gehilfe", so schreibt mir ein Gewährs-
mann aus Nürnberg, „sieht ein, dass der Meister selbst schwer
städtischen und der Fabrikarbeiter in den Stunden vor Beginn und nach
Schluss der Arbeit, besonders aber die hohen Löhne, die die Industrie
gewähren kann, bewirken, dass gerade die intelligentesten und that-
kräftigsten Arbeiter sich von der Landwirtschaft immer mehr abwen-
den. ... In der Gegend von Pirmasens verdienen Leute von 17 — 18 Jahren
schon oft (?) 18 M. und mehr die Woche beim Anfertigen von Schuhen;
es bleiben manchmal die Felder unbebaut, während die Söhne von Klein-
bauern Schuhe anfertigen."
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— 170 —
bedrängt ist, und der Meister findet das Verlangen der Ge-
hilfen nach besserem Verdienst vollkommen berechtigt und
würde ihm solchen auch von Herzen gönnen, wenn er selbst
höhere Löhne gewähren könnte." Dies Zusammenhalten der
kleinen Meister mit den Gehilfen tritt auch in Versammlungen,
in Fachvereinen und in der Presse oft zu Tage; die gleiche
politische Gesinnung verstärkt die Gemeinsamkeit. Natürlich
fehlt es auch an Zwistigkeiten und Reibereien im Handwerk
nicht; in den grossen Kundengeschäften, in stark besetzten
Werkstätten klagen die Gehilfen über ein patriarchalisches
System der Bevormundung, die Betriebsinhaber über Prä-
tensionen und Aufsässigkeit der Gehilfen; namentlich besteht
— begreiflicherweise — zwischen den Innungsfanatikern und
den sozialdemokratischen Wortführern der Schuhmacher eine
beständige Spannung.
Viel schärfer und allgemeiner ist indessen, wie übrigens
allerwärts, der Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitern
in der Grossindustrie ausgeprägt. Namentlich kann man in
Pirmasens hierüber viele Klagen auf beiden Seiten hören. Die
Ersteren beschweren sich, dass die sozialdemokratischen Lehren
das gute Verhältnis mit ihren Arbeitern zerstört hätten; an
Stelle des gegenseitigen Vertrauens sei Feindseligkeit getreten,
hohe Ansprüche und Genusssucht der Arbeiter miuderten ihre
Leistungsfähigkeit. Die Arbeiter erwidern dagegen, erst seit-
dem sie Sozialdemokraten seien, hätten sie in solidarischer
Wahrung ihrer Interessen es vermocht, manchen Uebelstand
abzustellen, so z. B. die Ausbeutung durch ein organisiertes
Trucksystem; sie müssten sich gegen Lohndrückereien , will-
kürliche Entlassung, schwarze Listen u. a. m. wehren. In der
That können manche Fabrikanten sich nur sehr schwer daran
gewöhnen, die rechtlich verbürgte Freiheit auch thatsächlich
den Arbeitern zuzugestehen, und noch schwerer als der öko-
nomische Druck lastet auf den letzteren die soziale Ueber-
hebung vieler Arbeitgeber. Von einer ständigen Vertretung
ihrer Arbeiter in Ausschüssen wollen die Grossindustriellen in
Pirmasens nichts wissen; als bei den Wahlen zum Gewerbe-
gericht Ende September 1892 in der Klasse der Arbeitnehmer
sechs waschechte Sozialdemokraten gewählt wurden, vermochten
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— 177 —
die Fabrikanten sich nur schwer dazu, mit diesen zusammen
zu raten und zu richten. Wie äusserst gespannt die Verhält-
nisse in Pirmasens sind, beweisen die argen Krawalle nach
der Stichwahl zum Reichstag am 24. und 25. Juni 1893, die
zwar ihren nächsten Anlass in rein politischen Ursachen hatten,
aber doch in dem auf Seite der Arbeiter lang aufgespeicherten
Groll wurzelten. Weitsichtige Fabrikanten und ebenso intelli-
gente Arbeiter verschliessen sich freilich nicht der Ueberzeugung,
dass ein friedliches Einverständnis mit genauer Abgrenzung
der Rechte und der Pflichten für beide Teile das einzig Erspriess-
liche wäre. Aber für jetzt stehen sich Fabrikfeudalität und
ungestümes Streben der Arbeiter nach Verwirklichung der ihnen
gesetzlich zuerkannten Gleichberechtigung vielfach noch schroff
gegenüber.
Dagegen ist von einer Differenz der Arbeiterschaft in der
Grossindustrie und im Kleinbetrieb mit Fug nicht die Rede.
Wie schon bemerkt, wird die Frauenarbeit auf einem be-
stimmten Gebiet, der Schaftarbeit, wo die Nähmaschine in
ihren verschiedenen Formen herrscht, rückhaltlos als Thatsache
anerkannt; hier wird die weibliche Arbeitskraft als gleich-
berechtigte, ja als erwünschte Hilfe für den Gatten und den
Familienvater geschätzt. Von dem Zustande, dass mit der Ver-
heiratung die Frau aufhört, in der Fabrik zu arbeiten, sind
wir in unsrem Gewerbe noch himmelweit entfernt. Auch die
Klagen über die missbräuchliche Verwendung jugendlicher Ar-
beiter verstummen, abgesehen von den Beschwerden über Lehr-
lingszüchterei im Kleinbetriebe, mehr und mehr. Besteht viel-
fach noch bei den Gehilfen ein an sich ja nur erfreulicher
Stolz auf das ehrsame Handwerk, das man nach den Regeln
erlernt habe, während der Fabrikarbeiter nur ein Maschinen-
knecht sei, so hält diese moralische Genugthuung auf die Dauer
doch nicht Stand gegenüber den höheren Löhnen, der kürzeren
Arbeitszeit und der besseren Lebenshaltung, die die Gross-
industrie gewährt. Handwerksgehilfen und Fabrikarbeiter be-
gegnen sich aber in der gemeinsamen Bekämpfung der Heim-
arbeit, in der sie ein Haupthindernis für eine Verbesserung
ihrer Lage erblicken; in diesem schier unerschöpflichen Re-
servoir findet nach ihrer Ansicht ebenso wie in der Menge der
Francke, Die Schuhmarherei in Bayern. 12
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— 178 —
Arbeitslosen der Arbeitgeber immer ein williges und billiges
Angebot von „Händen", um die in der Fabrik und in der Werk-
statt stehenden Arbeiter zu drücken.
Endlos und erbittert sind die Beschwerden der Klein-
meister über die Konkurrenz der Grossindustrie, ungestüm das
Verlangen nach Abhilfe durch das Eingreifen des Staates zur
Wahrung des bedrohten Handwerks. In der That entbehren
die Klagen des Kleingewerbes in der Schuhmacherei nicht des
Grundes, wenn sie sich auch in den Forderungen nach Hilfe
und Abhilfe fast regelmässig vergreifen. In diesem Bewusstsein
kann sich der mechanische Grossbetrieb ruhig ein theoretisches
Mitleiden, wie ich es öfters wahrgenommen habe, mit dem
hartbedrängten Handwerk gestatten; sein Vordringen auf der
gesamten Linie wird dadurch nicht aufgehalten.
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XII.
Die ArMtsbedingungen.
a) Die Arbeitslöhne.
Die Angehörigen des Schuhmachergewerbes in seiner alther-
gebrachten Betriebsform des Handwerkes stehen durchweg auf
einer sehr niedrigen Stufe des Lohneinkommens. Dies ist
keine Erscheinung der Neuzeit , keine Folge der gewerblichen
Umwälzung , sondern nach allem , was darüber bekannt ist,
waren die Arbeitslöhne in unsrem Gewerbe zu allen Zeiten
sehr gering, und in allen andern Ländern, wo die Schuhmacherei
noch vorherrschend im Kleinbetrieb ausgeübt wird, zeigt sich
die gleiche, fast sprichwörtlich gewordene Thatsache l ). „Wie
kommt es nun, fragt der .Schuhmacher 4 (Jahrgang 1887 Nr. 3),
„dass unter allen gewerblichen und industriellen Arbeitern gerade
der Schuhmacher der schlechtest gestellte ist, dass er selbst,
trotzdem er sein Gewerbe mit vielen Mühen und Kosten er-
lernt, noch unter dem gewöhnlichen Taglöhner steht?" Einer
der hauptsächlichsten Gründe hierfür ist sicher die herkömm-
liche Ueberfüllung des Gewerbes, dessen Rekruten vorzugs-
weise aus den ärmsten Klassen der Bevölkerung stammen. Die
traditionelle niedere Lebenshaltung wird infolge der Konkurrenz
weiter bewahrt; kann der Meister am Material nicht sparen,
so wird der Lohn noch tiefer herabgedrückt — kann man
doch sicher sein, fast stets Arbeitskräfte zu bekommen, die
froh sind, überhaupt nur selbst mit dem kärglichsten Verdienste
ihr Leben zu fristen. Eine für 1885 aufgestellte Lohnstatistik der
deutschen Berufsgenossenschaften, die die Angehörigen von 57
') Vergl. Ro scli er, Grundlagen der Nationalökonomie I, S. 451,
455, 473.
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— 180 -
Berufsgenossenschaften umfasst, beziffert das Durchschnitts-
einkommen des deutschen Arbeiters auf 049 M.; die höchsten
Löhne haben die Arbeiter der Gas- und Wasserwerke (988 M.),
die Schuhmacher kommen erst in der 49. Gruppe mit 492 M.,
wobei allerdings zu bemerken ist. dass in dieser Gruppe, der
gesamten Bekleidungsindustrie, die grosse Zahl der miserabel
bezahlten Näherinnen das Durchschnittseinkommen stark herab-
drückt. Jedenfalls aber beweist die Thatsache, dass die in
der gewerblichen Bewegung der Schuhmachergehilfen öfters
aufgestellte Forderung eines Minimaltagelohnes nicht höher sich
erstreckt als auf 2 M. 50 Pf., wie niedrig in Wirklichkeit all-
gemein die Gehilfenlöhne sind.
Weniger noch als in andern Gewerben ist uns hier mit
Durchschnittsangaben des Lohneinkommens gedient. Diese
lassen richtige Schlüsse auf die thatsächlich gezahlten Einzel-
löhne gerade in der Schuhmacherei keineswegs zu. Das ver-
hindert schon die Unmöglichkeit, Stücklöhne und Wochenlöhne
miteinander zu vergleichen : auf wenige gut oder doch leidlich
gezahlte Arbeiter kommt eine grosse Zahl niedrig gelohnter;
nur ein Theil des Einkommens wird oft in Geld ausgezahlt,
ziemlich weit ist noch das „ patriarchalische" System verbreitet,
dass der Gehilfe Kost und Logis oder wenigstens die Schlaf-
stelle vom Meister geliefert erhält; endlich ist die Unsitte
manchfacher Abzüge vom Lohn viel im Schwange. Wollen
wir die Lohnverhältnisse der Schuhmacher in Bayern, wie sie
wirklich sind, kennen lernen, so bleibt uns nichts übrig, als
eine Anzahl von Individuallöhnen aufzuführen, und zwar hier
auch wieder getrennt nach den Betriebsformen, in denen unser
Gewerbe erscheint: Handwerk, Heimarbeit, Fabrik. Was eine
derartige Darstellung an Uebersichtlichkeit verliert, gewinnt sie
an Zuverlässigkeit. Wir beginnen mit den Löhnen im Hand-
werk.
In den grösseren Städten ist hier der reine Geldlohn mehr
und mehr durchgeführt; Kost wird den Gehilfen nur in den
seltensten Fällen noch vom Meister gereicht, abgesehen vom
Morgenkaffee, der dann besonders bezahlt wird ; eher vermietet
der Meister, um die teuren Mietpreise der eigenen Wohnung
und Werkstatt teilweise wieder hereinzubringen, Schlafstellen
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181
an die Gesellen. Anders in den kleinen Orten, wo der
„ Patriarchalismus tt noch sein Gewohnheitsrecht behält und die
Abzüge für Kost und Logis den Geldlohn auf eine ganz gering-
fügige Summe herabdrücken. Bei der Störarbeit auf dem
Lande erhält sogar der Betriebsinhaber eine namhafte Quote
seines Einkommens in der Kost geliefert, ebenso wie er selbst
auch im Tagelohn oder Stücklohn steht, während er den Ge-
hilfen, die bei ihm wohnen und mit ihm essen, Wochenlöhne
zahlt. Dagegen ist das Accordsystem in allen grösseren Kund-
geschäften die Regel; hier stehen im Wochenlohn gewöhnlich
nur die geringen Arbeiter, die Reparaturen oder Kinder-
beschuhung machen, und die Kategorien der Zuschneider, Vor-
richter, Stepperinnen. Für Stücklöhne existiert gewöhnlich ein
detaillierter Tarif, der freilich oft nur für die eine Werkstatt
Gültigkeit hat und selbst hier häufig nach der Willkür des
Meisters oder den Konjunkturen des Marktes Abänderungen
erfährt, Bestrebungen, in grösseren Städten einen für alle Be-
triebe verbindlichen Einheitstarif mit längerer Geltungsdauer
aufzustellen, haben selten Erfolg gehabt. Unter den Ge-
hilfen geht nun vielfach die Klage, dass diese Lohntarife auf
falschem Grundsatze aufgestellt seien , indem für die Arbeit-
geber bei der Festsetzung der Löhne der Preis, den sie für
die einzelnen Warengattungen vom Kunden erhalten, mass-
gebend ist, während die Gehilfen für das gleiche Arbeits-
quantum stets den gleichen Lohn verlangen. Das führt natür-
lich zu mancherlei Misshelligkeiten.
Unter solchen Verhältnissen beliefen sich in München
nach einer Enquete des Schuhmacherfach Vereins i. J. 1888
die Löhne wie folgt: 93 °/o sämtlicher Gehilfen standen im
Stücklohn, nur 7 °;o im Wochenlohn. Einen Durchschnittslohn
von 14 — 18 M. und höher im Accord wöchentlich hatten nur
3 unter je 100 Gesellen; 44% verdienten 13 M. 50 Pf., die
gleiche Anzahl nur 8 M. 25 Pf., während bei 9 V der Lohn
auf 5—7 M. wöchentlich sank. Der Gesamtdurchschnitts-
lohn eines Gehilfen wird auf 10 M. 87 Pf. angegeben. Für
Nürnberg wird im Wochenlohn, der auch dort selten
zur Anwendung kommt, ein durchschnittlicher Verdienst von
11—14 M., für manche jüngere Gehilfen von (3—10 M. mit-
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geteilt; das Einkommen auf Stückarbeit kann sich in der Woche
auf 15 — 20 M., bei sehr geschickten Arbeitern vielleicht noch
höher, belaufen; denn, wie mein Gewährsmann mitteilt, sind
nach dem Tarife die Löhne für Stückarbeit nicht schlecht fixiert,
die Erwerbsverhältnisse sind aber derart, dass der Gehilfe nicht
immer Gelegenheit hat, vollauf zu arbeiten, und deshalb auch
oft mit geringerem Verdienst vorlieb nehmen muss. In Würz-
burg waren 1885 die Lohnverhältnisse sehr schlecht. Der
Lohntarif der Innungsmeister berechnete für Herstellung eines
Paares Damenstiefel 1 M. 70—00 Pf., für Kinderstiefel 80 Pf.
bis 1 M. 40 Pf., Herrenstiefel 2 M. 85 Pf. bis 3 M. 50 Pf.
„Hier sind," so heisst es in einer Korrespondenz des , Schuh-
macherfachblatts 4 , „viele kleine Meister, die für sich selbst wenig
zu thun haben und darum die besten Worte geben, um nur
von ihren grösseren Kollegen Arbeit zu bekommen. Wenn
die Gesellen dann etwas sagen, so heisst es: ,Ich bekomme
meine Arbeit auf Logis gemacht und brauche überhaupt keine
Gehilfen in meiner Werkstatt 1 . " Dann bequemt man sich zu
Stückarbeit unter dem Tarife. In kleineren Ortschaften ist es
sehr schwer, nur halbwegs zuverlässige Angaben zu bekommen.
In einem Städtchen an der Rhön, wo die Gesellen in ganzer,
aber freilich höchst ärmlicher Kost stehen , belauft sich der
Wochenlohn daneben nur auf 2 — 3 M. Im Allgäu dagegen,
wo die Lebenshaltung eine weit bessere ist, werden ausser Kost
und Wohnung geschickten Arbeitern an manchen Orten 6 und
7 M. gezahlt, in dem Voralpenlande in der Regel 4—5 M.,
in einem Landstädtchen Mittelfrankens beträgt der Durch-
schnittsverdienst eines Gehilfen bei reinem Geldlohn 10—13 M.,
in Accordarbeit 9 M. 50 his 15 M., diejenigen, die beim Meister
Kost und Logis haben, erhalten noch 2 1 2 — h v \ 2 M. bar. Auf
der Stör wird in Altbayern für ein Paar derbe Mannsstiefel,
deren Herstellung man als Tagesleistung rechnet, 1 — 2 M. nehen
Kost und Bier gezahlt; in Oberfranken durchschnittlich etwas
weniger. — Nicht verschweigen darf ich, dass diese Lohnangaben
zum Teil lediglich auf den Aussagen von Gehilfen beruhen,
während ich Arbeitgeber in diesem Punkte ziemlich zurück-
haltend gefunden habe ; es besteht daher die Möglichkeit, dass
die Löhne etwas zu niedrig angegeben sind, während man
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— 183 -
allerdings geltend machen kann, dass die Meister jedenfalls,
wären die Sätze erheblich höher, keinen Grund zum Schweigen
hätten.
Wie dem auch sei, so ist doch zu bemerken, dass selbst
von diesem geringen Einkommen die Gehilfen in der Regel
sich noch Abzüge gefallen lassen müssen. Allgemein her-
gebracht ist, dass sie die sogen. „Furnituren 44 , d. h. Garn, Stifte,
Wachs, Pech, Tinte, Spiritus, Borsten, Glaspapier etc., aus eigener
Tasche zahlen; die Kosten hierfür belaufen sich etwa auf 30 bis
50 Pf. wöchentlich. Häufig muss der Gehilfe auch die Werkzeuge
selbst stellen oder doch deren Abnützung und Reparaturen be-
zahlen. Ein böser Missstand, der gleichfalls, wenn auch seltener
vorkommt, ist die Forderung mancher Meister, der Gehilfe müsse
für seinen Sitz in der Werkstatt eine Gebühr von 40—50 Pf.
wöchentlich erlegen, wenn er nicht vorzieht, auf Logis zu ar-
beiten. Für geringe Flickarbeit und unbedeutende Ausbesse-
rungen findet bisweilen gar keine Entlohnung statt. Auch im
Handwerk kommt es, wie in der Fabrik, vor, dass ein be-
sonders tüchtiger und gewandter Gehilfe bei Accordarbeit für
seinen Fleiss geradezu gestraft wird, indem der Meister den
Tarif eigenmächtig herabsetzt, weil jener „zu viel verdient
habe". Die Auszahlung des Lohnes erfolgt in der Regel am
Samstag Nachmittag, oft genug aber auch erst am Sonntag
Mittag, um den Gehilfen zu nötigen, auch an Sonn- und Feier-
tagen zur Arbeit in der Werkstatt zu erscheinen; häufig muss
sich der Arbeiter auch mit einer Abschlagszahlung begnügen
und den Rest stunden, weil der Meister den vollen Lohn nicht
zahlen kann. Dass Lehrlinge, für die ein Lehrgeld zu ent-
richten nahezu ganz abgekommen ist, ausser gelegentlichem
Taschengeld auch im letzten Jahre ihrer Ausbildung, wo sie
schon tüchtig zugreifen müssen, keinen Lohn bekommen, ist
unter diesen Umständen selbstverständlich; daher auch die
Neigung zur Lehrlingszüchterei. Nachdrücklich aber möchte
ich betonen, dass in der Regel die Kleinmeister, die Hilfs-
personen beschäftigen, nicht aus Habsucht und Knickerei nied-
rige Löhne zahlen, sondern weil ihnen selbst das Wasser bis
an den Hals geht; ihr Unternehmergewinn wird selten mehr
als das doppelte des Lohnes eines gut bezahlten Gehilfen be-
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184 —
tragen, und dafür müssen sie Frau und Kinder ernähren,
die Werkstatt mieten, das Leder und die Zuthaten kaufen.
Ein Meister, der mit zwei Gehilfen arbeitet, erklärte mir,
er müsse mindestens 31 M. 50 Pf. wöchentlich verdienen,
wenn er mit seiner starken Familie leben solle ; oft genug
komme er aber nicht so hoch und müsse dann borgen bis zu
besserer Zeit. Ein Geschäft mit drei tüchtigen Arbeitern und
2—3000 M. Betriebskapital soll l ) seinem Inhaber bei flottem
Gange und guten Preisen 1800 M., eine grosse, vortrefflich
gehende Kundenschuhmacherei mit neun Gehilfen gar 0000 M.
abwerfen. Aber solche Betriebe und namentlich solche wie
das letzt erwähnte Geschäft gab es in Bayern schon 1875 nur 2 bis
2 1 ;'2 °/o unter den selbständigen Schuhmachereien. Neben den
an Zahl und wirtschaftlicher Bedeutung verschwindenden grossen
Kundengeschäften, die gute Erträge erzielen, steht die ungeheure
Menge der Zwergbetriebe, wo der Meister ohne Gehilfen ar-
beitet und um nichts besser leben kann als der schlecht be-
zahlte Lohnarbeiter.
Sind die Lohn Verhältnisse im Kleingewerbe schlecht, so
sind sie in der Hausindustrie gewiss nicht besser. Hier
wird in der amtlichen Denkschrift „Die Landwirtschaft in
Bayern" (S. 510) von dem oberfränkischen Bezirke Stadtsteinach
gesagt, Schuhmacherei in der Heimarbeit entlohne sich hier
bis zu 1 M. 20 Pf., während die Landbevölkerung in der Um-
gegend von Pirmasens und Zweibrücken bis zu 3 M. damit
verdiene. Von den Heimarbeitern einer bei München gelegenen
Fabrik wurde mir erzählt, ihre Löhne seien so gering, dass
die Leute geradezu zur Unredlichkeit gedrängt würden. In
einem Dorfe unweit Pirmasens, wo drei Viertel der Einwohner
für Fabriken beschäftigt sind, habe ich verschiedene Familien
aufgesucht. In der ersten arbeiteten nur Mann und Frau, in
mittlerem Alter stehend, für einen Fabrikanten; Sohn und
Tochter versahen bereits im Pirmasenser Etablissement Aushilfe-
dienste. Das Ehepaar fertigte Hausschuhe, zu denen die Einzel-
teile geliefert wurden; von einer besseren Sorte, die Holz-
absätze bekommt, konnten Mann und Frau bei angestrengter
') Dr. Moritz Schöne, Schuhmachergewerbe, Jena 1888.
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185 —
und langdauernder Thätigkeit knapp ein Dutzend Paar im Tage
„packen", das Dutzend wird mit 3 M. 15 Pf. bezahlt; noch
billigere Ware stellt sich im Arbeitslohn nur auf 2 M., dafür
kann man auch anderthalb Dutzend davon liefern. In einer
zweiten Familie waren Mann. Frau und ältestes Mädchen (im
Alter von 12 Jahren) in Beschäftigung für eine Fabrik; für
schwarze, abgesteppte Pantoffeln, von denen sie täglich nur mit
äusserster Mühe ein Dutzend Paar zwingen, werden 3 M. ge-
zahlt; Kinderschuhe bringen 2 — 2 1 * M. das Dutzend, aber
davon können sie nach ihrer Angabe bis zu 18 Paar täglich
herstellen. Ein drittes Beispiel zeigte ein älteres Ehepaar,
das 2— 2 1 /* M. täglich verdiente. Eine andre Familie, Mann,
Frau und zwei Knaben im Alter von 11 und 14 Jahren brachte
es bis zu 4 M. 50 Pf. täglich. Der Verdienst der Heimarbeiter
ist sehr verschieden und wechselt ganz nach der Art der Ar-
beit, der Geschicklichkeit und der Zahl der helfenden An-
gehörigen.
Freilich gibt es unter den „ Ausputzern" auch Fa-
milien, die sich auf einen Jahresverdienst von 12 — 1400 M.
stehen; das sind aber seltenere Ausnahmen. Im allgemeinen
wird man sagen dürfen, dass in Pirmasens und Umgegend für
eine Familie, bei der Mann und Frau sowie die jüngeren, noch
schulpflichtigen Kinder zusammen arbeiten, der Tagesverdienst
3 M. nicht übersteigt. (Ortsüblicher Tagelohn für Männer ist
dort 1 M. 70 Pf. bis 2 M. bei Feldarbeit, häufig noch mit
teilweiser Beköstigung.) Aber auch hier bezieht der Fabrikant
eine Entschädigung für die geliehenen Leisten, auch muss der
Heimarbeiter die Hilfsmaterialien, Pech, Wachs, Wichse, Faden,
Nägel, Papp u. s. w., selbst stellen; die Leute berechneten
diese Ausgaben auf 80 Pf. bis 1 M. 50 Pf. pro Woche. Ausser-
dem leiden sie stark durch zeitweise Beschäftigungslosigkeit
und Zeitverlust beim Abholen und Bringen der Ware, während
die Fabrikanten ihrerseits klagen, dass die ländlichen Heim-
arbeiter gerade dann ihrer Landwirtschaft nachgingen, wenn
man sie am nötigsten brauche. Was die Hausindustriellen im
Handwerk anlangt, die Sitzgesellen und Logisarbeiter, so sind
zwar, weil der Meister bei ihnen die Kosten für Werkstatt,
Licht und Beheizung spart, nominell die Tarife für Stücklohn
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etwas höher, doch stehen diese Arbeiter durchweg im Rufe,
arge Lohndrücker zu sein (vergl. Kap. 7).
Beiden bisher betrachteten Kategorien gegenüber sind die
Fabrikarbeiter in ihren Lohnbezügen weitaus besser gestellt.
Einmal werden sie schon viel früher als im Handwerk bezahlt;
jugendliche Arbeiter, die im Kleinbetrieb als Lehrlinge keinen
Pfennig bekommen, erhalten meist schon nach 5 — 6 Wochen
Vorbereitungsdienst in der Fabrik einen Wochenlohn von 4 bis
6 M., der bald ansteigt. Sodann aber sind auch die Durch-
schnittsverdienste erheblich höher. „Die Schuhfabriken bieten,
um die tüchtigsten Kräfte aus dem Arbeiterstande an sich zu
ziehen, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, als sie
der Kleinmeister gewähren kann." (Schuhraacherfachblatt 1888
Nr. 3.)
Da mit Ausnahme gewisser Arbeiter, wie Werkführer
und Zuschneider einer-, Handlanger und Hilfsarbeiter andrer-
seits, nur feste Löhne anwendbar sind, herrscht überall das
Stücklohnsystem, das in einer grossen Mannigfaltigkeit von Detail-
sätzen ausgebildet ist, wie es die zahlreichen Eiuzeloperationen
der mechanischen Schuhmacherei mit ihren Unterabteilungen
erfordern. Güte- und Ersparnisprämien habe ich nirgends ge-
funden, ebensowenig Abschlüsse von Gruppenaccorden u. dgl. ;
Gewinnbeteiligung existiert in den bayrischen Schuhfabriken
meines Wissens nicht, Tantiemen höchstens hie und da bei
kaufmännischen Angestellten. Fast eine jede Fabrik hat ihr
eigenes Arbeitssystem, je nach Verwendung von Maschinen und
nach Art der Waren, und infolge dessen auch ihren eigenen
Stücklohntarif. Und natürlich ist auch in jedem Betrieb im
einzelnen Operationszweige je nach Fleiss und Gewandtheit
des Arbeiters die Höhe der Löhne ganz verschieden. Eine der
renommiertesten Fabriken im rechtsrheinischen Bayern (Schwein-
furt) zahlt nach den Angaben ihres Besitzers im Jahresdurch-
schnitt folgende Wochenlöhne: Zuschneider 18 M. , Sohlen-
presser 15 M., Sohlennäher 18 M., Ausputzer 24 M., Zwicker
20 M., Stepperin 11 M., Papperin 9 M. ; Arbeiter im festen
Wochenlohn 15 M. Nach einem Berichte des Fabrikinspektors
der Pfalz (S. 128 — 125) wurden i. J. 1882 von 114G Personen
der XIII. Gruppe, bei der im linksrheinischen Bayern fast allein
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187 —
die mechanische Schuhmacherei in Betracht kommt, folgende
Durchschnittslöhne in der Woche bezogen:
44 männliche Arbeiter über 21 Jahre:
5— 12 M.
352
• 1»
12-25 ,
33
i
B w
*
25—50 „
196
unter ,
-
2-12 r
31
*
* »
12—25 ,
108 weibliche
b
über „
3-12 .
41
B
f
12—25 ,
265 „
n
unter „
B
2-12 „
25
12-25 „
Samtliche Arbeiter zusammen:
614:
2-12 M.
499: 12-25 „
33: 25-50 „
Genauere Daten besitze ich aus Pirmasens, wo mehrere
Fabrikanten mir gestatteten, die Lohnlisten einzusehen. Nach
einem Auszug aus den Büchern eines der grösseren Etablisse-
ments kann ich folgende Wochenlöhne als thatsächlich im
Jahre 1892 gezahlte aufführen:
Männliche Arbeiter.
1 Werkführer: 36—40 M.
15 Zuschneider: von diesen Arbeitern bezogen 10 Wochenlöhne zwischen
18 und 22 M., 2 hatten 15 M., 3 zwischen 4 und 12 M.
1 Schuhabnehmer für Zwickarbeit: 24 M.
2 Sohlennäher: 22—25 M.
3 Sohlendrücker: 16—24 M.
4 Fleckdrücker: 12—14 M.
1 Absatzaufnagler : 22 M.
1 Absatzbauer: 34 M.
5 Raspier und Fräser: 17 — 25 M.
2 Polierer: 18 M.
1 Glätter: 14 M.
1 Einleister: 8 l /a— 14 M.
2 Fertigmacher : 18 M. Wochenlohn ; Stückarbeit für gelbgenähte Ware
inkl. Hilfsarbeiter: 35—59 M.
54 Zwicker: von ihnen hatten 2 unter 10 M. (Minimum 6 M. 22 Pf.),
13 zwischen 10 und 12 M., 17 zwischen 12 und 15 M., 22 über
15 M. bis zu 25 M. 59 Pf. Maximum.
4 Hilfsarbeiter: 8-14 M.
Weibliche Arbeiter.
28 Stepperinnen : von ihnen bezog die am niedrigsten bezahlte Löhne, die
sich zwischen 5 M. 13 Pf. und 9 M. 30 Pf. wöchentlich bewegten,.
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die bestbezahlte solche zwischen 18 M. 16 Pf. und 27 M. 91 Pf.
Unter 10 M. hatten 7 Stepperinnen, zwischen 10 und 12 M. 8,
zwischen 12 und 15 M. 9, von 15 M. bis 21 M. 60 Pf. endlich
4 Stepperinnen.
3 Einfasserinnen: 8 M. 75 Pf. bis 11 M. 25 Pf.
1 Abnehmerin für Einfassarbeit: 18 M.
5 Papperinnen: 8 bis 22 M. 60 Pf. in allen Abstufungen, meist aber
über 12 M.
2 Futterzuschneiderinnen : 12 — 14 M.
1 Schuhausschneiderin : 12—14 M.
2 Ausglaserinnen: 10—17 M.
13 Hilfsarbeiterinnen: 6—12 M.
1 Lagermädchen: 8—9 M.
Im allgemeinen stimmen mit diesen Angaben die in andern
Fabriken üblichen Löhne, bald sind sie etwas höher für einzelne
Arbeiterkategorien, meist allerdings etwas niedriger. Nattirlich
spricht auch die Geschäftskonjunktur ein gewichtiges Wort
mit: in stark beschäftigten Zeiten, wo die Aufträge massen-
haft eingehen und Ueberstunden zu Hilfe genommen werden
müssen, wird ungleich mehr verdient als in flauen Wochen.
Will man Durchschnittslöhne annehmen, so wird man den
Tagesverdienst der erwachsenen männlichen Fabrikarbeiter in
Pirmasens auf 2 M. 50 Pf. bis 3 M. 50 Pf., der erwachsenen
weiblichen Arbeiterinnen auf 2 M. bis 2 M. 50 Pf., der jugend-
lichen Arbeiter auf 80 Pf. bis 1 M. 50 Pf. rechnen können.
Die Löhne in Pirmasens , wo das System mechanischer
Fabrikation der Schuhmacherei in Bayern am vollkommensten
ausgebildet ist, sind allerdings durchweg und wesentlich höher
als die in den meisten Grossbetrieben des rechtsrheinischen
Bayerns gezahlten. So erfahre ich aus einer Fabrik in Mittel-
franken, die an 300 Arbeiter beschäftigt und meist Filz- und
Zeugschuhe fertigt, dass hier Stepperinnen 9 M. bis UM.
Wochenlohn haben, Zwicker 15 M. bis 23 M., Soblenmacher
20 M. bis 22 M., Ausputzer 18 M. bis 27 M. Der Lohntarif
eines oberfränkischen Etablissements ist folgender: Gewöhn-
liche Arbeitsschuhe 70 Pf. bis 80 Pf., gewöhnliche Arbeits-
stiefel 80 Pf. bis 95 Pf., Herrenschuhe 95 Pf., Herrenstiefe-
letten 1 M. 10 Pf. bis 1 M. 25 Pf., Sonntagsstiefel mit Be-
stechen 1 M. 30 bis 1 M. 60 Pf., hohe Kanonenstiefel 1 M.
20 Pf. bis 1 M. 40 Pf., Schuhe und Stiefeletten, Rand gelb
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181) -
genäht, 80 Pf. bis 1 M., für Absatzbauen und Ausputzen pro
Paar 45 Pf., durchgenähte Turnerschuhe 15 Pf. Erwachsene
Arbeiter kamen bei diesem Tarif selten über 2 M. bis 2 M.
50 Pf. pro Tag; eine Forderung um Lohnerhöhung wurde
abgeschlagen.
Die Auszahlung der Löhne findet regelmässig am Samstag
statt; der Versuch einiger Fabrikanten in Pirmasens, erst am
Montag auszuzahlen, ist ganz vereinzelt geblieben und auch
sehr bald wieder fallen gelassen worden.
Leider verführt das wirtschaftliche Uebergewicht viele
Besitzer von Grossbetrieben zu mancherlei Uebergriffen bei
Bemessung der Löhne. Unter den Arbeitern in Pirmasens
wird namentlich über folgende Punkte geklagt: a) die Stück-
lohntarife sind derart kompliziert, dass ein Arbeiter selten genau
auf Heller und Pfennig den Ertrag seiner Arbeit selber be-
rechnen kann; er ist hier auf die vom Fabrikanten aufgestellte
Kalkulation angewiesen, b) Häufig werden Abzüge gemacht
selbst bei tadelloser Ware, weil der Arbeiter im Akkord nach
Meinung des Fabrikanten „zu viel" verdiene; solche Fälle sind
mir selbst von Arbeitgebern ganz naiv erzählt worden, z. B.
dass ein besonders fleissiger und geschickter Zwicker sich am
Wochenschluss eine Herabsetzung von 10 Pf. pro Dutzend
Paar gefallen lassen musste, weil sein Wochenverdienst sich
auf 23 M. nach dem Tarif gehoben hatte, c) Ebenso ist es
in den letzten Jahren, namentlich während des schlechteren
Geschäftsganges und der wilden Konkurrenz vorgekommen, dass
von den Fabrikbesitzern ohne weiteres einseitig Lohnherab-
setzungen von 10, 15, ja 20 °;o dekretiert worden sind; „wer
sich nicht fügt, kann ja gehen," lautete die Antwort auf die
Vorstellung der Arbeiter, d) Die Stepperinnen müssen sich
in manchen Fabriken einen Abzug von 10 Pf. bis 15 Pf. pro
Woche gefallen lassen für die Benützung der Dampfkraft, mit
der die Nähmaschinen getrieben werden — ein Unfug, der
sich aus der Zeit erhalten hat, wo die mechanische Kraft die
menschliche ablöste, allerdings zur grossen Erleichterung der
Arbeiterinnen, aber doch zum ebenso grossen Nutzen der
Arbeitgeber, e) Auch in den Grossbetrieben muss der Arbeiter
die gewöhnlichen „Furnituren" selber zahlen; häufig besteht
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100
der Zwang, dass diese Hilfsmaterialien, namentlich Seide,
Zwirn, Garn vom Fabrikanten entnommen und dann noch
höher (5 Pf. bis 6 Pf.) bezahlt werden müssen als im Laden
(Verstoss gegen § 115 der Gewerbeordnung), f) Eine ganz
eigenartige Einrichtung ist das „Sinngeld" l ): Dem Arbeiter
wird vom Lohn wöchentlich Geld einbehalten und dies ihm
am Ende des Jahres ausgezahlt; geht er früher, so bekommt
er dies „Gutgeld* nicht. Vor dem Gewerbegericht in Pirma-
sens wurde z. B. im März 1803 folgender Fall verhandelt:
Ein Arbeiter gab an, er sei mit 17 M. Wochenlohn eingestellt,
15 M. bekomme er auf die Hand, 2 M. würden ihm am Neu-
jahr ausgezahlt. Der Arbeitgeber erklärte, der Arbeiter sei
nur zu 15 M. Wochenlohn eingestellt und ihm gesagt worden,
wenn er ein Jahr lang da sei, so bekäme er ein Geschenk von
2 M. pro Woche. Der Arbeiter trat aber schon nach 13 Wochen
aus, die 2 M. pro Woche (also 20 M.) wurden ihm verweigert.
Er klagte deshalb beim Gewerbegericht. In der Begründung
seiner Klage wies er zum Beweise, dass 17 und nicht 15 M.
Wochenlohn ausgemacht gewesen sei, auf den Umstand hin,
dass ihm, wenn er einen halben oder viertel Tag in der Fabrik
gefehlt habe, entsprechende Abzüge nach dem Wochenlohn
von 17 M. gemacht worden seien — mithin sei diese Summe
Lohn, nicht aber 15 M. und 2 M. Geschenk. Das Gewerbe-
gericht aber erkannte in dem „ Sinngeld u eine Gratifikation
für langes Ausharren im Arbeitsverhältnis und wies die Klage
ab. Diese Entscheidung hat grosse Erregung unter den Arbeitern
hervorgerufen und begreiflicherweise die Abneigung verstärkt,
sich auf derartige Abmachungen mit „ Gutgeld * einzulassen,
die die Bewegungsfreiheit des Arbeiters einschränken, g) Eine
weitere Klage und Quelle häufiger Zwistigkeiten ist die That-
sache, dass bei Einführung neuer Maschinen und bei Ausbil-
dung weiterer Arbeitsteilung die Gesamthöhe der Löhne zu
Ounsten der Fabrikanten gedrückt werde.
Sehr schwer ist es festzustellen, welchen Gang die Löhne
im Laufe der zwei Dezennien, auf die die mechanische Schuh-
*) Nicht mit den in § 119 a der Reichsgewerbeordnung gestatteten
Lohneinbehaltungen zu verwechseln.
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— 191 —
fabrikation in Bayern zurückblicken kann, eingehalten haben.
Die Berichte der Fabrikinspektoren berichten fast öfter als
vom Steigen vom Fallen der Löhne, sicher ist, dass nach dem
Krache von 1891 in Pirmasens die Akkordsätze um ."> — 10 °/>,
die Wochenlöhne bei den höheren Arbeitern um etwa ebenso
viel herabgesetzt worden sind. Neuerdings sollen sie bei gutem
Geschäftsgang wieder etwas gestiegen sein; jedenfalls finden
die Fabrikanten die Löhne „zu hoch" , die Leute verdienten
„zu viel", es würden dadurch namentlich die jungen Burschen
und Mädchen auf Abwege geführt. Von Seiten der Bekleidungs-
industrie-Berufsgenossenschaft erhalte ich folgende Uebersicht
über die Zahl der Arbeiter und die Löhne im Grossbetriebe
der bayrischen Schuhmacherei:
Jahr
Zahl der Arbeiter
Summe der anrechnungs-
fähigen Löhne in M.
Jahresverdienst
pro Kopf in M.
1886
3752
2 011030
536
1887
4067
2 178 460
535,7
1888
5042
2 557 730
507,3
1889
5465
3 238 940
590,8
1890
5978
3 684 480
616,3
1891
6350
3 710 860
584,4
1892
6054
3 494 670
577,2
Indessen sind hierbei nicht die wirklich gezahlten, sondern
nur die für die Umlageberechnung zu Grunde liegenden, die
„anrechnungsfähigen" Lohnsummen angegeben, d. h. es sind
gemäss § 10 Abs. 2 des Unfallversicherungsgesetzes die Löhne
und Gehälter, welche durchschnittlich den Tagessatz von 4 M.
übersteigen, mit dem 4 M. übersteigenden Betrag nur zu einem
Drittel in Ansatz gebracht worden. So stellt sich der Gesamt-
betrag der wirklich gezahlten Lohnsummen in der Schuh-
macherei-Grossindustrie Bayerns um etwas, wenn auch nicht um
Erhebliches höher, denn die Zahl der mit mehr als 4 M. täg-
lich gelohnten Arbeiter ist in den Schuhfabriken keine sehr
grosse. Direkte Schlüsse auf den Lohn eines Arbeiters werden
aus den Angaben der Uebersicht nicht gezogen werden dürfen,
weil die Zahl der Arbeiter sich nicht ausschliesslich auf ein
volles Jahr hindurch beschäftigte Personen bezieht, sondern
sich auch auf solche Arbeiter erstreckt, die nur einen Teil
des Jahres in dem betreffenden Betriebe thätig waren, ohne
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192
aber die Dauer einer solchen Beschäftigung im Laufe des
Jahres erkennen zu lassen. Aus Spalte 4 der kleinen Tabelle
kann man also höchstens halbwegs brauchbare Schlüsse auf
die Bewegung der Löhne von 1886* — 1892 ziehen.
So wenig befriedigend nun diese Schlussfolgerungen im
einzelnen auch sein mögen, so kann man aus einer Ver-
gleichung der im vorstehenden Abschnitte mitgeteilten Lohn-
sätze doch mit Sicherheit das eine Ergebnis gewinnen, dass
der Arbeiter im Grossbetrieb regelmässig in seiner über-
wiegenden Mehrzahl höhere Löhne bezieht als der Handwerks-
gehilfe und der Heimarbeiter. Auch für unser Gewerbe wird
der Satz bestätigt: „Billige Arbeit ist nicht gleichbedeutend mit
billiger Produktion, im Gegenteil: es gehen niedrige Produk-
tionskosten mit hohen Löhnen Hand in Hand" l ).
b) Die Arbeitszeit.
Niedrige Löhne und lange Arbeitstage finden sich in der
Regel vereinigt. In der handwerksmässigen Schuhmacherei
wird hiervon keine Ausnahme gemacht. Im Grossbetrieb hat
nach dem Gesetze die Fabrikordnung den Arbeitstag genau zu
begrenzen. Er beginnt z. B. in Naila um (5 Uhr früh und
dauert bis 7 Uhr abends mit Unterbrechungen von insgesamt
1 l ii Stunden — die Dauer der Arbeit beträgt also effektiv
11 1 >t Stunden. Die in Pirmasens übliche Fabrikordnung schreibt
in § 2 vor: „die Arbeitszeit beginnt um <> 1 /-' Uhr vormittags
und endigt um 12 Uhr mittags, ferner um 1 Uhr nachmittags
und endigt um 7 Uhr abends. Die Pausen finden statt von
8 Uhr bis 8 Uhr 15 Minuten vormittags und von 4 Uhr bis
4 Uhr 15 Minuten nachmittags. Für jugendliche Arbeiter
(von 14 — IG Jahren) beginnt die Arbeitszeit erst um 7 Uhr
morgens mit halbstündigen Pausen." In § 4 heisst es: „Mit
Arbeitern, welche über <) Kilometer entfernt wohnen, kann
eine specielle Uebereinkunft bezüglich des Anfangs und der
Beendigung der Arbeitszeit getroffen werden." Sonach ist in
den meisten und grössten Fabriken von Pirmasens 11 Stunden
') J. Schönhof, Economy of high wagos. Newyork 1802, S. 81.
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193
Arbeit für Erwachsene, 10 Stunden (nach § 135 Abs. 3 der
Gewerbeordnung) für Jugendliche eingeführt. In Schweinfurt
hat die Schuhfabrik E. Heimann seit 1. Juli 1890 bereits
den lOstündigen Arbeitstag; in § 21 ihrer Fabrikordnung wird
bestimmt: „Die Arbeitszeit ist auf 10 Stunden festgesetzt und
zwar von morgens 0 Uhr bis abends b* Uhr. Zwischenpausen
sind von */* 9 Uhr bis 8 /* 9 Uhr vormittags und a 4 4 Uhr bis
4 Uhr nachmittags und eine Mittagspause von 12 Uhr mittags
bis 5 Minuten vor l j* 2 Uhr nachmittags. Samstag wird nur
von morgens (3 Uhr bis * 2 6 Uhr abends gearbeitet. In dringen-
den Fällen kann der Prinzipal eine vorübergehende Verlänge-
rung der Arbeitszeit, sowie bei schlechterem Geschäftsgange
eine vorübergehende Kürzung eintreten lassen.* Die Fabrik-
inspektoren konstatierten 1885 für Oberbayern eine 10- bis
11 stündige Arbeitszeit, für die Pfalz durchschnittlich ll 3 /io Stun-
den. Der Arbeitstag ist also in letzterem Regierungsbezirk
für die Schuhfabriken seitdem etwas abgekürzt worden; hier
mag die Novelle zur Reichs-Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891,
welche die Maximalzeit der in Fabriken beschäftigten Frauen
auf 11 Stunden festsetzt, gleichmäßig auch auf den llstündigen
Arbeitstag für Männer hingewirkt haben. Der gesetzliche
Frauenarbeitstag hat sich überall in den Schuhmacherei-Gross-
betrieben leicht eingelebt, schwieriger die Bestimmung, dass
an den Vorabenden von Sonn- und Feiertagen die Frauen eine
Stunde vor dem sonst üblichen Arbeitsschluss zu entlassen
sind; die Erlaubnis, welche § 137 der Gewerbeordnung den
ein Hauswesen besorgenden Arbeiterinnen gewährt, eine halbe
Stunde vor der Mittagspause entlassen zu werden, wird so gut
wie nie nachgesucht, da man das Widerstreben der Fabrikanten
kennt. Nachtarbeit ist in Schuhfabriken, abgesehen von Ueber-
stunden, ebenso wenig üblich wie Sonntagsarbeit; Kürzungen
der Arbeitszeit bei Geschäftsstille — in Pirmasens 1891 bis
zu achtstündigem Arbeitstag — kommen dagegen vor wie auch
Ueberstunden bei dringenden Aufträgen. Ein Antrag des Vereins
deutscher Schuh- und Schäftefabrikanten, es möge während
des Zeitraums zweier Wochen vor Ostern bis Pfingsten jeden
Jahres für die Schuhwaren- und Schäfteindustrie (Sommer-
saison) und während der Monate September und Oktober für
Franckc, Die Schuhmacherei in Bayern. 13
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194 —
die Filzschuhindustrie (Winterarbeit) Sonntagsarbeit und für
erwachsene Arbeiterinnen 13 Stunden täglicher Beschäftigung
gestattet sein, wurde dagegen unterm 30. März 1892 vom
Reichskanzler gemäss einem Bundesratsbeschlusse abschlägig
beschieden.
Ist auch der 10 — 11 ^sstUndige Arbeitstag der bayrischen
Schuh waren- Grossindustrie noch wesentlich länger als die für
unser Gewerbe in England, Amerika, 'Australien übliche 8- bis
9stündige Arbeitszeit, so hat doch auch in diesem Punkte der
Fabrikarbeiter bei uns einen grossen Vorzug vor den Arbeitern
im Kleinbetrieb und in der Hausindustrie. Hierüber ertönen die
Klagen aus den Kreisen der Angehörigen dieser Betriebsformen
beinahe noch lauter als die Beschwerden über die „ Hunger-
löhne K , und zwar ist es nicht die Länge des Arbeitstages allein,
die bedrückend empfunden wird, sondern seine Regellosigkeit, die
Willkür der Festsetzung, seine Dehnbarkeit. Im Sommer setzen
Auf- und Untergang der Sonne der Arbeitszeit Grenzen, im
Winter aber ermöglicht die Lampe ein Fortarbeiten bis tief in die
Nacht. J ) Von einem regelrechten Arbeitstage kann man im Schuh-
macher-Handwerk und in der Hausindustrie gar nicht sprechen;
jeder Betriebsinhaber setzt die Arbeitszeit nach seinem Gefallen
und nach seinen Bedürfnissen fest. Je grösser der Gehilfenbetrieb,
desto eher setzt sich auf beiden Seiten das Verlangen nach fester
Regelung durch; am schlimmsten ist es in den Zwergbetrieben.
Auf der Stör wird täglich 13 — 11 Stunden gearbeitet, in
München und Nürnberg 11 — 13, auch 14 Stunden, in kleinen
Orten kommen Arbeitstage bis zu 16 und 17 Stunden vor,
nicht tagaus und tagein das ganze Jahr hindurch, son-
dern wenn's mit der Arbeit pressiert. Aber auch darüber
wird geklagt, dass der Meister oft nicht versteht, die Arbeit
ordentlich einzuteilen: in den ersten Tagen der Woche sei
wenig zu thun, am Ende werde man übermässig angestrengt,
„vielfach ist die Arbeitszeit so elastisch wie ein Strumpf, schon
deshalb, weil der Gehilfe nicht selten bummeln muss und
') Die „Lichtarbeit ist fürchterlich", sie ist ein Mittel, „um die
Arbeitszeit bis ins Unendliche auszudehnen", klagt ein im Dienst der Ge-
weikvereinsbewegung stehendes Schuhmacherblatt.
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dann zeitweise wieder tüchtig am Zeuge sein soll." In der
Reichsenqu£te über die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen
und Fabrikarbeiter, die auf Beschluss des Bundesrates vom
19. Februar 1875 angestellt worden ist, heisst es auf S. 54
und 55, dass im Bekleidungsgewerbe die Arbeitszeit für Lehr-
linge ausser zeitweiliger Sonntag- und Nachtarbeit 14 — 16 Stunden
täglich betrage, und auf diese Ueberanstrengung der Lehrlinge
wird die aussergewöhnlich grosse und frühe Sterblichkeit unter
Schuhmachern und Schneidern zurückgeführt. In der Haus-
industrie sind die übermässig langen Arbeitszeiten so allgemein
die Regel, dass ich mich besonderer Nachweise für diesen auch
in der Schuhmacherei üblichen Uebelstand für enthoben erachte.
In Pirmasens hörte ich von verschiedenen Seiten, dass die
Heimarbeiter vom Tagesgrauen bis nachts 11, 12 Uhr über
der Arbeit sitzen; sobald die Kinder aus der Schule kommen,
müssen sie mit anfassen; eigentliche Pausen für Mahlzeiten
und Erholung existieren kaum — es ist ein ruheloses Mühen
und Plagen, wohlverstanden: nur in Zeiten flotten Geschäfts-
gangs und dringender Aufträge. Dann aber scheut der Heim-
arbeiter auch keine Anstrengung, um den Arbeitgeber zufrieden
zu stellen — ist er doch froh, wenn er überhaupt Arbeit
bekommt!
Auch der Sonntag bringt keine gründliche Erholung und
Ausspannung. Die Sonntagsarbeit ist im Kleingewerbe der
Schuhmacherei in Bavern ebenso verbreitet wie anderswo in
Deutschland. Dies hat schon die eben citierte Enquete von
1875 konstatiert l ) und es ist seitdem in dieser Hinsicht nicht
besser geworden. Die Erhebungen über die Beschäftigung
gewerblicher Arbeiter an Sonn- und Feiertagen 2 ) liefern ein
ebenso reichhaltiges wie bedauerliches Material. Sonntags-
arbeit war in der grossen Mehrzahl der befragten Betriebe
üblich , in der mechanischen Grossindustrie allerdings schon
') „An den Sonntagen wird in einzelnen Gewerben, wie namentlich
bei den Bäckern und Fleischern, den Schuhmachern und Schneidern, den
Tischlern und Anstreichern, bis zum Mittag hin fast überall ge-
arbeitet." A. a. 0. S. 4.
2 ) Zusammengestellt im Reichsamt des Innern, Berlin 1887. Siehe
Band II, S. 43C— 447.
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damals nicht in so weitem Umfange wie im Handwerk und
bei diesem hauptsächlich in den Städten. Die Hausindustriellen
nehmen ebenfalls zumeist den Sonntag zu Hilfe. Die Dauer
der Sonntagsarbeit erstreckt sich gewöhnlich auf den Vor-
mittag, auch während der Kirchzeit, mitunter währt sie sogar
6 — 9 Stunden. Die Bezahlung ist ganz verschieden, bald wie
am Wochentag, bald l^fach; meist ist Stücklohn üblich. Ver-
anlassung der Sonntagsarbeit ist gewöhnlich Arbeitsanhäufung,
vornehmlich dringende Reparaturen an dem Schuhwerk der
weniger bemittelten Bevölkerungsklassen und demjenigen der
Schulkinder, die meist nur ein Paar Schuh besitzen 1 ). Diese
müssen über Sonntag ausgebessert werden, um am Montag
wieder benutzt werden zu können. Namentlich sind die kleinen
Meister und die schlecht gelohnten Arbeiter zu dieser Flick-
arbeit am Sonntag genötigt. Unter den andern Gründen werden
genannt die dringende Arbeit vor den hohen Festen, der bessere
Verkauf an Sonntagen, wo die Landleute in die Stadt kommen
und die Arbeiter den Samstag abends ausgezahlten Lohn zu
Einkäufen verwenden, die späte Bestellung von Kunden, die
verwöhnt, lässig, rücksichtslos seien und häufig erst in der
zweiten Hälfte der Woche ihre Aufträge geben, dabei aber für
den Sonntag Nachmittag bei Androhung des Verlustes fernerer
Kundschaft ihre neue Beschuhung fordern u. a. m. Die An-
sichten über ein Verbot der Sonntagsarbeit waren bei diesen
Erhebungen geteilt, indessen sprach sich doch eine stattliche
Mehrheit, auch unter den Arbeitgebern, für die Möglichkeit
und Erspriesslichkeit eines völligen Verbotes oder doch einer
Einschränkung der Sonntagsarbeit auf gesetzlichem Wege aus.
Dies ist inzwischen für den Grossbetrieb in der Schuh-
macherei geschehen. § 105 b der Gewerbeordnung verbietet
die Sonntagsarbeit in den Fabriken und, wie das vorhin er-
wähnte Beispiel zeigt, hat der Bundesrat keine Neigung gezeigt,
zu Gunsten der Schuhfabrikanten während der hohen Saison
des Geschäftes eine generelle Ausnahme von diesem Verbot
') Aus Anlass dieser Enquete ist die Behauptung aufgestellt worden,
90 °/o der Bevölkerung im Reiche besitze überhaupt nur ein einziges Paar
Stiefel.
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auf Grund des § 105d zu machen. So hat der Fabrikarbeiter
neben der Wohlthat einer kürzeren und fest begrenzten Arbeits-
zeit in der Woche auch den Segen der Sonntagsruhe durch
das Gesetz verbürgt, — für die Hilfspersonen des Handwerks aber
und die Hausindustriellen dauert die Sonntagsarbeit fort. Der
Meister hat sich so an die Arbeit gewöhnt, dass er zwischen
Sonntag und Werktag kaum einen Unterschied macht, und da
er arbeitet, verlangt er vorn Gesellen und vom Lehrling das
Gleiche. Ein Flickschuster aus Baden erklärte in der Enquete
über die Arbeit an Sonn- und Feiertagen: „Ich arbeite so
lange für mich die Möglichkeit zum Verdienste vorliegt. Ich
habe eine zahlreiche Familie, diese zu ernähren ist meine Pflicht.
Wenn meine Kinder einmal grösser sind, so hoffe ich auf bessere
Zeiten. Nur dann wird für mich die Sonntagsarbeit aufhören."
Das ist in Bayern nicht anders. Wer an Sonntagen durch
die Strassen von Pirmasens wandert, hört überall das Schnurren
der Nähmaschinen, das Klopfen des Schusterhammers, Raspeln
und Feilen; er sieht die Leute, Männer und Frauen, im Arbeits-
gewande über ihre Hantierung gebückt. Meister und Gehilfen
im Kleinbetrieb ebenso wie die Heimarbeiter der Schuhmacherei
sind zur Zeit noch weit davon entfernt, sich des Besitzes jenes
„Grundrechtes" zu erfreuen, als welches Herr v. Kleist- Retzow,
ähnlich wie früher Macaulay in seiner wundervollen Rede zum
Zehnstundentag 1 ), die Sonntagsruhe bezeichnete, als er im Jahr
1878 im Reichstag sagte: „Es gibt keine tiefergehende Freiheit
für den Arbeiter als diejenige, dass nach der sauren sechstägigen
Arbeitszeit und zur Kräftigung und Stärkung für die wieder
folgende sechstägige saure Arbeitszeit in der Mitte ein Ruhe-
tag liegt; es ist dies das wirkliche Grundrecht, welches die
Arbeiter haben, und sie dürfen es sich nicht nehmen lassen.
Die intensivere Arbeit ist es, auf die es ankommt 2 ), und diese
hängt ab von der Frische, mit der der Arbeiter in die Arbeit
eintritt. Jeder Arbeiter vermag in der Woche fleissiger und
anhaltender zu arbeiten, wenn er Sonntags seine Ruhe
J ) Die Rede wurde gehalten im Hause der Gemeinen am 22. Mai
1846; Macaulays Reden, deutsch von Bülau, 1854, 11, S. 206 ff.
2 ) Vergl. Lujo Brentano, Ueber das Verhältnis von Arbeitslohn
und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung. 2. Auflage. Leipzig 1893.
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gehabt hat." So vereinigt sich hier eine Forderung des
ethischen Bedürfnisses aufs engste mit einem Gebote wirt-
schaftlicher Zweckmässigkeit!
c) Die Arbeitsräume.
„Die Werkstatt darf eingerichtet werden wie nach Ge-
fallen." Diese alte, in einer Festschrift zum 600jährigen
Jubiläum der Schuhmacher-Innung in München *) angeführte
Zunftregel besteht auch heute noch in voller Kraft. Helle,
geräumige, gut gelüftete Arbeitsräume gehören im Handwerk
der Schuhmacherei zu den Ausnahmen. Wo der Meister nicht
in seiner Werkstatt mit seiner Familie zugleich wohnt, schläft,
kocht und isst, was im Zwergbetrieb ohne Gehilfen die Regel
ist, da gilt jeder Raum, sei er im Keller oder unter Dach,
im Rückbau oder im Hofe, als geeignet für eine Werkstatt,
wenn er nur heizbar ist. Die Wohnungsnot der grossen Städte
nötigt hier zu viel schlechteren Verhältnissen als in kleineren
Ortschaften. Ich kenne Werkstätten in München, die der staat-
liche Aufsichtsbeamte in keiner Fabrik dulden würde und die
den berüchtigten sweaters-Höhlen von London-Eastend in nichts
nachstehen, so eng, feucht, dunkel sind sie. Hier kann man
mit einer Bretterwand vom Hausflur abgetrennte Verschlage
von wenig mehr als 1 m Breite finden, die ihr Licht lediglich
durch ein zugleich als Auslage fertiger Schuhe dienendes Fenster
erhalten; der Meister, zwei Gesellen und ein Lehrling haben
kaum Platz, die Arme zu rühren. In einem grossen Geschäft
sind neun Mann zusammengepfercht, zwei kleine Fenster sehen
auf den Gang, in dem der Abort ist, die Thüre öffnet sich
nach dem Hofe, wo Stall und Düngergrube sich befinden.
Natürlich sind in den allerseltensten Fällen besondere Venti-
lationseinrichtungen vorhanden, um die verbrauchte Luft zu
erneuern. Oft ist die Werkstatt auch die Schlafstelle für einen
oder mehrere Gehilfen. Im Winter wird gar nicht gelüftet,
um die kostbare Wärme zu halten, oder „weil's zieht". Bei
') Das Schubmacherhandwerk in seiner Entwicklung. München 1890,
S. 46.
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der früh am Morgen beginnenden und tief in die Nacht wäh-
renden Arbeit brennt Licht, Gas oder Petroleum, und verdirbt
die Luft noch mehr. Und wie im Kleinbetrieb oft, so ist's in
der Hausindustrie in der Regel: der grösste Raum ist Werk-
statt, Wohnzimmer, Schlafstube, Küche und Wäscheboden zu
gleicher Zeit. Auch hier habe ich indessen auf dem Lande,
in den Dörfern um Pirmasens herum weit bessere Zustände
gefunden als in der Stadt; die Räume waren grösser, luftiger,
trockener und heller.
Auch in den Fabriken der bayerischen Schuhmacherei be-
gegnen wir noch zum Teil unerfreulichen Zuständen; enge,
übelriechende, dunkle Räume, wo die Bedienung der Maschinen
mit Gefahren für die Gliedmassen der Arbeiter verknüpft und
ihre Gesundheit durch das Atmen von stauberfüllter, verdorbener
Luft geschwächt wird. Mit Recht wird von den Arbeitern
über manche Etablissements in dieser Beziehung bittere Klage
geführt. Aber man darf doch mit Freuden konstatieren, dass
die Einsicht von Fabrikanten und die Einwirkung der staat-
lichen Organe hier von Jahr zu Jahr mehr Wandel zum Besseren
schaffen. Die neuen Fabrikgebäude sind durchweg praktisch
eingerichtet, sehr geräumig, mit vielen und grossen Fenstern
und elektrischer Beleuchtung versehen, von leistungsfähigen
Ventilatoren und Exhaustoren gelüftet, durch Dampfheizung
gleichmässig gewärmt. In den Berichten des pfälzischen Fabrik-
inspektors heisst es von Pirmasens u. a.: „dass der Aufenthalt
in den meisten Räumen der Schuhfabriken für die Gesundheit
der Arbeiter ein zuträglicherer ist, als der in ihren eigenen
Wohnungen, die selten gelüftet und gereinigt werden" „Die
Bedingungen in guter atembarer Luft sind für die Arbeiter in
den Fabrikräumen entschieden viel besser als für die, welche
zu Hause für die Fabrikanten arbeiten. In solchen Arbeits-
häusern wurden meist nur 2 1 h — 5 cbm Raum pro Kopf der
darin sich aufhaltenden und den ganzen Tag für die Fabrik
arbeitenden Leute (sehr häufig arbeitet die ganze Familie mit) ge-
funden, wozu noch kommt, dass in demselben Räume gewöhnlich
gewaschen, gebügelt und kaum gelüftet wird ; ausserdem dienen
! ) Berichte der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrg. 1870, S. 121.
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sehr oft noch diese Räume zum Schlafen. Der grösste Teil
dieser Uebelstände fallt in den meisten der von Fabrikanten
den Arbeitern dargebotenen Räume fort. Messungen haben
ergeben, dass wohl nirgends weniger als 5 cbm Raum pro
Kopf vorhanden sein dürften. In einzelnen Arbeitssälen be-
finden sich verhältnismässig wenig Leute beschäftigt, so dass
der Raum pro Kopf auf 10, 20, 30 und noch mehr cbm steigt.
Für die weiblichen Arbeiterinnen, die mit Näharbeit beschäftigt
meist in grösserer Zahl zusammen sitzen, ist gewöhnlich der
geringste Luftraum pro Kopf vorhanden" 1 ). Später wird ein-
mal (i. J. 1886) über Stauberzeugung in einigen Etablissements
geklagt; die Räumlichkeiten seien zwar im allgemeinen be-
friedigend, einige wenige Betriebe bedürften aber recht sehr
der Verbesserung. Aus dem Jahre 1800 2 ) heisst es: „die neu
erbauten Fabriken, wie mehrere grosse Schuhfabriken in Pirma-
sens .... sind in anerkennenswertester Weise hergestellt und
eingerichtet." Auch anderwärts, so in Schweinfurt, Nürnberg,
München, ist dies der Fall 3 ). Man kann füglich sagen : je
grösser und leistungsfähiger der mechanische Grossbetrieb, desto
besser die Arbeitsräume — ein dritter Vorzug der Arbeits-
bedingungen der Fabrikarbeiter vor denen der Kleingewerbe-
treibenden in der Schuhmacherei.
d) Die Arbeitsordnung.
§ 134 a der Reichsgewerbeordnung schreibt vor, dass für
jede Fabrik, in welcher in der Regel mindestens 20 Arbeiter
beschäftigt werden, eine Arbeitsordnung zu erlassen und an
sichtbarer Steile auszuhängen ist. Es folgen dann Bestim-
mungen über den Inhalt dieser Arbeitsordnung. Mir liegen
verschiedene solcher Reglements für Schuhfabriken vor, eine,
die in den meisten Fabriken, über 00, in Pirmasens eingeführt
ist, eine zweite für einen Grossbetrieb in Schweinfurt, ferner
solche für eine bedeutende Nürnberger Fabrik, für Naila u. s. w. ;
') Berichte der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrg. 1881, S. 91.
2 ) Berichte der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrg. 1890, S. 108.
8 ) Vergl. auch die Beschreibung einer Schuhfabrik in Kapitel IH
dieser Schrift.
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in Einzelheiten, auf die näher einzugehen keinen Zweck hat,
sind sie je nach dem Verhältnis zwischen Arbeitgebern und
Arbeitern und nach den Anforderungen der Fabrikationsweise
verschieden, in der Hauptsache aber wird doch den Absichten
des Gesetzes, den in einer Fabrik Beschäftigten eine feste Ord-
nung der Arbeit zu gewährleisten, genügt. Zwar habe ich in
Pirmasens des öfteren Klagen von Seiten der Arbeiter auch in
diesem Punkte gehört, wie auch der Bericht des Fabrikinspek-
tors für die Pfalz 1890 (S. 102) die Unzufriedenheit mit der
Fabrikordnung konstatiert. So bin ich wiederholt der Behaup-
tung begegnet, dass der in § 134 d vorgesehenen Bestimmung,
es sei vor Erlass der Arbeitsordnung den grossjährigen Ar-
beitern oder einem ständigen Arbeiterausschuss Gelegenheit zu
geben, sich über den Inhalt der Ordnung zu äussern, zwar der
Form, aber nicht dem Wesen nach genügt worden sei, indem
auch hier das wirtschaftliche Uebergewicht der Fabrikanten
die Arbeiter genötigt habe, aus Besorgnis vor Chikanen oder
gar der Entlassung einzelnen Vorschriften stillschweigend zu-
zustimmen, die sie bei völliger Freiheit ihrer Handlungen be-
kämpft haben würden.
Namentlich wird es empfunden, dass über die Verwendung
der vom Fabrikherrn oder dessen Bevollmächtigten einseitig
festgesetzten Strafgelder genaue Angaben nicht mitgeteilt
werden; es heisst in § 18 der Pirmasenser Arbeitsordnung
nur ganz im allgemeinen: „Die Verwendung der Strafgelder
erfolgt zum Besten der Arbeiter innerhalb der Fabrik für Be-
quemlichkeitsvorrichtungen , Unterstützungen in Krankheits-
fällen u. s. w." Diese Bestimmung ist in der That sehr vage
und lässt einem Misstrauen Spielraum, das die Arbeitgeber leicht
durch jährliche Rechnungslegung über die Verwendung der
Strafgelder beseitigen könnten.
Die Schweinfurter Arbeitsordnung schreibt vor, dass die
Strafgelder nur zu Unterstützungen der Arbeiter verwendet
werden können, und zwar bis auf weiteres solcher Arbeiter,
welche durch Krankheit oder sonstige häusliche Unglücksfälle
in Not geraten sind; hier aber besteht ein Arbeiterausschuss,
der „ein dem Prinzipal beigegebenes, mitberatendes und mit-
wirkendes Organ in allen das Wohl der Arbeiter betreffenden
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Fragen sein und ein Bindeglied bilden soll zwischen Arbeit-
gebern und Arbeitern zum Zweck eines erspriesslichen Zu-
sammenwirkens" und das geeignete Organ zur Vermeidung
etwaiger Unzuträglichkeiten ist. Leider perhorreszieren die
meisten Fabrikbesitzer der Schuhwarenbranche die Einrichtung
von Arbeiterausschüssen in dem meines Erachtens völlig irrigen
Glauben, als ob durch diese Institution ihre Autorität erschüttert
werden würde, während doch die Erfahrung das Gegenteil be-
weist.
Ungeachtet der Ausstellungen im einzelnen wissen die
Fabrikarbeiter aber doch sehr genau, welchen Wert solche
Arbeitsordnungen für sie haben. Das Mass ihrer Rechte und
ihrer Pflichten ist damit bestimmt, in vielen Fällen ist ein
Schutz gegen Willkürakte gewährt und die Handhabe gegeben,
richterlichen Spruch dann anzurufen, wenn der Arbeiter sich
verkürzt fühlt. Den Mangel einer festen Arbeitsordnung em-
pfindet der Arbeiter des Kleinbetriebs sehr schwer. Hier ist
er zumeist ganz in den Händen des Arbeitgebers, der nach
seinem Willen schaltet, ohne auf den Gehilfen viel zu achten.
Darum geht auch die Bewegung unter den im Handwerk be-
schäftigten Arbeitern der Schuhmacherei vor allem auf das
Ziel, eine Werkstattordnung zu erreichen. Immer und immer
wieder wird in den letzten zehn Jahren diese Forderung als
die notwendigste betont, da von ihrer Erfüllung die feste Be-
grenzung der Arbeitszeit in erster und in zweiter Linie die
Sicherung der Lohnzahlung abhänge. Die Meister dagegen
sträuben sich gegen die Annahme und Durchführung einer
Werkstattordnung, weil sie damit einen Teil ihrer oft in Will-
kürlichkeiten ausartenden Privilegien zu verlieren fürchten. Und
wo sich beide Teile auf eine solche Ordnung geeinigt haben,
wird sie nur zu oft unter dem Druck der Verhältnisse wieder
hinfällig. „Wenn Sie gewendete Arbeit machen, hier ist Pappe",
dies Wort eines Meisters, der dabei auf die in der Werkstatt
ausgehängte Arbeitsordnung wies, ist unter den Gehilfen zu
einem geflügelten geworden. Und doch sind wahrlich die
Wünsche der Arbeiter, wie sie in einer derartigen Ord-
nung für die Arbeit in der Werkstatt zum Ausdruck kommen,
nicht unmässig. Zum Beweise teile ich hier einen von der
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Zentralleitung der gewerkschaftlich organisierten Schuhmacher
im Jahre 1889 empfohlenen Entwurf in vollständigem Wort-
laut wie folgt mit :
Werkstattordnung der Schuhmacher.
§ 1. Nachstehende Werkstattordnung tritt vom ... an für alle
Schuhmacher in ... in Kraft und ist in jeder Werkstatt sichtbar anzu-
schlagen. Dieselbe ist in einem Sonderexemplar von dem Meister, von
den bei ihm s. Z. in Arbeit stehenden Gehilfen, sowie von denen, die
später bei ihm in Arbeit treten werden, zu unterzeichnen.
§ 2. Die Arbeitszeit beginnt an allen Arbeitstagen vom 1. April
bis 30. September früh 6 Uhr und endigt des Abends t> Uhr, hingegen
vom 1. Oktober bis 31. März von früh 7 Uhr bis abends 7 Uhr. Von
12 — 1 Uhr findet eine Mittagspause statt, in welcher jeder Gehilfe die
Werkstatt zu verlassen hat; in dieser Zeit ist für die Lüftung der Ar-
beitsräurae Sorge zu tragen. Die Frühstück- und Vesperzeit, die nicht
über eine halbe Stunde dauern darf, ist in die Arbeitszeit eingerechnet.
§ 3. Zur Zeit des stillen Geschäftsganges bleibt es dem Arbeit-
geber überlassen, die festgesetzte Arbeitszeit stundenweise zu verkürzen.
§ 4. Ueberstundenarbeit darf nur in äusserst dringenden Fällen
und an einem Tage nicht mehr als eine Stunde für jeden Arbeiter be-
tragen. Auch darf dieselbe nicht länger als zwei Wochen in jedem
Quartal dauern. Jede Ueberstundenarbeit ist von dem Arbeitgeber der
Werkstattkommission anzuzeigen. Bei Unterlassung der Anzeige hat der
Arbeitgeber 3 M. an die Werkhtattkoinraission zu entrichten. — Sonntags-
arbeit findet nicht statt.
§ 5. Für jede Ueberstunde hat der Gehilfe ausser dem Stück- oder
Wochenlohn eine Vergütung von 25 Pf. zu beanspruchen.
§ 6. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, jeden Arbeiter während der
festgesetzten Arbeitszeit vollständig zu beschäftigen. Ist ein Arbeiter
ohne Arbeit, so hat der Arbeitgeber für die erste Stunde 10 Pf. und für
jede nachfolgende 25 Pf. zu vergüten.
§ 7. Der Arbeitgeber hat für gesunde Arbeitsräume Sorge zu
tragen. Die tägliche Reinigung derselben ist ausser der Arbeitszeit vor-
zunehmen.
§ 8. Der Arbeitslohn für gelieferte Arbeit ist stets am letzten
Werktage einer jeden Woche zu bezahlen, und zwar am Schluss der fest-
gesetzten Arbeitszeit.
§ 9. Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, über den bei ihm üblichen
Lohn einen Lohntarif auszuhängen und den Gehilfen bei Eintritt in das
Arbeitsverhältnis darauf aufmerksam zu machen.
§ 10. Jeder Gehilfe ist verpflichtet, die festgesetzte Arbeitszeit
pünktlich einzuhalten. Wer ohne vorher angebrachte Entschuldigung
beim Arbeitgeber zu spät kommt, jedoch noch in der ersten Stunde der
festgesetzten Arbeitszeit eintrifft, verwirkt eine Ordnungsstrafe von 10 Pf.,.
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bei noch spaterem Eintreffen eine solche von 20 Pf. und bei gänzlichem
Fortbleiben von der Arbeit eine solche von 50 Pf. für jeden Arbeitstag.
§ 11. Wer ohne Genehmigung die Werkstätte während der fest-
gesetzten Arbeitszeit verlädst, verwirkt für jede Stunde des zu frühen
Verlassens eine Ordnungsstrafe von 10 Pf.
§ 12. Verwirkte Strafgelder hat der Arbeitgeber vom Arbeitslohn
zu kürzen und einem bei ihm beschäftigten Gehilfen zur Ablieferung
an den Vorsitzenden der Werkstatt kommission zu übergeben. Letzterer
hat die an ihn abgelieferte Summe durch Marken zu quittieren.
§ 13. Jeder Arbeiter ist verpflichtet, den Anordnungen des Arbeit-
gebers oder dessen Beauftragten innerhalb der Werkstatt nachzukommen.
§ 14. Jeder Gehilfe ist verpflichtet, mit dem ihm übergebenen oder
in der Werkstatt befindlichen Material sorgsam umzugehen, und hat sich
aller störenden und zeitraubenden Unterhaltungen und Streitigkeiten zu
enthalten.
§ 15. Zur Kxtrabesorgung von Bedürfnissen der Gehilfen darf der
Lehrling oder Laufbursche täglich nur einmal zu einer festgesetzten Zeit
verwendet werden.
§ VI. Das Arbeitsverhältnis kann beiderseits ohne vorherige Kün-
digung nach Beendigung eines jeden Stückes Arbeit gelöst werden, ohne
dass dadurch dem einen oder dem andern Teile ein Rechtsanspruch
zusteht.
§ 17. Jeder Gehilfe ist verpflichtet, zur Durchführung der Bestim-
mungen dieser Weikstattordnung nach besten Kräften beizutragen und
Zuwiderhandlungen gegen dieselbe bei dem Vorsitzenden der Werkstatt-
kommission zur Anzeige zu bringen.
§ 18. Streitigkeiten, welche wegen der Bestimmungen dieser Werk-
stattordnung entstehen, sind von der Werkstattkommission, welche zu
diesem Zweck zur Hälfte aus Meistern und zur Hälfte aus Gesellen zu-
sammengesetzt ist, zu sehlichten resp. zu entscheiden. Die fünf Gehilfen-
mitglieder der Werkstattkommission sind in einer öffentlichen Gehilfen-
versammlung, die Meister in einer Meisterversammlung zu wählen.
Ein tüchtiger Fachmann, der bayerische Fabrikinspektor
Engert, sagt in einem seiner amtlichen Berichte 1 ): „Die
Höhe des Lohnes der Fabrikarbeiter im Vergleiche mit dem
kargen Verdienste der auf die Hausindustrie angewiesenen
zahlreichen Menschen lässt das Los der ersteren durchaus
nicht als das ungünstigste erscheinen. Zieht man ferner die
geregelte und massige Arbeitsdauer von zehn bis elf Stunden
täglich, die durchschnittlich hellen und luftigen Arbeitsräume
l ) Jahrgang 1881, S. 27.
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und die mancherlei Wohlfahrtseinrichtungen, die den wirtschaft-
lichen Verhältnissen der Fabrikarbeiter zu gute kommen, in
Vergleich mit dem ruhelosen Schaffen der Hausindustrie, den
meist niedrigen, schlecht gelüfteten kleinen Stuben und der
Verlassenheit in Krankheit und Unglück, so erscheinen schliess-
lich die Fabrikarbeiter beneidenswert gegenüber den Haus-
industriearbeitern." Füge ich hinzu, dass das Los der unge-
heuren Mehrzahl der im Kleinbetrieb der bayerischen Schuh-
macherei thätigen Arbeiter weit näher dem der Hausindustriellen
als dem der Arbeiter in der Grossindustrie steht, und ferner,
dass die unter dem Namen des Arbeiterschutzes bekannten
gesetzgeberischen Massregeln bis jetzt lediglich dem Fabrik-
arbeiter, nicht aber dem Handwerker und dem Heimarbeiter
zu gute kommen, so glaube ich meine Ausführungen über die
„Arbeitsbedingungen" nicht besser als mit dem nachdrücklichen
Hinweise schliessen zu sollen, dass diese allgemeinen Ausfüh-
rungen des Fabrikinspektors im besonderen für das Schuh-
machergewerbe in Bayern vollste Gültigkeit haben. Mag die
Lage der in der mechanischen Schuhfabrikation beschäftigten
Arbeiter auch noch so grosser Verbesserung fähig sein, sie ist
jedenfalls den in Handwerk, Zwergbetrieb, Hausindustrie herr-
schenden Zuständen bei weitem vorzuziehen. Der Grossbetrieb
erweist sich auch in unserm Gewerbe nicht bloss als ein wirt-
schaftlicher, sondern auch als ein sozialer Fortschritt r ).
') Vergl. v. Schulze-Gaevernitz, Der GrosHbetrieb (Leipzig 1802)
und Herkner, Die soziale Reform (Leipzig 1891).
«
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XIII.
Die Lebenshaltung der bayerischen Schuhmacher.
Die auf den vorhergehenden Seiten gegebenen Darstel-
lungen über die Arbeitsbedingungen der Schuhmacher, über
niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten in oft engen und un-
gesunden Räumen, machen es von vornherein wahrscheinlich,
dass im allgemeinen die Lebenshaltung der bayerischen Schuh-
macher keine hohe sein kann. Allgemein gültige Angaben
hierüber zu erlangen, hat indessen grosse Schwierigkeiten.
Höchst selten nur führt ein Schuhmacher, Meister oder Gehilfe,
verheiratet oder ledig, regelrecht Buch über seine Einnahmen
und Ausgaben ; das Einkommen ist meist so niedrig, dass man
von der Hand in den Mund lebt, oft auch schämt man sich,
öffentlich einzugestehen, wie kümmerlich man sich durchschlägt.
Auf dem Lande wie in den Städten passt sich natürlich der
Schuhmacher übrigens den Lebensgewohnheiten der unteren
Volksklassen in Nahrung, Wohnung und Kleidung so voll-
kommen an, dass Besonderheiten der Angehörigen unsres Ge-
werbes kaum wahrzunehmen sind. So darf ich denn wohl hier
auf die Einzelforschungen über Arbeiterbudgets verweisen, die
bekanntlich in ziemlicher Fülle vorliegen; die gesamte Lebens-
haltung gering bezahlter Lohnarbeiter ist im wesentlichen auch
die der Schuhmacher, und in Bayern speziell ist es in diesem
Punkte nicht anders und besser als im ganzen Reiche. Wie
tief die Lebenshaltung grosser Volksschichten in Deutschland
aber im Gegensatz zu den entsprechenden Arbeiterklassen in
England, Nordamerika, Australien steht, darüber liegen unver-
fälschte Zeugnisse in amtlichen Berichten und privaten Studien
in solcher Menge vor, dass ich mich der Aufgabe enthoben
fühle, oft Gesagtes hier zu wiederholen. Ein amerikanischer
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Beobachter fasst sein Urteil über die Lebensweise des deutschen
Arbeiters in folgende Worte zusammen: „Alles ist zu einem
Niveau herabgedrückt, unter dem es kaum möglich ist, die Kraft
zu erzeugen, die notwendig ist zum Verdienen der geringen Löhne,
die die Familie am Leben erhalten. Ein Ueberschuss ist unmög-
lich. Die Kaufkraft für andre Bequemlichkeiten ist zerstört,
da jeder Mehrverdienst zu besserer Nahrung verwendet wird."
Ist diese Auffassung, auf alle deutschen Arbeiter angewendet,
auch entschieden viel zu düster gefärbt, so trifft sie auf die
Mehrzahl der Schuhmacher doch im grossen und ganzen zu.
Denn hier wirken noch einige Umstände ein, um die Le-
benshaltung tiefer zu drücken. Der von den Freunden der
alten gewerblichen Ordnung so viel gepriesene , Patriarchalis-
mus * ist gerade in unserm Gewerbe noch weit verbreitet.
Wohnt der Gehilfe beim Meister, so steht sein Bett in der
Werkstatt, wo vom frühen Morgen bis zum späten Abend
gearbeitet worden ist, ohne dass die frische Luft Zutritt er-
halten hat, oder er muss in einem Verschlage, in einem Winkel
unter dem Dach, in licht- und luftiosen Räumen schlafen.
Manchmal müssen zwei Personen ein Bett teilen; Unredlich-
keit und Ungeziefer sind häufige Plagen. Der Gehilfe hat
keinen Raum, wo er wohnt, sondern nur eine Stelle, wo er
schläft; die Folge ist, dass er von der Werkstatt ins Wirts-
haus eilt, bis die Zeit zur Nachtruhe gekommen ist. Dem
Kleinmeister in den Städten geht es häufig nicht um ein Haar
besser als dem ledigen Gehilfen ; ihm ist die Werkstatt Wohn-
und Schlafstube, Küche und Waschraum. Gesonderte Werk-
stätten dürften, so schreibt man mir aus Nürnberg, von den
678 Meistern, die in dieser zweitgrössten Stadt Bayerns sind,
nur etwa 200 haben. Dagegen kommt es dort selten vor,
dass Gehilfen noch in Kost und Logis stehen. In München
sind, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, die Verhältnisse
besser; der Prozentsatz der Arbeitsräume, die zugleich als
Laden, Wohn- und Schlafzimmer dienen, ist erheblich geringer.
Ein Gehilfe zahlt in München für Logis wöchentlich etwa 1 M.
50 Pf., ein verheirateter Arbeiter kann mit seiner Familie kaum
für weniger als 150—200 M. jährlich Unterkunft finden.
„Ganze Kost und nichts zu essen," ist ein unter den
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Gehilfen gebräuchliches Wort. Indessen scheinen hier die
Verhältnisse in Mitteldeutschland, in Sachsen und Thüringen
namentlich, noch ungünstiger zu liegen als in Bayern, wo man
sich im allgemeinen doch noch kräftiger nährt als in jenen
Landstrichen. Der Landschuster, der mit seinen Gehilfen auf
der Stör ist, erhält seine Kost am Tisch des Bauern, und es
wird ausdrücklich konstatiert, dass während der Dauer der Stör
besser als gewöhnlich gekocht und überdies vormittags und
nachmittags Bier verabreicht wird. Freilich in den ärmsten
Gegenden Bayerns ist die Kartoffel auch für den Schuhmacher
das Hauptnahrungsmittel. Das Schuhmacherfachblatt, Jahrgang
1889, Nr. ö, enthält eine Schilderung der Lebensweise der
Schuhmacher an der Rhön, die ich hier im Auszuge folgen
lasse: Die Gegend ist unwirtlich, bitterarm. Die Bevölkerung
nährt sich von Feldbau und Hausindustrie. Wie überall ge-
hören die Schuhmacher zu den Aermsten. Die Meister, die
1 — 3 Gesellen und ebensoviele Lehrlinge beschäftigen, treiben
neben der Schuhmacherei auch Oekonomie, um ihren Jahres-
bedarf an Kartoffeln zu decken. Die ganze Familie ist tagaus
tagein auf diese Nahrung angewiesen, die in den verschieden-
sten Formen genossen wird. Morgens und abends wird ein
grosser Topf angesetzt; die kleinen Kartoffeln werden für das
Schwein, das man, wo es nur angeht, mit auffüttert, ausge-
lesen, die grösseren kommen auf den Tisch. Dazu wird ein
wenig Oel, Fett, aber auch oft nur Salz, Salzlauge oder Kaffee-
brühe genossen. Als „ Kaffee" figurieren gebrannte Rüben-
würfel, die gestossen und mit kochendem Wasser übergössen
werden. Heringe sind selten. Das Kartoffelland ist meist in
Pacht, der Meister erspart aber die Pacht dadurch, dass er
dem Besitzer sich verpflichtet, bei der Ernte mitzuhelfen und
zwar mit Gesellen und Lehrlingen. Dafür ackert ihm auch
der Bauer sein Kartoffelland. Der Geselle ist natürlich in
ganzer Kost, daneben erhält er einen Wochenlohn von 2 — 3 M.
bar. „Die Rhön-Schuhmacher," so behauptet der Bericht,
„ können heute der Fabrikkonkurrenz die Spitze bieten, weil
Meister und Geselle um die Wette hungern/
Dem gegenüber lasse ich das Wochenbudget eines ledigen
Gehilfen in München aus dem Jahre 1 888 folgen : Kost 7 M.,
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Logis 1 M. 50 Pf., kleine Ausgaben 50 Pf., Wäsche 50 Pf.,
Sonntagsgeld 1 M., in Summa pro Woche 10 M. 50 Pf.; ferner
rechnete er im Jahre für Kleider 50 M., für Neuanschaffung
von Wäsche und Schuhzeug je 10 M., für Zeitungen und Lek-
türe 4 M., Vereinsbeitrag ebensoviel, Krankenkasse 17 M. 60 Pf..
* Steuer 5 M., insgesamt im Jahre 100 M. 00 Pf. Seine Jahres-
ausgaben betrugen demnach 040 M. 00 Pf., er musste, um
glatt durchzukommen, 12 M. 43 Pf. wöchentlich verdienen,
ein Lohn, der um 1 M. 50 Pf. höher ist als der, laut einer
Enquete des Fachvereins München im gleichen Jahre, übliche
Durchschnittslohn sämtlicher Gehilfen. Die noch geringer Be-
zahlten werden eben an den Ausgaben für Bekleidung, für
Lektüre, Vereine und Krankenkassen das Nötige einsparen, um
ohne Schulden sich durchzubringen ; denn an der Ernährung
und dem Schlafgeld ist schlechterdings nichts mehr abzuknappen.
In kleineren Orten wird, wie ich auf Erkundigung erfahren habe,
für Kost und Logis, wo sie nicht beim Meister gereicht werden,
0 M. 50 Pf. bis 9 M. 50 Pf. gezahlt. Der verheiratete Ge-
hilfe, deren es übrigens nur wenige gibt, muss entsprechend
der Grösse seiner Familie natürlich mehr zahlen; dafür ver-
dient auch die Frau mit, oft auch die Kinder.
Man kann sich selbst aus diesen wenigen Andeutungen
ungefähr eine Vorstellung machen, wie kümmerlich durchweg
der Schuhmacher im Kleingewerbe leben muss. Will man die
Lebensführung der Fabrikarbeiter der Schuhwaren-Grossindustrie
kennen lernen, so wendet sich der Blick von selbst nach Pir-
masens als dem Orte, wo der mechanische Betrieb der Schuh-
macherei in Bayern konzentriert ist. Dass die Löhne hier im
Durchschnitt wesentlich besser sind als im Handwerk, glaube
ich ziffernmässig nachgewiesen zu haben. Aber es ist auch in
Betracht zu ziehen, dass Pirmasens ungewöhnlich hohe Lebens-
mittelpreise hat. Das hebt den Vorteil grösseren Einkommens
zum Teil wieder auf. Indessen habe ich doch Grund zur An-
nahme, dass die Lebenshaltung der Pirmasenser Schuhfabrik-
arbeiter, im ganzen genommen, eine bessere ist, als sonst in
unserm Gewerbe üblich ist. Dies spricht sich teilweise auch
in den Wohnungen aus.
Das gewöhnliche Logis eines besseren Arbeiters ist Stube,
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 14
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— 210 —
Kammer, Küche ; die letzteren beiden freilich oft sehr kleine
Gelasse. Die Miethe hierfür beträgt 170-100 M. jährlich,
einerlei, in welchem Stockwerk die Wohnung liegt. Ich habe
solcher Logis mehrere gesehen, die mit bescheidener Behaglich-
keit eingerichtet waren, der weissen Vorhänge an den Fenstern
und des Bilderschmuckes nicht entbehrten und ein ausreichendes,
nach und nach, manchmal bei Auktionen oder Gelegenheitskäufen
angeschafftes Mobiliar besassen. Ganz besonderer, von Glück be-
gleiteter Fleiss der Eltern und der erwachsenen Kinder bringt
es wohl auch fertig, ein eigenes Häuschen, meist die Hälfte
eines Doppelgebäudes, zu erwerben, von dem man dann wieder
ein Stockwerk vermietet. Dagegen sind einige von Fabrikanten
hergestellte Wohnhäuser bei den Arbeitern nicht beliebte Quar-
tiere, weil die Mietkontrakte sie angeblich in ihrer Freiheit und
Selbständigkeit durch allerlei Vorschriften und Klauseln be-
schränken. Ein Massenlogis ist die sogenannte „Kaserne",
die wohl noch aus den Zeiten der Soldatenspielerei zu Pirma-
sens im vorigen Jahrhundert stammt; hier haben in dem
feuchten Parterre, im ersten und zweiten Stock, sowie unter
Dach 52 Familien mit mehr als 250 Köpfen Unterkunft: Lange,
breite, aber dunkle Gänge durchziehen das Gebäude, rechts und
links münden die'Thüren ein, eine einzige enge, halsbrecherische
Treppe verbindet die Stockwerke. Hier können einzelne Woh-
nungen käuflich als Eigentum erworben werden: 2 Zimmer
nebeneinander kosten z. B. 1640 M.; ein andres Logis, das ich
besah, hatte zwei Zimmer über einer und zwei weitere über zwei
Stiegen, es hatte 3400 M. gekostet, war sauber und behaglich
gehalten und die Besitzerin zeigte die Räume mit sichtlichem
Stolze, wenn sie auch seufzte, es sei hart gewesen, Mark auf
Mark zusammenzusparen.
So wenig diese Zustände dem Ideal entsprechen, so kann
man sie doch nicht geradezu unbefriedigend nennen. Leider
bilden sie weniger die Regel als die Ausnahmen. Die Mehr-
zahl der Pirmasenser Arbeiterfamilien, namentlich die Haus-
industriellen in der Stadt, sind genötigt, entweder zu erheblich
niedrigeren Preisen Wohnungen zu nehmen, und für 120 M.,
einen Durchschnittssatz, erhält man gewöhnlich dort nur einen
Raum mit einem Nebengelass, oder sie müssen Schlafburschen
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ins Quartier nehmen. Auch in diesen ärmlichen Behausungen
kann ja noch der Versuch, sich sauber und wohnlich einzu-
richten, Erfolg haben; aber in den meisten Fällen muss dies
Zusammenpferchen von Personen beiderlei Geschlechts physisch
und moralisch die schlimmsten Folgen haben. Ich sah ein
halb verfallenes Häuschen, das nur aus Parterre und Boden-
raum bestand: ein Bretterverschlag war mehr hingelehnt als
angebaut. Dort wohnten und schliefen 8 Personen in einem
Räume: Vater, Mutter, 4 Kinder und 2 Schlafburschen; eine
ledige Tochter hatte kürzlich inmitten dieser Umgebung ent-
bunden. Die Hausindustriellen auf dem Lande stehen in dieser
Hinsicht auf weit höherer Stufe der Lebenshaltung ; da sie ur-
sprünglich Landwirte gewesen sind, sitzen die meisten Heim-
arbeiter der Pirmasenser Schuhindustrie in den umliegenden
Dörfern noch auf ihrer Scholle — sie nennen ein Haus, einen
Garten, ein Stück Land ihr eigen, wenn dies Besitztum auch
noch so klein ist. Die Wohnräume sind grösser, gesunder; oft
bestehen gesonderte Schlafzimmer, während allerdings tagsüber
in derselben Stube gewohnt, gearbeitet, gekocht, gegessen, ge-
waschen und getrocknet wird.
Die Ernährung der geringer bezahlten Arbeiter von Pirma-
sens ist dagegen in Stadt und Land ziemlich gleich. Kaffee,
Kartoffeln, Kraut, Brot, selten Fleisch, und dann oft vom Pferde-
metzger, bilden die gewöhnliche Kost, die mehr den Magen
füllt, als Kraft gibt. Kartoffeln werden zentnerweise, Kohlen
oft nur in kleineren Quanten gekauft. Geheizt und gekocht
wird stets zusammen in einem Ofen, der in der Werkstatt
steht. In den besser situierten Familien verwendet man den
Mehrverdienst hauptsächlich auf die Ernährung: zum Früh-
stück Kaffee mit Wecken, vormittags Brot, für den Vater bis-
weilen mit Käse oder Wurst, aber ohne Bier, mittags meist
Fleisch mit Gemüse, nachmittags wieder Brot mit einer Zu-
kost und abends Kartoffeln mit Wurst. Am elendesten sind
manche Arbeiter daran, die wegen der grossen Entfernung
ihrer Heimat nur sonntags Pirmasens verlassen und die
Woche über zusammen in Massenquartieren auf Stroh und
alten Säcken schlafen und sich selbst verköstigen, wozu sie
die Lebensmittel oft aus ihrem Dorfe für die Woche mit-
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bringen; Kaffee, Kartoffeln, Brot, Wurstfett und Fleisch-
abfälle sind ihre Nahrung, und da klagte mir einer, dass er
für das Sieden des Wassers im Maschinenraum dem Heizer
noch täglich 10 Pfennige von seinem kargen Lohn abgeben
müsse! Andrerseits wurde mir aus Fabrikantenkreisen ver-
sichert, dass in Zeiten sehr guten Verdienstes, wie in den
Jahren 1887 — 1890, also vor dem Krach, die Arbeiter sehr
selten gespart, sondern gewöhnlicli besser gelebt hätten. Auch
jetzt noch huldigten die jüngeren Leute der Vergnügungs-
sucht und der Verschwendung. Sonntags gehe es hoch her,
Musik und Tanz werde an vier bis fünf Orten abgehalten, die
Wirtshäuser seien überfüllt, die Mädchen verthäten einen guten
Teil ihres Wochenlohns in Kleidern und Putz. So selten
Eigentumsvergehen vorkämen, so häufig seien Sittlichkeits-
delikte; doch dürfe nicht verschwiegen werden, dass sehr häufig
die nachfolgende Ehe das Verhältnis legitimiere. Ebenso wird
über die Gewalttätigkeit der jüngeren Männer, namentlich
der „Zwicker" geklagt, bei denen der „ Schusterkneip * gleich
aus der Tasche fahre. Ständig musste ich die Ansicht hören :
die Leute verdienten zu viel; es sei von Uebel, dass kaum den
Kinderschuhen entwachsene Burschen und Mädchen oft den
grösseren Teil ihres Wochenverdienstes lose zu freier Ver-
fügung hätten, während sie der Familie, der sie angehörten
oder wo sie wohnten, nur 7 — 9 M. wöchentlich als Beitrag
für Unterhalt und Wohnung zahlten; da müsse der § 119a
der Gewerbeordnung über die Lohnauszahlung an minder-
jährige Arbeiter durch Ortsstatut in Kraft gesetzt werden. —
Ich teile diese Klagen, wie ich sie zu hören bekam, mit; ihre
Berechtigung zu prüfen, bin ich nicht im stände, möchte aber
eher die Meinung eines erfahrenen Arbeitgebers in Pirmasens
teilen, der mir versicherte: Es sei hier auch nicht schlimmer
als anderwärts, und neben mancher Zuchtlosigkeit zeige sich
sehr viel Tüchtigkeit in der Arbeiterschaft.
Im allgemeinen kann man für die Lebenshaltung der baye-
rischen Schuhmacher die liegel aufstellen: Der Fabrikarbeiter
lebt besser als der Meister und der Gehilfe im Kleinbetrieb,
der Handwerker in den grösseren Städten wieder besser als
der in den kleineren; auf dem Lande ermöglicht der Neben-
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— 21:3 —
betrieb der Landwirtschaft häufig reichlichere Ernährung und
geräumigere Wohnung für den Schuhmacher, ebenso für den
Heimarbeiter, der ohne diesen Züsch ass in übelster Lage ist. Den
wenigen Meistern, die es zu Wohlstand bringen, steht die grosse
Masse der Inhaber von Zwergbetrieben gegenüber, die sich
und den Ihren mit Mühe das Leben fristen.
Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, dass der
Gesundheitszustand der Schuhmacherbevölkerung in Bayern wie
überall ein schlechter ist, dass Krankheit und Tod unter ihren
Angehörigen reiche Ernte halten. Unser kgl. statistisches
Bureau veröffentlicht zwar regelmässig Berichte über Morbi-
dität und Mortalität, aber es wird in diesen Aufstellungen
lediglich nach den Arten der Krankheit und des Sterbefalles
unterschieden, nicht aber nach dem Berufe der Kranken und
Gestorbenen; eine Ergänzung nach dieser Richtung, die sich
ja unschwer bewirken liesse, wäre eine sehr dankenswerte
Neuerung, die die jetzt hauptsächlich für den Arzt wichtigen
Listen über Erkrankung und Tod auch dem Nationalökonomen
wertvoll machen würde. In Ermangelung exakten Materiales
für unser Untersuchungsgebiet muss ich mich daher auf einige
allgemeine Ausführungen beschränken, indem ich darauf ver-
weise, wie alle Forscher über Arbeiterkrankheiten darin über-
einstimmen, dass die Beschäftigung und die Lebensweise der
Schuhmacher zu schweren Erkrankungen, tiefgreifenden kon-
stitutionellen Leiden und grossem Mortalitätsprozentsatz Ver-
anlassung geben. Die mangelhafte Ernährung, die schlechten
Schlafstätten, das Einatmen verdorbener Luft sind nicht die
einzigen Ursachen: ebenso wirken mit die überlangen Arbeits-
zeiten, die Regellosigkeit der Arbeit, bei der auf eine Zeit des
Bummelns ein Hetzen und Hasten folgt, und schliesslich auch
ganz besonders die Art der Arbeit im Kleinbetrieb.
Da sitzt der Schuhmacher den lieben langen Tag auf
niedrigem Schemel, gebückt, zusammengekauert, ohne aufzu-
sehen; Lunge und Unterleibsorgane werden dabei notwendig
verkümmern. Bei jugendlichen und schwächlichen Arbeitern
führt das lange Sitzen leicht zu Verkrümmungen der Wirbel-
säule. Leiden der Atmungswerkzeuge, des Magens und des
Darms sind bei Schuhmachern und Schneidern viel häufiger
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als bei den meisten andern Handwerkern; sie sind in 60 bis
70 Fällen unter 100 die Ursachen frühen Todes. Ein Blick
in die „Sterbetafeln 14 , welche die Ende 1882 gegründete Zentral-
kranken- und Sterbekasse der Schuhmacher allvierteljährlich
veröffentlicht, bestätigt die Richtigkeit dieser Angaben. Diese
im ersten Jahre mit 3000 Mitgliedern beginnende, dann vor-
übergehend auf 20000 gestiegene, jetzt mit rund 12000. Mit-
gliedern arbeitende Kasse hatte in den ersten 6 Jahren bei
sehr schwankender Zahl der Angehörigen 427 Todesfälle; davon
erreichten nur 13 ein Alter über 50 Jahre, während 170 Ge-
storbene noch nicht das 30. Lebensjahr überschritten hatten,
das Durchschnittsalter betrug SS 1 /!« Jahre 1 ). Aus den Be-
richten mögen einige Stichproben folgen: Jahr 1886: 12000 Mit-
glieder, 115 Todesfälle, davon 81 an Schwindsucht und Darm-
leiden. I. Quartal 1887: die Zahl der Mitglieder betrug 11 131,
gestorben sind davon 28, nur 7 waren über 40 Jahre alt,
Todesursache in 25 Fällen Lungen- und Unterleibskrankheiten.
III. Quartal 1887: 11824 Mitglieder, 20 Todesfälle, 12 davon
infolge Lungenleiden; nur 3 hatten das 40. Lebensjahr über-
schritten, der älteste war 68 Jahre alt geworden. II. Quartal
1892: 14082 Mitglieder, 35 Mitglieder sind gestorben, davon
17 an Krankheiten der Atmungsorgane; 15 waren über 40 Jahre
alt. III. Quartal 1892: 13 459 Mitglieder, 31 Todesfälle, davon
23 an Krankheiten der Brust und des Unterleibes (4 an Cholera) :
8 waren älter als 40 Jahre, nur einer mehr als 50, nämlich
61 Jahre. I. Quartal 1893: 11932 Mitglieder, 34 Gestorbene,
in Leiden der Atmungsorgane wurde die Ursache des Todes
bei 24 gefunden; 5 standen im Alter von 40 — 50 Jahren,
5 hatten das 50. Jahr überschritten, der älteste war 53 Jahre
alt. Auch die Zahl der Erkrankten ist in dieser Kasse nicht
gering; so betrug beispielsweise in den Jahren 1885 und 1886
bei rund 11600 Mitgliedern (Ende 1886) die Zahl der Er-
krankungsfälle 16047, davon Betriebsunfälle 388, und die Zahl
') Dr. A. Neufville, Lebensalter und Todesursachen bei 22 ver-
schiedenen Ständen und Gewerben, Frankfurt a. M. 1855, hat auf Grund
seiner Beobachtungen aus der Zeit von 1820—1855 in der Stadt Frank-
furt a. M. das Durchschnittsalter der Schuhmacherineister auf 47 s /k> Jahre
berechnet.
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der Erkrankungstage 21042« (davon bei Betriebsunfällen 6008);
im Durchschnitt kamen also im Jahre auf 10 Angehörige der
Kasse 7 Kranke mit je 1:3 Krankheitstagen. Im Jahre 1884
hat der Fach verein der Schuhmacher Münchens „an alle Eltern
und Vormünder 44 einen Aufruf gerichtet, indem er eindringlich
davor warnt, Söhne oder Mündel das Schuhraacherhandwerk
lernen zu lassen; als Hauptgrund war die Ueberfüllung des
Gewerbes angegeben, daneben aber wurde auch angeführt: „Die
Schuhmacherei gehört zu den ungesundesten Gewerben." Man
wird diese Behauptung nicht rundweg Lügen strafen können.
Dagegen verfehlt das Ziel der von den Führern der Gewerk-
vereinsbewegung gerade in Bezug auf die Schuhmacher an-
geführte Einwand gegen die gesetzliche Altersversorgung:
Da diese erst nach dem 70. Jahre beginne, Schuhmacher aber
nur höchst selten dies Alter erreichten, so hätten sie „das
zweifelhafte Vergnügen, von ihrem erbärmlichen Verdienst die
Beiträge zur Alters- und Invalidenversicherung zu zahlen, ohne
je wieder einen Heller Rückgewährung in Form der Rente zu
erhalten." Diese Behauptung ist nichtig, insofern die Schuh-
macher für ihre Beiträge Invalidenunterstützung erhalten auch
vor dem 70. Jahre, sobald sie dauernd abeitsunfähig sind.
Ist auch hier der Fabrikarbeiter in besserer Lage als der
im Kleinbetrieb beschäftigte, bedeutet der Grossbetrieb auch
einen Fortschritt in der Erhaltung des Lebens und der Ge-
sundheit der Schuhmacher ? Vorweg sei die Vermutung wider-
legt, als ob die vom Wesen des Grossbetriebes unzertrennliche
Art der Arbeit mit Maschinen etwa in der Schuhmacherei be-
sondere Gefahren mit sich bringe. Die umstehende Tabelle über
die Anzahl der Unfälle und die Art der Verletzungen, welche
sich in den Schuhmacherei-Grossbetrieben des Königreichs
Bayern seit dem Inkrafttreten des Unfallversicherunsgesetzes
ereignet haben, beweist das Gegenteil dieser Annahme. (Vergl.
die Tabelle auf S. 210.)
Zwei Todesfälle in 8 Jahren und 18 — 58 Verletzungen
jährlich, meist sehr leichter Art (Verwundungen der Hand und
der Finger betragen 2 3 aller Unfälle), bei 4 — 6000 Arbeitern
sprechen eher für die Gefahrlosigkeit des Maschinenbetriebs
in der Schuhmacherei als für das Gegenteil; waren doch bei
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den 11600 meist dem Kleinbetrieb angehörigen Schuhmachern
der Zentralkranken- und Sterbekasse in den Jahren 1885 und
1886 nicht weniger als 388 Betriebsunfälle mit 6008 Krank-
heitstagen vorgekommen! Nach diesem Einzelfalle, den ich
allerdings nicht verallgemeinern möchte, wäre das Arbeiten
mit Ahle, Hammer und Messer in der Werkstatt für den
Schuhmacher viel gefährlicher als in der Fabrik mit ihren
zahlreichen Maschinen.
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Nicht zu bestreiten aber ist, dass der Arbeiter der Gross-
industrie in seiner besseren Ernährung, in dem kürzeren und
fest begrenzten Arbeitstage, in den geräumigen, hellen und
luftigen Fabrikräumen sehr wesentliche Vorteile für Leib und
Leben vor dem Handwerker voraus hat. Die Maschine ent-
hebt ihn ferner zum grössten Teile der Ueberanstrengung seiner
Muskeln; freilich fordert sie dafür von ihm eine Anspannung
der Intelligenz, des Auges, der Nerven in weit höherem Grade,
als die Handarbeit sie verlangt. Bei der durch mechanische
Kraft bewegten Nähmaschine ist die aufreibende Anstrengung
des Körpers der Stepperin, welche durch das ständige Treten
früher entstand, fortgefallen: aber die Arbeit ist wohl leichter
für die Muskeln, rastloser dagegen für das Gehirn geworden.
In der Fabrik sitzt kein Mensch stundenlang zusammengekrümmt
über einem Stiefel, hier werden alle Arbeiten in aufrechter
Stellung verrichtet, gewiss eine Wohlthat für Lunge und Leib —
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indessen wie muss der Arbeiter angespannt aufmerken, um bei
dem automatischen Gang der Maschine im Stücklohn ein tadel-
loses und zahlreiches Produkt zu liefern! Am schärfsten em-
pfindet bezeichnenderweise diejenige Kategorie von Fabrik-
arbeitern die Anforderungen des Grossbetriebes an ihre Leistungs-
fähigkeit, welche als Mittelglied zwischen den von Maschinen
ausgeführten Teiloperationen nur mit der Hand arbeitet: die
„Zwicker". Auf der einen Seite drängen die Notwendigkeit,
in der fortlaufenden Arbeitskette keine Störung eintreten zu
lassen, sowie das Akkordlohnsystem zur grössten Hast, auf der
andern verlangt die Arbeit Kraft und Ausdauer der Muskeln.
Man sagt allgemein, dass „Zwicker", die meist als junge, robuste
Leute beginnen, diese Operation selten länger als 10 — 12 Jahre
aushalten können; dann gehen sie zu weniger anstrengender
Beschäftigung über. Auch hier wird die Maschine Erleichte-
rung schaffen, sobald es gelingt, die Arbeit des „Zwickens"
auf mechanischem Wege auszuführen.
■
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XIV.
Die korporativen Verbände und ihre Bestrebringen.
Bei der unleugbaren Notlage der Mehrzahl der Schuh-
macher in Bayern wäre das Bestreben, anstatt mit nutzlosen
Klagen und Beschwerden die Zeit zu vergeuden, durch wirk-
same Mittel die Zustände zu verbessern, ein sehr begreifliches
Unternehmen. Die Vereinigung von gleich Bedürftigen und
gleich Gesinnten in Verbänden und Korporationen, um mit
gemeinsamen Kräften die Ziele zu erreichen, die der Einzelne
zu erlangen zu schwach ist, kann ohne Zweifel als ein solches
Mittel bezeichnet werden. Allein die Erfahrung lehrt, dass
auf gewerblichem Gebiete gerade diejenigen Berufszweige,
deren gesamte Lebenshaltung auf tiefer Stufe steht, am wenig-
sten die Eigenschaften besitzen, um sich auf die Dauer mit
Erfolg zusammenzuschliessen. Wo alle körperlichen Kräfte
einzig und allein angespannt werden müssen , damit das täg-
liche Brot verdient werde, da fehlen die Energie, das Gemein-
gefühl und die Disziplin, welche zur Gründung und Erhaltung
eines Verbandes der Gewerbegenossen unumgänglich sind. Die
Sorge um die Fristung der Existenz verzehrt alle weitergehenden
Pläne, und das Minimum an Lohn erschwert, ja verhindert die
Leistung von Geldbeiträgen, ohne welche keine Korporation
eine durchgreifende Thätigkeit entfalten kann. Aus diesem
Grunde ist gerade in der Schuhmacherbevölkerung, deren
Lebensfüherung bisweilen mit dem sprichwörtlichen Elend
der Handweber verglichen wird, Zahl, Umfang und Bedeutung
der korporativen Verbände geringfügig. Wir werden nicht zu
niedrig greifen, wenn wir annehmen, dass von den rund
49000 Personen, die in der bayerischen Schuhmacherei als
selbständige Betriebsinhaber, Hilfspersonen und Arbeiter thätig
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sind, nur etwa 2000 im Verbände irgend einer Organisation
stehen — also 4 °/o . Wenn aber auch die Menge der organi-
sierten Schuhmacher so gering ist, dass man füglich die ein-
zelnen Korporationen nur mit einigen Worten der Erwähnung
abthun könnte, so wird man andrerseits doch nicht umhin
können, ihnen als den Trägern der verschiedenartigen Be-
strebungen in unserm Gewerbe eine eingehende Betrachtung
zu widmen.
1. Das Genossenschaftswesen.
Schulze-Delitzsch, der Vater des deutschen Genossenschafts-
wesens , hat seinen ersten Versuch gerade mit Angehörigen
unsres Gewerbes gemacht, zunächst allerdings nur, um die
Rohstoffe besser und billiger zu beschaffen. Er erzählte selbst
darüber auf dem volkswirtschaftlichen Kongress zu Erfurt im
Jahre 1858 folgendes: „Man macht sich kaum Vorstellungen
davon, wie sehr die ärmeren Handwerker von den Zwischen-
händlern in den Preisen heraufgesetzt werden. Ein einziges
Paar Stiefelsohlen kam in der Association 25 ° o billiger und
dazu war das Material besser. Als nun gar in den letzten
Jahren die hohen Lederpreise, welche im Jahre 1857 bis auf
100°/* gegen früher gestiegen waren, eintraten, war für viele
Mitglieder jene (die Association) die einzige Rettung. Der
Aufschwung des Schuhmachergewerbes in Delitzsch, welches
sich zuerst associirte, war bald so bedeutend, dass die Schuh-
macher aus den Nachbarstädten, welche mit den Delitzschern
die Märkte bezogen, zu mir kamen und sagten : Wir können
mit den Schuhmachern in Delitzsch nicht mehr konkurrieren,
sie haben ihren Markt nach Magdeburg hin ausgedehnt, wir
wünschen uns auch zu associiren." Die Bewegung kam in
Gang; 18(53 zählte Schulze bereits 33 preussische, 18 säch-
sische und 30 andre deutsche Rohstoffgenossenschaften für
Schuhmacher; 1860 waren es nur noch 22 preussische, 15 säch-
sische und 25 andre deutsche Rohstoffvereine, neben einigen
Magazin- und Produktivgenossenschaften, die indessen teilweise
zahlreiche Mitgliedschaft und grossen Umsatz an Leder hatten.
«Gegenüber der Gesamtzahl von 189006 zollvereinsländischen
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Meistern u , so bemerkt G. Schneller l ) dazu, „ist es allerdings
immer noch unbedeutend, wenn einige Hundert durch die Roh-
stoffvereine in besserer Lage sind."
Für Bayern hat das Genossenschaftswesen in der Schuh-
macherei noch weit geringere Bedeutung, so gut wie gar keine.
Der Jahresbericht über die auf Selbsthilfe gegründeten deut-
schen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften für 1801
zählt für das Reich (31 Rohstoffvereine von Schuhmachern (bei
rund 8000 Genossenschaften überhaupt) auf; für Bayern wer-
den als „ nicht eingetragene " genannt solche in Kaiserslautern,
Memmingen und München, alle drei aber sind im Bericht mit
einem Fragezeichen versehen. Ich kann darauf keine andre
Antwort geben, als dass ich von der Wirksamkeit dieser an-
geblich vorhandenen Vereine nichts in Erfahrung bringen konnte.
Eine „eingetragene" Rohstoffgenossenschaft der Schuhmacher
gibt es in Bayern nicht; ebensowenig eine Werk- und eine
Magazingenossenschaft. Dagegen existiert in München eine sogen.
„Schuhmachermeister-Produktivgenossenschaft* als eingetragene
Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht. Sie ist 1871
gegründet. Gegenstand ihres Unternehmens bildet »der Ein-
und Verkauf von Rohmaterialien auf gemeinsame Rechnung,
sowie die Haltung eines Lagers von Schuhwaren aus den Werk-
stätten der Mitglieder". Jedes Mitglied muss einen Geschäfts-
anteil von 000 M. erwerben, der als Bestandteil des Betriebs-
vermögens der Verfügung des Mitglieds entzogen ist. Ein
Reingewinn wird verteilt, für ein Defizit müssen die Teilhaber
aufkommen. Jedes Mitglied hat das Recht, aus dem Genossen-
schaftslager Rohprodukte zu entnehmen und fertige Waren, die
der Prüfung einer Kommission unterstehen, in den Genossen-
schaftsladen abzuliefern. Die Thatsache, dass der Vereinigung
trotz so langen Bestandes nur 22 Meister angehören, ist be-
zeichnend ; noch charakteristischer freilich die Bemerkung meines
Gewährsmannes, des Vorstands dieser Meistervereinigung: er
möchte niemand empfehlen, einer Genossenschaft beizutreten!
In der Arbeiterbewegung ist bis zu Ende der 80er Jahre
eine starke Vorliebe für Produktivgenossenschaften der Schuh-
') Das deutsche Kleingewerbe, S. 629. Halle 1869.
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macher vorhanden gewesen. So fasste der erste deutsche
Schuhmacherkongress am 2(5. und 27. August 1883 in Gotha
folgende vom Reichstagsabgeordneten Bock vorgeschlagene
Resolution: „dass eine Aenderung der Produktionsweise nur
durch Gründung von Produktivgenossenschaften mittels Staats-
hilfe herbeigeführt werden kann, dass jedoch diejenigen Pro-
duktivgenossenschaften, die sich unter den heutigen Verhält-
nissen konstituieren und in ihren Grundprinzipien dem Interesse
der Gesamtheit der Kollegen Rechnung tragen , moralisch zu
unterstützen sind. 44 Die Erörterungen in der Fachpresse be-
wegen sich vielfach in gleicher Richtung. Indessen ist diese
Theorie, abgesehen von einem verunglückten Versuch im Kleinen
zu Anfang der 80er Jahre in München, in Bayern nicht in die
Praxis übertragen worden, und die jetzt geltende sozialdemo-
kratische Doktrin ist ihr ohnedies entschieden abgeneigt. Der
Gedanke, Produktivgenossenschaften zu gründen, um gemäss-
regelten Arbeitern Beschäftigung zu verschaffen, ist auf dem
angeführten Kongress nicht zu Tage getreten ; nicht lange
darauf ist allerdings aus diesem Anlasse in Erfurt eine Pro-
duktivgenossenschaft errichtet worden, die sich bis jetzt er-
folgreicher als eine früher in Dresden und eine Ende Septem-
ber 1892 in Ottenbach eingegangene Gründung dieser Art
gehalten hat l ). Ob diese Produktivgenossenschaft auf die
Dauer Bestand haben wird, muss die Zukunft zeigen. Anders-
wo, z. B. in England, hat man im allgemeinen sehr trübe Er-
fahrungen mit Schuhmachereibetrieben auf genossenschaftlicher
Grundlage gemacht: sieht man von wenigen Ausnahmen, nament-
') Nach einem Streik in Erfurt 1890 wurde ein Teil der Gehilfen
von den Fabrikanten nicht wieder in Arbeit genommen; jene gründeten
daher eine eigene »Schuhfabrik mit 100 000 M. Kapital in Anteilscheinen,
für deren Waren stark agitiert wird. An Löhnen zahlte das Unternehmen
1892 57 534 M., der Warenumsatz betrug 198 000 M. ; 1893 wurde ein
eigenes Gebäude mit Dampfbetrieb für 51 700 M. angekauft. Sie benutzt
zum Vertrieb ihrer Produkte das Kontrollmarkensystem und findet damit
in Norddeutschland guten, in Süddeutschland indessen wenig Absatz; so
berichtete ein Redner in einer im Frühling 1893 abgehaltenen Schuh-
macherversammlung in München, die Fabrik habe im verflossenen Jahre
in Hamburg mit diesem System für 6000 M. verkauft, während in
München nur für 100 M. Kontrollzeichen anzubringen gewesen seien.
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lieh der in Kettering bestehenden Genossenschaftsfabrik, ab,
so sind fast alle Produktivassociationen in der Schuhmacherei
entweder ganz zusammengebrochen oder sie haben sich in eine
Form gewerblicher Unternehmungen verwandelt, „welche dem
Schweisstreibersystem der Mittelsleute gefährlich nahekommt,
wenn sie nicht schon wirklich dazu zu rechnen ist." Das Buch
der Frau Sidney Webb, geb. Potter, „Die britische Genossen-
sch aftsbewegung" (deutsch herausgegeben von L. Brentano,
Leipzig 1893) gibt über diesen Punkt eingehende Auskunft.
Ganz vorzüglich bewährt sich im Gegensatz zu diesen Pro-
duktivgenossenschaften in England die Einrichtung grosser
Schuhfabriken von Seiten der englischen und der schottischen
Grosshandelsgenossenschaften in engster Verbindung mit dem
Konsumvereinswesen ; in Leicester, Heckmondwike und Shield-
hall bestehen solche Grossbetriebe, die billige und dauerhafte
Schuhwaren für die Angehörigen der Konsumvereine liefern.
Derartige Versuche sind in Bayern und meines Wissens auch
in Deutschland bisher nicht gemacht worden.
2. Die Arbeitgeberverbände.
Sowohl der Grossbetrieb als das Handwerk besitzen Ver-
einigungen der Arbeitgeber, jene in dem Verbände der deut-
schen Schuh- und Schäftefabrikanten, diese in den Innungen.
a) Die Innungen.
So alt die Geschichte der Schuhmacherkorporationen in
Bayern ist 1 ), so gering ist in der Gegenwart die Bedeutung
der Innungen. Man kann dies behaupten, ohne sich einer
Unterschätzung schuldig zu machen. Nach der Berufszählung
von 1882 zählt Bayern rund 33 000 selbständige Schuhmacherei-
betriebe, darunter sind keine 200, die zum Grossbetrieb zu
rechnen sind. Und von diesen vielen Tausenden ist etwa nur
der 25. Teil in Innungen vereinigt. Die Rheinpfalz besitzt
') Die Schuhmacherinnung in München beruft sich auf einen Zunft-
brief Herzog Ludwigs in Bayern vom 29. Mai 1290; im Stadtrecht zu
Augsburg wird 1276 das Recht der vereinigten Gerber und Schuster be-
stimmt; die Schuhordnung der Stadt Nürnberg ist gleichfalls vom Ende
des 13. Jahrhunderts.
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keine einzige Innung. Für das rechtsrheinische Bayern habe
ich mich bemüht, auf dem Wege direkter Erkundigungen von
den Obermeistern und Vorständen zuverlässige Angaben zu
erhalten; mit wenigen Ausnahmen ist auch meiner Bitte in
dankenswerter Weise entsprochen worden. Ist auch die nach-
folgende Liste der Schuhmacherinnungen in Bayern nicht ab-
solut vollständig, so kommt sie diesem Ziele doch jedenfalls
nahe. Regierungsbezirk Oberbayern: Schuhmachermeister-
innung München 517 Mitglieder, die 500 Gehilfen und 1)5 Lehr-
linge beschäftigen; München rechts der Isar: 50 Meister mit
15 Gesellen und 8 Lehrlingen; Perlach: 40 Mitglieder mit
10 Gehilfen und 15 Lehrlingen. Niederbayern: Passau mit
18 Meistern, 14 Gesellen und 13 Lehrlingen; Wegscheid: nach
Angabe des Vorstandes „in ruhender Aktivität" ; Hals bei
Passau: 6 Mitglieder mit 3 Gehilfen (1880 waren es 32 Mit-
glieder). Oberpfalz: Regensburg, etwa 50 Meister mit 25 bis
30 Gehilfen und Lehrlingen; Amberg: 25 Meister mit 9 Ge-
hilfen und 12 Lehrlingen. Ob er franken: Hof: 25 Meister
mit 45 Lehrlingen und Gehilfen; Herzogenaurach: 40 Mitglieder
mit 20 Gehilfen und ebensoviel Lehrlingen; Weissenstadt :
20 Meister, 7 Gehilfen und 3 Lehrlinge (der Vorstand bemerkt
dazu: „Die Innung ist sehr im Sinken und ich kann nicht be-
stimmen, ob sie überhaupt im Jahre 1894 noch besteht").
Bamberg: 20 Meister mit 20 Gehilfen und 12 Lehrlingen.
Rehau: 38 Mitglieder mit je 7 Gehilfen und Lehrlingen.
Mittelfranken: Nürnberg; hier zählt jetzt die Innung
86 Meister mit 160 Gehilfen und 40 Lehrlingen, während ihr
1890 nach einem Streik vorübergehend 200 Mitglieder ange-
hörten; sie veranstaltet Fachkurse, hat aber keine Unter-
stützungskassen. Fürth: 10 Mitglieder mit 7 Lehrlingen und
4 Gehilfen; Lauf: die Innung hat sich im März 1893 aufge-
löst; Ansbach: desgl. aufgelöst. Unterfranken: Würzburg
mit 58 Mitgliedern, die 35 bis 40 Gehilfen und 14 bis
18 Lehrlinge beschäftigen; Schweinfurt: 14 Meister mit 12 Ge-
hilfen und 6 Lehrlingen; Hassfurt: 10 Meister ohne Hilfs-
personen, die Innung zählte früher 50 Mitglieder. Schwaben:
Augsburg mit 48 Meistern und 120 Gehilfen und Lehrlingen;
Memmingen: 23 Mitglieder mit 6 bis 8 Gehilfen und 5 bis
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(3 Lehrlingen. Ausserdem, so in Nördlingen, Neumarkt i. 0.,
Landshut, Plattling, Landsberg a. L., Ansbach u. a. 0., gehören
Schuhmachermeister dem bayerischen Handwerkerbunde, All-
gemeinen Gewerbeinnungen, Meisterfachvereinen an. Mit Be-
rücksichtigung der Orte, aus denen Angaben fehlen, wird
man die Zahl der in Innungen und Meisterverbänden or-
ganisierten Betriebsinhaber im Schuhmacherhandwerk Bayerns
auf nicht mehr als 12 — 1300 veranschlagen dürfen. Und da-
von kommen rund 570, also nahezu die Hälfte auf die bei-
den Münchener Verbände! Mehrere Innungen berichten von
einem Rückgang in der Zahl ihrer Mitglieder, andre haben
sich aufgelöst oder befürchten dies Schicksal, wieder andre
haben jede Thätigkeit eingestellt. In der bayerischen Schuh-
macherei hat die Bewegung zu Gunsten der Innungen jedenfalls
den Höhepunkt überschritten und ist im Niedergang begriffen l ).
Die einzige bayerische Schuhmacher in eisterinnung, die
eine Wirksamkeit in grösserem Stile ausübt, ist die zu München.
Sie hat einen Sterbeverein für die Mitglieder und deren Frauen,
sowie eine Innungskrankenkasse für Meister, Gehilfen und
Lehrlinge, ferner gewährt sie für Mitglieder und deren An-
gehörige Unterstützungen in besonderen Notfällen; ihr Roh-
stofflager hat im Jahre 1889 einen Zuschuss von 1000 M. aus
der staatlichen Wittelsbacherstiftung erhalten, die gleiche Be-
günstigung wurde ihrer Fachschule zu teil ; auch mit Arbeits-
nachweis hat sie Versuche gemacht. Der gewerblichen Aus-
bildung ihrer Angehörigen lässt sie alle Sorgfalt angedeihen:
regelmässige Fachkurse sowie Unterricht in Buchführung und
Korrespondenz bleiben nicht ohne Erfolge, wie die Ausstellungen
von Lehrlingsarbeiten beweisen. Lohntarife und Werkstatt-
ordnungen, auch wenn sie nicht immer strikte eingehalten oder
häufig geändert werden, geben Zeugnis von dem Streben, mit den
Gehilfen in festgeregelte Verhältnisse zu kommen ; auch hat sie
einen Verein der Innungsgehilfen ins Leben gerufen. Des Lehr-
') Trotzdem Bayern namhafte und höchst eifrige Führer der Hand-
werkerbewegung besitzt, beträgt die Gesamtzahl der Innungen, ein-
schliesslich 42 nicht nach der Gewerbeordnung reorganisierter Meister-
verbände, überhaupt nicht mehr als 15G mit 11144 Mitgliedern. (Prof.
Stieda im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften".) .
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lingswesens nimmt sich die Innung besonders an : Aufdingen und
Freisprechen der Lehrlinge geschieht in feierlicher, öffentlicher
Handlung, Prämien spornen den Anfänger zu gründlicher Er-
lernung und Ausübung des Gewerbes an. Hier ist thatsächlich
viel ehrliches und eifriges Bestreben, das Handwerk durch eigene
Tüchtigkeit seiner Angehörigen vor dem Verfall zu bewahren.
Aber gerade diese Innung, die etwa 40°;o aller zum Ge-
werbebetrieb in der Stadt München angemeldeten, in Wirk-
lichkeit aber einen noch grösseren Teil der ihr Handwerk auch
regelmässig ausübenden selbständigen Schuhmacher umfasst,
beweist durch ihr Verhalten, dass sie im Grunde selbst an
einem Erfolg der Erhaltung des Kleinbetriebes in der Schuh-
macherei ohne Staatshilfe verzweifelt. Sie stand in der vor-
dersten Linie, wenn es galt, über die verderbliche Konkurrenz
des Grossbetriebes, der Zuchthäuser und Militärwerkstätten zu
klagen, obligatorische Innungen und den Befähigungsnachweis
zu verlangen. Ueberhaupt sind es ja die Schuhmacher aller-
orten beinahe, bei denen die Forderungen der Handwerker-
bewegung und die Ansichten der Zünftler offene Ohren und
laute Propaganda finden. Für obligatorische Innungen und
Befähigungsnachweis sprach sich nahezu zuerst und höchst
nachdrücklich der Verband rheinisch-westfälischer Schuhmacher-
meister zu Paderborn aus l ) ; in der Reichstagssitzung vom
18. Januar 1893 wurde ausdrücklich betont, „dass die Agi-
tation für die Erbringung des Befähigungsnachweises wesent-
lich von den Zünftlern des Schuhmachergewerbes ausgeht" 2 );
auf dem am 30. September 1872 in München abgehaltenen
bayerischen Schuhmachertage wurde konstatiert, dass inner-
halb eines halben Jahres in Süddeutschland 70 — 80 Schuh-
machertage abgehalten und etwa 100 Schuhmachervereine ge-
gründet worden seien, um das Gewerbe gegen den Ansturm
der Grossindustrie zu schützen und den vermeintlichen Wir-
kungen der Gewerbefreiheit entgegenzutreten. Auf einem
weiteren Schuhmachertag in Passau am 20. Juni 1887 wurde
im Prinzip die Errichtung eines bayerischen Schuhmacher-
') Dr. Jäger, Handwerkerfrage, Berlin 1S87, S. 142.
2 ) Stenographischer Bericht S. 574.
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 15
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— 226 -
innungsbundes beschlossen, worüber man schon in den
Jahren 1884 und 1886 in Augsburg und Regensburg ver-
handelt hatte. In München trat man dann am 12. August 1888 l )
in die materielle Beratung des Statutes eines „Bayerischen
Schuhmacherinnungsbundes u ein und genehmigte den vorge-
legten Entwurf, lehnte es aber trotz der eifrigen Befürwortung
des Obermeisters der Berliner Schuhmacherinnung Beutel, des
Vorsitzenden des Zentralvorstandes deutscher Schuhmacher-
innungen, ab, sich als „Unter verband" dem Zentralverein anzu-
schliessen, sondern beharrte auf seiner Selbständigkeit, von
der man sich grössere Vorteile versprach. Alle diese Bestre-
bungen haben nennenswerte Resultate nicht zustande gebracht,
und angesichts der entschiedenen Erklärungen, welche die
Reichsregierung wiederholt gegen Zwangsinnung und Befähi-
gungsnachweis abgegeben hat, scheinen die beteiligten Kreise
sich allmählich in das Unabänderliche zu fügen; Zeugnis ist
dafür auch eine Bemerkung in dem Jahresbericht der Handels-
und Gewerbekammern von Oberbayern für 1 892, das Verlangen
nach dem Befähigungsnachweis sei innerhalb der Schuhmacher-
innung München verschwunden. Mit einem Worte: die Zu-
versicht, dass das Handwerk durch korporativen Zusammen-
schluss und Verleihung besonderer Privilegien erhalten werden
könne, hat in dem einen, und zwar dem weitaus grösseren
Teile der bayerischen Schuhmacher, überhaupt nicht wirksam
Boden gewinnen können, und der andre Teil, der eine Zeit-
lang diese Forderungen vertrat, scheint sich jetzt von der
Aussichtslosigkeit ihrer Verwirklichung zu überzeugen.
Erfreulicherweise aber halten einige Innungen, freilich
nicht sie allein, sondern auch die gewerkschaftlichen Fachver-
eine, an der Aufgabe fest, für ihre Mitglieder eine tüchtige
und gründliche gewerbliche und kaufmännische Ausbildung
anzustreben. An manchen Orten, vorwiegend in den grossen
Städten, werden regelmässige Fachschulen und Kurse abge-
halten; in Verbindung damit stehen Ausstellungen von Lehr-
lingsarbeiten und Prämiierungen. „Jeder Schuhmacher," so
*) Die Verhandlungsprotokolle sind 1888 zu München, Druck von
Jos. Deschler, erschienen.
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heisst es in einem Aufrufe der Fachschulkommission der Mün-
chener Innung vom Jahre 1889, „der begriffen hat, dass er
im Kampfe gegen die Grossindustrie derselben nur mit gründ-
lichem Wissen annähernd Konkurrenz bieten kann, wird auch
erkennen , dass ihm nur in einer Fachschule Gelegenheit ge-
boten wird, dasselbe sich anzueignen. . . Wohl hängt die
jetzige bedrängte Lage unsres Gewerbes mit ausserordentlich
vielen, in einander greifenden schwierigen Verhältnissen zu-
sammen ; allein die Vorkämpfer auf dem gewerblichen Gebiete
haben schon längere Zeit darauf hingewiesen, dass vor allem
das Handwerk aus sich selbst heraus den Anforderungen der
Zeit Rechnung tragen, dass jeder Handwerker mit dazu bei-
tragen muss, dass das Handwerk nicht plötzlich und jäh ver-
fällt.' 1 Und von der gewerkvereinlichen Seite erklärte auf der
Generalversammlung des Unterstützungsvereins 1885 W. Bock:
Er habe zwar schon oft die Gelegenheit genommen, die Illusion zu
zerstören, als ob man mit Winkel und Transporteur den Unter-
gang des Kleinhandwerkes und die Entwickelung der Gross-
industrie aufhalten könne. Aber trotzdem stehe er auf dem
Standpunkt, dass jeder Arbeiter verpflichtet sei, sich in seinem
Berufe in möglichst vollkommener Weise auszubilden. — Die
Kurse sind meist in zwei Abteilungen getrennt, eine für Meister
und Gehilfen, die andre für Lehrlinge. Gelehrt wird sowohl
die Technik der Schuhmacherei als auch, was des öfteren als
unerlässliche Notwendigkeit gekennzeichnet wird, kaufmännische
Führung des Geschäftes. So zählte beispielsweise der Lehr-
plan einer Fachschule der Unterstützungsvereinsfiliale (gewerk-
schaftlich) in München 1885 folgende Fächer auf: 1. Zeichnen.
2. Anatomie des Fusses. 3. Geometrie. 4. Massnehmen.
5. Uebertragen der Masse auf Leisten und Modelle. 6. Her-
stellung naturgemässer Leisten, 7. Proportionsmass. 8. Die
geometrische Sohlenform. 9. Sohlenumriss und Trittspuren.
10. Fellauszeichnen. 11. Die praktische Fussbekleidung nach
anatomischen Grundsätzen. 12. Verschiedene Leistensysteme.
13. Erklärung abnormer Fussformen. 14. Beschuhung für
Kurzbeinige. 15. Anfertigung von Gipsfüssen. IG. Modell-
schneiden. 17. Zuschneiden und Aufpappen. 18. Die ver-
schiedenen geometrischen Schaftkonstruktionen. 19. Waren-
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künde. 20. Gewerbliches Rechnen. 21. Buchführung. Eventuell
Kursus in der Stenographie, im Recht- und Schönschreiben.
Der Unterricht dauerte von Anfang September 1885 bis Ende
März 1886 und wurde von Meistern am Montag und Mittwoch
Abend jeder Woche gegeben. Die Beiträge beliefen sich auf
25 Pf. für die Aufnahme und 10 Pf. wöchentlich. — Diese
Fachkurse sind raeist gut besucht und es werden schöne Re-
sultate erzielt. Jedenfalls ist strebsamen Handwerkern hier
Gelegenheit gegeben, nützliche Kenntnisse sich zu erwerben,
und es ist um so erfreulicher, dass Innungen und Fachvereine
sich in diesem Streben begegnen, als es in Bayern nicht, wie
in Mitteldeutschland (Erfurt, Artern) eigene Schuhmacher-
schulen gibt; auch Lehrwerkstätten sind nicht eingerichtet.
b) Der Verband der deutschen Schuh- und Schäfte-
fabrikanten.
Eine Vereinigung von Arbeitgebern der Schuhwaren-
grossindustrie besteht erst seit kurzem, aber, im Gegensatz zu
den Innungen, hat sie bereits den Beweis erbracht, dass sie
etwas zu erreichen vermag. Der Gedanke eines solchen Ver-
bandes ist entstanden im Anschluss an einen Akt der deutschen
Gesetzgebung, und Einfluss zu gewinnen auf die Gesetzgebung
ist eine der hauptsächlichsten Bestrebungen des Vereins. Schon
die konstituierende Versammlung der durch das Unfallver-
sicherungsgesetz ins Leben gerufenen Bekleidungsindustrie-
genossenschaft, der die Schuhmacherei angehört, hatte im
Sommer 1885 den Plan erwogen; 1889 wurde er von einer Fach-
zeitung aufs neue angeregt, und Anfang 1 890 erliess eine grössere
Anzahl angesehener Firmen der Schuh- und Schäfteindustrie
an ihre sämtlichen Gewerbegenossen einen Aufruf zur Bildung
eines Verbandes; als Zweck des Unternehmens wurde be-
zeichnet, die den betreffenden „Industriezweigen gemeinsamen
Interessen durch den Ausdruck des Gesamtwillens wahrzu-
nehmen und durch das Auftreten als geschlossenes Ganze dem
In- und Auslande zu zeigen, was der deutsche Gewerbefleiss
auf diesem Gebiete der wirtschaftlichen Thätigkeit geschaffen
hat* (Jahresbericht 1890). Die begründende Versammlung
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wurde am 13. April 1890 in Eisenach abgehalten; die bedeut-
samsten Beschlüsse lauten: Die Mitglieder des Verbandes ver-
pflichten sich, in der Lohnbewegung sich gegenseitig zu unter-
stützen ; die Koalitionsfreiheit der Arbeiter soll nicht angetastet
werden; bindende Abmachungen über eine Preiserhöhung der
Fabrikate wurden als nicht durchführbar erkannt, dagegen
wurde es als zweckdienlich erachtet, „durch eine Resolution
die Tendenz einer Preissteigerung hervorzurufen*, und zwar
sollte eine solche um 6°/o angestrebt werden. In der That
erklärt der Jahresbericht, „dass durch das Vorgehen auch nur
einer beschränkten Anzahl von Interessenten einem weiteren
Rückgange der Preise vorgebeugt worden ist 4 * .
Verfolgte der Verband nach dieser einen Richtung die Ab-
sichten eines Preiskartells, so traten seine andern Bestrebungen
auf der am 7. September 1800 in Frankfurt a. M. abgehaltenen
ersten ordentlichen Hauptversammlung zu Tage: hier be-
schäftigte man sich in erster Linie mit der unter dem Namen
des „ Arbeiterschutzgesetzes " bekannten Novelle zur Gewerbe-
ordnung. Die Beschäftigungszeit weiblicher Personen, die vor-
geschlagene Verlegung des Fortbildungsschulunterrichts in die
Arbeitszeit, die Einführung von Bussen für den Kontraktbruch
und die Anrechnung der Zuthaten bildeten diejenigen Punkte
in dem Regierungsentwurfe und den Abänderungen der Reichs-
tagskommission, welche den vereinigten Fabrikanten Anlass zu
einer Reihe abweichender Beschlüsse gaben. In einer Petition
wurde der Reichstag hiervon verständigt und auch seitens
mehrerer Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses dahin
gearbeitet, „um durch Beschlüsse der Handelskammern und
direkte Vorstellungen bei den Abgeordneten verschiedenster
Parteirichtungen zum Ziele zu gelangen." lieber das Ergebnis
dieser Bestrebungen wird mitgeteilt: „Die vom Reichstage ge-
fassten Beschlüsse erweisen , dass der Verband , wenn auch
nicht durchweg bezüglich der Arbeitszeit der weiblichen Ar-
beiterinnen und der Unterrichtszeit in den Fortbildungsschulen,
so doch bezüglich der Lohneinbehaltung zur Sicherung der
Bussen und bezüglich der Zuthaten ... in der Sache seinen
Zweck vollständig erreicht hat. 14 Dagegen hat, wie bereits
erwähnt, der Bundesrat eine von seiten des Verbandes 1891
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eingereichte Petition um generelle Ausnahmen vom Verbote
der Sonntagsarbeit und vom elfstündigen Maximalarbeitstage
weiblicher Arbeiterinnen während der Zeit des dringenden Ge-
schäftsganges abgelehnt. In der am 17. Juni 1892 in Berlin
abgehaltenen Hauptversammlung wurden ferner Beschlüsse ge-
fasst, den Bundesrat zu ersuchen, einmal die sämtlichen Heim-
arbeiter von der Invaliditäts- und Altersversicherung zu be-
freien, da in diesem Punkt Ungleichartigkeit der Behandlung
herrsche, und sodann die sämtlichen gewerblichen Betriebe in
die. Unfallversicherung einzubeziehen , da sich der Unterschied
zwischen versicherungspflichtiger Fabrik und freigelassenen
Betrieben immer mehr verwische und überdies die Unfall-
gefahren in den letzteren oft nicht geringer seien als in der
Grossindustrie.
Gleicherweise setzte der Verband „seine bei der wirt-
schaftlichen Ungunst besonders nahe liegenden Bemühungen"
zur Aufrechterhaltung der Preise für Schuh fabrikate fort,
wenn er es auch wiederholt ablehnte, dem Drängen nach
einer verpflichtenden Konvention nachzugeben. Eine Zentral-
stelle vermittelt Auskünfte und Schuldeintreibungen; ein Ver-
bandsbeschluss richtet sich gegen säumige Zahler und regelt
die Kreditfristen.
Man ersieht aus dieser kurzen Aufzählung, dass der Ver-
band in den paar Jahren seines Bestehens eine rührige und
nicht erfolglose Thätigkeit entfaltet hat, um die Interessen der
Schuhwarengrossindustrie vom Standpunkt der Arbeitgeber aus
nach verschiedenen Richtungen, sowohl gegenüber dem kau-
fenden Publikum als auch gegenüber den Arbeitern und schliess-
lich zur Abstellung von Missständen innerhalb der Industrie
selbst, zu vertreten. Zwar gehören dem Verbände nur 170 Mit-
glieder von rund 080 deutschen Schuh- und Schäftefabrikanten
an — aus Bayern, das 175 versicherungspflichtige Betriebe
der Schuhmacherei zählt, sind 21 vertreten (aus Bamberg, Bay-
reuth, Kaiserslautern, Kirchheimbolanden, München, Nürnberg,
Pirmasens [11 Firmen], Speier und Schweinfurt), aber, wie
die Jahresberichte betonen, sind es die grössten und leistungs-
fähigsten Betriebe der gesamten Branche, welche die wirt-
schaftliche Führung sowohl durch die Güte und Menge ihrer
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Produkte als durch die Zahl ihrer Arbeiter in der deutschen
Schuhwarengrossindustrie besitzen.
Ausserdem existieren noch einzelne lokale Unternehmer-
korporationen, so namentlich eine in Pirmasens, der die meisten
grossen und mittleren Geschäfte angehören; die Geschlossenheit
ihrer Organisation steht im völligen Gegensatz zu dem Mangel
fester Vereinigung in ihrer Arbeiterschaft, die den Verband be-
schuldigt, früher durch Verstösse gegen die Gewerbeordnung
(Trucksystem, missbräuchliche Verwendung der Kinderarbeit),
jetzt durch Lohndrückern und Arbeitsentziehung sein Ueber-
gewicht fühlbar zu machen. Die häufigen Klagen vor dem
Gewerbe- und vor dem Strafgerichte geben Zeugnis hierfür.
3. Die Gewerkschaftsbewegung.
Man kann den Verbänden der Arbeitgeber im Grossbetrieb
und im Handwerk nicht die Vereinigung der Arbeiter und Ge-
hilfen gegenüberstellen. Denn während Innungen und Fabri-
kantenverband natürlich ausschliesslich Arbeitgeber umfassen,
befinden sich im „Verein deutscher Schulimacher" und in der
„Zentralkranken- und Sterbekasse der Schuhmacher und ver-
wandten Berufsgenossen Deutschlands" Meister, Gehilfen und
Arbeiter nebeneinander; der selbständige Betriebsinhaber steht
neben den Hilfspersonen, der Fabrikarbeiter neben den Ange-
hörigen des Handwerks. Der Grund für diese Erscheinung
beruht vornehmlich in der Gleichartigkeit der Lebensführung
von Kleinmeistern und Arbeitern in unserm Gewerbe ; die Not
verwischt den Unterschied zwischen Selbständigen und Gehilfen,
beide empfinden gleichmässig den Druck, und die politische
Gesinnung der wohl ausnahmslos zur sozialdemokratischen Partei
sich rechnenden Angehörigen der beiden Korporationen, über die
die Gewerkschaftsbewegung unter den Schuhmachern verfügt,
ist ein weiteres Band der Einigung. Die Kleinmeister haben
sogar vielfach die Führung der Agitation in der Hand, auch
wenn sich diese ausdrücklich auf Forderungen der Gehilfen
erstreckt.
Freilich ist der Erfolg der seit fast einem Vierteljahrhun-
dert fortgesetzten Bemühungen, eine starke gewerkschaftliche
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Organisation der Schuhmacher zu erzielen, ziffernmässig be-
trachtet sehr massig. Am IG. Mai 1809 wurde zu Leipzig der
Grundstein zu einer Vereinigung der Schuhmacher Deutsch-
lands gelegt, im Anschluss an eine Rede Liebknechts über die
Organisation der Arbeiter. Die Entwicklung ging indessen
nur langsam vorwärts (in Bayern schlössen sich Nürnberg
und Bamberg an) und der Krieg von 1870/71 hinderte voll-
ends den Fortgang. Der Vorort wurde nach Zürich, dann
nach Nürnberg, vorübergehend nach Dresden und von da 1873
nach Gotha verlegt. Nach dem Kriege warf sich die Gewerk-
schaft in eine lebhafte Agitation, stiess aber hierbei auf die
leidenschaftliche Konkurrenz des im November 1872 in Berlin
gegründeten Allgemeinen deutschen Schuhmachervereins Lassalle-
scher Richtung. Auf einem von der Gewerkschaft 1875 nach
Koburg berufenen Schuhmacherkongress fand die Vereinigung
statt, noch vor der im gleichen Jahre zu Gotha erfolgenden
Verschmelzung der Anhänger von Marx und derer von Lassalle.
1878 zählte die Gewerkschaft 5000 Mitglieder, und man erging
sich in weitgehenden Hoffnungen; schreibt doch ein Blatt,
dass es damals nur eines kleinen Schrittes bedurft hätte, „um
unsre gewerbliche Organisation zu einer jener grossen Ver-
einigungen zu machen, wie sie in England und Amerika be-
stehen." Da kam das Sozialistengesetz, und nach kurzer Frist
verfiel auch dieser gewerkschaftliche Verein samt seiner Kran-
kenkasse und seinem publizistischen Organ dem Verbote. Aber
man schritt bald zu einer mit dem Gesetze verträglichen Um-
bildung: zunächst gründete man zahlreiche Fachvereine x ), dann
1882 die Zentralkranken- und Sterbekasse und Ende August
1883 den „Unterstützungsverein deutscher Schuhmacher", der
im Gegensatz zu den Fachvereinen mit lokalpartikularistischer
Tendenz die Zentrale repräsentierte. Für Bayern wurde die
Genehmigung des „ Unterstützungsvereins B am 17. Januar 1884
von den Behörden erteilt, am 1. April 1884 begann er seine
Thätigkeit mit dem Sitze in Nürnberg. Auf dem Kongresse
in Weimar, Oktober 1888, wurde beschlossen, die Organisation
') In Bayern bestanden 1883 neun solcher Fachvereine in München,
Nürnberg, Fürth, Bayreuth, Schweinfurt, Rosenheim, Neustadt a. H.
Ludwigahafen, Speier.
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des „Vereins deutscher Schuhmacher" — so wurde der Name
geändert — trotz aller Anfechtungen aufrecht zu erhalten; es
waren nämlich inzwischen 32 Filialen (davon in Bayern Mün-
chen und Pirmasens) aufgelöst worden und 21 eingegangen (in
Bayern Ansbach, Ludwigshafen, Regensburg). Trotzdem be-
standen noch 110 Filialen mit 5300 Mitgliedern. Nun kam
der Ablauf des Sozialistengesetzes und gleichzeitig eine mit dem
vorübergehenden Geschäftsaufschwung in Verbindung stehende
starke Lohnbewegung; die Mitgliederzahl stieg bis Ende 1890
auf rund 15000. Vom Oktober 1890 bis November 1892 sind
dann neu eingetreten zwar 15 467 Mitglieder, abgegangen aber
durch Tod, Austritt, Ausschluss 20 310, so dass der Bestand
des „Vereins deutscher Schuhmacher" mit dem Zentralsitz in
Nürnberg Ende 1892 sich auf 10006 männliche und 115 weib-
liche Mitglieder belief in 280 Zahlstellen. Bayern hatte fol-
gende 18 Zahlstellen: Nürnberg (175 Mitglieder), München (204),
Erlangen (12), Ludwigshafen (32), Fürth (14), Bamberg (16),
Schweinfurt (78), Würzburg (46), Herzogenaurach (42), Speier
(26), Schwabach (14), Mering (5), Kempten (23), Regensburg
(8), Hof (38), Berchtesgaden (12), Kaufbeuern (12), Pirmasens
(107). In gewerkschaftlichem Verbände standen also Ende 1892
nur 864 Schuhmacher, etwa 2 ° o der bayerischen Schuhmacher-
bevölkerung, während für ganz Deutschland das Verhältnis der
organisierten zu den nichtorganisierten Arbeitern doch immer-
hin wie 1 zu 18 ist.
Auf allen Kongressen deutscher Schuhmacher (der dritte
wurde im Anfang Dezember 1892 in Frankfurt a. M. abge-
halten) und allen Generalversammlungen des „Vereins deutscher
Schuhmacher tt , in den Kassenberichten, sowie ständig in der
gewerkschaftlichen Presse ertönt denn auch die Klage über die
geringe Beteiligung im allgemeinen und für Bayern im beson-
deren. Die Notlage der Schuhmacher, die selbst die geringen Bei-
träge hart empfänden, die stumpfe Gleichgültigkeit, welche harte
und langdauernde Arbeit erzeuge, aber auch Schikanen der
Polizei und der Innungen, flauer Geschäftsgang, innere Zwistig-
keiten werden als Gründe angegeben. Namentlich wird Be-
schwerde geführt, dass die Hausindustriellen sich ganz zurück-
halten und die Fabrikarbeiter nur schwer beigehen; nur ein
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— 234
Sechstel der Mitglieder zählen zu ihnen, fünf Sechstel gehören
dem Handwerk an.
Was will der Verein und was leistet er? Das Statut des
„Vereins deutscher Schuhmacher" r ) gibt in § 2 als Zweck „die
allseitige Vertretung der Interessen seiner Mitglieder" an. Der
Förderung dieses Zweckes dienen: a) fachgewerbliche Fortbildung
durch Fachunterricht (Fachschulen). In der That halten verschie-
dene Zweigvereine solche Kurse ab, der Verein veranstaltet hie
und da Ausstellungen, seine Presse erlässt Preisausschreiben und
ist bemüht, Ratschläge, Anweisungen, gewerbliche Nachrichten,
Musterzeichnungen zu verbreiten, b) Erzielung günstiger Arbeits-
bedingungen. In Bezug auf die Fabrikarbeiter werden Mass-
nahmen der Gesetzgebung zum Schutze der Arbeiter gefordert, die
sich mit dem allgemeinen Programm der Gewerkschaftsbewegung
decken. Was das Handwerk betrifft, so wird die Abschaffung
des „ Patriarchalismus 4 * und die Einführung des reinen Geld-
lohns, die Reform der Werkstattverhältnisse im Hinblick auf
ihre räumliche und gesundheitliche Beschaffenheit und die Fest-
setzung einer Werkstattordnung mit zehnstündigem Maximal-
arbeitstag, Abschaffung der Sonntagsarbeit und Einführung
eines Minimaltagelohns verlangt. Die Hausindustrie will man
ganz beseitigen, c) Vornahme statistischer Ermittlungen. Schon
auf dem ersten deutschen Schuhmacherkongress Ende August
1883 wurde eine Anregung zu einer allgemeinen Lohn-, Ar-
beitszeit- und Lehrlingsstatistik gegeben; 1888 wurde in Weimar
der förmliche Beschluss einer allgemeinen Berufsstatistik gefasst.
Aber die Ausführung lässt zu wünschen übrig: allerdings
wurden in manchen Orten von den Zweigvereinen Erhebungen
veranstaltet, aber weder waren sie vollständig, noch nach ein-
heitlichem Plane. Immerhin ist vereinzelt manches wertvolle
Ergebnis erzielt worden, zurnal schätzbar in Ermanglung an-
derweitigen Materiales, und es ist dringend zu wünschen, dass
der Verein mit der Berufsstatistik der Schuhmacher fortfährt 2 ).
Ferner kann die Vereinsleitung je nach den Mitteln ge-
') Nürnberg 1890, Druck von Friedr. Höpfner.
r ) Eine Zusammenstellung der Ergebnisse ist in der Broschüre „Die
Lage der deutschen Schuhmachergehilfen 14 von L. Freiwald, Gotha 1890,
agitatorisch verwertet.
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währen : Unentgeltliche Arbeitsvermittlung, Reiseunterstützungen
(bis zu 600 Kilometer jährlich pro Kilonieter 2 Pfennig), Un-
terstützungsbeiträge an verheiratete Mitglieder in dringenden
Notfällen (bei Sterbefällen bis zu 30 Mark), Unterstützungen
bei Arbeitslosigkeit, wenn sie die Folge von Lohnstreitigkeiten
ist. Zur Mitgliedschaft sind alle in der Schuhindustrie und im
Schuhmachergewerbe thätigen Arbeiter und Arbeiterinnen be-
rechtigt, welche im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte sind.
Das Eintrittsgeld beträgt für Männer 25, für Frauen 15 Pf.,
der Wochenbeitrag 10 und 5 Pf. Im Jahre 1891 betrug die
Gesamteinnabme des Vereins rund 43 000 M.; davon wurden ver-
ausgabt 1200 M. für Agitation, 1900 M. für Streiks, 1000 M.
für Rechtsschutz, 1000 M. an Unterstützung für Gemassregelte,
21 000 M. für Reiseunterstützung, 16 500 M. für Verwaltungs-
kosten. Wie man sieht, verschlingen letztere beide Posten
87 °/o des ganzen Budgets ; man ist zwar bestrebt, die Reise-
untersttitzung fortgesetzt zu vermindern (von 1000 auf 800 und
jetzt auf 600 Kilometer, was lebhaftem Widerspruch begegnet),
von einer Einschränkung der Verwaltungskosten ist dagegen
nichts zu hören. Alle zwei Jahre wird in einer General-
versammlung Rechenschaft abgelegt; überdies veröffentlicht das
publizistische Organ des Vereins, das in Gotha erscheinende
„ Schuhmacher-Fachblatt die Quartalsaus weise. Neuerdings
wird auch die Frage: ob Branchen-, ob Industriegruppenverband,
lebhaft erörtert. Auf dem Allgemeinen deutschen Gewerk-
schaftskongress am 14. und 15. März in Halberstadt waren
auch die deutschen Schuhmacher vertreten, und am 6. und
7. August 1893 fand ein internationaler Schuhmacherkongress
in Zürich statt, der von Deutschland gut beschickt war. Der
Hauptbeschluss ging auf Errichtung eines internationalen Sekre-
tariats in Zürich, das den Arbeitsnachweis organisieren und das
Verhalten bei Streiks regeln soll; ferner wurden das Unter-
stützungs- und Herbergswesen, die Normalarbeitszeit, die Be-
seitigung der Stückarbeit und die Agitation besprochen.
Neben dem „Verein deutscher Schuhmacher" darf als In-
strument der Gewerkschaftsbewegung die „Zentralkranken- und
Sterbekasse der Schuhmacher und verwandten Berufsgenossen
Deutschlands", eingeschriebene Hilfskasse Nr. 91, mit dem
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Sitze in Hamburg angesehen werden. Gegründet ist sie bereits
1882; im ersten Quartal ihres Bestehens zählte sie 877 Mit-
glieder in 39 Filialen (in Bayern Rosenheim, Fürth, München,
Erlangen, Regensburg, Nürnberg, Edenkoben), Ende 1883 be-
standen bereits 144 Filialen (in Bayern waren noch weitere 8
hinzugekommen). In der vom 17. bis 19. Februar 1884 in
Frankfurt a. M. abgehaltenen Generalversammlung wurde der
Zutritt zu dieser Kasse auch andern gewerblichen Arbeitern,
mit Ausnahme der in gefährlichen Betrieben verwendeten, ge-
stattet; infolgedessen stieg zwar die Mitgliederzahl rasch auf
20000 (darunter 15 500 Schuhmacher), aber die Kasse wurde
nun so stark in Anspruch genommen, dass bald ein Defizit
entstand. So beschloss man denn auf der Generalversammlung
in Kassel , sich wieder auf die Schuhmacher allein zu be-
schränken. 1888 wurde Hamburg der Sitz der Kasse, die sich
inzwischen nach den Vorschriften des Krankenkassengesetzes
umgeändert hatte. Die Wochenbeiträge sind in fünf Klassen
abgestuft, die Zahl der Mitglieder betrug am 31. März 1893
11932 in 230 Zahlstellen. Die Bilanz vom ersten Quartal 1893
wies an Einnahmen auf: Kassenbestand 20 721 M. , Kapital-
zinsen 3939 M. , Beiträge 56549 M., verschiedene Posten
1844 M. Ausgegeben wurden für ärztliche Behandlung, Heil-
mittel, Krankengeld und Verpflegungskosten, sowie für Sterbe-
geld 52 281 M. , die Kapitalanlagen betrugen 6939 M., die
Kassenbestände 18 004 M. , die Verwaltungskosten 5365 M.
Der Stand dieser freien Hilfskasse ist trotz der starken Mor-
bidität und Sterblichkeit ihrer Angehörigen augenscheinlich ein
günstiger.
Im Zusammenhange mit den Erörterungen über die Ver-
bände von Arbeitgebern und Arbeitern sei es gestattet, noch
ein Wort über die Arbeitskämpfe im Schuhmachergewerbe
hinzuzufügen. Der „Verein deutscher Schuhmacher", also die
gewerkschaftliche Organisation, hat sich in seiner Generalver-
sammlung am 25. Mai 1885 mit aller Entschiedenheit gegen die
leichtfertige und unbesonnene Inscenierung von Streiks erklärt
und einen sogen. Schiedsrichter eingesetzt, der bei ausbrechenden
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Differenzen mit Heranziehung der Arbeiter zunächst den Weg
gütlicher Verhandlungen zwischen beiden Parteien zu betreten
hat, und erst dann, wenn dieser Versuch fruchtlos ausfällt,
je nach Umständen die Arbeitseinstellung für berechtigt er-
klärt oder davon abrät. Es sollen nur noch Streiks vom Verein
unterstützt werden, die von dem Schiedsrichter gebilligt werden.
Auf diese Weise ist es gelungen, eine Anzahl Streiks, die mit
sicherer Niederlage der Arbeiter geendet hätten, zu verhüten,
an andern Orten Vergleiche zu stände zu bringen oder Ar-
beitseinstellungen frühzeitiger zu beenden. Freilich haben sich
bisweilen trotzdem die Schuhmacher nicht abhalten lassen,
ohne Billigung des Schiedsrichters einen Streik zu beginnen ;
so namentlich im Frühjahr 1888 in Berlin, ein Vorgang, der
stürmische Auseinandersetzungen im Schosse des Vereins hervor-
rief. Aber auf dem Kongress zu Weimar wurde im gleichen
Jahre das Schiedsgericht aufs neue bestätigt, und der Reichstags-
abgeordnete W. Bock übt es zur Zeit noch aus. Er ist, wie
er in seinem Blatte (Schuhmacherfachblatt 1888 Nr. 14) dar-
legt, der Ansicht, dass Streiks dort am zahlreichsten seien,
wo die Arbeiter wenig oder gar nicht sich organisiert hätten.
Im Schuhmachergewerbe seien die Streiks in früheren Jahren
zahlreicher gewesen als heute, und daran habe die mangel-
hafte Organisation die Schuld getragen. „Die organisierten
Arbeiter," schreibt Herr Bock, „kennen ihre eigene Macht
und die Stärke der Arbeitgeber und verfallen nicht so leicht
in den Irrtum der Ueber- oder Unterschätzung ihrer eigenen
Kraft und der der Arbeitgeber; sie überschauen besser die
Konjunkturen des Geschäftes, die Möglichkeiten des Gelingens
oder Misslingens gestellter Forderungen, sie stellen auch keine
solchen, die nach Lage des Geschäfts die Arbeitgeber nicht
bewilligen können , und nicht zur Unzeit. Die Arbeitgeber
ihrerseits werden sich gegenüber der Arbeiterorganisation
hüten, unbillige Forderungen zu stellen, weil sie dadurch leicht-
sinnig einen Kampf mit der Organisation heraufbeschwören
können, der ihnen mehr Nachteil bringt, als sie von den Ar-
beitern fordern. Ganz anders bei den unorganisierten Arbeitern :
Irgend eine Veranlassung gibt Grund zur Unzufriedenheit, ein
oder mehrere Hitzköpfe erklären, dass nur ein Streik helfen
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könne, die urteilslose, unorganisierte Menge stimmt in blinder
Begeisterung bei, es wird einige Zeit hartnäckig stand ge-
halten, und nachdem der Kampf auf beiden Seiten grosse
Opfer erfordert, fallt die Arbeitseinstellung zusammen, mit
Hinterlassung von grosser Erbitterung auf beiden Seiten
') Auf das Beispiel eines grossen Arbeitsstreites im Schuhmacher-
gewerbe Englands kann ich mir nicht versagen, hier hinzuweisen. Im
Juni des Jahres 1892 beschloss der Verband der Schuhfabrikanten
Englands, alle Fabriken innerhalb einer Woche zu schliessen, da die
Gewerkschaft der Schuhmacher nicht einen Streik gegen acht Fabriken
in Northampton verhindert habe, während sie verpflichtet gewesen wäre,
die Differenz vor ein Schiedsgericht zu bringen. 90000 Arbeiter standen
vor dem Lockout. Beiderseitige Bemühungen verhinderten dies Aeusserste,
und am 10., 11. und 12. August 1892 traten im Stadthause zu Leicester
unter dem Vorsitze des Bürgermeisters je 9 Delegierte der „Vereinigten
Gesellschaften der Schuh- und Schäftefabrikanten Grossbritanniens" und
der „Nationalunion der Schuh- und Stiefelarbeiter" zu Verhandlungen
zusammen. Beide Parteien brachten ihre Beschwerden und Forderungen
vor, und in musterhaft sachlicher, streng parlamentarischer Erörterung
wurde in der That eine Einigung in den meisten Fällen zu stände ge-
bracht. Nur ein Hauptpunkt wurde nicht erledigt: die Frage, wieviel
jugendliche Arbeiter im Verhältnis zu den Erwachsenen in den einzelnen
Abteilungen der Schuhfabrikation beschäftigt werden dürften. Zu ihrer
Entscheidung wurde ein Unparteiischer gewählt, der nach erneuter Ver-
handlung am 19. und 20. August seinen Spruch fällte: auf je drei Arbeiter
solle durchschnittlich ein Junge (unter l!S Jahren) beschäftigt werden
dürfen. — Die Debatten sind im Druck erschienen (Leicester, Chas. D.
Merrick); man gewinnt aus der Lektüre der 152 enggedruckten Seiten
einen wohlthuenden Eindruck, mit welchem Ernst und sachlicher Gründ-
lichkeit, aber auch mit wie starkem Billigkeitsgefühle und gesundem
Urteil hier Arbeitgeber und Arbeiter einer grossen und weit verbreiteten
Industrie auf das Ziel guten Einvernehmens hinarbeiten, um den be-
rechtigten Interessen beider Teile nach Thunlichkeit zu entsprechen. Auch
das Jahr 1893 ist von einem Streite beider grossen Verbände in der
Schuhwarenindustrie Englands nicht verschont geblieben. Aber obwohl
sich die Dinge wieder bereits so stark zugespitzt hatten, dass die Ver-
einigung der Arbeitgeber am 15. Juli mit einer allgemeinen Ausschliessung
von 100000 Arbeitern drohte, weil der Verband der Arbeiter unter Ver-
letzung der geltenden Vereinbarungen in zwei Städten Streiks ange-
ordnet habe, gelang es abermals in letzter Stunde, auf gütlichem Wege
die Streitigkeiten zu schlichten. Der Präsident des Nationalen Schieds-
gerichtsamtes, Sir Thomas Wright, verlangte und setzte durch, dass die
Arbeiter die Arbeit wieder aufnahmen und der Fabrikantenverband die -
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Es ist schwer zu sagen, in wie weit diese im allgemeinen
gewiss zutreffende Auffassung in unsrem Gewerbe bestätigt
wird. Die Statistik der Streiks im Schuhmachergewerbe ist
für ein endgültiges Urteil nicht vollständig genug. Indessen
scheint die Abhandlung von Dr. Oldenberg im , Handwörter-
buch der Staats Wissenschaften* über die Arbeitseinstellungen
in Deutschland seit Aufhebung der Koalitionsverbote zu dem
gleichen Ergebnisse zu kommen; auch er teilt mit, dass die
Fabrikarbeiter, welche die schlechtesten Gewerkschafter seien,
am häufigsten, aber ohne alle Umsicht und Berechnung die
Arbeit einstellen. Nach seiner Schätzung beziffern sich die
Streiks im Schuhmachergewerbe bis 1889 auf mehr als 70,
seitdem ist noch eine grössere Anzahl hinzugekommen, nach
einer Aeusserung auf dem Schuhmacherkongress 1892 zu Frank-
furt a. M. allein in den beiden Jahren 1891 und 1892 15.
Gegenwärtig wird von dem Schiedsrichter eine Sammlung von
Material über alle Ausstande im Jahre 1893 vorbereitet.
Auch Bayern ist von Arbeitsstreitigkeiten nicht verschont
geblieben ; es haben im letzten Jahrzehnt solche in München,
Nürnberg, Fürth, Schweinfurt, Naila, Pirmasens etc. statt-
gefunden, und zwar sowohl im Handwerk wie im mechanischen
Betriebe. Doch ist weder Umfang und Dauer noch Charakter
dieser Arbeitseinstellungen derart gewesen, dass es notwendig
wäre, näher hierauf einzugehen. Bei der Schwäche der Ar-
beiterorganisation bestanden auch keine Schiedsgerichte und
Einigungsämter für Arbeitgeber und Arbeiter.
angekündigte Auaschliessung widerrief. Die strittigen Punkte wurden
untersucht, und vom Schiedsrichter erhielten die Arbeiter in beiden
Fällen Unrecht. Die „ Labour Gazette", das amtliche Organ des Handels-
ministeriums, das in Nr. 4, August 1893, auf S. 85, einen Bericht über
diesen Streit in der Schuh warenindustrie gibt, bemerkt dazu: „Diese
Vorgänge sind augenscheinlich geeignet, die Stellung des Schiedsgerichts
zu stärken ; dieses hat jetzt seinem Vorsitzenden die Befugnis erteilt,
aus eigener Initiative in Fällen von Arbeitseinstellung einzugreifen."
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XV.
Schlusswort, Ergebnisse und Betrachtungen.
Der erste Teil dieser Erörterungen, der die Statistik, die
Technik und die Betriebsorganisation des bayerischen Schuh-
machereigewerbes in ihren Einzelnheiten dargelegt hat, ist zu
dem Ergebnis gekommen, dass die mit Maschinen und kauf-
männischer Benützung der Marktverhältnisse arbeitende Gross-
industrie eine unleugbare Ueberlegenheit über den Kleinbetrieb
besitzt: Ihre Produktion ist billiger und die von ihr erzeugten
Massengüter stehen an Qualität keineswegs hinter den im Klein-
betrieb hergestellten Schuhwaren zurück. Ich hoffe, dass es
mir gelungen ist, im zweiten Abschnitt auch den weiteren
Nachweis zu führen, wie dieser ökonomische Fortschritt nicht
zum Schaden, sondern zum entschiedenen Vorteil der in der Schuh-
warengrossindustrie beschäftigten Personen gereicht hat. Von
den Betriebsinhabern versteht sich das von selbst ; das Kapital
würde nicht fortgesetzt Anlage in der Gründung und Erweite-
rung von Schuhfabriken suchen, wenn es darin nicht eine loh-
nende Rente fände *). Im allgemeinen ist die Entwickelung
dieser Industrie, abgesehen von vorübergehenden Depressionen,
auch in Bayern eine an Umfang und Intensität aufsteigende;
die Tendenz zu wachsender Kapitalkraft und Konzentration des
') Fabrikinspektor Rauschenbach in der Schweiz sagt in dem Be-
richt für 1891: „Aus der Thatsache, dass immer neue Schuhfabriken
entstehen und bestehende erweitert werden, darf wohl der Schluss ge-
zogen werden, dass die Thätigkeit auf diesem Gebiete noch eine ver-
hältnismässig lohnende ist."
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— 241 -
Betriebes stellt ihr auch für die Zukunft ein günstiges Pro-
gnostikon. Aber ebenso hat für die Arbeiter die mechanische
Fabrikation von Fussbekleidungen höhere Löhne, kürzere Ar-
beitszeiten, feste Arbeitsordnungen, gesündere Arbeitsräume mit
ihren von selbst sich ergebenden Wirkungen auf die gesamte
Lebenshaltung herbeigeführt. Der Grossbetrieb hat also auf die-
sem Felde auch sozialreformatorisch gewirkt, wie er weiter sodann
den Verbrauch an Schuhwaren wesentlich fördert und in der
deutschen Handelsbilanz keine unbedeutende Stelle einnimmt.
Eine Fabrikindustrie, die jährlich schätzungsweise in Bayern etwa
für 32 Millionen Mark Waren erzeugt und umsetzt, ist ein er-
heblicher Faktor in dem Wirtschaftsleben eines Landes von
nicht ganz 6 Millionen Einwohnern.
Ihr gegenüber steht das Handwerk mit rund 30000 Klein-
betrieben und etwa 40 000 darin beschäftigten Personen — also
ebenfalls ein Element von nicht geringer sozialer und ökonomi-
scher Bedeutung. Die Konkurrenz der billigen Produkte der
Grossindustrie hat die herkömmliche Notlage der grossen Mehr-
zahl der in diesen veralteten Betriebsformen thätigen bayeri-
schen Schuhmacher noch weiter verschärft. Wie ist da Ab-
hilfe zu schaffen und worin ist sie zu suchen?
Verschiedene Heilmittel, die vorgeschlagen worden sind,
haben heute eine ausreichend lange Erprobung hinter sich, um
über ihren Wert ein Urteil fällen zu können.
Da sind die Zünftler mit ihrem Verlangen nach Zwangs-
innungen und nach Einführung des Befähigungsnachweises.
Aber gegen welche Gefahr sollen diese Mittel schützen ? Gegen
die Gesellen, die sich seit Bestehen der Gewerbefreiheit als
selbständige Meister niederlassen können ? Gewiss, den kleinen
Meister, der neben ihm seine Werkstatt aufschlägt, hat der
Schuhmacher, der trotz aller Arbeit und Sparsamkeit in seiner
Wirtschaft immer mehr zurückkommt, zunächst als Feind im
Auge, wenn er über die schlechten Zeiten klagt. Aber nicht
von ihm kommt die Gefahr, sondern von der überlegenen
Technik und der wirksamen wirtschaftlichen Organisation des
Grossbetriebs. Ist etwa die Zwangsinnung im stände, ihren
Mitgliedern zu jener von grösserem Kapitalbesitz bedingten
vollkommeneren Technik, zu jener siegbringenden Kenntnis des
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. IC
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— 242 -
Marktes und zu jener umsichtigen Geschäftsführung zu ver-
helfen, deren sie zu einem Wettbewerb mit der Grossindustrie
bedürfen ? Oder sollte man wirklich der Meinung sein, das
Handwerk sei zu retten, wenn gemäss der Forderung mancher
Handwerkertage auch für den Fabrikanten der Befähigungs-
nachweis eingeführt würde? Als ob nicht in jeder Fabrik ein
technischer Betriebsleiter wäre, der seine Befähigung mit Leich-
tigkeit darthun könnte! Gegen die Gefahr, dass Betriebe mit
rückständiger Technik von Kapitalisten, welche äusserst be-
fähigte Betriebsleiter mit den vollkommensten Betriebsmitteln
ausstatten, erdrückt würden, gibt auch diese Auffrischung der
verlebten Hilfsmittel des Polizeistaates keinen Schutz. Das ein-
zige, was mit Zwangsinnungen und Befähigungsnachweis zu
erreichen, ist die weitere Bedrückung der kleinen Leute, welche
das elende Leben als Arbeiter in den Betrieben andrer un-
erträglich gefunden haben und nun versuchen, in eigenen Be-
trieben der bescheidensten Art eine kümmerliche Selbständig-
keit zu retten. Denjenigen aber, von denen diese Bedrückung
ausginge, würde mit ihr nichts geholfen. Denn sie blieben
nach wie vor schutzlos gegen die Ueberlegenheit des Gross-
betriebs. Und selbst wenn sie diesen im Inland ernsthaft zu
beeinträchtigen vermöchten, so bliebe nicht ihnen, sondern dem
Ausland der Gewinn, das, durch keinerlei Rücksichten auf die
Bedürfnisse wirtschaftlich untüchtiger Betriebe gehemmt, mit
Freuden die Erbschaft auf dem Markte antritt, die man ihm
so kurzsichtig hinwerfen würde.
Da sind ferner diejenigen, welche im Genossenschaftswesen
die Rettung des Handwerks erblicken und Kreditvereine, Roh-
stoff- und Magazingenossenschaften empfehlen. Aber es ist
von mir gezeigt worden, dass das Genossenschaftswesen, durch
welches nun schon seit 40 Jahren das Handwerk gerettet wer-
den soll, in Bayern auf dem Gebiete unsers Gewerbes gar keine
Erfolge aufzuweisen hat. Und es liegt auf der Hand: wenn
die genannten Arten von Genossenschaften auch einzelnen her-
vorragenden unter den kleinen Meistern das Aufsteigen zum
Grossbetrieb erleichtern können, den Kleinbetrieb als solchen
vermögen sie mit diesem nicht konkurrenzfähig zu machen.
Denn der Vorsprung des Grossbetriebs in der Schuhmacherei
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— 243
liegt, wie wir gesehen haben, vor allem in der Technik. Wirk-
liche Produktivgenossenschaften aber, welche die Arbeiter zu
Betriebsunternehmern in der Grossindustrie machen wollen und
auf diese Weise ihnen die Vorteile der technischen Fortschritte
zuwenden, sind in der Schuhmacherei noch nirgends von dauern-
dem Erfolge gewesen.
Die neuesten Hoffnungen für Erhaltung des Kleinbetriebs
in der Schuhmacherei knüpfen sich endlich an die eifrig em-
pfohlenen Kraft- und Werkzeugmaschinen. Aber gegenüber
der Begeisterung, die sich hier heute kundgibt, dürfte auch
jetzt noch das kühle Urteil anzuführen sein, das die „ Sozial-
korrespondenz tt 1884 anlässlich einer tt internationalen Aus-
stellung von Motoren und Werkzeugmaschinen für das Klein-
gewerbe B in Wien gefällt hat: „Die Motoren sind für die
einzelnen Handwerker entweder zu teuer, wie die Gasmotoren,
oder zu umständlich, wie die Dampfmaschinen, oder zu un-
praktikabel, wie die Wassermotoren. Auch mit den besten
Werkzeugmaschinen, wie sie die Grossindustrie verwendet,
kann der Kleingewerbetreibende nicht aufkommen, es sei denn,
er trete aus den Reihen derselben und werde ebenfalls Indu-
strieller." Für die Schuhmacherei habe ich in Kapitel VI ver-
sucht, einige Belege hierfür beizubringen. Auch die neuen
Arten von Motoren, die von Heissluft, Druckluft, Petroleum,
Benzin getrieben werden, ändern hieran nichts. So wichtig
für die Technik die Verwendung mechanischer Kraft ist, so
ist sie doch für denjenigen ohne Nutzen, der nicht die Arbeits-
maschinen besitzt, die sie bewegen sollen. Denn in dem ge-
schlossenen System ineinandergreifender Arbeitsmaschinen liegt,
wie ich gezeigt habe, auch in der Schuhmacherei die Ursache
der enormen Leistungsfähigkeit der Neuzeit. Sobald aber ein
Betrieb in den Besitz dieser Arbeitsmaschinen tritt, hört er als
Kleinbetrieb auf und wird Grossindustrie.
Volle Sympathien verdienen dagegen die Bemühungen in-
telligenter und von Standesbewusstsein durchdrungener Hand-
werksmeister und Gehilfen, die Berufsausbildung zu vertiefen
und zu erweitern, sowohl nach der technischen wie nach der
kaufmännischen Seite. Den Fachschulen und Fachkursen sowie
den Ausstellungen könnten Staat und Gemeinde noch weit mehr
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— 244
wirksame Unterstützung zuwenden, als dies bisher geschehen
ist. Vielleicht würde sich auch die Errichtung von Schuhmacher-
lehrwerkstätten an einzelnen Bevölkerungszentren empfehlen,
die freilich nur mit Hilfe der Mittel von staatlichen und kom-
munalen Verbänden ins Leben gerufen werden könnten. Ebenso
vermögen die fakultativen Innungen Nützliches zu leisten für
Anbahnung und Aufrechterhaltung der Ordnung im Gewerbe,
durch Vereinbarung von Werkstattordnungen und Lohntarifen
mit den Gesellenorganisationen, durch Lehrlingskontrakte, durch
scharfe Ahndung der Lehrlingszüchterei und Schmutzkonkur-
renz, durch Förderung des auf Tüchtigkeit der Leistungen
beruhenden Handwerkerstolzes und des kameradschaftlichen
Sinnes.
Gegen das siegreiche Vordringen der Grossindustrie werden
freilich auch diese inneren Reformen nicht schützen. Fragen
wir aber, innerhalb welcher Sphäre dem Kleinbetrieb in der
Schuhmacherei noch eine Zukunft gesichert ist, so ergeben sich
folgende Aussichten : Zuerst die Arbeit für das Luxusbedürfnis
der oberen Zehntausend und die für die Inhaber nicht normaler
Füsse. Der wählerische Geschmack der wohlhabenden Be-
völkerungsminorität wird voraussichtlich noch für lange die
Herstellung ihrer Fussbekleidung im feinen Kundengeschäft
veranlassen. Desgleichen werden die Inhaber nicht normaler
Füsse, deren Zahl nach glaubwürdiger Versicherung recht gross
ist, darauf angewiesen sein, die Hand des geschickten Meisters
in Anspruch zu nehmen ; allerdings regt sich selbst auf diesem
Gebiet schon die Konkurrenz des Grossbetriebs : manche Fabrik
versucht bereits, nach Mass zu arbeiten, wenn sie es bisher
auch nur mit starkem Preisaufschlag leisten kann. Sodann wird
mancher Handwerksmeister den jetzt schon begonnenen Ueber-
gang zum Schuhwarenhändler gänzlich vollziehen. Dagegen
wird drittens gerade infolge des wachsenden Konsums an Ma-
schinenfabrikaten sich ein förmlicher Stand von Flickschustern
herausbilden, der sich, wie dies in Nordamerika der Fall ist,
ausschliesslich mit Reparaturarbeit beschäftigt.
Dieser Ausblick in die Zukunft lässt uns den handwerks-
mässigen Kleinbetrieb in der Schuhmacherei an Zahl und Be-
deutung sehr eingeschränkt, wenn auch nicht völlig eliminiert.
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erscheinen. Die Macht des Herkommens wie das Allmähliche
im Anpassen an die veränderten Bedingungen des Gewerbes
und des Marktes mögen diesen Entwickeluugsprozess der Schuh-
macherei verlangsamen. Wie die Gewohnheit, auf der Stoß-
arbeiten zu lassen, sich trotz aller Veränderungen der gewerb-
lichen Betriebsformen in weiten Landstrichen Bayerns bis auf
den heutigen Tag erhalten hat, so wird das Festhalten am
Hergebrachten den handwerksmässigen Schuhmachern noch
längere Zeit das Leben fristen. Allein ebenso wie das solide,
aber plumpe Schuhwerk der Stoßarbeiter schon heute einen
Konkurrenten in dem starken und sehr billigen Produkt man-
cher Schuhfabriken hat, so werden auch Herkommen und
Gewohnheit den dargelegten Entwickelungsprozess der Schuh-
macherei nicht auf die Dauer verhindern können.
Vielmehr wird, davon bin ich überzeugt, auch in Deutsch-
land, wie in den industriell vorgeschritteneren Ländern Gross -
britannien und Nordamerika dies jetzt schon der Fall ist,
die mechanische Schuhwarenfabrikation auf dem Markte den
Sieg erringen und den Bedarf der Massen an Schuhzeug be-
friedigen. Mit ihrer Ausbreitung wird sie zahlreichen An-
gehörigen des Handwerks Unterkunft und Beschäftigung ge-
währen; schon jetzt ist die Nachfrage nach gelernten Schuh-
machern in der Grossindustrie stark. Je billiger und besser
die Produkte werden, desto bedeutender wird sich der Absatz
und desto grösser infolge davon die Zahl der Arbeiter ge-
stalten.
Indem neue technische Erfindungen und Maschinen die
menschliche Hand entbehrlich machen, verringern sie zwar
zunächst die Menge der Arbeiter und vermehren die Anzahl
der Arbeitslosen; aber es hat sich noch immer gezeigt, dass
diese Erscheinung nur von vorübergehender Dauer ist: mit der
grösseren Billigkeit, welche die Maschinenarbeit herbeiführt,
wird es auch der grossen Zahl derjenigen, die meist noch bar-
fuss bei uns gehen, sowie jener, die mit dem abgetragenen
Schuhwerk der Wohlhabenden nur dürftig ihre Blosse decken,
möglich werden, sich eigene Schuhe und Stiefel neu zu be-
schaffen, und damit wird unserm Gewerbe, ähnlich wie es mit
der Baumwollindustrie geschehen ist, ein Massenabsatz im Innern
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entstehen, der zur Vermehrung der in ihm beschäftigten Ar-
beiter führen muss.
Gewiss wird der Uebergang in diese neuen Verhältnisse
mit zahlreichen und heftigen Schmerzen verbunden sein. Aber
er ist unvermeidlich, wenn wir zu gesunden Zuständen gelangen
wollen. Schon heute ist, wie in Vorstehendem gezeigt worden
ist, die Lage der in der grossindustriellen Schuhmacherei be-
schäftigten Lohnarbeiter günstiger als die der Mehrzahl der
kleinen Meister im Handwerk. Was sind demnach die Wir-
kungen unsrer zahllosen Schuhmacherei-Zwergbetriebe, deren
Selbständigkeit gerne gerühmt wird? Einerseits Zehntausende,
die trotz emsigen Schaffens und grösster Anspruchslosigkeit in
der Lebensführung kaum das Nötige vor sich bringen, um Leib
und Seele zusammenzuhalten; andrerseits trotz ihres geringen
Verdienstes Preise ihrer Produkte, welche diese Millionen unsrer
Bevölkerung fast unerreichbar machen. Ist dieser Zustand wirk-
lich wert, für alle Zeiten konserviert zu werden? Ist es nicht
unendlich besser, eine Entwickelung anzustreben, die zugleich
den Massen die Befriedigung eine.s der unentbehrlichsten Be-
dürfnisse des gesitteten Lebens ermöglicht und dem Schuh-
machergewerbe die wirtschaftlichen Bedingungen schafft, um
auch den in ihr Thätigen ein menschenwürdiges Dasein zu
gewähren ?
Die Antwort auf diese Frage kann nicht schwer sein.
Wenn aber dies die Entwickelung und dies ihr Ziel ist, zu
dem uns unsre Untersuchungen über die Schuhmacherei in
Bayern geführt haben, so ergibt sich daraus auch von selbst
ein Urteil über die Bestrebungen, durch gesetzgeberische Mass-
nahmen untüchtige, veraltete, absterbende Betriebsformen zu
erhalten.
Wir haben doch gerade auf diesem Gebiete Erfahrungen
genug gesammelt! Als nach den Stürmen von 1848 die Re-
aktion kam, glaubte man in Preussen wie in Bayern in den
Angehörigen des Handwerks eine besonders verlässige Stütze
konservativen Staatswesens zu finden , und man suchte daher
die auf dem Frankfurter Handwerkerparlamente vorgebrachten
Wünsche der Zünftler nach Kräften zu befriedigen. Allein
der Gang der wirtschaftlichen Entwickelung zeigte ihre Un-
Digitized by Google
— 247
ausfahrbarkeit, und die Gewerbeordnung von 1868 09 hat die
kunstlich aufgerichteten Schranken wieder beseitigt. Vom Ende
der siebenziger Jahre ab stehen wir nun vor einer Wieder-
holung dieses Vorgangs. Mit wirklichen Konzessionen und
Vertröstungen sucht man dem Handwerk neue Kräfte, neue
Hoffnungen zu verleihen, nach Art des Arztes, der einem
Sterbenskranken durch allerlei Reizmittel sein schmerzvolles
Dasein zu verlängern bestrebt ist. Leider bedeutet auch der
neueste Entwurf zu einer Organisation des Handwerks, wie
ihn der „ Reichsanzeiger " im Augenblick, da diese Zeilen zum
Druck gehen, veröffentlicht, nur eine Fortsetzung der Politik,
mit künstlichen Massnahmen eine naturgemässe Entwicklung
des Wirtschaftslebens zu hemmen. Gewiss ist gegen die Er-
richtung von Fachgenossenschaften und Handwerkerkaramern
grundsätzlich nichts einzuwenden. Desto mehr aber gegen die
vorgeschlagene Organisation des Prüfungswesens. Die Zünftler,
die den Befähigungsnachweis fordern, werden mit diesem halben
Zugeständnis nicht zufrieden sein, wie ja auch die Innungen
schon jamnern, dass die neuen Korporationen ihr Tod seien!
Denjenigen Gehilfen, welche die Meisterprüfung nicht ablegen,
soll die Führung des Meistertitels zwar, aber nicht die eines
selbständigen Betriebes untersagt werden. Gerade dies letztere
indessen verlangen die Führer der Handwerkerbewegung. Dazu
kommt, dass nach dem Vorschlage Betriebe, welche mehr als
20 Arbeiter beschäftigen, den Organisationen nicht beizutreten
brauchen und dem Prüfungswesen nicht unterstellt sind. Die
Folge dieser ganzen Institution würde daher sein, dass einmal
weit rascher noch als jetzt grössere Betriebe, die sich all den
mit einer solchen Organisation verbundenen Beschränkungen
entziehen wollen , an Stelle der kleinen treten würden , und
andrerseits alle jene Gewerbsangehörigen, die aus irgend einem
Grunde die Prüfung nicht machen, aber doch einen selbstän-
digen Betrieb führen wollen oder müssen, noch weiter herab-
gedrückt würden. Ein Blick auf unser Nachbarland Oesterreich,
wo der obligatorische Befähigungsnachweis seit einer Reihe
von Jahren besteht, ermutigt doch wahrlich nicht, ähnliche
Wege in Deutschland einzuschlagen: die Unzufriedenheit der
Handwerker ist dort nicht im geringsten gemindert worden.
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wohl aber hat sich die der Fabrikanten und ihrer Arbeiter
gesteigert.
Die Politik einer einsichtigen und starken Regierung kann
nicht darin bestehen, dass sie durch Zugeständnisse an Irrtum
und Unkenntnis die unvermeidlich gewordene wirtschaftliche
Entwickelung künstlich verzögert und dadurch sowie durch
Täuschung der Hoffnungen die Qualen des Unterganges ver-
längert. Wie kann man eine Stütze in denen suchen, denen
ein gesunder Bestand nicht mehr beschieden ist und deren
Konvulsionen nur der eigenen Existenz Gefahr bringen können?
Nicht in der Gegenarbeit, sondern im Anschluss an die unver-
meidlich gewordene Entwickelung muss die Sozialpolitik einer
weisen und kräftigen Regierung bemüht sein, einerseits die
Schmerzen des Ueberganges möglichst abzukürzen oder zu
lindern, andrerseits in den neu geschaffenen Verhältnissen und
Klassen eine nachhaltige Stütze zu finden für die Erfüllung
der grösseren Aufgaben des Staates. Indem man den natür-
lichen Gang der Dinge nicht zu meistern versucht, sondern ihn
bewusst seinem Ziele zuführt, macht man sich die Dinge und
die Menschen unterthänig und dienstwillig.
Die Nutzanwendung dieser allgemeinen Betrachtungen für
das Gewerbe der Schuhmacherei ergibt sich von selbst. An
Stelle der Bemühungen, veraltete Betriebsformen künstlich zu
halten — namentlich indem man sie von allen Vorschriften,
die zu Gunsten von Gesundheit und Sittlichkeit der darin Be-
schäftigten erlassen werden, ausnimmt — , muss ein entschlos-
senes Streben treten, den Uebergang zu gesunden, weil den
heutigen Betriebs- und Verkehrsverhältnissen entsprechenden
Betriebsformen zu erleichtern, insbesondere durch energische
Anwendung der zum Schutz der Arbeiter gegebenen Bestim-
mungen auf die veralteten Betriebsformen, von denen die Haus-
industrie vornehmlich jener in erhöhtem Masse bedarf. Dann
aber eine nicht minder zielbewusste und nachhaltende Kraft in
der Durchführung von Massnahmen, die nötig sind, um den
Arbeitern in den neu entstandenen und fortwährend sich weiter
entwickelnden Verhältnissen eine wirtschaftliche, sittliche und
politische Selbständigkeit zu sichern. Denn wenn auch die
Form, in welcher die kleinen Meister diese Selbständigkeit bis-
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249 —
her zu wahren suchten, nicht auf die Dauer zu halten ist,
darin ist ihnen beizustimmen, dass diese Selbständigkeit das
Ziel ist, dessen Erreichung gewährt werden muss. Eine Feu-
dalisierung der kleinen Meister und ihrer Gesellen durch die
Grossbetriebe, ähnlich derjenigen, durch welche vor vielen Jahr-
hunderten die kleinen freien Markgenossen durch die Grund-
herrschaften ihre Selbständigkeit verloren, wird aber nur dann
Terhindert werden, aus den Arbeitern der neuen Grossbetriebe
werden nur dann wirtschaftlich und sittlich tüchtige Existenzen
werden, auf welchen ein gesundes Staatswesen aufgebaut wer-
den kann, wenn man ihnen rückhaltlos gestattet, ebenso wie
die übrigen Gesellschaftsklassen, zur Wahrung ihrer besonderen
wirtschaftlichen Interessen sich zu organisieren. Also volle
Koalitions- und Versammlungsfreiheit nicht nur auf dem Pa-
piere, sondern auch in Wahrheit.
Daneben aber zur Hebung ihrer Lebenshaltung eine Wirt-
schaftspolitik, die nicht nur alle Verteuerungen der vom Schuh-
machereigewerbe gebrauchten Rohstoffe verschmäht, alle Zölle
beseitigt, wodurch der Preis des inländisch erzeugten Schuh-
werks ohne Nutzen für den Schuhmacher erhöht und damit
der Absatz der Produkte behindert wird, sondern die auch weiter
mit jenen künstlichen Verteuerungen der unentbehrlichen Le-
bensmittel aufräumt, welche die Kauffähigkeit der Massen für
Industrieprodukte und damit ebenfalls wieder die Absatzfähig-
keit der Produkte des Schuhmachers beschränken. Betrug doch
nach einer Arbeit Wendlands über die deutschen Getreide-
zölle die Mehrausgabe einer sechs Köpfe zählenden Arbeiter-
familie für Brot und Mehl allein infolge des Fünfmarkzolles
31 M. 50 Pf. im Jahresdurchschnitt, also 1 ,i 2 — 1 10 der in
Kapitel X und XIII angeführten Budgets deutscher Arbeiter!
Ist auch der Zoll seitdem herabgesetzt worden, so bedeutet
die Belastung immer noch so viel, als der ganze Schuhbedarf
einer Arbeiterfamilie in einem Jahre ausmachen würde. Das
und ebenso eine den thatsächlichen Verhältnissen entsprechende
Reform der Steuergesetzgebung sind Dinge, die ebenso die
Massen befähigen würden, eine stärkere Nachfrage nach den
Produkten des Schuhmachers zu entwickeln, als auch der
Schuhmacherei jenen Massenabsatz verschaffen können, dessen
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sie zur glücklichen Bewerkstelligung des Ueberganges in höhere
Betriebsformen notwendig bedarf. Mehr als alle Handelsverträge
mit dem Auslande ist die Entwickelung einer kauffähigen Nach-
frage im Inlande im stände, der glücklichen sozialpolitischen
Neugestaltung der Schuhmacherei die notwendige wirtschaft-
liche Grundlage zu schaffen. Dann auch finden wir Ersatz für
den behäbig-zufriedenen Handwerksmeister der Vergangenheit
in einem technisch tüchtigen, wirtschaftlich gut situierten und
sittlich hochstehenden Arbeiter der Zukunft!
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