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Full text of "Patriotismus oder Frieden?"

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Patriotismus 



oder Frieden? 





Leo Tolstoy (graf) 




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i 



tismus 
oder Frieden? 




Qrqf Xeo ColstoL 

Patriotismus 
oder Frieden? 



Tom Verfasser autorisierte Uebersetzung 
aas dem Manuskript 

von 

Sophie Behr. 

BERUH 189« 
Terlag ron August Deubner. 



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4^5^. l.S~GS" 



HARVARD COUEOC LIBRARY 

COOLirGB FUND 

FEB 5 1943 



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Geehrter Herr! 



Sie schreiben mir, ich solle mich hinsichtlich der 
Nord-Amerikanischen Staaten aussprechen, und zwar 
„im Interesse der christlichen Folgerichtigkeit und des 
wahren Friedens", und sprechen die Hoffnung aus, 
dass die Völker bald zur Erkenntnis des einzigen, 
Mittels kommen werden, einen internationalen Frieden 
zu sichern. 

Ich hege dieselbe Hoffnung. Ich hege diese 
Hoffnung, weil die Verblendung, in welcher sich gegen- 
wärtig die Völker befinden, indem sie den Patriotis- 
mus preisen und ihre jungen Generationen im Aber- 
glauben des Patriotismus erziehen, ohne deshalb die 
unvermeidlichen Folgen desselben — den Krieg — zu 
wünschen, jenen letzten Grad, wie mir scheint, erreicht 
hat, wo die einfachste, geradezu auf der Zunge 



jedes vorurteilsfreien Menschen schwebende Betrachtung 
genügt, damit die Menschen den hünmelschreienden 
Widerspruch sehen, in welchem sie sich befinden. 

Oftmals, wenn man die Kinder fragt, welches von 
zwei unvereinbaren Dingen sie wählen würden, die sie 
beide in gleichem Grade wünschen, antworten sie: das 
Eine und das Andere. Was willst du: spazieren 
fahren oder zu Hause spielen? — Spazieren fahren 
und zu Hause spielen! 

Ganz ebenso antworten uns die christlichen 
Völker auf die ihnen vom Leben gestellte Frage; 
welches von Beiden sie wählen; den Patriotismus oder 
den Frieden? Sie antworten: den Patriotismus und 
den Frieden, — obgleich der Patriotismus mit dem 
Frieden ebenso unvereinbar ist, wie das Spazieren- 
fahren mit dem Spielen zu Hause I 

In diesen Tagen gab es einen Zusammenstoss 
zwischen den Nord-Amerikanischen Staaten und Eng- 
land wegen der Grenzen Venezuelas; Salisbury war mit 
irgend etwas nicht einverstanden, Cleveland richtete 
ein Sendschreiben an den Senat, von beiden Seiten 
ertönten patriotische kriegerische Ausrufe, an der 
Börse entstand eine Panik, die Leute verloren 
Millionen Pf. Sterl. und Dollar, Edison erklärte, er 



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würde Geschütze erfinden, mit denen man in einer 
Stunde mehr Menschen töten könnte, als Attila in all 1 
seineu Kriegen getötet hat, — und beide Völker be- 
gannen sich energisch zum Kampfe zu rüsten« Sei es 
jedoch, weil gleichzeitig mit diesen Kriegs-Vorbe- 
reitungen, in England sowohl wie in Amerika, ver- 
schiedene Litteraten, Prinzen und Staatsmänner den 
Regierungen beider Völker zuzureden begannen, dass 
sie sich des Krieges enthalten möchten, dass die Ur- 
sache des Zwistes nicht wichtig genug wäre, um einen 
Krieg zu beginnen, namentlich zwischen zwei ver- 
wandten, dieselbe Sprache sprechenden anglosächsischen 
Völkern, die nicht miteinander kämpfen, sondern 
ruhig über andere Völker herrschen sollten, — sei es, 
weil allerhand Bischöfe, Archidiakone und Kanonikusse 
in ihren Kirchen darum beteten und predigten, — 
oder, weil die eine oder die andere Partei sich noch 
nicht für fertig hielt; das Resultat war jedenfalls, dass 
der Krieg diesesmal nicht ausgebrochen ist. Und die 
Menschen haben sich beruhigt 

Man müsste jedoch sehr wenig „perspicacit6 Ä 
(Scharfblick) besitzen, um nicht zu sehen, dass die 
Ursachen, welche diesmal einen Zusammenstoss zwischen 
England und Amerika herbeigeführt haben, dieselben 



— 10 — 

geblieben sind, und dass, wenn auch der augenblick- 
liche Zusammenstoss ohne Krieg ausgeglichen wird, 
so doch unvermeidlich morgen oder übermorgen 
andere Zusammenstösse entstehen werden, — zwischen 
England und Amerika, und zwischen England und 
Deutschland, oder zwischen England und Bussland, 
oder zwischen England und der Türkei, in allen mög- 
lichen Kombinationen, wie sie auch thatsächlich täglich 
entstehen; und eine von ihnen wird unumgänglich zum 
Kriege führen. Es kann auch nicht anders sein, wenn 
zwei bewaffnete Menschen nebeneinander leben, denen von 
frühester Kindheit an eingeflösst wurde, dass Machte 
Reichtum und Ruhm die höchsten Tugenden seien, und 
dass es folglich die lobenswerteste That sei, Macht, 
Reichtum und Ruhm durch die Waffen, zum Nachteil 
der andern Nachbar-Herrscher zu erringen, und wenn 
dabei weder eine sittliche, noch eine religiöse, noch 
eine weltliche Macht über ihm steht, — ist es dann 
nicht augenscheinlich, dass solche Menschen immer 
kämpfen werden, dass die normalen Beziehungen zwischen 
ihnen der Krieg sein werde, und dass, wenn solche 
Menschen, nachdem sie aneinandergeraten sind, sich 
für eine Zeitlang losgelassen haben, sie dies nur gethan 
haben um, wie das französische Sprichwort sagt, „pour 



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mieux sauter", d. h. sie haben sich von einander ent- 
fernt um einen besseren Anlauf zu nehmen und sich 
mit grösserer Erbitterung auf einander zu stürzen. 

Furchtbar ist der Egoismus der Privatmenschen; 
die Egoisten des Privatlebens jedoch sind nicht be- 
waffnet und halten es nicht für eine gute That Waffen 
gegen ihre Gegner bereit zu halten oder solche gegen 
sie anzuwenden; der Egoismus der Privatmenschen 
steht unter Kontrolle der Staatsgewalt sowie der öffent- 
lichen Meinung. Ein Privatmensch, der mit der Waffe 
in der Hand, dem Nachbar eine Kuh oder ein Stück 
seines Saatfeldes fortnähme, würde sofort von der 
Polizei ergriffen und eingesperrt werden. Ausserdem 
würde die öffentliche Meinung einen solchen Menschen 
als Dieb und Räuber verdammen. Ganz anders ver- 
hält es sich mit den Staaten: Alle sind sie bewaffnet, 
es giebt keine Macht über ihnen, wenn nicht den 
lächerlichen Versuch einen Vogel zu fangen, indem man 
ihm Salz auf den Schwanz streut, d. i.: der Versuch 
der Gründung internationaler Kongresse, die von den 
mächtigen Staaten (die gerade deshalb bewaffnet sind 
um Keinem zu gehorchen) offenbar nie anerkannt 
werden, namentlich aber preist die öffentliche Meinung, 
dieselbe, die jede Gewaltthat des Privatmenschen tadelt, 



— 12 — 



jede Aneignung des Fremden zur Vergrösserung der 
Macht seines Vaterlandes, und erhebt den Patriotismus: 
zu einer Tugend. 

Schlagen Sie - die Zeitungen zu jeder beliebigen' 
Zeit auf und stets, in jedem Augenblick werden Sie 
darin den schwarzen Punkt, d. h. die Ursache eines 
möglichen Krieges sehen: bald wird es Korea sein, 
bald Palmyra, bald die afrikanischen Länder, bald 
Abessinien, bald Armenien, bald die Türkei, bald 
Venezuela, bald der Transvaal. Das Räuberhandwerk 
wird unausgesetzt betrieben, und bald hier, bald dort 
gehen kleine Kriege vor sich, wie an den Grenzwachen, 
und jeden Augenblick kann und muss ein wirklicher 
grosser Krieg ausbrechen. 

Wenn der Amerikaner eine vor allen andern 
Völkern hervorragende Macht und Wohlfahrt Amerikas 
wünscht, und der Engländer, wie der Russe, der Türke, 
der Holländer, der Abessinier, der Bürger Venezuelas 
und des Transvaal, der Araenier, der Pole und der 
Czeche dasselbe wünschen und sie Alle überzeugt 
sind, dass diese Wünsche nicht nur nicht verborgen 
und nicht unterdrückt werden dürfen, sondern dass 
man auf diese Wünsche stolz sein und sie in sich 
und in Andern entwickeln müsse ; und wenn die Grösse 



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und Wohlfahrt eines Landes oder Volkes nicht anders 
errungen werden kann als zum Nachteil . eines andern 
oder mitunter vieler andern Länder und Völker, ~ 
wie wäre da ein Krieg zu vermeiden 1 

Und darum: damit kein Krieg sei, muss man 
nicht um den Frieden beten und predigen, nicht den 
„english speaking nations" zureden in Freundschaft 
miteinander zu leben, um über die andern Völker zu 
herrschen, nicht einen Zweibund oder Dreibund Einer 
gegen den Andern schliessen, nicht Prinzen und 
Prinzessinnen verschiedener Völker untereinander 
verheiraten, — . sondern man muss das vernichten, 
was den Krieg hervorbringt. Der Krieg wird aber 
hervorgerufen durch den Wunsch der ausschlieslichen 
Wohlfahrt seines eigenen Volkes, das, was wir Patrio- 
tismus nennen. Folglich um denKrieg abzuschaffen, muss 
man den Patriotismus abschaffen. Um aber den Patriotis- 
mus abzuschaffen, muss man sich vor Allem überzeugen r 
dass er ein Uebel ist; und das eben ist das Schwierige, 
Sagt den Menschen, dass der Krieg schlimm sei, — 
sie werden lachen; wer weiss das nicht! Sagt ihnen y 
dass der Patriotismus schlimm sei und die Mehrzahl 
wird dem beistimmen, jedoch mit einer kleinen Ein- 
wendung. Ja, der schlimme Patriotismus ist schlimm; 



— 14 — 

es giebt aber einen andern Patriotismus, den, zu dem 
wir uns bekennen. Worin jedoch dieser gute Patriotis- 
mus besteht, kann Niemand erklären« Wenn der gute 
Patriotismus darin besteht kein erobernder zu sein, 
wie Viele sagen, so wird doch der Patriotismus, 
wenn er auch kein erobernder ist, jedenfalls ein 
erhaltender sein, d. h. dass die Menschen bestrebt sind 
das zu erhalten, was dereinst erobert wurde, da es 
kein Land giebt, das nicht durch Eroberung gegründet 
worden wäre; das Eroberte aber zu erhalten, bedarf, 
es notwendigerweise derselben Mittel, wie diejenigen, 
mit denen jedes Ding erobert wird, d. h. der Gewalt, 
des Todtschlages. Wenn aber der Patriotismus auch 
kein erhaltender ist, so ist er ein wiederherstellender, 
— wie der Patriotismus der besiegten und unterjochten 
Völker: der Armenier, der Polen, der Czechen, der 
Irländer u. dgl. Und dieser Patriotismus ist fast der 
schlimmste, weil er der erbitterste ist und folglich die 
höchsten Gewalttaten verlangt. 

Der Patriotismus kann kein guter sein. Weshalb 
sagen die Menschen nicht, dass der Egoismus ein 
guter sein kann, obgleich man dieses eher behaupten 
könnte, weil der Egoismus ein natürliches Gefühl ist, 
das mit dem Menschen in die Welt kommt, wogegen 



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der Patriotismus ein unnatürliches, dem Menschen künst- 
lich eingeimpftes Gefühl ist. 

Man wird sagen; „der Patriotismus hat dieMenschea 
zu Staaten vereint und erhält die Einheit der Staaten 
aufrecht." Die Menschen sind aber schon in Staaten 
vereinigt, das Faktum ist bereits vollbracht; weshalb 
soll denn jetzt die ausschliessliche Hingebung der 
Menschen an ihren Staat aufrecht erhalten werden, 
vrenn diese Hingebung so schreckliches Elend anderer 
Staaten und Völker verursacht! Dieser selbe Patrio- 
tismus, der die Menschen in Staaten vereinigt hat, 
zerstört jetzt diese selben Staaten. Ja, wenn es nur einen 
Patriotismus* gäbe z. B. den Patriotismus der Engländer 
allein, so könnte man ihn als einen einigenden und wohl- 
thätigen betrachten; wenn es aber, wie jetzt einen ameri- 
kanischen, einen englischen, einen deutschen, einen fran- 
zösischen, einen russischen Patriotismus giebt, von denen 
jeder dem andern entgegengesetzt ist, so vereinigt der 
Patriotismus nicht mehr, sondern zerstört Wenn man 
sagt, dass der Patriotismus, da er ein wohlthuender war, 
als er die Menschen in Staaten vereinigte, wie es zur 
Zeit seiner Blüte in Griechenland und Rom der Fall 
war, folglich auch jetzt, nach 1800 Jahren christlichen 
Lebens, ebenso wohlthätis: sei, so ist es, als wollte 



— 16 — 

man sagen, dass, wenn das Ackern eines Feldes vor 
der Saat nützlich und wohlthuend ist, es ebenso wolil- 
thuend sein müsse, nachdem die Saat bereits aufge- 
gangen ist. Es wäre gewiss gut den Patriotismus zu 
erhalten, zum Andenken jenes Nutzens, den er z. B. 
den Menschen gebracht hat, gleichwie die Menschen 
die alten Denkmäler, Tempel, Grabmäler, u. s. w. 
schützen und erhalten. Tempel und Grabmäler jedoch 
stehen da und bringen keinen Schaden, der Patriotismus 
hingegen bringt unaufhörlich unzählige Uebel hervor. 

Weshalb leiden, kämpfen und verwildern jetzt die 
Armenier und die Türken? Weshalb warten England 
und Russland, jedes von ihnen besorgt um seinen An- 
teil an der Erbschaft der Türkei, und setzen den 
armenischen Greueln kein Ende? Warum kämpfen die 
Abessinier und die Italiener gegen einander? Weshalb 
war ein schrecklicher Krieg nahe daran auszubrechen, 
erst wegen Venezuela, dann wegen des Transvaal? 
Und der chüio-j apanische, der türkische, der deutsche, 
der französische Krieg? Und die Erbitterung der unter- 
jochten Völker: der Armenier, der Polen, der Irländer? 
Und die Vorbereitungen zum Kriege von Seiten aller 
Völker? Dies alles sind die Früchte des Patriotismus. 
Ströme von Blut sind vergossen worden um dieses Ge- 



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fühles willen und werden noch um seinetwillen ver- 
gossen werden, wenn die Menschen sich nicht von 
diesem abgelebten Rest des Altertums befreien werden. 

Ich habe schon oft über den Patriotismus schreiben 
müssen und über dessen vollständige Unvereinbarkeit 
nicht nur mit der Lehre Christi in ihrem idealen Sinne, 
sondern selbst mit den einfachsten Vorschriften der 
christlichen Moral, und jedes Mal wurden meine Be- 
hauptungen entweder durch Schweigen beantwortet 
oder durch einen hochmütigen Hinweis: dass die von 
mir ausgesprochenen Ideen Utopien und der Ausdruck 
des Mystizismus, des Anarchismus und des Kosrao- 
politismus seien. Oft wurden meine Ideen in gedrängter 
Form wiederholt, und anstatt sie zu widerlegen, wurde 
blos hinzugefügt, dass dies nichts anderes sei als 
Kosmopolitismus, als ob das Wort Kosmopolitismus 
alle meine Behauptungen unwiderruflich widerlegte. 

Ernste, alte, kluge, gute Menschen, namentlich 
Menschen, die dastehen wie eine Stadt auf hohem 
Berge, Menschen, die durch ihr Beispiel unwillkürlich 
die Massen leiten, thun als ob die Gesetzlichkeit und 
Wohlthätigkeit des Patriotismus so offenbar und so 
zweifellos wäre, dass es nicht lohne, auf die leicht- 
sinnigen und sinnlosen Angriffe auf dieses heilige Ge- 

2 



— 18 — 

fühl zu antworten, und die Mehrzahl der von Kindheit 
an betrogenen und vom Patriotismus angesteckten 
Menschen sieht in diesem hochmütigen Schweigen die 
überzeugendste Widerlegung und fährt fort, in ihrer 
Unwissenheit zu verrosten. 

Und deshalb begehen die Menschen, die ihrer 
Stellung nach die Massen von ihrem Elend befreien 
können und es nicht thun, eine grosse Sünde. 

Das schrecklichste ist, dass die Heuchelei in der 
Welt ist. Nicht umsonst geriet Christus blos ein ein- 
ziges Mal in Zorn, und dies war gegen die Heuchelei 
der Pharisäer. 

Was aber war die Heuchelei der Pharisäer im 
Vergleich zu der Heuchelei unserer Zeit! Im Vergleich 
zu unsern Heuchlern waren die Pharisäer die wahrheits- 
liebendsten Menschen, und ihre Kunst der Heuchelei 
war im Vergleich zu der Kunst unserer Heuchler — 
das reine Kinderspiel; und es ist auch nicht anders 
möglich. 

Unser ganzes Leben mit dem Bekenntnis des 
Christentums, dieser Lehre der Demut und Liebe, ver- 
eint mit dem Leben einer gewaffheten Räuberbande, 
kann nichts anderes sein als eine ununterbrochene 
entsetzliche Heuchelei. Es ist sehr bequem, eine Lehre 



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zu bekennen, an deren einem Ende die christliche 
Heiligkeit und folglich die Unfehlbarkeit, und am andern 
das heidnische Schwert und der Galgen steht, so dass, 
wenn man durch die Heiligkeit imponieren und be- 
trügen kann, man die Heiligkeit in Anwendung bringt; 
falls jedoch der Betrug nicht gelingt, wird das Schwert 
und der Galgen angewandt. Eine solche Lehre ist sehr 
bequem; es kommt jedoch eine Zeit, wo dieses Lügen- 
gewebe reisst und man nicht mehr fortfahren kann, 
sich an beides zu halten, sondern unumgänglich sich 
an das eine oder an das andere anschliessen muss. 
Das ist es, was jetzt in Bezug auf die Lehre über den 
Patriotismus geschieht. 

Die Menschen mögen wollen oder nicht, die Frage 
steht klar vor der Menschheit: in welcher Weise kann 
jener Patriotismus, der unzählige sowohl physische wie 
moralische Leiden der Menschen hervorbringt, — not- 
wendig und eine Tugend sein? Und es ist unumgänglich, 
diese Frage zu beantworten. 

Es ist unumgänglich: entweder zu zeigen, dass der 
Patriotismus ein so grosses Wohl sei, dass er alles 
Elend, welches er in der Menschheit hervorbringt, voll- 
ständig aufwiegt, oder zu bekennen, dass der Patriotis- 
mus ein Uebel ist, welches man nicht nur den Menschen 



— 20 — 

nicht einimpfen und einflössen dürfe, sondern von dem 
man sich mit allen Kräften zu befreien suchen müsse: 
„C'est ä prendre ou k laisser", wie die Franzosen 
sagen. Wenn der Patriotismus ein Wohl ist, ist das 
Christentum, das den Frieden giebt, — ein leerer Wahn, 
und je schneller man diese Lehre ausrotten würde, 
um so besser würde es sein. Wenn aber das Christen- 
tum wirklich den Frieden giebt und wir wirklich den 
Frieden wollen, dann ist der Patriotismus ein Ueber- 
bleibsel der barbarischen Zeiten, welches man nicht 
nur weder erwecken noch grossziehen darf, wie wir es 
jetzt thun, sondern welches wir im Gegenteil mit allen 
Mitteln ausrotten müssen: durch Predigten, durch 
Ueberzeugungen, durch Verachtung, durch Spott. Wenn 
das Christentum die Wahrheit ist und wir im Frieden 
leben wollen, können wir nicht nur keine Mitempfindung 
für die Macht und Grösse unseres Vaterlandes haben, 
sondern wir müssen uns seines Verfalles und seiner 
Schwäche freuen und dazu beitragen. Der Russe muss 
sich freuen, wenn Polen, die Ostsee-Provinzen, Finn- 
land und Armenien von Russland abfallen und sich 
befreien; wie der Engländer sich über dasselbe freuen 
muss in Bezug auf Irland, Australien, Indien und 
andere Kolonieen und dazu beitragen muss, denn: je 



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grösser ein Staat ist, um so böser und grausamer ist 
sein Patriotismus, auf einer um so grösseren Menge von 
Leiden gründet sich seine Macht Und desshalb: wenn 
wir thatsächlich das sein wollen, wozu wir uns be- 
kennen, dürfen wir nicht nur keine Vergrösserung 
unseres Staates wünschen, wie wir es jetzt thun, sondern 
wir müssen im Gegenteü dessen Verkleinerung und 
Abschwächung wünschen und nach Kräften dazu bei- 
tragen. Und in solchem Sinne wollen wir auch die 
jungen Geschlechter erziehen: wir müssen die jungen 
Geschlechter derart erziehen, dass, wie heute ein 
junger Mensch sich schämt, seinen rohen Egoismus zu 
zeigen, z. B. dadurch, dass er alles aufisst, ohne etwas 
für die andern übrig zu lassen, oder einen Schwächeren 
vom Wege zu stossen, um selbst ungehindert durchzu- 
gehen, oder sich mit Gewalt etwas anzueignen, was dem 
Andern notwendig ist — er sich ebenso schämen müsste, 
eine Vergrösserung seines Vaterlandes zu wünschen; 
und ebenso wie das Selbstlob heutzutage für lächerlich 
und albern gilt, müsste auch die Lobpreisung seines 
Volkes für albern gelten, wie sie sich heutzutage in 
verschiedenen falschen Vaterlandsgeschichten, in Bildern, 
Denkmälern, Lehrbüchern, Gedichten, Abhandlungen, 
Fredigten und Volkshymnen kundgiebt. Man 



_ 22 — 

muss jedoch begreifen, dass, solange wir den Patriotis- 
mus lobpreisen und ihn in den jungen Geschlechtern 
grossziehen werden; solange wir Waffen und Geschütze 
haben werden, die sowohl das physische wie das 
geistige Leben der Völker zu Grunde richten, — so 
lange wird es auch Kriege geben, schreckliche, ent- 
setzliche Kriege, wie die, zu denen wir uns vorbereiten 
und in deren Kreis wir jetzt neue, furchtbare Kämpfe 
aus dem fernen Osten hineinziehen, sie durch 
unseren Patriotismus verderbend. 

Der Kaiser Wilhelm, eine der originellsten Ge- 
stalten unserer Zeit, — Redner, Dichter, Musiker» 
Dramaturg und Künstler, namentlich auch Patriot, 
hat unlängst ein Bild gemalt, das alle Völker Europas 
darstellt, die bewaffnet am Meeresufer stehen und in 
der Richtung, die ihnen der Erzengel Michael weist r 
in die Ferne schauen, wo die Gestalten von Buddha 
und von Confucius sichtbar sind. Das soll bedeuten,, 
dass die Völker Europas sich vereinigen müssen, um 
der ihnen von dorther nahenden Gefahr zu wider- 
stehen. Und dies ist vollkommen richtig, vom heid- 
nischen, um 1800 Jahre zurückgebliebenen, patriotischen 
Gesichtspunkte aus. Die Europäischen Völker sind 
sich Christi nicht mehr bewusst und haben im Namen 



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23 — 



ihres Patriotismus jene friedliebenden Völker immer 
mehr und mehr aufgeregt und haben ihnen den 
Patriotismus und den Krieg beigebracht und haben 
sie jetzt in dem Masse erregt, dass in der That, wenn 
nur Japan und China die Lehre Buddhas und 
Confucius ebenso vergessen, wie wir die Lehre Christi 
vergessen haben, sie bald die Kunst, Menschen zu 
töten, erlernen werden (dies lernt sich rasch, wie wir 
an Japan gesehen haben); und da sie furchtlos, 
gewandt, kräftig und zahlreich sind, werden sie sicher 
in kurzer Zeit aus Buropa, — falls Europa ihnen 
nicht anderes entgegenzustellen wissen wird, als die 
Geschütze und Erfindungen Edisons, — das machen, 
was die Länder Europas jetzt aus Afrika machen. 
„Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der 
Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen 14 
(Lucae 6,40). 

Auf die Frage eines kleinen Pürsten: wie und 
um wie viel er sein Heer vergrössern müsse, um ein 
kleines Völkchen im Süden, das sich ihm nicht unter- 
werfen wollte, zu besiegen, erwiderte Confucius: „ver- 
nichte dein Heer, verwende das, was du jetzt für dein 
Heer ausgiebst, — auf die Aufklärung deines Volkes 
und die Verbesserung der Landwirtschaft^ und das 



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— 24 — 

Völkchen im Süden wird seinen kleinen Pürsten fort- 
jagen und ohne Krieg sich deiner Macht unterwerfen." 

So lehrte Confucius, von dem man uns sagt, dass 
wir ihn fürchten sollen. Wir aber haben die Lehre 
Christi vergessen; wir haben uns von ihm losgesagt 
und wollen die Völker mit Gewalt unterjochen und 
schaffen uns dadurch nur neue und noch mächtigere 
Feinde, als es unsere Nachbarn sind. Einer meiner 
Freunde sagte, als er das Bild von Kaiser Wilhelm sah : 
„ein schönes Bild; nur bedeutet es nicht das, was 
daruntergeschrieben ist." 

Es bedeutet, dass der Erzengel Michael alle 
Mächte Europas, die gleich gewänne ten Räubern da- 
stehen, auf das hinweist, was sie vernichten und zu 
Grunde richten wird, nämlich: die Duldsamkeit 
Buddhas und die Vernunft Confucius'. Er hätte hin- 
zufügen können: und die Demuth Lao-tses. 

Und in der That: dank unserer Heuchelei, haben 
wir die Lehre Christi in dem Grade vergessen und 
alles Christliche aus unserem Leben ausgemerzt, dass 
die Lehre Buddhas und Confucius' unvergleichlich 
höher steht, als jener grausame Patriotismus, der 
unseren pseudo-christlichen Völkern zur Richtung 
dient. Und deshalb liegt die Befreiung Europas und 



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überhaupt der ganzen christlichen Welt nicht darin, 
dass wir, nicht als bewaffnete Räuber, wie jenes Bild 
uns darstellt, uns auf unsere überseeischen Brüder 
werfen, um sie zu töten, sondern sie besteht darin, 
dass wir uns von diesem Ueberbleibsel barbarischer 
Zeiten — dem Patriotismus — lossagen und, nachdem 
wir uns von ihm losgesagt haben, die Waffen ablegen 
und den orientalischen Völkern nicht das Beispiel 
eines rohen und grausamen Patriotismus geben, 
sondern das Beispiel eines Lebens von Brüdern unter- 
einander, wie Christus es uns gelehrt hat. 



Moskau, 2. Januar 1896. 



Leo Tolstoi. 



EL 



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Marian Edmundo witsch! 



Ich habe Ihren Brief erhalten und habe mich be- 
eilt, Ihren Artikel im „Severny Westnik" zu lesen. Ich 
bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mich auf den- 
selben aufmerksam gemacht haben. Der Artikel ist 
ausgezeichnet und ich habe Vieles daraus erfahren, was 
mir unbekannt und angenehm war. Ich wusste, was 
Mitzkevitsch und Toviansky betrifft; ich hielt jedoch 
ihre religiöse Stimmung für die ausschliessliche 
Eigenheit dieser zwei Menschen. Aus ihrem Artikel 
jedoch habe ich ersehen, dass sie blos die Stammväter 
der, durch den Patriotismus hervorgerufenen und durch 
ihre Erhabenheit und Aufrichtigkeit tief ergreifenden, 
wahrhaft christlichen Bewegung waren, die heute noch 
fortdauert. 

Mein Artikel über den „Patriotismus und das- 



— 30 — 

Christentum" hat viele Einwendungen hervorgerufen 
von Seiten der Philosophen und der Publizisten, von 
Russen, Franzosen, Deutschen und Oesterreichern; auoh 
Sie machen Ihre Einwendungen. Und alle Einwendungen 
wie auch die Ihrige führen zu dem Schlüsse, dass 
meine Verurteilung des Patriotismus richtig ist in Be- 
zug auf den schlechten Patriotismus, jedoch durchaus 
unbegründet hinsichtlich des guten und nützlichen 
Patriotismus; worin aber dieser gute und nützliche 
Patriotismus besteht, und wodurch er sich vom schlech- 
ten unterscheidet, hat bis jetzt noch Niemand sich be- 
müht zu erklären. 

Sie schreiben in Ihrem Briefe, dass ausser „dem 
erobernden menschenfeindlichen Patriotismus der 
mächtigen Nationen noch ein durchaus entgegenge- 
setzter Patriotismus existiert: der Patriotismus der 
unterjochten Völker, die nur bestrebt sind, ihren Glau- 
ben und ihre Sprache vor den Feinden zu verteidigen. u 
Und auf diese unterjochte Stellung gründen Sie die 
Erklärung des guten Patriotismus. Die Unterjochung 
jedoch oder die Macht der Nationen macht keinen 
Unterschied im Wesen dessen, was Patriotismus ge- 
nannt wird. Das Feuer wird stets dasselbe sein, 
brennend und gefährlich, sei es die Flamme ein.es 



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Scheiterhaufens oder das Glimmen eines Zündhölz- 
chens. Unter Patriotismus versteht man die Vorliebe 
für seine Nation vor allen andern Nationen, gleichwie 
man unter Egoismus die Vorliebe für seine eigne Per- 
son vor allen anderen Menschen versteht. Und es ist 
schwer sich vorzustellen, wie eine solche Bevorzugung 
einer Nation vor einer anderen als eine gute und des- 
halb wünschenswerte Eigenschaft angesehen werden 
kann. Wenn Sie sagen, dass der Patriotismus im 
Unterdrückten eher zu entschuldigen sei als im Unter- 
drücker, wie auch die Kundgebung des Egoismus in 
einem Menschen, der erdrosselt wird, eher zu entschul- 
digen ist als in einem Menschen, dem Niemand etwas 
anthut, so kann man nicht umhin mit Ihnen überein- 
zustimmen; seine Eigenschaft verändern kann aber der 
Patriotismus nicht dadurch, dass er sich im Unter- 
drücker kundgiebt. Und diese Eigenschaft, d. h. 
die Bevorzugung eines Volkes vor allen anderen, kann 
ebensowenig wie der Egoismus eine gute sein. 

Nicht genug aber, dass der Patriotismus keine 
gute Eigenschaft ist, — er ist auch eine unvernünftige 
Lehre. 

Denn: unter dem Worte Patriotismus versteht 
man nicht blos eine unmittelbare, unwillkürliche Liebe 



— 32 — 

zu seinem Volke und die Bevorzugung desselben vor 
den andern, sondern auch die Lehre, dass eine solche 
Liebe und Bevorzugung gut und nützlich seien. Diese 
Lehre ist ganz besonders unvernünftig inmitten der 
christlichen Völker. 

Sie ist unvernünftig, nicht blos, weil sie der 
Grund-Idee der Lehre Christi widerspricht, sondern 
auch, weil das Christentum, welches durch seine Wege 
Alles das erreicht, wonach der Patriotismus strebt, 
den Patriotismus überflüssig, unnütz und störend macht, 
wie eine brennende Lampe am helllichten Tage. 

Ein Mensch, welcher, wie Krassinskj, glaubt, „dass 
die Kirche Gottes nicht dieser oder jener Ort und 
nicht dieser oder jener Ritus sei, sondern der ganze 
Planet und alle Beziehungen der Menschen und Völker 
untereinander, die überhaupt existieren können", — 
kann nicht mehr ein Patriot sein, weil er bereits im 
Namen des Christentums alle jene Handlungen voll- 
bringen wird, die der Patriotismus von ihm verlangen 
könnte. Der Patriotismus verlangt z. B. von seinem 
Jünger das Opfer seines Lebens für das "Wohl seiner 
Landsleute; das Christentum dagegen verlangt dasselbe 
Opfer für das Wohl aller Menschen, schliesst mithin eine 
Opferuogfür das Wohl eines Stammes mit ein. 



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— 33 — 

Sie schreiben über die Gewaltthaten, die von 
den barbarischen und grausamen russischen Obrig- 
keiten an dem Glauben und der Sprache der Polen 
verlibt werden, und stellen dies als eine Veranlassung 
zu einer patriotischen Thätigkeit hin. Ich sehe das 
nicht ein. Um über solche Gewaltthaten empört zu 
sein und sich ihnen mit aller Kraft zu widersetzen, 
braucht man weder ein Pole, noch ein Patriot zu 
sein: man muss bloss ein Christ sein. 

Im gegebenen Falle z. B. würde ich, ohne Pole 
zu sein, mit jedem Polen wetteifern in dem Grade des 
Widerwillens und der Entrüstung gegen die barbarischen 
und grausamen Maassregeln, die von der russischen Re- 
gierung gegen den Glauben und die Sprache der Polen 
angewandt werden, werde auch wetteifern in dem 
Wunsche diesen Maassregeln entgenzuwirken; nicht, 
weil ich den Katholicismus den andern- Religionen vor- 
ziehe oder die polnische Sprache vor den andern 
Sprachen, sondern weil ich mich bestrebe, ein Christ 
zu sein. Und folglich: damit nichts derartiges in 
Polen, im Elsass, in Böhmen, vorkomme, bedarf es 
nicht der Verbreitung des Patriotismus, wohl aber 
der Verbreitung des wahren Christentums. 

Man kann sagen, dass wir das Christentum nicht 

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kennen wollen, und dann kann man den Patriotismus 
preisen; sobald wir aber das Christentum, oder zum 
mindesten das ihm entspriessende Bewusstsein der 
Gleichheit der Menschen untereinander und der Achtung 
der menschlichen Würde anerkannt haben, giebt es 
keinen Raum mehr für den Patriotismus. Mich 
wundert dabei vor allen Dingen, wie die Verteidiger 
des Patriotismus der unterjochten Völker (wie vervoll- 
kommnet und verfeinert sie ihn auch darstellen mögen) 
nicht sehen, wie schädlich der Patriotismus gerade 
für ihre Zwecke ist. 

In wessen Namen wurden und werden noch alle 
Gewalttätigkeiten gegen den Glauben und die Sprache 
in Polen, in den Ostsee-Provinzen, im Elsass, in 
Böhmen, gegen die Juden in Russland, mit einem 
Wort überall verübt? Doch nur im Namen desselben 
Patriotismus, den Sie verteidigen. 

Fragen Sie unsere barbarischen Russiflkatoren 
Polens, der Ostsee-Provinzen, fragen Sie die Verfolger 
der Juden, 'warum sie das thun, was sie thun? Sie 
werden Ihnen antworten, dass dies zur Verteidigung 
des eigenen Glaubens und der eigenen Sprache 
geschieht; sie werden sagen, dass, wenn sie nicht so 
handeln würden, wie sie es thun, ihre eigene Sprache 



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und ihr eigener Glaube darunter leiden würde; das 
russische Element würde unter dem Binfluss des pol- 
nischen, des deutschen und jüdischen Elementes leiden. 

Wenn die Lehre nicht wäre, dass der Patriotismus 
etwas Gutes sei, würden sich niemals Menschen 
finden, die jämmerlich genug wären, sich zu ent- 
schliessen am Ende des 19. Jahrhunderts die Greuel 
zu begehen, die sie heutzutage begehen. 

Heutzutage hingegen haben die Gelehrten, — bei 
uns ist der grausamste Verfolger des Glaubens ein 
gewesener Professor — einen Stützpunkt im Patriotis- 
mus. Sie kennen die Geschichte und kennen alle 
nutzlosen Schrecken der Verfolgungen des Glaubens 
und der Sprache; dank dem Patriotismus jedoch 
haben sie eine Rechtfertigung. 

Der Patriotismus giebt ihnen einen Stutzpunkt; 
das Christentum hingegen zieht ihnen diesen Stütz- 
punkt unter den Füssen weg. Und darum müssen die 
unterjochten Völker, die unter diesem Joche leiden, 
den Patriotismus vernichten, dessen theoretische 
Grundlagen zerstören, ihn verspotten, nicht aber ihn 
hochpreisen. 

Wenn man den Patriotismus verteidigt, spricht 
man auch noch über die Individualität der Völker- 



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Schäften, und zwar, dass der Patriotismus den Zweck 
habe die Individualität des Volkes zu retten; die 
Individualität der Völker aber wird als eine unumgäng- 
liche Bedingung des Fortschrittes angesehen. 

Jedoch, erstens: wer hat gesagt, dass die Indivi- 
dualität eine notwendige Bedingung des Fortschrittes 
sei? Dieses ist durch nichts erwiesen, und wir haben 
kein Recht, diese willkürliche Ansicht für ein Axiom 
zu halten. Zweitens: wenn man auch zugeben wollte, 
dass dies der Fall ist, auch dann wird für das Volk 
das Mittel, eine Individualität zu äussern, nicht darin 
bestehen, dass es sich bemühen würde, diese Indivi- 
dualität kundzuthun, sondern im Gegenteil darin, seine 
Individualität vergessend, nach Kräften das zu thun, 
wozu das Volk sich am geeignetsten und deshalb be- 
rufen fühlt; gleichwie der einzelne Mensch seine Indi- 
vidualität nicht dann kundthun wird, wenn er sich um 
sie bemüht, sondern, wenn er, sie vergessend, je 
nach seinen Kräften und Fähigkeiten das thun wird, 
was seine Natur von ihm verlangt. Es ist wie die 
Sorge darum, dass Menschen, die für die Erhaltung 
ihrer Gemeinde arbeiten, eine verschiedenartige Arbeit 
an verschiedenen Orten vollbringen. Möge nur jeder 
nach seinen Kräften und Fähigkeiten das Notwendigste 



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für die Gemeinde thun und zwar mit all seinen Kräften, 
und alle werden unwillkürlich in verschiedener Weise * 
mit verschiedenem Werkzeug und an verschiedenen 
Orten arbeiten. 

Einer der gewöhnlichsten Sophismen, die man zur 
Verteidigung des Unsittlichen anwendet, besteht darin, 
absichtlich das, was ist, mit dem zu verwechseln, was 
sein mtisste, und nachdem man angefangen hat, über 
eine Sache zu sprechen, ihr eine andere unter- 
zuschieben. Dieser Sophismus wird am öftesten ange- 
wendet in Bezug auf den Patriotismus. Thatsache 
ist, dass jedem Polen der Pole der nächste und 
teuerste ist, wie dem Deutschen der Deutsche, dem 
Juden der Jude, dem Russen der Russe. Thatsache 
ist ferner, dass infolge historischer Ursachen und einer 
schlechten Erziehung die Menschen einer Nation einen 
unwillkürlichen Widerwillen und eine gewisse Miss- 
gunst gegen die Menschen anderer Nationen empfinden. 
Dies ist allerdings der Fall; aber die Bekennung 
dessen, sowie die Bekenn ung, dass jeder Mensch seine 
eigene Person mehr liebt als alle anderen Menschen, 
ist in keinem Falle ein Beweis dafür, dass es so sein 
muss. Im Gegenteil: die ganze Thätigkeit der ganzen 
Menscheit wie auch jedes einzelnen Menschen besteht 



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blos darin, diese Vorliebe und diese Missgunst zu 
unterdrücken, dagegen anzukämpfen und mit Bewusst- 
sein in Bezug auf andere Völker und auf die einzelnen 
Menschen anderer Völker genau ebenso zu handeln, wie 
man gegen seine Landsleute handelt. Sich um den 
Patriotismus zu kümmern, wie um ein Gefühl, das in 
jedem Menschen grosszuziehen wünschenswert wäre, 
ist vollkommen unnütz. Gott oder die Natur haben 
bereits für dieses Gefühl derart gesorgt, dass es jedem 
Mönschen angeboren ist, so dass wir uns nicht mehr 
darum zu kümmern haben, es in uns und in Anderen 
grosszuziehen. Nicht um den Patriotismus müssen 
wir uns kümmern, wohl aber darum, dass wir jenes 
Licht, das in uns ist, in das Leben hineintragen, damit 
wir dieses verbessern und es jenem Ideale näher 
bringen, welches vor uns steht. Das Ideal aber, 
welches augenblicklich vor jedem, von dem wahren 
Lichte Christi erleuchteten Menschen steht, besteht 
nicht in der Wiederherstellung Polens, Böhmens, Ir- 
lands oder Armeniens, und nicht in der Erhaltung der 
Einheit und Grösse Russlands, Englands, Deutsch- 
lands und Oesterreichs, sondern im Gegenteil in der 
Vernichtung dieser Einheit und Grösse Russlands, 
Englands oder Deutschlands, in der Vernichtung jener 




gewaltsamen, antichristlichen Vereinigungen der Staaten, 
die jedem wahren Fortschritt im Wege stehen und 
die Leiden der unterjochten und unterdrückten Völker 
hervorrufen, mit einem Wort alles jenen üebels, unter 
welchem die gegenwärtige Menschheit leidet. Diese 
Vernichtung ist jedoch nur möglich durch die wahre 
Aufklärung: durch die Erkenntnis, dass wir, bevor 
wir Russen, Polen oder Deutsche sind, — Menschen 
sind, Jünger eines Meisters, Söhne eines Vaters, 
Brüder untereinander; und das haben die besten 
Repräsentanten der polnischen Nation begriffen, wie 
Sie es in Ihrem Artikel so ausgezeichnet dargestellt 
haben. Und dieses begreift mit jedem Tage mehr und 
mehr die Mehrzahl der Menschen, sodass die Tage 
der Gewalttaten der Regierungen bereits gezählt sind 
und die ßefreiung nicht nur der unterjochten Völker, 
sondern auch der unterdrückten Arbeiter nahe ist, 
wenn nur wir selbst die Zeit dieser ßefreiung nicht 
hinausschieben dadurch, dass wir uns mit Wort und 
That an den Gewalttätigkeiten der Regierungen be- 
teiligen. Die Anerkennung jedoch des Patriotismus, 
welcher Art er auch sei, als einer guten Eigenschaft, 
und dessen Anregung im Volke ist eins der Haupt- 
hindernisse zur Erreichung der vor uns stehenden Ideale. 



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Ich danke Ihnen nochmals bestens für Ihren 
guten Brief, für Ihren ausgezeichneten Artikel und für 
die Gelegenheit, die Sie mir gegeben haben, meine 
Ideen über den Patriotismus noch einmal zu kontrol- 
lieren, zu prüfen und auszusprechen. 

Empfangen Sie die Versicherung meiner Hoch- 
achtung. 

L. Tohtoi. 



Druck von E. Ebering. Berlin W. Linkatrasae 1&