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Full text of "Die schuhmacherei in Bayern Ein beitrag zur kenntnis unserer gewerblichen betriebsformen"

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Die 

schuhmache 
in Bayern 



Ernst Francke 



HARVARD UNIVERSITY 

GRADUATE SCHOOL 
OF BUSINESS 
ADMINISTRATION 

BAKER LIBRARY 




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MCXCHBNER 



Volkswirtschaftliche Studien. 

HEKAUSQEüEBEN VON 

LUJO BRENTANO und W ALTHER LÖTZ. 



ERSTES STÜCK: 
Die Schuhmacherei in Bayern. 

Ein Beitrag zur Kenntnis unserer gewerblichen Betriebsformen. 

VON 

D" ERNST FRANCKE. 




STUTTGART 1893. 
VERLAG DER J. G. C OTTA'SCHEN BUCHHANDLUNG 

NACHFOLGER. 



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DIE 

Schuhmacherei in Bayern 



Em BEITRAG 



zur Kenntnis unserer gewerblichen Betriebsformen. 

VON 

ERNST FRÄNCKE, 

DOCTOR DER STAATSWIRTSCHAFT. 




STUTTGART 1893. 
VERLAG DER J. G. COTTA'SCHEN BUCHHANDLUNG 

NACHFOLGER. 



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ALLE RECHTE VORBEHALTEN. 



AP. 20. 1900 



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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart. 



HERRN 

PEOFESSOK 1) R LUJO BRENTANO 

KOL. SACHS. GEHEIM. HOFRAT 

IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT 

GEWIDMET. 



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Vorwort 



Für die Betrachtung eines einzelnen Gewerbes nach seiner 
wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung sowie nach seiner 
historischen und technischen Entwickelung bietet die Schuh- 
macherei in Bayern ein günstiges Feld. Gerade Bayern ist in 
der Zusammensetzung seiner Bevölkerung, in der Mischung 
von rein landwirtschaftlichen Produktionsgebieten mit solchen 
von reger gewerblicher Thätigkeit, von grösseren Städten und 
zerstreuten Ansiedelungen ein geeignetes Land, um die räum- 
liche Verteilung eines Gewerbes in ihren Einzelheiten zu unter- 
suchen. Die bayerischen Verhältnisse mögen in dieser Hin- 
sicht vielleicht die allgemein in Deutschland herrschenden mit 
ziemlicher Genauigkeit abspiegeln. 

Andrerseits ist auch die Schuhmacherei ein für solche Be- 
trachtungen ergiebiges Gewerbe. Die Zahl der in ihr thätigen 
Personen ist stets eine sehr grosse gewesen, sie ist auf dem 
Lande bis in die entlegensten Gebirgsdörfer ebenso zu finden 
wie in jeder Stadt. Alle Formen des Betriebes sind in ihr 
scharf ausgeprägt, vom Arbeiten auf der Stör angefangen bis 
zum grossen Fabrikunternehmen mit davon abhängiger Haus- 
industrie, von der Verwendung primitivsten Handwerkszeuges 
bis zur Aufstellung sinnreich konstruierter, leistungsfähiger 
Arbeitsmaschinen mit Motorenbetrieb. Auch in die sozialen 
und wirtschaftlichen Zustände der in der Schuhmacherei thätigen 
Personen ergeben sich bei einer näheren Untersuchung mancher- 
lei Einblicke, die ihrerseits wieder Schlüsse auf allgemeinere 
Verhältnisse zulassen. 



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I 



- VIII 

Die nachfolgenden Erörterungen zerfallen in zwei Haupt- 
abschnitte, von denen der erste die Statistik und Topographie 
der bayerischen Schuhmacherbevölkerung, die Entwickelung, die 
Technik und die Organisation des Betriebes, der zweite sodann 
die wirtschaftlichen und sozialen Zustände der in diesem Ge- 
werbe thätigen Personen sowie die korporativen Organisationen 
der Schuhmacher behandeln soll. Daran schliesst sich die Zu- 
sammenfassung der Ergebnisse sowie eine Betrachtung über 
die mutmassliche weitere Entwickelung des Gewerbes. 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle all 
denen zu danken, die mich bei dieser Arbeit unterstützt haben, 
vor allem Herrn Geh. Hof rat Prof. Dr. Brentano und Herrn 
Prof. Dr. Lötz in München, aber auch den zahlreichen Herren aus 
den Reihen der Arbeitgeber wie der Arbeiter in der bayerischen 
Schuhmacherei, die mir — in erfreulichstem Gegensatz zu 
manch abschlägigem Bescheide von Behörden — stets in 
freundlicher Bereitwilligkeit mit Aufschlüssen an die Hand ge- 
gangen sind. 

München, im August 1893. 

Der Verfasser. 



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Inhaltsverzeichnis. 



Seite 

Vorwort . . . VI II 

Erster Teil: 

Statistik, Technik und Betrieb der Schuhmacherei in Bayern. 

I. Statistik und Topographie der Schnhmacherbevölkerung in 

Bayern 1 

Vergleich der Zahl der Schuhmacher mit der in an - 
dem deutschen Ländern. — Statistisches. ■ — Verteilung 
in Stadt und Land, im Königreich. 

II. Die Entwickelung der Schnhmacherbeviilkerting nnd die Ge - 
werbepolitik in Bayern 13 

Die „ücbersetzung" des Gewerbes. — Anklagen gegen 
die Gewerbefreiheit. — Entwickelung der Gewerhepolitik 
im rechtsrheinischen Bayern; Heimats- und Khegeset/gehung. 
-- Ihr EinHuss auf Zahl und Verteilung der Schnhmacher- 
bevölkerung. — Die Verhältnisse in der Rheinpfalz. — 
Meister und Gehilfen. — Die deutsche Gewerbepolitik und 
das Handwerk- 
HI. Der Umschwung des Verkehrs sowie der Technik in der 

Schnhmacherei . , , , , , , , . , , „ , , : : 22 

Verkelnsgeh genheit Vorbedingung der Grossindustrie. 
— Macht des Herkommens in der Schuhmacherei. — Kin 



- X 

S.-it.- 

führung neuer Techniken von Amerika. — Die Nähmaschine. 
— Arbeitsteilung. — Die . modernen Schuhverfertigungs- 
maschinen. — Beschreibung des Betriebs einer grossen 
Schuhfabrik. — Leistungsfähigkeit des Fabrikbetriebs. — 
Der Maschinenarbeiter. 

IV. Die Schuhmacherei in Pirmasens 42 

Pirmasens' Entwickelung ein Beleg für die bisherigen 
Erörterungen. — Bescheidene Anfange. — Hausfleis.s, Werk- 
stattbetrieb, Hausierhandel. — Beginn des kaufmännischen 
und fabrikmässigen Betriebs. — Die Grossindustrie, ihr 
Wachstum, die Krisis. — Gegenwärtiger Stand. 

V. Der Grossbetrieb >>0 

TW Arbeiter und die Maschine im Grosshetrieh dpr 



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Arbeitsteilung 


und Arbeitsverzettelung. ■ - Die Gross 


Industrie der !" 


Schuhmacherei in England und in Nord- 



ame.rika. 

VI. Das Handwerk 79 

Statistik des Kleinbetriebs. - Tendenz der Entwicke - 
lung. — Vorherrschen des Zwergbetriebs. — Die Störarbeit. 
— Die Schuhmacherei in Verbindung mit Landwirtschafts - 
betrieb. — Das Handwerk in den Städten. — Die Pro - 
duktion im Werkstattbetrieb. — Die Konkurrenz zwischen 
Gross- und Kleinbetrieb. — Die Notlage des Handwerks 
in der Schuhmacherei. — Werkzeug- und Kraftmaschinen 
im Kleingewerbe. 

VII. Die Hausindustrie . . , . , , = .. = = .. = .. .. : : ^ 

Die Heimarbeit, in der Schuhmacherei erst neueren Da - 
tums. — Die Hausindustrie des Grossbetriebs, ihre Ver- 
breitung in Bayern und ihr Betrieb. — Die Hausindustrie 
des Kleingewerbes, die , Logisarbeit *. 

VIII. Die Schuhmacherei in den staatlichen Betrieben . . . . . 109 

Die Beschaffung des Bedarfs an Schuhzeug für das 
Militär; Maschinenarbeit in den Militärwerkstätten. — Die 
Schuhmacherei in den Strafanstalten: Statistisches; Kon - 
kurrenz mit dem freien Gewerbe. 



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- XI 



TX. Produktionskosten und Preise 



Seit.' 
12* 



Die Vorteile des Grossbetriebs beim Einkauf des Roh - 
materials. — Das Handwerk und die Löhne. — Produktions- 
kosten und Preise im Kleinbetrieb und in der mechanischen 
Fabrikation. — Die Grossindustrie ein wirtschaftlicher und 
sozialer Fortschritt. — Die Qualität der Waren. 

X. Der Schuhwarenmarkt 143 

Per Konsum ;in Schuhwaren. — Markte und Pulten. — 
Das Laden- und Magazingeschäft. — Der Wandel in der 
Produktion und im Konsum. — Der Grosshandel. — Die 
Zollverhältnisse. — Export und Import. 

Schlnsswort zum ersten Teil 1G2 

Zweiter Teil: 

Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände der bayerischen 

Schuhmacherbevölkerung. 

XI. Arbeitgeber nnd Arbeiter W* 



Einst und Jetzt: Meister und Fabrikant, Gesellen und 
Arbeiter. — Frauen- und Kinderarbeit. — Ungelernte Ar- 
beiter. — Das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Ar- 
beitern im Handwerk und in der Grossindustrie. 



a) Die Arbeitslöhne. Die Löhne im Kleinbetrieb, in 
der Hausindustrie, im Grossbetrieb ; die Lohnzahlung. 

b) Die Arbeitszeit. Langer Arbeitstag im Handwerk, 
kürzerer in der Fabrik; die Sonntagsarbeit. 

c) Die Arbeitsräume. Werkstatt, Heimarbeit, Fabrik. 

d) Die Arbeitsordnung. Gesetzliche Bestimmungen 
über Fabrikordnung; Klagen der Arbeiter. Mangel einer 
Arbeitsordnung im Kleinbetrieb. — Vergleichung der Ar- 
beitsbedingungen im Gross- und Kleinbetrieb. 



XIII. Die Lebenshaltung der bayerischen Schnhmacher . . . 200 



Angaben über Wohnung und Ernährung der Schuh - 
macher in Handwerk, Hausindustrie, Fabrik. — Die Zu- 
stände in Pirmasens. — Krankheit und Sterblichkeit in 
der Schuhmacherbevölkerung. — Unfallstatistik im Gross- 
betrieb. — Muskelarbeit uud Nervenanspannung. 



XII. Die Arbeitsbedingungen 



179 




XII — 



XIV. Die korporativen Verbände und ihre Bestrebungen . . . . 218 

Geringe Zahl der organisiert. Schuhmacher. — 1. Das Ge - 
nossenschaftswesen. —2. Die Verbände d. Arbeitgeber: a) Die 
Innungen; Statistik und Bedeutung. Fachbildung. — b) Der 
Verband der deutschen Schuh- und Schäftefabrikanten und 
seine Bestrebungen. — 3. Die Gewerkschaftsbewegung; Ge- 
schichtliches. — Der Verein deutscher Schuhmacher; die 
Zentralkranken- und Sterbekasse. — Arbeitsstreitigkeiten. 

XV. Schlnsswort; Ergebnisse nnd Betrachtungen 240 



Erster Teil: 

Statistik, Technik und Betrieb 

der Schuhmacherei in Bayern. 



I. 



Statistik und Topographie der Schuhmacher- 
Bevölkerung in Bayern. 

Obwohl Bayern noch bis auf den heutigen Tag weit mehr 
Agrikultur- als Industriestaat ist, zählt es doch zu denjenigen 
deutschen Ländern, die eine verhältnismässig starke Handwerker- 
bevölkerung besitzen 1 ). Die grosse Anzahl mittlerer und kleiner 
Städte, das rege gewerbliche Leben in Franken und der Rhein- 
pfalz, aber auch die Zersplitterung des Grundbesitzes, die den 
Betrieb eines Handwerkes zur Ergänzung des Einkommens 
nahelegt, mögen hierzu beigetragen haben. Und unter den Ge- 
werbetreibenden nehmen von alters her die Schuhmacher wie 
fast überall in Deutschland so auch in Bayern durch ihre Zahl 
einen hervorragenden Platz ein; nach der Berufsstatistik von 
1882 treffen in Bayern von 1000 Personen 501,8 auf die Gruppe 
Landwirtschaft, von den einzelnen Abteilungen der Gewerbe 
sind die unter „Bekleidung und Reinigung 41 sowie unter „Bau- 
gewerbe" die stärksten mit je 53 auf 1000 Personen, und 
in der ersteren gehören wieder 34,3 0, o der Schuhmacherei 
an. Insgesamt zogen vor elf Jahren aus diesem Gewerbe 
124 570 Menschen, das waren fast 2 1 j-2 °/o der damaligen Be- 
völkerung, als Erwerbstätige, Angehörige und Dienende ganz 
oder teilweise ihren Lebensunterhalt. So stattlich diese Zahl 
ist, so wird die Schuhmacherbevölkerung Bayerns an Grösse 
relativ doch von der im Königreich Sachsen und Württemberg 
übertroffen, während Preussen und das Reich im ganzen zurück- 
bleiben. Das Verhältnis in den grösseren deutschen Ländern 

l ) Vergl. GL Schindler, Geschichte des deutschen Kleingewerbes 
S. 122. 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 1 



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2 



wird durch folgende Uebersicht erkennbar. Auf je 1000 Per- 
sonen kamen 1882 in der Schuhmacherei Thätige in 

Preussen ... 83 Sachsen . . . 102 

Baden .... 90 Württemberg . 117 

Bayern .... 92 Reich ... 89. 

Leider steht für die Statistik der bayerischen Schuhmacher- 
bevölkerung aus der Gegenwart wenig amtliches Material zu 
Gebote, da die letzte Aufnahme der Gewerbe am 5. Juni 1882 *) 
erfolgt ist. Allerdings veröffentlicht das königlich statistische 
Amt alljährlich eine Uebersicht der an- und abgemeldeten Ge- 
werbe; unter ihnen ist auch die Schuhmacherei, Gruppe XIII b, 
und zwar geordnet nach Regierungsbezirken , unmittelbaren 
Städten und Bezirksämtern. Da für diese statistischen Auf- 
nahmen indessen ganz andere Gesichtspunkte massgebend sind 
wie für die Berufszählung, so ist eine direkte Fortführung der 
statistischen Ziffern von 1882 bis auf die Gegenwart nicht mög- 
lich. Wir geben daher zunächst eine Uebersicht über den 
Stand des Schuhmachergewerbes in Bayern nach der Zählung 
vom 5. Juni 1882 und fügen daran die aus einer Vergleichung 
der Anmeldungen und Niederlegungen in der Schuhmacherei 
von 1883 — 91 sich ergebenden Zahlen. 

Unter nicht weniger als 19 Bezeichnungen 2 ) zählt die 
Berufsstatistik von 1882 in 81582 Haupt- und 3554 Neben- 
betrieben 33 025 Personen auf, die die Schuhmacherei selb- 
ständig, als Geschäftsleiter, betreiben; in der Hausindustrie sind 
selbständig thätig 1713 Personen; nicht leitende Beamte, kauf- 
männisches und Aufsichtspersonal gibt es 125; als Gehilfen, 
Lehrlinge, Fabrikarbeiter sowie erwerbstätige Familienange- 
hörige werden 21011 gezählt. Rechnet man noch die nicht 
erwerbstätigen Angehörigen sowie die dienenden Personen 



') Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern , herausgegeben 
vom königl. statist. Bureau, Heft 48, 49, 50. 

2 ) Diese .sind: Alträussler, Bändelschuhmachor, Damenschuhmacher, 
Endschuhmacher , Fleckschuhmacher, Flickschuster, Frauenschuhmacher, 
Gamaschenfabrikanten, Hausschuhmacher, Herrenschuhmacher, Pantoffel- 
macher, Salbandschuhmacher, Schäfte- und Vqrschuhfabrikanten, Schuh- 
flechter, Schuhflicker, Schuhmacher, Schuhfabrikanten, Tuchschuhmacher, 
Winterschuhmacher. 



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— 3 - 



dazu, so erhalten wir die bereits erwähnte Ziffer von 124570 
Menschen, die in Haupt- und Nebenberuf von der Schuhmacherei 
leben J ). 

Wenden wir uns zunächst den Hauptberufen zu 2 ), so sind 
in ihnen beschäftigt als Geschäftsleiter 30 972 Personen, 187 in 
der Verwaltung und 17 066 Gehilfen, Lehrlinge und Fabrik- 
arbeiter. Im ganzen also 48 225 Personen in. 31 582 Haupt- 
betrieben. Schon aus diesen beiden Zahlen geht klar hervor, 
dass die Schuhmacherei in Bayern in der ungeheuren Mehr- 
zahl in Zwergbetrieben ausgeübt wird. Ein weiteres Eingehen 
auf die amtlichen Daten macht dies noch mehr ersichtlich. 
Denn nicht weniger als 67.2 °/o , nämlich 21 229 Betriebe, 
werden nur von einer einzigen Person, dem Besitzer selbst, ge- 
führt, während nur 32,8 °/o, nämlich 10353 Betriebe, mit Ge- 
hilfen arbeiten, und von diesen letzteren wieder haben nur 
1,3% oder 139 Betriebe mehr als fünf Gehilfen, und werden 
daher von der amtlichen Statistik als Grossbetriebe aufgeführt. 
Während die Alleinbetriebe 21 229 Personen, 44 °/o der Gesamt- 
zahl der Erwerbsthätigen , beschäftigen, sind in den Gehilfen- 
betrieben 26 996 (56» thätig; davon treffen aber 23901 auf 
die Kleinbetriebe mit ein bis fünf Gehilfen, und hier wiederum 
sind die Betriebe mit ein und zwei Gehilfen so überwiegend, 
dass die anderen ziffermässig kaum in Betracht kommen. In 
den Grossbetrieben waren dagegen Mitte 1882 nur 3095 Per- 
sonen beschäftigt. 

Wie auch anderwärts ist die Schuhmacherei in Bayern 
vielfach mit Nebenberufen verbunden und zwar in ganz beson- 
derem Masse mit der Landwirtschaft, die insgesamt 20820 
in unserem Gewerbe thätige Personen betreiben. Hierbei ist 
zu unterscheiden zwischen solchen, deren Hauptberuf Schuh- 
macherei ist: von diesen sind 17 335 (14 879 selbständige Ge- 
werbetreibende, 450 Hausindustrielle, 2016 Gehilfen und er- 
werbstätige Familienmitglieder) in ihrem Nebenberuf landwirt- 
schaftlich thätig; und zwischen solchen, deren vorwiegende Be- 
schäftigung die Landwirtschaft ist und die nur nebenbei etwas 



') Vergl. die Tabelle auf S. 8. 

2 ) Statist. Beiträge Heft 49 und 50. 



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Schuhmacherei treiben. Wie die Zahl dieser letzteren verhält- 
nismässig gering ist, so ist auch die Menge der in Industrie, 
Baugewerbe, Handel und Verkehr, Lohnarbeit und persönlichem 
Dienste, in Staats-, Gemeinde- und Kirchendienst als einem 
ständigen Nebenerwerb thätigen Schuhmacher ziemlich unbe- 
deutend, nämlich im ganzen 1708. 

Wie verteilt sich nun diese Schuhmacherbevölkerung über 
das Königreich, zunächst über Stadt und Land? Bei Beant- 
wortung dieser Frage lässt uns leider die Statistik abermals 
im Stich. Denn sie scheidet für die einzelnen Gewerbe nur 
die unmittelbaren Städte rechts des Rheins und die elf grösseren 
Städte der Pfalz, sodann die Bezirksämter aus, nicht aber die 
diesen letzteren unterstellten ca. 200 städtischen Gemeinwesen. 
Da aber die nicht unmittelbaren Städte durchweg ziemlich 
gering an Zahl der Bevölkerung und nicht hervorragend durch 
gewerbliche Betriebsamkeit sind, so werden sich die Verhält- 
nisse in ihnen nicht allzusehr von denen des umliegenden platten 
Landes unterscheiden. So kann man mit einigem Anspruch, 
das Richtige zu treffen, als Gegensatz von Stadt und Land 
wohl einerseits die unmittelbaren und pfälzischen Städte und 
andererseits die Bezirksämter hinstellen. Und da finden wir, 
dass auf 10000 Einwohner in den Städten 137 Schuhmacher, 
auf die gleiche Zahl in den Bezirksämtern aber nur 81 treffen; 
die Verhältniszahlen für 1847, wo allerdings die Einteilung 
von Stadt und Land nicht ganz identisch mit der von 1882 
ist, sind 130 und 94. Man sieht, die Proportionen haben sich 
im Laufe der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gar nicht so 
gewaltig verschoben und in Bayern ist die Dichtigkeit der 
Schuhmacherbevölkerung in Stadt und Land entfernt nicht so 
verschieden, wie z. B. im Königreich Sachsen, für welches 
Schöne 1 -) folgende Zahlen mitteilt : 1846 auf 10000 Einwohner 
des flachen Landes 47 Schuhmacher, 1875 auch erst nur 56, 
auf 10 000 Einwohner in den Städten dagegen 1846 232 und 
1875 160 Schuhmacher. 



') Moritz Schöne, Die moderne Entwicklung des Schuhmacher- 
gewerbes in historischer, statistischer und technischer Hinsicht (Jena, 
Gustav Fischer 1888). 



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— 5 



Allerdings weisen die einzelnen Landesteile in Bayern 
ziemlich erhebliche Verschiedenheiten in den Dichtigkeitsgraden 
der Schuhmacherbevölkerung auf, wie aus nachstehender Tabelle 
erhellt, die die Zahlen der durchschnittlich jährlich beschäf- 
tigten Personen für 1882 nachweist: 

Zahl der Beschäftigte Auf je 10 Oflo Einw. 

Hauptbetriebe Personen kommen Schuhmacher 

Oberbayern 4625 7271 75 

Niederbayern 2955 4576 69 

Pfalz 5960 9801 148 

Oberpfalz 2410 3659 68 

Oberfranken 3806 5959 ' 102 

Mittelfranken 4040 6434 97 

Unterfranken 4118 6080 95 

Schwaben 3662 5334 83 

Königreich 31582 49114 92 

Danach haben die vorwiegend Ackerbau und Viehzucht 
treibenden Kreise Oberpfalz und Niederbayern die geringste 
Schuhmacherzahl, ihnen folgt Oberbayern, das auf gleicher 
Stufe stehen würde, wenn nicht München mit seinen 1 40(3 Be- 
trieben und 2338 in ihnen beschäftigten Personen (98 auf 
10000 Einw.) hier die Verhältniszahi wesentlich emporschnellte. 
Auch Schwaben bleibt noch unter dem Durchschnitt im ge- 
samten Königreich, den andererseits die drei gewerbefleissigen 
fränkischen Kreise übersteigen, während die Pfalz, dank der 
dort entwickelten Grossindustrie, eine überaus starke Schuh- 
macherbevölkerung aufweist. Sieht man von der Rheinpfalz 
ab, die noch 1847 die geringste Proportion aufwies (65 Schuh- 
macher auf je 10 000 Einw.) und in der dann seit Ende der 
fünfziger Jahre ein rapider Aufschwung unseres Gewerbes 
kam, so ist im wesentlichen die räumliche Verteilung im rechts- 
rheinischen Bayern in diesem Jahrhundert die gleiche geblieben: 
das eigentliche Altbayern, Ober-, Niederbayern und Oberpfalz, 
wo Landwirtschaft die ganz vorwiegende Beschäftigung bildet, 
haben die relativ geringere, die drei Franken die stärkere 
Dichtigkeit in der Schuhmacherbevölkerung, zwischen beiden 
Landesteilen steht Schwaben, wo neben dem Ackerbau und der 
Viehzucht auch die Gewerbe in zahlreichen alten städtischen 
Gemeinwesen blühen, in der Mitte. — Die Verarbeitung der be- 



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rufsstatistischen Ergebnisse zählt für die Schuhmacherei die 
genauen Daten in 43 Städten und 148 Bezirksämtern auf 1 ). 
Wir gewinnen aus ihnen folgendes Bild über die räumliche 
Verteilung der Schuhmacherbevölkerung in Bayern: Obenan 
steht ganz isoliert Pirmasens Stadt mit 221,4, sodann Pirmasens 
Bezirksamt mit 32,15 Schuhmachern unter 1000 Einwohnern. 
Das war 1882; seit den letzten 10 Jahren ist indessen dort die 
Schuhmacherbevölkerung, namentlich im Bezirksamt, noch er- 
heblich gewachsen. In weitem Abstände, aber immer noch sehr 
erheblich, erweist sich die Stadt Schweinfurt mit 24,9 Schustern 
unter 1000 Seelen als zweites Centrum der bayerischen Schuh- 
macherei. Die Städte Zweibrücken und Neustadt a. H., ferner 
Speyer und Dürckheim gravitieren nach dem Mittelpunkt der 
Pfälzer Schuhindustrie, die neuerdings auch in Kirchheimbolanden 
kräftig emporwächst. Eine weitere sehr starke Schusterbevöl- 
kerung (über 12,5 unter 1000 Köpfen) hat eine grosse Anzahl 
kleinerer Städte in Mittelfranken, der Rheinpfalz, Unterfranken 
und Schwaben, meist Sitzen alten Gewerbefleisses, die in 
Sitte und Brauch an der Tradition hängen, wie Dinkelsbühl, 
Schwabach, Nördlingen, Rothenburg, Eichstätt, Kaufbeuren etc. 
Von den grösseren Städten ist Bamberg am meisten mit Schuh- 
machern gesegnet (15,1 unter 1000), dann kommt das betrieb- 
reiche Fürth, ferner Hof, Passau, Nürnberg, Würzburg, die 
alle noch etwas über 10 Schuhmacher unter 1000 Einwohnern 
zählen. München dagegen erreicht diese Ziffer nicht ganz (9,8), 
Augsburg hat noch weniger. Auch auf dem flachen Lande 
fehlt es nicht an Centren der Schuhmacherei und da steht, ab- 
gesehen von dem Bezirksamt Pirmasens mit seiner starken 
Hausindustrie, Oberfranken mit Naila (17,5), Kulmbach (14,2), 
Rehau (12,4), Wunsiedel (11,9), Stadtsteinach (11,6) obenan; 
hier ist auch der Sitz einer kümmerlich sich haltenden Haus- 
industrie. Fast drei Viertel indessen der sämtlichen Bezirks- 
ämter, nämlich 109, haben nur zwischen 10 und 6 Schuhmachern 
auf 1000 Köpfe ihrer Bevölkerung; nur 16, meist in Ober- und 
Unterfranken, hie und da in Mittelfranken und Schwaben haben 
etwas höhere Durchschnittszahlen. 



») Statist. Beiträge Heft 50 S. CLVIII ft". 



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- 7 — 



Am schwächsten ist unser Gewerbe vertreten in manchen 
Teilen Altbayerns und vereinzelt in den agrarischen Gegenden 
Schwabens. Das Alpenvorland, in dem sich Überdies noch die 
Märkte mehrerer Städte mit ihrer Nähe für die dortigen Schuh- 
macher bemerklich machen, und ganz besonders der bayerische 
Wald, wo in sieben Bezirksämtern die Zahl der Schuster auf 
vier unter 1000 Seelen her untersinkt, sind die Wüste unseres 
Gewerbes. Armut und Bedürfnislosigkeit der Bewohner mögen 
die Ursache sein, dass hier auch in der Zeit, da allenthalben 
der Kleinbetrieb in unserem Gewerbe vorherrschte, wenig Schuh- 
macherbetriebe entstanden und demgemäss heute auch nur 
wenige Reste desselben zu finden sind. 

Wenn ich mich im vorstehenden darauf beschränkt habe, 
nur in grossen Zügen einen Abriss der Statistik und Topo- 
graphie der Schuhmachereibevölkerung in Bayern zu geben, 
ohne weiter in Einzelheiten einzugehen, so hat mich dabei die 
Besorgnis geleitet, auf Grund des mehr als elf Jahre alten 
Material es der Berufszählung vom 5. Juni 1882 vielleicht Auf- 
stellungen zu machen und Schlüsse zu ziehen, die für die heu- 
tigen Verhältnisse, namentlich bei der starken Entwickelung 
der damals noch in ihren Anfängen befindlichen Grossindustrie 
nicht mehr zutreffen würden. Eine Ergänzung bis auf die 
Gegenwart geschieht, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, 
von 1882 nun allerdings durch die alljährlich erfolgenden Ver- 
öffentlichungen des königlich statistischen Bureaus über die 
An- und Abmeldungen der Gewerbe, in denen (wie schon oben 
bemerkt) unter Gruppe XIII b die Schuhmacherei nach unmittel- 
baren Städten, Bezirksämtern und Regierungsbezirken gesondert 
aufgeführt wird. Diese Meldungen erfolgen für Zwecke der 
Veranlagung zur Gewerbesteuer. Keineswegs bedeuten indessen 
die Anmeldungen, dass lauter neue Betriebe errichtet worden 
sind, und ebensowenig die Abmeldungen, dass die betreffende 
Anzahl Betriebe fortan aufhöre zu existieren, sondern in den 
meisten Fällen ist damit nur gesagt, dass bereits bestehende 
Betriebe ihren Inhaber wechseln: der bisherige meldet sich ab, 
der neue meldet sich an. Die Differenz zwischen beiden Ziffern 
ergibt dann allerdings den Zuwachs bezw. die Minderung an 
Betrieben. Doch erfahren wir aus dieser amtlichen Statistik 



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kein Wort über Art und Umfang der angemeldeten und nieder- 
gelegten Betriebe: ob sie der Grossindustrie, dem Handwerk, 
der Heimarbeit angehören, ob sie Haupt- oder Nebenbetriebe 
sind, ob in ihnen der Inhaber allein oder mit Gehilfen und 
Lehrlingen arbeitet. Das Fehlen dieser Angaben mindert 
natürlich den Wert der Statistik über die Bewegung des Schuh- 
machergewerbes in Bayern während der Jahre 1883 bis 1891 
— für das Jahr 1892 sind die Ergebnisse noch nicht ver- 
öffentlicht worden — ganz erheblich; in Anbetracht des Um- 
standes aber, dass diese amtlichen Mitteilungen die einzigen 
verfügbaren sind, die bis nahe auf die Gegenwart führen, möchte 
ich sie zur Ergänzung der Resultate der Berufszählung von 
1882 doch nicht unbeachtet lassen. Aus der „Zeitschrift des 
königlich bayerischen statistischen Bureaus", Jahrgang 16 — 24, 
gewinnen wir folgende Uebersicht: 



a) Anmeldungen: 





Königreich 


Unmittelb. Städte 


Bezirksämter 


1883 


2606 


529 


2077 


1884 


2516 


560 


1956 


1885 


2778 


639 


2139 


1886 


2403 


585 


1818 


1887 


2842 


782 


2060 


1888 


2440 


606 


1834 


1889 


2t)2y 


700 


2222 


1890 


2391 


671 


1720 


1891 


2849 


786 


2063 




b) Niederlegungen: 






Königreich 


Unmittelb. Städte 


Bezirksämter 


1883 


2883 


650 


2233 


1884 


1927 


384 


1543 


1885 


2556 


521 


2035 


1886 


1X94 


406 


1488 


1887 


2714 


636 


2078 


1888 


2168 


539 


1629 


1889 


2731 


664 


2067 


1890 


2159 


602 


1557 


1891 


3069 


825 


2244 



Eine graphische Darstellung führt die Bewegung im Schuh- 
machergewerbe während der neun Jahre 1883—91 noch viel 



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deutlicher vor Augen, als die obigen Zahlen dies zu thun ver- 
mögen. 



Anmeldungen and Abmeldungen im Schuhmachergewerbe Bayerns 

tu den Jahren 1883—1891. 





1883 


1884 


1885 


1886 


1887 


1S88 


1889 


1890 


1891 


3200 


















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3100 




















3000 




















2900 




















9800 




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Anmeldungen für das gunze Königreich. 

, die Bezirksämter allein. 
„ die unmittelbaren Städte. 
Abmeldungen für da* ganze Kfinigreioh. 

r „ die Itezirka&mter allein. 

„ die unmittelbaren Städte 

Auf den ersten Blick fällt bei diesem Bilde die vollkom- 
mene Regelm'ässigkeit des Auf- und Niederganges in der Be- 
wegung abwechselnd Jahr um Jahr auf und zwar sowohl in 
den An- wie in den Abmeldungen. Die starken Schwankungen 
der Kurve für das ganze Königreich werden indessen im wesent- 
lichen bewirkt durch die Bewegung des Gewerbes in den Be- 



Erkliirung: 



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11 — 



zirksämtern, also dem platten Lande und den kleinen Städten, 
während die Entwickelung in den unmittelbaren Städten eine 
stetigere Tendenz aufweist. Die Linien der Anmeldungen und 
der Niederlegungen gehen in den Bezirksämtern mit Ausnahme 
von 1883 und 1891 in ziemlich parallelen Abständen; ein Jahr 
mit vielen Anmeldungen weist auch regelmässige viele Nieder- 
legungen auf, was sich sehr einfach aus der schon berührten 
Thatsache erklärt, dass wir es hier zumeist mit einem Wechsel 
des Inhabers des Betriebes zu thun haben. Indessen tiber- 
trifft die Zahl der Anmeldungen doch zumeist die der Nieder- 
legungen in den Städten und auf dem Lande, es findet also 
eine Mehrung der Schuhmachereibetriebe statt; nur 1883 und 
1891 war überall die Summe der eingegangenen Betriebe 
grösser, 1887 war dies der Fall ausserdem bei den Bezirks- 
ämtern. Fassen wir die An- und Abmeldungen in Gruppen von 
je drei Jahren zusammen, so erhalten wir folgende Uebersicht: 



1883—1886 angemeldet in den Städten: 


1728, 


abgemeldet: 1555, Mehrung: 173 


1886-1888 „ r , 


1973, 


1581, „ 392 


1889-1891 „ „ r 


2157, 


2091, „ 66 


1883-1891 


5858, 


5227, 631 


1883— 1885 angemeldet in den Bezirksämtern : 


6172, 


abgemeldet: 5811, Mehrung: 361 


1886-1888 „ „ 


5712, 


5195, „ 517 


1SS9 1891 P „ p r 


6005, 


5868, „ 137 


1883-1891 


17889, 


16874, 1015 


1883—1885 angemeldet im Königreich: 


7900, 


abgemeldet: 7366, Mehrung: 534 


1886 1888 „ „ „ 


76*5, 


6776, „ 909 


1889-1891 


8162, 


7959, . 203 


1883-1891 


23747, 


22101, 1646 



Die Bewegung im Schuhmachergewerbe vollzieht sich 
keineswegs gleichmässig in allen Teilen des Landes. Die 
Mehrung in den Städten kommt fast ausschliesslich auf Rech- 
nung der wenigen Grossstädte, München und Nürnberg, deren 
Bevölkerung im letzten Dezennium sehr stark gewachsen ist, 
dann Würzburg und Augsburg. In dem Centrum der baye- 
rischen Schuhindustrie in Pirmasens, Pfalz bemerken wir 1883 
eine starke Minderung der Betriebe, wohl als Folge einer Kon- 
zentration des Gewerbes zum Grossbetrieb, dann 1891 abermals 
eine erhebliche Abnahme, weil eine schwere Krisis herein- 
gebrochen war. Oberbayern und Niederbayern, sowie Mittel- 



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12 - 



franken zeigen im ganzen eine steigende Tendenz, Ober- und 
Unterfranken schwanken auf und nieder, Oberpfalz und Schwaben 
stagnieren. Doch sind die Unterschiede in den einzelnen Landes- 
teilen immerhin nicht so bedeutend, dass eine Untersuchung 
bis ins Detail wesentliche Momente zu Tage förderte, zumal 
in den letzten Jahren bei Zunahme der Zahl der Besitzwechsel 
— einem Symptom der wachsenden Unbehaglichkeit im Klein- 
betriebe — die Mehrung neuer Betriebe eine recht geringe ist. 

Mitte 1882 gab es in Bayern 35 180 Haupt- und Neben- 
betriebe in der Schuhmacherei, bis 1891 waren 1646 (Differenz 
der An- und der Abmeldungen) neu hinzugekommen, die Ge- 
samtzahl belief sich also auf 30 782 Betriebe. Die Bevölke- 
rung des Königreiches betrug 1882 5 337 620 Seelen (berechnet 
aus dem Ergebnis der Volkszählung vom 1. Dezember 1880 
+ der jährlichen Zunahme von 0,7 °/o für 1 1 '* Jahre, da die 
Berufszählung am 5. Juni 1882 stattfand); es kam also auf 
151,9 Seelen ein Schuhmachereibetrieb. Bei einer Bevölkerung 
von 5 029 938 Seelen im Jahre 1891 (berechnet aus der Volks- 
zählung vom 1. Dezember 1890 -f- der Jahreszunahme aus 
dem Jahrfünft 1885—90) fallt auf einen Betrieb eine Zahl 
von 152,8 Köpfen. Die Mehrung der Schuhmachereibetriebe 
ist also ein wenig hinter dem Wachstum der Bevölkerung zu- 
rückgeblieben — das ist das Endergebnis, zu dem die Betrach- 
tung des, wie wir nochmals betonen, recht dürftigen statistischen 
Materiales führt. Freilich ist die Minderung der Proportion 
zwischen der Einwohnerzahl und der Menge der Betriebe nicht 
entfernt so stark wie die innere Umwandlung in unserem Ge- 
werbe, die eine völlige Verschiebung der Verhältnisse bedeutet 
(vergl. Kapitel 3, 4 und 5). 



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IL 

Die Entwickelung der Schuhmacherbevölkerung und 
die Gewerbepolitik in Bayern. 

Wenn Bayern, trotzdem es vorwiegend ein landwirtschaft- 
liches Produktionsgebiet ist, von jeher eine starke Handwerker- 
bevölkerung gehabt hat, so erscheint es uns auch begreiflich, 
dass die Klagen, die Gewerbe seien „übersetzt", in unserem 
Lande immer einen besonders lebhaften Widerhall gefunden 
haben. Diese Klagen über bedrohliche Konkurrenz scheinen 
so alt wie das Handwerk selbst, das augenscheinlich von seinem 
sprichwörtlichen „goldenen Boden" niemals recht überzeugt war. 
Ruft doch schon Sebastian Brant zu einer Zeit, die für eine 
Glanzepoche gewerblicher Arbeit gilt, am Ausgang des 15. Jahr- 
hunderts, in seinem „Narren schiff" aus: „Kein Handwerk steht 
mehr in seim Wert — Es ist all übersetzt, beschwert!" 
Gegen diese Not suchte man Abhilfe in der Gewerbepolitik des 
Staates, und jede Verrückung der Schranken zu grösserer Frei- 
heit galt als der Beginn gänzlichen Untergangs. So ging das 
vom 15. Juli bis 18. August 1848 zu Frankfurt a. M. tagende 
Handwerkerparlament, das durch ein Verbot des Fabriksystems 
die Welt in den alten Geleisen zu erhalten meinte, bei seinen 
Beratungen aus von einem „feierlichen, von Millionen Unglück- 
licher besiegelten Proteste gegen die Gewerbefreiheit", die da- 
mals doch nur in einem Teile Deutschlands bestand, — und 
in den Teilen, wo sie nicht bestand, wurde über dieselbe „Ueber- 
setzung" geklagt! Freilich wurden dann die Fesseln oft so 
eng und drückend, dass die Gewerbefreiheit in einzelnon Teilen 
Deutschlands den Widerstand der Kleingewerbetreibenden nicht 
fand, als sie eingeführt wurde, sondern man sie bisweilen so- 
gar wie eine Erlösung begrüsste. Erst später, nämlich in dem 



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14 



Augenblick, in welchem die thatsächliche Konkurrenz fühlbar 
wurde, sah man in ihr die Wurzel alles Unheils. Auch die 
Schuhmacher 1 ) sind in solchen Klagen bis auf den heutigen 
Tag nicht zurückgeblieben. Der am 30. September 1872 in 
München tagende 1. Bayerische Schuhmachertag fasste eine 
gehamischte Resolution gegen „die schrankenlose Gewerbefrei- 
heit 44 , der er die Entwickelung der das Handwerk ruinieren- 
den Grossindustrie zur Last legte. Und es bedarf kaum de 
Erinnerung, dass ein solcher Protest seitdem hundertfältige 
Nachfolge gefunden hat 2 ). 

Es scheint daher wohl am Platze, an einem einzelnen Ge- 
werbe zu untersuchen, wieweit die Aenderungen in der Gewerbe- 
politik es zifternmässig beeinflusst haben, ob in der That die 
Gewerbefreiheit als gesetzgeberische Massnahrae eine „Ueber- 
setzung" des Handwerks bewirkt hat. Und gerade die Schuh- 
macherei scheint zu einer solchen Erörterung besonders ge- 
eignet. 

Wie wir gesehen haben, zählt Bayern verhältnismässig 
viel Schuhmacher; es war stets eines der am leichtesten und 
mit den wenigsten Mitteln zu ergreifenden Gewerbe, der Zu- 
drang war immer ein grosser, die Masse der Meister und Ge- 
hilfen ist in schlechter Lage, „der hungernde, verarmte Schuh- 
macher mit zahlreicher Kinderschar ist im Armenwesen der 
Städte eine fast typische Erscheinung" 3 ). Freilich über den 
Umschwung in der Art und Intensität des Betriebes gibt uns 
die Statistik keine genügenden Aufschlüsse, wir müssen uns 
zunächst auf eine Verfolgung der Personalstatistik beschränken. 

') Der bekannte Schuhmaehermeister Panse aus Berlin gehörte zu 
den Heissspornen des Frankfurter Handwerkerparlamentes. 

2 ) Auf dem Schuhmachertage zu München am 12. August 1888 er- 
klärte ein Redner (R i d -München) , „dass durch die Gewerbefreiheit von 
1868 das Schuhmachergewerbe am meisten gelitten habe". Der Jahres- 
bericht der Handels- und Gewerbekammer von Oberbayern für 1891 be- 
merkt (S. 89): „Gleichwie in früheren Jahren beklagt auch dieses Mal die 
Schuhmacherinnung r. d. I. einen weiteren Rückgang des Gewerbes, 
dessen Hebung sie einzig und allein von der Einführung obligatorischer 
Innungen erhofft. Die Konkurrenz ausländischer Schuhwaren wünscht 
sie durch Erhöhung der Eingangszölle erschwert.* 

*) G. Schmoll er, Gesch. des deutschen Kleingewerbes S. 630. 



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15 



Material dazu bieten für Bayern die gewerblichen Aufnahmen, 
die der Staat oder das Reich in den Jahren 1847, 1861, 1875 
und 1882 veranstaltet haben; ferner Rudharts 1825 erschienene 
Schrift „Ueber den Zustand des Königreichs Bayern", G. Mayr 
in einer im 6. Bande von Hildebrands Jahrbuch veröffentlichten 
Abhandlung, sowie Gr. Schmollers „ Geschichte des deutschen 
Kleingewerbes". Wenn ich mich im folgenden nur auf die 
Hauptziffern der jeweiligen Grösse der bayerischen Schuhmacher- 
bevölkerung beschränke, so geschieht dies einmal, um die Ueber- 
sichtlichkeit zu erhöhen, vornehmlich aber, weil die verschiedenen 
statistischen Aufnahmen keineswegs in allen Punkten eine gültige 
Vergleichung ermöglichen, da die vier Gewerbestatistiken so- 
wohl von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen, als auch 
verschiedene Einteilung und Gruppierung haben, so dass man 
den Zahlenmassen bisweilen mit dem Gefühle gegenübersteht, 
das der Dichter in die Worte kleidet: „So hat er die Teile in 
der Hand, fehlt leider nur das geistige Band!" 

Eine Betrachtung der Entwickelung der Schuhmacher- 
bevölkerung im Hinblick auf den Gang der Gewerbepolitik 
muss unterscheiden zwischen den sieben Kreisen des König- 
reichs rechts des Rheins und der Rheinpfalz. Diese letztere 
erhielt, als sie an Frankreich kam, die Gewerbefreiheit schon 
zu Anfang des Jahrhunderts, und darin wurde mit dem Ueber- 
gang 1810 an Bayern bis auf die Reichsgewerbeordnung nichts 
geändert. Das rechtsrheinische Bayern aber erfuhr eine viel 
langsamere, mit starken Schwankungen verknüpfte gewerbe- 
politische Entwickelung. Zwar ging schon die Montgelassche 
Verwaltung daran, das entartete Zunftwesen in seinen Grund- 
lagen zu erschüttern und eine Reihe erheblicher Missstände zu 
beseitigen 1 ). Zu einer dieses gesamte Gebiet planvoll regeln- 
den Gesetzgebung ist es jedoch damals nicht gekommen. Im 
einzelnen durchbrach der Staat die Zunftschranken durch Er- 
teilung von Gewerbekonzessionen, zahlreiche Erlasse ergingen 
zur Abschaffung von Handwerksmissbräuchen, es wurden für 
einzelne Gewerbe aus polizeilichen Rücksichten Betriebsnormen 
erlassen, die Rechtsverhältnisse des gewerblichen Hilfspersonals 

') Max Seydel, Bayer. Staatsrecht Band 1, S. 323. 



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16 — 



wurden in einer weiteren Gruppe von Verordnungen einer Rege- 
lung unterstellt, die Wanderpflicht wurde aufgehoben, auch in 
die Bestimmung des Arbeitslohnes wurde wiederholt einge- 
griffen 1 ). 

Eine einheitliche Gestaltung des Gewerberechtes strebte 
sodann das Gesetz vom 11. September 1825 an; danach war 
zur selbständigen Ausübung jedes Gewerbes eine Konzession 
nötig; Vorbedingung zur Erlangung der Erlaubnis war aber 
die persönliche Fähigkeit des Bewerbers, die durch Nachweis 
entsprechender Vorbereitung und durch Prüfung vor einer 
Kommission darzuthun war. Das sicherlich bescheidene Mass 
gewerblicher Freiheit, das dieses Gesetz brachte, wurde durch 
ungeschickte Ausführung noch stark verkümmert 2 ). Trotzdem 
aber erhoben sich aus gewerblichen Kreisen die heftigsten An- 
griffe dagegen , und der Landtag von 1831, geradezu über- 
schwemmt von einer Flut von Petitionen, richtete nicht weniger 
als T>1 Anträge an die Krone, die vom Geiste des kräftigsten 
Rückschrittes beseelt waren. Auch die Regierung entzog sich 
diesen Vorstellungen nicht. Eine Verordnung vom Jahre 1834 
wies das Ministerium an, dem Gewerbegesetze einen „die In- 
teressen der Industrie, jene der Gemeinden und den Nahrungs- 
stand der schon vorhandenen Gewerbsinhaber gleichmässig 
schützenden Vollzug* angedeihen zu lassen. 

Eine starke Stütze fand diese schroffe Wendung der Ge- 
werbepolitik in der Heimats- und Ehegesetzgebung, von der 
J. v. Rudhart 1833 drastisch sagt: „Der Widerspruch gegen 
Heiraten und Niederlassungen ist so gross, dass er in einen 
allgemeinen Krieg der bereits Ansässigen gegen die heran- 
wachsende Generation ausgeartet ist, welche ihnen das natür- 
liche Recht, Luft zu atmen und sich an dem allernährenden 
Tische der Vorsehung zu setzen, seinen eigenen Herd zu grün- 
den, sich redlich zu ernähren und den auch dem Aermsten 
teuren Namen des Gatten und Vaters zu verdienen, mühevoll 



1 ) Vergl. hierzu J. Kaizl, Der Kampf um Gewerberecht und Ge- 
werbefreiheit in Bayern von 1799 — 1808. 

2 ) J. von Kudhart, Ueber die politische Stellung des König- 
reichs Bayern i. J. 1833. 



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17 — 



abkämpfen müssen." Wer Meister werden wollte, musste sich 
ein Realrecht kaufen, eine Konzession erwerben oder in die 
Zunft hineinheiraten. Solche Realrechte waren in der Schuh- 
macherei nicht billig. Es werden Fälle aufgeführt aus den 
Jahren 1837—1852, wo sie 1100—1800 fl. kosteten, allerdings 
in der Hauptstadt, München, während in der dicht daneben 
liegenden Vorstadt Au ein Realrecht schon um 100 fl. zu haben 
war. Die zum 000jährigen Jubiläum der Schuhmachermeister- 
innung München iin Jahre 1890 herausgegebene Festschrift 
erzählt, dass ein tüchtiger Meister, dessen Probestück 1840 
„praktisch und theoretisch richtig befunden" wurde, in seiner 
Vaterstadt München erst 13 Jahre später ein selbständiges Ge- 
werbe ausüben durfte, „da der hohe Rat der Stadt die damals 
bestehende Zahl selbständiger Schuhmacher im Verhältnis zur 
Bevölkerung auf 225 festgesetzt hatte". Em andrer Schuh- 
machergehilfe „heiratete eine Witfrau mit drei Kindern, 
wodurch er das gesegnete Schuhmacherhandwerk ausüben 
durfte". 

Aber alle diese Beschränkungen und Erschwerungen ge- 
nügten noch immer nicht; die leidenschaftlichen Klagen schwollen 
immer mehr an, in den fünfziger Jahren sprach man von der 
„guten alten Zeit", wo es keine Uebersetzung des Handwerks 
gegeben habe, wie von einer feststehenden Thatsache 1 ). Und 
diesem Drängen gaben Landtag und Krone nach. In der 
230 Paragraphen umfassenden Instruktion vom 17. Dezember 1853 
wurden die ursprünglich liberalen Tendenzen des Gesetzes von 
1825 in ihr völliges Gegenteil verkehrt. Diese Vollzugsanwei- 
sung fällt überdies in eine Zeit voll schlimmer Ungunst der 
Zustände. Die Jahre von 1840—1801 weisen eine sehr spär- 
liche Zunahme der Bevölkerung auf, nur um 4.1° o wächst die 
Zahl der Einwohner im ganzen Königreich in diesen 15 Jahren. 
Teilweise herrschten ausserordentlich hohe Getreidepreise; von 
1848 49 bis 1855 50 stieg der Preis für den Scheffel Roggen 
von 8 bis auf 21 und 23 fl. Die Auswanderung war eine sehr 
starke: rund 169000 Personen wandten dem Vaterlande den 



') Gg. Mayr a. a. O. 
Franc ke, Die Schuhmacherei iu Bayern. 2 



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— 18 — 



Rücken x ). Die allgemeine Unzufriedenheit rief daher bald nach 
Heilmitteln, und schon wenige Jahre nach jener, den Gipfel- 
punkt der seitherigen Entwickelung kennzeichnenden Instruk- 
tion von 1853 erfolgte der Umschlag, indem der Landtag jetzt 
die Gewerbefreiheit forderte 2 ). Bis zum Erlass eines auf dem 
Boden dieser Bitte stehenden Gesetzes wurden in den Jahren 
1862 und 1803 königliche Verordnungen veröffentlicht, die in 
der freiheitlichen Gestaltung des Gewerbepolizeirechtes so weit 
gingen, als der Buchstabe des Gesetzes vom Jahre 1825 nur 
irgend gestattete 3 ). Zugleich wurden wesentliche Erleichte- 
rungen für Niederlassung und Verehelichung gewährt, bis dann 
1868 mit den übrigen Sozialgesetzen auch die Gewerbefreiheit 
in ganz Bayern eingeführt wurde. 

Im grossen betrachtet stellt sich also der Gang der Ge- 
werbepolitik im rechtsrheinischen Bayern folgendermassen : Seit 
1808 Einschränkung des Zunftwesens und seiner Missbräuche, 
1825 liberale Tendenzen, dann aber seit 1833 in zunehmendem 
Masse bis Ende der fünfziger Jahre reaktionäre Umkehr, von 
da ab allmähliche Entwickelung bis zur völligen Gewerbefrei- 
heit. Wie stellte sich zu diesen Schwankungen nun die Schuh- 
macherbevölkerung jeweils? Natürlich ist hier nicht die ab- 
soluteGrösse massgebend, sondern das Verhältnis zur Bevölkerung, 
und da ergibt sich ein Resultat, das den Gegnern der Gewerbe- 
freiheit auffallend erscheinen mag: die Proportion nämlich 
zwischen der Zahl der Einwohner und der in der Schuhmacherei 
Thätigen sinkt stetig trotz aller Aenderungen in der Gewerbe- 
politik, mögen sie nun reaktionär oder fortschrittlich ausfallen. 

Die älteste mir zu Gebote stehende Ziffer ist den von 
J. Rudhart mitgeteilten Steuerkatastern des Jahres 1822 ent- 
nommen. Danach kam durchschnittlich im rechtsrheinischen 
Bayern, mit Ausnahme des damals noch eine besondere Gewerbe- 
steuer erhebenden Untermainkreises , ein Schuhmachermeister 
auf 38 Familien. Nimmt man für diese Zeit das 1847 be- 



') Krieg, Auswanderungswesen in Bayern. Schriften des Vereins 
für Sozialpolitik. Bd. 52. 

2 ) Vergl. J. Kaizl a. a. 0. S. 120. 

3 ) M. Seydel, Bayer. Staatsrecht, Bd. V, S. 6.V2. 



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19 — 



stehende Verhältnis zwischen Meister und Gehilfen wie 10 : 7 
an und rechnet man, wie damals üblich, die Familie zu 4 a /s 
Köpfen, so erhalten wir auf 1750 Köpfe 17 Schuhmacher, auf 
10000 Einwohner kommen mithin im Jahre 1822 rund 97. 
Indessen ist dies doch mehr eine Schätzung als eine Rechnung. 
Ganz genau aber lässt sich von 1847 ab bis zum Jahre 1882 
das Verhältnis im rechtsrheinischen Bayern darthun in folgen- 
der Uebersicht: 

Im Jahre Zahl der in der Schuh * Bevölkerungs- Auf je 10 ooo Einw. 

macherei thätigen Pers. Ziffer kommen Schuhmacher 



1847 40 006 3 896 404 102.7 

1861 38 410 4 081768 94.1 

1875 40134 4 381 136 91,6 

1882 38 318 4 607 497 83,2 



Im rechtsrheinischen Bayern hat also die mit Gesetz vom 
30. Januar 1868 eingeführte Gewerbefreiheit eine Zunahme der 
relativen Grösse der Schuhmacherbevölkerung nicht gebracht, 
sondern im Gegenteil zeigt sich 1875 eine geringe, 1882 aber 
eine sehr starke Abnahme im Verhältnis zur stetig wachsen- 
den Bevölkerung trotz des steigenden Konsums an Schuhwaren 
gegenüber den unter dem Einfluss einer scharf reaktionären 
Gewerbepolitik stehenden Ziffern von 1847 und 18(31 , wobei 
noch in Betracht zu ziehen ist, dass der rapide Fall von 1847 
auf 1861 der bereits erwähnten ausserordentlichen Ungunst der 
Zeiten mehr zuzuschreiben ist als der Verschärfung der Ge- 
werbepolizei. 

Einen ähnlichen Gang der Entwicklung weist die Schuh- 
macherbevölkerung auf dem flachen Lande des ganzen König- 
reiches auf. In sämtlichen Bezirksämtern, zu denen allerdings, 
wie schon bemerkt, auch die zahlreichen kleinen Landstädtchen 
ohne unmittelbare Verfassung gehören, kamen im Jahre: 

1847 94 in der Schuhmacherei thätige Personen auf je 10 000 Einw. 

18(51 91 , , „ h n n n * » 

187.5 87 , , „ „ * n » ff 1, 

1882 81 „ „ „ „ „ »»ff » 

Also auch hier, trotz der Einführung der Gewerbefreiheit, 
ein stetiger Rückgang in der Verhältniszahl zwischen Schuh- 
machern und Einwohnern. Anders allerdings scheint es in den 



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20 — 



unmittelbaren und den elf grösseren Städten der Pfalz, für die 
die Statistik eine Ausscheidung bringt 1 ). Es kamen im Jahre: 
1847 130 in der Schuhmacherei thätige Personen auf je 10 000 Einw. 

1861 115 , * - T P P P P p 

1875 145 pr v p r r r p p 

1882 l»i< p p p p p p p p p 

Auf einen Rückgang bis 18t>l ist danach eine erhebliche 
Zunahme der Schuhmacherbevölkerung in den bayerischen Städten 
bis 1875 gefolgt; von da ab tritt wieder eine Abnahme zu Tage. 
Blickt man indessen genau zu, so ist diese Flutwelle weniger 
hervorgebracht durch die 1868 im rechtsrheinischen Bayern ein- 
geführte Gewerbefreiheit, sondern vornehmlich durch die Ent- 
wicklung, die die Schuhmacherei in der von keinem Wechsel 
der Gewerbepolitik berührten Rheinpfalz genommen hat. Von 
1861 — 1875 ist hier die Zahl der Schuhmacher um 65 ° o ge- 
wachsen, und zwar kommt diese Steigerung vornehmlich auf Rech- 
nung der 1861 noch gar nicht mitgerechneten Stadt Pirmasens 
mit ihrer inzwischen stattlich aufgeblühten Grossindustrie. Somit 
dürfte auch für die bayerischen Städte die allgemeine Regel gelten. 

Betrachten wir nun die Verhältnisse in der seit Beginn 
des Jahrhunderts die Gewerbefreiheit besitzenden Rheinpfalz, 
so können wir folgende Uebersicht erhalten: 

Zahl der Schuhmacher Bevölkerungszahl k ** & ^huhmSer 
1847 3991 608 470 65 
1861 5891 608 069 97 
1875 9024 641 254 140 
1882 9718 677 281 143 

In der Pfalz ist also der Gang der Dinge genau umge- 
kehrt wie im rechtsrheinischen Bayern. Zuerst trotz der fast 
ein halbes Jahrhundert bestehenden Gewerbefreiheit eine sehr 
schwache Schuhmacherbevölkerung, dann eine erhebliche Zu- 
nahme bis 1861 und eine geradezu enorme bis 1875, die sich 
noch weiter fortsetzt. Man wird nicht gut in der Gewerbe- 
freiheit die Ursache dieser Entwickelung finden können, da 



') Zu berücksichtigen ist hierbei allerdings, dasa weder die Zahl der 
unmittelbaren Städte in den Jahren der vier Aufnahmen die gleiche ist. 
noch die der pfalzischen Städte, von denen 1847 gar keine, 1861 nur vier 
mitgerechnet werden. 



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I 



— 21 — 

diese ja während der ganzen Periode gleichmässig bestand, 
sondern andre Umstände hierfür beiziehen müssen und zwar 
vor allem die dank dem Umschwung in Verkehr und Technik 
eintretenden Anfänge eines zu immer grösserer Bedeutung an- 
wachsenden Grossbetriebes der Schuhmacherei in der bayeri- 
schen Pfalz. 

Richtig ist allerdings, dass im rechtsrheinischen Bayern 
die Gewerbefreiheit sowie die Erleichterung der Niederlassung 
eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Meistern und Ge- 
hilfen innerhalb der Schuhmacherbevölkerung mit sich gebracht 
hat. Die Zahl der selbständigen Betriebsinhaber ist gewachsen, 
die der Gesellen und Lehrlinge hat sich verringert, wie nach- 
stehende kleine Tabelle für je 10 000 Einwohner aufweist: 

Selbständige Betriebs- Gehilfen Schuhmacher über- 

Im Jahre Inhaber und Lehrlinge haupt 

1847 56 42 98 

1861 51 43 94 

1875 61 37 98 

1882 58 84 92 

Aus der Statistik der An- und Abmeldungen im Schuh- 
machergewerbe von 1882 — 1891 ergibt sich, wie wir in Kap. I 
gesehen haben, dass die Mehrung der Zahl der Betriebe mit 
dem Wachstum der Bevölkerung nicht ganz gleichen Schritt 
gehalten hat, sondern ein wenig zurückgeblieben ist; vermut- 
lich ist dies für die Zahl der in der Schuhmacherei thätigen 
Personen noch mehr als für die Anzahl der Betriebe der Fall. 

Man sieht, der Umschwung in der Entwickelungsreihe ist 
zwischen 1861 und 1875 erfolgt. Abgesehen aber von dem 
Umstände, dass die Veränderungen, ziffernraässig betrachtet, 
sich gar nicht als übermässig gross darstellen, muss man sagen, 
dass sie wirtschaftlich und sozial nicht die üblen Folgen ge- 
habt haben können, die ihnen häufig der Lobredner früherer 
Zeiten zuschreibt. Der alternde, in seinen Lebenshoffnungen ver- 
kümmerte Geselle, der durch den Zunftzwang sich den Weg 
zum selbständigen Gewerbebetriebe verschlossen sah und der 
im Konkubinate lebte, weil ihm das Gesetz die Ehe unmöglich 
machte, ist gewiss keine besonders sozial anmutende und wirt- 
schaftlich taugliche Gestalt. 



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Nach den vorstehenden Erörterungen wird man den Schluss 
gerechtfertigt finden, dass die Einwirkung der Gewerbepolitik 
auf die Entwickelung des Handwerks, wenigstens was die Schuh- 
macherei betrifft, häufig weit überschätzt wird. Die Zünfte 
haben das Aufkommen der Grossindustrie nicht hindern können ; 
sie haben sogar in den Bevölkerungszentren, wo wenige Meister 
und viele Gehilfen waren, die Bildung relativ grosser Betriebe 
unterstützt, indem sie einseitig den Meister in seinem Nahrung-s- 
stande zu erhalten suchten. Wir haben an unsren bayerischen 
Verhältnissen, mit dem Unterschiede der Gewerbepolitik in den 
beiden Teilen des Königreiches, im kleineren das Analogon der 
Zustände in ganz Deutschland. Das nach dem Frieden von 
Tilsit geschaffene Preussen und die vorübergehend in französi- 
schen Händen gewesenen deutschen Länder hatten gewerbliche 
Freiheit seit dem Beginne des Jahrhunderts, die übrigen Ge- 
biete unsres Vaterlandes erhielten sie erst in den sechziger 
Jahren. Trotzdem ist der Gang der Entwickelung von Gewerbe 
und Industrie hier wie dort ganz unabhängig davon fortge- 
schritten. Und als nach dem Kriege von 1870 71 ein riesiger 
wirtschaftlicher Aufschwung eintrat, als die Löhne zuerst in 
der Grossindustrie , dann in Landwirtschaft und Handwerk 
stiegen und ebenso die Preise der Lebensmittel und der Woh- 
nungen, als unter diesen Zuständen das vielfach in veraltetem 
Betriebe steckengebliebene Kleingewerbe schwer litt und die 
Zünftleragitation begann, da ertönte die Klage wider die Ge- 
werbefreiheit aus allen Ecken und Enden; auch in den deut- 
schen Ländern, die seit 00 — 70 Jahren bereits die Gewerbe- 
freiheit besessen hatten, wurde nunmehr die Gewerbeordnung 
von 1869/7 1, die ihnen wenig oder gar nichts Neues gebracht 
hatte, auf einmal verantwortlich für alle Uebel gemacht 1 ). 

Den geradezu revolutionären Umschwung im Handwerk 
hat nicht die Aenderung in der Gewerbepolitik des Staates ge- 
bracht, sondern der Umsturz ist eine Folge der Entwickelung 
des Verkehres und der Technik. Für die Schuhmacherei in 
Bayern lässt sich dies beweiskräftig darthun. 

') Vergl. hierzu auch Dr. Thilo Hampke, Der Befähigungsnach- 
weis im Handwerk. Jena 1892, S. 8 ff. 



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III. 



Der Umschwung des Verkehrs sowie der Technik 

in der Schuhmacherei. 

Wenn ich in diesem Abschnitt den Einfluss der Verände- 
rungen in den Verkehrsverhältnissen auf die Entwicklung der 
bayerischen Schuhmacherei berühre, so kann es mir nicht in 
den Sinn kommen, denselben im einzelnen mit Daten und 
Zahlen darthun zu wollen. Ein solcher Beweis ist für das 
einzelne Gewerbe der Schuhmacherei nicht exakt zu führen. 
Andrerseits aber ist es notwendig, auf die Thatsache zu ver- 
weisen, dass die ungeheure Veränderung des Verkehrs, wie sie 
seit der Mitte dieses Jahrhunderts unser gesamtes Wirtschafts- 
leben von Grund aus umgestaltet hat, auch die gewerbliche 
Produktion in der Schuhmacherei stark beeinflusst hat 1 ). 

Dieser neue Verkehr, sagt G. Schm oller, hat „das 
Grösste wie das Kleinste geändert. Ueberall und in allen 
Beziehungen hat er die Fäden des wirtschaftlichen Lebens 
auseinandergezogen, künstlicher und komplizierter geknüpft, er 
hat geschäftlich und lokal — dem Wohnort nach — die 
Menschen anders gruppiert, er hat den Handel wie die Pro- 
duktion, die Anschauungen und Bedürfnisse der Menschen wie 
ihre Sitten und Lebensgewohnheiten umgestaltet. Durch diesen 
Verkehr vor allem ist es anders geworden in der Welt" 2 ). 
Diese Revolution durchbrach mit Naturnotwendigkeit die engen 
Schranken, in die das Zunftwesen oder ein bureaukratisches 
Konzessionssystem die Gewerbe gepfercht hatte. Freizügigkeit 
und Gewerbefreiheit sind unausbleibliche, logische Konsequenzen 

*) Vergl. in G. Schmollers deutschem Kleingewerbe den Abschnitt 
„Die Umgestaltung von Produktion und Verkehr" S. 157—254. 
2 ) A. a. 0. S. 174 f. 



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— 24 — 



des Umschwungs im Verkehr, und erst dieser letztere konnte 
auch die Neugestaltung der Produktion vermittelst technischer 
Erfindungen zur Entwicklung und vollen Keife bringen. Was 
hätte es der Grossindustrie in der Schuhmacherei genützt, wenn 
die vollkommensten Maschinen die Herstellung billiger und 
guter Massenartikel ermöglicht hätten, und nun wären diese 
Massen in den Magazinen gelegen und vermodert, da keine 
Eisenbahnen und Dampfschiffe sie in jene Länder bringen 
konnten, deren Bevölkerung Begehr nach Schuhzeug hatte, 
während die Standorte jener Grossindustrie mit ihrem Verbrauch 
natürlich nicht entfernt an die Produktion heranreichten. 

Gerade die Geschichte der Technik des Schuhmacherei- 
betriebes in Bayern zeigt, dass nicht die Gewerbefreiheit, son- 
dern die Erweiterung des Marktes durch die modernen Ver- 
kehrsmittel die Absatzverhältnisse der Grossindustrie erst ge- 
schaffen haben 1 ). 

Bis zu Ende des ersten Drittels dieses Jahrhunderts ist 
die überkommene Produktionsart kaum geändert worden; ab- 
gesehen von der Einführung des Walkverfahrens, das man aus 
Frankreich bekam; 1806 sollen in Deutschland die ersten ge- 
walkten Stiefel verfertigt worden sein. So tausendfältig die 
Formen sind, die Bedürfnis und Mode für die Bekleidung des 
menschlichen Fusses vorgeschrieben haben, so einfach und ein- 
tönig blieb die Technik. Das primitivste Werkzeug, das der 
Kleinmeister heute noch in seiner Werkstatt handhabt, ist in 
allen wesentlichen Stücken das gleiche, das seit Jahrhunderten 
in Gebrauch ist. Wie schwer da Aenderungen Eingang finden, 
beweist folgender kleiner Zug. Ein Schuhmacher , der an 
derben Hausschuhen die Ausputzarbeit besorgte, während seine 
Frau die gelieferten Schaft- und Bodenteile zusammennähte, 
klagte mir, seine Frau nähe viel flinker mit zwei Nadeln als 
er, da er in seiner Lehrzeit nur mit Borsten zu nähen gelernt 

l ) In Mittekleutschland zeigen sich Anfange eines Grossbetriebes 
bereits Ende der vierziger Jahre, in Mainz, Frankfurt a. M., Erfurt, das 
1849 b Grossbetriebe der Schuhmacherei mit 148 Personen besass. Hier 
aber war das Eisenbahnnetz auch schon früher entwickelt als im all- 
gemeinen in Bayern, dessen Schienenwege erst von 1800 bis 1875 sich an 
Länge verdreifachten. 



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— 25 — 



habe und es ihm daher jetzt auf die andere Art nicht flecken 
wolle. An dieser Stagnation der Technik mag ja früher auch 
die enge Einschränkung in die Zunftordnungen einige Schuld 
getragen haben ; wer beständig ängstlich darüber wacht, dass 
nur ja keine Uebergriffe in seine Gerechtsame, keine Beein- 
trächtigung seines Nahrungsstandes geschieht, und gegen jeden 
Frevler erbitterte Rechtsstreitigkeiten führt 1 ), wie dies bis 
Mitte dieses Jahrhunderts in Bayern geschah, wer in eifer- 
süchtig gehüteten alten Bräuchen die Hauptehre seines Gewerbes 
erblickt, der wird wenig Sinn auf eine neue, Zeit und Kraft 
sparende Herstellung des Produktes verwenden. Aber in der 
Pfalz war es trotz der Gewerbefreiheit im grossen und ganzen 
auch nicht viel anders; denn es fehlte der Absatz auf dem 
Weltmarkt, der einerseits einen Druck ausübte, zu verbesserter 
Technik überzugehen, andrerseits die vermehrten Produkte 
aufnahm, welche die verbesserte Technik geschaffen. 

Auch die Ausbildung der Lehrlinge, deren Mangelhaftig- 
keit in den ständigen Klagen über die schlimmen Wirkungen 
der Gewerbefreiheit jetzt eine so grosse Rolle spielt, liess schon 
bei den alten Meistern sehr viel zu wünschen übrig. Genau 
als ob es auf unsre Tage gehen sollte, lesen wir z. B. von 
Meistern aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts: „In der 
Lehre ging es ihm so recht wie einem Schusterlehrling: statt 
sein Handwerk zu lernen, musste er Hausarbeit verrichten, 
und so ging er mit einer dunklen Ahnung von der Schuh- 
macherei und wenig Geld im Sacke in die Fremde . . . Sein 
Lehrherr verwendete ihn zu allen Handarbeiten, so dass nach 
bestandener Lehrzeit dem Freigesprochenen sein Handwerk ein 
spanisches Dorf war" 2 ). Wie schwer es dem Gehilfen dann 
wurde, am Orte oder auf der Wanderschaft sich zum tüchtigen 
Arbeiter auszubilden, schildert Moritz Schöne in seinem be- 
reits citierten Buche ausführlich und anschaulich: als Aussen- 
arbeiter, Logis- und Sitzgeselle ist er ganz auf sich selbst 

l ) Vergl. A. Schlichthörle, Die Gewerbebefugnisse der Haupt- und 
Residenzstadt München. Krlangen 1845. 

*) Das Schubmacherhundwerk in seiner Entwickelung. Festschrift 
zum 600jährigen Jubiläum der Münchner Schuhmacherinnung, München 
1890. S. 39 und 70. 



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— 20 



angewiesen und in den Werkstätten hüten Meister und ältere 
Gehilfen ihre kleinen Geheimnisse, Handgriffe und Fertigkeiten, 
um die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkte nicht zu vermehren. 

Der Anstoss zu Aenderungen in der Technik kam denn 
auch von auswärts und zwar von dem Lande, in dem sich 
überhaupt der Umschwung in dem Betriebe der Schuh- 
macherei von Grund aus vollzogen hat, von Nordamerika. 
Vereinzelte Versuche, die Sohlen mit Metallstiften oder mit 
Schrauben am Schafte zu befestigen, die bereits 1809 be- 
gannen x ), blieben ohne besondere Wirkung; Ende der dreissiger 
Jahre begann der deutsche Schuhmacher, Holzstifte zum An- 
nageln zu verwenden, nachdem ein von Amerika zurückge- 
kehrter sächsischer Schuhmacher dies Verfahren mitgebracht 
hatte 2 ). Von durchgreifender Bedeutung aber wurde erst die 
Nähmaschine, die ums Jahr 1850 von Amerika nach Deutsch- 
land kam, wie ein Wunder bestaunt und als Rarität auf Jahr- 
märkten gezeigt. Es gelang bald, sie auch für die derbere 
Arbeit des Schuhmachers geeignet zu raachen a ), und sie wurde 
von diesem freudig als Gehilfin bei der Anfertigung der Schäfte 
begrüsst. „Denn die Schaftarbeit mit ihren viel Sorgfalt in 
der Ausführung beanspruchenden Nähten, die sich nicht dem 
prüfenden Auge des Beobachters entziehen, wie das meist bei 

J ) In diesem Jahre wurde dem Amerikaner David M. Randolph 
ein solches Verfahren patentiert und kurz darauf für die englischen 
Militärwerkstätten erworben. 

2 ) Importeur der Nagelarbeit ist Schuhmachermeister Krantz, der 
sie von Amerika nach Dresden brachte. \n den Jahren 1830—1835 
bildete sich ein Verein in Dresden, dessen Mitglieder die Auswanderung 
in Gemeinschaft vorzunehmen gedachten und diese durch gegenseitige 
Hilfe sich erleichtern wollten. Der Verein sandte den Schuhmacher- 
meister Krantz, der mehrere Sprachen sprechen konnte, als Vertrauens- 
mann hinüber, damit er getreu die Lage und Verhältnisse der Arbeiter 
schildern sollte. Krantz hatte bei einem kundigen Meister in Philadelphia 
die Methode des amerikanischen Nageins gelernt. 1838 kam Krantz 
nach Dresden zurück. Seine Kenntnis des Nageins lehrte er jedem für 
5 Thaler und lieferte die Holznägel selbst. Ein Schuhmachermeister 
Andersen erfand dann die erste Stiftschneidemaschine (Goth. Schuh- 
macherzeitung 1887, Nr. 8). 

3 ) 1851 wurde die Howe-Nähmaschine für das Heften von Ober- 
teilen adaptiert. 



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— 27 



der Bodenarbeit der Fall ist, war oft der mühevollste Teil des 
ganzen Werkes. Gesucht waren die Arbeiter, die eine schöne 
gleichmässige Naht steppten. Das aber vollbrachte die Ma- 
schine in überraschend sicherer und dazu schneller Weise" 

Die vielfachen Verbesserungen der Nähmaschine, ihre An- 
passung an alle nur erdenkliche Art der Schaftbereitung, ebenso 
wie die Ermässigung des Kaufpreises begünstigten ihre Einfüh- 
rung in die Werkstatt des Schuhmachers. Aber man griff doch 
anfangs nur in den grösseren Betrieben zu dieser mechanischen 
Hilfe. In Pirmasens waren noch im Jahre 1864 in 13 grös- 
seren und 63 kleineren Fabriken nur 66 Nähmaschinen bei 
rund 1700 Arbeitern 2 ). Noch 1875 kamen auf 100 Klein- 
betriebe im Deutschen Reich nur 7,9 Nähmaschinen. Selbst- 
verständlich wurden sie anfangs ausschliesslich durch mensch- 
liche Kraft in Bewegung gesetzt; verzeichnet doch die Ge- 
werbestatistik von 1875 erst einen einzigen Motorenbetrieb für 
Schuhmacherei in Bayern und nur 24 Nähmaschinen, die in 
diesem durch die mechanische Kraft bewegt wurden! Gerade 
weil auch in grösseren Bevölkerungscentren die Nähmaschine 
nicht sofort überall Zutritt fand, bildete sich eine bis dahin 
ungekannte fabrikmässige Herstellung der Schäfte aller Formen 
und Grössen in einzelnen Betrieben aus, die mit einer oder 
mehreren Maschinen sich nun ausschliesslich auf diese Teil- 
arbeit warfen und ihre Erzeugnisse dann an andre Schuhmache- 
reien verkauften, die lieber etwas mehr Geld aufwandten, als 
sich der mühsamen , viel Zeit raubenden und doch nicht so 
exakte Arbeit liefernden Anfertigung dieser Schäfte mit der 
Hand zu unterziehen. Solche Schuhsteppereien und Schäfte- 
fabriken, die 1861 noch nicht in der bayerischen Gewerbe- 
zählung aufgeführt werden, müssen lohnenden Absatz gefunden 
haben; denn 1875 wurden im Königreiche schon 86 mit sechs 
bis zehn Gehilfen und 19 mit 11 — 50 Hilfskräften gezählt 3 ). So 

1 ) M. Schöne, a. a. O. S. 51. 

2 ) Bericht der Handels- und Gewerbekammer der Pfalz. 

3 ) Bayer. Berufsstatistik von 1875. — Wie ausserordentlich be- 
scheiden die Verwendung von Maschinen im Königreich Bayern für die 
Schuhmacherei noch 1875 war, erhellt aus folgenden Daten der amt- 
lichen Statistik : Umtriebsmaschinen im Grossbetriebe der Schuhmacherei 



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— 28 — 



tritt schon mit der allerersten Maschine im Schuhmachergewerbe 
der Fabrikbetrieb mit den charakteristischen Kennzeichen der 
Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung auf. Allerdings war ja 
auch der Werkstatt eine Teilung der Arbeit schon nicht fremd 
gewesen. Der Meister und die gewandteren Gesellen besorgten 
meist die Schaftarbeit, den andern Gehilfen blieb die Boden- 
arbeit. Aber die Ausbildung eigentlicher Arbeitsvirtuosen 
konnte gerade in der Schuhmacherei weniger Platz greifen, weil 
in der Mehrzahl der Betriebe nur eine Person thätig ist, so 
dass eine Teilung der Arbeit schon deshalb gar nicht statt- 
finden konnte. 

Stellte die Maschine nun auch den Schaft her, so dauerte 
es noch einige Zeit, bis sie den ganzen Schuh fertigte. „Der 
vollständige Uebergang zur Maschine, sagt ein Bericht von 
der Pariser Weltausstellung hat sich seit kaum zwei Jahren 
und sozusagen plötzlich vollzogen. Den Anstoss gab das in- 
dustrielle Amerika. Mehr als drei Jahrtausende, seit der Zeit 
der Pharaonen, hat man die Schuhe einfach mit der Hand ge- 
arbeitet, jetzt ist die rein mechanische Anfertigung gelungen. 4 " 
Bis zu dem heutigen Tage haben die Vereinigten Staaten von 
Nordamerika diese ihre führende Position in der Herstellung 
sinnreich konstruierter Maschinen für die Schuhmacherei be- 
hauptet. Nicht nur, dass weitaus die meisten Erfindungen 
und Verbesserungen auf diesem Gebiete von ihnen ausgehen, 
die dortigen Fabrikanten sorgen auch mit grosser Rührigkeit 
für den Absatz und Vertrieb ihrer Maschinen in Deutschland, 



nur 1 in der Pfalz mit 5 Pferdekräften. Unter der Rubrik „ Wichtigste 
Arbeitsmaschinen und Vorrichtungen der Grossbetriebe " erscheint bei 
der Schuhmacherei lediglich die Nähmaschine und zwar in Oberbayern 53, 
in Niederbayern 15, in der Pfalz 132, Oberpfalz 14, Oberfranken 18. 
Mittelfranken 13, Unterfranken 8, Schwaben 17, im Königreich 270. Da- 
von wurden nur 24 mit mechanischer Kraft betrieben, die andern 246 
mit Trittbewegung und von diesen letzteren wiederum waren nur 212 
durchschnittlich in Arbeit. Wenn auch diese Angaben nicht ganz zu- 
treffen, da um jene Zeit in Pirmasens bereits andre Maschinen in Be- 
trieb waren, so kann man aus ihnen doch immerhin mit ziemlicher 
Sicherheit darauf schliessen, wie die Schuhmacherei sogar in der Gross- 
industiie bis vor 20 Jahren ganz vorwiegend Handbetrieb war. 
') Deutsche Ausstellungszeitg. v. 20. Mai 1867. 



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— 20 - 



-wo sie jetzt durch Vermittlung zahlreicher Agenten und Filialen 
in den grossen Fabriken ebenso schnell eingeführt werden, wie 
in ihrem Heimatlande selbst. Und trotzdem nicht wenige Fa- 
briken bei uns auch auf diesem Felde Tüchtiges leisten und 
zwar zu erheblich billigeren Preisen, so ziehen doch die Be- 
sitzer unsrer ersten Schuhetablissements die teueren amerikani- 
schen Maschinen vor, weil sie exakter gearbeitet seien. Ein 
Fabrikant sagte mir hierüber: „Unsre amerikanischen Maschinen 
gehen vom ersten Tage der Aufstellung an mit vollendeter 
Sicherheit und Genauigkeit, bei den deutschen muss häufig der 
Monteur geholt, da und dort etwas geändert werden, ehe sie 
zur Zufriedenheit laufen." Dieser Vorzug der amerikanischen 
Produkte mag neben andern Ursachen auch in der von Schön- 
hof *) stark betonten Thatsache begründet sein, dass ihre Teile 
ausschliesslich selbst wieder von Maschinen gearbeitet werden. 
Dadurch werden sie genauer im Passen und bieten den sehr 
grossen Vorteil, dass die einzelnen Glieder jederzeit leicht er- 
setzt werden können, indem man einfach die Nummer des be- 
treffenden Teiles angibt. 

„Die Sohlennähmaschine erschien auf dem Weltmarkt und 
mit ihrem Einfluss machte sie das bescheidene Wirken und 
Streben des Kleinmeisters zum überwundenen Standpunkt. Eine 
Vereinigung von Zahnrädern über schwerem Rahmen, welche 
eine pfriemenartige Nadel einen halben Zoll oder mehr tief 
durch hartes Leder treibt, liess grosse Fabriken und selbst 
Städte erblühen/ Mit diesen Worten schildert eine ameri- 
kanische Zeitschrift, Harpers Monthly. die Bedeutung der 18()2 
von Mc Kay erfundenen Sohlennähmaschine für die Entwicke- 
lung der Schuhmacherei. Diese erste Konstruktion hat seit- 
dem fast unzählige andre Systeme zur Nachfolge gehabt ; auch 
Deutschland hat sich auf diesem Gebiete nicht unrühmlich be- 
teiligt. Allmählich wurden für alle andern Teiloperationen 
Maschinen in Anwendung gebracht und jetzt kann der „eiserne 
Schuhmacher" 2 ) den Stiefel fix und fertig herstellen, wenn dies 



') Economy of high wages. New York 1892. S. 101. 
2 ) Diese Bezeichnung wurde zuerst auf eine von dem Deutsch- 
amerikaner Keats erfundene, leistungsfähige Schuhmaschine angewandt. 



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30 - 



auch meist bei uns noch nicht geschieht: von der Stanzmaschine 
wandern die Teile durch 20—30 verschiedene Vorrichtungen, 
bis eine Wichsmaschine dem fertigen Produkt den letzten 
Glanz verleiht. Alle diese Maschinen sind auch mit der Hand 
oder dem Fuss des Menschen zu betreiben. Zur vollen Aus- 
nützung gelangen sie aber erst bei Verwendung mechanischer 
Kraft, wie sie Wasser, Dampf, Gas, Heissluft, Elektrizität u. s. w. 
bieten. In ganz Deutschland bestanden 1875 nur fünf mecha- 
nische Betriebe in der Schuhmachergrossindustrie 1 ) — 1882 
zählt die Statistik schon 14 allein in Bayern, davon 11 in der 
Pfalz. Heute hat jeder wirkliche Grossbetrieb mechanische 
Kraft zur Verwendung, in Pirmasens allein 00 und mehr. In 
der Vereinigung der Kraft- und der Werkzeugmaschinen, also 
im Kapital, liegt neben dem kaufmännisch geregelten Kauf 
des Rohmateriales und dem Absatz die ungeheuere Ueberlegen- 
heit der Fabrik über die handwerksmässige Produktion be- 
gründet. „Wenn für das Kleingewerbe hie und da auch noch 
eine kleine Verbesserung technischer Hilfsmittel stattfindet, so 
schreitet die grosse moderne Industrie infolge der täglich sich 
mehrenden Verbesserungen aller Hilfsmaschinen mit Sieben- 
meilenstiefeln voran; denn alle wichtigeren Erfindungen kom- 
men nur der Grossindustrie zugute, weil sie für das Handwerk 
zu unrentabel und kostspielig wären" (Schuhmacher-Fachblatt). 
Steigerung der Produktion, Billigkeit der Ware und kauf- 
männische Organisation des Betriebes sind die nächsten Wir- 
kungen dieses Entwicklungsganges, denen die Handarbeit die 
Solidität und Eleganz ihrer Ware, sowie die Macht des Her- 
kommens in der Beschaffung des Schuhwerkes entgegenstellt. 
Wie lange noch ? Das darf man wohl jetzt schon fragen. 

Eine blosse katalogartige Aufzählung der hundertlei Ma- 
schinen, selbst wenn eine absolute Vollständigkeit zu erreichen 
wäre, würde nun gewiss kein Bild von dem geben, worauf es doch 
allein ankommt: von ihrer Verwendung und ihrer Leistungs- 
Sie kostete seiner Zeit 4500 Mark und lieferte zusammen mit einer 
Hilfsmaschine das 5— f>fache Produkt wie der Handarbeiter, was damals 
als ganz erstaunliche Leistung galt. 

') In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wurden bereits 
18"»7 Sohlenstanzmaschinen von Dampfkraft getrieben. 



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— 31 — 



fähigkeit. Und darum wird die Schilderung des Betriebes in 
einer grossen mechanischen Schuhfabrik vorzuziehen sein. Als 
Beispiel sei ein thatsächlich , wenn auch nicht in Bayern, so 
doch in Süddeutschland existierendes Etablissement von grossem 
Rufe gewählt; „ von dieser Fabrik können wir alle lernen," sagte 
mir ein Unternehmer in Pirmasens. Sie liefert nur feine Ware 
und arbeitet mit den neuesten Maschinen; gegründet ist sie 
18G0 als Handbetrieb, ihr Aufschwung datiert seit der Ein- 
führung amerikanischer Maschinen 1867 08. 

Das in freier Gegend stehende, vor zwei bis drei Jahren 
neu errichtete Gebäude ist ein stattlicher Ziegelrohbau mit Par- 
terre und erstem Stock; Kontor und Maschinenraum bilden 
besondere Baulichkeiten dicht daneben im Garten. Die Kraft 
wird geliefert durch eine Dampfmaschine, ein Gasmotor dient 
zur Reserve. Sämtliche Räume haben elektrische Beleuchtung 
und Dampfheizung; bei Tage sorgen grosse Fenster an der 
Aussenseite und nach dem Hofe für reichliche Lichtzufuhr; 
Exhaustoren führen Staub und Lederabfälle ins Freie. Die 
Ventilation ist gut, die Arbeitssäle geräumig und hoch: „In 
einer Schuhmacherei kann nicht Platz genug sein," sagte mir 
der Besitzer. Inmitten des Gebäudes ist ein grosser Hof; 
dieser ist mit Glas gedeckt, auf dem asphaltierten Boden stehen 
Tische und Bänke, er dient den Arbeitern während der Pausen 
zum Aufenthalt. Wir beginnen unsre Wanderung, entsprechend 
dem Gang der Arbeit, im ersten Stock. Aus einem kleinen 
Vorratsraum treten wir in die Zuschneiderei für die Schaft- 
teile. Hier werden die Modelle geliefert, in Papier ausge- 
schnitten und dann in Zinkblech oder starker Pappe ausgestanzt. 
Die Mode greift auch in den fabrikmässigen Betrieb stark ein, 
sie steigert die Zahl der ohnehin schon durch das Bedürfnis 
gegebenen Sorten mit ihren Abstufungen für Kinder, Damen 
und Herren immer mehr. Nach den blechernen Schablonen 
schneiden mit dem Messer meist jüngere Arbeiter aus Leder 
und Zeug die einzelnen Teile des Schaftes aus. Diese werden 
sortiert und gehen zunächst zum Zurichten ; hier werden Leder- 
und Futterteile, Gummizüge und Verzierungen mit Dextrin zu- 
sammengeklebt und kommen hierauf zu den Stepperinnen unter 
die Nähmaschine. — Früher musste die Arbeiterin mit dem 



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Fuss die Nähmaschine in Bewegung setzen; dies hat in grös- 
seren Fabriken jetzt ganz aufgehört : die Maschinen, von ver- 
schiedenem Kaliber und Konstruktion, je nach der zu bewäl- 
tigenden Aufgabe, sind zu je vier bis fünf an langen Tischen 
befestigt, durch Transmissionen verbunden und werden durch 
Dampf getrieben. Eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit der 
Maschine und eine Verminderung der Anstrengung der Step- 
perin ist die Folge. Perforiermaschinen dienen zur Verzierung 
mancher Schaftteile, eine Knopflochmaschine macht in einem 
Arbeitstage 1200 Löcher fix und fertig, eine andre Maschine 
näht die Knöpfe an. Vielfach werden „blinde" Knöpfe ver- 
wendet, d. h. solche, die nur als Zierat dienen. Ueberhaupt 
hat die Ausschmückung des Schaftes, besonders durch zierliche 
Näherei, starke Fortschritte gemacht. Alle diese Einzelarbeiten 
nehmen für jeden Schaft nur Bruchteile einer Minute, manch- 
mal nur ein paar Sekunden in Anspruch. An diesen Saal, in 
dem nur Mädchen und Frauen beschäftigt sind, reihen sich 
s ein kleines Magazin für Zuthaten , ein Lagerraum und ein 
Zimmer, wo die Schäfteteile sortiert werden, um sie der wei- 
teren Verarbeitung zu überliefern. 

Gehört so der erste Stock dem oberen Teile der Fuss- 
bekleidung, dem Schafte, so wird im Parterre der Boden, das 
heisst Sohle und Absatz, hergestellt. Auch hier betreten wir 
zunächst ein kleines Lager, das das für den Tag benötigte 
Sohlleder liefert. Automatische Maschinen stanzen im Haupt- 
raum mit eisernen Formen die Sohlen aus; die Zahl solcher 
Formen ist natürlich sehr gross, bei jedem Arbeiter stehen 
zwei bis drei umfangreiche Regale. Ebenso werden Kappen 
und Absatzflecke ausgestanzt und letztere in Pressen zum Ab- 
satz vereinigt. Besondere Maschinen schrägen die Brandsohle 
an den Rändern ab. Dann werden die zusammengehörigen 
Teile sortiert und es beginnt die wichtige Arbeit des Zu- 
sammenfügens von Schaft und Boden, das sogen. Zwicken. 
Auch dies kann von Maschinen verrichtet werden; 20 und 
mehr Systeme hierfür sind in Amerika erfunden worden und 
erst kürzlich ist in Deutschland eine neue Zwickmaschine pa- 
tentiert worden. 

Aber unsre Fabrikanten halten von all diesen Vorrich- 



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— 33 — 



tungen gegenwärtig noch nicht viel : sie seien sehr kompliziert, 
arbeiteten langsam, erforderten viel Umsicht in der Zurichtung 
und Hessen sich schwer an die sehr verschiedenen Schuhfacons 
anpassen. Das Zwicken ist daher die einzige Teilarbeit, die 
auch im Fabrikbetrieb bei uns fast ausschliesslich noch mit 
der Hand hergestellt wird. Und begreiflich erscheint dies in 
der That, wenn man der Arbeit eines Zwickers zusieht : Nach 
Einfügen der Kappe wird der Schaft über den Leisten *) ge- 
zogen, dieser mit der Metallseite nach oben auf einen eisernen 
Ständer gesteckt, dann die Brandsohle aufgelegt und mit drei 
Nägeln leicht am Leisten befestigt. Nun fasst der Arbeiter 
mit der Zange den Rand des Schaftes erst vorn, biegt ihn 
um und befestigt ihn an der Sohle mit sehr spitzen kleinen 
Nägeln, sogen. Täcks, dann übt er dieselbe Operation hinten 
und an den beiden Seiten aus. Die Arbeit erfordert Kraft, Ge- 
wandtheit und Genauigkeit; je nach der Stärke der Schuh teile 
nimmt sie verschieden viel Zeit in Anspruch. Ein sehr tüch- 
tiger Zwicker kann bis drei Dutzend Paar leichter Schuhe 
täglich fertigen, d. i., den Arbeitstag in der Fabrik zu elf Stun- 
den gerechnet, neun bis zehn Minuten für den einzelnen Schuh. 
Nachdem Schaft und Brandsohle aufgezwickt sind, wird eine 
besondere Verstärkung des Gelenkes aufgelegt, eine dünne 
Sohlenlage in das Innere des Schuhes gefügt und die äussere 
Ledersohle leicht befestigt. 

So kommt der Stiefel zum Nähen oder Stiften. Dies ge- 
schieht wiederum lediglich mit Maschinen. Zuvor wird noch 
in diejenigen Schuhe, die genäht werden sollen, eine Rinne 
im Sohlenleder zur Aufnahme der Naht gerissen. Für Näh- 
maschinen für Sohlenarbeit hat man verschiedene Systeme, die 
in den grossen Fabriken nebeneinander im Gebrauche sind. Noch 
immer trifft man vielfach die älteste, die berühmt gewordene 
Mc Kay-Maschine, die zuerst Boden und Schaft auf mechanischem 
Wege zusammennähen lehrte und damit eine förmliche Revo- 
lution im Betriebe erzeugte. Vollkommener als sie ist die 

*) Ein gut eingerichtetes Schuhgeschäft muss ungefähr 50 ver- 
schiedene Arten von Leisten aufweisen, von denen jede einzelne Art 
wieder 9 Sorten enthält. Manche Fabrik besitzt 3—5000 Paar Leisten, 
und bei jedem Modewechsel müssen neue angeschafft werden. 
Francke, Die Schuhmacherei in Bayer». 3 



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Gross-Gelbdoppelraaschine, die mit Doppelsteppstich in weissem 
Faden die eigentliche Verbindungsnaht, mit gelbem eine Ziernaht 
am Sohlenrande herstellt. Daneben stehen Keats-, Goodyear-, 
Larrabee-, Mansfeld-Maschinen und viele andere im Gebrauch. 
Noch interessanter ist das Befestigen mit Stiften. Ein System 
von Maschinen bohrt mit zwei Ahlen in der Sohle die Löcher 
vor, schneidet von einem Holzband die Stifte ab, drückt sie 
in den Stiefel in zwei Reihen nebeneinander, glättet die Spitzen 
innen und schneidet die Enden aussen ab — alles in auto- 
matischem Gang. Eine andre Maschine stiftet mit dünnem 
Metalldraht, der in langer Reihe, Stift an Stift, von ihr selbst 
geführt und zerteilt wird. Das Nähen und Stiften beansprucht 
für ein Paar Schuhe etwa zwei bis drei Minuten. Nun wird 
noch der Absatz befestigt, der durch eine starke, ebenfalls sich 
selbst regulierende Presse aufgedrückt und angenagelt wird. 

Damit ist der Schuh im Rohen fertig und es kommt nun 
die letzte Reihe von Verrichtungen, das Ausputzen. Auch 
hier sind, aber erst seit neuester Zeit, mehrere Gattungen von 
Maschinen thätig. Zuerst drückt die Sohlenglättmaschine die für 
die Naht gerissene Rinne wieder zu. Der Absatz wird aussen 
abgefräst und an der Stirnseite abgeschnitten, die Ränder der 
Sohle ebenfalls abgefräst. Mit Glaspapier und Raspeln auf 
rasch sich drehenden Walzen wird die nötige Glätte von Ab- 
satz und Sohlenrand erzielt, die Poliermaschinen verleihen ihnen, 
nachdem die Schwärze vorher anfgetragen worden, den Glanz. 
Endlich wird die Sohle selbst geschabt und geputzt und nach 
einem Farbenanstrich mit grossen Bürsten abgerieben. Nun 
ist nur noch nötig, Fabrikmarke, Modellbezeichnung und 
Grössennummer dem Schuh einzupressen, und die betreffenden 
Paare wandern in den Lagerraum, wo sie in sauberen Kartons 
aufgestapelt liegen, bis sie versandt werden. 

Nochmals betone ich, dass diese Schilderung des Betriebes 
in einer grossen Schuhfabrik nicht ein konstruiertes, gleich- 
sam ideales Beispiel gibt, sondern thatsächlich vorhandenen 
Verhältnissen entspricht. Selbstverständlich weichen andre 
Fabriken von diesem Paradigma im einzelnen vielfach ab, so- 
wohl was die Räumlichkeiten als was die Zahl und Art der 
aufgestellten Maschinen betrifft, je nach der Menge der be- 



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— 35 — 



schäftigten Arbeiter und der Warensorte, die zumeist erzeugt 
wird. Im grossen und ganzen aber trifft das Bild in den 
wesentlichen Zügen des Betriebes bei gut eingerichteten Fa- 
briken überall zu. Dies mag auch mitbestimmend sein für 
die mir bei den Fabrikanten entgegentretende Ueberzeugung, die 
darin einig sind, dass die maschinellen Einrichtungen sicherlich 
in kürzester Zeit weitere wesentliche Vervollkommnungen er- 
fahren würden. Ein sehr rühriger Fabrikbesitzer in Pirmasens, 
der fast ausschliesslich hochelegante Ware, darunter viele Spezia- 
litäten, fertigt, sagte mir, die Rastlosigkeit, mit der die Ameri- 
kaner Erfindungen und Verbesserungen in der Schuhfabrikation 
nachgingen, habe freilich für die deutschen Unternehmer etwas 
Bedrückendes, indem sie gezwungen würden, alle Augenblicke 
mit neuen teuren Maschinen Experimente zu machen; das sei 
nicht nur kostspielig, sondern störe auch bisweilen den Gang 
des Betriebes. So habe er binnen verhältnismässig wenigen 
Jahren einen grossen Teil von seiner Maschineneinrichtung, 
der ihm 35000 M. gekostet habe, durch neue ersetzen müssen. 
Immer wieder träten Erfindungen auf, die der mechanischen 
Schuhmacherei auch die Vorzüge des Handbetriebes, die 
grössere Geschmeidigkeit bei gleicher Haltbarkeit und feinere 
Ausstattung, zuführten. Wie enorm rasch diese Entwickelung 
für manche Teilarbeit fortschreitet, beweise, dass binnen drei 
Jahren in der Erfindung leistungsfähiger Ausputzmaschinen 
soviel erreicht worden sei, dass man jetzt das Achtfache an 
Arbeit mit nur der doppelten Arbeiterzahl fertigstelle. Jetzt 
sei eine Maschine aufgekommen, die ganz nach Art der Hand 
Schaft und Boden nähe. Trotz der Kosten und der fort- 
währenden Aenderungen in der Art des Betriebes sei es aber 
für die deutschen Fabrikanten unerlasslich, sich aller Errungen- 
schaften einer stetig fortschreitenden Technik zu bedienen, 
um konkurrenzfähig zu bleiben, da sonst eine Zunahme des 
Imports, die jetzt schon merkbar sei, nicht ausbleiben würde. 
Er wie zahlreiche andre Fabrikanten erwarten mit Bestimmt- 
heit, dass in Bälde Amerika mit wirklich leistungsfähigen 
Zwickmaschinen auftreten würde: „wir haben sie noch nicht, 
aber sie kommen ohne Zweifel!" Damit würde abermals wie 
nach Erfindung der Mc Kay-Maschine, eine Umwälzung in der 



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— 36 



Fabrikation erfolgen, indem durch die Maschine dann auch das 
letzte Glied in der Kette von Teilarbeiten, bei dem jetzt noch 
ausschliesslich die menschliche Hand allein thätig sei, rascher 
und billiger hergestellt werden können l ). 



*) Auf der Weltausstellung zu Paris im Jahre 1889 waren von 
Amerikanern und auch von Franzosen Zwickmaschinen verschiedener 
Konstruktionen zu sehen. Die Kunde von der Erfindung leistungsfähiger 
Zwickmaschinen ging wie ein Lauffeuer durch die Schuhmacherbevölke- 
rung ; man rühme ihr alle möglichen Vorteile nach , sie sei von unge- 
lernten Arbeitern zu bedienen und arbeite 50% billiger als die mensch- 
liche Arbeitskraft, wobei sie täglich 3 — 400 Paar Stiefel fertige. „Uns 
schaudert, " ruft ein belgischer Korrespondent im „Schuhmacherfachblatt* 
1889 Nr. 12 aus, „bei dem Gedanken, dass diese Maschine wieder (?) so 
und so viele Tausende von Kollegen brotlos macht, sobald sie ihren 
Einzug auf dem Kontinente hält." Der Reichstagsabgeordnete W. Bock, 
selbst gelernter Schuhmacher, berichtet über die Maschine, die er im 
Betrieb sah, dann später: Sie liefere nahezu tadellose Arbeit und sei 
sehr leistungsfähig; die Stiefel seien sehr gut vorgeholt und sehr fest 
gezwickt gewesen. Mit dieser Maschine (System Paine) zwicke der Ar- 
beiter das Paar Stiefel in 2—3 Minuten. Der Preis betrage 6000 Frcs., 
angeblich dürfe sie vorderhand nicht nach Europa verkauft werden. — 
Bis zur Stunde scheinen sich indessen weder die grossen Befürchtungen 
noch die Hoffnungen, die in Kreisen der deutschen Schuhmacher auf 
diese Zwickmaschine gesetzt wurden , irgendwie realisiert zu haben. 
Neuerdings ist wieder viel von einer „Erfurter Aufzwickmaschine * die 
Rede. In dem Katalog der Firma A. Schick, Frankfurt a. M.. wird von 
dieser Erfindung folgendes berichtet: „Welcher Schuhmacher hätte vor 
etwa 15 Jahren geglaubt, dass das Zwicken, diese für das ganze Ge- 
lingen des Schuhes massgebende Arbeit, jemals durch Maschinen aus- 
geführt werden könnte! Dieser Unglaube, diese Zweifel haben ihre be- 
rechtigten Gründe, die hauptsächlich in der sehr grossen Verschieden- 
artigkeit des Leders liegen. Und doch ist es gelungen , eine Maschine 
zu erfinden, welche die Handzwickerei vollständig ersetzt. Verschiedene 
Köpfe haben sich mit der Lösung dieser Aufgabe beschäftigt und Re- 
sultate zu Tage gefördert, die nur teilweise den Anforderungen genügten, 
welche man an eine „ Zwickmaschine " stellen rauss. Eine neu kon- 
struierte Maschine, die den Namen „Erfurter Aufzwickmaschine" führt, 
lässt jedoch alle diese Resultate weit hinter sich in Bezug auf Leistungs- 
fähigkeit und Gelingen der auf ihr gezwickten Schuhe und Stiefel. Da- 
zu kommt als weiterer Vorzug, dass der Schaft durch einen Klebstoff 
an der Brandsohle festgehalten und nur einige Stifte an Kappe und 
Spitze eingetrieben werden ; dieses Einschlagen von Stiften ist aber ab- 
solut nicht identisch mit dem „Zwicken", d. h. die Anwendung der 



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- 37 — 



Wie gross ist nun die Leistungsfähigkeit einer Schuh- 
fabrik? . 

Die Antwort auf diese Frage muss sehr verschieden aus- 
fallen; denn es kommt nicht nur die Grösse und Ausrüstung 
des Etablissements (Zahl der Arbeiter und Maschinen), son- 



Handzwickzange ist nicht mehr nötig! Die Vorarbeiten, welche den 
Schuh resp. Schaft für die Maschine präparieren , sind die folgenden : 
Die Kappe wird eingeklebt, Futter mit Schaft durch eine am Rand 
laufende Naht verbunden und der innere Futterrand fingerbreit mit einem 
Klebstoff bestrichen. Dann wird der Schaft über den mit Brandsohle 
versehenen Leisten übergeholt, d. h. durch je einen Stift an Kappe und 
Spitz befestigt, die Brandsohle am Rand ebenfalls fingerbreit mit 
Klebstoff bestrichen und der Schuh ist für die Maschine fertig. Er wird 
jetzt in diese eingespannt, dergestalt, dass er senkrecht feststeht! Durch 
einen Handgriff des die Maschine bedienenden Mannes erfassen sinnreich 
gruppierte Zangen Spitze und Seiten des Schaftrandes und spannen das 
Leder straff auf den Leisten. Durch Niederdrücken eines Hebels werden 
nun gleichzeitig von oben und unten je eine Gabel , von beiden Seiten 
je ein mit Fingern versehener Seitenbalken nach dem eingespannten 
Schuh zu in Bewegung gesetzt, Gabeln und Finger schmiegen sich genau 
den Konturen des Leistens an, walken sozusagen das Leder gleichzeitig 
an allen Punkten über den Leisten und halten es , nach Lösung der 
Zangen und nachdem der Hebel ganz heruntergedrückt ist, auf der 
Brandsohle fest. Der Klebstoff haftet sofort; der Hebel und mit ihm 
Gabeln und Finger werden in die Höhe resp. nach unten und zur Seite 
geführt, und der gezwickte Schuh wird aus der Maschine genommen. 
Alle diese Manipulationen erfordern einen Zeitaufwand von einer Minute. 
„Die Einführung der Maschine sichert," so wird in diesem Prospekte 
weiter angeführt, „dem Fabrikanten eine wesentliche Ersparnis an Löhnen 
im Vergleich zu denen der Hand zwickerei. Bei zehnstündiger Arbeits- 
zeit vermag ein geübter Maschinenzwicker 25 Dutzend Damensachen zu 
zwicken , welche Arbeitsleistung bei Mädchen- und Kinderschuhen sich 
bis auf 30 Dutzend erhöht. Die Maschine wird in vier Grössen gebaut: 
1. für Herrenarbeit, 2. für Damenarbeit, 3. für Mädchenarbeit, 4. für 
Kinderarbeit. Grösseren Fabrikanten ist zu empfehlen , für jede dieser 
Gattungen eine Maschine aufzustellen. Da sie für Handbetrieb ein- 
gerichtet sind, können sie in jedem Räume untergebracht werden. Ausser- 
dem wird noch eine kombinierte Maschine gebaut, auf welcher Mädchen- 
und Damenstiefel von 25 — 42 gezwickt werden; man hat nur einige Teile 
auszuwechseln, um die Maschine von Damen- auf Mädchensachen und 
umgekehrt einzustellen. Das Umstellen erfordert einen Zeitaufwand von 
etwa zehn Minuten/ — Eine Kontrolle dieser Angaben habe ich nicht 
erlangen können. 



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— 38 — 



dern ebensosehr auch die Art des Produktes in Betracht: 
grobe, billige Ware wird rascher hergestellt als feine, Stoff- 
schuhe rascher als Lederstiefel. Durchschnittsziffern von all- 
gemeiner Gültigkeit lassen sich ungemein schwer geben. Die 
Fabrik z. B., deren Betrieb wir oben geschildert haben, rühmt 
sich in einem Prospekt, dass sie gar nicht darnach strebe, 
8 — 10000 Paar wöchentlich zu liefern, da sie ausschliesslich 
auf die Güte der Erzeugnisse den Hauptwert lege; sie wird, 
je nach dem Geschäftsgang, bei etwa 250 Arbeitern vielleicht 
täglich etwa 700—800 Paar fertigen. Eine Erfurter Fabrik, 
die 300 Arbeiter zählte, hatte eine Wochenproduktion von 
rund 1000 Dutzend Paar. Eine grössere Fabrik in Pirmasens, 
die alle Sorten Schuhwerk macht, gute und zahlreiche Maschinen 
hat und etwa 150 Arbeiter bei sich, ausserdem aber eine 
grössere Anzahl von Stepperinnen in deren Wohnung, und 
Hausarbeiter in Stadt und Umgegend beschäftigt, stellt täglich 
400 Paar Schuhe für Erwachsene und 800 Paar für kleine 
Kinder her. Es gibt indessen in Pirmasens mehrere Etablis- 
sements, die diese Produktion weit überbieten und bis zu 
15 — 1800 Paar gröbere und mittlere Ware täglich anfertigen 
können. Keine erreicht indessen eine Schweizer Fabrik, die 
täglich über 4000 Paar Schuhe aller Sorten liefert. 

Auch diese Leistungen werden von nordamerikanischen 
Schuhfabriken noch in den Schatten gestellt. Hier soll durch- 
schnittlich ein Arbeiter in zehnstündiger Arbeitszeit etwa neun 
bis zehn Paar Schuhe anfertigen können. In deutschen Fa- 
briken wird im allgemeinen das Mittel bei elf- bis zwölf- 
stündiger Arbeitszeit vier bis fünf Paar pro Tag und Arbeiter 
betragen, während im handwerksmässigen Betrieb dieses Quan- 
tum wöchentlich schon die Leistung eines leidlich geschickten 
und fleissigen Schuhmachers bei zwölf- bis vierzehnstündiger, 
ja häufig noch viel längerer Arbeitszeit darstellt. In Massa- 
chusetts, dem Hauptsitz der Schuhfabrikation in Nordamerika, 
wo in 982 Fabriken von 61650 Arbeitern im Jahre 1880 für 
96000000 Dollars Schuhwerk produziert wurde, kamen 1845 
auf einen äusserst gewandten Schuhmacher jährlich 455 Paar 
Stiefel und Schuhe, 1875 dagegen mit Hilfe der Maschinen 
2205 Paar; jetzt rechnet man auf den Arbeiter eine mögliche 



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1 



- 39 — 



Jahresproduktion von nahezu 3000 Paar J ). Noch einige No- 
tizen über die Leistungsfähigkeit von Schuh verfertigungs- 
maschinen ! Eine neue amerikanische Sohlenschneidemaschine 
schneidet die grösste Männersohle in sechs Sekunden, eine 
Frauenschuhsohle in vier Sekunden aus — das sind bei zehn- 
stündigem Betrieb 6 — 9000 Sohlen täglich. Eine Holzabsatz- 
fräsmaschine liefert 160 Dutzend Absätze täglich. Die Keats- 
Sohlen- Näh- und Doppelmaschine garantiert eine Leistung 
von 500 Stichen in der Minute, eine Knopflochmaschine 
250 — 300 Umdrehungen in der Minute, und W. Bock sah, wie 
auf der Pariser Ausstellung in sechs Minuten 26 Knopflöcher 
sauber und solid durch eine Arbeiterin mit ihr hergestellt 
wurden. Sohlennähmaschinen, die täglich 2 — 300 Paar nähen 
und doppeln, besitzen noch keine besonders hervorragende 
Leistungsfähigkeit; es gibt deren, die 5—600 Paar bei mecha- 
nischem Betriebe liefern können, während ein Handarbeiter 
schon äusserst geschickt sein muss, um mit aller Anspannung 
die gleiche Arbeit pro Paar, die die Maschine in 1 l js Minuten 
fertigt, in 20 — 30 Minuten herzustellen. 

Mit Hilfe des Kingschen Heel-Trimmers (Absatzbeschneide- 
maschine) kann ein Mann täglich 300 Paar Schuhe beschneiden, 
eine Arbeit, die drei bis vier Personen erfordert, wenn sie 
mit der Hand gethan werden soll. Bei Anwendung der Absatz- 
maschine können ein Mann und ein Knabe täglich 300 Paar 
Absätze aufnageln; es wären fünf Personen erforderlich, um 
dieselbe Arbeit mit der Hand zu verrichten. Auf der Sand- 
papiermaschine kann ein Arbeiter 300 Paar Schuhe täglich 
reinigen und glätten; dazu wären vier Handarbeiter not- 
wendig 2 ). Ein Fabrikant in Pirmasens liess vor meinen Augen 
ein Paar derbe Männerstutzen mit Gummizügen, einfacher Sohle, 
ohne Verzierung der Schäfte herstellen; der Preis stellt sich 
im Dutzend auf 66—70 M. Ich begleitete den Stiefel bei 
allen Operationen, denen er unterzogen wurde, und wanderte 



*) Schippel, Das moderne Elend, S. 20. 

*) Diese Angaben sind zum Teil dem Jahresberichte des Verein. 
Staaten-Arbeitsbureaus für 1886, erstattet von Caroli D. Wright, ent- 
nommen. 



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— 40 — 



mit ihm von einem Raum der Fabrik zum andern, vom Zu- 
schneiden bis zum Einschlagen der Fabrikmarke auf die Sohle; 
in einer halben Stunde etwa war das ganze Paar hergestellt, 
wobei allerdings jeder Stiefel seine besondere Reihe von Ma- 
schinen durchlief. Für den Handarbeiter dagegen ist ein Paar 
Schuhe zu fertigen eine stramme Tagesleistung. 

Acht bis zehn Paar Stiefel pro Kopf und Tag mag die 
Grenze der Produktion zur Zeit in einer vorzüglich eingerich- 
teten grossen Schuhfabrik bezeichnen, ein Paar pro Kopf und 
Tag — allerdings bei einem weit längeren Arbeitstage — im 
Kleinbetrieb ohne jede maschinelle Vorrichtung. Aber diese 
den Umschwung der Technik charakterisierende Differenz der 
Maximalleistungen hier und dort wird in Deutschland sehr 
selten erreicht oder gar dauernd eingehalten werden. Gegen- 
wärtig ist die technische Ausrüstung unsrer Grossindustrie 
vielfach noch hinter der in der nordamerikanischen Union und 
neuestens in Australien üblichen ein ziemliches Stück zurück. 
Noch mehr freilich in dem Typus des Arbeiters, der diese 
Maschinen zu bedienen hat 1 ). Wie in der englischen Baum- 
wollspinnerei, so hat sich in der Schuhfabrikation von Massa- 
chusetts jene Individualität herausgebildet, die man als den 
für die Maschine geborenen und erzogenen Industriearbeiter 
bezeichnen kann. „Als der Mann der Zukunft — so schildert 
ihn G. v. Schulze-Gaevernitz 2 ) — findet er in der Vergangen- 
heit nicht seinesgleichen. Nicht die körperliche Kraft ist es, 
welche ihn auszeichnet, denn die geforderten Bewegungskräfte 
leistet die Maschine. Aber er gleicht auch nicht dem Arbeits- 
virtuosen der sogen. Manufaktur, welcher auf Grund weit- 
gehender Arbeitsteilung wenige Handgriffe zur Vollkommenheit 
verrichtet. Vollkommener leistet sie nun die Werkzeugs- 
maschine, welche mehr und mehr das Gebiet der mechani- 
schen' Arbeit ergreift. Den Menschen damit aus dem Nexus 
der immer weiter fortschreitenden Arbeitsteilung befreiend, 
fordert die vollkommene Maschine lediglich Beaufsichtigung. 



l ) Vergl. ,1. Schönhof, Consular report Nr. 90 vom August 1888. 
'-) Der Grossbetrieb, ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt. 
Leipzig 1*92. 



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— 41 — 



Bei wachsenden Dimensionen und Geschwindigkeiten, ihrer zu- 
nehmenden Produktionskraft und Kompliziertheit wird dagegen 
vom Arbeiter eine stets gesteigerte Geistesanspannung, ein 
Eingehen auf die in ihr verkörperten Gedanken der Technik 
verlangt. Der ihr dienende Mensch sollte ein Sohn des Zeit- 
alters der Naturwissenschaft sein." Es wäre thöricht zu leug- 
nen, dass wir von diesem Typus in Deutschland, und speziell 
in unsrem Gewerbe noch weit entfernt sind. Aber mit jeder 
Erhöhung der Leistungsfähigkeit unsrer Arbeiter in den Fabrik- 
betrieben wird auch die Produktionskraft der Maschine und 
damit wieder die Ueberlegenheit der Grossindustrie über das 
Handwerk sich noch weiter steigern. 



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■r 



IV. 

Die Schuhmacherei in Pirmasens. 

Unter den Gesichtspunkten der bisherigen Erörterungen 
verdient die pfälzische Stadt Pirmasens eine besondere Be- 
achtung. Denn hier konzentriert sich die bayerische Schuh- 
macherei sowohl räumlich mit weitaus dem höchsten Prozent- 
satze der Schuhmacherbevölkerung als auch die Entwicklung 
der Technik des Betriebes am klarsten hervortritt. Die Ge- 
schichte unsres Gewerbes in Pirmasens ist ein vorzügliches 
Beispiel, wie aus den kleinsten und bescheidensten Anfängen 
unter der Einwirkung geänderter Verkehrsbedingungen und 
der Maschinenarbeit sich eine Grossindustrie herausbildet, wäh- 
rend die in der Pfalz seit Anfang dieses Jahrhunderts bestehende 
Gewerbefreiheit, bevor diese Entwickelungsfaktoren thätig waren, 
die Schuhmacherei ganz in den althergebrachten Formen des 
Handwerks gelassen hatte. Leider messen die Quellen für eine 
Geschichte der Schuhmacherei in Pirmasens sehr dürftig: Lit- 
teratur liegt so gut wie gar nicht vor, ich war auf einige mir 
freundlich zur Verfügung gestellten magistratische Akten und 
persönliche Mitteilungen angewiesen; für die neueste Zeit geben 
die Berichte der pfälzischen Handels- und Gewerbekammer so- 
wie des Fabrikinspektors einige Aufschlüsse. 

Der Ursprung der Schuhmacherei in Pirmasens entbehrt 
nicht eines komischen Beigeschmackes. Das während des Dreissig- 
jährigen Krieges bis zur Vernichtung mitgenommene alte Städt- 
chen erfuhr einen Aufschwung, als Landgraf Ludwig IX. die 
Residenz in dem hanau-hessischen Ländchen von Buchsweiler 
nach Pirmasens verlegte, um dort, weniger beachtet von dem 
französischen Nachbar, seiner Vorliebe für Soldaten und Exer- 
zieren leben zu können. Die „langen Kerls", die er dort nach 



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— 43 — 



dem Muster Friedrich Wilhelms I. von Preussen in den Jahren 
1740—1790 drillte, leben noch im Gedächtnisse der Pfälzer, 
die hochgewachsene Leute noch heutzutage gerne „Pirmasen- 
ser - nennen. Denn der sorgsame Landesvater erlaubte oder 
befahl seinen Soldaten das Heiraten. 1789 zählte die Stadt 
über 9000 Einwohner, da aber hiervon 2400 Mann Grenadiere 
und 25 Husaren waren, die zumeist einen Hausstand hatten, 
so bestand die Bevölkerung wesentlich aus den Familien der 
Soldaten und Hofbediensteten. Die schmale Löhnung reichte 
zum Leben nicht aus, mit dem Feldbau ist in der vielfach 
felsigen Gegend nicht viel zu machen, so warfen sich die 
Soldatenfrauen auf eine Arbeit, die ihnen nahe lag: sie strickten 
und häkelten wollene, gefütterte Schuhe, die „Schlappen", für 
den Verkauf und konnten so täglich einen Batzen verdienen. 
Weiber und Mädchen, später auch Männer zogen mit der 
Ware in grossen Körben auf dem Kopfe ins Land hinaus und 
fanden bald nicht nur im Umkreis von Pirmasens, sondern 
auch den Rhein entlang, in Holland und der Schweiz, ferner 
in Frankreich wegen der Billigkeit der Schuhe guten Absatz. 
Dieser Hausierhandel ist für die Entwickelung der Schuh- 
macherei in Pirmasens ganz unumgänglich gewesen; die Sol- 
datenfrauen, die die Ware herstellten, konnten natürlich einen 
regelrechten kaufmännischen Absatz nicht einrichten, eine Ver- 
sendung der Produkte in Masse nach Niederlagen und Märkten 
war ohnehin bei den unentwickelten Verkehrs Verhältnissen 
schwer thunlich, die Hausierer allein konnten wirksam den 
Vertrieb der in sehr kleinen Posten erzeugten, «aber durch die 
Zahl der Arbeitenden doch beträchtlich anwachsenden Waren- 
menge bewerkstelligen. Die Thätigkeit der „lustigen Schuh- 
mädchen a , wie sie ein Bericht nennt, bietet einen nicht un- 
wichtigen Zug in der Geschichte des Hausierwesens, gegen 
den heutzutage dieselben Argumente ins Feld zu führen wieder 
Mode geworden ist, die vor 100 Jahren gebraucht wurden 



') Vergl. z. B. „Geschichte des Nürnbergischen Handels" von Dia- 
konus Roth (Nürnberg 1801), wo es u. a. heisst: „Es ist allbekannt, dass 
in- und ausländische Juden, herumstreichende Welsche, Savoyarden, Ti- 
roler, Schweizer u. a. das ganze Jahr hindurch mit allen nur erdenk- 



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— 44 — 



Nach dem Tode des Landgrafen verlor die Stadt Resi- 
denz, Militär und Hofhaltung. Die zurückbleibenden Soldaten 
traten nun zum Teil ihren Familien in der Herstellung und 
dem Vertrieb der Schuhwaren zur Seite, da das Gewerbe be- 
reits leidlich ging, sie wurden kleine Meister, der gelegent- 
liche oder notgedrungene, immer aber etwas systemlose Haus- 
fleiss wurde zum Handwerksbetrieb. Die Söhne wurden Ge- 
hilfen und Lehrlinge, Arbeitskräfte auch von auswärts stellten 
sich ein, zumal als 1803 ein gewisser Joss auf den Gedanken 
kam, das zu dieser Zeit als Ersatz des teuren Saffianleders 
aufgekommene gefärbte Schafleder zu Hausschuhen zu ver- 
wenden. „Der reissende Absatz dieser schafledernen Schuhe, 44 
so sagt ein vom Bürgermeister Grein er zu Pirmasens anläss- 
lich der Dritten pfälzischen Gewerbeaussteilung 1872 erstat- 
teter amtlicher Bericht, „auf den Messen und Märkten Frank- 
reichs und im Hausierhandel brachte ein lohnendes Geschäft 
und war für viele andre Schuhmacher bestimmend, dem Joss 
in seinem Gewerbe, farbige schaf lederne Schuhe herzustellen 
und auswärts verkaufen zu lassen, zu folgen." Allerdings die 



liehen Waren ... auf dem umliegenden Lande und in der Stadt selbst 
Schleichhandel treiben. Dies ist eine der Hauptursachen vom heutigen 
Verfall des Nahrungs-, Handwerks- und Handelsstandes. Diese Hausierer 
. . . rauben den Bürgern ihre Nahrung und ihren Erwerb, schleppen das 
Geld aus dem Lande und überlassen den Bürgern die Erfüllung der 
Pflicht, die zur Erhaltung des Staats ausgeschriebenen Abgaben zu ent- 
richten und die übrigen Staatslasten zu tragen. Noch nicht genug! Auch 
einheimische unberechtigte Leute hausieren Waren . . . Fuhrleute halten 
in den Wirtshäusern , wo sie einkehren , Niederlagen von Waren . . . 
Die Gesetze eifern vergeblich dawider. So oft sie auch erneuert werden, 
so sind sie doch ohne Wirkung. Nur Anstalten zur strengen Aufsicht 
auf die Uebertreter der Gesetze, nur nachdrückliche Bestrafung des 
Hausierens kann dieses Uebel hindern; ganz vertilgen können dieses 
Uebel nur edlere Gesinnungen der Bürger. Nicht einmal der Käufer 
gewinnt bei diesem Hausieren ; und wenn er gewinnt, so ist gewiss sein 
Gewinn sehr gering und unbedeutend. Ueberdies wird er mit Mass und 
Gewicht betrogen, bekommt statt guter, echter, dauerhafter Waren nur 
schlechte: der gering scheinende Preis der Waren lockt ihn an, sich 
davon grössere Menge, als er gerade nötig hat, anzuschaffen und wendet 
auf deren Einkauf das Geld, das er zum Einkauf roher Materialien weit 
vorteilhafter hätte gebrauchen können." 



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— 45 — 



Ware war sehr billig, aber auch äusserst gering an Qualität; 
man sagte sprichwörtlich von ihr: „Die Schuhe sind zum Ver- 
kaufen und nicht zum Verlaufen." Wie ärmlicb es bei der Her- 
stellung zuging, beweist die Thatsache, dass zum Futter der Schuhe 
vielfach abgelegte Betttücher aus Kasernen verwendet wurden. 

Die unruhigen Zeitläufte, unter denen auch Pirmasens zu 
leiden hatte, fanden ihren Abschluss mit dem 181(3 erfolgenden 
Uebergang der Pfalz an Bayern. In magistratischen Akten 
von Pirmasens habe ich in dem Entwürfe eines Berichtes die 
Bemerkung gefunden, dass die Stadt sich im Laufe der näch- 
sten Jahrzehnte keiner speziellen Fürsorge der bayerischen Re- 
gierung zu erfreuen gehabt habe, nachdrücklich wird dagegen 
betont, dass die Errichtung des Zollvereins, bei dem die Zoll- 
schranken im Innern Deutschlands wegfielen, dem Vertriebe 
der Schuherzeugnisse sehr förderlich gewesen sei. Zum Be- 
weise wird angeführt, wie die auch an Qualität verbesserte 
Ware allmählich nicht mehr ausschliesslich durch Hausierer, 
sondern in wachsendem Masse vom Fuhrmann in Wagen- 
ladungen nach Stapelplätzen und später an die Eisenbahn ge- 
fahren wurden; von da gingen sie dann auch in grössere Städte, 
selbst nach Paris und Amerika. Die erste überseeische Be- 
stellung, so wird erzählt, habe ein Schuhmacher erhalten, der 
einen Korb Waren von Pirmasens nach Hamburg gebracht 
habe. Trotz lebhaften Bedenkens wegen des Risiko habe er 
die Lieferung ausgeführt, und das Geschäft habe sich dermassen 
entwickelt, dass der Schuhmacher — Peter Kaiser war sein 
Name — bald von seinem Schemel aufstehen, einen Gross- 
betrieb einrichten und später Leiter und Besitzer der grössten 
jetzt noch florierenden Fabrik in seinem Heimatorte werden 
konnte. Immerhin ist aber bis in die zweite Hälfte der fünf- 
ziger Jahre das Wesen des Betriebes zu Pirmasens sich gleich 
geblieben. „Verleger" waren dort unbekannt Fabriken und 

') Dies ist eine Erscheinung, für die ich keine bündige Erklärung 
gefunden habe. Sollte die gewerbliche Stagnation, die in der durch die 
Kriege sehr erschöpften Pfalz bis fast in die Mitte des Jahrhunderts 
herrschte, im Verein mit der abseits von der grossen Verkehrsstrasse 
befindlichen Lage von Pirmasens nicht mitgewirkt haben, dass die ge- 
werbliche Thätigkeit erst so spät kaufmännisch organisiert wurde? 



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- 40 — 



Grossbetriebe gab es nicht, sondern nur Handwerksmeister und 
Manufakturwesen. Die ersten genauen Ziffern liegen mir aus 
dem Jahre 1854 vor; damals waren in dem 6400 Einwohner 
zählenden Orte thätig 161 Meister, 700 Gesellen, 212 Schuh- 
trägerinnen, 400 Frauen und Mädchen, die sich mit Einbändein 
und Bückein abgaben. Täglich wurden 150 Dutzend Paar ge- 
fertigt, im Preise von 5 — 9 Gulden das Dutzend. Der Um- 
schlag betrug 315 000 Gulden im Jahre; die Arbeitslöhne waren 
48 Kreuzer für ein Dutzend, das Einbändein wurde mit 4 Kreu- 
zern das Dutzend bezahlt. 

Binnen wenigen Jahren aber sollte sich eine Veränderung 
vollziehen, und zwar ist deutlich erkennbar, dass zwei Fak- 
toren sie bewirkten. Dank dem Umschwung in den Verkehrs- 
verhältnissen und der dadurch gegebenen Möglichkeit des 
Massenabsatzes von Waren tritt der Kaufmann als Mittelsmann 
und Organisator in das Gewerbe ein und sodann beginnt, aller- 
dings zuerst bescheiden, dann aber mit wachsender Energie die 
Maschine, das Kapital eine fruchtbare Thätigkeit. Schon im 
Herbste 1860 sind aus einem magistratischen Berichte die 
Wirkungen dieser beiden Faktoren in der Steigerung der Pro- 
duktion bei gleichzeitiger Konzentrierung des Betriebes zu er- 
sehen. Damals gab es bereits vier grössere Betriebe, sogen. 
„ Fabriken", die Zahl der selbständigen Schuhmacher ist von 
161 auf 112, die der Schuhmädchen sogar von 219 auf 109 
gesunken, obwohl für das Hausieren der Schuhe per Dutzend 
1 fl. 12 kr. bis 2 fl. 20 kr. bezahlt wurde. Dagegen wurden 
jährlich 1 264 000 Paar Schuhe im Werthe von 1 000 000 fl. 
hergestellt, also etwa das Dreifache wie vor sechs Jahren; 
aber immer noch sind es lediglich mit Ledersohlen versehene 
Stoffschuhe aus Stramin, Plüsch, Rips, Atlas, Chenille, Royal, 
Filz, Lasting mit und ohne Gummizüge, von 6 — 30 fl. für das 
Dutzend. Die einst so viel begehrten schafledernen Schuhe 
(Preis per Dutzend 6 — 8 fl.) werden fast nicht mehr gemacht. 

Die Entwickelung geht nun rasch in gerader Linie vorwärts. 
Ein Handelskammerbericht schreibt vom Jahre 1864, dass in 
Pirmasens 13 grössere und 63 kleinere Fabriken mit 17 Hand- 
lungsdienern und Commis, 54 Zuschneidern, 1154 Arbeitern 
und 466 Arbeiterinnen existieren : 66 Nähmaschinen, 1 Sohlen- 



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— 47 — 



schneid- und 1 Sohlenplättmaschine seien in Thätigkeit, um 
2 600000 Paar Frauen- und Kinderschuhe im Werthe von 
2 000 000 fl. zu erzeugen. In vier Jahren hatte sich, wie man 
sieht, die Warenmenge verdoppelt, die Zahl der Betriebe bei 
steigender Arbeiterzahl stark vermindert, die Maschine und 
der Kaufmann machten sich geltend. Noch schärfer lässt sich 
dies erkennen aus dem bereits erwähnten Bericht des Bürger- 
meisters Greiner für 1872. Es gab damals in Pirmasens: 
12 grössere, 36 kleinere Fabriken 1 ) mit 18 Buchhaltern, 54 
Reisenden, 18 Zahlmeistern und Commis (ausserdem noch aus- 
wärtige Agenten), 133 Zuschneider und Verpacker, 192 Magazin- 
arbeiter, 3273 Arbeiter und Arbeiterinnen 2 ). Zum erstenmal 
treten bestimmte Angaben über die Hausindustrie, die erst mit 
der Fabrik wie eine Art Rückbildung wieder sich einstellt, 
auf. Sehr viele Personen, so konstatiert der Bürgermeister, 
arbeiten für die Fabriken in der eigenen Wohnung und wohnen 
deshalb in den umliegenden Orten, selbst bis in die Nähe von 
Annweiler, Bitsch, Dahn, Weissenburg; auch in verschiedenen 
Strafanstalten sind Häftlinge für die Pirraasenser Schuhfabriken 
in Thätigkeit. Für einzelne Teile der Schuhe ist die Hand 
schon fast von der Maschine verdrängt worden. Wir sehen 
46 Sohlenschneidmaschinen , 6 Absatzpressen, 2 Lederwalzen, 
10 Sohlenschraubmaschinen, 2 Montierungsmaschinen, 63 wei- 
tere Hilfsmaschinen, 212 Nähmaschinen 3 ) in Gebrauch. Ihr 

') Diese, Fabriken genannten Betriebe waren nach unsern heutigen 
Begriffen immerhin noch ziemlich klein : 1875 zählt die amtliche Statistik 
in der ganzen Pfalz nur sieben Betriebe mit 6 —10, elf mit 11—50, drei 
mit mehr als 50 Arbeitern. 

2 ) Diese Angaben Greiners stimmen nicht mit den Zahlen der Ge- 
werbestatistik für 1875 überein; diese gibt für die ganze Pfalz bei 
5550 Haupt- und Nebenbetrieben 5671 Geschäftsleiter und 3454 Gehilfen 
an. Greiner weist soviel Arbeiter allein der Pirmasenser Industrie zu. 
Vermutlich erklärt sich die Differenz daher, dass Greiner die für die 
Fabriken als Hausindustrielle thätigen Personen in der Stadt Pirmasens 
und Umgegend als Arbeiter mitzählt, während die amtliche Statistik sie 
als selbständige Unternehmer aufführt. 

3 ) Die amtliche Statistik von 1875 zählt für die ganze Pfalz im Gross- 
betrieb 108 durch menschliche und 24 durch mechanische Kraft bewegte 
Nähmaschinen auf, Greiner zählt für Pirmasens offenbar auch die im Klein- 
betriebe zumeist nur für Stoffschuhe verwendeten Nähmaschinen mit. 



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— 48 — 



Erzeugnis ist fast 3 600000 Paar Schuhe im Werte von 4 1 ,* Mil- 
lionen Gulden. Das Verzeichnis der gebräuchlichsten Waren 
zählt 22 Sorten Sommer- und 10 Sorten Winterschuhe in ver- 
schiedenen Grössen, mit Preisen von 6 — 50 fl. per Dutzend und 
Macherlöhnen von 1 3 4 — 10 fl. auf. Pirmasenser Ware hat 
jetzt eine feste Position auf dem Weltmarkte errungen, sie geht 
in alle Länder Deutschlands, die Schweiz, Holland und Belgien, 
Frankreich, England, übers Meer. Immer noch werden fast 
nur Beschuhungen für Frauen, Mädchen und Kinder herge- 
stellt. Die Löhne für Nebenarbeiterinnen in den Fabriken be- 
tragen täglich 20 kr. bis 1 fl., Stepperinnen können von 0 bis 
12 fl. wöchentlich verdienen, Zuschneider etwas mehr, Sohlen- 
drücker 8 — 10 fl. Geschätzt wird, dass ein Schuhmacher 
wöchentlich im Durchschnitt Ware im Werte von 30 fl. liefert. 
Auch eine Leistenfabrik hatte sich etabliert, die jährlich 1500 
Dutzend Leisten fertigte, etwa die Hälfte des Pirmasenser Be- 
darfs. Nur sie und noch eine einzige Schuhfabrik verwendeten 
bereits Dampfkraft. In gerechtem Stolz auf den Aufschwung 
schliesst Bürgermeister Grein er seinen Bericht mit den Wor- 
ten, dass „in Pirmasens jedes fleissige Glied der Bevölkerung 
ein gedeihliches Auskommen findet, Faulenzer und Lumpen 
ausgenommen". 

Mit dieser Entwicklung der Industrie hielt indessen das 
Wachstum der Stadt nicht gleichen Schritt; die Seelenzahl 
stieg in den 30 Jahren, von 1840—1870, nur von 6410 auf 
8675, während allerdings die Steuerkraft sich verdreifachte. 
Mächtige Schritte vorwärts machte Pirmasens dagegen mit der 
Beschaffung von Gas und Wasser; 1874 wurde eine Gasanstalt 
errichtet, die auch bald eine bequeme Kraft für den Motoren- 
betrieb lieferte, während erst 1879 eine mit Mühe und Not 
engagierte englische Gesellschaft die Wasserleitung fertigstellte 
und die Stadt damit die Möglichkeit erhielt, die bisher sehr 
zurückgebliebene Bauthätigkeit zu fördern. Noch wichtiger war 
jedoch die am 25. November 1875 dem Verkehr übergebene 
Bahnverbindung Pirmasens — Bibermühle. Schon seit Jahren 
besass die Pfalz ein Bahnnetz, schon 1857 war das wenicre 
Meilen entfernte Zweibrücken der Wohlthat einer Eisenbahn 
teilhaftig geworden, aber alles Drängen nach Anschluss war 



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— 49 - 



vergeblich gewesen ; meinte doch ein Oberingenieur, den gan- 
zen Verkehr mit Pirmasens bewältige man mit einem Waggon 
täglich! Endlich wurde die Strecke, aber nur als eingeleisige 
Zweigbahn, gebaut, und als Seitenstück zu jener spöttischen 
Bemerkung mag dienen, dass unlängst an eine grosse Gerberei 
in Pirmasens, die in Schiffsladungen Quebrachohölzer von Ar- 
gentinien bezieht, die Bitte von seiten der Bahnbehörde ge- 
richtet worden sein soll, ob sie die Hölzer nicht in kleineren 
Posten beziehen könne, da die Bewältigung eines so grossen 
Quantums für die Bahn sehr störend sei. Noch heute aber 
entbehrt Pirmasens der direkten Bahnverbindung nach Kaisers- 
lautern im Norden und dem Elsass im Süden, und das ist die 
ständige Klage der sonst gar nicht nach Hilfe und Unter- 
stützung rufenden Bürger der Stadt Indessen ist schon die 
dürftige Zweigbahn ein starker Hebel des wirtschaftlichen Fort- 
schrittes geworden, und der Verkehr von Pirmasens auf Post 
und Eisenbahn nimmt einen stattlichen Rang in Bayern ein. 
So betrug 1891 laut dem Bericht der Pfälzer Handels- und 
Gewerbekammer der Gütertransport 10000000 kg Versandt 
und 42 Millionen Empfang, an Postanweisungen wurden ein- 
bezahlt 4 1 /s Millionen und ausbezahlt 8^7 Millionen Mark, die 
Zahl der ein- und ausgehenden Briefe, Mustersendungen, Druck- 
sachen etc. belief sich auf fast 2000000; Postpakete werden 
in der lebhaftesten Geschäftszeit an manchen Tagen bis zu 2000 
aufgegeben. Die Bevölkerung der Stadt hat sich seit 1870 
nahezu verdreifacht (jetzt ungefähr 23 000 Seelen), die Gesamt- 
steuern ergeben jährlich 280000 M., der Schuldenstand ist 
907000 M. Die Bankanstalten hatten 1891 einen Wechsel- 
verkehr von 24000000, der Giroverkehr bei der Reichsbank- 
nebenstelle belief sich auf 10000000 M. Die Bauthätigkeit 
war äusserst rege; der schöne rote Vogesensandstein liefert 
prächtiges Material, man sieht viele eben vollendete und noch 
im Werden begriffene Neubauten, Schulen, Fabriken, Wohn- 



! ) Nach Zeitungsberichten soll Ende 1892 die Direktion der Pfälzer 
Bahnen sich entschieden geweigert haben, die Bahn nach Kaiserslautern 
zu bauen, da sie sich nicht rentiere, weil es keinen genügenden Verkehr 
dort gebe. Der alte Trugschluss! 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 4 



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50 — 



häuser, auch für Arbeiter. Jetzt plant die Stadtverwaltung die 
Errichtung einer elektrischen Zentralanlage. Man glaubt in 
der Bürgerschaft felsenfest an eine weitere günstige Entwicke- 
lung der Stadt und blickt stolz auf das bereits Erreichte. 

Dass diese Fortschritte im wesentlichen die Folge günsti- 
gerer Verkehrsverhältnisse und zunehmender Verwendung der 
Maschinenarbeit sind, erhellt aus den Berichten, die das Be- 
zirksgremium von Pirmasens im Laufe der letzten 15 Jahre 
an die Pfalzer Handels- und Gewerbekammer erstattet hat und 
die in den Mitteilungen der seit 1879 in Thätigkeit getretenen 
Fabrikinspektoren eine Ergänzung finden. Bis 1890/91 ist die 
Entwickelung eine stetig aufsteigende, bisweilen rapide. Nicht 
nur, dass die Zahl und der Umfang der Betriebe wächst, son- 
dern die Fabrikation bemächtigt sich auch immer weiterer Ge- 
biete; neben der Herstellung von Stoffschuhen kommt mehr 
und mehr auch die Anfertigung von ledernem Schuhwerk aller 
Sorten in Schwung. Eine weitgehende Arbeitsteilung findet 
statt und ermöglicht das Aufkommen und Wachsen einer Haus- 
industrie, die schliesslich in Stadt und Land Tausende in den 
Dienst der Fabriken stellt. Die kleinen Schuhmacherwerk- 
stätten dagegen, mit selbständigem Handbetrieb, verschwinden 
fast ganz. Einige Citate aus den angeführten Berichten mögen 
ein Bild von der Entwickelung geben. 1879 ! ): „Die Schuh- 
fabriken in Pirmasens hatten alle stets genügende Beschäfti- 
gung, und es ist dieselbe in den letzten drei Monaten durch 
Exportaufträge aus Südamerika gesteigert worden . . . Die 
Preise der Fabrikate sind infolge grosser Konkurrenz zurück- 
gegangen . . . Die Arbeiter in den zahlreichen Schuhfabriken 
von Pirmasens erfreuen sich im allgemeinen eines besseren 
Lohnes als in andern Industriezweigen der Pfalz ..." 1880 -): 
„Der Arbeiterstand war bei den meisten wie 1879, bei einigen 
bis 15 °;o stärker. Die Beschäftigung desgleichen . . . Der 
Export . . . geht nach Frankreich, Belgien, Holland, England, 
Dänemark, Schweden, Norwegen, Italien, Schweiz, ferner nach 

') Jahresberichte der königl. bayer. Fabrikinspektoren 1879, S. 120 
bis 121. 

2 ) Jahresberichte der königl. bayer. Fabrikinspektoren 1880, S. 155 
bis 150. 



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— ol — 



Amerika und Australien. 1 * 1882 *): »Die Schuhwarenindustrie 
in Pirmasens hat auch im Jahr 1882 gute Fortschritte gemacht 
und dürfte der Umschlag bei einem Mehr von etwa 10 °/o die 
Summe von 12 000 000 M. erreichen. Zu danken ist die Zu- 
nahme des Geschäftsumfanges dem ausgedehnten mechanischen 
Betriebe. Die Preise waren trotzdem billiger als 1881. Das 
überseeische Geschäft ging das ganze Jahr gut ... In der 
Nachfrage nach besseren Schuhwaren ist entschiedene Besse- 
rung eingetreten." Für 1883 2 ) wird wiederum eine Zunahme 
um 10 °/o aufgeführt; „die Nachfrage nach guten Schuhen 
wachst*. Die Zahl der Arbeiter hat sich vermehrt, trotzdem 
wurden vielfache Ueberstunden nötig. Die Zahl der Postpakete 
ohne Wertangabe stieg von 123012 Versandt in 1882 auf 
163242 Stück im Jahr 1883 („Ledermarkt' 1 ). 1884 3 ): „Die 
Schuhfabriken waren in sehr lebhafter Weise thätig; seit Mitte 
1 883 hat ein grosser Aufschwung stattgefunden, ältere Fabriken 
wurden ausgedehnt, neue errichtet. Die Arbeiterzahl in den 
Fabriken selbst hat um 600 zugenommen, die Hausindustrie 
hat ebenfalls eine nicht unbedeutende Ausdehnung erfahren." 

1 886 4 ) weist abermals eine Mehrproduktion auf, das Export- 
geschäft und das im Inland nimmt zu, aber die Verkaufspreise 
sinken weiter. Neu errichtet wurden sieben Fabriken im Jahre 

1887 5 ). 1888 6 ): „Die Geschäftslage der riesig entwickelten 
Schuhfabrikation wurde von den Fabrikanten mit befriedigend 1 " 
und ,sehr befriedigend 4 bezeichnet. Doch sollen sich die Preise 
infolge der noch im Wachsen begriffenen grossen Konkurrenz 
schwer halten lassen. Auch beginnt der Export nach Süd- 
amerika, woselbst nun ebenfalls Schuhfabriken entstehen, etwas 
nachzulassen." 1889 wurden unter heftigem Widerstreben der 
Arbeiter neue Maschinen für die Ausputzarbeit von mehreren 
Fabriken eingestellt und 19 neue Schuhfabriken gegründet, 
und 1890 gar 29, auch wurde in den bestehenden die Arbeiter- 



') Jahresbericht der Handels- u. Gewerbekammer der Pfalz 1882, S. 86. 

2 ) Handelakammerbericht der Pfalz 1883, S. 82. 

3 ) Fabrikinspektorenbericht 1884 S. 66. 

4 ) Handelskammerbericbt 1886 S. 89. 

5 ) Fabrikinspektorenbericht 1887. 

G ) Fabrikinspektorenbericht 1888 S. 99. 



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- 52 - 



zahl vermehrt. Dies ist die Zeit, wo eine vorwiegend im Klein- 
gewerbe verbreitete Schuhmacherzeitung schreibt: „ Bekanntlich 
fürchtet sich alle Welt in Deutschland und auch im Auslande 
vor der Pirmasenser Konkurrenz!" Aber schon knistert es in 
den Mauern des staatlichen Gebäudes, drei kleinere Fabriken 
müssen den Betrieb einstellen, und 1891 bricht dann die Krise 
aus, die alle charakteristischen Merkmale einer solchen zeigt: 
anfangs geht das Geschäft gut, ein Betrieb nach dem andern 
will an der günstigen Konjunktur teilnehmen, massenhaft wird 
Kapital hineingesteckt und massenhaft wird produziert, der 
Markt wird überfüllt, die Preise sinken, die Waren finden 
keinen Absatz mehr, es ist kein Geld da, um den Verpflich- 
tungen nachzukommen. Dazu kam für die Pirmasenser Indu- 
strie noch der besondere Uebelstand, dass der Export durch 
politische Wirren und Geldkrisen in Südamerika, durch enorme 
Zollerhöhungen in Australien und der Schweiz lahmgelegt 
wurde. 

Und noch ein weiteres Moment hat den Ausbruch der 
Krisis in Pirmasens wesentlich beschleunigt. Von jeher war 
es dort üblich, leicht und auf lange Zeit Kredit zu gewähren. 
Die überaus bescheidenen Anfänge der dortigen Industrie, wo 
bar Geld rar war, machen das erklärlich: der Gerber bezog 
seine Häute vom Händler und bezahlte sie erst, wenn er seiner- 
seits vom Schuster Geld bekam, und dieser Hess im Laden, 
bei Metzger und Bäcker, aufschreiben, bis sein Hausiermädchen 
mit leerem Korb und vollem Beutel heimkam. Diese Gewohn- 
heit langfristiger Kredite wich auch nicht, als die Geschäfte 
seit Ende der fünfziger Jahre mehr und mehr nach kauf- 
männischen Prinzipien gehandhabt wurden. Und als auswärtige 
Lieferanten sahen, dass sie bisher immer zu ihrem Gelde ge- 
kommen, wollten sie sich die Konjunktur zu Nutze machen 
und warfen , wie sich mir gegenüber ein Mitglied des Pirma- 
senser Handelsgremiums ausdrückte, „den Leuten Rohstoffe und 
Maschinen geradezu an den Hals". Mir wurde von einem Fall 
erzählt, wo auf diese Weise Kredite bis 200000 M. gewährt 
wurden. „Mit einer gewissen Frivolität* — so heisst es in 
einer Fachzeitung — „sandten die Lieferanten bei Bestellungen 
das Dreifache. Geschickte Werkmeister und Modellschneider, 



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53 — 



die einige tausend Mark erspart hatten, wurden förmlich ge- 
drängt, selbständige Betriebe einzurichten; in ein, zwei Zimmern 
ihrer Wohnung wurden Maschinen aufgestellt, die ,Fabrik 4 war 
fertig und produzierte drauf los. Die zum Betriebe nötigen 
kaufmännischen Kenntnisse fehlten fast vollständig, eine ge- 
ordnete Buchführung existierte oft nicht. Vor den Zahltagen, 
vor dem Verfall der Wechsel erschienen Händler und Grossisten 
von auswärts und kauften zu Spottpreisen die Vorräte auf. 
Das Ende war natürlich der Krach vieler mittlerer und kleiner 
Betriebe." Der Fabrikinspektor teilt für 1891 mit, dass 12 Schuh- 
fabriken mit 333 Arbeitern eingegangen seien, ausserdem noch 
eine Menge kleinster Betriebe in Stadt und Bezirksamt Pirmasens, 
im ganzen 160 1 ). Natürlich beschränkten sich die Folgen der 
Krisis nicht auf die unmittelbar Betroffenen, sondern drückten 
auf die gesamte Schuhindustrie. Die Preise fielen immer mehr, 
die sonst durchschnittlich II 1 /» Stunden betragende Arbeitszeit 
wurde vielfach gekürzt, teilweise bis zu 8 Stunden, die Löhne 
sanken bei Akkordsätzen um 5 — 10 °o, bei Zeitlohn, nament- 
lich bei den besser Bezahlten, von 24 und 23 M. auf 22 — 20 
wöchentlich und mehr. Dazu machte sich die Teuerung des 
Jahres 1891 in Pirmasens, das ohnehin sehr hohe Lebens- 
mittelpreise hat, stark fühlbar; allerdings gingen dagegen die 
Mieten um 10°/o herab. 

Am schlimmsten waren viele Hausindustrielle daran; sie 
hatten nicht vollauf und regelmässig zu thun, wenn auch 
manche von ihnen, die geschicktesten, in einigen Fabriken Auf- 
nahme fanden. Denn hier wurden trotz der Krisis wenig Ar- 
beiter entlassen, lieber kürzte man die Arbeitszeit; nach dem 
Bericht der Handelskammer 2 ) sind sogar im Krisenjahr in den 
arbeitenden Fabriken 80 ältere Arbeiter mehr eingestellt, aber 
60 jugendliche weniger als im Jahre vorher. 150—100 Ar- 
beiter sind wegen Mangels an Beschäftigung von Pirmasens 
fortgezogen, 50—60 blieben ohne Arbeit. Trotz des Krachs 
wurden 1891 zwei neue kleine Fabriken errichtet. Vielleicht 
wird man der heute in Pirmasens herrschenden Ansicht nicht 



1 ) 1891, Handel9kammerbericht der Pfalz. 

2 ) 1891, II. Teil S. 92. 



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54 



unrecht geben können, dass diese zum Teil aus rein lokalen 
Ursachen entstandene Krisis weniger als eine Kalamität, sondern 
als ein freilich nicht schmerzlos verlaufener Gesundungsprozess 
zu betrachten sei, dessen Folgen sich jetzt schon in günstiger 
Weise geltend machen. Von den Gestürzten sind auch manche 
durch ihre Gläubiger wieder auf die Beine gestellt worden, 
damit doch nicht alles verloren gehe. Freilich ist eine aber- 
malige Krisis nicht ausgeschlossen, von manchen wird sie so- 
gar gewünscht, um eine stärkere Konzentration des Betriebes 
zu erreichen. Als ich im Herbste 1892 in Pirmasens war, 
hörte ich von den grossen Fabrikanten durchweg die Befriedi- 
gung äussern, dass das solide Geschäft wieder festen Boden 
unter den Füssen habe. Wenn man auch mit erheblich ge- 
ringerem Nutzen arbeite, als in der Glanzzeit Mitte der achtziger 
Jahre, so sei der Geschäftsgang doch nicht unbefriedigend Vi. 
Freilich der Export sei grossen teils unwiederbringlich verloren, 
um so mehr aber suCht man den heimischen Bedarf an Schuh- 
waren zu erobern, als mächtiger Konkurrent des Handwerkers. 

Ueber den gegenwärtigen Stand der Schuhfabrikation in 
Pirmasens existieren ziffernmässig genaue amtliche Daten nicht. 
In folgendem kann ich daher nur Mitteilungen von approxima- 
tivem Werte geben, wie ich sie von Behörden, Fabrikanten 
und Arbeitern persönlich erfragen konnte; wenn diese Daten 
auch in manchen Einzelheiten nicht exakt sein mögen, so geben 
sie doch im ganzen ein ziemlich zutreffendes Bild. Ende 1892 
bestanden in Pirmasens: 98 Schuhfabriken, 6 Schuhabsatz- 
fabriken, 1 Leistfabrik, mehrere kleine Rosettenfabriken, 14 
grosse Gerbereien, darunter einige von Weltruf, 25 Lederhand- 
lungen und Schuhgrossisten, ferner Etablissements für die in 
Schuhfabriken verwendeten Maschinen, ausserdem 12 — 15 Schuh- 
machermeister, die aber teilweise auch fertige Waren in Läden 



') Der Bericht des Fabrikinspektors der Pfalz für 1892 konstatiert, 
dass in der zweiten Hälfte des Jahres in der Schuhindustrie ein solcher 
Aufschwung eintrat, dass die Bestellungen trotz bedeutender Mehrein- 
stellungen von Arbeitskräften und trotz Ueberstunden kaum bewältigt 
werden konnten. Die Schuhindustrie war in den letzten Monaten 1892 
in einer so günstigen Lage wie in den letzten Jahren ; doch vermochten 
sich trotz der starken Nachfrage die Preise nicht zu bessern. 



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führen. Die Arbeiterzahl in diesen sämtlichen Fabriken wird 
auf rund 5000 geschätzt, dazu kommen noch etwa 4500 in 
der Stadt wohnende Hausindustrielle, die ausschliesslich, und 
5000 auf den Dörfern wohnende, die meist neben landwirt- 
schaftlicher Beschäftigung für die Fabriken arbeiten. Also im 
ganzen annähernd 14 — 15000 Arbeiter, was meines Erachtens 
indessen etwas zu hoch gegriffen ist. Von den Schuhfabriken 
sind 10 — 12 grosse Etablissements mit durchschnittlich 150 bis 
250 Arbeitern in der Fabrik selbst, zahlreichen Heimarbeitern 
und voller Ausrüstung mit den modernen Maschinen. Die 
Nähmaschine ist in Tausenden von Exemplaren thätig, in keinem 
Hause der Stadt fehlt sie, in den Dörfern dagegen trifft man 
sie nur selten. Etwa 40 Fabriken, darunter die sämtlichen 
Gerbereien, haben Dampfbetrieb, 40 andre Gasmotoren, der 
bayerische Dampfkesselrevisionsverein zählte 1891 in Pirmasens 
80 Mitglieder mit 92 Kesseln. Der Warenumschlag wird auf 
etwa 35 Millionen Mark geschätzt bei 12—14 Millionen Paar 
Schuhen. Fabriziert wird jede Sorte Schuhzeug, vom kleinsten 
und geringsten Kinderschuh an, vom ordinärsten Pantoffel zu 
6 — 8 das Dutzend bis zu der elegantesten Beschuhung von 
20 M. und darüber das Paar. Im allgemeinen aber wird mehr 
mittlere und mindere Ware für den Massenkonsum erzeugt als 
feine. Die Durchschnittsqualität ist seit einigen Jahren wieder 
etwas zurückgegangen. Das Musterzimmer eines grossen Fabri- 
kanten weist vielleicht 5—600 verschiedene Nummern auf: 
Schlappen und Atlasballschuhe, Kinderschuhe und derbe Manns- 
stiefel, Damenstiefeletten und Touristenschuhe, alles nur Er- 
denkliche, was man aus Stoff und Leder für den menschlichen 
Fuss anfertigen kann, steht hier nebeneinander. Die Fabrikation 
zerfällt in zwei Saisons: für Winter- und für Sommerware; 
eine etwas flauere Zeit von sechs Wochen schiebt sich im Herbst, 
je nach der Witterung übrigens kürzer oder länger, dazwischen. 
Doch macht sich Stillstand oder auch nur Flauheit des Ge- 
schäftes lange nicht so stark geltend, wie z. B. in England. 
Der Vertrieb der Ware ist sehr verschieden: manche Fabri- 
kanten verkaufen nur an Grossisten am Platze oder auswärts, 
sehr wenige haben Filialen oder eigene Verkaufstellen; die 
meisten grösseren und mittleren verkehren direkt mit den 



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— 56 — 



Händlern und Magazin besitzern in den Städten, die kleinen 
beschicken auch Märkte, Dulten und Messen oder lassen sogar 
ihre Waren hausieren. 

Wie die gesamte Industrie in Pirmasens von äusserst be- 
scheidenen Anfängen ihren Ausgang genommen hat, so blicken 
auch gerade die grossen Fabriken auf einen ähnlichen Ent- 
wickelungsgang zurück. Das älteste und bedeutendste Etablisse- 
ment ist 1838 gegründet; sein erster Inhaber hat 20 Jahre 
selbst in der Schusterwerkstatt auf dem Schemel gesessen und 
Ahle und Pechdraht geführt, ehe er einen fabrikraässigen Be- 
trieb einrichtete. Mehrere andre, jetzt sehr stattliche Fabriken 
reichen in die sechziger und den Anfang der siebziger Jahre 
zurück und haben ebenfalls sehr klein begonnen und erst mit 
wachsendem Geschäft ihre Gebäude und Maschinen vermehrt. 
Später hat sich dann auch das Kapital dieser lohnenden An- 
lage zugewandt, ohne dass die Unternehmer früher dem Ge- 
werbe angehört hatten. Dagegen gibt es meines Wissens nur 
eine einzige Aktiengesellschaft in Pirmasens, die von der 
Münchener Bank gegründeten „ Vereinigten Schuhfabriken in 
Cassel und Pirmasens", die im Jahre 1801 mit einer starken 
Unterbilanz abschlössen. 



Zum Schluss dieses Abschnittes noch ein „Zukunftsbild" 
aus Pirmasens! 

Am 31. März 1893 brachte der „Pirmasenser Anzeiger" 
einen längeren Artikel, in dem die Vereinigung der Mehrzahl 
der Pirmasenser Schuhfabriken zu einer Riesenaktiengesellschaft 
gemeldet wurde. Das Wesentliche dieses Artikels lautete fol- 
gendermassen : (31 Firmen mit zusammen 8723 Arbeitern haben 
sich unter der neuen Firma „Kooperative Schuhfabriken Pirma- 
sens, Aktiengesellschaft" vereinigt. Das Aktienkapital beträgt 
17 1 /* Millionen Mark, eingeteilt in 17500 Aktien a 1000 M. 
6224 Aktien wurden den bisherigen Fabrikinhabern, entsprechend 
dem Stand des in ihren Geschäften nachgewiesenen eigenen 
Kapitals, zugeteilt, 11276 Aktien wurden von den Bankhäusern 
Aug. Schneider & Co. und Filiale der Pfälzischen Bank über- 
nommen. 



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- 57 



Der Aufsichtsrat wird jährlich gewählt, der General- 
direktor alle drei Jahre. Die Arbeit wird unter den einzelnen 
Fabriken so geregelt werden, dass 6 Fabriken bloss Herren- 
stiefel, 3 bloss Herrenpromenadeschuhe, 14 bloss Daraenstiefel, 
8 nur Damenpromenadeschuhe , 16 bloss Damenhausschuhe, 
5 bloss Herrenhausschuhe und die übrigen 9 nur Kinder- und 
Mädchenartikel fabrizieren werden. Die einzelnen Fabriken 
teilen sich die Arbeit dann nochmals insofern, dass die eine 
bloss grobe, die andre mittlere, die dritte nur feine Qualitäten 
herstellen wird; insbesondere soll auch in Bezug auf die Ma- 
terialien eine eingehende Teilung stattfinden, so dass die eine 
Fabrik z. B. bloss Rossleder, die andre bloss Lasting und eine 
dritte ausschliesslich Ziegenleder verarbeitet. In einem neu 
zu erbauenden Direktionspalais werden auch alle Korrespon- 
denzen, die Buchhaltung etc. erledigt. Die bisherigen Fabri- 
kanten übernehmen als Betriebsleiter die Beaufsichtigung der 
Fabrikation und können ihre ganze Thatkraft auf die Vervoll- 
kommnung der Ware legen. Den in den bisherigen Fabriken 
angestellten 321 Reisenden und Agenten wurde für 1. Juli 
gekündigt. Von diesem Tage ab wird Deutschland nur noch 
von 12 Reisenden mit den Mustern der kooperativen Schuh- 
fabriken besucht werden, während in einigen Hauptplätzen des 
Auslandes Agenten angestellt werden. Die jährlich dadurch 
erzielten Minderausgaben für Reisespesen und Vertrieb der 
Waren belaufen sich auf über 1 Million Mark. Die General- 
direktion verteilt die eingehenden Aufträge an die zutreffenden 
Einzelbetriebe. Die fertigen Waren werden alle in ein riesiges 
Lagerhaus am Bahnhofe geliefert und von da aus versandt. 
Die erzeugte Warenmenge wird im ersten Jahre 1 Million 
Dutzend Paar Schuhe und Stiefel mit einem Verkaufswert von 
über 30 Millionen Mark sein. Es besteht kein Zweifel, dass der 
Umsatz sich bedeutend vermehren wird, denn die neue Gesell- 
schaft wird nicht nur die billigsten und besten, sondern auch 
die am sorgfältigsten ausgeführten Schuhwaren auf den Markt 
bringen. 

Sobald der Erfolg des Unternehmens gesichert ist, so 
wird ein Schritt weiter gemacht auf dem eingeschlagenen 
Wege: In 7 riesigen Etablissements, die direkt neben dem 



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— 58 — 



Lagerhaus gebaut werden sollen, wird dann die gesamte Fabri- 
kation konzentriert werden; hierdurch wird eine weitere wesent- 
liche Ersparnis in Bezug auf die Fabrikationsunkosten durch 
Wegfall von 54 Werkmeister- und 210 Aufseherstellen, durch 
billigeren Kraftbetrieb etc. erzielt werden. Die bisherigen 
Fabriklokalitäten werden dann zu Arbeiterwohnungen einge- 
richtet. Der dadurch vereinnahmte Mietzins amortisiert die 
3 1 /'* Millionen, die die Fabrikneubauten erfordern, in ganz 
kurzer Zeit. — 

So die Mitteilungen des Pirmasenser Blattes, die nicht nur 
in Fachkreisen das grösste Aufsehen erregten. Sie wanderten 
in sehr viele Tageszeitungen über, in der Schuhmacherpresse 
wurde wochenlang des langen und breiten über die Folgen 
dieser Riesengründung für die Entwickelung der deutschen Schuh- 
industrie und für die Arbeiterverhältnisse geschrieben, sogar 
wissenschaftliche Organe, wie das „ Sozialpolitische Zentralblatt", 
brachten erst Ende Mai die Angaben des „ Pirmasenser Anzeigers* 
und der „Vorwärts" behandelte noch später (am 15. Juni d. J.) 
diese neueste Schöpfung des „Kapitalismus * in einem flammen- 
den Leitartikel. 

Ich habe mich direkt mit der Bitte um Aufklärung 
an den Vorstand des Bezirksgremiums der pfälzischen Han- 
dels- und Gewerbekammer, Herrn Kommerzienrat August 
Schneider in Pirmasens, den Inhaber eines der beiden angeb- 
lich mit der Finanzierung der neuen Aktiengesellschaft be- 
trauten Bankhäuser, gewendet und von ihm unterm 17. Mai 
die bündige Auskunft erhalten, dass die „Mitteilungen über 
eine Fusion einer grösseren Anzahl hiesiger Schuhfabriken einem 
Aprilscherz entsprungen sind, den sich ein hiesiger Witzbold 
am 1. April in dem Lokalblättchen geleistet hat. Es ist dem- 
nach an der Sache gar nichts und wird hier auch 
nichts Aehnliches geplant." Bezeichnend ist es aber jeden- 
falls, dass dieser Aprilscherz so viele Gläubige, auch in urteils- 
fähigen und sachverständigen Kreisen, monatelang gefunden 
hat: die Möglichkeit einer solchen Fusion zu Einem Riesen- 
betrieb ist damit anerkannt, und wenn auch zur Zeit derartiges 
in Pirmasens nicht geplant wird, so halten wir für die Zukunft 
die praktische Verwirklichung dieses „Scherzes" dann nicht 



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— 59 



für ausgeschlossen, wenn bei fortgesetzter Konkurrenz und 
hartnäckigem Unterbieten die Marktlage die Pirmasenser Fabri- 
kanten, deren Kapital in den Etablissements festliegt, nötigt, 
durch einen Zusammenschluss, ein Kartell eine weitere Ver- 
schlechterung der Konjunktur zu verhüten. Dann stände 
am Schluss der vom Hausfleiss bis zur Grossindustrie typisch 
verlaufenen Entwickelungsreihe der Schuhmacherei in Pir- 
masens das letzte, jetzt noch fehlende Glied: der Riesen- 
betrieb! 



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V. 



Der Grossbetrieb. 

Wenn wir den Grossbetrieb der Schuhmacherei in Bayern, 
der sich alle Vorteile der Technik und des Verkehrs zu nutze 
macht, näher ansehen, so werden wir uns am passendsten wie- 
der an das praktische Beispiel von Pirmasens halten. 

Gewiss hat Bayern noch an andern Orten grosse Schuh- 
fabriken, so namentlich in Schweinfurt, das auch im Ausland 
einen trefflichen Ruf wegen der Güte seiner Produkte hat, 
dann in Kirchheimbolanden und andern Orten der Rheinpfalz 
(Neustadt a. H., Zweibrücken, Speyer etc.), ferner mit wach- 
sendem Aufschwung in Nürnberg-Fürth (hauptsächlich für Stoff- 
und Zeugschuhe); es existiert fast keine grössere Stadt im 
Lande , ' die nicht eine oder mehrere mechanische Schuhfabriken 
hätte, München hat z. B. Ende 1892 15 Schuhfabriken, dar- 
unter mehrere ziemlich leistungsfähige ; auch in kleineren Orten, 
wie in Naila, Kempten, Kulmbach, Kronach u. s. w., existieren 
solche. Aber einmal bieten alle diese Betriebe kaum etwas, 
das nicht in Pirmasens auch zu sehen wäre, und sodann hat 
vor ihnen allen die pfälzische Schustermetropole voraus die 
stärkste Konzentration der Betriebe an einem Orte mit allen 
Abstufungen in Grösse und Leistungsfähigkeit und die älteste 
Tradition des Gewerbes. Pirmasens hat nicht ohne Grund 
nahezu 100 Schuhfabriken auf engen Raum zusammengedrängt. 
Anlass zu beständigen Neugründungen gerade hier, etwas ent- 
legen von der Heerstrasse des grossen Verkehrs, bot vorwie- 
gend der Umstand, dass im Laufe der 100jährigen Entwicke- 
lung der Schuhindustrie sich eine Ueberlieferung, eine Geschick- 
lichkeit, eine Anpassung der Arbeiter an die Erfordernisse des 
Gewerbes herausgebildet hatten, die den Unternehmern trotz 



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— Gi- 



rier höheren Löhne günstige Bedingungen bot. Man fühlt die 
Wichtigkeit dieser Thatsache nicht nur unbestimmt in Fabri- 
kantenkreisen, sondern ist sich ihrer Bedeutung klar bewusst; 
das Kind, so wurde z. B. mir gegenüber betont, das beständig 
der Hantierung seiner Eltern zusehe und dessen Spielzeug 
Lederschnitzel und andre Abfälle bildeten, greife, auch abge- 
sehen von der Vererbung geistiger und körperlicher Anlagen, 
später mit viel grösserem Geschicke die Arbeit an. Freilich 
wurde dem gegenüber auch wieder hervorgehoben, dass es 
nicht leicht sei, die auf eine bestimmte Technik eingeschulten 
Arbeiter zu Aenderungen in den Arbeitsgewohnheiten zu 
bringen. 

Der Uebergang von der Handarbeit zur Maschine ist, wie 
wohl überall, auch in Pirmasens nicht glatt von statten ge- 
gangen. Als die Sohlennähmaschinen aufkamen, entstand eine 
Bestürzung unter den Schuhmachern, die nun fürchteten , dass 
viele Leute, die sonst mit der Hand die Sohle und den Schaft 
vereinigt hatten, überflüssig werden würden, und es kam sogar 
zu kleineren Exzessen. Von Seite des Bezirksamtes wurde Be- 
richt eingefordert und das abermals vom Bürgermeister Greiner 
erstattete Referat lautete: es sei zutreffend, dass die Arbeiter 
die neuen Maschinen sehr fürchteten, da sie deswegen Ent- 
lassung und Brotlosigkeit besorgten. Aber diese Angst sei 
ganz und gar grundlos, gerade in der Einführung der Maschi- 
nen und dem rastlosen Streben der Fabrikanten nach dem 
Neuesten liege der Grund des Gedeihens der Industrie: „Je 
mehr Maschinen irgendwo im Betrieb, desto mehr Arbeiter 
sind nötig, und desto mehr hat sich der Verdienst gesteigert. 8 
Aehnlich war es, als die Ausputzmaschinen zuerst nach Pirma- 
sens kamen. Da herrschte im Februar 1889 grosse Aufregung 
unter den Arbeitern, die von dieser neuen „Revolution" in der 
Herstellungs weise Lohnreduktionen und Entlassungen fürchteten. 
Um die tiefgehende Erbitterung zu beschwichtigen, erliessen 
die Fabrikanten eine „Aufklärung", die aber nicht viel fruch- 
tete. Mehr bewirkte die damals noch steigende Konjunktur, 
die alle Hände vollauf beschäftigte. 

Auch heute noch sind die Arbeiter in Pirmasens über die 
Fortschritte der Technik nicht völlig beruhigt. Auch sie sehen 



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zwar den endgültigen Triumph der mechanischen Herstellung 
der Fussbekleidung als unausweichlich an, können sich aber 
vielfach einer gewissen Angst vor den sie persönlich betreffen- 
den Konsequenzen nicht erwehren. Namentlich erfüllt sie die 
Aussicht, dass über kurz oder lang eine verbesserte Zwick- 
maschine auch für diese Teilarbeit die hier bisher noch allein 
thätige Hand beseitigen wird, mit Besorgnis. 

Der Arbeiter, der sein Fach gründlich versteht, lernt nicht 
gern um ; gerade den besseren und geschickteren Leuten kommt 
es schwer an, gewissermassen wieder von neuem zu beginnen; 
ihr Stolz leidet darunter, der Einfluss der Sitte und des Her- 
kommens wirkt mächtig mit. Deswegen sträuben sich auch 
heutzutage gelernte Schuhmacher oft noch, in eine Fabrik zu 
gehen, wo sie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen 
finden, weil es ihnen nicht behagt, immer nur eine Teilarbeit 
auszuführen, sie wollen nicht „ Maschinenknechte " sein. Zu 
diesem psychologischen kommt noch ein materielles Moment: 
Jede Verbesserung der Maschine führt auch zu grösserer Lei- 
stungsfähigkeit und damit meist zu einer Herabsetzung der 
Stücklöhne. Aber bis nun der Arbeiter, dessen Leistungsfähig- 
keit ja gerade in der Ausführung einer bestimmten einzelnen 
Operation lag, mit den neuen Vorrichtungen so weit vertraut 
ist, dass er mehr Ware in derselben Zeit liefern kann als bis- 
her, erleidet er allerdings eine Minderung des Verdienstes, und 
daher weigert er sich, die neue Maschine zu bedienen. So ist 
es wiederholt vorgekommen, dass in Pirmasens Fabrikanten bei 
der Einführung neuer Maschinen lieber gelernte Arbeiter ent- 
liessen und Neulinge einstellten — allerdings wohl kaum zu 
ihrem eigenen Vorteile, der eine allmähliche Ueberleitung in 
die neue Technik mit gelernten Arbeitern erfordert hätte. 

Eine genaue Statistik des Grossbetriebs in der bayerischen 
Schuhmacherei nach Zahl der Anlagen, der Arbeiter und der 
Umtriebs- wie Werkzeugmaschinen zu geben ist mir leider 
nicht möglich. Denn die rasche Entwickelung in dem letzten 
Jahrzehnt, wie wir sie in dem vorhergehenden Abschnitte an 
einem konkreten Beispiel kennen gelernt haben, wie sie aber 
typisch für die gesamte Schuhwarenindustrie ist, verbietet hier 
die Zahlen der letzten amtlichen Aufnahme von 1882 als irgend- 



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- 03 - 

wie massgebend zu betrachten 1 ). Auch die im ersten Kapitel 
versuchte Ergänzung der Statistik bis zur Gegenwart aus den 
amtlichen Veröffentlichungen über An- und Abmeldungen der 
Gewerbe lässt uns hier im Stich, da sie keinen Aufschluss über 
den Umfang der Betriebe, ob Kleinbetrieb oder Fabrik, gibt, 
sondern höchstens über die Zahl der neu errichteten oder nieder- 
gelegten Betriebe. Und eine weitere Schwierigkeit liegt in dem 
Umstände, dass in der Gewerbestatistik von 1882 nur die Zahl 
der in einem Betriebe beschäftigten Arbeiter für den Unter- 
schied zwischen Gross- und Kleinbetrieb entscheidet: zu ersteren 
gehören alle solche, die mehr als fünf Gehilfen oder Lehrlinge 
zählen. Nun kann aber eine Schuhmacherei, die 15 Gehilfen 
und ein paar Nähmaschinen beschäftigt, recht gut sich durch- 
aus in den Geleisen handwerksmässigen Betriebs halten, wäh- 
rend z. B. eine Schuhstepperei, deren Inhaber mit vier bis fünf 
Gehilfen lediglich eine bestimmte Sorte Schäfte produziert, mit 
Kecht den Namen einer kleinen Fabrik verdient. Es ist viel 
eher die Art und der Zweck des Betriebs als die Zahl der 
menschlichen Hilfskräfte, die den wirklichen Grossbetrieb von 
dem Handwerk scheidet. 

Der Vollständigkeit halber jedoch und um zu zeigen, wie 
bescheiden die Schuhwarengrossindustrie in Bayern noch vor 
wenigen Jahren war, seien hier folgende Daten angeführt. Die 
gewerbliche Aufnahme von 1801 macht Uberhaupt noch keinen 
Unterschied zwischen Gross- und Kleinbetrieb; mechanische 
Kraft wird in der Schuhmacherei nicht verwendet; Arbeits- 
maschinen werden nicht besonders aufgeführt und sind sicher 
auch nur ganz vereinzelt im Betrieb gewesen. Für die Berufs- 
statistiken 1875 und 1882 ergibt sich nachstehende Uebersicht: 

Zahl dpr RptrifthP Davon sind Betriebe mit 

/.am aer Betriebe 6 _ 10 Perg n _ 6() Perg über 50 Perg 

1875 128 92 33 3 

1882 139 75 45 19 

■7-1,1 »^o^üft In einem Betrieb iw^k* Arbeits- (Näh ) Maschinen 
P fl l„ fl ? darchschn. Pers. ""SS,™ mit mit 
Personen beschäftigt masewnen Trittwerk mec han. Kraft 

1875 1610 12 1 24f> 24 

1882 3095 22 14 nicht mitgeteilt 



') So schreibt auch die Broschüre „Die Lage der deutschen Schuh- 
machergehilfen * von L. Freiwald (Gotha, W. Bock) im Jahre 1890 über 



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64 — 



Es ist also die Zahl der Betriebe von 1875 — 1882 nur 
sehr wenig gewachsen, aber die Grösse der einzelnen ziemlich 
stark; die Anzahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter hat sich 
nahezu verdoppelt, die der Kraftmaschinen sich von 1 auf 14 
erhöht. Die Pfalz hat weitaus den Löwenanteil an dieser Ent- 
wickelung. Im Besitze des Staates und des Reiches waren 1882 
13 Grossbetriebe mit 401 Personen, die in Militär Werkstätten 
oder in Gefangenenanstalten verwendet wurden. Die beiden 
grössten Städte, München und Nürnberg, hatten 25 Grossbetriebe 
mit 286 Arbeitern und 8 mit 123 Gehilfen, ohne Verwendung 
mechanischer Kraft. Ausser den Grossbetrieben mit mehr als 
5 Gehilfen, die für die Fabrikation fertiger Schuhwaren in der 
Pfalz, für Schuhstepperei in Oberbayern ihre stärkste Verbrei- 
tung haben, zählt die Gewerbestatistik für 1875 noch 17 Klein- 
betriebe mit fabrikmässiger Produktion auf, nämlich 16 Schäfte- 
fabriken (8 davon in Oberbayern) und 1 „Schuhfabrik" in 
Schwaben, die unter dieser stolzen Bezeichnung mit 1 Geschäfts- 
leiter, aber ohne jeden Gehilfen oder Lehrling arbeitete! — 
Aus diesen Ziffern ist, wie gesagt, für die Gegenwart nur das 
eine zu entnehmen , dass die fabrikmässige Erzeugung von 
Schuhwaren in Bayern recht jungen Datums ist. 

Ein zwar für die Gegenwart zuverlässiges, aber nicht direkt 
mit den statistischen Angaben der Jahre 1875 und 1882 ver- 
gleichbares, weil auf ganz andern Grundlagen basiertes Material 
bezüglich des Grossbetriebes erhalte ich durch das Entgegen- 
kommen der nach dem Gesetze über die Unfallversicherung er- 
richteten Bekleidungsindustrie-Berufsgenossenschaft (Nr. 41 nach 
der Bekanntmachung vom 22. Mai 1885), der die Schuhmacherei 
angehört. Die Berufszählung von 1882 betrachtete als „ Gross- 
betrieb ft jeden Betrieb, der mehr als 5 Hilfskräfte beschäftigt, 
dagegen gelten als „fabrikmässige Betriebe" nach der Recht- 
sprechung und Verwaltungspraxis des Reichsversicherungsamtes 
solche, in denen 1. Dampfkessel oder durch elementare Kraft 

die Gewerbestatistik von 1882: „Seitdem sind acht Jahre verflossen, 
währenddem die Schuhfabrikation eine bedeutende Ausdehnung erfahren 
hat. Die nächste Gewerbestatistik wird für die Schuhindustrie ganz andre 
Zahlen liefern und zugleich eine gründliche Verschiebung ihres Verhält- 
nisses zum Handwerk nachweisen." 



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— 65 — 



(Wind, Wasser, Dampf, Gas, Heissluft etc.) bewegte Trieb- 
räder zur Verwendung kommen; 2. mindestens 10 Arbeiter 
regelmässig beschäftigt werden; 3. auch solche Schuhmacher- 
betriebe, die bei einer Beschäftigung von weniger Personen 
doch wegen ihrer weitgehenden Arbeitsteilung und wegen Ver- 
wendung von Näh-, Stanz-, Walzmaschinen etc., ferner wegen 
ihrer erheblichen Produktion für den Massenabsatz im Gegen- 
satz zu rein handwerksmässigem Betriebe stehen. Nach diesen 
Normen waren auf Grund des Gesetzes betreffend die Unfall- 
versicherung vom 6. Juli 1884 versicherungspflichtig: 

Schuhfabriken, Schäftefabriken und Schuhmachereien in Bayern. 



Jahr Zahl der Betriebe Zahl der Arbeiter 

1886 105 3752 

1887 104 4062 

1888 118 5042 

1889 125 5465 

1890 148 5978 

1891 157 6350 

1892 175 6054 



Diese Betriebe befinden sich in folgenden bayerischen Orten : 
Augsburg, Annweiler, Bamberg, Bayreuth, Burgkundstadt, Fürth, 
Hof, Herzogenaurach, Hauenstein, Kempten, Kaiserslautern, Kirch- 
heimbolanden, Landstuhl, Mering, Merzalben, München, Münchs- 
weiler, Naila, Neustadt a. H., Nürnberg, Oberhausen, Pirmasens, 
Regensburg, Rodalben, Simten, Schwabach, Schweinfurt, St. Ing- 
bert, Speyer, Tölz, Thaleischweiler, Zweibrücken ; fast alle Kreise 
des Königreiches sind also beteiligt, weitaus am stärksten räum- 
lich und numerisch die Pfalz (mit allein 108 fabrikmässigen 
Betrieben), dann Oberbayern, Mittel- und Oberfranken; in den 
übrigen Kreisen gibt es nur vereinzelt Schuhfabriken, Nieder- 
bayern hat gar keine. 

Wir ersehen aus dieser Liste eine stetige Zunahme der 
fabrikmässigen Betriebe — ihre Zahl steigt in 7 Jahren um 
70°/o; ebenso wächst die Zahl der Arbeiter ununterbrochen bis 
zum Jahre 1892, wo die Krisis in Pirmasens einen gering- 
fügigen Rückschlag veranlasst, der inzwischen nach den neuesten 
amtlichen Berichten des pfälzischen Fabrikinspektors bei der 
günstigen Entwickelung des Geschäftes bereits wieder ausge- 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 5 



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-Ge- 



glichen sein dürfte. Zu beachten ist indessen, dass die Steige- 
rung in der Zahl der versicherten Betriebe und Arbeiter wohl 
nicht allein auf die thatsächliche Vermehrung der grösseren 
Betriebe und deren Arbeiterschaft zurückzuführen sein wird, 
sondern teilweise auch damit zusammenhängen mag, dass erst 
allmählich im Laufe der Jahre nach Inkrafttreten des Unfall- 
versicherungsgesetzes der Begriff der versicherungspflichtigen 
Schuhmacherbetriebe sich in der Praxis geklärt und fixiert hat 
und erst mit der Zeit die hiernach versicherungspflichtigen Be- 
triebe ermittelt und in das Kataster der Berufsgenossenschaft 
aufgenommen worden sind. Andrerseits aber hat, wie wir 
bereits bei der Betrachtung der Verhältnisse in Pirmasens ge- 
sehen haben, gerade in den letzten Jahren die Zahl der Haus- 
industriellen, die für den Fabrikbetrieb thätig sind, sehr stark 
zugenommen. Diese sind nicht versicherungspflichtig und 
werden daher in der obigen Tabelle nicht mitaufgeführt, so 
dass wir über die jetzt thatsächlich im Schuhmachereigross- 
betrieb Bayerns beschäftigten Arbeiter auch aus diesen An- 
gaben keinen Anhalt bekommen. Nur das eine wird uns aufs 
neue bestätigt, dass sowohl die Anzahl der fabrikmässigen Be- 
triebe als auch ihrer Arbeiter in verhältnismässig kurzer Zeit 
ganz erheblich angewachsen ist. 

Um sich nun von der Art des Betriebes eine Vorstellung 
zu machen, ist es geraten, die Gruppen von Operationen im 
einzelnen zu untersuchen, in die die Herstellung jedes Schuhes 
zerfällt. Diese sind: 1. das Entwerfen des Musters und das 
Zuschneiden der Teile sowohl für den Schaft als für den Boden, 
2. die Vereinigung der Schaftteile, 3. die Bodenarbeit, 4. das 
Ausputzen. Sehen wir uns diese, wieder in eine Menge von 
Unterarbeiten zerfallenden Hauptgruppen darauf hin an, wo, 
wie und von wem sie ausgeübt werden. 

1. Nach den Angaben des Fabrikanten, der hier den An- 
forderungen der Mode und des Marktes mehr Rechnung tragen 
muss, als ihm zumeist lieb ist, entwirft der Werkmeister oder 
in kleineren Betrieben der Besitzer selbst das Modell, das für 
die Schaftteile in Pappe oder Blech ausgeführt wird, während 
die hölzernen Leisten und die eisernen Formen für die Sohlen 
und die Absätze durchgängig in besonderen Fabriken gearbeitet 



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- r>7 - 

werden. Dann werden die Schaftteile, Leder oder Zeugstoffe 
samt dem Futter nach den Mustern durch die Hand mit dem 
Messer, seltener mit Modeln auf Holzbrettern (neuerdings wer- 
den Glastafeln empfohlen) ausgeschnitten, die Bodenteile aber 
durch Maschinen ausgestanzt. Zu dieser Arbeit gehört ein 
gewisses Mass von Kenntnis und Erfahrung, um das Leder und 
die Stoffe gehörig auszunutzen. Fast ausschliesslich werden in 
dieser Gruppe Männer verwendet, denen hie und da jugendliche 
Arbeiter Handreichungen leisten. Da der Fabrikant begreif- 
licherweise das wertvolle Material stets unter seinen Augen 
behalten will, wird dieser erste Komplex von Operationen stets 
nur in der Fabrik selbst ausgeführt. 

2. Die zweite Arbeit, die Vereinigung der Schaftteile, 
fällt ausschliesslich weiblichen Arbeitern zu. Abgesehen von 
dem Sortieren der Teile und dem Zusammeupappen derselben 
mit Dextrin, wofür es indessen jetzt auch schon Pappmaschinen 
geben soll, tritt jetzt hier die Maschine allein in Thätigkeit, 
und zwar teils in der Fabrik, teils im Hause der Arbeiterin. 
Die Schäfte gehen durch die Nähmaschinen; je nach dem Ge- 
schmack des Fabrikanten sowie des Arbeiters oder der Laune 
des Publikums werden sie dann verziert, teils mit Nähten, teils 
auf der Perforiermaschine ; Knopflöcher, Oesen und Knöpfe — 
alles wird von besonderen Maschinen hergestellt oder befestigt. 
Diese Verzierungen des Schaftes werden meist in der Fabrik 
gemacht, das Zusammennähen der einzelnen Tejle aber auf den 
einfacher konstruierten Nähmaschinen sehr viel in der Haus- 
industrie, doch nur in der Stadt Pirmasens, nicht in den um- 
liegenden Dörfern. Die Arbeitgeber finden es aus Rücksichten 
auf Platzersparnis vorteilhaft, Stepperinnen in deren Wohnungen 
zu beschäftigen, und ausserdem wollen diese selbst nach Schluss 
der Fabrik durch Hausarbeit ihren Verdienst erhöhen. So steht 
fast in jeder Schuhmacherbehausung zu Pirmasens eine durch 
wöchentliche oder monatliche Abzahlung von 2 — 10 M., freilich 
mit 40 — 50°,o Preisaufschlag, erworbene Nähmaschine, die oft 
bis nach Mitternacht gehen muss. 

3. Die Bodenarbeit, die das Aufzwicken der Sohle und 
deren feste Vereinigung mit dem Schaft, sowie Bau und Be- 
festigung des Absatzes umfasst, bringt eine starke Differenzie- 



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68 - 



rung der einzelnen Operationen mit sich. Hier kommen zu- 
nächst Stoff und Bestimmung der Schuhware in Betracht. 
Handelt es sich um Schuhe und Stiefel aus Leder oder andrem 
derben Material für Erwachsene, so wird die Bodenarbeit fast 
ausschliesslich in der Fabrik von männlichen Arbeitern, teils 
mit der Hand, teils mit der Maschine, hergestellt. Das Zwicken 
geschieht, wie wir bereits gesehen haben, durchweg mit der 
Hand ; die Befestigung der Sohle am Schaft, sei es durch Nähte, 
sei es durch Stifte aus Holz oder Draht, wird von Maschinen 
mannigfacher Konstruktion ausgeführt, Bau und Befestigung des 
Absatzes ebenfalls durch Maschinen, natürlich in der Fabrik 
selbst, falls nicht die Absätze bezogen werden 1 ). Anders ge- 
staltet sich der Hergang bei Zeugstoff- und bei Kinderschuhen; 
hier ist die Fertigstellung der Ware Domäne der Hausindustrie 
in Stadt und Land. In Sätzen zu je einem Dutzend werden 
alle einzelnen Teile, sortiert, zusammengeheftet, die Schäfte 
bereits fertig genäht, den Hausindustriellen hinausgegeben und 
von diesen nur mit der Hand unter Anwendung der einfachsten 
Werkzeuge nach althergebrachter Technik vereinigt. Das Ein- 
fassen mit Bändern bei Hausschuhen, das Aufnähen von Roset- 
ten und andern Zieraten etc. geschieht, nachdem die Ware an 
die Fabrik zurückgeliefert worden ist, wieder bei andern Haus- 
arbeitern. Für diese Arten von Ware wird auch die 

4. Gruppe von Einzelarbeiten, das Ausputzen, von Haus- 
industriellen gleich mitbesorgt. Bei der Ware aus Leder aber 
zerfällt diese Operation, die dem Schuh ein gefälliges und 
elegantes Aussehen gibt, in eine Menge von Einzelheiten: Ab- 
fräsen, Abglasen, Schwärzen, Färben, Polieren, Bürsten etc. 
Für all dies gibt es Maschinen in den Fabriken, die von männ- 
lichen Arbeitern mit Verwendung jugendlicher Gehilfen bedient 
werden. Aber die höchste Eleganz der Arbeit wird nach Aus- 
sage der Fabrikanten hier doch von der Hand geliefert, die 
Maschine erreicht diesen Grad nicht und erfordert andrerseits 
gutes Material bei der Ware. So wird zum Teil das Ausputzen 



') Pirmasens hat mehrere Absatzfabriken, in denen aus Holz (nament- 
lich für Damen-, Haus- und Ballschuhe) und Leder mit Verwendung von 
Abfall und Kunstleder, „factice", die Absätze , gebaut 6 werden. 



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— 69 - 



trotz der vorhandenen Maschinen nicht in der Fabrik, sondern 
zu Hause von geschickten und gut bezahlten Arbeitern, viel- 
fach gelernten Handwerkern, besorgt; die Frau arbeitet mit, 
bisweilen helfen auch Kinder. Doch arbeitet, wie in der ganzen 
Hausindustrie, jede Familie in der eigenen Wohnung für sich, 
gemeinsame Werkstätten gibt es ebensowenig wie eine Ver- 
einigung mehrerer Arbeiter unter einem Vormann. 

Man wird zugeben, dass in der hier geschilderten Art des 
Betriebes die Arbeitsteilung vielfach in eine Arbeits Verzettelung 
zerfallen ist. Die Vorteile des Grossbetriebes in einer Fabrik, 
die Konzentration der Arbeit, scheinen zum Teil freiwillig auf- 
gegeben zu sein. Welche Gründe haben nun die Pirmasenser 
Fabrikanten zu diesem System einer Kombination von Hand- 
und Maschinenarbeit, von Fabrikbetrieb und Hausindustrie be- 
wogen? Meines Erachtens sind die Motive dreierlei Art. Zu- 
nächst glaubt der Fabrikant bei diesem System billiger 1 ) 
produzieren zu können. Arbeitet ein Teil seiner Leute zu 
Hause, so braucht er weniger Räume und Produktionsinstru- 
mente, er spart also am Kapital. Die Arbeit in der Fabrik 
fällt unter die Gewerbeordnung; der vom Staate angestellte 
Inspektor fordert, dass Licht und Luft herrschen, dass die 
Pausen innegehalten, dass die Löhne nach den gesetzlichen 
Bestimmungen gezahlt werden. Die mit den Arbeitern ver- 
einbarte Fabrikordnung setzt genau die Arbeitszeit fest, die 
Löhne sind durch Vertrag geregelt, und wenn ja auch Lohn- 
drückereien stattfinden, so bietet der natürliche Zusammenhalt 
der Arbeiter in einer Fabrik doch einigen Schutz auch ohne 
gewerkschaftliche Vereinigung. Die Versicherungsgesetzgebung 
zieht ferner den Arbeitgeber zu Beiträgen für die in der Fabrik 
beschäftigten Arbeiter heran. Das alles fällt bei der Haus- 
industrie weg; der Unternehmer kümmert sich nicht im min- 



') Vergl. auch Sartor ius von Waltershausen (Nordamerikan. 
Gewerkschaften. Berl. 1886 S. 125) : „Die in Europa noch so vielfach 
übliche Hausindustrie bildet den schärfsten Gegensatz zu der amerika- 
nischen arbeitsparenden Fabrik. Die ausserordentliche Billigkeit der 
Handarbeit lässt es dem Kapitalisten rentabler erscheinen, bei dem alten 
Systeme zu verharren, als eine neue volkswirtschaftlich weit produktivere 
Methode zu ergreifen." 



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- 70 — 



desten darum, wie die Heimarbeiter leben, wie lange sie arbeiten, 
ob Frau und Kinder sich mitabrackern; er hat sie auch mit 
den Löhnen ganz in der Hand, denn sie entbehren jeder Spur 
von Organisation und unterbieten sich eher gegenseitig in ihren 
Forderungen. Sieht aber der Fabrikant bei der Hausindustrie 
einzig darauf, dass die Ware pünktlich, ordentlich und billigst 
geliefert wird, so nötigt ihn sogar die Technik, heute noch bei 
vielen Warensorten die Handarbeit vorzuziehen. Die Schnellig- 
keit und Präzision der Maschinenarbeit kann noch nicht alle 
Vorzüge der Handarbeit wett machen. Schühchen z. B. für 
kleine Kinder, die in Pirmasens alljährlich millionenweise, in 
Hunderten von Sorten, aus Leder und Zeug gefertigt werden, 
kann die Maschine natürlich auch liefern, aber nicht so zier- 
lich und leicht, sondern plumper, eckiger, schwerer als die 
Hand. Bei hocheleganter Ware kommt der Unterschied der 
Arbeitskosten für das Ausputzen, die für Handarbeit das Dop- 
pelte und Dreifache betragen, weniger in Betracht gegenüber 
der Güte des Produktes. Zarte, helle Stoffe werden in der 
Hausarbeit, wo sie nur durch wenige Hände gehen, mehr ge- 
schont, als wenn sie von einer Maschine zur andern bei 12 — 15 
verschiedenen Manipulationen wandern müssen. Umgekehrt 
erfordert die derb anpackende Maschine vielfach besseres und 
teureres Material, als der Fabrikant der Konkurrenz wegen für 
die geringeren Sorten des Massenkonsums aufwenden will, und 
so wird der höhere Satz der Arbeitskosten für die menschliche 
Hand durch die Ersparnis an Material bei weitem ausgeglichen. 
Hier wird nun allerdings die Güte der Ware oft wesentlich, 
trotz oder gerade wegen der Handarbeit, Schaden leiden. Massen 
von Pappdeckel werden z. B. als Einlagen zum „Boden* und 
für die Kappen verwendet; Kunstleder, d. h. aus Lederabfällen 
durch hydraulischen Druck zusammengepresste Platten, spielt 
auch eine Rolle beim Absatzbau, alte Patrontaschen und Feuer- 
eimer finden ebenfalls willkommene Aufnahme , nicht minder 
sind die Schäfte aus billigen Stoffen, die zwar die Nähmaschine 
aushalten, sonst aber etwas behutsam behandelt sein wollen. 

Noch ein weiteres Moment begünstigt die beregte Ver- 
zettelung der Arbeit auch im Grossbetriebe unsres Gewerbes 
auf Kosten der Konzentration in der Fabrik, nämlich die Not- 



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— 71 — 



wendigkeit, eine Unsumme von verschiedenen Sorten herzu- 
stellen , um auf dem Markte in erfolgreichem Wettbewerb zu 
bleiben. Wir haben schon mehrfach erwähnt, dass in den 
meisten Fabriken von Pirmasens Hunderte von verschiedenen 
Artikeln hergestellt werden. Wenn auch manche Fabrikanten 
in diesem Umstände sogar einen Vorzug zu erblicken ver- 
meinen, indem ihnen auf diese Weise die gründlichste Aus- 
nützung des Materials bis zum letzten Stückchen ermöglicht 
werde , so heisst das doch wohl aus der Not eine Tugend 
machen. Denn in Wahrheit sind sie zu dieser Methode der 
Fabrikation gezwungen durch die Ansprüche aus ihren Kunden- 
kreisen. Ein erfahrener Beurteiler dieser Verhältnisse schreibt 
darüber 1 ): „Die Aufträge, die der Fabrikant in Deutschland 
bekommt, sind klein, voll Details und Veränderungen, die ge- 
nau befolgt werden müssen. Ein Markt verlangt dies, der 
andre jenes. Niemand kann auf Vorrat arbeiten und das Be- 
dürfnis eines mehr als launenhaften Gewerbes vorhersehen.* 
Dies ist vollständig richtig, und unter diesen steten Verände- 
rungen, die Mode, Geschmack, Konkurrenz erzeugen, leidet die 
Massenfabrikation, wie sie die Maschine allein liefern kann. 
Die Musterkarte wird unabsehbar, die Kosten für Modelle, 
Schablonen, Leisten, Zuschneiden immer grösser, es leidet die 
Geschwindigkeit und Stätigkeit der Arbeit in der Fabrik, und 
der Unternehmer sieht sich nach Hausindustriellen um, die 
dann ihrerseits um geringeren Lohn, ein jeder ein paar Sorten 
nur, das ganze Jahr hindurch, mit Weib und Kind arbeiten 
und, wie mir von dieser Seite oft wiederholt wurde, froh sind, 
wenn sie nur vom frühen Morgen bis spät in die Nacht zu 
thun haben, um ein bescheidenes Leben führen zu können. 

Die gleichen oder doch ähnliche Verhältnisse im Gross- 
betriebe der Schuhmacherei herrschen auch in England. Dieser 
Industriezweig verwendet dort sogar vielfach noch weniger 
Maschinenarbeit, als dies in Deutschland der Fall ist. In Lon- 
don, wo sich eine Schuhmacherbevölkerung von rund 20000 
Köpfen in Ostlondon und Hackney zusammendrängt 2 ), giebt es 

*) J. Schönhof, Consular reports Nro. 96. 

*) Vergl. hierüber das Werk von Ch. Booth : Labour and life of the 
people. Vol. I. East-London p. 241—308. Bootmaking, by David E. Schloss. 



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— 72 — 



fast gar keine grösseren Fabriken, dagegen sehr viele kleine 
Betriebe, die in ihren Werkstätten , einem oder zwei Zimmern 
gewöhnlicher Mietshäuser, lediglich das Zuschneiden der Schäfte 
und das Ausstanzen der Bodenteile besorgen. Genäht werden 
die Schäfte ausschliesslich auf Maschinen im Hause der Arbei- 
terinnen, die sich oft in Gruppen (teams) zu drei, vier, selten 
mehr unter der Leitung einer Frau, die das Zimmer und die 
Maschinen beschafft, zusammenthun. Die Operation des making 
(Vereinigung von Schaft und Boden) erfolgt gleichfalls fast 
immer in der Hausindustrie; doch arbeitet hier der meist ge- 
lernte Schuhmacher gewöhnlich allein für sich, nur von seinem 
Sohne oder einem Jungen unterstützt. Selten in Ostlondon, 
öfter in Westlondon finden sich für diese Arbeit cooperative 
Workshops: eine Anzahl Bodenarbeiter mietet gemeinsam eine 
Werkstatt. Auch kommt es vor, dass das Annähen der Sohle 
von Maschinen besorgt wird, deren Besitzer nur für diesen Teil 
der Arbeit von den zahlreichen Arbeitern aufgesucht werden. 

Die im Rohen fertiggestellten Stiefel wandern dann wieder 
in die Fabrik oder den Laden zurück und werden von da zur 
letzten Operation, dem sogen, finishing (Ausputzen) an Heim- 
arbeiter hinausgegeben ; für diese Teilarbeit ist das vielberufene 
sweating-system ganz vorwiegend im Schwünge 1 ). In der 
Schuhmacherei wird dies System folgendermassen gehandhabt: 
Die Arbeit, z. B. das Ausputzen von 10 Dutzend Paar Stie- 
feln, wird im ganzen an eine bestimmte Person zu einem kon- 
traktlich festgestellten Preise überlassen — der sweater *) mietet 
sich dann selbst die Leute zur Ausführung der Arbeit, er be- 
zahlt sie im Zeitlohn und hat nun ein Interesse daran, sie 
möglichst auszunutzen, um an Löhnen zu sparen und seinen 
Profit zu vergrössern. Die Lohnverteilung bei den Schuh- 



') Siehe die Reports der vom Hause der Lords 1888 89 mit der 
Untersuchung des sweating-system betrauten besonderen Kommission. 
1. Report 406. 

*) Wir folgen hier dem Sprachgebrauche ; in der Schuhwarenbranche 
wird ausnahmsweise sweater nicht im aktiven, sondern im passiven Sinn 
gebraucht — sweater ist hier das Opfer des Systems. Aber auch die 
Reports brauchen das Wort bei den Schubmachern im sonst allgemein 
üblichen Sinne des „ Schweissaustreibers \ 



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— 73 — 



machern ist stets folgende : Die eine Hälfte erhält der sweater t 
in die andere teilen sich die Arbeiter. Finishing erfordert für 
die meisten Hantierungen so gut wie gar keine Geschicklich- 
keit, namentlich seit verbesserte Werkzeuge in Anwendung 
kommen; der Zufluss von Juden aus Osteuropa hat das An- 
gebot von Arbeit in Ostlondon enorm gesteigert, und so sind 
Zustände gekommen, die die öffentliche Aufmerksamkeit in 
hohem Grade erregt haben: „Die Sklaverei hat Amerika den 
Rücken gewendet und sich in Ostlondon niedergelassen *), " 
sagte einer der Zeugen vor der zur Untersuchung dieser Not- 
stände eingesetzten Oberhauskommission. In engen, dumpfen, 
schmutzigen Räumen, den sweaters-dens, sitzen hier meist 4, 
bisweilen aber auch 8 — 10 Menschen, 16, 18, ja auch 20 Stun- 
den während der 4 — 5 Monate flotten Geschäftsgangs, rastlos über 
ihre Arbeit gebückt, die Mahlzeiten, fast nur Brot, Kaffee, Thee 
und Heringe, nehmen sie ein, ohne sich vom Arbeitsschemel 
zu erheben, der Verdienst ist, hochgerechnet, 12 sh. wöchent- 
lich im Jahresdurchschnitt 2 ). Diese überaus billigen und eif- 
rigen Arbeiter, die allerdings gewöhnlich minderwertige Ware 
liefern, erhalten auch Aufträge von den grossen Centren der 
Schuhfabrikation in der Provinz zugewiesen. Hier sind in 
Leicester, Northampton, Stafford, Leeds, Norwich allerdings 
Betriebe von einem Umfange, wie wir sie in Deutschland kaum 
haben. Leeds fertigt meist ordinäre, derbe Schuhe für Män- 
ner, Stafford excelliert in feinem Damenschuhzeug, Northamp- 
ton dürfte mehr Pirmasens gleichen, da es ebenso wie dies 
mit Verwendung einer starken, aber in der letzten Zeit wieder 
zu Gunsten des Fabriksystems abnehmenden Hausindustrie in 
den benachbarten Dörfern alle möglichen Sorten Ware her- 
stellt. Ein sehr bedeutender Platz für Schuhfabrikation ist 
Leicester (bei 180 000 Einwohnern 225 Fabriken); von einer 
leitenden Fabrik dort gibt J. Schönhof folgende Schilderung 3 ): 



») I. Report 411. 

J ) Vergl. u. a. die Aussagen von A. White, S. Wildmann, 
M. Feilwell, S. Hirsch, S. Rosenberg im 1. Report und die zu- 
sammenfassende Darstellung über Boots and shoes im V. Report. 

3 ) J. Schön hof, Reports from the consuls of the United States. 
Nro. 96. August 1888. Washington. 



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Das Etablissement beschäftigt 1200 Arbeiter in der Fabrik, 
ausserdem aber noch viele zu Hause; es besitzt 80 eigene 
Läden im ganzen Königreich, eine Zweigfabrik in Leeds, grosse 
Gerbereien; sein Export geht über die ganze Welt; die Muster- 
karte umfasst 7 — 800 Nummern. Die Leiter hatten alle nur 
erdenklichen Maschinen, meist amerikanischen Ursprungs, ein- 
geführt, aber sehr viele wieder aufgegeben; ein ganzer Keller 
liegt voll von diesem kostspieligen „alten Eisen". Die Arbeiter 
gingen ungern an die Maschine, sie wollten trotz der grösseren 
Leistung der Maschine keine Minderung der Stücklöhne an- 
nehmen; Handarbeit sei billiger; je weniger Maschinen desto 
besser, behauptete der unsern Gewährsmann herumführende 
Besitzer der Fabrik J ). 

Die Berechtigung dieser Ansichten wird sehr erschüttert, 
wenn wir den Stand der Schuhfabrikation in den Vereinigten 
Staaten von Nordamerika betrachten. Hier haben nationale 
Eigenart und gewerbliches Erfordernis im Bekleidungsgewerbe 
vollständig mit der Arbeitsmethode der alten Kulturländer ge- 
brochen. Der Handwerker ist im Verschwinden, meist sind es 
nur Eingewanderte, viele Deutsche darunter, die noch in der 
Werkstatt sitzen. Die Maschine fabriziert und der Konsument 
kauft fertige Ware. Amerika war durch seine kolossal an- 
wachsende Bevölkerung, den Zug nach den unbetretenen Wild- 
nissen des Westens, das plötzliche Entstehen neuer Staaten 
mit Millionen Einwohnern zu dieser Entwickelung gezwungen. 
Denn die Arbeitskräfte warfen sich mit Energie auf die Feld- 
bestellung; mit ihren Früchten tauschte man die Produkte 

') Die grösate Schuhfabrik der Welt soll die der englischen Gross- 
handelsgenossenschaft (Konsumverein) gehörende Fabrik in Leicester sein. 
Gegründet wurde sie 1874; sie produzierte im ersten Jahre für 34 000 
Pfund Sterling Ware. 1891 für 290 000 Pfund. Die Fabrik, die mit elek- 
trischem Licht und hauptsächlich amerikanischen Maschinen aufs voll- 
kommenste ausgestattet ist, kann bis 2500 Arbeiter beschäftigen; im 
Vorjahr waren in ihr thätig 489 Männer, 481 Frauen, 160 Mädchen und 
284 Burschen, im ganzen 1414 Personen. Sie erzeugt wöchentlich 22 000 
bis 23 000 Paar in allen Preisanlagen; ihr Lederkonsum beläuft sich auf 
18 000 kg wöchentlich. — Die „Riesen- Aktienfabrik* in Pirmasens, von 
deren Projekt auf S. 50 f. die Rede ist , würde die Fabrik in Leicester 
allerdings noch um ein Vielfaches überragen. 



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- 75 



des industriellen Ostens ein, für die Handwerke hatte man 
im Westen weder Geschick noch Zeit und Sinn. Auch im 
Osten hängen jetzt nur noch die „Künstler" unter den Schnei- 
dern und Schustern ihre vergoldeten Schilder heraus und locken 
den wählerischen Geschmack an; aber die Massen suchen die 
Warenlager auf, um ihre Blösse decken zu können. Die Männer 
finden jetzt schon dort alles, was sie brauchen, und für die 
Frauen wird's mit jedem Jahr vollständiger. Das bringt eine 
völlige Umwandlung der Industrie und des Handels mit sich 1 ). 
In Riesenbetrieben konzentriert sich die Schuhfabrikation und 
in jeder Fabrik wieder auf wenige Artikel. „Die Besichtigung 
einer amerikanischen Schuhfabrik," sagt J. Schönhof in sei- 
nem erwähnten Konsularbericht , „zeigt uns die völlige Be- 
freiung der Arbeit von jeder Anwendung der Muskelkraft. Die 
Hand des Arbeiters wird, mit Ausnahme des Zuschneidens 
(cutting) und des Zwickens (lasting), nur gebraucht, einen 
Mechanismus zu leiten . . . Dieser selbst wird in Thätigkeit 
gesetzt und erhalten durch mechanische Kraft, der Arbeiter 
hat nur zu dirigieren. Gross aber ist die nötige Aufmerksam- 
keit, schnell die Bewegung, um einen stattlichen Betrag Arbeit 
in sehr kurzer Zeit korrekt und sauber zu leisten. Es ist un- 
möglich hier, wie Hans Sachs in Poesie, oder wie Jakob 
Böhme in mystische Grübeleien sich zu versenken. Traum- 
land hat keine Stätte in einer Massachusetts- Schuhfabrik, der 
Träumer würde bald schmerzhaft spüren, wie die Maschine 
seine Finger packt." 

Die Arbeitsteilung ist vollständig durchgeführt, in einer 
Fabrik mit (500 Arbeitern sind vielleicht keine 25, die genau 
dieselben Verrichtungen auszuführen haben. Hausindustrie gibt 
es kaum, sweating gar nicht. Und diese Fabriken, deren 
Maschinen „alles können, nur nicht sprechen," arbeiten nur 
für einen Markt, wenden diesem alle Aufmerksamkeit zu und 
produzieren in jeder Saison nur wenige Sorten Ware. Die 
Unternehmer können also das Material in grössten Mengen 
einkaufen und verfügen über eine Arbeiterschar von so viel 



*) J. Schönhof, Economy of high wages. New- York und London 
1892 S. 356 f. 



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— 7(3 — 



nervöser Intelligenz, Stetigkeit und Geschicklichkeit wie nir- 
gends in der alten Welt. Kein Wunder, dass unter diesen Ver- 
hältnissen die Bevölkerung der nordamerikanischen Union ihren 
Schuhbedarf für 1880 im Werte von 207000000 Dollars 
(875000 000 M.), abgesehen von der Einfuhr, mit der Hälfte 
der Arbeiterzahl bewältigte, die Deutschland in vorwiegend 
handwerksmässigem Betriebe und geringerem Verbrauche an 
Schuhwerk nötig hat. In Deutschland waren 1882 bei 45 Mil- 
lionen Einwohnern 247 779 Hauptbetriebe mit 404 278 Per- 
sonen in der Schuhmacherei thätig 1 ). Nach dem Census von 
1880 waren in 1959 Fabriken 111152 Arbeiter beschäftigt 
(davon allein in dem Staate Massachusetts 61051 Arbeiter in 
982 Fabriken); das Kleingewerbe zählte 82 927 Personen in 
etwa 15000 Werkstätten. In den Fabriken wurden für 1 CG 000 000 
Dollars Ware geliefert, im Kleingewerbe für 41000000. Die 
Zahl der produzierten Stiefel und Schuhe belief sich auf 
125^2 Millionen Paar. 

Die Arbeitslöhne in den Fabriken machen rund eine 
Summe von 43 000 000 Dollars aus und ergaben einen 
Durchschnittsverdienst von 387 ^ Dollars pro Kopf. In den 
Fabriken war ein Kapital von 43000000 Dollars festgelegt; 
ihr Materialverbrauch belief sich auf 102 1 /* Millionen *). Sogar 
die Flickerei ist fabrikmässig organisiert und es wird ein hand- 
festes, nieht ungeschicktes Ergebnis erzielt. Ueber die mit 
diesem ganzen System der Schuhmacherei gewonnenen Resul- 
tate spricht sich H. A. Schneider „Die Schuhmacherei auf 
der Weltausstellung in Philadelphia" höchst anerkennend aus 3 ); 
er hält die Nachahmung dieser Zustände in Deutschland für 
sehr notwendig. 

Dabei ist die Entwickelung des Grossbetriebes in der Schuh- 



J ) Berufszählung vom 5. Juni 1882. 

*) Ein Vergleich des Census von 1880 mit dem von 1850 verdeut- 
licht das Wachstum des Grossbetriebs: 1850 waren in 11 305 Fabriken mit 
13 Mill. Dollars Anlagekapital 105 254 Personen beschäftigt, die jährlich 
Rohmaterial im Werte von 23 4 /s Millionen zu Schuhwerk im Werte von 
54 Millionen verarbeiteten. Die Löhne betrugen insgesamt 21 2 /3 Mil- 
lionen, der Durchschnittslohn 205 V« Dollars. 

3 ) In Conrads Jahrbüchern 1883 I. 



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- 77 



macherei der Union 1 ), die bis jetzt vorwiegend in den Neu-Eng- 
landstaaten ihren Sitz hatte, noch keineswegs abgeschlossen. „Die 
neueZählung(1890), u sagt Schönhof 2 ), „wird ohneZweifel aber- 
mals einen grossen Fortschritt zu Gunsten fertiger Waren zei- 
gen, die das Werkstattgeschäft ganz zurückdrängen" 3 ). Ein and- 
rer Autor, Sartorius v. Waltershausen, behauptet gar, dass 
30 — 40000 Arbeiter den ganzen Schuhbedarf der Union zur 
Genüge decken könnten, wenn man auf den Kopf der Bevöl- 
kerung einen Bedarf von 2 Paaren rechnet 4 ). Bei dieser 
Konzentration des Betriebes kann es auch weiter nicht auf- 
fallen, dass in Nordamerika die Arbeitskosten sich wesentlich 
geringer stellen, um 50 — 80 °/o als in England und Deutsch- 
land, die Löhne aber gleichzeitig eine Höhe erreicht haben, 
die unsre Schuhmacher mit recht trüben Gefühlen erfüllen 
müssen; denn sie betragen im Durchschnitte mindestens das 
Doppelte, aber auch oft das Drei- und Vierfache der Sätze, 
die bei uns in der Schuhmacherei, namentlich im Handwerk 
und in der Hausindustrie gezahlt werden in Befolgung des 
falschen Prinzips, das Maximum von Leistung für das Minimum 
von Lohn bei möglichst langer Arbeitszeit zu verlangen. In 
Deutschland gehören die Schuhmacher durchaus unter die am 
allerschlechtesten bezahlten Gewerbe ; für die Schusterei gilt 
im besonderen, was H. Herkner als allgemeinen Satz auf- 
stellt: „Das geringe Einkommen, das unsre Arbeiterbevölke- 
rung bezieht, ist jedenfalls eine der wesentlichsten Ursachen 
für die gerade in Deutschland noch so grosse Ausdehnung 
rückständiger Betriebsformen. Hausindustrien, Kleingewerbe, 
die mit einer unvollkommenen maschinellen Ausrüstung und 
einer ungenügend entwickelten Arbeitsteilung arbeiten, be- 
haupten sich noch weit über die Zeit hinaus, für welche sie 



') Eine interessante Schilderung der Schuhmacherstadt Brockton, 
Mass., giebt John Graham Brocksim „ Sozialpol. Centralbl." 1892. 
*) Economy of high wages p. 358. 

8 ) Die Verarbeitung des Census von 1890 Abt. IV, Manufactures, 
war mir bis jetzt nicht zugänglich. 

4 ) Sartorius von Waltershausen, Die nordamerikan. Ge- 
werkschaften unter dem Einflüsse der fortschreitenden Produktionstechnik. 
Berlin 1886 S. 112. 



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eine absolute Berechtigung besassen" l ). In Nordamerika aber 
stehen viele Arbeiter in den mechanischen Schuhfabriken mit 
unter den höchstbezahlten, ihre Löhne werden nur von denen 
weniger andrer Gewerbe übertroffen. Nach Schönhof (Eco- 
nomy of high wages p. 373) beträgt in den Fabriken von 
Lynn, Mass., bei 9 — lOstündigem Arbeitstage der Wochenlohn 
für Männer durchschnittlich 51 M., für Frauen 30 M., in Lei- 
cester (England) bei lOstüudiger Arbeit 28 — 36 M., resp. 
15—18 M., in Berliner Fabriken 20—30 M. für Männer, in 
Frankfurt a. M. 18—31 M. für Männer, 9 — 15 M. für Frauen. 
In Pirmasens wechselt bei llstündigem Arbeitstage in den 
Fabriken der Lohn für Männer wöchentlich zwischen 15 und 
30 M., für Frauen 10 — 18 M. In der dortigen Hausindustrie 
verdient die Familie bei 14 — 16stündiger Arbeit 2 — 3 M. täg- 
lich, für Oberfranken berichtet die amtliche Denkschrift über 
die Landwirtschaft in Bayern (1889) von einem täglichen Lohn 
von durchschnittlich 1 M. 20 Pf. in der Schuhmacher - Haus- 
industrie. Beim sweating-system in London in 16 — 18-, ja 
20stündiger Arbeitszeit beträgt der Wochenlohn 12 M. Für 
Deutschland gibt E. Engel (Preuss. stat. Zeitschrift) 1878 als 
Durchschnittswochenlohn der Gehilfen im Handwerksbetrieb bei 
13 — 17stündiger Arbeit 12 M. 50 Pf. an; der Lohn sinkt aber 
sehr häufig noch erheblich tiefer. 

') H. Herkner, Die soziale Reform als Gebot des wirtschaftlichen 
Fortschritts. Leipzig 1891 S. 81. 



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VI. 

Das Handwerk. 

Für eine noch heute zutreffende Betrachtung des Klein- 
gewerbes in der Schuhmacherei giebt die Berufszählung vom 
5. Juni 1882 etwas zuverlässigere Anhaltspunkte als für den 
Grossbetrieb, nämlich insofern, als wir aus einer Vergleichung 
der Daten von 1875 und 1882 im Zusammenhalt mit den Ueber- 
sichten der An- und Abmeldungen der Gewerbe von 1883—1891 
wenigstens ziemlich deutlich die Richtung erkennen können, 
in der aller Wahrscheinlichkeit nach sich das Kleingewerbe 
seitdem bewegt hat. Diese Ziffern sind folgende: 

Zahl der 

Zahl de * In ihnen Von den Kleinbetrieben waren beschäftigten 
,,am Kleinbetr. sind thätig Gehilfen 

ohne Oeh. mit Geh u. Lehrlinge 

1875 30 631 47 548 19 172 11459 10 917 

1882 31443 45 230 21229 10 214 13 687 

Somit hatte sich die Zahl der Kleinbetriebe, zu welchen 
die amtlichen Aufnahmen alle Betriebe bis zu fünf Gehilfen 
und Lehrlingen rechnen, von 1875 — 1882 um 812 (2 1 /* °o) ver- 
mehrt, die Zahl der in ihnen beschäftigten Personen aber war 
um 2318 (5°;o) gefallen. Gestiegen war die Zahl der Allein- 
betriebe, in denen der Meister ohne jede Hilfskraft arbeitet, 
nämlich um 2057, d. i. um 10,7 °o ; gefallen war infolgedessen 
die Zahl der Gehilfenbetriebe und noch mehr der in ihnen thätigen 
Gehilfen und Lehrlinge, die ersteren um 1245 Betriebe = 10,9 % 
und die letzteren um 3230 Gehilfen = 19 °/o. Die Tendenz der 
Entwickelung ging also schon von 1875 — 1882 energisch auf 
eine Verringerung des Umfangs der Einzelbetriebe 
im Handwerk bei gleichzeitiger schwacher Ver- 
mehrung ihrer Anzahl; nicht nur arbeiten mehr Meister 
ohne Gehilfen (67,2 °;o aller Kleinbetriebe im Jahre 1882 gegen 



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- 80 — 

62,3 °/o fünf Jahre vorher), sondern auch die Gehilfenbetriebe 
selbst sind noch kleiner geworden: im Durchschnitt treffen auf 
einen Gehilfen-Kleinbetrieb im Jahre 1875 1,48 Gehilfen, 1882 
aber nur noch 1,34. Ist diese Wendung bereits vor 10 und 1 5 Jah- 
ren bei massig steigendem Grossbetrieb eingetreten, so besteht 
höchste Wahrscheinlichkeit, dass seitdem bis auf den heutigen 
Tag bei der enormen Zunahme der Fabrikindustrie in der 
Schuhmacherei die Entwickelung des Handwerkes den gleichen 
Gang mit beschleunigter Geschwindigkeit eingehalten hat. Dafür 
spricht auch die im ersten Kapitel gegebene Darlegung aus 
den Angaben des königlichen statistischen Bureaus über die Be- 
wegung im Schuhmachergewerbe während der Jahre 1883 bis 
1891: in diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Betriebe absolut, 
wenn auch nicht ganz im gleichen Verhältnisse wie die Be- 
völkerung weiter vermehrt, und zwar bis 1885 jährlich durch- 
schnittlich um 0,5 °/o , von 1886 — 1888 durchschnittlich pro 
Jahr um 1 °/o und 1889—1891 nur um 0,2 °/o. Die starke 
Zahl der An- und Abmeldungen, die von 1883 — 1891 im 
ganzen über ein Drittel der 1882 bestehenden Betriebe berührt, 
lässt, da sie zumeist auf Besitzwecbsel beruht, auf eine Un- 
ruhe im Gewerbe schliessen, die nicht eine rasche Entwicke- 
lung sum Günstigen, sondern ein wechselndes Unbehagen der 
kleinen Schuhmacher verrät. 

Eine weitere Stütze erhält diese Mutmassung in dem 
1875 — 1882 hervortretenden Wachstum der Zahl solcher Be- 
triebe, die neben der Schuhmacherei noch eine andre Beschäfti- 
gung, und zwar in Bayern vorwiegend Landwirtschaft, treiben. 
Und nicht nur aus der Bewirtschaftung einer Landparzelle 
neben der Schuhmacherei suchen mehr Personen einen Zu- 
schuss zum Lebensunterhalt zu gewinnen, auch die Zahl der- 
jenigen hat sich vermehrt, die aus den andern Gewerben, ferner 
aus kleinen Aemtchen des Staats-, Gemeinde- und Kirchen- 
dienstes einer Ergänzung ihrer kärglichen Einnahmen erzielen. 
Freilich aber steigt auch die Zahl der Personen, die neben 
ihrer Hauptbeschäftigung in müssigen Stunden Schuhmacherei 
treiben. Sieht man nun noch weiter, dass bereits 1875 (für 
1882 macht die Statistik eine solche Ausscheidung leider nicht) 
von sämtlichen 11449 Gehilfenbetrieben 7682, also rund zwei 



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- 81 — 

Drittel, nur einen einzigen Gehilfen beschäftigen, 2619, etwa 
ein Viertel, nur 2 Hilfskräfte, und dass die Anzahl der 3 bis 
5 Gehilfen und Lehrlinge verwendenden Betriebe ganz rapide 
(771 mit 3, 267 mit 4 und 120 mit 5) sinkt, so wird man 
schwerlich Widerspruch erfahren, wenn man feststellt, dass 
heutzutage das Handwerk in der Schuhmacherei Bayerns sich 
in denkbar kleine Betriebe zersplittert hat, und zwar auf Kosten 
der mittleren Werkstätten, denen die Entwickelung der Gross- 
industrie am schärfsten zugesetzt hat. Die gleiche Thatsache 
gilt übrigens für die Schuhmacherbevölkerung im ganzen Reich, 
wenn sie auch in einzelnen Gegenden nicht so klar hervor- 
tritt. : ) Dies allein aber lässt schon vermuten, dass diese 
Zwergbetriebe ihren Inhabern in der Regel nur eine kümmer- 
liche Existenz gewähren; es konstatiert z. B. auch ausdrücklich 
das Generalsekretariat des deutschen Handelstages bereits 1881: 
„Das Schuhmachergewerbe liegt in einer schweren Krisis, da 
seine Weiterexistenz mit den täglich vermehrten und mit vervoll- 
kommneteren Maschinen arbeitenden Schuhfabriken kämpft." 2 ) 
Es bedarf keines Nachweises im einzelnen, dass seit den letzten 
10 — 12 Jahren hier keine Wendung zum Bessern für das Hand- 
werk eingetreten ist. So bemerkt der Jahresbericht der Handels- 
und Gewerbekammer von Oberbayern, wo die Schuhmacherei 
zumeist im Kleinbetrieb vertreten ist, für 1892 anf S. 127: 
„Die ungünstige Lage des Schuhmachergewerbes hielt im 
Berichtsjahre an und gab zu lebhaften Klagen Anlass" , und 
auf S. 172 wird mitgeteilt: „Die beiden Schuhmachermeister- 
Innungen zu München klagen übereinstimmend über die schlimme 
Lage dieses Gewerbes, die sich im Berichtsjahre noch weiter ver- 
schärfte. Die Ueberproduktion der Fabriken, die Ueberschwem- 
mung mit Schundware, der Hausierhandel, die Abzahlungs- 
geschäfte, die Militär Werkstätten und Zuchthausarbeiten werden 
als Gründe des Rückganges des Gewerbes bezeichnet. ,Wen 
sollte es wundern, schreibt die Schuhmachermeister-Innung 1. d. I., 
wenn ein solches Gewerbe zu Grunde geht, wenn tausend Fa- 
milien trotz Fleisses und Tüchtigkeit rückwärts kommen und 



') Vergl. auch M. Schöne, a. a. 0. S. 18 u. 19. 
2 ) Das deutsche Wirtschaftsjahr 1881 S. 506. 
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 6 



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82 — 



ihren Untergang vor Augen sehen! 4 * Der Abgeordnete Biehl 
hat bereits im Jahre 1886 in der bayerischen Abgeordneten- 
kammer gesagt 1 ); „Gerade die Schuhmacher und Schneider 
sind es, die heutzutage auf ihrem Geschäfte absolut nicht mehr 
fortkommen. Gehen Sie doch den einzelnen Verhältnissen 
näher und Sie werden finden, dass sich diese Leute als Chor- 
diener, als Hochzeitlader, als Laternenanzünder und »lies 
Mögliche ihren Unterhalt erschaffen müssen, aber durch ihr 
Handwerk nicht mehr in der Lage sind, ihre Familien zu er- 
nähren." 

Nun kann man sich aber nicht verhehlen, dass gerade in 
Bayern, wo die Ziffer der kleinsten Betriebe unter den Durch- 
schnitt im Reiche sinkt, ein Teil der Ursachen dieser Lage in 
dem zähen Festhalten an überlieferten Sitten liegt, wie wir es 
namentlich in Altbayern finden. Wenn Frederic Eden er- 
zählt 2 ), dass noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Bauer 
in Hochschottland Weber, Walker, Färber, Gerber, Schuster 
in einer Person war, — every man Jack of all Trades and 
master of none! — , so liegt die Zeit, wo es in den vom Ver- 
kehr abgelegenen Höfen des Gebirgsvorlandes ebenso zuging, 
für Bayern noch gar nicht so weit hinter uns. Und noch 
heute ist in den Alpengegenden, in Niederbayern und der Ober- 
pfalz, aber auch in den fränkischen Kreisen, eine Art des 
Schustereibetriebes üblich, die sich sonst in Deutschland, ab- 
gesehen von Baden und Württemberg, wenig mehr findet 3 ). 
Das ist das Arbeiten auf der Stör. Der Schuster, ebenso sein 
Kollege, der Schneider, kommt als technischer Gehilfe 4 ) ins 
Haus, er bringt nur seine primitiven Werkzeuge und höchstens 
ein paar Zuthaten mit, den Rohstoff, das Leder oder das Tuch, 
liefert der Bauer selbst. Vom mittleren Inn erzählt die „Ba- 
varia u 5 ): „Alle Arbeiten der Handwerker . . . werden auf der 



») 188f>. Sitzung vom 21. April, Stenogr. Ber. Band VI. Nr. 176 S. 407. 

2 ) State of the poor I. 558 f. 

3 ) Hiernach zu berichtigen Schöne, Schuhmacherei S. 61. 

4 ) In Bezug auf die Reichsversicherungsgcset/.gebung gilt er aber 
als selbständiger Gewerbetreibender (Entscheidung des württembergischen 
Landes- Versicherungsamtes vom 7. Okt. 189*2). 

6 ) Bavaria I. 1. Abth. S. 283. 



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- 83 - 



sogen. Stör besorgt." Und dies ist heute noch so wie vor 
30 — 40 Jahren. Wer auf Gebirgswanderungen in Bauernhöfen 
einkehrt, kann oft genug sehen, dass das Wohnzimmer in eine 
Schusterwerkstätte umgewandelt ist. Von einem bayerischen 
Bezirksamt aus unsern Alpen liegen mir hierüber genauere 
Daten vor. 

Der räumlich grosse Distrikt ist schwach bevölkert und 
zerstreut besiedelt; von den 17 Gemeinden sind nur einige 
grössere Ortschaften, neben geschlossenen Dörfern finden sich 
sehr viel weit voneinander entfernte Einzelhöfe. Auf je 
1000 Einwohner kommen fünf Schuhmachermeister, was wenig 
hinter der Durchschnittsziffer des Königreiches zurückbleibt. 
Hier ist die Störarbeit noch sehr im Schwange. Bei den 
Arbeitskontrakten der Knechte und Mägde ist es üblich, neben 
dem Lohn und der Kost auch die Verabreichung eines Ge- 
wandes, sowie 1—2 Paar Schuhe im Jahre zu bedingen. Mit 
der Verdrängung der Verpflichtung der Dienstboten auf ein 
Jahr durch die wöchentliche Löhnung kommt zwar diese Sitte 
in Abnahme, hält sich aber doch noch in den besseren Bauern- 
wirtschaften , die auf tüchtige und ständige Dienstboten viel 
treben. Selbstverständlich wird in erster Linie der Schuhbedarf 
des Eigentümers und seiner Familie durch die Störarbeit gedeckt. 
Das nötige Leder tauscht der Bauer vom Landgerber gegen 
Lohrinde ein. Die Arbeitszeit auf der Stör ist von 5 Uhr früh 
bis 7 Uhr abends, der selbständige Schuhmacher erhält, je 
nachdem er allein oder mit Gehilfen kommt, 1 ^2 — 3 Mark 
täglich Lohn in bar, ausserdem die Kost; es wird etwas besser 
gekocht als gewöhnlich und vormittags wie nachmittags je eine 
Mass Bier verabreicht. Der Gehilfe bekommt vom Meister 
wöchentlich o Mark Lohn und die Kost. Auf den Jahrmärkten 
der beiden grösseren Orte dieses Bezirks sieht man nicht wie 
im Flachland Stände mit meist ziemlich ordinären Schuhen 
und Stiefeln, es fehlt offenbar an Absatz für fertige Ware. 
Die Verhältnisse des Gebirges erfordern garantirt solides Schuh- 
werk, und diese Gewähr glaubt der Bauer in der Herstellung 
auf der Stör zu finden, wo unter seinen Augen aus dem von 
ihm selbst gelieferten Leder die Stiefel gefertigt werden. Aehnlich 
wie in diesem alpinen Bezirksamt Bayerns, dem die Ver- 



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— 84 — 



hältnisse meistenteils in unsern Gebirgsgegenden gleichen werden, 
wird auch auf dem platten Lande Oberfrankens der Schuh- 
bedarf gedeckt. Auch dort ist es Sitte, dass der Bauer, auch 
der wohlhabende Bauer, seine Stiefel und Schuhe nicht fertig 
kauft und auch nicht beim Schuhmacher auf feste Rechnung 
bestellt; der Bauer kauft beim Gerber oder Lederhändler in 
der Stadt das Leder eigenhändig ein und lässt dann den Orts- 
schuster in sein Haus kommen zur Anfertigung der Schuhe 
und Stiefel für sich, seine Familie und sein Gesinde. Der 
Schuster bekommt Essen und Trinken im Hause des Bauern 
und ausserdem einen kleinen Geldlohn pro Tag oder, was 
bemerkenswert ist, pro Paar fertiger Schuhe, deren Herstellung 
als eine gute Tagesleistung gilt. Die Sitte, „auf der Stör" 
arbeiten zu lassen, ist also, nach diesen beiden, aus ganz ver- 
schiedenen Teilen des Landes stammenden Beispielen zu 
schliessen, viel mehr in Bayern verbreitet, als bisweilen an- 
genommen wird. 

Geradezu eine über das ganze Land fast gleichmässig ver- 
teilte Besonderheit des bayerischen Schuh macherhandwerks ist 
aber die ganz ausserordentlich häufige Verbindung mit dem 
Betriebe der Landwirtschaft. Früher erblickte man in dieser 
damals bei den meisten Gewerben üblichen Vereinigung, für 
welche sowohl die Kleinheit des lokalen Marktes wie die Natur 
des Landbaues förderlich waren, unter allen Umständen einen 
nicht genug zu rühmenden Segen; ein ebenso gründlicher wie 
einsichtsvoller Kenner von Land und Leuten Bayerns, Ignaz 
v. Rudhart, schreibt aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts : 
„In Bayern sind die Gewerbetreibenden nicht in grossen Fabrik- 
häusern, nicht in Städten zusammengepfercht, sondern über 
Städte, Märkte und das Land verbreitet, was nicht nur den Vor- 
teil gewährt, dass die Gewerbe der Landwirtschaft nähergelegt 
sind, sondern auch die Industrie besser gepflegt und den Gewerbe- 
treibenden ein selbständiges, sorgenfreies Leben gegönnt ist . . . 
Ein solcher Gewerbsmann bringt es zwar selten zu grossem, glän- 
zendem Reichtum, aber die meisten durch Fleiss und Häuslichkeit 
zur bürgerlichen Wohlhabenheit. Die Verbindung des Grund- 
besitzes mit den Gewerben erleichtert ihm seine Subsistenz. Er 
geniesst das Glück, am eigenen Herde sein Herr und Familien - 



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- 85 — 



vater zu sein 44 etc. 1 ) So willig wir auch heute noch manche 
soziale Vorzüge dieses Idylls anerkennen, so darf man doch 
die bei steigender Technik und geänderter Produktionsart immer 
schärfer sich zeigende Kehrseite nicht übersehen, die aufweist, 
dass die Intensität des Betriebes weder in dem einen noch im 
andern Berufszweige von solcher Verkuppelung eine Förderung 
zu erwarten hat, sondern in veralteten Schablonen zurück- 
bleibt, konkurrenzunfähig und wirtschaftlich untauglich wird. 
Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass wir in Bayern 
nicht in manchen Ortschaften des flachen Landes Handwerks- 
meister haben, die in der Schuhmacherei ganz Vorzügliches 
leisten. In der Kegel aber genügen die Landschuhmacher 
technisch nur geringen Anforderungen. 

Was nun die Schuhmacherei speziell anbetrifft, so hat sich 
die alte Gewohnheit hier sehr mächtig erwiesen. Im König- 
reich Preussen waren 1875 nur (>,4 % aller Betriebe mit Land- 
wirtschaft verbunden, im Königreich Sachsen noch weniger, 
in Bayern aber 34 n ;o. Und die Aufnahme von 1882 weist noch 
eine Zunahme auf, die allerdings in den Nebenbetrieben teil- 
weise aus einer Aenderung der Zählungsmethode herrührt. 
Jedenfalls geht aber aus den Ziffern von diesem Jahre das auch 
für die Gegenwart gültige Resultat hervor, dass auf dem Lande 
in der Regel die Schuhmacherei im Hauptbetrieb allein ihren 
Mann nicht nährt, sondern eine Zubusse aus der Feldbestellung 
nötig macht. Ueber die Verhältnisse 1882 gibt folgende Ueber- 
sicht Aufschluss: 

I. Schuhmacherei als Hauptberuf: 

1. Selbständige Betriebsinhaber 

von 29 004 trieben U 326 Landwirtsch. selbständig u. 553 als Tagl. 

2. Selbständige Hausarbeiter 

von 1609 trieben 397 Landwirtlisch. „ „ 53 „ , 

3. Gehilfen, Lehrlinge, Fabrikarbeiter und 
erwerbstätige Familienglieder 

von 20 62*3 trieben 191 Landwirtsch. , „ 1825 „ „ 



l ) J. v. Kudhart, Ueber die politische Stellung des Königreiches 
Bayern im Jahr 1833 S. 58 f. 



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II. Schuhmacherei als Nebenberuf: 

1. Selbständige Betriebsinhaber: 

3422 sind dem Hauptberuf nach Landwirte 

2. Heimarbeiter 29 , „ r * 
8. Gehilfen etc. 22 » , 

Somit waren 1882 von 55874 in Haupt- und Nebenberuf 
Schuhmacherei treibenden Personen nicht weniger als 20818 
auch gleichzeitig in der Landwirtschaft thätig, oder, wenn wir 
die unter Nr. II aufgeführten als wenig erheblich beiseite 
lassen, von den 48225 Schuhmachern im Hauptberuf waren 
17345, das sind 3b* °/o, zugleich Landwirte, selbständige sowohl 
als im Taglohn arbeitende. Zu letzteren stellen die Schuh- 
machereibetriebsinhaber nur ein kleines Kontingent, ein grösseres 
die Gehilfen, die begreiflicherweise nur eine geringe Anzahl 
Grundeigentümer aufweisen. Dagegen ist fast die Hälfte sämt- 
licher Schuhmachermeister Bayerns im Besitze von eigenem 
Grund und Boden ; dieser wird in den allermeisten Fällen freilich 
nur eine winzige Parzelle darstellen, die der Meister mit Hilfe 
seiner Familienangehörigen in den von seinen gewerblichen 
Verrichtungen nicht beanspruchten Zeiten bestellt. Könnte 
man, was leider nach dem amtlichen Material nicht möglich 
ist, die Zahl der Betriebe, ihrer Inhaber und Gehilfen genau 
nach dem Wohnsitz in den Städten und dem flachen Lande 
aussondern, so würde sich natürlich für das letztere ein noch 
weit stärkerer Prozentsatz der mit Landwirtschaft verbundenen 
Schuhmachereibetriebe herausstellen. Am meisten ist in dieser 
Hinsicht Schwaben bedacht, dann folgen Oberpfalz, Nieder- 
und Oberbayern, hierauf Unter-, Mittel- und Oberfranken, 
zuletzt die Rheinpfalz, wo aber immer noch fast doppelt so viele 
Schuhmacher 1875 in der Landwirtschaft thätig waren als in 
Hannover, das in dieser Hinsicht obenan unter den Provinzen 
Preussens steht. Förmliche Schuhmacherdörfer, wie in Galizien, 
wo jeder Haus- und Grundbesitzer selbständig das Gewerbe 
treibt, wie dies C. v. Paygert ausführlich schildert 1 ), hat 



l ) Die soziale und wirtschaftliche Lage der galizischen Schuhmacher. 
Eine Studie über Hausindustrie und Handwerk von Dr. C. v. Paygert. 
Leipzig 1891. 



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Bayern allerdings nicht, wenn mau nicht die von der Gross- 
industrie abhängigen Ortschaften mit starker Bevölkerung von 
Heimarbeitern in der südwestlichen Rheinpfalz dahin rechnen will. 

Auch von den sonstigen, im Schuhmachergewerbe üblichen 
Nebenbeschäftigungen wird ein Teil auf dem flachen Lande 
gebräuchlich sein. Doch ist ihre Gesamtzahl ziemlich gering- 
fügig: 1882 waren in Industrie und Baugewerbe 170, in Handel 
und Verkehr 747, in Lohnarbeit und persönlichen Dienst- 
leistungen 15 und im Staats-^ Gemeinde- und Kirchendienst 
408 Schuhmacher, meist selbständige Betriebsinhaber, thätig. 
Noch weniger kommt wirtschaftlich in Betracht die Zahl der- 
jenigen, die Schuhmacherei nur nebenher in der freien Zeit, 
die ihnen ihr Hauptberuf lässt, treiben: sie betragt nur 955, 
während 3473 in der Landwirtschaft thätige Personen mitunter 
zur Nebenbeschäftigung Ahle und Pechdraht ergreifen. 

Schon die Thatsache allein, dass in Bayern, abweichend 
hierin von den meisten andren Gegenden Deutschlands, der 
kleine Schuhmacher fast ausschliesslich Landwirtschaft als 
Nebengewerbe treibt, um aus ihr den nötigen Zuschuss für 
seine Existenz zu gewinnen, lässt es von vornherein wahr- 
scheinlich sein, dass in den Städten, wo dieser Erwerbszweig 
natürlich abgeschnitten ist, die Bedrängnis der Inhaber kleiner 
Betriebe noch schärfer hervortritt. Zwar ist hier der Ver- 
brauch an Schuhwaren nach Menge und Qualität ein erheblich 
stärkerer, aber dieser Vorteil wird wettgemacht durch die grössere 
Zahl der Schuhmacher in den Städten; wir haben ja gesehen, 
dass auf je 10000 Einwohner der Bezirksämter 81 in unsrem 
Gewerbe thätigo Personen kamen, während die unmittelbaren 
Städte des Königreiches und die 11 grösseren Städte der Pfalz 
unter je 10000 Köpfen 137 Schuhmacher zählten. Je kleiner 
die Stadt, so kann man fast als allgemein gültige Regel auf- 
stellen, desto mehr Schuhmacher überhaupt, und zwar wächst 
hier die Zahl der Selbständigen und verringert sich die Zahl 
der Gehilfen. Mit der Bevölkerung der Städte nimmt dagegen 
die Zahl der Betriebe ab, ihr Umfang aber zu. Diese Er- 
scheinung tritt in der Entwickelung unsres Gewerbes im ganzen 
Lauf des Jahrhunderts hervor und ist unschwer zu erklären: 
Die ursprünglich durch Zunft oder Konzession geregelten Ver- 



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— 88 - 



hältnisse in kleinen Städten bleiben auch nach Einführung der 
Gewerbefreiheit in einer gewissen Stabilität, der Umschwung 
in Verkehr und Technik berührt sie nur wenig, die Kon- 
kurrenz treibt nicht zur Anspannung aller Kräfte, wie in den 
Grossstädten, wo der untüchtige Meister seine Selbständigkeit 
nicht aufrecht erhalten kann; der Zufluss von Gehilfen vom 
Lande nach den Bevölkerungscentren macht sich ebenfalls 
geltend. Abgesehen von den Standorten der Grossindustrie, 
also in erster Linie Pirmasens und Umgegend, in zweiter 
Schweinfurt, finden wir den höchsten Prozentsatz der Schuh- 
macherbevölkerung in den zahlreichen kleinen unmittelbaren 
Städten Frankens und Schwabens (17 — 14 Schuster auf 1000 Ein- 
wohner), während München, Nürnberg, Würzburg, Augsburg 
durchschnittlich nur etwa zehn Schuhmacher in der gleichen 
Zahl Seelen aufweisen. 

Wie sehr sich nun selbst in den grössten Orten Bayerns 
die Schuhmacherei in kleine und kleinste Betriebe verzettelt, 
dafür erhalten wir Anhaltspunkte aus der Statistik unsres Ge- 
werbes in München und Nürnberg. Im Jahre 1882 hatte 
München bei rund 230000 Bewohnern 1406 Schuhmacherei- 
betriebe, in denen 2338 Personen beschäftigt waren. Davon 
wurden aber mehr als 5 ,7 nur von dem Inhaber allein, ohne 
Gehilfen oder Lehrling geführt, während 383 mit 384 Geschäfts- 
leitern und 953 Hilfspersonen arbeiteten. Aber auch die enorme 
Mehrzahl dieser Gehilfenbetriebe hatte nur einen oder zwei Hilfs- 
kräfte neben dem Meister: 349 Geschäfte gehörten in die Kate- 
gorie der Kleinbetriebe (bis fünf Gehilfen inkl.) und hatten 
018 Gesellen und Lehrlinge, zehn Hauptbetriebe beschäftigten 
23 Heimarbeiter und nur 15 arbeiteten mit 6 — 10, nur 10 mit 
11 und mehr Gehilfen. Mechanische Kraft hatte damals kein 
einziger Betrieb. Am Ende des Jahres 1892 war trotz der 
starken Vermehrung der Bevölkerungszahl (rund 300000 Seelen) 
die Summe der selbständigen Betriebe im Handwerk sogar 
etwas gesunken, auf 13G9 1 ); sehr verbreitet aber hatte sich 



*) Diese Angaben sind dem von der Handels- und Gewerbekammer 
für Oberbayern herausgegebenen Adressbuch 1893, Anhang des von 
der Polizeidirektion veranstalteten allgemeinen Adressbuchs der Stadt 



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dagegen der Verkauf in fertigen Schuhwaren in Läden der 
Schuhmachernleister und 25 grossen Handlungen und Nieder- 
lagen; an Schuh- und Schäftefabriken bestanden 1892 in 
München und nächster Umgebung 15, die meisten mit mo- 
torischer Kraft, Wasser oder Dampf. Ebenso ist es in Nürn- 
berg: 006 Betriebe zählen im Jahre 1882 1048 Personen; in 
403 arbeitet der Meister allein in der Werkstatt, in 203 sind 
auch Hilfskräfte, und zwar haben 193 Kleinbetriebe insgesamt 
nur 305 Gehilfen und Lehrlinge, zwei Geschäfte haben nur 
Hausindustrielle, 8 sind Grossbetriebe mit mehr als 5 Arbeitern. 
Im Jahre 1892 aber giebt es in der Stadt des Hans Sachs (378 
Einzelbetriebe, darunter nur etwa 12 mit je 3 — 6 Gehilfen und 
80 mit 1 — 2, eingerechnet diese 92 Meister etwa 200 Betriebs- 
inhaber, die zeitweise andre Meister für sich arbeiten lassen, 
während die übrigen, fast 500 an der Zahl, meist Flickschuster 
und Heimarbeiter sind, die zum Teil Lehrlinge haben, grössten- 
teils jedoch nicht. Etwa 20 dieser Betriebe handeln zugleich 
mit fertigen Schuhwaren, ausserdem aber sind noch an 30 Schub- 
laden und Fabrikniederlagen vorhanden. „Als Nürnberg noch 
65000 Seelen hatte, zählte es 250 Meister und 500 Gehilfen, die 
sicheren Nahrungsstand hatten. Heute, wo die Stadt 150000 
Einwohner hat, besitzt es nur 828 in der Schuhmacherei thätige 
Personen, davon sind aber 678 »selbständige Meister 4 und nur 
150 Gehilfen. Der Umschwung ist auf die inzwischen ent- 
standenen Schuhwarenlager zurückzuführen, in denen das Publi- 
kum billig einzukaufen gewöhnt ist. Ein Meister, der beispiels- 
weise vor 20 Jahren noch 24 Gehilfen beschäftigte, hat heute 
nur noch 6. In Nürnberg ist jetzt das Schuhmachergewerbe 
wohl das unlohnendste und schlechtest bezahlte." (Private 
Mitteilungen.) 

Liegen die Verhältnisse derart in den beiden grössten 
Städten des Landes, wo doch jedenfalls der Schuhwarenkonsum 
entsprechend der stärkeren Kaufkraft der Bevölkerung minde- 
stens nicht geringer ist als anderswo, so wird die Verzettelung 
unsres Gewerbes in Zwergbetriebe in den kleineren Städten 



München, entnommen; eine völlige Genauigkeit, wie sie der amtlichen 
Statistik möglich ist, dürfte ihnen nicht zukommen. 



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wohl noch stärker sein. Und seit den letzten 10 Jahren hat 
sie allgemein zugenommen, da die rapide Entwicklung der 
Grossindustrie, wie bereits erwähnt, besonders die Handwerks- 
betriebe mittleren Umfangs dezimiert hat, es wird die Zahl 
der grösseren Geschäfte vielleicht hie und da noch etwas ge- 
wachsen sein, und wie auf dem flachen Lande, so gilt auch 
für die Stadt der Satz, dass die überwiegende Mehrzahl der 
selbständigen Schuhmacher, ohne Gehilfen, allein in der Werk- 
statt sitzt. 

Wie gestaltet sich nun die Produktion der handwerks- 
mässigen Schuhmacherei in Stadt und Land? Die eine Art 
des Betriebes kennen wir schon, das ist die Arbeit auf der 
Stör, sie ist nur noch auf dem Lande üblich. Die zweite ist 
die eigentliche Kundenschuhmacherei. Der Meister wartet, bis 
er Aufträge erhält, und führt diese aus, indem er entweder den 
ganzen Schuh oder Stiefel selbst herstellt oder den fertigen 
Schaft kauft, ihn über den passenden Leist schlägt, dann den 
Boden, Sohle und Absatz, die er selbst zurichtet, befestigt und 
zuletzt sein Produkt ausputzt. Dies geschieht vorwiegend in 
der Werkstatt selbst, seltener bei Sitzgesellen und Heim- 
arbeitern. Neuerdings sind von Aerzten *) und Schuhmachern 
löbliche Bestrebungen gemacht worden, die Schuhe genau dem 
anatomischen Bau und den physiologischen Bedürfnissen des 
menschlichen Fusses anzupassen; auch haben sich besondere 
Spezialisten für orthopädisches Schuhwerk in grossen Städten 
gebildet. Man legt grossen Wert auf Ausbildung in Fach- 
kursen, Fachschulen, durch Konkurrenzen in Preisausschreiben 
und Ausstellungen, und es ist nicht zu leugnen, dass diese 
Bestrebungen auch gute Erfolge erzielen. 

Der Kundenschuhmacher besorgt auch die Reparaturen; 



') Hier sind besonders zu nennen Generalarzt Dr. Paul Starcke 
n Berlin, gest. am 17. August 1885, und Prof. Hermann von Meyer 
in Zürich, gest. 21. Juli 1892. — Schon vor 100 Jahren hatte der hollän- 
dische Anatom Peter Kamper nachdrücklichst die Wichtigkeit der 
Kenntnis von Bau und Physiologie des menschliehen Fusses für die 
Schuhmacherei betont. — Von Schuhmachern sind Knöfel in Wien, 
Franke in Artern, Busch in Erfurt u. a. eifrig für die Fachbildung 
ihrer Kollegen eingetreten, schriftstellerisch sowohl wie praktisch. 



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— 91 



nebenbei aber gibt es noch zahlreiche Flickschuster, meist 
herabgekommene oder wenig leistungsfähige Meister, die nur 
Altarbeit liefern; ihre Zahl wächst ständig. Eine immer grössere 
Ausdehnung hat die Schuhstepperei und Schäftefabrikation 
auch im Kleingewerbe gewonnen. Entweder fertigt der In- 
haber im Verein mit einigen Stepperinnen auf der Nähmaschine 
die Schäfte im Auftrag des Schuhmachers und nach Mass, 
wobei ihm das zugeschnittene Material geliefert wird, oder er 
arbeitet selbständig mit eigenem Material auf Vorrat und ver- 
kauft an den Meister oder an Ladenbesitzer. In der Regel 
kaufen die kleinen Kundenschuhmacher ihren Bedarf an Schäften 
für bessere Ware fertig ein, da sie nicht das erforderliche 
Material und die nötige Uebung besitzen, diese in gleicher 
Zierlichkeit herzustellen, falls sie überhaupt eine Nähmaschine 
besitzen. In den feinen Kundengeschäften werden dagegen alle 
Teile des Schuhes in der Werkstatt selbst gefertigt, wobei der 
Meister oder ein Vorarbeiter das Leder zuschneidet, Frauen 
auf der Maschine die Schäfte nähen und die männlichen Ge- 
hilfen die Bodenarbeit verrichten, während die Lehrlinge, ab- 
gesehen von der Verwendung in der Hausarbeit, ihre Kunst 
zunächst an ordinärer Flickerei erproben müssen. 

Eine Einrichtung der Neuzeit sind in den grösseren Städten 
die Läden mit Schuhbedarfsartikeln, die neben Schäften und 
Futter alle Fournituren, wie Nägel, Garn, Wichse, Wachs, ferner 
Werkzeuge, Leisten u. s. w. führen. Auch die Ladengeschäfte 
vieler Lederhändler bieten Schäfte und Schaftteile zum Ver- 
kaufe aus. 

Der Kundenschuhmacher leidet begreiflicherweise unter 
der Unsicherheit des Geschäftsganges. Kommen die Bestellungen 
nicht zahlreich genug, so dass der Betrieb nicht standig voll 
beschäftigt ist, so greift der Meister zum Nebenerwerb — in 
erster Linie also in Bayern ausserhalb der Städte zu landwirt- 
schaftlicher Thätigkeit, oder er arbeitet auf Vorrat. Die Er- 
zeugung fertiger, nicht auf ein bestimmtes Individuum zuge- 
schnittener Ware ist in unserm Gewerbe sehr alt, hat aber 
allerdings erst in der Neuzeit erheblich zugenommen. Der 
Schuhmacher auf dem Lande übt diese Produktion geradeso wie 
jener in der Stadt. Aber der Vertrieb nimmt bei beiden einen 



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— 02 - 



verschiedenen Weg. Vom Lande resp. den kleineren Orten 
kommen zumeist die derben, ordinären Schuhe und Stiefel, die 
wir neben der Fabrikware auf den zahlreichen Krammärkten, 
Messen und Dulten sehen; entweder befährt der Schuster selbst, 
vielleicht auch ein Familienmitglied diese Märkte, oder er ver- 
kauft seine Ware an Händler. Der Schuhmacher in der grös- 
seren Stadt aber wird seinen Vorrat vorwiegend in Läden und 
Magazinen los und zwar in eigenen oder fremden. Immer 
mehr wird er neben dem Handwerker auch Kaufmann, das ist 
sein Nebenberuf, der täglich mehr in den Vordergrund tritt. 
Erst legt er nur selbstproduzierte Schuhe ins Schaufenster, den 
Verkauf führt meist die Frau oder die Tochter, neben dem 
kleinen Laden ist die Werkstatt, die zugleich Wohn- und 
Schlafzimmer ist. Geht das Geschäft, so rückt der Schwer- 
punkt vielfach ganz vom Handwerk in den Handel, die Wünsche 
und Bedürfnisse seines Publikums veranlassen ihn, zu grösserer 
Auswahl auch von andern Meistern und besonders von Fabriken 
hergestellte Ware sich anzuschaffen, die er billiger zu kaufen 
bekommt. An zahlreichen Läden kann man jetzt lesen, dass 
hier der Schuhmachermeister N. N. auch Arbeit auf Mass und 
Reparaturen besorge; das Handwerk ist so sehr zurückgetreten, 
dass der Betriebsinhaber sich gedrängt fühlt, seine fast ver- 
gessenen Fähigkeiten besonders herauszustreichen. Hält er 
aber seine Produkte nicht in eigenem Laden feil, so liefert er 
für andre; die grossen Schuhmagazine , die hauptsächlich 
Fabrikwaren führen, beschäftigen doch meist auch einige Ge- 
werbsmeister am Ort. Die Massenerzeugung fertiger Ware 
und ihr Verkauf drücken natürlich wieder auf die kleinen 
Kundenschuhmacher, die immer mehr an selbständigen Be- 
stellungen für Neuarbeit verlieren, so dass das bittere Wort 
entstehen kann : Der Kleinmeister repariert heutzutage die zer- 
rissene Fabrikware! 

Alle Uebelstände des modernen Zwergbetriebes im Hand- 
werk machen sich gerade in der Schuhmacherei besonders fühl- 
bar *). Viele Kleinmeister haben nicht genug Kapital, um sich 



') Ein trauriges Bild von den württembergischen Zuständen, daa 
aber auch für Bayern durchweg zutrifft, entwirft der Jahresbericht der 



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— 03 — 



eine Nähmaschine oder verbesserte Werkzeuge zu kaufen; da 
sie den Rohstoff nur in kleinen Portionen oder auf Kredit 
nehmen müssen, bekommen sie vom Lederhändler leicht minder- 
wertiges Material ; sie müssen, wollen sie überhaupt Bestellungen 
erhalten, lange Kredite, auch an unsichere Zahler, geben. 
Schliesslich sinken sie in Abhängigkeit von grösseren Geschäften 
oder zu Altflickern herab, manche stehen vom Schemel auf 
und ergreifen eine andre Hantierung, andre suchen Zuflucht 
im Grossbetriebe 1 ), wo man jüngere gelernte Arbeiter gerne 
willkommen heisst, die älteren aber nicht mehr verwenden will. 

Diese Notlage der kleinen Schuhmacher wird sicher noch 
zunehmen; denn wir stehen erst im Anfange der Entwickelung 
der Grossindustrie. Erst seit 20 Jahren macht sich ihre Kon- 
kurrenz fühlbar und nun, wo der Export sich mehr und mehr 
eingeengt hat, wird der heimische Markt mit verdoppeltem 
Eifer aufgesucht. Bisher war auch noch die teilweise gering- 
wertige Qualität der Fabrikware ein Schutz für das Handwerk. 
Je mehr aber deren Güte sich hebt und die Produktionskosten 
sich verringern, desto schärfer wird der Kleinbetrieb seine Ohn- 
macht empfinden. Diese Bedrängnis äussert sich zuerst in den 
Städten, wo die Beschaffung fertigen Schuhzeugs in zahlreichen 
und eleganten Läden bei reicher Auswahl und hilligen Preisen 

Handeigkammer von Stuttgart bereits im Jahre 1884; es heisst da u. a. : 
„Für die kleingewerbliche Schuhmacherei wird die Situation von Jahr 
zu Jahr infolge des fortschreitenden Ueberganges des Schuhmacher- 
gewerbes vom Hand- zum Maschinenbetrieb immer ungünstiger, die 
mechanische Schuhfabrikation deckt sich mit Umgehung des Lederhänd- 
lers grösstenteils beim Fabrikanten. Die Kundschaft andrerseits, nament- 
lich aus der städtischen und weiblichen Bevölkerung, kauft beinahe aus- 
schliesslich in den Magazinen des Fabrikanten selbst oder beim Zwischen- 
händler, so dass das Kleingewerbe mehr und mehr auf die Landbevölke- 
rung angewiesen ist. Diese aber hat wenig verfügbare Mittel und zahlt 
daher sehr schleppend. Ueberall hört man Klagen über schlechten Geld- 
eingang. Schuhmacher, die nach 10—12 Monaten bezahlen, werden noch 
zu den guten und kreditfähigen gerechnet. Viele, die früher gute Ge- 
schäfte hatten, sind zu Schuhflickern herabgesunken und können ihre 
Gläubiger gar nicht mehr befriedigen." 

') „Ich war früher selbst Meister und beschäftigte Leute, konnte 
aber meine Familie nicht so durchbringen wie jetzt , wo ich Maschinen- 
knecht bin," erklärt in einem Schuhmacherblatt ein Fabrikarbeiter. 



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— 94 — 



jedem allezeit geboten ist. Aber auch auf dem flachen Lande 
ist die Notlage zu spüren. Auch hier nimmt das Begehren 
nach fertiger Ware zu; der Bauer geht in die nächste Stadt 
oder wartet den Markt ab. Ein Landschuster sagte mir mit 
grimmigem Humor: „Wenn der Bauer Geld hat, dann kauft 
er sich fertige Stiefel im Laden, wo er bar bezahlen muss; 
hat er keins, so bestellt er sich ein Paar beim Schuhmacher 
und bleibt's schuldig!" 

Namentlich hat die Grossindustrie die Preise in starken, 
billigen Arbeiterstiefeln gedrückt, von denen Eschwege, Kassel, 
Backnang, Balingen, Tuttlingen, Kevlaar so haltbare Ware 
liefern, dass der Schuhmacher trotz des Auftrags des Kunden 
es bisweilen vorteilhafter findet, nicht selbst den Stiefel her- 
zustellen, weil er das Leder nicht so gut und billig bekommt, 
sondern ein annähernd passendes Paar im Magazin zu kaufen, 
über den Leist zu schlagen und dem Besteller, der doch eigens 
für seinen Fuss gemachte Stiefel haben will, mit einem Preis- 
zuschlag zu verkaufen *). Und wie in den Alleinbetrieben, so 
geht's in den kleinen Gehilfengeschäften, wo der Meister am 
Schlüsse der Woche oft nicht weiss, woher das Geld nehmen, 
um die Gehilfen auszuzahlen. Hier wird dann am Lohn abge- 
zwackt, die Arbeitszeit verlängert, der Sonntag mit heran- 
gezogen, hier blüht die Lehrlingszüchterei, damit man die selb- 
ständige Existenz kümmerlich fortführen kann. Es ist richtig, 
was man oft hören kann: Die Konkurrenzfähigkeit des Hand- 
werks in der Schuhmacherei gegenüber der Grossindustrie be- 
ruht zum Teil in der grössten Ausnutzung der Arbeitskräfte 
bei niederem Lohn und langer Arbeitszeit. Dabei ist nach- 
drücklichst zu betonen, dass die meisten kleinen Meister nicht 
um ein Haar besser leben als ihre Gehilfen. 

') Aus den Vereinigten Staaten wird im „ Schuh macher-Fachblatt" 
1892 Nro. 2 von einem Mitarbeiter in Chicago der gleiche Trick be- 
richtet: Die Kundenschuhmacher im Osten Nordamerikas lassen sich 
nicht selten 6 Dollars für ein Paar angemessene , handgemachte Schuhe 
bezahlen, geben das Mass in die Fabrik, wo sie für das Zuschneiden nach 
dem Mass 25 Cents extra bezahlen. Binnen einigen Tagen bekommen 
sie für 3'/ 4 Dollars ein Paar hübsch gemachte Fabrikschuhe, die nun 
dem Kunden als selbstgemachte, handgenähte Schuhe für 6 Dollars über- 
geben werden. 



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- 95 - 



Daneben wird es natürlich immer Betriebe geben, in denen 
das Handwerk, vielleicht eine Spezialität, oder in Verbindung 
mit einem Ladengeschäft, vortrefflich geht und eine Ware von 
vorzüglicher Qualität geliefert wird. Aber wie im gesamten 
Wirtschaftsleben eines Volkes stets und überall der Massen- 
konsum die entscheidende Rolle spielt, so ändern auch in der 
Schuhmacherei der Luxus und der wählerische Geschmack 
wohlhabender Kunden so gut wie nichts an der Gresamtlage 
des Gewerbes. 

Nun hat man in wohlmeinendster Absicht vielfach den 
Rat erteilt, man solle im Handwerk den Grossbetrieb mit seinen 
eigenen Waffen schlagen, indem man verbesserte Werkzeuge, 
Maschinen, mechanische Kraft und genossenschaftliche Ver- 
einigung einführe. Es möge gestattet sein, in wenigen Worten 
im Zusammenhange dieses Abschnitts noch zu erörtern, wie 
weit dieser Vorschlag auf die Schuhmacherei bisher Anwendung 
gefunden hat oder überhaupt Durchführung finden kann. Nicht 
bloss manche Nationalökonomen, sondern auch Lehrbücher der 
Schuhmacherei *) raten, die Leistungsfähigkeit der Handwerks- 
betriebe auf diesem Wege zu stärken. Rodegast 2 ) empfiehlt 
nicht weniger als 13 neue Werkzeuge und Hilfsmaschinen in 
den Werkstätten einzuführen , und zwar 1. die wichtigste von 
allen die Nähmaschine, 2. die Knopf lochmaschine, 3. die Riem- 
chen-Umbiegmaschine, 4. den Nahtausreiber, 5. die Oesen- und 
Hakeneinsetzmaschine, 6. die Auslochzange — diese alle für 
die ^chaftarbeit. Der Bodenarbeit sollen dienen: 7. die Fleck-, 
8. die Kappenstangen, 9. die Kappen- und Kederschürfmaschine, 
10. der Arbeitsständer, 11. der Absatz-, 12. der Schnitt- und 
13. der Risshobel. Mit Ausnahme der Näh- und Knopfloch- 
maschine, von denen die erstere 120 — 150, die andre 360 M. 
kostet, bewegen sich die Preise aller dieser Vorrichtungen zwi- 
schen 20 und 50 M. Die Zahl der für den Handwerksbetrieb 
verwendbaren Verbesserungen ist mit dieser Liste entfernt 

') Solche Handbücher sind z. B. : H. A. Schneider, Moderne 
Schuhfabrikation, Weimar 1877; Knöfel, Lehrbuch der Fussbekleidungs- 
kunst. Leipzig 1879; Rodegast,' Die Fussbekleidungskunst, 1888; 
Franke, Die Schuhmacherei. Artern 1887. 

2 ) A. a. O. S. 161—165. 



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- <J0 — 



nicht erschöpft; es gibt da Einfassmaschinen, Locheisennadeln, 
Faltenerzeuger für Stulpenstiefel, Walkmaschinen, Kantenhobel, 
Uinbugmaschinen , Aufpapp- und Bügelmaschinen, Nähappa- 
rate etc. etc. — die Menge dieser Vorrichtungen ist Legion 
und täglich werden neue konstruiert und angepriesen. — 
Sicherlich würde auch der Kleinbetrieb von manchen dieser 
Werkzeuge wesentliche Vorteile haben, obwohl viele Meister 
selbst diese geringen Kosten nicht aufbringen können. Nament- 
lich erscheint uns mit C. v. Paygert 1 ) die allgemeine Ein- 
führung der Arbeitsständer, deren es zahlreiche Arten gibt, 
sehr wünschenswert, der dem Schuhmacher ermöglicht, die 
vorgebeugte Haltung bei der „Schossarbeit* mit der stehenden 
zu vertauschen. Seine Wichtigkeit für die Gesundheit leuchtet 
ein, wenn man bedenkt, dass man bei kranken Handwerkern 
40 °/o Magenleidende, bei den Schustern speziell aber G7°,o ge- 
funden hat, was dem beständigen gekrümmten Sitzen zuge- 
schrieben wird. Nicht weniger leidet dabei die Lungenthätig- 
keit 8 ); von 100 Schuhmachern und Schneidern sterben nach 
Neumanns Untersuchungen 60 an Tuberkulose. Auch diesem 
Uebel könnte die Verwendung des etwa 40 M. kostenden 
Arbeitsständers steuern. Wenn aber Dr. v. Paygert meiut, 
alle diese Werkzeuge sollten in keiner Schuhmacherei fehlen, 
die 3 — 5 Gehilfen beschäftige, so kann man zwar diesen Wunsch 
vollkommen teilen, muss aber doch gleichzeitig darauf ver- 
weisen, wie äusserst gering die Zahl solcher Betriebe in Bayern 
ist, nämlich noch keine 3°,o der Gesamtziffer. Selbst wenn 
also alle diese Betriebe nach den Hilfsmaschinen griffen, würde 
dies an der Situation der gesamten Schuhmacherei zu Gunsten 
des Handwerks sehr wenig bessern. 

Noch weniger würde dies der Fall sein, wenn man die 
grossen Gehilfenbetriebe, in denen die Handarbeit noch vor- 
herrscht, mit ähnlichen Maschinen ausstatten würde, wie sie 
in den mechanischen Schuhfabriken gebräuchlich sind. Sohlen- 
nähmaschinen z. B. sind hie und da im Gebrauch. Aber einer 
weiteren Ausdehnung ihrer Verwendung stehen verschiedene 



*) Die galizischen Schuhmacher S. 72 f. 

') M. Poppert, Gewerbehygiene. Stuttgart S. 67 f. 



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117 - 



Gründe entgegen. Auch jetzt sind solche Maschinen noch so 
teuer, dass nur bemittelte Meister sie anschaffen können *). Zu 
ihrer wirksamen Ausnützung erfordern sie mechanische Kraft 
und auch diese ist, trotz aller für das Kleingewerbe kon- 
struierten Motoren, ziemlich kostspielig 2 ), mag Wasser, Gas, 
Heissluft, Elektrizität oder Druckluft die Kraft liefern. So- 
dann aber und vornehmlich muss man fragen, wo ist denn der 
Handwerksbetrieb in der Schuhmacherei in Bayern, der eben 
wirklicher Handwerksbetrieb noch ist und bleiben will, aber für 
solche Arbeits- und Kraftmaschinen genügend Verwendung 
hätte? Wo ist das Mass- und Kundengeschäft — und wenn 
es selbst 25 — 30 Gehilfen und Lehrlinge beschäftigte, die täg- 
lich 20 — 25 Paar Stiefeln fertigen — das wirklich Vorteil von 
einer Sohlennähmaschine, von einer Absatzpresse etc. hätte, 
die jenes Quantum Ware in einer halben Stunde fertig stellen 
und dann müssig stehen a ) ? Um die kostbaren Maschinen aus- 



') Die 1870 noch 4000 M. kostende Mc Kay-Maschine wird jetzt 
zwar von sächsischen Fabrikanten um 600 M. geliefert, von Amerika 
oder England bezogen kostet sie 11—1200 M., für die meisten Schuh- 
macher ganz unerschwingliche Summen. 

-) Z. B. eine in Fürstenfeldbruck, unweit München, 1892 mit Be- 
nutzung billiger Wasserkraft ins Leben gerufene elektrische Anlage für 
Beleuchtung und Kraft, die sehr gerühmt wird, fordert für 1 Pferdekraft 
eine Jahresmiete von 360 M. {Vortrag im polytechn. Verein München 
am 7. Nov. 1892.) Ein Gasmotor von V* Pferdekraft erheischt 775 M. 
Anschaffungskosten, von V- Pferdekraft 1365 M. ; bei billigstem Gaspreis 
von 10 Pfg. pro Kubikmeter würden sich für letztere Maschine die Be- 
triebskosten (samt Verzinsung und Amortisation) bei 3000 Arbeitsstunden 
jährlich auf 394 M. stellen. Für Druckluftmotoren von 1 2 Pferdekraft 
berechnet die Firma A. Riedinger u. Comp, bei 3000 Arbeitsstunden 
jährlich im Pauschalabschluss 300 M., für eine gewöhnliche Nähmaschine 
90 M. (Näheres siehe im „Journal für Gasbeleuchtung und Wasser- 
versorgung'. Jahrg. 1891 S. 369 ff. und 495 ff.) 

8 ) Thatsächlich gibt es meines Wissens in der Schuhmacherei 
Bayerns keinen eigentlichen Handwerksbetrieb, der mechanische Kraft 
verwendete, während für andre Gewerbe dies ziemlich häufig der Fall 
ist. Ein mir von der Direktion der Gasgesellschaft in München zur Ver- 
fügung gestelltes Verzeichnis der bis 30. Juni 1892 im Betriebe befind- 
lichen Gasmotoren für gewerbliche Zwecke in München weist 220 An- 
lagen mit 236 Motoren und 853* 4 Pferdekräften und einen Gasverbrauch 
von 706 323 cbm im Jahre 1891,92 auf. Es sind in der Liste 34 ver- 
Francke, !>ift Sohuhmaolieni in Bayern. 7 



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- 98 - 



zunützen, würde der Meister ganz sicher seine Produktions- 
weise ändern, er würde die Werkstatt in eine Fabrik um- 
wandeln, nicht die geschickte Hand des Schuhmachers und 
nicht die individuelle Anpassung an die Wünsche des Kunden, 
sondern die rastlose Arbeit der Maschine und die Massen- 
produktion würden die Hauptsache werden. Wir hätten einen 
Handwerksbetrieb weniger, eine mechanische Schuhfabrik 
mehr — ein Entwickelungsgang , der ja in unserm Gewerbe 
sehr häufig ist. Oder aber es müssten sich mehrere Meister 
zu einem genossenschaftlichen Betriebe vereinigen, um die ge- 
meinsam beschafften Maschinen auszunützen. Denkbar wäre 
dies in einzelnen grossen Städten ja, wenn es auch bisher in 
Bayern nicht praktisch erprobt worden ist. In jedem Falle 
aber, auch in dem letzteren, würde der kapitalkräftigere, mit 
Maschinen arbeitende Meister eben doch nur eine vereinzelte 
Erscheinung bleiben, und die Notlage der zahlreichen Zwerg- 
betriebe in Stadt und Land, der eigentlichen Handwerker, die 
von früh bis tief in die Nacht in dumpfer Werkstatt über die 
Arbeit gebückt sitzen, nur noch vermehren. Denn er wäre 
gezwungen, den Kreis seiner Kunden und Abnehmer zu er- 
weitern und mit billigen Preisen seine kleinen Kollegen zu 
drücken. Wirksam wäre freilich diesen Zuständen Abhilfe zu 
schaffen, wenn der Verbrauch an Schuhwaren in Deutschland 
namhaft zunähme! In der That ist dieser zur Zeit noch ziem- 
lich gering und wir fürchten, es wird auch noch lange dauern, 
bis die Steigerung der Nachfrage der Produktionsfähigkeit in 
der modernen Schuhmacherei entspricht. Bis aber die grossen 
Massen jenen Anteil am Volkseinkommen haben, der ihnen 
erheblich mehr Aufwand für Schuhzeug gestattet als jetzt, bis 
dahin wird der Sieg der Grossindustrie über das Handwerk in 
der Schuhmacherei vollständig auch bei uns entschieden sein. 

schiedene Gewerbe und Anstalten, darunter auch Bäckereien, Metzgereien, 
Schneidereien aufgeführt, aber keine einzige Schuhmacherei. Die andern 
Kraftmotoren kommen aber für unser Gewerbe hier noch weniger in 
Betracht 



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VII. 

Die Hausindustrie. 

Eine eigentliche Hausindustrie ist in der Schuhmacherei 
verhältnismässig erst jungen Datums. Und zwar trifft dies 
besonders für Bayern zu. In anderen Ländern, wie im König- 
reich Sachsen der Marktflecken Groitzsch, der den Ursprung 
seiner Schuhwarenmanufaktur romantisch genug auf die Kreuz- 
züge zurückführt *), in der preussischen Provinz Sachsen die 
Gegend von Erfurt, in der Mark dann die altberühmte Schuster- 
stadt Kalau, in Württemberg im Schwarzwaldkreis, in Oester- 
reichisch-Galizien das Schuh macherdorf Uhnow, von dem uns 
C. v. Paygert eine lebensvolle Beschreibung gegeben hat 2 ), 
besteht schon seit längerer Zeit eine ausgebreitete Marktschuh- 
macherei, die eine allmählich sich vom handwerksmässigen Be- 
triebe absondernde Heimarbeit begünstigt. Denn anstatt mit 
den eigenen Produkten selber den Markt zu befahren, Zeit zu 
versäumen und ein geschäftliches Risiko zu wagen, überliess 
der kleine Meister mit der Ausbreitung und Verdichtung des 
Verkehrs diese Aufgabe des Vertriebs besonderen Händlern, 
die allmählich dann auch dazu übergingen, dem Schuhmacher 
das Rohmaterial, Leder und Zuthaten zu liefern, so dass er 
aus dem Gewerbetreibenden sich in einen Hausindustriellen ver- 



*) Es wird dort die Legende gepflegt, ein abenteuernder Schuster- 
gesell sei in der Zeit der Kreuzzüge nach dem Orient gekommen, dort 
in Gefangenschaft geraten und zur Arbeit angehalten worden. Da habe 
er Fabrikation und Verwendung des Saffianleders kennen gelernt und 
diese nach seiner, von Fährlichkeiten mancher Art verzögerten Rückkehr 
in die Heimat in Groitzsch den Freunden vom Handwerk mitgeteilt. 

3 ) In den „ Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen" 
O. Schmollers, Band XI Heft 1. 



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— 100 — 



wandelte, der mit Weib und Kind, aber meist ohne weitere 
Gehilfen nicht mehr für eigene Rechnung, sondern für die 
eines Verlegers arbeitete. In Bayern ist die einen derartigen 
Umbildungsprozess begünstigende Marktschuhmacherei in irgend- 
wie massgebender Bedeutung nicht vorhanden; von der Rhön 
wird allerdings ebenso wie aus Oberfranken berichtet, dass dort 
eine Hausindustrie der Marktschuhmacherei sich höchst kümmer- 
lich hält, aber doch nur in minimalem Umfange. 

Gleichwohl aber haben wir eine starke Hausindustrie in 
der Schuhmacherei und zwar im Anschluss und aus Anlass der 
Entstehung und Entwicklung der mechanischen Schuhwaren- 
industrie. Es hat sich da eine Art rückläufiger Bewegung 
eingestellt: während sonst im allgemeinen die Heimarbeit und 
das Verlagssystem der Fabrik vorausgeht und von dieser ver- 
drängt und aufgesogen wird, ruft in der Schuhmacherei gerade 
der Grossbetrieb die Hausindustrie erst ins Leben. Das hängt 
aufs innigste mit dem Wesen der Maschinenarbeit in unserem 
Gewerbe zusammen, die nicht nur zur Bedienung und Aushilfe 
in einzelnen Operationen des Herstellungsprozesses, sondern für 
ganze Teile der Erzeugung von Schuhwaren des selbständigen 
Eingreifens der menschlichen Hand entweder nicht bezw. noch 
nicht entbehren kann, weil die mechanische Fabrikation diese 
und jene Teilarbeit gar nicht oder nur unvollkommen herstellt, 
oder nicht entbehren will, weil bei Handarbeit die Produktions- 
kosten zur Zeit bei uns sich noch niedriger stellen. Ein Wort 
von nicht zu verkennendem Gewicht spricht seit einigen Jahren 
unsere neue Versicherungsgesetzgebung bei Ausbildung der 
Heimarbeit mit: für den in seiner Fabrik stehenden Arbeiter 
muss der Unternehmer Beiträge zahlen, für den von ihm be- 
schäftigten Hausiudustriellen braucht er es nicht, der gilt recht- 
lich als „ selbständiger Betriebsinhaber K , so abhängig er that- 
sächlich auch sein mag. Dieser Umstand bewirkt u. A., dass 
z. B. in Pirmasens mindestens ebensoviele Heimarbeiter von 
den Fabrikanten benützt werden als Fabrikarbeiter. 

So haben wir im 3. und 4. Abschnitt gesehen, dass in 
Pirmasenz bis zu Ende der fünfziger Jahre trotz der grossen 
Anzahl von Schuhmachern und der ganz stattlichen Waren- 
mengen die Art des Betriebes durch etwa 70 Jahre hindurch 



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101 — 



in denselben Bahnen geblieben war; erst gelegentlicher oder 
notgedrungener Hausfleiss, dann eine Unmasse kleiner Meister 
erzeugten und vertrieben ihre Produkte auf eigene Rechnung. 
Sofort aber mit der Einführung mechanischer Fabrikation und 
kaufmännischer Geschäftsgebarung entwickelte sich eine Haus- 
industrie, die zu Anfang der sechziger Jahre beginnt, sich all- 
mählich ausbreitet, die umliegenden Dörfer ergreift und, gleichen 
Schritt mit der Entwicklung des Fabriken wesens haltend, dort 
jetzt auf einen Umkreis von 4 — 6 Stunden um Pirmasens und 
in der Stadt selbst Tausenden von Menschen Beschäftigung 
gibt. Noch für das Jahr 1882 hatte die Berufszählung vom 
5. Juni ds. Js. an „Selbständigen, die zu Hause auf fremde 
Rechnung arbeiten", im ganzen Königreich nur 1660 und unter 
diesen nur 125 Frauen gezählt; davon waren ohne Nebenberuf 
1205, von den 464 mit Nebenberufen trieben 450 Landwirt- 
schaft, zumeist selbständig, nur 53 als Taglöhner. Die Zahl 
ihrer Angehörigen ohne Erwerbsthätigkeit in der Schuhmacherei 
betrug im Alter über 14 Jahre 10 Personen männlichen und 
1166 weiblichen Geschlechts, im Alter unter 14 Jahren 1302 
und 1278, zusammen also 3756. Die Gesamtzahl der Er- 
werbstätigen, Dienenden und Angehörigen, die von der Schuh- 
macherhausarbeit ihren Lebensunterhalt ganz oder vorzugsweise 
bezogen, belief sich 1882 auf 5457 Personen. Dazu kamen 
41 Hausindustrielle, im Nebenberuf als Schuhmacher Thätige, 
von denen 29 ihrem Hauptberuf nach Landwirte waren. Die 
ganz überwiegende Mehrzahl der Hausindustriellen kam auf 
die Rheinpfalz, die Provinzen des rechtsrheinischen Bayerns 
wiesen Heimarbeiter nur ganz sporadisch auf 1 ). 

Diese statistischen Angaben sind heute völlig veraltet, 
eine neue Aufnahme der Gewerbe würde ein sowohl nach der 
Zahl der Hausindustriellen wie nach dem Wachstum ihrer 
Standorte gänzlich verändertes Bild geben. Man kann sagen: 
Wo eine wirklich leistungsfähige Grossindustrie in der Schuh- 
macherei mit mechanischem Betriebe entstanden ist und noch 

') Nach der Gewerbestatistik von 1882 waren in der Schuhmacher- 
Hausindustrie in ganz Deutschland 1612 Arbeitgeber (Verleger) und 
15 363 Arbeiter beschäftigt. Von den Verlegern arbeiteten 80,8 °/o mit 
einer Anzahl von unter 10 Personen. 



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102 - 



entsteht, siedelt sich um sie herum eine mehr oder weniger 
ausgebreitete Hausindustrie an. Das ist nicht nur in Pirmasens 
der Fall, wenn auch hier in hervorragendstem Masse. Wir 
finden Heimarbeiter überall in Bayern, wo grössere Schuhfabriken 
sind, in pfälzischen Städten, wie an der nördlichen Grenze 
Oberfrankens ') , in Schweinfurt und Nürnberg wie in Ober- 
bayern; z. B. sind erst in den letzten Jahren in zwei Nachbar- 
orten Münchens Schuhfabriken entstanden, die meist Filz- und 
Hausschuhe haltbarer , aber ordinärer Qualität erzeugen, und 
sofort haben sich in diesen Dörfern ganze Familien diesem 
Erwerbszweige zugewandt und arbeiten für die Fabriken als 
Hausindustrielle. 

Wenn man indessen mit eigenen Augen sehen will, wie 
eine derartige Entwickelung sich vollzieht und welchen Umfang 
sie in kurzer Zeit annimmt, so muss ich wiederum, wie schon 
so oft, auf Pirmasens verweisen. Nicht nur, dass sehr viele 
der in den dortigen Fabriken beschäftigten Arbeiter, ganz vor- 
zugsweise die Stepperinnen, nach Schluss der Arbeitszeit in 
der Fabrik noch stundenlang bis tief in die Nacht hinein an 
der eigenen Nähmaschine sitzen, um für Rechnung des Fabri- 
kanten nach Hause mitgenommene Arbeit anzufertigen, es 
werden auch ganze Teiloperationen ausschliesslich oder doch 

*) Nach amtlichen Erhebungen, die 1890 über den Personalbestand 
in der Hausindustrie des Regierungsbezirkes Oberfranken vorgenommen 
worden sind, beschäftigten sich dort mit Lappen- und Schuhwaren- 
fabrikation 220 Heimarbeiter (Jahresbericht des Generalkomitees des 
landw. Vereins in Bayern für das Jahr 1870 S. 141). Eine Aeusserung 
des landwirtschaftlichen Kreiskoraitees für Oberfranken beweist, dass man 
in diesen Kreisen der Hausindustrie abhold ist; es wird da gesagt: „Auf 
diese Weise gehen im Laufe der Zeit der praktischen Landwirtschaft 
Arbeitskräfte verloren und selbst, wenn die Hausindustrie als sozialpoli- 
tisches Mittel aufgefasst wird, um durch Schaffung gewerblichen Neben- 
verdienstes auf dem Lande den Zug nach den Städten zu verhindern, 
werden nicht landwirtschaftliche Arbeiter oder ein Kleingütlerstand er- 
halten, sondern gewerbliche Arbeiter auf dem Lande gewonnen, welche 
so gut wie vollständig für die Landwirtschaft verloren sind — oder wenn 
solche Arbeiter doch in Verwendung gezogen werden, zu erheblichem 
Lohndruck Veranlassung geben. Vom landwirtschaftlichen Standpunkte 
aus kann daher eine Förderung der Hausindustrie auf dem Lande nicht 
befürwortet werden." 



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— 103 - 



vielfach als Heimarbeit betrieben. Ich habe dies schon bei 
der Besprechung des Grossindustriebetriebes berühren müssen: 
das Ausputzen des eleganten und teuren Schuhwerkes fällt 
Hausindustriellen zu, ebenso vielfach das Steppen und Ausnähen, 
ferner das Einfassen mit Bändern und Befestigen von Rosetten 
und Zieraten, ganz besonders aber die Vereinigung der Schaft- 
und der Bodenteile bei Filz- und Stoff- sowie bei Kleinkinder- 
schuhen. 

Diese letztere Arbeit bildet auch die wesentliche Domäne 
der Hausindustrie auf dem Lande. In den Ortschaften Lem- 
berg, Erlenbrunn, Hilst, Vinningen, Lehrbach, Simmten, Nieder- 
simmten, ja selbst bis in die Gegend von Kaiserslautern, Zwei- 
brücken, Dahn, Annweiler und Weissenburg wohnen diese 
Heimarbeiter. Den südwestlichen Teil des Pfälzer Landes bilden 
die Ausläufer der Vogesen ; das Terrain ist hügelig, wasserarm, 
viel mit Wald bestanden, der Boden felsig oder nur mit dünner 
Krume bedeckt. Hier gedeihen Ackerbau und Viehzucht 
schlecht, die Leute bauen meist Kartoffeln, dann Roggen und 
Hafer, wenige Handelsgewächse. Den meisten Grundbesitzern, 
die überdies vorwiegend winzige Parzellen nur bewirtschaften, 
weist ebenso die Not wie der Beschäftigungsmangel die haus- 
industrielle Thätigkeit an, und die Pirmasenser Fabrikanten 
haben von diesem Angebot fleissiger, williger und billiger 
Arbeitskräfte, deren technische Geschicklichkeit für die nicht 
allzu hohen Ansprüche vieler Massenprodukte bald hinreichte, 
mit Eifer Gebrauch gemacht; sparten sie doch an Kapital für 
die Beschaffung von Arbeitsräumen und machte sich ferner 
ihre Ueberlegenheit gegenüber dieser zerstreut wohnenden und 
jedes Zusammenhaltes entbehrenden hausindustriellen Bevöl- 
kerung mit besonderem Nachdruck geltend ! Ihre Klagen gehen 
nur dahin , dass bisweilen gerade in den Zeiten, wo der Ge- 
schäftsgang am flottesten ist, die Heimarbeiter auf dem Lande 
sie im Stich lassen, weil sie mit der Feldbestellung oder der 
Ernte beschäftigt sind. ] ) Andrerseits darf man nicht verkennen; 



') Dagegen wird in den Schriften des Vereins f. Sozialpolitik Bd. 54 
S. 194 gesagt: „In der Gegend von Pirmasens verdienen Leute von 17 
bis 18 Jahren schon oft (?) 18 M. und mehr die Woche beim Anfertigen 



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104 



dass , angesichts der gegebenen Bodenverhältnisse, die Ein- 
führung der Hausindustrie in der Umgegend von Pirmasens 
Tausenden von Menschen Verdienst gegeben hat, der eine 
massige Steigerung der Lebenshaltung zur Folge hatte. Die 
Hausarbeiter auf dem Lande sind im allgemeinen besser daran 
als die in der Stadt; manche Dörfer, wo mit Ausnahme des 
Pfarrers und des Lehrers, des Wirtes und einiger Bauern die 
ganze Bevölkerung , 3 i — 7 /s der Bewohner , Schuhe machen, 
erfreuen sich eines bescheidenen Wohlstandes, wie das Aus- 
sehen der Häuser, Kirche und Schule beweist. 

Der Betrieb selbst wird in folgender Weise gehandhabt: 
Ein Mitglied der Familie, der Mann oder die Frau, meist aber 
heranwachsende Kinder holen vom Fabrikanten, der einen 
ständigen Kreis von Heimarbeitern beschäftigt, das Material, 
durchweg Halbfabrikate, d. h. die fertigen Schäfte und die Boden- 
teile. Diese werden in Sortimenten von je einem Dutzend 
zusammengebunden und mit einem Zettel versehen, auf dem 
der Name der Fabrik, des Heimarbeiters und die Warengattung 
verzeichnet steht; wer den Zettel, der bei Ablieferung der 
fertigen Ware als Bescheinigung dient, verliert, muss eine 
Geldstrafe (50 Pf. gewöhnlich) zahlen. In Körben wird das 
Material nach Hause getragen und nun arbeiten Mann und 
Frau und die noch schulpflichtigen oder nicht andern Berufen 
zugewandten Angehörigen, wenn sie nicht, was zumeist der 
Fall ist, die lohnendere Arbeit in der Fabrik vorziehen, von 
früh bis spät an der Fertigstellung der Schuhe. Es wird 
durchweg nur mit der Hand gearbeitet mit Hilfe des alther- 
kömmlichen Werkzeuges, ohne jede Maschine. Die Leute sind, 
wie ich öfter bemerkt habe, ganz stolz auf diese primitive 
Technik; „das kann die Maschine nicht machen, da ist unsere 
Handarbeit doch besser*, hörte ich wiederholt sagen. Meist 
näht die Frau Schaft und Boden zusammen, die Tochter hilft 
ihr ; der Mann besorgt die anstrengendere Arbeit des Ausputzens. 
Die Zuthaten, die sogen. Furnituren muss der Heimarbeiter 
selbst liefern: Schusterpapp, Holz- und Drahtstifte, Faden, 



von Schuhen — es bleiben manchmal die Felder unbebaut, während die 
Söhne von Kleinbauern Schuhe anfertigen". 



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— 105 — 



Wachs, Tinte; ausserdem muss er der Fabrik eine Vergütung 
für die Benützung der von ihr gelieferten Leisten zahlen. So 
gehen ihm von seinem kargen Verdienste noch wöchentlich 
30 — 50 Pf. ab. Die Arbeitsmenge, die er liefern kann, 
ist sehr verschieden je nach seiner Fertigkeit und den Hilfs- 
personen, aber noch mehr nach der Art des Schuhwerkes. Von 
feinerer Ware liefert eine Heimarbeiterfamilie in einem langen 
Arbeitstage vielleicht nur 1 Dutzend Paar, von gröberer 2 — 3 
Dutzend, Kinderschuhe 1 — l 1 /* und 2 Dutzend Paar. Fast 
durchweg wird „gewendete Arbeit" gemacht, d. h. Schaft und 
Boden werden so zusammengenäht, dass die Innenseiten zuerst 
nach aussen stehen und zuletzt gewendet werden müssen. Hat 
der Arbeiter ein Quantum Ware fertig, so wird sie wieder im 
Korbe zum Fabrikanten getragen und neues Material geholt. Dies 
geschieht meist Mittwoch und Samstag, aber auch an andern 
Tagen. Natürlich wird mit den weiten Wegen und dem Warten 
auf neue Arbeit viel Zeit verbraucht; man klagt hierüber auch, 
ist aber doch froh, wenn man nur überhaupt in leidlicher 
Regelmässigkeit beschäftigt wird. 

So ist etwa in Bayern die Organisation der Hausindustrie 
der Schuhmacherei, soweit sie im Anschluss an die Gross- 
industrie besteht. Je mehr sich diese aber der lediglich mecha- 
nischen Fabrikation und der Herstellung besserer Ware zu- 
wendet, desto mehr wird die Heimarbeit aufgesogen werden. 
Dies ist in Nordamerika bereits geschehen und nach neuesten 
Berichten aus England beginnt auch da dieser Prozess sich zu 
vollziehen. 

Aber auch das Kleingewerbe, der handwerksmässige Betrieb 
der Schuhmacherei hat seine Hausindustrie, das sogen. „Sitz- 
wesen " , die „ Logisarbeit a . Auch sie ist eine Schöpfung der 
Neuzeit. Solange die Ordnung der Zunft, das Konzessionssystem, 
die strengen Heimat- und Ehegesetze es dem Gehilfen erschwerten, 
einen eigenen Hausstand zu gründen, arbeiteten die Gesellen 
ausschliesslich in der Werkstatt. Das änderte sich aber, 
als die Schranken fielen. „Mit dem verheirateten Gesellen 
beginnt im Schuhmachergewerbe die Hausindustrie. Der beschei- 
dene Verdienst in der Werkstätte reicht nicht aus zur Deckung 
der Haushaltungskosten, der Gehilfe ist daher bestrebt, einen 



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— 106 — 



Nebenerwerb zu finden. Dieser bietet sich ihm dar durch Arbeit 
für eigene Rechnung ; Verwandte, ein Freund oder ein Nachbar 
geben ihm Aufträge. Solange er in der Werkstätte unter der 
beständigen oder zeitweiligen Aufsicht des Geschäftsinhabers 
arbeitet, ist er in Verlegenheit, die eigenen Kunden zu befrie- 
digen, und doch reicht ihr Auftrag nicht aus, einen selbstän- 
digen Betrieb zu errichten. Um aus diesem Dilemma herauszu- 
kommen, wird der Geschäftsinhaber gebeten, seinen verheirateten 
Arbeitern die Arbeit in deren Wohnung zu geben. Dies geschieht, 
und nun wird Tag und Nacht gearbeitet, um einerseits den 
Meister und andrerseits die eigenen Kunden zu befriedigen. 
Ein anderer Arbeiter etabliert sich als Gewerbetreibender, doch 
da sich die Kundschaft nicht im erwarteten Masse einfindet, 
sieht er sich gezwungen, noch nebenbei für einen anderen 
Geschäftsinhaber zu arbeiten. ... Je mehr die Vorteile, die 
diese Produktionsform für sie bietet, von den Unternehmern 
erkannt wurden, desto mehr wandten sie sich ihr zu. Vielfach 
wurden die Werkstätten vollständig aufgegeben und alle Ge- 
hilfen ausser dem Hause beschäftigt; der Gewerbetreibende 
hielt sich dann nur noch einen Wochenarbeiter auf Reparaturen, 
dem irgendwo im Hause ein Arbeitsplätzchen angewiesen wurde. 
Häufiger wohl ist es anzutreffen, dass neben den Arbeitern in 
eigener Werkstätte noch einer oder auch mehrere ausserhalb 
derselben beschäftigt wurden/ 

Diese einem aus Fachkreisen stammenden Schriftchen 1 ) 
entnommene Schilderung über die Entstehung der „ Logisarbeit * 
ist im wesentlichen zutreffend. Doch hat sich allmählich so- 
wohl bei den Arbeitern als bei den Meistern ein Umschwung 
in der Beurteilung des Sitzwesens zu dessen Ungunsten voll- 
zogen. Die selbständigen Handwerker, die sich anfangs freuten, 
bei der Hausarbeit an den Kosten für die Werkstatt zu sparen, 
vermuten in dem Logisarbeiter einen heimlichen Konkurrenten 
und Gewerbestörer, der ihrer Kontrolle entzogen ist; sie ver- 
dächtigen ihn oft des „ Pfuschens Ä , des eigenmächtigen Ver- 
brauchs der gelieferten Rohstoffe und der Abspenstigmachung 



! ) Die Lage der deutschen Sehuhmachergehilfen. Gotha, Verlag 
von Wilhelm Bock, 1890. 



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— 107 — 



von Kunden hinter ihrem Rücken. Klagen darüber kann man 
vielfach hören und lesen. Die Gehilfen aber — und nament- 
lich die organisierten Arbeiter — erblicken in dem „ Sitzwesen * 
eine Gefahr für die gemeinsame Regelung von Arbeitszeit und 
Lohn. Denn natürlich zieht der Logisarbeiter Frau und Kin- 
der mit zur Arbeit heran, jedes Glied seiner Familie wird Pro- 
duktionskraft. Es wird ohne feste Zeitbegrenzung gearbeitet, 
vielleicht fangt mau morgens eine Stunde später an, als es 
in der Werkstatt geschieht , dafür sitzt man des Abends um 
so länger. Logisarbeit wird zwar vielfach teurer bezahlt, um 
die vom Meister an der Werkstatt ersparten Kosten auszu- 
gleichen — in München z. B. nach einem von der Innung 1880 
vorgelegten Lohntarif 10 — 15°;o höher als die Stücklöhne, die 
in der Werkstatt gezahlt werden. Gleichwohl drücken die Sitz- 
gesellen auf die Löhne, weil sie an ihrer Familie billige Ar- 
beitskräfte, die ganz gehörig ausgenützt werden, besitzen. 
Ausserdem sagt man ihnen nach, dass sie sich technisch nicht 
fortbilden, weil ihnen der Ansporn, der in gemeinsamer Arbeit 
liegt, fehlt. Und ferner erweisen sie sich erfahrungsgemäss 
in ihrer selbständigen Vereinsamung den Versuchen, die Ge- 
hilfen korporativ zu organisieren, abgeneigt 1 ). 

Uebrigens kommt diese Form der Hausindustrie, die sich 
an das Kleingewerbe anschliesst, in Bayern seltener vor als in 
andern Ländern, namentlich in Oesterreich, aber auch sonst in 
Deutschland, wo der Meister bisweilen nur Zuschneider und 
Händler und sein einziger Lehrling hauptsächlich damit be- 
schäftigt ist, die Arbeit an die Sitzgesellen hinauszutragen und 
wieder zu holen. Seiner Natur nach ist das Sitzwesen, um 
Kundschaft zu erlangen, auf die grösseren Städte angewiesen. 



') In den Gehilfenversammlungen bilden die Proteste gegen die 
„Logisarbeiter" ein oft wiederkehrendes Thema. Am 15. Nov. 1886 be- 
schlo8s in Wien eine Vereinigung der Gehilfen gegen das Sitzwesen vor- 
zugehen, nachdem einige Tage vorher auch die Meister sich gegen das- 
selbe ausgesprochen hatten. Nebenbei sei bemerkt, dass in dem Ende 
März 1893 auagebrochenen Berliner Schneiderstreik, der sich namentlich 
gegen die Konfektionsgeschäfte richtete, unter den Forderungen der Ge- 
hilfen auch das Verlangen nach Beseitigung der Logisarbeit und Wieder- 
einführung der früher üblichen Werkstattarbeit war. 



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— 108 — 



Nach der Statistik vom 5. Juni 1882 hatte aber z. B. München 
nur 20 Betriebe, die 25 Heimarbeiter beschäftigten, Nürnberg 
10 mit 15 Arbeitern. Und seitdem wird eine starke Zunahme 
schwerlich eingetreten sein. Auch jetzt beschäftigen Hand- 
werksmeister in München mit grosser und feiner Kunden- 
schuhmacherei nur 1 — 2 Sitzgesellen. Man wird also im wesent- 
lichen, wenn man von der Hausindustrie in der bayerischen 
Schuhmacherei spricht, die in Verbindung mit der Grossindustrie 
stehende Heimatarbeit meinen. 



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VIII. 

Die Schuhmacherei in den staatlichen Betrieben. 

Gewissermassen nur als Anhang zu der in den vorher- 
gehenden Erörterungen gegebenen Schilderung des modernen 
Schuhmachereibetriebes mit seinen drei Hauptformen : Handwerk, 
Hausindustrie, Grossindustrie, sei an dieser Stelle auch eine 
kurze Darlegung über die Produktion von Schuhwaren ein- 
geschaltet, die der Staat Bayern veranlasst, sei es ganz auf 
seine Rechnung als Unternehmer, sei es im Verein mit Pri- 
vaten. Das erstere ist in den Militär Werkstätten der Fall, das 
zweite in den Strafanstalten. Aus beiden, das sei gleich be- 
merkt, werden wir für Organisation und Technik der Schuh- 
macherei schwerlich Neues lernen können, auch wenn der Ein- 
blick in diese staatlichen Betriebe ein genauerer wäre, als er 
mir verstattet wurde. Denn hier wie dort begegnen wir ähn- 
lichen Formen , wie im freien Gewerbebetriebe. Doch ist es 
nötig, dieses Gebiet der Schuh waren produktion nicht unbe- 
rührt zu lassen, weil die Konkurrenz der staatlichen Schuh- 
macherei ein stetiges Kapitel in den Klagen unsrer Gewerbe- 
treibenden bildet. 

Um den Betrieb in den bayerischen Militärwerkstätten 
kennen zu lernen, wandte ich mich in einer Eingabe an das 
königl. Kriegsministerium. Leider erhielt ich unterm 12. Fe- 
bruar 1893 den ablehnenden Bescheid, „dass Veröffentlichungen 
über die Organisation und den Betrieb der Militär-Schuhmacher- 
werkstätten, insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang mit 
den für den Fall einer Mobilmachung erforderlichen Massnahmen 
nicht thunlich sind, und daher das Kriegsministerium zu seinem 
Bedauern nicht in der Lage ist, Ihnen in fraglicher Richtung 
nähere Information zu erteilen." Die Begründung dieses Be- 



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— 110 — 



scheides verbietet mir selbstverständlich jeden Versuch, diese 
mangelnden Informationen nun etwa auf andern Wegen mir zu 
verschaffen, und ich muss mich begnügen, darauf zu verweisen, 
wie es bekannt ist, dass die deutsche Militärverwaltung immer 
mehr darauf bedacht ist, den gesamten Bedarf an Stiefeln für 
<3ie Armee in eigenen Werkstätten mit den Oekonomiehand- 
werkern zu decken. Die Einführung von Hilfsmaschinen ist 
in den Militärwerkstätten schon älteren Datums. In den bayeri- 
schen Regimentsschuhmachereien finden wir zu Beginn der 
$0er Jahre bereits zum grossen Teil die Anwendung von Ma- 
schinen an Stelle der Handarbeit und nicht zum Schaden der 
erzeugten Ware. Ich finde in Fachblättern mehrfach hervor- 
gehoben, wie die bayerische Militärverwaltung sehr darauf 
halte, dass der Soldat dauerhafte und bequeme Fussbekleidung 
bekomme *) — bei der enormen Wichtigkeit, die gutes Schuh- 
zeug für die Marschleistung des Militärs hat, nur zu begreif- 
lich! Dies ist wohl auch der Hauptgrund, warum die Auf- 
träge der Militärverwaltung an Innungen, Handwerksmeister, 
Fabriken, die früher nicht unbeträchtlich waren, immer mehr 
eingeschränkt werden, da man die Beschaffung vorzüglichen 
Materials und die Herstellung eines allen Strapazen gewach- 
senen Produktes selbst überwachen will. Jetzt ist, wie ich 
höre, jede grössere Militärwerkstätte mit einem Maschinen- 
.ap parat, namentlich Sohlennähmaschinen, ausgerüstet, durch- 
aus leistungsfähig, die gefertigten Stiefel werden von Fach- 
männern wegen ihrer Haltbarkeit sehr gelobt 2 ). Es wird bei 
-den Regimentsschuhmachereien in geräumigen, luftigen Werk- 
stätten gearbeitet ; ausser gelernten Schuhmachern werden auch 
Hilfsarbeiter verwendet. Die Arbeitszeit beträgt durchschnitt- 
lich 10 Stunden, der monatlich ausbezahlte Geldlohn 25 Pf. 
pro Tag. Von dem Arbeiter werden etwa zwei Paar Stiefel 
im Tage gefertigt. Die Verwaltung ist auch darauf bedacht, 
die gewerbliche Ausbildung ihrer Arbeiter zu heben ; Zuschnei- 
der von Militärwerkstätten wurden des öfteren angewiesen, die 

l ) Vergl. die Schrift von Oberst Brand in Lindau: „Des deutschen 
Soldaten Fuss und seine Bekleidung". 

a ) Vergl. Sitzung des deutschen Reichstages vom 18. Januar 1893. 
Sten. Ber. S. 574 ff. 



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— 111 — 



von Schuhniachervereinigungen periodisch abgehaltenen Fach- 
kurse zu besuchen. Wie sehr der Betrieb der Militärschuh- 
machereien neuerdings ein rein fabrikmässiger geworden ist, 
erhellt aus einer Klage, die die Schuh machernieisterinnung 
München 1. d. I. führt: Der Maschinenbetrieb der Militär- 
werkstätten trage zur Abnahme der Zahl tüchtiger Arbeiter 
bei; „wir haben die Ueberzeugung, dass die Militärwerkstätten 
die grösste Schuld daran tragen. Der Schuhmacher wird, wenn 
auch nicht felddiensttauglich, so doch als Oekonomiehandwerker 
eingezogen; wenn nun derselbe auch die besten Anlagen zu 
seinem Gewerbe bei der Einreihung besitzt und nur mehr der 
Vervollständigung bedarf, so tritt er nach Ablauf seiner Militär- 
zeit als schablonenmässiger Fabrikarbeiter ins private 
Leben zurück, unfähig, selbständig ein Stück anfertigen zu 
können 1 )." Auch die Beschwerden, dass in den Militärwerk- 
stätten für private Kundschaft gearbeitet und damit dem freien 
Gewerbe Konkurrenz gemacht werde, verstummen nicht, ob- 
wohl das Kriegsministerium bereits in der Beratung des Mi- 
litäretats für 1885/86 im Landtage 8 ) erklärt hat, dass die 
Oekonomiehandwerker die fiskalischen Lokale für Civilarbeiten 
nur in den dienstfreien Stunden und nur gegen Entrichtung 
der hierfür festgesetzten Servicesätze benützen dürfen und über- 
dies die vorgeschriebene Gewerbesteuer bezahlen müssen, so 
dass sie auch nicht unter günstigeren Verhältnissen arbeiten 
als die Kleinhandwerker. Anlass zu dieser Erklärung des Chefs 
der Militärverwaltung hatte der aus dem Hause der Abgeord- 
neten vorgebrachte Wunsch gegeben, es möge in den Oeko- 
noraiewerkstätten die Arbeit für Private überhaupt verboten 
werden. 

Einige, wenn auch nicht sehr tiefgehende Aufschlüsse 
über die Organisation der Militärschuhmacherwerkstätten im 
allgemeinen gibt eine Verhandlung in der Budgetkommission 
des deutschen Reichstags vom 4. Februar 1893. Bei Kapitel 26 
des Militäretats, das von den Bekleidungsämtern handelt, wurde 

') Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer von Oberbayern 
für das Jahr 1892 S. 172. 

*) Sten. Ber. der Verhandlungen der Kammer d. Abg., 18. Finanz- 
periode, Band IV. Nro. 96 S. 29. 



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— 112 — 



von einem Abgeordneten die jetzige Organisation insofern be- 
mängelt, als die Offiziere, die als Leiter und Beamte funktio- 
nieren, nur zur Disposition gestellte, nicht avancierungsfähige 
Offiziere seien. Es sei das erste Erfordernis für ein praktisches 
Arbeiten, namentlich der grossen Schuhfabriken, dass die Werk- 
stattoffiziere zu Rang und Stellung der Vorstandsoffiziere be- 
fördert werden können, um die Sachkenntnis, die in der Werk- 
statt erworben ist, auf die Vorstände zu übertragen. Die 
Vertreter der Heeresverwaltung stimmten prinzipiell diesen 
Ausführungen zu und versprachen Prüfung der gegebenen An- 
regung für den nächsten Etat. Wie für das Tuch, so solle 
auch für Leinensachen und Leder der Kauf für die ganze 
Armee, wenn irgend thunlich, stattfinden, während bisher noch 
vielfach die Regimenter einkaufen. Das Schuhwerk werde heute 
schon zu zwei Dritteln von den Bekleiduiigsämtern geliefert. 
Durch Einführung der Maschinen in den Bekleidungsämtern 
sei die Zahl der Oekonomiehandwerker seit 1887 trotz der 
Verstärkung der Armee um 25 °/o vermindert worden. Die 
Lederankäufe würden nicht nur bei grossen Lieferanten ge- 
macht, sondern bei Gerbervereinigungen, welche, wie in Berlin, 
Magdeburg, Breslau, Hannover, der Verwaltung ihre Muster und 
Preise vorführen. Da seien mitunter sechzig und mehr Ger- 
bereien in einer solchen Vereinigung, so dass auch die kleineren 
Betriebe berücksichtigt werden könnten. Abgeordneter Singer 
(Sozialdemokrat) bekämpfte die Beschäftigung der Strafanstalten 
durch die Militärverwaltung, während von andrer Seite gerade 
die Beschäftigung der Strafanstalten als ein besonders glück- 
licher Ausweg gegenüber den Klagen, welche vom freien Hand- 
werk gegen die Konkurrenz der Strafanstalten erhoben würden, 
betrachtet wurde. (Bericht der Weserzeitung vom 5. Februar 
1893.) Diese für die Reichsmilitärverwaltung gültigen Mit- 
teilungen werden im wesentlichen auch für die Verhältnisse in 
Bayern zutreffen, und hiermit muss ich aus den oben an- 
gegebenen Gründen dies Thema verlassen. 

Weit stärker als über die Geschäftsbeeinträchtigung durch 
die Militärwerkstätten, denen gegenüber man sich meist mit der 
Einsicht ihrer Unabänderlichkeit in Resignation fügt, ertönt 
fortgesetzt die Beschwerde des freien Handwerks über die 



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- 113 — 



systematische Konkurrenz der Schuhmacherei in den Straf- 
anstalten. „Die Zuchthausarbeiten, welche durch billige Ar- 
beitskräfte und Verwendung minder guten Materials im Vorteil 
sind, beeinflussen das Schuhmacherhandwerk sehr ungünstig" *). 
Auch in bayerischen Handelskammerberichten (im Jahresbericht 
für Oberbayern 1892 werden die Zuchthausarbeiten als einer 
der Hauptgründe für den Rückgang der handwerksmässigen 
Schuhmacherei genannt), auf Handwerkertagen und in den 
Landtagsverhandlungen spielt diese Behauptung eine oft wieder- 
kehrende Rolle. Es verlohnt sich daher wohl der Mühe, der 
Angelegenheit hier etwas näher zu treten. 

In den Strafanstalten des Königreiches werden Gefangene 
in der Schuhmacherei beschäftigt für den eigenen Bedarf der 
Anstalten, für Aufträge der Heeresverwaltung, für Rechnung 
von Gewerbetreibenden, für Rechnung der Anstalten zum Ver- 
kaufe überhaupt, dann für Rechnung von Privaten. Die letz- 
tere Kategorie kommt wegen der äusserst geringen Zahl der 
für sie in Arbeit stehenden Sträflinge (in den letzten sechs 
Jahren zwischen 1 und 6) gar nicht in Betracht, die Deckung 
des eigenen Schuhbedarfs in den Anstalten durch Gefangene 
wird niemand anfechten wollen, und wie schon bemerkt, die 
Aufträge der Militärverwaltung werden vermutlich gerade in 
der Schuhmacherei auch zu Gunsten eines zentralisierten Be- 
triebes abnehmen. Ueberdies sind die Verwaltungen der Straf- 
anstalten selbst sehr wenig entzückt, wenn sie Lieferungen für 
das Heer erhalten, da das Militär als übermässig genauer und 
anspruchsvoller Abnehmer gilt. Es bleibt also die Arbeit für 
Rechnung von Gewerbetreibenden zu berücksichtigen als Kon- 
kurrenz für das freie Gewerbe. Die alljährlich im Amtsblatt 
des bayerischen Justizministeriums erfolgende Publikation einer 
Uebersicht über die Beschäftigung der Häftlinge in den Straf- 
anstalten gestattet, genau festzustellen, welchen Umfang nach 
der Personenzahl dieser Zweig der Schuhmacherei besitzt. Ich 
habe in folgender kleinen Tabelle die betreffenden Zahlen aus 



*) Das deutsche Wirtschaftsjahr 1881. Nach den Jahresberichten 
der Handelskammern dargestellt von dem Generalsekretariat des deut- 
schen Handelstages. Berlin 1882 S. 507. 

Francke, Di* Schuhmacherei in Bayern. 8 



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— 1U — 



den Jahrgängen des Justizministerialblattes seit 1880 ausge- 
schrieben : 



Am waren für Rechnung von Gewerbetreibenden in den bayer. Strafanstalten 
31. Dez. beschäftigt 





Lederschuhmacher 


Schäftemacher 


Filzschuhmacher 




(nur Männer) 


(Männer) 


(Männex - ) 


(Weiber) 


1880 


607 (inklusive Schäftemacher u. Filzschuhmacher) 


73 


1881 


424 




162 


72 


1882 


409 




50 


o t 


18*3 


413 


37 


22 




1884 


444 


29 


23 




1885 


411 


17 


21 




1886 


378 


33 






1887 


465 


28 


33 




1888 


454 


21 


32 




1889 


404 


20 


32 


14 


1890 


472 


18 


30 


14 


1891 


354 


21 


29 


4 


1892 


zur Zeit noch nicht veröffentlicht 





Die Herstellung wird teils nach Art der Heimarbeit (bei 
Filzschuhen), teils im Handwerk, teils auf mechanischem Wege 
mit Benützung einzelner Maschinen betrieben. Die Lieferungen 
erfolgen an Gewerbetreibende, die sowohl in als ausserhalb 
Bayerns ihren Sitz haben. Diese Unternehmer liefern das Roh- 
material, auch Halbfabrikate, wie Schäfte; sie stellen einen 
Teil der Maschinen selber. Pirmasenser Fabrikanten haben schon 
in den siebziger Jahren in den Strafanstalten von Kaisers- 
lautern und Kaisheim arbeiten lassen ; auf der Plassenburg bei 
Kulmbach fertigen, wie mir mitgeteilt wird, etwa 100 Häft- 
linge Fussbekleidungsstücke für zwei grosse Schuhwarenhändler 
in Würzburg und Frankfurt a. M. jahraus jahrein an; auch 
das Zuchthaus in München hat teilweise mechanischen Betrieb, 
wenn er sich auch zumeist auf die Verwendung von Näh- 
maschinen beschränkt, und arbeitet für Münchener und Nürn- 
berger Gewerbetreibende. 

Aus der mitgeteilten Uebersicht folgt, dass im grossen 
und ganzen, abgesehen von einzelnen Schwankungen, die Zahl 
der mit Schuhmacherei für Rechnung von Gewerbetreibenden 
beschäftigten Strafgefangenen seit zwölf Jahren abgenommen 
hat; 1880 waren es 680, 1891 nur 408. Sehr zurückgegangen 



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— 115 — 



ist die früher erheblich stärkere Fabrikation von Filzschuhen; 
1881 waren 234 Personen (1(52 Männer und 72 Frauen) in 
den Strafanstalten in ihr verwendet, zehn Jahre später nur 
noch 33, darunter 4 Frauen. Eine ebenfalls geringe wirt- 
schaftliche Bedeutung haben die paar Schäftemacher. Es blei- 
ben also nur die Lederschuhmacher übrig, die von Belang sein 
können. 

Diese sind zum Teil gelernte Schuhmacher, die eine Frei- 
heitsstrafe zu verbüssen haben — und bei der tiefen Depression 
unsres Gewerbes ist der Anteil der Schuhmacherbevölkerung 
an der Kriminalistik nicht gering *) — , zum geringeren Teile 
aber erst in der Haft „neu angesetzte" Arbeiter. Um nun 
genaue Anhaltspunkte über die Tragweite ihrer Konkurrenz 
mit dem freien Gewerbe zu erhalten, wäre es notwendig, so- 
wohl den Prozentsatz der gelernten und der „neu angesetzten u 
Arbeiter in den Strafanstalts-Schuhmachereien als auch die 
Produktionskosten der Gefangenenarbeit, sowie schliesslich die 
für Rechnung auswärtiger Unternehmer hergestellte Waren- 
menge zu kennen. Zu diesem Zwecke reichte ich ein Gesuch 
um Information bei dem königl. bayerischen Staatsministerium 
der Justiz ein : leider hat dies das gleiche Schicksal einer 
völligen Abweisung erfahren wie meine Eingabe an das königl. 
Kriegsministerium; denn unterm 31. Mai 1803 ist mir „im 
Auftrag Sr. Excellenz des Herrn Staatsministers der Justiz" 
eröffnet worden, dass meinem Ansuchen „mit Rücksicht auf 
das dienstliche Interesse und um der Konsequenzen willen eine 
Folge nicht gegeben werden konnte". So bin ich genötigt, 
mich bei nachstehenden Erörterungen, deren Lückenhaftigkeit 
mir demnach nicht zur Last fallen möge, im wesentlichen auf 
die wiederholten Verhandlungen des bayerischen Landtags über 
die Gefängnisarbeit und auf die von Fabrikanten, die in Straf- 
anstalten arbeiten lassen, bereitwilligst erteilten Auskünfte zu 
beziehen. 

Schuhmacher und Schneider sind diejenigen Gewerbe, die 



*) Der bekannte sozialdemokratische Führer Wilh. Bock, selbst 
gelernter Schuhmacher, hat diese Thatsache in einer Rede zu München 
im Jahr 1835 ausdrücklich hervorgehoben. 



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116 - 



sich nahezu am meisten über die Konkurrenz der Strafanstalten 
beschweren. In der Sitzung vom 26. Februar 1886 der bayeri- 
schen Abgeordnetenkammer bemerkte der Referent des Petitions- 
ausschusses, dass von den für Rechnung von Gewerbetreibenden 
arbeitenden Gefangenen die Schuhmacher am schwersten zu 
leiden haben; und in der Sitzung vom 29. April 1886 wieder- 
holte derselbe Abgeordnete diese Behauptung. Im Jahre 1884 
protestierten die Schuhmachermeister Münchens in einer Ein- 
gabe an die Kammer gegen die Konkurrenz, die aus der Ge- 
fängnisarbeit für das freie Gewerbe fliesse. 1886 lag dem Ab- 
geordnetenhaus eine Petition des bayerischen Handwerkerbundes 
des Inhalts vor: es solle der Gewerbebetrieb in den Straf- 
anstalten ganz beseitigt oder doch verringert werden ; ihr hatten 
sich weitere 96 gleichlautende Petitionen angeschlossen, von 
denen zehn von Schuhmacherinnungen und Vereinigungen aus 
allen Teilen des rechtsrheinischen Baverns herrührten. Be- 
sonders eingehend aber beschäftigte sich eine am 29. April 
1886 in der Zweiten Kammer gepflogene Beratung mit einer 
Eingabe der Schuhmachermeisterinnung zu Amberg, welche die 
Aufhebung der Schuh raacherarbeit nach Mass in der Straf- 
anstalt dieser Stadt verlangte. Schon auf dem allgemeinen 
Handwerkertag zu Nürnberg im September 1885 hatte ein 
Redner zum Beweise, wie gering die staatliche Fürsorge für 
das Handwerk sei, unter anderem behauptet, in der Strafanstalt 
Amberg sei unter den 13 — 1400 Insassen ein starker Schuh- 
machereibetrieb eingeführt, der für etwa 200 Privatkunden 
nach Mass arbeite. Diese Angabe gab der Amberger Innung 
dann Veranlassung, eine Petition einzureichen; unter beweg- 
licher Klage über ihren Notstand — früher hätten sie 100 Ge- 
hilfen gehabt, jetzt ständen nur 20 in Beschäftigung! — wurde 
der Rückgang des Gewerbes in Amberg auf die überhand- 
nehmende Bedienung von Privatkunden durch die Gefängnis- 
schuhmacherei zurückgeführt. Beigefügt war dieser Petition J ) 
ein Verzeichnis von 76 solcher Kunden mit dem Bemerken, 
diese Zahl könne man verdrei- und vervierfachen; in einem 
Nachtrag vervollständigte die Innung ihr Verzeichnis auf 



*) XI. Petitionsverzeichnis A 239, Budgetperiode 1885/86. 



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- 117 



164 Namen. Dass diese Angaben nicht unbegründet waren, 
beweist der Umstand, dass nach vorläufigen Erhebungen das 
Justizministerium in einem Erlass vom 13. November 1885 
das Arbeiten der Strafanstalten für Private aufs strengste 
untersagte. Gleichwohl beschloss der Petitionsausschuss der 
Abgeordnetenkammer, dass diese Angelegenheit damit nicht 
ihr Bewenden haben, sondern im Plenum zur Beratung ge- 
langen solle. 

Der Referent, Abgeordneter Biehl, legte in der Sitzung 
vom 29. April 1886 J ) zum Beweise, wie stark die Preise der 
im freien Gewerbe hergestellten Schuhwaren durch die Straf- 
anstalten unterboten würden, eine Anzahl Rechnungen vor, die 
von dem Amberger Gefängnis für Privatkunden ausgestellt 
worden waren, und verglich damit die von ihm in Erfahrung 
gebrachten Preisangaben der Schuhmachermeisterinnung Mün- 
chen. Danach sollen bezahlt worden sein in 

Amberg München Art des Produktes 

(Strafanstalts-Schuhroacherei) (freies Gewerbe) 

2 M. 10 Pf. 5 M. f. Frauenstiefeletten-Englisieren 

1 „ 50 „ 3 „ „1 Paar Stiefelsohlen 

3 „ 70 , 8 „ „ Herrenstiefel-Englisieren 

5 , — T 10. „1 Paar Damenzeugstiefel 

6 „ bis 6 M. 20 Pf. 12 „ „ 1 „ Damenled erstiefel 
3 „ 75 Pf. 9 r „ 1 „ Damenhalbschuhe 

2 „ 60 „ 4 r , Stiefel-Sohlen mit Fleck 
5„20„ 13, „ 1 Paar Herrenhalbschuhe 
6 „ 80 r 12 r i*l ]i Herrenvorschuhe. 

Im Petitionsausschuss war dem Referenten eingewendet 
worden, die von der Schuhmacherinnung München angegebenen, 
die Amberger Gefangenenarbeiten teilweise um das Doppelte 
und mehr übersteigenden Preise verstünden sich augenschein- 
lich für besondere Qualitäten; anderswo, namentlich auf dem 
Lande, würde erheblich billiger geliefert. In der That gab 
der Referent zu, dass nach seinen Erkundigungen in den Orten 
Dachau und Landau a. I. für das Englisieren eines Paares 
Herrenstiefel nur 5 M. (in München 8 M., in der Strafanstalt 
Amberg 3 M. 70 Pfg.) bezahlt werde; ein Paar Herrenvorschuhe 



!) Stenogr. Ber. Band VI, Nro. 176 S. 403—408. 



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— 118 - 



koste hier 9 M. 50 Pf. (in München 12 M., im Araberger 
Gefängnis 6 M. 80 Pf.) — die Preise in kleineren Orten 
nähern sich also denen der Strafanstalts-Schuhmacherei er- 
heblich. 

Der Vertreter der Staatsregierung, der langjährige, im 
Frühjahr 1893 verstorbene Referent für das Gefängniswesen, 
Ministerialrat von Reissenbach, konstatierte in seiner Ent- 
gegnung zunächst noch einmal, dass die königl. Justizverwal- 
tung am 13. November 1885 der Strafanstalt Amberg die , ge- 
messene Weisung" habe zugehen lassen, in der Folge für 
Private keinerlei Schuhmacherwaren, und zwar weder Neu- 
arbeit noch Reparaturen, herzustellen, und führte dann die 
amtlichen Erhebungen vor, die allerdings die Behauptungen 
der Amberger Schuhmacherinnung stark abschwächten. In der 
genannten Strafanstalt würden durchschnittlich nur 30 und 
etliche Gefangene mit Schuhmacherei beschäftigt; lediglich 5 
von ihnen vermöchten Arbeiten zu liefern, die denen eines 
mittelmässigen Gesellen gleichkämen, alle übrigen ständen auf 
dem Niveau von Lehrlingen im freien Gewerbe. Diese Häft- 
linge lieferten das Schuhwerk für 1300 Gefangene, sodann für 
eine Reihe von Amtsgefängnissen, für 50 Beamte und Be- 
dienstete mit ihren Familien, ausserdem arbeiteten sie noch 
für die Militärverwaltung. Somit bliebe also wenig Zeit für 
Privatkunden übrig; im Jahre 1883 sei nur für 33 Kunden 
in der Stadt mit einer Einnahme von 1178 M. 58 Pf. ge- 
arbeitet worden, 1884 für 35 Private mit 1245 M. 00 Pf. 
Rechne man hiervon die Auslagen der Anstalt für Leder und 
Zubehör ab, so verbleibe für Arbeitslohn höchstens eine Rein- 
einnahme von 350 M. Auch den Preisangaben des Referenten 
trat der Regierungskommissar entgegen; wolle man wirklich 
vergleichbare Daten haben , so müsse man die im freien Ge- 
werbe zu Amberg selbst üblichen Warenpreise mit denen der 
Strafanstalt dort zusammenstellen, und da ergebe sich folgendes: 

Amberg Art des Produktes 

Strafanstalt freies Gewerbe 

4—5 M. 5—6 M. 1 Paar Stiefel fertigen 

3 M. u. mehr bis 4 M. Vorschuhen 

2 M. 20 Pf. bis 3 M. 70 Pf. Frauenzeugstiefel. 



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- 119 - 

Bei diesen geringfügigen Preisunterschieden l ) komme noch 
in Betracht, dass die in der Gefängnisschuhmacherei hergestellte 
Arbeit durchaus nicht tadellos und nichts weniger als elegant 
sei. Im Petitionsausschusse habe ihm ein Parteigenosse des 
Referenten gesagt, in seiner Heimat auf dem Lande seien 
höhere Preise für Schuhwaren, als sie die Amberger Straf- 
anstalt fordere, nicht üblich. Für den Rückgang des freien 
Schuhmachergewerbes in Amberg gebe es ganz andre Gründe: 
von 18G8— 1884 sei dort die Zahl der selbständigen Meister 
von 32 auf 54 gestiegen, zahlreiche Läden und Lager mit 
fertigen Schuhwaren seien entstanden, die Dulten im Frühjahr 
und im Herbst würden oft von 40 — 50 auswärtigen Schuh- 
machern besucht. Die königl. Justizverwaltung verneine daher, 
dass die Strafanstalt Amberg dem freien Schuhmachergewerbe 
dieser Stadt fühlbare, geschweige denn bedrückende Kon- 
kurrenz mache. 

Nichtsdestoweniger Hess sich die handwerkerfreundliche 
Mehrheit der Kammer der Abgeordneten durch diese Dar- 
legungen der königl. Staatsregierung nicht abhalten, die Petition 
gemäss dem Ausschussantrage „zur Kenntnisnahme" zu em- 
pfehlen — zum Beweis, dass sie in diesem besonderen Falle 
die Schlussfolgerung, zu der die Justizverwaltung auf Grund 
ihrer Erhebungen gekommen war, nicht anerkenne. 

Aber nicht nur bei einem speziellen Anlass, sondern im 
Prinzip haben sich im Punkte der Gefängnisarbeit die königl. 
bayerische Justizverwaltung und die der Handwerkerbewegung 



') Weitere Mitteilungen über die in Strafanstalten üblichen Löhne 
für Schuhmacherarbeiten entnehme ich Darlegungen des Regierungs- 
vertretera in der Kammer der Abgeordneten, Sitzung vom 23. Jan. 1884. 
Gegenüber einer Behauptung, in den Zuchthäusern würde für die An- 
fertigung eines Paars Damcnstiefel 23 Pf. gezahlt, konstatierte die 
Justizverwaltung: in Wahrheit stelle sich nach den dermalen geltenden 
Lohntarifen der Arbeitslohn für die Herstellung eines Paars Frauenstiefel 
(aus Zeug oder Leder) zum mindesten auf 80 — 00 Pf. und steige bis 
1 M. .50 Pf. und 1 M. T-ü Pf. Die unteren Lohnsätze gälten nur für ganz 
ordinäre Arbeit ; überhaupt sei die gesamte Arbeitsleistung, weil die ein- 
zelnen Bestandteile des Stiefels, Sohlen. Schäfte, Futter, fix und fertig zu- 
gerichtet vom Unternehmer geliefert und mit Zuhilfenahme der gleichfalls 
von ihm gestellten Maschinen vereinigt würden, eine einfache und mässige. 



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- 120 — 



freundlich gesinnte Mehrheit der Abgeordnetenkammer längere 
Jahre hindurch schroff gegenübergestanden. Einig war mau 
nur darin, dass die Häftlinge systematisch zur Arbeit ange- 
halten werden müssten. Ueber die Art der Beschäftigung 
aber herrschte starke Meinungsverschiedenheit. Die Vertreter 
der Regierung bezogen sich auf § 15 des Reichsstrafgesetz- 
buches, der vorschreibt, dass die zur Zuchthausstrafe Verurteilten 
arbeiten müssen und die Insassen der Gefängnisse in ange- 
messener Weise beschäftigt werden können. „Die Arbeit ist 
also ein Teil der Strafe, zugleich aber die wirksamste Hand- 
habung bei Vollstreckung derselben. Ohne Arbeit wäre Zucht 
und Ordnung in den Strafanstalten nicht aufrecht zu erhalten; 
die Gefangenen würden körperlich und geistig verkommen, 
wenn man sie unbeschäftigt lassen wollte; denn ohne Arbeit 
gibt es weder eine Gesundheit des Leibes noch eine Gesund- 
heit der Seele und des Geistes, und wie der Müssiggang der 
Anfang aller Laster, in der Freiheit wie im Kerker, ist, so 
ist auch die Gewöhnung an eine geregelte Thätigkeit, an an- 
haltende Arbeit der erste Schritt zur Besserung. Die Arbeit, 
meine Herren, zu der man die Gefangenen anzuhalten hat, 
darf nicht eine rein mechanische, geisttötende sein. Wir können 
in unsrem Zeitalter nicht mehr zur Tretmühle, wir können 
nicht mehr zum Steinsägen, nicht mehr zu den früher einge- 
führten Arbeiten zurückkehren, die den Körper siech machten 
und den Geist abstumpften. Bei der rein mechanischen Arbeit 
geht das rein erziehliche Moment ab. Meine Herren! Die 
Arbeit, die vom Gefangenen zu fordern ist, muss ihm das Be- 
wusstsein einer fruchtbringenden Thätigkeit und die Möglich- 
keit gewähren, sich durch dieselbe nach der Entlassung auf 
ehrliche Weise sein Brot zu verdienen .... Keine andre 
Thätigkeit erfüllt aber alle Erfordernisse, die im Interesse 
eines gedeihlichen Strafvollzugs gestellt werden müssen, so 
vollkommen als gerade die Beschäftigung mit gewerblichen 
Arbeiten. Dieselbe kann daher in den Strafanstalten niemals 
ganz entbehrt werden." So der Kommissar des königt, Justiz- 
ministeriums s ). Und bei derselben Gelegenheit wandte sich 



*) Bayer. Abgeordnetenkammer, Sitzung vom 26. Februar 1886. 



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121 



der Justizminister von Fäustle gegen eine von zahlreichen 
Unterschriften bedeckte Handwerkerpetition, die eine Beseiti- 
gung der gewerblichen Arbeit in den Strafanstalten ersuchte, 
mit den Worten, diese Petition versetze „ mindestens um ein 
Jahrhundert in der Anschauung über die Gefaugenenarbeit" 
zurück. „Bei den kurzzeitigen Freiheitsstrafen, welche in der 
Regel erkannt werden — so fuhr der Minister fort — kehren 
die Leute schon in verhältnismässig kürzerer Zeit wieder in 
die Freiheit zurück. Sollen wir diese Leute in den Straf- 
anstalten geistig versumpfen lassen, sollen wir sie, auf den 
Besserungszweck verzichtend, zu rein mechanischen und geist- 
tötenden Arbeiten zwingen und sie unfähig machen, sich, wenn 
sie ihre Freiheit erlangen, durch ehrlichen Erwerb ihr Brot 
zu verdienen? Und wer trägt dann den Schaden, wenn wir 
hier Versäumnisse begehen? Nicht der Staat, sondern die Ge- 
meinden tragen den Schaden, wenn wir die Leute in solchem 
Zustande an sie zurücksenden, wie dies die Petition des Hand- 
werkerbundes zur unwillkürlichen Folge haben würde 
Ich leugne ja nicht, dass die Arbeit in den Strafanstalten hie 
und da dem Gewerbe eine Konkurrenz bereitet. Allein das 
ist eben auch eines von den notwendigen Uebeln, von denen 
man in der Welt viele hinnehmen muss." 

Auf der andren Seite wollte man eine derartige Argumen- 
tation der Justizverwaltung durchaus nicht gelten lassen. Durch 
die Konkurrenz der Strafanstaltsarbeit, so entgegneten die 
Handwerker und ihre Freunde, würden die freien Gewerbe- 
treibenden in doppelter Weise getroffen: einmal müssten sie 
als Steuerzahler zu dem kostspieligen Unterhalt der Gefangenen 
beitragen, dann aber würde ihnen noch eine in manchen Ge- 
werben geradezu bedrückende Konkurrenz von den Strafanstalten 
bereitet. „Es wird wohl keinem Zweifel unterliegen . . ., dass 
die Preise der Zuchthausarbeit bei Festsetzung der freien Arbeit 
massgebend sind," erklärte der Referent, Abgeordneter Biehl. 
Es sollten nur solche Betriebszweige gewählt werden, durch 
die das einheimische Handwerk so wenig als möglich geschädigt 
und der Verdienst der freien Arbeiter nicht gemindert werde. 
Besonders geeignet sei hier die Verwendung von Häftlingen 
für Kulturarbeiten, für Zwecke der Militärverwaltung und für 



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— 122 — 



Herstellung von Halbfabrikaten. Wenn die Justizverwaltung 
die Beschäftigung mit rein mechanischen Arbeiten verwerfe, 
so solle man doch bedenken, dass der freie Arbeiter vor solchen 
nicht zurückschrecken dürfe, wenn er leben wolle. Das sei 
ein böses Stück sozialen Elends, dass es den Zuchthäuslern 
besser gehe als den freien Arbeitern, deren Arbeitstag ein 
viel längerer sei und deren Löhne durch die vom Zuchthause 
geforderten Preise gedrückt würden. Zum Beweise wurde aber- 
mals auf die Schuhmacherei Bezug genommen: „Von der Zucht- 
hausverwaltung wird für ein Paar Herrenstiefel 1 M. 40 Pf. 
bis 1 M. 50 Pf. verlangt; für ein Paar Damenstiefel 1 M. Der 
freie Arbeiter muss, wenn er überhaupt nur einigermassen eine 
erträgliche Existenz finden will, für ein Paar Herrenstiefel 
3 M. und für ein Paar Damenstiefel 2 '/a M. als Normalpreise 
(d. h. Löhne) verlangen. Nun ist dieser Normalpreis von den 
anständigen Geschäften, die sich noch einer anständigen Kund- 
schaft erfreuen, noch einzuhalten möglich, während in vielen 
Geschäften die Schneider und Schuster arbeiten müssen vom 
frühen Morgen bis zum späten Abend und einen derartigen 
Taglohn, wie ich ihn für einen freien Arbeiter nach den 
Normalpreisen fixiert habe, absolut nicht erreichen können . . . 
Mit Recht können die Schneider und Schuster sich beklagen; 
denn gerade diese Gewerbsarbeiten werden in den Zuchthäusern 
in Masse verfertigt und gerade in diesen Gewerben ist die 
Konkurrenz des Zuchthauses am allerfühlbarsten* Um diese 
Missstände zu heben, wurden verschiedene Mittel vorgeschlagen 
und zwar ausser der gänzlichen Beseitigung der gewerblichen 
Arbeiten in den Strafanstalten weniger ' radikale Wege als da 
sind: eine bessere Art der Vergebung der Zuchthausarbeit 
sowohl durch Submission unter Grossindustriellen, als auch 
durch Heranziehung von Handwerksmeistern als Unternehmer 
mit Vermittelung der Innungen, ferner aber eine namhafte 
Steigerung des Arbeitsertrages in den Strafanstalten 2 ). 



*) Sitzung der bayer. Abgeordnetenkammer vom 24. Jan. 1884; aus 
einer Rede des Abgeordneten Biehl. 

2 ) Kin am 23. Januar 1884 in der Abgeordnetenkammer verhandelter 
Antrag Ostermann verlangte Erhöhung aus dem Arbeitsverdienste der 



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123 - 

Die Widerlegung mancher dieser Einwände und Forde- 
rungen wurde der königl. Staatsregierung nicht eben schwer. 
Wenn man, so wurde geltend gemacht, stärkere Verwendung 
der Sträflinge für sogen. Kulturarbeiten verlange, so stehe dem 
zunächst entgegen, dass überhaupt nur bei der Hälfte der An- 
stalten Gelegenheit hierzu in Grundbesitz gegeben sei; über- 
dies würden jetzt schon Gefangene in Steinbrüchen, ebenso hei 
grösseren Erd- und Korrektionsarbeiten beschäftigt. Unthun- 
lich aber sei die Heranziehung zu Eisenbahn- und Kanalbauten, 
zu Entwässerung von Mooren und zu Aufforstungsarbeiten, 
weil § 16 des Reichsstrafgesetzbuches die Verwendung der Ge- 
fangenen ausserhalb des Gefängnisses von ihrer Zustimmung 
abhängig mache und die strenge Trennung der Häftlinge von 
freien Arbeitern vorschreibe; auch die Rücksichten auf die 
Disziplin, die nötige Bewachung, den Schutz der öffentlichen 
Sicherheit und die hohen Kosten der Unterbringung schlössen 
diesen Weg aus. Was ferner die Arbeiten für die Militär- 
verwaltung anlange, so seien hier mancherlei, von Erfolg be- 
gleitete Versuche gemacht worden, und es würde daher mit 
den Lieferungen fortgefahren T ); indessen würden sich „mili- 
tärische Ausrüstungsgegenstände, deren Anfertigung besondere 
Geschicklichkeit erheischt, nach den durchschnittlichen Leistungen 
der gewerblichen Arbeiter in den Strafanstalten in der Qualität, 
wie sie von der Militärverwaltung beansprucht werden muss. 
nicht herstellen lassen" (Sitzung vom 2l>. Februar 1880). Auch 
die weitere Forderung, man solle besonders die Erzeugung von 
Halbfabrikaten in den Zuchthäusern betreiben, sei vielfach 
schon erfüllt, wie die Verwendung von Häftlingen bei An- 
fertigung von Brillengestellen und Goldleisten bezeuge. 

Aber, so ging die Beweisführung der königl. bayerischen 
Justizverwaltung zu Gunsten der gewerblichen Arbeit in den 
Gefängnissen weiter, wenn selbst alle diese vorgeschlagenen 
Auskunftsmittel noch weit stärker herangezogen werden könnten, 

Gefangenen von G3G 500 M., wie im Budget vorgesehen war, auf 1 Mil- 
lion, eventuell 800 000 M. 

') Die Gegenstände dieser Lieferungen weiden in dem stenogr. Be- 
richt über dio Verhandlung der bayer. Abgeordnetenkammer vom 20. -Tan. 
1888 einzeln aufgeführt; Schuhmaeherarbeiten sind nicht darunter. 



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124 - 



„so bleibt doch immerhin ein Ueberschuss, ein erklecklicher 
Ueberschuss von gewerblichen Arbeitern den Strafanstalten, 
die eben auch beschäftigt werden müssen, denen eine frucht- 
bringende Thätigkeit zuzuweisen ist, die sie befähigt, nach 
ihrer Entlassung aus der Strafanstalt das Handwerk, welches 
sie in der Freiheit erlernt haben, wieder zu betreiben und da- 
mit ehrlich ihr Brot zu verdienen." Alljährlich gehen Tau- 
sende von gewerblichen Arbeitern als Gefangene in die Straf- 
anstalten neu zu; so z. B. im Jahre 1884 waren von 5151 
neu eingelieferten Häftlingen nicht weniger als 2489 eines Hand- 
werks kundig, diese aber wurden nicht sämtlich, sondern nur 
1967 von ihnen für Rechnung von Gewerbetreibenden ver- 
wendet. Sollten nun hier die Preise und Löhne erhöht werden, 
einmal um die Konkurrenz mit der freien Arbeit abzuschwächen, 
sodann um durch Erhöhung des pro Kopf 90 — 100 M. be- 
tragenden Arbeitsverdienstes die aus dem gemeinen Säckel 
fliessenden Unterhaltskosten der Gefangenen (rund 250 M. pro 
Person) herabzusetzen, so befindet man sich nach der Ansicht 
des bayerischen Justizministeriums, der übrigens im Jahre 1884 
der Referent, Abgeordneter Walter, beipflichtete, mit diesem 
Verlangen in völliger Unkenntnis der thatsächlichen Verhält- 
nisse. Es sei völlig falsch, zu meinen, als ob eine riesige 
Nachfrage nach Zuchthausarbeit bestehe; im Gegenteil müsse 
man froh sein, wenn man für die Strafgefangenen überhaupt 
gewerbliche Arbeit erhalte. „Die Anstalts Verwaltungen klagen 
seit langer Zeit über den Mangel jeglicher Konkurrenz von 
Arbeitgebern. Es besteht absolut keine Nachfrage nach Ar- 
beitskräften der Anstalten, die Verwaltungen müssen umgekehrt 
seit geraumer Zeit die Arbeit suchen." Eingehende Erwägungen 
und Erhebungen hätten ergeben, dass eine Steigerung der 
Preise und Löhne nicht angängig sei. „Richtig ist ja, dass 
die Preise der in den Strafanstalten angefertigten Gewerbe- 
erzeugnisse und die Löhne der mit gewerblichen Arbeiten für 
Unternehmer beschäftigten Gefangenen zumeist, aber keines- 
wegs ausnahmslos etwas niedriger sind, als die Preise der Er- 
zeugnisse der Gewerbetreibenden und die Löhne der freien 
Arbeiter; allein nach den Verhältnissen, unter denen in Straf- 
anstalten gearbeitet wird, ist dies nicht anders möglich.* 



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- 125 - 



Den von den Gegnern der gewerblichen Arbeit in den 
Strafanstalten vorgebrachten Vorteilen der billigen Arbeit, da 
die Gefangenen vom Staat erhalten werden, der Ersparnis an 
Arbeitsräumen, Licht, Heizung u. s. w., die man bei grösserem 
Betrieb für den Unternehmer vielleicht pro Kopf und Tag auf 
80 Pfg. bis 1 M. veranschlagen kann, stellte die königl. Justiz- 
verwaltung in der Sitzung vom 23. Januar 1884 folgende Nach- 
teile gegenüber: das Material der gewerblichen Arbeiter in 
den Strafanstalten ist schlecht, die Leute, die meist in der 
Freiheit in ihrem Berufe nicht viel taugten, sind untüchtig, 
unaufmerksam, leichtsinnig, sie arbeiten mit Widerwillen und 
Unfleiss; nur 1 unter 12 Sträflingen steht auf der Höhe der 
Leistungsfähigkeit guter freier Arbeiter. Sodann erwachsen 
dem Arbeitgeber mannigfache Auslagen, die der freie Gewerbe- 
treibende nicht hat. Die meisten Unternehmer lassen in An- 
stalten arbeiten, die weit von ihrem Wohnorte entfernt sind. 
„Nach den bestehenden Arbeitsverträgen hat der Arbeitgeber 
sämtliche zu verarbeitende Stoffe und Materialien und alle Zu- 
behörungen bis herunter zum Schusterpech und bis zum Näh- 
faden, nicht minder auch die erforderlichen Maschinen fracht- 
frei der Anstalt zu liefern und ebenso auch die Fracht für 
die abgehenden fertigen Arbeiten und für alle sonstigen Sen- 
dungen zu tragen." Die Unternehmer müssen ferner am Sitze 
der Strafanstalt, deren Insassen sie beschäftigen, Werkführer 
zur Unterweisung der Gefangenen, oder Buchhalter, Handlungs- 
gehilfen zur Vermittelung des geschäftlichen Verkehrs zwischen 
der Verwaltung und dem Arbeitgeber und seinen Kunden auf- 
stellen und unterhalten. Die tägliche Arbeitszeit der Gefangenen 
ist infolge der Unterbrechungen (Gottesdienst, Schule, Bewegung 
im Freien) um mindestens ein Vierteil kürzer als der Arbeits- 
tag des freien Arbeiters. Das mindert ebenfalls die Lohnhöhe. 
Ueberdies ist der vereinbarte Tagelohn für jeden Gefangenen 
von dem ersten Tage seiner Zuweisung zu dem betreffenden 
Beschäftigungszweige an, also auch für die ganze Dauer der 
Lehrzeit, in vollem Betrage zu entrichten. Nicht ohne Be- 
deutung für die Kalkulierung der Löhne ist schliesslich der 
Umstand, dass die Arbeitsverträge jede Haftung der Anstalt 
für absichtliches oder fahrlässiges Verpfuschen von Arbeiten, 



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120 - 



für Verderben und Verschleudern von Arbeitsmaterial, für die 
Beschädigung von Maschinen absolut ablehnen, bei dem schul- 
digen Gefangenen aber wird mit Ersatzansprüchen meist nichts 
zu holen sein. 

Die Minderwertigkeit der Gefangenenarbeit, insbesondere 
was die Schuhmacherei betrifft, betont einer unsrer ersten 
bayerischen Schuhfabrikanten in einem Brief an mich folgender- 
massen: „Ich lasse seit mehr denn 20 Jahren im Zuchthause 
arbeiten. Im Laufe der Jahre hat sich jedoch die Qualität der 
Arbeit derart verschlechtert und andrerseits diejenige in den 
Fabriken durch die Maschinen so gebessert, dass ich seit ge- 
raumer Zeit nur noch meine geringsten Artikel, nämlich die 
sogen. Lederschlappen dort machen lasse. Die Löhne sind 
6* — 10 0 /o niedriger als jene für freie Arbeiter, dagegen hat 
man den Nachteil, dass die Arbeit, wie sie geliefert wird, ge- 
nommen werden muss; ein grosser Teil der Lohnersparnis geht 
durch minderwertige Arbeit verloren." Dass diese Angabe 
richtig ist, kann ich aus eigener Wahrnehmung bezeugen; die 
in Strafanstalten hergestellten Schuhwaren, die mir zu Gesichte 
kamen, sind nach Qualität der Stoffe wie der Arbeit recht 
geringe Produkte, allerdings dafür auch äusserst billig. Und 
gerade das ist es, wonach der Konsument fragt, und was den 
freien Gewerbetreibenden bedrückt, so dass ich die Ansicht 
des eben erwähnten Fabrikanten, „in Bayern seien die Klagen 
des Handwerks über die Konkurrenz der Gefängnisarbeit, was 
<lie Schuhmacher anbetreffe, durchaus nicht gerechtfertigt," 
nicht ohne weiteres unterschreiben möchte. Denn wir geraten 
hier in ein Dilemma: Wenn es auch durchaus zutrifft, dass 
die Strafanstalt heutzutage die Pflicht hat, ihre Insassen zu 
befähigen, nach ihrer Entlassung im erlernten Gewerbe ihren 
Unterhalt zu verdienen und so der Heimatgemeinde Lasten 
und dem Gefängnis Rückfällige zu ersparen, so muss doch 
andrerseits betont werden, dass in einem dermassen notleidenden 
Gewerbe, wie es die Schuhmacherei als Kleinbetrieb gegen- 
wärtig ist, eine jede, auch durch die geringste Verschärfung 
der Konkurrenz sich fühlbar machende weitere Verschlechterung 
auf dem Arbeitsmarkte die Löhne noch tiefer sinken lässt; 
ungenügendes Einkommen aber treibt zu Verbrechen und Ver- 



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127 



gehen gegen das Eigentum, und so züchten sich die Straf- 
anstalten durch die in ihnen betriebene Konkurrenz mit der 
freien Arbeit selbst wieder ein Kontingent neuer Insassen. 

Da nun aber die königl. bayerische Justizverwaltung, trotz 
aller Erklärungen ihres Wohlwollens für Handwerk und freies 
Gewerbe, die sie in den Jahren 1878, 1884, 1880 und 1888 
im Landtage abgegeben hat, auf dem Standpunkte beharrt, 
sie könne aus den oben angegebenen Gründen die auf Rech- 
nung von Unternehmern betriebene gewerbliche Arbeit in den 
Strafanstalten nicht missen, werde aber nach wie vor darauf 
bedacht sein, etwaige Missbräuche und Schädigungen des lokalen 
Gewerbestandes zu beseitigen J ) , so ist wenigstens das Eine 
zu wünschen, dass bei der Gefängnisschuhmacherei nur solche 
Häftlinge verwendet werden, die in der Freiheit gelernte Schuh- 
macher waren; „Lehrlinge neu ansetzen" in den Zuchthäusern 
und Gefängnissen hiesse nicht nur die Konkurrenz mit dem 
freien Gewerbe verschärfen, sondern auch nach ihrer Frei- 
lassung den ohnehin überfüllten Arbeitsmarkt des Schuhmacher- 
gewerbes noch mit untüchtigen Leuten weiter bevölkern. Die 
aus der S. 114 mitgeteilten Tabelle ersichtliche Minderung 
der mit Schuhmacherarbeiten in den Strafanstalten Bayerns 
beschäftigten Personenzahl berechtigt zu der Annahme, dass 
die königl. Justizverwaltung wenigstens dies Ziel vor Augen 
habe. 



') Krklärung des Justizministers in der Abgeordnetenkammer am 
26. Jan. 1888, der gegenüber der Führer der bayer. Handwerker, Abge- 
ordneter Biehl, konstatierte, dass seit einigen Jahren sich manches ge- 
bessert habe und ihm Klagen nicht mehr zu Ohren gekommen seien. 



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IX. 



Produktionskosten und Preise. 

Ergibt schon ein Blick in die Organisation des Betriebes, 
wie bedeutend die mechanische Schuh Warenfabrikation dem 
Handwerk überlegen ist, so wird dies durch eine Betrachtung 
der Produktionskosten in Gross- und Kleinbetrieb noch deut- 
licher. Bei einer Berechnung der Produktionskosten in der 
Schuhmacherei, die wesentlich für den Stand der Verkaufs- 
preise massgebend sind, kommen in Betracht: 1. Zinsen und 
Amortisation der Kosten für Arbeitsräume, sowie der verwen- 
deten Werkzeuge und Maschinen — also der Aufwand für 
Verzinsung und Tilgung des Kapitals; 2. Kosten für Roh- 
materialien und Zubehör; 3. Arbeitskosten, sowohl die an Ar- 
beiter gezahlten Löhne als auch der dem Inhaber des Betriebes 
für seine Mühewaltung zukommende Lohn. 

Hieraus erhellt ohne weiteres, wie ausserordentlich ver- 
schieden in der Wirklichkeit, selbst innerhalb eines so be- 
grenzten Gebietes, wie es Bayern ist, sich die Kosten der Her- 
stellung von Schuhwaren gestalten müssen. Das liegt schon 
in der Natur der Dinge. Denn die Produktionsbedingungen 
weisen eben eine so unendliche Mannigfaltigkeit auf, dass sie 
schwerlich auch nur bei zwei Betrieben vollkommen identisch 
sein werden. Nicht einmal in den primitivsten Stadien der 
Schuhmacherei ist hier Uebereinstimmung zu erzielen. Schon 
in der Störarbeit macht es einen Unterschied, ob der Bauer, 
wie dies in dem Gebirgsvorlande Oberbayerns vielfach der Fall 
ist, das Leder vom Landgerber gegen Lohrinde eintauscht, 
oder ob er, wie meist in Franken, den Rohstoff mit Geld be- 
zahlt; ist der Geldlohn hier und dort auch vielleicht bis auf 
den Pfennig derselbe, so wird eine solche Gleichheit bei der 



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129 — 



gereichten Kost nie zu finden sein. Der Landschuhmacher, der 
im eigenen Häuschen auf eigener Grundparzelle sitzt und zum 
Teil noch in Naturalwirtschaft lebt, wird notwendigerweise die- 
selbe Qualität Mannsstiefel mit andern Kosten herstellen als 
der Handwerksmeister der Kleinstadt, der zur Miete wohnt und 
jeden Bissen Brot kaufen muss, aber dabei eine Nähmaschine 
besitzt. Und ganz unübersehbar wird die Verschiedenartigkeit 
der Produktionsbedingungen und damit der Herstellungskosten, 
wenn wir die lange Liste der Betriebe im Handwerk ohne und 
mit Gehilfen, nur mit den einfachsten Werkzeugen oder mit 
Hilfsmaschinen, in der Hausindustrie nach ihren Standorten und 
in der mechanischen Schuhfabrikation betrachten, die hier in ein 
paar Hofzimmern eines gewöhnlichen Hauses mit einigen Näh- 
maschinen, einer Sohlenstanzpresse und einer alten Sohlennäh- 
maschine arbeitet, dort in einem Riesengebäude mit hellen und 
luftigen Räumen Hunderte von Arbeitern zur Bedienung höchst 
sinureich konstruierter und leistungsfähiger Maschinen ver- 
wendet. 

Auch in der Schuhmacherei wird mit der Kleinheit der 
Betriebe das Mass der Schwierigkeiten wachsen, die im Mangel 
an Kapital und an Beherrschung des Marktes begründet liegen. 
Im grossen und ganzen sind schlechtere Rohstoffe und unter- 
geordnetere Werkzeuge, sowie Verlust geschäftlicher Vorteile, 
wie Stetigkeit des Betriebes und geregelter Absatz, die Folgen. 
Wer auch nur den ersten Schritt in dies gewerbliche Gebiet 
hinein thut, wird sofort von allen Seiten die Bestätigung hier- 
für finden, bald im klagenden Tone gegeben von den Klein- 
meistern und den von ihnen in Lohn und Lebenshaltung ab- 
hängigen Gehilfen, bald von der siegreichen Konkurrenz der 
Grossindustrie. Der kleine Handwerksmann kann sich vor allen 
Dingen den Hauptrohstoff, das Leder, gar nicht in solcher 
Güte und zu solchen Preisen verschaffen, wie der Schuhfabrikant. 
Die grossen, mit allen Hilfsmitteln der Technik arbeitenden 
Gerbereien, die ein an Qualität und Billigkeit gleich hervor- 
ragendes Produkt liefern, geben natürlich nur en gros ab. Von 
ihnen bezieht also direkt nur der Grossindustrielle oder der 
Lederhändler. Selbst Handwerksmeister, die mehrere Gesellen 
beschäftigen, haben keinen so starken Bedarf, dass sie mit 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 9 



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130 



Vorteil das Leder vom Fabrikanten beziehen könnten. Sie 
kaufen billiger beim Händler, der doch auch wieder seinen 
Profit macht. Die Zwergbetriebe nun gar, die hauptsächlich 
von Flickarbeit leben und, wenn einmal ein Kunde sich zu 
ihnen verirrt, für diesen erst ein Pöstchen Leder, womöglich 
noch auf Kredit kaufen, müssen eben mit dem Material vorlieb 
nehmen, das ihnen der Händler verabfolgt. Und wie mit dem 
Leder geht es gleicherweise auch mit den übrigen Zuthaten. 
So hat von vornherein der kapitalkräftige Unternehmer schon 
einen grossen Vorsprung dadurch, dass er in Masse und bar 
sein Material einkauft. 

Auf dem Markte aber, beim Absätze und Vertrieb der 
Schuhwaren fragt der Käufer nicht, unter welchen Bedingungen 
die Arbeit hergestellt worden ist, sondern er sieht allein auf 
die Güte und Dauerhaftigkeit des Produktes und den Preis. 
Liefert der Handbetrieb bessere Ware, so wird der Konsument 
auch einen höheren Preis zahlen, aber auch nur bis zu einem 
gewissen Grade 1 ). Um also konkurrieren zu können mit den 
Erzeugnissen der mechanischen Schuhfabrikation, wird das 
Handwerk, da es im Wettbewerb mit den Hilfsmitteln des 
Kapitals unterliegt, die sonstigen Produktionskosten herab- 
drücken, vornehmlich die Arbeitslöhne. Und dies geschieht in 
der That bis zu einem traurigen Grade. In der Schuhmacherei 
werden Löhne, sowohl Stück- wie Wochenlöhne gezahlt, bei 
denen es kaum begreiflich ist, wie man dabei leben kann. 
Aber auch die kleinen Meister sind oft nicht um ein Haar 
besser daran, ihre Lebensführung ist um nichts höher als die 
der meisten Gehilfen, höchstens dass sie noch den Kopf voll 
von Sorgen haben, wie sie ihren Betrieb selbständig erhalten 



') Nacli einem Streik in Nürnberg im Frühjahr 1890 stellten die 
vereinigten Schuhmachermeister einen Warentarif auf; man hoffte da- 
durch einmal die an die Gehilfen zugestandene Lohnerhöhung wieder 
auszugleichen und sodann auch durch eine solche Vereinbarung der 
Preise die Konkurrenz unter den Meistern zu beseitigen. Aber das 
Mittel hatte die gegenteilige Wirkung: das Publikum antwortete auf 
den Tarif, indem es noch weit lebhafter als zuvor die Schuhwarenlager 
auswärtiger Fabriken in Anspruch nahm, so dass seitdem die Lage der 
Meister sich noch weiter verschlechtert hat. 



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131 - 



können. In verschiedenen Teilen Deutschlands werden Löhne 
gezahlt, die es nun allerdings ermöglichen — namentlich in 
der Herstellung von Marktware — mit den Fabrikerzeugnissen 
die Konkurrenz im Preise auszuhalten, wenn auch die Qualität 
des Produktes darunter leidet, noch mehr freilich Leben und 
Gesundheit der Arbeiter. Doch diese Fragen sollen hier nur 
gestreift werden; sie werden bei der Erörterung der sozialen 
und wirtschaftlichen Zustände in der bayerischen Schuhmacherei 
noch zur Erörterung kommen müssen. 

Im folgenden soll nun versucht werden, an typischen Bei- 
spielen die Produktionskosten im Kleinbetrieb wie im Gross- 
betrieb zu berechnen. Leider bin ich nicht im stände, diese 
Paradigmata von dem wirklichen Leben des Gewerbes wört- 
lich abzuschreiben. Denn um einen stichhaltigen Vergleich 
zu erhalten, muss ich annehmen, dass unter völlig identischen 
Bedingungen der äusseren Umgebung, also an Einem Orte und 
zu gleicher Zeit in all den verschiedenen Betrieben auch genau 
die gleiche Gattung Ware hergestellt wird, was natürlich 
nirgends thatsächlich der Fall ist. Die nachstehenden Aus- 
führungen und Berechnungen beruhen also auf Konstruktionen. 
Ich habe mich aber bemüht, der Wirklichkeit möglichst nahe 
zu kommen, indem die Zahlen für Kapitalzins und Amortisation, 
Kosten für Rohstoife, Arbeitslöhne, Preise jeweils den gebräuch- 
lichen entsprechen. Keineswegs verkenne ich, dass die von 
mir angewendete Methode des Vergleichs der Produktionskosten 
nicht einwandsfrei sei; aber sie gibt immerhin ein in den Haupt- 
zügen richtiges und vor allem instruktives Schema, wie es 
durch Vergleich von Lohnlisten und Preistarifen, die sich auf 
ganz heterogenen Grundlagen aufbauen, nimmermehr zu er- 
reichen ist. Ich führe diesen Versuch an folgenden Beispielen 
durch : 

1. Der Betriebsinhaber arbeitet allein ohne Hilfskraft und 
ohne Maschine. Er bewohnt ein Zimmer und einen Neben- 
raum und zahlt dafür 150 M. jährlich; davon kommen 100 M., 
also bei 50 Arbeitswochen 2 M. wöchentlich Miete auf das als 
Werkstatt benützte Zimmer. Seine Arbeitszeit beträgt 14 Stun- 
den täglich, am Sonntag fünf bis sechs Stunden. In der Woche 
vermag er fünf Paar derbe lederne Männerstutzen zu fertigen, 



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— 132 — 



das Material dazu, Leder, Futter, Gummizüge kostet ihn, da 
er es im Detail infolge Mangels an Kapital einkaufen muss, 
pro Paar 4 M. 50 Pf. (2 M. 20 Pf. die Schäfte, 1 M. 60 Pf. 
Sohlen und Absätze, 70 Pf. Futter etc.). Sein Wochenbudget 
wird dann folgendermassen lauten: 

Ausgaben: Miete 2 M. — Pf. 

Feuerung und Licht — „ 50 „ 

Furnituren (das sind Zuthaten, wie Wachs, Faden, Holz- 

und Drahtstifte, Schwärze etc.) — „ 40 „ 

Abnützung und Amortisation von Werkzeugen ... — „ 20 „ 
Rohstoffe 22 , 50 „ 



Einnahmen: Diesen Ausgaben steht nun einzig und allein 
der Erlös aus den verkauften fünf Paar Stiefeln gegenüber. 
Der Marktpreis schwankt dafür zwischen 6 und 8 M. Nehmen 
wir den günstigsten Fall an, so hat er 40 M. Einnahme er- 
zielt. Es bleibt ihm also ein Rest von 14 M. 40 Pf. als Lohn 
seiner Wochenarbeit. 

II. Ein zweiter Meister beschäftigt in seiner Werkstatt 
ebenfalls keine Hilfskraft, aber er hat eine Nähmaschine, an 
der seine Frau hie und da mitarbeitet. Dadurch gelingt es 
ihm, bei gleicher Arbeitszeit seine wöchentliche Produktion 
auf sechs Paar Stiefel von gleicher Qualität zu steigern. Seine 
Wohnungsverhältnisse sind die gleichen wie die seines Kollegen 
unter I; auch er muss die Rohstoffe im kleinen einkaufen. 
Da er mehr Stiefel erzeugt und eine Nähmaschine benützt, 
die er durch Abzahlung zum Preise von 150 M. erworben hat, 
muss er sowohl für Furnituren als für Werkzeugkonto mehr 
ausgeben. In der Woche bezahlt er: 



Um seinen Konkurrenten, der das Paar um 8 M. verkauft, 
zu drücken, schlägt er seine sechs Paar etwas niedriger los 



25 M. 60 Pf. 



Miete 

Feuerung und Licht . . 

Furnituren 

Maschine und Werkzeuge 
Rohstoffe 



07 



2 M. — Pf. 

- „ 50 , 

- . 40 „ 

- . 70 , 



Summa 30 M. 60 Pf. 



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— 133 — 



und erlöst dafür 6 X 7 M. 75 Pf. = 4(3 M. 50 Pf. Es bleiben 
ihm also 15 M. 90 Pf. Wochenverdienst. 

III. In demselben Ort beschäftigt ein dritter Meister zwei 
Gesellen; ausserdem hat er eine Nähmaschine. Er braucht 
eine etwas grössere Werkstatt als seine beiden Kollegen vom 
Handwerk; auch die Kosten für Werkzeuge, sowie Feuerung 
und Licht erhöhen sich etwas. Dagegen fallen die Furnituren 
weg für ihn, da diese herkömmlicherweise die Gehilfen selbst 
stellen und des Meisters Arbeit sich im wesentlichen auf Zu- 
schneiden, Schaftsteppen und Vorrichten beschränkt. Die Ge- 
sellen stehen der eine im Stücklohn mit einem Durchschnitts- 
verdienst von 14 M. die Woche, der andere im Wochenlohn 
(5 M.) mit ganzer Kost und Logis beim Meister, was für diesen 
letzteren noch weitere 7 M. ausmacht. Ich bemerke dazu, dass 
diese Löhne leidliche Durchschnittsverdienste sind. Zufolge 
besserer Umstände bekommt er das Rohmaterial etwas billiger, 
sagen wir um 25 Pf. pro Paar. Bei gleicher Arbeitszeit wie 
in den vorhergehenden Beispielen fertigen Meister und Gehilfen 
in einer Woche 10 Paar Stiefel von gleicher Qualität Die 
Ausgaben des Betriebsinhabers stellen sich demgemäss wie folgt: 



Verkauft er seine 16 Paar Stiefel sogar zu noch etwas 
billigerem Preise, als dies der zweite Meister that, nämlich 
nur zu 7 M. 50 Pf., so hat er immer noch einen Gesamterlös 
von 120 M., also einen Wochenverdienst von 21 M., der den 
Lohn für seine eigene Arbeit, sei es die als Betriebsinhaber, 
sei es die als Mitarbeiter geleistete, darstellt. 

IV. Das Geschäft, das wir jetzt betrachten wollen, ist ein 
grösserer Gehilfenbetrieb, der fünf Gesellen, einen Lehrling, 
zwei Nähmaschinen neuester Konstruktion und verschiedene 
verbesserte Werkzeuge und Hilfsmaschinen hat, aber noch 
keinerlei mechanische Kraft verwendet. Die Wochenproduktion 
beläuft sich auf 40 Paar Stiefel der gleichen Gattung, wie in 



Miete für Werkstatt . . 
Feuerung und Licht . . 
Maschine und Werkzeuge 
Löhne für 2 Gehilfen 
Materialien 



3 M. 
1 , 
1 B 

26 „ 
68 „ 



99 M. 



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- 134 



den vorhergehenden Beispielen. Natürlich steigen die Aus- 
gaben für Werkstatt und Werkzeug, noch mehr das Lohnkonto, 
dagegen sinken die Materialienpreise, da der kapitalkräftigere 
Betriebsinhaber sich schon einigermassen die Vorteile des En- 
gros-Einkaufes der Rohstoffe nutzbar machen kann. Nun können 
wir sein Budget in nachstehenden Ziffern fixieren, alles für eine 
Woche: 

Miete für Werkstatt oM, 

Feuerung und Licht 2 „ 

Maschinen und Werkzeuge .... 3 , 

Löhne für 5 Gehilfen 05 „ 

Rohstoffe ....... . . . 160 , 

Summe der Ausgaben wöchentlich 235 M. 

Selbst wenn er jetzt seine Wochenproduktion von 40 Paar 
Stiefel zum Preise von nur 6 M. 50 Pf. verkauft, so hat er 
bei 270 M. Erlös immer noch 35 M. Ueberschuss über die Her- 
stellungskosten. 

Y. Erheblich andre Ziffern erhalten wir, wenn wir nun 
zum Fabrikbetriebe übergehen. Betrachten wir die Produktions- 
kosten in einem kleineren Etablissement, das nur 20 männ- 
liche und weibliche Arbeiter beschäftigt. Die Fabrik ist nur 
zum Teil mit Maschinen ausgerüstet; zwar werden die Schäfte 
sämtlich auf mechanischem Wege hergestellt und ebenso alle 
Stiefel auf der Sohlennähmaschine genäht, aber das Aufzwicken 
und Ausputzen wird mit der Hand besorgt. Ein dreipferde- 
kräftiger Gasmotor genügt für den erforderlichen Kraftaufwand. 
Der Besitzer des Betriebs leitet den kaufmännischen Teil des 
Geschäfts, sein Werkführer ist zugleich erster Zuschneider. 
Für den Bau der Arbeitsräume sind 30 000 M. notwendig ge- 
wesen, die mit 10°/o verzinst und amortisiert werden. Die 
Anschaffung der Maschinen inkl. des Gasmotors hat 20000 M. 
gekostet, Zinsen und Amortisation berechnet der Besitzer hier 
mit 15°/o. Die Löhne wechseln sehr je nach der Art der Ar- 
beit und der Leistungsfähigkeit des Arbeiters; ich habe sie 
nach den mir vorliegenden Lohnlisten einer mittleren Fabrik 
in Pirmasens berechnet. Der Gaspreis ist 14 Pfennig pro 
Kubikmeter (Münchener Gaspreis für gewerbliche Zwecke). 
Heizung und Beleuchtung wird vom Gasmotor mit besorgt. 



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— 135 - 



Die effektive Arbeitszeit beträgt 11 — 11 1 2 Stunden laut Fabrik- 
ordnung. Wird ein und dieselbe Sorte Schuhzeug, wie vorher 
angenommen, gefertigt, so beliiuft sich die Wochenleistung auf 
etwa 400 Paar, die in mehreren Magazinen verschiedener Städte 
Absatz finden. Da diese natürlich auch noch einen Profit 
machen wollen, muss der Fabrikant billiger liefern als der 
Handwerksmeister; er wird sich, da ein Abzwacken bei den 
Löhnen nicht viel ausmachen kann, daher möglichst bemühen, 
die Rohstoffe durch günstige Abschlüsse billig einzukaufen. 
Am Schlüsse der Woche kann er nun folgende Bilanz auf- 
stellen : 

Verzinsung und Amortisation des Baukapitals . G0 M. 
Verzinsung und Amortisation der Maschinen . . 00 , 
Betriebskraft, Heizung und Beleuchtung ... 25 „ 

Arbeitslöhne 375 , 

Rohstoffkonto 1500 r 



Summe der Ausgaben 2020 M. 

An Einnahmen hat er, da das Magazin das Paar Stiefel 
schon zum Preise von ö M. 25 Pf. verkaufen will, um der Kon- 
kurrenz siegreich zu begegnen, 400 X 5 M. 50 Pf. = 2200 M., 
also einen Ueberschuss der Einnahmen über die Ausgaben von 
180 M. selbst bei erheblich höheren Durchschnittslöhnen und 
niedrigeren Verkaufspreisen infolge des billigeren Bezuges an 
Material und der weitaus überlegenen Leistungsfähigkeit seines 
Betriebes. 

VI. Als letztes dieser Reihe von Beispielen sei eine grössere 
Fabrik gewählt, die weit mehr Anlagekosten sowohl für den 
Bau als für ihre Maschinenausrüstung erfordert hat. Sie ar- 
beitet mit 100 Hilfskräften nur in mechanischem Betriebe (mit 
Ausnahme des Zwickens) und einem 15pferdekräftigen Gas- 
motor. Die Löhne sind etwas höher, die Quoten für Zinsen 
und Amortisation die gleichen wie im Beispiel V und auch bei 
den Rohstoffen ist es nicht gelungen, eine weitere Reduktion 
herbeizuführen. Bei der scharfen Konkurrenz auf dem Markte 
versucht der Fabrikant es, vorwiegend zu exportieren. Seine 
Wochenproduktion beträgt infolge des vollständig durchgeführten 
Maschinenbetriebes 2500 Paar, die schlanken Absatz finden, 
deren Preise aber von den hohen Zollsätzen des Exportlandes 



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— 186 — 

(20 °/o des Herstellungspreises) gedrückt werden. Eine Ueber- 
sicht seines Geschäftes am Wochenschluss lässt folgende Aus- 
gaben ersehen: 

Zinsen und Amortisation des Baukapitals (80 000 M. zu 10 °/o) 100 M. 
Zinsen und Amortisation des Maschinenkontos (G0 000 M. zu 

15» 180 , 

Betriebskraft, Heizung und Beleuchtung 100 „ 

Arbeitslöhne 2200 „ 

Rohstoffe 9375 r 

Summe der Wochenausgaben 12 015 M. 

Selbst bei einem Preise des Fabrikates von nur 5 M. pro 
Paar (2500 x 5 M. = 12 500 M.) hat er einen Ueberschuss 
von 485 M. über die Betriebskosten und der Verkäufer im 
Exportlande kann inkl. Frachtspesen und Zoll das Paar bei 
einem Preise von 7 M. noch mit respektablem Profit verkaufen 

Der frühere amerikanische Konsul, Herr J. Schönhof, hat 
in seinem wiederholt angeführten Konsularbericht Nr. 9(5 von 
einem Versuche berichtet, den er angestellt hat, um die Höhe 
der Arbeitskosten für ein Paar guter Damenstiefel in Amerika, 
England, Deutschland und Oesterreich zu ermitteln und sie in 
einen Vergleich mit den Arbeitslöhnen zu bringen. Damit ist 
aber nur ein Teil der gesamten Produktionskosten bekannt ge- 
geben, und zudem beschränkt sich Schönhof lediglich auf die 

') In der „Goth. Schuhmacherzeitung* 1887 Nr. 5 wird folgendes 
Beispiel über Produktionskosten in Fabrik- und Handbetrieb mitgeteilt : 
„Nehmen wir eine Fabrik mit nur 100 Arbeitern und ihr gegenüber 
einen Meister mit 8 Gesellen, deren es heutzutage nur noch wenige gibt. 
In dieser Fabrik können täglich 300 Paar gelbgenähte Damenstiefel ge- 
fertigt werden. Der Lohn für ein derartig gefertigtes Paar Stiefel be- 
trägt 75 Pf. Verkauft worden sie mit 0 M. das Paar. Der Meister 
fertigt den Tag 8 Paar. Der Lohn für ein Paar beträgt 2 M. 75 Pf. 
Verkauft werden sie im niedrigsten Falle mit 10 M. Der Verdienst des 
Meisters beträgt an einem derartigen Paar Stiefel 2 M., macht also die 
Woche bei einer Produktion von 48 Paaren 9Ü M. In der Fabrik wer- 
den aber 1800 Paar produziert die Woche. Wenn nun der Fabrikherr 
an einem Paar bloss 25 Pf. Verdienst nimmt, beläuft sich immerhin sein 
wöchentlicher Verdienst auf 450 M. Wir sehen also, dass der Fabrik- 
besitzer infolge der Maschinen ein Paar Stiefel um '/s billiger liefern 
kann und sogar bei achtmal weniger Verdienst am Paare dem Meister 
gegenüber immer noch ziemlich fünfmal mehr verdient." 



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V17 - 



Vergleichung toii Fabrikware der verschiedenen Länder, Hand- 
werksprodukte zieht er gar nicht in Betracht. So wertvoll 
dies für seinen Zweck ist, nachzuweisen nämlich, dass die Ar- 
beitskosten sinken mit wachsender Lohnhöhe infolge der ge- 
steigerten Betriebintensität, so erschien es mir ungleich inter- 
essanter, in Einem Lande, hier also Bayern, die sämtlichen 
Herstellungskosten für die Erzeugnisse der verschiedenen Be- 
triebe in Handwerk und Fabrik vergleichen zu können. Ich 
bemerke, dass ich bei den mitgeteilten Beispielen bemüht war, 
die Ausgaben im Kleingewerbe thunlichst niedrig darzustellen, 
dagegen für die Grossindustrie hohe Ziffern einzusetzen. Un- 
berücksichtigt musste natürlich bleiben, dass in Wirklichkeit 
keiner der sechs aufgeführten paradigmatischen Betriebe das 
ganze, zu 50 Arbeitswochen angenommene Geschäftsjahr fort- 
während mit gleicher Intensität dieselbe Ware produzieren kann, 
sondern mannigfaltigen Schwankungen unterliegen muss. 

Aber selbst bei allen Vorbehalten gegen den unternom- 
menen Versuch möchte ich ihn doch noch von andern Gesichts- 
punkten aus einer Betrachtung unterwerfen, nämlich die Frage 
stellen: Wie verhalten sich in den verschiedenen Betrieben 
Arbeitslohn, sonstige Produktionskosten, Arbeitszeit, Preise und 
Einnahmeüberschuss? Nach den sechs Beispielen geordnet, 
ergibt sich da folgende Tabelle: 





Für ein Paar Stiefel betragen 


7. 


Art des Betriebes 


1. 

die Arbeits- 


1 2 | 

1 


Kosten 


<■ 


5- 


a. r 

«chu 


» 

t-her- 
d. 


Der 
Wochen- 
lohn des 
Arbeiters 
beträat 


koston (nur 
für Gehilfen) 


Kapital- 
zin-eii 


des 
Rohstoffs 


Arbeits« 
zeit 


Verkaufs- 
preis 


Preises 
lllier die 
Produk- 

»:..... .1 -t 




M 


Pf. 


Pf. 


M- 


Pf- | 


Stunden 


M. 


Pf 


M 


Pf- 


M- 




I. Meister allein 






Ü2 


1 


50 


17—18 


s 




o 


88 






II- . 






(SO 


4 


50 I 


11—15 


7 


75 


2 


05 , 






III. Meister mit 2 Geh- 


1 




31 1 4 


4 


25! 


14-15 


7 


50 


1 


31 V 4 ' 


13 




IV. Meister mit 5 Geh. 


1 


«21 o 


1 25 


4 


_ ! 


13-14 


(j 


5<> 




87 1,, 1 


13 




V. Fabrik mit 20 Arb- 






i 


3 


75 


3' 3 


5 


50 




45 


18 


75 


VI. Fabrik uiit 100 Arb. 






• 


3 


15 i 


*** 


5 






1»-; 


r 





Die kleine Uebersicht entbehrt nicht des lehrreichen Cha- 
rakters. Was die Arbeitskosten im Verhältnis zum Arbeits- 
lohn betrifft, so ergibt ein Blick auf die Rubriken 1 und 7, 
dass selbst bei nahezu dem doppelten Durchschnittslohne in 



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— 138 — 



einer gut eingerichteten Fabrik die Kosten der Arbeit fast nur 
die Hälfte betragen. Dass der Kleinbetrieb sowohl für den 
Rohstoff mehr zahlen, als auch ganz erheblich höhere Kapital- 
zinsen pro Paar aufwenden muss, als die Grossindustrie, be- 
weisen die Rubriken 2 und 3. Je grösser der Betrieb, desto 
geringer die Generalkosten. Den Unterschied der Leistungs- 
fähigkeit zwischen Hand- und Maschinenbetrieb veranschau- 
licht Rubrik 4; dasselbe Paar Stiefel, zu dem der allein und 
mit primitivem Werkzeug in seiner Werkstatt arbeitende Klein- 
meister 14 — 18 Stunden braucht, liefert die Grossindustrie in 
2 1 ? — 3'/2 Stunden — und fügen wir dazu: in ganz grossen 
mechanischen Betrieben in noch weniger Zeit! Eine der Fol- 
gen dieser beschleunigten Herstellung ist die Möglichkeit er- 
heblicher Abkürzung der Arbeitszeit, wie sie die Fabrik gegen- 
über der Werkstatt in der That besitzt. Rubrik 5 zeigt die 
Unterschiede im Preis des fertigen Produktes in den sechs Be- 
trieben auf: dieselbe Ware, die der Kleinmeister um 7 1 /* bis 
8 Mark direkt an den Konsumenten verkauft, liefert der Fa- 
brikant dem Händler für — 0 Mark, der nun allerdings noch 
seinen Profit beim Verkaufe daraufschlägt. Die kolossale Stei- 
gerung der Produktion und des Absatzes gestattet, wie in 
Rubrik 6 ersichtlich, dem grossen Fabrikanten, sich mit einem 
minimalen Gewinn am einzelnen Paar zu begnügen, der klei- 
nere Fabrikant muss hier schon höher greifen, noch höher 
natürlich der Handwerksmeister, und zwar desto höher, je 
kleiner sein Betrieb ist. In allen wesentlichen Punkten stim- 
men die Angaben der Tabelle mit den von mir bei Fabrikanten, 
aus Lohnlisten und Tarifen, sowie aus der gerade in diesem 
Punkte spärlichen Literaturnachweisen gesammelten Daten; 
allerdings dürften in Wirklichkeit die Arbeitskosten im mecha- 
nischen Betriebe sich um 10-50 > (auf 1 M. bis 1 M. oO.Pf.) 1 ) 
höher stellen, da nirgends mit einer das ganze Jahr hindurch 
gleichbleibenden Intensität dieselbe Ware erzeugt wird, jeder 

l ) Vergl. Schöne a. a. 0. S. 88 und Stenogr. Bericht des Deutschen 
Reichstags, Sitzung vom 18. Jan. S. 574 f. Entschieden viel zu hoch 
gibt J. Schönhof in dem öfter citierten Konsularbericht die Arbeitskosten 
für deutsche Fabriken an, sein Irrtum liegt namentlich in der zu hohen 
Berechnung der Arbeitskosten für das Aufzwicken. 



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139 - 



Wechsel in den Warensorten an sich aber schon die Arbeits- 
kosten erhöhen muss. Im allgemeinen wird mir versichert 
dass bei gut gehenden Artikeln 1 y'i — 1 /s der gesamten Pro- 
duktionskosten auf die Löhne kommen, und dass Handarbeit 
2— 3mal teurer ist als mechanischer Betrieb. 

Unbeschadet der Abweichungen im einzelnen können wir 
aus den vorstehenden Erörterungen den nachstehenden all- 
gemeinen Schluss ziehen: Der mechanische Grossbetrieb unsres 
Gewerbes ermöglicht bei niedrigeren Preisen der Ware höhere 
Löhne zu zahlen und kürzere Arbeitszeit zu gestatten, als dies 
das Handwerk zu thun vermag Auch in der Schuhmacherei 
zeigt sich die in zahlreichen andern Gewerben unumstösslich 
festgestellte Thatsache, dass die Steigerung der Produktion 
eines Betriebes, unter grösstmöglicher Abwälzung der bisher 
von dem Körper des Menschen gelieferten Kraftanspannung 
auf Umtrieb- und Werkzeugmaschinen , Hand in Hand geht 
sowohl mit einer besseren Rentabilität für den Unternehmer 
als mit günstigeren Arbeitsbedingungen für die Arbeiter. Auch 
in der Schuhwarenindustrie bedeutet die mechanische Fabri- 
kation im grossen nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern 
auch einen sozialreformatorischen Fortschritt, und es gilt von 
ihr, was J. Schönhof in seinem Buche Economy of high 

*) In Nordamerika ist dies noch weit mehr der Fall als bei uns. 
H. D. Richardson schreibt im Londoner Journal of Boot und Shoe Trade : 
Die amerikanischen Fabrikanten zahlen pro Paar viel geringere Löhne 
als die europäischen. In England, Deutschland, Oesterreich bekommen 
die schlechtest bezahlten Arbeiter für ein Paar ebensoviel Lohn, als die 
Fabrikanten in Massachusetts und Maine für dieselbe Arbeit bezahlen. 
Aber der Wochenverdienst des amerikanischen Arbeiters ist bei kürzerer 
Arbeitszeit 2— 3mal so hoch als der des europäischen Handwerkers. Das 
System, nach welchem seine Arbeit gethan wird, die Bereitwilligkeit des 
Arbeitgebers, allen und jeden arbeitfördernden Mechanismus einzuführen, 
und seine eigene Entschlossenheit, ein grosses Arbeits- und Lohnkonto 
zu erreichen, alles das trägt dazu bei, dies Konto vom Standpunkt eines 
europäischen Arbeiters oder Arbeitgebers zu einem sehr bedeutenden zu 
machen . . . Wenn die Arbeit reichlich ist, so scheint der Leistungs- 
fähigkeit des von der Maschine unterstützten Arbeiters nur eine schwache 
Grenze gesteckt zu sein, und sein Durchschnittsverdienst nähert sich oft 
dem Dreifachen desjenigen seines englischen Kollegen und beträgt das 
4— 5fache des Schuhmacherverdienstes in Deutschland und Oesterreich." 



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— 140 - 



wages S. 31 und 35 sagt: „Billige Arbeit ist nicht gleich- 
bedeutend mit billiger Produktion, im Gegenteil: es gehen 
niedrige Produktionskosten mit hohen Löhnen Hand in Hand . . . 
Hohe Löhne bilden einen Ansporn, Maschinen zu verbessern 
oder zu erfinden, um Zeit zu sparen, niedrige Löhne veranlassen 
in veralteten Methoden zu verharren!" 

Ein Einwand sei hier noch kurz berührt. Ja, hört man 
sagen, es ist wahr: die Fabrik produziert billiger und darum 
sind auch die Preise ihrer Waren niedriger. Aber Handarbeit 
ist besser und dauerhafter, und das Material, das der Hand- 
werksmeister für seine Stiefel und Schuhe nimmt, ist an Qua- 
lität dem in der Fabrik verwendeten überlegen. Vielfach trifft 
dies Bedenken thatsiichlich zu. Wir haben schon früher an 
mehreren Stellen betont, dass die Grossindustrie grosse Massen 
geringwerthiger Waren auf den heimischen Markt wirft oder 
zur Ausfuhr bringt, deren einziger Vorzug eine erstaunliche 
Billigkeit ist. Dies Streben, in erster Linie durch niedrige 
Preise und nicht durch Qualität ein ausgebreitetes Absatzfeld 
zu erobern, hat dem Rufe der mechanischen Schuhfabrikation 
viel geschadet und dem Handwerk ebensoviel genützt. Aber 
es ist doch zweierlei zu beachten: Schund zu produzieren, ist 
kein ausschliessliches Privilegium der Schuhwarengrossindustrie, 
sondern findet sich auch bei der Handarbeit in beklagens- 
wertem Masse, und hier ebenso wohl in der Markt- wie in 
der Kundenschuhmacherei; auch hier tritt oft das Bestreben zu 
Tage, durch Billigkeit zu imponieren, und da werden die Löhne 
gedrückt, schlechteres Material verwendet und dann zu Schleu- 
derpreisen verkauft. Und ferner ist ebensowenig wie beim 
Handwerk auch bei der mechanischen Herstellung eines Schuhes 
die geringe Qualität eine notwendige Folge des Herstellungs- 
prozesses an sich. Im Gegenteil; das sachverständige Urteil 
geht im allgemeinen dahin, dass der „eiserne Schuhmacher" 
heute ebenso dauerhaft und nahezu ebenso elegant arbeiten 
könne, als der Handwerker 1 ). Die Technik der mechanischen 

•) Gerühmt wird schon die Feinheit und Sauberkeit der amerika- 
nischen Schuhfabrikate auf der Weltauastellung zu Philadelphia 1877. 
Namentlich wird auch bemerkt, dass die Fabrikware durchschnittlich 
mehr der normalen Form des menschlichen Fusses angepasst sei, als 



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- 141 - 



Fabrikation ist in wenigen Jahren so rapid vorgeschritten, dass 
es selbst gewiegten Kennern oft schwer fällt, zu entscheiden, 
ob ein Stiefel mit der Hand genäht ist oder auf der Maschine. 
(Vgl. in Kap. III die Ausführungen über die technischen Fort- 
schritte in der Schuhfabrikation.) Und täglich fast, so kann 
man sagen, tauchen neue Erfindungen auf, vermittels deren 
nicht nur rascher und billiger, sondern auch feiner und solider 
gearbeitet werden kann. Diejenigen Schuhfabrikanten aber, 
die über grössere Kapitalien verfügen und weiter sehen, als 
auf einen bloss augenblicklichen Vorteil, sind bemüht, die aller- 
besten Rohstoffe mit allen Vorteilen des Grosskaufes zu er- 
werben, wie sie dem unbemittelten Kleinmeister gar nicht zur 
Verfügung stehen. Unsre bayerische Schuhfabrikation war 
einige Zeit, was die Güte der Produkte anbetraf, allerdings 
nicht auf der Höhe der Leistungsfähigkeit; aber seit einigen 
Jahren besitzen wir neben den billige Massenartikel erzeugen- 
den Fabriken Etablissements in Pirmasens, Schweinfurt, Kirch- 
heim-Bolanden, München, Nürnberg etc., die an Güte, Festig- 
keit und Eleganz ihrer Waren von keinem andern deutschen 
Fabrikate, aber auch von keiner Handarbeit übertroffen werden 
und doch dabei den Vorzug erheblich geringerer Preise haben. 
Ein drastisches Wort , das ich in einer Fachzeitung fand, be- 
zeichnet die Situation ziemlich treffend: Das Publikum kann 
zum Preise der Meisterschundware die Primaware der Fabrik 
kaufen 1 ). In der Reichstagssitzung vom 18. Januar 1893 sprach 
sich der Abgeordnete W. Bock, Führer der Gewerkvereins- 
bewegung in der deutschen Schuhmacherei und selbst ein 

dies viele Handwerksmeister verstünden. (H. A. Schneider, in Conrads 
Jahrbuch 1883 I.) 

l ) Eine bis ins Detail gehende Vergleichung der Preise für Mass- 
und Kundenware und derjenigen in einem Schuhwarenmagazin lässt 
sich bei der enormen Menge der einzelnen Posten nicht durchführen, 
selbst angenommen , die hier wie dort vorhandenen Waren seien der 
Qualität nach in den betreffenden Sorten ganz die gleichen. Ein Waren- 
preistarif der vereinigten Schuhmachermeister Nürnbergs zählt für Herren- 
arbeiten 26, für Knaben arbeiten 23, für Damenarbeiten 28, für Mädchen- 
arbeiten 19 und für Kinderarbeiten 8 verschiedene Posten auf, insgesamt 
also 104, jede aber in drei verschiedenen Qualitäten = 312 im ganzen. 
Ein vor mir liegender Katalog aber eines grossen Münchener Schuh- 



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- 142 - 



zünftig losgesprochener Schuhmacher, folgendermassen aus 
gegenüber einem Zuruf, die Fabrikarbeit tauge nicht viel: „Ich 
kann dem Kollegen S . . . . nur erklären, dass er Arbeit, die in 
Schuhfabriken gefertigt wird, nicht kennt. Dieselbe ist dauer- 
haft und elegant und steht der Handarbeit nicht nach; 
wenn Sie ein derartiges Urteil über die Schuhindustrie fällen, 
kennen Sie dieselbe nicht. Es mag allerdings auch schlechte 
Arbeit darunter sein. Das ist auch bei Handarbeit der Fall. 
In unsern Militärwerkstätten, wo doch ganz gewiss ein dauer- 
haftes Produkt für die Soldaten gefordert wird, wird alles mit 
Maschinen genäht und genagelt ; ich glaube, der Herr Kollege 
wird mit seinen Stiefeln nicht so viel Strapazen machen, als 
von den Soldaten verlangt wird, und doch sind Missstände nicht 
bekannt geworden" l ). Die Freunde des Handwerks haben diese 
Angaben des Herrn Abgeordneten Bock nicht bestritten 2 ). 

warenmagazins hat 1010 Artikel aufgezählt, von denen die meisten wie- 
der in verschiedenen Grössen auf Lager gehalten werden. Greift man 
Stichproben aus beiden heraus, die annähernd gleiche Ware betreffen, 
so findet man durchgängig die Fabrikate im Magazin um 25 — 40% bil- 
liger als die Erzeugnisse der Hand. 
') Stenogr. Bericht S. 574 f. 

2 ) Ueber die Schuhfabriken im Grossherzogtum Baden äussert sich 
der im Auftrage des grossherzoglichen Ministeriums des Innern heraus- 
gegebene Jahresbericht der Fabrikinspektion für 1892 S. 13 wie folgt: 
r Die grosse Produktion dieses Industriezweiges und die daraus hervor- 
gegangenen niederen Preise haben die Bekleidung der Arbeiter wesent- 
lich verbessert, zumal sie auch im allgemeinen solide und gute Ware 
liefern." 



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X. 

Der Schuhwarenmarkt. 



Nachdem ich in den vorhergehenden Erörterungen versucht 
habe, einen Ueberblick über Organisation und Betrieb der 
bayerischen Schuhmacherei in der Gegenwart zu geben, liegt 
mir noch ob, zum Schluss des I. Abschnittes, der von der 
Statistik, Technik und Organisation der bayerischen Schuh- 
macherei handelt, einige Worte über den Schuhwarenmarkt zu 
sagen. Wie gestalten sich unter der heutigen Produktionsweise 
die Absatzverhältnisse, und zwar sowohl im Inlande wie im 
Auslande ? 

Die Beantwortung des ersten Theils dieser Frage würde 
an Interesse wesentlich gewinnen, wenn es gelänge, genaue 
Angaben über den Verbrauch an Schuhwaren im Inlande bei- 
zubringen. Aber in dieser Hinsicht sind wir lediglich auf 
Mutmassungen angewiesen, da amtliche Erhebungen gar nicht 
und private Mitteilungen nur in Haushaltungsbudgets von 
Einzelfamilien, hie und da zerstreut, vorliegen. Während uns 
der zehnte Census der nordamerikanischen Union ganz genaue 
Daten über die Produktion an Schuhwaren verschafft hat — 
1880 wurden in den Vereinigten Staaten 125 478 511 Paar 
Schuhe und Stiefel gefertigt, etwa 2 1 .> Paar pro Kopf der 
Bevölkerung, wozu noch die namentlich nach den Südstaaten 
gehende, übrigens nicht sehr erhebliche Einfuhr tritt — , gehen 
für Deutschland die Versuche einer Berechnung sehr weit aus- 
einander. Eine Petition des deutschen Schuhmacherbundes, die 
1885 mit der Bitte um erhöhten Zollschutz gegen die Einfuhr 
von Schuhwaren an den Reichstag gelangte, behauptet, es seien 
450000 Personen in der deutschen Schuhmacherei thätig; von 
diesen könne jede jährlich 300 kg Schuhe anfertigen; der Kon- 



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— 144 - 



sum sei aber viel geringer als die Möglichkeit der Produktion; 
mit der Hälfte der gegenwärtig vorhandenen Schuhmacher 
reiche man jetzt schon aus für den Bedarf, wenn nur Hand- 
arbeit geliefert werde, bei teilweiser Verwendung von Maschi- 
nen genüge schon ein Viertel. Es seien also etwa 300 000 
Schuhmacher für Neuarbeit überflüssig ; diese müssten sich von 
Flickarbeit nähren, griffen zu allerhand Nebenbeschäftigung und 
lebten in grossem Elend. Der „ Ledermarkt eine vom Stand- 
punkt der Arbeitgeber in der Lederindustrie geführte Zeitschrift, 
glaubt, dass die Angaben dieser Petition, was Zahl der Schuh- 
macher und Produktionsfähigkeit anlange, zu hoch gegriffen 
sei; er berechnet einen jährlichen Lederverbrauch von 300 Mil- 
lionen Mark mit einer Produktion von 140 Millionen Paar 
Schuhen im Werte von 800 Millionen Mark. Nach dem Stand 
der Bevölkerung in der Mitte der achtziger Jahre kämen auf 
jeden Deutschen sonach annähernd drei Paar Schuhe im Werte 
von 18 M. jährlich oder, wenn man Ausfuhr und Einfuhr mit- 
berechnet, 2 1 ,2 Paar mit 15 M. jährlich. Schon erheblich 
niedriger greift die Schätzung einer bedeutenden Fabrik von 
Schuhmaschinen, C. S. Larrabee & Co., die nur 90 Millionen 
Paar Jahresproduktion annimmt, also zwei Paar pro Kopf. 

Vergleichen wir aber mit diesen Angaben die Summen, 
die für Bekleidung in dem Etat selbst gut situierter Arbeiter- 
familien ausgeworfen sind, so erscheint uns die alljährlich er- 
zeugte und im Inlande verbrauchte Menge von Schuhwaren 
auch in der niedrigsten der mitgeteilten Schätzungen als immer 
noch zu hoch gegriffen. Ein Berliner Metallarbeiter mit Frau 
und drei Kindern hatte für den Bedarf an Kleidung, Hausrat 
und Beschuhung freilich 360 M. ausgesetzt; da wäre es ja 
denkbar, dass hiervon auch zehn Paar Stiefel im Werte von 
rund 60 M. bestritten werden könnten. Aber dieser Metall- 
arbeiter hatte auch ein Einkommen von 1665 M. *) Bei einem 
Leipziger Buchdrucker , der nur zwei Kinder hatte , konnten 
von dem Einkommen mit 1362 M. nur 174 M. 40 Pf. für 
Bekleidung etc. verwendet werden, und es heisst ausdrücklich: 
„Um das Schuhwerk zu sparen, laufen die Kinder in der wär- 



l ) „Vorwärts", Jahrgang 8, Nr. 41. 



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- 145 - 

meren Jahreszeit barfuss 1 )." Aus Schlesien berichtet Dr. Lange 2 ): 
„Besonders gespart wird an der Fussbekleidung. Kinder und 
Frauen gehen stets barfuss, solange die Witterung es nur irgend 
erlaubt. Schuhe und Stiefel werden von ihnen nur beim Kirch- 
gange oder bei feierlichen Gelegenheiten angezogen. Und 
Männer sieht man in der Provinz Schlesien öfter ohne Schuh- 
zeug als in andern Provinzen." Ist es in Bayern in vielen 
Gegenden des platten Landes wohl anders? Eine Frankfurter 
Taglöhnerfamilie mit einem Kinde konnte bei einem Ein- 
kommen von nur 745 M. 92 Pf. für Kleidung, Mobiliar, Schuh- 
werk 70 M. 15 Pf. ausgeben: da ist gewiss nicht anzunehmen, 
dass von dieser letzteren Summe die Hälfte (sechs Paar a 
6 M. = 36 M.) auf Beschuhung fallen kann. Im Bezirke 
der Amtshauptmannschaft Zittau (Königreich Sachsen) wurden 
von dem Amtshauptmann v. Schlieben Beobachtungen über 
die Lebenshaltung verheirateter Handwerker angestellt; bei 
einer Jahresausgabe, die zwischen 305 und 779 M. schwankt, 
betrugen die Ausgaben für Kleider, Stiefel und Mobiliar zwischen 
14 und 56 M. 3 ) Nach der Lohnstatistik der deutschen Berufs- 
genossenschaften aus dem Jahre 1885, die die Angehörigen von 
57 Berufsgenossenschaften umfasst, beträgt das Durchschnitts- 
einkommen des deutschen Arbeiters nur 049 M. Der der Be- 
rechnung der Unfallrente zu Grunde gelegte Jahresarbeits- 
verdienst land- und forstwirtschaftlicher Arbeiter schwankt 
nach den Mitteilungen der Verwaltungsbehörden zwischen 200 
und 660 M.; im südlichen und westlichen Deutschland bewegt 
sich der Verdienst der Mehrzahl der Arbeiter zwischen 370 und 
430 M., unter dem ersteren Satze bleiben grosse Teile von 
Oberfranken, Niederbayern, Oberpfalz, auch Unterfrankens. Im 
Königreich Sachsen hatten 1888 42°/o der Steuerpflichtigen eine 
Einnahme bis 500 M. und 29 °/o zwischen 500 und 800 M., 
in Baden 22 °/o bis 500 und 41 °/o zwischen 600 und 1000 M. 

') Schriften des Vereins f. Sozialpolitik, Band 45. S. 469 f. 

2 ) Die deutsche Hausindustrie, Band 4. Leipzig 1890. S. 116. 

8 ) Weiteres, sehr übersichtlich aus einer Menge von Einzelunter- 
suchungen zusammengestelltes Material findet man bei Herkner, Soziale 
Reform, S. 58—63, und bei Hampke, Ausgabebudgets der Privatwirt- 
schaften, Conrads Jahrbücher, Band 4, Heft 6. 1888. 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 10 



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— 140 - 



In Preussen waren 1892/93, laut Mitteilung der „Denk- 
schrift" (S. 24) zu den Miquelschen Steuerentwürfen, von der 
29 895 224 Seelen zählenden Bevölkerung 20945227, d. i. etwa 
70 °/o der gesamten Bevölkerung, von der direkten Staatssteuer 
befreit, da sie ein Einkommen unter 900 M. bezogen. 

Zieht man diese Ziffern in Betracht, so wird uns eine in 
der Reichsenquete über die Sonntagsruhe ') enthaltene Aeusse- 
rung aus Magdeburg, 90 °,o der Bevölkerung im Reich besitze 
nur ein Paar Stiefel, nicht ganz unglaubwürdig erscheinen. 
Auch sonst finden sich ähnliche Behauptungen vielfach in 
Schuhmacherblättern. Wie dem auch sei, das steht jedenfalls 
fest, dass der Verbrauch an Schuhwaren in Deutschland — 
und Bayern macht in dieser Beziehung natürlich keine Aus- 
nahme — ein verhältnismässig geringer ist. Für Deutschland 
oder doch für manche Gebiete trifft des englischen National- 
ökonomen Senior Ansicht über die verschiedenen Grade der 
Dringlichkeit des Bedürfnisses an Schuhwerk in seinem Heimat- 
lande heute noch leider annähernd zu, nämlich dass Schuhe 
und Stiefel für Engländer ein Ding der Notwendigkeit seien, 
in Schottland für die untersten Klassen ein Luxus, für die 
mittleren ein Erfordernis des Anstandes 2 ). Mit einer Besse- 
rung der allgemeinen Lebenshaltung, namentlich mit einer 
Steigerung der Löhne bei den gewerblichen Arbeitern, würde 
unzweifelhaft auch ein Wachstum der Nachfrage von Schuh- 
werk sich einstellen. In Nordamerika verausgabt eine Familie 
durchschnittlich 16 Dollars = 68 M. für Schuhwerk 3 ); einem 
grossen Teil der Not und des Elends in der deutschen Schuh- 
macherbevölkerung wäre abgeholfen, wenn der Konsum an 
Schuhwaren bei uns auf eine ähnliche Höhe des Bedarfs stiege! 
Indessen wie hoch oder wie niedrig sich exakt auch der 



') Berlin 1887, 2. Band, S. 436-447. 

*) Es ist kein seltener Anblick, dass in Centren der deutschen 
Schuhfabrikation, wo Millionen und Millionen von Schuhen jährlich her- 
gestellt werden, der ärmere Teil der Bevölkerung barfuss geht, um zu 
sparen — gerade wie in Schlesien, Böhmen und Mähren, wo die Weber, 
die die Leinwand in enormen Massen erzeugen, sehr oft nicht ein ein- 
ziges Hemd besitzen. 

8 ) Senatsreport Nr. 986. 



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147 



deutsche Schuhwarenverbrauch belaufen möge, jedenfalls ist 
zuzugeben, dass die Geringfügigkeit der Mittel, die der un- 
geheuren Mehrzahl der deutschen Bevölkerung für die Deckung 
ihres Bedarfs an Beschuhung zur Verfügung stehen, auch einen 
starken Einfluss ausübt auf die Art des Vertriebes der Waren. 
Denn die Mehrzahl der Käufer muss notgedrungen sich dahin 
wenden, wo sie die Waren billig bekommt. Und das ist nicht 
beim Kundenschuhmacher der Fall, wie wir dies bei Erörterung 
der Produktionskosten gesehen haben. Der Marktschuhmacher, 
der nur wenige Sorten in Massen mit stark gedrückten Löhnen 
herstellt, hat im Schuhwarenhandel schon unter der alten gewerb- 
lichen Ordnung sich ein wachsendes Absatzgebiet erobert — sehr 
zum Aerger der zünftigen und konzessionierten Schuhmacher. 

Bereits vor der Zeit der Eisenbahnen gingen die Pirma- 
senser Schuhmädchen zu Hunderten hausieren und besuchten 
Messen und Märkte, das „Permasenser Schlappewei" war am 
Rhein und am Main eine volkstümliche Gestalt. J. G. Hoff- 
mann, der Vater der preussischen Statistik, meinte schon 1839, 
die noch heute bestehende höhere Zahl der Schuhmacher gegen- 
über den Schneidern gehe wesentlich auf den vielfach üblichen 
Jahrmarktsbesuch der Schuster, der so viel Zeit koste, zurück. 
Freilich fügte er schon damals hinzu: „Die Schuhmacher be- 
ziehen die Jahrmärkte in dem Masse mehr, wenn ihr Gewerbe- 
betrieb armseliger wird Auch heute noch hat sich, obwohl 
in Bayern die Marktschuhmacherei nicht eine Konzentration 
des Betriebs erreicht hat, wie sie z. B. in Kalau, Groitzsch, 
Erfurt besteht, der Besuch von Märkten, Messen und Dulten 
mit Schuhwaren stark erhalten. An Gelegenheit fehlt es dabei 
in unserm engeren Vaterlande nicht. Sind auch Schuhe und 
Stiefel von den Wochenmärkten ausgeschlossen 2 ) , so halten 
die 41 unmittelbaren und 203 übrigen Städte, sowie die 419 
Marktgemeinden etc. doch im Jahre mehr als 2000 Krammärkte, 
Messen und Dulten ab; davon sind viele mehrtägig, ja in 
grösseren Städten dauern manche wochenlang. Ich will na- 
türlich nicht behaupten, dass Schuhmacher auf all diesen Märkten 



l ) Die Bevölkerung des preuss. Staates S. 120. 
*) § 66 der Gewerbeordnung. 



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148 — 



ihre Ware feilhalten ; aber es geschieht doch häufig genug. In 
den grösseren Orten stehen dann ganze Budenreihen, in denen 
derbe Lederstiefel und Filzschuhe verkauft werden. Eigentliche 
Schuhwarenmärkte habe ich indessen nur für das über 1000 Ein- 
wohner zählende Pfarrdorf Bischberg bei Bamberg ausfindig 
machen können, das deren sechs im Jahre veranstaltet. Die 
Lieferanten für diesen Marktverkehr sind keineswegs nur in- 
ländische Gewerbsmeister, besonders aus ländlichen Distrikten, 
z. B. Osterhofen, Triftern, dem Algäu. Mehr und mehr kon- 
kurriert auch hier mit Erfolg die Fabrikware, sowohl bayerische 
als auch württembergische, thüringische und neuerdings schwei- 
zerische, die Schuhfabrikanten von Balingen, Tuttlingen, Back- 
nang haben guten Absatz nach Bayern. 

Ob dieser Marktverkauf in der neuesten Zeit sich überall 
auf der alten Höhe erhält, ist schwer zu sagen. In Pirmasens 
hörte ich, dass in den Jahren unmittelbar vor der Krisis 1890, 91, 
als eine Anzahl kleiner Fabriken ihre Ware um jeden Preis 
abzusetzen bemüht war. der Besuch von Märkten ebenso wie 
das Hausieren gegen früher zugenommen habe, nach dem 
»Krach" aber wieder zurückgehe *). Der konservative Zug in 
den Gebräuchen unsres Volkes wird auch dem Marktverkaufe 
von Schuhwaren vermutlich ein längeres Dasein bewahren, als 
er wirtschaftlich berechtigt ist. 

4 ) Eine Statistik des Marktverkehrs in Nürnberg, die ich der 
Freundlichkeit des dortigen Magistrates verdanke und in der Anlage 
beifüge, weist für die letzten 15 Jahre eine stetige Abnahme auf. 



Verzeichnis der Schuhwareuliändler anf den Nürnberger Messen. 



























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— 149 — 



Denn was man früher eben ausschliesslich oder vor- 
zugsweise zeitweilig auf dem Markte suchte, findet man 
heutzutage nun alle Zeit im Laden, vom Verschlag in der 
Werkstatt an, wo der Meister die nicht bestellten Stiefel und 
Schuhe auslegt, bis zum eleganten Magazin mit seiner Un- 
menge von Sorten in allen Grössen, Formen und Stoffen. 
Man darf wohl sagen, dass in keinem andern Gewerbe das 
Ladengeschäft in kurzer Zeit eine solche Ausdehnung erfahren 
hat als in der Schuhmacherei; höchstens ist das Gleiche noch 
in der Konfektionsbranche für Kleider der Fall. Der Ver- 
kauf im Laden existierte schon, als die mechanische Schuh- 
fabrikation noch ganz unbekannt war. Der Meister, der auf 
Vorrat gearbeitet hatte, weil die Kunden ausblieben, der aber 
seine Zeit und Arbeitskraft nicht auf den Jahrmärkten ver- 
lieren wollte, richtete sich einen Laden ein. Der Verkauf im- 
portierter Schuhwaren war auch während der Zünftezeit den 
berufsmässigen Kauf leuten gestattet, und die Hutmacher durften 
Filzschuhe führen Aber beherrschend wurde das Laden- 
geschäft doch erst mit dem Aufkommen der Fabrik. Die Um- 
wandlung in der Produktion musste vorausgehen, ehe auch der 
Schuhwarenkonsunient die Wandlung von der Bestellung beim 
Handwerker zum Einkauf fertiger Ware vollziehen konnte. 

Einer unsrer ersten deutschen Schuhwarenfabrikanten hat 
mir erzählt, wie er sich im Anfang der siebziger Jahre noch 
abgemüht habe, seine Ware zu vertreiben. Eine Reise durch 
Süddeutschland war nahezu ergebnislos; überall bekam er für 
seine elegante, auf wohlhabende Käufer berechneten Produkte 
die Antwort: „Die fertige Ware können wir nicht verkaufen, 
jeder lässt beim Schuhmacher für sieh arbeiten." Nur in einer 
grossen Stadt Frankens zeigte sich ein vor dem Bankerott 
stehender Schuhmacher bereit, die Fabrikware feilzuhalten, 
wenn man ihm einen Laden einrichte. Heute hat dasselbe 
Etablissement Verkaufsstellen an Hunderten von Orten in 
Deutschland, und in jener Stadt bestehen zur Zeit an 30 Schuh- 
warenläden. Im Fachverein der Münchener Schuhmacher sagte 
ein Redner im Jahre 1885; „Die Schuhfabrikanten verkaufen 



») Vergl. Schlichthörle a. a. 0. 



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— 150 — 



ihre Erzeugnisse als gemischte Waren bei jedem Kaufmann 
und Krämer, in allen Städten und Marktflecken und Dörfern. 
Auch die Kleinmeister sind gezwungen, solche Ware zu kaufen, 
um damit zu handeln. Und sie begnügen sich damit, wenn 
sie bei einem Paar 1 M. verdienen, ohne weitere Schererei und 
Arbeit zu haben; daran denken sie nicht, dass, wenn sie das- 
selbe Paar selbst gut und praktisch verfertigt hätten, sie 3 M. 
verdienen könnten." Gewiss — wenn nicht eben dann auch 
die Preise höher wären ! 

Nirgends ist dieser gründliche Umschlag in der Art der 
Beschaffung des Schuhbedarfs natürlich mehr zu beobachten 
als in grösseren Städten. Man gehe z. B. mit aufmerksamem 
Blick durch die Strassen Münchens ! In den besten Geschäfts- 
lagen finden wir grosse, stattlich eingerichtete Schuhwaren- 
handlungen und Bazare, von denen einige zwei und mehr 
Niederlagen haben. Teilweise bezeichnen sie sich schon in 
der Firma als Verkaufsstellen von Fabriken: Frankfurter, 
Mainzer, Wiener Magazin, sächsische und deutsche Schuh- 
raanufaktur; andre gehören geradezu auswärtigen Fabrikanten 
in Baden, der Rheinpfalz. Die meisten Magazine haben Waren 
verschiedener Etablissements, daneben bisweilen auch in eigenen 
Werkstätten hergestellte Produkte. Engrosgeschäfte, Schuh- 
grossisten vermitteln für die kleineren Magazine und die zahl- 
reichen Läden der Handwerksmeister den Bezug der Fabrik- 
ware. Der Zug der Zeit ist so stark, dass auch sehr viele 
Innungsmeister trotz der Begeisterung für zünftige Arbeit und 
Befähigungsnachweis Läden errichten und Fabrikware in ihnen 
ausbieten. 

Oft befinden sich Werkstatt und Wohnung des Meisters 
in einer Stadtlage, wo die Mieten billiger sind, der Laden aber 
im teuren Zentrum der Geschäfte. Auch kommt es vor, dass 
trotz des Handbetriebs der Meister schon soweit Kaufmann 
geworden ist, dass er mehr als eine Verkaufsstelle besitzt. 
Ausserdem gibt es ganze Reihen kleiner Läden, in denen ge- 
ringwertige Schuhwaren aufgespeichert sind; Handlungen mit 
gemischten Waren führen auch Schuhe und Stiefel: ich kenne 
sogar Läden, wo frisches Obst einträchtig mit altem Schuh- 
werk zum Verkauf ausgeboten wird. Fast alle Trödler halten 



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— 151 — 



auch Stiefel feil; neuerdings findet man in den Anzeigen der 
Zeitungen eine besonders eifrige Nachfrage nach getragenen 
Schuhen. Ja wir sehen, dass die Stiefelputzer auf den Strassen 
ihren bescheidenen Apparat mit ein bis zwei Reihen blank ge- 
wichster alter Stiefel garnieren, um bedürftigen Kunden sofort 
dienen zu können. Halten wir dies mit dem reichen Angebot 
auf den Dulten mehrmals des Jahres zusammen, so wird man 
sagen können: der Verbrauch an fertigem Schuhwerk steigt in 
neuester Zeit ganz bedeutend. Er steigt aber nicht nur in 
den ärmeren Bevölkerungsschichten, deren Mittellosigkeit sie 
nötigt, vorzugsweise auf niedere Preise zu achten, sondern auch 
in den kaufkräftigeren, die bis vor wenig Jahren noch zumeist 
beim Kundenschuhmacher arbeiten Hessen. Die vervollkomm- 
nete Technik in der mechanischen Schuhfabrikation und die 
damit Hand in Hand gehende Verbilligung der Produktion, 
das Streben nach Eleganz und Solidität der Arbeit und der 
Rohstoffe, das unsre besseren Fabriken beweisen, die will- 
kommene Möglichkeit, sich jederzeit in den verschiedenen Läden 
den Bedarf auf der Stelle verschaffen zu können, endlich die 
Einrichtung von Reparaturwerkstätten bei den grösseren Ma- 
gazinen, was sehr wichtig ist, weil viele Handwerker Fabrik- 
ware nur ungern reparieren — all dies hat den Vertrieb von 
fertigen Schuhwaren im Inlande neuerdings mächtig gehoben 1 ). 
Es gibt Läden in Bayern, deren Umsatz sich bis auf 300 000 M. 
im Jahre beläuft; das bedeutet zum mindesten einen Verkauf 
von 30000 Paar im Jahre, 100 pro Tag. Gerade Bayern wird 
jetzt von Schuhfabrikanten als günstiges Absatzgebiet be- 
zeichnet 2 ). 

*) „In der Schuhmacherei ist es durch mannigfaltige Erfindungen 
der Grossindustrie gelungen, sich in hohem Masse den individuellen Be- 
dürfnissen anzupassen ; denn es wird z. B. in grossen Schuhfabriken jede 
Fussform in so viel Spezialitäten angefertigt, dass jeder, wenn er nicht 
ganz anormale Fussbildung besitzt und die nötige Geduld darauf ver- 
wendet, um die verschiedenen Nummern durchzuprobieren, passende 
Stiefel in einem derartigen Geschäft finden muss." Hampkc, Befähigungs- 
nachweis; Jena 1892, S. 13. 

2 ) Am 7. Febr. 1887 wurde eine Schuhbörse mit Markt jeden Mon- 
tag und Freitag in Berlin gegründet, der indessen für das spezielle Ge- 
biet unsrer Betrachtung nicht von Belang ist. 



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— 152 — 



Und, wenn nicht alles täuscht, wird dieser Kampf der 
Fabrik mit dem Kleingewerbe in Bayern wie in ganz Deutsch- 
land sich noch erheblich verschärfen. Denn die günstigsten 
Zeiten des Exports, den die Grossindustrie als lukrativeres und 
glatteres Geschäft bevorzugte, sind vorbei, wohl unwieder- 
bringlich vorbei. Noch in der Mitte der achtziger Jahre konnte 
der „Ledermarkt" triumphierend ausrufen: „Deutsches Schuh- 
werk wird einstens die dominierende Rolle auf dem Welt- 
markte spielen. Der Anlauf ist dazu genommen, vielumworbene 
Absatzgebiete sind bereits durch deutschen Gewerbefleiss er- 
obert, und vergeblich suchen die konkurrierenden Länder unsern 
Siegeszug auf dem Gebiete der Industrie zu hemmen. Frank- 
reich ist bereits von unsern Schuhfabriken besiegt, und Eng- 
land wehrt sich vergeblich gegen das gleiche Schicksal . . . 
Unser deutsches Schuhwerk zeigt weder das Raffinement und 
die Genialität des Luxus, wie sie der Franzose seinem Erzeug- 
nisse zu verleihen pflegt, noch das Plumpe und die durch 
schlechtes Material bedingte Billigkeit der englischen Schuh- 
waren, aber tiberall, wo eine gediegene und dauerhafte Mittel- 
qualität verlangt wird, da erobert die deutsche Schuhindustrie 
die Absatzgebiete und hält sie dauernd fest. Noch sind zwar 
die Ziffern, welche unsern Schuhwarenexport veranschaulichen, 
lange nicht zu jener Höhe gelangt, wie diejenigen unsrer ex- 
portierenden Nachbarländer, allein es sind die unsrigen in fort- 
währendem Steigen, die letzteren dagegen im Niedergange. In 
fünf Jahren schon wird das Ziffernverhältnis ein ganz andres 
sein und Deutschland dann an erster Stelle rangieren. Die 
grosse Masse der Konsumenten verlangt gerade die gediegene 
Mittelqualität, wie sie Deutschland liefert, und wenn heute der 
Export noch nicht bedeutsamer darin ist, so hat dies den 
Mangel an Vorräten zur Ausfuhr als Ursache. Die deutsche 
Schuhindustrie — wir haben damit nur den Grossbetrieb im 
Auge — ist noch jung, und ihre Lieferungen reichen bislang 
kaum zur Deckung des Inlandbedarfs aus , mit ihrer Ver- 
größerung wächst der Export. Und es wird viel und bedeu- 
tend gegenwärtig in den Schuhfabriken vergrössert, ohne dass 
man eine Ueberproduktion oder das Schwinden eines normalen 
Verdienstes zu befürchten hätte. Unsre Schuhfabrikation wird 



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- 153 - 



sich in nicht ferner Zeit zu einer der ersten Exportindustrien 
des Landes gestalten." 

So der „ Ledermarkt * vor neun Jahren. Leider sind die 
Dinge nicht so gekommen, wie er siegesfroh prophezeit hat. 
Ein kurzer Blick auf die Entwickelung unsres Schuhwaren- 
handels mit dem Auslande wird dies bestätigen. Auch hier, 
wie so oft im Laufe dieser Darlegungen, lässt uns leider die 
amtliche Statistik wieder im Stich ; es sind nämlich in den 
betreffenden Positionen der Uebersichten über Export und Im- 
port einmal Schuhe und Stiefel mit sehr heterogenen Gegen- 
ständen (Gummiwaren, Portefeuille- und Taschnerarbeiten, sogar 
Wagen mit Lederverwendung) zusammengeworfen, sodann sind 
zu verschiedenen Zeiten diese verschiedenen Gegenstände nicht 
immer in gleichen Gruppen vereinigt, und schliesslich sind die 
Waren bei der Ausfuhr nicht nach den Provenienzländern aus- 
geschieden. Erschwert uns der letztere Umstand sehr, den 
ziffernmässigen Anteil speziell der bayerischen Schuhmacherei 
an der Ausfuhr festzustellen , so nötigen uns die andern dazu, 
den Gang der Entwickelung nur in allgemeinen Umrissen zu 
skizzieren, wobei mancherlei Einzelheiten dem Zweifel und der 
Anfechtung ausgesetzt sind. Immerhin ist es möglich, auf 
Grund dieser Daten ein ungefähres Bild von unserm auswär- 
tigen Schuhhandel zu gewinnen. 

Von alters her exportiert Bayern mehr Schuhwaren, als 
es einführt. Rudhart schreibt 1825 in seinem Werke „Ueber 
den Zustand des Königreichs Bayern" auf S. 73 des 2. Bandes: 
„Selbst an Schuhmacher waren , in Ansehung deren die Kon- 
kurrenz Frankreichs ein Aergernis gibt, empfängt das Ausland 
mehr von Bayern als dieses von jenem, indem die Ausfuhr in 
fünf Jahren 1819/20— 1823/24 1513,8 Zentner und einen Wert 
von 93876* n\, dagegen die Einfuhr nicht einmal die Hälfte, 
nämlich 714,7 Centner und einen Wert von 43 896 fl. betragen 
hat, und obgleich viele Mainzer, Frankfurter, Strassburger und 
Pariser Schuhe zur Befriedigung der Vorliebe für das Aus- 
ländische über die Grenze hereingebracht werden, so trägt 
doch auch manche Frau unter dem Namen eines französischen 
Schuhs einen bayerischen, welchen ihr aber statt des geschick- 
ten Schuhmachers nur teurer der Kaufmann gebracht hat." 



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— 154 — 



Bei der Schilderung der Entwickelung der Schuhindustrie 
in Pirmasens wurde bereits darauf verwiesen, wie die Bildung 
des Zollvereins belebend auf den Vertrieb der Waren wirkte. 
Denn in den ersten Dezennien unsres Jahrhunderts hemmte 
ein über ganz Europa ausgebreitetes System prohibitiver Zölle 
den Verkehr auch zwischen den nächsten Nachbarstaaten. Von 
den 30 verschiedenen Staaten Deutschlands besass jeder die 
eigene Zollhoheit. Das kleine Gebiet der Rheinpfalz war ringsum 
eingeschlossen von Zollschranken, und die Pirmasenser Hausierer 
mit ihren Körben voll „ Schlappen", die rheinab und rheinauf 
nach den Niederlanden und der Schweiz sowie nach Frankreich 
zogen, mussten wohl oft genug an den Schlagbäumen, deutschen 
wie fremdländischen , Halt machen, um ihre ärmliche Ware zu 
verzollen. So lässt es sich begreifen, dass der Vertrieb eine 
wesentliche Förderung erhielt, als nach dem Beitritt Bayerns 
(am 22. März 1833) mit 1. Januar 1834 der Zollverein ins 
Leben trat und für Deutschland ein gemeinsames Zoll- und 
Handelssystem schuf, innerhalb dessen Grenzen die Ware frei 
nach allen Richtungen ging. Die umliegenden Staaten allerdings, 
namentlich Frankreich, hielten ebenso wie Deutschland nach 
auswärts, am Zollschutz fest, bis in den (iOer Jahren der Um- 
schwung eintrat. Bis dahin stiegen zwar die Einfuhr- und 
AusfuhrzilFern , aber doch ohne absolut eine allzugrosse Be- 
deutung für das deutsche Wirtschaftsleben zu gewinnen. Nach 
Bienengräber, Zollvereinsstatistik S. 390 u. ff., ergeben sich 
folgende Ziffern: 

Grobe Lederwaren *). 



Im Durchschnitt 


Einfuhr 


Ausfuhr 


Mehrausfuhr 


1842—1846 


869 Ctr. 


2428 Ctr. 


1 559 Ctr. 


1847—1850 


750 * 


3436 „ 


2 686 „ 


1851-1854 


1697 „ 


5513 „ 


3816 „ 


1855—1859 


2457 „ 


11415 , 


8958 , 


1860-1864 


3 885 „ 


20 160 „ 


16 781 „ 



Grobe Lederwaren wurden berechnet mit 70 Thalern für den 



') Unter dieser Position sind zu verstehen: Grobe Schuhmacher-, 
Sattler- und Täschnerwaren aus Leder oder Gummi etc.; Zollsatz: 
10 Thaler für den Centner. 



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— 155 — 

Centner; ihre Einfuhr machte also im Durchschnitt 1860 — 1804 
27950 Thaler und ihre Ausfuhr 1411620 Thlr. aus. 

Feine Lederwaren 1 ). 

Im Durchschnitt Einfuhr Ausfuhr Mehrausfuhr 

1843-1846 181 Ctr. 1249 Ctr. 1068 Ctr. 



1847-1850 


171 , 


1509 „ 


1338 


1851-1854 


967 „ 


1892 „ 


925 


1855-1859 


2 584 „ 


5 382 „ 


2798 


1860-1864 


1412 , 


11944 „ 


10532 



Feine Lederwaren wurden berechnet mit 200 Thalern pro Cent- 
ner, die Einfuhr im Durchschnitt 1860 — 64 belief sich also 
auf 282400 Thaler, die Ausfuhr auf 2 388800. Die Haupt- 
einfuhrländer waren Oesterreich, Frankreich, Belgien, Holland 
und England; über die Ausfuhr sagt Bienengräber: „Es gehen 
aus dem Zollverein namentlich viel Schuhmacherwaren aus 
den in Berlin, Erfurt, Gotha, Mainz bestehenden grossen Schuh- 
fabriken, welche bedeutende Lager fertigen Schuhzeuges halten 
und allen Anforderungen zu genügen im stände sind, fast nach 
allen Ländern, selbst nach Amerika und Australien." Bayern 
nahm kurz vor dem Inkrafttreten des deutsch-französischen 
Handelsvertrages mit folgenden Ziffern an diesem internationalen 
Handel teil: 

Bayern 1864 Grobe Lederwaren Feine Lederwaren 

Einfuhr Ausfuhr Einfuhr Ausfuhr 
266 Ctr. 1413 Ctr. 65 Ctr. 537 Ctr. 

Das ist, nach heutigem Gelde umgerechnet, eine Einfuhr von 
insgesamt 94 860 M. und eine Ausfuhr von 618930 M., zwar 
das 12- und 20 fache der betreffenden Ziffern um die 20er Jahre 
dieses Jahrhunderts, aber absolut höchst geringfügig. 

Am 1. Juli 1865 trat der Vertrag des Zollvereins mit 
Frankreich in Kraft; er brachte eine wesentliche Herabsetzung 
der Zölle, die bis 1879 für grobe Schuhmacherwaren 24 M. 
für 100 kg und für feine 60 resp. 42 M. betrug, also weniger 
denn die Hälfte als vorher. Diesem Vertrage mit Frank- 



*) Dazu gehörten feine Leder- und Portefeuillearbeiten, Sattel- und 
Reitzeuge, feine Schuhe aller Art. Zollsatz : 22 Thaler Tür den Centner. 



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150 — 



reich folgten bald weitere mit Oesterreich, Grossbritannien, 
Belgien und Italien; im Jahre 1868 erfolgte bei der Position 
„feine Lederwaren* eine abermalige kleine Zollermässigung. 
Trotz dieser Erleichterung des Verkehrs vom Auslande nach 
dem Zollverein, der natürlicb auch eine Erleichterung des Ex- 
portes gegenüberstand, änderten sich in den nächsten Jahren 
die Ein- und Ausfuhrziffern für Lederwaren nicht allzustark: 
die Verkehrsmöglichkeit war gegeben, das Eisenbahnnetz hatte 
bereits eine stattliche Ausdehnung gewonnen, aber noch hatte 
sich bei uns die Revolution in der Technik und Produktions- 
weise der Schuhwaren nicht vollzogen. Diese begann erst, 
wie wir gesehen haben, mit ziemlich bescheidenen Anfängen 
um die Wende der 70er Jahre und erst 10—12 Jahre später 
trat ein gewaltiger Aufschwung ein, an dem auch Bayern 
namentlich mit Pirmasens und sodann mit Schweinfurt Anteil 
hatte. Von 1804 an steigen die Ziffern des Imports bis 1871 
nur von 259 auf 588 Tonnen; 1872 weist schon eine Einfuhr 
von 848 Tonnen auf, die bis 1879 mit einigen Schwankungen 
auf 1050 Tonnen sich beläuft. Die Ausfuhr aber beweist, 
dass Deutschland in unsrem Gewerbe seine Ueberlegenheit 
aufrecht erhält: nach vorübergehendem starken Rückgang in 
den Jahren 1863 — 67, einem sprunghaften Aufschwung 1868 
und abermaligem Sinken bis 1871 geht sie ziemlich konstant 
in die Höhe, bis sie 1879 mit 2470 Tonnen ihren überhaupt 
höchsten Stand erreicht hat. 

Die radikale Umkehr unsrer deutschen Wirtschaftspolitik 
im Jahre 1879 Hess auch den Handel mit Schuhwaren nicht 
unberührt. Trotz des vergleichsweise günstigen Verhältnisses 
zwischen Import und Export wurden die Zölle für grobe Sorten 
von 24 M. auf 50 M. für den Doppelzentner, für feine von 
42 und 60 M. auf 70 und 100 M. erhöht. Aber mit diesem 
neuen Tarif vom 15. Juli 1879 war die Schuhwarenindustrie 
keineswegs zufrieden. Die mechanische Fabrikation beklagte 
vornehmlich, dass ihr nun der Bezug von mancherlei Materialien 
aus dem Auslande verteuert sei ! ) ; gewisse Ledersorten, dann 



*) Handelskaramerberiehte der Pfalz aus den Jahren 1881 (S. 86) 
und 1883 (S. 82). 



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157 — 



Lederabfälle, Schuhgarne, Schuhnägel, Posamenterien, Besatz- 
artikel, Rosetten u. dgl. müssten noch vom Auslande bezogen 
und verzollt werden. Andrerseits wurden Klagen laut über 
die Konkurrenz des Auslandes in fertigen Schuhen, namentlich 
von seiten Oesterreich- Ungarns und Frankreichs. So beschloss 
Anfang 1883 der Schuhmachermeisterverein in München eine 
Petition an den Reichstag zu richten, es solle der Eingangszoll 
auf grobe Schuhwaren mit 200 M. und auf feine mit 300 M. 
für 100 kg festgesetzt werden, da das beimische Gewerbe 
immer mehr in Verfall komme. Diese Petition wurde 1885 
vom Zentralvorstand des deutschen Schuhmacherinnungsbundes 
in abgeschwächter Form wiederholt, man begnügte sich mit 
einer Verdreifachung der bestehenden Zölle, wehrte sich aber 
gegen den Beschluss des Reichstages, den Zoll auf Leinen- 
nähzwirn von 36 auf 70 M. für 100 kg zu erhöhen. Beide 
Petitionen blieben fruchtlos, und was die Wünsche auf Schutz 
des heimischen Kleingewerbes durch Absperrung ausländischen 
Schuhwerkes betrifft, so bemerkt das „Schuhmacherfachblatt 14 
dazu: „Die Einfuhr fremder Schuhwaren kommt gegenüber 
unsrer Ausfuhr kaum in Betracht; wir möchten das Land 
kennen lernen, das mit Pirmasens, Brandenburg, Kalau etc. 
konkurrieren könnte!" Nicht die ausländische, nein die inlän- 
dische Grossindustrie bedrängt auf dem heimischen Markte das 
Handwerk. 

Die folgende, der amtlichen deutschen Warenstatistik ent- 
nommene Tabelle zeigt den Gang des Schuhwarenhandels bis 
auf die Gegenwart, angefangen von der Einführung des neuen 
Zolltarifs. (Siehe S. 158.) 

Vor dem Inkrafttreten des neuen Zolltarifs hatte die Ein- 
fuhr im Jahre 1879 1050 Tonnen betragen, sie sank bereits 
1880 auf 818 Tonnen im Werte von 0 2 a Millionen, um bis 
1891 auf 1377 Tonnen im Werte von 16 Millionen M. anzu- 
steigen; 1892 weist wieder ein Sinken der Einfuhr auf, das 
augenscheinlich mit dem energischen Wettbewerb der deutschen 
Schuhwarenfabrikanten auf dem heimischen Markte zusammen- 
hängt. Diese Ziffern werden aber ganz enorm überboten von 
der Entwickelung der Ausfuhr. 1879 waren 2470 Tonnen 
ausgeführt worden, 1880 schon 4521 im Werte von 60 Millionen r 



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158 - 



*ilso das 6fache der Einfuhr im gleichen Jahre. Der Export 
wuchs dann rapid an und erreichte im Jahre 1887 mit 6421 
Tonnen im Werte von 114 Millionen M. den Höhepunkt, von 
dem er seitdem erst langsamer, dann aber schroffer abfiel, bis 
■er im vergangenen Jahre nur noch rund 4000 Tonnen mit 
59 Millionen M. Wert betrug. Die ersten Monate des Jahres 
1893 weisen ein weiteres Sinken auf. 







Einfuhr 






Ausfuhr 






Feine Leder- 


Grobe Leder- 


Feine Leder- 


Grobe Leder- 




waren 


waren 


waren 


waren 




Tonnen 


1000 M. 


Tonnen 


1000 M. 


Tonnen 


1000 M. 


Tonnen 


1000 M. 


1880 


345 


6 214 


473 


3 457 


3 340 


50094 


1181 


9450 


1881 


352 


6 327 


443 


3142 


4 235 


63 527 


1141 


8 902 


1882 


356 


6401 


437 


3096 


4728 


70925 


1212 


9456 


1883 


353 


6 348 


421 


2 991 


4693 


93850 


1262 


9 841 


1884 ' 


445 


8005 


395 


2809 


| 4 815 


96 308 


1344 


10482 


1885 ; 


486 


8 607 


311 


2060 


j 4 444 


88 262 


1090 


8173 


1886 j 


502 


8 899 


292 


1872 


5 084 


100 723 


1035 


7558 


1887 | 


559 


9902 


349 


2 247 , 


5 376 


106493 


1045 


7 625 


18*8 


527 


8 956 


439 


2 629 i 


1 »>o<o 


104042 


998 


6 987 


1889 


527 


8806 


434 


2 395 


4449 


83041 


1018 


6921 


1890 


730 


12 692 


522 


2949 


4060 


75863 


1060 


7 208 


1891 


797 


13 473 


578 


3050 


3878 


70577 


1061 


6 684 


1892 


500 


8998 


448 


2341 


3 091 


53596 


913 


5 753 



Was sind die Gründe dieses Aufschwungs und der ihm 
so bald folgenden Abnahme? Wir können sie ziemlich genau 
an der Haud der Berichte über den Geschäftsgang der bayeri- 
schen Schuhfabriken in der Pfalz und in Unterfranken, die fast 
allein für die Ausfuhr in Betracht kommen, erkennen. Mit der 
Zunahme des Grossbetriebes dehnte sich zunächst das Export- 
geschäft, nicht das Inlandgeschäft, aus. Die Schweiz, die 
Niederlande, Südamerika, dann Australien und Rumänien waren 
gute Kunden, England bezog ebensowohl ganz feine, wie auch 
ganz ordinäre Waren 1 ), während es Schuhwerk mittlerer 
Qualität aus Deutschland nicht importierte. Nach Rumänien 

*) Vergl. Booth, Labour and life in London, Band 2, S. 270 
und 295. 



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— 159 — 



ging früher viel Ware aus Oesterreich, diese Ausfuhr hörte 
mit der Kündigung des österreichisch-rumänischen Handels- 
vertrages auf und Deutschland trat an seine Stelle, bis Oester- 
reich infolge neuer Zollvereinbarungen wieder siegreich vor- 
drang. Der Markt in Frankreich ging der deutschen Schuh- 
warenindustrie am frühesten verloren: schon 1882 klagen die 
Fabrikanten in Pirmasens, dass die willkürliche Auslegung des 
Zolltarif es ihnen die Ausfuhr dorthin unmöglich mache; Zoll- 
erhöhungen wirkten dabei hemmend mit. Klagen wurden bald 
auch laut über die Erschwerungen der Ausfuhr nach der 
Schweiz, wo überdies eine starke mechanische Fabrikation im 
eigenen Lande heranwuchs; doch ist erst seit 1891, wo der 
Zoll von 30 auf 60 Franken erhöht wurde und ausserdem eine 
wenig coulante Handhabung der Tarif bestimmungen sich geltend 
machte, speziell der bayerische Schuhwarenexport von Schwein- 
furt und Pirmasens nach der Schweiz ganz erheblich ein- 
geschränkt worden. Oesterreich und Russland gingen unsrem 
Geschäfte auch Mitte der 80er Jahre nahezu verloren. Dagegen 
stieg die Einfuhr stark nach Belgien und besonders Holland, 
ferner Dänemark, Norwegen und Schweden, sowie den über- 
seeischen Ländern, nach den La Plata- Staaten, nach Brasilien 
und nach Australien. Das ging fort bis zum Ende der 80er 
Jahre. Inzwischen aber hatte sich auch jenseits des Meeres 
eine leistungsfähige Grossindustrie entwickelt; in Mexiko, in 
Brasilien, in Argentinien entstanden Fabriken, Australiens me- 
chanische Schuhfabrikation nahm einen mächtigen Aufschwung; 
in letzterem Lande wurden zugleich die Zölle enorm erhöht, 
bis zu 50 — 60 °/o des Wertes der eingeführten Waren. In 
Südamerika aber vernichteten die politischen und finanziellen 
Krisen in Brasilien und Argentinien den deutschen Schuhhandel 
ganz, und nun wo die Verhältnisse sich nach dieser Richtung 
wieder gebessert haben, ist die deutsche Industrie vom dortigen 
Markte verdrängt sowohl durch die inzwischen dort im Inlande 
herangewachsene Produktion als durch den Import von Nord- 
amerika So wurde das Absatzgebiet unsrer Industrie immer 



*) Ein Schubwarenfabrikant in Pirmasens sagte mir im Herbst 1892 : 
„Wir können wohl Schiffsladungen Stiefel und Schuhe nach Argentinien 



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1130 — 



mehr eingeschränkt und die Handelsverträge vom Jahre 1892 
haben in den Augen der Schuhfabrikanten schwerlich günstige 
Wirkungen: man befürchtet infolge der allerdings nur massig 
herabgesetzten Einfuhrzölle Erleichterungen der Einfuhr aus 
Oesterreich und Frankreich, während ersteres Land seinerseits 
ganz unerhebliche Konzessionen gewährt habe; es müsse ab- 
gewartet werden, ob es der Industrie gelingen werde, im In- 
lande die Konkurrenz des Auslandes zu bestehen. Schon jetzt 
muss zugegeben werden, dass Wien und Paris in feinen Damen- 
artikeln, England in Spezialitäten für Herren, die Schweiz mit 
derber Mittelware nicht ohne Erfolg in den Wettbewerb auf 
dem heimischen Markte eingetreten sind; in jedem grossen 
Schuhgeschäfte findet man diese ausländischen Schuhwaren, 
und bei weitblickenden Fabrikanten begegnet man bereits der 
ernsthaften Besorgnis, dass Nordamerika mit seiner nament- 
lich in Massachusetts enorm entwickelten, über höchst voll- 
kommene Maschinen und leistungsfähige Arbeiter verfügenden 
Grossindustrie dereinst Massen von Schuhwaren auf den 
deutschen Markt werfen könne 

Dieser Umschwung auf dem Weltmarkt, der sich seit 1887 
leider zu Ungunsten der deutschen Fabrikate vollzogen und 
ebenso in einem Erstarken der ausländischen Grossindustrie 



senden, aber wir kriegen kein Geld dafür/ Umgekehrt hat die Gross- 
gerberei von der Finanzkrisis in Argentinien profitiert, indem sie bei 
ihren Einkäufen von Häuten und Gerbhölzern ganz erheblichen Nutzen 
vom hohen Goldagio ziehen konnte, sobald sie imstande war, grosse 
Kapitalien in Gold bei dortigen Banken zu deponieren. 

l ) Nach den monatlichen Nachweisen über den auswärtigen Handel 
des deutschen Zollgebietes (herausgegeben vom kaiserl. Statist. Amte), 
Dezemberheft 1892, ist die Ausfuhr grober Lederwaren am bedeutend- 
sten nach der Schweiz (2718 Doppelcentner), dann kommen in absteigen- 
der Folge die Niederlande, Russland, Schweden, Oesterreich-Ungarn, 
Dänemark, Grossbritannien, Norwegen, Frankreich, Nordamerika, Belgien, 
Rumänien; bei feinen Lederwaren steht Grossbritannien obenan (10212 
Doppelcentner), es folgen Nordamerika, Schweden, Schweiz, Dänemark, 
Oesterreich- Ungarn, Frankreich, Belgien, Italien, Russland, Australien, 
Rumänien. Für die Einfuhr feiner Lederwaren (der Import grober Waren 
ist sehr geringfügig) liefert Oesterreich-Ungarn die starke Hälfte des 
ganzen Betrages , in den Rest teilen sich Frankreich , Belgien , Gross- 
britannien, Schweiz und Niederlande. 



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101 — 



für Schuhbekleidung wie in Zollmassnahmen und Finanzkrisen 
seine Gründe hat, muss notwendig auch das Schuhmacherhand- 
werk in Deutschland empfindlich berühren. Denn in unsern 
einheimischen Schuhfabriken ist zu viel Kapital festgelegt, als 
dass sie ihre Produktion wesentlich einschränken könnten; sie 
müssen fortarbeiten, und da ihnen der Export beschränkt 
worden ist, suchen sie mit verstärktem Eifer den Absatz im 
Innern auf und machen der Handarbeit noch mehr Konkurrenz 
als zuvor 1 ). Billige Einkäufe der Rohmaterialien , billige 
Produktionskosten, kaufmännischer Betrieb sind ihre mächtigen 
Waffen, denen das Handwerk keinerlei durchgreifende Abwehr 
entgegenzusetzen hat. Die Bedachtnahme auf Solidität und 
Eleganz bei der Fabrikware in Verbindung mit niederen Preisen 
und die leichte Beschaffungsmöglichkeit in zahlreichen Läden 
erleichtern immer mehr den Verbrauch fertigen Schuhwerks. 
Der Wettbewerb des „eisernen Schuhmachers" mit dem ehr- 
samen Handwerksmeister dauert noch keine 20 Jahre, und schon 
ist der Sieg des ersteren entschieden. 



*) Diese Erscheinung ist natürlich nicht auf Deutschland be- 
schränkt, sie tritt anderswo noch scharfer hervor. Als mit dem Zoll- 
krieg zwischen Oesterreich und Rumänien der Export der sehr leistungs- 
fähigen österreichischen Schuhfabriken nach dem Donaulande plötzlich 
stockte, errichteten die Fabrikanten zahlreiche Magazine und Läden in 
den grossen Städten des Inlandes. In Wien wandte sich ihnen der Kon- 
sum so stark zu, dass — trotz Befähigungsnachweis — die Handwerker, 
Meister und Gehilfen über die Bedrängnis der Schuhmacherei in bitterste 
Klagen ausbrachen. In Krakau, wo eine Wiener Firma ebenfalls Maga- 
zine eröffnete, kam es Ende 1888 sogar zu Gewalttätigkeiten ; Schuh- 
macher rotteten sich zusammen und plünderten die Läden des über- 
mächtigen Konkurrenten. 



Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 11 



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Schlusswort zum ersten Teil. 



Ueberblicken wir den Gang der bisherigen Erörterungen, 
so erhalten wir folgendes summarische Ergebnis: Bayern be- 
sitzt eine sehr starke Schuhmacherbevölkerung in einer Ueber- 
zahl winziger Einzelbetriebe. Diesen Zustand hat die Gewerbe- 
freiheit nicht erst geschaffen, er bestand seit alters auch inner- 
halb der Schranken zünftlerischer oder polizeilicher Ordnung 
des Gewerbes. Wohl aber hat die nach dem Umschwuner in 
den Verkehrsverhältnissen zur Herrschaft gelangende Revo- 
lution in der Technik der Schuhmacherei, die eine bis dahin 
ganz unbekannte Grossindustrie schuf, die schon früher vor- 
handene Bedrängnis des Handwerks sehr verschärft, da die 
mechanische Fabrikation mit enormer Ersparnis an Zeit und 
Kosten produziert. Die rasch sich entfaltende Grossindustrie 
mit starkem Export, die sich durch ungünstige Konjunkturen 
allmählich wieder vom Weltmarkte abgedrängt sah, warf sich 
mit verstärkter Wucht auf den heimischen Mcirkt. Da sie 
billige und gute Ware liefert, wandte sich auch die Nachfrage 
mit steigender Intensität ihr zu. Unzweifelhaft hat von dieser 
Entwickelung Vorteil gezogen der Konsument von Schuhwaren, 
namentlich die minder bemittelten Volksklassen. Ebenso un- 
zweifelhaft sieht sich dadurch benachteiligt das Kleingewerbe. 
Es ist nun im zweiten Teil die Frage zu beantworten, wie hat 
dieser Prozess die soziale und wirtschaftliche Lage der Schuh- 
machereibevölkerung selbst beeinflusst? 



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Zweiter Teil: 

Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände 

der bayerischen Schuhmacherbevölkerung. 



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XL 

Arbeitgeber und Arbeiter. 

Mit dem Verfall der alten gewerblichen Ordnung, bestand 
sie nun in der Zunft oder in einem vom Staate gehandhabten 
Konzessionswesen, hat sich überall eine Verschiebung innerhalb 
der gewerbetreibenden Bevölkerung vollzogen, die durch die 
Umgestaltung des Verkehrs und die Entwickelung der indu- 
striellen Technik mächtig gefördert wurde. Hatte früher der 
Lehrling nach zurückgelegter 3 — 4jähriger Lehrzeit die Ge- 
sellenprüfung bestanden, die Wanderjahre durchgemacht und 
das Meisterstück gefertigt, so musste er, falls er nicht ein 
Meisterssohn war oder glücklich in die Zunft heiratete, lange 
Zeit warten, bis er selbständiger Inhaber eines Betriebes wurde; 
oft erreichte er das Ziel gar nicht. Das wurde mit der Ge- 
werbefreiheit anders. Der Geselle erlangte im Handwerk das 
Recht, wann, wie und wo es ihm zusagte oder er es vermochte, 
sein Gewerbe selbständig auszuüben. Daneben brachte der 
Grossbetrieb in der Fabrik es mit sich, dass einerseits nicht 
im Gewerbe ausgebildete Arbeitgeber vermöge ihres Kapitals 
oder auf Grund ihrer kaufmännischen Kenntnisse an die Spitze 
industrieller Unternehmungen traten und andrerseits Frauen, 
jugendliche Arbeiter und Kinder in Berufsarten eindrangen, 
die bisher den Männern vorbehalten gewesen waren; schliess- 
lich ermöglichte der mechanische Betrieb die Heranziehung un- 
gelernter Arbeiter, die beim Handwerk durch dessen Eigenart 
oder durch die alte gewerbliche Ordnung ausgeschlossen bleiben 
mussten. 

Diese innerliche Umbildung der gewerblichen Bevölkerung 
zeigt sich auch in der Schuhmacherei Bayerns; allerdings tritt 
sie hier ziemlich spät auf. Eine namhafte Bedeutung besitzt 



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- 160 - 



sie erst seit einem Jahrzehnt, seit der kräftigen Entwickelung 
der mechanischen Schuhfabrikation. 

Und auch hier wiederum sind die Kreise, aus denen die Ar- 
beitgeber stammen, bis jetzt noch verhältnismässig weniger be- 
rührt als die Arbeiter. Heutzutage sind in der Grossindustrie 
die meisten Betriebe noch herausgewachsen aus dem Handwerk 
oder doch aus kleingewerblichen Anfängen. Die Geschäfts- 
kenntnis, die Erfahrung und die Energie gelernter Fachmänner 
haben sich hier bis jetzt als wichtigere Faktoren einer gesunden 
Entwickelung gezeigt als der blosse Kapitalbesitz. Indessen 
ist doch in unsrem Zweige der Grossindustrie ebenfalls sehr früh 
die einsichtige Verbindung mit Kaufleuten eingetreten, um den 
Absatz der Waren zu organisiren. ^ Die Regel ist auch jetzt 
noch, dass die Fabrik vom Vater, der selbst sein Gewerbe 
gründlich gelernt hat, auf den Sohn sich vererbt, der seiner- 
seits in der Fabrik und im Komptoir aufgewachsen ist. Eine 
in Pirmasens von einer Bank begründete Aktiengesellschaft 
hat schlimme Jahre hinter sich; jüngst erst ist aus der 
Vereinigung bereits bestehender Fabriken in Nürnberg eine 
grosse Gesellschaft auf Aktien entstanden, und bei weiterer 
Prosperität des Geschäftes halten wir es nicht für ausgeschlossen, 
dass kapitalkräftiger kaufmännischer Unternehmungsgeist auch 
in der bayerischen Schuhwaren-Grossindustrie eine bedeutsamere 
Rolle spielt als bisher, indem das Kapital an die erste Stelle 
tritt und dem Techniker die zweite zuweist. 

Im Handwerk der Schuhmacherei trifft die Bezeichnung 
„ Arbeitgeber" nur auf den kleineren Teil der Inhaber selb- 
ständiger Betriebe zu; schon 1882 arbeiteten ja 67 unter je 
100 Meistern in Bayern allein, ohne Gehilfen und Lehrlinge, 
in ihrer Werkstatt, und es ist der Gang der Entwickelung, dass 
die Zahl der Meister stetig im Verhältnis zu den Gehilfen zu- 
nimmt; die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit, die Er- 
leichterung der Ansässigraachung und der Veränderung führen 
im Kleinbetrieb zu dieser Tendenz. Jeder Gehilfe sucht bald 
Meister zu werden; wer dies Ziel nicht erreicht, betrachtet sein 
Leben als verfehlt; der „ewige Geselle", den die alte gewerb- 
liche Ordnung als regelrechten Stand kannte, ist verschwunden. 
Zu dieser Erscheinung gewähren die Ergebnisse der Berufs- 



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1G7 — 



Zählung vom 5. Juni 1882 einige Aufschlüsse, indem das 
königlich bayerische statistische Amt eine Gliederung der 
Betriebsinhaber und der Hilfspersonen nach Alter und Ver- 
ehelichung aufgestellt hat J ), die ich in folgender kleiner Ta- 
belle verwerte: 



Nach den Ergebnissen der Berufszählung vom 5. Juni 1382 waren 



Stand im 


Civil- 




! 15-20 


im Lebensalter: 






in Summa 


ZU- 




unter 


j 2O--30 


;30-40 


40— ü<t 50-tiO 


tl« - 70 70 J- ii. 


ledig 


verh- 




Berufe 


»Und 


15 J. 


1 Jahre 


Jahre 


| Jahre 


Juhre 


i Jahre 


Jahre 


.tnrtil-. 


verw. 


sanim. 




le'lilf 




250 


1MM 


7,7 


372 


254 


172 


5« 










I. Selb- 
ständige 


verh. 






309»; 


721.H 


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11. '»4 


2045 


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23 709 


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1075 


113 


20690 




verw. 






9 


1!» 


41 


15 


2S 


15 











In München standen 1888 nach einer vom dortigen Fach- 
verein der Schuhmacher veranstalteten Enquete von den Ge- 
hilfen (ohne die Lehrlinge) im Alter von: 

unter 20 Jahren 20-30 Jahren 30—40 Jahren über 40 Jahren 
18,5 °/o, G4 °/o, 14,6 7°. 2,9 %. 

Man ersieht aus diesen Zahlen, dass die enorme Mehrzahl 
der Gehilfen bis zum 30. Lebensjahre selbständige Meister mit 
eigenem Hauswesen geworden sind. Noch nicht 1 °;o sämtlicher 
Betriebsinhaber ist unter 20 Jahren, dagegen gehören 55°/o der 
Hilfspersonen, natürlich alle noch ledig, dieser Altersklasse 
an. Schon in der Zeit vom 20. — 30. Jahre ändert sich das 
Verhältnis wesentlich (in diesem Alter stehen 17° o aller Meister, 
von denen drei Fünftel verheiratet sind, und 33 °o sämtlicher 
Gehilfen, die fast noch alle unverehelicht sind), und vom 
30. Jahre an dreht sich die Proportion völlig um: Gehilfen, 
die das 30. Lebensjahr überschritten und es noch nicht zu 
eigenem Betrieb gebracht haben, gibt es nur noch 12°/o der 
Gesamtzahl, und hiervon nehmen diejenigen, welche über 
40 Jahre alt sind, nur die Hälfte ein ; die Zahl der Verheirateten 
und Verwitweten wächst. Umgekehrt sind von den Meistern 
über 81°,o mehr als 30 Jahre alt und unter ihnen zählen die 



*) Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern, 49. Heft. 



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— 1(38 — 



Ehescheuen nur 6 vom 100. Für Bayern, kann man sagen, 
liegt somit die Grenze für die Etablierung eines selbständigen 
Schuhmachereibetriebes mit gleichzeitiger Verehelichung zu- 
meist um das 30. Lebensjahr herum, und nur verhältnismässig 
wenige Gehilfen erreichen dies Ziel später oder gar nicht *). 

Dieser starke Zudrang zum selbständigen Betrieb führt in 
das ohnehin bedrängte Kleingewerbe der Schuhmacherei ein 
Moment der Beweglichkeit, die sich bis zur Unruhe steigert. 
Der Gehilfe errichtet in der Regel zwischen dem 25. — 35. Jahre 
ein eigenes Geschäft, er verspürt bald die Ungunst der Zeiten, so 
werden Hammer und Ahle wieder fortgelegt und etwas andres 
versucht, während ein Nachfolger in der Werkstatt glücklicher 
zu sein hofft *). Betrachtet man die statistischen Angaben über 
die An- und Abmeldungen der Gewerbe in Bayern unter dem 
Gesichtspunkte, dass es sich meist um Besitzwechsel handelt, 
bei denen je eine Niederlegung einer Neu-Anmeldung gegenüber- 
steht, so erhalten wir als Jahresdurchschnitt für 1883 — 1891 
die Zahl von 1228 Schuhmachereibetrieben, in dem letzten 
Triennium sogar von 132G, die ihre Inhaber jährlich gewechselt 
haben, das sind jeweils 39 — 41 Betriebe unter 1000 im Königreich. 
Und zwar scheint es, als ob etwa eine Zeit von nur 2 Jahren 
hinreiche, um viele Schuhmacher von der Aussichtslosigkeit 
ihres selbständigen Fortkommens im Handwerk zu überzeugen, 
da mit grosser Regelmässigkeit die Kurven der An- und Ab- 
meldungen ein ums andre Jahr steigen. (Vergl. die graphische 
Darstellung auf S. 10.) Auch die wachsende Zunahme der, 
zumeist landwirtschaftlichen Nebenbeschäftigung in unsrem Ge- 
werbe illustriert dessen sorgenvolle Unruhe. Nicht minder die 
relativ grosse Anzahl der Konkurse: nach dem „Statistischen 

') Das weibliche Geschlecht ist unter den Arbeitgebern nur ganz 
verschwindend vertreten (1882 mit 294 Betriebsinhaberinnen; meist sind 
es Witwen [255], die das ihnen hinterlassene Geschäft fortführen). 

2 ) Die bereits mehrfach citierte Broschüre , Die Lage der deutschen 
Schuhmachergehilfen" (Gotha 1890) spricht von einer regelrechten Flucht 
der Berufsgenossen ; in der bayerischen Abgeordnetenkammer wurde 
wiederholt darauf hingewiesen, wie gerade die Schuhmacher neben den 
Schneidern es seien, die am meisten ihr Gewerbe verliessen, um als 
Laternenanzünder, Musiker, Hochzeitlader, Dienstmänner etc. ihren Unter- 
halt zu suchen. 



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1 G9 



Jahrbuch des deutschen Reiches" für 1802 steht unter sämt- 
lichen Berufsklassen Gruppe XIII „Bekleidung und Reinigung" 
in der Konkursstatistik an zweiter Stelle — nur die Handels- 
gewerbe übertreffen sie noch weitaus — , und hier wiederum 
weisen die Schuhmacher die höchste Zahl der Konkurse auf, 
nämlich 324 in 1891 und 289 in 1892. 

Viel tiefer gehen, wie bereits bemerkt, die Veränderungen 
und Verschiebungen in der Arbeiterbevölkerung des Schuh- 
machergewerbes. Das eine Moment, das Verschwinden des 
zu ewiger Unselbständigkeit verurteilten Gesellentums im 
Kleinbetrieb, haben wir eben besprochen. Daneben aber ist 
in der Grossindustrie ein besonderer Arbeiterstand heran- 
gewachsen, in dem nur wenige ganz ausgezeichnete Arbeiter 
es bis zum Fabrikanten bringen. Der Maschinenbetrieb lässt 
die Konkurrenz der Frauen- und Kinderarbeit scharf hervor- 
treten, die im Handwerk, abgesehen von gelegentlichen Hand- 
reichungen der Famjlienglieder des Meisters , ausgeschlossen 
war. Die Nähmaschine indessen, die seit einigen 30 Jahren 
eine riesige Verbreitung in allen Betriebsformen der Schuh- 
macherei gefunden hat, wurde bald zur Domäne der Frauen- 
arbeit — auch im Kleingewerbe, wo meist Frauen und Töchter 
der Inhaber, viel seltener eigene Lohnarbeiterinnen das Nähen 
und Steppen der Schäfte besorgen. In der Fabrik hat die Lohn- 
arbeiterin den Mann aus diesem einen Operationsgebiet gänzlich 
verdrängt; abgesehen vom Zuschneiden ist die Schaftarbeit durch- 
aus in den Händen von Frauen und Mädchen. Und die von 
der Grossindustrie ins Leben gerufene Heimarbeit hat ebenfalls 
weibliche Arbeitskräfte in sehr grossem Umfange herangezogen. 
Hier müssen auch die Kinder von zartem Alter an ihren An- 
teil an der Arbeit tragen, während in der Fabrik doch wenig- 
stens eine Grenze nach unten gesetzlich bestimmt ist und die 
Art der Beschäftigung, die auch in der Bedienung der Ma- 
schinen ein bestimmtes Mass von Aufmerksamkeit, Gewandt- 
heit und Kraft voraussetzt, der übermässigen Verwendung 
kindlicher Hände eine Schranke zieht. 

Dies Eindringen weiblicher und kindlicher Arbeit in die 
Schuhmacherei hat mit der mechanischen Fabrikation das gleiche 
Datum der Entstehung. In England, in Nordamerika, in der 



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— 170 — 



Schweiz ist dies ebenso der Fall wie in Deutschland. Wie 
rapide sich hier ein Umschwung vollziehen kann, beweist ein 
im „ Schuhmacherfachblatt " Jahrgang 1889 Nr. 5 erzähltes 
Vorkommnis. In einer mitteldeutschen Stadt waren bis zum 
Jahre 1888 fast ausschliesslich männliche Handarbeiter in den 
Schuhmacherei- Grossbetrieben beschäftigt. Nun führten deren 
Inhaber plötzlich (vermutlich infolge von Lohnsteigerungen) 
viele und leistungsfähige Maschinen neu ein, entliessen zahl- 
reiche der verhältnismässig hochgelohnten Arbeiter und stellten 
Frauen und Kinder ein. Die entlassenen Schuhmacher aber 
etablierten sich als „selbständige Meister" mit Zwergbetrieben 
ohne Gehilfen und Lehrlinge, d. h. sie wurden in Wirklich- 
keit Lohnarbeiter und Flicker für andre Meister. Diese völlige 
Umwälzung vollzog sich nahezu mit einem Schlage! Einige 
ziffernmässige Belege mögen ferner darthun, in welchem Um- 
fange die weibliche Arbeiterin bei der Herstellung von Schuh- 
waren im grossen Verwendung findet. In den Jahren 1874 
und 75 wurden vom Reiche Erhebungen über die Verhältnisse 
der Fabrikarbeiterinnen und der jugendlichen Fabrikarbeiter 
veranstaltet 1 ); sie umfassten alle Betriebe, die zehn Personen 
und mehr beschäftigten, in einer grossen Anzahl von Industrie- 
zweigen — unter diesen ist indessen die Schuhmacherei nicht. 
Und in der That zählt die Gewerbestatistik des Jahres 1875 
in Bayern unter dem Arbeiterpersonal nur 592 Frauen und 
Mädchen (558 unter der Rubrik Gehilfen, 24 bei den Lehr- 
lingen resp. jugendlichen Arbeitern); im Grossbetrieb (Geschäft 
mit mehr als 5 Gehilfen) wurden nur 282 Arbeiterinnen über 
16 Jahre, 20 zwischen 14 und 1(3 Jahren und 4 mit 12—14 
Jahren gezählt. Auch die Aufnahme vom 5. Juni 1882 zeigt 
erst eine geringe Zunahme: 744 weibliche Arbeitskräfte im 
Gross- und Kleinbetrieb und 125 in der Hausindustrie. Das 
hat sich gründlich geändert. In den Berichten der bayerischen 
Fabrikinspektoren, die mangels andrer Daten uns hier als 
Quelle dienen müssen, werden schon im ersten Jahre (1879) 



l ) Diese zum Zwecke der Gewinnung von Material für die Erörte- 
rungen der Arbeiterschutzfrage angestellten Erhebungen sind vom Reichs- 
kanzleramt 1S77 veröffentlicht. 



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171 



vereinzelte Betriebe aufgeführt, in denen die weiblichen Ar- 
beiterinnen 60—120% der männlichen ausmachen. 1880 wurden 
in der Rheinpfalz 20 Schuhfabriken inspiziert mit insgesamt 
305 Arbeiterinnen unter einem Personal von 980. Im Bericht 
für das Jahr 1882 wird von dem Inspektor für Franken und 
die Oberpfalz bemerkt: „In den Schuh- und Schäftefabriken 
stehen männliche und weibliche Arbeiter sich an Zahl gleich" ; 
in fünf inspizierten Betrieben mit 344 Personen waren 100 weib- 
liche; für die Rheinpfalz wird das gleiche berichtet. 1808 heisst 
es von Mittelfranken, dass in der Schuhschäftefabrikation 70° o 
weibliche Arbeiterinnen thätig seien; in der Pfalz waren in 
HO Betrieben 817 Arbeiterinnen, darunter 143 jugendliche. 
1889 wird abermals für die Pfalz konstatiert, dass in den 
Schuhfabriken weibliche Arbeitskräfte „in hervorragendem 
Masse" verwendet wurden und etwa die Hälfte der männlichen 
Arbeiter betrugen. 1890 werden ca. 000 Arbeiterinnen in der 
pfälzischen Schuhindustrie neu eingestellt. Ein Blick in die 
Praxis bestätigt für die Gegenwart, aus der genaue statistische 
Angaben zur Zeit nach dieser Richtung hin nicht vorliegen, 
dass der Anteil der Frauenarbeit im Schuhmacherei- Gross- 
betrieb recht umfangreich ist 1 ). 

Die Verwendung von Kindern und jugendlichen Personen 
ist dagegen, was die Fabriken betrifft, in entschiedener Ab- 
nahme begriffen; in der Hausindustrie allerdings muss „jedes 
Kind sich durch irgend eine kleine Arbeit und Hilfeleistung 
nützlich machen" 2 ). Kinder finden sich als in Fabriken thätig 
überhaupt im ganzen nur wenig verzeichnet; weit häufiger 
treten schon die jugendlichen Arbeiter (14 — 16 Jahre) auf; sie 
steigen in der Rheinpfalz in Gruppe XIII, zu der die Schuh- 
macherei gehört, von 1880—1882 von o auf 9°/o sämtlicher 
Arbeiter in den inspizierten Betrieben. 1883 waren in Ober- 
bayern unter 12 Grossbetrieben mit 373 Arbeitern sogar 89 
unter 16 Jahren; 1885 in der Pfalz in 25 Schuhfabriken unter 

*) In England waren 1881 in unsrem Gewerbe beschäftigt 180884 
Männer und 35 672 Frauen. In der Schweiz weist die amtliche Statistik 
in 33 Schuhfabriken 1890 Männer und 1865 Frauen auf für das Jahr 1890. 

a ) Jahresbericht der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrgang 1879, 
S. 121. 



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— 172 



1096 indessen nur 210; 1887 in 5 Betrieben Frankens mit 
199 Arbeitern gar nur 4 jugendliche, was ein seltener Aus- 
nahmsfall sein dürfte. In 7 Fabriken der Pfalz waren 1887 
gegenüber 459 Erwachsenen 12 Kinder und 48 jugendliche 
Arbeiter; in Unterfranken wurden in 3 Betrieben 218 Er- 
wachsene und 13 Jugendliche getroffen. 1888 arbeiteten in 
9 Fabriken Mittelfrankens 287 Erwachsene und 29 Jugendliche, 
in der Pfalz unter 2117 Arbeitern in 30 Fabriken 101 Kinder 
und 395 Jugendliche, in 2 Betrieben Unterfrankens mit 254 
Arbeitern nur 15 Jugendliche. Für 1892 konstatieren die Be- 
richte als Wirkung des Arbeiterschutzgesetzes vom 1. Juni 1891 
ein fast völliges Verschwinden der Kinderarbeit; Klagen über 
unpassende, übermässig anstrengende Verwendung jugendlicher 
Arbeiter werden nicht vorgebracht. 

Es erscheint mir daher als eine Uebertreibung, wenn in 
Schuhmacherblättern des öfteren behauptet wird, heute schon 
sei in den mechanischen Schuhfabriken der gelernte Schuh- 

- 

macher ganz entbehrlich; Kinder und Frauen sowie beliebige 
männliche Arbeiter könnten dabei Verwendung finden. Was 
die „Kinder" anbetrifft, so haben die Bestimmungen der Ge- 
werbe-Ordnung ihren Einfluss nicht verfehlt. Im Jahre 1881 
kündigte z. B. ein grosser Teil der Schuhfabrikanten in Pirma- 
sens, erbittert über die vermeintlich ungerechtfertigte Mole- 
stierung, die sofortige Entlassung der jugendlichen Arbeiter 
an J ), besann sich dann aber später eines Besseren. In der 
Arbeiterschaft laufen Erzählungen um, wie dieser und jener 
Fabrikant beim unvermuteten Nahen des staatlichen Aufsichts- 
beamten Kinder in Kisten verborgen habe, um sich der lästigen 
Kontrolle zu entziehen ; es wird aber zugegeben, dass derartige 
Trics der Vergangenheit angehören. Nicht in den Fabriken 
liegt der Schaden der Kinderarbeit, sondern in der Hausindustrie 
mit ihren dumpfen Räumen, überlanger Arbeitszeit und un- 
passender Beschäftigung, die jeder amtlichen Kontrolle ent- 
behren. — In Bezug auf die Frauenarbeit im Grossbetriebe 
ist zu konstatieren, dass sie zwar die gesamte Schaftarbeit in 



') Jahresbericht der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrgang 1881, 

S. 76. 



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— 173 — 



gesichertem Besitze hält — das wird als unabänderliche That- 
sache hingenommen — , dagegen sind keinerlei Anzeichen zu 
erblicken, dass Frauen und Mädchen in andern Teilarbeiten 
der Schuhmacherei, vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, stän- 
digen Boden fassen. Das Zuschneiden, Ausstanzen, Zwicken, 
Ausputzen, die gesamte Bodenarbeit ist in den Händen der 
Männer und wird ihnen verbleiben, auch wenn die Maschine 
die Alleinherrscherin im Grossbetriebe geworden ist, da diese 
Arbeiten Materialkenntnis, körperliche Kraft, besondere Ge- 
wandtheit und Anspannung beanspruchen. Je höhere An- 
forderungen die Maschine an die geistige Leistungsfähigkeit 
des Arbeiters stellen und die Muskelanstrengung verringern 
wird, um so mehr wird auch die Verwendung „ungelernter" 
Arbeiter schwinden. Schon jetzt werden sie nicht gerne heran- 
gezogen, in der Regel rekrutieren sich die erwachsenen Arbeiter 
in der Schuhwaren-Grossindustrie aus den Jugendlichen und 
dem Handwerkerstande. Einsichtige Fabrikanten stellen mit 
Vorliebe gelernte Schuhmacher ein, und es ist eine häufig zu 
hörende Beschwerde auf der einen Seite, dass ein gewisser 
„ Zunftstolz " den Uebertritt vom Kleingewerbe in den mecha- 
nischen Betrieb hindere, auf der andern, dass die Grossindustrie 
dem Handwerk durch höhere Löhne und bessere Arbeits- 
bedingungen gute Arbeitskräfte entziehe. 

Und, so wird man fragen müssen, ist der Kleinbetrieb 
auf die Dauer imstande, für guten Nachwuchs zu sorgen ? Die 
Lehrlingsfrage ist gerade im Schuhmachergewerbe kein heiteres 
Kapitel. Die auf Beschluss des Bundesrates vom 19. Fe- 
bruar 1875 vorgenommenen „Erhebungen über die Verhältnisse der 
Lehrlinge, Gesellen und Fabrikarbeiter" l ) konstatieren (S. 22 f.): 
„Die Klagen über den derzeitigen Zustand der Lehrlingsbildung 
sind weit verbreitet und laufen namentlich darauf hinaus, dass 
die meisten Lehrlinge den Meister während der Lehrzeit mehr- 
mals wechseln und, ohne den Ablauf der Lehrzeit abzuwarten, 
in den Gesellenstand übertreten/ Später (S. o4j55) wird aber 
auch festgestellt, dass gerade im Bekleidungsgewerbe die Ar- 
beitszeit für Lehrlinge übermässig lang ist und (S. 64) dass 



*) Zusammengestellt im Reichskanzleramt. Berlin 1877. 



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174 — 



in vielen Geschäften, namentlich auch bei den Schuhmachern, 
dem Lehrling nach dem Schluss der gewöhnlichen Arbeitszeit 
die Reinigung der Werkstätte, die Ablieferung der fertigen 
Waren an die Besteller und teilweise auch häusliche Dienst- 
leistungen obliegen. Diese Erscheinungen sind aber keineswegs 
notwendige Wirkungen der Gewerbefreiheit, und die Klagen 
über mangelhafte Fachausbildung der Lehrlinge sind unter 
der alten gewerblichen Ordnung nicht minder laut geworden 
(vergl. S. 25). Neuerdings macht sich ein ernsthaftes und 
tiefer dringendes Bestreben hie und da geltend, Wandel zum 
Bessern zu schaffen ; es gibt in Bayern einzelne Innungen, die 
das Aufdingen und ebenso das Freisprechen der Lehrlinge in 
feierlicher Weise vornehmen, um die Bedeutsamkeit dieser 
Schritte einzuprägen; es werden Lehrbriefe ausgestellt und von 
den städtischen Behörden bestätigt (so in München); Fach- 
schulen und Fachkurse sollen für eine gründlichere Ausbildung 
sorgen, Ausstellungen zeigen, was die Lehrlinge gelernt haben. 
Zuweilen erfolgt auch eine öffentliche Warnung vor leicht- 
fertigem Zudrang zur Schuhmacherei, die ein übersetztes Ge- 
werbe . sei. Im Gegensatz hierzu begegnet man aber auch 
Fällen schlimmer Lehrlingszüchterei zur Durchführung einer 
„ Schmutzkonkurrenz " . 

Der jugendliche Arbeiter in der Fabrik hat gleich im An- 
fange ein günstigeres Los als der Handwerkerlehrling. In den 
1870 — 80er Jahren, als der mechanische Betrieb seinen Auf- 
schwung nahm, war zeitweilig starker Begehr nach Arbeits- 
kräften. Die gelernten Schuhmacher aber waren schwer aus 
ihren gewohnten Geleisen zu bringen, für die neuen Maschinen 
musste ein tüchtiges Personal erst herangebildet werden. Darum 
treffen wir auch in Schuhfabriken so viele junge Leute, die, 
in der Umgegend der Industrie-Standorte ansässig, vielfach die 
landwirtschaftliche Arbeit niedergelegt haben, um die lohnendere 
Beschäftigung der Fabrik aufzusuchen 1 ). Hier verdient der 

') Vergl. „Verhältnisse der Landarbeiter" Band II, Schriften des 
Vereins für Sozialpolitik L1V, S. 152 und 194: „Obgleich sich die er- 
wachsenen Kinder männlichen Geschlechts zwar meist noch den landwirt- 
schaftlichen Arbeiten widmen, ist doch die Zahl derer, die ein Handwerk 
erlernen oder zur Industrie übergehen, nicht klein. . . . Die Freiheit der 



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175 



Knabe oder das Mädchen schon nach wenigen Wochen Geld; 
nach einigen Jahren werden sie Zwicker oder Stepperinnen 
mit relativ guten Löhnen. Diese Aussicht lockt natürlich die 
jungen Leute. Sie bedenken nicht, dass die Arbeit in der 
Fabrik ihnen nur in den allerseltensten Fällen den Weg zu 
eigener Selbständigkeit im Betriebe eröffnet, dass die rastlose 
Bedienung der Maschine, die so wenig körperliche Anstrengung 
zu erfordern scheint, um so mehr die Nerven und das Gehirn 
in Anspruch nimmt, und dass mit Ausnahme weniger vorzüg- 
licher Arbeiter der Fabrikant sie bei Abnahme ihrer Leistungs- 
fähigkeit niedriger löhnt oder in die Heimarbeit mit all ihrer 
Not verweist. Das Los des alternden Arbeiters im haus- 
industriellen Grossbetriebe, der sich zu Hause mit Weib und 
Kind um kärglichen Lohn abplackt und der von den ohnedies 
mässigen Rechten der Alters- und Invalidenversicherung auch 
noch ausgeschlossen ist, steht dem in weiten Kreisen des Klein- 
betriebes unseres Gewerbes herrschenden Elend nicht nach, 
der jugendliche und in mittleren Jahren stehende Fabrik- 
arbeiter dagegen ist dem Lehrling und dem Gehilfen im all- 
gemeinen weit überlegen. 

Es erübrigt, in diesem Zusammenhange noch einige Worte 
zu sagen über das Verhältnis, das zwischen Arbeitgebern und 
Arbeitern und das innerhalb einer jeden dieser beiden Kate- 
gorien zwischen den Angehörigen des Grossbetriebes und des 
Handwerks herrscht. Im Kleinbetrieb ist der wirtschaftliche 
und der soziale Unterschied zwischen den überwiegend allein in 
der Werkstatt arbeitenden Meistern und den Gehilfen vielfach 
ganz verwischt. Beiden geht es oft so schlecht, dass sie sich 
solidarisch fühlen. „Der Gehilfe", so schreibt mir ein Gewährs- 
mann aus Nürnberg, „sieht ein, dass der Meister selbst schwer 



städtischen und der Fabrikarbeiter in den Stunden vor Beginn und nach 
Schluss der Arbeit, besonders aber die hohen Löhne, die die Industrie 
gewähren kann, bewirken, dass gerade die intelligentesten und that- 
kräftigsten Arbeiter sich von der Landwirtschaft immer mehr abwen- 
den. ... In der Gegend von Pirmasens verdienen Leute von 17 — 18 Jahren 
schon oft (?) 18 M. und mehr die Woche beim Anfertigen von Schuhen; 
es bleiben manchmal die Felder unbebaut, während die Söhne von Klein- 
bauern Schuhe anfertigen." 



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— 170 — 

bedrängt ist, und der Meister findet das Verlangen der Ge- 
hilfen nach besserem Verdienst vollkommen berechtigt und 
würde ihm solchen auch von Herzen gönnen, wenn er selbst 
höhere Löhne gewähren könnte." Dies Zusammenhalten der 
kleinen Meister mit den Gehilfen tritt auch in Versammlungen, 
in Fachvereinen und in der Presse oft zu Tage; die gleiche 
politische Gesinnung verstärkt die Gemeinsamkeit. Natürlich 
fehlt es auch an Zwistigkeiten und Reibereien im Handwerk 
nicht; in den grossen Kundengeschäften, in stark besetzten 
Werkstätten klagen die Gehilfen über ein patriarchalisches 
System der Bevormundung, die Betriebsinhaber über Prä- 
tensionen und Aufsässigkeit der Gehilfen; namentlich besteht 
— begreiflicherweise — zwischen den Innungsfanatikern und 
den sozialdemokratischen Wortführern der Schuhmacher eine 
beständige Spannung. 

Viel schärfer und allgemeiner ist indessen, wie übrigens 
allerwärts, der Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitern 
in der Grossindustrie ausgeprägt. Namentlich kann man in 
Pirmasens hierüber viele Klagen auf beiden Seiten hören. Die 
Ersteren beschweren sich, dass die sozialdemokratischen Lehren 
das gute Verhältnis mit ihren Arbeitern zerstört hätten; an 
Stelle des gegenseitigen Vertrauens sei Feindseligkeit getreten, 
hohe Ansprüche und Genusssucht der Arbeiter miuderten ihre 
Leistungsfähigkeit. Die Arbeiter erwidern dagegen, erst seit- 
dem sie Sozialdemokraten seien, hätten sie in solidarischer 
Wahrung ihrer Interessen es vermocht, manchen Uebelstand 
abzustellen, so z. B. die Ausbeutung durch ein organisiertes 
Trucksystem; sie müssten sich gegen Lohndrückereien , will- 
kürliche Entlassung, schwarze Listen u. a. m. wehren. In der 
That können manche Fabrikanten sich nur sehr schwer daran 
gewöhnen, die rechtlich verbürgte Freiheit auch thatsächlich 
den Arbeitern zuzugestehen, und noch schwerer als der öko- 
nomische Druck lastet auf den letzteren die soziale Ueber- 
hebung vieler Arbeitgeber. Von einer ständigen Vertretung 
ihrer Arbeiter in Ausschüssen wollen die Grossindustriellen in 
Pirmasens nichts wissen; als bei den Wahlen zum Gewerbe- 
gericht Ende September 1892 in der Klasse der Arbeitnehmer 
sechs waschechte Sozialdemokraten gewählt wurden, vermochten 



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die Fabrikanten sich nur schwer dazu, mit diesen zusammen 
zu raten und zu richten. Wie äusserst gespannt die Verhält- 
nisse in Pirmasens sind, beweisen die argen Krawalle nach 
der Stichwahl zum Reichstag am 24. und 25. Juni 1893, die 
zwar ihren nächsten Anlass in rein politischen Ursachen hatten, 
aber doch in dem auf Seite der Arbeiter lang aufgespeicherten 
Groll wurzelten. Weitsichtige Fabrikanten und ebenso intelli- 
gente Arbeiter verschliessen sich freilich nicht der Ueberzeugung, 
dass ein friedliches Einverständnis mit genauer Abgrenzung 
der Rechte und der Pflichten für beide Teile das einzig Erspriess- 
liche wäre. Aber für jetzt stehen sich Fabrikfeudalität und 
ungestümes Streben der Arbeiter nach Verwirklichung der ihnen 
gesetzlich zuerkannten Gleichberechtigung vielfach noch schroff 
gegenüber. 

Dagegen ist von einer Differenz der Arbeiterschaft in der 
Grossindustrie und im Kleinbetrieb mit Fug nicht die Rede. 
Wie schon bemerkt, wird die Frauenarbeit auf einem be- 
stimmten Gebiet, der Schaftarbeit, wo die Nähmaschine in 
ihren verschiedenen Formen herrscht, rückhaltlos als Thatsache 
anerkannt; hier wird die weibliche Arbeitskraft als gleich- 
berechtigte, ja als erwünschte Hilfe für den Gatten und den 
Familienvater geschätzt. Von dem Zustande, dass mit der Ver- 
heiratung die Frau aufhört, in der Fabrik zu arbeiten, sind 
wir in unsrem Gewerbe noch himmelweit entfernt. Auch die 
Klagen über die missbräuchliche Verwendung jugendlicher Ar- 
beiter verstummen, abgesehen von den Beschwerden über Lehr- 
lingszüchterei im Kleinbetriebe, mehr und mehr. Besteht viel- 
fach noch bei den Gehilfen ein an sich ja nur erfreulicher 
Stolz auf das ehrsame Handwerk, das man nach den Regeln 
erlernt habe, während der Fabrikarbeiter nur ein Maschinen- 
knecht sei, so hält diese moralische Genugthuung auf die Dauer 
doch nicht Stand gegenüber den höheren Löhnen, der kürzeren 
Arbeitszeit und der besseren Lebenshaltung, die die Gross- 
industrie gewährt. Handwerksgehilfen und Fabrikarbeiter be- 
gegnen sich aber in der gemeinsamen Bekämpfung der Heim- 
arbeit, in der sie ein Haupthindernis für eine Verbesserung 
ihrer Lage erblicken; in diesem schier unerschöpflichen Re- 
servoir findet nach ihrer Ansicht ebenso wie in der Menge der 

Francke, Die Schuhmarherei in Bayern. 12 



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— 178 — 



Arbeitslosen der Arbeitgeber immer ein williges und billiges 
Angebot von „Händen", um die in der Fabrik und in der Werk- 
statt stehenden Arbeiter zu drücken. 

Endlos und erbittert sind die Beschwerden der Klein- 
meister über die Konkurrenz der Grossindustrie, ungestüm das 
Verlangen nach Abhilfe durch das Eingreifen des Staates zur 
Wahrung des bedrohten Handwerks. In der That entbehren 
die Klagen des Kleingewerbes in der Schuhmacherei nicht des 
Grundes, wenn sie sich auch in den Forderungen nach Hilfe 
und Abhilfe fast regelmässig vergreifen. In diesem Bewusstsein 
kann sich der mechanische Grossbetrieb ruhig ein theoretisches 
Mitleiden, wie ich es öfters wahrgenommen habe, mit dem 
hartbedrängten Handwerk gestatten; sein Vordringen auf der 
gesamten Linie wird dadurch nicht aufgehalten. 



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XII. 

Die ArMtsbedingungen. 

a) Die Arbeitslöhne. 

Die Angehörigen des Schuhmachergewerbes in seiner alther- 
gebrachten Betriebsform des Handwerkes stehen durchweg auf 
einer sehr niedrigen Stufe des Lohneinkommens. Dies ist 
keine Erscheinung der Neuzeit , keine Folge der gewerblichen 
Umwälzung , sondern nach allem , was darüber bekannt ist, 
waren die Arbeitslöhne in unsrem Gewerbe zu allen Zeiten 
sehr gering, und in allen andern Ländern, wo die Schuhmacherei 
noch vorherrschend im Kleinbetrieb ausgeübt wird, zeigt sich 
die gleiche, fast sprichwörtlich gewordene Thatsache l ). „Wie 
kommt es nun, fragt der .Schuhmacher 4 (Jahrgang 1887 Nr. 3), 
„dass unter allen gewerblichen und industriellen Arbeitern gerade 
der Schuhmacher der schlechtest gestellte ist, dass er selbst, 
trotzdem er sein Gewerbe mit vielen Mühen und Kosten er- 
lernt, noch unter dem gewöhnlichen Taglöhner steht?" Einer 
der hauptsächlichsten Gründe hierfür ist sicher die herkömm- 
liche Ueberfüllung des Gewerbes, dessen Rekruten vorzugs- 
weise aus den ärmsten Klassen der Bevölkerung stammen. Die 
traditionelle niedere Lebenshaltung wird infolge der Konkurrenz 
weiter bewahrt; kann der Meister am Material nicht sparen, 
so wird der Lohn noch tiefer herabgedrückt — kann man 
doch sicher sein, fast stets Arbeitskräfte zu bekommen, die 
froh sind, überhaupt nur selbst mit dem kärglichsten Verdienste 
ihr Leben zu fristen. Eine für 1885 aufgestellte Lohnstatistik der 
deutschen Berufsgenossenschaften, die die Angehörigen von 57 

') Vergl. Ro scli er, Grundlagen der Nationalökonomie I, S. 451, 
455, 473. 



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— 180 - 



Berufsgenossenschaften umfasst, beziffert das Durchschnitts- 
einkommen des deutschen Arbeiters auf 049 M.; die höchsten 
Löhne haben die Arbeiter der Gas- und Wasserwerke (988 M.), 
die Schuhmacher kommen erst in der 49. Gruppe mit 492 M., 
wobei allerdings zu bemerken ist. dass in dieser Gruppe, der 
gesamten Bekleidungsindustrie, die grosse Zahl der miserabel 
bezahlten Näherinnen das Durchschnittseinkommen stark herab- 
drückt. Jedenfalls aber beweist die Thatsache, dass die in 
der gewerblichen Bewegung der Schuhmachergehilfen öfters 
aufgestellte Forderung eines Minimaltagelohnes nicht höher sich 
erstreckt als auf 2 M. 50 Pf., wie niedrig in Wirklichkeit all- 
gemein die Gehilfenlöhne sind. 

Weniger noch als in andern Gewerben ist uns hier mit 
Durchschnittsangaben des Lohneinkommens gedient. Diese 
lassen richtige Schlüsse auf die thatsächlich gezahlten Einzel- 
löhne gerade in der Schuhmacherei keineswegs zu. Das ver- 
hindert schon die Unmöglichkeit, Stücklöhne und Wochenlöhne 
miteinander zu vergleichen : auf wenige gut oder doch leidlich 
gezahlte Arbeiter kommt eine grosse Zahl niedrig gelohnter; 
nur ein Theil des Einkommens wird oft in Geld ausgezahlt, 
ziemlich weit ist noch das „ patriarchalische" System verbreitet, 
dass der Gehilfe Kost und Logis oder wenigstens die Schlaf- 
stelle vom Meister geliefert erhält; endlich ist die Unsitte 
manchfacher Abzüge vom Lohn viel im Schwange. Wollen 
wir die Lohnverhältnisse der Schuhmacher in Bayern, wie sie 
wirklich sind, kennen lernen, so bleibt uns nichts übrig, als 
eine Anzahl von Individuallöhnen aufzuführen, und zwar hier 
auch wieder getrennt nach den Betriebsformen, in denen unser 
Gewerbe erscheint: Handwerk, Heimarbeit, Fabrik. Was eine 
derartige Darstellung an Uebersichtlichkeit verliert, gewinnt sie 
an Zuverlässigkeit. Wir beginnen mit den Löhnen im Hand- 
werk. 

In den grösseren Städten ist hier der reine Geldlohn mehr 
und mehr durchgeführt; Kost wird den Gehilfen nur in den 
seltensten Fällen noch vom Meister gereicht, abgesehen vom 
Morgenkaffee, der dann besonders bezahlt wird ; eher vermietet 
der Meister, um die teuren Mietpreise der eigenen Wohnung 
und Werkstatt teilweise wieder hereinzubringen, Schlafstellen 



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181 



an die Gesellen. Anders in den kleinen Orten, wo der 
„ Patriarchalismus tt noch sein Gewohnheitsrecht behält und die 
Abzüge für Kost und Logis den Geldlohn auf eine ganz gering- 
fügige Summe herabdrücken. Bei der Störarbeit auf dem 
Lande erhält sogar der Betriebsinhaber eine namhafte Quote 
seines Einkommens in der Kost geliefert, ebenso wie er selbst 
auch im Tagelohn oder Stücklohn steht, während er den Ge- 
hilfen, die bei ihm wohnen und mit ihm essen, Wochenlöhne 
zahlt. Dagegen ist das Accordsystem in allen grösseren Kund- 
geschäften die Regel; hier stehen im Wochenlohn gewöhnlich 
nur die geringen Arbeiter, die Reparaturen oder Kinder- 
beschuhung machen, und die Kategorien der Zuschneider, Vor- 
richter, Stepperinnen. Für Stücklöhne existiert gewöhnlich ein 
detaillierter Tarif, der freilich oft nur für die eine Werkstatt 
Gültigkeit hat und selbst hier häufig nach der Willkür des 
Meisters oder den Konjunkturen des Marktes Abänderungen 
erfährt, Bestrebungen, in grösseren Städten einen für alle Be- 
triebe verbindlichen Einheitstarif mit längerer Geltungsdauer 
aufzustellen, haben selten Erfolg gehabt. Unter den Ge- 
hilfen geht nun vielfach die Klage, dass diese Lohntarife auf 
falschem Grundsatze aufgestellt seien , indem für die Arbeit- 
geber bei der Festsetzung der Löhne der Preis, den sie für 
die einzelnen Warengattungen vom Kunden erhalten, mass- 
gebend ist, während die Gehilfen für das gleiche Arbeits- 
quantum stets den gleichen Lohn verlangen. Das führt natür- 
lich zu mancherlei Misshelligkeiten. 

Unter solchen Verhältnissen beliefen sich in München 
nach einer Enquete des Schuhmacherfach Vereins i. J. 1888 
die Löhne wie folgt: 93 °/o sämtlicher Gehilfen standen im 
Stücklohn, nur 7 °;o im Wochenlohn. Einen Durchschnittslohn 
von 14 — 18 M. und höher im Accord wöchentlich hatten nur 
3 unter je 100 Gesellen; 44% verdienten 13 M. 50 Pf., die 
gleiche Anzahl nur 8 M. 25 Pf., während bei 9 V der Lohn 
auf 5—7 M. wöchentlich sank. Der Gesamtdurchschnitts- 
lohn eines Gehilfen wird auf 10 M. 87 Pf. angegeben. Für 
Nürnberg wird im Wochenlohn, der auch dort selten 
zur Anwendung kommt, ein durchschnittlicher Verdienst von 
11—14 M., für manche jüngere Gehilfen von (3—10 M. mit- 



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182 — 



geteilt; das Einkommen auf Stückarbeit kann sich in der Woche 
auf 15 — 20 M., bei sehr geschickten Arbeitern vielleicht noch 
höher, belaufen; denn, wie mein Gewährsmann mitteilt, sind 
nach dem Tarife die Löhne für Stückarbeit nicht schlecht fixiert, 
die Erwerbsverhältnisse sind aber derart, dass der Gehilfe nicht 
immer Gelegenheit hat, vollauf zu arbeiten, und deshalb auch 
oft mit geringerem Verdienst vorlieb nehmen muss. In Würz- 
burg waren 1885 die Lohnverhältnisse sehr schlecht. Der 
Lohntarif der Innungsmeister berechnete für Herstellung eines 
Paares Damenstiefel 1 M. 70—00 Pf., für Kinderstiefel 80 Pf. 
bis 1 M. 40 Pf., Herrenstiefel 2 M. 85 Pf. bis 3 M. 50 Pf. 
„Hier sind," so heisst es in einer Korrespondenz des , Schuh- 
macherfachblatts 4 , „viele kleine Meister, die für sich selbst wenig 
zu thun haben und darum die besten Worte geben, um nur 
von ihren grösseren Kollegen Arbeit zu bekommen. Wenn 
die Gesellen dann etwas sagen, so heisst es: ,Ich bekomme 
meine Arbeit auf Logis gemacht und brauche überhaupt keine 
Gehilfen in meiner Werkstatt 1 . " Dann bequemt man sich zu 
Stückarbeit unter dem Tarife. In kleineren Ortschaften ist es 
sehr schwer, nur halbwegs zuverlässige Angaben zu bekommen. 
In einem Städtchen an der Rhön, wo die Gesellen in ganzer, 
aber freilich höchst ärmlicher Kost stehen , belauft sich der 
Wochenlohn daneben nur auf 2 — 3 M. Im Allgäu dagegen, 
wo die Lebenshaltung eine weit bessere ist, werden ausser Kost 
und Wohnung geschickten Arbeitern an manchen Orten 6 und 
7 M. gezahlt, in dem Voralpenlande in der Regel 4—5 M., 
in einem Landstädtchen Mittelfrankens beträgt der Durch- 
schnittsverdienst eines Gehilfen bei reinem Geldlohn 10—13 M., 
in Accordarbeit 9 M. 50 his 15 M., diejenigen, die beim Meister 
Kost und Logis haben, erhalten noch 2 1 2 — h v \ 2 M. bar. Auf 
der Stör wird in Altbayern für ein Paar derbe Mannsstiefel, 
deren Herstellung man als Tagesleistung rechnet, 1 — 2 M. nehen 
Kost und Bier gezahlt; in Oberfranken durchschnittlich etwas 
weniger. — Nicht verschweigen darf ich, dass diese Lohnangaben 
zum Teil lediglich auf den Aussagen von Gehilfen beruhen, 
während ich Arbeitgeber in diesem Punkte ziemlich zurück- 
haltend gefunden habe ; es besteht daher die Möglichkeit, dass 
die Löhne etwas zu niedrig angegeben sind, während man 



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— 183 - 

allerdings geltend machen kann, dass die Meister jedenfalls, 
wären die Sätze erheblich höher, keinen Grund zum Schweigen 
hätten. 

Wie dem auch sei, so ist doch zu bemerken, dass selbst 
von diesem geringen Einkommen die Gehilfen in der Regel 
sich noch Abzüge gefallen lassen müssen. Allgemein her- 
gebracht ist, dass sie die sogen. „Furnituren 44 , d. h. Garn, Stifte, 
Wachs, Pech, Tinte, Spiritus, Borsten, Glaspapier etc., aus eigener 
Tasche zahlen; die Kosten hierfür belaufen sich etwa auf 30 bis 
50 Pf. wöchentlich. Häufig muss der Gehilfe auch die Werkzeuge 
selbst stellen oder doch deren Abnützung und Reparaturen be- 
zahlen. Ein böser Missstand, der gleichfalls, wenn auch seltener 
vorkommt, ist die Forderung mancher Meister, der Gehilfe müsse 
für seinen Sitz in der Werkstatt eine Gebühr von 40—50 Pf. 
wöchentlich erlegen, wenn er nicht vorzieht, auf Logis zu ar- 
beiten. Für geringe Flickarbeit und unbedeutende Ausbesse- 
rungen findet bisweilen gar keine Entlohnung statt. Auch im 
Handwerk kommt es, wie in der Fabrik, vor, dass ein be- 
sonders tüchtiger und gewandter Gehilfe bei Accordarbeit für 
seinen Fleiss geradezu gestraft wird, indem der Meister den 
Tarif eigenmächtig herabsetzt, weil jener „zu viel verdient 
habe". Die Auszahlung des Lohnes erfolgt in der Regel am 
Samstag Nachmittag, oft genug aber auch erst am Sonntag 
Mittag, um den Gehilfen zu nötigen, auch an Sonn- und Feier- 
tagen zur Arbeit in der Werkstatt zu erscheinen; häufig muss 
sich der Arbeiter auch mit einer Abschlagszahlung begnügen 
und den Rest stunden, weil der Meister den vollen Lohn nicht 
zahlen kann. Dass Lehrlinge, für die ein Lehrgeld zu ent- 
richten nahezu ganz abgekommen ist, ausser gelegentlichem 
Taschengeld auch im letzten Jahre ihrer Ausbildung, wo sie 
schon tüchtig zugreifen müssen, keinen Lohn bekommen, ist 
unter diesen Umständen selbstverständlich; daher auch die 
Neigung zur Lehrlingszüchterei. Nachdrücklich aber möchte 
ich betonen, dass in der Regel die Kleinmeister, die Hilfs- 
personen beschäftigen, nicht aus Habsucht und Knickerei nied- 
rige Löhne zahlen, sondern weil ihnen selbst das Wasser bis 
an den Hals geht; ihr Unternehmergewinn wird selten mehr 
als das doppelte des Lohnes eines gut bezahlten Gehilfen be- 



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184 — 



tragen, und dafür müssen sie Frau und Kinder ernähren, 
die Werkstatt mieten, das Leder und die Zuthaten kaufen. 
Ein Meister, der mit zwei Gehilfen arbeitet, erklärte mir, 
er müsse mindestens 31 M. 50 Pf. wöchentlich verdienen, 
wenn er mit seiner starken Familie leben solle ; oft genug 
komme er aber nicht so hoch und müsse dann borgen bis zu 
besserer Zeit. Ein Geschäft mit drei tüchtigen Arbeitern und 
2—3000 M. Betriebskapital soll l ) seinem Inhaber bei flottem 
Gange und guten Preisen 1800 M., eine grosse, vortrefflich 
gehende Kundenschuhmacherei mit neun Gehilfen gar 0000 M. 
abwerfen. Aber solche Betriebe und namentlich solche wie 
das letzt erwähnte Geschäft gab es in Bayern schon 1875 nur 2 bis 
2 1 ;'2 °/o unter den selbständigen Schuhmachereien. Neben den 
an Zahl und wirtschaftlicher Bedeutung verschwindenden grossen 
Kundengeschäften, die gute Erträge erzielen, steht die ungeheure 
Menge der Zwergbetriebe, wo der Meister ohne Gehilfen ar- 
beitet und um nichts besser leben kann als der schlecht be- 
zahlte Lohnarbeiter. 

Sind die Lohn Verhältnisse im Kleingewerbe schlecht, so 
sind sie in der Hausindustrie gewiss nicht besser. Hier 
wird in der amtlichen Denkschrift „Die Landwirtschaft in 
Bayern" (S. 510) von dem oberfränkischen Bezirke Stadtsteinach 
gesagt, Schuhmacherei in der Heimarbeit entlohne sich hier 
bis zu 1 M. 20 Pf., während die Landbevölkerung in der Um- 
gegend von Pirmasens und Zweibrücken bis zu 3 M. damit 
verdiene. Von den Heimarbeitern einer bei München gelegenen 
Fabrik wurde mir erzählt, ihre Löhne seien so gering, dass 
die Leute geradezu zur Unredlichkeit gedrängt würden. In 
einem Dorfe unweit Pirmasens, wo drei Viertel der Einwohner 
für Fabriken beschäftigt sind, habe ich verschiedene Familien 
aufgesucht. In der ersten arbeiteten nur Mann und Frau, in 
mittlerem Alter stehend, für einen Fabrikanten; Sohn und 
Tochter versahen bereits im Pirmasenser Etablissement Aushilfe- 
dienste. Das Ehepaar fertigte Hausschuhe, zu denen die Einzel- 
teile geliefert wurden; von einer besseren Sorte, die Holz- 
absätze bekommt, konnten Mann und Frau bei angestrengter 



') Dr. Moritz Schöne, Schuhmachergewerbe, Jena 1888. 



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185 — 



und langdauernder Thätigkeit knapp ein Dutzend Paar im Tage 
„packen", das Dutzend wird mit 3 M. 15 Pf. bezahlt; noch 
billigere Ware stellt sich im Arbeitslohn nur auf 2 M., dafür 
kann man auch anderthalb Dutzend davon liefern. In einer 
zweiten Familie waren Mann. Frau und ältestes Mädchen (im 
Alter von 12 Jahren) in Beschäftigung für eine Fabrik; für 
schwarze, abgesteppte Pantoffeln, von denen sie täglich nur mit 
äusserster Mühe ein Dutzend Paar zwingen, werden 3 M. ge- 
zahlt; Kinderschuhe bringen 2 — 2 1 * M. das Dutzend, aber 
davon können sie nach ihrer Angabe bis zu 18 Paar täglich 
herstellen. Ein drittes Beispiel zeigte ein älteres Ehepaar, 
das 2— 2 1 /* M. täglich verdiente. Eine andre Familie, Mann, 
Frau und zwei Knaben im Alter von 11 und 14 Jahren brachte 
es bis zu 4 M. 50 Pf. täglich. Der Verdienst der Heimarbeiter 
ist sehr verschieden und wechselt ganz nach der Art der Ar- 
beit, der Geschicklichkeit und der Zahl der helfenden An- 
gehörigen. 

Freilich gibt es unter den „ Ausputzern" auch Fa- 
milien, die sich auf einen Jahresverdienst von 12 — 1400 M. 
stehen; das sind aber seltenere Ausnahmen. Im allgemeinen 
wird man sagen dürfen, dass in Pirmasens und Umgegend für 
eine Familie, bei der Mann und Frau sowie die jüngeren, noch 
schulpflichtigen Kinder zusammen arbeiten, der Tagesverdienst 
3 M. nicht übersteigt. (Ortsüblicher Tagelohn für Männer ist 
dort 1 M. 70 Pf. bis 2 M. bei Feldarbeit, häufig noch mit 
teilweiser Beköstigung.) Aber auch hier bezieht der Fabrikant 
eine Entschädigung für die geliehenen Leisten, auch muss der 
Heimarbeiter die Hilfsmaterialien, Pech, Wachs, Wichse, Faden, 
Nägel, Papp u. s. w., selbst stellen; die Leute berechneten 
diese Ausgaben auf 80 Pf. bis 1 M. 50 Pf. pro Woche. Ausser- 
dem leiden sie stark durch zeitweise Beschäftigungslosigkeit 
und Zeitverlust beim Abholen und Bringen der Ware, während 
die Fabrikanten ihrerseits klagen, dass die ländlichen Heim- 
arbeiter gerade dann ihrer Landwirtschaft nachgingen, wenn 
man sie am nötigsten brauche. Was die Hausindustriellen im 
Handwerk anlangt, die Sitzgesellen und Logisarbeiter, so sind 
zwar, weil der Meister bei ihnen die Kosten für Werkstatt, 
Licht und Beheizung spart, nominell die Tarife für Stücklohn 



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etwas höher, doch stehen diese Arbeiter durchweg im Rufe, 
arge Lohndrücker zu sein (vergl. Kap. 7). 

Beiden bisher betrachteten Kategorien gegenüber sind die 
Fabrikarbeiter in ihren Lohnbezügen weitaus besser gestellt. 
Einmal werden sie schon viel früher als im Handwerk bezahlt; 
jugendliche Arbeiter, die im Kleinbetrieb als Lehrlinge keinen 
Pfennig bekommen, erhalten meist schon nach 5 — 6 Wochen 
Vorbereitungsdienst in der Fabrik einen Wochenlohn von 4 bis 
6 M., der bald ansteigt. Sodann aber sind auch die Durch- 
schnittsverdienste erheblich höher. „Die Schuhfabriken bieten, 
um die tüchtigsten Kräfte aus dem Arbeiterstande an sich zu 
ziehen, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, als sie 
der Kleinmeister gewähren kann." (Schuhraacherfachblatt 1888 
Nr. 3.) 

Da mit Ausnahme gewisser Arbeiter, wie Werkführer 
und Zuschneider einer-, Handlanger und Hilfsarbeiter andrer- 
seits, nur feste Löhne anwendbar sind, herrscht überall das 
Stücklohnsystem, das in einer grossen Mannigfaltigkeit von Detail- 
sätzen ausgebildet ist, wie es die zahlreichen Eiuzeloperationen 
der mechanischen Schuhmacherei mit ihren Unterabteilungen 
erfordern. Güte- und Ersparnisprämien habe ich nirgends ge- 
funden, ebensowenig Abschlüsse von Gruppenaccorden u. dgl. ; 
Gewinnbeteiligung existiert in den bayrischen Schuhfabriken 
meines Wissens nicht, Tantiemen höchstens hie und da bei 
kaufmännischen Angestellten. Fast eine jede Fabrik hat ihr 
eigenes Arbeitssystem, je nach Verwendung von Maschinen und 
nach Art der Waren, und infolge dessen auch ihren eigenen 
Stücklohntarif. Und natürlich ist auch in jedem Betrieb im 
einzelnen Operationszweige je nach Fleiss und Gewandtheit 
des Arbeiters die Höhe der Löhne ganz verschieden. Eine der 
renommiertesten Fabriken im rechtsrheinischen Bayern (Schwein- 
furt) zahlt nach den Angaben ihres Besitzers im Jahresdurch- 
schnitt folgende Wochenlöhne: Zuschneider 18 M. , Sohlen- 
presser 15 M., Sohlennäher 18 M., Ausputzer 24 M., Zwicker 
20 M., Stepperin 11 M., Papperin 9 M. ; Arbeiter im festen 
Wochenlohn 15 M. Nach einem Berichte des Fabrikinspektors 
der Pfalz (S. 128 — 125) wurden i. J. 1882 von 114G Personen 
der XIII. Gruppe, bei der im linksrheinischen Bayern fast allein 



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187 — 



die mechanische Schuhmacherei in Betracht kommt, folgende 
Durchschnittslöhne in der Woche bezogen: 



44 männliche Arbeiter über 21 Jahre: 


5— 12 M. 


352 




• 1» 




12-25 , 


33 


i 


B w 


* 


25—50 „ 


196 




unter , 


- 


2-12 r 


31 


* 


* » 




12—25 , 


108 weibliche 


b 


über „ 




3-12 . 


41 


B 




f 


12—25 , 


265 „ 


n 


unter „ 


B 


2-12 „ 


25 








12-25 „ 


Samtliche Arbeiter zusammen: 


614: 


2-12 M. 



499: 12-25 „ 
33: 25-50 „ 

Genauere Daten besitze ich aus Pirmasens, wo mehrere 
Fabrikanten mir gestatteten, die Lohnlisten einzusehen. Nach 
einem Auszug aus den Büchern eines der grösseren Etablisse- 
ments kann ich folgende Wochenlöhne als thatsächlich im 
Jahre 1892 gezahlte aufführen: 

Männliche Arbeiter. 

1 Werkführer: 36—40 M. 
15 Zuschneider: von diesen Arbeitern bezogen 10 Wochenlöhne zwischen 
18 und 22 M., 2 hatten 15 M., 3 zwischen 4 und 12 M. 

1 Schuhabnehmer für Zwickarbeit: 24 M. 

2 Sohlennäher: 22—25 M. 

3 Sohlendrücker: 16—24 M. 

4 Fleckdrücker: 12—14 M. 
1 Absatzaufnagler : 22 M. 

1 Absatzbauer: 34 M. 

5 Raspier und Fräser: 17 — 25 M. 

2 Polierer: 18 M. 
1 Glätter: 14 M. 

1 Einleister: 8 l /a— 14 M. 

2 Fertigmacher : 18 M. Wochenlohn ; Stückarbeit für gelbgenähte Ware 

inkl. Hilfsarbeiter: 35—59 M. 
54 Zwicker: von ihnen hatten 2 unter 10 M. (Minimum 6 M. 22 Pf.), 
13 zwischen 10 und 12 M., 17 zwischen 12 und 15 M., 22 über 
15 M. bis zu 25 M. 59 Pf. Maximum. 
4 Hilfsarbeiter: 8-14 M. 

Weibliche Arbeiter. 

28 Stepperinnen : von ihnen bezog die am niedrigsten bezahlte Löhne, die 
sich zwischen 5 M. 13 Pf. und 9 M. 30 Pf. wöchentlich bewegten,. 



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- 188 - 



die bestbezahlte solche zwischen 18 M. 16 Pf. und 27 M. 91 Pf. 
Unter 10 M. hatten 7 Stepperinnen, zwischen 10 und 12 M. 8, 
zwischen 12 und 15 M. 9, von 15 M. bis 21 M. 60 Pf. endlich 
4 Stepperinnen. 
3 Einfasserinnen: 8 M. 75 Pf. bis 11 M. 25 Pf. 

1 Abnehmerin für Einfassarbeit: 18 M. 

5 Papperinnen: 8 bis 22 M. 60 Pf. in allen Abstufungen, meist aber 
über 12 M. 

2 Futterzuschneiderinnen : 12 — 14 M. 

1 Schuhausschneiderin : 12—14 M. 

2 Ausglaserinnen: 10—17 M. 
13 Hilfsarbeiterinnen: 6—12 M. 

1 Lagermädchen: 8—9 M. 

Im allgemeinen stimmen mit diesen Angaben die in andern 
Fabriken üblichen Löhne, bald sind sie etwas höher für einzelne 
Arbeiterkategorien, meist allerdings etwas niedriger. Nattirlich 
spricht auch die Geschäftskonjunktur ein gewichtiges Wort 
mit: in stark beschäftigten Zeiten, wo die Aufträge massen- 
haft eingehen und Ueberstunden zu Hilfe genommen werden 
müssen, wird ungleich mehr verdient als in flauen Wochen. 
Will man Durchschnittslöhne annehmen, so wird man den 
Tagesverdienst der erwachsenen männlichen Fabrikarbeiter in 
Pirmasens auf 2 M. 50 Pf. bis 3 M. 50 Pf., der erwachsenen 
weiblichen Arbeiterinnen auf 2 M. bis 2 M. 50 Pf., der jugend- 
lichen Arbeiter auf 80 Pf. bis 1 M. 50 Pf. rechnen können. 

Die Löhne in Pirmasens , wo das System mechanischer 
Fabrikation der Schuhmacherei in Bayern am vollkommensten 
ausgebildet ist, sind allerdings durchweg und wesentlich höher 
als die in den meisten Grossbetrieben des rechtsrheinischen 
Bayerns gezahlten. So erfahre ich aus einer Fabrik in Mittel- 
franken, die an 300 Arbeiter beschäftigt und meist Filz- und 
Zeugschuhe fertigt, dass hier Stepperinnen 9 M. bis UM. 
Wochenlohn haben, Zwicker 15 M. bis 23 M., Soblenmacher 
20 M. bis 22 M., Ausputzer 18 M. bis 27 M. Der Lohntarif 
eines oberfränkischen Etablissements ist folgender: Gewöhn- 
liche Arbeitsschuhe 70 Pf. bis 80 Pf., gewöhnliche Arbeits- 
stiefel 80 Pf. bis 95 Pf., Herrenschuhe 95 Pf., Herrenstiefe- 
letten 1 M. 10 Pf. bis 1 M. 25 Pf., Sonntagsstiefel mit Be- 
stechen 1 M. 30 bis 1 M. 60 Pf., hohe Kanonenstiefel 1 M. 
20 Pf. bis 1 M. 40 Pf., Schuhe und Stiefeletten, Rand gelb 



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181) - 



genäht, 80 Pf. bis 1 M., für Absatzbauen und Ausputzen pro 
Paar 45 Pf., durchgenähte Turnerschuhe 15 Pf. Erwachsene 
Arbeiter kamen bei diesem Tarif selten über 2 M. bis 2 M. 
50 Pf. pro Tag; eine Forderung um Lohnerhöhung wurde 
abgeschlagen. 

Die Auszahlung der Löhne findet regelmässig am Samstag 
statt; der Versuch einiger Fabrikanten in Pirmasens, erst am 
Montag auszuzahlen, ist ganz vereinzelt geblieben und auch 
sehr bald wieder fallen gelassen worden. 

Leider verführt das wirtschaftliche Uebergewicht viele 
Besitzer von Grossbetrieben zu mancherlei Uebergriffen bei 
Bemessung der Löhne. Unter den Arbeitern in Pirmasens 
wird namentlich über folgende Punkte geklagt: a) die Stück- 
lohntarife sind derart kompliziert, dass ein Arbeiter selten genau 
auf Heller und Pfennig den Ertrag seiner Arbeit selber be- 
rechnen kann; er ist hier auf die vom Fabrikanten aufgestellte 
Kalkulation angewiesen, b) Häufig werden Abzüge gemacht 
selbst bei tadelloser Ware, weil der Arbeiter im Akkord nach 
Meinung des Fabrikanten „zu viel" verdiene; solche Fälle sind 
mir selbst von Arbeitgebern ganz naiv erzählt worden, z. B. 
dass ein besonders fleissiger und geschickter Zwicker sich am 
Wochenschluss eine Herabsetzung von 10 Pf. pro Dutzend 
Paar gefallen lassen musste, weil sein Wochenverdienst sich 
auf 23 M. nach dem Tarif gehoben hatte, c) Ebenso ist es 
in den letzten Jahren, namentlich während des schlechteren 
Geschäftsganges und der wilden Konkurrenz vorgekommen, dass 
von den Fabrikbesitzern ohne weiteres einseitig Lohnherab- 
setzungen von 10, 15, ja 20 °;o dekretiert worden sind; „wer 
sich nicht fügt, kann ja gehen," lautete die Antwort auf die 
Vorstellung der Arbeiter, d) Die Stepperinnen müssen sich 
in manchen Fabriken einen Abzug von 10 Pf. bis 15 Pf. pro 
Woche gefallen lassen für die Benützung der Dampfkraft, mit 
der die Nähmaschinen getrieben werden — ein Unfug, der 
sich aus der Zeit erhalten hat, wo die mechanische Kraft die 
menschliche ablöste, allerdings zur grossen Erleichterung der 
Arbeiterinnen, aber doch zum ebenso grossen Nutzen der 
Arbeitgeber, e) Auch in den Grossbetrieben muss der Arbeiter 
die gewöhnlichen „Furnituren" selber zahlen; häufig besteht 



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100 



der Zwang, dass diese Hilfsmaterialien, namentlich Seide, 
Zwirn, Garn vom Fabrikanten entnommen und dann noch 
höher (5 Pf. bis 6 Pf.) bezahlt werden müssen als im Laden 
(Verstoss gegen § 115 der Gewerbeordnung), f) Eine ganz 
eigenartige Einrichtung ist das „Sinngeld" l ): Dem Arbeiter 
wird vom Lohn wöchentlich Geld einbehalten und dies ihm 
am Ende des Jahres ausgezahlt; geht er früher, so bekommt 
er dies „Gutgeld* nicht. Vor dem Gewerbegericht in Pirma- 
sens wurde z. B. im März 1803 folgender Fall verhandelt: 
Ein Arbeiter gab an, er sei mit 17 M. Wochenlohn eingestellt, 
15 M. bekomme er auf die Hand, 2 M. würden ihm am Neu- 
jahr ausgezahlt. Der Arbeitgeber erklärte, der Arbeiter sei 
nur zu 15 M. Wochenlohn eingestellt und ihm gesagt worden, 
wenn er ein Jahr lang da sei, so bekäme er ein Geschenk von 
2 M. pro Woche. Der Arbeiter trat aber schon nach 13 Wochen 
aus, die 2 M. pro Woche (also 20 M.) wurden ihm verweigert. 
Er klagte deshalb beim Gewerbegericht. In der Begründung 
seiner Klage wies er zum Beweise, dass 17 und nicht 15 M. 
Wochenlohn ausgemacht gewesen sei, auf den Umstand hin, 
dass ihm, wenn er einen halben oder viertel Tag in der Fabrik 
gefehlt habe, entsprechende Abzüge nach dem Wochenlohn 
von 17 M. gemacht worden seien — mithin sei diese Summe 
Lohn, nicht aber 15 M. und 2 M. Geschenk. Das Gewerbe- 
gericht aber erkannte in dem „ Sinngeld u eine Gratifikation 
für langes Ausharren im Arbeitsverhältnis und wies die Klage 
ab. Diese Entscheidung hat grosse Erregung unter den Arbeitern 
hervorgerufen und begreiflicherweise die Abneigung verstärkt, 
sich auf derartige Abmachungen mit „ Gutgeld * einzulassen, 
die die Bewegungsfreiheit des Arbeiters einschränken, g) Eine 
weitere Klage und Quelle häufiger Zwistigkeiten ist die That- 
sache, dass bei Einführung neuer Maschinen und bei Ausbil- 
dung weiterer Arbeitsteilung die Gesamthöhe der Löhne zu 
Ounsten der Fabrikanten gedrückt werde. 

Sehr schwer ist es festzustellen, welchen Gang die Löhne 
im Laufe der zwei Dezennien, auf die die mechanische Schuh- 



*) Nicht mit den in § 119 a der Reichsgewerbeordnung gestatteten 
Lohneinbehaltungen zu verwechseln. 



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— 191 — 



fabrikation in Bayern zurückblicken kann, eingehalten haben. 
Die Berichte der Fabrikinspektoren berichten fast öfter als 
vom Steigen vom Fallen der Löhne, sicher ist, dass nach dem 
Krache von 1891 in Pirmasens die Akkordsätze um ."> — 10 °/>, 
die Wochenlöhne bei den höheren Arbeitern um etwa ebenso 
viel herabgesetzt worden sind. Neuerdings sollen sie bei gutem 
Geschäftsgang wieder etwas gestiegen sein; jedenfalls finden 
die Fabrikanten die Löhne „zu hoch" , die Leute verdienten 
„zu viel", es würden dadurch namentlich die jungen Burschen 
und Mädchen auf Abwege geführt. Von Seiten der Bekleidungs- 
industrie-Berufsgenossenschaft erhalte ich folgende Uebersicht 
über die Zahl der Arbeiter und die Löhne im Grossbetriebe 
der bayrischen Schuhmacherei: 



Jahr 


Zahl der Arbeiter 


Summe der anrechnungs- 
fähigen Löhne in M. 


Jahresverdienst 
pro Kopf in M. 


1886 


3752 


2 011030 


536 


1887 


4067 


2 178 460 


535,7 


1888 


5042 


2 557 730 


507,3 


1889 


5465 


3 238 940 


590,8 


1890 


5978 


3 684 480 


616,3 


1891 


6350 


3 710 860 


584,4 


1892 


6054 


3 494 670 


577,2 



Indessen sind hierbei nicht die wirklich gezahlten, sondern 
nur die für die Umlageberechnung zu Grunde liegenden, die 
„anrechnungsfähigen" Lohnsummen angegeben, d. h. es sind 
gemäss § 10 Abs. 2 des Unfallversicherungsgesetzes die Löhne 
und Gehälter, welche durchschnittlich den Tagessatz von 4 M. 
übersteigen, mit dem 4 M. übersteigenden Betrag nur zu einem 
Drittel in Ansatz gebracht worden. So stellt sich der Gesamt- 
betrag der wirklich gezahlten Lohnsummen in der Schuh- 
macherei-Grossindustrie Bayerns um etwas, wenn auch nicht um 
Erhebliches höher, denn die Zahl der mit mehr als 4 M. täg- 
lich gelohnten Arbeiter ist in den Schuhfabriken keine sehr 
grosse. Direkte Schlüsse auf den Lohn eines Arbeiters werden 
aus den Angaben der Uebersicht nicht gezogen werden dürfen, 
weil die Zahl der Arbeiter sich nicht ausschliesslich auf ein 
volles Jahr hindurch beschäftigte Personen bezieht, sondern 
sich auch auf solche Arbeiter erstreckt, die nur einen Teil 
des Jahres in dem betreffenden Betriebe thätig waren, ohne 



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192 



aber die Dauer einer solchen Beschäftigung im Laufe des 
Jahres erkennen zu lassen. Aus Spalte 4 der kleinen Tabelle 
kann man also höchstens halbwegs brauchbare Schlüsse auf 
die Bewegung der Löhne von 1886* — 1892 ziehen. 

So wenig befriedigend nun diese Schlussfolgerungen im 
einzelnen auch sein mögen, so kann man aus einer Ver- 
gleichung der im vorstehenden Abschnitte mitgeteilten Lohn- 
sätze doch mit Sicherheit das eine Ergebnis gewinnen, dass 
der Arbeiter im Grossbetrieb regelmässig in seiner über- 
wiegenden Mehrzahl höhere Löhne bezieht als der Handwerks- 
gehilfe und der Heimarbeiter. Auch für unser Gewerbe wird 
der Satz bestätigt: „Billige Arbeit ist nicht gleichbedeutend mit 
billiger Produktion, im Gegenteil: es gehen niedrige Produk- 
tionskosten mit hohen Löhnen Hand in Hand" l ). 

b) Die Arbeitszeit. 

Niedrige Löhne und lange Arbeitstage finden sich in der 
Regel vereinigt. In der handwerksmässigen Schuhmacherei 
wird hiervon keine Ausnahme gemacht. Im Grossbetrieb hat 
nach dem Gesetze die Fabrikordnung den Arbeitstag genau zu 
begrenzen. Er beginnt z. B. in Naila um (5 Uhr früh und 
dauert bis 7 Uhr abends mit Unterbrechungen von insgesamt 
1 l ii Stunden — die Dauer der Arbeit beträgt also effektiv 
11 1 >t Stunden. Die in Pirmasens übliche Fabrikordnung schreibt 
in § 2 vor: „die Arbeitszeit beginnt um <> 1 /-' Uhr vormittags 
und endigt um 12 Uhr mittags, ferner um 1 Uhr nachmittags 
und endigt um 7 Uhr abends. Die Pausen finden statt von 
8 Uhr bis 8 Uhr 15 Minuten vormittags und von 4 Uhr bis 
4 Uhr 15 Minuten nachmittags. Für jugendliche Arbeiter 
(von 14 — IG Jahren) beginnt die Arbeitszeit erst um 7 Uhr 
morgens mit halbstündigen Pausen." In § 4 heisst es: „Mit 
Arbeitern, welche über <) Kilometer entfernt wohnen, kann 
eine specielle Uebereinkunft bezüglich des Anfangs und der 
Beendigung der Arbeitszeit getroffen werden." Sonach ist in 
den meisten und grössten Fabriken von Pirmasens 11 Stunden 

') J. Schönhof, Economy of high wagos. Newyork 1802, S. 81. 



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193 



Arbeit für Erwachsene, 10 Stunden (nach § 135 Abs. 3 der 
Gewerbeordnung) für Jugendliche eingeführt. In Schweinfurt 
hat die Schuhfabrik E. Heimann seit 1. Juli 1890 bereits 
den lOstündigen Arbeitstag; in § 21 ihrer Fabrikordnung wird 
bestimmt: „Die Arbeitszeit ist auf 10 Stunden festgesetzt und 
zwar von morgens 0 Uhr bis abends b* Uhr. Zwischenpausen 
sind von */* 9 Uhr bis 8 /* 9 Uhr vormittags und a 4 4 Uhr bis 
4 Uhr nachmittags und eine Mittagspause von 12 Uhr mittags 
bis 5 Minuten vor l j* 2 Uhr nachmittags. Samstag wird nur 
von morgens (3 Uhr bis * 2 6 Uhr abends gearbeitet. In dringen- 
den Fällen kann der Prinzipal eine vorübergehende Verlänge- 
rung der Arbeitszeit, sowie bei schlechterem Geschäftsgange 
eine vorübergehende Kürzung eintreten lassen.* Die Fabrik- 
inspektoren konstatierten 1885 für Oberbayern eine 10- bis 
11 stündige Arbeitszeit, für die Pfalz durchschnittlich ll 3 /io Stun- 
den. Der Arbeitstag ist also in letzterem Regierungsbezirk 
für die Schuhfabriken seitdem etwas abgekürzt worden; hier 
mag die Novelle zur Reichs-Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891, 
welche die Maximalzeit der in Fabriken beschäftigten Frauen 
auf 11 Stunden festsetzt, gleichmäßig auch auf den llstündigen 
Arbeitstag für Männer hingewirkt haben. Der gesetzliche 
Frauenarbeitstag hat sich überall in den Schuhmacherei-Gross- 
betrieben leicht eingelebt, schwieriger die Bestimmung, dass 
an den Vorabenden von Sonn- und Feiertagen die Frauen eine 
Stunde vor dem sonst üblichen Arbeitsschluss zu entlassen 
sind; die Erlaubnis, welche § 137 der Gewerbeordnung den 
ein Hauswesen besorgenden Arbeiterinnen gewährt, eine halbe 
Stunde vor der Mittagspause entlassen zu werden, wird so gut 
wie nie nachgesucht, da man das Widerstreben der Fabrikanten 
kennt. Nachtarbeit ist in Schuhfabriken, abgesehen von Ueber- 
stunden, ebenso wenig üblich wie Sonntagsarbeit; Kürzungen 
der Arbeitszeit bei Geschäftsstille — in Pirmasens 1891 bis 
zu achtstündigem Arbeitstag — kommen dagegen vor wie auch 
Ueberstunden bei dringenden Aufträgen. Ein Antrag des Vereins 
deutscher Schuh- und Schäftefabrikanten, es möge während 
des Zeitraums zweier Wochen vor Ostern bis Pfingsten jeden 
Jahres für die Schuhwaren- und Schäfteindustrie (Sommer- 
saison) und während der Monate September und Oktober für 

Franckc, Die Schuhmacherei in Bayern. 13 



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194 — 



die Filzschuhindustrie (Winterarbeit) Sonntagsarbeit und für 
erwachsene Arbeiterinnen 13 Stunden täglicher Beschäftigung 
gestattet sein, wurde dagegen unterm 30. März 1892 vom 
Reichskanzler gemäss einem Bundesratsbeschlusse abschlägig 
beschieden. 

Ist auch der 10 — 11 ^sstUndige Arbeitstag der bayrischen 
Schuh waren- Grossindustrie noch wesentlich länger als die für 
unser Gewerbe in England, Amerika, 'Australien übliche 8- bis 
9stündige Arbeitszeit, so hat doch auch in diesem Punkte der 
Fabrikarbeiter bei uns einen grossen Vorzug vor den Arbeitern 
im Kleinbetrieb und in der Hausindustrie. Hierüber ertönen die 
Klagen aus den Kreisen der Angehörigen dieser Betriebsformen 
beinahe noch lauter als die Beschwerden über die „ Hunger- 
löhne K , und zwar ist es nicht die Länge des Arbeitstages allein, 
die bedrückend empfunden wird, sondern seine Regellosigkeit, die 
Willkür der Festsetzung, seine Dehnbarkeit. Im Sommer setzen 
Auf- und Untergang der Sonne der Arbeitszeit Grenzen, im 
Winter aber ermöglicht die Lampe ein Fortarbeiten bis tief in die 
Nacht. J ) Von einem regelrechten Arbeitstage kann man im Schuh- 
macher-Handwerk und in der Hausindustrie gar nicht sprechen; 
jeder Betriebsinhaber setzt die Arbeitszeit nach seinem Gefallen 
und nach seinen Bedürfnissen fest. Je grösser der Gehilfenbetrieb, 
desto eher setzt sich auf beiden Seiten das Verlangen nach fester 
Regelung durch; am schlimmsten ist es in den Zwergbetrieben. 
Auf der Stör wird täglich 13 — 11 Stunden gearbeitet, in 
München und Nürnberg 11 — 13, auch 14 Stunden, in kleinen 
Orten kommen Arbeitstage bis zu 16 und 17 Stunden vor, 
nicht tagaus und tagein das ganze Jahr hindurch, son- 
dern wenn's mit der Arbeit pressiert. Aber auch darüber 
wird geklagt, dass der Meister oft nicht versteht, die Arbeit 
ordentlich einzuteilen: in den ersten Tagen der Woche sei 
wenig zu thun, am Ende werde man übermässig angestrengt, 
„vielfach ist die Arbeitszeit so elastisch wie ein Strumpf, schon 
deshalb, weil der Gehilfe nicht selten bummeln muss und 



') Die „Lichtarbeit ist fürchterlich", sie ist ein Mittel, „um die 
Arbeitszeit bis ins Unendliche auszudehnen", klagt ein im Dienst der Ge- 
weikvereinsbewegung stehendes Schuhmacherblatt. 



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1U5 - 



dann zeitweise wieder tüchtig am Zeuge sein soll." In der 
Reichsenqu£te über die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen 
und Fabrikarbeiter, die auf Beschluss des Bundesrates vom 
19. Februar 1875 angestellt worden ist, heisst es auf S. 54 
und 55, dass im Bekleidungsgewerbe die Arbeitszeit für Lehr- 
linge ausser zeitweiliger Sonntag- und Nachtarbeit 14 — 16 Stunden 
täglich betrage, und auf diese Ueberanstrengung der Lehrlinge 
wird die aussergewöhnlich grosse und frühe Sterblichkeit unter 
Schuhmachern und Schneidern zurückgeführt. In der Haus- 
industrie sind die übermässig langen Arbeitszeiten so allgemein 
die Regel, dass ich mich besonderer Nachweise für diesen auch 
in der Schuhmacherei üblichen Uebelstand für enthoben erachte. 
In Pirmasens hörte ich von verschiedenen Seiten, dass die 
Heimarbeiter vom Tagesgrauen bis nachts 11, 12 Uhr über 
der Arbeit sitzen; sobald die Kinder aus der Schule kommen, 
müssen sie mit anfassen; eigentliche Pausen für Mahlzeiten 
und Erholung existieren kaum — es ist ein ruheloses Mühen 
und Plagen, wohlverstanden: nur in Zeiten flotten Geschäfts- 
gangs und dringender Aufträge. Dann aber scheut der Heim- 
arbeiter auch keine Anstrengung, um den Arbeitgeber zufrieden 
zu stellen — ist er doch froh, wenn er überhaupt Arbeit 
bekommt! 

Auch der Sonntag bringt keine gründliche Erholung und 
Ausspannung. Die Sonntagsarbeit ist im Kleingewerbe der 
Schuhmacherei in Bavern ebenso verbreitet wie anderswo in 
Deutschland. Dies hat schon die eben citierte Enquete von 
1875 konstatiert l ) und es ist seitdem in dieser Hinsicht nicht 
besser geworden. Die Erhebungen über die Beschäftigung 
gewerblicher Arbeiter an Sonn- und Feiertagen 2 ) liefern ein 
ebenso reichhaltiges wie bedauerliches Material. Sonntags- 
arbeit war in der grossen Mehrzahl der befragten Betriebe 
üblich , in der mechanischen Grossindustrie allerdings schon 



') „An den Sonntagen wird in einzelnen Gewerben, wie namentlich 
bei den Bäckern und Fleischern, den Schuhmachern und Schneidern, den 
Tischlern und Anstreichern, bis zum Mittag hin fast überall ge- 
arbeitet." A. a. 0. S. 4. 

2 ) Zusammengestellt im Reichsamt des Innern, Berlin 1887. Siehe 
Band II, S. 43C— 447. 



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— 190 — 

damals nicht in so weitem Umfange wie im Handwerk und 
bei diesem hauptsächlich in den Städten. Die Hausindustriellen 
nehmen ebenfalls zumeist den Sonntag zu Hilfe. Die Dauer 
der Sonntagsarbeit erstreckt sich gewöhnlich auf den Vor- 
mittag, auch während der Kirchzeit, mitunter währt sie sogar 
6 — 9 Stunden. Die Bezahlung ist ganz verschieden, bald wie 
am Wochentag, bald l^fach; meist ist Stücklohn üblich. Ver- 
anlassung der Sonntagsarbeit ist gewöhnlich Arbeitsanhäufung, 
vornehmlich dringende Reparaturen an dem Schuhwerk der 
weniger bemittelten Bevölkerungsklassen und demjenigen der 
Schulkinder, die meist nur ein Paar Schuh besitzen 1 ). Diese 
müssen über Sonntag ausgebessert werden, um am Montag 
wieder benutzt werden zu können. Namentlich sind die kleinen 
Meister und die schlecht gelohnten Arbeiter zu dieser Flick- 
arbeit am Sonntag genötigt. Unter den andern Gründen werden 
genannt die dringende Arbeit vor den hohen Festen, der bessere 
Verkauf an Sonntagen, wo die Landleute in die Stadt kommen 
und die Arbeiter den Samstag abends ausgezahlten Lohn zu 
Einkäufen verwenden, die späte Bestellung von Kunden, die 
verwöhnt, lässig, rücksichtslos seien und häufig erst in der 
zweiten Hälfte der Woche ihre Aufträge geben, dabei aber für 
den Sonntag Nachmittag bei Androhung des Verlustes fernerer 
Kundschaft ihre neue Beschuhung fordern u. a. m. Die An- 
sichten über ein Verbot der Sonntagsarbeit waren bei diesen 
Erhebungen geteilt, indessen sprach sich doch eine stattliche 
Mehrheit, auch unter den Arbeitgebern, für die Möglichkeit 
und Erspriesslichkeit eines völligen Verbotes oder doch einer 
Einschränkung der Sonntagsarbeit auf gesetzlichem Wege aus. 

Dies ist inzwischen für den Grossbetrieb in der Schuh- 
macherei geschehen. § 105 b der Gewerbeordnung verbietet 
die Sonntagsarbeit in den Fabriken und, wie das vorhin er- 
wähnte Beispiel zeigt, hat der Bundesrat keine Neigung gezeigt, 
zu Gunsten der Schuhfabrikanten während der hohen Saison 
des Geschäftes eine generelle Ausnahme von diesem Verbot 



') Aus Anlass dieser Enquete ist die Behauptung aufgestellt worden, 
90 °/o der Bevölkerung im Reiche besitze überhaupt nur ein einziges Paar 
Stiefel. 



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— 197 — 



auf Grund des § 105d zu machen. So hat der Fabrikarbeiter 
neben der Wohlthat einer kürzeren und fest begrenzten Arbeits- 
zeit in der Woche auch den Segen der Sonntagsruhe durch 
das Gesetz verbürgt, — für die Hilfspersonen des Handwerks aber 
und die Hausindustriellen dauert die Sonntagsarbeit fort. Der 
Meister hat sich so an die Arbeit gewöhnt, dass er zwischen 
Sonntag und Werktag kaum einen Unterschied macht, und da 
er arbeitet, verlangt er vorn Gesellen und vom Lehrling das 
Gleiche. Ein Flickschuster aus Baden erklärte in der Enquete 
über die Arbeit an Sonn- und Feiertagen: „Ich arbeite so 
lange für mich die Möglichkeit zum Verdienste vorliegt. Ich 
habe eine zahlreiche Familie, diese zu ernähren ist meine Pflicht. 
Wenn meine Kinder einmal grösser sind, so hoffe ich auf bessere 
Zeiten. Nur dann wird für mich die Sonntagsarbeit aufhören." 
Das ist in Bayern nicht anders. Wer an Sonntagen durch 
die Strassen von Pirmasens wandert, hört überall das Schnurren 
der Nähmaschinen, das Klopfen des Schusterhammers, Raspeln 
und Feilen; er sieht die Leute, Männer und Frauen, im Arbeits- 
gewande über ihre Hantierung gebückt. Meister und Gehilfen 
im Kleinbetrieb ebenso wie die Heimarbeiter der Schuhmacherei 
sind zur Zeit noch weit davon entfernt, sich des Besitzes jenes 
„Grundrechtes" zu erfreuen, als welches Herr v. Kleist- Retzow, 
ähnlich wie früher Macaulay in seiner wundervollen Rede zum 
Zehnstundentag 1 ), die Sonntagsruhe bezeichnete, als er im Jahr 
1878 im Reichstag sagte: „Es gibt keine tiefergehende Freiheit 
für den Arbeiter als diejenige, dass nach der sauren sechstägigen 
Arbeitszeit und zur Kräftigung und Stärkung für die wieder 
folgende sechstägige saure Arbeitszeit in der Mitte ein Ruhe- 
tag liegt; es ist dies das wirkliche Grundrecht, welches die 
Arbeiter haben, und sie dürfen es sich nicht nehmen lassen. 
Die intensivere Arbeit ist es, auf die es ankommt 2 ), und diese 
hängt ab von der Frische, mit der der Arbeiter in die Arbeit 
eintritt. Jeder Arbeiter vermag in der Woche fleissiger und 
anhaltender zu arbeiten, wenn er Sonntags seine Ruhe 

J ) Die Rede wurde gehalten im Hause der Gemeinen am 22. Mai 
1846; Macaulays Reden, deutsch von Bülau, 1854, 11, S. 206 ff. 

2 ) Vergl. Lujo Brentano, Ueber das Verhältnis von Arbeitslohn 
und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung. 2. Auflage. Leipzig 1893. 



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— 198 - 



gehabt hat." So vereinigt sich hier eine Forderung des 
ethischen Bedürfnisses aufs engste mit einem Gebote wirt- 
schaftlicher Zweckmässigkeit! 

c) Die Arbeitsräume. 

„Die Werkstatt darf eingerichtet werden wie nach Ge- 
fallen." Diese alte, in einer Festschrift zum 600jährigen 
Jubiläum der Schuhmacher-Innung in München *) angeführte 
Zunftregel besteht auch heute noch in voller Kraft. Helle, 
geräumige, gut gelüftete Arbeitsräume gehören im Handwerk 
der Schuhmacherei zu den Ausnahmen. Wo der Meister nicht 
in seiner Werkstatt mit seiner Familie zugleich wohnt, schläft, 
kocht und isst, was im Zwergbetrieb ohne Gehilfen die Regel 
ist, da gilt jeder Raum, sei er im Keller oder unter Dach, 
im Rückbau oder im Hofe, als geeignet für eine Werkstatt, 
wenn er nur heizbar ist. Die Wohnungsnot der grossen Städte 
nötigt hier zu viel schlechteren Verhältnissen als in kleineren 
Ortschaften. Ich kenne Werkstätten in München, die der staat- 
liche Aufsichtsbeamte in keiner Fabrik dulden würde und die 
den berüchtigten sweaters-Höhlen von London-Eastend in nichts 
nachstehen, so eng, feucht, dunkel sind sie. Hier kann man 
mit einer Bretterwand vom Hausflur abgetrennte Verschlage 
von wenig mehr als 1 m Breite finden, die ihr Licht lediglich 
durch ein zugleich als Auslage fertiger Schuhe dienendes Fenster 
erhalten; der Meister, zwei Gesellen und ein Lehrling haben 
kaum Platz, die Arme zu rühren. In einem grossen Geschäft 
sind neun Mann zusammengepfercht, zwei kleine Fenster sehen 
auf den Gang, in dem der Abort ist, die Thüre öffnet sich 
nach dem Hofe, wo Stall und Düngergrube sich befinden. 
Natürlich sind in den allerseltensten Fällen besondere Venti- 
lationseinrichtungen vorhanden, um die verbrauchte Luft zu 
erneuern. Oft ist die Werkstatt auch die Schlafstelle für einen 
oder mehrere Gehilfen. Im Winter wird gar nicht gelüftet, 
um die kostbare Wärme zu halten, oder „weil's zieht". Bei 



') Das Schubmacherhandwerk in seiner Entwicklung. München 1890, 

S. 46. 



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— 199 — 



der früh am Morgen beginnenden und tief in die Nacht wäh- 
renden Arbeit brennt Licht, Gas oder Petroleum, und verdirbt 
die Luft noch mehr. Und wie im Kleinbetrieb oft, so ist's in 
der Hausindustrie in der Regel: der grösste Raum ist Werk- 
statt, Wohnzimmer, Schlafstube, Küche und Wäscheboden zu 
gleicher Zeit. Auch hier habe ich indessen auf dem Lande, 
in den Dörfern um Pirmasens herum weit bessere Zustände 
gefunden als in der Stadt; die Räume waren grösser, luftiger, 
trockener und heller. 

Auch in den Fabriken der bayerischen Schuhmacherei be- 
gegnen wir noch zum Teil unerfreulichen Zuständen; enge, 
übelriechende, dunkle Räume, wo die Bedienung der Maschinen 
mit Gefahren für die Gliedmassen der Arbeiter verknüpft und 
ihre Gesundheit durch das Atmen von stauberfüllter, verdorbener 
Luft geschwächt wird. Mit Recht wird von den Arbeitern 
über manche Etablissements in dieser Beziehung bittere Klage 
geführt. Aber man darf doch mit Freuden konstatieren, dass 
die Einsicht von Fabrikanten und die Einwirkung der staat- 
lichen Organe hier von Jahr zu Jahr mehr Wandel zum Besseren 
schaffen. Die neuen Fabrikgebäude sind durchweg praktisch 
eingerichtet, sehr geräumig, mit vielen und grossen Fenstern 
und elektrischer Beleuchtung versehen, von leistungsfähigen 
Ventilatoren und Exhaustoren gelüftet, durch Dampfheizung 
gleichmässig gewärmt. In den Berichten des pfälzischen Fabrik- 
inspektors heisst es von Pirmasens u. a.: „dass der Aufenthalt 
in den meisten Räumen der Schuhfabriken für die Gesundheit 
der Arbeiter ein zuträglicherer ist, als der in ihren eigenen 
Wohnungen, die selten gelüftet und gereinigt werden" „Die 
Bedingungen in guter atembarer Luft sind für die Arbeiter in 
den Fabrikräumen entschieden viel besser als für die, welche 
zu Hause für die Fabrikanten arbeiten. In solchen Arbeits- 
häusern wurden meist nur 2 1 h — 5 cbm Raum pro Kopf der 
darin sich aufhaltenden und den ganzen Tag für die Fabrik 
arbeitenden Leute (sehr häufig arbeitet die ganze Familie mit) ge- 
funden, wozu noch kommt, dass in demselben Räume gewöhnlich 
gewaschen, gebügelt und kaum gelüftet wird ; ausserdem dienen 



! ) Berichte der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrg. 1870, S. 121. 



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- 200 — 



sehr oft noch diese Räume zum Schlafen. Der grösste Teil 
dieser Uebelstände fallt in den meisten der von Fabrikanten 
den Arbeitern dargebotenen Räume fort. Messungen haben 
ergeben, dass wohl nirgends weniger als 5 cbm Raum pro 
Kopf vorhanden sein dürften. In einzelnen Arbeitssälen be- 
finden sich verhältnismässig wenig Leute beschäftigt, so dass 
der Raum pro Kopf auf 10, 20, 30 und noch mehr cbm steigt. 
Für die weiblichen Arbeiterinnen, die mit Näharbeit beschäftigt 
meist in grösserer Zahl zusammen sitzen, ist gewöhnlich der 
geringste Luftraum pro Kopf vorhanden" 1 ). Später wird ein- 
mal (i. J. 1886) über Stauberzeugung in einigen Etablissements 
geklagt; die Räumlichkeiten seien zwar im allgemeinen be- 
friedigend, einige wenige Betriebe bedürften aber recht sehr 
der Verbesserung. Aus dem Jahre 1800 2 ) heisst es: „die neu 
erbauten Fabriken, wie mehrere grosse Schuhfabriken in Pirma- 
sens .... sind in anerkennenswertester Weise hergestellt und 
eingerichtet." Auch anderwärts, so in Schweinfurt, Nürnberg, 
München, ist dies der Fall 3 ). Man kann füglich sagen : je 
grösser und leistungsfähiger der mechanische Grossbetrieb, desto 
besser die Arbeitsräume — ein dritter Vorzug der Arbeits- 
bedingungen der Fabrikarbeiter vor denen der Kleingewerbe- 
treibenden in der Schuhmacherei. 



d) Die Arbeitsordnung. 

§ 134 a der Reichsgewerbeordnung schreibt vor, dass für 
jede Fabrik, in welcher in der Regel mindestens 20 Arbeiter 
beschäftigt werden, eine Arbeitsordnung zu erlassen und an 
sichtbarer Steile auszuhängen ist. Es folgen dann Bestim- 
mungen über den Inhalt dieser Arbeitsordnung. Mir liegen 
verschiedene solcher Reglements für Schuhfabriken vor, eine, 
die in den meisten Fabriken, über 00, in Pirmasens eingeführt 
ist, eine zweite für einen Grossbetrieb in Schweinfurt, ferner 
solche für eine bedeutende Nürnberger Fabrik, für Naila u. s. w. ; 

') Berichte der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrg. 1881, S. 91. 
2 ) Berichte der bayerischen Fabrikinspektoren, Jahrg. 1890, S. 108. 
8 ) Vergl. auch die Beschreibung einer Schuhfabrik in Kapitel IH 
dieser Schrift. 



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- 201 



in Einzelheiten, auf die näher einzugehen keinen Zweck hat, 
sind sie je nach dem Verhältnis zwischen Arbeitgebern und 
Arbeitern und nach den Anforderungen der Fabrikationsweise 
verschieden, in der Hauptsache aber wird doch den Absichten 
des Gesetzes, den in einer Fabrik Beschäftigten eine feste Ord- 
nung der Arbeit zu gewährleisten, genügt. Zwar habe ich in 
Pirmasens des öfteren Klagen von Seiten der Arbeiter auch in 
diesem Punkte gehört, wie auch der Bericht des Fabrikinspek- 
tors für die Pfalz 1890 (S. 102) die Unzufriedenheit mit der 
Fabrikordnung konstatiert. So bin ich wiederholt der Behaup- 
tung begegnet, dass der in § 134 d vorgesehenen Bestimmung, 
es sei vor Erlass der Arbeitsordnung den grossjährigen Ar- 
beitern oder einem ständigen Arbeiterausschuss Gelegenheit zu 
geben, sich über den Inhalt der Ordnung zu äussern, zwar der 
Form, aber nicht dem Wesen nach genügt worden sei, indem 
auch hier das wirtschaftliche Uebergewicht der Fabrikanten 
die Arbeiter genötigt habe, aus Besorgnis vor Chikanen oder 
gar der Entlassung einzelnen Vorschriften stillschweigend zu- 
zustimmen, die sie bei völliger Freiheit ihrer Handlungen be- 
kämpft haben würden. 

Namentlich wird es empfunden, dass über die Verwendung 
der vom Fabrikherrn oder dessen Bevollmächtigten einseitig 
festgesetzten Strafgelder genaue Angaben nicht mitgeteilt 
werden; es heisst in § 18 der Pirmasenser Arbeitsordnung 
nur ganz im allgemeinen: „Die Verwendung der Strafgelder 
erfolgt zum Besten der Arbeiter innerhalb der Fabrik für Be- 
quemlichkeitsvorrichtungen , Unterstützungen in Krankheits- 
fällen u. s. w." Diese Bestimmung ist in der That sehr vage 
und lässt einem Misstrauen Spielraum, das die Arbeitgeber leicht 
durch jährliche Rechnungslegung über die Verwendung der 
Strafgelder beseitigen könnten. 

Die Schweinfurter Arbeitsordnung schreibt vor, dass die 
Strafgelder nur zu Unterstützungen der Arbeiter verwendet 
werden können, und zwar bis auf weiteres solcher Arbeiter, 
welche durch Krankheit oder sonstige häusliche Unglücksfälle 
in Not geraten sind; hier aber besteht ein Arbeiterausschuss, 
der „ein dem Prinzipal beigegebenes, mitberatendes und mit- 
wirkendes Organ in allen das Wohl der Arbeiter betreffenden 



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- 202 — 



Fragen sein und ein Bindeglied bilden soll zwischen Arbeit- 
gebern und Arbeitern zum Zweck eines erspriesslichen Zu- 
sammenwirkens" und das geeignete Organ zur Vermeidung 
etwaiger Unzuträglichkeiten ist. Leider perhorreszieren die 
meisten Fabrikbesitzer der Schuhwarenbranche die Einrichtung 
von Arbeiterausschüssen in dem meines Erachtens völlig irrigen 
Glauben, als ob durch diese Institution ihre Autorität erschüttert 
werden würde, während doch die Erfahrung das Gegenteil be- 
weist. 

Ungeachtet der Ausstellungen im einzelnen wissen die 
Fabrikarbeiter aber doch sehr genau, welchen Wert solche 
Arbeitsordnungen für sie haben. Das Mass ihrer Rechte und 
ihrer Pflichten ist damit bestimmt, in vielen Fällen ist ein 
Schutz gegen Willkürakte gewährt und die Handhabe gegeben, 
richterlichen Spruch dann anzurufen, wenn der Arbeiter sich 
verkürzt fühlt. Den Mangel einer festen Arbeitsordnung em- 
pfindet der Arbeiter des Kleinbetriebs sehr schwer. Hier ist 
er zumeist ganz in den Händen des Arbeitgebers, der nach 
seinem Willen schaltet, ohne auf den Gehilfen viel zu achten. 
Darum geht auch die Bewegung unter den im Handwerk be- 
schäftigten Arbeitern der Schuhmacherei vor allem auf das 
Ziel, eine Werkstattordnung zu erreichen. Immer und immer 
wieder wird in den letzten zehn Jahren diese Forderung als 
die notwendigste betont, da von ihrer Erfüllung die feste Be- 
grenzung der Arbeitszeit in erster und in zweiter Linie die 
Sicherung der Lohnzahlung abhänge. Die Meister dagegen 
sträuben sich gegen die Annahme und Durchführung einer 
Werkstattordnung, weil sie damit einen Teil ihrer oft in Will- 
kürlichkeiten ausartenden Privilegien zu verlieren fürchten. Und 
wo sich beide Teile auf eine solche Ordnung geeinigt haben, 
wird sie nur zu oft unter dem Druck der Verhältnisse wieder 
hinfällig. „Wenn Sie gewendete Arbeit machen, hier ist Pappe", 
dies Wort eines Meisters, der dabei auf die in der Werkstatt 
ausgehängte Arbeitsordnung wies, ist unter den Gehilfen zu 
einem geflügelten geworden. Und doch sind wahrlich die 
Wünsche der Arbeiter, wie sie in einer derartigen Ord- 
nung für die Arbeit in der Werkstatt zum Ausdruck kommen, 
nicht unmässig. Zum Beweise teile ich hier einen von der 



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Zentralleitung der gewerkschaftlich organisierten Schuhmacher 
im Jahre 1889 empfohlenen Entwurf in vollständigem Wort- 
laut wie folgt mit : 

Werkstattordnung der Schuhmacher. 

§ 1. Nachstehende Werkstattordnung tritt vom ... an für alle 
Schuhmacher in ... in Kraft und ist in jeder Werkstatt sichtbar anzu- 
schlagen. Dieselbe ist in einem Sonderexemplar von dem Meister, von 
den bei ihm s. Z. in Arbeit stehenden Gehilfen, sowie von denen, die 
später bei ihm in Arbeit treten werden, zu unterzeichnen. 

§ 2. Die Arbeitszeit beginnt an allen Arbeitstagen vom 1. April 
bis 30. September früh 6 Uhr und endigt des Abends t> Uhr, hingegen 
vom 1. Oktober bis 31. März von früh 7 Uhr bis abends 7 Uhr. Von 
12 — 1 Uhr findet eine Mittagspause statt, in welcher jeder Gehilfe die 
Werkstatt zu verlassen hat; in dieser Zeit ist für die Lüftung der Ar- 
beitsräurae Sorge zu tragen. Die Frühstück- und Vesperzeit, die nicht 
über eine halbe Stunde dauern darf, ist in die Arbeitszeit eingerechnet. 

§ 3. Zur Zeit des stillen Geschäftsganges bleibt es dem Arbeit- 
geber überlassen, die festgesetzte Arbeitszeit stundenweise zu verkürzen. 

§ 4. Ueberstundenarbeit darf nur in äusserst dringenden Fällen 
und an einem Tage nicht mehr als eine Stunde für jeden Arbeiter be- 
tragen. Auch darf dieselbe nicht länger als zwei Wochen in jedem 
Quartal dauern. Jede Ueberstundenarbeit ist von dem Arbeitgeber der 
Werkstattkommission anzuzeigen. Bei Unterlassung der Anzeige hat der 
Arbeitgeber 3 M. an die Werkhtattkoinraission zu entrichten. — Sonntags- 
arbeit findet nicht statt. 

§ 5. Für jede Ueberstunde hat der Gehilfe ausser dem Stück- oder 
Wochenlohn eine Vergütung von 25 Pf. zu beanspruchen. 

§ 6. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, jeden Arbeiter während der 
festgesetzten Arbeitszeit vollständig zu beschäftigen. Ist ein Arbeiter 
ohne Arbeit, so hat der Arbeitgeber für die erste Stunde 10 Pf. und für 
jede nachfolgende 25 Pf. zu vergüten. 

§ 7. Der Arbeitgeber hat für gesunde Arbeitsräume Sorge zu 
tragen. Die tägliche Reinigung derselben ist ausser der Arbeitszeit vor- 
zunehmen. 

§ 8. Der Arbeitslohn für gelieferte Arbeit ist stets am letzten 
Werktage einer jeden Woche zu bezahlen, und zwar am Schluss der fest- 
gesetzten Arbeitszeit. 

§ 9. Jeder Arbeitgeber ist verpflichtet, über den bei ihm üblichen 
Lohn einen Lohntarif auszuhängen und den Gehilfen bei Eintritt in das 
Arbeitsverhältnis darauf aufmerksam zu machen. 

§ 10. Jeder Gehilfe ist verpflichtet, die festgesetzte Arbeitszeit 
pünktlich einzuhalten. Wer ohne vorher angebrachte Entschuldigung 
beim Arbeitgeber zu spät kommt, jedoch noch in der ersten Stunde der 
festgesetzten Arbeitszeit eintrifft, verwirkt eine Ordnungsstrafe von 10 Pf.,. 



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bei noch spaterem Eintreffen eine solche von 20 Pf. und bei gänzlichem 
Fortbleiben von der Arbeit eine solche von 50 Pf. für jeden Arbeitstag. 

§ 11. Wer ohne Genehmigung die Werkstätte während der fest- 
gesetzten Arbeitszeit verlädst, verwirkt für jede Stunde des zu frühen 
Verlassens eine Ordnungsstrafe von 10 Pf. 

§ 12. Verwirkte Strafgelder hat der Arbeitgeber vom Arbeitslohn 
zu kürzen und einem bei ihm beschäftigten Gehilfen zur Ablieferung 
an den Vorsitzenden der Werkstatt kommission zu übergeben. Letzterer 
hat die an ihn abgelieferte Summe durch Marken zu quittieren. 

§ 13. Jeder Arbeiter ist verpflichtet, den Anordnungen des Arbeit- 
gebers oder dessen Beauftragten innerhalb der Werkstatt nachzukommen. 

§ 14. Jeder Gehilfe ist verpflichtet, mit dem ihm übergebenen oder 
in der Werkstatt befindlichen Material sorgsam umzugehen, und hat sich 
aller störenden und zeitraubenden Unterhaltungen und Streitigkeiten zu 
enthalten. 

§ 15. Zur Kxtrabesorgung von Bedürfnissen der Gehilfen darf der 
Lehrling oder Laufbursche täglich nur einmal zu einer festgesetzten Zeit 
verwendet werden. 

§ VI. Das Arbeitsverhältnis kann beiderseits ohne vorherige Kün- 
digung nach Beendigung eines jeden Stückes Arbeit gelöst werden, ohne 
dass dadurch dem einen oder dem andern Teile ein Rechtsanspruch 
zusteht. 

§ 17. Jeder Gehilfe ist verpflichtet, zur Durchführung der Bestim- 
mungen dieser Weikstattordnung nach besten Kräften beizutragen und 
Zuwiderhandlungen gegen dieselbe bei dem Vorsitzenden der Werkstatt- 
kommission zur Anzeige zu bringen. 

§ 18. Streitigkeiten, welche wegen der Bestimmungen dieser Werk- 
stattordnung entstehen, sind von der Werkstattkommission, welche zu 
diesem Zweck zur Hälfte aus Meistern und zur Hälfte aus Gesellen zu- 
sammengesetzt ist, zu sehlichten resp. zu entscheiden. Die fünf Gehilfen- 
mitglieder der Werkstattkommission sind in einer öffentlichen Gehilfen- 
versammlung, die Meister in einer Meisterversammlung zu wählen. 



Ein tüchtiger Fachmann, der bayerische Fabrikinspektor 
Engert, sagt in einem seiner amtlichen Berichte 1 ): „Die 
Höhe des Lohnes der Fabrikarbeiter im Vergleiche mit dem 
kargen Verdienste der auf die Hausindustrie angewiesenen 
zahlreichen Menschen lässt das Los der ersteren durchaus 
nicht als das ungünstigste erscheinen. Zieht man ferner die 
geregelte und massige Arbeitsdauer von zehn bis elf Stunden 
täglich, die durchschnittlich hellen und luftigen Arbeitsräume 

l ) Jahrgang 1881, S. 27. 



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— 205 — 

und die mancherlei Wohlfahrtseinrichtungen, die den wirtschaft- 
lichen Verhältnissen der Fabrikarbeiter zu gute kommen, in 
Vergleich mit dem ruhelosen Schaffen der Hausindustrie, den 
meist niedrigen, schlecht gelüfteten kleinen Stuben und der 
Verlassenheit in Krankheit und Unglück, so erscheinen schliess- 
lich die Fabrikarbeiter beneidenswert gegenüber den Haus- 
industriearbeitern." Füge ich hinzu, dass das Los der unge- 
heuren Mehrzahl der im Kleinbetrieb der bayerischen Schuh- 
macherei thätigen Arbeiter weit näher dem der Hausindustriellen 
als dem der Arbeiter in der Grossindustrie steht, und ferner, 
dass die unter dem Namen des Arbeiterschutzes bekannten 
gesetzgeberischen Massregeln bis jetzt lediglich dem Fabrik- 
arbeiter, nicht aber dem Handwerker und dem Heimarbeiter 
zu gute kommen, so glaube ich meine Ausführungen über die 
„Arbeitsbedingungen" nicht besser als mit dem nachdrücklichen 
Hinweise schliessen zu sollen, dass diese allgemeinen Ausfüh- 
rungen des Fabrikinspektors im besonderen für das Schuh- 
machergewerbe in Bayern vollste Gültigkeit haben. Mag die 
Lage der in der mechanischen Schuhfabrikation beschäftigten 
Arbeiter auch noch so grosser Verbesserung fähig sein, sie ist 
jedenfalls den in Handwerk, Zwergbetrieb, Hausindustrie herr- 
schenden Zuständen bei weitem vorzuziehen. Der Grossbetrieb 
erweist sich auch in unserm Gewerbe nicht bloss als ein wirt- 
schaftlicher, sondern auch als ein sozialer Fortschritt r ). 

') Vergl. v. Schulze-Gaevernitz, Der GrosHbetrieb (Leipzig 1802) 
und Herkner, Die soziale Reform (Leipzig 1891). 



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-» 



XIII. 

Die Lebenshaltung der bayerischen Schuhmacher. 

Die auf den vorhergehenden Seiten gegebenen Darstel- 
lungen über die Arbeitsbedingungen der Schuhmacher, über 
niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten in oft engen und un- 
gesunden Räumen, machen es von vornherein wahrscheinlich, 
dass im allgemeinen die Lebenshaltung der bayerischen Schuh- 
macher keine hohe sein kann. Allgemein gültige Angaben 
hierüber zu erlangen, hat indessen grosse Schwierigkeiten. 
Höchst selten nur führt ein Schuhmacher, Meister oder Gehilfe, 
verheiratet oder ledig, regelrecht Buch über seine Einnahmen 
und Ausgaben ; das Einkommen ist meist so niedrig, dass man 
von der Hand in den Mund lebt, oft auch schämt man sich, 
öffentlich einzugestehen, wie kümmerlich man sich durchschlägt. 
Auf dem Lande wie in den Städten passt sich natürlich der 
Schuhmacher übrigens den Lebensgewohnheiten der unteren 
Volksklassen in Nahrung, Wohnung und Kleidung so voll- 
kommen an, dass Besonderheiten der Angehörigen unsres Ge- 
werbes kaum wahrzunehmen sind. So darf ich denn wohl hier 
auf die Einzelforschungen über Arbeiterbudgets verweisen, die 
bekanntlich in ziemlicher Fülle vorliegen; die gesamte Lebens- 
haltung gering bezahlter Lohnarbeiter ist im wesentlichen auch 
die der Schuhmacher, und in Bayern speziell ist es in diesem 
Punkte nicht anders und besser als im ganzen Reiche. Wie 
tief die Lebenshaltung grosser Volksschichten in Deutschland 
aber im Gegensatz zu den entsprechenden Arbeiterklassen in 
England, Nordamerika, Australien steht, darüber liegen unver- 
fälschte Zeugnisse in amtlichen Berichten und privaten Studien 
in solcher Menge vor, dass ich mich der Aufgabe enthoben 
fühle, oft Gesagtes hier zu wiederholen. Ein amerikanischer 



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— 207 - 



Beobachter fasst sein Urteil über die Lebensweise des deutschen 
Arbeiters in folgende Worte zusammen: „Alles ist zu einem 
Niveau herabgedrückt, unter dem es kaum möglich ist, die Kraft 
zu erzeugen, die notwendig ist zum Verdienen der geringen Löhne, 
die die Familie am Leben erhalten. Ein Ueberschuss ist unmög- 
lich. Die Kaufkraft für andre Bequemlichkeiten ist zerstört, 
da jeder Mehrverdienst zu besserer Nahrung verwendet wird." 
Ist diese Auffassung, auf alle deutschen Arbeiter angewendet, 
auch entschieden viel zu düster gefärbt, so trifft sie auf die 
Mehrzahl der Schuhmacher doch im grossen und ganzen zu. 

Denn hier wirken noch einige Umstände ein, um die Le- 
benshaltung tiefer zu drücken. Der von den Freunden der 
alten gewerblichen Ordnung so viel gepriesene , Patriarchalis- 
mus * ist gerade in unserm Gewerbe noch weit verbreitet. 
Wohnt der Gehilfe beim Meister, so steht sein Bett in der 
Werkstatt, wo vom frühen Morgen bis zum späten Abend 
gearbeitet worden ist, ohne dass die frische Luft Zutritt er- 
halten hat, oder er muss in einem Verschlage, in einem Winkel 
unter dem Dach, in licht- und luftiosen Räumen schlafen. 
Manchmal müssen zwei Personen ein Bett teilen; Unredlich- 
keit und Ungeziefer sind häufige Plagen. Der Gehilfe hat 
keinen Raum, wo er wohnt, sondern nur eine Stelle, wo er 
schläft; die Folge ist, dass er von der Werkstatt ins Wirts- 
haus eilt, bis die Zeit zur Nachtruhe gekommen ist. Dem 
Kleinmeister in den Städten geht es häufig nicht um ein Haar 
besser als dem ledigen Gehilfen ; ihm ist die Werkstatt Wohn- 
und Schlafstube, Küche und Waschraum. Gesonderte Werk- 
stätten dürften, so schreibt man mir aus Nürnberg, von den 
678 Meistern, die in dieser zweitgrössten Stadt Bayerns sind, 
nur etwa 200 haben. Dagegen kommt es dort selten vor, 
dass Gehilfen noch in Kost und Logis stehen. In München 
sind, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, die Verhältnisse 
besser; der Prozentsatz der Arbeitsräume, die zugleich als 
Laden, Wohn- und Schlafzimmer dienen, ist erheblich geringer. 
Ein Gehilfe zahlt in München für Logis wöchentlich etwa 1 M. 
50 Pf., ein verheirateter Arbeiter kann mit seiner Familie kaum 
für weniger als 150—200 M. jährlich Unterkunft finden. 

„Ganze Kost und nichts zu essen," ist ein unter den 



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- 208 - 



Gehilfen gebräuchliches Wort. Indessen scheinen hier die 
Verhältnisse in Mitteldeutschland, in Sachsen und Thüringen 
namentlich, noch ungünstiger zu liegen als in Bayern, wo man 
sich im allgemeinen doch noch kräftiger nährt als in jenen 
Landstrichen. Der Landschuster, der mit seinen Gehilfen auf 
der Stör ist, erhält seine Kost am Tisch des Bauern, und es 
wird ausdrücklich konstatiert, dass während der Dauer der Stör 
besser als gewöhnlich gekocht und überdies vormittags und 
nachmittags Bier verabreicht wird. Freilich in den ärmsten 
Gegenden Bayerns ist die Kartoffel auch für den Schuhmacher 
das Hauptnahrungsmittel. Das Schuhmacherfachblatt, Jahrgang 
1889, Nr. ö, enthält eine Schilderung der Lebensweise der 
Schuhmacher an der Rhön, die ich hier im Auszuge folgen 
lasse: Die Gegend ist unwirtlich, bitterarm. Die Bevölkerung 
nährt sich von Feldbau und Hausindustrie. Wie überall ge- 
hören die Schuhmacher zu den Aermsten. Die Meister, die 
1 — 3 Gesellen und ebensoviele Lehrlinge beschäftigen, treiben 
neben der Schuhmacherei auch Oekonomie, um ihren Jahres- 
bedarf an Kartoffeln zu decken. Die ganze Familie ist tagaus 
tagein auf diese Nahrung angewiesen, die in den verschieden- 
sten Formen genossen wird. Morgens und abends wird ein 
grosser Topf angesetzt; die kleinen Kartoffeln werden für das 
Schwein, das man, wo es nur angeht, mit auffüttert, ausge- 
lesen, die grösseren kommen auf den Tisch. Dazu wird ein 
wenig Oel, Fett, aber auch oft nur Salz, Salzlauge oder Kaffee- 
brühe genossen. Als „ Kaffee" figurieren gebrannte Rüben- 
würfel, die gestossen und mit kochendem Wasser übergössen 
werden. Heringe sind selten. Das Kartoffelland ist meist in 
Pacht, der Meister erspart aber die Pacht dadurch, dass er 
dem Besitzer sich verpflichtet, bei der Ernte mitzuhelfen und 
zwar mit Gesellen und Lehrlingen. Dafür ackert ihm auch 
der Bauer sein Kartoffelland. Der Geselle ist natürlich in 
ganzer Kost, daneben erhält er einen Wochenlohn von 2 — 3 M. 
bar. „Die Rhön-Schuhmacher," so behauptet der Bericht, 
„ können heute der Fabrikkonkurrenz die Spitze bieten, weil 
Meister und Geselle um die Wette hungern/ 

Dem gegenüber lasse ich das Wochenbudget eines ledigen 
Gehilfen in München aus dem Jahre 1 888 folgen : Kost 7 M., 



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— 209 — 



Logis 1 M. 50 Pf., kleine Ausgaben 50 Pf., Wäsche 50 Pf., 
Sonntagsgeld 1 M., in Summa pro Woche 10 M. 50 Pf.; ferner 
rechnete er im Jahre für Kleider 50 M., für Neuanschaffung 
von Wäsche und Schuhzeug je 10 M., für Zeitungen und Lek- 
türe 4 M., Vereinsbeitrag ebensoviel, Krankenkasse 17 M. 60 Pf.. 
* Steuer 5 M., insgesamt im Jahre 100 M. 00 Pf. Seine Jahres- 
ausgaben betrugen demnach 040 M. 00 Pf., er musste, um 
glatt durchzukommen, 12 M. 43 Pf. wöchentlich verdienen, 
ein Lohn, der um 1 M. 50 Pf. höher ist als der, laut einer 
Enquete des Fachvereins München im gleichen Jahre, übliche 
Durchschnittslohn sämtlicher Gehilfen. Die noch geringer Be- 
zahlten werden eben an den Ausgaben für Bekleidung, für 
Lektüre, Vereine und Krankenkassen das Nötige einsparen, um 
ohne Schulden sich durchzubringen ; denn an der Ernährung 
und dem Schlafgeld ist schlechterdings nichts mehr abzuknappen. 
In kleineren Orten wird, wie ich auf Erkundigung erfahren habe, 
für Kost und Logis, wo sie nicht beim Meister gereicht werden, 
0 M. 50 Pf. bis 9 M. 50 Pf. gezahlt. Der verheiratete Ge- 
hilfe, deren es übrigens nur wenige gibt, muss entsprechend 
der Grösse seiner Familie natürlich mehr zahlen; dafür ver- 
dient auch die Frau mit, oft auch die Kinder. 

Man kann sich selbst aus diesen wenigen Andeutungen 
ungefähr eine Vorstellung machen, wie kümmerlich durchweg 
der Schuhmacher im Kleingewerbe leben muss. Will man die 
Lebensführung der Fabrikarbeiter der Schuhwaren-Grossindustrie 
kennen lernen, so wendet sich der Blick von selbst nach Pir- 
masens als dem Orte, wo der mechanische Betrieb der Schuh- 
macherei in Bayern konzentriert ist. Dass die Löhne hier im 
Durchschnitt wesentlich besser sind als im Handwerk, glaube 
ich ziffernmässig nachgewiesen zu haben. Aber es ist auch in 
Betracht zu ziehen, dass Pirmasens ungewöhnlich hohe Lebens- 
mittelpreise hat. Das hebt den Vorteil grösseren Einkommens 
zum Teil wieder auf. Indessen habe ich doch Grund zur An- 
nahme, dass die Lebenshaltung der Pirmasenser Schuhfabrik- 
arbeiter, im ganzen genommen, eine bessere ist, als sonst in 
unserm Gewerbe üblich ist. Dies spricht sich teilweise auch 
in den Wohnungen aus. 

Das gewöhnliche Logis eines besseren Arbeiters ist Stube, 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 14 



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— 210 — 



Kammer, Küche ; die letzteren beiden freilich oft sehr kleine 
Gelasse. Die Miethe hierfür beträgt 170-100 M. jährlich, 
einerlei, in welchem Stockwerk die Wohnung liegt. Ich habe 
solcher Logis mehrere gesehen, die mit bescheidener Behaglich- 
keit eingerichtet waren, der weissen Vorhänge an den Fenstern 
und des Bilderschmuckes nicht entbehrten und ein ausreichendes, 
nach und nach, manchmal bei Auktionen oder Gelegenheitskäufen 
angeschafftes Mobiliar besassen. Ganz besonderer, von Glück be- 
gleiteter Fleiss der Eltern und der erwachsenen Kinder bringt 
es wohl auch fertig, ein eigenes Häuschen, meist die Hälfte 
eines Doppelgebäudes, zu erwerben, von dem man dann wieder 
ein Stockwerk vermietet. Dagegen sind einige von Fabrikanten 
hergestellte Wohnhäuser bei den Arbeitern nicht beliebte Quar- 
tiere, weil die Mietkontrakte sie angeblich in ihrer Freiheit und 
Selbständigkeit durch allerlei Vorschriften und Klauseln be- 
schränken. Ein Massenlogis ist die sogenannte „Kaserne", 
die wohl noch aus den Zeiten der Soldatenspielerei zu Pirma- 
sens im vorigen Jahrhundert stammt; hier haben in dem 
feuchten Parterre, im ersten und zweiten Stock, sowie unter 
Dach 52 Familien mit mehr als 250 Köpfen Unterkunft: Lange, 
breite, aber dunkle Gänge durchziehen das Gebäude, rechts und 
links münden die'Thüren ein, eine einzige enge, halsbrecherische 
Treppe verbindet die Stockwerke. Hier können einzelne Woh- 
nungen käuflich als Eigentum erworben werden: 2 Zimmer 
nebeneinander kosten z. B. 1640 M.; ein andres Logis, das ich 
besah, hatte zwei Zimmer über einer und zwei weitere über zwei 
Stiegen, es hatte 3400 M. gekostet, war sauber und behaglich 
gehalten und die Besitzerin zeigte die Räume mit sichtlichem 
Stolze, wenn sie auch seufzte, es sei hart gewesen, Mark auf 
Mark zusammenzusparen. 

So wenig diese Zustände dem Ideal entsprechen, so kann 
man sie doch nicht geradezu unbefriedigend nennen. Leider 
bilden sie weniger die Regel als die Ausnahmen. Die Mehr- 
zahl der Pirmasenser Arbeiterfamilien, namentlich die Haus- 
industriellen in der Stadt, sind genötigt, entweder zu erheblich 
niedrigeren Preisen Wohnungen zu nehmen, und für 120 M., 
einen Durchschnittssatz, erhält man gewöhnlich dort nur einen 
Raum mit einem Nebengelass, oder sie müssen Schlafburschen 



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- 211 — 



ins Quartier nehmen. Auch in diesen ärmlichen Behausungen 
kann ja noch der Versuch, sich sauber und wohnlich einzu- 
richten, Erfolg haben; aber in den meisten Fällen muss dies 
Zusammenpferchen von Personen beiderlei Geschlechts physisch 
und moralisch die schlimmsten Folgen haben. Ich sah ein 
halb verfallenes Häuschen, das nur aus Parterre und Boden- 
raum bestand: ein Bretterverschlag war mehr hingelehnt als 
angebaut. Dort wohnten und schliefen 8 Personen in einem 
Räume: Vater, Mutter, 4 Kinder und 2 Schlafburschen; eine 
ledige Tochter hatte kürzlich inmitten dieser Umgebung ent- 
bunden. Die Hausindustriellen auf dem Lande stehen in dieser 
Hinsicht auf weit höherer Stufe der Lebenshaltung ; da sie ur- 
sprünglich Landwirte gewesen sind, sitzen die meisten Heim- 
arbeiter der Pirmasenser Schuhindustrie in den umliegenden 
Dörfern noch auf ihrer Scholle — sie nennen ein Haus, einen 
Garten, ein Stück Land ihr eigen, wenn dies Besitztum auch 
noch so klein ist. Die Wohnräume sind grösser, gesunder; oft 
bestehen gesonderte Schlafzimmer, während allerdings tagsüber 
in derselben Stube gewohnt, gearbeitet, gekocht, gegessen, ge- 
waschen und getrocknet wird. 

Die Ernährung der geringer bezahlten Arbeiter von Pirma- 
sens ist dagegen in Stadt und Land ziemlich gleich. Kaffee, 
Kartoffeln, Kraut, Brot, selten Fleisch, und dann oft vom Pferde- 
metzger, bilden die gewöhnliche Kost, die mehr den Magen 
füllt, als Kraft gibt. Kartoffeln werden zentnerweise, Kohlen 
oft nur in kleineren Quanten gekauft. Geheizt und gekocht 
wird stets zusammen in einem Ofen, der in der Werkstatt 
steht. In den besser situierten Familien verwendet man den 
Mehrverdienst hauptsächlich auf die Ernährung: zum Früh- 
stück Kaffee mit Wecken, vormittags Brot, für den Vater bis- 
weilen mit Käse oder Wurst, aber ohne Bier, mittags meist 
Fleisch mit Gemüse, nachmittags wieder Brot mit einer Zu- 
kost und abends Kartoffeln mit Wurst. Am elendesten sind 
manche Arbeiter daran, die wegen der grossen Entfernung 
ihrer Heimat nur sonntags Pirmasens verlassen und die 
Woche über zusammen in Massenquartieren auf Stroh und 
alten Säcken schlafen und sich selbst verköstigen, wozu sie 
die Lebensmittel oft aus ihrem Dorfe für die Woche mit- 



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— 212 - 



bringen; Kaffee, Kartoffeln, Brot, Wurstfett und Fleisch- 
abfälle sind ihre Nahrung, und da klagte mir einer, dass er 
für das Sieden des Wassers im Maschinenraum dem Heizer 
noch täglich 10 Pfennige von seinem kargen Lohn abgeben 
müsse! Andrerseits wurde mir aus Fabrikantenkreisen ver- 
sichert, dass in Zeiten sehr guten Verdienstes, wie in den 
Jahren 1887 — 1890, also vor dem Krach, die Arbeiter sehr 
selten gespart, sondern gewöhnlicli besser gelebt hätten. Auch 
jetzt noch huldigten die jüngeren Leute der Vergnügungs- 
sucht und der Verschwendung. Sonntags gehe es hoch her, 
Musik und Tanz werde an vier bis fünf Orten abgehalten, die 
Wirtshäuser seien überfüllt, die Mädchen verthäten einen guten 
Teil ihres Wochenlohns in Kleidern und Putz. So selten 
Eigentumsvergehen vorkämen, so häufig seien Sittlichkeits- 
delikte; doch dürfe nicht verschwiegen werden, dass sehr häufig 
die nachfolgende Ehe das Verhältnis legitimiere. Ebenso wird 
über die Gewalttätigkeit der jüngeren Männer, namentlich 
der „Zwicker" geklagt, bei denen der „ Schusterkneip * gleich 
aus der Tasche fahre. Ständig musste ich die Ansicht hören : 
die Leute verdienten zu viel; es sei von Uebel, dass kaum den 
Kinderschuhen entwachsene Burschen und Mädchen oft den 
grösseren Teil ihres Wochenverdienstes lose zu freier Ver- 
fügung hätten, während sie der Familie, der sie angehörten 
oder wo sie wohnten, nur 7 — 9 M. wöchentlich als Beitrag 
für Unterhalt und Wohnung zahlten; da müsse der § 119a 
der Gewerbeordnung über die Lohnauszahlung an minder- 
jährige Arbeiter durch Ortsstatut in Kraft gesetzt werden. — 
Ich teile diese Klagen, wie ich sie zu hören bekam, mit; ihre 
Berechtigung zu prüfen, bin ich nicht im stände, möchte aber 
eher die Meinung eines erfahrenen Arbeitgebers in Pirmasens 
teilen, der mir versicherte: Es sei hier auch nicht schlimmer 
als anderwärts, und neben mancher Zuchtlosigkeit zeige sich 
sehr viel Tüchtigkeit in der Arbeiterschaft. 

Im allgemeinen kann man für die Lebenshaltung der baye- 
rischen Schuhmacher die liegel aufstellen: Der Fabrikarbeiter 
lebt besser als der Meister und der Gehilfe im Kleinbetrieb, 
der Handwerker in den grösseren Städten wieder besser als 
der in den kleineren; auf dem Lande ermöglicht der Neben- 



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— 21:3 — 



betrieb der Landwirtschaft häufig reichlichere Ernährung und 
geräumigere Wohnung für den Schuhmacher, ebenso für den 
Heimarbeiter, der ohne diesen Züsch ass in übelster Lage ist. Den 
wenigen Meistern, die es zu Wohlstand bringen, steht die grosse 
Masse der Inhaber von Zwergbetrieben gegenüber, die sich 
und den Ihren mit Mühe das Leben fristen. 

Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, dass der 
Gesundheitszustand der Schuhmacherbevölkerung in Bayern wie 
überall ein schlechter ist, dass Krankheit und Tod unter ihren 
Angehörigen reiche Ernte halten. Unser kgl. statistisches 
Bureau veröffentlicht zwar regelmässig Berichte über Morbi- 
dität und Mortalität, aber es wird in diesen Aufstellungen 
lediglich nach den Arten der Krankheit und des Sterbefalles 
unterschieden, nicht aber nach dem Berufe der Kranken und 
Gestorbenen; eine Ergänzung nach dieser Richtung, die sich 
ja unschwer bewirken liesse, wäre eine sehr dankenswerte 
Neuerung, die die jetzt hauptsächlich für den Arzt wichtigen 
Listen über Erkrankung und Tod auch dem Nationalökonomen 
wertvoll machen würde. In Ermangelung exakten Materiales 
für unser Untersuchungsgebiet muss ich mich daher auf einige 
allgemeine Ausführungen beschränken, indem ich darauf ver- 
weise, wie alle Forscher über Arbeiterkrankheiten darin über- 
einstimmen, dass die Beschäftigung und die Lebensweise der 
Schuhmacher zu schweren Erkrankungen, tiefgreifenden kon- 
stitutionellen Leiden und grossem Mortalitätsprozentsatz Ver- 
anlassung geben. Die mangelhafte Ernährung, die schlechten 
Schlafstätten, das Einatmen verdorbener Luft sind nicht die 
einzigen Ursachen: ebenso wirken mit die überlangen Arbeits- 
zeiten, die Regellosigkeit der Arbeit, bei der auf eine Zeit des 
Bummelns ein Hetzen und Hasten folgt, und schliesslich auch 
ganz besonders die Art der Arbeit im Kleinbetrieb. 

Da sitzt der Schuhmacher den lieben langen Tag auf 
niedrigem Schemel, gebückt, zusammengekauert, ohne aufzu- 
sehen; Lunge und Unterleibsorgane werden dabei notwendig 
verkümmern. Bei jugendlichen und schwächlichen Arbeitern 
führt das lange Sitzen leicht zu Verkrümmungen der Wirbel- 
säule. Leiden der Atmungswerkzeuge, des Magens und des 
Darms sind bei Schuhmachern und Schneidern viel häufiger 



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— 214 — 



als bei den meisten andern Handwerkern; sie sind in 60 bis 
70 Fällen unter 100 die Ursachen frühen Todes. Ein Blick 
in die „Sterbetafeln 14 , welche die Ende 1882 gegründete Zentral- 
kranken- und Sterbekasse der Schuhmacher allvierteljährlich 
veröffentlicht, bestätigt die Richtigkeit dieser Angaben. Diese 
im ersten Jahre mit 3000 Mitgliedern beginnende, dann vor- 
übergehend auf 20000 gestiegene, jetzt mit rund 12000. Mit- 
gliedern arbeitende Kasse hatte in den ersten 6 Jahren bei 
sehr schwankender Zahl der Angehörigen 427 Todesfälle; davon 
erreichten nur 13 ein Alter über 50 Jahre, während 170 Ge- 
storbene noch nicht das 30. Lebensjahr überschritten hatten, 
das Durchschnittsalter betrug SS 1 /!« Jahre 1 ). Aus den Be- 
richten mögen einige Stichproben folgen: Jahr 1886: 12000 Mit- 
glieder, 115 Todesfälle, davon 81 an Schwindsucht und Darm- 
leiden. I. Quartal 1887: die Zahl der Mitglieder betrug 11 131, 
gestorben sind davon 28, nur 7 waren über 40 Jahre alt, 
Todesursache in 25 Fällen Lungen- und Unterleibskrankheiten. 
III. Quartal 1887: 11824 Mitglieder, 20 Todesfälle, 12 davon 
infolge Lungenleiden; nur 3 hatten das 40. Lebensjahr über- 
schritten, der älteste war 68 Jahre alt geworden. II. Quartal 
1892: 14082 Mitglieder, 35 Mitglieder sind gestorben, davon 
17 an Krankheiten der Atmungsorgane; 15 waren über 40 Jahre 
alt. III. Quartal 1892: 13 459 Mitglieder, 31 Todesfälle, davon 
23 an Krankheiten der Brust und des Unterleibes (4 an Cholera) : 
8 waren älter als 40 Jahre, nur einer mehr als 50, nämlich 
61 Jahre. I. Quartal 1893: 11932 Mitglieder, 34 Gestorbene, 
in Leiden der Atmungsorgane wurde die Ursache des Todes 
bei 24 gefunden; 5 standen im Alter von 40 — 50 Jahren, 
5 hatten das 50. Jahr überschritten, der älteste war 53 Jahre 
alt. Auch die Zahl der Erkrankten ist in dieser Kasse nicht 
gering; so betrug beispielsweise in den Jahren 1885 und 1886 
bei rund 11600 Mitgliedern (Ende 1886) die Zahl der Er- 
krankungsfälle 16047, davon Betriebsunfälle 388, und die Zahl 

') Dr. A. Neufville, Lebensalter und Todesursachen bei 22 ver- 
schiedenen Ständen und Gewerben, Frankfurt a. M. 1855, hat auf Grund 
seiner Beobachtungen aus der Zeit von 1820—1855 in der Stadt Frank- 
furt a. M. das Durchschnittsalter der Schuhmacherineister auf 47 s /k> Jahre 
berechnet. 



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— 215 — 



der Erkrankungstage 21042« (davon bei Betriebsunfällen 6008); 
im Durchschnitt kamen also im Jahre auf 10 Angehörige der 
Kasse 7 Kranke mit je 1:3 Krankheitstagen. Im Jahre 1884 
hat der Fach verein der Schuhmacher Münchens „an alle Eltern 
und Vormünder 44 einen Aufruf gerichtet, indem er eindringlich 
davor warnt, Söhne oder Mündel das Schuhraacherhandwerk 
lernen zu lassen; als Hauptgrund war die Ueberfüllung des 
Gewerbes angegeben, daneben aber wurde auch angeführt: „Die 
Schuhmacherei gehört zu den ungesundesten Gewerben." Man 
wird diese Behauptung nicht rundweg Lügen strafen können. 
Dagegen verfehlt das Ziel der von den Führern der Gewerk- 
vereinsbewegung gerade in Bezug auf die Schuhmacher an- 
geführte Einwand gegen die gesetzliche Altersversorgung: 
Da diese erst nach dem 70. Jahre beginne, Schuhmacher aber 
nur höchst selten dies Alter erreichten, so hätten sie „das 
zweifelhafte Vergnügen, von ihrem erbärmlichen Verdienst die 
Beiträge zur Alters- und Invalidenversicherung zu zahlen, ohne 
je wieder einen Heller Rückgewährung in Form der Rente zu 
erhalten." Diese Behauptung ist nichtig, insofern die Schuh- 
macher für ihre Beiträge Invalidenunterstützung erhalten auch 
vor dem 70. Jahre, sobald sie dauernd abeitsunfähig sind. 

Ist auch hier der Fabrikarbeiter in besserer Lage als der 
im Kleinbetrieb beschäftigte, bedeutet der Grossbetrieb auch 
einen Fortschritt in der Erhaltung des Lebens und der Ge- 
sundheit der Schuhmacher ? Vorweg sei die Vermutung wider- 
legt, als ob die vom Wesen des Grossbetriebes unzertrennliche 
Art der Arbeit mit Maschinen etwa in der Schuhmacherei be- 
sondere Gefahren mit sich bringe. Die umstehende Tabelle über 
die Anzahl der Unfälle und die Art der Verletzungen, welche 
sich in den Schuhmacherei-Grossbetrieben des Königreichs 
Bayern seit dem Inkrafttreten des Unfallversicherunsgesetzes 
ereignet haben, beweist das Gegenteil dieser Annahme. (Vergl. 
die Tabelle auf S. 210.) 

Zwei Todesfälle in 8 Jahren und 18 — 58 Verletzungen 
jährlich, meist sehr leichter Art (Verwundungen der Hand und 
der Finger betragen 2 3 aller Unfälle), bei 4 — 6000 Arbeitern 
sprechen eher für die Gefahrlosigkeit des Maschinenbetriebs 
in der Schuhmacherei als für das Gegenteil; waren doch bei 



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— 210 - 



den 11600 meist dem Kleinbetrieb angehörigen Schuhmachern 
der Zentralkranken- und Sterbekasse in den Jahren 1885 und 
1886 nicht weniger als 388 Betriebsunfälle mit 6008 Krank- 
heitstagen vorgekommen! Nach diesem Einzelfalle, den ich 
allerdings nicht verallgemeinern möchte, wäre das Arbeiten 
mit Ahle, Hammer und Messer in der Werkstatt für den 
Schuhmacher viel gefährlicher als in der Fabrik mit ihren 
zahlreichen Maschinen. 



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Nicht zu bestreiten aber ist, dass der Arbeiter der Gross- 
industrie in seiner besseren Ernährung, in dem kürzeren und 
fest begrenzten Arbeitstage, in den geräumigen, hellen und 
luftigen Fabrikräumen sehr wesentliche Vorteile für Leib und 
Leben vor dem Handwerker voraus hat. Die Maschine ent- 
hebt ihn ferner zum grössten Teile der Ueberanstrengung seiner 
Muskeln; freilich fordert sie dafür von ihm eine Anspannung 
der Intelligenz, des Auges, der Nerven in weit höherem Grade, 
als die Handarbeit sie verlangt. Bei der durch mechanische 
Kraft bewegten Nähmaschine ist die aufreibende Anstrengung 
des Körpers der Stepperin, welche durch das ständige Treten 
früher entstand, fortgefallen: aber die Arbeit ist wohl leichter 
für die Muskeln, rastloser dagegen für das Gehirn geworden. 
In der Fabrik sitzt kein Mensch stundenlang zusammengekrümmt 
über einem Stiefel, hier werden alle Arbeiten in aufrechter 
Stellung verrichtet, gewiss eine Wohlthat für Lunge und Leib — 



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— 217 — 



indessen wie muss der Arbeiter angespannt aufmerken, um bei 
dem automatischen Gang der Maschine im Stücklohn ein tadel- 
loses und zahlreiches Produkt zu liefern! Am schärfsten em- 
pfindet bezeichnenderweise diejenige Kategorie von Fabrik- 
arbeitern die Anforderungen des Grossbetriebes an ihre Leistungs- 
fähigkeit, welche als Mittelglied zwischen den von Maschinen 
ausgeführten Teiloperationen nur mit der Hand arbeitet: die 
„Zwicker". Auf der einen Seite drängen die Notwendigkeit, 
in der fortlaufenden Arbeitskette keine Störung eintreten zu 
lassen, sowie das Akkordlohnsystem zur grössten Hast, auf der 
andern verlangt die Arbeit Kraft und Ausdauer der Muskeln. 
Man sagt allgemein, dass „Zwicker", die meist als junge, robuste 
Leute beginnen, diese Operation selten länger als 10 — 12 Jahre 
aushalten können; dann gehen sie zu weniger anstrengender 
Beschäftigung über. Auch hier wird die Maschine Erleichte- 
rung schaffen, sobald es gelingt, die Arbeit des „Zwickens" 
auf mechanischem Wege auszuführen. 



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XIV. 



Die korporativen Verbände und ihre Bestrebringen. 

Bei der unleugbaren Notlage der Mehrzahl der Schuh- 
macher in Bayern wäre das Bestreben, anstatt mit nutzlosen 
Klagen und Beschwerden die Zeit zu vergeuden, durch wirk- 
same Mittel die Zustände zu verbessern, ein sehr begreifliches 
Unternehmen. Die Vereinigung von gleich Bedürftigen und 
gleich Gesinnten in Verbänden und Korporationen, um mit 
gemeinsamen Kräften die Ziele zu erreichen, die der Einzelne 
zu erlangen zu schwach ist, kann ohne Zweifel als ein solches 
Mittel bezeichnet werden. Allein die Erfahrung lehrt, dass 
auf gewerblichem Gebiete gerade diejenigen Berufszweige, 
deren gesamte Lebenshaltung auf tiefer Stufe steht, am wenig- 
sten die Eigenschaften besitzen, um sich auf die Dauer mit 
Erfolg zusammenzuschliessen. Wo alle körperlichen Kräfte 
einzig und allein angespannt werden müssen , damit das täg- 
liche Brot verdient werde, da fehlen die Energie, das Gemein- 
gefühl und die Disziplin, welche zur Gründung und Erhaltung 
eines Verbandes der Gewerbegenossen unumgänglich sind. Die 
Sorge um die Fristung der Existenz verzehrt alle weitergehenden 
Pläne, und das Minimum an Lohn erschwert, ja verhindert die 
Leistung von Geldbeiträgen, ohne welche keine Korporation 
eine durchgreifende Thätigkeit entfalten kann. Aus diesem 
Grunde ist gerade in der Schuhmacherbevölkerung, deren 
Lebensfüherung bisweilen mit dem sprichwörtlichen Elend 
der Handweber verglichen wird, Zahl, Umfang und Bedeutung 
der korporativen Verbände geringfügig. Wir werden nicht zu 
niedrig greifen, wenn wir annehmen, dass von den rund 
49000 Personen, die in der bayerischen Schuhmacherei als 
selbständige Betriebsinhaber, Hilfspersonen und Arbeiter thätig 



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— 219 — 



sind, nur etwa 2000 im Verbände irgend einer Organisation 
stehen — also 4 °/o . Wenn aber auch die Menge der organi- 
sierten Schuhmacher so gering ist, dass man füglich die ein- 
zelnen Korporationen nur mit einigen Worten der Erwähnung 
abthun könnte, so wird man andrerseits doch nicht umhin 
können, ihnen als den Trägern der verschiedenartigen Be- 
strebungen in unserm Gewerbe eine eingehende Betrachtung 
zu widmen. 



1. Das Genossenschaftswesen. 

Schulze-Delitzsch, der Vater des deutschen Genossenschafts- 
wesens , hat seinen ersten Versuch gerade mit Angehörigen 
unsres Gewerbes gemacht, zunächst allerdings nur, um die 
Rohstoffe besser und billiger zu beschaffen. Er erzählte selbst 
darüber auf dem volkswirtschaftlichen Kongress zu Erfurt im 
Jahre 1858 folgendes: „Man macht sich kaum Vorstellungen 
davon, wie sehr die ärmeren Handwerker von den Zwischen- 
händlern in den Preisen heraufgesetzt werden. Ein einziges 
Paar Stiefelsohlen kam in der Association 25 ° o billiger und 
dazu war das Material besser. Als nun gar in den letzten 
Jahren die hohen Lederpreise, welche im Jahre 1857 bis auf 
100°/* gegen früher gestiegen waren, eintraten, war für viele 
Mitglieder jene (die Association) die einzige Rettung. Der 
Aufschwung des Schuhmachergewerbes in Delitzsch, welches 
sich zuerst associirte, war bald so bedeutend, dass die Schuh- 
macher aus den Nachbarstädten, welche mit den Delitzschern 
die Märkte bezogen, zu mir kamen und sagten : Wir können 
mit den Schuhmachern in Delitzsch nicht mehr konkurrieren, 
sie haben ihren Markt nach Magdeburg hin ausgedehnt, wir 
wünschen uns auch zu associiren." Die Bewegung kam in 
Gang; 18(53 zählte Schulze bereits 33 preussische, 18 säch- 
sische und 30 andre deutsche Rohstoffgenossenschaften für 
Schuhmacher; 1860 waren es nur noch 22 preussische, 15 säch- 
sische und 25 andre deutsche Rohstoffvereine, neben einigen 
Magazin- und Produktivgenossenschaften, die indessen teilweise 
zahlreiche Mitgliedschaft und grossen Umsatz an Leder hatten. 
«Gegenüber der Gesamtzahl von 189006 zollvereinsländischen 



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Meistern u , so bemerkt G. Schneller l ) dazu, „ist es allerdings 
immer noch unbedeutend, wenn einige Hundert durch die Roh- 
stoffvereine in besserer Lage sind." 

Für Bayern hat das Genossenschaftswesen in der Schuh- 
macherei noch weit geringere Bedeutung, so gut wie gar keine. 
Der Jahresbericht über die auf Selbsthilfe gegründeten deut- 
schen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften für 1801 
zählt für das Reich (31 Rohstoffvereine von Schuhmachern (bei 
rund 8000 Genossenschaften überhaupt) auf; für Bayern wer- 
den als „ nicht eingetragene " genannt solche in Kaiserslautern, 
Memmingen und München, alle drei aber sind im Bericht mit 
einem Fragezeichen versehen. Ich kann darauf keine andre 
Antwort geben, als dass ich von der Wirksamkeit dieser an- 
geblich vorhandenen Vereine nichts in Erfahrung bringen konnte. 
Eine „eingetragene" Rohstoffgenossenschaft der Schuhmacher 
gibt es in Bayern nicht; ebensowenig eine Werk- und eine 
Magazingenossenschaft. Dagegen existiert in München eine sogen. 
„Schuhmachermeister-Produktivgenossenschaft* als eingetragene 
Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht. Sie ist 1871 
gegründet. Gegenstand ihres Unternehmens bildet »der Ein- 
und Verkauf von Rohmaterialien auf gemeinsame Rechnung, 
sowie die Haltung eines Lagers von Schuhwaren aus den Werk- 
stätten der Mitglieder". Jedes Mitglied muss einen Geschäfts- 
anteil von 000 M. erwerben, der als Bestandteil des Betriebs- 
vermögens der Verfügung des Mitglieds entzogen ist. Ein 
Reingewinn wird verteilt, für ein Defizit müssen die Teilhaber 
aufkommen. Jedes Mitglied hat das Recht, aus dem Genossen- 
schaftslager Rohprodukte zu entnehmen und fertige Waren, die 
der Prüfung einer Kommission unterstehen, in den Genossen- 
schaftsladen abzuliefern. Die Thatsache, dass der Vereinigung 
trotz so langen Bestandes nur 22 Meister angehören, ist be- 
zeichnend ; noch charakteristischer freilich die Bemerkung meines 
Gewährsmannes, des Vorstands dieser Meistervereinigung: er 
möchte niemand empfehlen, einer Genossenschaft beizutreten! 

In der Arbeiterbewegung ist bis zu Ende der 80er Jahre 
eine starke Vorliebe für Produktivgenossenschaften der Schuh- 



') Das deutsche Kleingewerbe, S. 629. Halle 1869. 



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macher vorhanden gewesen. So fasste der erste deutsche 
Schuhmacherkongress am 2(5. und 27. August 1883 in Gotha 
folgende vom Reichstagsabgeordneten Bock vorgeschlagene 
Resolution: „dass eine Aenderung der Produktionsweise nur 
durch Gründung von Produktivgenossenschaften mittels Staats- 
hilfe herbeigeführt werden kann, dass jedoch diejenigen Pro- 
duktivgenossenschaften, die sich unter den heutigen Verhält- 
nissen konstituieren und in ihren Grundprinzipien dem Interesse 
der Gesamtheit der Kollegen Rechnung tragen , moralisch zu 
unterstützen sind. 44 Die Erörterungen in der Fachpresse be- 
wegen sich vielfach in gleicher Richtung. Indessen ist diese 
Theorie, abgesehen von einem verunglückten Versuch im Kleinen 
zu Anfang der 80er Jahre in München, in Bayern nicht in die 
Praxis übertragen worden, und die jetzt geltende sozialdemo- 
kratische Doktrin ist ihr ohnedies entschieden abgeneigt. Der 
Gedanke, Produktivgenossenschaften zu gründen, um gemäss- 
regelten Arbeitern Beschäftigung zu verschaffen, ist auf dem 
angeführten Kongress nicht zu Tage getreten ; nicht lange 
darauf ist allerdings aus diesem Anlasse in Erfurt eine Pro- 
duktivgenossenschaft errichtet worden, die sich bis jetzt er- 
folgreicher als eine früher in Dresden und eine Ende Septem- 
ber 1892 in Ottenbach eingegangene Gründung dieser Art 
gehalten hat l ). Ob diese Produktivgenossenschaft auf die 
Dauer Bestand haben wird, muss die Zukunft zeigen. Anders- 
wo, z. B. in England, hat man im allgemeinen sehr trübe Er- 
fahrungen mit Schuhmachereibetrieben auf genossenschaftlicher 
Grundlage gemacht: sieht man von wenigen Ausnahmen, nament- 

') Nach einem Streik in Erfurt 1890 wurde ein Teil der Gehilfen 
von den Fabrikanten nicht wieder in Arbeit genommen; jene gründeten 
daher eine eigene »Schuhfabrik mit 100 000 M. Kapital in Anteilscheinen, 
für deren Waren stark agitiert wird. An Löhnen zahlte das Unternehmen 
1892 57 534 M., der Warenumsatz betrug 198 000 M. ; 1893 wurde ein 
eigenes Gebäude mit Dampfbetrieb für 51 700 M. angekauft. Sie benutzt 
zum Vertrieb ihrer Produkte das Kontrollmarkensystem und findet damit 
in Norddeutschland guten, in Süddeutschland indessen wenig Absatz; so 
berichtete ein Redner in einer im Frühling 1893 abgehaltenen Schuh- 
macherversammlung in München, die Fabrik habe im verflossenen Jahre 
in Hamburg mit diesem System für 6000 M. verkauft, während in 
München nur für 100 M. Kontrollzeichen anzubringen gewesen seien. 



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— 222 - 



lieh der in Kettering bestehenden Genossenschaftsfabrik, ab, 
so sind fast alle Produktivassociationen in der Schuhmacherei 
entweder ganz zusammengebrochen oder sie haben sich in eine 
Form gewerblicher Unternehmungen verwandelt, „welche dem 
Schweisstreibersystem der Mittelsleute gefährlich nahekommt, 
wenn sie nicht schon wirklich dazu zu rechnen ist." Das Buch 
der Frau Sidney Webb, geb. Potter, „Die britische Genossen- 
sch aftsbewegung" (deutsch herausgegeben von L. Brentano, 
Leipzig 1893) gibt über diesen Punkt eingehende Auskunft. 
Ganz vorzüglich bewährt sich im Gegensatz zu diesen Pro- 
duktivgenossenschaften in England die Einrichtung grosser 
Schuhfabriken von Seiten der englischen und der schottischen 
Grosshandelsgenossenschaften in engster Verbindung mit dem 
Konsumvereinswesen ; in Leicester, Heckmondwike und Shield- 
hall bestehen solche Grossbetriebe, die billige und dauerhafte 
Schuhwaren für die Angehörigen der Konsumvereine liefern. 
Derartige Versuche sind in Bayern und meines Wissens auch 
in Deutschland bisher nicht gemacht worden. 

2. Die Arbeitgeberverbände. 

Sowohl der Grossbetrieb als das Handwerk besitzen Ver- 
einigungen der Arbeitgeber, jene in dem Verbände der deut- 
schen Schuh- und Schäftefabrikanten, diese in den Innungen. 

a) Die Innungen. 

So alt die Geschichte der Schuhmacherkorporationen in 
Bayern ist 1 ), so gering ist in der Gegenwart die Bedeutung 
der Innungen. Man kann dies behaupten, ohne sich einer 
Unterschätzung schuldig zu machen. Nach der Berufszählung 
von 1882 zählt Bayern rund 33 000 selbständige Schuhmacherei- 
betriebe, darunter sind keine 200, die zum Grossbetrieb zu 
rechnen sind. Und von diesen vielen Tausenden ist etwa nur 
der 25. Teil in Innungen vereinigt. Die Rheinpfalz besitzt 

') Die Schuhmacherinnung in München beruft sich auf einen Zunft- 
brief Herzog Ludwigs in Bayern vom 29. Mai 1290; im Stadtrecht zu 
Augsburg wird 1276 das Recht der vereinigten Gerber und Schuster be- 
stimmt; die Schuhordnung der Stadt Nürnberg ist gleichfalls vom Ende 
des 13. Jahrhunderts. 



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keine einzige Innung. Für das rechtsrheinische Bayern habe 
ich mich bemüht, auf dem Wege direkter Erkundigungen von 
den Obermeistern und Vorständen zuverlässige Angaben zu 
erhalten; mit wenigen Ausnahmen ist auch meiner Bitte in 
dankenswerter Weise entsprochen worden. Ist auch die nach- 
folgende Liste der Schuhmacherinnungen in Bayern nicht ab- 
solut vollständig, so kommt sie diesem Ziele doch jedenfalls 
nahe. Regierungsbezirk Oberbayern: Schuhmachermeister- 
innung München 517 Mitglieder, die 500 Gehilfen und 1)5 Lehr- 
linge beschäftigen; München rechts der Isar: 50 Meister mit 
15 Gesellen und 8 Lehrlingen; Perlach: 40 Mitglieder mit 
10 Gehilfen und 15 Lehrlingen. Niederbayern: Passau mit 
18 Meistern, 14 Gesellen und 13 Lehrlingen; Wegscheid: nach 
Angabe des Vorstandes „in ruhender Aktivität" ; Hals bei 
Passau: 6 Mitglieder mit 3 Gehilfen (1880 waren es 32 Mit- 
glieder). Oberpfalz: Regensburg, etwa 50 Meister mit 25 bis 
30 Gehilfen und Lehrlingen; Amberg: 25 Meister mit 9 Ge- 
hilfen und 12 Lehrlingen. Ob er franken: Hof: 25 Meister 
mit 45 Lehrlingen und Gehilfen; Herzogenaurach: 40 Mitglieder 
mit 20 Gehilfen und ebensoviel Lehrlingen; Weissenstadt : 
20 Meister, 7 Gehilfen und 3 Lehrlinge (der Vorstand bemerkt 
dazu: „Die Innung ist sehr im Sinken und ich kann nicht be- 
stimmen, ob sie überhaupt im Jahre 1894 noch besteht"). 
Bamberg: 20 Meister mit 20 Gehilfen und 12 Lehrlingen. 
Rehau: 38 Mitglieder mit je 7 Gehilfen und Lehrlingen. 
Mittelfranken: Nürnberg; hier zählt jetzt die Innung 
86 Meister mit 160 Gehilfen und 40 Lehrlingen, während ihr 
1890 nach einem Streik vorübergehend 200 Mitglieder ange- 
hörten; sie veranstaltet Fachkurse, hat aber keine Unter- 
stützungskassen. Fürth: 10 Mitglieder mit 7 Lehrlingen und 
4 Gehilfen; Lauf: die Innung hat sich im März 1893 aufge- 
löst; Ansbach: desgl. aufgelöst. Unterfranken: Würzburg 
mit 58 Mitgliedern, die 35 bis 40 Gehilfen und 14 bis 
18 Lehrlinge beschäftigen; Schweinfurt: 14 Meister mit 12 Ge- 
hilfen und 6 Lehrlingen; Hassfurt: 10 Meister ohne Hilfs- 
personen, die Innung zählte früher 50 Mitglieder. Schwaben: 
Augsburg mit 48 Meistern und 120 Gehilfen und Lehrlingen; 
Memmingen: 23 Mitglieder mit 6 bis 8 Gehilfen und 5 bis 



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(3 Lehrlingen. Ausserdem, so in Nördlingen, Neumarkt i. 0., 
Landshut, Plattling, Landsberg a. L., Ansbach u. a. 0., gehören 
Schuhmachermeister dem bayerischen Handwerkerbunde, All- 
gemeinen Gewerbeinnungen, Meisterfachvereinen an. Mit Be- 
rücksichtigung der Orte, aus denen Angaben fehlen, wird 
man die Zahl der in Innungen und Meisterverbänden or- 
ganisierten Betriebsinhaber im Schuhmacherhandwerk Bayerns 
auf nicht mehr als 12 — 1300 veranschlagen dürfen. Und da- 
von kommen rund 570, also nahezu die Hälfte auf die bei- 
den Münchener Verbände! Mehrere Innungen berichten von 
einem Rückgang in der Zahl ihrer Mitglieder, andre haben 
sich aufgelöst oder befürchten dies Schicksal, wieder andre 
haben jede Thätigkeit eingestellt. In der bayerischen Schuh- 
macherei hat die Bewegung zu Gunsten der Innungen jedenfalls 
den Höhepunkt überschritten und ist im Niedergang begriffen l ). 

Die einzige bayerische Schuhmacher in eisterinnung, die 
eine Wirksamkeit in grösserem Stile ausübt, ist die zu München. 
Sie hat einen Sterbeverein für die Mitglieder und deren Frauen, 
sowie eine Innungskrankenkasse für Meister, Gehilfen und 
Lehrlinge, ferner gewährt sie für Mitglieder und deren An- 
gehörige Unterstützungen in besonderen Notfällen; ihr Roh- 
stofflager hat im Jahre 1889 einen Zuschuss von 1000 M. aus 
der staatlichen Wittelsbacherstiftung erhalten, die gleiche Be- 
günstigung wurde ihrer Fachschule zu teil ; auch mit Arbeits- 
nachweis hat sie Versuche gemacht. Der gewerblichen Aus- 
bildung ihrer Angehörigen lässt sie alle Sorgfalt angedeihen: 
regelmässige Fachkurse sowie Unterricht in Buchführung und 
Korrespondenz bleiben nicht ohne Erfolge, wie die Ausstellungen 
von Lehrlingsarbeiten beweisen. Lohntarife und Werkstatt- 
ordnungen, auch wenn sie nicht immer strikte eingehalten oder 
häufig geändert werden, geben Zeugnis von dem Streben, mit den 
Gehilfen in festgeregelte Verhältnisse zu kommen ; auch hat sie 
einen Verein der Innungsgehilfen ins Leben gerufen. Des Lehr- 

') Trotzdem Bayern namhafte und höchst eifrige Führer der Hand- 
werkerbewegung besitzt, beträgt die Gesamtzahl der Innungen, ein- 
schliesslich 42 nicht nach der Gewerbeordnung reorganisierter Meister- 
verbände, überhaupt nicht mehr als 15G mit 11144 Mitgliedern. (Prof. 
Stieda im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften".) . 



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— 225 — 



lingswesens nimmt sich die Innung besonders an : Aufdingen und 
Freisprechen der Lehrlinge geschieht in feierlicher, öffentlicher 
Handlung, Prämien spornen den Anfänger zu gründlicher Er- 
lernung und Ausübung des Gewerbes an. Hier ist thatsächlich 
viel ehrliches und eifriges Bestreben, das Handwerk durch eigene 
Tüchtigkeit seiner Angehörigen vor dem Verfall zu bewahren. 

Aber gerade diese Innung, die etwa 40°;o aller zum Ge- 
werbebetrieb in der Stadt München angemeldeten, in Wirk- 
lichkeit aber einen noch grösseren Teil der ihr Handwerk auch 
regelmässig ausübenden selbständigen Schuhmacher umfasst, 
beweist durch ihr Verhalten, dass sie im Grunde selbst an 
einem Erfolg der Erhaltung des Kleinbetriebes in der Schuh- 
macherei ohne Staatshilfe verzweifelt. Sie stand in der vor- 
dersten Linie, wenn es galt, über die verderbliche Konkurrenz 
des Grossbetriebes, der Zuchthäuser und Militärwerkstätten zu 
klagen, obligatorische Innungen und den Befähigungsnachweis 
zu verlangen. Ueberhaupt sind es ja die Schuhmacher aller- 
orten beinahe, bei denen die Forderungen der Handwerker- 
bewegung und die Ansichten der Zünftler offene Ohren und 
laute Propaganda finden. Für obligatorische Innungen und 
Befähigungsnachweis sprach sich nahezu zuerst und höchst 
nachdrücklich der Verband rheinisch-westfälischer Schuhmacher- 
meister zu Paderborn aus l ) ; in der Reichstagssitzung vom 
18. Januar 1893 wurde ausdrücklich betont, „dass die Agi- 
tation für die Erbringung des Befähigungsnachweises wesent- 
lich von den Zünftlern des Schuhmachergewerbes ausgeht" 2 ); 
auf dem am 30. September 1872 in München abgehaltenen 
bayerischen Schuhmachertage wurde konstatiert, dass inner- 
halb eines halben Jahres in Süddeutschland 70 — 80 Schuh- 
machertage abgehalten und etwa 100 Schuhmachervereine ge- 
gründet worden seien, um das Gewerbe gegen den Ansturm 
der Grossindustrie zu schützen und den vermeintlichen Wir- 
kungen der Gewerbefreiheit entgegenzutreten. Auf einem 
weiteren Schuhmachertag in Passau am 20. Juni 1887 wurde 
im Prinzip die Errichtung eines bayerischen Schuhmacher- 



') Dr. Jäger, Handwerkerfrage, Berlin 1S87, S. 142. 
2 ) Stenographischer Bericht S. 574. 
Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. 15 



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innungsbundes beschlossen, worüber man schon in den 
Jahren 1884 und 1886 in Augsburg und Regensburg ver- 
handelt hatte. In München trat man dann am 12. August 1888 l ) 
in die materielle Beratung des Statutes eines „Bayerischen 
Schuhmacherinnungsbundes u ein und genehmigte den vorge- 
legten Entwurf, lehnte es aber trotz der eifrigen Befürwortung 
des Obermeisters der Berliner Schuhmacherinnung Beutel, des 
Vorsitzenden des Zentralvorstandes deutscher Schuhmacher- 
innungen, ab, sich als „Unter verband" dem Zentralverein anzu- 
schliessen, sondern beharrte auf seiner Selbständigkeit, von 
der man sich grössere Vorteile versprach. Alle diese Bestre- 
bungen haben nennenswerte Resultate nicht zustande gebracht, 
und angesichts der entschiedenen Erklärungen, welche die 
Reichsregierung wiederholt gegen Zwangsinnung und Befähi- 
gungsnachweis abgegeben hat, scheinen die beteiligten Kreise 
sich allmählich in das Unabänderliche zu fügen; Zeugnis ist 
dafür auch eine Bemerkung in dem Jahresbericht der Handels- 
und Gewerbekammern von Oberbayern für 1 892, das Verlangen 
nach dem Befähigungsnachweis sei innerhalb der Schuhmacher- 
innung München verschwunden. Mit einem Worte: die Zu- 
versicht, dass das Handwerk durch korporativen Zusammen- 
schluss und Verleihung besonderer Privilegien erhalten werden 
könne, hat in dem einen, und zwar dem weitaus grösseren 
Teile der bayerischen Schuhmacher, überhaupt nicht wirksam 
Boden gewinnen können, und der andre Teil, der eine Zeit- 
lang diese Forderungen vertrat, scheint sich jetzt von der 
Aussichtslosigkeit ihrer Verwirklichung zu überzeugen. 

Erfreulicherweise aber halten einige Innungen, freilich 
nicht sie allein, sondern auch die gewerkschaftlichen Fachver- 
eine, an der Aufgabe fest, für ihre Mitglieder eine tüchtige 
und gründliche gewerbliche und kaufmännische Ausbildung 
anzustreben. An manchen Orten, vorwiegend in den grossen 
Städten, werden regelmässige Fachschulen und Kurse abge- 
halten; in Verbindung damit stehen Ausstellungen von Lehr- 
lingsarbeiten und Prämiierungen. „Jeder Schuhmacher," so 



*) Die Verhandlungsprotokolle sind 1888 zu München, Druck von 
Jos. Deschler, erschienen. 



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heisst es in einem Aufrufe der Fachschulkommission der Mün- 
chener Innung vom Jahre 1889, „der begriffen hat, dass er 
im Kampfe gegen die Grossindustrie derselben nur mit gründ- 
lichem Wissen annähernd Konkurrenz bieten kann, wird auch 
erkennen , dass ihm nur in einer Fachschule Gelegenheit ge- 
boten wird, dasselbe sich anzueignen. . . Wohl hängt die 
jetzige bedrängte Lage unsres Gewerbes mit ausserordentlich 
vielen, in einander greifenden schwierigen Verhältnissen zu- 
sammen ; allein die Vorkämpfer auf dem gewerblichen Gebiete 
haben schon längere Zeit darauf hingewiesen, dass vor allem 
das Handwerk aus sich selbst heraus den Anforderungen der 
Zeit Rechnung tragen, dass jeder Handwerker mit dazu bei- 
tragen muss, dass das Handwerk nicht plötzlich und jäh ver- 
fällt.' 1 Und von der gewerkvereinlichen Seite erklärte auf der 
Generalversammlung des Unterstützungsvereins 1885 W. Bock: 
Er habe zwar schon oft die Gelegenheit genommen, die Illusion zu 
zerstören, als ob man mit Winkel und Transporteur den Unter- 
gang des Kleinhandwerkes und die Entwickelung der Gross- 
industrie aufhalten könne. Aber trotzdem stehe er auf dem 
Standpunkt, dass jeder Arbeiter verpflichtet sei, sich in seinem 
Berufe in möglichst vollkommener Weise auszubilden. — Die 
Kurse sind meist in zwei Abteilungen getrennt, eine für Meister 
und Gehilfen, die andre für Lehrlinge. Gelehrt wird sowohl 
die Technik der Schuhmacherei als auch, was des öfteren als 
unerlässliche Notwendigkeit gekennzeichnet wird, kaufmännische 
Führung des Geschäftes. So zählte beispielsweise der Lehr- 
plan einer Fachschule der Unterstützungsvereinsfiliale (gewerk- 
schaftlich) in München 1885 folgende Fächer auf: 1. Zeichnen. 
2. Anatomie des Fusses. 3. Geometrie. 4. Massnehmen. 
5. Uebertragen der Masse auf Leisten und Modelle. 6. Her- 
stellung naturgemässer Leisten, 7. Proportionsmass. 8. Die 
geometrische Sohlenform. 9. Sohlenumriss und Trittspuren. 
10. Fellauszeichnen. 11. Die praktische Fussbekleidung nach 
anatomischen Grundsätzen. 12. Verschiedene Leistensysteme. 
13. Erklärung abnormer Fussformen. 14. Beschuhung für 
Kurzbeinige. 15. Anfertigung von Gipsfüssen. IG. Modell- 
schneiden. 17. Zuschneiden und Aufpappen. 18. Die ver- 
schiedenen geometrischen Schaftkonstruktionen. 19. Waren- 



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künde. 20. Gewerbliches Rechnen. 21. Buchführung. Eventuell 
Kursus in der Stenographie, im Recht- und Schönschreiben. 
Der Unterricht dauerte von Anfang September 1885 bis Ende 
März 1886 und wurde von Meistern am Montag und Mittwoch 
Abend jeder Woche gegeben. Die Beiträge beliefen sich auf 
25 Pf. für die Aufnahme und 10 Pf. wöchentlich. — Diese 
Fachkurse sind raeist gut besucht und es werden schöne Re- 
sultate erzielt. Jedenfalls ist strebsamen Handwerkern hier 
Gelegenheit gegeben, nützliche Kenntnisse sich zu erwerben, 
und es ist um so erfreulicher, dass Innungen und Fachvereine 
sich in diesem Streben begegnen, als es in Bayern nicht, wie 
in Mitteldeutschland (Erfurt, Artern) eigene Schuhmacher- 
schulen gibt; auch Lehrwerkstätten sind nicht eingerichtet. 



b) Der Verband der deutschen Schuh- und Schäfte- 
fabrikanten. 

Eine Vereinigung von Arbeitgebern der Schuhwaren- 
grossindustrie besteht erst seit kurzem, aber, im Gegensatz zu 
den Innungen, hat sie bereits den Beweis erbracht, dass sie 
etwas zu erreichen vermag. Der Gedanke eines solchen Ver- 
bandes ist entstanden im Anschluss an einen Akt der deutschen 
Gesetzgebung, und Einfluss zu gewinnen auf die Gesetzgebung 
ist eine der hauptsächlichsten Bestrebungen des Vereins. Schon 
die konstituierende Versammlung der durch das Unfallver- 
sicherungsgesetz ins Leben gerufenen Bekleidungsindustrie- 
genossenschaft, der die Schuhmacherei angehört, hatte im 
Sommer 1885 den Plan erwogen; 1889 wurde er von einer Fach- 
zeitung aufs neue angeregt, und Anfang 1 890 erliess eine grössere 
Anzahl angesehener Firmen der Schuh- und Schäfteindustrie 
an ihre sämtlichen Gewerbegenossen einen Aufruf zur Bildung 
eines Verbandes; als Zweck des Unternehmens wurde be- 
zeichnet, die den betreffenden „Industriezweigen gemeinsamen 
Interessen durch den Ausdruck des Gesamtwillens wahrzu- 
nehmen und durch das Auftreten als geschlossenes Ganze dem 
In- und Auslande zu zeigen, was der deutsche Gewerbefleiss 
auf diesem Gebiete der wirtschaftlichen Thätigkeit geschaffen 
hat* (Jahresbericht 1890). Die begründende Versammlung 



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wurde am 13. April 1890 in Eisenach abgehalten; die bedeut- 
samsten Beschlüsse lauten: Die Mitglieder des Verbandes ver- 
pflichten sich, in der Lohnbewegung sich gegenseitig zu unter- 
stützen ; die Koalitionsfreiheit der Arbeiter soll nicht angetastet 
werden; bindende Abmachungen über eine Preiserhöhung der 
Fabrikate wurden als nicht durchführbar erkannt, dagegen 
wurde es als zweckdienlich erachtet, „durch eine Resolution 
die Tendenz einer Preissteigerung hervorzurufen*, und zwar 
sollte eine solche um 6°/o angestrebt werden. In der That 
erklärt der Jahresbericht, „dass durch das Vorgehen auch nur 
einer beschränkten Anzahl von Interessenten einem weiteren 
Rückgange der Preise vorgebeugt worden ist 4 * . 

Verfolgte der Verband nach dieser einen Richtung die Ab- 
sichten eines Preiskartells, so traten seine andern Bestrebungen 
auf der am 7. September 1800 in Frankfurt a. M. abgehaltenen 
ersten ordentlichen Hauptversammlung zu Tage: hier be- 
schäftigte man sich in erster Linie mit der unter dem Namen 
des „ Arbeiterschutzgesetzes " bekannten Novelle zur Gewerbe- 
ordnung. Die Beschäftigungszeit weiblicher Personen, die vor- 
geschlagene Verlegung des Fortbildungsschulunterrichts in die 
Arbeitszeit, die Einführung von Bussen für den Kontraktbruch 
und die Anrechnung der Zuthaten bildeten diejenigen Punkte 
in dem Regierungsentwurfe und den Abänderungen der Reichs- 
tagskommission, welche den vereinigten Fabrikanten Anlass zu 
einer Reihe abweichender Beschlüsse gaben. In einer Petition 
wurde der Reichstag hiervon verständigt und auch seitens 
mehrerer Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses dahin 
gearbeitet, „um durch Beschlüsse der Handelskammern und 
direkte Vorstellungen bei den Abgeordneten verschiedenster 
Parteirichtungen zum Ziele zu gelangen." lieber das Ergebnis 
dieser Bestrebungen wird mitgeteilt: „Die vom Reichstage ge- 
fassten Beschlüsse erweisen , dass der Verband , wenn auch 
nicht durchweg bezüglich der Arbeitszeit der weiblichen Ar- 
beiterinnen und der Unterrichtszeit in den Fortbildungsschulen, 
so doch bezüglich der Lohneinbehaltung zur Sicherung der 
Bussen und bezüglich der Zuthaten ... in der Sache seinen 
Zweck vollständig erreicht hat. 14 Dagegen hat, wie bereits 
erwähnt, der Bundesrat eine von seiten des Verbandes 1891 



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- 230 — 



eingereichte Petition um generelle Ausnahmen vom Verbote 
der Sonntagsarbeit und vom elfstündigen Maximalarbeitstage 
weiblicher Arbeiterinnen während der Zeit des dringenden Ge- 
schäftsganges abgelehnt. In der am 17. Juni 1892 in Berlin 
abgehaltenen Hauptversammlung wurden ferner Beschlüsse ge- 
fasst, den Bundesrat zu ersuchen, einmal die sämtlichen Heim- 
arbeiter von der Invaliditäts- und Altersversicherung zu be- 
freien, da in diesem Punkt Ungleichartigkeit der Behandlung 
herrsche, und sodann die sämtlichen gewerblichen Betriebe in 
die. Unfallversicherung einzubeziehen , da sich der Unterschied 
zwischen versicherungspflichtiger Fabrik und freigelassenen 
Betrieben immer mehr verwische und überdies die Unfall- 
gefahren in den letzteren oft nicht geringer seien als in der 
Grossindustrie. 

Gleicherweise setzte der Verband „seine bei der wirt- 
schaftlichen Ungunst besonders nahe liegenden Bemühungen" 
zur Aufrechterhaltung der Preise für Schuh fabrikate fort, 
wenn er es auch wiederholt ablehnte, dem Drängen nach 
einer verpflichtenden Konvention nachzugeben. Eine Zentral- 
stelle vermittelt Auskünfte und Schuldeintreibungen; ein Ver- 
bandsbeschluss richtet sich gegen säumige Zahler und regelt 
die Kreditfristen. 

Man ersieht aus dieser kurzen Aufzählung, dass der Ver- 
band in den paar Jahren seines Bestehens eine rührige und 
nicht erfolglose Thätigkeit entfaltet hat, um die Interessen der 
Schuhwarengrossindustrie vom Standpunkt der Arbeitgeber aus 
nach verschiedenen Richtungen, sowohl gegenüber dem kau- 
fenden Publikum als auch gegenüber den Arbeitern und schliess- 
lich zur Abstellung von Missständen innerhalb der Industrie 
selbst, zu vertreten. Zwar gehören dem Verbände nur 170 Mit- 
glieder von rund 080 deutschen Schuh- und Schäftefabrikanten 
an — aus Bayern, das 175 versicherungspflichtige Betriebe 
der Schuhmacherei zählt, sind 21 vertreten (aus Bamberg, Bay- 
reuth, Kaiserslautern, Kirchheimbolanden, München, Nürnberg, 
Pirmasens [11 Firmen], Speier und Schweinfurt), aber, wie 
die Jahresberichte betonen, sind es die grössten und leistungs- 
fähigsten Betriebe der gesamten Branche, welche die wirt- 
schaftliche Führung sowohl durch die Güte und Menge ihrer 



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- 231 — 



Produkte als durch die Zahl ihrer Arbeiter in der deutschen 
Schuhwarengrossindustrie besitzen. 

Ausserdem existieren noch einzelne lokale Unternehmer- 
korporationen, so namentlich eine in Pirmasens, der die meisten 
grossen und mittleren Geschäfte angehören; die Geschlossenheit 
ihrer Organisation steht im völligen Gegensatz zu dem Mangel 
fester Vereinigung in ihrer Arbeiterschaft, die den Verband be- 
schuldigt, früher durch Verstösse gegen die Gewerbeordnung 
(Trucksystem, missbräuchliche Verwendung der Kinderarbeit), 
jetzt durch Lohndrückern und Arbeitsentziehung sein Ueber- 
gewicht fühlbar zu machen. Die häufigen Klagen vor dem 
Gewerbe- und vor dem Strafgerichte geben Zeugnis hierfür. 

3. Die Gewerkschaftsbewegung. 

Man kann den Verbänden der Arbeitgeber im Grossbetrieb 
und im Handwerk nicht die Vereinigung der Arbeiter und Ge- 
hilfen gegenüberstellen. Denn während Innungen und Fabri- 
kantenverband natürlich ausschliesslich Arbeitgeber umfassen, 
befinden sich im „Verein deutscher Schulimacher" und in der 
„Zentralkranken- und Sterbekasse der Schuhmacher und ver- 
wandten Berufsgenossen Deutschlands" Meister, Gehilfen und 
Arbeiter nebeneinander; der selbständige Betriebsinhaber steht 
neben den Hilfspersonen, der Fabrikarbeiter neben den Ange- 
hörigen des Handwerks. Der Grund für diese Erscheinung 
beruht vornehmlich in der Gleichartigkeit der Lebensführung 
von Kleinmeistern und Arbeitern in unserm Gewerbe ; die Not 
verwischt den Unterschied zwischen Selbständigen und Gehilfen, 
beide empfinden gleichmässig den Druck, und die politische 
Gesinnung der wohl ausnahmslos zur sozialdemokratischen Partei 
sich rechnenden Angehörigen der beiden Korporationen, über die 
die Gewerkschaftsbewegung unter den Schuhmachern verfügt, 
ist ein weiteres Band der Einigung. Die Kleinmeister haben 
sogar vielfach die Führung der Agitation in der Hand, auch 
wenn sich diese ausdrücklich auf Forderungen der Gehilfen 
erstreckt. 

Freilich ist der Erfolg der seit fast einem Vierteljahrhun- 
dert fortgesetzten Bemühungen, eine starke gewerkschaftliche 



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— 232 — 



Organisation der Schuhmacher zu erzielen, ziffernmässig be- 
trachtet sehr massig. Am IG. Mai 1809 wurde zu Leipzig der 
Grundstein zu einer Vereinigung der Schuhmacher Deutsch- 
lands gelegt, im Anschluss an eine Rede Liebknechts über die 
Organisation der Arbeiter. Die Entwicklung ging indessen 
nur langsam vorwärts (in Bayern schlössen sich Nürnberg 
und Bamberg an) und der Krieg von 1870/71 hinderte voll- 
ends den Fortgang. Der Vorort wurde nach Zürich, dann 
nach Nürnberg, vorübergehend nach Dresden und von da 1873 
nach Gotha verlegt. Nach dem Kriege warf sich die Gewerk- 
schaft in eine lebhafte Agitation, stiess aber hierbei auf die 
leidenschaftliche Konkurrenz des im November 1872 in Berlin 
gegründeten Allgemeinen deutschen Schuhmachervereins Lassalle- 
scher Richtung. Auf einem von der Gewerkschaft 1875 nach 
Koburg berufenen Schuhmacherkongress fand die Vereinigung 
statt, noch vor der im gleichen Jahre zu Gotha erfolgenden 
Verschmelzung der Anhänger von Marx und derer von Lassalle. 
1878 zählte die Gewerkschaft 5000 Mitglieder, und man erging 
sich in weitgehenden Hoffnungen; schreibt doch ein Blatt, 
dass es damals nur eines kleinen Schrittes bedurft hätte, „um 
unsre gewerbliche Organisation zu einer jener grossen Ver- 
einigungen zu machen, wie sie in England und Amerika be- 
stehen." Da kam das Sozialistengesetz, und nach kurzer Frist 
verfiel auch dieser gewerkschaftliche Verein samt seiner Kran- 
kenkasse und seinem publizistischen Organ dem Verbote. Aber 
man schritt bald zu einer mit dem Gesetze verträglichen Um- 
bildung: zunächst gründete man zahlreiche Fachvereine x ), dann 

1882 die Zentralkranken- und Sterbekasse und Ende August 

1883 den „Unterstützungsverein deutscher Schuhmacher", der 
im Gegensatz zu den Fachvereinen mit lokalpartikularistischer 
Tendenz die Zentrale repräsentierte. Für Bayern wurde die 
Genehmigung des „ Unterstützungsvereins B am 17. Januar 1884 
von den Behörden erteilt, am 1. April 1884 begann er seine 
Thätigkeit mit dem Sitze in Nürnberg. Auf dem Kongresse 
in Weimar, Oktober 1888, wurde beschlossen, die Organisation 

') In Bayern bestanden 1883 neun solcher Fachvereine in München, 
Nürnberg, Fürth, Bayreuth, Schweinfurt, Rosenheim, Neustadt a. H. 
Ludwigahafen, Speier. 



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— 233 — 



des „Vereins deutscher Schuhmacher" — so wurde der Name 
geändert — trotz aller Anfechtungen aufrecht zu erhalten; es 
waren nämlich inzwischen 32 Filialen (davon in Bayern Mün- 
chen und Pirmasens) aufgelöst worden und 21 eingegangen (in 
Bayern Ansbach, Ludwigshafen, Regensburg). Trotzdem be- 
standen noch 110 Filialen mit 5300 Mitgliedern. Nun kam 
der Ablauf des Sozialistengesetzes und gleichzeitig eine mit dem 
vorübergehenden Geschäftsaufschwung in Verbindung stehende 
starke Lohnbewegung; die Mitgliederzahl stieg bis Ende 1890 
auf rund 15000. Vom Oktober 1890 bis November 1892 sind 
dann neu eingetreten zwar 15 467 Mitglieder, abgegangen aber 
durch Tod, Austritt, Ausschluss 20 310, so dass der Bestand 
des „Vereins deutscher Schuhmacher" mit dem Zentralsitz in 
Nürnberg Ende 1892 sich auf 10006 männliche und 115 weib- 
liche Mitglieder belief in 280 Zahlstellen. Bayern hatte fol- 
gende 18 Zahlstellen: Nürnberg (175 Mitglieder), München (204), 
Erlangen (12), Ludwigshafen (32), Fürth (14), Bamberg (16), 
Schweinfurt (78), Würzburg (46), Herzogenaurach (42), Speier 
(26), Schwabach (14), Mering (5), Kempten (23), Regensburg 
(8), Hof (38), Berchtesgaden (12), Kaufbeuern (12), Pirmasens 
(107). In gewerkschaftlichem Verbände standen also Ende 1892 
nur 864 Schuhmacher, etwa 2 ° o der bayerischen Schuhmacher- 
bevölkerung, während für ganz Deutschland das Verhältnis der 
organisierten zu den nichtorganisierten Arbeitern doch immer- 
hin wie 1 zu 18 ist. 

Auf allen Kongressen deutscher Schuhmacher (der dritte 
wurde im Anfang Dezember 1892 in Frankfurt a. M. abge- 
halten) und allen Generalversammlungen des „Vereins deutscher 
Schuhmacher tt , in den Kassenberichten, sowie ständig in der 
gewerkschaftlichen Presse ertönt denn auch die Klage über die 
geringe Beteiligung im allgemeinen und für Bayern im beson- 
deren. Die Notlage der Schuhmacher, die selbst die geringen Bei- 
träge hart empfänden, die stumpfe Gleichgültigkeit, welche harte 
und langdauernde Arbeit erzeuge, aber auch Schikanen der 
Polizei und der Innungen, flauer Geschäftsgang, innere Zwistig- 
keiten werden als Gründe angegeben. Namentlich wird Be- 
schwerde geführt, dass die Hausindustriellen sich ganz zurück- 
halten und die Fabrikarbeiter nur schwer beigehen; nur ein 



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— 234 



Sechstel der Mitglieder zählen zu ihnen, fünf Sechstel gehören 
dem Handwerk an. 

Was will der Verein und was leistet er? Das Statut des 
„Vereins deutscher Schuhmacher" r ) gibt in § 2 als Zweck „die 
allseitige Vertretung der Interessen seiner Mitglieder" an. Der 
Förderung dieses Zweckes dienen: a) fachgewerbliche Fortbildung 
durch Fachunterricht (Fachschulen). In der That halten verschie- 
dene Zweigvereine solche Kurse ab, der Verein veranstaltet hie 
und da Ausstellungen, seine Presse erlässt Preisausschreiben und 
ist bemüht, Ratschläge, Anweisungen, gewerbliche Nachrichten, 
Musterzeichnungen zu verbreiten, b) Erzielung günstiger Arbeits- 
bedingungen. In Bezug auf die Fabrikarbeiter werden Mass- 
nahmen der Gesetzgebung zum Schutze der Arbeiter gefordert, die 
sich mit dem allgemeinen Programm der Gewerkschaftsbewegung 
decken. Was das Handwerk betrifft, so wird die Abschaffung 
des „ Patriarchalismus 4 * und die Einführung des reinen Geld- 
lohns, die Reform der Werkstattverhältnisse im Hinblick auf 
ihre räumliche und gesundheitliche Beschaffenheit und die Fest- 
setzung einer Werkstattordnung mit zehnstündigem Maximal- 
arbeitstag, Abschaffung der Sonntagsarbeit und Einführung 
eines Minimaltagelohns verlangt. Die Hausindustrie will man 
ganz beseitigen, c) Vornahme statistischer Ermittlungen. Schon 
auf dem ersten deutschen Schuhmacherkongress Ende August 
1883 wurde eine Anregung zu einer allgemeinen Lohn-, Ar- 
beitszeit- und Lehrlingsstatistik gegeben; 1888 wurde in Weimar 
der förmliche Beschluss einer allgemeinen Berufsstatistik gefasst. 
Aber die Ausführung lässt zu wünschen übrig: allerdings 
wurden in manchen Orten von den Zweigvereinen Erhebungen 
veranstaltet, aber weder waren sie vollständig, noch nach ein- 
heitlichem Plane. Immerhin ist vereinzelt manches wertvolle 
Ergebnis erzielt worden, zurnal schätzbar in Ermanglung an- 
derweitigen Materiales, und es ist dringend zu wünschen, dass 
der Verein mit der Berufsstatistik der Schuhmacher fortfährt 2 ). 

Ferner kann die Vereinsleitung je nach den Mitteln ge- 

') Nürnberg 1890, Druck von Friedr. Höpfner. 

r ) Eine Zusammenstellung der Ergebnisse ist in der Broschüre „Die 
Lage der deutschen Schuhmachergehilfen 14 von L. Freiwald, Gotha 1890, 
agitatorisch verwertet. 



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— 235 — 



währen : Unentgeltliche Arbeitsvermittlung, Reiseunterstützungen 
(bis zu 600 Kilometer jährlich pro Kilonieter 2 Pfennig), Un- 
terstützungsbeiträge an verheiratete Mitglieder in dringenden 
Notfällen (bei Sterbefällen bis zu 30 Mark), Unterstützungen 
bei Arbeitslosigkeit, wenn sie die Folge von Lohnstreitigkeiten 
ist. Zur Mitgliedschaft sind alle in der Schuhindustrie und im 
Schuhmachergewerbe thätigen Arbeiter und Arbeiterinnen be- 
rechtigt, welche im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte sind. 
Das Eintrittsgeld beträgt für Männer 25, für Frauen 15 Pf., 
der Wochenbeitrag 10 und 5 Pf. Im Jahre 1891 betrug die 
Gesamteinnabme des Vereins rund 43 000 M.; davon wurden ver- 
ausgabt 1200 M. für Agitation, 1900 M. für Streiks, 1000 M. 
für Rechtsschutz, 1000 M. an Unterstützung für Gemassregelte, 
21 000 M. für Reiseunterstützung, 16 500 M. für Verwaltungs- 
kosten. Wie man sieht, verschlingen letztere beide Posten 
87 °/o des ganzen Budgets ; man ist zwar bestrebt, die Reise- 
untersttitzung fortgesetzt zu vermindern (von 1000 auf 800 und 
jetzt auf 600 Kilometer, was lebhaftem Widerspruch begegnet), 
von einer Einschränkung der Verwaltungskosten ist dagegen 
nichts zu hören. Alle zwei Jahre wird in einer General- 
versammlung Rechenschaft abgelegt; überdies veröffentlicht das 
publizistische Organ des Vereins, das in Gotha erscheinende 
„ Schuhmacher-Fachblatt die Quartalsaus weise. Neuerdings 
wird auch die Frage: ob Branchen-, ob Industriegruppenverband, 
lebhaft erörtert. Auf dem Allgemeinen deutschen Gewerk- 
schaftskongress am 14. und 15. März in Halberstadt waren 
auch die deutschen Schuhmacher vertreten, und am 6. und 
7. August 1893 fand ein internationaler Schuhmacherkongress 
in Zürich statt, der von Deutschland gut beschickt war. Der 
Hauptbeschluss ging auf Errichtung eines internationalen Sekre- 
tariats in Zürich, das den Arbeitsnachweis organisieren und das 
Verhalten bei Streiks regeln soll; ferner wurden das Unter- 
stützungs- und Herbergswesen, die Normalarbeitszeit, die Be- 
seitigung der Stückarbeit und die Agitation besprochen. 

Neben dem „Verein deutscher Schuhmacher" darf als In- 
strument der Gewerkschaftsbewegung die „Zentralkranken- und 
Sterbekasse der Schuhmacher und verwandten Berufsgenossen 
Deutschlands", eingeschriebene Hilfskasse Nr. 91, mit dem 



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- 236 - 



Sitze in Hamburg angesehen werden. Gegründet ist sie bereits 
1882; im ersten Quartal ihres Bestehens zählte sie 877 Mit- 
glieder in 39 Filialen (in Bayern Rosenheim, Fürth, München, 
Erlangen, Regensburg, Nürnberg, Edenkoben), Ende 1883 be- 
standen bereits 144 Filialen (in Bayern waren noch weitere 8 
hinzugekommen). In der vom 17. bis 19. Februar 1884 in 
Frankfurt a. M. abgehaltenen Generalversammlung wurde der 
Zutritt zu dieser Kasse auch andern gewerblichen Arbeitern, 
mit Ausnahme der in gefährlichen Betrieben verwendeten, ge- 
stattet; infolgedessen stieg zwar die Mitgliederzahl rasch auf 
20000 (darunter 15 500 Schuhmacher), aber die Kasse wurde 
nun so stark in Anspruch genommen, dass bald ein Defizit 
entstand. So beschloss man denn auf der Generalversammlung 
in Kassel , sich wieder auf die Schuhmacher allein zu be- 
schränken. 1888 wurde Hamburg der Sitz der Kasse, die sich 
inzwischen nach den Vorschriften des Krankenkassengesetzes 
umgeändert hatte. Die Wochenbeiträge sind in fünf Klassen 
abgestuft, die Zahl der Mitglieder betrug am 31. März 1893 
11932 in 230 Zahlstellen. Die Bilanz vom ersten Quartal 1893 
wies an Einnahmen auf: Kassenbestand 20 721 M. , Kapital- 
zinsen 3939 M. , Beiträge 56549 M., verschiedene Posten 
1844 M. Ausgegeben wurden für ärztliche Behandlung, Heil- 
mittel, Krankengeld und Verpflegungskosten, sowie für Sterbe- 
geld 52 281 M. , die Kapitalanlagen betrugen 6939 M., die 
Kassenbestände 18 004 M. , die Verwaltungskosten 5365 M. 
Der Stand dieser freien Hilfskasse ist trotz der starken Mor- 
bidität und Sterblichkeit ihrer Angehörigen augenscheinlich ein 
günstiger. 



Im Zusammenhange mit den Erörterungen über die Ver- 
bände von Arbeitgebern und Arbeitern sei es gestattet, noch 
ein Wort über die Arbeitskämpfe im Schuhmachergewerbe 
hinzuzufügen. Der „Verein deutscher Schuhmacher", also die 
gewerkschaftliche Organisation, hat sich in seiner Generalver- 
sammlung am 25. Mai 1885 mit aller Entschiedenheit gegen die 
leichtfertige und unbesonnene Inscenierung von Streiks erklärt 
und einen sogen. Schiedsrichter eingesetzt, der bei ausbrechenden 



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— 237 - 



Differenzen mit Heranziehung der Arbeiter zunächst den Weg 
gütlicher Verhandlungen zwischen beiden Parteien zu betreten 
hat, und erst dann, wenn dieser Versuch fruchtlos ausfällt, 
je nach Umständen die Arbeitseinstellung für berechtigt er- 
klärt oder davon abrät. Es sollen nur noch Streiks vom Verein 
unterstützt werden, die von dem Schiedsrichter gebilligt werden. 
Auf diese Weise ist es gelungen, eine Anzahl Streiks, die mit 
sicherer Niederlage der Arbeiter geendet hätten, zu verhüten, 
an andern Orten Vergleiche zu stände zu bringen oder Ar- 
beitseinstellungen frühzeitiger zu beenden. Freilich haben sich 
bisweilen trotzdem die Schuhmacher nicht abhalten lassen, 
ohne Billigung des Schiedsrichters einen Streik zu beginnen ; 
so namentlich im Frühjahr 1888 in Berlin, ein Vorgang, der 
stürmische Auseinandersetzungen im Schosse des Vereins hervor- 
rief. Aber auf dem Kongress zu Weimar wurde im gleichen 
Jahre das Schiedsgericht aufs neue bestätigt, und der Reichstags- 
abgeordnete W. Bock übt es zur Zeit noch aus. Er ist, wie 
er in seinem Blatte (Schuhmacherfachblatt 1888 Nr. 14) dar- 
legt, der Ansicht, dass Streiks dort am zahlreichsten seien, 
wo die Arbeiter wenig oder gar nicht sich organisiert hätten. 
Im Schuhmachergewerbe seien die Streiks in früheren Jahren 
zahlreicher gewesen als heute, und daran habe die mangel- 
hafte Organisation die Schuld getragen. „Die organisierten 
Arbeiter," schreibt Herr Bock, „kennen ihre eigene Macht 
und die Stärke der Arbeitgeber und verfallen nicht so leicht 
in den Irrtum der Ueber- oder Unterschätzung ihrer eigenen 
Kraft und der der Arbeitgeber; sie überschauen besser die 
Konjunkturen des Geschäftes, die Möglichkeiten des Gelingens 
oder Misslingens gestellter Forderungen, sie stellen auch keine 
solchen, die nach Lage des Geschäfts die Arbeitgeber nicht 
bewilligen können , und nicht zur Unzeit. Die Arbeitgeber 
ihrerseits werden sich gegenüber der Arbeiterorganisation 
hüten, unbillige Forderungen zu stellen, weil sie dadurch leicht- 
sinnig einen Kampf mit der Organisation heraufbeschwören 
können, der ihnen mehr Nachteil bringt, als sie von den Ar- 
beitern fordern. Ganz anders bei den unorganisierten Arbeitern : 
Irgend eine Veranlassung gibt Grund zur Unzufriedenheit, ein 
oder mehrere Hitzköpfe erklären, dass nur ein Streik helfen 



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— 238 — 



könne, die urteilslose, unorganisierte Menge stimmt in blinder 
Begeisterung bei, es wird einige Zeit hartnäckig stand ge- 
halten, und nachdem der Kampf auf beiden Seiten grosse 
Opfer erfordert, fallt die Arbeitseinstellung zusammen, mit 
Hinterlassung von grosser Erbitterung auf beiden Seiten 



') Auf das Beispiel eines grossen Arbeitsstreites im Schuhmacher- 
gewerbe Englands kann ich mir nicht versagen, hier hinzuweisen. Im 
Juni des Jahres 1892 beschloss der Verband der Schuhfabrikanten 
Englands, alle Fabriken innerhalb einer Woche zu schliessen, da die 
Gewerkschaft der Schuhmacher nicht einen Streik gegen acht Fabriken 
in Northampton verhindert habe, während sie verpflichtet gewesen wäre, 
die Differenz vor ein Schiedsgericht zu bringen. 90000 Arbeiter standen 
vor dem Lockout. Beiderseitige Bemühungen verhinderten dies Aeusserste, 
und am 10., 11. und 12. August 1892 traten im Stadthause zu Leicester 
unter dem Vorsitze des Bürgermeisters je 9 Delegierte der „Vereinigten 
Gesellschaften der Schuh- und Schäftefabrikanten Grossbritanniens" und 
der „Nationalunion der Schuh- und Stiefelarbeiter" zu Verhandlungen 
zusammen. Beide Parteien brachten ihre Beschwerden und Forderungen 
vor, und in musterhaft sachlicher, streng parlamentarischer Erörterung 
wurde in der That eine Einigung in den meisten Fällen zu stände ge- 
bracht. Nur ein Hauptpunkt wurde nicht erledigt: die Frage, wieviel 
jugendliche Arbeiter im Verhältnis zu den Erwachsenen in den einzelnen 
Abteilungen der Schuhfabrikation beschäftigt werden dürften. Zu ihrer 
Entscheidung wurde ein Unparteiischer gewählt, der nach erneuter Ver- 
handlung am 19. und 20. August seinen Spruch fällte: auf je drei Arbeiter 
solle durchschnittlich ein Junge (unter l!S Jahren) beschäftigt werden 
dürfen. — Die Debatten sind im Druck erschienen (Leicester, Chas. D. 
Merrick); man gewinnt aus der Lektüre der 152 enggedruckten Seiten 
einen wohlthuenden Eindruck, mit welchem Ernst und sachlicher Gründ- 
lichkeit, aber auch mit wie starkem Billigkeitsgefühle und gesundem 
Urteil hier Arbeitgeber und Arbeiter einer grossen und weit verbreiteten 
Industrie auf das Ziel guten Einvernehmens hinarbeiten, um den be- 
rechtigten Interessen beider Teile nach Thunlichkeit zu entsprechen. Auch 
das Jahr 1893 ist von einem Streite beider grossen Verbände in der 
Schuhwarenindustrie Englands nicht verschont geblieben. Aber obwohl 
sich die Dinge wieder bereits so stark zugespitzt hatten, dass die Ver- 
einigung der Arbeitgeber am 15. Juli mit einer allgemeinen Ausschliessung 
von 100000 Arbeitern drohte, weil der Verband der Arbeiter unter Ver- 
letzung der geltenden Vereinbarungen in zwei Städten Streiks ange- 
ordnet habe, gelang es abermals in letzter Stunde, auf gütlichem Wege 
die Streitigkeiten zu schlichten. Der Präsident des Nationalen Schieds- 
gerichtsamtes, Sir Thomas Wright, verlangte und setzte durch, dass die 
Arbeiter die Arbeit wieder aufnahmen und der Fabrikantenverband die - 



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- 2:39 — 



Es ist schwer zu sagen, in wie weit diese im allgemeinen 
gewiss zutreffende Auffassung in unsrem Gewerbe bestätigt 
wird. Die Statistik der Streiks im Schuhmachergewerbe ist 
für ein endgültiges Urteil nicht vollständig genug. Indessen 
scheint die Abhandlung von Dr. Oldenberg im , Handwörter- 
buch der Staats Wissenschaften* über die Arbeitseinstellungen 
in Deutschland seit Aufhebung der Koalitionsverbote zu dem 
gleichen Ergebnisse zu kommen; auch er teilt mit, dass die 
Fabrikarbeiter, welche die schlechtesten Gewerkschafter seien, 
am häufigsten, aber ohne alle Umsicht und Berechnung die 
Arbeit einstellen. Nach seiner Schätzung beziffern sich die 
Streiks im Schuhmachergewerbe bis 1889 auf mehr als 70, 
seitdem ist noch eine grössere Anzahl hinzugekommen, nach 
einer Aeusserung auf dem Schuhmacherkongress 1892 zu Frank- 
furt a. M. allein in den beiden Jahren 1891 und 1892 15. 
Gegenwärtig wird von dem Schiedsrichter eine Sammlung von 
Material über alle Ausstande im Jahre 1893 vorbereitet. 

Auch Bayern ist von Arbeitsstreitigkeiten nicht verschont 
geblieben ; es haben im letzten Jahrzehnt solche in München, 
Nürnberg, Fürth, Schweinfurt, Naila, Pirmasens etc. statt- 
gefunden, und zwar sowohl im Handwerk wie im mechanischen 
Betriebe. Doch ist weder Umfang und Dauer noch Charakter 
dieser Arbeitseinstellungen derart gewesen, dass es notwendig 
wäre, näher hierauf einzugehen. Bei der Schwäche der Ar- 
beiterorganisation bestanden auch keine Schiedsgerichte und 
Einigungsämter für Arbeitgeber und Arbeiter. 

angekündigte Auaschliessung widerrief. Die strittigen Punkte wurden 
untersucht, und vom Schiedsrichter erhielten die Arbeiter in beiden 
Fällen Unrecht. Die „ Labour Gazette", das amtliche Organ des Handels- 
ministeriums, das in Nr. 4, August 1893, auf S. 85, einen Bericht über 
diesen Streit in der Schuh warenindustrie gibt, bemerkt dazu: „Diese 
Vorgänge sind augenscheinlich geeignet, die Stellung des Schiedsgerichts 
zu stärken ; dieses hat jetzt seinem Vorsitzenden die Befugnis erteilt, 
aus eigener Initiative in Fällen von Arbeitseinstellung einzugreifen." 



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XV. 



Schlusswort, Ergebnisse und Betrachtungen. 

Der erste Teil dieser Erörterungen, der die Statistik, die 
Technik und die Betriebsorganisation des bayerischen Schuh- 
machereigewerbes in ihren Einzelnheiten dargelegt hat, ist zu 
dem Ergebnis gekommen, dass die mit Maschinen und kauf- 
männischer Benützung der Marktverhältnisse arbeitende Gross- 
industrie eine unleugbare Ueberlegenheit über den Kleinbetrieb 
besitzt: Ihre Produktion ist billiger und die von ihr erzeugten 
Massengüter stehen an Qualität keineswegs hinter den im Klein- 
betrieb hergestellten Schuhwaren zurück. Ich hoffe, dass es 
mir gelungen ist, im zweiten Abschnitt auch den weiteren 
Nachweis zu führen, wie dieser ökonomische Fortschritt nicht 
zum Schaden, sondern zum entschiedenen Vorteil der in der Schuh- 
warengrossindustrie beschäftigten Personen gereicht hat. Von 
den Betriebsinhabern versteht sich das von selbst ; das Kapital 
würde nicht fortgesetzt Anlage in der Gründung und Erweite- 
rung von Schuhfabriken suchen, wenn es darin nicht eine loh- 
nende Rente fände *). Im allgemeinen ist die Entwickelung 
dieser Industrie, abgesehen von vorübergehenden Depressionen, 
auch in Bayern eine an Umfang und Intensität aufsteigende; 
die Tendenz zu wachsender Kapitalkraft und Konzentration des 

') Fabrikinspektor Rauschenbach in der Schweiz sagt in dem Be- 
richt für 1891: „Aus der Thatsache, dass immer neue Schuhfabriken 
entstehen und bestehende erweitert werden, darf wohl der Schluss ge- 
zogen werden, dass die Thätigkeit auf diesem Gebiete noch eine ver- 
hältnismässig lohnende ist." 



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— 241 - 



Betriebes stellt ihr auch für die Zukunft ein günstiges Pro- 
gnostikon. Aber ebenso hat für die Arbeiter die mechanische 
Fabrikation von Fussbekleidungen höhere Löhne, kürzere Ar- 
beitszeiten, feste Arbeitsordnungen, gesündere Arbeitsräume mit 
ihren von selbst sich ergebenden Wirkungen auf die gesamte 
Lebenshaltung herbeigeführt. Der Grossbetrieb hat also auf die- 
sem Felde auch sozialreformatorisch gewirkt, wie er weiter sodann 
den Verbrauch an Schuhwaren wesentlich fördert und in der 
deutschen Handelsbilanz keine unbedeutende Stelle einnimmt. 
Eine Fabrikindustrie, die jährlich schätzungsweise in Bayern etwa 
für 32 Millionen Mark Waren erzeugt und umsetzt, ist ein er- 
heblicher Faktor in dem Wirtschaftsleben eines Landes von 
nicht ganz 6 Millionen Einwohnern. 

Ihr gegenüber steht das Handwerk mit rund 30000 Klein- 
betrieben und etwa 40 000 darin beschäftigten Personen — also 
ebenfalls ein Element von nicht geringer sozialer und ökonomi- 
scher Bedeutung. Die Konkurrenz der billigen Produkte der 
Grossindustrie hat die herkömmliche Notlage der grossen Mehr- 
zahl der in diesen veralteten Betriebsformen thätigen bayeri- 
schen Schuhmacher noch weiter verschärft. Wie ist da Ab- 
hilfe zu schaffen und worin ist sie zu suchen? 

Verschiedene Heilmittel, die vorgeschlagen worden sind, 
haben heute eine ausreichend lange Erprobung hinter sich, um 
über ihren Wert ein Urteil fällen zu können. 

Da sind die Zünftler mit ihrem Verlangen nach Zwangs- 
innungen und nach Einführung des Befähigungsnachweises. 
Aber gegen welche Gefahr sollen diese Mittel schützen ? Gegen 
die Gesellen, die sich seit Bestehen der Gewerbefreiheit als 
selbständige Meister niederlassen können ? Gewiss, den kleinen 
Meister, der neben ihm seine Werkstatt aufschlägt, hat der 
Schuhmacher, der trotz aller Arbeit und Sparsamkeit in seiner 
Wirtschaft immer mehr zurückkommt, zunächst als Feind im 
Auge, wenn er über die schlechten Zeiten klagt. Aber nicht 
von ihm kommt die Gefahr, sondern von der überlegenen 
Technik und der wirksamen wirtschaftlichen Organisation des 
Grossbetriebs. Ist etwa die Zwangsinnung im stände, ihren 
Mitgliedern zu jener von grösserem Kapitalbesitz bedingten 
vollkommeneren Technik, zu jener siegbringenden Kenntnis des 

Francke, Die Schuhmacherei in Bayern. IC 



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— 242 - 



Marktes und zu jener umsichtigen Geschäftsführung zu ver- 
helfen, deren sie zu einem Wettbewerb mit der Grossindustrie 
bedürfen ? Oder sollte man wirklich der Meinung sein, das 
Handwerk sei zu retten, wenn gemäss der Forderung mancher 
Handwerkertage auch für den Fabrikanten der Befähigungs- 
nachweis eingeführt würde? Als ob nicht in jeder Fabrik ein 
technischer Betriebsleiter wäre, der seine Befähigung mit Leich- 
tigkeit darthun könnte! Gegen die Gefahr, dass Betriebe mit 
rückständiger Technik von Kapitalisten, welche äusserst be- 
fähigte Betriebsleiter mit den vollkommensten Betriebsmitteln 
ausstatten, erdrückt würden, gibt auch diese Auffrischung der 
verlebten Hilfsmittel des Polizeistaates keinen Schutz. Das ein- 
zige, was mit Zwangsinnungen und Befähigungsnachweis zu 
erreichen, ist die weitere Bedrückung der kleinen Leute, welche 
das elende Leben als Arbeiter in den Betrieben andrer un- 
erträglich gefunden haben und nun versuchen, in eigenen Be- 
trieben der bescheidensten Art eine kümmerliche Selbständig- 
keit zu retten. Denjenigen aber, von denen diese Bedrückung 
ausginge, würde mit ihr nichts geholfen. Denn sie blieben 
nach wie vor schutzlos gegen die Ueberlegenheit des Gross- 
betriebs. Und selbst wenn sie diesen im Inland ernsthaft zu 
beeinträchtigen vermöchten, so bliebe nicht ihnen, sondern dem 
Ausland der Gewinn, das, durch keinerlei Rücksichten auf die 
Bedürfnisse wirtschaftlich untüchtiger Betriebe gehemmt, mit 
Freuden die Erbschaft auf dem Markte antritt, die man ihm 
so kurzsichtig hinwerfen würde. 

Da sind ferner diejenigen, welche im Genossenschaftswesen 
die Rettung des Handwerks erblicken und Kreditvereine, Roh- 
stoff- und Magazingenossenschaften empfehlen. Aber es ist 
von mir gezeigt worden, dass das Genossenschaftswesen, durch 
welches nun schon seit 40 Jahren das Handwerk gerettet wer- 
den soll, in Bayern auf dem Gebiete unsers Gewerbes gar keine 
Erfolge aufzuweisen hat. Und es liegt auf der Hand: wenn 
die genannten Arten von Genossenschaften auch einzelnen her- 
vorragenden unter den kleinen Meistern das Aufsteigen zum 
Grossbetrieb erleichtern können, den Kleinbetrieb als solchen 
vermögen sie mit diesem nicht konkurrenzfähig zu machen. 
Denn der Vorsprung des Grossbetriebs in der Schuhmacherei 



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— 243 



liegt, wie wir gesehen haben, vor allem in der Technik. Wirk- 
liche Produktivgenossenschaften aber, welche die Arbeiter zu 
Betriebsunternehmern in der Grossindustrie machen wollen und 
auf diese Weise ihnen die Vorteile der technischen Fortschritte 
zuwenden, sind in der Schuhmacherei noch nirgends von dauern- 
dem Erfolge gewesen. 

Die neuesten Hoffnungen für Erhaltung des Kleinbetriebs 
in der Schuhmacherei knüpfen sich endlich an die eifrig em- 
pfohlenen Kraft- und Werkzeugmaschinen. Aber gegenüber 
der Begeisterung, die sich hier heute kundgibt, dürfte auch 
jetzt noch das kühle Urteil anzuführen sein, das die „ Sozial- 
korrespondenz tt 1884 anlässlich einer tt internationalen Aus- 
stellung von Motoren und Werkzeugmaschinen für das Klein- 
gewerbe B in Wien gefällt hat: „Die Motoren sind für die 
einzelnen Handwerker entweder zu teuer, wie die Gasmotoren, 
oder zu umständlich, wie die Dampfmaschinen, oder zu un- 
praktikabel, wie die Wassermotoren. Auch mit den besten 
Werkzeugmaschinen, wie sie die Grossindustrie verwendet, 
kann der Kleingewerbetreibende nicht aufkommen, es sei denn, 
er trete aus den Reihen derselben und werde ebenfalls Indu- 
strieller." Für die Schuhmacherei habe ich in Kapitel VI ver- 
sucht, einige Belege hierfür beizubringen. Auch die neuen 
Arten von Motoren, die von Heissluft, Druckluft, Petroleum, 
Benzin getrieben werden, ändern hieran nichts. So wichtig 
für die Technik die Verwendung mechanischer Kraft ist, so 
ist sie doch für denjenigen ohne Nutzen, der nicht die Arbeits- 
maschinen besitzt, die sie bewegen sollen. Denn in dem ge- 
schlossenen System ineinandergreifender Arbeitsmaschinen liegt, 
wie ich gezeigt habe, auch in der Schuhmacherei die Ursache 
der enormen Leistungsfähigkeit der Neuzeit. Sobald aber ein 
Betrieb in den Besitz dieser Arbeitsmaschinen tritt, hört er als 
Kleinbetrieb auf und wird Grossindustrie. 

Volle Sympathien verdienen dagegen die Bemühungen in- 
telligenter und von Standesbewusstsein durchdrungener Hand- 
werksmeister und Gehilfen, die Berufsausbildung zu vertiefen 
und zu erweitern, sowohl nach der technischen wie nach der 
kaufmännischen Seite. Den Fachschulen und Fachkursen sowie 
den Ausstellungen könnten Staat und Gemeinde noch weit mehr 



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— 244 



wirksame Unterstützung zuwenden, als dies bisher geschehen 
ist. Vielleicht würde sich auch die Errichtung von Schuhmacher- 
lehrwerkstätten an einzelnen Bevölkerungszentren empfehlen, 
die freilich nur mit Hilfe der Mittel von staatlichen und kom- 
munalen Verbänden ins Leben gerufen werden könnten. Ebenso 
vermögen die fakultativen Innungen Nützliches zu leisten für 
Anbahnung und Aufrechterhaltung der Ordnung im Gewerbe, 
durch Vereinbarung von Werkstattordnungen und Lohntarifen 
mit den Gesellenorganisationen, durch Lehrlingskontrakte, durch 
scharfe Ahndung der Lehrlingszüchterei und Schmutzkonkur- 
renz, durch Förderung des auf Tüchtigkeit der Leistungen 
beruhenden Handwerkerstolzes und des kameradschaftlichen 
Sinnes. 

Gegen das siegreiche Vordringen der Grossindustrie werden 
freilich auch diese inneren Reformen nicht schützen. Fragen 
wir aber, innerhalb welcher Sphäre dem Kleinbetrieb in der 
Schuhmacherei noch eine Zukunft gesichert ist, so ergeben sich 
folgende Aussichten : Zuerst die Arbeit für das Luxusbedürfnis 
der oberen Zehntausend und die für die Inhaber nicht normaler 
Füsse. Der wählerische Geschmack der wohlhabenden Be- 
völkerungsminorität wird voraussichtlich noch für lange die 
Herstellung ihrer Fussbekleidung im feinen Kundengeschäft 
veranlassen. Desgleichen werden die Inhaber nicht normaler 
Füsse, deren Zahl nach glaubwürdiger Versicherung recht gross 
ist, darauf angewiesen sein, die Hand des geschickten Meisters 
in Anspruch zu nehmen ; allerdings regt sich selbst auf diesem 
Gebiet schon die Konkurrenz des Grossbetriebs : manche Fabrik 
versucht bereits, nach Mass zu arbeiten, wenn sie es bisher 
auch nur mit starkem Preisaufschlag leisten kann. Sodann wird 
mancher Handwerksmeister den jetzt schon begonnenen Ueber- 
gang zum Schuhwarenhändler gänzlich vollziehen. Dagegen 
wird drittens gerade infolge des wachsenden Konsums an Ma- 
schinenfabrikaten sich ein förmlicher Stand von Flickschustern 
herausbilden, der sich, wie dies in Nordamerika der Fall ist, 
ausschliesslich mit Reparaturarbeit beschäftigt. 

Dieser Ausblick in die Zukunft lässt uns den handwerks- 
mässigen Kleinbetrieb in der Schuhmacherei an Zahl und Be- 
deutung sehr eingeschränkt, wenn auch nicht völlig eliminiert. 



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erscheinen. Die Macht des Herkommens wie das Allmähliche 
im Anpassen an die veränderten Bedingungen des Gewerbes 
und des Marktes mögen diesen Entwickeluugsprozess der Schuh- 
macherei verlangsamen. Wie die Gewohnheit, auf der Stoß- 
arbeiten zu lassen, sich trotz aller Veränderungen der gewerb- 
lichen Betriebsformen in weiten Landstrichen Bayerns bis auf 
den heutigen Tag erhalten hat, so wird das Festhalten am 
Hergebrachten den handwerksmässigen Schuhmachern noch 
längere Zeit das Leben fristen. Allein ebenso wie das solide, 
aber plumpe Schuhwerk der Stoßarbeiter schon heute einen 
Konkurrenten in dem starken und sehr billigen Produkt man- 
cher Schuhfabriken hat, so werden auch Herkommen und 
Gewohnheit den dargelegten Entwickelungsprozess der Schuh- 
macherei nicht auf die Dauer verhindern können. 

Vielmehr wird, davon bin ich überzeugt, auch in Deutsch- 
land, wie in den industriell vorgeschritteneren Ländern Gross - 
britannien und Nordamerika dies jetzt schon der Fall ist, 
die mechanische Schuhwarenfabrikation auf dem Markte den 
Sieg erringen und den Bedarf der Massen an Schuhzeug be- 
friedigen. Mit ihrer Ausbreitung wird sie zahlreichen An- 
gehörigen des Handwerks Unterkunft und Beschäftigung ge- 
währen; schon jetzt ist die Nachfrage nach gelernten Schuh- 
machern in der Grossindustrie stark. Je billiger und besser 
die Produkte werden, desto bedeutender wird sich der Absatz 
und desto grösser infolge davon die Zahl der Arbeiter ge- 
stalten. 

Indem neue technische Erfindungen und Maschinen die 
menschliche Hand entbehrlich machen, verringern sie zwar 
zunächst die Menge der Arbeiter und vermehren die Anzahl 
der Arbeitslosen; aber es hat sich noch immer gezeigt, dass 
diese Erscheinung nur von vorübergehender Dauer ist: mit der 
grösseren Billigkeit, welche die Maschinenarbeit herbeiführt, 
wird es auch der grossen Zahl derjenigen, die meist noch bar- 
fuss bei uns gehen, sowie jener, die mit dem abgetragenen 
Schuhwerk der Wohlhabenden nur dürftig ihre Blosse decken, 
möglich werden, sich eigene Schuhe und Stiefel neu zu be- 
schaffen, und damit wird unserm Gewerbe, ähnlich wie es mit 
der Baumwollindustrie geschehen ist, ein Massenabsatz im Innern 



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entstehen, der zur Vermehrung der in ihm beschäftigten Ar- 
beiter führen muss. 

Gewiss wird der Uebergang in diese neuen Verhältnisse 
mit zahlreichen und heftigen Schmerzen verbunden sein. Aber 
er ist unvermeidlich, wenn wir zu gesunden Zuständen gelangen 
wollen. Schon heute ist, wie in Vorstehendem gezeigt worden 
ist, die Lage der in der grossindustriellen Schuhmacherei be- 
schäftigten Lohnarbeiter günstiger als die der Mehrzahl der 
kleinen Meister im Handwerk. Was sind demnach die Wir- 
kungen unsrer zahllosen Schuhmacherei-Zwergbetriebe, deren 
Selbständigkeit gerne gerühmt wird? Einerseits Zehntausende, 
die trotz emsigen Schaffens und grösster Anspruchslosigkeit in 
der Lebensführung kaum das Nötige vor sich bringen, um Leib 
und Seele zusammenzuhalten; andrerseits trotz ihres geringen 
Verdienstes Preise ihrer Produkte, welche diese Millionen unsrer 
Bevölkerung fast unerreichbar machen. Ist dieser Zustand wirk- 
lich wert, für alle Zeiten konserviert zu werden? Ist es nicht 
unendlich besser, eine Entwickelung anzustreben, die zugleich 
den Massen die Befriedigung eine.s der unentbehrlichsten Be- 
dürfnisse des gesitteten Lebens ermöglicht und dem Schuh- 
machergewerbe die wirtschaftlichen Bedingungen schafft, um 
auch den in ihr Thätigen ein menschenwürdiges Dasein zu 
gewähren ? 

Die Antwort auf diese Frage kann nicht schwer sein. 
Wenn aber dies die Entwickelung und dies ihr Ziel ist, zu 
dem uns unsre Untersuchungen über die Schuhmacherei in 
Bayern geführt haben, so ergibt sich daraus auch von selbst 
ein Urteil über die Bestrebungen, durch gesetzgeberische Mass- 
nahmen untüchtige, veraltete, absterbende Betriebsformen zu 
erhalten. 

Wir haben doch gerade auf diesem Gebiete Erfahrungen 
genug gesammelt! Als nach den Stürmen von 1848 die Re- 
aktion kam, glaubte man in Preussen wie in Bayern in den 
Angehörigen des Handwerks eine besonders verlässige Stütze 
konservativen Staatswesens zu finden , und man suchte daher 
die auf dem Frankfurter Handwerkerparlamente vorgebrachten 
Wünsche der Zünftler nach Kräften zu befriedigen. Allein 
der Gang der wirtschaftlichen Entwickelung zeigte ihre Un- 



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ausfahrbarkeit, und die Gewerbeordnung von 1868 09 hat die 
kunstlich aufgerichteten Schranken wieder beseitigt. Vom Ende 
der siebenziger Jahre ab stehen wir nun vor einer Wieder- 
holung dieses Vorgangs. Mit wirklichen Konzessionen und 
Vertröstungen sucht man dem Handwerk neue Kräfte, neue 
Hoffnungen zu verleihen, nach Art des Arztes, der einem 
Sterbenskranken durch allerlei Reizmittel sein schmerzvolles 
Dasein zu verlängern bestrebt ist. Leider bedeutet auch der 
neueste Entwurf zu einer Organisation des Handwerks, wie 
ihn der „ Reichsanzeiger " im Augenblick, da diese Zeilen zum 
Druck gehen, veröffentlicht, nur eine Fortsetzung der Politik, 
mit künstlichen Massnahmen eine naturgemässe Entwicklung 
des Wirtschaftslebens zu hemmen. Gewiss ist gegen die Er- 
richtung von Fachgenossenschaften und Handwerkerkaramern 
grundsätzlich nichts einzuwenden. Desto mehr aber gegen die 
vorgeschlagene Organisation des Prüfungswesens. Die Zünftler, 
die den Befähigungsnachweis fordern, werden mit diesem halben 
Zugeständnis nicht zufrieden sein, wie ja auch die Innungen 
schon jamnern, dass die neuen Korporationen ihr Tod seien! 
Denjenigen Gehilfen, welche die Meisterprüfung nicht ablegen, 
soll die Führung des Meistertitels zwar, aber nicht die eines 
selbständigen Betriebes untersagt werden. Gerade dies letztere 
indessen verlangen die Führer der Handwerkerbewegung. Dazu 
kommt, dass nach dem Vorschlage Betriebe, welche mehr als 
20 Arbeiter beschäftigen, den Organisationen nicht beizutreten 
brauchen und dem Prüfungswesen nicht unterstellt sind. Die 
Folge dieser ganzen Institution würde daher sein, dass einmal 
weit rascher noch als jetzt grössere Betriebe, die sich all den 
mit einer solchen Organisation verbundenen Beschränkungen 
entziehen wollen , an Stelle der kleinen treten würden , und 
andrerseits alle jene Gewerbsangehörigen, die aus irgend einem 
Grunde die Prüfung nicht machen, aber doch einen selbstän- 
digen Betrieb führen wollen oder müssen, noch weiter herab- 
gedrückt würden. Ein Blick auf unser Nachbarland Oesterreich, 
wo der obligatorische Befähigungsnachweis seit einer Reihe 
von Jahren besteht, ermutigt doch wahrlich nicht, ähnliche 
Wege in Deutschland einzuschlagen: die Unzufriedenheit der 
Handwerker ist dort nicht im geringsten gemindert worden. 



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wohl aber hat sich die der Fabrikanten und ihrer Arbeiter 
gesteigert. 

Die Politik einer einsichtigen und starken Regierung kann 
nicht darin bestehen, dass sie durch Zugeständnisse an Irrtum 
und Unkenntnis die unvermeidlich gewordene wirtschaftliche 
Entwickelung künstlich verzögert und dadurch sowie durch 
Täuschung der Hoffnungen die Qualen des Unterganges ver- 
längert. Wie kann man eine Stütze in denen suchen, denen 
ein gesunder Bestand nicht mehr beschieden ist und deren 
Konvulsionen nur der eigenen Existenz Gefahr bringen können? 
Nicht in der Gegenarbeit, sondern im Anschluss an die unver- 
meidlich gewordene Entwickelung muss die Sozialpolitik einer 
weisen und kräftigen Regierung bemüht sein, einerseits die 
Schmerzen des Ueberganges möglichst abzukürzen oder zu 
lindern, andrerseits in den neu geschaffenen Verhältnissen und 
Klassen eine nachhaltige Stütze zu finden für die Erfüllung 
der grösseren Aufgaben des Staates. Indem man den natür- 
lichen Gang der Dinge nicht zu meistern versucht, sondern ihn 
bewusst seinem Ziele zuführt, macht man sich die Dinge und 
die Menschen unterthänig und dienstwillig. 

Die Nutzanwendung dieser allgemeinen Betrachtungen für 
das Gewerbe der Schuhmacherei ergibt sich von selbst. An 
Stelle der Bemühungen, veraltete Betriebsformen künstlich zu 
halten — namentlich indem man sie von allen Vorschriften, 
die zu Gunsten von Gesundheit und Sittlichkeit der darin Be- 
schäftigten erlassen werden, ausnimmt — , muss ein entschlos- 
senes Streben treten, den Uebergang zu gesunden, weil den 
heutigen Betriebs- und Verkehrsverhältnissen entsprechenden 
Betriebsformen zu erleichtern, insbesondere durch energische 
Anwendung der zum Schutz der Arbeiter gegebenen Bestim- 
mungen auf die veralteten Betriebsformen, von denen die Haus- 
industrie vornehmlich jener in erhöhtem Masse bedarf. Dann 
aber eine nicht minder zielbewusste und nachhaltende Kraft in 
der Durchführung von Massnahmen, die nötig sind, um den 
Arbeitern in den neu entstandenen und fortwährend sich weiter 
entwickelnden Verhältnissen eine wirtschaftliche, sittliche und 
politische Selbständigkeit zu sichern. Denn wenn auch die 
Form, in welcher die kleinen Meister diese Selbständigkeit bis- 



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her zu wahren suchten, nicht auf die Dauer zu halten ist, 
darin ist ihnen beizustimmen, dass diese Selbständigkeit das 
Ziel ist, dessen Erreichung gewährt werden muss. Eine Feu- 
dalisierung der kleinen Meister und ihrer Gesellen durch die 
Grossbetriebe, ähnlich derjenigen, durch welche vor vielen Jahr- 
hunderten die kleinen freien Markgenossen durch die Grund- 
herrschaften ihre Selbständigkeit verloren, wird aber nur dann 
Terhindert werden, aus den Arbeitern der neuen Grossbetriebe 
werden nur dann wirtschaftlich und sittlich tüchtige Existenzen 
werden, auf welchen ein gesundes Staatswesen aufgebaut wer- 
den kann, wenn man ihnen rückhaltlos gestattet, ebenso wie 
die übrigen Gesellschaftsklassen, zur Wahrung ihrer besonderen 
wirtschaftlichen Interessen sich zu organisieren. Also volle 
Koalitions- und Versammlungsfreiheit nicht nur auf dem Pa- 
piere, sondern auch in Wahrheit. 

Daneben aber zur Hebung ihrer Lebenshaltung eine Wirt- 
schaftspolitik, die nicht nur alle Verteuerungen der vom Schuh- 
machereigewerbe gebrauchten Rohstoffe verschmäht, alle Zölle 
beseitigt, wodurch der Preis des inländisch erzeugten Schuh- 
werks ohne Nutzen für den Schuhmacher erhöht und damit 
der Absatz der Produkte behindert wird, sondern die auch weiter 
mit jenen künstlichen Verteuerungen der unentbehrlichen Le- 
bensmittel aufräumt, welche die Kauffähigkeit der Massen für 
Industrieprodukte und damit ebenfalls wieder die Absatzfähig- 
keit der Produkte des Schuhmachers beschränken. Betrug doch 
nach einer Arbeit Wendlands über die deutschen Getreide- 
zölle die Mehrausgabe einer sechs Köpfe zählenden Arbeiter- 
familie für Brot und Mehl allein infolge des Fünfmarkzolles 
31 M. 50 Pf. im Jahresdurchschnitt, also 1 ,i 2 — 1 10 der in 
Kapitel X und XIII angeführten Budgets deutscher Arbeiter! 
Ist auch der Zoll seitdem herabgesetzt worden, so bedeutet 
die Belastung immer noch so viel, als der ganze Schuhbedarf 
einer Arbeiterfamilie in einem Jahre ausmachen würde. Das 
und ebenso eine den thatsächlichen Verhältnissen entsprechende 
Reform der Steuergesetzgebung sind Dinge, die ebenso die 
Massen befähigen würden, eine stärkere Nachfrage nach den 
Produkten des Schuhmachers zu entwickeln, als auch der 
Schuhmacherei jenen Massenabsatz verschaffen können, dessen 



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sie zur glücklichen Bewerkstelligung des Ueberganges in höhere 



Betriebsformen notwendig bedarf. Mehr als alle Handelsverträge 
mit dem Auslande ist die Entwickelung einer kauffähigen Nach- 
frage im Inlande im stände, der glücklichen sozialpolitischen 
Neugestaltung der Schuhmacherei die notwendige wirtschaft- 
liche Grundlage zu schaffen. Dann auch finden wir Ersatz für 
den behäbig-zufriedenen Handwerksmeister der Vergangenheit 
in einem technisch tüchtigen, wirtschaftlich gut situierten und 
sittlich hochstehenden Arbeiter der Zukunft! 




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