Paedagogium
HARVARD UN1VERSITY
LIBRARY OF THE
GRADUATE SCHOOL
OF EDUCATION
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Paedagogium.
-
- -
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht
Herausgegeben
<
von
J>r. Friedi-ioli X>itte«.
XIV. Jahrgang, 1892.
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
1892.
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GRADU.ATl *riOOL rF LDLlCAflON
MONAOE C GU7MAN UBRJ^l
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-Mitarbeiter des vierzehnten Jahrganges.
K. Albert. S. 571.
O. B. S. 717.
August Böhm' in Königsberg in Ostpreußen. S. 541.
Rudolf Dietrich in Hottingen-Zttrich. Siehe „Fachpresse".
Dr. Friedrich Dittes in Wien. S. 111, 113, 362, 640, 765. Außerdem Beiträge zur
' „Pädagogischen' Rundschau" und Rccensionen.
Dr. Drenke, Realgymnasialdirector in Trier. S. 137.
Alfred von Ehrmann in Baden bei Wien. 8. 698.
Schulrath, Elterich in Oschatz. S. 375.
Dr. J. Frohschanuner, Prof. a. d. Universität in München. 8. 409.
A. Gild, Rector in Cassel. S. 441, 527, 668.
A. Goerth, Scbuldirector in Insterburg. S. 273, 337.
P. H. S. 685, 749.
O. Hintz, Rector in Berlin. 8. 778.
Joh. Kaulich in Mähr.-Schönberg. S. 432. 709.
Moritz Klcinert, Schuldirector in Dresden. S. 725.
L. Korodi, Rector des evang. Gymnasiums A. B. in Kronstadt (Ungarn). S. 1.
Dr. Gotthold Kreyenberg, Director in Iserlohn. S. 477.
r Dr. Job. Kvacsala, Prof. am Lyceuni in Pressburg. S. 363.
Th. Landmann, Rector in Schwetz. S. 145.
Dr. Oskar Lehmann in Leipzig. S. 69.
Rudolf Lenk, Seminaroberlehrer in Dresden. S. 22.
Johann Lipp, Oberlehrer in Matzendorf, N.-ö. S. 86.
Dr. H. Morf, a. Seminardirector u. Waisenvater in Winterthur. S. 209, 294, 551, 629.
H. Neugeboren, Prediger in Kronstadt (Siebenbürgen). S. 237, 495.
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— IV —
Dr. Karl Pilz in Leipzig. S. 98.
W. Rübenkamp in Crefeld. S. 29.
A. Schaffer in Berlin. S. 310.
Th. Schütz, Director in Antwerpen. 8. 12.
Otto Ernst Schmidt in Hamburg. S. 158.
Geza Somogyi, Seminardircctor in ZniöY&rtüja. 8. 518.
B. St 8. 505.
F. A. Steglich in Dresden. S. 509. 613.
Alois Stolz in Pforzheim. 8. 530.
Wilhelm Taschek in Viislau. 8. 771.
Franz Ticak, Schulinspector in P. in Wien. 8. 396.
Theodor Venmleken, Prof. und Seminardirector i. P. in Oraz. S. 93, 232.
Theod. Ludw. Wolf in Leipzig. 8. 420.
C!. Ziegler in Eichen. 8. 123.
Hierzu mehrere Autoren, die nicht genannt sein wollen, ferner die Corrcspon-
denten der „Rundschau" und die Fachrecensenteu.
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Inhalt.
a. Nach der Reihenfolge verzeichnet.
Seite
Erziehliche Wirksamkeit dc-s Lehrers, Korodi , . , . , , . . . . . . 1
Wie wird man Hnirumfrt, Schütz . , . , , . , s , . . . , . . , 12
Jgggnderziehung unter dem Einflüsse großstädtischen Lebens. Lenk .... 22
Die Bedeutung Schillers für die .lugend. Hohenkamp 29
Pädagogische Kundschau. . 38. 111. 171. 246. 315. 377. 446. 580. 655. 726. 787
Aus der Fachpresse. Dietrich .59. 129. 197. 322. 401. 466. 534. 597. 679. 738. 791
Reccnsiouen . . . . 63. 132. 201. 259. 327. 405. 469. 538, 601. 681. 741. 800
Pädagogische Ausblicke vor hundert .fahren. Lehmann 69
Eine Analogie. Lipp 86
Beitrüge zur Reform des Religionsunterrichtes. Vernalekeu 93. 232
Die Pe>t des Aherglauhens und ihre Heilung durch die Erziehung. Pilz . . 98
Otto Knust als Lyriker und Essayist. Zieglcr 123
Der intensive Unterricht. Dronke 137
üher Berufsfreudigkeit. Landinaun 145
Die Pädagogik der Kunst. .Schmidt 158
Johann Jakob Wehili, der erste thurgauische Seminar-Director. Morf . 209. 294
Adolf T.Meaterweg über Eduard Beneke und dessen Lehre vom Angeborenen.
Neugeboren . 237
Die kirchliehe und philosophische Sittenlehre. Uocrth 273. 337
Fremdes und Heimisches im Unterrichte. SchäfFer 310
AmOB Coineniiis. Kvacsala 362
Die Bocialc Frage und die Schule. Frohscliammer 409
Drei Monate Fabrikarbeiter. Ergebnisse und Forderungen fürdie Volksschule. Wolf 420
Muttersprache und (irainmatik. Kaulich 432
Volksbildung und Volkshildungsmittel. Oild 441
Des Thüringer Reformators Friedrich Myconiua Verdienste um das Schulwesen.
Kreyenberg 477
Die Reform und die Stellung unserer Schulen. Neugeboren 495
tiedankeu über das unvermeidliche Thema: „Der Socialismus und die Volks-
schule" B. St 505
Sollen die Lehrerbildungsanstalten Internale oder Kxtcrnatc sein? .Steglieh . 509
Die Frage der einheitlichen Mittelschule in Ungarn und ihre Beziehung zur
Volksbildung. Somogyi 618
Schulprogrimme. Güd 527
Bei den Kleinen. Erinnerung aus dem Lchrorlebcu. Stolz 530
— VI —
Da« Gewissen und weine Pflege. Böhm f>41
Aus der Geschichte der TaubBtunnnenhildung. Morf 661. 62M
Die Lehrer und die Presse. Gild . , , . , . . . . . . . . . . , hM
Lehrers Erdenwallfahrt. Albert ö71
Bemerkungen Aber die Frohschammersche Philosophie, insbesondere Aber ihre
Beziehungen zur Pädagogik. Steglich t>13
Der Lehrer Leumuud und ein Geheimer Justizrat. Dittes )>40
Jean Pauls „Levana oder Erziehungslehre." P. H <>8.r). 74H
Bemerkungen zur Fremdwürtcrfrage. Ehriiiann 698
Macht und Arbeit in ihren Bildungbeiemeuten. Kanlich . . . . . . 7QH
Die Waffen nieder, o. B 717
Meister und Jünger des Lehrerberufs. Kleinert 72;')
Uber den Geburtsort des < 'omenius. Dittes 7Gö
Die Bozirksschuliuspoction, eine ungelöste Frage des österreichischen Ynlks-
Kchulwesenü. Taschok . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Hygiene und Erziehung. Ihre Anwendung zur wirksamen Bekämpfung des.
Idiotismus Hinte 778
b. Logisch geordnet.
I. Znr Grundlegung.
Wie wird man Humanist? 12
Die Bedeutung Schillers für die Jugend 29
Adolf Diesterweg über Eduard Beneke und dessen Lehre vom Angeborenen 237
Die kirchliche und die philosophische Sittenlehre 273. 337
Bemerkungen Aber die Frohschammersche Philosophie 613
Macht und Arbeit in ihren Bildungselementen 709
II. Zur historischen Pädagogik.
Pädagogische Ausblicke vor hundert Jahren 69
Johann Jak. Wehrli, der erste thurgauische Seminardirector 20H. 21J4
Ainoa Comeniug 3<>2
Des Thüringer Reformators Friedrich Myconius Verdienste um das Schulwesen 477
Aus der Geschichte der Tauhstummenbildung 551. Ü2t>
Jean Pauls „Levana oder Erzichungslehre" 685. 749
Ober den Geburtsort des Comenius 7fiö
m. Über Schulerziehnng, Unterricht und Unterrichtsanstalten.
Erziehliche Wirksamkeit des Lehrers 1
Jugenderziehung unter dem Einflüsse großstädtischen Lebens 22
Beiträge zur Reform des Religionsunterrichtes ... 93. 232
Die Pest des Aberglaubens und ihre Heilung durch die Erziehung .... 98
Der intensive Unterricht 137
Über Beru&freudigkeit 146
Die Pädagogik der Knust 168
Fremdes und Heimisches im Unterricht 310
Muttersprache und Grammatik 432
— VII —
Sollen die Lehrerbildungsanstalten Internate oder Exteruate sein 509
Sehulprograinme 527
Bei den Kleinen 530
Das Gewissen und seine Pflege 541
Lehrers Erden wallfahrt 571
Macht und Arbeit in ihren Bildungselementen 709
Die Waffen nieder 717
Meister und Jünger des Lehrerberufs 725
Hygiene und Erziehung 778
IV. Zur Charakteristik des gegenwärtigen Schulwesens. Zeitgeschichtliches.
Kinc Analogie 86
Otto Ernst als Lyriker und Essayist 123
Die sociale Frage und die Schule 409
Drei Monate Fabrikarbeiter 420
Volksbildung und Volksbildungsmittel 441
Die Reform und die Stellung unserer Schulen 495
Uedanken über das unvermeidliche Thema: „Der Sozialismus und die Vulksschule" 505
Die Frage der einheitlichen Mittelschule in l'ngarn 51H
I'ie Lehrer und die Presse 568
Der Lehrer Leumund nnd ein Geheimer Justizrat 640
Bemerkungen xur Frcmdwörterfragc 698
Die Waffen nieder 717
Die Bezirksschulinspection. Eine ungelöste Frage des österreichischen Volks«
Schulwesens 771
Aus der Fachpresse . . . 59. 129. 197. 322. 401. 466. 534. 597. UV:». VHS. 791
Pädagogische Rundschau und Mittheihmgen :
Zeitstimmen 38. 171. 245. 315
Deutschland .... 42. 48. 320. 446. 680. 586. 655. 726. 727. 732. 737. 790
Preuflen ... 43. 173. 179. 247. 249. 317. 377. 450. 585. 586. 660. 663. 730
Bayern 591. 734. 788
.Sachsen ISO. 187. 391. 064
Württemberg 255
Raden 191. 386. 665
"Idenburg 40
Bremen 40
Hamburg1 589
Klsass-Lothringen 789
<Mtcrreich-üngarn 52. 400. 518. 593. 677. 787
Bosnien und Hercegowiua 396. 737
England 55. 115
Belgien 463
Italien 726
Schweiz 193. 593. 671
Bulgarien 738
Nordamerika 58
Reeensirte Bücher.
Alphabetische* Verzeichnis der Autoren (bei. Titel) derjenigen Werke, welche im vorliegenden Jahr-
gang recensirt aind. Die beigesetzte Ziffer beseichnet d ie Seite, auf der sich die Recension findet.
Andree-Schillmann 471. Anspach 267. Aus unserer Väter Tagen 205. Berthelt
804. Bertram 806. Borchardt 334. Borncmann 801. Btttticher und Kinzcl 682.
Brenner 742. Brockmann 474. Brümmer 682. Busomann 473. Cassian-Rirhter 470.
Deschmann 803. Dictlein 263. Bitte» 681. Dittmar 332. Engelmann 204. Ernst
205. Ernst und Tews 259 , 323. Fischer 67. Focke und Grass 406. Frenzel-
Wende 605. Fuhrmann 475. Fuß 472. Gaeblcr 472. Gelhorn 470. Griesmann
267. Göschcnsche Sammlung 469, 741. Goethe- Funke 333. Goethe-Haspcr 469.
Götz 263. Grotb 805. Grundig 801. Harms und Kallius 406. Haselmayer 471.
Heidrich 261. Hei uze 263. Heinze und Goettc 332. Hentschel und Jänickc 206.
Hentschel und Märkel 134. Hocevar 538. Hoffmeyer und Hering 264. Jacohi 262,
611. Jahn 606. .Tara 608. Junge 269. Kaiser 801. Kambly 405. Keil-Ricekc 471.
Keller 604. Kluge 66. Knabe 407. Knilling 328. Kriebel 540. Kvacsala 800.
Lautar-Lucas 207. Lehmann 607. Leimbach 133. Lübsen-Schurig 407. Lutz 681.
Lyon 469. Maier 809. Martin 334. Meyer 263, 267. Mittenzwey 809. Mtthl-
berg 805. Müller 743, 807. Müllcr-Dandliker 263. Munderloh-Kröger 328. Muth-
sam 742. Naberth 471. Nadler 261. Neurath 746. Ochler 803. Ohler 605.
Ohlert 63. Ortlepp 330. Perle 266. Petersen 745. Pctiscus 334. Pilling 807.
Plattner 264. Pünjer 266. Pütz 804. Räther 807. Redeker 804. Renneberg 470.
Richter 66, 473. Riedel 135. Rinne 333. Roese 269, 610. Rossmanith 745.
Rothe 805. Rothfuchs 802. Ruefli 134. Sarrazin 266. Sauer 328. Schader 207.
Schäfer 67. Schanze-Jager 610. Scherer 327. Schleichert 603. Schneitier 266.
Schotten 330. Schram-Schttssler 608. Schröer 132, 327. Seeger 606. 8ervus 205.
Shakespeare 334. Spitz 741. Splittegarb 67. Sprockhoff 136 , 472. Steffen 473.
Stejskal 260. Stephan 132. Stichler 66. Stö kcl 133. Strien 265. Sutermeister
333. Thoma 607. Ulbricht-Kämmel 262. Valette 328. Velhagen und Klasing 204.
Vilücus 743, 804. Vohs 605. Vrbka 801. Weiß 603. Wclcker 329. Wcsendonck
262. Wesßolhöft 270. Wichcrkievicz 328. Wiedasch 604. Wrobel 638. Ziegler 201.
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Monatsschrift
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
Dr. JEVie<Ii-ieIi Ditte«.
_ *
117. Jabreanc
L Heft, October 1891.
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Inhalt des 1. Heftes.
Erziehliche Wirksamkeit des Lehrers. Von L. Korodi- Kronstadt (Ungarn). .
1
Wie wird man Humanist. Von Direktor Th. Sc hiltz - Antwerpen
12
Jugenderziehung unter dem Einflüsse großstädtischen Lebens. Vom Semintir-
oberlehrer Rudolf Lenk-Dresdeu
22
Die Bedeutung Schillers für die Jugend. Von W. Rttbönkamp-tVetcld . .
29
38
Literatur
63
Abonnements -Preis pro Quartal M. 2.25.
AUe Buchhandlungen und Postanstalton nehmen Bestellungen an.
f •' • .
Erziehliche Wirksamkeit des Lehrers.
Rede zur Eröffnung der Prüfungen, gehalten von L. Korodit Rector des evangel.
Gymnasiums A. B. in Kronstadt (Ungarn).
Hochgeehrte Versammlung! Es gibt in unseren Tagen wol
kaum einen auch nur halbwegs gebildeten Menschen, dem das so all-
gemein verbreitete Schlagwort vom „erziehenden Unterrichte"
ganz fremd wäre, — kaum einen, der nicht wüsste, dass sich in diese
zwei Worte eine bedeutsame Forderung an unsere Lehranstalten zu-
sammenfasst , — eine Forderung freilich, über deren Umfang und
Gewicht gar mancher, der frischweg in dieselbe einstimmt, sich kaum
genügende Rechenschaft gegeben hat.
Darum habe ich geglaubt, es lohne sich wol der Mühe, in einem
Kreise von Lehrern und Eltern, wie ihn auch diesmal Berufspflicht
und warmes Interesse für unsere Schulen zusammengeführt hat, uns
darüber zu verständigen, in welchem Ausmaße und mit wieviel Be-
rechtigung die Forderung des erziehenden Unterrichts gegenüber der
Schule und den Lehrern erhoben werden könne.
Um diese wichtige Frage entscheiden zu können, müssen wir
uus vor allem klar machen, was wir unter „Erziehung" und „Unter-
richt" verstehen.
Das Wort erziehen ist gleichbedeutend mit heraufziehen, in
die Höhe ziehen. Dieselbe Bedeutung hat die Silbe „er" in zahl-
reichen anderen Zusammensetzungen. So ist erwachsen = aufwachsen,
erbauen = aufbauen, errichten = in die Höhe richten.
Der zu erziehende Mensch soll eben heraufgezogen, seine noch
gar nicht oder unvollkommen ausgebildete Vernunft zu der Höhe der
gebildeten emporgehoben werden. In diesem Sinne kann jeder Mensch,
so alt er auch sei, erzogen werden, beziehungsweise sich erziehen
lassen durch Beispiel, Umgang, Studium u. s. w. Da aber die Jugend
des Hinaufziehens am meisten bedarf, so bestimmen wir nach Beneke's
Vorgang den Begriff der Erziehung wol mit Recht als „absichtliche
Einwirkung von Seiten der Erwachsenen auf die Jugend, um diese zu
Pird^.finm. 14. Jahrg. Heft I. 1
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der höheren Stufe der Ausbildung zu erheben, welche die Einwirkenden
besitzen und tiberblicken."
Es umfasst also die Erziehung den ganzen Menschen, seine leib-
lichen Kräfte ebenso wie seine seelischen, und in der Seele ebensowol
die Verstandeskräfte, als seine Gefühle, Schätzungen, Begehrungen,
Willensacte.
Wird die Erziehung in diesem weiteren Sinne verstanden, so
muss auch der Unterricht zur Erziehung gerechnet werden. Es
föllt nämlich dem eigentlichen Unterrichte als sein Arbeitsgebiet
die intellectuelle oder Ver Standesbildung zu. Der Unterricht be-
zweckt ja die Bildung von Anschauungen, Begriffen, Urtheilen, Schlüssen,
sowie die Aneignung äußerer Fertigkeiten durch den Schüler, wie
Lesen, Schreiben, Zeichnen, Singen u. s. w.
So oft wir aber Unterricht und Erziehung nebeneinander nennen
oder sie einander gegenüberstellen, wird der Begriff der Erziehung
enger gefasst. Dann verstehen wir unter Erziehung diejenige Bildung,
welche nicht, wie der Unterricht, zu Vorstellungen und Fertigkeiten
führt, sondern die affectiven und praktischen Seelensrebilde be-
gründet und entwickelt, also Gefühle, Schätzungen, Begehrungen,
Willensacte. In dieser engeren Bedeutung, an der wir im Folgen-
den festhalten, ist somit der Erziehung vorzugsweise die Gemüths-
und Charakterbildung zur Aufgabe gestellt.
So scharf, wie es in der eben festgestellten Definition geschehen
ißt, lassen sich aber Erziehung und Unterricht im Leben nicht
trennen. Auch in der Seele des Menschen sind ja die Elemente, aus
denen der Verstand erwächst, nicht absolut geschieden von denjenigen,
welche der Gemüths- und Charakterbildung zugrunde liegen. Im
Gegentheile kann ja bekanntlich das nämliche Seelengebüde nach
beiden Bichtungen hin zur Anlage geworden sein.
Wenn ich jemandem ein schönes Bild zeige, und zwar mehreremal
zeige, so erhält er eine Vorstellung von diesem Bilde. Um diese Vor-
stellung ist sein Intellect gewachsen, somit habe ich ihn unter-
richtet. Sofern aber der Anblick des Bildes ihm Lust gewährt hat,
habe ich durch diese Luststimmung auf sein Gemüth eingewirkt; in-
wiefern die Sehvermögen den allmählich entschwundenen Lustreiz
wieder begehren und von diesem Begehren aus der Wille entsteht,
das Bild wieder zu sehen oder zu kaufen, habe ich sein Begehren,
Wollen, Handeln in Bewegung gesetzt. Gemüth aber und Begehren,
Wollen, Handeln fallen in das Gebiet der Erziehung.
Wie wir nun das Intellectuelle in der Seele nicht scharf trennen
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- 3 -
können vom Affectiven und Praktischen, so greifen auch Erziehung
und Unterricht gar oft ineinander und bedingen sich gegenseitig.
Allerdings haben die Eltern, — die natürlichen Lehrer der Kinder
— je mehr die Bildung fortgeschritten ist, die Besorgung des Unter-
richts, zu dessen Ertheilung ihnen die Zeit oder die erforderlichen
Kenntnisse oder die Lehrgabe fehlte, an die Schulen übertragen.
Doch wird auch des geschicktesten Lehrers Unterricht, selbst bei
gut veranlagten Kindern, nicht den erwarteten Erfolg haben, wenn
nicht die Erziehung des Elternhauses für den Unterricht vorgearbeitet
und das Kind einigermaßen an Fleiß und Aufmerksamkeit gewöhnt
hat Wenn somit in diesem Falle das Interesse der Jugendbildung
es oft verlangt, dass die Erziehung des Hauses dem Unterrichte
fördernd vorarbeite, so wird dagegen — und zwar mit vollem Rechte
— auf der anderen Seite immer lauter und dringender die Forderung
gestellt, dass der Unterricht zur Förderung der Gesammterziehung
der Jugend beitrage, dass also der Lehrer nicht nur unterrichte,
sondern durch den Unterricht und neben dem Unterrichte auch
erziehe.
Auf welche Weise nun von Seiten des Lehrers, dessen Haupt-
aufgabe unbedingt auf dem Gebiete des Unterrichts liegt, auch
dieser Forderung Genüge geleistet werden könne, das ist die Frage,
für deren Beantwortung ich mir die geneigte Aufmerksamkeit erbitte.
Diese Beleuchtung der erziehlichen Wirksamkeit des Lehrers
möchte einerseits dazu dienen, überspannte Forderungen an die Er-
erziehungserfolge der Schule herabzustimmen, anderseits aber uns
Lehrern zu lebendigerem Bewusstsein zu bringen, wie manches ein
gewissenhafter Lehrer in und neben dem Unterrichte im Auge zu
behalten habe, wenn er den Forderungen an seine Berufstreue auch
als Erzieher möglichst vollständig genügen will.
Die erziehliche Wirksamkeit des Lehrers auf den Schüler kann
stattfinden 1. durch den Unterricht selbst und 2. neben dem Unter-
richte. Die erste Frage, die wir zu beantworten haben, lautet dem-
gemäß so: Was vermag der Lehrer durch den Unterricht selbst
zur Erziehung der Jugend beizutragen?
Wenn wir den Begriff der Erziehung im weiteren Sinne fassen,
darunter also auch die Ausbildung des Verstandes und Aneignung
äußerer Fertigkeiten verstehen, so stellt sich die Sache für die Beant-
wortung dieser Frage sehr günstig. Die Ausbildung des Intellectuellen
ist ja geradezu die Hauptaufgabe des Unterrichts, und es hat noch
niemand daran gezweifelt, dass in der Schule die Wahrnehmungs-
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— 4 —
und Beobachtungsvermögen, die Kräfte des Gedächtnisses und Ver-
standes, das Urteilsvermögen von tüchtigen Lehrern gründlich und
vielseitig entwickelt werden, dass die Schule nicht nur berufen, sondern
auch befähigt sei, wertvolle Kenntnisse und Fertigkeiten aller Art neu
zu begründen und bis zu einer ansehnlichen Bildungshöhe zu steigern.
Ja noch mehr: der gute Lehrer kann durch den Unterricht auch
auf die Gemüths- und Charakerbildung der Schüler einen förder-
lichen Einfluss ausüben, wenn auch nur — was wir sehr betonen
müssen — - einen mittelbaren Einfluss. Wir wollen diesen Punkt
scliärfer ins Auge fassen.
Wenn der Lehrer (sei es in welchem Fache immer) das not-
wendige klare und wolgeordnete Wissen oder die erforderlichen Fer-
tigkeiten selber besitzt, und wenn er die Gabe hat, ebenso klares
geordnetes Wissen und Können den Schülern für ihren Standpunkt
beizubringen, so überliefert er den Schülern durch den Unterricht
musterhafte Corabinationen (Begriffe, Sätze, Ideale). Diese aber werden
in der Seele der Schüler zu „regelnden Nonnen", welche dann weit
über dasjenige hinauswirken, woraus sie zuerst entstanden sind. So
wird z. B. der Schüler, wenn ihm der Lehrer gewisse mathematische
Verhältnisse zu vollem klaren Verständnis gebracht hat, das Bewusst-
sein der so erworbenen Klarheit „nicht nur zu anderen mathe-
matischen, sondern auch zu Sprach- und Lebensverhältnissen hin-
zubringen, so dass ihm fortan nichts genügt, was hinter diesem Ideale
zurückbleibt, und dass er deshalb mit Anspannung aller Kräfte dessen
Verwirklichung auch für diese Gebiete erstrebt ;t. (Beneke.)
So wird auf allen Wissensgebieten sowie auch auf dem Gebiete
der äußeren Fertigkeiten das Vollkommenere, das im Schüler durch
den Unterricht angelegt worden ist, zu einem lebendigen Triebe
ausgebildet, zu einem Streben, das ihn nicht ruhen lässt, bis auch
die späteren Entwicklungen sich in derselben vollkomraneren Form
ausgeprägt haben. Je häufiger nun auf solche Weise das Interesse,
die Freude am Wissen und Können im Schüler erregt wird, je mehr
in ihm durch das lustgesteigerte KraftgefUhl auf diesen Gebieten die
Wertschätzung der intellectuellen Güter und infolgedessen auch das
Streben nach denselben wächst: desto mehr werden dadurch die
niedrigen Lüste, die sinnlichen Begierden in seiner Seele beschränkt
und aus dem Bewusstsein zurückgedrängt. Somit kann der rechte
Lehrer, und zwar durch den Unterricht selbst, mittelbar auch die
sittliche Erziehung, d. h. die Gemüths- und Charakterbildung des
Schülers nicht unwesentlich fordern.
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— 5 -
Eine andere Frage ist es, ob der Unterricht auch unmittelbar
erziehen, ob er also (wie manche meinen) das Sittliche und Religiöse
dem Schüler mittheilen, es direct in dessen Seele begründen, neu-
bilden könne?
Viele Eltern sind allzu geneigt, von dem Schulunterrichte auch
für die sittlich-religiöse Bildung fast alles zu erwarten; sie entbinden
sich dadurch in recht bequemer aber durchaus unbegründeter Weise von
der Last und Verantwortung eines Berufes, den die Natur vor allen
ihnen zugewiesen hat. Diesen Irrthum verschulden diejenigen Lehrer
mit, welche — obgleich die Erfahrung ihnen täglich das Gegentheil
predigt — sich für die Retter der Menschheit halten, indem sie sich,
aus Mangel an psychologischer Erkenntnis, in dem gefahrlichen Wahne
wiegen, dass der Lehrer direct durch den Unterricht erziehliche
Wunder wirken könne, wenn nur der Unterricht der rechte sei,
nämlich der sogenannte „Gesinnungsunterricht".
Wenn es überhaupt möglich wäre, durch Unterricht Gesinnungen
zu erzeugen, dann hätte der Lehrer die sittlich-religiöse Erziehung
vollkommen in seiner Gewalt, und die Eltern könnten ruhig die ganze
Erziehung — welche bis heute hauptsächlich durch die Einwirkungen
des Lebens, des häuslichen und öffentlichen, vermittelt worden ist —
der Schule überlassen.
Leider ist das aber nicht möglich. Dies ergibt sich aus dem
Wesen und der Entstehungsweise der „Gesinnungen".
Ein weiser Staatsmann hat, wie seinem edlen Gemtithe, so auch
seinem psychologischen Schartblicke ein ehrendes Denkmal gesetzt, als
er den Ausspruch that: Wenn man wolle, dass die Bürger eines
Staates ihr Vaterland lieben, dass sie bereit seien, für dasselbe jeder-
zeit Gut und Blut einzusetzen, so müsse man ihnen im Vaterlande
„die Verhältnisse lieb machen".
Das ist in der That die eben so einfache wie natürliche Methode,
die Tugend des Patriotismus in die Herzen der Landesbürger zu
pflanzen. Es ist aber auch das einzige Mittel, gute Gesinnungen
überhaupt in den Menschenseelen zu begründen und zu stärken,
demnach der einzig sichere Weg zur sittlich - religiösen Menschen-
bildung.
Was thut denn der weise Erzieher, was thun namentlich ver-
nünftige Eltern überall, wo sie im Kinde für einen gewissen Gegen-
stand Neigung erwecken, wo sie den Zögling nach einer bestimmten
Richtung hin zum Streben, Wollen, Handeln in Bewegung setzen
wollen? Machen wir nicht ganz naturgemäß dem Kinde die erstrebens-
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werte Sache, um die es sich handelt, lieb? Nicht mit Worten
preisen wir dieselbe, sondern wir versetzen das Kind möglichst oft
in Verhältnisse, wo jene Dinge (Personen oder Sachen) steigernd,
fordernd, Freude und Lust erregend auf es einwirken. Was nämlich
im Menschen oft Freude und Lust erzeugt, das schätzt er bald als
ein Gut; was dagegen Unbehagen, Unlust, Schmerz in ihm wirkt, das
schätzt er als ein Übel. Je häufiger wir aber etwas infolge seiner
unmittelbaren Einwirkung auf uns als ein Gut empfinden, desto
stärker, weil vielspuriger wird die positive Wertschätzung, die wir
von diesem Gegenstande in uns bilden, und desto sicherer wird sich
an diese Wertschätzung ein Begehren, ein Streben anschließen,
desto eher und sicherer wird also auch unser Handeln nach dieser
Richtung hin erfolgen.
Gesinnungen sind nichts anderes, als vielspurige Wert-
schätzungen, welche durch die Eindrücke der Dinge selbst in
uns entstehen und in denen wir diese Dinge als Güter oder als Übel
empfinden, um sie demgemäß zu begehren oder zu verabscheuen, ihnen
zu- oder entgegenzustreben. Die Gesinnungen bilden somit die
Grundlage aller praktischen Entwicklung, die Basis der Charakter-
bildung.
Nach dem Vorausgeschickten dürfte sich die Frage des „Gesin-
nungsunterrichtes" für uns nunmehr mit Sicherheit beantworten lassen.
Die Antwort kann nur so lauten: Der Unterricht an sich ist un-
vermögend, Gesinnungen zu schaffen, weil die Worte des Unterrichtes
blos hörbare Zeichen für Begriffe sind. Die Worte vermögen also
auch nur Begriffe unmittelbar zum Bewusstsein zu erregen, zu com-
biniren, klarer auszubilden. Die belehrenden Worte des Lehrers
können folglich in reb'giösen und sittlichen Dingen Aufklärungen geben;
sein Unterricht kann ferner wesentlich dazu beitragen, die Seelen der
Schüler von unsittlichen, unreligiösen, abergläubischen Vorstellungen
zu befreien und kann somit in diesen Beziehungen sehr wichtige und
dankenswerte Erfolge erzielen; doch niemals kann er ein religiöses
Gemüth oder sittliche Gesinnungen schaffen, so sehr auch manchmal
der äußere Anschein zu solchem Wahne verleiten mag.
Wenn z. B. beim Unterrichte in Geschichte, Religion, Moral
manche Schüler sich erwärmt und begeistert, zu jedem edlen Streben
und Handeln angeeifert fühlen: so hat nicht der Unterricht diese
so erfreulich zutage tretenden Stimmungs- und Strebungsgebilde im
Kinde soeben erzeugt, sondern das Kind hat die entsprechenden
lebendigen Gesinnungen (Wertschätzungen) und Triebe aus der häus-
:
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liehen Erziehung, überhaupt ans dem Leben zum Unterrichte mit-
gebracht. Dem Unterrichte verdanken sie nur die gegenwärtige
Erregtheit
Wo aber solche sittlich -religiöse Angelegtheiten in der Kindes«
seele nicht vorhanden sind, da können sie natürlich durch keinen
Unterricht zum Bewusstsein erregt werden, für solche Seelen bleibt
das Wort der Belehrung ein leerer Schall. Darum sitzen eben manche
Kinder auch beim besten „ethischen" oder „Gesinnungs" -Unterrichte
so kalt und theilnahmlos da, und wenn der Lehrer „mit Menschen-
und mit Kngelszungen redete". An solchen unglücklichen Kindern
hat eben das Haus, haben besonders die Eltern nicht getban, was
sie sollten. Diesen Mangel zu ergänzen ist aber die Schule mit allen
ihren Mitteln nur zum kleinsten Theil imstande, der Unterricht
überhaupt nicht.
Für unsere Ansicht über den sogenannten „Gesinnungsunterricht"
sprechen unter anderen auch folgende hochbedeutsame Thatsachen.
Es ist unbestreitbar, dass oft ein gewöhnlicher Bauersmann oder
Handwerker eine reinere und tiefere sittliche Gesinnung hegt, als ein
Studirter, welcher von den tüchtigsten Lehrern mit dem denkbar
besten Erfolge Unterricht in der Sittenlehre empfangen hat. Und
wieder dürfte in mancher einfachen Tagelöhnerin oft ein frömmerer,
religiöserer Sinn zu finden sein, als in ihrem Pfarrer, der vielleicht
dabei ein grundgelehrter Kenner der Religionswissenschaft ist1*). Diese
Erfahrungen, die jeder unbefangene Beobachter machen kann, bezeugen
so recht augenfällig, was wir durch obige Ausfuhrung wissenschaftlich
zu erweisen versuchten: dass nämlich die Theorie, der Unterricht
für die Erzeugung eines sittlichen Charakters, eines religiösen Gemüthes
etwas Nebensächliches ist.
Beide, Sittlichkeit und Religion, entfalten sich aus Keimen, welche
*) Diese unwidereprechliche Thatsache berühre ich aus sachlichen Gründen
und nicht etwa aus „Feindschaft gegen die Kirche". Der Verfasser ist ja selber,
wie wir siebenb. sächs. Mittelschullehrcr alle, zugleich Theolog und hat, bis es ihm
die Amtsgeschäfte eines Directors dreier Schulen (Gyinnas., Realschule und Seminar)
zu sehr erschwerten, 32 Jahre lang jahrlich die Kanzel bestiegen. Bei uns auf dem
einstigen „Königsboden" sind überhaupt geistliches und Schulamt bis heute sehr
innig verbunden. Bekanntlich ist jeder unsrer „akademischen" Pfarrer zuerst an
einer Mittelschule eine oft ziemlich lange Reihe von Jahren angestellt gewesen.
Wir kennen den quasi-Kulturkampf der Schule gegen die Kireho, — wie er ander-
wärts mit erheblicher Hitze und Erbitterung geführt wird, — nur dem Namen
nach. Hätten wir nur keine andern Feinde; die „Kirche" bereitet uns wenig
Kummer, so wenig, wie wir Lehrer ihr, unsrer Bundesgenossin. L. K.
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das Leben, das häusliche und öffentliche, in die Kindesseele gepflanzt
hat, und welche durch die Lust und den Schmerz, die Freude und
das Leid des Lebens weiter entwickelt worden sind. Dies ist's, was
auch der Dichterkönig uns bezeugt mit den classischen Worten:
rEs bildet ein Talent sich in der Stille,
Sich ein Charakter in dem Strom der Welt."
Die Schule kann nur insoweit unmittelbar auch Gemtith und
Charakter bilden, als sie — ein Bild der Welt im kleinen — den
Schüler gleichfalls in praktische Lebensverhältnisse versetzt,
nämlich durch den Verkehr mit den Mitschülern und durch die
Persönlichkeit des Lehrers.
Hiemit wenden wir uns zur Betrachtung dessen, wie weit der
Lehrer neben dem Unterrichte erziehlich zu wirken imstande ist,
nämlich durch seine Persönlichkeit.
Es sind sehr wertvolle sittliche Eigenschaften, welche durch die
Persönlichkeit des Lehres, durch die unmittelbare Offenbarung seines
Gemüths und Charakters auf den Schüler übergehen können.
Im engsten Anschluss an den Unterricht werden die lebendige
Erregtheit, die stetige Ausdauer, der Eifer und die Liebe zum Er-
kennen und Forschen, die der Lehrer beim Unterrichte zeigt, unver-
merkt sammt den so übermittelten Kenntnissen und Fertigkeiten in
die Seele des Schülers aufgenommen und begründen hier allmählich,
wenn das Beispiel des Lehrers fortwährend in gleicher Weise einwirkt,
die entsprechenden sittlichen Eigenschaften.
Aber nicht nur die Lust und den Trieb, die Wahrheit zu er-
kennen, kann der rechte Lehrer unmerklich von sich auf die Schüler
übertragen, sondern auch — was noch mehr wiegt — den hohen sitt-
lichen Muth, die Wahrheit zu bekennen, selbst wenn dieses unserer
Selbstsucht wehe thut. „Weißt du, — erzählt uns Osk. Jäger in
seinem herrlichen Buch „Aus der Praxis", — weißt du, wann ich zum
erstenmal die Majestät der Wissenschaft empfunden habe? Als unser
verewigter Lehrer N. — ein Mann, vor dem selbst der trotzigste
von uns Vierzigen in ein Mauseloch kroch, obgleich er niemals anders
als mit Worten strafte — vor uns armen Jungen erklärte, der und
der von uns hätte gestern mit der Übersetzung der Stelle so und so
recht gehabt, und er — es war der beste Philologe des Landes —
hätte unrichtig übersetzt. Er war ein Sechziger und wir waren
dumme Jungen von 15 Jahren; da fühlten wir, dass etwas über ihm
und uns stand — die Wahrheit."
Sowie hier nicht das Wort des Unterrichts, sondern die vorbild-
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liehe selbstverleugnende That des Lehrers das Geintith der Schüler
unmittelbar ergriff, ihre Gesinnung stärkte: so wirket überhaupt vor
allem das lebendige Beispiel des Lehrers wieder sittliches Leben im
Schüler.
Wir wünschen, dass der Zögling seine Schtilerpflichten getreulich
erfülle. Das erreichen wir aber nicht durch noch so eindringliche
Belehrungen, noch weniger durch die musterhaftesten „Schulgesetze",
wol aber — — doch ich darf hier gleich wieder Jäger das Wort
geben: „Wenn der Lehrer, jung oder alt, seine Lehrerpflicht ernst
nimmt, sich ehrlich vorbereitet, gewissenhaft corrigirt und die so
corrigirteu Hefte pünktlich auf den Tag zurückgibt, pünktlich mit
dem Glockenzeichen sich anschickt, seines Amtes zu walten und in
seinem Thun und seiner Haltung ohne Ostentation den Beweis liefert,
dass ihm sein Amt die Hauptsache ist: so weiß ich nichts, was er
soviel Extra-Erziehliches thun soll."
Und wie zu der gewöhnlichen täglichen Pflichttreue, so können
die Schüler selbst zum kräftigen Ertragen von körperlichen Verstim-
mungen und Schmerzen um der Pflicht willen erzogen werden
durch das Beispiel eines Lehrers, der sich stets das kräftige Mahn-
wort des wackeren Nägelsbach vor Augen hält: „Zu warnen ist vor
übertriebener Zärtlichkeit gegen sich selbst im Lehramt; mit Recht
wird ein solcher Lehrer verachtet, der gegen den „Madensack" so
überaus zärtlich ist und solchen Egoismus verräth."
Der erziehliche Einfluss des Lehrers wird ferner um so mehr
gesteigert werden, je mehr er befähigt und in der Lage ist, auf die
moralische Individualität seiner Schüler Rücksicht zu nehmen.
Dies zeigt sich namentlich bei der Ertheilung von Lob und Tadel,
Strafe und Belohnung. Sollen diese Mittel nicht verderblich wirken,
so dürfen nicht starre Gesetzesparagraphen in abstracter Weise ge-
handhabt werden, sondern Lohn und Strafe müssen möglichst der
Persönlichkeit des Schülers angepasst werden. Denn das nämliche
Lob, welches den einen zu angestrengter Arbeit und sittlichem Wol-
verhalten anfeuert, macht einen andern eingebildet und lässig; und
die nämliche Strafe wirkt bei dem einen Besserung, bei dem andern
das Gegentheil.
Leider aber unterliegt diese Rücksichtnahme auf die Schüler-
individualitäten, für so wünschenswert wir sie auch ansehen, in der
Schule gewissen nicht unerheblichen Beschränkungen und Hemmungen.
Durch die größere Anzahl der Zöglinge, auf welche sich die Erzieher-
arbeit des Lehrers vertheilt, wird Dämlich seine Wirksamkeit weit
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mehr geschwächt, als die der Eltern in der Familie. Derselbe Um-
stand macht es aber auch nahezu unmöglich, dass der Lehrer die
Geistesgaben, Gemüths- und Charakteranlagen seiner Schüler so genau
kenne, als es für eine individuelle Behandlung der einzelnen noth-
wendig wäre. Wer da erfahren hat, wie wenige Eltern ihre eigenen
Kinder, soviel sie diese um sich haben, — oft ist's nur Eines! —
genügend kennen, um sie ihrer Eigenart angemessen erziehen zu
können, der wird vom geschicktesten Lehrer nicht erwarten dürfen,
dass er in den wenigen Stunden des Unterrichts neben der umfang-
reichen und schwierigen Aufgabe, die intellectuelle Bildung der Schüler
innerhalb einer bestimmten Zeitfrist zu einem bestimmten Ziele zu
fuhren, auch noch die höchst verschiedenen Individualitäten von 20
bis 50 Schülern genau erkenne und dieser Erkenntnis gemäß sie auch
erziehe. Und dennoch gibt es sogar Lehrer, die eine solche Un-
möglichkeit nicht nur andern zumuthen, sondern sogar selber leisten
zu können vorgeben. Diesen guten Leuten, welche Lessing „betrogene
Betrüger" nennen würde, antwortet Jäger aus ruhmvoll erprobter
Praxis heraus wie folgt: „In Wahrheit, ihr bindet schwere und un-
erträgliche Lasten! Denn es heißt wirklich viel verlangen, wenn der
notorisch selbst noch sehr unerzogene Candidat und jüngste Lehrer in
diesem Sinn und Umfang schon andere erziehen soll. Und indem ihr
ihm theoretisch in euern Reden, die so blinkend sind, alles mögliche
auferlegt, verleitet ihr ihn, dass er es auch macht wie ihr, — nämlich
Worte für Handlungen hält — oder ausgibt.«4
Wenn wir aber auch annehmen wollten, was wir nicht zugeben
können, dass der Lehrer in jeder einzelnen der zahlreichen Schtiler-
seelen wie in einem offenen Buche lesen könnte: so müsste er doch
das Individuelle zum Theil fallen lassen und nach gewissen allge-
meinen Normen verfahren. Denn auch dann wäre es ihm unmöglich,
sie in jedem Augenblicke ihrer vollen Eigentümlichkeit gemäß zu
behandeln. Er müsste denn, wie es Beneke ausdrückt, „ein geistiger
Proteus sein: unendlich viele verschiedene Formen der Behandlung,
und in schwindelerregender Schnelle damit wechselnd, annehmen
können."
Und brächte er selbst dieses zweite Wunder einer blitzschnell
wechselnden Verschiedenheit der Behandlung zuwege, so würde er
gerade dadurch, dass er jeder Individualität gerecht zu werden
suchte, den Schülern ungerecht und parteiisch erscheinen und infolge-
dessen ihr Vertrauen und damit ihre Liebe verscherzen.
Gerade das Zutrauen und die Liebe der Schüler muss sich aber
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der Lehrer vor allem erwerben und erhalten. Dies geschieht besonders
dadurch, dass er ihnen selber Liebe entgegenbringt. Dann hat er
den mächtigsten Hebel für seine erziehende Wirksamkeit in seiner
Gewalt. Ist diese Gotteskraft in ihm wirksam, dann braucht er nie
davon zu reden. Die Schüler fühlen sie schon heraus, sogar aus dem
Schmerz der Strafe, wodurch der Lehrer ihr Wol bezweckt. Sie em-
pfinden die Liebe in dem gehaltenen, freundlichen Ernste, der von
pedantischem mürrischen Wesen gleich weit entfernt ist, wie von gut-
müthiger Schwäche. Die Liebe zur Jugend bewahrt dem Lehrer, so
schwer ihn auch draußen oftmals Kummer und Sorge drückt, die
heitere ruhige Stimmung in den geweihten Räumen der Schule; und
diese Stimmung überträgt sich unbewusst auch in die Seelen der
Schüler und macht sie willig', seinen Lehren achtsam zu horchen,
seinen Geboten sich freudig zu fügen. Die Liebe erweist sich besonders
in der rechten Geduld und besonderen Sorgfalt, womit sich der Lehrer
der Schwachen, der im Hause Verwahrlosten annimmt, damit doch
der glimmende Docht nicht vollends erlösche. Hat man es doch
geradezu als die Signatur einer guten, wahrhaft christlichen Schule
bezeichnet, was sie an den Schwachen thue!
Gleichwie der Erlöser nicht durch Worte, nicht durch Waffen-
macht, sondern durch die Kraft der Liebe, die er im Leben und
Streben bethätigte, die große Welt überwunden: so wird der Lehrer
durch die nämliche Zauberkraft siegreicher Herrscher in der kleinen
Welt, die seinem Wirken anvertraut ist Am Bande der Liebe, das
ihn mit den jungen Seelen verknüpft, zieht er sie unbewusst empor,
fernab vom Schlechten und Gemeinen, das sie schon darum fliehen,
weil es dem geliebten Führer Schmerz bereiten würde.
Freilich kann dies schöne Werk nur dann vollkommen und auf die
Dauer gelingen, wenn die Erziehung im Elternhause schon vor der
Schulzeit vorbildend die Keine des Guten und Schönen in das Kindes-
herz zu pflanzen nicht verabsäumt hat, wenn das häuslicheLeben während
und nach der Schulzeit mit seinen Einwirkungen diejenigen der Schule
nicht abschwächt, sondern einstimmig mit dem Streben pflichtgetreuer
Lehrer die Seelen der Kinder empor zieht. Denn die wirksamsten
Mittel zur Erziehung sittlich-religiöser Charaktere birgt das Heilig-
thum des Hauses; die Schule ist nur Mithelferin am hohen Werke.
Dass auch unsere Schule immer fähiger und williger werde,
durch ihre Lehrer das Erziehungswerk der Eltern in treuer Arbeit
kraftvoll zu fördern, das ist der herzliche Wunsch, mit welchem ich
schließe, um hiermit zugleich unsere Jahresprüfungen zu eröffnen.
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Wie wird man Humanist?
Von Director T/i. SchUtz-AnUcerpen.
Es klingt paradox, dass man Humanist werden soll, dass man
es also nicht gleich von Geburt an ist. Man wird dies leicht ver-
stehen,' wenn man den Begriff in der Bedeutung auffasst, wie er
heute besteht.
Der Mensch ist nach einem bestimmten Plan organisirt, er hat
Leib und Seele, von denen jedes, obgleich sehr zusammengesetzt, doch
ein Ganzes bildet, und welche beide in ihrer Wechselwirkung wiederum
ein Ganzes ausmachen.
Wer den Menschen zum Gegenstand seines Studiums gemacht
und gefunden hat, dass in demselben eine strenge Gesetzmäßigkeit
herrscht, wer diese Gesetzmäßigkeit kennt, und in ihr die Richtschnur
für sein eigenes Leben findet, der ist Humanist. Der Humanismus ist
auch eine Religion und zwar die Religion, deren Vorschriften allge-
mein befolgt werden müssten, wenn die Menschen zu ihrem eigentlichen
Ziele kommen sollten. Alle positiven Religionen sollten die Haupt-
lehren des Humanismus enthalten, und ohne dieselben sind sie nur
Schein. Das echte Christentum ist Humanismus, und nur weil in ihm
die Menschheit zu sich selbst kam, sich selbst wiederfand, hatte das
Cliristenthum eine solche Anziehungskraft für die Menschen, dass es
sich rasch ausbreitete. Wären die Lehren des Christenthums das ge-
blieben, was sie im Anfang waren, wären sie nicht im Laufe der Zeit
mit so viel Zuthaten vermischt worden, dass man nachher vor lauter
Zuthaten kaum noch den rechten Kern erkennen kann, dann wären
noch heute alle Christen in gewissem Sinne auch Humanisten. Aber
kaum ist man auf die Welt gekommen, so wird man in die Zwangs-
jacke einer Confession gesteckt, und das, was man ist, ein Mensch,
wird in uns Nebensache, durch unzählige Formalitäten verdunkelt und
zum Theil erstickt, wie wir es an gewissen Ordensgeistlichen wahr-
nehmen. Wenn man auf diese Weise in eine gewisse Richtung ge-
drängt worden ist, fühlt man sich gar nicht mehr als Mensch, und es
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ist sogar so weit gekommen, dass das Menschliche an uns, wenn es
einmal hie and da zum Durchbruch zu kommen versucht, als etwas
Sündhaftes angesehen wird. Wir sind gewiss, dass diese Zeilen von
vielen Seiten her als des Teufels Werk angesehen werden.
Wenn man Humanist wird, so hat man dazu eine ganz besondere
Begabung und eine Veranlassung. Die wenigsten Menschen haben An-
lagen dazu, und sie sind von Jugend auf gewöhnt worden, derartige
humanistische Anwandlungen als Verirrungen des Geistes anzusehen.
Uberhaupt ist es vielen Menschen befremdend, dass man von
einer religiösen Entwickelung reden könne. Sie meinen, die Religion
sei etwas, das uns fix und fertig mit auf die Welt gegeben würde,
so wie eine Erbschaft, die man antritt. Aber das ganze Menschen-
wesen widerspricht dieser Auffassung, sowie die Geschichte der Mensch-
heit und die Geschichte der Erde. Alles, was wir sind, alles, was die
Menschheit ist, alles, was die Erde ist, ist ein Resultat einer unendlich
langen Entwickelung. Unsere Erde hat keineswegs immer so ausge-
sehen wie jetzt, ihre ganze Oberfläche ist fortgesetzten Umwälzungen
unterworfen gewesen, auf derselben hat sich ein großartiger Werde-
process abgespielt, dessen jetziges Stadium wir vor Augen haben, und
dessen Zukunft wir nur durch Schlüsse auf Analoges, durch Induction,
ahnen und vermuthen können.
Und der Mensch? Ist er nicht selbst ein Kind dieser Erde,
und ein Entwickelungsproduct der Jetztzeit auf der Erde? Das Alter
der Erde ist nicht zu ergründen, und alle muthmaßlichen Angaben
darüber sagen uns, dass das Menschengeschlecht schon viele Tausende
von Jahren auf der Erde lebt, und dass vor dem Menschen eine un-
absehbar lange Reihe von Pflanzen und Thieren den Boden bereitet
haben, den der Mensch betreten sollte. Alles deutet die Entwickelung
an, Entwickelung ist das uns allenthalben entgegentretende Natur-
gesetz, und davon macht der Mensch keine Ausnahme. Er war an-
fangs seiner ganzen Gestalt und seinem Wesen nach auf einer dem
Thiere ähnlichen Stufe, wie wir es heute noch an einzelnen Völkern
wahrnehmen, aber er war Mensch, und was ihn zum Menschen machte,
das damals noch schwache Licht der Vernunft, unterschied ihn doch
wesentlich von dem Thiere. Er hat also aus schwachen Anfangen sich
entwickelt, sein Leib ist vollkommener, edler geworden, seine Seele
hat sich zum Geiste emporgeschwungen, und mit dieser Entwickelung
hielt auch seine Religion Schritt
In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit bildet das Religions-
wesen den wichtigsten Zweig. Mit dem Erwachen des Selbstbewusst-
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seins, mit dem noch schwachen Funken des göttlichen Lichtes, mit
der Vernunft, trat der Mensch in die Reihe der Geister ein, und als
solcher ahnte er den großen Allgeist, wenn er ihn auch zuerst nur
in den mächtig sich aufdrängenden Naturgewalten zu erkennen ver-
mochte. Aher dass er ihn erkannte, fürchtete, verehrte, ihm opferte,
das war seine Religion, und war auf der niederen Stufe, wo er stand,
ebensoviel, als uns, den jetzt lebenden Menschen, unsere Religion ist.
Die Religion war ja nicht einmal nur eine Religion, sondern solange
es Menschen gibt, hatten sie vielerlei Religionen, und dieselben haben
sich immer mehr verzweigt. Aber daraus geht hervor, dass es wieder
ein Naturgesetz ist, dass die Menschen in den Formen der Religionen
ebenso verschieden sind, wie in ihrer körperlichen und geistigen Be-
schaffenheit, wie in der Hautfarbe, in den Haaren, den Gesichtszügen.
Ja, so wenig wie man dem Äußern nach zwei Menschen sieht, die ein-
ander vollkommen gleich sind, so hat auch jeder Mensch seine eigene
Religion. Sowie aber bei aller Verschiedenheit das eigentliche Wesen,
die Grundlage des Menschenwesens, immer dasselbe ist, so ist auch
das Religionswesen in seinem innern Kern immer dasselbe: Anerken-
nung einer höheren Macht, einer Gesetzlichkeit, einer Ordnung, und
Unterwerfung unter dieselbe im Denken, Fühlen und Handeln.
Jeder gebildete Mensch erkennt das, und ebensowenig, wie man
heutzutage einen Menschen darum weniger als Menschen ansieht, weil
er Neger, oder Chinese, und nicht ein Europäer ist, ebensowenig fällt
es uns ein, einen andern Menschen gering zu schätzen, weil er nicht
dieselbe Religion hat wie wir.
Wenn wir zugestehen, dass die Entwickelung, die Vervollkomm-
nung ein Grundgesetz der Natur und des Menschenwesens ist, so werden
wir auch einsehen, dass das Recht auf eine solche Entwickelung, ebenso
wie es jedem Naturwesen zukommt, auch das erste Naturrecht jedes
Menschenkindes ist, sobald es auf die Welt kommt. Würde man es
nicht für eine grausame Barbarei halten, wenn man einem kleinen
Kinde verwehren wollte, zu wachsen, groß zu werden, seine Arme
und Beine, seine Hände und Füße größer und länger werden zu lassen? —
Niemand bezweifelt das, und was vom Körper gilt, das sollte nicht
von der Seele gelten? — Und doch gibt es Menschen und ganze Classen
von Menschen, die behaupten, sie hätten das Recht, den Menschen die
Entwickelung des Seelenlebens zu verbieten. Ist es nicht eine Bar-
barei, zu sagen, ein Mensch solle nicht fühlen, nicht denken, nicht
urtheileD? Ist denn das Seelenwesen nach allen Zugeständnissen nicht
das Beste und Edelste am Menschen? Und das, was man am Körper
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zu verkümmern für unrecht hält, das Wachsthum, das zu ersticken
sollte ein Recht werden, wenn es sich um Seele und Geist handelt? —
Wenn es nun doch Tausende und Tausende von Menschen gibt,
die das ruhig geschehen lassen, die sich selbst dieses Rechtes begeben
haben, die in allen Dingen sich von andern leiten lassen, sich in allen
geistigen Angelegenheiten blindlings unterwerfen, so kann man das
anders nicht begreifen, als durch eine jahrhundertelange Angewöh-
nung, die es endlich dahin gebracht hat, dass man sein Menschen-
wesen und Menschenrecht nicht mehr fühlt. Wenn aber einer sein
Menschenwesen nicht mehr fühlt, dann ist er auch kein rechter
Mensch. Nun gibt es glücklicherweise immer noch Menschen, In denen
das Selbstbewusstsein nicht ertödtet ist, und die sich auf sich selbst
auf ihre Rechte besinnen, die beständig über sich selbst nachdenken,
und namentlich über ihr Religionswesen. Solche Menschen schlagen
natürlich aus der gewöhnlichen Art heraus. Sie finden, dass ihr
Denkvermögen, wenn es durch die Schulung eines guten Unter-
richtes gegangen ist, sich nicht unterdrücken lässt, und dass es ein
Unrecht ist, zu verbieten, dass man denken und nachdenken soll, auch
über Religion. Wenn es irgendwie ein Gebiet gäbe, über das man
nicht nachdenken dürfte, dann müsste das sich auch dem eigenen Denken
bemerkbar machen. Es gibt solche Gebiete, bei denen unser Denken
haltmachen muss, weil das endliche Denken beim unfassbaren Un-
endlichen angekommen ist. Aber solange man nicht an einem solchen
Punkt angekommen ist, kann man nicht haltmachen, man muss es
durchdenken, soweit es geht, nnd wird endlicli haltmachen, wo die
Logik am Ende ist, aber — nicht eher, auch nicht im Religionswesen.
Und doch sagt die Kirche, über dieses sollst du nicht denken. — Sie
hat unrecht. Das Religionswesen verdient erst recht, dass man da-
rüber nachdenke.
So darf man also es niemandem verübeln, wenn einer auch hierin
seinen Weg geht. Die erste Bedingung aber ist — Wahrhaftigkeit,
Redlichkeit im Denken, Logik. — Was man auf diesem Wege wird,
das wird man durch seine Erziehung, durch seine Entwicklung. Ein
Denker überlässt sich nicht seiner Trägheit, er arbeitet beständig,
jahrelang, er sucht, forscht, immer dem Drang nach Entfaltung, nach
Entwickelung, nach Wahrheit folgend, er sucht sich dabei nie selbst
zu betrügen, indem er sich sagt, dass er sich an eine Schablone binden
müsse, dass er die Dinge so hinnehme, wie andere, eine Autorität
oder eine Religionsgesellschaft sie ihm bieten. Dass man in seinen
Geist Dinge gerade so aufnehmen müsste, wie andere sie uns vor-
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schreiben, dass man nicht verändern, nicht verarbeiten, mit einem
Wort — nicht kritisiren dürfe, das kann der Denker nicht über sich
gewinnen. Wenn uns einer etwas zu essen gibt, und man dabei nicht
die Augen, die Nase, die Zunge gebrauchen soll, dass man es unbe-
sehen, unberochen, ungeschmeckt hinunterschlucken soll— damit kann man
sich doch unmöglich einverstanden erklären, und man würde einen anderen
für dumm halten, der es thäte. Warum soll man also Dinge unbe-
sehen, ungeprüft in seinen Geist aufnehmen, sie dort ruhen lassen, un-
verändert, wie eine todte Sache — das geht doch nicht. Was in
meinen Geist einzieht, das muss ich erst untersuchen, meinem Denken,
meiner Vernunft unterbreiten, und wenn ich finde, dass diese Instanzen
es nicht billigen, dass sie es als unwahr erkennen, dann stoße ich es
als etwas Schädliches wieder von mir. — Sowie wir die Sinne
haben, um Controle zu halten über das, was in unseren Magen ein-
gehen soll, — so haben wir auch unser logisches Denkvermögen, um
eine Controle über alles anzustellen, das in unseren Geist eingehen soll.
Was nicht in den Magen passt, bezeichnen wir als Gift, und stoßen es
unwillkürlich ab von uns. Unwahrheit ist das Gift des Geistes, und
wir sollten sie ebenso unwillkürlich von uns abstoßen. Wenn jemand
das nicht thut, so beweist er damit, dass sein Denkvermögen, seine
Vernunft schläft, oder dass er dieselben ihres hohen Kritikeramtes
entsetzt hat, und damit eigentlich das Göttliche von sich abgestreift hat
und dem geistigen Atavismus verfallen ist. —
Leider sind gerade die Menschen, welche auf religiösem Gebiete
ihren Geist in vollem Gebrauch erhalten haben und sich gegen das
Irrige und Unwahre gewehrt haben, immer verfolgt worden, und sie
haben ihr Leben für ihren Muth hingeben müssen.
— — „Die wenigen, die was davon erkannt, die, thöricht genug,
ihr volles Herz nicht wahrten, dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen
offenbarten, hat man von je gekreuzigt — und verbrannt." • —
Geistes- und Denkfreiheit sind und bleiben, solange es Geister
gibt, die erste Grundbedingung für das Leben des Geistes, und sind
daher ein unverlierbares, unveräußerliches Recht des Menschen. Jedes
Ding in der Natur stirbt, wenn es in seiner Entwickelung gehemmt,
verkümmert wird, und was im Gebiete des Organischen Gesetz ist,
ist es erst recht für den Geist. Der Geist soll sich entfalten, oder er
stirbt. Diese Einrichtung des Geistes zu kennen, ist Humanismus, und
weil unzählig viele Leute dies nicht wissen oder vernachlässigen, nicht
beachten, sind sie Atavisten.
Atavismus bedeutet in den organischen Naturwesen, wo doch ein
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Aufsteigen, eine Vervollkommnung die Regel sein sollte, die Erschei-
nung, dass sie aus dem Zustande der Vervollkommnung, in den sie
durch Arbeit gekommen sind, in einen früheren unvollkommenen Zu-
stand wieder zurückfallen. Wenn man dies auf den Menschen an-
wendet, so bemerkt man sehr bald, dass der Zustand der sittlichen
Vervollkommnung, den die Menschen in früheren Zeiten, oder in ganzen
Völkerschaften, Nationen erreicht hatten, in der jetzigen Zeit wieder
im Rückgang begriffen ist; dass der hohe Standpunkt, den Christus
selber einnahm, und den viele nach ihm erreichten, in der jetzigen
Zeit wieder verlassen ist. Wenn das Menschengeschlecht sich aus dem
Thiergeschlecht entwickelt hat, dadurch dass in ihm die Vernunft die
oberste Herrschaft erlangte, dann muss man zugestehen, dass, wenn
die Vernunft nicht gebraucht wird, es wieder in einen thierischen Zu-
stand versinken muss und dem Atavismus verfällt. Wer sich die
Menschheit in Bezug auf diesen Punkt einmal ansieht, der wird dies
bestätigt finden. Wenn die Ideale, welche ja die höchste Blüte der
Menschenvernunft sind, sich zu verlieren beginnen, oder schon jahr-
hundertelang vernachlässigt worden sind, dann macht sich dieser
Mangel auch schließlich geltend an der Gestalt und an dem Gesichts-
ausdruck der Menschen. Das geht ganz natürlich zu. — Wenn die Liebe
zu den Idealen der Schönheit, Wahrheit und Güte nicht bei der Wahl
eines Ehegemahls herrscht, was muss denn die Folge davon sein? —
Die Nachkommen verlieren diese Eigenschaften wieder, die das Menschen-
geschlecht viele Jahrhunderte lang erworben hatte; die Generationen
verarmen an diesen Idealen, und die innere Armut wird nach und
nach äußerlich sichtbar an dem Körper, der ideale Stempel geht ver-
loren.
Wenn wir diese Idealität in dem Menschen wesen, den Sinn für
Recht, für wahre Schönheit, für Güte, und deren Resultate, die ideale
Kunst, den Sinn für Wahrhaftigkeit, den Sinn für echte Freundschaft,
die edle Gattenliebe, die hohe Menschen- und Nächstenliebe als das
Thermometer für den Humanismus, für die Fortscliritte der Mensch-
heit ansehen wollen, und wenn wir damit einmal den wirklichen Zu-
stand der menschlichen Gesellschaft vergleichen — dann müssen wir
schamroth werden, dann müssen wir unsere Blicke betrübt zu Boden
senken, weil wir finden, dass unsere Generation stark an Atavismus,
oder doch an Marasmus, dem Vorboten des Atavismus, krankt. Ata-
visten sind alle, welche die natürliche Anlage zur Menschenliebe in
Hass, Intoleranz, Verfolgung, Neid, Verleumdung umkehren; Atavisten
sind alle, welche die Gattenliebe, die nur dem einen uns verbundenen
Pädagogium. U. Jahrgang. Hüft I. 2
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Wesen angehören soll, in Geschlechtstrieb verdrehen; Atavisteu sind
alle, die Freundschaft durch die Feindschaft ersetzen; Atavisten sind
alle, die keinen Sinn für wahre Schönheit und echte Kunst haben; Atavisten
sind alle, die Wahrheit in Lüge, Güte in Bosheit, Recht in Unrecht ver-
wandeln. Die Menschheit ist auf abschüssigem Wege, und es ist die
höchste Zeit, dass man es ihr sage, dass man ihr den Spiegel der
echten Menschheit vorhalte, damit sie ihr eigenes Bild neben dem
echten Menschenbilde sehe, und erschreckt stehen bleibe und sich zur
Umkehr rüste.
Freie Entwicklung des Körpers und Geistes sind das erste und
natürlichste Menschenrecht, und da die Religion mit zum Menschen ge-
hört, und sogar sein Bestes ausmacht, so ist Religionsfreiheit ebenfalls
ein Recht, das ihm niemand verkümmern darf. Religion ist Herzens-
sache, aber alle Herzenssache muss unter der Controle der Vernunft
stehen und sich zum vollen, klaren Bewusstsein des Zusammenhangs
mit Gott, mit der sittlichen Weltordnung und dem sich daraus er-
gebenden höchsten Sittengesetz erheben. Wenn das zum Selbstbe-
wusstsein gelangende Göttliche, die Gottähnlichkeit, das eigentliche
Wesen im Menschen ausmacht, dann ist die Erkenntnis desselben doch
echtes Menschenthum, und das Leben nach dieser Erkenntnis auch
echte Menschenreligion. Darum ist das echte Christenthum eigentlich
nichts Neues gewesen, sondern das uralte Menschenthum, wie es von
einigen griechischen Philosophen und Christus hauptsächlich ver-
kündet wurde. Christus hat es, veranlasst durch seine große Liebe
zu den Menschen, in sich selbst zum vollen Bewusstsein herausgear-
beitet und dem damals verkommenen Judenthum wieder zum Bewusst-
sein bringen wollen. Humanismus, Christenthum, Religion, Liebe sind
nahe verwandte Begriffe. Liebe ist das Grundwesen des Menschen-
thums und der Religion, und sie sind frei im Menschen, sie sind sein
eigenstes Eigenthum, an das ein Dritter kein Recht hat. Religion ist
ja auch ein Liebesverhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und
Gott, und kann daher ebensowenig die Einmischung eines Dritten ver-
tragen, wie alle anderen Liebesverhältnisse auf Erden, z. B. zwischen
zwei Liebenden, zwischen Mutter und Kind, zwischen Mann und Weib.
Man fange doch endlich an dies zu begreifen, und vieles wird besser
werden. Man fange an zu verstehen, dass in unserem Schulbildungs-
wesen gerade das Menschenthum der Berührungspunkt mit der Kirche
ist, und dass die Sehlde nur die Aufgabe hat, Menschen, rechte Menschen
zu erziehen, dass sie vollkommen genug thut, wenn sie am Menseben
das Göttliche herausholt und dies wieder zur praktischen Bethätigung
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am Menschen benatzt. Damit ist die Aufgabe der Schule für die Er-
ziehung gelöst. Möge es der Schule nur immer gelingen, rechte Menschen
zu bilden, dann kommt der Himmel von selbst auf die Erde.
Wie wird man also aus einem Orthodoxen zum Humanisten?
Keineswegs, wie man es oft sagt, durch Abfall von der Religion,
um ein schlechtes, sittenloses Leben führen zu können, um ohne Schranken
thun und lassen zu können, was man will, wenn man nur nicht mit
den Gesetzen in Widerspruch geräth. Dies muss entschieden in Ab-
rede gestellt werden, denn das ruhige, gedankenlose Wandeln auf einem
vorgeschriebenen Wege ist viel bequemer, als das Hingen und Kämpfen
um eine eigene Überzeugung. Das erstere ist einer großen, alten,
längst ausgetretenen Heerstraße zu vergleichen, während das letztere
ein von uns selbst geebneter, mühsamer, steiniger und dornenvoller
Pfad ist. Derselbe leitet uns nicht in einer flachen und aussichtslosen
Gegend fort, sondern steigt immer bergan und bietet eine immer weiter
reichende Aussicht auf die zu Füßen liegende Welt. — Nur durch
vieles Denken, mit dem unauslöschlichen Trieb nach Wahrheit, Klar-
heit und Licht, durch mühsames Hindurcharbeiten durch alle Zweige
des menschlichen Wissens, durch eine mit ästhetisch-ethischem Gefühl
verfeinerte Vernunft kann das Ziel erreicht werden. Der Weg ist
weit and beschwerlich, aber der Lohn auch um so größer.
Eün innerer Zwiespalt ist in einem nach Klarheit und Harmonie
strebenden Menschen eine große Qual, schlimmer als eine Dissonanz
in der Musik, schlimmer als alles Unharmonische in sonstigen Dingen.
Überhaupt sind unharmonische Menschen ein Übelstand für die Ge-
sellschaft, für den Staat. Das sehen wir jetzt deutlich an Deutsch-
land. Es ist politisch geeinigt, aber in seinem Herzen vielfach zer-
rissen und zerspalten.
Solange es mit dieser Dissonanz nicht ins reine kommt, wird der
innere Friede nicht Platz greifen können. Nur eine glückliche Lösung
des religiösen Zwiespaltes kann hier Rath schaffen. Wann wird der
Stifter dieser Vereinigung kommen?
Man könnte ja bei allen religiösen Differenzen friedlich mitein-
ander auskommen, wenn man die Toleranz üben wollte, wenn man
verstehen wollte, dass das Einigende in Religion die Hauptsache und
das Trennende nichts als Nebensachen sind. —
Was hat man in der Schulreform an diesem Punkte gethan? So-
viel wie nichts, weil man in den Schulen die Trennung in Confessionen
bestehen lässt —
Wenn an derselben Lehranstalt drei verscliiedene Confessionen
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gelehrt (und nachher im Examen auch examinirt) werden, so müsste
der Schüler ganz gedankenlos sein, wenn er nicht herausfände, dass
ein Widerspruch zwischen den Wahrheiten der Confessionen besteht,
und dass sie doch alle drei als wahr gelehrt werden. Dies sind That-
sachen, die man in erster Linie bei der Reform berücksichtigen sollte,
wenn man nicht einen religiösen Zwiespalt schaffen will.
Man sagt, die Religion sei trocken und langweilig, und deshalb
sei die Jugend froh, wenn sie dieselbe hinter sich hat und keinen
Religionsunterricht mehr genießt. Das ist nur ein Beweis, dass sie
schlecht verstanden und schlecht gelehrt wird. Die echte Menschen-
religion ist nicht trocken und langweilig, sie ist von allen Lehrgegen-
ständen der interessanteste und das Gemüth am meisten befriedigende.
Der Humanismus schließt die dem Menschen so sympathische Natur
nicht aus seinem Bereich aus, er benützt sie als wertvolles Material,
um daraus das Walten des göttlichen Geistes und die sittliche Welt-
ordnung zu erkennen. Er benützt die Gefühlswelt eines Kindes in
seiner praktischen Anwendung im Leben, in der Eltern-, Geschwister-
und Freundesliebe, in der Liebe zu Mitschülern und Lehrern, um das
Gefühl der Liebe erstarken zu lassen, und es zur Gottesliebe zu er-
ziehen. — Das ist nicht langweilig, sondern wärmt, begeistert, erhebt
und bringt das religiöse Wesen mit der Wirklichkeit in und außer
dem Kinde in die engste Verbindung. Wenn der Schüler gewöhnt ist,
das Religiöse überall in seiner Umgebung, in seinem Herzen, in der
Natur, im Hause zu sehen, wird er es auch später in der Welt und
im praktischen Leben nicht mehr verlieren. Man fragt, warum die Leute,
die allgemein als religiös, oder kirchlich gelten, oft in ihrem Leben
außer der Kirche, in ihrer Familie, in der Öffentlichkeit so unliebens-
würdig, lieblos, hart, schlau, lügenhaft, betrügerisch sind, warum ihre
kirchliche Frömmigkeit auf dieselben keine sittliche Kraft ausübt, und
man kann kaum eine andere Antwort finden, als in dem Religions-
wesen selbst. Es soll doch die Menschen gut machen oder sie ver-
hindern, schlecht zu werden. Wenn es im Laufe der Jahrhunderte
diesen Zweck nicht erfüllt, wenn es die Menschen in Unsittlichkeit
verkommen lässt, so kann man die Ursache nur dem Religionswesen
selber zuschieben, welches die Menschen nicht mehr religiös erwärmt,
welches sich begnügt, wenn die Menschen sich durch einige Formali-
täten mit ihrem Gewissen abfinden und sich um Gott wenig kümmern.
Die Humanitätsreligion ist etwas Innerliches, in Herz und Gemüth
Wohnendes, und entzieht sich der Controle, oder wenn es eine solche
gibt, so liegt diese in den Handlungen des Humanisten. Sie ist wahr
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und echt, sie betrügt sich nicht, sie macht echte Sittlichkeit zur Pflicht
und zur Richtschnur des Lebens. —
Man sieht wol, dass es unter den jetzigen Verhältnissen nicht so
leicht ist, Humanist zu werden, dass man es durch Trägheit, Sich-
gehenlassen nicht wird. Daher kommt es, dass so unendlich viele
Menschen, die in der Schule schon den religiösen Zwiespalt in sich
aufgenommen haben, sich aus demselben im Leben nicht mehr heraus-
winden, dass sie aus Zweiflern Ungläubige, Indifferente, Materialisten,
Atheisten werden, wovon die Welt voll ist. Der Humanismus muss
in ein System gebracht und schon frühzeitig in den Schulen gelehrt
werden; der orthodoxe Religionsunterricht gehört nur in die Kirche.
Das ist der einzige Weg, wie man zu einem befriedigenden Zustand
in der Welt kommen kann.
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Jugenderziehung unter dem Einflüsse großstädtischen Lehens.
Vom Scminaroberlchrer Bwlolf Lenk- Dresden.
Es wird als ein besonders günstiges Geschick gepriesen, hinein-
gestellt zu sein in solchen Reichthum, solche Fülle: die Großstadt
bietet alles dar, was die Entwicklung eines Seelenlebens fordern kann;
aus allen Reichen der Natur und Kunst steht hier das Beste täglich
unsem Augen offen; ein jeder Gang durch Straßen, über Brücken
oder Plätze erinnert uns daran, dass hier sich einst ein Stück Ge-
schichte abgespielt, dass hier die Zeugen einer großen Vergangenheit
zu uns reden, und noch wetteifern unsere besten Geister durch erhebende
Belehrung, durch künstlerische Gaben auch uns zu höherem Streben
mit emporzuziehen. In den Streit entgegengesetzter Vorstellungsarten
werden wir eingetaucht; wir erfahren, wie im Kampfe entbrennen die
eifernden Kräfte, wie sie Großes bewirken im Streit, Größeres leisten
im Bund. Wer in solchem Leben mitten inne steht, vermag sich hier
an einem Tage weiter fort zu bringen, als wer am andern Ort auf
einsam stiller Bahn an selbstgeschaffenem leeren Trugbild matter
Phantasie sich jahrelang abquält. In einer großen Stadt, in einem
weiten Kreise fühlt sich auch der Ärmste, der Geringste; während in
dem engbeschränkten Lebensgange kleinerer Gemeinschaft auch der
Beste und der Reichste nicht zu freiem Athemschöpfen kommen kann.
Die Großstadt spendet jedem ihre Gaben, „dem Blumen, jenem Flüchte
aus; der Jüngling, wie der Greis am Stabe, ein jeder geht beschenkt
nach Haus." Wo gab* es also einen bessern Ort, des Strebens Lust
zu reizen, des Wissens Drang zu spornen und zu stillen? Wo kann
der Körper besser zum formgewandten Werkzeug einer edlen Seele
herangebildet werden als hier, wo jeder Jüngling an den Zerstreu-
ungen und Vergnügungen der Welt mit vernünftiger Freiheit Antheil
nehmen kann? wo er erfahren mag, dass im Genuss, den das Ver-
gnügen bietet, nicht der Reiz zu finden sei, den eine unerfahrene
Phantasie dahinter sucht, auf dass er dann als reifer Mann die
bittere Erkenntniss nicht unendlich theurer zu bezahlen, mühsamer
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nachzuholen habe! Alles scheint sich in der Großstadt zu vereinigen,
dem Erzieher reiche Unterstützung zu gewähren und sein Werk zu
fördern.
Doch müssen wir, wenn wir vom Standpunkt der Erziehung
aus ein richtiges Urtheil föllen wollen, auf den Entwicklungsgang
des Geisteslebens unser Auge richten. Als erstes, oberstes Gesetz des
Geisteslebens gilt aus der Erfahrung, dass die Seele nicht die Fähig-
keit besitzt, Mannigfaltiges und Vieles gleichzeitig vorzustellen. Em-
pfinden und Anschauen einerseits, Denken und Dichten andrerseits
finden nie vollkommen gleichzeitig statt. Mit je größerer Aufmerksam-
keit wir ein äusseres Object betrachten, um so weniger vermögend
sind wir, auf unsere Gedanken zu achten, und je mehr wir in diese
vertieft sind, um so weniger sehen und hören wir, was um uns vor-
geht. Wir vermögen nicht, eine größere Mehrheit von Gedanken,
von bloßen Vorstellungen ohne Beeinträchtigung ihrer Klarheit im
Bewusstsein zu erhalten. Je schärfer wir den einen Gedanken fixiren,
umsomehr treten die anderen zurück oder verschwinden ganz. Wo
wir aber genöthigt sind, einem Vielerlei unsere Aufmerksamkeit mit
einem Male zuzuwenden, kann sich keine Vorstellung mit so starkem
Eindrucke bilden, wie sie nothwendig ist, um dem Gedächtnis zu
verbleiben, und so entstehen unkräftige, verblasste Bilder in der Seele,
die mit der Zeit dem ganzen Geistesleben ihren Stempel aufdrücken
und in haltloser Oberflächlichkeit des Menschen ihren Ausdruck finden.
Stellen wir dieser Gesetzmäßigkeit innerer Vorgänge die Regellosigkeit
der Außenwelt des Großstadtlebens gegenüber. Wo wäre ein so viel-
fach wechselndes Bild und buntes Allerlei als in dem täglich sich
abspielenden Leben der Großstadt zu finden! Kaum lassen die un-
aufhörlich vorüberflutenden wechselnden Erscheinungen uns Zeit zur
Besinnung zu kommen. Da ist der erste Eindruck noch nicht zum
Bewusstsein gelangt, zwingt uns schon ein anderer die Beachtung ab.
Allenthalben drängen sie von allen Seiten zu, begegnen uns auf Schritt
und Tritt und fordern für sich den Tribut der Aufmerksamkeit. Da
gibt es weder Zeit noch Raum zu ruhiger Betrachtung, die Sinne
fuhren einen fortwährenden Verteidigungskrieg. Im heißen Wirbel
solchen Lebens kann sich nicht die Ruhe finden, die uns nöthig ist,
wenn wir Gemüth und Streben auf das geistig Große richten sollen.
Der Lärm, das wilde Treiben macht das Ohr des Geistes taub für
unsere stille Stimme in der eignen Brust. Der Sinn wird weit und
flach gleich einem Strome, der die Wasser in der breiten Ebene seicht
und ohne Kraft dahinfuhrt. Das Ubermaß, die Uberfülle überreizt
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das Seelenleben so, dass es in Übermüdung fallt und dass ihm endlich
alle Leichtigkeit und alle Kraft des Widerstandes verloren geht; denn
auch der Organismus ist verändert worden , das Nervenleben krankhaft
reizbar; der Mensch wird, wie man sagt, nervös.
Ludwig Richter zeichnet uns in seinem Lebenslauf ein Bild von
der Geschichte der Entstehung solcher Leiden mit den Worten: „Wie
still und öde war in meiner Jugendzeit die breite Schlossstraße! nichts
von den glänzenden Schaustellungen, die jetzt sich dem Auge auf-
drängen; dafür aber zog das Wenige und an sich Geringe umsomehr
die Aufmerksamkeit auf sich und prägte sich tief dem Auge ein;
während jetzt das Viele und Vielerlei zur stumpfen Gewohnheit ge-
worden, kaum imstande ist, die zerstreuten und übersättigten Sinne
auch nur für einen Augenblick flüchtig zu reizen." Überreiztheit und
Zerstreutheit; Übersättigung und Stumpfheit sind die Folgen solcher
Einwirkung und die Kennzeichen innerer Zerrüttung. Das in der
Eigenthttmlichkeit seiner natürlichen Anlage beleidigte Seelenleben
rächt sicli für die Nichtbeachtung der in ihm herrschenden Gesetze
durch solche Leiden, die schon an unserer Jugend sich bemerklich
machen, weshalb man neuerdings genöthigt war, Nervenheilanstalten
für jugendliche Kranke zu errichten, ein Umstand, der die Wege
unserer Zeit mit grellem Licht beleuchtet. Weniger aber eine Folge
der Schulzucht, sind diese Erscheinungen vielmehr auf eine Einwirkung
durch das Leben zurückzuführen, und es wäre unserer Jugend viel
dienlicher, sie von großen Städten als von großen Schulaufgaben zu
befreien. Da wir vorläufig aber mit den gegebenen Verhältnissen zu
rechnen haben, so fragt sich nur, wie können wir das Übel zu ver-
ringern suchen? Nur so, dass wir, was draußen planlos wirkt im
Leben, in der Erziehung einerseits vermeiden, andrerseits vermindern.
Da in der Hand des Lehrers aber nur der Unterricht für die Er-
ziehung Wichtigkeit und Geltung haben kann, so muss er ihn als
Mittel seiner Gegenwirkung brauchen. Im Unterricht muss er dem
Zögling Geisteszucht beibringen. Hier hat er zu erfahren, dass auf
wissenschaftlichem Gebiete eine probehaltige Einsicht nur durch Auf-
wendung eines gewissen Maßes eigner Anstrengung erlangt wird,
dass ein bloßes passives Sehen und Hören, ein unthätiges auf sich
Wirkenlassen nicht genügt und dass der Mensch, „der im leichten
Fluge jedes Wissen umflattert und nicht durch stille, feste Anwendung
seine Erkenntnis stärkt, die Bahn der Natur verlässt". Darum muss
seine Kraft in Thätigkeit gesetzt, er muss gezwungen werden, auf
einen Gegenstand sie zu beschränken und tiefeindringend hinzulenken;
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denn nicht am Vielerlei des Wissens liegt es, sondern dass die Kraft
geübt und frisch erhalten bleibe, damit sie das Erlernte anzuwenden
wisse. Ein bloßes Füllen mit gelehrtem Allerlei kräftigt das Ver-
mögen nicht; es überbürdet nur und bildet Phrasenhelden, die wol
mit Worten trefflich fechten können, doch jeder eignen Ansicht bar
und ledig sind. Und hierin trifft uns, ob mit Recht, das weiß ich
nicht, der Vorwnrf eines hochgelehrten, welterfahrenen Mannes, des
frühem amerikanischen Gesandten (Whist) in Berlin, welcher sagt:
-Bei all meiner Bewunderung für das deutsche Unterrichts wesen muss
ich mich doch zu der Überzeugung bekennen, dass in den Schulen zu
viel scholastischer Druck herrscht, dass die Jugend zwar viel lernen,
aber wenig denken muss, wodurch die individuelle Kraft untergraben
wird. Darum der Mangel an noch unverbrauchter Kraft, durch welche
unsere amerikanische und englische Jugend im praktischen Leben so
sehr gefördert wird." Nirgends aber bedarf das non multa, sed mul-
tum im Unterrichte einer strengeren Beachtung als in der Großstadt,
wo der Zögling vielmehr geradezu einer Regelung seiner Eindrücke,
einer Seelendiät unterworfen werden muss, wenn er vor Störung und
Verwirrung bewahrt bleiben soll. Der Unterricht muss liier gleich-
zeitiggeistig heilgymnastisch wirken, ausscheidend Schädliches, erzeugend
Kraft and Halt und Festigkeit. Darum mag es wol anerkennenswert
sein, wenn unsere Unterrichtsmethode sich bemüht, das Lernen möglichst
leicht zu machen, nur darf es nicht darauf hinauslaufen, dass ein
Geschlecht herangezogen werde, unfähig auch in solchen Dingen etwas
Tüchtiges zu leisten, die ihm nicht genehm sind, weil sie Kraft-
anstrengung fordern. Und darum ist es eine fehlerhafte Richtung, die
da meint, es sei notwendig, dem Kinde die Arbeit des Lernens wo-
möglich zum Spiel zu machen. Denn gerade das Erarbeiten, das
Selbstsuchen nnd Selbstfinden ist das Kraft- und Lebenweckende bei
jedem Unterrichte. Sollen erworbene Kenntnisse für das Leben Frucht
bringen, so müssen sie verstanden und verarbeitet, sie müssen Fleisch
und Blut geworden sein. Dann erst erhält das Geistesleben Saft und
Kraft und jene Festigkeit, die der Zersplitterung wehrt, und dann
erst hat die Erziehung ihr Ziel erreicht, wenn sie im Zögling
Festigkeit des Strebens herausgebildet hat, das seinen Stütz-
punkt in ernster Sittlichkeit gefunden.
Auf Seite des sittlichen Lebens drohen dem Zögling aber
ebenso ernste Gefahren in der Großstadt. Überall winkt das
Genussleben in verführerischen Formen und sucht vom Wege ab-
zuleiten. Für den Lernenden, Werdenden soll aber der gol-
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dene Baum des genießenden Lebens noch nicht blühen. Mit dem
ihm geschenkten Vorrecht, in einer Welt von Idealen zu leben,
ist auch die Pflicht verbunden, sich auf diese Welt zu beschrän-
ken. Vergnügen ist eine Klippe, an der schon mancher Jüngling
gescheitert. Er läuft mit vollen Segeln aus, um es aufzusuchen,
aber ohne Compass, um den Lauf danach zu richten, und ohne hin-
länglichen Verstand, um das Steuer zu führen. Darum mahnt Kant
in seiner Anthropologie: r Junger Mann, versage dir die Befriedigung,
wenn auch nicht in der stoischen Absicht, ihrer gar entbehren zu
wollen, sondern vielmehr in der feinen, epikuräischen, einen immer
wachsenden Genuss im Prospect zu haben." Die menschliche Natur
ist so dürftig organisirt, dass sie nur einen winzigen Theil Lust ge-
nießen kann; dem Ubermaß folgt Uberdruss. Und was kann nun
einem Jüngling, der alle Genüsse der Großstadt durchgekostet, ein
Leben voll Mühe und Entbehrung, das seiner harrt, noch Verlockendes
zeigen? „Wer da strebt, das erwünschte Ziel zu erreichen, that und
ertrug als Knabe schon viel, trug Hitze und Kälte, lernte entbehren
der Lust." Im Großstadtjüngling aber sind die feineren Empfindungen
durch den Lärm einer chaotischen Welt übertäubt, und so bleibt ihm
nur noch Raum tili* grobe, sinnliche Genüsse, und vielen unter ihnen
gilt das Wort des Dichters: Besser im stillen reift er zur That oft,
als im Geräusche wilden, schwankenden Lebens, das manchen Jüngling
verderbt hat." Weder für seine geistige, noch für die sittliche Aus-
bildung des Zöglings können wir vom Großstadtleben eine Förderung
erwarten, wir haben nur Hemmungen zu fürchten. Das Leben der
modernen Großstadt vollzieht eine völlige Abtrennung des Individuums
vom Naturleben. Das Kind vollends, selbst noch ein Stück Natur,
muss in einer solchen Treibhauscultnr frühzeitig welken, wenn es zu
einer Entfaltung des echt Kindlichen in ihm überhaupt gekommen ist:
denn auch die Thorheit der Erwachsenen hilft noch mit, die Unnatur
recht zu verstärken. Man hält es ja für seine Pflicht, dem Kinde
schon das Leben so genussreich als nur möglich zu gestalten. Theater-
aufführungen und Bälle für Kinder hält man für nöthig und nützlich,
damit das Kind in geistig und physisch verdorbener Luft an Geist
und Körper sich gleichmäßig vergifte. Und doch sind für Kinder die
einzig wolthätigen Vorstellungen die, welche die Natur aufführt in
Feld und Wald, bei Vogelsang und Waldesrauschen. Hier ist der
Tummelplatz für unsere Jugend. Hier kann sie Geist und Körper
stärken, stählen, bilden. Hier mag der Knabe fröhlich brauchen Arme
und Beine, die Sinne schärfen, den Verstand entwickeln an allem,
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was da lebt und webt auf Flur, im Hain. Hier sind die Wurzeln
deiner Kraft, hier deine Heimath, Jugend!
Darum hat auch nur der, der auf dem Lande geboren, sozusagen
unter freiem Himmel, bei dessen Geburt die Bäume ihre Zweige zum
Fenster hereinsteckten , an dessen Wiege die Vögel des Waldes sangen :
mir dessen Erinnerung hat Heimweh nach dem Ort, wo er das Licht
der Welt erblickte, wo er vom Echo der Berge, vom Rauschen des
Waldes das Reden lernte. ..Wer in einer großen Stadt geboren und
erzogen", sagt Saphir, „der hat keine Jugenderinnerung; seine Er-
innerung bringt ilim nur Häuser, Steine, Menschen, Lehrer, Schul-
kameraden, Prügel und höchstens einen Weihnachtsbaum." Man raubt
dem Kind das Paradies der Lebenszeit, das man hineinzwängt in die
fremde, kalte Welt, die nichts für seinen Kindessinn und seine Neigung
bietet
Für die zweite Stufe des ersten Lebensalters, bis über das
vierzehnte, fünfzehnte Lebensjahr hinaus, eignet sich das Leben der
Kleinstadt mit seinen Handwerksstuben und seinen einfacheren Ver-
hältnissen besonders für Knabenerziehung. In diesem Alter weisen
Fähigkeit und Neigung auf die Richtung hin, in welcher sich der
Lebensgang bewegen wird; es drängt zu der Entscheidung, ob der
Knabe im Kreise der Wissenschaften oder einer handwerksmäßigen
Beschäftigung Befriedigung und Vollendung finden wird. Entweder
bleibt er hierauf ganz dem Werkstattleben, in welches er durch Arbeit
seiner Hände eingeführt, oder er folgt dem Drange nach weiterer
wissenschaftlicher Ausbildung: und auf dieser letzten, höchsten Stufe,
der Hochschulbildung , die zum Abschluss bringen und auf eigne Füße
stellen soll, muss er so weit gefestigt sein, dass ihm das Großstadt-
leben nicht mehr schaden kann. Geistig und sittlich wolgegründet,
empfängt er jetzt die Fülle der Anregungen als eine Erweiterung
seines Verständnisses. Nunmehr kann er alle Verhältnisse und Bildungs-
raittel in anderer Weise auffassen], verwerten und aneignen; jetzt mag
er auch den Kampfplatz übersehen lernen, auf welchem er sich später
selbst versuchen soll; denn „das Leben bildet den Mann und wenig
bedeuten die Worte". Jetzt gibt der Kreis , in welchen er tritt , seiner
bisherigen Bildung Ergänzung und Vertiefung und erweist sich dämm
als naturgemäße Fortsetzung seiner vorangegangenen Entwicklung.
So gestaltet wäre die Erziehung erst naturgemäß, während sie
jetzt in der Großstadt der Natur zuwiderläuft, da Schule und Leben
im Widerspruch stehen; denn sobald der Knabe die Schulstube ver-
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lassen hat, findet er überall das zerstreuendste Leben sich abspielen,
was einen Zwiespalt in seine Seele bringen muss.
Die praktischen Engländer sind uns auch hierin lange voraus.
Johanna Schopenhauer schreibt in einem Reisewerke über England
und Schottland: „Dörfer und Flecken rings um London wimmeln von
Erziehungsanstalten, die alle gedeihen, da fast niemand seine Kinder
zu Hause erzieht. Sowie Knaben und Mädchen aus der Kinderstube
kommen, werden sie in jene Erziehungsanstalten gegeben, und erst nach
vollendeter Erziehung kehren sie, fast erwachsen, ins väterliche Haus
zurück." Das ist der Weg, den für die Großstadt unserer Zeit der
Staat betreten muss, wenn unsere Jugend nicht an Geist und Körper
Schaden leiden soll. Die Großstadtatmosphäre bietet keine Lebens-
luft für jugendliche Seelen; sie tödtet wie ein Gifthauch ihre zarten
Keime, vernichtet wie ein Frühlingsreif die besten Triebe, und was
man hierin sündigt an der Jugend, wird sich einst unausbleiblich
rächen. Wir als Erzieher wollen dessen eingedenk sein, dass uns die
Pflicht obliegt, auf Gefahren, welche das Erziehungswerk bedrohen,
hinzuweisen. Unsere Aufgabe ist es, darauf hinzuarbeiten, dass ein
Geschlecht aufwachse kernhaft und stark, gesund und unverdorben
bis ins Mark. So dienen wir dem Vaterland am besten. Denn in
der Kraft und Unverdorbenheit der Jugend ruht die Macht und Größe
eines Landes.
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Die Bedeutung Schillers für die Jugend.
Von W. Bübenkamp-Crtfdd.
auch darüber gestritten werden, wer der größere Dichter
sei, Goethe oder Schiller, mag auch Goethe in seiner natürlichen
dichterischen Begabung und in der Universalität seines Talentes nicht
von Schiller erreicht werden, so steht doch Schiller dem Herzen das
deutschen Volkes nicht minder nahe als Goethe. Und der Jugend
steht er näher; er ist der Lieblingsdichter der Jugend. „Die Be-
merkung, dass Leser bis zu ihrem 25. Jahre gewöhnlich Schiller, aber
nach dem 25. Jahre Goethe den Vorzug geben, ist eine vielleicht
ziemlich unparteiische Beleuchtung der Frage über die Vortrefflichkeit
der beiden Dichter," meint ein Kritiker. Für uns ist dieselbe eine
Bestätigung unserer Behauptung.
Während Goethe schon an der Wiege das Glück zugelächelt hat,
.seine Kindheit dem Schmetterlinge gleicht, der von Blume zu Blume
flattert, wuchs Schiller, wenn auch nicht unter geradezu ärmlichen, so
doch bescheidenen Verhältnissen auf. Goethe umgibt Uberfluss und
Wolhabenheit, mannigfache Belehrung und Anregung, so dass der auf-
strebende Dichtergeist sich nach allen Seiten frei entwickeln kann;
Schillers Jugend verfließt in fast gänzlicher Abgeschlossenheit vom
Leben, der Entfaltung seiner Muse stellen sich drückender Zwang
und eine tyrannische Schuldisciplin entgegen. Die Befriedigung seines
Dichtertriebes erkaufte Schiller durch die mit vielen Gefahren ver-
knüpfte Flucht aus dem Elternhause und die Ungewissheit einer
ärmlichen Existenz. Und als die endliche Anerkennung ihm ein freies
dichterisches Schaffen ermöglichte, war der schwächliche, von Krank-
heiten und Strapazen heimgesuchte Körper nicht mehr imstande, der
verzehrenden Einwirkung anstrengender Arbeit zu widerstehen. Schiller
ist in gewissem Sinne ein Märtyrer seiner Ideen geworden, ein Opfer
auf dem Altare des Genius. In seinem frühen Tode gleicht er dem
Krieger, der mitten im Leben im Angesichte einer glückverheißenden
Zukunft den Tod des Helden stirbt,
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Wenn die abenteuerlichen Jugendschicksale und die alle Fesseln
sprengende Begeisterung Schiller die Herzen der Jugend im Fluge zu
erobern geeignet sind, kann er in der unermüdlichen Verfolgung des
einmal erkannten Zieles und in dem Adel seiner Persönlichkeit als
ihr Muster hingestellt werden.
Unter den fortwährenden Bedrängnissen und Widerwärtigkeiten
würde ein gewöhnlicher Geist endlich seine höheren Bestrebungen
aufgegeben und nur noch zuweilen einen sehnsüchtigen Blick auf die
Träume seiner Jugend zurückgeworfen haben. Schillers energischer
Geist aber wurde durch sein widriges Geschick nur noch mehr ge-
stählt und gewann um so mehr Spannkraft. Die riesige Kraft, mit
welcher er seine Ketten sprengte, zeigt sich in dem Erstlingsdrama:
„Die Räuber." — Wenn von berufener Seite Öfter die Äußerung gethan
wurde, Goethe sei ein gebomer, Schiller ein gemachter Dichter, so
kann ihm die Anerkennung nicht versagt bleiben, dass er sich selbst
zu dem gemacht hat, was er war; seine dichterische Vollkommenheit
ist vielfach das Werk seines ernsten Ringens und Strebens. Von der
Größe seiner Selbstausbildung legen seine späteren Dramen Zeugnis
ab, welche durch ihre classische Glätte und Durchbildung vornehm
von den Producten seiner Sturm- und Drangperiode abstechen.
In gleichem Maße, wie Schiller den Fortschritt in seinen poetischen
Leistungen seinem energischen und beharrlichen Streben dankte, legte
er mit Entschiedenheit Hand an die Vervollkommnung seines mora-
lischen Menschen, und wir müssen gestehen, dass er durch sein unab-
lässiges Ringen das, was er erstrebte, in einem eigenthümlich hohen
Grade erreicht hat. Es ist bemerkenswert, dass Heine, wenn auch
nicht ohne Verleugnung seiner Ironie, Schiller „den edelsten, aber
nicht den größten Dichter Deutschlands" nennt. So stürmisch und
bewegt die Jugend Schillers war, nicht blos in den äußeren Lebens-
schicksalen, sondern auch durch stetige innere Kämpfe, so ruhig und
klar floss sein späteres Alter dahin. Wir können von ihm sagen,
dass er in seinem Herzen völlige Befriedigung genoss durch die har-
monische Übereinstimmung seines inneren und äußeren Lebens, durch
die Congruenz seiner Anschauungen mit seinem Handeln. Bei ihm
rinden wir nichts von der Frivolität eines Heine, von der Haltlosig-
keit eines Bürger, von dem hin und her wankenden Skepticismus und
dem finsteren Pessimismus Lenau's.
Seine Kraft in sittlicher Beziehung ruhte aber in der Begeiste-
rung für die Aufgabe, die er sich gesetzt, in der rückhaltlosen Hin-
gabe an seinen Dichterbernf. Er ist oft ein Priester am Altare der
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Gottheit genannt worden, und er ist es in Wahrheit. Keiner konnte
mehr von der hohen- Bestimmung des Künstlers, was ja in gewissem
Sinne auch der Dichter ist, durchdrungen sein wie er. Prophetisch
klingen seine Worte: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand ge-
geben, bewahret sie! Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich
heben!" Schillers Welt war fast ausschließlich eine innere, nicht die
der Wirklichkeit, sondern die der Ideale. Äußeren Zerstreuungen und
Erholungen in geselligem Kreise war er zwar nicht abgeneigt, aber
er suchte sie auch nicht; selbst freundschaftliche Genüsse standen
ihm weit unter dem Glücke, welches ihm in reichstem Maße aus dem
Borne der Poesie quoll. Der Besitz irdischer Glücksgüter war ihm
versagt; sein Gedicht: „Die Theilung der Erde" findet auf ihn selbst
volle Anwendung; er hat aber auch wie kein anderer von der dem
Dichter gewährten Erlaubnis Gebrauch gemacht: „Willst du in meinem
Himmel mit mir leben, er soll, so oft du kommst, dir offen sein", und
in der Gemeinschaft der Seligen seines Dichter-Olymps kümmerte ihn
die Armseligkeit seiner Erdenlage wenig. Selbst die Schwäche und
Hinfälligkeit seines Körpers konnte ihn nicht an der Ausübung des
Dichterberufes hindern; sein ideales Streben waffnete ihn mit einem
wunderbaren Starkmuth in seiner Krankheit. Ehre oder Ruhm er-
strebte Schiller nicht; wir finden bei ihni keine Spur von Eitelkeit,
kaum von berechtigtem Stolze. Noch viel weniger buhlte er um die
Gunst der Menge: „Kannst du nicht allen gefaUen durch deine That
und dein Kunstwerk, mach es wenigen recht; vielen gefallen ist
schlimm." Wie in Ansehung seiner selbst dient er auch in Berührung
mit seinen dichtenden Zeitgenossen nur der Sache; der Kampf, den
er gegen die zu seiner Zeit herrschende Niedrigkeit der gemeinen
Literatur führte, wurde ihm eingegeben von der Verehrung für die
Kunst; er war gegen die Sache und nicht gegen die Person gerichtet.
Das letztere gilt auch von der oft gerügten Kritik über Bürger's
Gedichte.
Die Eigenschaft, welche wir an dem Menschen Schiller nicht ain
wenigsten schätzen müssen, ist seine Wahrheitsliebe und seine Un-
parteilichkeit. Er war frei von gehässiger Tendenz. Wo die Natur
der Dinge eine SteUungnahme erheischte, legte er seine Ansicht ruhig
und offen dar, nur um der Wahrheit die Ehre zu geben.
Wir müssen unsere kurze Betrachtung über die Persönlichkeit
Schillers schließen; sind aber überzeugt, dass der Dichter als Mensch
bei einer eingehenderen Untersuchung stets gewinnen wird. Dem
Menschen Schiller gebürt nicht blos die Hochachtung eines jeden
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sondern er ist ein Charakter, der durch wahre Größe zu allen Zeiten
hervorragen wird, an dem sich jung und alt,, namentlich aber die
deutsche Jugend erbauen und emporranken kann.
Die Hauptbedeutung Schillers, auch für die Jugend, liegt in seinen
Werken. Als Mensch lebte und wirkte Schiller nur eine kurze Reihe
von Jahren in einem engen Kreise; nur dieser stand unter der un-
mittelbaren Einwirkung seiner edlen Persönlichkeit. Aber ewig und
für alle redet sein Dichtergeist aus seinen Werken. Was Großes und
Erhabenes in diesem Geiste gewohnt, die Summe seines geistigen
Lebens hat er uns in denselben hinterlassen; in ihnen ruhen unver-
gängliche Schätze. „Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen
Gedanken; durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende
Blatt." (Spaziergang.)
All sein Dichten ist bei Schiller der Ausdruck und Spiegel seines
edlen Geistes. Vor allem legen seine Schriften Zeugnis ab von der
tief-ernsten Auffassung seiner dichterischen Aufgabe. Das lässt sich
ebensowol aus der Wahl als aus der Behandlung der von ihm be-
arbeiteten Stoffe erkennen. Er widmete sein Talent nur würdigen
Stoffen; zu poetischen Spielereien verschwendete er seine Kraft nicht,
den Leser blos zu unterhalten, verschmähte er. Wie sehr er sclavische
Nachahmung hasste, beweisen seine Verse „An Goethe", als er deu
Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte.
,Einhcim'schcr Kunst ist dieser Schauplatz eigen,
liier wird nicht fremden Götzen mehr gedient ;
Wir können muthig einen Lorbeer zeigen,
Der auf dem deutschen Pindus selbst gegrünt/'
In allen früheren Schriften Schillers, ja mehr oder weniger in
seinen ganzen Werken tritt ein angeborner aristokratischer Wider-
wille gegen alles Gewöhnliche zutage. Dass indes auch die kleinste
und geringfügigste Erscheinung der Natur, besonders der lebenden,
ein Urbild des unsichtbaren Geistes ist, der sich in der Natur thätig
zeigt, erkannte Schiller wol, und seine späteren Gedichte und Dramen
beweisen, dass seine unermüdlichen Bestrebungen, diesen Mangel seines
Talentes zu ergänzen, mit Erfolg gekrönt waren. Wenn auch die
Erstlinge der Schillerschen Muse Ungeheuerlichkeiten und Maßlosig-
keiten aufweisen und nicht frei sind von anstößigen und zweideutigen
Stellen, so verleugnet sich doch auch in diesen Erzeugnissen nicht die
hohe sittliche Idee. In seinen späteren Werken sind die angedeuteten
Fehler fast gänzlich vermieden. So gleicht Schiller dem brausenden
Gebirgsbache, dessen ungestüme Fluten von Sand und Geröll getrübt
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sind, der aber bald, nachdem seine geklärten Wasser die Ebene er-
reicht haben, das Licht der Sonne wiederspiegelt und Segen und
Freude verbreitet — Schillers Werke besitzen fast durchgängig den
Vorzug sittlicher Reinheit, der für einen jugendlichen Leserkreis nicht
gering angeschlagen werden muss. Soweit dieselben inbetreff des
Verständnisses keine Schwierigkeiten bereiten, dürfen die meisten
seiner Gedichte und Dramen der gereifteren Jugend ohne Bedenken
in die Hand gegeben werden.
Ebenso sehr als wegen der sittlich reinen Darstellung sind die
Schriften Schillers durch ihren Reichthum an sittlichen, wahrhaft
großen Ideen für die Jugend bedeutungsvoll. Was der Dichter in der
Vorrede zu seinem Schauspiele „Die Räuber" sagt: „Ich darf meiner
Schrift mit Recht einen Platz unter den moralischen Büchern ver-
sprechen; das Laster nimmt den Ausgang, der seiner würdig ist.
Der Verirrte tritt wieder in das Geleise der Gesetze. Die Tugend
geht siegend davon", diese Erwartung durfte er fast ohne Ausnahme
von allem hegen, was er geschrieben. Er hat sein Talent in den
Dienst der Sittlichkeit gestellt, und wir fühlen uns ermächtigt, ihn
mit vollstem Rechte einen moralischen Dichter zu nennen. Schiller
fand die Gesetze der Sittlichkeit und der Kunst wol vereinbar, nicht,
dass er sich wie Heine zur zweifelhaften Ehrenrettung einer wanken-
den Moral das Zeugnis ausstellen musste: „seine ästhetische Anlage
scheine von Natur aus stärker entwickelt zu sein als der Drang nach
Wahrheit". Bei tieferer Kenntnis der Persönlichkeit Schillers finden
wir es erklärlich, dass der lehrende Charakter in seinen Dichtungen
vorherrscht. Gleichwol ist er nicht im mindesten Tendenzdichter, und
niemals sinkt er zu der Trivialität und der Alltagspoesie mancher
Dichter früherer und neuerer Zeit herab. Sein Reich liegt weit über
der Sphäre des gewöhnlichen Lebens.
Im Hohen und Erhabenen gipfelte seine Kraft; hierin ist er viel-
leicht mehr Meister als irgend ein anderer Dichter.
Es würde uns zu weit führen, auf die einzelnen Erzeugnisse der
Schillerschen Muse näher einzugehen und ihren Wert und ihre Ver-
wendung für die verschiedenen Stufen des Jugendalters zu besprechen.
Wir müssen uns vielmehr darauf beschränken, in einem allgemeinen
Überblicke die Verdienste des Dichters nach den drei Richtungen der
Poesie, der lyrischen, epischen und dramatischen Dichtung, zu be-
leuchten.
Da Schiller als Lyriker nur eine untergeordnete Stellung ein-
nimmt und seine lyrischen Versuche mit wenigen Ausnahmen als die
Pxktfotium. 14. Jahrg. Heft I. 3
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schwächsten Leistungen seiner Muse angesehen werden müssen, können
wir dieselben fuglich übergehen, um uns mit dem Epiker und Drama-
tiker Schiller zu beschäftigen. — Wenngleich Schillers Dichtergeist
sich auf dem Gebiete des Dramas zu der höchsten Stufe künstlerischer
Vollendung emporgeschwungen hat, ruht seine Bedeutung für die
Jugend ebenso sehr in seinen epischen Leistungen, in seinen Balladen.
Schon der Umstand, dass viele der letzteren in den Lesebüchern für
höhere und niedere Schulen fast allgemeine Aufrahme gefunden haben,
ist ein Beweis für die Würdigung ihres erziehlichen und sprachlichen
Wertes. Noch beredter aber spricht ihre Verbreitung in hohen und
niederen Volksschichten für ihre Beliebtheit Wir wiederholen nur,
was unsere Literarhistoriker längst tibereinstimmend anerkannt haben,
wenn wir sagen, dass Balladen, wie der Taucher, der Graf von Habs-
burg, der Kampf mit dem Drachen', der Alpenjäger, die Bürgschaft,
der Ring des Polykrates, die Kraniche des Ibykus, zu dem Vortreff-
lichsten gehören, was die deutsche Literatur auf diesem Gebiete her-
vorgebracht hat. Schiller ist durch seine Balladen in gewissem Sinne
ein Volksdichter geworden, obwol dieselben nicht eigentlich auf die
Bezeichnung: „volkstbümlich" Anspruch erheben können. Ihn selber
trifft dabei nicht der Vorwurf, den er gegen Bürger schleuderte: „er
vermische sich nicht selten mit dem Volk, zu dem er sich nur herab-
lassen sollte". Er bleibt der „milde, sich immer gleiche, immer helle,
männliche Geist, der, eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edlen
und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt". Der Zauber,
welcher den Balladen Eingang verschafft hat bei vornehm und gering,
bei alt und jung, liegt nicht weniger in der Eigenart der Stoffe, als
in der eigenen Bearbeitung. Nicht zum geringsten aber ist es der
sittliche Gehalt, die Verherrlichung echt deutscher Tugenden, erhabener
sittlicher Ideen, wodurch diese Kunstwerke zum nationalen Eigenthum
geworden sind. In dem Gedichte „Der Kampf mit dem Drachen"
liefert der Dichter eine begeisterte Verherrlichung des ritterlich-
deutschen Heldenmuthes , der sich allein an der edlen Liebe zur
Menschheit entzündet und in hoher Selbstverleugnung sich nicht nur
jeglichen Anspruches auf Anerkennung begibt, sondern auch und in
bescheidenem Gehorsam den unverdienten Tadel willig hinnimmt; in
der „Bürgschaft" hat er der alle Gefahren und selbst die Schrecknisse
des Todes nicht achtenden Freundestreue das schönste Denkmal ge-
setzt; „der Graf von Habsburg" gibt ein rührendes Beispiel inniger
Frömmigkeit und demuthsvoller Verehrung des Heiligen, eines kind-
lichen Glaubens an die göttliche Vorsehung. „Der Taucher" warnt
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in antik-classischen Worten vor menschlicher Vermessenheit und vor-
witzigem Eindringen in der Natur unerforschliche Geheimnisse; nicht
weniger ergreifend predigt „der Alpenjäger" unter Benutzung heimat-
lichen Sagenstoffes Mitleid mit dem verfolgten, unter dem Schutze
freundlicher Geister stehender Thiere. „Der Bing des Polykrates"
mahnt an den Unbestand alles irdischen Glückes, in den „Kranichen
des Ibykus" ergreift aufs tiefste die unversöhnliche Rache der wachen-
den Nemesis. Auch viele andere, theils epische, theils lyrisch-epische
Gedichte Schülers gewähren eine reiche Ausbeute sittlich wertvoller
Gedanken, die der Jugend zum Verständnis gebracht werden können,
die wir aber hier wegen des gedrängten Raumes unberücksichtigt
lassen müssen.
Die mannigfachen kostbaren Schätze zu heben, welche Schillers
Dramen „Wilhelm Teil", „ Maria Stuart", „Die Jungfrau von Orleans",
„Wallenstein" auch in sittlicher Hinsicht bergen, bedürfte einer be-
sonderen Untersuchung. Die genannten Dramen eignen sich fast ihrem
ganzen Inhalte nach recht wol, wie andere im Auszuge, an der Hand
eines erfahrenen Lehrers für die Jugend nutzbar gemacht zu werden.
Dass der Dichter auch in seinen in aphoristischer Form gegebenen
Sentenzen einen Platz in der Jugendliteratur beanspruchen darf, wollen
wir nur kurz erwähnen.
Das erotische Element überwiegt nicht in Schillers kleineren und
größeren Dichtungen; aber auch dort, wo es eine Berücksichtigung
erfährt, ist das Auftreten desselben meist kein Grund, der Jugend die
Leetüre seiner Werke vorzuenthalten, da der Dichter alles, was ein
zartes Gefühl beleidigen kann, soviel wie möglich vermeidet. Ohne
uns auf theologische Polemik einzulassen, glauben wir von der Reli-
giösität Schillers überzeugt sein zu dürfen, wie der Dichter ebenfalls
der Anerkennung sicher sein darf, niemals mit gehässiger Absicht
irgend welchem Bekenntnisse entgegengetreten zu sein, wol aber in
manchen seiner Dichtungen durch den innigen Ausdruck religiöser
Gefühle aus dem gläubigsten Gemüthe genug gethan zu haben.
Ein Rückblick auf die begeistert>fromme Dichter-Persönlichkeit
Schillers und ein Hinweis auf unsere früheren Darlegungen wird die
Anführung fernerer Beweisstellen unnöthig machen und uns erkennen
lassen, dass der geübte pädagogische Blick und ein für das Schöne
oftener Sinn in dem poetischen Nachlasse des Dichters eine reiche
Fundgrube für die Geistes- und Gemüthsbildung unserer Jugend ent-
decken kann, für die Pflege des sympathischen wie des Wahrheits-
gefrthls, des religiösen wie ästhetischen Sinnes.
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Wenn wir auf die ästhetische Bildung besonders aufmerksam
machen, welcher doch bei der Dichtkunst überhaupt der reichste An-
theil zufließt, so erblicken wir eine Berechtigung dazu in der glühen-
den Begeisterung für alles Schöne, von welcher namentlich Schiller
aufs lebhafteste erfasst war, und in dem geläuterten Geschmacke, der
ihn bei der Ausübung seiner Kunst leitete.
Was die sprachliche Bildung durch die Schriften Schillers betrifft,
so müssen wir, ohne einen Tadel auf die schwungvolle, edle Sprache
des Dichters zu werfen, die Jugend vor den Versuchen, dieselbe in
den schriftlichen Arbeiten nachzuahmen, warnen. Solche Versuche
fuhren meist zu Unklarheiten und Überschwänglichkeiten des Ausdrucks,
weil die Jugend, auch die reifere, noch nicht zu dem erforderlichen
Grade geistiger und sprachlicher Kraft gelangt ist. Es gilt diese
Vorsicht ja auch nicht allein inbetreff der Schillerschen Ausdrucks-
weise, sondern mehr oder weniger der Erzeugnisse in gebundener
Rede überhaupt. Der Lehrer, welcher bei vorkommenden Fehlern
seiner Schüler Einkehr in sich selbst zu halten gewohnt ist, wird
jedoch wissen, dass die unzureichenden sprachlichen Erklärungen bei
der Behandlung eines Gedichtes und die mangelhafte Vorbereitung
der Schülerarbeiten oft einen großen Theil der Schuld tragen an den
soeben gerügten „Auswüchsen" des Stiles.
Bevor wir von Schiller Abschied nehmen, wollen wir versuchen,
ihm in einer Sache gerecht zu werden, die ihm oft überschwängliches
Lob, aber ebenso oft ungerechte Verkleinerung seiner Verdienste
eingetragen hat und welche auch bei seiner Bedeutung für die Jugend
sehr in die Wagschale fallt: wir denken an seinen Idealismus. Es
ist bekannt, dass Schiller bei seinem Verweilen in den sonnigen
Dichterhöhen sich um die Armseligkeit des irdischen Daseins wenig
kümmerte und in seinem idealistischen Fluge nicht selten die Wirk-
lichkeit aus dem Auge verlor. Wenn wir es noch nicht wtissten,
würden uns seine Werke darauf hinweisen, durch welche sich diese
Charaktereigenthümlichkeit wie ein rother Faden hindurchzieht. Seine
idealistische Weltanschauung zeigt sich in der Wahl des Stoffes, in
der Zeichnung der Personen, der Art der verkörperten Ideen und
sogar in der Sprache. Indem wir anerkennen , dass er im Ausdrucke
des Hohen und Idealen eine selten erreichte Kraft besaß, müssen wir
zugeben — was er auch selbst erkannte — dass ihm das Vermögen,
die Welt des Kleinen und Gewöhnlichen dichterisch zu verschönen,
abging. Sein Bestreben, auch diesen Mangel abzulegen, zeigt sich am
glücklichsten in dem Liede von der Glocke. Nur wenige seiner Er-
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Zeugnisse leiden an einem ungesunden Idealismus, und wenn auch
dieser Zug der Schillerschen Poesie als ein Mangel seines dichterischen
Talentes angesehen werden muss, so thut er der Vollkommenheit des
einzelnen Productes doch nur selten Eintrag. Die Befürchtung, dass
die Jugend durch die Leetüre der Werke unseres Dichters zu einem
unwahren, übertriebenen Idealismus verleitet werde, können wir also
von der Hand weisen, um so eher, als es die Aufgabe der Schule ist,
durch eine weise Auswahl des Lesestoffes dem angedeuteten Übel zu
begegnen, wie durch passende Geistesbeschäftigung in anderen Lehr-
fächern ein Gegengewicht gegen verkehrte, einseitige Bildung zu
bieten.
Denjenigen aber, welchen es obliegt, die Jagend durch Einführung
in das Verständnis unserer Dichter zu veredeln, rufen wir die Worte
Schillers zu:
„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"
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Pädagogische Rundschau.
Zeitstimmen.
[Hans und Schale.] Das Schulhaus ist die erste Arena, in welcher
sich alle zu üben haben, die spater die Kämpfe nms Brot, die Schlachten
des Geistes, die Wettlaufe nach den verschiedenen Zielen mitmachen müssen.
Der Hausschüler wird dem Volksschüler meist an theoretischem Wissen
überlegen sein; aber er bleibt unerfahren, verweichlicht, ungeschickt, schüchtern,
nnd ihm fehlt jene Gewandtheit und Kühnheit, die man sich eben nur im Wett-
ringen aneignet. Allerdings, die Individualität und die Unverdorbenheit des
Herzens kann bei dem Hausschüler leichter gewahrt bleiben, der Charakter
kann sich bei demselben rascher und entschiedener entwickeln; aber trotzdem
ist einem Schüler, der seine materielle Zukunft sich selber gründen soll, mit
dem Einzelunterricht verhältnismäßig weniger gedient, als mit der öffentlichen
Schule, in welcher er — freilich oft mit dem Opfer seiner Kindlichkeit — die
Wege des Lebens frühzeitig kennen lernt. Außerdem ist der Einzelunterricht,
sowie überhaupt die Absonderung nnd enge Begrenzung für den Schüler eine
Qnelle erwachender Selbstsucht, während in der öffentlichen Schule einer für
alle und alle für einen stehen, die Resultate des einzelnen allen zu Gute
kommen, nnd so der Geist der Gemeinsamkeit geweckt wird. Allerdings strebt
auch das Laster des einzelnen der Gemeinsamkeit zu, und manches sechs-
oder siebenjährige Kind sitzt da in den Bänken, dessen Auge so unschuldsvoll
zu blicken weiß, in dessen Busen sich aber schon junge Schlangen bergen, die
es aus dem Drachenneste der dunklen Heimstätte seiner verkommenen Eltern
mitgebracht hat. P. Rosegger.
[Patriotismus.] Dasjenige Element des Patriotismus, das von der
Schule gepflegt werden kann, ist die bewusste und willige Einfügung des ein-
zelnen in eine geordnete Gesammtheit ; was darüber ist, ist vom Übel. In einer
Zeit, in der die Symptome des Byzantinismus täglich warnender hervortreten,
mü8Ste eine Behörde, welche das Unterrichtswesen leitet, von der Einsicht durch-
drungen sein, dass jeder Versuch, eine bestimmte Uberzeugung unmittelbar her-
vorzubringen, schlaue und strebsame Köpfe zur Heuchelei, herzhafte Menschen
zu zornigem Widerstreben fülirt und nur in Schwächlingen einen vorüber-
gehenden und wertlosen Erfolg erzielt.
[Staatsreligion.] Gegenüber der verknöcherten, innerlich erstorbenen
Staatsreligion vertrat Jesus das Recht des Menschen auf ein persönliches
Verhältnis zu Gott, ohne Vermittelung der Kirche. Dafür ist er denn von den
Häuptern und Beauftragten dieser Kirche umgebracht worden. Das Tragische
in seinem Schicksale ist nicht so sehr sein Tod, trotz all der unsinnigen Grau-
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samkeit, mit der Priesterthum nnd Pöbel ihn umgeben haben, als das was nach-
her kam, dass über seinem Grabe eine neue Kirche aufgerichtet worden ist,
deren Pharisäer und Schriftgelehrte wieder, wie einst die der Juden, in den
Gotteshäusern und an den Straßenecken stehen und beten, um sich den Menschen
zu zeigen, wieder Gottes Gebot dahinten lassen und an der Überlieferung der
Menschen festhalten, wieder sich anmaßen, das Reich der Himmel vor den
Menschen, die ihnen nicht gehorchen wollen, zuzuschließen. Auch sie schmücken
das Grab des Propheten und bauen dem Gerechten Denkmäler und sagen:
Wenn wir in den Tagen des Herodes und Kaiphas gelebt hätten, wir hätten
ans nicht des Blutes des Heiligen schuldig gemacht, wie die Juden gethan haben.
Und doch ist hier kein Unterschied. Im Namen des Mannes, der für die Selbst-
ständigkeit der religiösen Überzeugung gestorben war, hat man seitdem zahl-
lose Geister geknechtet und Leiber zu Tode gemartert. Und was ist aus seiner
Lehre geworden? Man sagt, sie habe die Welt überwunden ; man könnte ebenso-
gut sagen, sie sei von der Welt überwunden worden. Ihre kleinen Mängel
and Unklarheiten hat man zu dogmatischen Systemen ausgebaut, auf die man
schwört, um sich dafür von der Pflicht loszumachen, dass man es mit seinen
sittlichen Geboten ernst nehmen sollte Keinen größeren Schaden gibt es
für die sittliche Bildung unseres Geschlechts, als dass wir von Jugend auf in
der Moral des Christenthums unterwiesen und zugleich angeleitet werden uns
einzubilden, das sei die Moral, die heute wirklich gilt.
Dr. Paul Cauer,
Staat und Erziehung, Kiel und Leipzig bei Lipsius & Tischer.
[Gebrechen der modernen Cultur.] Wir denken schneller und leben
schneller, als unsere Vorfahren aus der guten alten Zeit. Bei der Schwere der
Berufsarbeit — es wird hente anhaltender und energischer gearbeitet als je
zuvor — fehlt uns die Zeit, die Fülle der Erscheinungen zu fassen: die geistige
Vertiefung, das liebevolle Eingehen auf die geistigen Züge einer Individualität
wird uns immer schwerer gemacht. Seltener als früher gelangt der Gebildete
zu dem, was unsere Alten die Aasbildung einer harmonischen Persönlichkeit
nannten. Schlimmer sind die Wirkungen der modernen Entwickelung in den
tieferen Schichten der Gesellschaft. Heute dringt jeder Einfall eines verrückten
Hirns, jede Schlechtigkeit und Verleumdung mit Leichtigkeit, trotz Censur und
Polizei, in weite Kreise. Die Sorglosigkeit, mit der so manche Volksbeglücker
anbewiesene wissenschaftliche Hypothesen und fragwürdige Systeme in die Welt
senden, ist eben so groß wie die Unfähigkeit der Masse, das ihr Gebotene auf
sein richtiges Maß zurückzuführen. So wächst eine Schein- und Halbbildung
empor, die leichtfertig über die verschiedensten Wissensgebiete schwätzt und
mit dreistem Urtheil an die schwierigsten Fragen herantritt. Damit steht im
Zusammenhang eine Erhitzung der Phantasie, die über die Schranken der Wirk-
lichkeit hinweghüpft und sich in ungemessene Zukunftsträume verliert. Wahn-
sinn und Verbrechen stehen in ihrem Gefolge.
[Grenzen der „exacten" Wissenschaft.] Die Naturwissenschaft hat
«ich hinter die Grenzen des der exacten Forschung Erreichbaren zurückgezogen
and überlässt den rein geistigen Mächten das ihnen gebürende Feld. Heute
versucht man nicht mehr, wie Buckle, die naturwissenschaftliche Methode in
der Geschichte zur allgemeinen Geltung zu bringen und ans der Statistik die
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Gesetzmäßigkeit aller menschlichen Handlangen zu beweisen, sondern man er-
kennt an, dass anf die geistige Entwickelang der Menschheit Mächte höherer
Art einwirken — Kinder eines Reiches, das der Bestimmung durch Maß und
Zahl ewig verschlossen ist. Das innere Leben des Einzelwesens, wie das ganzer
Völker und im letzten Grunde der Menschheit schafft aus sich heraus mächtige,
seine ganze geistige Entwickelung regelnde Kräfte, Ideen ethischen, religiösen
und ästhetischen Charakters, die sich der wissenschaftlichen Zergliederung ent-
ziehen, nichtsdestoweniger aber durch ihre gewaltige Einwirkung auf die Er-
scheinungen des Lebens ihre sehr greifbare Realität offenbaren.
Oh ler t, Die deutsche Schule (Hannover, Karl Meyer).
Von der Nordsee. Die Bremer Lehrer haben kürzlich Gehaltszulagen
erhalten; nach dem neuen Gesetze stellen sich die Besoldungen folgendermaßen:
1. Hauptschule (Gymnasium). Direktor 7000 — 8000 Mk.; Lehrer mit
akademischer Bildung 2500 — 6500 Mk., 4 Alterszulagen ä 1000 Mk.;
seminaristisch gebildete Lehrer 2250—4250 Mk., 4 Alterszulagen
a 500 Mk.
2. Realschule. Director 6000—7000 Mk.; akademisch gebildete Lehrer
2400—6000 Mk., 4 Alterszulagen ä 900 Mk.; seminaristisch gebüdete
Lehrer 2000—4000 Mk., 4 Alterszulagen ä 500 Mk.
3. Seminar. Director 6000—7000 Mk.; Lehrer 2500—4500 Mk.,
4 Alterszulagen a 500 Mk,
4. Volksschulen in der Stadt. Oberlehrer 3500 — 4500 Mk., 2 Alters-
zulagen a 500 Mk.; Lehrer 1500— 3000 Mk., 6 Alterszulagen ä250Mk.
5. Schulen des Landgebietes. Vorsteher 1 — 3classiger Schulen 1500
bis 3000 Mk., 6 Alterszulagen a 250 Mk.; Vorsteher 4 — 8classiger
Schulen 1800—3000 Mk., 6 Alterszulagen ä 200 Mk.; Vorsteher 9 bis
12classiger Schulen 2100—3000 Mk., 6 Alterszulagen ä 150 Mk. (Die
Vorsteher haben freie Wohnung.) Ordentliche Lehrer 1500 — 3000 Mk.,
6 Alterszulagen ä 250 Mk.
Sämmtliche Alterszulagen erfolgen von 3 zu 3 Jahren, 5 Jahre nach dem
Abgang vom Seminar erhalten die Lehrer 1500 Mk., das Maximum erreichen
sie etwa im 43. Lebensjahre. Die Aufbesserung ist für die Lehrer jedenfalls
eine wesentliche, das Maximum ist für die Lehrer der Stadt um 300 Mk. und
für die Landlehrer um 500 Mk. erhöht, und früher erfolgten die Zulagen von
5 zu 5 Jahren. Ganz richtig ist es auch, dass man den Lehrern auf dem
Lande dieselben Gehaltssätze zahlt wie den Lehrern in der Stadt, haben sie
doch gleiche Pflichten, und die örtlichen Verhältnisse in den Dörfern, welche
der Stadt ja alle sehr nahe liegen, sind derart, dass man auf dein Lande nicht
billiger leben kann als in Bremen.
Im evangelischen Theile des Herzogthums Oldenburg wird neuerdings die
Frage der Schulaufsicht vielfach erörtert; nicht nur das Schulblatt bringt
Artikel über die Schulaufsicht, auch die Tagesblätter besprechen den Gegenstand.
Im Herbste des vergangenen Jahres beantragten einige Prediger bei ihren
Amtsbrtidern, die Localschulaufsicht niederzulegen. Es wurde eine Versammlung
abgehalten, die Antragsteller blieben jedoch, wie zu erwarten war, in der Minder-
heit. Anf der letzten Landes-Lehrerversammlung, die am Tage nach Pfingsten
in Delmenhorst tagte, hielt Lehrer Grape-Lehmden einen Vortrag über
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die Schulaufsicht. Der Referent verlangte Aufsicht durch Fachmänner, er ver-
warf die LocalschulinBpection durch die Geistlichen und verlangte, dass die
Inspectoren aus den Eeihen der Volksschullehrer genommen wurden. Er be-
tonte, es sei nur dann gerechtfertigt, einem Stande Vorgesetzte aus einem anderen
Berufe zu geben, wenn die Fachmänner nicht die nöthige Befähigung hätten,
wenn also andere Berufskreise tüchtigere Leute für dies Amt stellen könnten.
Die Geistlichen könnten aber nicht den Lehrern mit Rath und That zur Hand
geben, wollte ein Lehrer sich einen guten Rath holen, dann dürfe er sich nicht
an den Localschulinspector wenden. Die Anträge des Referenten wurden von
der Versammlung einstimmig angenommen.
Die Lehrer hatten ihre Stellung knndgegeben, und die Antwort hat nicht
lange auf sich warten lassen. Der General-Predigerverein besprach bald nach-
her in einer Versammlung auch die Frage der Localschulaufsicht. Auch hier
waren noch etliche Stimmen dafür, dass die Geistlichen die Localschulaufsicht
an/geben müasten. Diese Herren glaubten freilich nicht, dass den Geistlichen
die Fähigkeit abginge, eine wirklich segensreiche Aufsicht zu führen, nein, die
Herren haben ja Theologie studirt und deswegen — sind sie geborene Schul-
inspeetoren — sie haben nur nicht die nöthige Zeit.
Der General-Predigerverein fasste mit großer Majorität den Beschluss, nicht
auf dieLocalscholaufsicbt zu verzichten. Er veröffentlichte folgende Resolution:
„In Erwägung: a) dass die Beseitigung der Localschulaufsicht als solche
eine große Gefahr für unsere Volksschule und ihre Lehrer (!!) sein würde,
b) dass die Geistlichen nicht nur an den meisten Orten die einzigen Männer
sind, die befähigt sind, die Localschulinspection auszuüben, sondern dass die-
selben auch, soweit wir christliche Schulen haben, dazu ganz besonders berufen
sind, erklärt der General-Predigerverein es für geboten, den bestehenden Zustand
aufrecht zu erhalten und dafür zu wirken, dass in der Ausbildung der Geist-
lichen die für die Ausübung der Schulaufsicht wünschenswerte Ergänzung eintritt."
Wir Lehrer haben natürlich kein anderes Votum erwartet, doch die Fas-
sung der Resolution erregt vielfach Heiterkeit. Erst sind die Geistlichen an
den meisten Orten die einzigen Männer, „die befähigt sind, die Localschul-
inspection auszuüben", und dann wollen sie dafür wirken, „dass in der Aus-
bildung der Geistlichen die för die Ausübung der Schulaufsicht wünschenswerte
Ergänzung eintritt"! Die Herren widersprechen sich ja selbst; aber freilich,
fähig sind sie, denn sie haben ja das. Amt, und „wem Gott ein Amt gibt, dem
gibt er auch den Verstand!" Es ist schade, dass der betreffende Referent nicht
seine Arbeit, in welcher er obige Resolution begründet hat, veröffentlichte, wir
würden dann auch jedenfalls erfahren haben, warum die Aufhebung der Local-
schulaufsicht eine große Gefahr für die Volksschule und ihre Lehrer sein würde.
Warum führt man nicht für die höheren Schulen eine Localschulaufsicht ein?
Esmüsste dies doch auch für diese Schulen ein großer Segen sein, wenn die
Aufhebung der Localschulaufsicht eine Gefahr ist. Und warum hat wohl der
Geistliche keinen Localaufseher?
Bezüglich der wünschenswerten Ergänzung in der Ausbildung der Geist-
lichen macht, der „Kirchliche Anzeiger" folgende Vorschläge: „Von jedem theo-
logischen Candidaten ist der Nachweis zu fordern, dass er ein Colleg über die
Hauptgrundsätze der Pädagogik und über ihre Geschichte mit Erfolg gehört
bat. Jeder theologische Candidat hat zwischen dem ersten und zweiten Examen
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einen Corsas von J/4 Jahr (!) am Oldenburger Seminar durchzumachen unter
Leitung- des Seminardirectors und der Seminarlehrer zur Einführung in die
Methodik des Unterrichts mit praktischen Übungen."
Gewiss, die Herren nehmen die Sache sehr ernst, in anderen Staaten
6 Wochen, in Oldenburg volle 13 Wochen. Wenn diese Vorschläge erst aus-
geführt sind, dann kann doch kein Lehrer mehr den Ruf erheben: Fort mit
der Localschulaufsicht durch die Geistlichen! '
Doch die Herren Geistlichen mögen sich noch so sehr sträuben, die Local-
schulaufsicht wird ihren Händen doch entwunden, und es wird schließlich auch
bei uns dahin kommen, dass die Vorgesetzten der Lehrer aus unseren Reihen
entnommen werden!
Die katholischen Collegen unseres Landes scheinen sich jedoch unter dem
Erumm8tabe sehr wol zu befinden, sie wollen an den bestehenden Verhältnissen
nicht rütteln.
Der Pestalozziverein — Verein zur Unterstützung von Lehrerwitwen und
Waisen — konnte im Jahre 1890 4897 Mk. vertheilen. An Geschenken und
aus Verträgen mit Versicherungsgesellschaften erhielt der Verein 4910 Mk.,
der Lehrerverein überwies der Pestalozzicasse im Jahre 1890 3000 Mk. und
für 1891 2500 Mk. Der Pestalozzi verein besteht jetzt 27 Jahre, er hat
im Laufe dieser Jahre 51 707 Mk. an Unterstützungen vertheilen können und
31733 Mk. Capital angesammelt. Diese Zahlen beweisen, dass die Lehrer
Großes erreichen können, wenn sie nur einig sind. Auch der Lehrerverein kann
mit Zufriedenheit auf das letzte Jahr zurückblicken, die Zahl der Mitglieder
ist um etwas gestiegen und nur einzelne evangelische Collegen stehen noch
abseits. Besonders freut es uns, dass die gesammten Lehrer unseres Seminars
Mitglieder des Lehrervereins sind.
B. Vom deutschen Ostseestrande. Am 3. August a. c hatten sich im
Landeshause in Danzig die Mitglieder des XXII. anthropologischen Con-
gr esses versammelt. Die anwesenden Gelehrten wurden durch den Oberpräsi-
denten, Exmininister von Gossler freundlichst begrüßt, worauf Herr Geheimrath
Professor Dr. Virchow im Namen der anwesenden Gäste herzlichst dankte
und den Vorsitz übernahm. Besondere Anerkennung ließ Dr. Virchow in
seiner Einleitungsrede der wissenschaftlichen Gruppirung desDirector Dr. Con-
wentz im westpreußischen Provinzial-Museura zutheil werden. Nach der Er-
stattung eines ausführlichen Cassenberichtes wurde Ulm zum nächstjährigen
Congressort gewählt. Zum Vorsitzenden der Gesellschaft wurde Herr Professor
Hölder-Stuttgart und zu dessen Stellvertretern die Herren Professoren
Virchow und Waldeyer-Berlin ernannt.
Am zweiten Sitzungstage sprach zunächst Herr Professor Jentsch-
Königsberg über die geologischen Verhältnisse Westpreußens, darauf hielt
Herr Professor Montelius-Stockholm einen Vortrag über die Chronologie
der jüngeren Steinzeit in Skandinavien. Man kann drei Perioden unterscheiden,
die Zeit ohne Gräber, die Zeit der Gang- und Steinkistengräber und die Zeit
der Hünengräber mit aufgetragenen Hügeln. Es folgte dann ein Vortrag des
Herrn Stadtrath Helm-Danzig über die chemische Zusammensetzung der
westpreußischen Bronzen. Hieran knüpfte Dr. Virchow einige Bemerkungen
über kaukasische und transkaukasische Alterthümer und über die Siemens'schen
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Kupferbergwerke im Kaukasus. Nach einer Pause begann die anatomische
Sitzung. Professor Waldeyer-Berlin zeigte die sogenannte Reil'sche Tafel
and die Syloi'sche Furche des Gibbon und sprach über dieselben Bildungen bei
den übrigen menschenähnlichen Affen. Sodann stellte Herr Dr. Lissauer-
Danzig einen Fall von erblicher Zwerghaftigkeit vor. Eine lebhafte Diskus-
sion knüpfte sich an den Fall.
Am dritten Sitzungstage des Cougresses entwickelten sich lebhafte Er-
örterungen über die Schädelbildungen. Es betheiligten sich hieran besonders
Professor Rahl-Graz, Professor Dr. Ranke-München, Dr. Mies-Berlin,
Professor Szombathy-Wien und Virchow. Dr. Mies zeigte ein neues Ver-
fahren zu Schädelmessungen. Über einen archäologischen Fund, eine Bronze-
Situla, gefunden bei Gottweig in Nieder-Österreich, berichtet Herr Dr. Szom-
bathy-Wien. Hieran knüpften sich Erörterungen über die Merowinger-Fibel
von Sanitätsrath Dr. Grempler- Breslau. Nach einer Erholungspause legte
Herr Marinearzt Dr. Buschau-Kiel eine Samensammlnng prähistorischer
Pflanzen vor, deren Zahl jetzt 120 beträgt. Hierauf sprach Herr Professor
Dr. Dorr-Elbing über die zahlreichen Urnenfunde und Steinkistengräber
seiner Gegend. Diese Gräber bergen manche Schmuckgegenstände, welche alle
beweisen, dass die dortigen Völker mit den Griechen und Römern schon vor
christlicher Zeit in lebhaftem Handelsverkehr gestanden baben. Auch eine
Bronzemünze von Hiero II. von Syrakus befindet sich seit 6 Jahren im Besitze
des Alterth ums vereine in Elbing. Zum Schlüsse folgten noch Referate von Dr.
Lissauer-Danzig über den Formenkreis der slavischen Schläfenringe, von
Dr. Davids-Insterburg über die orientalischen Quellen und von Rechts-
anwalt Kleinschmidt-Insterburg über ostpreußische Schulzenstöcke. Herr
Professor Waldeyer schloss die Sitzungen um 4 Uhr mit Dankes Worten an
alle Personen und Vereine, welche zu dem guten Verlaufe des 22. Congresses
beigetragen haben. Am folgenden Tage wurden das Kloster Oliva, der Carls-
berg, die Flotte bei Zoppot, die Landzunge Heia besucht, und in den folgenden
Tagen auch der Marienburg, den Steinkistengräbern in der Dörbecker Schweiz
und bei Lenzen (Kreis Elbing) und dem Alterthnms-Museum „Prussia" in
Königsberg ein Besuch gemacht. Die fremden und zum Theil recht weit ge-
reisten Gäste rechneten Fernsichten über bewaldete Hügel und das nabeliegende
MeeT, wie vom Carlsberge bei Danzig und von Lenzen bei Elbing, zu den
schönsten in Europa. Alle kehrten voll befriedigt von den wissenschaftlichen
und Naturgenüssen in ihre Heimat zurück.
Von der Weichsel Bericht über die X. Westprenßische
Provinzial-Lehrerversammlung in Dt. Krone vom 29. bis 31. Juli,
Das vorige Jahr war für die Lehrervereine insofern von hoher Bedeutung,
als es Gelegenheit gab, die Wiederkehr des 100jährigen Geburtstages Adolf
Diesterwegs zu feiern. Die Erfolge des „Diesterweg-Jahres" sind höchst er-
freulich. Der deutsche Lehrerverein ist seinem Ziele, alle deutschen Lehrer zur
zielbewus8ten Vertretung der Interessen der Schule und des Standes zu vereinigen,
erheblich näher gerückt. Die Zahl seiner Mitglieder stieg von 38912 auf
44141. Schon im Jahre zuvor fand eine Vermehrung der Mitglieder um 6907
statt und zwar wesentlich durch den Eintritt ganzer Landesvereine, wie
Württemberg, Gotha, Waldeck u. a. Im Jahre 1890 erfolgte zwar kein Bei-
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tritt eines ganzen Verbandes, dafür war aber das innere Wachsthum nm so
starker. Die Vermehrung der Mitgliederzahl nm 5229 entfällt fast ausschließ-
lich auf die Lehrerverbände in den Provinzen Preußens. So stieg dieselbe
in Ostpreußen um 900 auf 2500, in Sachsen um 790 auf 3383, in der Rhein-
provinz um 622 auf 2380, in Schlesien um 600 auf 5600, in Brandenburg
um 433 anf 3618, in Westpreußen um 404 auf 1780, in Posen um 403 auf
1557, in Pommern um 300 auf 2300 und in Westfalen um 273 auf 1296.
Dieses erhebliche Wachsthum berechtigt zu der Hoffnung, dass die deutsche
Lehrerschaft an der wirksamen Verfolgung ihrer gemeinsamen Interessen
durch die versuchten confessionellen Spaltungen, wie sie in der Begründung
katholischer Lehrerverbände zu Tage tritt, nicht behindert werden wird.
Auch in der Provinz Westpreußen hat das Lehrer- Vereinswesen in den
letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen. Der im Jahre
1873 gegründete Provinzial-Lehrerverein umfaaste 1885 erst 700 Mitglieder
in 28 Vereinen, und im vorigen Jahre betrug die Zahl der Mitglieder bereits
1780, welche sich auf 80 Localvereine vertheilen. Fast alle Landrathskreise
Westpreußens sind jetzt im Provinzial-Lehrervereine vertreten, wenngleich
die Vereinsthätigkeit noch hie und da nicht rege genug ist. Dies gilt nament-
lich auch vom westlichen Theile der Weichselprovinz. Um dort unter den
Lehrern neue Kräfte für das Vereinswerk zu gewinnen, wurde als Ort der
diesjährigen Provinzial-Lehrer- Versammlung das Städtchen Dt. Krone gewählt.
Die Bürgerschaft bereitete den Gästen, gegen 300 an der Zahl, einen sehr
herzlichen Empfang.
Für die Hauptversammlung am 30. Juli war der Vorstand aus den Herren
Hauptlehrern Mielke I.-Danzig, Jaffa-Dt. Krone und Kandulski-Briesen gebildet.
Zwei Vorträge wurden in derselben gehalten: Über den Geschichtsunterricht
in der Volksschule vom Collegen Meyer-Bankau und über die allgemeine Volks-
schule vom Collegen Vanselow-Elbing. Der erste Vortrag bot neben vielem
Bekannten auch einiges Neue. So forderte der Referent, dass der Geschichts-
unterricht bereits auf der Unterabtheilung beginnen solle mit den Geschichts-
bildern „Mein Leben", „Mein Vaterhaus" und „Mein Kaiserhaus." Die Aus-
führungen waren ziemlich gesucht, so dass die Mahnung des Collegen Kuhn-
Marienburg, den Unterricht doch ja nicht zu künstlich gestalten zu wollen,
sehr am Platze war. Auch bezüglich des jetzt zur Mode gewordenen „Rück-
wärt8schreiten8" wurde Redner in die gebürenden Grenzen verwiesen.
Der zweite Redner, College Vanselow, behandelte das Thema: „Die all-
gemeine Volksschule mit Rücksicht auf die sociale Frage" mit hohem Eifer
recht geschickt. Redner führte aus, dass die sociale Frage in ein Stadium
getreten sei, in dem sie dringend Lösung erheischt. Alle Culturfactoren werden
dabei zur Mithilfe aufgefordert, vor allem die Schule. Diese thut aber zur
Lösung der socialen Frage nichts, im Gegentheil, sie verschlimmert das Übel.
Der Besuch der bestehenden höheren und niedereu Schulen hängt nicht ab von
den Fähigkeiten der Schüler, sondern von dem Geldbeutel der Väter. Dass
nur ja nicht das Kind des Reichen neben dem des Armen sitzt ! Es könnte ja
vielleicht Ungeziefer bekommen. Mindestens würde es durch den Umgang mit
dem Kinde des Plebejers und Proletariers in seiner Würde erniedrigt werden.
Das sind Vorurtheile, die wir heute nicht nur unter den oberen Zehntausend,
sondern auch in den breiten mittleren Schichten der Bevölkerung finden. Diese
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Vornrtheile erhalten die jetzigen Schnleinrichtnngen. Daneben sind dafür maß-
gebend das Geld, die Stände und die Mode. Es ist heute geradezu modern
geworden, dass der Reiche seinen Sohn in das Gymnasium schickt, wenn er
sich auch mit Mühe und Noth durch die Examina windet und den Eltern große
Kosten verursacht. Man darf die heutigen Schuleinrichtungen nicht, wie es zu-
weilen geschieht, deshalb für gut halten, weil sie alt sind. Nicht das ist gut,
was alt ist, sondern nur das, was von der kritischen Vernunft für gut befunden
wird. Unsere Schulen aber reißen die Jugend auseinander und entfremden sie.
Die Klüfte zwischen den Standen werden dadurch nicht überbrückt, sondern
erweitert. Es ist dahin gekommen , dass wir außer Reichen und Armen Ge-
bildete und Ungebildete haben. Auf der einen Seite steht das große Heer derer,
die in den Gymnasien an den Brüsten des Alterthums gesogen haben und häufig
mit dem Dünkel behaftet sind, in den Gymnasien das Nonplusultra des Menschen-
thums gelehrt erhalten zu haben, auf der anderen Seite die große Masse des
Volkes, das außer Lesen, Schreiben und Rechnen wenig Bildung in das Leben mit-
genommen hat. Jene sehen mit Verachtung auf das Volk herab, und dieses ver-
steht seine Gelehrten und Forscher nicht. Es ist durch die verschiedenen Grade
der Bildung eine innere Entfremdung herbeigeführt, wie die Stände eine äußere
verursacht haben. Nach Schmoller liegt der letzte Grund aller socialen Ge-
iahren nicht in der Dissonanz des Besitzes, sondern in den Bildungsgegensätzen.
Angesichts dieser Thatsachen und Wahrheiten kann es kaum bestritten werden,
dass die heutigen Schuleinrichtungen, welche auf der Absonderung der Stände
beruhen, einer befriedigenden Lösung der socialen Frage entgegenstehen. Die
Pädagogik erkennt und fühlt die Schwäche unserer heutigen Schulen der socialen
Frage gegenüber. Darum bringt sie so zahlreiche Reformvorschläge zur Ab-
hilfe hervor. Darum fordert sie heute mehr denn je die allgemeine Volksschule.
Die Idee der allgemeinen Volksschule ist nicht neu. Schon Comenius hat
die allgemeine Volksschule im Geiste gesehen, Pestalozzi sie geahnt, Fichte in
meinen Reden an die deutsche Nation gepredigt, Diesterweg sein Leben für sie
eingesetzt. Der Begeisterung, mit welcher dieser große Meister unserer Pä-
dagogik dafür eintrat, schien es zu gelingen, ihr Bahn zu brechen. Ihre Freunde
jubelten auf, als unter Falk die Simultanschulen eingerichtet wurden. Nun
glaubte man die Hoflmung auf die allgemeine Volksschule der Erfüllung nahe.
Aber Herr von Puttkamer zerschnitt der Simultanschule den Lebensfaden.
Doch wurde die Idee der allgemeinen Volksschule dadurch nicht todt gemacht.
Sie lebte weiter, und je schärfer sich die sociale Frage zuspitzte, je lauter der
Schrei nach Beseitigung der bestehenden socialen Missverhältnisse ertönte, desto
mehr bemächtigte sich diese Idee der breiten Masse des Volkes. Sie lebt heute
nicht nur in unserer Pädagogik, sie lebt in unserer modernen Literatur, sie
lebt in der Socialpolitik, und Männer, wie Dittes Clausnitzer, Seyffarth, Fröhlich,
Johannes Meyer stehen nicht vereinzelt da im Kampfe um dieses alte und noch
immer nicht mündig erklärte Kind unserer Pädagogik.
Redner schloss mit folgenden Thesen:
1. Die gegenwärtige Organisation unserer Schulanstalten, welche auf der
Absonderung der Stände beruht, steht einer befriedigenden Lösung der
socialen Frage entgegen.
2. In der allgemeinen Volksschule ist eine gemeinschaftliche Bildungsstätte
für das ganze Volk einzurichten. Dieselbe muss von allen Kindern ohne
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Unterschied der Stände und Confessionen mindestens bis zum 12. Lebens-
jahre besucht werden und mit allen sonstigen Schulanstalten organisch ver-
bunden sein.
3. Es liegt im Wesen der allgemeinen Volksschule, dass die herrschende
Macht des Gapitals bei der Jugend gebrochen und auch dem ärmsten
Kinde eine seinen Anlagen und seinem Fleiße entsprechende Bildung zu-
gänglich gemacht werde.
4. Die allgemeine Volksschule würde als eine deutsch-nationale Einheits-
schule wesentlich zur Überbrückung der Standes-, Religions- und Partei-
unterschiede beitragen und dadurch unser Volk, das nach außen stark
und einig dasteht, auch innerlich stärken und einigen.
5. Weil zur Lösung der socialen Frage eine höhere wirtschaftliche und
rechtskundliche Bildung unerlässlich ist, muss die allgemeine Volksschule
volkswirtschaftliche und gesetzeskundliche Belehrungen in ihren Lehr-
plan aufnehmen.
6. Durch Einführung des Arbeitsunterrichts würde eine gerechtere Beur-
theilung der Arbeit erzielt und damit gleichfalls zur Lösung der socialen
Frage beigetragen werden.
7. Die allgemeine Volksschule bedingt eine gleichmäßigere Bildung und
Besoldung aller Lehrer.
In der dem Vortrage folgenden Besprechung führte College Schreiber-
Danzig aus, dass er die Durchführung der allgemeinen Volksschule für unmöglich
halte; denn eine Bildungsgleichheit, die nach den Ausführungen des Redners
mehr als Gütergleichheit den Classenhass verschwinden machen könne,
könne doch nicht auf der Grundlage der Einheiteschule erreicht werden.
Derartige Versuche der Schulreform würden den socialen Riss eher erweitern,
als schließen. Die Debatte schloss mit der Annahme des Satzes: „Die Ver-
sammlung hält die Forderung der Organisation einer allgemeinen Volksschule
insoweit aufrecht, als darunter eine gleichmäßige Einrichtung des Unterrichts
in den ersten Schuljahren und somit eine einheitliche Grundlage des gesammten
Schulsystems verstanden ist." — Bemerken wollen wir noch, dass zuvor der
Antrag: „Die Versammlung erblickt in der Durchführung der allgemeinen
Volksschule ein wesentliches Mittel zur befriedigenden Lösung der socialen
Frage" mit geringer Majorität (109 gegen 103 Stimmen) abgelehnt worden war.
Der letzte Tag, der 31. Juli, war ganz dem Provinzial-Lehrerverein
gewidmet, zu dessen Delegirten- Versammlung 52 Vereine zusammen 116 Ver-
treter entsendet hatten. Der vom Vorsitzenden erstattete Jahresbericht
lautete recht erfreulich: Der Verband ist um 5 Vereine mit 190 Mitgliedern
gewachsen und umfasst jetzt 86 Local vereine mit 1950 Mitgliedern. Wären
nicht 4 Zweigvereine mit ihren Beiträgen im Rückstände geblieben, so hätte
der Provinzialverein bereits mehr als 2000 Mitglieder.
College Chill-Thorn hielt einen Vortrag über die Frage: Ist es wünschens-
wert, dass die Westpreußischen Provinzial-Lehrerversammlungen in Lehrertage
umgewandelt werden, auf denen nur die gewählten Vertreter der Vereine
Stimmrecht haben, während das Recht der Berathung allen Theilnehmern er-
halten bleibt? — Redner verglich die Lehrervereinsverhältnise Deutschlands mit
denen der Provinz Westpreußen, verlangte für letztere die Schaffung einer
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Hauptversammlung entsprechend dem deutschen Lehrertage und fasste seine
Grande in folgende Sätze zusammen:
1. Ohne unsere Vereinsorganisation kommt eine Provinzial-Lehrerversamm-
lung nicht mehr zustande. Damit der Provinzial-Lehrerverein seinem
Zweck „Förderung der Interessen der Volksschule und des Lehrerstandes"
ganz entspricht, muss seine Delegirten- Versammlung so ausgedehnt wer-
den, dass sie auch allgemein pädagogische Tagesfragen erörtern nnd dar-
über beschließen kann.
2. Die Beschlüsse der Provinzial-Lehrerversammlung können weder als
Ausdruck der Lehrerschaft Westprenßens, noch als der des Provinzial-
Lehrervereins gelten, da sie stets vom Orte der Versammlung nebst
Umgegend stark beeinflusst werden. Nur durch einen Delegirten tag
lässt sich die Meinung der Gesammtheit zuversichtlich ermitteln, weil
dieser der Idee einer gleichmäßig über alle Bezirke der Provinz bezw.
des Vereinsgebietes vertheilten Lehrerversammlung entspricht.
3. Da der Provinzial-Lehrerverein jetzt ausschließlich nicht nur für das
Zustandekommen der Provinzial-Lehrerversammlung, sondern auch für
geeignete und gründlich vorbereitete Verhandlungsgegenstände und Re-
ferenten Sorge trägt, liegt kein Hindernis vor, dieselbe ganz in den Dienst
des Vereinsverbandes zu stellen und ihr durch Einführung des beschränk-
ten Stimmrechts ganz den Charakter eines Lehrertages zu geben.
4. Ein Lehrertag mit beschränktem Stimmrecht verbürgt sorgfältigere Ver-
handlungen und Beschlüsse als eine allgemeine Lehrerversammlung,
namentlich wird durch ihn die Gefahr einer voreiligen Beschlussfassung
vermindert und, falls die Verhandlungsgegenstände von allen Vereinen
gründlich vorberathen sind, wol ganz beseitigt.
Die kurze Debatte über den Vortrag fährte zu dem Beschluss, denselben
den Localvereinen zur Berathung zu überweisen, um dann auf der nächstjährigen
Delegierten- Versammlung die Sache endgültig zu erledigen.
Die beiden in der Provinz Westpreußen bestehenden Pestalozzi- Vereine
sind seit dem 1. October v. J. zu einer Rechtscasse für Lehrer-Witwen und
Waisen verschmolzen. College Spiegelberg-Elbing berichtete über die Fort-
schritte des neuen Pestalozzi- Vereins. Aus den alten Vereinen sind 265 und
386 Mitglieder über- und außerdem 164Collegen neu eingetreten, so dass sich
die Zahl der Mitglieder bereits auf 815 mit 4257 Mk. Jahresbeiträgen beläuft.
Die behördliche Bestätigung des Statuts für den neuen Verein ist in nächster
Zeit zu erwarten. So erfreulich dieser Bericht lautet, so traurig sind die
Hittheilungen, welche über den Emeriten-Unterstützungsverein am ersten
Verhandlungstage gemacht wurden. Dessen Mitgliederzahl geht von Jahr zu
Jahr zurück und beträgt heute nur ca. 400, kaum die Hälfte, wie vor 12 Jahren.
Das kommt daher, weil viele Collegen glauben, der Verein sei nach Inkraft-
treten des Pensionsgesetzes überflüssig. Das ist aber ein Irrthum ; denn erstlich
fällt heute noch sehr oft die Pension eines Lehrers sehr kärglich aus, und
zweitens gibt es noch manche Emeriten, die vor dem neuen Pensionsgesetze
in den Ruhestand getreten sind.
Die nächstjährige Westpreußische Pro\inzial-Lehrerversammlung findet
in Preußisch-Stargardt statt.
Zu Vertretern des Westpreußischen Provinzialvereins auf dem nächsten
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deutschen Lehrertage sind gewählt: Hauptlehrer Mielke I-Danzig, Landwirt"
schaftsschullehrer Kahn-Marienburg, Lehrer Adler-Neufahrwasser, Haoptlehrer
Spiegelberg-Elbing, Mittelschullehrer Dreyer-Thorn, Töchterschullehrer Back-
haus-Könitz und Hauptlehrer Bohl-Ohra; zu Vertretern auf dem Preußischen
Lehrertage die 2 zuerst genannten Herren und Lehrer Meyer-Bankau und
Lehrer Knechtel-Gollub.
Der VII. Blindenlehrer-Congress in Kiel vom 3. — 7. August 1891.
Die Versammlungen der Leiter und Lehrer von Blindenanstalten finden seit
1873 regelmäßig in dreijährigen Zwischenräumen statt, sind also noch jüngeren
Datums. Das kann um so weniger befremden, als auch die Blindenanstalten
selbst erst eine Errungenschaft der Neuzeit sind. Bis zum Ende des vorigen
Jahrhunderts wusste man mit den des Augenlichts Beraubten nichts anzufangen;
sich selbst zur Last, der öffentlichen Armenpflege oder den Verwandten zur
Bürde, waren sie dazu verurtheilt, in doppelter Finsternis, in der trostlosesten Öde
und der tödlichsten Langeweile ihre Tage zu verbringen. Erst im Zeitalter
der Aufklärung gelang es edlen Menschenfreunden, durch Erfindung des Bücher-
drucks in erhabenen Schriftzeichen, sowie durch Herstellung sinnreicher Schreib-
und anderer Apparate dem Blinden die Thore zu öffnen, durch welche auch
seinem Geiste ein geeigneter Bildungsstoff zugeführt werden kann. Allmählich
sind diese Lehrmethoden derartig vervollkommnet, dass es gegenwärtig möglich
ist, blinden Kindern eine Ausbildung zu geben, die derjenigen völlig gleich-
wertig ist, welche von der Volks- und Bürgerschule vermittelt wird. Auf diesem
Gebiet hat die Erziehungskunst Triumphe zu verzeichnen, wie sie früher auch
nicht annähernd nur geahnt worden sind. Was heute der Blindenunterricht zu
leisten vermag, ist indes nur in Specialschulen zu erreichen, die alle Vorkeh-
rungen und Einrichtungen den durch die Blindheit bedingten Eigentümlichkeiten
ihrer Zöglinge anzupassen vermögen. Derartige Specialanstalten zur Ausbil-
dung Blinder sind denn auch überall ins Leben gerufen; ihre Zahl beträgt für
Deutschland z. Z. etwa 30. Die meisten dieser Anstalten hatten zu dem Kieler
Congress ihre Vertreter entsandt, denen Fachgenossen aus dem Auslände, aus
England, Frankreich, Holland, Russland, besonders zahlreich ans Österreich und
dem benachbarten Dänemark sich ansclüossen. Die Gesammtzahl der Congress-
theilnehmer, die Gäste eingeschlossen, betrug reichlich 100.
Der Zweck der Blindenlehrer-Congresse besteht naturgemäß in der weiteren
Ausbildung aller Vorkehrungen nnd Veranstaltungen zum Unterricht der Blinden,
in der Weiterentwicklung der Kunst, Blinde für einen Lebensberuf heranzu-
bilden. Aber wir Blindenlehrer sind leider noch in der Lage, einen Neben-
zweck, den die Congresse bisher gehabt haben, nicht ganz aus den Augen ver-
lieren zu dürfen, den nämlich, Propaganda zu machen für die Blindensache.
Man hat sich allmählich daran gewöhnt, alle Vorgänge, Zustände und Ein-
richtungen des öffentlichen Lebens von socialpolitischen Gesichtspunkten aus
zu beurtheilen. Nun liegen gerade auf dem Gebiete der Bestrebungen zur
Hebung der Blindenbildung noch weite Strecken unangebaut, viele Hunderte von
Arbeitskräften im Volke müssen gleichsam latent bleiben, viel Menschenglück
lässt sich hier noch begründen. Auf der Arbeit beruht aller Culturfortschritt
der Menschheit als Ganzes, sie ist auch die Quelle jedes wahren Glückes für
den Einzelnen. Ein Leben wird vom Psalraisten als köstlich gepriesen, wenn
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es Mühe and Arbeit gewesen. Weil die civilisirte Gesellschaft ohne Arbeit
nicht bestehen kann , ist jeder zur Arbeit verpflichtet. Aber jeder Pflicht ent-
spricht ein Recht. Der Pflicht zur Arbeit entspricht das Recht zur Antheilnahme
an den Segnungen derselben. Hat man dieses Recht doch selbst dem Sträfling,
dem Verbrecher zugestanden. Nur dem Blinden wird es bisher noch vorent-
halten. Da sind es denn die Blindenlehrer, die auf ihren Versammlungen die
hohen Staats- und Provinzialbehörden eindringlich daran mahnen, dass alle
Blinden auf eine geordnete Erziehung in einer Anstalt ihr gutes Anrecht haben :
dass sie kein Almosen, keine lebenslängliche Verpflegung wollen, wol aber
wahrend ihrer Jugendzeit diejenige Unterweisung beanspruchen, die sie in den
Stand setzt, später ihr eigenes Brot essen zu können: kurz, dass die Devise
aller BlindenbUdung lautet: Hilfe zur Selbsthilfe! — Diese Art von Propa-
ganda übte gleich der 1. Vortrag aus, den Director Mecker- Düren über den
.Anstaltszwang fürBlinde* hielt. Der Referent betont, dass derCongress
zu Kiel die Forderung betr. Einführung des Anstaltszwanges, in der alle
Blindenpädagogen einig sind, wiederum feierlich verkündigen und eingehend
begründen müsse, weil in verschiedenen Staaten, namentlich in Preußen, die
neuesten Unterrichtsgesetze bezw. Gesetzentwürfe dieser Forderung keine Rech-
nnng tragen. Zur Widerlegung der Bedenken, welche der Einführung des
Anstaltszwanges entgegenstehen, wird ausgeführt, dass die persönliche Freiheit
durch den Anstaltszwang nicht mehr eingeschränkt wird, als es die Rücksicht
auf das Wol des Einzelnen und der Gesammtheit erfordert, nicht mehr als
durch den allgemeinen Schulzwang, die Militärpflicht, den Impfzwang etc. Die
Liebe der Eltern zu ihren Kindern wird nicht in ungebürlicher Weise ver-
letzt. Die Anstalten können durch Propagandamachen allein nicht alle bil-
dungsfähigen Blinden an sich ziehen, es bleibt immer noch ein Rest von Kurz-
sichtigkeit und Eigennutz, der nur durch Gesetzeszwang überwunden werden
kann. Die Mittel, welche zur Errichtung und Unterhaltung genügender Anstalten
erforderlich sind, können beschafft werden und lohnen sich zehnfach durch die
erzielte Erwerbsfähigkeit der Blinden. Die Ausbildung der Blinden kann nach
Ansicht des Referenten in der Volksschule nicht bewirkt werden, weil diese in
den ihr gesetzlich vorgeschriebenen Fächern die Blinden nicht genügend unter-
richtenkann; weil dieselbe viele der Blindenschule eigentümlichen und für eine
normale Ausbildung der Blinden unentbehrlichen Fächer gar nicht lehrt; weil
die Volksschule und auch sonstige Anstalten der Sehenden den Blinden die
nöthige technische Berufsbildung nicht geben können; weil endlich die Volks-
schule und sonstige Einrichtungen die nöthige Unterstützung der ausgebildeten
Blinden nicht auszuüben vermögen. Ans all diesen Gründen wird die Resolution
beantragt: „Es sind in allen Staaten, in welchen allgemeiner Schulzwang be-
steht, aus öffentlichen Mitteln nach Zahl und Einrichtung genügende Blinden-
anterrichtsanstalten zu gründen und zu unterhalten, und alle Blinden unter
ähnlichen Bedingungen, wie die Sehenden zum Besuche der Volksschulen, durch
Gesetz zum Besuche dieser Specialanstalten zu verpflichten. "
Diese Resolution wurde einstimmig angenommen. In betreff ihrer weiteren
Behandlung und Verwertung wird beschlossen, dass dieselbe von jedem Anstalts-
vorsteher mit einem besonderen Bericht über die Lage des Blindenwesens in
dem betreffenden Anstaltsbezirk der zunächst vorgesetzten Verwaltungsbehörde
zur instanzmäßigen Übermittelung an das Unterrichtsministerium überreicht
Pädagogium, u. Jahrg. Heft I. 4
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werde. Wünschen wir der Petition den besten Erfolg. Der anwesende Ver-
treter des Cultusministers, Herr Obeiregierungsrath Tappen, sagte thunlichste
Beachtnng der gemachten Vorschläge zu.
Die 2. Hauptsitzung wurde fast vollständig von der Berathung der „Blinden-
kurz8chriftu in Anspruch genommen. Bei einer Kurzschrift für Blinde handelt
es sich um folgendes. Das Punktschriftsystem für Blinde, erfunden von Louis
Braille, hat Baum für 62 Zeichen, von denen indes durch das gewöhnliche Al-
phabet mit Einschluss der accentuirten Buchstaben (Frankreich) und der Um-
laute (im Deutschen) nur die größere Hälfte belegt worden ist. In England
hat man nun vor 20 Jahren angefangen, die noch übrigen Zeichen für häufig
vorkommende Buchstaben Verbindungen (en, er, ge, tion etc.) zu benutzen.
Ferner kürzt man Wörter mit größerer Frequenz durch den Anfangsbuchstaben
ab. Diese Art der Ausgestaltung des Braille'schen Systems — Stenographic Braille,
Braille with contractions — hat sich in England glänzend bewährt, sind doch
in demselben mehr als 170 Bände gedruckt worden. Das von England ge-
gebene Beispiel hat Nachahmung in Frankreich, Italien, Dänemark und Deutsch-
land gefunden. In letzterem Lande ist es der selbst blinde Lehrer Krohn in
Kiel gewesen, der dem Frankfurter Congress ein System der Kurzschrift vor-
legte. Es wurde damals in einer Commission begraben, feierte aber in Amster-
dam seine Auferstehung und wurde vor 3 Jahren in Cöln zur Prüfung in der
Blindenschule zugelassen. Die inzwischen von 23 Anstalten angestellten Ver-
suche lieferten das Resultat, dass in 18 derselben befriedigende, gute und sehr
gute Erfolge mit der Kurzschrift erzielt worden sind. Ebenfalls durch Ver-
suche war ferner festgestellt, dass von 8 Anstalten 6 bereits auf der Mittel-
stufe mit der Kurzschrift günstige Erfolge erzielt haben. Auf Grund dieses
Erfahrungsmaterials beantragte die znr Bearbeitung dieser Frage eingesetzte,
aus 7 Personen bestehende Commission, dass die Kurzschrift bereits auf der
Mittelstufe in die Blindenschule eingeführt werde. Nach langen, zum Theil
erregten Debatten wird folgender Vermittelungsantrag angenommen: Der VIL
Blindenlehrer-Congress empfiehlt den Anstalten die weitere Prüfung der Kurz-
schrift. Er wünscht die Herausgabe eines Lesebuches in dieser Schrift, damit
eine Prüfung möglich ist. Die bestehende Kurzschriftcommission erhält das
Hecht, sich auf 9 Mitglieder zu verstärken. — Der nun folgende Vortrag von
Lehrer Görner-Leipzig über den Handfertigkeitsunterricht in der Blindenschule
konnte mangelnder Zeit halber leider nur gekürzt zu Gehör gebracht werden.
Referent will den Handfertigkeitsunterricht auf der Unterstufe als Handgriffe
zur Erlangung persönlicher Selbstständigkeit; auf der Mittelstufe als Fröbel-
beschäftigungen und deren weitere Anwendung und Verwertung im Schulunter-
richt zur Entwicklung zielbewusster Selbsttätigkeit; auf der Oberstufe als
Arbeitsunterricht in der Schülerwerkstätte zur Gewinnung persönlicher An-
stelligkeit und möglichst vielseitiger Handgeschicklichkeit in praktischen Dingen.
Am Schluss des instructiven Vortrages gab Herr Görner eine Erläuterung der
Lehrgänge für den Arbeitsunterricht der Schülerwerkstätte in Holzarbeiten, in
Papparbeiten und in Metallarbeiten.
Am Donnerstage hielt Oberlehrer Merle- Hamburg einen Vortrag über den
Anschauungsunterricht in der Blindenschule. Wenn diese Disciplin schon für
sehende Kinder von großer Wichtigkeit ist, so bildet sie nach Ansicht des
Redners für das blinde das Hauptmoment der Erziehung, weil dieses es nicht
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in der Macht hat, seine Anschauungen in nennenswerter Weise zu erweitern.
In den unteren Classen ist der Anschauungsuntenich t daher als Hauptgiied des
ganzen Unterrichts zu betrachten, in den oberen so viel als thunlich mit Hand-
fertigkeitsunterricht zu verbinden. Der Lehrstoff für die Fibel und die ersten
Lesebücher ist thunlichst dem Lehrgange für den Anschauungsunterricht an-
zuschließen. Die Anschauungsmittel müssen die denkbar besten sein, damit
dieselben nicht nur richtige Anschauungen vermitteln, sondern auch den Sinn
für schöne Formen beleben und entwickeln.
Im Anschluss hieran sprach Director Kunz-Illzach in Elsass über das Bild
in der Blindenschule. Der Vortragende, der als Herausgeber ausgezeichneter
Reliefkarten in der Blindenwelt ganz Europas rühmlichst bekannt ist, führte in
kürze das folgende aus : Gute Abbildungen in genügender Zahl erleichtern und be-
leben den Classen Unterricht in beinahe allen Schulfächern; sie ermöglichen
unmittelbare und rasche Veranschaulichung unzähliger Gegenstände, die im
Lese-, Geschichte- und Geographieunterricht zur Sprache kommen, bilden eine
notwendige Ergänzung aller unserer Veranschaulichungsmittel, eine Hauptstütze
des naturwissenschaftlichen Unterrichts und endlich eine wertvolle Mitgabe fürs
Leben. Deshalb ist die Herausgabe eines Bilderatlasses anzustreben. Die Ab-
bildungen von Körpern sollen in erster Linie als Halbmodelle, bezw. Flach-
modelle, in zweiter Linie als Umrissbilder (Skizzen) zur Ausgabe kommen und
so die letzten Glieder der absteigenden Veranschaulichungsreihe bilden (z. B.
lebendes Thier, ausgestopftes Thier, Modell, Halbmodell oder Flachmodell und
Umriss). Zur bildlichen Darstellung sollen nach und nach die meisten Dinge
nnd Erscheinungen kommen, mit welchen vollsinnige Schüler in den Elementar-
nnd Mittelschulen bekannt gemacht werden, ganz besonders aber diejenigen,
welche infolge ihrer Größe, ihrer Kleinheit oder ihrer Beschaffenheit der
Hand des Blinden nicht zugänglich sind oder mit Hilfe derselben nicht wahr-
genommen werden können. Das Bilderbuch soll dem Blinden auch das Mikroskop
ersetzen. Der Anfang soll mit den einfachsten und bekanntesten Dingen ge-
macht werden, damit die Kinder Bilder „lesen" lernen. Thiere, vielleicht auch
Menschen, sind in verschiedenen Stellungen, welche ihre Thätigkeit erkennen
lassen, zur Darstellung zu bringen. Gruppenbilder haben nur dann eine Be-
rechtigung, wenn die gezeichneten Gegenstände in einer und derselben Ebene
liegen. — Die Versammlung stimmte dem Vortragenden zu; die Blinden aber
werden froh sein, wenn Herr Kunz sie mit einem Bilderbuch, wie es ihm vor-
schwebt, beschenkt, was leider nicht so bald gethan ist, da die Herstellung der
Bilder sehr viel Zeit erfordert.
Am 4. Congresstage entwickelte Director Heller vom Israelitischen Blinden-
Institute Hohe -Warte bei Wien in einstündiger gedankenreicher Bede sein
».System der Blindenpädagogik". Des beschränkten, mir verstatteten Raumes
wegen ist eine Skizzirung des Gedankenganges mir nicht möglich; erwähnen
wül ich nur, dass die Grundlagen dieses Systems vornehmlich sind: Übung der
Sinne, die Anschauung, die Darstellung, die nachahmenden Thätigkeiten und
die Erfahrung.
Erwähnt mag noch werden, dass ein französischer B lindenfreund , Herr
Lavanchy-Clarke in Lausanne, einen Preis von 250 Mk. ausgesetzt hatte für
die beste Bearbeitung der Aufgabe: „Was geschieht in Deutschland für die
Blinden; was bleibt für sie zu thun noch übrig?" Dieser Preis wurde von den
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Preisrichtern, Director Mecker-Düren und Director Ferchen-Kiel , dem Blinden-
lehrer Joseph Libansky in Purkersdorf bei Wien zuerkannt.*)
Der 8. Congress wird nach 3 Jahren in München stattfinden. M.
Österreich-Ungarn. Während der Sommerferien haben, wie gewöhnlich,
mehrere größere Lehrerversammlungen stattgefunden. Im deutschen Sprach-
gebiete waren besonders bemerkenswert die Hauptversammlung des niederöster-
reichischen Landeslehrervereins am 16. und 17. Juli in Nennkirchen und die
Hauptversammlung des deutschen Landeslehrervereins in Böhmen am 6. und
7. August zu Gablonz. Abgesehen von dem großen Werte dieser Versammlungen
für die wichtigsten Interessen der betreifenden Landeslehrervereine sind die-
selben auch von hoher Bedeutung für die allgemeinen Schul- und Culturfragen.
Und zwar haben beide Versammlungen einhellig Zeugnis abgelegt, dass die
Bestrebungen der Reaction, die moderne Schule in Österreich zu stürzen, bisher
an zwei wichtigen Stellen erfolglos geblieben sind: an der charaktervollen
Lehrerschaft und am intelligenten Bürgerstande. In letzterer Beziehung mnss
mit besonderer Befriedigung hervorgehoben werden, dass sowol in Neunkirchen
wie in Gablonz nicht nur den Lehrern eine höchst sympathische Aufnahme zn-
theil wurde, sondern auch die öffentlichen Autoritäten und die maßgebenden
Bevölkerungskreise ihr treues und opferwilliges Festhalten an dem freisinnigen
Schulgesetze entschieden an den Tag legten. Und die versammelte Elite der
Lehrerschaft (in Neunkirchen ca. 500, in Gablonz ca. 800) bekundete einmüthig
den gleichen Geist des besonnenen und thatkräftigen Beharrens auf der für die
Schule Österreichs zu Recht bestehenden Bahn des Fortschrittes. Besonders deutlich
zeigte sich die Übereinstimmung, welche in dieser Beziehung unter der öster-
reichischen Lehrerschaft herrscht, dadurch, dass in Gablonz die vollständige
Durchführung der achtjährigen Schulpflicht entschieden gefordert, und in Neun-
kirchen die Verkürzung derselben durch die sogenannten „Schulbesuchs-Er-
leichterungen a in die engsten Schranken verwiesen wurde. Ausdrückliche Her-
vorhebung und Anerkennung verdient noch folgende von der niederösterreichischen
Lehrerversammlung einstimmig gefasste Resolution: „Es ist Pflicht der
Staatsverwaltung, der auf Grund eines sanctionirten Reichsgesetzes
geschaffenen, erhaltenen und von staatlichen Organen überwachten
Schule denselben Schutz angedeihen zu lassen, den alle anderen
Staatseinrichtungen genießen. Durch die fortwährenden, geradezu frevel-
haften Angriffe seitens der Gegner muss die Schule geschädigt, das Vertrauen
des Volkes zu derselben erschüttert, das Ansehen des Lehrerstandes untergraben
und somit ein Zustand geschaffen werden, der zersetzend auf die breiten
Schichten des Volkes wirken muss."
Am 6. August tagte in Prag der czechische Lehrercongress. Der-
selbe wies mehr als 5000 Theilnehmer auf, die der Mehrzahl nach aus Böhmen
stammten, wozu aber auch Mähren und Schlesien ein bedeutendes Contingent
nnd selbst die südslavischen Länder eine Anzahl von Gästen gestellt hatten.
Die Versammlung trat entschieden und einstimmig für die Neuschnle ein, wie
sie durch das Gesetz vom 14. Mai 1869 geschaffen wurde. „Den Bedürfnissen
der czechischen Nation kann nur eine öffentliche, allen Confessionen gleichmäßig
•) Unserem wackeren Mitarbeiter die herzlichsten Glückwünsche ! D. R.
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zugängliche und allen Glaubensbekenntnissen gleich gerecht werdende Schule
genügen, welche der staategrundgesetzlich gewährleisteten Glaubens- und Ge-
wissensfreiheit entspricht. Wie nun die Aufsicht über die religiöse Erziehung
und den Religionsunterricht den Religionsgenossenschaften überlassen ist, so
gebärt die Aufsicht über die übrige Erziehung und den übrigen Unterricht nur
erfahrenen Fachmännern, vorzugsweise weltlichen Volks- und Bürgerschul-
lehrern. u Diese Resolution wurde, trotzdem auch etliche Geistliche der Ver-
sammlung beiwohnten, einstimmig angenommen. — An Muth und Freisinn
stehen also die slavischen Lehrer ihren deutschen Collegen keineswegs nach,
and ist zu hoffen, dass die ganze österreichische Lehrerschaft wenigstens in
der Vertheidigung des gemeinsamen Schulgesetzes einig sein und bleiben wird.
Die Lehrmittelsammelstelle Petersdorf bei Trautenau (Böhmen) ist
bestrebt, Schulen ohne große Auslagen mit den allerwichtigsten Lehrmitteln zu
versehen und hat hierfür bereits ein großes Lager von: Mineralien, Käfern,
Schmetterlingen, Petrefacten, Conchylien, biographischen Präpa-
raten (Entwicklungsstadien verschieden er Thiere), Sammlungen chemischer
und gewerblicher Stoffe, Modellen der Veredlungsarten, Bienenstock-
Modellen, Pilz-Modellen, Modellen des Hochofens, zerlegbaren De-
cimalwagen, einfachen physikalischen Apparaten, verschiedenen
Amphibien, Stopfpräparaten etc.
Die Sammelstelle nimmt keinen Verdienst! Gibt an bedürftige Schulen
anch unentgeltlich ab und sendet das jeweilige Vorrathsverzeichnis gegen Ein-
sendung einer Briefmarke bereitwilligst ein.
Tausch wird nach allen Richtungen des Sammelwesens eingegangen.
Spenden werden dankbarst angenommen!
Anfragen beantwortet der Vorstand
Gustav Settmacher, Oberlehrer.
Der königl. ungarische Minister für Cnltus- und Unterricht, Graf Albin
Ceaky, hat den XIX. Jahresbericht des derzeit unter seiner Leitung stehenden
Ressorts und aus dem Originalwerke auch einen Auszug in deutscher Sprache
veröffentlicht (gedruckt in der k. u. Universitäts-Buchdruckerei zu Budapest).
Der Bericht erstreckt sich auf die Studienjahre 1888—89 und 1889—90 uud
nmfasst sämmtliche Anstalten des Schuldepartemente ; wir entnehmen demselben
einige allgemein interessirende Daten. Der Minister hat vor allem eine Reform
des Unterrichtsrathe8 eingeleitet, da derselbe sich nicht durchaus bewährt hatte.
Insbesondere waren in demselben bisher zwar die einzelnen Fächer der Wissen-
schaft, nicht aber die verschiedenen Arten von Lehranstalten genügend ver-
treten; die Mitglieder desselben hatten ferner keine Gelegenheit, sich mit den
thatsächlichen Schulverhältnissen durch eigene Wahrnehmungen bekannt zu
machen, die Entlohnung für ihre Mühewaltung war unzureichend etc. Dem
gegenüber sind nun zweckmäßige Verbesserungen eingeleitet worden, bei welchen
insbesondere das fachmännische Element eine dankenswerte Berücksichtigung
gefunden hat. Auch verdient folgende Maßnahme mit besonderem Beifall hervor-
gehoben zu werden: „Die Procedur bei der Beurtheilung der Schulbücher
soll wesentliche Moditicationen erfahren, welche in erster Reihe den Zweck
haben, die möglichste Objectivität der Kritik zu verbürgen. Aus diesem
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Gesichtspunkte sollen auch außerhalb des Unterrichterathes stehende Fach-
männer in Anspruch genommen werden; auch soll der eine der Beurtheiler stets
jener Art von Schulen angehören, für welche das betreffende Buch bestimmt
ist; endlich sollen die Kritiken mit den Namen der Beurtheiler den
Verfassern zugestellt werden." Wer da weiß, wieviel Willkür, Unrecht,
ja Corruption in Sachen der Schulbücher unter dem Deckmantel des Amts-
geheimnisses hie und da geübt wird, der kann die citirten Bestimmungen nur
mit dem lebhaftesten Beifall begrüßen.
Graf Csaky bemerkt ferner: „Da ich die bedeutendsten Factoren des
Aufblühens und Fortschrittes unseres Volksschul- Unterrichtswesens einer-
seits in der wirksamen und fachmäßigen Aufsicht, anderseits in der guten
Lehrerbildung suche, habe ich diese Theile der Schulorganisation zum Gegen-
stande meiner besonderen Fürsorge gemacht." Demgemäß war er darauf be-
dacht, den Schulinspectoren in ihren Kanzleiarbeiten Erleichterung zu verschaffen,
damit sie nicht von „ihrer eigentlichen und wichtigsten Aufgabe: von dem
Besuche der Schulen und der unmittelbaren und persönlichen Berührung mit
den Schulbehörden und Lehrern abgezogen werden", ihnen aber auch eine bessere
Dotirung zu sichern, damit sie ihr wichtiges und schweres Amt „ohne materielle
Sorgen" verwalten können; ebenso ließ er sich die stetige Verbesserung der
Lehrerbildung, sowie der Besoldung der Seminarlehrer angelegen sein.
Das ungarische Schulwesen zeigt in allen seinen Theilen einen gedeihlichen
Fortschritt. Die Volksschulen wurden im Jahre 1888 von 1,950879, im
folgenden Jahre von 2,015612 Kindern thatsächlich besucht, während sich
diese Zahl anno 1869 nur auf 1,152115 belief. Im Verhältnis zur Zahl der
schulpflichtigen Kinder war zwischen 1869 und 1889 eine Steigerung des
factischen Schulbesuchs von 50.42 °/0 auf 81.65°/0 eingetreten. Und während
anno 1869 1598 Gemeinden ganz ohne Schule waren, gab es solcher Gemeinden
1889 nur noch 244. Im ganzen bestanden 1889 16702 Volksschulen gegen
13798 im Jahre 1869. Volksschullehrer gab es 1869 17792, 1889 hingegen
24645. Die Erhaltungskosten der Volksschulen betrugen im ersteren Jahre
3,760123 fl., im letzteren 15,117024 fl., die hierzu gewährte Staatesub-
vention im ersteren Jahre 407 72 fl., im letzteren 1,794234 fl. Was die
Nationalitäten betrifft, so zeigt sich zwar bei allen eine Zunahme des that-
8ächlichen Schulbesuches im Verhältnis zur Schulpflichtigkeit ; aber ein die
Durchschnittsziffer 81.65% überschreitender factischer Schulbesuch zeigte sich
bisher nur bei den Schulpflichtigen mit ungarischer, deutscher und slovakischer
Muttersprache, während der Schulbesuch der rumänischen, serbischen, kroati-
schen und ruthenischen Kinder hinterdieser Ziffer zurückblieb.
„Mittelschulen" bestehen derzeit in Ungarn 180, nämlich 151 Gym-
nasien und 29 Realschulen. Hiervon sind vollständig, d. h. 8classig 91
Gymnasien und 22 Realschulen, die übrigen sind erst 4 — 6classig. Die
Gymnasien hatten zusammen 36367, die Realschulen 7303 Schüler, so dass
von je 1000 Schülern 833 das Gymnasium, 167 die Realschule besuchen.
Hierzu bemerkt der Minister: „Die Verhältniszahl der Gymnasial- und Real-
schüler verändert sich seit Schaffung des Mittelschulgesetes dauernd in einer
Richtung, nämlich zu Gunsten der Realschulen." Thatsächlich kamen
im Schuljahr 1883/84 auf je 1000 Gymnasiasten 147 Realschüler, während die
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letztere Ziffer in den folgenden Jahren auf 151, 168, 178, 191, 198, 201
«tief (immer im Verhältnis zu 1000).
Bezüglich der Hochschulen weist der Ministerialbericht nach, dass die
Contingente der Lehramtscandidaten und der Techniker in Zunahme begriffen
sind in geringerem Maße auch die der landwirtschaftlichen und der militärischen
Carriere. „Die oft besprochene und vielfach beklagte übermäßige Frequenz
der juridischen Facultäten und Akademien hat auch im verflossenen Schuljahr
nicht abgenommen. Es zeigt sich vielmehr auch hier eine kleine Zunahme.
Dagegen zeigt sich bei den Theologen, bei den Candidaten des forstmännischen
nnd des bergmännischen Berufes, ja auch bei den Medicinern leider wieder eine
gewisse Abnahme." Bezüglich des Studienerfolges ergibt eich, dass im Berichts-
jahre von 877 Juristen 521 (59.52 °/o), von 297 Medicinern 207 (69%), von
140 Hörern der phüosophischen Facultät blos 38 (27°/0), von 210 Technikern
80 (38°/0) ihr Ziel erreicht, d. h. das Absolutorium erreicht hatten.
Auf diese wenigen Angaben müssen wir uns leider für diesmal beschränken,
and indem wir diejenigen, welche sich mit dem hochinteressanten Schulwesen
Ungarns genauer bekanntmachen wollen, auf den Bericht selbst verweisen,
schließen wir mit dem Wunsche, dass Graf Csaky noch recht lange auf seinem
wichtigen Posten verbleiben möge. Was er bisher geleistet hat, zeugt ebenso-
wol von tiefem Verständnis, wie von redlichem Willen und treuem Eifer für
sein bedeutsames Amt und kann dem ungarischen Patrioten wie allen Freunden
des Culturfortschrittes nur zu lebhafter Genugthunng gereichen.
Die „Bistritzer Zeitung" (Siebenbürgen) bringt einen offenbar von sach-
kundiger und schulfreundlicher Hand verfassten Aufsatz, in welchem nachge-
wiesen wird, dass die Gymnasien der siebenbttrgischen Sachsen mit den bisherigen
Mitteln unmöglich auf die Dauer erhalten werden können. Namentlich sind
die Lehrergehälter hinter den dringenden Bedürfnissen der Gegenwart weit
zurückgeblieben. Möge es dem wackeren Volke gelingen, der offenbaren Noth
mit den rechten Mitteln abzuhelfen. Es handelt sich da in der That um eine
Lebensfrage der Siebenbttrger Sachsen!
England. Während in Preußen abermals ein Schulgesetz- Entwurf ge-
scheitert ist, hat England einen neuen großen Erfolg auf dem Gebiete der Volks-
bildung aufzuweisen. Einen sehr beachtenswerten Artikel hierüber bringt die
„Nene freie Presse", dem wir mit Vergnügen Raum geben. Er lautet:
Von allen Gesetzen, welche die eben abgelaufene Session des englischen
Parlaments beschlossen, ist keines folgenreicher, fruchtbarer und bedeutsamer,
als dasjenige über die Volksschule. Das Forster'sche Schulgesetz vom Jahre 1 870
bat den Schulzwang eingeführt (dies ist nicht ganz richtig. D. R.), aber In-
spector und Gemeindediener vermochten nicht die Massen des Volkes für den
obligatorischen Schulbesuch zu gewinnen, die Schnlgebüren, welche die Eltern
zu entrichten hatten, waren diesen verhasst, und nach wie vor blieben die Kinder
der ärmeren Leute der Schule fern ; selbst in London besuchen thatsächlich nur
80 Percent der schulpflichtigen Kinder die Elementarschulen. Die Londoner
Behörden haben wol gesetzlich die Aufgabe, die säumigen Eltern zu verwarnen
und im Wiederholungsfalle zu strafen, allein die Behörden unterließen es schließ-
lich wegen der Massenhaftigkeit der Fälle. Man suchte mit philanthropischen
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Mitteln nachzuhelfen; man setzte Preise und Belohnungen aus; der Schulbesuch
blieb jedoch ein unregelmäßiger und mangelhafter, die Classenzimmer blieben
nach einigen Wochen in den Grafschaften, wie im Ostend Londons leer. Ge-
wissenlose Eltern benützen die Kinder zum Broterwerb und Betteln, sie tragen
das Geld lieber in die Schenke, als in das Schulamt; man seufzte in England
gerade so über die hohen Schullasten, wie bei uns in den Alpenländern; man
wollte die Kinder lieber zum Viehtreiben oder in den Webereien und Spinnereien
verwenden, als sie in der Volksschule sitzen sehen, wie bei uns; man fand es
gerade wie bei uns überflüssig, dass die Kinder mehr lernen und wissen als
die Eltern; auch in England fanden sich genug der falschen Propheten, welche
die Lehre predigten, dass der Staat nicht gesetzlich über die Kinder und ihre
Erziehung verfügen dürfe, dass es ein Eingriff in das Recht der Eltern sei,
wenn der Staat verlange, dass die Kinder von 5 bis 14 Jahren die Schule be-
suchen. Dieselben Argumente, welche wir in Österreich von den ultramontanen
Wortführern, in Deutschland von den Centrumsrednern, in Belgien von der
Geistlichkeit und ihren Anhängern in der Kammer, in Frankreichs Legislative
von Bischof Freppel zu hören bekamen — sie haben wir anch in England zu
verzeichnen gehabt. So uniform, so armselig, so verlegen klingen diese opposi-
tionellen Reden allenthalben, und Conservative reinsten Wassers, wie Bartley,
erhoben Kassandra-Rufe und verkündeten das Ende Alt-Englands. Noch im
März dieses Jahres glaubte man, die Volksschul-Bill werde auf unbestimmte
Zeit verschoben, sie werde nicht zustande kommen; Gladestoneaner und Radi-
cale jubelten bereits, sie nahmen die Bill, mit der Ergänzung, dass das ganze
Elementar- Schulwesen unter die Aufsicht wählbarer Behörden, also mittelbar
auch der Wähler selbst zu stellen sei, in ihr zukünftiges Wahlprogramm auf.
Und siehe da! Das Gesetz ist angenommen, durch eine geschickte Verbindung
liberaler und conservativer Interessen ; Salisbury verstand es, seine conservativen
Anhänger von der Nothwendigkeit der Sache zu überzeugen. Unionisten, Glade-
stoneaner und Radicale mussten, wollten sie nicht ihre Grundsätze ganz ver-
leugnen, dafür stimmen — und so sah man das erhebende Schauspiel, wie unter
der Devise: „Für dasWol des Landes" alle Parteien der Fahne von Sir William
Hart-Dyke, dem Verfasser der Bill, dem Vice-Präsidenten des Conseils, folgten.
Seine Vorschläge waren so einfach, maßvoll und praktisch, dass ihr Erfolg un-
fehlbar wurde: sie vermieden es, sich gegen die Privat- (freiwilligen) Schulen,
oder gegen das Abkommen bezüglich des Religionsunterrichtes zn wenden,
noch erhoben sie die Normalschulfrage auf das Programm der Regierung. Die
letztere wusste, dass das Hauptargument gegen den Schulzwang die theuren
Schulgebüren seien ; deshalb richtete sie ihr ganzes Augenmerk auf die Ver-
wolfeilung der Gebttren, so dass die Schule für viele ganz kostenlos, für
andere fast unentgeltlich wird ; sie vermied es, die Schulgeldfrage durch andere
Controverseu zu verwickeln, und so gelang das Werk, das auf Generationen
hinaus segensreich wirken wird.
Ein Werk der schwierigsten Art. In England mehr als irgendwo sind
der Individualismus und das Princip der Selbstverwaltung entwickelt; mehr als
der Engländer sträubt sich wol niemand gegen staatliche Bevormundung; dazu
war ja in England nicht wie in Österreich und Deutschland die Schule ein
Politicum, und bis vor zwanzig Jahren entbehrte das Inselreich ganz und gar
der politischen Schulverfassung. Erst nach der Einführung des obligatorischen
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(V D. R.) Schulunterrichtes, also nach 1870, traten in verschiedenen Städten
und ländlichen Bezirken die School- Boards ins Leben, gewählte Collegien, welche
die Schulen errichteten und verwalteten; die School-Boards hielten alsoBoards-
Schools. Eine gewisse Controle lag in den Händen der Regierung oder des
Council of Education, von dem die Schnlinspectoren ernannt, auf dessen Antrag
auch Zuschösse von der Regierung gewährt worden. Der Staat ließ diesen
Schulen, die sich nach Umfang des Unterrichtes abstuften, einen weiten Spiel-
raum; von dem Umfange des Lehrplanes, der Zahl der Schüler und dem Grade der
Leistung der Schule hing jeweilig die Höhe der staatlichen Subvention ab. Der
Staat förderte also bisher blos den Volksunterricht, aber die Verwaltung lag
in den Händen der School-Boards, und die Kosten trugen die wahlberechtigten
Steuerzahler. Sie hatten bisher im Verhältnisse zur Hausmiete eine besondere
Schulfiteuer zu entrichten, ähnlich wie bei uns in Wien. Außer dem Einkommen
aus der Schulsteuer und der staatlichen Subvention war noch ein Schulgeld
eingeführt; das Board war vom Parlamente ermächtigt, von jedem Schüler jede
Woche einen Beitrag bis zu nenn Pence einzufordern. Man denke sich, eine
ärmere, mit Kindern gesegnete Familie hätte jede Woche für jedes Kind etwa
funranddreißig Kreuzer zu entrichten. Freilich gibt es Districte, wo das Schul-
geld weniger beträgt; immerhin war das Schulgeld hart für die nothleidenden
Massen, unbeliebt bei den Eltern und deraüthigend für den Lehrer, der, wie
der Schulmeister des Vormärz in Österreich , in der Classe von den Schülern
selbst die Pence einzusammeln hatte. Auch dieser Vorgang verschwindet fortan
aus den englischen Schulen.
Eine Frage schwebt auf des Lesers Zunge: Wie verhält sich die Geist-
lichkeit zur Schulreform? Die Schule wird ja vor allem interconfessionell!
Doch nur die Staatskirche hat Ursache, um ihre Kirchenschulen besorgt zu sein.
Die Dissenters, welche nahezu die Hälfte der Bevölkerung darstellen, und ins-
besondere die ärmere Classe sind mit dem neuen Schulgesetze zufrieden, denn
m vertreten den Grundsatz der Gleichstellung aller Secten vor dem Gesetze
und ebenso in der Schule. Wie die Voluntary-Schools, von Kirchengemeinden
erhalten, sich neben der kostenlosen Staatsschule behaupten werden, ist die Frage.
Man meint, sie werden bald eingehen; vielleicht werden sie sich in Sonntags-
schulen, das ist Religionsschulen, verwandeln. Der Religionsunterricht ist in
England nicht Sache des Staates, sondern der Kirche, und wird thatsächlich
von dieser in den Sonntagsschulen gegeben. Und dennoch ist der Einfluss der
Geistlichkeit in England gewiss kein geringer und die Frömmigkeit der Briten
eine sprichwörtliche. Man sieht, auch das freie und fromme England hat sich
endlich seiner großen Culturaufgabe erinnert und sein Souveränitätsrecht als
Gesetzgeber der Schule aufgenommen; die Kirche fügt sich, sie nimmt deshalb
den in England aussichtslosen Culturkampf nicht auf und bestreitet fürder dem
Staate nicht mehr das Recht auf Schulgesetzgebung, Schulaufsicht und Schul-
verwaltung. Auch mit diesem neuen Gesetze nähert Bich, wie mit der Social-
gesetzgebung, England, das insulare und isolirte, mehr und mehr dem Continente
und seinen Culturreformen. Es ist dabei ganz von seinem Genius berathen.
Eh fasste die Schulreform als Geldfrage auf und fand dafür sofort Verständnis.
Das neue Gesetz erweitert die bisherige Subvention der Regierung um je zehn
Shilling per Kopf, welche das Schulgeld in allen Schulen ersetzen sollen, in
denen der Durchschnittsbetrag desselben am letzten Neujabrstag nicht ein höherer
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war. In allen Elementarschulen, in denen das Schulgeld im Jahre bisher weniger
als zehn Shilling betrug, wird der Unterricht also ein völlig unentgeltlicher
werden. Zwei Drittheile aller Elementarschulen bekommen ganz freien, ein Dritt-
theil einen fast freien Unterricht. Es ist eine große, segensreiche That der Cultnr-
politik, und die Gesittung des englischen Volkes wird von diesem Gesetze eine
neue Epoche datiren. Dass es ein conservatives Cabinet war, welches dieses
Gesetz vorgelegt hat, gereicht ihm zum Kuhme und ist auch für uns Continen-
talen sehr lehrreich. Es zeigt den ungeheuren Unterschied zwischen den
nConservativenu des Continents und denjenigen Englands. Was sich als öster-
reichischer Feudaler und Clericaler, als Junker und Hucker in Norddeutschland
conservativ nennt, würde ein Tory heutzutage nicht als Gesinnungsgenossen
gelten lassen. Disraeli hat den Conservativen Englands die Bahnen gewiesen;
er hat gezeigt, dass auch Conservative Reformgesetze schaffen können. Die
Grafschaft8räthe des Cabinets Salisbury haben bewiesen, dass die Conservativen
anf dem Gebiete der inneren Reform nicht ohne Glück sich versuchen, Salis-
bury als Beaconsfield's trefflicher Schüler setzt den Ehrgeiz darein, zu zeigen,
dass Conservative die überlebten Einrichtungen alter Zeit nicht versteinern
wollen, wol wissend, dass in England am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
für Conservative vom Schlage österreichischer und preußischer Hochtories kein
Raum, keine öffentliche Bühne, keine politische Macht mehr vorhanden ist.
Nordamerika. Vom 30. Juni bis 4. Juli tagte in Cincinnati (Ohio) der
„Deutsch-amerikanische Lehrerbund u. Die Schwierigkeiten, mit denen
derselbe zu kämpfen hat, konnten auch diese Versammlung nicht unberührt
lassen. Sie bestehen darin, dass dem Deutschthom und besonders der deutschen
Schule in Nordamerika vielfach Misstrauen und Feindseligkeit entgegentritt,
und dass unter der deutsch-amerikanischen Lehrerschaft heftige Zwistigkeiten
der gemeinsamen Sache Abbruch thun. Diese Verhältnisse kamen denn auch
schon bei Eröffnung des Lehrertages in Cincinnati zum Ausdrucke, indem der
Vorsitzende des Ortsausschusses, Herr Rattermann, die „kleinlichen Zänke-
reien" beklagte, „denen wir Deutschen wegen der einmal unvermeidlichen
Krähwinkler unter uns, die alles bemäkeln müssen, was nicht aus ihrer eigenen
Werkstatt kommt", ausgesetzt sind. Meinungsverschiedenheiten aus sach-
lichen Gründen seien statthaft und heilsam; denn, so sagt Herr Rattermann
schön und wahr: „Gegensätze bilden die Triebfeder aller Thätigkeit, und die
Mannigfaltigkeit der Ideen und Anschauungen ist die Würze des geistigen
Daseins." Aber persönliche Zerwürfnisse seien unter allen Umständen ver-
werflich und zerstörend. „Das Deutschthum hat es gerade jetzt nöthiger als
je, 6ich in Einheit zusammenzuscharen und dem drohenden Anstürmen feind-
seliger Elemente, welche die deutsche Sprache aus Familie, Schule und Gesell-
schaft in diesem Lande zu verdrängen sich bemühen, kräftig entgegenwirken
zu können."
Auch der Präsident des Lehrerbundes, Herr Fick, schlug in seiner Er-
öffnungsansprache die nämlichen Töne an: „Ist der deutsche Lehrer sich seines
Rechtes bewusst, so mag er muthig eintreten in den Kampf, der ihm nicht er-
spart bleibt. Aber vor allem thut hier Zusammenhalten noth. Nur der Kräfte
vereintes Streben führt zum Sieg, wo Zersplitterung den Ausgang in Frage stellt."
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Neben Symptomen mancher Dissonanzen bot der diesjährige deutsch-
amerikanische Lehrertag auch recht erfreuliche Erscheinungen. Die Stadt
Cincinnati bewährte ihren alten Ruf der Gastlichkeit und Gemüthlichkeit; der
0rtsans8chuss hatte die besten Vorbereitungen getroffen; die Versammlung
selbst war, wenn auch nicht stark, doch immerhin ausreichend besucht und
entwickelte löbliche Ausdauer in ernster Arbeit; die Vorträge waren mannig-
faltig, zweckentsprechend und meist sehr gelungen. Auf letztere gedenken wir
noch zurückzukommen.
Ans der Fachpresse.
485. Leitfaden für Gesellschafts-, Staats- und Vaterlandskunde
in Fortbildungsschulen (0. Hunziker, Die gewerbl. Fortbildungsschule
1891, VII). Referat vor der Fortbildungsschulcommission der Schweiz, gemein-
nützige Gesellschaft. — „ Grundzüge": 1. Der Schtilerleitfaden soll die freie
Thätigkeit des Lehrers nicht ersetzen, sondern nur das Nötigste enthalten, um
den Schüler zu befähigen, dem Lehrgang leichter folgen zu können — die
wesentlichen Punkte klar formuliren — die für das Verständnis schwierigen
Ausdrücke, in sicherem Wortbild fixirt, erklären. — 2. Auch vom Gesichts-
punkte der in Fortbildungsschulen für die fraglichen Unterrichtsgegenstände
verfügbaren Zeit, wie von demjenigen einer möglichst geringen finanziellen
Belastung der Schüler empfiehlt sich gedrängte Kürze. — 3. Anzuknüpfen an
den Gesichtskreis der Schüler. — 4. Volkswirtschaftslehre, Gesellschafts- und
Staatskunde als Einführung in die Vaterlandskunde und in enger Verbindung
mit dieser darzubieten. — Aus den gesellschaftlichen und staatsgenossenschaft-
lichen Verhältnissen kommen wesentlich in Betracht: I. Entstehung der geschicht-
lichen Formen socialen Zusammenlebens (Genossenschaft, Gemeinde, Staat).
Innerhalb derselben: Beziehungen von Recht und Pflicht, Theilung der Arbeit;
Ausblick auf die socialen Fragen. — II. Verschiedenheiten (Aristokratie, Mon-
archie, Republik; Einheitsstaat, Bundesstaat, Staatenbund) und Gliederung
(Gesammtstaat, Canton, Bezirk, Gemeinde) der staatlichen Organisation. —
III. Elemente der Staatsverfassung (Verfassung, Gesetz, Verordnung, Tren-
nung der Gewalten. Gesetzgebungs- und Verwaltungsbehörden. Grund- und
Volksrechte.). u
486. Umgestaltung des Unterrichts in der Physik (E. König,
Rcpert d. Pädag. 1890/91, X). Berücksichtigung ihres Zusammenhanges mit
den übrigen naturwissenschaftlichen Fächern. Diese sollen zu innerer Einheit
verbunden werden (Naturkräfte — Naturkörper!). Beachtung der Thatsache,
dass sich Naturkräfte und Naturkörper denselben Gesetzen fügen. Gegen Endo
einer Jahreszeit die derselben eigentümlichen Erscheinungen zusammenstellen
und zu der Aufgabe der betreffenden Jahreszeit in Beziehung setzen. Ordnen
des Stoffes nach Gruppen erst am Schlüsse des Jahres. — Ausgangspunkte:
Beobachtungen der Schüler. Gesetze in leicht fasslicher, nicht mathematischer
Form. Beweise nöthig; aber sie sollen nur einfache, verstandesgemäße Schluss-
t 'Igen darstellen.
487. Zur Geschichte des Philanthropismus (E. v. Sallwürk, Deut-
sche Blätter 1891, 1. 2). Summe dessen, was der Philanthropismus seit
120 Jahren der Erziehung geleistet: „Er hat durch strenge Durchführung
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Lockescher Gedanken der Pestalozzischen Schule vorgearbeitet und die
psychologische Führung des Elementarunterrichts als eine unumstößliche For-
derung begründet; er hat durch Anerkennung der Pflicht, den ganzen, auch
den leiblichen Menschen zu bilden, die mittelalterliche Anschauung der Er-
ziehung beseitigt und auf diesem Gebiete überhaupt das Muster aufgestellt, dem
wir in der öffentlichen Erziehung erst völlig nachzukommen haben; er hat
endlich die religiöse Unterweisung, welche durch die pietistische Schule glück-
lich aus der dogmatischen Erstarrung gerettet worden war, auf den Weg
geleitet, auf dem allein die Religion zu einem inneren Bedürfnis erhoben
werden kann."
488. Volksbildung und Lehrerbildung. (E. v. Sallwürk, Neue
Bahnen 1891, V. VI). Vorbemerkungen — Lehrerberuf und Volksbildung —
die Didaktik des Volksschulseminars — die Vorbildung des Volksschulsemina-
risten. — Dieser gehaltvollen Arbeit kommt die höchste Bedeutung zu: sie
löst die Frage der Lehrerbildung in ihrem Kernpunkte vollkommen.
— Wir müssen uns hier leider darauf beschränken, die allerwesentlichsten
Stellen herauszuheben: „Wenn die Seminaristen (geschult, wie gegenwärtig
üblich) zum Abschluss ihrer Bildung gelangen, sind sie noch nicht reif genug,
die große Verantwortung zu begreifen und zu tragen, welche ihr zukünftiges
Amt ihnen auferlegen wird. Aber daran trägt nicht etwa die kurze Seminar-
zeit die Schuld, sondern die Form der Seminarbildung." „Wir weisen dem
Volksschullehrer seine Stelle an unter den Gebildeten, aber nicht unter den
Gelehrten." (Im Anschluss an diesen Grundsatz lesen wir hohe Worte über
die dem künftigen Volksschullehrer zu gebende wahre Bildung.) „Der Volks-
schullehrer soll ein Mann seines Volkes und seiner Zeit sein." Damm von
seiner Bildung in erster Linie zu fordern: „dass sie ihn mit dem ganzen Um-
fang der allgemeinen Volksbildung bekannt mache. Das ist nicht wenig —
und nicht genug." „Gründlichkeit muss die wesentlichste Richtung seiner
Bildung sein, und sein Wissen muss die Beziehungen zum täglichen Leben
überall festhalten; die Gründe alles Wissens müssen sorgfältig gelegt, die
Grundstoffe jedes Wissensgebietes in der ganzen Vielseitigkeit ihrer Be-
ziehungen und ihrer Einwirkungen auf das menschliche Leben aufs genaueste
durchforscht und zu lebhaftester Erkenntnis gebracht werden; ein reiches
und vielseitiges Leben ist in den Volksschulseminaristen aufzubauen." „Die
Seminaristen müssen über alle wichtigeren Punkte in jedem Fache discutiren."
— Art der Vorbildung: „Die lateinlose Realschule (was soll der
Volkssehullehrer, wie wir ihn meinen, mit der Sprache der alten Römer?),
welche in sechs Jahrescnrsen einen gut abgeschlossenen Lehrgang gründlich
durcharbeitet, dient nnsern Zwecken durchaus; sie bietet alles, was wir als
Grundlage der künftigen Seminarbildnng wünschen müssen." — (Nach dieser
abschließenden That Sallwürks bedarf die Frage der Lehrerbildung einer
grundsätzlichen Erörterung nicht mehr, wir haben uns nur noch mit der
zielgerechten Ausgestaltung des eigentlichen Unterrichtsbetriebs im Seminar
zu befassen. (Sallwürk liefert dazu mehr und weniger ausgeführte Skizzen.)
489. Der deutsche Unterricht auf der V. badischen Directoreu-
conferenz (J. H. Schmalz, Zeitschr. f. d. deutschen Unterr. 1891, VI). Be-
trifft die höheren Schulen. Die Conferenz einigte sich u. a. über folgende
Punkte, die als Ansicht des Directorencollegiums gelten können: „Die Pflege
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der Muttersprache ist mit dem ganzen Unterrichtsbetriebe unzertrennbar ver-
banden; jeder Lehrer der Anstalt ist daher zugleich Lehrer des Deutschen:
im sprachlichen Unterricht nimmt das Deutsche geradezu eine Central-Stellung
ein." „Der Unterricht im Deutschen ist bis Obertertia womöglich dem Lehrer
des Latein zu übergeben/ „In Prima erscheint eine Verbindung des Deut-
schen mit der Geschichte auch zweckmäßig." „Die allgemein übliche, der
lateinischen Sprache entnommene, geradezu internationale grammatische Ter-
minologie ist auch im Deutschen anzuwenden/ (Referent: „Einheit der gram-
matischen Bezeichnung im Gesammtsprachunterricht durch Einführung deut-
scher Namen ist ein zu erstrebendes Ziel.") Folgende Reform vorschlage Franz
Kerns seien „reif zur Einführung in die Schnlpraxis" : „ Ausgehen vom Verbum
iinitnm bei der Satzanalyse, Beseitigung der Copula (geringe Majorität), Be-
seitigung der Bezeichnungen logisches Subject, prilpositionales Object, nackte,
umkleidete, zusammengezogene und abgekürzte Sätze."
490. Die Wissenschaft und der Deutschunterricht (Ad. Socin,
Schweiz. Lehrerz. 1891, 17—22). Nur Lösung der Theilanfgabe: „Die
deutsche Grammatik in der Schule." Verf. hat die „lateinlose Mittelschule"
und zwar hier die „mittlere Stufe" im Auge. Für diese verlangt er: „einen
kurzen grammatischen Abriss, welcher an Hand de« Lesebuchs und der Stil-
übnngen näher zu interpretiren ist." — Endergebnis der Untersuchung: „Die
Bedeutung der wissenschaftlichen deutschen Grammatik für den Unterricht
liegt mehr auf der negativen als auf der positiven Seite: sie kann wenig Neues
einfuhren, schafft aber manches Systematische ab. Sie legt das Hauptgewicht
weniger auf abstracte Begriffe und Augenblicksregeln, als auf gedankliche
Entwickelung einzelner Erscheinungen. Durch die Abwerfung des überflüssigen
Ballastes ist diese indnetive Methode geeignet, eine wirkliche Vereinfachung
und Entlastung des Deutschunterrichts herbeizufuhren." — Bemerkung über
den UnterTichtsbetrieb im allgemeinen: „Nichts verkehrter als die Meinung,
dass der Deutschunterricht überall nach der gleichen Schablone gegeben wer-
den müsse. Die neuhochdeutsche Schriftprache ist, da sie ihren Ursprung so
vielen Dialektmischungen verdankt, überall dem Lernenden halb bekannt, halb
fremd; das Bekannte und das Fremde sind aber nicht überall das Nämliche.
Je individualisirender (liebliches Wortl) darum der Deutschunterricht ist, desto
erfolgreicher wird er wirken." — Einzelheiten: a. Die Sprache ist nicht sowol
ein Erzeugnis der Logik, als vielmehr instinetiv wirkender seelischer Factoren.
b. Maßgebend für die Aussprache des Schriftdeutschen sind der Buchstabe und die
ortsübliche Tradition, c) Die Terminologie ist nur ein Mittel, dazu bestimmt, ver-
gessen zu geben, sobald der Zweck erreicht ist. Beibehaltung der hergebrachten
lateinischen Bezeichnungen: Das ist gerade der Vortheil dieser Ausdrücke, dass
man an ihre ursprüngliche Bedeutung gar nicht mehr denkt, sondern dass,
sowie man einen von ihnen aussprechen hört, unwillkürlich ein Beispiel unter-
geschoben wird. d. Für die Unterschiede in der Deklination nur Typen auf-
stellen, und zwar folgende elf: Hund, Kind, Narr, Frau, Bett, Knabe, Auge;
Hand, Mann, Vogel; Wagen (maßgebend, Mehrsilbigkeit, Umlaut), e. Beim
Verbum ist das Fehlerverzeichnis die beste Grammatik für den Lehrer, f. Treff-
liche Rathschläge für die Satzlehre bei Erdmann, Grundzüge der deutschen
Schulen nach ihrer geschichtlichen Entwickelung, Stuttgart 1886.
491. Geographische Grundbegriffe (H.Ellrich, Freie päd. Bl. 1891,
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10). Verf. weiß „für alle jene Schulen, die mit ihren Kindern von der Natur
abgeschnitten sind, kein besseres geographisches Lehrmittel des ersten grund-
legenden Unterrichts als ein Landschaftsmodell. " „An einem solchen Bilde
soll das Kind sehen, was die Erde trägt und was dem Menschen bei einer
Wanderung durch die Welt in vergrößertem Maßstabe vor das betrachtende
Auge tritt." „Die Vorstellungen würden vor einem solchen Anschauungsmittel
niemals von der Phantasie auf Irrwege geführt werden ; sie gestalteten sich von
Anfang an richtig und gäben einen gesunden und festen Untergrund für die
Weiterreise in die weite Welt.rt (Es soll „kein bestimmtes, durch die Wirk-
lichkeit im großen vorgezeichnetes Landschaftsbild", sondern ein Phantasie-
stück sein.)
492. Die Eisenbahnen im erdkundlichen Unterricht (A.Gorges,
Deutsche Blätter 1891, 17). Das Wort „wichtig" ist in der Neuzeit auf
andere Gesichtspunkte zu beziehen als früher. Scheiden wir das zwar ehemals,
aber nicht mehr gegenwärtig Wichtige aus, so gewinnen wir die nöthige Zeit
für die heute sehr wichtige Eisen bahnkunde. Am einfachsten und natürlichsten
anzureihen an die Behandlung der Städte. (Die Bahnen sind stets mit ihrem
amtlichen Namen zu nennen.) Beziehungen zu anderen als geographischen
Unterrichtsstoffen hauptsächlich bei den naturwissenschaftlichen Fächern zo
finden. — „Sicherlich wird der Versuch einer eingehenderen und mehr selbst-
ständigen Bearbeitung der Eisenbahnkunde den Lehrer mit erhöhtem Interesse
seiner Schüler belohnen." (Etwas komisch klingt die Äußerung: „Tritt nicht
des Schöpfers Weisheit im hellsten Lichte zutage in den mannigfaltigen und
wunderbaren Kräften, welche beim Bau und Betriebe der Eisenbahnen, in den
göttlichen Geistesgaben, welche im Menschengeiste bei der Verwertung derselben
(?) zur Erscheinung kommen?")
493. Knaben und Mädchen in ihren schriftlichen Arbeiten (K.
Döring, Päd. Zeitschr. 1891, 30). Thatsache: Die schriftlichen Arbeiten der
Knaben stehen gegen diejenigen der Mädchen hinsichtlich der Sauberkeit und
Wolgefälligkeit weit zurück. Ursache: Kleidung, Spiel und Spielzeug, dazu
die Nadelarbeiten der Mädchen verlangen nothwendig Sorgfalt, Sauberkeit,
Geschmeidigkeit, leichten und leisen Griff. Daher fällt es ihnen verhältnis-
mäßig nicht schwer, mit Federhalter und Tinte geschickt umzugehen.
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Literatur.
Arnold Ohler t, Die deutsche Schule und das classische Alterthum. Eine Unter-
suchung der Grundlagen des gymnasialen Unterrichts. Hannover 1891, Karl
Meyer (Gustav Prior). 188 S. 2 M. 40 Pf.
Diese Schrift gehört zu den zahlreichen Versuchen, eine Reform der höhereu
Lehranstalten oder, wie man in Österreich und Süddeutschland sagt, Mittel-
schulen anzubahnen. In welchem Sinne der Herr Verfasser die Aufgabe gelöst
wissen will, dies mögen einige Kernstellen seines Buches zeigen. „Man nennt
unser Jahrhundert realistisch. Das halten wir gerade für einen großen Vor-
zug. Wer es deswegen auch materialistisch nennen und ihm die Idealität der
Gesinnung absprechen will, der versteht die heutige Zeit nicht... Der Idealis-
mus des 18. Jahrhunderts jagte, vom Boden der Wirklichkeit losgelöst, abstracten
Träumereien nach: seine große Schwäche ist, das» ihm völlig die Fähigkeit
abging, seine Ideen in Thaten umzusetzen. Heute verwandeln wir unsere Ideen
in praktische Probleme, das heißt, wir streben danach, unsere Ideale nach
Möglichkeit zu verwirklichen. . . Wir sind in unserer Thätigkeit, in der Wahl
der Mittel zur Ausführung unserer Ideen, realistisch, und das ist unser Stolz
und unser Vorzug; anderseits streben wir in der Ausgestaltung unseres gesammten
geistigen, sittlichen und socialen Lebens viel zielbewusster und energischer dem
Ideal entgegen, als es je bisher geschehen ist. Deshalb setzen wir unser ganzes
geistiges Leben in Beziehung zur Gegenwart u (S. 91). „Wer sich heute von
der idealen Arbeit an dem Ausbau unserer staatlichen Einrichtungen, an der
Besserung unseres sittlichen und socialen Lebens ferne hält, den zeihen wir
einer nahe an Unsittlichkeit grenzenden Schwäche. Aus diesen Gründen ist
die Organisation des gymnasialen Unterrichtes so unerträglich Die Gegen-
wart hat nicht die Zeit, die Beschäftigung mit einer noch so interessanten
Vergangenheit zum Mittelpunkt des Unterrichtes zu machen; daher drängt sie
mit der ganzen Wucht ihrer Interessen auf eine Einschränkung des classischen
Unterrichte» hin Wir haben die Entwicklung des geistigen Lebens der
Gegenwart nach ihren Hauptrichtungen verfolgt. Ibr Charakter besteht in
einer entschiedenen Loslösung von dem Geistesleben der antiken Cultur und
von der Humanitätsidee des achtzehnten Jahrhunderts. Drei Mächte, der rea-
listische, den großen Cultu rauf gaben der Gegenwart zugewendete Sinn, die
neuere Wissenschaft und die Nationalitätsidee, beherrschen das Denken uud
Fühlen der modernen Menschheit immer ausschließlicher. Jede einzelne würde
genügen, um das hnmanistischo Gymnasium in arge Bedrängnis zu versetzen.
Ihr Zusammenwirken macht die Lago des Gymnasiums hoffnungslos" (S. 92).
„Dos moderne Denken und Empfinden ist über die antike Cultur wie über die
Auffassung des achtzehnten Jahrhunderts endgiltig hinweggeschritten. . . . Die
antike Welt kommt für den Unterricht lediglich vom historischen Gesichtspunkte
aus in Betracht Es gibt nicht zwei gleichwertige Bildungszicle. Das Gym-
nasium darf nicht durch eine Spaltung der Schulen gerettet werden, denn das
humanistische Bildungsziel entspricht nicht mehr den Anforderungen der Zeit.
Die deutsche höhere Schule kann nur eine Einheitsschule sein Der Unter-
richt muss die heranwachsende Jugend zu modernen Menschen im besten Sinne des
Wortes erziehen. Der Unterricht muss der Pflege deutschen Wesens die höchste
Aufmerksamkeit zuwenden. Deutsche Sprache, deutsche Literatur, deutsche Ge-
schichte müssen der Mittelpunkt der gesammten deutschen Erziehung sein So
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— 64
besteht da« Ziel, dem die Eutwickelung unserer höheren Schule entgegenstreben
soll, in der vollen Ausgestaltung aller nationalen und modernen Bildungsbcstand-
theile mit Beibehaltung des griechischen, aber Beseitigung des lateinischen
Unterrichtes" (S. 150 ff.).
Die vorstehenden Citatc zeigen zur Genüge den Kern des hier vorliegenden
Reformprojeets. Einen Organisation»-, speciell einen Lehrplan für die in Aus-
sicht genommene neue Schule hat Herr Ohlert nicht aufgestellt, weshalb wir
Huch in dieser Beziehung nichts zu berichten und zu beurtheilcn haben. Nur
ist noch anzuführen, dass sich Herr 0. der Schwierigkeiten, welche der Durch-
führung seiner Ideen entgegenstehen, wol bewusst ist, weshalb er ausdrücklich
bemerkt, es könne sich ..der Übergang in die neuen Verhältnisse nur anf dem
Wege langsanier Entwicklung vollziehen." ..Es« ist völlig genügend", filgt er
bei, „wenn vorderhand der lateinische Aufsatz wegfällt, der lateinische Unterricht
etwa um zwei Stunden vermindert und der deutsche entsprechend verstärkt wird."
Was nun dio Beurtheilung der vorliegenden Schrift betrifft, so kann dieselbe
in dem engen Kähmen einer Buchanzeige nur andeutungsweise erfolgen; sie all-
seitig durchzuführen und zu begründen, würde ein neues Buch erfordern. Herr
Ohlert hat nämlich zur Begründung seiner Ansichten so weit ausgeholt, so breite
Exemtionen in dio Welt- und ( Kulturgeschichte, in die Natur- und Geistes-
wissenschaften gemacht, das« dem gegenüber das eigentlich Pädagogische
in seinen Ausfuhrungen eine sehr unbedeutende Rolle spielt und eigentlich
nur am Ende wie ein selbstverständliches Corollar hingestellt wird. Das« es
auch pädagogische Normen gibt, welche von den angestellten Dlscurscn unab-
hängig sind, scheint HcrrO. übersehen zu haben; und wenn die Neugestaltung
der Schule die Anerkennung seiner culturphilosophischen Ansichten zur Voraus-
setzung haben soll, dann wird diese Neugestaltung in eine unabsehbare Ferne
gerückt werden. Wir wenigstens sind außerstande, das wegwerfende Urtheil,
welches Herr 0. über das classische Alterthum und über das achtzehnte Jahr-
hundert fällt, gutzuheißen. Wäre wirklich die Gegenwart über die bewunderungs-
würdige Höhe, welche in jenen Zeiten die Menschheit erstiegen hat, endgiltig
hinweg, d. h. im unaufhaltsamen Niedergang begriffen, und lebte sie wirklich
in dem Wahne, der „moderne Mensch* habe es so herrlich weit gebracht, wie
niemand vor ihm, das neunzehnte Jahrhundert sei die herrlichste aller bisherigen
Cultnrperioden -dann müssten wir unserseits die Hoffnung auf eine heilsame Schul-
reform aufgeben, Wenn - um doch wenigstens ein paar Hauptpuukte zu er-
wähnen — _die Humanitätsidee des achtzehnten Jahrhunderts" definitiv verab-
schiedet und durch die „Nationalitätsidee" ersetzt werden soll, so wird dies nur
eine Wiederannäherung an die Barbarei vergangener Zeiten, ein Stück Atavis-
mus, ein moderner Sündenfall sein; und wenn den classischen Völkern jede vor-
bildliche Bedeutung für uns ..moderne Menschen" und besonders für unsere
Jugend abgesprochen wird, wenn behauptet wird: „Alle bürgerlichen Tugenden,
Muth und Tapferkeit, Heldengröße und Aufopferungsfähigkeit sind auch bei
allen anderen Oulturvölkern mindestens (mindestens!) in derselben Höhe in die
geschichtliche Erscheinung getreten" (S. 86) — so möchten wir wissen, was denn
die gesammte Weltgeschichte bis zum heutigen Tage aufzuweisen habe, das
der Scelengröße der Griechen in den Tagen von Marathon Salamis, Platää,
oder der Seelengrößo der Römer in den Zeiten des tarentini sehen Krieges als
ebenbürtig zur Seite gestellt werden könnte. Die gauze Art und Weise, wie
Herr 0. das classische Alterthum und das achtzehnte Jahrhundert abfertigt,
um hierdurch zur Verherrlichung der Gegenwart zu gelangen und für seine
Zukunftsschu!e eine ausschließlich moderne Basis zu gewinnen — diese ganze
Art und Weise macht den Eindruck, als ob der Herr Verfasser sich niemals
ernstlich und unbefangen mit der Geschichte jener Perioden befasst hätte, dn
ihre großartigen thatsächlichen Leistungen gänzlich ignorirt werden. Oder
sollen diese Leistungen, die ja historische Facta und keine Phantasmen sind,
nur deshalb null und nichtig sein, weil sie dem naturalistischen Realismus nicht
mehr imponiren, als irgend ein mechanischer Vorgang? „Die Weltgeschichte",
sagt Herr 0. (S. 42), „weiß in dem unerbittlichen (iange ihrer Entwiekcluug
nichts von einer Abschätzung zwischen gut und böse: der unbefangene Beur-
theiler inuss in dem Auf- und Niederwogen der Ereignisse nur die Erschcinungs-
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— 65 —
formen einer unabwendbaren Notwendigkeit erblicken: Zeiten einerfrisch auf-
blühenden Cultur und Zeiten des tiefsten Verfalls sind für ihn gleich, er hat
sie nur in der Folgerichtigkeit ihrer Gestaltung zu begreifen." Nun, wir
glauben nicht, dass dies der Standpunkt großer Geschichtsforscher sei Und
wenn darauf der Satz folgt: „Wol aber mögen wir Kinder einer gewaltig auf-
strebenden Zeit uns der Segnungen erfreuen, mit denen eine Lntwickelung,
die ihresgleichen nicht hat in der Weltgeschichte, uns freigebig überschüttet" —
so gönnen wir jedermann die Freude an der „hochentwickelten Technik unserer
Tage" und an den Genüssen, die aus ihr entspringen; doch sind wir der An-
sicht, dass eine ausschließlich auf moderner Basis errichtete Schule dem deutschen
Volke nicht zur Ehre und zum Heile gereichen würde.
Und da kommen wir auf den Hauptpunkt in dem vorliegenden Reformproject,
„Deutsches Wesen, deutsche Sprache, deutsche Literatur, deutsche Geschichte
müssen der Mittelpunkt der gesammten geistigen Erziehung sein." Ja, damit
wären wir einverstanden, wenn nur nicht gerade das Beste des deutschen Wesens
und der deutschen Literatur ausdrücklich verworfen würde, also doch jedenfalls aus
der neuen Schule ausgeschlossen werden 6oll. Die Kant, Lessing, Fichte, Herder,
Schiller u. s. w. sind ja implicite in Herrn Ohl» rts Verwerfungsurtheil ein-
geschlossen; also würden uns nur die Epigonen, namentlich die Naturalisten und
Realisten zu sagen haben, was deutsches Wesen ist, und den Canon für unsere
künftige Nationalerziehung liefern.
So darf die „Einheitsschule*' nicht beschaffen sein, wenn sie sich empfehlen
will. Wol sind auch wir der Meinung, dass eine „Einschränkung des classischen
Unterrichts** nöthig sei; aber diese Einschränkung soll in der Breite (Zahl der
Schüler), nicht in der Tiefe (dem gründlichen Studium) erfolgen und vor allem
nicht in der Form des Zwanges, der Schablone, wie die bisherigen Projecte der
„Einheitsschule" und auch das Ohlert'sche wollen. In Sachen der Erziehung
ist alle Gcwaltthäügkeit, alle Uniformirung, ebenso die bisherige, wie die für
die Zukunft geplante, verwerflich, und solange man ihr huldigt; wird es keine
heilsame Schulreform geben. Referent kann daher auch nicht mit Herrn Ohlert
sprechen: „Da ist es hocherfreulich, dass vor wenigen Monaten eine mächtige
Hand in die stockende Entwickelung unseres höheren Schulwesens eingegriffen
hat." Seltsam. Unsere Zeit rühmt sich u. a. auch ihres Freisinnes und wirft
den classischen Völkern vor, bei ihnen habe der Staat „in das innerste Heilig-
thum der Individuellen Freiheit" eingegriffen (Ohlert S. 87). Ja freilich, wir
haben es in allem so herrlich weit gebracht und sind im Besitze voller Geistes-
und Gewissensfreiheit. Auch gibt es keine Spur von Byzantinismus und Servi-
lismus. Nur möchte ein jeder die Staatsgewalt zu autoritativen Eingriffen an-
rufen, um seine subiectiven Meinungen durchzuführen. Was wird denn dann „aus
dem innersten Heiligthum der individuellen Freiheit"? Symptomatisch ist da
auch, dass man heute ganz ungenirt „Lehrmaterial" statt Lehrpersonal sagt
(auch Herr 0. thut dies S. 156). Dem gewaltthätigen Geiste unserer Zeit sind
eben auch die Menschen, selbst die Erzieher der Jugend, nur noch — „Material".
Genug mit diesen aphoristischen Andeutungen. Damit aber dieselben nicht Herrn
Ohlert's Buch in einen ungünstigeren Ruf bringen, als es verdient, bitten wir
den Leser, dasselbe selbst zu studiren. Es verdient diese Mühewaltung vollauf,
selbst in seinen Irrthümern, da es jedenfalls mit großem Fleiße gearbeitet ist
und dabei eine typische Denkweise darstellt. Allerdings ist es nicht völlig aus
einem Gusse: es ringen darin zweierlei Ansichten, gewissermaßen zwei Seelen
miteinander. Wir haben uns mit derjenigen befasst, welche schließlich in Herrn
0. das Feld behauptet. Dass er aber bisweilen auch anderen Betrachtungen
zugänglich ist und dann in einer Weise spricht, der wir vollen Beifall zollen
müssen, dafür zwei Belege. Trotz der vielen und begeisterten Lobreden auf
unsere Zeit kommt doch Herr 0. auch einmal auf einige Schattenseiten derselben zu
sprechen; und während er meistens so philosophirt, als ob mit der bekannten
Hypothese von der „Erhaltung der Kraft" das ganze Weltgetriebe sattsam
erklärt sei, lässt er doch anderwärts „Mächte höherer Art" walten, als „Kinder
eines Reiches, das der Bestimmung durch Maß und Zahl ewig verschlossen ist".
Diese trefflichen Stellen haben, damit sie jedermann zugänglich werden, oben
unter dem Titel „Zeitstiram en" Platz gefunden. D.
PwUsogium. M. Jahrg. Heft I. . Ö
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1
— 66 —
Neudrucke pädagogischer Schriften. Herausgegeben von Albert Richter.
Leipzig, Verlag von Richard Richter.
Von diesem Sammelwerke liegen uns bis jetzt vier Lieferungen vor; jede
umfasst durchschnittlich 80 Seiten und kostet 80 Pfennige. Der Inhalt ist
folgender: I. Geschichte meiner Schulen von Friedr. Eberhard von Bochow.
II. Gregorius Schlaghart oder die Dorfschule zu Langenhausen. Von Johann
Ferdinand Schlez. III. Der teutsche Lehrmeister von Johann Balthasar Schupp.
TV. Kursächsische Volksschulordnungen. — Jedes Bändeben beginnt mit einer
Einleitung, welche den Leser über den Ursprung und die Bedeutung der be-
treffenden Schrift, bezüglich der drei ersten auch über die Lebensgeschichte
der Verfasser unterrichtet; die Schrift von Schupp (in.) ist auch mit erläuternden
Anmerkungen versehen (von Dr. Paul Stötzncr). Der Wert, den diese Neu-
drucke für die Geschichte des deutschen Bildungswesens haben, liegt auf der
Hand; die Beigaben von Seiten der Editoren sind gediegen und instruetiv; der
Druck ist gut, und so erwirbt sich der Herausgeber dieses Sammelwerkes zu
seinen alten literarischen Verdiensten ein neues.
i)r. phil. Ernst 0. Stiehler, Oberlehrer am Kgl. Realgymnasium zu Döbeln.
Streifzüge auf demGebiete der neusprachlichenReformbewegung.
Marburg 1891. Elwertsche Verlagsbuchhandlung. 72 Seiten.
Zur Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Zugleich eine Ein-
führung in das Studium unserer Reformschriften. Nebst einem ausführlichen
Quellen Verzeichnisse. Von demselben, ebendaselbst. VI und 58 Seiten.
Zwei treffliche, von gründlicher Sachkenntnis und feinem pädagogischen
Takt zeugende Schriften, deren Lectttre wir jedem Lehrer des Französischen
und Englischen aufs wärmste empfehlen. D. R.
Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 5. verb.
Aufl. Straßburg, 1891, Trübner.
Damals, als wir die erste Auflage dieses Wörterbuches im „Pädagogium"
anzeigten, wiesen wir auf die wissenschaftliche Bedeutung desselben hin. Dass
es nach ein paar Jahren schon die fünfte Auflage erlebt, also tief in die Kreise
unserer Gebildeten eingedrungen, ist ein erfreuliches Zeichen für seine Brauch-
barkeit. Der Verfasser, letzt an der Universität Jena, arbeitet aber auch un-
ausgesetzt an der Vervollkommnung seines Werkes. Wir haben in unserer An-
zeige der vierten Auflage diese mit der ersten Ausgabe verglichen und eine Reihe
solcher Verbesserungen angeführt („Paedagogium" 1889). Noch lehrreicher ist's,
diese fünfte wieder mit der vierten Ausgabe zu vergleichen. Zwei einschneidende
Vervollkommnungen treten da vor unser Auge: Kluge erbringt nämlich bei
den meisten der jüngeren Wörter den Nachweis ihres ersten Auftretens in
den älteren deutschen Wörterbüchern, und zweitens, er zieht den Dialekt viel
stärker heran, als dies in der vierten Auflage schon geschehen ist. Der Leser
vergleiche nur einmal, was Kluge bei dem Worte „Aar" in der vierten und
was er in der fünften Auflage bringt: Dort die Etymologie ohne Rücksicht
auf die Geschichte des Wortes im Neuhochdeutschen, hier eine solche
und eine höchst lehrreiche: Das Wort tritt seit Ausgang des Mittelalters hinter
Adler in der lebendigen Volkssprache zurück, Luther hat als Simplex nur Adler.
Seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts tritt es als poetisches Wort
wieder auf, z. B. bei Göckingk 1781 (Gedichte II, 45) als „Ahr" mit der er-
erklärenden Fußnote „Adler". Goethe hat nur Adler, nicht Aar als poetisches
Wort und Schiller vereinzelt Aar imEleusischenFest,Str. 13, was Reinwald brieflich
(15. Febr. 1799) tadelt.— Und während Kluge in der vierten Auflage über das dia-
lektische Vorkommen des Wortes nichts sagte, schreibt er in der fünften Aufgabe:
Die Dialekte kennen Aar als Simplex nicht mehr (nur noch in Wallis gilt „aro");
so ist es als der Volkssprache fremd für Hessen und Schwaben angegeben.
Aber in Niederdeutschland gilt vielfach noch „ärnu, z. B. in Pommern (und
dementsprechend haben die ndd. Bibeln in der ersten Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts noch „arne", während Luther schon „Adler" hat). — Die Vervoll-
kommnung der fünften Auflage erstreckt sich aber auch auf die Zahl der be-
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— 67 —
sprochenen Wörter. Reicht die ernte Lieferung dor vierten Auflage bis zu dem
Buchstaben D, ho die der fünften Autlage nur bis zu dem Worte „burschikos".
Nach all dem Gesagten dürfte es sich selbst für die Besitzer der vierten Auflage
empfehlen, diese neue Ausgabe zu erwerben. Sic erscheint in 10 Liefeningen
ä 1 M. W.
Friedrich E. SchRfer, Lehrer in Frankfurt a. Main, Elementare Naturlehre
für höhere Bürgerschulen, höhere Mädchenschulen, Präparandenschulen und
verwandte Anstalten. Leipzig 1890. XVIII und 205 Seiten. Preis 2.40 M.
In anderer Form, als man es jetzt gewöhnt ist, nämlich nicht von einem
Experimente oder einer Erfahrung des gewöhnlichen Lebens ausgehend, sondern
unmittelbar in der Discussion über eine physikalische Thatsache oder Erschei-
nung führt der Verfasser zu den bekannten wichtigsten Sätzen der Naturlehre.
Die Form, die er hierbei anwendet, ist eine gewandte und zweckentsprechende.
Beispiele und Fragen, am Ende der betreffenden Abschnitte angefügt, haben
jedenfalls für den Lehrer einen praktischen Wert. Überhaupt strebt der Ver-
fasser an, seinem Werkchen eine praktische Bedeutung zu geben, weshalb auch
bei den entsprechenden Abschnitten auf die mannigfaltigsten Erscheinungen
aus der allgemeinen Geographie, Meteorologie, Geologie und selbst Physiologie
Rücksicht genommen ist. Darin scheint uns auch der Hauptwert des Büchleins
zu liegen. Etwas sonderbar muthet es uns an, in dem ersten Theile: „Die Grund-
that*achen der Naturlehre" nur zum Schlüsse drei Abbildungen vorzufinden,
welche auch übrigens bei dem zweiten Theile: „Die wichtigsten technologischen
Verwertungen dieser Grundthatsachenu nur bis Zahl 20 sich heben. Wir glauben,
dass heutzutage, obgleich wir keine Verehrer der vielen „Bildchen" in Lehr-
büchern sind, doch schematische Figuren für den Schüler zur Wiederholung
höchst wertvoll sind, auch selbst dann, wenn von Seite des Lehrers die ent-
sprechenden Zeichnungen auf der Tafel ausgeführt und von den Schülern nach-
gezeichnet oder die betreffenden Apparate gezeigt worden sind. Sonst ist die
Ausstattung des Werkes eine recht gelungene. C. R. R.
Emil Fischer, Sprach-Stoffe zu Lehmann-Leutemann's Thierbilder für den
Anschauungsunterricht. Dritte, verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig,
Verlag von Oskar Leiner. IV und 222 Seiten. Preis 2.50 M.
In sehr guter Weise werden zunächst in diesem Spraeh-Stoffbuehe natur-
historische Erläuterungen zu den bekannten Lehmann-Leu tcmann'schen Thier-
bildern gegeben und zwar stets eine kürzer gefasste und eine ausführlichere;
an dieselben schließen sich dann in wolberechneter Auswahl Gedichte und
Lesestücke, Räthsel und Lieder, hie und da auch Kinderspiele an, welche auf
das besprochene Thier Bezug nehmen. Sowol die erläuternden Besprechungen,
als die anderen Lesestücke sind dem kindlichen Geiste angepasst, sowol was
die Form als den Inhalt anbelangt, Jeder Volksschullehrer wird daran seine
Freude haben und die Kinder mit ihm, und letztere werden viel daraus fürs
Leben lernen. Die Ausstattung des Buches ist schön zu nennen. C. R. R.
Splittegarb, E., Gymnasiallehrer in Elberfeld, Kritik der Übungsbücher
des grundlegenden Rechenunterrichtes. 69 S. 1.20 M.
— Rechenaufgaben für die unteren Classen höherer Lehranstalten, sowie für
die Volksschule, in 3 Heften, zusammen 166 S. Düsseldorf 1890, Schwann.
1.30 M.
Die Kritik der gebräuchlichen Methoden enthält eine übersichtliche Zusammen-
stellung der Einrichtung der gangbaren Rechenbücher. Um die Übersicht zu er-
leichtern, theilt der Verfasser die gebräuchlichen Rechenbücher in „gruppirende"
und versteht darunter solche uach der Methode Grube's, dann in „trennende"
mit Abstufung gewisser Zahlenkreise, und endlich in „vermittelnde". Der
Verfasser ist ein Gegner Grube's und spricht sich selbst für die „trennende"
Methode aus, indem er die Abstufung des Unterrichtes nach den Zahlenräumen
10, 20 und 100 verlangt ; in diesen Stufen wird der Lehrstoff, beziehungsweise
*«ta der Verfasser es nicht unterlässt, auf die Wichtigkeit einer fort gesetzten
5*
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Wiederholung im Rechenunterichte hinzuweisen, ho ergibt sich daraus , dass
auf den verschiedenen Stufen die Rechnungsarten doch in gemischter Folge vor-
genommen werden müssen. Grube verlangt die Betrachtung jeder Zahl bia 100
ata eines Zahliudividuums, an welchem alle Rechnungsarten vorzunehmen sind;
der Verfasser theilt diese 100 Individuen in 4 Gruppen, sondert in jeder Gruppe
die Rechnungsarten und verlangt eine häufige Wiederholung. Dies fahrt praktisch
so ziemlich auf dasselbe hinaus. Man mag Grube theoretisch noch so heftig
bekämpfen, praktisch wird seine Methode mehr oder weniger eingestanden,
mehr oder weniger bewusst dennoch nachgeahmt; denn sonst müsstc man ja
auf das reine Reihenrochnen, wie es vor Grube gebräuchlich war, zurückgreifen.
Im übrigen kann man mit den mehr auf das Praktische gerichteten methodischen
Weisungen und Behauptungen des Verfassers recht wol einverstanden sein, wie
er sieh überhaupt in seinen Schriften ata ein sehr erfahrener, literarisch hoch-
gebildeter Lehrer bekundet. Doch vermögen wir unsere Zustimmung der Be-
hauptung nicht zu geben, dass das Buch für den Erfolg belangreicher wäre, als
der Lehrer. DaB Buch ist immer nur das Werkzeug, der Lehrer ist der Meister;
der gute Meister versteht es, auch mit dem schlechten Werkzeuge zweckent-
sprechende Arbeit zu leisten. Ja, ist das Werkzeug gar zu schlecht, so legt er
es zur Seite und schafft sich selbst ein besseres; dagegen ist auch das beste
Werkzeug in den Händen des ungeschickten Arbeiters nutzlos. Als Lehrmittel
empfiehlt der Verfasser auf das lebhafteste die russische Rechenmaschine, welche
wir gleichfalls für das beste Anschauungsmittel in diesem Gebiete halten.
Das erste Heft der Rechenaufgaben umfasst den Zahlenraum bis 100 in vier
Stufen. Diesen Stoff im ersten Schuljahre zu bewältigen, ist wol nur in der
Vorschule eines Gymnasiums möglich, in welche die Kinder doch mit einigen
elementaren Vorkenntnissen gelangen. An einer Volksschule hat man genup
gethan wenn man im ersten Jahre den Zahlenkreis bis 90 bewältigt. Für
unnützen Ballast halten wir „Messen" und „Theilen" zu unterscheiden*); es kann
dies doch nicht durch den Umstand begründet Bein, dass einmal als Divisions-
zeichen der Doppelpunkt und ein andermal das Vorwort „in" gebraucht wird; es
ist dies ein an sich ganz unwesentlicher Vorgang, für den Schüler aber ein
unnöthiges Erschwernis. Der Verfasser kann doch nicht darin den Unterschied
zwischen Theilen und Messen sehen, dass er in seinen übrigens ganz netten
Zahlbildern den trennenden Strich einmal lot brecht und das andercmal wag-
recht legt.
Das zweito Heft stuft den Zahlenraum bis 1000 bei 200 ab; es ist für das
zweite Jahr der Vorschule bestimmt und kann auch im dritten Jahre der Volks-
schule gebraucht werden. Das dritte Heft führt uns den unbegrenzten Zahlen-
raum vor, sodann das Rechnen mit ganzen einnamigen und mehrnaniiffcn
Zahlen und den einfachsten Bruchformen. Die Darlegung des dekadischen
Zahlensystems müssen wir in Vergleich mit anderen Lehrbüchern ata eine
mangelhafte bezeichnen.
Die vorliegende Kritik wird gewiss für jeden Lehrer eine anregende Leetüre
bilden; die Rechenbücher jedoch vermögon wir nicht zu empfehlen, da unsere
Erfahrung sehr zu Gunsten der Methode Grube's spricht. H. E.
*) Ich halte diese Unterscheidung für wol begründet. D.
Vcrantwortl. Hed»oteur Dr. Friedrich Ditte».
Bnchdreckerei JnlimKlinkhardt, L«iprig.
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Stteite, umgearbeitete Auflage.
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3>ie erfte Auflage biefer öretegefrönten Srhjift fanb in ber beutfdjen Sebrertoelt
allgemeinen Slnflang. 9iad)bem nun neuerbin g* im 6rjiebung*toefen bem Unterricht
in ber beutfeben Sprache mer)r ftufmerffamfeit al* bisher getoibmei rotrb unb bic
9iad)f ragen naa) bem ©ud)e, weifte* feit Dielen Sohren oergriffen mar, fidj ftetig mehren,
habe idb mich Aur äerauänabe einer neuen ^lufloae eutfchlofieu.
3n meinem ©erläge ift foeben in neuer tt»ot)lfeiler Wu*gabe erfdjienen:
(Sefamtcmsgabe
ber
Pfijdjologic unb l'ogih, (Eqieljmtgs- mtb ihtferrutjtslrtjve, <flfotljobik
ber ^olkafrijiüe, G5efdjutjtc ber (Brjtfijung unb bes Mnferrtcfyts
Don
Dr. Ts r ir bi id) $ttte$,
früher $irettor bei ^abagogtum* in SBien.
4. neu Dmdmcfchciic Auflage.
Sßrei* 7 Jt, gebuuben in &inroanb 8 in §albleber -M 8.50.
3n obiger Sereinigung bilben bie $itte*'feb,en 6d)riften einen oollftünbigen
fiurfu* ber (ErftieQuitg*- unb Unterriftt*roifienfä>iit.
3>er ?Uui , toeldjen ber \Hutor in ber fiefjrerwelt geniefit, bürgt hinreichen*! für bie
Ö5ebiegent)eit feine* SBerfe* unb inad)t ba* Stubium be*fetben einem jeben Setyrer, ber
auf ber $öb> ber päbogogifdjen SJilbuttg flehen »oitt, unentbebrlieb.
Xrofo bei bebeutenb ermäßigten $reife* ift bie Wu*ftattung eine jehr fölenbibe,
unb auch narrj biefer ©eite bin ift ba* SRöglirfjfie gefd)eb«»» um bem SBurije bie weitere
»erbreitung ju fidjern, toeld)e übrigen* burd) bie überaus günftige Aufnahme ber
£ieferung*au*gabe bereit* einen redjt erfreulieben «nfong genommen bat.
3u bejteben bureb jebe ©udjhaublung.
f ttlitt* fdinhlinrbt, SBerlagSbudiljanbiimg.
Vciprig, «erlitt, SÖien.
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Vertag Don gnliiifl fllinCbtirdt in geijgtg unb ffcrün W. 35.
$raftifäc* «cfr^enfmcrr für junge «eftrer.
3n {weiter oermehrter unb oerbefferter Auflage ifl in meinem «erläge erfebienen:
(Ein iüljrcr für äemtitarifieii, jnitge frbrer unb Celjrerimien.
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fcireftor ber TOäbdjenfcbule in Werburg.
Vrei* 5 SNarf, eleß. nebiinöm 6 Warf 35 ff.
Unter ben .Dielen für bie fcanb junger Sebrer beftimmten, jum Xeil recht guten Serien
aiebt eS nicht eines, welches Anleitung giebt, wie ben Schülern baS SerftanbniS unb bif
Kenntnis beS Dorjutrogenben GJegenftanbeS praftifd) beizubringen ift. SBerfaffer ift nun ber
Weinung, ju einem fruchtbringenben Unterrichte gehöre Dor allem, ba& ber fiebrer in ber
fraget Hilft Dollftänbig TOeifter ift, unb beShalb betjanbelt er biefen ©egenftanb ganj befonber*
ausführlich. Ohne biefe TOeifterfcbaft finft ber Unterricht ju einem blo&cn b,anbioerf#mä|tgen
beibringen Don Äenntniffen unb ftertigfeiten berab.
3>ie frilc Aufrage hnt ungemein retten II vif« Ii" gefunben. 216er 100 anerRennenbe
3afd)riff «it ftnb iVm -JJerfafTer aus ollen $egenben Prut i .:i l':>.nöo zugegangen, unb audj bie
?lc-in ["totu-u in öcn pä&agogirrfjen 3eitrdjriften fiaßen luii fad bnrdjweg för fo6eno ausgebrüht.
IJnfofge ber warmen ßmpfehTung auf oeut großen 2>ie6cn6urgirrf}<tt fieljrertage ifl 6as Sern
aurfj ins &ngarilcjjefi6ertrag<n »oroen.
las* ©er! ift buref) jebc 93ud)ftanblung ju bejieljen.
Hciitfdjcö £cfcbitd)
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(»it8ttitfjiijn|«M M tjnuBuiirtfrfiof tlitftcn llntcrriidtn. i
herausgegeben Don
Sirett« bet «aifrrin «uflufle *trtori«.6cfoile ftäbt. üebTet in Cetlin.
ju Scfjnetbi'inül)!.
5n 8 <getCen.
I. teil. 2. Aufl. II. Seif. III. teil. 2. Aufl.
finuo unb gjrimai. finno unb Untrrlniiö. finno unb iöfli.
^reiS 90 <ßf., geb. TO. l.lö. $reiS TO. 1.20, geb. TO. 1.46. $reiS TO. 1.80, geb. TO. 2.10.
$iefeS neue Sefebuch, welches am 15. ftebruar 1891 nur Aufgabe gelangte, hat infolge
feiner Sigenartigteit in ber gefamten päbagogifcbat SBelt grofteS Auffegen erregt unb ift fo Diel«
fad) oerlangt worben, ba& bereits 6 SBodjen nach, feinem ©rfcheinen Don bem I. unb III. teilt
neue Auflagen erfcheinen mußten.
Um ju beweifen, welch günftige Aufnahme baS (£rnft unb Sews'fdje ßefebudj füt
TOäbchenfchuleu allerorten unb in ben Derfchiebenften öefell fchaftSfreifen, fowte in ber pabagoeri«
icben unb politifdjen treffe gefunben, hat bie ©erlagSbanblung eine SReihe eingegangener
$ufchriften, ©utaebten unb ^Besprechungen in einer ©rofehüre jufammengcfteHt, bie yebermann
auf SBunfd) unentgeltlich ju 2>icnften ftebt SS ift ju erwarten, fcaft Dindj dir (vtnniliruini
diefed int gefilmten trutfdjcii VotcrlnndP fo rinmiitiß ttiiliromuirit gel)cif;cnrii l'rlir=
mittels in bie TOabdjenfdmlen bie ^örberung beS SBoh,leS nid)t nur unferer b>rantoadji'enben meibr
liiftcn 3«genb, fonbern ber gefamten lommenben (Generation heroorragenbe Unterftüfcung finben bnrfte.
Sejüglich feiner AuSftattung in 2>rud unb kopier ift baS fiefebuch ben fpejiellen Anfor-
berungen ber ©djulhtjgieine in Dollem Umfange gerecht geworben. 3^'be SBuchhanbtung ifk
imftanbe, Anf ichtS-Sjemplare beS fompletten SBcrfes ju liefern, bod) ift auf befonberen
SÖunfd) bie ^crlagShanblung ju birefter Öberfenbung gern bereit, auch wolle man betreff«
Grleichterungen bei 9ieueinführungen mit berfelben in Horrcfponbenj treten.
ZtipM "nb Berlin W. 35. 3uliu8 JtUnQfttbt
Bacbdruckvroi Juliai Klinkhaidt, Leipzig,
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Hierzu eine Beilage von Wilhelm Rudolph in Glessen.
Paedagogium.
^Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
W. Jahrgang.
2. Heft, November 189L
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt
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Inhalt des 2. Heftes.
Seit«
Pädagogische Ausblicke vor hundert Jahren. Von Dr. ÜBkar Lehmann-
Leipzig 69
Eine Analogie. Von Oberlehrer Joh. Lipp -Matzendorf, N.-Ö 86
Beiträge zur Reform des Religionsunterrichtes in Bezug auf Inhalt und Lehr-
weise. VI. Socialismus und Religionsunterricht. Von Prof. und Director
Theodor Vernaleken-Graz 93
Die Pest des Aberglaubens und ihre Heilung durch die Erziehung. Von
Dr. Carl Pilz-Leipzig 98
Pädagogische Rundschau. Die Pädagogik als Kunstlehre. — Körperliche
Züchtigung in der Schule. — Die Schulgesundheitspflege auf dem
VII. internationalen Congresse für Hygiene und Demographie. — Otto
Ernst als Lyriker und Essayist 111
Aus der Fachpresse. Von Rudolf Dietrich -Hottingen-Zürich 129
Literatur 132
Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
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I
«
► r '
Pädagogisehe Ausblicke vor hundert Jahren.
Von Dr. Oakar Lehmann- Leipzig.
Die Reformthätigkeit war mit dem 16. Jahrhundert in Fluss
gekommen, nachdem schon im 14. und 15. Jahrhundert vereinzelte,
wenig erfolgreiche Versuche vorangegangen waren. Von der religiösen
Bewegung ausgehend, ergriffen die Reformgedanken immer weitere
Kreise. An die kirchliche Neugestaltung schloss sich im 16. Jahr-
hundert die auf philosophischem Gebiete, der Bruch mit dem mittel-
alterlichen Aristoteles, an, eingeleitet durch die wissenschaftlichen
Arbeiten eines Descartes, Spinoza, Baco u. a. Hand in Hand mit der
neuen Philosophie und durch die grundlegende Thätigkeit der letzteren
befördert, rang sich die Naturwissenschaft aus den Fesseln der mittel-
alterlichen Scholastik und drang auf neuen Bahnen vor. Die erste
befreiende That hatte fast gleichzeitig mit Luthers kühnem Auftreten
gegen Kirche und Papst Copernicus durch die Aufstellung und wissen-
schaftliche Begründung einer neuen Weltanschauung gethan. Ein
Kepler, Newton u. a. gingen auf dem neu erschlossenen Wege weiter.
Die Naturwissenschaft nahm auf allen ihren Gebieten einen groß-
artigen Aufschwung, blieb aber jahrhundertelang das Eigen thum
der gelehrten Kreise. Die neuen Ideen auch in weitere Schichten
der Bevölkerung zu tragen, war die Aufklärung des vorigen Jahr-
hunderts thätig. Bayle sammelte zuerst alles, was bis zu seiner Zeit
g-egen das herrschende System gesagt war, und lieferte in seiner
Zeitschrift und dein großen Wörterbuche (Dictionnaire historique et
critique, Rotterdam 1697, deutsch von Gottsched) ein reiches Arsenal
zum Kampfe gegen das Gewohnheitsmäßige, Althergebrachte.
Auf allen Gebieten bemerkte man neben Spuren der Auflösung
Anzeichen neuer Entwicklung. Die Industrie machte mächtige Fort-
schritte. Am gewaltsamsten vollzog sich die Umwälzung auf poli-
tischem Gebiet. Nirgends bestand aber auch ein so greller Gegensatz
zwischen den Ideen der Zeit und den factisclien Verhältnissen.
PBda^ogiuni. 14. Jahr?. Hoft II. d
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Während die Höfe schwelgten und sich mit Prunk und Glanz um-
gaben, seufzte das Volk unter der drückenden, ihm auferlegten Last.
Immer lauter erhob sich der Ruf nach einer Verbesserung der Lage
aller Classen. Eine Besserung des Volkes und seiner Verhältnisse
war aber nur zu erreichen durch Erziehung und Führung zur Selbst-
ständigkeit im Denken und Handeln. So erblicken wir denn in
dem allgemeinen und dringenden Rufe nach Reform der Er-
ziehung und des Unterrichtes im 18. Jahrhundert die natur-
gemäße Folge der bisherigen Culturentwickelung.
An Anregungen für die Hebung des Schulwesens fehlte es nicht.
So forderte schon Locke eine Reform der Erziehung und des Unter-
richtes. Es folgten bald Voltaire's Angriffe auf Schulen und Gelehrte
und Montesquieu's Persische Briefe. Thomasius und Gottsched machten
auf Übelstände an den deutschen Bildungsstätten aufmerksam; und
Rousseau's Emile erschien vielen als das Evangelium der neuen Er-
ziehung. Geschrieben wurde viel über Erziehung, aber den Worten
folgten keine Thaten. Mit allgemeiner Begeisterung begrüßte man
es daher, als Deutsche sich daran machten, einige der Rousseau'schen
Ideen praktisch durchzuführen. Aber die philanthropischen Anstalten
vermochten nicht, den auf sie gesetzten Erwartungen zu entsprechen,
und von seiteu der Fachgenossen erfuhr die Thätigkeit der „Menschen-
freunde" eine sehr verschiedene Beurtheilung, die zum Theil in völlige
Gleichgiltigkeit und Abneigung gegen die neue Richtung ausging.
Was aber einer Hebung und kräftigen Entwickelung des Schulwesens
von vornherein den Hemmschuh anlegte, war die Theilnahmlosigkeit
der Regierungen, selbst eines Friedrich, den die' neue Partei so
hoffnungsfroh als Messias begrüßt hatte. So blieb in der Erziehungs-
Reform das meiste eitel Theorie.
Kein Wunder, wenn dem einsichtsvollen Schulmanne das Herz
schwer wurde, da er sah, dass nach ihm und seiner Sache keiner
fragte, dass für die hohe Aufgabe der Jugendbildung so gut wie nichts
geschah. Es liegen uns eine Reihe Veröffentlichungen aus damaliger
Zeit vor, die, dictirt von einem lebhaften patriotischen Gefühl und
von Begeisterung für die Sache der Erziehung, uns über die oben
angedeutete Lage der Schulen und der Erziehung Bericht erstatten.
Es sind dies die „Erziehungsschriften", oder wie ursprünglich
der Titel hieß: „Gedanken, Vorschläge und Wünsche zur Ver-
besserung der öffentlichen Erziehung, als Materialien zur
Pädagogik", herausgegeben von Friedrich Gabriel Resewitz,
5 Bände, 1778 — 1786. Berlin und Leipzig bei Carl August Nicolai.
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— 71 —
Resewitz, der in der Geschichte der Erziehung von K. v. Raumer gar
keine Erwähnung findet und von K. Schmidt sehr kurz abgethan
wird, hat unsere Beachtung wol verdient. Denn er war, obschon
kein Bahnbrecher wie Rousseau und Basedow, so doch ein wackerer
Kämpe für die Schule und den Lehrerstand .*)
Wie stand es vor hundert Jahren um das Los des Schulmannes,
des Mannes, der Menschen bildet und dem Staate Bürger erzieht?
Während den anderen Ständen, wie dem juristischen, dem geistlichen
*) Friedrich Gabriel Resewitz wurde geboren zu Berlin am 9. März 1729
(nicht 1725, vgl. die auf Grund seiner eigenen Angaben aus Gurlitt's Papieren von
Prof. Müller veröffentlichte Autobiographie), besuchte seit 1740 das Joachims t harsche
Gymnasium und studirte 1747 — 1750 in Halle, wo ihn besonders Baumgartens Vor-
lesungen zu einem „denkenden- Theologen machten. Als Reiseprediger des Fürsten
ron Zerbst hielt er sich eine Zeit lang in Paris auf, trat dann in Berlin mit Moses
Mendelssohn und Nicolai in freundschaftlichen und gelehrten Verkehr und wurde
schließlich auch Mitarbeiter der „Briefe, die neueste Literatur betreffend". Seit
1767 Pastor in Quedlinburg, folgte er 1767 einer Berufung als Pfarrer an die
St. Petrikirche in Kopenhagen und schloss sich dem nordischen Literaturkreise:
Klopstock, Cramer, Schlegel u. a. an. In Kopenhagen erwarb er sich als Director
des Armenwesens und als Gründer der königlichen Realschule (1771) Verdienste.
Seine 1773 veröffentlichte pädagogische Reformschrift: „Die Erziehung* des Bürgers
zum Gebrauche des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäftigkeit"
wurde viel gelesen und besprochen und verschaffte ihm die Berufung zum Abt von
Kloster Bergen, zu welcher Stelle sich auch Basedow gemeldet haben soll. Am
15. Juni 1775 trat er sein neues Amt an, und mit dem Jahre 1776 beginnen die
halbjährlichen Veröffentlichungen, deren Inhalt in vorliegendem Aufsatze zur theil-
weisen Besprechung kommen. 1776 besuchte er auch das Philanthropin-Examen zu
Dessau. Seine religiös-freisinnigen und philanthropisch-milden Erziehungagrundsätze
machten ihn Friedrich II. angenehm, wurden aber für dessen Nachfolger Friedrich
Wilhelm II. und seinen Minister Wöllner die Veranlassung, ihm 1796 die Aufsicht
über Pädagogium und Lehrerseminar zu nehmen. Resewitz starb am 30. October 1806 :
wenige Jahre darauf ging auch die Schule zu Kloster Bergen ein. — Resewitz ge-
hört zur pädagogischen Reformpartei des 18. Jahrhunderts. Seine Thatigkeit ist
viel gelobt und viel getadelt worden. Vgl. Wieland „Deutscher Mercur", das „Braun-
schweigische Journal" 1788, das „Deutsche Museum" 1784, den „Reisenden für
Länder- und Völkerkunde" u. a. Der Vorwurf, dass er in seiner praktischen Thätig-
keit das nicht hielt, was seine Schriften erwarten ließen, trifft gleicherweise wie
ihn auch einen Basedow, Pestalozzi und andere Theoretiker der Pädagogik. — Siehe
über Resewitz den Aufsatz von Kawerau in den „Magdeburger Geschichtsblättern"
1880 und Holstein'* „Geschichte der ehemaligen Schule zu Kloster Bergen" im
neuen Jahrbuch für Philologie und Pädagogik 1886, 2. Abtheilung, Band 32. Sehr
bezeichnend für unsere geringe Kenntnis des 18. Jahrhunderts ist es, dass in
Schmid'ö Encyklopädie der Name Resewitz nicht zu finden ist, während doch
schon die Encyklopädien von "Wörle. Hergang u. a. einige, wenn auch unzureichende
Notizen bringen.
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- 72 —
und militärischen sichere Aussieht auf eine glückliche Lebensstellung
gegeben war, blieb dem ersteren nichts als „Anstrengung und müh-
selige Arbeit und oft zur Erholung Kummer und Sorge, fast keine
bürgerliche Ehre und Würde, als nur der verachtete Nachtrab des
geistlichen Standes zu sein.u Kein Wunder, wenn immer weniger
tüchtige Kräfte sich für die Dauer diesem Berufe widmeten, und
junge Theologen ihn nur so lange betrieben, als ihnen noch nicht ein
geistliches Amt beschert war. Aber gerade dagegen, dass die
Schule etwa als Durchgangsstadium in das Pfarramt und die Schul-
arbeit als eine Vorbereitung für den Beiuf des Seelsorgers angesehen
werden dürfe, legt Resewitz Verwahrung ein, da nach seiner Er-
fahrung wenige den Unterricht in diesem Sinne betreiben und es
doch eine gewagte Sache sei, dem zukünftigen Seelsorger 'seine Ge-
schicklichkeit auf Kosten der Jugendbildung zu verschaffen. Die
Schule soll Selbstzweck werden und keiner ohne Lust und Liebe für
die Sache der Erziehung, ohne Anlage und Vorbereitung dazu, Jugend-
bildner sein. An wem liegt es nun' aber, dass es an guten Lehr-
kräften gebricht, dass überhaupt nichts Rechtes für die Schule ge-
schieht? Am Staate, lediglich an der Stellung, die dieser zur Unter-
richtsfrage einnimmt! „Die Erziehung ist dem Staate noch
keine wichtige Angelegenheit geworden!"*) Wenn Resewitz
diesen Satz aufstellt, so ist er sich wol bewusst, dass man ihm ent-
gegnen werde, seine Behauptung sei paradox zu einer Zeit, da selbst
Fürsten ihr Interesse für die Bildung an den Tag legten, Pläne ent-
worfen, auch wol Schulen gegründet und Lehrerseminare ins Leben
gerufen würden. Aber derartige Einwürfe können ihm seine Behaup-
tung nicht entkräften. Alles, was man in diesem Sinne aufzuzählen
vermöge, seien einzelne Versuche tüchiger Männer, zufällige, partielle,
aus Laune gewährte Unterstützungen; aber einen Plan für das Ganze,
eine der Lage des Staates und den Bedürfnissen des Volkes entspre-
chende Organisation des Erziehungswesens suche man vergebens. Man
*) Ein Mangel an guten Lehrkräften wurde auch von den Regierungen und
Fürsten empfunden. So fordert Friedrich Wilhelm I. von Franeke Schulmeister für
das Potsdamer Waisenhaus, und Friedrich II. ließ acht Lehrer in Sachsen anwerben.
Aber zu durchgreifenden Maßregeln, um der Lehrernoth zu steuern, verstand man
»ich nicht. (Vgl. Beckedorff, Jahrbücher de« preußischen Volkasohulwesens, S. 31 fg.)
— Auch die Schule zu Kloster Bergen wurde 1736 von Friedrich Wilhelm I. auf-
gefordert, Lehrer zu bilden. Freilich fanden sich zu Seminaristen keine anderen
Leute als Handwerksburschen aus Magdeburg und die Diener der jungen Adligen,
die das Pädagogium zu Kloster Bergen besuchten.
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73 —
habe Dicht nur nichts gethan für die Schule, sondern sogar oftmals
die zur Zeit der Kirchenverbesserung gestifteten Fonds verringert.
Daher der Rückgang der Anstalten, sowol was die Zahl, als auch die
Leistungsfähigkeit betreffe. „Man zuckt die Achseln; man will oder
kann das Geld nicht entbehren, womit das wirklich ausgeführt werden
soll, was ganz schön auf dem Papiere steht. Hier hindert es die
stehende Armee, dort die Schuldenlast, hier steht die Jagd, dort der
ifofctaat u. s. w. im Wege."
YeTderblich für das Ansehen der Schule erscheint dem Abt Rese-
witz auch das Sinken des geistlichen Einflusses auf das Volk. Die
häusliche Erziehung stand bisher in innigem Zusammenhange mit
der [Kirche, und die Schule genoss vorwiegend als eine Stütze [von
Religion und Kirche Ansehen. Den Einfluss des geistlichen Standes
auf das Volk und damit zugleich die Achtung vor der Schule sieht
Resewitz mehr und mehr sinken. Und suchen wir heute nach dem
Grunde dieser Thatsache, so erkennen wir, dass es nicht blos der
Geist der Aufklärung war, der die geistliche Macht bekämpfte,
sondern dass die Entartung der .herrschenden religiösen Richtung
das Ansehen der Kirche schwer schädigte. Dazu kam die Einwirkung
der deistischen und materialistischen Philosophie auf immer weitere
Kreise des Volkes.
Die Besoldung des Schulmannes war eine klägliche und seine
damalige Abhängigkeit von Behörden und Schulpatronen demüthigend.
War denn die Schularbeit eine geringere oder minderwerthige ge-
worden? Im Gegentheil! Nachdem der Gesichtskreis des Volkes
sich erweitert, die Zahl der Schulfächer sich vermehrt und die An-
forderungen an das heranwachsende Geschlecht sich gesteigert hatten,
wurden an das Wissen, an die Urtheils- und Leistungsfähigkeit des
Schullehrers weitaus größere Anforderungen gestellt.
Was konnte unter solchen Verhältnissen der Staat von der Schule
erwarten? Kann man Eifer und ernstes Streben, eine bessere Ge-
staltung des Unterrichts erwarten von Männern, denen unter den
drückenden Nahrungssorgen die Freiheit des Geistes und die Freudig-
keit der Arbeit verloren ging! „Man raüsste die menschliche Natur
nicht kennen, mit dem Philosophen auf dem Throne nicht wissen,
dass Selbstliebe und Hoffnung auf das Gefühl eigenen Wolseins das
große Triebwerk bürgerlicher Tugenden ist"
Wie der Lehrerstand , so war das gesammte Erziehungswesen
einer Reform dringend bedürftig. Resewitz weist in dieser Beziehung
auf einige Punkte hin, so auf das Fehlen „ allgemein wirksamer
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Prinicipien" in der Erziehung. Die Religion hatte einen großen
Theil ihres Einflusses auf dieselbe verloren. Da in der häuslichen
Erziehung die Pflege des religiösen Sinnes schwand, so darf es uns
nicht wundern, vielfachen Klagen über Religionsverachtung und Frei-
geisterei zu begegnen, wie wir ja auch in der Literatur damaliger
Zeit derartige Personen häufig dargestellt finden. Neben dem Mangel
an Religiosität beklagt Resewitz das Schwinden der Ehrliebe, des
mühevollen, mannhaften Strebens nach Vervollkommnung und der-
einstiger moralischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit, an deren
Stelle spielende Eitelkeit, Oberflächlichkeit und galantes Wesen ge-
treten war. Auch den Patriotismus, die Liebe zum deutschen Vater-
lande suche man vergebens. Ja, in Büchern sei er wol zu Hause,
aber in Wirklichkeit habe er dem Weltbürgersinn Platz machen
müssen. In der That: Ein Deutscher zu sein, galt dem Deutschen
damaliger Zeit für wenig ehrenvoll. Man reiste viel in fremde Länder
und gefiel sich besonders in lächerlicher Nachahmung der Franzosen.
Luxus und Verschwendungssucht griffen im Volke immer weiter um
sich. Der Sinn für Einfachheit und Häuslichkeit ging vielfach ver-
loren, die Moralität wurde untergraben und in dem Kampfe um Er-
langung der Existenzmittel fing die altdeutsche Ehrlichkeit an zu
leiden. In dem Bestreben, möglichst angenehm und gut zu leben,
ohne sich den Aufgaben der Gegenwart und des eigenen Lebens-
kreises ernstlich zu widmen, gingen gerade die Edlen des Volkes
mit schlechtem Beispiele voran. Wer hatte unter solchen Verhält-
nissen Lust und Zeit, sich der mühevollen Aufgabe der Erziehung
zu widmen!
Welche Mafiregeln ergriff man nun, um allen diesen schädlichen
Einflüssen entgegen zu arbeiten? Resewitz weiß keine öffentlichen
Vorkehrungen gegen dieses „Heer von Übeln" zu nennen. Und doch
konnte hier nur die öffentliche Erziehung, unterstützt durch eine
weise Gesetzgebung, bessernd auf 'das Volk einwirken. Die Fürsten
mnssten erst einsehen lernen, das vernünftige Menschen auch die
besten Unterthanen sind, „dass die innere Verbesserung des Staates
großentheils von der Einsicht und verständigen Thätigkeit seiner Be-
wohner abhängt und dass man, diese zu bewirken, bei einer zweck-
mäßigen Aufklärung und Unterweisung der Jugend anfangen muss."
Wie die Fürsten zum Wole der Allgemeinheit Moräste aus-
trocknen ließen und schöne Gebäude errichteten, so sollten
sie sich endlich auch geneigt zeigen, verödete und unfrucht-
bare Schulen ihres Landes urbar zu machen. Speciell die
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häusliche Erziehung schildert Resewitz mit den Worten: „Man schnitzt
artige Pappen mit schwachen Gliedern und entarteten Köpfen, man
bildet an ihnen mühsam ein äußerliches, gefallendes Wesen, französisirt
den deutschen Sinn und das deutsche Blut und pfropft französischen
Leichtsinn und flachen, modischen Witz auf den verdorbenen deutschen
Stamm. u Auch in der Hauserziehung muss eine entschiedene Besse-
rung, die der Verflachung und Veräußerlichung derselben entgegen
arbeitet, angestrebt werden.
Die Schriftsteller damaliger Zeit erfahren bezüglich ihres Ein-
flusses auf die Jugend eine harte und zum Theil ungerechtfertigte
Beurtheilung. Denn der Vorwurf, dass sie durch Romane, Lieder
und Gedichte das junge Volk in eine Traumwelt führen, es untüchtig
zu praktischen Geschäften und lediglich (!) zu wimmernden, über-
spannten und phantastischen Träumern machen, darf wol auf die
dichterischen Erzeugnisse jenen träumerischen und krankhaften Senti-
mentalität angewendet, aber nicht auf die Dichtungen des stürmischen
Thatendrangs ausgedehnt werden.
Resewitz stand in Ansehen bei seinen Berufsgenossen. Er erfuhr
bei Veröffentlichung seines Aufsatzes, was unausbleiblich ist bei einem
derartigen Standpunkte, der das Bestehende negirt, ohne mit be-
stimmten Vorschlägen hervorzutreten, dass er seinen Berufsgenossen
nur das Herz schwer gemacht hatte, ohne Hoffhungen auf Besserung
der trostlosen Lage zu wecken. Das spricht der Gegenartikel eines
Ungenannten in Band II aus.
Aber wenn Resewitz auch die Mängel des damaligen Erziehungs-
wesens tief beklagte, so war er doch weit davon entfernt, die Fort-
schritte zu verkennen, die in den letztvergangenen Jahrzehnten Auf-
klärung und Sittlichkeit im deutschen Vaterlande gemacht hatten,
und gern bereit, zuzugestehen, dass man allmählich, wenn auch lang-
sam, aufhörte, sich am Gängelbande der Gewohnheit, des Vorurtheils
und der Nachahmung führen zu lassen. Was er tief beklagt, das ist
die Planlosigkeit in der Erziehung, die Theilnahmlosigkeit der Ge-
meindeverwaltungen und die Halbheit, um nicht zu sägen Gleich-
gültigkeit, von seiten der Geistlichen. Wer waren infolgedessen die
Jugendbildner? Leute ohne Talent, ohne Bildung und Charakter,
Männer, die in anderen Erwerbszweigen verunglückt waren oder sich
als untauglich zeigten, Leute, wie sie der Geschichtsprofessor von
Treitechke in völliger Verkennung einer hundertjährigen segensreichen
Entwickelung noch heute im Volksschullehrerstande erblickt. Wer
fragte danach, was und wie gelehrt wurde! Großentheils beschränkt
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— 7(5 —
sich der Unterricht nur dahin, sagt Resewitz, dass die Kinder unter
vieljährigen Mühen und Plagen die unverstandenen Worte des Katechis-
mus auswendig und kümmerlich lesen und schreiben leinen. (Band V,
4. Stück: „Über National-Erziehung.")
Wie sehi* auch Resewitz bei den Fürsten die rechte Antheil-
nahme an der Bildung des Volkes vermisste, so rühmt er doch, dass
Friedrichs Regierung die geistige Bewegung des 18. Jahrhunderts
schuf, oder sagen wir lieber: kräftig förderte. Vom kommenden Jahr-
hundert erwartet er die allgemeine Verbreitung der Bildung; in diesem
denkt er sich alle die schönen Bilder seiner für das Wol des Vater-
landes erglühenden Seele verwirklicht, so dass er stets mit großer
Hoffnung und Freude vom 19. Jahrhundert spricht. In einem Traum-
bilde, das einst seine Seele fesselte, als er in solcher Stimmung bis
in die Nacht pädagogischen Ideen nachhing, führt er uns seine Ge-
danken über Reform des Unterrichtswesens vor.
Während bisher jede, auch die kleinste Stadt ihre Ehre dariu
suchte, eine lateinische Schule zu haben, soll jetzt diese mönchische
Einrichtung, nach der jeder Knabe jahrelang mit den Anfangen des
Latein und Griechisch gequält wurde, abgeschafft werden. Denn es
müsse doch jedem vernünftigen Menschen einleuchten, dass mau nicht
die gesaramte Jugend zu Lateinern und Stubengelehrten heranbilden
könne. Dass mühsam erlernte kümmerliche Brocken aus den genannten
Sprachen dem Gedächtnisse bald wieder entfallen und für die Bildung
zum praktischen Leben damit nichts gewonnen ist, gilt uns heute
(wenigstens in der Theorie!!) für eine ausgemachte Sache. Dazu hat
das mächtige Vorwärtsdrängen der Schulmänner jener Zeit , auch das
eines Resewitz, wesentlich beigetragen, der es wiederholt ausspricht,
dass es eine dringende Angelegenheit sei, aus der unförmigen und
unzweckmäßigen Masse lateinischer Schulen eine Anstalt zu schaffen,
die 99 verwahrlosten Knaben unter 100 zugute komme. Diese Be-
strebungen, die besonders von Hecker vertreten wurden und schon in
dem Halleschen Waisenhause in ihren Anfängen zu finden sind, waren
bedingt 'durch die Umgestaltung, die das 18. Jahrhundert bewirkte.
Denn da rationelle Bebauung des Bodens immer mehr erforderlich
wurde, der Handel weitere Ausdehnung erlangte, die fortschreitende
Industrie größere Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Hand-
werkers stellte und die Verwaltung des Staatsorganismus und der
Einzelbetriebe tüchtige Köpfe erheischte, so musste die Bildungs-
arbeit ihre Aufgabe darin erblicken, die Jugend diesen veränderten
Verhältnissen gemäß zu erziehen.
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— 77 —
Alle lateinischen Schalen der Landstädte sollen daher,
das ist Besewitz' Forderung, in „Bürgerschulen" umgewan-
delt werden, in denen die Jugend einen vernünftigen und
praktischen Unterricht in der Religion und sorgfältige An-
weisung im Schreiben und Rechnen erhält. Sie wird be-
kannt gemacht mit den brauchbarsten Naturproducten, mit
dem Land- und Gartenbau*), mit den gangbarsten Künsten
nnd Handwerken. In der Erdbeschreibung genügt die all-
gemeine Darstellung der Beschaffenheit der Erdtheile, doch
wird vom Schüler die genaueste Kenntnis des deutschen
Vaterlandes gefordert. Der Geschichtsunterricht soll die
alte Zeit in einem kurzen Abrisse, die neueste Zeit aber,
vom Jahre 1700 an, in eingehendster Darstellung vorführen.
Bekanntschaft mit den Landesgesetzen ist für jeden späteren
Börger unerlässlich, sowie ein Hinweis auf die Vortheile
nnd Vorzüge des Vaterlandes, wodurch der schlummernde
Patriotismus geweckt werden würde. Mit den nöthigsten
Gesundheitsmaßregeln und den Maximen, verständig und
klug in der Welt zu leben, soll man die Jugend in passen-
den Beispielen ebenfalls vertraut machen. Das Zeichnen ist
mit Rücksicht auf die spätere Beschäftigung der Schüler zu
betreiben. Ganz besonders aber sollen zur Bildung des Ver-
standes und des Stiles schriftliche Übungen über das, was
durch den Unterricht erarbeitet ist, angestellt werden. Der
Lehrer hat dieselben durchzusehen und daran noch Aufsätze
zu schließen, die auf das bürgerliche Leben vorbereiten.
So finden wir hier von Resewitz eine Reihe fruchtbarer An-
regungen gegeben, Ideen ausgesprochen, die auf die Gestaltung
unserer heutigen einfachen Volksschule, der Bürgerschule und man-
cher anderen Lehranstalt von Einfluss gewesen sind. In diesem
Sinne kann man wol sagen, dass das 19. Jahrhundert den pädago-
gischen Traum des 18. Jahrhunderts, speciell eines Resewitz, zur
Wirklichkeit machte.
Wer die niedere oder einfache Bürgerschule besucht hat und
Kaufmann, Landmann, Cameralist oder Officier werden will, tritt
*) Diese philanthropische Forderung, die 'zuerst Salzmann erhob, finden wir
seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in den Unterrichtsplänen der Lehrerseminare;
et wird fttr den Seminaristen die Unterweisung in der angewandten Pflanzenkunde,
im Gartenbau, in der Landwirtschaft und Obstbaumzucht gefordert. (Vergl. Becke-
dorff, S. 179, 200, 222.
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— 78 —
noch in die höhere oder „größere" Bürgerschule ein, wie eine solche
in der Hauptstadt jeder Provinz einzurichten ist.
Auch für den armen Landmann soll gesorgt werden. Bisher,
sagt Resewitz, ließ man ihn, und zwar großenteils mit voller Ab-
sichtlichkeit, gleich seinem Lastvieh in dem gewohnten Gleise blind
und verstockt der Weise seiner Väter folgen.*) Daher stecke er
noch so tief im Aberglauben, dass er sein Leben und seine Gesund-
heit jedem Jongleuer und Gaukler preisgebe und man ihn ohne viel
jesuitische Kunst leicht in den alten papistischen Aberglauben zurück-
stürzen könne. Auch Rochow beklagte die" Unwissenheit und den
Aberglauben der Landbewohner und wurde dadurch zur Gründung
einer Landschule geführt, die Resewitz rühmt und als die einzige
bezeichnet, deren Einrichtung Aufmerksamkeit verdiene. Aber nicht
nur einzelnen, sondern allen Landbewohnern soll eine planmäßige Er-
ziehung in überall zu errichtenden Landschulen gewährt werden.
Die lateinischen Schulen der Städte sind keineswegs völlig zu
beseitigen, sondern in jeder Provinzial-Hauptstadt — es ist an preu-
ßische Verhältnisse gedacht! — wird eine derselben weiter erhalten
und aufs beste ausgebaut. Sie bereitet für den Gelehrtenstand vor.
Die Zöglinge derselben werden aber nicht ohne Auswahl angenommen,
sondern, damit man nicht gelehrte Stümper heranbilde, nur solche für
die Dauer zugelassen, die nach einer gewissen Prüfungszeit die
nöthigen Fähigkeiten und in irgend einem Fache besonderen Eifer
und Anlage gezeigt haben.
Wiederholt wird eine consequent durchzuführende Trennung in
dem Bildungsgange des gelehrten Standes und der Stände
des praktischen Lebens gefordert und eingehend begründet. Hente,
nach hundert Jahren, herrscht in dieser Angelegenheit noch eine auf-
fallende Unklarheit, sowol was die öffentliche Meinung, als auch die
Einrichtung zahlreicher Lehranstalten betrifft» Zur Vorbereitung für
die praktischen Berufsarten fordert Resewitz, die Schüler in der
Geographie mit den Producten des Landes, der Natur und Cultur
derselben, mit den Artikeln des Handels, ihren Geburtsländern, den
*) Das Einzige, wodurch man ihm Belehrung verschaffte, waren dieKatechisationen;
nur vereinzelt wurden seit Anfang des 18. Jabrhunderts (Landschulen gegründet. Die
Fürsten, „zu schonend gegen den Adel, überließen die erforderlichen Leistungen
lediglich dem guten Willen desselben. Ja, die Bauern selbst waren in ihrer Ver-
kommenheit den neuen Anforderungen entgegen". (Siehe Beckedorff, S. 28, und
Keller, Geschichte des preußischen Volksschulwesens, S. 64 und 95.)
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Handelswegen u. s. w. bekannt zu machen. Überhaupt solle man
mehr eingehen auf bürgerliche Unternehmungen, um Thätig-
keitssinn und Unternehmungslust zu wecken. Damit war ein Gedanke
aasgesprochen, der uns heute auch bei Auswahl und Darstellung des
geschichtlichen Stoffes leitet und uns noch mehr leiten sollte, als es
bisher geschehen ist.
Wegen der Vermischung von gelehrtem und nicht gelehrtem Unter-
richt tadelt Resewitz das Philanthropin zu Dessau, dessen Plan „ nicht auf
die Beschaffenheit des Menschen, wie er ist, nicht auf die Verfassung der
Welt und auf die wirklichen Zwecke der Thätigkeit ihrer Bewohner
calculirt war" und nichts hinterließ, „als den allgemeinen Wunsch,
dass er mehr Realität gehabt haben möchte". Basedow habe alle
Altersclassen und Berufsarten, Kinder und Erwachsene, Studirende und
Xichtstudirende, Landwirte, Kaufleute, Soldaten gemeinsam und auf
einerlei Weise heranbilden wollen. Jedem Stande gebüre aber seine
eigene charakteristische Bildung. Also die Forderung der Standes-
schule spricht Resewitz hier aus. Was er dann noch an anderer
Stelle über das Philanthropin sagt, zeigt allerdings von wenig Ver-
ständnis für die durch die neue Richtung angestrebte Reform. Er
erzählt, wie auch er anfangs von dem allgemeinen Begeisterungs-
taumel mit fortgerissen worden sei und Großes für die Sache der
Bildung erwartet habe, aber nach eingehender Kenntnisnahme der
nenen Bewegung erscheint sie ihm als gefährlich für die Erziehung
des Volkes, weil sie „unter Spiel und Tändelei, unter neuen gym-
nastischen Übungen, nach zwangloser Freiheit und Eigenmächtigkeit
und nach seichter Methode" die Jugend bilden wolle. Es folgen noch
zahlreiche Bedenken und Einwürfe gegen Ziel und Methode der
Philanthropen, die ich als bedeutungslos übergehe. Die Philanthropen
fanden bekanntlich zu ihrer Zeit selten Verständnis und wenige
Freunde, hingegen viele Feinde, besonders wegen ihrer Stellung zur
religiösen Unterweisung der Kinder, die nach Basedowscher Art wol
auch einem Resewitz nicht behagte.
Um eine bessere Gestaltung des Unterrichts herbeizuführen, sollte
in erster Linie für Herstellung von Lehrbüchern in allen
nöthigen Wissenschaften gesorgt werden. Die bisherigen Bücher,
besonders die für Religion, sind ihm zu abstract und weitschweifig,
ohne Verständnis und Methode, so dass die „unverstandenen, wiewol
eingebleuten Worte" der Jugend bald wieder verloren gehen. Aber
allgemeine Veranstaltungen, die allein hierin gründliche Abhilfe
schaffen könnten, vermag er nirgends zu erblicken. Ohne Beschaffung
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guter Lehrbücher erscheinen ihm alle Schullehrerseminare und andere
Vorkehrungen, bessere Schulleute zu erhalten, erfolglos. Bekannt
sind in dieser Beziehung Basedow's Bestrebungen, die leider einen so
baldigen Abschluss fanden. Resewitz regte in seinen Erziehungs-
schriften zur Abfassung von Lehrbüchern auch noch dadurch an, dass
er Preise aussetzte für die besten Lehrbücher in der praktischen
Logik (Bd. IV) und zur Bilduug des Stils (Bd. III). In diesen Er-
ziehungsschriften erschienen auch Abhandlungen über die Lehrmethode,
über Aufmerksamkeit, Gewöhnung, über Ehrliebe als Triebfeder der
Erziehung, Natur und Anwendung der Strafen, über mathematischen
und deutschen Unterricht u. s. w.
Aber alles, was er und seine Mitarbeiter boten, sollte nur An-
regungen geben. So sollte auch die Abfassung von Lehrbüchern
von den tüchtigsten Männern des ganzen Landes in die
Hand genommen und vom Staate geleitet werden. Nachdem
die Entwürfe dazu, sowol was die Auswahl und Stufenfolge des
Stoffes, als auch was die Anpassung an die verschiedensten Anstalten
von der einfachen Volksschule bis zur Akademie betrifft, gemacht
worden sind, sollen die Lehrbücher gearbeitet und Männer von ein-
gehender Fachkenntnis und entschiedenem methodischen Geschick zu
dieser keineswegs leichten Aufgabe durch Ausschreiben von Preisen
gewonnen werden. Es erschien auch wünschenswert, dass von den
Lehrern über jeden an den Büchern bemerkten Mangel Bericht er-
stattet werde, so dass dann auf Anregung der Oberbehörde bei einer
Neu-Auflage die Abstellung desselben erfolgen könne. Um den rechten
Gebrauch der neuen Bücher von seiten der Lehrer zu verbürgen,
müssen genaue Vorschriften, wie die Bücher beim Unterricht zu be-
nutzen, diesen beigegeben und die künftigen Schulleute, sowol was
den Inhalt, als die Darbietung anbetrifft, in den Lehrerbildungs-
anstalten angeleitet werden.
Befähigte Schüler werden in den Stadtschulen zu Lehrern auf
dem Lande ausgebildet. Sie erhalten auch Anweisung im Land- und
Gartenbau und prakticiren, um sich zu üben, in den niederen Schulen
der Stadt. Für den Unterhalt soll, außer einem Barzuschuss des
Staates, vom Gemeindebesitz ein hinreichendes Stück Land dem
Schulmeister zugetheilt werden, auf dem er verpflichtet ist, besonders
Frucht- und Krautgärten anzulegen, um für diese damals noch wenig
betriebene Cultur dem Landbewohner ein Vorbild zu geben. Der
Lehrer führt die Jugend in den Schulgarten und macht sie
der Jahreszeit entsprechend mit der Gartenarbeit und dem Bau der
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nützlichsten Producte bekannt. Die Mädchen erhalten außerdem
von der Frau des Lehrers Unterweisung im Spinnen und
Stricken. So finden wir die Idee des Schulgartens und der weib-
lichen Handarbeiten als eine Forderung des 18. Jahrhunderts von
Eesewitz vertreten. Die Schulgartenfrage ist in den letzten Jahr-
zehnten in der pädagogischen Presse viel erörtert worden, hat aber
bis jetzt leider wenig praktischen Erfolg gehabt, während die weib-
lichen Handarbeiten in vielen Ländern als obligatorischer Unterrichts-
gegenstand Einführung in die Volksschule gefunden haben.
Die Besoldungsfrage bleibt für Resewitz, da ihm eine reiche
Erfahrung darüber viel Bitteres gelehrt hat, der wunde Punkt, um
den er nicht anders herumzukommen weiß, als dass er vorschlägt, an
jeder Schule nur einen ständigen Lehrer mit dem Titel Rector anzu-
stellen. Ein sorgenfreies Auskommen denkt er für diesen dadurch zu
gewinnen — ohne einen Mehraufwand für Lehrergehälter nothwendig
zu machen, zu dem ja der Staat nicht zu gewinnen war — dass die
bisher fUr 6—8 Lehrer aufgebrachte Summe zunächst zu ausreichen-
der Bezahlung des Rectors verwendet werde, während die unverhei-
rateten Unterlehrer sich mit einem geringeren Gehalte begnügen
müssen, dessen Unzulänglichkeit er voraussieht, weshalb er die jungen
Lehrgehilfen auf Nebenverdienst verweist. Aber Resewitz mag sich
drehen und wenden, wie er will, die Thatsache lässt sich nicht weg-
leugnen, dass es dann in der Schule nur einen Zufriedenen geben
wird: den Herrn Rector! Es drängt sich uns weiter auch die Frage
auf: Was wird denn mit den unverheirateten Unterlehrem? Wie
wenigen wird es vergönnt sein, Rector zu werden! Sollen die andern
immer unverheiratet bleiben und sich mit einem Hungerlohn be-
gnügen? Unser Gewährsmann findet einen billigen Ausweg. Die
Unterlehrer sind sämmtlich Theologen. Nach Resewitz' Plänen ist
jeder Theologe verpflichtet, nach seinem Studium drei Jahre im Lehr-
amt zu verweilen. Es wirkt geradezu verblüffend, wenn man liest,
wie erst energisch dagegen Verwahrung eingelegt wird, dass die
Schule als Mittel für theologische Zwecke benutzt werde, und schließ-
lich dieselbe doch nichts anderes wird, als das von Resewitz erst so
eifrig abgewehrte Durchgangsstadium ins geistliche Amt. Denn bei
dem fortgesetzten Wechsel der Lehrkräfte, der sich aus solchen Ver-
Mfnissen ergeben muss, kann sich doch keine Schule wolbefinden.
Doch sollten die Theologen auf der Universität für das Lehramt an-
gewiesen werden, aber wie wenig Zeit und vielleicht auch Lust —
denn die Schule ist ja doch nicht Hauptzweck! — blieb dem Theologen
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neben seinem Studium! Der Rector sollte auch jeden zu einem
methodischen Unterrichte anleiten; aber nach drei Jahren des Lehr-
amtes hat man noch lange nicht ausgelernt, und noch viel weniger
konnte die Schule von der verbesserten Lehrart des Präceptors er-
heblichen Nutzen gezogen haben.
Wie über die Theilnahmlosigkeit der Staatsregierungen,
so wird auch über die der städtischen Behörden geklagt
und ihnen für die Zukunft nach Resewitz' Reformplänen nichts
anderes zugestanden, als die Verwaltung des Schulvermögens und das
Recht, aus den staatlich geprüften Aspiranten Auswahl zu treffen.
Selbst der Einfluss der Geistlichen auf die Schule erfährt Einschrän-
kung, da mit der Qualifikation zum geistlichen Amt die zur Schul-
aufsicht nicht an sich verbunden sei.
Als Schulbehörde der Provinz soll vielmehr ein Schul-
rath oder Schuldirectorium aus den tüchtigsten Schulleuten
gebildet werden, deren Besoldung der Staat übernimmt.
Diese Behörde hat die Lehramts-Candidaten zu prüfen, anzustellen
und zu controliren. Dabei wird sie von den Rectoren, welche jähr-
lich zweimal über den Stand ihrer Schulen berichten und von den
Superintendenten, die jede Schule ihres Bezirkes jährlich einmal be-
suchen und darüber Bericht einschicken, unterstützt. So leitet der
Provinzial-Schulrath das Schulwesen der ganzen Provinz, indem er
über den Fortschritt in der Bildung der Jugend sich Kenntnis ver-
schafft, Verbesserungen durchführt und die geeigneten Lehrkräfte
unter Zustimmung der Oberbehörde zu Rectoren ernennt.
Die oberste Schulbehörde ist das Ober-Schuldirectorium
oder Ober-Schulcollegium in der Residenz, das die Leitung
des Schulwesens im ganzen Lande zu überwachen hat. Es
erhält Berichte von allen Provinzial-Schulräthen und Pläne für Ver-
besserung des Schulwesens der einzelnen Provinzen, resp. des ganzen
Landes. Jede Besetzung vacant gewordener oder Gründung neuer
Stellen erfolgt nur unter seiner Zustimmung. Diese „Schulminist er u
wissen, wie es um die Cultur der Nation in den einzelnen Theilen
des Landes steht, wo und wie der Hebel der Volksbildung anzusetzen
ist. Es sind die besten philosophischen Köpfe, die sich in Erziehung
und Unterricht vorzüglich bewährt haben. Den Cousistorien und
Oberconsistorien sollte das Recht der Schulaufsicht genommen werden,
da das Consistorialamt schon an sich ein Nebenamt sei, wieviel mehr
nun gar das der Schulaufsicht, und eine Verbesserung der Erziehung
daher von dieser Seite nicht möglich sein könne.
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Einige pecuniäre Opfer werden aber vom Staate dringend
gefordert. Denn „wo der Kopf arbeiten soll, muss das Herz frei
sein; nur Tagelöhnerseelen können Noth leiden und doch ihr mecha-
nisches Tagewerk dabei vollenden." Die Ausgaben würden sich so
gar hoch nicht stellen, da nur ein Theil der Mitglieder in den Schul-
behörden sich lediglich der Aufsicht und ^Verwaltung widmen sollen,
während die übrigen zugleich Leiter einer Schule sein können. Den
großen Friedrich, der ja Millionen zum allgemeinen Besten verwandte,
möchte man gern für eine Reform des Erziehungswesens gewinnen.
Man ist gewiss, ganz Deutschland würde ihm folgen, wie es seinem
Geiste und Vorbilde in vielen Dingen schon nachstrebte.
Einige der tüchtigst en Vertreter desSchulwesens wünschte
Kesewitz als Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in
Berlin zu sehen, um sie der Nation als ihre ersten Köpfe und als
die verdientesten Männer des Staates zu zeigen. Dass man aber zu
Mitgliedern der Akademie gar Fremde aus dem Auslande berufe
(wie das ja unter Friedrich II. geschah), wird in heftigen Worten
getadelt, da solche Leute die eigenartige Culturentwickelung des
deutschen Volkes weder verstehen wollten, noch könnten, ja wol gar
mit Geringschätzung anblickten.
Der Staat soll sich endlich für die Sache der Erziehung erwärmen,
das Schulwesen in seine Hand nehmen und die Erziehung des heran-
wachsenden Geschlechts nicht mehr als eine geringfügige Nebensache
behandeln, die man blos ehrenhalber betreibe. Komme es denn im
Staate lediglich darauf an, möglichst viel Geld einzunehmen oder die Miliz zu
vermehren? Selbst diese verkehrte Ansicht zugestanden, sagt Resewitz,
ist nicht lediglich ein blühendes Gewerbe die Quelle des Reichthums?
Und wodurch anders als durch Unterricht und Erziehung wird das
Volk zum Fortechritt in Cultur und Gewerbe befähigt? Das Bildungs-
wesen der Nation verdiente also wol ein besonderer Zweig
der Staatsaufsicht und Staatsverwaltung zu werden. „Aber
so lange man es noch nicht überzeugend einsieht, dass das wahre
Capital des Staates in dem Kopfe und der Geisteskraft seiner Glieder
besteht, so lange ist auch an keine Nationalerziehung uud an keinen
allgemeinen Plan dazu zu denken."
Ziehen wir in kurzen Worten das Resultat der vorstehenden
Ausführungen, so finden wir: Resewitz ist gleich Francke, Hecker,
Semler u. a. Vertreter des Realismus und Gegner jener einseitig
philologischen Richtung des Humanismus. Ohne die altclassischen
Sprachen ganz verdrängen zu wollen, verlangt er die Berücksichtigung
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der lebenden Sprachen und der Realien, überhaupt Bildung für das
praktische Leben. Während das Bildnngsziel der Philanthropen die
allgemeine Jlenschenbildung war, willResewitz für jeden Stand die ihm ent-
sprechende Bildung, fordert also die Standesschule. Mit wachsendem
Erstaunen sieht man, wie die von ihm vertretenen Forderungen:
dass zur Heranbildung tüchtiger Lehrkräfte vor allem gediegene Lehr-
bücher nöthig seien, dass den Gemeinden, Schulpatronen und Provin-
zial-Verwaltungen die alleinige Entscheidung in Schulangelegenheiten
genommen und dem Staate übertragen werden, dass die Schulaufsicht
aus den Händen der Geistlichen in die pädagogisch gebildeter Männer
gelegt und die Schulverwaltung auch in ihrer obersten Spitze von
der kirchlichen Verwaltung getrennt werden müsse, schon in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten Anerkennung finden und
Wirklichkeit erlangen. »König Friedrich Wilhelm II. trennte sofort
nach seinem Regierungsantritt die Schulangelegenheiten in der höchsten
Instanz von dem geistlichen Fache und setzte am 22. Februar 1787
das Ober-Schulcollegium ein; in der Instruction für dasselbe bestimmt
er, dass es „das gesammte Schulwesen auf das zweckmäßigste einzu-
richten und immer zu verbessern" habe, verpflichtet es, dafür Sorge
zu tragen, dass „tiberall zweckmäßige Schulbücher gebraucht und
eingeführt und wo solche mangeln, durch tüchtige Männer angefertigt
werden". Auch flfir gute Lehrmethode soll gesorgt und nur der in
einer Stadtschule angestellt werden oder in eine höhere Stelle auf-
rücken, der seine Tüchtigkeit vor dem Ober-Schulcollegium nach-
gewiesen hat. Den Ämtern und Magistraten wird das Recht, irgend-
welche beliebigen Leute zu Lehrern zu erwählen, abgesprochen. Es
wird auf die Gründung von Seminaren hingewiesen und der Ober-
schulbehörde die öftere Revision des Schulwesens zur Pflicht gemacht.
An den Lehrbüchern und Methoden aufgefundene Mängel sollen sofort
abgestellt werden. (Vergl. Beckedorif, S. 45 u. 48 fg.)
In bestimmten Worten kam unter Friedrich Wilhelm II. der
Gedanke, dass die Schule ein Institut des Staates sei. zum Ausdruck.
Das schon unter Friedrich II. entworfene, aber erst 1794 veröffent-
lichte Landrecht erklärt Universitäten und Schulen für „Veranstal-
tungen des Staates" und stellt die rechtlichen Grundlagen des Schul-
wesens in der Weise fest, wie sie auch in der Verfassungsurkunde
vom Jahre 1850 enthalten und noch heute' für die gesammte preußische
Monarchie geltend sind. In dem Generalbericht des Ministers Massow
über seine Visitationsreise 1798-1801 (vergl. Keller, S. 109) heißt
es: „Das Object der Reform ist Nationalerziehung und das Terrain
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müssen sämmtliche preußische Staaten sein." Auch Massow weist
dringend auf die Notwendigkeit guter Schulbücher hin und spricht
in Bezug auf den Religionsunterricht den Wunsch aus, „dass der Reli-
gionsunterricht auf die allgemeinen Wahrheiten der Religion und auf
die allen kirchlichen Parteien gemeinsame Sittenlehre eingeschränkt
werde." Dass man auch anfing, der Schule einige Selbstständigkeit zu-
zuerkennen und das Unterrichten als eine Kunst anzusehen, die ihre
eignen Gesetze hat und gleich jeder andern Kunst erlernt sein will,
das zeigt das Schulreglement für Schlesien vom 18. Mai 1801, § 51
(vergl. Keller, S. 138 fg.), in dem es heißt: „Zu Schulinspectoren
sind bisher immer die Priester genommen worden; allein, da beide
Amter sehr fuglich getrennt werden können und der Schulinspector
vorzüglich ein munterer, thätiger, in der Pädagogik erfahrener Mann
sein muss, so soll die Vereinigung beider Posten in einer Person nicht
mehr noth wendig sein.u
Wir sehen: Im 18. Jahrhundert entstanden Entwürfe für manches
Große, das sehr oft für eine Errungenschaft speciell des 19. Jahrhun-
derts gehalten wird; und manches, was schon vor hundert Jahren
keimte, ist noch heute nicht zur Reife gekommen. Ich unterlasse es,
Vergleiche mit den heutigen Verhältnissen anzustellen, da sie dem
Leser sich von selbst aufdrängen werden. Nur auf eins möchte ich
noch hinweisen: Wenn man die jetzige Stellung der Pädagogik und
der Pädagogen bespricht, so geschieht es oft, dass man entweder des
Klagens kein Ende findet, oder das Thema, wie wir's doch so herr-
lich weit gebracht, in allen möglichen und unmöglichen Tonarten
variirt. Aber wahren wir uns immer den historischen Blick, suchen
wir bei allem die Entstehung und bisherige Entwickelung zu ergrün-
den und zu verstehen.* Denn alles Geschehen ist ein Sich-Entwickeln,
und nur wenn wir die Vergangenheit kennen, stehen wir mit festen
Füßen in der Gegenwart und sind ein gutes Bindeglied für die Zu-
kunft. Dann werden wir bescheiden bezüglich der eigenen Person
und gerecht in der Würdigung früherer Männer und Zeiten, stolz und
kampfbereit, wenn es gilt, das von den Großen des Standes gehaltene
Banner zu schützen, fest und treu, wenn es darauf ankommt, für des
Standes Wol und Wehe, für seine Zukunft einzutreten.
14. J«hrg. Heft II.
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Eine Analogie.
Von Oberlehrer Joh. IApp-Matzendorf, N.-Ö.
Wenn in dem socialen Getriebe des Alterthums vornehmlich Indivi-
duen die Zielpunkte der niedrigsten Begeiferung waren, so sind es in der
Gegenwart Stände und Parteien. Das individuelle Martyrium hat sich
den fortgeschritteneren Verhältnissen gemäß zu einem Standesmartyrium
ausgeweitet. So waren es besonders Sokrates und Christus, welche
ihre hochherzige Veranlagung, ihre göttliche Sendung mit einem
schimpflichen Tode entgelten mussten, aber dadurch gleichzeitig mit
ihrem Blute besiegelten.
Sophisten waren 'es vornehmlich, welche Sokrates anfeindeten
weil ihnen seine Lehre, wie sein Wandel nicht in ihren sophistischen
Kram passte. Pharisäer waren es vornehmlich, welche Christum ver-
folgten, weil ihnen seine gotterfüllte Lehre, wie sein göttlicher Wandel
die Maske der Heuchelei von dem selbstgefälligen Gesichte riss.
Die Aufgabe der Culturentfaltung, die damals den Schultern Ein-
zelner aufgebürdet erschien, erscheint gegenwärtig auf die Schultern
vieler Gleichgesinnter, auf die Schultern ganzer Stände übertragen —
und demgemäß entleert sich der Hass des sophistisch-pharisäischen
Geschlechts nicht so sehr über dem Haupte eines Einzelnen*), als
vielmehr über den Häuptern des ganzen Standes. Während indessen
die alterthümliehe Beschränktheit des Volkes den Finsterlingen eine
plumpe Kampfesweise gegen die Strahlenträger göttlichen Lichtes ge-
stattete, sieht sich gegenwärtig die Phalanx derselben zufolge der
vorsichtigeren Urtheilsthätigkeit der Gegenwart genöthigt, die unge-
schickte Keule plumper Angriffe mit dem handlicheren Stilet spitz-
findiger Verleumdungen und jesuitischer Verdrehungen, dessen Spitze
mit Leichengift imprägnirt ist, umzutauschen und über die Fratze
boshafter Leidenschaftlichkeil die trügerische Maske edler Biederkeit
*) Doch! überall sind die Führer des Fortschritte!} in erster Linie dem Hasse
und der Verfolgung ausgesetzt. D. R.
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und tiefer Frömmigkeit za ziehen. Es ist der Kampf des Hercules
mit dem Antäos, den die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes
mit dem finsteren Geiste der volksfeindlichen Reaction kämpft, wobei
den Eulen der Nacht der blinde Autoritätsglaube der Massen die
Mutter Erde ist, aus der sie stets neue Widerstands-, stets sich verjüngende
Agitationskraft schöpfen, und wobei die Loslösung ihrer Principien
von dem Bildungsinteresse des Volkes das Zerdrücken des Aufklärungs-
feindes in der Luft darstellen wird. —
Wenn man den Process des Sokrates ins Auge fasst, des bedeu-
tendsten Weisen und Lehrers der vorchristlichen Zeit, so findet man
in dessen drei Anklägern Anytos, Lykon und Melitos, sowie in deren
von dem letzteren bei dem Archonten-Könige eingereichten förmlichen
Schriftklage eine verblüffende Analogie mit unseren Feinden und
unserer gegenwärtigen Lage. Es repräsentiren die genannten drei
Ankläger das ganze Heer der modernen transalpinischen Finsterlinge.
Das Richtercollegium der Heliasten, dem die Sache übergeben worden
und welches bei jenem Processe ans mehr als 500 Richtern bestand,
finden wir in der Schar der theils übelwollenden, theils übelberathenen
Masse wieder, welcher der giftschwangere Dunst der in der unheilvollen
Hexenküche gebrauten Machinationen auf geschickte Art applirirt
wird. Und vollends erst die Anklage! Sie lautete: „Melitos, Sohn
des Melitos aus Pitthos, erhebt und beschwört gegen Sokrates, des
Sophroniskos Sohn aus Alopeke, die peinliche Klage: Sokrates begeht
ein Verbrechen, indem er nicht an die Staatsgötter glaubt, sondern
anderes, neues Dämonisches einführt; er begeht auch ein Verbrechen,
indem er die Jugend verführt. Die Strafe sei der Tod." — Sie
lautet gegen die Neuschule heute ebenso. Wir brauchen in ihr blos
die Namen den Umständen gemäß zu ändern — und wir haben, wie
wir es nicht besser wünschen können, sämmtliche Anwürfe der Dunkel-
männer gegen jene Institution in wenigen Worten treffend zum Aus-
drucke gebracht.
Das Verderben der Jugend, welches seinerzeit dem Sokrates und
gegenwärtig auch der Schule oft genug vorgeworfen wurde, war und
ist nichts anderes, als die Entwickelung einer neuen Bildung und Er-
ziehungsweise, worin die Dunkelmänner den ihre Tendenzen durch-
kreuzenden Krebsschaden wittern, der sich mit Centnerlast an ihr
„menschenfreundliches" Bestreben heftet, die vorgeschrittene Zeit auf
ihren früheren Standpunkt zurückzudrehen.
In dem Leben des Sokrates so wenig wie in der Bethätigung der
Neuschule sehen wir eine Handlung, die verdiente, wie es damals
7*
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geschah and heute geschieht, mit Namen belegt zu werden, wie die von
pharisäischer Selbstgefälligkeit im Tempel der Journalistik, im Bruder-
hause der Nächstenliebe so oft variirten. Heute wie damals findet
der rechtschaffene Kritiker in den beiderseitigen Bestrebungen des
Cultu8fortschrittes keine Aufforderung zum Aufrühre, weder gegen
Staat, noch Kirche, außer gegen Dummheit und Aberglaube — sondern
nur Lehre; keine andere Gewalt, als die des Wissens und der Liebe;
keine durch Stiftung geheimer Gesellschaften und Verbindungen ent-
standene Partei im Staate; nicht einmal ein offensives Vorgehen
gegen die Hamster der Volkswolfahrt! So fehlen also beiderseits
alle Kriterien eines verabscheuenswerten Nihilismus, wie er insbeson-
dere der Neuschule und dem „neuzeitigen" Lehrstande von Dümmlingen
oder niedrigen Sclavenseelen vorgeworfen wird.
Aber Sokrates' Schüler, Alkibiades, Kritias, die dem Volk und
Staat so viel Unheil bereitet haben? — Aber die (sehr vereinzelten!!)
Fälle jugendlicher Verbrecher, welche der Neuschule entwachsen sind? —
Bestätigt nicht das Betragen derselben die dem Sokrates, die der
Neuschule vorgeworfene schlechte Einflussnahme auf die Jugend? —
0 des bedauernswürdigen Lehrers, der unbedingt verantwortlich ge-
macht werden soll für die Gesinnungen seiner an Anlagen und Nei-
gungen so verschiedenen Schüler, deren Gemüth durch Eltern, Haus-
erziehung, Familienereignisse, geselliges Leben, Schicksale u. dgl. oft
so widerstrebende Eindrücke erhält! Wir mögen uns freuen, wenn
gut geartete Seelen, unserer alleinigen Obhut anvertraut, in ihren
reinen Gefühlen und Gesinnungen bewahrt, und bösartige in der
Ausbildung sinnlicher Begierden zurückgehalten werden. Aber welcher
Lehrer sollte in einem erfahrungsreichen Leben nicht schon einen
kleinen Alkibiades unter seinen Schülern gehabt haben, für dessen
Zukunft er sich nicht verbürgen mochte? — Und wo bleibt übrigens
die religiös-sittliche Einflussnahme der Katecheten? — Sollten diese,
wenn der Lehrer für einzelne Entartungen individueller Entwickelung
verantwortlich gemacht wird, an der Mitschuld eines solchen Falles
leer ausgehen? — Fanden sich unter den oligarchisch gesinnten
Schülern des Sokartes einige, die, obwol gewandt in der Rede, doch
ehrgeizig in ihren Gesinnungen, grausam und ungerecht in ihren
Handlungen waren, so beweist dies nur, dass sie wol anderes, aber
nicht die weise Beherrschung ihrer selbst von ihrem Lehrer erlernt,
nicht sein Gemüth sich angeeignet hatten. Ein blos gemüthlicher
Mensch ist freilich nur ein Schwächling; aber ein geistvoller ohne
Gemüth ein verderbliches Ungeheuer. — Finden sich nun unter den
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unserer Schale entwachsenen Schülern hie and da manche, denen der
Friedenskranz der Tagend nicht zugesprochen werden kann, so beweist
dies ebenfalls nur, dass auf sie neben den sittlich bildenden Einflüssen
der Schale und des Lehrers noch andere, den Sittlichkeitscanon ver-
dunkelnde Einflüsse mit verderblicher Nöthigung eingewirkt haben
und dass sie- wol anderes, aber nicht die Principien des Lehrers in
sich aufgenommen haben. — Ihr Weltverbesserer! Hier setzt euren
Hebel ein! Da, wo die wahren Ursachen socialer Entartungen wie in
Maulwurfslöchern verderbliche Gifte ausbrüten; wo der fressende Rost
menschlichen Elends menschliche Regungen zernagt; wo die Parias
der Gesellschaft verachtet und gemieden von den sogenannten „Gebil-
deten" umsonst nach bildendem Umgang schmachten; wo sie verbittert
gegen Gott und Welt selbst die Wolthat der Sonne hassen, weil
ihnen deren Licht ihr sociales Elend nur desto greller beleuchtet —
da streckt eure „biedere" Bruderhand aus, reicht sie dem Nächsten
brüderlich hin und zieht ihn liebevoll an euer Herz! Schafft Froh-
sinn statt Knechtsinn, Brudersinn statt Kastengeist, Duldung statt
Verfolgungswahn — und ihr werdet Gelegenheit haben zu sehen, ob
auch dann noch „Räuber und Diebe" aus der Neuschule hervorgehen.
Übrigens denkt der Unparteiische über euer Verhalten: Parturiunt
montes, nascetur ridiculus mus!
Sowie Sokrates für das Alterthum der Stammvater der Sittenlehre
gewesen, ebenso ist für die Neuzeit die Neuschule ein Grundpfeiler
echter Humanität Man bedenke nur, wie die durch die zunehmende
künstliche Verknöcherung des Dogmenglaubens, durch den überhand
nehmenden Sport in der Vereinsreligion, durch die Materialisirung des
Immateriellen in der Religionstibung herbeigeführte, genährte und
potenzirte Heuchelei, Intoleranz, Gesinnungsniedrigkeit und Selbst-
sucht der Massen den Einflüssen des modernen Bildungswesens all-
mählich wich, um sich nach und nach in die Bethätigung echter
Menschlichkeit umzuwandeln — und man wird die echt christliche
Bedeutung der Neuschule zu würdigen wissen.
Tychsen sagt über Sokrates: „Der eigenthümliche Charakter und
das größte Verdienst des Sokrates war, dass seine ganze Philosophie
auf die Sittenlehre, auf Verbesserung des Herzens und Beförderung
der Tugend leitete. Bisher war der Hauptgegenstand der Philosophie
.seines Zeitalters Speculation von überirdischen Dingen
Auf das praktische Leben nahm man wenig Rücksicht; die ganze
Weisheit der damaligen Philosophie bestand in abstracten Unter-
suchungen, sowie die der Sophisten in einer künstlichen Beredsamkeit,
i
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und die letzteren lehrten viele Grundsätze, die für die Tugend ebenso
nachtheilig, als für die Ruhe der Staaten gefährlich waren. Sokrates
war der erste, der das Unnütze und Gefährliche dieser Bestrebungen
einsah Er war es, der statt einer überirdischen Weisheit
eine menschliche, gemeinnützige Weisheit [unter seine Mitbürger ver-
breitete u
Klingt dies Urtheil über Sokrates nicht ebenso, als ob es sich
auf die moderne Pädagogik bezöge, deren Schmerzenskind die Neu-
schule ist? — Hat es diese gegenüber der Anstrebung eines chine-
sischen Formelwesens durch die klerikale Partei nicht ebenso auf
Verinnerlichung der Bildung, auf Verbesserung des Herzens und Be-
förderung der Tugend abgesehen? War nicht bis zur Schaffung der
modernen Pädagogik die ganze Welt in überirdische Speculation befangen?
Hatten es die früheren Bildungsanstalten nicht hauptsächlich auf eine
Wortbildung abgesehen? — Weisheit (durchaus nicht die dem moder-
nen Bildungswesen vorgeworfene, aber in Jesuiten schulen florirende
Kenntni8krämerei) gilt uns ebenso als Inbegriff aller Tugenden oder
alles Schönen und Guten, wie einst Sokrates. Aus ihr geht die
Glückseligkeit noth wendig hervor, indem Weisheit und Wolsein so
innig miteinander verbunden sind, dass sie eben dadurch das höchste
Gut des Menschen ausmachen. Die Neuschule lehrt eigentlich nichts
anderes, als die Moral Sokrates, die Moral Christi. Denn indem sie
klare Vorstellungen vermittelt und zum richtigen Denken anleitet, mit
den Vorstellungen aber das Gemüth in innigem Zusammenhang steht»
disciplinirt sie die Gefühle, den Willen, den Charakter.
Die Art des Lehrens ist bei Sokrates, wie bei Christus, wie bei
der Neuschule populär. Jene beiden werden von der modernen Päda-
gogik stets als leuchtende Vorbilder gefeiert werden. Die Menschheit
dem Zwecke ihres Daseins immer näher zu bringen, das ist das Ziel,
das sich alle drei Culturfactoren vorgesteckt hatten. Das Gute zu
erkennen als das Absolute, besonders in Beziehung auf Handlungen,
und jeden zum Nachdenken über sein Verhältnis zu der gesammten
Erscheinungswelt zu führen — das bildet das Wesen ihrer Lehren.
Sokrates, wie Christus waren Lehrer; und es erscheint als eine
absichtliche und zielbewusste Verdrehung liistorischer Thatsachen,
wenn man den letzteren als Priester, als Hierarchisten hinstellt und
aufgefasst wissen will; denn weder fungirte er jemals als solcher»
noch hielt er sich selbst für einen solchen und wurde auch niemals
als solcher von seinen Mitmenschen angesehen. Im Gegen theil er befand sich
gerade in contradictorischem Gegensatz zu der damaligen Hierarchie und
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bekämpfte dieselbe in ihren entsittlichenden Einflüssen auf das ent-
schiedenste, wodurch er seinen Untergang herbeiführte. Mit Recht
dürfen wir deshalb sagen, Sokrates und Christus sind Ahnen unseres
Standes. Als Lehrer treiben wir ebenso wie jene das Lehren als
einen uns zum Bedürfnis gewordenen Tagesberuf, ohne allen Eigen-
nutz und insbesondere nicht wie eine gewisse Partei im Staate, welche
ans ihrem Berufe ein dominirendes Wechselgeschäft macht. Unser
Lehren ist eine fortwährende geistige Anregung zu selbstständiger
Bethätigung des Menschengeistes und Menschenherzens, das Qegentheil
der modernen Sophisten, die durch künstlich ausgearbeitete Reden ihre
Znhöher mehr verführen als belehren.
Wenn wir die Geschichte der Menschheit durchlaufen, so werden
wir überall bestätigt finden, dass da, wo außerordentliche Männer als
Reformatoren auftraten, sich auch immer zwei Parteien bildeten, deren
eine sie hasste und verfolgte, während die andere sie liebte und ver-
ehrte. Dasselbe gilt auch von reformatorischen Institutionen. Wie ist
es auch anders möglich! Schon das Neue einer Lehre oder Institution
als solches hat für viele Tausende eine abstoßende Kraft, da sie theils
das Bessere nicht einsehen oder nicht einsehen wollen, theils für ihr
eigenes Interesse einen Nachtheil davon fürchten. Ist es nicht so ge-
wesen bei Sokrates und Christus — und ist es nicht so bei der Neu-
schule? Und an ihr, analog der Lebensgeschichte Sokrates' und
Christi, verwirklicht sich jener gehässige Widerstand umsomehr, da
sowol sie selbst als Institution wenig äußere Macht besitzt, wie auch
ihre unmittelbaren Träger, die Lehrer, weder durch Rang und Reich-
thum, noch durch Prunkmittel auf irgend welche Art bevorzugt und
gewichtigt erscheinen, sondern nur durch den Geist der modernen
Pädagogik, der durch seine stark einwirkende Kraft auf das Volks-
bewusstsein einen um so stärkeren Gegensatz in den Übelwollenden
hervorbringt.
Fassen wir die sich auffällig genug darbietende Analogie zwischen
dem gegenwärtigen Verhältnis der Neuschule 'zu den Pharisäern der
Neuzeit und dem einstigen Verhältnisse Christi zu denen des hebräi-
schen Alterthums ins Auge, so ist es gerade so, als ob ein Kreislauf
der Weltbegebenheiten bestünde, in dem sich principiell dieselben
Culturkämpfe unter äußerlich veränderten Umständen wiederholen. —
Mit kühnem Freimuthe wurde beiderseits gegen den erbärmlichen
Charakter und die niedrigen Absichten der Pharisäer gekämpft, wurde
das Volk zum Selbstbewusstsein, zur geistigen Selbstbefreiung, zur
sittlichen Selbstverjüngung zu erheben gesucht. Deshalb reagirt die
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Pharisäerzunft am stärksten gegen die Grundsätze der modernen
Pädagogik, Institutionen des göttlichen Geistes, und sucht das Volk
zur Vernichtung der Neuschule aufzureizen, um dann zu ihrem eigenen
Vortheile einen Staat im Staate herzustellen.
Sowie sich Jesus durch seine göttliche Wirksamkeit zahlreiche
Schüler und Anhänger sammelte, ebenso gewann die Neuschule durch
ihr redliches, treues Bemühen im Sinne unseres erhabenen Religions-
stifters immer mehr an Boden. Sowie Jesum die Pharisäer hassten,
weil sie in ihm den Volksaufklärer, den gefährlichsten Feind ihrer
Heirschaft erblickten, ebenso und aus demselben Grunde hassen die
modernen Pharisäer die Neuschule.
Indes mit Beruhigung dürfen wir der Vervollkommnung des
Menschengeschlechtes entgegen blicken; denn die Wahrheit ist unsterb-
lich wie Gott! Das beweist die Weltgeschichte in allen ihren Phasen.
Wie die Übelwollenden wol Sokrates und Christus tödten konnten,
aber nicht imstande waren, das Princip ihrer reformatorischen Thätig-
keit zu vernichten, so kann es den Übelwollenden der Gegenwart
höchstens gelingen, die jetzige Form, in welche sich ganz dasselbe
Princip kleidet, ihrem Vandalismus zu opfern — das Princip selbst
aber bleibt ihrer Vernichtungsmanie unerreichbar. Es ist und bleibt
ein Phönix, der aus der Asche wieder ersteht und herrlicher sich
selbst verjüngt.
Der Angriffspunkt des Widerstandes, welcher bei Sokrates und
Christus vorhanden war, war dies, dass das Princip nur als Eigen -
thum eines Individuums auftrat. Der Angriffspunkt der Opposition,
welcher in den gegenwärtigen Culturbestrebungen liegt, ist dies, dass
das Princip als Eigenthum einer Partei auftritt. Es wird aber eine
Zeit kommen, in der das Princip nicht mehr als Eigenthum eines
Individuums, nicht mehr als Eigenthum einer Partei, sondern als
Eigenthum der ganzen Menschheit auftritt — und dann, übelwollende
Opposition! bist du gerichtet! — Dass diese Zeit mit Zuversicht er-
wartet werden kann, erhellt schon daraus, dass jenes Princip trotz
jahrhundertelanger Widerstandskämpfe; sich doch allmählich den Boden
einer großen Partei errungen hat, dass es nicht mehr individuell ist,
wie bei Sokrates und Christus, dass es aus seinem ersten Macht-
stadium in das zweite eingetreten ist, dem das dritte Stadium, das
der allgemeinen, universellen Geltung, vermöge der Lebens- und
Überzeugungskraft jenes Princips wird folgen müssen.
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Beiträge zur Reform des Religionsunterrichtes in Bezug auf
Inhalt und Lehrweise.
Von Prof. und Direktor Theodor Vernaleken-Graz.
VI. Socialismus und Religionsunterricht.*)
_Lfie sociale Frage der Gegenwart und wie sie zu beantworten
und zu lösen ist — das beschäftigt jetzt alle Köpfe, die lehrend, ge-
setzgebend oder regierend Einfluss haben auf die Gesellschaft.
Da bat vor kurzem ein junger Theologe den guten Einfall gehabt,
den richtigen Weg der eignen Anschauung und Erfahrung zu betreten,
indem er drei Monate lang unerkannt als Fabrikarbeiter in Chemnitz
zubrachte, also in dem Mittelpunkte der sächsischen Großindustrie und
einem der Hauptorte der Socialdemokratie. Darauf veröffentlichte er
die lehrreiche Schrift: „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerks-
bursche. Eine praktische Studie von P. Göhre, Candidaten der Theo-
logie; Leipzig bei Wilh. Grunow, 1891."
Diese Schrift gewährt nicht blos einen tiefen Einblick in die
Arbeiterwelt, sondern ist auch in pädagogischer Hinsicht von großem
Interesse. Für meine Zwecke hebe ich dasjenige heraus, was sich
auf den Religionsunterricht in der Volksschule bezieht, und auf das
Verhältnis desselben zum Leben überhaupt und die Einwirkung auf
das Arbeitervolk insbesondere.
Die veränderten Verhältnisse der niederen Classe wie auch der
Handwerker sind eingetreten im Gefolge der neuen Erfindungen, der
Maschinen und des vermehrten Fabrikwesens. Wie anders war es,
als vordem die Handwerker*) als wandernde Gesellen von Stadt zu
*) Die früheren Artikel über dieses Thema finden sich in den letzten Jahr-
e;in£ren dieser Zeitschrift. D. R.
**) Man lese nar die meisterhafte Darstellung von Jul. Wolff in seinem „Sülf-
meister". Um den Unterschied zwischen einst und jetzt historisch kennen zu
lernen, verweisen wir auf einzelne Bilder aus der deutschen Vergangenheit von
ü. Freytag.
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Stadt zogen, sich mit wenigem begnügten und nicht massenweise bei-
sammen lebten, unbekümmert um die staatlichen Dinge, die noch nicht
von täglichen Zeitungen besprochen wurden. Auch die Schulbildung
ist nicht mehr so gleichmäßig wie ehemals.
Der genannte Beobachter der heutigen Arbeiterkreise unterschei-
det mit Recht verschiedene Stufen der geistigen Bildung der Arbeiter.
Ei* beginnt mit der Schilderung der Dorf- und selbst Stadtschul-
bildung, die er zum Theil noch als religiös und confessionell dogmatisch
erkannte. Das Wissen ist beschränkt, die Geschichtsauffassung ver-
knüpft mit dem Wunderglauben, die Natur ist ihnen noch ein Rätbsel;
sie kennen nichts von den Entwicklungsgesetzen, welche die moderne
Wissenschaft lehrt. Biblisches und später Hinzugekommenes ward der
Jugend nur als Lern- und Memorirstoff schulmäßig geboten, wie es
im Katechismus formulirt ist; es war nicht den Herzen, sondern den
Köpfen der Kinder übermittelt. Der entschieden streng kirchlich ge-
sinnte Verfasser dieser Schrift sagt: Der Religionsunterricht ist in
solchen Schulen, aus denen die Arbeiter hervorgegangen sind, vor-
wiegend Verstandesunterricht anstatt Erziehung des Charakters; die
christliche Heilswahrheit kalter Lernstoff anstatt warme, alles durch-
dringende Lebenskraft, Jesus Christus, nach dem Vorgange des Dog-
mas, mehr ein metaphysisches Räthsel als eine historische gottvolle
Persönlichkeit. Die biblischen Bücher gelten den meisten als wört-
liche Autorität, in dem Sinne der Inspiration. Auch im Confirmanden-
unterricht wird die historische Seite nicht genügend aufgeklärt, und
wenn dann die Leute heranwachsen', so werden die ersten Jugend-
eindrücke spurlos verwischt.
In höheren Schulen, sagt der Verfasser, ist der Religionsunter-
richt genau wie in der Volksschule vorwiegend Katechismusunterricht.
Sein Gegenstand ist das logisch mit den Mitteln einer längst ver-
alteten Wissenschaft aufgebaute Lehrgebäude des kirchlichen Dogmas,
seine Aneignungsform das verstandesmäßige Begreifen und Auswendig-
lernen dieser Glaubenssätze, Bibelsprüche und Gesangbuch verse ohne
die innerliche Aneignung, wie sie Christus in den Evangelien fordert.
Dazu kommt, dass in dem übrigen sogen, weltlichen Unterrichte eine andere
Auffassung des Gelernten stattfinden muss, wenn man im 19. Jahr-
hunderte lebt. Diese widersprechenden Bildnngskeime wachsen, sobald
eine oft unvermeidliche materialistische Lebensanschauung später hin-
zutritt. Die zwei dürftigen Stunden im Religionsunterrichte unserer
Schulen deuten schon darauf hin, dass dieser Zweig des Jugendunter-
richtes als etwas besonders Heikles mit Peinlichkeit beschränkt wird
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und isolirt dasteht. Die harmonische Bildung und Erziehung leidet
darunter, und das einzige Bettungsmittel ist, dass auch der Religions-
unterricht in den zeit- und vernunftgemäßen Dienst der Jugendbildung
gezogen werde. Wer andere Mittel vorschlägt, der begehrt, dass die
Gewässer der Erde bergauf fließen.
Eine solche zwiespältige Schulbildung macht nun in der Fabrik
eine völlige Wandlung durch: sie geht in einer neuen, der socialdemo-
kratischen Richtung unter. Denn diese hat sich auch der Volks-
bildungsfrage bemächtigt und eincneue Volksliteratur geschaifen, deren
Inhalt im Dienste der Arbeiter-Interessen und im Dienste herzloser
Fabrikbesitzer ist Diese Halbbildung wendet sich bei beiden Parteien
den Lehren Christi gänzlich ab. Wie diese Lehren von den Religions-
lehrern behandelt würden, haben wir oben dargelegt; den Verlust auf
dem religiösen Gebiete hat großenteils die Dogmenkirche verschuldet,
deren Vertreter andere Bestrebungen, selbst politischen, noch immer
nachgehen. Darum wenden sich auch besser Gesinnte von solchen
Vertretern ab und gar oft auch vom Kirchenthum, das bei der päpst-
lichen Kirche wesentlich in Äußerlichkeiten seinen Halt hat.
Es gibt aber dauerhafte Grundlagen für die christliche Gesittung.
In den Schlussbemerkungen hebt der Verfasser der Schrift:
„Drei Monate Fabrikarbeiter" die Ergebnisse seines Aufenthaltes in
der socialdemokratischen Luft hervor. Dem jungen Theologen ist
vieles klar geworden, was er aus Büchern oder in einem Seminar im
abgeschlossenen bischöflichen Convicte nie gelernt hätte. Charakter
bildet sich nur durch Erfahrungen im Strome der Welt, unter Wider-
wärtigkeiten und harter Arbeit.
Die Lohnfrage allein, meint der Verfasser, ist nicht der aus-
schlaggebende Factor der heutigen socialen Bewegung. Man verlangt
mit Recht auch Anerkennung des Wertes der Arbeit und bürgerliche
Gleichberechtigung. Gewährt man dies dem sogen, vierten Stande, so
tritt auch an ihn eine Pflicht heran. Er muss anerkennen, dass es
auch sittliche Mächte sind, von denen die höhere und freiere Ent-
wickeiung wie der steigende Wolstand des Volkes zu erwarten sind.
Der Staat allein kann nicht für alles in Anspruch genommen werden.
Für die Wolfahrt des Ganzen hat jedermann beizutragen und selbst-
süchtigen Trieben der Arbeiter wie der Arbeitgeber Schranken zu
setzen.
Bei einer Anzahl von Arbeitern ist gewiss auch der Wunsch
lebendig, in einer neuen wirt schaftlichen Ordnung nicht blos mehr
stumme Werkzeuge eines höheren Willen, sondern kraftvoll mitwirkende
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Menschen, nicht nur Hände, sondern auch Köpfe zu sein. Dies prägt
sich, wenn auch noch unklar nnd gährend, dem Beobachter in dieser
Arbeiterbewegung aus, wenigstens in Deutschland. Solche Entwick-
lung ist nicht mehr aufzuhalten, sie ist nur in gesetzliche Bahnen
zu leiten. Letzteres wäre die Aufgabe der Regierungen, denen eine
Mitbeteiligung der arbeitenden Classe nur erwünscht sein muss.
Schule und Kirche müssen dabei mithelfen, indem sie der rohen social-
demokratischen Lebensanschauung ihr materialistisches Rückgrat brechen.
Auf dieses deuten auch einige literarische Erscheinungen hin,
die auf ein wohrerstandenes Christenthum hinweisen, das von Haus
aus social ist und die Liebe zum Princip der Gesellschaft macht.
Nicht die alten Glaubenssätze sind es, die Erleichterung bringen
oder Befreiung von den Nöthen der Gesellschaft, darum wendet man
jetzt der ethischen Seite des Christenthums mehr Aufmerksamkeit zu.
In dem recht verstandenen Evangelium liegen die gewaltigsten sitt-
lichen Kräfte, die in unserer Zeit entbunden werden müssen.
Von den neuesten Schriften in dieser Richtung nenne ich nur
die vom Glasgower Professor der Naturwissenschaften, H. Drummond,
herausgegebenen Broschüren: „Das Beste in der Welt" und „Pax
vobiscum." Sie sind zu Tausenden auch in deutscher Sprache ver-
breitet (Bielefeld bei Velhagen & Klasing 1891, 1 M.).
Drummonds kleine Schrift: „Das Beste in der Welt" nach Paulus
(1. Korinther Brief 13) setzt den Inbegriff der Liebe fest, in Über-
einstimmung mit der Nächstenliebe, wie sie u. a. gefordert wird
bei Marcus 12, 31 und noch deutlicher bei Matthäus 7, 12: „Alles,
was ihr wollt, dass euch die Leute thun sollen, das thuet ihr ihnen —
das ist das Gesetz und die Propheten." Wer der Nächste ist, das
erklärt Jesus bei Lucas 10, 30 ff.
Eigennützige Besitzer und Fabriksleiter, welche den Wert der
Arbeit nicht schätzen, setzen sich freilich über solche christliche
Forderungen hinaus. Mit der Ausführung «dieser Grundsätze wäre
wol im allgemeinen die sociale Frage zu lösen; ich setze aber hinzu:
mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse und die Zustände des betreffen-
den Landes. Die kirchliche Gesellschaft kann nur mithelfen, maß-
gebende Ausführung ist Sache der staatlichen Gesetzgebung. Im ge-
wöhnlichen Leben ist das Geld allerdings eine Macht; es gibt aber
zwei Imponderabilien, die auf die Dauer noch stärker sind: die Liebe
und der Gehorsam. Familie und Schule haben dieses Feld zunächst
zu bebauen.
Warum habe ich neben die Liebe auch den Gehorsam gestellt?
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Er wird in unserer Zeit durch manches untergraben, am meisten
in der Familienerziehung, aber auch im bürgerlichen Leben. Ich
denke oft an die lehrreiche Schule der früheren Handwerksburschen
und an ihre dreijährige Wanderpflicht. Nur theilweise wird diese
Schule ersetzt durch unsere dreijährige Wehrpflicht, die für die
meisten insofern eine Wolthat ist, weil sie Land und Leute kennen
lernen und sich an eine strenge Zucht gewöhnen, abgesehen von den
körperlichen Übungen. Für eine große Zahl muss auch das Drillen
znr Erziehung gerechnet werden. Das Hobeln geht ja dem Poliren
voran, und eine gute Gewöhnung ist bekanntlich bei der Erziehung
eine große Macht.
Diese Betrachtungen mögen den Übergang bilden zur Besprechung
einer zeitgemäßen „Sitten- und Pflichtenlehre", wie sie für die
Schule noth wendig geworden ist an Stelle des im Februarhefte 1891
des Paedagogiums von mir besprochenen Katechismus.
Zum Schlüsse möchte es mir gestattet sein, meinem bescheidenen
Socialismus auch vom Standpunkte der Volkspädagogik kurz Ausdruck
zn geben.
1. Zufriedenheit und Wolstand erlangt der Mensch nur durch
eigenes Bemühen, und dazu kann der Staat behilflich sein durch
zweckmäßige Agrargesetze und Hintanhaltung von Massenansammlungen
in große Städte.
2. Sorge für ein Eigenthum, wenn es auch noch so klein ist.
Diese Sorge wird sehr erleichert bei einem gemäßigten Tempo im
Rennen und Jagen nach Geld, blos zum Großthun und zu Vergnügungen.
3. Gründung einer Familie und gute Erziehung der Kinder,
wozu ein regelmäßiger Schulbesuch gehört, denn Schul- und Volks-
bildung stehen mit der wirtschaftlichen Wolfahrt in innigem Zusam-
menhange.
4. Naturgemäße, einfache Lebensweise, bei der man sich nach
der Decke streckt und sich nur mit denen vergleicht, die weniger
haben.
5. Bethätigung der christlichen Liebe, wie sie das Evange-
lium fordert.
6. Mitsorge des Staates für Unfälle wie auch für das Alter.
Die Ausgaben können durch eine Progressiv-Steuer von den oberen
Zehntausend gedeckt werden.
Wenn das alles nicht hilft, dann mag in Gottes Namen die Sünd-
flut kommen, die man für das 20. Jahrhundert allgemein befürchtet
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Die Pest des Aberglaubens und ihre Heilung durch die Er
Ziehung.
Von Dr. Carl Pilz-Leipzig.
XjLberglaube ist em Wort, welches wie ein dankler, unheimlicher
Schatten aussieht. Das Licht eines gesunden Glaubens erhebt und
beseligt den Menschen; das Gaukelspiel des Aberglaubens ist zwar
nicht selten unterhaltend, ja bestrickend, aber limmer thöricht und
verderblich. Die Erscheinung dieser geistigen Krankheit, oder —
wie man auch sagen könnte — dieses frevelhaften Spieles und Spukes
ist so alt wie das Menschengeschlecht. Sie tritt schon im alten
Heidenthum und Judenthum auf, und zwar als eine Personificirung
der Vorgänge in der Natur und als Ausstattung der Welt mit aller-
hand Göttern und Geistern, denen man geheimnisvolle Einwirkungen
zuschrieb. Und als in spaterer Zeit, im Mittelalter, ein mystischer
phantastisch-theosophischer Zug vom Orient ausging, als die Wissen-
schaften zum Sinken kamen, als die Magie, der Reliquiendienst, die
Astrologie, Chiromantie, Zauberei, das Hexenwesen und die Gespenster-
seherci sich ausbreiteten, da ging die unheilvolle Saat des Aberglaubens
mächtig auf und verfinsterte die Köpfe. Als dann später die Sonne
der Reformation erschien, wurde es zwar heller in dem Geistesleben
der Menschen, die Ammen- und Pfaffenmärchen wurden verlacht, das
Denken von Fesseln des Wahnes befreit, und der Aberglaube begann
zu weichen. Aber wie man auch denselben bekämpfte, auszurotten
war er nicht, und er hat fort grassirt bis auf den heutigen Tag und
zwar in der neuen Welt wie in der alten, namentlich tiberall, wo die
Denkfaulheit ihm einen günstigen Boden schafft „Kein Fehler", sagt
Prof. Strümpell „ist mehr verbreitet als der Aberglaube, unten und
oben und in der Mitte des Volkes, beiiden Klugen wie bei den Ein-
fältigen, bei den Reichen wie bei den Armen, bei den Vornehmen wie
bei den Geringen, bei den Gelehrten wie bei den Ungelehrten." Und
in der T hat hat es immer nicht blos abergläubische Narren gegeben,
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sondern auch hervorragende Männer, die bei aller Freisinnigkeit doch
von dieser Schwäche nicht loskommen konnten. Voltaire kam ganz
betrübt nach Hause, wenn er auf dem Felde Raben zu seiner Linken
hatte krächzen hören, Rousseau warf kleine Steinchen durch das
Loch einer Säule; wenn ihm der Wurf gelang, hielt er das für ein
gutes Zeichen, und Philipp von Orleans, dieser arge Freigeist, ließ sich
aus dem Kaffee wahrsagen, ob er hingerichtet würde oder nicht Auch
heutzutage erschrickt mancher, wenn ihm eine schwarze Katze früh
über den Weg läuft oder ein altes Weib begegnet. Zu den Personen,
die oft am meisten an abergläubischen Dingen hängen und auch
andere gern in die Schlingen dieses Fehlers führen und bethören, ge-
hören: Schäfer, Todtengräber, Matrosen, Spieler, Jäger, Schauspieler
(besonders auch wahrsagende Frauen), und jeder Ort hat dabei seinen
besondern Aberglauben, so dass der berühmte Reisende Schweinfurth
nicht so ganz unrecht hatte, wenn er sagte: „Der Aberglaube eines
Volkes gehört in die Geographie." Was ist der Aberglaube? Er ist
ein auf subjectiven Gemütszuständen ruhendes und von geschwächter
Verstandesthätigkeit erhaltenes Fürwahrhaltcn von Dingen, die gar
nicht existiren, oder von tibernatürlichen Wirkungen einfacher Dinge;
oder er ist kurz gesagt der gläubige Ausdruck der Verstand losigkeit.
Halten wir diesen Begriff fest, so erkennen wir leicht, was nicht in
den Bereich des wirklichen Aberglaubens gehört. Das Träumen von
Unwolsein ist oft die wirkliche, im Körper auftretende Ankündigung
eines Übels; das Beachten eines solchen Traumes ist daher kein
Aberglaube, sondern Gesundheitspflicht. Wenn man sagt: Ein offen
mit der Schneide nach oben liegendes Messer bedeute Unglück, so ist
dies sehr erklärlich, man kann sich ja leicht verletzen durch dasselbe;
wenn der Besuch sich setzen soll, um die Ruhe nicht mitzunehmen,
so ist das ganz in der Ordnung, da das Hin- und Hergehen eines
Besuches manche Menschen nervös oder unruhig macht. Auch gewisse
Spielereien, wie das Kartenschlagen und Auslegen, das Bleigießen in
der Neujahrsnacht, Holzscheit raffen (wenn man eine gerade Zahl
Scheite errafft, bedeutet es Glück) etc. sind nicht hierher zu rechnen,
da es bloße Späße sind, die zur Unterhaltung dienen; ebensowenig
die Irrungen, die auf falschen Annahmen hinsichtlich der Naturgesetze
ruhen und noch viel weniger die nicht selten auf falschen Schlüssen
beruhenden philosophischen Speculationen und Spitzfindigkeiten, die man
mitunter den aristokratischen oder philosophischen Aberglauben ge-
nannt hat; oder der sogenannte Heilmagnetismus, für den Prof. Nuss-
baum sogar einen Lehrstuhl auf der Universität wünschte. Der wahre
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volksthümliche Aberglaube ist, wie bereits erwähnt, nur das Fürwahr-
halten von Dingen, die der logisch und gesund denkende Verstand
. als ganz unmöglich erkennt.
Wo liegen nun die Quellen zu dieser Krankheit? In tausend
Dingen, so dass man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Vor
allen Dingen ist die tiefste Quelle zu suchen in den Resten des alten
zertrümmerten Naturdienstes der alten Germanen und in dem Hang
zum Wunderbaren , zum Schauerlichen und Abenteuerlichen, der unserm
Volke von jeher eigenthümlich gewesen ist. Zu den weiteren Quellen
oder Brutherden für den Aberglauben gehören: auffallende Natur-
erscheinungen — alte Burgen*) und Klöster — Sinnestäuschungen
oder ungewöhnliche Sinneneindrücke von räthselhaften Erscheinungen,
aus welchen die Phantasie ihre Spukgestalten webt; verworrene reli-
giöse Vorstellungen und Gemütsbewegungen , die entweder in der
Furcht oder im Eigennutz, in der Selbstsucht ihren Grund haben,
oder als Erbkrankheiten aus alter Zeit stammen. Sehr wahr und er-
schöpfend sagt in dieser Hinsicht Prof. Strümpell: „Zu solchen
Gemüthszuständen gehören außer dem Hoffen und Befürchten, dem
Wünschen und Verlangen, das Wolgefallen am Geheimnisvollen und
Räthselhaften und Wunderbaren, die Angst und das Verzagen in
gefährlicher Lebenslage, das drückende Gefühl und die Beklommen-
heit bei drohender Gefahr; die Sehnsucht nach Hilfe, die Leiden-
schaften der Herrschsucht, der Gewinnsucht, das Verzagen bei körper-
lichen Leiden, das quälende Hungergefühl in Zeiten der Noth, die
Sorgen im Hinblick auf eine hilflose Zukunft, der Druck der Gewissens-
bisse, die Sehnsucht der Liebe und der Liebesschmerz, seelischer
Kummer aller Art, Schwärmerei in Erdichtungen, die erhebende oder
niederbeugende Stimmung im Gedankenverkehr mit dem Verehrungs-
wesen, Ahnungen, Vertiefung in religiöse Vorstellungen, die Gefühle
des Hasses, des Neides, der Rache, die Trauer über Verlorenes, Ver-
langen nach einem Aufechluss über das Künftige oder über das Dunkel
des Erlebten." Ja, wahrlich, das sind die geistigen Regungen, die den
Menschen, besonders, wenn ihm das ruhige, gesunde Danken, der
nöthige Halt fehlt, geradenweges in die Arme des Aberglaubens treiben.
Weil nun der Aberglaube so verschiedene Quellen hat, da ist
auch sein Auftreten unendlich verschieden. Das wird sich klar zeigen
*) Bei den Erbauern der alten Ritterburgen betrachte der Aberglaube, das* die
Emmauerung eines lebendigen Kindes die Burg vor Unfällen schütze. Die kleinen
Skeletts, die man bei Abtragungen findet, rühren von diesen Opfern her.
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wenn wir das Gebiet dieser Krankheit nach einzelnen Fällen über-
schauen. Wir betrachten zuerst den Aberglauben, der am unschul-
digsten aussieht. Dass die 12 Tage nach Neujahr Schicksalstage
sind, dass man eine besondere Furcht vor der 13 hat, oder vor dem
Freitage, dass Osterwasser schön macht, vor Bezauberung schützt
und Ungeziefer verscheucht, sind so gewöhnliche Dinge, dass ich
davon absehe. Wol aber will ich zuerst einige abergläubische Sitten
berühren, die in der Familie und schon an der Kindeswiege ihr
Wesen treiben, das immerhin thöricht ist, wenn auch nicht gerade
ein offenbarer Schade dadurch geschieht. Während der Schwanger-
schaft darf die Frau keine Speise aus der Kelle kosten, sonst schreit
ihr Kind nachher viel. Bei der Taufe muss man recht lange läuten,
dann wird das Kind recht klug; schlägt freilich die Thurmuhr während
des Läutens, so stirbt das Kind wieder. Der Name des Kindes darf
vor der Taufe nicht genannt werden, sonst lernt es schwer sprechen;
die Pathen dürfen sich beim Gange zur Kirche nicht umsehen, sonst
lernt das Kind schielen; wenn sich in Böhmen der Geistliche bei der
Taufe verspricht, so redet das Kind zeitlebens im Schlafe. In Alt-
preußen tauft man, wenn ein Mädchen und ein Knabe getauft wird, das
Mädchen zuerst, dass es den Buben nicht nachlaufe; aber in Zürich
werden die Knaben zuerst getauft, weil sie sonst keine Barte bekommen.
Hie und da nagelt man kleine Säckchen mit Amuleten an die Wiege,
legt zwei Messer kreuzweis und ein Gesangbuch oder die Bibel unter
das Kopfkissen des Kindes, oder man badet die Kinder, welche Aus-
schlag haben, mit Osterwasser etc. Mitunter tritt der Aberglaube
symbolisch oder in poetischem Gewände auf. So gab man früher
dem neugebornen Knaben ein Schwert in die Hand, dass er muthig
werden sollte; und dem Mädchen eine eingefädelte Nähnadel, damit
sie fleißig werde. Die Indianer legen den Knaben einen kleinen Bogen
auf die Wiege; in vielen andern Gegenden, wie noch jetzt in Griechen-
land, legt man dem Knaben Geld und Schwert, dem Mädchen Spindel
und Rocken in die Wiege. Mit diesem mehr oder weniger unschul-
digen Aberglauben geht der lächerliche und dumme Hand in Hand.
Das Folgende wird dies zeigen. Wer Muth bekommen will, muss
Hasenkraut in der Tasche tragen; Katzenliebhaber bekommen eine
gute Frau; Schwalbennester schützen vor Unglück. Am Rhein isst
man am Aschermittwoch Hirsebrei und Blutwurst, dass man recht
viel Gold im Beutel behält und vor Fieber bewahrt bleibt. In der
Christnacht knien die Thiere nieder und erhalten auf Augenblicke
menschliche Rede (so dass Bileams Eselin Nachfolger hat); das im
Pwdasroeliinj. 14. Jahrpfttip. Heft II. 8
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Keller bewahrte Gemüse fangt an zu knospen; die Rose von Jericho
öffnet sich in der Christnacht, und Bäume blühen und tragen Christ-
nachtsfrüchte. Das Thierreich genießt die schlimme Ehre, ganz be-
sonders dem Aberglauben dienen zu müssen. Die Kröte als Sinnbild
des Neides bringt viel Unglück. Viele Thiere hat der Wahn als
Todesboten gekennzeichnet, so z. B. heulende Hunde, schwarze Katzen,
die sich aufs Bett setzen oder über den Weg laufen, Pferde, die beim
Umzug nicht weiter wollen, Eulen und Nachtigallen. Ein ans Fenster
pickendes Vögelchen zeigt den Tod eines Verwandten in der Ferne
an. Eines besonders guten Rufes erfreute sich die Martinsgans;
sie galt als Prophet, wenn sie gebraten war. War das Brustbein
hell und klar, gab's einen strengen Winter; war es grob und dunkel,
so stand viel Schnee bevor. Auch die Pflanzen wurden zu Wahr-
sagern gemacht, wie z. B. der Klee, die Bohne, die Haselnuss etc
Lächerlich und thöricht sind namentlich die leider noch oft genug
auftretenden abergläubischen Mittel gegen allerlei Übel. Wer von
Warzen sich befreien will, wickelt so viel Erbsen wie man Warzen
hat, in einen Lappen und schmeißt ihn auf die Straße; der ihn auf-
hebt, bekommt die Warzen (auch mit einem auf der Warze gelegenen
Geldstück fuhrt man dies aus), oder man bestreicht Leichen mit den
Warzen, oder reibt sie im Mondschein. Zahnschmerzen heilt man
vollständig, wenn man stillschweigend vor Sonnenaufgang an einen
Weidenbaum geht, mit einem Splitter so lange in den Zähnen herum-
stochert, bis sie bluten, und den blutigen Splitter in die Rinde des
Baumes steckt. Wer schön werden will, muss viel Hasenfleisch essen";
Taubenfleisch bewirkt Fieber; gebackene Hammelschwänze machen
heiter und starken das Gedächtnis; Schweinefleisch hilft gegen die
Fallsucht.
Gradezu haarsträubende Dummheit leuchtet aus vielen andern
Vorkommnissen in Volkskreisen heraus. In einem Weinberg am Rhein
war vor einiger Zeit alle Abende ein Lichtlein zu sehen; die Menge
hielt es für eine arme Seele, die keine Ruhe im Grabe fände. Es
war aber nichts als eine Mottenfalle. In Fünfkirchen, wo vor kurzem
ein kleines Mädchen aus Schi eck vor einem Schornsteinfeger das Fieber
bekommen hatte, schrieb der Gemeinderichter an den Meister des schwarzen
Gesellen und bat um ein paar Haare des letzteren, um das kranke
Mädchen damit einzuräuchern und gesund zu machen. In Russland
gruben die Bauern vor nicht allzulanger Zeit einen Brunnen, dessen
Wasser als Wunderwasser ausposaunt wurde, das wunderbare Curen
bewirke, gegen alle möglichen Krankheiten helfe und selbst den
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103 —
Teufel austreibe. In Friedrichsruh wollte man vom Himmel gefallene
Ziegelsteine und Sand gefunden haben, auch sah man flammende
Schwerter über Bismarcks Hause. Eine Frau kroch mit ihrer Tochter
in den Backofen, um — von der Dummheit sich zu befreien. Eine
andere abergläubische Frau kochte für ein krankes Kind Thee aus
dem alten Myrtenkranze einer Braut. Natürlich starb da« Kind.
Ein Wunderdoctor der heutigen Zeit will den Typhus durch das
Verbrennen von Judenknochen wegräuchern. Eine Gattin — das ist
unlängst geschehen — sticht sich in den Arm und thut das Blut dem
Manne in den Kaifee, um seine Liebe wieder zu gewinnen. Einen
Backeligen berühren bringt Glück; wenn aber ein Hinkender im
Kaukasus in den Hof tritt, so verkrüppeln alle Hühner in dem Jahre.
Zu den lächerlichen Spielereien der Kinder gehört auch die, dass man
am Weihnachtsfest einen Fingerhut mit Sand füllt und dann die
Häufchen auf das Papier stellt. Der, dessen Häufchen am 1. Feier-
tage zusammengefallen ist, stirbt in dem Jahre. So ganz unbedenklich
ist auch diese Spielerei nicht.
Doch nun wenden wir uns dem gefährlichen und frevelhaften
Aberglauben zn; er führt uns Bilder vor, die jeden Menschenfreund aufs
tiefste betrüben müssen. Wir rechnen liierher zuerst die ganze Wahr-
sagerei, die an die weltberühmte Kartenschlägerin Lenormand in
Paris erinnert, aber anch jetzt noch vielfach vertreten ist und immer
Dummgläubige findet. Im Jahre 1890 machte eine Kartenschlägerin
einer Witwe weiß, dass sie ihr zu einem« Bräutigam verhelfen könne,
nnd nahm derselben viel Geld ab. Ein reicher Mann in Petersburg
ließ einen Complex von Gebäuden bauen, die zu einem Bade bestimmt
waren. Die wahrsagende Zigeunerin sagte ihm, dass er an demselben
Tage, wo er das Gebäude zum Wohnen übergebe, sterben werde. Es
steht bereits zehn Jahre leer. Einem Bauerngutebesitzer in Giesraanns-
dorf in der Lausitz brachte man die Einbildung bei, dass sein ganzes
Haus verhext sei und schwindelte ihm mit abergläubischen Dingen
viel Geld ab. In frühern dunklen Zeiten ließen freilich sich auch
fürstliche Personen, Grafen, Herzöge etc. von Wahrsagern, namentlich
Schatzgräbern dupiren. Schaudern muss man aber, wenn man von
solch entsetzlichen Thaten des Aberglaubens hört, wie ich hier einige
mittheileu will. Das Beschreien, Verwünschen und besonders der
böse Blick treibt hie und da noch sein Wesen und erfasst besonders
Geisteskranke. Vor kurzem ist der Großvater in einer Familie er-
schlagen worden, weil von seinem Blick nach Meinung der Leute der
Enkel einen Ausschlag am Arm bekommen haben sollte. Ein 70 Jahre
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alter Knecht in Wengern hat vor kurzem auf dem Kirchhofe eine
Kindesleiche ausgegraben und ein Stück Fleisch sich auf seine Wunden
zur Heilung gelegt. Im evangelischen Dorfe Kaldau wurde einer
Leiche der Kopf vom Rumpf geschnitten und umgedreht; das müsse
man machen — hieß es — wenn Angehörige schnell hintereinander
sterben. Da man hie und da glaubt, dass Leichen Vampyre würden,
welche das Blut ihrer Kinder begehrten und überhaupt den Lebenden
schadeten, so schnitt ein Bauernbursche dem gestorbenen Großvater
das Haupt ab. Der Verstorbene hatte selbst gesagt, dass er zum
Vampyr würde, wenn man ihm nicht das Haupt abschlüge. Eine
Frau in der Nähe von Danzig erkrankte 1890 am Kindbettfleber und
man nahm an, dass sie von einer Frau im Dorfe verhext sei. Man
suchte die Frau, führte sie zur Kranken, schlug sie dort blutig und
gab der Kranken das Blut. Natürlich starb diese trotzdem. Entsetz-
lich ist es, wenn wir von Ausgeburten des Wahnsinns lesen, wie sie
sich bei Menschen gezeigt haben, die da glaubten, dass sie, wenn sie
Fleisch von jungen unschuldigen Mädchen genössen, alles thun könnten,
ohne zur Verantwortung gezogen zu werden; oder bei jenem Bauer,
der die Herzen von Kindern aß.
Am widerwärtigsten ist der religiöse Aberglaube, der nicht selten
die Bibel mit herbeizieht; und er treibt seine schwarzen Blüten leider
auch immer noch in unserem Volke. So wollte eine Mutter in ihrem reli-
giösen Wahne ihren Sohn opfern, wie Abraham den Isaak. Zum
Glück wurde er ihr noch entrissen. Vor ganz kurzer Zeit wurde ein
großer Handel mit von einem Bischof eingesegneten Madonnen -Gips-
figuren getrieben. Die Abergläubischen kauften sie für 20 Mark das
Stück. Aber die Betrügerei wurde entdeckt, und die Betrüger erhielten
10 Tage Zellenhaft. Wie in katholischen Ländern mit den Heilungen
durch Marienbilder und Reliquien der Aberglaube genährt wird, das
ist so bekannt, dass darüber eigentlich kein Wort gesagt zu werden
braucht. So wissen wir, dass 1732 jeder Student ein Agnus Dei,
welches aus von dem Papste geweihten Wachs bestand, Tag und
Nacht auf der Brust tragen sollte, um vor Leibes- und Seelengefahren
sicher zu sein. Haarsträubend ist, wie sich der religiöse Aberglaube in
früheren Zeiten mit bösen Geistern und namentlich mit dem Teufel
herumschlug, der sich als Bock, Fuchs, Hund, Schwein zeigte und die
Schlangen erschaffen haben sollte.
Mit den Thieren überhaupt wurde im Mittelalter formlich Blas-
phemie getrieben, wie es z. B. historisch nachgewiesen ist, dass man
u. a. den Esel verehrte und ihn beim Hochamte mit niederknien ließ.
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Wenn wir nun nach dieser kurzen Charakterisirung des Aber-
glaubens seine traurigen Folgen überblicken wollen, so müssen wir
zuerst einem Einwände begegnen. Man sagt: Macht doch nicht so
viel Wesens von dem harralosen Volksaberglauben; was schadet es
denn, wenn die Mädchen aus der zerpflückten Blume herauslesen: „Er-
hebt mich, er liebt mich nicht!" oder wenn in Norwegen die Heiratslustigen
durch die Fettehenne ihr Schicksal zu ergründen suchen (indem sie zwei
Zweige dieser Pflanze in Holzritzen stecken und nun warten, ob sie
gegeneinander wachsen oder nicht); wenn man sich beim Spiel nicht
in die Karte sehen lässt, nicht mit einer Schimmeldroschke oder
mit einer Droschke Nr. 13 fahren will, oder wenn man den Kuckuck
zum ersten Male schreien hört und auf die Tasche schlägt, damit
man das ganze Jahr Geld hat, oder wenn man in der harmlosesten
Weise vierblättrige Kleeblätter als Glücksbringer sucht! — Ja, manche
gehen in der Entschuldigung dieses Fehlers noch weiter, indem sie
ihm heilsame Wirkungen zuschreiben und z. B. sagen: Wenn die
Hausfrau glaubt, dass ein in der Stube liegender Strohhalm Besuch
bedeute, so wird sie das Haus hübsch sauber halten. Allein wenu
der Aberglaube auch in unschuldigeren Formen auftritt, so verwickelt
er die Menschen doch in Vorurtheile aller Art und in lächerliche
Widerspräche mit der Natur und der Vernunft, und das ist doch der
Ehre, auf die ein jeder halten soll , nicht zuträglich. Das Schlimme
ist, dass er in den Köpfen von kleineu Anfängen an sich ausbreitet,
schließlich das ganze Verstandesgebiet in Gefahr bringt und so ver-
dummt, dass die Betrüger bei jedem Abergläubischen leichtes Spiel haben.
Doch viel trauriger und beklagenswerter sind die Folgen bei den
schlimmeren Arten des Aberglaubens, die wir oben bereits geschildert,
und in erster Linie ist hier der medicinische Aberglaube zu nennen.
Wenn man sich auf die abergläubischen Mittel verlässt , so versäumt
man dabei die allein richtigen und vernünftigen. Wie viele Opfer an
Jung und Alt mag das schon gekostet haben und wie manches Grab
ist die Frucht der schwarzen Saat! Auch in der Wirtschaft ist der
Aberglaube verderblich. Wenn der Bauer glaubt, dass er gutes Vieh
mit Geheimmitteln erlangen kann, so kümmert er sich weniger um
die rechte Pflege und Behandlung seiner Thiere, und wenn er glaubt,
dass ein Zeichen auf der Thürschwelle die Diebe nicht hereinlässt, so
wird er weniger vorsichtig und kann nun erst recht bestohlen weiden.
Und nicht nur der Einzelne, ganze Völker und Länder werden ver-
fuhrt, ausgesogen und verarmen durch die aus Aberglauben begangenen
Thorheiten und Verschwendungen. Denn es ist eine alltägliche Er-
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scheinung, dass der Aberglaube wie andere Krankheiten mitunter epi-
demisch durch Miasma oder Contagion sich weithin ausdehnt und ansteckt,
und es ist gleichfalls eine alte Erfahrung, dass Abergläubische gern
andere bekehren wollen, wie der Leipziger Bürger, der alle Menschen
zum Glauben an den Storchschnabel und an die damit bewirkten ver-
meintlichen Geistererscheinungen bringen wollte.
Und nun denke man an die Erregung von Furcht, Schrecken
und Gram in den leicht empfanglichen und empfindsamen Gemüthern.
Es ist noch nicht lange her, dass eine Braut den Verlobungsring
verlor und in ihrem Aberglauben sich zu Tode härmte und der
Bräutigam sich erschoss. Alles Früchte solch entsetzlichen Wahn-
glaubens. Mitunter bringt sich der Abergläubische selbst in Gefahr.
Bei einem schweren Gewitter soll das Läuten helfen, und doch schlägt
der Blitz so oft in die Thürme. 1783 wurden in Deutschland und
Frankreich während drei Monaten 96 Personen während des Läutens
vom Blitz erschlagen. Und erst neulich ist der Fall in Zopotten (im
Reußischen) wieder vorgekommen. Ebenso traurig sind die Selbst-
peinigungen, die sich Menschen im Aberglauben auflegen, wie es z. B.
noch jetzt in Sicilien geschieht, wo Männer auf den Wegen zur Wall-
fahrtskirche religiöse Geißelungen vornehmen und sich Brust und
Beine so blutig schlagen, dass nicht selten Todesfälle daraus hervor-
gehen. Der verhängnisvollste Schaden des Aberglaubens besteht aber
darin, dass er zu den schlechtesten Handlungen, ja zu Verbrechen
aller Art fuhrt. Und das thut vor allem der religiöse Aberglaube.
Es ist nicht auszusagen, wie viel dieser Moloch im Mittelalter an
Opfern verschlungen; die Haut muss einem schaudern, wenn man liest,
dass in Bamberg binnen 3 Jahren (1627—1630) 285 und in Würz-
burg in derselben Zeit 175 Hexen, ja in Quedlinburg an einem Tage
130 Hexen lebendig verbrannt wurden, und dass man noch 1701 in
Deutschland eine Hexe hinrichtete, weil sie ein fleischliches Liebes-
verhältnis mit dem Teufel gehabt habe.
Noch heutigentags macht der Aberglaube fanatisch, grausam, ja
wahnwitzig und nicht selten vollständig irrsinnig. Voltaire hatte
ganz recht, wenn er sagte: „Der Fanatismus ist für den Aberglauben,
was das Delirium für das Fieber, die Raserei für den Zorn ist. Wenn
einer glaubt, dass er durch Beten eines Psalmen oder durch allerhand
„hocus pocus" seinem Feinde recht schaden könne, so wird seine
Rachlust dadurch nur mehr angefacht. Und sehen wir auch von den
allerschwersten Ausgeburten und Verbrechen des Aberglaubens ab, er
bleibt doch schließlich eine Entweihung des Heiligsten im Menschen,
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des reinen, gesunden und lichten Gottesglaubens, an dem er zehrt
wie eine Afterorganisation am Körper. Mag er auch mitunter den
Spott erregen und belächelt werden, er ist und bleibt eine tief zu
beklagende Erscheinung und besonders auch eine Übertretung des
biblischen Gebotes, das da lautet: „Es soll nicht unter dir gefunden
werden ein Weissager, oder ein Tagewähler, oder der auf Vogelgeschrei
achte, oder ein Zauberer, oder Beschwörer, oder Wahrsager, oder
Zeichendeuter, oder der die Todten frage; denn wer solches thut, ist
dem Herrn ein Greuel."
Ich könnte noch weiter eingehen auf die Verwüstungen, welche
dieser Fehler im menschlichen Geiste anrichtet, und zeigen, wie er
sein Opfer nach und nach für das Leben ganz unbrauchbar macht,
doch es sei genug. Uberblicken wir nun den Weg zur Heilung dieser
Krankheit. Er ist nicht leicht, die Heilung will, wie jede andere,
mit Vorsicht und Schonung ausgeführt sein. Spott, den man als
Heilmittel gerathen hat, dürfte nur bei ganz aberwitzigen Kund-
gebungen des Aberglaubens am Orte sein; überhaupt hilft auch die
verächtliche Behandlung des Abergläubischen nur halb; der Irrthum
desselben wird ins Verborgene getrieben und bleibt dann oft um so
zäher haften. Ob es viel helfen wird, wenn man Vereine wie in Frank-
reich gründet, deren Mitglieder es sich zur Aufgabe stellen, gerade das
zu thun, was der Aberglaube verbietet, also z. B. Freitags reisen, die
Zahl 13 benutzen etc., das ist wol auch noch die Frage. Immerhin
ist aber ein solcher Verein geeignet, die Wahnmeinungen des Volkes
zu erschüttern. Dass man Schwache nicht ohne Noth verletzt, und
dass man nicht überall das Kind mit dem Bade ausschüttet, also mit
dem Aberglauben nicht auch allen Glauben zerstört, darauf ist sicher-
lich zu achten. Es ist ja klar, dass mancher Aberglaube aus einem
guten Keime hervorgegangen ist, als dessen Ausgeburt er dasteht.
So gründet sich manche abergläubische Sitte auf Sagen und Legen-
den, die mitunter einen tiefen, zu beachtenden Sinn haben, der bei Aus-
rottuog des Übels nicht mit zerstört zu werden braucht. Dass es übrigens
schwer ist, Erwachsene vom Aberglauben zu heilen, selbst wenn sie
ihn erkennen, kommt daher, dass er mit dem Leben des Menschen
ganz verwächst. Das alte Wort: scio raeliora proboque, deteriora
sequor passt leider auch hierher. Der große Lessing sagt: „Der
Aberglaub, in dem wir aufgewachsen, verliert auch wenn wir ihn erkennen,
drum doch seine Macht nicht über uns." Und dass die Abergläu-
bischen auch dann noch bei ihrer Meinung verharren, wenn sie auch
das NichteintrefFen derselben sehen, dies spricht das Wort Jean Pauls
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treffend aus: „Dem Aberglauben wachsen die Federn, der Zufall mag
hm dienen oder schaden."
Um so notwendiger ist es daher, dass die Erziehung dem Übel
vorbeugt oder es heilt, und zwar von innen und von außen. Bei der
Heilung von innen ist die erste Regel die, alle Furcht, d. h. alle un-
nöthige unsinnige Furcht aus dem Herzen des Kindes zu verbannen.
Der Furchtsame sieht überall Gespenster, ihm wird das faule Weiden-
holz zum feurigen Manne, der Schatten an der Wand zur Geister-
erscheinung, die Nacht zum Schreckensbild. Zschokke sagt ganz
richtig: „Am Tage ist jedermann beherzt und fürchtet sich nicht,
aber am Abend oder des Nachts, wenn der Körper ohnehin erschlafft,
die Seele ermüdet, die Einbildungskraft und jede Nerve empfindlicher
und reizbarer ist, dann fürchtet der schwache Sterbliche Dinge, die er
am Tage verlacht." Gegen diese Regel, das Kind vor Furcht zu be-
wahren, wird aber tausendfältig gesündigt. „Wart, der schwarze
Mann wird dich holen!" oder beim Gewitter: „Horch, wie der liebe
Gott schilt und zürnt!" und vieles andere kann man täglich hören.
Auch vor der Finsternis sollte man nie dem Kinde Furcht einjagen,
und eher, wie Rousseau will, Spiele im Finstern ausführen lassen. Die
Furcht ist und bleibt eine Hauptquelle des Aberglaubens. Zur Hei-
lung von innen gehört auch, dass das Kind das Unmoralische des
Aberglaubens fühlt und sich schließlich sagt: Ich will nicht aber-
gläubisch sein. Wenn die Uberwindung des Aberglaubens möglich ist
(nach Prof. Strümpell) durch Selbstbeherrschung, Selbstregierung,
durch charakterfeste Grundsätze, treue Pflichterfüllung, Muth und Un-
verzagtheit den Wechsellallen des Lebens gegenüber, Zurückweisung thö-
richter Wünsche und Begehrungen, durch einen heiteren, harmlosen und
zufriedenen Sinn, durch Aneignung und Festhalten eines reinen ge-
läuterten Gottesglauben, so wie ihn die wahre Christenlehre darreicht,
und durch das aus ihm entspringende Vei trauen auf die göttliche
Vorsehung, welche die gesetzlich von ihr geordnete Welt überwacht
und nach ihren Zwecken regiert — so gilt es ganz besonders diese
Kleinodien bei der Jugend zu fördern, soweit es nur möglich ist.
Namentlich muss der Trost in den jungen Herzen feststehen: Denen,
die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.
Aber die Wurzel des Aberglaubens muss auch von außen vertilgt
werden durch Aufklärung und Beseitigung aller schlimmen Unwissen-
heit. Ein englischer Dichter sagt: Das einzige Mittel gegen den
Aberglauben ist Wissenschaft. Nichts anderes kann diesen Pestflecken
aus dem menschlichen Geiste hinwegwischen; ohne sie bleibt der
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Aussätzige ungereinigt und der Sclave unbefreit. Es ist daher die
heilige Pflicht der Schule, dem Kinde nach allen Seiten hin die rechten
Naturkenntnisse beizubringen, die, wie ein Schriftsteller sagt, den Un-
glauben Wieden Aberglauben ausschließen; in dem Schüler denBeobach-
tongssinn zu schärfen (denn schlechtes Beobachten führt zu Täuschungen);
recht viele Experimente vor seinen Augen zu machen und das logische
Denken auf alle Weise zu wecken und zu befestigen. Und hier
schließt sich nun die nicht genug zu wiederholende Forderung an, dass
man beim Unterricht und im häuslichen Verkehr das Kind mit albernen
Ammenmärchen und Gruselgeschichten verschont. Manches Kind, dem
man von Todten, die im Grabe keine Ruhe hätten, vom wilden Jäger,
oder vom Wassermann, der die Kinder in die Tiefe zieht etc. erzählte, ist
dadurch so abergläubisch geworden, dass es sich kaum einen Schritt in
der Dunkelheit zu thun getraut. Lieber soll man dem Kinde Geschichten
erzählen, in welchen der Aberglaube lächerlich erscheint und die
Täuschung leicht ersichtlich ist. Klärt man die Jugend in rechter
Weise auf, dann werden solche Dinge nicht vorkommen, wie in einer
Berliner Gemeindeschule, wo ein an die Wandtafel gemalter Todten-
kopf mit den auf einem Zettel stehenden Worten: „Ihr seid dumm
und ich bin dumm, und morgen drehe ich euch die Köpfe um" einen
furchtbaren Auflauf und eine schreckliche Panik anrichtete. Gegen
die Gespensterfurcht ist es rathsam, auch die Ambition ins Feld zu
führen und das Kind beherzt zu machen; es muss sich schämen, des
Abends nicht über einen Gottesacker gehen zu wollen.
Ehe ich nun meine Betrachtung abschließe, muss ich hier noch
die Bemerkung anknüpfen, dass wir, wenn wir die Religion lals Heil-
mittel des Aberglaubens hinstellen, nicht einem überladenen Glauben
oder der Frömmelei das Wort reden, denn diese ist gerade eine Stufe
zum Aberglauben, wie man noch heutigentags in bigotten Volks-
kreisen sehen kann. Die geschnitzten Heiligen — sagt Lichtenberg —
haben in der Welt mehr ausgerichtet als die lebendigen; ich möchte
sagen, sie haben auch mehr Frömmelei und Aberglauben verursacht
als die lebenden. Aber ebenso sehr ist zu wünschen, dass nicht eine
schale Freigeisterei und ein verblendeter Atheismus in unserm Volke
noch mehr Unheil anrichte, denn sie sind ebenfalls Stufen zum Aber-
glauben, wie ja die französische Revolution des vorigen Jahrhunderts
beweist, in welcher sich ein Diener damit brüstete, dass er nicht
einen Buchstaben mehr als sein Herr glaube und wo man doch den lächer-
lichsten Thorheiten anhing. Man muss mit Schiller ausrufen : Drum edle
Seele, entreiß dich dem Wahn und den himmlischen Glauben bewahre!
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Es ist wol anzunehmen, dass es nicht leicht möglich sein wird,
den Aberglauben im Volke gänzlich zu vertilgen, weil so viele Fac-
toren zu seinem Entstehen zusammenwirken, und wenn in heutiger
Zeit so viele Tausende nach Trier pilgerten, um sich bei dem heiligen
Rocke, der unter den vielen (über 18) heiligen Röcken als der echte
erklärt worden ist (welcher von der Jungfrau Maria gewebt und mit
dem Christuskinde so gewachsen sein soll, dass ihn der Herr auch
als Erwachsener tragen konnte), Glück und Segen zu holen, so
könnte man fast verzweifeln; aber ich bin überzeugt, dass unsere
Zeit, die mit manchem Gespenst einen siegreichen Kampf gefiihrt
hat, auch den Berg des Aberglaubens mit seinen schwarzen, unheil-
bringenden Kratern um ein gutes Stück abtragen wird, und wenn
diese meine Betrachtung auch nur dazu diente, ein Körnchen von
diesem unheimlichen Berge loszureißen, so würde ich mich freuen.
Möge auf deutscher Erde überall in Dorf und Stadt, bei hoch und
niedrig, jung und alt, die Flamme der Aufklärung brennen und möge
der Aberglaube bald nur noch als ein trauriges Denkmal der Unwissen-
heit in nnsern Büchern, aber nicht in unsern Herzen stehen! Das
gebe Gott!
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Pädagogische Rundschau.
Die Pädagogik als Kunstlehre. Über dieses Thema hat bekanntlich
Herr Kreisschulrath Dr. Weygoldt-Karlsruhe auf dem Mannheimer Lehrertage
einen Vortrag gehalten, welcher beifallig aufgenommen und dann mehrfach
abgedruckt wurde. Im Verlaufe seiner Ausführungen citirte Herr Dr. Wey-
goldt auch eine Reihe von Autoren (bez. Autoritäten), welche Beiträge zur
Belenchtung seines Themas geliefert haben. Doch vermisst man den Namen
eines Mannes, der dasselbe gründlicher behandelt hat, als alle die genannt sind,
nnd es überdies In demselben Sinn und Geist behandelt hat wie Herr Dr. W.
Dies ist der Münchener Universitätsprofessor Dr. J. F roh schäm m er, der seit
vierzig Jahren mit seltener Kraft und großen persönlichen Opfern der freien
Wissenschaft gedient hat, und dessen geistvolle, für die Pädagogik hoch be-
dentsaroe Werke, auch Herrn Dr. W. wol bekannt, den Schulmännern aller
Stufen bei jeder schicklichen Gelegenheit empfohlen werden sollten. Wir
glauben daher eine nicht überflüssige Ergänzung zu Weygoldts Vortrag zu
liefern, wenn wir insbesondere auf Frohschammers Buch: „Über die Organi-
sation und Cultur der menschlichen Gesellschaft" (München 1885 , Ackermanns
Nachfolger) aufmerksam machen, dessen dritter Haupttheil dem Erziehnngs-
wesen gewidmet ist und in einem Abschnitte unter dem Titel „Die Organe der
Erziehung" (S. 418 — 436) auch das obige Thema erörtert. Einige Stellen
dieses Abschnittes, die zu Dr. Weygoldts Vortrag in naher Verwandtschaft
stehen, mögen hier Raum finden:
„Tn den Schalen handelt es sich hauptsächlich um Bildung des Intellects
und um Beibringung bestimmter Fertigkeiten und Kenntnisse, die für den
geistigen Verkehr befähigen. Doch muss dieser Unterricht stets anch mit er-
ziehender Tendenz verbunden werden, d. h. für Bildung des Gemüthes und
Willens geeignet sein. Die Thätigkeit der Lehrer ist eine künstliche, berufs-
mäßige, ja gewissermaßen künstlerische, insofern es sich darum handelt, die
Anlagen des Kindes zur Entwicklung zu bringen und die Idee des Menschen
an ihm zur Realisrung zu fördern. Insofern könnte man die Thätigkeit des
Lehrers als die höchste Kunstübnng betrachten nnd bezeichnen. Indes ist der
künstlerisch bildenden und schaffenden Thätigkeit desselben eine Schranke
gesetzt durch das Material selbst, das zu bearbeiten, zu gestalten ist: durch
die lebendige, bewusste und wollende Menschennatur. Diese ist eben nicht
blos passiv, wie der Stoff des Künstlers, und soll es nicht sein, sondern stets
auch activ, und die Aufgabe des Lehrers ist es, den Künstler im Menschen
selbst zu wecken, dass er sich selber bilde, zum intellectuellen und insbesondere
zum ethischen Kunstwerk nach Möglichkeit gestalte.
Dieser Umstand nun . dass es der Lehrer und Erzieher bei seiner Berufs-
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thätigkeit mit einem lebendigen, bewnssten, wollenden Stoff zu thun hat, den
er bilden soll, das» also das Object seiner künstlerischen Bearbeitung eben ein
Subject ist, fordert eine besondere Begabung desselben: die nämlich, dass er
die innere, selbstständige Mitthätigkeit des Zöglings gewinne, die Hingabe von
dessen Selbst an seine Thätigkeit und an ihn, an seine Person. Es gibt
Menschen, die von Natur aus beanlagt sind, Sympathie zu erwecken, allenthalben
Theilnahme für das zu finden, was sie sagen und thun, und darum entgegen-
kommende, vertrauende Hingebung für ihre Belehrung und Leitung. Dies sind
die geborenen Pädagogen; sie sind befähigt, die kindliche Natur zu bilden,
ohne die Selbstständigkeit des Geistes zu beeinträchtigen, da sie freiwillige
Antheilnahme und Hingebung finden. Außer dieser natürlichen Grundeigen-
schaft aber wie viel anderer wichtiger Eigenschaften bedarf der Lehrer und
Erzieher für tüchtige Erfüllung seines Berufes! Heiterkeit des Gemüthes und
doch wieder Ernst in der Behauptung der Autorität, Kindlichkeit, Fähigkeit
zur kindlichen Natur hinabzusteigen und doch wieder männliche Würde, um
sie emporzuführen, Lebhaftigkeit, um aufzuregen und Theilnahme zu finden,
und doch wieder Ernst und Ruhe, frische, freithätige Phantasie und doch auch
Freiheit von Phantasterei, klaren Verstand, besonnene Urtheilskraft u. s. w.
Der Verein aller trefflichen, oft scheinbar sich widersprechenden Eigenschaften
ist nöthig, um einen vollkommenen Pädagogen zu ermöglichen ....
Den Lelirer-Bildungsanstalten erwächst durch all diese Erfordernisse für
tüchtige Lehrer und Erzieher der Volksjugend eine gar große und schwierige
Aufgabe! Zunächst schon handelt es sich darum, jene auszulesen, welche die
richtige natürliche Begabung besitzen, jene Natur-Eigenschaften, von denen
eben die Rede war, und die nicht richtig Begabten zurückzuweisen, damit sie
nicht für Lebenszeit zur Thätigkeit in einem Bernfe genöthigt werden, zu dem
sie nicht geeignet sind und in welchem sie darum sich selbst und die Jugend
erfolglos abquälen. Denn die genannten Eigenschaften sind um so noth-
wendiger, je mehr es sich, wie in der Volksschule, nicht Mos um Belehrung,
Unterweisung, sondern auch um Erziehung handelt, — während allerdings
ein Lehrer der eigentlichen Wissenschaft sie eher entbehren kann, da bei ihm
der schon mündigen Jugend gegenüber es sich fast ausschließlich um Mitthei-
lung genauerer Erkenntnisse handelt . . .
Was aber dem Lehrer und Erzieher der Volksjngend in der Schule am
meisten noththut zur gedeihlichen Wirksamkeit, das ist Begeisterung für seinen
Beruf. Diese kann nur entstehen und erhalten werden durch hohes Interesse
für die menschliche Natur und deren Bildung und durch liebevolle Theilnahme
an der Kindesnatur und deren Entwickelung und Gedeihen. Ein wissenschaft-
licher Forscher kann seiu ganzes Interesse der Sache selbst und deren Erfor-
schung zuwenden und braucht sich bei der Mittheilung der Resultate derselben
um die Zuhörer oder Leser selbit wieder nicht zu kümmern. Bei dem Lehrer
der Jugend ist es anders. Was er Sachliches mitzutheilen hat, ist für ihn
selbst ein Altbekanntes und Gewohntes, wofür das Interesse nicht fortdauernd
in gleicher Weise lebhaft sein kann; dagegen kann die kindliche Natur in
ihrer Eigenheit und in ihrer Entwickelungsweise immer wieder seine innige
Theilnahme erregen, ihn lebhaft interessiren und die Liebe und Begeisterung
für seinen Beruf stets neu beleben. Um aber dieses Interesses für die Kindes-
natur und deren Entwickelung recht fähig zu sein, ist höchst förderlich, ja
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uothwendig, diese Natur selbst, soweit nur imuier möglich, nach all ihren Fähig-
keiten und Entwickelungsarten kennen zu lernen. Eingehendes Studium derselben
ist daher für den Erzieher unerläßliche Aufgabe, und psychologische oder all-
gemeiner: anthropologische Studien sollen ihn unablässig beschäftigen und sollen
darum auch eine Hauptbeschäftigung in Lehrerbildungsanstalten bilden."
Körperliche Züchtigung in der Schule. Unlängst brachte die
.Nene badische Schulzeitung" eine längere Abhandlung über das Thema:
.Die in der Volksschule zulässigen Strafmittel, insbesondere die körperliche
Züchtigung" von G. A. Weber, Lehrer in Zweibrticken. Die Arbeit ist ein
schönes Zeugnis fleißigen Studiums, pädagogischen Geistes und maßvollen ür-
theils und wird wol den Beifall der allermeisten ihrer Leser gefunden haben.
Wenn trotzdem hier einige Bemerkungen an dieselbe geknüpft werden, so
geschieht dies deshalb, weil der Verfasser (Herr Weber) sich u. a. auch auf
den Herausgeber des „Ptedagogiums" bezogen hat und zwar in einer Weise,
die nicht blos persönlicher Art, sondern auch von sachlicher Bedeutung ist.
Herr Weber erwähnt, dass ich auf der ersten Versammlung des deutsch-
österreichischen Lehrerbundes (1886) mit aller Entschiedenheit den Antrag
anfeine Petition um Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung
be kämpft habe. Das ist ganz richtig, und auch gegen die beigefügte Skizze
meiner Ausführungen habe ich nichts Erhebliches einzuwenden. Anders ist es mit
den zwei Sätzen, welche Herr Weber noch folgen lässt und welche lauten:
-Solche Worte gehen entschieden zu weit und schweben über der realen Erde
nnd über dem wirklichen Schulhans. Die Abstimmung des Lehrerbundes ergab
181 Anhänger, 168 Gegner der körperlichen Züchtigung."
Was nnn znnächst die letztere Angabe betrifft, so muss sie den Eindruck
machen, es seien auf dem erwähnten Lebrertage die Anhänger der körper-
lichen Züchtigung in der Majorität gewesen, und zu der Vermuthung veranlassen,
die beantragte Petition sei wirklich zustande gekommen. Thatsächlich aber
waren bei der ersten Abstimmung die Gegner der körperlichen Züchtigung:
in der Majorität, und erst bei einer zweiten Abstimmung, nachdem sich eine
Anzahl derselben bereits entfernt hatte, ergab sich jenes entgegengesetzte
Resultat. Was man nun auch hierzu sagen möge: Thatsache ist, dass die be-
antragte Petition um Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung in die
österreichische Volksschule unterblieben ist, und das bezügliche Verbot noch
heute besteht.
Dies führt mich auf den Punkt , welcher meines Erachtens für jene Ver-
sammlung maßgebend sein mnsste, von Herrn WTeber aber nicht in Betracht
gezogen worden ist. Nämlich : es ist ein großer Unterschied, ob es sich darum
bandelt, die noch zu Recht bestehende körperliche Züchtigung abzuschaffen,
oder darum, die bereits abgeschaffte körperliche Züchtigung wieder ein-
zuführen. In der ersten Form ist die Frage z. B. in Preußen gegeben, in
der zweiten wurde sie auf jenem österreichischen Lehrertage aufgeworfen. Im
ersten Falle muss die Lehrerschaft meines Erachtens sagen: Ergreift, ihr
Schulbehörden, vor allem geeignete Maßregeln, dass wir ohne körperliche Züch-
tigungen unseren Beruf erfüllen können, dann werden wir auf dieses Strafmittel
mit Freuden verzichten: im zweiten Falle muss sie sagen: Nachdem die körper-
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liehe ZUchtigang gesetzlich abgeschafft ist, womit wir principiell einverstanden
sind, bitten wir die Schulbehörden um Ergreifung solcher Maßregeln, welche
geeignet sind, dieses Strafmittel zu ersetzen. Um den letzteren Punkt hätte
sich auf jenem Lehrertage die Discussion hauptsächlich bewegen sollen und
sollte sie sich auch heute stets bewegen, so oft sie wieder erhoben wird. Leider
aber gibt es noch heute Lehrer — ich habe deren einige kennen gelernt,
hoffentlich ist es nur eine kleine Minderheit — welche principiell für Bei-
behaltung der körperlichen Züchtigung in der Volksschule sind und die Führung
des Stockes als eines ihrer wichtigsten Amts- und Ehrenrechte betrachten.
Jede Einwendung hiergegen nehmen sie ungefähr mit derselben Entrüstung
auf, wie ein absoluter Selbstherrscher die Aufforderung zur Niederlegung seines
Scepters aufnehmen würde. Ich aber bin und bleibe der Ansicht, dass die
Ehre des Lehrerstandes dadurch, dass er des Schlagens der Schulkinder über-
hoben wird, ebensoviel gewinnt, wie dadurch, dass er von den „ niederen
Küsterdieu8tenu befreit wird. Und was die liebe Jugend betrifft, so bin
ich der Ansicht, dass Kinder, welche schlechterdings nicht ohne Prügel gezogen
werden können, nicht in die öffentliche Volksschule gehören. End-
lich bin ich der Ansicht, dass die Volksschullehrer alles unterlassen sollten,
was der Meinung Vorschub leisten kann, die Volksschule sei eine Anstalt
für Proletarierkinder, wo der Stock als selbstverständliches Znchtmittel
sein Recht behalten müsse, während er unter Kindern der „besseren Stände"
verpönt sei.
Aus diesen Gründen rechne ich mir es zum Verdienste an, jene Petition
um Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung vereitelt zu haben. Auch
weiß ich und wusste ich schon damals, dass die fragliche Petition nicht nur
keinen Ei folg gehabt, sondern der Lehrerschaft eine empfindliche Zurecht-
weisung eingetragen hätte , die in Verbindung mit den Kundgebungen der
„öffentlichen Meinung" ihr wol mehr Kummer bereitet haben würde, als meine
wolgemeinte und wolüberlegte Opposition und Warnung. Es thut mir leid,
dass dieselbe nicht jedermann gefallen hat; aber es thut mir nicht leid, meiner
Überzeugung energischen Ausdruck gegeben zu haben. Ich weiß, dass ich
hierdurch der österreichischen Volksschule und Lehrerschaft einen guten Dienst
geleistet habe. Und wir wollen doch alle das Wol der Schule und des Lehrer-
standes, im Einklang mit der stetigen Besserung der Cultnr und Gesittung.
Wer dazu glücklichere Wege weiß als ich, den kann und will ich nicht be-
kehren; wo ich aber aus langer und vielseitiger Erfahrung, sowie durch alle
nur mögliche Überlegung das Richtige gefunden zu haben glaube, da lasse auch
ich mich nicht bekehren, selbst dann nicht, wenn behauptet wird, meine Worte
„schweben über der realen Erde und dem wirklichen Schulhaus". Ich habe
die reale Erde und das wirkliche Schulhaus in einem langen Schuldienst und
unter sehr verschiedenen Verhältnissen tattsam kenuen gelernt und rechne
dazu auch jene traurigen Fälle, welche unter dem Titel „Züchtigung eines
Schnlknaben mit tödlichem Ausgang" bekannt sind, und von denen einer in
dem nämlichen Blatte vorgeführt ist, wo der Schluss des Aufsatzes von Herrn
Weber steht. Ich selbst habe einige höchst fatale Züchtigungsfälle amtlich
erlebt und mit vieler Mühe zu einem für die betreffenden Lehrer glimpflichen
Ende geführt. Aber man soll mir nicht zumuthen, einer Praxis das Wort zu
reden, welche im ganzen von sehr fraglicher Heilsarakeit ist, in einzelnen,
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immerhin nicht ganz seltenen Füllen aber zu tragischen Folgen führt und
dann in weiten Kreisen der Schnle bittere Feindschaft erweckt.
Schließlich berichtet Herr Weber über meinen Standpunkt noch Folgeudes:
„üittes war auch nicht immer radical für Ausschließung der körperlichen
Strafen engagirt. Früher, als er noch Schulstaub schluckte, da meinte er.
anstreben müsse jeder die gänzliche Beseitigung derselben aus der Schule, und
darin geben wir ihm recht. Nur sollten, fährt er fort, die Schulbehörden,
solange es nun einmal noch Kinder gibt, welche allen gelinden Zuchtmitteln
Trotz bieten, die Bestrafung grober Vergehen und hartnäckiger Widersetzlich-
keit selbst in die Hand nehmen. Denn nicht nur das Kind bedürfe des Schutzes
gegen leidenschaftliche Lehrer, sondern auch der Lehrer und die Interessen
der Schule bedürfen des Schutzes gegen böswillige Kinder, welche vielleicht
noch von ihren Eltern unterstützt und aufgereizt werden." — Die Eingangs-
sätze dieses Passus lauten so, als ob ich meine Ansicht geändert hätte. Darauf
habe ich nur zu bemerken, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass ich das
vorstehende Citat noch heute als mein geistiges Eigenthum anerkenne, also
noch ebenso denke wie „früher", als ich noch „Schulstaub schluckte". Und
somit hoffe ich, dass mir auch Herr Weber die freundliche Gesinnung bewahren
wird, die er mir an anderen Stellen seiner trefflichen Abhandlung bekundet
hat. Dittes.
Die Schulgesundheitspflege auf dem VII. internationalen
Congresse für Hygiene und Demographie, London 1891. Von Dr. Leo
Burgerstein-Wien, Delegirten des k. k. n. ö. Landesschulrathes und Hono-
rary Foreign Counciller beim Congresse.
Das ursprüngliche Programm der IV. Section des Congresses („Kindheit.
Jugend und Schulleben") erfuhr bei den Verhandlungen z. Th. eine Umstel-
lung seines reichen Inhaltes, wodurch an Ort und Stelle die täglich verwendeten
Zeiten fast gleich blieben; der besseren Übersicht wegen soll jedoch hier die
Reihenfolge nach Programmpunkten durchaus eingehalten werden.
Abtheilung I: Das Kind unter normalen Verhältnissen.
Nach der Eröffnungsansprache durch den Vorsitzenden J. R. Diggle,
Präsidenten des London School Board, referirte Dr. L. Burgerstein-Wien über
rdie Arbeitscurve einer Schulstunde". Jeder Lehrer kann die Erfahrung machen,
dass sich nicht selten vor Ablauf einer Stunde Zeichen von Ermüdung bei
Schülern zeigen. Um der Eruirung des Optimums der normalen Länge der
Schullection näherzutreten, wurden nun in vier Classen mit Kindern, die
durchschnittlich 11 J., 11 J. 10 M., 12 J. 2 M. und 13 J. 1 M. alt waren,
nach bestimmtem Schema gearbeitete, passend vorgedruckte, ganz leichte Rech-
unngsaufgaben gegeben und zwar in vier Stücken für Zeiträume von je zehn
Minuten; zwischen den Zehn-Minuten-Arbeitszeiten waren je fünf Iiinuten Pause.
Von vornherein ist ein Ansteigen der Leistung so lange zu erwarten, als
Überschuss an organischem Materiale vorhanden ist. Während des ganzen
Experimentes rechneten nun die 162 Kinder zusammen 135010 Resultat-
ziffern; die Zunahme der gewonnenen Resultatziffem beträgt zusammen von der
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I. zw II. Zehn-Minnten-Arbeitszeit rund 4000 Ziffern
II. III. .. .. „ 3000 „
III. , IV. „ .. „ „ 4000 „
von der II. zur III. Zehn -Minuten -Zeit war aber die Zunahme des Leis-
tungsqnantuius die geringste. Die Fehlerzunahme betrug für alle Individuen
von der
I. zur II. Zehn-Minuten-Arbeitszeit abgerundet 450 Fehler
II. - HI- n v 700 „
III. „ IV. ,, ,, 350 „
von der II. zur III. Zehn-Minuten-Zeit war aber die Zunahme der Fehler die
größte. — Es scheint demgemäß, dass die Kinder bereits in der dritten Viertel-
stunde merkbare Zeichen der Ermüdung geben, unbewusst rasten, um in der
vierten mit erneuter Kraft einzusetzen. Redner beantragt:
„1. Es ist wünschenswert, dass die Frage der geistigen.überbürdung auf
exacte Weise durch experimentelle Untersuchungen studirt werde und dass die
Schulbehörden Untersuchungen in dieser Richtuug fördern mögen.* (Einstimmig
angenommen.)
„2. Ehe die Überbürdungsfrage in einer modernen wissenschaftlichen
Weise studirt ist, sollen die einzelnen Schullectionen im allgemeinen nicht
länger dauern , als drei Viertelstunden , unterbrochen durch Viertelstunden-
Pausen/ (Mit allen gegen eine Stimme angenommen.)
Dr. H. Kuborn- Lüttich sprach über die Fortschritte der Schulhygiene
in Belgien (siehe Verhandlungen des Wiener Congresses 1887), W. A. Lane-
London wünscht Unterricht aller mit Erziehung Beschäftigten in der Anatomie
und Physiologie der Bewegungswerkzeuge, A. Feret-Paris demonstrirte seine
bereits im Jalire 1889 in Paris vorgeführten Subsellien.
G. White-London verlangte in der Schule jedenfalls ein System körper-
licher Erziehung und die dazu nöthigen materiellen Behelfe, als: entsprechenden
Raum, den freien Spielplatz und die gedeckte Halle. Unbedingt soll jede
Schule auch für Schwimmunterricht sorgen. Redner anerkennt die bezügliche
Action des London School Board, der beschlossen hat, überall dort, wo sich
ein für den Unterricht nicht ganz geeignetes Schwimmbad nahe dem Schul-
hause befindet, in jeder neu zu erbauenden Schule ein solches einzurichten,
damit die Erziehung aller die Schule besuchenden Knaben und Mädchen all-
mählich in dieser Richtung vervollständigt werden könne. Während des Vor-
trages von White machten 24 gleich costumirte Schulmädchen von 7 — 12
Jahren unter dem Commando einer Lehrerin neuerdings in Londoner Volks-
schulen eingeführte Frei- und Ordnungsübungen auf dem zu diesem Zwecke
geräumten Podium des Saales, um gewisse Stellen des Vortrages zu illustriren;
diese Übungen boten natürlich für uns nichts Neues.
Lord Meath -London, spricht sich auch für den Schwimmunterricht und
— im Gegensatz zu White — gegen das Geräthtumen in Volksschulen aus.
Er hat bereits im Hause der Lords einen eben in Verhandlung stehenden
Gesetzentwurf betreffend physische Erziehung in der Volksschule eingebracht,
nachdem er sich von dem bisherigen traurigen Stand dieser Sache in England
fiberzeugte: Von sämmtlichen englischen Städten mit mehr als 15000 Ein-
wohnern antwortete nur etwa die Hälfte bejahend auf seine Anfrage, ob irgend
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eine Körperübung — wenn auch nur zwischen den Schultischen — von Schul-
wegen in der Elementarschule getrieben werde.
Folgende, ursprünglich von N. S mit h- London aufgestellte Thesen werden,
die erste mit Majorität, die zweite und dritte einstimmig angenommen: 1. „Die
Haasarbeit der Schulkinder ist einzuschränken." 2. „Ausgiebige körperliche
Erholung soll vorgenommen werden. w 3. „In den Intervallen zwischen den
Übungen soll dem Körper gehörige Rast gegeben werden."
Dr. A. Schofield-London spricht sehr überzeugend von der Notwendig-
keit hygienischen Unterrichtes für das Mädchen als künftige Gattin und Mutter,
Hausverwalterin und Erzieherin, von dessen Wert für das Weib zur Verlänge-
rung des Lebens nnd Erhaltung der weiblichen Reize. Redner betont, dass
unter den armen Gassen die Gesundheit des Mannes thatsächlich seine Haupt-
stutze, die einzige Garantie für Weib und Kind ist, Trunkenheit u. s. f. oft
ihre Ursache nur in einem ungesunden, unordentlichen Heim, schlecht gekochten
Mahlzeiten u. dgl. hat, und beantragt die (einstimmig angenommene) These:
„Dieser Congress tritt warm für den Unterricht der Mädchen und Frauen in
der persönlichen Hygiene und der des Haushaltes als integrirenden Theil ihrer
Erziehung ein."
Sir Ph. Magnus -London plaidirt für den Handfertigkeitsunterricht mit
Rucksicht auf dessen intellectuellen, schuldisciplinären, industriellen und ökono-
mischen Wert, und weist darauf hin, dass, wenn er auch die für rein geistige
Arbeit verfügbare Zeit vermindert, er dafür durch die Unterbrechung die Em-
pfänglichkeit für geistige Arbeit steigert und einen Theil der Bestrafungen
mit ihren deprimirenden Wirkungen wegfallen macht.
Dr. Desguin -Antwerpen spricht über die Hygiene des neugeborenen
Kindes; in den großen französischen Städten wird die Kenntnis der ersten
Pflege Neugeborener im Volke durch massenhafte Verbreitung passender Flug-
schriften beträchtlich gefördert.
Abtheilung II: Das Kind unter abnormen Bedingungen.
W. Mitchell-Glasgow stellt die Thatsache fest, dass bei den arbeitenden
Classen, z. B. in Glasgow, häufig ein Zimmer als Wohnung für eine Familie mit
halberwachsenen Kindern, ja sogar mit Aftermietern, benutzt wird und ver-
langt gesetzliches Eingreifen gegen diesen Übelstand, ganz besonders wegen
seiner moralischen Folgen. Eine diesbezügliche These wird nach längerer
Discuasion abgelehnt.
Dr. H. Kuborn hat die Bewegung der Criminalität im Vergleiche mit
der der Volksbildung für Belgien studirt, ersterc während eines Zeitraumes
von 50, letztere während eines von 40 Jahren derselben Periode und zwar auf
Grund der Amtsacten, wobei auf gewisse Änderungen der Gesetzgebung hin-
sichtlich der Verbrechen gebürend Rücksicht genommen wurde, was auf die
Länge der den einzelnen Durchschnittsberechnungen zugrunde liegenden Zeit-
stöcke von Einfluss war. Diesen Verhältnissen Rechnung tragend hat Kuborn
drei Tabellen aufgestellt, eine für die Verbrechen im allgemeinen von 1850
bis 1875, die andere für die schweren Verbrechen 1836 — 1875, die dritte
für die Verbrechen überhaupt, betrachtet vom Gesichtspunkte der Criminal-
gesetzgebung seit der Reform derselben (1867) bis 1885. Kuborn gelangt
Pädagogium. 14. Jahrg. Heft II. 0
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auf streng logischem Wege zu dem Schlüsse, dass die Zahl der Verbrechen sich
in Belgien im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer beständig vermindere. Die
charakteristischen Ziffern am Anfang und am Ende der ganzen Curve sind für
die schweren Verbrechen: Einer auf 70141 Einwohner 1836—1839,
„ „ 102 523 h 1868—1875;
Verbrechen überhaupt: „ „ 18 452 „ 1850 — 1855,
„ „ 40 367 „ 1881—1885.
Um mit der Bewegung der Verbrechen jene der Volksbildung in Vergleich
zu setzen, betrachtet Kuborn die Ziffern, welche die Vermehrung repräsentiren :
der Volksschulen, des Lehrpersonales, des Schulbesuches im Verhältnis zur
Bevölkerungsziffer, der Auslagen für Unterricht und der nach den Assentproto-
kollen des Lesens und Schreibens Kundigen. Die Zahlen der letzteren sind in
Procent der Abgestellten:
1843:4915%; 1850: 5515%; 1860: 6059%; 1870: 70-77%;
1880: 7834%; 1883: 81-51%.
Das constant umgekehrte Verhältnis von Criminalität und Volksbildung
wird in die Augen springen durch die bezüglichen Curven.
Nach Abrechnung der Idioten von Geburt sind in Belgien unter 1000
Geistesgestörten 2"94 absolute Analphabeten und 1*54 solche, die eine mehr
oder weniger vollständige Schulbildung genossen haben. — Redner bezieht
sich auch noch auf die Selbstmorde. — Kuborn hat durch seine Arbeit den
allgemein gültigen Nachweis geliefert, es sei die seinerzeit von Franzosen
für Frankreich aufgestellte Behauptung falsch, dass die Moralität in umgekehrtem
Verhältnis zur Volksbildung stehe (!).
Oberst Prendergast-London. Man bemüht sich in England seit längerer
Zeit mit viel Erfolg, jugendliche Individuen, die vom rechten Wege abweichen,
in eigene Schulen zu bringen. In die r Industrial Schools" werden bettelnde,
vagirende, in Gesellschaft von Gewohnheitsdieben betroffene u. s. f. Kinder
gebracht. Infolge der Industrial School Acte haftet solchen Kindern kein Makel
fürs Leben an. — Kinder, die dem Schulbesuch ausweichen, kommen neuerlich
in einen eigenen Zweig der Industrial Schools, die Truant Schools, wo ihnen
Unterricht und Schulleben überhaupt recht angenehm gemacht wird; die Wir-
kung eines einmonatlichen Besuchs dieser Schulen ist gewöhnlich eine vortreff-
liche (1890: 90% für regelmäßigen Schulbesuch gewonnen!), oft begleitet von
großer Dankbarkeit der Eltern. Hilft die Truant School nicht, so kommt das
Kind in eine Industrial School; hingegen wurde die Einzelhaft nach ausgiebiger
Erfahrung fallen gelassen. 1880 passirte eine Ergänzung der Industrial
School Acte in wenigen Stunden ohne Debatte beide Häuser des Parlaments:
sie betraf weibliche Kinder, welche von den Eltern zur Prostitution aufgezogen
werden. Die bezügliche Auslage für pflichtvergessene Eltern fremder Kinder
spart den Steuerträgern spätere größere. — Jugendliche Verbrecher kommen
in die Reforinatory Schools. — In Großbritannien sind außer 12 Küstenschiffen,
wo Matrosendienst gelehrt wird, 55 Reformatory Schools (Auslage 1890
119 336 Pfund, 5854 Zöglinge) und 141 Industrial Schools (1890: 360947
Pfund, 22 735 Zöglinge).
Dr. Desguin spricht über die Erziehung armer Waisen; diese muss,
da die Kinder vielfach erblich belastet sind (Alkoholismus, Syphilis, Tuberculose)
vor allem eine gesunde sein, dann eine einfache. Geschlossene Waisenhäuser
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sind aufzulassen und dafür ländliche Colonien und Einmiethnng in Familien
anzustreben.
Frl. M. Nigg- Korneuburg, N.-Ö., wünscht die Errichtung von Kinder-
Reconvalescentenhäusern aus öffentlichen Mitteln und schildert unter Vorzeigung
von Möbeln etc. die Einrichtung des Herzmansky'schen Kinder-Reconvalescenten-
bauses in Weidlingau bei Wien.
L. Davies-London spricht für arme Kinder, ohne Rücksicht auf die
Würdigkeit der Eltern freie Mahlzeiten, nicht nur Mittagmahle an, ebenso Kost
f&r arme Mütter während einer gewissen Zeit aus öffentlichen Mitteln; seine
Forderungen wurden in beredter Weise von Frau Besant- London secundirt.
Was in unseren Schulen „Überbürdung u genannt wird, ist oft nur Nahrungs-
mangel („over-pre&sure , under-feeding"). Der Staat hat den Unterricht
obligat gemacht, er hat auch dafür zu sorgen, dass das Kind die auferlegte
Pflicht erfüllen könne. — Rednerin schlägt folgende These vor: „Indem dieser
Oongress die Pflicht des Staates gegen seine zukünftigen Bürger hinsichtlich
der Erziehung anerkennt, erklärt er, dass Ernährung und Bekleidung zu deren
wirkungsvoller Erziehung nöthig sei." Diese These wird angenommen, nach-
dem eine lebhafte Discussion die Nothwendigkeit des Fortschrittes in der an-
geregten Richtung gezeigt hat. Ein Zusatz zur These Besants verlangte
Anwendung von Strafgesetzen gegen Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen
und wurde auch angenommen.
Abtheilung III: Das unvollkommen constituirte Kind.
Dr. F. Warner-London hat im Verlaufe von drei Jahren 50027 Kinder,
26884 Knaben und 23143 Mädchen, in 106 Schulen so untersucht, dass
jedem Kinde in einem recht hellen Räume ein kleiner Gegenstand (Münze, Blei-
stift etc.) hoch vorgehalten wurde, wobei Redner aus dem Gesichtsansdruck,
den Augenbewegungen, der Kopf- und Körperhaltung etc. sehr rasch auf die
normale oder abnormale Beschaffenheit des Kindes schloss; überdies mussten
die Kinder noch die Hände hoch emporheben, endlich wurde der Gaumen
untersucht. Nachdem auch die Lehrer die Schwachbegabten angegeben hatten,
die Warner allenfalls nicht ausgewählt hatte, wurden die derart ausgeschiedenen
Abnormen genau untersucht, Kopfmaße genommen etc. Nach Warner ist
dieser flinke, Unterricht, Lehrer und Kind wenig störende Methode seitens
eines geübten Spitalarztes mit ganz gutem Erfolge verwendbar. Die Details
derselben hat er allerdings auf dem Congresse nicht geschildert. Als abnorm
wnrden 5851 Kinder, 3616 Knaben und 2235 Mädchen, befanden; Warner
gibt die Specification bezüglich der Defecte des Körperbaues und des Nerven-
systems (Abnormität des Gaumens, des Craniuras etc., oder: allgemeine Balance
schlecht, Augenbewegungen defectiv etc.). Die Ziffern in der Specification,
leider nicht procentisch gegeben, sind auch fast in allen Detailposten bei den
Mädchen geringer als bei den Knaben. Dr. Warner nahm in der Folge in
veränderter Form eine These auf, die ursprünglich von den auf dem Gebiete
der psychopathischen Minderwertigkeiten so wol erfahrenen, leider beim Con-
gresse nicht erschienenen Herren Dr. L. Strümpell, Dr. F. L. A. Koch,
Dr. Emil Schmidt, Dr. Ernst Hasse am Schlüsse ihres gemeinsamen, von
Dr. Kot el mann verlesenen Elaborates aufgestellt worden war. Diese mit
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L
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allen gegen eine Stimme aufgenommene These lautete: „Der Congress ernennt
eine Commission, bestehend ans Personen beziehungsweise erfahren in der
Untersuchung 1. der physischen Beschaffenheit der Kinder, 2. der geistigen
Verhältnisse und Leidenszustände derselben, 3. der Erziehung und der Methoden
mit Kindern umzugehen , 4. der statistischen Couipilation von Thatsachen.
Aufgabe dieser Commission soll es sein, die Verhältnisse der die Schulen be-
suchenden und anderen Kinder zu untersuchen und nach einem bestimmten
Plane vorzugehen. Der Congress ermächtigt die Commission, sich durch
Cooptation zu verstärken und anerkannte Autoritäten um Unterstützung anzu-
gehen, wenn sie es für nöthig findet."
F. Beach-Dartford constatirt, dass die Charity Organisation Society viele
defective Kinder dem Verbrechen zusteuernd gefunden hat. Dr. M. Gauster-
Wien gibt eine Eintheilung der geiBtig Defecten, in dem Sinne, dass sie ent-
weder durch Schule und Haus, oder blos durch Anstaltspflege oder überhaupt
nicht mehr zu heben seien und wünscht Fortschritt in dieser Richtung.
Dr. A. Jakobi-New York betont die Notwendigkeit , die Gesunden,
Starken, vor den Gefahren des Zusammenseins mit Minderwertigen zu schützen.
Dr. L. Down-London constatirt, dass er bei seiner vor 30 Jahren in
einem Londoner Gefängnis gemachten Untersuchung eine auffallend große
Zahl der „Verbrecher" als in der That schwachsinnig befunden habe. Er
weist auf die Correlation zwischen geistiger Kraft und physischer Ausgestal-
tung hin.
Dr. J. M. Rhodes-Didsbury bemerkt, dass ein in Frankreich eben vor-
liegender Gesetzentwurf die Etablirung je einer Schule für epileptische und
einer für nicht epileptische Idioten in jedem Departement verlangt.
J. P. Richards wünscht die Untersuchung jedes neu in die Schule ein-
tretenden Kindes.
Dr. Gnye-Amsterdam erörtert das vielfach beobachtete Auftreten geistigen
Zurückbleibens als Consequenz behinderter Nasenathmung und führt außer-
ordentlich beweisende Fälle aus seiner Praxis dafür auf, wie nach operativer
Eröffnung der verlegten Athmungswege die geistigen Fähigkeiten und die
Leistungen der früher unfähigen Kinder rapid zunahmen. Kein Kind sollte
ohne ärztliche Untersuchung in die Schule eintreten.
Dr. Ed. v. Hofmann-Wien wünscht auf Grund seiner Wahrnehmungen,
dass den besonders in der Pubertätsperiode psychisch erhöht reizbaren rhachi-
tischen und hydrocephalischen Kindern mehr Aufmerksamkeit zugewendet
werde. Redner berichtet unter Vorlage abnorm gebauter Schädeldächer von
ihm secirter Kinderleichen über die bei jugendlichen Selbstmördern beobachteten
auffallenden Abweichungen des Schädelbaues und verweist gleichfalls auf
Gmnd seiner Sectionsbefunde auf die Thatsache, dass unter Umständen ganz
leichte Schläge auf den Kopf den Tod als letzte Consequenz nach sich zu
ziehen vermögen. Die Schule sollte diesen Dingen mehr Aufmerksamkeit zu-
wenden.
Dr. Th. Esch er ich- Graz: Defecte Kinder sind fast alle in der Lage
mit der linken Hand Spiegelschrift zu schreiben. Spiegelschrift bei Knaben,
die über acht Jahre alt sind, ist ein wahrscheinlicher Hinweis auf geistige
Abnormität des Kindes, also mit ein Anhaltspunkt zu der bezüglichen Beurthei-
lnng. Das Procent der Kinder, welche Spiegelschrift zu schreiben vermögen,
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nimmt mit der Höhe der Classe ab, Mädchen schreiben sie länger als Knaben,
es schreiben sie mehr Frauen als Männer.
Dr. F. J. Campbell*) -London. Die Bliudenerziehung soll nicht Wol-
thätigkeitssache, sondern Aufgabe der öffentlichen Erziehungsbehörde sein. —
An Campbeils Schule erhalten sich von den seit 1870 eingetretenen Blinden
80 — 90°/0 selbstständig, manche haben einsehr nettes Einkommen („handsome
incomes"); 1890 erwarben die ehemaligen Schüler zusammen circa 16 000
Pfand. — Das Wichtigste ist vor allem eine richtige physische Erziehung,
welche dem Blinden die ihm von vornherein mangelnde Sicherheit gibt. Die
blinden Rinder in Campbeils Schule spielen und laufen herum, lernen Turnen,
Schwimmen, Rudern, Rollschuhlaufen; es ist die einzige Schule überhaupt in
Europa (nicht nur Blindenschule), welche die Sargant'schen Apparate eingeführt
hat, die ansgiebig und mit bestem Erfolge benützt werden. Es wird amerika-
nisches, deutsches und schwedisches Turnen betrieben. — Außer der physischen
Erziehung muss den blinden Kindern schon vom Kindergarten angefangen
das Verständnis für den Ernst der kurzen und leichten Lection beigebracht
werden. Im Elternhause sollen blinde Kinder nicht erzogen werden. Nach
dem systematischen Unterricht in den gewöhnlichen Schulgegenständen, Hand-
fertigkeit, sowie Ciavier- nnd Harmoniumspiel, wird das Kind für jene Rich-
tung, für welche es Begabung hat, specieil vorbereitet, eventuell für ein Hand-
werk. — Wichtig ist die Thätigkeit der Schule, den ausgebildeten Blinden
Erwerbsstellungen zu vermitteln. — Campbell will, dass alle Blinden aus dem
Zustand des Halb-Pauperismus gerissen werden und der blinde Bettler ver-
schwinde, nnd stellt folgende einstimmig (nnd mit dem Zusätze „und Taub-
stummenu von Moberly) angenommene These auf: „Die Zeit ist gekommen, in
der die Erziehung der Blinden nnd Taubstummen, auf ein höheres Niveau ge-
hoben und durchaus praktisch gemacht, einen Tbeil des nationalen Erziehungs-
systems ausmachen sollte/
Campbell berichtet auch über seine Verbesserungen im Lesen und Schreiben
der Blinden, die er jedoch nicht in die Praxis einführen will, ehe sie nicht von
sehr zahlreichen Blinden und deren Freunden anerkannt sind, um die Zahl der
Methoden nicht zu vermehren.
General Moberly-London bedauert, dass die Londoner Eltern von Taub-
stummen oft aus Unwissenheit, d. h. Unkenntnis des Nutzens, ihre Kinder nicht
in die Specialschulen schicken. Das durch die Lautirmethode Erlernte werde
wol vielfach wieder vergessen, da die Angehörigen aus dem Volke, die nur den
Dialekt kennen, später sich nicht die Mühe geben, den in der Schule erlernten ge-
brochenen Worten des guten Englisch der Taubstummen zu lauschen. Audi
das Ablesen vom Munde halte er nicht für sehr wertvoll. Redner anerkennt
die guten Wirkungen der kürzlich eingeführten körperlichen Übungen und jene
des Kochens bei den älteren taubstummen Mädchen.
Dr. H. Gutzmann-Berlin betont dagegen die Verwendbarkeit des Ab-
lesens vom Munde und den Wert der Lautsprache für die Entwickelung der
Brustorgaue der Taubstummen. — Auf eine Statistik, die sich über 200000
Kinder erstreckt, gestützt, constatirt er, dass von den in die Schule eintretenden
*) Der blinde Diroctor einer großartig eingerichteten, nur durch Priratwol-
thätisjkeit erhaltenen Blindenschule: »eine Frau liest den Vortrag.
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Sechsjährigen bereits 0*5 °/0 an Stottern und Stammeln leiden, im zweiten
Schuljahre 1 °/0> von den 14 jährigen, also am Schlüsse der Volksschulzeit, gar
1*5 °/0. Sonach ist eine energische Hygiene der Lautsprache in der Schule
nöthig und der Staat sollte dafür sorgen, dass die Lehrer in ihrer Ausbildungs-
zeit die nüthigen sprachphysiologischen und sprachhygienischen Vorkenntnisse
erwerben.
Dr. L. Kotel mann *)- Hamburg bringt die mit dem nöthigen Zifferndetail
belegten Resultate seiner gründlichen Studie über die Sehschärfe der Kinder
Vor. Im allgemeinen ist das linke Auge das kräftigere. Sowol bei den Kurz-
ais bei den Weitsichtigen nimmt die Sehschärfe mit dem Grade der Myopie bezw.
Hypermetropie ab. Erblich belastete Kurzsichtige haben eine geringere Sehschärfe
als nicht erblich belastete; sie ist im allgemeinen relativ die beste, wenn nur
die Mutter, schlechter wenn nur der Vater, am schlechtesten, wenn beide
Eltern belastet waren. Die Sehschärfe der Normalsichtigen nimmt mit den Schul-
und Lebensjahren zu, die der Kurz- und Weitsichtigen ab. Redner fordert die
Weiterbekämpfung der Kurzsichtigkeit mit den bekannten Mitteln.
Abtheilung IV: Hygiene des Schullebens.
Dr. 0. Sturges-London spricht über physische Anzeichen von Übeln,
hervorgerufen durch unrichtige Behandlung in der Schule, speciell über Veits-
tanz, der sich allmählich entwickelt, leicht zu übersehen, aber auch leicht zu
constatiren ist, wie Redner an drei damit behafteten Kindern zeigt: Lässt man
sonst auffallende Kinder in der Erregung, z. B. bei Prüfungen, die Arme auf-
heben, Handflächen nach vorwärts, so fällt bei dem mit Veitstanz behafteten
Kinde eine oder die andere Hand zurück oder vor, zittert. Man sollte in der
Schule, wenn angezeigt, den Versuch machen.
M. Morris-London spricht über die — von anderen Rednern bestätigte
— Häufigkeit des Leidens der Kopfhaut „Ringwurm" in den Volksschulen
Londons und die nöthige Behandlung, Dr. C. E. Shelly-Hertford begründet die
Noth wendigkeit und fordert die Führung systematischer Berichte über Infections-
kiankheiten in Schulen.
Dr. L. Kotelmann weist an zahlreichen Photographien und Facsimiles
nach, dass die Schrägschrift erst im Anfang des 16. Jahrhunderts Eingang
gefunden hat. Die hygienischen Vorzüge der Steilschrift liegen vor allem
darin, dass sie nur bei „gerader Mittenlage" des Heftes geschrieben werden
kann, die Schrägschrift aber nnr in anderen Lagen. Jede Rechtslage ist ver-
werflich, weil Kopf und Rumpf dabei nach rechts hin gedreht und das rechte
Auge dabei der Schrift mehr genähert wird, als das linke. Die schräge Mitten-
lage ist nicht weniger nachtheilig, da der Kopf dabei nach links geneigt werden
muss, wobei die Wirbelsäule nach rechts ausgebogen, die rechte Schulter ge-
hoben, das linke Auge der Schrift mehr als das rechte genähert wird. (Wundt-
Lamansky'sches Gesetz: Die Verbindungslinie der beiden Augenmittelpunkte
stellt sich jederzeit parallel der Zeile.) Bei Steilschrift und gerader Mittenlage
hingegen ist zu Kurzsichtigkeit und Rückgratsverkrümmung kein Anlass. Sie
bat auch pädagogische Vorzüge: weil kein schwierig zu merkender schiefer
Winkel auftritt, wird sie im allgemeinen leichter erlernt und der Lehrer
*) Redacteur der vortrefflichen „Zeitschrift für Schulgcsundheitspflege".
IL- .
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braucht nicht immerfort zum Geradesitzen zu mahnen, weil dies von selbst
geschieht. Dr. Kotelmann beantragt die mit allen gegen eine Stimme ange-
nommene These: „Da die hygienischen Vortheile der Steilschrift sowol dnrch
medicinische Forschung als durch das praktische Experiment deutlich erwiesen
und festgestellt sind, und da mit Einführung dieser Schrift die schädlichen
Körperhaltungen in so hohem Grade vermieden werden, welche geeignet sind,
Wirbelsauleverkrümmungen und Kurzsichtigkeit hervorzurufen, so wird em-
pfohlen, Steilschrift in den Volks- und Mittelschulen allgemein einzuführen,
bezw. zu lehren." — J. Jackson-London behandelt denselben Gegenstand,
ausgehend von der Bedeutung des Schreibens und der Handschrift.
Abtheilnng' V: Das Gesetz in seiner Beziehung zum Kinde.
Dr. Jakobi bespricht die gesetzliche Regelung der Arbeit des Kindes in
den Vereinigten Staaten und wünscht die Ausdehnung der Gesetzgebung auch
auf landwirtschaftliche Arbeit, damit der Schulzwang allenthalben durchführbar
sei. Dr. E. Paget-Salford berichtet über nur für England acute Missbräuche
bei der Lebensversicherung von Kindern. —
In der I. Section (präventive Medicin) wurde der Antrag von Dr. E.
Seaton-London angenommen: „Die europäischen Regierungen sind dringend
zu ersuchen, eingehende und systematische Nachforschungen über die Ursachen
der Diphtherie vornehmen zu lassen" , in der IX. Section (Staatshygiene) der
Antrag von Dr. J. G. Currie-Neu -Braunschweig: „Anzeigepflicht für In-
fectionskrankheiten soll für den Arzt und den Haushälter obligatorisch sein."
Als Ort des VIII. internationalen Congresses für Hygiene und Demographie
1894 wurde wegen officieller Einladung der Municipalität Budapests diese
Stadt vorgeschlagen und demgemäß auch gewählt.
Otto Ernst als Lyriker und Essayist. Von C. Ziegler — Eichen.
Die pädagogische Presse hat gewiss nicht nur das Recht, sondern aucli
die Pflicht, neben der Pflege der pädagogischen Wissenschaft und der Vertre-
tung der Standesinteressen auch der Culturgeschichte des Lehxerstandes, wie
ich es nennen mochte, ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden und ihren Lesern
auch solche Amtsgenossen vorzustellen, welche sich durch ihre Leistungen auf
einem anderen Gebiete menschlicher Geistesbethätigung ausgezeichnet haben.
Die nahe Verwandtschaft zwischen den Begriffen Lehrer und Schriftsteller
bringt es mit sich, dass in dieser Beziehung die literarische Thätigkeit die
erste Stelle einnimmt, der sich die Tonkunst anschließt. Noch vor zwanzig
Jahren war die stetige Klage unserer Fachpresse: Mangel an Mitarbeitern, und
heute wird nicht nur ein großer Theil derselben mit wirklich gediegenen
Arbeiten bedient, die Lehrer nehmen vielmehr in allen Zweigen der Literatur
eine bedeutende Stelle ein. Kaum zu zählen sind die pädagogischen Männlein
und Fräulein im „Kürschner", wo allerdings bedeutende Namen und Nullitäten
friedlich nebeneinander stehen. Zu den ersteren gehört auch Otto Ernst, und
es geht schon aus unserer Überschrift hervor, wo er sich seine Sporen ver-
dient hat.
Wer ist nun Otto Ernst? 0. E. Schmidt, so lautet sein vollttändiger
Name, wurde am 7. October 1862 zu Ottensen als vierter Sohn eines Cigarren-
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arbeiters geboren nnd besachte, von einem Bruder seit dem 5. Lebensjahre in
den Elementen des Wissens unterrichtet, von 1869 bis 1877 die Volksschule
seines Heimatsortes. Dem Lehrerstande wurde er durch seinen Lehrer Karl
Bindrich zugeführt, von seinen Eltern war er für den Beruf eines Handwerkers
oder Fabrikarbeiters bestimmt. Bindrich, der das schlummernde Talent er-
kannt und den strebsamen Schüler liebgewonnen hatte, bot ihm aus freien
Stücken unentgeltlichen Unterricht an und nnterwies ihn in selbstloser Weise
ein Jahr lang in deutscher Sprache und Literatur. Von 1878 bis 1883 besuchte
Schmidt das Präparandeum und das Seminar zu Hamburg und förderte sich
nebenher kräftig durch angestrengtes Selbststudium. Seit dem Abgang vom
Seminar ist er Volksschullehrer in Hamburg und tritt seit einigen Jahren auch
unter großem, allseitigem Beifall als Recitator auf.
Mit Gedichten trat Schmidt zuerst 1882 in Zeitschriften an die Öffent-
lichkeit; 1885 wurde seine mit ausgezeichnetem psychologischen Scharfblick
geführte Untersuchung über den Einfluss des Ehrgeizes auf Bildung und
Charakter („Ein Parasit der Seele ") preisgekrönt, und in demselben Jahre er-
rang er mit seinem Essay „Der moderne literarische Dilettantismus und seine
Bekämpfung" den von der „Deutschen Schriftstellerzeitung" für die beste Be-
arbeitung dieses Themas ausgesetzten Preis. Das Jahr 1889 brachte ihm den
Augsburger Schillerpreis für seine bei Hinricus Fischer Nachfolger in Norden
erschienene Sammlung „Gedichte" (Preis 3 M.). Im Frühjahr 1890 erschien
unter dem Titel „Offenes Visier" ein Band gesammelter „Essays aus Lite-
ratur, Pädagogik und öffentlichem Leben" (Hamburg, Kloss. 2.50 M.). Gegen-
wärtig bereitet Ernst die Herausgabe eines Bandes Novellen und Feuilletons vor*)
Von besonderem Einflösse auf die Gestaltung seiner dichterischen Indivi-
dualität ist seine Gattin, eine „lebendige Muse", der die Gedichte zugeeignet
sind, deren er immer wieder „jubelnd gedenken" muss.
„Du mein Weib und meine Muse,
Täglich schenkst Du neue Lieder
Und erweckst ein zartes Echo,
Alte, längst verrauschte wieder.
Und solange Du mir lächelst
Mit den Augen kindlich helle,
Weicht der Dichtkunst süßer Zauber
Nicht von meines Hauses Schwelle."
Sehr anregend wirkte auch sein edler, vielseitig gebildeter Vater auf ihn
ein, dessen Andenken er das „Offene Visier" widmet mit den Worten:
„Was oft in Tagen, die in Nacht versanken,
Mit gleicher Glut in unsern Herzen brannte,
Was dann im Tausch verschwiegener Gedanken
Ein froh beredter Blick dem andern nannte :
Aus diesen Blättern sollt' es Dich umweh'n
Mit der Erinn'rung traumbeglänztem Flügel —
Nun wird's allein durch meine Seele geh'n
Als Geistergruß von einem stillen Hügel." —
- Die „Gedichte" enthalten in einer größeren Abtheilung „Lyrisches und
Episches" und in einer kleineren scharf pointirte „Epigramme", die zum Theil
I<t|bereits erschienen und wird im nächsten Hefte angezeigt.^!). R.
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eine persönliche Spitze haben. Von den übrigen greife ich aufs geratewol zwei
kleinere heraus:
Erkennen und Lehren.
Zu der Erkenntnis Höh'n klimmst Du aus finsterem Thale
Freudig sicheren Schritts; droben ja glühet dag Licht!
Aber willst Du von sonnigen Höhen die Gabe des Lichtes
Tragen ins finstero Thal, irrst Du zumeist Dich im Pfad."
Sinnspruch.
Niemals durchdringst Du einen großen Geist,
Wenn Du an seinem kleinen Irrthum Dich •
Mit überlegnem Stolze hämisch weidest;
Niemals erschließt sich Dir ein edles Herz,
Wenn Du von seinen Zügen all'
Jedweden leisen Fehltritt ängstlich scheidest :
Dem Großen öffne gern und ganz den Sinn;
Denn eine reine Stätte will das Reine.
Dann fällt ein Strahl von jenem Geist auf Dich,
Und jenes Herzens Flamme wärmt das Deine."
Otto Ernst ist ein scharf ausgeprägter Charakter mit einer glühenden
Begeisterung für Freiheit, Recht und Wahrheit; aufs bitterste hasst er jedes
Versteckspiel :
nDer Feige gibt ein schillernd Wort gelegner Deutung hin —
Ein Sinn beherrsche jedes Wort; doch nicht das Wort den Sinn."
Freimüthig und ohne Menschenfurcht offenbart er uns sein Inneres, ein
edles, warmes Herz. Sein begeisterter Idealismus hält sich fern von jeder
Schwärmerei; er ist nicht blind gegenüber dem großen Heer von Übeln in
dieser besten aller Welten, wo
„So nahe wohnt das Leid der Lust,
So nah' das Leben dem Tod.u
Selbst in der Stunde des höchsten Glückes hört erden „ Schrei verborgener
Schmerzen" der Millionen, die in gleicher Stunde
„ don Becher des Todes
Schlürfen mit kaltem verbleichenden Munde."
Und in fast abschreckender Schärfe verkündet er:
„Es ist ein Staub nur, der sich freut,
Die Menschheit blutet morgen wie heut."
Aber der Dichter verliert nicht den Glanben an die Ideale, lässt sich
durch nichts abhalten, für ihre Verwirklichung zu kämpfen.
-Drum, ob ein tiefer Ingrimm um Deine Lippen bebt,
Ob's jäh in Deine Augen heißquellend sich erhebt,
Dn musst der Lüge lachen bei aller stillen Qual
Und trotzig weiter wandern aufwärts zum Ideal."
Er hat ein scharfes Auge für die gesellschaftlichen Sünden unserer Zeit
und führt uns das sociale Elend in ergreifenden Bildern vor:
Vor dem Zuchthause.
Die Djr das Haupt so frei zum Himmel hebt.
Vergesset nicht in Eurem guten Herzen,
Dass hinter diesen grauen Kerkermanern
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Ein redlich Thoil von Eurer Sünde wohnt,
Und laset in Eurem Innern wiederhallen
Den wilden Schmerzensschrei der hier Begrabnen,
An deren Fuß die schwere Kette klirrt,
Und die verdammt sind — auch um Eure Schuld.
Und doch sehnt er sich nicht nach den romantischen Zeiten zurück, doch
hängt er mit jeder Faser seines Herzen» an der modernen.
Viele Gedichte athmen eine tiefe Liebe znr Natur, und treffend versteht
Ernst, worin Theodor Storni eine so große Meisterschaft besaß, die geheimen
Stimmen, das geheimnisvolle Schweigen in der Natur auszumalen.
„Still war alles.
Da zog ein Lufthauch durch die Wipfel der Bäume,
Zog über das ruhige Wasser hin
Und kräuselte seinen Spiegel zu leichten Wellen,
Und sieh! Es rauscht leise über die Fluten,
Der Wellen Geister flüsterten, kicherten, kosten.
Die Geisterklänge trafen mein lauschend Ohr
Und zogen mich fort zn sinnendem Träumen.
Wiederum still war alles."
Oder:
-Welch goldig Leuchten fließt so ungeahnt
Wie leichter Zauber um die starren Bäume?
Was zittert wie geheimer Feierton
Mit leisem Klingen durch des Himmels Räume?
Die Flut des Lichtes rinnt in froher Hast
Vom Fclsenhaupt bis in des Abgrunds Klüfte;'
Und horch! — schon ruft ein Fink mit leisem Schlag
Zaghaften Jubel in die stillen Lüfte.u
Durch einen großen Theil der Dichtungen geht ein gewisser didaktischer
Zug, der oft, namentlich in den als „Episches" bezeichneten Poesien, eine demo-
kratische Färbung zeigt. Es sind Gedankendichtungen, die zum Theil absicht-
lich musikalische Formen verschmähen.
Das eigentliche Lied des Dichters wurzelt in seinem häuslichen Gluck, es
besingt die eheliche Liebe in den zartesten und vielgestaltigsten Tönen. Ernst
bietet uns hier Perlen von unvergänglichem Werte. Hier eine Probe:
Walpurgisnacht.
Zu Boss, mein Lieb, mein süßes Lieb,
Wir müssen schnell von dannen,
Von dannen durch die tiefe Nacht,
Durch Feld und Hag und Tannen!
Hinweg von unsrer Feinde Herd,
Die uns nur Fluch und Hohn beschert
Und uns von sich verbannen.
Blick auf, mein Lieb, mein süßes Lieb,
Walpurgisnacht ist heute!
Es schwirren um den starren Berg
Gar wundersame Leute.
Es drehen sich im Hochzeitstanz
Und treiben wilden Mummenschanz
Die grauen Hexenbräute.
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— 127 —
•
Fürwahr, mein Lieb, mein süßes Lieb,
Sie gleichen ganz den Fratzen,
Die unser Glück vergifteten
Mit Droh'n und süßem Schwatzen.
Die Augen stieren gläsern-kalt;
Die Leiber sind versebrumpft und alt,
Sie heulen wie die Katzen.
Hinweg, mein Lieb, mein süßes Liebl
Hier kann das Glück nicht weilen.
Umfasse Du mich ohne Graun
Und lass uns fttrder eilen!
Wir finden nnsre Heimat doch,
Und lag' sie in der Ferne noch
Viel hundert, hundert Meilen! —
0 sieh, mein Lieb, mein süßes Lieb,
Wie schwinden schnell die Sorgen!
Da steigt die Sonne roth empor,
Die lange war verborgen.
Was dorten prangt in stiller Pracht,
Und was so hell in uns erwacht:
Das ist der Maienmorgen.
Der Essayist Otto Ernst steht in politischer nnd religiöser Hinsicht anf
dem äußersten Fitigel der Linken. Das „Offene Visier" ist dämm nur ein
Bnch für gereifte Männer. Der Titel spannt die Erwartung hoch, aber das
Werk macht sie nicht znschanden. Ein Kämpe von der Art Ernst's kann
getrost mit offenem Visier in die Schranken treten; seine Waffen sind scharf
nnd blank, nnd gewandt weiß er sie zu handhaben. Wahrhaft berückend ist
der Glanz nnd die Schärfe der Diction.
Das Buch enthält folgende Essays: Glauben und Wissen. Religion oder
Literatur als Centrum des Volksschulunterrichts? Der Lehrer und die Lite-
ratur. Ein Parasit der Seele. Constante Majoritäten. Eine Phrase der Geistig-
Armen. Das Elend der modernen Lyrik. Der literarische Dilittantismus. Poe-
tische Anschaulichkeit. Literarische Allotria. Die moderne Literaturspaltung
und Zola. Die Geschlechtsliebe und ihre literarische Bedeutung. Lessings
Nathan und das ästhetische Phrasenthum. Die Charaktere in Goethe's Egmont.
Der Hamerling'sche Ahasver un<T sein Ideengehalt.
Am bedeutendsten sind ohne Zweifel die Aufsätze aus dem Gebiete der
Literatur. Selbstverständlich wird mancher Leser hie und da anderer Meinung
sein nnd den ästhetischen Grundsätzen nicht immer zustimmen. Die Glanz-
leistung ist naturgemäß die Preisarbeit über den Dilettantismus, in der
Pädagogik und Literatnr eng verschwistert erscheinen. Denn das Hauptmittel
zu seiner Bekämpfung besteht nach Ernst darin, dass „man die große Masse
des Volkes consumtionsfähiger macht für die wahrhaft edlen und gediegenen
Erzeugnisse der Dichtkunst, indem man es lehrt, von selbst eine gesunde
geistige Nahrung zu wählen und den Dilettantismus mit seinen wertlosen Mach-
werken beiseite zu schieben."
Einen wunden Punkt deckt die Abhandlung „Literarische Allotria" auf.
Ich setze, gleichzeitig um ein Bild von der Prosa des Dichters zu geben, einige
Stellen hierher: „Der heilige Tempel der Literatur wird von einer schmutzigen
Schacherer- und Trödlerbande umlagert, welche mit dem kreischenden und
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feilschenden Lockruf ihrer Stimme die banalen Instincte des Pablicums gefangen
nimmt . . . Nächstens werden wir es erleben, dass ein nenes Blatt sich erbietet,
den 16 jährigen Jungfrauen nnter seinen Abonnenten Tränme auszulegen und
strebsamen Beamtenjünglingen nach Mittheilung ihrer politischen Gesinnung
und Einsendung der Abonnementsbescheinigung bezüglich ihrer zukünftigen
Carriere das Horoskop zu stellen. . . . Eine ganze Reihe dieser Zeitschriften
hängt dem speeifisch literarischen Theile ihrer Hefte eine wolgefüllte Trödel-
bude an, und mit diesen literarischen Allotrien ist schon recht Respectables
zum geistigen Verderb des Pablicums und zur Verpäppelung seines Geschmackes
geleistet worden. Man kennt die reichbesetzte Tafel für große Kinder: Rossel-
sprung, Schach, Seat, Arithmogryph , Logogryph, Akrostichon, Homonym,
Palindrom, Räthsel, Charade, Rebus, Salon-Magie etc. etc. Man missverstehe
mich nicht: ich weiß, dass man Schach, Seat u.dgl. spielen kann, ohne kindisch
zu sein; aber wer diese Dinge in einem ernsthaften Literaturblatt nicht ent-
behren kann, der ist ein großes Kind, und wer diese Allotrien in das Blatt
hinein bringt, der speculirt auf große Kinder." Mit Recht wendet sich Ernst
auch gegen die Art und Weise, wie das Baby Publicum durch die Texte zu
den Iiiastrationen in zärtliche Bevormundung eingewickelt wird. „Da em-
pfangen wir den unschätzbaren Anfschluss, dass der Bauemjunge, der auf
jenem Bilde neben dem Bauernmädel steht, der Schmalzbanern-Hans, und dass
sie die Nudelbauern-Toni ist. Wir erfahren, dass er mit dem Mädel schäkert,
ihr allerlei Zärtlichkeiten ins Ohr flüstert, ihr sagt, wie gut er ihr sei und
von der Hochzeit spricht, die nun bald kommen werde. 0 glücklich der, den
ihr belehrt! ihr Illustrationsbeschreiber. Man hätte ja glauben können, dass
die beiden über auswärtige Politik oder über Kant's kategorischen Imperativ
„schäkerten." Wäre ich ein reicher Mann, ich legte einen Abzug dieses
Aufsatzes allen Redacteuren und allen großen Kindern unter den Weihnachtsbaum.
In dem Essay über die Literaturspaltung zeigt Ernst, wie Idealismus und
Realismus nichts weniger als contradictorische Begriffe sind. „Man lasse also
die blindwüthige Principenreiterei und prüfe die künftigen Erzeugnisse der
deutschen Literatur einfach darauf hin, ob sie wirkliche Dichterwerke, d. h.
idealistisch und realistisch sind. Und die jüngeren und älteren begeisterten
Vertreter des realistischen Gestaltens können ihr ernstes Streben nicht ein-
leuchtender beweisen, als indem sie auch nach Verkörperung eines positiv-
idealen Elements in ihren Werken ringen. Die Welt, in der wir leben, treffend
zu kennzeichnen, ist etwas Großes; aber die Welt, nach der wir streben, in
dauernden Gedanken und Gestalten zu befestigen, ist gewiss nicht minder
groß. Die erstere Arbeit ist von Zola als bauendem König so gründlich in die
Hand genommen worden, dass nebenher an diesem Bau nur noch die Kärrner
zu thun haben. Aber Zola, der grimmig-düstere Voltaire unseres social-revolu-
tionären Jahrhunderts, wartet auf seinen Ronsseau, oder besser, er wartet auf
einen Mann, der beide Kräfte, die niederreißende und die aufbauende, in sich
vereinigt und die Menschheit durch strahlend helle Beleuchtung des Gegen-
satzes von Gut und Böse in unserer Zeit zu einer mannhaften Auferstehung
emporrnttelt. Wann und wo dieser Mann erstehen wird — wer weiß es?
Wenn er aus unserer Nation erwüchse, so würde sie mit diesem Geiste der
Welt vielleicht das größte Geschenk machen von allen, die ihr die Welt über-
haupt verdankt."
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Einen reichen Genuss gewähren die beiden letzten Abhandlangen, welche
an die Stelle der trockenen philologischen Erklärung eine poetisch durch-
wärmte, nachconstrnirende Paraphrase der Dichtung setzen. Die Abhandlung
über die Geschlechtsliebe enthält eine Fülle feiner psychologischer Bemerkungen
nnd gestaltet sich ungewollt zu einer hohen Wertschätzung der Ehe, d. h.
natürlich der echten Ehe.
Am meisten wird der zweite Essay anf Widerspruch stoßen, welcher als
Mittelpunkt des Volksschulunterrichts den Literatnrunterricht aufstellt, also an
die Stelle der religiösen Erziehung die ästhetische setzt und damit einen
Straaß'schen Gedanken wieder aufnimmt.
Wer das „Offene Visier" tüchtig durchstudirt, der wird ohne Zweifel
reichen Gewinn für seine Gedankenwelt davontragen; es gehört zu den Büchern,
die der Markt nicht eben alle Tage bringt.
Otto Ernst ist nicht nur, wie viele unserer „Jüngsten", stark im Nieder-
reißen, er ist ebenso groß im Aufbauen; er hat nicht nur einen kühlen Kopf,
sondern auch ein warmes Herz. So hat er die beste Aussicht, in unserem Lite-
ratnrkampfe mehr und mehr ein „Rufer im Streit" zu werden und mit offenem
Visier an hervorragender Stelle die Klinge zu schlagen.
Aus der Fachpresse.
Von Rudolf IHetrich-Hottingen-Zurich.
494. Ein Vorläufer Pestalozzis (Fr. Gärtner, Bair. Lehrerz. 1891,36)
Job. Mich. Poppel, gest. 1763. Geburt und Jugend unbekannt; als Student in
den Waisenhäusern zu Freising und Erding thätig. Lange Zeit unsicheres
Tasten nach dem zusagenden Beruf wie bei Pestalozzi. Helfer der durch den
baiiischen Erbfolgekrieg eitern- und obdachlos gewordenen Kinder zu München
wie Pestalozzi zu Stans. Aber er (selbst völlig mittellos) wurde nicht von Be-
hörden unterstützt, erlangte auf seinen verdrussreichen Gängen nur geringe
Mittel. Trotzdem eröffnete er sein Waisenhaus Ende 1742. Erst 1751 erhielt
es die sichere Grundlage. Gegenwärtig ist es eine städtische Anstalt. (Fresko-
gemftlde im Nationalmuseum; Gruppe in einem Gemälde des Münchner Rath-
haossaales von Piloty.)
495. Zum Gedächtnjseinesschlesischen Schulmannes (R. Rissmann,
Päd. Ztg. 1891, 29): Chr. G. Scholz, geb. 19. Juli 1791, gest. 3. Mai 1864,
„der sich in schwerer Zeit der aufstrebenden Lehrerschaft angenommen",
„zeitlebens für eine freie Schule und einen freien Lehrerstand eingetreten."
Durch die von ihm gegründete „Schlesische Schullehrerzeitung" Hebung des
schlesischen Lehrerstandes. Beziehungen zu Harnisch, Wander, Diester weg
(„einer der hervorragendsten Schulmänner Diesterwegscher Richtung" — Nach-
ruf von Diesterweg in den Rhein. Blättern).
496. Erweiterung der Lehrerbildung (Fr. Tomberger, Päd. Rund-
schau 1891, VI). Vorbildung: dreiclassige Bürger- (höhere Volks-) Schule.
Eigentliche Lehrerbildungsanstalt: 5 Jahrgänge (Eintritt mit dem 14. Alters-
jahr); in den vier ersten Classen die Wissenschaften zu erledigen, die letzte
der beruflichen Ausbildung zu widmen. Am Schlüsse des vierten Jahrgangs
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Prüfung auf wissenschaftliche Reife, am Schlüsse des fünften Prüfung auf
Lehrfähigkeit. Dazu ein sechstes Jahr für Ausbildung zu Lehrern an höheren
Volksschulen. (Nachdem wir diese österreichischen Reform vorschlage noch
notirt, kommen wir auf die — in der Theorie gelöste — Lelurerbildungsfrage
an dieser Stelle nicht mehr zu sprechen.)
497. Pädagogen der Gegenwart als Naturwissenschaftler
(R. Schulze, Deutsche Schulpraxis 1891, 33). Verf. macht darauf aufmerk-
sam, „wie leichtfertig die für den Volksschulunterricht in Physik und Chemie
passenden Lehrstoffe von gewissen Pädagogen behandelt werden," wie der den
Lehrern „von gewissen Seiten gemachte Vorwurf der Halbbildung oft gar zu
sehr begründet ist". Nachweis hauptsächlich an dem Polackschen Realien-
buch, „welches von Fehlern strotzt", eingerechnet die nachlässige, nicht durch-
dachte Ausdrucks weise. (Wenn Herr S. meint: „Man kann sich nicht genug
wundern, wie ein solches Buch überhaupt zur Einführung in die Schule hat
gelangen können", so müssen wir dazu bemerken, dass uns dies gar nicht
wundert. Weiß Herr S. nicht, was in der modernen Welt ein Name und ein
Titel und ein Amt bedeuten?)
498. Die Notwendigkeit der allgemeinen Volksschule in
Rücksicht auf die sociale Frage (H. Schröer, Päd. Ztg. 1891, 26). Im
Anschluss an das „politische Testament" des Freiherrn von Stein und den
Schulgesetzes-Entwurf des preuß. Staatsraths Süvern (1819), die beide die all-
gemeine Vosk88cbule gewollt, deren Grundsätze „Stern und Kern aller Reform-
vorschläge" genannt werden, charakterisirt Verf. einerseits die Schäden der
modernen (deutschen) Schulorganisation, anderseits die wirtschaftliche und
gesellschaftliche Bedeutung der allgemeinen Volksschule. — Vgl. eine ähn-
liche Arbeit von J. Vanselow (Deutsche Schulztg. 1891, 36. 37), wo auch auf
die Unterrichtsfächer eingegangen wird.
499. Die dogmatisch-scholastische und die biblisch-psycholo-
gische Lehrweise im Religionsunterricht (Neue Bahnen 1891, VII).
I. Die rein dogmatische Methode („der Pietismus hat die Alleinherrschaft der
Dogmatik gebrochen"). II. Die rein verstandesmäßige Methode. (I und II
stimmen überein, „indem sie sich an den Verstand wenden — dogmatisch-ratio-
nalistischer Intellectualismus"). III. Die dogmatisch -scholastische Methode
(Vereinigung von I und II, vermöge der inneren Verwandtschaft). IV. Die
Mbli6ch-psychologische Methode (die „Methode" des Verf.). — „Ist es auch
möglich, den Kopf ins Herz zu bringen? Diese einfache Frage trifft den Kern-
punkt der ganzen Methodik des Religionsunterrichts besser als manches dick-
leibige Werk über Katechetik."
500. Die Disposition im Aufsatzunterricht (0. Steinel, Bair.
Lehrerztg. 1891, 36) — an Mittelschulen. Verf. beleuchtet Notwendigkeit
und Wert des Arbeitsplans und bringt Beispiele aus der Praxis, um zu zeigen,
mit wieviel Fleiß und Lust die Schüler die Bausteine zusammentragen. Aber
jeder soll seinen eigenen Plan haben. — Ein beachtenswerter Wink für die
Wahl der Themata: Themen, welche sich gelegentlich im Unterricht ergeben
und für welche sich ein lebhaftes Interesse zeigt, von einem Schüler notireu
zu lassen. (Vortheil: Die Schüler werden sich mit den Stoffen freiwillig beschäf-
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ügen, sich davon miteinander unterhalten.) Anregung znr Wahl aas dem
Scnülerkreise selbst.
501. Lyrische Gedichte als Lesestucke (K. Heißl, Freie Schul-
zeitung 1891, 35. 38). Erste Sorge des Methodikers : die epische Anknüpfung
oder Anreizung („welche die zum lyrischen Ausdruck drängenden Gemüths-
ßtimmungen oder Gefühlserregungen hervorrief-1) zu erkennen. „Nicht blos er
selbst wird durch das klare Erkennen dieses Hintergrundes den festen Halt ge-
winnen, sondern er wird auch im allgemeinen vor der Leetüre durch Herbei-
ziebong dieser Veranlassung, die wir den lyrischen Standpunkt nennen möchten,
die Vorbedingung für das Erwachen unmittelbarer Gefühle und Stimmungen
bei den Schülern erfüllen." Die „epische Anreizung" bietet sich aber in vielen
Fällen wirklich unmittelbar von selber dar: Erscheinungen im Frühling —
Wanderungen — Ferienaufenthalt auf dem Lande, im Walde u. ä. Weiterhin ist
den Schülern die Einheit der Stimmung („lyrische Einheit") zum Bewusstsein
zn bringen. Mehr nicht; mit der Lösung der beiden hier gestellten Aufgaben
ist in erzieherischer Hinsicht genug gethan.
502. Realunterricht und Sprachunterricht (H. Stucki, Schweiz.
Lehrerz. 1891, 32 — 34). Die drei Realfacher bilden die Begriffssphären:
Naturleben, Land und Leute, Entwickelung des Volks. „Sie entspringen der-
selben Basis des unmittelbaren Wahrnehmungskreises, sie greifen auch auf
allen Punkten ineinander, aber sie gipfeln in besonderen Zielen: Einblick in
den Naturhaushalt, Verständnis des Landes und Volkes, Kenntnis seiner Ent-
wickelungsgeschichte." „Diese Ziele müssen für die Volksschule bestehen
bleiben, wenn es sich um tüchtige Geistesschulung handeln soll. Sie dürfen
bestehen bleiben, weil die Fähigkeit des correcten und geläufigen mündlichen
and schriftlichen Gedankenausdrucks durch sie in der gründlichsten und nach-
haltigsten Weise gefördert wird." „Hauptbedingungen für den Erfolg: eigne
Anschauung, selbsttätiges Prüfen, Urtheilen und Schließen, fortwährend cor-
rectes Aussprechen der neu gewonnenen Kentnisse, tagtägliches Niederschreiben
derselben."
503. Plan für naturkundliche Gänge in den Laubwald (E. Scheller,
Deutsche Blätter 1891, 19. 20). Wir machen auf diesen an Stoff und guten
Winken reichen Plan angelegentlich aufmerksam. — Hauptpunkte: I. Namen.
II. Lage (dazu auch: Aussehen von ferne; Umgebung; Oberflächenform; Wege;
„schöne Plätze"; Besonnung; Winde). III. Menschen im Wald. IV. Boden-
verhältnisse (Humusschicht; Quellen; Moos; Laubdecke im Herbst und Früh-
ling). V. Der Waldbestand (woran erkennen wir die verschiedenen Baum-
arten? Angabe aller möglichen Erkennungszeichen). VI. Waldpflanzen. VH.
Waldthiere. VIII. Nähere Einzelbetrachtungen. IX. Versuche. X. Sammlungen
(Steinarten; Holzarten mit Rinde; Blätter, Blüten und Früchte mit Samen;
Zweige mit Knospen ; Keimpflanzen; Thierspuren an den Pflanzen; Missbildungen
und Krankheitserscheinungen).
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Literatur.
Dr. ii. Stephan, Die häusliche Erziehung in Deutschland während des acht-
zehnten Jahrhunderts. Wiesbaden 1891, Bergmann. 162 S.
Während das Großtheil der pädagogischen Tagesliteratur in handwerks-
mäßigen Compilationen zu handwerksmäßigem Gebrauch besteht, liegt uns hier
eine Originalarbeit vor, die in der That eine Lücke ausfüllt, bisher Ver-
borgenes ans Licht zieht und dem Leser eine ebenso lehrreiche wie anregende
Lcctüre bietet. Nachdem Referent das Buch von Anfang bis Ende Wort für
Wort gelesen hat, wundert er sich nicht, dass ein Culturhistoriker wie
Biedermann demselben die lebhafteste Anerkennung zollt und ausdrücklich
hervorhebt, dass hier eine ebenso nothwendige wie ersprießliche literarische
Arbeit mit rühmlicher Umsicht, Gründlichkeit und Sachkenntnis geleistet ist.
„Herr Dr. Stephan", fügt er hinzu, rhat mit einem wahrhaft staunenswerten
Fleiße aus einer Unmasse theils von pädagogischen und anderen Schriften
jener Zeit (des 18. Jahrhunderts nämlich), theils und insbesondere von Biogra-
phien und Selbstbiographien, Briefwechseln und sonstigen Aufzeichnungen von
Gelehrten, Dichtern, Staats- und Geschäftsmännern u. a. w. die einzelnen Bau-
steine zu seinem Werke zusammengetragen und hat daraus nicht etwa ein
bloßes lose gefügtes Mosaik, sondern ein organisches, in allen seinen Theilen
eng zusammenhängendes, sich gegenseitig ergänzendes und erläuterndes Ganze?
geschaffen." In der anschaulichsten WeiBC führt uns Verfasser in das häus-
liche Leben, die Denkungsart, die Sitten, Gesinnungen, Gewohnheiten, den
Bildungsgrad, die socialen Verhältnisse der mittleren und höheren Stände des
18. Jahrhunderts und besonders in ibre Veranstaltungen zur Erziehung und
zum Unterricht der Jugend ein, so dass uns manches vertraut und begreiflich
wird, was in den Werken über allgemeine Culturgeschichte und Geschichte
der Pädagogik nur schematisch und halb räthselhaft erscheint. Das helle
Licht, welches hier z. B. über die Hofmeister-Erziehung und Hofmeister-Päda-
gogik verbreitet wird, dient selbst noch zur Aufklärung über actuellc Er-
scheinungen und Streitfragen. Aber auch in vielen anderen Beziehungen ist
Stephan's Buch eine schätzenswerte Ergänzung der Cultur-, Literatur-, Schul-
und Erziehungsgeschichte. D.
Heinrich Schröer, Die allgemeine Volksschule als Grundbedingung zur end-
gültigen Lösung der Schulreformfrage. Erfurt und Leipzig 1891, Bac-
meister. 54 S.
Verfasser plaidirt für eine einheitliche Gestaltung des ganzen deutschen
Schulwesens in dem Sinne, „dass die sämmtlichen Bildungsanstalten des Volkes
in organischem Zusammenhange stehen und ein planvoll gegliedertes, in
seinen Theilen zweckmäßig zusammenwirkendes Ganzes darstellen", und widmet
namentlich der allgemeinen Volksschule, als dem gemeinsamen Unterbau des
ganzen Bildung» werkes, eine genauere Betrachtung. Die sogenannten „Vor-
schulen1*, eine pädagogische Specialität Preußens (auch in einigen anderen
Ländern nachgeahmt), werden als dem einheitlichen Aufbau widerstrebend mit
besonderem Nachdruck bekämpft.
Dass die deutschen, besonders die preußischen Volksschullehrer diesem
Schriftchen ein lebhaftes Interesse entgegenbringen werden, lässt sich mit
Sicherheit erwarten, da sie in Herrn Schröer mit Recht einen ihrer besten
Wortführer erblicken, der sich schon vielfach, besonders auch als langjähriger
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- 13a
Kcdacteur der Berliner ..Pädagogischen Zeitung" bewährt hat. Auch diese
neue Veröffentlichung wird seine alten Freunde und alle diejenigen Leser
befriedigen, welche eine kurze und klare Oricntirung über die autgeworfene
Zeitfrage wünschen; zu einer gründlichen Erörterung Uber die Ausgangs-
punkte, rrineipien und Consequenzcn derselben reicht eine Broschüre von
wenigen Bogen natürlich nicht aus. Das kürzeste und zugleich schwächste
Capitel der kleinen Schrift ist das sechste, wo der eonf essionelle Religions-
unterricht als mit der allgemeinen Volksschule vereinbar behandelt und
zugleich behauptet wird, dies sei auch die Ansicht der „überwiegenden Mehr-
heit der deutschen Volksschullehrer". Allerdings ist dies bereits oft (namentlich
von Führern der preußischen Volksschullehrer, Jütting u. s. w.) behauptet,
aber niemals bewiesen worden; dies könnte ja nur durch eine (allgemeine und
geheime) Abstimmung geschehen. Wir unsererseits halten daran fest, dass
confessioncller Religionsunterricht in die allgemeine Volksschule nicht
gehört, weil er dem einheitlichen pädagogischen Geiste derselben widerspricht;
zudem sind wir der Überzeugung, dass, solange er fortbesteht, auch die
geistliche Schulaufsicht mit ihren Consequenzcn fortbestehen wird und be-
rechtigt ist. Wer jenen will, muss sich auch dieser unterwerfen. (Auf das
Thema der allgemeinen Volksschule weiter einzugehen, glaubt Referent hier
unterlassen zu können, da er dasselbe in seiner ..Schule der Pädagogik", be-
sonders in der „Methodik der Volksschule" ausführlich behandelt hat.) D.
Lf imbach, Die deutschen Dichter der Neuzeit und Gegenwart. IV. Bd.
Kassel, Th. Kay.
Von diesem Sammelwerke liegt nun der vierte Band vor, der die Buchstaben
H— K umfasst nnd die Zahl der Dichter bis auf 249 fortführt, die Zahl der
ausgewählten Proben aber bis auf 1765. Neben bekannten Namen erscheinen
auch wenig gekannte oder nur im Freundeskreise geehrte Poeten: neben Jahns,
Jensen, Joidan, Kaden, Kalbeck, Kaufmann, Keim, G. Keller. Klctke z.B. auch
der in Tirol beliebte Hunold, der in seiner engeren Heimat Nordböhmen viel
gelesene Jarisch, der in Oberösterrcich gefeierte Kaltenbrunner, der sonst nur
als Technologe geschätzte Karmarsch und der Gründer der in Deutschiami
hochangesehenen Vcrlagsfirma Julius Klinkhardt (pseudonym Karl Th. Kind) u. a.,
die so durch Leimbach's Werk auch weiteren Leserkreisen vielleicht bekannt
werden. Und gar mancher dieser bislang wenig beachteten Dichter verdiente
diese Auszeichnung; man lese z. B. die ausgewählten Proben aus Gottlob
Keramlers Gedichten, und man wird sich erstaunt fragen: Wie konnte nur
dieser gottbegnadete Sänger aller Welt und selbst — den Literaturgcschichten-
schreibern so ganz unbekannt bleiben! Es ist nicht das letzte Verdienst Leim-
bach's, auf diese Dichtergestalt aufmerksam gemacht zu haben. — Was für
Mühe und Fleiß in Leimbach's Buche steckt, das vermag nur der zu würdigen,
der in ähnlicher Lage sich einmal befunden und die Literatur über einen
neueren Dichter zu sammeln gezwungen war. Wie viele Stunden vergeblichen
Suchens nach einem Datum, nach dem Titel einer Schrift! Nun alles so bequem
vorliegt: Proben, Biographisches, Titel der Werke und Ausgaben, Inhaltsangaben,
Charakteristik — sollte das Werk auch gebürend gewürdigt werden und dem
Verfasser doch wenigstens für seine Mühe die Genugthuung zutheil werden,
nicht vergeblich gearbeitet zu haben. Leider — der Verfasser sagt es uns in
einer Nachschrift selbst — ist sein Werk noch lange nicht so verbreitet, wie
es sein innerer Wert wol verdient. W.
Stockei, Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. 520 S. München,
Franz'scher Verlag (J. Roth).
Dieses Handbuch verdient Beachtung; es ist gut stilisirt und übersichtlich,
enthält viel interessantes Detail zur Belebung des Unterrichtes und weist in
den Anmerkungen häufig auf analoge Vorgänge hin oder deckt Beziehungen
auf, die klären; kurz, man sieht es ihm an, dass der Verfasser in der histo-
rischen Literatur belesen ist und zugleich die Bedürfnisse des Unterrichtes
kennt. Auch ihm gegenüber können wir die Bemerkung nicht unterdrücken,
die wir schon bei Besprechung vieler Handbücher der Geschichte machen
rauasten: Sagenhaftes oder weniger gut Beglaubigtes sollte immer so scharf
P»d*gf>Kium. 14. Jahrg. Heft II. 10
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134
uls nur möglich gekennzeichnet werden. Das geschieht auch in diesem Buche
uieht immer. loh verweise beispielshalber nur auf S. 158, wo die von
Ottukar er/ahlte Huldigungsseene geschildert wird, als ob sie sich wirklich
zugetragen hätte. W.
Heninchel und MHrkel, Umschau in Heimat und Fremde. II. Band: Europa
mit Ausschluss des Deutschen Reiches. Hirt, Breslau. Preis 3.60 M.
Der vorliegende zweite Band dieses geographischen Lesebuches umfasst
759 Seiten mit zahlreichen Abbildungen von Städten, Landschaften, Volks-
typen, die den im gleichen Verlag erschienenen „Bildertafeln" entnommen sind.
Den Arten der Abbildungen eutsprechen auch die Texte. Sie sind auB Werken
von Land- und Leutekennern geschöpft und so stilisirt, dass sie ein Schüler
der oberen Classcn einer Volksschulo ohne Schwierigkeit versteht. Die Heraus-
geber haben zu diesem Zwecke die benutzten Originale an manchen Stellen
kürzen oder umarbeiten, ja manchmal auch einen Text aus zwei oder drei
Schilderungen herstellen müssen. Dass es ihnen gelungen, ein wahrheits-
getreues anschauliches Bild zu entwerfen, beweist schon der eine Umstand,
dass trotz de« kurzen Bestandes der Sammlung andere Herausgeber ähnlicher
Lesebücher aus den verschiedensten Gegenden die Beschreibungen in der
Fassung llentschel-Mürkela herübergenommen haben. Schülcrbibliotheken mögen
sich das Buch, das zur Belebung des geographischen Unterrichtes beitragen
kaun, nicht entgehen lassen. — r.
J. Rüefli, Pestalozzi^ rechenmethodische Grundsätze im Lichte der Kritik.
137 S. Beru 1890, Schmid, Francke & Co. Preis 1.50 M.
Der Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht nachzuweisen, dass der
bekannte Angriff, welchen Knilliug gegen Pestalozzis Grundsätze gerichtet
hat, und Knillings Reformvorsohläge als grundlos und hintällig zu betrachten
sind. — Rüefli geht von der Überzeugung aus, die Geschichte der
Jicchcnmethodik habe uns darüber belehrt, es könne sich in
diesem Unterrichte nicht mehr um ciu Nicdcrreißon des bisher
Geschaffenen und die Aufrichtung eines Neubaues handeln, son-
dern die anzustrebenden Verbesseru nge n seien lediglich in einer
zweckmäßigen Ausgestaltung des Vorhandenen zu suchen. — Kr
bemeikt ferner in der Einleitung, wenn sich jemand, wie Knilling, berufen
fühlt, so schonungslos in die unklaren Köpfe anderer hineinzuleuchten, so
dürfe man wol au die Klarheit und Folgerichtigkeit eine« solchen Reformators
die strengsten Anforderungen stellen und müsse seine Aufstellungen ernster
Bcurtheilung uuterziehen.
Im ersten Abschnitte wird der Begriff der Zahl erörtert. Von Pestalozzi
wird gesagt, er betrachtete die Zahl als eine den Dingen zukommende Eigen-
schaft, welche wir auf Grund der Anschauung v*.»n den Dingen abstrahiren.
Er definirt die Zahl ausdrücklich, als das iu den Dingen real vorhandene
Verhältnis des Mehr und Minder.
Bei Kuilling dagegen schwankt die Ansicht; bald nennt er das aus-
oinauderliegendc Viele, die concreten Größen, die in den Dingen selbst be-
gründeten quantitativen Unterschiede, die Zahl, wie wenn sie unabhängig
von unserem Denken bestünde; dann heißt es bei ihm wieder, da« auscinander-
liegendc Viele sei noch gar keine Zahl, es sei lediglich das Material, aus
welchem das Denken in freier Thätigkeit die Zahl erzeuge. Mit großer Aus-
führlichkeit weist Rüefli das Schwanken der Begriffe bei Knilling nach, und
zeigt, wie sonach überhaupt Folgerichtigkeit entfallen musstc. Von den vielen
recht interessanten Auseinandersetzungen des Verfassers möchten wir nur die
eine hervorheben, welche unverkennbar die Ursache einer weitverbreiteten
Meinungsverschiedenheit enthält. Rüefli meint nämlich, Knillings Zahlbegrifl
klebe an den concreten Dingen, er vermöge gar nicht den Begriff der reinen
Zahl zu erfassen. Es sei aber wol zu unterscheiden zwischen einer Anzahl
von Dingon, das ist den benannten Zahlen, und der reinen oder unbenaunten
Zahl. Wir stimmen hier Rüefli vollständig bei und bemerken, dass die Auf-
fassung der Zahl als Concretum wol nur in der Volksschule möglich und
kaum iu dieser aufrecht zu erhalten ist; wogegen die Zahlcnlehre, wenn sie
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1 35
sich nur auf eiuen wenig höhoreu Stundpunkt stellt, es nur mit den reinen
Zahlen zu thun hat.
Bei Knilling ist das Rechnen weniger eine Verstandes- als vielmehr eine
Gedächtnissache, in Bezug auf welche er sogar den Ausdruck gebraucht, es
sei nicht viel mehr als gedankenloses Geplapper. Diesem entgegen gelingt
Rüefli sehr schön der Nachweis, dass es völlig in der Hand des Lehrers ge-
legen sei, aus dem Rechenunterrichte hauptsächlich eine Sache des Verstandes
oder, wenn er will, des Gedächtnisses zu machen. Damit steht im innigen
Zusammenhange, dass schwachveranlagte Kinder es doch zu einer ansehn-
lichen Fertigkeit im Rechneu zu bringen vermögen, wenn nämlich der Lehrer
den Unterricht auf die Pflege des Gedächtnisses und mechanischer Vorgänge
einrichtet.
Treffend ist ferner Rüefli's Bemerkung, dass auch das elementare Rechnen,
als Zweig der Mathematik, vor andern Fächern durch Klarheit und Bestimmt-
heit seiner Begriffe und Urthcilo sich auszeichnet, dass sonach diese Eigen-
schaften bei richtiger Unterweisung in diesem Gegenstande auch in sprach-
licher Beziehung sich ausprägen müssen. Unmöglich ist die sprachliche Ver-
wertung des Gegenstandes, wenn die Begriffe das Lehrers selbst so schwankend
und unsicher sind, wie man es Knilling an einer Reihe mangelhafter Defini-
tionen nachzuweisen vermag.
Das Äußerste an Widersprüchen hat Knilling in Bezug auf den sittlichen
Wert des Recheuunterrichtes geleistet: bald wird dessen sittlicher Wert ganz
verneint, weil ja der Gegenstand eine reine Gedacht nissache ist, dann wieder
leuchtet doch die Einsicht auf, in wie hohem Maße ein Gegenstand, bei welchem
da« Kennen wesentlich mit dem Können, das heißt das Verstehen mit dem Aus-
üben zusammenfällt, zur Gewinnung des Selbstvertrauens, zur Festigung des
Charakters und der Sittlichkeit beitragen muss.
Sowol Knilliug's, als Rüefli's Bücher sind der Methodik des Rechenunter-
richtes gewidmet, Das Werk des ersteren macht vom Anfang bis zu Ende
den Eindruck des Entwurfes zu einom beabsichtigten Versuche; man wird
beim Lesen die Empfindung nicht los, der Verfasser sei ein Projectenmacher.
Dagegen ist Rüeflis Buch als Kritik entworfen und bezeichnet«, aber mit so
viel Scharfsinn und Sachkenntnis abgefasst, dass nicht blos Knilling's Wider-
sprüche und Unnahbarkeiten aufgedeckt werden, sondern dass der Leser aus
demselben einen reichen Gewinn an Belehrung empfängt. Wir möchten gern
sagen, wenn es gestattet int. Kleines mit Großem zu vergleichen, es hat uns
dies Buch an Lessiug's Auti-Götze erinnert. Sowie ohne Kenntnis der Schriften
von Götze Lessing's Streitschrift allein den Gcnuss der Belehrung gewährt,
so erfreut uns auch Rüefli's Buch, ohne seinen Gegner zu kennen, durch Klar-
heit und Wahrheit, welche von dem einen Leser als Belehrung, von dem
anderen als Zustimmung der eigenen Überzeugung mit Vergnügen entgegen-
genommen werden mag. H. E.
Die Grnndlchren der astronomischen Geographie and ihre unter-
riclitlichc Behandlung. Für Lehrer, Seminaristen und den Privat-
gebrauch bearbeitet von 0. Riedel, Seminarlehrer. Mit 57 Illustrationen
nnd zwei Sternkarten. Wittenberg 1890, Verlag von R. Herrose. X und
177 Seiten. Preis 2.50 M.
Ein Handbuch für den Lehrer, gibt es durchwegs die Methoden an, wie den
Schülern die astronomischen Wahrheiteu, die Kenntnis der Erde als Welt-
körper beigebracht werden können und sollen. Fragen von den einfachsten an
bis zu den complicirteren (für Schüler höherer Schulen) leiten die einzelnen
Capitel ein, die Antworten sind zumeist beigefügt. Einfache, auf der Tafel
leicht auszuführende Zeichnungen, die Beschreibung der Handhabung einfacher
Apparate (besonders wird auf die Reichmann'scheu Tellurien und Planetarien
hingewiesen) helfen den Unterricht verständlich machen. Die angewendete
Methode ist eine recht glückliche zu nennen. Das Maß des Verlangten geht
wol über das in der Volksschule vorzunehmende ziemlich weit hinaus {z. B. Prä-
cession deT Tag- und Nachtgleichcn), aber der Verfasser wollte eben sein Buch
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— 136 —
auch für höhere Lehranstalten brauchbar gestalten. Deshalb ist auch zum
Schlüsse angegeben, was in drei- oder einclassigen Volksschulen vom gebotenen
Materiale zu nehmen ist. Die eingestreuten Gedichte sind recht gut ab-
gewählt, aber für ein Handbuch, da« doch kaum der Schiller in die Hand be-
kommt, etwas überflüssig. Um den reichen Inhalt zu charakterisiren, führen
wir noch an, dass nach einer methodischen Einleitung ein Voreursus folgt, dd
für Schüler von 8 — 11 Jahren bestimmt ist; der Hauptcursus umfasst folgende
Oapitcl: Horizont und scheinbare Himmelsgestnlt; Gestalt der Krdc, Welt räum
und Weltkörpcr; Rotation der Erde; Revolution der Erde; Stellung der Erd-
achse und Parallclismus ihrer Lage; das Liniennetz; die Erdbahn eine Ellipse;
Präcession der Aquinocticn; der Mond; Planetenbcwegungen; das Sonnen-
system; Schwerkraft und Schwungkraft; Entfcrnungs- und Größcnbestiin-
mungen; die Fixsternwert (Bestimmung der Sternoite). Die Ausstattung des
Buches ist gut, nur die erste Sternkarte (nördlicher Himmel) ist nicht in alleu
Theilcn deutlich. C. R. R.
A. Sprockhof!'» Grund züge der Physik. Übersichtliche Anordnung nnd
ausführliche Darstellung des Hauptsächlichsten aus dem ganzen Gebiete,
unter steter Berücksichtigung der nenesten Forschungen und Erfindungen,
nebst einem Vorbereitungscursus: Die wichtigsten Erscheinungen des täg-
lichen Lebens und die gewöhnlichsten Gegenstände des täglichen Gebrauches
in 75 Einzelbildern. - Zweite vollständig umgearbeitete nnd verbesserte
Auflage mit 442 Abbildungen, einer Spectraltafel in Farbendruck und mit
einem geschichtlichen Anhang. Hannover, Verlag von Carl Meyer (Gustav
Prior) 1890. — XII und 430 Seiten. Preis 3.50 M.
Sowol in den Einzelbildern als in der systematischen Physik geht Sprockhof!
von Versuchen und Beobachtungen aus und leitet daraus die Gesetze ab,
welche sodann durch viele Beispiele erläutert werden. Die systematische
Physik thcilt er in drei Haupttheile: Mechanik (Allgemeines, M. der festen,
flüssigen und luftförmigen Körper), Lehre von der schwingenden Bewegung
(Schall, Wärme, Licht), Magnetismus nnd Elektricität. Die Darstellung ist
eine vorzügliche, sowol was die Beschreibung der Erscheinungen und Ver-
suche, als die Gesetze anbelangt. Fußnoten, oft ziemlich ausführlicher Art,
erläutern eingestreute Begriffe oder geben historische Daten belehrender Natur.
Der erste Theil des Buches (der Vorbereitungscursus) behandelt nur praktische
Fragen des gewöhnlichen Lebens und erkltirt dieselben iu gelir klarer Weise.
Der geschichtliche Anhang stellt in tabellarischer Form die Entdeckungen aut
dem Gebiete der Physik und die wichtigsten Erfindungen vom Alterthume an
bis zum Jahre 1883 zusammen. Die Abbildungen sind sehr verständlich und
sauber ausgeführt. Jedem Lehrer der Physik, auch denen an höheren Lehr-
anstalten, wird das Lehrbuch ein willkommener Rathgeber sein. Die Aus-
stattung ist sehr schön. C. R. R.
Vtruntwonl. KetlüüUut Dr. Friedrich Ditte*. Buchdruckern Juliua Klinkhardt, Uiffüg.
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II. tie tVbciiöobidjninc in der irauttltc. 1. OJeburt. 2. laufe. 3. Konfirmation.
4. Verlobung unb Vrautftanb. ö. ftuiftattung, $olterabenb. 6. ^>od>jett. 7. Qefonbere
ftamilienereigniffc je
III. tcr gute Xon in unü mit der ^cfcüfdjoft. 1. Ser gute Ion unb bie fflefcllfdjaft.
2. Der eintritt in bie Söelt unb baS sBorftellen. 3. Sie Haltung im atigemeinen X.
IV. tcr gute Zun im öffentlidjen unö m idjäftltdjcn Veben. 1. 3n berJHrcbe. 2. Um
ber Stra&e unb $romenabe. 3. 3m Äonjert unb Ibcater. 4. 3m Äaffeetyaufe. 5. ?luf
Ausflügen ini 2r«ie IC.
V. Xcv gute Ion in defunHeren Veoendlagen. L Stelle« unb Veföafrigungfudjcnbe.
2. Stellung in ^rioatfjäufmi unb ÖJcfdjdften. 3. Sa$ Kaufen in Säben unb ©efdjäften.
4. Kaufen burtb Korrefponbenj. 5. ftorbern unb Rahlen Jioifc^en ftadjleuten unb
$ub(ifum :c.
VI. ter gute Xon im fdivif tlidicti ©erfeqr. L 2lHgemeine3. 2. Der 3nf>alt. Änjeigen
unb Berichte. SMttfdniften unb $ittgefud)e. Sanffagungen. Sinlabungen. Cmpfcb,-
lungeu. Sntfdmlbigungen. (Erinnerungen unb Warnungen, (Slüdroünfcfje. ©eiletbe«
fdjreiben. 3. ?iuf}crlid)feiten im iBriefoerfebr. Sie Jorm. Ort unb Saturn. Sie Sin*
utt. Ser Gingang. Slnreberoörter. Ser SAlufc. Sie 9taä)fd)rift, ba* fJoftffriptum.
ftuBerltdjfeiten in ber Verfcnbung. Sie Äbreffe. ©adjregifter.
'Uli 2. ergänjenber Seil erfdjien fuerju:
llnferet jf tauen 3Men,
35 (£fjaoä öon ber 93erfafferin ber „^äbagogtfdjen Briefe".
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beliebten gefrgef(f)enf> unb $rämtenbud>ed ift in öollftänbig neuer ©cftalt erfefiienen unb
bietet, burcf> 110 fcoljfdmitte reief) tfluftriert, 42 Sogen br# intereffanteften erb* unb
oölferfunblidjen Rubelte« für einen äu&erft root)ffeilen vJ?rci$.
9(18 $enbant tyetyt oerliefe foeben bie treffe:
Europas €iertoelf in Bittrem.
gür bie reifere 3ugenb aufammengefteUt
oon
£b. Jammer.
mt m Mjidjnirten gr. 8., in Heg. Srigtnalband neb. *rei# 5 Warf,
brofd)iert 4 Warf.
$ie ©ejrrebungen ber Keujeit, unferer Sugenb in erfter ßinie Äennbii»
S-Bdef>rung über bie ^eimifebe liermelt ju »ermitteln, fyaben $eranlaffung |ar
3ufammenfiettung biefeS S3ua>8 gegeben, roeldjeS ber Sugcnb eine Sülle öon <£ajxl-
berungen unb Anregungen auf biefem Gebiete bringt unb bureb, prä^rige ^Uuftrationfn
bcfrenS öeranfdjauliajt. ^^^^^
Söo eine Sortiment« * ©udnmnbfung nicfjt jur Verfügung fteb,t, ift bie
^anblung gern ju birefter franfieder 3ufenbung erbötig.
Seidig unb »erlin W.35.
3uliu* Mintyarbt.
Hierzu drei Beilagen: 1.
von Bleyfl & Kaemmcrer in Dresden. 2. von R.
1 »nn Inline IflittbhiiiuM Im I
Paedagogiüm.
Monatsschrift
Ab
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
vou
117. Jaluw.
3. Heft, Decemfcer 189L
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt
itized by Google
Inhalt des 3. Heftes.
Seite
Der intensive Unterricht. Von Realgytiumsiaidirector Dr. Dronke-Trier . . 137
Übei' Berut'st'reudigkiit. Von Reetor I ii. Lnndinaun-Schwetz 145
I>ie Pädagogik der Kunst. Von Otto Ernst Schmidt- Hamburg .... 158
Pädagogische Rundschau. Zeitstimmcu. — Vom Lehrertage und Pestalozzi-
vcreiu der Provinz Brandenburg. -- Aus Preußen. — Aus Sachsen. —
Aus Dresden. - Aus dem Großherzogthuni Baden. — Aus der Schweiz. 171
Aus der Fachpresse 197
Literatur 201
Abonnements -Preis pro Quartal M. 2.25.
AUa Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
Der intensive Unterricht.
Von Realgymnasialdirector Dr. Drenke-Trier.
Bei den Berathungen der bekannten Berliner Schulcommission
vrurde besonderes Gewicht auf den „intensiven4* Unterricht gelegt,
von dem man hoffte, dass durch ihn vollständig ersetzt werde, was
durch die Verminderung von Lehrstunden, sowie der häuslichen Auf-
gaben und durch die recht wesentliche Einschränkung der einzelnen
Fächer zweifellos verloren gehen müsse. Wir wollen heute nicht
untersuchen, ob nicht in einer richtig geleiteten Schule der Unterricht
wirklich intensiv ertheilt wird, so dass das Minimum der häuslichen
Arbeiten bereits dort eingeführt ist, ob nicht die bisherige Art der
Abiturientenprüfungen , sowie die immer größeren Anforderungen an
die Schüler seitens der aufsichtführenden Behörden den wesentlichsten
Theil der Schuld tragen, wenn noch an vielen Orten die Schuljugend
unter der Arbeit seufzt; wir wollen auch nicht untersuchen (eine sehr
dankbare Aufgabe!), wie weit an der nicht genügend kräftigen Ent-
wickelung der .lugend das Haus die Schuld trägt und Umstände mit-
wirken, die ganz außerhall) der Macht der Schule, wol aber dem
Arzte sehr nahe liegen; wir wollen den intensiven Unterricht selbst
einer etwas genaueren Betrachtung unterziehen.
Mathematisch ausgedrückt, ist die Intensität einer Kraft die Größe
ihrer Wirkung in der Zeiteinheit; der Unterricht ist also um so in-
tensiver, eine je geringere Zeit verbraucht wird, um dasselbe Ziel des
Unterrichtes zu erreichen, dem Schüler bestimmte Kenntnisse zum klar
bewnssten, dauernden Eigenthum zu machen, so dass er diese nicht
blos stets im Geiste gegenwärtig hat, sie also auch im geeigneten
Falle verwerten kann, sondern dass dies Wissen und Können auch
sein Wollen und Handeln, seine Denkungsart, also seine sittliche
Führung beeinflusse. Wodurch aber wird diese Intensität vergrößert,
und unter welchen Bedingungen ist überhaupt eine größere Intensität
möglich? Auch liier wird der Vergleich mit den mechanischen Ge-
setzen uns Klarheit verschaffen. Es ist stets die Intensität der
P*4affnei»n. n. Jahr*. H< ff III. II
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— 138 —
geleisteten Arbeit direct proportional der aufgewendeten Kraft. Bei dem
Unterrichte sind es aber zwei Kräfte, welche das Resultat herbei-
führen, die productive des Lehrers und die receptive des Schülers.
Und die Widerstände, welche bei der Arbeitsleistung zu überwinden
sind, d. h. die Bedingungen, von denen die Wirkung der Kräfte ab-
hängt, sind theils in dem Lehrer, theils im Schüler, theils aber auch
in äußeren Verhältnissen zu suchen. Was nun zunächst den Lehrer
betrifft , so muss er während des gesammten Unterrichtes in nie ruhen-
der, gespanntester Aufmerksamkeit selbst den Unterricht ertheilen
und gleichzeitig alle Schüler im Auge behalten, um ihrer Aufmerk-
samkeit sicher zu sein; nicht einen Moment lang darf sein Geist an
irgend etwas anderes denken, als an den zu behandelnden Gegenstand
und an die Schüler, kein anderes Bild darf seine Sinne schwächen,
sein Auge muss klar und scharf jederzeit die Mienen der Schüler an-
schauen, um aus ihnen zu erkennen, ob sie auch das Gesagte richtig
erfassen, mit ganzer Seele beim Unterrichte sind. Aus diesen For-
derungen geht hervor: 1) dass der Lehrer alles das meiden muss, was
irgendwie den Unterricht im allgemeinen, die Aufmerksamkeit, die
volle Hingebung des einzelnen beeinträchtigen könnte; es sind also
alle Nebenfragen über Dinge, die nicht zu dem Unterricht gehören,
fernzuhalten, Anspielungen auf Vorkommnisse dürfen nie gemacht
werden, da sie gerade die geistige Aufmerksamkeit ablenken müssen;
2) dass der Lehrer den Unterricht in einer möglichst fesselnden Forin
ertheilt, er muss daher nicht blos absoluter Herr über den Stoff sein,
also selbst stets sich genau vorbereiten, um auch auf jede mit dem
behandelten Thema in Zusammenhang stehende Frage gerüstet, mit
jeder Seite des zu betrachtenden Unterrichtsgegenstandes genau be-
kannt zu sein, sondern vor allem muss er selbst an der Sache und
an ihrer didaktischen Behandlung das lebhafteste Interesse haben und
dies auch durch die Art seines Unterrichtes den Schülern zeigen, mag
die Methode je nach dem Stoffe heuristisch, sokratisch, akroamatisch
oder eine andere sein; denn nur eignes lebhaftes Interesse vermag bei
anderen wieder Interesse zu erregen und wachzuhalten; es müssen
daher diejenigen Punkte, welche auf der betreffenden Entwicklungs-
stufe am ehesten die Theilnahme des Schülers erwecken und ihm das
klare Verständnis bringen, hervorgehoben werden; denn die erstere
kann ohne das zweite nie entstehen; 3) dass in dem Schüler durch
den Unterricht das Gefühl der weiteren Entwicklung, das Bewnsst-
sein des Fortschrittes erzeugt wird; denn das Gefühl des Stehen-
bleibens lässt nie die freudige, hingebende Arbeitslust aufkommen; 4) dass
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— 139 -
die Methode in keinem Fache stets dieselbe sei, sondern sich von Fall
zu Fall, je nach der geistigen Stufe der Schüler, nach der eignen
pädagogisch-didaktischen Kraft des Lehrers und nach dem gerade be-
bandelten Gegenstand lichten muss; wo es möglich ist, muss der
Schüler selbst das Neue finden, den Zusammenhang zwischen zwei Er-
scheinungen oder die Folgen eines Gesetzes aufsuchen; die alte, nach
meinen Erfahrungen noch immer nicht genügend beachtete Regel, dass
jede Frage an die Classe, nicht an den einzelnen Schüler zu richten
ist, muss streng durchgeführt werden; auf das innere Verständnis ist
möglichst früh starkes Gewicht zu legen, da nicht das gedankenlose
Aufnehmen in das Gedächtnis, sondern nur das klare Eindringen in
den Zusammenhang der Dinge die dauernde geistige Theilnahme sichert.
Nach dem Vorstehenden sind die Anforderungen an den Lehrer
sicher keine geringen und ihre Erfüllung bez. Beachtung sind von
einer Reihe von Umständen abhängig, die von den Lehrern selbst,
von dem Director und von den Behörden wol zu berücksichtigen sind.
Da ist zunächst die physische Kraft des Lehrers. Wer je seinen Unter-
richt im vollen Sinne intensiv gegeben hat, der weiß, dass es unmög-
lich ist, Tag für Tag mehr als zwei solcher Stunden nacheinander zu
ertheilen. Müsste ein Anwalt, mit der vollen Intensität, wie hier an-
genommen, Tag für Tag arbeiten, wochenlang ohne jede Unter-
brechung, z. B. tagtäglich eine drei- bis vierstündige Rede halten, so
würde er bald zusammenbrechen. Erst nach einer Ruhepause wird
der Lehrer im Stande sein, in gleicher Weise weiter zu unterrichten.
Jeder, der Neigung dazu hat, sich dem Lehrfache zu widmen, frage
sich daher zuerst, ob er stark genug ist, die Anstrengungen auszu-
halten Schon jetzt sind die Mühen des Lehrerstandes sehr auf-
reibend. Zählten doch die Rheinischen Lehrercollegien 1888 nur *///„
unter ihren Mitgliedern, welche 40 bez. mehr Jahre im Dienste ge-
standen hatten, und noch nicht 6°/0, welche ein Dienstalter von über
30 Jahren erreicht hatten! In welchem andern Stande ist ein so un-
günstiges Verhältnis zu finden?
Um den Lehrer nicht unnöthig aufzureiben, ihn doch möglichst
lange zu erhalten, muss der Stundenplan mit größter Vorsicht auge-
fertigt werden. Schon jetzt ist es nicht leicht, nur unter Berück-
sichtigung der Lehrgegenstände einen guten Plan aufzustellen, in Zu-
kunft wird dies noch unendlich viel schwieriger sein.
Sodann muss die Arbeitsfreudigkeit und Geistesfrische des Lehrers
stets vorhanden sein; er selbst muss daher ein heiteres Gemüth be-
sitzen, es verstehen, mit den Schülern jung zu sein, in ihren heitern
u*
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140 —
Lebensansehanungen, ihrem frischen, fröhlichen Handeln nicht tiberall
Unbotmäßigkeit oder schlechten Geist wittern. Ein grämlicher Lehrer
kann viel, viel verderben. Die Stellung und das Einkommen des
Lehrers muss aber auch so sein, dass ihm nicht die tägliche Sorge um
die Existenz seiner Familie und seiner selbst, nicht die stete Zurück-
setzung, der er noch heute in allen Verhältnissen in geradezu gehäs-
siger Weise ausgesetzt ist, jeden Lebensmuth nehmen. Es soll ja
hierin eine Wandlung geschaffen werden. Vor allem aber ist dann
auch die Ausdehnung des Relictengesetzes auf alle Lehrer ein absolut
dringendes Erfordernis. Welche Begeisterung soll es im Lehrer einer
stadtischen Anstalt erzeugen, wenn er bedenkt, dass mit seinem Tode
Krau und Kinder dem Elende oder der öffentlichen Wrolthätigkeit
anheimfallen? Welche Gefühle müssen erwachen, wenn ein im Dienst
ergrauter Director bei öffentlichen Festlichkeiten trotz der Kgl. Ca-
binetsordre vom 23. December 1842 seinen Platz hinter den jüngsten
Rathen von Landgericht und Regierung angewiesen erhält?
Die receptive Thätigkeit der Schüler 1>edingt ebenfalls den Erfolg
auch des intensivsten Unterrichtes des besten Lehrers. Möglichst
gleichförmige iutellectuelle Bildung der sämmtlichen Schüler ist hier
die Grundbedingung. Gleiche Beanlagung der ans den verschiedensten
Kreisen stammenden Schüler ist nie zu erwarten, gleich gute Kennt-
nisse, ja auch nur gleiche geistige Stärke für ein scharfes Achtgeben
sind nie zu hoffen. Je größer aber der Unterschied zwischen den
einzelnen Schülern in dieser Beziehung ist, um so weniger wird ein
intensiver Unterricht ausrichten können, wenn nicht von vornherein
darauf verzichtet wird, wenn auch nicht alle, so doch die größte Zahl
der Schüler einer Classe regelmäßig weiterzuführen. Daher wird es
noch mehr Pflicht wie früher, schon von den unteren Olassen an die
Schüler zu individualisiren und schärfer bei der Versetzung vorzu-
gehen.
Zu den äußeren Umständen, welche von wesentlichem Einflüsse auf
die Erfolge eines intensiven Unterrichtes sind, hebe ich als die wich-
tigsten hervor: die Erscheinung des Lehrers, die Zahl der Schüler
einer Classe und endlich das Classenzimmer nach seiner Gestalt, Größe,
Beleuchtung und inneren Einrichtung. Der Ernst und die Würde des
Lehramtes muss sich auch im Äußern des Lehrers kundgeben; wol
kann die geistige Überlegenheit, die Begeisterung für den Unterrichts-
sregenstand, die sicli auf dem Gesichte des Lehrers zeigt, manchen
Mangel an der Erscheinung desselben den Schülern vergessen machen,
aber das Auftreten und die Tracht dürfen ebensowenig eine lächer-
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I
liehe Eitelkeit als eine absolute Vernachlässigung der äußeren Persön-
lichkeit zeigen; beides setzt den Lehrer in den Augen der Schüler
und auch der Eltern derselben herunter, ist geeignet, die Aufmerk-
samkeit der ersteren auf die Person zu lenken, gegebenen Falles
sogar den Spott herauszufordern, während gerade das Beispiel des
Jngenderziehers auf die Knaben wirken, sie zu richtiger Wert-
schätzung der Persönlichkeit unbewusst anregen soll.
Die Zahl der Schüler soll nach den Beschlüssen der Comniissioii
in keiner Classe über vierzig betragen; bei stetem intensiven Unter-
richt, der bereits für die unteren Classen eine vollständig indivi-
duelle Behandlung der einzelnen Schüler voraussetzt, ist diese Zahl
eher zu groß als zu klein; vor allem aber ist darüber zu wachen,
dass diese Zahl auch wirklich nie mehr, auch nicht in den unteren
Classen überschritten wird! Wird nun nicht mehr gestattet, dass in
allen Classen Doppelcöten eingeführt werden, dann wird sich erfah-
rungsgemäß die Gesammtschülerzahl einer Anstalt auf etwa 310 (? D. R.)
stellen (für die 3 unteren Classen je 40, für die 3 mittleren je 30, für die
3 oberen je 20). Würden aber wieder Doppelcöten eingeführt, und
diese müssen für alle Classen eingerichtet werden oder für keine),
so ergibt sich die absolut unzulässige Zahl von über 600 (V D. K.)
Schülern. (Die Maximalzahl von 400 für eine Anstalt stimmt nicht
mit der angenommenen für die einzelnen Classen.)
Die Schulräume in ihrer inneren Einrichtung sind in den letzten
Jahren ein wahres Versuchsfeld für berufene und unberufene sog.
Sachverstandige gewesen. Aber trotz aller schönen Aufsätze, trotz
aller Zahlentabellen über die Dimensionen der Bänke, über die Größe
i
und Höhe der Räume, über die Größe der Fenster u. s. f. ist leider
eine sehr große Zahl von Classenzimmern auch heute noch nicht
den Anforderungen, die man bei intensivem Unterrichte stellen muss,
entsprechend. Der Lehrer muss von seiner Stelle ans (Katheder,
Tafel) sämmtliche Schüler mit einem Blick überschauen können; es
darf daher das Classenzimmer weder zu lang noch zu breit sein; wenn
z. B. 54 Schüler zu je 4 Schülern in Bänken hintereinander sitzen,
wie soll der Lehrer diejenigen in der vierzehnten Bank noch von
vorn übersehen? Oder wenn 60 Schüler in 2 Reihen von Bänken zu
je 6 sitzen, also 5 Reihen hintereinander, so gibt es auch keine Stelle
im Zimmer, von der aus auch der begabteste Lehrer gleichzeitig alle
übersehen kann. Die beiden gewählten Beispiele sind mir in meiner
Thätigkeit an einer Anstalt vorgekommen. — Die richtige Einrichtung
der Bänke scheitert noch immer an der einen Thatsache, dass die
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Grüße (und auch das Alter) der Schüler einer Classe sehr verschieden
ist und selbst in einem Jahre oft sehr stark wechselt. Ein großer Fehler
ist es bei vielen Bänken neuerer Construction, dass sie auf den Boden
festgeschraubt werden müssen, also nicht verrückbar sind, und dass
sie zu viele bis nahe zum Boden reichende Eisen- bez. Holztheile
besitzen ; infolgedessen ist die ordnungsmäßige Reinigung nicht möglich.
Die Vortheile, die man von dem intensiveren Unterricht erhofft,
sind die größeren Leistungen in geringerer Zeit, namentlich auch die
Verlegung der hauptsächlichsten Lernarbeit in die Schule, d. h. die
Entlastung des Schülers von häuslicher Arbeit, damit die Jugend sich
mehr körperlichen Übungen hingeben könne. Ob dies aber in dem
Grade möglich ist, muss erst die Erfahrung lehren. Um bei dem
früheren Vergleiche zu bleiben, so kann eine bestimmte Kraft in einer
bestimmten Zeit auch nur eine gewisse Arbeit leisten; die Kraft ist
hier die des Lehrers, sie kann ebensowenig wie die des Dampfes in
einem Kessel beliebig hoch gespannt werden; andererseits ist die Ar-
beitsleistung einer Maschine abhängig von den Reibungswiderständen
und der Größe der Last; bei größerer Kräften t Wickelung wird aber
die Arbeit nicht proportional vergrößert, vielmehr werden die Achseu-
lager u. s. f. erhitzt, die Maschine verdorben und statt größeren
Gewinn zu erzielen, hat man schweren Verlust. Der Geist des Kindes
kann innerhalb einer bestimmten Zeit nicht beliebig viel in sich auf-
nehmen und zu seinem festen Eigen thum machen; öftere Wieder-
holungen, langsames, ganz allmähliches Fortschreiten sind nöthig,
wenn der Wissenstoff auch dauernd dem Schüler übermittelt werden
soll. Vier, ja fünf Stuuden intensiven Unterrichtes nacheinander hält
kein Lehrer, noch viel weniger aber ein Schüler aus. Wol hat es
stets einzelne Lehrer gegeben, die intensiven Unterricht gegeben haben;
ich selbst bekenne auch, dass ich dies gern gethan habe; aber wenn
dies geschah, dann wollte kein anderer Lehrer die darauffolgende
Stunde ertheilen, weil die Schüler so abgespannt waren, dass sie gar
nichts mehr leisteten. Mit Rücksicht darauf, dass die Schüler in allen
Unterrichtsstunden noch eine gewisse geistige Frische haben müssen,
damit nicht eine ungleichförmige Bildung erzeugt werde, habe ich die
Sache ändern müssen; und wenn auch die Schüler fast völlig frei von
häuslichen Arbeiten und Wiederholungen sind, so habe ich dies nur
durch wesentliche Beschränkung des Unterrichtsstoffes erreichen können.
Und da sind wir an dem Hauptpunkte angekommen: auch bei inten-
siverem Unterrichtsbetriebe als bisher ist nur dann ein Erfolg möglich,
wenn die Lehrziele in allen Fächern wesentlich verringert werden.
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Eine dahin gehende Bestimmung mnss sich in erster Linie an die die
Aufeicht fahrenden Behörden wenden; Directoren und Lehrer müssen
sich stets nach diesen richten und von den Schülern dasjenige
verlangen, was von den Räthen im Examen und bei Revisionen ge-
fordert wird.
Als wichtigstes Mittel zur Verhütung einer Überanstrengung der
Schüler scheint die Durchführung des Classenlehrersystems empfohlen
zu sein. An ordentlich geleiteten Schulen besteht dies bereits raeist,
nur ist vielfach eine noch weitere Durchführung desselben unmöglich,
weil die Lehrkräfte nicht dementsprechend sind. Wo gibt es z. B.
einen Lehrer, der in Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch und
(nach den neuen Vorschlägen) Englisch, daneben auch vielleicht in
Geschichte in Secunda gut unterrichten kann? Wo einen solchen, der
diese Bürde auch dauernd tragen kann? Wenn bis jetzt in einzelnen
Anstalten das Classenlehrersystem noch zu mangelhaft ausgebildet ist,
so trifft nicht blos dem Director, der die Vorschläge dazu gemacht
hat, sondern mehr noch die Behörde der Vorwurf, dass sie solch eine
durch und durch unpädagogische Vertheiluug des Unterrichtes ge-
nehmigt, vielleicht sogar den betr. Director besonders ausgezeichnet hat.
Noch einen Punkt möchte ich hervorheben: es ist der ethische
Wert der häuslichen Arbeiten. Die Aufgaben, die der Schüler außer-
halb der Classe machen soll, sind nicht blos bestimmt, das Wissen
und Können zu befestigen, sondern sie sollen auch die Jugend daran
gewöhnen, den eigenen Willen zu üben, die Willenskraft zu stärken,
die Arbeit als eine Pflicht und als ein Recht anzusehen, ihre Zeit
einzuteilen und mit ihr haushälterisch umzugehen; wer in den jungen
Jahren es nicht lernt, selbstständig zu arbeiten (je intensiver der Unter-
richt wird, um so mehr wird der Schüler zu rein receptiver, unselbst-
ständiger Arbeit angeleitet), die Erholung nur als noth wendige und
erwünschte Stärkung von Geist und Körper anzusehen, um sich desto
eifriger wieder der Pflichterfüllung zu widmen, der wird auch im
Leben nicht ein brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft
werden; für ihn ist und bleibt die Arbeit ein Fluch, und er selbst ist
und bleibt für seine Mitmenschen ein Ballast; wehe dem Staate und
der Gesellschaft, wenn die leitenden Kreise nicht die intensive Arbeit
als ihr uuveräußerbares Recht, als ilire heiligste Pflicht ansehen!
Jene Auswüchse, welche in der Jugend jeden Keim der fröhlichen
Iiebenslust ersticken wollen, sind Gott Dank doch nur selten; wo sie
sich finden, da sollen die Behörden rücksichtslos einschreiten, das
eiternde Giftgeschwür aus dem gesunden Organismus ausschneiden.
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Alier man hüte sich umgekehrt, eine Jugend heranzubilden, die keine
Selbstständigkeit kennt, die Arbeit nebensächlich behandelt und die
körperliche Kraft über das geistige Können setzt; nur eine harmonische
Ausbildung der körperlichen und der geistigen Kräfte muss das Ziel
der Jugenderziehung sein und bleiben.
Man erwarte von einer intensiveren Unterrichtsmethode nicht zu
viel; jedenfalls wird sie viel mehr Kräfte verbrauchen bei Lehrern
und bei Schülern; die Zahl der letzteren, welche nicht ihr Ziel erreichen,
wird stark anschwelleu, die gesundheitlichen Verhältnisse werden
kaum wesentlich bessere werden, wenn nicht auch die Lernziele
bedeutend verringert werden. Was aber zweifellos stark wachsen
wird, das sind die Ausgaben für die Schulen.
-
Uber Berufst reudigkeit.
Voo Rector Th. ZAtndmann-Schtretz.
Lust und Liebe zur amtlichen Thätigkeit, also „Berufsfreudig-
keit-, bedarf wol kein Stand notwendiger als der Lehrst and. Ab-
gesehen davon, dass, was ja selbstverständlich ist, jede Thätigkeit unter
den segensreichen Fittichen der Berufsfreudigkeit besser gedeiht, reichere
Erfolge aufzuweisen hat, wirkt sie auch anregend, erfrischend und be-
fruchtend auf die Umgebung, auf die Mitarbeiter oder sonst irgendwie
mit der Thätigkeit in naher Beziehung Stehenden. — Unlust dagegen,
Widerwillen oder auch nur Gleichgültigkeit sind schlechte Förderer
der Arbeit und üben einen lähmenden, hemmenden Einfluss auf die
Umgebung aus. Mag der Mangel an Freudigkeit in den meisten
Berufsarten durch ernste Pflichttreue ersetzbar sein, — in dem Lehr-
amte ist er es nicht! Dort leidet nur ein einzelner Mensch und etwa
noch eine geringe Anzahl von Erwachsenen, die mit jenem geschäftlich
in Berührung kommen; hier aber leidet eine ganze Kinderschar; denn
die Lust oder Unlust des Lehrers tiberträgt sich naturgemäß un^i aus-
nahmslos auch auf die Kinder. Ein frisches, freudiges Wesen des
Lehrers wirkt anregend und belebend auf die noch unentwickelten
Geister der Kinder; ein mattes, unlustiges, gequältes Unterrichten be-
wirkt das Gegentheil; die geistige glückliche Entwicklung der Schüler
hängt in der That wesentlich von der mehr oder weniger freudigen
Stimmung ihrer Lehrer ab. Doch das ist eine alte Wahrheit, die
indes genügend beweist, dass vorzugsweise dem Lehr stände um
der Jugend willen Berufsfreudigkeit nothwendig ist.
Es verlohnt sich daher wol der Mühe, einmal etwas eingehend
den Umständen nachzuspüren, von denen die Berufsfreudigkeit der
Lehrerwelt mehr oder weniger abhängig ist, zumal sich dieselben zum
Theil der Kenntnisnahme derjenigen Männer entziehen, die mit ihrem
Einfluss und ihrer Macht wesentlich auf eine erhöhte Bernfsfreudigkeit
der Lehrer hinwirken könnten.
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Als die wesentlichsten Bedingungen, unter welchen ein Lehrer
freudig seines Amtes walten könnte, dürften ohne Zweifel folgende
anzusehen sein:
1. Ein Lehrer muss „inneren Beruf u für sein Amt fühlen; er
soll mit ausgesprochener Neigung Pädagoge werden.
2. Er muss in den Vorbereitungsanstalten für seinen Beruf zweck-
gemäß und würdig vorbereitet werden.
3. Tritt er in seinen Beruf ein, so soll er materiell so gestellt
werden, dass er von seinem Einkommen bei bescheidenen, seiner Stellung
angemessenen Ansprüchen sorgenfrei leben kann.
4. Er muss bei der Gründung seiner „ Häuslichkeit" Vernunft und
Herzensneigung walten lassen, damit das Familienleben nicht einen
störenden, sondern erfrischenden, fördernden Einfluss auf seine amtliche
Thätigkeit ausübe!
5. At last, not at least — bedarf er in seinem schweren Amte
auch der wolwollenden Unterstützung seitens seiner „Vorgesetzten-?
d. h. der Männer, die staatlich verpflichtet sind, seine Thätigkeit zu
überwachen und zu fordern!
Wenn wir zunächst diese fünf Punkte als die wesentlichsten Be-
dingungen, unter denen eine „amtliche Freudigkeit"* möglich ist, au-
erkennen, so ist es klar, dass die Berufsfreudigkeit nur zum Theil in
der Hand der Lehrer liegt, dass dieselbe dagegen auch vielfach von
außen her gegeben oder genommen, erhöht oder vermindert werden
kann. Eltern, Lehrer, namentlich aber niedere, hohe und höchste
Vorgesetzte haben, je nachdem sie wol- oder übelwollend verfahren,
einen großen Einfluss auf „Lust oder Unlust" des Lehrerstandes.
Wie die Neigung überhaupt bei der Wahl des Berufes für den
Jüngling entscheidend sein soll, so ist sie im besonderen von höchster
Wichtigkeit bei der Entscheidung für den pädagogischen Beruf. Wer
ohne innere Neigung, wol gar mit Abneigung, etwa durch die Lebens-
verhältnisse genöthigt oder um des „Brotes" willen den Lehrstand
wählt, kann ja wol bei tüchtiger Vorbereitung und gewissenhaftem
Ernste seine Pflichten mit einigem Erfolg erfüllen, wird aber kaum
je mit voller Befriedigung und Freudigkeit, also auch nicht mit
besonderem Segen wirken. Es kann daher nur wünschenswert sein,
dass sowol alle, welche keinen inneren Beruf für das Lehramt fühlen,
demselben fern bleiben, als auch dass diejenigen, welche die Herzens-
neigung dazu treibt, sich nicht durch äußere Umstände verleiten
lassen, einen anderen Berufszweig zu wählen, sondern sich dem ihnen
von Gott gewissermaßen zugewiesenen Beruf mit ganzem Interesse in
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•lie Arme werfen, unbekümmert darum, welches materielle Los ihrer
warte. — Diese Forderung klingt ja höchst einfach und selbstverständ-
lich, — und doch dürfte die Durchführung derselben nicht so ganz
leicht imd einfach sein. Irren ist menschlich; gar zu leicht aber
täuschen sich junge Leute über ihre Anlagen und Fähigkeiten; die
äußeren Verhältnisse der Berufsarten, unter denen ihnen die Wahl
freisteht, üben auf die unerfahrenen, den sinnlichen Eindrücken noch
sehr zugänglichen Gemüther naturgemäß einen großen Einfluss; Zu-
reden guter Freunde und Bekannten, die kein psychologisches Ver-
ständnis haben, wirken oft genug verderblich auf die Entschließung
junger Leute. Selbst die eigenen Eltern führen nicht selten, meist in
der besten Meinung, ihre Kinder auf einen falschen Weg. — Wer es
an sich selbst erfahren, welch ein Lebensunglück es ist, in einen
falschen Beruf zu gerathen, der darf wol ein Wort darüber sprechen,
— ein warnendes Wort!
Es ist sicher, dass in vielen Fällen weder der Jüngling selbst,
noch dessen Eltern oder Angehörige Einsicht genug haben, die richtige
Berufswahl zu treffen; aber auch ebenso sicher ist es, dass aus der-
artigen Missgriffen viel Unheil, Unzufriedenheit und Unsegen erwächst.
Hier ist zum Theil die Quelle so manches verfehlten Lebens zu suchen.
Hier eröffnet sich, meine ich, für die Schulen ein wahrhaft segens-
reiches Feld der Thätigkeit. Wenn die Lehrer, besonders aber die in
den ersten Classen unterrichtenden Dirigenten der Schule es sich zum
Grundsätze machen würden, bei passender Gelegenheit wiederholentlich
ernst und eindringlich über die bevorstehende Berufswahl zu sprechen,
ihren Schülern besondere ans Herz zu legen, dass keine anderen Gründe,
als nur die eigene Neigung und Beanlagung bei der Wahl des Be-
rufs maßgebend sein müsse u. s. w., ja, dann könnte so manchem unheil-
vollen Missgriff vorgebeugt, so manches Lebensunglück vermieden werden!
Dass dies nicht in dem wünschenswerten Umfange geschieht, das mag
zum Theil auch an der Gewissenhaftigkeit mancher Lehrer liegen; sie
halten es für unrecht, auf Kosten der vorgeschriebenen Pensen der-
gleichen Gespräche zu führen. Und doch — welcher Segen kann für
diesen oder jenen der Schüler aus solchen Belehningen fürs ganze
Leben erwachsen, während ein kleiner Zuwachs an Kenntnissen dem
gegenüber wahrhaft unwesentlich erscheint! Andere wieder halten
überhaupt von allgemeinen moralischen Belehrungen nichts, weil sie
ja doch keinen Eindruck auf die jugendlichen Gemüther machen, also
nur auf Zeitverschwendung hinauslaufen. Ja — wer sich so wenig
für das zukünftige Wol der ihm anvertrauten Jugend erwärmen
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kann, dass er mit seinen Worten keinen Eindruck zu machen glaubt,
der liefert eigentlich auch schon den Beweis, dass er seinen Beruf ver-
fehlt hat. Ohne Zweifel thut den Zöglingen vor ihrer Ent-
lassung aus der Schule eine möglichst eingehende Aufklärung
über die bei der Wahl des Berufes maligebenden Grundsätze
noth. Gelegenheit dazu wird sich bei Behandlung der verschiedenen
Unterrichtsfacher, namentlich aber bei Schulfestlichkeiten. Entlas-
sungen etc. oft und ungezwungen finden. Man wolle sie nur benutzen!
Es folgt die Besprechung des zweiten Punktes, der zweiten Be-
dingung, die überaus wichtig, ja unerlässlich für die spätere Berufs-
freudigkeit erscheint; das ist die würdige und zweckmäßige Vorbe-
reitung für den Lehrberuf. Sprechen wir zuerst von der Vorbildung
der später an höheren Lehranstalten wirkenden Lehrer. Die eigent-
liche Stätte ihrer Vorbildung ist also die „Universität4. Schon vor
Jahren habe ich in einem Artikel dieser Zeitschrift „Ein offenes Wort-
auf die Unzweckmäßigkeit der akademischen Einrichtungen, auf die
Verderblichkeit und den Missbrauch der sogenannten „akademischen
Freiheit" hingewiesen; mag das hie und da Anstoß erregt haben, oder
mag man mit vornehmer Geringschätzung darüber hinweggegangen sein
— ich kann nicht helfen, noch einmal muss ich meiner Überzeugung Aus-
druck geben, wobei ich schlechterdings nur das Heil der studirenden
Jugend, nicht aber die Fehde gegen die Träger der heute noch auf
den Universitäten herrschenden Richtung im Auge habe!
Schon von den Gymnasien bringen die meisten jungen Leute, die
sich dem Schulfach widmen wollen, — denn wir sprechen hier nur
von diesen, — einen gewissen wissenschaftlichen Dünkel mit und eine
im ganzen unreife und verkehrte Lebensauffassung. Sie haben auf
dem Gymnasium Homer, Sophokles, Horaz etc. gelesen und haben aus
diesen Schriftstellern, deren Lecture für die unreife Jugend, die noch
keine Lebenserfahrung hat, entschieden gefährlich ist, neben vielem
Schönen und Guten eine falsche Lebensweisheit geschöpft. Nur zwei
Punkte seien aus dieser falschen Vorstellungsweise hervorgehoben:
einerseits halten sich diese jungen Studenten für etwas Bevorzugtes
anderen gegenüber, die nicht denselben Bildungsgang durchgemacht, und
andrerseits leben sie unter dem irrthümlichen Eindruck, als ob der
Zweck des Lebens nur — gegenüber den gröberen sinnlichen Ge-
nüssen der niederen Stände — ein verfeinerter geistiger Genuss wäre;
demgemäß sind sie auch in dem für die später von ihnen zu erziehende
Jugend sehr gefährlichen Irrthum befangen, dass das von ihnen an-
gestrebte Amt nur dazu bestimmt sei, ihnen selbst Wolstand, Genuss
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und Ehre zu bringen, während sie noch keine Ahnung davon haben,
dass ihre zukünftige Thätigkeit im Schulamte der Jugend Nutzen und
Segen schaffen soll, dass es später die Hauptsache ist, in uneigen-
nütziger Thätigkeit Glück zu verbreiten und hierin seine ganze innere
Befriedigung zu suchen. Dieser Geist, den die jungen Leute aus dem
Gymnasium mitbringen, findet nunmehr in dem akademischen Leben
und Treiben mannigfache Nahrung. Die wissenschaftlichen Studien
werden — wenn sie überhaupt in den ersten Semestern betrieben
werden — in einem vollständig über das Niveau und Bedürfnis der all-
gemeinen Bildung, die doch die Schule vermitteln soll, hinaus-
gehender Weise fortgesetzt, Jeder Studirende wählt sich zwei oder
drei Fächer, in die er sich möglichst vertieft, während er in anderen
Unterrichtsgegenständen selbst die Anforderungen der allgemeinen
Büdung vernachlässigt.. Im übrigen aber wird nunmehr die aus dem
Horaz etc. gewonnene Theorie des Lebensgenusses in allen möglichen
Variationen ins Praktische übersetzt. Nun heißt es: Nunc est biben-
dnm, nunc pede libero pulsanda tellus; — oder: „dulce est desipere
in loco" u. s. w. — Beide Richtungen des akademischen Lebens sind
offenbar gleich falsch und verderblich. Die Vertiefung in die Fach-
studien hat zur Folge, dass die betreffenden Studirenden später außer
Stande sind, allgemein bildend auf ihre Zöglinge zu wirken; in
der Neigung, ihre erworbenen Kenntnisse an den Mann zu bringen,
gehen sie über die Grenze der zur allgemeinen Bildung gehörenden
Anforderungen zum Schaden ihrer Schüler entweder hinaus, oder sie
ftiblen sich unbefriedigt, dass sie dies nicht dürfen, und unterrichten
nur mit halbem oder völlig mangelndem Interesse. Beides ist gleich
schlimm für die zu erziehende Jugend. — Durch nichts zu recht-
fertigen ist aber das Körper und Geist verwüstende -Kneipenleben"
der jungen Männer, die dereinst die Träger der Volksbildung und der
Volkswolfahrt sein sollen! Mag mit der Beobachtung des studentischen
Comment, mit den humoristischen r Bierorden" und Debatten immerhin
eine gewisse -Schulung des Geistes" verbunden sein, die geistige
Richtung kann dadurch wahrlich nicht in die rechten, heilsamen
Bahnen gelenkt, sondern nur abgelenkt werden von allem Guten und
Edeln. — Die geistige Frucht, die ans solchem Leben erwächst, ist
einerseits r geistiger Hochmuth", andrerseits eine gewisse traurige
-Blasirtheit" und Genusssucht, die oft genug die später zu über-
nehmenden ernsten Berufspflichten als eine unliebsame Last empfinden
tet. In den schönen Jahren, in denen die noch nicht zu voller Kraft
nnd Harmonie entwickelten Körper- und Seelenkräfte noch der sorg-
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samsteu Pflege und Ausbildung bedürfen, werden diese von Gott dem
Menschen zu seiner Beglückung verliehenen Kräfte zum großen Theil
in einer wahrhaft frevelhaften Weise geschwächt und vergeudet. Wie
aber ist diesem alt eingebürgerten Treiben Einhalt zu thun oder vor-
zubeugen? Durch Verbot oder äußeren Zwang meine ich nicht. Nein —
vielmehr ist die heilende Wurzel in die Gymnasien zu verlegen. Diese
sollten es sich zur Aufgabe machen, die zur Universität abgehenden
Jünglinge so vorzubereiten, dass sie nicht nur einen klaren Einblick
in die Gefahren des heutigen Studentenlebens und in die allein richtige
und heilsame Verwertung der schönen Studienjahre zur Universität
mitbringen, sondern dass sie sogar mit Abscheu vor solch schalem,
frevelhaftem Treiben erfüllt werden! Durch derartige ernste, wieder-
holte und nachdrückliche Belehrungen der Primaner würde wahrlich
mehr Heil verbreitet werden, als durch die geistvollsten Erklärungen
„interessanter" Stellen aus den Classikern u. s. w.! Durch solche
Episoden dürfte so manches Jünglings Lebensglück begründet oder
gerettet werden, wählend jene „gelehrten Kenntnisse" den Schülern
nur einen flüchtigen Genuss gewähren, ihren geistigen Dünkel ver-
mehren, im günstigsten Falle wol auch ein wenig zur Schärfung des
Verstandes beitragen. Doch — ich will mich begnügen, noch einmal
auf diesen „Krebsschaden" des Universitätslebens in der Hoffnung hin-
gewiesen zu haben, dadurch gewichtigeren Stimmen Anregung gegeben
zu haben, sich gegen diesen alten verderblichen „Zopf" zu erheben! —
Und wenn an die Stelle der gelehrten fachwissenschaftlichen Vorträge
Vorträge treten würden, welche den späteren Volksbildnern volles
Verständnis für ihren schönen Beruf, Lust und Liebe zu dem-
selben zu vermitteln geeignet wären, sollte das auf ihre zukünftige
Berufsfreudigkeit und erfolgreiche Wirksamkeit nicht von bei weitem
günstigerem Einfluss sein?! — Ohne Zweifel. Recht eingehende, warm
gehaltene ethische, philosophische und pädagogische Vorlesungen dürften
zweckmäßig den Kern der akademischen Studien bilden. Vorlesungen
über Philosophie, Logik. Psychologie, Ethik, Gesundheitslehre, Päda-
gogik, Unterrichts- und Erziehungslehre, Geschichte der Erziehung
und des Unterrichts u. a. sollten in den Vordergrund treten und nicht
wie bisher als Nebensache behandelt werden. Dagegen könnten eine
Menge fachwissenschaftlicher Vorlesungen fallen oder doch ohne Nachtheil
erheblich beschränkt werden; denn der Vortheil dieser Vorlesungen
ist doch nur eine dürre Frucht, die kein lebensfähiges Samenkorn
enthält. Von großer Wichtigkeit aber wäre es, wenn das kaiserliche
Wort: „Ein jeder Lehrer soll turnen und täglich turnen" auch auf
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-- löl -
die Universitäten Anwendnng fände! Wenn jede Universität einen
Tarnplatz nebst Turnhalle hätte, wenn akademische Turnlehrer ange-
stellt wären, wenn täglich eine Stunde für die zukünftigen Schulmänner
angesetzt würde, in der sie ihre Körperkräfte und somit auch ihr gei-
stiges Leben kräftigen könnten, statt in burschikosen Vergnügungen
Körper und Geist zu schwächen und zu zerrütten, oh, welch ein großer
Gewinn wäre das! — Nicht nur, dass die dadurch gewonnene leibliche
und geistige Kraft den einzelnen Studirenden und später deren Zög-
lingen zu gute kommt, nein, es hat dies auch eine praktische Seite.
Es würde dann jeder Lehrer dereinst befähigt sein, ohne weiteres
den Turn-Unterricht seiner Classe zu übernehmen. Wir würden dann
allmählich dahin kommen, dass jede Schulclasse täglich eine Stunde
den Leibesübungen widmen könnte — und wer wollte leugnen, dass
dies überaus wünschenswert wäre?! —
So viel einstweilen über die Universitäten, als Vorbereitungs-
anstalten für das höhere Lehrfach. Auf die Vorbereitungsantalten für
das niedere Lehrfach komme ich wol später noch einmal zurück; hier
an dieser Stelle habe ich nur zu bemerken, dass die Vorbereitung in
den Lehrerseminaren offenbar insofern sich vortheilhaft von dem
Universitätsleben abhebt, als die Jünglinge dort ihre Körper- und
Geisteskräfte täglich in tüchtiger Arbeit üben und stärken, und als
dort mehr für allgemeine Bildung, namentlich für die pädagogische und
turnerische Ausbildung geschieht.
Im allgemeinen möchte ich als Schlussstein der Besprechung des
zweiten Punktes nur die Behauptung aufstellen, dass die Berufsfreudig-
keit und somit die innere Befriedigung in Erfüllung der Berufspflichten
außerordentlich abhängig ist von der Art und Weise der Vorbereitung
auf den Beruf, gleichviel ob die im Obigen angedeuteten Änderungs-
vorschläge für zweckmäßig erachtet werden, oder ob andere, und viel-
leicht bessere in Vorschlag gebracht werden sollten.
Als dritte Bedingung stellten wir eine sorgenfreie Lebenslage der
Lehrer hin. — Dass eine auskömmliche, sorgenfreie Existenz zur Be-
lebung und Erhaltung der Arbeitslust und Berufsfreudigkeit im all-
gemeinen viel beiträgt, ganz besonders aber dem Lehrstande not-
wendig ist, weil eben eine mit Nahrungssorgen verknüpfte Stellung
allmählich müde und verdrossen, ja endlich „unfähig" zur Arbeit
macht, das ist ja so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Erörterung
bedarf. Es fragt sich nun, wo der Grund der traurigen Thatsache
zu suchen ist, dass eine Menge von Lehrern an höheren und niederen
Schulen der wünschenswerten Sorgenfreiheit entbehren und mehr oder
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weniger darauf angewiesen sind, sich noch neben ihrem Amte Ein-
nahmen zu verschalten. — Nun — die Antwort ist höchst einfach:
Theils sind die Gehälter der Lehrer in der That zu knapp bemessen,
so dass die Einnahmen auch bei den bescheidensten Ansprachen nicht
zur Unterhaltung einer Familie ausreichen, theils aber sind es auch
die zu hoch geschraubten Ansprüche an den sogenannten „ Lebens-
genußu, welche selbst ein bei vernünftigen Ansprüchen auskömmliches
Gehalt als nicht hinreichend erscheinen lassen. Solch abnorme Fälle,
wo die Schuld an lasterhaften Gewohnheiten oder an einer absolut
unglücklichen Wahl der Lebensgefährtin liegt, wollen wir nicht weiter
berühren. Die erste Voraussetzung trifft leider noch auf einen großen
Theil der Volksschullehrer, besonders in den Städten, zu, deren Ge-
hälter schlechterdings nicht so hoch bemessen sind, dass sie „ohne
Nebeneinnahmen" ihre Familien „anständig" ernähren können. Die
zweite Voraussetzung passt auf eine Menge der Lehrer an höheren
Lehranstalten, deren Gehalt ja an und für sich recht auskömmlich
sein könnte, wenn es eben die heutige Zeit nicht mit sich brächte,
dass höhere Ansprüche an den „Lebensgennss* gestellt werden, als
nothwendig, ja heilsam sind. Die geselligen Umgangsformen, denen
mau sich nur auf die Gefahr hin, als Sonderling zu erscheinen, ent-
ziehen kann, erfordern heutzutage einen Aufwand von Zeit und Mitteln,
der in keinem Verhältnisse zu dem geistigen Gewinn steht, den man
davonträgt, wenn überhaupt von einem Gewinn dabei die Rede sein
kann und nicht vielmehr von einem geistigen „Verlust". Denn geist-
und gemüthanregend pflegen die heutigen geselligen Zusammenkünfte
nicht zu sein; zum höchsten gewähren sie den Betheiligten durch den
sie belebenden humorvollen Witz eine angenehme Zerstreuung, die aber
von höchst zweifelhaftem moralischen Werte ist. In erster Linie
müsste demnach als wünschenswert bezeichnet werden, dass die Volks-
schullehrer so gestellt würden, dass sie bei vernünftiger Lebensweise
nicht nöthig hätten, sich Nebeneinnahmen zu schaffen, sondern von
ihrem Einkommen sich mit ihrer Familie anständig zu unterhalten im
Stande wären. Die lediglich auf den Erwerb zielenden Nebenbeschäf-
tigungen nehmen einen großen Theil der Kraft und des Interesses in
Anspruch, der voll und ganz dem Berufe gewidmet sein sollte; sie
beeinträchtigen demnach die rBenifsfreudigkeit" des Lehrers zum
Schaden seiner Zöglinge erheblich; es leidet die Jugend, wenn der
Lehrer nicht auskömmlich gestellt ist. In dankenswerter Weise ist ja
nun auch an maßgebender Stelle eine entsprechende Aufbesserung der
Lehrer-Gehälter ins Auge gefasst worden. Möchte die Maßregel keine
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halbe bleiben! — Um aber mit dem Gehalte auskommen zu können,
dazu bedarf es einer verständigen Einrichtung, und diese hängt oft
mehr von der Frau als vom Manne ab. Auf eine glückliche Wahl
der Lebensgefahrtin wird also viel ankommen. Die Frau des Lehrers
wird nicht nur praktisch und tüchtig, sondern auch an Geist und Ge-
müth so weit gebildet sein müssen, dass sie ein klares Verständnis und
ein warmes Interesse für die Bestrebungen ihres Mannes hat, dass sie
ihm nicht als hemmende Last das Leben erschwert und verbittert, sondern
dass sie ihm in seinem schweren Beruf tröstend, erheiternd und fördernd
zur Seite steht. Vorsicht bei der Wahl der Lebensgefährtin ist daher nicht
nur in seinem eigenen, sondern auch besonders im Interesse der Jugend
des Lehrers „heilige Pflicht". „Drum prüfe, wer sich ewig bindet!" — —
Indes, was hilft es, wenn alle jene Bedingungen erfüllt sind, wenn
jemand aus wahrer Neigung Pädagoge geworden, wenn er tüchtig
vorbereitet, mit Lust und Liebe in seinen Beruf eintritt, wenn seine
materiellen und häuslichen Verhältnisse befriedigende, ja beglückende
sind, was hilft ihm dies alles, wenn er durch die Maßnahmen und
Vorschriften der vorgesetzten Behörden in seiner freien Thätigkeit
gehemmt und in Bahnen gezwängt wird, die seiner individuellen Rich-
tuog nicht entsprechen? — Sehr wol fühle ich, dass ich hier einen
heiklen Punkt berühre, dessen offene Besprechung hie und da An-
stoß erregen, wol auch gar zu Missdeutungen Anlass geben könnte;
indes darf mich dieses Gefühl im Hinblick auf das Interesse von Tau-
senden meiner Collegen nicht abhalten, aus meiner Erfahrung heraus
maßvoll der Wahrheit die Ehre zu geben.
Zunächst wird niemand die Wahrheit der Behauptung bestreiten
können, dass es Pflicht und Aufgabe der Schulbehörden, sowol der
Patronats- als der Aufsichtsbehörden ist, die Thätigkeit der einzelnen
Schulen und ihrer Lehrer zu unterstützen und zu „fördern". Diese
Förderung kann aber nur auf dem Wege „wolwollenden" Entgegen-
kommens erreicht werden! Mögen die vorgesetzten Behörden mit
Festigkeit thörichte Einrichtungen beseitigen, mögen sie Verirrungen
und Pflichtverletzungen mit Ernst entgegentreten; aber sie sollen nicht
nur die Herren spielen, nur von oben herab ohne Rücksicht auf die
Ansicht und Eigenthümliclikeit der Lehrer herrschen und „befehlen"
wollen. Was wird denn dadurch gewonnen? Nur Lehrer, die eine
sclavische Gesinnung und kein eigenes Streben haben, können durch
solch rücksichtslose Behandlung allenfalls äußerlich in der von der
Behörde vorgeschriebenen schablonenhaften Thätigkeit erhalten werden,
— besser aber werden sie dadurch nicht! — Edlere Charaktere
P«*Ugo&iiiin. 14. Jahrg. Heft III. 12
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aber, Männer, die eigenes Wollen und eigenes Streben beseelt, werden
durch solche Behandlung zunächst bedrückt, in ihrer freudigen Thätig-
keit gehemmt und verlieren schließlich vollständig den Muth und die
Lust zu der ihnen sonst so lieb gewesenen Arbeit! — Das kann nicht
gut, das kann nicht heilsam sein! Doch woran liegt es, dass der-
gleichen traurige Missverhältnisse in neuerer Zeit ganz besonders im
Volksschulwesen so weit verbreitet sind?! — Der Grund kann nur
darin liegen, dass die Männer, die zur Schulaufsicht berufen werden,
aus Schulen hervorgegangen sind, deren Thätigkeit es mehr auf die
wissenschaftliche, als auf die moralische Bildung absieht, und —
das sind unsere „höheren Schulen", in denen heute die gemüthliche
Seite der Bildung immer weniger und weniger angeschlagen wird.
Alle Achtung vor den wissenschaftlichen Leistungen unserer Gymnasien!
Aber — mögen sie nur zusehen, dass ihre Zöglinge „des Wissens
Schatz nicht mit dem Herzen zahlen!" — Wieviel Unheil haben doch
schon auf Erden sogenannte „classische" Worte angerichtet, die von
der Jugend als Aussprüche großer Geister mit Begeisterung als die
größte Lebensweisheit aufgefasst werden, während sie bei Licht be-
sehen nicht den geringsten moralischen Wert haben. Beispielsweise
will ich nur das Goethe'sche Wort anführen, welches jener große
Meister vielleicht einmal bei Gelegenheit in Weinseligkeit hingeworfen!
„Nur die Lumpe sind bescheiden!" Welch eine Summe von Rücksichts-
losigkeiten, ünbescheidenheit, ja Frechheit mag wol in der Neuzeit
ohne dass wir es ahnen, die Folge dieses Ausspruches sein! Für über-
aus unheilvoll darf man ferner mit Recht den Ausspruch des Horaz
halten , der ja eine große Macht über die jugendlichen Gemttther er-
rungen und mit Vorliebe citirt wird: „Odi profanum vulgus et arceo."
Man stellt wol keine zu kühne Behauptung auf, wenn man der Wir-
kung dieses missverstandenen Wortes auf die Schuljugend zum großen
Theil jenen heute grassirenden „geistigen Aristokratismus" zuschreibt,
der geradezu mit den christlichen Lehren! allgemeiner Menschenliebe
in Widerspruch steht! — Mit welchem Recht darf sich ein Mensch,
dem Gott die Gnade erwiesen hat, einen Vater zu haben, der ihn das
Gymnasium durchmachen ließ, wo er Griechisch und Lateinisch lernte,
über einen andern überheben, dem es nicht so gut im Leben ge-
worden, der sich aber vielleicht durch eigene Kraft und eigenes
Verdienst zu ehrenvoller Stellung emporgerungen?! Mit welchem Recht
darf einer, der Griechisch und Lateinisch weiß, sich für besser halten
oder verächtlich auf andere herabsehen, die jene Sprachen zwar nicht
gelernt haben, aber vielleicht viel nützlichere Dinge?! Und wo liegt
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— 155 —
die Berechtigung für einen Menschen, sich für allein weise, ja für
„unfehlbar" zu halten und von allen ihm „Unterstellten" verlangen
zu dürfen, dass sie unbedingt und urtheilslos seiner Vorschrift folgen
sollen?! Wie darf ein Mensch andere selbstdenkende Menschen „un-
mündig* machen?! In neuerer Zeit ist ja nun für das Volksschulwesen
viel gethan worden. So ist namentlich das Aufsichtspersonal bedeutend
vermehrt worden, indem nicht nur das Amt der Kreisschulinspectoren
vollständig abgezweigt ist von anderen Ämtern, sondern auch die Zahl
derselben fast um das Doppelte vermehrt worden ist. Zum großen
Theil sind aber diese Herren dem jüngeren Lehrerkreise der höheren
Schulen entnommen; es sind demnach Männer, welchen der Wirkungs-
kreis, in den sie nun aufsichtführend, also „anordnend und fördernd*4
eintreten sollen, bisher ganz fremd gewesen ist! Es fragt sich
doch sehr, ob Männer, die vordem nur wissenschaftlichen Unterricht
in einzelnen Fächern ertheilt, sich auch so bald in das umfangreiche
Material des Volksschulwesens hineinarbeiten werden, dass sie sich
darin völlig zu Hause fühlen, zumal den meisten von ihnen diese neue
Beschäftigung im Gegensatz zu der früheren wenig sympathisch sein
dürfte! Indes — das ginge noch; bei der nöthigen Intelligenz und
Energie — denn nur Männer von solchen Eigenschaften werden ja
gewählt — werden sich die meisten wol über kurz oder lang hinein-
finden. Doch ein anderer Gesichtspunkt ist es, der hierbei weit be-
denklicher erscheint. Es bringen nämlich diese Herren, was ihnen ja
nicht zum Vorwurf gemacht werden kann , jenen oben erwähnten
aristokratischen Geist mit in ihr neues Amt, jene Auffassung, als ob sie
etwas Besseres, etwas Nobleres wären, als die Männer, mit denen sie
nunmehr in amtlichen Verkehr zu treten haben. Was sie aber nicht
mitbringen, das ist Wol wollen und Herz für die nunmehr ihrer Auf-
sicht anvertrauten Seelen, junge und alte! — So ist es denn natur-
gemäß und nicht zu verwundern, dass die aus solchen dem Volksschul-
wesen fernstehenden Kreisen gewählten Kreisschulinspectoren ihren
vorläufigen Mangel an Fachkenntnis unter einer gewissen „Zugeknöpft-
heit" und Schneidigkeit zu verbergen genöthigt sind; denn „imponiren"
sollen und müssen sie doch ihren Lehrern. Ob sie aber dadurch dem
vernünftigen Theil der Lehrerwelt in Wahrheit imponiren?? — Mit
dem Grundsatz: „Oderint, dum metuant" dürfte man doch heute nicht
weit kommen, zumal im Schulwesen, wo der Geist der Liebe herrschen
soll! Ein Beispiel fürs allgemeine: Ein jüngerer Lehrer kommt vom
8eminar und tritt mit freudigem Eifer seine erste Lehrerstelle an. Er
arbeitet mit jugendlicher Frische und vollem Herzen; in freudiger
12*
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Erwartung sieht er der ersten Schulrevision entgegen in dem Bewusst-
sein, nach besten Kräften im Interesse der Jugend gearbeitet zu haben.
— Der Tag erscheint und mit ihm der Revisor, ein junger, stattlicher
Herr. Nach kurzer Begrüßung eilt der Revisor in das Olassenzimmer
und nimmt in vornehmem Schweigen verharrend sehr eingehend die
Revision ab. Nach Beendigung derselben hält er strenge Kritik ab,
tadelt dieses und jenes, verlangt hie und da eine Änderung und em-
pfiehlt sich, die Erwartung aussprechend, bei der nächsten Revision
bessere Resultate zu finden. — Enttäuscht und — verstimmt lässt er
den Lehrer zurück. Wie ganz anders hatte sich dieser die Revision
gedacht! Er hatte gehon% in dem Revisor einen wolwollenden, freundlichen
Herrn zu finden, der auch einige Worte maßvoller Anerkennung haben
werde für das, was er Gutes geleistet, der ihn da, wo er gefehlt, mit
freundlichem Geist zurechthelfen , ihm guten Rath und praktische
Fingerzeige an die Hand geben werde. Auch hatte er vielleicht im
stillen gehofft, dass der Herr sich auch ein wenig theilnehmend um
seine persönlichen Verhältnisse kümmern werde. Und nun? — Das
vornehme, zugeknöpfte Wesen des Revisors hat ihn verletzt; die
Wahmehmung, dass unbegründeter Tadel ausgesprochen worden ist,
dass Dinge bemängelt worden sind, welche er im Seminar gerade als
gut und praktisch hat preisen hören, nimmt ihm das Vertrauen
zu seinem Vorgesetzten oder auch, was noch schlimmer ist, zu sicli
selbst. Kurz — statt sich durch die Revision — wie es ja sein sollte —
angeregt und zu neuer Arbeit erfrischt zu fühlen, fühlt er sich ge-
drückt und missmuthig. Der erste Tropfen „Wermuth" ist in sein amt-
liches Leben gefallen. Fallen der Tropfen mehr, so ist?s wol bald um
seine schöne, ihm von Gott gegebene Freudigkeit geschehen; dann
wird aus dem freudig arbeitenden und strebsamen Lehrer ein „miss-
vergnügter", seine Pflicht nur mit Widerwillen erfül lender Lehrer. —
Von Riteren, pflichttreuen Lehrern, zumal solchen, die studirt haben
und etwa zur Leitung von Töchterschulen berufen sind, die aber
einer ähnlichen Behandlung ausgesetzt sind, — da ja nach neueren
gesetzlichen Bestimmungen auch die höheren Mädchenschulen der
jährlichen Revision durch die Kreisschulinspectoren unterliegen, —
will ich gar nicht reden! Wehe, wehe, wenn ein Lehrer erst
unterrichtet mit der ,.geballten Faust" in der Tasche! Warum, wes-
halb? — Könnte es wirklich nicht anders sein?! Gewiss — es
könnte! — Sollte wirklich eine derartige Vermehrung der Schul-
aufsichtsbehörden und eine ähnliche Art und Weise der Aulsichts-
führung, wie die erwähnte, nothwendig sein? 0, das wäre ein trauriges
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Zeichen der Zeit und eben kein Compliment für den Lehrerstand. Männer,
die dereinst berufen sind, die Jugend zu erziehen und derselben in ihrer
ganzen Lebensführung als Muster zu gelten, sollten und dürften nicht
wie r Unmündige* behandelt werden, denen beständig auf die Finger
gesehen werden muss. Ist das bei dem einen oder andern wirklieh
nöthig, so sollte er auch nicht „Lehrer" sein, so hat es an der rich-
tigen Erziehung oder Vorbereitung gefehlt. — Ceterum censeo: die
Yorbereitungsanstalten, die Schulen, die Seminare und Universitäten
könnten ohne Schaden in wissenschaftlicher Hinsicht manche Forde-
rung fallen lassen, sollten aber mehr auf die allgemein menschliche,
moralische und Gemüthsbildung hinwirken! Wenn aus den Seminaren
junge Lehrer hervorgehen, die Verständnis für das Erziehungswesen,
Eifer, Lust, Liebe und wahre Freudigkeit für ihren Beruf mit-
bringen, die nicht zu knechtischer Gesinnung, sondern zu einer edlen
Selbstständigkeit erzogen sind, dann, — ja dann wäre das jetzige
— polizeiliche — Aufsichtssystem überflüssig, dann würde ein frischerer,
freierer, neuer Geist in die Lehrerwelt kommen, und — der Staat
könnte viel Geld am Aufsichtspersonal ersparen!
Viel könnte noch gesagt werden über Dinge, Verhältnisse und
Einrichtungen, die namentlich den Leitern von Communal-Schulen das
Leben zu erschweren, die amtliche Thätigkeit zu verleiden und die
T Berufsfreudigkeit" herabzustimmen geeignet sind, wozu namentlich
der so überaus beschwerliche Verkehr mit der Kgl. Regierung durch
das Landrathsamt, den Kreisschulinspector und die städtische Schul-
deputation zu rechnen sein würde; indes — es mag genug sein!
Zum Schlüsse komme ich noch einmal auf das im Anfang Gesagte
zurück: Der Lehrer bedarf im Interesse der Jugend mehr als
jeder andere Stand der Berufsfreudigkeit! Nur von diesem Ge-
sichtspunkt schrieb ich, was ich schrieb!
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Die Pädagogik der Kunst.
Von Ott© Ernnt Schmidt- Hamburg.
I.
r
er von einer „Pädagogik" der Kunst spricht, hat von vorn-
herein ein starkes Misstrauen gegen sich. Denn was könnte anders
beabsichtigt sein, als die Kunst zur Schulmeisterin zu machen, zur
39jährigen Katheder jungfrau mit spitzer, brillentragender Nase, ge-
drehten Locken und weitfaltigem Gewände, das jedes ungebundene
Spiel der Muskeln, jeden unkeuschen Formenreiz verhüllt! Wo wird
die goldene Freiheit und Selbstherrlichkeit der Kunst bleiben? Zur
nüchternen und strengen Pedantin wird sie werden, die von
Amts wegen zu lehren hat, was in den Büchern der anerkannten
Religionen, der attestirten Wissenschaften und der gangbaren Moral
steht. Mir ist ein solches Misstrauen und Missverständnis nicht erspart
geblieben, nachdem ich einmal in meinen unter dem Titel „Offenes
Visir!" erschienenen „gesammelten Essays aus Literatur, Pädagogik und
öffentlichem Leben" auf die eminent pädagogische Bedeutung der
Kunst hingewiesen hatte. Ein scharfsinniger und feinfühliger Kritiker
hat mir in der „Gegenwart"*) ausfuhrlich den Bescheid gegeben, ich
wolle die Kunst so sehr mit rationalen und praktischen Elementen
bereichern, dass sie in ein Verhältnis strenger Dienstbarkeit zu
Wissenschaft und Moral trete und folglich ihre Sonderart aufgeben
müsse. Im folgenden werde ich eingehender meine Meinung ausein-
ander setzen, als ich in meinem Buche Gelegenheit dazu fand, und dann
hoffentlich wenigstens eine Wirkung erzielen, entweder die, dass die
leuchtende .Fleckenlosigkeit meines ästhetischen Gewissens, oder die,
dass meine ungeheure Sündenblindheit erkennbar wird, die in ihrer
Hartnäckigkeit noch heute nicht sieht, worin mein Verbrechen liegt.
Ganz kurz will ich schon hier bemerken, dass ich mir die päda-
gogische Wirksamkeit der Kunst wahrhaftig nicht auf die Schule und
*) Jahrg. 1890, No. 33 und 34.
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das Eindesalter beschränkt denke, vielmehr die Knnst als Erzieherin
aller Menschen, in erster Linie der erwachsenen und gereiften, be-
trachten will. Damit ist vielleicht schon ein kleiner Theil von Miss-
Verständnissen beseitigt. Aber ganz besonders betonen will ich, dass
ich anter Erziehung nicht allein die Bildung des sittlichen Menschen
verstehe. Die Auffassung des Erziehungsbegriffs in diesem beschränkten
Sinne ist leider ein Irrthum vieler Laien.*) Man denkt sich dem ent-
sprechend auch, wenn man von einer pädagogischen Kunst hört, sofort
etwa eine Literatur vou ehrbar seichten Gedichtchen und Geschienenen
mit moralisirender Tendenz für artige und ungezogene Kinder und
Erwachsene und empfindet davor natürlich ein sehr berechtigtes Grauen.
Zugegeben — was der „modernste Philosoph" Friedrich Nietzsche
und seine Anhänger nicht zugeben würden und auch ich gewiss nicht
als ausgemacht betrachten will — zugegeben, dass es eine absolute
Moral gebe, deren Begriffe unveränderlich und unantastbar wären, und
zugegeben ferner, dass die sittliche Büdung des Menschen das letzte
und eigentliche Ziel seiner Erziehung wäre, so bleibt doch uner-
schütterlich bestehen, dass die intellectuelle und die Gefühlsbildung
des Menschen die unerlässliche Voraussetzung seiner sittlichen Ver-
vollkommnung sind. Es ist richtig, dass Gefühls- und Verstandes-
büdung niemals eine unbedingt zuverlässige Garantie für den sittlichen
Wert eines Menschen bieten. Geschichte und tägliches Leben bieten
Beispiele dafür, dass bei hoher Intelligenz, bei tiefer Religiosität und
bei feinem ästhetischen Empfinden nicht nur einzelne unsittliche Hand-
lungen, sondern durchaus unentwickelte, schwache, ja missgebildete
Charaktere möglich sind.
Das regelmäßige Erschrecken, das gleichsam rathlose Staunen
und Nichtfassenkönnen, mit dem wir jene unharmonischen Naturen
betrachten, die intelligent, gefühlvoll und dennoch unsittlich sind, sollte
uns darüber belehren, dass wir die Functionen des Willens in eine
zu enge causale Verbindung mit dem Denken und Fülüen gebracht
haben. Auch der Einwand, dass in jenen Naturen Verstand und
Gefühl nur nicht gründlich und harmonisch genug durchgebildet
seien, hilft nicht über alles hinaus; die Erfahrung entkräftet diesen
Einwand nicht selten. Goethe kann in dieser Hinsicht als „classisches"
Beispiel gelten. Man wird ihm die höchste wissenschaftliche Durch-
büdung des Geistes und die allerhöchste Lebendigkeit und Beweg-
lichkeit des Gefühls nicht absprechen, ihm aber doch selbst nach
*) Leider auch vieler Pädagogen! D. R.
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seilten begeistertsten Biographen keine sittliche Größe zusprechen können,
die einen Vergleich mit jenen Momenten aushielte. Das Wort Jung-
Stilling's, dass Goethe's Herz so groß gewesen sei wie sein Verstand,
vermag selbst ein Lewes nicht überzeugend genug zu illustriren. Es
scheint, als ob der Wille zuweilen seinen eigenen Kopf hätte. Mir
allerdings scheint es nur so. Mein Name müsste nicht Mensch sein,
wenn nicht mein gesammter Seeleninhalt auf ein monistisches Ziel
hindrängte und nicht auch für sich selbst nach einer einheitlichen
Grundlage suchte. Unsere „wissenschaftlichen Gefühle", sagt J. H.
v. Kirchmann sehr treffend, „bestimmen unwillkürlich das Denken, den
Monismus höher als den Dualismus zu stellen, und dienen dem Grund-
satze zur Stütze, wonach man die Principien nicht ohne Noth ver-
mehren soll." Ich würde nun sehr gern auseinandersetzen, wie ich
mir eine Einheitlichkeit der Functionen des Denkens, Wollens und
Fühlens denke und wie ich zu der Ansicht komme, dass jede För-
derung des Menschen auch thatsächlich eine Förderung seines Willens,
d. h. seines sittlichen Wertes bedeutet. Aber einesteils würde mich
das zu weit führen, anderntheils bin ich gewiss, dass ich die hohe
pädagogische Bedeutung der Kunst auch schon auf Grund der un-
verkennbaren Wechselwirkung zwischen dem Willen einerseits und
dem Denken und Fühlen andererseits klärlich erweisen kann.
Sokrates war es bekanntlich, der da behauptete, dass die Tugend
ein Wissen sei, dass niemand freiwillig schlecht handle, niemand
schlecht handeln würde, wenn er sein Bestes kennte — und alle Be-
actionäre und Dunkelmänner, die mit Hingebung und Liebe für eine
möglichste Beschränkung des Volksschulunterrichts wirken und der
Überzeugung leben, dass bei möglichst mangelhafter Kenntnis des
Alphabets die öffentliche Sittlichkeit und der private Vortheil besonders
vorzüglich gedeihen: alle diese Leute könnten wol einen Sokrates ver-
giften, aber nicht ihn widerlegen. Der Einwurf, dass es sich bei
Sokrates um ein Wissen der Vernunft, um sittliche Intelligenz handle,
verschlägt nichts. Denn den Inhalt der (praktischen) Vernunft bilden
doch wol sittliche Begriffe, und wer will Begriffe erfassen ohne den
Verstand? Sittliche Begriffe erkennt man nur mit ganzer Schärfe und
Deutlichkeit auf dem Wege der Selbstbeobachtung, überhaupt auf dem
Wege psychologischen Denkens. Selbstbeobachtung wiederum erfordert
nicht nur die größte Schärfe, sondern auch die straffeste Energie der
Verstandesthätigkeit. Ich habe gefunden, dass der Grad der Fähigkeit
und Neigung, sich selbst zu beobachten, als Gradmesser dienen kann Ah-
den gesammten Wert eines Menschen. Nur bei vornehmen Naturen
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findet man diese Beschäftigung zur Gewohnheit ausgebildet, und
sicherlich sind die „oberflächlichen" Naturen*), die an eine Möglichkeit
der Selbstbeobachtung überhaupt nicht denken, wenn auch nicht die
verbrecherischsten, so doch die gemeinsten. Aus fortgesetzter Selbst-
beobachtung fließt nothwendig jenes sokratische Wissen vom wahren
Heil des Menschen, jene Intelligenz, die folgerichtig zur Tugend werden
mass, weil ein derartig Beobachtender einfach nicht im Zweifel
darüber sein kann, ob er vor einem Morde glücklicher sein werde all
nach demselben.
Es ist nicht nöthig zu bemerken, dass die Kunst dem Studium
der Psyche ein ungeheures Material, ja das ungeheuerste Material
bietet, mehr sogar als das kleine Selbst, das doch so unermesslich
reich ist an psychischen Präparaten, von den gewaltigsten hinab bis
zu den mikroskopischen! Aber nöthig ist es, die, wenn ich so sagen
darf, Methode des künstlerischen Denkens in Schutz zu nehmen. Denn
ihr erstehen oft genug Feinde, die sie eine große Gefahr für die
logische Schulung des Geistes, eine haltlose Beschäftigung nennen, die
den Verstand zerfahren und verworren mache. Ein trauriger Irrthum!
Es versteht sich, dass der Geist seine elementare Schulung nur durch
die Wissenschaft erlangen kann. Danach aber beansprucht die Kunst
als formal bildende Kraft mindestens einen Platz neben der Wissen-
schaft Denn gibt diese unserem Denken eine feste Structur, so
verleiht ihm jene die Beweglichkeit. Wenn man am Seile des Systems
schwimmt, ertrinkt man vielleicht nicht; aber ein Schwimmer ist doch
nur der, der mit einem „Hilf dir selbst" hinausplätschert ins un-
begrenzte Meer der G edanken ! Beweglichkeit ist das große G eschenk,
das die Kunst dem Intellect spendet! Denn die Beweglichkeit der
Vorstellungen, ihr „freies, leichtes, freudiges" Verbinden zu unge-
ahnten, überraschenden Abstractionen, wie sie die Wissenschaft nicht
erreicht, ist das Kriterium der Kunst.**) Diese Beweglichkeit steckt
an; der Kunstgenießende fühlt aucli seine Vorstellungen in stärkere
Bewegung versetzt: er fühlt sich „angeregt", wie man sagt. Den
Pferden, welche jahraus, jahrein über hartes Pflaster traben, werden
schnell die Beine steif. So geht es dem Geiste, der sich mir auf dem
*) „Oberflächlich* gerade auch in dem Sinne, dass sie die umgebende Welt
ftl* Oberfläche betrachten und «ich selbst mit naivem Egoismus als innersten Kern
setzen, zu dessen Betrachtung sie natürlich nicht durchdringen.
**) Wer aich für diese Frage interessirt, den darf ich vielleicht auf meine Be-
achtungen zur Psychologie der Dichtkunst im „Magazin fi\r Literatur" verweisen
(Jahrg. 1890 und 91).
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Fahrdamm der Systeme bewegt. Der künstlerische Gedanke will nicht
als absolute Wahrheit gelten; eben deswegen tritt er nicht mit harter
Unverletzlichkeit, mit dem beängstigenden Anspruch der Unerschtttter-
lichkeit an uns heran; er weicht, wenn es sein muss, dem Widerstand
unserer eigenen Gedanken, oder er schmiegt sich ihnen an. Bewegung
auf elastischem Boden sichert den Gliedern die Geschmeidigkeit. Be-
weglichkeit der Vorstellungen aber ist gleichbedeutend mit schöpferischer
Kraft. Und das ihr eine gewisse schöpferische Kraft innewohne, ist
Erfordernis für jede Seele, die sich fortentwickeln soll, weil nicht aus-
wendig gelernte, sondern nur lebendig in uns erwachsene Ideale der
Verwirklichung entgegendrängen. Man hat mit Recht behauptet, dass
alle Genies, also alle Menschen, die eine im höchsten Grade selbst-
standige und fruchtbare Seelenthätigkeit entfalten, zugleich in gewissem
Sinne großei Künstler seien. Mit reducirten Maßen gilt das von
jedem bildungsfähigen Menschen. „Vor jedem steht ein Bild dess,
was er werden soll"; der einzige Künstler aber, der dieses Bild in
ihm nachzuschaffen vermag, ist — er selbst.
Jeder Psychologe kennt, endlich die Bedeutung der Phantasie für
die Bildung der Begriffe. Der Kunstgenuss kräftigt die Phantasie,
das ist selbstverständlich; eine entwickelte Einbildungskraft aber wird
mit größerer Genauigkeit auch' jene abstrahlende Thätigkeit der
Phantasie ausüben, welche die wesentlichen Merkmale eines Dinges
von seinen unwesentlichen sondert und damit die wichtigste Arbeit
beim Bilden der Begriffe leistet. Scharf begrenzte Begriffe sind die
Hauptbedingung des logischen Denkens.
Es liegt auch für das bescheidenste Verständnis nahe, dass das
Gefühl in engerer Beziehung zum Willen steht als der Verstand. Bei
der Geburt unserer sittlich bedeutungsvollen Handlungen können für
den Augenblick Verstand und Vernunft, niemals aber kann das Gefühl
bei ihnen unbetheiligt sein. Ja, auch jene von Sokrates behauptete
Wirkung des Wissens auf unser sittliches Thun geschieht nur durch
eine eudämonische Vermittelung, durch die Vermittelung des Glücks-
gefühls, das die Erstrebung und den Genuss unseres „wahren Besten"
begleitet Zu leugnen, dass der Kunstgenuss die Lebhaftigkeit und
die Mannigfaltigkeit unserer Gefühle steigere, das fallt nun selbst
den fanatischen Gegnern der ästhetischen Erziehung nicht ein; es fällt
ihnen um so weniger ein, als sie glauben, gerade aus dieser Wirkung
des Kunstgenusses eine vorzügliche Waffe gegen die ästhetische Er-
ziehung schmieden zu können. Dieselbe, behaupten sie, erreiche nichts
als Schwärmerei, Überspanntheit, Gefühlsduselei und jene lächerliche
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und erbärmliche Einbildung, die sich in zarten und zartesten Gefühlen
genug zu thun glaube; nicht aber erziele sie eine kernhafte sittliche
Tüchtigkeit. Dass unter Umständen solche Erfolge gezeitigt werden,
wissen wir alle. Aber es wäre schlimm, wenn sich der Einfluss der
Kunst auf eine sittlich irrelevante Belebung und Bereicherung der
Gefühle beschränkte. Jedermann weiß, was man unter dem „Ethos
des Künstlers" versteht. Ein Redacteur äußerte vor einiger Zeit im
Gespräch gegen mich: „Ich will bei jeder Dichtung merken, dass ein
sittlich tüchtiger Mensch dahinter steht." Wenn ich einschränkend
hinzufugen darf: „falls sich Gelegenheit dazu bietet", so kann ich
mich jener Forderung anschließen. Nicht nur die Musik und die bil-
denden Künste, auch die Poesie, in der doch ethische Stoffe die her-
vorragendste Rolle spielen, hat eine Menge von Werken aufzuweisen,
bei denen die sittliche Persönlichkeit des Schöpfers gar nicht, oder
doch nur sehr mittelbar, durch das Medium der künstlerischen Empfin-
dung allenfalls, mitwirkt und die also keinen Schluss auf das Ethos
des Künstlers gestatten. Allerdings aber will ich bei keinem Kunst-
werk empfinden, dass ein sittlich schwacher oder gar gemeiner Mensch
dahinter steht! Diese Forderung hat für mich unbeschränkte Gültig-
keit.*) Ich will vor jedem Kunstwerk die Atmosphäre einer vor-
nehmen Natur athmen. Alle Kunst ist adlig; wenn sie nicht adlig ist,
ist sie auch keine Kunst. Darum aber besteht auch der Segen
der Kunst, soweit er sich über unser Gefühl verbreitet, wahrhaftig
nicht allein darin, dass sie es mit höherer Kraft durchglüht und seine
Regungen nach tausend neuen Richtungen sich verzweigen lässt: er
besteht vor allem darin, dass die Kunst unser gesammtes Fühlen
veredelt und es unwiderstehlich zu jener Höhe erhebt, wo das reine,
unbedingte Gefallen am Schönen wohnt. Ein reines, unbedingtes Ge-
fallen am Schönen ist aber auch die Liebe, mit der wir das Gute um
seiner selbst willen verehren: so hat nicht nur Herbart gedacht, als
er die sittlichen Gefühle ästhetische nannte, so fühlt und spricht auch
unser Herz. Die Eingewöhnung der Seele in das Glück des
Schönen ist nun der Hauptfactor aller Erziehung.
Das ist eine Erfahrung, die sich dem vorurtheilslosen Erzieher
schon sehr bald aufdrängt. Die oben erwähnte dunkle Erscheinung
einer gewissen beängstigenden Selbstherrlichkeit des Willens, die ich
*) Obwol en Überflüssig erscheint, will ich doch (der größeren Deutlichkeit
wegen) betonen, dass ich selbstverständlich nicht nach der „so beliebten" Kölnisch-
wa.»*er-Ästhetik einen Künstler deswegen für unsittlich halte, weil er unsittliche
Dinge darstellt.
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durchaus nicht durch eine principielle Isolirung des Wollens vom
Denken und Fühlen begründen will, kann keinem Menschenbeobachter
verborgen bleiben, am allerwenigsten dem Erzieher. Sobald er sie
aber bemerkt, erkennt er folgerichtig, dass die Stelle, von welcher
man den Willen am sichersten packen kann — der Wille ist. Und
ebenso schnell wird es zu seiner festen Überzeugung, dass der un-
vernünftige Wille des Kindes nur durch Handlungen zuverlässig
cultivirt wird. Durch fortgesetztes Handeln unter dem consequenten
vernünftigen Zwange des Erziehers lernt das Kind aus eigenster,
innerster Erfahrung die Schönheit des Guten kennen, während es sie
in Freuden genießt. Für das Kind ist schon jede Befolgung des
erzieherischen Gebots als solche eine gute That, deren innerer Lohn,
wie bei jeder anderen, sich nie versagt. Selbstverständlich findet mit
der Zeit eine allmähliche Entfesselung des kindlichen Willens statt;
aber auch, wenn der freundliche Zwang sich in ernste Führung ver-
wandelt hat, wird es immer den Erzieher dahin treiben müssen, dass
der Zögling durch Handlungen den Eindruck des Sittlich-Schöneu
in sich verstärke. Die Eingewöhnung in das Glück des Schönen
ist die denkbar sicherste Garantie für die Gewinnung eines
sittlichen Charakters; an dieser Wahrheit kann auch die Annahme,
dass das Gute nur ein relativer und schwankender Begriff sei, nichts
ändern.
Bekanntlich wird aber nicht nur dem Kinde, sondern auch der
größten Zahl der Erwachsenen die heilsame Übung im Rechttiniii
durch ein enges Leben beschränkt. Nicht jeder Mensch und am
wenigsten jedes Kind wird durch die Verhältnisse in einen Kreis des
Lebens gestellt, der zu einem vielseitigen Handeln herausfordert.
Damit aber auch der sittliche Horizont der Menschen kein enger
bleibe, muss also Tugend auch gelehrt, sie kann nicht allein geübt
werden. Und da die Lehre, welche vom Concreten ausgeht, die beste
ist, so ist die beste Sittenlehre das vorgelebte Beispiel. Allein auch
das Leben unserer Erzieher und Vorbilder umfasst bei weitem nicht
die ganze Fülle der sittlichen Erscheinungen. So tritt denn die große
Erzieherin in ihr Recht, die ein ungeheures, unermesslich reiches Bild
von menschlichem Trachten und Begehren vor uns aufrollt: die Kunst!
Die Kunst ist ein Leben, weil das Blut des Künstlers ihre Werke
durchpulst, weil ihre Gestalten der schöpferische Ruf durchklingt, der
das Leben bedeutet: Es werde Licht! Der unmittelbaren Wirkung des
Lebens so nahe wie möglich zu kommen, war ja des Künstlers großes
Ziel! Wir leben gerade in einer Zeit des künstlerischen Strebens, die
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sich ereifert und erschöpft in der heißen Arbeit, jenes große Bild
durch seelisch wahre Gestalten zu bereichern, zu den feinsten Wurzeln
unserer Handlungen hinabzusteigen und aus der dunkelsten Tiefe die
Wahrheit zu hoien. Und wenn das lebende Beispiel unserer Mit-
menschen immer den Vorzug behaupten wird, den das Sein vor dem
Schein hat, so haben die erhebenden oder abschreckenden Beispiele
der Kunst den Vorzug, idass sie uns sittliche Phänomene mit ihrem
ganzen psychischen Boden darbieten, dass sie, statt die Motive der
That zu verbergen, wie wir es seltsamerweise oft mit unseren
redelstenu Handlungen thun, mit heiliger Rücksichtslosigkeit die Decke
fortreißen vom Abgrund unseres Innern. Dadurch auch, dass die
Kunst den Pfeil des sittlichen Gedankens mit der Feder des Gefühls
beschwingt, dringt er tiefer in unser Wesen ein, als wenn etwa eine
nüchtern-instructive Geschichte in moralisirender Absicht ihn uns
vorträgt und voraussetzt, dass wir aus der trockenen Hülle den
sittlich-süßen Kern gefalligst herausschälen.
IL
Nachdem ich die pädagogischen Wirkungen der Kunst — nicht
erschöpfend, aber andeutungsweise — erörtert habe, rufe ich alle Welt
zu Zeugen auf, ob ich der Kunst irgendwo ein Ungebürliches, ein
Neues, Unerhörtes zugemuthet habe, ob ich irgendwo gesagt habe:
Das soll die Kunst wirken! und nicht immer: Das wirkt sie und
das kann sie wirken? Will ich die Kunst ihrer Sonderart berauben?
Will ich ihr rationale und praktische Elemente aufzwingen, die ihr
nicht schon eignen? Will ich sie irgend einem Factor des mensch-
lichen Culturlebens dienstbar, will ich sie zum moralisirenden Baculus
inachen? Pas du tout! Rein zum Himmel erheb* ich die Hände. Nichts
will ich, als dass die erziehlichen Momente, welche die Kunst auf-
zuweisen hat, verwertet werden, weit mehr verwertet werden,
als es bisher geschehen ist, und dass man erkennt, wie alles an der
Kunst eine erziehliche Kraft in sich hegt. Die Anmaßung, die Kunst
mit etwelchen Elementen bereichern zu wollen, wäre die lächerlichste
von der Welt; die Kunst ist so reich, dass man ihr nichts mehr
schenken kann: alle Elemente der sinnlichen und übersinnlichen Welt
hilden ihren unverlierbaren Grundbesitz. Und wenn ich auch der
Kunst ihre Selbstherrlich keit nehmen wollte, so würde ich doch so
freundlich sein müssen, sie ihr zu lassen; denn die große Schul-
meistern!, will sagen die künstlerischen Genies, durch die sie wirkt,
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wählen die Erziehungsmittel nach souveränem Belieben. In einer
guten Schule entscheidet bekanntlich der Lehrer, was und wie gelernt
werden soll, nicht die Schüler. Dass man Kindern die ästhetische
Nahrung controlirt, werde ich woi nicht hervorzuheben brauchen;
aber als Erzieherin des Menschengeschlechts, als Ernährerin der
großen Menschheitsseele duldet die Kunst keine diätetische Beschrän-
kung. So vielseitig immer das Bedürfnis der Menschenseele ist, so
vielfältig und wunderbar sind die Wege der Kunst. Wir durch-
schreiten die riesigen Nebel- und Wolkengebilde eines jungen Schiller
— wir können sie durchschreiten, weil sie nicht körperlich sind —
aber während wir in Wolken stehen, fühlen wir um unsere Brust
den freien Hauch der Berge; wir wandeln über die frostwetterkl&re
Ebene des alten Ibsen, der Wind schneidet scharf ins Gesicht; aber
wenn wir länger rüstig dahin geschritten, wird uns warm und winter-
lich-gesund ums Herz; wir schwingen uns unter dem heiteren Himmel
Goethe's empor, und in unserm Auge spiegeln sich rosenumsäumte
Cirruswölkchen ; wir sinken tief hinab zur Erde, um einen Zola'schen
Eisenbahnzug herankeuchen zu sehen, und während der Kohlendunst
uns in die Nase steigt, donnert die stampfende, knirschende, eiserne,
unerbittliche Gegenwart über die Schienen dahin; ein derb-gemüth-
licher Fritz Reuter zieht uns in die Mecklenburger Bauernstube hinein,
wo die Behaglichkeit getreuer Herzen in den Wolken eines ländlichen
Kanasters zittert, oder wir klettern in die Dachstube eines sogenannten
fin de siecle-Menschen hinauf und empfinden bei einer russischen
Cigarette ein Capriccio über die tollen Einfälle der äußersten Nerven-
spitzen. Bis ins Endlose könnten wir diese Anführungen fortsetzen;
alle Gebiete der Kunst könnten wir, wie hier das poetische, durch-
gehen, und was würden wir ewig finden? Individuen, Individuen!
Nicht zwei Menschen, die den Namen „Künstler" verdienten, haben
auf dieselbe Weise „Stimmung gemacht", selbst nicht, wenn sie zu
derselben „Schule" gehörten. Und die Theorie lässt es schon bleiben,
irgend jemand für die Zukunft vorzuschreiben, welche praktischen
oder unpraktischen, rationalen oder irrationalen Elemente die Kunst
aufnehmen oder vermeiden müsse: das Blamiren vor den Genies ist
doch nachgerade zu beschämend häufig vorgekommen. Wer aber ist
einseitig und parteiisch genug, in jener unendlichen Vielheit die
Einheit zu verkennen? Wer empfindet, wenn das Wald weben d^r
Kunst ihn mit tausend Fäden und tausend Stimmen umspinnt und
umklingt, wer empfindet nicht zugleich den alle Zweige durchrinnenden
Sonnenglanz der menschlichen Gottbegeisterung? Aus dem weiten All
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kommen jene Fäden und Klänge gezogen in ein frisches, jugendfrohes
Siegfriedherz, und ins weite All streben sie wieder aus diesem Herzen
dahin. Die große Leere auszufüllen zwischen Erde und Himmel: das
ist die Aufgabe der Kunst. Wer will ermessen, was diese Weiten
erf&llt? Alles aber, was diesen Bäumen angehört — weil es unser
Denken beflügelt, unseren Willen reizt und unser ganzes Wesen mit
dem Glänze eines heiligeren Fühlens übergießt — alles das ist er-
ziehlich ; alles das hilft uns zur GottÄhnlichkeit, seien es die Himmels-
chöre eines Klopstock oder sei es das Leben eines Zola'schen Arbeits-
pferdes, das in den Steinkohlengruben des Vorcux von sonnigen,
grünen Wiesen träumt.
In einem Artikel über „die Scheu vor der Tendenzdichtung"*)
habe ich darauf hingewiesen, dass der Künstler seinem Publicum
gegenüber eine höhere Culturpotenz bedeute, dass während des Schaf-
fens die Menschheit in seiner Brust wachse und in ihrem ideellen
Bfjsitzstande gefördert werde, und dass die Wirkung jedes Kunst-
werks eine menschheitlich-pädagogische sei. Noch früher habe ich in
meinem Buche „Offenes Visir!" die Kunst als den sinnlichen Ausdruck
des menschlichen Vollendungsdranges bezeichnet und behauptet, dass
sie das „bessere Reale der Zukunft vorabnend vorbilde." Das sollte
mir schlecht bekommen. Denn man legte mir das aus, als verlangte
ich von den Künstlern, dass sie das Telephon gefalligst 200 Jahre
im voraus erfinden, als nähme ich an, dass etwa die moderne Kunst
die heilige, gar nicht zu umgehende Verpflichtung habe, eine tadellos
construirte Flugmaschine mit sämmlichen Nieten und Schrauben zu
ahnen. Man machte mir bemerkbar, dass die Werke eines Shakespeare
(man hätte noch wirksamer Beethoven oder Raphael heranziehen
können) doch nichts enthielten, was sich in einen realen Fortschritt
ummünzen lasse, dass man den Dichter mit Recht auch einen „rück-
wärtsschauenden Propheten" genannt habe und dass es doch auch die
pessimistische Kunst eines Byron, Musset, Leopardi und Richard Wagner
(?) gebe. — Mit dem „rückwärtsschauenden Propheten" wollen wir
beginnen. Gibt es solche Leute? Ist der Dichter wirklich ein
Prophet dieser Art? 0 gewiss, oft, sehr oft — meistens, wenn man
will! Nattirlich handelt es sich nicht um eine Prophetie, wie sie
Wildenbruch übt, der den siebenjährigen Krieg nnd den alten Fritz
prophezeit, selbst nicht um die feinere und glaubhaftere Art, wie sie
Schiller durch seine Johanna betreiben lässt. Worin bestellt denn
•) „Magaain für die Literatur", Jahrg. 1890.
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aber die rückwärtsschauende Prophetie? Gerade nicht darin, dass
sie auf Ereignisse hinweist, die jedermann kennt, sondern darin,
dass sie auf das mit dem Finger hinweist, was an und in den Ereig-
nissen nicht bemerkt wurde: das Höhere, das Geistige, das Nicht-
sinnliche, das Allgemeingültige, darin, dass sie das Geschehene sym-
bolisch behandelt und uns unsere eigene Erfahrung deutet. Nicht
darin freilich bewährt sich die Prophetenkraft eines Shakespeare, dass
er uns die Geschichte eines alten Vaters von drei Töchtern erzählt,
aber darin, dass er die Tragödie des Undanks mit Jahrhunderte durch-
leuchtender Wahrheit in den Seelen sich abspielen lässt; nicht darin
allerdings bekundet sich die Prophetenkraft eines Schubert, dass er
Lieder zu Lust und Leid der Liebe singt, aber darin, dass er uns
zwingend daran gemahnt, wie aus vergessenen Winkeln des eigenen
Lebens, aus vergangenen Stunden vergangener Tage eigene und
dennoch nie gekannte Stimmungen uns überfließen; nicht darin wahrlich
zeigt sich die Prophetenkraft eines Claude Lorrain, dass er uns mit
dem Pinsel bedeutet, es gebe auf der Welt Bäume, Wiesen und Bäche,
aber darin, dass er sie zu einem stimmung-überglänzten Ganzen com-
ponirt und so auf unser Auge wirkt, dass unser Ohr bei schweigender
Versunkenheit den „Einklang der Natur vernimmt". Mithin ist wol
die rückwärtsschauende Prophetie der Kunst nichts anderes als eine
Betrachtung des Endlichen im Lichte des Ewigen. Das Ewige aber
ist, wenigstens für, alle optimistischen Gemüther, ein Ding der Hoff-
nung. Und wenn es ein Ding der Hoffnung ist, so ist es ein Ding
der Zukunft Aber dann unterscheidet sich ja das Sehergeschäft des
Künstlers gar nicht von dem anderer Propheten! In der That, nein.
Man verzeihe meinen Irrthum: es gibt doch keine rückwärtsschauenden
Propheten!
Aber Pessimisten gibt es freilich! Inwieweit eine pessimistische Kunst
Kunst und inwieweit sie pessimistisch ist, soll hier nicht untersucht
werden. Hinweisen will ich aber wenigstens auf den sehr beachtens-
werten, gewöhnlich aber nicht beachteten Unterschied zwischen
principiellen, philosophisch-consequenten Pessimisten und Gelegenheits-
pessimisten, wie wir alle es hin und wieder und wie vor allem sen-
sible Künstlernaturen es häufig sind. Der nach individueller Erlösung
vom Sein strebende Pessimismus Schopenhauers ist, wie ich das schon
früher*) dargetlian habe, meines Erachtens überhaupt nicht mit der
*) lu dem Essay über ^Die moderne Literaturspaltung und Zola" in meinem
vorerwähnten Buche.
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— 169
Kunst and dem Kunstgenuss vereinbar; etwas anderes scheint es mit
dem Pessimismus Hart mann "s zu sein. Er erhofft und erstrebt einen
universellen Übergang zum Nichtsein und nimmt eine bis dahin gehende
und dahin zielende Fortentwickelung an. (Beiläufig eine Meinung, die
einen starken pessimistischen — Optimismus voraussetzt.) Und die
Wahrheit des Schönen besteht für diesen Pessimismus in der ?. Über-
einstimmung des Bewusstseins-Inhalts mit dem idealen Wesen und
Grunde der Welt" (vulgo dem Göttlichen) und ist eine Wahrheit, „die
nicht demonstrirt, sondern nur von dem empfänglichen Sinne implicite
erfasst und gefühlsmäßig oder ahnungsvoll ergriffen* wird. (Dr. A.
Drews, „Ed. v. Hart mann s Philosophie etc.") Klar ist danach jeden-
falls, dass auch hier die Kunst einen eminent pädagogischen Wert
hat, dass sie mit erzieht zu jener universellen Sehnsucht nach dem
Nichtsein, zur Erlösung aus der qualvollen Welt des „dummen"
Willens. Ob nun das pessimistische Entwickelungsziel erstrebenswert
ist — das ist eine Frage, die uns hier nicht angeht. Ich für mich
bin der Überzeugung, dass, wenn wir die von Hart mann angenom-
mene Reife für das Nichtsein erlangt haben, wir uns eines Bessern
besinnen und für das Weitersein entscheiden , weil das Sein auf jenem
Standpunkte selir köstlich sein muss, das Nichtsein aber aus denselben
Gründen, aus denen es nicht sauer sein kann, auch nicht süß ist.
Man wird nun ja wol nicht leugnen wollen, dass die Werke Byrons
und Wagners, und wenn sie zehnmal pessimistisch wären, uns nicht
nur momentan begeistern und entzücken, sondern auch unserem seeli-
schen Fonds die köstlichsten Momente zu dauerndem Besitz hinzu-
fügen und also in ihren und unseren Ideen und Stimmungen das
bessere Reale der Zukunft vorahnend vorbilden. Ich werde ja wol
nicht wiederholt zu betheuern brauchen, dass ich uuter dem besseren
Realen der Zukunft nicht nur Telegraphendrähte und Koch'sche Heil-
methoden verstehe. Freilich ist es schon geschehen, dass selbst so
concrete Dinge poetisch vorausgeahnt wurden, und gewiss ist die Geburt
großer physikalischer Gedanken oft darauf zurückzuführen, dass die
Kunst, wenn auch nicht Empfängnis, so doch Empfänglichkeit und
liebende Begeisterung bewirkte. Das bessere Reale der Zukunft, d. h.
der allgemein erhöhte Glücksstand der menschlichen Seele
wird aber gleichwol nicht allein auf materiellen, er wird vorwiegend
auf geistigen Realitäten beruhen. Und dass sie durch geistige und
sinnliche Realitäten das Ahnen einer Seligkeit in uns erwecken, dass
sie mit Pinsel, Meißel oder Feder vor uns am Himmel die verlockend
hohe Niveaulinie jenes Glücksstandes (nicht am Lineal!) verzeichnen:
pjedagogiwn. u. Jahn?. Heft III. 13
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— 170 -
darin besteht die große pädagogische Kraft aller künstlerischen Ge-
danken und Stimmungen. Dass Homer jene Linie schon so hoch
zeichnet wie Schiller — selbst wenn dem so ist — was sagt das?
„Tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag, der gestern vergangen,
und wie eine Nachtwache."
Schon seit langem sehe ich im Hintergrunde dieser Ausführungen
einen Vorwurf lauern, der sprungbereit mit zornigen Augen mich
anglüht. Jetzt ist sein Augenblick gekommen; er setzt mir die Tatzen
auf die Brust und schüttelt mich. „Also selbst die künstlerische
Stimmung ist vor dir nicht sicher? Soweit die Kunst greifbare Ideen
verkörpert, mag sie ja unsertwegen erziehen soviel sie will! Aber die
Stimmung sollst du uns dadurch nicht verderben, dass du sie schul-
meistern lässt. Willst du uns nicht gefalligst erklären, wie die Stim-
mung ,das bessere Reale der Zukunft4 vorbilden soll? Wirst du es
wagen, in die künstlerische Stimmung eine Realität hineinzutüfteln?
Sie ist ein Duft, ein Unbeschreibliches, Unerklärliches!" Von solchem
Ansturm bin ich natürlich ganz betäubt, und ich beschränke mich
deshalb auf die höfliche Bemerkung, dass ich alle Stimmung für ein
gleichzeitiges Wirken zahlreicher Vorstellungen, dass ich sie deshalb
für das Chaos halte, aus dem sich bei plötzlich verstärkter Beleuchtung
die Sterne der Gedanken bilden, oder dass ich sie — wenn Herr Carl
Spitteier mir das von ihm im 8. Stück des „Kunstwart" gebrauchte
schöne Bild auf einen Augenblick leihen will — für die „elektricitats-
schwangere Atmosphäre* halte, aus der sich (beim Schaffenden, wie
beim Genießenden) der Gedanke „eines unvorhergesehenen Augenblicks
wie ein Blitz entladet". Mit dieser diplomatischen Umschreibung, die,
wie ich gern zugebe, keine vollgültige Antwort ist, weiche ich diesmal
der ungestümen Bestie aus, um ihr und dem liebenswürdigen Leser
ein anderes Mal in dieser Angelegenheit ausführlicher zu begegnen.
„Denn klüger acht' ich's, jetzo hier zu schließen.
Als euch vielleicht durch Länge zu verdrießen."
Das Eine aber wollte ich doch nicht vergessen noch zu bemerken,
nämlich: dass ich die Kunst nächst dem Leben für die berufenste und
mächtigste Erzieherin der großen und kleinen Menschen halte und
dass nach meiner Meinung aus praktischen und theoretischen Gründen
der Literaturunterricht den Mittelpunkt alles Unterrichtes auch dort
bilden sollte, wo die Kunst nicht im classischen Gewände einlier-
schreiten und ihre Zöglinge durch Vocabeln, Paradigmen, Genus- und
Declinationsregeln noch inniger an sich fesseln kann.
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Pädagogische Rundschau.
ZeitstimmeD. [Los des Lehrerstandes.] Das 19. Jahrhundert hat die
Stellung' deß Hauses zur Schule vollständig verändert. Der Staat hat den Schul-
zwang angeordnet und das Bildungsmaß vorgeschrieben, das jeder Bürger sich
aneignen muss. Die Zeugnisse der höheren Schulen sind in Berechtigungs-
scheine umgewandelt worden. Da wagen die Eltern nicht mehr, sich offen den
Einrichtungen der Schule zu widersetzen, theils aus Furcht vor drohender
Strafe, theils weil sie eingesehen haben, dass die Schule mit ihren festgefügten
Ordnungen ihren Kindern unschätzbare VortheUe vermittelt. Die Lehrer
freilich müssen auch heute noch unter einer gewissen Geringschätzung von
seiten der Eltern leiden; es scheint diesen zum historischen Recht geworden
zu sein, den Lehrerstand über die Achsel ansehen zu dürfen, und zwar je „ge-
bildeter" die Eltern, desto häufiger diese Erscheinung, Ausnahmen natürlich
zugestanden. — Dr. G. Stephan, Die häuslicheErziehnng in Deutschland während
des 18. Jahrhunderts.
Vor 380 Jahren, zur Zeit eines Erasmus und Reuchlin, da war der
Philologe der erste Mann im Staate, um den Humanismus und um die Huma-
nisten drehte sich einen Augenblick das Interesse einer Welt. Aber gerade
in Deutschland drängte die religiöse Bewegung rasch genug die Bildnngs-
frage aus der ersten in die zweite Stelle, und die Theologen kamen, wie sie
es im Mittelalter gewesen waren, auch jetzt wieder oben auf; die Schule wurde
ein Anhängsel der Kirche, der Lehrer ein Untergebener des Pfarrers; . . . doch das
Rad drehte sich weiter: auf das theologische Zeitalter folgte die Vorherrschaft
der Juristen, und sie besteht heute noch, soweit ihnen nicht der Officier den
Rang abgelaufen hat. Die humanistischen Lehrer aber sind bei diesen Um-
schwüngen des Rades immer tiefer nach unten gekommen, und so ist es zuletzt
auch den Medicinern gelungen, über sie hinanfzurücken und ihnen und der
Schule gegenüber Controle und dilatorische Gewalt in Anspruch zu nehmen.
Aber freilich, wenn von Schuld, nicht nur von dem Begreifen eines historisch
Gewordenen die Rede sein soll, so sind hier nicht in erster Linie die Lehrer,
sondern es ist vor allem der Staat und es sind ganz besonders die Juristen zu
nennen. Sie, die die Gesetze machen und die Staatsgeschäfte führen, haben
mit einer fast naiv zu nennenden Selbstsucht die Lehrer drunten gehalten, den
Abstand zwischen sich und ihnen in der Bemessung der Besoldungen markirt
und ihnen auch die höheren Stellen im Schulwesen alle vorenthalten und für
sich reservirt. In diesem letzteren aber liegt nicht nur eine kränkende Zurück-
setzung des Lehrerstandes, sondern zugleich noch etwas ganz anderes, all-
gemeineres: es fehlt den Juristen im Durchschnitt das Herz und das Ver-
ständnis für die Schule; niemand wird ihnen das verargen, denn woher sollte»
sie es haben? Aber wenn dem so ist, dann muss die Schule mit Nothwendigkeit
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unter ihrem Regiment leiden ; und so sind denn auch alle für unser Schulwesen
fruchtbaren Gedanken — es ist ja ganz selbstverständlich — nicht von den
an der Spitze desselben stehenden Juristen, sondern von den Fachleuten, von
Schulmännern ausgegangen; dagegen ist jene bureaukratisch formalistische Be-
handlung und Gestaltung der Schule, die wir beklagen und bekämpfen, im
wesentlichen ihr Werk. So ist denn das Verlangen, dass die Schulverwaltung
auch in ihren höheren Ämtern und Spitzen Schulmännern in die Hand gelegt
werde, nicht nur im Interesse des Standes, sondern im Interesse der Schule
selbst und ihrer gedeihlichen Entwicklung durchaus berechtigt. — Dr. T h e o b a 1 d
Ziegler, Die Fragen der Schulreform.
[Religion, Schule, Kirche und Staat.] Der Religionsunterricht ist
factisch, und natürlich von vielen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, auf unseren
Gymnasien im Durchschnitt schlecht und wirkt daher genau so wie aller andere
schlechte Unterricht auch, — verderblich auf den Geist und auf die Sitten der
Clasae. Gerade hier hat die Phrase vom erziehenden Unterricht auf falsche
Bahnen geführt: Der Religionsunterricht ist ein Unterricht wie jeder andere»
man wollte ihn aber daneben noch direct erziehend oder vielmehr erbaulich
machen und schrieb ihm eine besondere, um nicht zu sagen eine fast magische
Wirkung auf die Sitten zu. Dieses absichtliche Thun und „Machen* aber
erreichte nichts als ein gewisses unklares Schwanken in Ziel und Ton des
Unterrichtes selbst, und bei den Jungen war eine ganz natürliche Abneigung
gegen diese sich ihnen aufdringende Tendenz die nothwendige Folge oder
verführte sie, was noch weit schlimmer ist, zu Heuchelei und tief innerer
Unwahrheit ....
Nur in völliger Unabhängigkeit von der Kirche kann die moderne Schule
gedeihen und leisten, was sie soll. Und darum sind auch das einzig Richtige
nicht confessionelle, sondern Simultanschulen . . . Wollen wir denn schon auf
den Schulbänken jene confessionelle Trennung markiren, die unser deutsches
Volk seit 370 Jahren spaltet, wesentlich deshalb spaltet, weil damals ein
spanischer Kaiser auf dem deutschen Thron gesessen und für die religiösen
und nationalen Bedürfnisse unseres Volkes kein Herz und kein Verständnis ge-
habt hat? Die Existenz protestantischer und katholischer Gymnasien mag
historisch begründet sein, berechtigt ist sie nicht mehr, und die Schaffung
solcher confessiouellen Anstalten in unseren Tagen fast gar ein Verbrechen ....
In dem immer neu entbrennenden und nie bis zur Entscheidung durchgefochtenen
Kampf zwischen Kirche und Staat die Schule dem letzteren zu erhalten und
sie gegen die Herrschaftsgelüste der Kirche sicherzustellen, ist die Pflicht
aller frei gesinnten Geister; denn der Kampf um die Schule ist ein Kampf für
den Staat.
[Geschichtsunterricht.] Und nicht viel anders (als mit dem Religions-
unterrichte, siehe oben) würde es mit dem Geschieh taunterrichte, wenn der-
selbe in bestimmter Weise patriotische und politische Tendenzen verfolgen sollte.
Daher wäre es auch nach meiner Auffassung der Dinge geradezu gefährlich,
den Lehrern die Bekämpfung der Socialdeinokratie ausdrücklich zur Pflicht zu
machen .... Wahr ist, dass an die Stelle des hochgehenden jugendlichen
Idealismus, der für Kaiser und Reich als für ferne Tdeale und Ziele schwärmte,
der Realismus des Besitzens und des Behauptens getreten ist, und im Zusammen-
hange damit ist unsere ganze Zeit nüchterner geworden. Die Schäden, die
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darin Hegen, sehe auch ich recht wol. Aber unter der Hülle, so meine ich,
schlummern die idealen Kräfte des deutschen Volkes doch nach wie vor. und
wer Beine Zeit versteht, der weiß und sieht, nach welcher Richtung hin sie
gra vitiren, und wie sie im rechten Augenblick wieder geweckt werden können.
Aber mit ein paar Geschichtsstunden mehr weckt man das schlafende Dorn-
röschen nicht auf, vollends wenn man so groß wortig und weitspurig das chau-
vinistische Tam-Tam schlagt und verkündigt: „Die Anforderungen der Welt-
stellnng Deutschlands an die Ausbildung der Jugend reden für sich selbst."
Liebt man denn die Weltstellung? Liebt man denn sein Vaterland nur, wenn
es eine Weltmacht . wenn es groß und mächtig ist? Das ist doch eben der
schlechte Realismus, den wir bekämpfen müssen, diesen Geist der großwortigen
Unbescheidenheit, diese chauvinistische Schneidigkeit .... Bis 1871, aber dann
auch keinen Schritt weiter! In der Zeit von 1871 ab stehen wir selbst mitten
innen, das ist noch nicht Geschichte, sondern das ist politische Gegenwart, und
diese gehört nicht auf die Schule, weil ihr die Leidenschaften des Tages und
die Parteikämpfe der Zeit, das Buhlen um die Gunst nach unten oder nach
oben fern bleiben müssen. Über die großen Zeit- und Streitfragen, die uns
heute beschäftigen, kann keiner reden, soll keiner reden, ohne Partei zu er-
greifen, als Mann der Partei aber verliert der Lehrer mit Nothwendigkeit das
Vertrauen mindestens eines Theils seiner Schuler; und die Schüler, die zu
Hause oder in der von den Eltern gehaltenen Zeitnng vielleicht genau das Gegen-
theil hören oder lesen, werden durch den Lehrer schwerlich belehrt und bekehrt,
wol aber frühreif zum Raisonniren und Kritisiren herangezogen.
Th. Ziegler a. a. 0.
Vom Lehrertage und Pestalozziverein der Provinz Branden-
burg.*) Einer freundlichen Einladung der Stadt Luckenwalde folgend, tagte
daselbst am 28., 29. und 30. September d. J. der Lehrerverband und der
Pestalozziverein Brandenburgs.
Am 28. September gleich nach 11 Uhr wurde zunächst eine Vorstands-
sitzung abgehalten, in der diejenigen Vorstandsmitglieder bezeichnet wurden,
welche in den verschiedenen Abtheilungssitzungen den Vorsitz führen sollen.
Eine längere Besprechung veranlasst ein Referat des Unterzeichneten über die
Zwangserziehung verwahrloster Kinder. Es wird der Beschluss gefasst, dem
Vorstande des Landesvereins preußischer Volksschullebrer die in dem Referat
niedergelegten Meinungsäußerungen zu übermitteln, damit derselbe der „Inter-
nationalen kriminalistischen Vereinigung" Kenntnis von unsem Wünschen be-
züglich der Zwangserziehung verwahrloster Kinder gebe. — Nachdem die
Grundzüge für die Tagesordnung der Hauptversammlung durchgesprochen und
festgestellt sind, wird die Sitzung nach 1 Uhr geschlossen.
Um 2 Uhr eröffnet der Vorsitzende, Hauptlehrer Hohenstein-Brandenburg,
*; .Seit Juhren haben wir ausführlichen Berichten unter obigem Titel Kaum
Begeben, weil dieselben ein deutliches Bild von der Situation, dem Geiste und den
Bestrebungen der Volksschullehrcr in der Staminprovinz des preußischen Staates
geben, also gewissermaßen von typischer Bedeutung sind. Anderseits über legt uns
der Umfang dieser Blätter unabweisliche Rücksichten auf, weshalb wir diesmal auch
an dem Brandenburger Bericht einige Kürzungen vornehmen mussteu, ihn im übrigen
jedoch wortgetreu folgen lassen. I). R.
ey G(
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«He Vertreterversammlnng. Er heißt die Herren herzlich willkommen und bittet,
da die Tagesordnung eine sehr reiche sei, bei den Debatten kurz und rein
sachlich sein zu wollen. Gern stellt er fest, dass die Vereinsarbeit einen er-
freulichen Aufschwung genommen habe und dass ihm in diesem Jahre fast von
der Mehrzahl der Kreisverbande die Jahresberichte rechtzeitig zugestellt worden
seien ; dennoch müsse er es rügen, dass ihm nicht, wie es sein soll, die Mitglieder-
verzeichnisse eingesandt würden; ebenso werde es häufig unterlassen, ihm
Kenntnis von dem Wechsel zu geben, der sich im Vorsitz der Kreisverbande
vollziehe; das alles führe aber zu mancherlei Unzuträglichkeiten und Miss-
Ständen. Die Delegirten werden ersucht, dahin wirken zu wollen, dass Ab-
hilfe geschaffen werde. Würde das Vereinsorgan von allen Mitgliedern gelesen,
so könnte so etwas gar nicht vorkommen, und es würde dem Vorstande die
Arbeit wesentlich erleichtert werden; er bitte deshalb recht dringend, da»
Vereinsorgan verbreiten und allen Kollegen dasselbe warm ans Herz legen
zu wollen.
Die nun folgende Feststellung der Vertreter und Verbände ergibt die
Anwesenheit von 77 Delegirten, die sich im Laufe der Verhandlungen aut
79 erhöhen; von diesen werden vertreten 36 Kreis verbände mit 132 Local-
verbänden und 4007 Mitgliedern. Das ergibt gegen das Vorjahr einen Zu-
wachs von 1 Kreisverband, 10 Localverbänden, 10 Delegirten und 389 Mit-
gliedern. (Folgt Geschäftliches.)
Es erhält nunmehr Herr Pastor prim. SeyfFarth-Liegnitz das Wort. Der-
selbe führt aus, dass er vor etwa 21 Jahren die Redaction der „Preußischen
Schulzeitung" in der Hoffnung übernommen habe, durch dieselbe eine allseitige
Vertretung des Lehrerstandes in seinen Interessen herbeizufuhren. Leider rausa
er heute bekennen, dass ihm dies bei der Lauheit der Lehrerschaft nicht voll
und ganz möglich geworden ist. Nachdem Redner die Grundsätze, nach denen
er das Vereinsorgan geleitet, und die Ziele: innere Kräftigung des Lehrerstandes
und äußere Organisation des Schulwesens — feste finanzielle Grundlage und
innere einheitliche Bildung des Volkes — dargelegt, appellirt er an die Lehrer
der Mark Brandenburg, zu ihrem eigenen Vortheil, in ihrem eigensten Interesse
sich um das Vereinsorgan zu scharen und sich das einigende Band zu erhalten.
Dahin müsse es kommen , dass jedes Mitglied des großen Verbandes auch das
Vereinsblatt halte.
Von demselben Referenten wird alsdann über das zu begründende „Lehrer-
heini" in Schreiberhau berichtet und das Unternehmen auch der Unterstützung
seitens der Lehrerschaft Brandenburgs warm empfohlen. —
Hierauf gelangt der Antrag Zielenzig: „Die Neuregelung der Lehrer-
gehälter mit Rücksicht auf den Ministerialerlass vom 26. Juni cr.u zur Be-
sprechung. In der Begründung dieses Antrages wird gefordert, eine Commission
an den Herrn Oberpräsidenten zu entsenden, die an dieser Stelle die Wünsche
der Lehrerschaft zum Ausdruck bringen soll. Die Versammlung verhält sich
ablehnend dazu, empfiehlt vielmehr Rücksprache mit den Herren Landräthen,
die zu der von dem Herrn Oberpräsidenten einzuberufenden Conferenz ein-
geladen sind, zu nehmen und diesen specielle Haushaltungspläne vorzulegen,
wie dies bisher schon von vielen Seiten geschehen sei. (Folgt Geschäft liches.)
Der 29. September gehörte dem Pestalozziverein, jedoch fanden vor und
nach der Hauptverhandlnng noch verschiedene Sectionssitzungen statt, so wurde
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in der Abtheilung für Zeichnen gesprochen über: „Das Zeichnen in der Mädchen-
schule* ; in der Section für Rechnen kam die Frage zur Behandlung: „In
welchem Umfange hat die Behandlang der additiven Snbtraction Berechtigung
in der Schule?"*) und in der Abtheilung für Physik wurden interessante Expe-
rimente mit neueren physikalischen Apparaten vorgefahrt, auch kam hier ein
ganz neuer Apparat, v Horizont u genannt, zur Vorführung. Mit Hilfe dieses
Apparates lassen sich die Fragen zuverlässig beantworten: -Wann und wie
weit vom Ost- bezw. Westpunkte entfernt geht die Sonne auf oder unter?" —
.Wie groß ist der Tag-, der Nachtbogen ?" — „In welcher Höhe steht die
Sonne (Winkel mit der Horizontfläche) ?u — - Welche Neigung hat die Horizont-
flache zur Erdachse (Polhöhe)?" Die Fragen können gestellt werden für jeden
Ort der nördlichen Erdhälfte und für jeden Tag im Jahre. — Der dauerhaft
und mit gewissenhafter Genauigkeit gearbeitete Apparat sei als brauchbares
Anschauungsmittel bestens empfohlen; der Preis beträgt 54 M.
Gleich nach 10 Uhr wird die Pestalozziversammlung durch den Vor-
sitzenden, Gymnasiallehrer a. D: Seilheim-Eberswalde, eröffnet. Es erfolgt
Absingung der Liedstrophe: -Gieb, dass ich thu mit Fleiß, was mir zu thun
gebäret". Nach den üblichen Begrüßungen und den darauf folgenden Dankes-
worten nimmt der Vorsitzende das Wort zu einer markigen Ansprache an die
zahlreich besuchte Versammlung (400). Leider verbietet es uns der uns
zugemessene Raum, näher auf die treffliche, von Pestalozzis Geist und Liebe
erfüllte Rede einzugeben. Hervorheben aber wollen wir, dass der Redner
einer von den Männern gewesen ist, die heute vor 29 Jahren an der Wiege
des jungen Vereins gestanden und seit dieser Zeit nicht müde geworden sind,
in hingebender Liebesthätigkeit den armen bedrängten Witwen und Waisen
zn helfen und ihre Noth zu lindern. — Die sich jetzt geltend machenden Be-
strebungen, den Verein in einen Rechtsverein umzuwandeln, weist der Redner
zurück und bittet alle Collegen, auch fernerhin die freie Liebesthätigkeit
walten zu lassen, die Beiträge aber, da die Noth der Witwen noch immer gar
groß sei, nach Kräften erhöhen zu wollen. (Folgt Geschäftliches.)
Damit ist die heutige Tagesordnung erledigt und nach Absingung einer
Liedstrophe schließt der Vorsitzende die Versammlung.
Am Nachmittage wurde den Gästen ein schöner Genuss durch ein herr-
liches Kirchenconcert bereitet, das mit viel Liebe und Sorgfalt vorbereitet und
ausgeführt wurde. Allen Mitwirkenden, insonderheit aber dem tüchtigen Diri-
genten Herrn Lehrer Albrecht-Luckenwalde sei an dieser Stelle unser wärmster
Dank dafür gesagt. Um 6 Uhr begann das Festessen, an dem reichlich 200
Mitglieder theilnahmen und das die Gäste bis nach Mitternacht zusammenhielt.
Der 30. September brachte uns die Hauptversammlung des Lehrer-
verbandes der Provinz Brandenburg. Bald nach 10 Uhr wurde dieselbe durch
den Vorsitzenden, Hauptlehrer Hohenstein -Brandenburg a. H., eröffnet. Nacli
Absingung der ersten Strophe des Liedes: „0 heü'ger Geist, kehr bei uns ein'*,
ergriff der Vorsitzende das Wort zu folgender Ansprache:
„Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den
Ruinen.4 Diese Worte unseres Schillers drücken die Hoffnung aus, die uns
20 Anfang unseres Vereinsjahres beseelte. Das Schulgetz wurde in Aussicht
*) Hierüber wären oinige Mitteilungen erwünscht gewesen. D. R.
— 176 —
gestellt. Manche Brust hob sich erleichtert, und freudig strömten die Worte
des Dichters von den Lippen: „Nun, armes Herz, vergiss der Qualf nun muss
sich alles, alles wenden \u Doch zum Schlüsse derselben heifit es: „Still, auf
gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis. w Das fast seit hundert
Jahren verheißene und erwartete Schulgesetz wurde vorgelegt, aber es brachte
uns nur Enttäuschungen. Die Vertreter der Provinzialverbände kamen in den
Weihnachtsferien in Magdeburg zusammen und „hielten eifrig Rath*, welch«'
Änderungen bei diesem Gesetze zum Wole der Schule, des Volkes und des
Staates zu wünschen seien. Diese Wünsche wurden den gesetzgebenden Körper-
schaften mitgetheilt, aber sie fanden bei der Berathung des Gesetzes keine Be-
rücksichtigung. Die Schule bedarf des Friedens und muss sein eine Stätte des
Friedens. Das Schulgesetz aber wurde ein Zankapfel der politischen und
religiösen Parteien, und dabei kann die Schule nicht gedeihen. Die Verhält-
nisse gestalteten sich derartig, dass Herr von Gossler, der Schule und Lehrer
stets mit Wolwollen behandelt, dem wir das Pensionsgesetz, die Dienstalters-
zulagen, den Wegfall der Witwen- und Waisencassenbeiträge, die Halb- und
Ganzwaisengelder zu danken haben, der unsere freien Vereinsbestrebungeu
nicht nur duldete, sondern sogar förderte, der überall für die Achtung und die
Ehre unseres Staudes eintrat, der in demselben die intellectuelle und moralische
Kraft erkannte, die fähig und stark genug sei, alle Verunglimpfungen gebiirend
abzuweisen und zu ertragen, der die Schule als einen Eckstein für König und
Vaterland hinstellte — und dieses alles, meine Herren, wollen wir doch ja
nicht vergessen — den Ministersessel verließ.
Die Zahl unserer Feinde ist auch nicht im Abnehmen begriffen, und in
reichstem Maße sind wir in diesem Jahre von denselben verunglimpft worden.
Herr v. Treitschke führte den Beigen: doch ist derselbe nicht mehr ernst zu
nehmen. Wer so wenig Zeitgeschichte kennt, dass er uns Ideen unterschiebt,
die von Geistern stammen, die mit ihm gleiche Bildung genossen haben, der
spielt als Historiker eine recht klägliche Rolle. Wenn er sagt: „Es ist ein
schlechter Geist bei den Volksschullehrern eingezogen, sie wenden sich von
ihrer eigentlichen Beschäftigung ab und halten Versammlungen ab", so beweist
er dadurch nur. dass er unsere Versammlungen gar nicht kennt. Wir arbeiten
in denselben mit Ernst. Eifer und Hingebung an der Hebung der Volksschule
und ihrer Leiner und damit für das Wol unseres deutschen Volkes und zum
Heile des Vaterlandes. — Der Decan Decker in Grünstadt schreibt
dagegen in der r Union" über unsere Versammlungen: „ Vieles der Schule Er-
sprießliche ist auf den Lehrerversammlungen schon beschlossen und ausgeführt
worden. Manches hätten die Angehörigen eines Standes, an dessen Wege
reichliche Dornen wachsen, nicht erreicht, wenn sie nicht mit vereinter Kraft
danach gerungen hätten. Auch sie haben erfahren, dass Einigkeit stark macht.*4
Dr. Cunradt , Gymnasialdirector in Greifenberg , gesellte sich Herrn
v. Treitschke zu. Seine geringschätzigen Äußerungen über unsere Bildung und
Uber unsere Leistungen sind schon von anderen Herren, die nicht pro domo,
wie Herr Conradt, gesprochen haben, in das rechte Licht gestellt worden. Herr
Dr. Thiel, Geheimer Oberregierungsrath, sagt bei Berathung der Frage über
die Ausbildung von Lehrern an Landwirtschaftsschulen: „Die Erfahrung zeige,
dass die Elementarlehrer im allgemeinen bedeutend bessere Lehrer als die
Gymnasiallehrer seien." — Und Herr Professor Dr. Märcker-Halle sagt: „Bei
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den Prüftingen der Schüler der landwirtschaftlichen Winterschulen der Provinz
Sachsen, welchen er im Auftrage der Provinzialverwaltung beizuwohnen habe,
zeige sich vielfach bei den neueintretenden Directoren und Lehrern ein »ehr
bedenklicher Mangel hinsichtlich der Methodik des Unterrichts, der sich be-
sonders in der mangelhaften Eintheilung des Stoffes ausspreche. Während die
professionellen, d. h. seminaristisch gebildeten Lehrer, welche an den gleichen
Anstalten in den Elementargegenständen unterrichten, in dieser Beziehung vor-
züglich ausgebildet seien und deshalb auch tiberall Ausgezeichnetes leisten, trete
der Mangel einer seminaristischen Vorbildung bei den Fachlehrern leider häutig
störend hervor." Wir danken diesen Herren für ihre Zeugnisse. Herr
r. Treitscbke, Herr Conradt, wie siebt die Sache jetzt aus?
Auch Herr von Brühl, unser alter Freund, war wieder auf dem Plan.
Bei der Berathung der Witwenpensionen sagte er: „Man müsse bezüglich der
Concessionen an die Lehrer endlich Halt machen4*. Ihm zur Seite steht die
Koblenzer Volkszeitung"; sie schreibt: „Der Schulmeister von Sadowa wird
immer gefräßiger; es ist im höchsten Grade noth wendig, dass man ihm endlich
den moralischen Maulkorb etwas höher hängt". — Die Ausdrucksweise ist so
wenig edel, dass ich der Ehre unseres Standes wegen nicht weiter darauf ein-
gehen kann. —
Dagegen schreibt Herr Pfarrer Kohlrausch in seiner Broschüre: „Der
evangelische Geistliche und der evangelische Volksschullehrer" : „Die Besoldung
der Volksschullehrer ist eine Schmach und Schande für unser ganzes Staats-
wesen, und man begreift nicht, wie diejenigen, die es zu verantworten haben,
ein gutes und ruhiges Gewissen dabei haben können." Und unser hoher Chef,
der Herr Cultusminister v. Zedlitz-Trütschler, sagt in seinem Erlasse vom
26. Jnni: „Dass der heutige Zustand den Interessen des Unterrichtswesens
und den billigen Ansprüchen des Lehrerstandes nicht mehr entspricht; dass zahl-
reiche Beschwerden und allgemeine Berichte aus neuerer Zeit die Unhaltbarkeit
der gegenwärtigen Verhältnisse erkennen lassen". Wir sind Sr. Excellenz dieser
Worte wegen ganz besonders dankbar. Nach einem solchen Zeugnisse von so
hoher Stelle wird doch das widerliche Geschrei niedrig denkender Seelen von
dem „unzufriedenen Schulmeister" endlich verstummen müsBen.
Meine Herren, wir lassen uns nicht irre machen durch das wüste Geschrei
ringsumher, besonders nicht durch das der Bochumer, deren bedeutendster Ver-
treter im Abgeordnetenhause Herr Fuchs war. Wir weisen ganz entschieden
und mit Entrüstung die Unterschiebung, dass wir die religionslose Schule wollen,
zarück. Wir fordern den Religionsunterricht für uns als Lehrgegenstand in
der Schule; wir wollen die Lämmer des Herrn weiden. Wir werden deshalb
nicht ablassen, uns in unseren Versammlungen anzuregen, zu begeistern für
den hohen Beruf, den Gott uns zugemessen. Wir werden fort und fort unsere
Gedanken austauschen und klären, Irrthümer und falsche Auffassungen be-
richtigen nod unsern Gesichtskreis erweitern, damit wir immer würdiger wei den,
das zu sein , was unser hoher Chef am 6. Mai im Abgeordnetenhause von uns
«agte, als er die unB gemachten Vorwürfe mit aller Energie zurückwies: „Der
Volkft8chullehrer soll ein Hoherpriester am Hausaltare unseres Volkes sein ; aber
ich bestreite, dass die Lehrer dieser Aufgabe nicht voll genügen. " Wir steheu
and haben immer gestanden im Dienste der Ideen unseres erhabenen Kaisers
über Lehrerbildung und Erziehung. Wir wollen erziehen ein Volk, das sich
— 178 -
nicht kehrt an falsche Rede, das in allen Verkältnissen treu dem Könige, das
in Zeiten der Noth Gut nnd Blut opfert für die Ehre des Vaterlande«; denn
„nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre-.
Unser Wahlspruch ist und bleibt: „Mit Gott für König und Vaterland!" Ich
fordere Sie auf, sich zu erheben nnd mit mir einzustimmen in den Ruf: Kaiser
Wilhelm, der Schirmer des Rechts, der Helfer der Schwachen, der Wahrer des
Friedens, der Förderer der Bildung und Wissenschaften, der Hüter altdeutscher
Sitte, der Pfleger christlicher Zucht, er lebe hoch, hoch, hoch! —
Mit großer Begeisterung stimmt die Versammlung in diesen Hochruf ein.
Nachdem noch einige Begrüßungen ausgetauscht sind, wird das an den Herrn
Unterrichtsminister beschlossene Telegramm verlesen; dasselbe lautet: „Sr. Ex*
cellenz dem hochverehrten Chef der Unterrichtsverwaltung senden die heute
zur Generalversammlung anwesenden Hitglieder des Brandenbnrgischen
Provinziallehrerverbandes ihren ehrerbietigsten Dank und Gruß".
Aus dem Jahresbericht des Vorsitzenden sei noch kurz hervorgehoben:
Unser Verband befindet sich nach allen Seiten in aufsteigender Bewegung.
Der Besuch in den Versammlungen der Einzelverbände war ein sehr reger und
ist auch dementsprechend gearbeitet worden. Die Berathung des Schulgesetzes
hat in den meisten Verbänden verschiedene Versammlungen beansprucht, außer
dieser Arbeit sind aber noch 753 Vorträge gehalten worden, die größtenteils
Fragen aus unsenn Beruf behandelten. Sie sind ein Beweis dafür, wie überall
die Lehrer bestrebt sind, ihre Zeit zu verstehen und sich auf der Höhe der Zeit
zu erhalten. Erfreulich ist es auch, dass sich in verschiedenen Verbänden
Abtheilungen bildeten, welche die einzelnen Unterrichtsdisciplinen zum Gegen-
stande ihrer Arbeit gemacht haben. — In einzelnen Gegenden unserer Provinz
stehen die Lehrer leider noch dem Vereinsleben vollständig fremd gegenüber:
das Diesterwegjahr, auch die Vorlage des Schulgesetzes hat dieselben nicht
bewegen können, sich an der gemeinsamen Arbeit zu betheiligen; möge das
Comeniusjahr sie dazu treiben!
Es erhält nunmehr das Wort Herr Lehrer Otto- Charlottenburg zu seinem
Vortrage: „Die Reform des Volksschulnnterrichts im Sinne des kaiserlichen
Erlasses-. Wir müssen uns hier damit begnügen, aus dem inhaltsreichen,
schwungvollen und formschönen Vortrage die Leitsätze wieder zu geben: I. Der
kaiserliche Erlass vem 1. Mai 1889 fordert mit Recht von der Schule, dass
sie der Ausbreitung socialistischer und commnnistischer Ideen entgegen arbeite;
indessen kann die Schule nur eine beschränkte Wirksamkeit entfalten, da sie
a) nur einen Factor in der Reihe der culturbildenden Momente eines Volkes
bildet, und b) nicht direct in die socialen Kämpfe der Gegenwart einzugreifen
vermag. II. Um im Sinne des kaiserlichen Erlasses zu wirken, ist eine Reform
des Religionsunterrichtes und eine solche des Geschichtsunterrichtes geboten.
Dieselbe ist vorwiegend stofflicher, aber auch methodischer Natur. III. Im
Religionsnnterricht ist aj der Memorierstoff auf das Nothwendige zu beschränken
(zeitgemäße Umgestaltung von Luthers Erklärungen), b) muss die ethische Seite
in den Vordergrund treten (Zurücktreten des alten Testaments vor dem Lebens-
bilde Christi). IV. Im Geschichtsunterricht muss a) neue und neueste Zeit-
geschichte besonders getrieben werden, b) ist die Geschichte culturgeschichtlich
zu treiben (Mangel an geeigneten Lehrbüchern für den Lehrer). Belehrungeu
über Volkswirtschaft und socialpolitische Gesetzgebung sind bei geeigneter
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— 179 —
Veranlassung mit Geschichte, Religion, Geographie und Rechnen zu verknüpfen.
V. Einer befriedigenden Lösung der gestellten Aufgabe treten zur Zeit noch
mancherlei Hindernisse in den Weg (Mangel einer obligatorischen Fortbildungs-
schale, überfüllte Sehulclassen u. a.). — Der Vortrag wurde von der Ver-
sammlung mit rauschendem Beifall auf- und die Thesen ohne Debatte unverändert
angenommen.
Nach einer kurzen Pause von 15 Min. erhält Herr Mielecke-Spandau das
Wort zu seinem Vortrage: „Die Sprachgebrechen unserer Schulkinder, ihre
Verhütung und Bekämpfung". Auch dieser Vortrag fand Anklang und wurde
mit Beifall aufgenommen. In der Specialdebatte wurden statt der vom Vor-
tragenden aufgestellten Thesen folgende drei angenommen: 1. Die Maßnahmen
zur Verhütung und Bekämpfung der Sprachgebrechen in der Schule sind noth-
wendig: denn diese üben einen unheilvollen Einflnss auf die Entwickelung des
Kindes aus. 2. Es ist nöthig, dass der angehende Lehrer im Seminar mit dem
Wesen, den Ursachen, der Entwickelung der Sprachgebrechen und mit der
Methode zur Heilung theoretisch und praktisch vertraut gemacht werde. 3. Die
Bekämpfung der Sprachgebrechen unserer Schulkinder bildet die zur Zeit dring-
lichere Seite dieser Frage. Die Verhütung derselben aber ist die wichtigere.
Das Schlusswort spricht der Herr Ehrenpräsident, Pastor prim. Seyffarth-
Liegnite. In demselben gibt er in einem Rückblick eine knrze Entwicklungs-
geschichte des Brandenburger Provinziallehrerverbandes seit 20 Jahren und
zeigt, wie sich die Versammlungen immer würdiger entwickelt, die Verhand-
inngen stets ruhiger gestaltet haben. Sollen die Hauptversammlungen nach
außen hin wirken, so liegt doch der »Schwerpunkt gerade in den Sectionssitzungen .
nnd diese sind es eben, die sich in den letzten Jahren kräftig entwickelt haben.
— Es ruht ein großer Segen auf diesen Versammlungen, den jeder fühlen muss,
der sich daran betheiligt. Auch edler Frohsinn sei zu pflegen : doch sind uns
als Pädagogen gewisse Grenzen gezogen, die wir im eigensten Interesse nicht
überschreiten dürfen. — Mit Dankesworten an alle, die zu dem schönen
Gelingen dieser Arbeits- und Festtage beigetragen haben, sowie auch mit Dank
gegen die Vertreter der königl. Regierung und der städtischen Behörden schließt
der Redner. Die Versammlung aber singt noch: „Lob, Ehr' nnd Preis sei
Gott" und geht dann mit dem Wunsche: Anf Wiedersehen im nächsten Jahre
in Sorau! auseinander.
Für den Rest des Nachmittages waren noch die Besichtigungen einer
Hut- nnd Tuchfabrik, sowie ein kleiner Ausflug in die Umgebung der Stadt
Luckenwalde geplant, während der Abend noch die Festtheilnehmer bei einem
Concert im Schützenhause vereinigen sollte. Viele Festgenossen indessen reisten
mit den nächsten Zügen bereits ab nnd eilten der Heimat zu. Alle aber, des
sind wir gewiss, werden dankerfüllten Herzens an die arbeitsreichen, aber doch
auch so schönen Tage von Luckenwalde zurückdenken. Den braven Lucken-
walder Collegen aber sei hier an dieser Stelle noch einmal unser wärmster
Dank für alle uns erwiesene Freundlichkeit und für die große Mühe und Arbeit,
die sie gehabt, um uns eine so gastliche Stätte zu bereiten, ausgesprochen.
Rector Fr. Friesicke-Freienwalde a/0.
Aus Preußen. [Niederer Küsterdienst.] Bekanntlich ist neuerdings
der niedere Köster- bez. Messnerdienst, welcher in Preußen (und auch in anderen
— 180 —
deutschen Ländern) vielen Volksschnllehrern obliegt, «ehr lebhaft besprochen
worden. Worum es sich da eigentlich handelt, was also den betreffenden
Lehrern neben ihrem Hauptdienste, der meist eine ganze Kraft verlangt, noch
zugemuthet wird, ersieht man aus folgender Mittheilung der Berliner „Pädai?.
Zeitung": „Der Minister hat vor einiger Zeit Erhebungen angeordnet Ober
den Umfang und die Weise, wie Kirchendienste mit Volksschullehrerstellen
verbanden sind, namentlich sollten die Regierungen zur Vermeidung irriger
Auffassung Anleitung geben, was als niederer Kirchendienst anzusehen ist.
Dahin ist zu rechnen: a) in evangelischen und katholischen Gemeinden: Auf-
nnd Zuschließen, Lüften der Kirche und Sacristei, Lauten, Anzünden und
Löschen der Kirchenlichte, Anstecken bez. Schreiben der Liedernummern, Setzen
der Stühle, Aufstellen der Sammelbüchsen, Aufrechterhaltung der äußeren
Ordnung beim Gottesdienste und bei den geistlichen Handlungen, Besorgung
von Hostien. Brot und Wein für die Abendmahlsfeier, Beschaffung und Auf-
stecken der Lichte, Reinigen der Altargeräthe, Beziehen und Schmücken von
Altar und Kanzel, Heizung der Kirche und Sacristei, Balgentreten und Schmieren,
Reinigen der Kirche, Kirchen Wäsche, sowie Reinigung und Aufbewahrung der
vasa sacra, Dienstleistungen bei Taufen, Stellung von Handtüchern, Besorgung
von Glockenfett, Schmieren der Glocken, Glockenriemen und Kirchen thüren,
Ölen, Aufziehen und Stellen der Thurmuhr, Aufbewahrung der Kirchen-
schlüssel, Begleitung der Geistlichen zn Krankencommunionen nnd zu sonstigen
Ministerialhandlungen, sowie Tragen der vasa sacra, Grabanweisung, Reinigung
des Kirchhofs und der Wege von der Straße zur Kirche, Beschneiden der
Kirchhofshecken, Einladen der kirchlichen Gemeindeorgane zu den Sitzungen,
Beförderung von Oircularen; b) speciell in den evangelischen Gemeinden: Ein-
sammlung des Opfers bei Ministerialhandlungen, Erhebung und Einsammlung
besonderer kirchlicher Abgaben, sowie des Geldes für Grabstellen, Einladung
zu Hochzeiten und Leichenbegängnissen, Patent-Controle, Currendebeförderung,
Gesang bei Beerdigungen ; c) speciell in den katholischen Gemeinden : Besorgung
der Kohlen zur Räucherung, An- und Auskleiden der Geistlichen zu den Amts-
handlungen, Unterhaltung der ewigen Lampe, Auslegen und Verwahren der
Paramente, Besorgung des Weihwassers, Besorgung der Todtenbahre bei Requial-
messen, Bedienung der Chorlampe. u Sapienti sat!
Ans Sachsen. Will man unBer in ruhiger Entwicklung begriffenes
Schulwesen mit einem Schiff vergleichen, so lässt sich auf dasselbe das Wort
Uhlands anwenden:
Ein Schifflein ziehet leise
Den Strom hin sein Geleise.
Zuweilen aber hält das Schulschiff an, die Insassen steigen ans Land nnd
vereinigen sich zu ernst-fröhlicher Versammlung. So war es auch letzte
Michaelisferien, in weichender Allgemeine Sächsische Lehrerverein seine
IX. Generalversammlung (seit der Reorganisation von 1874) abhielt, nnd
zwar in der Haupt- und Residenzstadt Dresden. 3002 Personen des Lehr-
standes hatten das Schulschiff verlassen und traten in großer Versammlung vor
die Öffentlichkeit. Mit so hoher Theilnehmerzahl hat die Dresdner Versammlung
die Größe der letzten Allgera. Deutsch. Lehrerversammlung in Mannheim erreicht
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181
and zugleich alle bisherigen Bächsischen Lehrer Versammlungen über troffen
(i „P*d.u X, H. 3 und XII, H. 3). Der so zahlreiche Besuch ist jedenfalls
auch der schönen und centralen Lage Dresdens mit zuzuschreiben.
Den 27. September abends 7 Uhr: Versammlung der Abgeordneten
(Delegirten) im Saale der Altstädter Freimaurerloge. Der Schriftführer Dir.
Altner-Dresden erstattet den Jahresbericht über die Thätigkeit des Allg.
Sachs. L.-V. und seines Vorstandes: Der Verein umfasse z. Z. 6700 Mit-
glieder, 500 mehr als im vorigen Jahre. Er gliedert sich in 66 Bezirkavereiue,
welche durch 206 Delegirte vertreten werden. ( Auf je 30 Mitglieder ist ein
Delegirter zu wählen.) Die 66 Bezirksvereine hielten im Berichtsjahre
1. Oct. 1890 — 30. Sept. 1891) 399 Versammlungen ab, in welchen haupt-
sächlich die Frage einer Revision bez. Verminderung des religiösen Memorir-
stoffes erwogen wurde. Der gesetzlich vorgeschriebene religiöse Memorir-
stoff (Verlag von A. Huhle, Dresden) ist vom Bez.-Ver. Chemnitz einer
Revision unterzogen worden; das Gutachten wurde in der „Sächs. Schulztg."
veröffentlicht (1891, Nr. 26) und von 54 Bezirks vereinen durchberathen. Das
Ergebnis der Berathungen ist ein sehr verschiedenes: aller Wahrscheinlichkeit
nach mnss sich eine Majorität für die Revision und Beschränkung des
Memorirstoffes ergeben, nach den vorhandenen Unterlagen lässt sich aber
noch nicht feststellen, was an Stelle des bisher Gültigen treten soll. Das vor-
handene Material wird daher, soweit es sich dazu eignet, durch die „Sächs.
.Scholztg.- veröffentlicht werden, damit eine abermalige Aussprache erfolge,
und die Bezirksvereine Dresden und Freiberg werden mit der Ausarbeitung
einer endgültigen Vorlage betraut, die sodann dem kgl. Ministerium des Cultus
und öffentlichen Unterrichts zugehen soll mit der Bitte, die vorgenommene
Revision gutzuheißen und gesetzlich durchzuführen. — In den 34)9 Sitzungen
der Bezirksvereine sind viele wichtige Fragen aus den verschiedensten Unter-
richtsfächern erörtert , auch Berichte entgegengenommen worden über die
Mannheimer Allgemeine Deutsche Lehrerversammlung (5mal). In wirklich
erhebender Weise ist 1890 Altmeister Diesterweg gefeiert worden. Aus
24 Bezirken liegen darüber Berichte vor. Nicht minder sind im Diesterweg-
•Jahre Pestalozzi, Comenius, Dittes und (in diesem Jahre) Th. Körner gefeiert
worden. Von literarischen Erscheinungen wurden in vielen Vereinen besprochen:
1. GüBfeldt: „Die Erziehung der deutschen Jugend", 2. Dr. Langbein: „Rem-
braodt als Erzieher" und 3. M. v. Egidy: r Ernste Gedanken" (über die
christliche Religion), Verlag von 0. Wigand, Leipzig. Letztgenanntes Büchlein
enthält „ernste Gedanken", die schon oft in wissenschaftlichen Werken aus-
gesprochen, aber erst jetzt ins Volk drangen, z. B. über die Frage: „Ist denn
überhaupt die Rechtgläubigkeit das Wesentlichste für einen rechtschaffenen
Christen? (S. 16)u. Aufsehen erregte das Schriftchen besonders deshalb, weil
der Verfasser Oberstlieutenant und etatsmäßiger Kgl. Sächs. Stabsofhcier war,
der nach Erscheinen seiner Schrift seinen Abschied nahm.
Auf vielfache Anregungen hin hat der Vorstand des Allg. S. L.-V.
tiesuche an die Kgl. Regierung gerichtet, es möge im Verordnungswege eine
einheitliche Schrift (Antiqua) und für alle Bildungsanstalten eine
übereinstimmende Censurenscala eingeführt werden. Ersteres ist
wönschenswert , letzteres nothwendig. Der Cassenbe rieht weist nach
Abzug der Kosten für die 9. Generalversammlung einen Bestand von 4500 M.
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auf, von welchen sofort 500 M. einstimmig der Comeniusstiftung (päd.
Central bibliothek) zu Leipzig überwiesen werden; auch im Vorjahre sind der
Bibliothek vom Allg. S. L.-V. 500 M. zugeflossen. Möchten doch alle deutschen
Lehrervereine nach ihren Vermögensverhältnissen die Comeniusstiftung unter-
stützen, damit sie nicht wieder wie die letzten Male bei einem Deficit anlange
und schließlich gar unter den Hammer komme! Die deutsche Lehrerschaft
erhalte das Werk Beegers in ihrem eigenen Interesse (Vergl. den Bericht über
die Stiftung auf der Mannheimer A. D. L.-Vers.) — Die Delegirtenversammlung
beschloss weiter, an die Kgl. Regierung und die demnächst wieder zusammen-
tretenden Landstande eine vom Vorstande zur Verlesung gebrachte Petition
einzureichen, in welcher um Erhöhung der gesetzlichen Hinimalgehalte
(s. Paed. XII, H. 9) und Übernahme der Alterszulagen auf die Staatscasse
gebeten wird. Die Hauptversammlung am folgenden Tage trat diesem Beschlüsse
bei. Im letzten Vereinsjahre ist ein Mitglied des Vorstandes (Dir. Fink-Zittau)
zum kgl. Bezirks-Schulinspector in Camenz, der Geburtsstadt Leasings, ernannt
worden. Der neugewählte Vorstand besteht aus 9 Mitgliedern: Schumann-
Dresden, Altner- Dresden, Kleinert-Dresden (Redacteur der trefflichen „Allgem.
Deutschen Lehrerzeitung u, Leipzig, Klinkhardt), Schunack-Zwickau , Freyer-
Leipzig, Kuhnert-Chemnitz, Röder-Johanngeorgenstadt, Morgenstern-Hermanns-
dorf, Schäfer-Zittau. Zum Schlüsse erstattete Dir. Jahn-Dresden Bericht über
den Stand der neuen Kolbe -Stiftung im Sächs. Pestalozzi verein, welche z. Z.
3794 M. betragt und von welcher die Zinsen dazu dienen sollen, solche Lehrer-
familien zu unterstützen, deren Oberhaupt geistiger Umnachtung verfallen ist. —
Die 1. Hauptversammlung ain 28. September wurde durch die
Anwesenheit Sr. Exc. des Herrn Unterrichtsministers Dr. v. Gerber
zur wichtigsten von allen, die der Allg. S. L.-V. in den letzten 20 Jahren ab-
gehalten hat. — Der Vorsitzende, Dir. Schumann-Dresden, begrüßte zunächst
die Versammlung mit einer Ansprache, in der er betonte: Der Allg. S. L.-V.
nnd damit zugleich der sächsische Lelirerstand habe schon viel erreicht, aber noch
gelte es, in festem Zusammenschluss fortgesetzt zu arbeiten an der Vervoll-
kommnung unserer Person, unserer Stellung, unserer Wissenschaft,
unserer Kunst! In Vertretung des Oberbürgermeisters wurde sodann die
Versammlung namens der Stadt Dresden begrüßt von Bürgermeister Bönisch,
welcher sagte: „Wir dürfen Sie als die würdigsten und besten Mitarbeiter an
unseren communalen Bestrebungen begrüßen." Die Volksschule, bemerkte Hr.
Bürgermeister Bönisch weiter, bilde anerkanntermaßen einen der hervorragendsten
Verwaltungszweige der Gemeinden. Gelten doch die hohen edlen Zwecke der
Schule der Erziehung tüchtiger, brauchbarer Menschen, tüchtiger Bürger der
Gemeinde und des Staates, der Erziehung von Männern, die vor allem ihr
Vaterland lieben und ihm zu nützen suchen. Die Stadt Dresden sei sich dieses
Zieles der Schule wolbewusst, und wenn dieses Ziel überhaupt erreicht wird,
so sei dies der tüchtigen und gewissenhaften Arbeit der Lehrerschaft zu danken.
Was in Dresden der Fall, das güt für das ganze Land. Heute seien, Gott sei
Dank, die Zeiten vorüber, da man der Schule sich noch missgünstig gegenüber-
stellte. (?) Mit freudiger Empfindnng beobachtet man heute, wie sich zwischen
Schule und Haus, Lehrern und Kindern und Eltern ein freundliches Band des
Vertrauens und der Hochachtung geschlungen hat. So begrüße er denn die
Versammlung namens der Stadt Dresden auf das herzlichste, mit dem Wunsche,
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dass die Verhandlangen von den ersprießlichsten Erfolgen begleitet sein and die
zu Tage tretenden Anregungen auf recht fruchtbaren Boden zum Heile der
Schule und des Gemeinwesens fallen, dass damit aber auch alle Tbeilnehmer
ein recht freundliches Andenken an die Stadt Dresden mit hinwegnehmen mögeu.
Lautes Bravo!) Den ersten Vortrag hielt Herr Oberlehrer Zemmrich-Zwickau
über die Frage: Bedarf die Volksschule einer Vermehrung der Religions-
stunden? Die letzte (V.) evang.-luth. Landessynode des KÖnigr. Sachsen hat
eine Petition einer Predigerconferenz um Vermehrung der Religionsstunden der
Volksschule zur Erwägung bez. Berücksichtigung überwiesen; seitdem ist obige
Frage bei uns eine vielbesprochene. Redner beantwortet sie vollständig negativ.
Er legt den Schwerpunkt des Religionsunterrichtes in die Intensität desselben,
die sich aber nur durch eine Änderung des bisher üblichen (scholastischen)
Lehrverfahrens erreichen Iässt. Unser heutiger Religionsunterricht leide nicht
nur unter dem Encyklopädismus , sondern auch unter der Systematik.
Die Anwendung der letzteren sei für die Fassungskraft der Kinder viel zu
hoch. In der praktischen Theologie herrsche gegenwärtig eine Bewegung, die
systematische Dogmatik von der Kanzel zu verweisen, warum solle sie nicht
auch aus der Schule treten können? Redner schließt seinen wiederholt mit
Beifallsrufen unterbrochenen Vortrag, indem er folgende Resolution einbringt:
„In Erwägung dessen, dass
1. die dem Hohen Landesconsistorium eingereichten Ephoralberichte über
die Ertheilung des Religionsunterrichts in den Volksschulen ihre Be-
friedigung über den fraglichen Unterricht ausgesprochen haben,
2. die Verordnung des Hohen Ministeriums des Cultus und öffentlichen
Unterrichts vom 21. Mai 1881 für die Schulen, in welchen die
Ergebnisse des Religionsunterrichts den Anforderungen der Behörden
nicht entsprechen, bereits eine zeitweilige Vermehrung der Religions-
stunden bestimmt,
3. in der Erreichung des Ziels des Memorirens keine allgemeine
Unsicherheit zu erkennen ist,
4. die hie und da beobachtete Unsicherheit der Kinder in der Beherr-
schung des religiösen Memorirstoffs nicht in dem Mangel an Zeit,
sondern vielmehr darin, dass ein Theil des fraglichen vorgeschriebenen
Stoffes zu wenig der kindlichen Fassungskraft entspricht und nach
Inhalt und Form als ungeeignet zu bezeichnen ist, ihre Erklärung findet,
5. bei richtiger Vertheilung des religiösen Memorierstoffs auf die einzelnen
Altersstufen — die Sichtung und Verringerung desselben voraus-
gesetzt — und richtigerGestaltung der Wiederholung die zu wünschende
Sicherheit in der Beherrschung desselben seitens der Kinder sich wol
erreichen lässt,
6. die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden aus gesundheitlichen
Gründen in den mittleren und höheren Volksschulen nicht vennehrt,
auch
7. die den übrigen Unterrichtsfächern zugewiesene Zeit aus didactischen
und erzieherischen Gründen nicht verkürzt, ingleichen
8. von den in § 2 des Volksschulgesetzes vom 26. April 1873 vor-
gesehenen wesentlichen Gegenständen des Unterrichts ohne Schädigung
des Erziehungszweckes keiner gestrichen werden kann.
Uigitize
— 184
9. Sachsens Volksschulen den Luchsten procentnalen Satz an Religions-
stunden besitzen und endlich
10. die erziehliche Wirkung des Religionsunterrichts nicht von der dem-
selben gewidmeten Zeit, auch nicht von der Masse, sondern allein von
der Intensität des religiösen Wissens abhängt,
vermag die 9. Hauptversammlung des Allgemeinen Sächsischen Lehrervereins
die Notwendigkeit einer Vermehrung der Religionsstunden nicht anzuerkennen,
wol aber hält dieselbe angesichts der großen Gefahren des sittlich-religiösen
Lebens eine Vertiefung des religiösen Wissens und zur Erreichung dieses
Zweckes eine Beform des Religionsunterrichts auf der Oberstufe für geboten
und zwar dahingehend, dass der Katechismusnnterricht und der Unterricht in
der biblischen Geschichte vereinigt werde, letzterer die Grandlage der religiösen
Unterweisung bilde und die Kinder insbesondere eine lebendige, möglichst
eingehende Anschauung und Kenntnis des Lebens, der Wirksamkeit nnd der
Lehre des Erlösers und der Apostel erhalten." Die Resolution gelangte nach
kurzer Debatte gegen 3 Stimmen (von etwa 2200) zur Annahme. An der
Debatte betheiligte sich als Gast Consistorialrath und Superintendent Dr. tb.
Dibelius- Dresden; er ging auf einige Punkte in der Begründung der Thesen
ein und schloss mit einem Danke an den Vortragenden, dass dieser am Schlüsse
des Vortrages klar ausgesprochen habe: Nur das eine Ziel sei zu verfolgen,
die Kinder zu Christo zu führen. (Beifall.) Der dem e in flu issreiche u
geistlichen Redner gezollte Beifall erklärt sich daraus, dass der Lehrerstand
mit dem genannten Ziele sittlich- religiöser Bildung vollständig einverstanden
ist und von je einverstanden war. Ja, es sei hier ausdrücklich ausgesprochen,
dass die Lehrerschaft niemals ein anderes als das angegebene Ziel religiöser
Jugendbildung gewollt hat und auch niemals ein anderes erstreben wird! Des
darf die gesaiumte Geistlichkeit sicher sein! Nur über den Weg zu diesem
Ziele sind die Lehrer mit den Geistlichen nicht allenthalben einer Meinung.
„Uber die wirksamsten Mittel zur Hebung des Lehrerstandes.
Historisch-politische Betrachtung", so lautete das Thema des 2. Vortrages,
gehalten von Sem. -Dir. Schulrath Israel-Zschopau. Diese Betrachtung
hatte schon an sich hohen Wert: sie wurde aber noch wertvoller, weil sie
angestellt ward von einem Manne, der nicht (wie manche — oder viele? —
seinesgleichen» auf hohem Kothurn einhersclireitet, sondern nach dem Vor-
bilde Diesterwegs fleißig mit den Lehrern verkehrt; drittens war es von
Bedeutung, dass Se. Exc. der Herr Unterrichtsminister gerade diesem
Vortrage zuhörte. Kurz nach Beginn desselben war der Minister in Begleitung
des Geh. Schulraths Kockel erschienen. Der Redner (Heiausgeber von „Neu-
drucken päd. Schritten", Zschopau bei Kaschke) entwarf auf Grund reicher
Quellenstudien ein Bild der ganzen historischen Entwicklung des (deutschen)
Lehrerstandes. Er wies nach, wie der Lehrerstand durch die „Klinke der
Gesetzgebung", durch gemeindliche Fürsorge uud vor allem durch
eigene energische Thatigkeit (Bildung, Fortbildung, genossenschaftliche
Selbsthilfe, zu dem heutigen Stande gelangt sei. Es ward erwähnt: Dass die
Reformation nur Kirchen schulen kannte; dass Balth. Schopp gesagt: „Die
Lehrer haben Zeisigfutter und Eselsarbeit"; dass 1764 eine Dissertation
erschien: ,,De jure praeceptoris'', durch welche der Lehrstand von der Rechts-
wissenschaft zuerst als ein selbstständiger Stand anerkannt wird; dass (in
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— 185 —
Sachsen) von einer eigentlichen Hebnngdes Lehrerstandes erst die Rede sein kann,
seitdem das Königreich (1831) ein Verfassungsstaat geworden ist n. v. a. m.
Redner ließ es auch nicht an beherzigenswerten Mahn wortenznm Weiterbeschreiten
der eingeschlagenen Bahnen fehlen, namentlich ermahnte er den Lehrerstand,
sich von politischem Parteigetriebe jedwelcher Art fernzuhalten und in den
Forderungen an die Regierung, soweit sie auch berechtigt erscheinen, einen
maßvollen Standpunkt einzunehmen. „Gerade für die Lehrer ist, meine ich,
die Fabel von Wandersmann, Sonne und Wind lehrreich ; was Wind und Sturm
nicht vermochten, erreicht gar leicht die Sonne". So hat nach der „Hannov.
Schulztg." am 12. Juli d. J. der deutsche Reichskanzler a. D. Fürst Bismarck
in Friedrichsruh zu der Oberclasse des Seminars aus Weimar gesagt, die ihm
eio Ständchen brachte; so schloss auch Schulrath Israel seinen mit großem Beifall
aufgenommenen Vortrag: Die Sonne (der Arbeit und Geduld) muss beharr-
lich scheinen ! Dann wird der Mann im eingehüllten Mantel denselben ablegen.
Nach Beendigung des Vortrages nahm der Vorsitzende das Wort, um
Sr. Exc. dem Hrn. Cultusminister Dr. v. Gerber für dessen Erscheinen den
Dank der Versammlung zu entbieten und ihn zu bitten, dem Lehrerstande
Sachsens das demselben bisher entgegengebrachte Wolwollen auch fernerhin
zu erhalten. Die Versammlung folgte freudig der Aufforderung, Sr. Exc. ein
dreifaches Hoch auszubringen. Hr. Dr. v. Gerber dankte mit der Versicherung,
dass es ihm ein Vergnügen gewesen sei, in der Versammlung einige Zeit ver-
weilen zu können, und wünschte den ferneren Berathungen segensreichen Erfolg-.
Der 3. Vortrag: „Über die Beh andlnng stammelnder und stotternder
Schulkinder" wurde gehalten von H. E. Stötzner, Dir. der Taubstummen-
anstalt zu Dresden (Redact. des „Anz. f. die neueste päd. Literatur", Beibl.
zur „Allg. D. Lehrerztg."). Die instructiven Ausführungen dieses Fachmannes
stützten sich u. a. auch auf das im „Paed." namhaft gemachte Buch von
Gntzmann. —
In der 2. Hauptversammlung am 29. Sept. sprach zuerst Lehrer
Eberth-Dresden über die Frage: „In welcher Weise kann die Fort-
bildungsschule den Anforderungen der Zeit am besten Genüge
leisten?" Er fasste seine Ausführungen in folgende Sätze zusammen:
I. Die Fortbildungsschule hat neben der allgemeinen Ausbildung der
Schüler ganz besonders die Aufgabe, sich in den Dienst des praktischen und
beruflichen Lebens zu stellen.
II. Die allgemeinen Fortbildungsschulen sind überall da, wo es angängig
ist, in fachberufliche Schulen bez. in Berufsclassen umzuwandeln.
III. Um eine für die Unterrichtsergebnisse wünschenswerte Gliederung
innerhalb der einzelnen Berufsangehörigen zu ermöglichen, empfiehlt es sich,
in großen Orten die kleinen Fortbildungsschulen zu vereinigen und unter ein-
heitliche Leitung zu stellen.
IV. Der Lebensberuf des Schülers bilde so oft als möglich den Ausgangs*
punkt für die unterrichtliche Behandlung der Lehrstoffe.
V. Die schwächsten Schüler sind in Nachhilfeclassen zu vereinigen, in
denen nur Deutsch und Rechnen als Unterrichtsgegenstände auftreten.
VJ. Zur Weckung des Interesses ist auch in diesen Nachhilfeclassen dem
Unterrichte eine praktische Färbung zu verleihen.
Pfcd^o^iiun. 14. Jahig. Heft in. 14
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VII. Bei Aufstellung des Lehrplanes sind geeignete Vertreter der Berufs-
arten su Rathe zu ziehen und die thätige Theilnahme hervorragender Berufs-
genossen an der Unterrichtsertheilung ist zu empfehlen.
VIII. Für jeden Beruf ist eine das Geschäftsleben wenig störende Unter-
richtszeit auszusuchen; doch ist hierbei von den Abendstunden und vom Sonntag
Abstand zu nehmen."
Diesen Sätzen wurde im allgemeinen zugestimmt.
Am ersten Tage hatte die Versnmmlung folgendes Begriißungstelegrainni
beschlossen: „Sr. Majestät dem König Albert, dem ruhmreichen Sieger auf
dem Felde der Ehre, dem treuen Förderer der Künste und Wissenschaften,
dem Schirmherrn der Wolfahrt unseres Volkes, dem auch die Volksschule hohe
landes väterliche Fürsorge zu danken hat, sendet ehrfurchtsvollen Gruß der
Allg. S. L.-V." Darauf war von Sr. Maj. dem König eine telegraphische
Antwort eingegangen des Inhalts: „Ich danke herzlich für den mir zuge-
gangenen freundlichen Gruß. Albert."
Den letzten Vortrag hielt Lehrer Moritz Müller-Leipzig über „Bildung
—Halbbildung" unter Beleuchtung der Angriffe auf die Bildung der Volks-
schullehrer. Die Widerlegung dieser Angriffe bildete uach einer eingehenden
Deduction der Begriffe: „Bildung und Halbbildung" den Haupttheil der Dar-
legungen des Redners. Den Angriffen, sagte er, stehen ebensoviele und
noch weit gewichtigere Argumente gegenüber, welche für die Bildung des
Lehrerstandes und seine von ihr bedingte Thätigkeit ehrendes Zeugnis
ablegen; gegenüber der versuchten Herabwürdigung des Lehrerstandes auf der
einen Seite bemerken wir eine große Hochachtung und Wertschätzung auf
der anderen, noch competenteren Seite. So erwähnte der Vortragende u.a.
auch des hochachtbaren Münchener Uuiversitäts-Prof. Dr. J. Frohschainmer.
dessen Würdigung des Lehrerstandes und seiner Aufgabe besonders in den
letzten Schriften dieses deutschen Denkers hervortritt; den Lesern des „Paed.-
ist Dr. J. Frohschammer allerdings längst bekannt als ein Mann, dem die
ganze Lehrerschaft in Dankbarkeit volle Aufmerksamkeit zuwenden sollte,
welche er um seiner Werke willen verdient. Ganz besonders richteten sich die
Ausführungen des Vortragenden gegen die von der „Leipziger Zeitung" und
den „Grenzboten" gebrachten gehässigen und herabwürdigenden Angriffe gegen
den Lehrerstand, die tiefbetrübend und geradezu den Ruf des sächsischen
Volkes schädigend seien und gegen welche Entehrung die Lehrerschaft nicht
nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der Regierung protestiren
müsse. Der Vortrag, der mit stürmischem Beifall begrüßt wurde, wird gleich
den übrigen in seinem ganzen Umfange in der „Sächs. Schulztg." zum Abdruck
gelangen.
In den Neben Versammlungen wurde gesprochen über den Handfertigkeits-
unterricbt, über neue Anschauungsmittel für das Rechnen und den geometrischen
Unterricht, über den gegenwärtigen Stand des Sterbefallversicherungswesens
innerhalb der sächsischen Lehrerschaft. Außerdem fanden statt: eine Sitzung
des „Sächs. Pestalozzivereins" unter Vorsitz „des hochverdienten Veteranen des
sächs. Volksschnlwesens", des 78jährigen Oberschulraths A. Berthelt; eine
Hauptversammlung der „Allg. Brandversicherungsgesellschaft sächs. Lehrer";
eine außerordentlich reichhaltige Lehnnittelausstellung (Veranschaulichung einer
„Lebensgemeinschaft") u. s. f.
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Zar Verschönerung der Dresdner Versammlung diente u. a.ein Concert
des „Dresdner Lehrergesangvereins " („Die Mette von Marienburg", Dichtung
von Fei. Dahn, comp, von 0. Wermann, op. 75) unter Leitung des k. Musikdir.
Prof. Ose. Wermann und unter Mitwirkung künstlerischer Krilfte, z. B. der
berühmten Wagnersängerin FrL Therese Malten. —
Der „Allg. Sachs. L.-V." kann mit Befriedigung auf seine 9. Haupt-
versammlung zurückblicken und darf hoffen, dass ihr Wellenschlag an manches
Ohr gedrungen ist. Möge ihm dadurch auch manches Herz gewonnen worden sein !
„Wo viel Licht ist, ist starker Schatten**, sagt Goethe im „Götzr. So
ist es auch bei uns, wo sich neben dem „Allg. S. L.-V.u jüngst eine „ Freie
Vereinigung ev.-luth. Lehrer im Kgr. Sachsen" gebildet hat. Wir können die
Notwendigkeit einer solchen Vereinigung nicht anerkennen! Zwar sagen
die Mitglieder derselben: „Wir beabsichtigen nicht, uns von den bereits
bestehenden Lehrervereinigungen zu trennen, denn wir erkennen freudig an,
wieviel durch ihre bewährten Vorkämpfer für die Interessen der Volksschule und
ihrer Lehrer erreicht worden, wie viel Segen aus ihren Bemühungen hervorgegangen
ist." Thatsächlich aber ist es doch eine Trennung, und zwar eine beab-
sichtigte! „In den Vereins -Versammlungen sollen Schul- und Erziehun&s-
f ragen der Gegenwart vom kirchlichen Standpunkte aus geprüft und be-
sprochen werden." Als ob dies noch besonders nöthig wäre! Alle „maßgebenden
Factoren" sind bei uns dafür besorgt, dass die kirchlichen Interessen allzeit
gewahrt werden. Wir möchten der „F. V. e.-l. L. i. K. S." zurufen: Seid ihr,
wie ihr sagt, „zu thatkräftiger Mitarbeit an den socialen Aufgaben unserer
Zeit" bereit, so schließt euch nicht ab, sondern thnt wie Paulus und gehet hin
r unter das Volk": denn nicht unter euch ist, wie wir glauben, die Religiosität
im Schwinden begriffen, sondern „unter dem Volke**! —
Das neueste Handbuch der Schul st ati stik für das Königreich Sachsen
bringt folgende Angaben über das sächsische Schulwesen: Sachsen hat 1898
Orte mit und 1175 Orte ohne Volksschulen. Die Zahl der öffentlichen evan-
gelischen Volksschulen beträgt 2171, die der öffentlichen römisch-katholischen 39.
Außerdem gibt es 17 Vereins- und Stiftungs- und 60 Privatachulen, so dass
sich 2287 als Gesainmtzahl der Volksschulen ergibt. Dazu treten 1943 Fort-
bildungsschulen. Die Schülerzahl sämmtlicher Volksschulen beläuft sich auf
591 084, von denen 575 560 evangelisch, 13 131 römisch-katholisch sind und 2393
anderen Confessionen angehören. Die Fortbildungsscholen werden von 79270
Schülern, einschließlich 1462 Mädchen, besucht. Als Lehrkräfte wirken an den
evangelischen Volksschnlen 285 Directoren, 7823 Lehrer und 226 Lehrerinnen,
zusammen 8334 Personen, an den katholischen 7 Directoren, 112 Lehrer und
17 Lehrerinnen, zusammen 136. Außerdem zählen die Privatschulen 576 Lehr-
kräfte, von denen 327 ansscbließlich an Privatschulen wirken. Hiernach beläuft
sich die Gesammtzahl der Lehrkräfte überhaupt auf 8797. Auf 1 Lehrer
kommen durchschnittlich 67.19, auf eine Volksschule 259 Schulkinder. Das
Verzeichnis der an höheren Schulen nnd an Volksschulen eineritirten Lehrer
führt 627 Namen auf. (Juniperus. )
Aus Dresden. [Zur Frauenfrage.J Das „Pwd.- hat stets der Frauen-
frage als einem wichtigen (Erziehung»)- Probleme der Gegenwart große
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— 188 -
Aufmerksamkeit zugewandt; ja, es hat einige der gründlichsten „Studien'1 zo
derselben veröffentlicht (II, S. 201 ff.; VIII, S. 700 ff.). Vielleicht ist es den
Lesern nicht uninteressant, einige Meinungen über diesen Gegenstand ans dem
Kreise der Frauen zu hören. Die (berechtigte) Agitation in Sachen der
„Frauenfrage" hat namentlich der seit 1865 bestehende „Deutsche Frauen-
verein" auf seine Fahne geschrieben, welcher am 27.1 und 28. Sept. hierseM
seine 16. Generalversammlung abhielt, über die einiges mitgetheilt sein mag.
Den einleitenden Vortrag hielt Frl. Auguste Schmidt-Leipzig über
die Berufstätigkeit der Frau. Rednerin betrachtete, was für und wider
die Berufst hutigkeit der Frau ins Feld geführt wird. Ausgehend von all-
meinen Gesichtspunkten schilderte Frl. Schmidt die Stellung der Fran inner-
halb und außerhalb des Hauses und tadelte die unrichtige Erziehung, welche
meist den Töchtern zutheil wird; man müsse sie einer menschlichen Be-
stimmung, nach dem Wesen ihrer Anlage, zuführen. Die Frauen, besondere die
der oberen Kreise, werden zum Dilettantismus erzogen, und man wundert eich
dann über ihre Oberflächlichkeit und Mittelmäßigkeit. Nicht im Wesen der
Frau liegen diese oft vorkommenden beklagenswerten Eigenschaften, sondern
eben in mangelhafter Ausbildung und Erziehung.
Die Rednerin unterzieht die Stellung der Frau in der Ehe, als Hausfrau
und Mutter, einer Betrachtung, ebenso die Stellung des Sohnes und der Tochter
im Hause.
Neben dem natürlichen Berufe der Frau und den Pflichten im Hause
er wächst heute aber auch der Frau die Nothwendigkei t einerBernfsthätigkeit außer
halb der Grenzen des Hauswesens an und für sich. Die Gegner der Bewegung
sagen, dass eine solche Berufstätigkeit den Frauen den natürlichen Beruf
nähme; aber die Bestrebungen sind gerade darauf gerichtet, die Frau tauglicher
zu machen, das Haus zu erbauen.
Zahlreich sind die Einwürfe, welche man dem praktischen Frauenberufe
gegenüber macht. Es war der Rednerin darum zu thun, diese Einwürfe zu
prüfen und sie als nicht stichhaltig zurückzuweisen. Der erste Einwand sagt,
dass die Frau durch die Vorbereitungen zur Berufstätigkeit dem Hause ent-
fremdet werde. Aber die Erfahrung beweist das Gegentheil. Die treibende
Kraft für die häusliche Thätigkeit der Frau ist die Liebe und treue Hin-
gebung, und solange diese Kraft beim praktischen Berufe nicht verloren geht,
wird auch die Frau für die Erfüllung der häuslichen Pflichten immer tüchtig
bleiben. Ebenso hinfällig ist die Behauptung, dass im Berufsleben die Freude
an den häuslichen Arbeiten erlahme oder schwinde. Die Ermüdung etc. sei
individuell, und man fände vielmehr, dass eine Berufstätigkeit die Frau
kräftiger und widerstandsfähiger mache, als dass sie die Kräfte vermindere.
Die Frau wird selbstständiger, aber nicht etwa — wie die Männer fürchten —
zn deren Nachtheil, denn die verständige Frau wird Recht und Unrecht zu
unterscheiden wissen, und ihre Selbstständigkeit kann nur zum Wole der
Familie dienen. Die Natur der Frau widerstrebt praktischem Berufe nicht.
Die vielen Tausend arbeitenden Frauen beweisen das. Nur die Frauen der oberen
Stände sind nicht tähig zu solchem, und da soll eben die vernünftigere Erziehung
Abhilfe schaffen. Dann aber handelt es sich auch nicht nur um körperliche,
sondern auch um ge isti ge Arbeit. Zu solcher soll die Frau fähig gemacht werden
und die Möglichkeit ist vorhanden. Rednerin leugnet, dass die geistige Bildungs-
189 —
f&higkeit der Frau geringer sei als die des Mannes. Da die Entwickelang des
Denkprocesses bei der Fraa dieselbe ist wie beim Manne, und da vermöge des
Denkprozesses die geistige Bildung aufgenommen wird, so kann dieselbe auch
bei beiden Geschlechtern auf die gleiche Stufe gebracht werden.
Der wichtigste Einwand gegen die Beru&thätigkeit der Frau ist die
Concor renzfrage, aber auch dieser ist zu begegnen. Hier ist es die Not-
wendigkeit; der fleißigste Mann ist nicht immer imstande, die Familie zn
ernähren, und die Frau muss eingreifen. — Zu tadeln sei die ungleiche Be-
zahlung: derselben Arbeit bei Mann und Frau. Man verlangt die Bezahlung
des Lohnes nach der tkatsächlich geleisteten Arbeit und nicht nach dem
Geschlecht. Dann stehen sich Mann und Frau gleich gegenüber. Was den
Verlast der Weiblichkeit betrifft, den man bei der Berufstätigkeit befürchtet,
w meint man, dass diese Weiblichkeit bei geordneter Thätigkeit besser gewahrt
sei. als bei den jungen Mädchen, die weiter nichts zu thun haben, als sich nach
einem Manne umzusehen.
Bei den unteren Ständen erhalten die Mädchen die gleiche Erziehung
wie die Knaben. Die höhere Mädchenschule aber bringt die Trennung. Die
jetzige Erziehungsweise macht es erklärlich, dass die Männer die Unterhaltung
mit den Freunden am Stammtische der mit der Frau zu Hause vorziehen.
Die Frauen der besitzenden Classe entschließen sich nur schwer, sich
zu einem Berufe heranzubilden, sie betrachten die Ehe als den noth wendigen
Ausgang der Jugend. Von diesen Töchtern wünscht Hednerin, dass sie länger
als bis zum 16. Jahre in der Schule bleiben, natürlich die Zeit zu ernster Arbeit
ausnutzend; dann nach geeigneter Ausbildung sollen diese Frauen den wol-
tultigen öffentlichen Anstalten ihre Kraft und überflüssige Zeit widmen. Anders
ist es mit den Töchtern, die zwar den besseren Ständen angehören, aber nicht
besitzend siudV Hier macht die falsche Erziehung sich am meisten
geltend, wenn die Töchter anspruchsvoll aufgewachsen und nach dem Tode
des Vaters mittellos, kraftlos und aussichtslos dastehen, zu keinem praktischen
Berufe fähig.
Es spricht Frau Dr. Henriette Goldschmidt- Leipzig über das
Thema: „Die Frauenfrage eine Culturfrage." Die Ausführungen
der Rednerln kennzeichneten die Frauenfrage zunächst im allgemeinen, um
sodann die Stellung der Frau im Culturleben der verschiedenen Völker zu
beleuchten. Die Wünsche der Frauen richten sich vor allem nach dem Recht
der Persönlichkeit in geistiger und sittlicher Bethätigung nnd gegen die
Ungleichheit im politischen und Eherecht. In England und Amerika etc. muss
der Staat bereits mit der Frau rechnen. Die Frauenfrage sei keine Brot-
ond Erwerbsfrage mehr und auch keine Jungfernfrage (wie Bich
Eduard von Hartmann ausdrückt), sondern das Weib müsse seine Talente
nnd Fähigkeiten entwickeln und geltend machen können. Die von Hartmann
vorgeschlagene Junggesellensteuer würde vielleicht dem Körper Nahrung
geben, aber den Geist darben lassen, und hier ist Hilfe am meisten nöthig.
Innerhalb der Familie, des Staates, des socialen Lebens soll der Frau diejenige
Stellung und der Eioflnss eingeräumt werden, welche der Sonderheit des
Weibes gebüren. Die Naturanlage gibt der Frau die Stellung als Bildnerin,
Erzieherin, Pflegerin in der Familie. Dazu ist sie geschaffen, und sie besitzt
zu diesem Berufe ganz besondere Vorzüge. Warum soll sie die Eigenschaften
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— 190 -
nicht weiter aasbilden und auch außerhalb der Familie bethätigen können,
wie z. B. im Lehrberufe, im ärztlichen Berufe u. s. w.? Die Fran müsse so,
wie sich Fran von Mahren holtz-Bülow einmal ausdrückt, die geistige Matter
der Menschheit werden, wie sie die schützende, pflegende Matter innerhalb der
Familie ist. Nicht um egoistische Grandsätze handle es sich, denn die Frau
verlange nicht nur für sich, sondern für das allgemeine Wol und zum Ausgleich
bestehender Gegensätze, zur Erfüllung der Mission der alles versöhnenden Liebe.
Welche segensreiche Thätigkeit hat die Fran schon jetzt im Kriege entfaltet,
und wie viel mehr könnte sie es noch! — Frau Dr. Goldschmidt behandelte
ebenfalls die Concurrenzfrage, auf die ausgleichende Kraft der Natur hinweisend.
Dabei sprach sie u. a. den mit besonderem Beifall ausgesprochenen Satz aus,
dass das Studium geistreicher Frauen vielleicht dasjenige der mittelmüßigen
Männer einschränke. Schließlich wünscht Rednerin denjenigen Bestrebungen
Erfolg, welche darauf gerichtet sind, der Frau die Stellung zu verschaffen,
die sie nach ihren Beziehungen zu den culturellen Verhältnissen der Zeit zu
beanspruchen habe.
Unmittelbar an diesen Vortrag schloss sich der von Frau Professor
Weber-Tübingen über „den jetzigen Stand der Ärztinnenfrage*.
Frau Weber ist bekannt als Autorität auf dem Gebiete der Frauenfrage,
speciell hat sie sich mit der Ärztinnenfrage befasst. Sie wies eingangs ihres
Vortrages auf die Erfolge hin, welche die Frau als Ärztin anderer Länder
errungen hat, so namentlich in England, Amerika, der Schweiz, Schweden,
Italien und selbst in der Türkei. Man erkennt zwar auch in Deutschland immer
mehr die Berechtigung des Verlangens nach weihlichen Ärzten an, viele hervor-
ragende Persönlichkeiten und Zeitungen treten dafür ein, aber ein greifbarer
Erfolg ist noch nicht erzielt. Die Frage wird auch in Deutschland nicht mehr
von der Bildfläche verschwinden, und ihre Erfüllung wird über kurz oder lang
Thatsache werden. Wie in England und anderswo werden die Frauen durch-
dringen, wenn sie nur fest zusammenstehen und nicht ermüden. Hilfe wird
ihnen ja von immer mehr Seiten zutheil. Rednerin betrachtet es als ein
Räthsel, dass gerade die deutschen Frauen noch am unselbstständigsten sind,
während doch bei den alten Germanen die Frau in cultureller Beziehung die
bedeutendste Stellung hatte und dem Manne am meisten gleich stand. Zahl-
reiche Frauen üben in anderen Ländern ihren Beruf als Ärztinnen aus: in
Deutschland verweigert man ihnen die Möglichkeit, dahin zu gelangen. Die
Petition, die im Frühjahre 1891 dieserhalb an den Reichstag gerichtet wurde,
blieb ohne Erfolg, man wird aber immer neue einbringen, mit Hinblick auf
den auch in anderen Ländern erst nach mühsamen Kämpfen errungenen
Sieg. Freilich gibt es auch Länder, die ohne Schwierigkeiten sofort zugestimmt
haben. In Boston gibt es beispielsweise jetzt 40 und in Philadelphia 90 weib-
liche Ärzte, die mit den männlichen alle Rechte und Pflichten theileu.
Frau Prof. WTeber unterzog die Gegner der Ärztinnenfrage einer näheren
Betrachtung und theilte dieselben in drei Classen ein: erstens in solche, die
sich nicht losmachen können vom Altgewohnten; zweitens in die Landes-
vertreter, die zwar im stillen dafür sind, aber die Schwierigkeiten der Aus-
führung fürchten, die zufrieden wären, wenn die Sache mit einem Male erledigt
wäre; drittens die Ärzte selbst, welche theils der Frau die Fähigkeit absprechen,
theils aus Concurrenzneid dagegen sind. Allerdings stehen viele Ärzte auch
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der Frage sympathisch gegenüber, was schon daraus hervorgeht, dass die
Petition u. a. von 140 Ärzten unterschrieben gewesen ist. Besonders nöthig
ist die Ärztin anf dem Lande und in Fabrikgegenden. Bei der Besprechung
der Art und Weise des Frauenstudiums ist Rednerin der Meinung, dass das
Studium nicht etwa in eigenen Anstalten, sondern in Gemeinschaft und zu-
sammen mit den männlichen Studenten erfolgen müsse, und dass ebenso die
Examina dieselben seien und gemeinschaftlich abgelegt werden sollen. Die
Thatsache lehrt, dass sich aus dem gemeinsamen Studium der Frauen und
.Männer nicht allein keine Unzuträglichkeiten ergeben, sondern dass im Gegen-
theil ein günstiger Einfinss auf die Lehrart und die Studenten ausgeübt wird.
Schließlich macht die Rednerin noch mehrere Vorschlage betreffs der Übergangs*
periode, welche sich theils auf die medicinische Prüfungsordnung, theils auf
wolwollende Auslegung der Gewerbeordnung u. s. w. stützen.
Den nächsten Vortrag hielt Frau Marie Stritt-Dresden, Gattin des
früheren Hofopernsängers Stritt Der Vortrag behandelte die häusliche
Knabenerziehung mit Rücksicht auf die Frauenfrage. Der so oft zu findende
Glaube an die Unfähigkeit der Frau, der auf falschen Anschauungen oder Un-
wissenheit beruht, gründet sich in der Hauptsache auf die Erziehung der
Knaben. Denselben werde vom ersten Tage ab die Meinung von der, Minder-
wertigkeit der Schwester beigebracht, und in ihnen werde Egoismus und der
Glaube an größeres Recht und mehr Stärke geweckt. Die Rednerin belegt
durch Beispiele, wie die Knaben zur Missachtung der Mädchen erzogen werden,
und wie dadurch im Schöße der Familie Sünde begangen werde. An den Sohn
wendet man auch viel mehr Geld, als an die Tochter; man lässt die Schwester
ihm manche Dienste leisten, die er sich selbst leisten müsste, damit er auch im
Leben von den Dienstleistungen anderer weniger abhängig werde. Als größten
Erziehungsfehler tadelte Frau Stritt die große Nachsicht der Mütter den
Söhnen gegenüber, namentlich bei jenen Streichen, die man unter die Rubrik
einreiht: die Jugend muss austoben. Recht gefährliche und verhängnisvolle
Dinge werden mit diesen Worten vom Austoben zugedeckt und stillschweigend
geduldet, und leider zeigt es sich dann, dass das Toben nicht aufhört. Und
wieder ist es das weibliche Geschlecht, das unter den Ausschreitungen der
Männer am meisten zu leiden hat. Aufgabe der Mutter sei es, die Söhne zu
lehren, die Schwester als gleichberechtigt anzusehen, sie nicht als geringeres,
minderwertiges Wesen anzusehen , sondern als starke Mitkämpferin in dem
Kampfe um das Dasein.
Ans dem Großherzogthum Baden. [Mitte October.] Vor 10 Jahren
wurde auf directe Veranlassung der Hauptlehrer Dühmig in Buhl bei Baden
und Dr. Meuser in Mannheim die „Concordia", eine „Actiengesellschaft für
Druck und Verlag", in Bühl gegründet. Trotz mannigfacher Hindernisse von
oben und unten, trotz gemeiner Schmähungen der genannten Personen in
der Presse und Maßregelung des oben genannten Dr. M., gedieh das Unter-
nehmen aufs beste und steht heute nach innen und außen gefestigt zur Ehre
der badischen Lehrerschaft da. Zweck der „Concordia'' ist die Unterstützung
nothleidender Lehrer und Lehrerrelicten. Seit ihrem Bestehen hat die „ Concordia a
an die beiden Wolthätigkeitsanstalten, den bad. Pestalozziverein und das Witwen-
— 192 -
ünd Waisen-Stift der Lehrer, an Unterstützungen für nothleidende Lehrer und
Lehrerrelicten die bedeutende Summe von 36266 Mark vertheilt. Auch in
dem abgelaufenen Vereinsjahre wurde abermals eine namhafte Summe zu ge-
dachtem Zwecke erübrigt. „Bist du Christus, so hilf dir und uns!" heißt es in
der Bibel; den Christus der Lehrer in gedachtem Sinne vertritt die „Selbst-
hilfe!" Möge sie immer mehr erstarken, denn ein Zuwarten, bis die „Hilfe
von Zionw kommt, könnte zur Verzweiflung führen, zumal die sog. „Nothhilfe-
in den meisten Fällen sehr problematischer Natur ist. —
Am 5. October wurde zu Offenburg die Generalversammlung des „AI lg.
Badischen Volksschullehrer- Vereins" abgehalten, die ein höchst erfreu-
liches Bild collegialer Einmüthigkeit und Solidarität der Interessen bot. Dem
Volksschullehrer -Verein gehören nahezu sämmtliche Lehrer Badens als Mit-
glieder an, die alle ein Streben beseelt und die sich fernhalten von denen,
welche, sei es im Lutherrock oder in der Soutane, sich eifrigst bestreben, die
Lehrer zu ihren Zwecken zu missbrauchen und „in die Zeiten charakterloser
Minderjährigkeit" zurückführen wollen. Die bad. Lehrer kennen ihre Pappen-
heimer und bedauern lebhaft, dass, wie Dr. Meuser in einem Toaste ausführte,
jenseits der Mainlinie ein Theil der Lehrer mit Blindheit geschlagen sei, indem
er den Lockrufen der Rückwärtser zum Schaden der Schul- und Lehrerinteressen
folge. Als Folge einmütigen Zusammenhaltens der bad. Lehrer wird im nächsten
Landtage ein Gesetz zustande kommen, das eine mächtige Förderung der
materiellen Besserstellung der Lehrer und ihrer Relicten involviren dürfte.
(Wir behalten uns vor, s. Z. darüber zu berichten.) — Einen der wichtigsten
Punkte der Tagesordnung bildete der Antrag des Vorstandes: „Gründung eines
Rechtsschutz -Vereins." Die Zwecke dieses Vereins sind bekannt; fast mit
Stimmeneinhelligkeit ward der „Rechtsschutz -Verein" gegründet und dessen
Statuten berathen und angenommen. Ein weiterer Punkt der Tagesordnung} war
die Erhebung eines Vereinsbeitrages von 1 Mark jährlich; auch dieser Antrag
wurde einstimmig angenommen, besonders deshalb, um ein Capital anzusammeln,
aus dessen Zinsen ein namhafter Beitrag zur Besoldung des freizustellenden —
d. h. den dienstlich-disciplinären Gewalten entrückten — Redacteurs des Ver-
einsblattes erzielt werden soll, znmal bei den jetzigen Verhältnissen das
Damoklesschwert stets über dem Redacteur hänge. —
Von den übrigen „Anträgen" der umfangreichen Tagesordnung wollen
wir noch denjenigen „über die Betheiligung der Lehrer an der Errichtung von
Kochschulen" erwähnen. Dire Königl. Hoheit die Frau Großherzogiu ist in
ihrem edlen Streben bemüht, der socialen Not h in den unteren Classen der
Bevölkerung durch materielle Unterstützung und Belehrung thunlichst entgegen-
zuwirken. Die hohe Frau glaubt daher auch in der Errichtung von Koch-
schulen — im Anschluss an die Volks- oder obligatorische Fortbildungsschule
— ein weiteres Mittel ihres edlen Zweckes zu erblicken. Herr Rector Specht-
Karlsruhe, ein zu Neuerungen auf dem Schulgebiete — auch wenn diese sich
in der Praxis noch nicht erprobt haben — sehr geneigter Schulleiter, hatte
sich als willfähriger Interpret der Kochschulen mit einem ihm untergebenen
Lehrer der Residenz, dem Referenten über dieses Thema, eingefunden. Herr
Specht berichtete u. a., dass (ehe er nach Offenburg geeilt sei, um der Volks-
die Kochschule zu freien) er in Karlsruhe der Eröffnung einer Kochschule,
welcher zwei Lehrerinnen vorstünden, die in einer norddeutschen Stadt, wo
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Kochschulen beständen, ihre Ausbildung erlangt hatten, beigewohnt habe; er
empfahl die Errichtung der Kochschulen im Anschluss an die Volksschule sehr
warm. Ob dabei seine pädagogische Einsicht zum Ausdruck gelangte, haben wir
hier nicht zu untersuchen; praktisch thätig war indessen dieser Herr als Volks-
schullehrer — er ist von Haus aus Theologe — noch nicht. Von anderer
Seite wurde betont, dass es im Interesse eines gedeihlichen Unterrichts läge,
keine neue Disciplin der Volks- und Fortbildungsschule einzufügen; die Schule
sei nicht das bekannte „Mädchen für Alles", habe wichtigere Aufgaben zu er-
füllen und dürfe sich nicht vermessen, die sog. „sociale Frage" direct lösen zu
wollen. Auch aus practischen Gründen sei der Anschluss der Koch- an die
Volks- oder Fortbildungsschule nicht zu empfehlen, da u. a. die Kinder dazu
nicht die wirtschaftliche und geistige Reife im schulpflichtigen Alter hätten
und die Zeit des Erlernens der Kochkunst zu weit von derjenigen des praktischen
Verwertens auseinanderliege. Ein Anschluss der Koch- an die bereits be-
stehenden privaten HaushaltungBschulen, welch letztere auf Kosten des Staates
Überall im Lande errichtet werden müssten, sei dagegen nur zu empfehlen.
Diese Ansicht konnte jedoch vorerst nicht die Stimmenmehrheit erlangen, da-
gegen einigte man sich in der allgemeinen Resolution: „Die Lehrer stehen der
Frage, die Errichtung der Kochschulen betr., sympathisch gegenüber."
Wir sind begierig, die Erfolge der Versuchsstation Karlsruhe inbetreff
der Kochschule zu erfahren und werden, wenn wir s. Z. einen ungeschminkten
Bericht über sie erhalten können, nicht versäumen, denselben im „ Pädagogium tt
mitzutheilen. —
In den letzten Tagen durchlief die badische (politische) Presse ein Artikel,
in welchem bittere Klagen darüber geführt wurden, dass die Schulaufsichts-
beamten der Volksschulen Badens größtenteils aus den Reihen der Theologen
und Philologen genommen würden, trotzdem im vorigen Landtage sowol von
der Regierung als der Volksvertretung ostentativ hervorgehoben worden sei,
dass die Volksschullehrer auch Rectoren und Kreisschulräthe werden könnten.
So sei in Karlsruhe zum Stellvertreter des Rectors ein „Lehramtspraktikant"
(Candidat des höheren Schulamtes) erkoren worden, ein Mann, der, wie sein
Titel sagt, sich erst in der Schulpraxis „umzuthun" habe, um dem Gesetze zu
entsprechen und die Befähigung zur definitiven Anstellung zn erlangen. Es
sei diese Thatsache um so auffallender, als tüchtige, erfahrene Lehrer, selbst
solche, die ein höheres Examen bestanden hätten, jahrzehntelang an der Volks-
schule zu .Karlsruhe erfolgreich wirkten; auch erhalte die Sache dadurch noch
einen eigenthümlichen Beigeschmack, dass Hr. Rector Specht im Ausschusse der
„Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung4' seit der Tagung derselben in
Karlsruhe sei und daher vor allem die Pflicht habe, die Interessen des Volks-
schullehrerstandes in erster Linie zu fördern.
Aus der Schweiz. Je länger je mehr schenkt man dem gewerblichen
Bildungswesen die gebürende Aufmerksamkeit, nicht nur in Städten, wie
Basel, Zürich, Bern, Genf etc., wo in sehr gut organisirten Schulen Treffliches
geleistet wird, sondern auch in kleinem Orten, wo Gewerbe, Handel und Industrie
einst blühten, nun aber darniederliegen. So projectirt man den Ausbau der
gewerblichen Fortbildungsschule in Frauenfeld, woselbst Secandarlehrer
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— 194 —
Schweizer im Gewerbevereiii in einem wirksamen Vortrage die Notwendigkeit
erweiterter nnd anf praktischem Gebiete vertiefter gründlicherer Kenntnisse
nachgewiesen hat.
Die Schälerzahl der Gewerbeschulen in Basel. Zürich etc. wächst beständig.
Jene betrug beispielsweise im verflossenen Jahre 702, diese 804. In Zürich
erstreckt sich der Unterricht auf folgende Fächer: Freihandzeichnen, Perspec-
tive, Linear- nnd gewerbliches Zeichnen, gewerbliches Rechnen, Geometrie, dar-
stellende Geometrie, Schreiben, einfache Bachhaltung, Geschäftsaufsatz, fran-
zösische Sprache, Verfassungskunde, Fachcnrse für Schuster und Schneider; anch
steht ein Zeichensaal unter Leitung eines Fachlehrers zur Benützung frei. Am
besten wird durchschnittlich der Unterricht im Freihandzeichnen und Schreiben
besucht.
Die Jahresaasgaben beliefen sich auf ca. Fcs. 30000; die Lehrerbesol-
dungen allein erreichten die Summe von Fcs. 17443. Um das beständige Deficit
aufzuheben, beschäftigt man sich auch hier mit dem Plane, das Fortbildungs-
schulwesen unter die directe Aufsicht des Staates zu stellen.
Sogar Städtchen mit 5 — 10000 Einwohner bringen große Opfer zur
Förderung ihres Fortbildungsschulwesens oder der praktischen Ausbildung ihrer
Jünglinge und Jnngfrauen. Biel hat seit etwas mehr als einem Jahre sein
Technikum mit 173 Schülern, welche den Unterricht in deutscher und fran-
zösischer Sprache erhalten. Für die Uhrmacher besteht ein vorzüglich aus-
gerüstetes Atelier, in dem sie den Beruf vollständig erlernen können, nnd eine
mechanische Werkstätte nimmt — neben einem elektrotechnischen Institut —
Klektrotechniker und Mechaniker ans der Heimat nnd Fremde bereitwilligst auf.
Die ganze Anstalt, welche den Charakter einer theils mittleren, theils
höheren Gewerbeschule hat, besteht aus 4 Fachabtheilnngen: einer mechanisch-
technischen (in Verbindung mit der ühr macherschule), einer elektrotech-
nischen, einer kunstgewerblich-bautechnischen Abtheilung und einer
Eisenbahnschule.
In einem Vorcnrs werden die jungen Lente, welche bereits längere Zeit
in der Praxis gestanden, zum Eintritt in eine dieser Fachschulen vorbereitet.
Den fremden Sprachen räumt man neben sämmtlichen mathematischen und
technischen Fächern viel Zeit ein, so das« also Ingenieure und Constructeure
für Maschinenbau, Fabrikanten und Directoren von Maschinenfabriken etc.,
Werkmeister, Zeichner, Aufseher, Eleinmechaniker und Uhrmacher, Mecha-
niker, Monteure, Modellenre, Baumeister, Bauführer etc. ans diesem Technikum
hervorgehen, die in den zahlreichen Etablissements dieser Kleinstadt auch
gründliche praktische Kenntnisse sich angeeignet und deshalb schon eine relative
Tüchtigkeit in ihrem Berufe haben.
Der 1. August wird der Schweizer Jugend als Tag des Ernstes und der
Freude unvergeßlich sein, wurde er ja doch in Stadt und Land, in der ab-
gelegensten Bergschule wie an der Universität der Hauptstadt mit gleicher,
freudiger Begeisterung gefeiert, durch Reden und Gesänge, dramatische Auf-
führungen und Jagendfeste — als Gedenktag des sechshundertjährigen
Bestehens der schweizerischen Eidgenossenschaft Der Jugend be-
sonders an diesem Tage die energischen Thaten ihrer Väter vorzuführen, ihr
den Wert der Freiheit und Unabhängigkeit, aber auch der wahren Bürgertugend
klarzumachen und alt und jung, hoch und nieder zu zeigen, was wahre
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196 —
Vaterlandsliebe vermag, besonders wenn sie von der Herrschsacht and Partei-
leidenschaft der Großen bedroht wird, das war die erhebende Aufgabe von
tausend und tausend Rednern and Lehrern der Jagend and des Volkes. Ihre
Worte haben gezündet und Kindern und Erwachsenen allerorten Einsicht ver-
schart in die hohe Bedeutung dieses Wiegenfestes der schweizerischen Eid-
genossenschaft. Ob nun auch das Unhistorische des Apfelscbusses nachgewiesen
und selbst der Rntlischwur in Zweifel gezogen werden mag, noch ist das ehr-
würdige Pergament erhalten, auf welchem die Waldstädte eidlich versprachen,
mit Rath und That, Leib und Gut einander nach Kräften beizustehen in und
außer ihrer Heimat, und noch immer lauschen Jugend und Volk gerne den
patriotischen Worten dessen, der es versteht, vom Katheder oder der Redner-
büline aus, im einfachen Dorfschnlzimmer oder im Hörsaal der Akademie den
rechten Ton anzustimmen zum volltönigen Accorde der wahren, selbstlosen
Vaterlandsliebe, so, wie z. B. auch Schiller sie der gesammten deutschen Jugend
im Zauber der dramatischen Kraft einflößt. Das Häuflein freier, muthiger
Männer, die unsere Alpenrepublik begründet und befestigt haben, wurde der
empfänglichen Jugend überall als leuchtendes Vorbild vorgeführt, und die Lehre
der Freiheit, d. h. die Wahrheit, welche in der Geschichte und Sage liegt, wird
als verborgener Goldgehalt von den zukünftigen Bürgern unseres freien Landes
auch in der Erinnerung an den 1. August 1891 gehörend geschätzt und
praktisch verwertet werden, in weiser Selbstregierung und gewissenhafter
Wahrung der theuer erkauften Unabhängigkeit.
Ein Volk, das seine republikanische Verfassung — die einzige in Europa,
die sich als solche seit dem Mittelalter Ohne Unterbrechung erhielt — bei-
behalten und ihres Segens auch für die Zukunft theilhaftig werden will, muss
seine Jugend auf das hohe Gut der Freiheit durch grundliche und allseitige
Bildung vorbereiten. Das Beben alle wahren Patrioten ein. Daher auch die
erhöhten Anforderungen, Gaben und Ansprüche zu Gunsten der Jugenderziehung.
Das Volksschulwesen behauptet trotz der Ungunst der Zeit seinen ruhigen
Gang; mancherorts, wie im fortschrittlichen Basel, wird viel gethan für die
Hebung desselben nach verschiedenen Richtungen hin. So kommen uns von
dort her Mittheilungen zu über die Schnlbäder, laut welchen vom 27. Jan.
v. J. an über 4000 Bäder (Douchen) an 51 Tagen verabreicht wurden. Von
den Schülern und Schülerinnen, die von Woche zu Woche wechselten, nahmen
etwa 80 °/0 freiwillig theil. Die Einrichtungskosten stellten sich auf Fcs. 2427
die Betriebskosten auf Fcs. 5.57 per Tag oder 7 Cts. per Bad.
Seit Beginn des neuen Curses werden Versuche mit der Steilschrift
gemacht.
In vielen kleineren und größeren Ortschaften wurde in letzter Zeit die
unentgeltliche Verabfolgung der Lehrmittel beschlossen.
Auf dem Gebiete des Volksgesanges macht sich in den schweizer Schulen
eine besondere Strömung geltend, welche das Auswendigsingen einfacher
Volkslieder empfiehlt. Man hat nämlich übereinstimmend in verschiedenen
Gegenden die Wahrnehmung gemacht, dass in Familie und Gesellschaft die
Pflege des Singens thatsächlich zurückgeht, trotz der reichhaltigen Literatur
und den schönen Erfolgen an Sängerfesten etc. Ein merklicher Anlauf ist nun
gerade bei der Bundesfeier gemacht worden, indem jede Schule auch mit den
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bescheidensten Sangeskräften einige Vaterlandslieder, wie das Rtttlilied, die
Nationalhymne etc. auswendig sang und zwar mit der denkbar besten Auffassung:.
Die Landesmuseumfrage ist endlich entschieden worden und zwar zu
Gunsten von Zürich, das, central gelegen, als Statte der Kunst und Wissen-
schaft von Anfang an viele Stimmen auf sich vereinigte und auch auf jeder
Stufe des Unterrichts in den vordersten Reihen marschirt.
Die schweizerischen Hochschulen weisen eine bedeutende Frequenz auf,
nämlich 1589 immatriculirte Studenten, worunter 26 Studentinnen. Auf Zürich
entfallen 367, auf Basel 319, auf Bern 422, auf Genf 181, auf Lausanne 142,
auf Freiburg 104 und auf Neuenburg 54.
Von Zürich aus geht infolge Überbürdung der Medicin-Studirenden
die Anregung, das medicinische Stadium auf 10 Semester auszudehnen.
Des Conferenzleben entwickelt sich in den fortschrittlichen Cantonen in
freiester nnd fruchtbarster Weise, so in Aargau, Thurgau, in Zürich und Basel
und in vielen Landbezirken, wo neugewählte, strebsame und energische Collegen
den Sauerteig ihrer geistigen Anregungen auf ihre weiteste Umgebung hin
wirken lassen. Deshalb wurden in letzter Zeit von Oberbehörden mehr als je
bisher Fragen von principieller Bedeutung vor das Forum der Lehrerschaft
gebracht, und selbst anderweitige Themata, z. B. solche rein didaktischer Natur
erfreuten sich allerorten einer präcisen, aber dafür ganz praktischen Behandlung.
So z. B. hörte die gesammte Lehrerschaft der Stadt St. Gallen ein woldurchdachtes.
auf reichen praktischen Erfahrungen beruhendes Referat von Fräulein Bohl über
die Specialciasse der Schwachsinnigen, welcher die Referentin seit der
Gründung mit viel Geschick und großer Hingebung vorsteht. Solche Sonderclassen
wurden allgemein als ein Gebot der Nothwendigkeit anerkannt, und die Heran-
bildung der Schwachsinnigen, denen ja auch eine möglichst glückliche Jugendzeit
zutheil werden soll, bezeichnete man durchaus als Pflicht der Gemeinde oder
de« Staates.
Auch der zweite Verhandlungsgegenstand, das Mädchen turnen, trug
den Stempel der Schulpraxis, indem Herr Niethamer (neugewählt an die St.
Johannschule in Basel) in freiem Vortrag die Ziele und den zweckmäßigsten
Stoff des Mädchenturnen8, im Anschluss hieran in einer nahezu stündigen
Lection die Übungen selbst in seiner sechsten Classe vorführte und zwar so,
dass aller Augen mit gespanntester Aufmerksamkeit den ungezwungenen
Bewegungen der frohen Schar folgten.
Dieselbe praktische Tendenz macht sich indessen allmählich mehr und
mehr auch in Privatkreisen geltend; stellten doch kürzlich hervorragende Laien
aus eigener Initiative den nachfolgenden sehr beachtenswerten Entwurf zu
r Satzungen eines Privat-Lyceums" (Privat-Akademie) in St. Gallen zusammen:
1. Die Privat-Akademie will dem unbestreitbaren Bedürfnisse eines im
Sinne der amerikanischen Colleges auf das praktische Berufsleben gerichteten,
höheren Unterrichtes dienen.
2. Sie nimmt Schüler resp. Zuhörer (auch weibliche Externe) nach voll-
endetem 16. Altersjahre unter der Bedingung normaler Beanlagung auf.
3. Sie zerfällt in einen Vorcurs und eine akademische Abtheilung. Alle
Neueintretenden besuchen zunächst den ersteren. Letztere hat einen propä-
deutischen Charakter, indem sie in die Anfänge der Theologie, Jurisprudenz,
Staatswissenschaft und Pädagogik einführt. Besondere Curse sind für solche
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Beamte in Aussicht genommen, welche aus irgend welchem Grunde sich nicht
durch Universitätsstudien auf eine rationelle Amtsführung oder Staatsverwaltung
vorbereiten konnten und deshalb in irgend einem oder in mehreren Zweigen
(Buchhaltung, Gesetzes- und Verfassungskunde etc.) praktische Kenntnisse noch
besonders nöthig haben.
Ob eine Vorbereitung für Theologen beider Confessionen hier möglich und
das Hauptziel erreichbar sei, das wird die nächste Zukunft schon lehren. Be-
deutsam, beachtens* und nachahmenswert ist für alle Fälle die zähe Energie
und der frohe Muth, mit dem die leitenden Persönlichkeiten „den erhöhten
Volksrechten eine erhöhte politische und wirtschaftliche, practische und geistige
Leistungsfähigkeit" gegenüberstellen.
Diese praktische Tendenz scheint nun bereits auch auf das Gebiet des
höheren Unterrichts verpflanzt worden zu sein, wenigstens beweisen dies theil-
weise die Thesen, welche von einer Autorität im Zeichnen, Herrn Prof. Schoop-
Frauenfeld, in einem anf der Hauptversammlung der Schweiz. Zeichen- und
Gewerbeschullehrer gehaltenen Referate *) aufgestellt wurden und u. a. dem
Freihandzeichnen in Lehrerseminarien die Priorität einräumen, das
Zeichnen nach Natnrkörpern und Modellen obenanstellen, die Methode des
Zeichnens der obersten Classe des Seminars zuweisen und dem Wandtafel-
zeichnen die nöthige Beachtung sichern. — Ebenso befürwortet Prof. Dr.
Hunziker in begeisterten Worten die Aufnahme der Vaterlandskunde in die
gewerbliche Fortbildungsschule.
Aus der Fachpresse.
504. Der Stoff des Fortbildungsschnlzeichnens (M. Ludwig, Die
Fortbildungsschule 1891, VII). Verf. hat die allgemeine obligatorische Fort-
bildungsschule (mit 2 — 3 Jahresclassen) im Auge. Für diese stellt er im
wesentlichen folgende Regeln auf: a) „Geeignetster Stoff" das Linearzeichnen,
und zwar: Zeichnen von Constructionen , geometrischen Ornamenten und geo-
metrischen Darstellungen (?) — b) im Anschluss an a), „spätestens im 2. oder
.H. Jahre": Bemfszeichnen in vier Hauptgrnppen oder Classen (Kunstgewerbe-
treibende, Holz-, Stein- und Metallarbeiter) — c) Aufgabe des Berufszeichnens:
die Schüler sollen einfache, auf ihren Beruf bezügliche Zeichnungen verstehen
und in einem andern Maßstabe selbstständig wiedergeben lernen — d) „ein-
gehendes Besprechen mit tüchtigen Lehrmeistern bezüglich des im Zeichen-
unterricht für jeden Beruf Notwendigen."
605. Fr. W. Frikke (P. Hanke, Neue Bahnen 1891, VIII). Das
Lebensbild eines Mannes von bewunderungswürdiger Arbeitskraft, Leistungs-
fähigkeit und Ausdauer. Zusammenfassendes Urtheil: Frikkes Denken und
Streben wurzelte in der Gegenwart und war nur auf den Fortschritt gerichtet.
Was er seine ^Ilseu zu einem Freunde des Rückschritts sagen lässt: „Vor-
wärts strebe, den Blick auf edle Ziele gerichtet; zur Salzsäule erstarrt jeder,
der hinter sich blickt!" das kennzeichnet sein ganzes Wollen. Was ihm fürs
Dasein des Menschen, für die Aufgaben der Menschheit, für die Fortentwick-
*) Ausführlicheres hierüber in den von Prof. Puppikofer-St. Gallen vortrefflich
redigirten „Blattern für den Zeichen- und gewerbl. Berufsunter rieht'" Nr. 10.
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hing der Cultur nicht wertvoll erschien, das hielt er nicht des Durchdenken«
für wert. Daraus entsprang bei ihm auch die Geringschätzung für so manches
Stück Wissenschaft, das andere für wertvoll halten." „DieObjectivität, mit welcher
er bei allen Entscheidungen das Urtheil aus der Sache heraus folgert, wobei er
die verschiedenen Seiten eines Gegenstandes und alle Einzelheiten desselben
nach der Richtung aller Ideale hin beleuchtet, steht gerade7U einzig da." (Be-
fremdlich ist es, dass eine pädagogische Zeitschrift, die diesem hervorragenden
Geiste mit Recht ein ganzes Heft widmet, keine gründliche Würdigung
seiner eigenartigen „Erziebungs- und Unterrichtslehre" bringt!)
500. Ansichten über wahre Bildung nebst Erinnerungen an
alte Schulkämpfe (M. Müller, Allg. deutsche Lehrerz. 1891, 33. 34;. Äuße-
rungen eines alten Lehrers vom Geiste Wanders — eine Seltenheit in der
deutschen Fachpresse der Gegenwart. — In dem Abschnitte über „ wahre Bil-
dung" der Nachweis, dass die Bezeichnung „Halbbildung" sinnlos. — Aus den
„Erinnerungen" : „Was wir brauchen im Schulwesen, sind bessere Volksschulen
und höhere Schulen, in welchen Englisch und Französisch statt Latein und
Griechisch gelernt, und dass überhaupt im Geiste unserer Helden der Pädagogik
in allen Schulen die Hauptsache nicht versäumt wird: gute und ver-
nünftige Menschen zu erziehen, und zwar auch willenskräftige. Zur
Erreichung dieses Zieles gehören aber auch die besten Lehrer an die Spitze
des Schulwesens und die rechten Anstalten, in welchen Lehrer, wie sie sein
sollen, gebildet werden." (Dies in einer Flugschrift Müllers vom Jahre — 1858!)
507. Die Entwicklungspädagogik und der Religionsunterricht
(R. Köhler, Rhein. BL 1891, V. VI). Eine Kritik der Abhandlung von
Fr. Polack: „Der Religionsunterricht in der Erziehungsschule" (Rh. Bl. 1891,
I), welche aufs neue die hervorragende Tüchtigkeit des Verfassers — früheren
Leiters, gegenwärtig neben Sallwürk gediegensten Mitarbeiters der Rh. Bl. —
bekundet. Nachweis der Widerspräche gegen sich selbst und der gegensätz-
lichen Stellung zu Pestalozzi und Diesterweg, in die jeder geräth, welcher —
wie Polack — der Pädagogik und der Doginatik zugleich dienen will. Ver-
werfung des lutherischen Katechismus als Unterrichtsstoff. Von der Weitherzig-
keit des ursprünglichen Christenthunis und der Engherzigkeit des kirchlichen
Dogmenwesens. „Der Religionsunterricht hat alles kirchlich Dogmatische
anzuschließen." Mahnung zu mannhafter Aufrichtigkeit unvernünftigen Dogmen
gegenüber. (In einem „Nachwort " bringt der kgl. preuß. Schulinspector Polack
folgende, das Wesen des Mannes scharf kennzeichnende Vertheidigung des
Katechismus: „Er ist so kurz, vertheilt sich in 8 Schuljahren in so kleinen
Bissen, ist nach seinem Wortsinne auf biblischer Grundlage so schlicht [!!] zu
erläutern, und fasst Lehrergebnisse aus der biblischen Geschichte so knapp [!]
als „System" zusammen, dass ich ihn um keinen [!!] Preis entbehren möchte..
Znm Zeugen ruft er den bekannten Zillerianer R. Staude auf. Nebenbei erfahren
wir, dass P. den Katechismus „noch heute auf einsamen Gängen und Fahrten
oft durchbetet".)
508. Obligatorischer Religionsunterricht in der Fortbildungs-
schule? (0. Pache, Die Fortbildungsschule 1891, VII). Obwol P. seine Antwort
anf die Verhältnisse seines engeren Vaterlandes (Sachsen) gründet, ist sie doch
auch für weitere Kreise nicht uninteressant. Anlass zu dieser Meinungsäußerung
(Vortrag im Leipziger Lehrerverein) bot eine von sächs. Geistlichen abgefasste
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Petition, welche die Einführung des obligatorischen Religionsunterrichts in der
Fortbild nngsschule verlangt. — Pache stellt nun fest, „dass kirchliche Ein-
richtungen vorhanden sind, welche auch den Zöglingen der Fortbildungsschule
Gelegenheit zur Pflege ihres religiösen Lebens bieten (Besuch des Gottesdienstes;
sonntägliche „Katechiamu8unterredungenu) und dass die Fortbildungsschule selbst
redlich bemüht ist, die religiöse Erkenntnis zu fördern etc.M Somit geschehe
für die „religiöse Förderung der erwachsenen Jagend" genug-, eine weitere
Einrichtung sei nicht nöthig. Im übrigen lasse die Thatsache, dass die Jüng-
linge „durch die Confirmation in die Zahl der erwachsenen Christen eingereiht"
worden seien, die Durchführung von Maßregeln, die nur -kirchlich unmündigen
Menschen " gegenüber zu rechtfertigen ist, unstatthaft erscheinen. (Der in
diesen letzten Worten vertretene Standpunkt ist ohne Zweifel unanfechtbar.)
509. Die Methodik des deutschen Unterrichts an den Mittel-
schulen (Neudecker, Repert. d. Päd. 1891, IX). Ziele: I. Sprachrichtigkeit
— Angemessenheit des Ausdrucks und Verständlichkeit des Zusammenhangs — •
Herrschaft über die Sprache (Mittel: „Produciren — Vertiefung in Master der
Sprachgewalt*). II. Gleichzeitig: Denkzucht. (Hauptsächlich gilt es, „das
Sinnlose zu bekämpfen". „In der Gewöhnung an Gedankenlosigkeit, an Unlogik
in den untersten Classen wurzelt der leidige Hang zum unberechtigten Genera-
lisiren, zu den einfältigsten Superlativen, den vorschnellen, halbwahren Urtheilen
und Schlüssen, die uns in den oberen Cnrsen jahrein jahraus ärgern.") III. Er-
schließen des Verständnisses für das Wesen der Dichtkunst und Einführung in
die Literatur auf die Weise, „dass die Beschäftigung mit ihr zum bleibenden
geistigen Lebensbedürfnis würde". (Die „Wirkung" einer Dichtung hat der
Lehrer durch die „recht sachliche Analyse" zu „vermitteln".) — Verf. schreibt
über den deutschen Unterricht in einem Stile, der von leicht vermeidlichen
Fremdwörtern wimmelt.
510. Einführung in die Geschichte der deutschen Sprache
(K. Kinzel, Zeitschr. f. d. deutsch. Unterr. 1891, VII). „Geeignetste Classe 44 :
Obersecunda. Form: Freie Unterhaltung. Zweck: Uebersichtliche Zusammen-
fassung des auf früheren Stufen erworbenen Stoffes und Einführung in das
Verständnis der sprachlichen Vorgänge. Weg: Gegenwärtiger Zustand der
deutschen Sprache (Mnndart und Schriftsprache; Unterschied zwischen Nieder-
deutsch und Hochdeutsch [Verf. arbeitet an einer Berliner Schule]; Mittel-
deutsch; große Gegensätze zwischen ober- und niederdeutschen Mundarten). —
Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache (übersichtliche Darstellung der
Entwicklung) — von den Perioden der Sprachgeschichte (Zeitabschnitte; Ab-
grenzung der Gebiete) — vorgeschichtliche Verhältnisse — die wichtigsten
Erscheinungen unseres sprachlichen Lebens — als Nachtisch: Besprechung
der deutschen Personennamen. (Das Ganze auf 12 Stunden berechnet.)
511. Plan für die Heinia tsknnde (Deutsche Schulpraxis 1891,
38. 39). «Aus der Praxis einer Arbeitsconferenz." Bezüglich der notwendigen
Wanderungen wird vorgeschlagen „9 größere Ausgänge von etwa 3 — 4 stündiger
Dauer zu unternehmen; wenn nöthig können zwischen dieselben noch einige
kleinere eingeschoben werden. Auf den 9 Ausgängen ließe sich ein Kreis von
etwa l1/, Stde. Halbmesser um den Heimatsort herum erledigen." In gemein-
samer Arbeit wird von der Conferenz erörtert, welche erdkundliche, natur-
wissenschaftliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche Begriffe, Lehren, Beziehungen
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die Heimat veranschaulicht oder darstellt. Der geplante Stoff wird auf die
Ausgänge vertheilt, einer der letzteren als Beispiel vorgeführt. (Bei dieser
Gelegenheit erfahren wir, dass die wackere „Arbeitsconferenz", auf deren
durchweg tüchtige Arbeiten wir hier schon mehrfach hingewiesen, die sich aber
bisher immer in den Schleier der Anonymität gehüllt, nahe bei Zwickau i. S.
haust.)
512. Barock, Rococo undZopf im heutigen kunstgewerbl. Unter-
richt (Moser, Zeitschr. f. gewerbl. Unterr. 1891, IV). „Die kunstgewerblichen
Schulen oder Classen können sich dem mächtigen Vordringen des Barock-,
Rococo- (eventuell auch Zopf-) Stiles nicht widersetzen durch grundsätzliches
Nichtbeachten oder Nichtwollen, sondern sie sind es dem modernen Kunst-
gewerbe schuldig, jene Stile auf Grund vorurteilsfreier Würdigung in be-
schränktem Maße zu pflegen. Da aber ihr Charakter ein höheres persönliches
Kunstvermögen des Schülers bedingt, sind sie als ein reservirtes Gebiet der
Gutbegabten zu betrachten, in welches diese einzuführen sind." — (Der Künste
kritiker C. Gnrlitt sagt: „Wir kennen sehr wol die Mängel und Schwächen des
Barock und Rococo, aber wir kennen auch ihre unvergleichlichen Schönheiten.
Wir wissen, dass das 17. und 18. Jahrhundert keine „ Verfallzeit u waren,
sondern eine eigenartige, hochbedeutende Kunstblüte schufen.")
Seit einiger Zeit erscheint bei G. Rüdlinger in Arbon (Schweiz, Thurgau)
eine „Wochenschrift für Kindergärtnerinnen, Mütter und Lehre-
rinnen an Arbeits- und Volksschulen", Preis halbjährlich Fr. 1.80.
Die Verlagshandlung von Karl Klinner in Leipzig versendet soeben da«
erste Hefte von: rSt. Cacilia. Monatsschrift für katholische Kirchen-
musik.11 Redacteur Jakob Gruber in München, Preis mit Musikbeilagen
M. 6.—, ohne solche M. H.20 jährlich.
Die Herren Franz und Stephan Grnmbach in Karlsbad-Drahowits ge-
denken mit Beginn des nächsten Jahres eine Monatsschrift unter dem Titel
„Freie Bildungs-Blätter-1 zum Preise von 1 fl. 50 kr. jährlich heraus-
zugeben. Gründung von Volksbüchereien, Volksbildnngs- und Lesevereinen,
Massenverbreitung guter Schriften und volkstümlicher Aufsätze soll Zweck
des Blattes sein.
Soeben erschien der erste Band der 14. Auflage von Brockhaus'
Conversationslexikon. Mit der neuen Auflage erlebt dieses älteste und
angesehenste Werk seiner Art das 100jährige Jubiläum, und die Verlagrs-
handlung bietet im Verein mit 350 Mitarbeitern alles auf, um dasselbe in Text
und Ausstattung auf die Höhe der heutigen Wissenschaft und Kunst zu stellen.
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Literatur.
Dt. Theobald Zie^ler, Professor der Philosophie und Pädagogik an der Uni-
versität Straßburg, Die Fragen der Schulreform. Zwölf Vorlesungen.
Stuttgart 1891, Göschen. 176 S. 2,50 Mark.
Wer jahraas jubrein die Hochflut der pädagogischen Tagesliteratur zu
beobachten und zu sondiren verbunden ist, der muss gestchen, dass diese Gat-
tung unseres Schriftthuins im Ganzen einen recht traurigen Eindruck macht
und zum weitaus größercu Theil aus Machwerken besteht, die man am besten
schweigend zur Seite legt. Um so erfreulicher sind die weit selteneren Er-
zeugnisse wahrhaft berufener Arbeiter auf diesem Gebiete, von denen vor-
stehender Titel eines namhaft macht. Referent muss dieses Buch das beste
nennen, welches ihm seit Jahren auf dem Markte der pädagogischen Neuheiten
begegnet ist. Nicht als ob er in demselben eine endgiltige Losung jeder ein-
zelnen der schwebenden Reformfragcn laude, oder jedem Satze dieser zwölf
Vorlesungen zustimmte; aber es ist in diesem Buche alles vereinigt, was den
pädagogischen Schriftsteller constituirt: Wissenschaft, Geist, Charakter und Stil.
Wie schon der Titel besagt, beleuchtet Herr Professor Ziegler die „Fragen
der Schulreform11 und zwar bezüglich der höheren Schulen, wie solche seit
längerer Zeit auf der Tagesordnung stehen und vor Jahresfrist auf der be-
kanuten Berliner Conferenz eine ausführliche Erörterung erfahren haben. Den
Verhandlungen und Resolutionen dieser Conferenz wird allenthalben Beachtung
und eine strenge, aber gerechte Kritik gewidmet. Zugleich nimmt Verfasser
auch Stellung zu sonst igeu Äußerungen zeitgenössischer Pädagogen, sofern
sie sich mit den schwebeuden Rclormfragen befasst hüben. Wenn somit das
Buch keineswegs einen blos akademischen Charakter tragt, sondern frisch und
mit blanken Waffen an actuelle Probleme herantritt und auch der Polemik
Raum gewährt: so würde man es doch schief bcurthcilen, wenn man es nur
als eine Gelegcnheitsschrift von ephemerer Bedeutung bezeichnen wollte. Viel-
mehr ist der Kern desselben ein allgemein pädagogischer von bleibendem
Werte; es handelt sich Herrn Professor Ziegler hauptsächlich um Feststellung,
Erläuterung und Verteidigung jener leitenden Grundsätze über Erziehung und
Unterricht, welche über allem Tagesstreitc erhaben und in demselben maß-
gebend sein müssen. So nähert sich dieser Cyklns akademischer Vorlesungen
sehr einem kurzgefaßten Lehrbuch der Pädagogik für höhere Schulen, und
man kann nur wünschen, dass er als solches recht eifrig studirt werden möge,
besonders von Candidaten des Gymnasial-Lchramtes und von jüngeren Lehrern
höherer Schulen aller Art.
Die erste Vorlesung unter dem Titel: „Klagen und Anklagen. Die Ber-
liner Konferenz1* — führt unmittelbar in den gegenwärtigen Stand und Zustand
des höheren Schulwesens in Deutschland und damit in die schwebenden
Streitfragen und die Versuche zu deren Lösung ein, wobei selbstverständlich
die Berliner Conferenz nicht umgangen werden konnte. Von besonderem Werte
ist dabei der Kückblick in die Schubgeschichte, aus welchem hervorgeht, wie
sich die heutigen Zustände und damit eben auch die Probleme und Streitig-
keiten entwickelt haben. Vermisst haben wir unter den bewegeuden Factoren
der Sehulent Wickelung und des Schulkampfes die modernen Sprachen.
Die zweite Vorlesung, über „Erziehen und Unterrichten'*, hält Referent für
das vorzüglichste und wertvollste Stück des ganzen Buches; jeder Lehramts-
P«*U«ogium. U. Jahr*. Heft III. 15
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candidat sollte sie dreiinal studiren und beherzigen uud duuu jedes Jahr auts
neue gründlich erwägen. Denn sie enthält das A und () aller Schnlpädagogik,
da», was jeder Lehrer unbedingt und zu allererst wissen und fühlen muss.
Auch hier knüpft Verfasser zunächst an eine Zeitströmung, an die aus Her-
bart'schen Kreisen so oft erschallende Forderung an, das« die Schule mehr er-
ziehen als unterrichten, der Unterricht jedenfalls ein ..erziehender" sein müsse.
Dem gegenüber sagt er: „Die Schulen und vor allem die höheren Schalen sind
Uuterrichtsanstalten : das ist für mich ein so Selbstverständliches und lTn-
widersprechliches, dass ich darüber gar nicht viele Worte machen kann. Es
ist nur eine Wirkung und Folge von der Macht der Schlagwörter und Phrasen
in unserer Zeit, dass man das verkannt hat und darüber streitet; und überdies
ist die Herbart'sche Pädagogik, welche von Haus aus Hofmeistercrziehung und
Schulunterricht nicht genügend unterschieden und auseinander gehalten hat,
an diesem ganzen unseligen Streit und Missverständnis initbetheiligt." Und nun
folgt ein so meisterhafter, schlechthin evidenter, geradezu classischcr Nachweis
über die erziehliche Macht des Unterrichtes als solchen, der Schulen als Lehr-
anstalten, wie er meines Wissens auf so engem Räume in der ganzen pädago-
gischen Literatur noch nirgends erbracht wurde.
Die nun zunächst folgende dritte Vorlesung unter dem Titel: „Der Sturm
auf die classiseben Sprachen" — dürfte auch bezüglich ihres pädagogischen
Gehaltes und Gewichtes der zweiten am nächsten zu stellen sein. Sie bringt
hauptsächlich eine Darlegung des Bildungswertcs der altclassischen Sprachen
und Literaturen, woraus sich dem Verfasser die praktische Folgerung ergibt:
„Eine Herabsetzung der Unterrichtsstunden in den alten Sprachen im Ganzen
halte ich im Gegensatz zu den Conferenzbeschlüssen nicht für möglich, wenn
die Einführung in die classischen Schriftsteller wirklich noch gelingen und
fruchtbar gemacht werden soll." Referent rechnet, wie schon angedeutet, die
hier vorliegenden Ausführungen zu den gelungensten und schätzenswertesten
des ganzen Buches und ist auch mit der citirten Folgerung einverstanden; er
bedauert aber, dass Herr Professor Ziegler nicht auch den modernen Sprachen
und Literaturen, sofern sie in den höhereu Schulen berücksichtigt werden, eine
gleiche didaktisch-pädagogische und allgemein culturclle Würdigung hat ange-
deihen lassen. Dies ist in der That eine fühlbare Lücke in seinen Vorlesungen,
welche wir gleich hier constatiren wollon. Gestreift sind allerdings die modernen
Sprachen und Literaturen an mehreren Stellen des Buches (in der eisten, dritten
und auch in späteren Vorlesungen) : aber eine der hier gebotenen analoge Be-
leuchtung haben sie nicht erfahren, und infolgedessen ist auch bezüglich der
künftigen Gesumm torganisation deB höheren Schulwesens eine gewisse Unsicher-
heit geblieben.
Nun folgt eine Vorlesung über die Frage: „Bildungs- Einheit oder Mannig-
faltigkeit?" Es mögen aus derselben zur Bezeichnung der Stellung des Ver-
fassers einige Stellen hier Platz finden: „Es ist nicht noth wendig, dass alle
Griechisch und Lateinisch lernen, uud ebenso wenig nothwendig, dass, um ge-
bildet zu heißen, ein einzelner es gelernt habe: aber dass es gelernt werde,
und dass eine Stätte da sei. wo ein erheblicher Bruchtheil unserer gebildeten
.lugend es lerne, das ist, wie schon gesagt, absolut nothwendig." . . . „Die
Einheit der Vorbildung ist nicht nur keine Nothwendigkeit , sie wäre sogar
bedauerlich und schädlich." . . . „Die verschiedenen Stände und Kreise brauchen
einander, um sich gegenseitig zu ergänzen, und darum braucht unser Volk
Bildungsmannigfaltigkcit, nicht Bildungseinheit." . . . „ Antik und modern,
historisch und naturwissenschaftlich — , die eine Schule zeige diese, eine andere
jene Art zu denken und die Welt aufzufassen, damit es in unserem Volke nie
an Vertretern dieser verschiedenen Bildungswege und Weltanschauungen fehle.
Und ich sehe darin auch einen Gewinn für die Praxis. Wenn am selben grünen
Tisch unserer leitenden Kreise Männer sitzen, von denen der eine antik und
der andere modern, der eine historisch durch das Studium der Geisteswissen-
schaften, der andere empirisch durch die Naturwissenschaften vorgebildet und
geschult worden ist, so fürchte ich davon keine babylonische Sprachverwirrung,
sondern ich hoffe vielmehr umgekehrt auf eine fruchtbare gegenseitige Er-
gänzung, auf eine um so allscitigerc Würdigung der gerade in Frage stehenden
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— 203 —
Angelegenheiten und, was ich am höehsten anschlage, weil ich es für das
Merkmal höchster Bildung halte, auf verständnisvolles Anhören und freundliche
Duldsamkeit auch abweichenden Ansichten gegenüber." — Wieder 6timiut Re-
ferent zu; aber die beigefügte Folgerung: -Mit diesen allgemeinen Erwägungen
ist für mich zugleich schon die Krage der Einheitsschule erledigt und natürlich
im verneinenden Sinne entschieden" — kann er nicht für geboten halten.
Vielmehr sieht er in der Einheitsschule das richtige Ziel «1er jetzigen Be-
wegung: sie ist eine Forderung der administrativen Gerechtigkeit und ein
Gebot der Pädagogik in dem von Prof. Ziegler soeben selbst bezeichneten Sinne.
Nur darf sie nicht, wie es die landläufige Agitation will, auf L'niform, Schablone
und Zwang hinauslaufen, sondern sie muss der individuellen Freiheit Kaum
geben, wie sie Zieglcr selbst so schiin detinirt und so kraftvoll vertritt.
Doch wir müssen der Schranken einer Buchanzeige gedenken und wollen uns
daher bezüglich der übrigen Vorlesungen kurz fassen. Die Titel derselben
lauten: „Das Realgymnasium und das Gymnasialmonopol. Die Realschule und
der Einjährig-Freiwilligen-Schein. Der staatliche Lehrplan und die Freiheit
der Bewegung. Concentration und Überbürdung. Geschichte und Deutsch.
Turnen und Spielen. Schule und Haus. Das Abiturientenexamen und der
Schulrath. Lehrerbildung und Lehrerstellung." Auch diese Themata sind mit
gleichem Scharfblick, wie die früheren behandelt und haben dem Verfasser zu
einer Reihe glänzender Ausführungen Anlass geboten, in denen zugleich
eine reiche Erfahrung auf dem Gebiete der Schul- und Hauserzichuug die
fruchtbarste Verwertung gefunden bat. Dass mau auch hier in einzelneu
Punkten von den Anschauungen des Verfassers abweichen kann, thut seinen
allenthalben belehrenden und fesselnden Ausführungen keinen Eintrag. Etliche
der schönsteu und bedeutsamsten Stellen aus denselben mögen noch an einem
anderen Orte dieser Blätter wortgetreu wiedergegeben werden. Hier seien
nur einige mit der Schulpädagogik in engstem Zusammenhange stehende
Partien des Buches besonderer Aufmerksamkeit empfohlen, namentlich die treff-
liche Zeichnung des „Speeialistcnthums" mit seineu „dünucn Virtuositäten" und
schädlichen Ausartungen des Fachlehrersystems: ferner die brillante Beleuch-
tung der hohen Phrasen von der „Concentration des Cnten-ichtes", welche
»ammt den zugehörigen didaktischen Versuchen als unpädagogische, dilettan-
tische und gewaltsame Schnurrpfeifereicu mit einer guten Dosis von Sarkasmus
biosgelegt werden; nicht minder das schöne Capitcl von der Bildung und
Stellung der Lehrer an höhercu Schulen, in welchem bezüglich der ersteren
namentlich auch das pädagogische Element gehörig betont wird. Auf die
Frage, ob dieses überhaupt nöthig und nützlich sei, gibt Ziegler eine ebenso
einleuchtende als maßvolle Antwort, welche er mit den Worten einleitet: „Ich
glaube nicht, dass die Fraee jemals verneint worden wiire, wenn nicht das
berechtigte Verlangen nach einer pädagogischen Vorbereitung und Anlernuug
alsbald übertrieben und dieselbe unglückscligcrwcisc sofort in die engen spa-
nischen Stiefel einer Schablone, in den Formalismus der Herbart'schen Päda-
gogik eingeschnürt worden wäre."
Doch wir müssen zum Schlüsse eilen und erwähnen daher nur noch, dass
Prof. Zietrler seinen zwölf Vorlesungen, in welchen, wie oben gesagt, vielfach
auf die Berliner Confereuz Bezug genommen ist. die derselben vorgelegten
Fragen des Unterrichtsministers, ferner die au sie gestellten Fragen des Kaisers,
endlich die Beschlüsse der Confereuz beigefügt hat, was um der Sache willen
zweckmäßig war und vielen Lesern erwünscht sein wird.
Die vorliegenden akademischen Vorlesungen sind sehr geeignet, das allmählich
etwas matt gewordene Interesse an solchen Productionen wieder aufznfrischeu.
Ihre stetige Fühlung mit dem wirklichen I, ben, ihr immer geradeaus in
media* res eindringender Gedankengang, ihre frische, kernige, freimüthige Sprache
fesseln und erfreuen den Leser von Anfang bis Ende; durchaus ernst und ge-
diegen im Gehalte, fließend und ungekünstelt in der Diction, bringen sie neben
gründlicher Gelehrsamkeit auch den gesunden Menschenverstand und einen köst-
lichen Humor zum wirkungsvollsten Ausdrucke. Wenn man dieses Buch durch-
gelesen hat, bedauert man nur eins, nämlich, dass es schon zu Hude ist. Dann
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dankt mau dem Verfasser und beglückwünscht die Universität Straßburg zu einer
solchen Lehrkraft, die deutsche Pädagogik zu einem Bolchen Vertreter. Ü.
Ellgelmailll, Bilderatlas zu Homer. Leipzig, Seemann. 3 M. 60.
Derselbe, Bilderatlas zn Ovids Metamorphosen. Ebenda. 2 M. 60.
Bei der Bcurtheilung dieser Bilderatlanten wird man vorerst die Frage be-
antworten müssen: Kür wen sind sie bestimmt? Wem sollen und wem können
sie dienen nach ihrer Art , ihrem Inhalte? Der Herausgeber dachte sich die
Jugend als Benützcr, dachte sich sein Werk als eine Art Schulbuch. Das
dürfte es aber kaum werden, wol aber ein Werk für Krwachsene, für Freunde
der Archäologie, für den Lehrer in erster Linie, der mit Homer und Oxid sich
beschäftigt; für all diese kann es ein Werk der Belehrung, eine Quelle reinsten
Genusses werden. Diese wird es intereasiren , zu sehen, wie die Alten ihren
Homer und Ovid sich illustrirteu, welche Scencn sie mit Vorliebe lasen,
welche die Künstlcrphuntasic am meisten anregten, wie sie sich dies und
jenes ausmalten u. s. w. Ein tieferes Verständnis der genannten Dichtungen
wird dagegen die Jugend aus der Betrachtung der meisten der in den
Bilderutlanteu enthaltenen Abbildungen kaum ziehen, ja dcT Gcnuss Homers
und Ovids kann durch die Betrachtung der Bilder ihr vielleicht geschmälert
werden. Der Jugend werden nämlich die zumeist der älteren Zeit der
Kunst angehörigen Bilder wie eine Gurieatur vorkommen, wie eine Parodie
dessen, was sie sich vor der Betrachtung des Atlas blos auf Grund der Leetüre
vorgestellt hat. Dort ein Achill, ein llector in aller Schöne, hier ein Männchen
in steifer Haltung mit dem vertracten Spitzbart und dem archaischen höhni-
schen, grinsenden Lächeln um den Mund und anderen Dingen, komisch anzu-
sehen, den Alten nicht anstößig, wol aber unserer Jugend. W.
Velhagen und Kinsings .Sammlung deutscher Schulaasgaben, Lief. 1">:
Das Nibelungenlied, übertragen von Legerlotz; 33: Goethes Leben und
Werke von Heinemanu; 37: Homers Ilias, bearbeitet von Kern;
39: Schillers Leben von Lyou; 40: Klopstocks und Wielands Leben
von Heinemanu und Boxberger; 42: Das deutsche Volkslied, Answahl von
Matthias; 44: Auswahl kleinerer Schriften Luthers von Schöppa; 48: Her-
ders Leben. Lessings Leben von Franz und Lösclthorn. (Preis des Band-
chens geb. ca. 60 — 75 Pf.)
Die eben genannten Bändelten übermitteln den Schülern unserer höheren
Schulen vier hervorragende Litcraturwerke und die Biographien unserer sechs
Classikcr. Die Litcraturwerke sind selbstverständlich in einer der Schule ent-
sprechenden Weise gekürzt wiedergegeben: Episoden oder die Sitte verletzende
Stellen sind ausgeschieden, desgleichen z.B. in den Schriften Luthers alles, was
über das Fassungsvermögen oder den Interessenkreis der Jugend hinaus geht.
Su ist eine Lcctürc hergestellt, die man den Schülern unbesorgt in die Hand
geben kann und die sie mit Gcnuss und Nutacn lesen werden, Anmerkungen
erläutern sachliche oder sprachliche Schwierigkeiten des Textes oder fördern
sonst das Verständnis des Gelesenen, indem sie es als Glied einer Kette be-
trachten und die Stellung zum Ganzen erörtern. (Z. B. das Volkslied und
seine Typen.)
Die Biographien sind zweifacher Art. Die Schillcrbiographie Lyons fasst
die Aufgabe anders als die Biographien der anderen Glassiker. Lyon schildert
nämlich Schiller vornehmlich als Menschen; seine Darstellung wird immer
kürzer, je mehr er sich der Schilderung des Weimarer Aufenthaltes nähert,
und ist am ausführlichsten bei der Vorführung der Leidensjahre des Dichtere.
Der Dichter Schiller auf dem Höhepunkte seines Sehaffens kommt so nicht
recht zur Geltung. Lyon mag darauf gerechnet haben, dasa die Leser seines
Büchleins die Einzelausgaben der Schiller'schen Dramen in der VeUiagen-Kla-
singschen Sammlung in den Händen haben werden, aus deren Einleitungen
sie das Nähere über die Entstehung der Werke, ihre Bedeutung u. s. w. er-
fahren. — Die Biographien der anderen Classiker betrachten ihr Thema ent-
weder so, das* sie mehr den Menscheu oder mehr den Dichter in den Vorder-
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grund rücken und setzen, wie z. B. Heinemanu in der tioetlio-J^io^mphie,
durch die Form und Betrachtungsweise gereiftere .Schüler voraus, indem sie
z. B. öfter über (ioethe spricht, als von Goethe erzählt. Ktwas populärer,
etwas mehr Jugendschrift ! sowilushet man bei der Lectttrc öfter. Das erkennt
man aber um so williger au, data die Verfasser insgesammt mit dem neuesten
Stand der Forschung vertraut sind. W.
Otto Ernst, Aus verborgenen Tiefen. Novellen nnd Skizzen. Hamburg
1891, Conrad Kloß. 244 S. 3 Mark.
Dass Otto Ernst ein reich begabter Lyriker ist, hat er durch seine „Ge-
dichte" bewiesen und ersieht man abermals aus dem schönen Widmungsgruße,
welcher seinem neuen, uns eben vorliegenden Buche vorgesetzt ist. Dieses nun.
eine Reihe von Bildern aus dem Leben der Gegenwart, beweist deutlich, dass
er auch in der Sprache der Prosa die gleiche poetische Begabung zu entfalten
versteht. Seine „Novellen und Skizzen1' malen uns mit photographischer Treue
Personen, Cuaraktcmige, Gewohnheiten, Bestrebungen, Zustände und Schicksale,
wie sie die gegenwärtige Gesellschaft, namentlich in ihren mittleren und untereu
Schichten aufweist; sie sind ein naturwahrer Spiegel des socialen, besonders
des häuslichen Lebens in seiner mannigfaltigen Verschiedenheit und charak-
teristischen Bedeutung selbst im Kleinen und Einzelnen. Bei all dieser realisti-
schen (oder naturalistischen) Genauigkeit und Trefflichkeit im Schildern und
Erzählen spürt man jedoch überall den Zug ins Allgemeine, Ideale, das sinnige
Belauschen des Menschen in seinem Wesen, seinem Stande, seinen Gebrechen
nnd Vorzügen, seinem typischen Gepräge im Thun und Lassen, in Lust und
Leid. Wenn uns der Dichter im Leben der Gegenwart mehr Schattenseiten,
mehr Betrübendes, ja Empörendes, als Lichtpunkte und erhebende Züge vorzu-
führen weiß, so liegt dies wol an der Natur des Objectes, das er vorführt,
eben am Leben selbst. Dass er uns aber allenthalben zur lebendigsten Theil-
nahme zu bewegen versteht und mit dem scharfen Blicke des Menschenkenners
die Wärme des fühlenden Herzens zu vereinen weiß, dass ist sein Verdienst,
die Frucht seines tiefen und reichen Gemitthes , dargelegt in mustergiltiger,
oft schneidiger, aber stete dem Gedanken adäquater Sprache. M.
Ans unserer Väter Tagen. Bilder aus der deutschen Geschichte. I. An
der römischen Grenzmark. Geschichtliche Erzählung von R. Bah mann.
Illustrirt von Maler F. H. Walther. 143 Seiten. IL Deutsche Göttersagen.
Für die Jugend und das Volk erzählt von Herinine Möbius. Illustrirt
von Maler E. H. Walther. 138 Seiten. III. Im Strome der Völkerwanderung.
Von Reinhold Rahmann. Illustrirt von Maler E, H. Walther. 13(i Seiten.
Verlag von Alexander Köhler in Dresden und Leipzig.
Nr. 1 beginnt mit den Einfällen der Römer unter Cäsar in Deutsehland und
schließt mit der Hermannsschlacht. Nr. 2 schildert die altdeutsche Götterwelt
mit ihren Mythen und Sagen. Nr. 3 entwirft ein Bild der Bewegung unter
den germanischen Stämmen zur Zeit der Völkerwanderung. Die Verfasser,
Herr Bahmann und Frau Möbius, zeigen sich ihrem Stoffe gewachsen und
bringen denselben in schöner und leicht fasslicher Sprache zur Darstellung.
Die beigegebenen Bilder tragen wesentlich zur Belebung des Inhaltes bei.
Wer für die reifere Jugend, etwa zur Weihnachtszeit oder bei anderen fest-
lichen Gelegenheiten eine gute Leetüre sucht, dem sind diese Schriften bestens
zu empfehlen. Jedes Bändchen, schön ausgestattet und gebunden, kostet nur
1 Mk. M.
Servns, Dr. HL, Prof. in Berlin, Die analytische Geometrie der Ebene
für höhere Schulen. 128 S. Fig. im Text. Leipzig 18W), Teubner. 1,60 M.
Der Verfasser hat sein Buch geschrieben, weil ihm kein anderes bekannt
war, welches in gleich „ausfuhrlicher und einfacher Weise" denselben
Lehrstoff zur Darstellung brächte. — Nun, wir wären in der Lnge, sehr viele
Bücher zu nennen, denen die angegebenen Eigenschaften im höheren Grade
beizulegen sind als dein vorliegenden. Mit der Ausfiilirlichkeit kann mau
übrigens noch einverstanden sein, es fehlte uns wesentlich nur die Verbindung
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— 206 —
mehrerer Geraden, um wenig.iteus beispielsweise die aus der Euklid'scken
Geometrie bekanuteu Eigenschaften der Dreiecke analytisch abzuleiten; auch
kauu man ohne zu große Weitläufigkeit den Begriff der Directrix bei den
Kegelschnittsliuien einführen und erörtern. Was aber die Faßlichkeit der
Darstellung betrifft, so läast sie sehr viel zu wünschen übrig, ja es muss
geradezu gesagt werden, dass der Verfasser die charakteristische Eigeuthüm-
lichkcit der nualv tischen Geometrie verwischt. Es ist doch die analytische
Geometrie uichts Hudens, als die Anwendung der Algebra auf die Geometrie.
Wir setzen die Gleichung der Geraden und die Gleichung einer Curve, ver-
binden dieselben algebraisch und haben sodann das Ergebnis der Rechnung
geometrisch zu deuten; dies ist der Vorgang, welchen die Schüler kennen
lernen und sich aneigueu sollen.
Ganz anders aber verfährt der Verfasser; er docirt bei der Parabel: Trage die
Abscisse vom Scheitel in der entgegengesetzten Richtung auf. so erhältst du deu
Durchschnitt der Tangente mit der Abscissenachse; ebenso heißt es hei der
Hyperbel und Ellipse: hulbire den Wiukel der Lcitstrahlen, beziehungsweise
den Außenwinkel, und darauf folgt eine weitläufige Beweisführung, etwa wie
wenn man die Lehre von den Kegelschuittslinieu ohne Kenntnis der analy-
tischen Geometrie auf synthetischem Wege behandeln wollte. — Durchaus nicht
zur Vereinfachung des Lehrganges trägt es ferner bei, dass der Verfasser die
Kegelschnittslinien als jene Curven definirt, welche einer gewissen Gleichung
entsprechen. Infolge dieser Definition wiTd die Ableitung der verschiedenen
Eigenschaften dieser Curven viel weitläufiger und verwickelter, als wenn man
vou der Gleichheit beziehungsweise Constanz der Summen und Differenzen ge-
wisser Abstände ausgeht.
Der Verfasser erweitert übrigens seinen Lehrstoff über den Titel des Buches
hinaus und lehrt die Berechnung des Rauminhaltes vom dreiachsigen Ellipsoid
und der Rotationskörper aus Parabel und Hyperbel. Dazu benutzt er ganz
unvermittelt die durch Wittstein bekannt gewordene Formel für den Raum-
inhalt des Prismntoides. So ganz auf guten Glauben sollte man Schülern,
welche di r Abgangsprüfung nahe stehen, mathematische Wahrheiten denn doch
nicht bieten. In der That lässt sich an das Prineip von Cavalieri an-
knüpfen, wie man dies bei Hu ebner nachsehen kann.
Es kann auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Mehrzahl der Figuren un-
richtig gezeichnet ist: gleich die erste Parabel auf der Seite 25 hat am Scheitel
eine falsche Krümmung, weil sich dort ein Schnabel findet. Von den räum-
lichen Gebilden hat nur die Zeichnung des Ellipsoides eine richtige Gestalt,
alle übrigen Figuren räumlicher Gebilde sind unrichtig, weil alle Curven als
Zweiecke, das heißt mit Schnabel auftreten, während die darstellende Geometrie
doch lehrt, dass die Projectionen der Kegelschnittslinien in Ebenen keine
Weudepuukte besitzen können. Obwol sich dieser Mangel in einer sehr großen
Anzahl von Lehrbüchern wiederfindet, so wäre es doch Zeit, denselben abzu-
stellen. Mindestens den Docenten der Hochschulen sollten die Grondlehren
verwandter Wissenschaften nicht fremd sein.
Zum Schlüsse des Buches finden sich an 300 Aufgaben zur Einübung des
vorgetragenen Lehrstoffes. Im übrigen wollen wir ja nicht verkennen, dass
dieses Werk mit viel Fleiß abgefasst ist, sn zum Beispiel wird die Gleichung
der Geraden auf dreierlei Art vorgeführt , und da sodann von den Tangenten
des Kreises die Rede ist, wählt der Verfasser zum Vergleiche jene Formel der
Geraden mit Geschick, welche die Beziehung zwischen Gerader und Kreis
am klarsten ergibt. Auch das über coujugirte Durchmesser Vorgetragene ist
recht lehrreich, nur stoßen wir auch hier wieder auf die dem Geiste der ana-
lytischen Geometrie durchaus entgegenstehende Fassang in synthetische Form.
H. E.
Heiltschel E., weil. Seminarlehrer in Weißenfels, and E. Jiinicke, Seminar-
lehrer in Halberstadt, Rechenbuch für die abschließende Volksschule, in
Ii Heften il 40 Pf. 5. Anfl. Leipzig 1890, Merseburger.
Die vorliegende Ausgabe wurde vou C. Eicke und G. Limpert besorgt
uud dabei neuesten Wünschen und Strebungen Rechnung getragen. Das
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- 207 -
erste Heft enthält in zwei Stufen die Zahlrnräumc 10 und 20, wobei in
jedem die Rechnungsarten gesondert auftreten. Das /.weite Heft enthalt den
Zahlenraum bis 100 ohne Abstufung und mit Sonderung der Rechnungsarten.
Pas dritte Heft erweitert den Zahlenraum bis 1000 und bis zu den Hun-
derteln und macht mit den einfachsten Brüchen bekannt. Das vierte Heft
enthält den unbegrenzten Zahlonraum uud das Rechnen mit mehrfachbenannten
Zahlen. Das fünfte Heft lehrt das Rechnen mit gemeinen und Decimalbrüchen,
das sechste endlich die bürgerlichen Rechnungsarten und Raumbcrcchnungcn.
Referent ist zu sehr von dem Nutzen der Grube 'sehen Methode durch eigene
Erfahrung überzeugt, als dass er für einen anderen Vorgang ein empfehlendes
Wort zu sagen vermöchte. H. E.
Latitar, Lucas, Der Reclienunterricht in der Volksschule, methodische
Anleitnng. 79 S. Laibach 1890, v. Kleinmayr & Bamberg. 1 M.
Der Inhalt beiasst sieh mit der Anleitung zum Gebrauche des dritten und
vierten Rechenbuches, das ist im Zahlenraume bis 1000 und im unbegrenzten
Zahlcnraumc; es sind also ohne Zweifel Rechenbücher vom Verfasser veröffent-
licht, welche uns jedoch unbekannt geblieben sind, und zu deren Gebrauch
vorstehende Anweisung zu dienen hat. Im allgemeinen kann man mit den
Ausführungen des Verfassers wol einverstanden sein; es hat uns nur sonderbar
geschienen, dass diese Methodik mit dem dritten Schuljahre beginnt. Wo
bleiben die beiden früheren, ganz besonders das erste, dessen Methodik den
eigentlichen Angelpunkt bildet? während ja doch alles Folgende größtenteils
Gedächtnissachc und Normalvcrfahren ist. Im einzelnen müssen wir ausstellen,
dass im dritten Schuljahre die Subtraction als Abziehen und erst im vierten
Schuljahre mittels Hinzuzählen gelehrt wird. Den Schülern wird hiermit die
Aufgabe durch ein ganz unnützes Umlernen erschwert. Man kann auch schon
im ersten Schuljahre die Subtraction mittels Zuziihlens lehren, und es ist kein
Grund erfindlich, weshalb Uberhaupt eine andere Art zu lehren sei. — Natürlich
kann dann auch erst im vierten Jahre die Division ohne Aufschreibung der
Theilproducte gezeigt werden, was gleichfalls einem unnöthigen l'mlcrncn
gleichkommt. — Das Beispiel, an welchem der „Zusammengesetzte Dreisatz-
erläutert wird, ist so ungeschickt gewählt, dass die Unbekannte mit der gleich-
namigen Bekannten auch numerisch gleich ist. H. E.
S<*hader, D. F., Prof. in Hamburg, Leitfaden für den Reclienunterricht in
den unteren Classen höherer Lehranstalten nebst Aufgabensammlung. I. Th.:
Leitfaden. 70 S. Hamburg 1891, Fritzsche.
Der Inhalt des Buches verbreitet sich über das Rechnen mit ganzen un-
benannten und benannten Zahlen mit geraeinen und Dccimalbrüchcn und über
die Mehrzahl der bürgerlichen Rechnungsarten. Man kann mit dem Inhalte
dieser Druckschrift wol einverstanden sein, denn sie sucht möglichst Zusam-
menhang und Fügung herzustellen zwischen der wissenschaftlichen Arithmetik
und dem, was als besondere Arithmetik auf der Unterstufe mitzutheilcn ist.
Wenn aber der Verfasser auf dem Titelblatte für sich eine „neue Methode"
in Anspruch nimmt, so müssen wir bemerken, dass uns nichts in seinem Buche
neu war, im Gcgeuthcil würden wir manches von dem beibehaltenen Mangel-
haften gern durch Besseres ersetzt gesehen haben. So, um nur eines hervor-
zuheben, scheint uns die Schlussrechnnng in der auch beim Verfasser vorftnd-
lichen Form unbeholfen und weitläufig und daher praktisch unbrauchbar.
Geradezu fehlerhaft, weil außerhalb des wissenschaftlichen Zusammenhanges
stehend, ist es abcT, das Dividiren auf die Subtraction zurückführen zu wollen.
Im Ganzen aber ist das Buch ein gutes, schon wegen seiner übersichtlichen
Hervorhebnng des Wichtigen durch stärkeren Typensatz und verschiedene
anerkennenswerte Einzelheiten, so die Subtraktion mittels Ergänzung und das
sich daraus ergebende einfachere Verfahren bei der Division; dann auch die
Einordnung der Theilbarkeitsrcgeln von Maß und Vielfachem zwischen Division
und Bruchrechnung, das ist an die ihnen systematisch zukommende Stelle.
Wenn der Verfasser überzeugt ist, dass der vorliegende Leitfaden auch in
Verbindung mit jeder anderen Aufgabensammlung gute Dienste leisten wird,
1
— 208 —
»n kann man dieser m iuer Meinung wol zustimmen. Wenn er aber ferner um
Nachsicht ersucht weifen des Betretens eines noch unbebauten Feldes, so
müssen wir einerseits sagcu, da*s er keiner Nachsicht bedarf, da seine Arbeit
ganz gewiss den besseren ihrer Art beizuzählen ist; anderseits aber kann
dieses Gebiet kein unbebautes Feld genannt werden, da uns doch eine sehr
rei« he Literatur vorliegt. Das Buch erseheint für die unteren Classcn höherer
Lehranstalten recht gut brauchbar, noeh dringender aber möchten wir es den
Scminaricn empfehlen, an welchen man zumeist noeb weit entfernt ist, den
Zusammenhang zwischen Rechenkunst und wissenschaftlicher Arithmetik ge-
funden zu haben. H. E.
Neu erschienene Bücher.
Josef Bernhard, Gymuasialprofessor in Leitmeritz, a) Formale Logik für
Gymnasien. 121 S. b) Empirische Psychologie für Gymnasien. 138 8.
Prag. Dominiens.
Dr. Hermann Strasosk), .lakob Friedrich Frieß als Kritiker der Hämischen
Erkenntnistheorie. Eiue Antikritik. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss.
75 S. 1.50 Mark.
Dr. Kvacsala Janos, Bisteifeld Janos Henrik Eletrajza. Budapest, az Athc-
naemu Ii. t;\rsulat Könyvnyomdaja. 66 Seiten.
Neudrucke pildagogischer Schriften. Heraasgcgeben von Albert Richter.
V. Almau8or, der Kinder Schalspiegel. Von Martin Hayneccius. Mit einer
Einleitung, herausgegeben von Dr. Otto Haupt. 129 S. 80 Pf. VI. J. G.
Schlimme], Fritzens Reise nach Dessau und F. E. von Rochow, Authentische
Nachricht von der zn Dessau auf dem Philanthropin den 13.-15. Mai 1776
angestellten öffentlichen Prüfung. Mit Einleitung uud Anmerkungen heraus-
gegeben von Albert Richter. 76 S. 80 Pf.
D. Schlie, Dr. Anton Ree. Zur Würdigung seiner Bestrebungen und Ver-
dienste. Hamburg, Conrad Kloß. 115 S. 50 Pf.
.1. P. Richter, Das französische Schulwesen. Auf Grund der gesetzlichen
Bestimmungen und der behördlichen Anordnungen mit besonderer Berück-
sichtigung der inneren Einrichtung dargestellt. Halle, Tausch & Grosse.
115 S. 1,60 M.
Karl (wrundseheid, Das Schulwesen Englands. Bielefeld, Heinrich. 28 S.
75 Pf.
Eduard Teller, Pädagogisches Album. Gedauken über Erziehung und Unter-
richt in Aphorismen für Lehrer und Eltern. Im poetischen Gewände. 2. Aufl.
Naumburg, M. Schmidt. 127 S. 1,25 M.
Johannes ftuttzeit, Reinmenschliche Kindererziehuug. Drei Vorlesungen, ge-
halten in Augsburg, Nürnberg und Leipzig. Leipzig, Siegismund und
Volkeniug. 36 S. 40 Pf.
Prof. Dr. Seved Ribhiii£, Die sexuelle Hygiene und ihre ethischen Couse-
quenzen. Drei Vorlesungen. Ans dem Schwedischen übersetzt von Dr. med.
Oskar Reyher. 5. Aufl. Leipzig, Peter Hobbing. 215 S. 2 M.
H. Wickenhagen, Antike und moderne Gymnastik. Vergleichende Betrach-
tungen und Vorschläge. Wien, Pichler. 127 S. 1,50 M.
Verantwortl. Redacteur Dr. Friedrieb Dittes. Bucbdnickerci Jnlim Klinkhtrdt, L«i<zi£.
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Soeben eridnen:
Per ^efigtonsunfcrridjt in ber §d)ufe,
in fltilrguuiig au Dir St, ttUgriu. Iciitt'dK Vrorrrurviautiuliiug,
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Tie 29. öligem. Teutidie gebrertierjammlung, meldie reäbrenb ber ißftngfttage
bieieJ ^fl&Tf* in SMannljeim tagte, bat bie oft Denttfierft« ftrage be* fHeligionounST*
riebt» in ber Sdiule unter anberem gunt (Brgenftanb ber Vftraditimg gemadjt. 3n
nidit genug anjuerfeuueuber SBeifc ift ber SftnnenMafeU einer nachbriidlidjen Betonung
be* etlniMiiMt Unterrid)i6 gegenüber bem bogiuatiidKii bas &lort gerebet unb bannt
ber Emanzipation ber Sd)iile Don ber ttirrfie uviter vorgearbeitet reorben.
Um ben be^erjigen^merteii Sorten, bie oon Jrudnnäwiern unb Saieu §u biefer
Jyrage gefprodjen mürben, eine aflgemeiue Verbreitung gn üeridjaffen, jugleid) aber
audi um ber redithaberiidien fteätgläublflfcU gereifter Verreu burd) fadjbienlidie
Erörterung einen Tamm entgegenliefen, mürben bie norliegenben Vliitter berCneut
lidjfeit übergeben.
I if V in idi ii rc ift $11 tu-; ii- in- ii Dm di alte $iid)fjauDluiißen, fotuir gegen
tfiniritduug aco betrage* Otrcft Uuit oer t!evlag*bud)l)ait&luug nun
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mittel — SSäidK, turj alle Wegeuftäube be-? ftaulbattri :,iebt
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amüfauten mie IrbrreiCTjeil Klaubereien. toirb ein mill-
fommencr ^Ratgeber aller tenen fein, reeldie ein itauoröge-
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Suiiii iniirii« Per S«liiB»^jaftliiM i.
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Hermann ^diidmann,
mt. fröret tn Sctlm.
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brofdjtert 5
liefe neue, fünfte, unb ftarr uennebrte 9lufloflc etned feit Qa^ren allgemein
beliebten ^effijeidienf« unb ^rämienbudie* ift in ooüftänbig neuer ©eftalt erfreuen unb
bietet, burd) 110 .\Soi*fd)nitte reid) iUufiricrt, 42 $oa,en bc£ intereffanteften erb» unb
DötfcrfunbUdien Snhaltes für einen iiiifeerft njotjtfeiten ^rct^.
9(1* ^enbfltit fjtervi Dtuüefi l'ocbeu bie treffe:
(Europas (ZRertuelt in BUteru.
^itr btc reifere ^ugenb jirinmmcngcftellt
OOIl
fib. Jammer.
mt J«H Mtfdjmüni gr. 8., in clcg. Criniualbonb acb. Vrcis 5 W.
brofcfjicrt 4 W.
Tie ^efirebungen ber Neuheit, unferer 3ugrnb in erfter Sinie Äenntniß unb
SMeljrung über bie l> e i m i f tti o lierroctt $u vermitteln, Ijabeu $eranlaffung $ur
^ufanimenfiellung biefeS löurtie* gegeben, welche* ber 3ugcub eine Sülle Don Sdjil«
berintgen unb Anregungen auf btefem (Hebietc bringt unb burd) präd)tige SUuftrationen
beftenS wranfdwulidjt.
39 o eine 3ortimttt£'$ud)banblung «id)t jnr Verfügung ftcf>t, ift bie Srrlag»»
fjaitbfuttfl gern $u birefter fronfiertcr 3ufenbung erbotig.
^cip.^ifl unb Berlin W. H5.
jiuliue Älinfnarbt.
Hierzu zwei Beilagen: 1. von G. A. Gloeckner in Leipzig. 2. von Heinrich Matthes in Leipzig.
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4 » >
, \
1
Paedagogium.
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
iiv. mmi
4. Heft, Januar 1891
Leiprig.
Verlag von Julius Klinkhardt
• r;
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Inhalt des 4. Heftes.
Johann Jakob Wehrli, der erste thurgauische Seminar -Director. Von
Dr. H. Morf-Wintcrthur 209
Heiträge zur Reform des Religionsunterrichtes in Bezug auf Inhalt und Lehrweise.
VII. Über Engel und ahnliche .Mittel weeen. Von Th. Vernaleken-Graz 232
Adolf Diesterweg über Eduard Beneke und dessen Lehre vom Angeborenen.
Mitgetheilt von Prediger Heinrich Neugeboren-Kronstadt in
Siebenbürgen 237
Pädagogische Rundschau. Zeitstimmen. — Deutsche Gymnasien und andere
Schulen. — Volksbildung. — Tarnen. — Schularbeit und Schülerkraft.
• — Von der Weichsel. — Aus .Württemberg . 245
Literatur 259
«
■Preis pro Quartal M. SL25.
Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen
Johann Jakob Wehrli,
der erste thurgauische Seminar-Director.*)
Von Dt. H. Morf-Wintertkur.
1.
„Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter." Des
jungen Wehrli schönste Hoffnung war lange die, einst in der Heimat
als Lehrer wirken zu können. Dem gereiften Manne wurde dieser
Wunsch in einer Weise erfüllt, wie der Jüngling sich nie hätte
träumen können. Er war nun Lehrer der Lehrer. Mit umsomehr
Muth und Zuversicht trat er an seine Aufgabe heran, da ihm seit
1829 eine Gattin zur Seite ging, wie er unter Tausenden sie nicht
besser hätte finden können. Ohne viel Schulbildung, aber gesund
an Leib und Seele, reich an Geist und Gemüth, mit gründlicher wirt-
schaftlicher Erfahrung, von unermüdlicher Thätigkeit, von freundlichen,
gewinnenden Umgangsformen bei aller Festigkeit und Bestimmtheit
ihres Willens, von klarer Einsiebt in die Aufgabe ihres Mannes, war
sie diesem eine musterhafte Gehilfin im Aufbau des neuen Heimes
und war und blieb eine liebevolle Mutter der in ihrem Hause weilen-
den Zöglinge und Lehrer und eine treue, unermüdliche Pflegerin ihrer
kranken Hansgenossen, wie der Schreiber dieser Zeilen reichlich selber
erfahren hat, der das Bedürfnis fühlt, der edeln, längst Heimgegangenen
ein Wort des innigsten, wärmsten Dankes nachzurufen.
Zwei Hauptforderungen stellte Wehrli bei Übernahme der Leitung
der Lehrerbildungsanstalt: Einführung des für alle Zöglinge obliga-
torischen Convicts und landwirtschaftliche Übungen neben dem wissen-
schaftlichen Unterricht. Die Behörde war völlig damit einverstanden.
*) Vgl. „Die Lebensschule Jobann Jakob Webrli'e" ron demselben Verfasser,
Pädagogium XIII. Jahrg. Heft 7—9.
Pädagogium. 14. Jahrg. Hef. IV. 16
Den Convict wollte Wehr Ii, weil das Seminar nicht blos eine
Lehr-, sondern auch eine Erziehungsanstalt sein müsse. Die jungen
Leute, meinte er, kämen gar oft aus Familien und Kreisen, in denen
eine auf fester, sittlicher Grundlage ruhende Lebenshaltung und damit
auch eine wirkliche Erziehung der Jugend fehle. Die spätere Haupt-
aufgabe der jungen Männer in der Schule sei aber die Erziehung.
Um derselben genügen zu können, sei nöthig, dass sie selbst eine
feste innere und äußere Lebensordnung sich zu eigen gemacht hätten.
Das nun zu bewirken, sei Sache und Ziel des Convicts.
Die Einführung der Zöglinge in die Landwirtschaft hielt Wehr Ii
darum für ein wesentliches .Erfordernis der Lehrerbildung, weil er
mit Fellenberg und andern hervorragenden Zeitgenossen die ratio-
nelle Landwirtschaft als die Grundbedingung und die Basis der
wählen Volkscultur ansah, als das Mittel zur geistigen, sittlichen und
physischen Regeneration der Menschheit Die Volkslehrer, so schloss
er weiter, müssen daher nicht nur theoretisch mit der culturellen Be-
deutung der verbesserten Landwirtschaft bekannt und vertraut, sondern
auch in der Ausübung heimisch gemacht werden, damit sie auf dem
Dorfe Einsicht und Verständnis in dieser Sache verbreiten und den
Gemeindegenossen mit Rath und That an die Hand gehen könnten.
Die Ansichten über die beste und zweckmäßigste Art der Lehrer-
bildung sind heute nicht mehr dieselben, wie vor 58 Jahren, da
Wehrli sein Amt antrat. Es ist ja selbstverständlich, dass in einem
80 langen Zeitraum manche einst feststehende Ansicht überholt wird.
Aber auch heute noch sind die maßgebenden Stimmen nicht in allen
Punkten einig. Über den tUmfang der zu fordernden Kenntnisse,
über die Anstalten zur Erwerbung derselben, über die Weise der
speciell beruflichen Zuschulung u. s. w. gehen die Meinungen noch
ziemlich auseinander. Dasselbe ist der Fall in Bezug auf die äußere
Einrichtung einer Lehrerbildungsanstalt. Das Seminar in Kreuzlingen
hat den Convict heute noch, und es scheint derselbe nie Anfechtungen
ausgesetzt gewesen zu sein. Bern will ihn für die ersten drei Jahre,
die der allgemeinen Bildung gewidmet sein sollen, auch feiner bei-
behalten. Basel hält ihn für das in Aussicht genommene Seminar nicht
für nöthig, und Zürich hat denselben als der Erziehung verderblich
abgeschafft. Aargau hat in letzter Zeit den Convict an der Can-
tonsschule eingeführt und rühmt dessen erzieherischen Erfolg. Es
kann jedoch hier nicht meine Aufgabe sein, auf diese verschie-
denen Ansichten und deren Begründung näher einzutreten, sondern
ich möchte nur noch nachweisen, wie Wehrli, der über das, was
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er wollte und anstrebte, völlig mit sich im klaren war, seiner Aufgabe
zu genügen suchte.
2.
Der erste Eindruck, den Wehrli empfing, als er im September 1833
in das Schlösschen in Kreuzlingen einzog, war ein wehmüthiger. Der
Gegensatz gegen das reichbelebte Hofwyl war ein gar zu großer.
„Wie kam ich in ein ödes, leeres Schlössli, wo sich bei meine r
Ankunft nicht einmal ein Stuhl vorfand, darauf zu ruhen! Alles
mussten wir nun selbst anschaffen, was ich zu einem gedeihlichen
Seminar-Familienleben nöthig glaubte. Ich hielt dabei den gleichen
Grundsatz fest, der mich in Hofwyl leitete, nämlich mit dem wenigsten
möglichst viele und gute Zwecke zu erreichen. Ich fand gar keinen
Grund, warum ich nicht auch in einem Cantonsseminar denselben
Grundsatz anwenden sollte, wie in Hofwyl, indem ja die Zöglinge
auch meistens Landleuten angehören (selten kam einer aus einem ver-
möglichen Hause) und es ihr Glück und ihre künftige Tüchtigkeit
mehr fördert, mit Wenigem sich zu genügen, als zu sehen und zu
lernen, wie man mit vielen Mitteln nicht viel erzielt. Wer muss
nicht zugestehen, dass dies letztere meistens da der Fall ist, wo die
Geldmittel und die Lehrapparate zu reichlich beisammen aufge-
häuft sind? Ungemeine Langeweile quälte mich beim ersten Aufent-
halt in Kreuzlingen. Wie gern hätte ich meinen Schritt zurückge-
nommen, wenn ich es, ohne Aufsehen zu machen, hätte thun können!
Doch es konnte, es durfte nicht sein."
Die Anschaffung der erforderlichen Geräthe für die künftige
Seminarhaushaltung half die Zeit ausfüllen. Man kam mit diesen
Vorbereitungen nothdürftig zum Ziel, bis der erste Seminarcurs im
November 1833 mit 28 Zöglingen seinen Anfang nahm. Wehrli
wählte einen jüngeren Schullehrer, der den Normalcurs in Hofwyl
mitgemacht hatte, als Gehilfen. Der musikalische Unterricht und der
katholische Religionsunterricht wurde von einigen Conventualen, der
letztere insbesondere von dem Prälaten des nahen Klosters selbst
übernommen. In dieser ersten, aus Leuten beinahe gleichen Alters
und gleicher (geringer) Vorkenntnisse bestehenden Seminarciasse han-
tirte Wehrli ganz wie ein Dorfschulmeister unterj ABC-Schtitzen
oder wie ein Philosoph, der gar nichts voraussetzt. In jedem Unterricht
wurde mit den ersten Elementen begonnen, diese Elemente unter-
schieden, zerlegt, geordnet, in die Stufenreihen des Fortschrittes ab-
getheilt, und nebenbei traten dann die Zöglinge wieder aus ihrer
Kinderrolle heraus, um zu überlegen, warum bei dem wirklichen
16*
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— 212 —
Kinderunterricht ein solches Verfahren das einzig natürliche und er-
folgreiche sei.
Nun hatte Wehr Ii keine Langeweile mehr, sondern lebte in
freudigster Thätigkeit. „Von da an," erzählt er, „kam ich auch in
engere Berührung mit mehreren sehr theilnehmenden Hitgliedern des
Erziehungsrathes (namentlich auch mit Decan Pupikofer in Bischofs-
Zell). Es entstand Leben, Thätigkeit; im Hause war Lernlust, und
außerhalb desselben wurden Straßen, Wege, Wassergräben u. s. w.
angelegt, das vernachlässigte Schlösschen und seine verwilderte Um-
gebung lebhaft in ein kleines Paradies umgewandelt. Die äußerst
reizende Lage am See, nahe bei Konstanz und Kreuzlingen, von den
Leuten und bei den Leuten (wie man zu sagen pflegt), machte auf
mich einen stets freundlicheren Eindruck — und endlich ehe ein
Jahr vorbei war, freute ich mich des gewonnenen Wirkungskreises
und dankte Gott dafür. Es ging besser, als ich erwartet und als
man mir vorausgesagt hatte. "
„Neben den Untemchtsstunden hatte jeder Zeittheil des Tages
für jeden einzelnen Zögling wieder seine bestimmte Verwendung.
Repetition des empfangenen Unterrichts und Vorbereitung auf die
folgenden Unterrichtsstunden — , Gartenarbeit, Säuberung der Wege,
Wassertragen, Holzspalten, Gemüserüstung, Gymnastik, Reinigung der
Schlafzimmer, der Schuhe und übrigen Kleidung u. s. w. waren auf
gewisse Stunden des Tages verlegt, und jeweilen waren einzelne Auf-
seher, welche über die Vollziehung dieser Beschäftigungen Controle
zu führen hatten. (Jedes Haus- und Gartengeräth bekam seine Nummer
und seinen ihm angewiesenen Platz. — Auf diese Weise war zugleich
dafür gesorgt, dass fast jeder Zögling sein besonderes Aufseheramt
hatte, dass infolge' der Wechselordnung jeder allmählich in allen
Ämtchen sich versuchen und üben musste und im Ganzen die strengste
Ordnung herrschte."
„Im Schlafsaale hielt ein Hilfslehrer Aufsicht. Mit den Zöglingen
zur Buhe gehend, wehrte er jeder Verletzung der Sittsamkeit. Am
Morgen erhoben sich alle zu der festgesetzten Stunde aus ihrem Lager
und ordneten ihre Betten, und der Zögling, der das Wochenamt hatte,
sorgte für Reinigung und Lüftung. Selten mochte ein Tag vorbei-
gehen, ohne dass der Director seine Oberinspection vornahm und
auch in den Betten selbst nachsah, ob nichts Ungebürüches
geschehen sei"
„Hatten die Zöglinge durch frisches Wasser Gesicht und Hände
gewaschen u. s. w. und sich auf dem Lehrzimmer durch einige Vor-
- 213 -
arbeiten ernüchtert und ihre Morgenandacht verrichtet, so ging es
zum Frühstücke. Es bestand aus Hafergrütze, Milch, Snppe mit Brot
oder Kartoffeln, wie die Küche es mit sich brachte; Kaffee blieb auf
einzelne festliche Tage beschränkt. — Der Mittagstisch war einfach,
brachte wöchentlich nur 3—4 mal Fleisch',' selten |ein Kellergetränk,
weil die Erfahrung zeigte, dass die Milch nicht theurer zu stehen
komme, dagegen der Gesundheit förderlicher sei. — Abends 6 Uhr
ging es zum Nachtessen, Suppe und Gemüse oder Kartoffeln. Wenn
auch verhätschelte Leutchen anfangs das Zwischenbrot empfindlich
vermissten, so gewöhnten sie sich doch bald, mit drei Mahlzeiten des
Tages sich zu begnügen. u
Zwischen 8 — 9 Uhr vor dem Schlafengehen fand sich die ganze
Schar der Zöglinge zur Abendversammlung ein. Es war das die
Stunde sittlich-religiöser Prüfung. Was den Tag über Auffal-
lendes, Gutes oder Böses vorgefallen und vom Hausvater beobachtet
worden war, wurde da mit den Pflegesöhnen besprochen, mit einem
Ernst und mit einer Milde, die jedem ans Herz griff. Und wenn der
Vater mit heiterem Auge den vollendeten Tag und sein Werk lobte,
und Gott dafür dankte und seinen Söhnen sein „Schlafet wolM zurief,
so galt ihnen das als ein himmlisches Segenswort.
Erkrankte ein Zögling, so nahm ihn die Hansmutter in ihre
Pflege. Wol bekannt mit allen Schmerzlinderungmitteln und geübt
in der Krankenbehandlung, erwies sie sich als zartfühlende Pflege-
mutter, unermüdlich bei Tage und in der Nacht.
So gestaltete sich das Seminarleben zu einem wahren Familien-
leben, und mancher halb verdorbene oder in stumme Sünden ver-
sunkene Jüngling fand da Rettung und Heilung. Verrieth sich bei
einem Zögling eine mitgebrachte schlechte Gewöhnung, ein Tempe-
ramentsfehler, Plauderhaftigkeit, Lügenhaftigkeit, Naschhaftigkeit, Träg-
heit, Zornmüthigkeit, Neid, Wollust, Unreinlichkeit u. s. w., so säumte
Wehr Ii nicht, ihn zu warnen, ihm Rath zu ertheilen', wie er der
Sünde Herr werden möge. Alles mögliche wurde versucht, das Übel
in seiner Wurzel auszurotten. Spät, oft fast zu spät trug er bei der
Aufsichtscommission auf Entfernung der Unverbesserlichen an. Die
Unverbesserlichkeit eines Menschen einzugestehen, widerstrebte seinen
pädagogischen Ansichten und seinem Gemüthe.
In andern Unterrichtsanstalten gilt die Beaufsichtigung der Zög-
linge in den Freistunden für eine der schwierigsten und mühseligsten
Aufgaben. In Kreuzlingen war man dieser Sorge überhoben; denn da
gab es keine sogenannten Freistunden. Als Erholungsstunden galten
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die Beschäftigungen im Garten und Gemüsefeld und in der Werk-
stätte, sowie die zahlreichen Handreichungen in der Besorgung des
Haushalts. Namentlich wurde der Garten- und Gemüsebau als Er-
ziehungsmittel benutzt. Kam ein Fremder zum Besuche ins Seminar,
so konnte er auf dem Gemüseacker zur Sommerszeit die ganze Schar
der Zöglinge bei der Spatencultur beschäftigt sehen. Jeder Zögling
hatte einige Quadratklafter Boden, den er für die Seminarküche be-
baute, mit Kartoffeln, Bohnen, Kohl, Rüben u. s. w. Das geschah
aber ganz kunstgerecht. Der Boden war sorgfältig gelockert und
geebnet, die Pflanzen genau nach der Linie und rechtwinkelig ein-
gesetzt, das Unkraut tiberall entfernt, zwischen den Beeten die Wege
rein gehalten. Es war die strenge Forderung; denn auch in der
Bodenbearbeitung sollte der Zögling seinen Ordnungs- und Schönheits-
sinn üben. Der Ertrag der Arbeit aber war zugleich gemeinsamer
Vortheil aller; denn außerdem, dass sie die Gartenkunst und den
Gemüsebau,' gelernt und für ihr künftiges Leben eine nützliche Fertig-
keit erworben hatten, wurde durch die reiche Gemüseernte die Kost-
gelderdividende für die Seminarzöglinge ermäßigt.
Zwar standen neben dem Hofraume auch einige Vorrichtungen
zu Turnübungen, sie fielen aber wenig ins Auge. Als daher einst die
Zöglinge einer fremden Erziehungsanstalt darüber ihr Befremden aus-
drückten, entschuldigte Wehrli, dies sei eben nur der kleine Turn-
platz, führte sie dann auf die andere Seite des Hauses und, auf die
Gemüsefelder weisend, sagte er: Hier ist unser großer Turnplatz!
Wenn in den Sommermonaten die Fortbildungscurse für ange-
stellte Lehrer begannen, so durfte dadurch die eingeführte Ordnung
nicht gestört werden. So weit die beschränkte Räumlichkeit es er-
laubte, wurden sie im Seminargebäude untergebracht und ganz wie
die Seminaristen behandelt; bei andern, welche auswärts ein nächt-
liches Obdach suchen mussten, wurde doch den Tag über dieselbe
Regel innegehalten; nur der Betheiligung bei den |Haushallungs-
geschäften blieben sie, damit sie in den Freistunden den Inhalt des
empfangenen Unterrichts aufzeichnen könnten, enthoben. Gleichwol
machte die Regsamkeit und Ordnung im Haushalte und besonders
auch der Garten- und Gemüsebau der Seminaristen auch auf ältere
Lehrer einen so vortheilhaften Eindruck, dass manche derselben nach
ihrer Rückkehr in ihre Gemeinden wenigstens für sich und ihre
Haushaltungen Ähnliches versuchten. Die Ansicht, dass der Land-
schullehrer nicht blos in der Schulstube, sondern auch in Garten und
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Feld dnrch Anleitung und Beispiel zur Volkserziehung mithelfen könne
und solle, gewann allgemeineren Boden.
Für den Umfang des Unterrichte war auch in Kreuzlingen die
herrschende Ansicht maßgebend, dass der Volksschullehrer eine ency-
klopädiscbe Übersicht über alle Zweige des menschlichen Wissens be-
sitzen, namentlich aber die Muttersprache und ihre Regeln und die
niedere Mathematik kennen, in Geographie und Geschichte be-
wandert, in Gesang und etwas Musik geübt sein und eine gute Hand-
schrift führen müsse. Nach Wehrli's Ansicht gehörte aber auch
Naturkunde und besonders Landwirtschaftslehre und einige Fertigkeit
im Zeichnen zu den Vorzügen eines guten Schullehres.
Mit dem Eintritt einer zweiten Classe im Herbst 1834 wurden
die Lehrkräfte angemessen vermehrt und bald darauf ein akademisch
gebildeter Hauptlehrer für Sprache, Geschichte und Geographie ange-
stellt.
Zur praktischen Vorbereitung der Zöglinge auf die Schulführung
wurden nicht blos die benachbarten Schulen benutzt, sondern es wurde
im Seminar selbst für eine Anzahl Kinder eine Privatschule einge-
richtet, in welcher die Seminarzöglinge abwechselnd unter Aufsicht
Wehrli's oder eines Gehilfen die ersten Versuche im Unterrichten
zu machen Gelegenheit bekamen. Die Kinder dieser Seminarschule,
für die sich in einem benachbarten Gebäude eine passende Unterkunft
iand, wurden von jenen Anfängern der Erziebungskunst mit einem
Erfolge unterrichtet, der bald eine größere Anzahl herbeizog und
endlich zur Einrichtung einer besonderen Erziehungsanstalt Veranlas-
sung gab.
3.
So entwickelte sich die Anstalt in schöner Weise. Zöglinge aus
andern Cantonen drängten sich herbei, und sie gewann bald einen
allgemein schweizerischen Charakter. Die Jahresprüfung im
Herbst 1837, also nach vierjährigem Bestand des Seminars, erhielt
einen besonders feierlichen Grundton, weil Wehr Ii in einer längeren
Eröffnungsrede eine Art Rechenschaft vor den zahlreichen Zuhörern
ablegte, die ein treues Bild von seiner Anstalt gab und mit großer
Freude angehört wurde.
Um den Leser so recht mitten in das Institut einzuführen, lasse
ich sie hier folgen:
Tit.!
Von den Jünglingen und jungen Männern, die hier vor uns stehen und
Rechenschaft von ihrem Jahreswerk ablegen sollen, wollen sich alle, einer aua-
genommen, dem wichtigen Lehrerberufe widmen. Ks sind ihrer an der Zahl 71, von
denen die älteren im Jahr 1835 und die jüngeren 1836 ins Seminar getreten sind.
Die älteren (oder die Seminaristen des dritten Curees im Seminar) besteben aus:
23 Thurgauern, 18 St. Gallern, 2 Glarncrn und 1 Appenzeller. Die jüngeren (oder die
Seminaristen des vierten Curses im Seminar) bestehen aus J6 Thurgauern, 4 St. Gallern,
4 Glarnern, 1 Basier, 1 Unterwaldner und 1 Appenzeller.
Die ältere Abtheilung zeigte bei ihrem Eintritt eine so auffallende Ver-
schiedenheit in den Vorkenntnissen, dass wir genöthigt waren, in einigen Unter-
richtsfächern zwei Unterabtheilungen zu mar heu. — Indessen haben sich die meisten
der schwächeren Abtheilung fast über Erwartung nachgemacht, Überhaupt hat in
allen Classen beinahe ohne Ausnahme eine Lernbegierde sich entwickelt und ein
Fleiß sich kund gethan, die beide mir viel Freude machten.
Über die Thätigkeit dieser jungen Leute während ihres Aufenthaltes im
Seminar, oder überhaupt über dio Bestrebungen in unserm Hause eine kurze Über-
sicht zu geben, durfte vielleicht hier nicht am unrechten Platze sein.
Das Leben im Seminar ist ein dreifaches:
a) das Leben im häuslichen Kreise oder das Familienleben;
b) das Leben in der Schulstube, im eigentlichen Unterrichte, oder die Thätig-
keit in der wissenschaftlichen Bildung, und
c) das Leben außer unsern Mauern, bei gartenbaulichen Beschäftigungen.
Ich stelle absichtlich das häusliche Leben voran. Warum? Weil der häus-
liche Kreis die beste Erziehung geben kann und ein Lehrer vor allem eine gute
Erziehung haben muss, Erzieher werden soll, um andere, die ihm anvertraute
Jugend, erziehend unterrichten zu können.
Im schönen Familienleben ist der Ort, wo man sich wechselseitig durch
Theilnahmc an Freud und Leid, an Glück und Unglück, durch Belehrung, Rath,
Trost, Beispiel zu Einigkeit, Liobe, wechselseitigem Vertrauen, zu edeln Gesinnungen
und Handlungen, zur Tugend ermuthigen, erheben kann.
Im schönen häuslichen Leben kann der echt religiöse Sinn am ersten und die
tiefeten Wurzeln fassen. Im häuslichen Leben ist's, wo die Grundlage zu einem
echt christlichen Leben am besten gelegt werden kann. Da hat man fast alle
Augenblicke Gelegenheit, sich in der dienenden Liebe zu üben — die besonders auch
beim Schullebrer eine der ersten Tugenden sein soll; da ist's, wo Liebe und Ernst
die jüngeren Glieder zu guten und verständigen Menschen heranbildet; da ist's, wo
eines vom andern lernen kann und lernen wird: — da
Wo man sich für alles danket,
Alles gerne leiht und gibt,
Niemals zürnet, niemals zanket,
Immer treu und zärtlich liebt.
Über diesem Friedenshaus
Breitet sich der Segen aus.
Wer in einem solchen Kreise, auf solche Weise erzogen wird; wer so in
seinen Mitmenschen lauter Brüder erkennen lernt, ihnen dient, gern dient, wo er
kann, und so die ganze Menschheit ebenfalls als eine große Familie betrachtet, sie
liebt und Gott, ihren Vater, über alles liebt — wie segensreich wird ein solcher
überall wirken! Welche Weihe gibt das allem seinem Thun und Laasen! Welche
Weihe besonders dem Thun und Lassen des Lehrers! Wie ganz andere tritt ein
solcher in die Schule, wie ganz andere verlässt er sie als derjenige, dem der fromme
Sinn mangelt und dem das Herz für edlere häusliche Freuden erstorben ist!
Wie ganz anders ist er in, wie ganz anders außerhalb der Schule, als der-
jenige, dem eine solche sittliche Durchbildung abgeht!
Wo ist ein solcher Lehrer am liebsten?
Ein solcher Lehrer ist am liebsten in dor Schule unter seinen Kindern — in
diesem Gotteshausc — im häuslichen Kreise und überhaupt da, wo er entweder
Belehrung geben oder Belehrung finden kann. Ein großer bekannter Mann hat
etwas stark gesagt: „Einen Schullehrer, der nicht singen kann, sehe ich gar nicht
an." Mit ebenso viel Grund könnte man auch sagen: Ein Lehrer, dem der Sinn
fürs schöne häusliche Leben mangelt — sollte sich am allerwenigsten in einer
Schulstube erblicken lassen.
Dass wir nun bei unserm Zusammenleben im Seminar nach diesem Ziele
strebten; dass diese Jünglinge beinahe ohne Ausnahme sich ihres Familienlebens
freuten, einer dem andern diente, der Stärkere dem Schwächeren nachhalf, der Ge-
sunde den Kranken pflegte und am nächtlichen Krankenbette wachte; dass sie sich
jeden neuen Morgen mit Gruß und Gegengruß erfreuten und gemeinschaftlich vor
Gott traten, zu ihm, in brüderlichor Liebe untereinander, ihre Herzen erhoben, vor
ihm gemeinschaftlich den Entscbluss fassten, die köstliche Zeit wol zu nützen und
ihr Tagewerk so zu beginnen, zu mittein und zu vollenden, dass sie sich desselben
am Abende vor ihm freuen dürfen; — dass das in unserm häuslichen Kreise ge-
schehen sei, darf ich öffentlich aussprechen. — Noch am späten Abende ihres
Lebens, ich bin es versichert, werden sie sich mit Liebe und Freude unserer
Morgen- und Abenduntcrhaltung erinnern, und wie ich, die Entschlüsse segnen, die
sie da mit mir gefasst haben. Ich darf hoffen, dass beinahe alle mit diesem Sinne
und Geiste in ihren Schulen wirken; dass ihre Schulen wahre Pflanzstätten zu
einem schönen, religiösen, häuslichen Leben und Vorschulen zu einem nicht minder
edeln bürgerlichen Leben sein werden.
Gott segne unsere Bemühungen, unser Streben hierin!
Auch der Sinn für ein veredeltes Äußeres, für Ordnung und Reinlichkeit
hat bei unsern jungen Leuten gewonnen, hat sich erstarkt an den Übungen, die sich
in unserm häuslichen Kreise mannigfaltig darbieten, und ich darf erwarten, dass sie
auch hierin in ihren Schulen mit Gottes Hilfe Gutes schaffen werden. Wie werde
ich mich jedesmal freuen, wenn ich ihre Schulen besuche und da die Schulstuben
nett und reinlich antreffe, dass sie einen anlachen! Wie werde ich mich freuen,
wenn ich die Kinder mit reinen Händen und reinem Gesichte erblicke und auch die
ärmsten ein ordentliches Aussehen haben! Wie werde ich mich freuen, diese meine
Zöglinge einst in ihren Schulen auch in diesem Äußern als Vorbilder vor ihren
Kindern zu sehen — in nettem, reinlichem, aber einfachem Gewände, fern von
allem Luxus, fern von aller Modenachäfferei und eitlem Wesen — fern von eineT
Frisur, die da zeigt, dass der Lehrer einen besseren Blick in den Spiegel habe, als
in die Schulstube, auf die vielleicht beschmutzten Fenster, Wände, Böden und mit
Tinte besudelten Tische — geschweige einen Blick in die Herzen der Kinder. Wie
werde ich mich freuen, wenn ich vernehme, dass die Kinder meiner Zöglinge in der
Schule auf diesem Wege (erziehend gelehrt und lehrend erzogen) nach und nach den
Sinn für Einfachheit, für Reinlichkeit und Ordnung, wie Liebe zu Fleiß und Thätig-
keit mit in ihre Häuser und Hütten bringen und da die Schule nachbilden!
0 wie schön! Gott gebe, dass es geschehe!
— 218
Das zweite Leben im Seminar macht der eigentliche Unterricht in dem
Schulsaalc aus. Bei Lcrnhegicrdo und Fleiß und den daraus hervorgehenden Fort-
schritten wurden den meisten oder allen die Wochen zu Tagen und die Tage zu
Stunden. Ich glaube sagen zu dürfen, dass sich die meisten recht schöne Kennt-
nisse augeeignet haben.
Froh wurde der Cnterricht gegeben, und froh wurde er empfangen. Einen
organischen, naturgemäßen Unterricht zu ertbeilen, stets vom Leichteren zum Schwe-
reren überzugehen, und durch das Bekannt« aufs Unbekannte zu kommen, war das
einheitliche Bestreben aller Lehrer am Seminar. Alle huldigten dein Grundsatze:
a) Was du lehrst, das lehre gründlich — und
b) Was die Kinder machen oder darstellen, das müssen sie recht machen.
Man suchte den Unterricht so zu geben, wie wir wünschen müssen, dass er
in der Elementarschule selbst gegeben werden möchte.
Der für die thurgauischen Schulen entworfene Lcctionsplan lag uns dabei
zu Grunde. Wie dort bei allen Unterrichtsfachern auf laute und stille Beschäftigungen
in der Schule hingedeutet ist, so versäumten wir nicht, überall auf diese Unter-
scheidung in der Beschäftigung der Kinder hinzudeuten, nämlich:
1. auf den Stoff aufmerksam zu machen, den der Lehrer laut und ent-
wickelnd mit den Kindern zu bearbeiten hat, und
2. zu zeigen, wie das Entwickelte zu stillen Beschäftigungen und Übungen,
unter Mithilfe eines Lehrschülers, befestigt werden müsse.
Dahin müssen wir arbeiten, dass kein Kind mehr unbeschäftigt bleibe, dass
nicht von vornherein Müßiggang in der Schule gelehrt werde. Fleiß und Thätig-
keit soll aus der Schule hervorgehen!
In unserm Lectionnplanc für thurgauische Schulen ist im Anfange das Fach
* des Unterrichtes in der Religion und biblischen Geschichte vorgezeichnet. Dieses
besorgte für die katholischen Zöglinge der hochwürdige Herr Prälat des hiesigen
Stiftes und für die cvanglischen ich. Die biblische Geschichte wurde, wie es der
Lcctionsplan andeutet, zur Grundlage gemacht, und an dieselbe die Glaubens- und
Sittenlehre überall, wo der Gegenstand und die Umstände dazu auffordern, angeknüpft.
Als zweites Fr.cb bezeichnet der Lectionsplan die Sprache. Diese zu besorgen,
hat Herr Bumüller sich zur Aufgabe gemacht. Das Lesen, die Wort-, Satz- und
Aufsatzlehre sind die Hauptstufen darin. Wie weit die Zöglinge gekommen sind,
mögen ihre Aufsätze und mehrere nicht ganz misslungene rhythmische Versuche
zeigen.
In den Unterricht der Arithmetik und Geometrie theilten sich die beiden
Herren Lehrer Wellauer und Azenwyler. Alles, was unser Lectionsplan in dieser
Hinsicht verzeichnet, das wurde gelehrt. Überdies wurden die Zöglinge noch eine
ordentliche Stufe weiter geführt. Sic lernten mit dem Messtische umgehen und
blieben mit der Ausziehung höherer Wurzeln und den wichtigsten Lehrsätzen der
eigentlichen oder wissenschaftlichen Geometrie und ihrer Anwendung nicht unbe-
kannt.
Aus der Naturkunde dasjenige zu lehren, was ich glaube, dass in einem Seminar
gelehrt werden soll, habe ich übernommen. Ich theilte diesen Unterricht in zwei
Haupttheile: in die Anschauungs-Naturkunde und in die systematische Naturkunde,
welche letztere wieder in Naturgeschichte und Naturlehre zerfällt. Einen besondern
Zweig dieses Faches machte eine damit verbundene einfache Landwirtschaftalehre aus.
Den Unterricht in der Geographie besorgte Herr Bumüller. Die Abteilungen
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— 219 —
desselben sind, wie bekannt, die Haus-, Gemeinde-, Cantons-, Vaterlands- und Außer-
vaterlandskunde. Gegen das Ende des Curees führte Herr Bumüller die Zöglinge
auch noch durch die mathematische Geographie von der Eide hinauf in die höheren
Weiten des Himmels, damit sie Gotte« Allmacht im Großen wie im Kleinen bewun-
dern und anbeten möchten. —
Die mit der Geographie so nahe verwandte Geschichte lehrte ebenfalls Herr
Bumüller. Die Geschichte unsere Vaterlandes war uns Hauptsache, und aus der
allgemeinen Geschichte wurde nur so viel damit verbunden, als es die Anknüpfungs-
punkte und die Umstände geboten oder erlaubten.
Den Gesangunterricht ertheilte Herr Professor Anton, und zwar nach
Nägeli's Methode. Seine Bemühung, im letzten halben Jahre den Zöglingen einige
Begriffe von der Hannonielehre beizubringen, blieben nicht ohne Erfolg, indem einige
Versuche in der Composition nicht so übel ausfielen.
Die Kalligraphie besorgte Herr Wellauer. Das Zeichnen, welches in Hand-
zeichnen und geometrisches Zeichnen zerfällt, leiteten Herr Wellauer und Herr
Azenwyler gemeinschaftlich. Wie weit es die Zöglinge in beiden brachten, das
werden die vorzulegenden Arbeiten aufweisen.
Bei jedem Unterrichtsfachc wurde bei dem Beginn des Curses mit dem ein-
fachsten Unterrichte oder den Elementen angefangen. Man wollte jedesmal einen
sogenannten Anschauungsunterricht, d. h. eine klare Grundanschauung vorausgehen
lassen. — Wir theilen übrigens den ganzen Seminarcurs in drei Theile: Der erste
beschäftigt sich mit den Elementen, der zweite mit den Realien, der dritte
mit der Repetition, verbunden mit den Vorführungsilbungen.
Indem wir die Zöglinge nach den bereits angebrachten Bemerkungen über
den Umfang der wissenschaftliehen Ausbildung allerdings weiter führten, als sie in
Elementarschulen in der Regel die Schüler bringen werden, lag uns doch weniger
die Höhenstufe der Wissenschaft am Herzen, als vielmehr die Grundlegung oder
die Anbahnung eines Weges dazu und ein sicheres Fortgehen auf demselben, so
lange und so weit es uns der auf zwei Jahre beschränkte Curaus im Seminar er-
laubte. Man darf nicht aus dem Auge lassen, das* das Seminar eine Anstalt sein
soll zur Erziehung und Bildung erziehender Lehrer.
Ist es etwas anderes, so verfehlt es nach meiner Überzeugung seinen Zweck.
Ein drittes Leben oder eine dritte Schule bot uns unsere kleine Feldgärtnerei
dar. Auch über diesen Theil glaube ich einige Rechenschaft geben zu müssen.
Nicht nur waren uns die gartenbaulichen Beschäftigungen im Laufe der milderen
Jahreszeit jeden Abend am Schluss einer zehn- nnd mehrstündigen geistigen Thät igkeit
eine Erholung und körperliche Gymnastik, durch die wir den Forderungen, welche
der Körper an uns macht, um gesund und kräftig zu bleiben, entgegenkamen,
sondern sie waren uns zugleich eine neue bedeutsame Schule, die nach meiner Über-
zeugung jeder Lehrer auf dem Lande unumgänglich passiren sollte- —
Auf dem Lande die Kinder der Landleute sich anvertraut wissen und mir
Keringe Kenntnisse von der Beschaffenheit und Wartung der Pflanzen und Thierc
haben; den Boden kaum kennen, aus welchem die Pflanze wächst; den Rettich für
Bohnen und die Erbsen für Kartoffeln ansehen und überhaupt keinen Sinn, keinen
Wahrnehmungsgeist für das landbauliche Leben haben; bei Wohnungen, Gärten
und Feldern vorbeigehen, ohne einen richtigen Blick auf dieselben zu haben; von
der Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen im ersten und allgemeinsten
Menschenbcrufo nur geringe Hegriffe haben, der Naturkunde nicht eine Richtung
— 220 —
zu geben wissen, dass sie die Landkinder geistig erregt, mit Kenntnissen bereichert;
durch die sie fttr die Bebauung des Bodens und Erziehung der Pflanzen freudig
belebt und bethätigt werden müssen — ein solcher Lehrer leistet wenig — wenig —
gar zu wenig. —
Der Schulunterricht, vorzüglich auf dem Lande, muss mit dem Leben ver-
bunden werden. Die Wissenschaft darf sich da am wenigsten von ihm absperren.
Beide müssen untereinander sich im schönsten Ehebunde vereinigen. Erst dann,
wenn der Landschullehrer einen solchen Unterricht geben kann, einen solchen Geist
unter seine Kinder zu bringen weiß — erst dann, sage ich, passt er in die Land-
schule , passt er mit seinem Sinne für Landwirtschaft, diesem vermittelnden Element,
zu den Landleuten, Nur dann hat der Schullehrer die rechte Stellung zu ihnen.
Fehlt ihm aber dieses bindende Element, so verfällt er leicht in Dünkelhaftigkeit, glaubt
zu den Gelehrten zu gehören, benimmt sich in und außer der Schule wie ein Ge-
lehrter und fühlt nicht, dass er unter den Landleuten dasteht, ich hatte fast Lust
zu sagen, wie Loth's Salzsäule. —
Dass unsere Feldgärtnerei mit dem damit verbundenen landwirtschaftlichen
Unterrichte mich zu schönen Hoffnungen berechtigt, indem sie von vielen unserer
Zöglinge in rechtem Sinne aufgefasst wiTd, davon habe ich viele Beweise.
Indes wird, wie Uber alles, die Zukunft lehren. — Nur auch dann nicht die
Hände in den Schoß gelegt, wenn's nicht gleich nach unsern Wünschen geht. —
Lasset uns unserm Heiland, dem Lehrer aller Lehrer, ähnlich, unermüdet am Wol
unserer Mitbrüder arbeiten; so wir nicht erliegen, werden wir einst ernten ohne
Aufhören. Gott mit uns!!
Noch ein Wort, verehrtest« Herren! und Ihr Schulmänner besonders!
Wenn einmal in der Schule — dieser hochwichtigen Volksbildungsanstalt —
•deT Religionsunterricht nicht mehr ein verstand- und herzloses Auswendiglernen von
schwer zu verstehenden Dingen oder ein trockenes kaltes Abfragen darüber, sondern
ein Unterricht ist, der darin besteht, dass man mit liebendem Herzen die Kinder
auf ihre Pflichten gegen die Eltern, gegen den lieben Vater im Himmel, gegen die
Hitmenschen und sich selbst aufmerksam macht — und dann gleichsam jedes Wort,
jeder Blick, jede That zeigt und lehrt, dass diese Pflichten zu erfüllen, jedes Wort,
und Gott, den lieben Allvater, zum besten Freunde zu haben, über alles in der
Welt stehe und die größte Seligkeit sei;
wenn wir einmal die deutsche Sprache, fern von allem grammatikalischen
Luxus, so lehren, dass die Schüler durch dieselbe lernen denken, ihre Gedanken
ordentlich ausdrücken, gute Bücher mit Verstand und daher gern lesen und einen
Abscheu vor Entweihung der Sprache durch Lügen, Fluchen und Verleumden be-
kommen; —
wenn einmal, statt des mechanischen Begclwesens in der Rechenkunst und
anderer für das Volk ungenießbarer mathematischer Speisen, ein gesundes Anschau-
nngsrechnen und eine gesunde Anschauungsgeometrie dem Volke seine Arbeiten
ordnen, denkender und anstelliger verrichten lehrt, dieser Unterricht überhaupt mit
dem Berufsleben in nähere Verbindung gebracht wird; —
wenn die Naturkunde auf ähnliche Weise uns vom Werke zu seinem erhabenen
Schopfer führt und uns nnserra Erdenberufe (Landbau und Handwerk) bei höherer
jfci«tie;er Auffassung mit herzlicher Freude und Lust zugethan macht; —
wenn einmal die vaterländische und weitere Geographie, wie die Geschichte,
*o gelehrt werden, dass die Jugend durch dieselben vom Elternhause aus ein Herz
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— 221 —
für die Gemeinde, für den Canton, fürs Vaterland bekommt, ja, die ganze Erde
sich vor ihr zu einem großen Vaterland, die Menschheit zu einer großen Familie
staltet und ihr Herz auch für die Nachkommen sich erweitert und aufthut; —
wenn einmal der Gesang auf eine so einfache und kunstlose Weise gelehrt
wird (wie es wol möglich ist), dass sich alles, alles, wo man einander trifft, mit
berzerhebenden Gesängen erfreut, zur Pflichterfüllung begeistert, Gott und seine
Welt besingt, — dass jedes Dorf, der ganze Canton, ja, das ganze Vaterland zu
einer großen Gesanghalle wird; —
wenn der Landbau, dieser große Menschenbildungszwcig, in seiner Würde
aufgefasst ist, von den Schulen aus gefordert und erhoben wird;
und wenn alle Lebrer einmal dahin gekommen sind, das6 sie auch ihre
eigenen Schwachheiten und Mängel erkennen und zugleich einen großen Vortheil
darin erblicken, dass sie durch den Unterricht, den sie ihren Kindern geben, selbst
viel gewinnen, sich veredeln, tugendhafter werden müssen und sie das neben dem
Solarium auch in Anschlag zu bringen im Stande sind; —
wenn, sage ich, alle unsere Schulen einmal so lehren, 60 erziehen, so, auf
diese Weise bilden, wenn alle Lehrer Apostel und ihre Schulen Jüngerschaften ge-
worden sind — dann wird'B besser!
Herr, die Ernte ist groß, sende Arbeiter in dieselbe!
4.
Wie Wehr Ii den Erzieher- und Lehrerberuf auffasste, darüber
gibt ferner uns erquicklichen Aufschluss:
Ein väterliches Wort
Unter dieser Aufschrift hat Wehrli zu Weihuachten 1840 als
Neujahrsgruß an seine bereits in mehreren Cantonen zerstreuten Zög-
linge eine Reihe Fragen zur Selbstprüfung gestellt und damit zugleich
einen neuen Beweis gegeben, wie sehr ihm ihre Berufs- und Lehrer-
treue am Herzen liege. Sein väterliches Wort ist der Erguss eines
wirklich väterlichen Gemüths, hat aber einen so allgemein gültigen
Inhalt, dass es als feststehende Beichttafel für jeden Lehrer und Er-
zieher, ja selbst für jeden Bürger und Christen angesehen werden
kann. Diese Sorge für die ausgetretenen, bereits in Schulen angestell-
ten Zöglinge, die Dankbarkeit, mit welcher von denselben die Mah-
nungen des väterlichen Lehrers aufgenommen wurden, verbunden mit
dem Vertrauen, das die entwachsenen Zöglinge, wenn sie des Rathes
bedurften, zu ihrem wolmeinenden älteren Freunde geleitete, rechtfer-
tigen die Aufnahme des väterlichen Wortes an dieser Stelle. Es ge-
hört ja wesentlich zur Schilderung des Wehrli 'sehen Seminargeistes.
'„Meine lieben Freunde! Wie gern möchte ich heute beim Antritt des neuen
Jahres Euch, meine Lchrerzöglinge , die nun im Amte steheu und zu wirken be-
ginnen, alle um mich versammeln und einen ernsten, feierlichen Tag mit Euch
verleben! Wie sehr wünschte ich, Euch allen sammt und sonders mein Herz aus-
1
I
— 222 -
zulecren und besonder« bei dem Ruf, den die gegenwärtige Zeit an uns thut, Euch
auf Euere Stellung, auf Euere Pflicht und Pflichterfüllung wieder aufmerksam
machen zu können.
Da nun aber die Hindernisse, Euch alle in diesem Augenblicke zu einer
solchen Versammlung hier zu vereinigen, zu viele ßind, so wende ich mich nun
brieflich an jeden besonders und hiermit auch an Dich, mein lieber Theophil!
will ich Dich nun in diesem Schreiben anreden).
Von Deiner guten Gesinnung, von Deinem guten Willen, mit dem Du das
Seminar verlassen hast, von dem Entschlüsse vor Gott und dem Vaterlandc, Dein
Leben nur der Menschcnbildung zu weihen, wirst Du, wie ich annehmen darf,
nichts weniger als zurückgekommen sein. Diese edeln Vorsätze können, des Glaubens
lebe ich, nicht erloschen sein. Aber eines möchte ich fragen, mein lieber junger
Mann. Stehen sie wirklich noch so innig, so warm, so rein, so christlich erhaben
in Deiner Seele, wie damals, als Du das Seminar verließest, wo Du Dir die Welt
viel reiner vorstelltest, als sie wirklich ist, und Du noch nicht halb so viele
Schwierigkeiten ahntest, wie Du sie nuu in der Wirklichkeit findest? — Haben
Dein jugendliches Alter, Dein Umgang mit verschiedenen Menschen, Deine häuslichen
und andere gesellschaftlichen Verhältnisse, Lust und Last verschiedener Art, Lob
und Tadel, Deine ökonomische Lage u. a. m. erhebend oder niederdrückend auf Dich
eingewirkt? Hast Du Deine im Seminar begonnene Lehrerbildung und Lehrertüeh-
tigkeit im Hinblicke auf das Vorbild des göttlichen Lehrmeisters Jesu stets fort-
gesetzt, wie es Dein Vorsatz war — oder hast Du vielleicht vergessen, dass die Wahr-
heit: „Wer nicht vorwärts geht, geht rückwärts" , nirgends schneller ihre Anwen-
dung findet als beim Lehrer — und zwar zum großen Nachtheil seiner selbst und
».einer Schüler? — Ist aber letzteres — wie Noth thut es nun, sich von dem
Schlendrian loszureißen und sich zu erheben, oder aber abzutreten von einer Stelle,
wo schon die bloße Gleichgültigkeit unzuberechnenden Schaden stiften kann. Ein
Gärtner, wenn er es an einer Pflanze versieht, schadet doch gewöhnlich nur der
behandelten Pflanze. Der Schnlgärlncr aber setzt nicht blos ein Individuum aufs
Spiel, sondern schadet der ganzen Schule, und dieser Schaden erstreckt sich oft auf
mehrere Generationen.
Ja, lass uns, mein lieber Freund, unsere Lehrcraufgabe durchaus nicht lau
auffassen! Lass uns beständig über uns wachen, daas wir uns auf keinerlei Weise
so schwer an der uns anvertrauten Jugend versündigen! Lass uns wachen und
beten, dass wir hierin auf. keinerlei Weise in Versuchung fallen! Ein fortgesetzter
Kampf gegen alle Gleichgültigkeit, gegen alles Gemeinwerden — ein beständiges
Ringen nach Vollkommenheit, nach dem Lehrermustcr Jesu, führt allein dabin,
dass Gott mit seinem Segen uns beisteht, dass wir die Jugend wahrhaft bilden und
veredeln, unendlich viel Gutes stiften und so uns des Lehrerberufes freuen können.
Ja, kämpfen, ringen wollen und müssen wir beständig. Ihr seid, Freunde,
mit uns dessen bewusst , dass jeder Mensch seine schwache Seite bat und seine
schwache Stunde; aber eben weil wir dieses wissen, eben weil wir mit Pälus
fühlen, dass beim besten Willen das Fleisch oft sehr schwach ist, so lasst uns, wie
er, mit aller Anstrengung und Beharrlichkeit den guten Kampf kämpfen. — Diesen
Kampf zu bestehen, haben wir unter anderem ein vorzügliches Mittel darin, dass wir
auf unserer Lebensbahn zuweilen stille stehen und einen prüfenden Blick über
unser Thun und Lassen in die Vergangenheit werfen. Dieses Mittel wollen wir
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- 223 —
nun auch benutzen, und heute beim Eingang zum neuen Jahre eine solche ernate,
strenge Selbstprüfung vornehmen.
Frage sich jeder selbst:
A. Wie stehe ich als Lehrer und Erzieher unter den mir anver-
trauten Schulkindern?
1. Bin icb auch ein wahrhaft väterlicher und erziehender Lehrer?
2. Betrachte ich auch jeden Schüler ab von Gott mir anvertraut?
3. Bedenke ich, dass jeder Schüler, der ärmste wie der reichste, das Eben-
bild Gottes in sich trägt; dass der göttliche Keim in ihm von mir zu einer frucht-
tragenden Pflanze entwickelt worden soll?
4. Bedenke ich stet«, dass ich nun Elternstelle vertreten und das Kind nicht
blos einige Kenntnisse lehren, sondern erziehen muss?
6. Bin ich mir bewusst, dass ich nach Jesu Lehre das Kind ins Reich Gottes
fahren soll — und das« ich es mehr durch mein eigen Beispiel thuc, als durch das
Wort — und dass Uberhaupt der Lehrer mehr leistet durch das, was er
ist, als durch das, was er sagt?
G. Wo zum Vorbilde die Belehrung tritt, gebe ich sie ernst, herzlich, eindring-
lich — doch nicht in wortreichem Geschwätz?
7. Weiß ich, dass die vielen Strafen, die manche Lehrer geben, den Beweis
leisten, dass der Lehrer seiner Aufgabe nicht gewachseu, dass er eben kein Er-
zieher sei? dass er die Kinder nicht alle zweckmäßig beschäftige, kurz, dass e6
ihm entweder im Kopf oder im Ilerzen, und an der rechten Erziehungskunst fehle?
8. Weiß ich wol, dass das Verhüten des Strafwürdigen weit edler
ist, als das Bestrafen desselben? — und dass, wer dem Laster den Eingang
in daß schuldlose Herz wehrt, auch der Mühe überhoben ist, es aus demselben durch
gewaltsame Mittel zu vertreiben?
9. Sind im vergangenen Jahre meine Schüler durch die Wachsamkeit auf
ihre Herzen, durch mein Beispiel und meine Lehre wahrhaft frömmer und gottes-
forchtiger geworden, oder vielleicht nur weniger roh und äußerlich anständiger?
10. Halte ich mit allem Ernste darauf, dass meine Schüler fleißig die Kirche
besuchen — still und sittsam darin seien — aufmerksam zuhören — öfters Rechen-
schaft vom Gehörten geben -— an allen Theilcn der Gottesverehrung, besonders auch
am Gesänge Antheil nehmen?
11. Geben die Eltern meiner Schüler mir das Zeugnis, dass ihre Kinder nicht
nur Kenntnisse, sondern auch Liebe und Gehorsam zu ihren Eltern, Liebe zur
Arbeit und Liebe zur Reinlichkeit und Ordnung aus der Schule nach Hause bringen?
12. Halte ich strenge darauf, dass auch das Äußere meiner Schule
einen bildenden Einfluss auf die Kinder ausübe? Halte ich darauf, dass
Lehrgeräthe, Tische, Bänke, Wände, Boden u. s. w. stets rein erhalten werden, und
wenn etwas beschmutzt worden ist, es auf der Stelle, wo immer möglich, von dem
Verunreiniger selbst gereinigt werde?
13. Gewöhne ich sie, jederzeit an Händen und Gesicht gewaschen und mit
reinlichen Kleidern zu erscheinen?
14. Bilde ich den Schönheitssinn auch dadurch aus, dass ich alles, was im
Zimmer an Geräthen und Lehrmitteln aufzuhängen oder aufzustellen ist, symmetrisch
und gefällig vor ihre Augen hinbringe, dass die Kinder auch selbst ihre eigenen
Bücher und Lehrmittel in ihre Fächer wol zusammenordnen?
15. Achte ich darauf, dass meine Schüler beim Kommen und Weggehen
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Lehrer und Schul genossen zu grüßen Bich gewöhnen, — dass sie auch außer der
Schule die Regeln des Anstände» gegen ihre Mitmenschen, welches Alters und Stan-
des sie sein mögen, beobachten und die schöne Sitte der Begrüßung und des Dankes
sich wol aneignen?
16. Ist in meiner Schule gehörige Ruhe und Stille? Sind die Kinder nach
Andeutung des Lectionsplanes gut elassificirt? Sind alle Classen, mit Ausnahme der-
jenigen, die ich gerade laut unterrichte, mit zweckmäßigen stillen Übungen be-
schäftigt?
17. Lese ich den gegebenen Lection>plan öfters? suche ich ihm nachzukom-
men? setze ich mir lieber ein hohes, als cinniederei Ziel?
18. Gehe und sehe ich während des Unterrichtes Überall allem und jedem
fleißig nach?
19. Helfe und ermuthige ich, wo ich kann? Bin ich immer eines heiteren
Ernstes? Behalte ich den schönen, wichtigen Glcichmuth? Höte ich mich yor
zornigem Wesen? Habe ich nicht etwa Abneigung gegen die einen und Vorliebe für
andere?
20. Weiß ich auch, wie leicht sich verborgene, heimliche Sünden in Familien
und Schulen einschleichen und wie ein nagender Wurm Leben, Gesundheit, Heiter-
keit uud Denkkraft zerstören? Wie dieses schleichende Übel zu entdecken ist, und
was ein Lehrer zur Heilung desselben thun kann?
21. Bemühe ich mich im Unterricht der einzelnen Schumacher, den Schülern
immer klarer, gründlicher und fasslicher zu werden? Ist mein Unterricht ein
entwickelnder, organischer, oder zielt er mehr auf geistige Dressur?
Lasse ich auch der Erklärung und Entwickclung wo möglich unmittel-
bar darauf mündliche oder schriftliche Durchübung folgen?
22. Weiß ich im Unterricht der biblischen Geschichte die Kinderherzen zur
Liebe zu Gott, Jesu und ihren Mitmenschen zu erwärmen und zu gewinnen? Er-
zähle ich ihnen aus der Bibel jederzeit das Passende klar, kurz und innig, frage
ich sie darüber ab und lasse sie wieder erzählen? Verwische ich beim Lesen ein-
zelner Capitcl nicht den wolthätigen Eindruck durch eine trockene oder lange
Katechisation oder durch den Versuch zu predigen, was meines Amtes nicht ist?
Versäume ich nicht, Kern- und Kraftsprttche der heiligen Schrift und religiöse Lieder,
wie die von Geliert, auswendig lernen zu lassen?
23. Bin ich der Sprache so mächtig, dass ich die Sprache der Kinder
sprechen, das heißt, aus meinem Sprachschatze immer die der Fassungskraft der
Kinder verständlichsten Ausdrücke zu wählen im Stande bin, und bin ich darin so
weit gekommen, dass ich nun weiß, wie bei einem sehr einfachen, aller grammati-
kalischen Künsteleien entbehrenden Sprachunterrichte die Kinder denken und reden
und Gedanken schreiben lernen können? Verstehe ich diese Kunst? Bringe ich sie
wirklich dahin, dais sie geordnet denken, geordnet richtig sprechen, Briefe und
andere Lebensaufsätze schreiben, richtig, schön und gerne lesen und das Gelesene
verstehen?
24. Lernen die Kinder mit klarem Verstand im Kopf und mit der .Ziffer
rechnen, Rechnungsaufgaben geordnet, leserlich und in Kürze darstellen und lösen?
Lernen sie vorzüglich auch ein ökonomisches Haus- und Güterrechenbuch führen,
wenigstens bevor sie Quadrat- und Kubikwurzeln ausziehen lernen?
26. Außer der Zahl ist auch der Raum ein sehr bildendes Element. Weiß
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ich dasselbe zu scharfen Begriffsbestimmungen, zur Bildung und Scbärfung des
Verstandes, des so wichtigen Augenmaßes, zur Vorbereitung im Schönschreiben und
Zeichnen, wie auch zur Bildung des Schönheitssinnes zu benutzen? — Weiß ich, was
ich daraus dem Knaben, dem werdenden Manne, — und was ich dem Mädchen,
der künftigen Hansfrau, zu geben habe?
26. Verstehe ich im naturkundlichen Unterrichte die Naturgegenstände als
ein vorzügliches Mittel zu gebrauchen, den Beobachtungsgeiet zu schärfen, umsich-
tiger und vorsichtiger zu machen?
Weiß ich die Lehre von den Mineralien, Pflanzen und Thicren so zu behan-
deln, dass dadurch das Interesse zur Hebung und Förderung der Landwirtschaft und
de» Gewerbsfleißes erhöht wird?
Werden die Kinder bei der Naturgeschichte des Menschen zu höherer Selbst-
achtung und zu größerer Sorgfalt für ihren Leib gelangen, durch die Art, wie ich
sie mit den leiblichen und geistigen Kräften bekannt mache? Gebe ich auch bei
naturlehrlichem (physikalischem) Unterrichte von der lebendigen Anschauung der
Naturerscheinungen aus? Halte ich die Schüler an zur Betrachtung mit eigenen
Augen, statt blos mit Bücheraugen? Veranlasse ich sie zu Beobachtungen der
Licht-, Wärme-, Luft- und Wassererscheinungen, die sich ihnen täglich vor die
Augen stellen? zu Beobachtungen im Innern des Hauses, im Wohnzimmer, in Küche
und Keller, wie außerhalb desselben in Feld und Wald, in Thälern und auf Höhen?
Bin ich im Stande, beide, den naturgesehic-htlichen und nat urlehrlichen Theil, so zu
behandeln, dass das Gemttth bei Naturbetrachtungen ergriffen und erhoben, die
Größe und Liebe Gottes immer mehr erkannt, sein Wille mit Anbetung und Ver-
trauen vernommen und sein Name nie anders als mit hoher Ehrfurcht genannt wird?
27. Weiß ich durch die vaterländische Geographie und Geschichte die
Kinder an den heimatlichen Boden zu fesseln, dass sie das Land, das ihnen Gott
gegeben hat, lieben und achten lernen und das Streben in ihnen geweckt werde,
durch Fleiß, Arbeitsamkeit, wechselseitige Theilnahme und in der Noth durch
willige Beihilfe und Verteidigung desselben sich wert zu raachen? Weiß ich
diese beiden Bildungsmittel so zu behandeln, dass sich auf diesem Bildungswege iu
Zukunft mehr Einigkeit, mehr Liebe, mehr Thatkraft, statt bloßer Schönrednern
vom Vaterland erwarten lässt?
28. Uud du, Gesang, schöne, herrliche Gabe von oben und so sehr geeignet,
in das Gemüth des Menschen Liebe, Sanftmuth, Freude, Friede und Ruhe zu
bringen und dasselbe dadurch himmelan zu erheben! — pflege ich dich in meiuer
Schule, wie du es verdienst? Singen meine Schüler mit Gefühl, verstehen sie deu
<>edanken des Gesangtextes, ist ihr Gesang nicht blos sinn- und herzloser Schull?
Ist unser Gesang ein anmuthiger, ein reiner, ein sanfter und doch erhebender Ge-
sang? Lasse ich zuerst den Text mit Ernst und Würdo lesen, den Sinn klar auf-
fassen und erst dann auf den Schwingen der Tonkunst emporschweben? Befördere
ich besondere den Choral- und Kirchengesang? Weiß ich auch die ältere Jugend
in der Gesangliche zu erhalten — durch Gesang auf ihre Fortbildung zu wirken?
Stehe ich einem Gesangvereine vor — uud mit welcher Würde? Schmälere ich
nicht das Gemüthhildendc des Gesanges durch Lieder von trivialem Charakter?
Halte ich auf eine Auswahl, die das Herz bessert, die Menschenwürde ehrt - zu
Gott führt?
29. Beobachte ich auch bei diesem Unterrichtsfache einen eleraentarieeli.ui
P»«U*ogiam. 14. Jahr*. Heft IV. 17
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Gang? Geho ich vom Leichteren zum Schwereren nach gegebener Anleitung? Bringe
ich es dahin, dase leichte Gesänge vom Blatt weg singen gelernt werden?
30. In welchem Fache ich auch unterrichte, vergesse ich nie die Regeln:
a) Nie zu viel auf einmal!
b) Alles, was ich lehre, sei wahr und klar, und alles, was die
Schüler zu machen haben, sollen sie echt und recht machen!
c) Nicht Mos der Lehrer, sondern auch die Schaler sollen
sprechen, sollen zum Fragen und zum Antworten über den
Lchrgegeustand angehalten werden, ein Hauptmittcl, sie nicht
in Geistesträgheit versinken zu lnssen.
d) Pic Schüler sollen Rechenschaft über das Gelernte und Ein-
geübte geben können.
c) Wiederholung ist die Seele des Unterrichts.
31. Bin ich in der Schule immer der erste und der letzte? Fange ich
dieselbe jedesmal mit Gebet oder Gesang an und endige sie wieder mit einer
solchen Weihe?
B. Wie steht's um mich in meinem engem häuslichen Lebenskreise?
1. Wohnt bei mir in einem gesunden Leibe eine gesunde Seele?
2. Habe ich Sinn für das häusliche Leben? Weiß ich die Freude desselben
zu vermehren? Weiß ich, wie scheinbare Kleinigkeiten oft den Anfang zum großen
häuslichen^ Glück, aber auch ebenso leicht zum großen häuslichen Elend werden
können?
3. Bin ich der Sohn noch lebender Eltern, ehre ich sie nach dem vierten
Gebot mit Wort und Thnt? Erleichtere ich ihnen ihr Alter? Verdiene ich, ihr
Stolz — ihre Freude - ihres Alters Stütze und Stab zu heißen? Welches Beispiel
gebe ich hierin meinen Schülern?
4. Bin ich ein treuer, wolwollcnder Bruder meiner Geschwister? Könnte
ich mich für sie zu schweren Opfern verstehen? Was für ein Beispiel gebe ich hier?
5. Und will ich mich in eheliche Verbindung begeben kenne ich die
Wichtigkeit dieses Schrittes, sowol in ökonomischer als physischer und moralischer
Beziehung? Ist dieser Schritt nicht zu frühe für meine Jahre? Uasst das weib-
liche Wesen, welches ich mir zur Gattin wünsche, zu meinem Charakter als Mensch,
zu meinem Beruf als .Tugendlehrer und zu meinen ökonomischen Verhältnissen ?
Lasse ich mich bei meiner Wahl nicht durch blinde Leidenschaft und die Außen-
seite verführen? Wehe mir, wenn ich dieses thue; denn mein ganzes Lebensglück
steht hier auf der Wage! Bin ich Gatte und Vater — fühlt sich meine Lebens-
gefährtin durch mich glücklich? Bin ich ihr, was ich als Mann und Gatte sein
soll? Betrajre ich mich in meinem Berufe und in meinem Hause so, dass ich ihn*
Achtung und Liebe verdiene? — Bin ich Vater -- gebe ich in der Erziehung
meiner eigenen Kinder meiner Gemeinde ein gutes Beispiel? Erziehe ich sie in der
Ehrfurcht Gottes zum Gehorsam — zum Fleifl - zur Bescheidenheit — zut Ach-
tung und Liebe der Mitmenschen - zu jeglicher Tugend? Erziehe ich sie zur
Einfachheit in Nahrung und Kleidung, zur Ordnung:, Reinlichkeit und eigener Selbst-
tätigkeit? Sorge ich für die nöthigo Ver.standc*bildung, ohne die des Herzens zu
vernachlässigen? Verweichliche ich sie nicht? StäTke ich ihreu Körper durch Be-
wegung, durch Handarbeit mit dem gehörigen Wechsel von Ruhe? Hüte ich
mich vor jeder Treibhäuscrci? und hüte ich mich, durch einen Haufen
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▼on Spielsachen die Kleinen frühe schon launisc h und lerngleichgültig
zu machen?
6. Im häuslichen Kreise oder wo ich mich befinden mag — strebt- ich
immer darnach, meinen Reden und meinem Thun stets eine höhere, bildende
Richtung zu geben? Suche ich immer mehr Licht zu erwerben und es dann zum
Besten meiner Umgebung leuchten zu lassen nach dem Ausspruch Jesu, Matth. 5,
Vers 16? Vennehre ich, wo ich kann, meine religiöse Gesinnung — Friede im
Hause — Friede in Gott?
7. Fröhne ich keinen Leidenschaften, die mich von meinem Bernfe abziehen?
Ist mein Herz rein von tobenden Begierden - quälenden Wünschen — grämlicher
Unzufriedenheit?
8. Fallt der Vorwurf der Spielsucht, der jeder Lehrer wie einem Satan ent-
gegen zu arbeiten verpflichtet ist, nicht etwa selbst auf mich?
9. Verschwende ich nicht öfter Zeit iu politischer Kannengioßcrei oder
unterstütze ich gar politische Leidenschaften, statt vielmehr dazu beizutragen, sie
zu beschwichtigen? Bin ich nach dem Evangel. Matth. 5, Vers 6 und 6 ein Sanft -
müthiger und ein Friedensstifter?
10. Diu Hand aufs Heiz! Kann ich nun aufrichtig sagen, dass ich ein
guter Lehrer »ei? Dass ich noch besser zu werden mich bemühe? Dass alle
ineine Thätigkeit zur Grundlage das hohe Ziel habe zur Tugend und zu Gott
führen?!
C. Wie steht's um mich im Verhältnis zur Gemeinde?
1. Liegt mir der moralische und ökonomische Zustand derselben tief am
Herzen?
2. Traue ich, wo ich Gelegenheit habe, durch Rath und Thnt, ohne ab-
stoßende Aufdringlichkeit, zur Verbesserung und Verschönerung der Gemeinde bei?
3. Biete ich gerne, auch da, wo es größere Anstrengung erfordert, zu ge-
meinnützigen Anstalten das Meinige bei? Bin ich da eher der erste als der letzte?
4. Gelingt's mir, zu einem einheitlichen, friedlichen Biirgerleben mein
Scherfleiu beizutragen und verderbliche Zank- und Trölsucht ferne zu halten?
ö. Ist mein Haus, so einfach es sonst sein mag, doch in Hinsicht der Ord-
nung, der Reinlichkeit, zweckmäßiger Einrichtung, nicht das letzte in der Gemeinde?
Zeigt das In und das Um der Wohnung, dass ich Lehrer und Erzieher der Gemeinde
sei? Wie sind Stege und Wege zu derselben beschaffen? Wie baue ich meinen
Garten? Wie bestelle ich mein Pnanzlnnd? Welches Beispiel stelle ich hierin unter
meinen Mitbürgern auf?
6. Bestrebe ich mich, mein Möglichstes zur Belebung, Würdigung und
Hebung des landwirtschaftlichen Berufes zu thun? Bemühe ich mich iu Beispiel,
Wort und Tbat eher der erste als der letzte zu sein? Arbeite ich an Errichtung
gemeinnütziger Einrichtungen, wie z. B. au Gemeindebackofen, an Gemeinde Wasch-
häusern. Bewahnschulen , Arbeitsschulen für Mädchen, Löschanstalten, Vermehrung
der Armen- und Schulfonds etc.?
7. Ist die Erhaltung der Sitte und Zucht, die Fortbildung in weitereu
Keontnissen bei der älteren, größeren Gemeindejugend auch ein Gegenstand, der
mich beschäftigt, und was leiste ich darin?
8. Bin ich ein Freund von ununterbrochener Thätigkeit? Beseelt und be-
lebt mich bei den kleinsten Verrichtungen, z. B. Biiumepflanzen, Gemüsebauen,
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Stege und Wege anlegen und verbessern, Gchäme ausstreuen, Anstalten gründen
u. dergl. ein höheres Gefühl?
9. Und Venn mir Widerspruch begegnet — bin ich im Stande, solchen zu
erwägen, zu Vorsicht und Kräftigung zu benutzen, oder reizt er mich gar zur
Heftigkeit oder Entmuthigung?
10. Kann ich wirklich Widerspruch ertragen? Kann ich selbst Gegnern
mein Wolwollcn erhalten und sie vielleicht am Ende durch Sanftmuth gewinnen?
Habe ich auch selbst die Erfahrungswahrbeit bewährt gefunden? — Sanftmuth
und Liebe bezwingen alle Herzen — Wenn ich nur die liebe, die mich
lieben, so habe ich meinen Lohn dahin: und wenn ich dann Muth und Kraft
in meinem Amte fühle, weun man meine TbUtigkcit anerkennt, mich lobt und.
rühmt; aber verdrießlich und mutblos werde, sobald etwa auch Tadel auf mich fällt, —
dann habe ich auch meinen Lohn dahin.
11. Befleißige ich mich auch der strengsten Unparteilichkeit gegen jeder-
mann? Widerstehe ich Versuchungen dieser Art, wie sie oft z. B. beim Absenzen-
verzeiehuis eintreten, aufs kräftigste?
12. Gehe ich Überhaupt in allen ['dickten eines guten, dem Gesetze sich
unterordnenden und friedlichen Bürgers der Gemeinde und besonders meinen
Schulkindern mit einem guten Beispiele voran?
13. Liegt etwa einer meiner Schüler oder meiner Hitbürger auf dem
Krankenlager — besuche ich ihn, wo ich immer kann, um durch Bath und Trost
zu nützen, dem Arzte an die Hand zu gehen und Gutes zu thun?
14. Wird mein gesellschaftlicher Umgang von allen Verständigen und
Guten gebilligt? Hüte ich mich, Gesellschaften zu besuchen, die deT Bürger als
der Ehre des Lehrerstandes nachthcilig ansieht?
15. Gebe ich keinen Anstoß, kein Ärgernis durch Hochmuth, der keinem
Menschen schlechter ansteht als dem Lehrer, welcher vorleuchtend als christ-
licher LehTcr in Demuth und in dienender Liebe Jesu seinem Herrn
nachahmen soll?
16. Gebe ich keinen Anstoß durch irgend eine Modennacbäffung in Kleidern,
z. B. in der Kopfbedeckung? Bin ich auch kein Sonderling, sondern bestrebe ich
mich, durch nichts mich auszuzeichnen, als durch tüchtige und gewissenhafte Ver-
waltung meines Amtes und durch Bescheidenheit?
17. Ein Sprichwort sagt: „Sage mir, mit wem du umgehst, dann
will ich dir sagen, wer du bist." Welche verständigen Bürger gehören zu
meinen Freunden? Habe ich solche, durch die ich an Charakter und an Tugend
gewinne? Suche ich vorzüglich die Freundschaft und den Umgang des Geistlichen, der
unstreitig meine eigene Bildung am vortheilhaftesten fördern kann? Mache ich mich
seiner Freundschaft durch Unterstützung in seinem Amte, durch gebürendo Achtung wert?
18. Weiß ich mich auch besonders mit den mich so nahe angehenden Vor-
stehern meiner Schule in dasjenige Verhältnis zu setzen, aus welchem die Schule
Vortheil ziehen muss? Mache ich sie in der Schule bereitwillig mit dem bekannt, was
sie wissen müssen? Lasse ich es nicht an der gehörigen Zuvorkommenheit und
Achtung fehlen, welche ich ihnen schuldig bin? Schade ich meiner Achtung nicht
durch eine lästige Zudringlichkeit?
19. Weiß ich hingegen Einladungen von wolwollendcn Bürgern und Freun-
den zu würdigen, bescheiden anzunehmen und sie zu wechselseitigen, belehrenden
und zu mancher berichtigenden Unterhaltung, jedoch mit Vorsicht zu benutzen?
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20. Und leiste ich "schließlich selbst thatsächlich den Betrete, dass in Fleiß
nnd Arbeitsamkeit die höchste bürgerliche Tugend besteht?
D. »Und wie stehe ich da vor meinem allwissenden Gott, dem ewigen
Zeugen meines tiefsten Innern?
1. Ist er mir der Geber alles Guten, jeden Tag mein erstes und letztes?
Fange ich jedesmal mit Ihm und in Ihm mein Tagewerk an und ende ich es
wieder mit Ihm?
2. Ist Er mein liebster und bester Freund? Ist mir bei Ihm wol, wenn mir
sonst nirgends wol ist? Wenn mich die Welt verkennt, wenn alles mich zu ver-
bissen scheint, finde ich in Ihm hinreichende Ruhe und Eisatz?
3. Wenu ich die Erde, den Himmel betrachte, wenn ich meinen Blick auf
die unendlich vielen Geschöpfe richte; wenn ich meinen wunderbar gebauten
Körper, meine Sinne, raein Bewusstsein bedenke, kann ich in inniger Liebe und
Vertrauen, mit kindlichem Danke ausrufen: Vater! in Dir leben, wirken und
sind wir!?
4. Ist mir Lehrer das Zeugnis meines Gottes, des alleinigen Herzenskun-
digen, über alle Zeugnisse der Menschen? Sorge ich dafür, dess Er stets ein reines
Herz in mir erblicke? Stelle ich mir oft das Vorbild Jesu vor, wie er Tag und
Nacht im Dienste seines Vaters arbeitete und nicht Zeugnisse nahm
von den Menschen? Joh. 5. 34.
5. Bekenne ich auch öffentlich, wovon ich erfüllt und durchdrungen bin?
Ist mir der Sonntag ein heiliger, ein willkommener Tag? Ist mir der feierliche
<rlockenschlag ein hoher Ruf von oben und gehe ich gern zur Versammlung der
Christen? Befördere ich die öffentliche Gottesverehrung?
Und nun, mein lieber Tneophil! reiche mir die Hand und sage mir , nach
diesen get hauen' Fragen, nach dieser Selbstbeschauung: Inwieweit bist Du nun
«in guter Lehrer? ein guter Sohn? ein guter Bürger und Vater?
Nicht wahr, es bleibt noch manche* zu verbessern übrig auf das kommende
Jahr? Jawohl, immer noch fehlen wir Lehrer allesammt viel. Aber arbeiten
wollen wir auch in dem neuen Jahre, damit wir wirklich besser werden.
Wie s oft ist auf Erden.
Also soll's nicht sein:
Laset uns besser werden,
Gleich wiTd's besser sein.
Gottes Gnade und Liebe helfe uns und stärke uns im neuen Jahre! Die
Liebe Gottes sei mit uns und vermehre unsere Liebe, ohne welche wir elende,
lebendigtodte Menschen sind. — Die Liebe ist's, die uns erwärmt und uns zum
besten Lehrer, zum besten Hausvater antreibt, zum besten Bürger. Christen und
Menschen macht. Die Liebe hat Freude und schafft Freude. Sie bedarf wenig
und gibt viel. Nur durch Liebe werlen wir Gott Ähnlich! Lasst uns, meine
lieben Freunde, täglich Gott bitten, dass Er unser kaltes Herz erwarme und mit
Liebe erfülle!
Quelle der Weisheit, gib den Wcisbeitsbcdürftigeu Weisbeit!
Ewige Wahrheit, lehre die Wahrheitsuchenden Wahrheit!
Nichts gefällt Dir so, wie Lust an Pflicht und Berufstreuo —
0! sie verlasse mich nie, die Lust und die heilige Treue!
Digiti
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Lehre fröhlich mich thun, was Pflicht und Menschlichkeit thun heißt;
Lehre muthig mich tragen, im Blicke auf Dich, des Berufes Last!
Quelle der Liebe, gib dem Liebebedürftigen Liebe!
Lehre mich stets mehr seiu ein Beispiel der Sanftuiuth uud Demutht
Lehre mich jedes Kind als vertraut von Dir aus betrachten!
Gib mir Worte «ler Weisheit aus Deinem Munde für alle!
Lass in alle Herzen mich pflanzen Liebe der Wahrheit,
Liebe des Rechts, der Religion und der Tugend!"
Bevor ich mein Sendschreiben schließe, will ich Dir noch nachstehendes Lied
aus meiner Liedersammlung mittheilen, das ich Dir recht oft und viel mit
Nachdenken zu lesen empfehlen mochte!
Das Geheimnis des Lehrers.
Kennst du die Probe, kennst du die Frucht
Von deiner Hände Wirken, deinem Sinnen,
Die Kinder zu erzieh'n zu frommer Zucht,
Und für das Reich des Vaters zu gewinnen?
0 forsche, wo der Stein deT Weisen liegt,
Damit man Herzen leitet und besiegt,
Der alles dir gewinnet, was du wagst,
LTnd ohne den du ewig nichts vermagst.
Der Nächste bist du dir; das eigne Herz
Genießt zuerst die vorerwählten Freuden;
Am tiefsten kümmert dich der eigne Schmerz.
Du willst zuerst im Winter warm dich kleiden;
Kennst du die Freud' und ihren holden Schein,
Dann ladest du wol andre zu ihr ein;
Floh Nacht und Gram von deiner Seele fern,
Dann zeigst du andern froh den Morgenstern.
Der Nächste bist du dir; liebst du dich nicht,
Rufst du dir seiher nicht: Auf, werde Licht!
So wandelt dir der andre wol im Trüben!
Wer seiner Sünde nie mit Ernst geflucht,
Wer seine Seligkeit nie recht gesucht,
Der reißt den Bruder nicht aus Sündenuoth,
Der führt niemanden zum lebend'gen Gott.
Der Mcnschcnsohn, der auserwählte Stein,
Ist Prüfstciu deiner Thaten und Gedanken;
Fühlst du das Heil, sein Eigenthum zu sein,
Dann kennet deine Liebe keine Schranken;
Trieb, Geist und Kraft wird mächtig dich durehgliihn,
Die Kindlein auch vor seinen Thron zu zieh'n; —
Liebst, achtest du dich selbst in Jesu nicht,
So ist dein Leben nur ein Traumgedicht.
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— 231 —
0 schwerer Traum! Hier dunkel schon und freudlos,
Doch freudenloser noch an jenem Tage,
Wenn du vor ihm erscheinest leer und blos.
Wenn dich umgibt verlorner Lämmer Klage!
Weil du die cig'ne Seligkeit verträumt,
Hast andere zu retten du versäumt,
Und über dir, wie Sterne, schön und klar,
Steht im Triumph der treuen Lehrer Schar! —
Wach auf, mein Geist! In deiner Seligkeit,
In deinem Glauben ruhen tausend Keime
Für deiner Brüder Seelenheil bereit!
Auf, komm zum Herrn; verlas» die finstern Träume!
Liebst du das Herz, das sterbend für dich brach,
So lieben dir viel andre Herzen nach;
Mit ihnen wirst du edlen Samen säen,
Mit ihnen dort als reife Garbe stehen!
Und nun, mein lieber Theophil, geht's zum Abschiede. Möge ich mit dicseu
prüfenden Fragen Dich an Deine Pflicht und Pflichterfüllung erinnert und zu
Deiner Weiterbildung und Vervollkommnung einen muthigen Antrieb ins kommende
Jahr gegeben haben! Ich weiß, der junge Lehrer bedarf zuweilen einer erneuerten
Regulirung, Ermuthigung und Einlenkung inrs Geleise des Obereichselbstwachens
und der Denrath, damit er nicht wanke oder gar falle. Wir Alten habens ja noch
nöthig— wieviel mehr ihr jungen Amtebrtider! Der Ruf dieser Zeit, meine lieben Freunde,
geht ernst an uns. Achtet auf ihn mit allem Fleiß! Achte auch Du, mein lieber Theophil,
auf ihn! Mach' auch Du, dass sich das Vaterland, dasa auch ich mich, Dein väterlicher
Lehrer, in den Hoffnungen auf Dich nie getäuscht sehe! Wird mir das Vergnügen zutlieil,
Dich in Deiner Schule besuchen zu können, so hoffe ich mich dann tbat sächlich über-
zeugen zu können, dass Du Dich bemühst, in die Reihe unserer eifrigsten und an-
ziehendsten Lehrer zu gehören. Lies gern zur Vermehrung reiner und christlicher
Lebens- und Lehreransichten und zu höherem Aufschwung in den Evangelien das
Leben.', Lehren und Wirken des göttlichen Gesandten. Diese Leetüre, mein lieber
Theophil, erhebt, stärkt und erleuchtet mehr, als es leider in unserer Zeit die große
Zahl der Lesesüchtigen kaum ahnet! Bete und arbeite! Das seien die letzten
Worte im alten und die ersten im neuen Jahre von Deinem
väterlichen Lehrer und Freund
J. J. Wchrli.
So war und dachte Wehrli. Überall der väterliche Freund und
Lehrer. (Schluss folgt.)
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Beiträge zur Reform des Religionsunterrichtes in Bezng
auf Inhalt und Lehrweise.
von allen Schulbüchern, die in den Händen unserer Jugend
sind, halte ich die kirchlichen Katechismen für die schädlichsten.
Wollte man gegen vieles, was der Inhalt bietet, im christlichen und
pädagogischen Interesse auftreten, so würde man ganze Bücher schreiben
müssen. Uns Lebrer kann nur das interessiren, was einen biblischen
oder culturgeschichtlichen Anknüpfungspunkt bietet oder wenigstens
eine poetische Seite hat.
Die Jugend und das gemeine Volk steht noch immer unter dem
Bann alter theologischer Anschauungen, die den reinen Gottesbegrift
beeinträchtigen und im Cultus herrschend sind.
So 'heißt es z. B. im römischen Katechismus: „Die Gläubigen
haben Gemeinschaft mit den Heiligen im Himmel, indem die Gläubigen
auf der Erde die Heiligen verehren und um ihre Fürbitte anrufen." —
80 bestimmten es spätere Concilien und Päpste; die heilige Schrift
weiß nichts davon, also auch nichts von Schuteheiligen (Patronen).
Das Christenthum anerkennt nur Christum als den einzigen Mittler
zwischen Gott und den Menschen. Seine wolverstandenen Lehren
bieten alles, was wir bedürfen.
Andere verhält es sich mit den vermittelnden Wesen, die das
Christenthum übernommen hat aus dem Alten Testamente. Diese
Mittelwesen zwischen Gott und den Menschen sind die dem semiti-
schen Vorstellungskreise eigen thümlichen Engel, die als Verkündiger
und Vollstrecker des göttlichen Willens erscheinen, also nicht eignen
Willen haben, wie die römische Kirche annimmt Nach der hebräi-
schen Weltanschauung umgibt ein Heer von Engeln den göttlichen
Thron, und diese Vorstellung ist auf das Christenthum übergegangen.
Von Th. Verna leUen-Graz.
VII. Über Engel und ähnliche Mittelwesen.
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Bei den heidnischen Völkern des Alterthums zeigen sich nur ähn-
liche Vorstellungen, wie denn überhaupt ihre Naturreligionen manches
gemein haben mit den geoffenbarten. Von jeher hat sich die Ein-
bildungskraft der Völker Wesen geschaffen, indem sie personificirte.
Was ursprünglich der Volksdichtung angehört, geht in den Volks-
glauben über und die spätere Theologie macht daraus Glaubensartikel
die dann Eingang finden in den religiösen Cultus und zuletzt in die
geschriebenen Urkunden. Das ist — kurz gesagt — der historische
Gang der Religionen, der aber häufig auf allerlei Irrwege geführt hat.
Werfen wir vorerst einen Blick auf das vorchristliche Alterthum.
Bei den Römern bedeutete Genius so viel als Schutzgeist, der
ähnlich den deutschen Schicksalsschwestern (Nornen), den Menschen
von seiner Geburt an durch das Leben begleitete und selbst nach
seinem Tode schützend fortwirken konnte. Auch jedem Orte schrieb
man seinen Schutzgeist zu. Die Römer glaubten an gute und böse
Genien. Die Griechen hatten ihre Musen als Förderinnen der Kunst
ilire Dämonen, die auf das Schicksal wolthätig oder verderblich ein-
wirkten. Man stellte die Dämonen in die Mitte zwischen die Heroen
und Götter. Nach Piaton bringen sie, den christlichen Engeln ähn-
lich, die Befehle und Gaben der Götter zur Erde nieder und tragen
die Bitten und Gebete der Menschen zu den Göttern hinauf. Die un-
sichtbar den Menschen umschwebenden Dämonen brachten Glück oder
Unglück. Die Juden und Christen haben später alle heidnischen.
Götter für Dämonen erklärt und zwar für böse Dämonen, für Teufel.
Als das deutsche Heidenthum durch das Christenthum verdrängt
wurde, war es ganz natürlich, dass die vorher verehrten Gottheiten
als böse Mächte betrachtet wurden. Wie man einerseits bisher ge-
hegte Vorstellungen auf die Heiligen übertrug (z. B. Wodan auf den
heil. Martin etc.), machte man andererseits die früheren Götter-
gestalten zu gespenstigen, gottwidrigen Wesen. Um den Teufel sam-
meln sich im Volksglauben viele alte Vorstellungen, und daher sind
unsere Teufelssagen so zahlreich. Dem deutschen Heidenthum ist der
Teufel fremd, selbst der Name Diabolos ist griechisch.
Welche Vorstellungen hat nun das Juden- und Christenthum von
den Mittelwesen?
Das Alte Testament berichtet von den Cherubim, die das Neue
Testament nicht mehr kennt. Ein Cherub mit flammendem Schwert
hütet das Paradies, nachdem Gott Adam und Eva aus demselben ver-
trieben hatte; zwei Cherubim mit ausgebreiteten Flügeln waren auf
der Bundeslade angebracht; oft heißt es auch, Jehovah fulu1 oder flog
— 234 —
auf dein Cherub, was wol bedeuten soll, er bewegte sieb kraft seines
Geistes durch den Raum. Die Cherubim erscheinen aber auch zum
Theil mit thierischer Gestalt, als geflügelte Wunderthiere mit Menschen-
gesicht. Nähere Aufschlüsse gibt Herder in seiner Schrift: „Vom Geist
der ebräischen Poesie."
Verschieden davon ist die Vorstellung von den im Alten und
Neuen Testamente vorkommenden Engeln, und der kirchliche Glaube
reicht bis auf unsere Zeit. Darum müssen wir im Interesse unseres
Jugend-Unterrichtes ausführlicher darüber sprechen.
Vor mir liegt der „ Kleine Katechismus" M. Luthers und der
römisch-katholische. Beide sprechen von guten und bösen Engeln
(Teufeln) und citiren als Hauptbeleg 1, 14 des Hebräer -Briefes: »Sind
nicht allzumal die Engel dienende Geister, ausgesandt um derer willen,
die ererben sollen die Seligkeit (das Heil)?" Der unbekannte Ver-
fasser des Briefes an die Hebräer zeigt ihnen, wie die neutestament-
liehe Offenbarung durch Christus über die alttestamentliche erhaben
sei, und dass der Gottessohn in seiner Würde über die Engel weit
hinausragt. Die Engel seien nur Boten und Diener Gottes.
Was hat nun der römische Katechismus daraus gemacht? Unsere
Kinder müssen Folgendes lernen: „Die merkwürdigsten Geschöpfe
Gottes sind die Engel und die Menschen. Die Engel sind reine
Geister, welche Verstand und Willen, aber keinen Leib haben. a
(S. „Großer Katechismus für die kath. Volksschulen." Wien, Schul-
bücher-Verlag.)
Was sich wol die Kinder seit Menschenaltern dabei gedacht haben?!
,.Was man nicht versteht — sagt Goethe — besitzt man auch nicht."
Da die vielen Kinder die angeführten Worte ohne Verständnis aus-
wendig gelernt, werden sie dieselben wol bald vergessen haben, und
so wird es auch gehen mit dem Zusätze: „Viele Engel haben die
Gnade Gottes durch die Hoffart verloren; man nennt sie Teufel und
sind in die Hölle verstoßen."
Im Zusammenhange damit steht die biblische Überlieferung von
Lucifer, wie auch die griechische Mythe von den Titanen, die sich
gegen Zeus empören. Auch die germanischen Riesen waren Feinde
der Götter, und die bösen Riesen sind nach dem christlichen Volks-
glauben später Teufel geworden. -
Unsere Kinder ahnen es nicht, dass sie ein Stück heidnischer
Mythologie lernen.
Es liegt darin der uralte Gegensatz von Gut und Böse, der sich
in fast allen Religionen findet, indem man solche den Naturkräften
entnommene Anschauungen persönlicht (personificirt).
— 235 —
Kinder vermögen aber Poesie von Wirklichkeit noch nicht zu
unterscheiden, und darum werden sie nur irregeführt, besonders wenn
ein nur dogmatischgeschulter Katechet vor ihnen steht. Besser wäre
es, wenn Schulbücher nichts enthielten, was den Kindern noch nicht
erklärt werden kann. Ein Kind wird nie begreifen, dass Wesen „ohne
einen Körper doch Verstand und Willen" haben.
Ähnlich den oben genannten Genien und Dämonen sind die
Engel. Das Wort E n gel ist griechischer Herkunft, aber durch die heilige
Schrift in alle neueren Sprachen übergeführt, weil für den himmlischen
Boten und Geist kein heimischer Ausdruck geeignet schien. Angelos
heißt Bote, Gesandter, Verkündiger, also eine Art Mittelwcsen. Die
alten Griechen glaubten, der Allherrscher Zeus kenne das Zukünftige
er verkünde seinen Willen durch Zeichen verschiedener Art, durchr
Träume, durch Blitz und Donner, durch Vögel und Orakel. Auch in
anderen Religionen finden sich Vorzeichen und Verkündigungen der
unsichtbaren Gottheit. Im ganzen Morgenlande, also auch bei den
Hebräern, dachte man sich solche Mittelwesen als Verkündiger des
göttlichen Willens. Seit den Zeiten des babylonischen Exils ward
diese Vorstellung mein- versinnlicht, indem man glaubte, dass ein Heer
von Engeln den göttlichen Thron umgebe. Unter ihnen gab's wieder
Vorstande, von denen besonders der große Fürst Michael (Daniel 12, 1)
und der Erzengel Gabriel genannt werden. Vom Erzengel Michael
ist in der deutschen Sage viel die Rede. St. Michael trat an Wodans
Stelle; mit Schild und Schwert bewaffnet tritt er auf dem Bilde Kalli-
bachs als „deutscher heiliger Michel" auf den Nacken Napoleons III.
(1870). Auf diesem Bilde ist er, wie die Engel in der Kunst über-
haupt, mit Flügeln versehen, um sie als Boten vom Himmel zu be-
zeichnen.
Bei dem Evangelisten Matthäus (18, 10) begegnen wir der volks-
tümlichen Vorstellung von Schutzengeln der Personen, die Gottes
Angesicht näher oder ferner stehen. Bei Matth. 2, 13 erscheint dem
Josef ein Engel des Herrn im Traume und ermahnt ihn nach Ägypten
zu fliehen mit dem Kinde und seiner Mutter.
Diese und andere Engelserscheinungen im Neuen Testamente
hängen zusammen mit den zahlreichen Engelserscheinungen des Alten
Testamentes, und diese wieder stimmen zum Theil mit den Überliefe-
rungen anderer asiatischer Religionen, namentlich mit dem Buddhismus.*)
Bei Lucas 1 verkündet der Engel Gabriel dem Zacharias die Ge-
burt des Johannes, und der Maria verkündet er die Geburt Jesu.
*) Vgl. Rud. Seydel, Das Evangelium von Jesu (Leipz., Brcitkopf ) S. 108.
- 236 —
Aus dem Gruße (Vers 29 ff.; hat sich später das Ave Maria, der eng-
lische Gruß der katholischen Kirche gebildet. Damit ist zu vergleichen
die Verkündigung des „Engels des Herrn" an die Mutter Simsons, des
Erlösers Israels (Richter 13) und die ähnliche Verheißung an Hanna,
die Mutter Samuels (1. Samuel). Als dem „Vater unser" gleich-
gestelltes Laiengebet kommt das Ave Maria mit dem erweiterten, fast
ans Heidnische grenzenden Mariendienst seit dem 11. Jahrhundert vor
und noch später mit einigen Zusätzen.
Von dem was wir hier über diese Wesen (etwa für den Religions-
unterricht in Lehrerbildungs- Anstalten) mitgetheilt haben, gehört nur
dasjenige für den Jugendunterricht, was zur Erläuterung der bibli-
schen Erzählungen dient, in denen Engel genannt werden.
Vieles davon ist als poetische Umhüllung anzusehen und kann
nicht zu Glaubensätzen gemacht werden. Der Lehrer geht weniger
irre, wenn er auch Bekanntschaft gemacht hat mit den alten Uber-
lieferungen anderer Nationen. Man kann die Leser der biblischen
wie auch aller religiösen Urkunden nicht genug daran erinnern, dass
darin drei Elemente in eins verwebt sind: 1. Geschichtliches, 2. Lehr-
haftes. 3. Dichtung und Volksglaube aus der jeweiligen Periode des
betreffenden Landes.
Schließlich sei noch erwähnt, in welcher Weise das Wort Engel
in unsern deutschen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat. Selbst
in Eigennamen finden wir es, z. B. Engelhart, Engelbert. Außerdem
heißen wir unschuldige Kinder vorzugsweise Engel; von alten Leuten
wird niemals Engel gesagt. Nur schöne und geliebte Frauen werden
angeredet: Mein Engel; auch Walther von der Vogelweide schrieb:
Tiusche (deutsche) man sint wol gezogen, rehte als (gerade so wie)
engel sint diu wip getan. Nach einer tiefgreifenden Vorstellung
des biblischen Alterthums ist jedem Menschen ein Engel beigegeben,
der über ihn wacht und ihn geleitet, woher die Ausdrucks weise :
Die Kinder am Abhang haben ihren guten Engel; das spricht dein
guter Engel aus dir; das gab dir dein Engel* ein. Doch sagt auch
Schiller: Wer bist du, den sein böser Engel mir entgegen schickt? —
Auch Zusammensetzungen sind häufig, z. B. Engelbild. Engelbrot.
Engelchor, Engelgabe, Engelgesang, engelgleich u. s. w.
„Ein Engel flog durchs Zimmer!" spricht der Volksraund, wenn
plötzlich Stille eingetreten. Und — wir schweigen auch, und em-
pfehlen das Gesagte dem weiteren Nachdenken unserer Leser.
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Adolf Diesterweg über Ednard Beneke und dessen
Lehre vom Angeborenen.
Mitgetheilt von Prediger Heinrich Neugeboren- Kronstadt in Siebenbürgen.
erste Lieferung der zweiten, durchgesehenen Auflage von
Adolf Diesterwegs ausgewählten Schriften (herausgegeben von Eduard
Langenberg in Frankfurt am Main, bei Morite Diesterweg, 1890) ent-
hält auf Seite 72 bis 8ö einen Aufsatz „Über das Angeborne".
Diesterweg erwähnt im Eingang desselben: „Das Beste, was wir vor-
zulegen haben, rührt nicht von uns selbst, sondern vom Professor
Beneke her, dessen »Lehrbuch der Psychologie, Berlin1 und dessen
.Erziehungs- und Unterrichtslehre, Berlin' wir bei unsern Betrach-
tungen zum Grunde legen. u
In seinem 1856 er pädagogischen Jahrbuch für Lehrer und Schul-
freunde theilt Diesterweg zwei Aufsätze mit über Benekes Leben und
Forschungen, welche von ihm selbst, von Schmidt und Dressler her-
rühren. Im ersten Abschnitt der Biographie sagt Diesterweg unter
anderm : „Beneke war mir befreundet, ich schätzte ihn sehr hoch,
ebenso sehr als Menschen, wie als Gelehrten und Forscher. Als Mensch
war er das, was die Alten eine anima Candida (eine reine Seele)
nannten; ich glaube, dass er wie eine unberührte Jungfrau aus der
Welt geschieden ist Was er als Forscher war und geleistet hat,
weiß die Welt und wird auch in diesen Blättern noch weiter davon die
Rede sein.*
„Beneke war ein edler Mensch. Einem solchen setzt man gern
ein Denkmal. (Erstes Motiv.)
Beneke war ein Philosoph. Diese Gattung von Menschen wird
seltener. Aber wir hoffen mit Schiller, dass, wenn auch die Philo-
sophien verschwinden, doch die Philosophie fortbestehen wird. Die
Beneke'sche wird aber so bald nicht verschwinden, sie verdient ver-
breitet zu werden. (Zweites Motiv.)"
„Seine Philosophie war verständlich, klar, lernbar, praktisch, war
Naturforschung, ging von festen Thatsachen aus, schwebte also nicht
— 238 —
in der Luft, enthielt keine (speculativen) Hirngespinste, und sie er-
probte sich in Anwendungen sowol theoretisch in der Pädagogik als
Wissenschaft, wie auch praktisch in der Bildung junger Männer.
Ganz mit Recht gehören daher Schulmänner mit zu den Anhängern
und Verehrern Benekes.u
„Wir halten an der Überzeugung der deutschen Pädagogen
fest: ohne Nachdenken über psychologische Erscheinungen ist kein
klarbewusstes Handeln als Erzieher möglich; ohne rationelle Psycho-
logie gibt es keine wissenschaftliche Pädagogik. Weil nach unserem
Bedünken die Beneke'sche Psychologie in diesen wichtigen Be-
ziehungen mehr leistet, als irgend eine andere, so halten wir an ihr
fest und empfehlen ihr Studium den Lehrern, welche mit klarem Be-
wusstsein zu handeln das Bestreben verspüren."
Das von Diesterweg im Eingang erwähnte Lehrbuch der Psycho-
logie von Beneke erschien 1861 in Berlin bei E. S. Mittler & Sohn
in dritter vermehrter Auflage, neubearbeitet und mit einem Anhang über
Beneke's sämmtliche Schriften von Johann Gottheb Dressler, Seminar-
director a. D. in Bautzen, und Beneke's Erziehungs- und Unterrichts-
lehre wurde in dritter Auflage ebendort 1864 von Dressler heraus-
gegeben.
Ehe Diesterweg die in diesen beiden Werken sowie in den später
erwähnten „psychologischen Skizzen" Beneke's enthaltenen Bestim-
mungen über das dem menschlichen Geiste Angeborene mittheilt, er-
geht er sich in Betrachtungen über die Geschichte der Wissenschaften,
die uns in ihrer Entwicklung zuerst immer rohe Anfange, Festhalten
am Sinnlichen und Groben, Beharren bei den äußeren Erscheinungen
zeigt und nachweist, dass der Geist nur langsam und allmählich er-
starkt zum Eindringen in das dem leiblichen Auge und dem groben
Tastsinne verschlossene Innere. Diese Wahrheit wendet Diesterweg
noch in kurzen Bemerkungen auf drei Gebiete des Erkennens an:
auf Religion, Sprache, Psychologie. In Bezug auf die letztere sagt
Diesterweg: „Je weiter die Wissenschaft fortgeschritten, je tiefer
man in die Natur des Geistes eingedrungen, desto mehr hat man die
früheren Annahmen von ursprünglich Gegebenem, Positivem, Angelegtem
fahren lassen, desto mehr hat man die Mannigfaltigkeit der Erschei-
nungen auf einfache Grundvermögen zurückzuführen versucht Vieles
von dem, was man früher für angeboren hielt, erkennt man jetzt als
ein Abgeleitetes, ja, man begreift zum Theil die Art seines Entstehens
und Werdens." „Für die Psychologie nicht nur, sondern auch und ganz
besonders für die Pädagogik ist die Lehre von dem dem menschlichen
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Geiste Angeborenen von der höchsten Wichtigkeit. Falsche Voraus-
setzungen führen den Erzieher zu falscher Beurtheilung, zu falscher Be-
handlung. Der theoretische Mangel wird hier gleich, da die Päda-
gogik eine Kunst ist, zu einem praktischen Fehler."
Nach solchen und ähnlichen Bemerkungen theilt Diesterweg folgen-
den Auszug aus den drei früher erwähnten Schriften ßenekes mit.
1. In der ausgebildeten Seele unterscheiden wir dreierlei:
a) das Gegenständliche (Objective);
b) die Form, in welcher die Gegenstände psychisch aufgefasst
werden;
c) die quantitativen Bestimmungen der vorigen Momente.
Das erste, der Gegenstand, mit dem sich die Seele beschäftigt,
sei er materieller oder geistiger Art, kann nicht angeboren sein.
Eine gegenständliche Bestimmung ist etwas Erworbenes; daher ge-
hören die Meinungen von angeborenen Neigungen, Leidenschaften etc.
zu den psychologischen Erdichtungen. Allerdings entwickelt sich in
dem einen Kinde leichter diese, in einem andern jene Neigung. Aber
angeboren ist weder die eine, noch die andere. Es rührt dieses eines-
theils von den Einwirkungen von außen, anderntheils von der Ver-
schiedenheit der Uraniagen her, wovon nachher die Rede sein wird.
Gewisse Dinge stimmen mehr mit der größeren oder geringeren Kräftig-
keit der Uraniagen in einzelnen Individuen überein. Ebensowenig sind
die psychischen Formen, wie wir sie in der ausgebildeten
Seele antreffen, angeboren. Allerdings gehört zu einer Einbildnngs-
vorstellung Einbildungskraft, zum Verstehen Verstand, zum Wollen
der Wille; aber eine angeborene Einbildungskraft etc. folgt daraus
nicht. Diese Formen haben sich erst nach vorgängigen Entwicke-
lungen gebildet, Allerdings sind diese Entwickelungsgesetze und Ent-
wickelnngsverhältnisse mit» einer gewissen Notwendigkeit bedingt,
sonst würden sich nicht in allen Menschen dieselben Formen ent-
wickeln; aber diese Bedingtheit schließt keine Vorausbildung, keine
Präformation ein. Es ist Prädetermination, Prädestination. Wie der
Apfelkern nicht schon die Zweige, Blätter und Blüten des künftigen
Baumes in sich vorgebildet enthält, ebensowenig enthält die erst zum
heben erwachende Seele die Eigenschaften und Entwicklungen der
ausgebildeten. Alle psychischen Formen haben späteren Ursprung.
Das Angeborene oder Ursprünglich -Gegebene äußert auf das
dritte, die quantitativen Bestimmungen der psychischen Anlagen,
den größten Einftuss. Die angeborenen Anlagen ziehen nur die
Grenzen, innerhalb deren sich die Ausbildung der Seele halten muss.
Zwischen den äußersten Punkten sind unzählige Grade möglich.
Die angeborene Anlage ist der sich gleichbleibende Factor, zu welchem
andere Momente von außen hinzutreten.
2. Angeboren sind dem Menschen die Uraniagen der verschiedenen
Sinnessysteme, durch welche die Seele von den Dingen und Be-
schaffenheiten der Dinge der äußeren Welt erregt wird. Jedes dieser
Systeme, z. B. das des Gesichts, des Gehörs etc., besteht aus einer
unbestimmten Zahl von ürvermögen, welche die Fähigkeit be-
sitzen, von bestimmten Eigenschaften, z. B. den verschiedenen Farben,
gereizt zu werden. Diese sind insofern bestimmt, als jedes System
nur für eine bestimmte Art von Gegenständen empfänglich ist, z. B.
die ürvermögen des Gehörs nur für Schälle, nicht fiir Düfte, Formen.
Farben etc. In jedem dieser Systeme finden wir von Anfang an drei
individuell bestimmte Grundeigenschaften:
a) einen gewissen Grad von Reizempfänglichkeit;
b) einen gewissen Grad von Kräftigkeit, wovon die Vollkom-
menheit der Auffassung und der Aneignung des Reizes, wie
auch das Festhalten und die Reproduction desselben abhängt;
c) einen gewissen Grad von Lebendigkeit. Durch sie wird
das Maß der Schnelligkeit, sowol der ursprünglichen Auf-
nahme und Aneignung, als der Reproduction bestimmt
Diese drei Grundeigenschaften sind, außer der unbestimmten
Menge der Uraniagen, das Angeborene der Seele. Sie kommen in
jedem Grundsystemc vor, und sie können in den Ürvermögen der
einzelnen Grundsysteme in den verschiedensten Graden vorkommen.
So finden wir in demselben Individuum eine hohe Reizempfänglichkeit
des Gesichtssystems häufig mit einer schwachen des Gehörsystems
vereinigt; in einem anderen hohe Kräftigkeit des Gehörsystems mit
schwacher Kräftigkeit des Geschmacksystems etc.
3. Außer dem bisher Genannten: den Ürvermögen in gewissen
Grundsystemen und den genannten drei Beschaffenheiten in jedem der-
selben; ist der menschlichen Seele nichts angeboren. Alle übrigen
Anlagen der ausgebildeten Seele müssen erst entstehen. Sie ent-
stehen nach dem allgemeinen Entwickelangsgesetze: dass von allen
psychischen Thätigkeiten, welche mit einiger Vollkommen-
heit gebildet sind, auch wenn sie aus dem Bewusstsein ver-
schwinden, eine Spur im Innern der Seele zurückbleibt,
welche eine Anlage (Angelegtheit) begründet, die nun als solche
oder als Kraft in die späteren Entwickelungen eingehen kann.
Wirkt z. B. die rothe Farbe zum erstenmale auf den Gesichts-
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sinn eines Kindes, so wird von ihr noch keine deutliche Vorstellung
in der Seele zurückbleiben, wol aber eine Spur. Bei dem zweiten
Eindruck der rothen Farbe wirkt diese Spur mit, das Auffassen des
Eindrucks wird schon bestimmter und die Spur wird verstärkt etc.
so dass dadurch eine Anlage, die rothe Farbe wahrzunehmen, entsteht.
So bilden sich Anlagen, Neigungen, Gemüthsbeschaffenheiten,
Fertigkeiten, Talente.
Durch die Verbindung der gleichartigen Spuren ist ein unend-
liches Wachsthum in Hinsicht der Stärke der psychischen Gebilde be-
dingt, je mehr Spuren, desto starker werden die Anlagen. Außerdem
vereinigen sich die verschiedenen Spuren vermöge des Gesetzes der
Anziehung des Gleichartigen zu Gruppen und Reihen, entweder nach
ihrer objectiven Verwandtschaft, oder nach subjectiven Verhältnissen,
z. B. ihre Aufnahme zn derselben Zeit, in demselben Räume etc.;
dadurch entstehen schon unendlich viele Modificationen, Verschieden-
heiten und Ungleichheiten im frühen Kindesalter.
4. Die Geistigkeit oder Vernünftigkeit der menschlichen
Seele beruht auf der höheren Kräftigkeit, welche den Urvermögen
der Sinne des Menschen, besonders der höheren, vor der der Thiere
innewohnt. Beizbarer sind zum Theil die Sinne der Thiere als die der
Menschen, und die Lebendigkeit scheint bei Menschen und Thieren
keinen bestimmten Grenzen zu unterliegen.
Jene höhere Kräftigkeit ist ursprünglich nur ein Gradunterschied,
wird aber nach und nach durch tausendfache Combinationen zu einem
Artunterschiede; das Sinnliche geht in Geistiges, das Unvernünftige
in Vernünftiges über. Die menschlichen Sinne sind vermöge der
größeren Kräftigkeit ihrer Urvermögen von Anfang an geistige. Schon
die einfachste sinnliche Empfindung ist beim Menschen eine andere
als beim Thiere. Dadurch, dass sie eine andere ist, wird der Mensch
föhig, Begriffe zu bilden. Diese höheren Formen sind der mensch-
lichen Seele nicht angeboren, nicht in derselben präformirt, sondern
weil das ursprunglich Angeborene eine Sammlung von inneren Spuren
oder Anlagen bedingt, so entstehen durch diese, vermöge der übrigen
psychischen Entwicklungsgesetze, die höheren Formen mit Not-
wendigkeit
5. Die Wahrnehmungen der ausgebildeten Seele sind ein sehr
zusammengesetztes Product: aus der neu gebildeten sinnlichen Em-
pfindung und aus den unendlich vielen inneren Spuren oder Anlagen
von früheren Empfindungen gleicher Art in der Seele gebildet. Die
eiste Empfindung war der Empfindung in der ausgebildeten Seele
14. Julie. Heft IV. 18
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zwar der Art nach gleich, aber unendlich schwacher. Durch die An-
sammlung und das Hinzutreten gleichartiger Spuren erwachsen die
Empfindungen allmählich zu Wahrnehmungen, und das ursprünglich
Unbewusste bildet sich zum klar ßewussten empor. Die zurück-
gebliebenen Spuren wirken als Auffassungskraft, die Activitat der
Seele wächst. Das Hinzutreten der angesammelten Spuren ist die
Aufmerksamkeit, welche erworben werden muss.
6. Die Auffassungen sind alle ganz individueller Art, es gibt
kein allgemeines Auffassungs- oder Anschauungsvermögen, außer inwie-
fern die gleichen Spuren in mehrere Empfindungen und Wahrneh-
mungen als Bestandteil einzugehen geeignet sind. Die Auffassung der
Farben und Gerüche fördert nicht im mindesten in Hinsicht der Auf-
fassung von Wörtern und Formen. Für jeden besonderen Inhalt
des Vorstellens und Empfindens müssen Auffassungsvermögen und Auf-
merksamkeit besonders gebildet werden. Darum sorge man für Mannig-
faltigkeit der Erregung!
7. Die Erziehung hat den höheren Sinnen das Übergewicht zu
verschaffen über die niederen. Die Harmonie der Bildung besteht
nicht in der gleichen Ausdehnung und Stärke der Kräfte, sondern in
dem Übergewicht des Höheren über das Niedere. Das ist die Harmo-
nie des menschlichen Seins im Gegensatze zu dem bloß thieri-
schen. Ein einmal errungenes Übergewicht pflanzt sich in der Regel
fort. Es gibt daher keine angeborene Faulheit, Naschhaftigkeit etc.
Faulheit beruht auf übermäßiger Ansammlung von Spuren und Kräften
des thierischen Vegetationslebens. Sie ist, wie alle fehlerhaften Nei-
gungen, Fehler der Erziehung.
8. Die inneren Anlagen oder Angelegtheiten können wieder von
selbst in die psychische Entwickelung hineingezogen werden. Hier-
durch entstehen die geistigen Formen, die wir Gedächtnis, Ein-
bildungskraft, Erinnerungsvermögen nennen. Es sind keine
besonderen, angeborenen Vermögen. Das Gedächtnis besteht nur in
der Beharrungskraft der psychischen Entwicklungen und ist nichts
außer den Vorstellungen. Dasselbe gilt von der Erinnerungs- und
Einbildungskraft.
Darum ist keine allgemeine Übung und Bildung des Gedächt-
nisses, der Erinneruugs- und Einbildungskraft möglich. Alle drei exi-
stiren nur in den Spuren von Vorstellungen, wie dieselben einzeln
begründet, einzeln in gewisse Verbindungen und Verhältnisse getreten
sind. Es gibt also kein allgemeines Gedächtnis von einer gewissen
Stärke, Leichtigkeit der Auffassung etc., kein allgemeines Erinnerungs-
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vermögen, keine allgemeine Einbildungskraft; sondern jede Anlage ist
nur Anlage für das in ihr Vorgebildete und für dasjenige, in welches
sie als Bestandteil eingehen kann.
9. Auch der Verstand wird gewöhnlich als ein angeborenes
Vermögen der Seele aufgeführt, mag man angeborene Begriffe oder
nur angeborene Formen für die Bildung der Begriffe, Urtheile und
Schlüsse annehmen. Aber vor dem ersten Abstractionsprocess existirt
die Verstandesform gar nicht in den Anlagen der menschlichen Seele,
oder der Mensch hat keinen Verstand. Durch ihn oder vielmehr durch
die dadurch im Innern zurückbleibende Spur wird der Verstand erst
begründet; er wird erweitert mit der Zahl der Abstractionspro-
cesse und erhöht in dem Muße der Verallgemeinerung der Abstractionen.
Der Grund dazu liegt in der größeren Kräftigkeit der Ürvermögen,
die wir als Verstandesvermögen anzusehen haben. Aber nur im
weitesten Sinne des Wortes; denn diese Anlage enthält ja doch nicht
die mindeste Vorbildung der dem Verstände eigentümlichen Form.
Die Bildung des Verstandes kann der der besonderen Vorstellungen
nur folgen und setzt die gegenseitige Anziehung der gleichartigen
Vorstellungen voraus. Nur das kräftig Aufgefasste und kräftig Repro-
ducirte kann zu klaren Begriffen verarbeitet werden. Nichts prägt
sich tiefer ein als die Producte der Selbsttätigkeit.
Nur aus den selbsterfahrenen oder doch klar vorgestellten uud
tief empfundenen einzelnen Fällen stammt der allgemeinen Regel
ihre Wahrheit, Anschaulichkeit und Wirksamkeit. Wird dieselbe von
Anfang an blos abstract gebildet, so entbehrt sie aller festen Hal-
tung und dient höchstens dazu, dass man sich einbildet, von einer
Sache zu wissen, von der man doch eigentlich nichts weiß.
Darum lässt uns eine so abstract gebildete allgemeine Regel im Sticht
wenn es ihre Anwendung auf besondere Verhältnisse gilt.
Durch einseitige, bevorzugte Übungen bilden sich besondere Arten
des Verstandes. Man begünstige in der Jugend diese Einseitigkeit
nicht! Man gebe sich aber nicht dem Wahne hin, als wenn es allge-
meine Übungen des Verstandes gäbe. Dieses ist nur insoweit der
Fall, als dieVerstandesübungen etwas Gleichartiges haben. Übrigens nützt
«in blos an Wörtern geübter Verstand seiner Thätigkeit an Sachen
wenig oder gar nichts. Es gibt daher ebensowenig allgemeine
Verstandes- als allgemeine Gedächtnisübungen.
10. Die Vernunft ist kein angeborenes Vermögen. Sie ist nichts
■anderes, als die ideale Norm des Allgemein-Menschlichen, oder die
18*
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— 244 -
Gesamtheit der höchsten und zugleich fehlerlos gebildeten Producte
des menschlichen Geistes in allen ihren Formen.
Diese kurzen Auszüge werden hinreichen, die Ansichten Beneke's
in Betreff des der Seele Angeborenen anzudeuten. Ein Hehreres
wurde hier in aller Kürze nicht beabsichtigt
Allerdings ist das Vorstehende einer weitläufigeren Erläuteruug
und Begründung bedürftig. Wer sich darnach sehnt, wird nach der
„Erziehungslehre" des Verfassers selbst greifen. Es ist ein sehr reich-
haltiges, ganz neue Forschungen enthaltendes Buch, welches nicht ge-
lesen, sondern studirt sein will. Eine reiche Ausbeute ist der Ge-
winn für diese Anstrengung.
Eine der wichtigsten, aber zugleich, schwierigsten Theorien der
ganzen Schrift ist die Erklärung des Bösen und seiner Entstehung.
Die Grundansicht des Verfassers über dasselbe enthält der folgende
Ausspruch: „Weit entfernt, dass das Böse, wie von einigen be-
hauptet worden ist, der menschlichen Natur ursprünglich eigen oder
angeboren sein sollte, lässt sich vielmehr nichts nachweisen, was
derselben in gleichem Maße entgegen wäre"
: i
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Pädagogische Rundschau.
Zeitstimmeu. [Schale and Schablone.] Es ist charakteristisch für die
geschichtliche Entwickelang unseres Mittelschalwesens, dass sie dem allgemeinen
Zage folgend mündet in der staatlichen Centralisation. Während die Geschichte
der Pädagogik noch im vorigen Jahrhundert uns von den eigenartigen Schöpfungen
pädagogischer Enthusiasten erzählt, welche, Schwärmer und Eiferer und wenig
vorbildlich im Einzelnen, durch eine Fülle von Anregungen befruchtend wirkten,
die pädagogische Idee lebendig erhielten und auch dem großen Kreise der Ge-
bildeten vor Augen stellten, dass es Probleme der Erziehung gebe, — ist es
allmählich allenthalben stille geworden, alles hat sich zur glatten, gleichför-
migen Regelmäßigkeit abgeglichen, ist in den Ring der unterschiedslosen staat-
lichen Uniformität zusammengeschlossen, und nur Sonderlinge und Schiff-
brüchige erfahren die freiere Behandlung privater Erziehungsthätigkeit, Die
Lehrpläne sind staatlich coditicirt, die Lehrer zu Beamten geworden, die man
furchtet und die manchem Elternpaar als eine Art von Bildungspolizei er-
scheinen; feste, meist überlieferte Formen umgeben und regeln den Schul-
betrieb, und seitdem das Bildongsideal ein militärisches Normalmaß erhalten
und die Zeugnisse sich in Berechtigungsscheine umwandelten, ist die Ordnung
zu jener Höhe gediehen, auf welcher auch der Uneingeweihte in ihr die Un-
natur zu ahnen beginnt.
Allerdings dem Fremden wird solch wolgefügte Ordnung immer inipo-
niren, und es wäre unbillig, die vortheilhafte Seite dieser Entwicklung ver-
kennen zu wollen. Für das moderne Haus ist die derzeitige Einrichtung un-
streitig höchst bequem. Der fabrikartige Zuschnitt der Schulthätigkeit über-
hebt den Familienvater aller Überlegung und Sorge um die Zweckmäßigkeit
der Mittel und Wege für die Erziehung der männlichen Jugend. Ist die
Schulanstalt gewählt — und wie sollte man sie anders wählen als nach dem
Maßstab der Berechtigung! — so läuft in den meisten Fällen, ein Durch-
schnittsmaaß von Gaben und Leistungen vorausgesetzt, der Bildungsprocess
mit jener beruhigenden Regelmäßigkeit ab, welche die Familien von jeder wei-
teren Theilnahme entbindet. Erst, wo eigenartige Knabennatnren in berech-
tigtem oder unberechtigtem Widerstreben den erwarteten Ansatz der üblichen
Jahresringe ablehnen und sich gegen die Aufnahme der lehrplanmäßigen
Nahrung sperren — erst da treten Fragen und Aufgaben an das Elternhaus
heran, zu deren Lösung weder Geschick noch Neigung vorhanden. Irre ich,
— 246 -
nicht, so liegt die Grundbedingung für die Gesundung unserer Schulzustände
in der 'Wiedererweckung der pädagogischen Idee. Bei der historischen Ge-
staltung unserer Schulen, unter dem Druck einer vor allem auf äußeren Erfolg,
auf greifbare Resultate arbeitenden Zeitrichtung, in dem Streben, sich in
erster Linie den Schein und die Vortheile dessen, was für Bildung gilt, zu
sichern, besteht die Gefahr, dass der einfache pädagogische Sinn, der die
deutsche Schule groß gemacht, verloren gehe und die Quelle wahrhafter Idealität
verschüttet werde.
Dr. Karl Andreä, Über Gründe und Ziele schulreformatoriscber
Bestrebungen (Langensalza, Beyer & Söhne).
[Deutsche Gymnasien und andere Schulen.] Man wird nicht
leugnen können, dass die Gymnasien vielfach eine Art von Bildungs-Monopol
für sich in Anspruch genommen haben und noch nehmen, dass sie mit der
Prätension auftreten, als ob sie allein es seien, welche Gebildete aus sich her-
vorgehen lassen, und dass sie deshalb zuweilen einen gewissen Bildungshoch-
muth zur Schau tragen. Und an diesem thörichten Vorurtheii participiren
wir „Akademiker" alle, junge und alte, reichlich Wir wollen ehrlich sein
und gestehen: auch unter uns classisch und akademisch Gebildeten, unter Phi-
lologen und anderen Gelehrten, unter Hochschulprofessoren und Gymnasial-
lehrern gibt es ungebildete Menschen; denn einseitige Fachbildung ist immer
nur halbe und schlechte Bildung; der Student hat dafür längst schon den
treffenden Ausdruck „Fachsimpel" und „Fachsimpelei" gefunden. Wahre
Bildung ist freilich nur Eine; aber der Wege dazu kann es gar verschiedene
geben: den einen bildet Schule und Universität, den anderen das Leben;
den einen die humanistische Schule, einen anderen die realistische. Oder viel-
mehr, die Schule gibt überhaupt keine Bildung, sondern nur Vorbildung, nur
Grundlage und Anfang, nur Bruchstücke und Theile. Bleiben wir bei diesem
loteten Bilde: Wenn die Bildung ein Ganzes ist, von dem auch das Gym-
nasium nur Theile gibt, so lassen sich andere Schulen denken, die ebenfalls
Theile, andere Theile geben, und im Lauf des späteren Lebens müssen dann
die Besitzer eines solchen Theils dieses Stückwerk erst ergänzen und in sich
zu einem Ganzen ausbauen und abrunden.
Ich glaube, dass bei uns in Deutschland die Bildnngswege zu peinlich
normirt und vorgeschrieben, die Zugänge zu den verschiedenen Zielen zu ängst-
lich verclausalirt sind. Wir fragen immer erst nach dem Woher, und wenn
Bich ein Mensch darüber nicht genügend ausweisen kann, wenn er nicht die
richtige Anstalt besucht, nicht das richtige Abiturientenzeugnis in der Tasche
hat und vorzeigen kann, so hilft ihm alles, was er etwa weiß und kann, zu
dem gewünschten Ziele nichts
Den Frieden, den Schulfrieden, den wir so nothwendig brauchen» schafft
sicher nicht die Beseitigung der Realgymnasien, sondern vielmehr nur ihre Er-
haltung und die Vermehrung und Erweiterung ihrer Berechtigungen
Woran krankt eigentlich unser Realschulwesen? In erster Linie an der allge-
mein verbreiteten Anschauung, dasß das Gymnasium die vornehmere, die Real-
schule die weniger vornehme Anstalt sei; wer daher den Trieb der Vornehm-
heit hat — und wer hätte ihn nicht? — der schickt seine Söhne lieber auf
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da« Gymnasium als auf die Realschule. . . . Wer den Einjährig-Freiwilligen-
schein haben will, so sagt man, geht lieber aufs Gymnasium : hier erhält er ihn
sozusagen gratis, ohne besondere Prüfung, also leichter; hier kann man ihn
ersitzen: denn wenn ein Junge fast in jeder Gasse zwei Jahre lang die
Bänke gedruckt hat, so erfasst schließlich die Lehrer ein menschliches Rühren,
und sie lassen ihn los; nnd nicht blos das menschlich« Gefühl des Mitleids,
sondern das Interesse der Schule selbst treibt dazu und fordert, dass man sich
dieses Ballastes doch immer wieder möglichst rasch entledige
Was wir also brauchen, das sind mit einem Worte Schulen für das
Volk, nicht Schulen für künftige Reserveofficire und Staatsbeamte.... Mehr
ttüdnng für die kleinen Leute, mehr Bildung für das Volk! — Wir sind all-
zusehr gewöhnt, die Bildung von oben herab zu sehen; von unten ans ange-
schaut nimmt sich in derselben vieles anders aus; und dazu gehört im Schul-
wesen die Schaffung von richtigen Realschulen, die einen brauchbaren mittle-
ren Bürger- und besseren Arbeiterstand heranziehen, die durch und durch
praktisch und gar nicht gelehrt und gar nicht vornehm sind. Damit ist auch
ein Nationales geleistet, selbst wenn diese Schule dem Heere direct keinerlei
Dienste mehr thäte: es wäre durch sie ein Beitrag gegeben zur Lösung der
socialen Frage. Mehr Herz fürs Volk! Das ist der Ruf, der täglich lauter
erhoben werden rauss, auch auf die Gefahr hin, dass er einstweilen noch man-
chem misstönend in die Ohren klingt und dem, der ihn erhebt, wenig Dank
einbringt; hier specialisirt er sich dahin: Schulen für das Volk, die gut volks-
thämlich, nicht aristokratisch vornehm sein müssen ! . . .
Ich kann es weder sodalpolitisch noch moralisch für einen Gewinn an-
sehen, wenn das Studium immer mehr vertheuert und finanziell belastet und
dadurch immer mehr zu einem Privilegium der Reichen gemacht wird. Das
bringt von vornherein einen protzigen Geist in unser Beamtenthum, nnd das
verbittert auf der andern Seite die ärmeren Gassen mit Recht, wenn sie
sehen, wie ihnen oder vielmehr ihren begabten Söhnen das Aufsteigen in die
höheren Schichten immer mehr erschwert, geradezu unmöglich gemacht wird.
Dr. Theobald Ziegler, Die Fragen der Schulreform.
[Volksbildung.] Vom Vorstand der „Gesellschaft für Verbreitung von
Volksbildung" in Berlin erhalten wir folgende Mittheilung: Die Volksbiblio-
theken, die in den siebziger Jahren, nach Begründung der „Gesellschaft für
Verbreitung von Volksbildung1* einen ganz erheblichen Aufschwung nahmen,
sind in den letzten Jahren an vielen Orten zurückgegangen, ja von einzelnen
Vereinen ganz anfgegeben worden. Die Ursachen scheinen weniger in der
Sache selbst, als in dem Umstände zu liegen, dass sich die Aufmerksamkeit
von den Bibliotheken mehr abgewandt und auf andere ähnliche Einrichtungen
gelenkt hat. Die Volksbibliotheken werden aber dort, wo sie gut verwaltet
werden, auch entsprechend benutzt, so dass eine lebhaftere Fürsorge für dieses
Velksbildungs- Institut in jeder Beziehung wünschenswert erscheint. Von diesen
Erwägungen ausgehend, fasste der Central-Ausschuss der Gesellschaft für Ver-
breitung von Volksbildung nach vorangegangenen Berathungen folgende Be-
schlüsse :
1. Der Vorstand der Gesellschaft wird beauftragt, eine Broschüre zu ver-
— 248 —
öffentlichen, in welcher die Bedeutung der Volksbibliotheken dargethan, ihr
augenblicklicher Stand gezeichnet, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück-
gewiesen und Fingerzeige zu ihrer Verbesserung gegeben werden. Insbesondere
soll die Broschüre enthalten: Musterverzeichnisse für ganz kleine Bibliotheken
und Verzeichnisse derjenigen bewahrten Schriften (ältere und neuere Volks-
classiker), die bei Neugrttndung einer Volksbibliothek in erster Linie Berück-
sichtigung verdienen, sowie besondere Verzeichnisse für ländliche Büchersamm-
langen , in denen die wirtschaftliche Arbeit der Landbewohner (Obstbau, Vieh-
zucht, Landwirtschaft, Weincultur) ausgiebig Berücksichtigung findet.
2. Die Zeitschrift der Gesellschaft, der „Bildungs -Verein", bringt fort-
laufend unter einer besonderen Rubrik eine Anzeige neu erschienener Bücher,
die sich zur Anschaffung für Volks- und Vereinsbibliotheken eignen.
3. Die Centraistelle der Gesellschaft fördert die Einrichtung von Wander-
bibliotheken für Stadt und Land, erlässt einen Aufruf, in welchem um unent-
geltliche Überlassung von gut erhaltenen jBüchern und Zeitschriften gebeten
wird, die ärmeren Vereinen auf Wunsch zugesandt werden sollen, und versucht,
durch Anregung und Mithilfe in den Berliner Vororten gute Volksbibliotheken
event. mit Lesezimmern ins Leben zu rufen.
4. Auch für die Jugendbibliotheken wird unter Benutzung der von Lehrer-
vereinen bearbeiteten Verzeichnisse ein Musterkatalog aufgestellt und wenn
möglich, in gleicher Weise wie für die übrigen Bibliotheken die neu erschei-
nende Literatur registrirt.
Diese Arbeiten sollen vom Vorstande der Gesellschaft sogleich in Angriff
genommen werden. Wir wünschen den Bemühungen, die herrlichen Schätze
unserer Volksliteratur in jedes deutsche Haus zu bringen, den weitgehendsten
Erfolg. Sollte einer unserer Leser in der Lage und gewillt sein, in der einen
oder anderen Weise mit Rath und That zu helfen, etwa durch Hinweis auf
gute Werke, Bezeichnung solcher in vorliegenden gedruckten Katalogen, durch
Mittheilung von Erfahrungen auf dem Gebiete des Volksbibliothekswesens,
durch statistische Mittheilungen über Benutzung einzelner Volksbibliotheken etc.,
so werden Einsendungen mit größtem Danke entgegengenommen vom Bureau
der Gesellschaft, Berlin W., Maaßenstraße 20, oder von deren Generalsekretär.
Lehrer J. Tews, Berlin NO., Pallisandenstr. 100.
[Turnen.] Unlängst ist bei Helmich in Bielefeld eine Broschüre unter
folgendem Titel erschienen: „Schulreform und Turnunterricht. Eine turn-
pädagogische Streitschrift als ernstes Mahnwort an die Schulbebörden und den
deutschen Lehrerstand, zugleich eine kritische Betrachtung über die XI. deutsche
Turnlehrer-Versammlung." Wer sich über die derzeitige Sachlage auf dem
bezeichneten Gebiete orientiren will, darf diese Schrift nicht übersehen.
[Schularbeit und Schülerkraft.] Prof. Dr. Leo Burgerstein, der
im Novemberhefte des „Pädagogium" über den VII. internationalen Congress
für Hygiene und Demographie, London 1891, berichtet und hierbei auch einen
von ihm selbst gehaltenen Vortrag skizzirt hat (siehe S. 115 f. unserer Zeit-
schrift), hat nun seinen Vortrag unter dem Titel: „Die Arbeitsknrve einer
Schulstunde4* in vollständigem Wortlaute veröffentlicht (40 Seiten, Hamburg
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ood Leipzig bei Leopold Voss). Wir empfehlen die sinnreichen und an-
regenden Untersuchungen unseres geschätzten Mitarbeiters eingehender Be-
achtung.
Von der Weichsel. [Polnischer Privat-Sprachunterricht. Fort-
bildungsschule. Was die Lehrer zu erwarten hätten, wenn die
Schulgesetzgebung in Windthorst'sche Bahnen einlenken würde.
Polnische Lehrer im Westen.]
Unterm 11. Aprü 1891 hat Cultusminister Graf Zedlitz an die königl.
Regierungen zu Bromberg und Posen folgende Verfügung erlassen:
„Ans den Kreisen der polnischen Geistlichkeit wird die Beschwerde er-
hoben, dass die Erfolge des in polnischer Sprache ertheilten Religionsunter-
richtes in den Volksschulen durch den Fortfall des polnischen Sprachunter-
richtes beeinträchtigt würden, und dass die Möglichkeit, dieser Beeinträch-
tigung durch Einrichtung polnischen Privatunterrichts vorzubeugen, durch ein
Verbot der königl. Regierung an die Volksschullebrer, einen derartigen Privat-
unterricht zu übernehmen, abgeschnitten sei.
Bereits mein Herr Amtsvorgänger hat wiederholt darauf hingewiesen,
dass der Fortfall des polnischen Sprachunterrichts in dem Lehrplan der Volks-
schalen nur bezweckt, für den Betrieb des deutschen Unterrichts mehr Zeit
zu gewinnen, dass aber den Betheiligten überlassen bleibe, außerhalb der
Schule Veranstaltungen zu treffen, um ihren Kindern besondere Ausbildung im
polnischen Lesen und Schreiben zu gewähren. Wenn, wie es den Anschein
hat, das Verbot der königl. Regierung an die Volksschullehrer die Wirkung
gehabt hat, eine weitere Verbreitung von Veranstaltungen für Ertheilung des
polnischen Lese- und Schreibunterrichts überhaupt zu hindern, so ist dasselbe
über den vorbezeichneten Rahmen hinausgegangen.
Demzufolge veranlasse ich die königl. Regierung, die Volksschullehrer
Ihres Bezirks darüber zu verständigen, dass die Ertheilung von Privatunter-
richt an polnische Kinder im polnischen Lesen und Schreiben innerhalb ihrer
Gemeinden auf Antrag bei der königl. Regierung ihnen werde gestattet werden.
Den Wünschen der Betheiligten wird es zumeist entsprechen, dass dieser
Privat-Unterricht in den Räumen der Schulen ertheilt wird und ist hiergegen
nichts zu erinnern, sofern die Gemeinden die Benutzung der Schnlräume ge-
statten.
Was die Sprache des katholischen Religionsunterrichtes in den Volksschulen
anbelangt, so hat zwar mein Herr Amts Vorgänger durch Verfügung Vom
22. Januar 1888 den Übergang von der polnischen zur deutschen Unterrichts-
sprache vorgeschrieben, und ich habe ans den, mit Erlass vom 13. December
v. Jb. zurückgesendeten Sprachtibersichten ersehen, dass bestimmungsmäßig
verfahren und fast durchweg für polnische Kinder der Religionsunterricht
deutsch ertheilt wird. Das Auftreten wiederholter Beschwerden auf diesem
Gebiete lasst es indessen wünschenswert erscheinen, bei denjenigen Volks-
schulen, welche nicht ;in unzweifelhaft deutschem Sprachgebiet liegen, und in
welchen die Ertheilung des katholischen Religionsunterrichtes sich ganz oder
theilweise in deutscher Sprache vollzieht, eine erneute Prüfung in dieser Rieh-
250 —
tung eintreten zu lassen, ob die polnischen hezw. als zweisprachig geführten
Kinder mit vollem Verständnis dem Unterricht folgen können. Ist dies nicht
anzunehmen, so ist je nach Lage des einzelnen Falles der polnische Religions-
unterricht an die Stelle des deutsch ertheilten Unterrichts zu setzen."
Dieser Verfügung des Unterrichtsministers wurden von den betheiligten
Collegen von Anfang an erhebliche Bedenken entgegengebracht. Nachdem
nahezu ein Jahr seit ihrem Erlass verflossen ist. lassen sich die Folgen einiger-
maßen Ubersehen. Was den Kennern der Verhältnisse von vornherein klar
war, ist zu Tage getreten: Der Ministerial-Erlass über die Zulassung des pol-
nischen Privatunterrichts in unsern Volksschulen hat die Begehrlichkeit der
Polen von neuem erweckt. Es vergeht kein Tag, ohne dass man in pol-
nischen Blättern lebhaften Klagen darüber begegnet, dass die untergeordneten
.Schulbehörden den Anweisungen des Ministers widerstreben. Die ganze Be-
wegung läuft darauf hinaus, die deutschen Katholiken zu polonisiren. Es
wird von allen Seiten jedes Mittel angewandt, dieses Ziel zu erreichen. Man
betreibt bei den Eltern die Absendung von Gesuchen um Überweisung ihrer
Kinder in die polnischen Abtheilungen beim Religionsunterricht-, wol auch
Schulvorstände und Geistlichkeit werden dieserhalb vorstellig. Prüft dann ein
Regierungsbeamter die Verhältnisse, so stellt sich heraus, dass die angeblich
polnischen Kinder von deutschen Eltern stammen. Freilich beherrschen diese
Kinder außer der Muttersprache auch das Polnische. Es ist aber anerhört,
jeden, der polnisch spricht, als Polen zn bezeichnen. Die Begriffe „polnisch"
und „katholisch" sollen gleichbedeutend sein; sie sind es jedoch nicht. Die
Lage der deutschen Katholiken lüerzulande ist keine beneidenswerte; sie finden
an der Geistlichkeit keinen Rückhalt Es ist deshalb sehr weise, dass die An-
siedelungscommission mit der Heranziehung katholischer Ansiedler vorsichtig
verfährt; in den meisten Fällen ist der deutsche Katholik der Slavisirung
verfallen, eben weil die Geistlichkeit zu den Vorkämpfern der Entdeutschung
zählt. Die Lehrer gehen keineswegs freudig an die Erteilung des polnischen
Unterrichts. Von der Unterrichtsverwaltung sind sie in eine missliche Lage
versetzt worden: sie sollen denselben Kindern, die sie polnisch unterrichten.
Kenntnis der deutschen Sprache beibringen, sollen das Deutsche brauchen, das
jetzt verhasster geworden ist als früher. Der Pole des Mittelstandes sagt:
Der Minister will gar nicht haben, dass unsere Kinder deutsch unterrichtet
werden, sonst hätte er nicht angeordnet, dass polnischer Privatunterricht ertheilt
werde; nur die unteren Behörden tragen die Schuld, dass man uns nicht mehr
Zugeständnisse macht. Solche Gedanken kann man oft aussprechen hören.
Die polnischen Ultras schüren das Feuer weiter. Sie fordern nicht nur die
Zurückversetzung der Lehrer, die seinerzeit im dienstlichen Interesse nach dem
Westen geschickt werden mussten, sie fordern auch polnischen Unterricht an
den Seminaren. Natürlich! Man will eine polnische „national" -gesinnte Lehrer-
schaft heranziehen, um dann die Schule den „nationalen" Interessen nutzbar
zu machen. Nimmt das Centrum den „Kampf nm die Schule" auf, wie das
jüngst auf dem Danziger Katholikentage feierlich verkündigt wurde, so können
die polnischen Sonderbestrebungen dadurch nur gefördert werden. Die Regie-
rnng wird in den Parlamenten Gelegenheit haben, zn der Angelegenheit Stellung
zu nehmen. Es steht zu erwarten, dass von polnischer Seite lebhafte Klagen
vorgebracht werden. Möchten die leitenden Kreise dann die Sachlage un-
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— 251 —
befangen prüfen. Über die Notwendigkeit, das Deutscbthum auch fernerhin)
gegen slaviscke Übergriffe zn schützen, kann kein Zweifel sein. Man täusche
sich nicht: kleine Zugeständnisse machen die Polen nicht zn einer allertreuesten
Opposition; größere verbietet das Staatswol. Man gebe sich keinen Illusionen
aber die eigentlichen Zwecke und Ziele der polnischen Propaganda hin! Der
früheren Nachgiebigkeit gegen unberechtigte polnische Ansprüche verdanken
wir die Polonisirung von Tausenden deutscher Katholiken. Diese bittere Lehre
sollte niemals vergessen werden.
Nach der bisher von den königl. Kreisschul inspectoren geübten Praxis
durften an dem polnischen Privat« Sprachunterricht die der deutschen Sprache
mächtigen und von Deutschen stammenden Kinder von angeblich polnischen
Eltern mit deutschem Namen nicht theilnehmen, auch wenn die Eltern selbst
den Wunsch aussprachen, dass man es ihren Kindern gestatte. Nachdem die
königl. Regierung in vielen Fällen die Gesuche und Beschwerden der Eltern
abschlägig beschieden, hat der Unterrichtsminister eine Entscheidung getroffen,
welche den Wünschen der angeblich polnischen Eltern Rechnung tragt. Seine
darauf bezügliche Verfügung lautet:
»Auf den Bericht vom 5. September d. J. erwidere ich der königl. Regie-
rung, dass, nachdem durch den Erlass vom 11. April den Volksschullehrern die
Ertheilung von polnischem Privatunterrichte in ihren Gemeinden verstattet
worden ist, es den Eltern — mögen sie polnischer oder deutscher Nationalität
sein — anheim gestellt ist, ihre schulpflichtigen Kinder an dem in ihrer Ge-
meinde zugelassenen Privatunterrichte im Polnischen theilnehmen zu lassen.
Die königl. Regierung hat hiernach die Unterzeichner der wieder beifolgenden
Eingabe zu bescheiden und das sonst etwa Erforderliche zu veranlassen/
Bei den Polen herrscht über diesen Entscheid natürlich große Freude.
Der „Dziennik Poznanski" theilt mit, dass bald nach Bekanntwerden des Er-
lasses in jeder Posener Schule eine Anzahl rein deutscher Kinder bei den
Lehrern der polnischen Sprache sich gemeldet und im Namen der Eltern um
ihre Annahme zu diesem Unterrichte gebeten hat. Dieses beweise nach An-
sicht des genannten polnischen Blattes, dass nicht allein bei den Polen, sondern
auch bei vielen Deutschen das Bedürfnis der Kenntnis der polnischen Sprache
sich fühlbar gemacht habe. Dass sich die Begehrlichkeit der Polen steigert,
sehen wir aus einigen Auslassungen des „Kuryer*. Nachdem dieses polnische
Blatt dem Cultusminister für die Verfügung Dank ausgesprochen hat, heißt es
weiter: Unsere Dankbarkeit würde noch größer sein, wenn der Herr Minister
nicht auf halbem Wege stehen bleiben, sondern ebenso wie er erlaubt, dass
sämmtliche Kinder, deren Eltern es wünschen, ohne Ausnahme im Polnischen
unterrichtet werden — es auch gestatten wollte, dass den Kindern, deren
Eltern es verlangen, der Religionsunterricht in polnischer Sprache ertheilt
werde.... Der Herr Minister erklärt im Reacript vom 11. April, dass die
Rücksicht auf den Religionsunterricht ihm gebiete, dafür Sorge zu tragen,
dass die polnischen Kinder polnisch lesen lernen. Wie kann es demgegenüber
vom Herrn Minister geduldet werden, dass die Kinder, welche zu Hause polnisch
beten, den Religionsunterricht in der Schule in einer ihnen nicht genau ver-
ständlichen Sprache erhalten, in einer Sprache, welche nicht in der Wärme zn
ihrem Herzen spricht, wie es der Religionsunterricht erfordert, wenn er Früchte
bringen soll? —
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Hauptsachlich um die deutsche Sprache bei den schulentlassenen polnischen
Knaben weiter zu pflegen, wurde im Jahre 1887 die obligatorische Fortbil-
dungsschule in Posen und Westpreußen eingeführt. Die anfanglich befriedigen-
den Erfolge dieser Einrichtung gingen jedoch bald zurück. Bei den Meistern
nicht minder, als bei den Lehrlingen zeigte sich ein heftiger Widerstand gegen
die Fortbildungsschule. Ihre Schulerzahl ging immer mehr zurück, die Schulen
wurden leer oder lösten sich auch völlig auf. Der Besuch des Unterrichts
aber konnte nicht erzwungen werden, da der Richter in zahllosen Fällen dahin
entschied, dass in Preußen die Schulpflicht mit dem vollendeten 14. Lebensjahr
aufhört, ein darüber hinausgehender gesetzlicher Zwang zum Schulbesuch aber
nicht bestehe. Und so war es thatsächlich, die Gesetzgebung hatte eben eine
Lücke gelassen. Diese Lücke im Gesetz ist nunmehr durch Einführung des
Zwangsparagraphen in die Novelle zur Reichsgewerbeordnung ausgefüllt.
Danach können gewerbliche Lehrlinge und Arbeiter unter 18 Jahren durch
Ortsstatut zum Besuch der obligatorischen Fortbildungsschule unter Anwendung
empfindlicher Strafen gezwungen werden. Die städtischen Verwaltungen in
den Provinzen Posen und Westpreußen sind gegenwärtig mit der Aufstellung
solcher Ortsstatuten beschäftigt, und es steht zu erwarten, dass die obliga-
torische Fortbildungsschule sich nunmehr auf sicherer gesetzlicher Grundlage
in den polnischen Landestheilen weiter kräftig entfalten wird. Den Meistern
freilich scheint dieser gesetzliche Zwang unbequem zu sein; denn sie gehen
vielerorts mit der Gründang sogenannter „ Innungsschulen tt vor, um insbesondere
über die Bestimmung der Unterrichtszeit freie Hand zu behalten. In der
Stadt Posen beispielsweise wollen drei Innungen solche Schulen einrichten.
Alle derartigen Versuche haben indes, wie die Erfahrung vielfach bestätigt hat,
nennenswerte Erfolge nicht zu erzielen vermocht. Es wäre daher wol zu
wünschen, dass die Regierung, wenigstens in unserer Gegend, alle Absonde-
rungen beseitigen und die staatliche obligatorische Fortbildungsschule ohne
Unterschied durchführen möchte. In anbetracht der Wiederzulassung des pol-
nischen Privat-Sprachunterrichts, der die Verdeutschung des polnischen Ele-
ments durch die Volksschule immerhin aufzuheben geeignet ist, erscheint es
dringend nöthig, mit der allgemeinen Wiedereröffnung der obligatorischen Fort-
bildungsschule auf gesetzlicher Grundlage ungesäumt vorzugehen.
Was die Lehrer zu erwarten hätten, wenn die Schulgesetzgebung in
WindthorefBche Bahnen einlenken würde, das hat die ermländische Geistlich-
keit unter der Führung des Bischofs Dr. Thiel durch ihr Vorgehen gegen die
katholischen Mitglieder der Lehrervereine mit einer Deutlichkeit gezeigt, die
wol geeignet sein könnte, gewissen Schwärmern die Augen zu öffnen. Der
Abg. Krebs hat auf der Danziger Katholikenversammlung geäußert, man suche
in seiner Heimat (Ostpreußen) die Meinung zu verbreiten, dass die katholischen
Lehrer nicht dasselbe Recht hätten, wie die anderen. Schwerlich hat der Herr
hierbei an das Treiben des ermländischen Clems gedacht, sonst würde er wol
noch hinzugefügt haben, dass man selbst die verwerflichsten Mittel nicht un-
versucht gelassen hat, um die Lehrer zu zwingen, einem bischöflichen Willen
zu Gefallen auf die Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu verzichten.
Weder Lockungen noch Drohungen sind zu diesem Zwecke gespart worden,
ja man hat sogar die Kanzel gemissbraucht, nm das Volk gegen die Lehrer
aufzuhetzen und diese dadurch mürbe zu machen. Man hat sie ferner bei
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Bewerbungen um erledigte Kirchschulstellen mit der Begründang abgewiesen,
dass sie Mitglieder der sogenannten freien Lehrervereine seien, oder von ihnen
eine Bescheinigung über ihren Anstritt aus den Vereinen verlangt. Dass solcher
Druck einzelne Mitglieder zum äußerlichen Abfall bewogen hat, kann nicht
überraschen. Die Mehrzahl aber hält allen Anfechtungen zum Trotz getreu-
lich stand. Diesen gegenüber sieht sich nun der Bischof an der Grenze seiner
Macht. Die hie und da gebrauchte Androhung kirchlicher Strafen verfängt
nicht, da sie in unserer Zeit zur Erreichung hierarchischer Zwecke doch nicht
mehr ausgeführt werden kann. Anf einer Firraungs- und Yisitationsreise nahm
der Bischof Dr. Thiel mehrfach Gelegenheit, seinen Uumuth darüber zu äußern,
dass es immer noch eine große Anzahl von Lehrern gibt, die seine Herrschaft
auf weltlichem Gebiete nicht anerkennen wollen. Bei der Kirchenvisitation
zu W. im Kreise Allenstein, zu welcher auch die Lehrer mit den Schulkindern
erschienen waren, stellte er an eine Abtheilung der letzteren die Frage: „Als
was ist Christus geboren worden?" und erhielt hierauf die Antwort: „Als
Mensch/ Diese Antwort brachte den Bischof in eine solche Aufregung, dass
er vor versammelter Gemeinde ausrief: „Die Kinder kennen nicht einmal die
Grundwahrheiten des Christenthums!" Offenbar lag dieser Äußerung die Mei-
nung zu gründe, die Kinder hätten keine Kenntnis von der Gottheit Christi
gehabt. Und doch dürfte es dem Bischof nicht schwer geworden sein, sich
durch näheres Eingehen auf die Sache von der Unhaltbarkeit jener Meinung
zu überzeugen. Aber er begnügte sich nicht damit, den betreffenden Lehrer
vor versammelter Gemeinde bioszustellen , sondern er führte sogar bei der königi.
Regierung darüber Beschwerde, dass die Classe jenes Lehrers über die Grund-
wahrheiten des Christenthums nicht genügend unterrichtet sei, da es ihm (dem
Bischof) trotz aller angewandten Mühe nicht gelungen wäre, aus den Kindern
herauszubringen, dass Christus Gott sei. Infolge dieser Beschwerde wurde
die betreffende Schule durch den zuständigen Kreisschulinspector im Auftrage
der Regierung einer gründlichen Revision in Bezug auf den Religionsunterricht
unterzogen, die drei Stunden in Anspruch nahm. Sie ergab, dass die Angaben
des Bischofs jeder thatsächlichen Grundlage entbehren. Der Bischof hat bei
der betreffenden Kirchenvisitation jene Schulclasse zunächst nach den drei gött-
lichen Personen gefragt und richtige Antworten erhalten, worin auch die Lehre
vor der Gottheit Christi eingeschlossen war. Darauf hat er dann die Frage
gestellt: „Als was ist Christus geboren worden ?u und die unzweifelhaft rich-
tige Antwort erhalten: „Als Mensch.1' Hierauf hat der Bischof an jene Kinder
überhaupt keine Frage mehr gerichtet, ist vielmehr in seiner Erregtheit so-
gleich zu Tadel und Anklage vor versammelter Gemeinde übergegangen. Dass
sich der ganze Vorgang in dieser Weise abgespielt hat, wurde vom Kreis*
schulinspector durch Nachfrage bei den Schulkindern festgestellt. Ebenso ergab
sich hierbei die interessante Thatsache, dass von den 25 Kindern dieser
Schule, die bei der betreffenden Kirchenvisitation zugegen gewesen, die Mehr-
zahl (14) bereits confirmirt ist. Der zuständige Pfarrer hätte also, wenn die
Anschuldigungen des Bischofs begründet wären, es auch nicht vermocht, jenen
Kindern im Confirmandenunterrichte die „Grundwahrheiten des Christenthumsa
beizubringen, und er hätte sie auch ohne die Kenntnis derselben für reife
Christen erklärt, indem er sie zu den Sacramenten annahm. So liefert denn
jener Umstand einen handgreiflichen, wenn auch indirecten Beweis für die Hin-
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Billigkeit der Behauptungen des Bischofs. Hoffentlich wird letzterem nach
diesem mißlungenen Versuch die Lust zu weiteren ungerechtfertigten Angriffen
vergehen.
Wie stände es nun aber, wenn die Windthorst'schen Schulanträge Gesetz
wären? Diese fordern: „In das Amt eines Volksschullehrers dürfen nur Per-
sonen berufen werden, gegen welche die kirchliche Behörde in kirchlich-religiöser
Hinsicht keine Einwendungen gemacht hat Werden später solche Einwen-
dungen erhoben, so darf der Lehrer zur Ertheilung des Religionsunterrichtes
nicht weiter zugelassen werden.4 Wie leicht „Einwendungen in kirchlich -
religiöser Hinsicht" erhoben werden können, geht daraus hervor, dass der
Bischof gerade aus angeblich kirchlich -religiösen Gründen verlangt, dass die
katholisehen Lehrer aus den sogen, freien Lehrervereinen austreten sollen.
Für die Lehrer ist dies freilich eine weltliche Frage, da es sich hierbei nm die
Ausübung von Rechten handelt, die ihnen durch die Verfassung und das
Vereinsgesetz gleich allen anderen Staatsbürgern zugesichert sind. Wer zweifelt
aber nach den mitgetheilten Thatsachen noch daran, dass der Bischof unter
der angeführten Voraussetzung gegen alle diejenigen, die ihm in dieser welt-
lichen Frage den Gehorsam versagt haben, Einwendungen „in kirchlich-religiöser
Hinsicht41 erheben würde? Eine Prüfung solcher Einwendungen durch die vor-
gesetzte Schulbehörde wäre nach dem Windthorst'schen Antrage nicht zulässig,
es würde vielmehr sofort die Entziehung des Religionsunterrichts nnd damit
in vielen Fällen der Verlust der ganzen Stellung erfolgen. Dagegen zeigt
der mitgetheilte Fall unwiderleglich, wie nothwendig es ist, dass derartige und
iihnliche Einwendungen, die ja der kirchlichen Behörde auch unter den heutigen
Verhältnissen nicht verwehrt sind, von der dem Lehrer vorgesetzten Ober-
behörde geprüft werden. Berechtigte Beschwerden werden hierbei gewiss Be-
rücksichtigung finden, die Lehrer aber sind so gegen Vergewaltigung geschützt.
Dies mögen namentlich diejenigen unter ihnen bedenken, die mit dabei sind,
die Ketten für ihren Stand schmieden zu helfen. Noch ein Beispiel möge hier
angeführt werden, um die in den Windthorst'schen Anträgen enthaltene Forde-
rung zu beleuchten, dass der zur Leitung des Religionsunterrichts berufene
Geistliche befugt sein soll, „den Lehrer für die Ertheilung des Religionsunter-
richts mit Weisungen zu versehen, die von letzterem zu befolgen sind." Wenige
l äge nach der oben erwähnten Revision des Kreisschnlinspectors erschien in
derselben Schule der Pfarrer R. aus W.f um im bischöflichen Auftrage eine
Revision des Religionsunterrichts vorzunehmen! Er wandte sich zuerst an
die Ostern d. J. in die Schule aufgenommenen Kinder mit der Frage: „Was
ist Gott?" und war sehr erstaunt, von sechsjährigen Kindern keine regelrechte
Definition über das Wesen Gottes zu erhalten. Seiner Verwunderung hierüber
gab er sofort vor den K indem Ausdruck und wollte auch die Ausführungen
des Lehrers, dass derartige Definitionen sich für diese Stufe nicht eignen und
daher auch in den dem Unterrichte zu Grunde gelegten „Katechesen von Mey"
umgangen seien, nicht gelten lassen, sondern er blieb dabei, jene Begriffsbestim-
mung müsse im Religionsunterricht den Anfang bilden, gleichviel ob die Kinder
das verstehen oder nicht. Bei der weiteren Frage nach dem zweiten Kirchen-
gebot stellte sich heraus, dass der Pfarrer den Wortlaut desselben nicht genau
kannte, was er wieder nicht zugeben wollte, bis er durch Vorhaltung des
Katechismus überführt wurde. Welche Förderung könnte wol der Religions-
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- 255 -
Unterricht erfahren, wenn Leute einen maßgebenden Einfluss auf ihn ausüben
sollten, die weder der Methode noch des Stoffes Herr sind? Wäre es nicht ge-
radezu verderblich, wenn der Lehrer ihre Weisungen ohne weiteres befolgen
ntüsste? Pfarrer E. gehört zu den vor kurzem ernannten Localschuliuspectoren.
Von den aus den Provinzen Posen und Westpreußen seit 1886 nach dem
Westen versetzten polnischen Lehrern befinden sich noch 53 in der Rhein-
provinz, Westfalen und Hessen-Nassau, und zwar 18 im Reg. -Bez. Düsseldorf,
10 im Reg.-Bez. Trier, 7 im Reg.-Bez. Koblenz, 6 im Reg.-Bez. Köln, 5 im
Reg.-Bez. Wiesbaden, 4 im Reg.-Bez. Münster und 3. im Reg.-Bez. Aachen.
15 polnische Lehrer sind bereits in die Heimat zurückgekehrt. Davon sind 11
als Emeriten aus dem Dienst geschieden. Neuerdings haben 4 weitere
Lehrer, deren Frauen an Heimweh litten, in der Provinz Posen Lehrerstellen
erhalten, und 3 Lehrer stehen aus derselben Ursache mit der köüigL Regie-
rang wegen ihrer Zurückversetzung nach der Provinz Posen in Unterhandlung.
[Ans Württemberg.] Die Hochflut schulpolitischer Schriften in der2. Hälfte
des vorigen und im ersten Viertel dieses Jahres, sowie die lebhafte Besprechung
derselben in Schul- und politischen Tagesblättern ließ hoffen, dass die leitenden
Kreise den schwebenden Schulfragen erhöhtes Interesse schenken werden, und
in dieser Annahme wurde man nicht getäuscht : das Jahr 1891 hat eine Reihe
nennenswerter Besserungen gebracht, die in unserem in der Schulentwickln ng
so sehr zurückgebliebenen Lande doppelt freudig begrüßt und aufgenommen
werden. Zuerst folgte eine Änderung des Conferenzwesens und eine
Einschränkung der Aufsatzpflicht. Die Zahl der Conferenzen wurde
für die über 30 Jahre alten Lehrer von 4 auf 2 herabgesetzt. Die jüngeren
Lehrer haben bis zu dem eben genannten Zeitpunkte außerdem noch 2 sogen.
Sonderconferenzen anzuwohnen. Die Aufsatzpflicht, die seither bis zum %foll-
endeten fünfzigsten Lebensjahr dauerte, wurde aufs 40. herabgesetzt; auch
wurde die Zahl der Aufsätze theil weise vermindert. Während bis zur Ände-
rung des Conferenzwesens jeder Lehrer bis zu seinem 50. Lebensjahre jährlich
2 Aufsätze machen musste, sind jetzt nur noch die jüngeren Lehrer bis zum
vollendeten 30. Jahre zur Lieferung dieser Anzahl verpflichtet. Von da an
bis zum 40. Jahre ist alljährlich nur ein Aufsatz auszuarbeiten und abzugeben:
Die Wichtigkeit dieser Neuregelung besteht nun darin, dass durch die Ver-
minderung der Zahl der Conferenzen von jetzt ab weniger geistliche Conferenz-
directoren nöthig sind als seither und dass zur Leitung der Sonder- oder Lern-
conferenzen auch tüchtige Volksschullehrer berufen werden können. Gegen-
wärtig sind es evangelischerseits deren 10. Beides zusammengenommen —
Entbehrlichkeit mancher geistlichen Conferenzdirectoren und Beiziehung von
Lehrern zur Leitung von Conferenzen — ergibt eine ansehnliche Einschränkung
des geistlichen Einflusses aufs Schulwesen , denn es sind eben jetzt erheblich
weniger Geistliche, die sich mit der Schule berufsmäßig zu beschäftigen haben.
Der weitere Verlauf des Jahres brachte eine ansehnliche Gehalts-
erhöhung, welche, was wol selten der Fall sein dürfte, von beiden Kammern
einstimmig bewilligt wurde. Während vor 2 Jahren noch im 40. Jahre
100, im 45. Jahre 140 und im 50. 200 Mk. Alterszulage gereicht wurden,
hat sich infolge der seitherigen zweimaligen Aufbesserung die Sache so ge-
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staltet, dass unständige Lehrer vom zurückgelegten 25. Jahre an vom Staate 50 M.
erhalten ; ständige Lehrer erhalten vom Tage des Definitivums an (etwa mit 27
bis 28 Jahren) bis zum 35. Lebensjahre jährlich 150 Mk., welche als Stellen-
zulage zu betrachten sind, so dass jetzt Württemberg mit 1100 Mk. Minimal-
gehalt (neben freier Wohnung) wol die höchsten Anfangsgehälter in Deutsch-
land bezahlt. Vom 35. Jahre an beträgt die Altersznlage 200, vom 40. an
250, vom 45. an 300, vom 50. an 400, vom 55. an 500. Zugleich wurde
in Aussicht gestellt, dass die größeren Städte zu erheblichen Mehrleistungen
zu den Stellengehalten herangezogen werden sollen. Auch sei der Unterschied
in der Bezahlung zwischen Land und Stadt, wenn beide dieselbe Bevölkerungs-
ziffer aufweisen, aufzuheben. Diese Ausgestaltung des Systems der Alterszu-
lagen wirkt natürlich auch vortheilhaft auf die Witwen- und Waisenpensionen,
welche in 3 Abstufungen gereicht werden, für deren Bemessung (wenigstens
für die mittlere und obere Stufe) ein fünfjähriger Durchschnittsgehalt von 1380,
resp. 1910 Mk. nötig ist. Infolge dieser neuesten Aufbesserung rückt alsdann
künftig eine sehr große Anzahl Witwen in die mittlere Stufe von 390 Mk.
und eine ziemliche Zahl in die höchste Stufe von 480 Mk. Die Kinder erhalten
bis zum 18. Lebensjahr als Halbwaisen je ein Viertel, als Vollwaisen je die
Hälfte der betreffenden Stufe.
Wie die Regierung und die Stände in diesem Stücke alles thaten, um
den Wünschen der Lehrer gerecht zu werden, so machte die Regierung auch
einen Anlauf, die Schulaufsicht im Sinne der Lehrerbestrebungen zu regeln.
Allein es zeigte sich, dass die kirchlichen Parteien mächtiger sind und mehr
vermögen als der gute Wille eines Ministers. Anlass zur. Erörterung der
Schulaufsicbtsfrage gab der vom Cultusminister Dr. von Sarwey eingebrachte
Gesetzentwurf betreffend die Ortsschulbebörden. — Württemberg hat seit
1865 die Einrichtung der Ortsschulbehörde. Im Laufe der Jahre haben sich
jedoch namentlich durch ein neues Kirchengemeindegesetz Änderungen als
nothwendig erwiesen, die einer gesetzlichen Regelung bedurften. Die Neue-
rungen betreffen vor allem die Zusammensetzung dieser Behörde; insbesondere
soll die Zahl der Geistlichen niemals 3 übersteigen, was jetzt in
größeren Orten gegen seither ebenfalls eine Einschränkung des geistlichen Ein-
flusses bedeutet. Im Zusammenhang über die Zusammensetzung und die Ob-
liegenheiten der Ortsschulbehörde schlug nun die Commission, welche den Ent-
wurf vorzuberathen hatte, vor: „In größeren Städten mit mehreren Volks-
schulen kann die Ortsschulaufsicht einem oder mehreren Ortsschulaufeetaern
ohne die Befähigung zu einem Eirchenamt übertragen werden." Über
diese 6 Worte entspann sich eine 5tägige Redeschlacht, aus welcher wir kurz
Folgendes erwähnen: Auf der einen Seite wurde mit Freuden begrüßt, dass
durch diesen Antrag zum erstenmal das Princip der rein geistlichen Schulauf-
sicht durchbrochen wurde; auf der anderen Seite erblickte man in diesem
kleinen Zugeständnis an die Lehrerschaft „das große Thor für die Entchrist-
lichung der Volksschule". Ersteren Standpunkt vertraten — man höre und
staune — württembergische evangelische Prälaten; letzterer wurde von
katholischen Geistlichen und — Lehrern verfochten. Die schönsten und
beweiskräftigsten Ausführungen zu Gunsten der Regierungsvorlage wurden von
dem Kanzler der Universität Tübingen (v. Weizäcker) vorgebracht, der darauf
hinwies, dass bei Lösung der Schulfragen verschiedene Factoren concurriren
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— 257 —
^Da ist der Staat, da ist die Kirche, da ist die Familie, auch die Ge-
meinde ist genannt worden. Ich möchte noch etwas anderes hinzufügen, was
zunächst durch den Lehrerstand vertreten ist, nämlich die Bildung, die aus
der Wissenschaft hervorgeht, an der auch der Volksschallehrer seinen Theil
hat.4 Neben diesem weiteren Factor — der Wissenschaft — , der bei Lösung
dieser Frage in Betracht za ziehen ist, stellte der Redner das Verhältnis von
Staat und Kirche in Beziehung auf die Schule fest. Die heutige Schule,
wie sie besteht, ist ein Werk des Staates und des großen wissenschaft-
lichen Fortschritts, darum hat der Staat in erster Linie ein Recht auf die
Schule. — Von gegnerischer (katholischer) Seite wurde hervorgehoben, „dass
wir uns auf abschüssigem Wege befinden, wenn man darauf hinarbeite, der
Lehrerwelt eine ganz aufsichtslose Amtsführung zu versebaffen. Dieser
Weg führe uns zu Dingen, die bis jetzt nur als Ziele der Socialdemokraten
bezeichnet worden sind." Diesen Ausführungen trat ein Redner der Linken
energisch gegenüber, welcher unter anderem betonte, wie billig und nichts-
sagend der diesmal zur Abwechslung gegen sie gekehrte Vorwurf der Förde-
rung des Socialismns sei. Die Abstimmung am dritten Tag ergab folgendes
Resultat: 57 gegen 26 Stimmen waren dafür, „dass in Städten mit mehr als
25 für die Angehörigen einer Confession bestimmten Volksschulclassen für diese
die Ortsschulaufsicht einem oder mehreren Ortsschulaufsehern, welche die
Befähigung zn einem Kirchenamte nicht haben, übertragen werden
kann."
So weit wäre alles gut und schön ; aber die Kammer der Abgeordneten —
denkt und die der Standesherren — lenkt. Dieses kleine Zugeständnis an die
Lehrerschaft, das zur Zeit außer Stuttgart noch 4 weitere Städte getroffen
hätte, kam den meist katholischen Standesherren zu radical vor, weshalb sie
dem Beschlüsse der anderen Kammer nicht beitreten konnten. „In Württem-
berg hat von jeher der Grundsatz der geistlichen Aufsicht über die
Volksschule bestanden." Über die Universitäten und höheren Lehranstalten
früher nicht auch? „Die Wirkung dieser Einrichtung ist eine wahrhaft segens-
reiche gewesen." Ja wohl; '/a der gesammten Schulzeit muss für Religion
verwendet werden und die Classen sind größtentheils zu Abtheilungsunterricht
genöthigt, trotzdem die Zahl der gleichzeitig zu unterrichtenden Schüler in
bildungsfreundlichster Weise nur auf die niedere Zahl 90 festgesetzt ist.
„Ein dringendes Bedürfnis zur Änderung dieser Einrichtung ist nicht zu er-
kennen." Es ist leider bedauerlich, dass die Kinder des Volks auch in über-
füllten Classen noch viel zu viel lernen. Diesem Übelstand muss abgeholfen
werden. „Selbst aber, wenn ein solches Bedürfnis vorläge, so könnte es gegen-
über der Principienfrage nicht als entscheidend erachtet werden." Ist natürlich
das Princip gerettet, dann bleiben auch die unhaltbaren Schulzustände be-
stehen. „Würden nunmehr auch Laien zur Ortsschulaufsicht zugelassen, so
wäre dies eine Durchbrechung des Principe von unabsehbarer Tragweite." Es
ist recht gnädig von den hohen Standesherren, dass sie Schul fachmänner,
die tagtäglich im Schulgeschäfte thädg sind und deren eigenster Beruf die
genaue Kenntnis der Pädagogik ist, als Laien bezeichnen. Es ist dies eine
vollständige Verkennung der wirklichen Sachlage. Wir Lehrer betrachten
die Geistlichen als Laien im Schulgeschäft und Schulbetrieb. Solange dieselben
nicht mit eigener Verantwortlichkeit wenigstens ein Jahr lang eine Normal-
Pidagoginm, 14. Jahrg. Heft IV. 19
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clane von 90 Schülern in allen Volksschulfächera unterrichtet haben, niuss
uns Lehrern das Recht zustehen, sie als Laien zu betrachten. rZwar soll der
Sache eine nicht unbedeutende Einschränkung gegeben werden. Oleichwol
erhebt sich die Besorgnis, dass, wenn man einmal vom Princip abgewichen ist,
man anf eine abschüssige Bahn geräth, und dan nach und nach, besonders
bei dem jetzigen bedenklichen Zug der Zeit, immer weitere Folgen sich daran
knüpfen, und dan am Ende sich Verhältnisse ergeben würden, welche nichts
weniger als erwünscht wären." Es ist schön, dan sich die Herren so klar
und deutlich aussprechen. Es ist ja sicher, dass durch Einführung der fach-
männischen Schulaufsicht die Schnlverhältnine bedeutend gebessert würden,
womit eine Hebung der Volksbildung Hand in Hand gehen müsste. Gesteigerte
Volksbildung wäre allerdings etwas, was den Herren nicht weniger als er-
wünscht wäre. Nacht mun es sein, schwarz, rabenschwarz! Man führe doch
an, was durch eine allmähliche Steigerung der Volksbildung für den Staat,
die Gemeinde nnd die Kirche, wenn dieselbe nicht vorgeschoben wird als Deck-
mantel zur Befriedigung hierarchischer Gelüste, Schlimmes entstehen könnte.
Nun, Geistlichkeit und Adel stützen sich gegenseitig. Mit 25 gegen 3 Stim-
men wurde der modificirte, bedeutend eingeschränkte Entwurf der Regierung,
soweit er sich anf Zulassung von „Laien" zu Schulaufsichtsämtern bezieht, ab-
gelehnt nnd der 2. Kammer zur nochmaligen Berathung übergeben. Das Er-
gebnis derselben war, dan jetzt 45 gegen 37 Stimmen sich gegen die Zu-
lassung von Lehrern aussprachen. Uns Lehrern ist es recht, dan es so ge-
gangen. Was geboten wurde, wäre zu wenig gewesen und hätte eine durch-
greifende Änderung, die ja doch nicht mehr zu lange auf sich warten lassen
kann, bedeutend verzögert. Die Lehrerschaft nimmt aber, wie ein Abgeord-
neter sehr richtig bemerkte, die Bewegung für die Fachaufsicht neu auf, ver-
stärkt durch den moralischen Erfolg der Landtagsdebatten, und ihre Bestre-
bungen sind getragen von der Sympathie der bürgerlichen Kreise.
gmzea Dy
Google
Literatur.
A. Ernst und J. Tews, Deutsches Lesebuch für Mädchenschulen
(Kit Berücksichtigung des hauswirtschaftlichen Unterrichts.) In drei Bänden.
Band I. Haus und Heimat. (Für das 2. und 3. Schuljahr.) 260 S. 90 Pf.
Band II. Haus und Vaterland. (Für das 4. u. 5. Schuljahr.) 344 S. 1,20. Mk.
Band m. Haus und Welt. (Für das 6., 7. u. 8. Schnljahr.) 563 S. 1,80. Mk.
Leipzig und Berlin 1891, Julius Klinkhardt.
In Würdigung der hohen Wichtigkeit den Familienlebens für die Bildung,
Gesittung und Wolfahrt der ganzen Nation, und geleitet von der Über-
zeugung, dass dem weiblichen Geschlechte der mächtigste Einflus* auf die
Gestaltung des Familieniebens zufällt, haben die Verfasser in dem vorliegenden
Lesebuche ein möglichst wirksames Mittel zur Bildung und Erziehung deutscher
Mädchen schaffen wollen. Dass hierbei auch die hauswirtschaftliche Be-
lehrung Anspruch auf Berücksichtigung habe, ist seit langer Zeit in der
Pädagogik anerkannt, in der Praxis aber leider oft vergessen, daher in der
Neuzeit wieder nachdrücklich betont worden. Auch die Herren Ernst und Tews
erkennen diese Forderung als berechtigt an, wie schon der Titel ihres Lese-
buches zeigt, und machen in demselben vollen Ernst damit, ihr zu genügen.
Hierin liegt zugleich einer der Gründe, weshalb sie für Mädchenschulen ein
besonderes Lesebuch als wünschenswert betrachteten, während bisher im all-
gemeinen beide Geschlechter in den Volksschulen einerlei Lesebücher benutzt
haben. Außer dem erwähnten Punkte hat aber in dem neuen Lesebuche auch
alles andere, was dem eigentümlichen Wesen des Mädchens, der Lebens-
stellung, dem Gefühls- und Interessen kreise des weiblichen Geschlechtes und
seiner naturgemäßen Ausbildung entspricht, sorgfältige Beachtung gefunden.
Nicht als ob die Herausgeber einer Bpröden Absonderung der Mädchenbildung
von der des männlichen Geschlechtes Vorschub leisten wollten; vielmehr haben
sie die gemeinsamen Grundlagen aller wahrhaft menschlichen und natio-
nalen Erziehung zu voller Geltung gebracht, so dass ein sehr großer Theil der
hier gebotenen Lesestücke auch den Knaben zuträglich sind und tbatsäclüicb
geboten zu werden pflegen: nur ist einerseits die Pflege der Gemüthswelt,
anderseits die praktische Vorbildung für das Leben speciell auf Wesen und Beruf
des Weibes gegründet. Insofern wollen die Herausgeber allerdings eine Reform
des Mädchenunterrichtes anbahnen und derselben durch ihr Lesebuch eine
Stütze bieten; demgemäß enthält dasselbe, durchaus auf sittlich-religiöser und
vaterländischer Grundlage ruhend, „sowol die für die Jugend beiderlei Ge-
schlechts bewährten Lesestoffe aus den Schätzen der deutschen Literatur, als
auch neue Lesestücke, die das Weib in seinem häuslichen Wirken und Schaffen
als Lehrerin der Kinder, als Pflegerin der Erkrankten, als Priesterin des
Hauses, als Genossin des Mannes in Freud und Leid darstellen und dem Mäd-
chen den Weg zeigen, den es arbeitend und schaffend selbst einst wandeln
soll, um die hohen Aufgaben zu erfüllen, die dem deutschen Weibe im deut-
schen Volksleben für Gegenwart und Zukunft gestellt sind".
Wolthuend berührt hierbei der Umstand, dass die Herren Ernst und Tews
sich frei halten von der stolzen Selbstüberhebung, mit welcher heute so viele
Projectmacher ihre „Reformen" anpreisen und alles bisher Geleistete herab-
setzen. Die Herausgeber dieses neuen Lesebuches sagen ausdrücklich : „Wir
19*
— 260 —
halten dag Fundament unserer Volksschule — also auch der Mädchenschule —
für ein durchaus gesunde«: wir wollen dasselbe durchaus nicht erschüttern,
sondern im Gegen theil noch befestigen; wir wollen die Allgemeinbildung
nicht verflachen, sondern vertiefen: aber wir fordern mit derselben Ent-
schiedenheit, das« die Eigenart der weiblichen Natur und der Wirkungskreis
des Weibes anf allen Stufen volle Würdigung und Berücksichtigung finde."
So sprechen Männer, die etwas gelernt haben und wissen, was sie wollen.
Auch in der methodischen Anordnung der in ihrem Lesebuche aufge-
speicherten Bildungsstoffe folgen sie dem naturgemäßen und längst bewährten
Principe, nämlich dem der concentrischen Kreise, welches schon auf dem Titel
ihres Werkes erkennbar ist. Als Mittelpunkt alles weiblichen Denkens und
Wirkens wird überall Haus und Familie festgehalten, um den feich dann
die nächste Umgebung (Hof und Garten, Feld, Wiese und Wald, die Schule
und der Heimatsort), ferner das engere und weitere Vaterland, die ganze Natur,
die Erde, der Himmel, die weite Welt in immer wuchsenden Kreisen herum-
lagern, indem alles von dem ersten, nächsten und beharrlichsten Schauplatze
des DaseinB aus betrachtet und wieder auf ihn zurückbezogen und so in un-
gezwungener Weise eine einheitliche, aber immer tiefere und breitere Durch-
bildung des Geistes und Herzens erzielt wird.
Somit können wir das hier vorliegende Werk im Ganzen, nach seiner Idee»
seinem Plan und seiner Ausführung nur mit lebhaftem Beifalle aufnehmen.
Dass sich bei genauerer Kritik und beim praktischen Gebrauch in der Schule
im Einzelnen mancherlei Ausstellungen oder wenigstens Meinungsverschieden-
heiten ergeben werden, kann wol bei einem so umfänglichen Unternehmen als
selbstverständlich vorausgesetzt werden. Vielleicht k ann dieses oder jenes
Lesestück durch ein anderes ersetzt oder einfach gestrichen werden. Um
ein Beispiel anzuführen: Referent würde die beiden Sonette von Heine „An
meine Mutter" (Band HI, S. 255 f.) gern entbehren; sie kommen ihm ziemlich
leer und „gemacht" vor, nicht auf der Höhe ihres Themas stehend, innerer
Wärme und natürlichen Schwunges crmangelnd, jedenfalls nicht zu den besten
Erzeugnissen des Dichters gehörend. Indessen — zunächst handelt es sich um
das Ganze, um die Hauptsache, und da können wir nur wünschen, die deutschen
Lehrer mögen das Werk ihrer beiden Collegen mit Wolwollen aufnehmen und
ihm die Thüren der Schulstuben öffnen ; sie mögen auch selbst durch gerechte
Kritik und gute Rathschläge an der Verbesserung desselben, wo es noch noth-
thut, mitwirken. Die Verfasser erklären sich bereit, solche Unterstützung be-
reitwillig entgegenzunehmen und dankbar zu verwerten. Jedenfalls haben
sie durch ihre mühevolle Arbeit ihren Beruf zur Förderung deutscher Bildung
sattsam bewiesen; und die Verlagshandlung hat dem Werke durch schönen,
correcten Druck auf gutem Papiere und durch billigen Preis (3 Druckseiten
großen Formates für einen Pfennig) die Verbreitung erleichtert. M. M.
l'rof. Dr. Karl Stejska), Hegeln U.Wörterverzeichnis für die deutsche
Rechtschreibung. Auf Grundlage der vom hohen k. k. Ministerium für
Cultus und Unterricht für die österreichischen Schulen festgestellten Recht-
schreibung. Wien 1891, Manz. 166 S. Preis gebunden 60 Kreuzer.
Die vielen Reformversuche und Verordnungen auf dem Gebiete der deutschen
Orthographie haben es endlich dahin gebracht, dass keine deutsche Ortho-
graphie mehr auf Allgemeingiltigkeit Anspruch machen kann, und man es
jedem Schriftsteller oder Buchdrucker überlassen ihubs, sich zwischen den ver-
schiedenen Systemen ohne heftige Anstöße durchzuwinden. Am Ende wird
man bei deT nun einmal eingerissenen Zerrüttung unserer Orthographie dieselbe
für eine Nebensache halten und weitgehende Duldung gegen ihre verschiedenen
Formen üben müssen. Allein in der Schule wird trotzdem eine Richtschnur
unentbehrlich bleiben, weil sonst Lehrer und Schüler rathlos und unange-
nehmen Folgen ausgesetzt sein würden, da ja die Orthographie in unserer Zeit
zn einer Regierungsangelegenheit geworden ist — eine seltsame Erscheinung, aber
doch eben eineThatsache, die Beachtung erheischt. Und so sei den österreichischen
Lehrern und Schulen der orthographische Leitfaden von Dr. Stejskal als Rath-
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geber und Wegweiser bestens empfohlen; kann er auch nicht beanspruchen,
die wissenschaftlich allein richtige Schreibung zu lehren, so ist er doch geeignet,
vor amtlichen Verweisen zn sichern. Sachkenntnis und Fleiß sind bei Aus-
arbeitung des Buches zn voller Geltung gelangt: die Ausstattung desselben ist
schön und bandlich, der Preis sehr billig. M.
Fr. Nadler, Rathgeber für Volks«chullehrer. Dritte Auflage. Mit 37 in
den Text gedruckten Abbildungen. Langensalza 1891, Beyer & Söhn*.
543 Seit. 5,40 Mk..
Ein sorgfältig ausgearbeitetes, in seiner Art recht gutes Buch. Es umfasst
die preußische evangelische Volksschule in allen ihren Verhältnissen
und Beziehungen und ist daher sehr geeignet, den preußischeu Volksschullehrcr
und Volksschulbeamten in seinen Lebens- und Berufskreis einzuführen, den
nicht-preußischen Schulmann Uber die preußische Schulpraxis zu informiren
und zu einem Urtheil Uber dieselbe zu befähigen. Der erste (kürzere) Haupt-
theil des Werkes fährt „die wichtigsten Einrichtungen, Ordnungen und
amtlichen Bestimmungen für Volksschulen" vor, wahrend der zweite (größere)
den Unterricht in der Volksschule ausfuhrlich behandelt und hauptsächlich
Lehrgänge für die verschiedenen Schultächer nebst Probelectionen bringt. Stoff-
und Stundenpläne für verschieden gegliederte, kleinere und größere Volks-
schulen schließen das Werk ab.
Da der Verfasser, preußischer Seminarlebror und Übungsschulleitcr, den
Hauptzweck verfolgte, in die factisch bestehenden Verhältnisse und Normen
einzuführen, sowie die jetzt herrschenden Methoden darzulegen, ohne ein
neues System aufstellen oder die Grundlagen der Pädagogik und Didaktik
einer fundamentalen Untersuchung unterziehen zu wollen, so gibt sein Buch
im wesentlichen keinen Anlass zur Kritik. Was er wollte, ist ihm gelungen;
die gegebenen gesetzlichen Weisungen sowie die literarischen Behelfe für die
Volk ssc hulpraxis hat er mit Umsicht in seine Darstellung eingeflochten, womit
er zugleich die Pflichten und Bechte des Volkssckullehrers in deu verschiedenen
Beziehungen klargestellt und demselben Mittel zur Fortbildung bekannt ge-
macht hat. D.
Prof. R. Heidrich, Handbuch für den Religionsunterricht in den oberen
Classen. Dritter Theil: Glanbenslehre. Berlin 1891, Heine. 254 S. 5,20. Mk.
Obwol das „Pädagogium1* sich mit dem Religionsunterricht in der herkömm-
lichen Form wenig zu befassen pflegt, durfte es wol einer kurzen Anzeige
des Hcidrich'schen Werkes Raum zu geben bereit sein, da dasselbe principiell
einer besseren Gestaltung des Religionsunterrichts keineswegs widerstrebt.
Vor allem sei aber bemerkt, dass der Titel des angezeigten Buches einiger
Erläuterungen, bez. Zusätze bedarf. Es ist nämlich für den Religionsunterricht
in den oberen Classen höherer Schulen, namentlich der Gymnasien, bestimmt,
wie denn der Herr Verfasser selbst preußischer Gymnasialdirector ist; ferner
bat er den Religionsunterricht in evangelischen, speciell lutherischen
Schulen im Auge, und endlich ist es nicht etwa für die Hand der Schiller,
sondern zum Gebrauch für Lehrer bestimmt.
Was nun den Geist des Werkes anbelangt, so wird er am besten durch
folgende zwei Grundsätze gekennzeichnet: 1. „Nicht zu der Menschen Füßen,
nicht einmal der Reformatoren, sollen Lehrer und Schüler sich setzen, sondern
zu den Füßen dessen, der auch der Reformatoren Meister war." (Vorwort.1
2. „Nicht zum ^System der Dogmati k' soll der Schüler der oberen ('lassen
geführt werden; auch hier gilt es, immer noch mehr Ernst zu macheu mit der
w sehr beachtenswerten Forderung der Erläuterung zu denLehrpläncn der höheren
Sehnten, dass auch, die höhere Schule nicht Theologie lehre, sondern Religions-
unterricht ertheile; das System gehört auf die Universität, nicht in den Schul-
unterricht.1* (S. 8.) Damit kann man wol einverstanden und unter heutigen
Verhältnissen auch zufrieden sein, besonders wenn diese Grundsätze so ernst,
besonnen, vorurteilslos und mit so reichem Wissen durchgeführt werden, wie
es in dem höchst beachtenswerten Werke des Herrn Prof. Heidrich geschieht.
— 262 —
C'. Jacobi, Bibel-Atlas zum Gebrauche an Lehrerseminarien, Gym-
nasien and Realschulen, sowie für Geistliche and Lehrer. Neun;
Karten mit erklärendem Text. Siebente, vollständig umgearbeitete und
erweiterte Auflage des „Atlas zur biblischen Geschichte". Gera, Th. Hof-
roann. Preis 1,20. Mk.
Ein sehr gutes, praktisch eingerichtetes und schön ausgeführtes, seinem
Zwecke entsprechendes Lehrmittel. A.
Dr. Herrn. Wesendonck, Der modern-religiöse Wahnsinn oder Christi
Lehre — keine göttliche Lehre, Graf Leo Tolstois Evangelium —
Narrheit. Leipzig 1891, Selbstverlag des Verfassers. 132 S. 2 Mk.
Der Pädagog muss seine Zeit verstehen. Ein wichtiges Mittel, sie kennen
zu lernen, ist die zeitgenössische Literatur. Darum machen wir auf das ange-
zeigte Buch aufmerksam. Wer nur Schriften aus irgend einem der ver-
schiedenen Parteilager auf sich wirken lässt , wird ein bruchstückartiges, ein-
seitiges, verschrobenes Bild von der Lage der heutigen Gesellschaft und ihren
Geistesströmungen erhalten. Darum gilt es, nach allen Richtungen hin Um-
schau zu halten und auch Bücher, wie das vorliegende ernster Prüfung zu
würdigen. Der Verfasser hat seiner Zeit im Deutschen Reiche die staatlich
organisirten und controlirten Schulen sammt den gelehrten Studien rite absolvirt*
ist dann preußischer Gymnasiallehrer und preußischer Kreisschulinspector ge-
wesen, hat also mindestens ebensoviel Anspruch darauf, gehört zu werden,
alt viele andere, die auf dem Büchermarkt ihre Stimme erschallen lassen.
Freilich wird Wesendonck darauf gefasst sein müssen, dass man ihn todtzu-
Bchweigen oder tod Zuschlagen versucht Aber denen dies am Herzen liegt,
die mögen an ihre eigene Brust klopfen und bedenken, dass die hier ange-
schlagenen Töne, welche ihnen so grell in die Ohren dringen, nicht erschallen
würdeu, wenn nicht eine so ungeheuere Summe von Lüge und Heuchelei Tag
für Tag gesprochen, prakticirt und zu Ehren unserer vielberufenen Glaubens-
und Gewissensfreiheit der Welt aufgezwungen wrtrde. Wie es in den Wald
schallt, schallt es heraus. Den guten Willen, die Wahrheit zu finden und
zu sagen, und nur sie allein, wird man Wesendonck nicht absprechen können;
wie weit er sie erreicht hat, das mag der Leser mit sich selbst ausmachen.
Dass sich Wesendonck so viel mit Tolstoi beschäftigt, findet freilich der-
jenige für überflüssig, welcher, wie Referent, den Herrn Grafen Leo Tolstoi
niemals für einen Propheten oder für ein gioßes Licht gehalten hat. Die un-
gezählten Tausende aber, welche für ihn geschwärmt haben, mögen nun auch
seine neueste Bescherung sammt der ihr auf dem Fuße folgenden Kritik ge-
nießen! E. M.
Ulbricht und Kämme), Grnndzüge der Geschichte. 3 Theile. Dresden,
Höckner.
Diese „Grundzüge" sind für den Unterricht auf der oberen Stufe der Gym-
nasien und Realgymnasien bestimmt, und das bat für die Auswahl und die
Behandlung des Stoffes entschieden. Fast möchten wir aber glauben, dass,
was das erstere betrifft, des Guten etwas zu viel geschehen ist, besonders im
III. Theile, der Neuzeit, wo an Namen und Zahlen so viel geboten ist, das«
nur ein vorzüglich begabter Jüngling bei großem häuslichen Fleiß den Stoff
sich einprägen , kaum dieser aber auf die Dauer ihn behalten wird. Die Be-
handlung des Stoffes dagegen ist vortrefflich: knapp und doch klar, weil Über-
sichtlich; pragmatisch, also Ursachen, Folgen, beeinflussende, begleitende Um-
stände scharf hervorhebend, ohne doch das biographische Element zurück-
zudrängen. — Dem „Mittelalter" ist, das dürfen wir nicht übergehen —
eigentümlich, dass es auf die wirtschaftlichen Verhältnisse Wert legt und so
nach dem Vorgange Nitsche's Capitel heranzieht, die bislang die Lehrbücher
vernachlässigten. Gar manches Ereignis erhält dadurch eine ganz andere Be-
leuchtung. Wenn wir dem Buche noch einen Wink geben sollen, wie es für
den Unterricht brauchbarer werden könnte, so ginge er dahin, die Art des
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Druckes, insbesondere der Ziffern und Buchstaben zu ändern. Hier ließe sich
vieles übersichtlicher und zweckmäßiger gestalten. W.
Müller- Dändliker, Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für höhere
Volksschulen. Seminarien und Mittelschulen. Zürich 1891, Schalt-
hess. 3,60 Mk.
Für die mittleren der drei genannten Schulen halten wir dieses Lehrbuch
am brauchbarsten. Im Gegensatze zu den meisten Lehrbüchern, die Kaiser an
Kaiser, Krieg an Krieg reihen, fasst es die geschichtliche Entwicklung tiefer,
wie dies schon aus der Gruppirung des Stoffes, der Ausscheidung von gewissen
vereinzelt stehenden Thatsachcn und der Zusammenziehung des sachlich Zu-
sammengehörigen erhellt, dies nun unter eine höhere Einheit gefasst und nicht
ganz äußerlich aneinander gereiht erscheint. Ich denke dabei besonders an die
Kaiscrgeschichte des Mittelalters, an die Römerzüge u. s. w. Auch die neueste
Geschichte ist in dieser den Stoff beherrschenden Weise erzählt (z. B. Einigung
Italiens, Einigung Deutschlands, nationale Bestrebungen im Türkenreich). Bei
einem Schweizer Lehrbuch braucht man das eigentlich nicht zu erwähnen,
dass es der Entwicklung des Bürgerstandes und seiner Bedeutung für die
Culturgeschichte überall gerecht wird. W.
Edra. Meyer, Leitfaden der Geschichte in Tabellenform für preußische
höhere Lehranstalten. II.Theil: Mittelalter. Berlin 1890, Weidmann.
Das Charakteristische dieses Leitfadens liegt außer in der Tabellenform in
manchen eingestreuten Bemerkungen und Fußnoten, welche Hinweise enthalten
auf die noch andauernden Nachwirkungen der mittelalterlichen Ereig-
nisse. Gewiss ein gesunder, beherzigenswerter Gedanke. Gar vieles aus dem
Mittelalter hat Ja nur von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet für die Jugend
Interesse. — Em anderer Zug kennzeichnet diesen Leitfaden als ein Buch für
die oberen Classen der höheren Schulen: Die nach dem Originaltexte mitge-
theilten Quellencitate (zumeist Charakteristiken der Herrscher) und der Reich-
thum an Detail, besonders was die deutsche Rechtsgesehichte betrifft W.
Heime, Die Geschichte in tabellarischer Übersicht. 2. Aufl. Hannover
1891, Helwing.
Ähnlich wie Edm. Meyer für preußische Gymnasien hat Heinze die
Geschichte in Tabellenform für Lehrerseminare zusammengestellt. Aus den
Verschiedenheiten der Lehrziele beider Arten von Schulen ergeben sich auch
die Abweichungen in dem Quantum des mitgetheilten Stoffes und einige andere
Verschiedenheiten, z. B. dort Quellenstellcn in den Anmerkungeu, hier nichts
derartiges. Beide haben aber durch die Form das Gleiche erreichen wollen:
eine größere Übersichtlichkeit des Lernstoffes, ferner die Möglichkeit, dass der
Schüler selbst den Stoff sprachlich einkleide und so vor dem leidigen mecha-
nischen Lernen bewahrt bleibe und ihm außerdem die Repetition erleichtert
werde. Was leicht hätte vermieden werden können, ist der stete Gebrauch des
Präsens statt des Imperfccts. Der Blick des Schülers soll in die Vergangen-
heit gerichtet sein, und das Buch sagt z. B. 1097 wird Nicäa erobert. W.
(»ötf, Deutsche Geschichte in Fragen und Antworten. 3. Auflage.
Nürnberg 1891, Korn. 1,40 Mk.
Wir haben seinerzeit dio zweite Auflage dieses Buches im Pädagogium au-
fzeigt und freuen uns, dass der Verfasser dio dort gegebenen Winke zur
Verbesserung seines Katechismus in dieser neuen „manchfach verbesserten'
Auflage benützt hat. Schon der Druck macht diese Ausgabe viel praktischer,
auch die überall durchgeführte Gruppirung der Antworten und die Auflösung
mancher Fragen in Unterfragen; aber auch sachlich ist manches viel besser
als in der letzten Auflage. Einiges ist außerdem neu hinzugekommen und
auch der Anhang um eine (auf Grund der im Lehrbuch zerstreuten Einzei-
ligen zusammengestellte) Entwicklungsfrage vermehrt. Solches „Operiren"
mit dem 8toffe zu lehren ist nicht das geringste Verdienst des Buches. W.
Dietleifl, Die Weltgeschichte. 3. Aufl. Braunschweig 1891, Appelhans &
Pfenningstorff. 1,80 Mk.
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Dieser Leitfaden, bestimmt für Schüler und Schülerinnen in Bürger-, Mittel-,
Präparanden- und höheren Mädchenschulen, nimmt bei der Augwahl des Stoffes
bereits Rücksicht auf den bekannten kaiserlichen Erlass vom 1. Mai 1889 und
widmet jedem größeren Abschnitt der politischen Geschichte immer auch einen
Paragraphen „Culturgeschichte". Das Lernen wird erleichtert durch eine
jedem Capitel vorangestellte Disposition und durch eine ihr entsprechende Zer-
legung eines größeren Ganzen in Thcile, die durch Ziffern noch besonders
markirt werden. Größerer und kleinerer Druck scheidet außerdem Wichtigeres
von Nebensächlichem. Die Karten entsprechen dagegen nicht ihrem Zweck.
Es sind ihrer acht. Nr. 7: Deutschland zur Zeit der Hohenstaufen, Nr. 8:
Karte zur Geschichte Friedrichs des Großen! Es fehlen also Zwischenglieder.
Was ist die Folge? Der Kartenzeichner setzte auf die Karte „Hohenstaufen'
frischweg Namen wie „Friedland, H. Waldstein, Pilsen. Wittenberg, Ambras"
u. ä.! W.
Hofiiueyer und Hering, Hilfsbach für den Geschichtsunterricht in
Präparandenanstalten. Hannover 1891, Helwing.
Auch dieser in 6. Auflage erscheinende Leitfaden ist bereits auf Grund des
Erlasses vom 1. Mai 1889 umgearbeitet. Die Neuzeit umfasst jetzt die Seiten
156—316 und behandelt die Geschichte bis zur Erwerbung Helgolands. Der
Gesaromtstoff wird in 44 Capitel zerlegt, z. B. Cap. 14: Chlodwig, 15: Mohammed.
16: Bekehrung der Deutschen zum Christenthum, 17: Karl der Große.
18: Heinrich I., 19: Otto I., 20: Heinrich IV. etc. Manches Capitel enthält
aber außer der Geschichte der im Titel genannten Person oder Thatsache
auch anderes; Capitel 20 z. B. auch die Geschichte Heinrichs IDT., sachlich
betrachtet also den Höhepunkt und den tiefsten Stand der Kaisermacht unter
den Saliern. Ob also der Titel gut gewühlt, sei dahingestellt Wir würden
Heinrich ni. ein eigenes Capitel einräumen wie Heinrich IV. Anerkennung
verdient im allgemeinen die leichtfließende Erzählung, doch zeigen sich auch
hier noch manche stilistische Ungenauigkeiten z. B. Karl aß mit Frau und
Kindern zusammen und führte sie auf allen seinen Reisen mit sich. Das war
sehr lästig, denn er hatte keinen festen Wohnsitz und war fast immer auf
Reisen. 113). — Den Anhang dürfeu wir um der dort mitgetheilten Fragen
willen nicht unbesprochen lassen. Es sind ihrer siebenzig, und wir können wol
sagen, die meisten sehr gut gewählt. Die Beantwortung setzt voraus, das*
der Schüler sich den Stoff des Lehrbuches nicht mechanisch angeeignet habe,
und darauf sollte doch jeder Lehrer als eines seiner Hauptziele hinarbeiten.
Nur wenn der Lehrer so fragt, dass der Schüler eine neue VorstellungBreihe
J. Bielfeld ä Karlsruhe, 1891. Prix . d'abonnement : un an 7 francs 50.
— 6 marcs.
Unter diesem Titel veröffentlicht H. Plattner, Verfasser von zahlreichen
trefflichen, besonders in Deutschland sehr verbreiteten französischen Lohr-
büchern, eine Zeitschrift, die sich die Aufgabe stellt, alles, was für den Unter-
richt im Französischen von bleibendem Werte ist, zu bringen. Für Freunde
uud Kenner des Französischen bestimmt, besonders aber für Lehrer dieser
Sprache, wollen die Etudes in erster Linie das moderne Französisch in den
Kreis ihrer Behandlung ziehen, also nicht eine rein wissenschaftliche Publication
sein, ohne jedoch das Lateinische, das Altfranzösische und die anderen romanischen
Sprachen, insoweit sie zur Beleuchtung und Erklärung des heutigen Sprach-
gebrauches dienen, unberücksichtigt zu lassen. %
Der erste Abschnitt, Gramm aire, wird sich bestreben, nicht etwa die Zahl
der Regeln, die, wie bekannt, nur zu oft der Laune der Grammatiker ihre
Entstehung verdanken, noch zu vermehren, sondern dieselben wie möglich zu
verringern und durch Beispiele, entnommen vorzüglich den Schriftstellern des
19. Jahrhunderts, zu stützen. Ebenso finden hier die anderen Zweige des
Sprachstudiums Aufnahme. — Die Litterature wird vornehmlich Aufsätze
bringen, bestimmt, die Kenntnis und Erklärung der beliebtesten Schnlautoren
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zu fördern. — Die Pages ehoisies »ollen den Leser mit merkenswerten
Stollen aus bekaimton Bü- hern oder solche, die es zu sein verdienten, vertraut
machen. — Die Analyse -critique will nur wirklich bedeutende literarische
Erscheinungen berücksichtigen. — Die Revue deB revues stellt sich die
Autgabe, den Inhalt einiger sprachwissenschaftlichen Zeitschriften in möglichster
Kürze zu resumiren, ohne sich jedoch mit trockenem Aufzählen der Namen
deT Autoren zu begnügen. Aber auch die Erscheinungen der letzten zwanzig
Jahre sollen einer Rückschau unterzogen werden. Auch methodische und
andere Unterrichtsfragen werden in den Etudes besprochen. Schließlich öffnet
die Petite correspondance ihre Spalten allen Mittheilungen, Fragen, Ant-
worten seitens der Leser.
Wir rathen allen jenen, die sich auf eine verhältnismäßig billige und bequeme
Weise einen angenehmen und verlasslichen Führer beim Studium des Franzö-
sischen verschaffen wollen, die vorliegende vielversprechende Zeitschrift zu
abonniren, und sind der Überzeugung, dass sie uns für diesen Rath dankbar
sein werden. E. R.
Dr. 6. Strien, Eleinentarbuch der französischen Sprache. 97 S.
Halle a. S. 1890, Verlag von Engen Stein.
Unstreitig einer der besten Lernbehelfe für die erste Untcrrichtsstufe. Der
Verfasser findet, dass den meisten Elementarbüchern, die den Forderungen
der neusprachlichen Reform Rechnung tragen wollen, ein Mangel anhaftet:
der zu schwierige Text. Um denselben zu beseitigen, verwendet er in den
ersten Nummern der ersten Abtheilung seines Werkchens eine Anzahl fran-
zösischer, schon einem zehnjährigen Kinde geläufiger Wörter, geht also von
einem theilweise Bekannten aus. Dass ein solches Verfahren die Reception
und die Rcproduction erleichtert, ist klar. Die Anfangslectionen der 1. Ab-
theilnng, die der Autor selbst verfasst hatte, um ein allmähliches Fortschreiten
vom Leichten zum Schwereren herzustellen, sind dem Inhalte nach dem Leben
des Kindes in Schule und Haus entnommen. Eingefügt erscheinen denselben
einige der Altersstufe des Zöglings entsprechende Verse und Gedichtchen.
Unter B stehen die auf das Lesestück bezüglichen Fragen; 0 bringt die Bei-
spiele zu den aus dein Lesetexte zu entwickelnden Regeln, während D Auf-
gaben zur mündlichen und schriftlichen Einübung der letzteren vorführt.
Der 2. Abschnitt enthält eine dem vorhergehenden entsprechende Zahl
deutscher Lectionen, deren Inhalt dem der correspondirenden Nummern des
1. Abschnitts entspricht und somit Gelegenheit gibt, das franz. Stück in etwas
veränderter Form wiederzugeben. Hierin steht wol der Verfasser mit den
von den meisten Neuerern vertretenen Anschauung im Widerspruche, und
auch wir würden im Interesse des Buches und dem der lernenden Jugend
wünschen, dass derartige Forderungen mit weniger Ungestüm gestellt würden.
Eine systematische Zusammenstellung des behandelten grammatischen Stoffes
durch Beispiele soll die Regeln ersetzen.
Das allerliebste Büchlein dürfte nach Inhalt und dessen Behandlung der
Aufgabe vollends entsprechen, die der geschätzte Reformer Münch dem ersten
Jahre des franz. Unterrichts zuweist, denn es ist ein wesentlich propädeutisches.
Die inneren Vorzüge werden noch durch einen schönen und großen Druck, der
das Werkchen sofort als ein für die Jugend bestimmtes erkennen lässt, erheb-
lich vermehrt. E. R.
Dr. G. Strien, Lehrbuch der franz. Sprache. I.Theil. 148 S. Halle a.S.
1891, Verlag von Eugen Stein. Geb. 1,40 Mk.
Das Pensum der Quarta enthaltend, schließt sich dieser Lehrgang au den
obgenannten an. Beide sind nach denselben Grundsätzen bearbeitet und
gleich eingerichtet. Der Inhalt der Lesestücke ist ein mannigfaltiger; auch
die Landeskunde und franz. Geschichte finden Aufnahme. Der dritte Abschnitt
bietet nur zusammenhängende Stücke zum Übersetzen aus dem Deutschen.
Dieselben sind theiis Umarbeitungen der entsprechenden franz. Lesestücke,
thcils inhaltlich von denselben verschieden, doch so gewählt, dass nur aus-
nahmsweise die Angabe eines neuen Ausdrucks nothwendig wird. Auch dieser
Arbeit muss man die vollste Anerkennung zollen und wünschen, do*s der
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2. Theü des Lehrbuchos, dessen Erscheinen schon in kürzester Zeit in Aussicht
gestellt wird, eine den beiden vorstehenden ebenbürtige Leistung werde
E. B.
J. Pttnjer, .Schulvorsteher in Altona, Lehr- und Lernbuch der franz.
Sprache. 2. Aufl. II. Theil. Hannover 1891 , Verlag von Carl Mover.
203 S. 1,60 Mk.
Die methodischen Gesichtspunkte, vou denen sich der Verfasser bei der Be-
arbeitung des zweiten Theiles seines Lehrbuches leiten ließ, sind gleich den-
jenigen des von uns bereits besprochenen erstcu Theiles. Beide bilden ein
zusammenhängendes Ganze. Princip und Durchfuhrung verdienen all das Lob,
das dem Herrn Autor von der Fachpresse geworden. Die Wortbildung, deren
eingehendere Pflege von so vielen Seiten befürwortet wird, zieht sich auch in
dem vorliegenden Lehrtexte unter steter Anlehnung an den Übung? atoff durch
eine Reihe von Leitionen hin. Der Verfasser hofft, dass die Benutzung des
zu etymologischen Übungen dienenden Stoffes für die sprachliche Bildung der
Schüler von nicht geringem Werte sein wird — und diese Ansicht wird jeder
erfahrene Schulmann mit ihm theilen. E. B.
F. H. Sehneitler, Lehrgang der franz. Sprache für Kaufleute und
Vorschule zur franz. Handelscorrespondenz. 2. Aufl. Dresden 1891,
Verlag von Gerhard Rühtmann. 181 S. 1 Mk., geb. 1,20 Mk.
Was nur zu oft bloße Phrase, ist hier Thatsache: Das Werkchen H. Schneitiere
entspricht einem tiefgefühlten Bedürfnisse. Mit welchen Schwierigkeiten jene
zu kämpfen haben, die französisch nur in der Absicht lernen, um sich die
Kenntnis der Hundeiskorrespondenz in diesem Idiom anzueignen und zu diesem
Behufe sich an der Hand irgend einer Grammatik mit den Elementen der
Fremdsprache vertraut macheu , dann erst zu einem Handbuche der franz.
(Korrespondenz greifen, weiß der Referent, als Lehrer an einer Handelsschule,
nur zu gut. Den offenbaren Umweg — und die^n macht man fast ausnahms-
los, da es an einem für diese Zwecke brauchbaren Buche bislang fehlte — will
nun H. Schneitier durch Veröffentlichung des vorliegenden Lehrganges, der in
erster Linie die Bedürfnisse der Handelsschulen, kaufmännischen Fortbildungs-
schulen und ähnlicher Anstalten im Auge hat, dem Lernenden ersparen.
Aus der Grammatik führt dieser Lehrgang nur die für die praktische Hand-
habung der Sprache unbedingt nothwendigen Elemente vor. Der Vocabelschatz
und die Phraseologie gehören ausschließlich der kaufmännischen Geschäfts-
sprache an. Der Ubungsstoff ist zum größten Theile der „Correspondance
commercialc von P. Bree, 9. Aufl.u entlehnt. Es ist somit begreiflich, dass der
Schülev greift er später zu irgend einem Handbuehc der franz. Correspondenz,
etwa zu dem eben angeführten, ein Ganzes vor sich hat, dessen einzelne Theile
ihm bereits bekannt sind. Deutsehe Cbungsbeispicle enthält das Buch nicht;
diese sollen durch Retroversion der französischen ersetzt werden. Ob aber
das Interesse den Lernenden und auch der Erfolg nicht durch wenigstens theil-
weise Berücksichtigung der berechtigtesten Forderung der neusprachlichen
Reformer erhöht würde, wir meinen die zusammenhängende Leetüre, dies geben
wir dem Herrn Verfasser zu bedenken. (Ihne den Umfang des Buches zu ver-
größern, könnte eine Anzahl auf den Handel, Industrie u. ft. sich beziehender
Lesestücke beigegeben, dafür viele zur Veranschaulichung nicht unbedingt
nötbige Einzelsätze ausgeschieden worden. Allein, selbst in der gegenwar
tigen Fassung zeugt das Buch vou dem großen Fleißc und der ungewöhnlichen
Sachkenntnis des Verfassers, und wir hoffen, dass seine Arbeit in den Kreisen,
für die sie bestimmt ist, freudige Aufnahme Huden wird. E. R.
Memoires du Marquis de Ferrieres sur la revolution franc,aise et
surl'assembUeconstitnante, herausgegeben und erklärt von Dr. P. Perle .
107 S. und einein Plan von Paris im Jahre 1793. 1,50 Mk.
Memoires et Souvenirs du Comte de Lavallette, herausgegeben und
erklärt von Dr. J. Sarrazin. 114 S. 1,50 Mk.
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Gehören zu der Sanimluug ge&ehiehtlieher Quellcnwcrke zur neusprachlieheir
Lectttre im höheren Unterrichte, die unter fachgenössischer Mitwirkung von
Dr. Friedrich Perle herausgegeben wird und bei Max Niemeyer, Halle a. S.
' verlegt ist. Diese Sammlung, umfassend bis jetzt 8 elegant ausgestattete
Bändchen, will eine vertieftere und unmittelbarere Erkenntnis der National-
cntwickelung der Franzosen und Engländer durch die Schullectüre fördern.
Diese Quellenschriften — Reden, Briefe und Memoiren — stellen sieh in erster
Linie den deutschen Realgymnasien iu den Dienst und behandeln insgesammt
Ereignisse und Zustände, die im anderweitigen Unterrichte bereits besprochen
wurden. E. R.
Cice>on et ses amis, 6tude sur la soeiäte romaine du tenips de
Cesar, par Gaston Boissier. Ausgewählte Abschnitte zum Schulgebrauch
herausgegeben von l)r. K. Mever. Halle a. S. 1891 , Verlag von Max
Niemeyer. 151 S. 1,20 Mk.
Ein glücklicher Gedanke war es, einige Abschnitte aus dein obgenannten
geschätzten Werke des Akademikers Boissier in usum delphini herauszugeben.
Da Boissier in demselben in äußerst fesselnder Weise besonders die inneren
Zustände der Geschiebte Roms schildert, welche dem Primaner eines deutschen
Gymnasiums bereits zum Thcile bekannt sind, so wird die Leetüre des Auszuges
zur Vertiefung und Erweiterung seiner historischen Kenntnisse nicht wenig
beitragen. Da der Herausgeber selbst gesteht, dass zum gründlichen Ver-
ständnis dieser Leetüre namhafte archäologische Kenntnisse erforderlich
sind, so liegt die Frage nahe, ob es nicht im Interesse der Sache wäre, die
diesbezüglichen, nöthigen Erklärungen sei es in Fußnoten oder im Anhange zu
geben. E. R.
Resume de l'histoire de la litterature franc,aise par Alfred Anspach»
Heidelberg 1892, Verlag von Julius Groos. 392 S. 4.50 fr.
Der Verfasser war, wie er in der Vorrede bemerkt, bestrebt, besonders
jene Geisteswerke hervorzuheben, deren Verdienst und Bedeutung die gesunde
Kritik und der gute Geschmack mehrerer Generationen unerkannt hat. Nicht ,
jedermanns Sache ist es, eine Literaturgeschichte zu schreiben. Da uns nun
der Autor versichert, bei der Bearbeitung des vorliegenden Handbuches alle
in Sachen der Kritik maßgebenden Werke zu Rathe gezogen zu haben, so sei
es auch jenen empfohlen, die sich nicht blos mit wolgedrechselten ästhetischen
Phrasen zufriedenstellen. Für Candidaten für Französisch an Osten". Bürger-
schulen scheint es uus ganz passend zu sein. E. R.
Bibliotheque frangaise. Dresden, Verlag von Gerhard Ruhtmann. Preis
pro Band geb. 60 Pf., Doppelband 90 Pf.
Obgleich in erster Linie für den Sehulgebrauch bestimmt, hat die vorliegende
Sammlung von französischen Jugendschriften bereits die stattliche Zahl von 52
Bändchen, von denen die meisten in mehrfacher Auflage, auch in Privatkreiseu
große Verbreitung gefunden. Erklärende Fußnoten, ein vollständiges Wörter-
verzeichnis und die auf jedes einzelne Capitel sich beziehenden Fragen am
Ende des Buches unterstützen die LectÜTe und die Convereation in erwünschter
Weise. Die Auswahl ist eine recht gediegene; die besten franz. Jugendschrift-
steller tinden wir darin vertreten. Somit können wir die Bibliotheque fran-
caise den Schülern und allen jenen getrost empfehlen, die um eine gute und
angenehme franz. Jugendlectüre verlegen sind. E. R.
Dr. Johann Ad. Griesmann, Director in Leipzig, Der Rechen unter rieht
in der Volksschule. Leipzig, Richter. 201 S. 2,75 Mk.
Der Verfasser bemerkt im Vorworte, dass durch die Einführung des decimal-
gctheüten Münz-, Maß- und Gcwiehtsystcms die Bedeutuug der gemeinen Brüche
für den Volksunterrieht uiehr in den Hintergrund, dagegeu jene der Decimal-
brüche in den Vordergrund gedrängt worden ist. Diese Veränderung wurde
aber sofort nur von einem Theil der Lehrer erfasst, während die übrigen noch
beim alten Vorgange verharrten; somit ist denn ein gewisses .Schwanken, eine
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Unsicherheit in Bezug auf die Stoffverteilung in den einzelnen Schuljahren
eingetreten. Der Verfasser widmet sein Buch seinen Collegen an den Leipziger
Volksschulen und hofft damit zunächst an diesen wieder einen einheitlichen
Vorgang zu erzielen. Wir meinen, dass der Verfasser die ausgesprochene Ab-
sicht vollkommen erreicht habe, und dass seine* Arbeit die Grundlage eines ge-
deihlichen und einheitlichen Unterrichtes zu bilden vermöge, außerdem aber
noch höchst beachtenswerte Grundzüge enthält. Gleich in der Einleitung hat
er uns wahrhaft erfreut durch den Nachweis, dass bei der Division, „Messen"
und „Theilen" zu unterscheiden eine unnütze Zeit- und Mühe- Verschwendung sei,
da doch die Benennung des Rechnungsergebnisses die Folge eines Urtheils ist,
welches vom Rechnungsvorgange ganz unabhängig gebildet werden muss.
Auch sind wir sehr einverstanden mit der Bemerkung, dass die Volksschule
im Rechnen sich jener Ausdrücke und Formen zu bedienen habe, welche bei
den Mathematikern von Fach gebräuchlich sind. — Dagegen können wir der
Empfehlung des Rechenkastens von Tillich im allgemeinen nicht zustimmen;
obwol wir dem nicht widersprechen können, dass er in der Hand eines ge-
wandten Lehrers gute Dienste zu leisten vermöge, so verdient im allgemeinen
doch die Kugelrcchenmaschine den Vorzug.
Für das erste Schuljahr setzt der Verfasser als Grenze des Lehrstoffes den
Zahlenraum zwölf; wir halten die Grenze zwanzig tfir richtiger und wichtiger
und wissen, dass an den Schulen in Österreich mit dieser Abstufung die
besten Erfolge erzielt werden. Im übrigen bekennt sich der Verfasser als
Anhänger Grübe's und empfiehlt die Behandlung des genannten Zahlenraumes
nach dessen Methode, womit wir durchaus einverstanden sind. In jedem folgen-
den Schuljahre fordert der Verfasser zunächst die Wiederholung des Voraus-
gegangenen und gibt auch genau an, wie bei dieser Wiederholung vorzugehen
sei. — Dem zweiten Schuljahre fällt natürlich die Erlernung des Rechnens im
Zablenraume bis hundert zu. Höchst beachtenswert ist die Bemerkung des
Verfassers, dass zuerst eine Grundform des Einmaleins wol einzuprägen sei,
ehe man zur Umkehrung der Factoren schreitet. (Die Nichtbeachtung dieses
Grundsatzes führt zu den traurigsten Misserfolgcn.) — Ebenso müssen wir zu-
stimmen, wenn der Verfasser hervorhebt, der Wert des Rechenunterrichtes
liege wesentlich in seiner formalen Seite, durch welche die materielle stets
werde zurückgedrängt werden. — Das dritte Schuljahr beschäftigt sich mit
dem Rechnen im Zablenraume bis Tausend und der Einführung in die Bruch-
rechnung. Dabei bemerkt der Verfasser unter anderem, man habe in der
Schule zumeist von der Benennung „Kilogramm" Gebrauch zu machen, während
die Benennung „Pfunde" nur ganz ausnahmsweise zu gebrauchen sei. Es hat
sich hierbei in der That die Schule ein schweres Versäumnis zu Schulden
kommen lassen. Hätte man sich den Rath, welchen der Verfasser jetzt erst
ertheilt, vor 20 Jahren zur Norm genommen, so wäre man heute über das
Wirrsal der verschiedenen Maßsysteme längst hinaus. — Das vierte Schuljahr
behandelt den Zahlenkreis bis zu einer Million und bis zu den Tausendsteln.
Es kommen mehrnamige Zahlen vor, jedoch nur solche mit decimaler Theilung.
Mit der Einführung in die Bruchrechnung wird weiter vorgegangen. Mit dem
allen kann man wol einverstanden sein und auch ganz besonders damit, dass
die Subtraction durch Ergänzung und die Division ohne Aufschreiben der Theil-
produetc gelehrt wird; dagegen sind wir nicht einverstanden mit der Ein-
führung des Wortes „Vollzanl", welches der Verfasser bald für Minuend, bald
für Dividend gesetzt haben will. An sich ist das Wort nichtssagend und daher
als Kunstwort nicht zu empfehlen, aber durchaus verfehlt ist es, einem Kunst-
worte eine zweifache Bedeutung zuzulegen. — Das fünfte Schuljahr ist der
Erlernung des Rechnens mit gemeinen und Decimalbrüchen gewidmet: daran
reiht sich die Schlussrechnung, von welcher der Verfasser nicht verkennt, dass
ihr etwas Gekünsteltes anhaftet, da die Aufgaben, welche durch dieselbe
zweckmäßig zu lösen sind, dafür künstlich vorbereitet sein müssen. Für den
thatsächlichen Gebrauch empfiehlt er den Schluss auf die Einheit, wie wir das
auch schon bei anderen gelesen haben. Am Schlüsse dieser Abtheilung finden wir
noch die Bemerkung: Der Bruch i*t ein angezeigter Quotient. Der Verfasser
269 —
unterläßt 06 auch nicht nachzuweisen, wie außerordentlich fruchtbar diese
Erklärung fflr die ganze Durchführung der Bruchrechnung und für die Her-
stellung des Zusammenhanges zwischen gemeinen und Decimalbrttchen zu ver-
werten ist.
Im sechsten Schuljahre beginnen die bürgerlichen Rechnungsarten. Im
siebenten tritt noch die abgekürzte Multiplication und Divisiou auf, und
die bürgerlichen Rechnungsarten werden fortgesetzt. Dabei empfiehlt der
Verfasser den Bruchsatz als die zweckmäßigste Form. Im achten Schuljahre
sollen die Schüler noch einiges erfahren über das Rechnen mit Buchstaben und
die Auflösungen von Bestimmungsgleichungen, sodann über Wechsel, Bürscn-
effecten und Zinseszinstabellen, endlich über Quadrat- und Kubikwurzeln.
Wir wurden beim Stadium des vorliegenden Buches unwillkürlich vermöge
des Gegensatzes an das Buch des Dr. Hartmann, welches Gegenstand und
Titel mit dem vorstehenden gemein hat, erinnert. Beide sind in gleicher
Heimat, nämlich in Sachsen entstanden; das ältere Werk führt uns einen sehr
ausgedehnten gelehrten Apparat vor; es betritt sozusagen den Schauplatz
mit großem Pompe. Die Geschichte der Methodik, die Pädagogik Herbarts
und Zillers werden als Schaustücke herangezogen. Viel einfacher tritt uns
der Verfasser des vorliegenden entgegen; seine Bemerkungen sind Wahrheiten,
welche er ohne Zweifel durch schulmännische Erfahrung gewonnen hat, die er
aber angemessen zu begründen nicht versäumt. Was den Effect betrifft, so
müssen wir gestehen, bei Dr. Hartmann keinen gefunden zu haben, zum
mindesten nicht einen solchen, welchen man als Fortschritt zu bezeichnen ver-
möchte; dagegen ist das vorliegende Buch wol dazu angethan, zwiespältige
Meinungen und verschiedenes Vorgehen in einheitliche Bannen zu lenken und
auf erfolgreichem Wege zn gedeihlichem Ziele zu führen. H. E.
Ferdinand Roese, Oberlehrer in Wismar. Elementargeometrie. Wismar,
Heinstorff. 98 S. 89 Figuren im Text 1,50 Mk.
Derselbe, Vorschule der Geometrie. Ebenda. 16 S. 0,50 Mk.
Der Verfasser nennt sich einen Schüler von Karl Snell, findet aber, das»
desscu Lehrbuch sich für die Hand des Schülers nicht eigne, und bat deshalb
selbst nach der Methode von Thibaut-Snell, deren Vorzüge er als bekannt
voraussetzt, das vorstehende Lehrbuch der Planimetrie abgefasst. Wir müssen
gestehen nicht zu wissen, was unter der genannten Methode zu verstehen ist;
wir vermuthen aber, es sei damit der Vorgang gemeint, dass sich an die
Voraussetzung unmittelbar die Entwicklung anschließt, aus welcher souach
zum Schiusse der Lehrsatz herauswächst ; während man sonst die Behauptung dem
Beweise voranstellt. Von dieser Eigentümlichkeit ist schon in der Methodik
von Reidt die Rede, und sie wird nicht als eine unbedingt musterhafte hin-
gestellt, weil es im Gegentheile wünschenswert erscheint, dass dem Schüler
das Ziel bekannt sei, auf welches die Eutwickelung lossteuert. Reidt bemerkt
weiter, dass das Setzen der Behauptung vor oder nach dem Beweise nichts zu
schaffen hat mit der Bezeichnung der Methode als analytisch oder synthetisch,
während ja ohnebin docirend oder heuristisch nicht das Lehrbuch, sondern nur
der Lehrer verfahren kann. Im übrigen beschränkt sich das Vorliegende auf
die Lehren des Euklid; von neueren Sätzen ist nichts aufgenommen, daher wir
wol sagen dürfen, es genüge dieser Leitfaden den Anforderungen eines Gym-
nasiums, aber nicht denen einer Realschule.
Des Verfassers Vorschule legt dem Einführungsunterrichte das Zeichnen zu
Grunde. Der Text enthält Erklärungen über verschiedene Figuren und An-
weisung sie zu entwerfen. Es hat gewiss auch seine Vortheile, den Zeichen-
unterricht zur Propädeutik der Geometrie zu verwerten, obwol man ohne
Zweifel rascher zum Ziele gelangt, wenn man die Schüler an Modellen zu
sehen anleitet. H. E.
Friedrich Junge, Hauptlehrer in Kiel, Naturgeschichte. II. Die Cul-
turwesen der deutschen Heimat nebst ihren Freunden und Feinden,
eine Lebensgemeinschaft um den Menschen. I. Die Pflanzenwelt.
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Kiel und Leipzig 1891, Lipsius & Tischer. XVI u. 371 S. Geh. 3Mk .
gut geb. 3,80 Mk.
Der Verfasser dieses Werkes machte vor einigen Jahreo ein nicht unberech-
tigtes Aufsehen durch sein Buch „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. " Er
beabsichtigte mit demselben dem natarhistorischen Unterrichte in den unteren
('lassen eine andere Richtung zu geben, denselben aus dem schablonenhaften
Wege ku einer wirklich praktischen Bedeutung zu bringen. Weniger war
ihm um das Einzelwesen hierbei zu thun, als um das Zusammenleben und die
Wechselbeziehungen der Lebewesen, um das Einheitliche der organischen und
t heilweise selbst der unorganischen Natur in einem abgegrenzten Ganzen. Ähnliche
Tendenz verfolgt auch das neuere, eben vorliegende Werk. Wie wir beim
„Dorfteiche" dieser neuen Richtung alle Anerkennung zollten und nur Bedenken
äußerten, ob wol überall (auch in der Stadt) diese Methode praktisch durchzu-
führen sei, so müssen wir bei dem vorliegenden Werke unumwunden das
vollste Lob des Dargebotenen aussprechen. — Das ganze Buch gründet sich
auf selbsteigene Beobachtung — sonst könnte es nicht mit solcher Wärme
geschrieben sein — und leitet den Lehrer an, zu seiner eigenen Belehrung
oicht nur die Natur zu beobachten, sondern auch durch Vorsuche der ver-
schiedensten Art in die Geheimnisse des Lebens der Pflanzen einzudringen
und dieselben den Kindern Uberzeugend zu erklären. Das Buch ist geradezu
ein Vade mecum für den gewissenhaften Lehrer, welches ihm nicht Mos in
dem Besprochenen als Führer dienen soll und kann (es ist zumeist für holstei-
nische, resp. norddeutsche Verhältnisse geschrieben), sondern ihn auch anleitet,
unter allen Verhältnissen und Himmelsstrichen den richtigen Weg zu finden,
wenn er mit denkendem Geiste dasselbe durchs tudirt. Die Pflanzen sind in
einer gewissen systematischen Ordnung besprochen, „weil es unmöglich ist, für
alle deutschredenden Schüler eine nach Lebensgemeinschaften geordnete Natur-
geschichte zu schreiben"; dabei ist aber das Princip der Znsammengehörigkeit
gewisser Lebewesen und deren Wechselbeziehung darin festgehalten, dass auf
die Schädlinge entsprechende Rücksicht genommen ist und auch hie und da
auf jene Thiere, welche fördernd einwirken können. Auch sind in einigen
Rückblicken, wie „Wald", „Moose", „Pilze", wirkliche Lebensgemeinschaften
geschildert, und möchten wir diesbezüglich besonders auf den Anhang zum
Walde, „die Knicke in Schleswig-Holstein" aufmerksam machen. Dem Ent-
stehen und Vergehen der Pflanzen ist allerorten ein bedeutendes Augenmerk
gewidmet und hier selbst in tiefergehender wissenschaftlicher, chemischer und
physikalischer Methode der Weg angegeben, wie der Lehrer in analogen Fällen
torschen soll. Die Beschreibungen sind überall höchst gewissenhaft durch-
geführt und auch, trotz der leider mangelnden Abbildungen (wir sind heutzutage
so sehr daran gewöhnt) in anschaulichster Weise gegeben. Der Verfasser ist
so gewissenhaft, an vielen Orten anzugeben, aus welchen Werken er, neben
seinen eigenen Anschauungen, geschöpft hat. — In besonders gelungener
Übersichtlichkeit gibt er am Schlüsse in einem „Rückblicke auf das Pflanzen-
leben" eine physiologische Darstellung desselben, führt die fördernden und
hindernden Erscheinungen an, so dass er damit eine wahre Rekapitulation
und Zusammenfassung des früher im Einzelnen Gesagten bildet. In einer
„Zeittafel für Beobachtungen und Versuche" leitet er eudlich den Lehrer an,
wie er es einzurichten habe, an der Hand deB Buches sieb für seine Bedürf-
nisse die nöthigen Daten zu sammeln. — Auch bei diesem Werke Junge's
müssen wir den Ausspruch thun, dass es für die Hand des Lehrers der richtige
Führer ist, um den naturkundlichen Unterricht zu einem wirklich ersprießlichen
Resultate zu führen, und dass nicht etwa nur Volksschullehrer, sondern auch
solche höherer Schulen aus demselben sehr viel lernen können und, wie wir
wünschen, lernen werden. C. R. R.
Johannes Wesselhöft, Der Garten des Bürgers und Landmannes,
insonderheit des Geistlichen und Lehrers auf dem Lande. Praktische An-
leitung, wie man sich seine nächste Umgebung durch Gemüse-, Obst- und
L
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— 271 —
Blumenzucht angenehm machen und den größtmöglichen Nutzen daraus er-
zielen kann. 3. Auflage, mit 140 Abbildungen. Langensalza 1891,
Beyer & Söhne. 396 S. 4 Mk.
Referent, welcher selbst «eit lange u Jahren sich viel mit Gartenbau beschäf-
tigt hat und mit der einschlägigen Literatur wol vertraut ist, kann das Buch
des Herrn Wesselhöft bestens empfehlen. Dasselbe behandelt alle Thcile de«
Garteubaues — die allgemeinen Bedingungen desselben, den Gemüse- und
Obstbau, die Blumenzucht und sonstige Ziergärtnerei — mit fachmännischer
Sachkenntnis, sowie mit hinreichender Ausführlichkeit und Anschaulichkeit: es
wird sich daher allen Gartenfreunden, besondere aber Lehrern und Geistlichen
auf dem Lande, als nützlicher Führer und Ratgeber erweisen. E.
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Wien, Pichler. 175 Seiten Text. 2,40 M.
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Verlag oon Julius MliuföavDt in üeipjig.
3k 3Pffegc nationaler 25if&ung
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$)urct) (Srlafi ber ft. Württemberg. ftultugininifteriol-'?Ibtetlung :c. Pom 24. Septem»
bev 1891 3.4^0(1 ift boä Buch jämtltd)en 3tettorolcn ber (tttiinitaitcti, Mtealgnimtaficn unb
ihValanftalten fotoie ben ^oritfheriimtftn ber Latein uub >Healfd)itlcn unb iünitlicben
Hierzu eine Beilage von Wilh. Rudolph in Glessen.
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V'/ r A
Paedagogium.
Monatsschrift
l'llr
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
Dr. Friodricli I>itte*.
UV. Jahrgang.
5. Heft, Februar 1892.
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l.eipzijs:.
Verlag von Julius Klink bar fit.
Inhalt des 5. Heftes.
Die kirchliche und die philosophische Sittenlehre. Von Director A. Goerth-
Instcrburg 273
Johann Jakob Wehrli, der erste thurgauische Seminar-Director. Von
Dr. H. Morf-Winterthur (Schluss) 294
Fremdes und Heimisches im Unterrichte. Von A. Schäffer-Berlin .... 310
Pädagogische Rundschau. Zeitstimmen. — Entwicklung des Lehreretanries.
— Aus Hessen-Nassau. — B. Vom deutschen OstBcestrand 315
Aus der Fachpresse .... 322
Literatur 327
Abonnements Preis pro Quartal M. 2.25.
*
Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
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Die kirchliche und die philosophische Sittenlehre.
Von Director A. Goerth-Insterburg.
Die rechte Erziehung bedarf klarer Erkenntnisse. Wer zur
Sittlichkeit erziehen will, muss genau wissen, was ihm als sittlich und
hochsittlich oder umgekehrt als unsittlich und verwerflich oder frevel-
liaft gilt, und welches Thun und Denken als sittlich gleichgültig be-
trachtet werden darf. Es soll darum hier ganz objectiv dargestellt
werden, welche Ansichten als Hauptrichtungen des menschlichen
Strebens nach Sittlichkeit gegenwärtig in der Welt existiren, und in
welcher Weise dieselben vom Mittelalter ab während der kirchlichen
Reformation und in der Neuzeit durch bahnbrechende Geister ver-
ändert worden sind. Es sollen jüngere*) Lehrer und Erzieher dadurch
zum Studium dieser ernsten Fragen und zum selbstständigen Denken
angeregt werden.
Während des Mittelalters stand das gesammte sittliche Verhalten
und Streben der Menschen im Dienste der Religion. Die große
allgemeine Frage der Gläubigen betraf das Heil der Seele nach
dem Tode und demgemäß den Erwerb des Gnadenschatzes für
das Jenseits. Demgemäß dachte man bei seinem Thun und Lassen
stets daran, wie dasselbe vor Gott oder der Kirche und den „Dienern
Gottes", den Priestern, gefalle, und welchen Lohn oder welche Strafe
man dafür namentlich nach dem Tode zu erwarten habe. Man fürchtete
eine Nemesis wol schon für das Leben auf der Erde; aber diese
Furcht trat jener viel größeren und nachhaltigem gegenüber leicht
in deu Hintergrund. Je mehr der Sünder seinen Leidenschaften
fröhnte, je mehr er in leichtsinnigem und frechem Spotte sich über
jene Seelenangst hinwegsetzen wollte, desto mächtiger und verzehren-
der wurde er davon ergriffen, wenn Krankheit oder Unglücksfälle ihn
an seine menschliche Schwäche und Ohnmacht gemahnten, oder wenn
die letzte Stunde nahte und seine Seele neben den Todesqualen noch
") Kann älteren auch nicht schaden. D. K.
Pädagogium. U. Jahrg. Heft V.
20
durch Gedanken an die Ewigkeit, an das göttliche Strafgericht und
die ewige Verdammnis gemartert wurde. Der gute, milde, liebevolle,
redliche Mensch, der seine Pflichten gegen Gott und seine Mitmenschen
treulich zu erfüllen strebte, seine Leidenschaften beherrschte und der
Kirche und ihren Dienern stets gehorsam und unterthan war, brauchte
zwar vor dem Tode und dem göttlichen Strafgericht nicht zu erbeben;
aber selbst bei ihm erwies sich die große Zeitidee so mächtig, dass
er unablässig bemüht war, „seine Seligkeit unter Furcht und Zittern
zu schaffen", sich stets als „unnützen Knecht" fühlte, weil er „nur
gethan, was er zu thun schuldig gewesen", und selbst bei seinen un-
eigennützigen, edeln Thaten stets an den „Lohn im Jenseits" oder
mindestens an die beifällige Liebe und das Wolwollen seines durch
diese Thaten erfreuten Gottes dachte. Bei solch einer Gesinnung
dachte niemand daran, Lohn oder Strafe für sein Thun nur
von dem Richterspruch seines Gewissens abhängig zu
machen, bei jeder That lediglich vor sich selber zu bestehen.
Für jeden Christen des Mittelalters galt als letztes Gericht das ent-
scheidende Urtheil Gottes und Christi im Jenseits, und auf Erden das
Gericht der Kirche und der Geistlichen. Die Kirche mit dem Papst
an der Spitze besaß in ihren Augen die volle Macht „zu lösen und
zu binden", die Sünden zu vergeben oder durch Weigerung die Sünder
der ewigen Verdammnis zu übergeben. Niemand war frei, niemand
wagte es, selbstgerecht zu leben und zu handeln, sein sittliches Thuu
nnd Lassen von seinen religiösen Pflichten zu trennen. Alles Denken
und Handeln stand im Dienste Gottes und der Kirche.
Diese große Idee ist nach der heiligen Schrift von Christo selber
gelehrt und verbreitet worden. „Trachtet am ersten nach dem Reiche
Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zu-
fallen", lehrt der Herr. „Sammelt euch Schätze im Himmel, die
weder Motten noch Rost fressen und die Diebe nicht nachgraben und
stehlen. * „Mein Reich ist nicht von dieser Welt, wer mir nachfolgen
will, der verkaufe, was er hat, und gebe es den Armen. Dann gleicht
er dem Manne, der den verborgnen Schatz im Acker durch den Er-
lös von seiner Habe erstand." Wenn Christus die Armen belehrt, ver-
heißt er ihnen wie den Trostbedürftigen, wie allen, die „mühselig und
beladen sind", die Belohnung und Versöhnung im Jenseits. „Sie wer-
den getragen von den Engeln in Abrahams Schoß, sie werden dort
getröstet. Die Reichen dagegen, welche hier auf Erden herrlich und
in Freuden gelebt haben und sich um die Armen und Unglücklichen
vor ihrer Thür nicht bekümmert haben, kommen an den Ort der
— 275 —
t^ual und werden gepeinigt." Die Leidtragenden, die geistlich Armen,
die, welche hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, sollen selig
werden. „Seid friedfertig, seid barmherzig, liebet eure Feinde, nehmt
auf euch mein Joch und lernt von mir; alles wird euch im Himmel
wol belohnet werden." „Seid demüthig, bereut eure Sünden. Gott ist
die Liebe. Ich werde durch mein Blut euch bei ihm vertreten und
euch von seinem Zorn erlösen." Der Sünder kann bei wahrer Reue
noch in seiner Todesstunde erlöst werden. „Wahrlich, ich sage dir",
wird als Trost dem reuigen Schacher am Kreuz zugerufen, „heute noch
wirst du mit mir im Paradiese sein."
Es liegt in den einzelnen Gedanken und kleineren Ideen, aus
denen sich jene gewaltige Idee zusammensetzt, ein großer Theil der
weltbezwingenden Macht des Christenthums. Das ganze Leben wird
nach dieser Idee geregelt, die Erde zu einem Vorort des Himmels,
unser irdisches Leben zu einer Vorbereitung auf das Leben im Jen-
seits gemacht. Unser ganzes Denken und Streben in Sittlichkeit und
Sitte, in Kunst und Wissenschaft, in der Gesellschaft und im Staate
soll in der Religion, in der Frömmigkeit aufgehen; alles irdische
Glück, alle irdische Lust und Freude hat ihre Berechtigung nur soweit,
als sie mit dieser gewaltigen Idee, der Allbeherrscherin des mensch-
lichen Daseins, nicht in Widerstreit geräth, von ihr gutgeheißen oder
geduldet wird. Wer recht und gut handelt, soll nicht wähnen, damit
im Jenseits bestehen zu können; denn „wir sind allzumal Süuder und
mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen". Darum stehen
Demuth und Buße höher als Gerechtigkeit und Tugendstolz. „Es
wird im Himmel mehr Freude sein über einen Sünder, der Buße thut,
als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen." Die
größte Liebe des Vaters wird bei der reuigen Wiederkehr dem ver-
loren geglaubten und nicht dem sittlich unbescholtenen gerechten
Sohne zutheil. Der demüthige|, bußfertige Zöllner geht „gerecht-
fertigt vor Gott" aus dem Tempel, und nicht der streng gesetzlich
handelnde tugendstolze Pharisäer.
Diese große weltbezwingende Idee ist ausgesprochen und zur
Klarheit gebracht worden, als „die Zeit erfüllet war", als bereits Mil-
lionen von Menschen in den verschiedensten Völkern dunkel ahnten,
dass die alten religiösen Formen, Anschauungen und Zustande unhaltbar
geworden; als die Gemüther der Edelsten und Besten unter Juden
und Heiden sich in tiefem Sehnen nachider noch verschleierten Wahrheit
fast verzehrten und darum geneigt waren, das neue Licht, die neue
„frohe Botschaft des Heils" mit wahrer Inbrunst zu begrüßen. Mochten
I
— 276 —
viele Lehren des Herrn auch nur den schärfsten Denkern klar werden:
die Lehre, dass im Himmel ein einiger Gott, der Schöpfer, Erhalter
und Regierer der Welt, als ein liebender Vater aller Menschen walte;
dass dessen Liebe und Erbarmen namentlich den Armen, den Be-
drückten und Bekümmerten zutheil werde; dass dieselbe Liebe und
Güte sogar die ärgsten Sünder in Gnaden annehme, diese trostreiche
und erhebende Lehre wurde in ihrer Einfachheit selbst von dem arm-
seligsten Sclaven begriffen. ^Demgemäß fand die andere Lehre, dass
auf das elende, gequälte, unruhige, sorgenvolle Leben auf Erden ein
schönes, schmerzfreies, trostreiches Leben im Jenseits, im Reiche des
liebenden Vaters, folgen werde, gar leicht das willigste Gehör und
mit ihr die große Idee, dass man sich während des ganzen Lebens
auf Erden auf das Jenseits würdig vorzubereiten, mit allen Kräften
für das Heil der Seele nach dem Tode zu sorgen und bei jeglichem
Thun und Lassen sich zu fragen habe, ob es im Himmel bestraft oder
wol belohnet werden könnte.
Diese gewaltige Idee und diese Lehren erfüllten die Gemüther aller
Christen in den ersten Jahrhunderten nach Jesu Opfertode mit tiefer,
heiliger Liebe zu Gott und zu ihrem Religionsstifter und Heilande,
Jesu Christo; mit der echten todesmuthigen Begeisterung für ihren
Glauben und mit der opferwilligsten Liebe zu ihren Mitmenschen und
zu der neuen Gemeinschaft, der christlichen Kirche.
Aber schon im zweiten Jahrhunderte nach Christi Tode wurde
das innig fromme, liebevolle und schöne Zusammenleben in der neuen
Gemeinde getrübt. Es bildeten sich infolge verschiedener Lehr-
meinungen arge Spaltungen, und das Sectenwesen drohte den neuen
Glauben ganz zu zerstören und zu durchsetzen. Es hatte sich leicht
und ohne Widerspruch die Scheidung in Priester und Laien vollzogen,
in Geistliche mit dem Berufe, die heilige, geliebte Lehre zu studiren
und durch Predigt und Seelsorge zu verbreiten, und in die Menge
derer, denen diese Studien und Predigten zu gute kamen. Aber man
bedurfte jenen Spaltungen und Secten gegenüber einer Einheit und
darum einer Autorität, die durch ihr Ansehen den Hader dämpfen,
jede abweichende Meinung zur Unterwerfung zwingen konnte. Dies
Bedürfnis schuf das Dogma von der Priesterweihe, erzeugte
und befestigte die Lehre, dass in Glaubenssachen nur die Priester
vom heiligen Geist erleuchtet werden, und dass die Beschlüsse der
aus Priestern gebildeten Concilien, durch welche das gesammte Reli-
gionswesen in den Hauptsachen geregelt und festgestellt wird, als
Ausflüsse des heiligen Geistes unantastbar und unfehlbar seien. Der
y Google
— 277 —
Nutzen dieser Dogmen trat sehr deutlich hervor, als Const antin im
Anfange des 4. Jahrhunderts die christliche Religion zur Religion des
ganzen römischen Staates machen wollte und darum die Frage stellte:
„Welche Religionslehren sollen fortan von allen Unterthanen als die
wahren anerkannt und befolgt, welcher Glaube fortan bekannt werden?"
Das Concil zu Nicäa gab darauf die Antwort (325), verurtheilte die
Lehren des Bischofs Arius als falsch, nahm das Glaubensbekenntnis
des Athanasius an und schuf damit die „heilige römisch-katho-
lische Kirche".
Als die Priesterschaft zu dieser Machtfülle gelangt war, wurde
jene große christliche Idee von ihr als die Allbeherrscherin des ganzen
Lebens richtig erkannt, gewürdigt und mit allen ihr zu Gebote
stehenden Mitteln zur Durchführung gebracht. Mit Hilfe derselben
suchte sie das gesammte sittliche Leben der Menschen zu
regeln. Man soll nicht verkennen, dass diese Unterordnung des ge-
sammten sittlichen Lebens und Strebens unter jene große religiöse
Idee damals aus der reinsten Absicht entsprang. Inmitten jener Zeit
greulicher Roheit, wüsten Sinnentaumels, entsetzlicher Ausschwei-
fungen, empörender Gewalttätigkeit und Rechtlosigkeit wollte die
Kirche in Christi hehrem Sinne alle, die „mühselig und beladen waren",
in ihren starken Schutz nehmen, und die in Lüsten aller Art und
in Selbstsucht verkommenen Menschen mit Hilfe der Religion zu
besserer Sittlichkeit, zu einem Gott wolgefälligen Leben erziehen.
Alles was sie in dieser Absicht befahl, wurde „in majorem Dei glo-
riama, zur höheren Ehre Gottes angeordnet; und da ihre Befehle wie
göttliche Gebote betrachtet wurden, so bildete sich überall in den
europäischen Culturstaaten neben der volksthümlichen Sitte und Sitt-
lichkeit eine besondere Lebensführung, die sich nach den Geboten
der besonderen kirchlichen Moral richtete. Dieselbe fand überall,
selbst bei heftigem Widerstreben, ziemlich schnell Eingang, weil sie
als eine heilige Forderung der Religion, als der Ausfluss des göttlichen
Willens hingestellt und durch sehr klug gewählte Mittel aufgezwungen
wurde. In kluger Erkenntnis der menschlichen Schwächen und Leiden-
schaften behandelten die Priester die Laien in Gesammtheit als un-
mündige, der Erziehung bedürftige Kinder, und unterwarfen
sich die edleren, die feineren, ja selbst die scharfsinnigen Naturen
durch den Hinweis auf den guten Zweck, auf den göttlichen Willen
und ihre heilige, göttliche Sendung. Bei Gelegenheit der volksthüm-
lichen Feste, der „Narren- und Eselsfeste" und des „Carneval" ge-
stattete die Kirche der gläubigen Menge, wie Schulbuben sich auszu-
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1
— 278 —
toben, sich in freier Laune allen fleischlichen Gelüsten hinzugeben, ja
Verspottung des Heiligen und Frevel aller Art zu begehen. Sie
wusste genau, dass in den Tagen der inneren Zerknirschung, die auf
solchen wüsten Taumel folgen, die Sünder in durchaus bußfertiger,
demüthiger Stimmung zu den Geistlichen eilen würden, um liier Trost
und Vergebung zu finden. Da hatte man denn reichlich Gelegenheit,
seine Erziehungsmethode auszuüben und die Lehre, dass nur die Tliat
sittlich und gut sei, die von der Kirche erlaubt sei, zu unbedingter
Anerkennung zu bringen.
Dies Erziehungssy stem suchte die Kirche durch Belohnungen
und Bestrafungen zu unterstützen. Da die meisten Menschen
weit eher geneigt sind, ihren Lüsten und Begierden zu fröhnen, als
sich um des Guten willen zu beherrschen und sich sinnliche Vergnü-
gungen zu versagen: so glaubte man sie am leichtesten zu erziehen,
wenn man den schwachen Willen zum Guten durch verlockende Ver-
heißungen zu stärken und den verderbten durch schwere Drohungen
mit entsetzlichen martervollen Strafen einzuschüchtern und in Banden
zu halten vermöge. Dieser Zweck schuf die Lehre von dem Fege-
feuer, vom Teufel und von der Hölle mit ihren Schrecknissen und
entsetzlichen Qualen, und die vom Himmel mit seinen Engeln und den
dort gebotenen seligen Freuden. Es wurden infolge dieses Zweckes
die verschiedenartigen Kirchenstrafen und die Mittel bestimmt, durch
welche der Sünder die Vergebung erlangen könne. Es wurde zu-
gleich festgestellt, welche Thaten als verdienstvoll, welche Werke als
gute, Gott wolgeföllige gelten, und welche verdammenswert seien.
Für die ersteren sicherte die Kirche als Verwalterin aller guten Werke
der Menschheit den Gläubigen hier auf Erden „Absolution", Vergebung
der Schuld, und nach dem Tode die Belohnung im Himmel; für die
schweren Versündigungen bei Unbußfertigkeit die entsetzlichen Strafen
und Qualen in dem Fegefeuer und in der Hölle.
Um dies Erziehungssystera wirksam zu machen, war es nothwendig,
dass die gläubige Menge die Kirche als ihre einzige wahre Heils-
anstalt, den Papst als den Statthalter Gottes und Christi, die Priester
als gottgeweihte, heilige Personen betrachtete und ihre Lehren prü-
fungslos als wahr annahm. Die Geschichte lehrt, welche Anstrengungen
gemacht, welche Kämpfe geführt wurden, um selbst die Mächtigsten
auf Erden zur Anerkennung der päpstlichen Weltherrschaft und Macht-
fülle zu zwingen, und die kirchliche Lehre von allen ketzerischen
Ansichten und Lehrmeinungen zu reinigen. Der äußere Erfolg war
ein großartiger, dies beweisen die frommen Siftungen, die „Seelen-
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messen," die Wallfahrten , die Büß- und Betübungen, die Almosen-
spenden, die Verehrung der Heiligen und der Jungfrau Maria, der
freundlichen und bereitwilligen Helfer in jeder Seelennotb, der Abscheu
vor Ketzern, Hexen und Teufelsdienern; dies beweist die ungeheure
Macht, deren sich ein Innocenz III. am Anfang des 13. Jahrhunderts
rühmen durfte. „Die Sorge für die Seele", sagt Jul. Lippert in seiner
..Deutschen Sittengeschichte", ,.ist |dem Durchschnittsdeutschen des
Mittelalters ganz so wichtig wie dem dadurch berühmten Ägypter.
Alle Schenkungen gehen aus der Sorge für die Seele, für das Himmel-
reich hervor, sind ,Seelgeräthe'. Durch Seelgeräthe ist der
Grund gelegt worden zu dem gesammten überreichen Kirchengute, zu
Abteien und Bisthümern und ihrem Landbesitz. Man kann glauben,
eine ägyptische Urkunde zu lesen, wenn Thietmar von der Bestattung
Otto III. berichtet, wie Herzog Heinrich dessen Herz in einer Kapelle
beisetzt und dazu ,um des Seelenheils des Verstorbenen willen hundert
Hufen von seinem eigenen Besitz' schenkte. Für ihres verstorbenen
Gemahls und ihres Sohnes Seelenheil hat Mathilde, die Witwe Hein-
richs I., das Kloster Nordhausen gestiftet. Der einst reiche Graf
Liutbold hatte dem Kloster Zweifalten soviel von dem Seinen geschenkt,
dass ihm bei seinem Tode zur Belohnung der Diener, die den Ge-
lähmten im Tragstuhle zu tragen pflegten, nichts übrig geblieben war,
als sieben Lammfelle. Wer sich nicht durch eine Schenkung sichern
konnte, dass für ihn eine ,Seelenmesse' abgehalten wurde, musste sich
auf die Treue und Liebe seiner Hinterbliebenen stützen. Aber selbst
auf solche Treue wollte niemand die Zukunft seiner Seele
setzen."
Wir fragen: Hat dies Erziehungssystem der Kirche sich frucht-
bringend erwiesen? Ist die Menschheit dadurch in sittlicher
Hinsicht gebessert worden?
Die Geschichte muss diese Frage verneinen. Bei Gelegenheit des
Ablasshandels im Anfange des 16. Jahrhunderts zeigte sich's, dass die
Menschen durch die bisherige Erziehung abergläubig, feig, sclavisch,
eigennützig, heuchlerisch, feil, gewinnsüchtig geworden waren und das
Gefühl für die Heiligkeit schwerer Pflichten , für Gerechtigkeit und
für Freiheit der Mehrzahl nach fast ganz verloren hatten. Diese
Einsieht bestimmte unsern großen Luther in erster Linie, gegen den
Ahlass und gegen diese „Werkheiligkeit" der Scheinchristen aufzu-
treten. Die Menschen machen aus ihrer Sittlichkeit eine Art von
Schachergeschäft, bedenken und berechnen stets die belohnende Ver-
geltung, thun das Gute nie um des Guten willen, nie aus reiner
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Achtung vor dem Gesetz, sondern nur aus Hoffnung auf Belohnung
oder aus Furcht vor Strafe. Selbst bei dem Pfennig, der dem
Bettler gereicht wird, bedenken sie, dass er ihnen oder ihren
Kindern Zinsen tragen könnte. „Gib", wird das Kind belehrt, „damit
der liebe Gott dir's später vergelte!" Vom Unrecht wird durch diese
kirchliche Lehre niemand zurückgehalten; jeder folgt froh und frech
seinen Gelüsten und Begierden. Werden die Gewissensbisse zu arg,
so lässt man sich durch Kirchenbuße und gute Werke vom Priester
entsühnen und folgt in Seelenruhe den neuen stindlichen Verlockungen.
Diese kirchliche Erziehung hat in Wirklichkeit nur Scheinerfolge
aufzuweisen; denn noch niemals ist ein sündhafter Mensch
dadurch in seiner Gesinnung veredelt worden.
Die auf jener großen christlichen Idee beruhende Sittenlehre ist
in Bezug auf eine besondere Richtung verhängnisvoll geworden. Wir
denken an den Einfluss, den die Lehre von dem Werte der Ascese
ausübte. Dieselbe wurde durch die Auffassung erzeugt, welche die
wortführenden und herrschenden Priester in den ersten Jahrhunderten
nach Christi Geburt und das Mittelalter hindurch vom Wesen, der
Bedeutung und der Berechtigung des Weibes besaßen und zur
Geltung brachten. Den Aposteln und den Kirchenvätern galt das
Weib als „unrein", als „das Gefäß der Sünde", als „die; Verführerin-,
die nach der Erzählung der Bibel die Sünde in die Welt gebracht
hat und die Männer zu Grunde richte. „Weib", ruft Tertullian, „du
solltest stets in Trauer und Lumpen gehen, Thränen der Reue weinen;
denn du bist die Pforte zur Hölle." In jener Zeit, als die Frauen
ganz rechtlos waren und scheinbar die Veranlassung zu den greu-
lichsten, geschlechtlichen Ausschweifungen und den unnatürlichen Lastern
gaben, hatten die frommen Eiferer für sie nur eine fast grenzenlose
Verachtung. Die Ehe galt ihnen darum höchstens als „ein not-
wendiges Übel". „Die Ehe", sagt der Apostel Paulus, „ist ein nied-
riger Stand; heiraten ist gut, nicht heiraten ist besser." Kirchen-
väter, wie Hieronymus, Origines und Augustinus, nannten die Ehe
„unrein und unheilig", „stete ein Laster, das höchstens zu entschul-
digen sei". Augustinus meinte und predigte: „Die Eheloseu werden
glänzen am Himmel wie leuchtende Sterne, während ihre Eltern den
dunkeln Sternen gleichen." Das Verlangen nach geschlechtlicher Ver-
einigung der Männer mit den Frauen wurde als „fleischliches Gelüste"
bezeichnet und als das schwerste Hemmnis beim Streben nach
dem Himmelreich, nach der ewigen Seligkeit betrachtet.
„Wandelt im Geiste und widerstehet den Lüsten des Fleisches!"
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Daraus bildete sich sehr bald die Ansicht, dass in der Ascese, d. h.
in der gänzlichen Enthaltung von jeder Art geschlechtlicher Ver-
bindung, ja selbst von gemüthlichem , freundlichem Umgang mit den
Frauen die größte Sittlichkeit, das Gott am meisten wolgefällige Leben
zu finden sei. Die Wirkung dieser Lehre zeigte sich im Mönchs-
gelübde, im Klosterleben, in der Einsetzung des Cölibats, der Ehe-
losigkeit aller Geistlichen. Diejenigen Priester, welche ihre starken
geschlechtlichen Triebe durch blutige Geißelung, durch Kasteiung aller
Art unterdrückten und durch diesen besonders ascetischen Eifer sich
auszeichneten, wurden als hochsittliche und sehr fromme Männer be-
trachtet und wol gar heilig gesprochen.*)
Die Ascese blieb sehr bald nicht auf die Enthaltung von „ fleisch-
lichen Gelüsten" beschränkt, man dehnte sie aus auf „Augenlust und
hoffärtiges Wesen," auf alle rauschenden Feste und sinnlichen Ver-
gnügungen, zuletzt auf die harmlosesten sinnlichen Genüsse und
Freuden. Die Bestrebungen der Künste wurden nur soweit geachtet
und erlaubt, als sie zur Verherrlichung des Gottesdienstes beitrugen,
im Dienst der Religion oder vielmehr der Kirche arbeiteten. Sie er-
hielten die freiere Richtung erst unter dem Einfluss der classischen
Studien, zur Zeit als auf, religiösem Gebiete die Reformation begann.
Infolge der kirchlichen Moral galt während des Mittelalters bei den
„ Frommen vor dem Herrn" die Erde als ein Jammerthal, als eine
Stätte der Vorbereitung für das Leben im Jenseits, und als echte
Sittlichkeit die größte Enthaltsamkeit von allen, auch den harmlosesten
Genüssen und Freuden.
Die Wirkung dieser Forderung ist von jeher bedeutend gewesen
und hat namentlich das Ansehen ascetischer Geistlicher so sehr ge-
fordert, dass die Kirche von ihrem Standpunkte aus alle Ursache hat,
die Ascese als sittliches Gesetz noch jetzt in der alten strengen Form
aufrecht zu erhalten. Die große Menge hängt zu sehr an einem
sinnlich-frohen Genuss des Lebens, als dass sie ihre Freuden selbst
um der idealsten Forderungen willen willig und mit Leichtigkeit
opfern sollte, und bewundert darum aufrichtig jeden, der um solcher
allgemein als heilig geltenden Ideen willen seine Lebensfreuden
dauernd zum Opfer bringt. Darum werden diese alten Ansichten von
der Ascese noch jetzt, selbst von protestantischen Priestern aufrecht
*y So der heilige Franciscus von Assisi. Wenn die Phantasie ihn» verlockende
Bilder vorführte und sein geschlechtliches Verlangen zu arg wurde, hat er sich
nackend in Brenn nesseln geworfen, bis der Schmerz die wilde Begierde erstickte.
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erhalten, obwol diese Herren nach Luthers Vorbild heiraten; obwol
sie an dem wackern, kerngesunden deutschen Reformator auch in Bezug
auf harmlose Lebensfreuden einer edlen deutschen, bürgerlichen Ge-
selligkeit ein leuchtendes Muster nehmen könnten und bei einem an-
ständigen, landesüblichen Lebensgenuss durch kirchliche Verordnungen
keineswegs beschränkt werden. Die tonangebenden orthodoxen Herrscher
unter ihnen möchten gar zu gern dieselbe Macht und dasselbe Ansehen
genießen wie ihre katholischen „Brüder in Christo**, und wissen sehr
genau, dass diese Idee von der sittlichen Verpflichtung zu strenger
Ascese zur Befestigung einer solchen Herrschaft wesentlich beiträgt.
Wir finden jene Ansicht auch überall noch bei dem Volke, ja selbst
bei vielen Gebildeten. Die „Frommen vor dem Herrn", gleichviel,
welcher Confession sie seien, erklären auch heutzutage überall, dass
der Christ in Bezug auf Nahrung, Kleidung und andere Bedürfnisse
sich auf das Notwendigste zu beschränken und sein Leben neben der
Arbeit nur frommen Übungen zu widmen habe.
Das bisher geschilderte kirchliche Erziehungssystem verlangte
von allen Christen unbedingte Unterwerfung unter die Lehren und
den Willen der Kirche. Dagegen begann erst leise in schüchternen
Anfängen, dann immer lauter und energischer das Streben nach
Freiheit und Selbstbestimmung hervorzutreten. Es soll hier
nicht untersucht werden, in welcher Weise die Geistlichen ihre
Stellung und Machtfülle missbraucht und die Opposition hervorgerufen
haben. Es sei nur auf die geschichtlichen Thatsachen hingewiesen.
Nach mehrfachen verunglückten Versuchen brach im Anfange des
10. Jahrhunderts der Tag des großen Befreiungskampfes an, der
wenigstens für einen großen Theil der Christenheit zum Siege führen
sollte. Es begann die Reformation. Ihr Hauptheld, unser großer
Luther, erkannte mit seinem scharfen Geiste sehr bald, dass es sich
zunächst darum handle, die Macht der Kirche, d. h. des Papstes und
seiner Geistlichen über die Gemüther der Menschen zu brechen, die
Gewalthaber ihrer bisherigen Heiligkeit und Unfehlbarkeit zu ent-
kleiden. In der ersten der drei berühmten Schriften, welche für sein
Werk bahnbrechend wurden („An die Fürsten und den Adel deut-
scher Nation-*), spricht er von drei Mauern, die die Römlinge um sich
gezogen haben. Indem dieselben durch sein gewaltiges Wort nieder-
gerissen werden, spricht er die Grundsätze aus, dass „jeder Mensch
sein eigner Priester sei", dass „alle Christen zugleich Geistliche,
Priester und Weltliche seien", dass „jeder das Recht habe, in der
Bibel zu forschen und daraus seinen Glauben zu schöpfen." Er macht
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den Geistlichen zu einem Beamten und Diener der Gemeinde zu einem
Prediger und Seelsorger.*)
In der zweiten jener drei bahnbrechenden Schriften („Von der
Freiheit des Christenmenschen") legt Luther die Grundzüge
zu einer neuen Sittenlehre, die mit der gereinigten echten Fröm-
migkeit und Religion innig verbunden sein soll. „In der katholischen
Welt*', sagt Heinrich Lang in der Darstellung von Luther's religiösem
Charakterbild, „suchte man mit seiner Frömmigkeit immer etwas zu
verdienen, der endliche Mensch rechnete und marktete mit dem unend-
lichen Gott, der ihm ferne stand, um den Preis des Himmels, der
außer ihm lag. Aus dieser Quelle des Eigennutzes und der Lohn-
sucht flössen die Gesetzes- und Kirchenwerke, denen er sich unterzog
Hier bei Luther will der Mensch nichts verdienen; wenn er Gott hat,
hat er alle«, was er suchte; im Glauben hat er volles Genüge. Was
er hinfort thut, geschieht nicht, um einen Himmel zu verdienen,
sondern weil er den Himmel in sich hat, der sich aufschließt
und seinen Segen über die Welt ausgießt."
Luther lehrt ein neues Verhältnis zu Gott, das Verhältnis des
Kindes zum himmlischen Vater. Es vertraut dem Wort des Vaters
und nimmt dankend die Gaben, die er ihm darbietet. Es schenkt dem
Vater sein ganzes Herz, ist in diesem liebenden Nehmen und Geben
glücklich und fühlt sich in dieser Freude gedrungen, den Nächsten zu
lieben, Gutes zu thun und andere zu beglücken. Wenn Versuchung
sich regt, so fürchtet es sich, den liebenden Vater zu betrüben, uud
sucht nach dem Fall in echter Reue seine Versöhnung zu erlangen.
Dazu hilft ihm Christus, sein Mittler und Heiland. „Wolan", sagt
*) .Alle Christen-, sagt Luther, „sind zugleich (ieistliche, Priester und Welt-
liche. Ein Bürgermeister ist ebensogut eine geistliche Person als ein Papst, weil
er durch das Regiment, das er führt, zur Bestrafung der Böseu und zum Schutz der
Guten, ebenso die Zwecke des Gottesreiches fördert, wie der Papst mit seinem Pre-
digen und Segenspenden. Will man aber diejenigen Personen, welche von der
Gemeinde beauftragt sind, zu predigen, zu taufen u. s. w., in besonderm
Sinne (ieistliche und Priester nennen, gut! so ist das ein Gemeindeamt wie
jedes andere, und der Triigcr desselben ist nur durch die besondere Art seines
Amtes und Werkes, nicht durch ciue höhere Würde und besondere Heilig-
keit des Standes unterschieden von den Trägern anderer Gemeindeämter. Die
«iesellschaft ist ein Leib mit vielen Gliedern; jedes Glied hat seinen bestimmte
Dienst, und in dieser dienenden Stellung sind alle einander gleich. Die
weltliche Obrigkeit, der Schuster, der Schmied, der Bauer sind Glieder wie der
Prediger; jeder hat sein Amt und Werk, womit er der Gemeinschaft nützlich sein
soll. Alle diese Werke wirken zusammen, Leib und Seele zu tördern, wie die Glied-
maßen des Körpers alle einander dienen."
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Luther in jener berühmten Schrift, „mein Gott hat mir unwürdigen
Menschen aus lauter Liebe vollen Reichthum aller Frömmigkeit und
Seligkeit gegeben. Ei, so will ich solchem Vater, der mich mit seinen
überschwänglichen Gaben also überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich
und umsonst thun, was ihm wolgeföllt, und gegen meinen Nächsten
auch werden ein Christ, wie Christus mir geworden ist, und nichts
mehr thun, denn was ich sehe ihm noth, nützlich und seliglich sei,
dieweil ich doch durch meinen Glauben alles Dings in Christo genug
habe. Siehe, so fließet aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott,
und aus der Liebe ein freiwillig- fröhlich Leben, dem Nächsten zu
dienen umsonst,"
Demgemäß legt Luther das Hauptgewicht auf das gläubige
Verhältnis des Christen zu seinem Gott und Vater und den
täglichen, lebendigen Verkehr mit ihm. Alle Büß- und Bet-
übungen, alle „Werkheiligkeit", sowie der sclavische Gehorsam gegen
die Gebote der Kirche sind wertlose Bemühungen. Wert hat nur
die echte Frömmigkeit, der „Glaube, d. h. das volle Vertrauen und
die herzliche Zuneigung zu dem Gott, der mir im Wort und Leben
Jesu Christi die Zusage seiner Liebe zu mir gegeben hat". Aus
diesem Glauben soll unser ganzes sittliches Verhalten ent-
springen; wir sollen das Gute thun und das Böse meiden um dieses
liebenden Gottes und Vaters willen, sollen uns in zweifelhaften
Fällen zuerst fragen, ob wir diesen unsern Gott betrüben würden.
Darum beginnt Luther in seinem „Katechismus" jede Erklärung eines
sittlichen Gebotes oder Verbotes mit den Worten: „Wir sollen Gott
furchten und lieben", dass wir nicht stehlen, ehebrechen, verrathen,
tödten; dass wir unsere Eltern und Herren lieben und in Ehren halten.
Hauptsache ist bei jeglichem sittlichen Thun die Gesinnung,
nicht die That selbst Man kann ja wolthätig, diensteifrig, ent-
haltsam, maßig sein aus nichtsittlichen Beweggründen, aus Eitelkeit,
aus Klugheit, aus Lohnsucht, aus Heuchelei, wie die Schale der Frucht
schön und glänzend sein kann, während der Kern faul ist. Die Werke
machen den Menschen nicht gerecht, sondern ein gerechter Mensch
macht fromme und gerechte Werke.*'
Durch dieses Hervorheben und Betonen der Gesinnung ist der
große Luther der Reformator nicht nur der Religion, sondern zu-
gleich der Sittenlehre geworden. Fortan wurde den bessern Menscheu
klar, dass nur ein wahrhaft frommer Mensch sittlich, nur ein wahrhaft
sittlicher Mensch fromm sein könne. Die Lehre, man soll das Gute
thun und das Böse meiden, um seinen lieben Gott und Vater im
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Himmel nicht zu betrüben, um stets seinen Beifall zu erhalten, uns
seines Wolwollens, seiner Liebe freuen zu können, ist eine so ein-
fache, so leicht fassliche, dass selbst ein kleines Kind sie zu begreifen
und danach sein Handeln einzurichten vermag. Namentlich erfreut
diese Lehre so hoch und innig alle hebevollen, guten Gemüther; sie
ist dem deutschen Volke so recht „aus der Seele gesprochen". Darum
gilt sie noch heute bei allen einfachen Menschen, bei allen tiefen Ge-
müthern, bei allen Frauen, namentlich bei allen Müttern, und spricht
ein ernstes und gewichtiges Wort bei der Erziehung der Kinder zu
Sittlichkeit und Frömmigkeit.
Ein Kind, das Vater und Mutter von ganzer unverdorbener Seele
liebt, vermag dies Gefühl unter Anleitung der Mutter und der Lehrer
gar leicht auf seinen Gott und Vater im Himmel zu übertragen.
Diese kerngesunde Reformation des sittlichen Lebens und Strebens
ist später dnrch einen gewissen Rückfall in die Ansichten der alten
katholischen Kirche wieder eingeschränkt worden. Luther kehrte
wieder statt des liebenden Vaters, der uns alles aus lauter Gnaden
gibt, zu sehr „den alten starken, eifrigen Gott" heraus, „der über die
so ihn hassen, .die Sünde der Väter heimsuchet an den Kindern bis
ins dritte und vierte Glied und zu strafen drohet alle, die seine Ge-
bote übertreten," dagegen „allen, die dieselben halten, Gnade und
alles Gute verheißt." Dabei hat der große Mann in seinem Eifer, die
Menschheit zu erziehen, den Fehler begangen, in das sittliche Handeln
statt der vorhin genannten schönen Beweggründe die frühere Furcht
vor Gottes Zorn und seiner Strafe und die Hoffnung auf seine Be-
lohnung hier auf Erden und im Jenseits hineinzutragen und dadurch
die alte Lohnsucht und sclavische Gesinnung heraufzubeschwören. Da
er die Lehre von dem Teufel, von der Hölle und den Höllenstrafen,
wie das Mittelalter sie ausmalte, fortbestehen ließ*), so konnte es
nicht ausbleiben, dass diese Gesinnung bei der Mehrzahl der Menschen
in der alten Weise beharrte. Dazu kam noch, dass Luther mehr als
einmal betonte: „Dies ist der furnehmste Artikel der ganzen christ-
*) Die Furcht vor dem Teufel und den Hartem in der Hölle wird von den
orthodoxen evangelischen Geistlichen noch heutzutage eifrigst geweckt und genährt.
Leider wird das Bemühen nur zu sehr mit Erfolg gekrönt. Zur Zeit der kirchlichen
und staatlichen Reaction in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts waren große
Kirchenvüdtationen eingeführt, bei denen die vornehmsten Geistlichen auf diese Lehre
Hauptgewicht legten. Nach einer recht grellen Schilderung der Höllenstrafen haben
wir gegen 500 Menschen in einer protestantischen Kirche erzitteni sehen, haben sie
schluchzen und heulen hören müssen.
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liehen Lehre, nämlich, wie wir selig: werden können." Kein
Wunder, dass die alte Werkheiligkeit im Grunde bestehen blieb. Sie
nahm nur andere Formen an.
Als die reformatorischen Ideen, die Ideen der Glaubens- und
Gewissensfreiheit, immer kräftiger die Welt zu beherrschen be-
gannen, stellte sieh mit dem Fortschritt der Aufklärung das Bedürfnis
ein, die sittlichen Lehren und Anschauungen einer erneuten
Reformation zu unterziehen. Dazu trug wesentlich der Umstand
bei, dass der Glaube an Gott durch den großartigen Aufschwung der
Naturwissenschaften bei der überwiegenden Mehrzahl der gebildeten
Denker eine tiefgehende Veränderung erlitt.
Schon in Luther's großem und scharfem Geiste hatten sich in
Bezug auf die landläufige Vorstellung von Gott arge Bedenken geregt.
Aber er hatte dieselbe bekämpft und hatte als echter Mystiker sich
seinen eigentümlichen Gottesglauben geschaffen. Dieser
Glaube galt ihm als der unbedingt wahre, und er hielt daran sein Lebe-
lang mit voller Treue fest. In diesem Glauben, sagte er, vermag der
Mensch alles selbst über Gott. „Gott thut den Willen des Gläubigen." Als
Melanchthon nach seinem zornmüthigen an Gott gerichteten Gebete wider
alles Erwarten genas, zweifelte er keinen Augenblick, dass der Freund
und Mitkämpfer ohne dies Gebet gestorben wäre. „Jeder Mensch
soll festiglich glauben, dass Gott ihm zu der Seligkeit ein Gott sei,
dass Christus für ihn gelitten habe." „Das Wort: für euch", heißt
es in der Erläuterung zum Sacrament des Altars, ..erfordert eitel
gläubige Herzen." „Gott ist nicht Gott, wenn er nicht unser
Gott ist." „Wenn Gott allein für sich im Himmel säße, wie ein
Klotz, so wäre er nicht Gott," Auf diesen mystischen subjectiven
Glauben an Gott bant er den Glauben an Christum als den Erlöser
und den Glauben an die Auferstehung. „Wenn wir der Auferstehung
nicht warten und nicht hoffen dürfen, so ist auch kein Glaube und
kein Gott nicht."
Man sieht leicht ein, dass dieser mystische Glaube nicht von
allen Menschen getheilt werden konnte, dass die Ansichten namentlich
durch die Fortschritte in den Naturwissenschaften einen gewaltigen
Stoß erhalten mussten. Schon Paulus hatte gesagt: „Ist Christus
nicht auferstanden, so ist unser Glaube eitel." Wie nun, wenn die
Naturwissenschaften bewiesen, dass ein Mensch, dessen Leib wie der
unsrige eingerichtet gewesen ist, nie hat auferstehen und nie in sicht-
barer und greifbarer Körpergestalt wiederum auf Erden hat wandeln
können?
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Man sieht ferner leicht ein, dass mit dieser Veränderung des
Gottglaubens zugleich die Sittenlehre verändert werden musste;
denn wer nicht an Gott als eine Person, als den liebenden Vater im
Himmel, glaubt, kann ihn nicht von Herzen lieben und auch
nicht die sittlichen Gebote aus Liebe und Ehrfurcht vor ihm
befolgen.
Welche Veränderungen der Gottglaube im Laufe der Zeit,
namentlich in den gewaltigen Bildungs- und Aufklärungsstürmen des
18. Jahrhunderts erlitten hat, ist an der Hand der Geschichte nach-
zuweisen. Die „Encyklopädisten" in Frankreich, Diderot, d'Alem-
bert, Helvetius, Holbach, la Mettrie und ihre Anhänger in den andern
europäischen Staaten — man denke an die vornehmen Kreise im da-
maligen Russland — erklärten den ganzen Gottglauben für veraltet,
leugneten des Dasein Gottes frischweg ab. Die „Deisten" in Eng-
land (Hooker, Herbert von Cherbury, Shaftesbury, Collins u. a.) und
ihre Gesinnungsgenossen in Frankreich und in Deutschland — den .
Offenbarung- Gläubigen gegenüber die Rationalisten genannt —
hielten am Dasein Gottes fest, aber ihr Glaube bestand größtenteils
nur in einem kalten Klügeln und Vernünfteln. „Si Dieu n'existait pas",
sagte Voltaire*), „il faudrait le creer; mais toute la nature nous crie
qu'il existe.u Durch Spinoza breitete sich unter den bedeutenderen
Dichtern und Denkern der classischen Zeit unserer Dichtkunst in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der „Pantheismus" aus,
die Lehre, dass Gott in allem, alles in der Natur und im Menschen-
leben ein Theil der Gottheit sei. Goethe sprach in seinem „Faust4-
das berühmte pantheistische Glaubensbekenntnis aus, das mit den Worten
schließt: „Gefühl ist alles, Nam' ist Schall und Rauch, umnebelnd
Himmelsglut." Später ist der Gottglaube durch die wunderlichsten
metaphysischen Klügeleien der bedeutendsten Philosophen hin- und
hergezerrt worden, ohne dass es gelungen wäre, eine Ansicht zu
schaffen, die den einfachen Kinderglauben der naiven liebevollen Ge-
müther ersetzen oder den feinen und scharfen Denker irgendwie be-
friedigen könnte. Oft ist man beim Studiren dieser Ansichten ver-
sucht, Schopenhauers Urtheil über Hegel, Fichte, Sendling zu be-
stätigen.**) Jedenfalls wird jeder Goethe recht geben, wenn er in
*) Voltaire und J. J. Rousseau gehören nicht zu den .. Enzyklopädisten", otiwol
sie für Diderot'« „Encyklopädic" Beitrage lieferten.
**) Schopenhauer sagt (Die Welt als Wille und Vorstellung, Anhangr.
-Die grüßte Frechheit im Auftischen baren Unsinns, im Zusammenschmicrcu sinn-
loser, rasender Wortgefechte, wie man sie bisher nur in Tollhäunern vernommen
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Bezug auf solche unklare, thcilweise ganz sinnlose Klügeleien
ausruft:
rSo schwätzt und lehrt man ungestört,
Wer mag sich mit den Narr'n befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sieh dabei doch auch was denken lassen. u
Für E. v. Hartmann ist Gott „das Unbewusste"* (Philosophie
des Unbewussten). Dies Unbewusste bildet und erhält die Welt,
bildet und erhält in den Wesen auf Erden den Organismus, gibt ihm
im Instincte das, was es zu seiner Erhaltung nöthig braucht, erhält die
Gattungen durch Geschlechtstrieb und Mutterliebe, leitet die Menschen
beim Handeln durch Ahnungen und Gefühle, fördert den bewussten
Denkprocess, beglückt durch das Gefühl fürs Schöne." „Kraft seines
absoluten Hellsehens (Allwissenheit) kann das Unbewusste nie irren,
ja nicht einmal zweifeln oder schwanken; es besitzt All Weisheit, All-
gegenwart" etc.
Es ist klar, dass unter dem Einfluss dieser verschiedenartigen
Forschungen und Ansichten bei den durch ernste Studien Gebildeten
eine Sittenlehre sich ausbilden musste, die mit der kirchlichen, selbst
mit der, welche von Luther und später von den protestantischen Geist-
lichen gelehrt wurde, nicht übereinstimmen konnte. Dazu fehlte der
rechte Glaube an Gott und der Beweggrund, die sittlichen Pflichten
aus Liebe und Ehrfurcht vor dem himmlischen Vater zu erfüllen. In
der That ist eine solche neue Sittenlehre entstanden. Sie ist
noch nicht weit verbreitet, ist nur unter ernsten, fein gebildeten
Denkern zu finden. Sie erfordert ein scharfes, rücksichtsloses und
folgerechtes Denken und wird von der großen Menge schwerlich je
ganz begriffen und gewürdigt werden. Aber sie ist bei den edelsten
Dichtern und Denkern zu finden, beherrscht den Willen, das Thun
und Lassen einer schon bedeutenden Anzahl der wackersten Menschen
und darf darum von den herrschenden Mächten im Staate und in der
Kirche nicht mehr abgewiesen oder gar gewaltsam unterdrückt werden.
Eltern und Erzieher haben die ernste Pflicht, diese neue Sitten-
lehre — wir wollen sie die philosophische nennen — mindestens
genau kennen zu lernen. Bei einer recht eingehenden Prüfung durfte
sich's herausstellen, dass gar manche ihrer Forderungen schon bei der
Erziehung kleiner Kinder zu verwerten sind.
hatte, trat endlich in Hegel auf und wurde das Werkzeug der plumpsten allge-
meinen Mystification, die je gewesen, mit einem Erfolg, welcher der Nachwelt fabel-
haft erscheinen und ein Denkmal deutscher Niaiserie bleiben wird."
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Der Schöpfer und Begründer dieser philosophischen Sittenlehre
ist der große Immanuel Kant. Der philosophisch gebildete Leser
wird wissen, welche gewaltige Umwälzung in der Wissenschaft durch
diesen großen Denker vollzogen wurde.*) Er selbst hat seine That
(s. Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft") mit Fug und Recht
mit der des Kopernikus verglichen. „Er kehrte die gesammte Er-
fahrung sammt allen historischen und exacten Wissenschaften ganz
sacht und sicher um" durch die einfache Annahme, dass unsere Be-
griffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern
die Gegenstände nach unsern Begriffen. Der Gedanke, welcher
ihn zum Reformator der Philosophie macht, ist die Einsicht, dass die
Erfahrung des Menschen ein Product gewisser Stammbegriffe ist, durch
welche die Erfahrung bestimmt wird.
Man kann gar nicht „erfahren", wenn man nicht von Hause aus
zur Verbindung von Subject und Prädicat, von Ursache und
Wirkung organisirt ist. Die alte Philosophie lehrte: Der Causali-
t&tsbegriif stammt nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen
Vernunft, und ist dieses seines höheren Ursprungs wegen auch
jenseits der Grenzen menschlicher Erfahrung gültig und an-
wendbar. Kant lehrte dagegen: Der Causalitätsbegriff ist ein Stamm-
begriff der reinen Vernunft und liegt als solcher unserer
ganzen Erfahrung zu Grunde. Er hat eben deshalb im Gebiete
der Erfahrung unbeschränkte Gültigkeit; aber jenseits desselben
keine Bedeutung. Die Erschein ungs weit folgt aus unsern Begriffen.
Nur eine relative Wahrheit ist uns zugänglich, und diese liegt nur
in der Erfahrung. Unser ganzes auf Sinne und Verstand gegrün-
detes Erkennen zeigt uns nur eine Seite der Wahrheit. Die andern
können wir weder durch Wissenschaft, noch durch Glauben, noch
durch Metaphysik, noch durch irgend ein anderes Mittel erkennen.
Wenn unser Dichten und Handeln Ideen erzeugt und fordert, die
jenseits aller Erfahrung liegen**), so führen dieselben uns in eine
eingebildete Welt. Darin liegt ihr Nutzen, obgleich sie uns
*) Diese Umwälzung ist so gewaltig, das* sie das Bestehende von Grund auf
erschüttern konnte. Darum ist naturgemäß ein bedeutender Rückschlag erfolgt, eine
Reaction auf die große Revolution. Aber es wird der Welt nichts helfen, sie wird
allmählich Kant's Lehren als wahr anerkennen und annehmen müssen; denn sie ent-
halten die absolute Wahrheit von Naturgesetzen. Darum darf man mit Recht sagen:
„Auf Kant zurückgehen, heißt Fortschreiten/
**) Ideen definirt Kant als „nothwendige Vernunftbegriffe", denen
kein congruirendcr Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Solche Ideen
»ind z. B. die Begriffe Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, Teufel, Hölle, Erbsünde etc.
P* Ugogium. 14. Jahrg. Heft V. 21
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keine Erkenntnisse geben. Wir betrügen uns, wenn wir durch
sie unser Wissen erweitern wollen; wir bereichern uns, wenn wir
sie zur Basis unsers Handelns machen. „Gegenstände der Sinne"»
sagt Kant in einem ßriefe, „können wir nie anders erkennen, als Mos
wie sie uns erscheinen, nicht nach dem, was sie an sich selbst sind,
— nie das ,Ding an sich, — und übersinnliche Gegenstände sind für
uns keine Gegenstände unserer theoretischen Erfahrung." Der ratio-
nalen Theologie bewies er, dass ihre bekannten drei Beweise für das
Dasein eines persönlichen Gottes nicht haltbar seien und nur beweisen,
„wie die Vernunft vergeblich ihre Flügel ausspanne, um über die
Sinnenwelt durch die bloße Macht der Speculation hinauszukommen."
Ebenso bewies er, dass die Ideen über Willensfreiheit und Unsterb-
lichkeit sich nicht beweisen lassen. Der Glaube an einen persönlichen
Gott, an Willensfreiheit des Menschen und seine Unsterblichkeit seien
nur „Postulate der praktischen Vernunft". „Das einzige Abso-
lute, was der Mensch hat", sagt Fr. Alb. Lange in seiner „Ge-
schichte des Materialismus", rist nach Kant das Sittengesetz;
von diesem festen Punkte aus sind alle Ideen der Menschheit zu
ordnen. Das Ideale ist nicht nach vermeintlichen Beweisen, sondern
nach seinen Beziehungen zu den sittlichen Zwecken der Menschheit
zu beurtheilen." Sowie unsere sinnliche Anschauung mit der AU-
gemeLngültigkeit für alle Menschen nur möglich ist bei jenen ein-
geborenen Stammbegriffen (Kategorien), mit Hilfe deren der zugeführte
Stoff verarbeitet wird, so ist eine feste und für alle gültige
Sittlichkeit nicht möglich ohne gewisse eingeborene Sitten-
gesetze. Diese dürfen nicht aus der Erfahrung geschöpft sein,
sondern müssen a priori lediglich in den Begriffen der reinen
Vernunft wurzeln, „völlig a priori blos durch die Vernunft vorge-
stellt werden." Dies eingeborene Sittengesetz ist da; es ist
die eingeborene Liebe zum Guten, die eingeborene unbe-
dingte Nöthigung zur Pflicht, der „kategorische Imperativ**.
Dies Sitten- und Pflichtgebot ist eine „ganz unmittelbare, nicht weiter
abzuleitende Vernunftthatsache". Der menschliche Geist ist sein
eigener Gesetzgeber und bethätigt und genießt in dieser Selbstgesetz-
gebung seine Freiheit. Indem der Wille seinem sittlichen Gesetze
gehorcht, gehorcht er sich selbst. Diese Freiheit ist zwar unbegreiflich
wie die von jedem Menschen gefühlte innere Verpflichtung; aber ohne
Freiheit sei keine Sittlichkeit, also müsse sie sein. Die sittliche
Würde und Hoheit der Menschheit liege einzig und allein
in dieser freien Selbstbestimmung der sittlichen Vernunft.
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j
- 291 —
Durch diese Lebren wurde Kant der Reformator der Sitten-
lehre und der große Erzieher der Menschen zu echter Sitt-
lichkeit.
Zunächst ist festzuhalten, dass Kant damit Sittlichkeit und
Sittenlehre scharf von Frömmigkeit und Religion abtrennte.
Der sittliche Gesetzgeber ist nicht Gott, sondern der Mensch selbst.
Da die sittliche Verpflichtung, der „kategorische Imperativ" dem
Menschen (zum Unterschiede von den Thieren) so eingeboren ist wie
der Geschlechtstrieb und die Fähigkeit, die Erscheinungen nach Ur-
sachen und Wirkungen miteinander zu verbinden, so müssen sämnit-
liche Sittengesetze im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende durch
die Menschen selbst geschaffen worden sein. Dies gilt auch für die
heiligen zehn Gebote, obschon dieselben nach der Erzählung aus dem
Alten Testamente auf dem Berge Sinai von Gott selbst gegeben
worden sind.
Die Sittlichkeit hängt mit der Frömmigkeit der Menschen inso-
fern zusammen, als beide Richtungen des menschlichen Denkens,
Fühlens und Strebens ihre Grundquelle in der uns eingeborenen
idealen Liebe haben, die sich in den oben erörterten drei Haupt-
richtungen als Liebe zum Großen (Frömmigkeit), Liebe zum Guten
(Sittlichkeit) und Liebe zum Schönen zeigt. Sittlichkeit führt auch zu
echter Frömmigkeit (s. Kants Vorrede zu „Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft"); aber sie hat in dieser Fröm-
migkeit nicht ihre Quelle. Im Gegentheil darf echte Sittlichkeit
eher als die Quelle der echten Frömmigkeit betrachtet werden, denn
eine solche Gefühlsgrundlage besitzt in voller Reinheit nur ein wahr-
haft sittlicher Mensch. Sie ist ohne wahre Sittlichkeit gar nicht denkbar
und erhält durch sie erat ihren wahren Wert.
Darum ist die Sittenlehre nach Kant von der Religion und
ihren Lehren und Dogmen ganz unabhängig. Sie muss sogar
die kirchlichen Gebote und Forderungen, welche an ein bestimmtes
sittliches Thun und Lassen Drohung von Strafen und Verheißung von
Belohnungen auf Erden und im Jenseits knüpfen, als unsittlich und
gefährlich abweisien und verwerfen. Es ist durchaus falsch,
einen Menschen, der an die Dogmen der herrschenden Kirche nicht
glaubt, als unsittlich zu bezeichnen. Kant sagt ausdrücklieh, „dass
ein Mann, der sich festiglich überredet halte, es sei kein Gott und
kein künftiges Leben, dennoch rechtschaffen und dem Rufe seiner
inneren sittlichen Bestimmung anhänglich bleiben könne". „Der sitt-
liche Mensch", heißt es in der Vorrede zur „Religion innerhalb
21 *
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— 292 —
der Grenzen der bloßen Vernunft44, bedarf, um seine Pflicht zu
kennen und zu beobachten, weder der Idee eines andern Wesens
über ihm, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes
selbst.44*) Der kategorische Imperativ, d. h. die uns eingeborene
Verpflichtung zum sittlichen Handeln, löst sich auf in einzelne Impe-
rative, die uns unbedingt zu bestimmten Handlungen veranlassen.
Dieselben stammen lediglich aus der Vernunft und der uns
eingeborenen Liebe zum Guten. Darum sagt Kant mit Recht:
„Das Princip der Sittlichkeit liegt allen Handlungen vernünftiger
Wesen so zu Grunde, wie das Naturgesetz allen Erscheinungen.4
„Ist der menschliche Wille rein44, heißt es in der „Kritik der prakti-
schen Vernunft44, „so ist sein alleiniger Bestimmungsgrund das mora-
lische Gesetz/ Es fallt mithin selbst die Verpflichtung, das Gute zu
thun aus Liebe und Ehrfurcht gegen Gott. „Die Annahme", sagt
Kant weiter, „dass Gott der Urgrund unserer Verbindlichkeit zur Be-
folgung der Sittengesetze sei, ist nicht nothwendig; denn dieser
Grund beruht (wie hinreichend bewiesen worden) lediglich auf
der Autonomie der Vernunft selbst." Damit fallen selbstver-
ständlich sämmtliche Drohungen mit Gottes Zorn und Strafgericht
und sämmtliche Verheißungen seiner Belohnung auf Erden und im
Jenseits, denn durch den Hinblick auf dieselben wird der That der
Charakter einer echt sittlichen ganz geraubt.
Bei einem kategorischen Imperativ ist jede Frage nach
dem Warum des Sollens als thöricht abzuweisen. Dies gilt
für die Sittengesetze wie für die Naturgesetze, bei denen es sich statt
des Sollens um das Müssen handelt. Will man Gott als den
Schöpfer der Natur- und der Sittengesetze hinstellen, so hat dieser
Glaube seine volle Berechtigung; aber daraus folgt nicht, dass der
Zwang, etwas thun zu müssen (Abhängigkeit von Naturgesetzen),
oder der kategorische Imperativ, etwas thun zu sollen (Abhängigkeit
vom Sittengesetz) in jedem besondern Falle auf dieses unseres Schöpfers
besonderen Willen und Befehl zurückzuführen sei. Der wahrhaft
*) An das Dasein Gottes zu glaubeu und unser Verhältnis zu ihm als dem
Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt und liebenden Vater aller Menschenkinder
festzuhalten und zu regeln, ist Sache der Religion, nicht der Sittlichkeit.
Um diesen Unterschied klar zu erkennen, studirc man Kant, namentlich seine
„Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", „Kritik der praktischen
Vernunft" und „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft."
Freilich gehört dazu nothwendig, dass man vorher seine „Kritik der reinen Ver-
nunft" sehr sorgfältig studirt habe.
— 293 —
sittliche Mensch thut das Gute lediglich um des Guten willen, weder
in Hoffnung auf irgend eine Belohnung noch aus Furcht vor irgend
einer Strafe hier auf Erden oder im Jenseits. Wer wahrhaft sittlich
bandelt, denkt bei Vorsatz und Ausführung weder an Gott*), noch an
irgend eine fromme oder kirchliche Verpflichtung. Sobald ihm solche
Gedanken in den Sinn kommen, — etwa bei der Überlegung vor
einer That, — wird er sofort misstrauisch gegen die Reinheit seiner
sittlichen Gesinnung. Dies Misstrauen ist bei der gegenwärtigen Er-
ziehung durch die kirchliche Sittenlehre wol begründet, und es ist
jedem Menschen nur zu rathen, bei seiner Selbstprüfung und Selbst-
erziehung darauf ernstlich zu achten. Das Gefühl, welches den wahr-
haft sittlichen Menschen nach treuer Erfüllung schwerer Pflichten,
namentlich nach einer recht schweren Unterdrückung seiner sinnlichen
Triebe und Neigungen ergreift, ist nicht das Bewusstsein, Gottes
Willen gethan und damit Gottes Liebe erworben zu haben, sondern
wie Kant sagt: „Die Achtung für uns selbst im Bewusstsein
unserer Freiheit." Wir fühlen, dass wir vor uns selber be-
stehen können, dass wir unserer Menschenwürde gemäß ge-
handelt haben. Ein echt sittliches Handeln macht uns unmittelbar
nicht frömmer; aber es macht uns ernster und mehr geneigt, auch
eine echt fromme Gesinnung in uns auszubilden, denn wir fühlen die
sittliche Verpflichtung, auch die Ehrfurcht gegen alles Heilige in uns
groß zu ziehen, rGott zu geben, was Gottes ist".**) Die Gefühle,
welche durch sittliches Streben und Handeln in uns ausgebildet worden,
sind jedoch nicht religiöser Art, haben mit dem Übersinnlichen ganz
nnd gar nichts zu thun, und knüpfen sich demgemäß auch nur
*) Der sittliche Mensch denkt an Gott bei Ereignissen in Freude und Leid,
im Glück oder Unglück und in den Geschicken und Wechselfällen des Lebens,
die ihn, seine nächsten Lieben, seine Mitbürger oder die Gesammtheit aller Menschen
betreffen, aber nicht bei »einem Handeln, für dos er sich allein oder seinen
Mitmenschen gegenüber verantwortlich ist. Darum ist's filr ihn z. B. ganz gleich-
gültig, ob er vor Gericht die Eidesformel in einfacher oder in feierlicher Weise,
knieend, mit der Hand am Crucifix ablegen soll. Er spricht die Wahrheit auch
ohne solch eine Verpflichtung, lediglieh um der Wahrheit willen, aus Achtung
vor dem Gesetz. Der Gedanke an Gottes Strafgericht, das den Meineidigen
hier auf Erden oder im Jenseits ereilen kftnne, kommt ibm dabei gar nicht in
den Sinn.
**) In dieser Weise „führt Sittlichkeit zur Religion". Es ist klar, dass damit
nicht die Verpflichtung gemeint ist, an bestimmte geforderte Dogmen der einzelnen
Kirchen zn glauben. Den Glauben uberlässt die Sittlichkeit der individuellen Über-
zeugung.
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an das Leben auf dieser unserer Erde. Der Glaube an Un-
sterblichkeit und an das Leben im Jenseits hat mit der Sittlichkeit
nichts zu thun, sondern gehört, sowie der Glaube an Gott ins Gebiet
der Religion. (Schlags folgte
Johann Jakob Wehrli,
der erste thurgauische Seniinar-Director.
Von Dr. H. Morf-Winterthur.
(Schlug.)
-
o.
Da Wehrli, wie schon nachgewiesen, in der verbesserten Land-
wirtschaft die Grundbedingung aller wahren Volkscultur er-
kannte, ließ er sich die Förderung derselben auch außerhalb des
Seminars mit großem Eifer angelegen sein. So veranlasste er 1835
die Gründung eines landwirtschaftlichen Vereins, um durch
denselben nicht nur eine rationellere Bearbeitung des Bodens und ein-
sichtigere Betreibung der Viehzucht, sondem auch eine edlere, der
culturellcn Bedeutung der Landwirtschaft genugthuende
Auffassung des Bauernberufes zu verbreiten. Er nannte die Ge-
sellschaft mit Vorliebe Bauern verein. Es übte derselbe nach und
nach großen, wolthätigen und weitreichenden Einfluss auf die Bauern-
schaft und die Betreibung ihres Geschäftes aus, weil ihm bald alle
bedeutenderen Landwirte und die einflussreichsten Männer des Cantons
beitraten. Wehrli wurde, wie billig, an die Spitze des Vereins gestellt.
Mit gleichem Erfolge wirkte er für die Errichtung einer can-
tonalen landwirtschaftlichen Schule. Im Jahr 1839 ordnete der
Erziehungsrath eine landwirtschaftliche Knabenanstalt an, noch in
Verbindung mit dem Seminar und mit der Beschränkung auf Garten-
und Gemüsebau, stellte sie aber 1841 selbststandig, verlegte sie in die
Wirtschaftsgebäude des Klosters Kreuzlingen und wies ihr ein an-
sehnliches Areal, bis auf 60 Jucharten, an. Die Anstalt wurde ganz
nach Weh rli 's Sinn organisirt, als „eine volkstliümliche Erzieluings-
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anstalt für Bauernsöhne". Die Führung derselben wurde einem seiner
tüchtigsten Zöglinge, Well au er, übertragen. Ihre Leistungen wurden
bald allgemein anerkannt und gereichten dem Gründer und dem Vor-
steher zur Ehre.
Da die Armenerziehung immer Wehrli's Herzenssache war und
blieb, ruhte er nicht, bis er die Gründung einer landwirtschaftlichen
Armenschule zur Aufnahme verwahrloster Knaben zu Stande gebracht
hatte. Als die nöthigen Geldmittel gesammelt waren, wurde auf dem
Bernrain, nahe dem Schlachtfeld von Schwaderloch, eine kleine Stunde
vom Seminar entfernt, ein Landgut angekauft, das von edlen Obst-
bäumen besetzt war und eine herrliche Aussicht bot über Constanz,
Ereuzlingen, die Ufer des Boden- und Untersees. Hier wurde die
landwirtschaftliche Armenschule am 11. December 1843 mit 5 Zög-
lingen eröffnet und eingeweiht. Auf Wehrli's Rath wurde sein
Zögling und Schüler Johannes Bissegger an die Spitze derselben ge-
stellt Die Wahl war eine überaus glückliche. Mit unbegrenzter Hin-
gebung, in rastloser Thätigkeit, mit seltenem pädagogischen Geschick,
mit rührender Treue, ein zweiter Wehrli, lebte er seinem schweren
Arote über vierzig Jahre und erfreute sich der schönsten Erfolge.
Nur die Erschöpfung der Kräfte konnte ihn zu dem Entschlüsse bringen,
seine ihm ins Herz gewachsene Anstalt und seine lieben Pflegesöhne
zu verlassen und im nahen Kreuzlingen Tage der wolverdienten Ruhe
zu genießen. Aber er sollte deren sich nicht lange erfreuen. Trotz
der liebevollsten Pflege, mit der ihn die Seinen umgaben, erlosch sein
Leben bald, und er ging seiner Gattin, der treuen, wackern Gehilfin
in seiner langen Erzieherlaufbahn, voran.
6.
So reichte Wehrli's Wirksamkeit weit über die Mauern, die
Gärten und Felder seines Schlösschens, ja selbst über die Grenzen des
Cantons hinaus. Welches Ansehen er genoss, das zeigte namentlich
das landwirtschaftliche Fest, das am 1. und 2. October 1846 zu Bürgeln
gefeiert wurde. Es bildete den Höhe- und Glanzpunkt des Zeugnisses
für seine Erziehungsbestrebungen.
„Er hatte die Landwirtschaft als Schulmann aufgefasst und in
seinen Unterrichtsplan im Seminar aufgenommen. Auf seinen Betrieb
hatte die Gesetzgebung den Schullehrern als Besoldungstheil ein Stück
Land zugewiesen und dadurch die Verbindung der landwirtschaftlichen
Interessen mit den Interessen der Schule gleichsam documentirt.
Durch ihn war man zu der Erkenntnis gelangt, dass in der ländlichen
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Beschäftigung das zuverlässigste und nachhaltigste Erziehungsmittel
gegeben sei. Bei dem Feste selbst waren es die mittelbaren und un-
mittelbaren Schüler Wehrli's, die Zöglinge der landwirtschaftlichen
Schule, die Zöglinge des Seminars, einzelne durch Wehr Ii für die
Landwirtschaft gewonnene Lehrer, welche zur Ausschmückung des
Festlocals, zur Einordnung der Ausstellungsgegenstände, zur Ver-
herrlichung der Feier durch harmonische Gesänge das Wesentlichste
beigetragen hatten, um das landwirtschaftliche Fest, die Decenniums-
feier des landwirtschaftlichen Vereins, zu einem allgemeinen schönen
Volksfeste zu machen.
Mochten andere bei der Betrachtung der Ausstellungsproducte
die Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit derselben bewundern oder
aus denselben auf die Ertragsfahigkeit des Bodens und die Vortheile
des Climas thurgauischer Gelände Schlussfolgerungen ziehen; —
mochten wieder andere vom finanziellen oder kaufmännischen Stand-
punkte aus zu Vergleichungen des landwirtschaftlichen Gewerbes mit
anderen Gewerben sich veranlasst fühlen, oder die Kehrseite des
Landbaues, die Mühen und die Zinslasten des Landmanns jenem Ernte-
reichthum der Ausstellung entgegen halten; — mochten endlich die
eifrigsten unter den Festbesuchern den Kunstgriffen nachforschen,
vermittelst welcher der Erde so ausgezeichnete Producte abgewonnen
wurden: — bei Wehrli und seinen geistesverwandten Freunden war
doch bei diesem Feste die Hauptfreude die, in der Productenausstel-
lung und in der allgemeinen Theilnahme des Volks den Triumph der
naturgetreuesten, landwirtschaftlichen Erziehungs weise zu erkennen.
Wehrli war die Seele des landwirtschaftlichen Festes, und mit
vollstem Rechte desselben Präsident.
Es gehört nicht hierher, die Einrichtung und den Verlauf des
Festes zu beschreiben oder die Volksmenge, die daran theiinahm, mit
Zahlen zu bezeichnen, oder die Herzensergießungen , Kraftworte und
Witzspiele der verschiedenen Festredner in Erinnerung zu bringen,
oder die ausgezeichnetsten Gäste, welche aus den Nachbarcantonen
und auch aus den entfernteren Cantonen Aargau und Bern dabei sich
einfanden, zu nennen. Ähnlicher Aufmerksamkeit werden ja oft auch
Dinge gewürdigt, die nur lustiger Natur sind. Dass aber Lehrer und
Schulvorsteher nach den eigentlichen Festtagen mit ihren ganzen
Schulbevölkerungen ein Nachfest begingen und den jugendlichen
Seelen den Segen und die Würde des sonst so gering geachteten
Bauerngewerbes in seiner rationellen Umgestaltung vor Augen hielten,
war ein Beweis, dass Wehrli's Erziehungsgrundsätze in die Tiefe
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— 297 -
gedrungen waren und auch an zukünftigen Früchten und Erfolgen
reich sein werden." (Pupikofer.)
7.
Diese erfolgreiche Thätigkeit nach außen minderte Wehrli's
Sorgfalt und Eifer für den Mittelpunkt seines Wirkens, für das Se-
minar, in keiner Weise. Von den Erlebnissen, wie das eben geschil-
derte, von seinen Besuchen in seinem lieben Bernrain, in der nahen
landwirtschaftlichen Schule, von Versammlungen des landwirtschaft-
lichen Vereins kehrte er immer, erfrischt und ermuntert, mit neuer
Kraft und neuer Lust in seine Anstalt zurück. Der spätem Ge-
schehnisse wegen ist wol angezeigt, das Urtheil eines Zöglings des
Wehrirschen Seminars über Wesen und Geist der Anstalt hier
folgen zu lassen. Der als tüchtig anerkannte, vor etlichen Jahren
Heimgegangene Schulmann Schlegel redet aus eigener Anschauung
und Erfahrung also:
„Das Seminar war Wehrli Herzensangelegenheit. Dieser ersten
Pflicht lebte er mit ganzer Seele, mit der größten Gewissenhaftigkeit.
Obschon vielseitig in Anspruch genommen (viel Zeit erforderte auch
seine ausgedehnte Correspondenz), gab er regelmäßig seine Unter-
richtsstunden und war selten von Hause abwesend."
„Er zersplitterte seine Kraft nicht an alle möglichen Nebendinge
und Nebengeschäfte, die mit seiner Hauptaufgabe in keiner engen Be-
ziehung standen, sondern er concentrirte seine Thätigkeit auf die
stete Vervollkommnung seiner Anstalt, die seiner Gegenwart bedurfte.
Er befasste sich vielleicht aus diesem Grunde höchst selten mit
schriftstellerischen Arbeiten. Von der Politik hielt er sich
stets ferne."
„Gleich wol drängte es ihn, seinen gemeinnützigen Sinn auch noch
weiterhin zu bethätigen, seine reichen Erfahrungen auf dem Gebiete
der Armenerziehung, der Volksbildung und der Landwirt-
schaft zu verwerten. Immerhin war aber die Wirksamkeit außer
dem Seminar eine solche, die mit seiner Lebensaufgabe in innigstem
Zusammenhang stand."
„Wehrli hielt große Stücke auf den familiären Charakter der
Anstalt Er erkannte im Convict einen sittlichen Hebel der Lehrer-
bildung. Es hängt wol wesentlich von der Persönlichkeit des Con-
victführers und der ganzen Leitung ab, ob ein Internat sich schädlich
erweise, oder ob es auf den Charakter und die Sittlichkeit der Zög-
linge wolthätigen Einfluss ausübe. Wehrli's Seminar machte auf
uns nie den Eindruck klösterlicher Zucht und Abschließung.
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Gegentheils waltete in dieser Anstalt allezeit ein trefflicher,
pädagogischer Geist. Milde und Freundlichkeit war der
herrschende Ton. Die liebevolle Behandlung weckte volles
Vertrauen. Die Zöglinge fühlten, dass sowol die Ermunte-
rung, als die Warnung aus wolwollendem Herzen floss. Willig
folgten sie meist dem väterlichen Rath. Das Verhältnis
zwischen Lehrern und Schülern war ein vertrauliches, unge-
zwungenes. So gestaltete sich das Seminarleben zu einem
wahren Familienleben. — Regelmäßig versammelte Wehrli
in einer Abendstunde sämmtliche Zöglinge, um gemeiusam
die Beobachtungen und die Vorfälle des Tages zu besprechen
Es waren Stunden sittlich religiöser Prüfung. Es geschah
dies mit einem Ernst und einer Milde, die jedem ans Herz
griff."
„Erkrankte ein Zögling, so nahm ihn die Hausmutter in ihre
Pflege. Geübt in der Krankenbehandlung erwies sie sich als treue
Pflegemutter, unermüdlich bei Tag und in der Nacht. — Wer bei
Wehrli war, widmet auch der ,Mutter Wehrli' ein freundliches
Andenken."
„Es war Wehrli's lebendige Überzeugung, dass der Garten- und
Gemüsebau ein höchst beachtenswertes Erziehungsmittel sei, deshalb
sah er die Beschäftigung mit Landbau als einen integrirenden Theil
der Lehrerbildung an. Derselbe sei körperlich stärkend, gemüth-
bildend, ein treffliches Mittel, die Sinne zu wecken, die beste Übung
zur leiblichen Selbstständigkeit-, er bezwecke Ordnungssinn und Arbeits-
lust, haushälterische Einfachheit und Sparsamkeit. Wehrli erblickte
in solcher Arbeit ein vermittelndes Element zwischen Schule und
Haus, ein Mittel zu innigem Verkehr mit dem Volk, insbesondere mit
der Bevölkerung agricoler Landestheile. Sie sei eine gesunde Ab-
wechslung und die beste Erholung nach geistigem Schulunterricht.
Wol hatte die Anstalt auch Vorrichtungen zu Turnübungen; doch be-
trachtete er lieber den Acker als den großen Turnplatz seines Se-
minars."
„Jeder Zögling hatte — in einer bestimmten Wechselordnung —
ein Amt als Aufseher über die Schlafsäle, über die Arbeiten im Hot
bei Tisch, im Garten, im Holzschopf. Jeder erhielt auch ein Stück
Boden zu seiner Bearbeitung. Die meisten Zöglinge arbeiteten mit
rechter Lust."
„Nach den Grundsätzen Wehrli's war das Seminar nicht nur
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Unterrichts-, sondern insbesondere auch Erziehungsanstalt. Der
Lehrer müsse zum Erzieher zuerst selbst erzogen werden. Er legte
das Hauptgewicht auf die Bildung des Charakters. Das Motto
an der Front des Anstaltsgebäudes: „ora et labora", charakterisirte
Wehrli's Streben, den Geist und die Richtung des Seminars. Vor
allem forderte er von einem Erzieher der Jugend und des Volkes ein
gesundes Herz, einen hellen Kopf, eine anstellige, arbeitsame
Hand. Das Ideal einer Volksschule auf dem Lande war ihm die
mit Garten- und Gemüsefeld umgebene und mit einer Werkstätte
versehene Schule, so dass der Lehrer neben dem Unterricht im Zimmer,
oder vielmehr mit demselben abwechselnd, die Kinder anleiten könne,
denkend zu arbeiten und arbeitend zu denken, körperlich und geistig
sich zu üben und zu erholen, schwächeren und weniger gewandten
Schülern dienstfertig nachzuhelfen."
„Wer Wehrli sah und kannte, musste ihn hochschätzen und
lieben. Die äußere Erscheinung entsprach ganz dem inneren, einfachen,
schlichten Wesen. Der kleine Mann imponirte freilich nicht durch
seine Gestalt, wol aber durch seine reine Gesinnung, den großen
Charakter, die reiche Erfahrung, durch den Seelenadel, der in seinem
Auge, in seinem geistigen Gesichtsausdrucke sich abspiegelte. Seine
hohe, gewölbte Stirn verrieth den denkenden, forschenden Geist; seine
beobachtenden Augen leuchteten wie zwei helle Sterne; sie waren der
reinen Seele treues Abbild. Es war, als ob sie in unser Innerstes
blickten und lesen wollten, was im Grunde des Herzens vorging. Das
Äußere deutete bei ihm auf ein reiches Innenleben. Sein Aussehen
war gesund, blühend, jugendfrisch. In seinen Manieren war nichts
Affectirtes, Geziertes, Gezwungenes, Gesuchtes. Er gab sich, wie er
war; sein Thun war natürlich, ansprechend, liebenswürdig. In seiner
Kleidung erschien er sauber, ordentlich, angemessen. Das war nun
allerdings nicht ganz pestalozzisch, aber doch recht. Ei- mied alles
Auffallende. Stand er unterrichtend vor seiner Classe, so hatte er
nicht selten die Hände über den Rücken geschlagen. Hielt er aber
mit der Rechten ein Buch, so legte er die Linke über die Brust.
War er im Begriffe, mit seinen Schülern eine schwierige Aufgabe zu
lösen, so pflegte er wol die obere Zahnreihe über die Unterlippe zu
legen. — So steht Wehr Ii' s Bild noch heute ganz deutlich vor
unserer Seele/
„Goethe's Satz: Tages Arbeit! Abends Gäste! Saure Wochen!
Frohe Feste! fand auch im Kreuzlinger Seminarleben Anwendung.
Auch da folgten der Arbeit, dem angestrengten geistigen Studium
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als wolthätige Abwechslung frohe Spiele, häusliche gesellige Fest-
freuden verschiedener Art. Wehrli war kein Freund von finsterm
Geist und Kopf hängerei ; er liebte jugendlich heitern Sinn, fröhliches,
frisches, natürliches Wesen. Gern gewährte er den jungen Leuten
eine Freude „in Ehren'4. Schon die botanischen Excnrsionen machten
uns viel Vergnügen, noch mehr die gemeinsamen Ausflüge und Spazier-
gänge am Sonntag Nachmittag, besonders wenn damit auch eine
Einkehr verbunden war. Am Geburtstage Wehrli's machten wir
eine genussreiche Reise auf den Hohentwiel, wo Gesang und Rede
das Fest verherrlichten. Eine hohe Lust war uns die Seefahrt nach
dem gegenüberliegenden Mörsbnrg, wo wir dem badischen Seminar
einen Besuch abstatteten. Seminardirector Nabholz, mit dem Wehrli
in freundschaftlichem Verkehre stand, kam mit seinen Seminaristen
auch herüber, um uns einen Gegenbesuch zu machen. Wehrli nahm
uns gern in die Versammlungen des landwirtschaftlichen Vereins mit,
wo wir auch etwas durch Gesangsvorträge zur Verherrlichung der
Feste beitragen durften. Er gestattete uns regelmäßig, an den can-
tonalen Sängerfesten activ theilzunehmen. Ebenso besuchten wir ein
Sängerfest im nahegelegenen Constanz. Wehrli war mit den dortigen
Professoren, wie Schmal holz u. a., innig befreundet. Sie ersuchten
ihn, einen Toast zu bringen. Und als sich der anspruchslose Wehrli
weigerte, wurde er unter dem Jubel der Menge auf die Rednerbühne
getragen. — Recht willkommen und angenehm waren uns stets die
Sonn tags- Abendunterhaltungen im Seminar, denen alle Seminarlehrer,
die ganze Familie Wehrli und oft noch Befreundete von Constanz
oder Kreuzlingen beiwohnten. Da wechselten Chor- und Quartett-
gesänge, Scherz und Emst in Declamation und dramatischen Auf-
führungen. Die Auswahl der Gedichte und die Anordnung des
Ganzen war gänzlich der Seminaristen-Abtheilung überlassen, die nach
der Reihenfolge für Unterhaltung zu sorgen hatte. In Ermangelung
gedruckter, passender Theaterstücke wurden dieselben wol auch von
den Seminaristen selbst fabricirt, Waren sie auch nicht bühnengerecht
angelegt, so machte die Aufführung doch oft viel Kurzweil. So be-
schlossen wir, als die Reihe wieder an unsere Bankabtheilung kam,
ein Schattenbild der Schule, die alte Regelwerk-, Schablonen- und
Gedächtnisschule vorzuführen, den pedantischen Schulmeister saramt
seiner steifen, mechanischen Methode zu persifliren. Wie es schien,
war uns die komische Darstellung gelungen; denn Wehrli freute sich
herzlich und klatschte uns Beifall zu. — Das war die helle, heitere
Seite des Seminarlebens, seine Poesie. Denen, die zur Ferienzeit in
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der Anstalt blieben, war zu Spiel und Freude noch mehr Raum ver-
gönnt So überstiegen wir „Hörnlianer" in der Morgenfrühe des
31.December mittelst Leitern die Umfassungsmauern des „Schlössli",
stellten uns mit unsern Violinen und andern Instrumenten im Hofe in
einen Kreis und brachten den Sylvestern ein gar köstliches Concert.
Wehrli vertrug die Lustigkeit, den jugendlichen Frohmuth, sogar
manche Unebenheiten, wenn sie nur nicht gute Sitte und Anstand
verletzten. u
„Hell leuchtet uns vom pädagogischen Himmel Wehrli 's Stern
hernieder. Wehrli war ein Meister im Unterricht; ein Vater in der
Erziehung; er war schlicht und wahr, treu und bieder. Mit dank-
barem Herzen gedenken seine Schüler der schönen Stunden des Unter-
richts, die sie bei ihm genossen. Sagt, Freunde, wars für uns nicht
jedesmal hoher Genuss, wenn Wehrli, von innerster Freude verklärt,
in unsere Mitte trat? Brachte nicht seine Gegenwart eine festliche,
sonntägliche Stimmung in unser Gemüth? Waren wir nicht Aug' und
Ohr, wenn er entwickelte und mittheilte? Wie selten einer, verstand
er's, die jungen Geister zu wecken und sie mit hohen Gedanken zu
erfüllen. Sein Unterricht war Weckung, Kräftigung, Anregung zur
Selbstthätigkeit und praktischen Tüchtigkeit; sein Unterricht trieb
zur Fortbildung, zur Arbeitsfreudigkeit. Wo er war und wirkte, war
Leben und Streben nach Gutem und Rechtem. Sein Kernwort und
seine Mahnstimme hieß: .Harmonische Ausbildung aller Kräfte ist
wahre Erziehung. Bildet drum im Schüler hellen Kopf, gesundes
Herz und eine arbeitende Hand! Studirt fleißig die Kindesnatur und
bildet euch selbst durch eigenes Nachdenken und Beobachten! Werdet
echte Jünger des größten Meisters und Erziehers!' — Was mich immer
am stärksten zu Wehrli zog, und was mich wie Sonnenschein durch-
wärmte, das war seine quellfrische Heiterkeit, sein immerdauernder
Frühling im Herzen, seine ewig frische Begeisterung für den hohen
nnd herrlichen Lehrerberuf. Nie vermochten die starren, todten
Formen seinen Geist ans Niedere zu bannen; aufwärts und vorwärts!4
das war sein Losungswort. Diese Lust am Werke der Erziehung,
die reine Freude am Idealen, am Wahren und Guten gab seinem
Leben die rechte Weihe. Diesen Sinn fürs Edle suchte er auch
seinen Zöglingen einzupflanzen. Unvergesslich bleiben mir die Schluss-
zeilen eines Briefes von Wehrli: ,1m Frühling komme und besuche
uns! Komm', wenn Du nur willst, Du redlich aufstrebender Mann,
Du bist als ein treuer Arbeiter im Reiche Gottes uns immer will-
kommen \ Gott erhalte Dich unserm Lehrerstande gesund und wol!
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Bleibe treu imsern Grundsätzen für Erziehung und Unterricht! Himmel-
an gehe Dein Streben jederzeit! Nach oben! Oben ist Licht! Halte
an in Arbeit und Gebet!4 — Meine Freunde! Erneuern wir recht oft
das Andenken an Vater Wehrli! Erfrischen wir unsern Geist an
diesem Hochbilde, an diesem Lebensborn! Erwerben wir uns solche
Heiterkeit und solchen Muth! Sein Vorbild mahne uns, in seinem
Sinn und Geiste zu wirken. Ja, auch wir wollen unser Leben der
Schule und den Kindern weihen."*)
„Der Erfolg von Wehr Ii* s Seminar Wirksamkeit übertraf alle Er-
wartungen. Er brachte die Anstalt in kurzer Zeit zu Ruf und An-
erkennung. Nachdem sie alsdann die sechsjährige Probezeit glänzend
bestanden hatte, erhielt sie für eine weitere Zeitdauer eine gesicherte
Stellung. Die Frequenz nahm zu. Da sich das Seminar durch seine
Leistungen bereits bewährt hatte, erwarb es sich bald allgemeines Ver-
trauen. Der Zudrang aus verschiedenen schweizerischen Cantonen,
*) liier mag eine Mittheilung aus dem „rhätischen Alpenbotcn" über die Ver-
sammlung schweizerischer Schulmänner (1849) am Platze sein. Referent zeichnete
Wehrli mit wenigen Worten, wie er leibte nnd lebte. Da hieß e« u. a.: „Denke
dir den schlichten nnd wahren, den in seinem hohen Alter noch so muntern und
rüstigen ,Vater Wehrli', einst Fellenbergs und Pestalozzis Mitarbeiter! Mit freude-
verklärtem Antlitz steht er mitten in einer wackern Schar von ihm gebildeter,
tüchtiger Schulmänner, nach allen Seiten hin die Hände reichend zu freundlicher
Begrüßung mit herzlichen Worten! Nun tönte die Glocke; es folgte die Eröffnung
der Verhandlungen. ,Brüder reicht die Hand zum Bunde' schallt's durch die weiten
Räume. — Referat und Discussion boten hohen Gcnuss. Keller, Kettiger u. a.
äußerten manch gehaltvollen Gedanken. Doch das Beste brachte unstreitig Vater
Wehrli. Ihm, dem Veteran schweizerischen Schulwesens, wurde nämlich ein herz-
liches Hoch gebracht. Der Gefeierte erhob sich und sprach in seiner ansprachlosen,
gemttthlichen Weise ungefähr so: Liebe Freunde, theure Berufsgenossen ! Ich soll
da auftreten und eine Rede halten: aber das ist meine Sache nicht. Ich bin kein
Redner, doch drängt es mich, Euch meinen innigen Dank zu bezeugen für die mir
zugedachte Ehre. Es ist vorhin bemerkt worden, ich sei noch einer von denen, die
einst an der Seite von Vater Pestalozzi das Feld der Volkserziehung angebaut, und
das ist wahr; mit freudiger Rührung gedenke ich jener Zeit. Während meiner
seitherigen, vieljährigen Wirksamkeit als Schulmann ist schon vieles geforscht und
behauptet worden über das, was noth thut im Erziehungswesen, über das, was in
die Volksschule gehöre. Ich habe gefunden, dass es drei Hauptpunkte sind, anf die
wir, theure Berufsgenossen, bei der Erziehung und Bildung unserer lieben Schweizer-
jugend unser Augenmerk zu richten haben. Wir müssen darnach trachten, dass
unsere Zöglinge 1. einen hellen Kopf bekommen, damit sie das Wahre vom Fal-
schen, das Gute vom Bösen unterscheiden lernen, 2. ein gesundes Herz, 3. eine
arbeitsame Hand. — Diese drei Gedanken führte er weiter aus in einer Weise,
wie es allen Anwesenden tief zu Herzen drang und sie mit neuer Liebe für ihren
heiligen Beruf begeisterte.
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insbesondere von St. Gallen, Appenzell, Glaras, Schaffhausen, Baselland,
Schwyz, Unter walden etc., war so groß, dass die Zahl der Zöglinge
bald auf 80 anwuchs und die Räumlichkeiten kaum mehr genügten."
Nunmehr bot das Schlösschen für die so zahlreiche Anstalt nicht
mehr genug Raum. Darum wurde sie im Jahr 1850 in das 1848
aufgehobene Kloster Krenzlingen verlegt Nun hatte sie ein geräu-
miges, freundliches und bequemes Heim. Dieser Einzug bezeichnet
einen bedeutsamen Markstein im Leben Wehrli's. Er stand auf der
Höhe seiner äußerlichen Lebensstellung, seines Strebens und Wirkens.
In diesen neuen Räumen feierte er am 6. November 1850 seinen
60. Geburtstag. Mit Befriedigung durfte er auf seine Vergangenheit
zuiückschauen. Sein Wirken hatte Früchte getragen. Ein Zeugnis
dafür war auch diese Feier. Dem Schreiber dieser Zeilen, der als
Mitglied der Seminarlehrerschaft mit dabei war, ist dieselbe in leb-
haftester Erinnerung geblieben. Pupikofer, der seinen Freund
Wehr Ii durch seine Gegenwart erfreute, sagte von diesem Fest:
„Als Wehrli im klösterlichen Refectorium seinen sechszigsten
Geburtstag feierte, umgeben von seiner Familie, seinen Mitarbeitern
und Freunden und in der Mitte seiner Zöglinge, und jede Classe seiner
Zöglinge durch ihren Sprecher dem treuen Vater und der guten
Mutter und Krankenwärterin Wehrli den tiefgefühlten Dank aus-
sprach und im Preise des Erzieherberufs überfloss, wie freudig glänzte
dabei des Altmeisters Auge, wie herzlich dankte er! Zwischen den
Tischen umhergehend, begrüßte er jeden mit einem liebenden Worte oder
vertrauenden Blicke. Es war das zwar nichts Ungewohntes; denn so
oft sein Namenstag auch früher gefeiert oder einer abgehenden Se-
minarclasse ein Abschiedsmahl gegeben worden war, pflegte Ähnliches
zu geschehen. Aber der Übergang des geliebten Lehrers über den
sechszigsten Markstein seines segensreichen Lebens war für seine
Zöglinge eine herzergreifende und begeisternde Ermunterung,
für Menschenbildung und Seelenrettung wie er zu leben und
zu wirken."
Jedoch sollte die Glanzperiode seines Schaffens nur noch kurze
Zeit dauern. Die herbsten und schmerzlichsten Erfahrungen warteten
seiner. Ein scharfer Wind erhob sich von Südwesten her.
Eine im stillen vorbereitete Opposition gegen die Unter-
richts- und Bildungsweise im Seminar, gegen die angestrebte Rich-
tung in der Entwicklung des thurgauischen Schulwesens, gegen die
Schulbücher, bei deren Erstellung doch die Lehrerconferenzen begut-
achtend mitgewirkt, gegen Wehrli's Persönlichkeit selber, fing an,
- 304 -
sich hören zu lassen. Zum eigentlichen Ausbruch des Sturms gab die
beabsichtigte Gründung einer Cantonsschule in Frauenfeld Anlass. Die
Primarlehrerschaft sah sich durch die Errichtung einer höheren Lehr-
anstalt in ihren materiellen Interessen bedroht. Sie verlangte, es
müsse derselben eine bessere Ausstattung der Volksschule und die
ökonomische Besserstellung der Lehrer vorangehen. Wehr Ii, meinte
sie, sollte als Vorkämpfer in dieser Sache auftreten. Aber dazu war
sein ganzes Wesen nicht angethan; auf eine Arena zu treten, war nicht
seine Sache; seiner Natur entsprach die Vermittlerrolle, die er dann
auch in dem erbitterten Streit als seine Aufgabe ansah. Das zog
ihm scharfen Tadel zu von Sprechern der Lehrerschaft, die auch
wieder ihre Instructionen von leitender Seite empfingen. Von da an
wurde die ganze Wirksamkeit Wehr Ii 's einer scharfen — um nicht
zu sagen böswilligen — Kritik, die ihre Quelle außerhalb des
Lehrerstandes hatte, unterworfen und sein ganzes Thun, wenn nicht
verderblich, doch verkehrt gefunden.
„In einer Lehrerversammlung in Kreuzlingen" (1851), erzählt
Schlegel, „welcher Wehrli präsidirte, kam der Sturm zum Ausbruch.
Es schmerzte Wehrli um so tiefer, da sogar manche seiner Zöglinge
in unüberlegtem Eifer auf Seite seiner erbitterten Gegner sich stellten.
Schlag auf Schlag folgten Angriffe auf Wehrli, das Seminar und den
Erziehungsrath. Das war eine harte Zeit, eine schwere Prüfung für
den edlen Mann, der in unwandelbarer Treue sein Leben der Hebung
und Entwicklung des Volksschulwesens und der Heranbildung eines
tüchtigen Lehrerstandes gewidmet hatte. Diese Verkennung that ihm
weh; doch ließ er dem Parteikampf seinen Lauf und schwieg.'4
Die Zahl der Gegner, berichtet Pupikofer, bestand zwar aus
einer nur sehr kleinen Minderheit der Lehrerschaft; aber Heftigkeit
und Beharrlichkeit ersetzten ihre numeräre Schwäche. Die treuen
Freunde Wehrli' s ersuchten ihren väterlichen Freund um die Er-
laubnis, die Angriffe abwehren zu dürfen; er verweigerte sie ihnen;
auch enthielt er sich selber aller Erwiderung; er wollte das Stroh-
feuer ausflackern lassen. Und doch konnte er den Schmerz, von seinen
Zöglingen bekämpft und geschmäht zu werden, seine Erziehungs-
grundsätze von seinen Geistessöhnen mit Füßen getreten zu sehen,
kaum verwinden. In dämmeriger Abendstille klagte er seinem Ver-
trauten (Papikofer) seufzend, wie er nicht fassen könne, dass Gottes
Weltregierung die wahre Volkserziehung preisgeben könne. Als jener
ihm hierauf etwas barsch die Frage vorhielt, ob er denn auf das Ge-
lingen größere Ansprüche machen wolle als Christus, der unter zwölf
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— 305 —
■Jüngern einen Verräther zählte, antwortete er leise: „Ich will nicht
mehr klagen, sondern an den Heiland denken."
Die Anklagen gegen das Seminar gingen wesentlich dahin, es
verde über die Sorge für Charakter und Gemüth die Verstandes-
bildong vernachlässigt, und die wissenschaftliche Ausrüstung sei eine
ungenügende.
Der Unterricht, der am meisten angefochten wurde, war der in
der Religion, den Wehrli ertheilte. Es fehle demselben die wissen-
schaftliche und dogmatische Grundlage. Die Geistlichkeit, vorab die
strenggläubige, verlangte, dass er einem Theologen übertragen werde.
Aber Wehrli war entschlossen, ihn nicht aus der Hand zu geben.
Wie dieser Unterricht beschaffen war, darüber belehrt uns ein com-
petenter Beurtheiler des Fachs und der vertrauteste Kenner des Se-
minars, Decan Pupikofer, also:
„Auf den Religionsunterricht legte Wehrli großes Gewicht, nicht blos weil
ihm die Religion ein Hilfsmittel der Erziehung, sondern weil sie ihm Herzenssache
war. Ob er aber Rationalist oder Supernaturalist war, Gegensätze, in denen die
damaligen Religions-Streitigkeiten fast ausschließlich sich bewegten, hätte er selbst
bei aller seiner Aufrichtigkeit und Klarheit kaum beantworten können. Ihm er-
schien die Welt als das große Vaterhaus .Gottes und die ganze Natur als eine
Offenbarung seiner Macht, Weisheit und Güte; aber auch die Notwendigkeit der
Arbeit nicht ahs ein Fluch, oder als eine Strafe, sondern als eine segensvollc Ein-
richtung Gottes. Er schöpfte die Religion nicht aus der Natur und betrachtete sie
auch nicht als ein Erzeugnis der Vernunft; aber er fühlte das Bedürfnis, die Lehren
der Offenbarung mit der Natur und Vernunft im Einklang zu wissen, und
fand in Christi Lehre das Zeugnis für solche Übereinstimmung. Mit seineu
Schülern las er im Religionsunterrichte am liebsten die Evangelien und Gellerts
Lieder und machte davon Anwendung auf Herz, Leben und That; und was durch
Wort und Lehre gefunden war, wurde durch Gesang bekräftigt. Die Vorschrift:
rBcte und arbeite", machte sich überhaupt bei Wehrli auch in Bezug auf die
Religion so durchgreifend geltend, dass bei ihm Frömmigkeit und Arbeitsfreudigkeit
zwei Dinge waren, die ohne einander gar nicht bestehen können, aber doch nur so
lange zusammen bestehen können, als die Liebe sie miteinander verbindet. Indem
er diese Auffassung auf seine Zöglinge übertrug, durfte er die tiefere Begründung
und die confessionelle Ausdrucksweise des Bekenntnisses dem Leben und der Kirche
anheimstellen."
Auch die übrigen Unterrichtsfacher wurden bemängelt, und die
Leistungen als völlig ungenügend bezeichnet in öffentlichen Blättern
selbst von Leuten, die das Seminar nie betreten hatten. Im Jahr 1850
tarn ich, einem Ruf von Wehrli folgend, als Lehrer dahin, blieb als
solcher zwei Jahre in der Anstalt und glaube mich berechtigt, in
dieser Sache ein Wort mitreden zu dürfen. Ich traf drei wolbesetzte
Süccessivclassen mit — Wehrli inbegriffen — sieben Lehrern. Der
P«Jagogium. 14. Jahrg. Heft V. 22
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Geist, der Ton und die Arbeitsfreudigkeit in der Anstalt waren so,
wie Schlegel sie oben geschildert. Sämmtliche Lehrer ertheilten ihren
Unterricht mit gründlicher Sachkenntnis, mit gewissenhaftem
Eifer und mit einem Erfolg, wie ihn andere Seminare nicht
besser aufzuweisen hatten. Auch im späteren Berufeleben zeigten
die Schüler Wehr Ii 's, dass sie in jeder Beziehung, in wissenschaft-
licher Ausrüstung, wie in der praktischen Schulführung den Lehrern
anderer Cantone, auch desjenigen, aus dem der Wind kam, durchaas
ebenbürtig seien. Dass Wehr Ii hervorragender Begabung die richtige
Wegleitung und mächtige Anregung zur Weiterbildung zu geben ver-
stand, beweisen die Namen Wellauer, Müller, Bissegger, Hafter,
Tschudi, Schlegel, Sendling, Graf, Ribi, Ruedin, Zingg, Gull,
Gonzenbach, Bartholdi, Schlaginhaufen, Burkhard u. v. a.
Aber wenn einmal „von richtiger Seite" die Parole ausgegeben ist, so
wird sie ungeprüft geglaubt, und der Glaube pflanzt sich durch De-
cennien fort.
Mitten in diesen Sturmzeiten erlebte Wehrli die Genugtuung,
von der Berner Regierung einen Ruf zur Übernahme der Direction
des Lehrerseminars zu Münchenbuchsee zu erhalten. Seine Freunde
im Cauton Bern erinnerten sich nach zwanzigjähriger Abwesenheit
seiner um die Schulen des Cantons Bern erworbenen Verdienste und
boten ihm durch jenen Ruf ein ehrenvolles Asyl in der Nähe Hofwyls.
Indessen Vater Fellenberg war todt, die dortigen Erziehungs-
anstalten waren aufgelöst; Wehrli 's Gesundheit war erschüttert, und
so sehr es ihn in die Nähe Hofwyls zog, fand er doch besser, den
Ruf abzulehnen. Auch in Thurgau legte sich der Sturm; die lautesten
Eiferer kamen zu der Einsicht, man sei im Streit viel zu weit ge-
gangen. Aber infolge der Neuwahl des Erziehungsrathes 1852, in
dem nunmehr seine Ankläger die Mehrheit hatten, fand er es an der
Zeit, zurückzutreten. Er sah voraus, dass nun eine Reorganisation
der Anstalt kommen werde. Da aber seine ganze Persönlichkeit mit
der damaligen Einrichtung innigst verwachsen war und ihm eine
totale Umgestaltung unmöglich zusagen konnte, gab er sogleich seine
Entlassung ein, ließ sich aber dazu bewegen, noch bis Frühjahr 1853
zu bleiben.
Das Winterhalbjahr 1852 auf 1853 war für Wehrli eine harte
Zeit. Der Gedanke, vom Seminar sich trennen zu müssen, drückte
ihn. Die Lungenblutungen, die ihn früher schon heimgesucht, stellten
sich mit vermehrter Heftigkeit wieder ein. Die Forderungen der
neuen Aufsichtsbehörde, wenn sie auch in milder Form gestellt wurden,
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— 307 —
verlangten manches Ungewohnte. Der Abschluss der Rechnungen und
die Inventarisation brachten doppelte Arbeit. Es war dem mit seinem
Seminare gleichsam verwachsenen Manne, als wenn er bei lebendigem
Leibe beerbt würde.
Doch machte er in dieser Zeit auch trostreiche, erquickende Er-
fahrungen, dass er nicht umsonst gelebt und die Misskennung keine
allgemeine, dass die Hochachtung und Liebe der Edelsten und Besten
ihm geblieben sei. Am Neujahrstage 1853 trafen mehr als vierzig
Männer aus den Cantonen Thurgau, St. Gallen, Appenzell, Glarus,
einstige Zöglinge, bei ihm ein, an ihrer Spitze die Armenerzieher
Lütschg aus der Linthcolonie, Zellweger aus der Schurtanne zu Trogen,
damals in Gais, Wellauer, Erzieher im Waisenhause, Schlaginhaufen,
Vorsteher der Töchterschule in St Gallen. Sie waren gekommen, im
Namen von nahezu vierhundert Hofwyler und Kreuzlinger Zöglingen,
ihm eine Dankadresse zu überreichen mit einem Album, in welchem
die Unterzeichner ihre Namen mit einem Denkspruche begleitet hatten,
der den geliebten väterlichen Freund an seine Verdienste um sie zu
erinnern und ihrer Dankbarkeit zu versichern geeignet war.
Einige Monate später, unmittelbar vor seinem Abschiede aus dem
Seminar, überbrachten eine große Anzahl thurgauischer Lehrer, ange-
führt von den Lehrern Bartholdi in Frauenfeld, Habisreutinger in
Islikon, Hanselmann in Güttingen, dem väterlichen Erzieher und
Freunde eine zweite Dankadresse mit beigefügtem Album von sieben-
undneunzig Lehrern. Die Worte tiefgefühlten Dankes und inniger Ver-
ehrung, welche dabei gesprochen wurden, konnten ihren Zweck nicht
verfehlen.
Die Bitternis, die der im Dienste der Jugend-, Lehrer- und Volks-
bildung ergraute Wehrli im Frühjahr 1853 bei der officiellen Über-
gabe des Seminars und der Ankündigung einer neuen und besseren
Zeit aus amtlichem Munde, ohne ein Wort des Dankes an den
Scheidenden, noch durchzukosten hatte, bleibe hier unerörtert.
8.
„Als in den Maitagen von 1853 Wehrli das Seminar Kreuzlingen
verließ und auf das Landgut seines Schwiegersohnes Moosherr nach
Guggenbühl hinübersiedelte, bezog er ein zum Zwecke einer Erziehungs-
anstalt woleingerichtetes, neues Haus. Eine starke Stunde von Kreuz-
igen landeinwärts in der Gemeinde Andwyl auf einer Hügelfläche
gelegen, gewährt Guggenbühl eine weite, reizende Aussicht zunächst
den Thalgrund von Erlen und auf idie denselben durchschneidende
22*
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— 308 —
und belebende Eisenbahnlinie von Zürich nach Romanshorn; dann über
die gegenüber liegenden Hügel von Schloss Eggishausen, Wertbühl,
Gübris, auf den Gebirgskranz der Alpen, südöstlich aus dem Bodensee
sich erhebend, von den österreichischen Vorarlbergen bis zu den Tiroler-
und Bündneralpen hinauf; südlich, gerade gegenüber hinter dem dunkleu
Tannenberg auf den gewaltigen Säntis und seine Ausläufer; süd-
westlich auf die Glarner- und Schwyzer- und die angrenzenden Berner-
aipen, so dass westlich die Kette des Hörnli und in weiter Ferne der
Albis und Ütliberg den Horizont begrenzen. Rings um Guggenbühl
her breiten sich schattenreiche Obstbaumpflanzungen aus, unter denen
zahlreiche Dörfer und Höfe halbversteckt hervorschauen. Guggenbühl
wurde daher von Alters her schon mit gutem Grund als der Lugins-
land oder Guckinsland der Umgegend bezeichnet. Einem Mann, der
sein ganzes Leben der angestrengten Arbeit gewidmet hatte und der
Ruhe bedurfte, versprach die von Wehr Ii gewählte neue Wohnstätte
den mannigfaltigsten Naturgenuss." (Pupikofer.)
Etwa zwanzig Zöglinge der Seminarschule, welche ihm von
Freunden, namentlich aus der westlichen Schweiz zur Erziehung
waren anvertraut worden, folgten ihm nach Guggenbühl. Ohne Rast
begann also auch hier wieder ein frisches Anstaltsleben. Den Ort
hatte Wehr Ii gewechselt; er selbst war sich gleich geblieben.
Im Sommer 1853, lesen wir bei Schlegel, zog sich Wehrli
durch Erkältung eine Brustentzündung zu. Eine Cur im Heilbade
Weißenburg, bei welchem Anlass er seine Berner Freunde besuchte,
hob sein Übel nicht. Nachdem im Jahre 1854 mehrere Rückfalle er-
folgten und Wehrli die Hoffnung auf Genesung aufgab, traf er seine
letzten Anordnungen. Am 15. März 1855 schlummerte er sanft zur
ewigen Ruhe ein. Damit war ein Leben rühm würdiger, rastloser
Thätigkeit, ein Leben voll Mühe und Arbeit geschlossen. Bis zur
letzten Stunde war er seinem Wahlspruch: „bete und arbeite*, treu
geblieben. Noch auf seinem Kranken- und Sterbebette schrieb er ein
Testament an seine Zöglinge, es waren seine Lebensregeln und Segens-
wünsche. Das war sein letzes Berufswerk.
Eine große Volksmenge geleitete am 20. März den Heimge-
gangenen zum Grabe auf dem Kirchhof in Andwyl. Pfarrer Bion*)
hielt die Leichenrede und zeichnete in Kürze ein getreues Lebensbild
des braven Mannes, dessen Tod das ganze Land betrauerte. In
Hunderten von Volksschulen und Rettungshäusern in der Nähe und
*) Der Vater des Gründers der Feruneolonicn.
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— 309 —
in der Ferne ist es die dankbare Erinnerung an Vater Wehrli, was
Lehrer und Erzieher zu freudiger Thätigkeit im Jugendunterricht
belebt,"
Wol konnte der Gründer der rasch aufblühenden Guggenbtthler
Wehrlischule bei seinen gestörten Gesundheitsverhältnissen der
jnngen Anstalt nicht mehr die Thätigkeit widmen, die er gerne geübt
hätte; aber er hatte sich treuer Hilfe zu erfreuen. Seine rechte Hand,
seine Stütze und sein Trost in diesen letzten Jahren war einer seiner
tüchtigsten Schüler, der überdies bei Wehrli's Freund Eberhard
als Lehrer an der landwirtschaftlichen Armenschule in Carras bei
Genf sich für die Erzieheraufgabe trefflich erprobt hatte: J. J. Müller,
nnnmehr Verwalter des Cantonsspitals in Winterthur.
Seinem väterlichen Freunde war er mit inniger Liebe und Ver-
ehrung zugethan. Er setzte die Anstalt nach dessen Tode eine Reihe
von Jahren fort, bis seine heimatliche Regierung seine Begabung und
Tüchtigkeit zur Leitung von Anstalten erkennend, ihnizu einer höheren,
freilich auch schwierigeren Aufgabe berief.
In seinem Heimatdörfchen Eschikofen blieb Wehrli unvergessen.
Damit sein Andenken auch bei den zukünftigen Geschlechtern fort-
lebe, setzte ihm die Gemeinde nahe beim Schulhaus einen Denkstein
mit der Inschrift:
Dein Andenken de» treuen Lehrers J. J. Wehrli, Seminardireotor,
geb. zu Eschikofen 1790, gest. auf Guggenbühl 1855.
Dessen Wahlspruch:
Bete und arbeite.
Gewidmet von der Heimatgeuieinde.
Es bewahrheitet sich ewig:
Das Andenken des Gerechten bleibet im Segen!
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Fremdes und Heimisches im Unterrichte.
Von A. Schäffer- Berlin.
In vielen deutschen Schulen und ebenso in vielen Familien wird
die französische und die englische Sprache gelernt, ausländische Li-
teratur geübt und betrieben. Gegen die Anwendung dieses Bildungs-
mittels durfte nichts einzuwenden sein, vielmehr ergeben sich leicht
die mannigfachen Vortheile desselben. Wer eine fremde Sprache nach
ihrem elementaren Grundstoffe, nach ihren syntaktischen Gesetzen und
ihrem Geiste kennt, wird fortwährend veranlasst, die eigene Sprache,
deren er sich von Jugend auf mit unreflectirter Gewohnheit bedient,
durch eingehende Vergleichung mit der fremden tiefer und vielseitiger
aufzufassen. Hierzu bieten sorgfältige und sinngemäße Ubersetzungen,
sowol aus der fremden Sprache in die eigene, als aus dieser in jene,
eine vortreffliche Grundlage und zugleich eine Anleitung, sich im be-
stimmten und klaren Gebrauche der Muttersprache, besonders auch
durch geschickte Anpassung mancher syntaktischen Wendungen,
formell zu vervollkommnen. Doch dies bedarf, für den Kundigen
wenigstens, hier keiner weiteren Ausführung. Nicht weniger wird
man sich in der Erweiterung seiner Kenntnis durch die aufmerksame
Leetüre fremder Prosaiker und Dichter, besonders derjenigen, welche
auf die Gestaltung der heimischen Erzeugnisse einen größeren oder
geringeren Einfluss geübt haben, gefördert sehen. Man kläre, kräftige
und bereichere seinen Geist aus dem nahrhaften Kerne jener Literatur,
indem man die faden oder schädlichen Hülsen derselben, soweit diese
sich vorfinden, beiseite wirft. Außerdem ist die Kenntnis fremder
Sprachen und die geübte Fertigkeit in ihrem Gebrauche für die ge-
schäftliche Correspondenz, die gesellige Verständigung oder Unter-
haltung mit Ausländern oft unentbehrlich und also in jeder Hinsicht
durchaus zu empfehlen.
Nur eines, worauf es vor allem ankommt, was zum Nachtheile
der beabsichtigten Bildung stets versäumt und vergessen wird, ist
hierbei wol zu beachten. Vertiefe man sich doch in keine fremde
Sprache und Literatur, ohne sich zunächst mit den reichen Formen und
Schätzen der heimischen Sprache und Literatur einigermaßen vertraut
- 311 -
zu machen. Es ist vielfach bildend, verwendbar und lobenswert, das
fremde Idiom mit einiger Kenntnis und Sicherheit behandeln zu
können; aber widersinnig und lächerlich erscheint dies, wenn man es
nach allem planmäßigen Unterrichte, nach allem Auffassen und Lernen
nicht so weit gebracht hat, einen Vorrath eigener Gedanken und Ge-
fühle in der Muttersprache geschickt, klar und schön auszusprechen.
Um dieses zu können, muss man zuvor durch Bereicherung und
Schärfung des Denkens jenen Vorrath in sich angesammelt haben;
denn ausprägen lassen sich Münzen nur insoweit als das Metall dazu
vorhanden ist. In dieser schätzenswerten Fertigkeit, diesem edelsten
Ergebnisse echter und gründlicher Geistesbildung, werden unsere
allerlei treibenden und lernenden Zöglinge nirgends, weder auf höheren
noch auf niederen Unterrichtsanstalten, ausreichend gefordert. Ihr
erworbenes Wissen besteht (mit Ausnahme des arithmetischen und
geometrischen) überwiegend in größerer oder geringerei* Anfüllung des
Gedächtnisses, welches zwar die stoffliche Grundlage alles Könnens
und Schaffens, aber nicht dieses selbst darstellt. Was wir an schrift-
lichen Leistungen dort, selbst bei den Begabteren, zu sehen bekommen,
das besteht meist aus kaltem und geschmacklosem Flickwerke, in
welchem keine 'Bildung des eigenen Denkens und des sprachlichen
Ausdrucks hervortritt. Man mache hierauf getrost die Probe, und
man wird das, was ich gesagt habe, gewiß nicht übertrieben finden.
Verursacht wird diese Schwäche theils durch den Mangel an gehöriger
Übung, theils auch durch die oft unpassende Wahl der Aufgaben,
welche, besonders auf den höheren Stufen des Unterrichts, zur Be-
arbeitung gestellt werden. Da uns nur das zu gelingen pflegt, was
wir mit der nöthigen Sachkenntnis und mit Neigung ergreifen, so ist
nicht zu erwarten, dass der Schüler solche Stoffe, welche zu weit-
schichtiger oder unbestimmter Natur sind, welche außerhalb seiner
Erfahrung und Theilnahme liegen, mit liebevollem Fleiße behandele.
Zudem unterlässt es der Lehrer gemeinhin, die aufgegebenen Stoffe,
besonders solche von mehr sittlich-abstractem Inhalte, seien sie an
sich auch wolgeeignet, durch mündliche Ausführung und Zergliederung
dem Denken des Schülers vorher zu nahem und dadurch anziehender
zu machen. Ein Muster dieser |Art von Behandlung bieten uns die
vielfachen Gespräche des Sokrates, welche Xenophon in seiner einfach-
schönen Weise dargestellt hat. Was dort der alte hellenische Meister
fragend und erörternd mit Männern vollzieht, das kann der sorgsame
Lehrer da, wo es sich um genauere Bestimmung unklarer Begriffe
handelt, in kleinerem Maßstabe auch mit seinen Schülern thun.
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— 312 —
Übrigens bedarf es wol kaum der Bemerkung, dass die Schüler nicht
etwa zu fertigen Meistern der Rede und der Schrift ausgebildet
werden sollen; denn die Meisterschaft kann sich, bei stets fortgesetzter
Übung, nur im Laufe einer langen, durch vielfache Erfahrungen und
Beobachtungen bereicherten Entwickelung der männlichen Kraft er-
geben. Nur das soll auf dieser Stufe erreicht werden, was von dem
jugendlichen Alter als nöthige Ausrüstung für das Leben selbst zu
wünschen und zu erwarten ist. Nicht wenig trägt zur geistigen An-
regung des Schülers allerdings das Lesen geeigneter Schriften bei
(mitunter sogar mehr, als aller Unterricht der Schule selbst). Aber
die üble Seite dieser Beschäftigung liegt darin, dass dem Schüler zu
vielerlei geboten und er selten angeleitet wird, das, was er liest,
sinnvoll in sich zu verarbeiten. Gewiss hätte er weit größeren Vortheil
von einigen wenigen Büchern, welche er, beliebig blätternd und
wählend, in behaglicher Muße zwanzigmal hintereinander liest und
durchdenkt, als von Hunderten, welche er in gedankenloser Hast auf
Nimmerwiedersehen durchfliegt. In dieser flüchtigen Weise aber pflegt
die lernende Jugend die zuströmenden Lesestoffe zu genießen, ganz
ebenso, wie es die Erwachsenen meist selbst zu thun pflegen. Das
Ergebnis derselben bildet eine regellose Überfüllung und Verwirrung
des Geistes, verbunden mit nachtheiliger Aufregung der Phantasie,
welche den Überreizten nicht selten auf abenteuerliche Abwege leitet.
Nur in wenigen wird die Kraft des sachgemäßen und vernünftigen
Denkens entwickelt; und diese eben bedarf am meisten der Stärkung
und der sprachlichen Ausbildung. Wo es später noth thut, greifen
dann Viele zu der Hilfe eines gedruckten Briefstellers, ganz ähnlich,
wie schwache Versmacher sich wol des Gradus ad Parnassum be-
dienen. Aber wie trocken und leer muss ein Geist sein, welcher, um
eine größere Ausführung, einen Brief der Neigung oder Liebe herzu-
stellen, sich solcher schablonenhaften Muster bedient; desgleichen der.
bei welchem solche matte und kalte Schriftstücke anschlagen! Für
eine so traurige Verarmung und Verödung des Sinnes ist nicht weniger
der einst genossene Unterricht, als der ungeschickte und verwahrloste
Verfasser selbst verantwortlich zu machen. Um Geist und Gemüth
zu erwecken, zu der angemessenen Form der Sprache umzuleiten, dazu
hat jener frühzeitig mitzuwirken; er soll die Kraft des Denkens und
Wollens anregen und entwickeln, wie der Gärtner durch künstliche
Pflege aus einfachen und wildwachsenden Blumen gefüllte und duft-
reiche herstellt. Das verfehlt er aber, wenn er, bei den ins Endlose
getriebenen Haarspaltereien der grammatischen Analyse, wie sie in
— 313 -
vielen Anstalten üblich sind, es an tüchtiger und nachhaltiger Übung
im Gebrauche fehlen lässt. Was würde man zu einer Folge unfertiger
und roissrathener Speisen, sagen, deren Anfertiger sich stolz auf seine
Kenntnis der besten Kochbücher beriefe? Lieber weniger graue Theorie
und dafür mehr lebendige und thatkräftige Praxis! Alle Sprache und
alle Kunst des Vortrages ist früher gewesen als Grammatik und
Rhetorik, wie auf anderem Gebiete die anschauende Auffassung und
Beobachtung der Dinge selbst als unentbehrlicher Grundstoff dem
Gebrauche der logischen Denkformen vorausgeht
Auf das sachgemäße Können und Leisten also kommt es an, und
bei allem, was gut oder vortrefflich hergestellt ist, beachtet man weit
mehr den geistigen Inhalt und seine klare und schöne Darstellung,
als die Beobachtung der syntaktischen Regeln, welche dazu mitgewirkt
hat. Welchen Nutzen gewähren uns alle modernen und antiken
Muster der Geschichte, der Redekunst, der denkenden Forschung und
Darstellung, wenn wir in der eigenen Sprache gedankenarme und
geschmacklose Stümper bleiben, ohne es dabei, wie gewöhnlich, in
einer fremden zu gewandter Sicherheit zu bringen? Im herrlichen
Paris und London, im classischen Athen und Rom, auch im weiten
Orient sind wir zu Hause; aber in der Heimat, in unserem eigenen
Inneren erscheinen wir als unfertige und unbeholfene Fremdlinge.
Da haben unsere großen, ewig frischen und blühenden Classiker.
welche wir an allen Orten durch eherne und marmorne Denkmäler, durch
pomphafte Zweckessen und Toaste zu ehren lieben, die Arbeit ihres
mühevollen Lebens umsonst verschwendet. Unzweifelhaft sind ihre
Werke zu dem Zwecke da, in anderen eine gleiche oder doch ähnliche
Kraft des Anschauens, Denkens und Schaffens anzuregen, nicht aber,
diese ungepflegt verkümmern zu lassen und nebenbei einer müßigen
und flüchtigen Leselust zu dienen. Es gibt im allgemeinen, wie be-
kannt, nichts Schwächeres, Unklareres und Ungeschickteres, als schrift-
liche Leistungen eines Menschen, welcher, nach zurückgelegten Schul-
und Lehrjahren, mit Vernachlässigung alles anderen sich als Geschäfts-
mann, besonders als Handwerker, seinem Berufe widmet. Bei Gelegenheit
kann man auch häufig bemerken, wie er Gedrucktes oder Geschrie-
benes, sei dieses selbst von der einfachsten und leichtesten Art, kaum
deutlich zu lesen und sinngemäß aufzufassen versteht. Um diesem zu
begegnen, bemühen sich viele unserer Zeitschriften, ihre Mittheilungen
in recht volkstümlicher und zugleich breit geschmackloser Weise
einzurichten, welche Einrichtung, beiläufig bemerkt, auch für die
Fassungsgabe mancher Gebildeten unerlässlich erscheint. Dass ein
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Mensch von so mangelhafter Ausbildung seiner Anlagen nicht imstande
ist, als Bürger an den Angelegenheiten des Verfassungslebens und der
Gemeindeverwaltung erfolgreich mitzuwirken, liegt auf der Hand.
Zwar wird mancher dieses untergeordneten Schlages, zu Besitz und
Ansehen gelangt, dieses oder jenes bürgerlichen Ehrenamtes theilhaftig,
aber jedenfalls, wie man oft sieht, zum fühlbaren Schaden des Ge-
mein wols; denn mit dem Mangel an geistiger Durchbildung verbindet
sich meist eine gemeine und eigennützige Denkart, durch welche der
reine Eifer für Wahrheit, Becht und Gemeinwol niedergehalten wird.
Ohne Sachkenntnis, ohne Übersicht und Urtheil, erfüllt so ein Spieß-
bürger seine staatsbürgerlichen Pflichten nur obenhin, als dienstbarer
Anhänger dieses oder jenes beredten Wortführers, welcher ihn für
seine Zwecke oder für die seiner Partei zu gewinnen und auszunutzen
versteht.
An allen Orten haben wir jetzt sogenannte Fortbildungsschulen.
Möchten diese Anstalten darauf hinarbeiten, dass ihre Zöglinge nicht
nur das Gute und Brauchbare, was sie vordem auf Schulen gelernt
haben, in sich auffrischen, befestigen, auch durch neue Kenntnisse
erweitern, sondern vor allem tüchtige Anleitung zum mündlichen und
schriftlichen Ausdruck der Gedanken erhalten. Befruchtet und ge-
stärkt aber wird das Denken durch die anschauliche Erkenntnis alles
dessen, was im sittlichen, geselligen und staatlichen Leben für den
Menschen wichtig und wissenswert erscheint; und der beste Weg zu
diesem Erkennen ist der einer wechselseitigen Untersuchung und Er-
örterung, welche den vorliegenden Stoff, unter Beachtung alles Ge-
gebenen und Vorhandenen klar und fertig hinstellt. Der gegebenen
Anleitung müsste sich dann behufs weiterer Selbstbildung ein reges
und wachsendes Interesse für die reichen Schätze unserer Literatur
anschließen. Dies wäre zugleich, soweit es belebend fortwirkt, das
beste Mittel, um der sinnlichen, ästhetischen und sittlichen Verwilde-
rung, in welcher wir so viele Menschen, besonders des Handwerker-
standes, gedrückt und traumartig dahinleben sehen, wirksam entgegen-
zuarbeiten. Über die genannten Übelstände ergehen sich Viele in be-
gründeten Klagen; aber sie beklagen den schlechten Ertrag eines
Feldes, dessen Anbau und Pflege aus Nachlässigkeit versäumt wird.
Wo es bei allen Mitteln der Industrie, des äußeren Comforts und Ver-
kehrs an jenem geistigen Hintergrunde, an humaner Gesittung und
Bildung der Bürger fehlt, da erweisen sich für den Bestand des
Ganzen selbst die feinsten und besten Formen der Verfassung und
des geselligen Lebens als unzulänglich.
Pädagogische Rundschau.
Zeitstiminen. [Der Kampf ums Recht.] Welch tiefe Beschämung:
muss es in uns hervorrufen, wahrzunehmen, wie jener einfache Gedanke des
gesunden Rechtsgeluhls, dass in jedem Recht die Person selber mit ihrem
ganzen Recht und ihrer ganzen Persönlichkeit angegriffen und verletzt er-
scheint, der Wissenschaft in einer Weise abhanden kommen konnte, dass sie
die Preisgabe des eigenen Rechts, die feige Flucht vor dem Unrecht zur Rechts-
ptlicht erheben konnte! Kann es Wunder nehmen, wenn in einer Zeit, in der
solche Ansichten sich in der Wissenschaft ans Tageslicht wagen durften, der
Geist der Feigheit und apathischen Erduldung des Unrechts auch die Geschicke
der Nation bestimmte? Wol uns, die wir erlebt haben, dass die Zeit eine andere
geworden, — solche Ansichten sind jetzt geradezu eine Unmöglichkeit gewor-
den (das wäre sehr zu wünschen! D. R.), sie konnten nur gedeihen in dem
Sumpf eines politisch und rechtlich gleich verkommenen nationalen Lebens.
Mit der soeben entwickelten Theorie der Feigheit, der Verpflichtung zur
Preisgabe des bedrohten Rechts, habe ich den äußersten wissenschaftlichen
Gegensatz zu der von mir vertheidigten Ansicht berührt, welche umgekehrt
den Kampf ums Recht zur Pflicht erhebt. Nicht ganz so tief, aber immer tief
genug unter der Höhe des gesunden Rechtsgefühls liegt das Niveau der An-
sicht eines neueren Philosophen, Herbart, über den letzten Grund des Rechts.
Er erblickt denselben in einem ästhetischen Motiv: dem Missfallen am Streit
Wäre der ästhetische Standpunkt bei der Würdigung des Rechts ein berech-
tigter, ich wüßte nicht, ob ich das ästhetisch Schöne beim Recht anstatt darein,
dass es den Kampf ausschließt, nicht vielmehr gerade darein setzen sollte,
dass es den Kampf in sich schließt. Wer den Kampf als solchen ästhetisch
unschön findet, wobei ja die ethische Berechtigung desselben ganz außer Frage
gelassen wird, der möge nur die ganze Literatur und Kunst von Homer's Ilias
und den Bildnerarbeiten der Griechen an bis auf unsere heutige Zeit streichen ;
denn es gibt kaum einen Stoff, der für sie eine so hohe Anziehungskraft be-
währt hätte als der Kampf in allen seinen verschiedenen Formen, und den-
jenigen soll man noch erst suchen, dem das Schauspiel der höchsten Anspannung
menschlicher Kraft, das die bildende Kunst und die Dichtkunst verherrlicht
haben, statt des Gefühls ästhetischer Befriedigung das des ästhetischen Miss-
fallens einflößte. Das höchste und wirksamste Problem für die Kunst und
Literatur bleibt stets das Eintreten des Menschen für die Tdee, heiße die
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Idee Recht, Vaterland, Glaube, Wahrheit. Dieses Eintreten aber ist stets
ein Kampf.
Allein nicht die Ästhetik, sondern die Ethik hat uns Aufschluss darüber
zu geben, was dem Wesen des Rechts entspricht oder widerspricht. Die Ethik
aber, weit entfernt, den Kampf ums Recht zu verwerfen, zeichnet ihn den
Individuen wie den Völkern ... als Pflicht vor. Das Element des Kampfes,
das Herbart aus dem Rechtsbegriff ausscheiden will, ist sein ureigenstes, ihm
ewig innewohnendes — der Kampf ist die ewige Arbeit des Rechts.
Ohne Kampf kein Recht, wie ohne Arbeit kein Eigenthum. Dem Satz: „Im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, u steht mit gleicher
Wahrheit der andere gegenüber: „Im Kampfe sollst du dein Recht finden."
Von dem Moment an, wo das Recht seine Kampfbereitschaft aufgibt, gibt es
sich selber auf — auch vom Recht gilt der Spruch des Dichters:
Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.
Dr. Rudolf von Ihcring, Der Kampf ums Recht, 10. Aufl.
(Mit der Herbart'schen Maxime vergleiche man auch die von Ihering zur
Bestätigung seiner eigenen Anschauung citirten Aussprüche Kaut's: Wer sich
zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten
wird." „Lasst euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten." Dies
sei „Pflicht in Beziehung auf die Würde der Menschheit in uns"; dagegen sei
„Wegwerfung seiner Rechte unter die Füße anderer Verletzung der
Pflicht des Menschen gegen sich selbst.")
[Ent Wickelung des Lehrerstandes.] Es gab Zeiten, da deutsche Ge-
lehrte, Zierden der Wissenschaft, mit gemeiner Not und Entbehrung kämpfen
mussten. Heute noch finden sich die Lehrer an den höheren Schulen zurück-
gesetzt und können unerfreuliche Vergleichungen mit anderen Berufsclassen
nicht abweisen, die bei dem gleichen Einsatz an Zeit und Kräften weit mehr
Ansehen haben als sie, einfach aus dem Grunde, weil ihnen ein reicherer Lohn
zutheil wird. Noch größeren Nachtheilen ist der deutsche Volksschullehrer -
stand ausgesetzt gewesen. Seine kümmerliche Lage, sein geringes Ansehen
ist fast sprichwörtlich geworden in dem Volke, das sich rühmen darf, in Be-
ziehung auf die allgemeine Volksbildung unerreicht dazustehen ... Es war
ein zweifelhaftes Geschenk für den ganzen Stand, als die Schule und mit ihr
die Lehrer zum Gegenstande politischer Rücksichten und Erwägungen gemacht
wurden. Bald umworben, bald zurückgestoßen, bald ein willkommener Helfer,
bald mit Misstrauen betrachtet, heute angespornt, morgen zurückgehalten,
wurde der Lehrerstand oft in seinem Ringen nach Selbstständigkeit gehemmt
und in seiner Ent Wickelung gestört und in den Kampf der Parteien gezogen.
Es wäre wunderbar, wenn er sich dabei stets tadelfrei erhalten hätte ....
Die deutschen Volksschullehrer waren, wie das deutsche Volk sie haben wollte,
und manchmal waren sie besser, als man sie wünschte .... Ist es nach dem
Vorgange der Dichter erlaubt, den Entwickelungsgang eines ganzen Standes
unter dem Leben und der Charakterbildung eines einzelnen Menschen aufzu-
fassen, so kann man der ferneren Entfaltung des deutschen Volksschullehrer-
standes mit freudiger Zuversicht entgegensehen. Eine harte Jugendzeit bereitet
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einen gediegenen Mannescharakter vor. Oft enttäuscht, verachtet, vergessen
und verkannt, durch Leiden nnd Entbehrungen geprüft und gestählt, hat er
doch in sich selbst Halt gefunden und schreitet zu größerer Festigkeit und
Tüchtigkeit nnd zu größerer Selbstständigkeit rüstig fort. Konrad Fischer,
Geschichte des deutschen Volksschnllehrerstandes (Hannover, Karl Meyer).
Aus Hessen-Nassau. Wer hätte es geahnt, dass der Besuch des
Kasseler Friedrichs-Gymnasiums von Seiten unseres Kaisers einmal der Anstoß
zu einer weitgehenden Keform des Schulwesens werden würde! Wie lange hat
man Reformen gefordert, wie hartnäckig haben sich die alten Gymnasialpädagogen
gegen dieselben gesträubt. Doch bewahrheitet sich auch hier wieder in einem
eigenen Sinne das alte Wort: Caesar supra grammaticos. Unser Kaiser musste
als Schüler an sich erfahren, dass man in unseren Schulen nicht zuviel, sondern
zu wenig für das Leben lernt, dass das Lernen vielfach ein Rennen mit Hin-
dernissen ist. Die Zunge des Kindes hat kaum die Fähigkeit erlangt, in der
Muttersprache reden zu können, da quält man sie schon mit der Aussprache
fremder Wörter, ja es kommt zur ersten fremden Sprache bald die zweite,
dritte, für manchen selbst die vierte hinzu. Der Schüler tritt kaum in die
Schule, und man beschäftigt ihn im Religionsunterricht mit den größten Räthseln
für den Menschengeist, mit der Schöpfung der Welt, mit der Sünde und der
Erlösung; in der Geschichte versetzt man ihn nach Rom, Griechenland, In-
dien u. s. w., und der arme Junge weiß kaum, wo er selbst zu Hause ist. Die
fortwährende Belastung des Gedächtnisses, die Vielgeschäftigkeit, das Vielerlei,
das Hasten und Eilen von einem Wissensgebiet zum anderen, die mangelnde
Einsicht in den Stoff, die fehlende Durchdringung und Beherrschung desselben
erzeugen Unsicherheit, Unruhe, geistige und körperliche Erschlaffung. Unsere
Schüler, die mit einem Bildungsstoff gequält werden, der ihnen und dem Leben
fremd ist und fremd bleiben wird, gleichen Menschen, deren Kraft man durch
Waten in einer endlosen Sandwüste erhöhen will. Wenn man einen Menschen
durch eine unbekannte, uninteressante Gegend führt, so wird er bald Miss-
behagen, Ermüdung und das immer heißere Verlangen empfinden, in schönere
Gefilde zu gelangen; so geht es den meisten Schülern unserer höheren Schulen,
die mit Schiller singen können: „Ach, aus dieses Thaies Gründen, die der
kalte Nebel drückt, könnt ich doch den Ausgang finden, acb, wie fühlt ich mich
beglückt!"
Bei dem Unterricht bleiben vielfach die anerkanntesten pädagogischen
Forderungen unberücksichtigt, wie z. B. die, dass derselbe die menschliche
Natur und deren Entwickelnngsgesetze zu berücksichtigen hat, dass der Un-
terrichtsstoff nach dem Standpunkte und der geistigen Entwickelung des Schülers
auszuwählen und zu vertheilen ist, dass die Gegenstände mehr nacheinander als
nebeneinander zu betreiben sind, dass man vom Bekannten zum Unbekannten,
vom Nahen zum Fernen fortzuschreiten hat. Nicht Auswendiglernen, sondern
Anschauung, nicht Wortbegriffe, sondern Einsicht, nicht Wissen, sondern Kraft,
nicht mechanische Fertigkeiten, sondern freies Können und Wollen muss der
Unterricht bezwecken, wenn er wahrhaft bildend sein soll. Der fremdsprach-
liche Unterricht beginne erst, nachdem eine genügende Kenntnis der
Muttersprache erlangt ist; die Mathematik werde erst gelehrt, wenn die
bürgerlichen Rechnungsarten begriffen und bis znr Sicherheit geübt sind; im
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Religionsunterricht gehe man vom Leben and der Lehre Jesu aas and be-
handle die Geschichte des Reiches Gottes and die Lehre der confessionellen
Bekenntnisschriften erst dann in der Sprache der Lutherbibel and der Kate-
chismen, wenn der Schüler sprachlich soweit gefördert ist, die veralteten For-
men zu verstehen; in der Geographie, Geschichte und Naturkunde gehe man
von der Heimat aus und verweile da so lange, bis die Fähigkeit erlangt ist,
Fernliegendes zn begreifen; die Gesetze der deutschen Sprache suche man
erst zn erkennen, wenn der Schüler Sprache hat, und verschone ihn ganz oder
möglichst lange mit der von der lateinischen Sprache entlehnten Terminologie.
Alles das hat der deutsche Kaiser in seiner bedeutsamen Rede bei Eröffnung
der Schulconferenz und in seinen Schulerlassen auch gewünscht, seine Schüler-
erfahrungen, sein Verkehr mit Männern, die von der Noth wendigkeit der Schul-
reform überzeugt sind, haben ihm das nahegelegt; allein wir haben aus den
Verhandlungen der Schulconferenz ersehen, dass die Mehrzahl der Schulmänner
nicht für diese Reform zu gewinnen war. Diese beriefen sich immer auf das
bewährte Alte uud bedachten dabei nicht, dass unsere Gymnasien schon längst
leer ständen, wenn sie nicht gerade mit den meisten Berechtigungen aus-
gestattet wären. In der Hauptstadt der Provinz Hessen-Nassau hat der deutsche
Kaiser den Anstoß zu seinen Reformbestrebungen erhalten, in der größten Stadt
dieser Provinz, in Frankfurt am Main, will man jetzt den ersten Versuch zur
Erprobung des Neuen machen. Von Ostern 1892 an wird ein städtisches
Gymnasium seinen Lehrplan derart gestalten, dass in Sexta mit dem Fran-
zösischen begonnen wird, während das Latein erst in Untertertia, das
Griechisch erst in Untersecunda auftreten soll. Auch ein Realgym-
nasium, die Musterschule, wird Ostern 1892 in Sexta mit dem Französischen
beginnen, den Beginn des Lateinischen ebenfalls nach Untertertia, den
Anfang des Englischen nach Untersecunda verlegen. Diese Anstalten
wollen dieselben Ziele wie bisher verfolgen, und wir sind der Ansicht, sie wer-
den sie leichter, weil naturgemäßer, gründlicher und sicherer erreichen. Selbst-
verständlich sind ihnen dieselben Berechtigungen zugesichert, die diesen Schul-
gattungen nach dem neuerlichen Erlasse zuertheilt sind. Es ist bisher nur von
den Sprachen die Rede, gewiss werden aber auch die oben gezeichneten For-
derungen für die anderen Unterrichtsfächer Berücksichtigung finden, da ja
durch die Veränderungen in den Sprachen Zeit und Raum dafür gewonnen
werden. Nicht nur für die Erreichung des Bildungszieles werden diese Ein-
richtungen des Lehrplans von der größten Bedeutung sein, sondern auch für
das Verhältnis der Schulen za einander: es werden fernerhin Gymnasium, Real-
gymnasium, Oberrealschule und Realschule bis Quarta einen gemeinsamen
Unterbau haben, Gymnasium und Realgymnasium sogar bis Obertertia ein-
schließlich. Ist man soweit gegangen, so wird man auch bald dahin gelangen,
eine geraeinsame Grundlage für alle Schulen zu finden, dies umso eher, je
mehr man die socialen und wirtschaftlichen Nachtheile erkennt, welche die
Zersplitterung unseres Schulwesens mit sich bringen. Mehr als 70 preußische
Städte mit nur je einer höheren Schule haben sich vor kurzem an den Kaiser
gewandt und gebeten, es möchte die Reform des höheren Schulwesens auf
der Grundlage eines einheitlichen Unterbaues für alle höheren Schulen erfolgen,
wir fordern mehr, wir fordern einen gemeinsamen Unterbau für alle Schulen.
Unleugbar ist eine der Hauptursachen der vielfältigen und tiefen Spal-
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tungen in unserem Volksleben, die in den leidenschaftlichen Interessen« und
Principienkämpfen der Gegenwart in die Erscheinung treten und einer gedeih-
lichen Fortentwickelung der Nation sich hinderlich erweisen, die Zersplitterung
unseres Schulwesens. Jedoch wäre es ein Irrthum, anzunehmen, dass nur die
gegenwärtig bestehende Vielköpfigkeit des höheren Schulunterrichts hieran die
Schuld trägt: viel tiefer einschneidend ist die von unten auf bestehende Ab-
sonderung der höheren Stände von den niederen, der vermögenden vou den
nnvermögenden durch die gesondert bestehenden Vorschulen und das immer
weiter um sich greifende Kasten- und Standesschulwesen. Die Einheit des
Volksgeistes beruht nicht nur auf der Einheit der höheren allgemeinen Bildung,
sondern vielmehr auf einer allgemein verbreiteten Volksbildung. Daher muss
die höhere Unterrichtsanstalt (Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule)
mit der Mittelschule (preuß. Mittelschule, höhere Bärgerschule, Realschule) und
der allgemeinen Volksschule (Bürgerschule) in organische Verbindung gesetzt
werden. Eine solche Reform unseres deutschen Schulwesens fordert das Na-
tionalitätsprincip, fordert die Röcksicht auf die sociale Einheit.
Auch in wirtschaftlicher Beziehung ist die Zerspellung unseres Schul-
wesens ein Fehler. Wie manche kleinere Stadt hat neben der Börgerschule
eine Mittelschule, höhere Töchterschule, eine Realschule, ein Progymnasium,
Realprogynina8ium, oder gar ein Gymnasium und Realgymnasium, dazu zu
allem Überfluss noch gesonderte Vorschulclassen für die höheren Schulen. Dass
durch eine Vereinfachung hier viel Geld gespart werden kann, wird jedermann
einleuchten. So wenig als die Knabenmittelschulen und höheren Schulen be-
sondere Vorschulclassen nöthig haben, so wenig bedürfen sie die Mädchen-
m ittelschulen und höheren Töchterschulen, und alle Kinder der Nation,
Knaben und Mädchen, sollen wenigstens in den drei ersten Schuljahren die
allgemeine deutsche Volksschule besuchen. Fllr alle, welche eine weiter
angelegte Bildung erstreben, schließt sich an die drei ersten Schuljahre die
Mittelschule. Die höhere Schule setze erst mit dem 7. Schuljahr ein.
wo für Gymnasium und Realgymnasium das Latein beginnt. Die allgemeine
Volksschule hat 8, die Mittelschule 7, das Gymnasium und Realgymnasium 6,
die Oberrealschule nur 2 besondere Jahrescurse. Die Volksschule nimmt ihre
Schüler nach dem vollendeten 6., die Mittelschule nach dem 9., das Gymnasium
und Realgymnasium nach dem 12., die Oberrealschule nach dem 16. Lebens-
jahre auf. Die Mittelschule ersetzt demnach für diejenigen Schüler, welche
später die höhere Lehranstalt besuchen wollen, die Gassen Sexta, Quinta und
Quarta.
In den drei ersten Schuljahren sind Religion, Deutsch und Rechnen die
Hauptfacher, die Volksschule erweitert dieselben spater durch die Realien; die
Mittelschule hat in ihren drei ersten Schuljahren (4—6.) noch besonders
Französisch; wenn die Schüler, welche in die höhere Lehranstalt eintreten
wollen, abgehen, kommt Englisch und in Knabenmittelschulen Mathematik hinzu.
Eine solche Einrichtung unseres Schulwesens, bei welcher eine Dreiheit
gewissermaßen zur Einheit wird, bewahrt den guten Kern der bisherigen Ent-
wicklung, setzt aber Ordnung an die Stelle der Zerklüftung, die bisher soviel
beklagte Überbürdung der Schüler wird nicht mehr so leicht vorkommen, weil
die schwierigeren Fächer später auftreten, und die Entscheidung über die Be-
rufswahl kann dann erst auf Grund der nöthigen Erfahrung getroffen werden.
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' Der Segen aber, den diese Einheitsschale in socialer and wirtschaftlicher Be-
ziehung bringen wird, ist unberechenbar. A. G.
[B. Vom deutschen Ostseestrand.] Die gewaltigen Erschütterungen
des kirchlichen Lebens, welche uns der Kulturkampf gebracht hat, werden
hier noch fortgesetzt bis zum einsamsten Fischerdorfe im weißen Dünensande
verspürt. Es war nicht, sondern es ist noch heute, wie vor 20 Jahren, ein
Kampf „vom Fels zum Meere", vom Bodensee bis an den Belt Zwar wird dieser
heftige Bürgerkrieg nicht mit Blut und Eisen, sondern mit den Waffen des
Geistes geführt. Wann der Sieg endlich entschieden sein wird, wer kann das
wissen? — „Noch ruhen in der Zeiten Schöße die heiteren und die schwarzen
Lose." Was die Zukunft auch für das nächste Jahrhundert bringen mag,
eines glauben wir schon heute zu wissen, dass die gesunde Menschenvernnnft
sich nicht wird ans dem Felde schlagen lassen. Welches sind denn nun die
bisherigen Errungenschaften des in Kirche und Schule, in den Parlamenten
und Bierstuben, in den Vereinen wie in den Ministerien geführten heißen Cultur-
kampfes der letzten 20 Jahre? Die große Lehre für alle Gebildeten
ist die gewesen, dass die gewöhnlichen Volksclassen für kirch-
liche Freiheiten ebensowenig die zeitgemäße Reife haben, wie für
die politischen.*) Daher war die Aufhebung der Maigesetze eine unbe-
dingte praktische Nothwendigkeit (? D. R.). Die nach Völkerfrieden duftenden
Siuiultauschulen wurden durch kalte Kirchenluft überall niedergedrückt, ja die
schön eingewurzelten Anstalten waren ein Dorn in den Augen christlicher
Heißsporne. Es konnte nunmehr das Unglaubliche geschehen, dass einige Orte
Simultanschulen neben Confessionsschulen hatten, dass z, B. die Stadt Elbin g
sechs siebenclassige Simultan-Mädchenschulen und sechs siebenclassige Con-
fe8sion&-Knaben8chulen besaß. Dieses Beispiel ist unseres Erachtens von größerer
Bedeutung in dem sensationellen Principienstreite, als es auf den ersten An-
blick scheinen könnte. Wenn es wahr ist, dass bei dem Lehrerwechsel zur
Religionsstunde an manchen Orten gerufen worden ist: „Katholiken heraus",
oder von der anderen Seite: „Ketzer heraus", so sind das nicht bloße Un-
gescbliffenheiten, sondern Hetzen, die das Gegentheil von dem fördern, was
durch die Schöpfung der Simultanschule erreicht werden sollte, nämlich der Friede.
Eine weitere Folge des mit Dr. Windthorst nur scheinbar zu Grabe ge-
tragenen Culturkampfes ist die, dass die kleinen und großen Bombensplitter
als religiöse Streitfragen unter das Volk flogen und dieses zum Selbstdenken
herausforderten. Gerade hierin liegt ein großer Segen, welcher zu den schönsten
Hoffnungen berechtigt.
Einstweilen befinden wir uns hier in den weiten Strandgegenden noch in
dem Stadium des Überganges zu hoffentlich besseren Verhältnissen, in welchen
die prophetischen Worte: „Es wird eine Herde und ein Hirte werden,*' mehr
Geltung gewinnen mögen. Es gab früher Fechtvereine, d. h. solche Vereine,
welche durch kleine Gaben große Capitalien ansammelten, um damit ohne Rück-
sicht auf die Cenfession Waisenhäuser zu errichten. Jetzt gibt es in ganz
Norddeutschland nur katholische und evangelische Fechtvereine. Früher
gab es Gesellenvereine, jetzt katholische und evangelische Gesellen vereine.
*) Steht es um die herrschenden Olassen besser? D. R.
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Früher gab es Armenvereine, jetzt katholische and evangelische Armen-
vereine. Früher gab es Lehrer vereine, jetzt katholische und evangelische
Lehrervereine. Ein GIBck ist, dass die katholischen Lehrervereine in Preußen
noch meistens dem allgemeinen Landesverein angehören dürfen, welcher im
letzten Jahre einen Zuwachs von 3898 Köpfen erhalten hat und nunmehr
39410 Mitglieder zählt. Wie lange die katholischen Collegen diese Freiheit
noch genießen werden, ist eine andere Frage. Einen ungleichen Kampf fährt
zur Zeit der Vorsitzende des ermländischen Lehrervereins, Herr Rector Fischer
in Allenstein, gegen den Bischof in Frauenburg wegen derartiger Bevormun-
dung. . Wer hier unterliegen wird, ist unschwer vorauszusehen. Ziehen wir
ferner die Jaden- und Menonitenfrage in Betracht, durch welche Ost- und
Westpreußen sehr stark berührt wird, so sieht man, wie ungeheuer sich die
religiösen Differenzen und Bestrehungen seit dem Beginn des sogenannten
Culturkampfes zugespitzt haben.
Die evangelischen Bewohner, welche in Lethargie die Decennien dahin-
rollen sahen, wurden nun auch wacker aufgerüttelt. Eine besondere Anregung
brachte noch das Jahr 1883 mit seiner 400jährigen Lutherfeier. Es ent-
standen Luther festspiele von Hans Herrig und anderen, und immer häufiger
ertönte in Stadt und Land: „Ein' feste Burg ist unser Gott", als ob ein gefähr-
licher Glaubensfeind im Anzüge sei. Es bildeten sich Vereine zu einer Luther-
stiftung: Die deutsche Lutherstiftung steht unter der hohen Protection
Sr. Majestät des deutschen Kaisers und Königs von Preußen Wilhelm II. Sie
gliedert sich in einen Centraiverein mit vielen Localvereinen und erstrebt das
Ziel, das Andenken des großen Reformators im evangelischen Theile des
deutschen Volkes rege zu erhalten und damit gleichzeitig Zwecke der Wohl-
thätigkeit zu verbinden. Der Hauptverein für Ostpreußen zählt 704 Mitglieder
und hat seinen Sitz in Königsberg. Im letzten Geschäftsjahre wurden Pfarrer-
nnd Lehrerkinder unterstützt mit drei Gaben a 100 Mk., fünf Gaben ä 75 Mk.
und vier Gaben a 50 Mk. Der Verein besitzt außerdem ein zinstragendes
Capital von 8000 Mk. Znm Vorstand gehören Oberbürgermeister Selke, Pro-
fessor Dr. jnr. Zorn, Gymnasiallehrer Dr. Baldus, Landgerichts-Präsident Kessler,
Consistorialrath Lic. Eilsberger, Commercienrath Weller, Graf Dönhoff-Fried-
richsstein, Graf Eulenburg-Prassen, Superintendent Eschenbach, General-Super-
intendent Pötz, Rechtsanwalt Dr. Kranz, Gymnasial-Director Dr. Grosse, Justiz-
rath Dr. Jüterbock, Rittergutsbesitzer Meßling-Ziegenburg und Rittergutsbesitzer
Dr. Seydel-Chelchen. So schön auch alle solche Veranstaltungen sein mögen, so
tragen sie zur Schlichtung religiöser Händel sicherlich nichts bei. Mehr im Stillen
wirken außerdem emsig die Baptisten, die Irvingianer, die Herrnhuter, die Phi-
lipponen, die Reformirten, die Gichtelianer etc. Ei, wenn die erst noch alle ihre
Confessions8chulen beanspruchen, dann wird guter Rath theuer werden! Doch
halt! — hier kann uns geholfen werden. Soeben ziehen die ersten Apostel der
englischen Heilsarmee durch unsere Ostpro viuzen. Gelingt es diesen, die
neue Lehre zur Gesammtannahme zu bringen, so ist das Ende des Culturkampfes
besiegelt. Leider scheint hierzu wenig Aussicht zu sein. Die in Danzig,
Königsberg und Elbing vorläufig abgehaltenen Versaromlungen waren nur spär-
lich besucht. Alle wurden durch Absingen geistlicher Lieder und durch Ge-
bete eröffnet. In Elbing glaubte man vielleicht eher Propaganda zu raachen,
indem man einen bekehrten Biedermann, einen Ostpreußen, der Versammlung
Pwdagoginm, 14. Jahrg. Heft V. 23
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vorführte, welcher im Restaurationssaale gleich an Ort und Stelle ein langes
Glaubensbekenntnis im echten Pharisäerton hersagte. Auch dieses Mittel zog
aber nicht, und so ist es bei diesem einen „Heiligen" einstweilen geblieben,
und der Kampf in der Kirche und Schule dauert fort. Mit großer Spannung
sehen alle Parteien dem Erscheinen des neuen preußischen Unterrichts-
gesetzes entgegen. Möchte es gelingen, durch dasselbe den ersehnten „Welt-
frieden", wenigstens in preußischen Landen, anzubahnen!
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Aus der Fachpresse.
513. Pädagogische Ketzereien (J. Mähly, Schweiz. Lehrerz. 1891,
49 — 52). Ein geistreicher Mann, der hier spricht, ohne Zweifel! Aber er
urtheilt oberflächlich, setzt „den Theil fürs Ganze", Übertreibt stark, hantirt
mit Phrasen und Witzeleien, gibt vor, den thatsächlichen , d. h. den Durch-
schnitts-Betrieb des Unterrichts zu schildern, malt jedoch nur die allerschlimmsten
Zustände aus. Selbst die Verhältnisse der „höheren" Schulen (wo allerdings
mehr als genug „Professoren" ohne jede pädagogische Ahnung „wirken"), mit
denen er sich hauptsächlich beschäftigt, verzerrt er. Noch weniger gerecht
wird er der Volksschule; den gegen wältigen Stand der Volksschalpädagogik,
die vielfach erfreulichen Leistungen, die wackeren Reformbestrebungen, von
denen unsere Fachpresse zeugt, kennt er überhaupt nicht. „Es ist — nach
Hrn. M. — ein unanfechtbarer Haupt- und Cardinalsatz, dass die
Schale, und selbst die besteingerichtete, im Grunde ein notwen-
diges Übel sei" (weil sie so viele so verschiedene Individualitäten „zu-
sammenpfercht").
514. Ist die Schule ein nothwendiges Übel? (G. Stucki, Schweiz.
Lehrerz. 1891, 50. 51). Entgegnung auf den „Haupt- und Cardinalsatz" des
Vorigen. — „Eine in jeder Hinsicht gut eingerichtete Schule ein würdiges,
der vollen Kraft der Besten wertes Ziel der Zukunft." — Wie nach des Verf.
Wunsch eine „best eingerichtete" Schule aussieht: Gasse mit 40 Kindern in
zwei Jahrgängen, also 2 mal 20 („es ist aus einer Reihe von Gründen gut.
wenn immer die Hälfte der Gasse schriftlich arbeitet"). Kinder gut genährt
und gesund (wofür, wenn nöthig, „selbstverständlich" der Staat sorgt), normal
begabt (Schwachbegabte und Einseitigveranlagte ausgeschieden). Räumliche
Verhältnisse, Ausstattung der Zimmer vollkommen entsprechend. Lehrer mit
möglich freiem Spielraum (nicht „eingeschnürt durch Reglements, Stundenpläne,
Handbücher, Examen u. ä."). Maßgebend für Stoffauswahl: Verdauungsprocess
der kindlichen Seele (Studium desselben, Sammlung bezüglicher Erfahrungen
„vornehmste Aufgabe des Schulmanne»"). Die wirksamsten Beweise für den
höheren Wert des Gassenunterrichts. („Die Pädagogik wird dem Einzel-
unterricht niemals den Vorzug vor dem Gassenunterricht einräumen können."
Sobald es „best eingerichtete" Schulen gibt — allerdings!)
515. Über die Ordnung der Natur und ihre Bedeutung für das
Erziehungswesen (Bähring, Pfälz. Lehrerz. 1891, 28). Wir notiren gern
ein vernünftiges Wort wie das folgende (wenn wir den Gedanken auch nicht
zum ersten Male ausgesprochen hören): „Auf dem heimischen Boden, der überall
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triebkrüftig- ist oder triebkräftig gemacht werden kann, muss das Erziehung»-
werk aufgebaut werden, nicht auf Papier und Druckerschwärze."
516. Vorschläge zur Hebung der pädagogisch-literarischen
Kritik (Deutsche Schulpr. 1891, 51). Verf. empfiehlt in seinem kurzen
„preisgekrönten" Aufsatz u. a. '„summarische Übersichten" dieser Art: „Durch
Zusammenstellung ähnlicher Erscheinungen, durch Beleuchtung von verschie-
denen Gesichtspunkten aus, durch Hervorhebung der Vorzüge und Mängel der
einzelnen Bücher, durch Angaben darüber, welche Bedürfnisse durch dieses
oder jenes Buch befriedigt werden etc. — könnten (im Verhältnis zu der Zahl
der besprochenen Schriften) knappe Aufsätze geschaffen werden, welche sich
interessanter lesen als gewöhnliche RecenBionen, eine Übersicht geben über die
neueren Fachschriften und es ermöglichen, dass der Leser aus der Menge der
Neuheiten das für seine Ansprüche Geeignetste herausfindet." — Eine zwar
nicht neue, in unseren Fachblättern aber doch nur selten dargebotene Form
(weil ihre notwendigen Bedingungen großes stilistisches Geschick, Treffsicher-
heit, .umfassende pädagogische und wissenschaftliche Bildung sind).
517. Aufgaben der Bürger den Lehrlingen gegenüber (Schule
und Werkstatt*), 1891, IV). „Der Bürgerschaft fällt die hohe und lohnende
Aufgabe zu, alle Einrichtungen, welche geeignet erscheinen, dem aufwachsen-
den männlichen Geschlecht (die Beziehungen zur Familie und) den freien Ver-
kehr mit Erwachsenen zu erleichtern, thatkräftig zu unterstützen." Beispiel:
Lehrlingsabtheilungen in (Berliner) Turnvereinen. Nothwendiger Monatsbeitrag
seitens der freiwilligen Förderer: 20—30 Pfg. Verlauf der Übungsstunden:
Kürturnen — Volkslied — geregeltes Turnen (bei den Gerät hübungen Mit-
glieder der Männerabtheilungen als Riegenführer) — Kürturnen — Volkslied.
Spiele — Turnfahrten. Bedeutung und vielseitige Aufgabe der Leiter.
518. Der Religionsunterricht und seine Reform (Fricke, Die
deutsche Volksschule 1891, 21—25). Zweckbestimmung: „Der Religions-
unterricht iuus8 in die Bahnen innerlicher Einwirkung geleitet werden, wenn
er seinen Zweck — Willensläuterung — erfüllen soll." Er soll den Schüler
also geschickt machen, dass er später im Leben draußen „den Schwerpunkt
aller Ereignisse in sein Inneres zu legen" fähig ist — die Wege bahnen „zur
Selbsterkenntnis, die das Übel nicht im Äußeren, sondern im Inneren sucht,
wodurch der Selbst Verblendung entgegengewirkt, die Unzufriedenheit aufgehoben
wird und der Mensch die rechte Stellung zu seinem Nächsten gewinnt.- —
Keine Neuigkeit, nur eine nothwendige Wiederholung.
519. Hauswirtschaftlicher Unterricht (Päd. Reform 1891, 34).
Verf. behandelt die Frage als „Ketzer." Und in zwei wesentlichen Pnnkten
hat er Recht, indem er nämlich 1 . das vielfach noch Dilettanten- und Pfuscher-
hafte der bezüglichen Bestrebungen tadelt, 2. treffend bemerkt: Der nächste
Schluss (aus der Thatsache der wirtschaftlichen und gemnthlichen Missstände
in der sog. Arbeiterfamilie) wäre: der „Arbeiter" und der kleine Handwerker
müssen so gestellt werden, dass auch von ihren Häusern und ihren Hausfrauen
das vielcitirte Wort Schiller's („.... und drinnen waltet .... und lehret die
Mädchen") gelten kann. Da aber diese Schlussfolgerung schon stark nach
*) „Mittheilungen des Vereins für das Wol der aus der Schule entlassenen
Jagend," Berlin.
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Socialdemokratie riecht, and die Schale nach gewissen „Autoritäten" aach die
Aufgabe hat, die Socialdemokratie zu bekämpfen, so mnss die „sociale Frage"
auf anderem Wege gelöst werden, and so kommt man „natürlich" auf die
Haushaltungsschulen and den haaswirtschaftlichen Unterricht.
520. Das Zeichnen von Bin ten form od (Th. Wunderlich, Die Kreide
1891, IX). Der Unterricht im freien Zeichnen soll die Bestrebungen der Neu-
zeit, die Formen der heimischen Flora dem Kunstgewerbe mehr and mehr
dienstbar zu machen, berücksichtigen — deshalb Vorlagen, welche durch ein Ab-
zeichnen natürlicher Pflanzenformen mit geringer Umbildung gewonnen werden
können. Eine Beilage bietet „einige charakteristische Beispiele solcher Blüten-
formen" (von Bntomus umbellatus, Tilia parvifolia, Borago ofticinalis, Solanum
tuberosum, Myosotis palustris, Geranium pratense), gezeichnet nach natürlichen
Pflanzen, jedoch nicht naturalistisch (dass alle jene Unregelmäßigkeiten und
Zufälligkeiten, welche die Naturform aufweißt, wiedergegeben waren), sondern
so, dass die geometral ausgebreitete Blütenform von allen Mängeln befreit
erscheint (Theile symmetrisch durchgebildet und mit Hinsicht auf den orna-
mentalen Zweck frei umgestaltet). Selbstverständlich mehrere natürliche Exem-
plare zur Vergleichung vorhanden. Überdies geeignete Besprechung, wobei
einerseits „botanische Belehrungen nicht umgangen werden dürfen**, anderer-
seits durch die Schüler die „charakteristischen Hülfslinien" zu finden sind.
521. Sätze für den Schreibunterricht an gewerblichen Vor*
bereitungsschulen (K. Prinz, Päd. Rundschau 1891, XI). Der Vorschlag,
die Übungssätze vornehmlich der Gesundheit«- und Wirtschaftslehre und den
besonderen Berufsverhältnissen zu entnehmen, lässt sich hören (ist übrigens
nicht neu, und Verf. bringt außerdem noch „Kegeln" aus anderen Gebieten).
Nur sollten „Mustersätze" (selbstverständlich) durch eine gewisse Vornehmheit,
jedenfalls Gedrängtheit des Stils sich auszeichnen. Dieser Vorschrift genügen
aber diejenigen des Hrn. Pr. in der Mehrzahl nicht: sie sind wortreich, alt-
backen, schulmeisterlich — etliche sogar komisch oder sinnlos, wie: „Suche
dir deine Concurrenten durch gediegene Arbeit und rasche Bedienung vom
Hal8e(!) zu schaffen." (Wenn nun — was man doch wünscht — alle dieser
Mahnung folgen, wer lässt sich dann „vom Halse schaffen"?) „Das Kind er-
ziehe man kindlich, den Jüngling mit Ernst und gründlich." „Den starken
Mann, den schwachen Greis erziehet, Menschen, mit Fleiß (!!). — So was ist
also in unserer Fachpresse immer noch „möglich".
Von neuen Broschüren ist vor allen eine hochwichtige Kundgebung des
berühmten Münchener Professors J. Frohschammer zu erwähnen. Sie führt
den Titel: „Tu es Petrus! Ein geschichts- und religionsphilosophischer Essay11
(Breslau, Eduard Trewendt, 32 Seiten). Der gelehrte und scharfsinnige Verf.
unterzieht diejenigen Stellen des neuen Testamentes, welche als Rechtsbasi*
für das Papstthum geltend gemacht werden — Matthäus XVI, 18 f. und einige
andere — einer gründlichen Untersuchung bezüglich ihrer Echtheit und Be-
deutung, um zu einer klaren Entscheidung über die wichtigste aller jetzt
schwebenden Culturfragen zu gelangen. Wie bei Frohschammer diese Ent-
scheidung ausfällt, dies möge mit ein paar Sätzen seiner Abhandlung bezeichnet
werden. „Weder ist irgendwo bezeugt oder bewiesen, dass Petrus je Bischof
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in Rom war, da vielmehr alle beglaubigten Urkunden davon schweigen oder
geradezu das Gegentheil andeuten, noch ist dem Petrus je von Christus der
Primat aber die übrigen Apostel und die ganze Kirche übertragen worden.44
Bezüglich der Begründung des Papstthnms auf die Stelle bei Matthäus und auf
einige ähnliche kommt Frohschammer insbesondere zu folgendem Resultate:
„Wer dieselbe zurückweist als unecht oder ungiltig, der thut nichts anderes,
als was Petrus selbst und die Apostel gethan haben. Wenn dagegen das
römische Papstthum sich auf diese Stelle und ein paar andere, ebenso proble-
matische gegründet hat und noch darauf stützt mit seinen Ansprüchen auf
Vorrang und Herrschaft, so handelt es dabei vollständig anders, als Petrus selbst
sammt den übrigen Aposteln und die ganze alte Kirche gethan haben." Diese
Citate sollen nicht zum blinden Glanben an Frohschammers Lehre, sondern zu
ernstem Studium und gründlicher Prüfung seiner Schrift auffordern. Es liegt
hier ein „Entweder — oder4* vor, dem nur Schwachköpfe oder schwankende
Charaktere ausweichen können. Entweder ist der Papst Christi und Gottes
Statthalter, oder er ist es nicht. Im ersten Falle sind ihm alle Völker, Staats-
lenker und Fürsten bis zu den Kaisern hinauf unbedingten Gehorsam schuldig;
im anderen Falle sind seine Ansprüche unberechtigt. Tertium non datur, außer
für schwache und zweideutige Seelen. Die Frage mu88 entschieden werden,
wenn über die Grundbedingung aller Cnltur, über die Geistes- und Gewissens-
freiheit, entschieden werden soll. Niemals wird sie verstummen, bis sie endgiltig
gelöst ist, sei es im Triumphe oder im Untergänge der modernen Cultur. Hier
gilt nicht farblose Halbheit, diplomatisches Laviren, hinterhaltiges Schachern,
Entgegenkommen und Ausweichen, sondern nur ein klares Ja oder ein klares
Nein und ein dementsprechendes mannhaftes Handeln. Es wäre doch endlich
Zeit, dass man begriffe, um was es sich handelt. Am 27. December des Jahres
1891 ist im Lateran das von Leo XIII. seinem Vorbilde, dem Papste Inno-
cenz III., errichtete Denkmal enthüllt worden. Und dieser Innocenz III. be-
zeichnet den Gipfelpunkt der päpstlichen Ansprüche und der päpstlichen Gewalt;
die Oberherrschaft über Könige und Kaiser erklärte er für sein unanfechtbares,
gottgesetztes Recht, welches er dann auch triumphirend durchsetzte. Nun hat
ihm sein Nachfolger in diesen Tagen ein Denkmal errichtet. Ist es da noch
immer nicht Zeit, dass die Völker erfahren, worauf denn eigentlich das Recht
der römischen Weltherrschaft beruhe? Wir glauben, dass Frohschammer ein
sehr zeitgemäßes Thema angeschlagen hat mit seinem „Tu es Petrus!44 -
In Preußen werden noch immer die Ergebnisse der bekannten Berliner
Schulconferenz lebhaft erörtert. Wer sich in Kürze über die Hauptpunkte der Ver-
handlungen eine klare Information verschaffen will, dem empfehlen wir die kleine
Schrift vom Gymnasialdirector Dr. Grumme in Gera: „Die wichtigeren Be-
schlüsse der Berliner Schulconferenz von 1890 nebst ein paar kurzen Betrach-
tungen über die Reform des höheren Schulwesens" (Gera bei Hofmann, 30 S.).
Der vollständige (offizielle) Bericht über diese Verhandlungen ist in einem
Bande von 800 Seiten erschienen und erfordert ein langwieriges Studium, zu
dessen Erleichterung kürzlich ein sehr erwünschter Behelf unter folgendem
Titel erschienen ist: „Alphabetisch geordnetes Sachregister zu den Verhand-
lungen etc. Herausgegeben von Dr. H. G. Stemm ler" (Ohrdruf, Selbstverlag,
23 Seiten).
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Im Canton Bern ist von einer ans angesehenen Schulmännern zusammen-
gesetzten Commission ein „Catalog für die Lehrerbibliotheken" zu-
sammengestellt worden, welcher auch anderwärts als guter Rathgeber bei
Anschaffung von Büchersammlungen für größere Lehrerkreise Beachtung ver-
dient. Der als Manuscript gedruckte Catalog dürfte auf Verlangen von Hrn.
Seminardirector M artig in Hofwyl bereitwillig geliefert werden.
Bei Schmid, Francke & Co. in Bern ist eine „ Biblisch-topographische
Karte von Palästina" von R. Leuzinger (Preis M. 1.60) erschienen, welche als
eine ganz vorzügliche Leistung der Kartographie bezeichnet werden kann.
Der Lehrerverein „Freie Schule" zu Horn in Niederösterreich hat einen
vom Bürgerschullehrer Alois Schrimpf verfassten „Leitfaden für den Elementar-
unterricht in der mathematischen Geographie" (43 Seiten, 30 Kreuzer. Verlag
des genannten Vereins) herausgegeben, welcher in Fachkreisen viel Beifall ge-
funden hat.
Von der längst als vortheilhaft bekannten Schulgeographie von
E. v. Seydlitz (Verlag von F. Hirt in Breslau u. Leipzig) ist eine italienische
Bearbeitung erschienen, deren erste Auflage in 5000 Exemplaren binnen sechs
Wochen verkauft war.
Nachtrag.
In Preußen ist wieder einmal ein Schnlgesetz-Entwurf auf der Tages-
ordnung. Die Besprechung desselben musste wegen schwerer Erkrankung des
Herausgebers dieser Blätter dem nächsten Hefte vorbehalten bleiben.
Am 28. Januar feierte unser verehrter Mitarbeiter Herr Theodor Ver-
naleken seinen achtzigsten Geburtstag. Wir kommen hierauf im nächsten
Hefte zurück.
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Literatur.
H. Sfherer, Schulinspector in Worms, Wegweiser zur Fortbildung deutscher
Lehrer in der wissenschaftlichen und praktischen Volksschulpädagogik und
zum Ausbau derselben. Auf geschichtlicher Grundlage und mit Angrte der
Literatur und Lehrmittel. I. Die wissenschaftliche Volksschulpädagogik.
394 S. Leipzig 1892, Friedrich Brandstetter. 5 Mk.
Verfasser bietet zunächst einen Überblick der geschichtlichen Eni Wickelung
der deutschen Volksschulpädagogik und Volksschule bis auf Diesterwcg, worauf
er das Zeitalter Diesterwegs, diesen selbst und seine Mitarbeiter, besonders
deren Pädagogik darstellt, dann den Ausbau der Pädagogik nach Diesterweg
ausführlich vorführt und schließlich eine vergleichende Charakteristik der
Diesterwegschen und der Herbart-Zillerschen Pädagogik entwirft. Ein lite-
rarischer Wegweiser schließt den Band ab. Die Arbeit zeugt von umfassender
Sachkenntnis, großem Fleiße und klarem ürtheil. Die verschiedenen Rich-
tungen auf dem Gebiete der Pädagogik und Methodik der Volksschule bis zur
Gegenwart werden eingehend und objectiv dargelegt, wobei als besonders ver-
dienstlich hervorzuheben ist, dass Scherer die Diesterwcgsche Pädagogik,
welche seit längeren Jahren durch Unwissenheit, Stümperei und Afterweisheit
im Bunde mit reaktionärem Geiste stark verdunkelt und in manchen Gegenden
fast verdrängt war, wieder in das gehörige Licht gestellt hat. Sein Werk
kann der heutigen deutschen Lehrerwelt, besonders der jüngeren Generation,
in der That als wertvoller „Wegweiser" empfohlen werden. Es bietet der-
selben eine gute Grundlage und zugleich die Mittel und Wege zu gründlicher
Fortbildung in ihrer Berufswissenschaft. D.
Dp. M. M. Arnold Schröer, Prof. a, d. Univers. Freiburg i. Br., Über Er-
ziehung, Bildung und Volksinteresse in Deutschland und England. 99 S.
Dresden 1891, Oskar Damm. 1 Mk. 50 Pf.
Eine Reihe von Abhandlungen über folgende Themata: Schule, Erziehung
und Weltherrschaft der Engländer. Die Lehr- und Lernfreiheit an unseren
rniversitäten. Wissenschaft und Publicum. Literarische Production und Über-
produetion. Unsere Bibliotheken. Zur Beurtheilung der heutigen Engländer:
Drage's Cyril. — Es sind vorzugsweise die obersten Stufen des Bildungswesens
und die ihnen dienenden Mittel, Kräfte und Anstalten in Betracht gezogen.
Dabei sind durchgehends die Zustände in Deutschland und die in England
einander gegenübergestellt, um das Bessere von beiden Seiten zur Geltung zu
bringen. Hauptzweck ist dem Verfasser einerseits: Die Wissenschaft der Na-
tion verständlich und wert zu machen, anderseits die Nation, ihre Wohlfahrt
bei so gewichtigem Stoffe möglich — leicht, elegant, feuületonistisch , aber
A. Ernst und J. Tews, Deutsches Lesebuch für städtische und gewerbliche
Fortbildungsschulen. Zugleich als Haus- und Familienbuch für Handwerker
und Gewerbetreibende. Band I. Für einfachere Schulverhältnisse und die un-
teren Stufen mehrclassiger Fortbildungsschulen. 377 S. lMk.50Pf. Band II.
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Für die oberen Stufen melirclassiger Fortbildungsschulen. 430 S. 1 Mk.
70 Pf. Leipzig und Berlin, Julius Klinkhardt.
Im vorigen Hefte dieser Zeitschrift haben wir das von den Herren Ernst
und Tews herausgegebene deutsche Lesebuch für Mädchenschulen angezeigt
und empfohlen. Mit gleichem Beifall bringen wir das für Fortbildungs-
schulen bestimmte Lesebuch derselben Verfasser zur Kenntnis der beteiligten
Kreise. Dasselbe ist für Lehrlinge und Gehilfen des Handwerker- und Ge-
werbestandes bestimmt, zugleich aber auch sehr geeignet, den bereits gereiften
Gliedern dieser Gesellschaftsciasse als belehrendes, unterhaltendes und gemüth-
bildendes Lesebuch zu dienen. Besondere Rücksicht ist bei Abfassung desselben
auf die in Preußen und im deutschen Reicho für den Gewerbestand maß-
gebenden Verhältnisse, Gesichtspunkte und Normen genommen. Die Anordnung
des Stoffes ist nach dem Princip erfolgt, ebenso das eigentümliche Berufsleben,
wie die ethischen Seiten der socialen Verbände (Familie, Gemeinde) und die
Rechte und Pflichten des Staatsbürgers gleichmäßig zur Geltung zu bringen.
Gin Anhang bringt schätzenswerte Anweisung und Muster für schriftlichen
Verkehr (Geschäftsaufsätze). Auch bei diesem Werke ist die bewährte con-
centrische Disposition zur Anwendung gekommen, sodass der zweite Band als
eine naturgemäße Vertiefung und speciellere Ausarbeitung des ersten erscheint.
Die Verlagshandlung hat wie immer durch solide Herstellung und billigen Preis
des Werkes die Intentionen der Herausgeber wirksam unterstützt M. M.
C. M. Sauer, Italienisches Conversationalesebuch, 4. Auflage. XII n. 400 S.
Heidelberg 1891, Julius Groos. Geb. 3 Mk. 60 Pf.
T. (4. CL Valette, Niederländische Conversations- Grammatik. VI u. 370 S.
Heidelberg 1891, Julius Groos. Geb. 4 Mk. 60 Pf.
Dr. Wladislans Wicuerkiewicz, Polnische Conversations-Grammatik. VII u.
485 S. Heidelberg 1892, Julius Groos. Geb. 4,60 Mk.
Indem wir unsere Leser auf die obigen neuesten Bände der bei Julius Groos
in HcidelbeTg erscheinenden Sammlung neusprachlicher Lehr- und Lesebücher
nach der Methode Gaspey-Otto-Sauer aufmerksam machen, halten wir eine
weitere Empfehlung derselben in Anbetracht des außerordentlichen Beifalles,
den die Gaspey-Otto-Sauerschen Sprachbücher bisher gefunden, für überflüssig.
Rudolf Knill ing, Der Zahlenraum von 1 — 20. Ein Leitfaden beim ersten
Unterricht in Stadt- und Landschulen. 43 S. München 1892, Theodor
Ackermann. 60 Pf.
Bekanntlich hat Verf. mit eigentümlichen Reformversuchen auf dem Gebiete
des elementaren Rechenunterrichtes eine lebhafte Bewegung hervorgerufen, die
an ihm selbst nicht spurlos vorübergegangen ist. Das vorliegende Schriftchen
zeigt, dass er sich von gewissen Irrthümern und Missgriffen losgemacht und
sich den bewährten Grundsätzen und methodischen Behelfen des Reebenunter-
richts wieder genähert hat. Gern citiren wir aus dem Vorworte seiner neuen
Arbeit den Satz: „Der Abfassung des Leitfadens sind die gründlichsten und
sorgfältigsten Studien vorangegangen." Auch wollen wir ihm nicht wider-
sprechen, wenn er beifügt: „Und so dürfte es dem Verfasser in der That ge-
lungen sein, etwas Gutes, Brauchbares, Praktisches und vielleicht sogar
MustergUtiges zu schaffen." Jedenfalls wud es sich lohnen, den hier gezeigten
Gang einmal ernstlich durchzuführen; er ist klar, leicht, natürlich und ver-
H. F. Munderloh und C. H. Kröger, Rectoren in Oldenburg, Rechenbuch in
zwei TheUen. I. Tbl. 166 S. 11. Aufl. 1 Mk. II. Tbl 186 S. 18. Aufl.
1 Mk. Oldenburg 1890, Schulze.
Die Aufgaben beginnen sofort mit dem unbegrenzten Zahlenraume, zunächst
mit vier Grundrechnungsarten in ganzen unbenannten, dann in mchrnamigen
Zahlen, darauf folgt das Rechnen mit gemeinen und schließlich das mit Deci-
malbrüchen. Wir haben uns schon wiederholt dahin ausgesprochen, dass die
Decimalbrüche vor den gemeinen Brüchen leicht zu behandeln sind, weil die
spricht guten Erfolg.
M. J.
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Schüler infolge der decimalen Theilung von Münzen, Maßen und Gewichten
in Bezug auf diese Brüche ein weit vollständigeres Anschauungsmaterial be-
sitzen, als für gemeine Brüche. — Die vereinfachte Division nämlich ohne
Aufschreibang der abzuziehenden Theilproducte , scheint den Verfassern noch
unbekannt zu sein; im übrigen haben wir nur zu bedauern, dass für Decimal-
brüche ein kleinerer Typensatz gebraucht wurde und überhaupt der Satz an
vielen Stellen, z. B. Seite 66—68, dann 125—129 und 166—159 so gedrängt
erscheint, dass er den Augen umsomehr empfindlich wird, als auch das Papier
keine ganz weiße Farbe besitzt.
Über den zweiten Theil hatten wir schon Gelegenheit uns sehr anerkennend
auszusprechen, da sein reicher Inhalt in Bezug auf bürgerliche Rechnungsarten
und Verwandtes ihn zu einem höchst beachtenswerten Lehrbehelf für Bürger-,
Handeln- und Gewerbeschulen macht. H. £.
.1. Welcker, Oberlehrer zu Wiesbaden, Übungsbuch zum mundlichen und
schriftlichen Rechnen, vollständige Umarbeitung des Übungsbuches von
B. Frickhöffer. 3 Hefte. 5.— 13. Aufl. Wiesbaden 1890, Limbartk.
Jedes Heft 40 Pf.
Des ersten Heftes erste Abtheilung ist für die ersten zwei Schuljahre
bestimmt; die erste Stufe enthält den Zahlenraum bis fünf, dann folgt die Ab-
stufung von jeder Decade zur anderen. Im ganzen Hefte kommt nur Addition
und Subtraction vor, welche Rechnungsarten zu dem sogenannten Zählen in
Reihen entwickelt werden; auf diese Art und Weise war der Rechenunterricht
schon vor 50 Jahren Üblich. Man kann nun nicht sagen, dass die Kinder vor
50 Jahren nicht auch rechnen gelernt hätten, doch wurden seither bezüglich
der Leichtigkeit des Erlernens mittelst der Gru besehen Methode so gün-
stige Erfahrungen gemacht, dass die überwiegende Mehrzahl der Lehrer und
der Lehrbücher mehr oder weniger sich dieselbe zu eigen gemacht haben.
Des ersten Heftes zweite Abtheilung ist uns nicht zugegangen, dürfte
aber wahrscheinlich die Multiplieation und Division mit ganzen Zahlen ent-
halten. Das zweite Heft lässt abwechselnd zwei Abschnitte über das Rechnen
mit gemeiuen Brüchen und zwei mit mehrfach benannten Zahlen aufeinander
folgen. Der fünfte Abschnitt enthält Aufgaben über das Rechnen mit Dezimal-
brüchen. Der Verfasser vertheidigt diese Anordnung mit der Behauptung, dass
im Verkehrsleben die gemeinen Brüche häufiger vorkommen und daher dem
Verständnisse des Kindes näherstehen, eine Behauptung, welcher wir durchaus
widersprechen. Wir haben uns »überzeugt, dass seit Einführung der decimal
ge theil ten Münzen, Maße und Gewichte das anschauliche Verständnis der
Kinder für die Dezimalbruche mindestens ebensogroß ist, als für die gemeinen
Brüche, und dass daher das Rechnen mit Decimalbrttchcn ohne erhebliche
Schwierigkeiten im vierten Schuljahre durclitjetuhrt werden kann. Das dritte
Heft enthält Aufgaben über die bürgerlichen Rechnungsarten, in einem auf
das Notwendigste beschränkten Umfange. Wenn wir also auch nicht in der
Lage sind, irgend einen methodischen Fortschritt an diesem Lehrbehelfe zu
erkennen, so können wir doch zugeben, dass er dem Bedürfnisse einer drei-,
vierclassigen Landschule wol entspricht. Nur muss man sich dabei bewusst
bleiben, so zu unterrichten, wie dies auch schon vor 50 Jahren üblich war. H. E.
Rechenbuch für Mädchenschulen in 5 Heften. 40 — 88 S. Hildburg-
hausen 1890, Gadow. 25—35 Pf.
Das erste Heft unterscheidet nur die Zahlenränmc 10 und 100, in welchen
die Aufgaben nach Rechnungsarten gesondert vorkommen. Das zweite Heft
gelangt bis zum Zahlenraume 10000 und führt einfache Brüche vor. Im
dritten Hefte gelangt man bis zum unbegrenzten Zahlenraume, die Einfüh-
rung in das Rechnen mit gemeinen und Decimalbrüchen wird fortgesetzt Das
vierte Heft bringt die Bruchrechnung zum Abschluss. Das fünfte Heft
endlich enthält die bürgerlichen Rechnungsarten, einiges aus der Raumlehre
und gemischte Aufgaben.
Wir haben schon des öfteren bemerkt, dass dio Schüler außerordentlich au-
geregt werden, wenn ihr künftiger Beruf oder ihre wahrscheinliche Lebons-
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- 330 —
Stellung1 in den Kreis des Unterrichts gezogen wird: es ist also gar kein
Zweifel, dass der obigen VerlagKhancllung durch die Veröffentlichung dieses
Rechenbuches von einem ungenannten Verfasser ein glücklicher Wurf gelungen
ist. Gewiss wird es die Mädchen sehr freuen, ihre eigenen Namen, anstatt
jener der Knaben in den Textaufgaben zu lesen ; außerdem aber kann ein Rechen-
buch für Mädchen nicht anders aussehen, als ein solches für Knaben. (? D. R.)
Nur im zweiten Theil des letzten Heftes wird dieser Unterschied hervor-
ragend markirt. Dem Rechenunterrichte wird ja auch zugemnthet, die
Schiller in die tatsächlichen Verhältnisse des Vcrkehrslebens einzufahren und
dieser Aufgabe wurde aus dem Standpunkte des Mädchens im letzten Theile
Rechnung getragen. Wir finden die Aufgaben, welche sich auf weibliche
Handarbeiten und auf Hauswirtschaft beziehen; ja sogar ein auf 14 Tage aus-
gedehnter Speisezettel nebst Kostenuberschlag befindet sich abgedruckt. Fernere
Ausgaben beziehen sich auf Wäsche, Garten, Putzmacherin und Lebensversiche-
rung. Wir stehen nicht an zu erklären, dass das vorstehende Lehrmittel als
ein recht erfreulicher Fortschritt zu begrüßen ist, da dasselbe in hohem Grade
das Interesse der Schulerinnen anzuregen und damit die Arbeit zu erleichtern
und zu fordern vermag. H. E.
Ortlepps patentirte Rechenmaschine. Universal-Lehrmittel-Apparat für
Rechnen, Geometrie und Zeichenunterricht. Max Rossbach in Erfurt,
Patentinhaber und Fabrikant. Selbstverlag, 1890.
Die unter obigem Titel erschienene Druckschrift empfiehlt die genannte
Rechenmaschine auf das wärmste. Diese Rechenmaschine kommt in ihrer
Grundform der russischen Kugclrechenmaschine gleich, nur sind die Stäbe in
vertiealer Richtung verschiebbar gemacht und die Kugeln durch Würfel ersetzt.
Die Würfel sind normal oder diagonal durchbohrt im Vorrath zu halten, und
da sie auch noch verschieden bemalte Flächen haben können, so ist klar, dass
die Vorrichtung nicht blos zum Rechnen, sondern auch zum Zeichenunterrichte
verwendbar ist. Ja es lassen sich sogar die Würfel auf eine Weise ordnen,
dass sich Flächcnberechnungcn und Flächenvcrwandlungen ergeben. Der Preis
des Apparates, welcher nahe einen Quadratmeter Größe erreicht, stellt sich auf
30 — 40 Mk. Er vermag ohne Zweifel an einer Volksschule recht gute Dienste
zu leisten, was auch durch Zeugnisse von verschiedenen Seiten bestätigt wird. H. E.
Dr. Heinrich Schotten, Inhalt und Methode des planimetrischen Unterrichts,
eine vergleichende Planimetrie. 370 S. Leipzig 1890, Teubner. 6 Mk.
Der Verfasser sagt vorwortlich, dass sehr viele Lehrbücher der Geometrie
veröffentlicht werden, für deren Entstehung ausreichende Gründe zu fehlen
scheinen. Offenbar wollte jeder Verfasser etwas Besseres, als das bisher vor-
handene bieten; sehr häufig aber konnte dieser Gedanke nur bestehen und zur
Durchführung gelangen, weil der betreffende Verfasser nicht hinreichend mit
der schon vorhandenen Literatur vertraut war. Es wird gewiss jedem Fach-
genossen erwünscht sein, ehe er daran geht neue Grundsätze und Auffassung»
in einem Lehrbuche durchzuführen, darüber Aufschluss zu erhalten, ob das ihm
als neu Erscheinende nicht schon früher bekannt, ob es nicht schon kritisch
beleuchtet, oder vielleicht gar verworfen wurde. Diesem thatsächlich bestehen-
den Bedürfnisse hat der Verfasser durch die vorliegende, mühevolle und höchst
dankenswerte Arbeit abzuhelfen gesucht.
Der vorliegende erste Band des Werkes beginnt mit einem
Abschnitte
„Uber die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des planimetri-
schen Unterrichtes" ; derVerfasser vertheidigt die Sätze: I. „Der geometrische
Unterricht muss vor dem arithmetischen entschieden bevorzugt werden, weil
er die Grundlage bildet, weil er in den unteren Claasen verständlicher ist
H. Der arithmetische Unterricht beginne erst in Secunda; einzelne Theile er-
fordern nur mechanische Einübung. DX Die Methode des geometrischen Un-
terrichtes ist im Sinne der neueren Geometrie umzuformen, ohne jedoch die
Zwecke der Schule zu verleugnen. r7. Der Zeichenunterricht muss für alle
Classen obligatorisch gemacht werden, ist jedoch im systematischen Zusammen-
hange mit der Geometrie zu ertheilen, also ein rein geometrisches Zeichnen.
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Zur Unterstützung dieser seiner Meinung fährt der Verfasser eine grobe Menge
von Citaten an; dieselben füllen nahe an fünf Druckbogen und sind 44 ver-
schiedenen Schriftstellern entlehnt Unseren größten Beifall verdient wol die
Anführung über die Bedeutung der Mathematik für die Charakterbildung der
Jugend, indem sie die freie Selbsttätigkeit mehr fördert, als irgend ein an-
derer Lehrgegenstand.
Die vorstehenden Erörterungen über die Reform bestrebungen sind gleichsam
als Einleitung gesetzt Das erste Capitel des eigentlichen Werkes trägt die
Überschrift „Der Baum", welchem Unbcgrenztheit , diesfalls gleichbedeutend
mit Unendlichkeit, dann Stetigkeit und auch Gleichartigkeit zukommen. Auch
hier sind die Ausführungen des Verfassers verhältnismäßig kurz, gegenüber
der großen Menge von Citaten, welche gleichfalls einer reichen Literatur ent-
nommen sind. Unter denselben gefiel uns am besten ein Vorschlag von Erd-
in ann, anstatt des Lehrsatzes: die Winkelsummc eines Dreieckes ist gleich
zweien Rechten, lieber den Satz: Die Winkelsumrae der Vielecke ist constant,
unter dio grundlegenden Wahrheiten aufzunehmen. Das zweite Capitel
erörtert die Frage: was ist Gegenstand der Geometrie? und ist ziemlich kurz
gehalten. Im dritten Capitel mit der Überschrift „Raumgebilde" ver-
theidigt der Verfasser die Meinung, dass die Anordnung: Körper, Fläche, Linie,
Punkt die einzig berechtigte ist: der Körper als anschauliches Ding muss an
die Spitze gestellt werden, die übrigen Raumgebilde sind nicht anschaulich,
sondern Begriffe. Letzteres ist auch die Ursache, dass der Verfasser mit den
Aufstellungen von Heimholt z über zweidimensionale Geometrie sich nicht
einverstanden erklären kann, sondern einen großen Theil dieses Capitels dem
Nachweise der Hinfälligkeit der Helmholtzschen Annahmen widmet. Im
vierten Capitel „Ebene" und im fünften Capitel „Gerade" geht der
Verfasser von der Behauptung aus, dass dies a priori vorhandene Begriffe
seien, welche in dem Schüler nur geweckt zu werden brauchen. Eine Vor-
stellung a priori erinnert sehr an ein Wunder; es ist wie in der Xaturlehrc:
wenn man mit den Erklärungen zu Ende ist, so stellt die „Kraft" als Wort
zu rechter Zeit sich ein. Um dem Wunderbaren auszuweichen, wollen wir
lieber sagen: Ebene und krumme Flächen, gerade und krumme Linien sind
dadurch zu unterscheiden, dass die einen das Begrenzte in deckungsgleiche,
die anderen dasselbe in ungleiche Theile theilen. Diese Erklärung wird vom
Verfasser als von Archimcdes herrührend angeführt. Sie ist so einfach, als
es die Sache zulässt, über welche wir allerdings durch die tägliche Erfahrung
lange vorher belehrt sind, ehe in der Schule der Geometrieunterricht begonnen
hat. Ein einjähriges Kind, welches seine ersten Gehversuche unternimmt,
gewinnt schon eine Reihe von Erfahrungen über Ebene und Gerade. Es ist
aber durchaus nicht nöthig, Begriffe, welche den allereintachsteu Erfahrungen
zugänglich sind, als angeboren zu erklären. Überhaupt sind wir der Über-
zeugung, dass nur Anlagen, aber niemals Begriffe angeboren sind. Der Beweis
für das Gegentheil wurde noch nicht erbracht. — Nicht einmal den Begriff
des Ichs kann man als einen angeborenen bezeichnen; denn es kann mit voller
Berechtigung die Behauptung vertreten werden, dass dieser Begriff durch
Erfahrung gewonnen sei. Dann ist aber auch der Begriff der Richtung, als
der Beziehung zwischen mir und einem anderen außer mir, nicht mehr an-
geboren, sondern Erfahrungssache.
Des weiteren will der Verfasser von parallelen Linien nicht gesagt haben,
dass sie die gleiche Richtung haben, sondern dass sie eine ähnliche Richtung
haben. Dies ist wol mehr ein Streit um Worte, welcher wenig erheblich
scheint. Doch, meinen wir, würde die Parallelen-Theorie durch Vergleichung
einschlägiger astronomischer Verhältnisse nicht unerheblich gewinnen. Bekannt-
lich besitzen nur wenig Fixsterne eine jährliche Parallaxe, das heißt, für die
Mehrzahl der Fixsterne würde mit unseren Instrumenten betrachtet die jähr-
liche Bewegung der Erde in ihrer Bahn als ausdehnungsloser, ruhender Punkt
erscheinen. In anderer Deutung würde dieses heißen: Ein cylinderfönniges
Strahlenbüschel, dessen Grundfläche einen Durchmesser von 40 Millionen Meilen
besitzt erscheint aus der Entfernung der meisten Fixsterne wie eine gerade
Linie. Im Vergleich mit dieser Thatsachc wird man wohl zugestehen müssen,
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das; jene Parallelen, welche wir auf der Erdoberfläche zu ziehen vermögen,
nicht nur als von ähnlicher, sondern geradezu ab von gleicher Richtung be-
zeichnet werden müssen.
Es wird ferner noch angeführt, die Gerade, beziehungsweise die Ebene, könne
als der geometrische Ort aller jener Punkte erklärt werden, welche von zweien
gegebenen Punkten gleiche Entfernung haben; dies ist aber gewiss keine
einfache Erklärung, sondern eine solche, welche schon ein ziemlich vorge-
schrittenes geometrisches Vorstellungsvermögen erfordert. Dagegen die Er-
klärung der geraden Linie als der Richtung des Lichtstrahles zwar einfach
ist, aber doch gewiss nur auf Erfahrung beruht, und durchaus nicht ein syn-
thetisches Urtheil a priori genannt werden kann. Der Verfasser hätte die
synthetischen Urthcile a priori nicht wieder aus dem Grabe der Vergessenheit
hervorholen »ollen, in welches sie ja auch von der Philosophie seit mehreren
Decennien schon gelegt worden sind.*) Im übrigen ist sein Werk gewiss ein
sehr wertvoller Beitrag für die Didaktik der Geometrie, welcher in Hin-
kunft von jedem Schriftsteller auf diesem Gebiete zu rathe gezogen wer-
den muss. H. E.
Dittmar, Geschichte des deutschen Volkes in drei Bänden. Heidelberg, Winter.
Diese „Deutsche Geschiehteu wendet sich an ein anderes Publicum, als die
im Jahre 1889 erschienene deutsche Geschichte von Kftmmel, deren Eigen-
tümlichkeiten wir im „Piedugogium" seinerzeit darlegten. Sie ist noch popu-
lärer in der Fassung und stofflich nicht so reichhaltig wie jene. Ihr schlichter
Ton. ihre Klarheit in der Zeichnung der Situationen und Charaktere, du-
kräftige Hervorhebung der leitenden Idee, ihre mehr gleichmäßige Behandlung
der einzelnen Epochen unserer Geschichte wird ihr Freunde genug gewinnen,
auch das, da*s sie das culturgeschichtliche Element in breiter Weise heran-
zieht, und als einen Theil des Ganzen in die Schilderung der einzelnen Ab-
schnitte verwebt und, weil sie auch die Einflüsse fremden Lebens auf unsere
Geschichte betont, die Eigentümlichkeiten desselben des breiteren ausführt.
So — um das zuletzt Gesagte durch ein Beispiel zu veranschaulichen — er-
zählt Dittmars deutsche Geschichte bei der Darstellung des Unterganges des
Westgothenreiches auch die Entstehung des Islams, dessen Lehren und Aus-
breitung, die Organisation der arabischen Kroberungen und die Geschichte der
Omajaden-Dynastie. Der erste Band (Lief. 1—5, ä 1 Mk.) führt die Erzählung
bis zum Jahre 1256, der zweite bis 1648. Das ganze Werk, von Seite des Ver-
lages sehr hübsch Ausgestattet, wird in 15 Lieferungen abgeschlossen sein. W.
Heinze und Goette, Geschichte der deutschen Literatur von Goethe'i Tode bis
auf die Gegenwart. Dresden 1890, P. Heinze. 6 Mk.
Dieselben. Deutsche Poetik. Dresden 1891, P. Heinze. 5 Mk.
Neben den Werken eines Gottschall und eines Salomon wird auch diese
Literaturgeschichte den Weg ins Publicum finden, das ein Bedürfnis fühlt,
sich über die deutsche Literatur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit
zu orientiren. Sie behandelt an die 500 Namen der letzten 60 Jahre auf
452 Seiten, die jetzt beliebten Schriftsteller ausführlicher (Biographie, ihre
Werke, Inhalt derselben, Charakteristik und kritische Würdigung), die zahl-
reichen anderen kürzer (Name, Hauptwerk, Vorzüge und Mängel durch ein
Hei wort oder einen einzigen Satz andeutend, z. B.: „eine geistreiche, aber
etwas scharf gepfefferte Satire, die das politische und literarische Gebiet uro-
lasst. pflegt Daniel Spitzer in den bekannten Wiener Spaziergängen.
8. 391.) Um den Leser über die Massenproductionen der Literatur leichter zu
orientiren, ist dor Stoff in einer recht passenden Weise gruppirt und die be-
kannte Eintheilung nach der Heimat der Dichter aufgegeben; das Auffinden
irgend eines Namens aber durch ein Inhaltsverzeichnis leicht gemacht. Die
Darstellung ist schlicht und frei von Phrasen und Wortgeflunker, was bekannt-
lich nicht von jeder Literaturgeschichte gilt.
Ähnlich sachlich gehalten ist auch die Poetik der beiden Verfasser. Es ist
eine Beschreibung der Eigentümlichkeiten jeder einzelnen Versform und Dich-
*) Siehe Wundt, Logik, I. 460.
— 333 —
tuut^art, oft — und das ist gewiss nur inblich — an der Hand eines bestimmten
Gedichtes. Dabei begnügt sie Bich nicht mit einer Definition, sondern geht
tiefer in die Technik jeder Dichtungsart ein, sodass der Leser wirklich auf-
geklärter an die Leetüre der Dichtungen schreiten kann, vieles beachten wird,
was er sonst übersehen hätte. Auch in der Poetik ist die Einteilung eine
vielfach andere als in den üblichen Handbüchern. So thcilt das Bach die
Gedankenlyrik z. B. in Welt symboli k (8chillers Glocke, Spaziergang), Poesie
der Lebenserkenntnis (Sprüche Salomons, Lieder des Mirza Schaffy) und
prophetische Dichtung (Hamerlings Germanenzug). W.
(«oethe's Hermann und Dorothea, erläutert von Dr. A. Funke. 5. Aull.
Paderborn, Schöningu. 1 Mk.
Diese Erläuterung will ein Hilfsmittel sein zum achulmäßigen Verständnis
des im Titel genannten Werkes. Sic begleitet den Text mit Fußnoten, in
denen sie über Sachliches Auskunft gibt, sprachliche Schwierigkeiten (betreffen
sie das Lexikon oder die Grammatik) hinwegräumt, auf eigentümliche Schön-
heiten gewisser Stellen aufmerksam macht und die der Handlung oder den
Gesprächen zugrunde liegende Disposition hervorhebt, oder endlich Fragen
aufwirft, durch deren Beantwortung der Schüler bestimmte Beziehungen u. dgl.
erkennt. Es bietet das Buch sojnit all das, worauf der Lehrer bei der Er-
läuterung eines Gedichtes in den oberen Classen höherer Schulen zu achten hat.
Der Anhang bietet ihm Aufsatzthemas im Anschluss an die Lectürc (123), dann
Fragen (zumeist mit beigesetzter Lösnng) über einzelne Gesänge und über dos
ganze Gedicht (z. B. über die historische Grundlage, wobei ein lehrreicher
Hinweis auf den Stoff von Longfcllow Evangeline, über die Motive der Ände-
rungen an der Vorlage u. s. w.) W.
Otto Suternleister, Praktische Stikchule. Zürich 1890, Schul thess. 2 Mk.
Diese Stilschule ist keine Schablonarbeit, mag man nun die jeder Themen-
gruppe vorangeschickten „Winke", die Beispiele oder die Aufgaben ins
Auge fassen. Überall Originalität. Der eine oder der andere wird dies und
das Thema selbst für die oberste (.'lasse eines Gymnasiums zu hoch gegriffen
erklären, wir werden ihm nicht widersprechen; aber das wird auch uns jeder
ohne Unterschied zugeben müssen, dass auf keiner der Aufgaben jener be-
kannte fingerdicke Schulstaub liegt, dass ferner unter den Beispielen die stereo-
typen Erbstücke fehlen und dass endlich selbst der zur Erleichterung der
Gedankenfindung eingestreute Citatenschatz nicht zum hundertstemnale ab-
gedruckte Ware ist. Nur wenige Lehrer werden sich einer solchen Belesenheit
rühmen dürfen wie Sutenneister. W.
Rinne, Praktische Stillehre. 3. Aufl. Stuttgart 1891, Koch.
Derselbe, Praktiache Dispositionslehre in neuer Gestaltung und Begründung.
5. Aufl. Stuttgart 1891, Koch.
Beide Bücher sind in der Lehrerwelt seit langem als praktische Hilfsbücher
bekannt. Die praktische Stillehre gruppirt die Themen nach der Schwierigkeit
für den Schüler, gibt ihm bei jeder Gruppe Winke (Compositionsregeln), dann
ein oder das andere Musterbeispiel (viele sind eigene Arbeit Rinne's), und
endlich Themen, die nach dem Muster zu bearbeiten sind, im ganzen 1909.
Darin wird ein BeurtheUer den Schwerpunkt des Buches finden, dass Rinne
gezeigt hat, wie die schriftlichen Übungen von der ersten bis zur letzten Unter-
richtsstufe an die Leetüre angeschlossen werden können.
Die praktische Dispositionslehre hat bei ihrem ersten Erscheinen Aufsehen
gemacht. Sie gibt nämlich ein Schema, nach dem eine Abhandlung über
eine einfache, allgemeine Behauptung geschrieben werden muss und
erläutert es eingehend an Beispielen. Charakteristisch an der Methode ist die
Art, wie der Übergang von der Einleitung zum Thema („der große Übergang")
und der vom Thema zum Schluss („der kleine Übergang") bewerkstelligt wird.
Rinne verlangt nämlich, dass in denselben stets (und darin liegt ein Mangel,
Schablone) drei Momente wiederkehren: Zugeständnis, Entgegnung, Thema in
dem großen, und Zugeständnis, Entgegnung (Beschränkung), Folgerung in dem
kleinen Übergang (durch die dabei gebrauchten Conjunctionen und Partikeln
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- 334 —
etwa so ausgedrückt: „Zwar — aber." ^Unzweifelhaft — allerdings, dangen.") —
In einem Tbeile des Buches modificirt Kinne Bein Schema anch für andere
Thcmengruppen ab} die oben genannte. — Nebenbei bemerken wir, dass der
gehässige AiiHfall gegen „Cholevius (S. 5) und einen Herrn Dr. Laasu auf
8. 14 füglich wegbleiben könnte. W.
Friedrich Martin, Schalgrammatik der deutschen Sprache. 4. Aufl. Breslau, Hirt.
Martins Grammatik ist nicht für eine bestimmte deutsche Landschaft
geschrieben und nimmt dementsprechend auch nicht auf den Dialect einer
bestimmten Gegend Rücksicht, etwa zu dem Zwecke, die Schüler von ihrem
Umgangsdeutsch zum fehlerlosen Gebrauch der hochdeutschen Schriftsprache zu
erziehen; auch ist sie keine historische Grammatik, die durch Heranziehung
älterer Sprachformen das heute Geltende erklären will. Den Kernschen Re-
formen gegenüber ist sie sehr conservativ, selbst die Kernscbe Definition des
Satzes iii mint sie nicht an. Eigentümlich ist ihr ferner, dass sie nicht blos
die Ergebnisse des Unterrichtes mittheilt, sondern auch den Gang desselben
und auf die begriffliche Seite einen großen Wert legt. Beispiele bringt sie
in geringer Zahl; die Terminologie ist die lateinische, doch ist sie nicht conse-
quent festgehalten. So heißt es z. B. öfter: Ein Dingwort im Nominativ, ein
Eigenschaftswort als Attribut u. ä. Zu loben ist dagegen die Übersichtlichkeit,
die in jeder Weise, auch durch den 'Druck, durch Randtitcl, Paragraphen.
Ziffern und Buchstaben gefördert wird. W.
Shakespeare^ dramatische Werke. Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart.
Geb. 3 Mk.
Um diesen Preis, drei Mark, dürfte wohl noch niemals ein so wertvolles
Werk in so schöner Ausstattung dargeboten worden sein. Die 36 Dramen in
der Schlegel-Tieckschen Übersetzung sind in einem Großoctavbande von
942 Seiten mit gut lesbaren Lettern abgedruckt; außerdem ist dem Ganzen
ein prächtiges Porträt, ferner eine markig geschriebene Einleitung Uber
Shakespeare's Leben und eine Charakteristik seines Schaffens, sowie jedem
einzelnen Drama eine Würdigung aus der Feder des bekannten Shakespeare-
Forschers Oechelhäuser vorangeschickt. Die Shakespeare-Gesellschaft hat iu
der That mit dieser Ausgabe dem deutschen Volke ein Geschenk gemacht. — r.
Borehardt, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund. 478 S.
Leipzig, Brockhaus.
Iu jüngster Zeit sind mehrere Bücher erschienen, die den Zweck verfolgen,
die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund nach Sinn und Ur-
sprung zu erläutern und so dem Lehrer ein bequemes Hilfsmittel zu geben,
sie im deutschen Unterrichte in der mannigfachsten Weise zu verwerten. In
die Reihe dieser Schriften stellt sich auch Borcbardt, der nicht weniger als
1132 sprichwörtliche Redensarten alphabetisch nach einem Stichwort ordnet,
deutet und auf den Ursprung zurückzuführen sucht. In den meisten Fällen
ist das letztere ihm gelungen; in anderen freilich, wie dies in der Natur der
Sache hegt, kann er nur Muthmaßungen geben, die ihn mit Vorliebe auf
das Gebiet der germanischen Mythologie führen, wohin ihm kaum alle Leser
immer folgen werden. Was an seiner Sammlung aber uneingeschränkt zu
loben ist , das betrifft die Auswahl und das Heranziehen ähnlicher sinnver-
wandter Ausdrücke und Wendungen bei der Erläuterung irgend eines der
Sprichwörter oder geflügelten Worte. — r.
Petiscns, Der Olymp. 20. Aufl. Leipzig, Amelang.
Wenn ein Buch trotz zahlreicher ähnlicher Werke zwanzig Auflagen erlebt,
so muss es ein gutes Buch sein, d. h. alles und zwar in schöner Form bieten,
was ein bestimmter Leserkreis von ihm verlangt. Der Leserkreis ist hier die
sonst gar nicht leicht zu befriedigende Jugend. Sie findet in dem Buch dir
classische und germanische Mythologie schlicht und einfach erzählt, iUustrirt
durch 47 schön geschnittene Abbildungen der auf dem Höhepunkte der antiken
Kunst geschaffenen Göttertypen, ferner all jene Heldensagen, deren auch ein
jeder von uns in längst entschwundenen Tagen mit gespanntester Aufmerk-
samkeit gelauscht, endlich die Schilderung der Cultatätten und Hauptfeste,
>y Google
— 335 —
sowie die Erläuterung der Symbole der Gottheiten und die Art ihrer Dar-
stellung in der bildenden Kunst. Antikes greift mit allen Fasern in unser
Leben ein, sodass das Studium desselben keine verlorene Mühe genannt wer-
den darf. — r.
Neu erschienene Bücher.
Odo Twiehausen, Naturgeschichte I. Der naturgeschichtliche Unterricht in
ausgeführten Lectionen. Nach den neuen methodischen Grundsätzen für
Behandlung und Anordnung (Lebensgemeinschaften). I. Abtheilung, Unter-
stufe. 3. Aufl. Leipzig, Ernst Wonderlich. 248 S. 2 Mk. 80 Pf.
Georg Schneider, Der Religionsunterricht in der Schule, in Anlehnung an
die 29. Allgemeine deutsche Lehrerversammlung. Mannheim, Bensheimer.
73 S. 1 M.
Dr. Hermann Schiller, Schularbeit und Hausarbeit, Ein Vortrag. Berlin,
Weidemann. 51 S. 60 Pf.
Dr. Josef Loos, Der österreichische Gymnasiallehrplan im Lichte der Con-
centration. Wien, Alfred Hölder. 70 S. 90 kr.
A. Patnschka, Volkswirtschaftliches Lesebuch für jedermann. Nach den
Quellen bearbeitet. 2. Aufl. Gotha, Behrend. 243 S. 2 M.
Franke's Neues Stickerei-Monogramm. 312 Monogramme von AA bis ZZ
(7 cm hoch). Zürich, Orell Füssli. 3 Mk. 80 Pf.
Calmberg-Utzinger. Die Kunst der Rede. 3. Aufl. Leipzig und Zürich, Orell
Füssli & Co. (
Fitschei), Anfsatzstoffe für die Mittel- und Oberstufe mehrclassiger Volks-
schulen. 2. Heft: Beschreibungen. Hannover, Manz.
Krämer, Praktisch erprobte Musteraufsätze und Übungsstoffe. 2. Theil: Mittel-
stufe. Weinheim (Baden), Ackermann.
Martens, Deutsche Sprachübungen. 1. Heft. Hannover, Manz. 30 Pf.
Otto-Zimmermann, Anleitung, das Lesebuch als Grundlage und Mittelpunkt
eines bildenden Unterrichtes in der Muttersprache zu behandeln. 8. Aufl.
Leipzig, Amelang.
Wald, Eine Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung. Bielefeld, Helmich.
Zeynek, Lehrbuch der deutschen Stilistik und Poetik. 6. Aufl. Graz, Leuschner
& Lubansky. 2 Mk. 60 Pf.
Unterrichtsstoff für die deutsche Grammatik und Orthographie, zusammengestellt
von Lehrern der königl. Vorschule zu Berlin. 2. Theil. Berlin.
Habel.
Hans Sommert, Methodik des deutschen Sprachunterrichts. Zweite, um-
gearbeitete Auflage. Wien 1892, A.Pichlcr's Witwe & Sohn. 224 Seiten.
1 fl. 40 kr. ö. W. = 2 Mk. 80 Pf.
Adalbert Maxa, Rede-, Schreib- und Stilübungen. Ein praktisches Hnndbuch
für Lehrer. II. Abtheilung. Wien 1892, A. Pichler's Witwe *. Sohn.
159 Seiten. 1 fl. = 2 Mk.
1
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- 336 -
A. SpBttel, Zur Sprachreinigung. Eine Sammlung der gebräuchlichsten Fremd-
wörter etc. mit Bezeichnung der Aussprache und Angabe ihrer Abstammung
nebst deren Anwendung in Sätzen. München 1891, Max Kellerer's Hof-
Buch- und Kunsthandlung. 39 Seiten.
Feierstauden. Gedenkbuch für deutsche Lehrer. Zum Besten des Jütting-
Denkmals. Unter Mitwirkung hervorragender Freunde und Vertreter des
Lehrerstandes herausgegeben von C. Bademacher, Scheve, Backes, Lehrern
in Köln a. Rh. Bielefeld, A. Helmich (Hugo Anders). 183 Seiten. 2 Mk.f
geb. 3 Mk.
M. Jost, Annuaire de l'Enseignement primaire. Huitieme Anne« 1892. Paris,
Librairie Classique Armand Colin et Cie.
Wilhelm Buley und Karl Vogt, Das Turnen in der Volks- und Bürgerschule
für Knaben und Mädchen, sowie in den Unterlassen der Mittelschulen.
II. Theil. Das Turnen im sechsten, siebenten und achten Schuljahre. Zweite
verbesserte Auflage. Wien 1892, A. Pichler's Witwe & Sohn. 185 Seiten.
1 fl. ö. W. = 2 Mk.
Theodor Vernaleken, Kinder- und Huusmärchen, dem Volke treu nacherzählt.
Zweite, neu durchgesehene Auflage. Mit 6 Farbendruckbildern. 300 S.
Wien u. Leipzig 1892, Wilhelm Braumüller.
>
Vcnntwortl. Redacteur Dr. Friedrich Dittei. Buchdrockerei Juli«» Klinklurdt, Leipzig.
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Kerlog oon ^ttltilg flliiifpovot in fettig unb «erlitt W. 35.
$raftifd)c3 «efdjcutttierf für juttge «e(jrer*
3n fttofUer oermehrter unb oerbefferter Auflage ift in meinem «erläge erfdjienen:
£)\e JLefyx&uxxft.
(Ein innrer fär «Semtnarilten, junge £e!jrer unb Lehrerinnen.
Bon
©acril),
Xireftor ber 9Jtäbd>cnfd)ulc in 3nfterburg.
*reis 5 SHarf, de«, geüunbrit 6 Wart 23 *f.
Unter ben üielen für bie $anb junger fiehrer befiimmten, jum leil red)t guten SEBerlen
gitbt e3 nidjt eines, weihet Anleitung giebt, roic ben Schülern baS SerftänbniS unb bie
stenntnü? beS oorjutrogenben ©egenftanbe« praftifd) beizubringen ift. SBerfaffet ift nun bec
Meinung, jn einem frud)tbringenben Unterrichte gehöre oor aflem, baft ber 2eh«r in ber
frragefunft oollfiänbig 9Jteifter ift, unb be£t)a!b bebanbelt er biefen ©egenftanb ganj befonber*
ausführlich. Df|ne biefe SReifterfcbaft finft bec Unterricht &u einem* bloßen b^nbroerfömä&igen
beibringen oon Stenntniffen unb Tyertigfeiten herab.
Vit erfte ftuffage fjal ungemein reidjen Setfau* gefunden. -hber 100 anerfiennenbe
Safdjriften ftnb bem JferfafTer aus allen ßegenben Deutidjfanbs zugegangen , unb audj bie
Scjeufwuen tu ben päbagogirdjeu 3*if fc^riffen IjaBen Itdj faft burdjweg fef)r foöenb ausgebrüht.
3afofge ber warmen Öfmpffhfuna, auf bem große« $te6eu6ürgtfd)e* ' £eljrertage iß bas 39erR
•:i'.h ins 2lngarirdje übertragen warben.
PF" $ct3 SBerf ift burd) jebc 93ud)fjanblung *u begeben.
Soeben crfd)icn:
pie Inrforgr brr ga^rnjolltrii
für ibr 2anb unb SJolf.
Urgänjungen junt $olf§fd)ullefebud)c.
Sugleicr) ein ftilf$büd)lein für ben Unterridjt
in ber oatcrlänbifd)en OJefchichto.
bem 93ilbni$ 3r. SJcajeftät beS ftaifer*.
$rei3 geheftet 30 $f.
Xnrd) iebe $ud)l)anblung jur Anfid)t ju
begehen.
2!iefe8»üchlcin ift für ben öc}d)id)tS-
Unterricbt toie auch at3 Srgänsung ju
iebem Sefebudj beftimmt. 6ä fdjilbert
in einfacher, flarer Sprache bie ftürforge
ber fcobenjotlern um bie leibliche unb geiftige
4Sot)lfat)rt ihrer Untertanen, meldjer ©egen-
ftanb burd) ben betannten taiferlid)en ©rlafi
in ben iHorbergrunb gerüdt toorben ift.
»et beabfichtigter (Sinführung roofle man
fid) birert an bie unterzeichnete SBerlagS*
hanblung toenbeti.
£. Z dmnum tu tnffrifctfrf,
Ägt. fcof« unb SBerlagSbudjhanblung.
gür Abiturienten, SchulamtS-Äanbibaten unb
Afpiranten ber 9NttrclfrtHiUri)rtrs unb Meft«:
vaUH'nmimt empfehle bie in meinen Verlag
übergegangenen, burd) bie päbagogifd)e treffe
öielieitig beftenS empfohlenen:
foamrn-^atedrientrn.
für
Jöglinge dürrer ünttrridjtsanflalteii u. äfptranten
öfr ijHtttf Ifdjullfljrfr- beirrt- gektcratsprüfnng
oon
Dr. ftermamt C^offmciftcr.
Musik
» !*»». ii. modn.J- n.4hds.Omfrtorfn,
LieUfr, Arien etc. HOO Hrn.
alische Universal-Bibliothek.
JJede Kr. 'io Pf. Heu midirtf
IUt?rn.T«rncl.»tkh n. Dru«*, «Urke» Pupkr. — Eleetat an»
C*>UtUU Albunm 4 IM, mUirt van Rirmunn, Mm
nkaHc — CtknaAkM Inik *\Ur Kditientn. — Uum«ristia.
V«r«l. tin. gr. n.fr. T..n F»»X Siegel, Leipzig, nilrrinntr. 1
^eft 1 : 2)a« pofttioe Uöiffen in b. Religion.
2. oerb. Auflage .... SR. 2,40
„ 2: $eutfd>c Sprache unb Sitteratur „ 3,50
„ 3: pbagogit. 2. oerb. Auflage . „ 2,—
„ 4: AOgemeine Söettgefd)id)te . . „ 3,—
„ 5: 3)eutfd)e Äulturgefd)ichte . . . „ 3,—
„ ß: «ranbenb.-preui ©efchid)te . „ 2,25
„ 7: Geographie „ 3^j0
9U ©rgänjungsheft ju Jpcft 3:
^omcitiitöunD^cftölowt, alööcßrün&cr Her
»0»öfd)uJc.SBiffenfd)aftlid)bargeftcata)c.l.50.
RH beziehen burd) alle 33ud)l)anblungen, bod)
ift bie unterzeichnete SSerlag^budjhanblung gern
bereit, bei oorheriger «njahlung ober (Jinfen*
bung oon öriefmarfen (aud) cittsettte ©änbdjen !)
birett unb franfo ju überfenben.
Seipjig unb S3erlin W. 35.
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i)Dii)iii!(l|tiilf jiiiiwpiiifilic !lnil)f it !
Soeben ift erjrbieneii:
im ^iditc iicr llrntf <f|en lliitcrrirtitopfirtüifliiiiip.
3m Auftrage bc^ gefcbäfl*fül)renben ?lu$icb,uffe* be3 Xeutfrbf" S?eI)rcrDercinfi< berauägegtben
non
ca. 4 f onen §r. 8. $rriö 75 Vf. (-> tfrfcm>l. W. Ift.-.)
Diefe Slugfdjrift wirb in beu päbagogifdien Streifen ba$ größte Vtuffct>cn erregen;
für ityre ©ebiegenljcit bärgt ber Warne be$ 18erfaffer$.
©egen (iinfenbung bc$ 'Öetraged in Sricfmarfcn erfolgt franfierte 3uienbung unter
Ärou^bonb. ,
«ort in W. 86* «nfang Februar 1892.
tttmpi* n. 3uliud Atlitit&arbt.
$citulojiiitittia5Jfip|i!i,
epartgcliffl> Vehr: u. (£r$tcbtinßeanftalt für
jolcbe 10 — 16iä^r. ftnaben au$ belferen Sränben,
beren ©raieljung bem (SIternbaufe Srhroierigfeiten
bereitet u. bie beäfyalb einer befonberen Leitung
unb getuiffenfjaften iöeauffidjtigung bebürfcn.
Vt'ln ^u'l: ©ehobene ©ürgerfduile, eingefdjl. Untere
riebt in frcuijöfifdjer u. fafult. englifther Sprache.
Vorbereitung für b. mittleren u. oberen Ä [äffen
böserer Vebranftalten. $enfion$pret$ 750 9t
pr. 3<»br. i^rofpefte foftenfrei. WufnnbtnegeiurfK
an $iroftor Xrntutb.
Soeben
(Someniua nnü {eftolifli
als
Jtegrün&cr 5er #oili*ld}ufe.
©iffenf^aftiid) bargefteDt
üon
Dr. Mrnnnint {loffmctfter.
<ßreiS 1 2R. üO fcf.
Vcip;iü. ^uliu6 MliurharDt.
SetlaflgbndftanblHng.
ersctielnt :
19000
Abbildungen.
16 Bände geb. a 10 M.
oder 266 Hefte a 50 Pf.
160001
SeitenText.
Brockhaus'
Konversations -Lexikon.
_ 74. Auflage.
Pianinos vi>i> aMi Iii» 1800 Mk.
Harmoniums. ;,;uts1ehp "nd , »««ik- Ootteg^
— Ortrrln I ' vi run Mk. Mo «n.
Jh'Iunfl. At77 Fabrikate, lülutcr UwurmbaU.
Alie Vorthrilt'. llluktr. K i il • • ■<• ffrati».
Willi. I f ii<1< >1 1 »Ii in < -» i . — .« Ii.
Krösates Piaiiu.Verwinilt-tJrioli.'ltt 1» 'UtacliluinU.
Jede Buchhandlung und Postanstalt nimmt
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Allgemeine Deutsche Lebrerzeitm.
Herausgegeben von M«riU Kleinere.
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Hierzu drei Beilagen: 1. von Bleyl & Kaemmerer in Dresden. 2. von H. Bredt in Leipzig.
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' > Google
4
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- r
Paedagogium.
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
Dr. JFri<»cli*ieli I>itte*«.
UV. Mrpj.
6. Heft, März 1892.
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
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Inhalt des 6. Heftes.
Saite
Die kirchliche und die philosophische Sittenlehre. Von Director A. Goerth-
Insterburg (Schluss) 337
Arnos Comenius 362
Pädagogische Rundschau. Aua Preußen. — Aus dem Großherzogthum Baden.
— Ans Sachsen. — Die Schulzustände in Bosnien und der Hercegovina.
— Theodor Vernaleken 377
Aus der Fachpresse 401
Becensionen 405
Abonnements -Preis pro Quartal M. 2.25.
Alle Buchhandlungen und Postanstalton nehmen Bestellungen an.
H bv Goo
Die kirchliche und die philosophische Sittenlehre.
Von Director A. Gvert/i-In Sterbur g.
(Schluss.)
Die redliche Erfüllung sittlicher Pflichten gewährt uns Selbst-
achtung, edeln Stolz, Seelenruhe (die Ruhe des guten Gewissens),
innere Heiterkeit, echte Lebensfreude, Kraft und Festigkeit im Kampfe
gegen jeden Unterdrücker des guten Rechtes, gegen Angriffe der Thor-
heit und Bosheit, edeln Freiheitssinn, edeln Gemeinsinn, Mäßigkeit im
Glück, Würde im Unglück, echtes Mitleid mit jedem, der Gewalt
und Unrecht erdulden muss, und sichert uns die Achtung und Liebe
aller Guten und Edeln und eine ruhige Sterbestunde.
Es ist klar, dass eine Sittenlehre, die eine solche Gesinnung
fordert und solche Gefühle und Eigenschaften ausbildet, mit der oben
geschilderten kirchlichen Sittenlehre ihrem innersten Wesen nach im
Widerspruch stehen muss. Dort Abhängigkeit von der Kirche oder
von dem durch die Kirche ausgelegten Willen Gottes, hier die Autono-
mie der menschlichen Vernunft und die freie Selbstbestimmung des
Menschen; dort steter Hinblick auf das göttliche Gericht auf Erden
und im Jenseits, und demgemäß die stete Frage nach Gottes Beifall
oder Missfallen; hier nur der Hinblick auf das Gesetz und die Frage
nach der vernunftgemäßen Beurtheilung unseres Thuns oder Lassens
durch das eigene Gewissen. Unter diesen Verhältnissen können höch-
stens bei den beiden Lehren einzelne Gebote oder Verbote gleichen
Wortlaut haben.
Bevor wir diese Gebote selbst beleuchten, fragen wir uns: Welche
Grundsätze fordert die durch Kant begründete philosophische
Sittenlehre im Gegensatz zur kirchlichen?
Sie fordert: Frage nie nach Lohn oder Strafe auf Erden oder im
Jenseits, sondern thu' das Gute aus Achtung vor dem Gesetz, aus
Ehrfurcht vor der die Welt erhaltenden heiligen Pflicht. Thue recht
P*d*gogium. 14. Jahr*. Heft VI. 24
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— 338 —
und scheue niemand. Wenn du siehst, dass das gute Recht*) gebeugt,
das Gesetz frevelhaft verletzt wird, so lass dich weder durch die
Rücksicht auf deine eigene Behaglichkeit, auf deine irdische Glück-
seligkeit, noch durch die Furcht vor dem bösen Blick und den
Drohungen der Gewalthaber und eigensüchtigen Übelthäter von dem
sittlichen Kampfe um diese heiligen Güter zurückhalten. „Die Ehr-
wurdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuss zu schaffen; sie
besitzt ihr eigenthümliches Gesetz und ihr eigenthümliches Gericht.'*
(Kant.) Jede fremde Autorität, die statt des Gesetzes als Norm ihren
Sonder willen aufstellen und durchführen will, hat für sich keine sitt-
liche Berechtigung oder Geltung und soll unter Umstanden als gefähr-
liche Tyrannei, als verderbliches Hemmnis für die Ausbreitung und
Ausübung echter Sittlichkeit aufs äußerste bekämpft werden. „Handle
nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst,
dass sie ein allgemeines Gesetz werde".**)
Die echte philosophische Sittenlehre schließt nicht jeden Lebens-
genuss aus. „Wir sind", wie Kant sagt, „Bürger zweier Welten,
der wirklichen und der intelligibeln Welt", und darum hat das
aus der nothwendigen Selbstliebe stammende natürliche Streben nach
irdischem Glück und Wolsein neben dem idealen seine volle Berech-
tigung und soll uns durch keinen Priester der Welt verkümmert
werden.
„Freude heißt die starke Feder,
In der ewigen Natur;
Freude, Freude treibt die Bäder
In der großen Weltenuhr."
Eine freudlose, unter Sorgen, Noth und Entbehrungen, unter
Zurücksetzungen und Kränkungen aller Art verlebte Jugend lässt sich
nie verwinden; die Rückerinnerung vergällt uns das spätere Leben,
selbst wenn dasselbe glücklichere Tage und reiche Mittel zum Ge-
nuss gewährt. Dagegen zehren wir alle in unseren alten Tagen von
den glücklichen, d. b. genussreichen, frohen Stunden, die wir in der
Jugend verlebt, von den harmlosen Freuden, die wir in vergangenen
Tagen genossen haben. „Eine frohe Stunde wiegt ein Jahr von
Schmerzen auf"
*) Wer echt sittlich aus Achtung vor dem'Gesetz handeln lernen soll, muss das gute
Recht und das Gesetz als heilige Güter, mit anderen als die höchsten Güter des
Lebens anerkennen und achten.
**) Die Maxime ist das subjective Princip zu handeln, ist also der Grundsatz,
nach welchem der Mensch handelt. Der Imperativ oder das Gesetz ist die Ver-
pflichtung, nach der er handeln soll.
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339 -
Aber freilich kann das Streben nach Genuss leicht ausarten und
dem höhereu idealen leicht hinderlich werden.
•,\Venn wir zum Guten dieser Welt gelangen,
Dünkt uns dos Bessre Trug und Wahn.
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle
Erstarren in dem irdischen Gewühle/
Der Genuss soll unser Leben nur würzen, er darf nicht seine
Speise bilden. Eine übertriebene Hingabe an das Sinnenleben erschlaftt
die Seele und raubt ihr die Fähigkeit, sich dem für das ideale Streben
noth wendigen Zwange ohne Murren, ja mit Freudigkeit zu unterziehen.
Da jedes Streben nach Genuss nur die Befriedigung der eigenen
Lust, nur das eigene Glück im Auge hat, so muss es bei unmäßiger
und unweiser Erfüllung unserer Begier die edle Ehrfurcht vor dem
Heiligen und seinen idealen Forderungen schwer beeinträchtigen und
dagegen in bedenklicher Weise die Quelle alles Bösen, die Selbst-
sucht fordern.
Darum verurtheilt die Sittenlehre unbedingt jeden unmäßigen
Genuss, weil derselbe uns im Streben nach dem Ideal sittlicher und
religiöser Vollkommenheit hindert; aber Genuss als solchen sieht sie
als noth wendig und darum als vernünftig und erlaubt an und bezeich-
net jedes Streben nach Lehensfreude und irdischer Glückseligkeit,
solange dasselbe kein Gebot einer idealen Pflicht verletzt
oder der Erfüllung desselben hinderlich wird, durchaus als
gut und löblich. Die Lehre der kirchlichen Moral von dem sitt-
lichen Wert und der Nothwendigkeit der Ascese wird von der philo-
sophischen Sittenlehre verworfen. Dagegen fordert dieselbe, dass der
Mensch in Anerkennung der Gefahr, welche die übermäßige Hingabe
hd sinnlichen Genuss bereitet, um der höhern Pflicht willen seine sinn-
lichen Triebe und Neigungen in fester Zucht halten und darum un-
ablässig nach Selbsterkenntnis, nach rechter Erkenntnis seiner
Schwächen und Fehler und nach Selbstbeherrschung streben
soll. Du sollst, so lautet der Grundsatz, steine sittliche Gefühlsgrund-
lage so ausbilden, dass du im Urtheilen und im Handeln mit
dem Denken, Urtheilen und Handeln eines ideal sittlichen
Charakters übereinstimmst. Damit wirst du zugleich dein sitt-
liches Gewissen bilden, so dass jede deiner Thaten und deine
Gedanken von diesem innern Richter scharf und rücksichtslos gelobt
oder getadelt werden. Bei einer recht sorgfältigen Selbsterziehung
wirst du sittlichen Tact erlangen und schließlich dahin kommen,
nicht anders als sittlich handeln zu können; das Sittengesetz
24 *
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- 340
wird dich beherrschen wie ein Naturgesetz. Dieser Zustand
soll das Endziel deiner sittlichen Selbsterziehung bilden*).
Trotz der Verwerfung der Ascese verlangt die philosophische Sitten-
lehre, dass wir unter Umständen uro der Pflicht willen jeden Genuss,
ja alles das, was wir irdisches Glück nennen, zum Opfer bringen und
selbst das Opfer unseres Lebens nicht scheuen sollen. „Nichtswürdig
ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre." Für
das Vaterland und die Freiheit — Begriffe, die die kirchliche Sitten-
lehre gar nicht kennt — hat schon mancher wackre Mann freudig
sein Herzblut vergossen; andere haben für ähnliche hohe sittliche Ideen
freudig ihr Vermögen, ihre Ruhe und ihre Gesundheit geopfert. „Die
Tugend ist kein leerer Wahn."
Da zu solchem Thun ein hoher Grad von Selbstbeherrschung und
ein starker sittlicher Wille gehört, so fordert die ernste Sittenlehre,
dass wir uns von frühester Jugend an in strenger Selbst-
beherrschung üben und darin keine Nachsicht gestatten
sollen. Das Naturgesetz lehrt, dass rückwärts kommt, wer nicht
vorwärts geht; dass man der Sclave seiner Triebe und Begierden
werden muss, wenn man sie nicht zu bändigen versteht. Das Bän-
digen kann nicht früh genug begonnen werden**). Freilich
scheinen manche Menschen, wenn sie nach wüst und wild verlebter
Jugend zur Besinnung gekommen sind, diese Behauptung zu wider-
legen. Sie leben vielleicht Jahrzehnte hindurch als gesetzte, scheinbar
recht sittliche Bürger und Bürgerinnen und meinen jenes Naturgesetzes
spotten zu dürfen. Irret euch nicht! Diese Menschen sind ihres
Willens nie sicher. Die wüsten Begierden ihrer wilden Jugend-
zeit können plötzlich wieder erwachen und sie entsetzlich unterjochen.
Dann hilft keine Warnung, kein Gedanke an den einst heiß geliebten
Mann, an das einst heiß geliebte Weib, an die geliebten Kinder;
keine mahnende Vorstellung von Ehre und Liebe der Mitmenschen.
Alles, alles wird der neu erwachten verzehrenden Leidenschaft zum
Opfer gebracht. Der scheinbar ausgetriebene Teufel ist zurückgekehrt
und „hat sieben unreine Geister mitgebracht*. Wer nicht in seiner
Jugendzeit gelernt hat, das wilde Herz zu zähmen, vergiftet sein
*) Der vortreffliche Arzt, Professor Dr. Heim in Berlin, überall „der alte
Heini" genannt, pflegte in Fällen, da ihm seine Pflicht sehr schwer wurde, zu
sagen: „Ich möchte gern anders handeln, wenn nur dag dumme Gewissen
nicht wäre."
*♦) Wir werden später bei Beleuchtung der Erziehung kleiner Kinder (unter
4 Jahren) zu unbedingtem Gehorsam darauf zurückkommen.
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innerstes Leben und mnss nur zu oft das entsetzlich traurige, erschüt-
ternde Wort sprechen: Es ist zu spät!"
«And thua, untaught in youth my heart to tatue,
My Springs of life were poison'd. Tis too latc!u (Byron.)
Darum warnt diese ernste Sittenlehre den Jüngling, von der
Meinung abzustellen, dass ein gelegentliches Sündigen, eine gewisse
Nachsicht gegen unsere Schwächen bei den schwereren sittlichen Pflich-
ten oder argen Verlockungen und Versuchungen in der Jugendzeit
nicht viel schaden werde. Man ist in dieser Zeit nur zu sehr geneigt
sich zu entschuldigen und sich wol gar darauf zu berufen, dass
Genialität ein „Austoben" nothwendig mache, dass es genug geniale
Menschen gegeben, die bei einem wahrlich nicht streng sittlichen
Leben doch Hervorragendes, ja Großes geleistet haben und sogar von
der Nachwelt bewundert und gepriesen werden. Bei der Sittlichkeit
kommen die Werke des schaffenden Geistes nicht in Betracht, sondern
nur das Gemüth und die Gesinnung. Man halte daran fest, dass
Nachsicht und Feigheit im sittlichen Kampfe wie in jedem andern
nur Schaden bringen und den Sieg vereiteln; dass sie den sittlichen
Ernst der Gesinnung beeinträchtigen und den Willen zum Guten
schwächen müssen. Dies Naturgesetz gilt für alle Menschen,
auch für die genialen, höchst begabten und wird sich nie
ändern.
Die strenge philosophische Sittenlehre hat bei ibren Forderungen
nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch die Gemeinschaft
aller im Auge und schreibt demgemäß sehr ernste Pflichten vor.
Christus hat dieselben durch den schönen Grundsatz ausgedrückt:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Die rechte Betrach-
tung der Folgen, die uns nothwendigerweise aus unserer Selbstbeherr-
schung erwachsen müssen, zeigt, dass diese sittliche Kraft auch
um unserer Mitmenschen willen nöthig ist. Die wolthätigen
Folgen einer echt sittlichen Handlungsweise erstrecken sich nicht nur
auf unsere nächsten Angehörigen oder Mitbürger, sondern auf alle
Menschen ohne Unterschied. Sie tragen dazu bei, den Bau der sitt-
lichen Welt zusammenzuhalten und auf Erden das Reich des
Friedens und der Liebe gründen zu helfen.
Im Hinblick auf diese Pflicht der Nächstenliebe verlangt die
philosophische Sittenlehre von jedem Menschen Gemeinsinn, bereit-
willige Hilfe allen, die unrecht erdulden müssen, — „Hilfe, wo
die Unschuld weint*)" — von Unterdrückern des Rechts bedrängt oder
*) Das Mitleid mit den Kranken und den Armen, die unverschuldet nicht
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verfolgt werden; Treue (Treue gegenüber dem gegebenen Worte,
der ehrlichen Überzeugung, seinem Glauben, den Freunden, dem Gatten,
dem Fürsten, dem Vaterlande), Achtung des fremden Rechts,
Redlichkeit und Billigkeit in Handel und Wandel, Achtung
vor der fremden auf festem Glauben beruhenden Überzeugung
und vor jeder sittlich berechtigten Persönlichkeit, gleichviel
welchem Stande und Berufe sie angehöre, welche Stellung sie im
Leben einnehmen möge; Wahrhaftigkeit — „Wahrheit gegen
Freund und Feind" — , Wahrheitsmuth d.h. den Muth, seine Gesin-
nung offen zu zeigen, jedem, der unrecht thut, möge er noch so hoch
stehen, die Wahrheit zu sagen und ebenso offen die eigene Schuld zu
bekennen (edlen Freimuth), und endlich Milde und Versöhnlich-
keit, Überwindung der Leidenschaft des Hasses, Austilgung aller
Rachegelüste (Rache ist stets unedel und unsittlich) und echte Toleranz,
d. h. die achtungsvolle Anerkennung, dass jede fremde Überzengung,
welche des Menschen Denken und Handeln als Pflicht regelt, neben
der unserigen völlig gleiche Berechtigung habe. Diese Forderung
bezieht sich nicht allein auf die verschiedenen religiösen Überzeugungen,
sondern gilt auch für die beiden großen sittlichen Gebiete, für das
politische und das sociale.
Zugleich mit diesen Forderungen stellt diese strenge Sittenlehre
an uns das Verlangen, die diesen Grundsätzen entgegenstehenden
Grundsätze, Ansichten und Bestrebungen der Selbstsucht zu
verachten und dieselben mit Aufbietung aller Kräfte zu be-
kämpfen.*) Es ist durchaus unrecht, bei solchen Kämpfen sich feig
durch Menschen, sondern durch das Schicksal ins Elend geraten, ist eine
fromme Pflicht, gehört ins Gebiet der Religion.
*) Herrliche Schilderungen solcher Kämpfe und verschiedener Menschen, die
durch einzelne jener sittlichen Tugenden hervorleuchten, geben uns jene volkstüm-
lichen Epen, welche aus alten im Volke geschaffenen und vielfach gesungenen
einzelnen Heldenliedern, Balladen oder Romanzen zusammengestellt worden sind,
wie das Nibelungenlied, das Gudrunlied, das Waltharilied, der „Cid". (S. Herders „Cid".)
Wie herrlich bekunden die Helden und Heldinnen in jenen die verschiedenen hoch-
sittlichen Forderungen der deutschen Treue; wie herrlich zeigt der spanische Volks-
held neben der heldenmüthigen Tapferkeit cdcln Freimuth, Wahrheitsmuth, „Männer-
stolz vor Königsthronen", Treue und Vaterlandsliebe, selbst bei dem schnödesten Un-
dank, dessen sein König sich ihm gegenüber schuldig macht! Als der König Don
Sancho seine Schwester üraka ihres Erbtheils berauben will und dem Cid befiehlt,
ihm dazu behilflich zu sein, folgt der Held dem Befehl der höhern sittlichen Pflicht,
die Unschuld zu beschützen und geht ruhig in die darob über ihn verhängte Verban-
nung. Als allo Reichsbarone sich fürchten, dem neuen Könige Alfbnso den vom
oy Goq§le
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zurückzuziehen oder unthätig zuzuschauen. Das Gesetz des weisen
Solon, dass im Staate jeder Partei ergreifen solle, gilt für
alle Zeiten und für alle diese Kämpfe als weise und sittliche Forderung.
Die Erhabenheit einer solchen Sittlichkeit und solch einer Sitten-
lehre zeigt sich namentlich darin, dass sie diese Forderungen auf-
stellen, ohne dafür irgend einen Ersatz zu bieten oder zu ver-
heißen, dass Menschen, welche diese schweren Forderungen erfüllen,
dabei ;nur an ihre Menschenwürde denken, diese Opfer nur bringen,
um vor sich selber zu bestehen. Diese Sittenlehre kennt bei allen
ihren Forderungen nur das eine erhabene Wort: J)u sollst!
Wenn der Jünger im Hinblick auf die süßen Freuden der verbotenen
Genüsse zweifelnd ausruft: „Warum soll ich diesen Genuss, dies süße
Glück meiden, warum darf ich mich nicht den zwar leichtsinnigen
aber so lustigen Genussmenschen anschließen?", so ertönt statt jeder
Begründung nur dies eine erhabene Wort: Du sollst! Du bist
ein Mensch und hast als Vorzug vor den Thieren, als eigenthümliche,
specifisch menschliche Begabung die Kraft erhalten, diesen Befehl als
einen unbedingten zu fühlen. Darum lebe und strebe wie ein Mensch
und erhebe dich mit jeder Besiegung deiner Gelüste über das Thier
und thierische Triebe und Bedürfhisse. Versuche es nur, dich redlich
zu bemühen und Selbstbeherrschung zu erlangen, so wird dir allmäh-
lich klar werden, was der weise Kant sagt: „Zwei Dinge erfüllen
das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung: der
gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."
Du wirst allmählich die Wahrheit des Wortes erkennen:
„Dass wir Menschen nur sind, der Gedanke beuge das Haupt dir;
Doch, dass Menschen wir sind, richte dich freudig empor."
Willst du auf das heilige Sittengesetz nicht hören und deinen
Lüsten fröhnen, so lebe wie ein Thier! Du wirst dafür nicht mit der
göttlichen Strafe im Jenseits, nicht mit den Qualen in Fegefeuer und
Hölle bedroht. Wir weisen nur daraufhin, dass die Folgen deiner
Handlungsweise mit der Nothwendigkeit von Naturgesetzen
sich einstellen müssen und sich einstellen werden. Es gibt
für dich einen Himmel und eine Hölle hier auf Erden. Dir ist die
Harmlosigkeit versagt, mit der das Thier alle seine Triebe befriedigt.
Du weißt was gut und böse ist, was du sollst und was du
Reichstage geforderten Reinigungseid abzunehmen, unterzieht er sich dieser wich-
tigen Aufgabe, obwol er weiß, dass der stolze Gebieter ihn deswegen hassen und
verfolgen wird. Man möge die Jugend über diese Thaten und Grundsätze recht
aufklären, damit sie dieselben sich zum Muster nehme.
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nicht sollst. Du hast ein Gewissen3") und musst seine Stimme
hören, magst du immerhin dich bemühen, sie zu unterdrucken oder
dich dagegen zu betäuben. Darum bleiben dir die Vorwurfe des
bösen Gewissens nicht erspart, und dieselben können unter Umstän-
den zu entsetzlichen, nie aufhörenden Qualen werden. Auf die köst-
liehe Ruhe und stille Seligkeit des guten Gewissens, auf edles Selbst-
bewusstsein, edeln Stolz, auf echte Menschenwürde musst du dann
verzichten. Wenn du dich zum Sclaven deiner Lüste erniedrigst, so
machst du dich naturgemäß zum Sclaven aller, die in selbst-
süchtiger Herrschbegier oder aus anderen schlechten Beweg-
gründen die Fehler und Schwächen ihrer Mitmenschen aus-
zubeuten pflegen. Sei gewiss, dass du dieser Sklaverei nie ent-
rinnen kannst, so schwer die Fesseln dich auch drücken mögen. Du
wirst ohne sittliche Selbstbeherrschung auch nie die köstliche innere
Heiterkeit, die rechte Lebensfrische und Lebensfreude erlangen, die
uns Menschen bei schweren Unglücksfällen, in den schwierigsten
Lebenslagen aufrecht erhält**). Du wirst infolge der inneren Unruhe
*) Gewissen ist das Wissen um den sittlichen Wert und die Bedeu-
tung unseresThuns und Lassens, unserer sittlichen oder unsittlichen Handlungs-
weise. Man kann es daher „den innern Richter" nennen. Es ist eine Seelen-
thätigkeit, bei der unser sittliches Verhalten klar, begrifflich durchdacht
wird. Die Warnung, welche der Mensch vor der That, die Reue und Angst, resp.
die Freude, welche er nach derselben fühlt, haben mit diesem Gewissen
eigentlich nichts zu schaffen. Da sie dasselbe aber begleiten und von seinem
Richterspruche unzertrennlich sind, so spricht man von einem guten und einem
bösen Gewissen und sagt, dass das letztere den Übeltbätcr „schlage" oder peinige.
Es ist besser, zu sagen, dass diese Qualen von der Seele oder vom Gemüthe aus-
gehen. Das Gewissen rauss durch Aneignung klarer Begriffe und durch Übung im
Fühlen und Durchdenken sittlicher Gesetze und Thaten in ähnlicher Weise wie
das Kunsturtheil gebildet werden.
**) Eine herrliche, herzerfrischende, sittlich denkende und strebende Natur hat
Dickens in seinem Roman „Martin Chuzzlewits Leben und Schicksale"
gezeichnet. Der ehrliche wackere Hausknecht und Kellner Mark Tapley besitzt
eine so köstliche Lebensfrische, dass er meint, in glücklichen, geordneten, guten Ver-
hältnissen, bei denen ihm das Leben leicht wird, nicht genug Ehre erwerben zu
können. „Jedermann kann heiter und guter Dinge sein", sagt er, „wenn er gut
gokleidet ist. Wenn ich recht zerlumpt und doch recht lustig wäre, so würde ich
glauben, mir darauf etwas zu gute thun zu dürfen." „Wenn man als Totengräber
oder als Leichenbestatter oder bei einer Lungenentzündung vergnügt wäre, so
würde dabei wenigstens Ehre zu erholen sein." Diese köstliche auf echter Sittlich-
keit beruhende Lcbensfrischo erhält ihn in allen Lagen nicht nur aufrecht, sondern
zugleich stete heiter. Als es ihm und seinem Herrn Martin in Amerika so schlecht
geht, dass sie in der That Ursache zum Verzagen haben, so sagt Mark zu sich selbst :
„Nun, Meister Tapley, gib acht! Die Dinge sehen ungefähr so schlecht aus, wie sie
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„von Begierde zum Genuss taumeln, und im Genuss vor Begierde
verschmachten1*, bis du zuletzt erkennen musst, „dass der Zauberbecher
des Lebens nur am Rande glänzt, dass für den gierigen Trinker unten
wermutbittere Hefe liegt." (Byrons „Childe Harold's Pilgrimage:
Life's enchanted cup but sparkies near the brim. His had been quafFd
too quickly. and he found The dregs were wormwood. (Canto III.)
Versuche es dann mit dem Priester, kaufe dir Ablasszettel, lass dich
mit Verheißungen trösten: wir können dir nur sagen, dass alle Trö-
stungen der Religion und alle religiösen Übungen dir jene kostbaren
Güter nicht geben werden*). Das Walten der ehernen Naturgesetze
vermag niemand zu ändern.
Du musst bei einer solchen Verachtung der sittlichen Pflicht der
Selbstbeherrschung auch auf die rechte Achtung und Liebe unter
deinen Mitmenschen verzichten. Freilich hat der, „welcher irrt,
gar viele Gespielen"; aber wehe dem, der auf solche Freunde baut,
oder von ihnen Achtung, Liebe und Gegendienste erwartet. Wahre
Freunde hat nur der sittlich Strebende, der Redliche.
Die Achtung und Liebe der Mitmenschen zeigt sich am klarsten
bei der durch größere Gemeinschaften vollzogenen Wahl der Tüchtigen,
Tapferen, Leistungsfähigen, welche ein Vertrauensamt, eine wichtige
oder hervorragende Stelle einnehmen, oder im Kampfe um die heilig-
sten Güter des Lebens als Führer dienen sollen. Meinst du, dass
man dich Schwächling, dich leichtsinnigen, lüsternen Genussmenschen
zu solch einer Stellung, zu solcher Führerschaft für würdig erachten,
mit Vertrauen beehren wird? Vielleicht wählen dich jene Menschen,
welche gefügige Werkzeuge brauchen, um ihre Ideen gewaltsam zur
Geltung zu bringen, oder um gewissenlose, im Grunde verbrecherische
Plane ausführen zu können. Du kannst durch sie wo! zu Belohnungen,
ja zu einer einträglichen, wol gar hohen Stellung und zu äußerlich
auasehen können, junger Mann. Du wirst, so lange du lebst, keine andere derar-
tige Gelegenheit finden, deinen Humor zn zeigen, mein feiner Bursche. Und des-
halb, Tapley, ist jetzt deine Zeit da, dich als Mann zu erweisen oder nie." Und
er bleibt unverzagt und rettet sich und seinen Herrn.
*) Maria Stuart: Frisch blutend steigt die längst vergebne Schuld
Aus ihrem leichtbedeckten Grab empor.
Des Gatten racheforderndes Gespenst
Schickt keines Messedieners Glocke, kein
Hochwürdiges in Priesters Hand zur Gruft. (Act I Sc. 4.)
Dies gilt nicht blos für den Mord, sondern auch für andere Versündigungen.
Man vermag nie, sie auszustreichen. Wir erinnern an die Sage von dem „Skelet
im Hause".
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ehrenden Auszeichnungen gelangen; aber diese Menschen verachten
dich als ihren bezahlten Sclaven, als ihren Hatzhund*) und stoßen
dich mit dem Fuße, sobald sie deiner nicht mehr bedürfen oder den
lästigen Mitwisser und Helfershelfer entfernen wollen.
Die Folgen unsittlichen Thuns, leichtsinniger oder frevelhafter
Vernachlässigung oder Verhöhnung des Sittengesetzes, die den eher-
nen Naturgesetzen gemäß unabwendbar sich einstellen, enthalten eine
Nemesis, die bisher viel zu wenig beachtet worden ist Sie zeigt
sich am deutlichsten gerade bei den fein organisirten, hochbegabten
Menschen; denn diese haben bei ihren gewaltig drängenden und
stürmenden Trieben zugleich sehr feine Empfindungen und demgemäß
die Anlagen zu einem feinen Gemüth und feiner Unterscheidung für
Gut und Böse, Recht und Unrecht. Daraus erwächst so vielen der
Größten und Gewaltigsten die tiefe Tragik ihres Lebens**). Wir
haben diese Nemesis bereits vorhin durch die Darstellung einzelner
Folgen, die aus der leichtsinnigen Hingabe an die Sinnenlust erwach-
sen, in einzelnen Zügen angedeutet. Diese Züge lassen sich leicht
vermehren, und sie rechtfertigen vollkommen Goethe's Wort: „Alle
Schuld rächt sich auf Erden."
Freilich hört man von verschiedenen Seiten, namentlich von den
Anhängern der kirchlichen Sittenlehre behaupten, dass diese Nemesis
auf Erden fehle, dass der freche und aalglatte Schurke ungestraft
bleibe, dass die Unschuld leiden müsse, Ungerechtigkeit und Bosheit
nur zu oft triumphiren, und dass es darum notwendig sei, an das
alles Unrecht ausgleichende Strafgericht Gottes im Jenseits zu glauben.
Aber dies ist eine von jenen Behauptungen, die sich von Jahrhundert
zu Jahrhundert fortschleppen, wie Dogmen, wie Axiome prüfungslos
angenommen und gedankenlos nachgesprochen werden.
Das Wort des weisen Goethe ist wahr. Die philosophische Sitten-
*) Füret Bismarck soll in Bezug auf einen früher sehr hoch gestellten Mann in
offener Verachtung seiner Sclavcndienste gesagt haben: „Er ist ein guter Hund;
aber auf Befehl schwimmt er selbst durch die ärgste Pfütze.,<
*♦) Wer im Leben selbst nicht Gelegenheit hat, diese Wahrheit aus eigenen
Beobachtungen zu schöpfen, der studire Shakespeare's und namentlich unseres Schiller
großartige, wunderbar tief und schön angelegte und kunstvoll ausgeführte Tragödien.
Leider hat die Nation sich gegenwärtig von ihrem edelsten und erhabensten Dichter,
ihrem einstmaligen Lieblinge, in bedenklicher Weise abgekehrt. Dem gebildeten
Strebervolk unserer Tage, dessen selbstsüchtige Grundsätze bereits in die Schulen
eingedrungen zu sein scheinen, ist der große Dichter zu ernst und zu streng sitt-
lich. Seine Tragödien werden nicht mehr studiert. Man paukt lieber Literator-
geschichte!
■ I tu
le
I
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lehre weist den Glauben an Gottes Richteramt und Straf-
gericht im Jenseits in der Erkenntnis zurück, dass eine
Nemesis auf Erden existirt; dass dieselbe in den notwendigen
auf Naturgesetzen beruhenden Folgen unserer sittlichen oder unsitt-
lichen Handlungsweise begründet ist, und dass die tiefere Erkennt-
nis derselben ein ruhiges unverfälschtes Rechtsgefühl voll-
kommen befriedigen könne. Sie lässt bei dieser Zurückweisung
den Glauben an Gottes Liebe und Vatergüte, an sein Erbarmen und
seinen himmlischen Trost unangetastet; aber derselbe wird nur denen
zutheil, die unschuldig unter den Schlägen des Schicksals oder
unter menschlicher Thorheit und Verworfenheit zu leiden
haben, nicht denen, welche sich durch unsittliches Thun oder Thor-
heit und mangelhaften Gebrauch der ihnen verliehenen Gaben ihr
Schicksal selbst bereiten. Diese Lehre ist die Consequenz jener
oben erörterten Grundansicht, dass alle sittlichen Gesetze lediglich
aus der menschlichen Vernunft stammen, und der Urgrund unserer
Verbindlichkeit, sie zu befolgen, nicht in Gott, sondern in der Auto-
nomie der menschlichen Vernunft zu suchen sei.
Diese Lehre könnte für die Menschheit wahrhaft befreiend und
erlösend wirken; denn sie führt bei echter Anwendung zu erhöhter
Selbsterkenntnis und zum sorgfältigeren Gebrauch unserer Vernunft und
der anderen seelischen Gaben. Aber in dieser Forderung, sich selber
besser zu erkennen und die Schuld für unser Leiden, für Unglück
und das Misslingen verschiedener Pläne zunächst in uns selbst zu
suchen, liegt leider ein bedenklich großes Hemmnis für ihre allseitige
Annahme. Niemand will schuldig sein; jeder sucht Vorwürfe und
Schuld auf den anderen zu schieben, „der letzte auf den Teufel, der
Teufel auf seine Großmutter. w Niemand vermag ruhig selbst gerech-
ten Tadel zu ertragen. Gründe zur Entschuldigung sind stets bei der
Hand, sind „wohlfeil wie Brombeeren" und werden dem strafenden
Gewissen gegenüber nur zu leicht aufgefunden. Wahrhafte Reue, die
nur bei aufrichtigem Bekenntnis der eigenen Schuld möglich ist, wird
in der Welt nicht oft angetroffen. Darum suchen die Menschen nur
zu leicht für ihre eigenen Thorheiten und selbstverschuldeten Leiden
die Mitmenschen verantwortlich zu machen, klagen über mangelhafte
Gerechtigkeit auf Erden, über ihr trauriges Schicksal und fordern
von Gott dem Herrn, dass er das Richteramt ausüben und das not-
wendige Strafgericht vollziehen solle. Die leichtsinnige, träge und
vergnügungssüchtige Mutter klagt „Gottesklage" über ihre verwahr-
losten, undankbaren Kinder und fordert sie vor Gottes Richterthron.
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Ihr presst der Kummer über die Verluste an Hab' und Gut, an Ehre
und Liebe, die sie durch die Kinder erlitten hat, jene Klagen aus.
Es kommt ihr nicht in den Sinn, diesen Kummer als die gerechte
Nemesis, als die Folge ihres schlechten Beispiels, ihrer frevelhaften
Nachlässigkeit bei der Erziehung der Kinder anzusehen. Der fromm
gewordene Vater verstößt den ungeratenen Sohn und droht ihm mit
Gottes Strafgericht. Er vergisst dabei, dass er in seinem geistlichen
Hochmuth die Fehler des Knaben stets übersehen und ihn durch un-
vernünftiges Überbürden mit Bet- und Andachtsübungen zum Frevler
oder zum Heuchler erzogen hat. Eigennützige Feiglinge pflegen sich
um das Unrecht, das tyrannische Gewalthaber ihren Mitmenschen zu-
fügen, gar nicht zu bekümmern. AVenn das Unrecht so arg wird, dass
sie trotz ihrer Gefügigkeit und kriechenden Demuth selbst zu leiden
haben, sind sie gewöhnlich die ärgsten Schreier, klagen über „himmel-
schreiende" Ungerechtigkeit und seufzen über das trostlose Erden-
leben, in dem der Gerechte am meisten leiden müsse.
Man könnte ähnliche Fälle mit Leichtigkeit in großer Zahl an-
führen; aber dies Gesagte wird 'genügen, um das Wort des weisen
Goethe zu rechtfertigen. Man möge nur wirkliche Schickungen
von eigentlichen Verschuldungen trennen und Schuld oder Unschuld
sorgfältig abwägen. Die Nemesis zeigt sich oft in überraschender
und verwunderlicher Weise, und es ist wahrlich nicht nöthig, seine
Zuflucht zu den vielen Fabeln zu nehmen, welche von Dichter-
lingen und Anhängern der kirchlichen Moral erfunden sind, um den
Menschen das Walten des göttlichen Strafgerichts auf Erden zu
Gemüthe zu führen. Die ganz natürlichen Folgen frevelhaften Thuns
sind für den klar sehenden Denker so überzeugend, dass er zur Be-
friedigung seines Rechtsgefühls eines überirdischen Richters gar nicht
bedarf*). Es hat sich schon oft genug zugetragen, dass vornehme
Schurken in wahnsinnige Frömmelei oder in Tobsucht verfielen, dass
Gauner sich aus Wuth über einen verfehlten oder verabsäumten Betrug
selbst entleibten, dass geizige Betrüger durch Verluste in Wahnsinn
geriethen und mitten im Reichthum zu verhungern fürchteten, dass
böse, hinterlistige Verfolger sich in ihren eigenen Schlingen fingen.
Der ehrgeizige und gewissenlose Streber wird durch die Qualen,
*) Eine Seite des großen erziehlichen Wertes, der in den herrlichen erzahlea-
den Gedichten (Romanzen, Balladen) unseren großen Schüler liegt, beruht darauf,
dass der klar denkende philosophische Dichter überall bemüht ist, die Nemesis
auf das Walten von Naturgesetzen zurückzuführen. (Kraniche des Ibikus,
Gang nach dem Eisenhammer etc.)
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welche Neid und Ehrgeiz verursachen, oft in erschrecklicher Weise
gemartert, und wie gar oft vollzieht sich die Nemesis durch die
Kinder, die durch das väterliche Beispiel in Worten und Thaten er-
zogen werden! Es dürfte bekannt sein, wie schwer so viele an den
Folgen einer wüst und wild durchlebten Jugendzeit zu leiden haben;
welche Qualen ihnen täglich durch den Anblick ihrer armseligen, ver-
krüppelten leidenden Kinder erwachsen, deren Gesundheit durch jenes
Sündenleben schon im Keime verdorben worden*). Man vergesse doch
nicht die furchtbare Nemesis, die sich in den schlaflosen Nächten, in
den wüsten Träumen, in den wilden Phantasiegebilden zeigt, die
mit ihren Vorwürfen und Martern immer wiederkehren. „Der Teufel
ist die Reue" (Reue hier = Schuldbewusstsein) sagt ein moderner
Dichter. Sie ist zugleich Fegefeuer und Hölle.
Die Lehre von dem göttlichen Strafgericht wird von den An-
hängern der kirclilichen Sittenlehre aufrecht erhalten, weil sie ihrer
Meinung nach nothwendig ist, um die Bösen vom Sündigen abzu-
schrecken. Diese Absicht wird von der philosophischen Sittenlehre
verworfen, weil ein Unterlassen böser Pläne aus sclavischer Furcht
vor Strafe den Menschen nicht bessern kann. Sie sieht den wahren
Fortschritt zum Bessern in der vernunftgemäßen Erziehung
der Kinder, in der rechten Ausbildung von Verstand und Vernunft
und eines kräftigen Willens zum Guten; denn sie meint, dass die
Menschen durch klare Einsicht in die naturnothwendigen, unausbleib-
lichen Folgen ihres Thuns und Lassens am sichersten und wirksam-
sten zur Besinnung und zur Selbstbeherrschung gebracht werden können.
*) Beim Anblicke der oft so entsetzlichen Leiden dieser unschuldigen Wtlrm-
chen und des unheilbaren Siechthuras ihrer späteren Lebensjahre tritt der schöne
Glanbe an Gottes Vatergüte und an seine versöhnende und ausgleichende Liebe in
seine Rechte. Die Lehre, ndass Gott die Sünden der Väter heimsuchet an den
Kindern bis ins dritte und vierte Glied" entspricht nicht dem milden Geiste
unsres Religionsstifters, gehört nicht zu seiner schönen „Religion der Liebe."
Der große edle Luther hat nicht recht gethan, diese finstere Anschauung des Mittel-
alters zu übernehmen und durch sein Ansehen zu erhalten. Unser Gott, wie
Christus ihn gelehrt hat, ist nicht der alte finstere, zornige, rachsüchtige Stammes-
gott der Juden, sondern der liebende Vater aller Menschen. Jene finstere Lehre
entspricht weder der Vernunft noch den neueren Forschungen der Wissenschaft.
Durch Vernunftgründe lässt sich's nicht rechtfertigen, dass die nachgeborenen un-
schuldigen Generationen für die Sunden der Voreltern leiden sollen. Die Wissen-
schaft beweist, dass zum Verbrecher oder Sünder niemand geboren wird.
Eingeboren ist nur der Trieb zum Leben, der Hunger, der Geschlechtstrieb, die ideale
Liebe und der auf ihr beruhende „kategorische Imperativ". Alle Eigenschaften,
die sich im Laufe der Zeit entwickeln, sind Productc der Erziehung.
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Sie weist darauf hin, dass durch Religionslehren und fromme Übungen
noch niemand sittlicher und besser geworden ist.
Eine vorurtheilsfreie Erwägung der Gründe, durch welche die
meisten Menschen bewogen werden, an Gottes Strafgericht zu appe-
liren, und dasselbe herbeizuwünschen, uiuss es jedem klar machen,
dass dies Verlangen in den meisten Fällen auf sehr unlautere
Regungen, auf Neid, Hass und Rachegelüste zurückzuführen
ist. Die Erziehung ist leider eine so mangelhafte, dass diese Regungen
bei den meisten Männern und selbst bei der Mehrzahl der Frauen
sich zu einer bedenklichen Stärke entwickeln, nur zu oft, namentlich
bei heftigen (cholerischen) Naturen den Charakter der Leidenschaft
annehmen und das Gemüth selbst bei kleinlichen Anlässen in Afiect
zu setzen vermögen. Wer sclavisch erzogen wird, muss ein Tyrann
werden, sobald er irgendwie zur Macht gelangt. Der beständig zurück-
gesetzte, geschlagene, gestoßene, brutal behandelte Junge wird ein
brutaler, rachsüchtiger roher Wütherich, sobald die Körperkraft ihn in
den Stand setzt, seine Gelüste an Schwächeren auszulassen. Der Mensch,
welcher nie an Gehorsam gewöhnt worden, wird eigensinnig, herrsch-
süchtig, gewaltthätig und damit neidisch und rachsüchtig und voller
Hass gegen alle, die seinem selbstsüchtigen Willen entgegentreten.
Bei edieren Naturen wird durch ungerechte tyrannische Behandlung
der finstere Geist tückischer Widersetzlichkeit, wilden und starren
Trotzes und Hasses und unversöhnlicher Rache erzogen. Diese leiden-
schaftlichen Regungen beeinflussen gewöhnlich bei Beurtheilung frem-
der Thaten unser Rechtsgefühl und bringen ein zu heftiges, oft ein
leidenschaftliches Verlangen nach Bestrafung der Schuldigen, nach
Sühne hervor. In solchen Stimmungen muss die hier auf Erden wal-
tende Nemesis selbstverständlich zu gering erscheinen. Gewöhnlich
wird sie gar nicht beachtet, oft geradezu bestritten, oder als ganz un-
zureichend betrachtet, weil sie jene leidenschaftlichen Regungen nicht
befriedigen kann. Was die schlechte Erziehung angebahnt hat, wird
bei gar vielen durch die auf Spannung und jene niedere Leidenschaften
spekulirende Romanlectüre vollendet. Kein Wunder, dass sogar Frauen
und Mädchen selbst bei den Klatschgeschäften in ihren Kalfeegesell-
schaften auf Bestrafung und Sühne der Schuldigen dringen und von
einer versöhnlichen Stimmung nichts wissen wollen. Unser Herr und
Meister hatte wahrlich recht uns zuzurufen, dass wir unserem Belei-
diger und Verfolger nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal
vergeben sollen. Bildet die Kraft zu lieben, zu vergeben in eurer
Seele aus, so wird euch die hier auf Erden waltende Nemesis wol
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genügen; so werdet ihr geneigt werden, nicht zn richten, sondern
„stets an den Balken im eigenen Ange zu denken." Reinigt euren
Gottglauben , macht unsern Herrgott nicht zum Vollstrecker eurer
kleinlichen oder niedrigen und verächtlichen Bachegelüste, oder zu
einem Werkzeug für Pläne der Herrschsucht und anderer Leidenschaf-
ten; macht euren Kopf klar und euren Willen stark, dem Vernunft-
gesetze zu folgen und eure Leidenschaften zu beherrschen, so werdet
ihr größere und reinere Liebe zu Gott und zu euren Mitmenschen
gewinnen; ihr werdet sittlicher und dadurch zugleich frömmer werden.
Eins bleibt noch zu erörtern. Es dürfte jemand sagen: „Wenn
der Mensch nicht den Richtei-spruch noch das Strafgericht Gottes zu
fürchten hat; wenn er nur durch sein eigenes Gewissen oder höchstens
durch das Urtheil der Mitmenschen gerichtet und bestraft werden
soll, so braucht er nur sein Gewissen durch Übung zum Schweigen
zu bringen und den Menschen gegenüber sich fein zu verstellen, um
allen Vorwürfen zu entgehen und unbehelligt, ja mit frecher Stirn
stehlen, betrügen, verraten, auf die verschiedenste Weise sündigen,
die sittlichen Gesetze und Grundsätze übertreten und verlachen zu
können. Wenn [man nicht mehr die göttliche Nemesis zu furchten
hat, so braucht man ja nur recht klug zu handeln, um der auf
Naturgesetzen beruhenden irdischen Nemesis zu entgehen."
Irret euch nicht! So klug ist niemand, dass ihm solch ein Be-
mühen auf die Dauer glücken könne. Während er eine Art von
Folgen klug vermeidet, bereitet sich unmerklich die andere vor und
packt ihn, wenn er sich sicher und geborgen wähnt, mit vernichten-
der Gewalt. Das Sittengesetz ist nicht eine willkürliche Erfindung
der Menschheit, sondern beruht auf einem Naturgesetz, auf der uns
Menschen eingeborenen idealen Liebe und der damit zusammenhängen-
den unbedingten Verbindlichkeit gegenüber der sittlichen Pflicht.
Darum kann niemand dieses Gesetzes spotten, ohne die
Nemesis in irgend einer Weise heraufzubeschwören. Man
vergesse nicht, dass durch dies eingeborene ideale Streben beständig
in gemeinsamer geistiger Arbeit Ideen erzeugt, dass die heranwach-
senden Generationen nach solchen Ideen erzogen*), die Erwachsenen
von diesen großen geistigen Mächten des Lebens beherrscht und ge-
leitet werden. Ihrem Einflüsse kann sich niemand entziehen, selbst
*) Wie oft gehen aus Verbrecherkreisen Menschen mit sittlichen Grundsätzen
und sittlichem Streben hervor. Es sind zu ihnen sittliche Ideen gedrungen
und haben dies scheinbare Wunder gewirkt.
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wenn er sie um seiner selbstsüchtigen Gelüste willen frech verspottet,
„Die Teufel glauben auch und zittern." Darum kann niemand sein
Gewissen ganz zum Schweigen bringen, und ebensowenig wird es
ihm gelingen, seine Mitbürger durch den Schein von Rechtschaffen-
heit auf die Dauer zu täuschen. „Der Krug geht so lange zu Wasser,
bis er bricht", und „Unrecht schlägt seinen eigenen Herrn". Die
Kinder nehmen die Grundsätze der Eltern an, betrügen, belügen, be-
stehlen, verraten den eigenen Vater. Der gewissenlose Staatsbeamte
wird durch diejenigen gestürzt, die er als Helfershelfer zu Reichthum
und Ehren gebracht; der schlaue Betrüger, welcher durch kluge Be-
nutzung menschlicher Schwächen und Thorheiten Reichthum auf Reich-
thum häuft, erzieht dabei in sich die Gier, die ihn schließlich ins
Verderben bringt, (Vgl. A. v. Chamisso's Gedicht: Abdallah.) Überall
„betrogene Betrüger"!
Aber es gibt freilich Ideen, welche solch ein frevelhaftes Auf-
lehnen gegen die heiligsten sittlichen Pflichten befördern und schwache
Menschen nur zu leicht zum Bösen verführen können. Es sind die
Ideen, welche aus der Selbstsucht und deren Gelüsten und
aus bösen volksthümlichen Leidenschaften stammen. Man
denke an die Ideen, welche durch den Hass gegen Andersgläubige,
gegen Ketzer und Juden, durch die hochmüthige Verachtung des
Bürgers und Bauern unter Adeligen, durch den Ingrimm des Prole-
tariers gegen die Reichen, durch den Trotz des Strand- und Grenz-
bewohners gegen die Grenzaufseher erzeugt wurden. Mau denke an
die gefährlichen Ideen, welche in der Neuzeit durch Herrschsucht
und Parteileidenschaft erzeugt sind und die entsetzliche Strebersucht
unserer Tage herbeigeführt haben. Die guten, segensreichen aus der
idealen Liebe geborenen Ideen haben mit diesen unheilvollen frevel-
haften Mächten einen beständigen Kampf zu bestehen und nur zu oft
muss das Gute in diesem Ringen unterliegen. Die Geschichte belehrt
uns über Zeiten, in „denen sich alle Bande frommer Scheu lösten",
in denen die schrecklichen Zustände zur Wahrheit wurden, welche
der große Schiller uns in seinem „Spaziergang"*) so ergreifend
*) Aus dem Gespräche entschwindet die Wahrheit, Glauben und Treue
Aus dem Leben, es lügt selbst auf der Lippe der Schwur.
In der Herzen vertraulichsten Bund, in der Liebe Geheimnis
Drängt sich der Svkophant, reißt von dem Freunde den Freund.
Auf die Unschuld schielt der Venrath mit verschlingendem Blicke,
Mit vergiftendem Bisa tötet des Lästerers Zahn.
Feil ist in der geschändeten Brust der Gedanke, die Liebe
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geschildert hat. Da treten denn die gemeinen Scharken hohnlachend
in ihrer ganzen brutalen Frechheit auf, und der noch schwankende
Schwächling wird durch den Hinblick auf das, was „gäng und
gäbe geworden", was „alle thun", nur zu leicht verfuhrt, die besseren
Begnügen seines Innern leichtfertig abzuweisen. Da scheint in der
That mit dem Aufgeben des Glaubens an das göttliche Strafgericht
die einzige Möglichkeit einer Nemesis und Sühne und damit einer Ab-
schreckung von bösen Wegen geraubt und das Gute rettungslos dem
frevelhaften Streben des Bösen preisgegeben zu sein. Aber selbst in
solchen schrecklichen Zeiten, in denen die Edelsten „das große gigan-
tische Schicksal " packt, „welches den Menschen erhebt, wenn es den
Menschen zermalmt", braucht niemand in seinem Glauben an die auf
Erden waltende Nemesis irre zu werden, und darf der festen Zu-
versicht leben, dass das Gute allmählich dennoch den Sieg
davontragen werde. Durch den Glauben an das göttliche Straf-
gericht, an Fegefeuer und Höllenpein ist noch nie ein Frevler von
seinem bösen Thun abgeschreckt, sondern höchstens nach der That
von unfruchtbarer Angst gepeinigt worden. Auch ziemt es dem Edeln
nicht, selbst beim Unterliegen Rachegedanken zu hegen und für die
Gegner und Feinde besondere Strafen zu verlangen. Man denke an
Christum, unser sittliches Ideal. Der wahrhaft sittliche Mensch
trägt gar kein Verlangen nach einer göttlichen oder irdischen Nemesis.
Er kämpft und unterliegt in solchen Zeiten mit dem Bewusstsein des
todesmuthigen Kriegers, der Festigkeit, Seelenruhe und Heiterkeit in
dem Glauben findet, dass er sich für seine Mitbürger, für die Ehre
und die Freiheit des Vaterlandes opfert, dass er damit eine heilige
Pflicht erfüllt, und sein Opfertod dazu beitragen werde, den hohen
Ideen, für die er sein Blut vergossen, zum Siege zu verhelfen. Mag
die auf Erden waltende Nemesis den Frevler scheinbar gar nicht er-
reichen, eins darf man mit Sicherheit annehmen: die innere Buhe
und Heiterkeit, das innere Glück, welches im Bewusstsein redlicher
Pflichterfüllung liegt, kann und wird den Frevler selbst bei den
größten Erfolgen und den größten Triumphen nie beglücken, und nie
Wirft des freien Gefühle göttlichen Adel hinweg.
Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich
Angemaßt, der Natur köstlichste Stimmen entweiht,
Die das bedürftige Herz in der Freude Drang Bich erfindet;
Kaum gibt wahres Gefühl noch durch Verstummen sich kund.
Auf der Tribüne prahlet das Recht, in der Hütte die Eintracht,
Des Gesetzes Gespenst steht an der Könige Thron.
Pa>dABroKinan. 14. Jahrg. Heft VI. 25
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— 354 —
wird er dem Tode wie ein wackerer sittlicher Kämpfer heiter und
gefasst entgegen gehen.
Es dürfte jemand noch fragen: „Wie ist eine Erlösung des
schuldbeladenen Menschen denkbar, wenn man nicht mehr an
das göttliche Gericht, an Bestrafungen und Belohnungen im Jenseits
glauben soll?-4
Darauf antwortet die philosophische Sittenielire Folgendes: Die
echte Sittlichkeit hat es nur mit der wahren Reue zu thun, die
nicht in der Angst vor den Folgen, sondern in der Trauer
über die That selbst besteht. Diese „Traurigkeit, welche zur
Seligkeit wirket", sucht nach der verlorenen Ruhe, nach dem durch
eigene Schuld verlorenen Seelenfrieden, und erhebt den Blick des Menschen
von der Erde aufwärts zu dem himmlischen Helfer und Erlöser.
Solch ein wahrhaft reuiger Mensch hat sich bereits selbst
gerichtet und bestraft; er bedarf nicht mehr eines Richters,
sondern nur eines liebenden und erbarmungsvollen Vaters.
Den wird er bei rechtem frommen Glauben im Himmel finden, und
wird durch ihn erlöst und getröstet werden. Wenn Christus davon
spricht, dass Gott die Sünder, wenn sie wahrhaft bereuen, mehr liebt
als die „Gerechten, welche der Buße nicht bedürfen"; wenn er dem
wahrhaft reuevollen Schächer noch in seiner Sterbestunde die trost-
reiche Versicherung gibt: „Wahrlich, heute noch wirst du mit mir
im Paradiese sein", so denkt er bei diesen Leliren niemals an den
strafenden und streng richtenden Gott, sondern stets nur an den
liebevollen Vater, der das kummervolle Kind in seiner erbarmungs-
reichen Liebe aufrichten und durch Liebe trösten will. Diese schöne
Lehre wird durch das Gleichnis „vom verlorenen Sohn" in jeder Hin-
sicht bestätigt
Versuchen wir nach diesen Erörterungen noch die Frage zu
beantworten, welche Gebote und Verbote aus diesem großen
Kampfe der Ideen um das wahrhaft sittlich Gute^als all-
gemein giltig hervorgegangen sind?
Wie bereits gesagt wurde, ist der „kategorische Imperativ" d. h.
der innerlich gefühlte Befehl, höhere Gebote als die unserer sinnlichen
Triebe als unbedingt verpflichtend anzuerkennen, als specifisch
menschliche Eigenschaft in der Disposition allen Menschen ohne Unter-
schied gegeben. Damit hängt zusammen das aus der idealen Liebe*)
*) Kant nennt die Eigenschaft der menschlichen Seele, welche bei allen sitt-
lichen Forderungen thätig ist, die Vernunft, und definirt dieselbe als „das
►ogle
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stammende Streben nach dem Ideal sittlicher Vollkommenheit,
ans dem als einzelne kategorische Imperative die Ideen hervoi-gehen,
d. h. Meinungen über neae sittliche Pflichten, über das, was geschehen
soll, um jenem Ideal immer näher zu kommen.
Aus der Betrachtung dieses gemeinsamen idealen Strebens aller
Menschen wird die Erkenntnis hervorgehen, dass zu allen Zeiten eine
Menge sittlicher Gebote erst im Werden begriffen sein müssen; dass
während des Kampfes um sittliche Ideen neue Gebote aufgestellt,
alte als nicht mehr verpflichtend anerkannt, ja als gefahrlich und
unsittlich verurtheilt und unterdrückt werden. Man wird leicht heraus-
finden, dass einzelne sittliche Gebote in alten Zeiten ganz anders
gelautet haben, als heutzutage; dass die Summe aller Gebote jetzt
eine größere und bedeutendere ist, als in vergangenen Jahrhunderten,
dass die sittlichen Gebote und Verbote, welche gegenwärtig Geltung
haben, nicht die Summe der Pflichten für jeden Menschen
ohne Unterschied bilden; dass diese sittlichen Verpflichtungen je
nach Geschlecht, Stand und Beruf, Bildung und Begabung verschie-
dene sein können. Es hat sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahr-
tausende bei allen diesen Kämpfen um sittliche Ideen als objectiv
wahr und giltig nur ein kleiner Kern von Geboten und Ver-
boten herausgebildet. Derselbe wird wenigstens unter den gebil-
deten Culturvölkern als Canon echter Sittlichkeit anerkannt.
Dieser Canon schließt sich an die sieben der sogenannten heiligen
zehn Gebote an — die drei ersten derselben betreffen das religiöse
Leben — und an einzelne Lehren Christi, die nach des Herrn eigenen
Worten in der Forderung gipfeln: „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst". Das Strafgesetz des Staates gründet sich auf Anerkennung
dieser Gebote, wenn es die Übertretung derselben als unsittliche
Handlungsweise seinem Richterspruche unterwirft. Außerdem hat
jedes Volk seine besonderen sittlichen Anschauungen von Treue, von
Vermögen der Ideen." Ideen sind bei ihm „nothwcndige Vernunftbegriffe, denen
kein congruircnder Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann", z. ß. die Be-
griffe Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Hier müssen die neueren Forschungen der
Psychologie zu Hilfe genommen werden; denn Begriffe haben keine zu Thaten
treibende Kraft. Diese Kraft ruht in der strebenden und schaffenden idealen
Liebe. Die aus ihr stammenden, zu Thaten treibenden geistigen Mächte sind die
Ideen. Ich bitte daher den Leser, diesen Begriff Idee festzuhalten (S. meine Ab-
handlung „Über Ideen" im „Pädagogium* Jahrg. XII, S.273; auch in der 2. Aufl.
meiner „Lehrkunst") und den Kantschen Begriff „Vernunft" noch mit dem Wesen
jener schaffenden idealen Liebe zu verbinden.
25*
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Ehre, von Recht und Unrecht, gut und böse. Dieselben zeigen sich
in den volksthümlichen Sitten und in der damit zusammenhängenden
volks thümlichen Erziehung, Denk- und Handlungsweise.
Es scheinen demnach alle Sittengesetze mit Ausnahme dieses
kleinen Canons „in der freien Luft der Meinung und des Gewissens
zu schweben". Demgemäß dürfte ein Jünger zu der Frage berechtigt
sein: „Wo finde ich außer in diesen wenigen Sittengesetzen
einen Halt, wo die führenden und leitenden Vorschriften,
die mich vor Irrthum und Irrwegen bewahren mögen?
Die Kirche ist bei einer solchen Frage flugs mit der Antwort
bereit: Einen Halt findest du nur bei uns, nur in unserer, der allein
seligmachenden Kirche und Religion*). Bei uns ist die ewige Wahr-
heit; sie ist uns enthüllt worden durch den Beistand des heiligen
Geistes. Alles, was aus der menschlichen Vernunft stammt, ist dem
Irrthum unterworfen; unsere Gebote und Offenbarungen stammen von
Gott selbst und sind darum unfehlbar und unantastbar.
Da die philosophische Sittenlehre die Religion mit ihren Lehren,
Tröstungen und Verheißungen auf ihr besonderes Gebiet verweist;
da ihre Lehre lediglich aus der menschlichen Vernunft stammt, und
sich nur mit dem Leben der Menschen auf dieser unserer Erde be-
schäftigt: so kann sie dem ringenden und strebenden Jünger für die
im Werden begriffenen Sittengesetze, für die Theilnahme an dem sitt-
lichen Ringen seiner Zeit, ja selbst für die rechte Befolgung und
Ausführung jenes oben genannten Canons einen absolut sicheren und
unfehlbaren Halt nicht bieten und rauss ihn auf die eigene Ver-
nunft, auf sich selbst verweisen. Sie kann ihm nur die Haupt-
regel geben: Bekämpfe standhaft und tapfer alle Regungen
der Selbstsucht und folge nach Christi hehrem Vorbilde stets den
Eingebungen der idealen Liebe. Noblesse oblige! „Adel ist auch
in der sittlichen Welt." Freiheit kann nie geschenkt, sie mnss
stets errungen, mit Aufopferung selbstsüchtiger Gelüste und Aufbie-
tung unserer besten Kräfte erkämpft werden. Bei der philosophischen
Sittenlehre ist alles Ubernatürliche und darum auch jede Hilfe und
Unterstützung, die außerhalb der eigenen Kraft liegt, völlig ausgeschlos-
sen. Je sorgfaltiger der Jüngling seine Geisteskräfte bildet, jemehr
er sich daran gewöhnt, seine Triebe und Neigungen um höherer Ge-
bote willen zu beherrschen, desto mehr wird er an Klarheit gewinnen,
♦) So Bprcchen nicht allein die katholischen, sondern auch die orthodoxen
protestantischen Geistlichen, wenngleich sie den Ausdruck „allein seligmachend*1
nicht gebrauchen.
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die Forderungen echter Sittlichkeit zu erkennen-, desto mehr wird er
sein Gewissen verfeinern und den Willen üben, diese Gebote zu er-
füllen. Vor Irrthum bleibt auf Erden kein Mensch bewahrt; wir
können zur Wahrheit nur durch Irrthum gelangen. Jeder mag glauben,
im Schöße der Kirche absolute Wahrheit zu finden und dort für sein
Leben den rechten Halt suchen. Dies Glück soll ihm unangetastet
bleiben. Aber er soll nicht hoffen, dadurch sittlicher zu
werden, für die Erkenntnis der Lehren echter Sittlichkeit zu besserer
Klarheit zu gelangen, oder das Gewissen und den Willen zum Guten
dadurch zu stärken. Er darf hoffen, dass durch echt sittliches Leben
und Ringen sein Gemüth immer mehr für echte Frömmigkeit geöffnet
werde; aber nicht umgekehrt*).
Die philosophische Sittenlehre ist strenge und in ihrem heiligen
Emst, wie bereits erörtert wurde, ganz unerbittlich. Sie stellt den
Menschen lediglich auf sich selbst. Sie kann nur einen Halt
gewähren: derselbe liegt in dem echten auf ideale Liebe
gegründeten sittlichen Glauben.
Mit Recht fordert die Religion von jedem Menschen frommen
Glauben; nicht jenes bloße „Für wahrhalten", jenes verständige „nicht
zweifeln an dem, das man nicht siehet", sondern innige aus der
idealen Liebe stammende Hingabe des ganzen Gemüthes an das Heilige.
Glauben ist Liebe, Liebe ist Glauben. Einen ähnlichen Glauben
fordert auch die ernste Sittenlehre und weist, sowie ihrerseits
die Religion, dem Jünger überzeugend nach, dass er in diesem
Glauben den rechten Halt für das irdische Leben finden
werde.
' Der rechte sittliche Glaube betrachtet die Forderungen der streng-
sten Sittlichkeit als heilige; denn er sieht in der Erfüllung der-
selben das Heil der Welt. Der wahrhaft sittlich lebende und
strebende Mensch glaubt, dass durch sie auf Erden das Reich
des Friedens und der Liebe herbeigeführt und fest begrün-
det werden könne. Er sieht das Glück der Menschen nicht im
Genuss, sondern in sittlicher Arbeit^ im sicheren Besitze seiner Rechte
und Freiheiten und in der gesetzlich berechtigten allseitig freien
*) Es zeigt sich auch hierin, dass die That des großen Kant, dem wir diese
m hochwichtige Erkenntnis zu verdanken haben, der des Kopernikus zu vergleichen
ist. Für alle Erzieher erwächst daraus die ernste Pflicht, die Sittenlehre nicht
wie bisher als ein nebensächliches Anhängsel des Religionsunterrich-
tes zu behandeln, sondern derselben im Unterricht eine selbstständige
nnd hervorragende Stelle einzuräumen.
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Entfaltung seiner Persönlichkeit. Er glaubt, die ernste Sittlichkeit
und ihre Lehre könne die Menschheit im Laufe der Zeiten so erziehen,,
dass jeder den Nächsten achten, ihD zugleich wie sich selbst lieben
und sein streng gesetzliches Handeln durch Schönheit zu einem edeln
Handeln verfeinern werde. In der Erkenntnis, dass die Vorschriften
der heiligeu Sittenlehre das freie Ergebnis der frei und selbstständig
geführten sittlichen Kämpfe der Menschen sind; dass diesen Kämpfen
das auf idealer Liebe beruhende Streben nach dem heiligeu Ideal sitt-
licher Vollkommenheit zu Grunde liegt: gelten ihm als heilig auch
die groftcn sittlichen Ideen, um die jene den idealen Fortschritt
erstrebenden Kämpfe gefuhrt werden. Er weiß wol, dass in der Idee
noch nicht die absolute Wahrheit zu finden ist; aber er glaubt, dass
aus dem unausgesetzten Kampfe um diese „größten geistigen Güter
des Lebens" allmählich die ewige absolute Wahrheit hervor-
gehen und alle Parteien im seligen Frieden vereinigen
werde. Demgemäß glaubt er an die Gerechtigkeit seiner Sache
und vermag um derselben willen in diesem Glauben als Opfer sein ir-
disches Glück und Wolsein, ja selbst sein Leben einzusetzen*). Wer
in solch einem Ringen und Kämpfen irrt, kann nie schuldig
werden; von Schuld darf man nur bei denen sprechen, die mensch-
liche Fehler wie Hass, Herrschsucht, Verfolgungssucht walten lassen
und zur Unterdrückung ihrer Gegner sich fremder Gewalt, Willkür,
Beugung des Rechts und anderer unlauterer Mittel bedienen.
Man sieht, in diesem sittlichen Glauben kann man mit voller
*) In diesem Glauben handeln selbst einfache, wenig gebildete Menschen.. Sie
wirken nicbt sich darüber Reebenschaft abzulegen; aber dennoch ist dieser Glaube
in ihnen vorhanden, veredelt ihre Gesinnungen und stärkt ihre Treue für die von
ihnen als recht und gut erkannte Sache. Bei den gebildeten Denkern, die ihre Er-
kenntnis durch das Studium der Ideenkämpfe vergangener Zeiten verfeinert uud
vertieft haben, scheint dieser sittliche Glaube seit den großen socialen und politi-
schen Kämpfen des vorigen Jahrhunderts in erfreulicher Weise gekräftigt worden
zu sein. Denn neben dem weit verbreiteten und künstlich genährten Streberthum
. unserer Tage zeigt sich e i n echtes sittliches Märtyrerthum, wie es in früheren
Jahrhunderten nur auf dem religiösen Gebiete zu finden war. Wir begegnen diesen
Märtyrern der echten Sittlichkeit auf dem Gebiete der großen socialen und politischen
Kämpfe, in denen für der Menschheit höchste Güter, für Recht und Freiheit
gerungen wird. Einzelne dieser Märtyrer gehören bereits der Geschichte an; so der
Württembergische Rechtsgelehrte und Staatsmann Joh. Jak. Moser, so die sieben
Göttinger Professoren, welche 1837 im sittlichen Kampfe um ihr und ihrer
Mitbürger gutes Recht ihrer Stellen entsetzt und (zum Theil) de« Landes verwiesen
Warden.
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Seelenruhe und gutem Gewissen leben und in diesem Glauben nach
redlichem Eingen ruhig sterben.
Da dieser Glaube in dem Leben eines jeden ernsten, tüchtigen
Menschen eine so große Rolle spielt, so fordert die philosophische
Sittenlehre, dass man Toleranz üben, d. h. den Glauben des ehr-
lichen Gegners achten und neben dem seinigen als gleichberechtigt
anerkennen soll. Der Fortschritt zum Besseren kann nie ohne Kampf
erzielt werden. Ruhe, Stillstand ist Tod; Leben bringt nur der
Kampf. Darum müssen in der Welt naturgemäß zwei große
kämpfende Parteien existiren, durch deren Ringen auf den
verschiedenen geistigen Gebieten Fortschritt und Leben erzielt wird.
Die Anhänger der einen Partei sind von Natur so begabt, dass ihre
Seele überall geneigt ist, die Initiative zu ergreifen, dem Alten
und Veralteten gegenüber für Neues, Besseres einzutreten, energisch, oft
stürmisch und drängend den Fortschritt anzubahnen. Es sind auf dem
kirchlichen, dem politischen und dem socialen Gebiete die Männer
des Fortschritts, die „Freisinnigen", die „Liberalen." Die
Anhänger der anderen Partei sind von Natur so begabt, dass sie das
Heil der Welt mehr in der Erhaltung des Bestehenden, histo-
risch Entwickelten sehen und daher jedes Vorwärtsstreben als
ein Wagnis betrachten und zu zügeln versuchen. Ihrer Natur nach
sind sie nie gesonnen, zu irgend einem Fortschritt die Initiative zu
ergreifen. Sie werden auf den oben genannten Gebieten als „Con-
servative", auf dem kirchlichen auch wol als „ Orthodoxe", Offen-
barungsgläubige bezeichnet. Da diese großen Parteien — nebst ihren
verschiedenen Schattirungen mehr nach links oder rechts oder nach
der Mitte hin — in ihrem Streben beide gleich berechtigt sind,
so muss es vom sittlichen Standpunkte als frevelhaft, als ein Ein-
griff in jedes Menschen heiligste Rechte bezeichnet werden,
wenn Gewalthaber irgend welcher Art fordern, dass man seinen
sittlichen (socialen oder politischen) und seinen religiösen
Glauben aus Gehorsam gegen die Macht, welche Gewalt über uns
hat, zum Opfer bringen und die befohlene Gesinnung und
Überzeugung annehmen solle. Der Frevel wird zum Verbrechen,
wenn dazu Gewaltmittel irgend welcher Art angewandt werden. Es
wird zugleich klar, dass man von einem socialen und politischen
„Glaubensbekenntnis" sprechen und die Treue gegen dasselbe als
eine ernste sittliche Pflicht betrachten darf. Leider ist die
Bedeutung dieser Pflicht noch nicht tief in die Kreise der weniger
Gebildeten eingedrungen, um das Leben im allgemeinen bereits regeln
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zu können. Die Frauen kennen diese Pflicht überhaupt nicht (? d. R.)
und unter den Männern gilt bei der überwiegenden Mehrzahl der
vom Eigennutz dictirte Grundsatz: „Wes Brot ich esse, des Lied
ich singe." Einen von sclavischer Furcht oder Eigennutz veranlassten
Wechsel des politischen Glaubensbekenntnisses rechnet man als poli-
tische „Fahnenflucht", als ein feiges unsittliches Thun nur den Gebil-
deten an, die sich über das sociale und politische Leben und Streben
im Staate ein selbstständiges Urtheil bilden können. Die mehr als
80 Procent der ungebildeten Staatsbürger werden mehr oder weniger
mit grobem Witzeln als „Stimmvieh", als „Nummern" betrachtet, als
Menschen, die wegen ihrer Abstimmung oder Parteihaltung sittlich
gar nicht verantwortlich gemacht werden dürfen. Honen wir, dass
die Bestrebungen der Besten in allen Nationen, die Bildung durch
guten Schulunterricht und fortgesetzte Belehrungen aller Art auch
dem einfachen Arbeiter zugänglich zu machen, allmählich die nöthige
Änderung herbeifuhren und die sittliche Bedeutung der Treue gegen
unsere politische Überzeugung auch in diese Volkskreise bringen werde!
Kant hat durch seine Forschungen und seine Lehren auf uns
Deutsche eine ebenso großartige wie segensreiche Wirkung ausgeübt.
Seit der Zeit beherrscht sein strenger, hehrer Tugendbegriff die edel-
sten und besten Dichter und Denker unseres Volkes. Unser großer
Schiller lebte und wirkte im Sinne dieser erhabenen Sittenlehre; er
opferte dem Studium der Philosophie des großen Königsbeiger Denkers
die besten Jahre seines Lebens. Seine und Kants eindringliche Worte
begeisterten die gebildete deutsche Jugend, als im Jahre 1813 der
große Befreiungskampf begann, und bestimmten die edelsten Männer
und Frauen zu heldenmüthigen Opfern. Die begeisterten Anhänger
der philosophischen Sittenlehre bilden bereits eine große, wenngleich
stille und anspruchslose Gemeinde. Die schärfsten Denker unter
ihnen behaupten, dass die Sittlichkeit, in dieser Strenge und Erhaben-
heit aufgefasst, für das Leben der Menschheit eine höhere Bedeutung
habe als die Religion; alle stimmen darin überein, dass mindestens
diesen beiden großen Mächten die gleiche Bedeutung zukomme.
Schiller konnte sich nicht mit dem Gedanken befreunden, dass
die größte Tugend nur durch schwere Kämpfe und Siege über die
sinnlichen Triebe und Neigungen errungen werden könne. Er nennt
Kant darum in „Anrauth und Würde" den „Drako seiner Zeit"
und stellt den herben, tugendstrengen Gemüthern die „schönen Seelen u
gegenüber, bei denen „das sittliche Gefühl sich aller Empfindungen
bis zu dem Grad versichert hat, dass es dem Affect die Leitung des
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Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den
Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen." Der große
Dichter hat dabei wol mehr die Frauen als die Männer im Auge gehabt.
Das weibliche Geschlecht kann in der That sich einzelner solcher
„schönen Seelen u erfreuen. Aber es ist wol zu beachten, dass selbst
die schönsten und edelsten Seelen nicht als solche schon geboren,
sondern zu dieser edeln, feinen Sittlichkeit erzogen werden-
Eingeboren ist dabei nur ein großes Maß von idealer Liebe und eine
feine Reizempfanglichkeit und Kräftigkeit der Vermögen, die bei der
schönen sittlichen Ausbildung die Hauptrolle spielen. Diese Ausbil-
dung selbst kann nur durch eine sorgfältige und von besonders glück-
lichen Umständen begünstigte Erziehung bewirkt werden. Es gibt in
der That nicht nur auf dem Gebiete des Schönen, sondern auch auf
dem sittlichen und religiösen ganz bevorzugte, man möchte sagen
künstlerisch begabte Naturen. Aber der Bau der sittlichen Welt wird
nicht durch sie, sondern durch die hart ringenden, wackeren, treuen,
redlichen Kämpfer zusammengehalten und fest begründet; jene „schönen
Seelen" bilden nur dessen lieblichen Schmuck. Daran sollen wir
Lehrer denken und bei unserem Erziehungswerke jedem Kinde zum
klaren Bewusstsein bringen, dass wir abgesehen von besonderen Be-
gabungen als Menschen wahren Wert nur in dem Maße be-
sitzen, wie esunsgelingt,unseresinnlichenTriebeundLeiden-
schaften zu beherrschen und im weitesten Sinne unsere Pflicht
zu erfüllen.
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Arnos Comenius.
.Am 28. März werden es 300 Jahre, seit Arnos Comenius ge-
boren wurde.
Im Vorblick auf diesen Gedenktag hatte der Herausgeber dieser
Blätter letzten Herbst die mährische Heimat des unvergesslichen
Mannes besucht, um in den Gefilden von Nivnitz und Ung.-Brod der
Stätte nachzuforschen, wo seine Wiege gestanden, die Natur zu be-
trachten, welche seinem Geiste die frühesten Eindrucke geboten, und
sich die Menschen weit zu vergegenwärtigen, welche seinem Gemüthe
das erste Gepräge verliehen. Hierdurch neu angeregt und überdies
mehrfach aufgefordert, wollte nun der dankbare Nachfahre das ruhm-
volle Wirken, das unvergängliche Verdienst, das begeisternde Vorbild
und den edlen Charakter des großen Vorgängers nochmals in Wort
und Schrift vorführen, wie er es ehedem so oft gethan — in Lehr-
vorträgen, Festreden und besonders auch in seiner „Schule der Pä-
dagogik".
Leider aber muss er diesmal, noch von den Nachwehen schwerer
Krankheit belastet, den Versammlungen fernbleiben und selbst die
Feder ruhen lassen; doch wird es hierfür nicht an Ersatz fehlen.
Denn gewiss werden, nachdem Comenius in weiteren Kreisen bekannt
geworden und zu seinen Ehren selbst ein eigener Verein entstanden
ist, aller Orten Männer auftreten, die unserem trüben Zeitalter die
Lichtgestalt des 17. Jahrhunderte kraftvoll vor Augen führen. Wolan,
so sei es!
Wir unsererseits bieten im Folgenden einige Partieen aus einem
demnächst erscheinenden Werke von Prof. Dr. Kvacsala*), welches
*) Jobann Arno« Comeniu«. Sein Leben und seine Schriften von Dr. Jobann
Kvacsala. 8 Lieferungen. Preis complet M. 5,40 Verlag von Julius Klinkbardt.
I
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wol die umfassendste und gründlichste aller bisherigen Arbeiten über
Comenius werden dürfte.
Anschluss an seine Vorläufer und Neugestaltung
der Didaktik.
In Lissa widmete sich Comenius den anstrengendsten didaktischen
Arbeiten. Die Anregung zu denselben hatte er schon aus Böhmen
mitgebracht. Doch wollen wir hier nicht auf jene frühere Epoche im
einzelnen zurückgreifen, sondern nur die wichtigsten Vorgänger Co-
menius' kurz betrachten.
Aisted t, der Lehrer des Comenius, ist selbst ein Schüler des
lionnäus. Alstedt hat innerhalb seines großen Systems alles Wissens-
werte, auch die Didactica und Schulwissenschaft, bearbeitet und die
in diesen beiden Wissenschaften entwickelten Priucipien waren wol
auch für seine praktische Wirksamkeit maßgebend. Alstedts päda-
gogische Thätigkeit und Schriften sind nicht nur als diejenigen des
Lehrers des Comenius für die Geschichte der Pädagogik wertvoll;
sie haben mehrfach einen selbstständigen Wert. Eine große Lust
zur Zergliederung, die durch seine ganze Encyklopädie hindurchzieht,
charakterisirt seine Pädagogik. Er behandelt das Material in zwei
Disciplinen, die in der Reihenfolge weit von einander abstehen; es
sind dies die Didactica (Encyklopsedi* T. I. 84 — 124) und die Schola-
stica (Encyklopaediae T. III. 273 — 318) deren Unterschied wol im Namen
liegt, aber in der Ausführung nicht genau beachtet wird, weshalb wir
auch der Unterscheidung keine weitere Bedeutung beimessen. Wir
beschränken uns bei der Wiedergabe des geschichtlich Interessanten
auf die wichtigeren Mittel der Didaktik. Unter denselben wird die
Autopsie betont (E. I., p. 97). Der Schüler soll nicht nur zuhören,
sondern auch selbst thätig sein, die durch Anschauung erworbene
Kenntnis ist viel sicherer als die durch Abstraction. Ein weiteres
wichtiges Mittel ist die Ordnung, betreffend die Eintheilung der ein-
zelnen Stunden. Eine solche Eintheilung finden wir sowol in der Di-
daktik, als in der Scholastik.
Aisted unterscheidet drei Schulen: die Volksschule, Schola verna-
etüa mit der Muttersprache als Unterrichtssprache, die mittlere oder
classische Schule, deren Hauptaufgabe die Einübung in das Lateinische
und Griechische bildet, und die Hochschule. Wenn dies unseren Schul-
zustanden im allgemeinen völlig zu entsprechen scheint, so ist doch
bei näherer Betrachtung manches wesentlich verschieden. Die Schola
vernacula ist nur für die, die keine höhere Bildung erreichen wollen
die Mittelschule ist eine selbstständige Anstalt, welche die Schüler
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vom Anfang ihrer Bildung aufnimmt, ohne dieselben nachher sogleich
ihren Berufsstudien zu übergeben; letztere werden mit der Mittelschule
durch einen dreijährigen philosophischen Curs verbunden.
Im einzelnen ist bei der Volksschule bemerkenswert, dass auch
Mädchenunterricht, ferner die Absonderung der Geschlechter streng
gefordert wird. Für den Lehrer folgen einige methodische Winke
und als Anfangsjahr wird das angehende fünfte Jahr festgestellt. Die
Hauptschule ist die Mittel- oder classische Schule; selbe wird in sechs
Classen eingetheilt, die aber je zwei Jahre lang dauern, aber nicht
ohne Ausnahme, denn die Begabteren können auch eher fertig wer-
den. Die Aufgabe dieser Schule ist die Philologie und so ziehen sich
durch die sechs Classen die Grammatik, Syntax, Oratoria, Rhetorik,
Logik und Poetik hindurch. Jede Classe hat noch besondere Wei-
sungen für ihren Unterricht; uns interessirt hauptsächlich die Stellung,
die Alstedt gegenüber den verschiedenen Richtungen der sprachlichen
Methodik einnimmt und die sich als Befolgung der synthetischen Me-
thode bezeichnen lässt. Er geht nicht, wie Ratich will, von einem
gegebenen Texte aus, sondern er sendet die Vocabulatur voraus und
geht erst nach Erlernung der Paradigmen zu der grammatikalischen
Übung über. Mit Ratich aber stimmt er in der Wahl des Autors
Terenz überein. Selbstverständlich bildet die lateinische Sprache nicht
den einzigen Gegenstand. Dass die Religionslehre sorgfältig gepflegt
werden soll, ist kaum nöthig besonders zu erwähnen. Schon im zwei-
ten Jahre lernt der Schüler das Griechische, die Elemente der Musik
und Arithmetik; wir werden also beinahe an das mittelalterliche
trivium und quadrivium erinnert; die drei höheren Classen verbinden
den Sprachunterricht mit mannigfaltigen Übungen aus dem Gebiete
der Rhetorik, Poetik und Logik, und zwar sowol in der lateinischen,
als in der griechischen Sprache und bilden dann den Übergang zu der
Philosophie. Wenn der Schüler mit dem 15. Jahre aus der Schola
media heraustritt, was allerdings nur möglich ist, wenn eine von den
sechs Classen in einem Jahre absolvirt wird, steht ihm ein dreijähriger
philosophischer Curs bevor, dessen erstes Jahr er hauptsächlich mit
der Mathematik, das zweite mit der physischen und metaphysischen,
das dritte mit der praktischen Philosophie zu thun hat. Die Aneig-
nung der Philosophie geht Hand in Hand und wird vollendet mit
stylistischen und anderen Übungen, die die Wiederholung der philo-
sophischen und humanistischen Kenntnisse voraussetzen, und ganz
gewappnet und ausgerüstet geht der junge Gelehrte mit Ende des
18. Jahres zum eigentlichen Berufsstudium über, das wol auf vier
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Biennien berechnet wird, gewiss aber nicht unbedingt so lange dauern
nmss. Es wird darin zuerst die theoretische, nachher die praktische
Ausbildung in dem Fache des Schülers verlangt und zum Schlüsse
die peregrinatio, Studienreise, welchem Gegenstande er auch eine be-
sondere Schrift, die Epistola ad Josuam Tann de peregrinatione (er-
schienen nach seinem Tode, 1641), gewidmet hat.
Dies die Hauptzüge des in der großen Encyklopädie enthaltenen
pädagogischen Systems. Früher entstanden, aber weniger ausführlich
und systematisch ist die Didactica sacra in dem biblisch -encyklopädi-
schen Werke, dem Triumphus Bibliorum Sacrorum (p. 15—21), der
wir nur einige Aphorismen entnehmen wollen. Großes Gewicht wird
darauf gelegt, dass der Lehrer immer als Freund dem Schüler gegen-
über auftrete, dass man in einer Zeit nur eins lehre, dass das Nöthigere
und Leichtere früher gelernt werde. Man wende beim Unterrichte
häufige Unterbrechungen an; alles soll von selbst ohne Gewaltsamkeit
vorgehen, man soll zugleich mit Ohr und Auge lernen, man soll nicht
weiter gehen, ehe man etwas gehörig erfasst hat, und bei dem An-
eignen einer Disciplin stelle man Eintheilungen in derselben an. Für
die Realien, die in der Encyklopädie bearbeitet werden, finden wir in
seinem Lehrplane keinen Raum. Die ausschließliche, übermäßige Be-
schäftigung mit Sprache und Grammatik bewirkt eine allzu formale
Gewandtheit, welche die Gefahr der Hohlheit der Kenntnisse mit sich
bringt. Man denke nur: zwölf Jahre mit dem Studium der classischen
Sprachen fast ausschließlich zugebracht, und man wird sich des Ge-
dankens kaum erwehren können, dass sich der Geist dabei abstumpfen
muss. Ebenso ist zu rügen, dass die Muttersprache ganz verdrängt
und nur für diejenigen, die auf keine hohe Bildung Anspruch erheben,
als Bildungsmittel zugelassen ist.
Wie bei Bonnäus, baut sich auch bei Alstedt die Theorie der
Erziehung (nebst selbstständig erforschten Ergebnissen) wesentlich
auf den Anschauungen der Alten auf. Von dem neuen Geist, der
durch Baw, Ratich und ihre Nachfolger sich in der Philosophie und
Pädagogik zu regen begann, besitzt er fast keine Kenntnis. Sein
philosophischer Gewährsmann, Ramus, enthebt ihn wol principiell der
Autorität des Aristoteles, thätsächlich aber nicht. Weht aber auch
aus seinen Schriften keineswegs die Neuzeit: so gab er doch zu dem
systematisierenden Zug das Encyklopädische dazu, nicht nur als eine
principielle Forderung, sondern auch als tatsächlichen Behelf für
seine Schüler in jenen beiden großen Werken, in der philosophischen
und in der biblischen Encyklopädie.
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So soll es nichts Wissenswürdiges geben, das in der Encyklopadie
nicht enthalten wäre. Allerdings lässt sich da manches auch von
seinem Standpunkte aus tadeln, aber man darf sein Verdienst doch
nicht gering anschlagen. Der Gedanke, alles Wissenswerte zusammen-
zufassen, war wol nicht zuerst in Alstedt aufgetreten, allein die Auf-
führung hat niemand vor ihm mit der Genauigkeit, mit dem Umfang
des Stoffes und mit dem unermüdlichen Eifer betrieben.
Es erübrigt nur noch über die Didaktik des Bodinus einige Worte
zu sagen.
Bodinus Arbeit enthält eigentlich Rathschläge für den ganzen Unter-
richt, aber einen festen logischen Plan finden wir hier nicht, um so
weniger ein System. Unter den darin enthaltenen Principien finden
wir aber viele hochwichtige. Sogleich dasjenige, das an der Stirne
des Buches steht: Omnia faciliora facit Ratio, Ordo et Modus. Die
Einleitung stellt als eine echte Forderung des Unterrichts die Natur-
mäßigkeit hin, die dem gegenwärtigen Unterrichte völlig abgehe, nn<l
die der Verfasser vorerst bei der Fibel darin findet, dass man in einer
Tabelle die Silben zusammenstellt, damit das Kind mit dem Syllabieren
nicht zuviel Zeit verliere (p.2). Beim Schreibenlehren sollte man bei
einem jeden Buchstaben drei Fundamentalstriche unterscheiden, es
gebe ferner sechs Umwandlungen bei der Schrift, bei deren Berück-
sichtigung man in drei Tagen das Schreiben erlerne (p. 4). Bei dem
grammatischen Unterricht möge man darauf achtgeben, dass der
Flexion der deutsche Sinn derselben beigegeben werde. Viele tech-
nische Winke folgen nun über die Aneignung und Unterscheidung der
Redetheile, sowie auch über die Bildung der Supina und Präteriten,
schließlich auch über einige syntaktische Erscheinungen der lateini-
schen Sprache (p. 8). Aus einem verdeutschten Exempel könne der
Knabe besser etwas lernen, als aus der Regel (p. 22). Die Grammatik
sei der Schlüssel des Unterrichts (p. 47), aber man solle diesen Unter-
richt mit der Leetüre verbinden, was auch ein Ausspruch des Rotter-
damus fordere (p. 49).
Die Bücher, die gegenwärtig zum Erlernen des Wortschatzes
dienen, seien dazu durch ihren großen Umfang ungeeignet; es wäre
ein Compendium noth wendig, das die Phrasen und Res zusammen böte;
Verfasser hat so eins verlangt, aber niemand hat es geliefert. Cicero
vertrete gar nicht den ganzen lateinischen Wortschatz, den man er-
weitern möge (p. 59). Einheit der Sprache und der Res mögen auch
darin zur Geltung gelangen (p. 65). Auf die Muttersprache werde auch
Wert gelegt (p. 71—72). Bilder und Ordnung verhelfen dem Unter-
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rieht in trefflicher Weise zum Erfolg (p. 85). Einige persönliche Be-
merkungen lassen es hervorleuchten, dass der Verfasser vielfach ange-
feindet wurde; man nannte ihn einen Pseudo-Grammaticus (p. 35), man
warf ihm auch vor, dass er ohne Grammatik unterrichte (p. 80), dass
er seine Neuerungen aus Brotneid und Gewinnsucht unternehme (p. 89
bis 90), welche Anfeindungen so weit gingen, dass er sogar auf der
Straße angegriffen wurde, worüber aber genauere Berichte nicht ge-
geben werden (p. 90 — 95).
Am Schlüsse fordert Bodinus noch, es möge dem Schüler auch
der Zweck des Lehrens gezeigt werden, der nichts anderes sei, als
das ewige Heil. Von dieser Methode können Gebrauch machen, die
in ihrer Jugend etwas versäumt haben, die 20 bis 30 Jahre alt sind
und nichts wissen; die Kleinen und schließlich die Frauenspersonen,
für die der Verfasser auch alle Gegenstände der Bildung (Grammatica,
Logica) (p. 98 — 99) wünscht.
Der Inhalt zeigt, dass die Schrift sich der Hauptsache nach auf
die Sprachmethotik beschränkt, dass der Verfasser ein Anhänger der
neuen Richtung war, im ganzen gesunde Ansichten verkündete (einige
minder verständliche beziehen sich unter anderem auf die Erlernung
der Syntax), von denen wir einige auch im Systeme des Comenius
auffinden werden.
Diese Bestrebungen waren Comenius schon vor seiner Auswande-
rung bekannt geworden. In Lissa kamen ihm nun stets neue Didak-
tiker und Lehrkräfte zur Sicht; auf einige müssen wir noch die Auf-
merksamkeit des Lesers lenken. — Eilhard Lubin (1565 geboren)»
hat sich an den deutschen Schulen besonders zu einem ausgezeich-
neten Kenner des Griechischen herausgebildet; Bayle erwähnt noch,
dass er lateinische Verse schrieb, dabei ein Redner, Mathematiker und
Theologe war; im Jahre 1605 wurde er zum Professor der Theologie
in Rostock ernannt. Als solcher gab er eine griechisch - lateinische
Parallelausgabe des neuen Testaments heraus „cum prseliminari Epi-
stola, in qua Consilium de latina lingua compendiose a pueris ad-
discenda exponitur." Seine Invectiven gegen den grammatikalischen
Unterricht hat Comenius ausführlich wiedergegeben; statt desselben
schlägt Lubin zweierlei vor: entweder ein coenobium oder aber ein
illustrirtes Sprachbuch, wo die Dinge in ihrer Ordnung dem Schüler
vor die Augen gefuhrt werden. Hier ist zum erstenmal die Forde-
rung einer Verbindung der beiden Unterrichtszweige und auch die
nähere Bestimmung derselben ausgesprochen.
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E. Vogel, Conrector des Paedagogiums zu Göttingen, verfasste
wirklich ein Buch, in dem er fürs ganze Jahr und zwar für jeden
Tag desselben den Lehrstoff in der lateinischen Sprache vorgezeichnet
hat. In der dasselbe einleitenden Didaktik schreitet er, nachdem er
die Schwierigkeiten der üblichen (vulgaris) Grammatik gekennzeichnet
hat, zur Begründung einer besseren Methode, deren Gang seine De-
finition beleuchtet. Die Sätze, deren einige für jeden Tag bestimmt
werden, sollen inhaltlich, syntaktisch, etymologisch, phraseologisch er-
klärt werden, daran sollen sich lateinische Aufsätze und lateinische
Gespräche anschließen, und nach einem Jahre werde die lateinische
Sprache zu einem Eigenthum des Schülers werden.
Die Ansicht über die Zweckmäßigkeit der ccenobia hat Cäcilius
Frey ausgebildet. Er hofft auf diese Weise ebenfalls im Laufe eines
Jahres das Ziel besser, als wie immer sonst, erreichen zu können.
Derselbe fordert- auch ausdrücklich „una cum verborum intellectu
grammatico rerum distributionem philosophicam, und neben Mathematik
auch neuere Geschichte uud Gymnastik.
Und damit ist das Bild nicht vollendet. Nicht genug an dem,
dass einzelne neue Grundgedanken ausgesprochen wurden, — es be-
gann überhaupt ein so reges Leben auf dem Gebiete der Didaktik,
insbesondere der Methodik des Sprachunterrichtes, dass wenige Zeit-
alter ähnliches aufweisen. Jeder eilte heran, um mit seinem Scherf-
lein zu jenem Gemeingute beizusteuern, wovon die ihre schönste
Lebenszeit unglücklich zubringende Jagend Linderung ihrer Geistes-
qualen erhalten sollte. Morhof führt vor der Palingenesia der Wissen-
schaften und nach derselben eine große Anzahl Didaktiken auf, die
nur über den lateinischen Unterricht handeln, und nennt noch lange
nicht alle. Wir haben uns auf die hauptsächlichsten Schriften be-
schränkt, die Comenius selbst aufzählt. Sein Plan über die Schul-
organisation wird schon 1628 fertig gewesen sein. Bekanntlich unter-
scheidet seine Didaktik vier Schulen, auf eine jede sechs Jahre be-
rechnend. Die ersten sechs Jahre wird das Kind zu Hause bei der
Mutter unterwiesen. Die kaum 20 Zeilen lange Anweisung der Di-
daktik wird durch eine besondere Schrift, „Informatorium der Mutter-
schuleu, ergänzt. In XII Kapiteln schildert sie den Wert der Kin-
der, deren Bedürfnis nach der Erziehung, und weist nach, wie man
alle ihre Gaben in den ersten sechs Jahren zu einer ganz detaillirt
dargelegten Stufe entwickeln soll Es werden darunter die Kate-
gorien der Kenntnisse und Fähigkeiten, Sitten, Religion, alle geistigen
Anlagen des Menschen, und zwar meistens in ihrem Fortschritte von
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Jahr zu Jahr berücksichtigt. Allein das Buch sorgt nicht nur hier-
für; es betrachtet das Kind gleich vom Anfang, von seiner Empfäng-
nis an, und gibt auch wertvolle Rathschläge für die Leihespflege.
Da auf eine eingehendere Analyse hier verzichtet werden muss,
verweise ich auf zwei Punkte: Es sei die Pflicht der Mutter, dass sie
ihr Kind selbst säuge — was er mit vielen Gründen stützt; und die
Erweckung des poetischen und musikalischen Gefühls sei durch viele
liebliche Beispiele ans Herz gelegt. Sein eigener Sinn und seine Gabe
zur Dichtung kommt überall zum Vorschein, wo es sich darum han-
delt, fremde Verse ins Böhmische zu übertragen, und auch sonst zeigt
die Schrift dieselbe elegante Sprache, die alle böhmisch geschriebenen
Werke des Verfassers kennzeichnet. Nach den drei ersten einleiten-
den Kapiteln gibt das vierte das allgemeine Ziel der Mutterschule,
das fünfte Rathschläge für die leibliche Gesundheit, das sechste für
die Pflege der Intelligenz, das siebente des thätigen Lebens, das achte
der Eloquenz, das neunte der Sittlichkeit, das zehnte der Frömmig-
keit. Das vorletzte Kapitel betont, dass die Aneignung dieses Lehr-
stoffes die Hauptsache bleibe, auch wenn die Zeit der Aneignung mit
dem sechsten Jahre nicht übereinstimme. Nach dem letzten Kapitel
sollen die Eltern den Kindern die Schule nicht als einen Schrecken,
sondern als etwas Angenehmes und Vielverheißendes hinstellen.
Dem Plane weiter folgend wollte der Verfasser des „Informato-
rium der Muttersprache" auch für die Volksschulen sorgen, und so
verfasste er auch für die sechs Klassen dieser zweiten Schule die
nöthigen Lehrbücher.
Nach dem „Violarium" (I. Cl.) folgt ein „Rosarium" (IL), beide
mit ganz allgemeiner Inhaltsbestimmung; für die dritte Classe ist das
„Viridarium" bestimmt, das alles Wissenswerte vom Himmel, von
der Erde und von den Künsten angenehm beschreibt; der für die
vierte Classe bestimmte „Labyrinthus Sapientiae" gibt nützliche Fragen
zur Schärfung des Verstandes und des Gedächtnisses; das „Spirituale
Balsamentum", für die fünfte Classe, zeigt die Nutzanwendung aller
menschlichen Künste und Wissenschaften, überhaupt alles, was zu sehen
und zu thun ist; die letzte Classe (VI.) bekommt ein religiöses Buch
„Paradisus Animae", mit dem Inhalt der ganzen heiligen Schrift, den
hauptsächlichsten Kirchenliedern und Gebeten.
Nach den ersten zwei Jahren, die hauptsächlich der Aneignung
der Elementarien gewidmet sind, kommt in dem dritten die Mit-
theilung alles Wissenswerten, um Stoff für die Bildung zu reichen.
Dieser Stoff wird in der folgenden Stufe hauptsächlich zur Stärkung
P«da«o&inni, 14. Jahrg. Heft VI. 26
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des Verstandes und Gedächtnisses verarbeitet. Die fünfte lehrt die
Praxis im Menschenleben, während die letzte hauptsachlich die reli-
giöse Bildung im Auge hat. Sollte der Inhalt dieser Lehrbücher im
Grunde derselbe sein und sich nur durch die, dem besonderen Zwecke
angepasste Behandlung unterscheiden (wie wir dies etwa bei den la-
teinischen Schulbüchern finden), dabei aber allen Forderungen, die die
Gesammtentwickelung des Geistes stellt, Genüge leisten, so muss man
für diese Schulbücher das höchste Interesse empfinden und ihren Ver-
lust besonders schmerzlich beklagen.
Eigentlich sind diese Bücher bereits im ersten Lissaer Jahre ver-
fasst worden; nur eine stete Verbesserung, wie wir sie bei allen
Schulbüchern des Comenius finden, veranlasst uns, deren endgiltige
Abfassung in das Jahr 1630 zu setzen. Während der Abfassung dieser
Bücher — also bevor er mit ihnen fertig geworden, verfiel er auf die
Idee, ein Buch zu schreiben, das die ganze Sprache und die Gesammt-
heit der Dinge in sich begreifen und „Seminarium Linguarum et
Scientiarum omniumu genannt werden sollte. — Alle die Versuche
einer Methodik der lateinischen Sprache, die für diesen Gedanken
vorgearbeitet haben, waren ihm nach seinem eigenen Ausspruch un-
bekannt gewesen, ausgenommen natürlich Elias Bodinus, dessen Di-
daktik er vor einem Jahre in Böhmen gelesen hatte. Diesem hat
allerdings etwas Ähnliches vorgeschwebt. Er fordert, dass man die
1700 gebräuchlichsten Worte in einige Satze mit Hilfe von subsidia
mnemonica so vertheile, dass sie der Schüler gar nicht vergessen
könne, Später klagt Bodinus, dass Niemand so eine Arbeit unter-
nehme. Nun drückt Comenius die Idee und die Bestimmung eines
solchen Buches viel klarer aus; aber wir dachten dem sonst ver-
gessenen Bodinus diesen Hinweis schuldig zu sein. — So legte sich
also Comenius während der Verfassung der Schulbücher für die Volks-
schulen auf die Ausarbeitung eines „Seminarium Linguarum et Scien-
tiarum omnium". — Wie klein auch der Umfang des Werkes geplant
wurde, so kostete es eine überaus große Mühe. — Als einige Freunde,
bei ihrem Interesse für die Arbeiten des Comenius, von dessen neue-
stem Vorsatz Kenntnis erhielten, machten sie ihn auf ein Werk auf-
merksam, das aus Spanien stammend, unter dem Titel Janua Lingua-
rum den ganzen Wortschatz in einige hundert Sätze so vertheilt, dass
jedes nur einmal vorkomme, und das, seitdem mehreremal von Neuem
herausgegeben, das Erlernen der lateinischen Sprache besonders er-
leichtere. Aber das mit großer Freude und Erwartung in die Hand
genommene Buch rechtfertigte nach dem Durchlesen die daraufgesetzte
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Hoffnung nicht und so arbeitete Comenius das Jahr 1630 mit unver-
ändertem Eifer an der Schrift fort.
Die beiden Jahre 1629 und 1630 war er mit der Janua so sehr
beschäftigt, dass er kaum etwas anderes zu unternehmen versuchte.
Sein Verfahren war Folgendes: um einen Parallelismus der Worte mit
■den Dingen zur Geltung zu bringen, ordnete er die Dinge nach der
Fassungskraft der Kinder in gewisse Classen ein und so entstanden
100 gewöhnlichste Inschriften der Dinge. Nun wählte er die ge-
bräuchlichsten Wörter aus, und suchte für jedes Wort das Ding, zu
dessen Bezeichnung es ursprünglich und nachträglich angewendet
wurde; aus den 8000 Wörtern bildete er 1000 Perioden und diese
ordnete er auch stufenartig ein, erst kamen kurze, dann längere,
mehr- und mehrgliedrige; jedes Capitel enthielt dann 10 Punkte. Die
Wörter wählte er nach ihrer ursprünglichen Bedeutung und eigenem
Sinn, ausgenommen nur jene wenigen, welche denselben verloren haben
oder in der Muttersprache (auf welche er fortwährend Rücksicht
nahm) nicht nach jenem gebraucht werden konnten. Die Homonymen
hat er an vielen verschiedenen Stellen angewendet; die Synonymen
meistens nebeneinander gestellt; die Wortfügungen ordnete er nicht
nur mit Rücksicht auf die Syntax, sondern auch etymologische und
grammatische Umstände beachtend. Während der Arbeit bekam er
immer neue Werke über die Schulfragen, hauptsächlich über die Latein-
methode zur Hand, die ihn einerseits veranlassten, an seiner Didaktik
fortwährend etwas zu vervollkommnen, anderseits den bescheidenen
Schulmann von Lissa in seiner wunderbar gehobenen, fast möchten
wir sagen schwärmerischen Stimmung nährten und erhielten. In dem
Brief, den er bei der Gelegenheit einer Reise Lochars an Menzel
schrieb, berichtet er: „Es ereignen sich Wunderdinge, die ein neues
Paradies versprechen, und das von unseren Sehern versprochene Jahr-
hundert sehe ich schon in unseren Händen." Und wie dies eben
durch die Leetüre der neueren Bücher bewirkt worden, darüber
schreibt er an den Paladin von Beiz: Ratichs Werke habe er schon
früher in Mähren benutzt; 1627 verfiel er auf mehrere ähnliche
Schriften, die er in der Vorrede zur Didaktik und Physik erwähnt.
„Da begann ich viel zu hoffen über das beginnende neue Jahrhundert
und wurde gewaltig gestärkt darin, dass das Danielsche: „ „Viele
werden da forschen und die Wissenschaft wird vermehrt"" von diesen
letzten Zeiten zu verstehen sei."
Und dazu kamen noch äußere Umstände. Die Berichte vom
Auftreten des Schwedenkönigs verbreiteten sich wie ein elektrischer
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Funke durch die ganze evangelische Welt — und wer hoffte mehr
von demselben, als die Verbannten? Je tiefer er in das Beich drang,
desto fester wurde die Überzeugung, er sei jener verkündigte Löwe
des Nordens, den Gott in diesen letzten glorreichen Tagen zu seinem
Werkzeug auserwählt. Und in dieser allgemeinen bis zur Betäubung
gesteigerten Stimmung fühlte der Geist des Oomenius seine Kräfte
doppelt und so brachte er denn anfangs des Jahres 1631 seine Janua
zum Erscheinen. Eine vom 4. März datirte Vorrede schildert die
Mangelhaftigkeit der Erfolge des Lateinunterrichtes, der außerdem
noch die Zeit der Erlernung der Kealien absorbire; eine Abhilfe
durch das die beiden Unterrichtskreise verbindende Buch zu schaffen,
entspreche vielseitigen Bestrebungen, von denen besonders jene der
spanischen Janua erwähnenswert sei. Gegen diese hat er dreierlei
einzuwenden: es fehlen da viele Worte, die man oft zu gebrauchen
hat, die Homonyma seien nicht darin enthalten, und auf die ursprüng-
liche Bedeutung des Wortes lege das Buch kein Gewicht. Dazu
nehme man noch, dass sehr viele Sätze keinen pädagogischen Wert
haben. All dem Übel will seine Schrift abhelfen; der Verfasser sieht
selbst viele Mängel in ihr; aber da sie die Fracht einer dreijährigen
Arbeit sei und er zu einer neuen Umarbeitung keine Muße habe, so
übergebe er sie der Öffentlichkeit in der Hoffnung, dass in dieser,
durch das Interesse für die Didaktik so fruchtbaren Zeit seine un-
vollkommene Arbeit bald durch eine bessere werde verdrängt werden.
Trotzdem die Arbeit mit Rücksicht auf die Muttersprache aus-
geführt worden war, veröffentlichte er diesmal nur den lateinischen
Theil, besonders, weil es ihm um das Urtheil vieler zu thun sei, die
den böhmischen Text nicht verstünden; — statt des, von der spani-
schen Janua angewendeten Index verspricht er ein etymologisches
Lexicon, mit den Stämmen und Ableitungen einzelner Wörter „nova,
succincta, facili ratione". Statt der Benennung Janua Linguarum
gefällt ihm aber die Benennung Seminarium Lingua? et Artium besser,
weil hier den Dingen ebensolche Sorgfalt zugewendet werde, wie der
Sprache, wodurch die ersten Begriffe der Erziehung, Sitte und Fröm-
migkeit, Grund und Gestalt erhalten sollten.
Die hundert Kapitel der Janua bieten wol kein strenges System,
eine gewisse Gradation nach dem Werte des Gegenstandes ist aber
doch im allgemeinen festzustellen. Nach einer kurzen Einleitung I.
werden die Naturreiche (2. — 20.), dann der Mensch (21. — 30.), seine
Thätigkeiten (31. — 48.) und bürgerlichen Verbältnisse (49. — 68), dann
nach einander die Erziehung (69.-82), die Sitten (96.) und ganz kurz
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der Glauben (97. — 99.) erörtert, worauf ein kurzer Sehluss folgt, der
mit Gottes Lob endet Die Art der Behandlung und den Reichthum
des Inhaltes mag folgende Probe zeigen: 93. De amicitia et huma-
nitate.
XCIII. Von der Freundschaft und Freundlichkeit (Leutseligkeit).
901. Wenn du willst, dass deine Gesellschaft (dein Umgang) jedem
angenehm sei, so sei gegen die Geringeren leutselig und freundlich,
gegen deinesgleichen dienstfertig, gegen die höheren ehrerbietig, ge-
horsam, so wirst du Gunst erlangen, gewinnen.
902. Den, von welchem du weggehest (scheidest), sollst du nicht
unwert halten zu segnen, den, welchen du heimsuchst, oder bei dem
du vorübergehst, freundlich (liebreich) zu grüßen, den, der dich grüßt,
wieder zu grüßen (zu danken), den, der von dir weggehet, ein Stück-
chen zu begleiten.
903. Antworte sanftmüthig dem, der da fraget, zum wenigsten mit
Zuwinken, oder Abwinken, mit Einwilligen oder Abschlagen.
904. Falle dem Redenden nicht in die Rede, doch hilf dem ein,
welcher etwas nicht weiß, wenn es dir einfällt; du sollst den nicht
aufhalten, der deiner wartet
905. Wenn du jemandem in irgend einer Sache willfahren (einen
Gefallen erzeigen) kannst, so sollst du es nicht versagen (abschlagen,
verweigern), weder sei es dir lästig, noch beschwerlich, noch auch der
Mühe unwert.
906. Brauchet jemand einen Rath, so rathe ihm, bedarf er des
Trostes, so tröste ihn, der Hilfe, so komme ihm zu Hilfe und stehe
ihm bei, der Beipflichtung, so stimme ihm bei; besuche die Kranken,
so wirst du dir bei allen -Gewogenheit und Gunst erwerben (ge-
winnen).
907. Hat dich jemand verletzet (beleidiget), so sieh es ihm nach
(sieh ihm durch die Finger), so wirst du ihn beschämen, gereut es
ihn (bedauert er's), dass er es gethan hat, so halte es ihm zu gut
(verzeihe es ihm), so wirst du ihn dir sehr verpflichtet und verbunden
machen (verbinden).
908. Bist du selbst einem zuwider gewesen, so schäme dich nicht
ihn anzusprechen, zufrieden zu stellen, zu versöhnen, ihm abzubitten,
and ausgesöhnt zu werden: nicht zum Schein, sondern ernstlich.
909. Den Groll (die heimliche Feindschaft) lass nicht alt werden
(verjähren), damit er sich nicht in Hass verwandle.
910. Stubengesellen und Tischgesellen geziemet die Einmüthig-
keit, besonders in der gemeinen Stube und im Esssaale.
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911. Es ist zwar nicht möglich, dass nicht Missstand und Un-
einigkeit dazwischen kommen (sich einschleichen) sollten.
Aber die Einträchtigkeit soll durch die Gegengeduld erneuert,
und die, so uneins sind, durch ins Mittel tretende (sich schlagende)
Unterhändler versöhnet werden.
912. Hat jemand glücklichen Fortgang, so sieh nicht scheel, son-
dern gönne es ihm, hat er Unglück, habe Mitleiden mit ihm. Ein
Barmherziger soll sich der Elenden erbarmen.
913. Vor allen Dingen befleißige dich der Wahrhaftigkeit, nicht*
ist abscheulicher (scheußlicher) als Lügen; wer Lügen erdenket, ist
verhasst.
914. Ist dir etwas Heimliches kund worden, so sprenge es nicht
aus, lass es auch keinen andern von dir erfahren, ob er schon dar»
nach frage: schweige still, sage ich, verschweige (verbeiße) es, deine
Verschwiegenheit wird keinem schaden, Ungelegenheit machen, dich
aber wird sie überaus lieb und wert (beliebt) machen (empfehlen).
915. Unter den Lustigen sei nicht sauertöpfisch, doch auch nicht
ausgelassen fröhlich.
916. Gegen andere sei nicht schwatzhaft, und wo du was Artiges
im Reden einmischest, lass es Scherz, nicht Gespötte sein; zanke nicht,
damit du nicht einen aus den Gegenwärtigen aufbringest, oder einen
aus den Abwesenden verleumdest.
917. Denn zanken, hadern und sich balgen ist bäurischer Leute
Sache, der Ohrenbläser und falschen Angeber Art aber ist es, zu
schmähen und fälschlich anzugeben.
Unter der strengen Durchführung des Grundgedankens hatte
allerdings sowol die Sprache als auch der Inhalt zu leiden. Um alles
zu geben, gab der Verfasser in den Kapiteln 55. — 85. über Geburt
der Kinder und über die Keuschheit manches, was der kindlichen
Phantasie nichts nützen kann und in mehreren Kapiteln kommen Be-
nennungen unästhetischer Gegenstände und Vorgänge vor, auf die man
ganz gut verzichten könnte. Andererseits musste er bei vielen Benennun-
gen, wo der classische Wortschatz nicht zu Gebote stand, zu Wortbil-
dungen greifen, die wol auch Bodinus anempfohlen, die aber die Freunde
der reinen Latinität zu seinen Feinden machten. Dass der Grundton,
der durch das Werk zieht, ein recht sittlich ernster und tief christlicher
sei, braucht wol kaum hinzugefugt zu werden. Der Erfolg des Werkes
war, wie Comenius nach 25 Jahren erzählt, einer, wie er sich ihn
nicht habe vorstellen können; es geschah, dass das Werk mit allge-
meinem Applaus von der ganzen gebildeten Welt aufgenommen wurde.
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Es bewiesen dies sehr gebildete Männer der verschiedensten Völker,
theils durch an den Verfasser gerichtete Briefe, theils dadurch, dass
sie, wie wetteifernd, Übersetzungen in die Muttersprachen unternahmen
So dehnte sich der Kreis seiner Bekannten auf die ganze gebildete
Welt aus und Lpbsprüche dienten ihm zum Sporn und zur Freude
zugleich.
Mit Vergnügen schließen wir hieran ein treffliches lateinisches
Gedicht, verfasst und unserem Blatte gewidmet von, Herrn Schulrath
Elberich in Oschatz:
Iii Meinoriani
J, A. Comenii
Natali Trccentesimo
D. XXVIII. Mart. MDCCCXCII.
Salve festa die« natalis! Aveto Comeni
Cantetur toto nomeu in orbe Tuum!
Quia nogtrum potis est illius dicere lau des,
Qui quoquc nunc juvenes educat atque docet?
Diffugere debinc tria saecula, clare Comeni!
Sed monumenta Tibi non peritura manent!
Major Aristoteles verbis — Tu cclsior actis
Imperiumque scholae tradidit ille Tibi!
Primus eras, qui res ipsaa, nec verba docebas
Doctrinamque dabas cum pietate simul!
Sic ais: „Omnis homo, diviua Stirpe creatus,
Coelos exoptat, Semper imago Dei!"
„Dux Natura mihi! Naturae convenienter
Annis jam primis erudiendus homo!
Corporis ergo prius vires sensusque colendi,
Tum vires animi, tum rationis opes!
Leniter it tardoquc gradu Natura per orbem
Praecipitatque nihil — Fac, moderator, idem!"
Optima dux Natura quidem — nam provida rerum
Est haec ipsa parens — flectitur arte Urnen.
Haqc artem methodumquc novam jam repperit Arnos
Et primo juvenes, quod monet, ipse f'acit.
„Est prius exemplum, postremo regula danda
Exemplisqne bonis duc, age, discipulos!"
„Nil juvenes discant unquam, quod inutilc vitae!
Nam doctrina minus, plus valet intcgritas!
Si quid mente tenet juvenis, mox exprimat orei
Nil pner ediscat quod necat ingenium!"
„Funditus exercenda prius vernacula lingual
Quod puer ipse legit, scribere debet idem!"
Parcite jam — cursus vestros inhibete, sodales!
Num memores jnssi semper eramus adhuc?
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Non ego crediderim. Moneat nos proridus Arnos,
Ut metbodus studiis convenienter eat!
Egregii clarique viri Te, Mogne, sequuntur:
Franckius ille pius, par Tibi mente sua.
Tum — fere maximus est — hic Pestalozzis unus,
Qui populo totura se dedit atqu« scbolac
Denique magnanimus quoque Diesterwegius ille,
Qui de sorte scholae inaxima damna tulit.
Omnibus bis tarnen es major, Tu Magne Comeni
Es pater — bi nati discipulique Tui!
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Pädagogische Kundschau.
Aus Preußen. [In Canossa.] „Traurig genug, das« heutigestages
wiche Betrachtungen nothwendig sind, dass noch gekämpft werden muss
um die wertvollsten Grundlagen der deutschen Nationalbildung
nod nm die wichtigsten Rechtstitel der deutschen Nationalehre:
um die Freiheit des Gedankens und des Wortes, des Glaubens und
Gewissens, der Wissenschaft und Lehre!"
So lautete die wuchtige Anklage eines kühnen und wahrheitsliebenden
Mannes am 27. Mai 1890 im Concertsaale der Philharmonie zu Berlin —
und 4000 Schulmänner, darunter die 165 Abgeordneten von 59 709 Mit-
gliedern der Lehrervereine aller deutseben Gaue, stimmten dem unerschrockenen
Redner zu.
Wie hat man denselben, einen „gewissen Dittes aus Wieu", dafür ge-
scholten und verketzert, wie hat man über Missbrauch des Gastrechts durch
liesen „Ausländer" sich entrüstet, wie hat man, überlegen lächelnd, ihn der
übertriebenen Schwarzseherei beschuldigt oder doch wenigstens wegen seiner
verbitterten Rücksichtslosigkeit verurtheilt! Er hätte doch über gewisse (an
sich freilich nicht zu leugnende) Verhältnisse sich fein manierlich ausschweigen,
an dem Schleier nicht so täppisch zupfen sollen! Hetzte er damit nicht die
ganze wilde Jagd der Schwarzbündler vom großen Windthorst bis herab zum
kleinen Stöcker und denen von Hammerstein und Consorten auf uns wehrlose
Geschöpfe?
Nun freilich, die damalige große Lehrerhetze hat er allerdings ver-
schuldet! Aber gerade dadurch hat der zeitkundige Kufer und Warner sich
ein großes Verdienst erworben: auch dem blödesten Auge wurde nun klar,
*o die Schützen ihre Aufstellung genommen hatten, und selbst das argloseste
Wild sah sich nun, die Größe der Gefahr erkennend, aus trügerischer Sicher-
heit und verhängnisvoller Ruhe jäh anfgescheucht. Wie eine Blendlaterne
leuchtete die Dittes'sche Rede mitten in das Dunkel hinein, wo die Wider-
sacher des Fortschritts, der Geistesfreiheit und — der modernen Volksschule
ihre Waffen schmieden. Einem Windstoß vergleichbar, welcher die Nebel zer-
reißt, um einen Abgrund aufzudecken, zeigte sie nicht allein dem Lehrerstande,
sondern zugleich allen Gebildeten der Nation, soweit sie sehen wollten,
die ungehenre Schwäche unserer Zeit Und darum wird jener Lehrertag, auf
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welchem ein Dittes die Ritter der Nacht durch seine Herausforderung zwang,
ihr Visir zu lüften, von un vergesslicher Bedeutung bleiben!
In den herrschenden Classen unseres Volkes machen sich Kräfte geltend,
welche geradezu den Freunden des Umsturzes unserer Gesellschaftsordnung in
die Hände arbeiten, indem sie an den Grundsäulen rütteln, auf denen, historisch
nachweislich, die Macht und Größe unseres Vaterlandes beruht. Freilich nicht
mit Absicht und Bewusstsein thun sie dies — ganz im Gegentheil! — wol
aber mit unfehlbarem Erfolge! Der sicherste Beweis dafür ist der dem preußi-
schen Abgeordnetenhause vorgelegte Entwurf eines Volksschulgesetzes
für den preußischen Staat. Dieser Entwurf, der den Namen eines Zedlitz
trägt — jener alten schlesischen Adelsf auiilie , welche schon mehr als einmal
glänzende Vertheidiger der Glanbens- und Gewissensfreiheit gestellt hat — ,
fuhrt uns weit hinter die Zeiten des Mühlerschen und Raumerschen Schul-
regiments znrück. Seit neun Jahrzehnten steht in Preußen der Erlas« eines
Unterrichtsgesetzes auf der Tagesordnung; seit mehr denn 40 Jahren ist die
gesetzliche Regelung der Unterrichtsangelegenheiten durch die Verfassung
gewährleistet; acht Entwürfe dieser Art sind bereits „zu den Acten" ge-
wandert; seit dein Anfange unseres Jahrhunderts hat die schon vom Freiherrn
von Stein und seinen Mitarbeitern erkannte Wahrheit: dass das Glück des
Vaterlandes auf der in den Schulen begründeten Geistesfreiheit und Gesittung
beruht, ihre immerwährende Bestätigung gefanden ; mehrere große Kriege haben
gelehrt, wie eine auf freiheitlichen Grundlagen erbaute Volksbildung die vor-
züglichsten Waffen gewährt und den festesten Grenzwall zum Schutze der
vaterländischen Grenzen bildet; vor den Augen aller Zeitgenossen haben die
scheußlichen Thaten verabscheuungswürdiger Meuchler wie Hödel und Nobiling
den Irrwahn widerlegt, als ob eine religiöse Erziehung nach den Forderangen
der römischen oder protestantisch -orthodoxen Zeloten vor den schwersten Ver-
letzungen göttlicher and menschlicher Ordnung zu bewahren vermöchte
und doch muss man es erleben, dass der preußischen Volksvertretung die Gut-
heißung von Vorschlägen zugemutet wird, welche den Glauben erwecken
könnten, dass ihre Verfasser hundert Jahre — aus ihrem Gedächtnis ge-
strichen hätten!
Freilich war es nicht möglich gewesen, die freisinnigen Entwürfe von
Altenstein (1819) und Falk (1877) durchzubringen. Aber lagern nicht
auch die Vorlagen der Minister Bethmann-Hollweg (1862), Mühler (1869)
und Gossler (1890) in den Actenschränken des Cultusministeriums? Und
haben nicht sogar die Raumerschen Regulative dem Geiste einer neuen
Zeit weichen müssen?
Doch gehen wir einmal kurz auf den Inhalt des Zedlitz'schen Entwarft
ein. Vorausschicken müssen wir indes, dass derselbe nicht benrtheilt werden
kann ohne einen Blick auf gewisse parlamentarische Verhältnisse und Vor-
gänge in Preußen.
Der Gang und die Entwicklung der inneren Politik Preußens und Deutsch-
lands ist etwa seit dem Jahre 1877 stark beeinflusst worden durch die Hal-
tung der ultramontanen Partei unter der genialen Führung Windthorst«.
Nicht ohne deren Mitwirkung vollzog sich der Sturz des unvergeßlichen Cnltus-
ministers Falk nnd die Berufung eines Mannes von so hervorstechend reac-
tionärer Richtung, wie derjenigen Puttkamers, in seine Stellung. Und
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«
als dann auf Puttkamer der Cultusminister von Gossler folgte, zeigte sich
der Einßuss der ultramontanen Partei schon deutlicher, indem sich dieselbe
nicht mehr damit begnügte, was sie auf kirchlichem Gebiet von der Regie-
rung zurückerobert hatte, sondern auch den Kampf um den Besitz der
Schule eröffnete. „Wir wollen, u erklärte Windthorst, „die Schule wieder so
haben, wie sie vor dem Schulaufsichtsgesetz (!) war. Können wir Wandel
hier nicht erreichen, so werden wir darauf dringen, dass mehr als es bisher
geschehen, endlich die Bestimmungen der Verfassung erfüllt werden, welche
volle Unterrichtsfreiheit (!) verbürgen. Wir können als Eltern verlangen,
dass unsere Kinder von solchen unterrichtet werden, denen wir vertrauen
und welche unsere Religion aufrecht erhalten, und dass der Kirche ge-
stattet wird, ihrerseits Schulen zu gründen (!) . . . Es werden ja
neue Unterrichtsgesetze geplant, und die daran arbeiten, mögen wissen, wie
wir Katholiken zur Sache stehen . . . Die Schule gehört der Kirche ganz
allein(!).w
Das war offen und ehrlich gesprochen, und jedermann wusste also, wo das
Ceritruni hinaus wollte. — Allein Herrn von Gossler und dem ganzen Ministe-
rium Bismarck gingen diese Forderungen denn doch zu weit. Man hatte viel
bewilligt und viel geopfert, man hatte sich tief und tiefer gebeugt, aber vor
der kleinen Excellenz im Staube liegen und auf dem Bauche rutschen — nein,
dazu konnte man sich nicht entschließen. Hatte doch auch der unglückliche
Kaiser Heinrich noch das immerhin menschenwürdige Vorrecht bewahrt, im
Schlosshof von Canos6a wenigstens zu stehen!
So zeigte denn der Minister von Gossler gar keine Eile, sogleich einen
Entwurf vorzulegen, welcher den Windthorstschen Forderongen Ausdruck ver-
lieh. Das veranlasste den unermüdlichen Centrum sftihrer, dem Minister zu Hilfe
zu kommen: er selbst formulierte diejenigen Sätze, welche den Hauptinhalt
des vorzulegenden Unterrichtsgesetzes ausmachen sollten. Und damit nicht alle
Welt sogleich erkennen sollte, dass hier dasjenige, was die ultramontanen
Führer auf den Katholikenversammlungen klipp und klar in reinem, gutem
Deutsch verlangt hatten, bewilligt sei, kleidete er es gebührendermaßen in das
Mäntelchen einer fein diplomatischen Ausdrucksweise. „1) In das Amt des
Volksschullehiers dürfen nur Personen berufen werden, gegen welche die
kirchliche Behörde in kirchlich- religiöser Hinsicht keine Einwendung
gemacht hat. Werden später solche Einwendungen erhoben, so darf der
Lehrer zur Ertheilung des Religionsunterrichtes nicht weiter zu-
gelassen werden. 2) Diejenigen Organe zu bestimmen, welche in den ein-
zelnen Volksschulen den Religionsunterricht zu leiten berechtigt sind,
steht ausschließlich den kirchlichen Obern zu. 3) Das zur Leitung
des Religionsunterrichts berufene kirchliche Organ ist befugt, nach
eigenem Ermessen den schul planmäßigen Religionsunterricht selbst zu
erteilen oder dem Religionsunterricht des Lehrers beizuwohnen, in diesen
einzugreifen und für dessen Ertheilung den Lehre-r mit Weisungen zu
versehen (!), welche von letzterem zu befolgen sind. 4) Die kirchlichen
Behörden bestimmen die für den Religionsunterricht und die religiöse Übung
in den Schulen dienenden Lehr- und Unterrichtsbücher, den Umfang und
Inhalt des schalplanmäßigen religiösen Unterrichtsstoffes und dessen Ver-
theilung auf die einzelnen Classen." — Das wirkt doch, jeder muss ea
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gestehen, nicht so abschreckend, wie der Satz: „die Schule gehört der Kirche
ganz allein" — wenn es auch in der Hauptsache dasselbe ist!
Und siehe da, es half! Der Minister vertiefte sich in diese Windthorst-
schen Anträge vom Jahre 1888 so, dass er zwei Jahre spater in der
Lage war, einen Entwurf vorzulegen, welcher den Ansprüchen des Centrums
ungefähr siebenachtelweges entgegen kam. Hatte er auch bei der Verhand-
lung des Abgeordnetenhauses über diese Anträge nachweisen können, dass die
Klagen der Ultramontanen unberechtigt seien — indem bei seinem Amts-
antritte (1881) 2200 katholische Geistliche von Ertheilung oder Leitung des
Religionsunterrichts ausgeschlossen waren, 1888 aber nnr noch 190, und nach
Abzug Posens gar nur 50 einschließlich der evangelischen — , so enthielt sein
Entwurf doch folgende grundlegenden Bestimmungen: Die Religionsgesell-
Schäften haben mitzuwirken bei Einführung neuer Lehrpläne und neuer
Schulbucher im Religionsunterricht; sie laßsen durch ihre Organe den Unter*
rieht in8piciren. Diese Organe sind berechtigt, in den Religionsunterricht ein-
zugreifen und den Lehrer am Schlüsse sachlich zu berichtigen . . .
Wo die Zahl der Schulkinder einer Religionsgesellschaft über 60 steigt, kann
die Schulaufsichtsbehörde die Errichtung einer besonderen Volksschule für
dieselben anordnen (behufs Ausrottung der Simultanschulen 1 Der Verf.).
Man sieht auf den ersten Blick, dass solche Bestimmungen mit der bis*
herigen Auffassung maßgebender Stellen über das Verhältnis zwischen Staat,
Kirche und Schule nicht vereinbar sind. Der moderne Staat hat, gegenüber
den Zielen der hierarchischen Parteien, vollen Grund, das unbeschränkte Auf-
aichts- und Leitungsrecht über die Volksschule für sich in Anspruch zu nehmen.
Damit aber bei den immerhin beschränkten Mitteln des Staates die kostspielige
Weiterentwickelung des Schulwesens nicht aufgehalten werde, bedarf es der
opferfreudigen Mitwirkung kleinerer Verbände, namentlich städtischer Gemein-
wesen, deren Wetteifer bereits schöne Erfolge aufzuweisen hat. Soll dieser
Factor indess nicht völlig außer Rechnung gestellt werden, so dürfen die aus
dem großartigen Steinschen Reformgedanken der Selbstverwaltung herrührenden
Befugnisse der communalen Körperschaften nicht so weit eingeengt werden,
wie es unter anderen betreffs aller bisherigen Rechte für Ernennung u. s. w.
der Lehrkräfte im Gossler'schen Entwurf geschah.
Letzterer wanderte übrigens, nachdem er in langwierigen Commissions-
beratnngen noch mancherlei Veränderungen erfahren hatte, und nachdem Herr
von Gossler dem Andrangen des Centrums zufolge seinen Ministersessel an den
Grafen Zedlitz abzutreten genöthigt gewesen war, ohne Sang und Klang den
Weg aller preußischen Unterrichtsgesetz -Entwürfe, und heute liegt ein neues
Werk vor.
Hatte Windthorst noch im Jahre 1887 die Aufhebung des Falkschen
Scilulaufsichtsgesetzes verlangt, so zeigt der Zedlitz'sche Entwurf,
dass es in dem, was für das Centrum die Hauptsache ist, auch ohne eine solche
formelle Aufhebung geht. Die Schule ist so, wie der Lehrer ist. Hat man
den Lehrer in der Gewalt, so besitzt man die Schule und mit ihr die Zukunft
Was ein Windthorst sich vielleicht nicht hat träumen lassen: dass es jemals
gelingen könnte, die Lehrerschaft im ganzen, also den katholischen und evan-
gelischen Theil derselben, wieder unter die volle, uneingeschränkte Botmäßig-
keit der Kirche (d. i. ihrer leitenden Organe) zu bringen, das stellt der
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Zedlitz'sche Entwurf in sichere und nahe Aussicht Windthorst konnte wol
darauf rechnen, dass es den Organen der päpstlichen Kirche mit ihrem wol-
dnrchdachten und unfehlbar wirkenden System eiserner Disciplinarmittel ge-
lingen müsste, die katholischen Lehrer den Absichten der Hierarchie dienst-
bar zu machen; nie aber konnte er hoffen, dieselbe Herrschaft auch auf die
evangelischen Lehrer auszudehnen. Nun aber zeigt eine Regierungs-
vorlage die Möglichkeit, wie mit Hilfe der Staatsgewalt die Ideale Windt-
horst« nicht blos zu erreichen, sondern noch zu übertreffen sind! Herrn
von Zedlitz genügt es nicht mehr, dass der confessionell-religiös erzogene junge
Mann in ein confessionell eingerichtetes Lehrerseminar eintritt, dort weiter
einen confessionellen Religionsunterricht unter Aufsicht der betreffenden kon-
fessionellen Regierungsabtheilung erhält, gleicherweise seine Lehramtsbefähigung
für den confessionellen Religionsunterricht durch ein Examen erwirbt und dann
unter dem Mitbeaufsichtigungs- und Vetorecht der kirchlichen Organe seinen
Religionsunterricht ertheilt; es genügt ihm nicht, dass die Einführung neuer
Lehrpläne und Lehrbücher für den Religionsunterricht der Seminare — wo
bekanntlich zumeist Theologen als Directoren und erste Lehrer angestellt
werden bezw. den Religionsunterricht ertheilen — „im Einvernehmm mit den
zuständigen kirchlichen Oberbehörden M erfolgen muss. Nein, das könnte in
einem zwar durch und durch vom Confessionalismas durchsetzten und be-
herrschten Staatswesen doch noch die Möglichkeit einer selbstständigen reli-
giösen Entwickelung, welche nicht ganz dem Geschmack des Oberkirchen raths
oder Bischofs entspräche, übrig lassen. Deshalb wird bestimmt: „Die mit der
Ertheilung des Religionsunterrichts (der Seminare, Verf.) zu beauftragenden
Lehrer (Lehrerinnen) sind vorher den kirchlichen Oberbehörden nam-
haft zu machen behufs Äußerung, ob gegen Lehre und Wandel derselben
Einwendungen zu erheben sind." Wie mag den Ultramontanen das Herz im
Leibe hüpfen, wenn sie diesen vortrefflichen Paragraphen, der auch die Semi-
nare in ihre Hände spielt, sich ansehen! Doch weiter: Nicht genug damit,
dass ein von der kirchlichen Oberbehörde entsandter Commissar mit Stimm-
recht an jeder Lehreranstellungprüfung theilnimmt — nein, wenn derselbe
„wegen ungenügender Leistungen eines Examinanden in der Religion im
Gegensatz zu der Mehrheit der Prüfungscommission Widerspruch
gegen die Ertheilung des Befähigungszeugnisses erhebt, so ist an den Ober-
präsidenten als Vorsitzenden des Provinzialschulcollegiums zu berichten*,
welcher nun nicht etwa selbstständig die Entscheidung trifft, sondern „im Ein-
vernehmen mit der kirchlichen Oberbehörde" zu entscheiden hat. Ist
ein Einvernehmen nicht zu erzielen, so wird dem Lehrer das Lehramtszeugnis
„mit Ausschluss der Befähigung für den Religionsunterricht" er-
theilt. Was es mit dieser Bestimmung auf sich hat, ist leicht zu ermessen:
sie bedeutet, dass derjenige, welcher dem bischöflichen oder protestantischen
Delegaten nicht gefällt, nie und nirgends — zum wenigsten aber in seinem
Vaterlande — eine Anstellung finden wird, welche seinen Wünschen ent-
spricht. Die Prüfungscommission bei den Seminarprüfungen besteht aus Com-
missarien des Provinzialschulcollegiums und des Regierungspräsidenten, dem
Director und den Lehrern des Seminars, — daneben noch dem kirchlichen
Delegierten. Und wenn nun die ersteren allesamt, vielleicht mit alleiniger
Ausnahme des jüngsten Seminarlehrers, überzeugt sind, dass der Examinand
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die Eigenschaften besitzt, welche zur Ertheilung eines fruchtbringenden Religions-
unterrichte in der Volksschule befähigen, der kirchliche Vertreter aber diese
Überzeugung nicht mit ihnen teilen kann, so sind alle ihre Stimmen null
und nichtig gegenüber jenes Einen Stimme — wenn es nicht etwa der
Überredungsgabe des Oberpräsidenten gelingt, ein „Einvernehmen" herzustellen!
Nichte kennzeichnet so deutlich den Geist des neuen Entwurfs, als diese
eine Bestimmung! Welche ungeheure Geringschätzung gegenüber den Organen
des Staates, welchen Gipfel von Misstrauen gegen alle nichtkirchlichen Be-
amten, welche maßlose Herrschbegier müsste sie, wenn nicht bereite vorhanden,
erzeugen. Das ist die gelungenste Umschreibung der Windthorstechen Prä-
tension: „die Schule gehört der Kirche ganz allein"; und hatte Windthorst
selbst in seinen Anträgen von 1888 es versuch^ diesen Satz in unverfängliche
Formeln zu bringen, so ist sein Diplomatenstil hiermit in den tiefsten Schatten
gestellt!
Allein auch mit so weitgehenden Vorsichtsmaßregeln scheint der Zedlitz'sche
Entwurf seines Erfolges noch nicht gewiss zu sein. Am Ende traut die „Kirche"
auch den Lehrern noch nicht, welche auf solche Art in den Besitz des Be-
fähigungszeugnisses für den Religionsunterricht gelangt sind; sie scheint wenig
Vertrauen zu ihrer eigenen Sache zu haben und Herr von Zedlitz muss das
wol wissen. Natürlich, der junge Lehrer kann in üble Gesellschaft geraten,
er kann böse Bücher lesen, er kann unter anderen erfahren, dass z. B. einmal
ein Theologe, Namens Schleiermacher, gelebt hat, welcher andere Ansichten
vertrat, als das heute herrschende Kirchenregiment, oder dass es Päpste ge-
geben hat, gegen deren Wandel und Lehre sich Einwendungen erheben
lassen — kurz, er kann schwankend werden, dem Satan in die Hände fallen.
Dem wird durch folgende Maßnahmen vorgebeugt: Den Religionsunterricht in
der Volksschule leiten natürlich die betreffenden Religionsgesellschaften. Mit
Ertheilung desselben werden nur solche Lehrer beauftragt, welche das
entsprechende Befähigungszeugnis besitzen. Der kirchliche Vertreter aber hat
„das Recht, dem Religionsunterricht in der Schule beizuwohnen (siehe
Windthorsteche Anträge, 3) durch Fragen sich von der sachgemäßen Erthei-
lung desselben und von den Fortechritten der Kinder zu überzeugen („ein-
zugreifen", nennt es Windthorst weniger unverblümt), den Lehrer nach Schluss
des Unterrichte sachlich zu berichtigen, sowie dementsprechend mit Wei-
sungen zu versehen (Windth. Anträge, 3)M. Dem gegenüber wird sich
künftighin kaum noch ein Lehrer die Freiheit nehmen, in religiöser Beziehung
eine eigene Meinung zu haben, und wenn er sie doch hätte, wird er sie klüg-
lich in den Schrein seines Herzens einschließen und die Meinung seiner kirch-
lichen Vorgesetzten heucheln oder — zu Grunde gerichtet werden. Die „Kirche"
aber wird blühen und triumphiren! Wie lange? Das weiß Gott allein!
In einem Punkt geht der Entwurf noch weiter, als die Windthorstechen
Anträge, welche vom preußischen Abgeordnetenhause, mit Einscbluss der Con-
servativen, im Jahre 1888 mit Entrüstung abgewiesen wurden. In diesen
Anträgen hatte Windthorst das auf den Katholikentagen so stark betonte Ver-
langen nach „voller Unterrichtefreiheit", nach dem Recht der Kirche, „ihrer-
seits Schulen zu gründen", klüglich verschwiegen. Der Zedlitz'sche Ent-
wurf will ganze Arbeit machen: auch dieser Wunsch des verstorbenen Cen-
trumsführers ist nicht vergessen. Der Entwurf enthält keine Bestimmung,
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welche es der reichen katholischen Kirche fernerhin verbietet oder auch nur
erschwert, die uneingeschränkte Unterrichtafreiheit dnrch Begründung kirch-
licher Schulen mit vollen Zügen zu genießen. Und sie wird es nicht einmal
immer mit ihrem Gelde zu bezahlen haben! Ist doch sogar Vorsorge getroffen,
dass, „wo die Zahl der Schulkinder einer vom Staate anerkannten Religions-
gesellschaft in einer Schule anderer Confession über dreißig steigt (der
Gosslersche Entwurf setzte 60!!)tt, die Errichtung einer besonderen Volks-
schule für dieselben stattfinden kann! Es wird künftig, wenn und so lange
etwa dieses Gesetz bestehen sollte, von Errichtung einer mehrclassigen Simul-
tanschule an Stelle mehrerer einclassiger Confessionsschulen nicht mehr die
Rede sein, ungeachtet der Thatsache, dass eine derartige Zersplitterung der
ohnehin geringen Finanzkraft der Communen nachtheilig ist, und ungeachtet
der anerkannten Wahrheit, dass ein mehrgliedriger Schulorganismus in
Berücksichtigung der Schülerindividualität mehr leisten kann, als mehrere
einfache Schulkörper ohne jegliche Gliederung. Gilt es doch, der verhassten
Simultanschule endgiltig den Todesstoß zu geben. Das Volk wolle sie nicht,
meinte vertheidigend Herr von Zedlitz, als sein Entwurf im Abgeordnetenhause
die Anklagebank zierte. Das „Volk" will sie nicht? Wozu dann solche Be-
stimmungen? In Nassau besteht die Simultanschule schon volle 75 Jahre,
und soeben erhebt sich die gesamte nassauische Bevölkerung gegen den Ver-
such, ihr die liebgewordene, seit Generationen im Segen wirkende Simnltan-
schule zu nehmen! Das Volk will sie nicht? So braucht man auch keine
Zwingburgen aufzuführen, mit deren Hilfe die religiöse Duldsamkeit zu Boden
geworfen werden soll! Fürchtet aber die Regierung, wie ihre sorgsamen Maß-
nahmen allerdings deutlich genug erkennen lassen, dass gerade das Volk sie
wolle, so bleibt für die Äußerung des Ministers nur eine Erklärung übrig,
die wir respectvoll unterdrücken. Der Entwurf stellt sich auf den Standpunkt
de« starrsten Confessionalismns. Einmal über das anderemal erklärte Herr
von Zedlitz im Abgeordnetenhause, dass es der Kegierung darum zu thun sei,
die Bestimmungen der Verfassung mit diesem Entwurf zur Ausführung zu
bringen — und doch geht derselbe über jene Bestimmungen weit hinaus, ja
er thut ihnen geradezu Zwang an. Wo steht in der Verfassung geschrieben,
dass in der Schule die engherzigste Confessionalität zum Ausdruck kommen
soll? Nirgends! Hier aber werden Bestimmungen empfohlen, welche mit pein-
lichster Gewissenhaftigkeit diesem Ziele zustreben. Dagegen ist dieselbe Ge-
wissenhaftigkeit nicht beobachtet worden gegenüber dem aus der Friedericia-
nischen Zeit herübergekommenen Allgemeinen Landrecht von 1794. In
demselben wird z. B. bestimmt: „Kinder, die in einer anderen Religion, als
welche in den öffentlichen Schulen gelehrt wird, nach den Gesetzen des Staates
erzogen werden sollen, können dem Religionsunterricht in derselben beizu-
wohnen nicht angehalten werden." Das Ge gentheil davon will fast 100 Jahre
später die heutige preußische Regierung zum Gesetz machen. Ein derartiger
Vorstoß gegen die Glanbens- und Gewissensfreiheit des Volkes ist im
Staate Friedrichs des Großen seit den Tagen eines Wöllner nicht mehr ge-
macht worden!
Äußerst bedenklich sind auch diejenigen Bestimmungen des Entwurfs,
welche darauf abzielen, die Rechte der Gemeinden bezüglich der Mitwirkung
an der Schulverwaltung zu beschneiden. Alle diese Rechte gehen grundsätzlich
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an den Regierungspräsidenten über. Nor insoweit, als dieser es fttr zweck-
dienlich hält, werden die Gemeinden zur Antheilnahme an diesem idealsten
aller Selbstverwaltungszweige zugelassen. „Der Regierungspräsident befiehlt,
die Gemeinde — zahlt!" Das ist der korzgefasste Inhalt der bezüglichen Be-
stimmungen. „Der Regierungspräsident", konnte der Abgeordnete Richter
mit Recht sagen, „bestimmt, ob eine neue Schale eingerichtet werden darf;
der Regierungspräsident oder die Aufsichtsbehörde bestimmt die Classen; der
Regierungspräsident bestimmt, wie gebaut werden soll; der Regierungspräsi-
dent bestimmt die Ausstattung der Schule; der Regierungspräsident bestimmt,
wie der Lehrplan sich auf die einzelnen Classen vertheilen soll; ohne den
Regierungspräsidenten kann kein neuer Lehrer angestellt werden; der Re-
gierungspräsident mit dem Bezirksausschuss setzt das Minimalgehalt fest; der
Regierungspräsident bestimmt, wie die Dienstwohnung beschaffen sein soll, und
ob der Lehrer eine solche haben soll; der Regierungspräsident bestimmt, ob
freie Feuernng und Heizung verabreicht wird; der Regierungspräsident be-
stimmt, ob der Mann in den Ruhestand zu versetzen ist; er regelt die einst-
weilige Wahrnehmung der Lehrerstelle; kurzem, der Regierungspräsident be-
stimmt alles!"
Die kurze Signatur des Ganzen lautet hiernach: Priesterherrschaft
im Innern, Allmacht der Bureankratie im Äußern!
Bezeichnend ist es, dass der Ministerpräsident, Graf von Caprivi, den
Widersprach gegen diesen Entwurf damit glaubte stigmatisiren zu dürfen, dass
er behauptete: es bandle sich hier um Christenthum und Atheismus —
wer diesen Entwurf ablehne, sei kein Christ, sondern ein Atheist Ängstliche
Gemüther mag das schrecken; im allgemeinen aber wird dieser Schreckschuss
wenig oder gar nichts nützen.
Und wenn der Entwurf Gesetzeskraft erlangen sollte? Sind doch Ultra-
montane und Conservative bereit, ihn anzunehmen! Was dann?
Zunächst wird die von der Regierung gehegte Hoffnung, dass das Gesetz
geeignet wäre, eine friedliche Lösung der socialen Frage herbeizufuhren,
sich als nichtig erweisen. Wir sind in keinem Palast geboren und
wandeln nicht auf den Höhen der „Gesellschaft"; wir kennen daher das „Volk"
und glauben sicherer in seiner Seele lesen zu können als jene, welche aus
äußerlich begünstigt erer Stelle auf die Kreise herabsehen, in denen es gährt
und grollt. Und daher wissen wir es, dass wiederum der Abgeordnete Richter
das rechte Wort traf, wenn er behauptete, dies Gesetz, mit welchem die Re-
gierung die socialen Gewitterstrahlen auffangen wolle, sei ein zerbrochener
Blitzableiter. Ja, so ist es; wenn dieser Entwurf zum Gesetz erhoben
werden sollte, so wird es wirken, wie ein schadhafter Blitzableiter, der die
Gefahr vermehrt, statt sie zu vermindern. Nimmermehr wird die Sozial-
demokratie durch die Herrschaft eines solchen Gesetzes entwaffnet werden.
Die preußischen Regulative von 1854 haben es gelehrt, dass derartige Maß-
nahmen nicht geeignet sind, um die Menschheit zu veredeln oder auch nur von
den scheußlichsten Verirrungen abzuhalten, dass jede geistliche Verknöche-
rung des Volksschulwesens als natürliche Gegenwirkung das entgegen-
gesetzte Extrem, nämlich völlige Gleichgiltigkeit in kirchlichen Dingen,
hervorruft Und dabei gingen die Regulative nicht so weit, wie dieser
Entwurf!
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Geradezu verhängnisvoll würde das Gesetz auf den Lehrerstand wirken.
Zweifelsohne wurde eine Fortbildung der Pädagogik seinerseits auf lauge
Zeit, mindestens länger als das Gesetz dauert, ausgeschlossen sein. Wie die
bildende Kraft des Künstlers, der nicht mehr frei schaffen und nicht mehr
seiner Eingebung folgen darf, allmählich erlahmt, so kann ein Lehrer, der am
OJingelbaude geführt wird, dessen Seele in der Folterkammer einer „recht-
gläubig"-kirchlichen Approbation geknetet, geklopft, gezupft und gezwickt
worden ist, kein Pädagoge mehr sein; er sinkt zum elendesten Stundengeber
herab! Diejenige Geistlichkeit aber, welche im Sinne und Geiste dieses Ge-
setzes die Aufsicht und Leitung der Volksschule übernähme, könnte — das
liegt in der Natur der Sache — weder Beruf noch Neigung besitzen, sich mit
der Theorie und Praxis einer Wissenschaft näher zu befassen, deren Grund-
lagen, einmal betreten, sie völlig abseits der ihr zugewiesenen Aufgaben
fuhren müssten.
Und wo sollte dem Lehrerstande, dessen berufliche Erfolge in erster Linie
von einer unverwüstlichen und stets sich erneuernden freudigen Hingabe ab-
hängen, die Kraft, die Ausdauer herkommen, wenn er am Grabe aller seiner
Hoffnungen stehen niüsete, wenn zur materiellen Not die Pein des inneren
Zwiespalts käme, wenn er geknickt, seines Selbstbewusstseins , seiner Ver-
antwortlichkeit entkleidet dastünde, ein Spielball herrschsüchtiger Priester,
die für ihn kein Herz haben! Es ist eine furchtbare Verantwortung, welche
diejenigen auf sich nehmen, welche einen Theil des Lehrerstandes zur Ver-
zweiflung oder — zur Gesinnungslumperei treiben wollen. Die Lehrer sind
Christen und wollen Christenthum lehren; aber sie wollen nicht willenlose
Werkzeuge, tote Mundstücke sein. Sie wollen nicht im Geiste einer unduld-
samen Priesterschaft, sondern im Geiste Christi selbst den Religionsunterricht
ertheilen. Sie wollen sich nicht der Tortur einer modernen Inquisition unter-
worfen sehen. Wahrhaft christliche Vertreter des geistlichen Standes selbst
lehnen ein derartiges Gesetz ab. Sie thun wol daran. Denn das gute Ein-
vernehmen zwischen Kirche und Schule kann nur gedeihen, wenn sich die
Kirche wie eine liebende Schwester, nicht aber wie eine tyrannische Herrin
benimmt.
Wir schweigen davon, dass der Entwurf keine der Forderungen erfüllt,
welche der Lehrerstand eben so oft und eindringlich, wie mit gutem Recht
erhoben hat. Löst er die Frage einer verbesserten Lehrerbildung? Nein!
Schützt er den Lehrer oder seine Hinterbliebenen furderhin vor Noth? Nein!
Gewährt er die Fachaufsicht? Nein! Weder in ideeller noch in mate-
rieller Beziehung erhebt er die Lehrerschaft in diejenige Stellung,
welche ihr vermöge der Wichtigkeit ihres Berufes und jahrzehnte-
langer treuer Pflichterfüllung gebührt. Selbst die Vertretung im
Schulvorstande, welche der Entwurf dem Lehrer gewährt, ändert nicht das Ge-
ringste an diesem Urtheil. Der Lehrer soll von Amts wegen im Schul vorstände
vertreten sein, und wo ihrer mehrere sind, nach freier Wahl. Der Entwurf
aber bestimmt, dass zum Schul vorstände, dessen Vorsitzender der Ortsschul-
inspector (im Geiste des Entwurfs also wol ausnahmslos der Geistliche) ist,
ein „von der Kreis- (Stadt-) Schulbehörde dazu ernannter Lehrer" gehören
soll. Das ist nicht die Forderung der Lehrerschaft!
Auch von den politischen Wirkungen dieses Gesetzes wollen wir nicht
PaMLnrotfum, 14. Jahrg. Heft VI. 27
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sprechen. Das gehört an eine andere Stelle. Aber als Patriot kann auch kein
Lehrer ohne tiefstes Bedanern wahrnehmen, wie schon der bloße Entwnrf die
Folge hat, dass es im Reichsgebäude verdächtig knistert und knackt, als sei
dasselbe in den Grundfesten erschüttert. Wer Augen hat zu sehen, der sehe,
und wer Ohren hat zu hören, der höre!
Man hat noch in neuerer Zeit von verschiedenen Anschauungen und Stand-
punkten aus die Klage erhoben, dass im deutschen Volke die Ideale im Sinken
wären. Der lebhafte Widerspruch jedoch, welchem dieser Gesetzentwurf be-
gegnet, hat gezeigt, dass wenigstens in denjenigen Volkskreisen, welche nicht
zu den Hörigen der hierarchisch -reactionären Mehrheit des preußischen Abge-
ordnetenhauses gerechnet werden können, der Idealismus keineswegs erloschen
ist. Die drohende Unterdrückung der geistigen Freiheit des pro-
testantischen Deutschland wird die idealen Kräfte mobil machen,
und wenn das frevle Werk auch vorübergebend gelingen sollte: dauern wird
es nicht! Die preußische und deutsche Schule wird niemals sein, was sie
schon zu Altensteine Zeit nach dem Wunsche der preußischen Bischöfe sein
sollte: eine causa ecclesiastica*).
Zur Zeit freilich sind unsere Aussichten trübe. Wir stehen im Bann des
Clerikali8mus, im Schlosshofe von Canossa. Unsere nichtpreußischen Brüder
aber sollen deshalb nicht verächtlich auf uns herabsehen, noch auch phari-
säisch beten. Wer da steht, der sehe zu, dass er nicht falle l Schon mehr als
einmal hat das preußische Volk bewiesen, dass es fremdes Joch nicht zu tragen
vermag. So wird es auch diesmal sein! Und kein Zweifel: wenn der Aar
seine Schwingen erheben wird, dann sucht das Nachtgevögel seine dunklen
Schlupfwinkel auf.
Wir bleiben nicht in Canossa! — ö —
Aus dem Großherzogthum Baden. {Ende Januar.) „Duo qnom
faciunt idem, non est idem."**) Diese oft auf ihre Richtigkeit bezweifelten,
altclassi8chen Worte finden wieder einmal ihre Bestätigung in den fast gleich-
zeitig erschienenen Gesetzentwürfen über das Elementarschulwesen in Preußen
und Baden. Während der preußische Gesetzentwurf nach dem v. Mühler-
schen Liede, d.h. mit Veränderung des Substantives „Wirtshaus" in „Kirche",
also: „Grad aus der Kirche komm' ich heraus" abgestimmt ist, bietet der
Schulgesetzentwurf Badens eine die Gemüther im großen und ganzen be-
ruhigende und erhebende Composition dar. Das Leitmotiv des letzteren ist
das liberale, bis jetzt zu Recht bestandene Schulgesetz vom Jahre 1868 mit
seinen zeitgemäßen Ergänzungen (obligatorische Fortbildungsschule, obligato-
rische Einführung des Knabenturnunterrichts etc.). Während der Schulgesetz-
entwurf des Landes „der Gottesfurcht und frommen Sitte" einer total rück-
schrittlichen, engherzig -confessionellen Tendenz entsprungen ist, fordert der
badische Entwurf in Bezug auf den Unterricht der Volksschule:
*) Clausnitzer, Geschichte des preußischen Unterrichtsgesetzes.
Berlin, Verlar von E. Goldschmidt. (Soeben in dritter, bis auf die neueste Zeit fort-
gefiihrtor Auflage erschienen!)
*♦) Wenn zwei dasselbe thun, so ist es nicht dasselbe.
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„Der Unterricht in der Volksschule wird sämintlichcn schulpflichtigen Kindern
gemeinschaftlich erthcilt, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, sofern die Kinder
verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehöreu. Die den politischen Ge-
meinden obliegende Verpflichtung kann weder im ganzen noch zum Theile durch
eine vorzugsweise zur Erfüllung confessioneller Zwecke begründete Oorporations-
anstalt geleistet werden."
Die Unterrichtsgegenstände der Volksschule erhalten durch den „Hand-
fertigkeitsunterricht" für Knaben nnd durch „Unterweisung der Mädchen in
der Haushaltungskunde" eine Bereicherung. An dem Unterricht dieser Gegen-
stände nehmen jedoch nur solche Kinder theil, deren Eltern oder deren Stell-
vertreter sie zur Theilnahme bestimmten. — Die Schulpflicht dauert acht
volle Jahre; der Eintritt der Mädchen in die Schule in dem Jahre, in welchem
sie sechs Jahre alt werden, scheint uns jedoch etwas zu frühe zu sein; jeden-
falls wird diese Stelle des Entwurfes eine Änderung erfahren. — Was den
örtlichen Schulvorstand betrifft, so sind die Bestimmungen hierüber die
alten geblieben; nach denselben hat der dienstälteste Lehrer Sitz und Stimme
iin Schul vorstand, in welchem der Ortsvorstand (Bürgermeister) in der Regel
den Vorsitz führt. — Auch die Vorbildung der Lehrer ist leider unverändert
geblieben (zweijährige Vorbereitung in einer Präparandenschule (auch private
oder Besuch einer Mittelschule) und dreijährigen SeminarbeBnch. (In Baden
bestehen zwei katholische, ein evangelisches und ein „gemischtes" Seminar.)
Wenn der preußische Schnlgesetzentwurf Gesetzeskraft erlangt, so werden
bedauerlicherweise die Lehrer Prenßens total abhängig von der Geistlichkeit,
sie werden „Diener der Kirche", welche die Schule als „Tochter und Magd
der Kirche" zu behandeln haben; dass dann jeglicher Fortschritt der Päda-
gogik mit dem Maßstabe eines Thomas von Aquino oder des „Luthermannes
Stöcker" gemessen, d. h. zunichte gemacht wird, ist selbstverständlich. BadenB
Schulgesetzentwurf dagegen bestimmt :
„Lehrer, die einen durch die zuständige kirchliche Behörde ihnen angetragenen,
tur die Kirchen- (Heligions-) Gemeinde, welcher der Lehrer selbst angehört, aus-
zuübenden Organisten- bezw. Vorsängerdienst — überhaupt oder unter den ange-
botenen Bedingungen — anzunehmen sich weigern, könuen auf Antrag der kirch-
lichen Oberbehörde des betreffenden Religionsthcilcs durch die Oberschulbehörde zur
Übernahme und Besorgung des Dienstes angehalten werden. Dabei sind durch die
Oberschulbebörde nach Anhören der Kirchenbehörde und des Lehrers der Betrag der
Vergütnog, sowie nöthigcnfalls die woitertn Bedingungen festzusetzen, von deren
Leistung bezw. Einhaltung die Verpflichtung des Lehrers zur Übernahme des Dienstes
abhängig sein soll. Andere niedere kirchliche Dienste dürfen die Lehrer
nicht übernehmen.-4
Von wesentlicher Bedeutung für die Stellnng der Lehrer Badens ist
ferner, dass — laut des Entwurfes — die Lehrer aus ihrer bisherigen Zwitter-
stellung, wonach sie bald als Gemeinde-, bald als Staatsbedienstete behandelt
werden konnten und infolgedessen eine Masse von Unzuträglichkeiten zu er-
dulden hatten, als Staatsdiener, bezw. „etatmäßige Staatsbeamte" (nach
definitiver Anstellung) erklärt werden. Dass infolge dieser Stellung der seit-
herige Besoldungsmodus — Bezahlung nach Or tsclassen — fallen und an
seine Stelle die Bezahlung nach dem Dienstalter treten mußte, ist selbst-
verständlich. Durch diese Änderung, für welche schon seit Decennien in den
badischen Schulzeitungen plaidirt wurde, wird eine Ungerechtigkeit von miss-
lichen Folgen aller Art beseitigt.
Der Anfangsgehalt eines etatmäßigen Lehrers beträgt 1100 Mark,
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— 388 —
welcher bis 1800 Mk. durch Zulagen ansteigt; die erste (Anfangszulage)
erfolgt nach Ablauf von drei Jahren seit dem Zeitpunkte der ersten
etatmäßigen Anstellung, die weiteren (ordentlichen) Zulagen erfolgen nach je
vier Dienstjahren in der Höhe von je 100 Mk. Außerdem hat jeder definitiv
angestellte Lehrer eine freie Wohnung oder eine Wohnungsentschädigung-,
wie sie das „ Beamtengesetz u je nach drei Ortsclassen normirt (350, 180 nnd
160 Mk.), zu beanspruchen. „Die Dienstwohnung soll in der Regel mindestens
vier Wohnräume — davon zwei von je 20 — 25 Quadratmeter Grundfläche
und heizbar, die übrigen von je 15 — 18 Quadratmeter Grundfläche, ferner
eine Küche und die sonst noch erforderlichen Haushaltungsräume umfassen."
Ferner erhält der erste (Haupt-) Lehrer, welcher vom Oberschulrath bestimmt
wird, in Orten, die mindestens drei definitive Lehrer haben, 100, in Orten mit
mehr als vier Lehrern 200 Mk. Dienstzulage. Die Pflichtstundenzahl an n ein-
fachen Volksschulen M beträgt 32; für jede weitere wöchentlich zu ertheilende
Unterrichtsstunde (Fortbildungsschul- und Turnunterricht) wird 50 Mk. jährlich
vergütet.
Definitive Lehrerinnen erhalten Gehalt, wie die definitiven Lehrer, jedoch
nur bis zu dem Höchstgehalt von 1400 Mk. und nur Mietsentschädigung der
oben erwähnten Ortsclassenbeträge.
„Lehrer und Lehrerinnen in nicht etatmäßiger Stellung erhalten eine
Vergütung von jährlich 800 Mk. Diese Vergütung erhöht sich auf 900 Mk.
für das Jahr für Lehrer und Lehrerinnen, welche die Dienstprüfung bestanden
haben und zwar vom Anfang des auf die Ablegung der Prüfung folgenden
Monats an." Neben dieser Vergütung haben die betreffenden Lehrpersonen
einen mit dem erforderlichen Schreinwerk eingerichteten heizbaren Wohnraum
von mindestens 18 Quadratmeter Grundfläche oder eine MiethsentschHdigung
von % des obengenannten Wohnungsgeldes zu beanspruchen. Schulverwalter,
das sind provisorische Lelirer, welche eine definitive Lehrstelle verwalten,
erhalten den für den definitiven Lehrer bestimmten Betrag des Wohnungsgeldes.
Der Pensions- und Witwengehalt — ersterer richtete sich bisher nach
dem Einkommen der Ortsclassenstelle, letzterer betrug 390 Mk. jährlich außer
dem Nahrungs- und Versorgungsbeitrag der etwaigen Kinder — richtet sich
nach den Bestimmungen des „Beamtengesetzes". Nach diesem erhält ein pen-
sionsfähiger Lehrer, wenn die Zuruhesetzung nach vollendetem zehnten , jedoch
vor vollendetem elften Dienstjahre eintritt, 30% der Summe, welche unmittel-
bar vor der Zuruhesetzung den Einkommensanschlag (Gehalt und Wohnungs-
geld) darstellt, und steigt von da an mit jedem weiter zurückgelegten Dienst-
jahre um 1%% jener Summe; der Ruhegehalt darf 75°/0 des Einkommens-
anschlags nicht überschreiten.
Der Witwengehalt beträgt 30% des maßgebenden Einkominens-
anschlags; außerdem erhält eine Witwe während der auf den Todestag folgen-
den drei Monate den vollen Betrag des von dem Verstorbenen bezogenen Ge-
haltes und Wohnungsgeldes (Sterbegehalt). Das gesetzliche Waisenge ld (bis
zum 18. Jahre) beträgt für Kinder, deren Mutter lebt, 2/10 des Witwengeldes
für jedes Kind; für Ganzwaisen, wenn nur ein Kind vorhanden ist, 4/10, wenn
zwei Kinder dieser Art vorhanden sind 7/,0, wenn drei oder mehrere dieser
Art vorhanden sind, für jedes derselben >l/,0 des Witwengeldes.
Die Städte, welche der Städteordnung unterstehen (dies sind die größeren
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Städte des Landes), können ihr Schulwegen auf Grund des Gesetzes beliebig
ordnen, besitzen das Präsentationsrecht der Lehrer und haben keinen Beitrag
au die Staatsschnlcasse zu leisten; die Gehalte der Lehrpersonen müssen jedoch
mindestens so viel betragen, als dieselben anderwärts nach den gesetzlichen
Bestimmungen bezögen. Die Bestreitung der Ruhegehalte und Witwen- und
Waisenversorgung liegt der Staatscasse ob. — Für die technische Leitung
können die Städte einen Kector (Stadtschulrath) durch die staatliche Unter-
richtsverwaltung anstellen. „Das Amt desselben kann als ein für sich be-
stehendes eingerichtet, oder mit dem Dienste eines akademisch-gebildeten oder
für höheren Unterricht geprüften Lehrers der Volksschule der Stadt verbunden,
oder als Nebenamt einem im Hauptdienst anderweit verwendeten, der staat-
lichen Unterrichtsverwaltung unterstehenden Beamten übertragen werden."
Würde diese Bestimmung des Entwurfs Gesetzeskraft erlangen, so müsste
dies in Hinsicht auf das Ansehen des Volksschullehrerstandes lebhaft bedauert
werden, weil diese dann nolens volens von der Bekleidung dieser Stelle aus-
geschlossen würden und die Forderung der neueren Pädagogik unbeachtet bliebe,
wonach der Schule nur eine fachmännische Leitung ersprießlich ist. Un-
zweifelhaft halten wir einen tüchtigen und erfahrenen Volksschullehrer viel
geeigneter zur Versehung einer Rectorstelle, als z. B. einen akademisch gebil-
deten Lehramtspraktikanten oder einen Pfarrcandidaten. Ebenso findet Para-
graph 94 mit allem Recht seitens der Volksschullehrer die abfälligste Beurthei-
lung, weil betreffender Paragraph verlangt, dass an „erweiterten Schulen-
auch solche Lehrer, die für höhere Schulen (Mittelschulen) sich die Lehr-
befähigung erworben haben (Reallehrer), ferner akademisch gebildete Lehrer
an denselben angestellt werden können. Hierdurch würden alle Volksschul-
lehrer, die der Volksschule treu geblieben und das Examen für „erweiterte
Schulen" abgelegt haben, eine Beeinträchtigung erfahren. Die Volksschule
sollte nicht als Versorgungsanstalt für solche Herren betrachtet werden, für
welche die Behörde keine entsprechende Verwendung hat. Snnm cuique.
Hoffentlich erhält auch dieser Paragraph keine Gesetzeskraft.
In Vorstehendem haben wir die Grundzöge des badischen Volksschnl-
gesetzentwurfs im großen und ganzen dargelegt. Er enthält unleugbar be-
deutende Fortschritte, welche die Lehrerschaft dankbar anerkennt. Ein schönes
Vorrecht jedoch, das die definitiv angestellten Lehrer bisher besaßen, das Recht
der Unversetzbarkeit, fällt mit dem neuen Gesetz; die Lehrer sind, wie die
anderen Beamten des Staates, fernerhin „im Interesse des Dienstes" versetzbar;
auch ist eine neue Versetzungsart für die Lehrer, welche sie bisher nicht
kannten, vorgesehen: die „Strafversetzung". — Hinsichtlich der unverkenn-
baren Vorzüge dieser Gesetzesvorlage muss man die kleineren Übel mit in
Kauf nehmen, da es undankbar sein hieße, etwas Gutes zu verkennen, weil es
hätte besser sein können. Indessen wird auch die Berathung des Entwurfes,
das hoffen wir, noch manches Unebene abschleifen. — Wie wir hören, wird
der rührige und wackere Lehrervereins vorstand, besonders der Obmann des
Vereins, Herr Hauptlehrer Heyd, noch dahin wirken, dass der Anfangsgehalt
auf 1200 und der Höchstgehalt auf 2000 Mk. erhöht wird. Die badische
Lehrerschaft verdankt die unleugbaren Fortschritte, welche der in Rede stehende
Gesetzentwurf enthält, in erster Linie seiner Einigkeit, ferner der thätigen
und umsichtigen Fürsorge des Lehrervereinsvorstandes und endlich dem wol-
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- 390 —
wollenden, lehrerfreundlichen und liberalen Minister Staatsratb Dr. Nokk.
Wir zweifeln nicht an der stellenweisen Verbesserung und Annahme des Gesetz-
entwurfes seitens der Ständekammern. Zo wünschen wäre, dass die in schwer-
verständlicher Fassung gehaltenen, sogenannten „ Übergangsbestimmungen -
einer recht sorgfältigen Dnrchberathung unterzogen und manche Härten der-
selben beseitigt würden. Wir behalten uns vor, über den weiteren Verlauf
der Sache s. Z. zu berichten.
Zum Schlüsse fügen wir noch die Mittheilung an, dass man sich in libe-
ralen Kreisen Badens darüber wundert, dass der preußische Minister Miquei,
welcher sich vor etwa drei Jahren noch für keine starre confessionelle Jugend-
erziehung in Hannover aussprach, die Hand zu einer engherzig -confessionellea
Schulgesetzentwurf bieten konnte. Wir möchten dem Großstaate Preußen, der
noch so vieles an der Schule und den Lehrern gutzumachen hat. zurufen: Gehe
nach Baden und lerne von ihm! — r.
Bei den academischgebildeten Lehrern Badens ist eine Petition im Um-
lauf, in welcher um Gleichstellung in Gehalt und Alterszulagen mit den Amts-
richtern gebeten wird. Die genannten Lehrer wurden nämlich durch das
Beamtengesetz insofern verletzt, als den Richtern nach zwei Jahren die erste
Zulage von 500 Mk. nach je acht Jahren bis zur Erreichung des Maximalsatzes
von 5000 Mk. zugestanden ist, während den Professoren nach zwei Jahren
nur 400 Mk. und je alle drei Jahre nur je 400 Mk. zugedacht wurden. —
Wir wünschen besten Erfolg.
Mannheim. (Resolution.) In einer dahier abgehaltenen Versamiuluug
des Freisinnigen Vereins hielt Herr Dr. Meuser einen Vortrag über den
preußischen Schnlgesetzentwurf unter Bezugnahme auf das badische
Schulgesetz, worauf folgende Resolution einstimmig angenommen wurde:
„Die am 9. Februar 1892 durch den Freisinnigen Verein einberufene
Versammlung spricht die Überzeugung aus, daß die Durchführung des
preußischen Schulgesetzentwurfs, bei der innigen geistigen Zusammen-
gehörigkeit aller Theile unseres Vaterlandes einen unheilvollen Einfluss auf
die culturelle Entwicklung der gesammten deutschen Nation ausüben würde.
Sie dankt daher den freisinnigen Abgeordneten des preußischen Landtag
für ihre energische Bekämpfung dieses Entwurfes und hofft, daß es den
vereinten Bemühungen der Liberalen aller Schattirungen gelingen wird,
die Annahme desselben zu verhindern. Gegenüber den im preußischen
Abgeordnetenhause gefallenen Äusserungen erklärt die Versammlung, dass
sich die confessionell gemischte Volksschule Badens seit einer Reihe von
Jahren in segensreicher Wirksamkeit erprobt hat und dass die große
Mehrheit des badischen Volkes entschlossen ist, an dieser Errungenschaft
einer toleranten und freigesinnten Gesetzgebung mit allen Kräften fest'
zuhalten." N. B. Sch.
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— 391 —
Ans Sachsen. (Nov. 1891 bis Jan. 1892.) Der hohen Entwicklungs-
stufe, anf welcher nach dem Zeugnis vieler unser Volksschulwesen steht, ent-
spricht allerdings noch nicht die materielle und soziale Stellung der
Lehrer. Die Blicke derselben sind aus diesem Grunde auf den gegenwärtig
versammelten 24. Landtag gerichtet, der im November vom Könige mit einer
Thronrede eröffnet wurde, welche u. a. ankündigte:
„In Übereinstimmung mit den Gründen, welche zu einer allgemeinen
Aufbesserung der Beamtengehalte führen, wird Ihnen auch ein Gesetz-
entwurf über eine Erhöhung der Minimalgehalte der Volksschul-
lehrer vorgelegt werden.
Die letzte Ständeversammlnng hat sich ferner für eine neue Regu-
lirung der Pensionsverhältnisse der Geistlichen und Lehrer ausgesprochen.
In diesem Sinne werden Ihnen einige Gesetze und mehrere Änderungen
der statutarischen Bestimmungen der Landesuniversität zur Beschließnng
zugehen."
Und in dem dem Landtage vorgelegten Berichte hieß es:
Den Anträgen der letzten Ständeversammlnng gemäß ist erlassen worden :
das Gesetz, den Wegfall der Pensionsbeiträge der Geistlichen und Lehrer be-
treffend, unter dem 10. März 1890.
Dem bei Berathung des vorerwähnten Gesetzes über den Wegfall der
Pensionsbeiträge der Geistlichen und Lehrer gestellten Antrage und der in
Beziehung hierauf in dem letzten Landtagsabschiede gegebenen Zusicherung
entsprechend wird nunmehr den Ständen ein Gesetzentwurf, die Aufhebung der
Befreiung der Geistlichen und Lehrer von den persönlichen Anlagen für
Kirchenzwecke betreffend, zugehen.
Wegen Gleichstellung der Pensionsverhältnisse der Geist-
lichen und Lehrer mit denen der Staatsdiener haben die angestellten
Erwägungen zur Aufstellung zweier hierauf bezüglicher Gesetzentwürfe ge-
führt, welche den Ständen gleichfalls zngehen werden.
Ein weiterer Gesetzentwurf wird, den Verhandlungen über das letzte
Finanzgesetz entsprechend, den Ständen vorgelegt werden, welcher bezweckt,
die für die Schulgemeinden ausgesetzten Staatsbeihilfen danernd zu gewähren,
desgleichen ein Gesetzentwurf, welcher eine weitere Erhöhung der Lehrer-
gehalte an den Volksschulen in Aussicht nimmt.
Von der (bei Capitel 96 des Staatshaushaltsetats) von den Ständen er-
theilten Ermächtigung zur Gewährung einer Unterstützung für die Lehrer-
bildungsanstalt des Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit zu
Leipzig ist Gebrauch gemacht worden. (Vgl. hierzu: Pfedag. XII, Heft 9,
Rundschau.)
Der Gesetzentwurf, welcher die Befreiung der Lehrer und Geistlichen
von den Kirchenanlagen aufhebt, ist bereits im Januar angenommen wor-
den.— Von den beiden anderen Entwürfen entspricht der über die Pensions-
verhältnisse der Geistlichen und Lehrer allen Forderungen der Gerech-
tigkeit: Die Lehrer werden nebst den Geistlichen den Staatsdienern gleich-
gestellt! Endlich! sagen wir, uns freuend. Dass der Gesetzentwurf unver-
mindert Annahme finden wird, ist mit Sicherheit anzunehmen. So ist doch das
unablässige Streben des Allg. Sächs. Lehrervereins, der noch 1888 in einer
gründlichen Denkschrift seine Wünsche in Betreff der Pensionsverhältnisse der
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— 392 —
Volksschullehrer darlegte, nicht vergeblich gewesen. (S. Pasdag. XI, Heft 2.)
Dag Gesetz Boll zugleich rückwirkende Kraft erhalten; es beabsichtigt, die
Pensionen der bereits im Ruhestand befindlichen Geistlichen and Lehrer, sowie
der Hinterlassenen derselben in derselben Weise zu erhöhen, wie dies in einem
anderen Gesetzentwurfe für die im Ruhestand befindlichen Civilstaatsdiener
und deren Hinterlassenen beantragt ist. Es sollen daher erhöht werden 1. um
121/, Prozent die Pensionen der Geistlichen und Lehrer bis mit 1500 M., der
Witwen bis mit 600 M., der Halbwaisen bis mit 120 und der Ganzwaisen bis
mit 180 M.; 2. um 10 Prozent die Pensionen der Geistlichen und Lehrer von
1500—3000, der Witwen von 600—1200, der Halbwaisen von 120—240
und der Ganzwaisen von 180 — 360 M.; 3. um 71/« Prozent alle höheren Pen-
sionen.
•In der Vorberathung erinnerte Abg. Geyer daran, dass vor zwei Jahren,
als die Regierung den Erlass der Pensionskassenbeiträge fdr die Geistlichen
und Lehrer beantragt, die socialdemokratische Partei diesen Erlass zwar für
die Lehrer bewilligt habe, nicht aber fdr die Geistlichen, welche ohnedies in
behaglicher Lage sich befänden. Auch diesmal werde aus demselben Grunde
seine Partei die Pensionserhöhungen nur für die Lehrer bewilligen.
So erfreulich unser Pensionsgesetz gestaltet werden soll, so viel lasst das
Dotationsgesetz noch zu wünschen übrig. Der vorgelegte Entwurf besagt :
§ 1. Das zu Geldwert angeschlagene Gesammteinkommen eines
ständigen Lehrers oder einer ständigen Lehrerin an einer Volksschule
darf nicht unter 1000 M. jährlich betragen. Die Anzahl der von dem
Lehrer oder der Lehrerin zu unterrichtenden Kinder ist hierbei ohne Ein-
fluss. Die freie Wohnung oder die Wohnungsentschädi^ung- ist in diese*
Einkommen nicht einzurechnen. Das Einkommen vom Kirchendienste
darf in dieses Einkommen vom Schuldienste nur insoweit eingerechnet
werden, als es die Summe von 900 M. jährlich übersteigt
§ 2. Den Schuldirectoren ist neben freier Wohnung oder einer ent-
sprechenden Geldentschädigung dafür in Orten bis zu 5000 Einwohnern
ein jährliches Einkommen von nicht weniger als 2100 M., in Orten von
mehr als 5000 Einwohnern ein solches von nicht weniger als 2700 M. zu
gewähren.
§ 3. Jedem Hilfslehrer ist außer freier Wohnung und Heizung oder
einer von der Bezirksschulinspection genehmigten Entschädigung dafür
ein barer Gehalt von wenigstens 720 M. jährlich auszusetzen.
§ 4. Das Einkommen ständiger Lehrer und Lehrerinnen an Volks-
schulen, welche mehr als 40 Kinder zählen, ist durch Zulagen, welche
die Schulgemeinde zu gewähren hat, folgendermaßen zu erhöhen: Nach
einer vom erfüllten 25. Lebensjahre des Lehrers an zu rechnenden Dienst-
zeit von 5 Jahren bis auf 1100 M., von 10 Jahren bis auf 1200 M..
von 15 Jahren bis auf 1300 M., von 20 Jahren bis auf 1400 M., von
25 Jahren bis auf 1500 M. In Orten von mehr als 6000 Einwohnern
sind diese Gehaltssätze auf 1200 M., 1350 M., 1500 M., 1650 M. und
1800 M. zu erhöhen. Den ständigen Lehrern und Lehrerinnen an Volks-
schulen von 40 und weniger Kindern sind in jedem der angegebenen fünf
Stadien 60 M. zuzulegen.
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— 893 —
Die Gesetzvorlage enthält weit niedrigere Sätze, als der Allg. Sache.
L.-V. in seiner im letzten Herbste eingereichten Petition erbeten hatte, näm-
lich: für alle festangestellten (ständigen) Lehrer: 1200 M. Anfangsgehalt und
nach je 4 Jahren Erhöhung auf 1400, 1600, 1800, 2000, 2200 und 2400 M.;
für Hilfslehrer: 900 M.; für Directoren: 2700—3600 M. — Sofort nach Be-
kanntwerden dieses Entwurfes hat der Vorstand des Sachs. Lehrervereins eine
statistische Erhebung vornehmen lassen, welche dargethan hat, dass die
Gesetzesvorlage durch die ^tatsächlichen Verhältnisse weit über-
holt ist, und dass die geplante Aufbesserung kaum den Namen einer Nach-
besserung verdient Es würden, wenn der Entwurf Gesetz würde, von 291
Directoren 241, von 3737 Lehrern 3594 und von den 1380 Hilfslehrern
1155 nichts zugelegt erhalten; das sind je ca. 83, 93 und 84 Procent der
Gesammtheit! Von „allgemeiner" und „durchgreif ender" Aufbesserung kann
da keine Rede sein! — Die Enttäuschung und Missstimmung der Lehrerschaft
nach dieser Seite hin war groß. Und sie ist auch in entsprechender Weise
znm Ausdruck gekommen, z. B. in der „Neuen Pädag. Revue" von Beeger
(1891, Nr. 6, S. 41. Leipzig, Zangenberg & Himly). Auf diesen die Sache
völlig treffenden Artikel mag hier der Kürze halber noch hingewiesen sein,
ebenso auf die orientirenden Mittheilungen der umsichtigen „Allg. Deutschen
Lehrerztg.« (1891, S. 462, S. 493, Leipzig, Klinkhardt). Der Vorstand des
Landeslehrervereins hat die Ergebnisse seiner Statistik den Ständen in einer
Denkschrift überreicht, und es ist zu hoffen, dass dieselben die Sätze der Vor-
lage um etwas erhöhen werden. Indem wir dieser Hoffnung Raum geben,
wollen wir zugleich hervorheben, dass die Bitten der Lehrer auch von Geist-
lichen unterstützt werden: Die Pastoralconferenzen von Lommatzsch,
Nossen und Wilsdruff haben im letzten Monat an beide Ständekammern eine
Petition gerichtet, in welcher gleichfalls um eine höhere Normirung der Lehrer-
gebälter gebeten wird. Die Petenten sagen, dass sie in ihrer amtlichen Thätig-
keit das Wirken der Lehi-er zur Genüge kennen zu lernen Gelegenheit haben
und demselben ihre Anerkennung zollen, und bringen im Weiteren dieselben
Gründe vor, welche die Lehrer für ihre Bitten ins Feld geführt. (S. „Sächs.
Schulztg." 1892, Nr. 5, S. 60, Leipzig, Klinkhardt, Preis 0,20 M). Man
hofft, dass die selbstlose Bitte der Pastoren nicht unbeachtet bleiben werde.
Wenn auch diese meinen, was wir sagen, so wird es wol wahr sein! Alle
Ehre aber solchen Geistlichen, die, nachdem ihnen Gott gegeben reichlich (oder
wenigstens hinreichend), auch ihren Mitarbeitern günstig gesinnt sind! Mit
solchen Männern, die in echt geistlichem Sinne reden und handeln, wer-
den die Lehrer allezeit gerne am Werke der Volkserziehung arbeiten. — Ein
weiteres über diesen Gegenstand wird den geehrten Lesern bemerkt werden,
wenn der Entwurf zur Regelung der Lehrergehälter, verbessert oder — nicht
verbessert, beschlossene Sache sein wird.
Im diesjährigen sächs. Staatshaushalt sind die meisten Kapitel mit viel
höheren Beträgen als früher eingestellt; so sind für die Lehrerseminare in-
folge Erhöhung der Lehrer- und Beamtenbesoldungen und Erbauung eines
Seminargebäudes in Rochlitz 436130 M., für die Volksschulen wegen der
Beihilfen an die Schulgemeinden zur Bestreitung ihrer Lehrergehalte und
Steigerung der Lehrerzahl, ingleichen wegen Verstärkung der Fonds zur Ge-
währung von Unterstützungen und Beihilfen an Volksschullehrer und Schul-
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gemeinden, zur Förderung des Volksschulwesens und zur Gewährung von Pen-
sionen etc. an Lehrer und deren Hinterlassene 1956178 M. mehr angesetzt.
Zugleich ist raitgetheilt, dass die Errichtung eines neuen Seminars
in Plauen bei Dresden für die Finanzperiode 1894/95 in Aussicht genommen
sei. (S. Paedag. X, Heft 5.)
Dem Minister v. Gerber, welcher die drei genannten Gesetzentwürfe
vorlegte, sollte es nicht be schieden sein, dieselben unter Dach zu bringen. Ein
plötzlicher Tod raffte am 23. December den 68jährigen Staatsmann hinweg,
der über 20 Jahre an der Spitze deB sächsischen Ministeriums des Cultus und
öffentlichen Unterrichts gestanden. In der letzten Landeslehrerversammlung
war v. Gerber das erste Mal unter der Volkeschullehrerschaft erschienen.
(S. Psedag., Dez.-Heft dies. Jahrg., S. 184 f.) Es sollte leider zugleich das
letzte Mal sein. Man hoffte nämlich seitdem, dass Dr. v. Gerber nunmehr auch
dem Volksschullehrerstande eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden werde;
man vermutet auch, dass die Petition des Allg. Sächs. L.-V., am 14. Okt. ein-
gereicht, bei Ausarbeitung des Gesetzentwurfs über die Lehrergehälter nicht
mehr hat berücksichtigt werden können, weil derselbe vielleicht schon fertig
war; man glaubt nicht allgemein, dass unsere Bitte so sehr hat unberücksich-
tigt bleiben sollen. — Unter dem Minister v. Gerber ist in Sachsen für das
Schulwesen, insbesondere aber für das der höheren Schulen, viel gethan
worden, und eine große Anzahl segensreicher Gesetze und Einrichtungen sind
unter seinem Namen ergangen. Naturgemäß kann nicht alles Geschehene
sein Verdienst sein, da ja jede mächtige Zeitströmung schließlich zu Ände-
rungen und Besserungen führt, gleichviel, wer an der Spitze steht.
Karl Friedr. Wilh. ?. Gerber war am 11. April 1823 zu Ebeleben im
Fiirstenthum Schwarzburg-Sondershausen geboren, wo sein Vater Rector der
Stiftsschule war. Er besuchte das Gymnasium zu Sondershausen und widmete
sich von Ostern 1840 bis 1841 in Leipzig unter Albrecht und Puchta, dann
bis 1843 unter Mittermaier und Vangerow, dem Studium der Rechtswissen*
schaft. Nachdem er 1843 die juristische Doctorwürde erworben hatte, trat
er 1844 als Privatdocent in die Universität Jena eiu, um sich der akademi-
schen Lehrtätigkeit zu widmen. Im Jahre 1846 erschien sein grundlegendes
Werk: Das wissenschaftliche Princip des geraeinen deutschen Privatrechts,
worin Gerber die Dogmatik des deutschen Privatrechts auf neuen Boden stellte.
In demselben Jahre wurde er zum ausserordentlichen Professor ernannt, und
1847, einem Rufe nach Erlangen folgend, übernahm er als Nachfolger von
Laspeyres die ordentliche Professur für deutsches Recht an der dortigen Uni-
versität. Gerber war also im Alter von 24 Jahren bereits ordentlicher Pro-
fessor. Alsbald ging er in Erlangen an die Ausarbeitung seines Systems des
deutschen Privatrechts, das in den Jahren 1848 und 1849 in Jena erschien.
Dieses bahnbrechende Werk hat bis heute immer neue Auflagen erlebt und
steht noch allen ähnlichen Werken voran. Es brachte ihm 1851 den Ruf
nach Tübingen, wo er als Professor und Nachfolger von Wächters die Stellung
eines Kanzlers der Universität übernahm. Damit erhielt er zugleich Sitz und
Stimme in der württembergischen Kammer der Abgeordneten. In den Jahren
1857 — 1861 nahm er als Abgeordneter des Königreichs Württemberg thätigen
Antheil an der in Nürnberg und Hamburg tagenden Konferenz zur Feststellung
des deutschen Handels- und Seerechts; um das Zustandekommen dieses Werkes
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hat er sich besondere Verdienste erworben. Darauf werde ihm im März 1861
das Ministerium des Cultus in Württemberg angeboten, dessen Übernahme er
jedoch ablehnte. Dagegen nahm er 1862 die Berufung zum Professor der
Rechte und Oberappellationsgerichtsrath in Jena an, doch vertauschte er diese
Stellung 1863 mit der Professur des deutschen Privat-, Staats- und Kirchen-
rechts in Leipzig. Hier ließ er 1865 seine Grundzüge eines Systems des
deutschen Staatsrechts erscheinen, wiederum ein grundlegendes Werk für die
wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes, auf dem z. B. Laband in seinem
Lehrbuche des deutschen Staatsrechts durchaus fußt. Im Jahre 1867 war
Gerber Mitglied des constituirenden Beichstags des Norddeutschen Bundes, und
1871 stand er als Vorsitzender an der Spitze der ersten Landessynode in
Sachsen. Als in demselben Jahre Freih. von Falkenstein von seinem Amte
zurücktrat, berief ihn Se. Majestät der König von Sachsen als Staatsminister
und Minister des Cultus und öffentlichen Unterrichtes zu dessen Nachfolger.
Von wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind fernerhin nur noch die Ge-
sammelten juristischen Abhandlungen (Jena 1872) zu erwähnen, in welchen er
zahlreiche kleinere Schriften und Aufsätze besonders aus den von ihm und
Ihering 1857 gegründeten Jahrbüchern für die Dogmatik des römischen und
deutschen Privatrechts vereinigte. Um so bedeutender ist die Thätigkeit, die
Gerber als Staatsmann entfaltete. Wichtige Aufgaben hat er mit großem
Geschick und weitschauendem Blick zum Segen für Sachsen gelöst. Zunächst
verdanken wir seiner Mitwirkung das Zustandekommen der kirchlichen Gesetz-
gebang (1873 und 1874), durch welche das Verhältnis zwischen Staat und
Kirche in befriedigender Weise festgestellt wurde. Eine schwierige Aufgabe
wurde durch diese Gesetzgebung in grundlegender Weise gelöst. Nicht minder
sind nnter Gerber die Verhältnisse der katholischen Kirche zum Staate geregelt
worden; liegen die Verhältnisse hier weniger schwierig als auf dem gleichen
Gebiete in Preußen, so ist es doch nicht zu unterschätzen, dass wir durch diese
Gesetzgebung vor allen kirchlichen Streitigkeiten bisher durchweg bewahrt
worden sind.
Von größter Bedeutung ist sodann das Gesetz über das sächsische Volks-
schnlwesen vom 26. April 1873 nebst den Ausführungsverordnungen vom
25. August 1874, dem seitdem eine lange Reihe ergänzender Gesetze und Ver-
ordnungen gefolgt sind.*) Wenn wir nicht irren, steht bis jetzt dieses um-
fassende Gesetz in Deutschland einzig da. Während man in Preußen heute
bemüht ist, ein solches Gesetz erst ins Leben zu rufen, hat sich diese bedeut-
same Schöpf nng des verstorbenen Cultusministers v. Gerber bei uns schon
17 Jahre lang bewährt. Die Aufgabe, der Kirche wie den Gemeinden gleich
gerecht zu werden, ist hier ziemlich glücklich gelöst. Nicht minder wichtig
ist die Gesetzgebung auf dem Gebiete des höheren Schulwesens, die unter
Gerbers Leitung für Sachsen ins Leben getreten ist. Hier ist das Gesetz
über die Gymnasien, Realschulen und Seminare vom 22. August 1876*) zu
erwähnen, das als grundlegende Arbeit auf diesem Gebiete die erste Stellung
t inniiuint. Dieses wie die ergänzenden Gesetze von 1882 und 1884 — letztere
die Realgymnasien und Realschulen betreffend — haben bewirkt, dass Sachsen
bis heute eine hervorragende Stellung auf dem Gebiete des höheren Schulwesens
*) Sämmtlich erschienen bei (\ C. Meinhold & Söhne in Dresden.
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eingenommen hat. Die jetzt geplante Schulreform völlig durchgeführt zu sehen,
war dem Minister nicht vergönnt.
Verdienste hat er sich ferner um die Weiterentwickelung der Landes-
Universität Leipzig erworben; seiner Anregung nnd Wirksamkeit verdankt sie
es mit, das8 sie gegenwärtig eine der ersten Stellen unter den deutschen Uni-
versitäten einnimmt. Mit Erfolg ist Gerber bemüht gewesen, ihr stets tüchtige
Kräfte zuzuführen. Die großartigen medizinischen und naturwissenschaftlichen
Institute, die einen großen besonderen Complex ausmachen, sind ihrer wissen-
schaftlichen Disposition nach Mosteranstalten. Die prachtvolle neue Bibliothek
und die Augenheilanstalt bilden die letzten Glieder dieser bedeutsamen Neu-
bauten, denen durch ein neues Auditorienhaus der Abschluss gegeben werden
soll. Auch ist zu erwähnen, dass unter Gerber das Polytechnikum in Dresden
zur Hochschule umgebildet worden ist.
Zu Anfang Januar meldeten die Amtsblätter: Se. Majestät der König hat
dem zeitherigen Geh. Begier ungsrath im Ministerium des Cultus und öffent-
lichen Unterrichts Kurt Damm Paul von Seydewitz unter Ernennung zum
Staatsminister die Leitung des Ministeriums des Cultus und öffentlichen
Unterrichts übertragen, ingleichen den Auftrag in Evangelicis ertheüt. —
Möge das Wirken des neuen Ministers für die Allgemeinheit und für die
Lehrerschaft im besonderen ein gesegnetes sein!
Die Schulzustände in Bosnien und der Hercegovina. Solange
Bosnien und die Hercegovina unter der Osmanenherrschaft gestanden, und so-
lange dort hinsichtlich der Verkehrsmittel und der Sicherheit des Lebens und
des Eigenthums die asiatischen Zustände anzutreffen waren, haben sich sehr
wenige getraut, diese Länder behufs einer wissenschaftlichen Erforschung zu
bereisen, seitdem aber diese Provinzen durch Österreich-Ungarn occupirt und
dort die herrlichsten Verkehrsmittel angelegt sind, und seitdem dank der
Energie der Staatsmanner eine moderne Verwaltung eingeführt ist und in
jeder Hinsicht geregelte Zustände platzgegriffen haben, hat die Gelehrtenwelt
diesen Ländern mehr Aufmerksamkeit geschenkt, und es pilgern Archäologen.
Geologen, Kartographen und viele andere dahin, um Forschungen anzustellen
und ihr Wissen zu bereichern. Über die seit der Occupation dieser Länder
allseits wahrnehmbare culturelle Entwickelung ist bereits soviel Gutes ge-
schrieben worden, dass die Staatslenker mit Stolz auf diese Errungenschaften
zurückblicken können. In allen Verwaltungszweigen ist ein bedeutender Fort-
schritt bemerkbar, und auch auf dem Gebiete der Volksbildung ist bereits
vieles gethan, obwol noch manches nachgeholt werden muss.
In jedem geregelten Staate bildet die Schule einen sehr wichtigen Factor,
denn von einem gut und praktisch organisirten Schulwesen hängt die Zukunft
desselben ab. Als Schulmann habe ich mir zur Aufgabe gemacht, das Schul-
wesen in den occupirten Provinzen einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
Während meiner activen Dienstleistung als Schulinspector in der ehe-
maligen Militärgrenze hatte ich Gelegenheit gehabt, das bosnische Schulwesen
vor der Occupation kennen zu lernen und ließ im Jahre 1879 über die dama-
ligen Schulzustände im „Paedagogium" eine kurze Skizze erscheinen. Damals
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gab es in Bosnien nnd der Hercegovina nnr confessionelle Schalen u. z. waren :
917 muhamedanische Kiemen tarschalen (türkisch mejtefe);
41 röm. kath. Elementarschulen;
57 gr. or. Elementarschulen;
43 höhere muhamedanische Schalen (türkisch Medresse) and
24 Bürgerschulen (türkisch mektebi rizdje).
Diese letzteren waren bezüglich des Lehrstoffes and des Unterrichtszieles
ganz primitiv und ähnelten nicht im entferntesten unseren gegenwärtigen
Bürgerschalen.
Nach den statistischen Daten vom Jahre 1890, also nach Verlauf von
12 jähriger Occupation, bestehen nun im Okkupationsgebiete folgende Schalen:
1 vollständiges Ober-Gymnasium in Sarajevo;
1 Privat-Gymnasium in Travnik (unter der Leitung der P. P. Jesuiten);
1 technische Schule in Sarajevo;
1 Präparandie in Sarajevo zur Heranbildung der Elementarlehrer (Internat);
1 Militär-Pensionat in Sarajevo;
8 Handelsschulen;
41 Medresse;
26 röm. kath. Elementarschulen;
58 gr. or. Elementarschulen;
1 israelitische Elementarschule;
4 Privat-Elementarschulen und
150 allgemeine Elementarschulen.
Aus diesen Daten ist ersichtlich, dass der confessionelle Charakter der
Elementarschulen nicht ganz gewichen ist, und dies läset sich auch nicht sobald
erwarten , zumal die Gegensätze der einzelnen Religionsgenossenschaften zu
scharf zugespitzt sind. Die jüngere Generation dürfte vielleicht in dieser
Hinsicht mehr zur Einsicht gelangen, die Schule als eine allgemeine, allen
Bewohnern des Landes gleich zugängliche Bildungsstätte anzusehen.
Vergleicht man die Schulzastände, wie sie vor der Occupation bestanden,
mit den gegenwärtigen, so sieht man, dass auch auf dem Gebiete des Unter-
richtswesens ein bedeutender Fortschritt gemacht worden ist; obwol sich nicht
leugnen lässt, dass manches nicht so aufgefasst und durchgeführt werde, wie
es die pädagogischen Principien erheischen. Zur Klärung der so wichtigen
Angelegenheit werde ich einige Mängel, welche bei der Organisation des Schul-
wesens wahrzunehmen sind, hervorheben und insbesondere die Errichtung der
Handelsschulen einer näheren Besprechung unterziehen. Derjenige, der mit der
Organisation des Schulwesens betraut wird, muss nicht nur höhere pädago-
gische Kenntnisse, sondern auch praktische Erfahrungen auf dem Gebiete der
Organisation dieses wichtigen Culturzweiges besitzen; er soll nicht nur das •
Schulwesen seines Heimatlandes, sondern auch das Schulwesen anderer Cultur-
8taaten genau kennen, damit er das Beste für das Land, wo er seine Thätig-
keit entwickelt, herausfinden and den Landesverhältnissen anpassen könne.
Man mag in einem Provinzial-Städtchen ein guter Volksschullehrer gewesen
sein, ohne deshalb die Fähigkeit eines Organisators zu besitzen.
Wer ein Gebäude solid und dauerhaft aufführen will, der muss vor
allem darauf bedacht sein, gutes und gesundes Material zu bekommen, und
solches erfahrenen und bewährten Meistern zur Bearbeitung übergeben. Wendet
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man diesen Gesichtspunkt auf die bosnischen Handelsschulen an, so muss
man unwillkürlich zu der Überzeugung gelangen, dass man diese Schulen
ohne Rücksicht auf die Vorbildung der Frequentanten entstehen ließ. Der
Zweck der Handelsschulen ist, ihren Zöglingen eine den Bedürfnissen des
praktischen Geschäftslebeus möglichst entsprechende fachliche Ausbildung zu
gewähren, und nebstbei auch jene allgemeinen Bildungszwecke zu fordern,
welche die Hauptrichtnng dieses Fachunterrichtes zunächst ergänzen. Auf
Grund dessen muss demnach der Unterricht in diesen Schulen das ganze Gebiet
der kaufmännischen Fachwissenschaften, sowie die hierzu gehörenden wichtig-
sten humanistischen Lehrfächer umfassen. Um dies erzielen zu können, müssen
die Zöglinge dieser Lehranstalten wenigstens eine Bürgerschule oder ein Unter-
gymnasium oder eine Unterrealschule mit gutem Erfolge absolvirt haben. Ist
dies aber bei den bosnischen Handelsschulen der Fall? Nein! Die bosnischen
Handelsschulen bekommen ihre Zöglinge ans den allgemeinen Elementarschulen,
.-wo die geistigen Anlagen noch nicht so entwickelt sind, um die verschiedenen
Unterrichtsgegenstände mit Erfolg auffassen zu können. Durch die Überbür-
dung mit Lehrstoff muss die Jugend geistig erlahmen und auch in der körper-
lichen Entwickelung gehemmt werden. Jeder pädagogisch Gebildete weiß aus
Erfahrung, dass durch Überladung des Lektionsplanes mit Unterrichtsfächern,
die ein buntes Allerlei bieten, das Wissen, mit welchem vielleicht für die
Prüfung geprunkt werden kann, ein äußerliches bleibt, im Gemttth aber keine
Wurzel schlägt und der Entwickelung des Geistes besonders bei sehr mangel-
haft Vorgebildeten keine feste Grundlage bereitet. Alles oberflächliche Wissen,
alles blos gedächtnismäßig angeeignete, nicht mit voller Selbsttätigkeit nnd
Theilnahme des inneren Menschen Erworbene leistet der Blasirtheit, welche
jede gründliche Geistesarbeit hasst, Vorschub. Ein treibhausartiger Erwerb
von Kenntnissen und Fertigkeiten hat keinen Halt und ist für die Menschheit
verderblich. Die bosnischen Kinder sind zwar von der Natur gnt beanlagt,
aber Wunderkinder sind sie doch nicht. Unreif kommen sie in die Handels-
schule und unreif müssen sie diese Anstalten verlassen und werden zuletzt als
kaufmännisches Proletariat auftauchen.
Die Idee zur Errichtung der Handelsschulen in Bosnien und der Herce-
govina, wo der Handelsverkehr ein ziemlich reger ist, ist zwar sehr lobens-
wert, aber zu verfrüht. Hätte man statt dieser Schulen Bürgerschulen,
wie Bolche in Österreich-Ungarn errichtet sind und sich sehr bewährt haben,
hergestellt, so hätte man nicht nnr den Bürgerstand, dessen geistige Bildung
noch in den Windeln liegt, geistig gehoben, sondern auch einen sehr branch-
baren Nachwuchs für die Handelsschulen und die Lehrerbildungsanstalt und
bei eventueller Errichtung der Gewerbe- und Ackerbauschulen auch für diese
• Anstalten gewonnen. Solche Bürgerschulen wären für Bosnien und die Herce-
govina eine große Wolthat und würden eine höchst segensreiche Wirkung
hervorbringen. Aus dem Erwähnten sieht man, dass das Material für die
Handelsschulen nicht gut ist, und dass somit auch das Gebäude nicht solid nnd
dauerhaft genannt werden kann.
Wie steht es aber mit den Lehrpersonen dieser Fachschule? Gerade wie
mit den Zöglingen. Ich glaube mit Recht behaupten zu dürfen, dass kein ein-
ziger Lehrer an diesen Handelsschulen eine specielle Fachbildung für derlei
Anstalten besitze. Ich kenne einige, die in der ehemaligen Militärgrenze
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einfache Volksschullehrer waren, und nnn finde ich sie als Directoren solcher
Handelsschulen. Wo und wie sie sich die Fachbildung für eine Handelsschule,
wo doch die Landessprache (kroatisch-serbisch) und ihre Literatur, kaufmännische
Buchführung, Handelscorrespondenz, Wechselrecht, Handelsgeographie, Handels-
gescbichte, Warenkunde, Handelsrecht, kaufmännisches Beebnen, die Grundzüge
der Nationalökonomie und wenigstens eine fremde Sprache (deutsch, französisch,
englisch oder italienisch) zu lehren sind, erworben haben, bleibt mir ein Räthsel.
Wenn man die Errichtung der Handelsschulen für nothwendig gehalten
hat, so hätte es vorläufig genügt, eine solche Schule an die technische Schule
in Sarajevo durch Errichtung eines dreijährigen Curaus anzulehnen, wie man
dies an der Oberrealschule in Agram mit Erfolg prakticirt hat. Dann hätte
eine solche Schule dem Zwecke entsprochen, denn sie würde ans der technischen
Schule gut vorgebildete Schüler und fachmännisch gebildete Lehrer erhalten.
Sollte auch an dieser Schule kein speciell für das Handelsfach vorgebildetes
Lehrindividuum vorhanden sein, so müsste ein solches an die Handelsakademie
nach Wien behufs fachmännischer Heranbildung entsendet werden, wie dies
seitens der kroatisch-slavonischen Landesregierung in Agram fast jährlich
geschieht.
Wenden wir jetzt unsere Betrachtung der Lehrerbildung für Elementar-
schulen zu. Dass die Lehrerbildung eine sehr wichtige Angelegenheit im
Staatsorganismus ist, beweisen zur Genüge die Thatsachen, dass sowol der
Staat als auch die Gemeinden wetteifern, den Lehrern eine derartige päda-
gogische Bildung angedeihen zu lassen, welche sie in den Stand setzt, die ihnen
zur Erziehung und zum Unterrichte anvertraute Jugend zu gesitteten Menschen
und würdigen Staatsbürgern heranzubilden. Wie steht es nun mit der Lehrer-
bildung in Bosnien und der Hercegovina und woher recrutiren sich die Zög-
linge für diese Berufsschule? Da noch sehr wenige Mittelschulen und gar keine
Bürgerschulen oder ähnliche Lehranstalten vorhanden sind, so erhält die
Lehrerbildungsanstalt ihren Nachwuchs meistens aus den Elementarschulen.
Es ist wol wahr, dass man im Zeiträume von kaum 14 Jahren keinen tüchtigen
Lehrerstand heranzubilden vermochte; aber es hätte doch besser werden können,
wenn man, wie bereits erwähnt, gleich in den ersten Jahren nach der Occu-
pation Bürgerschulen errichtet hätte, wo ein genügender Nachwuchs für die
Lehrerbildungsanstalt herangezogen worden wäre. Es leuchtet somit ein, dass
gegenwärtig auch für diese sehr wichtige Berufsschule keine genügende Vor-
bildung vorhanden sei. Mit den an dieser Anstalt wirkenden Lehrpersonen ist
es etwas besser bestellt, zumal doch einige ihre Lehrbefähigung für Bürger-
schulen erlangt haben; aber trotzdem muss die Lehrerbildung als eine sehr
mangelhafte bezeichnet werden, weil, wie erwähnt, die Vorbildung der Zöglinge
keine hinreichende ist. Um wenigstens für die städtischen Schulen bessere
Lehrkräfte zu bekommen, musste man solche aus den Nachbarprovinzen, vor-
nehmlich aus der ehemaligen Militärgrenze, ans Kroatien undSlavonien heran-
ziehen. Wie es im Anfange der Occupationsjahre mit der Lehrerbildung be-
stellt war, geht zur Genüge daraus hervor, dass der frühere Director der
Lehrerbildungsanstalt ein ganz simpler Volksschullehrer ohne jede höhere
pädagogische Bildung war, und gegenwärtig als Mitreferent über das Schul-
wesen dem Schuldepartement bei der Landesregierung in Sarajevo zugetheilt ist.
Indem ich meine Ausführungen hiermit schließe, hone ich mit allen treuen
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Staatsbürgern, dass sich auch auf dem Gebiete des Erziehungs- und Unterrichts-
wesens in den occnpirten Provinzen alles zum Bessern wenden werde. In
dieser Hoffnung bestärkt uns noch der Umstand, dass nach dem Berichte des
Referenten in den verflossenen Delegationssitzungen die Staatslenker in Bosnien
und der Hercegovina diesem wichtigen Culturzweige durch Einstellung bedeu-
tender Geldsummen für die Hebung des Schulwesens und für die Errichtung
neuer Unterrichteanstalten ihre vollste Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Franz Tiöak.
Theodor Vernaleken.
Im letzten Hefte haben wir mitgetheilt, dass unser geschätzter Mitarbeiter
Theodor Vernaleken am 28. Janaar in Graz seinen 80. Geburtstag gefeiert
hat. Wir benutzen diesen Anlass, einen kurzen Lebenslauf des wackeren
Jubilars vorzuführen.
Vernaleken wurde am 28. Januar 1812 zu Volkmarsen in Westfalen
geboren. Er erhielt seine Schulbildung in Warburg und Paderborn, worauf er
1830 — 1834 das Lyceum zu Fulda besuchte. Anfangs widmete er sich dem
Studium der Theologie und Philologie, aber bald überkam ihn die Wanderlust ;
es zog ihn nach der Schweiz, der Heimat Pestalozzis. Hier gelang es ihm
bald, mit einigen Schülern und Mitarbeitern des großen Pädagogen in Verbin-
dung zu treten, namentlich mit dem Seminardirector in Küssnacht, F. Sehen*
(Bruder Johannes Scherrs). Bei diesem lehrte und lernte er und besuchte
nebenbei die Vorlesungen an der Hochschule zu Zürich. 1837 begann er seine
praktische Laufbahn als Lehrer in Winterthur. Im Jahre 1846 gründete und
leitete er die r Schweizerischen Blätter für Erziehung und Unterricht", hielt
• ift'entliche literar-historische Vorlesungen und entfaltete schon damals eine be-
deutende schriftstellerische Thätigkeit. Im Jahre 1848 schlug Vernaleken tief-
eingreifende Reformen auf dem Gebiete des Unterrichtes vor. In diese Zeit
fällt auch sein Briefwechsel mit dem Ministerialrathe Exner in Wien, dessen
Aufmerksamkeit er durch Übersendung einiger Schriften auf sich gezogen
hatte. Der österreichische Unterrichtsminister Graf Leo Thun ernannte ihn
im Jahre 1850 zum Professor am Polytechnikum in Wien und zog ihn sofort
zu den Berathungen heran, welche damals bezüglich der Lehrpläne für die
neu zu errichtenden Realschulen stattfanden. Gleichzeitig wurde er mit der
Ausarbeitung von Lesebüchern für die Volksschule beauftragt, welche jedoch
ihrer liberalen Tendenzen wegen Anstoß erregten. Vernalekens Entwurf für
das erste Sprach- und Lesebuch bezweckte Bildung des Geistes und Herzens,
Weckung der Phantasie, Anregung und Ausbildung des Sprachgefühls durch
verständige Aneignung des Inhalts, Weckung des kindlichen Gemüths zur
Gottesfurcht, zur Sitte und Vaterlandsliebe. Leider fand dasselbe nicht die
Genehmigung der österreichischen Bischöfe; die Vernalekenschen Lesebücher
mussten auf kirchliches Verlangen umgearbeitet werden. Als in Wien die
ersten selbststandigen Realschulen ins Leben gerufen wurden, kam Vernaleken
im Jahre 1851 als Professor der deutschen Sprache und Literatur an die
neugegriindete Ober -Realschule am Schottenfeld mit der gleichzeitigen Er-
nennung zum Mitgliede der Prüfungscommission für Realschulen; damals fiel
auch auf Vernaleken die auszeichnende Wahl, die Erzherzogin Henriette,
die nunmehrige Königin der Belgier und Mutter der Kronprinzessin - Witwe
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Stephanie, dritthalb Jahre lang in Sprache, Literatur and Geschichte zn unter-
richten. An der Realschule arbeitete Vernaleken rastlos für die Verbesserung
des Sprachunterrichts; zu diesem Zwecke arbeitete er sein dreibändiges Lite-
raturbuch aus. Das Studium der Grammatik bahnt« er zuerst mit dem
deutschen Sprachbuche an, diesem folgte die Formenlehre der deutschen Sprache
and zuletzt seine große zweibändige Syntax, ein Werk unermüdlichen Sammel-
eifers. Um einen größeren Einfluss auch auf die Förderung des österreichischen
Volksschul wesens zu erlangen, gründete Vernaleken im Vereine mit dem Schul-
rathe M. A.Becker den „Österreichischen Schulboten". Vernaleken war rast-
los thätig für die Neugestaltung der österreichischen Volksschule. Zu Anfang
der Sechziger Jahre hielt er an der Schottenfelder Realschule für die Wiener
Volksschullehrer Vorlesungen über Sprache und Literatur und gab damit ge-
wissermaßen ein Vorspiel des Wiener Lehrer-Predagogiums. Nach dem Jahre
1866 schrieb Vernaleken eineAnfsehen erregende Broschüre: „Über den Volks-
schulunterricht", und half mit dieser den Boden für das österreichische Reichs-
Volks8cbulgesetz vom 14. Mai 1869 vorbereiten. Er wurde von dem liberalen
ünterrichtsminister v. Hasner an die alte, von Maria Theresia gegründete
Lehrer- Präparandie St. Anna bernfen, um diese im Sinne und Geiste des neuen
Schulgesetzes umzugestalten. Am 1. März 1870 übernahm Vernaleken die
Leitung der Anstalt, die er bis zum Jahre 1877 führte. Bei seiner Pensio-
nirung erhielt er in Anerkennung seines verdienstvollen Wirkens das Ritter-
kreuz des Franz- Josephs-Ordens. Mit Vernaleken schied von der Wiener Lehrer-
Bildnngsanstalt ein Schulmann, der voll Überzeugungstrene und Festigkeit in
seiner Gesinnung, strenge gegen sich, gerecht und wolwollend gegen andere
war. Die Lehramtszöglinge liebte er wie ein Vater seine Kinder; er be-
trachtete sich als ihr älterer Freund. Viele Gegner machte er sich allerdings
dadurch, dass er frei und ohne Rückhalt aussprach, dass der bisherige Reli-
gionsunterricht einer gründlichen Reform bedürfe. In den letzten Jahren
schrieb Vernaleken noch zahlreiche Aufsätze pädagogischen Inhalts im „Päda-
gogium" von Dr. Dittes und viele kleine Erzählungen, Schwänke und Sagen
im „Heimgarten" von Rosegger. Zu erwähnen ist noch, dass Vernaleken auch
als Germanist sich verdient gemacht hat. Seine Schriften fanden den Beifall
von Jak. Grimm, Unland und Pfeiffer. Ebenso hat er auf dem Gebiete der
Sagen- und Märchenforschung, überhaupt der Volkspoesie und Sittengeschichte
Ansehnliches geleistet Seit seinem Rücktritte vom Amte lebt er in Graz.
Möge ihm ein heiterer Lebensabend beschieden sein!
Aus der Fachpresse.
522. Zur Theorie des Lehrplans (C. Spielmann, Neue Bahnen 1891,
XII). Ein „System4 des Lehrplans, wie es längst von den Zillerianern —
wenigstens in ähnlicher Gestalt — ausgedacht worden, nur dass Hr. Sp. noch
das schöne Wort „Normalität" dafür erfunden hat. Hr. Sp. spielt überhaupt
gern mit Worten, besonders auch mit Fremdwörtern („die zwingende Enge
des alles an sich ziehenden — centripetirenden — Gesinnungsunterrichts" —
„formal bildend" heißt bei ihm zuweilen „sittlich bildend"). Den Begrifl
„Umgang" scheint er als eine von ihm ausgekramte Neuigkeit ausgeben zu
wollen; denn er fühlt sich zu der Mahnung bewogen: „Man beachte beim Lesen
meiner Abhandlung dies oft wiederkehrende Wort" — während doch „dieses
P*digogi0ni. U. Jahrg. Heft VI. 28
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Wort" jedem oberflächlichen Kenner der Herbart - Zillerschen Lehre geläufig
ist. „Die Geschichte muss unbedingt aus dem Realien winkel hervorgeholt,
und auf ihre hohe Bedeutung muss hingewiesen werden" — als ob dies nicht
schon längst geschehen wäre, und zwar mit solcher Übertreibung, dass eich
ein starker Gegenstrom entwickelt hat (von den Naturwissenschaften her, wie
allgemein bekannt!) — Am Schlüsse „glaubt" Verf. „nicht", dass jemand die
„Systematisirung des Lehrplans für die Volks- und Mittelschule für eine
wissenschaftliche Spielerei halten" werde — wir halten sie allerdings dafür,
und mit „hinreichenden Gründen". Zu allerletzt aber steht geschrieben:
„Wird nur das dringende Bedürfnis der Systematisirung der Fächer anerkannt
und auf dieselbe von allen Seiten hingewiesen und gewirkt, dann ist mein
sehnlichster Wunsch erfüllt." Ja — ■ wenn ein Lehrerberz in gegen-
wärtigen Zeitläuften nichts sehnlicher zu wünschen brauchte als jenes oder
ähnliches: dann müssten wir mindestens schon im Vorhofe zum pädagogischen
Paradiese sitzen! — (Welche Bewandtnis es mit dem römischen „Sprtichwort«
Mens sana in corpore sano hat, wolle Hr. Sp. im Rep. d. Pied. 1889/90, VII
nachlesen.)
523. Die Ferien und die körperliche Entwickelung des Kindes
(0. Janke, Päd. Zeit#. 1891, 33). Hauptzweck der Ferien: „Vollständige
Compensation der hemmenden Einflüsse des Schullebens." „Sie müssen so
lange dauern, dass ihr Hauptzweck in möglichster Vollkommenheit erreicht
werden kann" ; deshalb einmal im Jahre „große" Erholungsferien. (Alle nicht
mit Rücksicht auf das Kind angeordneten Ferien sind auf die geringste An-
zahl Tage zu beschränken.) Gleiche Dauer für alle Schulen. Die Erholungs-
ferien sind auf die Zeit zu verlegen, wo das Wachsthum der Kinder am ge-
ringsten und wo Aufenthalt im Freien, Baden u. ä. möglich ist. — Mit inter-
essanten Mittheilungen über die Messungen nnd Wägungen in schwedischen
und dänischen Schulen.
524. Über den Bilderreichthum der deutschen Sprache und
dessen Verwendung im Unterricht (J. Bucher, Schweiz. Lehrerztg. 1891,
28. 29.) „Die Muttersprache lernen, heißt leben und erfahren." — Überall
Anklänge an Hildebrand, wie denn diesem Meister auch ein Theil der zahl-
reichen Beispiele entlehnt ist. — Solche „Denkübungen" (im Sinne Hildebrands),
„die man zur Feststellung der eigentlichen Bedeutung der Wörter, oder zur
Klarlegung des Bedeutungswandels anstellt, sind sehr dankbar" und eignen
sich sowol für Unter- wie für Oberklassen, „indem der Lehrer die Schwierig-
keiten stets zu steigern vermag." Hauptgewinn für die Grammatik; „denn
man kann mit Bezug auf diese nie genug betonen, dass das Formelle der
Sprache stets vom Inhalt getragen werden müsse" (besonders günstig: Wort-
paare wie trinken und tränken.)
525. Gedanken über den Atlas und über das Kartenlesen
(R. Schmidt, Prakt. Schulmann 1891, I. II). Eine gehaltvolle Abhandlung,
die jeder Lehrer der Erdkunde mit Genuss lesen wird. — Wir skizziren im
Folgenden die Hauptgedanken: Schwierigkeiten beim Gebrauch der Planigloben
und der „Erdkarte in Mercators Projection" — Übersichtakärtchen (um Ver-
breitung der Menschenrassen, Pflanzen, Industrien, um Bodencultur, klima
tische Verhältnisse zu veranschaulichen) gehören nicht in den Volksschulatlas
— getreues Bild von der Stellung der Erde zu anderen Weltkörpern an der
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Wand des Schnlcorridors — Karte der Meeresströmungen (zugleich Übersicht
der Weltmeere) nöthig; Veranschaulichung des Verhältnisses zwischen Wasser
und Land mittelst graphischer Darstellung — Schiffahrtslinien auf den Karten
der Erdtheile, Eisenbahnlinien nur in den günstigsten Fällen (Vereinigte
Staaten) — Wichtigkeit des Maßstabes von Länderkarten (für das Verständnis
der Raumverhältnisse, zum Zwecke der Vergleichung, auch mit dem ent-
sprechenden Globus; dazu viele gutgewählte Beispiele aus der Längen» und
Flächenberechnung: Aufgaben, deren Lösung wol meistens der Rechenstunde
[„Sacbrechnen!"] zuzuweisen ist) — Wert der Profilzeichnungen — auch
Höhenangaben in Kilometern — gewisse eng begrenzte Gebiete als typische
Landschaften besonders ausfuhrlich zu behandeln (Beispiel: Rhonegletscher-
Landschaft) — die verschiedenen im Atlas vorhandenen Kartenbilder desselben
Landes nacheinander betrachten, mit dem im kleinsten Maßstabe gegebenen
beginnend — Anknüpfen an Meldungen der Tagesblätter („leben in und mit
der Gegenwart") — Vertrauen auf die Einbildungskraft — Hauptzweck der
Anschaulichkeit: von jedem Gebiete auf die einfachste Weise in der Seele des
Lernenden eine Reliefkarte zu erzeugen.
526. Über Lücken im botanischen Unterricht der Volksschule
(R. Hobohm, Deutsche Blätter 1891, 30). Mangel an Aufklärung über solche
Kryptogamen, die für das praktische Leben hohe Bedeutung haben und vor-
züglich geeignet sind, das physikalische und biologische Verhalten der Pflanzen
begreifen zu lehren. — Unterrichtsbeispiel : Mehlthaopilz auf Gurkenblättern.
Vorgeschlagen werden ferner verschiedene Algen (in Tümpeln. Teichen, Brunnen-
trögen), die ein Bild der Meerespflanzen geben, oder die Erdkruste bilden
helfen, Polirschiefer, Zahnpulver u. a. liefern ; Mutterkorn (durch dessen Ein-
sammeln sich die Kinder Geld verdienen können), Weizenrost, Weinpilz, Pinsel-
schimmel, Kartoffelpilz. Dagegen beschränke man sich bei manchen unwich-
tigen „Blümeleintt auf die Benennung und Hervorhebung charakteristischer
Züge. — Das Mikroskop soll nötigenfalls vom Fleisch beschauer entlehnt wer-
den. — Gute Führer für den Lehrer: Auerswald (Botanische Unterhaltungen);
Behrens (Lehrbnch der allgemeinen Botanik, und Leitfaden der botanischen
Mikroskopie.)
Soeben ist bei Jnl. Klinkhardt in Leipzig und Berlin erschienen: Der
preußische Schulgesetzentwurf im Lichte der deutschen Unterrichtsgesetzgebung.
Im Auftrage des geschäftsführenden Ausschusses des deutschen Lehrervereins
bearbeitet von J. Tews. (56 S.) Eine mit vollkommener Sachkenntnis und
großer Sorgfalt ausgearbeitete, sehr zeitgemäße und instructive Schrift, welche
wir allen Lehrern und Schulinteressenten bestens empfehlen.
Die „Steiger-Stiftung" in Luzern, die alljährlich an Lehrer-, Volks- und
.Tugendbibliotheken Bücher verschenkt, hat im letzten Jahre an Lehrerbiblio-
theken des Kantons Lnzern die „Schule der Pädagogik u von Dr. Fried-
rich Pitt es gratis verabfolgt.
Zum bevorstehenden Comeniusfeste offerire ich ein Comenius- Portrait
68x58 cm im feinsten Chromo mit 16 Farben ausgeführt zu M. 2,50 mit
Postversendung zu M. 2,80. Dasselbe am Blindrahmen und auf Leinwand
28»
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aufgespannt in antiken Rahmen mit vergoldeten Friesen eingesetzt zo 8 M.
Kiste für ein Bild M. 1,20, für jedes weitere nm M. 0,40 mehr. Miniatnr-
portrait von Comenius in der Größe von 13V2Xl8 cm 100 St zu 6 M. Das
kleine Portrait eignet sich zum Vertheilen unter die Jugend. Dieses Miniatur -
Portrait ist in jeder Buchhandlung zu sehen. Sollte das große Portrait dem
Geschmacke des Bestellers nicht entsprechen, so wird dasselbe zurückgenommen,
wenn die Ketonrnirung franco geschieht. Bei Bestellung bitte Bahnstation
anzugeben. V. Neubert: Chromolithographische Kunstanstalt Prag-Smichow.
Wie wird ein Conversationslexikon gemacht? Uber den gewal-
tigen Organismus, welcher bei Herstellung eines solchen Riesenbuchs in Be-
wegung ist, hat man vielfach keine richtige Vorstellung, obwol es einleuchtet,
dass ein Werk wie der „Brockhaus" nicht von wenigen Personen geschrieben
und gedruckt sein kann. Aber wer hätte geglaubt, dass allein mit der Aus-
arbeitung und Redaction der nahezu 100000 Artikel, in welchen die 14. Auf-
lage das Wissen und Können der Gegenwart zu umfassen sucht, an vier-
hundert Gelehrte und Fachmänner aller Disciplinen beschäftigt sind, dass
die Herstellung des Werkes außerdem ein technisches und buchhändlerisches
Personal der Firma von GOO Köpfen mehr oder weniger regelmäßig bean-
sprucht, also insgesammt eintausend Personen jahrelang daran thätig sind!
Trotz der schlimmen Folgen, welche der lang andauernde Buchdrucker-
streik auf die Herstellung eines derartigen Werkes haben musste, scheint es
der Verlagshandlung und Druckerei zu gelingen, das Versäumte nachzuholen,
da sie den zweiten Band für das jetzige Frühjahr verspricht. Derselbe soll
sich wie der erste Band durch eine Fülle von trefflichen Chromos, Karten und
sonstigen Abbildungen und durch wichtige und reichhaltige Artikel, welche
von neuen Gesichtspunkten aus bearbeitet sind, auszeichnen. Wie lang muss
wol der Artikel Berlin werden, wenn Aachen im ersten Bande beinahe vier
Seiten füllt? Wie wir hören, findet das monumentale Werk eine so günstige
Aufnahme, dass dem sehr hoch bemessenen ersten Druck schon jetzt ein Neu-
druck des ersten Bandes gefolgt ist. Es müssen Berge von Hanuscripten und
Correcturen die Redaction und die Druckerei passiren, bis auch nur die tausend
Seiten und Abbildungen eines der 16 Bände mit einwandfreiem Texte in die
Hand des Käufers gelangen!
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Receusionen.
Kambly's Element ar-Mathematik. bearbeitet von Dr. Hugo Langguth.
I. Theil: Arithmetik nnd Algebra. 32. Anfl. Für Realschulen. 213 S.
2 Mk. — für Gymnasien. 108 S. 1,65 Mk. Breslau 1890, Hirt.
Der Bearbeiter gesteht im Vorworte, dass die Lehrbücher Kambly's in
ihren letzten Autlagen den Fortschritten der Wissenschaft nicht mehr gefolgt
sind; er sab eich daher genöthigt, nicht nur auf eine Erweiterung des Stoffes,
sondern auch auf wissenschaftliche Durchdringung desselben bedacht zunehmen,
und in der That ist ihm die Herstellung eines recht brauchbaren Lehrbuches
gelungen. Den ersten Abschnitt, welcher von den vier Rechnungsarten in
absoluten Zahlen handelt, halten wir für sehr wertvoll zum Zwecke einer all-
mählichen Einführung des Schülers in die allgemeine Arithmetik. Wenn man
sogleich neben den Buchstaben, Coeflicieuten und Exponenten auch noch mit
den negativen Zahlen beginut, so ist das eine so große Häufung neuer Begriffe,
dass eine schwächere Begabung darüber leicht in Verwirrung geräth. Leider
hat sich zwischen den Paragraphen sieben und elf ein Widerspruch einge-
schlichen, denn während der Paragraph sieben die Summe von der Reihenfolge
der Addenden für unabhängig erklärt, verlangt der Paragraph elf in dieser
Beziehung ungerechtfertigter Weise ein Vorgehen von „links" nach „rechts."
Paragraph zwölf erfordert eine ganz unnütze Belastung des Gedächtnisses.
Nachdem Paragraph sieben die Vertauschbarkeit der Addenden ausgesprochen
hat, ist der ganze Paragraph zwölf nur eine beispielsweise Ergänzung von
Paragraph sieben. — Wras weiters die Unterscheidung von „Messen1' und
nTheilenu betrifft, so halten wir es ganz mit Professor Westermann,
welcher die Benennung der Rechnungsergebnisse einem Urtheile zuschreibt,
das vom Rechnungsvorgange vollkommen unabhängig dasteht.
Der zweite Abschnitt führt die algebraischen Zahlen, zugleich auch das
Rechnen mit Null und Unendlich ein. Das Rechnen mit diesen beiden Nickt-
zahlen bereitet den Schülern jederzeit große Schwierigkeiten, in der That
kann man ja mit denselben auch gar nicht rechneu, denn die Mehrzahl der
Resultate wird unbestimmt; es braucht daher der Schüler nur diese Formen
als Ausdrücke der mathematischen Unbestimmtheit — und dazu noch viel
später bei mehrerer Festigung seines Wissens kennen zu lernen. Der Verfasser
bedarf jedoch des Rechnens mit der Null zur Begründung der Vorzeichenreg-el
der Multiplication, wozu sie jedoch nicht nöthig ist; wir bedienen uns hierfür
einer Anzahl negativer Einheiten in Reihen und Spalten geordnet ähnlich wie
die positive Einertafel auf Seite 17 zur Begründung des Satzes von der Ver-
tauschbarkeit der Factoren gebraucht wird. Die Verwertung solcher positiver
und negativer Einertafeln für die Entwicklung der elementaren Lehrsätze
kann nicht genug empfohlen werden, denn sie dienen zur Begründung eines
analytischen Urtheils, welches in der Mathematik stets von einer viel erfreu-
licheren Klarheit begleitet ist, als synthetische Urtheile.
Der dritte Abschnitt befasst sich mit der Anwendung der vier Grund-
rechnungsarten der allgemeinen Arithmetik auf die besondere Arithmetik,
worunter besonders das vierte Capitel von den Proportionen den bürgerlichen
Rechnungsarten wissenschaftliche Grundlage verleiht und in dieser Richtung
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— 406
besondere Beachtung von jenen verdient, welche »ich mit diesen Rechnungs-
arten des Mehreren befassen. Der vierte Abschnitt bandelt von Rechnungs-
arten der dritten Stufe und hat in jeder Beziehung unseren vollsten Beifall
gefunden. Einzig der Paragraph 66 ließe sich vielleicht noch anschaulicher
gestalten, wenn man von der Gleichung ausginge n = b* = ey woraus sich
des Weiteren ergibt, dass Mog n = x = y. l,log e sein muss. Der fünfte
Abschnitt lehrt die Auflösung der Bestimmungsgleichungen bis su den quadra-
tischen mit mehreren Unbekannten; es werden die verschiedenen Methoden,
welche zur Autlösung vou Gleichungen gebräuchlich sind, an einer Anzahl
von Beispielen erläutert, den Determinanten wird dabei ein angemessener
Raum zugewiesen. Recht zweckmäßig finden wir auch die Übersichtliche
Zusammenfassung der bürgerlichen Rechnungsarten unter verallgemeinernde
Formeln. Der ßechste und siebente Abschnitt machen mit den Progressionen,
Kettenbrüchen, der Combinationslehre und Wahrscheinlichkeitsrechnung bekannt ,
und damit schließt auch die für Gymnasien bestimmte Ausgabe. — Der Aus-
gabe für die Realschulen sind noch drei weitere Abschnitte beigegeben, welche
von den arithmetischen Reihen höherer Ordnung, den Gleichungen dritten und
vierten Grades, und den unendlichen Reihen handeln. Daraus verdient, als
mit besonderer Sorgfalt und Fasslichkeit dargelegt, das Kennzeichen für die
Oonvergenz unendlicher Reihen hervorgehoben zu werden.
Da dem vorliegenden Lebrtexte Übungsaufgaben nicht beigegeben sind, so
hat die Verlagshandlnng Herrn Oberlehrer W iminenauer in Moers veranlasst,
eine dem vorliegenden Lehrhuche angepasste Aufgabensammlung zu veröffent-
lichen. Wenn wir uns erlaubt haben, im Vorstehenden Vorschläge zur Ver-
besserung zu inachen, so geschah das in der Wolmeinung, dass diesem Lehr-
bnche wenig fehle, um zu den allerbesten gezählt werden zu können, und wir
wollen es noch einmal aussprechen, dass die Umarbeitung durch Dr. Langgut h
eine so vollkommen gelungene ist, dass sie dem Lehrbuche Kambly's den vor
Decennien besessenen, später aber wieder verlorenen Ruf, das beste Lehrbuch
zu sein, wieder zurück zu erobern wol geeignet ist. Endlich hat auch die
Verlagshandlung sowol mit Rücksicht auf die Ausstattung als auch in Bezu^
auf Billigkeit das Thunlichste geleistet. H. E.
Dr. M. Focke und Dr. M. Krass Lehrbuch der allgemeinen Arithmetik
und Algebra nebst Aufgabensammlung für höhere Lehranstalten. 5. Aufl.
227 S. Münster 1890, Coppenrath. 2,50 Mk.
Die Auflage wird eine verbesserte und vermehrte genannt und in der That
finden wir an diesem Lehrbuche nichts auszusetzen. Wenn sich auch manches
anders, vielleicht einfacher fassen ließe, so müssen wir das Vorliegende doch
als ein Lehrbuch bezeichnen, mit welchen wir leicht auszukommen vermöchten.
Die Stoffvertietung geht hinreichend weit; außer den sieben Rechnungsarten
werden die Gleichungen bis zu jenen dritten Grades und den diophantischen
abgehandelt; deneu noch Progressionen, Combinationslehre, Wahrscheinlichkeits-
rechnung, binomischer Lehrsatz und Kettenbrüche folgen. Den einzigen Wunsch
möchten wir aussprechen, es möge das Aufsuchen des größten gemeinsamen
Maßes in etwas einfacherer Form vorgenommen werden.
Die dem Lehrtexte beigegebene Aufgabensammlung nimmt nahezu die Hälfte
des Buches ein, ist demnach eine reichhaltige zu nennen, welche in den letzten
Auflagen durch Einschaltung neuer Aufgaben noch vermehrt wurde; dabei
blieb die alte Numerirung aufrecht und wurde die Erweiterung durch beson-
dere Numerirung kenntlich gemacht. Die Verfasser bemerken zu dieser Auf-
gabensammlung, dass sie wesentlich bestimmt sei, dem Schüler die Einübung
des Lehrstoffes zu ermöglichen, und dass daher der Stil dieser Aufgaben ein
einfacherer sei, als etwa bei Heis oder Barday. Dieses Lehrbuch erscheint
der vollen Beachtung der Fachgenossen und der besten Empfehlung für Weiter-
verbreitung wert. H. E.
Chr. Harms, Prof. in Oldenburg und Dr. Alb. Kalling, Prof. in Berlin.
Rechenbuch für Gymnasien, Realschulen, Seminare n. s. w. 15. Auflage.
264 S. Oldenburg 1890, Gerhard Stalling. 2,25 Mk.
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- 407 -
Die vorliegende Aufgabensammlung, welche sich so ziemlich über das ge-
summte Gebiet der besonderen Arithmetik erstreckt, war schon in ihren ersten
Auflagen als eine sehr reichhaltige zu bezeichnen, [u den späteren Auflagen
hat das Werk die Verbesserung erfahren, dass das alte Maß- und Gewichts-
system ausgeschieden und vollständig durch das neue ersetzt wurde. Damit
im Zusammenhange wurden die Aufgaben über die Dezimalbrüche von den
Aufgaben übeT die gemeinen Brüche unabhängig gemacht, obwol ihre Stelle im
Buche belassen wurde, und die Pccimalbrüche den gemeinen Brüchen erst nach-
folgen. Somit können wir nur constatiren, dass das Buch, so weit es unbe-
dingt nothwendig ist, Verbesserungen erfahren hat und dies genügt wol, da
sich diese Sammlung wie die zahlreichen Auflagen beweisen, einer starken Ver-
breitung erfreut. H. E.
Rieh. Knabe, Rector in Magdeburg. Gewerbliches Rechenbuch nebst
Buchführung für Handwerker- und Fortbildungsschulen. 82 S. Halle a. S.
1890, Mühlmann. 50 Pf.
Die Aufgaben dieser Sammlung beginnen mit solchen, welche einer Wieder-
holung des Rechnens mit ganzen Zahlen dienen. Es folgen sodann Aufgaben
über das Rechnen mit gemeinen und Dccimalbrüchen, mit mehrfach benannten
Zahlen und über die bürgerlichen Rechnungsarten. Den Schluss machen einige
Bemerkungen über Wechsel, Kostenüberschläge und Buchführung; sogar der
Umschlag ist noch zweckmäßig verwertet zum Abdruck des großen Einmaleins.
Die Aufgaben sind hauptsächlich aus des Verf. Lehrtätigkeit herausgewachseu
nnd sind dem Bedürfnisse der Gewerbeschulen sehr gut angepasst, bei denen
es Erfordernis ist, die formalen Übungen mit den sachlichen Beziehungen des
Verkehrelebens auf das innigste zu verknüpfen. Da außerdem die Sammlung
sehr reichhaltig ist. so verdient sie gewiss für die genannte Stufe beste Em-
pfehlung. H. E.
H. B. Lübsen, Ausführliches Lehrbuch der Elementar-Geometrie. Ebene
und körperliche Geometrie zum Selbstunterricht mit Rücksicht auf
die Zwecke des praktischen Lebens. 27. Aufl. 193 Fig. im Text. 178 S. 3 Mk.
— Ausführliches Lehrbuch der ebenen und sphärischen Trigonometrie zum
Selbstunterricht mit Rücksicht auf die Zwecke des praktischen Lebens.
15. Anfl. 58 Fig. im Text. 115 S. 2,40 Mk. Beide bearbeitet von
Richard Scharig. Leipzig, Brandstetter.
Lübsens mathematische Lehrbücher erfreuen sich schon seit langem großer
Beliebtheit, und diese ist eine wolcrworbene zu nennen, da der Verfasser bei
der Anordnung des Lehrstoffes vot allem darauf Bedacht genominen hat , die
Auffassung desselben für den Schüler zu erleichtern; nicht minder zielt die
Darlegung und Vortragsweise vornehmlich auf Klarheit und leichte Fasslich-
keit. Nach dem Tode des Verfassers wurde Richard Schur ig mit der Bear-
beitung der neuen Auflagen betraut, welcher fortgesetzt bemüht ist, die dem
Buche eigentümliche Euklidische Behandlung in eine solche von verbesser-
ter und modernerer Form hinüber zuleiten. Allerdings betont schon der erste
Verfasser die Nothwendigkeit der Anschaulichkeit der Beweisführung, aber zur
Zeit der ersten Veröffentlichung seines Werkes war von Symmetrie und Sym-
metrieachse in den Lehrbüchern noch wenig die Rede, und so entbehrt auch
noch die gegenwärtige Auflage dieses allerdings ganz vorzüglichen Anschau-
ungsmittels. Nicht minder ist es ein bekannter Mangel der Euklidischen Geo-
metrie, ihre Lehrsätze nicht nach Principien geordnet zu haben, und so hat
denn auch im Vorliegenden die moderne Sonderung der Lehren nach Congruenz,
Ähnlichkeit und Flächenverschiebnng wenig Berücksichtigung gefunden, ganz
zu geschweigen von Theilverhältnis, harmonischer Theilung und allem, was
zur sogenannten modernen synthetischen Geometrie gehört.
Auch die „körperliche Geometrie" bleibt in den ihr von Euklid
gezogenen Grenzen, woran übrigens umsomehr festzuhalten war, da ja eine
entschiedene Verbesserung in moderner Richtung in diesem Theile noch nicht
bekannt geworden ist. Der Stereometrie folgt noch die Anwendung der Algebra
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408 —
auf die Geometrie, worin wir eine sonst wenig bekannte von Gauß herrührende
cyklische Formel für die Berechnung der Flächeninhalte unregelmäßiger Poly-
ne gefunden haben. Den Schlüge des Buches macht, ein Anhang von siebzehn
iten über „praktische Geometrie".
Noch mehr als im Vorhergehenden findet sich in der Trigonometrie die
Stoffverteilung mit Rücksicht auf das leichte Erfassen von Seite des Schülers
vorgenommen. Es wird mit einer Einleitung begonnen, welche dem Schüler
Zweck und Bedeutung dieses Theiles der Mathematik klar macht. Im ersten
Buche werden die trigonometrischen Functionen am rechtwinkligen Dreiecke
und im ersten Quadranten erklärt, es folgt sodann auf sieben Seiten die Be-
lehrung über die Einrichtung der trigonometrischen Tafeln von Brunns, an
welche man sich nicht hätte binden sollen, weil man gegenwärtig das Arbeiten
mit siebenstelligen Tafeln in der Schule für Zeitverschwendung halt, da auch
ernste Rechner mit fünf Stellen völliges Auslangen finden. — Nach der Auf-
lösung des rechtwinkligen Dreieckes folgt jene des gleichschenkligen, womit
man zugleich zum Begriff des Sinus eines stumpfen Winkels gelangt. Das
vierte Buch beschäftigt sich mit der Auflösung schiefwinkliger Dreiecke,
dabei führt der Cosinussatz auch zum Cosinus des stumpfen Winkels. — Der
sogenannte Tangentensatz zwischen zwei Seiten und ihren Gegenwinkeln
wird synthetisch dargelegt. Es hat uns aber seit je geschienen, dass ein syn-
thetisch begründeter Satz minder leicht fasslich sei, als ein analytisch begrün-
deter; aus dieser Ursache haben wir es auch immer im Unterrichte vorgezogen,
die Goniometrie der Dreiecksauflösung vorauszusenden. Es mag wol sein, dass
diese Auffassung nur von der individuellen Begabung abhängt.
Es folgen nun einige Aufgaben mit Unterstellung sachlichen Textes zur
Lösung schiefwinkliger Dreiecke, sodann die Goniometrie, die Functionen über-
stumpfer Winkel und die Anwendung der Goniometrie zur Gewinnung der
Mollweid'schen Formeln und zur Lösung trigonometrischer und goniome-
trischer Gleichungen.
Im zweiten Theile wird der umgekehrte Weg eingeschlagen; es wird mit
Lösung des scbiefwinkeligen Dreieckes begonnen, und dessen Formeln werden
sodann für das rechtwinkelige speeificirt, wobei allerdings nicht eine große
Weitläufigkeit zu vermeiden ist. Wir haben mit der vorstehenden Inhalts-
angabe wesentlich andeuten wollen, wie sehr der Verfasser bei seiner Stoff-
veTtheilung darauf bedacht war, die Anordnung nach dem Grundsatze des Fort-
schreitens vom Leichteren zum Schwereren zu tTcffeu; dass eine solche Anord-
nung nicht ohne Beeinträchtigung der allgemeinen Übersichtlichkeit möglich
ist, muss zugegeben werden. Und wenn wir derselben auch nicht zustimmeu
wollten, so hat doch das allgemeine Urtheil gegen uns entschieden, und es
scheint, dass sich auch bei dieser Stoffverteilung die allgemeine Übersicht
wenigstens nachträglich einstellt. Unsere Neigung ist überhaupt nur streng
systematischen Lehrbüchern zugewendet, das vorstehende kündigt sich aber
schon in seiner Vorrede als ein solches an, welches das Hauptgewicht auf die
Methodik, das heißt auf leichtes Erlerneu, legt, dann aber müssen wir bekennen,
dass diese Absicht auf das vollkommenste erreicht ist. Der Vortrag lässt an
Klarheit und Fasslichkeit nichts zu wünschen. Er wird von zahlreichen gut
ausgeführten Figuren unterstützt, und da die Verlagshandlung mit größter
Sorgfalt für die Richtigkeit des schwierigen Ziffernsatzes gesorgt hat, so ver-
dient sie dafür, wie für schöne Ausstattung überhaupt und billigen Preis den
besten Erfolg, der bei der dauernden Beliebtheit dieses Buches wol auch nicht
ausbleiben wird. H. R.
VeimntworÜ. Red*oteur Dr. Friedrich Dittes. Bnohdinckerei Jnlint Kliakhtrdt, Leipzig.
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gerfqg bog Willing ftlinffaorftt in geÜMtl unb Berlin W. 35.
Vraftifdjc* ^cfrijctifiurvf für junge tfrljrer*
3n itutitcv üermctjrter unb berbefferter Auflage ift in meinem Berlage erfebjenen:
din iiilirrr für iSemtnariften, junge l'chrcr unb l'ehr er innen.
Direftoc ber iKubdjenfdjule in 3n[terburg.
flreifi 5 Warf, eleg. nrlwnDcit 6 ÜKart 35 Vf.
Unter ben bielen für bie $anb junger 2ct)rer beftimmten, jum Xeil redjt guten SBerfen
giebt e$ nid)t eine«, roelcijeS Anleitung giebt, roie ben 3 rfiülern ba£ iBerftänbniS unb bie
ffenntni* bt£ oorjurragenben ©egenftanbeS braftifd) beizubringen ijt. SBerfaffer i[t nun ber
Meinung, \u einem frudjtbringenben Unterrichte gefjöre bor allem, baü ber Setjrer in ber
$ragcfunft boüftänbig Wo ift er ift, unb beSljalb bet)anbelt er biefen GJegenftanb ganj befonberS
auöfürjrlicr). Dirne biefe SRctfterfdjaft finft ber Unterricht ju einem blofjen t)anbroerfömäfiigen
beibringen Don ftenntniffen unb ^ertigfeiten herab.
Vit crlle äufTage fjat ungemein reiben Seifau* gefunben. £(6er 100 anerRennenoe
3u fünften Rno oem SerfafTer aus au*en ßegenoen I>etttfdjranos ju^enongen. unO aurf) bie
Ke^rnftonen in ben päoagogifdjen Beiiltlinticn hofjcn firfj faß bnrd)»eg fe^r robetib nuogeorüdW.
3nfofge ber «armen (SntpferKung auf oem großen 9>ie6en6nrgirdjen £eljrerlage tll bas IT* er Ii
nuetj ins 2lngarifdjeä6ertragett rooröen. _
gßfT $>a8 SBerf ift burdj jebe ©ucfjbanblung ju bejietjen.
Soeben erscheint:
190001 a so0 1 1 16000 1
Abbildungen.
SeitenText.
Brockhaus1
Kon versations - Lexikon.
600Tafeln
/4. Auflage.
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$anDfertigfciteuaterrtcbt.
'litoflrnmiiif burdj
Dr. |M. «3öttr in 1 >i|>iifl.
DER GUTE TON
in nllen Hjfbenwlitßen. F.in Handbuch für der» Verkehr in der Familie, in der — -^r
Gesellschaft und im öffentl. Leben von Fran* Ebharät. 12. verb. Aufl. Prachtwerk §Lߣa
in 8°. Gedr. in 2 Färb. a.Vclinpap. m. viel.Vign. 47«log. eleg.ireb m. < 10 1 M im. IOMk.
IL Teil. Unserer Frauen Leben. ,•^ti»t^^B«!h?t,
oder direkt portofrei v. Verl. JULIUS KLINKHARDT in Leipzig: u. Berlin W. js.
3u meinem Berlage ifl foeben erfebirneu:
f oljatnt JUttos <f omeuhtö.
#ei*t cSteßen tm6 feine ^cfmften
üon
Dr. gtflpttttt gtoftTfitlii,
^stofcfToc am cuaugeHf^cn iltjceum in $r<6oug.
$ tMcfernnaen a 1 VR. 80 ff.
SBerf liegt biß Anfang 9lprtl »ollftanbtg oor.
?ln einer auäführlicben ©iograpf)ie beä SomeniuS bat e$ biityt gänjdidj gcfeblt,
bo bie Ouellen für eine grünblidje unb cingebenbe Säuberung jum Jetl gar nitbt
eröffnet, junt Seil fdnoer jugängltd) waren, fo baß man btefjer mit einer monograpbifeben
iBetjanblung oorlieb nabm.
3>er SSerfoffer bietet nun in feiner Sirbett eine 3ufammenfaffung ber Srgebniffe
ber bi^berigen ftorfdjung, inbem er fotoeit als mö'gtirf) alle Schriften unb ftbfpmblnngen,
bie mit fetner Aufgabe in SBerbinbuug ftanben, gefammelt unb benufct hat. Aufjerbem
ftnb in biefetn SBerfe eine ganje ?lnjahl Sriefe, 9tuffäfee unb eine weite wiffenfcbaftlicbe
Rorrefponbenj über Someniu» jum erften male r»eröffentlid)t.
Scipjig. 3>uliu$ Älinf^arbt.
JBüin Ardbirjr. l>r. Äcücr (SBorf. b. Gomeuiu$'
gcfellfdjaft) empfohlen:
(Umtm* Iis fHrnfilf, |löDflgog n.C)rif.
8on Dr. H. 9lc*c. (50 $f.)
Serner madje idj aufmerffam auf:
CkbädjtniöbT an öamenius.
»on H. Sott. (40 %l)
3>er ^onurdjufqcfc^cntniurf.
S3om päbagogifdjcn unb fojialpolitifd)en Stanb»
punlt beleuchtet, «on^atiptl. 3. $rcfttcv. (50$f.)
25 ®j. 11 SB., 50 Gjr. 20 9R., 100 @j. 35 3K.
ßefdjidjtfidjes $u b. ßisljeT. ^ofRsr^ur-
cjcjVfecnttPiirfVn. 1891.
Sion «ff. CKtllÖridjtf. (25 <ßf.)
9tod) (Sinfenbung (+ 5 «ßf. ^orto) fr. üon
tt. &elmid|, »icicffUr
ßoicniii^ unii $ejtnlojp
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Begründer 5er $oflt0fd)ttfe.
Siffenfdjaftlid) bargeftcOt
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Dr. Hermann &offutriftrr.
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Cetmtg. Sulittö Slintyat&t,
SBerlag$bud)banblung.
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«Itci^ttcviidjcruiinöflcfcn ergänzt worben.
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alische Liniversal-Bibliothek.
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IwUttfU Albums ä I.SO, midlrt »« Rkmaon. J»du
söhn ftt. — tfbundenf Sank aller Kditiimtn. — llniuorulif».
Veroitlin. yr. ii.fr. T..n f9<lx Slflflijl, Lei^fig. )>.-irrlrn.tr. 1.
Jede Buchhandlung und Postanstalt nimmt
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Allgemeine Deutsche Leliratni.
Herausgegeben von Mtritc Kleisert.
Hierzu drei Beilagen: 1. von Bleyl & Kaemmerer in Dresden. 2. von Ferdinand Hirt & Sohn
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Buchdrackerei Julius K'inkJurdt, Leidig.
Paedagogium.
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
l>r. I^riedrieli I>ittee».
7. Heft, April 1892.
c
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
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Inhalt des 7. Heftes.
Seite
Die sociale Frage und die Schule. Von Prof. Dr. J. Frohschammer-
München 409
Drei Monate Fabrikarbeiter. Ergebnisse und Forderungen filr die Volks-
schule von Theod. Ludw. Wolf- Leipzig 420
Uutterspracho und Grammatik. Von Joh. Kaulich-Mähr.-Schönberg . . . 432
Volksbildung und Volksbildungsmittel. Von Rector A. Gild-Cassel .... 441
Pädagogische Rundschau. Deutsches Reich. — Vom deutschen Ostsecstrande.
— Aus Westfalen. — Dankbare Polen. — Eine Madchen-Erziehungsanstalt.
— Aus Belgien 446
Aus der Fachpresse 466
Literatur . .* 469
Abonnements -Preis pro Quartal M. 2.25.
Alle Buchhandlungen und Postanstalton nehmen Bestellungen an.
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Die sociale Frage und die Schnle.
Von Prof. Dr. «7. Frofischammer-München.
JEine brennende Frage, ein großes Problem, ein vielbehandeltes
Thema der Gegenwart ist es, dem wir die folgende kurze Unter-
suchung widmen; und zwar vom Standpunkt der Philosophie als Ideal-
wissenschaft aus, d. h. jener Philosophie, welche es mit den Ideen der
Vollkommenheit des Seins und Geschehens zu thun hat, die also sich so
bezeichnet ihres Inhalts wegen. Demnach nicht vom Standpunkte der
Idealwissenschaft im Sinne der Construction a priori oder der Er-
kenntnis durch das bloße Denken selbst, wie es der sogenannte transscen-
dentale Idealismus versucht, der von Kant ausging und seinen Namen
nicht vom Inhalt, sondern von der Erkenntnisweise erhalten hat.
Es ist dabei selbstverständlich, dass diese Philosophie die sociale
Frage nicht zu lösen versuchen kann durch irgend eine Art der Ver-
besserung der materiellen Lage der niederen arbeitenden Classen, wie
das auch die Schule nicht vermag, sondern nur durch den Staat und
die Gesellschaft selbst geschehen kann unter Leitung der wissenschaft-
lichen Nationalökonomie, der Rechts- und Societatswissenschaft. Für die
Philosophie und die Schule kann es sich nur darum handeln, ob durch
geistige Mittel zur Lösung dieser Frage etwas beigetragen werden
kann, und wenn dies der Fall ist, durch welche Mittel und auf
welche Weise es zu geschehen vermag. Sicher ist ja, dass dem
Schlechten, dem von Leidenschaften blind Beherrschten, dem Trägen,
Unwissenden und Unverständigen durch alle materielle Unterstützung
nicht geholfen und keine Zufriedenheit mit seiner Lebenslage bei-
gebracht werden kann, sondern dass zugleich dessen Bildung und Er-
ziehung zu höherer, edlerer Lebensauffassung mitwirken muss.
Wenn aber von geistigen Mitteln die Rede ist zur Lösung oder
Beschwichtigung der socialen Frage, dann treten, wie bekannt, so-
gleich die Häupter und Diener der Kirche und deren Theologen her-
Pad^oginm, 14. Jahrg. Heft VII. 29
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I
— 410 —
vor, behauptend, dass sie es seien, nicht die Philosophie und die
Schale, welche mit geistigen oder vielmehr geistlichen Mitteln dieses
Problem zu lösen und die Gesellschaft zu retten haben vor der
großen Gefahr, die ihr droht, und dass sie allein, resp. die Religion
oder vielmehr der sog. positive oder kirchliche Glaube dies vermögen,
wenn ihnen nur die not h ige Freiheit resp. Machtentfaltung gewährt
oder gestattet werde. Wir stellen nicht in Abrede, dass die Religion
in der socialen Frage und deren Lösung eine große Bedeutung habe
und eine wichtige Rolle spielen soll, — haben wir doch selbst ander-
wärts die Religion als ein sociales Gut von höchster Wichtigkeit be-
zeichnet und geltend gemacht *), aber die sog. positive oder kirchlich-
dogmatische Religion, wie sie sich allmählich gestaltet hat, wird
unseres Erachtens unter den gegenwärtigen Verhältnissen wenig oder
nichts zu leisten vermögen. Hat doch diese positive kirchliche Reli-
gion nicht zu verhindern gewusst, dass die Zustände in der Gesell-
schaft allmählich seit mehr als einem Jahrhundert sich gebildet haben,
wie sie gegenwärtig sind. Insbesondere hat z.B. die päpstlich-katho-
lische Kirche, die sich so unaufhörlich als einzige wahre Retterin der
Gesellschaft preist und vordrängt, die große Revolution mit ihrer ver-
nichtenden grausamen Wirksamkeit nicht verhindern können in ihrer
allmählichen Vorbereitung und ihrem endlichen gewaltsamen Ausbruch.
Und doch hatte sie in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert unbe-
dingte Herrschaft, und auch die Generation, welche zur Zeit der Re-
volution lebte und wirkte, war unter der Herrschaft der Jesuiten ge-
bildet und erzogen worden! Und auch im 19. Jahrhundert fehlte es ihr
wahrlich an privilegirter Stellung, an Macht und Einfluss nicht, und
doch konnte sie nicht verhindern, dass der Socialismus auch in katho-
lischen Staaten sich bildete und groß wurde; konnte die Völker mit
ihren gewohnten i Mitteln nicht'mehr beherrschen und lenken — wie
dies sogar im Kirchenstaate sich am auffallendsten zeigte, wo es der
päpstlichen Kirche docli sicher nicht an Macht und an Freiheit fehlte,
die so sehr von den weltlichen Regierungen verlangt wird, als unfehl-
bares Mittel Gesellschaft und Staat von dem Übel der socialistischen .
Bestrebungen zu befreien. Dies lässt wenig Hoffnung hegen, dass in
der Zukunft die kirchliche Wirksamkeit erfolgreich sein würde gegen
die Socialdemokratie, auch wenn ihr alle geforderte Freiheit gewährt
ist. Sie würde voraussichtlich ihrem absoluten Standpunkt und ihren
*) S. d. Werk: Über die Organisation und Cultnr deT menschlichen Gesell-
schaft. München 1885. S. 205—249.
i
I
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— 411 —
hartnäckig festgehaltenen Grundsätzen gemäß den modernen Geistes-
bedürfhissen und Forderungen nicht das mindeste Zugeständnis machen,
sondern nach altüblicher Weise verfahrend, die Wissenschaft und die
Bildung des Volkes möglichst zu hemmen und herabzudrücken,
die Prüfung ihrer Lehren und Institutionen zu hindern suchen, um
durch Urteilslosigkeit der Massen den Glauben sicher zu stellen.
Ihre Glaubenssätze und sonstige Satzungen müsste sie daher wieder
durch Glaubenszwang und physische Gewaltmittel aufdringen und zu
erhalten streben, wie es ehemals geschah und noch geschieht, wo sich
Möglichkeit dazu bietet Nächstenliebe und Humanität müssten wie-
der schweigen gegenüber der sog. Glaubenspflicht, und die Wahrheit
wäre nicht mehr für die Vernunft da, sondern nur für den blinden
Willen, der sich ihr nur äußerlich unterwerfen, nicht aber sie inner-
lich annehmen könnte. Der Glaube müsste wieder Liebe und Mensch-
lichkeit gegen die Mitmenschen ertödten, selbst aber nur als [auf-
gelegtes Joch getragen werden. Käme man nun mit all diesem wieder
der modernen Cultus-Gesellschaft, so müsste man auch sogleich wieder
die physische Gewalt des Staates zur Verfugung haben. Die alte gute
Zeit mit ihrer Gewalttätigkeit und Verfolgung würde dann wieder-
kehren, um zuerst den rechten Glauben oder vielmehr Glaubensgehor-
sam gegen die Kirchenautorität zu erzwingen und dann erst infolge
davon die modernen socialistischen Bestrebungen zu verhindern und
zu vernichten. Es muss dann ein kirchliches Verfahren eintreten,
wie etwa zur Zeit der Gegenreformation, wo mit Wort und Schwert
bekehrt wurde — durch Kirche und Staat. Kann aber die Kirche
mit ihren Mitteln doch Gewaltthätigkeit und Zwang nicht ersparen,
um ihre vor der modernen Wissenschaft und Civilisation nicht mehr
haltbaren Dogmen und Satzungen geltend zu machen, so ist es ge-
ratener für den Staat, lieber gleich die Sache in die Hand zu neh-
men, sowol um seine Autorität der Kirchenherrschaft gegenüber zu
wahren und nicht als deren Werkzeug zu erscheinen, als auch im
Interesse der Religion selbst, um diese nicht zum Gegenstand des
Hasses und der Verachtung zu machen dadurch, dass in ihrem
Namen Gewalt, Zwang und Verfolgung geübt wird.
Die Religion ist also zwar ein sehr wichtiges Moment bei der
Lösung der socialen Frage, aber sie muss erst selbst humanisirt wer-
den, d. h. aufhören als Gegenstand wilder Streitigkeiten und fana-
tischer Verhetzung der Menschen und der Völker gegeneinander miss-
braucht zu werden. Sie wird dadurch zugleich wirklich christlich,
da doch die Religion Jesu als solche angekündigt worden ist, die den
29*
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- 412 —
Menschen Frieden auf Erden bringen soll, die eines guten Willens
sind — nicht etwa nur denen, die den rechten Glauben haben, d. h.
denen, die dem Glauben, der Auffassung der christlichen Religion derer
beistimmen, welche etwa die Gewalt in Händen haben, der sog. Ortho-
doxen (nach ihrer eigenen Behauptung). Statt dessen haben ja die
Kirchen -Oberen und ihre Theologen aus dem Christenthum eine Reli-
gion unendlichen Streites, gegenseitigen Hasses unter den Bekennern
Jesu und wilder gegenseitiger Verfolgung gemacht!
Hier nun ist der Schule eine erste, wichtige Aufgabe gestellt.
Sie hat der Religion den humanen Charakter zu verleihen, welcher in
der ursprünglichen christlichen Religion durch das Gebot der Näch-
stenliebe und durch Auffassung Gottes als Vater aller Menschen und
dieser als Kinder desselben und als Brüder beabsichtigt und gefordert
ward, aber durch die endlosen und wüthenden theologischen Streitig-
keiten um des sog. orthodoxen Glaubens willen fast ganz verloren
gegangen ist. Dadurch wird sogleich den Menschen allenthalben das
gleiche Recht zutheil, eine eigene Überzeugung zu haben und ebenso
es anderen, d. h. gegenseitig zu gewähren, anstatt des Privilegiums des
einen dem anderen (wenn er abweichenden Glaubens ist) gegenüber. Von
den Theologen und Kirchen-Autoritäten ist eine solche Friedensstiftung
im religiösen Gebiete schlechterdings nicht zu erwarten, sondern nur
fortwährender unversöhnlicher Streit und Krieg, da sie einen absoluten
Standpunkt gegenseitig einnehmen, absolute Wahrheit zu besitzen und
Gottes Sache und Recht direct und ausschliesslich zu vertreten be-
haupten. Dieser Behauptung und diesem Glauben gegenüber wird der
Lehrerstand eine schwierige Aufgabe zu erfüllen haben, aber endlich
muss doch wenigstens bei den Cultur Völkern die Zeit kommen, wo
Wissenschaft und Civilisation , weltliche Regierung und öffentliche
Meinung dahin wirken, dass die Religion, insbesondere die christliche,
zu einer Stätte des Friedens und der Eintracht werden — anstatt,
wie bisher, die fortdauernde Veranlassung zu Feindschaft, Verfolgung,
Schmähung und Verdammung zu werden wegen vermeintlicher Recht-
gläubigkeit und Irrgläubigkeit. Der Religionsunterricht der sog. posi-
tiven Glaubensrichtungen wird freilich wol noch lange die Gelegen-
heit sein, confessionell zu hetzen, die Jugend und damit das Volk
wegen verschiedener Glaubensbekenntnisse mit Abneigung, Verachtung,
ja Hass zu erfüllen wegen unwesentlicher Cultusbräuche und wegen
abweichender Glaubenssätze, von denen das Volk doch gar kein eigent-
liches Verständnis erlangen kann, ja sie gar nicht verstehen darf und
die für praktisches Christenthum, für Anbetung Gottes im Geiste und
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in der Wahrheit und für Nächstenliebe doch keine wesentliche Be-
deutung haben.
Eine weitere Aufgabe der Schule ist die intellectnelle Bildung,
d. h. die möglichste Entwickelung der Erkenntniskräfte, wodurch so-
wol dem Einzelnen es leichter wird, sich im harten Kampfe ums Da-
sein mit seinen Fähigkeiten geltend zu machen, als auch das ganze
so gebildete Volk und damit das Staatswesen selbst an Kraft und
Bedeutung gewinnt, da nur die geistig gebildeten Völker in der Welt-
geschichte eine wirkliche Bedeutung und das Übergewicht über die
anderen, weniger gebildeten Völkermassen erlangen. Indes gerade
diese Forderung, dass durch die Schule das Volk zu möglichst hoher
intellectueller Bildung gebracht werde, um an der Wissenschaft und
Cultnr einigermaßen theilnehmen zu können, wird von conservativer
oder reactionärer und clerikaler Seite vielfach angefeindet. Das Volk
soll diesen zufolge intellectuell nicht zu sehr gebildet werden,
weil es dadurch die Lust an der Arbeit verliere, sich in geringer
Lebensstellung unglücklich fühle und in Unwissenheit glücklicher sei,
auch wol leicht der Gefahr der Halbbildung, Verflachung u. s. w. ver-
falle. Außerdem sei die übermäßige intellectuelle Bildung der Jugend
und des Volkes dem religiösen Glauben vielfach gefahrlich und schäd-
lich, veranlasse leicht Zweifel an der Wahrheit der religiösen posi-
tiven Lehren, störe den Seelenfrieden, den der feste zuversichtliche
Glaube dem Menschen gewähre und untergrabe die Unbedingtheit
willigen Gehorsams gegen die geistliche Autorität. — Es ist nun
allerdings kein Zweifel, dass die fortschreitende intellectuelle Bildung
des Volkes diese und ähnliche Gefahren mit sich bringt, aber soll
deshalb diese Bildung ohne weiteres unterlassen und der Einzelne,
wie das ganze Volk der Vortheile beraubt bleiben, welche sie bringt?
Soll gerade die höchste Gabe der Menschennatur unentwickelt bleiben,
durch welche er sich über alle anderen Wesen der Erde so hoch er-
hebt, und soll das Volk in Unbildung und Unwissenheit, also mög-
lichst nahe dem thierischen Zustande erhalten werden, weil mit der
Bildung auch Gefahren verbunden sind? Unmöglich, denn dies wäre
gegen alle Natur und Geschichte, gegen alles Recht und alle Vernunft.
Es ist die Aufgabe der Culturentwickelung, nicht das Volk in Unbil-
dung und Stumpfsinn zu erhalten, damit es keine höheren Ansprüche
an das Leben erhebe, sondern es so zu bilden, dass die damit ver-
bundenen Gefahren auch allmählich überwunden oder ganz vermieden
werden. Es ist dies aber eine der wichtigsten Aufgaben der Er-
ziehungskunst, die sich gerade der Lehrerstand nach und nach au-
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eignen muss. Handelte es sich um Bedürfnis- nnd Anspruchslosigkeit
im Leben, wie sie mit Unbildung uud Stumpfsinn verbunden sind,
dann wäre das sicherste Glück des Daseins überhaupt darin begrün-
det, gar keinen Verstand zu haben, oder den dem Menschen verliehe-
nen so zu behandeln, dass er gar nicht zur Entwickelung käme, außer
nur für ganz sinnliche Genüsse und Angelegenheiten, wie es bei den
Thieren der Fall ist. Kann aber dies vernünftigerweise nicht ge-
stattet werden, >um des 'vermeintlichen mit Unbildung und Roheit
verbundenen sog. Glückes willen, dann auch nicht die Vernachlässigung
der dem Menschen innewohnenden intellectuellen Kraft, deren Bildung
sowol dem Einzelnen als dem ganzenj Volke von höchster Förderung
sein kann, ja für Realisirung der Weltidee überhaupt ein wesentliches
Moment ist. Den Gefahren der „Halbbildung"*) wird wol mehr und
*) Mit dem Vorwurf der „Halbbildung" ist man in neuerer Zeit gegen den Lehrer-
stand sehr freigebig, besonders von Seite derer, welche denselben möglichst nieder-
halten wollen in untergeordneter Stellung. Er soll möglichst ungebildet bleiben,
damit er nicht der Halbbildung und deren Gefahren Ycrfalle! Ein seltsames Ver-
langen! Ganz ungebildet wird man den Lehrerstand doch wol auch nach der Mei-
nung dieser Leute nicht lassen dürfen, — wie weit darf man ihn dann aber bilden,
damit er nicht halbgebildet werde? Ist eine Grenze anzugeben, — etwa von Vier-
tels-, Halb- und Ganzbildung? Es lässt sich mit dem Begriff „Halbbildung" gar
nichts Bestimmtes bezeichnen, es sei denn, dass darunter die bloße Scheinbildung
verstanden werde, die von diesem oder jenem Gebiete oder von mehreren Gebieten
nur oberflächliche und phrasenhafte Kenntnisse hat und auf Grund deren sich ab-
sprechend und eingebildet verhält. Zu wahrer und ganzer Bildung kann man heut-
zutage bei der unermesslichen Erweiterung uud Vertiefung der Wissenschaft nicht
verlangen, dass jemand, um Halbbildung zu vermeiden, in allen Wissenschaften
oder auch nur in einigen vollkommen durchgebildet sei; sondern es muss zur Ver-
meidung derselben und zur ganzen Bildung genügen, in einem bestimmten Gebiete
vollkommen durchgebildet zu sein, und das ist für den Lchrerstand das pädagogische«
Wollte man zur Vermeidung der Halbbildung mehr verlangen, so müsste man so
ziemlich alle Vertreter der verschiedenen Wissenschaften für Halbgebildete erklären,
denn bei der Theilung der Wissenschaften 'bleiben den Vertretern der verschiedenen
wissenschaftlichen Gebiete die anderen größtenteils, wo nicht ganz fremd. So ist
es z. B. größtenteils bei den Naturforschern, den Historikern, den Philologen, den
Juristen u. s. w. Den Theologen insbesondere bleiben in der Regel nicht Mos die
eigentlichen Wissenschaften und deren' Gebiete fremd, sie werden auch noch sehr
einseitig, blos theologisch gebildet und mit Vorurteilen besonders gegen die
moderne Wissenschaft erfüllt. Sie könnten daher nach obiger Forderung ganz
besonders als blos der „Halbbildung" theilhaftig bezeichnet werden! Es ist richtig:
„Halbbildung" im Sinn von Scheinbildung soll bei dem Lehrerstand vermieden wer-
den; dies kann aber nicht durch Unbildung, sondern nur durch gründliche Durch-
bildung in ihrem eigenen Fach vermieden werden, in welchem sie möglichst ganze
Bildung crlangeu sollen.
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mehr vorgebeugt werden können, je mehr die Erziehungswissenschaft
und -Kunst Fortschritte zu machen imstande sein wird. — Was
endlich die Gefährdung des religiösen resp. kirchlichen positiven
Glaubens betrifft, welche die intellectuelle Bildung zur Folge haben
soll, so ist darüber einfach zu sagen, dass im allgemeinen eine Reli-
gion, welche die intellectuelle Bildung der Völker überhaupt zu fürch-
ten hat und nicht ertragen kann, nicht die wahre, echte Religion sein
kann, sondern entweder schon im Grundwesen falsch sein, oder in der
Entwickelung eine falsche Richtung genommen und in ihrer Gestal-
tung von der Zeit und den Fortschritten der Erkenntnis überholt
sein muss, also einer Reform bedürftig ist. Denn eine Religion kann
nicht richtig und berechtigt sein, die gegen die Vervollkommnung der
Menschennatur sich richtet, welche zum Bestand die Niederhaltung
der höchsten Geisteskraft von den Menschen fordert. Wird der In-
tellect in seiner Thätigkeit und Vervollkommnung gehemmt oder unter-
drückt, muss sozusagen das Auge der Vernunft verschlossen bleiben,
damit blindlings geglaubt werden kann, dann werden auch die ande-
ren Geisteskräfte, Gemüth und Willen nicht in normaler Weise thätig
sein und sich entwickeln und vervollkommnen können.
Um die Bildung dieser beiden Geistesvermögen handelt es sich
aber gerade in der Erziehung, die demnach die Bildung des Intellects
zugleich erfordert. Dass zur Bildung von beiden blos theoretische Unter-
weisung nicht genüge, insbesondere nicht etwa bloßes Auswendig-
lernen von Dogmen und sittlicher Gebote und Verbote, ist wol päda-
gogisch fast allgemein anerkannt, wenn auch praktisch nicht immer
dieser Einsicht gemäß verfahren wird. Es sind insbesondere edle
Beispiele als Vorbilder, die hier wirksam sind, weil sie auf die Phan-
tasie besonders der Jugend" wirken und zu edlen Entschlüssen und
nachahmendem Verhalten anregen. Nicht mit Unrecht ist behauptet
worden, dass der Mensch so sei, wie seine Phantasie beschaffen ist.
Phantasie -Vorstellungen machen Helden, kühne Unternehmer, liebe-
volle werkthätige Menschenfreunde und selbst Asceten, da durch
Phantasiethätigkeit Furcht wie Hoffnung erzeugt und zu bestimmtem
Thun angeregt wird. Freilich sollen diese Vorbilder von der Art sein,
dass sie in normaler Weise nachgeahmt werden können, nicht aber
Extreme in Ascese und Wunderlichkeiten, die für die Menschen im
allgemeinen unnachahmbar sind und nur Verwunderung, Scheu oder
Mitleid erregen können — für das praktische Leben aber vollständig
unfruchtbar sind, und auch andere nicht dafür als Vorbilder frucht-
bar machen können. Es ist ein Hauptmangel der Religionen bezttg-
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lieh der Erziehung, dass solche Wundermenschen am höchsten gestellt
werden und das Volk gerade mit ihnen am meisten bekannt gemacht
wird, über welche es sich doch nur wundem kann, ohne ein Beispiel
der Nachahmung an ihnen zu gewinnen.
Als eine Hauptaufgabe, durch deren Erfüllung die Schule zur
glücklichen Lösung der socialen Frage der Gegenwart beitragen kann,
i>t endlich noch dies hervorzuheben, dass sie die Jugend und damit
auch das Volk zur richtigen Würdigung der Daseins Verhältnisse, zur
Sehätzung der Dinge und Güter nacli ihrem wahren Werte anleite
und dadurch von jenen Illusionen befreie, die hauptsächlich dazu
beitragen, dass das Volk unzufriedeu wird und sich unglücklich in
seinen untergeordneten Lebenslagen und Berufsbeschäftigungen fühlt.
Es ist vor allem die Noth wendigkeit der Arbeit selbst, die als ein
Missgeschick, als eine Last, ja zum Theil als ein göttlicher Fluch
angesehen wird, während Freisein von derselben, Müßiggang als eiu
großes Gut und Glück und gewissermaßen als ein Götterleben be-
trachtet wird Es sind dann die äußerlichen Lebensgüter, Beichthum,
sinnlicher Geuuss, hohe Titel und Würden, die man für schönste, be-
glückendste Lebensgüter ansieht, die man wünscht, um die man andere,
denen sie zutheil geworden, beneidet, ja mit Zorn und Ingrimm
betrachtet. Dass hier große Illusionen vorliegen, ist ohne große
Schwierigkeit zu erkennen. Diese sind soviel als möglich zu zer-
streuen, und sind dafür die wahren, wirklich wertvollen Lebensgüter
zum Bewusstsein zu bringen. Vor allem ist dem Wahne entgegen zu
wirken, als ob Müßiggang, Nichtsthnn und bloßes sinnliches Genießen
ein menschenwürdigerer und glücklicherer Zustand wäre als Arbeiten
und mäßiges Leben. Die Arbeit wird noch vielfach, zum Theil durch
religiöse Ansichten, als ein Strafzustand, ja sogar als Folge göttlichen
Fluches über die Meüschheit angesehen, der infolge des sog. Sünden-
falls der ersten Menschen über die ganze Menschheit soll von Gott
ausgesprochen worden sein (Genes. 3, 17 ft'.); — eine Annahme, die
schon mit dem biblischen Berichte selbst nicht in Übereinstimmung
steht, da dem Menschen selbst im sog. Paradiese vom Schöpfer von
Anfang an die Aufgabe gestellt wird, die Erde zu bauen und zu be-
wohnen (Genes. 2, 15). Die Arbeit, das Schaffen begründet im Gegen -
theil das Glück, wie die Würde und Ehre des Menschen, da dieser
nur so viel wert ist, als er für seine eigene Vervollkommnung und
für das Wol seiner Mitmenschen leistet, und nur durch seine Wirksamkeit
Wert und Bedeutung für das Dasein überhaupt und insbesondere für
sein Volk und die Menschheit erhält. Schiller lässt es so aussprechen:
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„Ehr den König seine Würde, ehret uns der Hände Fleiß." Jede,
auch die geringste Arbeit hat ihre Bedeutung im Gesammtdasein der
Menschheit so gut wie die auf den Höhen der Gesellschaft, wie das
Fundament seine große wichtige Bedeutung hat, auf dem die Figur
sich erhebt. Was aber das Lebensglück betrifft, so ist es nicht durch
Genuss, Glanz, prunkenden Schein begründet, sondern durch schaffende
Arbeit, die sowol den Schaffensdrang befriedigt, als auch die not-
wendigen Lebensgenüsse erhöht und veredelt. Hat doch schon Aristo-
teles behauptet, dass das wahre Glück des Menschen durch nichts
anderes erreicht werde, als durch erfolgreiche Thätigkeit, — also
nicht von Reichthum, Genuss und den gewöhnlichen Glücksgütern be-
gründet werden kann. Allerdings ist die Arbeit auch vielfach mit
Beschwerden und selbst Gefahren verbunden, aber immerhin lässt sich
doch jeder Art derselben irgendeine bedeutungsvolle und selbst ideale
Seite abgewinnen, und dies um so mehr, je beschwerlicher sie ist, da
sie stets zum Ganzen des Weltprocesses und der Erfüllung der Auf-
gabe der Menschheit gehört, wie Schiller es ausdrückt:
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten,
Zwar Sandkorn uur und Sandkorn reicht.
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.
Es ist selbstverständlich bei all' dem immer vorauszusetzen, dass die
materielle Lage der in den unteren Gebieten des Daseins Arbeitenden
verbessert werde, soweit es nach Lage der physischen und geistigen
Daseinsweise des Menschen und der menschlichen Gesellschaft nur
immer möglich ist.
Die Aufgabe der Schule wird hierbei eine sehr große und schwie-
rige sein, denn in diesem sinnlichen Dasein den vorherrschend im
Sinnlichen Lebenden und Wirkenden die richtige Würdigung der Arbeit
und die richtige Schätzung der Dinge, Güter und Verhältnisse nach
ihrem wahren Werte beizubringen, eine Schätzung, in der man schon im
Alterthuin die Weisheit erblickte und ein Resultat philosophischen Denkens
sah, ist schwer. Grundsätze allgemeiner Art und vernünftige Lebens-
regeln vermögen auf solche Menschen nicht nachhaltig zu wirken, es
ist hier nothwendig, dass auch die wirkliche Religion, das wahre
Christenthum in seiner ursprünglichen Reinheit zur Geltung gebracht
werde. Das Christenthum hat die Armut nicht blos erleichtern
wollen durch das Gebot der Nächstenliebe, das dem der Gottesliebe
gleichgestellt wurde, es hat dieselbe sogar gewissermaßen geadelt, als
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vollkommeneren Zustand geltend gemacht, als den Besitz von Reich-
thum, so zwar, dass dieselbe von Tausenden freiwillig gewählt, dem
Besitz von Reichthum und Genuss vorgezogen ward. Ahnliches sollte
auch in Bezug auf die Arbeit angestrebt werden, da dies noch viel
wichtiger wäre als jenes. Die Erhebung [der Armut brachte manche
Missstände mit sich, förderte missbräuchlich anch den Müßiggang*
und den Bettel in einer Weise, die dem Einzelnen und dem Gemein-
wesen zum Schaden gereichte. Dies ist bei Förderung einer höheren
Auffassung der Arbeit und selbst einer gewissen religiösen Weihe der-
selben nicht der Fall, im Gegentheil werden dadurch die Einzelnen
in ihrer Lebenslage gefördert und werden die Völker und Staaten
dadurch nicht blos moralisch und intellectuell gehoben, sondern auch
materiell reicher und phj'sisch mächtiger.
Alle Bestrebungen der Lehrer in den Schulen in Bezug auf rich-
tige Würdigung der Arbeit und] ,in Bezug auf vernünftige Wert-
schätzung der Güter nnd Genüsse des menschlichen Lebens werden
aber kaum den gewünschten für das Wol und den Frieden der Gesell-
schaft noth wendigen Erfolg erzielen, wenn sie nicht unterstützt wer-
den von den höheren und gebildeten Olassen der Gesellschaft durch
das Beispiel nnd das Vorbild edler Gesinnung und richtiger Schätzung
der Lebensgüter und Genüsse nach ihrem wahren Werte. Man kann
von den ungebildeten Volksclassen nicht eine hohe und edle Gesinnung
und weise Benrtheilung der Dinge erwarten, wenn diese unaufhörlich
wahrnehmen, dass die höheren, an Rang und Bildung über ihnen
stehenden Gesellschaftsclassen sie selbst nicht bekunden. Wie sollen
die niederen Classen z. B.' die Arbeit hochschätzen als die Ehre und
Würde des Menschen und als das wahrhaft das Lebensglück Begrün-
dende, wenn sie wahrnehmen, dass jene selbst ein müßiges Leben für
das Höchste und für das wahre Götterleben erachten und danach
streben? Und wie sollen sie sinnliche Genüsse nicht für das Höchste
erachten, wenn sie sehen, dass die höher Gebildeten so sehr denselben
nachjagen und außerdem der großen Mehrzahl nach gierig streben
nach leeren, prunkenden Titeln, Ehrenbezeugungen und eitlen Äußer-
lichkeiten aller Art? Ja, wenn sie sehen, dass nicht blos die Träger
der Bildung, sondern sogar die der Religion, die Vertreter und Macht-
haber des religiösen (kirchlichen) Glaubens dergleichen Nichtigkeiten nach-
jagen, das Leere und Bedeutungslose hochschätzen, während sie verlangen,
dass das ungebildete Volk sich an das wahrhaft Wertvolle halte,
ideale Gesinnung kundgebe und bethätige, während sie nach glänzen-
dem Firlefanz streben?
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Es ist also zwar, wie schon eingangs bemerkt, auf das Höchste zu
wünschen, dass die materielle Lage der in niederen Lebenssphären
Arbeitenden so gut als nur immer möglich gebessert und gehoben werde,
und unserer Zeit wird es zum unvergänglichen Ruhme gereichen,
dazu großartige Anstalten versucht zu haben, — aber ohne geistige,
ohne intellectuelle und sittliche Bildung wird alles vergeblich sein,
denn den Unvernünftigen, von Leidenschaften Fortgerissenen und den
Schlechten kann durch nichts geholfen werden!
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Drei Monate Fabrikarbeiter.
Ergebni>se und Forderungen für die Volksschule
von Ttteod. Lwiw. Wotf-Leipzü/.
Xj nter dem Titel „Drei Monate Fabrikarbeiter"*) bat vor einiger
Zeit Herr Paul Göhre, Candidat der Theologie und Generalsecretär
des evangelisch-socialen Congresses in Berlin, eine Studie veröffentlicht,
die in allen Kreisen lebhafte Aufnahme gefunden zu haben scheint,
nicht am wenigsten in Lehrerkreisen. Der Verfasser hat, um „seine
ärmeren Mitbrüder und ihre Lage, ihre Gedanken, ihr Sorgen und ihr
Sehnen" kennen zu lernen, unerkannt drei Monate in Chemnitz als
einfacher Arbeiter einer großen Maschinenfabrik mit anderen Fabrik-
arbeitern „taglich 11 Stunden gearbeitet, mit ihnen gegessen und ge-
trunken, als einer der ihrigen unter ihnen gewohnt, die Abende mit
ihnen verbracht, sich die Sonntage mit ihnen vergnügt".
Dem Verfasser ist es ernst um die Lösung seiner selbstgestellten
Aufgabe gewesen, und er hat sich diese nicht leicht gemacht; er ist
mit sittlichem Eifer an sie herangetreten; diesen, eine tiefe Liebe zum
Volke und ein heißes Sehnen und Bemühen, dem „vierten Stande" zu
helfen, erkennt man auf jeder Seite. Er hütet sich, und warnt selbst
davor, seine Ergebnisse zu verallgemeinern; was er uns bietet, gilt
zunächst nur von den sächsischen Industrie-Arbeitern; er berichtet es
mit der nöthigen Objectivität, dem nöthigen Freiin uthe und greift
ohne Scheu in offene und geheime Wunden. Herr Göhre belichtet
über die materielle Lage der Arbeiter, über die Arbeit in der Fabrik,
die Agitation der Socialdemokratie, über die socialen und politischen
Gesinnungen seiner Arbeitsgenossen, über Bildung und Christenthum,
über sittliche Zustände, und in einem Schlusscapitel zieht er das
Facit seiner Erlebnisse.
Was dem Pädagogen das Buch so wertvoll macht, sind zunächst
*) Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbureehe. Eine praktische Studie
von Paul Göhre. Zweites Zehntausend. Leipzig. 1891. Fr. W. Grunow.
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nicht die Ausführungen über die wirtschaftlichen , politischen oder
socialen Verhältnisse der Arbeiter, sondern das was er über religiöse,
sittliche und wissenschaftliche Bildung berichtet. Das kann uns
Lehrern einen Anhalt geben, wo die Schule den Hebel anzusetzen
hat, um an dem socialen Problem mit zu arbeiten.
Es zeigt immer von einer Verkennung der Thatsachen, wenn man
meint, die Schule könne die sociale Frage lösen; sie kann es allein
ebensowenig wie die Kirche. „Die richtigen Ärzte aller socialen Krank-
heiten", sagt einmal K. E. Franzos, „sind der Volkswirt, der Priester,
der Schulmeister." Gewiss, da die sociale Frage eine hervorragend
ethische Frage ist; nur soll jeder auf dem Gebiete helfen, auf dem er
competent ist. Die Schule darf sich nie als Waffe im Kampfe gegen
irgend welche politische Partei gebrauchen lassen; jede Politik liegt
ihrem Wesen fern. Auch ihr kann es, wie Göhre es von der Kirche
behauptet, gleichgiltig sein, „ob sie in einem Feudal-, Manchester- oder
Socialstaate wirkt". Das Ethisch-Religiöse ist der Boden, auf dem die
Lehrer kämpfen müssen.
Die Schule beansprucht die Gebiete des Unterrichts und der Er-
ziehung. Sie hat damit zwei Verpflichtungen, die der Familie zu-
kommen, auf sich nehmen müssen. Der Unterricht bleibt ihr unbe-
stritten, wiewol sie auch auf diesem Felde die Unterstützung des
Hauses nicht gut entbehren kann. Mit dem Begriff des Unterrichts
hat sich der der Erziehung allmählich unlöslich verbunden; ja dieser
hat, und musste es, als das wesentlich wichtigere Moment, die erste
Stelle eingenommen. Für die Erfolge auf diesem zweiten Felde muss
aber die Familie in weit höherem Maße als die Schule verantwortlich
gemacht werden. Hier kann die Schule niemals die Erbin des Hauses,
sondern nur seine Freundin, Helferin und Beratherin werden. Dass
Pestalozzi die Wohnstube als Rettungsanstalt in socialen Nöthen an-
sah, dass er in der Mutter die weitaus beste Erzieherin erkannte,
das muss für alle Zeiten Geltung haben, davon dürfen wir nicht ab-
kommen. „Das, was Eltern die Kinder lehren können, ist und bleibt
immer die Hauptsache fürs menschliche Leben, und das versäumen
die Eltern den Kindern in ihrer Wohnstube zu geben und bauen auf
Wörter, die ihnen ein Schulmeister voi*sagt, die zwar wol recht und
gut sind und viel Schönes und Braves bedeuten, aber immer doch nur
Wörter sind und aus einem fremden Munde kommen und den Kindern
nie so anpassen wie ein Vater- und Mutter wort." *)
♦) Pestalozzi, Christ, u. Else. I. S. 239 ff.
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Wo bleibt aber die Familienerziehung, wenn das Familienleben
that8ächlich im Schwinden begriffen ist? Herr Göhre hat dafür eine
Menge Belege in den Kreisen seiner Arbeitsgenossen gesammelt. Vor
allem sind die jämmerlichen Wohnungsverhältnisse an der Lösung der
Familienbande schuld *) „Das Traurige an dem ganzen Wohnungs-
wesen", sagt Herr Göhre (S. 21), „war das Missverhältnis zwischen
der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Weitaus die
meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und
Kostgänger." „Das Ärgste von Wohnungsnoth, was ich erlebte," um
das drastischste Beispiel anzuführen, „war bei einem Mann aus meiner
Fabrik. Das war thatsächlich nicht mehr menschenwürdig. Der
Mann war ein alter und langjähriger Arbeiter. Er hatte eine kränk-
liche, halbgelähmte, blutflussige Frau. Ihre Kinder waren bereits er-
wachsen und verheiratet; sie hatten nur eine von ihnen herzlich gepflegte
Enkelin noch bei sich, dagegen fünf fremde Schlafleute! Dieses Mannes
Wohnung bestand aus folgenden Gelassen: aus einer Stube, einem
Alcoven, einer einfenstrigen Kammer und einer Dachkammer. In
dieser standen zwei Betten: in dem einen schlief ein ganz junges Ehe-
paar, das hier zur Aftermiete wohnte, und in dem andern das zwölf-
jährige Mädchen, das Enkelkind!" — Das geschieht in einem Staate,
der sich nicht mit Unrecht seiner verhältnismäßig guten sanitären und
sittenpolizeilichen Verordnungen und Einrichtungen rühmen darf! „Das
Schlafstellen- und Kostgängerwesen ist der Ruin der deutschen Arbeiter-
familie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirt-
schaftliche Notwendigkeit." **)
Dass dabei trotzdem „die Zahl der Familien, die bei aller Be-
schränktheit der Lebenshaltung und Wohnung so gut als möglich auf
Adrettheit und Anstand zu halten versuchten und auch thatsächlich
hielten, unendlich größer war als diejenigen, bei denen es ans irgend
einem Grunde nicht der Fall war", das spricht laut genug für den
noch immer gesunden Sinn für das Häusliche unserer Arbeiter.
Zu diesen trüben Wohnungsverhältnissen kommt noch als zweiter
Missstand die lange Arbeitsdauer. Elf Stunden ist der Vater, zum
Theil auch die Mutter in der Fabrik beschäftigt, die Kinder befinden
sich in der Schule. Selbst der Mittag versammelt die Familie nicht
zu gemeinsamer Mahlzeit. Eine einstündige Mittagspause, ein weiter
Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung! Die Mahlzeit muss auf
*) H. Albrecht, Wohnung der Armen. Deutsche Rundschau XVII, 2 ff.
♦*) Göhre a. a. 0. S. 24.
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der Straße, wenn es gut geht im Fabrikgebäude selbst eingenommen
werden. „Wie kann solch eine Mahlzeit auf der Straße jemals eine
gesegnete sein? Wie kann man im Ernst tadeln, dass sie ohne Gebet
und Händefalten hineingeworfen wird? Wie muss sie ganz anders
als Agitatorenworte es vermögen, den Familiensinn des Vaters und
der Mutter und damit Familienglück und Familienleben zerstören?
Denn diese Zustände und ihre Folgen treffen ja nicht nur den, dem
man das bisschen Essen im Topfe auf die Promenadenbank bringt,
sondern stets die ganze Familie." *) Und wie ist es am Abende?
Müde und abgespannt kehrt der Vater heim von der Arbeit in seine
unfreundliche Behausung; soll er sich dann noch viel mit seinen Kin-
dern beschäftigen? Oft sind sie ja längst schon zur Ruhe gegangen.
Ungestört und allein zusammen können Eltern und Kinder nur wäh-
rend der Nacht, vielleicht auch Sonntags sein. Es erhellt daraus
dass „infolge dieser Zustände in weiten Kreisen unserer großstädtischen
Industriebevölkerung die überlieferte Form der Familie heute schon
nicht mehr vorhanden ist. Der alte, auf Blutsverwandtschaft von
Eltern und Kindern ruhende und aus allein solchen blutsverwandten
Gliedern zusammengesetzte Organismus der Familie, an den sich in
besseren Ständen bisher nur einzelne Dienstboten fester oder loser
anschlössen, hat in der That in jener Bevölkerungsschicht heute bereits
mehr oder weniger einem erweiterten, auf den rein wirtschaftlichen
Bedürfhissen gemeinschaftlichen Wohnens und Lebens aufgebauten, in
der Zusammensetzung seiner Glieder durch Zufälligkeiten gebildeten
Kreise von Blutsverwandten und Fremden Platz gemacht. Und nicht
die Socialdemokraten und deren Agitation haben daran die Haupt-
schuld, sondern eben jene Zustände, (die eine Frucht unserer ganzen
wirtschaftlichen Verhältnisse sind und die es den Arbeitern unmög-
lich machen, gemeinsam ihre Morgen- und Mittagsmahlzeiten ein-
zunehmen, die sie zwingen, die allerdürftigsten und allerengsten Woh-
nungen zu beziehen, dazu noch wildfremde, häufig wechselnde Schlaf-
gäste bei sich aufzunehmen und ihnen den vertraulichsten gemein-
samen Umgang zu gestatten, den man sonst nur mit den eigenen
Familienangehörigen zu pflegen gewohnt war." **)
Was sollen da Koch- und Haushaltungsschulen helfen? Was
sollen Schulsparcassen , Knabenhorte und ähnliche Einrichtungen?
Sie haben nur eine interimistische Bedeutung, für so lange nämlich,
*j Göhre a. a. 0. S. 36.
*) Göhre a. a. 0. 8. 37 ff.
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als die Familie ihren Verpflichtungen nicht nachkommt und nicht
nachkommen kann. „Was sollen Reformen der Erziehung, solange
diese socialen Schäden fortdauern? Nur eine Rechtsordnnng, welche
die Gesellschaft selbst reformirt, kann hier allmählich Wandel
schaffen."*) Damit nehmen wir nicht die Verantwortung von der
Schule, dass sie durch den erziehlichen Unterricht die Familienglieder
an ihre Familienpflichten erinnere; denn die Schule soll und kann
auch zur Erziehung der Gesellschaft beitragen. Der wahre Volks-
schullehrer muss das sein, was Diesterweg von ihm fordert, ein Volks-
pädagog.
Die Klagen über zunehmende Verrohung der Jugfnd, über das
Anschwellen der Unsittlichkeit sind ebenso allgemein wie berechtigt.
Man werfe nicht ein, dass die sittlichen Zustände vergangener Zeit
schlechtere gewesen seien, als die der Gegenwart.. Denn darin eben
liegt der Vorzug unserer Zeit vor der Vergangenheit, dass der Mensch
heute besser sein kann, nicht darin, dass er besser ist. Ist es aber
ein Wunder, dass die sittlichen Zustände so unerfreuliche sind? Ist
es nicht vielmehr ein Wunder, dass sie nicht noch weit schlimmere
sind? Dass dies nicht der Fall ist, dessen rühmen wir uns, das dankt
man zumeist der Schule. Hören wir darüber Herrn Göhre! Er sagt:
„Das Sittengesetz des Christenthums, das in der geschichtlichen Person
Jesu von Nazareth als erfülltes Ideal uns von Gott offenbart ist, seit-
dem das starke Rückgrat aller christlichen Jugenderziehung, sitzt
noch als das beste Stück ihres sittlichen Charakters und ihrer selbst
oft unbewusst auch in den Herzen der mir nahe gekommenen Arbeiter
fest. Es gilt auch ihnen noch als Maßstab und Wertmesser für alle
Handlungen und Gedanken, als die unsichtbare letzte Instanz, die
Macht des Gewissens, die zwar oft beiseite geschoben, umgangen und
zum Schweigen gebracht wird, die aber trotzdem auch in ihren Augen
eine unantastbare Autorität und selbstverständliche und natürliche
Ordnung ist." **) Ja, das Gewissen ist eine Macht, aber nur für den
sittlich schon erzogenen Menschen. Wer aber mahnt den jugendlichen
Arbeiter daran, der Stimme seines Gewissens zu lauschen? Wer ist
ihm Führer in der „Jugendwüste", um mit Dörpfeld zu reden, die
vom Austritt aus der Schule bis zur Mündigwerdung sich ausstreckt?
„Man denke daran, dass die unverhältnismäßig günstigen Löhnungs-
verhältnisse der unbeaufsichtigten Jugend nothwendig zu dem Leicht-
*) Wandt, Ethik. S. 462.
**) Göhre a. a. 0. 8. 191.
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sinn, der Roheit und der Verschwendungssucht führen müssen, die
man unter ihnen in erstaunlichem Umfange verbreitet findet." *) Soll
dann die „Schule des Militärs" den sittlich Gefallenen wieder auf-
richten? Sie könnte es; aber sie erfüllt ihre erziehliche Pflicht nicht.
Denn darüber, dass ein Mensch, wenn er nicht sittlich kerngesund ist,
mit dem Eintritt ins Militär den letzten Rest von Schamhaftigkeit,
Anstand und Menschenwürde verliert, darüber ist wol jeder Ein-
geweihte sich klar. Der jugendliche Gymnasiast hat einen sittlichen
Halt in der Familie, in der Schule; unserm jugendlichen Arbeiter fehlt
er. Die evangelischen Jünglings- oder katholischen Gesellenvereine
helfen hier nicht aus, weil sich ihnen gerade die selbstständigeren, selbst-
bewussteren Elemente entziehen. Die Fortbildungsschule soll man bei
der geringen Zeit, die sie dem Zögling widmen kann, nicht verant-
wortlich machen für seine Entsittlichung. Und wie stünde es dann
bei den Madchen, die auch dieses Zwanges ledig sind? „Ich behaupte",
sagt Göhre (S. 205), „dass kaum ein junger Mann oder ein junges
Mädchen aus der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung, das über 17 Jahre
alt ist, noch keusch und jungfräulich ist. Der geschlechtliche Um-
gang, auf den Tanzböden vor allem groß gezogen, ist unter dieser
Jugend heute im weitesten Umfange verbreitet. Er gilt einfach als
das Natürliche und ganz Selbstverständliche; von dem Bewusstsein,
dass man damit eine Sünde begeht, ist selten eine Spur vorhanden.
Das sechste Gebot existirt in diesem Sinne da unten nicht." Und
darin eben besteht das Gefährliche, dass man das Unsittliche bereits
gar nicht mehr als solches ansieht, sondern als etwas ganz Selbst-
verständliches. Soll das so weiter gehen? Soll die freie Liebe als
ein sittlicher Zustand anerkannt werden? — Die Familie kann auch
hier Retterin werden. Da sie es aber vorläufig nicht ist, mtisste die
Fortbildungsschule in ihren Zielen und Fächern erweitert werden,
musste aber auch ihre Disciplinargewalt ausgedehnt werden. Die Zeit,
in welcher der Charakter anfängt sich zu bilden und zu festigen, ist
so wichtig, dass sie solche Forderungen rechtfertigt. „In diesem
wichtigsten Abschnitte des Lebens die Jugend in sittlicher Reinheit zu
erhalten und vor der Bahn des Lasters zu bewahren, das wäre ein
Problem, das weit über das sociale im engeren Sinne hinausgeht,
eben weil seine Lösung die Voraussetzung für die Lösung aller socialen
Fragen bildet" **)
♦) Göhre a, a. O. 8. 192.
♦•) Tröper, Die Schale und die sociale Präge. III. 8. 37.
P*d«go*ium. 14. Jahrf. Heft VIT. 30
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- 426 —
Wenn irgend der Moralunterricht eine Berechtigung hat, so hat
er sie gerade für die Periode der Mündigwerdung. Damit und von
ethischen Grundsätzen durchdrungen müssen volkswirtschaftliche Be-
lehrungen und ein Unterricht in der Gesellschaftskunde Hand in
Hand gehen.*)
Aber betont muss hierbei immer werden, dass nicht das Wissen,
nicht Verstandesbildung den Menschen sittlich machen kann. Luthardt
citirt in seiner Apologie des Christenthums (IV. 228, 17) Matthias
Claudius mit folgenden Worten: „Es ist zwischen den Begriffen und
dem Wollen im Menschen eine große Kluft befestigt. Das Bad des
Wissens und das Bad des Willens, ob sie wol nicht ohne Verbindung
sind, fassen nicht ineinander. Sie werden von verschiedenen Elemen-
ten umgetrieben." Will die Schule erziehlich wirken, so muss sie vor
allem den Willen, das Gefühl, den Trieb bilden. Sie sind die psychi-
schen Grundphänomene, von welchen alle geistige und sittliche Ent-
wicklung ausgeht**)-, sie sind die Steuer, die der Lehrer bewegen
muss, um die Lebensschiffe in das rechte Fahrwasser zu leiten. «Der
Mensch handelt nicht das eine Mal nach unmittelbarem Gefühl, ein
anderes Mal nach Reflexion, sondern immer nach Gefühlen.***) Wie
aber steht es mit der Gefühls* und Willensbildung in unseren Schulen?
Hören wir, was Herr Göhre darüber in dem Capitel: Bildung und
Christenthum berichtet!
Er unterscheidet drei Bildungssphären. Aus der ersten traten
diejenigen ländlichen Arbeiter hervor, welche die (in Sachsen meist
zwei- oder viere lassigen) einfachen Volksschulen besucht hatten. In
der zweiten standen die aus Mittelstädten eingetretenen Arbeiter, die
aus der achtclassigen mittleren Volksschule, der sogenannten Bürger-
schule hervorgegangen, und in der dritten die großstädtischen Fabrik-
arbeiter, die in der einfachen achtklassigen Bezirksschule ihre Bildung
erhielten. „Die Dorfbildung", sagt er (S. 144 u. ff.), „zeigte sich, da»
ist ihr oberstes Charakteristicum, als durchaus religiös und con-
fessionell dogmatisch bestimmt, als eine, man kann wol kurz sagen,
biblische Bildung. Der Reh'gionsunterricht ist das starke Blickgrat
des gesammten Übrigen Unterrichts. Der Geist und der Ton, der in
jenem herrscht, wird weniger in ausdrücklichen Worten und mit be-
wusster Lehrtendenz als durch die Persönlichkeit und die Haltung
*) Dörpfeld, Theorie des Lehrplaus.
•♦) Wundt, Physiol. Psychol. II. 24. Gap.
*•*) Wundt, Ethik. 8. 487.
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- 427 —
des Lehrers und durch die ganze Art seines Unterrichtens auch in
die übrigen Lehrstanden hineingetragen und gilt jedenfalls vor allem
in den Augen der Blinder als derselbe hier wie dort." „ Diese biblische
Anschauungsform von Welt und Leben erwies sich mir um so fester
in Kopf und Herz der Leute eingeprägt, als sie deutlich in ihren
Augen getragen und gestfitzt, verbrieft und versiegelt erschien durch
die überlieferte und unfehlbare Autorität der Schrift, aus der sie
stammt. Diese Autorität gilt ihnen gemäß der alten Auffassung von
der Inspiration nicht blos, soweit diese Schrift „Jesum Christum treibet",
sondern sie gilt gleichwertig und gleich einschränkungslos von allem
anderen, was sie an profanem Wissen mittheilt, bis auf den Punkt
über dem i." „Dazu trat als eine dritte ebenso wichtige und von
allen ernsten gedankenvollen Männern längst anerkannte Erscheinung
der Umstand hinzu, dass heutzutage in der Schule die Heilsthatsachen
des Evangeliums nicht als persönliche Lebenswahrheiten unmittelbar,
sondern als Lern- und Memorirstoff lehr- und schulmäßig, wie sie im
Katechismus formulirt sind, nicht den Herzen, sondern den Köpfen der
Kinder übermittelt zu werden pflegen. Der Religionsunterricht ist
hier also vorwiegend Verstandesunterricht anstatt Erziehung des
Charakters; die christliche Heilswahrheit kalter Lernstoff anstatt
warme, alles durchdringende Lebenskraft; Jesus Christus — nach dem
Vorgange des Dogmas — mehr ein metaphysisches Räthsel als eine
historische gottvolle Persönlichkeit." Auch der Confirmanden Unter-
richt, den der Geistliche im letzten Schuljahre ertheilt, leistet nach
Göhre's Erfahrung (und nicht nur nach seiner) nicht das, was von
ihm erwartet werden könnte. Dieser so mangelhafte religiöse Unter-
richt war die Ursache einer schweren intellectuellen und religiösen
Krisis für diese ländlichen Arbeiter, sobald sie in die Fabrik eintraten,
„in der diese Bildung dann fast immer Bankerott und einer anderen
Platz machte".
„Einen anderen Charakter zeigte die Bildung der jungen Leute,
die aus meist besser situirten Handwerker- und kleinen Beamten-
familien eben erst in die Fabrik hereingekommen waren. In den
Bürgerschulen, die sie besucht hatten, sind die Schulstunden zahl-
reicher, der Lehrplan reichhaltiger, der Lehrinhalt größer und gehalt-
voller als in jenen Dorfschulen." „Der in ihnen gelehrte Wissensstoff
fußt auf den Ergebnissen der neuen, modernen Wissenschaft und ist
unabhängiger als dort von dem Wissensstoffe der Bibel und der Ge-
dankenwelt des überlieferten Dogmas." Doch auch hier geschieht die
Aneignung des religiösen Lehrstoffes „unter selbstverständlicher An-
30*
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— 428 —
erkennung der wörtlichen Inspiration der Schrift und der Richtigkeit
auch aller ihrer profanen Bestandtheile. Aber man erlaubt sich hin-
sichtlich der letzteren in der Praxis eine starke, wenn auch still-
schweigende Correctur, indem man in den übrigen Unterrichtsstunden
eben diese nach innerer logischer Notwendigkeit allgemeingültige
Autorität eliminirt und die modernen Erkenntnisse hier als Autorität
anerkennt und benutzt, ohne jedoch in eine klare Auseinandersetzimg
dieses inneren Widerspruchs einzutreten."
„Endlich die großstädtische Gemeindeschulbildung. Sie ähnelte
wol in manchem derjenigen der Bürgerschule, aber sie steht nach
Bildungsziel und Lehrcharakter der Schule im Grunde doch nur auf
etwa demselben Niveau wie die Bildung einer großen völlig aus-
gebauten achtclassigen Dorfschule. Auch hier die übertriebene Ab-
hängigkeit der profanen Wissensbestandtheile von denjenigen der Bibel,
auch hier die falsche Auffassung von deren Autorität, auch hier die-
selbe überwiegend verstandesmäßige Mittheilung und Aneignung der
christlichen Heilsthatsachen ähnlich wie bei jedem andern Lehrstoff/
„Die Unruhe des neuen socialen Lebens übt auch auf den gei-
stigen und religiösen Bildungschai akter der meisten einen folgen-
schweren Einfluss aus. Sie lässt es zu keiner Erhaltung und Festigung
der in der Schule angeeigneten Bildungselemente kommen, schwemmt
vielmehr eine Menge davon schnell wieder hinweg, macht bedenklich
gegen die Zuverlässigkeit der bewahrten und weckt damit zugleich
das Bedürfiiis und die Sehnsucht nach einer besseren und umfassen-
deren Bildung, die frei von Widersprüchen ist, die vor der modernsten
Kritik besteht, die ihnen wieder imponirt, und för die sie bereit sind
die ganze alte, niemals geliebte, weil niemals recht fruchtbar gewordene
schulmäßige Jugendbildung zu opfern."
„Die drei Arten von Bildung machen in der Fabrik eine völlige
Wandlung durch. Sie werden unter dem Einflüsse der Socialdemo-
kratie unaufhörlich zerstört und gehen in einer neuen, der socialdemo-
kratischen Bildung unter."
Lehrer und Geistliche sind nur dazu da, dies ist die allgemeine
Ansicht in jenen Kreisen, dass sie der großen Masse „etwas weis-
machen", die Religion ist ein Käfig für die Bestie Mensch; „die Kerle
glauben doch selbst nicht, was sie reden".
Ist es soweit gekommen? Ist das die Frucht achtjährigen Reli-
gionsunterrichts? Dass die Kirche in ihrer heutigen Gestalt ihren
Beruf nicht erfüllt, das erkennt man in allen Schichten der Gesell-
schaft; man denke nur an die Bewegung, die der ehemalige sachsische
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Oberstlieutenant von Egidy durch seine „ Ernsten Gedanken" hervor-
gerufen. Doch damit haben wir als Lehrer nichts zu schaffen. Die
Kirche muss aus sich selbst heraus neu gestaltet werden. Fragen
wir zunächst, was kann die Schule thnn. um dieser crassen religiösen
Indifferenz zu steuern. Unser Religionsunterricht, das hat man nun-
doch erkannt, krankt daran, dass er viel zu dogmatisch, viel zu lehr-
haft ist. Eine Hauptschuld daran trägt der Luthersche Katechismus.
Mag man ihn mit noch so süßen Worten preisen und uns mit noch
so bitteren schmähen, die Stimmen nach seiner Beseitigung aus der
Schule werden immer lauter erschallen. Darin liegt der große Fehler,
dass man glaubt, wenn von dem religiös-dogmatischen Lehrgebäude
auch nur ein Steinchen herausgenommen werde, dass dann der ganze
Bau in sich zusammenbreche. Das geschieht nicht, wenn die morsch-
gewordenen Steine von berufener Hand entfernt und durch neue er-
setzt werden; es geschieht aber, wenn die Stürme der socialen Be-
wegung, wie das ganz unausbleiblich ist, daran stoßen. Ihnen hält,
wie wir aus Göhre's Schrift deutlich erkennen und wie es uns täglich
die Erfahrung lehrt, das Gefüge nicht stand, wol aber begräbt es
meist den, über dem es errichtet wurde.
Wir hüten uns ängstlich, Zweifei in dem Kinde zu erregen; aber
der Zweifel wird furchtbar, wenn das Kind der leitenden Hand des
Lehrers entwächst, und der logisch nicht Geschulte muss ihm in den
meisten Fällen unterliegen; es kann nicht anders sein. .Die Natur
beginnt nichts Unnützes", sagt Comenius, rin den Schulen also möge
nichts behandelt werden, was nicht den gediegenen Nutzen gewährt
für dieses und das zukünftige Leben, vorzugsweise aber für das zu-
künftige"*). Wrozu also, um nur ein Beispiel zu erwähnen und um
ein Wort Wundt's zu gebrauchen, den mosaischen Schöpfungsmythus
als die unumstößlichste naturwissenschaftliche Wahrheit lehren, warum
die mühsame und gesuchte Eindeutung in die Ergebnisse der heutigen
Wissenschaft! Für den modernen Menschen wird die Sonne nie mehr
• i ] .
stillstehen zu Gibeon, noch der Mond im Thale Ajalon.
Das Bekenntnis, sich einmal geirrt zu haben, schadet der Auto-
rität des tüchtigen Lehrers durchaus nicht; so verhält es sich auch
mit der Autorität der Bibel, sie wird trotz ihrer Irrthüraer das Buch
der Bücher bleiben. Wir untergraben nicht die Religion, wenn wir
die heilige Schrift ihrer falschen Autorität entkleiden, wir bringen sie im
Gegentheil dem Volke, dem sie mehr und mehr entschwindet, wieder nahe.
■ : • » . <\ .\ w
*) Comenius. Gr. Did. Herausjreflr. v. Dr. Lion, S.jl26.
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Es ist möglich, dass auf einer späteren Stufe menschlicher Ent-
wickelung sich die Gebiete des Religiösen und des Sittlichen trennen;
heute ist es noch nicht der Fall. Was wir für die Schule brauchen,
ist daher eine religiöse Ethik, aber ja keinen Katechismus der Ethik
wie ihn Frankreich hat, damit wurde für eine alte Wunde nur eine
neue geöffnet; sondern die ethischen Wahrheiten müssen an der ge-
schichtlichen Person Jesu, aus seinen Reden, vor allem aus seinen
Gleichnissen gewonnen werden, sie müssen ferner gewonnen werden
aus der sittlichen Persönlichkeit des Lehrers. „Der Lehrerstand",
sagt Prof. Frohschammer, „muss der Vertreter des sittlichen Gewissens
werden." Dann darf der Lehrer aber nicht, wie das ja leider immer
noch der Fall ist, nur als Strafmeister erscheinen, sondern er muss
mit Liebe und Geduld die sittlich und geistig Schwachen und Schwäch-
sten tragen, ohne dabei in unmännliche Weichheit zu verfallen. Die
Liebe offenbart sich auch in der Strafe und da mehr als im Lohne.
Voraussetzung zu dieser Forderung wäre dann eine geringere Schüler-
zalü in der Classe, die es dem Lehrer ermöglicht, sich dem Einzelnen
mehr zu widmen, und andrerseits ein möglichst langes Beieinander-
bleiben einer Classe mit ihrem Lehrer.
Das Bild, welches uns Herr Göhre entrollt hat, zeigt wenig Er-
freuliches. Im Vorstehenden sollte gezeigt werden, wie es durch die
Schule einigermaßen retouchirt werden könnte. Aber eine gründliche
Besserung, das muss immer wieder betont werden, kann nur von
einer gründlichen Reform der gesellschaftlichen Zustände erhofft wer-
den. „Der ganze Zustand der heutigen Gesellschaft tendirt zur Er-
zeugung zweier Gesellschaftsclassen: einer besitzenden und beruflosen,
deren Lebenszweck im Genuss besteht, und einer besitz- und beruf-
losen, die sich im Streben nach versagtem Genuss erschöpft." Diese
Kluft zu überbrücken, muss die Auffassung mehr und mehr durch-
dringen, dass der Besitz nicht blos (Rechte einräumt, dass er auch
verpflichtet, und andrerseits, dass Beruflosigkeit eine Schande ist
Dazu kann und muss auch die Schule beitragen, wenn sie vor allem
auch betont, dass Arbeit adelt. Die alte mosaische Ansicht der Arbeit
als Fluch muss einer besseren Platz machen.*) Sie muss ferner ihre
Zöglinge den rechten ästhetischen Genuss kennen lehren. Der moderne
*) Dann wird auch die lächerliche Furcht schwinden, dass hei vermehrter
Bildung „es vor lauter grölen und hochgebildeten Geistern keinen mehr gfthe, der
den Acker bestellen, Stiefel machen und [putzen wolle." (Wolfg. Mensel, Krit. d.
mod. Zeitbewussts. „Vom päd. Schwindel", S. 184.1
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Mensch, der in so heißem Kampfe und mit so vielen Widerwärtig-
keiten um seine Existenz ringen muss, bedarf einer Erfrischung des
Gemüthes. Diese Forderung erfüllt nächst der Religion kein Lebens-
gebiet so als die Kunst Die Schule muss das Gefühl für das Schöne
anregen, das Leben voll entwickeln. So muss es uns gelingen, die
Flammen der Idealität, der reinen Begeisterung, die zu verlöschen
drohen, von neuem anzufachen.
Vor allem aber muss die Schule immer und immer als eins ihrer
unvergänglichen Rechte fordern, die Kinder aller Stände in ihren
Räumen zu versammeln. Darum müssen wir solche Reformen, wie sie
Herr Dr. H. Göring in seiner „Neuen Deutschen Schule" und Herr Panl
Güzfeld in seinem viel zu sehr gepriesenen Buche „Die Erziehung der
deutschen Jugend" vorschlagen, solange sie sich nicht auf die Kinder
aller Stände erstrecken, zurückweisen, als eine halbe Sache, die uns
nur rückwärts führt. „Nicht früh genug kann der aus einer ein-
seitigen Standeserziehung entspringende Kastengeist bekämpft werden" *).
Wir leben in der gefährlichen Zeit, in der alte sittliche Motive
verschwinden, neue Lebensformen auftauchen; das Empfinden und
Denken der heranwachsenden Jugend mit dem Verfall des Alten zu
versöhnen, mit dem Neuen vertraut zu machen: das ist die nächste
Aufgabe der Volksschule, die sie unserer Zeit gegenüber hat.
*) Wundt, Ethik. S. 662.
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Mattersprache und Grammatik.
Von Joh. Kaulich -Mähr.-Schönberg.
L
j/jxi den wenigen Bachern, die man immer wieder gern zur
Hand nimmt, ohne die Absen wächung eines ersten, genussreichen Ein-
druckes besorgen zu müssen, gehört die „Geschichte der griechischen
Literatur" von Ottfried Müller.
Ein deutscher Forscher versenkt sich in die Geheimnisse einer
längst abgeschiedenen Welt und belauscht mit jener Sinnigkeit und
Tiefe, die germanischem Gemüthe eigen, das verborgene Weben und
die formenbildende Kraft einer Sprache, die jener Welt zum Ausdrucke
eines Gedankenstoffes diente, der die Jahrhunderte überdauert und die
Bildung und Erziehung der modernen Menschheit bis zu dieser-Sttmde
auf das nachdrücklichste beeinflusst hat.
Und was jener Geist mit der Gründlichkeit des deutschen Ge-
lehrten erfasst und geklärt hat, das wird dem Leser des Buches mit-
getheilt in der Sprache seiner deutschen Heimat; einer Sprache, die
ebenso zur Bewunderung hinreißen kann, als die glänzende Durch-
dringung und die reizvolle Gruppirung des gebotenen Stoffes.
Es ist kein Gelehrtendeutsch mit Nebensätzen, die „den Haupt-
satz erdrosseln": es ist die schlichte, aber formvollendete Sprache
eines Mannes, der das, was sein Geist in der Fremde und an dem
Fremden erlauscht hat, in den trauten Klängen der Heimat bei be-
wusstem Streben nach volkstümlicher Darstellung auszudrücken be-
müht ist
Eine mühsam verhaltene Begeisterung für die Welt der Hellenen
funkelt zwischen den Zeilen.
„Während überhaupt die neueren Sprachen" — heißt es da —
„ohne im Ohre zu verweilen, sich sogleich ihren Weg zum Verstände
bahnen, suchen die classischen Sprachen des Alterthums zugleich eine
entsprechende Wirkung auf den äußeren Sinn hervorzubringen ,'und
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die Denkkraft dadurch zu unterstützen, dass sie das Ohr vorläufig mit
einer Art von dunklem Bewusstsein des durch die Worte mitzutheilen-
den Gedankens erfüllen."
Oder an anderer Stelle: „In den Lauten, welche durch die ver-
schiedene Articulation der Stimme gebildet werden, zeigt die grie-
chische Sprache jenes glückliche Mittelmaß, welches allen Geistes-
erzeugnissen jenes Volkes eigentümlich ist; gleich fem von der tiber-
strömenden Fülle, wie von der mageren Dürftigkeit anderer Sprachen."
Fast unübertrefflich sind die Untersuchungen, durch welche Sprache
und sprachbildende Art und Kraft mit den Regungen des Volksthums
in allen seinen Schattirungen in Verbindung gesetzt werden.
„Sowie die Mundart der Dorier" — resumirt der Verfasser —
..überall die breiten, kräftigen und rauhen Töne vorzieht und sie mit
unbiegsamer Regelmäßigkeit festhalt, so können wir natürlich auch
die Neigung erwarten, einen Geist der Strenge und der Ehrfurcht vor
den alten Gebräuchen durch den ganzen Bau ihrer bürgerlichen und
häuslichen Verfassung walten zu lassen. Die Ionier dagegen zeigen
schon in ihrem Dialecte die Neigung, die alten Formen nach Ge-
schmack und Laune zu verändern, dabei ein Streben nach Verschöne-
rung und. Verfeinerung."
Ottfried Müllers Buch ist weit verbreitet; neuestens liegt eine
Bearbeitung desselben durch einen Schüler des berühmten Philologen
vor. Einem guten Theile der deutschen Jugend sind die darin aus-
gesprochenen Ideen geläufig: Alt -Hellas feiert im weiten Germanien
noch immer seine Auferstehung.
Uber dem Todten wird leicht das Lebendige vergessen; und man
kann sich bei der Leetüre jenes Buches des quälenden Gedankens
nicht entschlagen, dass wir in Deutschland auch nicht eine Schrift
besitzen, die Ottfried Müllers geist- und gemüthvolle Methode auf die
deutsche Muttersprache und ihre reiche Beziehung zum deutschen
Volksthume anwenden würde.
Die deutsche Sprachwissenschaft wie die deutsche Geschicht-
schreibung gehen parallele Bahnen, die mit dünner Wurzel am Boden
des Volksthums hängen und sich in breiter Krone in den Sternen des
Gelehrtenhimmels verlieren.
Unsere Jugend wird angeleitet, in der Sprache des Alterthums
das Wehen der Helmbüsche und den „geviertelten Takt" des Huf-
schlages dahineilender Rosse zu vernehmen. Dass unser Deutsch
selbst in den trivialen Formen der Dialecte eine geradezu herrliche
Kraft in der Nachahmung von Naturlauten besitzt, fallt kaum auf;
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sofern es nicht, wie an einzelnen Stellen der „Glocke" von Schiller
besonders sinnfällig hervortritt.
Man bewundert in Casars „Gallischem Kriege" den ans den ge-
schilderten Situationen hervorgehenden Typus der Darstellung; ob
Jemand Goethe'sche oder Klaus Grote'sche Verse unter demselben
Gesichtswinkel betrachte, gilt als bedeutungslos.
Die reiche Pracht und Klangfülle unserer starken Zeitwörter,
sowie die Naturtreue in den Lauten jener schwachen Zeitwörter,
welche Nuancen von Gehöreempfindungen ausdrücken, ist ein köst-
licher, erfrischender Bergwald, den man vor den Bäumen unserer
„ Sprachbücher • kaum mehr zu Gesichte bekommt Darum sieht die
Gesammtheit der Menschen, welche deutsche Staaten bewohnen, ihr
köstlichstes Gut, die Sprache, mit den Augen des nachternsten Schul-
bttcherverstandes an. Die Wirkung auf den „äußeren Sinn", welche
dem Deutschen so gut wie dem Griechischen eigen ist; das „Ach, wie
klingest du so klar!" unseres Schenkendorfs droht verloren zu gehen.
Die Stachelhecke der Grammatik schließt ein Dornröschen ein.
Man ist eben an der Arbeit, das Französische und Englische aus
diesem Gefängnis an die frische Luft zu bringen: wie lange wird die
deutsche Prinzessin noch schlafen müssen?
IL *
Die Schul gi ammatik mit ihrer einseitigen Betonung der Formen
und Veränderungen ist ein Mechanismus. Aber die Sprache ist ein
Organismus. Vielleicht steht man hier vor einer besonderen Er-
scheinungsform jenes Gegensatzes, der zur Zeit als „Vitalismus" und
„Mechanismus" das Gebiet der Naturwissenschaften durchdringt
„Bis jetzt" — sagt ein neuerer Schriftsteller, dem man nach-
rühmen muss, in vielen Dingen den Nagel auf den Kopf zu treffen, —
„bis jetzt hat man nur von Casar gehört, dass er in der Grammatik
zu seinem Vergnügen las. Nur ein sehr reicher Geist kann leere
Kategorien ausfüllen und miteinander in Verbindung setzen und da-
durch zu lebendigen Organen umschaffen; so hohe Anforderungen darf
man an den Durchschnittsmenschen nicht stellen; dieser ist der leben-
digen Einwirkung einer gesprochenen Sprache.... weit zugänglicher
als einem Schwall wissenschaftlich geordneter Einzelheiten, deren sinn-
lose Nebeneinanderstellung er zwar nicht erkennt, aber doch em-
pfindet"
In unseren Tagen wird die deutsche Grammatik von Lehrern und
Schülern in der That schwer empfunden, und es steht zu besorgen,
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dass über dieser Empfindung die trauliche Zuneigung verloren gehe,
die man der Sprache seiner Heimat unter allen Verhältnissen ent-
gegenbringen sollte. Trotz der großen Fortschritte, welche Lehrbücher
und Methode auf allen Gebieten des modernen Unterrichts aufweisen,
stützt sich die gebräuchliche Grammatik im wesentlichen noch immer
auf die ehrwürdigsten Urbilder; und ihre gelehrte Terminologie, die
mit Zopf und Palmenfrack bis in die niederste deutsche Volksschule
schreitet, enthält zahlreiche Elemente, die sich aus dem Zeitalter der
Humanisten als eine Art vorsintflutlicher Oberreste auf die Gegen-
wart vererbt haben.
Die Sprache ist älter als die Grammatik, welche das mechanische
Gesetz aus dem lebendigen Organismus erst herausklügelt, nicht selten
auch in jenen Organismus hineinklügelt. Es kann daraus direct ge-
schlossen werden, dass die Anwendung eines grammatischen Unterrichts
auf der Unterstufe absolut auszuschließen sei, und dass auch die mittlere
Stufe gänzlich unbemerkt mit Mensur und Regel verfahren müsse.
Der modernen Volksschule zumal thäte eine „Grammatik der
Kinderstube", die freilich noch geschrieben werden müsste, dringend
noth. — Der Schüler bringt aus der Kinderstube, weit seltener aus
dem Kindergarten, viel von jener Art Sprachbildung mit, die, indem
sie sich mehr an den „äußeren Sinn" wendet, dem innersten Kerne der
Sprache am nächsten kommt. Er versteht es, die Stimmen der Thiere
nachzuahmen, und er hört im Toben des Windes den menschlichen
Laut. Lehrst du ihn, die Dinge benennen, dann wird ihm jener
Name am geläufigsten, der direct aus dem Laute der Thätigkeit her-
vorgehl Denn mit dem Geiste des Kindes erfasst er am liebsten die
Dinge in ihren Lebensäußerungen. Darin aber liegt die Natur-
geschichte des „Zeitwortes", jenes belebten und belebenden Trägers
der Sprache, den die Grammatik so richtig als bezeichnend das
„Verbum" genannt hat Welche Sprach- und Klangfülle schlummert
auch für die engbegrenzte Auffassung des Kindes in dem klingenden
Wesen dieses wundersamen Wortes!
Die Grammatik wird jenem Wesen nur zum kleinsten Theile ge-
recht: über der Form vergisst sie des Inhaltes. Eine rein technische
Seite des Verbums wird sogar Veranlassung es zu benennen: wenig-
stens kann man zweifeln, ob die Bezeichnung '„Zeitwort" glücklich
gewählt ist Ebenso sieht die Grammatik bei den Kategorien der
„persönlichen, transitiven u. s. w. Zeitwörter" nicht sowol auf das
eigentliche Wesen des Wortes, als vielmehr auf eine außerhalb des-
selben liegende, halb formelle, halb sachliche Beziehung.
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III.
Es kann aber als eine Pflicht des Unterrichts angesehen werden,
vor allem den Sinn des Schülers dahin zn üben, dass er das Wesent-
liche und Eigentümliche einer Sache zuerst beachte. Das Wesent-
liche des Wortes ist Inhalt und Umfang des Begriffes, den es bezeich-
net; das Eigentümliche sein Klang. Die Formen stellen Gebrauchs-
werte vor; ihre Kenntnis ist weniger das Resultat einer Verstandes-
thätigkeit, als vielmehr Sache einfacher Übung. Vertiefung des Sprach- *
geftthls reicht in den meisten Fällen aus; methodisches Geschick macht
ganze Abschnitte des Sprachbuches überflüssig.
Wenn einem Schulmann ein älterer College den Rath gab, bei
jeder Unterrichtsmaterie, die er aus dem Gebiete der Grammatik
seinen Schülern darbieten wolle, sich erst die Frage zu 9teilen: „Was
weiß man da, wenn man das weiß?" — und lachend hinzufügte:
„Sie werden staunen, wie wenig man dann von dem mitzutheilen hat,
was unsere Sprachbücher enthalten" — so ist dies mehr als ein guter
Einfall. Denn worin liegt der Wert der Erkenntnis, dass das Verbum
„dröhnen" schwach sei, gegen das Traurige der Erscheinung gehalten
dass zahlreiche Personen mit durchschnittlicher Volksschulbildung durch
das Leben gehen, ohne die Bedeutung jenes Verbums nach seinem
Wesen zu verstehen? Wörter dieser Art ziehen sich allmählich in die
„oberen Zehntausend" zurück, indem sie als Gebrauchswörter ein
immer kleiner werdendes Gebiet einnehmen. Man suche deutsche
Gebirgsdörfer ab, nach Wörtern jener Art! Die Volksschule kann
dem Dialecte nicht aufhelfen, wohl aber der Verödung der Schrift-
sprache steuern durch eine gründliche Reform des Unterrichts in der
Muttersprache. Vor allem müsste erkannt werden, dass Kenntnis der
Formen unter Umständen zur Wortarmut führen kann, und dass die
Einreihung eines Gegenstandes in eine begriffliche Kategorie noch
kein Verständnis desselben ist.
Man pflegt Schenkendorfs schönes Gedicht von der „Mutter-
sprache" an die Spitze der Lesebücher zu stellen; es stünde bezeich-
nender als Motto auf dem ersten Blatte einer vernünftig und pietät-
voll abgefassten Schulgrammatik: die wenigen Strophen enthalten ein
ganzes Programm, dessen Verwirklichung anzustreben nationale Ehren-
sache sein sollte. Denn die Sprache ist ein blühendes, klingendes Reich,
das die Seele mit tausend lebendigen Fäden umspinnt; die mikro-
skopische Methode der Grammatik legt in ihren zusammenhanglosen
Übungsbeispielen diese Fäden einzeln blos und tödtet sie zuvor, um
sie besser auf ihre Structur prüfen zn können.
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— 437 —
Ein russischer Dichter sagt von seiner Muttersprache: „Das ist
eine melodische Sprache, die zu Herzen dringt; eine Sprache, die man
in ihrem von herben Dissonanzen unterbrochenen, traurig - zärtlichen
Wollaute einem Strauß von Orchideen vergleichen möchte, mit Steppen-
kräutern vermischt." Sollte es nicht an der Zeit sein, auch die
deutsche Jugend in dem Sinne dieses Unheiles aus dem Staube der
Grammatik frischweg hinaus auf die Sprachwiese zu fahren und sie
schlicht anzuleiten, die gefundenen Blumen und Kräuter zum Strauße
zu binden, ohne vorher jedes einzelne Pflänzchen nach dem todten,
trockenen Herbarium des Sprachbuches zu bestimmen?
Die Natur ist unter allen Umständen unsere Lehrmeisterin, und
darum unter allen Umständen schulfähig. Wir wollen ihrem frischen
und erfrischenden Hauche auch in jenen Stunden das Fenster geöffnet
halten, die der Pflege der Sprach- und Sprechfertigkeit gewidmet sind.
„Um das Schulhaus heult der Wind; er rüttelt an Fenstern
und Thüren. Er schüttelt die Bäume, dass alle Äste zittern. Es
wimmert in den Dachrinnen; es ächzt und kracht in den Balken
des Daches. Hoch oben kreischen die Wetterfahnen. In den Ställen
der Bauernhöfe brüllen die Rinder; die Pferde wiehern laut und
poltern mit den Hufen. Der Dorfbach braust; laut rollt der
Donner."
Das vorstehende, zusammenhängende Sprachstück enthält einen
für kindliche Auffassung vollkommen verständlichen, gedrängten
Ciavierauszug einer sommerlichen Gewitter-Symphonie. Bei richtiger
— zuerst mündlicher, dann schriftlicher — Mittheilung an Schüler
einer unteren oder mittleren Stufe wird die Musik der darin ent-
haltenen Zeitwörter vollkommen überzeugend sein. Die Modulationen
der Vocale, die kräftigen Accente der Doppelconsonanten, die scharf
ausgeprägte Rhythmik der einsilbigen Aussageformen werden sich nicht
nur sogleich an den „Verstand wenden", sondern auch „vorläufig das
Ohr mit einer Art von dunklem Bewusstsein des durch die Worte
mitzutheilenden Gedankens erfüllen." Eine rein musikalische Betrach-
tung jener Verba wird die Schreibung derselben klar machen, und
naheliegende Analogien in der Anwendung der bezeichneten Natur-
töne werden eine Vertiefung in den Inhalt der Wörter ermöglichen.
Leicht treten die dem Verbum zukommenden Merkmale, die es als ein
die Thätigkeit bezeichnendes, nicht selten auch nachahmendes Glied
der Sprache erscheinen lassen, hervor. Indem das dargestellte Natur-
schauspiel in späteren Tagen als ein Vergangenes, oder in Voraus-
ahnung des noch Kommenden als ein Zukünftiges von den Schülern
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unter gelegentlicher, vielleicht nicht immer nöthiger Anleitung ge-
schildert wird, tritt eine technische Seite des Verbums gleichsam von
selbst in die Erscheinung und lässt die Bedeutung der zur Unter-
stützung herbeigeholten „Hilfszeitwörter" auf die natürlichste Art er-
kennen. Das Resultat dieser Übung liefert ein vollkommen ausreichen-
des Gerüst für alle übrigen Gebrauchsformen des Verbums, die im
Wege beständiger, lebensvoller, immer synthetischer Übung zum gei-
stigen Eigenthum der Schüler gemacht werden.
Was braucht es nun noch der Kategorien von unpersönlichen,
rückbezüglichen, starken, schwachen, unregelmäßigen Zeitwörtern?
Welchen Wert hätte jetzt gar die Bestimmung des Verbums in seiner
gelegentlichen Function als Prädicat? Wo läge jetzt die Begründung
für die Ansicht, dass der Behandlung des Verbums die Kenntnis des
für die Unterstufe so schwieligen als unnützen Prädicatsbegriffes vor-
ausgehen müsse?
Die Auffassung und das Verständnis eines Tonstückes werden um
nichts vielseitiger und tiefer, wenn man es auf die Lage seiner Drei-
klänge und die Berechtigung seiner Modulationen prüft: Bichard
Wagner erledigte das bekannte Gesetz von den Quintenparallelen im
kurzen Wege mit der Bemerkung: „Der rechte Musiker wendet sie
nur dann nicht an, wenn er sie nicht braucht!"
Ein poetisches Stück auf seine Fassung grammatisch zu prüfen
wird in Ausführung dieses Gedankens von vielen Schulmännern als
wenig taktvoll angesehen: die „lebendige Einwirkung der ge-
sprochenen Sprache" ist eben das Best«, was der Unterricht zu bieten
vermag.
IV.
Die Stellung, welche die deutsche Satzlehre im System der
Grammatik einnimmt, und die Behandlung, welche die Recepte der
Syntax dem gesunden, kräftigen Stamme einer der schönsten der
lebenden Sprachen angedeiben lassen, kann Mitleid erregen.
Spannt die Flexionslehre das deutsche Wort auf den Secirtisch,
so legt die Lehre vom Satzbau deutschem Geiste die unerträglichste
Schulfessel an; und ganz besonders schmachtet hier germanisches
Wesen in lateinischen Banden. Das Imperium Roman um, politisch
und historisch überwunden, beherrscht zwei reiche Gebiete durch die
Form: die deutsche Sprache und das deutsche Recht. Neben der Ver-
gewaltigung des ursprünglichen germanischen Rechts durch den For-
malismus des römischen steht die grammatische Dressur, welche huma-
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nistische Schulweisheit germanischem Denken zutheil werden ließ,
als würdiges Seitenstück.
Das römische Recht basirt auf dem nackten Eigenthumsbegrift
und sieht das Merkmal der Persönlichkeit klipp und klar als die Be-
fugnis an, Eigenthum zu erwerben und zu verlieren. Die landläufige
Syntax ruht auf ihrer erprobten Schulfonnel und gestattet der Sprache,
zu dieser Formel die Beispiele zu bilden.
Daneben schreibt Montesquieu über den „Geist der Gesetze" und
donnert Klopstock seine Verse von „Deutschlands Sprache".
Aber die Idealisten werden unbarmherzig auf realen Boden ge-
zogen. Hundert Jahre nach dem französischen Philosophen durfte
Karl Marx hohnlachend ausrufen: „Der Geist der Gesetze ist das
Eigenthum!"; während Altmeister Goethe einige Jahre früher dem
russischen Gelehrten Uwaroff schrieb: „Benutzen Sie in Frieden den
unermesslichen Vortheil, die deutsche Sprachlehre nicht zu kennen; es
ist jetzt fast 30 Jahre, dass ich daran arbeite, sie zu vergessen!"
Auch die neuere Zeit ist an dieser Arbeit Mit derbem Hammer
schmetterte Rudolf von Jhering in seinem „Kampf ums Recht" an die
tönenden Formen römischer Jurisprudenz, indem er den ethischen In-
halt eines Michel Kohlhaas mit flammenden Worten verfocht; während
Heinrich Heine in den ganz und gar ungrammatischen Tönen seines
Spottliedes dem deutschen Satz- und ,Versbau den Grabgesang an-
stimmte.
Grammatische Dressur hat zwei bezeichnende Sprachtypen ge-
zeitigt: den Quellenstil und das Kanzleideutsch. Der erste, vielen
Werken gelehrtdeutscher Geschichtschreibung eigenthümlich, geht den
correcten Schritt der Forschung: er dreht und wendet den Ausdruck
gleich einem historischen Actenstücke. Seine [Signatur ist das vor-
nehm Leidenschaftslose. Das zweite wandelt die Bahn erprobter For-
meln. Da die Grammatik in der Lehre vom Nebensatz Vorder-, Zwi-
schen- und Nachsatz kennt, so bauen die Meister des Amtsstiles
beruhigt ihre sinnverwirrenden Satzgefüge, in denen der Gedanken-
tropfen eines Hauptsatzes nnter einer wahren Seeschlange von Neben-
sätzen verdampft. Sein Merkmal ist das conventionell Langweilige.
Dem Zopfe gegenüber fallen wallende Perücken um so mehr auf;
man thut gern ein paar tiefe Athemzüge bei ihrem Erscheinen. Zu
den Schriften dieser Art gehören Moltke's Reiseschilderungen, Bis-
marck^ Reden und Briefe, Hebbel's Prosa. Das vielberufene Rem-
brandt-Buch nannte in fröhlicher Übertreibung dieses Gedankens
Moltke den einzigen deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Zuweilen
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weht die Locke besonders ungebunden, wie im Tagebnehe unseres
Grillparzer's; aber man liest sich darin in eine geistige Sommerfrische
Iiinein. Die Sprache dieser Männer ist ein Beispiel für den Satz:
„Es gibt nur eine Grammatik, die des Verstandes!" Sie stellen
praktisch den echt französischen Spruch auf: „Der Stil ist der
Mensch!" Aber die Grammatik schüttelt dazu das ehrwürdige Formel-
haupt, denn ihre Tendenz heißt: „Der Stil ist die Regel!44
Jeder Unterricht hat das begreifliche, zum Theil vielleicht not-
wendige Bestreben, einen Gedankenstoff in eine Formel zu verdichten.
Da ist denn dem Sprachunterrichte die Grammatik ein gefunden Essen;
die Erkenntnis, dass die elementare Dressur in den Formen der
Muttersprache die höhere Dressur in den „classischen" und „modernen44
Sprachen, die das Gymnasium besorgt, wesentlich unterstützt, wird
nebenher aulgelesen.
So hockt neben den begehrteren Schwestern der Vergangenheit
und des Auslandes das heimatliche Aschenbrödel im Schulwinkel.
Wann kommt der Freier, der es als Befreier zum fröhlichen Beigen
führt?
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Volksbildung und Volksbildnngsmittel.
Von Rector A. Gild-Casscl.
T 1
Xn früheren Zeiten hat man sich lebhaft darüber gestritten, wer
als gebüdet gelten könne. Die Discussion über diese Frage wird
gegenwärtig nicht mehr so oft und weit weniger heftig gefuhrt. Man
gibt heute schon ziemlich allgemein zu, dass Wissen an sich noch
nicht Bildung sei, sondern erst das Eintreten in die Welt als thätiges
Glied, die Befähigung, das Wissen und Können in den Dienst des
Ganzen zu stellen, kurz die sociale Thätigkeit Goethe sagt: „Mit-
geteiltes aufzunehmen wie es gegeben wird, ist Bildung", mit anderen
Worten: „Bildung ist die aus dem an sich rohen Zustande heraus-
arbeitende Thätigkeit, in welcher die Persönlichkeit mittelst An-
eignung, Sichtung und Assimilirung der vorhandenen Bildungselemente
mittelst Selbstentwickelung und Selbstbeschränkung sich im Leben
orientirt und mit dem Ganzen in die Wechselbeziehung des Em-
pfangens und Wirkens tritt." Nicht, dass man „schrecklich viel ge-
lesen" habe oder in fremden Sprachen reden (häufiger schweigen!)
kann, macht die Bildung aus, sondern sie erweist sich darin, wie man
lebt und handelt, was man für das Ganze thut und für dasselbe wert
ist. Die Bildung ist also nicht blos eine Ausstattung des Geistes,
sondern eine Ausgestaltung desselben, sie erweist sich nicht nur im
Aufnehmen, sondern vielmehr durch selbstthätige Entwickelung und
Äußerung. Daher spricht man bei Knaben und Jünglingen, die noch
von andern erzogen und unterrichtet werden, von Erziehung und
Wissen, nicht aber von Bildung, diese erkennt man erst dem Manne
zu, der sich selbstthätig fortgebildet hat
Aus dem dargelegten Begriffe der Bildung ergibt sich, dass jeder
bildungsfähige Mensch zu seinem und des Ganzen Besten eine mög-
lichst tüchtige Bildung erhalten muss. Ehemals hielt man die Bildung
nur für die höheren Stände, für die herrschenden, nothwendig; unsere
Padagogi'un. 14. Jahrg. Heft VII. Hl
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Bildungsanstalten tragen noch heute vielfach den Stempel der Standes-
schulen; aber ein Mensch, der öffentlich ausspräche, nur bestimmte
Stände müssten gebildet, andere aber in der Unbildung erhalten
werden, würde für hirnverbrannt angesehen.
Nachdem unsere Classiker Lessing, Schiller und Goethe ein neues
Bildungsideal, eine dem Fachgelehrten wie dem Nichtgelehrten gemein-
same, allgemeine, rein menschliche Bildung, die würdige Darstellung
der Menschheit in dem Einzelwesen aufgestellt hatten, suchte man
die Bildungsstoffe zu popularisiren, die große Masse des Volkes auf
einen höheren Bildungsstandpunkt zu erheben und in einen gemein-
samen Rhythmus des Fortschritts zu setzen. Die Wissenschaft ist
von nun an nicht mehr die Domäne einzelner, die lateinischen und
griechischen Zäune, durch welche die Menge von den Bildungsquellen
abgesperrt wurde, bekamen immer größere Lücken, die Ergebnisse
der wissenschaftlichen Forschungen, die neuen Entdeckungen und Er-
findungen wurden jedermann zugänglich gemacht, große Künstler ver-
schmähten es nicht, Volks- und Kinderschriften mit ihren Bildern zu
schmücken, Bibliotheken, Museen, Galerien, Ausstellungen eic. stehen
jedem ohne Unterschied offen, das Gebiet der Unterhaltungsschriften
mit belehrendem Inhalt aus allen Gebieten der Wissenschaft und
Kunst erweiterte sich mit jedem Tage, populäre Schriften über die
verschiedensten Wissenszweige, Encyklopädien, Conversationslexika,
Broschüren, Flugblätter und nicht zum geringsten Theile die öffentliche
Presse stellen sich in den Dienst der allgemeinen Volksbildung.
Die Werke unserer Classiker, die vorzüglichsten Volksbildungs-
mittel, sind so billig geworden, dass man sie auch in einer be-
scheidenen Wohnung finden kann. Es ist ein mächtiger Strom, der
an den einzelnen heranflutet; leider wird er aber durch den Eigen-
nutz der Menschen, die gern im trüben fischen, durch unreine Bei-
mischungen getrübt. Wer kennte sie nicht, die seichten und unreinen
Unterhaltungsschriften, die mit Erfolg sich an die niederen Triebe
des Menschen wenden, seine Phantasie verunreinigen, sein Urtheü
verwirren! Dazu drängt sich diese Schmutzliteratur vor, sie dringt
in die Wohnungen der ungebildeten Leute ein und wird dort aus
Mangel an Besserem förmlich verschlungen.
Heutzutage spricht und schreibt man viel über Volksbeglückung;
dass man diese nur gründlich durch Erziehung und Bildung erreichen
kann, gibt man wol auch zu, thut aber zu wenig dafür. Die Vereine
zur Bekämpfung der Trunksucht, der Bettelei, der Unsittlichkeit etc.
bekämpfen die Folgen eines Übels, die Ursachen können nur durch
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bessere Volkserziehung und Volksbildung beseitigt werden. Wir sind
ja in Bezug auf Bildung der breiten Massen andern Völkern voraus,
doch ist noch viel Verdienst übrig, es ist noch lange nicht genug
geschehen.
Unser Volk wird erst blühen und gedeihen, wenn man die
Bildung der großen Masse, die man gemeinhin „Volk" nennt, ernst-
lich und mit allen Kräften hebt, nicht aber, wie jetzt noch vielfach,
die Hauptbildungsstätte des Volks, die Volksschule, in einem Zu-
stande belässt, der nach den Aussagen des vormaligen preußischen
Unterrichtsministers von Gossler in Bezug auf Ausstattung weit hinter
dem Notwendigsten zurückbleibt, wenn man ferner die Zeit nach der
Schulentlassung, die für viele ein Zurückgehen im Wissen und Können,
ein Verwahrlosen mit sich fuhrt, für die weitere Bildung durch Grün-
dung von Fortbildungsschulen ausnützt, wenn man allgemein Ver-
anstaltungen trifft, auch den folgenden Altersstufen einen geist- und
gemüthbildenden Bildungsstoff durch Volksbibliotheken darzubieten,
überhaupt allen dazu zu verhelfen sucht, dass sie theilnehmen an
dem Leben und Streben der Nation.
II.
„Unsere Arbeiter haben ein Recht auf Arbeit," hatte Fürst Bis-
marck gesagt, und alsbald schickte man sich an, die Folgerungen aus
diesen Worten zu ziehen. Wir wünschen auch, dass in Zeiten der
Noth, wo sich Arbeitsmangel einstellt, von Seiten des Staats, der
Communen und anderer Verbände lohnende Arbeit geschafft werde;
aber wir verlangen noch mehr für sie, eine ausreichende Bildung für
den Kampf ums Dasein.
Bildung macht frei, Bildungsarmut also unfrei, Bildung gibt Macht,
Bildungsmangel macht abhängig. Das wissen die Leute sehr wol, die
ihren Kindern eine möglichst weitgehende Bildung geben, die sie
Schulen besuchen lassen, die mit Berechtigungen ausstatten, die in
ihren Bildungsstoffen die Zauberformeln bieten, mit denen man über
andere zu herrschen vermag. Für das Kind des geringen Mannes
hört die Bildungszeit schon mit dem 14. Lebensjahre auf, die Volks-
schule hat keinerlei Berechtigungen mitzugeben, die in ihr erworbene
Bildung gilt den fremden Bildungsstoffen der höheren Schulen gegen-
über nicht als ebenbürtig.
Wir leben in einer Zeit, in der die wunderbarsten Entdeckungen
und Erfindungen des Menschengeistes überall ihre Anwendung finden.
Wie die Erfindung des Schießpulvers den Verfall der Adelsherrschaft
31*
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— 444 -
und die Befreiung des Bürger- und Baueinstandes herbeiführte, so
hat die Entdeckimg der Dampfkraft und ihre Anwendung einen neuen
Stand geschaffen, der in der Gegenwart mächtig aufstrebt und um
Anerkennung seiner Forderungen ringt. Wie die Kraft, die ihn ge-
boren, äußert sich der Wille dieses Standes vielfach in einer Weise,
die alle Formen zersprengen möchte; wenn dieser Wille nicht geleitet,
nicht regulirt wird, so kann er der bestehenden Gesellschaftsordnung
gefahrbringend werden. Wie will man dem Umsturz entgegen wirken,
wie kann man unsere Verhältnisse für alle Theile befriedigender ge-
stalten? Eins der vorzüglichsten Mittel finden wir in der Erziehung
und Bildung des Volkes. Mit aUem Eifer muss auf eine vernünftige
Erziehung in der Familie hingewirkt, die mit oder ohne Schuld der
Eltern und Pfleger vernachlässigten, verwahrlosten Kinder müssen in
Erziehungsanstalten, die nicht genügend beaufsichtigten in Bewahr-
anstalten und Kinderhorten während der Abwesenheit der Eltern von
Hause beschäftigt und überwacht werden, die Unterrichtsanstalten
müssen noch mehr als bisher die Bedürfnisse des Lebens ins Auge
fassen, auf die Bildung eines klaren Urtheils und eine vernünftige
Auffassung des Verhältnisses des einzelnen zu Gott, den Menschen
und der Natur hinwirken.
Unsere Volksschule insbesondere muss der Augapfel unseres
Volkes, nicht sein Aschenbrödel sein, sie muss besser ausgestattet
werden als bisher und durch die Fortbildungsschule ergänzt oder
aber die Schulpflicht über die bisherige Zeit hinaus verlängert werden.
Die Gegenwart verlangt neue Fächer: Gesetzeskunde, Volkswirte
Schafts- und Gesundheitslehre. Da heißt es denn, die Schulen sind
mit Stoff überbürdet, sie können die neuen Fächer, so sehr auch
deren Nützlichkeit, ja Notwendigkeit anerkannt werden muss, nicht
mehr aufnehmen. Dass man eine Masse unnützen Gepäckes abwerfen
könne, um das Brauchbare und Nöthige tragen zu können, sieht man
noch nicht Uberall ein. Die Gesetzeskunde lässt sich sehr wol in den
Keligions- und Geschichtsunterricht, die Gesundheitslehre in den
naturkundlichen, die Volkswirtschaftslehre in den deutschen und
Rechenunterricht einflechten. Man glaube nur nicht, dass wir eine
systematische Gesetzeskunde, ein System der Nationalökonomie oder
auch der Anatomie fordern; nur das für den künftigen Bürger des
Staats, das vernünftige Glied der Gesellschaft und der Familie aus
diesen Gebieten Nöthige, das der geistigen Auffassung Angemessene
.soll in zweckentsprechender Weise gelehrt werden.
Da aber die Volksschule die Kinder in einem Alter entlässt, in
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dem sie geistig noch unfertig, in sittlicher Beziehung aber der Führung
mehr als zu einer andern Zeit des Lebens benöthigt sind, so muss
sie durch die obligatorische Fortbildungsschule ergänzt oder noch
besser mit verminderter Stundenzahl bis zum 17. Lebensjahre fort-
geführt werden. Dagegen lasse man die Schulpflicht erst mit dem
vollendeten 7. Lebensjahre beginnen und schränke die bisherige
Stundenzahl, die zur körperlichen Verkümmerung vieler Kinder bei-
trägt, wesentlich ein. Die heute so vielfach beklagte geistige Un-
fertigkeit und sittliche Verwahrlosung haben hauptsächlich darin ihren
Grund, dass Einrichtungen fehlen, die den jungen Menschen in seinem
bildungsfähigsten und erziehungsbedürftigsten Alter vom 14. — 17.
Lebensjahre in Zucht nehmen, üm das Lehr- und Bildungsbedürfnis
des Volkes weiterhin zu befriedigen, müssen überall Volksbiblio-
theken eingerichtet werden. Dann wird die Unsittlichkeit , Ver-
brechen und geistige Verwirrung erzeugende Schund- und Schmutz-
literatur am wirksamsten von dem Volke abgehalten und vernichtet
werden können.
Kommen dann noch Veranstaltungen hinzu, die für edle Gesellig-
keit und Unterhaltung sorgen, wie die an manchen Orten schon mit
Segen eingeführten Volksunterhaltungsabende, Lese- und Bil-
dungsvereine, Gesangvereine u. a,, dann wird es um vieles
besser werden, vor allem werden die in geistiger Stumpfheit und
mangelnder gesellschaftlicher Zucht wurzelnden Roheiten und Aus-
schreitungen immer seltener vorkommen. Möchten alle Gebildeten
dazu beitragen, dass alle Mittel angewendet werden, um unser Volk
zu heben, es immer mehr zu gleichmäßigem Fortschritte zu befähigen
Die Gefahr, die uns von der geistigen Noth und sittlichen Roheit
droht, mahnt ja immer eindringlicher dazu.
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Pädagogische Kundschau.
Deutsches Reich. Über den Besuch, dessen sich gegenwärtig (Winter-
semester 1891/92) die deutschen Hochschulen erfreuen, gibt folgende
interessante Übersicht AufschlusB :
Die Universität Königsberg wird in diesem Semester von 667 Studirenden
und 16 Hörern (gegen 716 im Sommer 1891) besucht. Der theologischen
Facultät gehören an 145, der juristischen 157, der medicinischen 222, der
philosophischen 143 Studirende. — Greifswald: 719 Stndirende und 10
Hörer (829 im Sommer 1891). Die theologische Facultät zählt 244, die
juristische 76, die medicinische 322, die philosophische 67 Studirende. —
Kiel: 480 Studirende und 28 Hörer (630 im Sommer 1891). — Theologische
Facultät 73, juristische 47, medicinische 259, philosophische 101 Stndirende.
— Rostock: 377 Stndirende und 4 Hörer gegen 377 Besucher im vorigen
Semester. Theologen 41, Juristen 56, Mediciner 139, Philosophen 145. —
Breslau: 12H2 Studirende und 30 Hörer (gegen 1305 im Sommer 1891).
Die evangelisch -theologische Facnltät zählt 144, die katholisch -theologische
182, die juristische 271, die medicinische 306, die philosophische 359 Stu-
dirende. — Würzburg: 1367 Studirende und 22 Hörer (1422 im Sommer
1891). Hierzu kommen noch 125 Studirende, welche in der ärztlichen Prüfung
stehen. Der theologischen Facultät gehören 149, der juristischen 267. der
medicinischen 770, den philosophischen Sectionen und der Pharmacie 181 Stu-
dirende an. — Bonn: 1204 Studirende und 35 Hörer (1392 im Sommer
1891). Die katholisch -theologische Facultät zählt 165, die evangelisch - theo-
logische 108, die juristische 287, die medicinische 256, die philosophische
388 Studirende. — Halle: 1522 Studirende und 62 Hörer (1493). Die theo-
logische Facultät zählt 600, die juristische 189, die medicinische 281, die
philosophische 452 Studirende. — Leipzig: 3431 Studirende und 125 Hörer
(3242). — Tübingen: 1172 Studirende und 15 Hörer. Der evangelisch-
theologischen Facultät gehören an 318, der katholisch-theologischen 167, der
juristischen 193, der medicinischen 230, der philosophischen, staatswissenschaft-
lichen und naturwissenschaftlichen Facultät 264 Studirende. — Göttingen:
807 Studirende und 36 Hörer (838). Der theologischen Facnltät gehören
184, der juristischen 164, der medicinischen 217, der philosophischen 242
Studirende an. — In Marburg: 840 Studirende und 42 Hörer (947). Der
theologischen Facultät gehören 137, der juristischen 155, der medicinischen
258, der philosophischen Facnltät 290 Studirende an. — Berlin hat 5371
Studirende, außerdem sind 320 Hörer und 2651 Studirende anderer Hoch-
schulen und Lehranstalten zum Besuche der Vorlesungen berechtigt (4427).
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Von den Stndirenden gehören 707 der theologischen, 1595 der juristischen,
1410 der medicinischen, 1659 der philosophischen Facultät an. — Heidel-
berg: 932 Stndirende nnd 144 Hörer. Der theologischen Facultät gehören
73, der juristischen 253, der medicinischen 245, der philosophischen 178, der
naturwissenschaftlich-mathematischen 183 Stndirende an. — Akademie zu
Münster: 384 Stndirende und 13 Hörer (377). Der theologischen Facultät
gehören 251, der philosophischen 133 Studirende an. — Straßburg: 969
Stndirende und 57 Hörer. Der theologischen Facultat gehören 118, der
juristischen 229, der medicinischen 356, der philosophischen 113, der mathe-
matischen und naturwissenschaftlichen 153 Stndirende an. — Jena: 581
Stndirende und 29 Hörer. — Giessen: 543 Studirende und 42 Hörer. —
München hat 3292 Studirende und 55 Hörer, darunter 136 Studirende der
Theologie, 1214 der Jurisprudenz, 97 der staatswissenschaftlichen FacultHt,
1081 der medicinischen, 500 der philosophischen Abtheilungen, 264 studiren
Pharmacie. — Erlangen: 1060 Studirende. Davon gehören 264 der theo-
logischen, 228 der juristischen, 344 der medicinischen Facultät, 133 den
philosophischen Abtheilungen an, 28 widmen sich dem zahnärztlichen Studium,
63 der Pharmacie. Die Zahl der Hörer beträgt 13. — Fr ei bürg: 856
Stndirende und 62 Hospitanten. Von den Studirenden gehören 208 der theo-
logischen, 142 der juristischen, 304 der medicinischen Facultät und der Phar-
macie an, 202 der philosophischen Facultät. — Von den Universitäten zu
Leipzig, Jena und Giessen fehlten noch die Angaben im einzelnen. Nach
den genannten Frequenzziffern finden wir an den übrigen 18 bez. 17 Hoch-
schulen insgesammt 4414 Studirende, welche den theologischen Facul täten
zugehören; 5620 gehören den juristischen und staatswissenschaft-
lichen, 5906 den philosophischen und 7480 den medicinischen Facul-
täten an. Am größten ist demnach zur Zeit der Andrang zum ärztlichen
Berufe. — Obwol die zur Verfügung stehenden Mittel infolge der nicht
günstigen Finanzlage Preußens nur beschränkt sind, ist es doch möglich ge-
wesen, auch für das Etatsjahr 1892/93 die Lehrstühle an den Uni-
versitäten zn vermehren. So sollen außerordentliche Professuren für die
osteuropäische, insbesondere russische Geschichte in Berlin, frir die philosophische
Facnltät in Greifswald, für die neueren Sprachen in Marburg und für die eng-
lische Sprache und Litteratnr in Münster geschaffen werden. An Ersatz-
ordinariaten sind zwei in der philosophischen und eines in der medicinischen
Facultät in Breslau, sowie ein solches in der theologischen Facultät in Kiel
vorgesehen. Der Decan der theologischen Facultät der vereinigten Fried-
richs-Universität Halle-Wittenberg hat die Preisaufgaben für das Halbjahr
vom 12. Januar bis 12. Juli 1892 bekannt gemacht. Die wissenschaftliche
Preisaufgabe verlangt die Bearbeitung des Themas: „Darf man Christum als
Urbild der christlichen Sittlichkeit in der Ethik behandeln?" Vorbehaltlich
der erbetenen höheren Genehmigung soll bei der Bearbeitung der
Anfgabe die deutsche Sprache angewandt werden. Auch ein Zeichen
der fortschreitenden Zeit!
B. Vom deutschen Ostseestrande. Alle methodischen Fragen waren
hier am Strande auf dem Gebiete des höheren und niederen Schulunterrichts
in den Hintergrund getreten, seitdem man
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1) an einem neuen Lehrplane für die höheren Unterrichtsaustalten;
2) an einem Dotationsplan für die akademisch gebildeten Lehrer, nnd
3) an einem allgemeinen Volksschulgesetz für Preußen im Cultus-
ministerium arbeitete.
Der neue Lehrplan für die höheren Unterrichtsanstalten in Preußen ist
glücklich bis zum 1. April 1892 durch das bekannte „Siebengestirn" am päda-
gogischen Himmel Borussias fertig gestellt. Wie weit man darin der kaiser-
lichen Directive: „Wir wollen der Jugend nicht die Schulzeit durch
Überbürdung verleiden, und wir wollen keine Römer erziehen"
nun Rechnung getragen hat, wird erst die Zukunft lehren. In das übertriebene
Geschrei über die Überbürdung in allen Schulen mischten sich laute Rufe
nach Abschaffung der „todten Sprachen". Homer und Tacitus wandeln jedoch
stolzen Hauptes in 20)0 j Übriger Toga auf dem Lehrplane unter germanischen
Erscheinungen nach wie vor umher; dem letzteren Wunsche ist also nicht
nachgekommen worden. Der Glaube, dass die Überbürdung in dem aus-
gedehnten Unterricht im Latein und Griechisch zu suchen sei, ist durch die
Conferenzbeschlüs8e der „sieben Weisen" in Berlin widerlegt worden, wenn-
gleich sie Kürzungen der Pensen hie und da gestattet haben.
Soeben ist denn auch der Besoldungsplan für die Lehrer an den
höheren Lehranstalten veröffentlicht worden. Man hatte erwartet, dass
durch denselben gerechten Ansprüchen für lange Zeit würde Genüge geleistet
werden. Mit großer Spannung wurde seitens der akademisch gebüdeten Lehrer
an unsern höheren Schulen das Erscheinen des neuen Normaletats erwartet,
mit sehr gemischten Gefühlen haben dieselben Kenntnis von demselben ge-
nommen. Seit zwölf Jahren befindet sich diese Kategorie von Lehrern in einer
gesteigerten Erregung über die Unzulänglichkeit ihres Aufrückens im Dienst
und ihrer Besoldung. Zu wiederholten Malen hat das Abgeordnetenhaus und
seine Unterrichtscommission diese Missbräuche anerkannt, und ebenso bat die
Staatsregierung wiederholt erklärt, dass eine „gründliche" Besserung der Ver-
hältnisse not big sei, ja im April 1885 hat der Cultusminister v. Gossler aus-
drücklich im Namen der Staatsregierung die Erklärung abgegeben, dass sie
die Gleichstellung der Gymnasiallehrer mit den Richtern erster Instanz für
berechtigt halte. Es durften nach allen den Vorgängen, besonders auch nach
dem Erlass der Cabinetsordre des Kaisers vom 17. December 1890, die be-
treffenden Kreise erwarten, dass die Staatsregierung jetzt die Angelegenheit
zu einem befriedigenden Ende führen werde. Diese Hoffnungen sind durch die
Gehaltssätze, wie sie das Ministerium in Vorschlag gebracht hat, gründlich
getäuscht.
Das neue Volksschulgesetz hat unsern Dünensand zu förmlichen
Sandhosen aufgewirbelt. So sehr man seit Erlass der Verfassung von 1848
auf ein Volksschulgesetz wartete, so sehr hat sich die große Majorität gegen
die Fassung des noch schwebenden Entwurfes geltend gemacht. Während von
der einen Seite gefürchtet wird, dass Gesetz werde Henchelei und religiöse
Intoleranz im Volke erziehen, wollen andere sogar behaupten, dass durch das-
selbe ein wesentlicher Theil der Segnungen der Reformation werde ver-
loren gehen. Wir sehen nicht so schwarz. Paragraphen, welche sich auf ver-
altete Pfahlbauten stützen, werden den Stürmen unserer Tage nicht lange zu
widerstehen vermögen; doch rnhen sie auf „deutschen Eichen", so überdauern
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sie Jahrhunderte. Noch ist ja das letzte Wort über den sensationellen Ent-
wurf nicht gesprochen, nnd doch ist ein Wort ans der Generaldebatte des Ab-
geordnetenhauses im Januar d. J. schon über alle Lande geflogen. Herr v.
Zedlitz meinte zu einigen nationalliberalen Forderungen auf dem Gebiete des
Religionsunterrichts, dass er mit denselben einverstanden wäre, wenn es
sich um den Unterricht in den höheren Schulen handelte. Unser deutsches
Volk ist durchaus nicht daran gewöhnt, die Religion nur als Masse nbilndigerin
anzusehen. Für unser Volk ist die Religion die Führerin zur ewigen Glücks-
seligkeit. Das Volk versteht es nicht, weshalb nun den Schülern der
höheren Schulen die Heilswahrheiten mit einem andern Maße zu-
gemessen werden sollen, als seinen eigenen Kindern. Sind die Kinder
von reichen Eltern im Stande, auf einem andern Wege in den Himmel zu
kommen als unsere? harschte ein Schlossermeister Ihren Referenten an. Das
kommt davon! (Inzwischen ist der fragliche Entwurf gefallen. D. R.)
In dieser Zeit des Ringens und Strebens nach gesetzlich geregelten Schul-
zuständen wird der Streit um die Trennung des Religionsunterrichts von
der Schule mit besonderer Heftigkeit geführt. Außer den nicht zu unter-
schätzenden Stimmen, welche aus Süd und Nord, West und Ost laut geworden
sind, verdient eine Abhandlung des Professors der Theologie, Dr. Pfleiderer,
in den „Preußischen Jahrbüchern u die weiteste Verbreitung.
Ich kann bei meiner heutigen Rundschau unmöglich einen garstigen
Bombensplitter unerwähnt lassen, welcher aus einem Revolverprocess in Berlin
entflog und viele Köpfe unserer Strandpädagogen erhitzt hat. Man höre! —
Ein begabter Berliner Rector, Namens Ahlwardt, war früher in arge Schulden,
zuletzt auch in Beleidigungspro cvsso verwickelt. A. hat sich mit Stöcker ver-
bunden und ist durch mehrere Broschüren in lebhaften öffentlichen Kampf
gegen das „Judenthum" getreten. Eine dieser Broschüren sollte mehrfache
Beleidigungen gegen ehemalige Vorgesetzte und Collegen des Ahlwardt ent-
halten, und so wurde im Februar d, J. gegen den Culturkämpfer ein Monstre-
process in Scene gesetzt, in welchem er, nebenbei bemerkt, bestraft wurde. Als
Zeugen in diesem Processe traten viele Privatpersonen, Stadtschnlräthe, Lehrer,
Lehrerinnen etc. und auch Dr. Hermes, eines der einflussreichsten
Mitglieder der Berliner Stadtschnldeputation, auf. Von Dr. Hermes
behauptete der Angeklagte , dass er als Schuldeputationsmitglied mit neu-
zuwählenden Lehrern, Rectoren und Directoren ein religiös-politisches Examen
angestellt und erklärt habe: „Die göttliche Abstammung des Heilandes
nach dem 2. Artikel ist für mich ein Märchen." Zeuge Dr. Hermes
gibt zu, diese Erklärung in Gegenwart von Directoren gemacht zu haben und
erklärt ferner, dass er eine solche Äußerung in Gegenwart von
Lehrern für „taktlos" halte. Ist das nicht dieselbe Geschichte? — Der
2. Artikel hat für die Lehrer wol heilsamen Inhalt, für Directoren ist er ein
Märchen? — Wenn sich solche Ansichten noch weiter entwickeln, dann können
wir erwarten, dass man für gewisse Stände noch Dogmen für nothwendig hält,
für andere aber nicht. Hiermit sind wir denn auf ein ernstes Thema gerathen,
welches die ganze Welt weit mehr beschäftigen wird, als der Erlass des
preußischen Volksschulgesetzes. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist es hohe,
ja höchste Zeit, dass ein zweiter Luther auftritt und die christliche Kirche
von allem menschlichen Beiwerk unnachsichtlich säubert. Das, was „wahr-
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haft göttlich" ist, braucht der Volksschüler nicht mehr und nicht weniger
als der Gymnasiast, und der Director nicht minder als der Lehrer. Damit
ist der Sache nicht gedient, dass man diejenigen einfach verbrennt, welche am
Nicäiscben Glanbensbekenntnis nur rütteln. Das ist eben eine große Errungen-
schaft der Reformation, dass wir die damaligen Kirchenvater ebenso wenig für
„unfehlbar" halten wie den heutigen Papst und sein Cardinais -Collegium.
Schon vor mehreren Jahrzehnten verlangten sehr fromme Theologen, es sei
z. B. Lic. Nesselmann genannt, eine gründliche Reform der Bibel. Die Bibel
sollte von all' den Capiteln und Versen, welche mit dem Heilsleben der
Menschen nichts zn thnn haben, welche aber nach Inhalt und Form leicht
Anstoß erregen, gereinigt werden. Bis jetzt ist in der hochwichtigen Angelegen-
heit wenig geschehen, und man darf sich nicht wundern, wenn es immer Leute
gibt, welche das Kind mit dem Bade ausschütten. Andrerseits nimmt das
Sectenwesen in rapider Weise zu. Es scheint, als ob die Menschheit das
Wort Friedrichs des Großen: „Jeder kann nach seiner Facon selig werden"
zur Wahrheit machen will.
Ans Westfalen. Zwei Thatsachen sind es, über die ich heute den
Lesern des „Paedagogiums" berichten möchte. Schon an sich sind beide ihrer
Eigenartigkeit wegen höchst beachtenswert, sie heischen aber besonderes In-
teresse wegen ihrer symptomatischen Bedeutung in der gegenwärtigen Zeit.
Sie stehen beide in dem Zeichen des Zedlitz'schen Volksschulgesetzes, und
wenn sie auch in keinem direkten Znsammenhange mit diesem Entwürfe stehen,
so athmen sie doch den Geist von seinem Geiste. Beide sind, obwol zunächst
nur von örtlicher Bedeutung, vorzüglich geeignet, dem Leser als Zukunftsbild
zu dienen hinsichtlich der Verhältnisse, wie sie sich nach der Annahme des
Zedlitz'schen Gesetzentwurfes in Preußen entwickelt haben würden. Es
handelt sich in den nachfolgenden Zeilen 1) um den Kampf der Stadt
Hoerde für ihre Simultanschule und 2) um die Verfügung der könig-
lichen Regierung in Arnsberg vom 26. Januar d. J., wodurch sie den
Lehrern die Mitarbeit an der Presse untersagte.
Der Schulkampf in Hoerde dauert bereits annähernd 15 Jahre. Er ist
ein classisches Zeugnis dafür, wie der Ultramontanismus darauf abzielt, die
Selbstverwaltung der Städte zu vernichten und überall das schwarze Panier
der Intoleranz aufzupflanzen, wie derselbe die Interessen und Rechte anderer
unter die Füße tritt, um seinen hierarchischen Gelüsten zu fröhnen, und wie
er seine Losung: „Für Wahrheit, Recht und Freiheit!" auffasst.
Es war im Jahre 1877, als die städtischen Behörden in Hoerde, einem
ausdrücklichen Wunsche der Regierung entsprechend, den Beschlnss fassten,
die drei confessionell eingerichteten Volksschulen der evangelischen, römisch-
katholischen und israelitischen Schulsocietäten in eine städtische Simultan-
schule umzuwandeln.
Was das numerische Verhältnis der beiden hauptsächlich in Betracht
kommenden Confessionen anbetrifft, so zählt Hoerde rund 8000 evangelische
und 7000 katholische Einwohner; was aber die Verhältnisse des Besitzstandes
anbelangt, so sind die Evangelischen und Israeliten im ganzen wolhabender
und somit steuerkräftiger als die Katholiken. Zur Illustration dieser Ver-
hältnisse führen wir kurz die nachfolgenden, der „ Kölnischen Zeitung" ent-
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nominenen Zahlen an: Im Jahre 1885/86 beispielsweise worden an Staats*
Stenern, welche bei Berechnung der stadtischen Stenern zu Grnnde gelegt
werden, erhoben
1) von den Evangelischen und Israeliten 21 119,— M.
2) von den Römisch -Katholischen 8372,— „
and das zu deckende Schuldeficit betrug
bei der städtischen Volksschule (Evangelische und Israeliten) 34 788,50 M.
bei der katholischen Volksschule 31 870,84 „
mitbin war das Deficit der Communalschule mit 164 °/0, das der römisch-
katholischen Schule mit 380 °/0 der Staatssteuern zu decken. Aus diesen
trockenen Zahlen erhellt schon ohne Widerrede, wie uneigennützig und gerecht
die städtischen, fast ausschließlich ans Protestanten bestehenden Körperschaften
handelten und welche Wolthaten sie den steuerzahlenden, dazu nicht wol-
habenden katholischen Bürgern zuwenden wollten, wenn sie bereit waren, auch
die katholischen Schulen auf den städtischen Etat zu übernehmen, unter der
einzigen Bedingung nur, dass der simultene Charakter der Communalschule
gewahrt bleibe.
Ja, um das gleich vorwegzunehmen, vor einigen Jahren ging die Stadt
in ihrer Nachgiebigkeit so weit, die Übernahme des katholischen Schuldeficits
anzubieten, wenn der Schulvorstand bereit wäre, die Schule dem städtischen
Curatorium zu unterstellen, damit dieses wenigstens in äußeren Fragen mit*
zureden habe; der confessionelle Charakter der Schule sollte gänzlich gewahrt
bleiben. Die ruhigen, verständigen, objectiv urtheilenden Katholiken waren
für diesen Ausgleich, nicht aber der unter dem Einflüsse des römischen Clerus
stehende Schulvorstand. Bedingungslos sollte sich die Stadt unterwerfen;
man wollte ihr die Pflicht des Zahlens aufhalsen, im übrigen aber sollte sie
kein Wort mitzureden haben. Infolge dieser Hartnackigkeit blieb hiernach
den katholischen Bürgern nichts übrig, als weiter zu zahlen, und zwar hatten sie
in den Jahren von 1880 — 90 an Communal- und Schulsteuern zwischen 500
und 670 °/0 der Staatssteuern aufzubringen, während die übrigen Bürger nur
zwischen 370 und 410 % zahlten.
Wenn der Minister von Zedlitz bei der Berathung des Cultusetats am
7. März jedoch die Höhe der den Katholiken aufgebürdeten Lasten dem Um-
stände zuschrieb, dass die Katholiken bezahlt hätten für die Simultanschule
und für ihre eigene Schule auch, so war das ein Irrthum, den der Minister
dann auch in einer späteren Sitzung zugeben musste. Die Sache liegt viel-
mehr so, dass die Katholiken allerdings gesetzmäßig verpflichtet gewesen
wären, die Lasten der simultanen Communalschule mittragen zn helfen, —
und mir ist ein Fall bekannt, dass in einer unserer Industriestädte die Katho-
liken die Communalsteuer einschließlich der Schullasten für die städtischen
Schulen zahlen mussten, obwol sie sich auch den gleichen Luxus einer eigenen
confessionellen Schule leisteten — aber, und das kennzeichnet wieder die guten,
friedlichen Absichten der städtischen Körperschaften in Hoerde, schon in dem
Beschlüsse, durch den die Simultanschule geschaffen wurde, befreite man die
Katholiken ausdrücklich von diesen Lasten, weil man sich in richtiger Er-
kenntnis der ultramontanen Gehässigkeit dem Vorwurfe nicht aussetzen wollte,
den man voraussah und der selbst von dem Hinister andeutungsweise erhoben
wurde. Jene Behauptung also, dass die evangelischen und israelitischen Bürger
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der Stadt auf Kosten der katholischen Mitbürger Vortheile genössen, entspricht
nicht der Wahrheit.
Bis zum Jahre 1884 stand die Arnsberger Regierung auf demselben
Boden der Auffassung wie die städtischen Behörden. Alle Versuche der
katholischen Schulsocietät, die Übernahme der katholischen Schule ohne den
Verzicht auf ihren confessionellen Charakter nnd unter Wahrung aller ihrer
bisherigen Rechte auf den stadtischen Etat herbeizuführen, wurden von der
Stadt und der Regierung gemeinsam zurückgewiesen. Als jedoch der Wind
umsprang und die politische Constellation sich, besonders infolge der Bismarck»
sehen Wirtschaftspolitik, änderte, da wechselten auch die Bilder im kleinen :
man verbrannte, was man bis dahin angebetet hatte. Vom Jahre 1884 ab
unterstützte die Arnsberger Regierung im Gegensätze zu ihrer früheren
Haltung die Forderung des katholischen Schul Vorstandes gegen die städtischen
Behörden. Es würde zu weit führen, hier die Angelegenheit in den einzelnen
Stadien ihrer Entwicklung zu verfolgen — kurz, am 14. Februar 1891 be-
schlossen die Repräsentanten der katholischen Schulsocietät endlich, die letztere
unter Hinweis auf den Vertrag vom 18. Juli 1877 bedingungslos aufzulösen
und der Stadt die Übernahme der katholischen Schule anheimzustellen. Zu
diesem Schritte waren aber die Katholiken nicht etwa gekommen, weil sie in-
zwischen ihre Anschauungen geändert hatten oder im Laufe der Zeit mürbe
geworden waren; nein, in ihrer Klugheit hatten sie sich vorher versichert,
dass jetzt statt ihrer die Regierung bei der Übernahme der Schule auf den
städtischen Etat a tout prix auf den confessionellen Charakter der Schule be-
stehen würde. Die Vertreter der Stadt, die ihre Pappenheimer kennen, durch-
schauten indes den schlau ersonnenen Plan und fielen auf diese Finte nicht
hinein. Nachdem sie sich über die Absicht der Regiernng Klarheit verschafft
hatten, weigerten sie sich rundweg, die Schule zu übernehmen, und so führte
auch dieses klug abgekartete Spiel nicht zu dem beabsichtigten Ziele. Jetzt
zog die Regierung andere Saiten auf. Sie beantragte beim Bezirksausschuß,
die Stadt gemäß § 2 des Gesetzes vom 26. Mai 1887 zur Übernahme der
Schule zu verurtheilen. Das geschah. Die hiergegen unter eingehender Be-
gründung an den Provinzialrath gerichtete Berufung der Stadt wurde ver-
worfen, und endlich lehnte auch der Oberpräsident von Westfalen den Antrag
der Stadt, gegen die letzte Entscheidung beim Oberverwaltungsgerichte Klage
erheben zu dürfen, kurzer Hand ab. Mit Recht bemerkt die „Kölnische
Zeitung" hierzu: „Eine solche Ablehnung ist für den ruhigen Staatsbürger
schwer verständlich. Die städtischen Behörden erbitten weiter nichts, als
dass der Oberpräsident ihnen ermögliche, ihre bisher nur von Beschlnssbehörden
benrtheilte Sache dem Spruche eines Gerichtshofes des Oberverwaltungsgerichte«
zu unterbreiten. Er hätte beachten müssen, dass gerade jetzt unter den Ver-
hältnissen, in welchen wir im preußischen Staate leben, jeder Anlass zu be-
rechtigter Unzufriedenheit möglichst vermieden werden müsse. Er hätte ferner
sich sagen müssen, dass eine evangelische Bevölkerung einer Stadt, welche
14 Jahre lang mit stets gleicher Ausdauer den Kampf um ihre Schule ge-
führt hat, auch infolge seiner Ablehnung in diesem Kampfe nicht erlahmen,
sondern ihre Sache bis an den Minister und nötigenfalls den Landtag der
Monarchie verfolgen wird. Er hätte ferner wissen können, dass auch, wenn
selbst diese Schritte nicht zu dem erwünschten Ziele führen, den städtischen
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Behörden immer noch auf anderen Wegen die Möglichkeit verbleibt, eine Ver-
handlung der Sache vor dem Oberverwaltungsgerichte zu erzwingen."
Nicht genug hiermit, ging die Arnsberger Regierung, bez. der Schulrath
Tyszka, im Übereifer dazu über, die Hoerder Communalschule ihre» simultanen
Charakters zu entkleiden, indem er die Ausschulung der 28 israelitischen
Schaler und die Bildung einer besonderen jüdischen Schulclasse für die solcher-
gestalt Ausgeschulten verfugte.
Alle diese Maßregeln, die mindestens als höchst sonderbar bezeichnet
werden müssen, brachte der Abgeordnete Rickert bei der Berathung des
Cultusetats im Abgeordnetenhause zur Sprache, und der Minister erklarte
wenigstens bezüglich des letzten Punktes, dass er die Ausschulung der is-
raelitischen Schüler selbstverständlich inhibirt, sobald er Kenntnis von der
Absicht der Regierung erlangt habe. „Dieser ganze Vorgang", so fuhr der
Minister fort, „wirft jedoch ein höchst interessantes Licht auf die Nützlichkeit
der Simultanschuleinrichtungen. Nämlich hier ist die Regierung in Arnsberg
nicht der schwarze Mann gewesen, der angefangen hat, sondern die Anregung
zu der auch nach meiner Auffassung völlig unmöglichen Organisation ist aus
Hoerde selbst gekommen, und zwar ist die neue Organisation wunderbarer-
weise motivirt worden aus der Simultanschule heraus, nämlich damit, dass der
Verkehr in dem Lehrercollegium und in den Gassen, namentlich bei Erörte-
rungen von Fragen, die den Geschichtsunterricht betreffen, durch die Gegenwart
des jüdischen Lehrers eine gewisse bedenkliche Beengung fände. Nach meiner
Meinung ist die Regierung nicht glücklich gewesen, indem sie auf eine der-
artige Anregung eingegangen ist. Sie hätte sagen sollen: Ihr seid simultan,
eine Begründung von einer besonderen Classe für die 28 jüdischen Kinder
geht nicht, das wäre eine Zurücksetzung der berechtigten Interessen dieser
Kinder und ihrer Eltern. Also sie hätte das einfach ablehnen müssen; sie
ist aber auf die Sache eingegangen, hat jedoch eine abschließende Verfügung
bisher nicht getroffen. Ich habe ihr zu erkennen gegeben, dass nach meiner
Ansicht es so bleiben müsse, wie es bisher gewesen wäre, und dass der
jüdische Lehrer im Collegium ebenso zur Verwendung kommen müsse, wie er
bisher zur Verwendung gekommen sei." Diesen Standpunkt des Ministers und
die Desavouirung der Arnsberger Regierung durch ihn kann man nur billigen,
wenn man andererseits auch bedauern muss, dass er sich nicht auch im übrigen
auf die Seite der Stadt Hoerde stellt. Auffallen muss es aber, dass der Minister
in dem einen Punkte, die Beengung der evangelischen Lehrer durch die Gegen-
wart des israelitischen Lehrers betreffend, der Köln. Ztg. zufolge, wiederum
falsch unterrichtet gewesen zu sein scheint. Sie schreibt: „Es wird uns zu-
verlässig verbürgt, dass von berufener Seite in dieser Beziehung niemals eine
Klage an die königliche Regierung zu Arnsberg gerichtet worden ist. Im
Gegentheil haben die Herren, welche sich an in dieser Beziehung maßgebender
Stelle befinden und welche principielle Gegner der Simultanschule sind, auf
Befragen versichert, dass Unzuträglichkeiten irgend welcher Art sich in keiner
Weise bemerkbar gemacht haben. Auch hier ist also wiederum der Minister
das Opfer einer Berichterstattung geworden, die in keiner Weise die örtlichen
Verhältnisse zutreffend geschildert hat." Endlich irrt sich der Minister, wenn
er behauptet, die Arnsberger Regierung könne sich zur Rechtfertigung ihres
Vorgehens nicht auf ihn berufen. Er trat sein Amt Mitte März an, und
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unterm 29. Mai entschied er: „Wenn das Protokoll vom 18. April 1877 von
der Einrichtung von Communalschulen ohne confessionellen Charakter spricht,
so entspricht dies nicht den thatsächlichen Verhältnissen. Die kleine jüdische
Societät, welche gleichzeitig aufgelöst wurde, kann in dieser Frage nicht in
Betracht kommen. Die Stadtgemeinde darf sich daher, nachdem sie die evan-
gelische Schule als solche übernommen and weiter unterhalten hat, nicht
weigern, auf Verlangen auch katholische Schulen als Gemeindeanstalten ein-
zurichten." Irren ist zwar menschlich, und selbst ein Minister ist dem Irrthume
unterworfen. Wie es aber möglich ist, dass sich der Minister bei einer solchen
principiell wichtigen Angelegenheit sozusagen in eine ganze Kette von Irrungen
verstricken konnte, das bleibt einem beschrankten Unterthanenvemande immer-
hin schwer erklärlich.
Nachdem so die Stadt Hoerde ihr vertragsmäßiges, ursprünglich von der
Regierung gewährleistetes Recht durch alle Instanzen verfochten, aber nicht
mit Erfolg durchzusetzen vermocht hatte, forderte der Regierungspräsident in
Arnsberg durch Verfügung vom 4. März d. J. die städtische Vertretung auf.
binnen acht Tagen die Kosten für die katholischen Volksschulen in den Etat
einzustellen, andernfalls werde sofort die zwangsweise Einstellung erfolgen.
Aber sowol Magistrat wie Stadtverordnetenversammlung haben das Verlangen
des Regierungspräsidenten rundweg abgelehnt. Soweit ist der Kampf gediehen.
Das ist die augenblickliche Situation.
Wäre Graf Zedlitz Minister geblieben, so könnte man schon heute die
Sache als erledigt betrachten; Hoerde hätte der Gewalt, der force majeure,
weichen müssen. Aber in dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden,
durcheilt die Kunde von dem Sturze des Ministers die überraschte Welt.
Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen! Möge
das ein gutes Vorzeichen für die Stadt Hoerde sein. Die große Mehrheit des
freien Bürgerthums wird dem Minister ebenso wenig eine Thrane nachweinen,
wie dem Werk, mit dein er stehen und fallen wollte. Er ist gefallen, „und
seine Werke folgen ihm nach". Diese unerwartete Wendung wird in der
ganzen culturfreundlichen Welt als ein erlösendes Ereignis freudig begrüßt
werden. Als Cultus- und Unterrichtsminister war dieser ehemalige Rittmeister
ein Anachronismus der schlimmsten Art. Er war kein Frömmler ä la Mühler,
er spielte sich auf den Politiker hinaus, der die Übel der Gegenwart mit den
veralteten Mitteln und den verrosteten Waffen einer längst überwundenen
Epoche heilen zu können wähnte. Er suchte die Bundesgenossenschaft einer
Nacht — schreibt treffend die Frankf. Ztg. — die stets für die Hilfe, die
man von ihr öfter erwartete als erhielt, als Preis die Herrschaft gefordert hat,
einer Macht, für die jedes Bündnis nur eine societas leonina ist, wie sie uns
die alte Äsopische Fabel vom jagenden Löwen schildert. Er täuschte sich,
als er der Kirche die ganze Hand reichte, nicht nur über die Bedeutung dieser
Politik, sondern vor allen Dingen auch über ihre Wirkung auf die Geister.
Er wollte einen Kampf gegen den „Atheismus" führen, die Waffe aber, die er
enthüllte, war gegen die moderne Weltanschauung, gegen die geistigen und
politischen Errungenschaften des Jahrhunderts gerichtet, und der Geist des
Jahrhunderts war es, der gegen ihn aufstehen musste und in entschlossenster
Weise wirklich auch sich gegen ihn erhob. Der jähe Sturz des Ministers ist
geeignet, auf der einen Seite Hoffhungen, die bereits aufgegeben waren, neu
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zn beleben, auf der andern Seite aber eine Überhebung und einen Übornruth
zu Btrafen, die sich schon vermaßen, der Nation den Fuß auf den Nacken
setzen zu können.
Nach dem Artikel 27 der Verfassung für die preußische Monarchie hat
jeder Preuße das Recht, durch Wort, Schrift und Druck und bild-
liche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. Dieses verfassungs-
mäßig garantirte Recht, das zu den wertvollsten eines freien Bürgers gehört,
steht auch dem Lehrer in dem gleichen Maße zu wie jedem andern Staats-
bürger, und die Lehrer begingen das schwerste Unrecht gegen ihren Stand,
wenn sie sich, durch wen es auch immer sei, dieses Recht nehmen oder ver-
kümmern lassen wollten. Sofern sie in ihrer schriftstellerischen Thätigkeit
nicht gegen das Pressgesetz oder andere zu Recht bestehende Verordnungen
verstoßen, hat ihnen niemand darein zu reden, haben sie niemandem Rede und
Antwort über diese Th&tigkeit zu stehen. Der § 104 des Gesetzes betreffend
die Dienstvergehender nichtrichterlichen Beamten vom 21. Juli 1852 bestimmt
ausdrücklich, dass der Beamte in seinen Privatangelegenheiten „nach eben den
Gesetzen und Rechten wie andere Bürger des Staates beurtheilt" werden soll.
Und eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes vom 20. Dezember 1886
besagt: „Der Beruf der Unterthanen, die Krone durch die von ihnen durch
das Mittel der Wahl in die legislativen Körperschaften entsandten Vertrauens-
personen in den wichtigsten Acten der Gesetzgebung und Staatsverwaltung
fortgesetzt zu berathen, führt mit Noth wendigkeit zur Bildung politischer
Parteien und zu ihrer Thätigkeit in der Presse, in Versammlungen und Ver-
einen, die dazu dient über die Tagesfragen der Politik zu belehren, Gleich-
gesinnte zu sammeln, Fernstehende heranzuziehen und zu überzeugen. Zu
solcher Thätigkeit sind auch die Staatsbeamten, unmittelbare wie mittel-
bare, berufen. Kein Gesetz, keine Norm der Dienstpragmatik schließt sie
grundsätzlich und allgemein davon aus." Dass sie sich an einem politischen
Treiben von Parteien betheiligen, welche grundsätzlich gegen die be-
stehende Rechts- und Staatsordnung kämpfen, sei mit der Stellung
der Beamten nicht verträglich. Auch dürfen sie nicht die Pflicht der rück-
sichtsvollen Achtung gegen die Vertreter der Staatsbehörde verletzen und sich
zu ungerechten, unwahren Behauptungen und Angriffen verleiten lassen, sowie
das Vertrauen zu einer sachlichen und gerechten Führung des anvertrauten
Amtes in Frage stellen.
Nun betrachte man im Lichte dieser gesetzlichen Bestimmungen die nach-
folgende Verfugung der Königl. Regierung zu Arnsberg vom 26. Januar 1892,
die folgenden Wortlaut hat:
„Wie in der letzten Zeit zu unserer Kenntnis gekommen ist, befasst
sich eine nicht unerhebliche Zahl von Lehrern unsere Aulsichtskreises mit
einer mehr oder weniger fortlaufenden Mitwirkung an der Tagespresse.
Dass eine derartige Thätigkeit als eine nebenamtliche Beschäftigung im
Sinne der bestehenden Bestimmung anzusehen ist, kann um so weniger
zweifelhaft sein, als sie, wie es in der Natur der Sache liegt und in
mehreren der in Betracht kommenden Fälle auch zugegeben worden ist, der
Regel nach gegen ein entsprechendes Entgelt, sei es durch Barzahlung, sei
es in anderer Weise, geübt wird. — Nach dieser Richtung hin bestimmt
die Allerhöchste Cabinetsordre vom 13. Juli 1839, dass kein Staatsbeamter
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eine mit einer besondern Vergütung verbundene Nebenbeschäftigung ohne
die Genehmigung seiner vorgesetzten Behörde übernehmen darf, und der
Ministerialerlas8 vom 31. October 1841 besagt, dass den Lehrern nur die
Übernahme solcher Nebenbeschäftigungen gestattet werden soll, deren Aus-
richtung dem Amte und der Würde eines Lehrers keinen Eintrag thut und
ihn seinem nächsten Berufe nicht entfremdet. — Je weniger es nun in
unserer Absicht liegen kann, den Lehrern die Erörterung fachmännischer
Fragen oder die Mittheilung belangreicher Wahrnehmungen und Erfahrungen
in den einschlägigen Blättern zu versagen oder ihnen die Mitwirkung an
der Hebung vaterländischer und religiöser Gesinnung zu verschränken, um
so entschiedener wird der nebenamtlichen Thätigkeit eines jeden Staats-
beamten dann entgegenzutreten sein, wenn diese sich entweder in einen
auggesprochenen Gegensatz zu den vorgedachten Bestrebungen stellt, oder
ausschließlich auf die Herbeischaffung und Ausbeutung von Tagesneuigkeiten
abzielt und sich zu diesem Behufe auf die Anwendung von Mitteln an-
gewiesen sieht, die ebenso wenig mit dem Amte, wie mit der gesammten
Stellung eines Lehrers vereinbar sind."
Dass diese Verfügung in der unabhängigen Fresse nicht gerade in
schmeichelhafter Weise beurtheilt wurde, kann man sich denken. So schrieb
u. a. die Köln. Ztg., das hervorragendste Organ der nationalliberalen Partei:
„In unseren Tagen, wo die Empfindungen des preußischen Lehrerstandes durch
das neue Volksschulgesetz aufs höchste in Mitleidenschaft gezogen und erregt
sind, sollten wenigstens keine Verfügungen erlassen werden, die in Lehrer-
kreisen peinlich berühren und vielleicht Erbitterung hervorrufen werden.
Man sollte auch den Schein vermeiden, als wolle man den Lehrern durch Ein-
schüchterungsversuche das Recht der freien Meinungsäußerung verkümmern.
Hält man aber diese Verfügung mit derjenigen des Begierungspräsidenten zu
Frankfurt a. d. 0. zusammen, so drängt sich der Argwohn auf, als versuche
man, die Erregung der Lehrerkreise aus der großen Öffentlichkeit in die Brust
des armen Lehrers zurückzudrängen, in die ja die Schulvorlage auch den
Kampf zwischen Staat und Kirche verlegt. Grundsätzlich können wir nicht
anerkennen, dass die Mitarbeit an der Tagespresse mit der Würde des
Lehrers unvereinbar sei; die Verfügung legt die Empfindung nahe, dass diese
Mitarbeit nur dann als zulässig betrachtet werden soll, wenn sie sich allerdings
über die Nachrichten erhebt, aber auch im Einklang mit den wechselnden
Anschauungen der jeweiligen Begierungspolitik steht"
Die Wurde und das Ansehen des Lehrerstandes an ihrem Theile mit
wahren zu helfen, das ist nicht nur das unbestreitbare Recht der Regierung,
sondern es ist auch zugleich ihre Pflicht, und zwar eine schöne und ehren-
volle Pflicht Die Würde und das Ansehen des Lehrerstandes aber dadurch
heben zu wollen, dass man den Lehrern die Mitarbeit an der Presse ver-
schränkt , das heißt nach unserer bescheidenen Ansicht , das Pferd beim
Schweife aufzäumen. Warum bedienen sehr viele Lehrer die Zeitungen mit
Tagesneuigkeiten ? „Um dieselben in ihrem Interesse auszubeuten, um Bai -
zahlungen oder sonst Vergütungen dafür zu erhalten", sagt die Regierung;
und es ist ohne weiteres zuzugeben, dass sie im allgemeinen damit auf richtiger
Fährte ist. Aber wir können in der That nicht begreifen, warum das keine
ehrliche Arbeit sein soll, der man das Kainszeichen der Nichtwolanetändigkeit
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auf die Stirn drücken müsste. Es erscheint noch immer viel ehrenvoller für
die bei ihrem kärglichen Gehalte darbenden Lehrer, wenn sie sich durch ehr-
liche Arbeit und deren Ertragnisse über Wasser zu halten suchen, als wenn
sie in Schulden untergehen. Wenn aber die Regierung die Wahrnehmung zu
machen glaubt, dass im Arnsberger Bezirke gerade verhältnismäßig viele
Lehrer an den Tagesblättern um des Erwerbs willen mitarbeiten , so können
wir ihr nur den Rath geben, an ihre eigene Brust zu schlagen und aus-
zurufen: Mea culpa! Warum gebraucht sie ihren Einflnss auf die Gemeinden
nicht, damit diese die durchweg unzulänglichen Gehälter, besonders unzuläng-
lich in dem industriereichen Arnsberger Bezirke, zeitgemäß aufbessern? Aber
jeder Schreiber und Zeichner, jeder Eisenbahnbeamte mit noch so geringe)
Bildung steht sich ungleich besser als die Lehrer; und mit verschränkten
Armen sieht die Regierung solchen himmelschreienden Zuständen zu. Von
Regierungsverfugungen , wie der obigen, kann schließlich ein Lehrer seine
Familie, die doch auch, sozusagen, menschliche Bedürfnisse hat, nicht sättigen.
Den Lehrern die Erwerbsquellen abgraben, heißt weder sein Ansehen und
seine Würde heben, noch „praktisches Christentum" treiben. Nur wer zum
Zweck der Hebung der religiösen und vaterländischen Gesinnung seine Feder
gebraucht, der soll unbehelligt weiter schreiben können. Da sind sie alle
fein heraus, die „ Gesinnungstüchtigen " und Leisetreter, die in allem, was sie
sprechen und schreiben, genau den goüt ihrer jeweiligen Vorgesetzten zu
treffen wissen. Die vaterländische Gesinnung wird in den amtlichen Kreis-
blättern, und die religiöse in den Gemeindeblättchen der Herren Pfarrer cul-
tivirt, und wenn es gerade einmal eilt, so hat der geistliche Schulinspector
auch nichts dagegen, dass der gewünschte Artikel während der Unterrichts-
zeit entsteht; den Kindern thun dann und wann „stille Denkübungen" auch
einmal gut, denn viel Wissen macht den Leib müde. Auch diese Verfügung
brachte der Abgeordnete Rickert im Landtage zur Sprache, indem er zugleich
die Frage an den Minister richtete, ob er damit einverstanden sei, dass die
Lehrer wie Schuljungen behandelt würden. Der Minister erwiderte darauf:
Es hat sich herausgestellt, dass Lehrer vielfach ihre Hauptthätigkeit in den
Arbeiten für die Presse gesehen haben, ein Lehrer war sogar Chefredacteur
einer Zeitung. Die Sache ist reparirt, da die Regierung selbst eingesehen,
dass sie sich vergriffen hat. Dagegen kann man die Tendenz durchaus nicht
missbilligen, insofern die excentrische und agitatorische Theilnahme der Lehrer
an der Presse eine Gefährdung derselben bezüglich ihres Berufes zur Folge
hat. Es ist eine große Gefahr für die Lehrer, sich in das politische Partei-
getriebe hineinzubegeben.
Man beachte den Gegensatz, der darin liegt, dass die Regierung den
Nachdruck auf die dem Lehrer aus seiner Mitarbeit an der Presse zu-
fließenden Einnahmen legt und darin das Bedenkliche erblickt, während der
Minister diese Auffassung als unhaltbar verwirft und vor dem agitatorischen
Wirken im Interesse politischer Parteien warnt. Dass aber diese Warnung
berechtigt wäre in Ansehung der westfälischen oder Arnsberger Lehrer und
deren Verhalten, wird jeder, der die diesseitigen Verhältnisse kennt, rundweg
verneinen; sie sollte auch wol nur die Niederlage nothdürftig verhüllen, die
sieb die Regierung in ihrem übel angebrachten Eifer verursacht hatte.
Pädagogium. 14. Jahrg. H«ft VII. 32
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Das „Protestantische Familienblatt" von Dr. Riebard Weitbrecht (Ver-
lag von Carl Classen in Stattgart) enthält folgende Betrachtungen: „Dank-
bare Polen hat es in der Weltgeschichte bekanntlich noch nie gegeben.
Auch die von heute sind's nicht. Da hat die Regierung den polnischen Chau-
vinisten v. Stablewski zum Erzbischof von Posen ernannt. Die deutschen ka-
tholischen Lehrer, welche die Regierung vor einigen Jahren aus dem Innern
des Reichs nach Posen und Westpreußen versetzte, um dort einen Schutz des
Deutschthums zu bilden, müssen wieder in ihre Heimat zurück — wenigstens
wurde ihnen die 300 11k. betragende Jahreszulage gestrichen — und die
edlen Polen haben nun freien Lauf, in Schule und Kirche ihr Polenthum,
voran die polnische Sprache, nicht etwa blos zu erhalten, sondern mit aller
Macht auszubreiten, wobei sie von den Römlingen deutschen Stammes bereit-
willigst unterstützt werden, vermöge jener Verquickung von reichsfeindlichen
und ultramontanen Bestrebungen, wie sie z. B. auch in Elsass-Lothringen vor-
handen ist und dort ebenfalls lange Zeit gehätschelt wurde. Und der Dank
dafür? Während sich der Deutschen jener Gegenden die tiefste Nieder-
geschlagenheit bemächtigt hat, bezeichnen die Polen all das ruhig als kleine
Abschlagszahlung, schicken für die Ernennung Stablewski's, in dessen Em-
pfangsausschuss beiläufig nicht ein einziger Deutscher gewählt wurde, eine
Danksagung nicht etwa an den Kaiser, sondern an den Papst, und freuen
sich unbändig auf den nächsten Krieg, der, mag's gehen wie es will, ihnen
nach ihrer Meinung Gelegenheit zu polnischen Thaten geben wird. Am päpst-
lichen Segen wird es ihnen dann in keinem Fall fehlen, am wenigsten, wenn
sie das „deutsche Joch" abschütteln könnten.
Eine Mädchen - Erziehungs-nsta.r. n N., 1ji Stunde von Bad S..
schaut von einer terrassenartig ansteigenden Höhe ein braunes, heiter und
etwas luttig aussehendes Gebäude über die Vorberge des Taunus hinweg.
Das ist ein „ Pensionat u, ein „Institut", eine Erziehungsanstalt für Mädchen,
hatte man mir gesagt, als ich vor einigen Jahren vorbeiBchlenderte. Es
solle da anders zugehen, als in den meisten Instituten, und es werde viel
davon gesprochen. Die Leiterin der Anstalt sei Fräulein H., eine Tochter
des ehemaligen Professors H. in Gießen. Bestimmtes über die Einrichtung der
Anstalt, über die Art und Weise des Unterrichts und der Erziehung konnte
ich nicht erfahren. Erst später hatte ich Gelegenheit, auf Einladung eines
Freundes, der der Anstalt vier Töchter zur Erziehung anvertraut hat, einer
Halbjahrs- Prüfung beizuwohnen.
Herr R., welcher die äußeren Angelegenheiten der Anstalt besorgt, empfing
mich aufs freundlichste. Ich war um zwei Stunden zn früh gekommen. Dank-
bar nahm ich die Einladung an, bis zum Beginn der Prüfung in der Anstalt
zu verweilen. — Einige 40 Mädchen im Alter von 8 bis 18 Jahren werden
hier erzogen. Die jüngeren Zöglinge kommen nicht selten direct ans den Fa-
milien, die älteren aus den verschiedensten Schulen und Instituten, wo manche
bereits den ganzen lehrplanmäßigen Cursus durchgemacht haben. Sie ver-
bleiben in der Anstalt je nach dem Alter, in welchem sie eingetreten, ein Jahr
oder auch 5 und 6 Jahre. Die meisten Mädchen stammen natürlich aus Deutsch-
land; aber auch aus England, Frankreich, der Schweiz, Rumänien sind mehrere
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da, und wird deshalb deutsch, englisch und französisch gesprochen und gelehrt.
Man kann sich die Verschiedenheit der Zöglinge kaum noch größer denken.
Da ist es nun wunderbar, dass alle diese Mädchen nicht in gesonderten Ab-
theilungen (Classen) von mehreren Lehrerinnen und Lehrern, sondern insgesammt
von Fräulein H. allein unterrichtet und erzogen werden. Nur für Sprachen,
Gesang und Cla vierspiel, Zeichnen und Malen, überhaupt für die sogenannten
technischen Fächer kommen Hilfslehrer aus der Umgegend.
Während so Herr R. alles, was mir neu oder doch ungewöhnlich war,
bereitwilligst beschrieb und erklärte, ging plötzlich neben mir die Thür auf
und etwas stürmisch trat eine alte, sehr einfach gekleidete Dame ein. Ich
hatte kaum Zeit aufzustehen und das „Fräulein H.u des Herrn R. zn vernehmen.
Sie fasste mich bei beiden Händen, und in der freundlichsten, liebenswürdigsten
Weise begrüßte sie mich wie einen alten Bekannten, den man seit langer Zeit
nicht gesehen. „0, ich habe große Angst vor Ihnen — Sie sollen so strenge
sein — bei mir ist so wenig, was die Welt interessiren kann, — aber Sie
sehen ja gar nicht so schlimm aus." Damit erhob sie ihre Lorgnette mit
schwarzer, ungemein breiter und dicker Horneinfassung, hielt sie mir ganz
dicht vor die Augen, schaute mehrere Secunden schweigend, als wollte sie das
Innere meines Kopfes ergründen, wandte sich dann ab, setzte sich auf einen
Stuhl und zog mich nieder auf einen andern.
Nun begann eine äußerst lebhafte Unterhaltung. Unsere Anstalt — so
ungefähr antwortete mir Fräulein H. in heiterstem Tone anf die Fragen, die
ich mir erlaubte — ist kein Institut, kein Pensionat, keine Familie, aber alles
zusammen, am meisten eine Familie. In gesunden Körpern gesonde Seelen za
entwickeln, ist das Endziel, dem hier alles dient. Wir bemühen uns, die Zög-
linge zu eigener Thätigkeit anzuspornen, an eigenes Denken zu gewöhnen.
Nicht gelehrte, sondern allgemein gebildete, liebevolle, verständige, thätige und
heitere Frauen braucht die Welt. Für das Haus, für die Familie werden sie
erzogen, gleichviel, ob es ihnen beschieden wird oder nicht, selbst eine Familie
zu gründen; häusliche Tugenden zu bethätigen sind sie doch alle berufen. Und
darin werden sie täglich geübt, werden znr Sorge für andere und zur Ordnung
angehalten, die sie selbst zu erhalten haben. In diesem Sinne geschieht es,
dass sie sich in die verschiedenen Pflichten des Haushaltes theilen und darin
abwechselnd üben. Für die kleineren Kinder haben die älteren Mädchen
mütterlich zu sorgen. Gepflegt, gekleidet, beim Spiel und bei der Arbeit be-
aufsichtigt werden die Kleinen nicht von den Dienstboten, sondern, wie in
wolgeordneten Familien von treuen Schwestern, so hier von ihren älteren Mit-
schülerinnen. Ohne mein Wissen und Wollen, weder aus Laune noch unver-
ständiger Liebe, darf auch nur das Geringste eigenmächtig verfügt werden.
So besorge ich eigentlich die Kleinsten, aber ich besorge sie durch die Größeren,
damit diese es richtig thun lernen. In dem gleichen Sinne wie die Kleinen
werden die Großen erzogen — alle bilden ja bei mir eine einzige Familie.
Aber je entschiedener mit den zunehmenden Jahren die Charakteranlagen sich
ausprägen, um so nöthiger wird es, an der Stelle instinctiver Impulse eine
'lenkende und verbindende Fürsorge walten zu lassen. Es ist nicht einerlei,
welche Schülerinnen sich zu einander hingezogen fühlen. Da Mädchen in diesem
Alter mehr einem allgemeinen Bedürfnisse des freundschaftlichen Anschlusses
folgen, als wirklich individuelle Zuneigungen empfinden, so kann und muss
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man ihre Gefühle auf den passenden Gegenstand zu lenken suchen, solche ein-
ander näher bringen, die sich wolthätig zu ergänzen geeignet sind, und die
so gebildeten kleinen Gruppen dabei mit dem großen Ganzen in lebendiger Be-
rührung erhalten. Ein überschwängliches Gefühl darf nie die Pflichten gegen
andere in den Hintergrand zurückdrängen; der überall schädliche Egoismus ist
auch in dieser Form zu bekämpfen. Nur dadurch lässt sich die Bildung von
Cliquen und Coterien, das Aufkommen kleinlicher Intriguen und gehässiger
Klatschsucht verhüten; nur so kann in der Gesammtheit, zum Glück und Wol
jeder einzelnen , eine Gemeinsamkeit ernster Arbeit und freudigen Strebens
bestehen hleiben.
In den höheren Mädchenschulen, bemerkte ich, ist die Neigung, Cliquen
und Coterien zu bilden, eine höchst auffällige Erscheinung. Es gibt da Cliquen
nach dem Stande, nach den socialen Verhältnissen der Eltern, nach den Con-
fessionen, die einen Verkehr miteinander nur auf das Geschäftliche — möchte
man sagen — beschränken. Sie werden jedenfalls begünstigt und gefördert
durch die Schülerinnen - Kränzchen mit Kuchen, Kaffee, Wein, Tänzchen und
Maskeraden, wie sie jetzt Mode sind und gegen die vor einigen Jahren ein er-
fahrener Schuldirector alle guten Mütter aufrief.
„Wol vergebens ", meinte Fräulein H. „Sie wissen nicht, was alles in
diesen Kränzchen und den anhängenden Cliquen vorkommt. Mädchen, welche
an solchen theilgenommen, sind für eine Anstalt die größte Gefahr; sie sind
nicht selten so in den Grund verdorben, dass wir sie möglichst schnell ent-
fernen müssen."
„Aber ist es nicht traurig, solche Mädchen hinauszustoßen? Bei Ihnen
war vielleicht der einzige Platz, wo sie noch gut werden konnten. M
„Ja, es ist traurig, und nur um die übrigen Zöglinge vor gewissen Ge-
fahren zu schützen, entschließen wir uns zu diesem äußersten Schritte. Aber
eine Erziehungsanstalt ist doch keine Besserungsanstalt."
r Nehmen Sie in solchen Fällen nicht die Hilfe der Eltern, namentlich der
Mütter in Anspruch?" — „Ich thue es leider fast immer ohne den gewünsch-
ten Erfolg. Übrigens haben meine Erfahrungen mich zu dem Grundsatze ge-
führt, von meinen Zöglingen jede Mitwirkung, jeden Einflusa der Eltern fern-
zuhalten. Entweder man vertraut mir die Kinder ganz oder gar nicht."
Von den Müttern kamen wir auf die Erziehung in der Familie, auf die
Kindergärten, ihre Begründer und ersten Apostel, denen Fräulein H. zum Theil
persönlich nahe gestanden, auf die Gegner und die geistlosen mechanisirenden
Epigonen und manches andere. Aber die für mich sehr lehrreiche Unter-
haltung musste abgebrochen werden; denn die Stunde der Prüfung war heran-
gerückt.
In einem hellen Saale des ersten Stockes hatten Herren und Damen aus
der Umgegend Platz genommen. Die Ausstattung des Saales war sehr einfach;
ein Fest schienen nur einige Blumensträuße auf dem Katheder andeuten zu
sollen. Die Mädchen wurden nicht wie eine Compagnie Soldaten in den Saal
geführt. Unbefangen und ungeordnet kamen sie herein, die kleinen und die
großen, schoben die aus dem anstoßenden Saale mitgebrachten Stühle mit ziem-
lichem Geräusche hin und her, bis alle in leidlicher Ordnung bequem sitzen
konnten.
Hier gibt's also weder lange B8nke, noch „wissenschaftlich" ausgektinstelte,
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an die Zwangsstühle in Zucht- und Irrenhäusern erinnernde Bank- und Tisch-
aysteme, in denen zwei oder vier nebeneinander gesteckte Kinder sich wahrend
des allergrößten Theiles ihres Lebens nur vorsichtig rühren und wenden, heben
and setzen können. Also auch deutsche Kinder darf man, wie längst die ame-
rikanischen, ohne Schaden für die körperliche und religiössittliche Erziehung
auf ganz gewöhnlichen, billigen Stühlen während des Unterrichts sitzen lassen.
Allerdings saßen die Mädchen auch nicht wie die Automaten mit zweimal
genau rechtwinklig geknicktem Körper mit aneinander geklemmten Gliedern und
senkrecht aufgesetztem Kopfe. — Nur wenige der größeren Mädchen hatten
zu der Prüfung „Toilette gemacht"; die meisten waren offenbar in den ein-
fachsten Alltagskleidern erschienen. Kein Mädchen hatte es anständig gefunden,
sich mit einem Sattel unter dem Rocke lächerlich zu machen, und keins hatte
mit einem Schnürleibchen eine „Büste" im Geschmack der Schneidergesellen
und Puppenkünstler geformt.
Fräulein H. trat dicht zu den Mädchen, musterte sie aufmerksam durch
die Lorgnette, und die Prüfung begann. Von der eisigen Behringsstraße,
welche Asien und Amerika auseinander hält, ging es mit Fragen und Antworten
über die Ströme und Gebirge der neuen Welt bis zum Meer, dann flugs nach
dem alten Europa und hier in allerlei Kreuz- und Querzügen durch Griechen-
land, Italien, das alte Rom, durch Frankreich, England, die Schweiz, Deutsch-
land. Länder, Städte und Völker, die in den Antworten erschienen, wurden
geschickt zu Anknüpfungspunkten für die Geschichte und Literatur aller Zeiten
benutzt. Die Mädchen gaben mit genauen Zeitzahlen Auskunft über die Tar-
quine und Julius Cäsar, über Perikles und die Paläologen, über Philipp den
Schönen und das Zeitalter Ludwig IV., über die Angelsachsen und Heinrich VIII.,
über Wilhelm Teil und Karl von Burgund, über Dietrich von Bern und die
Gudrun, über die Helden und Heldinnen der Nibelungen, über die Reformatoren
und die Hohenzollern, über Katharina von Medici und Elisabeth von England,
übeT Portia, die Gemahlin des Brntus, und Gertrud, Stauffacher's Gattin. Ein
Vergleich ergab, dass die deutsche Frau in Schiller's „Wilhelm Teil" viel
gröüer erscheine, weit höher stehe, als die römische Frau in Shakespeare's
Drama. Das Gespräch der Gertrud mit Stauffacher wurde von zwei Mädchen
vor getragen, und mit erhobener Stimme, mit feierlichem Nachdruck wiederholte
die Erzieherin die Verse:
„Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten oft'cu.
Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei."
So ging es in freundlicher, niemals stockender Unterhaltung bis nahezu
iya6 Uhr. Niemand war ermüdet, am wenigsten die alte Dame, die keinen
Augenblick gesessen nnd sich nur manchmal auf eines der größeren Mädchen
gestützt hatte.
Das war eine merkwürdige Prüfung. Der systematisch geschulte Päda-
goge, der strenge Unterrichtstechniker hätte vieles an den Fragen und Ant-
worten auszusetzen gehabt; aber das Ganze und der Geist, der es durchwehte,
selbst das Wissen, das in den Antworten der Mädchen zu Tage trat, konnte
jeden befriedigen. Wie die alte Dame die mehr denn 40 Mädchen in der
Weise zu unterrichten und zu erziehen vermag, wie es die Prüfung darthat,
ist mir nicht klar. In einem zwar gedruckten, aber nicht veröffentlichten Pro-
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specte wird gesagt, die Zöglinge müssen den Stoff, welcher in der Lehrstunde
vorgetragen und durch Kreuz- und Querfragen vielseitig beleuchtet worden,
selbstständig verarbeiten und zwar gruppenweise, in einer Gemeinsamkeit der An-
strengung und gegenseitigen Anregnng, wobei die alteren Mädchen als Lehr-
gehilfinnen die jüngeren unterstützen und leiten. Das klingt sehr einfach. Aber
um diese Methode (die übrigens anftällig an Pestalozzis Schule in Stenz
erinnert) vollständig verstehen und würdigen zu können, würde auch der er-
fahrene Pädagoge eine längere Beobachtung nöthig haben.
Zum Schlüsse wurden die hübschen Zeichnungen und Handarbeiten be-
sehen und von den Mädchen einige mehrstimmige Lieder gesungen. Nach einem
guten Imbiss durften die Mädchen tanzen.
Man darf wol annehmen, dass, wenn irgendwo und irgendwann der Er-
folg entscheidet, er über Erziehung und Unterricht das letzte Wort hat. Herren
und Damen, welche die Anstalt durch eigene Kinder und durch Kinder be-
freundeter Familien kannten, waren des uneingeschränkten Lobes voll. Mäd-
chen, so erzählten sie, welche daheim die „wildesten Hummeln" gewesen und
in öffentlichen Schulen und abgeschlossenen Instituten nicht gut gethan, seien
bei Fräulein H. in verhältnismäßig kurzer Zeit fleißig und gesittet geworden.
Die Schwachen würden stark, die Kränklichen gesund. Denn die Erziehung
umfasse hier alles: Empfinden und Denken, Arbeiten und Spielen, Schlafen und
Wachen, Essen und Trinken. Keine „Ordnung" regle das Leben, sondern aus
dem Leben miteinander ergebe sich ungezwungen die Ordnung. Jedes wisse
sich mit allen anderen gleich beachtet und gleich geliebt. Es wurden mir
Eltern genannt, welche der Anstalt drei und vier Töchter zur Erziehung an-
vertraut. Mütter, die vor vielen Jahren hier erzogen worden, hätten auch um
Aufnahme ihrer Töchter gebeten. Mädchen, selbst solche, die schon „reif für
die Gesellschaft*, erbäten von ihren Eltern als schönstes Geschenk die Erlaub-
nis, noch länger in dem abgelegenen Nauenhain bleiben zu dürfen. Auch
wurden Beispiele erzählt, wie Frauen, in die Drangsale des Lebens verschlagen,
mit dem letzten Beste der Hoffnung zu ihrer alten Erzieherin geeilt, um ge-
tröstet und berathen zn werden, und wie sie dann mit frischem Mnth und fester
Zuversicht die harte Arbeit um ein neues Glück begonnen nnd zu Ende ge-
führt haben. Von Menschen, welche die Jugend bilden, kann Hühmenswerteres
nicht gesagt werden.
Ich erzähle nur, was ich gesehen und gehört habe. Ich getraue mir nicht,
von einem Muster zu sprechen; aber auf ein Beispiel möchte ich die Blicke
lenken. Über die Erziehung und Bildung der Mädchen wird gegenwärtig viel
verhandelt. Es will mir scheinen, dass Männer und Frauen, beamtete nnd nn-
l>eamtete, auf ganz neue Gedanken kommen würden, wenn sie auch Anstalten
wie die in N. gründlich kennen zu lernen suchten, wenn sie Erzieherinnen
wie Fräulein H. auch sorgsam beobachten und ihre Erfahrungen und Ansichten
prüfen und mit den Grundsätzen und Vorschriften in „Ordnungen" und „Re-
gulativen" vergleichen wollten. Freilich, mit aller Unbefangenheit müsste es
geschehen, auch wenn es nicht zu vermeiden wäre, einige berühmte Schablonen
und Meister vor dem hier waltenden Geiste eiligst zu verbergen.
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Aus Belgien. [Parteiverhältnisse. Mädchen - Gewerbeschule,
Ecole professionelle in Antwerpen.] Man weiß, dass es außer den vielen
kleinen Parteien hauptsächlich zwei große politische Parteien in Belgien gibt,
die sich bei den Wahlen in die Kammern die Majorität streitig machen: die
katholische und die liberale. Wenn eine der Parteien den Sieg davon trägt,
muss der König derselben entsprechend sein Ministerium wählen; er muss also
bald liberal, bald katholisch sein, je nach dem herrschenden Wind. Man würde
jedoch sehr irren, wenn man hier dem Ausdruck „ katholisch u eine religiöse
Bedeutung unterlegen wollte: er bezeichnet nur eine politische Partei, welche
allerdings hauptsächlich das Interesse der römisch-katholischen Kirche vertritt.
Sie bat den großen Vortheil, dass sie eine durchaus einheitliche Partet ist, d. h.
dass sie einer einzigen Führung untersteht und daher immer genau dieselben
Ziele verfolgt, während die liberale Partei in verschiedene Unterabtheilungen
zerfällt und eine Menge philosophisch-religiöse Verschiedenheiten darstellt, die
sich untereinander befehden und bei den Wahlen oft zersplittern. Diese Un-
einigkeit war der Grund, weshalb im Jahre 1883 die liberale Partei der katho-
lischen unterlag.
Als die liberale Partei noch am Ruder war, hat sie sich besonders be-
müht, dem ganzen Unterrichtswesen eine freiere, humanistische Richtung zu
geben, und da sie das aus Staatsmitteln nicht konnte, hat man allenthalben
Geldsammlungen in Gang gesetzt und daraus einen Schulfonds, den sogenannten
denier des ecoles gegründet. Auf allen Festlichkeiten , sogar bei öffentlichen
Aufzügen, ließ man Sammelbüchsen circuliren und brachte so eine große
Summe zusammen, wovon man liberale Schulen einrichtete. Diese ecoles com-
munales waren aber dem Clerus ein Dorn im Auge, und von allen Kanzeln
ließ er gegen diese duivels schoolen, wie man sie nannte, donnern.
In dieser Zeit entstand in Antwerpen auf Anregung liberaler Männer
eine Schule ganz neuer Art, welche hauptsächlich für die unteren und mittleren
BürgeTclassen bestimmt war, und den Mädchen eine Gelegenheit geben sollte,
sich solche Kenntnisse zu erwerben, mit denen sie, auch ohne zu heiraten, ihr
Fortkommen in der Welt finden könnten, sei es in Ladengeschäften aller Art,
sei es im Telegraphen-, Telephon- oder Postdienst, oder in der Confection,
Die Schule wurde vom denier des ecoles gegründet, und es bildete sich durch
Subscription ein Verein von Herren, in dem sich jeder zur Zahlung einer jähr-
lichen bestimmten Summe verpflichtete ; auch erlangte man eine jährliche Sub-
vention von der Stadt. So erhielt sich die Schule, welche überdies durch
Schulgeldeinnahme ihren Bestand stärkte. Als nun 1883 die Regierung wie-
der in die Hände der Katholiken kam, gingen diese gegen die Communalschulen
vor und vernichteten einen großen Theil derselben, wobei sie die Lehrer anf
ein kleines Wartegeld setzten. Man hätte gerne tabula rasa mit allen liberalen
Schulen gemacht, wenn der König sich nicht widersetzt hätte. Die 6cole pro-
fessionelle entging dem Schicksale der Auflösung, theils weil sie von Privat-
mitteln gegründet und unterhalten war, theils weil der liberale Stadtrath die
Subvention fortbestehen ließ. Die Schule hat sich, dank der vortrefflichen
Leitung und der vernünftigen Einrichtung, sehr gut entwickelt und nach und
nach die Sympathieen des Publicums erworben; die Schülerzahl ist beständig
gewachsen, und man war schon längst genöthigt, die drei unteren Gassen in
Parallelcötus einzutheilen. Die Schule ist eine öffentliche Wolthat, denn sie
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verlangt für den umfangreichen Unterricht nur 15 fcs. Schalgeld pro Trimester
und durch hochherzige Stiftungen sind eine Anzahl Freistellen geschaffen wor-
den, welche an brave arme Mädchen verliehen werden. Die Anstalt hat jetzt
nahe an 300 Schulerinnen in 8 Gassen mit 14 Lehrerinnen und 4 Hilfslehrern.
Die Mädchen sind im Alter von 12 bis 20 Jahren. Die Schule steht unter der
Oberaufsicht des Unterrichtsministers, ferner unter der Aufsicht des städtischen
6chevin de l'instruction publique und eines Verwaltungsraths, dessen Mitglieder
die Schule von Zeit zu Zeit besuchen. Die specielle Leitung liegt in den
Händen einer ersten und einer zweiten Directorin, welche beide mit gewissen-
hafter Strenge die Ordnung und Disciplin handhaben und selbst in den Zwi-
schen- und Erholungsstunden keinerlei Ausgelassenheit aufkommen lassen. Auch
in den Classen wird die Disciplin durch Classenlehrerinnen vortrefflich erhalten.
Die Unterrichtssprache ist Französisch und Flämisch.
Dreimal im Jahre werden allgemeine Compositionen in den Classen ab-
gehalten, die erste vor Weihnachten, die zweite vor Ostern und die dritte vor
dem Schlüsse des Schuljahres, im Juli. Die Resultate dieser Compositionen
werden dann von den Lehrerinnen der Directorin in Gestalt einer Ziffer fiber-
geben, welche die Anzahl der Punkte bedeutet, die jede Schülerin in jedem
Fach erhalten hat. Aus diesen Angaben stellt nun die Directorin die Berech-
nung der Punkte zusammen, welche das Gesammtresultat der Leistung einer
jeden Schülerin ergeben. So weiß man dann mathematisch genau, welche
Schülerinnen in jedem Fach die besten sind und bei der Preisvertheilung den
ersten Preis bekommen. Außerdem erhalten die Schülerinnen des V. Jahrgangs,
welche die Schule verlassen sollen, ein Diplom ausgehändigt, welches vom Ver-
waltungsrath und dem Oberbürgermeister unterschrieben und gesiegelt ist, und
mit welchem es der Schülerin leicht wird, eine Stellung zu bekommen.
Nun noch ein Wort von der öffentlichen allgemeinen Ausstellung von
Handarbeiten der Schülerinnen, welche ara Schlüsse des Jahres, Anfang August,
in den Räumen der Schule veranstaltet wird. Sie ist sehr besucht und auch
sehr interessant. Da findet man im Zeichensaal die Resultate des Zeichnens
und Malens auf Papier, Porzellan, Holz und Seide, in dem Confectionssaai die
Zeichnungen von Schnittmustern aller Bekleidungsstücke, eine reiche Samm-
lung von Weißnäherei und Stickerei, Stickereien in Wolle und Seide, neu
angefertigte Bekleidungsstücke aller Art bis zum Damenmantel und zur Damen-
robe. In einem andern Saal gibt es eine reiche Auswahl künstlicher Blumen
in den mannigfachsten Combinationen, und man sollte es kaum glauben, dass
diese wunderschönen Sachen nur von den Händen der Schülerinnen herstammen.
Die Namen der Arbeiterinnen sind jedem Artikel angeheftet.
Den Schluss des Schuljahres bildet die öffentliche Preisvertheilung in dem
prachtvollen, mit den Porträts aller Künstler vergangener Zeiten und mit Bil-
dern lebender Künstler geschmückten Saale des cercle artistique. Da ver-
sammeln sich die Lehrerinnen und Schülerinnen der Anstalt, der Oberbürger-
meister, der Unterrichtsschöffe (Echevin), der Verwaltungsrath, an dessen Spitze
der bekannte Advocat Delvaux steht, und der ganze Saal ist von Eltern und
Freunden der Schülerinnen besetzt. Eingeleitet wird der Act durch Gtesang mit
Flügelbegleitung, Reden des Oberbürgermeisters und der andern Herren. Daun
schreitet man zur Preisvertheilung selbst. Die Directorin liest die Namen der
Prämürten einzeln laut vor, welche dann hervortreten und ihre Preise aus den
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Händen des Bürgermeisters oder der andern Herren empfangen. Die Preise
sind hübsche Bächer, welche aaf einem Tische liegen und das Ange durch
ihre rothen, grünen, blauen goldgepressten Einbände erfreuen. Dann richten
die Herren an die Schülerinnen ermunternde und belobende Worte und tauschen
Handschlag mit denselben. Nachdem auf diese Weise alle Preise vertheilt
sind und alles wieder auf seinen Plätzen sitzt, schließt ein Festgesang die
schöne Feier.
Es bleibt noch übrig, in kurzem eine Übersicht über die Classen und die
Yertheilung der Lehrfächer zu geben.
I*rc annee d'e'tndes (A u. B).
Flämisch, Französisch, Rechnen, Geographie, Geschichte von Belgien,
Xaturlehre, Geometrie, Zeichnen und Handarbeiten, Singen.
II*m* annäe d'etudes (A u. B).
Flämisch, Französisch, theoret. Rechnen, Naturlehre, Geographie und Ge-
schichte, Zeichnen, Geometrie, Handarbeiten, Singen.
IJI*me ann6e d'etudes (A u. B).
Flämisch, Französisch, Englisch oder Deutsch, allgemeine Geschichte, Geo-
graphie, Handelsrechnen, Geometrie und Projection, Physik, Kalligraphie, Hand-
arbeiten, Blumenmachen, Confection, Singen.
IV*»e ann$e d'etudes.
Flämisch, Französisch, Englisch oder Deutsch, Geographie, Handels-
geographie, Handel8\vis8eu8chaft, Physik, Wirtschaftslehre, Buchführung mit
Rechneu, Zeichnen nach Gips und Modellen, Gesundheitslehre, Perspective,
Confection, Leinennähen, Singen.
V*,uo annee d'etudes.
Flämisch, Französisch, Englisch oder Deutsch, Handelsgeographie, Physik,
Chemie, Zeichnen nach Modellen, Gesundheitslehre, Wirtschaftslehre, Handels-
gesetz, »Singen, feine Stickerei, Robenconfection, Leinwandnähen, künstliche
Blumen.
Man sieht, dass der Religionsunterricht keine Stelle im Plane hat, eben-
sowenig ein allgemeiner Sittenlehre-Unterricht. Letzterer wäre sehr angebracht,
aber das Fach ist nicht bearbeitet, und es sind keine Lehrer dafür da.
Der ausgezeichnete Pädagoge Herr Theodor Schütz, den Lesern des
Pädagogiums seit langen Jahren wolbekannt, eröffnet zu Ostern ein Lyceutn
für Haushaltung und weitere Ausbildung junger Mädchen in Sinzig an der
Ahr, Rheinprovinz. Wir sehen dem Wirken dieses Instituts mit großem Ver-
trauen und den besten Erwartungen entgegen. Interessenten erhalten nähere
Auskunft von Herrn Tb. Schütz, Eigenthümer und Director der Anstalt. Die-
selbe ist sehr günstig gelegen zwischen Remagen und Sinzig im Rhein- und
Ahrthale.
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Aus der Fachpresse.
527. Die philanthropisch-pädagogischen Bestrebungen der
Gegenwart (Fr. Reuß, Rep. d. Päd. 1891, VI— VIII). „An den von den
Menschenfreunden and Cosmopoliten aufgestellten Erziehungsgrundsätzen, so-
wie an ihren humanen Ideen überhaupt hat nun schon ein ganzes Jahrhundert
gezehrt, und die deutsche Erziehungswissenschaft und Praxis werden noch
lange daran zehren. Ist das nicht ein vollgültiger Beweis für die Vor-
trefflich keit , für den classischen Wert der philanthropischen Ideen und
Grundsätze?" Diese hat R. zusammengestellt, mit den nöthigen Quellennach-
weisen, und alsdann die ähnlichen Bestrebungen der Gegenwart (gewisser-
maßen als Fortsetzungen jener) skizzirt, unter Berufung auf bezeichnende
Äußerungen in der zeitgenössischen Literatur. — Eine dankenswerte Arbeit.
528. Über die Bedeutung der Mutter für die Menschen-
bildung nach E. M. Arndt (A. Schultz, Rep. d. Päd. 1892, V). Aus
Arndts Lernsätzen: „Die Mutter steht im Vordergrund in der Kindheit, tritt
im Knabenalter gegen den Vater zurück, und wird von der Liebe des Jüng-
lings wieder aufgesucht als Urborn alles Seins." „Die Mutterliebe und die
Natur erziehen das Kind." („O heiliges Weib, wenn du beide hast und be-
wahrst!") „Die Nichtzerstörung des einfältigen Naturverfahrens heißt
Menschenbildung im höchsten Sinn. Die Grundsünde aber ist: Was Natnr
begann, nicht zu vollenden." „Alle Erziehung und Bildung des jungen
Menschen soll so gehen, dass er als ein schöner Ton anschlage in dem all-
gemeinen Accord der Naturmysterien, dass alles Süßeste und Geheimste seiner
Natur bewahrt und gepflegt werde für die heiligsten Genüsse und Verständ-
nisse." (Siehe Arndt, Fragmente der Menschenbildung, 2 Bde., Altona 1805.)
529. Der Volksschullehrerstand im Spiegel der Mitwelt (H.
Trunk, Allg. deutsche Lehrerztg. 1891, 40—42). Was in verschiedenen
Kreisen (auch unter den Lehrern selbst) über die Lehrer geurtheilt wird —
woher die vielen Aussetzungen (hauptsächlich die Gründe und Anlässe für die
Geringschätzung des Standes, darunter die vielfach verfehlte Vorbildung, die
„trostlose Carriere" — die Verleihung niedriger „Orden" [an Stelle sehnlich
gewünschter höherer!]) — Mittel zur Besserung. — Im ganzen nur eine ge-
schickte Znsammenstellung dessen, was in fast allen Fachblättern schon oft
(theilweise zu oft) gesagt worden. (Trotzdem hat der Aufsatz in der be-
kannten jährlichen Preisbewerbung der A. d. L. den ersten Preis erhalten —
deshalb erwähnen wir ihn hier.)
530. Wo stehen wir? (R. Seyfert, Deutsche Schulpr. 1892, 1 — 3).
Eine kritische Abrechnung, in welcher wir bei dem Posten „deutscher Unter-
richt" die Aufforderung zur Nachfolge Rud. Hildebrands (eine warme und
nachdrückliche Empfehlung seines Grundbuches) vermissen. — Verf. bezeichnet
als „allerwichtigste" Aufgabe der zukünftigen „pädagogischen Forschung":
„die Errichtung pädagogischer Beobachtungsstationen, die nach festgesetzter
Methode pädagogische Thatsachen, Erscheinungen, Probleme sammeln; dann
würden an einer Centralstelle diese Beobachtungen zu sichten und zu ver-
arbeiten sein. Die Ergebnisse dieser Verarbeitung würden Beiträge zur Ge-
winnung einer Pädagogik als Wissenschaft sein."
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531. Über pädagogische Discussionen und die Bedingungen,
unter denen sie nützen können (B. Männel, Deutsche Blätter 1891,
50—52). Als „ Bedingungen" der „Nützlichkeit" setzt Verf. fest: a) es ist
zu vermeiden ein Vermischen und Hineinziehen politischer Theorien und
Strömungen in die Pädagogik; b) die Tagesordnung enthalte nur zur Sache
Gehöriges; c) man kämpfe gegen Partei - Terrorismus und ein ärmliches Nach-
äffen eines politischen Parlamentarismus; d) es werde ein vom Vertrauen des
Gesammtvereins getragener Obmann der Leiter der Verhandlungen; e) man
einige sich in gewissen Principien; f) die Vereinsentwicklung sei eine ans dem
Kleinen herauswachsende; g) man halte sich an eine aus freiem Interesse an-
genommene Vereinszucht; h) es ist zu denken an eine der wachsenden Er-
kenntnis jedes Vereinsmitglieds entsprechende Vereinserziehung; i) man be-
schränke sich in der Auffassung des Begriffes ,. pädagogische Erfahrung".
532. Aufgaben unserer Fachpresse (Zeitschr. f. d. deutsch. Unterr.
1891, XII). In der Einleitung zu einein Bericht über den „deutschen Unter-
richt in der pädagogischen Presse des Jahres 1890" werden drei Aufgaben
bezeichnet, zu deren Lösung „unsere Wochen- und Monatsschriften ausdrück-
lich berufen und verpflichtet" sind: gute neue Gedanken über Ziele, Mittel, .
Wege („Fortschritte") bekannt zu geben — wiederholt mustergültige Ver-
arbeitungen der „Erfindungen und Entdeckungen" („solange sie noch nicht
Gemeingut geworden") zu bringen und dafür zu sorgen, „dass letztere in vor-
zügliche Gesammtdarstellungen derjenigen Gebiete, welchen sie angehören oder
für die sie fruchtbar zu machen sind, eingereiht werden" — ernsthafte
(schöpferisch wirkende, neue Ausblicke eröffnende, Verhülltes oder Ver-
borgenes ans Licht ziehende, zum Fortschritt antreibende) Kritik immer mehr
zo Worte kommen zu lassen.
533. Was soll der Lehrer lesen? (Schw. Lehrerztg. 1892, 1).
„Wer dem jungen, unerfahrenen Lehrer eine gewissenhafte und sachkundige
Wegleitung für den Ankauf geeigneter Bücher gibt, erweist ihm zweifelsohne
eine Wolthat, die ideellen und materiellen Gewinn bringt." Ein Versuch ist
durch eine von der Erziehnngsdirection des Cantcns Bern eingesetzte
Commission bereits gemacht worden. Verf. wünscht, dass der „Central-
ausschuss des schweizerischen Lehrervereins die Bildung einer intei'cantonalen
Commission veranlasse, die mit Geldbeiträgen von Bund und Cantonen auf
dem Boden der vorliegenden (Berner) Grundlage weiter zu bauen hätte."
534. Die Erziehung des Kindes zum „Patriotismus" (Päd. Ref.
1891, 49). „Gedanken eines Ketzers." — „Ist der Wahlspruch (Mit Gott
für König und Vaterland) als kriegerische Devise für die Kindererziehnng un-
brauchbar, wie ist es da mit der übertragenen Bedeutung derselben, der Liebe
zum „angestammten" Herrscherhause und zum regierenden Fürsten, der Liebe
zum Vaterlande?" „Der ethische Maßstab allein muss es sein, der für die
Auswahl ethischer Mustercharaktere, der urtheilslosen Kinderseele zum Bei-
spiel und zur Stütze bestimmt, die Bedingungen setzt." „Die Forderung, die
Kinder sollen das Vaterland lieben lernen, ist gleichwertig mit dem Gebote:
Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben — ebenso überflüssig wie dieses.
Kinder lieben nur die, von denen sie geliebt werden": deshalb u. 8. w. „Men-
schen, die das Vaterland geistig und körperlich verkommen lässt. sollen sich
für dieses Vaterland begeistern?"
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535. Kinderdichter (L. Göhrmg, Prakt. Schulmann 1891, II). „Über
nichts hat uns unsere Schulweisheit — Ästhetik und Pädagogik — so sehr
im unklaren gelassen, als Uber das Wesen der Kinderdichtung, und nur die
unverantwortliche Sorglosigkeit, womit man dergleichen Dinge von jeher ab-
zuthun gewohnt ist, könnte unsere Unwissenheit entschuldigen, wenn Leicht»
sinn ein Entschnldigungsgrand wäre. Wir betrachten nach altem Herkommen
Kindergedichte als eine Gattung der Poesie, die eigens — für Kinder passf.
sind aber trotz dieser unendlich geistreichen Definition außer Stand anzugeben,
worin dieses Passende eigentlich besteht." (Oberste Richterin auch über die
Kinderdichtung ist die Ästhetik.)
Demnächst wird im Verlag von R. Oldenbourg-München der von Pro-
fessor Dr. Karl Vollmöller herausgegebene „Kritische Jahresbericht
über die Fortschritte der romanischen Philologie" erscheinen. Der-
selbe wird auch Berichte über den Unterrichtsbetrieb romanischer Sprachen
an den Hoch- und Mittelschulen germanischer Länder, vornehmlich Deutsch-
lands und Österreichs, bringen. Leiter dieser Abtheilung ist Professor
Dr. Wilhelm Scheffler-Dresden.
Um in deu Volksschulen die Schiefertafel durch ein besseres Lern-
mittel zu ersetzen und die ersten Schreibübungen sogleich mit Tinte leicht
ausführbar zu machen, hat Herr Oberlehrer Eduard Schwalb in Groß-
siehdichfur bei Marienbad (Böhmen) eine Schreibtafel sammt Utensilien
hergestellt, worauf wir Elementarlehrer mit dem Bemerken aufmerksam
machen, dass die Probe, welche wir mit dem neuen Apparat vorgenommen
haben , denselben als der Beachtung und Prüfung sehr wert erscheinen
lässt. Wer die Schwierigkeiten des Elementarunterrichts kennt, wird sich
gern mit einem Behelfe zur Erleichterung desselben bekannt machen.
Nachtrag zur Tagesgeschichte. Am 24. März wurde Graf Zedlitz,
der Urheber des neuesten preußischen Schulgesetz-Entwurfes, seines Minister-
postens enthoben. An seine Stelle trat ein Herr Dr. Bosse (Jurist), der all-
gemein als „orthodox und conservativ" bezeichnet wird. Auch der Reichs-
kanzler Graf Caprivi, welcher sich mit aller Kraft für den Zedlitz'schen Ent-
wurf eingesetzt hatte, legte das Amt eines preußischen Ministerpräsidenten
nieder und wurde in dieser Stellung durch Graf Botho Eulenburg ersetzt.
Letzterer erklärte am 28. März im preußischen Abgeordnetenhause, dass die
Regierung auf die weitere Berathung des neuen Schulgesetz-Entwurfes ver-
zichte. Derselbe ist also abgethan. Diese Vorgänge haben bei den reaktio-
nären Parteien große Verstimmung, bei den fortschrittlichen Befriedigung
erzeugt. Doch geben sich die letzteren keinen ilberschwänglichen Hoffnungen
hin. Einer unserer preußischen Correspondenten schreibt uns: „Es ist viel
gewonnen, aber zum Fröhlichsein haben wir noch keine Veranlassung. u Ein
anderer meint bezüglich des neuen Unterrichtsministers: „Er wird etwas
vorsichtiger sein als der vorige, aber sonst die alten Wege wandeln.'4
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Rezensionen.
1. Nibelungen and Kadrun in Auswahl, mhd. Text, 2. Leesing' 8 Philotas
und die Poesie des siebenjährigen Krieges. 3. Lessing' 8 Minna von
Barnhelm. 4. Lessing's Nathan. 5. Bader, römische Geschichte.
6. Kauffmann, deutsche Mythologie. 7. Lyon, deutsche Grammatik.
Preis jedes Bändchens in Leinwandband 80 Pf. Göschen, Stuttgart.
Um den genannten äußerst billigen Preis bietet die Göschcn'sche Samm-
lung coinmentirte Ausgaben classischer Werke oder Einführungen in bestimmte
Wissensgebiete (6—7), deutlich gedruckt (also nicht in der Art der Reclam-
oder Meyer-Ausgaben) und elegant gebunden. Besonders das zweite der Bänd-
chen wird den Beifall der Lehrerwelt finden, denn der Gedanke an ein Haupt-
werk die gleichzeitige Literatur, die sich mit demselben Thema beschäftigte,
anzureihen, ist so gut und glücklich, dass ihn die Schule sich nicht entgehen
lassen sollte und verdiente Nachahmung. — Unter den Bändchen 5—7 geben
wir Nr. 6 den Vorzug. Kauflfmann behandelt darin ein schwieriges Capitcl,
reich an Unsicherheiten und Hypothesen und wenig geeignet für eine plastische
Darstellung, mit großem Takt und unleugbarem Geschick für Jugendschrift-
stellerci. — r.
Goethe' s Faust, erläutert von L. W. Hasper. Gotha, Perthes.
Die vorliegende Faustausgabe ist der 10. Band der Kcck'schen Schul-
ausgaben der classischen deutschen Dichtungen. Sie umfasst eine Einleitung,
den Abdruck des Textes mit einer fortlaufenden Erklärung in Fussnoten und
einen Anhang, der einige Capitcl des eingehenderen bespricht (z. B.: die Mütter,
Homuncolus, Euphorion) , deren Erörterung, etwa unter den Text gesetzt, dort
zu viel Baum eingenommen hätte. Die Einleitung, schlicht und verständlich,
erwähnt zuerst der allmählichen Entstehung des Faust, die hineingearbeiteten
Ideen und Probleme und erzählt demgemäß den Inhalt und Gedankengang,
die Brücke zwischen dem ersten und zweiten Theile und manchen der Scenen
dieses Theiles aufdeckend, so gut das nach dem Stande der Faustforschung
eben geht. — Die Anmerkungen sind knapp gehalten und die Ergebnisse der
Faust-Literatur verwertet — r.
Lyon, Auswahl deutscher Gedichte. Bielefeld und Leipzig, Velhagen
' & Klasing. (504 Seiten.)
Neben dem sogenannten „eisernen1* Bestand unserer deutschon Lesebücher
enthält die Auswahl Lyon's anch Gedichte moderner Poeten, wie z. B. Gott-
fried Kellers, Martin Greif s, Ernst Wildenbruch s u. a. Den Hauptstamm
bilden aber doch Goethe, Schiller, Unland. Im Ganzen sind 95 DichteT ver-
treten, deren Gedichten sich 10 Volkslieder anschließen. Die Dichterwerden
in alphabetischer Reihenfolge vorgeführt; zurückgegangen ist bei der Auswahl
bis auf Logau: Dialectdichtcr wie Klaus Groth, Hebel, Holtei, Kobell, Reuter,
Stieler sind natürlich nicht ausgeschlossen, Den Gedichten ist jedesmal eine
kurze Lebensskizze ihres Verfassers vorausgeschickt. Das Buch, schön aus-
gestattet, eignet sich gut zu einem Festgeschenk. W.
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— 470 —
Cassian- Richter, Lehrbach der allgemeinen Geographie für höhere
Lehranstalten. 7. Aufl. Frankfurt a. II. 1891, Jäger.
Das vorliegende Lehrbuch enthält in seinem weitaus größeren Theil die
„Länderkunde" {— S. 382) und auf ca. 100 Seiten einen Abriss der mathe-
matischen und physikalischen Geographie, den Seminarlehrcr Geisel für die
7. Auflage überarbeitet hat. Zwei Dinge, um dies gleich vornweg zu nehmen,
wünschte man andere: die Kartenskizzen mit ihrer eigentümlichen Terrain-
darstellung, ihrer Häufung von Zeichen und Namen und der daraus folgenden
Unübersichtlichkeit. Die Kartenskizze soll ja nicht einen Atlas ersetzen, sondern
hat ganz andere Zwecke als dieser. Das zweite, was das Studium des Buches
erschweren wird, ist die Art des Druckes, die Zeilen sind zu eng aneinander
gerückt; das Ganze sieht zu unruhig aus. — Da das Buch für höhere Lehr-
anstalten geschrieben ist, bietet es auch viel, ja sehr viel Stoff; manches Capitel
wird wol auch nur für die „Lectürc" bestimmt sein, nicht zum „Lernen", wie
der Schulausdruck lautet. Sieht man noch von einigen Druckfehlern ab, so
bleibt an dem Buche alles andere zu loben: die Sorgfalt, die der Herausgeber
der Richtigstellung der Daten gewidmet hat, die Behandlung der physischen
Verhältnisse Europas nach Gruppen, die Bo tonung der Laufrichtung der Flosse
zum Zwecke des Zeichnens, die eingestreuten Aufgaben, die eine Durchdringung
des Gelernten bezwecken, die Art, wie das stark herangezogene statistische
Material verwertet ist, und endlich, dass dem vergleichenden Moment überall
Rechnung getragen und der causale Zusammenhang stets betont wird. W.
Renneberg, Grundriss der Erdkunde. 2. Aufl. Leipzig, Meraeburger.
Preis 80 Pf.
Das Ausmaß des Lehrstoffes ist durch den Lehrplan der in dem ausführ-
lichen Titel des Buches genannten Schulen bestimmt. Die Übersichtlichkeit
wird durch die Stellung der Namen auf der rechten und linken Seite, ent-
sprechend der Lage der durch sie bezeichneten Objecte und durch Gliederung
des Stoffes nach einem Dispositionsschema etc. erleichtert, bei" fremden Namen
ist auch deren Aussprache angedeutet. Beachtenswert sind die am Schlüsse
der Capitel eingefügten Fragen, die in elementarer Weise den Schüler zu Ver-
gleichen, neuer Reihenbildung, kurz zu einer instruetiven Behandlung anleiten.
Insbesondere wird eine genaue Einprägung der Lage eines Ortes, also eine
intensive Beschäftigung mit der Karte durch diese Fragen angestrebt, ein
Zweck, der ja nur zu loben ist. \V.
Gelhorn, Wörterbuch zur Erläuterung schulgeographischer Namen. Pader-
born, SchöningU. Preis 1 M. 20 Pf.
Ähnlich wie Coordes in seinem „schulgeographischen Namenbuch" bat
auch Gelhorn nur eine Anzahl geographischer Namen zur Erläuterung aus-
gewählt. Während aber Coordes blos die Übersetzung des Namens überliefert
mit Angabe der Sprache, aus der der Name stammt oder hergeleitet wird,
geht Gelhorn weiter. Er führt auch die Form des Wortes in der Sprache,
aus der es entlehnt wurde, an, ferner die Formen, die es durchlaufen hat, bis
es unsere heute übliche erhalten. Auch ist vielfach eine Erklärung beigefügt,
warum dem Objecte gerade dieser Name gegeben wurde. Recht lehrreich sind
auch die an einzelne Namen geknüpften Hinweise auf Verwandtes; so wenig
auf den ersten Blick die Verwandtschaft in die Augen springt, sie ist doch
vorhanden, und diese erkannt oder erfahren zu haben, interessirt die Schüler
sehr und belebt, wie ja die Ortserklärung überhaupt, den geographischen
Unterricht. Dass viele Deutungen der Wahrheit nur nahekommen, manche
nur wahrscheinlich sind, einige bloße Vermuthungen, ja vielleicht gelehrte
Spielerei, weiß jeder, der Namenserklärungen in den verschiedenen Werken
geleseu und miteinander verglichen hat. Das wird man aber Gclhorn zu-
gestehen müssen, dass er lieber einen Namen unerklärt gelassen, als eine
wissenschaftlich weniger begründete Deutung aufgenommen hat. Auch in
dieser Hinsicht ist ein Vergleich mit Coordes nicht uninteressant. Nicht wenige
Namen finden dort und hier eine ganz verschiedene Deutung (vergl. z. B„ um
nur ein Beispiel zu nennen: Abruzzen"). — r.
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— 471 —
Haselmayer, ÜberOrtsnamenkande. Würzbarg, Kellerer (Bauer).
In dieser Broschüre spricht rieh der Verfasser im Anschluss an das be-
kannte Egli'sche Werk über die Entwicklung der wissenschaftlichen Namen-
forschung und Namencrklärung und deren Grundsatze auB, ferner Uber den
Wert der Ortsnamenerklärung für den geographischen Unterricht. Heine De-
zumeist aus der deutschen Ortsnamenkunde und bereichert die Namenforschung
durch zwei neue Erklärungen der Ortsnamen Hammelburg und Pfraumbach.
Nabert. Karte der Verbreitung der Deutschen in Europa. 8 Sectionen.
(Format jeder Section: ein Quadrat mit 80 Ceutimeter Seitenfläche, Preis
3 Mark.) Glogau, Flemming.
Die Karte, im Mafistab 1 : 926000, umfasst ein Rechteck, das durch die
Punkte Paris — Asow, Karlskrona — Rimini bezeichnet wird. Vorläufig sind
zwei Sectionen im Buchhandel erschienen, das obere linke Viertel der Karte
oder Norddeutschland und die anstoßenden Gebiete Frankreichs , _ Belgiens,
Hollands, Dänemarks, Russlands (Ostseeprovinzen und Polens) und Österreichs
(Nordböhmens). Die Karte deutet die jetzige Verbreitung der Deutschen in
den genannten Gegenden an, bezeichnet zugleich aber auch — insofern illustrirt
sie ein Stück deutscher Geschichte — jene Gebiete, die dem Deutscbthura seit
der Reformationszeit verloren gegangen sind. Es geschieht dies dadurch, dass
die verloren gegangenen Orte mit brauner Schrift oder Schraffen gedruckt
sind. Die jetzige Verbreitung ist durch Flächencolorirung ausgezeichnet, und
zwar ist für das deutsche Sprachgebiet die gelbe Farbe (Niederdeutsche licht-
gelb, Oberdeutsche dunkelgelb, Niederländer blassgelb) gewählt, von der die
Farbentöne deT romanischen und slavischen Sprachgegenden recht scharf sich
abheben. Im ganzen enthält die Karte 20 Farbenstufen; was sich dadurch
erklärt, dass sie ja zugleich eine ethnographische Karte des größten Teiles
von Europa werden wird. Dadurch, dass sich diese Töne zu drei oder vier
Grundfarben zusammenschließen, ist die Übersichtlichkeit und der harmonische
Eindruck gewahrt. Die Grenzen des Sprachgebietes sind nicht blos durch
Farben und Linien, sondern auch durch die Namen der Orte markirt, die
hüben und drüben knapp an der Scheidelinie liegen; so sind auch die deutschen
Enclaven im fremden Sprachgebiet bezeichnet. Die Karte, ein Werk deutschen
Fleißes und deutscher Gründlichkeit, ist, wie die zwei Sectionen darthun, sehr
genau gearbeitet und verdient um dessentwillen sowie wegen des Gegenstandes
die allerweiteßte Verbreitung. W.
Andrer -Schillmann, Schulatlas. 37. Aufl. Ausgabe A. Bielefeld und
Leipzig, Velhagen & Klasing. Preis 1 M.
Der Andree-Schillinann'sche Schulatlas ist für die Volksschule das, was
der von Kirchhoff - Kropatscbek für die höheren Schulen : Klarheit der Zeich-
nung, gutgewählte Farbentöne, geschickte General isirung des Terrains und
zweckentsprechende Auswahl der Objeete machen ihn zu einem höchst brauch-
baren Hilfsmittel, durch das der Schüler sich die physischen und topographischen
Verhältnisse eines Landes mit Leichtigkeit einprägen kann. Jede der Karten
ist, von diesem Standpunkte betrachtet, eine Musterleistung, der man — ich
glaube es behaupten zu können — keinen anderen Volksschulatlas an die
Seite stellen kann. Die Blätter 1 und 2 mit Test am Schlüsse („Einführung
in das Kartenverständnis") und 6 (Stromgebiete Deutschlands) sind wegen ihres
methodischen Wertes hervorzuheben; die letzten Blätter (32, 33 und Ortskarte
zur Geschichte Deutschlands) sind bestimmt, dem Geschichtsunterrichte der
Volksschule zu dienen. W.
KeiMliecke, Deutscher Schul atlas. 36. Aufl. Gera, Hofmann. Preis 1 M.
Der vorliegende Schulatlas legt den Hauptaccent auf die physische Karte,
enthält aber, um sich leicht dem Gedächtnis einzuprägen, zu viel Namen und
eine nicht weit genug gehende (jeneralisirung des Terrains. Der Andrce-
— r.
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— 472 —
Schillmann'sche ist ihm darin weit überlegen. Eigentümlich sind ihm zu
seinem Vortheile die Karten zur Culturgeographie Deutsehlands (9), die Karte
der mittleren Jahrestemperatur und die geologische Überrichtskarte von
Deutschland. Die Farbentöne der Karten sind zu grell, insbesondere das Grün
der Tiefebenen, desgleichen stört, das» in der Gebirgsfarbenscala einige Stufen
fehlen; die Folge ist, dass z. B. die Schweiz, die Alpen zu wenig plastisch
heraustreten. Nach dieser Richtung wäre eine Verbesserung wünschenswert.
W.
(taebler, Systematischer Schul-Handatlas. 3. Aufl. Leipzig, Lang. 90 Pf.
Der Schulatlas von Gacbler ist wie der von Andree - Schillmann für die
Volksschule bestimmt, bringt aber mehr Stoff und nach Art des „großen
Gaebler-Dierke" auch Nebenkarten, die am Rande der Hauptkarte angebracht
besonders merkwürdige Punkte (z.B. Städte, Passe und Gebirgsstöcke, Seen, Inseln,
Buchten u. s. w.) in einem bedeutend größeren Maßstäbe als die Hauptkarte
zur Anschauung bringen. Mit Ausnahme einiger Blätter, die die physischen
Verhältnisse* gesondert darstellen, sind die meisten Karten so, dass sie die
politischen und physischen Karten vereint vorführen, und zwar die politischen
durch Fläcbencolorirung. Auch legt Giebler großen Wert auf die Einzeichnung
der Communicationswege zu Lande wie zur See; er benützt zu diesem Zwecke
feine rothe Linien. Da die Gebirgszeichnung auf den meisten (politischen)
Karten durch schwarze Schraffen angedeutet ist, treten die Terrainverhältnisse
nicht so scharf, so plastisch hervor, wie etwa bei Andree. Ein Vorzug des
Gaebler'sehen Atlas liegt darin, dass ihm 5 Wandkarten in übereinstimmender
Zeichnung mit dem Atlas zur Seite stehen. W.
Kleine Naturlehre für Schulen. Ein Übungs- und Wiederholungsbüchlein
für die Hand der Schüler, bearbeitet von Konrad Fnß. Mit vielen Beob-
achtungs- und Übungsaufgaben und zahlreichen in den Text gedruckten Ab-
bildungen. Nürnberg 1892, Verlag der Friedr. Korn'schen Buchhandlung.
IV nnd 66 Seiten. Preis 50 Pf.
Eine kleine Physik für Volksschulen darf nur das Wichtigste und
leicht Verständliche bieten. Der Verfasser hat eine gute Auswahl getroffen.
Er geht stets von Beobachtungen aus, die der Schüler leicht machen kann,
fügt daran Erklärungen, bei Gesetzen auch kurze und leicht verständliche
Begründungen und schließt mit einem ziemlich reichen Übungsstoffe. An die
verschiedenen Partien der Physik reiht er auch noch „einige der Chemie an-
gehörige Erscheinungen", die fürs praktische Leben von Wichtigkeit sind.
Im einzelnen haben wir keine Unrichtigkeiten bemerkt und uns nur gewundert,
warum das Barometer, das schon am richtigen Platze, beim Luftdrucke, abge-
handelt ist, bei der Wärmelehre nochmals als Wetterglas auftritt; einige
Worte über das in der Neuzeit so wichtige Telephon hätten wol eingeschaltet
werden können. — Außer durch seinen präcisen Inhalt empfiehlt sich das
Büchlein auch durch seine sehr nette Ausstattung. C. R. R.
Schul -Naturgeschichte. Abtheilung Zoologie. Einzelbeschreibungen,
Vergleichungen, Gruppenbilder, Bau, Leben und Übersicht der Thiere. Von
A. Sprockhof f, königlichem Seminarlehrer in Berlin. Vierte verbesserte
Auflage. Mit vielen Fragen und 100 Abbildungen. Hannover 1891, Verlag
von Carl Meyer (Gustav Prior). 192 Seiten. Preis 1 M. 60 Pf., kart.
1 M. 80 Pf.
Wir hatten schon öfter Gelegenheit, Sprockhofs Lehrbücher anerkennend
zu besprechen, und auch dieser neuen Auflage zollen wir Beifall. In con-
centrischen Kreisen mit den Einzelwesen, als Repräsentanten der verschiedenen
systematischen Einheiten beginnend, geht der Verfasser allmählich auf Ver-
gleichungen und Gruppenbilder Über, ein methodischer Vorgang, der für die
Unterstufe der Naturgeschichte der allein richtige ist. Die Beschreibungen
sind präcis, klar und leichtverständlich. Mit der systematischen Anordnung
in den Gruppenbildern ließe sich etwas rechten, da neuere Einteilungen und
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— 473 —
Anordnungen nicht berücksichtigt sind; so z. B. Ein-, Zwei-, Vielhufer, statt
Paar- nnd Unpaarhufer; ferner dass die unvollkommenen Säugethiere (Beutel-
tiere, Zahnarme und Schnabelthiere) unter den anderen Ordnungen eingestreut
erscheinen; doch hat dies für die Volksschule keine wesentliche Bedeutung.
Die Ausstattung, insbesondere die Abbildungen sind lobenswert. C. R. R.
Die vorzüglichsten essbaren Pilze Deutschlands, gezeichnet and be-
schrieben von Max Richter. Langensalza 1891, Drnck nnd Verlag von
Hermann Beyer & Söhne. 26 Seiten nnd 8 Farbendrucktafeln. Preis gebunden
1 M. 50 Pf.
Ein Hilfsbuch für den Sammler und den Zubereiter von Schwammgerichten,
enthält dasselbe kurze, aber ausreichende Beschreibungen der gewöhnlichsten
genießbaren Schwämme, unter welchen wir aber doch einige nicht angegeben
finden. Die Abbildungen sind nur theilweisc gut zu nennen, da die Zeich-
nungen mitunter zu steif, die Farben nicht ganz natürlich erscheinen; gerade
darauf sollte aber bei einem illustrirten Pikwerke das Hauptgewicht gelegt
werden, was nicht schwer ist, da ausgezeichnete Bilder in anderen Werken
enthalten sind. 0. R. R.
Lehrbuch der reinen und technischen Chemie. Anorganische
Experimentalchemie. I.Band. Die Metalloide. Mit 2208 Erklärungen,
H32 Experimenten und 366 in den Text gedruckten Figuren. Für das Selbst-
studium und zum Gebrauche an Fortbildungs-, Fach-, Industrie-, Gewerbe-
schalen und höheren technischen Lehranstalten bearbeitet nach dem System
Kley er von W. Steffen, Chemiker in Homburg v. d. Höhe. Stuttgart
1889, Verlag von Jnlius Meier. XVI und 819 Seiten. Preis 16 M.
Die Kleyer'sche Lehrbüchersammlung ist bestimmt, solche Personen, welche
keine höhere Bildung genossen haben, in die verschiedenen realistischen Lehr-
fächer einzuführen, damit sie durch Selbststudium sich die praktische und
technische Seite der Wissenschaften aneignen können. Der Verfasser hatte
hierbei gerade bei der Chemie einen schwierigen Stand, sollte er nicht allzu
flach werden und das Buch auch einem gebildeten Kreise von Lesern nutz-
bringend machen. Er hat diese Aufgabe sehr glücklich gelöst. Die Auf-
einanderfolge von Fragen und Antworten, die Einstreuung von Erklärtingen
und Anmerkungen, machen es auch dem minder Gebildeten möglich, die Wahr-
heiten und Hypothesen der Chemie nach den neuesten Erfahrungen und For-
schungen der Wissenschaft zu begreifen, und insbesondere sind die zahlreichen
Experimente, welche bis auf die kleinsten Handgriffe genau beschrieben und
durch ausgezeichnete Holzschnitte unterstützt sind, das richtige Mittel, durch
Selbsterfahrung sich von der Richtigkeit der Antworten zu überzeugen. Alle
Fremdwörter, die in der Terminologie nothwendig Bind, sind verständlich
erklärt, kurz es ist nichts verabsäumt, was das Buch zu einem vorzüglichen
Lehrmittel für den Selbstunterricht gestalten kann. Anders dürfte es bei
seiner Verwendung in höheren Anstalten sein, wo ja das Wort des Vortragen-
den und Experimentators alles das geben muss, was in dem Buche enthalten
ist, nnd zur Wiederholung ein kürzeres Compendium passender wäre. Besonders
dankenswert sind auch die vielen praktischen Winke, welche oft tief in Er-
scheinungen des Lebens eingreifen. Die Ausstattung des Werkes gereicht
der Verlagshandlung zur größten Ehre und ist demnach auch der Preis ein
mäßiger zu nennen. Wir empfehlen insbesondere Lehrern, welche während
ihrer Studienzeit nicht Gelegenheit hatten praktische Chemie zu betreiben, das
höchst gelungene Werk. C. R. R.
Chemiestunden in der Volksschule. Lehrerheft zur Chemie für die Volks-
schule. Mit zahlreichen, auch von den Schülern selbstst&ndig ausführbaren
Versuchen. Herausgegeben von L. Busemann, Verfasser der „Naturkund-
lichen Volksbücher44. Hannover-Linden 1891, Verlagsanstalt von CarlManz.
IV und 52 Seiten. Preis 60 Pf.
Pädagogium. U. Jahrg. Heft VII. 33
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— 474 —
Das Büchlein, welches wol vielen nicht viel Neuejj bietet und auch nicht
bieten will, ist aus der Praxis hervorgegangen, das merkt man jeder Zeile
desselben an ; es setzt aber vielfach Lehrer voraus, die selbst auch in den ein-
fachsten Vorgängen der chemischen Praxis noch der Belehrung bedürfen, und
solcher dürfte es, wenigstens nach den Lehreinrichtungen der österreichischen
Lehrerbildungsanstalten, nur sehr wenige geben. Die Einfachheit des Gefor-
derten gibt sich auch in der geringen Zahl des verlangten Materiales an
Chemikalien und an Apparaten kund. Einiges Sachliche haben wir zu be-
mängeln. Seite 10 wird stets vom Probirrylinder gesprochen und ist eine
Retorte (wie auch richtig) abgebildet. Die Beschreibung der Wirkung der
Petroleumlampe (S. 14) ist nicht richtig, da doch durch Capillarität das
Petroleum im Dochte zur Brennstello hinaufgesogen wird. Die Bezeichnung
des Magneteisensteins (S. 18) als natürlicher Hamnierschlag ist etwas gewagt.
Der Rotheisenstein ist reines Eisenoxyd, nicht, wie S. 19 gesagt wird, rotlies
Eisenoxyd und Kieselstein „zusammengeschmolzen"; ebenso sind auch die
Brauneisensteine nicht „von Eisenrost braungefärbte Steinmassen". Die Schlacke
(S. 20) ist sehr häutig grün gefärbt. Die Wirkung der Kohlensäure <S. 22) in
der Hundsgrotte ist unverständlich, da von dem hohen spec Gewichte der-
selben nichts gesagt ist. Der Ausdruck „Leichengift" iS. 24) bei schmutziger
Wäsche ist unrichtig. Das Znsammenwerfen von Kohlenoxydgas und Leucht-
gas (S. 25) ist verfehlt, da ersteres ein Hydrat ist. Bei dem recht praktisch
durchgeführten Vorgehen zur Belebung in Kohlenoxyd Erstickter (S. 26) ist
das Wiederbeleben Erdrosselter nicht passend eingefügt. — Trota dieser Mängel
möchten wir das Büchlein doch empfehlen, indem die praktische Seite des-
selben, insbesondere in den zum Schlüsse angefügten Oapiteln, Gerbsäure,
Stärke, Zucker, Fett, Fleisch, Milch, Eier, Hunger u. s. w., manche sehr beach-
tenswerte Winke enthält. C. R. R.
Brockmann, F. J., Oberlehrer in Cleve. Versuch einer Methodik zur Lösung
planimetrischer Constructionsanfgaben mit zahlreichen Beispielen,
Figuren im Text. 111 S. Leipzig, Teubner. 1 M. 50 Vi
Die Lehrbücher der Geometrie von Brockroann erfreuen sich einer solchen
Beliebtheit, dass sie schon in mehreren Auflagen erschienen sind; auch liegen
vom Verfasser zweierlei Sammlungen von Constructionsaufgabcn vor, durch
deren Veröffentlichung er sich ohne Zweifel für das Vorliegende zweckmäßig
vorbereitet und eingearbeitet hat. Der Verfasser stellt sich das Ziel, nicht
blos Andeutungen für eine mögliche Lösung von Constructionsnufgaben zu
geben; er meint, derlei wäre ja wol schou vorhanden, und nennt dies eine
latente Methodik, sondern er will eine systematische Methodik schaffen, welche
die verschiedenen Methoden derart zu einer Gesammtheit vereinige, dass damit
der durchschnittlich begabte Schüler zum Ziele geführt werde. Dabei verkennt
der Verfasser nicht, wie mangelhaft die Vorbereitung des Lehrers gerade für
diesen Uuterrichtszwcig an den Hochschulen betrieben wird. — Das Buch
beginnt mit der Erörterung der geometrischen Analysis und unterscheidet in
Bezug auf dieselbe die Methode der Reduction der Aufgabe auf eine frühere
schon bekannte (Data), ferner die Methode der Parallelverschiebung und Drehung,
und endlich die Ähnlichkeitsmethode. Die Anwendung dieser Methoden wird
au 125 Beispielen mit hinreichender Ausführlichkeit erklärt. — Über Con-
struetion und Beweis fasst sich das Buch kürzer, indem bemerkt wird, dass
in der Mehrzahl der Fälle schon durch die Analysis das hierfür Nöthige hin-
reichend geklärt ist. Es wird auch nur für nöthig gehalten, etwa bei dem
fünften Theil der vorausgegangenen Aufgaben noch etwas für Construetion
und Beweis beizufügen. Dagegen hält der Verfasser die Determination für
einen hervorragend wichtigen Theil der Auflösung, weil dieselbe eine Menge
lehrreicher und bildender Momente in Bezug auf den inneren Zusammenhang
zwischen den gegebenen und gesuchten Größen enthält.
Es folgen nun eine grolle Menge von Übungsaufgaben, sämmtlicb mit
Lösungen, die letzten in der Reihe sind Berührungsprobleme von Pappus und
Apollonius; endlich kommen noch in einem Nachtrage Aufgaben zur Behand-
lung, auf welche früher andere reducirt wurden, ohne dass dieselben jedoch
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— 475
zu den Elementaraufgaben gehörten; es linden sich im ganzen 329 gelöste
Aufgaben. Es ist wol nicht anzunehmen, dass der Anfänger auch nur die
Hälfte derselben im ersten Jahre seines Studiums bewältigen werde; wäre dies
aber der Fall, so hätte er ohne Zweifel alle nur wünschenswerte und
mögliche Fertigkeit und Sicherheit in Lösung von Constructionsaufgaben
erreicht. Es scheint uns dieses Buch viel mehr dazu bestimmt, dass der
Lehrer .mit Sorgfalt einzelne Aufgaben als Wiederholungsstoff herausbebe;
dagegen glauben wir im Sinne des Verfassers das Vorliegende recht sehr den
jungen Collegen zum Selbststudium empfehlen zu sollen. H. E.
Fuhrmann, W.. Prof. in Königsberg, Synthetische Beweise plani-
metris eher Sätze. 190 S. 14 Fig.-Taf. Berlin, Simion. 3 M.
Der Verfasser betont im Vorworte die wichtige Aufgabe des Unterrichtes
in deT Geometrie, dem Schüler das Beweisen zu lehren. Er erkennt ferner die
Verdienste an, welche die Verfasser der Sammlungen geometrischer Übungs-
aufgaben, ganz besonders Petersen, sich um die Eutwicklung der Methodik
dieses Unterrichtszweiges erworben haben. Er hat es aber mit seinem Buche
nicht lediglich auf eine Sammlung von Übungsbcispielen abgesehen, sondern
hat wesentlich den Zweck im Auge, die Schiller zum selbststandisjen Finden von
synthetischen Beweisen planimetrischer Sätze anzuleiten; namentlich glaubt er
damit angehenden Lehrern einen großen Dienst erwiesen zu haben. Endlich
wünscht der Verfasser jene Lehrsätze, welche erst in letzterer Zeit aufgefunden
wurden, und welche weniger durch ihre fundamentale Bedeutung, als durch
ihre elegante Form von Belang sind, einem größeren Leserkreise bekannt zu
machen.
Der Inhalt des Buches ist in zwei Theile gegliedert, deren erster befasst
sich mit der Angabe allgemeiner Ziele und Kegeln und der verschiedenen
Methoden und Hilfsmittel bei den Beweisen; der zweite Theil erläutert die
theoretischen Erörterungen des ersten durch deren Anwendung auf Beispiele,
bei denen vom einfachsten, das ist der Lösung von Aufgaben durch Congrueuz-
sätze, ausgegangen wird. Eine folgende Gruppe bringt Aufgaben mit Lösungen
durch Proportionen, und endlich die letzte Stufe Autgaben, deren Lösung die
Benutzung aller möglichen Hilfsmittel erfordert, zu denen neben der Trigono-
metrie auch die projectivische Geometrie zu zählen sind. Daran reiht sich ein
Anhang, welcher ein Drittel des Buches umfasst, Uber die grundlegenden und
elementaren Eigenschaften der Brocard' sehen Geometrie und über die sich
daraus ergebenden Sätze, welche sich auf Kegelschnitte beziehen, wie sie von
Arzt und Kiepert gefunden wurden.
Der geehrte Verfasser, welcher den besten Vertretern unseres Berufs-
zweiges beizuzählen ist, hat mit dem Vorliegenden eine sehr dankenswerte
Arbeit veröffentlicht; es kommt dieselbe einer sytematischen Zusammenfassung
vieler Arbeiten gleich, welche ursprünglich an verschiedenen Orten zerstreut
veröffentlicht wurden. Da aber diese verschiedenen Zeitschriften, Programm-
aufsätze und Abhandlungen ursprünglich nicht jedermann zugänglich und
später schwer auffindlich sind, so ist sowol deren Sammlung, als noch in
weit höherem Grade ihre systematische Ordnung eine bochschätzbare Leistung,
gleichsam ein Markstein des Fortschrittes der Wissenschaft, welcher die volle
Beachtung unserer Fachgenossen verdient. H. E.
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Neu erschienene Bücher.
Dr. Johann Kvacsala, Johann Arnos Comenius. Sein Leben and seine
Schriften. 3 Lfrgn. Verlag von Julias Klinkhardt in Leipzig, Berlin and
Wien. 5 M. 40 Pf.
W. Kayser, Johann Arnos Comenias. Sein Leben und seine Werke. Hannover-
Linden, Manz & Lange. 148 S. 2 M.
Dr. Matthias Drbal, Lehrbuch der empirischen Psychologie. 5. Aufl. Wien
und Leipzig, Wilhelm Braumüller. 298 S. 2 fl.
AV. A. Lay, Psychologische Grundlagen des erziehenden Unterrichts und ihre
Anwendung auf die Umgestaltung des Unterrichts in der Naturgeschichte.
Eine Festgabe zur Comeniusfeier. Bohl, Konkordia. 112 S.
Dr. R. Heilmann r Forderungen der gegenwärtigen Zeit an den Volksschul-
Unterricht. Vortrag. Halle, Hermann Schroedel. 15 S. 60 Pf.
Peter Schaefer, Das geschichtliche Anrecht der Kirche und des Staates auf
die Volksschale. Köln, Albert Ahn. 84 S.
Konrad Fischer, Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes. 3. Lief.
Hannover, Carl Meyer. 144 S. 50 Pf.
C. Rademacher, Scheve, Bäkes, Feierstunden. Gedenkbuch für deutsche
Lehrer. Zum Besten des Jütting-Denknials. Bielefeld, A. Helmich. 183 S. 2 M.
E. von Schenkendorff und Dr. med. F. A. Schmidt, Über Jugend- und
Volksspiele. Hannover-Linden, Manz & Lange. III S.
Josef Moser, Über Gefiihlsbildung in der Schule. Wien, A. Pichler's Witwe
& Sohn. 37 S. 30 kr.
Dr.Jnlin«*, Taschenbuch der höheren Schalen Deutschlands. Bei Ed. Kummer
in Leipzig. 136 S. 1 M. 50 Pf.
A. Ch. Jessen, Volks- und Jugendbibliothek. Bändchen 81—85. Wien,
A. Pichler's Witwe & Sohn.
Hipp und Schmidt, Unsere Kleinen. Ein Buch für die Kleinkinderlehrerinnen
sowie für Lehrer und Mütter. Straßburger Verlagsanstalt. 173 S. 3 M.
Otto Janke, Der Beginn der Schulpflicht. Ein Beitrag zur Erörterung dieser
Frage. Mit 8 Tabellen. Bielefeld, Helmich. 69 S. 1 M.
Harry Schmitt, Das kaufmännische Fortbildungsschnlwesen Deutschlands.
Berlin, Karl Siegismund. 216 S. 7 Tabellen.
Ferdinand Thomas, Das Lesebuch in der Bürgerschule. Ein Commentar zu
dem im k. k. Schulbücherverlage in Wien erschienenen dreitheiligen Lesebuche
für Österreich. Bürgerschulen. l.Theil. Wien, Pichler. 200 S. 1 11.30 kr.
Der Schreibleseschüler. Stereotyp - Ausgabe. Cöthen, Schettlers Erben.
78 S. 50 Pf.
Vinzenz LOssl, Muster der im bürgerlichen Leben vorkommenden Geschäfts-
aufsätze und Geschäftsbriefe. Landshut 1891, Attenkofer. 2 Theile ä 35 Pf.
Bemerkungen zu den Geschäftsaufsätzen. 3. Theil. 80 Pf.
Der Religionsunterricht in der Volksschule in Hinsicht auf das neue preußische
Volks8cbulgesetz. Eine Stimme aus dem Reichsland. Straßburg, Bull. 24 S.
Dr. Horst Keferstein, Religionsunterricht und Erziehung zur Religion. Harn-
bürg, Verlagsanstalt und Druckerei A.-G. (vormals J. F. Richter). 64 S.
Jos. Ambros, Die senkrechte Schrift. Wien, A. Pichler. 80 S. 50 kr.
Dr. Anton Schwarzhofer, Steilschriftvorlagen. Wien , A. Pichler. 12 Bl. 40 kr.
Verantwortl. Redacteur Dr. Friedrich Dittei. Buehdruckerei Julian Klinkhardt, Leipaig.
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3n einigen Zeilen erfc^etnt b. b. 9?erlag$=
«nft. u. $rucf., (Dorm 3- 3- 3Jid)ter)
Hamburg:
Siditrritinmifiioiiöü.lücdrmiiclt
t>on 3. ^nmlcrfi, ftäbt. üeljrer.
400 Seit. gr. 8°.
35a3 Grrfdjeinen bes 33ud)c*, eines „unoer-
gleicbl ivfircufiiicitclo f. b. fieljrerftanb"
(5r. SJoladS Urteil ü. b. SHanufcript) rourbe
Don meb,r olg 60 Sd)ul,\citungcn begeiftert
brgrfi§t, u. mirb baSfelbe 9t uf j eb. en erregen!
$er Zutycript. eleg. gebb.49Ji\, fpäter teurer.
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Sdjutrat Ernst Eckardt,
Ägl. SejirtSfdjulinfpeftor.
81/, »ogen. 8. $rei$ 3». 1,80.
*5>icfe Sammlung öon fReben unb Wnjpracfyen
eines tüdjtigen, oltberoÖf>rten SdjulmanneS toer«
ben manrb iilngerem Sebjer als Hilfsmittel üor«
trefflidje SDienfte leiften.
«udj enthält:
I. 9iebcn jur Sdjulentlaffung. (12.)
II. SRebeu bei ßbnftbefcfjerungen. (2.)
IIT. «ßatriotifdje »eben. (3.)
IV. ffleben beim SlmtSroedn'el. (4.)
V. SBeibereben bei ber grridjtung neuer Sdml«
gebäube. (8.)
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loflsrrn. Vtnel.Stlrh n. Hrnrk, Markts Fapirr.— UlfRint au*-
gmUUrte AltiuniMa l.'.O, ruidirt von Binnaos, Judas-
sebn itc — UrbDiidrnr Intik nll<r Lditiosrn. — MunsrWtiea.
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Äil frcn BtlfcmJTcn tocr ©tccktorert JrNato unt» Soli.
beä ^unbertjäljrigcn 33cftefjen$ bcr Mnftalt
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Sdjriffen Urs Sereins für Me jBefdiidjte it\m%. fft. IV.
8°. 16 SBogen. t^reiS 3 9Harf.
$>en früheren Scfiülern ber 9iat3freijd)ule, bie fidj bcm Sefjrerberufe geiuibmet
babcu, wirb biefe $entfd)rift feljr nritlfommen fein.
t»ci*$iÄ. 3uliud Ältnf&arM.
2$ IT
lag üott 3uliu# Älinfbarbt in £cip$iß.
3n meinem Berlage ift foeben erhielten:
faljamt Arnos (Tomrnto.
$ein c^cßeti tm5 feine «griffen
von
Dr. ^otjatttt ÄtmrfiUrt,
^roffffor am codueelifc^eii i'ljceum in Sirt&butfl.
3 Ciffertuigcn a 1 SR. SO tff.
Taö $8erf liegt bis 6nbe Slpril boßfWnbig öor.
?(n einer auäfüfyrlidjen S8iogrnpf)ie bev ßomeniuä bat ei bi$b«r gän^tid) gefeblt,
ba bie Duellen für eine flriiublidje unb eingebenbe Srfjilberung jum leil gor nid>t
eröffnet, $um leil fdjroer jugänglid) roaren, fo ba§ man bisljer mit einer monograbfyirf}fit
33eijanb(ung üorlieb nabm.
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bcr bisherigen ^ron'd)Ung, inbent er fotoeit aU mögltd) ade Sdjriften unb Äbljanblunaen,
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finb in biefem Serfc eine ganje $lnjat)t Briefe, Wufiäfce unb eine weite iwiffenfa>aftlidje
fiorrcfponbnti über 6omeiiiu~ jum erften male ucrüjfentlid)t.
Hierzu sechs Beilagen: 1. von Julius Klinkhardt in Leipzig. 2. von Gerhard KChtmann in Dresden.
3. vonR. Mickisch Firma: E.Mecklenburg) inBerlin. 4. von Hellmuth Wollermann in Braunschweig
5. von C. C. Buchner Verlag in Würzburg. 6. von Wilh. Rudolph in Glessen., m
Paeda
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
XIV. Jalrgm.
8. Heft, Mai 1892.
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
2^
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Inhalt des 8. Heftes.
Seite
De« Thüringer Reformators Friedrich Myeonius Verdienste um das Schulwesen.
Dargestellt von Director Dr. Gotthold Kreyenberg-Iserlohn . . . 477
Die Reform und die Stellung unserer Schulen. Ein Referat von Heinrich
Neugcboren-Kroustadt in Siebenbürgen . 4J)5
Gedanken über das unvermeidliche Thema: „Der Socialisnius und die Volks-
schule". Von B. St 505
Sollen die Lehrerbildungsanstalten Internate oder Externate sein? Ein Wort
Diesterwegs zur Seminarfrage. Mit Beziehung auf die Gegenwart mit-
getheilt von F. A. Stcglich-Dresden 51)9
Die Frage der einheitlichen Mittelschule in Ungarn und ihre Beziehung zur
Volksbildung. Von Seminardirector G£za Soinogyi-Zninväralja . . . 518
Schulprogramme. Von Rector A. Gild- Cassel 527
Bei den Kleinen. Erinnerung aus dem Lehrerlebcn. Von Alois Stolz-
Pforzheim : . 530
Aus der Fachpresse 534
Rezensionen 538
Abonnements *Prcl$ pro Quartal M. 2.25.
Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
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Des Thüringer Reformators Friedrich Myconius Verdienste
ist nachgerade zum öffentlichen Geheimnis geworden,
dass das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in
einem Zustande des langsamen, einige meinen des rapiden Verfalls
befindet." So lautet der Anfang des vielbesprochenen Buches: „Rem-
brandt als Erzieher, von einem Deutschen," welches den immerhin be-
deutsamen, wenn auch nur äußerlichen Erfolg hatte, dass es in der
kurzen Zeit von zwei Jahren beinahe vierzig Auflagen erlebte. Der
Satz ist paradox, wie das ganze Buch. Jedoch fordern beide zum
Nachdenken auf, und etwas Wahres liegt darin, dass in unserem
Leben der Kunst, gegenüber der Wissenschaft, ein größeres Gewicht
als bisher gebüre. Hätte man in unserem, wie man manchmal sagt,
pädagogischen Zeitalter wirklich mehr auf die Lehren der Pädagogik
auch für die moderne Lebensführung gehört, so würde man längst der
Kunst oder im allgemeinen dem Können eine größere Wichtigkeit bei-
gelegt haben als dem einseitigen Wissen. Die Menschen wären nicht
nur praktischer, sondern auch veredelter; denn die Wissenschaft er-
kältet, aber die Kunst und das Können erwärmt.
Auch darin hat der Verfasser im ganzen nicht unrecht, dass die
treibende Grund- und Urkraft alles Deutschthums der Individualismus
ist. Nur die Folgerung, in Rembrandt den individuellsten unter allen
deutschen Künstlern zu erblicken, der aus diesem Grunde „als Vor-
bild den Wünschen und Bedürfnissen, welche dem deutschen Volke
von heute auf geistigem Gebiete vorschweben", gelten müsse, ist falsch;
schon deswegen, weil Rembrandt diese Bedeutnng garnicht hat. Ein
anderes ist es aber, die entschwundenen Vorbilder der Grund- und Ur-
kraft durch Vertiefung in die deutsche Vergangenheit zu suchen und
einem verflachenden Kosmopolitismus entgegenzutreten, ohne jedoch
nationaler Simpelei zu verfallen, aber auf dem eigenen Grund und
Boden die kostbaren, noch ungehobenen Schätze auszugraben. Dann
wird sich zeigen, dass unser geistiger Reichthum noch ein so un-
Paxlago&iuin. 14. Jahrg. H«ft VlU. 'M
um das Schulwesen.
Aus Anlas» seines 400jahrigen Geburtstages
dargestellt von
Director Dr. Gotthold Kreuenberg-IserWm.
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— 478 —
erschöpflicher ist, wie vielleicht bei keinem anderen Volke, dass wir
noch weit davon entfernt sind, einen geistigen Bankerott anmelden
zu müssen, was laut Beginn und Inhalt seiner Ausfuhrungen „Rein-
brandt als Erzieher" doch thun möchte.
Diese Anschauungen vom unversiegbaren geistigen Reichthum
unseres Volkes haben eine sehr kraftige Bestätigung auch durch die
Auslassungen von höchster Stelle erhalten, nämlich, dass es falsch sei,
von dem Grundsatze auszugehen, der Schüler müsse so viel wie mög-
lich wissen: ob das für das Leben passe oder nicht, sei Nebensache.
Nicht nur werde die Jugend den großen Aufgaben des praktischen
Lebens ferngehalten, sondern dem Unterrichte und der Erziehung
unserer Jugend fehle die „nationale Basis". „Wir müssen Deutsche
erziehen, nicht junge Griechen und Römer." „Soll echt deutsches
Volksbewusstsein und rechte Liebe zum Vaterlande in unserem reali-
stischen Zeitalter erhalten werden, so ist nöthig, dass jeder einzelne
die großen Begebenheiten der Vergangenheit und das Wirken der
Vorfahren kennen lernt."
Das ist jedoch durchaus nicht so zu verstehen, als ob die so-
genannten Haupt- und Staatsactionen der Vergangenheit, die Kriege
und Kriegszüge derselben, noch eingehender als bisher schon erörtert
werden sollten. Diese Art und Weise würde eher zur Verrohung
des Volkes beitragen, als dasselbe auf eine höhere Stufe der Sittlich-
keit erheben. „Wie in vergangenen Zeiten," so sagt Herbert Spencer,
derjenige englische Philosoph, welcher in neuester Zeit unbestritten
einen kräftigen Anstoß zur Reform des Geschichtsunterrichts ge-
geben hat. „der König alles und das Volk nichts war, so füllen in
älteren Geschichtsberichten die Thateu des Königs das ganze Gemälde
aus, zu dem das Volksleben nur einen dunklen Hintergrund bildet.
Erst jetzt, da das Wol der Völker mehr als das Wol der Fürsten
sich zum herrschenden Gedanken emporschwingt, beginnen die Geschicht-
schreiber, sich mit den Erscheinungen gesellschaftlichen Fortschritts zu
beschäftigen."
Wo aber lässt sich in der Vergangenheit ein bedeutenderer gesell-
schaftlicher Fortschritt erblicken, als, namentlich für Deutschland, der
durch die Reformation hervorgerufene? Ist das Christenthum ohne
jeden Zweifel der mächtigste Culturfactor aller Zeiten, so ist es in fast
nicht geringerem Maße die Erneuerung desselben, die Reformation, in
ihrer Einwirkung auf Kunst, Wissenschaft, Leben und Schule für die
letzten Jahrhunderte. Der Reformation verdankt Deutschland nament-
lich seine jetzige Volksschule und eine ganz bedeutende Anz»hl der
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— 479 —
höheren Lehranstalten. Aber auch diejenigen Schulen, welche noch aus
alterer Zeit stammen, sind kaum von dem durch die Reformation ge-
weckten neuen Geiste unberührt geblieben. Jedoch wer kennt, wenn
es sich um die deutsche Reformationsgeschichte in den einzelnen Landes-
theilen handelt, die Persönlichkeiten, welche bei dieser Neubelebung
thätig gewesen sind ? Dem deutschen Knaben werden im Unterrichte
fast alle Feldherren des Alterthums genannt. Den Hannibal muss er
auf allen Kreuz- und Quer-Zügen begleiten und jede noch so unbedeu-
tende Unternehmung Julius Casars sich einprägen. Aber die geistigen
Heerführer der Reformationszeit werden ihm nur sehr summarisch
vorgeführt, und den Zug, welchen die Reformation durch Deutschland
genommen hat, kennt er nur obenhin. In der That aber handelt es
sich dabei um geistige Führer, welche nicht etwa blos der Local-
geschichte angehören, sondern recht innerhalb der großen Entwicke-
lnng standen, ja, als treibende Kräfte ihre Richtung mit bestimmt und
die großen Erfolge mit bewirkt haben.
Zu diesen Persönlichkeiten gehört auch ein Friedrich Myconius.
Er war der Freund Luthers und Melanchthons und hat Schulter an
Schulter mit diesen für das Wol der Schule und Kirche gekämpft.
An fast allen wichtigen Verhandlungen, welche den Fortgang der
Reformation bezeichneten, nahm er theil. Von den Ernestinern 1524
nach Gotha berufen, damit er dort und in Thüringen die neue Lehre
einführe und befestige, breitete sich sein Ruf bald weiter aus. Bereits
nach einem Jahrfünft wohnte er auf besonderen Wunsch des Land-
grafen yon Hessen, Philipp des Großmüthigen , dem Marburger Re-
ligionsgespräche vom 1. bis 4. October 1529 bei.
Wenn freilich jener Fürst gemeint hatte, Myconius würde sich
nachgiebiger zeigen als Luther, so war er im Irrthum befangen.
Nichtsdestoweniger ist der Einfluss des Thüringer Reformators auf
das Zustandekommen der Wittenberger Concordie, jener milderen Auf-
fassung der Abendmahlslehre, nicht zu verkennen. Im Jahre 1537
finden wir ihn in Schmalkalden als Kanzelredner und geistlichen Be-
rather thätig, 1538 als ohne Frage wichtigstes Mitglied einer Gesandt-
schaft, die in England unter Heinrich VIII. den allerdings vergeblichen
Versuch machte, Luthers Lehre dort heimisch zu machen. 1539 sehen
wir ihn auf den Reichstagen zu Frankfurt und Nürnberg und als Re-
formator im Meißner Lande, wo er, unterstützt von Creuciger und
Pfefftnger, nach Georg des Bärtigen Tode die Reformation in Leipzig
einführte. Nicht genug an diesem ebenso schwierigen wie ruhmreichen
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— 480 —
Werke, betheiligte er sich noch am Hagenauer Convente, 1540, dessen
Erfolglosigkeit seine Schuld durchaus nicht war.
Hat Myconius demnach hervorragend für die Kirchenreformation
auch außerhalb Thüringens gewirkt, so nicht minder in Thüringen als
Schulreformator oder richtiger, da die Schulen erst zu begründen
waren, als Organisator derselben. Um jedoch gerade diesen Theil
seiner Lebensarbeit zu verstehen, ist es erforderlich, auf sein Leben
und seinen Entwicklungsgang etwas näher, wenn auch in gedrängter
Darstellung, einzugehen.
Nach dem vorhandenen, von L. Kranach gemalten Bilde war
Myconius im Äußern eine Persönlichkeit, welche die Mitte zwischen
Luther und Melanchthon hielt. Er hatte die Größe und ungefähr auch
die mehr gedrungene Gestalt des ersteren; doch seine Züge waren
durchgeistigter, ähnlich denen des letzteren. Er war überhaupt eine
Vereinigung von Herz und Verstand. Nicht ohne Einfluss mag dabei
der Ort seiner Geburt gewesen sein, das als Knotenpunkt von Eisen-
bahnen bekannte Lichtenfels in Oberfranken, wo nord- und süddeutsches
Wesen sich scheidet, aber auch ineinander übergeht. Als die Glocken
der romantischen waldumkränzten Benedictiner -Abtei Banz zu Ehren
des zweiten WTeihnachtsfeiertages, des Stephanstages, erklangen und
das Geläut im Wallfahrtsorte Vierzehnheiligen antwortete, wurde 1491
zu Lichtenfels einem ehrsamen Bürger mit Namen Mecum dieser
Knabe als nachträgliches Weihnachtsgeschenk geboren. Zwar ist in
neuester Zeit geltend gemacht worden, dass, da man in damaliger
Zeit den Beginn des neuen Jahres manchmal bereits zu Weihnachten
schrieb, das wahrscheinliche Geburtsjahr schon 1490 sei. Jedoch
nehmen alle älteren Biographen 1491 an, und auch auf einer Denk-
münze, die zur Verherrlichung des Myconius geprägt wurde, ist sein
Alter diesem Geburtsjahr entsprechend angegeben, so dass kein Grund
vorliegt, von der ursprünglichen Annahme abzuweichen.
Der Vater Mecum gehörte zu den in jenen Tagen nicht seltenen
('bristen, die von den Zuständen der Kirche keineswegs befriedigt
waren. Und docli war er nur ein ganz einfacher Mann ohne gelehrte
Bildung. Man sieht, die Reformation lag damals so zu sagen in der
Luft. Mecum wollte mit seinem Sohne auch höher hinaus. Nachdem
er ihn die Lichtenfelser Stadtschule hatte durchmachen lassen, sandte
er ihn auf die Lateinschule nach Annaberg in Sachsen. Diese Stadt
galt zu jener Zeit als eine Art Eldorado. Vor kürzerer Frist hatte
sich dort und im benachbarten Buchholz ein sehr ergiebiger Silberbau
aufgethan und die „Neue Stadt am Schreckenberg," wie sie zuerst
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hieß, war daraufhin gegründet worden. Kaiser Maximilian verlieh
ihr den Namen Annaberg nach der heiligen Anna. Wie in unseren
Tagen die Goldländer, so mochte damals jene Gegend die Menschen
anziehen. Indes hatten die Annaberger über den materiellen Bestre-
bungen die geistigen nicht vergessen. Ihre Lateinschule genoss unter
dem Rector Andreas Weidner, genannt Staffelstein, sogar einen be-
deutenden Ruf, der auch in den Augen des jungen Mecum ein wol-
verdienter war; denn dieser spricht mit Achtung von seinen Lehrern.
Bald war er der lateinischen Sprache so mächtig, dass er dieselbe
sprechen konnte. Vielleicht würde er, mit einer tüchtigen Bildung
ausgerüstet, eine weltliche Laufbahn in Annaberg oder anderswo ein-
geschlagen haben; das war auch der Wunsch seines Vaters. Aber
das Schicksal hatte es anders beschlossen. Kleine Ursachen, große
Wirkungen.
Mecums Leben bietet in seinem Verlaufe viele Vergleichnngspunkte
mit demjenigen Luthers. Beide waren einfachen Familien entsprossen,
beider Väter hatten die Söhne für eine höhere Lebensstellung aus-
bilden lassen, beide wendeten sich aber, um das Heil ihrer Seele be-
sorgt, dem geistlichen Berufe im Kloster zu. In beider Schicksal greift
endlich der Ablasshandel Johann Tezels bestimmend ein.
Gerade auch in das des Mecum, der unterdessen, einer Sitte jener
Zeit folgend, seinen ohnehin schon lateinischen Namen in einen noch
lateinischeren umgewandelt hatte. Gern erging er sich aber auch über
seinen ursprünglichen Namen in Wortspielen, z. B.: „Etiamsi ambula-
vero in medio umbrae mortis, non timebo mala, quia tu Mecum es."
Schon 1508 durchzog Tezel mit seinem Ablasshandel das Meißner Land
und hatte es besonders auf das wolhabende Annaberg abgesehen. Seine
Ernte war hier gewiss auch eine besonders reiche. Es liegt nämlich
sonst kein Grund vor, weshalb er gerade hier die Bekanntmachung
erließ, den Armen solle nach des Papstes Befehl der Ablass bis zu
einem bestimmten Termine unentgeltlich verabfolgt werden. Obschon
nun der Vater des Myconius bereits Zweifel in die Seele des Sohnes
über die Berechtigung des Ablasses gesäet hatte, gesteht der junge
Friedrich, wie wir einem berühmten späteren Briefe desselben an den
Wittenberger Professor Paul Eber*) entnehmen, doch freimüthig, wel-
chen mächtigen Eindruck die Reden des päpstlichen Commissars auf
ihn ausgeübt hätten. Als Armer begab er sich in dessen Absteige-
*) Jenisü Annaebergae bist. lib. II fol. 4b. sqq. und häufig veröffentlicht, auch
LommatBSch. narratio de Frid. Myconius pag. lOff.
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quartier, redete die im Vorzimmer befindlichen Priester in zierlichen
Worten lateinisch an und begehrte den Ablass umsonst. Jedoch Tezel,
dem die Sache schon wieder leid geworden war, schlug seine Bitte
ab und verwies den jungen Gelehrten auf die doch stets nöthige „hilf-
reiche Hand," wie der kirchliche Ausdruck hieß. Nur einige Pfennige
solle er wenigstens darreichen, und diese wollten ihm die Priester
schenken. Aber Myconius schlug alles aus, kehrte in sein Kämmer-
lein zurück und bat nun Gott ohne die Vermittelung anderer um Ver-
gebung seiner Sünden. Jedoch der Stachel des Zweifels blieb in seiner
Seele sitzen.
Wie Luther fand er bald im weltlichen Leben keine Befriedigung
mehr. Nach Rücksprache mit seinem Lehrer Staffelstein beschloss er,
ohne Wissen der Eltern, ins Kloster zu gehen. Die reichen Anna-
berger hatten das dortige Franciscanerkloster neu ausgestattet und
namentlich mit einem prächtigen Gebäude versehen. In dieses Kloster
trat Myconius im Juli 1510 ein und studirte von da an nicht mehr
vorzugsweise die Weltweisen, wie einen Aristoteles, sondern den Ale-
xander von Haies, Bonaventura, Gabriel Biel, Augustinus und andere
heilige Bücher. Gleich während der ersten Nacht, die er im Kloster
zubrachte, hatte er einen merkwürdigen Traum, über den er in dem
bereits angeführten Briefe nn Paul Eber berichtet Er sei in eine
gewaltige Felseneinöde gekommen, wo ihn ein Führer, der Apostel
Paulus, zuerst zur Quelle des Heils gebracht habe, aus welcher zu
trinken er sich nicht für würdig erachtete. Dennoch habe ihm Paulus
zu einem Trünke verholfen, und erquickt sei er mit seinem Führer
weitergezogen, darauf zu einem Ährenfeld gelangt, auf dem ein
Schnitter rüstig gearbeitet habe, ein starker Mann im kräftigsten
Alter, im Äußern dem Paulus ähnlich. Mit ihm vereint habe nun
Myconius eingeerntet, aber nur die Ähren und den Weizen, nicht das
Stroh geschnitten. Auch noch andere seien zu dieser lohnenden Arbeit
gekommen; trotzdem sei Myconius krank und kränker geworden, bis
Paulus ihn auf Christus verwiesen habe: „Diesem musst Du ähnlich
werden!" (Huic oportet te conformem fieri.)
Damals deutete er diesen Traum noch keineswegs auf einen
Luther und dessen Schnitterarbeit, sondern natürlich nur auf seinen
Franciscanerorden, der ihn aus der Einöde, dem weltlichen Leben,
herausleiten werde; die Ernte aber sei das religiöse Exercitium. Nur
kommt ihm zuweilen ein Bedenken: im ganzen Traumgesichte war
ihm auch nicht ein einziger Mönch erschienen. Vorläufig erfasste er
aber den neuen Beruf mit voller Seele. Die Mönche machten den
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gelehrten Bruder zum Lector. Bald aber regten sieh seine alten
Zweifel wieder. Um sich zu zerstreuen und zu erfrischen, erlernte er
das Drechseln, hantirte mit Hacke und Spaten und schwang die Axt.
Dann saß er wieder und malte Initialen aus. Aber die Summe von
allem war doch ein unbefriedigtes Dasein.
In Annaberg scheint er übrigens nur als Novize, darauf in Leip-
zig gewesen zu sein; jedenfalls finden wir ihn 1516 in Weimar, wo
er zum Priester geweiht wurde. „Ich sung, wie es dazumal unter
dem Papst Gewohnheit war, meine erste Messe auf den Pfingsttag."
Die sächsischen Herzöge und späteren Kurfürsten Johann der Beständige
und Johann Friedrich der Großmüthige wohnten dieser „Erstmesse4*
an, der letzten übrigens, bei der sie überhaupt zugegen waren.
Ein Jahr später schlug Luther seine Thesen an die Thür der
Schlosskirche zu Wittenberg, und Myconius, der lebhaft an seine
Begegnung mit Tezel erinnert werden mochte, stellte sich als einer
der ersten auf des neuen Apostels Seite. Auch das war zu jener Zeit
keine gefahrlose Sache. Melanchthon erzählt in seiner Apologie der
Augsburgischen Confession von einem Franciscanermönche in Eisenach,
Johann Hilten, der von seinen Klosterbrüdern damals in den Kerker
geworfen wurde, weil er grobe Missbräuche in der Kirche gerügt hatte.
Bis an sein Lebensende blieb dieser Mönch ein Gefangener. So wurde
auch Myconius überwacht und sogar nach demselben Eisenach, darauf
nach Leipzig und seinem Annaberg geschickt, wo man ihn achtzehn
Monate in klösterlichem Gewahrsam gehalten haben soll. Mit Hilfe
einiger Freunde gelang es ihm aber, nach Zwickau zu entkommen;
dort durfte Luthers Lehre schon gepredigt werden. Dem Kloster
entronnen und dem Mönchsorden nun nicht mehr angehörig, verkündete
er unerschrocken auf den Kanzeln der sächsischen Städte das neue
Evangelium. Gern hätten ihn vor allem die Buchholzer als ihren
Geistlichen ganz bei sich behalten, aber Herzog Johann hatte ihn
bereits für Gotha ausersehen, wo er nicht nur die Kirche, sondern
auch das Schulwesen reformiren sollte.
Für die Reformation waren in Thüringen und Gotha schon einige
vorbereitende Schritte gethan worden. Ein Herzog Wilhelm, Bruder
des Kurfürsten Friedrich des Sanftmüthigen, hatte bereits nm die Mitte
des fünfzehnten Jahrhunderts die schlechte Kirchenzucht zu verbessern
gesucht. Er verbot, um den Einfluss der Geistlichen auf das richtige
Maß zurückzuführen, seinen Unterthanen, mit weltlichen Händeln vor
ein geistliches Gericht zu gehen. Ein Dutzend Jahre später sandte
derselbe Fürst einen Augustiner-Pro vinzial nach Gotha, uro der Kirchen-
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I
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Ordnung nachdrücklich Geltung zu verschaffen, „dieweil das wüste und
wilde Wesen der Mönche durchaus nicht zu dulden sei". Jedoch auch
unter den Geistlichen gab es bereits eine Anzahl, die einer Kirchen-
verbesserung nicht widerstrebte. Andere freilich dachten anders, ja,
missbrauchten ihre Gewalt. Welche eigenthümliche Aulfassung von
Religion und Recht zum Beispiel einige Gothaer Stifts herren hatten,
— und dieser Fall steht durchaus nicht vereinzelt da, — erhellt daraus,
dass ein Gothaer Bürger und Wundarzt, Namens Vogler, der einem
Canonicus die Miete nicht bezahlt hatte, von diesem ohne veiteres
mit dem Bannfluch belegt wurde. Als Kurfürst Friedrich der Weise
von diesem Saerileg hörte, musste der Stiftsherr natürlich seinen
Fluch zurücknehmen, und die Streitsache kam vor ein weltliches
Gericht.
Unter den Stiftsherren aber, die damals schon auf der Höhe ihrer
Zeit standen, ist ein Konrad Mut (Mutianus) besonders erwähnens-
wert. Aus der Schule des Alexander Hegius hervorgegangen, ein
Studiengenosse und Freund des Erasmus, hatte er sich nach längerem
Aufenthalte in Italien, wo er an den Forschungen berühmter Gelehrten
theilgenommen hatte und nachdem er noch einige Zeit hessischer Hof-
prediger gewesen war, auf ein ziemlich gering dotirtes Canonicat in
Gotha zurückgezogen. Den übrigen Stiftsherren war er zu ernst und wol
auch zu gelehrt. Desto mehr schlössen sich strebsame Jünglinge ihm
an, die er in die Alterthumswissenschaft einführte. Zu seinen Schülern
gehörte vor allen Spalatin, nachher, wie Myconius sagt, „dreier Kur-
fürsten Kaplan und Historicus". Dieser war bekanntlich Friedrichs
des Weisen rechte Hand. Weniger bekannt möchte aber sein, dass
hauptsächlich Mutianus es war, der den Kurfürsten bei der Gründung
der Universität Wittenberg und bei der Wahl ihrer Professoren mit
seinem Rathe unterstützte. So half er als ein rechter Humanist durch
Neubelebung des Forschertriebes dem sich erneuernden Kirchenglauben
die Wege bahnen.
Schon 1516 war auch Luther im Auftrage von Staupitz zur Re-
vision des Augustinerklosters nach Gotha gekommen und hatte dort
über die Rechtfertigung durch den Glauben gepredigt. Auf seiner
Reise nach Worms ließ er sich abermals dort hören. „Da riss,u berichtet
Myconius über diese Predigt, „der Teufel etliche Steine vom Kirchen-
giebel, die hatten über 200 Jahre festgelegen." Gleich in den folgen-
den Jahren schloss sich ein Gothaer Pfarrer der Margaretenkirche,
J. Langenhain, Luther an. Zwei seiner Gehilfen aber, Schneesing
und Eisenberg, mussten nun wol in ihren Predigten unvorsichtige
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Äußerungen gethan haben, man sollte doch einmal rvom Schlossberge
oben beim Stifte" anfangen und gründlich die schlechte Wirtschaft
auskehren. Die Prediger meinten natürlich, die Obrigkeit oder der
Fürst selbst sollte es thun, aber der gemeine Mann bezog es auf sich.
Da geschah ein ..Pfaffensttirmen" in Gotha, welches Myconius höchst
anschaulich schildert. -Es trug sich zu, dass am Pfingstdienstage
(1524) wider die Freiheiten der Stadt fremdes Bier zu Bufleben (bei
Gotha) eingelegt wurde. Die Bürger zogen nbo bewaffnet hinaus, um
das Bier zu holen. Als sie zurückgekommen waren, begaben sie sich
auf das Kaufhaus. Das eroberte Bier fing an, ihnen zu Kopf zu
steigen. Da liefen einige von ihnen den Schlossberg hinauf, stürmten
die Hänser der Oanoniker, stießen Thüren und Offen ein, zerschlugen
die Fenster, zerbrachen Tische und Bänke, zerrissen Briefe und Siegel
und griffen zuweilen auch nach dem Gelde. Hauptsächlich aber nahmen
sie die schlechten Weibsbilder und führten sie in den Kram unter das
Rathhaus. Einige Mitglieder des Rathes und besonders die Vornehm-
sten hatten ihren Gefallen daran und thaten nicht eher Einhalt, als
bis der Schade geschehen war. Doch die Oanoniker klagten es dem
Fürsten. Da wurden über hundert Bürger in Verhaft genommen. Auf
Vorbitte Dietrich Tunckels, eines angesehenen und rechtschaffenen
Mannes, erhielten sie ihre Freiheit wieder, nachdem den Canonikern,
zu ihrer Entschädigung, dreihundert rheinische Gulden ausgezahlt
worden."
Es wäre nun unrichtig, anzunehmen, dass die Reformation ihre
Einführung in Gotha etwa einem Bierscandal verdanke. Aber diese
Ausschreitung veranlasste doch den Herrscher, auch seinerseits dem
Treiben der Stiftsherren ein Ende zu bereiten. Freilich war er tiber-
zeugt, dass nicht minder die weltliche Zucht daselbst einer durch-
gehenden Reform bedürfe und hoffte, dass Myconius auch für die letztere
Aufgabe der rechte Mann sein würde. Er hatte sich nicht getäuscht.
„Nach Erfurt ist Gotha", sagt Myconius, „fast die beste und vor-
nehmste Stadt im ganzen Fürstenthume Thüringen gewesen." Aber
eine Miss wir tschaft dort begann schon zu Ende des fünfzehnten Jahr-
hunderts. Zu jener Zeit waren Friedrich der Weise und sein Bruder
Johann noch „junge Herren", und der Rath von Gotha that eben,
was er wollte. So gerieth die Stadt in der „allerfriedlichsten Zeit"
tief in Schulden. Wer in den Rath gewählt werden wollte, musste
sich von vornherein als ein gefügiges Werkzeug der herrschenden
Partei zeigen. Zunächst hatte er ein großes Festgelage zu veran-
stalten; denn man fragte nicht nach seiner Tüchtigkeit, sondern, wie
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sich Myconius in der kräftigen Sprache der damaligen Zeit ausdrückt,
ob er auch gehörig „zu fressen und zu saufen" geben könnte. Alle
gemeinnützigen Einrichtungen waren, wenn sie überhaupt vorhanden
waren, schrecklich mangelhaft. Von städtischem Pflaster fanden sich
nur noch Spuren in der Nähe des Rathhauses. Man musste auf Holz-
schuhen oder gar auf Stelzen gehen, und fast alle Rathsherren bedienten
sich jener Fußbekleidung der armen Leute. Saßen sie dann in der
Rathsstube, so standen die Holzschuhe draußen nnd man konnte „fein
zählen", wie viele von ihnen zur Rathsversammlang gekommen waren.
Es kam aber, wer gerade Lust hatte; denn es war weder Ordnung
noch Gehorsam.
Und wie die Alten sungen, so zwitscherten die Jungen. Die
Jeunesse doree trieb es nicht weniger arg als der Rath. Sie belästigte
und schlug die Bürger abends und auch am Tage auf der Straße,
kaum war jemand seines Lebens sicher. Überhaupt war die Jugend
ganz „verwildert und verroht". Wo sollte auch das gute Beispiel
herkommen!
Unter solchen Verhältnissen war es Myconius klar, dass er sein
Reformationswerk „von unten auf" beginnen müsse. Und so fing er
gleich im ersten Jahre seines Aufenthalts in Thüringen mit der Grün-
dung von Schulen an.
Auch was er auf diesem Gebiete geleistet hat, finden wir in den
Quellenwerken über ihn von Seckendorff, Sagittarius, Tenzel u. a ver-
zeichnet. Sein kostbarstes Vermächtnis ist aber eine Chronik, halb
Selbstbiographie, halb Geschichte der Reformation, ein Jahrbuch, das
er in den Tagen der Krankheit, die ihn auch später hinraffte, wol
mehr zusammenstellte als erst niederschrieb. Die Mittheilungen lesen
sich nämlich so frisch, dass sie als Tagebuchaufzeichnungen unter
dem unmittelbaren Eindrucke jener wichtigen Ereignisse aus der Zeit
von 1517 bis 1542 abgefasst sein müssen. Über 170 Jahre hatte
diese nicht genug zu schätzende Chronik, welche nichts mehr nnd
nichts weniger als eine erste zuverlässige Geschichte der Reformation
ist, im Bibliothekenstaube geruht, bis sie endlich ein einsichtsvoller
Consistorial- und Kirchenrath des über Gotha ragenden Friedensteins,
Dr. Ernst Salomon Cyprian, der Vergessenheit entriss, indem er sie
mit Vorrede und Erläuterungen versehen, „und des Autoris autographo"
Gotha 1715 zuerst veröffentlichte. Aber nicht nur des Inhalts, son-
dern auch der Darstellung, einer kernigen Prosa wegen, die sich der
Lutherischen würdig anreiht, ist diese Historia Reformationis Friderici
Myconii höchst beachtenswert.
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Iii dem Manuscriptenschatze der Gothaer Herzoglichen Bibliothek,
welcher bekanntlich kein geringer ist, bildet diese Chronik einen wert»
vollen Theil in einem Sammelbande, dem ein „ Neues Erbbuch und
Kopey der Minis tratur 1524" voransteht. Auch dieses Manuscript ist
eine ergiebige Quelle und für unseren Zweck eigentlich noch bedeut-
samer, als die erwähnte Chronik. Dieses „Erbbuch etc." enthält näm-
lich des Myconius Auszüge ans den Acten der Gothaer Archive über
Schul- und Kirchengerechtsame und gewährt demnach, in Verbindung
mit anderen Nachrichten, ein anziehendes Bild von den Schulverhält-
nissen jener Zeit, aber auch von der Arbeit des Thüringer Reforma-
tors für die Schule selbst.
Was wir in Thüringen an Lehreinrichtungen kurz vor der Re-
formationszeit finden, sind einzelne mehr oder weniger gute Kloster-,
Dom- oder sogenannte Lateinschulen, an denen theils Mönche, theils
Zunftschulmeister mit fahrenden Scholaren unterrichteten, die ihre
Schüler in die katholische Gottesgelahrtheit einführten und sie die
lateinische Sprache lehrten. Wenn nun auch, wie unsere Erörterungen
gezeigt haben, die Zustände in manchen Städten gerade damals nicht
die erfreulichsten waren, so lebte doch ein gesunder Sinn im deut-
schen Bürgerthume. Der Kern war überall gut geblieben. Und so
hatte sich Luther, als er in demselben Jahre, welches auch für My-
conius den Anfang seiner kirchlichen und pädagogischen Reformen
bedeutet, sein zündendes Sendschreiben an die Bürgermeister und
Rathsherren aller Städte Deutschlands erließ, in der That an die
rechten Mitarbeiter gewendet. Waren diese hie und da noch unbe-
holfen, so zeigten sie doch guten Willen. Die erleuchteten Köpfe
jener Tage aber, die ein gutes Stück weiter sahen, ein Myconius,
Spalatin und viele andere, halfen unermüdlich und mit kräftiger Hand.
Die erste Kunde über die Thätigkeit einer Schule in Gotha selbst
stammt schon aus dem Ende des 13. Jahrhunderts. In der ersten
Hälfte des 14. besaß es, — ein in den Augen der Modernen viel-
leicht sehr mäßiger Fortschritt — schon zwei Schulen, die eine bei
der Margaretenkirche (die Kirche selbst war bereits 1254 vorhanden),
die andere bei der 1530 auf Befehl des nachmaligen Kurfürsten
Johann Friedrich des Großmüthigen abgebrochenen Marienkirche am
Schlossberge. Übrigens werden auch schon besondere Mägdleinschulen
erwähnt.
Das erwähnte „Pfaffenstürmen" hatte den bestehenden Schulen
den Garaus gemacht. Justus Menius, der Amtsnachfolger des Myconius,
sagt darüber: „Die Schulen waren allerdings gefallen und abgegangen,
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also, dass nicht allein kein einziger Schüler vorhanden war, sondern
man auch große Mühe und Arbeit hatte, dass man je etliche zur
Schule bringen und wiederum von neuem anrichten möcht, und die
Sachen fast allenthalben also standen, dass Schulen und Studia beim
Pöbel aufs höchste verachtet waren und je eher zehn zu finden, die
Schulen stürmen und verstören, denn einen oder zween, so sie hätten
auf- und anrichten können. u
Jedoch diese schullose, die schreckliche Zeit ließ Myconius nicht
lange währen. In der erwähnten Historia Reformationis berichtet er
Seite 55: „Die Schulen haben wiederumb angefangen und restituiret.
Ist der Anfang geschehn im Augustinerkloster, als noch die Mönche
in ihren habitibus darinnen waren, Anno 1524."
Das Augustinerkloster bestand zu Gotha bereits seit der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es war vom Papst Innocenz V. bestätigt
und von frommen Christen mit stattlichen Stiftungen bedacht worden.
Zur Zeit der Reformation betrug die Zahl der Mönche noch dreißig.
Die Räume dieses Klosters nun erschienen Myconius als die
geeignetsten für das neue Schulwerk. Entsprachen sie auch bei weitem
nicht den Anforderungen, die man heutzutage an die Beschaffenheit
und Einrichtung von Schulräumen zu stellen pflegt, so war man in alter
Zeit eben weniger ängstlich, ohne dass das herangebildete Geschlecht
kränklicher als das heutige gewesen wäre. Auch die Mönche bildeten
kein störendes Element , da sie den reformatorischen Ideen nicht ab-
geneigt waren, im übrigen aber ruhig in ihren Zellen hausten und sich
höchstens am frohen Treiben der Jugend ergötzten..
Als Rector und Hauptlehrkraft führte Myconius dieser neuen
Schule im Augustinerkloster, welche er aus den Überbleibsel der
beiden vorhandenen einrichtete, den Magister Basilius Monner zu,
keinen Philologen, die es als specifische Berufsclasse damals noch kaum
gab, sondern einen Rechtsgelehrten. Auch wurde die Anstalt schwer-
lich schon in viele Classen eiugetheilt, die ganze eigentliche Schul-
verfassung mag zuerst ziemlich in der Luft geschwebt haben. Indes
wird schon aus jenem Anfang die Gründung des gothaischen Gym-
nasiums hergeleitet. Als Stiftungstag gilt der 21. December 1524.
Die landesherrliche Bestätigung der Schule erfolgte aber erst
nach einem Jahrfünft auf Grund einer Kirchen- und Schulenvisitation,
welche auf Befehl Johanns des Beständigen der kurfürstliche Kanzler
Brück, Melanchthon und Myconius vorgenommen hatten. 1529 ließ
dieser Fürst einen Schenkungsbrief aufsetzen, kraft dessen das
Augustinerkloster mit allem Zubehör und sämmtlichen Einkünften in
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den Besitz der Stadt Gotha überging, jedoch mit der ausdrücklichen
Bestimmung, dass die Einkünfte zu* Kirchen- und Schulzwecken ver-
wendet werden sollten. Daneben sollten die noch übrig gebliebenen
Klosterpersonen auf Kosten der Stadt weiter verpflegt und ihnen ihre
Wohnung sowie das ganze Kloster in gutem baulichen Stande erhalten
werden. Daraufhin wurden schon drei Schullehrer angestellt; mehr,
so meinten die Visitatoren, seien für die Schule nicht nötbig.
War es nun, dass die Stadt ihre Schuldigkeit nicht that, oder
dass die Einkünfte nicht zureichten, welche vielleicht auch unpünktlich
eingingen, schon wieder nach einem Jahrfünft mussten die Stadtväter
höheren Orts an ihre Pflicht erinnert werden, nicht nur den Gottes-
dienst zu fördern, sondern besonders auch die Jugend zur Lehre auf-
ziehen zu lassen; „derohalben sie billig Fleiß fürwenden sollten, dass
treulich aus dem Einkommen, so zu der Kirchen- und Schulenbestellung
verordnet worden, gehandelt werde. Denn wir wollen euch nicht
bergen, dass unser gnädiger Herr in Erfahrung kommen ist eures Un-
fleißes, so bei euch in Verwaltung der Kirchengüter und sonsten
befunden."
Schien danach der Bestand des Stadtschulwesens noch kaum
gesichert, so dachte doch schon in jener Zeit Myconius auch an die
Begründung des eigentlichen Volksschulwesens. Hierzu veranlassten
ihn offenbar auch die Vorreden zu den beiden Katechismen Luthers,
in welchen dieser sich an die Geistlichen wendete. Die Pfarrer sollten
an den Sonntagnachmittagen, wenn das junge Volk und Gesinde zur
Kirche komme, den Kindern und den Dienstboten die drei Hauptstücke
vorsprechen und einprägen. Um jedoch den Pfarrern die Arbeit zu
erleichtern, wurde zugleich empfohlen, dass au Stelle der Geistlichen
die Kirchendiener „den Katechisimum, den Kirchengesangk und das
gebett mit allem trewen vnd eyffer der Jugendt einzubildten und mit
jenem (dem Gesinde) zu üben haben".
Nach dem echt evangelischen Grundsatze, dass jeder Christ Gottes
Wort in der Bibel lesen sollte, erwuchs dann diesen Gehilfen die
weitere Aufgabe, an einigen Wochentagen, besonders während der
Wintermonate, die Kinder im Bibellesen zu unterrichten, beziehentlich
ihnen das heilige Buch zu erklären. Diese Unterweisung aber war
in Thüringen und auch anderswo der erste Baustein zur evangelischen
Volksschule. Pfarrer und Kirchner standen damals in der Regel auf
einer Bildungsstufe, beide gingen oft aus dem Handwerkerstande her-
vor. Zur Reformationszeit waren die ersten Landpfarrer in Thüringen
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nicht selten schlichte Handwerker, der eine ein Leineweber, der andere
ein Böttcher, der dritte gar ein baderknecht.
Es war überhaupt ein Zeitalter des Werdens. Die Umwälzung
der bestehenden Verhältnisse, hauptsächlich die Vermengung von geist-
lichem und weltlichem Besitz, machte überall Neuordnungen not-
wendig. So finden wir in jener Zeit auch die ersten Normaletats für
Lehrerbesoldungen, welche Johann Friedrich der Großmüthige nach
einer neuen Visitation in Thüringen, an der wieder Myconius theil-
nehmen musste, aufstellen ließ. Aus den Zahlungszeiten scheint her-
vorzugehen, dass das Schuljahr damals nicht, wie jetzt in Thüringen
und Norddeutschland üblich, zu Ostern, sondern, nach mehr süd-
deutscher Sitte, zu Michaelis seinen Anfang nahm.
Beginnend mit dem Michaelisfeste, sollten den Kirchen- und Schul-
lehrern an den vier Quatembern ihre Besoldungen ausgezahlt werden.
Solange noch Mönche und Stiftsherren zu unterhalten wären, sollte
der Pfarrer an der Augustinerkirche 100 fl., der Schulmeister
(oder Rector) 60 fl. und von seinen beiden „Gesellen" jeder 45 fl.
erhalten. Die Bezeichnung Meister und Gesellen beim Schul- „Hand-
werk" rührt bekanntlich aus der mittelalterlichen Zeit hei-, in welcher
alles, demnach auch das Schulwesen, nach den Regeln der Zunft ein-
gerichtet sein musste.
Würde einmal das Kloster von allen Lasten frei sein, dann sollten
die Besoldungen aufgebessert werden und der Pfarrer 120 fl., der
Schulmeister 70 fl. und seine beiden Gesellen je 50 fi. empfangen
Der eine der Unterlehrer wurde Baccalaureus, der andere Kantor oder
Sangmeister genannt.
Auch für Dienstwohnungen wurde schon gesorgt. Alle Kirchen-
und Schuldiener sollten mit „bequemen und nothdttrftigen Herbergen"
versehen werden.
Angesichts solcher Fürsorge fehlte es gerade der Gothaer Schule
von allem Anfange nicht an hervorragenden Lehrkräften. Der schon
erwähnte Monner, ein geborener Weimaraner, welcher in Wittenberg
studirt hatte, war ein früher Anhänger Luthers. Melanchthon, dessen
Unterricht er noch genoss, schätzte ihn so sehr, dass er der neuen
Schule in Gotha keinen besseren Lehrer empfehlen konnte. Aber
Monners größtes Lob ist doch sein Schüler, der berühmte neulateinische,
vom Kaiser gekrönte Dichter Johann Stigel aus Gotha, erster Professor
der Beredsamkeit an der neugegründeten Universität Jena, welcher
auch später auf Myconius die Grabschrift, sogar in lateinischer und
griechischer Sprache zugleich, verfasst hat. Nach den Rectoren
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Schipper und Merula der Gothaer Schule, die beide später ins Pfarr-
amt ubertraten, brachte dann Pankratius Süssenbach, wie Myconius
selbst schreibt, die Anstalt erst in die „rechte Form und Ordnung".
Damit aber auch alles in der richtigen Ordnung, „stet und fest",
bliebe, durfte von den Kirchen- und Schulgütern ohne Zustimmung des
Kurfürsten nichts veräußert werden. Die vom Rathe und einem Ge-
meindemitgliede geführte Rechnung wurde im Beisein des Amtmanns
und des Pfarrers gelegt und geprüft. Konnte bei vorkommenden Un-
fällen das Gehalt nicht gezahlt werden, so war dem Kurfürsten Mit-
theilung zu machen und, was noch viel mehr ist, von ihm auch Hilfe
zn erwarten.
Trotz dieser vorsorglichen Maßregeln geschah doch die Anstellung
der „Schuldiener und Kirchner" immer nur auf Kündigung. Eine
definitive Anstellung kannte man auch später noch nicht. „In jedem
Jahre," so lautete die betreffende Verordnung, „wenn ein neuer Rath
ausgeht, soll vom Pfarrherrn und Rathe darüber, ob man die Schul-
diener und Kirchner bei ihren Diensten länger behalten wolle, gehandelt
▼erden."
Die treue Arbeit des Myconius wurde durch rasche und sichere
Erfolge belohnt. Bereits nach 18 Jahren kann er in seiner Refor-
mationsgeschichte Seite 54 schreiben: „Die Schulen ins Augustiner-
kloster ist fundiert und zu den Ministeriis das Einkommen erworben
und geordnet. Und ist alles durch die Kurfürsten und Visitatores
bestätigt, mit Brief und Siegel ratiftcirt und geordnet worden. Es
hat unglaublich Arbeit gekostet, aus dem alten, verspureten, faulen
Holz ein neues Haus zu erbauen. u
Deshalb arbeitete er, trotz schwerer Krankheit, an diesem Lieb-
lingswerke auch nach dem Jahre 1542 rastlos weiter. Waren früher
«chon Stipendien im Betrage von je 20 fl. für „arme Bürgersknaben,
so nach Erkenntnis des Pfarrherrn und Schulmeisters zum Studieren
geschickt sind", gestiftet, ferner zwei Gehölze, zum Kloster gehörig,
dazu bestimmt worden, für die Knaben in der Schule freies Brenn-
material zu liefern, so gründete er 1543 an zwei Tafeln für arme und
würdige Schüler im Convictorium des Klosters Freitische. Diese Ein-
richtung erweiterte sich bald zu einem Alumnate, in welchem jedoch
die Knaben nicht ganz unentgeltlich gehalten wurden. Für 24 würdige
und bedürftige auswärtige Schüler, welche in Gotha die Anstalt be-
suchten, sollten aus dem Amte Gotha 16 Malter Korn und 12 Malter
Gerste geliefert werden, um sie, soweit es reiche, mit „Brot und
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Bier" (!) zu versorgen: Die Aufsicht über den Tisch hatte der Super-
intendent und später der Rector.
Jedoch wie es jedem ergeht, selbst wenn er die reinsten Ab-
sichten hegt, auch Myconius hatte seine Gegner. Es waren einige
kurfürstliche Käthe, denen die ausgesetzten Lehrergehälter zu hoch
erscheinen mochten. Da schrieb 1544 Mecum eine prächtige Satire
auf sie, ein Sendschreiben an die kurfürstlichen Räthe „von der wol-
riechenden köstlichen Salbe, damit Maria den Herrn zu Bethania
gesalbt, wozu Judas der Verräther scheel gesehen". Was aber die
Hauptsache war, der Widerstand wurde besiegt und in demselben
Jahre sogar eine erste vollständige Kirchen- und Schulordnung vom
Kurfürsten erlassen, die man nicht mit Unrecht als die Grundlage
des Gothaer uud vielleicht des ganzen Thüringer Kirchen- und Schul-
wesens bezeichnen kann. Sie findet sieh in Rudolphfs bekanntem
Buche Gotha Diplomatien, Theil I, Seite 152 ff. abgedruckt.
Der wesentliche Fortschritt in der neuen Schulordnung war für
Gotha die Bestimmung, dass nun das ganze Augustinerkloster mit
Baulichkeiten und Hof ausschließlich zu Schulzwecken dienen sollte.
In demselben befanden sich nicht nur die Lehrzimmer, sondern auch
noch die Dienstwohnungen des Rectors, der Lehrer, des Ökonomen
und die Räume für das Alumnat. Standen aber diese Zimmer den
„Gesellen44 nicht an oder waren sie für Verheiratete vielleicht zu
beschränkt, so mussten diese sich selbst mit „Herbergen" versehen.
Die Zahl der Lehrer war noch um einen vermehrt worden, so dass
es außer dem Rector und Cantor einen Ober- und Unterlehrer gab.
Für die Besoldung ist charakteristisch, dass Naturalobjecte auftraten.
Der Rector empfing 80 fl. bar, demnach schon 20 fl. mehr als vordem,
ja, wenn „alle Klosterlehen heimfallen würden", sollten 100 fl. voll-
gemacht werden. Außerdem erhielt er 5 Erfurter Malter Korn, 2 Er-
furter Malter Gerste, 1 Erfurter Malter Hafer und 15 Schock Geb und
Reisigholz. Der Ober-Baccalaureus erhielt 50 fl. bar, 8 Schock Ge-
bundholz und 1 Erfurter Malter Korn, der Baccalaureus infimus noch
10 fl. weniger.
Über Wahlmodus und Kündigung wurde festgesetzt, dass den
Rector der regierende Bürgermeister mit drei „Rathsfreunden", dann
der Schlossprediger, der Stadtpfarrer und die drei Diaconi zu wählen
hätten. Weltliche und geistliche Stimmen standen dabei also wie 4
zu 5. Der Bewerber rausste auf der kurfürstlichen Universität Witten-
berg studirt und die Magisterwürde erlangt haben. Die Bestätigung
ertheilte, nach eingeholtem Berichte seitens der Universität, der Kur-
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fürst selbst. „Würde mit dem Schulmeister eine Änderung vorzu-
nehmen sein, so solle ihm dies, damit der Schuldienst keine Störung
erleide, ein ganzes oder halbes Jahr vorher angezeigt werden; was
auch er zu beobachten hat, im Falle er auf seiner Stelle nicht bleiben
will.- Die Lehrer wurden vom Kector, Superintendenten und Bürger-
meister gewählt und hatten vierteljährliche Kündigung. Als Auf-
sichtsbehörde über die Schule fungirte eine Art Curatorium, zu welchem
außer dem Bürgermeister und Superintendenten noch der Schlosshaupt-
mann und der „Schösser" gehörten. Hier war also die geistliche
Vertretung in der Minderzahl.
Alle diese Einrichtungen verdanktedie Schule der unermüdlichen
Thatigkeit des Myconius, der, als er kurz vor seinem Hinscheiden
einen Abschiedsbrief an den ihm allzeit gewogenen Kurfürsten richtete,
in demselben schreiben konnte, er empfehle „aufs allerunterthänigste
und fleißigste" diesem besonders die Schule. Sie sei „wie ein Rosen-
gärtlein und Würzgarten Gottes".
Diese feste Grundlage trug in der Folge wesentlich zur weiteren
gedeihlichen Entwicklung des Gothaer Schulwesens bei. Eine seiner
Glanzzeiten war diejenige unter Andreas Reyher, als vornehme Eltern
aus ganz Norddeutschland ihre Söhne auf das gothaische Gymnasium
sandten und ein August Hermann Francke aus demselben hervorging.
Noch immer waren es aber die Klosterräume des Myconius, welche
die Anstalt umschlossen, im Laufe des Jahrhunderts freilich so bau-
fällig geworden, dass Reyher häufig genug Klage darüber führte.
Daher war es hauptsächlich der Geist, welcher in diesen Räumen
weiter wirkte und den schon der Praeceptor Germaniae belobt hatte,
als er dem Schöpfer des Werkes, Myconius, auch namens der Witten-
berger Uuiversität amtlich für dessen großen Eifer dankte. Universi-
täten und gelehrte Schulen erfreuten sich aber damals des besonderen
Wolwollens der evangelischen Fürsten nicht ohne tieferen Grund.
Sie waren die geistigen Rüstkammern, aus [denen jene sich ihre nie
rostenden Waffen, und die Kasernen, aus denen sie sich ihre allzeit
gewappneten Streiter holten. Luther mit seinem scharfen Blicke er-
kannte dies vorzugsweise. „Lasset uns das gesagt sein", äußerte er
sich, „dass wir das Evangelium nicht wol werden erhalten können
ohne die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheiden, darinnen dies
Messer des Geistes stecket. Sie sind der Schrein, darinnen man dies
Kleinod träget. Sie sind das Gefäß, darinnen man diesen Trank fasset.
Sie sind die Kammer, darinnen diese Speise lieget."
Jedoch ein Luther, ein Myconius und überhaupt die Geisteshelden
Pieda^nginm. 14. Jahrg. Hoft VIII. 35
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der damaligen Zeit sahen doch noch weiter. Nicht nur auf die
gelehrten Kreise sollte die Bildung beschränkt bleiben, sie sollte, wie
wir aus des Thüringer Reformators Wirken nicht minder ersehen
haben, in alle Schichten des Volkes dringen. Und auch in dieser
Beziehung hatte Myconius die schönsten Erfolge zu verzeichnen. In
seiner Reformationsgeschichte konnte schon 1542 dieser Freund seiner
grüßten Zeitgenossen sagen, dass in Thüringen nun jede Stadt ihre
ordentliche Schule habe, ein für die Mitte des sechzehnten Jahr-
hunderts sehr beachtenswertes Ergebnis.
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Die Reform and die Stellang anserer Schalen.
Ein Referat von Heinrich Neugeboren- Kronstadt in Siebenbürgen.
Unter diesem Titel hat Friedrich Eduard Beneke als Professor
an der Universität in Berlin im sturmbewegten Jahre 1848 im Verlag
von E. S. Mittler & Sohn ein philosophisches Votum herausgegeben,
welches auch heute noch bei den so vielfach umstrittenen Streitfragen
über die Schule Beachtung verdient*)
Es war ihm dabei darum zu thun, „einige Punkte, welche man
jedenfalls als Leuchtpunkte im Gesicht behalten muss, wenn man sich
nicht gefährlich verirren will, und die man gleich wol neuerlich aus
den Augen verloren hat, als solche vermöge einer tieferen wissen-
schaftlichen Nachweisung entschieden festzustellen".
Auf diese „Leuchtpunkte" hinzuweisen, ist die Aufgabe der
folgenden Auszüge aus dem oben genannten 76 Seiten umfassenden
Schriftchen.
1) Die Geistesentwicklungen und Talente, welche zum Einreißen
drängen und befähigen, sind ihrer ganzen inneren Organisation nach
so verschieden von den zum Aufbau erforderlichen, dass es beinah an
Unmöglichkeit grenzt, dass sich beide in demselben Individuum, und
dass sie sich bei einem Volke zu derselben Zeit zusammenfinden
sollten.
2) Alle Einrichtungen und Formen sind ohne Verlass, wenn nicht
beseelend und maßgebend der rechte Geist zu denselben hinzukommt.
Dies gilt, wie von den politischen, so auch von den socialen Reformen.
Es ist sehr erfreulich und lobenswert, dass man das Los der körper-
lich arbeitenden Classen in der neueren Zeit zum Gegenstande einer
*j Gewiss, stellenweise jedoch cum grano sali». D.
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nur zu lange aufgeschobenen Aufmerksamkeit gemacht und mit warmer
Menschenliebe zu verbessern sich bemüht hat. Aber verdoppelt ihnen
ihren Lohn und schafft ihnen noch mehr Muße, als sie schon gegen-
wärtig haben: wenn ihr ihnen nicht Gelegenheit, Aufforderung und
vor allem Trieb zu geben im Stande seid, die in dieser Weise ge-
wonnenen Mittel für ihre individuelle, gemtithliche, moralische Bildung
anzuwenden, wenn sie ihren Erwerb (wie hiervon nur zu viele Er-
fahrungen vorliegen) im Dienste des Lasters vergeuden: so habt ihr
dadurch nicht einmal ihr äußeres Wolergehen und Wolbefinden
gefördert. Alle Bemühungen dieser Art also gewönnen erst die
rechte Sicherheit des Erfolges und die rechte Weihe, wenn dazu noch
andere hinzukommen: die auf die Hebung der Volksbildung ge-
richteten.
3) Einigen Berufsgattungen ist die Auffassung, die Beurth eilung
die Behandlung der Seelenwelt, andern die Auffassung, die Be-
urtheilung, die Behandlung der materiellen Welt als Aufgabe
gestellt.
Der Geistliche, als Kanzelredner, als Katechet, als Seelsorger, der
Richter und der Sachwalter, indem sie, dem vom Rechte Abgewichenen
gegenüber, die rechtlich normale Gestaltung der Lebensverhältnisse
repräsentiren und zur Wirklichkeit bringen, der Gesetzgeber und der
irgendwie sonst an der Regierung Betheiligte, die Lehrer aller Classen etc.
haben es mit der Seelen weit zu thun; der Landwirt, der Fabrikant
und die mit diesen in gleicher Linie Stehenden, mögen sie immerhin
die umfassendsten und höchsten Naturgesetze für die Regelung und
Vervollkommnung ihrer Berufstätigkeit zur Anwendung bringen,
haben die materielle Welt zum Gegenstand wie ihrer leiblichen, so
auch ihrer geistigen Wirksamkeit. Und wol zu merken: nicht nur
dass diese beiden Welten den Vorstellungen nach durchaus von-
einander verschieden sind, so dass, mit Ausnahme weniger, auf sehr
großer Höhe der Abstraction liegender, keine einzige Vor-
stellung beiden gemeinsam ist: sie liegen ebenso auch den Geistes-
kräften, den Talenten nach außer einander, so dass (wir müssen
dies mit der größten Entschiedenheit und Schärfe aussprechen) keine
einzige Geisteskraft, kein einziges Talent, welche für die
Auffassung, die Beurtheilung, die Behandlung der einen
Welt geeignet sind, zugleich auch für die der andern be-
fähigen.
4) Gesetzt, wir haben einem Schüler Tausende von Natur-
producten gezeigt, haben ihn in der Auffassung derselben geübt,
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haben diese Auffassungen im Verhältnis der Gleichartigkeit zusammen-
gebracht und durch deren Verschmelzungen Begriffe, sowie durch die
Hinzunahme dieser Begriffe zu neuen Auffassungen Urtheile und
Schlüsse bilden lassen; wir haben ihn ferner aufmerksam gemacht auf
die ursächlichen Beziehungen zwischen den Naturerfolgen, und nach-
dem auch diese zur Auffassung gebracht worden sind, damit Be-
gehrungen in Verbindung gesetzt, durch deren Hinzutreten die
Causalreihen in Zweck- und Mittelreihen, und wo mehrere zur Aus-
wahl vorlagen, in Überlegungen umgewandelt worden sind. Un-
streitig sind durch diese Combinationen nicht blos Acte, sondern auch
Kräfte von diesen höheren Bildungsformen gewonnen worden. Aber
man frage sich nun: wird wol, vermöge der hierdurch gewonnenen
Auflassungs-, Verstandes-, Urtheils-, Überlegungsvermögen der so ge-
bildete junge Mensch auch Gemütsbewegungen, Entschlüsse, Charaktere,
Lebensverhältnisse vollkommener aufzufassen, zu begreifen, zu be-
ortheilen, in Überlegung zu nehmen im Stande sein? Mag ich mir
noch so zahlreiche und vollkommene Begriffe und Begriffskräfte von
Pflanzen, von Mineralien, von physikalischen oder chemischen Processen
erworben haben: ich werde hierdurch nicht im mindesten befähigt,
einen menschlichen Charakter besser zu verstehen, als derjenige, wel-
cher diese Begriffe und Begriffskräfte nicht erworben hat. — Die
Bildung aller Geisteskräfte reicht jedesmal nur so weit,
als der Bewusstseinsinhalt desjenigen reicht, an welchem sie
erworben worden sind, als dieser in dem nun als Aufgabe Gestellten
entweder der gleiche, oder doch so weit ein ähnlicher ist, dass
das Frühere theilweise in die neuen Acte als Grundlage (oder Kraft)
eingehen kann. — Durch die Naturwissenschaften können
keineswegs die Kräfte gebildet werden, welcher derjenige
bedarf, dessen künftiger Beruf auf der Seite der Seelen-
welt liegt.
5) Es muss Unterrichtsanstalten geben, welche für die Wirksam-
keit auf die materielle Welt befähigen und dies dadurch erreichen,
dass sie die Naturwissenschaften (und die Mathematik in der
Richtung zu diesen hin) zur Hauptgrundlage des Unterrichtes machen.
Diese Unterrichtsanstalten müssen durchaus selbstständig hin-
gestellt werden. Aber diesen Unterrichtsanstalten gegenüber muss es
dann andere geben, welche für die Wirksamkeit auf die Seelenwelt
befähigen; und für diese Unterrichtsanstalten können jene ebenso
wenig als Äquivalente eintreten.
6) Die Sprache ist durch und* durch Reflex von Seelen-
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producten. Jedes Wort bezeichnet einen Begriff (eine Zusammen-
fassung von mehrerem Besondern, auf welches er zugleich anwendbar
ist,) ebenso jede Form; und dieser letzteren liegen außerdem nochr
in reicher Mannigfaltigkeit, Combinationen oder Beziehungen-,
anderer Art zum Grunde. So von dem am meisten Elementarischen
bis zu den höchsten dichterischen, geschichtlichen, philosophischen etc.,
Werken; und wie in Betreff der Geistesproducte des einzelnen.
Menschen, so in Betreff ganzer Völker und Zeiten. Indem wir nun
die Sprachdarstellungen aufnehmen, nehmen wir mehr oder weniger
auch die Seelenproducte auf, welche diesen äußeren Reflexen als
ihr Inneres zum Grunde liegen; und vermöge der inneren Fortexistenz
der in dieser Weise angeeigneten Combinationen werden zugleich
unsere Auffassungskräfte, Verstandeskräfte etc. in dieser
Richtung fortgebildet.
7) Die Gesammtheit der Seelenproducte macht die Seelenwelt
aus, und je ausgedehnter und mannigfaltiger wir, vermöge der Sprach-
darstellnngen, die ihnen zum Grunde liegenden Seelenproducte zur
Aneignung und Verarbeitung bringen, um desto ausgedehnte!' und
mannigfaltiger erzeugen wir in dem Schüler die Talente, welche für
die Auffassung und Behandlung der Seelenwelt erfordert werden. Für
denjenigen also, der sich dies anschaulich gemacht hat und welchem
dabei der unendliche Reichthum der Seelenwelt und der inneren Or-
ganisation ihrer Bestandteile klar vor Augen liegt, kann es kaum
etwas Lächerlicheres und Widersinnigeres geben, als den bekannten
Sprachgebrauch, welcher, den Naturwissenschaften gegenüber, als
Unterrichtsgegenständen, die es mit „Realien" oder „Sachen" zu thnn
hätten, den Sprachunterricht als auf „bloße Namen und Formen44
gehend bezeichnet. Von „Namen" und von „Wortformen tt kann da,
wo der Sprachunterricht in (öffentlichen Lehranstalten seiner wahren
Bestimmung gemäß ertheilt wird, nicht im entferntesten die Rede
sein (? D.)
Um „Formen" handelt es sich allerdings, aber um Seelenformen,
ganz in derselben Weise wie es sich ja auch in den gewöhnlich so-
genannten Naturwissenschaften durch und durch um Formen (Bil-
dungsformen) des Materiellen handelt. Wie nun diese letzteren
Formen zugleich (die zu erlernenden Sachen sind, und welche da-
durch, dass sie erlernt worden, zugleich zur Behandlung dieser Sachen
in den Stand setzen, ebenso auch auf der Seite des Sprachunterrichts.
Die Formen, mit welcher dieser zu thun hat, sind Seelensachen, und
diese sind vollkommen ebenso viel, wie die Sachen, aus welchen
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die materielle Welt besteht, dabei wertvoller und (was uns hier
vorzuglich angeht) die rechten Sachen, an denen allein die Geistes-
kräfte derjenigen, welche zu Seelsorgern, zu Richtern, zu Staats-
männern etc. bestimmt sind, die ihnen angemessene methodische Übung
und Stärkung erhalten können.
8) Nicht nur müssen wir verlangen, dass es fortwährend Unter-
richtsanstalten gebe, in welchen die Ausbildung für die Behandlung
der Seelenwelt als die überwiegende ins Auge gefasst werde, sondern
auch dass die in dieser Richtung zu bildenden Schüler schon früh
von den übrigen gesondert werden (? D.), damit wir den be-
zeichneten Büdungszweck mit voller Entschiedenheit und in
stetiger Spannung zu verfolgen im Stande seien.
9) Man hat unter den vielen Emancipationen auch schon mehrfach
die Emancipation vom Sprachunterricht, und namentlich von den alten
Sprachen verkündigt: indem durch die fortschreitende Cultur, welcher
jener Umschwung gewissermaßen das Siegel aufgedrückt, dem Menschen
die wirkliche Welt so entschieden näher gerückt sei, dass dahinter
die Beschäftigung mit den Sprachen zurücktreten müsse. Aber wir
müssen entschieden das Gegentheil behaupten. Mögen die Aufgaben
der materiellen Welt gegenüber (denn diese meinen doch die Ver-
fechter jener Ansicht, indem sie überhaupt von der „wirklichen Welt"
reden) in der neuern Zeit noch so sehr gesteigert sein: die der Seelen-
welt gegenüber vorliegenden Aufgaben sind jedenfalls, und namentlich
infolge des neuerlichen politischen Umschwungs, noch ungleich mehr
gesteigert. Konnte man als Seelsorger, als Lehrer, als Richter etc.
bisher, wo es sich gewissermaßen nur um eine gleichmäßige
Wiederholung der Vergangenheit handelte, unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen allenfalls mit bloßen instinctartigen Auffassungen und An-
wendungen auskommen: so ist den ohne allen Vergleich schwierigeren
Aufgaben der Gegenwart und Zukunft gegenüber auch eine ungleich
ausgedehntere, klarere und bestimmtere Auffassung und Anwendung
erforderlich. Eine methodische Verinnerlichung und Ver-
geistigung des Sprachunterrichtes also, sowie der übrigen, gleich
ihm auf die Seelenwelt sich beziehenden, d. h. des Unterrichts in der
Moral und Religion, und des Unterrichts in der Geschichte von
seiner inneren Seite, in lebendig gegliederter Abstufung so eingerichtet,
dass die Beschäftigung mit den Sachen zugleich die vollkommenste
Bildung der Kräite oder Talente ergibt, ist in der gegenwärtigen
Zeit recht eigentlich das Eine, was noth thut.
10) In den frühesten Zeiten nahm die materielle Welt, theils
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in feindlichem Andrängen, theils von Seiten der auf sie gerichteten
Bedürfnisse, fortwährend tibermächtig den Menschen in Anspruch.
Damals also mussten ihr gegenüber alle Menschen Streiter und
Arbeiter sein, und dagegen war die Wirksamkeit auf die Seelen weit
Sache sehr weniger. Diese letztere reichte kaum über die Priester
und die Philosophen hinaus, so dass sich auch die Bildung dafür auf
die engen Grenzen der Priester- und der Philosophenschulen beschrän-
ken konnte und musste. Wie nun in der gegenwärtigen Zeit? —
Unstreitig hat sich das Verhältnis umgekehrt. Infolge der ungleich
günstigeren Stellung, welche der Mensch der äußeren Natur gegen-
über gewonnen, und der hierdurch möglich und angemessen gewor-
denen vielfachen Theilung der Arbeit, kann jetzt eine nicht unbedeu-
tende Anzahl von Menschen, im Interesse der höheren Geistesbildung,
von der gegen nnd auf die materielle Welt gerichteten Thätigkeii
gänzlich entbunden werden. Dem gegenüber hat sich in Betreff der
Seelenwelt immer mehr und mehr die Forderung herausgestellt, dass
von jedem eine gewisse geistige Selbstständigkeit er-
worben werde: entschieden in Betreff des Moralischen nnd Reli-
giösen, damit er sich in Hinsicht dieser höchsten und heiligsten In-
teressen eine eigene Überzeugung zu bilden im Staude sei, aber
auch in Betreff des Intellectuellen. Auch für die niedrigsten Volks-
schulen also müssen wir verlangen, dass der Unterricht in der Sprache
und in der Religion nicht blos für ein äußerlich kümmerliches An-
lernen, sondern geistbüdend ertheilt werde, d. h. Kräfte bildend für
die Auffassung, das Aufbehalten, das Verständnis, die Beurtheihing:
des Geistigen. Und so ist denn gegenwärtig die Aufgabe der Be-
fähigung für die Seelenwelt keineswegs auf einzelne Gattungen von
Schulen beschränkt, sondern eine ganz allgemeine.
11. Macht sich die Bildung für die Seelen weit für alle Kinder
und also auch für alle Schulen unabweisbar geltend, so versteht
sich auf der andern Seite von selbst, dass auch denjenigen, welche
vorzugsweise für die Wirksamkeit auf die geistige Welt bestimmt sind,
dessenungeachtet die materielle Welt nicht fremd bleiben darf: dass
vielmehr schon während der Schulzeit auch in ihnen die Kräfte für
deren Auffassung und Beurtheilung auszubilden und überdies die
Fähigkeit und die Neigung zu entwickeln sind, die Ausbildung dieser
Kräfte später selbstthätig zu erweitern und zu vervollkommnen.
12. Durch das Hereinziehen der alten Sprachen und der alten
Geistesbildung überhaupt in den Gymnasialunterricht wird der Haupt-
sache nach zweierlei bezweckt: dass der Blick des jungen Mannes
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erweitert werde zur Universalität des Musterhaften welches das
menschliche Geschlecht in allen Richtungen des geistigen Schaffens
hervorzubringen im Stande gewesen ist, und dass ihm, weil er selbst
für ein Schatten dieser Art berufen ist, die tiefsten Grundgesetze
und Grundformen der seelischen Naturentwicklung aufgedeckt
werden. Denn auch hier gehorcht die Natur dem Menschen nur,
wenn er zuvor auf die Natur gehorcht, dieser ihre Bildungsgesetze
abgehorcht hat. Beide Zwecke können natürlich während des ganzen
Jugendunterrichtes nur in beschränktem Maße erreicht werden; aber
die vollkommenere Erreichung derselben ist so viel als möglich vor-
zubereiten: theils von Seiten der intellectuellen Befähigung dazu und
theils indem wir lebendige Triebe zu späterer selbstständiger Fort-
führung dieser Bildung begründen. Dies sind die Hauptaufgaben für
das Gymnasium, und sie sind im allgemeinen nicht zu lösen, ohne
die Griechen und Römer. Der Charakter des Musterhaften in
diesen ist so allgemein anerkannt, dass diese Anerkenntnis selbst in
den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, welcher ihre
Werke als die „Classiker" im engeren Sinne dieses Wortes bezeich-
net. Aber in Betreff der zweiten bezeichneten Aufgabe hat man die
Notwendigkeit, zu den Alten zurückzugehen, in Zweifel gestellt;
dieser Aufgabe durch die neueren Sprachen ebensowol genügen zu
können geglaubt. Man hat sich in dieser Hinsicht namentlich darauf
berufen, dass ja doch die Alten selbst keine alten Sprachen
gehabt hätten. Hierauf ist nun zu erwidern, dass sie dessen eben
deshalb nicht bedurften, weil sie ihre Sprachen, ihre Bildung hatten,
welche infolge ihres naiveren (nativeren), elementarisch-durchsichtigen
Charakters ein weiteres Zurückgehen zu einem mehr Elementarischen
unnöthig machten, so dass ihnen also die Auffassungen und die Kräfte,
auf welche es für die bezeichnete Lebensaufgabe ankommt, ohne
weitere Vermittelung zuwuchsen. Die ihnen in dieser Weise zu-
wachsenden Anschauungen und Kräfte reichten aus für die ungleich
einfacheren religiösen, juridischen, didaktischen, politischen Verhältnisse,
welche ihnen zur Würdigung und Behandlung vorlagen. Unsere zu-
sammengesetzteren und verwickeiteren Verhältnisse dagegen fordern
eine mehr vermittelte, in längerer Reihenfolge fortgeführte Vorbildung;
und dem parallel, ist alles, was hierfür die modernen Sprachen, und
die moderne Bildung überhaupt, als Hilfsmittel darbieten, von einem
zu weit vorliegenden, zusammengesetzten, verwickelten,
und dabei von einem zu reflectirten Charakter, als dass sich die
Schüler unmittelbar lebendig und vollständig hineinzufinden im Stande
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wären. Wir müssen also für die Jugend jene elementarisch-durch-
sichtigere Bildung voranschicken, ganz in Einstimmung damit, dass
sie die classische Jugendbildung der Menschheit gewesen ist;
die Bildung, durch welche hindurch allein die Menschheit im Stande
war, sich zu der männlich-reiferen Bildung zu erheben, deren wir
uns gegenwärtig zu erfreuen haben.
13) Nicht auf das Außere der Sprache oder der Literatur kommt
es an, sondern auf deren geistige Grundlage, oder bestimmter, auf
die Anschauungen, Begriffe, Urtheile, Schlüsse und sonstigen Com-
binationen, welche diese von dem Seelischen darbieten, und auf die
hierdurch zu erwerbenden Talente. Die moderne Bildung ist weit
umfassender, reicher, tiefer durchgebildet, in Betreff der Seelen-
welt in noch höherem Maße als in Betreff der materiellen Welt,
auf welche letztere zuweilen die zu warmen Verehrer des Alterthums
den Vorzug der neueren Bildung haben beschränken wollen. Aber
gerade weil die moderne Bildung ungleich umfassender, reicher, tiefer
durchgebildet ist, dürfen wir für diejenigen, welche, um zur Be-
herrschurfg der Seelenwelt befähigt zu werden, dieselbe gründlicher
erfassen sollen, nicht mit ihr den Anfang machen, sondern müssen die
Beschäftigung mit jener enger begrenzten, weniger reichen,
weniger tief durchgearbeiteten Bildung voraugehen lassen.
14) Die größte Beschränkung des seelischen Gesichtskreises
haben wir bei der Volksschule. Die Lebensaufgabe der in ihr Zu-
bildenden geht ja zunächst und der Hauptsache nach auf die Behand-
lung der körperlichen Welt durch das in ihnen Körperliche.
Daneben sollen auch sie allerdings zur Auffassung, Würdigung und
Behandlung der Seelenwelt befähigt werden. Aber was wir ihnen in
dieser Beziehung als Aufgabe stellen können und müssen, bleibt doch
jedenfalls innerhalb des eigenen Volkes beschränkt. Auch in dieser
letzteren Beziehung fordert ihre Bildung weder alte Sprachen, noch
neuere fremde; sondern sie hat sich auf die geistigen Grundlagen der
Muttersprache, der vaterländischen Geschichte, der (um es so
zu bezeichnen) angeerbten moralischen und religiösen Gemeinschaft
zu beschränken.
15) Die Berufsgattungen, auf welche die höhere Bürgerschule
vorbereiten soll, gehen ebenfalls auf die Behandlung der äußeren Natur,
aber auf ihre Behandlung, nicht, wie bei den in der Volksschule Zu-
bildenden, durch das in dem Menschen Körperliche, in Verbindung mit
den einfacheren Überlegungen, wie sie sich dieser Thätigkeit mehr
oder weniger von selbst anschließen, sondern durch das in dem
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Menschen Geistige, oder auf der Grundlage einer tieferen Erfassung
ond Anwendung der Entwicklungsgesetze dieser Natur. Sollen die
diesen Berufsgattungen Bestimmten hierfür wahrhaft befähigt werdenr
so müssen sie, der materiellen Welt gegenüber, auf einen bedeutenden
geistigen Höhepunkt gestellt werden, und zugleich ist es, sowol im
Interesse der Vorbereitung zu diesem Berufe als im Interesse der
späteren Anwendung, höchst wünschenswert, ja bis zu einem gewissen
Grade nothwendig, dass sie über die Grenzen des einzelnen
Volkes hinausgerücjkt, dass sie in die Gemeinschaft und den Ver-
kehr mit den übrigen neueren Völkern eingeführt werden, welche
sich in der Erforschung und Beherrschung der äußeren Natur besonders
hervorgethan haben. Sie müssen deren Bildung, zunächst inwiefern
sie ihren Beruf angeht, sich zu eigen zu machen in den Stand ge-
setzt werden; dann aber auch, hierüber hinaus, wie weit es erfordert
wird, um für ihre ganze Bildung den Umfang und die Einheit zu ge-
winnen, welche dieselbe allein zu einer wolorganisirten machen und
für ihren Bestand Gewähr leisten kann.
16) Die Schule und die Kirche zusammengenommen umfassen das
gesammte geistige Fortschreiten des menschlichen Geschlechts (auch
für den Staat ist das seinige (zuletzt durch das Hintiberwirken von
ihnen her bedingt); und das, bald mehr in dunkler Ahnung, bald mehr
klar-bestimmt ausgebildete Bewusstsein hiervon ist es, was sie zu Ver-
bündeten von jeher gemacht hat und, solange das menschliche Ge-
schlecht geistig fortschreitet, auch fernerhin machen wird.
17) Man soll nicht zu viel Gesetze geben, nicht zu viel re-
gieren, nicht zu viel Aufsicht üben wollen. Wo das Rechte ohne
dies geschieht, aus freiem, lebendigem Triebe heraus, da ist es jeden-
falls besser.
18) Eins der heiligsten Rechte ist dasjenige, welches der Einzelne,
und ebenso die Stadt, die Landschaft etc. auf ihre Individualität
haben, wie weit sich dieselbe innerhalb des Rechten ausgebildet hat.
Die wahre Freiheit ist Unabhängigkeit, nicht ein ungehöriges
Beherrschen anderer, indem man die Minorität einer oft zufällig
oder auch hinterlistig gebildeten Majorität unterwirft. Wird, durch
Zwang oder durch zufallige Fluctuationen der Stimmung, unter solchen
Umständen wirklich eine Einrichtung allgemein festgestellt, so findet
111 an sich unwol in dem Kleide, welches nicht passt; vielleicht alle
zugleich'; und dann wird so lange hin und her gezogen und gezerrt,
bis das Kleid zerrissen ist.
Die Verhältnisse gegen Ende unseres Jahrhunderts scheinen denen
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gegen die Mitte desselben immer ähnlicher zu werden. Das Drängen
und Treiben auf dem socialen Gebiet im allgemeinen und auf dem
Gebiet des Schulwesens im besondern wird immer gewaltiger und be-
ängstigender. Da thut es denn doppelt noth, sich nach Leitsternen
umzusehen, damit man nicht ganz abirre vom rechten Wege. Ein
solcher Leitstern ist das philosophische Votum Beneke's. Wenn ancb
nur einige der Männer, welche bei der Reform unserer Schulen mit-
zurathen und mitzuthaten berufen sind,. durch die mitgetheilten Aus-
züge auf dieses Votum aufmerksam gemacht, sich dadurch zu ent^
sprechendem Thun bewogen fühlen, so ist die geringe Mühe der Ver-
öffentlichung dieser „Leuchtpunkte" reichlich belohnt.
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Gedanken über das unvermeidliche Thema: „Der Socialismus
und die Volksschale".
Von B, St,
JLl-lan hat sich allmählich gewöhnt, dem geduldigen Aschenbrödel
„Volksschule" alles in die Schuhe zu schieben, alles aufzubürden.
Bricht irgendwo die menschliche Bestie in ihrer Schreckensgestalt her-
vor; wissen die Zeitungen von Brutalitäten und Roheiten zu berichten;
nehmen Veruntreuungen, Fälschungen, Unterschlagungen überhand;
will die Sittlichkeit etwas mehr in die Brüche gehen, als es sich mit
den ohnehin genügend liberalen Anschauungen der „Gesellschaft" ver-
trägt; erhebt die rothe Internationale noch lauter ihren mord- und
branddrohenden Kampfesruf: da ruft man nach der Volksschule. Sie
muss der zunehmenden Verrohung entgegentreten; sie muss das Pflicht-
gefühl einpflanzen und anerziehen; sie muss Zucht und gute Sitte
pflegen; sie muss die Irreligiosität und Vaterlandslosigkeit bekämpfen;
sie muss — ja, wer mag wissen, was die Volksschule noch alles
„soll" und „mussu!
Augenblicklich steht die lichterloh brennende sociale Frage auf
der Tagesordnung. Hei! wie sich die pädagogischen Federn rühren!
«Wie erzieht man zum Patriotismus? Was kann die Volksschule zur
Lösung der socialen Frage thun? Wie kann die Volksschule die
Classengegensätze abmindern?" So und ähnlich erschallt es allerorten,
nnd die Lehrerschaft müht sich ehrlich ab, um das moderne Sphinx-
räthsel zu lösen. Nun, die Volksschule in ihrer heutigen Organisation
als Standesschule ist wol überhaupt nicht in der Lage, die Classen-
gegensätze abzumildern; sie ist vielmehr im Gegentheil vortrefflich
geeignet, den Classenhass schon in die Kinderwelt hineinzutragen und
den Standesunterschied so recht schön anschaulich darzustellen. Das
hindert aber nichts bei jeder Gelegenheit wieder das stereotype „Was
k&nn die Volksschule thun" gebürend zu beleuchten, sich allen
Ernstes darüber zu erhitzen, ob man der vaterlandslosen Socialdemo-
kratie wirksamer entgegenarbeite, wenn man die Weltgeschichte auf
den Kopf stelle und rückwärts construire. Dass die Schule ein Object
der Partei- und Interessenpolitik geworden ist, das ist das größte
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Unglück, welches ihr widerfahren konnte. Immer neue Aufgaben
werden ihr zugeschoben, immer neue Forderungen an sie gestellt, die
zwar an sich allesammt in ihr Gebiet fallen, von denen aber jede
nach den jeweiligen Verhältnissen die wichtigste sein soll. Die Schule
thut sicherlich ihre Pflicht und wird ihre Pflicht thun, man soll aber
nichts Unmögliches von ihr verlangen und nichts Unmögliches von
ihr erwarten. Sie kann die Irreligiosität und den Internationalitäten-
schwindel bekämpfen, aber nicht den Socialismus.
Im Grunde genommen handelt es sich in der Discussion für und
wider den Socialismus um die beiden Streitfragen: „Individualismus
oder Collectivismus — Privatbesitz oder Collectivbesitz der Productions-
mittel — freie Einzelproduction oder organisirte Gesammtproduction.
Alle übrigen in die sociale Bewegung hineingetragenen Streitfragen
sind nur individuelle Meinungen der jeweiligen Führer, und so sind
auch die giftsprühenden Wuthausbrüche mancher Socialdemokraten
gegen Religion und Vaterland nur „subjective Thorheiten von Heiß-
spornen" *), nur Beiwerk, nicht aber wesentliche, mit dem Socialismus
untrennbar verbundene Bestandteile. Solange sich die Gesellschaft
nicht über diese beiden wirtschaftlichen Grundsätze endgütig aus-
einandergesetzt hat, werden auch der hundertköpfigen Hydra immer
neue Köpfe an Stelle der abgeschlagenen nachwachsen. Es liegt auf
der Hand, dass die Volksschule mit diesem wirtschaftlichen Problem
nichts zu thun hat.**)
Aus dem Obengesagten geht hervor, dass die Socialdemokratie
nicht der Socialismus selbst, sondern nur der gegenwärtige Repräsen-
tant, die gegenwärtige Erscheinungsform desselben jst. Man sollte
also in den pädagogischen Kampfartikeln wenigstens nicht allgemein
von dem doctrinären Socialismus reden, der an sich mit Religion und
Vaterland gar nichts zu thun hat, vielmehr ebensogut eine Wirt-
schaftstheorie darstellt wie jedes andere System der Nationalökonomie,
sondern man sollte sich correcter Weise nur gegen die atheistisch-
revolutionäre Socialdemokratie wenden.
*) Schäffie, Quintessenz des Sozialismus. — Auf diese Broschüre eines berufenen
Fachmannes muss hier anstatt einer tieferen Begründung obiger Sätze, die zu
weit führen würde, verwiesen werden. Zur weiteren Orientirung über diese
Fragen, über die das große Publicum mitsararat der schreibenden und lehrenden
Fädiiffogenwelt mitunter noch sehr naive Vorstellungen hat, sei noch „Bau des
socialen Korpers" von demselben Verf. empfohlen nebst dem umfassenden national
ökonomischen Werke : Mario , Organisation der Arbeit.
**) Etwas anderes ist es bei offenbar unrichtigen Behauptungen des Socialismus
auf wirtschaftlichem Gebiete, z. B. bei dem Satze: „Nur die Arbeit schafft Werte",
woraus dann der berühmte Satz folgt: „Das Eigenthum (der Unternehmergewinn)
ist Diebstahl".
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Wer wagt es, die Gefährlichkeit dieser Partei zu verkennen?
Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man hier nochmals die
zersetzende Wirkung des socialdemokratischen Materialismus nach-
weisen. Jawol, unser Volk zeigt einen erschreckenden religiösen und
moralischen Niedergang infolge der rücksichtslosen Agitation jener
„Volksbeglücker", und die Schule hat unzweifelhaft die heilige Pflicht,
diesem Niedergange entgegenzuarbeiten, wie und wo sie nur kann.
Man sollte sich aber um alles in der Welt nicht einbilden, damit den
Socialismus auszurotten.
Vielleicht aber die Socialdemokratie — ? Möglich! Es fragt sich
nur: Liegt die Zaubermacht der Socialdemokratie in ihrem aufdring-
lich laut verkündeten Atheismus und Kosmopolitismus, oder hat sie
einen anderen Grund?
Freilich, den aberwitzigsten Ideen wohnt in gesellschaftlichen
Krisen eine dämonisch zwingende Macht inne, gegen welche Vernunft-
gründe genau so viel ausrichten, wie ein papierner Protest gegen
hunderttausend wolbediente Bajonette; aber der letzte Grund des be-
klemmenden Umsichgreifens der Socialdemokratie ist doch wo anders
zu suchen, nämlich auf dem wirtschaftlichen Gebiete. Die Miss-
verhältnisse innerhalb der modernen Gesellschaft sind so unbestreitbar
und so augenfällig, die sociale Noth eines großen Theiles der arbeiten-
den Classe ist so schreiend, dass es in der That wunderbar wäre,
wenn die hilfeversprechende Socialdemokratie keinen Anhang fände.
Der Hunger ist eine zu reale Macht, vor der schließlich alles An-
erzogene nicht stand hält, welche die niedergehaltene Bestie aller
Religion und allen Sittengesetzen zum Hohne entfesselt. Und dagegen
soll die Volksschule etwas ausrichten können? Gestehen wir es uns
nur ein: die Volksschule trägt selbst socialistisches Gepräge*), und
sie verfährt rein socialistisch, wenn sie Speisungen armer Kinder ver-
anstaltet und das Schulgeld erlässt. Überhaupt weist selbst die negi-
rende Socialdemokratie so manchen gesunden Gedanken auf, der aber
gewöhnlich erst dann Anerkennung findet, wenn er vom Ministertische
aus officiell verkündet wird.
Die Socialdemokratie wäre bei weitem weniger gefährlich, fände
der Kampfruf der nimmersatten, zu Streik und Boykott jederzeit be-
reiten Schreier der Großstädte und Industriecentreu nicht in der Menge
der ruhigeren Arbeiter der Landstädte und kleineren Industrieorte.
*) Die der Volksschule zugewiesenen Aufgaben, die Classengegensätze abzu-
mildern, allen Kindern gleiche Bildung anzueignen, gleiche Liebe zuzuweisen u. s. f.,
haben allesammt socialistischen Charakter.
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und in den Kreisen der untersten Beamten ein lautes Echo. Der
Hungerlohn aller dieser Leute steht meist im größten Missverhältnis
selbst gegen das Einkommen ihrer streikenden Collegen, sie vermögen
aber infolge ihrer isolirten Stellung nicht mitzustreiken. Dafür hängen
sie offen und heimlich der Socialdemokratie an und lassen sich nebst
vielen sonst liberalen Elementen selbst gegen ihre bessere Überzeugung
mit fortreißen, weil sie nur von der Socialdemokratie Besserung ihrer
Lage erwarten. Ohne Zweifel hat der Socialismus und speciell die
Socialdemokratie schon so manche alte Gepflogenheit, die sich längst
überlebt hatte, hinweggefegt; die Wirkung dieser radicalen Strömung
ist aber doch immer die des Scheidewassers auf das Eisen: Der Rost
wird unfehlbar beseitigt, aber auch das Eisen angefressen. Sicherlich
wird aber die Socialdemokratie so lange die Arbeiterschaft um sich
sammeln, solange sie die einzige Partei ist, welche die Arbeiter-
ftirsorge als Selbstzweck auf ihre Fahnen geschrieben hat. Es bleibt
nichts anderes übrig, als die Arbeiter durch die That eines Besseren
zu belehren. Schafft ihnen das Minimum zum menschenwürdigen Da-
sein oder versucht es wenigstens ohne Hintergedanken und ohne
egoistische Ausflüchte, sollte es auch noch so schwere Opfer kosten;
schafft ihnen eine ehrliche Vertretung, die auf dem Boden der Religio-
sität und des Vaterlandes steht und auf die sie genau denselben An-
spruch haben wie der feudale Großgrundbesitzer, der Industriebaron,
der Kaufmann und der Börsenfürst: dann wird auch das Wort der
Volksschule ein größeres Gewicht erhalten, dann wird die rothe Inter-
nationale in kürze zum Popanz für Schwachköpfe und zum Horte der
immer und ewig unzufriedenen Schreihälse, der echten und rechten
Proletarier herabsinken.
Wird dann der Socialismus verschwunden sein? Nein! Die Ver-
söhnung und Verschmelzung der nun einmal von Natur vorhandenen
Interessengegensätze der verschiedenen Volkskreise, die Milderung und
möglichste Ausgleichung der Classengegensätze, kurz, der Socialisnius
in seiner reinsten Gestalt gedacht, wird auch dann noch noth wendig
vorhanden sein. Kampf wird es nach wie vor geben, und muss es
auch nach wie vor geben; denn nur aus dem Kampfe der wider-
streitenden Ideen geht die relativ beste Wahrheit hervor. Die abso-
lute Wahrheit ist für uns Menschen unerreichbar, und das zu unserm
Glücke; sie wäre der Tod alles Strebens und Ringens, der Tod der
Menschheit selbst. „Es irrt der Mensch, solang' er strebt", und es
ist gut so.
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Sollen die Lehrerbildungsanstalten Internate oder Externate
sein?
Ein Wort Diesterwegs zur Seminarfrage.
Mit Beziehung auf die Gegenwart mitgetheilt von F. A. Steglich-Ih-esden.
Die 29. Allgem. Deutsche Lehrerversammlung zu Mannheim
versuchte eine Antwort zu geben auf die Frage: Welche Anforderungen
stellt unsere Zeit an die Ausbildung der Volksschullehrer? (Vergl.
den Bericht im vor. Jahrg. des „Psedag.") Der IX. Deutsche Lehrer-
tag, welcher Pfingsten d. J. in Halle tagen wird, hat ebenfalls das
Thema: „Die Lehrerbildung" auf seine Tagesordnung gesetzt. In
Rücksicht auf die stattgehabte und im Hinblick auf die demnächst
stattfindende dieser großen Versammlungen wird die Frage der Lehrer-
bildung schon seit längerer Zeit in pädagogischen Versammlungen,
Zeitungen und Broschüren lebhaft besprochen. Und nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz beschäftigt
man sich z. Z. viel mit diesem Gegenstande, der in einer Schrift sogar
als „eine sociale Frage" hingestellt worden.*)
Unter den Zeitschriften, welche in den letzten Monaten sich in
dieser Sache haben vernehmen lassen, sind u. a. die „Allgem. Deutsche
Lehrerzeitung- und das „Pädagogium" zu nennen**); das Beiblatt der
„Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung", der „Anzeiger für die neueste
pädagogische Literatur", hat im letzten Jahre eine Anzahl Schriften
über die Lehrerbildung namhaft gemacht.
Warum über die Lehrerbildung so viel zu sagen ist? Weil die
Frage als eine sehr complicirte sich darstellt, die wieder in so und
so viele Unterfragen zerfällt! Von diesen ist bekanntlich eine der
*) Beetz: „Die Lehrerbildung, eine sociale Frage." (Gotha 1891, Verlag von
Emil Behrend.) Ei ne inhaltreiche Schrift, die allerdings auch oft den Widerspruch
des Lesers herausfordert.
**) „Allgem. D. Lehrereeitung" (Leipzig, Klinkhardt), Jahrg. 1891: Nr. 26! Nr.
43 (S. 416), Nr. 45 und 46! (S. 436, 438, 444, 445.) 1892: Nr. 1 (S. 8), Nr. 2
fg. — „Pädagogium", XIII. Jahrg. Heft 9—11. XIV. JahTg. S. 60, S. 112, S. 129—130,
S.210. - 8. ferner: „Sächsische Schulzeitung" (Leipzig, Klinkhardt.), 1891, Nr. 21!
Pädagogium. U. Jahrg. Heft VIII. 36
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am meisten umstrittenen diese: Sollen die Anstalten für die
Lehrerbildung Internate (Convicte) oder sollen sie Externate
sein? Bei der Beantwortung dieser Frage scheiden sich die Päda-
gogen in zwei fast gleich große Heerlager; auf beiden Seiten werden
mit Eifer und Heftigkeit zahlreiche Erfahrungs- und Autoritätsbeweise
ins Feld geführt. Wie lebhaft bei diesem Gegenstande die Geister
aufeinanderplatzen, hat man aus den Verhandlungen der 29. Allge-
meinen Deutschen Lehrerversammlung erfahren.1") Man wird es
auch aus den Debatten des IX. Deutschen Lehrertages ersehen.
Zu den Autoritäten, auf welche sich viele Redner nicht ungern
berufen, gehört unstreitig Diesterweg, „ein Mann, der gewiss sach-
verständig war", wie Dr. Fr. Bartels, der jetzige Herausgeber der
„Rheinischen Blätter", in Mannheim mit Recht sagte. Auch Herr
Dr. Keferstein- Hamburg berief sich auf Diesterwegs Ansichten. In
der That muss es auch heute erwünscht sein, Diesterwegs Urtheil in
einer so wichtigen Frage zu hören. Freilich ist es schwer, des Alt-
meisters Ansichten über diesen Punkt zusammenzustellen, da sie außer
in einigen Broschüren (Zur Lehrerbildung, Streitfragen auf dem Gebiete
der Pädagogik u. a.) in 40 Jahrgängen der „Rheinischen Blätter"
und 16 Jahrbüchern niedergelegt, diese literarischen Schätze aber
selten oder wol nie beisammen zu finden sind. Auch die Herren
Dr. Bartels und Dr. Keferstein haben in der Mannheimer Verhandlung
specielle Belegstellen für Diesterwegs Anschauungen nicht angefahrt.
Vielleicht ist es daher den geehrten Lesern d. Bl. von Interesse,
wenigstens eine Aussprache des großen Lehrerbildners über die in
der Überschrift gestellte Frage zu hören, gerade jetzt, wo über diese
Frage so lebhaft discutirt wird.
Wenn wir im nachfolgenden außer der Antwort auf die erhobene
Frage noch etliche Worte des berühmten Schulmannes mittheilen, so
geschieht es, weil dieselben zu dem fraglichen Gegenstande, wie er
z. B. in Nr. 26 und Nr. 45 u. 46 der „Allgemeinen Deutschen Lehrer-
zeitung" vom vorigen Jahre behandelt ist, in sehr naher Beziehung
stehen. In der Einleitung und Begründung des Artikels, der 1836
geschrieben ward, bietet uns Diesterweg einige schulgeschichtliche
Mittheilungen, die ebenfalls unverkürzt folgen mögen, weil sie aucli
heute noch nicht ohne Wert sind und sich zu manchen der darin an-
geführten Beispiele sogar Analogien finden lassen.
Die nachstehenden Ausführungen Diesterweg's sind zugleich eine
*) S. „Allgem. D. Lehrerzeitung". 1891, Nr. 26!
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Beleuchtung des Aufsatzes im Junihefte (8. 590—595) des vorigen
Jahrganges vom „Pädagogium", wo es u. a. heißt: „. . . Dass diese
Anstalten (die Seminare) dann Externate und nicht Internate
sein müssen, ergibt sich von selbst. Am natürlichsten dürfte
es demnach erscheinen, die Seminare und Universitäten
möglichst in Verbindung zu bringen . . .M (Aus d. Großh. Hessen,
(8. 594 fg.)
*
Der Artikel Diester wegs lautet :
„Einiges über Seminarien. Zu gefalliger Berücksichtigung im
Holsteinischen." (1836.)
„In Dänemark scheint man auf die Notwendigkeit der Vermehrung
der SchuUehrer-Seminarien zurückzukommen. So viel nämlich verlautet,
haben die Stände des Herzogthums Holstein einstimmig beschlossen,
Se. Maj. den König um die Wiederherstellung des holsteinischen
Schullehrerseminars zu bitten. Die Regierungscollegien scheinen die-
selbe zu wünschen, das ganze Land wünscht sie, und die Umstände
fordern sie. Man glaubt daher, die Bitte werde Allerhöchsten Ortes
gewährt werden. — Das ehemalige Seminar zu Kiel blühte unter der
Leitung Müllers in dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts.
Zu Ende der 70er Jahre ward es gestiftet und zu der Stiftung des-
selben damals dem Könige von der schleswig-holsteinischen Bitter-
schaft ein Capital von 10000 Rthlr. Schi. -Holst. Cour, geschenkt.
Der Staat vermehrte diesen Fonds mit 7000 Rthlr., und durch Rescript
vom 8. März 1780 ward das Seminar mit dem damals schon be-
stehenden Muhlius'schen Waisenhause in Verbindung gesetzt. Durch
nachtheilige Gerüchte über den (sittlichen und) religiösen Geist der
Anstalt, die von einer feindseligen Partei gierig auf'gefasst wurden,
kam es zu Müllers Removirung, und unter Hermes und Gensichen
sank die Anstalt, in sittlicher Beziehung vornehmlich. Da erschien
1820 der Königl. Befehl zur allmählichen Aufhebung des Seminars,
1823 wurden die letzten Zöglinge entlassen, und die Lehrer Gensichen
und Carstens, der Verfasser der vortrefflichen Katechetik, wurden mit
ihrem vollen Gehalte pensionirt. Carstens errichtete ein Privatseminar
und erhielt bei der Benutzung des bisherigen Gebäudes die Aufsicht
über das Waisenhaus; denn nach der Stiftungsacte musste das Seminar
fär den Unterricht der Waisenkinder sorgen. Seine Eleven wurden
auch befördert, wenn sie sich einer Prüfung am Tondern'schen Seminar
oder an der Eckernförder Normalschule unterwarfen; doch waren sie
nicht, falls sie Bauernsöhne waren, vom Militärdienst frei wie die
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Zöglinge in Tondern. Vor 5 Jahren ward dieses, welches bis dahin
unter Deckers Leitung stand und nach dessen Entlassung interimistisch
von Sörensen verwaltet wurde, reorganisirt. Vom Staate wurde Be-
deutendes bewilligt, prachtvolle Gebäude aufgeführt, die Bürgerschule
vom Seminar getrennt und der bisherige Oollaborator an der Gelehrten-
schule in Flensburg, Bahnsen, zum ersten, der Lehrer an der Mädchen-
schule in Glückstadt, Diekmann, zum zweiten Lehrer berufen. Diese
Anstalt wurde aber nur für 80 Zöglinge berechnet und entlässt also
jährlich 25—27, welche Anzahl natürlich zur Besetzung selbst der
größeren Schulstellen in beiden Herzogthümern nicht hinreicht Außer-
dem hat ein Seminar weit im Norden, wo man schon fast nur dänisch
oder schlecht deutsch spricht, für die deutschen Holsteiner viel Un-
zuträgliches. — Wenn nun das holsteinische Seminar restituirt wird:
so wird Über mancherlei Fragen, wie man hört, in den Regierungs-
collegien ein Zwiespalt sein. Einmal gibt es nämlich manche Stimmen
welche Kiel nicht für den passenden Ort zu einem Schullehrer-Seminar
halten, weil sie von der Universität, dem Studentenleben, dem Luxus,
den vielen Gelegenheiten zu Vergnügungen üblen Einfluss furchten,
während andere von der Universität einen günstigen erwarten, andere
wiederum äußere Umstände für zwingend halten, dass z. B. das Ge-
schenk der Ritterschaft nur für ein Kieler Seminar gegeben sei, dass
die Fonds desselben mit dem des Waisenhauses unzertrennlich ver-
schmolzen wären u. s. w. Noch andere wollen neben dem Haupt-
seminar kleine Privatanstalten bei Predigern errichtet und die Zöglinge
derselben für die ärmeren Dorfschulen bestimmt wissen.
Eine zweite Frage ist die: Sollen die Seminaristen in einem
Gebäude vereinigt werden, so dass sie darin Wohnung, Beköstigung,
kurz, alles finden, oder soll man sie bei den Bürgern der Stadt unter-
bringen? Zu letzterem scheint man sich aus dem Grunde hinzuneigen,
weil in dem Kieler Seminar, besonders in den letzten Zeiten seines
Bestehens, Gebrechen und Laster mancherlei Art eingerissen gewesen
sein sollen.
Diese Gegenstände scheinen wichtig genug, dass wir uns auf eine
kurze, gedrängte Beantwortung einlassen.
1. Wenn die Zahl tüchtiger Schulamtscandidaten nicht hinreicht,
die jährlich erledigten Stellen zu besetzen, so muss man auf deren
sichere Vermehrung denken.
Es ist zwar gut, dass nicht jeder, der Schullehrer werden will,
gezwungen werde, in ein Seminar einzutreten, aber als Regel muss
es angenommen werden, weil nur unter sehr begünstigenden Umständen
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ein Privatverhältnis das leisten kann, was eine Anstalt leistet. Die
Zahl der Zöglinge in Tondern zu vermehren, kann kein Sachkenner
für rathsam erklären. 70 — 80 Zöglinge ist schon sehr viel, wenn ein
jeder von den Lehrern individuell berücksichtigt und praktisch aus-
gebildet werden soll, auf welchen beiden Stucken der Wert eines
Seminars wesentlich beruht. Ist die Zahl der Zöglinge zu groß, so
verschwinden die einzelnen, nur die tüchtigeren werden zum Unter-
richten in der Seminar- Übungsschule zugelassen, und es entstehen
Mängel und Gebrechen mancherlei Art. Eine Anstalt, die 40—50 Zög-
linge hat, kann sie besser ausbilden, als wenn ihrer 70—80 sind.
Darum empfiehlt sich der Gedanke der Errichtung einer neuen
Anstalt für Holstein von selbst.
Zwei kleinere Anstalten sind auch aus dem Grunde besser als
eine einzige große oder zu große, weil unter denselben ein heilsames
Aufstreben entsteht und man Gelegenheit hat, Verschiedenes nach
seinem Werte oder Unwerte durch Erfahrung zu erproben. Besuchen
die Lehrer beider Anstalten einander, so lernen sie voneinander, und
man hat Gelegenheit, den einen oder andern von der einen Anstalt
zur andern zu versetzen. Eine einzige Anstalt erscheint leicht als
Inhaberin eines Monopols, und sie unterliegt leicht dem Geschick der
Versteinerung. Darnm zwei Seminare!
Aber nicht eine Unzahl kleinerer, zerstreut über das ganze
Land! Man macht dafür den Grund geltend, dass manche Schul-
stellen sehr schlecht seien. Aber daraus folgt nicht, dass deren
Lehrer auch eine geringere Ausbildung bedürfen. Gerade umgekehrt
sollte man eher argumentiren! Damit der Mensch in beschränkten
Verhältnissen nicht verkümmere oder verbaure, bedarf er einer tieferen
Bildung, einer höheren Kraft.
2. Passt eine Universitätsstadt für ein Lehrerseminar?*)
Von einer Universität kann ein Seminar keinen wesentlichen
Gewinn ziehen; in der Regel bringt sie ihm großen Nachtheil.
Das letztere ist offenbar, wenn die Seminaristen zerstreut bei
den Bürgern wohnen. Sie kommen mit den Studenten in Berührung,
werden halbe Studenten, was noch schlimmer ist, als wären sie ganze.
Aber wir wollen den besseren Fall setzen: sie sind in einem Gebäude
vereinigt. Alsdann kommen sie mit den Herren Studenten in keine
Berührung, wenigstens kann man sie davon abhalten, so dass es im
*) Diese und die folgende Frage hat Diesterweg gesperrt drucken lassen.
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besten Falle für sie so ist, als wären die Studenten nicht da. Dann
aber könnt« das Seminar auch in jeder andern Stadt errichtet werden.
Den Lehrern des Seminars nützt eine Universität auch nichts,
schadet in der Regel mehr. Denn was die Methode betrifft, so müssen
die Seminarlehrer darnach trachten, dass sie nichts von der Methode
der Prozessoren annehmen.*) Deren abstracte, akroamatische muss
man sorgfaltig von einem Seminar entfernt halten. Den wissenschaft-
lichen Lehrern wird solches am schwersten. Um sie nicht in diese
Versuchung zu fuhren, thut man am besten, man legt das Seminar
nicht in eine Universitätsstadt Wollte man für das Gegentheil an-
fuhren: die Seminarlehrer erhalten dadurch Gelegenheit, sich weiter
fortzubilden, die Sammlungen der Universität sind zu benutzen u. s. w.,
so ist zu erwidern, dass bei den Seminarlehrern vorauszusetzen ist,
dass sie die nöthigen Kenntnisse besitzen, dass sie von den Seminaristen
und Schülern mehr lernen können für ihren Beruf als von den sehr
gelehrten Professoren, dass man aus Büchern in der Regel ebenso
viel, wo nicht noch mehr lernen kann, als aus dem todten, oft so geist-
losen Vortrage deutscher Professoren **) — kurz, man kann allenfalls
die schädlichen Einflüsse einer Universität auf ein Seminar abwehren,
aber großen Gewinn kann es aus der Nähe jener nicht schöpfen.
3. Sollen die Seminaristen zusammen wohnen oder bei
den Bürgern?
Über diese Frage kann ich aus Erfahrung sprechen. In den
ersten drei Jahren der Existenz des Seminars in Mörs wohnten die
dortigen Seminaristen bei den Bürgern, dann alle in der Anstalt;
hier in Berlin wohnen sie zum Theil in der Anstalt, die meisten in
der Stadt.
Ich bin unbedingt für das Zusammenwohnen, weil nur dadurch
ein Zusammenleben möglich wird.
Freilich, wenn der Geist einer Anstalt schlecht ist, so ist es
besser, dass die Seminaristen auch andere Einflüsse erfahren. Aber
dann wäre es besser, die Anstalt existirte gar nicht! Wir müssen
*) Vergl. Prof. Dr. v. Christ: „Die Reform des Universitäkronterrichtes.u
(München 1891, Riegersche Universitätabuchhandluag.)
**) Dieses Urtheil Diesterwegs will jedenfalls cum grano salis verstanden sein;
die deutsche Wissenschaft, die doch hauptsächlich durch Professoren vertreten wird,
erfreut sich eines guten Rufes! Wie viele Professoren wissen ihren Gegenstand
ausgezeichnet darzulegen! — Hier mag zugleich erwähnt sein, dass dasselbe
Heft der „Rheinischen Blätter", welchem der obige Aufsatz entnommen ist, die
literarische Anzeige bringt, dass „als drittes Heft der Lebensfrage der Civüisation"
bei Q. D. Bffdeker in Easen erschienen ist: „Über das Verderben auf den deutschen
Universitäten. Von Dr. F. A. W. Diesterweg." (Preis 8 gOr.)
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also voraussetzen, der Geist der Anstalt ist gut. Man hat solches ja
auch immer in der Hand, was mit nichten von dem Geiste einer
Stadt gilt. Wohnen die Seminaristen bei den Bürgern, so fehlt eine
genaue Beaufsichtigung und Kenntnis des einzelnen, und wer dazu
neigt, der kann von der Hauptsache abgezogen und in verderbliche
Verhältnisse gezogen werden. In Idstein wohnen auch die Semina-
risten in der Stadt. Von den verderblichen Wirkungen dieser Ein-
richtung kann der Oberschulrath G runer*) ein Lied singen. Die Lehrer
mögen noch so regsam sein, sie können nicht wissen, was auf den
einzelnen Stuben geschieht Der Faule findet jederzeit Gründe zur
Beschönigung seiner Faulheit. Dann gibt es in jeder Stadt liederliche
Dirnen, die jungen Leuten Gefahr bringen; und wenn auch diese
fehlen, so gibt es heiratslustige Bürgermädchen, welche die Semina-
risten zu frühzeitigen, verderblichen Eheversprechungen verleiten, oft
gerade die besten. Ich kenne das aus vielen Erfahrungen.
Allem diesem begegnet man ein für allemal, wenn man die Leute
beisammen hat. Alles geht dann den geregelten Gang: Aufstehen und
Schlafengehen, Essen und Trinken, Erholung und Arbeit Es gibt
einen esprit de corps. Man ergreift zuerst für die Tüchtigkeit einige,
durch diese alle. Es kommt ein Geist des tüchtigen Strebens unter
die Schar. Einer lernt vom andern, einer übt den andern. Es wird
eine Familie, Morgen- und Abendandachten können eingerichtet werden,
der sittliche Geist der Lehrer verbreitet sich durch die ganze Anstalt.
Zwei Klippen sind zu vermeiden: ein roher Ton und pietistische
Richtung. Wo tüchtige junge Leute beisammen sind, entsteht leicht
jener, und gerade die tüchtigsten (genialsten) verachten am ersten
gute äußere Sitte. Der Pietismus entsteht leicht durch einen kopf-
hängerischen Director oder Hauptlehrer. Beiden Verirrungen ist aber
leicht zu begegnen. Der Einwand: durch das Zusammenleben entstehe
leicht eine klösterliche Richtung, knechtischer Sinn, Entfremdung des
bürgerlichen Lebens u. s. w., will gar nichts besagen. Die Semina-
risten haben ja bereits 17 Jahre, d. h. solange sie gelebt haben, in
der Familie gelebt und kehren dahin zurück, leben auch im Seminar
in einer großen Familie, bringen die Ferien bei den Ihrigen zu u. s. w.
Dann ist ja von einer gänzlichen Abscheidung vom Leben gar nicht
die Rede, und an Klosterzucht denkt kein vernünftiger, freier Mann.
Spielsucht, Dieberei und andere Unsittlichkeiten entstehen aber viel
eher auf den einzelnen Stuben in der Stadt, als in dem Seminar, wo
♦) S. „Pädagogium" VIT, S. 267 (Januarheft 1885).
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sie gar nicht möglich sind. Denn durch sie hört alles auf. Damm
existiren nur zwei Fälle: entweder ist das Seminar gut — oder nicht.
In jenem Falle muss man die Zöglinge diesem guten Einflüsse ganz
übergeben, in diesem wirkt es schlecht, die Seminaristen mögen drin
oder draußen wohnen. Wenn draußen, so kommen Schlechtigkeiten
zu Schlechtigkeiten!
Nein, alles zusammen in eine Anstalt! Und einen Director mit
der gehörigen Vollmacht versehen, wie an allen preußischen Semina-
rien! Dann kann man ihn auch für alles verantwortlich machen.
Wenn aber die Herde zerstreut ist, wie kann man dann von dem
Hirten verlangen, dass keinem der Herde etwas geschehe? Das Zu-
sammenwohnen nöthigt die Lehrer zur Gewissenhaftigkeit und Strenge.
Das ist ein vortreffliches Ding. Ein Seminarlehrer soll kein Stunden-
geber, sondern ein Erzieher sein. Darum nennt man auch die Semi-
naristen mit Recht Zöglinge. Damit sie dieses seien, müssen sie
mit den Lehrern zusammen wohnen und leben.
Solches empfiehlt und befiehlt Erfahrung und Nachdenken.
A. D.«
(„Rheinische Blätter f. Erz. u. Unt. mit hes. Berücksichtigung des Volksschul-
wesena. Hcrausgeg. v. Dr. F. A. W. Diesterweg." Mai- u. Junibcft 1836, S. 273
bia 278.)
#
Nachschrift. Viele wird es überrascht haben, Diesterweg so
ganz auf der Seite derjenigen zu sehen, die für das Internat sind.
Freilich ist es sozusagen das Ideal eines Internates, das ihm vor-
schwebt. — Den Lesern dieser Blätter wird es interessant sein, die
Übereinstimmung der Anschauungen Diesterwegs mit denjenigen Job.
Jak. Wehrli's, des ersten thurgauischen Seminardirectors, festzustellen.
(S. das Januarheft des „Paedag.", S. 210.)
Zum Schluss mag noch bemerkt sein, dass die Seminare Sachsens
den Anforderungen, die Diesterweg in obigem Aufsatze stellt, jeden-
falls in hohem Grade entsprechen; sie sind Internate, jedoch nicht
obligatorische, ihre Zahl ist ausreichend, ja, „man denkt auf deren
sichere Vermehrung" (z. Z. bestehen 15 evangelische Lehrerseminare
und 1 katholisches, sowie 2 Lehrerinnenseminare,) mit der Universität
stehen sie in keiner directen Verbindung. Seminar und Präparande
(Proseminar) sind nicht getrennt wie in Preußen und anderwärts,
so dass die Zöglinge nicht erst mit dem 17. Lebensjahre, wie Diester-
weg in obigem sagt, ins Seminar eintreten, sondern bereits mit dem 14;
der Cursus ist sechsjährig. Die gesetzlichen Bestimmungen
darüber lauten: Seminarcursus. Der Unterricht wird in 6 auf-
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steigenden, bei dem Unterrichte voneinander getrennten Classen
unentgeltlich ertheilt ... Internat. Den Seminarzöglingen wird im
Seminargebäude, soweit die vorhandenen Wohn- und Schlafräume
reichen, freie Wohnung, Heizung und Beleuchtung gewährt.
Wo die Räumlichkeiten nur theilweise ausreichen, haben zunächst
die Zöglinge der Mittel- und ünterclassen III bis VI (14.— 18. Lebens-
jahr) darauf Anspruch.
Zöglinge, deren Eltern am Seminarorte leben, sowie solche, denen
eine nach dem Ermessen des Seminardirectors geeignete Wohnung
außerhalb des Seminars beschafft wird, können außerhalb des Seminars
wohnen.
(§§ 57 u. 61 des Gesetzes über die Gymnasien, Realschulen und
Seminare vom 22. August 1876. Nebst der Lehr- und Prüfungs-
ordnung für die Seminare erschienen bei C. C. Meinhold & Söhne,
Königl. Hofbuchdruckerei, Dresden.)
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Die Frage der einheitlichen Mittelschule in Ungarn nnd ihre
Beziehung zur Volksbildung.
Von Seminar director Q4xa Somoffyi-Zniöväralja.
XYleinere Länder haben vor größeren den Vortheil, dass sie oft
epochale Fragen leichter und schneller lösen können als letztere; sie
brauchen nur einen energischen Mann, der alle Hindernisse zu besiegen
weiß, und die Sache eilt rasch ihrer Vollendung entgegen. Aber
kleinere Länder sind infolgedessen auch den aus Übereilung stam-
menden Missgriffen mehr ausgesetzt Die Frage der einheitlichen
Mittelschule beschäftigt derzeit alle Culturländer; uns blieb sie auch
nicht verschlossen. Aber während größere Länder noch bei der
principiellen Besprechung verweilen, nähern wir uns in raschem Tempo
der Lösung des Problems. Ob diese Lösung uns Ehre bringen, oder
ob sie unsere culturelle Entwickelung auf kürzere oder längere Zeit
zurückwerfen wird, bleibt Frage der Zeit. Ich will mich hierüber
zunächst jeder Meinungsäußerung enthalten; aber ich kann nicht unter-
lassen, nach Vorführung der Ansichten verschiedener Vertrauensmänner
darüber mich auszusprechen, ob ich von der angestrebten Reform für
die Hebung der Volkserziehung viel oder wenig erwarte.
Der jetzige Cultus- und Unterrichts-Minister Graf Albin Csaky
hat die Leitung seines Ressorts vor drei Jahren übernommeu. Schon
in seiner Programmrede hat er sich für die einheitliche Mittelschule
ausgesprochen. Seit der Zeit strebt er entschlossenen Schrittes seinem
Ziele zu. Anfangs hat er viel Gegner gehabt; aber ihre Zahl ver-
mindert sich von Tag zu Tag: in der EnquSte, von der ich jetzt
berichten will, hat sich principiell niemand gegen die einheitliche
Mittelschule ausgesprochen.
Die Enqu6te, welche der Minister zur Berathung der Frage ein-
berufen hat, bestand aus 7 höheren Ministerialbeamten, 6 Universitäts-
professoren, 3 Studien-Oberdirectoren, 2 Mittelschuldirectoren, 7 Mittel-
schulprofessoren, aus einem Elementarschulinspector, einem Bttrger-
schuldirector und aus drei anderen hervorragenden Unterrichtspolitikern,
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also zusammen aas 30 Mitgliedern. Die Enquete hielt ihre erste
Sitzung am 15. Februar und dann noch 5 Sitzungen. Wir wollen die
Berathungen nicht in allen ihren Einzelheiten verfolgen: es wird
genügen, wenn wir deren wichtigste Momente hervorheben.
Die erste Sitzung hat der Minister selbst eröffnet Er betonte,
dass die leitenden Classen der Nation nicht einseitig realistisch oder
humanistisch gebildet werden dürfen; außerdem müssen die Eltern
von der Last befreit werden, zu früh eine Laufbahn für ihre Kinder
wählen zu müssen. Durch die einheitliche Mittelschule kann die terri-
toriale Vertheilung der Mittelschulen verbessert werden, wofür der
Minister schon eine Skizze entworfen hat. Endgiltig will er aber
nicht eher entscheiden, als er die Meinungen der EnquSte-Mitglieder
gehört und erwogen hat; er wünsche, dass jeder ohne Rückhalt seiner
Überzeugung Ausdruck gebe.
Um die Discussion zu erleichtern, hat das Ministerium 5 Frage-
punkte aufgestellt, und zwar folgende:
1. Welche Form der einheitlichen Mittelschule entspricht am
meisten unseren gegenwärtigen Verbältnissen? Soll sie in den oberen
Classen einheitlich oder getheilt werden?
2. Welche Aufgabe soll in der neuen Mittelschule der lateinischen
Sprache, die bisher eine so große Rolle gespielt hat, zufallen, was soll
das Endziel des Unterrichts in dieser Sprache sein, und in welcher
Classe soll er beginnen?
3. Bis zu welcher Classe soll die Einheit der Mittelschule reichen?
Soll sie in den oberen Classen zwei- oder dreitheüig werden? Welches
sollen die gemeinschaftlichen Gegenstände sein? (Lateinische Sprache,
Realgegenstände, moderne Sprachen?)
4. Ist es nothwendig, die Mittelschule in zwei Glieder, z. 6. in
untere und obere, zu theilen? Wäre es nicht zweckmäßig, die Ab-
solvirung des unteren Gliedes mit einer Prüfung zu verbinden und
zwar unter Aufsicht von Regierungscommissären?
5. In welcher Beziehung soll die einheitliche Mittelschule zu der
Volksschule, zu den praktischen Fachschulen und zu den Hochschulen
(Universität, Akademien) stehen?
Ministerialrath J. Klamarik erläutert die Fragepunkte und be-
merkt dann, dass unter denselben zwei Fragen fehlen, welche trotz-
dem berücksichtigt werden müssen. Die eine betrifft die körperliche
Erziehung, die andere die Überbürdung. Von der letzteren bemerkt
er, dass sie das System nicht berühre; sie sei eine Frage der Methode.
B. L. Eötvös, Rector der Universität, weist darauf hin, 'dass in
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der Organisation einer guten Mittelschule zwei Dinge wichtig sind,
und zwar: 1) das System, d. h. eine Organisation, welche den Bedürf-
nissen der bürgerlichen Gesellschaft entspricht; 2) der gute Lehrer.
Es fragt sich, welches von beiden wichtiger sei. Er hält das zweite
für wichtiger, weil der gute Lehrer bei jedem System gute Resultate
erzielen wird. Was das System anbelangt, so stimmt er für das
jetzige Gymnasium mit der Modifikation, dass auf das Freihand-
zeichnen, welches für die allgemeine Bildung sehr wichtig ist, mehr .
Gewicht gelegt werde. Die einheitliche Mittelschule soll für alle
höheren Schulen befähigen. Bei der Bi- oder Trifurcation in den
oberen Classen wolle er möglichst liberal verfahren.
Jul. Schwarz, Abgeordneter und einer der hervorragendsten
unserer Cultar-Politiker, entwickelt den Plan einer achtclassigen Mittel-
schule, mit einer Trifurcation in den oberen Classen. Die Schüler,
die sich den Humanioren widmen, studiren Latein und Griechisch,
diejenigen, die sich den Naturwissenschaften oder den polytechnischen
Studien zuwenden, beschäftigen sich eingehender mit Mathematik und
Physik; diejenigen, welche nicht weiter studiren, lernen National-
ökonomie, Elemente der Rechtskunde, Statistik u. s. w. Die Bürger-
schulen seien aufzuheben.
Karl Szasz, reformirter Bischof, wünscht eine neunclassige
Mittelschule.
Zoltan Beöthy, Universitätsprofessor, will ebenfalls neunclassige
Mittelschulen. Die ungarische Mittelschule soll den gemeinschaftlichen
Grund der Nationalcultur legen, sowol der Form wie dem Inhalte
nach. Die nationale Sprache und Geschichte sollen die dominirende
Stellung in dem Lehrplan einnehmen.
Jul. König, Rector des Polytechnicums, erklärt, dass das Poly-
technicum keiner besonderen Mittelschulen bedürfe. Er sei ein
eifriger Anhänger der Einheitsschule, mit der Bemerkung, dass die
Mittelschule von den Elementen, die nicht hingehören, gesäubert werde
müsse; darum sei die Ent Wickelung der Bürgerschule noth wendig.
Er wünscht neunclassige Mittelschulen mit einer Bifurcation in den
oberen Classen. Er ist kein Freund der halbobligatorischen Gegen-
stände.
Ludwig Spitkö, Studien-Oberdirector, deducirt aus dem all-
gemeinen System der Schulen die Notwendigkeit der einheitlichen
Mittelschulen. Für die Fachschulen untersten Grades bereitet die
Volksschule vor, für die mittleren die Bürgerschule, für die höheren
die Mittelschule. Für die einheitliche Mittelschule stellt Redner
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i
folgende Bedingungen: 1) sie soll alle wesentlichen Elemente der
modernen Wissenschaft und Nationalcultur zur Geltung bringen; 2) sie
soll die Geschichte des Vaterlandes in den Vordergrund stellen; 3) ihr
wichtigster Gegenstand ist die Nationalsprache und Literatur; 4) sie
soll die idealen und culturellen Elemente des Alterthums nicht ver-
nachlässigen; 5) sie soll die lateinische Sprache für jeden obligatorisch
machen; 6) auch eine moderne Sprache (deutsch) soll sie aufnehmen;
7) sie soll die Naturwissenschaften gehörig berücksichtigen; 8) das
Zeichnen ist unbedingt nothwendig. Die Mittelschule soll gegliedert
— in zwei Abtheilungen (obere und untere) — werden u. s. w.
Hyppolit Feher, Studien-Oberdirector, wünscht die gleichzeitige
Reform der Bürgerschulen, mit der Combination der niederen Fach-
schulen. Die innere Reform der Professorenbildung sei sehr noth-
wendig. Die Aufgabe der Mittelschule sei wesentlich formell.
Ludwig Felmery, Universitiätsprofessor, begrüßt die Einheits-
schule vom Gesichtspunkt der einheitlichen nationalen Bildung, tadelt
in den heutigen Mittelschulen den Encyklopädismus, das Memoriren,
die Überbürdung, die Vernachlässigung der körperlichen Erziehung,
der nationalen Bildung, des Idealismus. Er wünscht eine Mittelschule,
deren Hauptgegenstände: die ungarische und lateinische Sprache und
Literatur, die vaterländische Geschichte sowie Mathematik wären.
Die sechs unteren Classen, mit einer Schlussprüfung, sollen ein
geschlossenes Glied bilden; die Maturitätsprüfung soll aufgehoben und
durch eine Aufhahmsprüfung beim Eintritt in die Hochschule ersetzt
werden.
Moricz K&rmäm, Universitätsprofessor, wirft einen Rückblick
auf das Historicum der Frage und beschreibt die Entwickelung der
Realschule seit zwanzig Jahren. Er sieht die Bedürfnisse der National-
cultur in folgendem: Jeder Sohn Ungarns muss in der Mittelschule
jene Elemente der Cultur finden, welche man im Auslande bietet; es
soll eine Organisation zustande kommen, welche jene Gegenstände,
die man überall für wichtig hält, genügend würdigt; darum sei die
Rolle wichtig, welche die Reform den classischen Studien zuweist
Kin weiteres Bedürfnis sei, dass die Mittel der Cultur möglichst
großen Kreisen zur Verfügung stehen. Redner weist darauf hin, dass
es über hundert Ortschaften gäbe, in welchen nur Gymnasien bestehen;
tlarum sei der Andrang zu diesen Anstalten so groß; es sollte prin-
cipiell ausgesprochen werden, dass da, wo es noch keine Bürgerschulen
gebe, kein Gymnasium errichtet werden dürfe. Das Gymnasium bleibe
eine wissenschaftliche Schule.
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Alexander Lengyel, Bürgerschuldirector, nimmt die Bürger-
schalen in Schutz und sagt, dass dieselben nicht mit den Mittelschulen
concnrriren. Die Sache sei umgekehrt: es sei auch hier betont worden,
dass die vier unteren Classen der Mittelschulen ein abgerundetes
Ganze bilden mögen für diejenigen, die eine praktische Laufbahn ein-
schlagen wollen. Er weist auch jene Behauptung zurück, dass das
Gymnasium durch die Bürgerschule von seinem Ballast befreit werden
könne; denn wenn ein Schüler im Gymnasium nicht fortkommen könne,
würde derselbe auch in der Bürgerschule zu nichts kommen. Er
wünscht, dass die Einheitsschule Gymnasium heiße, die Bürgerschule
Mittelschule.
Karl Veredy, Schulinspector, sagt: Es wurde constatirt, dass
die Elementarschule für die Mittelschule nicht vorbereitet; die Schüler,
welche von der Elementarschule austreten, sind oft faul im Denken,
die Ursache davon ist, dass man die Schüler, welche in die Mittel-
schule eintreten wollen, mit den übrigen gemeinschaftlich unterrichtet.
Er wünscht Vorbereitungclassen. Die Bürgerschule soll mit der Mittel-
schule nicht concurriren, sie soll praktisch entwickelt werden.
Emmanuel Beke, Mittelschulprofessor, spricht gegen die Auf-
nahme von der dritten Elementarciasse, denn das wäre nur ein Lehrer-
wechsel, der des Opfers, welches die Eltern bringen müssen, nicht
wert sei. Von 11 000, die in die erste Classe der Mittelschule ein-
treten, blieben für die fünfte Classe nur 4000. Die lateinische Sprache
sollte man anfangen, wo ein Theil der Zöglinge in die niedereren
Fachschulen übertrete. Die Geschichte des Schulwesens zeige, dass
die classischen Studien gegenüber den Realien und modernen Sprachen
allmählich zurücktreten: er könne sich auch diese Reform nicht anders
vorstellen, als dass sie einen breiteren Raum für die Realgegenstände
schaffe.
Nachdem noch einige Redner gesprochen hatten, wurde die Special-
debatte begonnen. Es würde zu weit fuhren, dieselbe in ihren Einzel-
heiten zu verfolgen ; es genüge, die Beschlüsse bezüglich der einzelnen
Fragepunkte anzuführen.
1. Auf den ersten 'Fragepunkt gibt die Antwort die General-
debatte, das heißt: unseren Verhältnissen entspricht am meisten die
einheitliche Mittelschule mit der lateinischen Sprache, mit größerer
Berücksichtigung der Realgegenstände, der modernen Sprachen und
des Freihandzeichnens und mit getheilten oberen Classen.
2. Die lateinische Sprache ist in der neuen Mittelschule obliga-
torisch. Der Unterricht soll weniger extensiv als intensiv sein; das
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zu viele Grammatisiren ist schädlich. Das Endziel ist das Verstehen
der lateinischen Autoren. Der Unterricht soll nicht in der ersten
Classe beginnen.
3. Die vier ersten unteren Classen sollen einheitlich sein. Ge-
meinschaftliche Gegenstände seien die des jetzigen Gymnasiums mit
Hinzufügung des Zeichnens und der erweiterten Naturwissenschaften.
Getrennt, als compensatorische Gegenstände wurden gelehrt die
griechische und eine moderne Cultursprache. In der Einrichtung der
Anstalten ist eine gewisse Latitude in Betreff der Compensations-
gegenst&nde wünschenswert.
4. Die Bifurcation der Mittelschule ist nicht wünschenswert.
5. Die Errichtung der Vorbereitungsclassen ist wünschenswert,
aber nicht obligatorisch. Die Aufnahmsprüfung von der dritten
Elementarciasse für die Vorbereitungsciasse oder von der vierten Elemen-
tarclasse in die erste Classe ist nicht nothwendig. Das Übertreten
von der Bürgerschule in die Einheitsschule soll auf Grund einer
Prüfung gestattet werden. Die sechsclassige Bürgerschule soll für
niedere Beamtenstellen qualificiren.
Wenn wir nun über die Verhandlungen der EnquGte eine Revue
halten, so ist eine gemeinschaftliche Idee, welche alle Redner geleitet,
and welche sich als rother Faden durch alle Discussionen hingezogen
hat, nicht zu verkennen. Diese Idee ist das einheitliche nationale
Bewusstsein, d. h. das Wachrufen dieses Bewusstseins als Zweck der
geplanten Einheitsschule. Wird dieses Ziel allein durch die Mittel-
schule, ohne Beistand der Volksschule, erreicht werden können? Ich
bezweifle es stark. Man kann die sogenannte intellectuelle Classe bei
uns auf 200000 Köpfe schätzen; ihre Zahl ist von der Gesammt-
bevölkerung (15 Millionen) des Landes kaum lV«°/o- Ich kann nicht
begreifen, wie es unsere Culturpolitiker mit der Gerechtigkeit verein-
baren können, dass sie bei der Regelung des Unterrichtswesens nur
die Interessen dieser 17«°/o berücksichtigen.
Ich kann meiner Verwunderung kaum gehörig Ausdruck geben,
dass Männer wie Georg Szatmäry (gegenwärtig Ministerialrath) für
die Verteidigung der Volksschule kein Wort hatten; denn er war es,
der sich noch vor kurzem geäußert hat, wie folgt: „In unseren Ver-
hältnissen in Ungarn kann wahrlich nur diejenige Politik für national
gehalten werden, welche die kräftige Ausnützung der Volksbildung
zu ihrem Programmpunkte annimmt; jedes Regierungssystem ist nur
soweit wahrhaft national, soweit es die Cultur im allgemeinen und
besonders die Interessen der Volkserziehung befördert und ihnen dient.
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Wir können eine gute Justiz-, Verkehrs- und nationalökonomische
Politik betreiben, eine gute Administration einführen, aber einzig und
allein mit diesen und durch diese wird der ungarische Staat um kein
Haar mehr ungarisch, als er sonst ist ... . Einen nationalen Staat
ohne kräftige, wirksame Unterrichtspolitik halte ich für eine Chimäre.«
Das Schicksal der Nation, insofern es von uns abhängt, wird auf dem
Felde der Volkserziehung entschieden. Deswegen liegt die Lösung
der erhabensten nationalen Probleme auf dem Terrain der Volksbildung."
(Siehe: Ung. Seminarlehrer-Zeitung 1889, Oct.) Wirklich, ich kenne *
keine Stelle, wo die nationale Aufgabe der Volksschule schöner und
prägnanter bezeichnet wäre.
Betrachten wir die Frage nach dem Zweck beider Schulen
(Mittel- und Volksschulen). Beide Schulen haben als Zweck die all-
gemeine Bildung. Es tragt sich nun, welches ist der Unterschied
zwischen der Bildung, welche die Mittelschule, und derjenigen, welche
die Volksschule zu bieten sich zur Aufgabe gestellt hat. Ich glaube
mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, dass jedes Zeitalter nur eine
Bildung hat; wer den Gedankenkreis, das Bestreben seiner Zeit erfasst,
wer sich für die Ideen der Erwählten seiner Zeitgenossen zu begeistern
im Stande ist, ist gebildet. Obwol also die Bildung jeder Zeit nur
eine ist, hat sie doch höhere und niedere Stufen, sozusagen con-
centrische Kreise, welche sich um so mehr erweitern, je höher man
steigt. Man könnte also sagen: die Mittelschule (hier immer das
Gymnasium zu verstehen) hat die Aufgabe, die allgemeine Bildung in
ihrem historischen Zusammenhange, die eigene nationale Bildung im
Verhältnis zur Bildung anderer Völker zu bieten; während die Volks-
schule die actuelle Bildung der eigenen Nation ohne Rücksicht auf
die Vergangenheit und auf die Bildung anderer Völker bietet. Es
ist also klar, dass die eigentliche Nationalschule die Volksschule ist.
Es ist ebenfalls evident, dass das gesammte Unterrichtswesen ein
organisches Ganze bilden muss; und jede Culturpolitik ist verfehlt, die
ihre Basis außer der Volksschule sucht. Ich kann es nicht leugnen,
ich habe von den Berathungen der Enquete viel gehofft; ich habe
gehofft, dass die Auserwählten der Nation einen Modus finden wurden,
die Mittelschule zur Volksschule in organischen Zusammenhang zu
bringen, ohne die letztere zu schädigen. Darum ist die Enttäuschung
so groß. So viel zur principiellen Seite der Frage; betrachten wir
nun die praktische Seite.
Mittelschulen (Gymnasien und Realschulen) haben wir 183,
Bürgerschulen 164, höhere Mädchenschulen 18; zusammen 365. Ge-
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nannte Schulen nehmen ihre Zöglinge aus der vierten Elementarclasse
auf; darum halten es solche Gemeinden, in welchen Mittel- oder
Bürgerschulen sind, nicht für nöthig, die fünfte und sechste Classe
der Elementarschule zu errichten. Wenn wir noch dazunehmen, dass
78 °/0 unserer Elementarschulen ungetheilt sind, so werden wir ersehen,
wie schlecht es mit unserem Volksschulwesen steht. Aber das ist
eben der Haken: die gelehrten Herren wollen von den Zöglingen der
ungetheilten Volksschule nichts wissen. Aber ich glaube, die Un-
vollkommenheit eines Theils einer Institution berechtigt noch nicht,
die ganze Institution zu verdammen. Wenn die Herren mit der un-
getheilten Elementarschule nicht zufrieden sind, sollen sie als Be-
dingung zur Aufnahme in die Mittelschule die Absolvirung der sechsten
Classe der getheilten Elementarschule — natürlich, wenn die Mittel-
schulen mit sechs Classen eingerichtet werden — aufstellen. Diese
Bedingung würde auch die Leiter des Volksschulwesens anspornen,
das Verhältnis der getheilten und ungetheilten Schule zu regeln. Ich
glaube, auch der Unterricht würde dadurch nur gewinnen. Denn der
gelehrte Professor der Mittelschule betrachtet das Unterrichten in der
ersten and zweiten Classe nur für eine Last, welche er mit Wider-
willen trägt, und von welcher er sich möglichst bald zu befreien
strebt; dagegen betrachtet der Elementarlehrer das Unterrichten in
der fünften und sechsten Classe als die Krone seiner Wirksamkeit,
welche er mit der größten Lust und Liebe pflegt. Dass ein Unter-
richten, welches mit Lust verrichtet wird, besser ausfallen muss, als
dasjenige, welches man nur mit Unwillen ausübt, braucht nicht weiter
erörtert zu werden. Was die materielle Seite der Sache anbelangt,
sei folgendes erwähnt. Unsere Elementarlehrer würden mit einem
Minimalgehalt von 400 fl. zufrieden sein; die Mittelschulprofessoren
sind mit ihren 1200 fl. Grandgehalt nicht zufrieden. Welch eine
Kostenersparnis würde daraus entstehen! Es liegt nicht an dem, dass
wir für die Cultur zu wenig opfern, sondern daran, dass wir bei der
Ausgabe nicht ökonomisch sind.
Ich könnte meine Betrachtungen schon schließen; aber ich will
doch etliche Äußerungen über die Volksschule nicht ohne Erwiderung
lassen.
Ein geehrter Redner deducirt die Notwendigkeit der jetzigen
Bürgerschulen aus der Vorbereitung zum Gewerbe. Ja, wenn die
Bürgerschulen zum Gewerbe erzögen, dann möchte ich der eifrigste
Vorkämpfer dieser Schulen werden; aber ich kenne keinen einzigen
Zögling, der die Bürgerschule absolvirt und sich eine gewerbliche
PawtarohUB. U. Jahrg. Heft VIII. 37
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Laufbahn gewählt hätte. — Ein anderer Redner beschuldigt die Volks-
schulen, dass manche ihrer Zöglinge im Denken faul seien. Ich kenne
sehr viele diplomirte Männer, die im Denken faul sind; sollen wir des.
wegen die Hoch- und Mittelschulen verurtheüen? Außerdem wird
die Sache nicht ganz so sein, wie es scheinen mag; oft kommt viel-
leicht die angebliche Denkfaulheit von der Ckmsternirung der aus der
Volksschule ausgetretenen Zöglinge: der Elementarlehrer unterrichtet,
der Mittelschullehrer trägt vor; es ist also naturlich, dass der arme
Zögling sich nicht zurechtzufinden weiß.
Noch eins. Der gute Wille des Ministers, die verschiedenen
Schulen miteinander in organische Verbindung zu bringen, war vor-
handen. Dies beweist das. Gesetz von den Kleinkinderbewahranstalten,
mit welchem wir ganz Europa Uberholt haben. Wenn also die Volks-
schule auch in der Zukunft das Aschenbrödel des Unterrichtswesens
bleibt, wird nicht der Minister schuld sein, sondern jene Männer, die
er um Rath befragt hat.
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Schulprogramme.
Von Rector A. GUd-Ca»8ä.
Seit Jahrhunderten ist es Brauch, dass sogenannte „gelehrte"
Schulen Nachrichten über ihre Einrichtungen, ihren Lehrplan, die
Lehrer, die Schüler, Vorkommnisse im Schulleben etc. am Schlüsse des
Schuljahres veröffentlichen, an die Eltern der Schuler, an Freunde
und Gönner der Anstalten vertheilen und gegenseitig austauschen.
Dieser Brauch ist auch von andern, nicht „gelehrten" Schulen, wie
städtischen Burger- uud Volksschulen, angenommen worden. Meistens
ist den Schulnachrichten der gelehrten Schulen eine wissenschaftliche
Abhandlung beigefügt, welche in den zahlreichsten Fällen nur Fach-
männern verständlich, daher für die meisten Eltern, Freunde und
Gönner und auch für viele Lehrer ohne Nutzen ist. Durch einen
Erlass des Cultusministers Dr. Falk vom 26. April 1875 ist die jähr-
liche Ausgabe solcher Schulnachrichten für die höheren Lehranstalten
allgemein geboten, während die Beigabe einer Abhandlung nur
empfohlen ist. Der gegenseitige Austausch ist durch die angezogene
Verfügung dahin geregelt, dass jede Central- bezw. Provinzialbehörde
ein Verzeichnis der ffir Ostern in Aussicht genommenen Abhandlungen
zusammenstellt und dasselbe an die Teubner'sche Verlagsbuchhandlung
in Leipzig einschickt, die dann alle Verzeichnisse zusammenstellt und
den betheiligten Behörden und Anstalten zur Auswahl zusendet. Mehr
und mehr unterblieb indessen die Beigabe einer wissenschaftlichen
Abhandlung, so dass sich Minister von Puttkamer veranlasst sah,
durch einen Erlass vom 31. October 1879 zu empfehlen, diese für das
wissenschaftliche Leben des höheren Lehrerstandes so bedeutsame
Sitte festzuhalten, bezw. wieder aufzunehmen. Hiernach könnte es
scheinen, als wären die Schulprogramme nur der Lehrer wegen da
oder doch vorzugsweise ihretwegen; dem ist jedoch nicht so. Unserer
Meinung nach waren die Programme von jeher hauptsächlich der
Eltern wegen da, die über das Thun und Treiben der Anstalt, der
«e ihre Kinder anvertraut hatten, unterrichtet werden sollten. Dieser
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Ansicht ist auch Dr. Kühner, der in den Programmen, die er als
Director der Musterschule in Frankfurt jährlich abzufassen hatte, auf
den Versuch, „wissenschaftliche Specimina" zu geben, verzichtete und
sein ganzes Bestreben dahin richtete, „nach bestem Vermögen denen
zu dienen, die er voraus als willige Leser kannte oder als solche zu
gewinnen hoffte". Dass diesem Zwecke auch die Form der Darstellung
sich anbequemen müsse, ergab sich ihm von selbst; so gestalteten sich
seine Aufsätze als Versuche, pädagogische Gedanken in einer für den
Laien ansprechenden und verständlichen und doch auch dem wissen-
schaftlichen Sinne annehmbaren Form zu behandeln. Im übrigen
waren seine Aufsätze, wie er ausdrücklich betonte, nur für die Eltern
seiner Schüler bestimmt, und nur- solche pädagogische Zustände, Ge-
wohnheiten und Ansichten, wie er sie in der Schulgemeinde charak-
teristisch vertreten fand, bildeten überall den Gegenstand seiner
Besprechung.
Ist das Programm nicht so eingerichtet, dass es für die Eltern
bestimmt ist, so muss es dem entsprechend gestaltet werden»
wenn es mit Grund und Recht beibehalten werden soll. Die Lehrer
haben heutzutage Mittel und Wege genug, sich ihre wissenschaftlichen
Arbeiten gegenseitig zugänglich zu machen. Hat einer eine wissen«
schaftliche Abhandlung geschrieben, die etwas taugt, so findet er
dafür jederzeit einen Verleger, oder er kann sie in den zahlreichen
Fachzeitschriften veröffentlichen; ist sie aber nichts wert, so sollte
sie auch nicht auf Kosten des Staats oder der Gemeinde gedruckt
werden. Solche Erwägungen mögen es gewesen sein, welche die
Berliner Communal Verwaltung zu dem Beschlüsse veranlassten, die
Mittel zur Drucklegung der Programmabhandlungen nicht mehr be-
willigen zu wollen. Außerdem sind die Lehrer nicht an den Schulen
angestellt, um wissenschaftliche Steckenpferde zu reiten, sondern damit
sie von dem, was sie gelernt haben und noch dazu lernen, den ent-
sprechendsten Gebrauch zum Nutzen ihrer Schüler machen. Das beste
Studium des amtirenden Lehrers bleibt die beständige Vorbereitung
auf den Unterricht, die fleißige Weiterarbeit im Fache mit steter
Rücksicht auf den Beruf, das Studium der Pädagogik. Die wissen-
schaftlichen Abhandlungen können also ohne Schaden für die Lehrer
und ihre wissenschaftlichen Bestrebungen wegbleiben, von großein
Vortheil aber würde es sein, wenn die Schule das Programm zu dem
gestalten wollte, was es eigentlich sein sollte, zum Rechenschafts-
berichte, zum Mittel der Verbindung von Schule und Haus zwecks
Verständigung über die gemeinsamen Aufgaben. In einer Zeit, in der
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man so viele Klagen der Schule über das Hans und umgekehrt des
Hauses über die Schule zu hören bekommt, sollte man gar nicht mehr
im Zweifel über diese Bestimmung des Schulprogramms sein. Da
klagt das Haus über Schuleinrichtungen, Uber den Lehrplan, über
Überbürdung der Schüler, Eingriffe der Schule in die Einrichtungen,
Ordnungen und Grundsätze des Familienlebens, was die Schule ihrer-
seits mit Klagen über Mangel an Einsicht in die Schulverhältnisse,
über verweichlichende Erziehung, offen und geheim gewährten Wider-
stand etc. erwidert. Eine Verständigung thut liier sehr noth, und
was liegt näher, als hierzu das Schnlprogramm zu benutzen? Kämen
dazu noch pädagogische Abhandlungen über Schul- und Erziehungs-
fragen, wie z. B. Zeitein theilung, häusliche Leetüre, Verwendung der
Freizeit, Taschengeld, Bekämpfung der Verfrühung des Genusses,
Privatunterricht u. a., so könnte manches Gute in der Jugenderziehung
durch das Programm bewirkt werden. Weiß man aber über solche
Dinge nichts zu sagen, so verschone man auch das Haus mit wissen-
schaftlichen Abhandlungen, von denen es in den meisten Fällen nichts
hat als das Anstaunen; dann spare man für solche Abhandlungen
.Druckerschwärze, Papier und Geld. Manche Directoren fügen ihren
Programmen schon Abhandlungen über Schul- und Erziehungsfragen
an, warum wollen es nicht alle thun? Auch die Volks- und Bürger
schulen, die Programme ausgeben, sollten in denselben ein Mittel der
Verbindung mit dem Hause sehen und sich die oben angeführten
Darlegungen zu nutze machen. Wenn die Bauleute, die gemeinsam
ein Gebäude aufführen, sich nicht nacheinander richten wollten, so
würde nichts Ordentliches entstehen; sollte es in der Erziehung und
bei den Erziehern anders sein? Haus und Schule müssen sich immer-
mehr gegenseitig anerkennen, sich vertrauensvoll nähern, und dazu
müssen die Schulprogramme mithelfen.
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Bei den Kleinen.
Erinnerung aus dem Lehrerleben.
Von Alois Stolz-Pforzheim.
Im Kind ist Wahrheit, reine, unverfälschte. Solange ans dieselbe aas
treuherzigen Einderaagen entgegenleachtet and von frischen Einderlippen sich
offenbart, darf ans nicht bangen vor der Zukunft, sofern wir uns nur der
heiligen Pflicht bewusst sind, dieses kostbare Angebinde der Natur zu erhalten,
den Trieb nach Wissen und Wahrheit zu veredeln und in die rechten Bahnen
zu lenken, um ihn für das spätere Leben fruchtbar zu machen. Sieben Jahre
lang hatte ich die ABC-Schtitzen in geistiger Atzung und fand dabei reichlich
Gelegenheit, die von den „Segnungen der Cultur" fast unberührte Eindes-
seele, wie sie sich dem Lehrer eines einsamen Walddorfes präsentirt, in ihrer
ganzen göttlichen Ursprünglichkeit kennen zu lernen. Der Umgang mit der
kleinen Schar hatte für mich immer etwas Erquickendes und Erfrischendes.
Aus jener Zeit sind mir zwei Begebenheiten erinnerlich, die sich meinem
Herzen und Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt haben.
Wer kennt sie nicht, die enfants terribles? sie finden sich überall, in
der Hütte des Waldbauern, wie im Palaste der Großstadt, und nicht zum
mindesten in der Dorfschule zeigt sich ihre köstliche Naivetät und harmlose
Unbefangenheit, die jedes Ding plattweg beim rechten Namen nennt. Ein
kleines Plappermäulchen mit dem poetischen Namen Veronika, für gewöhnlich
hieß sie Vroni, musste eines Tages wegen Mangel an Schweigsamkeit mit
„Dableiben" bestraft werden. Sie nahm das Verdict anfangs ruhig hin, offen-
bar in der stillen Hoffnung, es werde ihr am Schlüsse des Unterrichts mit ein
paar freundlich-bittenden Worten, worin sie große Virtuosität besaß, schon ge-
lingen, mein Lehrerherz zu rühren und die von ihr über alles geliebte Freiheit
zu erbetteln. Als die Kinder das Schullocal verließen, kam die kleine Sünderin
zaghaft, die Augen reibend, auf mich zu. „Nun?" „Herr Schullehrer, sei*)
so gut und lass mich heim; ich will wieder brav sein." „Wird nichts draus!"
Großes Jammern und Wehklagen. „Hilft nichts; Du musst dableiben; aber
es dauert ja nicht lange." „Ich fürchte mich." „Ich bleibe bei Dir; arbeite
jetzt an Deiner Hausaufgabe." „Aber meine Mutter braucht mich; ich werde
von ihr gezankt, wenn ich so lange nicht komme."
Bekanntlich muss das zarte Geschlecht, ob alt oder jung, immer das
letzte Wort haben; ich verzichtete also auf alle weiteren überzeugenden Aus-
♦) Es begegnet dem Lehrer oft, dass ihn die Anfänger mit dem vom Eltern-
hause, her gewohnten „Du" anreden, mich seldst ergötzte diese gemüthliche Anrede
jedesmal sehr, und ich ließ sie ruhig geschehen, in der Gewissheit, dass sie in kurzer
Zeit dem fremden „Sie" weichen werde.
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einandersetzungen und ließ die hoffnungsvolle Kleine ruhig lamentiren und
arguiren , ohne mich weiter um sie zu kümmern. Das wirkte, wie immer in
solehen Fallen, ungemein beruhigend. Noch ein paar schwere Tropfen, dann
hellte sich der trübe Himmel plötzlich auf und mit der ganzen Liebenswürdig-
keit, deren die kleine Hexe fähig war, setzte sie ihre Friedenspräliminarien
in anderer Form fort „Herr Schullehrer, wenn Du mich jetzt fort lässt, danu
bekommst Du meine Birnen und den Pfannkuchen"; sprach's und legte als
Pfand ihrer Freiheit das Vesper, welches ihr die fürsorgliche Mutter mit-
gegeben, auf mein Pult Wer hätte auch da noch widerstehen können! Vroni
hatte gesiegt, und ich musste schmählich capituliren. Inzwischen war eine
gute Viertelstunde verstrichen nnd der ausgleichenden Gerechtigkeit nach
meinem Ermessen vollauf Genüge geschehen. Mit der bekannten ernsten
Mahnung, von deren nachhaltiger Wirkung auf die kleine Windfuchtel ich
freilich von vornherein keine sonderlich hohe Meinung hatte, die sie jedoch
trotzalledem hoch und theuer zu respectiren versprach, entließ ich den lieben
Schelm, der, froh über solch glänzenden Verlauf seines Plaidoyers, Birnen nebst
Pfannkuchen alsbald mit tiefem Biss den Garaus machte. —
Ich suchte, wie sich das jeder gewissenhafte Lehrer angelegen sein lässt,
auch mit den Langsamen und Armen im Geiste das vorgeschriebene Ziel
wenigstens annähernd zu erreichen. Nach mancherlei Irrthümern und Fehl-
griffen, die ja vor keinem Anfänger sicher sind, brachte ich es endlich mit
Fleiß und Beharrlichkeit dahin, dass alle Schüler meinen Anforderungen mehr
oder minder genügten. Alle, bis auf ein kleines, armes Taglöhnerkind, das
in der häuslichen Pflege sehr vernachlässigt war und vielleicht eben deshalb
ein äußerst scheues, verschlossenes Wesen zeigte. Seine Kleider waren
schmatzig und verbreiteten im Verein mit einem hässlichen Ohrenleiden gerade
nicht die lieblichste Atmosphäre. Es kostete mich eine gewaltige Überwindung,
in der Nähe des armen Wesens zu sein.
Aber Beispiele erziehen, und das erhabene Vorbild unseres unvergeßlichen
Lehrmeisters Pestalozzi, der es in seiner selbstvergessenden Menschenliebe
Über sich vermochte, die mit Geschwüren und Ungeziefer behafteten Waisen-
kinder eigenhändig zu waschen und zu reinigen, ließ auch mich mit der Zeit
den Ekel überwinden. Mit. mancherlei, erfahrenen Collegen abgelauschten
Kunstgriffen und Kniffen, die einem Laien im Volksschulunterrichte vielleicht
lächerlich erscheinen könnten, in der Praxis aber vorzügliche Dienste leisten,
hatte ich der „Bärbel" die Laute und Bucbstabenformen beigebracht, wenn
auch nach manchem verschluckten Ärger und gewaltigen Geduldsproben. Das
ging endlich; aber mit dem Zusammenlesen der Laute zu Silben kamen wir
während 8/4 Jahren auch um kein Haar breit vorwärts. Immer und immer
wieder machte sie die bekannte fatale Pause zwischenbinein. Schon gab ich
die Hoffnung auf, das arme Ding, das in den andern Unterrichtsgegenständen
sonst leidlich mitkam, in die zweite Classe versetzen zu können und hatte es
auch bereits in schonender Weise auf diese Calamität vorbereitet. Bei jedem
andern Schüler hätte nun eine solche Ankündigung Heulen und Zähneklapperu
hervorgerufen; nicht so bei der Bärbel, obschon sie, wie ich mich später über-
zeugte, kein geringes Herzeleid empfand. Äußerlich aber erschien sie gegen
mich womöglich noch verschlossener als zuvor und vermied von nun an jeden
Verkehr mit ihren Genossen, die sie ihrerseits mitleidig ihres Weges gehen
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ließen. Mich dauerte das arme Geschöpf ; aber es war ihr auf keine Weise
beizukommen. Sie that zwar willig, was ich sie hieß; doch Milde and Freund-
lichkeit ließen sie gl eichgilt ig, und ihr Gesicht zeigte stets denselben lethar-
gischen Ausdruck. Manchmal war ich geneigt, dieses Verhalten der Verstockt-
heit und Böswilligkeit zuzuschreiben und Strenge walten zu lassen. Aber der
leise melancholische Zug um den Mund und der bekümmerte Blick, mit dem
mich das Kind zuweilen anschaute, wenn ich mich wieder einmal vergeblich
mit ihm abgemüht und seufzend von der Sisyphusarbeit abstand, ließen mich
instinetiv fühlen, dass doch ein menschlich Fühlen unter dieser unfreundlichen
Hülle verborgen sein müsse, und ein gewisses psychologisches Gefühl sagte
mir, dass Strenge hier sehr übel angebracht wäre. Also immer heiter und
wenn auch nur Äußerlich; denn „Heiterkeit ist ja der Himmel, unter dem alles
gedeiht, Gift ausgenommen". Wenn viele Tropfen einen Stein höhlen, so
nmsste doch endlich auch meine Arbeit von Erfolg sein. Mit dieser unverwüst-
lichen Hoffnung, die mir niemals abhanden kommen möge, widmete ich dem
hilfsbedürftigen Kinde tätlich einige iiinuten, erwartend, dass es ihm unter
meiner Assistenz endlich glücken werde, den Stein der Weisen zu finden. Und
siehe da, mein Glauben wurde belohnt und mein heißes Sehnen erfüllt, wenn
auch auf ganz eigenartige Weise. Das kindliche Geistesleben offenbart sich
oft höchst merkwürdig. Wonach ich mit vielem Mühen solange vergeblich
gerungen, das brachte ein anderer mühelos in einer Nacht zuwege. Ein alter
Tröster und treuer Kinderfreund hatte das große Problem, wie schon so
manches andere, spielend gelöst — der Schlaf. Sein milder Engel senkte er-
barmend die Fittiche über das arme kleine Menschenkind und wiegte es zur
Ruhe. Aber die kleine Psyche umgaukelte und quälte ein hässlicher Traum.
Barbele befand sich in der Schule und versuchte mit mir zu lesen. Ach, wenn's
doch nur einmal ginge, das dumme an, am, in, im. Doch siehe, es geht ja!
Wunderbar, wie sich die widerspenstigen Gesellen, die Laute, heute so glatt
zusammenfügen, ganz so, wie beim Lehrer und bei den andern Schülern. Und
was das geheimnisvolle stille Weben des Traumes begonnen, das spielte sich
in den wachen Zustand hinüber. Andern Tages kommt Barbele, ich traute
kaum meinen Augen und Obren, mit freudestrahlendem Antlitz und der frohen
Botschaft: „Herr Schullehrer, i kann's!" „Was denn, Barbele?" „Jetzt kann
i's z'samme lese!" „Ei, was Du sa^st, lass mal hören!" Und sie las, anfangs
mit erregter, zitternder Stimme, die Laute zu Silben und diese nach einigen
Übungen zu Wörtern. Hurra, der Knopf war gebrochen, der Rubicon tiber-
schritten. Mit freudigem Eifer las sie jetzt Zeile um Zeile, immer fließender,
immer besser. Als ich sie daraufhin lobte und ihr die ersehnte Promotion in
sichere Aussicht stellte, da drang es wie ein erwärmender, belebender Sonnen-
strahl in das verdüsterte Kinderherz. Ein nie empfundenes, beseligendes Ge-
fühl durchzuckte die junge Seele und erweckte sie zu neuem, heiterem Leben.
Wo übermächtige Freude keine Worte findet, da offenbart sie sich in Thränen,
welche die wunderbare Eigenschaft besitzen, den Schmerz zu lindern und im
Glücke zu beruhigen, immer aber das Gleichgewicht der Seele herzustellen.
Mein Barbele weinte vor Glück und Freude, und die ganze Ciasse gab ihrer
Antheilnahme an dem frohen Ereignis in solch natürlicher und rückhaltsloser
Weise Ausdruck, dass ich hiervon fast mehr gerührt wurde als von dem Glücke
des Kindes. Solch ein Blick auf den Grund der Kindesseele ist ein köstlicher
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Genuas, ein Lichtstrahl in das Allerheiligste der Schöpfung, der aber nur dem
zutheü wird, dem eine gütige Fee die Gabe verliehen, mit heiterem Gemüthe,
„unbescbrien" den Schleier vom Antlitz der göttlichen Psyche zu heben.
Schöneren Lohn und höheren Genuss für treu erfüllte Pflicht kann es nicht
geben. — In der Seele des Kindes aber war eine wunderbare heilsame Wand-
lung vor sich gegangen. Von jener Stunde an legte es sein scheues, ver-
schlossenes Wesen ab und zeigte sich heiter und zuthunlich gegen mich und
seine Kameraden.
Vierzehn Jahre waren verstrichen. Das Schicksal und die Oberschul-
behörde ließen mich inzwischen durch manche Prüfung gehen, ohne dass ich
glücklicherweise einmal das Pech gehabt hätte, zu leicht befunden zu werden.
Nach etlichen Übergangsstationen trieb mein Lebensschifflein unter mancherlei
Fährten und Nöthen und öfterer Gefahr an heimtückischen Klippen Havarie
zu leiden, an ein sicheres Gestade. Von da führte mich im vorigen Jahre in
der Ferienzeit mein Weg zum ersten Male wieder in jenes traute Dorf lein,
wo ich einst meine pädagogischen Sporen geholt. Mit dem eigenartigen freudig-
bangen Gefühl, das einen beschleicht, wenn man eine langentbehrte alte Heim-
stätte zum ersten Male wieder betritt, zog ich die alte Dorfstraße hin.
„Werden und wollen sie dich auch noch kennen; haben sie dir ein gutes An-
denken bewahrt; was wird aus deinen Schülern geworden sein, hat der oder
jene gehalten, was sie zu werden versprachen ?u Diese und ähnliche Fragen
und Gedanken beschäftigten mich beim Betreten des Dorfes, das mir zur
zweiten Heimat geworden war. Jedes Häuslein, jeder Baum und jedes Gärt-
chen, an dem ich einstmals gleichgiltig vorüberging, sie schienen mich wie
alte Bekannte zu grüßen, und ich grüßte sie wieder. Allenthalben fand ich
ein herzlich „ Willkommen", und das Händeschütteln und das Fragen nach
meinem Wolergehen wollte fast kein Ende nehmen. Ich bin von Natur aus
nicht mit einem übertriebenen Ehrgeiz ausgestattet; aber so viele Liebe und
Treue that meinem Herzen doch ungemein wol. Alles Schlimme, was ich
etwa einst erfahren, war vergessen, und nur Freundliches und Schönes in
meiner Erinnerung lebendig. Unter meinen ehemaligen Schülern, die sich mir
nunmehr als stattliche junge Männer und üppige Dorfschönen präsentirten,
begrüßte mich auch ein junges Weib, es war das Bärbele, jetzt eine respectable
Barbara, Hausfrau und Mutter. Sie soll sehr arbeitsam und tüchtig sein und
erfreut sich deshalb auch, wie ich wahrzunehmen das Vergnügen hatte, der
Wertschätzung ihrer Nachbarn. Die Schularbeit machte ihr nach jenem be-
deutungsvollen Tag keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr. Später war sie
mehrere Jahre in einem guten Bauernhause in Dienst, der auf ihre Erziehung
den besten Einfluss hatte. „Ei, wie mich's freut, Sie wieder einmal zu sehen, u
sagte sie, mir mit einem dankbaren Blicke derb die Hand schüttelnd. „Oft
habe ich daran denken müssen, wie viele Mühe und Geduld Sie mit mir gehabt,
weil ich halt eine gar so Ungeschickte gewesen bin." Ich folgte ihrer freund-
lichen Einladung zu einem Besuch und war sehr befriedigt von der bäuerlich
einfachen, aber sehr sauberen Führung ihres Haushaltes und erkannte an dem
vergnügten Gesicht ihres Mannes, dass ein guter Geist in ihrem Heimwesen
walte. Nicht minder aber erfreute mich ihre aufrichtige Dankbarkeit; denn
sie ist eine seltene Frucht im Lehrerleben.
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An« der Fachpresse.
536. Der didaktische Materialismus im deutschen Sprach«
Unterricht (Päd. Zeitung 1891, 41. 42). Erscheinungen des rdid. Mat.a:
Übermaß „orthogr. Übungen" („wie mancher Lehrer greift nicht in zweifel-
haften Fallen nach seinem Duden — man gebe doch dem Schüler ein ähnliches
Nachschlagebuch in die Hand; er kann dafür einige andere Bücher sehr gut
entbehren") — „Analysiren" — Denken über die Sprache (statt in der
Sprache) — der „Heftecultus" („er ist gewissermaßen ein Moloch, dem der
Lehrer einen großen Theil seiner Arbeitskraft, der Schüler nicht selten seine
Gesundheit opfern muss"). — Nichtbefolgung der Hildebrandischen Gesetze.
(Hinsichtlich des Lesen» wünscht Verfasser: „Das Kind sollte auch mit etwas
kritischem Blick lesen lernen.")
537. Gedanken zur Comenius-Feier (Päi Ref.*) 1892, 12). Eine
kurze, edler Begeisterung volle Bede von höherem als wissenschaftlich-päda-
gogischem — von social- pädagogischem (oder politischem) Standpunkte aus.
Darum nur über die drei Bestrebungen des Helden: Friedliche Vereinigung
aller Stände nnd Parteien — Errichtung der allgemeinen Volksschule —
Pflege der Muttersprache uud des wirklichen Lebens in der Schule. — „Man
könnte Comenius kein besseres Denkmal setzen, als ein Monument mit der
Inschrift des 29. Capitels (didactica magna) und der Zahl des Jahres, in dem
er durch die großen Gedanken sich die Unsterblichkeit erwarb." — Der unge-
nannte Sprecher glaubt (nach seinen Schlussworten), dass die Verwirklichung
der „allgemeinen Volksschule" nicht mehr allzufern sei: „Schon verkündet
die Dämmerung den anbrechenden Morgen. Die Volksseele ist mächtig ergriffen
von den Ideen „Menschenwürde und Menschenrecht" ; sie ringt, um die Bande,
welche nun schon Jahrtausende hindurch ihre Kraft gefesselt haben, zu zer-
sprengen."
538. Die Fragepnnkte der heutigen Pädagogik nach ihrem
geschichtlichen Herkommen (E. v. Sallwürk, Rhein. Blätter**) 1892,
I, II). Als Stufen der Entwicklung (die vier Jahrhunderte umfasst) werden
genannt und in der bekannten meisterhaften Weise Sallwürk's gekennzeichnet:
die Pädagogik des Humanismus — die methodische Reaction — die Natur«
erziehung — der Neuhumanismus und seine Ausläufer — die Erzieher der
Besitzlosen (Rochow, Pestalozzi, Diesterweg). — Schlussartikel über die Päda-
gogik von heute: Sie „besitzt eine vortrefflich ausgearbeitete Theorie, durch die
öffentliche Schule ihre unbestrittene Stellung in Staat nnd Gesellschaft/ Höchste,
als solche klar erkannte Aufgaben: sittliche Bildung und Erweckung geistiger
Einzelnummer 20 Pfg.
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Kraft" (denen die „nützlichen Kenntnisse u nur als Mittel dienen). „Technik
des Unterrichts* „vortrefflich ausgebildet-. „Eine noch nicht gelöste Aufgabe
ist die Einordnung der Bildungsstoffe in einen den höchsten pädagogischen
Zielen angemessenen Lehrplan. In der Verfolgung dieser Aufgabe muss und
wird eine Ausgleichung der sich gegenwärtig noch bekämpfenden pädagogischen
Richtungen stattfinden. Dringlich ist diese Aufgabe, weil man von der Er-
ziehung heute eine bestimmende Einwirkung auf die sittlichen Verhältnisse der
(i egenwart verlangt. Dieser Erwartung darf freilich die Pädagogik und die
Schule die Bedingung entgegenhalten, dass man ihr ungesäumt freie und
selbständige Arbeit gewährleiste." — In der einleitenden Erörterung der
„Meinung und Forschung in der Pädagogik" wird bemerkt: „Es gibt anf
Erden keine mächtigere Autorität als die des Lehrenden; darum kann niemand
ihn seiner Verantwortung entbinden."
539. Homo sum (G. Hauffe, Repert. d. Päd.*) 1891/92, VI). Der mit
viel Wärme geschriebene Aufsatz ist reich an Anregungen zu psychologischen
and philosophischen Studien. (Nach Hauffe's Ansicht „besteht die ganze Ent-
wicklung: des menschlichen Geistes nur darin, die Fremdheit der Materie zu
fiberwinden und das Band zwischen Leib und Seele, welches Gott ist, an den
hellen Tag des Bewusstseins zu bringen." „Die Materie ist nur ein Moment
in der Entwicklung des Geistes selbst. Der Geist ist das wahre Wesen des
Menschen, welches an der Materie nur die Weise seiner äußerlichen Erscheinung
hat.44 Vorangegangene Aphorismen suchen diese Behauptungen zu stützen.)
540. Die Abgötterei des Wissens (E. Fitzga, österr. Schulz.**)
1892, 1). „Wissen ist Macht, aber nicht Allmacht. Die Gegenwart legt
zuviel Nachdruck auf die Cultivirung des Verstandes, vernachlässigt daher
Gemüth und Körper. Die Beurtheilnng der Menschen schöpft man zumeist nur
ans Studien- und Prüfungszeugnissen. Je mehr deren vorliegen, desto besser;
daher das hentige Wissensprotzenthum. Wichtige Eigenschaften, die in keinem
Zeugnisse stehen, wie Sparsamkeit, Treue, Genügsamkeit, Findigkeit, prak-
tischer Sinn etc., werden infolgedessen zu gering geschätzt." „Die einseitige
und übertriebene Verstandespflege fördert allzusehr den Egoismus." „Das
Wissen muss aufhören, Selbstzweck zu sein, und sich bequemen, dem Menschen
zu dienen als Rüstzeug auf seinem Wege zur Sittlichkeit, zum Guten, zur
Vollkommenheit. Ein guter Mensch steht höher als ein blos intelligenter,
und das Gutsein eines Menschen hängt nicht von der Ausdehnung seines
Wissens ab." (Ist zwar nicht neu, also eine Wiederholung — aber eine
nothwendige, zeitgemäße. Es sind bisher nicht viele gewesen, die gegen den
jetzt noch in den weitesten Kreisen herrschenden Wissenschaftscultns eifern.)
541. Die schweizerische Fortbildungsschule (E. Zingg, Schweiz,
päd. Zeitschr.***) 1892, I). „Die Fortbildungsschule isteine nothwendige Er-
gänzung der Primarschule (deshalb für alle verbindlich, also „Obligatorium"),
und durch ihre Einfügung in den Schulorganismus erhalten wir erst eine
eigentliche Volksschule, die geeignet ist, auf alle Verhältnisse des privaten
*) Einzelheft 45 Pfg.
**) Einzelnummer 30 Pfg.
***) Einzelheft 1,20 Mk. (4 Hefte kosten im Jahresabonnement 6 Fr., für
Abonnenten der Schweizer Lcbrerzeitung aber nur 2 Ft.!)
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und öffentlichen Lebens einzuwirken." Sorge für die allgemeine Volksschule
soll als Sache des Bundes erklärt werden. Als Name „Bürgerschule" vor-
zuziehen, weil er die Hauptaufgabe der Schule andeutet. Schüler vom 16. bis
18. Altersjahre in drei Halbjahrs^ Winter-)Cnrsen mit mindestens 4 Unter-
richtsstunden wöchentlich. Errichtung von Jahresschulen (Befugnis der Ge-
meinden) wäre zu erleichtern und zu begünstigen. — Ideale Unterrichtsweise :
Vorträge und Discussionen aus den Gebieten der Geschichte, der Landeskunde,
der Naturwissenschaften, der Volkswirtschaft und der Gewerbe. — Besondere
Lehrer, die ausschließlich im Bürgerschuldienst stehen (dazu geeignet nur die-
jenigen, welche „Wissen mit praktischem Geschick verbinden, auch im Leben
draußen ihren Mann stellen"). Die berufliche Vorbildung der Lehrer (im
Seminar) hat auf die spätere Wirksamkeit als Bürgerschullehrer Rücksicht zu
nehmen.
542. Die erziehliche Aufgabe der Handwerkerschule und
Mittel zu deren Lösung (Cathian, Zeitschr. f. gewerbl. Unten*.*) 1891/92,
X). Nur eine verschwindend kleine Zahl junger gewerblicher Arbeiter findet
eine angemessene Erziehung im Eltern- oder Meisterhause. Von den durch
Behörden und Vereine geschaffenen Ersatzmitteln (Lehrlingsheim, Privat pflege )
verspricht sich Verfasser nicht viel. „Es bleibt — meint er — fast nur die
Schule. Kann die sich der Erziehung des Lehrlings nicht nach Kräften
annehmen, so ist die Hoffnung auf eine Besserung der sittlichen Zustände in
den Arbeiterkreisen nur eine sehr schwache." „Die erzieherische Aufgabe
der Handwerkerschule lässt sich in der Weise präcisiren, dass wir sagen: die
uns anvertraute Jugend soll für das Leben, für den Kampf ums Dasein vor-
bereitet werden, nicht blos nach der wirtschaftlichen, sondern auch nach der
sittlich-religiösen und nach der gesellschaftlichen Seite hin." Mittel: Wort
Schrift, Beispiel. — Einzelziele: Ehrfurcht vor der Größe, Schönheit, Gesetz-
mäßigkeit der Welt (Quellen: naturwissenschaftliche Fächer) — Mitgefühl
(lässt sich erzeugen durch Betrachtung der Tagesvorgänge — Benutzung von
Zeitungsnachrichten!) — Selbstgefühl; Selbstachtung — wahrer Muth des
Mannes — Muth der Erkenntnis und des Eingeständnisses — freiwilliger Ge-
horsam — Sinn für Gerechtigkeit und Recht — geistige Gewecktheit
(Fähigkeit des raschen Auffassens) — Unterdrückung der Neigung zu faulem
Aufschieben, zur Unpünktlichkeit, zur Genusssucht, Überhebung, Vornehm-
thuerei. — Der Lehrer freilich „muss ein Mann des Volkes sein; er darf
dessen Sitten und Gewohnheiten nicht fremd, kühl und theilnahmlos gegen-
überstehen".
543. Die Nothwendigkeit der Übung im lauten, freien und
zusammenhängenden Sprechen aus der Natur unserer Sprache er-
wiesen (Fr. Tauth, Zeitschr. f. d. deutschen Unterr.**) 1891, XII). Vorzüge
des hörbaren (lebendigen, natürlichen) Lautes vor dem sichtbaren (todten,
künstlichen) Zeichen. Vielseitigkeit, Wärme, Unmittelbarkeit der Lautsprache
(Fähigkeit zu reichster und sorgfältigster Gliederung) — Beschränktheit,
Äußerlichkeit der Zeichensprache. Darum hat der Mensch die Lautsprache
alB herrschende gewählt, um den Eindruck aller Sinne, sowie die Gebilde seines
*) Einzelnummer 50 Pfe.
**) Einzelheft 1 Mk.
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- 537 —
eigenen Denkens damit auszudrücken. u „Die laute Sprache setzt eine durch
Vererbung überlieferte, bis ins feinste gehende Ausbildung der Athmungs-
organe und des Gehörs mit allen dazu gehörigen Gehirntheilen voraus. Wenn
wir diese Organe nach ihrer Eigenart nicht benutzen und ausbilden, so
schädigen wir die Grundlage und Ausbildungsfähigkeit unserer heutigen, uns
angeborenen Sprachanlage und damit unser ganzes geistiges Leben." „Soll
unsere Sprache wieder eine ihrer Natur entsprechende, volksthümliche Schönheit,
Wolklang, Durchsichtigkeit, Übersichtlichkeit, Sicherheit und Eigenart erhalten,
so müssen wir in der Schule mehr als bisher das laute, freie, zusammen-
hängende Reden mit besonderer Betonung der Klarheit und Schönheit sowol
beim Lernenden wie beim Lehrenden pflegen, und zwar nicht nur in der
Einzelrede, sondern auch in Wechselrede und im gemeinsamen Sprechen, im
gemeinsamen dramatischen Spiel, im gemeinsamen Gesang." Muttersprache
als „Mittelpunkt unseres gesammten Jagendunterrichts."
544. Die verschiedenen Gattungen der Geschichtsschreibung
und ihre pädagogische Bedeutung (Allg. deutsche Lehrerz.*) 1892,
9 — 11). Verfasser erörtert eingehend die „erzählende oder referirende" —
.lehrhafte oder pragmatische" — „entwickelnde oder genetische Geschichte"
— die „physischen, psychischen und cnlturellen Bedingungen" für den
„Werdeprocess der geschichtlichen Ereignisse" und gelangt schließlich mit
Bezug auf die Schule zu folgendem Ergebnis: „Die Hauptaufgabe des Ge-
schichtsunterrichts in der Schale möge die sein, durch die Betrachtung der
culturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit unsern Kindern die Erkenntnis
von der fortschreitenden Humanität der menschlichen Gesellschaft zu vermitteln
und ein Geschlecht heranzubilden, das den stetig zunehmenden Anforderungen
unseres cnlturellen Lebens gewachsen ist. In der Ausbreitung und Vertiefung
des humanen Princips, in welchem schon Herder die Bedeutung der Geschichts-
entwicklung erkannte, muss auch die Schule ihr höchstes Ziel erblicken, und
wenn der Geschichtsunterricht zur Erreichung desselben ein Scherflein bei-
trugt, so hat er offenbar seine schönste und wichtigste Aufgabe erfüllt."
545. Kopf- und Zwitterrechnen (W. Taschek, Die Volksschule**)
1892, 1). „Kopfrechnen mit Ziffern", „schriftliches Kopfrechnen" = „Zwitter-
rechnen." Der Kopfrechner soll es immer nur mit Zahlen zu thun haben.
Nachtheile des „Zwitterrechnens" (erzeugt u. a. kein „Zahlengedächtnis").
Verf. verlangt: 1. Reines Kopfrechnen auf allen Stufen vor dem Zifferrechnen.
2. Abschaffung der schriftlichen Darstellung mündlicher Rechenbeispiele vor
dem eigentlichen Zifferrechnen im 1., 2. und auch theil weise noch im 3. Schul-
jahre. (Die dritte Forderung „Vermehrung der Rechenstunden" ist keine
dringliche.)
*) Einzelnummer 25 Pfg.
**) Einzelnummer 30 Pfg.
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RecensioneD.
Dr. E. Wrobel, Gymnasiallehrer in Rostock, Übungsbuch zur Arithme-
tik und Algebra für höhere Lehranstalten. II. Theil für Obersecunda
und Prima. 189 Seiten. 1.40 iL
Resultate hierzu. 97 S. 1.25 M. Rostock, Werther.
Den ersten Theil dieser Sammlung haben wir schon im vergangenen Jahre
mit gebärender Anerkennung besprochen, und wir vermögen dieselbe auch
auf diesen zweiten Theil auszudehnen. Die Anlage steht im Einklänge mit
dem ersten Theil, indem bei jedem Paragraph eine gedrungene Auseinander»
Setzung der einschlägigen Lehrsätze, Formeln und Lösungsmethoden voraus*
geht; sodann folgt eine große Anzahl sorgfältig geordneter, d.h. vom Leichteren
zum Schwereren fortschreitender Aufgaben. Der Inhalt umfa&st quadratische
Gleichungeu mit einer nnd mehreren Unbekannten, Exponentialgleichungen,
arithmetische Progressionen erster und höherer Ordnung, geometrische Pro-
gressionen, Zinseszins- und Rentenrechnung, Kettenbrüche, diophantische Glei-
chungen, Combinationslehre. Wahrscheinlichkeitsrechnung, den binomischen und
polynomischen Lehrsatz.
Wir haben uns die Muhe nicht verdrießen lassen, eine beträchtliche Anzahl
der Aufgaben durchzurechnen, und haben dabei nicht nur keinen Druckfehler
gefunden, sondern auch bemerkt, dass, wenn ein neuer Vorgang zur Lösung
erforderlich wird, das Heft der Resultate hierzu Anweisung gibt, die nächst-
folgenden Aufgaben sodann wieder unter Fortentwicklung des angedeuteten
Gedankens ihre Lösung finden. Wir müssen also auch von diesem zweiten
Thcile sagen, dass er der Sammlung von Heis ebenbürtig zur Seite steht,
wenn nicht dieselbe an Sorgfalt der Anlage und Durchfuhrung übertrifft, und
können daher diesem Buche nur die größte Verbreitung wünschen. Es scheint
ja wol an der Zeit, dass die vielfach bis zum Überdrnss durchgearbeitete
Sammlung von Heis durch etwas Neues ersetzt werde, wozu das Vorliegende
vollste Eignung besitzt. H. E.
Dr. Franc Hodevar, Professor zu Innsbruck, Lehr- und Übungsbuch der
Geometrie für Untergymnasien. 2. Aufl. 122 S. 195 Fig. im Text. 1.20 Mk.
Derselbe, Lehrbuch der Geometrie für Obergymnasien. 199 S. 213Fig.
im Text. 1.70 M.
Derselbe, Geometrische Übungsaufgaben für Obergymnasien. 1. Heft
Planimetrie und Stereometrie. 51 S. 50 Pf.
2. Heft. Trigonometrie und analytische Geometrie. 46 S. 50 Pf.
Prag und Wien, F. Tempsky; Leipzig, G. Freytag.
Wir haben unlängst in einem Zeitungsartikel den Vorwurf gelesen, dass die
Besprechungen neuer Bücher häufig schwankend und unbestimmt gehalten seien,
woraus sieh die unangenehme Folge ergebe, dass, wenn ein Lehrer ein ver-
altendes Buch durch ein neues ersetzen wolle, er nicht wisse, nach welchem
er greifen solle, ja, dass er geradezu sich in der Notwendigkeit befinde, alle
erschienenen Lehrbücher durchzustudieren, ehe er zur Wahl schreiten könne,
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— 539
womit die Besprechung neuer Bücher als eine ganz vergebliche Arbeit hinge-
stellt ist. — Diesen Fehler wollen wir nicht auf uns laden, und wollen sofort
erklären, dass die vorstehenden Lehrbehelfe als musterhaft zu bezeichnen sind.
Bekanntlich werden an den höheren Schulen in Österreich nur Lehrbücher ver-
wendet, welche die Billigung des Unterrichtsministeriums erhalten haben.
Dieses System hat nun allerdings den Nachtheil, dass wissenschaftliche
Fortschritte nur sehr langsam in den Lehrbüchern und des weitern auch in den
Schulen Eingang finden; dagegen aber auch den großen Vortheil, dass nicht
nur ganz mangelhaft« Bücher gar nicht in die Öffentlichkeit treten, sondern
duss sich in didaktischer Beziehung ein stetiger und höchst beachtenswerter
Fortschritt entwickelt hat.
Wie aus der Titelangabe ersichtlich, wird an den österreichischen Gym-
nasien der Unterricht der Geometrie zweistufig ertheilt; das Buch ffir die
Unterstufe ist zugleich Lehr- und Übungsbuch und enthält alle Theile der
Euklidischen Planimetrie und Stereometrie, jedoch weitaus nicht in der
Schwerfälligkeit jener Lehrbücher, welche sich nicht vom Althergebrachten zu
trennen vermögen; es wird von den Mitteln der Auschauung durch Einfüh-
rung' der Begriffe achsialer und centrischer Symmetrie ausgiebig Gebrauch ge-
macht. Eine sehr große Anzahl vorzüglich entworfener und ausgeführter Figuren
unterstützt den Text. Man findet neuerdachte Figuren, in Bezug auf die
Lehrsätze von den ungleichen Gegenstücken des Dreieckes, dann von den
Mittelpunkten der Dreiecken oder Vierecken umzuschreibenden Kreise, über die
mögliche Lage congruenter Dreiecke, über die Construction congruenter Polygone,
über das Verhältnis der Flächen ähnlicher Figuren u. s. w. Nur eine einzige
Figur müssen wir als minder gelungen bezeichnen, es ist dies die Abwickelung
des Mantels eines schiefen Prismas; dabei ergab sich ein so stumpfer Winkel,
dass man bei minder genauer Betrachtung denselben für einen gestreckten
halten wird. — Zur Berechnung der Körperinhaltc führt der Verfasser das
Princip von Cavalieri ein und gibt demselben fruchtbarste Verwertung.
Das Buch für die Oberstufe enthält die Lehren der Planimetrie und Stereo-
metrie in größerer Vertiefung und mit streng wissenschaftlicher Begründung.
Von der neuen synthetischen Geometrie wurde nichts oder fast nichts heran-
gezogen, dagegen auch auf dieser Stufe von dem Mittel der Anschauung möglichst
Gebrauch gemacht. Im löblichen Bemühen wusste der Verfasser für dieselben
Lehrsätze auf beiden Stufen verschiedene Figuren beizubringen, wie z. B. Uber
die Gegenstücke ungleichseitiger Dreiecke, denen beiden achsiale Symmetrie mit
gleicher Anschaulichkeit, jedoch in verschiedener Gestalt zu Grunde liegt. In
deT Stereometrie wird das Princip der sieh entsprechenden Gebilde auch äußer-
lich zur Veranschaulichung gebracht, indem die parallelen Lehrsätze über die
sich entsprechenden Gebilde in zweispaltig bedruckten Seiten mitgetheilt werden.
Der Satz des Cavalieri erfährt eingehende streng wissenschaftliche Begrün-
dung, sodann aber auch ausgebreitete Verwendung.
Wir hatten schon Gelegenheit, das Lehrbuch des Verfassers für Realschulen
zn besprechen und die Vorzüge zu würdigen, welche bei dessen Abfassung der
Trigonometrie und analytischen Geometrie zutage traten; alle diese Vorzüge
wusste der Verfasser auch seinem Buche für die Gymnasien zu bewahren, ob-
wol die eben genannten Theile der Mathematik für die humanistischen Anstalten
viel gedrängter behandelt sind — so entfällt namentlich die sphärische Trigono-
metrie gänzlich und von der Geometrie der Lage wird kaum etwas flüchtig
angedeutet. Dagegen finden wir wieder jene wolerdachten Figuren, welche
für alle Winkelgrößcu eine einheitliche Ableitung der Formel für die Functionen
der Summe und Differenz zweier Winkel gestatten, und auch jene Figuren, an
welchen die Auflösungsformcln der Dreiecke geometrisch construirt sind. —
In der analytischen Geometrie ist die Richtung der Drehnng arithmetisch fest-
gehalten, indem die Drehung entgegengesetzt dem Uhrzeiger als die positive
von Winkelsymmetralen , deren Verbindung sodann auf die symbolischen
Formeln führt.
Die beiden Hefte der Übungsaufgaben sind dem Lehrbuche für Obergymnasien
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— 540 —
derart angepaggt, dass die Aufgaben in derselben Weise wie das Lehrbuch ge-
ordnet sind, und dass Übungsheft nach Paragraphen, Figuren und Zahlen sich
auf das Lehrbuch bezieht, so dass da» eine ohne das andere kaum zweckmäßig ge-
braucht werden könnte. Die Sammlung enthält 1541 Reispicle und ist dem-
nach eine sehr reichhaltige zu nennen; auf jeden der vier Haupttheile entfallen
ungefähr 400 Nummern.
Die Verlagshandlung hat ihr möglichstes gethan einerseits für eine schöne
und sorgfältige Ausstattung, anderseits für einen möglichst billigen Preis;
es verdient daher dieses Buch als ein in jeder Beziehung musterhaftes beste
Empfehlung. H. £.
Dr. W. Kriebel, Schalinspector, Ausgangspunkte und Ziele des geo-
metrischen Unterrichtes in der Volksschule. 54 S. 3. Aufl
Breslau, Morgenstern. 50 Pf.
Wir haben schon bei der ersten Auflage vor 5 Jahren bemerkt, dass der
Titel des vorliegenden Heftes etwas ganz anderes erwarten lässt, als ge-
boten wird; der Titel scheint auf eine Methodik hinzuweisen, der Inhalt
zeigt sich aber als ein höchst elementares Lehrbuch der Geometrie. Die
„Unterstufe" soll die Schüler mit dem Gebrauch von Zirkel und Lineal be-
kannt machen, will also im ganzen ein propädeutischer Unterricht sein;
dabei kommen jedoch schon auf der dritten Seite Winkel „an" Parallelen zur
Behandlung, — nicht rzwischenM Parallelen, wie dort als Aufschrift unrichtig
steht. Sonderbarerweise unterlässt es der Verfasser, der Erklärung der
Winkel an Parallelen, sowie der Eintheilung der Vierecke eine Figur beizu-
fügen, obwol er später mit den Figuren nicht gerade sparsam ist. Wir
geben für den propädeutischen Unterricht unbedingt der Darlegung der Be-
ziehungen von Linien und Figuren an Körpermodellen den Vorzug und sind
auch der festen Überzeugung, dass dieser Vorgang dem Schüler die Sache viel
rascher und leichter zum Verständnisse bringt, als der vom Verfasser befolgte
Vorgang.
Die „Mittelstufe" setzt den geometrischen Zeichenunterricht fort in der
Herstellung von Maßstäben, in der Theilung von Strecken und Winkeln, in
der Darstellung von regelmäßigen Vielecken, Ellipse u u. s. w.
.. Die „Oberstufe" beginnt mit der Congrueuz, bringt etwas Weniges über die
Ähnlichkeit und geht alsbald über zur Berechnung des Inhalts ebener und eisiger
räumlicher Gebilde. Die Figur, welche der Verfasser zur Entwicklung des py-
thagoräischen Lehrsatzes bringt, ist so unbeholfen, dass sie von den Schülern
als Eselsbrücke bezeichnet wird, sie wäre daher zweckmäßig durch eine hand-
samere, deren es sehr viele gibt, zu ersetzen. Gleichfalls unbeholfen ist die
anf Seite 42 angegebene Art, ein regelmäßiges Vieleck zu zeichnen, und auch
unnöthig, nachdem schon auf Seite 28 ein einfacherer Vcrgang dafür gegeben
ward. Ohnehin darf angenommen werden, dass der Schüler derart zusammenge-
setzte Coustructionen rasch vergisst und sich beim thatsächlicben Bedarfe entweder
eines Transporteurs oder der versuchsweisen Theilung bedient. — Beim Trapez
und beim Ringausschnitt kommen Formeln vor, welche der algebraischen Ortho-
graphie ganz zuwider sind. Ein Verstoß gegen die mathematische Orthogra-
phie ist ein viel schwererer Fehler als ein Verstoß gegen die sprachliche : letzterer
kann den Leser höchstens zu der Bemerkung veranlassen, dass die Recht-
schreibung des Verfasserseine ungebräuchliche sei; ersterer aber veranlasst den
Leser unbedingt zu einem sachlichen Irrthum bezüglich der Ausführung und
Richtigkeit einer Rechnung. Wenn das Büchlein trotz geringen Inhaltes und
mangelhafter Ausführung es doch zur dritten Auflage gebracht hat, so sind
die Ursachen dieser Erscheinung jedenfalls wo anders zu suchen, als im Werte
des Gebotenen. H. E.
Veramwortl. Redwtenr Dr. Friedrich Ditto». Bocbdnickerei Jnlim Kliokhtrdt, Leipzig.
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gür Abiturienten, Sdmlamt^Staubibateu unb
Afpiranten ber ÜNittcljdmüc In n unb 'Httto-
rat£J*rüfung empfel)le bir in meinen SSerlag
übergegangenen, burd) bie päbagogifdje treffe
Pielfeitig beftenS empfohlenen:
(»'•jrtuiifii-iiiitriiiiöiitfii.
^epefiftotiölrndjer
iur
3ogünge Ijfltjerfr ilntfrridjtsf.ndaltfn u. Giranten
Ufr pttteifdjullfljrfr- bt\m. gektoratsprüfung
Düll
Dr. Mmumiu v>offmciftcv.
4>eft 1 : Sai pofitibe SBiffen in b. Religion.
2. «erb. Auflage .... SJi. 2,40
„ 2: £eutfd)e Spradje unb iHtteratur „ 3,50
„ 3: $äbagogif. 2. perb. Auflage . „ 2,—
„ 4: Allgemeine 2Beltgefd)id)te . . „ 3,—
„ ö: 2>eutfdje ffutrurge?d)id)te . . . „ 3,—
„ 6: 5Jranbenb.«prcu&. (ifefdjirfitc . „ 2,25
„ 7: ©cograptjte „ 3,50
KU ©rgänjung3l)eft ju £>eft 3:
¥«metiiiiduti&$efial0,vii, alö BcgHfcftfcf* Oer
Sa!föf4ule.2Biffcnfd)aftlidjbargefteUt3W.1.50.
3u belieben burd) alle iöucfjbanblungen, bed)
ift bie unterzeichnete $erlagt?bud)banblung gern
bereit, bei Pödinger &injal)Iung ober (Sinjen-
"bang von SBriefmarfen (aud) eitt$elnc ^äubcfyen!)
bfreft unb franfo ju überienbeu.
Seipjig unb Berlin \V. 35.
3uliue AUinfbarM.
3n meinem Berlage ift foeben erfdjienen :
(Oflfijfiil)iikeiini
für
^ülfoirlMtUcliicr.
i»erauegegebeu uou
3d)u(rat Ernst Eckardt,
Sgl. 93e*irtefd)ulinfpeftor.
81/« «ogen. 8. $rei3 9K. 1,80.
$iefe Sammlung r»on Sieben unb Aufpradjen
eines tudjtigen, altbemäbrten Sd)ulmanneä nun
ben mand) jüngerem üetjrer ali I Hilfsmittel üor-
trefflidje 3>ienftc leiften.
$a$ $udj enthält:
I. Sieben pr Sdjulentlaffung. (12.)
II. Sieben bei Ghriftbefdjerungen. (2.)
III. ^atriotifdje Sieben. (3.)
IV. Sieben beim AmtSroedjfcl. (4.)
V. Söeitjcreben bei ber (£rrid)tung neuer Sdjul«
gebäube. (8.)
VI. Slonferenjreben. (2.)
Wegen (Sinfenbung be$ 33eirageö erfolgt ftraufo«
3uienbung. '
tvci|ijifl. 3uiiu6 Mlinfbarbt.
Musik
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jdien ttTeifen basi gröfUc Pufferten *u erregen.
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budjeS, njel(he$ in neuefter $tit oielfadje Shirt-
atymungen gefunben, bat infolge beS t>. ©ojjitr
l'djen förlaffeS nom 27. Dttober 1882 eine tou»
ftänbige Umarbeitung unb Srtoettcrung erfahren
unb aroar bauptiädjlid) auf bem ©ebieit btr
fog. Xurnfpiete. SBäbrenb bie früheren Äni
lagen nur 122 Hummern jaulten, ift bie cor
(iegenbe neue auf 150 Sümmern erb^bl warben
unb bringt in georbneter 3«famn»rnM»n3
30 Sing» unb flieberfpiele für baS fiinbergarten*
alter, 21 Spiele für äuaben unb SJcäbdKH int
Alter bi$ ga 9 %a\)xtn, 39 Xurn« unb anbere
Spiele für Änaben unb 10 Spiele für SKfflxben
über 9 ^abjen, ferner 44 ©efellicbaftSfpiele;
aufeerbem 44 $fanbau$löfungcn, 50 Sjejier» unb
ftätfelfragen, eine 2ln*abl vu-wjtii äBorte, fooit
Anleitung ju .'pauSmuieen unb ©artenfreuben
ber 3ugenb; enblid) einen Pollftänbigen &hr<
plan für ben Xurnuntcrrirht in ber SoßSjdjule
für Ätnaben unb äRäbdjen.
$egen Ginfenbung be$ entfallenben Würatf
in iöriefmarfen bin idj gern ju bitefter franhertrr
ftufenbung bereit.
Seipjig u. SBcrlin W.^35 (£ü|ojr^.n)-
Hierzu vier Beilagen: 1. von Franz Goerlich in Breslau. 2. von Georg Lang in Leipzig.
3. von B. G. Teubner in Leipzig. 4. von F. Soennecken's Verlag in Bonn.
von
Herin. Redeker und Wilh. Piltz.
10»/, Bogen. Preis IL 1.50.
Schou seit zwei Jahrzehnten wogt der {
Kampf um die Lehrplantheorie, uud noch
immer ist derselbe nicht entschieden; noch
immer stehen sich die Parteien sehr oft gegen-
über, auf der einen Seite die Anhauger des j
Beigebrachten, auf der andern Seite die An-
hänger der Zilb tschen Schule.
Wer spricht das versöhnende,
vermittelnde Wort?
Obige .Schrift hat sich diese Aufgabe ge-
stellt und sucht dieselbe nicht nur theore-
tisch, sondern auch praktisch zu läsen.
Pianinos Vi>n SM bis 1500 Mk.
Harmoniums. 0il, hi (E-^ V >11 Mk h() nti
WTESeST Alle Fabrikate. Hochst.r Baarrabatt.
Aile Vnrtlifi)'-. 1 linst r. Kataloge jrniti«.
Willi, Rudolph i»i <»U»«iH»'n,
KTÖnstes Piano-Versanilt-Ocarhiit't l)>-uUohIands.
Beste Violinschule:
Hohmann-Heim
164 Seiten grösstes Noten-
form. Prachtausgabe 5 Hefte
je I M., in I Band 3 M.
P. J. TonRer, Köln a
BuiLdru:kcrti Julius Klinkiurdt, Leipzig.
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Paedagogium.
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
Dr. .Friedi-ioli Dittea.
XIV. Jahrgang.
9. Heft, Juni 1891
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
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Inhalt des 9. Heftes.
Seit«
Das Gewissen und seine Pflege. Von August Böhm- Königsberg in Ost-
preußen 641
Aus der Geschichte der Taubstummenbildung. Von Dr. H. Morf-Winterthur. 55t
Die Lehrer und die Presse. Von Rector A. Gild- Kassel 568
Lehrers Erdenwallfahrt. Ein Sang von Leid und Lust des Lehrerlebens von
K. Albert 571
Pädagogische Rundschau. Deutsches Reich. — Aus Sachsen. — B. Vom deut-
schen Ostseestrand. — Aus Preußen. — Aus Westfalen. — Aus Ham-
burg. — Aus Bayern. — Aus Österreich. — Aus der Schweiz. . . . 580
Aus der Fachpresse 597
Eeceusionen 601
>Prtit pro Quartal M. 2.25.
Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
4
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Das Gewissen und seine Pflege.
Von August Böhm- Königsberg in Ostpreußen.
In seinem neuesten Essay: „Ansichten über Social politik des
Staates", führt Herbert Spencer sehr treffend das Folgende aus:
„. . . . Der menschliche Charakter ist das Resultat einer viel tausend-
jährigen Geschichte, in der die Menschheit sich allmählich aus dem
antisocialen Zustande ewiger Kriege zu dem heutigen vergleichsweisen
socialen Zustande emporgeschwungen hat. Eine Menge von Zügen,
die in jenen vergangenen Zeiten wilder Kämpfe und ungezügelter
Leidenschaften sich ausgebildet haben und damals den Menschen zur
Behauptung im Kampfe ums Dasein geschickt machten, belasten ihn
noch heute und bilden die Quelle des meisten Elends und Unfriedens
in der Gesellschaft" —
Ein logischer Irrthum oder verbissener Pessimismus bewog ihn
aber dazu, hinzuzufügen: „Erziehen, Predigen hilft hier so gut wie
nichts, und menschliche Weisheit ist hier ohnmächtig; wirksam ist
nur die ununterbrochene, langsame und grausame Zucht, die durch
die Natur der Verhältnisse geübt wird." — Er begeht hier offenbar
den Fehler, dass er die durch Nachlässigkeit, Zuchtlosigkeit und
Schlaffheit der führenden Mächte eines Volkes geschaffenen Verhält-
nisse mit den durch Um- und Vorsicht, sittlichen Ernst und aus-
harrende Treue erstrebten in einen Topf wirft und außer acht lässt,
wie die letzteren, wenn auch sehr langsam, doch schließlich den Sieg
über die ersteren errungen haben.
Wie viel elender würde es aber in der Welt aussehen, wenn
Familie, Schule, Kirche und Staat sich jeder Einwirkung zum Besseren
enthalten, wenn Presse, Wissenschaft und Kunst muthlos jedes ver-
edelnde Bestreben unterlassen und alle Bessergesinnten die Stimme
der Erfahrung und Vernunft auf der ganzen Linie verstummen lassen
wollten! Im Gegentheil: je ernster die Zeit — und unsere ist wahrlich
Pädagogium. 14. Jahrg. Heft IX. 38
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— 542 —
ernst genug! — desto eifriger müssen die Vorkehrungen zu sittlicher
Erstarkung geprüft und nach Befund zur Anwendung gebracht werden.
Sehr schwer ist es aber, die richtigen Heilmittel herauszufinden
in einer Zeit, in der die alten Autoritäten fast durchweg wanken,
weil ihre Stutzen, die blinde Furcht und die Unfähigkeit der Menge
zu selbstständigem Denken, mit ihnen zugleich zu verschwinden im
Begriffe sind. — Nachdem man lange die Hilfe in einseitiger Pflege
des Intellects gesucht, allmählich aber gefunden hat, dass die Mehr-
zahl der so Erzogenen zu herzloser Selbstsucht, sittlicher Ode, wo
nicht gar zu raffinirtem Spitzbubenthum heranreifte; nachdem man
ferner den etwas schüchternen Versuch der Zurückschraubung der
Menschheit in die alte knechtende Dummheit aufgegeben hat, da statt
der gewünschten bescheidenen Einfalt eine roh-thierische Gleichgütig-
keit sich einstellen wollte, will man es jetzt wieder einmal mit der
Kirche versuchen, stellt reumüthig alle seit Jahren gegen die katho-
lische Geistlichkeit gebranchten Waffen beiseite und versieht sie wie
die evangelische Kirche mit ungeahnt reichen Geldmitteln und den
weitestgehenden Machtbefugnissen über die Schule. — Ob es helfen
wird? Wir bezweifeln es, solange die Kirche selbst nicht einen
Schritt vorwärts thut, um sich die Theilnahme aller, auch der Ge-
bildeten zu erringen. Und so bleibt denn vorläufig die abermals in
unverdiente Fesseln geschlagene Schule der wichtigste Factor für die
Hebung der menschlichen Gesellschaft aus dem Sumpfe der Selbst-
sucht und Genusswuth unserer Tage. Dieser aber ist hierfür kein
anderes Mittel so zu empfehlen als die Kräftigung und Ausbildung
der im Innern jedes Kindes schlummernden Autorität: des Gewissens.
Zunächst nun einige Worte über dieses selbst.
Das Wort „Gewissen" ist seinem Stamme nach von dem Worte
„wissen" abgeleitet, während seine Vorsilbe so viel wie „mit" oder „zu-
sammen" bedeutet. — Lange kannte man dies Wort gar nicht; denn
die alten Griechen sprachen nicht vom Gewissen, sondern von Erinnyen
(Furien), welche die Bösen plagen sollten. Erst kurz vor ihrem Ver-
falle kamen sie der Wahrheit näher, und ihre Sophisten lehrten: „Der
Mensch ist das Maß aller Dinge", während Sokrates den tiefsinnigen
Satz aussprach: „Die Tugend ist ein Wissen; nur was mit dem vollen
Bewusstsein des sittlichen Gesetzes geschieht, ist gut, und wer die
Tugend wirklich in ihrem Wesen erkannt hat, der muss noth wendig
auch tugendhaft sein." — Unter den Römern waren es besonders
Cicero und Seneca, welche sehr treffend die innerlich mahnende Stimme
des Gewissens durch ihre Aussprüche verdeutlichten; denn ersterer
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sprach das Wort: „Jeden qaält seine Bosheit", und Seneca meinte:
.Ein sacer Spiritus, eine heilige Hegung, ein von der Gottheit stam-
mender Zug der Seele wohnt in uns als ein Beobachter und Wächter
über Gutes und Böses." Aber erst dem unV ihre Zeit lebenden Apostel
Paulus kam der rechte Ausdruck dessen, was sie fühlten, indem er
aus Korinth an die Christen in Rom von den Heiden schrieb, „die
das Gesetz nicht haben und doch von Natur thun des Gesetzes Werk,
.... sintemal ihr Gewissen sie bezeuget." Und seitdem spricht
man häufig vom Gewissen, so häufig, dass man oft ganz vergisst, sich
der Bekanntschaft mit dem Wesen desselben zu befleißigen.
Bekanntlich fuhrt ein Wissenwollen zu jeder Seelenthätigkeit;
ohne dieses gäbe es keine Wissenschaft, keine Lust am Schonen,
keine Kunst, kein Recht, keine Sittlichkeit, keine Religion. Neben
diesem Wissenwollen geht der menschliche Grundtrieb auf ein Ver-
langen, ein Streben nach einem Gut, welches je nach der Indivi-
dualität des Menschen von tausendfacher Art sein kann. — In dieses
oft widerstreitende Triebleben sucht ein uns angeborener Zug Ordnung
zu schaffen, was bei den durchweg sinnlichen Bedürfhissen der Thiere
nicht der Fall ist. Bei ihnen ist daher kein innerer Conflict, er sei
denn durch Eingriffe der Menschen ihnen anerzogen. Dies Ordnen
ist neben dem logischen Denken auch das dem Menschen Charakte-
ristische. Gewöhnlich gelangt dieser Ordnungssinn bei ihm auch zur
Herrschaft über alle anderen Triebe, würde aber, da der ordnende
Intellect an und für sich interesselos ist, noch wertlos bleiben, wenn
im Menschen daneben nicht noch ein sittliches Princip wohnte, das
den Ausgleich der selbstischen mit den geselligen Neigungen, ein
Unterordnen der Sinnlichkeit unter den Geist anstrebte. Dieses Princip
ist uns offenbar angeboren und als ein wesentliches Gattungsmerkmal
des Menschen anzusehen. Selbst bei den allerrohesten Völkern der
Erde, sogar bei den Menschenfressern finden wir es; denn bei ihnen
auch gilt eine Unterwerfung aller unter einen Gebrauch, unter eine
Ordnung. Auch sie verachten Feigheit, Verlogenheit u. a. m. und
ehren Muth, Verachtung von Schmerz, Mühe und Geduld bei Ein-
übung ihrer Fertigkeiten u. dergl. — Und von diesen Anfängen an
ist, das steht fest, das sittliche Princip bildend gewesen bis auf den
heutigen Tag, bis zur Gestaltung des jetzigen ästhetischen Geschmackes
in allen Künsten. Die von diesem Princip gelenkten Triebe sind zwar
noch kein Gewissen, bilden aber seinen wichtigsten Bestandteil; denn
zu diesem Angeborenen tritt nach und nach eine Gewinnung von fest
und immer fester werdenden Normen oder Gesetzen für jedes Indivi-
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duum, zugleich angepasst dem jeweiligen Zeitgeiste. Das Ganze dieser
sittlichen Vorstellungen lagert sich schließlich als Richtschnur für
unser Handeln im Gewissen ab. Das Gewissen ist also das Gefühl
einer inneren Nöthigung, unser Wollen und Handeln nach dem Mafi-
stabe der von uns als verpflichtend vorgefundenen und anerkannten
Normen zu prüfen und zu richten.
Bevor ich nun zu den Ausführungen über die Pflege des Ge-
wissens übergehe, möchte ich noch zwei Irrthümer in Bezug auf das-
selbe widerlegen. Der eine ist der, dass man annimmt, das Gewissen
könne irren; er beruht aber entschieden darauf, dass man von einer
falschen Norm aus urtheilt oder logisch falsch schließt, und es liegt
dann eben ein Irrthum des Verstandes vor, der nicht überlegend
genug eingriff. Man kann also wirklich einmal die thörichteste und
verfehlteste Handlung mit ganz ruhigem Gewissen begehen und die
vernünftigste, ja allein richtige nicht ohne vorhergängige Einrede und
Beunruhigung des Gewissens. — Einen anderen Irrthum begeht man,
indem man einen Unterschied zwischen einem bösen und guten Ge-
wissen macht Er hat sich jedenfalls durch einen bloßen Sprachgebrauch
eingenistet; denn wenn das Gewissen nach unserer oberflächlichen
Meinung so recht böse zu sein scheint, so übt es seine Function
gerade recht gut und vollkommen aus. Es geht eben mit dem Gewissen
wie mit der Gesundheit; diese ist da, wenn kein Schmerz gefühlt wird;
das Gewissen ist gut, besser ruhig, wenn es nichts Böses zu ver-
neinen hat Und es ist übrigens doch eine recht gnädige Einrichtung,
dass das Gewissen sich auch des Institutes der Verjährung und Amnestie
befleißigt, sonst kämen wir doch wol vor ewiger Unruhe um. —
Wol alle Menschen haben ein Gewissen; das nahmen denn auch bisher
alle Gesetzgeber an, — und man rüttle, ganz besonders Charakter-
schwachen gegenüber, an dieser Wahrheit nicht, sonst nimmt bei ihnen
das Entschuldigen kein Ende — aber die im Leben allmählich ge-
wonnenen Nonnen sind offenbar sehr verschieden, je nach der Bildungs-
stufe, dem Zeitalter, dem Volk und der Individualität. Das Gewissen
kann also ausgebildet werden.
So tröstlich diese Gewissheit auch ist: sie hält uns Erziehern zu-
gleich eine Pflicht vor, wie sie schwieliger kaum gedacht werden
kann. — 0, wie athmet selbst mancher ganz gewissenhafte Lehrer
auf, wenn er bei einem Überblick des vorgeschriebenen Jahrespensums
findet, dass dem da geforderten Soll gegenüber ein ziemlich deckendes
Haben von ihm aufgewiesen werden kann; und doch ist seine Pflicht
damit nur dem Äußeren nach erfüllt: gerade die Hauptsache will aus
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der Haltung der Classe in und außer der Schule, aus der Lebens-
auffassung und Lebenshaltung der schon Erwachsenen unter seinen
Schülern herausstudirt werden. —
„Nun, damit hat es gute Wege", meint gewiss mancher städtische
Lehrer, der an einem Schulungeheuer von zwölf, achtzehn und mehr
Classen arbeitet und womöglich in der Hälfte derselben zu thuu
hat Und leider kann er es sagen; denn wer will da noch nach-
weisen, welches seine Schüler sind?! — Niemand, — auch der Ge-
wissenhafteste nicht, — kann da noch eine einheitliche Einwirkung
auf die Schüler ausüben, die nach drei bis vier Schuljahren von der
tiefsten Bedeutung vor ihm auftauchen, um nach etwa einem Jahre
bereits wieder aus seinem Gesichtskreise unter den tausend und mehr
seiner Schüler für lange oder immer zu verschwinden, die gewöhnlich
10 bis 20 und mehr Lehrer gehabt haben, von denen jeder nach seiner
Weise an ihnen arbeitete!! — Allerweltsfreunde und wahre Chamäleons-
naturen können da meistens gezeitigt werden, auch wenn ein solches
Schulungethüm den tüchtigsten Rector hat, der auf ein ziemlich ein-
heitliches Verfahren sein Augenmerk richtet. — Ja, wie sieht es damit
aber in Wahrheit aus? — Und wie kann es damit aussehen in einer
Stadt von 150000 bis 300000 Einwohnern, deren Schulleitung mit
ihrem Ungeheuern Wust von Bureaukratismus und tausendfaltigen
persönlichen Bestrebungen und Wühlereien im Grunde einem Manne,
dem Stadtschulrath von „classisch-humanistischer Sorte" in die Hand
gegeben ist?! — — Wollte man dieses Tohuwabohu einigermaßen
scharf beleuchten, so könnte man Bücher voll der schrecklichsten
Dinge berichten. Also fort davon! — Freue dich darum, du scheinbar
annseliges Landschulmeisterlein; denn du hast keine Ahnung von dem,
was gerade manchem tüchtigen und charakterfesten städtischen Collegen
die Seele zerreißen muss, kannst zeigen auf diesen und jenen deiner
ehemaligen Schüler und mit Freude und Genugthuung sagen: Das ist
einer meiner Schüler, sein Werden nach dem Geist ist mein Werk! —
Wie kann nun aber das Gewissen des Schülers gekräftigt und
gut ausgebildet werden?
Es geschieht dies einmal durch Stärkung jenes angeborenen sitt-
lichen Princips. Wer sie bewirken will, muss sich selbst auf den Boden
des Guten und Rechten stellen, sonst verletzt er täglich und stündlich
die zarten Anlagen des seelischen Keimpflänzchens in seinen Zöglingen;
sonst verliert er mehr und mehr alle jene unsichtbaren Anknüpfungs-
punkte zwischen sich und den zartbesaiteten Kinderherzen. — Wei-
das vermag, der braucht sich über das Wie nicht ängstlich den Kopf
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zu zerbrechen: seine Schüler hängen an ihm mit den Augen und Herzen;
sie stellen sich auf seine Seite, wenn er das Schlechte um sie her
verdammt, und athmen dankerfüllt auf, wenn er sich für das Gute
erhebt.
Zum andern hilft man dem Gewissen der Schuler dadurch auf,
dass man sie nach und nach daran gewöhnt, auf sich selbst zu merken,
wolverstanden: der einzelne auf sich selbst Wie delicat muss aber
diese Sache angefangen werden, wenn man nicht mehr verderben als
gutmachen will. — Soll doch die Jugend ihre Freude, der Jüngling
seine Lust haben! Weiß man doch, wie verderblich der Jesuitenorden
gerade auf diesem Gebiete gewirkt hat! — Und doch muss es gewagt
und gemacht werden; denn ohne innere Einkehr keine Auskehr der
im Innern bereits vernestelten Untugenden. — Ich sagte schon, dass
man sie nach und nach daran gewöhnen muss: immer milde, aber
dringend, immer mit freudigem Hoffen auf ein gutes Gelingen, stets
mit Genugthuung über das schon Gewonnene, mit sieggewisser Stim-
mung dem noch zu Überwältigenden gegenüber, bis man scldießlicb
von dem Schüler weniger als Lehrer, denn als Freund, weniger als
kühldenkender Arzt, denn als bewährter Mitkämpfer anerkannt wird.
Man muss ferner das Gewissen der Schüler dadurch auszubilden
suchen, dass man ihnen fortgesetzt aber mit Maßen richtige Nonnen
bietet und auf stete Beachtung derselben hält. Ein paar Stichwörter,
mit Beharrlichkeit an der richtigen Stelle eingesetzt, wirken mehr
als hundert langathmige Lehren und Gesetze.
Auch glaube man ja nicht, dass der Stoff und die Sache selbst
schon zwingend und unentwegt eine veredelnde Wirkung ausüben und
alles zum Besten kehren wird! — 0, wie manches Gebotene wird
noch nicht erfasst oder nicht hinreichend gewürdigt und oft nur, weil
die innere Theünahme des Anbietenden keinen treffenden, packenden
Ausdruck fand. Und wie oft hat man in Prüfungsfällen keine Zeit
oder Lust mehr dazu, langwierige und tiefe Betrachtungen über die
sich aufdrängende Angelegenheit anzustellen, und nur das glückliche
Auftauchen eines so oft als treffend anerkannten Wortes brachte die
Rettung vor übereilter, imbedachter That. Man biete den Kindern
auch nur solche Normen, die einem aus dem Herzen kommen, und
nicht solche, welche als landläufige Redensarten bereits bis zum Über-
druss gehört sind und daher verdächtig oder doch abstoßend wirken
könnten.
Erst bei vorgeschritteneren Schülern wage man es, durch An-
legung eines höheren Maßstabes die sittlichen Begriffe seiner Schüler
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zu erweitern und zu verfeinern. Hierbei ist jedoch gleichfalls die
größte Vorsicht zu gebrauchen, da man eben nie vergessen darf, dass
man es mit Kindern, also mit Wesen zu thun hat, denen sich meistens
erst nach dem Austritte aus der Schule der volle Ernst des Lebens
zu erschließen pflegt. Hier ist meistens ein aufrichtiges Wort über
selbst erlebte sittliche Schwierigkeiten mehr am Platze als gewisse
Warnungen, die gerade unbeabsichtigte Unterweisungen im Bösen
werden können. — Wie viel Segen würde in Bezug auf das eben
erwähnte Mittel zur Gewissenspflege eine den Zielen nach gleichartige,
aber nach und nach sich immer zwangsloser gestaltende Fortbildungs-
schule, die sich gleich an die regelrechte Schulzeit anschließt, schaffen!
Erst einem Jünglinge kann man mit Erfolg zurufen: „Werde ein
Charakter'/ oder „Wer im Geckenaufputz einhergeht, ist eine wan-
delnde Lüge." Und der Jungfrau: „Unter dem Halbweltsflitter leidet
jede Anmuth, wie jede wahre Schönheit," „Das Äußere muss mit dem
Innern, die Kleidung mit der Bildung und dem Stande übereinstimmen."
Diesem Alter ruft mau eher mit Erfolg ins Gewissen: „Jeder hat nur
einen Platz, den möge er gut ausfüllen." „Niemand darf wähnen,
dass er in dem Mittelpunkte des Weltganzen stehe." „Wer seine
Affecte noch nicht beherrscht, der sitzt noch tief in der Knechtschaft,"
„Nicht das Behagen des Menschen, sondern seine Pflicht ist der
Zweck, wohin alles tendirt." „Edel sei der Mensch, hilfreich und
gut," — Fort also mit den zu spät einsetzenden Fortbildungsschulen,
deren Besuch erst erzwungen wird, wenn eine unheilvolle Verwilde-
rung bei der Jugend eingerissen ist, und die außerdem nichts Gemüth-
bildendes bietet!
Ein ganz besonders erfolgreiches Mittel zur Pflege des Gewissens
ist die Erziehung zur Pietät vor allem Großen aller Völker und
Zeiten. Da mir das Thema nicht gestattet, mich hierüber eingehend
zu verbreiten, so deute ich das Große nur an mit dem Herzens wünsche:
Griechen Schönheit, keusch und wahr,
Römer recht, parteilos, klar,
Briten praktik, fest und gut,
Deutsches Wiesen, deutscher Muth,
Galliens Liebreiz, gei st durchtränkt,
Christen lieb, durch nichts beschränkt ,
Nordlands anspruchsloses Wesen:
Machet doch die Welt genesen!
Aber auch durch Gewöhnung zur Pietät gegen den Einzelnen
muss das Gewissen geschärft werden; denn „die Ehrfurcht bewirkt",
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sagt Dr. Paul Güßfeld, „dass das Kind gehorsam sein will, und so wird
Gehorsam das Ziel seines Willens und nicht dessen Geißel.4* Diese
Ehrfurcht vor der einzelnen Persönlichkeit ist aber heute ein gar
seltenes Ding; denn Leute, die alles von ihnen bisher Hochgeschätzte
zusammenbrechen oder doch wanken sehen, sind sehr geneigt, auch
die achtenswerteste Persönlichkeit mit einem einzigen Worte gleichsam
abzuthun und den nun gar, der in eigenster Weise die Welt an-
schaut und auf eigene Weise sich mit ihr abfindet, eben weil er nicht
zu der Dutzendware und den oberflächlichen Allerweltsfreunden
gehört, zu verlachen und zu besudeln. — Auch das begabteste Kind
muss zur Achtung anderer und die Menge dahin gebracht werden, dass
sie nicht schamlos dasjenige bekrittelt, was mit Ehrfurcht und Hoch-
achtung angesehen werden will, sondern umgekehrt jeden, der in
seiner Anlage etwas Großes verspricht, in Selbstverleugnung zu heben
und zu halten trachtet.
Ein jeder Mensch: ein einzig Wesen,
Das so zu achten ist wie du;
Er mag sich frei sein Ziel erlesen,
Führ' frei es der Vollendung zu.
Dem wird sein Werk wol niemals glücken,
Der sich dabei devot muss bücken.
Ein jeder wünscht ein eignes Streben,
Weil jeder anders sieht die Welt.
Durch vieler eigenart'ges Weben
Wird Harmonie erst hergestellt.
Es ist hier keineswegs vonnöthen,
Dass alle deine Wege kneten.
Willst du die Freunde stets nur lenkeu,
Wirst du gefttrehtet , nicht geliebt;
Indes sie dem die Führung schenken,
Der, hochbegabt, doch Demuth übt.
Wie tröstlich, wenn in Kainpfeszeiten
Erprobte Kämpfer dich begleiten!
Neben der Pietät muss aber noch etwas als Stütze des Gewissens
gepflegt werden, was weiter hinaufweist. Paul Mantegazza deutet
dieses mit dem Worte an: „Der Mensch ist nur dann ein Mensch,
wenn er etwas glaubt und hofft, was höher steht und länger dauert,
als er selbst."
Diese Aufgabe weist zwar zunächst auf den ReHgionsunterricht
hin, eine Disciplin, welcher wol jeder Lehrer, wenn er erst ihren
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ganzen Stoff beherrscht, gern, ja mit größter Verinnerlichung
obliegt; aber gerade bei näherer Betrachtung der Stoffauswahl müssen
wir immer der Kirche gedenken, die die einfachen, rein ethischen
Stoffe nur zu rücksichtslos verdrängt, um die Kinder mit Dingen zu
quälen, die nach dem Eingeständnis der Kirche selbst auch dem
glaubensfreudigsten erwachsenen Christen oft bis zum Tode hin
gründlichst zu schaffen machen.
Schon erhebt sich der Kampf zwischen denen, die da rufen:
„Christus ist für uns gestorben", und denen, die da sagen: „Christus
hat vor allen Dingen für uns gelebt" ; — schon schreibt der Professor
und evangelische Theologe Dr. Kastan - Berlin in der Wochenschrift
„Christliche Welt": „Es gibt kein anderes Mittel, den Widerstreit
aus der Welt zu schaffen, als indem das Dogma aufgegeben wird ....
Wir brauchen eine Umbildung der Lehre. Sie muss weit ausholen
und fordert ganze Arbeit." Und da entsteht wol auch schier in der
Luft die Frage: Lehrer, wie wird es dir bei dem Kampfe ergehen?
Nun der preußische Volksschullehrer wird sich die Antwort auf
diese Frage angesichts des Schulgesetzentwurfes von diesem Jahre*)
im stillen längst mit dem Einwurf beantwortet haben: Das hängt
ganz von der Gesinnung des Pfarrers ab, der meinen Religionsunter-
richt überwachen wird. — Und so steht es leider in der That, wenn
— auch nicht ganz. Gewiss wird man an den meisten Orten wieder
die reine biblische Nomenclatur treiben, viele Psalter, Sprüche und
Lieder, Definitionen und Gebete auswendig lernen lassen müssen, ohne
irgend welche Zeit zu einer Erklärung zu behalten, und so scheint
denn Herbert Spencer, von dem ich in dieser Arbeit ausging, recht
behalten zu sollen. Wenn aber die Lehrerschaft auf dem Platze ist —
und sie kann ihrem ganzen Bildungsgange nach kaum anders — so
wird, wenn von ihr besonnene Ruhe beobachtet wird, die Entwicke-
lung zu einem erhabenen und schon winkenden Ziele ruhig ihren Gang
weiterschreiten; denn der Geist macht lebendig. — Ich kann nur
andeuten, was ich meine, und schließe daher mit der Bitte:
*
Drum lasst dem Volk die dichterische Sage,
Lasst ilim der jugcndwonn'gen Märchen Pracht ,
Das gl&ub'ge Sehen übcrsel'ger Tage;
Bekämpft den, der dies alles wüst verlacht!
Doch lasst es fühlen, wie im leisen Ahnen,
In einem steten, milden Übergang,
Dase die Vernunft zu Besse rm will vermahnen
Durch Überzeugung, ohne jeden Zwang!
*) Zum Glück war er nur „von diesem Jahre\ D. B.
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Für jede neue Wahrheit sichre Wege,
Voll Sinnigkeit und lockender Gewalt;
Für jeden Fortschritt treffende Belege
Voll Mark und Saft, in packender Gestalt.
Nach jeder Wendung planvolles Vertiefen,
Nach jedem Schritte vorbedachte Ruh';
Nach jedem Pact ein sicheres Verbriefen:
So führen wir uns der Vollendung zu.
Ans der Geschichte der Taubstummenbildung.*)
Von Dr. H. Morf-Wintertkur.
L
Zur Orientirung.
Die fünf Sinne sind die Thore, durch welche die Außendinge
als Bildungs- und Nährstoffe des Qeistes in unser Innenleben ihren
Einzug halten. Diese regen die seelischen Kräfte zur Selbstthätig-
keit an, und aus der Wechselwirkung zwischen Receptivität und Pro-
dnctivität resultirt die allseitige geistige Bildung.
Ist eines dieser fünf Thore verschlossen, d. h. ist der Nerv, der
dem Organ dient, dauernd unfähig, die Leitung nach Innen zu be-
sorgen, so entbehrt die Seele der Anregung aus demjenigen Gebiete
der Außenwelt, für das nur der in Frage stehende Nerv empfanglich
ist. So erleidet die Seele eine Einbuße an Erkenntnis und Entwicke-
hing, die um so größeren Umfang hat, je höher der Sinn ist, welcher
der Außenwelt unzugänglich bleibt. Einen fehlenden Sinn kann kein
anderer gänzlich ersetzen.
Von eminenter Wichtigkeit für die Ausbildung des Menschen ist
der Gehörssinn. Seine eigentliche Würde und Herrlichkeit liegt
darin, dass er dem Menschen das Reich des Geistes aufschließt
und dadurch die entscheidende Bedingung einer fortschrei-
tenden geistigen Cultur darbietet. Durch alle übrigen
Sinne hängt der Mensch nur mit der vergänglichen Welt zu-
sammen, durch das Gehör allein mit der ewigen und höheren.
Wessen Ohl* von Geburt an todt ist, dem sind die Zugänge zu
den Mitteln verschlossen, deren Einfluss und Kraft allein vermag, den
Menschen zu der hohen sittlichen und geistigen Bildung, zur Humanität
*) Wir hoffen, daes diese Abhandlung nicht blos Taubstummen- Lehrern,
sondern allen Lesern unseres Blattes als zeitgemäß und lehrreich erscheinen werde.
D. R.
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zu erheben, die ihm unter den übrigen Geschöpfen diejenige Stellung
Anweist, die ihm gebürt. Der Gehörlose, Taube, bleibt auch zugleich
stumm, weil die Sprache nur durch Sprechenhören sich erlernt. Die
Sprachwerkzeuge selbst sind bei den Tauben ebenso normal gebildet,
wie bei den Hörenden. Die Ursache der Stummheit liegt also nicht
bei ihnen, sondern in der Taubheit. Der Taube entbehrt also auch
des Gebrauchs der Sprache. Diese aber gehört, wie die höhere
Geistesbildung, unter die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale
des Menschen vom Thier, aber auch unter die größten Wolthaten und
Güter der Menschen, denn sie ist nicht nur die hauptsächlichste Be-
dingung des menschlichen Zusammenseins, sondern auch das Mittel des
unaufhörlichen Unterrichts, so wie auch das Hauptmittel der ge-
selligen Vergnügen.
Der Taube und Stumme, der Taubstumme, ist wol unter allen
Gebrechlichen der unglücklichste zu nennen. Die (ungebildeten) Taub-
stummen stehen im natürlichen Gebrauch ihrer Fähigkeiten fast voll-
sinnigen Thieren nach. Sie denken nicht, wie der Hörende, in Worten,
in Begriffen, sondern nur in Anschauungen und Bildern. Ein abs-
tractes Denken ist ihnen unmöglich. Auch in sittlicher Hinsicht
steht der (ungebildete) Taubstumme auf sehr niederer Stufe, besonders
wenn er in einer Umgebung aufgewachsen ist, die sich wenig um ihn
gekümmert oder gar durch Beispiel zum Bösen angereizt hat. So ist
er auch ohne Gott, ohne Religion, ohne Sitte, ohne Gesetz, eine Last
der Gesellschaft.
In früheren Zeiten stellte man diese Unglücklichen in die Reihe
der Blödsinnigen. Das Alterthum weiß nichts von Versuchen r die
Taubstummen zu bilden. Aristoteles erklärte sie für jeder Bildung
unfähige Wesen. Auch die christliche Kirche nahm sich dieser Un-
glücklichen nicht an. Im Hinweis auf Römer 10, Vers 14 und 17:
„Wie sollen sie aber anrufen, von dem sie nichts gehört haben?
Wie sollen sie aber hören ohne Predigt? So kommt der Glaube
aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes" — hatte
der heil. Augustinus den Satz aufgestellt: „Von Geburt aus Taub-
stumme können niemals Glauben empfangen, Glauben haben; denn
Glauben kommt aus der Predigt, aus dem, was man hört; sie können
weder lesen, noch schreiben lernen." Seine Autorität entschied auf
Jahrhunderte hinaus für das Verhalten der Kirche zu den Gehör- und
Sprachlosen.
So überließ man die Taubstummen ihrem Schicksal und betrachtete
sie mit stummer Scheu als von Gott Gezeichnete, und der religiöse
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Wahn, man dürfe Gottes an solchen Geschöpfen kund gethanen Willen
nicht corrigiren, den Schöpfer nicht meistern wollen, war bis in unsere
Zeiten der Bildung der Taubstummen, ja, überhaupt ihrer guten Be-
handlung, hinderlich. Die Kirche vergaß, dass Christus selber nach
der schönen Erzählung bei Marc. 7, 31 in der Heilung eines Taub-
stummen mit seinem Beispiel vorangegangen ist, und fühlte sich zur
Nachfolge in solcher Theilnahme an dem Schicksal der Unglücklichsten
aller Unglücklichen nicht angeregt.
Wol fanden im 16. und 17. Jahrhundert einige sporadische Ver-
suche zur Bildung von jungen Taubstummen statt, jedoch nur bei
Sprösslingen hoher Häuser; die in den untern Schichten der Gesell-
schaft blieben immer noch die Ausgestoßenen. Erst dem 18. Jahr-
hundert war es vorbehalten, in der Beurtheilung der Taubstummen
Wandel zu schaffen. Zwei Männer brachen die Bahn, ein Franzose
und ein Deutscher, de 1'EpGe und Samuel Heinicke. Sie lebten
des festen Glaubens, die Taubstummen seien ebenso gut beanlagt und
ebenso bildungsfähig, wie die Vollsinnigen. Ihr Glaube war aber kein
todter; sie betbätigten denselben durch ihre Hingebung in den Dienst
einer bisher so herzlos übersehenen Menschenclasse. Nicht allein, dass
sie die ersten Taubstummenanstalten gründeten, in welchen eine
nicht unbedeutende Zahl von Zöglingen ihre Ausbildung erhielt, sie
bildeten auch Lehrer heran, welche das Werk fortzusetzen befähigt
wurden; sie erhoben unausgesetzt ihre Stimme zu Gunsten dieser Un-
glücklichen, vertraten mit Energie wie mit Erfolg das Anrecht der-
selben an genügsame Mittel und Veranstaltungen zu deren sittlicher»
geistiger und leiblicher Ausbildung und wurden nicht müde, die Zeit-
genossen zu mahnen, das an ihnen Jahrhunderte lang geübte Unrecht
nnd die erbarmungslose Vernachlässigung endlich gut zu machen und
in Vergessenheit zu bringen.
„Einen Taubstummen bilden," so lautete ihre Devise, „heißt
nicht weniger, als ihn zum Menschen machen."
Bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft hinauf wurde die
Stimme der beiden Männer gehört und dieselbe erweckte, so weit sie
drang, thätige Theilnahme an der von ihnen vertretenen Sache.
Diese Pionire in der Taubstummenbildnng verdienen also reichlich,
dass wir uns mit ihrem Leben und Wirken näher bekannt machen.
Der erste Preis aber gebtirt ohne Widerrede dem Franzosen;
darum wollen wir unsere Aufmerksamkeit zuerst ihm zuwenden.
I
— 554 —
II.
Karl Michel de l'Epee.
De l'Epee entstammte einer sehr angesehenen und reich be-
güterten Familie in Versailles. Sein Vater war königlicher Architekt.
Er wurde am 24. November 1712 geboren. Seine große geistige
Begabung und sein reiches Gemüth offenbarten sich schon in früher
Jugend. In den Schulkenntnissen machte er bald ungewöhnliche Fort-
schritte. Sein Lerneifer, seine Liebe zur Arbeit kannten keine Grenzen.
Wie er die Freude und der Stolz der Eltern war, so hing auch er
mit fast leidenschaftlicher Liebe an ihnen, namentlich an seiner geist-
vollen Mutter. Er ergriff das Studium der Theologie und bestand schon
im Alter von 17 Jahren mit Ehren die theologische Prüfung. Da er sich
aber weigerte, ein von den Jesuiten ihm vorgelegtes Glaubensformular
zu unterschreiben, wurde er von jeder pfarramtlichen und kirch-
lichen Wirksamkeit ausgeschlossen. Da bezog er neuerdings die hohen
Schulen und widmete sich der Rechtswissenschaft Mit 21 Jahren
wurde er Parlamentsadvocat. Allein sein neuer Beruf verleidete ihm
bald. Seinem stillen, milden Wesen, seinem zarten Gemüth war, wie er
sich ausdrückt, der Tumult vor den Schranken zuwider. Er sehnte sich
nach der stillen Wirksamkeit eines Pfarrers. Dieser innigen Sehnsucht
kam der tolerante Bischof von Troyes entgegen. Er übergab ihm eine
Pfarrei in seinem Sprengel. De l'Epee 's pfarramtliche Wirksamkeit
war von reichem Segen begleitet. Seine Pfarrkinder waren ihm mit
Verehrung und Liebe zugethan. Seine glänzende Beredsamkeit hatte
ihre Quelle im Herzen und drang darum wieder zum Herzen. Alle
Tugenden, die er lehrte: Liebe zu Gott und den Nächsten, brüderliche
Theilnahme an dem Ergehen anderer, Sanftmuth, Wolwollen, Thätig-
keit, Bescheidenheit, Einfachheit, übte er selber. Feind jeder Un-
duldsamkeit, wiederholte er gern und oft die Worte Heinrichs IV.:
„Alle die, welche recht thun, gut sind, sind von meiner Religion";
und erinnerte seine Amtsbrüder, wenn sie sich etwa ereifern wollten,
an die Mahnung eines frommen Bischofs: „Lasst uns alle Religion
dulden, weil Gott sie duldet !w Er hatte sich täglich mehr der Früchte
und des Segens seiner pfarramtlichen Thätigkeit zu erfreuen.
Aber nach dem Tode seines Gönners und Beschützers wurde er
plötzlich zu seinem und seiner Pfarrkinder großen Schmerz seines
Amtes entsetzt und von der Ertheilung jedes Religionsunterrichtes
ausgeschlossen. Diese Maßregelung ging vom Erzbischof Beaumont
aus, dessen blinde Unduldsamkeit durch Rousseau'» gewaltigen Brief
Digitized by Google
— 555 —
ebenso verewigt ist, wie die des Hauptpastors Göze durch Leasings
Streitschriften.
Der Abbe de l'Epee zog sich nach Paris zurück und lebte
10 Jahre frei und unbehelligt wissenschaftlichen Studien. Er war
ökonomisch unabhängig. Seine jährlichen Einkünfte beliefen sich auf
Fr. 14 000, nach heutigem Geldwert wol Fr. 30 000 gleich zu schätzen.
Gegen das Ende des Jahres 1753 kam de l'Epee um eines nicht
genannten Geschäftes willen in das Haus einer Witwe in der rue des
Fosses-St Victoire. Die Hausmutter war abwesend; man führte ihn
in ein Zimmer, wo er ihre zwei Töchter — Zwillinge — traf, die
eifrig ihrer Handarbeit oblagen. Er grüßte sie, ohne einen Gegengruß
zu erhalten. Er redete sie weiter mit etwas erhöhter Stimme an,
um eine Unterhaltung mit ihnen anzuknüpfen, aber ohne allen Erfolg.
Bald darauf trat die Mutter ein. Von ihr vernahm de l'Epee, dass
die beiden Mädchen taubstumm und seit dem Tode des Priesters
Vanin, der ihnen mit Hilfe von Kupferstichen einige Kenntnisse bei-
zubringen versucht habe, ohne allen Unteiricht und ohne irgend welche
geistige Anregung seien. Sein Anerbieten, den Unterricht der Mäd-
chen wieder aufzunehmen und ihre geistige und religiöse Entwicklung
nach Kräften zu fördern, wurde mit heißem Dank von der Mutter
angenommen. Von dieser Stunde an bis zum Tage seines Todes, den
23. December 1789, lebte er der von der Vorsehung ihm ohne sein
Zuthun zugewiesenen Aufgabe der Taubstummenbildung mit einer
Liebe, Hingebung, aufopferungsvollen Uneigennützigkeit, welche das
Zeugiiis einer großen Seele, einer erhabenen Gesinnung sind. Wie
die Sache anzufangen sei, wie ein solcher Unterricht an die Hand
genommen werden müsse, darüber konnte er sich selber keine Antwort
geben. Seine philosophischen und theologischen Studien hatten bis
dahin seine ganze Aufmerksamkeit, sein Sinnen und Denken in An-
spruch genommen. So viel schien ihm klar, dass mit Kupferstichen
nicht viel zu erreichen sei. Er fragte sich, woran man den Unter-
richt bei den vollsinnigen Kindern anknüpfe, und er gab sich die
naheliegende Antwort: An die Muttersprache, welche die Kinder auf
dem Wege natürlicher Entwicklung sich erwerben. Auch die Taub-
stummen, sagte er sich weiter, hätten auf dem Wege natürlicher Ent-
wicklung eine Sprache sich angeeignet, die bei ihnen gleichsam die
Stelle der Muttersprache vertrete: das sei die Geberdensprache.
Diese müsse die erste Grundlage des Unterrichts sein.
Die Zeichensprache (les signes methodiques) bildete de l'Epee
so weit bis ins Detail aus, dass er seine Zöglinge mittelst derselben
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auch in der idealen Welt einheimisch zu machen vermochte. Com-
petente und unbefangene Beurtheiler bezeugen, dass dieselben bei
wiederholten öffentlichen Prüfungen bewiesen hätten, dass sie in der
christlichen Religion, in der Pflichtenlehre ebenso bewandert sich ge-
zeigt hätten, wie von einem Vollsinnigen nicht besser zu erwarten
gewesen wäre.
Diese Unterrichtsweise ist die selbstständige Erfindung und
Schöpfung de l'Epee's.
Seine Methode, sein Verfahren beim Unterricht machte er wieder-
holt und bis in die Einzelheiten öffentlich bekannt und lud jedermann
ein, sich durch den Augenschein vom Erfolg zu überzeugen.
Die Zahl seiner Zöglinge nahm rasch zu, und er entschloss sich,
den Unterricht der Taubstummen zu seiner einzigen Lebensaufgabe
zu machen. Im Jahre 1760 gründete er in Paris die erste Taub-
stummenanstalt der Welt; er verlegte sie als geschlossene An-
stalt nach dem Montmartre. Er nahm nicht nur Zöglinge aus Paris,
sondern auch aus den Provinzen auf. Die Zahl der Pfleglinge hielt
sich dauernd auf 60 und darüber. Er unterhielt die Anstalt auf seine
Kosten. Er bestritt nicht nur den Unterhalt der Zöglinge, sondern
bezahlte auch die Lehrer und Lehrerinnen. Von seinen Einkünften
brauchte der edle Mann gar wenig für seine persönlichen Bedürfnisse.
Er versagte sich manche Bequemlichkeit, um seinen „lieben Kindern"
desto mehr leisten zu können. So wollte er in dem strengen Winter
des Jahres 1788 — er zählte schon 76 Jahre — sein Zimmer nicht
heizen lassen, um durch den Ankauf von Heizmaterial die kleine
Summe nicht überschreiten zu müssen, die er für seine eigenen Be-
dürfhisse festgesetzt hatte. Die Vorstellungen seiner Haushälterin und
seiner Freunde blieben fruchtlos. Da erschienen eines Tages auf
seinem Zimmer seine Zöglinge und baten ihn unter heißen Thränen,
seine Wohnung zu erwärmen, seine Qesundheit nicht zu gefährden,
damit er so ihnen noch recht lange erhalten bleibe. Schließlich gab
er ihren Bitten nach. Aber noch lange nachher machte er sich Vor-
würfe, seinen geliebten Kindern die für Holz ausgelegte Summe ent-
zogen zu haben, die er für sie wol hätte ersparen können.
Er nahm am liebsten und vorzugsweise arme Zöglinge in seine
Anstalt auf. „Die Reichen", sagte er ausdrücklich, „dulde ich
gleichsam nur. Ihnen habe ich mich nicht gewidmet, sondern den
Armen. Ohne diese letzteren würde ich niemals die Er-
ziehung der Taubstummen unternommen haben. Die Reichen
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557 —
besitzen die Mittel, um Lehrer für ihre Kinder zu suchen und zu
bezahlen."
Da die Einkünfte zum Unterhalt der großen Familie nicht reichten,
griff de l'Epee seine Capitalien an, trotz dem Abrathen seiner Freunde.
Diese aber bemühten sich dann mit Erfolg dafür, dass von ver-
schiedenen Seiten namhafte Gaben in die Anstaltscasse flössen.
Dennoch blieben die Deficite nicht aus. Unter solchen Umständen ließ
de l'Epee sich dazu bewegen, die königliche Regierung um einen
jährlichen Zuschuss an die Unterhaltungskosten der Anstalt zu bitten.
Aber er erhielt blos leere Versprechungen. Ja, der König Lud-
wig XVI. sagte zu seinem Beichtvater: „Der Abbe de l'Epee thut
Großes an seinen Zöglingen; aber es wäre denselben besser, wenn sie
taubstumm blieben, als dass ihre Ohren dem Jansenismus geöffnet
werden."
Bald aber änderte sich die Stimmung am Hofe. Es kam nämlich
1777 Kaiser Joseph II. nach Paris zum Besuch seiner Schwester,
der Königin. Unter den Merkwürdigkeiten, die Paris bot, war ihm
eine der ersten die Taubstummenanstalt von de l'Epee. Er
war mehr als einmal unter den Besuchern der Anstalt, und er verließ
dieselbe stets tief ergriffen von der Hingabe des edeln Mannes an
seinen Beruf und von den Leistungen seiner Schüler. Bei Hofe
sprach er dann unverholen seine Verwunderung und Missbilligung aus
über die geringe Theilnahme in den höchsten Kreisen an dieser wich-
tigen Sache. Die Anstaltscasse beschenkte er mit 50 Louisd'or und
de l'Epee mit einer goldenen Dose. Diesem aber bot er eine Abtei
in seinen Staaten an. De l'Epee gab die schöne Antwort: „Sire,
ich bin schon alt; wenn Ew. Majestät es mit den Taubstummen wol
meinen, so verwenden Sie Ihre Wolthaten nicht an mich, der ich
schon mit einem Fuße im Grabe stehe, sondern an das Werk selbst.
Es ist eines großen Fürsten würdig, dem, was der Menschheit wahr-
haft nützlich ist, Dauer und Unvergänglichkeit zu sichern.- Der
Kaiser theilte de l'Epee ferner mit, dass die Eltern eines taub-
stummen Mädchens aus den höchsten Kreisen Wiens ihrer Tochter
gern eine gute, christliche Erziehung angedeihen lassen möchten und
fragte, wie sie die Sache wol am zweckmäßigsten anstellen würden.
De l'Epee antwortete: „Es gibt zwei Wege zu diesem Ziel. Der
eine besteht darin, dass man das Mädchen zu mir nach Paris sendet;
ich würde mir dessen Ausbildung angelegen sein lassen, jedoch keine
persönliche Entschädigung dafür annehmen. Der andere Weg wäre
noch der einfachere, der darin bestünde, mir einen intelligenten jungen
Pädagogium. 14. Jahrg. Hoft IX. 39
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Mann von ungefähr 25—30 Jahren zu senden, damit er meine Unter-
richtsweise kennen und ausüben lernt, um dann in Wien selber einer
solchen Anstalt vorstehen zu können."
Dem Kaiser leuchtete der letztere Weg als ein weiter reichender
ein. Nach Wien zurückgekehrt, sandte er den Weltpriester Stork,
einen sehr begabten Mann von 26 Jahren, nach Paris in die Schule
de l'Epee's. Nachdem Stork ein Jahr daselbst zugebracht, eröffnete
er in Wien eine Taubstummenanstalt nach derselben Methode.
Auch der König von Frankreich konnte sich nicht auf die Dauer
der Unterstützung der Taubstummenanstalt auf dem Montmartre ent-
ziehen. Jedoch erst manche Jahre nach seines Schwagers Joseph Be-
such wies er derselben eine jährliche Rente von 6000 Fr. an, sowie
einen Theil der Einkünfte eines aufgehobenen Cölestinerklosters mit
der Zusicherung, dass das Institut sobald als thunlich aus der bis-
herigen Miethwohnung in die bequemeren Gemächer eben dieses
Klosters versetzt werden solle.
Diese Übersiedlung erlebte de l'Epee nicht mehr. Der Tod über-
raschte ihn, ihm und seinen Freunden ganz unerwartet, seinen Zög-
lingen zum tiefsten Schmerz, Ende December 1789. Eine an herrlichen
Früchten reiche Wirksamkeit war damit abgeschlossen.
Welche erschöpfende Arbeitslast auf de TEpee stets geruht hat,
entnehmen wir einem Briefe vom Juli 1783 an seinen vertrauten
Freund Keller, Pfarrer in Schlieren bei Zürich:
„Soixante-huit sourds et muets et environs trois cent
parlants (vollsinnige Besucher der Anstalt) m'assiegent sans cesse.
Mais ces visites importantes de nos concitoyens et des Strangers me
derobent les moments que je voudrais employer ä m'acquitter d'autres
devoirs. C'est ainsi que mes jours s'ecoulent, me reprochant toujours
de ce que je ne fais pas ce que je devais faire et ne trouvant pas
neanmoins le loisir de m'y appliquer. La nuit est le seul temps dont
il semble que je pourrais disposer, mais ma plume tombe des mains.
Mr. Ulrich sera en 6tat de certifier ce qu'il aura vu de mes occu-
pations.«
Erst vier Jahre nach seinem Tode, 1793, wurde sein Institut zur
Staatsanstalt erhoben und damit gefahrdrohenden Wechselföllen ent-
hoben und auf festen Boden gestellt
Verschiedene Denkmäler erinnern an ihn. So erhebt sich in der
Kirche Saint-Roche zu Paris, wo auch seine sterblichen Überreste
ruhen, sein Monument, und zu Versailles ist ihm im Jahre 1843 eine
Statue errichtet worden.
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Samuel Heinicke.
Samuel Heinicke wurde im Jahre 1727 in Nauschütz bei
Weißenfels an der Saale als Sohn eines Bauers geboren. Auf sein
sehr bewegtes Jugendleben näher einzutreten, gestatten die Grenzen
einer kurzen Skizze nicht.
Nach 7jährigem Dienst beim Militär, den er zu seiner allseitigen
Ausbildung eifrig benutzt hatte, wurde er im Alter von 42 Jahren
Schulmeister, Organist und Küster in der Gemeinde Eppendorf bei
Hamburg. Mit Neujahr 1769 hatte er die Stelle anzutreten. An-
fänglich war er gar nicht auf Rosen gebettet. Der Ortspfarrer,
Pastor Granau, hatte die Stelle einem Verwandten zugedacht ge-
habt. Er hatte schon vor dem Einzug des neuen Cantors in der Gemeinde
.herumbieten lassen, derselbe sei ein Freimaurer, habe in Hamburg
meist mit Comödianten und sonstigen Freigeistern Umgang gepflogen.
Am Neujahrstag predigte der Pastor so gewaltig gegen die falschen
Aufklärer und Freimaurer, die sich nun auch in der stillen Gemeinde
Eppendorf eingeschlichen hätten, dass den Dorfbewohnern angst und
bang wurde und sie am liebsten den neuen Schulmeister zum Dorf
hinaus getrieben hätten.
Nur unwillig schickten sie die Kinder zur Schule, und diese
kamen in einer Stimmung, die ganz der der Eltern entsprach. Aber
bald sollte es anders kommen. Heinicke's Unterricht war den Schülern
so interessant, fesselte sie so, dass sie bald kräftig für den Lehrer
eintraten und eine bessere Stimmung für denselben erweckten. Doch
wollte die Lautirmethode, die Heinicke statt des geiattödtenden
Buchstabirwesens einführte, — also lange vor Graser — den Leuten
nicht behagen. Aber als er eines Tages einige Spectakler, die lär-
mend in die Schulstube gedrungen, rasch mit kräftiger Hand und
ohne Worte vor die Thür hinaus beförderte, hörte jeder Widerspruch
auf. Der Respect vor der körperlichen Kraft des Schulmeisters war
nicht minder groß, als der vor seiner geistigen.
Der Pastor musste bald erfahren, dass sein Cantor und Küster,
der ihn schon äußerlich — „eine Siegfriedsgestalt" — um Kopfes-
länge überragte, auch in geistiger Beziehung nicht weniger über
ihm stand.
Die Stimmung im Dorfe sollte für Heinicke bald noch günstiger
werden. Der Pachtmüller in Eppendorf hatte einen taubstummen
Knaben. Diesen traf Heinicke auf einem Spaziergang. Er anerbot
sich, dem Sohn des Pachtmüllers Unterricht zu ertheilen. Mit dank-
39*
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— 560 —
barer Freude nahm der Vater das Anerbieten an. Die Dorfbewohner,
obschon sie im Sinne ihrer Zeit das Unglück des Pachtmüllers als
Strafe Gottes ansahen, fühlten die Menschenfreundlichkeit ihres Lehrers
heraus und näherten sich ihm immer mehr. Nur der Ortspfarrer stand
ihm immer gleich schroff gegenüber. Heinicke brachte den wol-
befähigten taubstummen Knaben bald so weit, dass ihm über die
sichtbare und höhere Welt viel Verständnis aufging, dass er Worte
und Sätze, wenn auch noch in unvollkommener Weise, aussprechen
konnte. Das Staunen der Eppendorfer kannte keine Grenzen, als sie
den Taubstummen reden hörten. Nach einigen Jahren war dieser so
weit, dass Heinicke ihn zur Conftrmation anmelden konnte. Jetzt
glaubte der Pastor seinen Mann fassen zu können. Zum Erstaunen
aller predigte er jetzt von der Kanzel herab gegen Heinicke, wies
seinen Zuhörern nach, dass ihr Schulmeister ein Frevler an Gottes
Allmacht und Weisheit sei, ein Mensch, der Gott meistern und zu-
rechtweisen wolle, da er die, welche der Herr gezeichnet habe,
die Taubstummen, reden lehre. Da ging Heinicke mit seinem taub-
stummen Zögling zu dem seit Lessing viel geschmähten Hauptpastor
Göze in Hamburg. Dieser exaininirte den Knaben, auch in Hinsicht
auf Religionskenntnis, und war mit dessen Antworten so zufrieden,
dass er erklärte, der Confirmation stehe nichts im Wege, und wenn
Pastor Granau dieselbe nicht vollziehen wolle, so sei er, Göze,
gern dazu bereit.
Nun weigerte sich Granau nicht länger, um so weniger, da er
auch vernahm, wie der Hamburger Oberpfarrer sein Auftreten in dieser
Beziehung beurtheilt hatte.
Es konnte nicht fehlen, dass Heinicke's Bemühungen um den
taubstummen Müllerssohn auch in weiteren Kreisen Aufsehen erregten. «
Seine Freunde, Reimarus, Büsching, Unzer, Klopstock, Graf
Schimmelmann, die mit ihm stetsfort in regem persönlichen Ver-
kehr gestanden und an seinen Leiden und Freuden in Eppendorf un-
unterbrochen lebendigen Antheil genommen hatten, versäumten nicht,
von dessen glücklichen Erfolgen im Taubstummenunterricht der Welt
öffentlich Kunde zu geben. Die Folge davon war, dass ihm von ver-
schiedenen Seiten Taubstumme zur Ausbildung übergeben wurden.
Zu Anfang des Jahres 1774 hatte Heinicke bereits fünf taubstumme
Pensionäre um sich.
Heinicke's Ruhm und die Zahl seiner taubstummen Zöglinge
wuchs immer mehr. Die Anforderung an seine Kraft überstieg bald
das zulässige Maß. Die Dorfschule war überfüllt und erforderte eine
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volle Manneskraft, und doch galt es auch, die taubstummen Pensionäre
nach Möglichkeit zu fördern. Es war eine Riesenarbeit, die auf
Heinicke lastete, die nur eine solche Persönlichkeit einige Jahre
hindurch bewältigen konnte. Auf die Dauer konnte es aber auch diese
eiserne Natur nicht mehr aushalten. Dazu kam, dass seine Frau, die
als Pflegemutter seiner Pensionäre einen guten Theil der Last zu
tragen hatte, seit ihrer Ankunft in Eppendorf fortwährend kränkelte
und im Herbst des Jahres 1775, nachdem sie 21 Jahre lang mit ihm
so treulich Freud und Leid getragen, ins Grab sank und ihm vier
unerzogene Kinder hinterließ. Heinicke fühlte, dass er entweder sein
Schulamt oder sein junges Institut aufgeben müsse, und es konnte
ihm nicht fraglich sein, welches. Zu Ostern 1777 legte er seine Stelle
als Schulmeister, Küster und Cantor nieder und lebte allein seinen
taubstummen Zöglingen; doch blieb er noch ein Jahr in Eppendorf.
Dann im April 1778 zog er mit seiner Familie und 9 Zöglingen nach
Leipzig und eröffnete dort seine Anstalt, die heute noch als ehrendes
Denkmal der Thatkraft und treuer Hingabe des Gründers in schönster
Blüte steht.
Zwölf Jahre führte Heinicke die Anstalt, wenn auch oft unter
Schwierigkeiten und Anfechtungen, mit großem Erfolg fort. Dass er
sich in so viele, seinem Berufe oft gar fern liegende Streitigkeiten
verwickelte — er brach mehr als eine Lanze für die Kantische
Philosophie und sprang mit den Gegnern derselben, den „Dunkel-
männern", arg genug um — raubte ihm viel Zeit und Stimmung,
und die unzähligen Fehden machten ihn immer händelsüchtiger. Sein
Streiten, seine Zähigkeit und Grobheit galt jedoch immer nur dem,
was er für schlecht und verderblich ansah.
Seine letzten Lebensjahre waren keine leichten. Zu allen Bitter-
keiten, die er durchzukosten hatte, traten ernste Gesundheitsstörungen.
Die Gicht plagte ihn. Die Anschuldigungen, die öffentlich erhoben
wurden, er behandle seine Zöglinge hart, scheinen auf argen Über-
treibungen von Seite seiner vielen Feinde zu beruhen.
„Stand auch fast alles gegen ihn in Waffen, so war doch in
seinem Hause Friede und Freude. In diesem Kreise fand er Ruhe
und Erholung. Seine Zöglinge und seine Kinder bildeten eine große
Familie, bei der Mahlzeiten, Erholung und Arbeit gemeinsam waren.
Abends aber, wenn die Zöglinge zur Ruhe gegangen waren, wurde
viel musicirt. Heinicke holte die Violine herbei, die er meisterhaft
spielte, die Kinder sangen, und nun war aller Hader und Streit ver-
gessen; er war glücklich im Kreise der Seinen." (Stötzner.)
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Mit Beginn des Jahres 1790 überfiel ihn die Gicht mit erneuter
Heftigkeit; sie verließ ihn nicht mehr; er unterlag derselben in der
Nacht vom 29. auf den 30. April.
Heinicke hat Über 100 Schüler aus aller Herren L&ndern gehabt;
aber er hinterließ keine Schätze, seiner zweiten Gattin nur die Sorge
für 3 unerzogene Kinder und für die immerhin noch junge Anstalt
Heinicke's Grabstätte ist unbekannt; in den Kriegsstürmen der
folgenden Jahre ist sie vergessen worden.
Nicht aber das Andenken an den verdienten Mann. Im Jahr 1847
erließ ein Comite aus den ersten Kreisen Hamburgs einen „Aufruf
znr Begründung eines Nationaldenkmals für Samuel Heinicke, den
Stifter der ersten Taubstummenanstalt Deutschlands." Unter Hinweis
auf die allgemeine Verehrung, die Frankreich de l'Epee zollte, sagt
der „Aufruf" : „Aber schuldet nicht auch Deutschland seinem Wol-
thäter und dem der Menschheit, schuldet nicht namentlich Hamburg,
welches ja die Wiege des deutschen Taubstnmmenunterrichtes ist, dem
um die Bildung der unglücklichen Taubstummen so hoch und gewiss
nicht minder als de l'Epee verdienten Heinicke ein Denkmal der
Liebe, der Dankbarkeit und der Verehrung?"
Der Ertrag der Sammlung war jedoch ein geringfügiger und
reichte nicht zu einem Denkmal. Ein Theil davon wurde zur Unter-
stützung einer Enkelin Heinicke's verwendet, der Restbetrag später
an Leipzig abgegeben, wo die Lehrer und Schüler der Taubstummen-
anstalt im Anschluss an die Säcularfeier des Instituts mit Hilfe von
Freunden dem Gründer desselben, Heinicke, im August 1881 ein
Denkmal errichteten.
Das alte Schulhaus in Eppendorf, in dem Heinicke seine erste
Wirksamkeit als Volks- und Taubstummenlehrer ausübte, ist pietätvoll
noch in seiner alten Ursprünglichkeit erhalten. Auch hat die Ge-
meinde das Andenken ihres einstigen Cantors, Schulmeisters und
Küsters dadurch geehrt, dass sie die in Eppendorf auf den Markt-
platz führende breite Straße Heinickestraße benannt hat.
rv.
Methoden des Taubstummenunterrichts.
Für den Taubstummenunterricht werden zwei Hauptmethoden
gehandhabt:
Die französische, von de l'Epße erfunden und befolgt, und
die deutsche, von Heinicke begründet.
Das Hauptunterrichtemittel de l'Epee 's war die Zeichensprache,
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die er bis ins Detail ausbildete. Mittelst derselben brachte er den
Schülern alle Kenntnisse bei, die in der Schale irgend gelehrt werden
können, Musik ausgenommen. Seine staunenswerten Erfolge sind un-
widerleglich bezeugt. An die Geberdensprache schloss er die Schrift-
sprache, das Schreiben, an. Erst in dritter Linie kam bei ihm die
Lautsprache, die Articulation, das Sprechen. Diesem Sprechen sei
einiger Wert für den Verkehr mit den Menschen zuzugestehen, aber
für die geistige Ausbildung der Taubstummen leiste es nichts; es sei
ein mechanisches Thun ohne geistige Ausbeute. Er gab sich darum
geringe Mühe, seinen Zöglingen das Sprechen einzuüben.
Heinicke ging ziemlich den umgekehrten Weg. Er gründete
den Taubstummenunterricht auf die Lautsprache, die Articulation, das
Sprechen. Dieses ist ihm die Grundlage für die geistige Ausbildung,
wie für die Erwerbung von Kenntnissen. Das Schreiben kommt bei
ihm in die zweite, die Geberdensprache in die dritte Linie. Zwischen
de l'Epee und Heinicke entspann sich bald ein scharfer Streit über
den Wert ihrer Methode. Heinicke hatte ihn begonnen, indem er
in einer Druckschrift öffentlich erklärte, de l'Epße's und anderer
Thun sei nichts weiter als Blendwerk, Thorheit, Betrug und Unsinn.
In der so begonnenen Fehde erwies sich de l'Epee als ein edler,
ehrlicher, gerader Mann. Er legte seine Sache klar, deutlich, für
jedermann verständlich, dar. Heinicke erwies sich als Meister im
polternden Absprechen. Sein Unterrichtsverfahren legte er nie öffentlich
und klar dar. Er behandelte es als Geheimnis, rühmte sich eines
Arcanums zur Einprägung der Vocale. Seine Kunst, seine Wissen-
schaft, sammt dem Arcanum wollte er Stork in Wien um 2000 Louisd'or
verkaufen, de l'Epee müsste ihm 100000 Fr. bezahlen. De l'Epee
legte die Streitsache unter Beifügung sämmtlicher Actenstücke einer
großen Zahl von Akademien zur Entscheidung vor, aber nur die von
Zürich trat darauf ein, wol veranlasst durch den intimen Freund
de l'Epee's, Pfarrer Keller in Schlieren.
Das in lateinischer Sprache abgefasste Gutachten der Züricher
ist eine vorzügliche Arbeit, würdig im Ton, gründlich und klar in der
Sache. Die Chorherren und Professoren fassen die Hauptpunkte des
Streites viel bestimmter auf und beweisen eine größere Einsicht in
das, um was es sich handelt, als die beiden Streitenden selbst
In der Einleitung begründen sie ihre Befugnis, ein Wort in dieser
Sache mitsprechen zu dürfen, damit, dass sie bezeugen können, nicht
nur die eingesandten Actenstücke, sondern auch die Schriften beider
Taubstummenlehrer „sorgfältig durchgangen" zu haben.
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Es sei nun zu untersuchen, ob die Behauptung Heinicke's richtig
sei, „dass de TEpee vom wahren und rechten Weg abgeirrt sei und
er allein das beste und vorzüglichste Verfahren in dieser Kunst ge-
funden habe und innehalte".
„Also das ist zu erörtern", wenden sie sich direct an de l Epee,
„was er an dem Verfahren tadelt, das Du als ein theilweise von Dir
gefundenes begonnen hast und von großem Lob wieder gefeiert schaust"
Dann analysiren die Züricher Chorherren das Verfahren de l'EpeVs
und treten dem Vorwurf, er habe keine rechte Grundlage, da er die
Lautsprache nicht gebrauche, mit folgenden Worten entgegen:
„Wie denn? Brauchst Du einzig das Hilfsmittel der Schrift im
Unterricht Deiner Schüler, setzest Du gar nichts an die Stelle der
Laute (Tonsprache), damit der Übergang von den geschriebenen Wörtern
zum Fassen der Dinge selbst erleichtert würde? Sind also die Zeichen
nichts (les signes methodiques), die Du methodische heißest und wo-
durch Du nicht nur die alltäglich um uns herum liegenden Dinge
aufs geuaueste bezeichnest, sondern auch das Verborgene, den Sinnen
ganz Unzugängliche im einzelnen, wie mit einem Körper bekleidest,
dass es deutlich mit den Augen geschaut werden kann? Und wenn
wir diese Deine unvergleichliche und über alles Glaubliche
hinaus ausgebildete Kunst über alles Lob erhaben heißen, so
fürchten wir nicht, dass wir irgend einem Sachkundigen und Ein-
sichtigen zu viel gelobt zu haben scheinen. So hat nun der Theil
Deines berühmten Werkes (Instruction des Sourds et Muete par la
voie des signes methodiques 1776) auf uns einen Eindruck gemacht,
dass uns, die wir vorher über manches zweifelten, nun da fürwahr
ein helles Licht hervorstrahlte, und so haben wir da Deinen Scharf-
sinn und die Sorgfalt der Lehre bewundert. Die Schriftsprache ist
Dir, Du bewährter Mann, gar nicht ein Werkzeug, wodurch Du aus
dem Geist der Deinen die Kraft zu denken und zu schließen erst
herauslocken möchtest, Uns Vollsinnige hat die klingende Rede
dorthin geleitet, die Deinen führt eben dahin das bewunderns-
werte Kunstwerk der methodischen Zeichen. Was wir früher
kaum für möglich hielten, das zuzugeben stehen wir gar nicht an,
dass nämlich keine der im Mund und Brauch der Menschen lebende
Sprache voller und reichhaltiger sei, als die, welche Du mit den
Taubstummen brauchst Durch sie allein würdest Du den Deinen allen
das Wesen des Menschen wiedergeben, wenn Du nicht für durchaus
heilsam hieltest zur Geistesbildung, dass überdies das Lernen der ge-
schriebenen Buchstaben dazu komme Doch bedarf Deine Streit-
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sache ja gar wenig der Deckung durch Gründe; sie hat nämlich, was
mehr als alle Schlussfolgerung, die gewichtige Autorität der Zeugen
fftr sich, die täglich Dir zuströmen; deren Wahrhaftigkeit und Ge-
wissenhaftigkeit — diejenige Kaiser Joseph's, Linguet's, selbst
Perreire's, Deines Tadlers — mag Heinicke, wenn er es kann, zu-
sammenreißen und zeigen, dass falsch und von Dir ersonnen sei, was
Du sagst. Wir aber haben nicht fern von unserer Stadt Deinen ver-
trauten Freund Keller, einen trefflichen Mann, der Deinen Fuß-
stapfen nachgehend, in der gleichen Kunst aufs schönste waltet."
Die Begutachter haben aus dem Studium von Heinicke's Streit-
schriften die Überzeugung gewonnen, „dass er de l'Epee's Verfahren
nicht kenne, des letzteren oben angeführte Hauptschrift nicht gelesen
und nur aus ungewissem Gerücht geschöpft habe und demnach seine
Einwendungen nicht zuträfen, sondern dahin fielen".
„Das ist, ruhmvoller Mann, was wir über Euere Sache an Dich
glaubten schreiben zu sollen, nicht um Deiner Sache Hilfe zu bringen,
was Du nach unserm Urtheil nicht bedurftest, da von Dir dem Gegner
über genug geantwortet worden ist, sondern nur, um Deinem Ver-
langen nachzukommen."
„Dir aber sei beschieden, ein friedvolles, an jeder Glückseligkeit
reiches Alter so zu genießen, wie Du es um die Menschheit verdient
hast. Lebe wol!"
m
Gegeben den 7. Februar 1783.
Der Convent der akademischen Vorsteher:
Dr. Hess, Professor der Philosophie.
Dr. Steinbrüchel, Professor der griechischen Sprache.
Dr. Schinz, Professor der Physik und Mathematik.
Dr. Usteri, Professor der Literatur.
Dr. Hottinger, Professor der Beredsamkeit, dem die Ab-
fassung des Gutachtens übertragen worden war.
Durch die Geheimniskrämerei schadete Heinicke seiner Sache
so sehr, dass sein Unterrichtsverfahren nach seinem Tode völlig ver-
loren ging und die französische Methode an dessen Stelle trat, selbst
in Leipzig. Wandel darin schaffte 1832 erst wieder Pfarrer Jäger,
Lehrer an der Taubstummenanstalt Gmünden in Württemberg. Er erhob
die Laiitsprache, das Sprechen, wieder zur Grundlage des Unterrichts.
Von da aus ging dieses Verfahren in den 30er Jahren durch Scherr
in die Taubstummenanstalt in Zürich über.
Der Hauptreformer aber auf dem Gebiete des Taubstummenunter-
richts in unserer Zeit war Hill, als Schriftsteller und Leiter der
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Taubstummenanstalt in Weißenfels. Nicht nur hat er die Lautsprache
(in Verbindung mit der Schriftsprache) zum Hauptunterrichtsmittel
erhoben, sondern auch den Unterrichtsstoff organisirt Nach ihm
soll die Taubstummenschule — mutatis mutandis — der wol-
geleiteten, nach Pestalozzischen Grundsätzen geführten
Volksschule der Vollsinnigen gleich sein. Dieselbe verstandige
Auswahl des Lernstoffes für das Leben, nicht blos für die Schule zum
Abhören am Examen, dieselbe Anschaulichkeit und Lücken-
losigkeit, dieselbe Selbstthätigkeit im Auffassen und Re-
produciren.
Die von Hill angestrebte und auch ins Leben gerufene Gesammt-
organisation des Taubstummenunterrichts heißt mit vollem Eecht die
deutsche Schule. Sie hat auch für lange Zeit vollständigen Sieg
errungen, indem sämmtliche Taubstummeninstitute, die französischen
nicht ausgenommen, fast ohne Ausnahme ihr Verfahren adopürten.
Wie trefflich der Lehrer Hill seine Schule zu fuhren wusste,
davon war der Schreiber dieser Zeilen 1857 selbst Zeuge. Als er zu
Hill in die Classe trat, glaubte er sich in eine gut geführte Schule
Vollsinniger versetzt, so frisch, fröhlich, lebendig war der Unterrichts-
verkehr in der Lautsprache. Bei wiederholten Besuchen habe ich
mich immer mehr überzeugt, welch allseitigen Gewinn ein Lehrer
der vollsinnigen Kinder aus der wiederholten Anwohnung bei solchen
Unterrichtsstunden davon trüge. Er würde gründlich davor bewahrt,
künftighin über die Köpfe der Schüler hinweg ins Wortwesen oder
— mit Pestalozzi zu reden — ins Maulbrauchen zu verfallen.
Hill war übrigens in der Anwendung seiner Unterrichtsmittel fern
von allem Pedantismus. So sehr er die Ausbildung der künst-
lichen Zeichensprache nach de l'Ep6e missbilligte und für eine Ver-
irrung erklärte, so unbefangen urtheilte er über Wert und Anwendung
der natürlichen Zeichensprache beim Unterricht. Er spricht sich
ganz entschieden gegen den Ausschluss derselben aus und begründet
sein Urtheil ausführlich.
Ganz unerwartet hat sich heute nochmals ein Streit entsponnen
zwischen der deutschen und der französischen Methode. Er ist bereits
wieder in ein acutes Stadium getreten, kann aber nicht mehr, wie
vor hundert Jahren, den Chorherren in Zürich zum Entscheid vorgelegt
werden. Dagegen ist nun die höchste Autorität in Deutschland, der
deutsche Kaiser, von den Taubstummen selber als Schiedsrichter an-
gerufen. Der Streit ist hervorgerufen worden von einem Lehrer an
der Taubstummenanstalt in Breslau durch folgende Reformschrift:
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„Der Taubstumme und seine Sprache. Erneute Unter-
suchungen über das methodologische Fundamentalprincip
der Taubstummenbildung. Von Heidsiek, Lehrer an der Taub-
stummenanstalt in Breslau. u Diese Kundgebung aus den Reihen deutscher
Taubstummenlehrer macht großes Aufsehen. Heidsiek bestreitet, dass
der deutschen Methode die ausschließliche Alleinherrschaft ge-
büre. Er verlangt kategorisch, dass der französischen neben ihr
Baum gegönnt, und dass durch eine harmonische Vereinigung beider
eine allgemein gültige Methode geschaffen werde.
„Dass das Votum von Heidsiek", meint Dittes, „hie und da
ziemlich schroff klingt, und dass er an der einen Methode die
Schatten-, an der andern die Lichtseiten stärker hervorhebt, darf
man einer Reformschrift nicht allzuhoch anrechnen."
Welche Früchte diese Reformvorschläge in den deutschen Taub-
stummenanstalten zeitigen werden, wird die nächste Zukunft lehren.
In den jüngsten Tagen haben die Lehrer an der Taubstummen-
anstalt in Breslau, Heidsiek's Collegen, eine scharfe Erklärung gegen
diesen in der Schlesischen Zeitung erlassen. Sie weisen darauf hin,
dass auf den internationalen Congressen zu Mailand und Brüssel die
reine Wortsprache als die allein richtige erklärt worden.
Herrn Heidsiek aber sind die Taubstummen, die Zöglinge der
deutschen Taubstummenanstalten, zu Hilfe gekommen. Sie treten mit
großer Entschiedenheit für ihn und seine Reformvorschläge ein. Das
thut nicht nur der große Taubstummenverein in Schlesien, sondern auch
die in Preußen, gegen welche hinwiederum die Taubstummenlehrer Ber-
lins auftreten. Die neueste Kundgebung ist eine von Taubstummen aus
allen Theüen des Deutschen Reiches unterzeichnete Petition an den
Kaiser, worin die Petenten bitten, dass die lang ersehnte Einführung
der Geberdensprache neben der Lautsprache im Taubstummenunter-
richt Thatsache werde. Unter dem jetzigen Mechanismus „verblöde"
und „veröde" der Geist, Das Weitere ist abzuwarten.
(Schluss folgt.)
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Die Lehrer und die Presse.
Von Rector A. Güd-Kassel
Der Lehrer soll seine Thätigkeit mit der Arbeit in der Schale
selbst nicht für abgeschlossen erachten, er muss vielmehr auch aof
die Jugend über das schulpflichtige Alter hinaus, auf die Eltern seiner
Schüler, auf alle, die ein Interesse an der Schule haben oder haben
sollen, einzuwirken suchen. In kleineren Orten wird ihm das durch
persönliche Unterredungen möglich sein, in größeren Orten seltener.
Da bietet sich ihm ein anderes Mittel der Einwirkung, das ist — die
öffentliche Presse, selbstverständlich die anständige. Diese Art der
Einwirkung hat den besonderen Vortheil, dass sie sich über größere
Kreise erstreckt. Wollte man einwenden, dass die durch die Tages-
presse hervorgerufenen Eindrücke sich schnell wieder verwischen, so
ist das nicht ganz abzustreiten, es bleibt aber doch immer etwas
hängen, wenn der richtige Ton angeschlagen wird. Die Presse be-
schäftigt sich heutzutage, wo sie die Wichtigkeit der Schule als
Culturfactor anerkennt, vielfach mit dieser. Nicht immer geschieht
dies aber in einer der Schule und dem Lehrerstand ersprießlichen
Weise. Die Lehrer müssen deshalb selbst eingreifen und für die Presse
schreiben. Ich meine nicht, dass sie Reporter für dieselbe werden
sollen, sondern pädagogische Volksschriftsteller. Wenn sie dabei nicht
das nächste eigene Interesse durchblicken lassen, sondern im Interesse
des Volkes schreiben, so wird eine heilsame Rückwirkung auf die
Verhältnisse, das Ansehen und die Stellung des Lehrerstandes nicht
ausbleiben. Wie vielfach kommen die Bewohner größerer Städte in
Verlegenheit, wenn die Frage an sie herantritt: In welche Schule
schicke ich mein Kind? Hier bietet sich die Gelegenheit, den Leuten
für die ersten Schuljahre wenigstens den Besuch der Volks- und Bürger-
schulen zu empfehlen und damit für die Idee der allgemeinen Volks-
schule thatkräftig zu wirken. Tritt die Frage der Berufswahl an die
aus der Schule entlassenen Kinder und ihre Eltern heran, wer sollte
da besseren Rath ertheilen können als ein einsichtiger und erfahrener
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Schulmann? Wie mancher wünscht Aufklärung über den Kindergarten,
über Jugendschriften, Fortbildungsunterricht, Taschengeld, Tanz-
stunden u. a. Der Pädagoge muss in diesen Erziehungsfragen das
Elternhaus berathen können. Gibt er hierin guten Rath, so hilft er
sein eigenes Erziehungswerk vollenden und erwirbt sich den Dank
und die Anerkennung der Berathenen. Die Zeitungen sind mit wenig
Ausnahmen noch nicht daran gewöhnt, ihren Lesern Leitartikel über
solche Fragen zu bieten. Wenn sie es thäten, so würden sie ihren
vornehmsten Zweck, nämlich den, der Volksaufklärung zu dienen, erst
erfüllen. Sollten sie jedoch ihre Leitartikel nur den Fragen der hohen
Politik widmen wollen, so stellen sie sicherlich den Raum unter dem
Strich zur Verfügung. Es sind besonders die Provinzialblätter ins
Auge zu fassen, die sicherlich gern, wenn ihnen guter Stoff geboten
wird, zugreifen und auch Honorar zahlen. Diese Blätter suchen recht
eifrig ihre Leser in Lehrerkreisen; sie wissen, der Lehrer liest und
hat Einfluss. Nun beruht alles auf Gegenseitigkeit: soll der Lehrer
ein Blatt halten, dann muss ihm dasselbe auch einen Inhalt bieten,
der ihm zusagt Die Aufnahme von kurzen Artikeln über Zeitfragen
auf dem Gebiete der Schule und des Lebens, über Schul- und Er-
ziehungsfragen, Volkserziehung und Volksbildung wird heutzutage keine
Schwierigkeit mehr bereiten. Da sind immer wieder zu erörtern die
Fragen: Weibliche Bildung, Fortbildung der Mädchen, die öffentlichen
Schulprüfungen, die Hausaufgaben, Fortbildungsschulen, Gesetzeskunde
in der Schule, Volkswirtschaftliche Belehrung der Jugend, Knaben-
handarbeit, Schulsparcasse, Gesundheitspflege, Schulaufsicht, Volks-
bildung, Volkserziehung und Volkswolfahrt, Staats- oder Gemeindeschule,
Allgemeine Volksschule oder Standesschule, Berechtigungswesen u. s. w.
Aach wird es sich empfehlen, gelegentlich des Schulanfangs einen
Feuilletonartikel über den ersten Schulgang, bei der Schulentlassung
einen solchen über den letzten Schultag oder an deren Stelle an-
sprechende Gedichte, und an den Gedenktagen von Männern, die sich
um das Schul- und Erziehungswesen verdient gemacht haben, kurze,
packende Lebensabrisse in die Blätter zu setzen, ich denke da an
Comenius, Pestalozzi, Fröbel, Diesterwcg u. a. Auf solche Weise wird
das öffentliche Interesse der Schule immer mehr zugewandt, es wird
von berufener Seite und in einer der Schule und dem Lehrerstande
förderlichen Weise über Schul- und Erziehungsfragen geschrieben, und
wenn man erst einsieht, welches Kleinod man an der Schule, ins-
besondere der Volksschule hat, dann wird solche Einsicht nicht in
letzter Linie den Lehrern zugute kommen. Warnen möchte ich vor
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- 570 -
der zu speziellen Behandlung der Gehaltsfrage der Lehrer in der
Tagespresse. Werden die Einzelnheiten derselben mitgetheilt, so darf
man sich nicht wundern, wenn der gewünschte Erfolg ausbleibt, viel-
mehr häufig das Gegentheil eintritt. Bei schlechter Gestellten erregt
die Lage der Lehrer vielfach noch Neid, von Seiten des Geldprotzen-
thums aber mitleidiges Achselzucken, ja Verachtung.
Man hat seitens der Lehrerschaft die verschiedensten Zeitschriften
begründet, die ein einmüthiges Zusammenwirken von Schule und Haus
und Aufklärung über Schulfragen bezweckten, der Erfolg blieb aber
weit hinter den Erwartungen zurück. Die Leute sind nicht gewöhnt,
Artikel über Erziehungs- und Schulfragen zu lesen. Gewöhnen wir
sie daran, indem wir sie ihnen in den öffentlichen Blättern bieten.
Ich habe seit länger als einem Jahrzehnt die verschiedenen Blätter
meines Wirkungsortes nach dieser Richtung hin beeinflusst und die
günstigsten Erfahrungen gemacht. Die ausgestreuten Samenkörner
sind oft gar bald aufgegangen und haben Früchte gebracht. Darum,
Oollegen, überall ans Werk.
In der preußischen Provinz Schlesien hat der Frankenstein-Peter-
witzer Lehrerverein bereits die Anregung zur Bildung einer „Press-
commission" gegeben, welche die Aufgabe hat, das Verhältnis zwischen
Schule und Haus dadurch zu fördern, dass sie kleine, die Schule und
das Schülerleben betreffende Originalaufsätze den politischen und unter-
haltenden Tagesblättern zustellt. Der Schlesische Provinzial- Lehrer-
verein hat die Ausführung dem Görlitzer Lehrerverein übertragen, der
in einem längeren Aufruf an die schlesische Lehrerschaft diese auf-
fordert, ihn durch Abfassung und Einsendung von interessant und
populär geschriebenen Artikeln, sowie durch Gewinnung von Zeitungen,
die geneigt sind, solche Aufsätze zu veröffentlichen, zu unterstützen.
Zur Bearbeitung werden u. a. empfohlen: Schul Versäumnisse , das
Zuspätkommen, die Hausaufgaben, Jugendschriften, Elternzeitungen,
das Romanlesen, was soll das Kind vor der Schulzeit lesen? etc.
In derselben Weise sollten alle Provinzialvereine vorgehen. Auch
für den von Berlin aus geplanten Deutschen Lehrer-Schriftsteller-Bund
wäre das eine entsprechende Aufgabe, er könnte eine literarische
Sammelstelle bilden, von wo aus die deutsche Presse sich mit Stoff
versorgen könnte.
Doch das eine thun und das andere nicht lassen; bevor solche
Centraistellen geschaffen sind, muss der Lehrer-Schriftsteller in seinem
nächsten Gebiete die Presse beeinflussen.
«
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Lehrers Erden wall fahrt.
Ein Sang von Leid und Lust dos Lehrerlebens von K. Albert»
Widmung.
Euch allen, die ein ganzes Leben
Im Dienst der Menschenbildung stehn,
Die oft, von Sorgenschwall umgeben,
Verkannt in dunkler Tiefe gehn,
Die Feindesmund des schnöden Sinnes,
Ach, wie so häufig! lästernd zeiht:
Der Sucht des Ehr- und Geldgewinnes —
Euch allen sei dies Lied geweiht!
Es redet nicht von Prunkpalästen,
Es singt nicht hoher Helden Preis
Und führt Euch nicht zn stolzen Festen —
Nein, in des eignen Lebens Kreis,
In jenen stillen Kreis, darinnen
Dir selber werdet, lebt und schafft,
Der Menschheit Segen zu gewinnen
In Treuen ringt mit Ernst und Kraft.
Manch Bildchen wird Erinn'rung wecken,
Das eine trüb, das andre froh,
Gedenken arger Dornenhecken
Und schöner Auen sonnig-froh.
Manch Verslein wird Euch herzlich mahnen:
„Ihr Brüder, überseht es nie,
Wie reich auch Eure stillen Bahnen
An echter, reiner Poesie!"
Die Freude, die in stillen Stunden
Vielleicht ein Lehrerherz beglückt,
Das solch Erkennen hier gefunden —
Sie ist der Lohn, der mich entzückt!
Sie wird die Kräfte neu beleben,
Ein Himmelslicht in Alltagsnotht
So nehmet denn, was ich gegeben,
So freundlich an, wie ich's Euch botl
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- 572 —
Erster Gesang:.
In Prüfungsnoth.
Frischer, klarer Frühlingsmorgen!
Rein und kräftig kam sein Odem
Von den waldgekrönten Höhen.
Majestätisch ruhig ragten,
Hell vom Glanz der Morgensonne
Überflutet, die verklärten
Gipfel, flammenden Altären
Zu vergleichen. Mächt'ge Säulen
Lichten Nebels schwebten schimmernd
Wie der Rauch von Opferbränden
Droben langsam himmelwärts.
Thaufrisch lag die weite Ebne,
Da und dort noch kahl und braun, doch
Meistens Üppig prangend in dem
Lenzgewand von jungem Grün, drin
Lächelnd schon zuweilen lichte
Blumenaugen lockend blinkten.
Lustig sprangen jetzt die Häslein,
Frei von Winternoth und Sorge,
Durch die üpp'gen Weidegründe.
Wirbelnd, wie berauscht von Wonne,
Schwang die Lerche sich zum Himmel.
Durch die feuchten Wiesengründe
Schritt der Burgherr von dem Schornstein,
Schritt Freund Storch, der rothbestrumpfte,
Langbebeinte, schnabelkräft'ge,
Würdig wie ein Herr Geheimrath
Gravitätisch und bedächtig
Und der Froschjagd ernst beflissen.
Traulich saß die goldgeschmückte
Liebe Ammer auf den Bäumchen,
Die am Rand der breiten Straße
Eben Blütenknösplein trieben.
Melancholisch und doch seltsam
Herzerquickend klang ihr Lockruf
Über die bethauten Fluren
An das Ohr des jungen Wandrers,
Der an Vögleins luft'gem Sitze
Rüstig dicht vortiberschritt.
Neckisch halb und halb verdrießlich
Sah der schmächtig aufgeschoss'ne,
Kaum den Knabenschulen entwachsne
Jüngling auf das liebe Thierchen.
- 573 —
„Du hast'ß freilich besser, kleiner
Lust'ger, lieber Freund des Landmanns !**
Sprach er mit besorgten Mienen.
„Ohne Kummer schwirrst du selig
Von dem ersten Morgengrauen
Bis zum Untergang der Sonne
Durch die reinen Frühliugslüfte,
Schmausest, treibst mit deinesgleichen
Kurzweil aller Art und pfeifst so,
Wie der Schnabel dir gewachsen.
Glücklich bist du! Was Examen
Heißet, du erfährst es nie!"
Und das Vöglein blickte schweigend,
Schier verwundert auf den Jüngling,
Fast, als wollt' es zu ihm sagen:
„Eia, Menschenkind, wie thöricht,
Dass du an solch schönem Morgen
Gar so grämlich in die Welt schaust!
Zwar dein Böcklein ist ein wenig
Abgeschabt, besonders an den
Nähten und den Ellenbogen;
Allzukurz ist auch das Höslein,
Wie gemacht für einen andern,
Wen'ger rasch getriebnen Schössling.
Selbst das Hütlein ist nicht völlig
Ohne Spuren höhern Alters,
Und die derben Schuhe künden,
Dass du nicht von hohem Adel.
Doch was thut das? Im Gebirge,
Zwischen Wiese, Wald und Heide
Bist du ja gesund erwachsen!
Deines Blutes reine Welle
Kreist gar lustig durch die Adern,
Und dein Antlitz, deine Augen
Können wol recht fröhlich leuchten.
Fasse Mut! Wie oftmals denkt man:
,Wäre doch nur das und jenes,
Was mich jetzt so quält und ängstigt,
Endlich, endlich auch vorüber!'
So vertrauert man die Tage,
Statt sie freudig zu genießen.
Und ist das, was man solange
Unter Zittern, unter Zagen
Nahen sah, vorbeigegangen,
Denkt man meistens leise lächelnd:
„Hm, es war auch weiter nix!u
racdagogiwin. 14. Jahrg. Heft IX. 40
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— 574 —
Und der Jüngling mit dem frischen
Antlitz and den hellen Augen
Schien des Vögleins nngesprochne
Milde Mahnung zu verstehen,
Hob den Kopf mit festem Willen,
Schwang seiu Knotenstöcklein muthig
Und betrachtete die ferne
Stolze Stadt mit ihren Thürmen.
Ihrem hochgelegnen, alten
Schlosse, ihrem Meer von Dächern
Mit ganz andern Blicken. Rüstig
Schritt er weiter und gelangte
Zeitig in die frühbelebten
Lännerfüllten sanbern Straßen.
Welche Welt von Pracht und Wundern
Für das schlichte Kind des Waldes,
Das wie träumend an den Läden
Voller Glanz und voller Schätze
Und voll niegesehner Dinge
Langsam still vorüberwallte!
Welche Lust, inmitten solcher
Herrlichkeiten all' die künft'gen
Tage fröhlich zu verleben!
Welches Glück, die frischen Krieger
Künftig immer schaun zu können.
Die soeben flott und schneidig
Bei dem Klange rauschend lauter,
Feuriger Musik an unserm
Jnngen Freund vorfiberschritten!
Also denkend, kam er endlich,
Müde von dem vielen Fragen,
Nach dem Sitz der Lehrerbildung,
Vor das alte, düsterernste,
Schwarzgrau angehauchte Kloster,
Drin voreinst die Franciscaner
Ihre Tage still beschaulich,
Manches Mal auch tapfer zechend
Zugebracht. Mit dumpfem Dröhnen
Rief die Klosterglocke eben
Hoch herab die achte Stunde.
Arg erschrak das Kind der Berge,
Denn genau zur achten Stunde
Sollte es im Seminare
Sich zar Prüfung stellen; also
Stand es in dem großen Briefe
Von der höchsten Schulbehörde
Dürr und kalt mit strengen Worten.
Hurtig, wie verfolgt von Häschern,
— 575 —
Flog der Jüngling durch das hohe,
Düstere Portal, darüber,
Hell in goldnen Lettern leuchtend,
Stand geschrieben „Seminar".
Eilig trat er in die Schauer
Feuchter, dumpfer, hochgewölbter
Klosterräume. Harrend vor der
A usgetretnen Wendeltreppe
Stand der hag're, kühnbenaste,
Mit den starren Mäuseaugen
.Rastlos späh'nde Anstaltsdiener,
Den die übermüt'ge Jugend
Unter sich mit zähem Frevel
„Cerberus4 zu nennen pflegte.
Tadelnd prüfte der Gestrenge
Unsern Spätling; auf der Stirne
Schwere Falten, leise hüstelnd
Wie das schleichende Verhängnis,
Wies er wortlos aufwärts. Zagend,
In der Hand die Federbüchse,
An die Brust gepresst die eben
Erst erstandenen unschuldweißen
Blätter, die sein bisslein Wissen
Darthun sollten, stand der Jüngling
Vor der Thöre, drauf in großen,
Grausen Zügen stand geschrieben
„Prüfungssaal". Er pochte leise,
öffnete und schritt in Sorgen
In den Raum, so leis, so zagend,
Gleich als gelte es zu wandern
Durch das grause Thor des Todes.
Düster schwärzlich standen schon die
Sehr gestrengen Herrn Magister
Vor der bangenden Corona,
Die wie eine stumme Horde
Auserkorner Opferthiere
Auf den Bänken harrte. Fragend
Schaute nun der Herr Director
Auf den eben Eingetretnen,
Hielt ihm schweigend seine Uhr hin,
Sagte feierlich gemessen:
„Pünktlichkeit ist hohe Tugend,
•Ganz besonders künft'ger Lehrer !tt
Wies dann leise lächelnd nach den
Bänken, also ruhig wehrend
All' den stammelnd vorgebrachten
Worten der Entschuldigung.
Nun begann der Prüfungsrei?en.
40*
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— 576 —
All' die Leutchen, die da hockten.
Hergeschneit aus allen Winden,
Mussten anf den unschuldweißen
Blattern darthun, was an Können
Und an Wissen schon errungen.
So von früh bis Sonnensinken
Durch zwei lange, lange Tage
All die klingenden und stummen
Hirnregister aufzuziehen,
Traun, das ist kein Kirschenessen f
Erstlich galt's, der Heimat Reize
Klar und fesselnd darzulegen;
Dann in nachgeschrieenen Sätzen
Nachzuweisen, dass man mit den
Grausen Regeln richtigen Schreibens
Wol vertraut sei und nicht etwa
Gar auf offnem Kriegsfuß stehe.
Dann, o Grausen! mnssten alle
Mit der Teufelskunst des Rechnens,
Mit der argen Formenlehre
Stundenlang sich weidlich plagen.
Mancher saß da wie vernagelt,
Rathlos an der Feder kauend.
Weiter hatten sich die Leutchen
Mit der Weltgeschichte Helden,
Mit den Massen fremder Völker
Gründlich noch herumzuschlagen,
Mussten ohne Karten kühnlich
Auf Entdeckungsreisen ausziehn,
Mit den Bestien der Wildnis,
Mit den Lebenwesen allen,
Die in Waldern und in Feldern,
In der Luft und in der Erde
Ihr vergnüglich Dasein führen,
Einen argen Strauß bestehen.
Mit dem Blitz und mit dem Donner,
Mit dem Wunderbau des Auges,
Mit des Hebels arg verzwickten
Mancherlei Gesetzen mussten
Sie vertraut sein. Als dies alles
Und noch manches, manches andre
Endlich war vorbeigegangen,
Kam Frau Musica als Abschluss.
Hei, wie tastete so mancher
Wunderliche Harmonieen!
Hei, wie ächzte, quikte, kreischte
Manchmal da die Violine,
Wie vom bösen Geist besessen!
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— 577 —
Und doch war es eine echte,
Alte, köstliche Amati,
In den rechten Händen feurig-,
Schmelzend, seelenvoll erklingend.
Schaudernd hielt der würd'ge alte
Musikmeister sich die Ohren
Öfter zu mit beiden Händen,
Wenn die Gute unterm Striche
Eines Stümpers also klagte.
Auch beim Singen war's nicht ohne;
Manche krähten wie die Hähnlein,
Scheu, mit halbgebrochner Stimme,
Und mit sorgenvoller Stirne
Hörte stumm der Meister zu.
Als nun schriftlich so wie mündlich
Alles nach Gebür vollendet,
Zogen sich die Lehrer ernsthaft,
Das Ergebnis zu beraten,
Aus dem Prüfnngssaal zurück.
Leise plauderten die armen.
Vielgeplagten jungen Leute
Und besahen sich genauer.
Mancher war gar seltsam bäurisch.
Ungelenk und träg von Worten,
Sommersprossig, ja der eine
Leuchtete im Schmucke feurig
Rothen Haares wie ein Brandfuchs.
Doch gerade diese jungen
Dorfbewohner waren alle
Unverdorben, harmlos-schüchtern.
Andre, die in feiner Kleidung
Prangten, traten keck und sicher
Auf wie fesche Modeherrlein.
Und doch hatte mancher drunter
Wenig Grund zu solchem Wesen,
Denn nachdem er lange Jahre
Fruchtlos in den hohem Schulen
Bänke wund gescheuert hatte,
War er jetzo abgeschlenkert,
Und das ernste Lehramt sollte,
Ob er's früher gleich verachtet.
Nun zu Brot verhelfen. Leise
Plauschte, plauderte die Jugend
Ton den Schrecken des Examens,
Den gemachten Fehlern und den
Ungezählten bösen Fragen;
Von der Lehrer Weise, von dem
Zvl erwartenden Ergebnis
— 578 —
Sprach man sehen in Fnrcht und Hoffnung.
Mancher blähte sich gewaltig
Wie der Gockel auf dem Kirchthurm;
Andre wagten, blass vor Sorge,
Kaum zu athmen; wieder andre
Bargen ihres Herzens Ängste
Hinter schlechten Witzen; nur der
Leuchtende Germanenjüngling
Blieb, geheimnisvolles Lächeln
Auf dem sommerspross'gen Antlitz,
Unbewegt sich völlig gleich.
Endlich nahte die Entscheidung f
Würdig, wie sich's für die Lehrer
Künft'ger Lehrer will gebüren,
Traten jetzt die schwärzlich-düstern
Herren wieder ein. Gewaltig
Redete das Haupt der Anstalt
Von des Lehramts hoher Würde,
Von dem Segen, den ein guter
Lehrer, wirkend Übers Grab noch,
In der Menschheit stiften könne;
Von den ernsten Forderungen,
Die man heutzutage schon an
Jene jungen Leute, die sich
Diesem herrlichen Berufe
Widmen wollten, stellen müsse.
Und nun las er unbarmherzig
Ab nach alphabet'scher Ordnung,
Wer bestanden, wer gefallen.
Hei, wie leuchteten die Blicke
Jener nun in heller Freude!
Hu, wie schauten diese düster,
Da sie, hurtig abwärts polternd,
Also glänzend durchgerasselt!
Mancher von den feinen Herrlein,
Die so hoch einhergefahren
Und die „dummen Bauernjungen"
Ganz von oben her betrachtet,
War darunter und schlich trotzig,
Ein verächtlich Lächeln um die
Festgekniffnen Lippen, aus der
Erst so kühl und überlegen
Angeschauten Anstalt, die sich
Plackt mit Wissenselementen,
Mit der Kunst des Lesenlehrens
Und mit andern schlechten Dingen.
Selig glänzten auch die Augen
Unsers jungen Freundes ans dem
— 579 —
Waldgebirge, denn gar gütig
Hatte des Direktors Stimme
Ihm verkündigt: „Walter Ehrlich
Hat bestanden nnd wird wegen
Ganz besonders guter Leistung
In die künft'ge Gasse als der
Zweite Schüler aufgenommen.-
Wie ein fernes, wunderreiches
Land voll Sonnenschein und Wonne
Sah er seiner Zukunft Tage
Vor den trunknen Blicken liegen,
Dass ihm fast begann zu schwindeln.
Was sonst noch geschah, er merkte
Nichts davon in seiner Freude,
Nichts vom Grimm der Durchgefallnen,
Von dem Glücke Mitbeglückter.
Immer wieder dacht' er fröhlich
An der guten Eltern, an des
Treuen Lehrers und des wackern
Pfarrherm Frende über solches
Unerwartetes Gelingen.
Doch als nnn der Anstalt Führer
Milde Worte der Ermahnung
An die vom Erfolg Gekrönten
Richtete nnd ernste Weisung
über manche ttnß're Dinge
Gab, da spitzte er die Ohren,
Prägte sich die Worte sorglich
Ins Gedächtnis, in das Herz und
Gab sich selber das Gelöbnis,
Allezeit ein treuer, frommer
Thäter solchen Worts zu sein.
Jetzt mit Segenswunsch entlassen,
Flog behend die Jugend abwärts,
Flog vorbei an dem Gestrengen,
Der noch immer am Portale
Wache hielt mit wunderbarem,
Unbegreiflich hohem Ernste.
Wie sie hergekommen, stoben
Dann geschwind nach allen Winden
Unsre jungen Prüfungsopfer
Auseinander. Walter Ehrlich
Schritt mit frohgehobnem Herzen
Glücklich lächelnd, selig träumend,
Pfeifend, singend und sein Stöcklein
Ab und zn verwegen schwingend,
Gar geschwinde heimatwärts.
(Fortsetzung folgt.)
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1
I
I
Pädagogische Rundschau.
Deutsches Reich. Im Aprilhefte (S. 446—47) brachte das „Paedag."
eine Übersicht, welche ein Bild des gegenwärtigen 6 es ach s der deutschen
Universitäten entwirft. Hente möge dasselbe noch vervollständigt werden,
indem wir nach Aschersons Kalender die Zahl der Professoren mittheilen,
welche an den Hochschulen Deutschlands (sowie Österreichs und der Schweiz)
wirken: Nach der Zusammenstellung in Professor Aschersons Universitäts-
kalender hat jetzt die Universität Berlin die meisten Lehrer, nämlich
356, während Wien 320 hat. Es folgen Leipzig mit 195, München 165,
Halle 139, Breslau 138, Bonn 126, Straßburg 122, Göttingen und Heidel-
berg 120, Zürich 119, Bern 113, Prag 108, Freiburg i. Br. und Graz 106,
Königsberg 95, Jena 94, Marburg 93, Tübingen 91, Kiel 88, Greifswald 84,
Innsbruck 80, Wiirzburg 74, Gießen und Erlangen 64, Rostock 45, die Akademie
Münster 43, Czernowitz (3 Fakultäten) 39, Freiburg in der Schweiz 38, Lyceum
Hoseanum in Braunsberg 9; zusammen 3674 Lehrer. Berlin hat auch die
meisten außerordentlichen Professoren, nämlich 87; es ist überhaupt die einzige
Universität, wo die Zahl der außerordentlichen Professoren die der ordentlichen
übersteigt; von letzteren gibt es in Berlin nur 83, während die meisten Wien
mit 91 hat. Im ganzen gibt es auf den deutschen Universitäten zur Zeit 1476
ordentliche Professoren, davon in München 66, Leipzig 64, Göttingen 63,
Breslau 62, Bonn und Straßburg 60, Prag 54, Halle 51, Tübingen 50, Königs-
berg und Heidelberg 45, Freiburg i. B. und Greifswald 44 u. s. w. Außer-
ordentliche Professoren gibt es im ganzen 685, nächst Berlin die meisten (51)
in Leipzig. Leipzig hat auch die meisten Honorarprofessoren, nämlich 13,
und übertrifft damit auch Berlin, das einschließlich der lehrenden Mitglieder
der Akademie der Wissenschaften 10 Honorarprofessoren zählt. Heidelberg
und Jena haben je 8, München 5, Freiburg i. B. 4, Wien nur 3. Die meisten
Privatdocenten , lesende Assistenten, hat wiederum Wien, wo deren nicht
weniger als 172 lehren, während Berlin den zweiten Platz mit 156 einnimmt.
Es folgen München mit 67, Zürich mit 57, Bern mit 50, Halle mit 42 u.s. w.
Im ganzen gibt es 1123 Privatdocenten. Wenn man die Lehrer des orienta-
lischen Seminars hinzurechnet, hat Berlin auch die meisten Sprach- und Exer-
citienmeister (20), Wien hat 13, Halle und Heidelberg 10, Breslau 8, Greifs-
wald, Marburg und Münster 7 u. s. w.
Aus Sachsen. (Febr. bis Mai 1892.) Während unsere Coilegen in Preußen
weder ein Schul-, noch ein Schul dotationsgesetz begrüßen durften, ist uns
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581 —
die Freude widerfahren, dass sowol unser Pensions-, als auch unser Dota-
tionsgesetz wesentlich verbessert wurden.
A. Beide Kammern des im April d. J. geschlossenen Landtages haben das
Pensionsgesetz für Lehrer und Geistliche, durch welches dieselben den
Civilstaatsdienern gleichgestellt werden, einstimmig angenommen. Wir be-
gnügen nns, diesen versöhnenden Act der Gesetzgebung, den die Lehrer schon
seit mehr als 7 Jahren wünschten (s. Paedag. VIII, S. 475), an dieser Stelle
einfach mit Bank zu verzeichnen, indem wir die geehrten Leser auf unsern
vorigen Bericht hinweisen. (S. Märzheft d. J., S. 391—92.)
B. Das Gesetz über die Gehaltsverhaltnisse der Volksschul-
Lehrer ist günstiger geworden, als es anfänglich scheinen wollte. (März-
heft S. 392 — 93.) Die Staatsregierung hat anfangs Februar das Decret Nr. 14
zurückgezogen und den Ständen mittels Decrets Nr. 38 einen neuen Gesetz-
entwurf über die Lehrergehaltsverhältnisse unterbreitet. Se. Ex. der Minister
v. Seydewitz erklärte, dass die Regierung bei Beginn des Landtages nicht
habe weiter gehen können, als in dem Entwürfe, den sein Vorgänger Dr. v. Gerber
vorgelegt. Inzwischen habe die Finanzlage des Staates gestattet, dass der
Dispositionsfonds für das Volksschulwesen um jährlich 300000 Mk. erhöht und
so die Füglichkeit gegeben werde, die Minimalgrenze für die Lehrergehalte zu
erweitern. Daher sei der modificirte Entwurf unterbreitet worden;
nicht aber sei für die Regierung bestimmend gewesen die Agitation, die sich
in letzter Zeit kundgegeben habe. Die Regierung sei ernstlich bestrebt, die
Finanzlage der Lehrer zu verbessern, soweit es ohne Verletzung anderer, eben-
falls berechtigter Interessen möglich sei. Auch er, der Minister, werde immer
ein warmes Herz für die Bedürfnisse des Lehrerstandes haben und es gern
bethätigen! — Das neue Gesetz bestimmt folgendes:
§. 1. (Schon mitgetheilt S. 392.) Das jährl. Einkommen eines ständigen
Lehrers beträgt mindestens 1000 Mk. — Es ist also bei der ursprünglichen
Festsetzung geblieben, obwol von zwei Seiten eine Erhöhung des Anfangs-
gehaltes gewünscht wurde: Für eine Erhöhung auf 1100 Mk., welche die
badischen Collegen erhalten (s. Märzheft d. J.!), sprach sich der (conservative)
Abg. Commerzienrath Haensel aus; für eine Erhöhung auf 1200 Mk. und für
Erfüllung der Wünsche des Allg. Sächs. L.-V. traten die — socialdemokratischen
Abgg. ein! Neu und für die Cantoren („Kirchschullehrer") vortheilhaft
ist die Bestimmung des §. 1, dass das Kircheneinkommen nur insoweit in das
Schuleinkommen eingerechnet werden darf, als es 900 Mk. (früher blos 600 Mk.)
jährlich übersteigt. §. 2. Den Schuldirectoren. welchen weniger als 10 Lehr-
kräfte unterstellt sind, ist neben freier Wohnung (oder Wohnungsentschädigung)
ein jährliches Gehalt von mindestens 2250 Mk. zu gewähren, allen übrigen ein
solches von mindestens 2700 Mk. §. 3 setzt das Gehalt eines nichtständigen
Lehrers auf mindestens 720 Mk. fest. (S. 392.) §. 4. Das Einkommen stän-
diger Lehrer und Lehrerinnen an Volksschulen ist durch Zulagen, welche die
Schulgemeinde zu gewähren hat, folgendermaßen zu erhöhen: nach einer vom
erfüllten 25. Lebensjahre des Lehrers an zu rechnenden ständigen Dienstzeit
von 5 Jahren bis auf 1200 Mk.
„10 „ ,. „ 1350 „
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I
— 582 —
von 25 Jahren bis auf 1700 Mk.
» 30 „ „ 1800 „
In diesem wie im zweiten §. bat man die Unterscheidung der Lehrer and
Directoren nach der Größe der Orte wegfallen lassen, desgleichen hielt man
die Scheidung der Lehrer nach Schulen mit 40 oder weniger Kindern und
nach Schulen mit mehr als 40 Kindern nicht weiter für angezeigt, und dies
nm so weniger als unter den vorhandenen 1905 Schulgemeinden nur 49 sind,
w*elche 40 oder weniger Kinder haben. (Vergl. S. 392!)
Die Vergleichung dieser gesetzlichen Bestimmungen mit den anfänglich
geplanten bestätigt unsere Angabe, dass das Dotationsgesetz besser ge-
worden ist, als wir dachten oder vielmehr — fürchteten. Seit 1874 war in
Sachsen keine Aufbesserung der Lehrergehälter erfolgt; die Regierung hat
gethan, was sie nicht länger unterlassen zu dürfen glaubte ; in der Thronrede,
mit welcher König Albert die Stände verabschiedete, wird dies auch aus-
drücklich anerkannt durch folgenden Passus:
„Durch die Bewilligung der Mittel zur Erhöhung der Pensionen von in
den Ruhestand getretenen Staatsbeamten, sowie von Geistlichen und Lehrern
und der Witwen und Waisen von solchen Bediensteten haben Sie Meine
Regierung in den Stand gesetzt, in vielen Fällen langersehnte Hilfe zu
bringen und wahre Noth zu lindern.
Ihre Fürsorge für das Gedeihen und die Fortentwicklung der Universität,
sowie für die Kirche und Schule wird zur Hebung und Förderung der culturellen
Interessen des Landes dienen.
Besonders angenehm hat es Mich berührt, dass es möglich geworden ist,
die Pensionen der Geistlichen und Lehrer wesentlich aufzubessern und durch
angemessene Erweiterungen der Grenzen der Minimalgehalte der Volksschul-
lehrer, sowie durch Gewährung dauernder Staatsbeihilfen zu dem Einkommen
derselben sowol den Lehrern eine erwünschte Verbesserung ihrer Lage
als den Schulgemeinden eine wertvolle Erleichterung zutheil werden zu la8sen.tt
Die Lehrer freuen sich dankbar des Erreichten. Denn wahrscheinlich
wird dieses Jahrzehnt und mit ihm das Jahrhundert zu Ende gehen, ehe wieder
einmal eine Besserstellung stattfinden wird. Durch dieselbe werden dann viel-
leicht die Wünsche befriedigt werden, die bereits ausgesprochen und vorhin
mit angeführt worden sind. Interim praeceptores erunt contenti. Aber wir
müssen auch stets eingedenk sein des Wortes Fr. Rückerts: „Etwas wünschen
und verlangen, etwas hoffen muss das Herz!" —
Von Schulvorständen waren an den Landtag zahlreiche Petitionen ein-
gereicht worden, in welchen gebeten wurde, dass ein und dieselben. Schul-
bücher, wenn nicht im ganzen Königreiche, so doch wenigstens in jedem
Schulbezirk zur Einführung kommen möchten. Aus den von der Regierang
gegebenen Mittheilungen ergibt sich, dass zur Zeit 22 Sammlungen biblischer
Geschichten, 8 Katechismen mit Spruch büchern , 20 Fibeln, 10 Lesebücher,
12 Rechenhefte, 16 Leitfäden für Realunterricht, 14 Atlanten und 32 Lieder-
bücher eingeführt sind, eine Fülle und Mannigfaltigkeit, deren Einschränkung zur
Vermeidung einer unnöthigen Belastung der minder bemittelten Bevölkerungs-
clas8en als erstrebenswert bezeichnet wurde. Bei der Berathung dieser und
einer Anzahl ähnlicher Petitionen kennzeichnete der Unterrichtsminister-
v. Seydewitz den Standpunkt der Regierung in einer interessanten Rede,
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deren Inhaltsangabe den Schluss unseres heutigen Berichtes bilden möge:
v. Seydewitz machte darauf aufmerksam, dass vor Erlass des Schulgesetzes
von 1873 eine viel größere Mannigfaltigkeit der Lehrbücher im Lande be-
standen habe. Nach dem Entwürfe des Schulgesetzes sollte die Auswahl
der Sehnlbücher in die Hände der obersten Schulbehörde gelegt werden; die
Deputation der Zweiten Kammer habe aber damals beantragt, diese Auswahl
den Schulvorständen im Einvernehmen mit dem Bezirksschulinspector zu über-
lassen, und diese Bestimmung sei schließlich Gesetz geworden unter Einräu-
mung der Füglichkeit an die oberste Schulbehörde, die geeigneten Schul-
bücher zu bezeichnen. Von der Versammlung der Bezirksschulinspectoren-
sei es als Aufgabe der letzteren festgesetzt worden, möglichste Einheitlichkeit
der Schulbücher in ihren Bezirken und möglichsten Anschlags an die Nachbar-
bezirke anzubahnen; gleichwol habe er anzuerkennen, dass eine Mannigfaltig-
keit der Lehrmittel bestehe, deren Einschränkung erwünscht sei und wol auch
ohne Schädigung des Schulwesens geschehen könne. Eine zwangsweise Ein-
führung einheitlicher Schulbücher halte er für praktisch unmöglich,
weil die verschiedenen Schulen sich ganz verschieden entwickelt hätten; man
könne dies höchstens für die einfache evangelisch-lutherische Volksschule deutscher
Sprache ins Auge fassen. Er müsse sich aber auch gegen eine Uniformi-
rung in diesem beschränkten Umfange erklären, denn es würde dadurch der
einfachen Volksschule ein großer Theil der freiheitlichen Entwicklungsmöglich-
keit genommen werden, dem die Schule ihren Aufschwung wesentlich mit ver-
danke. Für die Einheitlichkeit komme im wesentlichen nur in Betracht der
finanzielle Gesichtspunkt, und dieser besitze nicht die Wichtigkeit, die
ihm von den Petenten beigemessen werde. Wenn jetzt einheitliche Schulbücher
festgesetzt würden, so würde mit einem Schlage den Erziehungspflichtigen ein
großer Aufwand erwachsen. Es würde aber das Verzeichnis der Lehrmittel
auch vod Zeit zu Zeit revidirt werden müssen, wodurch den Erziehungs-
pflichtigen neue Ausgaben aufgelegt werden. Doch räume er ein, dass Miss-
stände vorhanden seien, und er sei gern bereit, zu deren Beseitigung die Hand
zu bieten. Freilich werde er damit nicht den Beifall aller Schulvorstände
linden. — Zur Frage des Schulgeldes sei die Stellung der Regierung die-
selbe wie früher. Die Ausführung des Antrages auf Aufhebung desselben
würde einen Aufwand von etwa 22 Millionen jährlich verursachen, und die
Finanzlage sei nicht derart, eine solche neue Last zu übernehmen. Dies würde
sich nur dann rechtfertigen lassen, wenn es sich um die Beseitigung wirklich
schreiender Nothstände handelte, und deren Vorhandensein könne er nicht an-
erkennen. Durch die Ausführungsbestimmungen zu der Schuldotation sei jeden-
falls für Sachsen dem Schulgelde der Charakter einer drückenden Last ge-
nommen worden. (Vergl. Paedag. XII, S. 601.)
B. Vom deutschen Ostseestrand. Gegen den Strom ist schwer
schwimmen, und doch sollen in nachfolgenden Zeilen unsern Lesern einige
Gedanken gegen eine Zeitströmung in der deutschen Nation vor die Seele
geführt werden. Schon tausendfach sind in der politischen Presse, in Schulen
und Vereinen die glorreichen Errungenschaften der Jahre 1864, 1866, 1870
und 1871 besungen worden; sie gipfeln in dem weithin über die Meere strahlen-
den deutschen Kaiserthrone. Aber nicht überall ist auf die Sehattenfolge jener
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glänzenden Zeitepoche hingewiesen worden. Als solche sei zunächst in materieller
Beziehung das bis auf 200000 Mann Vergrößerung geschätzte Vagantenheer
erwähnt. Ferner sind von Jahr zu Jahr gesteigerte Kriegsrüstungen,
von denen Feldmarsehall von Moltke sagte, dass sie für die Dauer mit gegen-
wärtigen Geldopfern kein Land ertragen könne, den europäischen Völkern
auferlegt worden. Drittens schließt eine mittelalterliche Zollgrenze All-
dentschland wie eine chinesische Mauer gegen den freien Weltverkehr in der
Zeit des Dampfes und der Elektricität ein. In geistiger Beziehung brachte uns
jene denkwürdige Zeit den Culturkampf und mit ihm ein Canossa. Das
war eine Kraftprobe nnd siehe, die schwersten Kanzlergeschosse erstickten
in den schwarzen Kutten römischer Mönche. Statt einer fortschreitenden
Aufklärung erlebten wir einen Rückschlag, und tausendjährige Heilige erschienen
auf Ahorn- und Birnbäumen, das Wasser gewisser Dorfteiche verrichtete Wunder-
curen, blutendeMädchen zogen viele tausend Wallfahrer an, und die Welt wurde
mit neuen Dogmen beglückt. Als die Marodeure der Culturkämpfer sind die
Antisemiten oder die Feinde der schwarzen Haare anzusehen. Von der
Religion sind wir auf die Sprache gekommen, und so ist eine der neuesten
Strömungen, und zwar die, welche hier besonders ins Auge gefasst werden
soll, die Bildung von r Allgemeinen deutschen Sprachvereinen. -
So weit die deutsche Zunge klingt,
Und Gott im Himmel Lieder sin^t.
Das soll es sein!
Gewiss! Das soll des Deutschen Vaterland sein und überall, wo sich
sonst auf der weiten Gotteserde noch Deutsche finden, mögen sie zusammen-
treten und sich erfreuen an den lieblichen Tönen der Muttersprache. Wie
mancher Landsmann in der Fremde jubelte laut auf, wenn diese Heimat-
klänge an sein Ohr schlugen. Die Pflege der Muttersprache ist Pflicht jedes
Deutschen, ihre Ausbreitung ein frommer Wunsch desselben.
Mit den Bestrebungen des „Allgemeinen deutschen Sprachvereins" kann
sich der Verfasser jedoch insofern nicht einverstanden erklären, als der Verein
etwas anstrebt, was unzeitgemäß und zwecklos ist.
Der „ Allgemeine deutsche Sprachverein" will die deutsche Sprache
von allen Fremdwörtern reinigen. Anerkannt ist jedoch von vielen Seiten,
dass die benutzten Fremdwörter die Sache oft am kürzesten und treffendsten
bezeichnen. Also, warum nicht alle Vortheile gelten lassen? — Die Fremd-
wörter sind auch keineswegs durch einen großen Sünder nnd Deutschfeiud
in der Pelzmütze in unsere Sprache getragen worden. Sie sind durch den
Studenten, durch den Krieger, durch den Wandrer schon seit Jahrhunderten,
besonders reichlich jedoch durch den enormen Aufschwung des Verkehrs der
Völker aus den verschiedensten fremden Sprachen in die deutsche Sprache
übergegangen. Wer darin eine bedenkliche Schädigung, wol gar ein Attentat
auf seine angestammte Nationalität erblickt, muss sich auch gegen die Über-
nahme fremdländischer Sitten, Gebräuche, Erfindungen, Künste etc. energisch
verwahren. Ob dieses vernünftig wäre, wollen wir den Lesern zu beurtheilen
überlassen. Wir halten ein solches Beginnen nicht blos für unzeitgemäß,
sondern für ebenso unmöglich, als wenn jemand einen mit zwei Locomo-
tiven bespannten Eisenbahnzug in seinem Laufe mit einem Spazierstocke
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aufhalten wollte. Recht viele Fremdwörter sind so tief in die Volkssprache ein*
gebtirgert, dass der Laie schon lange nicht mehr die ausländische Abstammung
erkennt. Ganz besonders thöricht ist es, sich über die französischen Ein-
dringlinge aufzuregen und gegen dieselben wüthende Reden zu halten und
Reiseapostel in die Welt zu schicken; denn sie haben wir doch nicht etwa des-
halb, weil sie von den Franzosen kommen, sondern nur deshalb, weil sie
durch die physische Lage des Frankenreiches zu Alldeutschland, durch eine
frühzeitig dort blühende Literatur, durch den Handel mit Wein und Seide mehr
als andere Gäste freundliche Aufnahme fanden. Würde Gallien durch Italiener
bewohnt, so hätten wir vielleicht noch mehr italienische Fremdwörter iu
unserer Sprache, als wir heute französische haben. So wenig sich die deutsche
Sprache gegen fremde Elemente hat schützen können, so wenig werden es auch
andere Sprachen haben thun können , und nirgends ist bei den betreffenden
Völkern eine allgemeine Mobilmachung gegen Fremdwörter — als zu fürch-
tende Reichs- und Nationalitätsfeinde — in Scene gesetzt worden.
Wenn unsere gerechte Sache nach drei blutigen Kriegen mit Hilfe unserer
vorzüglichen Feldherren und eines ausgezeichneten Heeres siegte, sind wir
noch nicht berechtigt, allen unsern sonstigen Besitz der Mitwelt als allein selig-
machende Heiligthümer aufzudrängen oder darzustellen. Nicht die todtgeborne,
künstliche Volapük wird Weltsprache werden, sondern eine natürliche,
lebende Völkersprache; unsere traute, deutsche Sprache nur dann, wenn sie
Eigenschaften besitzt, welche sie den chaotisch durcheinander strömenden
Völkern annehmbar machen. Wenn nicht alle Zeichen trügen, wird keine
der herrschenden Sprachen zur Uni versalsprache erkoren werden, sondern
ans diesen wird letztere hervorgehen. Alle Unternehmungen gegen die
unaufhaltsamen sprachlichen Entwickelungen im großen Völkerleben erscheinen
als ohnmächtige Ruderschläge gegen den „gewaltigen Strom der Zeit".
Aus Preußen. Wann sollte ich wol mehr Grund dazu haben, Ihnen
mein Herz auszuschütten, als jetzt, in dieser trüben Zeit! Das neue Schul-
gesetz!*) Ich bin nicht im Zweifel, wie Sie sich hierzu im allgemeinen
stellen. Preußen, das Land der Schulen und Casernen, hat doch schon manche
Bluten der verschiedenartigsten Blumen gezeitigt, so dass wir über den Gesetz-
entwurf uns nicht zu wundern brauchen. Aber erwartet haben wir ihn nicht.
Kommt es uns nicht vor, als halte man sich die Augen zu, um den Abgrund
nicht zu sehen, dem man zusteuert? Rom ist es gelungen, einen Keil in unser
Vaterland zu schieben, der nach der Haltung der hohen und höchsten maß-
gebenden Kreise bei uns wol so bald nicht herausgetrieben werden kann. Der
deutsche Einheitsgedanke ist durchbrochen. Hie Luther! Hie Rom! Die geringe
Innigkeit des Verkehrs zwischen beiden Confessionen unseres Vaterlandes wird
noch geringer werden. Hören wir nicht schon klingen: „Luther war ein Schuft,
Selbstmörder, Eidbrüchiger!" und: „Die Katholiken sind Narren, und der Papst
ist ihr Gott auf Erden!"? Der Staat wird auf zwei Grundlagen gestellt;
jedenfalls bat der Gesetzgeber die Noth wendigkeit dazu aus gewissenhafter
*) Obwol inzwischen die Sachlage eine Änderung erfahren hat, ist dieser Brief
noch immer lesenswert. D. R.
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Beobachtung der Natur gelernt. Wie der Mensch ein rechtes und ein linkes
Bein hat, so inuss der Staat, der doch eine Summe von Menschen darstellt,
auch auf zwei Beine gestellt werden. Der ganze daraus vielleicht entstehende
Streit könnte sich höchstens darum handeln, welches Bein das rechte und welches
das linke wäre. Doch diese Frage wäre ja für die Entwickelung des Staates
unwesentlich. Was wird nun die Schule? Vermuthlich ein Sammelbecken für
zweibeinigen Unrath. (Entschuldigen Sie die Härte!) An Stelle der Freiheit
des Lehrers tritt der Befehl des Geistlichen, an Stelle der nach Wahrheit ringen-
den Pädagogik die souveräne Besserwissenheit (nicht Unwissenheit) jedes Päpst-
leins. Für letztere Art weht schon das Frühlingslüftlein. Sein liebliches
Wehen hat auch unsere Verkündiger des Evangeliums aus dem Schlafe
erweckt. — Erziehung der Kinder zu selbstständi^en Menschen soll nicht be-
zweckt werden, es genügt ja, wenn sie voll christlichen Geistes (d. h. „Wissens")
sind, die 10 Gebote auswendig wissen, das Gesangbuch und das Kreisblatt
lesen können. —
Unser Vaterland ist wol noch nicht oft, genug unglücklich gewesen?!
Welches Volk kann auf einen 30jährigen Krieg, auf eine Erniedrigung wie
1806 u. 7 zurückblicken? Starres Festhalten an Dogmen und Menschensatzungen,
veraltete Einrichtungen; Glaubenshochmuth und Glaubenshass, Edelmanns- und
Heeresdünkel und Freiheitshass! Was war die Folge des 30jährigen Krieges?
Man mnsste sich gegenseitig dulden — aus Schwäche. Dazu kam, dass man
es zulassen musste, dass die Nachbarn in unsere Töpfe guckten, uns die Kost
vorschrieben, wenn sie es nicht gar vorzogen, die schmackhaften Gerichte selber
zu schlucken. Als 1807 letzterer Fall wieder eintrat, da war der Demokrat
und Atheist gut genug, den verrannten Staatskarren aus dem Sumpf zu holen.
Glauben Sie nicht, verehrter Herr, dass ich von Erbitterung vollgesogen
sei, — ich bin meist Optimist. Das bisschen, das ich dazu beitragen kann,
trübe Zeiten von uns abzuwenden, werde ich redlich thun, sonst käme ich mir
vor, wie einer, der zu seiner unverbesserlichen Umgebung sagt: „Macht, was
ihr wollt! Ich hoffe, dass ihr mich noch leben lasst."
Aus Westfalen. Hie frei — hie römisch; hie deutscher Lehrerverein —
hie katholischer Lehrerverband! Das war das Feldgeschrei, die Signatur der
verflossenen Ostertage für die westfälische Lehrerschaft. Wie bedauerlich
auch die durch hierarchisch-politische Ränke herbeigeführte Trennung der
westfälischen Lehrer in zwei feindliche Heerlager sein mag, so ist eine
„reinliche Scheidung" immerhin für alle Theile besser, als wenn sich so wider-
strebende Kräfte in einem Vereine bekämpfen, wenn die einen die Pferde hinter
den Vereinswagen spannen, während die anderen ihm die fortschreitende Bewe-
gung geben möchten. Wer sich nicht mehr mit uns eins fühlt in dem großen
und heiligen Werke der Jugenderziehung nach den hohen Idealen eines
Oouienius und Pestalozzi, wer sich in trauriger Verblendung abwendet von
den auf die Hebung des Lehrerstandes gerichteten Bestrebungen, wer sich zum
willenlosen Knechte jener macht, die den frei aufstrebenden Menschengeist
in die Fesseln des finstern Mittelalters schlagen möchten, der scheide sich
getrost von uns; für uns und unsere Vereinigung kann das nur ein Gewinn sein.
Während der katholische Lehrerverband in Neheim tagte, war
der westfälische Provinziallehrerverein in der alten Metropole West-
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falens, der berühmten Industrie- und Bierstadt Dortmund, der ehrwürdigen
Tremonia, festlich versammelt. Als höfliche Leute berichten wir zuerst über den
katholischen Lehrerverband; die Fremden haben ja stets den Vortritt.
Über die Versammlung in Neheim berichten ultramontane Zeitungen, dass
die Delegirten Versammlung am zweiten Ostertage durch Vertreter aus 30
Einzelvereinen mit etwa 700 Mitgliedern besucht gewesen sei. Wieviel von
diesen 700 indes Lehrer sind, lässt sich nicht feststellen, vielleicht die Hälfte?
An diesem Tage zog auch der Bischof Simar in Neheim ein, begrüßt von einer
großen Volksmenge. In der Delegirtenversammlnng gelangte u. a. eine Resolution
zur Annahme, deren 2. Theil folgenden Wortlaut hat: „In Erwägung, dass
der katholische Lehrerverband schon in seiner ersten Generalversammlung
eine Regelung der Lehrergehälter für dringend nothwendig erklärt hat,
spricht der westfälische Provinzialverein des katholischen Lehrerverbaudes
sein Bedauern darüber aus, dass auch die diesjährige Tagung des Landtages
kein seinen Bestrebungen entsprechendes Schulgesetz gebracht hat und ersucht
den Vorstand des Provinzialvereins, nunmehr für möglichst baldige gesetzliche
Regelung der Lehrergehälter einzutreten." Wie wird sich die eigene Partei
der Herren zu dieser Forderung stellen? Das ist jedenfalls die Hauptfrage.
Wissen die Delegirten nichts über die Stellung der maßgebenden Organe der
Centmmspartei gegenüber dem deutsch-freisinnigen Antrage auf Erlass eines
Dotationsgesetzes? Haben sie denn nicht gelesen, wie r Germania", „Kölnische
Volkszeitung" u. a. höhnend erklären: „Entweder das Ganze, oder nichts^
und dass das Centrnra niemals die Hand dazu bieten werde, einzelne Sonder-
fragen aus dem Gesetzentwurfe, auf deren schnelle Lösung die Liberalen dringen,
wie beispielsweise die Gehaltsfrage, herauszuheben und gesetzlich zu regeln?
Ei, freilich wissen sie es ganz genau , aber die große Masse braucht es doch
nicht zu erfahren. Man sieht, was die Herren den von ihnen Irregeführten
zu bieten wagen. Hätte nicht die katholische Priesterschaft einen ungemessenen
Einflnss auf die Gemüther der einzelnen, so könnte das Spiel nicht lange dauern,
es müsste an seiner eigenen Unwahrhaftigkeit zu Grunde gehen. In der
Hauptversammlung am Dienstag war der Bischof zugegen. Bei dem vorher-
gehenden Hochamte hatte er mit Stab und Mitra assistirt. In der Er-
öffnungsrede bat ihn der Vorsitzende um seinen oberhirtlichen Segen. Der
Bischof entsprach diesem Wunsche. In seiner Ansprache redete er von der hohen
Bedeutung des Lehrerberufs, die von niemand bestritten werde. „Am wenigsten
geschehe das heute, wo eine so tiefgreifende Scheidung der Geister durch die
Frage nach den höchsten Zwecken und Aufgaben der Schule eingeleitet ist und
demgemäß eine klare und entschiedene Lösung jener Frage nicht mehr um-
gangen werden kann. Für Sie, meine Herren, ist diese Frage endgültig
gelöst. Sie betrachten es als Ihre von Gott gesetzte Aufgabe, die Ihnen an-
vertraute Jugend für Christus zu erziehen. Dass sie christliche Lehrerund
Erzieher der Jugend sein wollen, das und nichts anders ist der Grundgedanke,
welcher in dem katholischen Lehrerverbande seinen Ausdruck gefunden hat.
„ Diese Versammlung ist ein offenes und entschiedenes Zeugnis dafür, dass
Sie die christliche Weltanschauung in Ihrem Berufe muthig und kraftvoll
vertreten wollen, im Gegensatze zu dem vielgestaltigen modernen Un-
glauben und Atheismus." — Die Verdächtigung der nicht zum katholischen
Lehrerverbande gehörenden Lehrer, die der Bischof durch die Betonung der
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Gegensätze, unter der abgeschmackten Anfwärmnng des alten Kohls längst
abgegriffener Schlagwörter offenbar beabsichtigt, richtet sich selbst; sie mag
alles sein, eins, dem Gebote des Herrn entsprechend, christlich, ist sie nicht.
„Darauf", so berichtet die Kölnische Volkszeitung, „empfing die Ver-
sammlung, welche den herrlichen Worten ihres theuren Oberhirten
stehend zugehört hatte, knieend den bischöflichen Segen." Zwei
Vorträge beschäftigten sodann noch die Versammlung: 1) Die Sittenlosigkeit
eines Theiles unserer Jugend und ihre Grunde, und 2) Die Verbindung der
vaterländischen Geschichte mit der Geographie.
In Dortmund, auf der Delegirtenversammlung des westfälischen Pro-
vinz! ullehrervereins, gab der Vorsitzende Rector Kuhlo-Bielefeld in seinem
Jahresberichte der Genugthuung über das Scheitern des Zedlitz'schen Schulgesetz-
entwurfs Ausdruck, stellte ein Vorgehen des Landesvereins der preußirchen Volks-
ßchullehrer behufs gesetzlicher Regelung der Lehrerdotation in Aussicht und
constatirte mit Befriedigung, dass der Verein, trotz der Feinde ringsum, in
erfreulichem Wachsthume begriffen sei, seine Mitgliederzahl sei im verflossenen
Jahre von 1399 auf 1592, und die Zahl der Einzel verbände von 45 auf 50
gestiegen. Aus dem Vorstande ist einer der beiden katholischen Collegen —
man sagt, infolge eines Gelübdes — ausgeschieden. Da die Berathungen der
VereinBangelegenheiten hier nicht weiter interessiren, so sei daraus nur mit-
getheilt, dass der nächstjährige westfälische Lehrertag in dem im äußersten
Osten der Provinz gelegenen Minden abgehalten werden soll. Der Antrag,
den 17. Lehrertag nach Hagen zu berufen und ihm den Charakter einer
Harkortfeier zu verleihen, da Friedrich Harkort, „Westfalens Fritz",
der „Tribun der preußischen Volksschule", geb. im Februar 1793, in der
Mark, in Hagen, Herdecke etc. gelebt und gewirkt habe, fand leider nicht
die Mehrheit. Der Einwand, dass man den großen Todten auch in Minden
feiern könne, wäre wol besser nicht erhoben worden. Man konnte ja den 18.
westfälischen Lehrertag in Minden abhalten. Hoffentlich ist das letzte Wort
in dieser Sache noch nicht gesprochen; wenn aber — so wird der märkische
Gauverband wissen, was ihm Ehre und Pflicht gebieten.
Die Hauptversammlung am Dienstag fand in dem großen Saale des
„Fredenbaums" bei Dortmund statt und war von ungefähr 2000 Lehrern und
Lehrerinnen besucht. Oberbürgermeister Schmieding wies in seiner Begrüßungs-
rede auf die Bedeutung der Selbstverwaltung für die gedeihliche Entwicklung
des Schulwesens hin und hob hervor, wie unser Volksleben seit Einführung der
Verfassung auf viel breiterer Grundlage in allen öffentlichen Angelegenheiten
ein intensiveres geworden sei. Indem er so, wenn auch unausgesprochen, der
Tendenz der letzten Schulgesetzvorlage entgegentrat, wandte er sich anderseits
gegen die Feinde der Lehrer und die Verächter ihrer Versammlungen, insofern
als er die kräftige Mitarbeit der Lehrer an der Förderung des Schulwesens
rühmte und insbesondere den Segen und die Bedeutung der Lehrertage betonte.
Rector van Ekeris, der Vorsitzende des Dortmunder Lehrervereins, flocht
in seine Begrüßung die Gedächtnisrede auf Arnos Comenius ein, und verstand
es, die große Versammlung in eine weihevolle Stimmung zu versetzen.
Den ersten Vortrag über „Die Jugend- und Volksliteratur" hielt
Linneweber-Hagen. College Schepp-Berlin sprach in anregender Weise
über „Die Orthographiereform". Er trat für die Durchführung des phone-
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tischen Princips in der Rechtechreibung ein und empfahl den Auschluss an
den von Dr. Wilh. Fricke begründeten Verein für vereinfachte Orthographie.
Rector Stückmann-Dortmund hielt einen Vortrag über „Die Fürsorge für
die verwahrloste Jugend".
Mit einem durch fröhliche Gemüthlichkeit gewürzten Festessen fanden die
Aus Hamburg. Seit dem Jahre 1887 ist in Hamburg ein merklicher
Rückgang der Volksscbullehrergehälter zu verzeichnen, da das Aufrücken in
die feste Anstellung und in die erste Gehaltsciasse später als früher erfolgt.
Dies wird um so schmerzlicher empfunden, als seit 1888 durch den Zoll-
anschluss Hamburgs eine bedeutende Vertheuerung fast aller Lebensbedürfnisse
eingetreten ist. Bis 1887 wurden die im Hamburger Seminar ausgebildeten
Lehrer nach 5 Dienstjahren fest angestellt; 1887 stellte man zum ersten Mal
nur die Hälfte der Fünfjährigen an und ließ die andere Hälfte noch ein Jahr
warten; jetzt sind 6 Dienstjahre bis zur festen Anstellung bereits die Regel
geworden. Bis 1887 erfolgte die Beförderung in die erste Altersclasse in
der Regel 4 Jahre nach der festen Anstellung, nunmehr aber erst 5 oder 6
Jahre nach derselben. Für Lehrer dagegen, die von auswärts eintreten, haben
sich die Anstellungsverhältnisse in den letzten Jahren gebessert; in den
Jahren 1887 und 88 wurden sie erst nach 7 — 8 Dienstjahren (seit dem Seminar-
abgang) fest angestellt, gegenwärtig schon nach 6 Dienstjahren. — Seit dem
Zollanschluss Hamburgs arbeitet eine Commission, bestehend aus Mitgliedern des
Senate und der Bürgerschaft, an einem neuen Gehaltegesetz für die Beamten.
Bei dieser Gehalteregelung sind indes die Lehrer noch immer nicht an die
Reihe gekommen; zwar gewährt man den Beamten, deren Gehalt noch nicht
geregelt ist, inzwischen eine Tbeuerungszulage, beispielsweise den festange-
stellten Lehrern 150 M., den nicht festangestellten, sofern dieselben das zweite
Examen bestanden haben, 100 M. jährlich. Da aber der Haushalt einer
Lehrerfamilie mit 2 oder 3 Kindern jetzt etwa 400—500 M. theurer zu
stehen kommt als vor dem Zollanschluss, so ist jene Zulage nur sehr dürftig.
Dazu kommt noch, dass diese Theuerungszulage nicht erhält: 1) wer ein
Gehalt von 3000 M. oder mehr bezieht, 2) wer in eine andere Beamtenstellung
gelangt, d. h. für unsern Fall: wer fest angestellt oder in die erste Gehalte-
classe befördert wird. So wird die Zahl derer, denen die Zulage zutheil
wird, von Jahr zu Jahr geringer.
Ein recht merklicher Unterschied besteht zwischen dem Gehalt der Lehrer
nnd dem der Hauptlehrer, wie folgende Übersicht zeigt:
nicht fest angestellte Lehrer: 1200 — 1800 M.,
fest angestellte Lehrer:
2. Gehalteclasse: 1750—2500 M.,
1. „ 2250—3500 M.,
(nach je 3 Jahren 250 M. steigend).
Hauptlehrer: 3000—4400 M.
(nach je 3 Jahren 350 M. steigend).
Die Hauptlehrer beziehen ferner 750 M. Wohnungsgeld! Das Gehalt
der Hauptlehrer ist nun für hiesige Verhältnisse durchaus nicht zu hoch; um
Pft bfOKium. Ii. Jahrg. Heft IX. 41
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so weniger genügt da« Gehalt der Lehrer, namentlich der jüngeren. — Dem
neuen Gehaltagesetz sehen die Lehrer zum Theil mit kühnen Hoffnungen ent-
gegen. Wie wird es ausfallen?
In Hamburg bestehen z. Z. 3 große Lehrervereine: die „Gesellschaft der
Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens" (wol der reichste
Lehrerverein Deutschlands mit vorzüglichen Casseneinrichtungen: Witwen-,
Pensions-, Kranken-, Vorschuss-, Unterstützungscasse und Diesterwegstiftung ;
rund 650 active und zahlreiche unterstützende Mitglieder), der „schulwissen-
schaftliche Bildungs verein" (behandelt namentlich schul wissenschaftliche Fragen ;
rund 250 Mitgl.) und der „Verein Hamburger Volksschullehrer" (behandelt
vorzugsweise schulpolitische und ähnliche Fragen, rund 750 Mitgl.). Im vorigen
Jahre berieth eine Commission aus Mitgliedern dieser drei Vereine über eine
Vereinigung, bezw. ein Zusammengehen der Vereine in wichtigen Angelegen-
heiten. Die Verhandlungen dieser Commission schienen einen recht erfreulichen
Ausgang nehmen zu wollen; schließlich aber ging die Commission, ohne that-
sächliche Ergebnisse erzielt zu haben, auseinander, da die allerdings recht
verschiedenartigen Vereine nicht gewillt waren, ein entsprechendes Stück ihrer
Sondereinrichtungen und Sonderinteressen zu opfern. Es ist das um so betrübender,
als schon ohnedies das Gewicht der Lehrerschaft in unserm durch und durch
aristokratisch regierten Staate kein allzu großes ist, um so betrübender, als
man seit einigen Jahren damit umgeht, den Lehrern (genauer der Schul-
synode, bestehend aus den Vorstehern und festangestellten Lehrern der
öffentlichen — höheren und niederen — und den Vorstehern der nicht
öffentlichen Schulen) das Recht zu nehmen, zwei Abgeordnete in die Oberschul-
behörde zu wählen. Allerdings steht den Lehrern dieses Recht vorderhand
noch zu, und sie haben neuerdings zwei Vertreter in die Oberschulbehörde ge-
sandt, die oft genug ihr warmes Herz für die Schule bekundet und mit ebenso
viel Muth wie Geschick die Interessen der Schule und der Lehrerschaft
wahrgenommen haben: Hauptlehrer Fricke und Schuldirector Dr. Reinmüller.
Solange solche Männer uns vertreten und solange die Leitung des Hamburger
Volksschulwesens einem Manne anvertraut ist, der, wie unser Schulrath Mahraun,
die innigste Begeisterung für die hohen Ideale wahrer Menschenbildung mit
einer so sicheren Hand für die Praxis der Schulverwaltung verbindet, so lange
brauchen wir nicht um die gesunde Entwicklung des Hamburger Volksschul-
wesens besorgt zu sein. — Gleichwol ist und bleibt es sehr bedauerlich, dass
ein Zu8ammenschlus8 der großen Lehrervereine, der über das bisherige bloße
Freundschaftsverhältnis hinausgeht, nicht zustande gebracht ist. Ein Bild
des leider urdeutschen Particularismns im kleinen!
Zum Entwurf des preußischen Volksschulgesetzes hat die Hamburger Volks-
schullehrerschaft entschieden Stellung genommen und zwar öffentlich in einer
von mehreren hundert Collegen und Colleginnen besuchten Versammlung am
20. März, in welcher Hauptlehrer Fricke (wie oben erwähnt Mitglied der Ober-
schulbehörde) einen von tiefer Begeisterung durchglühten Vortrag hielt.
Die Versammlung nahm folgende vom Redner vorgeschlagene Resolution ein-
stimmig an:
„Die am 20. März 1892 in Hamburg tagende allgemeine Versammlung
hamburgischer Lehrer und Lehrerinnen erblickt in der Annahme des preu-
ßischen Schulgesetzentwurfs ein Unglück für das ganze deutsche Vaterland.
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Sie missbilligt die rückschrittliche Tendenz des Entwurfs, welche durch die
Hervorhebung der Confessionalität im Religionsunterricht, durch den Gewissens-
zwang und durch die Auslieferung der Staatshoheit an die Kirche bekannt wird.
Sie missbilligt das geplante Schulgesetz ferner, weil durch dasselbe die Schule
politischen Parteizwecken dienstbar gemacht werden soll, dagegen berechtigte
Forderungen einer gesunden Pädagogik in demselben unberücksichtigt gelassen
werden."
Zu einem, besonders großartigen Feste gestaltete sich die Hamburger
Comeniusfeier, veranstaltet von den 3 obengenannten Vereinen und dem Verein
Hamburger Landschullehrer (26. März). Die Glanzpunkte der von rund
3000 Personen (Herren und Damen) besuchten Festversammlnng bildeten,
von den herrlichen Chören des Hamburger Lehrergesangvereins abgesehen, ein
Prolog, gedichtet und meisterhaft vorgetragen von unserem in dieser Zeitschrift
schon mehrfach genannten Otto Ernst, und namentlich die begeisterte und
begeisternde Festrede des Herrn Schnlrath Mahraun. Hervorgehoben zu werden
verdient, dass der Herr Schulrath sich mit dem Altmeister Comenins auf den
Boden der allgemeinen Volksschule und eines Religionsunterrichtes stellte,
der in erster Linie die religiös-sittlichen Ideale pflegt, nicht aber sich
auf die confessionellen Dogmen steift.
Wann wird man überall in deutschen Landen wie hier solche Worte
von oben herab hören?
Aus Bayern. Seit Wochen freue ich mich auf die Stunde, wo ich — an
der Hand des Landtagsberichtes — dem geneigten Leser etwas Erfreuliches mit-
theilen darf. Und nun hat wirklich die beispiellos schwerfallig arbeitende
Landtagsmaschine am Beginne des Wonnemonats das Ergebnis der Gehalts-
aufbessernngsfi'age der bayrischen Volksschullehrer (ich bitte wegen der Wort-
schachtelei um Verzeihung) ausgespien. Diese Gehaltsaufbesserung mit ins-
gesammt 891 000 Mk. hat eine lange und gar seltsam anzuhörende Vorgeschichte.
Als nämlich dem Landtag die Regierungsvorlagen zugingen, war trotz eifrigen
Suchens nichts von Gehaltsaufbesserung der Beamten und Lehrer zu finden;
die Presse und die Linke murrten, und da erklärte der Finanzminister, falls
die Kammer einen Antrag einbrächte, wolle er und die Regierung zusehen,
was sich machen ließe. Der Antrag lief ein — und die Regierung verkündete
Dinge, mit denen die Beamten sich nur halb und die Lehrer gar nicht zu-
frieden gaben. Wieder ein Murren in der Presse — bei den Lehrern Protest-
versammlungen und scharfe Worte, die dem Cultusminister nicht gefielen
und die Regierung bot einen fetteren Bissen; d. h. der fette Bissen fiel den
Ministern zu, die bis dahin keinen Finger geregt, nnd bei denen sich mit dem
besten Willen kein Grund für die Zehntausende von Mark entdecken lässt, die
man ihnen in den Schoß geschüttet. Danach kamen die Beamten — immer
dem physikalischen Satze getreu: dass ein großer Körper wiederum große
Brocken anzieht, während an kleineren nur etzliche Splitter haften bleiben.
Zuletzt kamen die Lehrer nnd dann nichts mehr. Allerdings wartete
hinter den Lehrern noch das unabsehbare Heer der nichtpragmatischen Beamten
mit dem Beamtenelend in unausgesprochenster Form; — allein das bekam nichts.
Nicht einmal schöne Worte.
Was aber die Aufbesserung der Lehrer anlangt, so kam die folgender-
41»
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maßen zustande. Bisher wurde die erste Altergzulage 10 Jahre nach dem
Seminaraustritt gegeben; in Zukunft wird sie schon nach 5 Jahren gereicht
und zwar mit 90 Mk. für Lehrer und 72 Mk. für unständige Lehrer und
Lehrerinnen. (Die Regierung hatte je 45 Mk. weniger beantragt.) Das macht
764 280 Mk. -f 126 576 Mk. = 890856 Mk. oder abgerundet mit Rücksicht
auf die Heimfalle 865 000 Mk. Zum andern wurde ein Antrag des liberalen
Abgeordneten Schobert (des ersten Vorstandes vom Bayr. Lehrerverein) an-
genommen, die künftige 4. AlterszuJage statt nach 16 schon nach 15 Jahren
zu gewähren, macht in Mark 26 000, woraus sich zuletzt die obenangeführte
Gesammtsumme von 891 000 Mk. zusammenklaubt.
Ein Abgeordneter der Linken meinte, diese Regelung sei keine endgiltige.
ein streitbarer Centrumsmann behauptete: ja, — der Coltusminister versprach,
die einzelnen Kreise zu Erhöhung des Kreiszuschusses anzureizen und überall
die obligatorische Verpflegung der Schulgehilfen durch die ständigen Lehrer
einzuführen, der Centrumsführer Dalier — er ist Gymnasialrector in Freising
— meinte, 850 Mk. Barbesoldung wäre für 18— 22jährige Schulgehilfen
eigentlich nicht zu wenig, — das Haus klatschte zu den Abgangsworten des
Cultusministers: „Ich hoffe, dass mit der Aufbesserung Freude und Zufrieden-
heit in die Lehrerkreise einzieht, die Berufsfreudigkeit erhöht wird zum Wole
unserer Kinder, unserer Schule und des Staates!" — Beifall und der
Vorhang fiel über dieses parlamentarische Spiel.
Es versteht sich, dass die Aufbesserung nicht ohne einige böse Worte
seitens der Clerikalen gereicht wurde. Während der Berathung des Capitela
Volksschule raste der schwarze See, und das Opfer, das er diesmal haben
wollte, war die „Bayr. Lehrerzeitung a. Die Bayr. Lehrerzeitung wird
nämlich seit Neujahr jedem Vereinsmitgliede gegeben und entlädt auf diese
Weise ihren gefährlichen Inhalt in Schulhäuser, die bislang von liberalen
Ansichten nichts wussten. Unsere Clericalen, welche die Gefahr erkannt,
rüsteten beizeiten zum Feldzug und begannen die Lehrerzeitung als katho-
likenfeindlich anzuschwärzen. Und wahrhaftig! Manch einer, würden drohende
pecuniäre Verluste (an den Wolthaten des Lehrerwaisenstiftes) ihn nicht da-
von abgehalten haben, wäre fahnenflüchtig geworden. Wir haben in Bayern
in jenen Wochen ein Satirspiel erlebt — das Spiel ist nicht einmal aus und
hat sogar innerhalb der protestantischen Mauern Nürnbergs eine lustige Blase
geworfen — , ein Satirspiel, das einen betrübenden Einblick in die Macht des
Ultramontanismus gewährte. Für die Sache der fortschreitenden Schule in
Bayern aber wäre es nicht von Schaden gewesen, wenn jene Vereinsmitglieder
ausgetreten wären; denn sie, die geistig Armen, sind doch nur Hemmschuh
gewesen und werden es noch lange bleiben. Der Abgeordnete Schubert aber
hat nach meinem Glauben nicht die glänzendste Rolle gespielt; er hielt ein
paar schönstilisirte Reden, und befolgte im übrigen die Taktik unserer Kammer-
liberalen: das Centrum durch keine Principienfrage zu reizen — so trefflich,
dass er schließlich selbst mit in die Verurtheilung der Lehrerzeitung, des
Vereinsorgans einstimmte, indem er sich so oft und nicht stets erforderlicher-
weise zum Wort meldete. Ein Abgeordneter aber sollte am wenigsten das Be-
dürfnis fühlen, in den de- und wehmüthigen Satz auszubrechen: einzelne Inder
Frage der Aufbesserung durch die Presse veröffentlichte Auslassungen un-
geeigneter Art nicht auf Rechnung der ganzen Lehrerschaft zu setzen! Wäh-
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- 593 -
rend der Cultusetat-Berathung versuchten die Clericalen wieder einen Vorstoß
gegen die Simultanschule, jedoch ohne Erfolg. Der neue Cultusminister fährte
sogar den verwegensten Kämpen — es ist ein Gymnasialprofessor aus der
Rheinpfalz — eigenhändig und sehr elegant ab und die Stadt Nürnberg
beschloss, gleichsam als Antwort auf jenen Kriegsruf, in Zukunft nur noch
Simultanschalen zu errichten. Dieser erfrenlichen Mittheilung kann ich zwei
weitere hinzufügen: eine Reihe mittelfränkischer Städte richtete an die Regie-
rung die Bitte um Beschneidung des üppig ins Kraut schießenden religiösen
Gedächtmsstoffes, — und eine ziemliche Anzahl bayrischer Städte beschloss,
dem Lehrer in der Schulcommission nicht allein eine berathende, sondern auch
eine beschließende Stimme zuzugestehen. Ja, die mittelfränkische Stadt Schwa-
bach beabsichtigt, an die Spitze ihres Schulwesens den bestqualificirten ihrer
Volksschullehrer zu stellen, falls es von der Regierung erlaubt wird.
Aus Österreich. Der „Deutsch-österreichische Mittelschul tag", welcher
in der vergangenen Charwoche zu Wien abgehalten wurde, beschäftigte sich
u. a. sehr eingehend mit der pädagogischen Vorbildung der Mittel-
schullehrer, d.h. der Lehrer an Gymnasien und coordinirten Anstalten. Als
Referenten über dieses Thema fungirten Professor Dr. Maiß und Prof. Dr. Höfler.
An der sehr lebhaften Debatte betheiligten sich außerdem namentlich Dr. von
Math, Dr. Singer, Prof. Hoppe, Prof. Martinagg, Prof. Dr. Smolle. Zur An-
nahme gelangten folgende 2 Thesen: 1) „Die wesentliche Vorbedingung eines
Fortschrittes in der pädagogischen Vorbildung der Mittelschullehrer ist die
Pflege philosophischer, speciell psychologischer, logischer und ethischer Studien
der Lehramte -Canditaten" (Höfler). 2) „Für die pädagogische Ausbildung
der Lehramts-Candidaten ist neben der theoretisch- pädagogischen Ausbildung
an der Universität das Probejahr der Candidaten not h wendig und hin-
reichend; die Einführung pädagogischer Seminare und Übungsschulen ist
nicht anzustreben" (Maiß).
Aus der Schweiz. Am 30. Januar d. J. starb zu Baden (Aargau)
Franz Dula, ein Schulmann, wie er eben nur in der Schweiz möglich ist. Des-
halb wollen wir hier von seinem Lebensgange kurz berichten. — Dula wurde am
10. März 1814 im Canton Luzern geboren, besuchte die niederen und höheren
Schulen der heimatlichen Hauptstadt und schloss seine Studien an der Uni-
versität Jena ab (die ihn später, bei der Feier ihres 500jährigen Bestandes,
zum Ehrendoctor ernannte). 1836 trat er in den Schuldienst als Secundar-
lehrer in Luzern, fiel aber bei der Regierung in Ungnade, da er seine libe-
ralen Gesinnungen nicht verhehlte und im besondern der Rückberufung der
Jesuiten entgegenarbeitete. Er nahm deshalb 1842 eine ähnliche Lehrstelle
im Nachbarcanton Aargau an, wo er sich auch einen eigenen Hausstand grün-
dete. Infolge des „Sonderbundkrieges"*) (welchen er als Schützencorporal
mitmachte), kehrte er in seine Heimat zurück, wurde Mitglied des neuen
Regierungsrath.es und brachte als solches ein neues Unterrichtsgesetz zustande.
*) Einschreiten der eidgenössischen Mehrheit gegen den bundeevertrags-
widrigcn, particularistisch -jesuitischen „Sonderbund" der 7 Cantone: Luzern, Uri,
8chwyx, Unterwaiden, Zug, Freiburg, Wallis (1847).
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— 594 —
1849 Übernahm D. die Leitung des Lehrerseminars in Rathausen (Luzern),
wo er eine andere, d. i. freisinnige Lehrergeneration heranbildete und dorch
die That wie durch Wort und Schrift für die Hebung der Volksschule und des
Lehrerstandes nach jeder Richtung hin wirkte; zudem erwarb er sich hervor*
ragende Verdienste auf dem Gebiete der Gemeinnützigkeit (war zeitweilig
Präsident der Schweiz. Gemeinnutz. Gesellschaft), z. B. durch seine Betheiligung
an der Gründung der großen Rettungsanstalt Sonnenberg bei Luzern. Doch im
Laufe der Sechziger Jahre gelangte die ultramontane Partei abermals zur Herr-
schaft, und so folgte Dula dem Rufe der aargauischen Regierung in die
Direction des Seminars Wettingen (1867). Bis 1886 behielt er die Leitung
dieser Lehrerbildungsanstalt, biB Herbst 1891 gehörte er ihr noch als Lehrer
(der Pädagogik) an. Dass ein Mann von solcher Gesinnungstüchtigkeit und
Thatkraft einen tiefen erzieherischen Einfluss auf seine Schüler ausübte, be-
darf kaum der Erwähnung.
Wenn wir aber D. gleich anfangs als eine gerade der Schweiz eigen-
thümliche Erscheinung bezeichneten, so hatten wir hauptsächlich die Art der
Ämter, welche er bekleidete, den Amtswechsel im Auge. Diese Möglichkeit,
und nicht seltene Wirklichkeit des Stellenwechsels ist in der That für die
schweizerische Lehrerschaft charakteristisch. Hier noch einige Beispiele (aus
denen man freilich sieht, dass es sich fast ausschließlich um „höhere" Volks-
schullehrer handelt): ein Secnndarlehrer wird Stadtrath, ein anderer Staats-
schreiber (Vorsteher der Regierungskanzlei), ein dritter Regierungsstatthalter
(Bezirkshauptmann). Oder: der Assistent in einem Laboratorium der Universität
(Doctor) zieht die Stelle eines Lehrers (für welche er allerdings die Wahl-
fähigkeit besitzt) an der Mädchensecundarschule vor, ein Bezirksschulinspector
desgleichen; der Leiter eines staatlichen Lehrerseminars übernimmt die Direction
einer städtischen Mädchenschule. Oder die Wandlung des Herrn F.: Real-
schullehrer — Redacteur einer politischen Zeitung — Übungsschullehrer am
Seminär — städtischer Mädchenschullehrer. Herr G. — und mit ihm schließen
wir die Reihe — war erst Secnndarlehrer, übernahm dann das Rectorat einer
höheren Töchterschule und ist jetzt Secretär der Erziehungsdirection in seinem
Heimatcanton.
Was wir hier angeführt, dürfte deutschen und österreichischen Lehrern
im allgemeinen noch unbekannt sein — unbekannt wie manche andere Zustände
und Verhältnisse im Schulwesen der Schweiz, und wie manche Thatsache der
schweizerischen Unterrichtsgeschichte. Darüber hat man sich hierzulande
mehrfach beschwert. So z. B. jüngst gelegentlich der Oomeniusfeier. Dass
Comenius auch zu namhaften Schweizern in wesentlichen Beziehungen ge-
standen (man wird bald Näheres darüber hören), davon wisse man „im
Reiche draußen" nichts. Auch scheine man hie und da immer noch Comenius
Uber Pestalozzi stellen zu wollen (was aus mehreren Festschriften zu ersehen
sei), und dies beweise, dass man die wahrhafte Bedeutung Pestalozzis in ihrem
Kern noch nicht allenthalben erfasst habe, auch wol mit seiner Lebensgeschichte
noch nicht genügend vertraut sei. Des weiteren wurde kürzlich bemerkt: die
deutschen Verfasser von „Geschichten der Methodik" scheinen die Verdienste
der Schweizer nm die Entwicklung des erdkundlichen Unterrichts nicht zu
kennen. Und in der Schweiz. Lehrerztg. vom 2. April d. J. schließt die An-
zeige der „Geschichte des deutsch. Turnunterrichts" von Prof. Dr. Euler (Kehr,
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— 595 —
Gesch. d. Hetfa. V) mit den Worten: „Das Turnen in der Schweiz ist nicht
behandelt. Der Verfasser führt blos die diesbezüglichen Bestrebungen von
Zwingli nnd Pestalozzi an nnd erwähnt, dass Spieß und Maul in der Schweiz
in hervorragender Weise thätig waren. Wir andern glauben, das Turnen bei
ans dürfe sich so gnt sehen lassen wie das so manchen Städtchens „ennet dem
Rbyn", und der Name des Turnvaters Niggeler wäre der Geschichte der Methodik
des deutschen Volksschulunterrichts so gut angestanden, wie der mancher an-
dern Streiter." — Hier handelt es sich im wesentlichen um die Vergangenheit;
häufiger begegnet man Belegen für das Nichtwissen der Gegenwart. Nun sind
wir zwar selbstverständlich keineswegs so eingebildet zu fordern, der deutsche
oder österreichische Lehrer müsse in dem vielgestaltigen Unterrichtswesen
aller unserer 25 Länder und Ländchen bewandert sein, und noch weniger
möchten wir uns zu der mehr als kühnen Behanptang versteigen, die Schule
der vorgeschrittenen Cantone sei die Erziehungsschnle im Sinne Pestalozzis,
Diesterweg's, Hildebrand's*) und darum dem gründlichen Studium jedes aus-
ländischen Beruftgenossen dringend zu empfehlen — aber doch dürfen wir
wünschen, dass man jenseits des Rheins unsere Schuleinrichtungen wenigstens
ihren Grundzügen nnd ihren Eigentümlichkeiten nach kenne; soviel steht
fest: diejenige Beachtung, welche unsere kleine pädagogische Welt von Seite
der größeren Nachbarn wirklich verdient, hat sie noch nicht gefunden.
Woran liegt das? — Man kann nicht behaupten, dass zu wenig ver-
öffentlicht werde, oder dass die Veröffentlichungen schwer zugänglich seien.
In dem gegenwärtig von A. Richter (Leipzig) herausgegebenen „Pädagogischen
Jahresbericht" ist stets auch der Schweiz ein Abschnitt gewidmet (dessen Be-
arbeitung in guten Händen liegt) — seit 1887 erscheint überdies (bei Orell
Füssii in Zürich) ein „Jahrbuch des Schweiz. Unterrichtswesens" — die
Schweiz. Lehrerzeitung kostet jährlich nur 5 Fr. — das zwar schon 1883 heraus-
gegebene, aber immer noch recht brauchbare „Handbuch der Schweiz. Schul-
gesetzgebung" von 0. Hunziker ist jetzt beim Pestalozzianum in Zürich zu
dem Spottpreise von 50 Rappen zu haben. Sonach könnten sich wenigstens
die Lehrerbibliotheken größerer Schulen und die Kreisbibliotheken mit guten
Aufklärungsschriften versehen. Für den Einzelnen aber könnten das Beste
die größeren Fachblätter leisten. Denn es gehört gewiss zu deren vielseitigem
Beruf, ihren Lesern zu zeigen, wie und in welchen Kreisen das pädagogische
Leben jenseits der Landesgrenzen sich abspielt. Mit einer Reihe klar und
knapp gehaltener Artikel wäre die Aufgabe gelöst.**) Aber auch die Quelle,
oder vielmehr die große Sammelstelle der zahlreichen, mehr oder weniger stark
sprudelnden Einzelquellen ist jedem (wenigstens auf dem Postwege) zugänglich
— wir meinen das „Archivbureau" des Pestalozzianums in Zürich.***) Wenn
*) Davon sind wir noch meilenweit entfernt!
**) Eine solche Artikelreihe bat bereite 1889/90 die frühere Redaction der
Pädag. Zeitung (Berlin) begonnen; sie fortzusetzen, scheint die gegenwärtige Lei-
tung nicht gewillt zu sein.
***) Hierher sollten zuerst immer auch diejenigen kommen, welche persönlich
in schweizerischen Schulen Umschau halten und sich dazu so gut als möglich vor-
bereiten wollen, wie es im vergangenen Jahre zwei deutsche Herren gethan (aus-
gesandt von der Diesterwegstiftung in Berlin und von der Stadt Plauen i. Vogtl).
Der Erstgenannte hat über seine Beobachtungen zu Zürich und anderen Schweizer-
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— 596 —
wir uns — wie es im Folgenden geschehen soll — über diese für die Schweiz
hochbedeutsame Anstalt einlässlich äußern, so durfte das sachlich gerechtfertigt
erscheinen.
Das Pestalozzianum umfasst eine wolgefüllte und trefflich geordnete Aus-
stellung von Schulgeräthen und Lehrmitteln (mit einer besonderen, fast ver-
schwenderisch ausgestatteten Abtheilung für Zeichen- und gewerblichen Unter-
richt) — ein Lesezimmer mit rund 70 unmittelbar nach ihrem Erscheinen anf-
liegenden Zeitschriften — das an wertvollen Reliquien reiche, würdig und
sinnig gehaltene „Pestalozzistübchen" — namhafte Büchereien — das bereits
erwähnte Archiv als Sammelstelle für alle möglichen Manuscripte und Druck-
sachen, weiche von dem öffentlichen und privaten Schulleben des In- und Aus-
landes Zeugnis ablegen. Das Archivbureau besorgt die Verwaltung des Archivs
(auch des „Schweiz. Gentraiarchivs für Gemeinnützigkeit") und der Biblio-
theken; außerdem aber ist es die wissenschaftliche Werkstätte des Pestaloz-
zianums. Als solches führt es aus: einestheils die größeren, meist zur Ver-
öffentlichung bestimmten Arbeiten (und die literarische Thätigkeit ist eine
vielseitige), anderntheils die verschiedenartigen kleineren Geschäfte, welche
hauptsächlich darin bestehen, für studirende Lehrer nach deren allgemein ge-
haltenen Angaben und Wünschen aus den Archiven und Bibliotheken der An-
stalt das geeignete Material auszuwählen, oder für solche Zwecke bei Behörden
und Schulleitern briefliche Auskunft, Actenstücke u.ä. einzuholen. Im Jahre 1891
wurden 38 „größere Arbeiten'' geliefert, darunter: Mittheilungen über das
Schweiz. Schulwesen im Jahre 1890 für Richter's Pädag. Jahresbericht — Be-
richt über Entstehung und Entwicklung der Schweiz, permanenten Schulaus-
stellungen für die „Mittheilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs-
und SchulgeschichteM (Jahrg. I, Heft 2) — Beitrag zur Geschichte der Schul-
geographie in der Schweiz (Monographie, dem internationalen geogr. Congress
in Bern vorgelegt, wo dem P. ein „erster Preis" zufiel) — Skizzen in die
„Allgemeine deutsche Biographie" — Beiträge zur Geschichte des Schweiz.
Fortbildungsschulwesens (Zeitschr. f. Schweiz. Statistik) — Vorarbeiten zu
einer Statistik der einheimischen Fortbildungsanstalten für Mädchen und Frauen
— Sammlungen für eine schweizerische Landeskunde, Abtheilung Unterrichts-
wesen. — Die „kleineren Geschäfte" (1891: 138) sind zuweilen im Berichte
übersichtlich nach den Hauptgebieten geordnet, auf welche sie sich erstrecken,
und zwar enthält der Bericht über das Jahr 1891 folgende Zusammenstellung
(die Ziffern in Klammern bezeichnen die Zahlen der betreffenden Auskunfts-
und Ausleihbegehren) : Gesetzgebung und Verwaltung, Schulwesen im all-
gemeinen (35) — Einzelne Schularten im besondern (23) — Lehrerverhält-
nisse (10) — Geschichte der Pädagogik (10)*) — Allgemeine Pädagogik (22)
— Methodik (30) — Verschiedenes (8).
Städten in einem Schriftchen berichtet, welches durchzusehen wir noch nicht Ge-
legenheit fanden. — Solche Studienreisen durch fremde Schnlen sind nun ohne
Zweifel aufs wärmste anzurathen; allein da sie sich in der Regel nur auf wenige
Tage und (größere) Orte erstrecken können, so ist das Ergebnis weit davon ent-
fernt, das Bild vom Schulwesen des Landes darzustellen und zu allgemeinen Urtheilen
zu berechtigen.
•) Darunter zwei Erkundigungen nach der Lebens- und Arbeitsgeschichte des
Herrn Dr. Dittes.
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£8 leuchtet ein: unsere Anstalt kann durch die erwähnten verschiedenen
Einrichtungen sehr viel Gutes stiften, und stiftet es wirklich; sie hat sich un-
entbehrlich gemacht. Aber die hohe Aufgabe eines „Pestalozzianums" ist
damit nicht erfüllt, auch damit noch nicht, dass es — selbstverständlich! —
einen „Mittelpunkt für die Pestalozziforschung und Pestalozzikunde " bildet.
Seinem höchsten Ziele wird er sich erst dann nähern, wenn es sich — seinem
Namen entsprechend — als „pädagogisches Nationalinstitut " fühlt. Es muss
erstreben, was noch nicht vorhanden ist: die allgemeine Volksschule als Schule
Pestalozzis — die naturgemäße Erziehung zur reinen Menschlichkeit und Vater-
landstreue. Aber so wenig die deutsche Literaturgeschichte mit dem 22. März
1832 zu Ende gegangen, so wenig bezeichnet der Tod Pestalozzis den Schluss-
stein der Erziehungsgeschichte. Man ist weiter geschritten, ganz besonders
auf dem Gebiete der Pädagogik. Und wenn auch Pestalozzis Grundgedanken
— Naturgemäßheit, Wahrhaftigkeit, Lebenstüchtigkeit — nnverkümmert für
alle Zeiten gelten werden: das Pestalozzianum muss doch mitten im „bunten,
blühenden, ewigbewegten Leben" stehen (allerdings auf hoher Warte) und
für die vaterländische Schule zu gewinnen und zu verwerten suchen, was die
Nachfolger Pestalozzis — mögen sie wo immer zu Hause sein — Gutes er-
sinnen und schaffen.
Aus der Fachpresse.
546. Comenius und Pestalozzi*) (Preisarbeit, Allg. d. Lehrerz. 1892,
12. 13.). Eine nüchterne, unparteiische (wenn auch nicht durchaus gründliche,
sachlich genaue), „hauptsächlich auf eine Reihe von Gegensätzen" gerichtete
Vergleichung, für deren Ergebnisse gern mehr oder weniger sinnliche Schlag-
wörter gesucht werden. Diese Ergebnisse sind: „Eine tiefe Kluft trennt C.
von P. hinsichtlich des Grades ihrer (wissenschaftlichen) Bildung, ihrer Welt-
und Menschenkenntnis." „C. war mehr Lehrer als Erzieher, P. mehr Erzieher
als Lehrer." „C. war durch seinen Kopf, P. durch sein Herz, was er war";
C. ein Apostel — P. der Leiter eines Missionshauses, freilich ohne Leitungs-
talent, welches C. in ebenso hohem Maße besaß wie die P. gänzlich mangelnde
Meisterschaft in der Systematik. C.'s Mutterschule den Eltern, P/s ähnliches
Werk nur der Mutter gewidmet; jenes verdient vor diesem bei weitem den
Vorzug. C. verfolgt „praktisch-reale", P. im wesentlichen „formale" Zwecke,
daher bei jenem Pflege, bei diesem Vernachlässigung der „Realien". Als
hauptsächlicher Schulerfolg von C. intellectuelle, von P. moralische Förderung
erwartet.
547. Comenius und Pestalozzi (0. Hunziker, Pestalozziblätter**)
1892, II). Rede zur Comenius-Feier in Zürich. Nach dem Bericht über die
„äußeren Schicksale" und Schriften des C. folgt die Vergleichung: Verschieden-
heiten in ihrem Lebensgang und Martyrthum (C. Märtyrer der Sache, P. Mär-
*) Von besonderen Aufsätzen über C. führe ich noch an diejenigen der: Rhein.
Blätter I, II — Schweiz. Lehrerzeitung 13 („C.-Nummei"), 14 — Deutsche Blätter
10, 11 („C. der Apostel des Friedens*) — Päd. Zeitung (16 Urthcilo über den Orbis
pictus, darunter die Empfehlungen einer Magdeburger Schulordnung von 1658 und
einer Braunschweiger von 1738, und lobende Anerkennungen durch Leibniz, Basedow,
Goethe, Herder).
**) Um den Preis von 30 Pf. zu beziehen beim Pestalozzianum in Zürich.
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tyrer seiner eigenartigen Individualität) — „Comenius wird stets ein leuch-
tender Stern unter den Weisen aller Zeiten sein; Pestalozzis Bild wird tiefer
im Herzen aller derer haften, denen nichts Menschliches fremd ist." — C.
Schul- und Kirchenmann, P. Mensch und Bürger, deshalb auch Politiker.*)
— „Comenius legte überzeugend dar, was für die Erziehung gethan werden
musste; P. wirkte die Begeisterung, dass es gethan wurde." — Gemeinsame
Forderungen: Unterricht auf die Anschauung zu gründen — Naturgem&ßheit
an die Spitze aller ErziehungsgrondsUtze zu stellen — allgemeine Volksschule
(aber P. wusste nichts von C, „den theoretischen Hintergrund seiner Be-
strebungen bot ihm Rousseau's Emil"). Beide glaubten an die allein selig-
machende, unbedingte Macht der Methode (Ziel: Unterricht und Erziehung zu
„mechanisiren"). Doch die Volksschule ist für C. Hauptbildungsmittel, für P.
nur „Surrogat", Nothbehelf. C. baute vorzüglich an der Organisation der
Schule; P. legte die „ psychologische Basis aller Schulbildung". C. arbeitete
im Dienste des „ Universums", P. im Dienste des Volkes, des einzelnen und
jedes Menschen, deshalb geht er von diesem selbst, C. von der Bestimmung
des Menschen aus. — Schloss: Pestalozzis innerste Eigenart.
548. Psychologisches aus der Didactica magna (Päd. Ref. 1892,
12). „So ist in den Bewegungen der Seele das Hauptrad der Wille; die
treibenden Gewichte sind die Gefühle, die dem Willen eine Neigung nach der
einen oder anderen Seite hin geben. Das Perpendikel, welches die Bewegungen
öffnet und schließt, ist die Vernunft, welche ausmisst und festsetzt, was, wo,
wie weit festgehalten und geflohen werden soll. Wenn daher den Wünschen
und Gefühlen nicht ein allzu großes Gewicht angehängt ist, und das Perpen-
dikel, die Vernunft, recht sperrt und öffnet, so kann es nicht anders sein, als
dass die Harmonie und die Übereinstimmung der Tugenden folgt." — Einsender
bezeichnet diese Stelle als „von entscheidender Bedeutung für das ganze Er-
ziehungswerk" und findet darin eine Aufforderung des Comenius zu vertiefter
Gemüthsbildung.
549. Des Comenius Bedeutung für den Zeichenunterricht (Die
Kreide**) 1892, ni). Mutterschule: „Es sollen auch die Kinder zum Malen
angeführt werden, dass sie bald im dritten und vierten Jahre mit Kreide oder
Kohle Punkte, Linien, Kreuze, Ringlein malen, wie sie wollen, was man ihnen
allmählich und spielenderweise zeigen kann. Denn also werden die Händlein
fähig, die Kreide zu halten und Züge zu machen, und sie begreifen, was ein
Pnnkt oder Linie sei, was den Präceptoren hernachmals zu hübschem Vortheil
gedeihen wird." — Orbis pictus: Indem man die Kinder zum „Malen" anhält,
werden sie gewöhnt, „einem Ding recht nachzusinnen und scharf darauf
Achtung zu geben, auch abzumerken die Ebenmaße der Dinge in Gegen-
einanderhaltung derselben." — Weiter werden einschlägige Stellen aus der
Didactica magna angeführt, und am Schluss das zusammenfassende Urtheil.
dem wir folgenden Satz entnehmen: „Wir wollen, dass bei jeder Kunst von
allem, was in derselben geleistet werden soll, Ideen oder Vorbilder, voll-
ständige und vollkommene, aufgestellt werden, mit Beifügung von Erinnerungen
*) Ob die Ursache dieses Gegensatzes nur in den Personen, nicht auch (viel-
leicht zumeist) in den Zeiten liegt?
**) Einzelnummer 2ft Pf.
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and Kegeln, welche die Gründe des Geschehenen and des Thons aufdecken,
den Nachahmungsversnch leiten, Verirrnngen verhüten, nnd wo solche vor-
gekommen, bessern."
550. Baumgarten*) gegen Diesterweg (E. v. Sallwürk, Deutsche
Blatter**) 1892, 12). Eine Schutzrede für Diesterwegs Stellung zum Kirchen-
thum — und wenn auch der Meister ihrer nicht bedarf, so vernehmen sie
doch seine Jünger gern. S. thut übrigens mehr: er vertheidigt mit Nach-
druck die Selbstständigkeit und Freiheit der modernen Pädagogik überhaupt
und ihrer Diener. „Die Erziehung ist die grörate Gewalt, die über einen
Menschen ausgeübt werden kann; daher kann sie nur ihren eigenen Gesetzen
folgen und keines fremden Herrn Magd sein, und nur von einem ganzen Mann
ausgeübt werden." „Die Religion ist blos eine Seite unserer Cnltur, und die
religiöse Unterweisung der ganzen und einheitlichen Erziehong unterzuordnen."
Mit dem „Autoritätsglauben" hat die Erziehung nichts zu schaffen. „Ja
der Lehrer selbst darf dem Kinde keine Auctorität sein wollen: erst sein
Charakter, sein höheres Wissen muss dem Zögling den Beweis liefern, dass er
der Leitung des Unterichtenden sich hingeben dürfe, und dieser darf das ihm
entgegenkommende Vertrauen nur dazu benutzen, in dem Kinde die heitere
Ruhe des Gemüthes hervorzurufen, welche den Organen des Geistes Regsam-
keit und Stetigkeit verleiht."
551. Über Elternabende (0. Schulze, Deutsche Blätter 1892, 11).
Verfasser will dieses neu gefundene, in Lehrerkreisen jetzt viel besprochene
Bindemittel zwischen Schule und Haus höheren Zwecken als denjenigen, die
man ihm gewöhnlich bestimmt, dienstbar gemacht wissen. — Den Eltern-
abenden soll (von den Lehrern) nicht blos eine „schulpädagogische", sondern
anch eine sociale Aufgabe gestellt werden; namentlich sollen sie zur Wach-
samkeit über die der Schule entlassene Jugend anregen. Überhaupt sei —
entgegen der herrschenden Meinung — in der Regel die Schule der gebende,
das Haus der empfangende Theil.
552. Kritik und Kritiker (R. Seyfert, Pädag. Führer***) 1892, 1—2).
Ein mit Ernst und Feuer geschriebener Aufsatz, dem man um der redlichen
Absicht willen allzustarkes Pathos und zu große Breite gern nachsieht.
I. Theil: Allgemeines („Nicht umfassende Kenntnisse, nicht durchdringender
Scharfsinn und schlagende Urtheilskraft sind das Erste und Wichtigste, was
wir vom Kritiker verlangen, sondern — Opferwilligkeit, Selbstverleugnung."
Auch „bares, wirkliches Geld" — nämlich Zeit — muss er zu „opfern" bereit
sein.) II. Theil: Ausführlicher Plan für Recensionen „methodisch-praktischer"
Werke „mit fachwissenschaftlichem Inhalt" (hier eine Erleichterung durch den
Verleger zu wünschen: dieser soll jeweilen „einen Fachgelehrten gewinnen,
der mit seinem Namen für die sachliche Richtigkeit des Inhaltes bürgt").
Wenn S. in dem von ihm geleiteten Blatte hält, was er verspricht, so wird
er in der That zur Besserung der Recensionsverhältnisse Wesentliches bei-
tragen.
*) Volksschule und Kirche, auch eine fociale Frage. Ein Beitrag zur Diesterweg-
feier. Leipzig, Grunow 1890.
**) Einzelnummer 20 Pf.
***) Beilage zur Deutschen Schulpraxis. Einzelnummer 20 Pf.
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553. Der Gebrauch der Karte im erdkundlichen Unterricht
(P. Weigeldt, Prakt. Schulmann*) 1892, I.). Kart« im Mittelpunkt; Einföh-
rung ins Kartenverständnis nach und nach, auf jeder Unterrichtsstufe, also
Entlastung der Unterstufe; Sicherung des Verständnisses soviel als möglich in
jeder Stunde. (Der Atlas verdient eine größere Rolle, als sie ihm Verfasser
zuweist; er ist an unterrichtlichem Wert der Wandkarte so ziemlich gleich
zu achten, wenn er gut ist; und gegenwärtig besitzen wir in der That etliche
gute Atlanten, z. B. von Schmidt, Wettstein.)
554. Bemerkungen über den Unterricht in der Physik und
Chemie (R. Schulze, Deutsche Schulpraxis 1892, 7). Lehrgang für den
„Physikunterricht": Schwerkraft (Mechanik fester Körper — „hier braucht
man so wenig als möglich vorauszusetzen; dabei sind sämmtliche anzustellende
Versuche derart, dass sie nie misslingen") — Molecularkräfte, Mechanik der
flüssigen und luftförmigen Körper, Optik (oder letztere „nach der Mechanik
der flüssigen Körper, der günstigeren Beleuchtung wegen; jedenfalls die Lehre
vom Licht in der Zeit vom Juni bis August oder Anfang September") — im
Winterhalbjahr: Schall, Wärme, Magnetismus, Elektricität.
555. Beiträge zum deutschen Unterricht (K. Strobel, Deutsche
Schulzeitung 1891, 45. 46). 1. Grundgesetz: Vergleichung zwischen Schrift-
deutsch und Mundart. Bedeutung der Mundart für den Unterricht (das erste
Wort darüber von Rud. v. Raumer; dessen Gedanken 1858 auszuführen ver-
sucht von Burgwardt). — 2. Syntax, Lehre vom Gebrauch der Wortclassen und
Wortformen in der Rede (Rectionsübungen an Redensarten). — 3. In den
letzten Schuljahren „Übungen, die einmal zusammenfassen, was der gesanimte
Unterricht an sprachlichen Belehrungen täglich ergeben hat, etwa eine Stunde
im Monat w (namentlich Hervorholen der Redensarten, welche in den Stunden
vorgekommen und die Kinder aufgeschrieben). — 4. Der deutsche Unterricht
im Seminar: „Das Seminar sollte der Mittelpunkt sein, wo sich alles Volks-
und Alterthümliche der ganzen Landschaft sammelt und wo es verarbeitet wird."
— Zum Schlüsse meint Verfasser: „Wenn erst auf dem Gebiete der deutschen
Grammatik ein Besinnen einträte, das ihre fehlerhafte Behandlung klarlegte,
so würde diese Einsicht alle anderen (dringlichen) Verbesserungen und Erneue-
rungen ohne weiteres nach sich ziehen. u (Natürlich kommt in dieser Arbeit
auch Hildebrand gebürend zu Worte.)
556. Zum deutschen Aufsatz in den unteren und mittleren
C lassen (K. Koch, Zeitschr. f. d. deutschen Unterr. 1891, VIII). Vom „Auf-
satzelend'' und wie es zu heilen — vornehmlich in den unteren Classen der
höheren, also in den obersten Classen der Volksschule. „Wir betrachten von
Anfang an den Aufsatz zu sehr als etwas Abgesondertes, für sich Bestehendes,
als eine Aufgabe, die mit den übrigen Leistungen der Schule wenig zu schaffen
hat. Darum steht ihm auch der kleine Schüler mit einem ganz eigenartigen
Gefühle gegenüber." Die Sprache, die da auf dem Papier stehen soll, erscheint
ihm von vornherein als etwas ganz anderes." „Die gesprochene und die ge-
schriebene Sprache bleiben für seine Empfindung zwei völlig verschiedene Dinge.
Das muss doch wol Schuld der Schule sein. Ihre Pflicht wäre es aber, ihre
Zöglinge so zeitig als möglich die Wahrheit in dieser Sache — nicht zu lehren,
♦) Einzelheft 1.60 Mk.
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sondern erfahren zu lassen: dass das geschriebene Wort nur ein Bild des
lebendigen, gesprochenen ist nnd dämm von Rechts wegen ihm Zug um Zag
gleichen sollte; dass wir nur die Nachlässigkeiten der mündlichen Rede nicht
auf die geschriebene übertragen dürfen, schon deshalb nicht, weil das ge-
schriebene Wort von uns getrennt und von anderen gelesen wird, ohne dass
wir fortwährend ergänzend und berichtigend dabei stehen können." Die Schule
soll lehren: „Was man gehört, erfahren, gelernt hat, kann man mündlich und
schriftlich wiederholen. Beides ist im Grunde so ziemlich dasselbe. u
557. Ein Wort über Aufsätze (F. Meli, Schweiz. Lehrerztg. 1891, 43).
Der Vorschlag des Verf., die Aufsatzübungen einzuschränken und dafür „stille
Beschäftigung mit geeignetem Lesestoff" (natürlich auch selbstständige Ver-
arbeitung und freie Wiedergabe) einzuführen, ist beachtenswert. Das gering-
schätzige Urtheil über die Aufsatzübung trifft aber keineswegs diese an sich,
sondern den verkehrten, ungeschickten, mit seiner Muttersprache nicht ver-
trauten Lehrer-Mechaniker. (Der „Aufsatz" als Niederschrift ist und bleibt
neben der Redeübung ein notwendiges Hauptmittel sprachlicher Bildung und
der Selbstzucht.) — Die gewünschten „Lesestoffe4 aufzutreiben hält sehr schwer;
denn sie sind sehr selten. Die Dichtungen von J. Spyri wären wol in erster
Linie auszunützen; alsdann wären Stücke — nur Stücke (die allerdings für
sich ein kleines Ganze bilden müssen) — aus Lienhard und Gertrud, aus Reu-
ter's und Rosegger's Schriften auszuwählen und meist ein wenig umzuarbeiten:
dazu gehören aber wieder — abgesehen von gründlicher Kenntnis der Kindes-
seele — tiefe sprachliche Einsicht, und ein feines Gefühl. („ Volksschriften",
auch gute und mustergültige, eignen sich für Schulkinder selbstverständlich nicht.)
Herr Prorector Dr. Jaling in Schönberg-Mecklenburg hat ein „Taschen-
bach der höheren Schulen Deutschlands" (Auslieferung bei Ed. Kummer
in Leipzig, Preis Mk. 1. 50) veröffentlicht. Der I. Theil urafasst das Königreich
Preußen, der II. die übrigen deutschen Staaten. Da ein solches „Nachschlage-
buch für akademisch gebildete Lehrer" längst erwünscht war, so verdient das
Unternehmen allseitige Unterstützung von Seiten der Interessenten, damit die
dem ersten Versuche noch anhaftenden Mängel in den folgenden Jahrgängen
ausgeglichen werden.
Der wunderbare Aufschwung Berlins von einem Städtchen, das
zur Zeit des Großen Kurfürsten 6000 Einwohner zählte, zu dem Riesengemein-
wesen von heute zeigt sich an seiner jetzigen Einwohnerzahl von 1 6243 13 Köpfen.
Dass Brockhau8' Conversations-Lexikon, dessen soeben erschienenem
zweiten Bande wir dies entnehmen, schon heute die Bevölkerungsziffer vom
1. Januar 1892 mittheilt, ist ein Beweis, dass darin stets die neuesten Daten
gegeben werden. Die Redaction muss vorzügliche Beziehungen zu den Behörden
haben, um statistische Zahlen aus dem eben erst vergangenen Jahre 1891 zu
benutzen, wie die Steuererträge von Berlin (ca. 130 Millionen Mark gegen ca.
90 Millionen Mark, welche das ganze Königreich Belgien nur aufbringen kann),
oder die Bierproduction und -Consumtion u. dergl. m. München allein hat nach
dem Brockhaus im Jahre 1890 178 360000 Liter Bier getrunken, oder den
Inhalt eines etwa 300 Meter im Durchmesser großen, 10 Meter tiefen Bier-
sees! Wir sind erstaunt, Thatsachen bereits berücksichtigt zu finden, die erst
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den letzten Wochen angehören, z. B. das Gesetz über den Belagerungszustand
in Elsass-Lothringen, oder gar Begriffe, die erst im Entstehen sind, wie „Berufs-
vereine". Was sind Berufsvereine? Selbst mancher Jurist kann das nicht
sagen. Sie sind der Gegenstand einer Gesetzvorlage von großer socialpolitischer
Wichtigkeit, welche den Reichstag erst in der nächsten Session beschäftigen
wird. In der guten alten Zeit pflegten die Conversations-Lexica dem Fachmann
und selbst dem Laien oft nicht viel Neues zu bieten. Das ist nun freilich beim
„neuesten Brockbaus u anders. Auf allen Gebieten enthalten die Stich worte
dieses Bandes, die woi über 6000 betragen, erschöpfende Darstellungen des
Wissenswerten ; man vergleiche die Artikel Berlin, Banken, Besitz, Bakterien,
Bahnhöfe, Bautaxe, Baumwolle, Bier, wie wir sie gerade herausgreifen. Die
Biographien sind augenscheinlich von den Lebenden selbst durchgesehen. Nacli
dem Artikel Beust sind wir gespannt auf den Artikel Bismarck, der leider
noch nicht in diesem Bande enthalten ist.
Mit besonderer Genugthuung heben wir hervor, dass auch der zweite
Band des Brockhaus Österreich-Ungarn volle Berücksichtigung zutheil
werden lässt. Dies beweisen nicht nur Artikel wie Baden, Bilin, Auersperg,
Batthyanyi, Benedek, Biancbi, auch in den Artikeln allgemeineren Interesses
tritt es zu Tage. So ist bei den juristischen fast immer die österreichische Ge-
setzgebung mit angeführt, und bei anderen Artikeln, wie Bäder, Bahnhöfe u. s. w.,
ist in Wort und Bild Heimisches als Muster mit herangezogen.
Was die unübertroffene Eleganz der äußeren Ausstattung des Werkes be-
trifft, so haben wir unserm Urtheil über den ersten Band nichts hinzuzufügen.
Überraschend ist wieder die Fülle correcter Karten, Pläne und interessanter Ab-
bildungen auf 58 Tafeln, zu denen noch 222 Textbilder kommen. Die bunten
Tafeln sind ein hervorragender Schmuck.
Alles in allem genommen: das Werk ist ein unentbehrlicher Hausschatz
für jeden, der auf Bildung Anspruch macht.
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Recensionen.
Anleitung zu botanischen Beobachtungen und pflanzenphysiolo-
gischen Experimenten. Ein Hilfsbuch für den Lehrer beim botanischen
Schulunterricht. Unter Zugrundelegung von Detmer's „ pflanzenphysiolo-
gischem Prakticum" bearbeitet von Franz Schleichert, Lehrer in Jena.
Mit 52 Abbildungen im Text. Langensalza 1891, Druck und Verlag von
Bennau n Beyer & Söhne. VIII und 152 Seiten. Preis 2 M.
Heutzutage wird in der Botanik, wie auch in der Zoologie, mit Recht
ein besonderes Gewicht auf die Lebenserscheinungen der Lebewesen gelegt.
Soll nun in der Schule dies von Nutzen sein, so muss wenigstens hie und da
der Erklärung mit dem Experimente nachgeholfen werden. Freilich lassen
sich viele derselben nicht vor den Augen der Schüler durchführen, da sie Tage
und längere Zeiträume in Anspruch nehmen, sollen sie ein sichtbares Resultat
liefern. Die Durchführung kann oft mit den einfachsten Mitteln gemacht
werden, aber dazu bedarf es einer Anleitung, und eine solche gibt in gediegener
Weise das uns vorliegende Buch. Es sind in demselben Versuche über die
Ernährung der Pflanzen vorgeführt, welche aus den verschiedensten Gruppen
des Pflanzenreiches Ernährungserscheinungen beleuchten, so z. B. Wassercultur,
Assimilation, indectenrressende Pflanzen, Transspiration, Athmung der Pflanzen,
Nebenproducte des Stoffwechsels u. s. w. Der zweite Abschnitt handelt vom
Wachsthum und den Reizbewegungen der Pflanzen und sind in demselben
höchst interessante Versuche über Geo- und Heliotropismus der Pflanzen, das
Winden nnd andere Bewegungen enthalten. Das dritte Capitel bespricht die
vegetative Vermehrung und geschlechtliche Fortpflanzung der Gewächse und
führt auch hier eine große Zahl höchst belehrender Experimente und Beob-
achtungen vor. Der Vortheil des Buches liegt darin, dass es geradezu nur das
für die Schule Wichtige bespricht, denn Neues will der Verfasser nicht bieten,
sondern nur das Brauchbare zusammenstellen, und das ist ihm vollständig
gelungen. Kein Lehrer wird das Buch ohne Nutzen aus der Hand legen,
zumal die Versuche so klar erläutert sind und mit so einfachen Mitteln
gemacht werden können, dass alle als leicht durchführbar bezeichnet werden
können. Die beigegebenen Hlustrationen, zumeist anderen gediegenen WeTkeu
entnommen, erleichtern das Verständnis ungemein. Wir empfehlen das Werk,
das auch vorzüglich ausgestattet ist, auf das angelegentlichste. C. R. R.
Lehrbuch der Mineralogie und Chemie in zwei Theilen, für höhere Lehr-
anstalten und zum Selbststudium von Professor Dr. L. Weiß, Real-Gyra-
nasiallehrer. Erster Theil: Allgemeine Chemie und Mineralogie.
VII und 298 Seiten. Preis 2 M. 80 Pf. Zweiter Theil: Elemente und
Verbindungen. VIII und 240 Seiten. Preis 2 M. 60 Pf. Bremen 1891,
Verlag von M. Heinsius Nachfolger.
Die Vereinigung von Mineralogie und Chemie beginnt immer allgemeiner
zu werden, und es sind auch in der That viele Berührungspunkte vorhanden,
welche diesen Vorgang rechtfertigen. In diesem Lehrbuch ist auch auf ganz
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bedeutende Abschnitte der Physik Rücksicht genommen, wie es fttr ein ein-
gehendes Studium der Mineralogie nothwendig ist. Aus der Inhaltsangabe
wird dies klar werden. Den allgemeinen Erklärungen folgen Capitel über die
Massenanziehung, die Cohäsionsformen, die physikalischen Erscheinungen des
Lichtes und der Wärme, die Änderungen der Cohäsion, das chemische Ver-
halten der Wärme und des Lichtes, und die Elcktricität; sodann folgt die
chemische Anziehung (Affinität), besondere Ursachen chemischer Vorgänge,
Stoffänderung dureb Tbeilung, Mischungen und Verbindungen und die anderen
chemischen Verhältnisse. Hierauf folgen Belehrungen über das Vorkommen
und die Bildung der Mineralien und die Eintheilung derselben. Der Schlnas
des ersten Buches ist wieder rein chemischer Natur, er enthält die Gassen
und Gruppen der Elemente. Im zweiten Buche des ersten Theiles werden die
Mineralien nach einer chemischen Eintheilung behandelt, hierauf die (Testeine
und die Gebirgsformationen. Der zweite Theil ist rein chemischer Natur, indem
in demselben die Elemente und Verbindungen in systematischer Reihentolge
beschrieben werden. Aus dieser Skizzirung ergibt sich, wie reich der Inhalt
des Buches ist. Sehen wir die einzelnen Abschnitte durch, so finden wir auch
hier eine Reichhaltigkeit des Stoffes, wie man sie bei dem bescheidenen Um-
fange des Buches kaum vermuthen kann. Als einen besonderen Vorzug des
Werkes möchten wir anfuhren, dass den einzelnen Stoffen historische Ab-
schnitte vorangestellt sind, und dass ferner die praktische Seite der Verwen-
dung überall in ausreichender Weise durchgeführt ist Der Methode nach ist
da» Buch nicht induetiv, sondern es geht vom Allgemeinen aus, was bei einer
mineralogischen Chemie (man verzeihe den Ausdruck) passend erscheinen mag.
Den Experimenten ist überall Rechnung getragen, jedoch fehlen alle Abbil-
dungen von Apparaten, was der Verfasser damit rechtfertigt, dass er ein Bach
für Lernende und nicht ein Eiperimentirbuch für Lehrer schreiben wollte.
Die Darstellung ist überall in größter Klarheit durchgeführt, ja manche Partien
bilden geradezu einen mastergilt igen Lesestoff. Durch Verschiedenheit in der
Größe der Schrift wird deutlich das Wesentliche von dem Nebensächlichen
getrennt. Wir empfehlen das ausgezeichnete Werk, das auch mustergiltig
ausgestattet ist, der allgemeinen Beachtung und eifriger Benutzung.
C. R. R.
Homers Odyssee für Schule und Haus. Herausgegeben von Wiedasch.
2. Aufl. Stattgart, Metzler. Preis 1 M. 40 Pf.
Dass die Odyssee, fast möchte einer sagen, wie die Bibel zu den Büchern
gehört, die der Jugend nicht vorenthalten werden sollen und zu denen auch
der Mann immer wieder zurückkehren kann, ist so unbestritten, wie freilich
auch das, dass beide Bücher der Jugend nicht in unverkürzter Gestalt geboten
werden dürfen. Die Odyssee enthält manche Stelle, die anstößig, verfänglich
zum minderten genannt werden muss. Wiedasch hat sie in seiner FamÜien-
Ausgabc ausgeschieden, aber auch sonst den alten Homer gekürzt, theils dort,
wo die Homer-Forschung Einschiebsel entdeckt hat, theils dort, wo nach
unserem oder seinem Geschinacke die Reden zu lang angesponnen sind oder
eine Nebenhandlung den Fortgang der Haupthandlung zu lange aufhält. Da
hat der Herausgeber das Wort ergriffen und in Kürze die Episode erzählt.
— r.
Ernst Keller, Lehrbuch für den erzählenden Geschichtsunterricht
an Mittelschulen. Freiburg i. B. 1891, Wagner. Preis 2 M. 80 Pf-
Der Referent freut sich, ein Lehrbuch anzeigen zu können, das ähnlich
wie das öchsü'sche aus dem Vollen heraus geschrieben ist und dem man es
ansieht, dass an ihm ein tüchtiger Fachmann mit Lust und Liebe gearbeitet
hat. Nur wer die Geschichte ganz beherrscht, weiß so die Worte zu wählen
und so den Stoff zu gruppiren. Da ist nichts von dem mechanischen Anein-
anderreihen der Regentenreihen und dürr und trocken erzählter Thatsachen zu
sehen, das so viele Leitfäden ungenießbar macht, dass sie einem vorkommen
wio das Inhaltsverzeichnis einer umfangreichen Weltgeschichte. Abge-
rundete Bilder und plastisch gehaltene Porträts der leitenden Persönlichkeiten,
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ein kräftiges Xationalbewusstsein und eine tolerante Gesinnung in kirchlichen
Fragen, das Bestreben, die Geschichte zu einem „BUrgerbuch" zu machen, also
neben der Regenten- und Kriegsgeschichte auch die Culturgeschichte , die Ge-
schichte des Bürger- und Bauernstandes zu Worte kommen zu lassen — all
das zeichnet den Keller'schen Leitfaden aus. Dabei wählt er sorgsam die
Zahlen und scheidet Unwesentliches aus (nur sollte er Sagenhaftes öfter noch
als solches bezeichnen oder streichen); er rückt das leitende Motiv und die
führende Persönlichkeit, oft Bchon in dem Titel, in den Vordergrund und bringt
gar manches Detail, das jenes Motiv und die Gestalt recht scharf heraustreten
Völklein als Benützer des Leitfadens kann daran seine Lust haben. Wir
wünschten, der Verfasser schriebe nun in demselben Geiste auch ein Handbuch
der Geschichte. Er hat das Zeug dazu, und das Buch wäre ein Bedürfnis.
Ohler, Bilderatlas zu Cäsars Büchern de bello gallico. Leipzig,
Schmidt & Günther.
In jüngster Zeit hat man auch dadurch den Unterricht in den classischen
Sprachen zu beleben gesucht, dass uian die Ausgaben der Schriftsteller illustrirte,
natürlich nicht durch Phantasiebilder, sondern nach archäologischer Seite hin
durch Vorführung von Costümbildern, Abbildungen von Gerätschaften, Reliefs
und Büsten, wie solche sich in unseren Museen finden, von Baulichkeiten,
Plänen u. dgl. Diesem Reformgedanken dient auch das im Titel genannte
Werk, das über 100 Illustrationen auf 29 Tafeln bringt ? die auf 78 Seiten
(gr. 8°) knapp und unter Hinweis auf die betreffende Stelle in Cäsars gallischem
Krieg beschrieben werden. Ein stets der Zeichnung beigesetzter Buchstabe
gibt dem Leser Kunde, woher sie entnommen. Zumeist sind es Bilder aus
Duruy's römischer Geschichte. — r.
Vota, Unsere Colonien, Land nnd Leute. Leipzig 1891, Brockhaus.
Bei dem regen Interesse, das wir unseren Colonien entgegenbringen und
den verschiedenartigsten Urtheilen, die über ihren Wert gehört werden,
wird es nicht wundernehmen, dass bereits eine stattliche Reihe Schriften er-
schienen ist, die alle sich die Aufgabe setzen, Land und Leute zu schildern.
Sie thun es zum Theil auf Grund eigener Anschauung, zum größeren Theil
aber auf Grund der freilich sich oft widersprechenden, hoffhungsfreudigen oder
entmnthigenden Berichte, die Missionäre, Reichscommissäre, gelehrte Forscher
und Schiffscapitäne von ihrem Standpunkte aus veröffentlicht haben. Auf solch
Material baut sich auch das oben genannte Buch auf. Es hat das Quellen-
material gründlich durchgearbeitet und gesichtet und in dankenswerter Weise
dem größeren Lesepublicum, zuvörderst unserer Jugend, bequem zugänglich
gemacht. Dass es dieser letzteren zusagen wird, ist keine Frage, da alles,
was ihr an Schilderungen fremder Völker und fremder Länder zu gefallen
pflegt, ja sie fesselt, hier zu finden ist. Urwaldbilder, Savannenscenerien,
Schilderungen des Vcrkchrslebens, Typeu aus dem Treiben, Glauben und Ge-
bräuchen des Negers, Papuas etc. in friedlicher oder kriegerischer Zeit, aus
dem Leben des Deutschen in der Handelsfactorei , in der Plantage oder Mis-
sionsanstalt, und ebensolch prächtige Schilderungen der eigenartigen Fauna
der verschiedenen Colonialgebiete machen die Leetüre anziehend und lehrreich
zugleich. 71 Abbildungen und 2 Karten illustriren das Geschilderte und orien-
tiren den Leser über die Lage der im Buch beschriebenen Ortschaften und
Reisewege und die Sitze der zahlreichen Volksstämine. Als Jugendschrift kann
darum das Volz'sche Buch bestens empfohlen werden. Es eignet sich für das
Frenxel-Wende, Deutschlands Colonien. Hannover, Meyer. Preis 2 M.
Ähnlich wie das Volz'sche Buch wendet sich das Büchlein von Frenzel-
Wcnde an die Jugend. Ist es auch an malerischen Naturschilderungen, die
das erstgenannte auszeichnen, nicht reich, so ist es doch auschaulich und vor
allem übersichtlich und nicht gar zu optimistisch gehalten. Es hat mehr die
W.
reifere Jugendalter.
— r.
50 Pf.
P.xdfigogium. 14. Jahrg. Heft IX.
42
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Form eines Lehrbuches und beschreibt demgemäß nach einer streng eingehaltenen
Disposition in einer Reihe von Paragraphen 1. das Land nach Lage, Aus-
dehnung, Bodenform, Bewässerung, Klima, Pflanzen- und Thierwelt, 2. die
Bewohner nach der Rasse und Zahl, ihre Wohnung, Kleidung, Nahrung, Er-
werbsquellen, Sitten, Sprache und Religion, endlich 3. die Art der Erwerbung
und Verwaltung durch das Reich. Dadurch erleichtert es die Einprägung des
Stoffes und die Auffindung und ermöglicht es außerdem, den Inhalt von ge-
wissen Gesichtspunkten aus bequem zu betrachten. Seiner Stilisirung und
seinem Inhalte nach mehr eine Jugendschrift für die mittlere Altersstufe, ist
es wie Volz mit zahlreichen (44) Abbildungen und einer Karte geschmückt.
— r.
Seeger, Deutsche Schnlgrammatik für die Classen Sexta bis Tertia.
Wismar 1891, Hinstorff.
Die genannte Grammatik ist für die Classen Sexta bis Tertia bestimmt
und stellt den Inhalt (im Anschluss an die Satzlehre die Formenlehre) in
systematischer Anordnung dar, so dass der Lehrer den Unterrichtsstoff für die
einzelnen Classen selbst wird auswählen müssen. Und das ist kein Mangel
des Buches, da das Pensum jeder Ciasse durch die Lehrplänc zur Genüge fest-
gestellt ist. Für manche Schulen wird aber das schwerer ins Gewicht fallen,
dass die Seeger'sche Grammatik nur wenig Musterbeispiele und gar keine
Übungsaufgaben bietet, also ein eigenes Übungsbuch erfordert, das natürlich
mit dem Gange dieser Grammatik nicht übereinstimmen kann. Die Hercin-
ziehung einer Anzahl neuer Termini halten wir für nicht unbedingt nöthig.
Wenn auch die Stilisirung im allgemeinen zweckentsprechend ist, so ist doch
noch mancher Ausdruck zu bemängeln (z. B. die Präposition regiert den
Dativ und Accusativ; oder die Fassung der Regel, z. B. „In gewissen Fullen
ist es möglich, sich auf zwei verschiedene Standpunkte zu stellen." Der
Schüler wird aus dieser Fassung nicht entnehmen, wann er sagen rouss: Karl
starb im Jahre 814 oder Karl ist im Jahre 814 gestorben. Ebensowenig
wird er sich über die Anwendung des Präsens historicum auf Grund des
S. 25 Gesagten klar werden). — Lob verdient die Seeger'sche Grammatik wegen
ihrer Hinweise auf Dialect- und ältere Sprachformen, die sie im I. Theil
gelegentlich, im II. Theil, der für die Tertia bestimmt ist, systematisch heran-
zieht. Die Lautlehre auf physiologischer Grundlage, insbesondere die Behand-
lung des Lautwandels (mit Ausnahme der „Brechung", die nach der älteren
Grimmschen Auffassung gegeben wird) ist so, dass sie die Schüler spielend in
ein interessantes Capitel der deutschen Sprachgeschichte einführt. W.
M. Jahn, Methodik der epischen and dramatischen Leetüre. Leipzig
1891, Dürr. Preis 2 M. 25 Pf.
Jahn erörtert sein Thema mit der Voraussetzung, diss dem Lehrer des
Deutschen vier Stunden wöchentlich zur Verfügung stehen. Das ist nun in
den Schulen der meisten Staaten nicht der Fall; in den österreichischen Mittel-
schulen z. B. muss sich der Unterricht im Deutschen mit drei Stunden der
Woche begnügen und diese drei Stunden kann er selbstverständlich nicht aus-
schließlich der epischen und dramatischen Leetüre widmen. Manche der Forde-
rungen Jahns mögen also schon aus diesem rein äußerlichen Grunde fallen; andere,
darunter das Lesen mit vertheilten Rollen, aber auch aus inneren Gründen.
Wir wundern uns, dass ein erfahrener Lehrer — und das ist nach der ganzen
Art des Buches der Verfasser — nach Klaucke's verständigen Bemerkungen
noch diese Forderung festhalten kann. Das mochte für ältere Herren recht
bequem gewesen sein, besonders an heißen Nachmittagen, Sccne für Scene
herunterlesen zu lassen, aber Nutzen hat es den Schülern nicht gebracht. Wir
würden gar nicht solange bei diesem Capitel der Schulpraxis einer „guten
alten" Zeit verweilen, wenn wir nicht fürchteten, ein jüngerer Lehrer könnte,
bestochen durch das viele Gute, das Jahns Methodik bietet, auch das als Aus-
fluss erprobter Pädagogik ansehen und nachahmen. — Was an Jahns Darstellung
besonders gefällt, ist die Verwertung der Literatur mit kritischem Sinne, das
Heranziehen concreter Fälle zur Beleuchtung und zum Beweise des Gesagten
und die philosophische Betrachtungsweise. Der jüngere Lehrer findet außerdem
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im Anhang beinahe die ganze Literatur über da« behandelte Thema zusammen-
gestellt, also da« in bequemer Form mitgetheilt, was man sich früher lange
Jahre hindurch mühevoll sammeln musste. W.
Thoma, Das Drama. Gotha 1891, Thienemann.
Dieses kleino Heft verspricht, was der weitere Titel sagt: es ist eine
gemeinverständliche Darstellung des Wesens und Baues des Dramas. Es
bringt das für die Schule Nothwendigo in einer leicht fasslichen Form, erläutert
durch Beispiele aus unseren classischen Dramen und schöpft aus guten Quellen,
unter denen natürlich Freytag» „Technik des Dramas" obenan steht. Vielleicht
hätte es sich empfohlen, eine schematische Darsteiung des Aufbaues eines
bestimmten Dramas, wie sie Uubeschcid bis ins Detail ausgeführt, einzu-
reihen. Das wäre von größerem praktischen Nutzen als die doch sehr dürftige
und wenig erklärende Skizze auf S. 20. W.
Lehmann, Das Kartenzeichnen im geographischen Unterricht. Halle
a. d. Saale 1891, Tausch & Grosse. 2.40 M.
Im Mittelpunkte der Discussion üler den geographischen Unterricht steht
gegenwärtig das Kartenzeichnen. Viel weniger Freunde ab Feinde und Wider-
sacher sind ihm in der Lehrerwelt erstanden; die Freunde selbst sind über die
geeignetste Mothode iu Zwietracht und uncins geworden. Bei dieser Sachlage
thut vor allem Klärung über die Zwecke des Kartenzeichnens noth und dann
eine objective Abschätung des bisher Geleisteten. Beides versucht Lehmann,
Professor der Erdkunde an der Akademie zu Münster, in dem obengenannten
Buche, einem etwas veränderten Abdrucke der betreffenden Partie seiner „Vor-
lesungen Uber Hilfsmittel und Methode des geographischen Unterrichtes1'. Dort,
wo er die Bedeutung des Kartenzeichnens erläutert, kämpft er besonders
gegen die bekannte Schrift Böttcher's, der dem Kartenzeichnen in der Schule wenig
Wert beimisst und für das beschreibende Verfahren eine Lanze bricht. Der
Haupttheil seiner Arbeit ist aber der Methodik des Kartenzeichnens ge-
widmet. Er bespricht zuerst das Situation»- und dann das Terrainzeichnen,
führt die einzelnen Methoden des ersteren vor (die Einzeichnung iu gegebene
Grundlagen, die Skizzen mit Zugrundelegung des Quadrat- oder des Grad-
netzes oder eines Gerüstes bloßer Hilfslinien), erläutert sie, zumeist mit den
Worten ihrer Verfasser, an einem concreteu Beispiele und — das Wertvollsto
und Lehrreichste — schätzt sie auch nach ihren Vorzügen und Fehlern ab.
Denn das ist das Eigenthümliche, dass jede der bisher aufgestellten Methoden
für gewisse Zwecke de« geographischen Unterrichtes eine besondere Bedeutung
gewinnen kann und darum nicht kurzerhand verworfen werden darf, wenn
sie auch als Univcrsalmethode sich nicht bewährt. — In ähnlicher Weise be-
handelt Lehmann auch die Methoden des Terrainzeichnens. Als die geeignetste
für beide Arten des Zeichnens erklärt er mit wolerwogenen Gründen — unter
denen nicht der letzte die Rücksicht auf den gewöhnlich zeichnerisch nicht
besonders veranlagten und geschulten Lehrer der Geschichte und der Sprachen
ist, in dessen Hand ja bekanntlich gegenwärtig der geographische Unterricht
an den höheren Schulen liegt — die KirchhofPsche (Zugrundelegung eines
geradlinigen Gradnetzes), beziehungsweise die in Dcbes' Zeichenatlas ver-
wendete. So eifrig tritt er für dieselbe ein, dass sich sein Buch wie eine
Apologie dieser Methode liest; immer und immer kehrt er zu ihr bei der Er-
örterung der anderen Methoden zurück. Trotzdem ist er aber gegen die
letzteren nicht ungerecht, nur will er sie auf ganz bestimmte Zwecke be-
schränkt wissen, über die er in einem Rückblick, S. 122 ff., sich kurzgefasst aus-
spricht. Auf zwei Umstünde wollen wir doch hinweisen, die vielleicht das
Buch hätte auch in Erwägung ziehen können. Der eine ist die Auswahl der
Kartenskizzen, beziehungsweise ihr Inhalt. Da scheint uns Kaufmann-Mayers
Verdienst nicht gebürend hervorgehoben. Der andere ist die Art, wie Matzat
in seiner Erdkunde (1. Aufl.) die Küsten-, Fluss- und Gebirgslinien zum Zwecke
des Extemporales iu Theile zerlegt. Der Referent kann aus einer langjährigen
Erfahrung bestätigen, dass diese Zerlegung den Schülern die Arbeit bedeutend
erleichtert, die Schüler selbst diese Zerlegung in den seltensten Fällen geschickt
treffen und Matzat's Art nicht allen Lehrern bekannt ist. (S. 91 ist — nebenbei
42*
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bemerkt — eine störende Anordnung des Druckes.) Was man Lehmann's Buch
aber unbedingt nachrühmen mnss, ist die Gründlichkeit und der Ernst, mit
dem die Frage behandelt wird. Es ist eine erschöpfende Darstellung des
auf dem bezeichneten Gebiet« Geleisteten; zugleich eine kritische Überschau
und — nicht als das letzte möchten wir das hervorheben, eine Leistung, die
das in der Praxis Erreichbare nie aus den Augen verliert und darum an
praktischen Winken es nirgends fehlen lässt. W.
K. Jarz, Kartenzeichnen und Kartenskizzen im ersten geographi-
schen Unterricht. Znaim, Fournier und Haberler. 40 Pf.
Dieses Heftchen ist ein etwas umgearbeiteter Aufsatz, den der Verfasser in
der Zeitschrift für Schulgeographie (1882) veröffentlicht hat. Seine Methode des
Kartenzeichnens (Orientirungskrcuz, gegeben durch den Meridian und
Parallel, welcher das zu skizzirende Gebiet in seiner größten Breiten-, be-
ziehungsweise Längenausdehnung durchschneidet, Fixirnng bestimmter Merk-
punkte innerhalb der Vierecke; als Maßeinheit dient dos Stück des Meridians,
welches vom Durchkreuzungspunkte mit dem Parallel bis zum Nord- oder Süd-
rande des zu zeichnenden Gebietes reicht) erläuterte er dort an einer Skizze
von Afrika, hier an der Mährens. Lehmann hat in seinem Buche „Das Karten-
zeichnen" die Mängel, die auch dieser Methode ankleben, des ausführlichen
besprochen; der wesentlichste scheint uns der, dass die Zeichnung sich in vier
Felder theilt, die jedesmal auf zwei aneinander anstoßenden Seiten offen sind,
so dass für viele Fixpunkte die Lage nur sehr allgemein bestimmt werden
kann und die geschaffene Zcichenhilfo besonders bei schwierigereu Objecten
darum nur eine geringe sein wird. Unseren ganzen Beifall dagegen hat die
Einleitung und der zweite Theil des Heftchens, der die Kartenskizzen im
Schulbuche bespricht. Da ist wirklich keine Seite, die nicht den erfahrenen
Schulmann verriethe. W.
Josef Schräm, Professor, und Rudolf Schussler, Doctor, Vorschule der
Mathematik für österr. Untergymnasien. Mit 384 Fig. (in besonderem
Hefte). 219 Seiten. 2.48 M.
Hierzu Übungsstoff in 4 Heften für die 1.— 4. Cause. Zusammen 240
Seiten. Jedes Heft 80 bis 90 Pf. Wien, Alfred Holder.
In der Instruction für den mathematischen Unterricht an den Gymnasien in
Osterreich wird die Forderung ausgesprochen, „dass das Lehrbuch dem Schüler
den ganzen Lehrstoff wolgeglicdcrt und geordnet mit seinen Erklärungen und Lehr-
sätzen vorführe". Mit anderen Worten, es soll der Lehrstoff nicht jahrgangsweise
in Heften getrennt, sondern in einem Lehrbuch für das ganze Untergymnasium
vereint sich in den Händen des Schülers befinden. Dieser Weisung wurden
die Verfasser mit der vorliegenden Arbeit gerecht, und dieselbe hat die Zu-
lassung für den Unterrichtsgebrauch von Seite des Ministeriums erhalten.
Der Inhalt ist in vier Theile gegliedert mit den Überschriften: Besondere
Arithmetik, allgemeine Arithmetik, Planimetrie und Stereometrie. Der erste
Theil umfasst das Rechnen mit ganzen Zahlen, gemeinen und Dezimalbrüchen,
dann das Rechnen mit mehrfach benannten Zahlen, die Proportionen, die ein-
fache Schlussrechnung und die einfachen Rechnungen des Verkehrs. Über
dieses Gebiet liegen so ausgezeichnete Bearbeitungen des Lehrstoffes vor, dass
es kaum möglich ist, Neues und Besseres zu schaffen; und die Verfasser haben
ganz wol gethan, sich im allgemeinen an die vorhandenen ausgezeichneten
Muster zu halten; dennoch ist es ihnen gelungen, an verschiedenen Stellen
Verbesserungen anzubringen. So finden wir eine besondere Darstellung zur
Erklärung der entscheidenden Folge, welche der Gebrauch der Ziffer „Null"
für das Zahlenschreiben hatte. Auch für die Begründung der Theilbarkeits-
Regeln finden wir eine eigenartige Ableitung, welche das bisher Bekannte
womöglich noch an anschaulicher Deutlichkeit übertrifft.
Weniger zusagend als die „besondere" war uns die „allgemeine Arithmetik" ;
besonders bezüglich der für den Schüler so schwierigen Einführung in die
Buchstabenrechnung scheint eine Anzahl von Sätzen, wenn nicht erschwerend,
so zum mindesten unnöthig. Die Vereinigungssätze der Operationen erster
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8tufe und der allgemeinen Vertauschungs.siitze (140 und 142) wären leicht in
einfacherer Form zu geben. Bei den Operationen zweiter Stufe findet sich die
Weisung, die Null mit besonderer Vorsicht zu behandeln; besser am Platze
schiene uns die Erklärung, dass die Null als Verneinung der Zahl, überhaupt
keine Zahl ist, daher mit derselben auch nicht wie mit Zahlen gerechnet
werden kann. Weiter lesen wir: „Die Erklärungen deT besonderen Arithmetik
für größtes Maß und kleinstes Vielfaches sind für allgemeine Zahlen ungeeignet.*'
Diese Behauptung ist völlig unrichtig, die Erklärungen, welche diesbezüglich
für die allgemeinen Zahlen (im Punkte 166) gegeben werden, haben für die
besonderen Zahlen ihre volle Giltigkeit; es tritt nur frtr letztere ein besonderes
Verfahren der Auffindung hinzu, wodurch aber die Giltigkeit der allgemeinen
Definition keine Einbuße erleidet. Im übrigen verbreitet sich die allgemeine
Arithmetik über die vier Rechnungsarten mit ganzen und gebrochenen allge-
meinen Zahlen, das Ausziehen der (Quadrat- und Kubikwurzel, die Proportionen-
Lehre, die zusammengesetzte Schlussrechnung, die einfache Zinsrechnung, die
Zinseszinsrechnung und die Gleichungen ersten Grades mit einer und mehreren
Unbekannten, und hält sich dabei im wesentlichen an das Hergebrachte, wie
man es in den anderen zugelassenen österreichischen Lehrbüchern findet.
An Druckfehlern haben wir nur zwei bemerkt : einmal auf Seite 86, wo von
der Addition der Brüche mit verschiedenen Nennern gehandelt wird, zeigt die
Formel doch zweimal denselben Nenner; und auf Seite 107 hat die Antwort
des ersten Beispiels eine Null zu wenig.
Die Planimetrie und Stereometrie enthalten in gedrängter Form, jedoch mit
klarem Vortrage alles, was aus diesem Gebiete in der Unterstufe geboten
werden kann; das ist nach den einleitenden Begriffen das Wichtigste über die
Lehre von Congruenz, Ähnlichkeit, Flächengieichheit und Flächenmessung,
aus der Stereometrie einiges über die Lage von Linien und Ebenen im Räume,
sodann die Berechnung der am häufigsten vorkommenden Körper, wobei uns
besonders das etwas nähere Eingehen auf sphärische Beziehungen gefallen hat,
und endlich die Erläuterung der Kegelschnittlinien.
Die Verfasser haben sieb aller Hillsmittel bedient, welche die neue Literatur
bietet, um dem Schüler die schwierigen Anfangsgründe der Geometrie nach
Thunlichkeit anschaulich und fasslich zu machen. Es wird alsbald der Begriff
der Symmetralen eingeführt und mit deren Hilfe die Beziehung zwischen den
Gegenstücken der Dreiecke dargelegt. Zur Grundlage der einheitlichen Durch-
führung der Raumberechnung wurde der Satz des Cavalieri benutzt, nachdem
er in einfacher Weise klargelegt ist. Der Unterricht in der Geometrie wird
ganz besonders durch das Figurenheft gefördert, welches nahe an 400 Figuren
Figuren, welche den Grundsatz der Beweglichkeit, der auch im Texte ge-
bürende Beachtung findet, zur Anschauung bringen. Auch das Erfassen
flächengleicher Gestalten ist durch die Art der Darstellung fördeream unter-
stützt Die Figuren auf der Sphäre müssen wir im Vergleich mit denen anderer
Lehrbücher wahrhaft mustergiltig nennen.
Von den Heften mit Übungsstoff ist je eines für ie eine dassc des Unter-
gymnasiums bestimmt. Man sieht auf den ersten Blick, dass der Übungsstoff
in reichlicher Menge geboten ist, und wenn man ferner beachtet, eine wie
mannigfaltige Fassung ganz besonders die Fragen der Geometrie erhalten
haben, so mnss man diesen Übungsstoff völlig erschöpfend nennen, wenigstens
in dem Sinne, dass ein Bedarf für mehr davon nicht vorhanden ist. Die Auf-
gaben sind in ihrer Aufeinanderfolge vom Leichteren zum Schwereren wol-
geordnet und haben uns auch in der Weise befriedigt, dass Gleichartiges nicht
nur nebeneinander steht, sondern in deutlich abgetheilten Gruppen geordnet ist.
Dieses Buch, welches den Instructionen der Unterrichtsverwaltung entspricht,
wird ohne Zweifel seinen Weg in Österreich machen; doch auch außerhalb
seiner Heimat wäre dessen Beachtung höchst empfehlenswert. Die geringen
Bedenken, welche einige Stellen der allgemeinen Arithmetik uns erregten,
können nicht verhindern, dass wir das Ganze als eine Musterleistung bezeichnen,
deT nur wenig Gleichwertiges an die Seite gestellt werden kann.
Nicht übersehen darf auch werden, dass die Verlagsbaudlung das möglichste
gethan hat, um sowol den Text, als ganz besonders die Figuren schön auszu-
statten und dabei doch nur einen sehr mäßigen Preis fordert. H. E.
F. Roese, Oberlehrer in Wismar, 5000 Aufgaben nebst Resultaten der
Bruchrechnung. 46 S. Duodezformat.
Desselben. Arithmetisches Quellsalz. Westentaschenformat. Wismar,
Hinstorff. 176 S. 50 Pf.
Es sind die vorstehenden Verlagswerkc beinahe gleichlautend, und wahr-
scheinlich nur der bequemeren Handhabung wegen wurden diese zweierlei
Formate beliebt. Auf der ersteu Seite steht des Verfassers Gebrauchsanweisung,
jedem Schüler eine der im Buche vorkommenden mit Buchstaben überschriebenen
Zahlengruppen zuzutheilen, sodann erhalten alle gemeinschaftlich eine zweite
Zahlengruppe, welche mit der ersten durch eine der vier Grundoperationen
7u verbinden ist. Mit Buchstaben überschriebeno Zahlengruppeu finden Mch
fünfzig, man kann also fünfzig Schülern verschiedene Aufgaben zuweisen; ferner
gibt es je zwanzig Gruppen, welche mit jenen erster Art durch Addition,
beziehungsweise Subtraction, und je 30, welche mittels Multiplication oder
Division zu verbinden sind, wobei fünfzigmal dasselbe Ergebnis eintritt. Die
Verbindung der fünfzig Gruppen erster Art mit den 100 Gruppen zweiter Art
gibt in der That 5000 verschiedene Aufgaben. Es ist wol kaum nüthig hervor-
zuheben, eine wie große Erleichterung dem Lehrer bei der beschwerlichen
Arbeit des Aufgabeu-Corrigirens durch diese Einrichtung erwächst. Es lässt
sich auch leicht vermeiden, das» alle Schüler dasselbe Ergebnis erhalten, da
durch die zweite Gruppe der gegebenen Zahlen eine 20- bis 30fache Ab-
wechslung geboten ist.
Der Verfasser unterlägst auch nicht mitzuthcilen, auf welche Art er zur
Ausführung dieses gewiss schon längst empfundenen Vetlangens nach Ver-
einfachung der Oorrectur unter Vermeidung des gegenseitigen Abschreibens
der Schülerarbeiten gelangte. Er stellt eine ganz allgemeine Gleichung
zwischen vier unbestimmten und sechs veränderlichen Zahlen auf, woraus sich
unter Hinzufügung gewisser Bedingungen ergibt, dass von den sechs ver-
änderlichen zwei vollständig abhängig sind. Sonach ist es möglich, nicht nur
die beschränkte Anzahl der vom Verfasser gebildeten Beispiele, sondern, wenn
eben die unbestimmten Werte verändert werden, unzählige Aufgaben dieser
Art zu bilden. Wir müssen also dem Verfasser danken, nicht nur für den
von ihm ausgearbeiteten, sehr netten Lehrstoff, sondern ganz besonders für
dio Wegweisung, wie überhaupt solche Aufgaben herzustellen sind. H. E.
J. Schanze, Rector, und Th. Jäger, Lehrer in Eschwege, Übungsbücher
für Handwerker- und Fortbildungsschulen, in Heften von 50 — 75 S.
zu 35 — 50 Pf. Wittenberg, Herrose.
Das erste Heft, schon in der vierten Auflage erschienen, enthält das
Rechnen nebst dem Wichtigsten aus der Wechsellehre und scheint uns ein
recht guter Lehrbebelf für Handwerker- und Fortbildungsschulen zu sein, da
es neben einer Reihe von Aufgaben für Wiederholung des Rechnens in ganzen
Zahlen und Decimalbrtichen noch eine beträchtliche Menge eingekleideter Auf-
gaben für bürgerliche Rechnungsarten enthält.
Die B-Ausgabe dieses Heftes ist für ländliche Fortbildungsschulen bestimmt;
darin wird unter Weglassung der Erklärungen aus der WechsellehTe der Lehr-
stoff von 64 auf 48 Seiten zusammengezogen.
Das zweite Heft führt die Überschrift: Praktische Geometrie und ist
schon in der dritten Auflage erschienen. Es enthält die wichtigsten, Eigen-
schaften der Dreiecke, einige Auseinandersetzungen über Congruenz, Ähnlich-
keit, Flächen- und Inhaltsberechnung erläutert durch 185 Übungsaufgaben
und endlich die ausführliche Behandlung eines Kostenanschlages zu einem
kleinen Wohnhause.
Das dritte Heft, die gewerbliche Buchführung enthaltend, hat es auch
schon zur zweiten Auflage gebracht; wir finden in demselben nach einer
ziemlich kurzen Erwähnung der notwendigen Geschäftsbücher ein auf zwei
Monate ausgedehntes und ausgeführtes Beispiel der einfachen Buchführung
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i
— 611 —
eines Schlossers mit Inventur, Tagebuch, Cassabuch, Memorial- und Hauptbuch;
dann folgen noch Geschäftsvorfälle für zehn weitere Buchungsbeispiele ver-
schiedener Handwerker. Da der Berichterstatter seit zehn Jahren an einer
Gewerbeschule im Rechnen und in der Buchführung unterrichtet, so darf er
wol nach seiner eigenen Erfahrung ein Urtheil über den vorstehenden Lehr-
behelf abgeben, welches durchaus günstig lautet. Das Interesse dieser Schüler-
gattung wird nur rege gehalten durch Erörterungen, bei welchen sie einen
unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Erwerbsthätigkeit sehen. Da aber
diese eben nach den Gewerben verschieden ist, so ist eine fortgesetzte, mannig-
faltige Abwechslung in der Einkleidung sowol der Rechnungs- als auch der
BuchfUhrangsuufgaben erforderlich, welcher ziemlieh schwierigen Bedingung
die Verfasser des Vorliegenden vollständig Genüge geleistet haben. H. E.
Karl Jacobi, Director der Handelsschule in Göttingen, Leitfaden der Handels-
lehre. Göttingen, Vandenhoeck. 141 S. 1.80 31.
Dieses Handbuch erklärt zuerst das Wesen des Handels, sodann die Pflichten
der Handelspersonen, Handelsgesellschaften und der übrigen beim Handel be-
theiligten Personen. Es folgt eine Übersicht über Maße und Gewichte, die
Natur von Geld und Credit, das Wichtigste des Wcchselrechtes und die ver-
schiedenen Arten von Wertpapieren. Von den Einrichtungen zur Erleichte-
rung des Handels werden die Waren-Auctionen, Märkte und Börsen, sodann
das Zollwescn, die Handelsverträge, die Consulate, Handelskammern und
Handelsgerichte, endlich die Transport- und Verkehrsmittel besprochen. Es
liegen diesen Erörterungen wesentlich die Gesetze, Einrichtungen und Ge-
bräuche des Deutschen Reiches zu Grunde und werden dieselben in einer völlig
modernen Auffassung durchgeführt. Obwol der Verfasser zunächst nur seinen
Schülern der Handelsschule ein Lehrbuch bieten wollte, ist es ihm doch ge-
lungen, vermöge eines klaren und fasslichen Vortrages ein Werk zu schaffen,
welches auch außerhalb der Schule, sowol zum Selbstunterricht als auch als
Nachschlagebuch recht gute Dienste zu leisten vermag und daher der Be-
achtung bestens empfohlen zu werden verdient. H. E.
Neu erschienene Bücher.
Karl Kehrbach, Mittheilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte. 1. Jahrgang, 3. Heft. Heilin, Hermann Müller. 111 S.
Anton Vrbka, Leben und Schicksale des Johann Arnos Comenius. Znaim,
Fournier & Haberler (Karl Boruemann). 160 S.
Karl Bornemann, Comenias als Kartograph seines Vaterlandes. Znaim,
Fournier & Haberler (Karl Bornemann). 48 Seiten und 1 Karte.
F. Gmndig, Johann Arnos Comenius nach seinem Leben und Wirken. Gotha,
Thienemann. 89 S.
Dr. Paul Stötzner, Ratichianische Schriften 1. Leipzig, Richter. 88 S.
80 Pf.
Dr. K. Marold, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried
von Sti aßburg. Stuttgart, Göschen'sche Verlagshandlung. 160 S. 80 Pf.
I'rof, 0. (iüntter, Walther von der Vogelweide. Stuttgart, Göschen'sche
Verhandlung. 152 S. 80 Pf.
Dr. Karl Walcker, Grundriss der Weltgeschichte und der Quellenkunde für
Historiker, Lehrer, Examinanden und andere Gebildete. Karlsruhe, Mack-
lot'sche Bachhandlung. 315 S. 10 Mk. Kann auch in 10 Lieferungen
zo 1 Mk. bezogen werden.
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- 012 —
Dr. W. Neurath, Elemente der Volkswirtschaftslehre. 2. Aufl. (großentheils
neu bearbeitet und vermehrt). 487 S. Wien, Manz'sche Hofbuchhandlung;
Leipzig, Julius Klinkhardt.
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1. Theil (für die 2. Classe). 91 S. Geb. 30 kr. 2. Theil (für die 3. Ciasse).
180 S. Geb. 36 kr. 3. Theil (für die 4. Classe). 212 S. Geb. 55 kr.
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mit besonderer Berücksichtigung der Wortbildung und Wortbedeutung.
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IU. Heft. 5. Schuljahr. 64 S. 25 Pf. IV. Heft 6. Schuljahr. 80 S.
30 Pf. V. Heft. 7. Schuljahr. 80 S. 30 Pf. VI. Heft. 8. Schuljahr.
80 S. 35 Pf. Leipzig, Ferdinand Hirt & Sohn.
Cr. Stucki, Materialien für den naturgeschichtlichen Unterricht in der Volks-
schule. I. Theil: Botanik. 2. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Bern.
Schmid, Francke & Comp. 74 S. 90 Pf.
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Euiannel Meyer, Aufgaben für den Unterricht in der Buchführung. Nürn-
berg, Korn'sche Buchhandlung. 20 S. 20 Pf.
Rector Bambach, Der Pöstverkehr. Dortmund, Ruhfus.
Friedrich Grell, Gesanglehre für Volks- und Bürgerschulen. 2. Abtheilun«?.
3. Aufl. 40 Pf.
— Lieder für die deutsche Volksschule. I. Heft für Unterclassen. 2. Aufl.
20 Pf. II. Heft für Mittelclassen. 2. Aufl. 30 Pf. in. Heft für Ober-
classen. 2. Aufl. 50 Pf. München, Theodor Ackermann.
D. C. Fröst, Chorgesangschule für den Gesangunterricht in Bürger- und Volks-
schulen. Heft I. 25 Pf. Heft II. 40 Pf. Heft III. 1 Mk. Kiel und
Leipzig, Lipsius & Tischler.
Karl Knothe, Einheitliches Chorgesangbuch für evangelische Schulen in ein-
fachen Verhältnissen. Ausgabe A. 60 Pf., geb. 70 Pf. Ausgabe B. Heftl.
1—4. Schuljahr. 40 Pf. Heft II. 5.-8. Schuljahr. 80 Pf., geb. 1 Mk.
Halle a. S., Hermann Schroedel.
Christian Heinrich Holuiiauii, Praktische Violinschule. Neue gänzlich um-
gearbeitete Ausgabe von Ernst Heim. Heft I, II, m, IV, V je 1 Mk., zu-
sammen in einem Bande 3 Mk. Köln, P. J. Tonger.
Jacob Pauli i, Religiöse Betrachtungen, übersetzt von S. Bargum. Verlag
von A. Wohlenberg in Apenrade. 85 S.
Chr. Hamann, Friedrich Schiller als Mensch und Dichter, ein volkstMnüich
dargestelltes Lebensbild. Hamburg, Herold. 178 S. Geb. 1.25 M.
Vcr&ntwortl. Hedactour Dr. Friedriob Dittea. Bachdruckerci Julim Klinkhardt, Leipzig.
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Verlag pon 3»Hug ttliiifnmfrt in geifriia unb Berlin W. 35.
mr WvaltWcZ «efdienfiacrf für jititöc Ce^rcr.
Sn ; Wetter oermehrter unb uerbeff erter «uflage ift in meinem Verlage erfreuen:
(Ein Jüljrer für Seminartten, junge £et)rcr unb £el)«rinnen.
Von
Sireftor ber 3Jiäbct)en|'d)ute in 3«ft«burg.
Vic iö 5 Warf, eleu. gebtlttben 6 Warf 35 $f.
Unter ben oielcn für bie $anb junger fiehrer bestimmten, jum leil recht guten SBerlen
giebt ti nicht eines, welches Anleitung giebt, mie ben Schülern bog VerftänbniS unb bie
ÄenntniS be3 norjutragenben ©egenftanbeS prafrifcb, beijubringen ift. Verfaffer ift nun ber
Meinung, ju einem frud)tbringenben Unterrichte gehöre bor allem, ba& ber £et)rer in ber
Jranctunft Doüftänbig SKeifter ift, unb beShalb behanbelt er biefen ÖJegenftanb ganj befonberS
ausführlich- Ob,ne biefe 2Jteifterf*aft finft ber Unterri^t ju einem blo|cn hanbroerfsSmöfeigen
beibringen bon Senntniffen unb ftertigfeiten t>erab.
$ie erlte anfrage fjat ungemein reiben Beifair gefunben. &6er 100 anerßennenbe
3ufdjriften (inti bent 2Jerfa(Ter aus äffen Csegenben Deutfdjranbs jugegangen, unb audj bie
Sejenfionen tu btn »äbagogirdjen Seitrcfiriften §aben fidj faß burdjmeg fetjr fo6enb ausgebrüht.
3nfofge ber warmen Qfmufeljrung auf bem großen !!Me6en6ürgirdjen £e(jrertage ift bas Söerfc
auefi ins &ngarifdjeü6erfraaen roorben. _
yGT 3)aS SBerf ift burch jebe Vucbhanblung p beziehen.
2?erfag von ^wann in I>üfT<fborf.
Soeben ift erfd)ienen unb burd) afle Vuchhcmblungen $u bejtehen:
ÖEnfCtttrfl, f&., ßgl. Sc^ulrat unb 3. Jrflljlt, Sgl. ©emtnarlehrer,
Slttlcitmtfl yxx ^rtciluntt bc* ^cd)cnuntcrri*te* unb ber 5Raum
le&re in ber 2$olr"$fc$ule. ©in £anbbud> f«r Scminartften unb Sehrer.
«irrte, tiöUifl neu bearbeitete «uflane. $reis brofa). 9Jif.3.50; geb. SRI. 4.-.
2Me rühmlicbft befannte Anleitung Don ftentenieb bilbet in ber gegenwärtigen, im
mef entliehen oon §errn Seminarlehrcr 3- ftrohn in Vrübl burchflf führten Neubearbei-
tung baS juDerläffigfte unb praftifchfte fcanbbuch für jeben Rechenlehrer.
SluS bem Vorworte jur tierten Auflage fei baS ftolgenbe mitgeteilt: 2üe „Einlei-
tung" mifl Seminariften baS ©tubium beS UnterrichtSgegenftanbeS erleichtern, junge
£eb,rer bei ber Vorbereitung auf ben Unterricht unb auf bie zweite Prüfung untcrftüfyen,
für jeben, ber in Rechnen unb Raumlehre unterrichtet, ein ftanbbuth fein, welches in
fchmierigem unb aweifelbaften ftßüen Slufichlujj giebt; fie roill fiebrern an mehjflaffigen
Schulen burch eingehenbe Verüdficfjtigung ber ffiüt, in welchen Schwantungen unb Ver*
ftö&e üorfommen, ein $>ilfSmtttel bieten, bem Unterrichte einen feften (Mang ju gfben unb
ihn einheitlich als eine Übung im flaren $enfen unb richtigen Sprechen 5U grftalten.
3>a3 Such jerfätlt in feiner Reugeftaltuug iu jroei Seile: Rcdjneu unb Raum*
lehre. 25er Untere Xeil ift neu hinjugefornmen. 3eber ber beiben Seile verfällt raieber
in einen allgemeinen unb einen befonbern. SBährenb in bem allgemeineu, befonber^ für
baS ©tubium be« fiehter« beftimmten leite bie ©runblage für bie Snbaftif bargflegt ift,
$eigt ber befonberc Seil, mie bie einzelnen ftäQe untenichtlich ju bchanbeln finb.
<DÜffeltlorf, im 9Wai 1892.
SerlagSbuchhanblung.
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3m Berlage non ^m. Xr. fööUrr, Vnii;ui
erfdbien foeben in IV. Auflage:
Bischoff,
(5rfd)id|tc örr diriftliriirn £ird)f
in Silbern,
neu bearbeitet, bebeutcnb CTroritert unb bi« auf
bie l^cgcnroart fortgeführt Don
Wim au Slfcolf V'cupolb,
cand. rcv. min., Obererer am tt'önigl. Seminar
■ i! 2)reäben'Ivriebri(t)ftabt.
32 Sogen ftarf 8° ftormat.
%xtit brofcbicrt SÄ. 4.—.
$>ie ftnerfennung, roeltbe bem SBerfe in I.— III.
Auflage ju teil geworben vi, bic genaue Xurcto«
arbeitung unb bebeutenbe ©rroetterung ber IV.
Auflage mit ber ftortfüfjrung ber (Wefcbidjte bii
*ur ÜHeufteir, laffen un* l)orfen, ein SBerf ge«
Idjaffen ju ljaben, meierte« als 3 1 off ftiim Unter-
riebt in ber Äirdjengefdjicfjte aQeo ba£ bieten
bürfte, tt>aä ber fie^rer oon einein guten 2cbr«
burb ber Sttrdjengefdjicbte Bedangt.
©lcidjjettiii fei nodj ba$ in XIII. Auflage
erimienenc SBerf eben
tMfdiojf, i'eitfaben beim Unterriebt in ber ©e*
jrbiebte ber drrtftl. ftirebe SJl. 1.—
emüfotjlen.
Beste Violinschule:
Hohmann-Heim
164 Seiten grösstes Noten-
form. Prachtausgabe 5 Hefte
je I M., in I Band 3 hl.
I*. .1. Toiicer. kolii a Ith.
Verlag uon ^uliue SUütfbarDt in Vt ii> ;tn
Oabn, l>r. UUItgtfdiidjlr für rinfadit ttolks-
fonlrn. Siad) ben Skfrtmmungen be* aflge*
meinen :yci)rplane$ com 5. ^couember 1877
bearbeitet. 50 5?f.
3n meinem Berlage ifi foeben erjehjenen :
6clrpl)fit$riiif!t
für
3$alf 3f rfjitlfefjrcr*
ivrauSgegeben oon
rdmtiat Ernst Eckardt,
Jlgl. SJerirfSfdjultnfpertor.
8V« »ogen. 8. Skete SR. 1,80.
liefe Sammlung r-on hieben unb Vlnfpradjen
ei nct' tüdjtigen, altbewährten 3d)ulmannrä wer-
ben mand) jüngerem Üebrer al$ Hilfsmittel uor>
rrefflidje Xienfte leiften.
Xad $?ud) enthält:
I. «eben jur Sebulentlaffung. (12.)
IL Weben bei Ghriftbeidjerungen. i'2.\
III. Siatriotifdje {Reben. (3.)
IV. JReben beim Vlmtfrocdjfel. (4.)
V. SScirjereben bei ber Errichtung neuer Sefjul-
gebäube. (8.)
VI. sronferen$reben. (2.)
ÜJegen ginfenbung bed betrage« erfolgt ftranfo»
3ufenbung.
wmig. Julius MlinfbarM.
Pianinos von 350 b« 1&00 nie.
Harmonium« itentaehc nnd amerilc. Cottasc-
narmuniums. 0rReln (EaU}y) Ton ^ w |-
IvTu««?T!j\Tits Fabrikate. Höchster Baaxrabatt.
Alle Vorthi-il«. Illuitr. K&IaIorc pratii.
Witt». Kii.lolph in <ii.-»^ n.
errötete« Piano- Vere&ndt-Geachift Deutschlands.
Musik
(Um. n. n»4a. 2- a. (b«>. iimriiRi
LM*r. Jrifa etc. HOIra.
alische Universal-Biblinthek
J Jede Xr.üOI'f. Vn rnlihl
«■Harm. Vonirl. Stkli ». Dnck, »urkwi fitirr. — f'.l'rint w
KMUtUI« Album» a IM, miJirt tan Klesuae. Js4m
lohn rtc — IrUindnif Mutti sllrr Mitionm. — Hssiomtica.
Vfrirlchn. f. n. fr. im Fell» SlBff'l. LelpilQ. l'f.r; >.<i»tf. t
Soeben ersctieiiit
19000
16 Bände geb. a 10 M.
oder 256 Hefte k 50 Pf.
160001
1 Abbildungen.
Brock haus'
rsations-Le.
/4. Auflage.
SeitenText.
Konve
xikon.
IßOOTafeln.
300 Karte n.l
1 120 Cbromotafeln nnd 480 Tafeln in Scbwarzdrock. |
1 '
Paedagogium.
Monatsschrift
fm
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
J>r. JPriedi*icli Dittes.
ny. Mmi
10. Heft, Juli 1892.
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt /
2^ ^
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Inhalt des 10 Heftes.
Seita
Bemerkungen über die Frohschammerscho Philosophie, insbesondere Über ihre
Beziehungen zur Pädagogik. Vortrag von F. A. Steglich-Dresden . 613
Aus der Geschichte der Taubstummenbildung. Von Dr. H. Morf-Winterthur.
(Schluss) 629
Der Lehrer Leumund und ein Geheimer Justizrath. Vom Herausgeber . . 640
Pädagogische Rundschau. Der IX. Deutsche Lehrertag. — Aus Preußen. —
Aus Ostpreußen. — Aus Sachsen. — Aus dem Großherzogthum Baden.
— Aua der Schweiz. — Österreich. — Die Lehrmittelsammelstelle
Petersdorf bei Trautenau in Böhmen. — Giebichenstein 665
Aus der Fachpresse 679
Kccensionen 681
Abo nti c iti© n t s Preis pro Quär täl Rfl • 2*25*
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Bemerkungen über die Frohschammersche Philosophie, ins-
besondere über ihre Beziehungen zur Pädagogik.
Vortrag, gehalten im Pädagogischen Vereine zu Dresden von
jR A. Steglich-Dresfon.
Hochverehrte Versammlung!
Eine allgemeine und eine besondere Bedeutung hat für
den Pädagogen die Philosophie.
Wie Ihnen bekannt, ist über die specielle Wichtigkeit, welche
dieser großen Wissenschaft für die Pädagogik zukommt, und welche
von niemand in Abrede gestellt werden kann, neuerdings wieder im
„Pädagogium" (Juniheft 1891) eine klare und treffende Auseinander-
setzung von sach- und fachkundiger Seite erschienen. — Unsere An-
sicht über die doppelte Bedeutung der Philosophie für den
Lehrerberuf können wir kurz in folgende zwei Sätze zusammen-
fassen, die für den, welcher die allgemeine und die pädagogische
Literatur halbwegs kennt, keiner weiteren Begründung bedürfen:
a) Auf das Geistesleben des deutschen Volkes hat von je, nament-
lich aber seit Leibniz, Lessing und Kant, die Philosophie einen mäch-
tigen Einfluss geübt. Trotz gegenteiliger Strömungen zeigt auch in
der Gegenwart „das Volk der Dichter und Denker" noch Neigung,
den Erscheinungen der philosophischen Literatur Beachtung zu
schenken.
b) Die Pädagogik ist philosophischen Charakters; ist doch ein
großer Philosoph selbst (Aristoteles) der Vater der Pädagogik als
Wissenschaft! Ihre Hilfswissenschaften Logik, Psychologie und Ethik
sind philosophische Disciplinen. Daher befindet sich der Lehrer mit
seiner Berufswissenschaft bereits auf dem Boden der Philosophie.
Der Lehrer sei Bildner des Volkes! Daher für ihn die all-
gemeine Bedeutung der philosophischen Wissenschaft. Der Lehrer
sei Bildner des Volkes! Daher für ihn die specielle Wichtigkeit
der Philosophie. Wenn also der Lehrer uud Erzieher sich mit philo-
sophischen Dingen befasst, so erfüllt er nur den Rath Diesterwegs:
Mache deinen Beruf auch zum Mittelpunkte deiner Leetüre!1)
») „Wegweiser." 5. Aufl. Bd. I. S. 66.
Padagogion». 14. Jahrg. Heft X. 43
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— 614 —
Nun entsteht aber die Frage! Mit welcher Philosophie soll sich
der Lehrer beschäftigen?
Von Diesterweg wurden in den „Rheinischen Blättern"2) den
Lehrern mit vollem Rechte die Schriften Schleiermachers und Benekes
zum Studium empfohlen; sie verdienen auch heute noch vollste Beach-
tung. Neben ihnen und den älteren Philosophen dürfen wir Fichte
und Herbart nicht vergessen; denn jener hat die Erziehung und die
Erziehungswissenschaft vom politisch-nationalen, dieser vom rein wissen-
schaftlichen (theoretischen) Standpunkte aus zu fördern gesucht und
zu fördern verstanden. Unter den neueren Philosophen sind beson-
ders Schopenhauer und Hartmann zur Berühmtheit gelangt. Soll auch
der Lehrer sich ihnen zuwenden?
Schopenhauer, der den Willen als Grundprincip aufstellt, defi-
nirt denselben so, dass aus ihm nothwendig die pessimistische
Charakterisirung des Lebens und eine wunderliche Ethik8) folgt,
welche uns in das Nirwana der Buddhisten führt und somit im prak-
tischen Nihilismus endigt. Auch Hart mann, der bewusste Philosoph
des Unbewussten, ist Pessimist wie Schopenhauer, ja er vertritt den
Pessimismus noch energischer als dieser.4) Es leuchtet .aber ein, dass
eine pessimistische und nihilistische Philosophie und Denkungsart am
wenigsten geeignet ist, unserer Zeit da, wo es fehlt, aufzuhelfen.
Denn gerade die Gegenwart erfordert allseitig thatkräftiges Streben
und verlangt, wie Bismarck einst gesagt, die Bethätigung „praktischen
Christenthums u. Hierzu aber ist der Pessimismus, den diese Philoso-
phen vertreten, das untauglichste Hilfsmittel. (Ich spreche nur vom
ethischen, nicht vom wissenschaftlichen Werte ihrer Werke.) Zu einem
actionsfahigen Streben im Dienste des Ganzen, wie solches unser
oberstes sittliches Princip sein soll, befähigt uns nicht der krankhafte
Pessimismus6), sondern lediglich der gesunde Idealismus!
Den beiden pessimistischen Philosophen stellen wir zwei andere
neuere Denker gegenüber, die eine ungleich höhere Beachtung ver-
dienen, weil sie dem Idealismus Bedeutung zu erkennen und Unter-
*) Rhein. Blätter. 1834, Heft 5 u. 6; 1836, Heft 1; 1835, Heft 5; 1836,
Heft 5. Vgl. auch „Pädagogium", Märzheft 1888.
•) Lic. th. Dr. Friedr. Kirchner: „Über das Grundprincip des Weltprocessw.t
Mit bes. Berücksichtigung J. Frohschammers. (Kothen 1882, P. Schettler.) S. 279.
*) J. Stern: „Sch weglers Geschichte <L Philosophie." (Leipzig, Ph. Beclam.)
S. 498.
*) J. Frohflchammer: „Über die Organisation und Cultur der Gesellschaft''
(München 1885, Ackermann.) S. 291.
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r
— 615 —
Stützung gewähren: Es sind dies: Herrn. Ulrici und mehr noch
Dr. Jacob Frohschammer, Professor der Philosophie an der k. Uni-
versität zu München, ein Mann, auf welchen ich Ihre Blicke lenken
möchte durch den folgenden, allerdings nur fluchtig orientirenden Vor-
trag. — Der Name dieses Mannes ist Ihnen nicht unbekannt; denn ab-
gesehen davon, dass Fr. durch eine Reihe interessanter Artikel in den
letzten Jahrgängen des „Paedagogium" der Lehrerschaft selbst näher-
getreten ist, wurde sein Name schon früher öfter genannt. Einmal
spielte Fr. in dem vor 20 und mehr Jahren geführten römischen
Kirchenstreite infolge seiner literarischen Thätigkeit eine wichtige
Rolle, ebenso bedeutsam wie diejenige des Stiftspropstes Ign. v.
Döllinger; zum andern stellte sich Fr. in dem nunmehr beendeten
„Culturkampfe" mannhaft und entschieden auf die Seite des deutschen
Reiches, wie seine hierauf bezüglichen Schriften beweisen.6) Über
diese seine Wirksamkeit, welche in mehrfacher Hinsicht an diejenige
Luthers erinnert, finden Sie näheren Aufschluss in bekannten Werken7),
weshalb ich dieselbe im weiteren unberührt lasse. — In den letzten
Jahrzehnten hat Frohschammer ein philosophisches Original-
system aufgestellt, auf welches, wie es scheint, erst verhältnismäßig
wenige aufmerksam geworden sind, obschon einige gewichtige Stimmen
auf dasselbe empfehlend hingewiesen haben.8)
Fr. ist, wie schon angedeutet, einer der hervorragenden und
hoffentlich erfolgreichen Vertreter derjenigen Richtung in der Philo-
sophie, welche eine Vereinigung und Versöhnung des Realismus mit
dem Idealismus anstrebt. Die Philosophie in allen ihren Ver-
zweigungen hat nach Fr. hauptsächlich den Zweck, die „ideale Wahr-
heit" zu suchen, während die übrigen Wissenschaften, z. B. Natur-
wissenschaft, Geographie u. s. w., es mit der reinen Wirklichkeit, mit
der „realen Wahrheit" zu thun haben. Fr. geht daher auch in seinen
Untersuchungen meist von der Wirklichkeit, von der realen Wahr-
heit aus, aber er prüft, ob diese Wahrheit auch der Idee entspreche.
Über die Aufgabe, welche er der Philosophie im allgemeinen und ins-
") „über die religiösen und kirchenpolitischen Fragen der Gegenwart." „Die
wahre Bedeutung des Culturkanipfes." Elberfeld 1875, 1878, b. Ed. Loll.
Meyers Convere.-Lcx. 3. Aufl. Bd. VII (1876), S. 254. Brockhaus1 Conv.-Lex.
13. Aufl. Bd. VH (1884), S. 371.
8) Kirchner: „Über das Grundprincip etc." Kothen 1882, Schettler. —
Dr. E. Reich: „Betrachtungen über die Philosophie Frohschamnicrs." Großenhain
u. Leipzig 1884, Baumert Ronge. — „Pädagogium" VII, S. 72 fg., VIII, S. 69,
S. 251 fg.; Xn, S. 4 fg.
43*
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— 616 —
besondere seiner Philosophie stellt, sagt er selbst: „Es wird wol als
selbstverständlich betrachtet werden dürfen, dass auch das Gebiet
des Idealen, dass auch die höheren Ziele, Güter und Weisen des
Daseins für die erkennende Kraft des Menschengeistes Gegenstand
unablässiger Prüfung und Forschung seien. Da die Menschen wie die
Völker ohne dieses Ideal doch nicht leben und wirken können . . so
hieße es nichts anderes, als gerade den höheren, besseren Theil des
menschlichen Daseins dem Zufall und der Willkür, der Unwissenheit,
dem Wahn, Trug und Aberglauben überlassen und schutzlos preis-
geben, wollte man der menschlichen Erkenntniskraft und wissenschaft-
lichen Forschung es versagen, auch in diesem Gebiete unablässig thätig
zu sein."9) Wie der pragmatische Geschichtschreiber, so soll auch
der Philosoph sein, nämlich stets „die reale Thatsache am idealen
Maßstabe messend und beurtheilend." 10) Da die Ideale für das Geistes-
leben der Menschen überhaupt und demnach auch für die Pädagogik
von großer Tragweite sind, so muss auch die Wissenschaft des
Idealen für jeden, namentlich für den Pädagogen von Wichtigkeit
und Interesse sein!
Aber nicht nur „Idealwissenschaft" ist die Frohschammersche
Philosophie, sondern auch Erklärung des Weltvorganges aus einem
einheitlichen Princip, also System. Als „Grundprincip des Welt-
processes" stellt Fr. „die Phantasie" auf, das Wort im weiteren als
dem gewöhnlichen Sinne gedacht — Wenn wir „Phantasie" mit „Ein-
bildungskraft" übersetzen, so sprechen wir es aus, dass sie überhaupt
eine Bildungskraft ist Als solche macht sie sich auch reichlich im
Leben der Menschen geltend, wo wir sie als „subjective Phanta-
sie" bezeichnen. Die „subjective Phantasie" beherrscht das Kindesalter;
sie tritt bei der Entwickelung des kindlichen Geistes deutlich hervor,
bis endlich der Verstand die Oberhand gewinnt. — Wenn der Knabe
als Reiter erscheint, das Mädchen mit der Puppe spielt, so hat ihnen
den Plan dazu ihre „subjective Phantasie" eingegeben; ohne Einbil-
dungskraft würden sie gar kein Gefallen an solchem Thun finden.
Wenn wir irgend ein Gut, einen Genuss, ein Ziel erstreben, so ist
unsere Einbildungskraft die Urheberin dieses Strebens; sie malt uns
die (zukünftigen) Güter und Genüsse in rosigen Farben. Jedes Ge-
schäftsunternehmen existirt, ehe es ausgeführt wird, bereits in der
8) „Die Philosophie als Idealwissenschaft u. System." München 1884, A. Acker-
mann. S. 67.
10) Ebd. S. 24.
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— 617 —
„subjectiven Phantasie" der Unternehmer; wenn der Knabe die Schule
bezieht, so erblicken ihn die sorgenden Eltern schon als das, was er
werden soll; wenn ein anderer Knabe zum Meister in die Lehre
kommt, so malt ihm seine Phantasie schon das Bild, wie er selbst als
Meister schalten und walten wird. So sehen wir, dass alle Zwecke,
alle Ziele (Ideale) menschlichen Handelns von der Phantasie ein-
gegeben und bestimmt werden. Der Verstand, die Urtheilskraft,
hat sodann zu bemessen, ob die von der Phantasie aufgestellten Ziele
erreichbar sind oder nicht. Sind sie unerreichbar, so sprechen wir
von Luftschlössern, von fixen Ideen, von Illusionen11), durch welche
gleich wol viele Menschen beherrscht werden. Der Wille endlich,
den Schopenhauer als Grundprincip auffasst, ist beim Menschen eine
secundäre Erscheinung; denn erst wenn die Phantasie ein Ziel auf-
gestellt und der Verstand beurtheilt hat, ob es erreichbar sei, erst
dann entsteht der Wille, der das Ziel erstrebt, bezw. davon ablässt
(Verneinung). Erst ein Ziel, dann ein Wille! — Wir müssen dem-
nach die „subjective Phantasie" die productive Grundkraft im Menschen
nennen.
Als diese erweist sie sich wie im Leben überhaupt, so vorzugs-
weise in der Kunst.14) Die Phantasie ist es, von welcher alle
Meister aller Künste den Antrieb zum Schaffen und Gestalten em-
pfangen, durch welche sie ihre Werke gleichsam schöpferisch hervor-
bringen.
Die größte Künstlerin ist die Natur. Sie erzeugt unerschöpflich
neues und — was hier betont sein möge — vielgestaltiges Leben.
Betrachten wir die Bäume des Waldes, wir werden nicht zwei gewahren,
die einander nach Form und Größe völlig gleichen; beschauen wir die
Wolkenbildung am Himmel, sie ist jeden Tag eine andere; bewundern
wir die Felsen des Gebirges, — wir finden die verschiedensten Größen-
und Formenverhältnisse, weshalb wir ja von „phantastischen" Fels-
bildungen sprechen; mustern wir die tausend Menschen einer Ver-
sammlung, — nie wird trotz der oft täuschenden Ähnlichkeit ein
Gesicht dem andern völlig gleich sein. Über die Mannigfaltigkeit in
der Fülle der Erscheinungen schrieb vor fast 120 Jahren Lavater in
seinen „Physiognomischen Fragmenten " also18): „Es ist keine Rose
") S. Frohschammcr: „Über d. Organisat. u. Cultur etc." S. 272 fg.
") S. Frohschammcr: „Die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses."
München 1877, Th. Ackermann. S. 31—36.
") Winterthur 1776, 1. Versuch, S.45. — Vergl. Kehr u. Kriebitzsch: „Lese-
buch f. deutsche Lehrerbildungsanstalten." Bd. IV, 2. Aufl. (Gotha 1877.) S. 223.
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einer Rose, kein Ei einem Ei, kein Aal einem Aal, kein Löwe einem
Löwen, kein Adler einem Adler, kein Mensch einem andern Menschen
vollkommen ähnlich ... Bei aller Analogie und Gleichförmigkeit der
unzähligen menschlichen Gestalten können nicht zwo gefunden werden,
die, nebeneinandergestellt und genau verglichen, nicht merkbar ver-
schieden wären." Hätte ein Künstler zu all dem, was geschaffen
ist, den Plan, die Skizze entwerfen sollen, wie ein Baumeister den
Grundriss zu einem neuen Gebäude entwirft, — der Künstler hätte
müssen eine immense Phantasie zu eigen haben. Die Natur
besitzt diese unermessliche Phantasie, welche wir als „objective
Phantasie" bezeichnen im Gegensatze zu der begrenzten „subjectiven
Phantasie" des Menschen.
Diese „objective Phantasie" ist das in der Natur waltende Ge-
staltungs- und Organisationsprincip; sie ist die Quelle aller Gesetz-
mäßigkeit und Einheit bei aller Verschiedenheit in der Organi-
sation im einzelnen. Ein solches Princip muss wol in der Natur
gelten, obgleich wir es nicht zu entdecken vermögen. Bei der Zer-
legung einer Uhr, die der Techniker durch Kunst hervorgebracht hat,
finden wir auch keine treibende Kraft, kein teleologisches Princip,
welches darin waltet; und dennoch liegt der Uhr ein Princip zu
Grunde.14) So mag auch der Natur, „der großen Weltenuhr a,
wie sie Schiller nennt, ein Princip innewohnen, welches unser Philo-
soph eben als „objective Phantasie" charakterisirt. Die „objective
Phantasie" wird von ihm nur als solch immanentes Princip aufge-
fasst und dargestellt, nicht als Princip oder Macht über oder hinter
der Welt, also nicht etwa als absolutes Wesen.15) In welchem Ver-
hältnisse dieses der Welt innewohnende Formprincip zu der über der
Welt thronenden Gottheit stehe, das hat Fr. letzthin in einem beson-
deren Werke „über das große Geheimnis des Daseins" genauer unter-
sucht, einem Werke, welches in das Gebiet der Metaphysik und ratio-
nalen Theologie gehört.1*1)
Eine aufmerksame Betrachtung der menschlichen und der
kosmischen Natur, ein verweilender Blick auf den Reichthum und
die Vielgestaltigkeit der Welterscheinungen macht die Richtigkeit der
Aufstellungen des Münchner Philosophen sehr wahrscheinlich, und wir
dürfen auf sein System vielleicht das Wort des geistreichen Hippel
") S. „Phantasie ü\b Qrundprincip des Weltproccsscs". S. 176 fg.
lb) „Phantasie als Grundprincip etc." S. V, S. 17.
lö) „Über das mysterium magnum des Daseins." Leipzig 1891, F. A. Brockhaua.
Vgl. „Pädagogium" XIII, S. 550.
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— 619 —
anwenden: „Niemals waren Natur und Philosophie sich entgegen:
Nunquam aliud natura, aliud sapientia dicit".17)
* *
-
♦
Nach diesen knappen Andentungen über das neue System im
allgemeinen wenden wir uns zu einigen Punkten, durch welche das-
selbe von Wert und Bedeutung für die Pädagogik ist. — Die
Frohschammersche Philosophie erscheint als eine Bereicherung unserer
Berufswissenschaft zunächst durch ihre Psychologie.
Frohschammer betrachtet die Menschenseele als einen Orga-
nismus, wie der Leib ein Organismus ist. Wie der „physische
Organismus" durch Selbstthätigkeit zur Selbstständigkeit gelangt
und diese alsdann behauptet, „in solcher Weise mag es sich auch mit
dem psychischen Organismus verhalten".18) Und unser Philosoph
führt diese Parallele consequent und erfolgreich durch, womit er
zugleich viele fruchtbare Anregungen für die Pädagogik gewinnt und
darbietet19). Denn es leuchtet ein, dass sich aus dieser Auffassung
der Seele ganz andere pädagogische Maßnahmen ergeben, als aus der
Annahme, dass die Seele ein Mechanismus oder eine tabula rasa oder
sonst etwas sei. Freilich muss zugegeben werden, was man oft be-
hauptet, dass sich in der empirischen Psychologie, von welcher der
Erziehungskunst die meisten Fingerzeige kommen, sehr vieles er-
mitteln und feststellen lässt auch ohne jede metaphysische Grund-
ansicht über das Wesen der Seele. Trotz dieses Zugeständnisses ist es
aber sicher, dass eine solche speculative Ansicht zur Vertiefung der
psychologischen Forschung dienen muss, zumal wenn diese Ansicht
so von der Wahrscheinlichkeit gestützt wird, wie bei der in Rede
stehenden es der Fall ist Zudem bewegen sich die psychologischen
Untersuchungen unseres Philosophen keineswegs blos in metaphysischer
Sphäre, sondern sie sind zum guten Theil Erfahrungsseelenlehre
wie diejenige Benekes und fußen auf dem Boden der modernen Natur-
wissenschaft Wer sich davon überzeugen will, der lese besonders
das 3. Buch des Werkes über „die Phantasie als Grundprincip des
Weltprocesses". — Bis jetzt fehlt allerdings noch eine genaue An-
wendung der Frohschammerschen Psychologie auf die Pädagogik
als „Kunstlehre", eine Schrift, welche die (vorhin erwähnten) päda-
xr) „Über die Ehe." Leipzig, Ph. Reclam. S. 26.
,s) „Über die Organisation und Cultur etc." S. 329.
») „Die Phantasie als Grundprincip etc." S. 398 ff. „Pädagogium" 1886
(Aprüheft), S. 409 ff.
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— 620 -
gogischen Consequenzen zieht; es mangelt noch — kurz gesagt —
an der Bearbeitung einer sog. „pädagogischen Psychologie", wie sie
Dörpfeld im Herbartschen und Dr. Bartels im Lotze'schen Sinne unter-
nommen hat.20) Für philosophisch geschulte Pädagogen ist hier ein
reiches Feld literarischer Thätigkeit offen, und es ist die Klopstock-
Mahnung am Platze: Noch viel Verdienst ist übrig. Auf, hab'
es nur!
Auch die Logik erhält und erfahrt durch die Frohschammersche
Philosophie eine Stütze und Bereicherung, wie umgekehrt die von der
Logik bisher schon festgehaltenen Lehren für die Richtigkeit der
Auffassung des Philosophen sprechen. —
Im Erkenntnisprocess des menschlichen Geistes spielt die „sub-
jektive Phantasie" eine ausschlaggebende Rolle.*1) Ich brauche nur
an Bekanntes zu erinnern: Schon der Wortbedeutung nach ist die
Einbildungskraft das innere Bildimgsvermögen der Seele, ihre schöpfe-
rische Energie, ihre Productivität.5*) Demnach ist diese Kraft bei
allem Bilden, das in der Seele stattfindet, im Spiele, bei dem Bilden
von Begriffen, Urtheilen, Schlüssen, bei Gedächtnisacten u. s. f. Die
Phantasie ist schöpferisch bildend, jedoch nur in formaler Hinsicht*8)
Die Logik nun ist die Lehre von den Formen des Denkens.*4)
Somit erhellt von selbst die Wichtigkeit der „subjectiven Phantasie"
für die menschliche Erkenntnis und für die Erkenntniswissenschaft.
Ja, man kann sagen: Ein Mensch, der keine Phantasie besäße, würde
auch nicht denken können. Ein Mensch aber, bei dem die Phantasie
tibeiwiegt, wird meist -— wie wir sagen — unlogisch denken. Daher
richtet auf eine rechte Pflege der Phantasie auch die Erziehung ihr
Augenmerk; ich weise hierbei nur hin auf die Pädagogik Fröbels!
Wenden wir uns zu Frohschammers Ethik! —
Man hat oft gemeint, die Pädagogik sei keine wahre Wissen-
schaft; denn sie entbehre der sicheren ethischen (wie psychologischen)
Basis; als Ziel der Erziehung sei bald dies, bald jenes hingestellt
worden. Noch auf der jüngsten „Allg. Deutschen Lehrerversammlung"
») „Beiträge zur pädagogischen Psychologie" von F. W. Dörpfeld. Gütersloh,
Bertelsmann. „Padag. Psychologie nach Herrn. Lotze in ihrer Anwendung u. s. w."
von Dr. Fr. Bartels. Jena 1890.
*') „Phantasie als Grundprincip etc." S. 73 ff.
**) Dr. F. Dittes: Lehrbuch der Psychologie u. Logik. (Gesammtausgabe.)
Wien 1874. § 25. S. 130.
a*) Dittes, ebd. S. 132.
«•) Ebd. 8. 171.
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— 621 -
zu Mannheim an Pfingsten 1891 hat Herr Kreisschulrath Dr. Weygoldt
in seinem Vortrage**) die Fragen gestellt: „Auf welche Ethik soll
sich denn die Pädagogik stützen? Auf welche von den verschiedenen
Ethiken? Auf die philosophische oder theologische?" M. H. Diese
Fragen sind für uns — keine Fragen! Als christliche Lehrer und
Erzieher halten wir es mit der Ansicht, welche Dr. Dittes am Schlüsse
seiner gründlichen Kritik der Ethik Herbarts ausspricht, indem er
sagt"): „Als Leitstern des Lebens und als Richtschnur der Pädagogik
kann sie (die Ethik Herbarts) nach meiner Überzeugung nicht dienen.
Wo man nach solcher Leuchte oder Regel ausblickt, da wende man
sich an die Sittenlehre dessen, von dem gesagt ist: Er predigte ge-
waltig und nicht wie die Schriftgelehrten. u Diese Sittenlehre Jesu
ist es, welche unser Philosoph auch als die seinige proclamirt, weil
er in ihr die wahre „praktische Philosophie" erkennt. — Die Ideale,
welche die Sittlichkeit bedingen, werden von der „subjectiven Phan-
tasie" der Menschen hervorgebracht und von der Vernunft erkannt
und geläutert27). In ihrer ganzen Größe, Deutlichkeit und Reinheit
sind uns die (sittlichen) Ideale aufgezeigt, „geoffenbart" in der Lehre
Jesu. Das Leben des Herrn mit seiner Gottinnigkeit ist die voll-
kommenste Realisirung des Sittlich-Idealen („in ihm wohnte die Fülle
der Gottheit leibhaftig") und daher ein „höchstes, ewig wahres Vor-
bild".48) Das Wichtigste für die christliche Gemeinde ist es und
bleibt es darum, dass Jesu Lehre treu verkündet und „die Belebung
seines Geistes durch klare Darstellung seines religiösen und ethischen
Wirkens und Lebens" w) angestrebt werde. Den Mittelpunkt seiner
Lehre bilden die Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe, welche
als der eigentliche Kern des Christenthums Christi anzusehen sind.80)
„Das Christenthum Christi!" Dies ist eine Bezeichnung, welche sich
oft in den Werken Frohschammers vorfindet; er ist auch — wenn ich
recht unterrichtet bin — nächst Lessing derjenige deutsche Denker,
») „Die Pädagogik als Kunstlehre." Allgem. Deutsche Lehrerzeitung. (Leipzig,
Klinkhardt 1891, Nr. 22, S. 216. — Vgl. dazu : „ Pädagogium" XIV, S. 111. (Nov. 1891)
u. „Psed.u VII, S. 1 ff. „Über Pädagogik als Wissenschaft"!
") „Pädagogium" VH, S. 601. (Juniheft 1885.)
97) Frohschammer: „Über die Organisation und Cultur", S. 283. — „Über die
Genesis der Menschheit und deTen geistige Entwickelung in Religion, Sittlichkeit
u. Sprache." (Münch. 1883), HI. Theil. — „Phantasie als Grundprincip etc." S. 147—167.
w) Frohschammer: „Das neue Wissen und der neue Glaube." (Leipzig 1873,
Brockhaus.) S. 188.
») Ebd. S. 186.
•°) S. „Pädagogium" XIII, S. 559, 560.
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— 622 —
welcher diesen Begriff ganz besonders präcisirt und in der philoso-
phischen Literatur zur Geltung gebracht hat. Hat er doch eigens
eine Schrift, die zwar noch polemischer Art ist, unter diesem Titel
geschrieben81) und einem Theile eines andern Werkes89) diese
Überschrift gegeben: „Das Christenthum Christi"! Des Philosophen
Urtheil über diesen Punkt geht dahin: „Das Christenthum Christi
scheint uns die wahre Wiederbelebung und Erneuerung des religiösen
Glaubens zu gewähren, und es wieder in dem Bewusstsein, in dem
Glauben des Volkes herzustellen, eine der großen Aufgaben der Zeit
zu sein, ebenso wichtig für das religiöse Leben, wie für Staat, Wissen-
schaft und sociale Ordnung".88) Das „Christenthum Christi" ist die
wahre Ethik, welche ebenso wissenschaftlich wie volksthümlich ist.84)
In dieser Ethik haben wir auch die wahre wissenschaftliche Grund-
lage der Pädagogik — neben der psychologischen — zu erblicken;
wir brauchen nach keinem andern ethischen Fundamente der Erziehungs-
Kunst und -Lehre zu suchen und dürfen sagen: Einen andern Grund
kann hier niemand legen außer dem, der gelegt ist durch Christum
Jesum!
Die Sittlichkeit, sagt Fr., ist bei der Erziehung als Aufgabe des
Menschendaseins geltend zu machen.86) Wenn nun die Menschen
die Gebote der Sittlichkeit, die Jesus gegeben, thatsächlich
erfüllen werden, dann werden sie auch zur Glückseligkeit gelangen,
sowol die einzelnen als die Gesammtheit Als höchstes Princip der
Erziehung glaubte unser Denker daher die Glückseligkeit hinstellen
zu sollen, allerdings „so, dass darin alle anderen Ziele und Principien
der Erziehung eingeschlossen erscheinen als Mittel oder Nebenzwecke".88)
Das Streben, die Idee der Divini tat oder wenigstens die der Huma-
nität zu verwirklichen; die Entfaltung aller Anlagen und Kräfte
des Menschen u. s. f. — alles soll dazu dienen, „die Glückselig-
keit oder wahre irdische Beglückung"8*) zu fördern. Das Wort
„Glückseligkeit" will „allerdings richtig verstanden, in höherem, idea-
lem Sinne" aufgefasst sein, wie Fr. selbst hervorhebt,86) Ein rich-
M) „Das Christenthum Christi etc." Elberfeld 1876, Ed. Lolls Verlag.
Sl) „Wissen und Glaube." Leipzig 1873, F. A. Brockhaus. IV. Tbeil.
»•) Ebd. S. 201.
«) Ebd. S. 187.
,ö) „Über die Organisation und Cultur etc." S. 366. — Vergl. hierzu: „Das
Christenthum Christi und die Religion der Liebe." Ein Votum etc. von Th. Schultz«,
Oberpräsidialrath a. D. Leipzig 1891, Wilh. Friedrich. — S. ferner: „Pied." XIV,
S. 12 fg. (Oct. 1891): Von Frohsehammer ausführlich begründete Gedanken und
Ansichten!"
») „Organisation und Cultur etc." S. 373.
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— 623 —
tiges Verständnis dieses Begriffes finden wir ja bekanntlich nicht
einmal bei Schopenhauer. Zur Gewinnung dieses richtigen Verständ-
nisses wird jedem des Philosophen eigene Darstellung am besten
dienen können; deshalb und vor allem der hier gebotenen Kürze
wegen sei auf dieselbe angelegentlichst hingewiesen!87)
Aber nicht nur mit dem Ziel der Erziehung befassen sich die
Schriften des Münchener Philosophen, sondern auch mit dem Ver-
fahren derselben, mit ihrer Methode. — Fr. hat es unternommen,
zu zeigen, „in welcher Weise die Phantasie als Grundprincip des
Weltprocesses sich auch auf dem praktischen Gebiete" bewähre.88)
Dieser Versuch ist ausgeführt in dem hochinteressanten Werke „über
die Organisation und Cultur der menschlichen Gesellschaft", welches
auch bezeichnet wird als „philosophische Untersuchungen über Recht
und Staat, sociales Leben und Erziehung" und in welchem „allent-
halben die idealen Momente" der menschlichen Thätigkeit hervor-
gehoben werden38). Dieses dritte Hauptwerk der Frohscham merschen
Philosophie muss als eine große Bereicherung der Literatur der
Pädagogik angesehen werden, als welche es freilich noch in sehr ge-
ringem Grade bekannt geworden zu sein scheint. Das dritte Buch
der Schrift handelt allein von der Erziehung, und zwar „über
den Gegenstand derselben", die menschliche Natur in leiblicher und
geistiger Beziehung, sowie „über das Princip der Erziehung". Es er-
örtert also im Umriss die anthropologischen und ethischen Grundlagen
der Pädagogik und gibt somit eine „pädagogische Fundamental-
lehre" (a). Auf diese folgt sodann die Methodenlehre, die eigent-
liche Erziehungslehre (b), welche handelt „von der Methode" und
„von den Organen der Erziehung", sowie von der Schul- und Er-
ziehungsorganisation. Diese Erziehungslehre bezweckt, Winke zu
ertheilen für eine „richtige Einwirkung der mündigen Generation auf
die noch unmündige, um diese in allen Gebieten des socialen Lebens
und Berufes dafür bereit und tüchtig zu machen". M) Und man wird
87) „Organisation u. Cultur etc." in. Buch, 2. Capitcl, S. 347—375. Vcrgl.
dazu: „Prcdag." VIII, S. 252— 253! (Januar 1886.) — Anin. In obiger Skizze konnte
nur die Betätigung der „subjcctiven Phantasie" auf dem Gebiete der Sittlichkeit
kurz angedeutet werden. Wie die Macht der „objectiven Phantasie" die sitt-
lichen Verhältnisse der Menschen überhaupt begründete und beständig aufrecht
erhält, musste (leider) übergangen werden; es ist ausgeführt in des Philosophen
Werk über „die Genesis der Menschheit und deren geistige Entwickelung in Religion,
Sittlichkeit und Sprache". (München 1883.)
M) „Organisation und Cultur etc." S. 1.
») Ebd. S. 4.
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— 624 —
gestehen müssen, dass dies in überaus glücklicher Weise gelungen
ist; Fr.'s Werk ist in hohem Grade belehrend! Es wäre daher sehr
interessant, würde aber hier jedenfalls zu weit führen, auf den In-
halt dieser instructiven Abhandlungen einzugehen. Das wäre Stoff
zu einem besonderen Vortrage. Es mag für heute genügen, dieser
Untersuchungen Erwähnung gethan und damit auf eine frische Quelle
der Erziehungswissenschaft hingewiesen zu haben40)!
M. H. Wenn es heute sich herausstellte, dass ein Modephüosoph
wie etwa Schopenhauer, den jetzt sogar die Frauen studiren wollen41),
eine Erziehungslehre geschrieben habe, ich glaube, Hunderte würden
sie eifrig lesen. Nun aber Frohschammer, welcher nicht (wie jener)
eine negative, sondern eine positive Ethik vertritt, eine Erziehungs-
lehre geboten hat, wird man dieselbe hoffentlich mehr und mehr nach
ihrer Bedeutung und Tragweite zu würdigen versuchen. Hierzu sollte
uns auch noch der Umstand anspornen, dass sich in den Schriften
dieses Philosophen eine große Wertschätzung des Lehrerstandes aus-
spricht, wie nach dem Angedeuteten schon vermuthet werden kann.
Fr. lehrt: Der moderne Staat soll nicht nur ein Rechts-, sondern
auch und hauptsächlich ein Culturstaat sein! Im „Culturstaate" aber
hat der Lehrerstand eine hohe Aufgabe zu erfüllen, und demnach darf
und soll er auch eine hohe (sociale) Stellung einnehmen44). Die
Hochachtung vor dem Lehrerstande, die sich in den Werken unseres
Denkers kundgibt, ist sonach nicht eine gelegentliche Versicherung
herzlichen Wolwollens, sondern eine Consequenz seiner philo-
sophischen Lehren. Und je mehr dieselben verbreitet werden,
desto mehr wird auch in unserem Volke das Verständnis für die Auf-
gaben des Staates, des „Culturstaates" wachsen, desto mehr dann
auch die Wertschätzung der Schule und des Lehrerstandes zunehmen.
Wir dürfen sonach in der Verbreitung der Werke Frohschammers ein
wirksames Mittel zur Hebung des Lehrerstandes erblicken.
Endlich ist hervorzuheben, dass das letztgenannte Hauptwerk
des Philosophen auch eine ausgesprochen social päd alogische
Tendenz hat. Unser Altmeister Diesterweg führt uns in seinem Weg-
weiser48) unter den empfehlenswerten Schriften über Pädagogik auch
40) Vergl. hierzu: „Pädagogium" VIII, S. 251 fg. u. Jahrg. XIV, S. 111 ff.
41) S. „Gartenlaube" 1891, Nr. 27 (Briefkasten).
At) S. die Abhandlungen: „Der Culturstaat" („Organisation u. Cultur etc."
8. 112 ff.) und: „Culturstaat und Lehrerstand" („Ptedagogium" IX, 1: October-
hcft 1886, S. 1 ff.)!
4S) 5. Aufl. Bd. I, S. 153.
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— 625 —
eine Reihe von „Schriften über Social-Pädagogik" vor. Er selbst
schrieb vor 55 Jahren seine „Beiträge zur Lösung der Lebensfrage
der Civilisation", deren erster betitelt ist: „Über die Erziehung der
unteren Classen der Gesellschaft".4*) Es wird ja gerade gegenwär-
tig, insbesondere seit der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II., sehr
viel über die sociale Frage geschrieben: Wertvolles, Minderwertiges und
Unnützes! Das dritte Hauptwerk der Frohschammerschen Philosophie
gehört ohne Zweifel zu dem Wertvollsten, was auf diesem Gebiete existirt.
Und es ist bereits 1885 erschienen. Die materielle Seite der Frage
muss bei einer philosophischen Erörterung selbstverständlich aus-
geschlossen bleiben. Aber die ideelle, die geistige Seite des Lebens
der Menschheit wird von Fr. allseitig betrachtet und erwogen. Seine Auf-
gabe in dieser Hinsicht deutet er mit den Worten an: Das sociale
Leben „ist nun ebenfalls unter dem Gesichtspunkte unseres allgemeinen
Principes zu betrachten. Es sind dabei insbesondere die brennenden
socialen Fragen der Gegenwart in Erörterung zu ziehen und es ist
zu untersuchen, wie sich die Lösung derselben unter dem Gesichts«
punkt unseres Principes und der idealen Lebensauffassung gestalten
möchte, was also die Philosophie in unserer Auffassung beitragen
könne zur Lösung des schwierigen Problems."4*) Bei dieser Betrach-
tung zeigt es sich, welche Macht im Gesellschaftsleben die „subjective
Phantasie'' ist. Als eine solche erkennt man sie ja auch an, wenn
man z. B. von der „erhitzten Phantasie der Massen4' spricht. — Es
ist, m. H., wiederum nicht möglich, den reichen Inhalt der Froh-
schammerschen Untersuchungen jetzt näher zu beleuchten. Das wäre
Stoff für den Vortrag eines Socialpolitikers. Ich muss mich darauf
beschränken, die Uberschriften der hierhergehörigen Abhandlungen
anzuführen: Der „geschichtliche Entwicklungsgang" der Gesell-
schaft und ihr gegenwärtiger „Zustand", „Socialismus und Commu-
nismus", „Staats-Socialismus", „die Religion als sociales Gut", „ideale
Güter für das sociale Leben", „Illusionen und Ideale", „der Pessimis-
mus und die sociale Frage."46) In der letztgenannten Abhandlung
ist nachgewiesen, wie gerade der Pessimismus die Lösung der socialen
Fragen ungemein erschwere und wie derselbe durch eine ideale Lebens-
auffassung ersetzt werden müsse, wenn die Entwickelung des moder-
nen Staats- und Gesellschaftslebens zu einem glücklichen Abschlüsse
gelangen soll. Diese von unserm Philosophen vor Jahren dargelegten
") Essen 1836, bei G. D. Bädekcr.
**) „Über die Organisation und Cultur etc.44 S. 2—3.
") Vergl. „Pariagogium" VEQ, S. 251-253! (Januarheft 1886.)
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Ansichten scheinen mehr nnd mehr auch die Überzeugung hervor-
ragender Staatsmänner zu werden.47) Und man darf vielleicht mit
Recht behaupten, dass gerade das 3. Hauptwerk der Frischen
Philosophie die größte Beachtung verdient sowol von Seiten der
Socialpolitiker und Staatsmänner, wie von Seiten der Rechtsgelehrten
und der Lehrer in Kirche und Schule. Man wird nach der Leetüre
dieses Werkes und nach Kenntnisnahme von den Schriften, die uns
Diesterwegs Wegweiser nennt48), kaum noch der Meinung Lindners
sein können, welcher in seinem „Handbuche der Erziehungskunde"
(1884, S. 228) das Gebiet der Socialpädagogik als unausgebaut be-
zeichnete. — Vor kurzer Zeit feierten wir den 100jährigen Geburts-
tag Th. Körners, der das Wort gesprochen: „Es ist so schön, die
Menschen zu beglücken!" Dieses Wort können wir als Motto der
Frohschammerschen Philosophie betrachten. Nur diesem Zwecke will
diese neue Schöpfung deutschen Geistes dienen.
M. H. Durch eine Reihe kurzer Bemerkungen über die Froh-
8chammersche Philosophie und ihre Beziehungen zur Pädagogik habe
ich die Wichtigkeit derselben andeuten wollen, aber auch nur andeuten
können. Wichtig und wertvoll ist in der That diese Geistesschöpfung.**)
Hoffentlich wird sie einmal für das Geistesleben unseres Volkes frucht-
bar und förderlich werden, wie es einst die Kantsche Philosophie ge-
worden ist, deren Hauptwerk — wie nach ihm auch dasjenige Froh-
schammers — erst im 57. Lebensjahre seines Verfassers erschien.
Die Anzeichen für die Berechtigung einer solchen Hoffnung mehren
sich.*0)
Anderseits freilich muss es fast Verwunderung erregen, dass dieses
Orginalsystem nicht schon mehr Beachtung und Anklang gefunden
47) „Es lässt sich nicht wegleugnen, es geht durch das Land ein Pessimismus,
der mir im höchsten Grade bedenklich ist. Solange deutsche Philosophen allein
sich damit beschäftigten, mochte es ja eine für manche anziehende Beschäftigung
sein. Wenn aber diese geistige Richtung auf weite Kreise übergeht, die auf Handel
und Arbeiten angewiesen sind, dann wird dieselbe gefährlich; denn ich wüsstc
nicht, warum, wenn doch alles eitel ist nnd bei nichts etwas herauskommt, man sich
überhaupt dann noch quälen soll." Reichskanzler von Caprivi am 27. Nov. 1891 im
deutschen Reichstage.
**) 5. Aufl. Bd. I, S. 153 fg.
49) „Deutsche Denker und ihre Geistesschöpfungen." Heft 2—3: J. Froh-
schammer. (Berlin 1888, Vertag des lit. Deutschland.) Herausgeg. v. Ad. Hinrichsen.
*°) S. „Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung" (Leipzig, Klinkhardt), 1887,
Nr. 27, S. 260-261; 1889, Nr. 37-38, S.366, 375; 1891, Nr. 19. „Sächs. Schulztg."
1891, Nr. 5.
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— 627
hat, als es thatsachlich der Fall ist. Aber die Erscheinung, dass neue
Gedanken und Ideen Widerstand finden, ja schroff und selbst ohne
Prüfung abgewiesen werden, ist bekanntlich nicht selten. Je neuer
und fremdartiger sie den herrschenden Vorstellungen gegenüber stehen,
desto mehr haben sie solches Schicksal zu erwarten. Weder ihre
Wahrheit, noch ihre Heilsamkeit, noch auch der strengste Beweis
vermag sie dagegen zu schützen, während umgekehrt halb Wahres
oder absolut Falsches und Verderbliches gläubige Anerkennung findet.
Wir stehen in einem leider allzu bewegten Zeitalter; auf dem Bücher-
märkte, wo alljährlich eine große Überschwemmung eintritt, bleibt oft
das Beste unbeachtet! Angesichts der kühlen Aufrahme der Froh-
scham merschen Philosophie und im Gegensatze zu der Berühmtheit
mancher anderen, recht oberflächlichen Geistesproducte ist es schwer,
den Gedanken zu unterdrücken, den der große Humorist Lichtenberg
ausgesprochen hat: „Wir leben in einer Welt, in welcher zwar ein
Narr viele Narren, aber ein weiser Mann nur wenige Weise macht".51)
Dennoch dürfen wir überzeugt sein, dass treue Arbeit im Dienste des
Fortschrittes der Menschheit nie ganz verloren ist; und so schließe
ich mit dem Urtheile, welches bereits vor Jahren Dittes aussprach *")
und welchem ich zustimme: „Unbedingt ist Referent davon überzeugt,
dass in dem Werke Frohschammers eine in hohem Maße beachtens-
werte Leistung echter Wissenschaft und genialer Schöpferkraft vor-
liegt, und dass, falls der deutschen Nation noch ein neuer Aufschwung
des Geisteslebens beschieden ist, das System Frohschammers eine
segensreiche und ruhmvolle Zukunft hat."
Leitsätze.
I. Allgemeine and besondere Gründe sprechen dafür, dass der Lehrer auch
der Philosophie ernste Aufmerksamkeit zu widmen habe.
n. Eine besondere Beachtung verdient die Philosophie Frohschammers,
weil sie als „Idealwissenschaft" für das Geistesleben überhaupt und für die
Pädagogik im besonderen von großer Bedeutung erscheint. („Die Philosophie als
Idealwissenschaft und System." München 1884.)
III. Das System Frohschammers stellt ,,die Phantasie als Grundprincip des
Weltprocessea" auf, welche als „objective Phantasie" in der Natur, als „sub-
jective Phantasie" im Leben des Menschen und der Menschheit wirksam ist.
(„Die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses." „Über die Genesis der Mensch-
heit und deren geistigo Entwickclung in Religion, Sittlichkeit und Sprache". „Über
die Organisation und Cultur (Cultivirung) der menschlichen Gesellschaft." München
1877, 1883, 1885.)
rV*. Die Frohschammersche Philosophie ist für die Pädagogik von Wichtig-
•») Lichtenbergs vermischte Schriften. Göttiugcn 1801, Bd. U, S. 444.
") „Pädagogium" MI, S. 74. (Octoberheft 1884.)
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— 628 -
keit durch ihre Psychologie und Logik, durch ihre Ethik und ihre der Elemen-
tar* und Social-Pädagogik gewidmeten Untersuchungen.
A. Psychologie, Gegenüber den verschiedenen Ansichten über das Wesen der
Seele („Mechanismus", tabula rasa etc.) betrachtet die Frohschainmersche Philosophie
die Menschcnseclo als den „psychischen Organismus", wie man den Leib als
den physischen Organismus hinstellt. Diese Auffassung des Geistes, welche — wie
FTohschammer sagt — „die Möglichkeit gibt, die Einheit dos Geistes und die
Vielheit der geistigen Vermögen zugleich zu behaupten und zu erklären", muss
zu andern pädagogischen Maßnahmen (Consequenzen) führen als die Annahme eines
„psychischen Mechanismus". („Die Phantasie als Grundprincip'4, HL Buch. „Der
psychische Organismus." Ptedagogium,» Aprilheft 1886.)
B. Logik. Alles Erkennen und Denken sind psychische Functionen, bei
welchen stets die „subjective Phantasie das mitwirkende, ermöglichende Moment
bildet". — Die Erziehung hat die Phantasie in rechter Weise zu leiten; Pädagogik
Fröbels. („Phantasie als Grundprincip", I. Buch, 3. Capitel. — „Organisation und
Cultur", III. Buch, 3. Capitel.)
C. Ethik. Die „objective Phantasie" ist die Begründerin der sittlichen
Gemeinschaften; die „subjective Phantasie" die Bildnerin der menschlichen
Ideale, welche wesentlich die Sittlichkeit bedingen, die ihre höchste Entwicke-
Iungsstufe im Christenthume, wie es Christus gelehrt, erreicht hat. — Mit dem
„Christenthumc Christi" ist zugleich die wahre ethische Grundlage aller Pädagogik
gegeben. („Genesis der Menschheit und deren geistige Entwickelnng in Religion
und Sittlichkeit." „Das Christenthum Christi etc." (Elberfeld 1876.) „Wissen u. Glaube."
(Leipzig 1873, Brockhaus. IV. Buch.)
D. Elementar-Piidagogik. Wie die Frohschammersche Philosophie durch ihro
Psychologie und Ethik eine pädagogische Fundamentallehre darstellt, so
enthält sie auch eine Erziehungslehre, welche Andeutungen geben will für eine
„richtige Einwirkung der mündigen Generation auf die noch unmündige, um diese
in allen Gebieten des socialen Lebens und Berufes dafür bereit und tüchtig zu
machen".*) („Über die Organisation und Cultur der menschlichen Gesellschaft".
DZ. Buch.)
E. Soclal-Pädairoerik. Die Frohschammersche Philosophie zeigt „das Streben»
auch dem Volke und damit der Menschheit Uberhaupt in ihrer lebendigen Entwicke*
lung einen Dienst zu leisten"**); sie zieht daher in den Bereich ihrer Unter-
suchungen auch das sociale Leben der Gegenwart, welches durch einen krank-
haften Pessimismus und durch den Umstand sehr geschädigt wird, dass vielfach
als Ideal gilt, was nur Illusion ist. Es müssen (abgesehen von Anwendung
materieller Mittel) die „idealen Güter für das sociale Leben" eine erhöhte Wert-
schätzung und bedeutung erlangen. Dass dies geschehe, dazu kann die Froh-
schammereche Philosophie in hohem Maße beitragen. („Über die Organisation und
Cultur d. m. Gesellschaft." IL Buch.)
♦j nOrg*m«rtion und Cultur.- S. 4.
»Über die religiösen Fragen der Gegenwart." Elberfeld 1875. 8. VI.
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Ans der Geschichte der Taubst ammenbildung.
Von Dr. H. Morf-Wintcrthur.
(Schluss.)
V.
Staatliche Fürsorge für die Bildung der Taubstummen.
J-Jine genaue Statistik über die Zahl der Taubstummen in den
verschiedenen Ländern scheint nicht zu bestehen. Man nimmt an,
dass auf je 1500 Menschen ein Taubstummer komme. Für die Volks-
zählung scheint eine besondere Rubrik für dieselben nicht vorgesehen
worden zu sein. Unsers Wissens hat in der Schweiz nur der Kanton
Graubünden Erhebungen gemacht. Herr Pfarrer Grubenmann
theilt mit, dass dieselben 49 Taubstumme im schulpflichtigen
Alter — also nur bis zum 16. Jahr — bei einer Einwohnerzahl von
96,291 ergeben haben. Die Gesammtzahl der Taubstummen betrüge
nach dem oben angenommenen Procentsatz circa 64; es müssten so-
mit 15 mehr als 16 Jahre zählen. Von den 49 Schulpflichtigen sei
ungefähr die Hälfte bildungsunföhig, von den bildungsfähigen seien 17
in verschiedenen Anstalten untergebracht.
Auch im Großherzogthum Hessen wurde 1887 eine Statistik „der
im schulpflichtigen Alter stehenden bildungsfähigen Taubstummen"
aufgenommen. Nach derselben gab es deren 126, wovon 99 in Anstalten
untergebracht seien.*) Die Zahl der bildungsunfähigen in diesem Alter
und derjenigen, die über 16 Jahre zählen, ist nicht angegeben.
Es gibt bereits Staaten, in denen der Schulzwang für die
Taubstummen gesetzlich eingeführt ist und ebenso streng gehand-
habt wird, wie gegenüber den Vollsinnigen; nur werden die Taub-
stummen nicht in die gewöhnlichen Schulen eingewiesen, sondern sie
sind der für sie ausschließlich bestimmten Bildnngsschule zuzuführen,
wo sie durchschnittlich 8 Jahre zu bleiben haben.**)
Voran ging König Christian IV. von Dänemark. Am
8. November 1805 verordnete er, dass sämmtliche unvermögende
*) Vcrjf). Reuseliert. Kalender für Taubstumineulohror pro 18511, S. 236.
••) Siehe a. a. 0., Seite 221 ff.
Pn-da^mm. 14. Jahr*. Heft X. 44
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— 630 —
Taubstumme unter 15 Jahren in den Herzogtümern Schleswig und
Holstein der Taubstummenanstalt in Kiel zu übergeben seien. „Die
Absendung in das Institut und die Ausrüstung mit den nöthigen
Kleidern hat auf Kosten der Gemeinde zu geschehen; der Unterhalt
in der Anstalt fällt zu Lasten des Staates. Für das Fort-
kommen der Taubstummen nach vollendeter Bildungszeit sorgt der
Staat noch in besonderer Weise."
Durch Circularverordnung vom 21. Mai 1807 wird dieses Obli-
gatorium auch auf die Taubstummen ausgedehnt, deren Eltern nicht
ganz vermögenslos sind, sondern einen Theil der Kosten zu tragen
vermögen. „Das Fehlende ist vom ganzen Lande zu tragen."
Durch königliches Patent vom 30. Jänner 1813 werden auch die
vermögenden Eltern und Angehörigen von Taubstummen
unter das nämliche Oesetz gestellt und verpflichtet, ihre betreffenden
Kinder und Verwandten der Taubstummenanstalt zuzuführen. Wieder-
holt werden „Obrigkeiten und Prediger" der beiden Herzogthümer
alles Ernstes aufgefordert, die schulpflichtigen Taubstummen gehörigen
Orts anzumelden; den Predigern wird insbesondere eine Buße von
5 Thalern für jede daherige Versäumnis angedroht.
Dem schönen Vorbild folgte, wenn auch erst fast 70 Jahre später,
das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach. Das betreffende
Gesetz vom 28. Mai 1874 verordnet:
„Der Regel nach soll jedes taubstumme (und blinde) Kind der
Taubstummenanstalt übergeben werden, insoweit nicht a) der geistige
oder körperliche Zustand des Kindes dasselbe als für die Anstalt
ungeeignet erscheinen lässt oder b) nachweislich für die besondere
Erziehung und Ausbildung, deren das Kind wegen seines Sinnesmangels
bedarf, anderweit genügend gesorgt ist."
„Der Aufenthalt der Kinder in der Anstalt dauert in der Regel
8 Jahre."
„Wird ein taubstummes Kind von seinen Eltern oder Erziehern
ohne genügenden Grund der Anstalt vorenthalten, so sind dieselben
mit Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark oder mit Haftstrafe zu belegen."
Die Kosten für die Zuführung in die Anstalt, für die Kleider, für
den Unterhalt in der Anstalt während der 8 Jahre haben die Eltern
oder sonstige alimentationspflichtige Verwandte zu tragen.
Sind sie unvermögend, so hat die Gemeinde einzutreten. Würde
diese durch die ihr auferlegte Leistung überlastet, so übernimmt je
nach Umständen die Staatscasse die Kosten theilweise oder ganz.
Durch Gesetz vom 18. Jänner 1876 wird der Schulzwang für
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die taubstummen Kinder nach denselben Bestimmungen auch im
Herzogthum Sachsen- Coburg -Gotha eingeführt und mit dem
1. April 1884 folgte das Herzogthum Anhalt- Dessau.
Das Schulgesetz des Königreichs Sachsen vom April 1873
enthält Paragraphen, die dem Schulzwang der Taubstummen ent-
sprechen, aber consequent durchgeführt wie in den obengenannten
Staaten ist es bislang nicht.
In der großherzoglich-hessischen zweiten Kammer stellte
der Abgeordnete Vogt den Antrag rauf Einführung eines obli-
gatorischen Besuches der Taubstummenanstalten durch alle
taubstummen Kinder des Landes und einer 8jährigen Schul-
zeit". Mit 16 gegen 13 Stimmen wurde dieser Antrag für einstweilen
abgelehnt.
Auch im preußischen Abgeordnetenhause wurde die Frage
der Taubstummenbildung wiederholt discutirt. Das letzte Mal in der
Sitzung vom 1. December 1877. Miquel, nunmehr preußischer
Minister, damals Oberbürgermeister in Osnabrück, trat für Einführung
des Schulzwanges für die Taubstummen ein. Sein treffliches Votum
in der Sache ist wahrhaft ergreifend.
In der Discussion wurden von dem Abgeordneten Rickert so
viele Schwierigkeiten hervorgehoben, die einer solchen Maßregel entgegen-
ständen, dass Miquel, bei der Aussichtslosigkeit, zu einem bestimmten
Resultat zu gelangen, seine Erwiderung also schloss:
„Mir genügt es, wenn nur die allgemeine Überzeugung sich bildet,
dass man unbedingt das Ziel anstreben muss und dass man sicli
auch dazu nicht scheuen darf, erhebliche Mittel aufzuwenden, um
gerade hier anzusetzen und alle taubstummen Kinder zu wirklich
menschlichen Wesen zu machen!"*)
Damit waren die Verhandlungen geschlossen. Mit dem Rücktritt
des Ministers von Gossler ist auch das von Miquel erhoffte Schul-
gesetz vertagt worden; somit wird der Schulzwang für Taubstumme
in Preußen noch auf sich warten lassen.
In allen übrigen deutschen Ländern ist eine solche staatliche Für-
sorge auch noch der Zukunft vorbehalten.
Der um das bayerische und das deutsche Schulwesen überhaupt
hochverdiente Graser kam auf deu Gedanken, den Taubstummen-
unterricht zu verallgemeinern dadurch, dass die Zöglinge der Lehrer-
bildungsanstalten in diese Kunst eingeweiht werden und so in jedem
♦) S. Reuschert, Kalender f. Taubstummenlcurer pro 1891, S. 23S ff.
44*
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— 632 —
Dorf solchen Unglücklichen Hülfe gebracht werden könne. Die
Regierung unterstützte diesen Vorschlag und beauftragte Graser,
eine Anleitung zu diesem Zweck zu verfassen und der Behörde zur
Prüfung vorzulegen. Diese fand die Arbeit trefflich und ordnete deren
Veröffentlichung an. Sie erschien 1829 und führte den Titel: „Der
dnrchGesicht uudTonsprache derMenschheit wiedergegebene
Taubstumme." Welche große Hoffnungen Graser auf seina ein-
gehende Anleitung setzte, sagte er im Vorwort selber:
„Indem sie nun ans Licht tritt, wird die Beschränkung des Unter-
richts durch ausschließende eigne Taubstummeninstitute auf-
hören, das Vorurtheil von einem ganz besonderen Kunstunterricht
schwinden, und somit der auf wenige Unglückliche beschränkte Taub-
stummenunterricht nicht mehr statt haben."
„Bald wird jeder Schuldienstpräparand aus seinem Seminar auch
als Taubstummenlehrer heraustreten, und kein Vater und keine Gemeinde
mehr nöthig haben, ihre unglücklichen Kinder in entfernte Anstalten
zum Unterricht zu senden, sondern sie werden sie unter ihren Augen
und zu ihrer Freude, gleich den hörenden Schülern, heranbilden sehen. — "
„Aber, was noch das Wichtigste ist, die Eltern solcher Unglücklichen
werden in der Zukunft, mit dem Taubstummenunterricht in der Schule
bekannt, ihr taubstummes Kind schon vor dem Eintritte in die Schule
im Sprechensehen und Sprechen unterrichten können."
Aber diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Der Versuch, den
Taubstummenunterricht im Sinne Grasers zu verallgemeinern,
brachte keine nennenswerten Resultate. Die Sache war zu schwierig.
Und bei uns in der Schweiz? Unsers Wissens ist noch in keiner
gesetzgebenden Versammlung, weder in einer cantonalen, noch in der
eidgenössischen, die Taubstummenbildung in grundsätzliche Ver-
handlung genommen worden.
VI.
Zur Geschichte der Taubstummenbildung in der Schweiz.
Der erste Taubstuinmenlehrer in der Schweiz war Pfarrer
Heinrich Keller (1728—1802) in Schlieren bei Zürich. Die Anregung
zu dieser menschenfreundlichen Thätigkeit verdankt er offenbar deFEpee.
Es ist nicht durchaus erwiesen, aber sein vertrautes Freundschafts-
verhältnis zu diesem Manne lässt es als sehr wahrscheinlich erscheinen,
dass er denselben auf einer Reise in Paris aufgesucht und ihn in
seiner lehrenden Wirksamkeit gesehen und bewundert hat Die Pfarrei
Schlieren, die ihm 1759 übertragen worden, zählte nur 500 Seelen. Die
Amtsgeschäfte füllten also seine Zeit nicht aus. Die Muße benuzte er zu
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psychologischen, philosophischen und physiologischen Studien. Geleitet
von seiner menschenfreundlichen Gesinnung übernahm er im Jahre 1777
die Bildung zweier taubstummer Brüder von 6 und 8 Jahren, Söhne einer
vornehmen und reichen zürcherischen Familie. Er gesellte ihnen noch
einige andere taubstumme Kinder bei, und so entstand im Pfarrhaus
Schlieren ein kleines Taubstummeninstitut, das erste in der Schweiz.
Uber die segensreiche Wirksamkeit desselben gab Chorherr Usteri
— der Vater von Paul Usteri — im „Helvetischen Kalender" in
den Jahrgängen 1780 und 1781 in zwei Abschnitten: „Vom Unterricht
gehörloser Kinder" einem weitern Publikum ausführliche Kunde und
erweckte in gebildeten Kreisen für die noch neue Sache das höchste
Interesse.
Den besten Aufschluss über Verfahren und Erfolge gibt Keller
selbst in seiner Schrift: „Versuch über die beste Lehrart,
Taubstumme zu unterrichten. Zürich bei Orell, Gessner,
Füssli und Comp. 1786.u
Er legt nun in seiner 119 Seiten zählenden Schrift sein Verfahren
ausführlich dar und fügt bescheiden hinzu:
„Übrigens bin ich weit davon entfernt, mir zu schmeicheln, dass
diese Methode nach allen Theilen ihre völlige Reife erlangt habe. Ich
Labe nichts anderes als eigene Erfahrungen niedergeschrieben und dem
Publicum mittheilen wollen. Zu wünschen wäre es, dass mehrere
Gelehrte ihre Erfahrungen in diesem Fach der Welt bekannt machen
wollten; so wäre zu hoffen, dass aus der Kunst, Taubstumme zu
unterrichten, zuletzt ein Ganzes herauskommen werde."
Unter den Verdiensten Kellers ist das nicht das kleinste, dass
er einen Taubstummenlehrer herangebildet hat: Johann Konrad
Ulrich.
Ulrich war Zögling des Waisenhauses in Zürich. Lavater
erkannte seine große Begabung und brachte ihn im Frühjahr 1779 zu
Pfarrer Keller als Schüler. Während seines dreijährigen Aufenthaltes
daselbst rechtfertigte er in seltenem Grade das auf ihn gesetzte Ver-
trauen. Seine Gönner, vorab Lavater und Keller, beschlossen, ihn
zu seiner weitem Ausbildung in dem „wundersamen Unterricht" zu
de l'Epee nach Paris zu schicken. Mit Empfehlungsbriefen von
Lavater und Keller in der Tasche reiste er im Jahre 1782 dahin
ab und wurde aufs freundlichste von dem berühmten Manne auf-
genommen. „J'ai recu un beau present de Mr. Lavater, et de vous,"
schrieb de l'Epee an Keller, „ä qui j'en ferai mes remerciments
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l'ordinaire prochain. Assurez-vous, que je donnerai toute mon attention
au jeune homme qui m'est venu de sa part et de la vötre."
Nach einjährigem Aufenthalte in Paris kehrte Ulrich nach Zürich
zurück voll guten Willens und voll schöner Hoffnung, in seiner Vater-
stadt Handreichung für seine Zwecke zu finden. Durch Versuche in
seiner Kunst wollte er sich jedoch zuerst ausweisen. Von zwei taub-
stummen Knaben, die ihm dazu dienten, war der eine (in Zürich)
„schwachsinnig bei fehlerhaftem Sprachorgan", musste also als unbild-
sam aufgegeben werden; der andere aber (in Meilen), ein lebhafter,
fähiger, lieblicher Knabe, machte rasch erfreuliche Fortschritte.
Nun glaubten Freunde und Gönner Ulrichs, es sei an der Zeit,
durch einen öffentlichen Aufruf „edle Menschenfreunde einzuladen, durch
milde Gaben die Errichtung einer Privatanstalt zum Unterricht taub-
stummer Personen" zu ermöglichen.
Der Aufruf trägt das Datum vom 28. März 1785 und ist unter-
zeichnet von: Rathsherr Usteri, Dr. Rahn, Diacon Lavater,
Pfr. Keller, Prof. Breitinger, Prof. Hottinger, Dr. Hirzel,
Hauptmann von Orell, Director Cramer und Chorherr Rahn.
Der Aufruf war ohne nennenswerten Erfolg, bot bei weitem nicht
die Mittel zur Errichtung einer Anstalt Bald darauf erhielt Ulrich
— 1786 — einen Ruf nach Genf in ein Privathaus als Lehrer eines
7jährigen taubstummen Mädchens. Er blieb 9 Jahre in diesem Dienst,
der ihm große öffentliche Anerkennung, ja Verehrung brachte. Was
ihm aber wol noch größere Befriedigung gewährte, war das außer-
ordentlich schöne Resultat seines Unterrichts bei der reichbegabten
Tochter, die er „zum denkenden, nützlichen, sich selbst und andere
erfreuenden Wesen umgeschaffen hatte." Ihrem Lehrer blieb sie lebens-
lang in unaussprechlicher Dankbarkeit zugethan.
Von Genf kehrte Ulrich wieder nach Zürich zurück. Es wurden
neuerdings Anstrengungen zur Gründung einer Taubstummenanstalt
in seiner Vaterstadt gemacht. Dieselben schienen den besten Erfolg
zu versprechen. Aber die bald darauf eintretende Staatsumwälzung
zerstörte diese Hoffnungen. Ulrich wurde in den Staatsdienst gezogen;
er bekleidete nach einander verschiedene wichtige Stellen und wirkte
in allen bei seiner Gewissenhaftigkeit, seiner Treue und Einsicht mit
großem Segen. Seine Amter füllten seine Zeit fast ganz aus, doch
verlor er sein Lieblingsfach nicht ganz aus den Augen. Er ertheilte
einzelnen taubstummen Kindern Unterricht und bemühte sich für Heran-
bildung von Lehrkräften für diesen Unterrichtszweig. Er starb 1828.
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Der Gedanke an die Pflicht, den unglücklichen Taubstummen zu
Hülfe zu kommen, sie durch Bildung aus ihrem Elend zu erlösen,
einmal weit herum geweckt, erlosch nicht wieder. Die nächste
Anregung ging von Stapfer aus, dem helvetischen Minister der Künste
und Wissenschaften, der selbst durch die ärgsten Sturmzeiten sich
nicht irre machen ließ, Behörden und Volk auf die höchsten Cultur-
aufgaben eines Staates immer mit neuem Nachdruck hinzuweisen.
Von Luzern aus erließ er am 26. April 1799 ein Kreisschreiben
an die Regierungsstatthalter der einzelnen Cantone.
Er beauftragte diese Cantonsvorsteher, durch die Ortspfarrer eine
genaue Statistik aller Taubstummen in ihren Gemeinden aufnehmen
zu lassen und in zwei Monaten einzusenden.
Nach dem beigefügten Schema sollen die Pfarrherren Aufschluss
geben: über die Zahl der Taubstummen in jeder Gemeinde, über deren
Geschlecht, Alter, körperliche und geistige Beschaffenheit, über ihre
Vermögensverhältnisse, über die Geneigtheit der Gemeinde, für den
angegebenen Zweck Opfer zu bringen, über allfällige Bildungsversuche,
die da oder dort angestellt worden etc. etc.
Die äußerst aufgeregten, kriegerfüllten Zeiten waren nicht dazu
angethan, solchen Bestrebungen Vorschub zu leisten. Nur wenige
Antworten gingen ein. Es scheint, dass nur aus dem Canton Bern
etliche der Centraibehörde zukamen; doch finden sich dieselben nach
einer gef. Mittheilung im eidgenössischen Archiv nicht mehr vor.
In dem zürcherischen Staatsarchiv liegen zwei Berichte, die mir zur
Einsicht freundlich zugestellt worden sind. Sie lauten nicht ermunternd.
Der eine stammt aus der Feder von Pfarrer Denzler in Stamm-
heim. Nach demselben zählte die Gemeinde 8 Taubstumme: 7 weiblichen
und 1 männlichen Geschlechts; 7 über 18 Jahre, 1 8 Jahre alt.
Diesen Angaben fügt Denzler folgende Bemerkungen bei:
„Beineben lässt sich von keiner aller dieser Personen einige
Neigung oder wirkliche Geschicklichkeit zu mechanischen Künsten
merken. Ich weiß von keinen besondern Versuchen, die mit den einen
oder andern wären gemacht worden, außer da ss vor ku rzerer oder
längerer Zeit mit ihnen medicinirt worden ist und dass auch die einen
vor den andern eine bessere Auferziehung genossen. Ob aber bei
jetzigen Zeitumständen die Gemeinde für sie freiwillig etwas thäte,
bezweifle ich sehr, um so viel mehr, als schlechten Glauben, Hoffnung,
Vertrauen ich bei ihnen und ihren Vorstehern schon gefunden." Von
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einem Institut weiß Denzler nichts, er hat „nur gehört, dass Unter-
statthaiter Ulrich seit mehreren Jahren in diesem seltsamen Fach
arbeitet; mit wie viel Erfolg weiß ich nicht".
Pfarrer Bosshart in Trüllikon berichtet:
„In dieser Gemeinde sind zwei Taubstumme männlichen Geschlechts,
23 und 22 Jahre alt. Beide sind gesund, äußern aber nicht die
geiingsten Verstandesfähigkeiten. Hieraus lässt sich leicht schließen,
was für eine Beschaffenheit es mit ihrem sittlichen Charakter habe,
und dass sie zu keinen Arbeiten, besonders zu solchen, die Verstand
erfordern, gebraucht werden können. Holz tragen, dann Vieh Futter
geben und es weiden ist alles, was sie können. Und da sie von Geburt
an taubstumm gewesen, so würde nach der Eltern selbsteigenen Über-
zeugung alle Bemühung, sie zu etwas anzuhalten, ganz fruchtlos und
vergeblich sein. Und gesetzt auch, dass etwas mit ihnen erzielt werden
könnte, so würden doch weder die Eltern, deren häusliche Umstände
nicht die besten sind, noch auch die Gemeinde, die dermalen mit sich
selbst genug zu thun hat, imstande sein, etwas für ihre Erziehung
zu bezahlen."
Diese beiden Berichte mögen so ziemlich der Stimmung entsprechen,
die auf der Landschaft überhaupt herrschte. Es fehlte nicht nur an
den pecuniären Mitteln, sondern auch am Verständnis einer Sache, die
selbst in maßgebenden Kreisen noch nicht die verdiente Aufmerk-
samkeit gefunden hatte.
Was Ulrich umsonst angestrebt hatte: Gründung einer öffent-
lichen Taubstummenanstalt, das erreichte sein Schüler Konrad Näf.
Er hatte sich zu diesem Zweck in dem damaligen pädagogischen
Hauptquartier der Schweiz, in Yverdon, niedergelassen.
Im Protokoll der „Versammlung der Schweizerischen Gesellschaft
für Erziehung" vom 7. August 1811 lesen wir:
„Herr Präsident Pestalozzi machte die Gesellschaft auf Herrn
Näf von Zürich aufmerksam, welcher mit außerordentlichem Geschick
jetzt in Yverdon seine Bildung zum Taubstummenlehrer fortsetzt,
nachdem er den des Herrn Präsidenten Ulrich in Zürich während
längerer Zeit genossen. Eine Taubstummenanstalt sei mit Gewissheit
zu erwarten, und überhaupt verdiene der Unterricht der Taubstummen
darum die größte Aufmerksamkeit, weil in demselben gleichsam das
Vorbild des Unterrichts enthalten sei; es binde derselbe an die
genaueste Stufenfolge und immer scheine klar, was von dem Gegebenen
Auch durch den Schüler begriffen sei."
Noch vor Jahresschluss 1811 konnte Näf mit Bewilligung und
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unter Vorschub der waadtländischen Regierung seine Anstalt mit
einigen Zöglingen beginnen. Von kleinen Anfängen erhob sich dieselbe
rasch zu schöner Blüte. Doch erst 1828 wurden Taubstumme auf
Staatskosten in derselben untergebracht. Nach Näfs Tode bedurfte
die Anstalt zu ihrer Fortexistenz die Staatshilfe. Es wurden ihr
jährlich Fr. 5000 gewährt. 1841 ging sie ganz an den Staat über
und wurde nach Moudon verlegt.
Die Taubstummenanstalt in Yverdon war die äußere Veranlassung
zur Gründung einer solchen im Canton Bern. Die Anregung dazu
ging von dem menschenfreundlichen Spitalverwalter Otth aus. Der
Kirchenrath, an den die Sache geleitet wurde, billigte den Oedanken
und veranlasste die Regierung, bei einem Versuche für das erste
Probejahr eine Unterstützung von 300 Fr. zuzusichern. Über das
weitere Vorgehen gibt der erste Verwaltungsbericht folgenden Auf-
schluss:
„Man suchte nun einen Mann aus, dem man den Unterricht an-
vertrauen konnte. Auf die Empfehlung von Wehr Ii in Hofwyl und
nach einigen abgelegten Proben wurde ein für die Volksbildung eifrig
bemühter Landmann gewählt: Johannes Bürki, gewesener Schul-
meister in Trienstein, Kirchgemeinde Münsingen, dann in Bremgarten
(bei Bern). Man schickte ihn auf 5 Monate nach Yverdon zu Herrn
Näf, der dort vor mehreren Jahren eine rühmlichst bekannte Taub-
stummenanstalt errichtet hat und ihm die nothwendige Anleitung zur
Behandlung dieser Unglücklichen ertheilte. Dann wurde eine Behausung
gemietet in einem stillen, abgesonderten Landsitz: der Bächtelen
bei Wabern, eine halbe Stunde von Bern, und im April 1822 fing die
Haushaltung an mit Bürki, einer Haushälterin und 2 — 3 Zöglingen.
Im Brachmonat kam ein junger Mann, Johann Stucki aus Erlenbach,
frisch aus Herrn Carl es Normalanstalt für Schulmeister in Boitingen
zu uns und bot sich freiwillig an, ohne Besoldung da zu bleiben, theils
als Lernender, theils als Gehülfe. Mit Freuden namen wir ihn als
Unterlehrer auf, und der Erfolg rechtfertigte unser Zutrauen!
Man legte sich die Frage vor, ob man als Hauptmittel beim
Unterricht die künstliche Zeichensprache (nach de l'Epee), „wie
es sonst tiberall geschieht", oder die Tonsprache oder die Schrift-
sprache wählen solle. Auf Ausbildung der künstlichen Zeichensprache
wurde verzichtet, die Tonsprache für später in Aussicht genommen —
immerhin mit der Hoffnung, dass bald das Ablesen von den Lippen
— 638 -
der Sprechenden mit etwelchem Erfolg geübt weisen könne — , das
Hauptgewicht aber auf die Schriftsprache gelegt. Die Zahl der Zög-
linge stieg bald bis auf 25, welche Zahl eine verhältnismäßig gar
geringe ist, wenn der Kanton Bern, wie die Verwaltung nach un-
gefährer Schätzung glaubt, wirklich 1000 Taubstumme zählte. Der
Gang der jungen Anstalt war immerhin etwas mühsam. „Aller Anfang
ist schwer." Im Herbst 1826, nach 41 /Jähriger Wirksamkeit an der
Anstalt, übernahm Bürki wieder eine Lehrstelle an der Primarschule
in Münsingen, und die Leitung des Instituts fiel Joh. Stucki zu.
Im Herbst 1834 wurde dasselbe vom Staat übernommen und nach
dem Kloster Frienisberg bei Aarberg verlegt Mit rastloser Hingebung,
mit großem Geschick und unwandelbarer Treue waltete der bescheidene,
edle Stucki, der seinen Zöglingen stets ein innig liebender und
geliebter Vater war, seines schönen aber schweren Amtes bis zu
seinem Tode im December 1864, also über 42 Jahre. In demselben
Geiste und mit demselben Segen leitet seither dessen früherer Mit-
arbeiter, Friedrich Übersax, nun bald 27 Jahre die Anstalt, die
mit ihren 62 Knaben im Jahre 1890 nach dem Kloster Münchenbuchsee
dem früheren Sitz des Lehrerseminars, übersiedelte.
An die Taubstummenanstalten in Yverdon und Bern reihte sich
bald die in Zürich als dritte an. Es bestand daselbst seit 1809 eine
Blindenanstalt. Nach dem Tode ihres Stifters Hirzel im Jahre 1817
wurde Ulrich zum Präsidenten der Stiftungsgesellschaft (Hilfsgesell-
schaft) gewählt. Bald brachte er die Bildung der Taubstummen wieder
in Anregung. Im Jahre 1825 wurde J. Th. Scherr, Lehrer an der
Taubstummenanstalt in Gmünd, ein Schüler Jägers (s. v. S. 565) als
Lehrer an die Blindenanstalt nach Zürich berufen. „Was war natür-
licher, als dass Ulrich jetzt die Blicke der Mitvorsteher auf die ver-
lassenen Taubstummen richtete. Am 1. Mai 1826 trat der erste Taub-
stumme in die Anstalt ein. Im folgenden Jahre wurden wieder 6
derselben aufgenommen, und so sah Ulrich noch vor seinem Tode eine
Anstalt erblühen, für deren Gründung er in früherer Zeit sich erfolg-
los bemüht hatte." (J. H. von Orell.) Seit 1832, also fast 60 Jahre,
steht die Anstalt unter der bewährten Leitung des all verehrten
Herrn Director Schibel, der trotz seiner hohen Jahre seines
schweren Amtes mit jugendlicher Frische und Begeisterung waltet.
Möge ihm gestattet sein, noch lange solch seltener, mit Liebesfülle
gesegneter Kraft zu erfreuen. An diese drei ersten Taubstummen-
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anstalten reihten sich bald andere an. Heute zählt die Schweiz deren 16.
3 sind cantonale Anstalten: Münchenbuchsee im Canton Bern,
Hohenrain im Canton Luzern, Mondon im Canton Waadt;
1 gehört der Gemeinde Genf;
3 sind Eigenthnm ihrer Vorsteher: Bettingen bei Basel, Hephata,
die anch Schwerhörende aufnimmt, in Bern; Petit-Saconnex-Genf;
2 sind gegründet und geleitet von Schwestern vom heil. Kreuz zu
Ingenbohl: Locarno, Canton Tessin, und Greierz, Canton Freiburg;
7 stehen unter wolthätigen Vereinen und erhalten Staatsunter-
stützung: Zürich, St. Gallen, Zofingen, Landenhof bei Aarau,
Liebenfels bei Baden, Wabern bei Bern, Riehen bei Basel.
Diese 16 Anstalten beherbergen 490 Zöglinge, 265 Knaben und
225 Mädchen.
Nach dem allgemein geltenden Procentyerhältnis (1 : 1500) zählt
die Schweiz ca. 2000 Taubstumme; davon mögen 75°/0, also 1500,
im schulpflichtigen Alter stehen ; mithin haben 1000 dieser Unglücklichen
in unsere für Milderung ihrer Gebrechen organisirten Anstalten noch
keine Unterkunft gefunden.
Wol dürfen wir annehmen, dass vielleicht 100 davon, durch Ver-
hältnisse begünstigt, anderweitig die nöthige Handreichung zu ihrer
Erhebung aus dem Elend in ein menschenwürdiges Dasein finden;
aber auch bei dieser günstigen Annahme und nach Abzug der bildungs-
unfähigen bleiben immer noch wol 6 — 700 schulpflichtige, bildungs-
fähige Taubstumme ihrem traurigen Schicksal überlassen.
Wäre es unter solchen Umständen nicht an der Zeit
und ist es nicht unausweichliche Menschenpflicht, nach dem
ruhmreichen Vorgange der oben angeführten deutschen
Staaten auch bei uns in der Schweiz den Schulzwang für die
Taubstummen, an den. sie mindestens ein ebenso gutes An-
recht haben wie die Vollsinnigen, gesetzlich festzustellen
und mit Strenge durchzuführen?
Heil der Stunde, in der in unserm Lande den Unglück-
lichsten der Unglücklichen ihr volles Recht wird!
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Der Lehrer Leimnnd and ein Geheimer Justizrath.
Vom Herausgeber.
den charakteristischen Zügen unseres Zeitalters gehört die
starke Betonung und eifrige Pflege der „Interessen". Es gilt als
Regel, dass ein jeder vor allem sein persönliches Interesse wahre und
fördere. Dazu kommt dann eine ganze Legion anderer Interessen,
als da sind die Interessen zahlloser Vereine, Genossenschaften und Ringe,
die Interessen der Geschäftsleute und Grundbesitzer, der Arbeiter und
Capitalisten, der Beamten, Künstler, Schriftsteller u. s. w., kurz der Stände
und Berufsclassen, ferner die Interessen der Frauen, der politischen
Parteien, der Nationalitäten, Confessionen, Kirchen u. s. w. Immer und
überall ist die Rede von Interessen und spielt der Kampf um Interessen.
Selbst in richterlichen Erkenntnissen begegnet man häufig dem Aus-
spruche, der Beklagte habe gehandelt „in Wahrung berechtigter Inter-
essen"; und auf dem Gebiete der Pädagogik, wo vordem das Interesse
sich damit begnügen musste, neben anderen gleichberechtigten Factoren
die gebürende Stelle einzunehmen, hat sich eine Partei gebildet, die
mit ihren „Interessen" alles andere an die Wand drücken möchte.
Während vormals, als der Geist eines Kant, Lessing, Schiller und
anderer Heroen unseres Volkes noch lebendig fortwirkte in unserem
Oulturleben, Moral, Pflicht, Gewissen, Recht und Gesetz die höchsten
Normen und Triebfedern für jedermann und für alle menschliche Ge-
meinschaft waren, treibt unser Zeitalter einen förmlichen Interessen-
cultus und eine systematische Interessenwirtschaft^ deren Kern allent-
halben die liebe Selbstsucht ist, indem ein jeder immer in erster Linie
sein wertes Ich im Auge hat, möge er nun von den Interessen seiner
Person, oder von den Interessen seines Standes, seiner Partei, seiner
Nation, seiner Kirche u. s. w. reden. Und während die alte Moral
auf Einigung und Frieden ausging, tendirt die neue auf Zersetzung
und Streit.
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- 641 —
Unter solchen Verhältnissen ist es nicht zu verwundern, dass
auch der Lehrerstand in den allgemeinen Interessenkampf hinein-
gezogen wird und so wie alle anderen Gesellschaftsclassen für seinen
Nutzen und sein Ansehen zu Felde zieht. Andere Leute und Stände
glauben ihren Interessen zu dienen, wenn sie den Lehrer und den
Lehrerstand niederhalten und herabsetzen und thun dies bei jeder
Gelegenheit, bald unter heuchlerischer Maske, bald mit offener Bruta-
lität. So wird es begreiflich, dass sich aus der Lehrerschaft zahl-
reiche Stimmen erheben, welche zur Abwehr solcher Unbill auffordern
und Waffen zu dieser Abwehr anbieten. Es handelt sich da vor
allem darum, die vielfachen Anklagen des Lehrerstandes in die
Schranken des berechtigten Maßes zurückzuweisen und die wahren
Ursachen vorhandener Missstände klarzulegen, aber auch unbestreit-
bare Vorzüge und Verdienste zur Geltung zu bringen. Hiermit be-
fasst sich nicht nur der gelegentliche Gedankenaustausch im Privat-
verkehr, sondern auch ein erheblicher Theil der Vereinsthätigkeit mit
ihren Vorträgen, Resolutionen und Eingaben an Behörden, ingleichen
die literarische Arbeit, wie sie in Zeitschriften, Broschüren und
Büchern zu Tage tritt, um den guten Ruf des Lehrerstandes zu
wahren, seine sociale Stellung zu verbessern, bösen Leumund und
feindseligen Druck von ihm abzuwehren.
Bisweilen erweist sich diese Intention als mitwirkender Factor
selbst bei solchen literarischen Unternehmungen, welche an sich nicht
dein Tagesstreite, sondern dem Frieden des Hauses und Gemüthes ge-
widmet sind. So erschien unlängst ein freundlich ansprechendes Buch
unter dem Titel: „Dichterstimmen aus der deutschen Lehrer-
we lf von J. Pawlecki (Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei
A.-G., 382 S., Preis 3 Mark, geb. 3,50 M.), welches von 125 deutschen
Lehrern poetische Erzeugnisse ihrer Mußestunden bringt, die in erster
Linie genommen sein wollen, wie sie sich geben, aber doch nicht ohne
Rücksicht auf das Los des Standes ihrer Verfasser gesammelt sind.
Der Herausgeber bemerkt, dass er mit dem Werke „dem deutschen
Lehrerstande eine Lanze brechen wollte", was er auch in folgenden
Strophen seines Widmungsgedichtes andeutet:
«Verkündet, dass in Lehrerherzeu
Ein ew'ger Bronnen Bahn sich bricht,
Dass sie in Wintersturni und Darben
Verschlossen sich dem Frühling nicht.
Verscheucht den Schritt der Lugpropheteu,
Der Lästerzunge Priesterschar;
Der Wahrheit brechet eiue Gasse,
liebt sie zum Lichte sonnenklar."
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— 642 —
Wenn nämlich den Lehrern u. a. bisweilen auch materialistischer
Sinn und Gleichmütigkeit gegen höhere Bestrebungen vorgeworfen
wird, so dienen allerdings die hier vorgeführten Proben idealer
Lebensanschauung in schönem poetischem Gewände zu kräftiger Wider-
legung dieses bösen Leumunds und somit dem guten Rufe des Lelirer-
standes. Möge daher das schöne Buch recht viele Freunde finden ; es
enthält in der That zahlreiche Blüten echt dichterischen Geistes.
Direkt auf die Lehrerfrage geht Hans Trunk ein mit seiner
bereits in einer zweiten Sonderausgabe vorliegenden gekrönten Preis-
schrift: „Der Volksschullehrerstand im Spiegel der Mitwelt*
(Graz, Leuschner & Lubensky, 66 S.). Der Verfasser zeigt zunächst,
wie man in verschiedenen Kreisen über die Lehrer und ihre Be-
strebungen urtheilt, ferner, woher es kommt, dass man gerade am
Lehrerstande eine ungewöhnlich herbe Kritik übt, wobei er auf die
materielle Stellung dieses Standes, seine Bildung, sein Verhältnis zur
Schulaufsicht, zur bürgerlichen Gesellschaft und Politik, aber auch auf
die innerhalb des Standes selbst vorhandenen Fehler und Gebrechen
zu sprechen kommt und schließlich die Mittel zur Anbahnung besserer
Zustände darlegt. Wenn auch diese Themata bereits oft und viel-
seitig behandelt worden sind, so verdient doch die zusammenfassende,
klare und freimtithige, auch manchen neuen Zug bietende Schrift von
Hans Trunk, der sich als wackerer Berufsgenosse längst bewährt hat,
allgemeine Beachtung.
Ein ganz eigenartiges Buch hat jüngst Herr Wilhelm Meyer-
Markau in Duisburg herausgegeben. Es fuhrt den Titel: „Der
Lehrer Leumund. Urschriftliche Worte zeitbürtiger deutscher
Schriftsteller, Dichter und Gelehrten über Lehrer und Schule" (216 S.,
2,50 Mark, geb. 3 Mark, Selbstverlag). Die Entstehungsgeschichte
des Buches hat der Herausgeber selbst in einem Vortrage geschildert,
welcher den Titel führt: „Das entschleierte Bild des Volksschul-
lehrers", und bei Helmich in Bielefeld zum Preise von 40 Pfg. zu
haben ist. Wir führen aus dieser Entstehungsgeschichte die wich-
tigsten Daten an. Um zu erfahren, wie die „öffentliche Meinung*'
über den Lehrerstand urtheile, wandte sich Herr Meyer in einem Rund-
schreiben an ca. 1000 deutsche Schriftsteller, Dichter und Gelehrte
(nicht blos in Deutschland, sondern auch in Österreich, der Schweiz,
Italien, Russland und Nordamerika) mit der Bitte, ihre bezüglichen
Anschauungen kundzugeben, indem er eben in den Personen dieser
Kategorie die berufenen Vertreter und Organe der „öffentlichen
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Meinung"4 erblickte. Um denselben einen Leitfaden für ihre Äußerungen
zu bieten, bezeichnete Herr Meyer eine Reihe von Punkten, welche
in Betracht gezogen werden möchten, nämlich die Vorbildung der
Volksschullehrer, die gesellschaftliche Stellung derselben, ihre Be-
soldung; ferner die Vorschulfrage, die Bekämpfung der Social demo-
kratie durch die Schule, die Schülerzahl, den Heeresdienst der Lehrer,
die Fachaufsicht, die Trennung der Schule von der Kirche, die Simul-
tan- und die Confessionsschule, die Befreiung der Lehrer vom niederen
Küsterdienste, die Versorgung der Witwen und Waisen der Lehrer,
den Mangel eines Volksschulgesetzes in manchen Ländern, die Ver-
wendung der Person des Volksschullehrers in literarischen Erzeug-
nissen (meist als Caricatur). — Da nun das Anschreiben des Herrn
Meyer znerst keinen genügenden Erfolg hatte, sandte er demselben
ein Mahnwort mit einer ermunternden Beigabe nach, und nun stieg
die Zahl der Aussprachen auf 166, welche denn den Inhalt des vor-
liegenden Buches bilden. Außerdem kamen noch eine Anzahl Briefe
und Postkarten, welche das Nichteingehen auf die Angelegenheit ent-
schuldigten. Werden diese mitgerechnet, so hat ungefähr Jeder fünfte
Briefempfänger" Herrn Meyer, wie er selbst sagt, „einer Antwort
gewürdigt". Mit diesem Ergebnis ist er sehr zufrieden, so dass er
sich „im Interesse der Sache gar nicht dankbar genug auszudrücken
vermag". Diese Freude wurde noch dadurch erhöht, dass in den
eingelaufenen Aussprachen „beinahe durchgängig der Ton größter
Anerkennung, ja Hochachtung über die Volksschule und deren Lehrer
angeschlagen wird", weshalb Herr Meyer schließlich das zu Stande
gekommene Buch „ein Hoheslied auf den Lehrerstand" nennt.
Dieser Optimismus dürfte kaum in vollem Maße gerechtfertigt
sein, und man kann sogar die Frage aufwerfen, ob der von Herrn
Meyer eingeschlagene Weg zur Feststellung des Leumundes der Volks-
schnllehrer ein ganz zuverlässiger sei. Nur an solche Zeitgenossen
(Männer und Frauen) hat er sich gewendet, welche sich durch schrift-
stellerische Thätigkeit, überwiegend belletristischer Art, bekannt
gemacht haben. Dass dabei solche Personen, welche in eigner
Sache reden würden, also die Volksschullehrer selbst, sowie Seminar-
Directoren und -Lehrer, ingleichen die Vorgesetzten derselben, prin-
cipiell ausgeschlossen, hingegen bezüglich der übrigen Lebensstellungen,
der politischen und confessionellen Partei stand punkte u. s. w. keinerlei
Schranken gezogen wurden, wird man für zweckmäßig ansehen müssen.
Die Hauptfrage ist aber die: Sind denn wirklich gerade die Schrift-
steller die besten, d. h. die einsichtsvollsten und gerechtesten Richter
— 644 —
des Lehrerstandes, and kommt ihnen als Stimmführern der „öffent-
lichen Meinung" wirklich jene große Autorität zu, welche ihnen Herr
Meyer beilegt? Gewiss haben eine Anzahl seiner Gewährsmänner das
in sie gesetzte Vertrauen durch ihre gediegenen und wolmeinenden
Ausführungen bestens gerechtfertigt; aber daneben finden sich auch
nicht wenige, welche mit recht schwacher oder zweifelhafter Weisheit
und sehr mangelhafter Unbefangenheit raisonniren. Jedenfalls sind
in solcher Allgemeinheit, wie Herr Meyer glaubt, die „Schrift-
steller" nicht berufen, das Forum des Lehrerstandes zu bilden. Unter
den Tausenden, die sich heute als solche aufspielen, gibt es gar viele
problematische Existenzen, und selbst unter den gefeiertsten ihrer
Sippe begegnet man recht seichten, verschrobenen und aufgeblähten
Schwätzern; wenn sie auch mit ihrer Massenproduction immer reich-
liche Nachfrage und einen lohnenden Markt finden, so beweist dies in
vielen Fällen nur, dass es einen großen Haufen lesesüchtiger, aber
nrtheilsunfahiger Menschen gibt, die ohne einen bedeutenden Consum
bedruckten Papiers ihre öden Geister nicht vor gänzlichem Erlöschen
zu bewahren vermögen. Und anderseits gibt es nicht schriftstellernde
Leute genug, gelehrte und ungelehrte, deren Urtheil mehr inneren
Wert hat, als das vieler Herren und Damen von der Feder. Selbst
im eigenen Hause, im Bereiche des Lehrerstandes, kann man fragen,
ob der schriftstellernde Theil gerade der bessere sei. Es gibt viele
schriftstellernde Lehrer, die in keiner Weise berufen sind, ihre Col-
legen zu erleuchten und zu bessern, und viele nicht schriftstellernde,
die an Geist, Charakter, Tüchtigkeit und Treue im Amte ihren Be-
rufsgenossen als Muster dienen können. Die Schriftstellerei hat in
Deutschland so ungeheuer, man kann sagen epidemisch um sich ge-
griffen, dass sie bald aufhören wird, ein ehrenwertes Metier zu sein,
zu dessen zeitweiligem Betrieb gerade die Besten der Nation sich nur
noch mit Widerstreben entschließen, weil sie nicht mit dem Heere
aufdringlicher Sudler concurriren wollen und zu der Meinung kommen,
dass das Sprichwort: „Reden ist Silber, Schweigen Gold — " auch
auf dem Büchermarkte eine gewisse Berechtigung habe.
Was sodann die große Befriedigung des Herrn Meyer über den
Erfolg seines Anschreibens betrifft, so steht ihr leider die Thatsache
gegenüber, dass (trotz der Wiederholung desselben nebst ermuntern-
der Beigabe) von 1000 Angesprochenen 800 ihn nicht einmal „einer
Antwort gewürdigt" haben. Nimmt man hinzu, dass von den übrigen
200 ein Theil nur eine Entschuldigung ihrer Nichtbetheiligung ein-
schickte, ein anderer Theil sich auf eine kurze und in der Leumunds-
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frage ganz neutrale Sentenz beschränkte, ein dritter halb günstig halb
ungünstig urtheilte, ein vierter endlich offene Feindseligkeit kundgab,
so bleiben von 1000 höchstens 100 Stimmen übrig, welche das er-
wähnte „Hohelied" singen. Die vier Fünftel der Angesprochenen,
welche hartnäckig schwiegen, darf man jedenfalls mit mehr Grund
auf die feindliche als auf die freundliche Seite stellen. Denn der
Umstand, dass sie trotz der ihnen erwiesenen Ehre und wiederholten
warmen Zuspräche den freiwilligen Anwalt des Lehrerstandes nicht
einmal „einer Antwort würdigten-, macht einen üblen Eindruck, da
man sich sagen muss, dass wirkliche Lehrerfreunde eine so bequeme
Gelegenheit zur Kundgebung ihrer Gesinnung nicht abgewiesen haben
würden. Was wären denn das für Freunde, die nicht einmal ein
gutes Wort von sich zu geben Lust hätten?
Doch — das Buch ist nun da, und die Lehrerschaft kann nichts
besseres thun, als es gehörig auszunützen. Der Herausgeber hat un-
streitig die gute Absicht gehabt, seinem Stande einen ersprießlichen
Dienst zu erweisen; zu diesem Zwecke hat er viel Mühe und Arbeit,
überdies bedeutende Kosten aufgewendet. Daflir verdient er die Sym-
pathie und thätige Unterstützung von Seiten seiner Kollegen, also eine
freundliche Aufnahme seines Buches. Hierzu kommt aber, dass das-
selbe in der That ein sehr lehrreiches ist und mit vollem Rechte der
gesammten Lehrerschaft und allen, die mit der Volksschule in Be-
rührung stehen, zu eingehendem Studium empfohlen werden kann.
Wie ein Lied, das in einheitlichem und leicht ansprechendem
Tone von Anfang bis Ende dahin fließt, kann es freilich nicht ge-
nossen werden. Ich habe das Buch vollständig und aufmerksam durch-
gelesen, musste mir aber dieses Geschäft auf circa 20 Tage vertheilen,
da ich nicht anders allen 166 Stimmen in demselben gerecht werden
zu können glaubte. Herr Meyer hat nämlich die Äußerungen seiner
Vertrauenspersonen in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Namen
vorgeführt, damit eine jede selbstständig und ohne Unterbrechung
gehört werde. Diese Anordnung hat ihr Gutes und war in Rücksicht
auf die befragten Personen und nach dem Plan des ganzen Unternehmens
die allein gebotene; für den Leser hat sie aber den Nachtheil, dass
nun die Discussion über die aufgestellten Fragepunkte nicht in logi-
scher Folge, nicht nach dem Gesichtspunkte innerer Zusammengehörig-
keit, sondern in stetiger Zersplitterung und Abwechselung des Stoffes
geführt wird, was ihn ermüdet und, wenn er nicht öfters eine Ruhe-
pause macht, außer Stand setzt, den letzten Rednern dieselbe Auf-
merksamkeit zu widmen, wie den ersten. Ohnehin bleibt es dem
Pedagoginm. 14. J.hrg. Heft X. 45
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— 646 —
Leser überlassen, sich die einzelnen Stücke des Buches nach Maßgabe
der inneren Verwandtschaft zu ordnen, um so mehr, da nur wenige
derselben nach den aufgestellten Fragepunkten oder sonst einer Dis-
position angelegt sind. Ihre Bedeutsamkeit war eben mitbedingt durch
die den Autoren gelassene volle Freiheit bezüglich der Grenzen, des
ümfanges, der Anlage und des Tones ihrer Meinungsäußerungen, falls
sie nur überhaupt zum Thema, zur Lehrer- und Schulfrage sprächen.
Eine Anzahl derselben hat dies nun in so sachgemäßer, einsichtsvoller
und gründlicher Weise gethan, andere haben wenigstens einzelne
Punkte durch so interessante Bemerkungen beleuchtet, dass das Buch,
ganz abgesehen von der Personalfrage, eben durch die Discussion der
vom Herausgeber aufgestellten Fragen, einen unverkennbaren Wert
erhalten hat. Und gerade hierin liegt für mich der Hauptnutzen des
Buches und das Motiv, es allgemeiner Beachtung zu empfehlen.
Doch wir müssen zur Haupttendenz desselben zurückkehren, also
zu dem Versuche, durch dasselbe den Leumund des Lehrerstandes
festzustellen. Diese Intention ist sowol durch den Titel des Buches,
als durch den oben erwähnten Vortrag des Herausgebers unzweideutig
bezeugt Dass nun in dieser Hinsicht, wie schon nachgewiesen, kein
so erfreuliches Ergebnis erreicht ist, wie der Herausgeber annimmt,
möge noch durch einige Beispiele belegt werden. Auf Seite 41 thut
ein Herr Doctor die ganze Angelegenheit mit folgender Auslassung ab:
„Meine zahlreichen Erfahrungen mit Dienstmädchen, Handwerkern,
kleinen Händlern und Personen ähnlicher Berufe haben mir die feste
Überzeugung beigebracht, dass unsere Volksschule weder im Lesen
noch im Schreiben eine dem Aufwände von 8 Unterrichtsjahren an-
nähernd entsprechende Gewandtheit erzeugt. Eine Schule, die diese
wichtigsten Künste so schlecht lehrt, steht schwerlich auf der Höhe,
die ihr nachgerühmt wird."
Das ist alles, was der Herr Doctor zu sagen hat; in der That,
ein sehr bescheidener Aufwand von Geist und Scharfblick für einen
berufenen Stimmführer der öffentlichen Meinung!
Und ein schriftstellernder Herr Baron lässt sich auf Seite 131
folgendermaßen vernehmen:
„Die Dorfschulmeister, mit denen ich Gelegenheit hatte, wieder-
holt in intensiven Verkehr zu treten, zeichneten sich vorzugsweise
durch eine stark ausgeprägte Ansicht über die Wichtigkeit ihrer
Persönlichkeiten, durch eine unangenehm berührende Blasirtheit aus,
welche namentlich nur halbgebildeten Menschen eigen ist — kein
Wunder meiner Ansicht nach, denn gerade den Volksschullehrern
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wird von allen Seiten viel zu viel »weißgemacht4! und halbgebildete
Menschen vertragen es nun einmal nicht, wenn sie allzuschnell aus
«iner bis dahin gedrückten Sphäre emporgehoben werden."
Wieder die ganze Summe der Weisheit eines berufenen Richters
über den Lehrerstand! Von Unbefangenheit, besonnener Umsicht und
hochherzigem Wolwollen wird man da schwerlich eine Spur entdecken
können.
Die edelste Perle des ganzen Buches hat aber ein preußischer
Geheimer Justizrath, Namens L. Passarge, geliefert. Ans Lana
ä. d. Etsch, wo er zur Erholung weilte, hat er sie Herrn Meyer in
Duisburg eingesendet.
„Sie haben sich jedenfalls", so beginnt Herr Passarge, „an eine
ungeeignete Adresse gewandt, wenn Sie von mir eine warme, oder
auch nur sachliche Beurtheilung der angeregten Frage erwarten. Ich
habe wenig Gelegenheit gehabt, mit Volksschullehrern persönlich in Ver-
bindung zu treten." — Man sollte nun meinen, dass hier die Rede aus sein
müsse, oder wenigstens nicht den Leumund des Lehrerstandes betreffen
könne. Denn es ist doch die elementarste Regel der Gerechtigkeit,
dass man nicht Uber Dinge und Personen absprechen soll, die man
nicht genügend kennt, oder, wie der Jurist sagt, dass man kein Ur-
theil fallen soll, solange man mit der Quaestio facti, mit dem That-
bestand, nicht gehörig vertraut ist. Der Herr Geheime Justizrath
Passarge aber fahrt fort: „Wo es geschehen, habe ich oft sehr ehren-
werte Leute kennen gelernt, aber auch sehr zweifelhafte Persönlich-
keiten." Nun könnte man erwarten, dass er, wenn er weiter reden
will, doch auch den „sehr ehrenwerten Leuten", die er „oft kennen
gelernt hat", die gebürende Berücksichtigung, nicht aber blos ein paar
Phrasen widmen werde. Allein für sein Urtheil haben, wie sich
zeigen wird, die „sehr ehrenwerten Leute" wenig Gewicht, und die
schönen Redensarten scheinen nur den Zweck zu haben, bittere
Pillen zu umhüllen und zu beschönigen.
„Der Stand", so lautet Herrn Passarge's Votum, „hat mir fast
überall Missbehagen verursacht, so dass ich einem Volksschullehrer
noch oft mit Misstrauen gegenübertrete. Der Stand als solcher leidet,
ähnlich wie der der Apotheker, Künstler, Buchhändler u. a. an dem
Fluche der Halbbildung, ein Fluch, der in der Sache selbst liegt und
daher nicht zu vermeiden ist. Das Volk fühlt das instinctiv heraus
und stempelt einen Landschullehrer leicht entweder zu einer gehassten
oder lächerlichen Person. Nur sehr wenigen gelingt es, sich in dieser
45*
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prekären Stellung zu behaupten. Der Schullehrer hat in seiner Classe
eine dominirende Stellung; indem er diese auch dem ländlichen Publi-
cum gegenüber geltend machen möchte, wird er einfach zum Gespött.
Aus meiner juristischen Praxis, die sich über einen Zeitraum von
vierzig Jahren erstreckt, habe ich in betreff der Lehrer meist nur
peinliche Erinnerungen. Ja, in Litauen ging es so weit, dass wir
Richter der höheren Instanz bei besonders schmutzigen Processen zu
fragen pflegten, welcher Lehrer dahinter stecke. Denn dort sind sie
oft sehr fragwürdige Winkelconsulenten und hetzen die Leute an-
einander. Gewöhnlich entschuldigen sich solche Lehrer damit, dass
sie zu schlecht gestellt wären. Ich gebe darauf nichts. Es geht
ihnen hierin, wie den heutigen Fabrikarbeitern: je mehr sie haben,
um so mehr verlangen sie. Meiner Ansicht nach sind die Lehrer in
Preußen bereits so gestellt, dass sie nothwendig übermüthig werden
müssen. Ihre Gehälter erhöhen , hieße den Stand noch mehr dis-
creditiren."
Hier müssen wir eine Pause machen, um uns von diesen be-
täubenden Schlägen zu erholen. Und wenn es uns gelingt, unsern
Blick von den gebrandmarkten Delinquenten abzuwenden, um uns zum
Anschauen menschlicher Vollkommenheit zu erheben, dann mögen wir
ausrufen: Selig der Mann, welcher so erhaben in seiner Bildung und
Stellung ist, dass er auf alle Halbgebildeten, als da sind Volksschul-
lehrer, Apotheker, Künstler, Buchhändler u. s. w., sowie auf alle Prole-
tarier, wie Volksschullehrer und Fabrikarbeiter, mit souveräner Ver-
achtung herabblicken kann! Gewiss besitzt er nicht blos eine ganze,
sondern mindestens eine Fünfviertelsbildung, und sicherlich hat er in
seiner „juristischen Praxis, die sich über einen Zeitraum von vierzig
Jahren erstreckt", so unermessliches Heil über die Menschheit ver-
breitet, dass er Volksschullehrer (und Fabrikarbeiter) als eine verrufene
Menschenclasse behandeln kann, die nicht einmal einen kärglichen Tag-
lohn wert ist Heil dem Wackeren, der grau wurde oder die Haare
verlor in Ehren und Wolstand! Schmach dem armen Schlucker, den
schon im Mannesalter die Noth und böse Menschen zum Staube
niederbeugen! —
Doch bevor wir uns mit Herrn Passarge genauer auseinander-
setzen, wollen wir ihn erst weiter hören. „Als ich noch ein Kind
war und auf dem Lande wohnte, war der Stand im allgemeinen ge-
achteter als jetzt, und zwar darum, weil die Lehrer sich nicht dem
Luxus ergaben, und weil sie ihre Aufgabe sehr ernst nahmen und
sich nicht überhoben.44 — Das war vor ungefähr 60 Jahren; die
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heutigen Lehrer mögen sich in diesem Spiegel beschauen und sich
bessern, zu welchem Behufe ihnen Herr Passarge die Anweisung gibt:
„Die Lehrer müssen damit anfangen, wieder bedürfnisloser zu werden,
nicht aber höhere Gehälter zu verlangen. Letzteres ist aber der
Kernpunkt der ganzen Frage, wie sehr man dieselbe auch
sonst aufbauschen und drapiren mag." (Diese Stelle ist auch im
Buche gesperrt gedruckt.)
Weiter sagt Herr Passarge: „Noch Eines. Ich kenne keine mehr
alberne Redensart als die vom ,Sieger von Königgrätz*. Das Tüchtige
steckt entweder schon in einem Volke oder nicht. Wissen thut gar
nichts hinzu. Die Tiroler, in deren Mitte ich hier lebe, sind im
höchsten Grade bigott, einfältig und unwissend, aber trotzdem ein
kräftiger, tüchtiger und liebenswürdiger Volksstamm, der an Bildung
des Gemüthes und an Charakter viele gebildete Classen in Nord-
deutschland weit übertrifft." — Eine prächtige Theorie, aus welcher
man begreifen kann, warum Herr Passarge so schlecht auf die Lehrer
zu sprechen ist. Wissen thut gar nichts hinzu (zur Tüchtigkeit).
Der höchste Grad von Bigotterie, Einfalt und Unwissenheit macht
Herrn Passarge keinen Kummer. Drum wünscht er auch, dass seine
landsmännischen (preußischen) Lehrer etwa so gehalten werden, wie
bisher ihre Collegen in Tirol, denen es freilich oft recht schwer fallen
musste, gegen Bigotterie, Einfalt und Unwissenheit anzukämpfen.
Hätte uns nur Herr Passarge auch gesagt, welches die „vielen gebil-
deten Classen in Norddeutschland" sind, die von den biederen Tirolern
an Bildung des Gemüthes und Charakters übertroffen werden. Zum
Glück sind es nicht die Volksschullehrer nebst Apothekern, Künst-
lern u. s. w.; denn die sind nur „halb" gebildet, während Herr Pas-
sarge von gebildeten Classen schlechthin spricht. Und da es „vielett
sind, so könnten darunter wol auch Geheime Justizräthe sein, wie
wir da einen vor uns haben! — Noch hält dieser Herr den deutschen
Lehrern ihre Collegen in Norwegen und in der Schweiz als Muster
vor, an denen er rühmliche Sitten mit eigenen Augen beobachtet
haben will; er ist ja auch Reisender. Nur schade, dass von compe-
tenten Personen in Norwegen und der Schweiz die Beobachtungen des
Herrn Passarge als sehr oberflächlich und seine Raisonnements als
voreilig und schief nachgewiesen werden! (Siehe das Buch.)
Nun noch das Schlusswort des Herrn Passarge: „Sie sehen aus
allem diesem, dass ich den Volksschullehrern eine besondere Bedeutung
für unser deutsches Leben nicht beilegen kann. Dass es in diesem
Stande viele bedeutende, ja bewundernswerte Ausnahmen gibt, versteht
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sich von selbst" („ Ausnahmen ", welche die Regel nicht umstoßen
und sich überdies „von selbst verstehen", also für das Urtheil über
den ganzen Stand nicht ins Gewicht fallen, so meint Herr Passarge);
„mein Urtheil betrifft — wie schon erwähnt, — den Stand, nicht die
Personen". (Ich denke, wenn es den Stand betrifft, so betrifft es
auch die Personen, die diesen Stand bilden. Dieser Geheime Justiz-
rath hat eine ganz absonderliche Logik!) r Nicht auf den Lehrer
kommt es in erster Reihe an, sondern auf den Schüler, das heißt auf
das Volk. Freuen wir uns, dass das deutsche Volk ein solches ist,
welches einen Vergleich mit seinen Nachbarn nicht scheuen darf."
Nun ist Herr Passarge fertig, und wir freuen uns, seiner Schluss-
bemerkung im Hinblick auf den letzten preußischen Schulkrieg bei-
stimmen zu können, in welchem sich das deutsche Volk in der That
vernünftiger zeigte, als jene Sorte der superfein Gebildeten, von der
Herr Passarge ein gelungenes Exemplar ist. Es sind fast durchaus
Leute, die niemals unter der Zucht der Volksschule und des Volks-
schullehrers gestanden haben, weil es ihnen die Mittel ihrer Eltern
erlaubten, sich von Kindesbeinen an vom Pöbel abzusondern.
In der That: das Zeitalter des Interessenkampfes treibt merk-
würdige, leider sehr betrübende und besorgniserregende Blüten, so
dass die Hoffnung auf eine friedliche und heilsame Lösung der socialen
Fragen mehr und mehr schwinden, und die Aussicht auf die Zukunft
immer trüber werden muss. Die auf den Höhen sitzenden Stande
wollen niemanden mehr hinauflassen, weil ihnen sonst der Platz zu
eng und der Brotkorb zu klein werden könnte. Daher vertheidigen
sie ihre privilegirte Stellung mit allen möglichen Waffen, nur nicht
mit denen der Vernunft und Moral. Nackter Egoismus, bodenloser
Hochmuth, rücksichtslose Verachtung und Schmähung der Wehrlosen,
das sind die Tugenden, die leider nur allzuoft von den „besseren
Ständen" geübt werden. Da wirft man täglich den Socialdemokraten
vor, dass sie den Classenhass schüren. Ärger aber, wie dies der
Herr Geheime Justizrath Passarge thut, lässt es sich schwerlich
treiben. Welchen Anlass hatte er denn, in seine aufreizende Kritik
auch die Apotheker, Künstler, Buchhändler u. s. w. einzubeziehen,
über die ihn ja niemand befragt hatte? Und was wollte er sagen,
wenn nun diese mit dem „Fluche der Halbbildung" — einem Fluche,
„der in der Sache selbst liegt und daher nicht zu vermeiden ist" —
beladenen Gassen sich mit gleicher Brutalität gegen den Stand des
Herrn Geheimen Justizrathes wendeten? Er selbst hat ihnen ja Blößen
genug geboten. Denn wer die Welt so oberflächlich beobachtet, wer
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so leichtfertig urtheilt, so knabenhaft generalisirt, so lieblos richtet,
die einfachsten Gesetze des gesunden Menschenverstandes und der
Billigkeit so hart verletzt, wie Herr Passarge, der sollte sich doch
hüten, anderen Leuten die Fenster einzuwerfen. Hätte er in seiner
juristischen Praxis denselben Geist bethätigt, den er hier ais Schrift-
steller an den Tag legt, so würde er viel Unheil angerichtet haben.
Gewiss ist, dass mit solchem Geiste niemand ein leidlicher Apotheker,
Künstler oder Volksschullehrer sein kann, geschweige denn ein an-
ständiger Geheimer Schulrath oder etwas dergleichen. Aber Herr
Passarge war offenbar von einem so blinden Lehrerhass getrieben,
dass er sich nicht nur zu Ausbrüchen des Classenhasses hinreißen
ließ, sondern auch sich selbst und den eigenen Stand compromittirte.
Leider machen es unsere socialen Verhältnisse in Verbindung mit
unseren Schuleinrichtungen möglich, dass gar mancher, der an Schätzen
des Geistes und Gemtithes recht leicht zu tragen hat, mit der Marke der
classischen und akademischen Bildung einherstolziren und anderen das
Brandmal der Halbbildung aufdrücken darf, wenn sie ihm auch an Ein-
sicht, Besonnenheit, Zartgefühl, Charakter und Verdienst weit überlegen
sind. In unserer Zeit, besonders in Deutschland, gilt in Sachen der
Bildung der innere Gehalt und der reale Besitz wenig, die amtliche
Abstempelung und der papierne Schein alles. Daher kommt es, dass
gar oft die innere Verfassung und die Manieren der Menschen nicht
in Einklang stehen mit den Etiketten, die ihnen ex officio aufgeklebt
sind. Mir ist unter den von Herrn Passarge so verächtlich be-
bandelten Apotheken), Künstlern, Buchhändlern, Schulmeistern und
sonstigen „Halbgebildeten" bisher niemand begegnet, welcher ein so
unverständiges und rohes Urtheil über ganze Stände gelallt hätte,
wie der Herr Geheime Justizrath. Dies mag wol daher kommen, dass
die „Halbgebildeten" oft mit gutem Erfolg unablässig nach Vervoll-
kommnung streben, während Leute, die schon ais unreife Buben mit
dem Wahne der Auserwählten erfüllt werden, lebenslang ihren Dünkel
behalten, wahre Durchbildung aber niemals erlangen. Beides zeigt
sich deutlich in dem Schmähartikel des Herrn Passarge. Ihm ist es
eine ausgemachte Sache, dass der ganze Stand der Volksschullehrer
dem Hass und Gespött des Volkes anheimfalle; er stellt dies als
natürlich und unvermeidlich, als ein Ergebnis des richtigen Instincts
der öffentlichen Meinung dar und scheint daran sein Vergnügen zu
finden, wie ihm denn die ganze Mission des Volksschullelirers als eine
äußerst geringfügige erscheint, die daher auch keine anständige Ent-
lohnung verdiene. In Preußen hatten nach offiziellen Angaben Anno
1886 mehr als 3000 Volksschullehrer weniger als 600 Mark Jahres-
einkommen, mehr als 30000 weniger als 900 Mark, und seitdem ist
eine gründliche Verbesserung dieser Verhältnisse nicht erfolgt. Und
da hat Herr Passarge die Stirn, zu sagen: „Es geht ihnen hierin wie
den heutigen Fabrikarbeitern: je mehr sie haben, um so mehr ver-
langen sie. Meiner Ansicht nach sind die Lehrer in Preußen bereits
so gestellt, dass sie nothwendig übermüthig werden müssen.
Ihre Gehälter erhöhen hieße den Stand noch mehr discre-
ditiren." — Man würde einen so herzlosen und brutalen Ausfall
nimmermehr einem Geheimen Justizrath zutrauen, wenn man ihn nicht
schwarz auf weiß vor sich hätte. Die Liebenswürdigkeiten, welche er
noch speciell den Lehrern in Litauen erweist, mögen diese selbst
würdigen; wahrscheinlich beruhen sie auf derselben objectiven Auf-
fassung des Thatbestandes, wie die oben erwähnten Raisonnements
über die Lehrer in der Schweiz und in Norwegen.
Wenn man nun bedenkt, dass Herr Passarge jedenfalls viele ge-
heime Gesinnungsgenossen hat, und wenn man die vielen anderen
hochmögenden Herren hinzurechnet, welche längst als geschworene
Lehrerfeinde bekannt sind, weil sie ihrem Hasse bei jeder Gelegenheit
öffentlich den schärfsten Ausdruck geben: so begreift man, warum es
den deutschen, besonders den preußischen Lehrern so schwer wird,
sich eine bessere Stellung in der Gesellschaft zu erringen. Unter
solchen Verhältnissen wird man es aber auch billig finden, wenn end-
lich einmal ein Exempel statuirt wird an den Lästerern des
Lehrerstandes.
Nun noch ein Wort an die deutschen Lehrer selbst. Ich bitte
sie, mir einige Rathschläge zu gestatten und dieselben vorurteilslos
zu prüfen.
1. Wenn uns hier in den Auslassungen des Herrn Passarge eine
sehr abschreckende Probe classischer und akademischer Bildung ent-
gegentritt, so wolle sich doch niemand zu jener voreiligen Generali-
sirung verleiten lassen, welche ein untrügliches Merkmal der Halb-
bildung ist, und eben in dem Gerede des Herrn Passarge eine hervor-
ragende Rolle spielt. Man darf aus diesem Specimen keineswegs
schließen, dass die classische und akademische Bildung an sich zu
solcher Missgestalt tendire und in der Regel so kläglich auf der
Oberfläche sitze, wie bei Herrn Passarge und vielen andern. Zum
Glück enthält das Buch des Herrn Meyer zahlreiche Belege gegen-
teiliger Art. Man lese z. B. die im Buche enthaltenen Ausführungen
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von anderen Juristen, ferner von Mediemern, Philologen (Männern
des höheren Schulamtes) und Theologen (Geistlichen), und man wird
da fast durchgängig schöne Proben wahrer Bildung finden.
2. Lasst euch nicht verbittern und niederschlagen von bösem und
falschem Leumund! Wenn Herr Passarge darauf auszugehen scheint,
den Lehrerberuf verächtlich zu machen und den Lehrerstand aufs
äußerste zu demüthigen, so lasst euch nicht das Bewusstsein rauben,
dass ihr eine hohe und ehrenvolle Mission an eurem Volke zu er-
füllen habt!
3. Gebt aber auch den Stimmen von gerade entgegengesetzter
Art kein Gehör! Einen schroffen Contrast zu Passarge's Kapuzinade
bildet z. B. folgender Ausspruch eines andern auf S. 169 des Mey er-
sehen Buches: „Nur eine Untugend besitzt der deutsche Lehrer: die
Bescheidenheit. Daher kommt es auch, dass man ihn so stiefmütter-
lich behandelt. Es fehlt ihm die Unverschämtheit des Juristen, die
Praxis des Börsenmannes und die Brutalität des feudalen Grund-
besitzers, im allgemeinen das selbstbewusste Auftreten, durch welches
er sich Geltung erzwingt. Freilich, Bescheidenheit ist der Stempel
tiefen Wissens und edlen Herzens; aber wer sie übt, gilt nichts in
der Welt und wird in ihr stets und überall zurückgesetzt werden.
O deutsche Lehrer, seid etwas weniger bescheiden, damit ihr etwas
mehr von dem erhaltet, was euch gebürt!" — Da haben wifs. Den
einen sind die Lehrer zu hochmüthig, den andern zu demüthig; aut
beiden Seiten aber spricht sich der generalisirende und rücksichtslose
Classenhass und Interessenkarapf aus, welcher gegenwärtig die deutsche
Nation zerrüttet. Da heißt es denn für den Lehrerstaud: Vorsicht,
Besonnenheit^ Ruhe! Stimme nicht ein in dieses wüste Geschrei; sei
überzeugt, dass das jetzt heirschende Sittensystem kläglich scheitern
und wieder den Moralgesetzen der Väter unserer Cultur weichen
wird! Inzwischen aber lass dir den „ Stempel tiefen Wissens und
edlen Herzens" besser gefallen, als die r Unverschämtheit" und „Bru-
talität", womit andere ihr Glück begründen!
4. Wenn wir Männern, welche von so bornirten Vorurtheilen und
von so blinder Feindschaft gegen den Lehrerstand getrieben werden,
wie Herr Passarge, jeden Beruf zur Kritik des Lehrerstandes schlecht-
hin absprechen müssen, selbst wenn dieser an tausend Sünden litte,
so darf dies niemanden dazu verleiten, jeden für einen Feind des
Lehrerstandes zu halten, der überhaupt Ausstellungen an ihm zu
machen unternimmt. Es gibt auch Tadel, welcher eben so gerecht
als wolgemeint ist. Den soll man sich zu Herzen nehmen, und die
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ihn aussprechen, soll man als gute Freunde achten. Meyers Buch
gibt hierzu genügende Gelegenheit.
5. Die Lehrer sollen bezüglich ihrer Reputation nicht allzu em-
pfindlich sein und sich ihrerwegen nicht allzusehr erhitzen. Sie
mögen bedenken, dass es auch noch verständige und gerecht denkende
Leute gibt, welche sich nicht von bösen Zungen dictiren lassen, was
sie vom Lehrerstande zu halten haben. Nur in den dringendsten
Fällen soll er sich zu einer besonderen Action für seine Ehre be-
stimmen lassen; oft wird die stille Verachtung der Lästerer und die
Gelassenheit rechtschaffenen Verhaltens die beste Waffe sein, und oft
auch kann der Lehrerstand die Verteidigung getrost seinen Freunden
überlassen. Keinesfalls darf nochmals eine Enquete unternommen
werden, wie sie Herr Meyer angestellt hat. Diese eine sei ihm ver-
ziehen; denn sie war gut gemeint, brachte viel Lehrreiches mit sich
und war überdies der erste Versuch ihrer Art, bei welchem über die
Schattenseiten des Unternehmens noch keine Erfahrungen vorlagen.
Nun aber stehen sie fest, und daher sei es genug mit dem Gebotenen.
Denn einerseits kann der Zweck, den „ Leumund der Lehrer" zuver-
lässig festzustellen, auf diesem Wege überhaupt nicht erreicht werden,
weil die Schriftsteller im allgemeinen erstens gar nicht berufen sind, die
aufgeworfene Frage unter sich zu entscheiden, zweitens aber die Mehr-
zahl derselben gar kein Votum abgibt; anderseits liegt in besagter
Enquete manches, was mit der Selbstachtung des Lehrerstandes nicht
vereinbar ist. Derselbe wird überhaupt gut thun, weniger auf die
Meinung der Welt, als auf die Stimme seines Gewissens zu hören;
nicht sowol darnach zu fragen, was dem oder jenem Schriftsteller be-
liebt, als darnach, was ihm Ehre und Pflicht gebietet
0. Der Lehrerstand soll sich gerechten Tadel zu Nutze machen,
soll achtsam auf alle Fehler und Gebrechen sein, die in seinem Schöße
vorkommen, und soll sicli täglich bemühen, sie abzustellen; er soll
rastlos an seiner Selbstvervollkommnung arbeiten, sowol in allgemein
menschlicher als in beruflicher Beziehung; böswilligen Angriffen auf
seinen Leumund aber soll er in erster Linie die stets und überall
wirksamsten Mittel entgegensetzen: ehrenhaften Wandel und uner-
schütterliche Treue im Dienst!
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Pädagogische Rundschau.
Der IX. Deutsche Lehrertag. (Halle, Pfingstwoche 1892.) Also
einen möglichst knappen Bericht wünschen Sie diesmal, hochgeschätzter Herr
Redacteur? Gut, hier haben Sie ihn!
Aus den Verhandlungen der Vorversammlung am Abend des 7. Juni
hebe ich hervor, dass außer Feststellung der Tagesordnung für die Haupt-
versammlung zum Vorstände bestimmt wurden die Lehrer C lausnitzer,
Berlin, Bakkes, Darmstadt, und Dr. Schmeil, Halle. Warm empfunden,
inhaltlich wol abgerundet war eine längere Begrüßungsrede, die der Hallesche
Lehrer Dr. Schmeil mit zündender Begeisterung vortrug, und worin be-
sonders der Segen der Lelirervereinigungen betont und mit Nachdruck darauf
verwiesen wurde, wie der IX. Deutsche Lehrertag wiederum unter dem Zeichen
eines großen Pädagogen, des Comenius, stehe, gleich wie der VIII. in
Diesterweg seinen bestimmenden Ausdruck gefunden habe. Trotz Be-
fleißiguiig größtmöglicher Kürze kann ich nicht umhin, ein Hoch von Lehrer
Gallee auf den Nestor der deutschen Lehrerschaft, den „Großvater" der
hessischen Lehrer, Johann Schmitt, Darmstadt, zu verzeichnen. Letzterer,
der seinen 78. Geburtstag feierte, warf in seiner Erwiderung einen Rückblick
auf die Lehrerbewegung in den letzten 60 Jahren, an denen er stets regen
persönlichen Antheil genommen hat.
Die I. Hauptversammlung am folgenden Morgen wurde durch einen
Chorgesang Hallescher Lehrer (M6hul: „Hör uns, Gott, Herr der Welt!") eröffnet,
worauf der 1. Vorsitzende die zahlreiche Versammlung (es waren 1826 Gäste
in die Theilnehmerliste eingetragen) in kurzer Ansprache begrüßte. Ein paar
Sätze daraus zu verzeichnen, möge gestattet sein: „Ein eisiger Reif drohte
die Entwickelung des Volksschulwesens im größten deutschen Bundesstaate, in
Preußen, zu hemmen. Allein das Volk wollte sich sein herrlichstes Kleinod nicht
verkümmern lassen. Ein Sturm der Entrüstung brauste durch das Land und
zerstreute die der Volksschule drohenden Gefahren." Nach einem Hoch auf
den Kaiser des Deutschen Reichs wurde sodann ein Begrüßungstelegramin an
rden obersten Schirmherrn des Reichs und den obersten Schutzherrn auch der
Schule" beschlossen. Mit stürmischem Beifall wurde die Begrüßungsrede des
Oberbürgermeisters von Halle, Staude, entgegengenommen. Auch hier wieder
einen die Stimmung in Preußen und im Reich kennzeichnenden Satz! „Die
städtischen Behörden in Halle seien stets bemüht gewesen, die Volksschule zu
vermehren und zu verbessern, und nachdem es gelungen sei, den Zedlitz'schen
Schul-Gesetzentwurf zu beseitigen, werde es in Halle hoffentlich gelingen, ein
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Schulwesen zu schaffen, das der heutigen fortstrebenden Entwickelung in jeder
Beziehung zur Ehre gereichen werde." Auch Schulrath Dr. Krähe und der
Lehrerveteran Taugermann (letzterer namens der gastgebenden Lehrer-
schaft) sprachen Worte der Begrüßung. Die Festrede zur Comeniusfeier
hatte Pastor primarius Seyffarth, Liegnitz, übernommen, der eben so gründ-
lich wie anziehend die Erziehungsgrundsätze des großen Schulmannes auf die
Forderungen der modernen Pädagogik anzuwenden verstand. Comeniusreden
sind im letzten Jahre viele gehalten, der gedankenreichsten eine dürfte die
Seyffarthsche gewesen sein. Wir legen den Finger wiederum auf einen Satz,
nämlich auf den folgenden: rComenius wäre selbstverständlich nicht fähig gewesen,
einen Schulgesetzentwurf auszuarbeiten wie den, der jüngst glücklicherweise
wieder zu Grabe getragen ist.*4 Dass der Redner als Theologe sich gegen
die confes8ionelle Schule erklärte, dass er für die Befreiung der Schule von
kirchlicher Bevormundung, für Einführung eines Unterrichts- statt Cultus-
Ministeriums, für die allgemeine Volksschule, für eine sorgenfreie Lebens-
stellung der Lehrer u. s. w. eintrat, soll ihm von uns Lehrern mit Dank in
unseren Herzen „gut geschrieben" werden. Mochte die Rede auch zu lang
gerathen sein, sie hatte den stürmischen Beifall, namentlich am Schlüsse, wol
verdient. — Den folgenden Vortrag hielt der durch seine liberale Auffassung
der Schul- und Erziehungsangelegenheiten unter Deutschlands Lehrern Vor-
th eilhaft bekannte Wormser Stadtschulinspector Scherer über „Die all-
gemeine Volksschule in Rücksicht auf die sociale Frage." Aus-
gehend von Comeniu8' Forderung, dass die Kinder einer Gemeinde gemein-
sam die Mutterschule vom 6. bis 12. Lebensjahre besuchen sollen, damit sie
sich gegenseitig anregen und alle zu allen Tugenden — Bescheidenheit, Ein-
tracht, gegenseitiger Dienstbarkeit — erzogen werden, bevor sie zum Hand-
werk oder Studium übergehen, — hinweisend auf Pestalozzi, der zu denselben
Forderungen kam, stellte Redner die Forderung auf, dass der Mensch heute
als Glied des nationalen Staates aufzufassen und zu erziehen sei, da sich die
Individualerziehung zur Social erziehung zu erweitern habe. In einem sich
anschließenden geschichtlichen Rückblicke erinnerte Scherer daran, dass es in
dem v. Süvernschen preußischen Unterrichtsgesetzentwurfe von 1819 heiße:
„Die Schule gliedert sich bis dahin, wo die Thätigkeit der Universität beginnt,
in die allgemeine Volksschule, die allgemeine Stadtschule und das Gymnasium :
diese drei sind als eine einzige Anstalt zur Nationalschulerziehung zu be-
trachten.** Auf die Entstehung und Entwickelung der Socialdemokratie über-
gehend, änßert Redner seine Meinung dahin, dass der junge Mensch, der ihr
anheimfalle, aus seiner kirchlich dogmatischen Schulbildung keine feste sittliche
Weltanschauung, die sein Gemüth und sein Denken befriedige, mitbringe. Das
machen sich die Führer der Socialdemokratie zu nutze, sie bieten ihm die
Weltanschauung des atheistischen Materialismus. Der junge Mensch werfe
uun seine alte kirchlich-dogmatische Weltanschauung, welche er mit dem Ge-
dächtnisse aufgenommen habe, beiseite, damit zugleich aber auch die ewig
wahren, religiösen und sittlichen Wahrheiten, die man ihm nur in Verbindung
mit der kirchlich-dogmatischen Weltanschauung geboten habe. Die atheistische
Weltanschauung könne dem Menschen die innere Befriedigung auch nicht
geben. So wachse ein Mensch heran, dem die religiös sittlichen Ideale fehlen,
der nur seine Sinneslust zu befriedigen sucht, der mit Hass und Neid gegen
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die besitzenden Classen erfüllt sei, die wiederum ängstlich sich von ihm zu-
rückzögen, für seine Lebensbedingungen kein Verständnis hätten, von denen
er und seine Kinder schon vom ersten Schultage an getrennt würden. Darum
sei die allgemeine Volksschule eines der Heilmittel gegen die Ursachen der
Socialdemokratie. Die nationale Einigung des deutschen Volkes müsse zur
wahren Homogenität desselben ausgebildet werden, und diese bestehe nicht in
äußeren Dingen, sondern in der Gemeinschaft der geistigen und sittlichen
Grundlagen. Die Trennung der Kinder vom ersten Schuljahre an nach
Ständen und Confessionen sei eine künstliche, denn alle Menschen sind in
ihrem Wesen gleich und allgemeine Emporbildung zu reinem Menschenthum
ist Zweck und Aufgabe der Erziehung bei allen Menschen." Durch die all-
gemeine Volksschule werde der Mensch zu einem religiös-sittlichen Charakter,
der sein Eigenwol dem Wole des Ganzen unterordnen und sich, wenn auch
die Bildungs- und Berufswege auseinandergehen, doch als Glied des nationalen
Ganzen fühle. Durch sie werde der Classenhass verbannt und edler Gemein-
sinn unter den Gliedern der Nation erzeugt. Es werde durch sie zwischen
reich und arm ein Band gegenseitiger Liebe und Wertschätzung geknüpft,
das Verständnis der Lebensverhältnisse der verschiedenen Stände unterein-
ander, vor allem aber der vertrauliche Verkehr von Person zu Person ange-
bahnt. Auch die besitzenden Classen würden mehr Interesse an der Volks-
schule gewinnen, man werde kleinere Klassen bilden n. s. w. Auch werde
man Volkskindergärten einrichten. Ebenso werde sich mehr Verständnis für
die äußere Lage der Lehrer herausbilden. Redner geht dann zur Organi-
sationsfrage der deutschen Xationalschule über, deren Unterbau die allge-
meine Volksschule zu bilden habe. Des Näheren begründet er dann noch die
folgenden Leitsätze:
I. Die Schule kann an der Lösung der socialen Frage dadurch mitarbeiten,
dass sie, soweit es die ihr zu Gebote stehenden Mittel gestatten, alle Glieder
der Nation zu möglichst vollkommener Entwickelung ihrer körperlichen,
geistigen und sittlichen Kräfte im nationalen Sinn und Geist bringt und eine
Jugend erzieht, die frei ist von Standesvorurtheilen und erfüllt ist von edlem
Gemeinsinn und echter Vaterlandsliebe.
II. Die pädagogischen Vorbedingungen einer so gearteten Schulerziehung
können am vollkommensten erfüllt werden durch eine Schnlorganisation, durch
welche die Angehörigen aller Stände nach Möglichkeit zusammengeführt werden
und für den Übertritt aus den niederen Stufen in die höheren durch den
organischen Zusammenhang aller Schulanstalten Sorge getragen wird.
III. Ans diesen Gründen erhebt der IX. Deutsche Lehrertag folgende
Forderungen :
1. a) Staat und Gemeinde sollen für die gemeinsamen Bildungsbedürf-
nisse auch nur gemeinsame, allen in gleicher Weise zugängliche Bildungs-
anstalten errichten.
b) Insbesondere soll für den allen Kindern nothwendigen Elementar-
unterricht nur eine Art von öffentlichen Schulen vorhanden sein und sollen
daneben auf Kosten des Staates oder der Gemeinde besondere Vorschulen
für höhere Lehranstalten, Mittel- und höhere Mädchenschulen nicht errichtet
noch organisch damit verbunden werden. Die bestehenden Vorschulen sind
aufzuheben.
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2. Auf diesem gemeinsamen Unterbau, der „allgemeinen Volksschule",
bauen sieb auf:
a) die Bürgerschule (niedere) und deren Fortsetzung, die Fortbildungs-
schule;
b) die höhere Bürgerschule (Mittel-, Real- und höhere Mädchenr chule) ;
c) die höheren Lehranstalten (Oberrealschule, Gymnasium n. s. w.).
3. Die vorhaudenen Einrichtungen, welche begabten ärmeren Kindern
den Besuch der höheren Lehranstalten ermöglichen (Befreiung von Schul-
geld, kostenfreie Alumnate u. s. w.) bedürfen einer weiteren Ausdehnung
und werden der öffentlichen und privaten Fürsorge empfohlen.
Der Vortrag wurde oft von stürmischem Beifall unterbrochen und zum
Schlüsse langanhaltend damit ausgezeichnet. (Wir bemerken, dass derselbe
zum Preise von 40 Pfennig in der Meyer -Mai kau sehen „Sammlung päda-
gogischer Vorträge" [Bielefeld] erschienen ist.) Den von Scherer aufgestellten
Leitsätzen wurde ohne weitere Besprechung zugestimmt.
Auch die II. Hauptversammlung am Vormittag des 8. Juni wurde
mit dem Gesang einer Motette („Unermesslich ewig ist Gotttt) eröffnet. „Die
Vorbildung der Volksschullehrer" hieß der erste Verhandlungsgegen-
stand, Rektor R. Rissmann, Berlin, der Redner. In bekannter klarer und
wissenschaftlich ruhiger Vortragsweise begründete derselbe die folgenden
Leitsätze:
1. Die gegenwärtige Vorbildung des Volksschullehrers kann gegen-
über den heutigen Anforderungen an den Lehrerberuf nicht als genügend
anerkannt werden.
2. Behufs einer zweckmäßigen Gestaltung derselben erscheint in erster
Linie eine solche Organisation der Lehrerbildungsanstalten nothwendig, dass
dieselben im wesentlichen nur der pädagogischen Fachbildung zu dienen
haben.
3. Die als Grundlage der letzteren unerlässliche allgemeine Bildung ist
am zweckmäßigsten durch Absolvirung einer der bestehenden höheren
Bildungsanstalten, vorzugsweise der Oberrealschule zu erwerben.
4. Es ist uneriässlich, dass die an Seminaren wirkenden Lehrer neben
der erforderlichen wissenschaftlichen Bildung auch eine durch eigene Er-
fahrung gewonnene genügende Kenntnis des Volksschulwesens besitzen.
5. Eine Sonderung der Seminare nach der Confession ihrer Zöglinge
ist aus der Eigenart dieser Schulgattung nicht zu begründen. Vielmehr
folgt aus der Auffassung'des Seminars als einer Fachschule die Einrichtung
paritätischer Anstalten.
6. Es empfiehlt sich, die Seminare an größeren Orten oder doch in
deren Nähe anzulegen, damit die an solchen vorhandenen mannigfachen
Bildungsmittel den Zöglingen nutzbar gemacht werden können.
7. Das Internat ist nicht als eine für die Erziehung der künftigen
Lehrer unentbehrliche Einrichtung, sondern lediglich als eine Veranstaltung
zur Unterstützung bedürftiger Zöglinge zu betrachten. In keinem Falle
darf die Hausordnung desselben eine solche sein, welche die Zöglinge von
der Außenwelt abschließen und die Entwickelting selbstständiger Charaktere
hindern würde.
8. Dem Volksschnllehrer ist auf Grund seiner Seminarbildung unter
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Voraussetzung hervorragender praktischer Leistungen die Befähigung zur
Bekleidung eines Schulaufsichtsamtes zuzuerkennen.
Der Vortrag wurde äußerst beifällig aufgenommen; die Besprechung ge-
staltete sich ebenfalls sehr lebhaft. Wir können nur ein paar der Redner
herausgreifen: Hauptlehrer Gressler, Barmen, der bekanntlich mit 50 Mark
Ordnungsstrafe belegt wurde, weil er gegen den Zedlitz'schen Schulgesetz-
entwurf mehrmals öffentlich aufgetreten ist. Dieser Ursache entsprang sonder
Zweifel auch der großartige Begrüßungssturm, mit dem der Redner empfangen
wurde. Landtagsabgeordneter Lehrer Kalb, Gera, verwahrt die Schule
davor, immer und immer mit der Sozialdemokratie in Verbindung gebracht zu
werden. Universitätsprofessor Dr. Rein, Jena, stimmt den Forderungen des
Vortragenden nicht nur aus pädagogischen, sondern auch aus socialpolitischen
Gründen zu. Schulinspector Scherer, Worms, will als Vorbereitungsanstalt für
das Seminar die Oberrealschule statt der von Rissmann ursprünglich genannten
höheren Bürgerschule anerkannt wissen. Reg.- und Schulrath Schöppa, Magde-
burg, hält an der Vorbildung der Seminaristen auf Präparanden-Anstalten fest,
deren Verbesserung er freilich für nöthig erachtet. — Auch beim zweiten Gegen-
stande der Tagesordnung, „Die Behandlung der verwahrlosten und sitt-
lich gefährdeten Jugend" von Lehrer und Redacteur Helmcke, Magde-
burg, müssen wir uns vorgeschriebener Kürze halber begnügen mit Wieder-
gabe der Leitsätze, die keine Besprechung, wol aber im allgemeinen Zu-
stimmung erfahren. Sie lauteten:
1. Nur eine sorgsame Erziehung, nicht aber eine einzelne Strafe, die
blos ein Glied in der Kette der Erziehungsmaßnahmen sein kann, vermag
einem sittlich verdorbenen oder gefährdeten Jugendlichen diejenige sittliche
Reife und Charakterstärke zu verleihen, welche allein auf die Dauer von
Strafthaten abhält.
2. Aus mehrfachen erziehlichen Gründen muss die Strafunmündigkeit
mindestens bis zum 14. Lebensjahre ausgedehnt werden.
3. Sowol über bereits Bittlick verwahrloste Kinder unter 14 Jahren,
ganz gleich, ob ihre Verwahrlosung bereits in einer Strafthat Ausdruck ge-
funden hat oder nicht, als auch über solche Kinder, deren sittliche Ver-
wahrlosung zu befürchten steht, weil bereits Anfänge derselben deutlich
erkennbar sind oder die Persönlichkeit der Eltern oder sonstige Verhältnisse
eine solche herbeifuhren müssen, ist staatlich überwachte Erziehung zu ver-
hängen.
4. Die Aufgabe jeder, also auch der staatlich überwachten Erziehung
ist die Heranbildung eines sittlich festen Charakters. Es muss daher mög-
lich sein, diese Erziehung, falls nicht früher die Gewähr einer weiteren guten
Führung vorhanden ist, bis zum 20. oder 21. Lebensjahre, der Heeres-
pflichtigkeit der männlichen Jugend, auszudehnen.
5. Auch für jugendliche Verwahrloste zwischen 14 und 18 Jahren ist
die staatlich überwachte Erziehung als erstes Mittel zu ihrer Besserung ins
Auge zu fassen.
6. Eine gerichtliche Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe ist bei den mit
derselben verknüpften Bedenken allein dann empfehlenswert, wenn nur
durch eine vorangehende bedeutende Erschütterung des Gemüths ein Ein-
gehen auf eine erziehliche Einwirkung ermöglicht oder durch die Aussicht
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auf einen Erlass der nachfolgenden Strafe die Wirksamkeit der erziehlichen
Maßnahmen unterstützt werden kann.
7. Da das Beispiel den nachhaltigsten Einfluss ausübt, so muss die
Strafhaft auf jeden Fall so gestaltet werden, dass nachtheilige Einwirkungen
ferngehalten werden.
8. Die staatlich überwachte Erziehung muss im allgemeinen Anstalts-
erziehung und kann nur ausnahmsweise in bestimmten leichteren Fällen
Familienerziehung sein, weil solche nicht in ausreichendem Maße beschafft
weiden, weniger Sicherheit für einen Erfolg bieten und schwerer tiberwacht
werden kann.
9. Um dem übel der sittlichen Verwilderung so viel als möglich auch
die ersten Quellen zu verschließen, ist die obligatorische Einführung von
Krippen, Kinderbewahran stalten und Kinderhorten erforderlich.
10. Die Erziehung der Jugend, welche verwahrlost ist oder sittlich
gefährdet erscheint, muss durch ein Reichsgesetz in den oben bezeichneten
Umrissen geregelt werden.
Damit war die Tagesordnung erledigt und der L Vorsitzende schloss die
Verhandlungen mit den üblichen Dankesworten.
Soll ich diesem kurzen Berichte ein Urtheil über den Verlauf der Ver-
sammlung anhängen, so kann ich dasselbe nur dahin zusammenfassen, dass sich
der deutsche Lebrertag sowol in Bezug auf die Verhandlungen, wie auch im
äußeren Verlauf durchaus würdig gestaltete.
Möge er reichen Segen für Schule und Lehrerstand im Gefolge haben!
Wilhelm Meyer, Duisburg.
Aus Preußen. Wir blieben nicht in Canossa! Ein Flügelschlag des
Hohenzollern-Aars wehte das dunkelste Blatt unserer Zeitgeschichte fort und
trug uns über die düsteren Mauern hinweg, welche das deutsche Volk ein-
schließen sollten. Der Cultusminister von Zedlitz verschwand sammt seinem
Unterrichtsgesetz wie in einer Versenkung; wir aber athmeten erleichtert auf.
Wie tröstlich und wie traurig zugleich! Dass es erst eines Wortes aus des
Kaisers Munde bedurfte, um das Machwerk hierarchischer und reactionärer
Mächte zu beseitigen, ist nicht so schmerzlich, als dass dieses Machwerk unter
den Augen des Kaisers überhaupt das Licht der Welt erblicken konnte. Tröstlich
aber war es, dass das Kaiserwort gesprochen wurde, ehe die Sonne diesen
Gesetzentwurf, den die Blitzstrahlen der Volksstimmung versengt hatten,
beschien.
Dürfen wir nun ruhig sein und sorgloser Beschaulichkeit uns hingeben?
Nichts wäre thörichter und verderblicher! Der traurigste Gesetzentwurf, der
je aus den Räumen eines deutschen Unterrichtsministeriums hervorgegangen,
ist zwar gefallen und hat in dieser Form auf keine Auferstehung zu hoffen.
Aber die Kräfte, denen er sein kurzes und ruhmloses Dasein verdankte, sind
geblieben und suchen unaufhörlich nach den Punkten, wo sie mit Aussicht auf
Erfolg ihre Hebel ansetzen können. Freilich werden sie entschlossenem Wider-
stande begegnen bei einem Bürgerthum, das, aufgerüttelt aus träger und trü-
gerischer Ruhe, mehr als sonst seiner Pflicht und Kraft sich bewusst geworden
ist, bei einem Lehrerstande, welcher mit Ausnahme der unter hierarchischer
Vormundschaft Stehenden und einiger geistig oder sittlich verlotterter Creatoren
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nichts wissen will von einer Knebelung ä la Windthors t-Stöcker; aber sie
finden andererseits anch treffliche Stützen in einer Gesellschaft, die vielfach
von moralischer Fäulnis benagt, vom Parteizwist durchwühlt, von roher Genuss-
sncht entnervt, von blöder Kurzsichtigkeit befangen ist. Da wird es denn
eifriger und anhaltender Thätigkeit bedürfen, wenn eine dauernde Besserung
unserer Zustande bewirkt, eine Wiederkehr Zedlitz'scher Vorschlage in anderer
Gestalt und Einkleidung verhindert werden soll. Möge daher die Lehrerschaft
wachsam und besorgt sein, dass die Vertheidiger der freien Schule ihr Öl auf
der Lampe haben!
Man hat in der preußischen Lehrerpresse den Ausspruch gethan, es sei
nunmehr auf den Erlass eines Dotationsgesetzes mit allen Kräften hin-
zuarbeiten. Wir sind damit ganz einverstanden. Die Verbesserung und gesetz-
liche Sicherung des Lehrer-Einkommens ist in Preußen eine der allerdring*
lichsten Angelegenheiten. Und dass es nicht möglich ist, ein vollständiges
Unterrichtsgesetz mit einemmal fertig zu bringen, wird wol endlich all-
gemein zugestanden werden. Diese Ansicht ist so verbreitet, dass sie bereits
in der Formel Ausdruck gefunden hat: „Jeder preußische Cultusminister, der
sich an ein Unterrichtsgesetz heranwagt, muss seinen Abschied nehmen." So
sagt der treffliche L. Clausnitzer in der „Preuß. Lehrerztg.", und er nennt
das ein Naturgesetz, gegen welches niemand ankämpfen könne. Es liegt darum
nahe genug, die stückweise Lösung der Aufgabe zu verlangen und die Erledi-
gung der Dotationsfrage als nächstes Ziel anzusehen. Aber was kann die
preußische Lehrerschaft von einem Dotationsgesetz erwarten, das bei der
jetzigen Zusammensetzung des Landtages zu stände käme? Sollten die Par-
teien, welche für den Zedlitz'schen Entwurf einzutreten entschlossen waren,
den Lehrern ihre Haltung gegenüber jenem Entwurf verzeihen? Würden sie
nicht vielmehr in ein Dotationsgesetz ihre Quittung und ihren Dank mit
Lapidarzügen einschreiben, so dass den Lehrern die Freude verginge?
Nach unserem Dafürhalten müssen die preußischen Lehrer weiter warten,
wie sie bisher warten mussten. Es ist eine eiserne Nothwendigkeit, welche
nur durch große Ereignisse beseitigt werden kann und — beseitigt werden
wird. Durch den gegenwärtigen Landtag werden, dank der clerieal-conser-
vaüven Mehrheit, die Wünsche der Lehrerschaft niemals Befriedigung finden.
Ob es bei einem zukünftigen, anders zusammengesetzten, Landtag anders sein
wird, wollen wir nicht vorhersagen. Dass aber dann, wenn anscheinend unaus-
bleibliche, heftige Stürme unser Land und Volk erschüttert haben — Gott
verhüte es! — und wenn die Nation sich daran macht, wieder aufzubauen,
was des Wetters Wuth zerknickt — dass dann unser Volk des Lehrers Wert
und Lehrers Arbeit besser als heute schätzen, dass es dann seine alten Schulden
dem Lehrerstande bezahlen wird, ist unsere felsenfeste Überzeugung!
Was kann also die Lehrerschaft zur Zeit thun? Soll sie hoffen und harren?
Nein, sie hat keine andere Wahl, sie kann nur warten und arbeiten! Arbeiten
wie bisher in pflichtgetreuer Weise, ausdauernd, selbstlos. Jeden Anlass be-
nutzend, welcher der Schule und ihr selbst förderlich sein kann, soll sie
lebendigen Antheil nehmen an allen Bestrebungen, die den idealen Gütern
unseres Cultur- und Volkslebens dienen wollen. Wir denken dabei besonders
an die Mitarbeit in den Vereinigungen, welche die Veredelung und Bildung
des Volkes zum Zweck haben. Unaufhörlich soll die Lehrerschaft aber auch
Pädagogium. 14. Jahrg. Heft X. 46
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bestrebt sein, das Volk and seine Vertreter aber das, was das wahre Wol
der Schule erheischt, aufzuklären. Die diesjährige Erinnerungsfeier an J. A.
Com en ins bot in dieser Hinsicht einen trefflichen Anknüpfungspunkt, und wenn
die Lehrer überall eine so gute Gelegenheit zu benutzen verstanden haben,
so werden sie manches Samenkorn in fruchtbares Erdreich gestreut haben.
Ebenso nützlich kann auch dnrch Veranstaltung von Versammlungen, pädago-
gischen Ausstellungen, geeignete Abhandlungen über pädagogische Fragen von
allgemeinem Interesse gewirkt werden. Unter diesem Gesichtspunkte fassen
wir Veröffentlichungen wie diejenigen über den preußischen Unterrichtsgesetz-
entwurf (Tews), über Beobachtungen in pädagogisch fortgeschrittenen Ländern
(Ewald's Bericht über eine Studienreise nach der Schweiz) u. a. auf.
Die Stimmung der preußischen Lehrer, soweit dieselben am Öffentlichen
Leben Antheil nehmen, ist augenblicklich nicht so trübe, wie sonst. Hatte
ihnen schon der Fall der „lex Zedlitz" die tiefste Unmuthsfalte von der Stirn
gescheucht, so riefen zwei andere Vorkommnisse auch noch ein paar freund-
liche Linien in ihrem Gesichte hervor. Der neue Cultusminister Dr. Bosse
ist ein Freund der allgemeinen Volksschule! In dem Augenblicke, in
welchem die deutsche Lehrerschaft sich anschickte, in größerer Versammlung
zu dieser Frage Stellung zu nehmen (auf dem Lehrertage in Halle), benutzte
der Minister eine Verhandlung über die Gehaltsverhältnisse der Lehrer an
nichtstaatlichen höheren Lehranstalten, um sich ganz unzweideutig gegen die
Vorschulen und für die allgemeine Volksschule auazusprechen. Ganz die-
selben Gründe, welche die Lehrerschaft für letztere geltend macht, spricht
der Minister aus. Was aber die Lehrerschaft nicht vermocht hat, auch nicht
mit Hilfe eines der hervorragendsten Parlamentarier der Gegenwart — nämlich
des Abgeordneten Rickert, der in der Commission zur Vorberathung des
Zedlitz'schen Entwurfes einen Antrag auf Einschränkung des Vorschulwesens
stellte — : weitere Kreise zur Besprechung und Klärung des Gegenstandes zu
veranlassen, das haben wenige Worte des Ministers vermocht. Eine in neuerer
Zeit erschienene Schrift über die allgemeine Volksschule, durch Kürze und
übersichtliche Znsammenstellung des einschlägigen Materials zur Einführung
in die Sache namentlich für Nichtlehrer geeignet, war sehr vielen Tagesblättern
zugestellt worden; sie wurde im großen und ganzen todtgesch wiegen. Die
Worte des preußischen Unterrichtsministers wird man nicht todtschweigen !
Allenthalben erhebt sich die Discussion über die allgemeine Volksschule. Die
Beschlüsse des Halle'schen Lehrertages werden hoffentlich ein lebhaftes Echo
finden. Diese Erwartung und der Verlauf der ebenerwähnten Versammlung
können wol als lichtvolle Augenblicke in dem sorgenreichen Dasein der Lehrer-
schaft angesehen werden. In Halle war wiederum der Kern des deutschen
Lehrerstandes vertreten, nnd wiederum zeigte es sich, dass die planmäßige,
stetige Arbeit in unseren Lehrervereinen das vorzüglichste Mittel ist, um die
Meinungen und Bestrebungen der Mehrheit zu einem deutlichen und klaren
Gesammtausdruck durchzubilden. Mag immerhin noch manches daran zu be-
mängeln sein: dem aufmerksamen Beobachter wird ein sicherer, wenn auch
langsamer Fortschritt nicht entgehen! Wie fein nnd doch wie wirksam war
die Abwehr, welche der diesjährige Lehrertag den auf Herabdrücknng der
Lehrerbildung gerichteten Bestrebungen zn theil werden ließ! Welch kläg-
liche Rolle spielen gegenüber der lichtvollen, überzeugenden und auf die Höhen
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des menschlichen Denkens hinaufführenden Rede über die Lehrerbildung (R.
Rissmann - Berlin) jene Männer, die in kurzsichtiger oder boshafter Ver-
leumdung des heutigen Lehrerstandes und Verschlechterung des Lehrerbildungs-
wesens ihre Aufgabe erblicken! Und mit gerechter Befriedigung konnte es
wol jeden Theilnehmer erfüllen, wenn er Zeuge war, in welcher durchschlagen-
den und geradezu vornehmen Weise einer der höchsten und einflussreichsten
Schulbeamten Preußens durch den einfachen Volksschullehrer berichtigt wurde.
Denn kein Geringerer als der Wirkliche Geheime Ober-Regierungsrath Dr.
Schneider, Mitarbeiter Falk's und Verfasser der „Allgemeinen Bestimmungen"
von 1872, hatte vor wenigen Wochen im Abgeordnetenhause Äußerungen fallen
lassen, welche die Befürchtung hervorriefen, es könne in hohen Regionen eine
Verringerung der Lehrerbildung in Preußen geplant werden. Ein reactionär-
conservativer Landrath hatte im preußischen Abgeordnetenhause seiner Auf-
fassung über Lehrerbildung in einer Weise Ausdruck gegeben, dass jedem
Lehrer die Röthe des Zornes und der Entrüstung ins Angesicht steigen musste,
und — der anwesende Vertreter der Königl. Staatsregierung, der Wirkliche
Geheime Ober-Regierungsrath Dr. Schneider, von dem die Lehrerschaft eine
ernste Zurückweisung derartiger Äußerungen erwarten durfte, trat dem
Redner nicht nur nicht entgegen, sondern bestätigte bis zu einem gewissen
Umfange dessen Anschauungen. Er bezeichnete „das Maß des positiven Wissens,
was auf dem Wege zum Lehramt erreicht werden soll", als „nicht sehr wesent-
lich über das Maß des Wissens" hinausgehend, „was in einer guten mehr-
classigen Volksschule schon erworben werden kann." Mehr konnten die
Treitschke, Gerlich und Genossen von einem Regierungsvertreter nicht ver-
langen! Die Lehrerschaft aber war in ihrem tiefsten Innern getroffen. Glück-
licherweise fühlte Herr Dr. Schneider nachträglich, was er angerichtet hatte,
und in einer Erklärung des „Reichsanzeigers" wurde den aas seiner Auslassung
hervorgegangenen Befürchtungen, freilich etwa 21/* Monate verspätet, mit der
Versicherung entgegengetreten, „dass an eine Änderung der allgemeinen Be-
stimmungen vom 15. October 1872, sowie überhaupt an eine Herabdrückung
der Lehrerbildung nicht im entferntesten gedacht wird". Der Halle'sche Lehrer-
tag hat hierauf die Antwort gegeben. Sie geht dahin, dass die bisherige Art
der Vorbildung des Volksschallehrers den heutigen Anforderungen an den
Lehrerberuf nicht mehr genügt und dass eine zweckmäßigere Organisation
des Lehrerbildungswesens nothwendig ist.
Wird Ris8mann's wirkungsvoller Mahnruf, den der 9. deutsche Lehrertag
sich zu eigen machte, ebenso nachhaltig nnd erfolgreich für das Lehrerbildungs-
wesen in Preußen sein, wie es einst ein ähnlicher Ruf des Herausgebers dieser
Blätter für das Königreich Sachsen gewesen ist? -ö-
Aus Ostpreußen. Am 9. Mai feierte der „Ostpreußische Provinzial-
lehrerverein das 50jährige Amtsjubiläum seines liebenswürdigen und hoch-
verdienten Vorsitzenden, des Herrn Hauptlehrers R. Meier in Hufen bei
Königsberg. Von allen Seiten, nicht nur aus der nächsten Umgebung, sondern
auch aus weiter Ferne erhielt der wackere Jubilar überaus zahlreiche Zeichen
und Kundgebungen warmer Anerkennung und aufrichtiger Hochachtung, und
das Fest verlief in würdigster und erhebendster Weise. Um nun dem Eindruck
und geistigen Gehalt desselben Dauer und weitere Verbreitung zu verleihen,
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hat der Vorstand des Ostpr. Prov.-Lehrervereins unter dem Titel „Meier-
Album" eine Festschrift herausgegeben, welche das Bildnis des Jubilars, die
Biographie desselben, ferner eine Würdigung seiner Verdienste um den Lehrer-
stand, eine Darstellung seiner Wirksamkeit als Redacteur und pädagogischer
Schriftsteller, sowie die demselben zum Jubiläum gewidmeten Huldigungen
enthält. Dieser wertvolle und schöne Inhalt der Festschrift einerseits, der
wolthätige Zweck, dem der Ertrag desselben gewidmet ist, anderseits lassen
hoffen und wünschen, dass sie recht viele Freunde und Abnehmer finden möge.
Man erhält das „Meier-Album" portofrei gegen Mark 1,20 vom Cassirer des
Ostpr. Lehrervereins, Herrn Lehrer Gimboth in Königsberg.
* Aus Sachsen. In unserm letzten Berichte des Juniheftes ist leider ein
Irrthum enthalten, der hiermit richtiggestellt werden möge: Das Gesetz über
„die Gehaltsverhältnisse der Lehrer an den Volksschulen", datirt vom 4.Mai 1892,
ist — nebst den Pensionsgesetzen — vor kurzem im „Verordnungsblatt für
das Königreich Sachsen" veröffentlicht worden, und wir sehen (mit Er-
staunen!), dass §. 4, welcher die Alterszulagen regelt, zweierlei Bestim-
mungen über dieselben trifft. Die Normirung der Dienstalterszulagen, wie
sie Seite 581—82 dieses Jahrg. dargestellt ist, gilt nämlich nur für „ständige
Lehrer an Volksschulen, welche mehr als 40 Kinder zählen"; denn §. 4
enthält sodann folgenden Passus: „Der Gehalt ständiger Lehrer an Volksschulen
von 40 und weniger Kindern ist in jedem der angegebenen sechs Abschnitte
ihrer Dienstzeit um 75 Mark zu erhöhen." Dieser Absatz war, wie Seite 582
angegeben, in den Landtagsverhandlungen bekämpft worden auf Grund der
Thatsache, dass es z. Z. nur 49 solcher Schulen im Lande gibt, in diesen 49
Orten aber nur 30 ständige Lehrer angestellt sind, während in den 19 übrigen
Hilfslehrer den Schuldienst versehen, die nach wenigen Jahren in andere
Stellen übergehen, woraus sich ergibt , dass infolge der bisherigen geringeren
Ausstattung dieser 49 Schulstellen nicht genug geeignete Lehrkräfte für sie
zu finden gewesen sind. Dennoch ist nicht der Mehrheitsantrag der Finanz-
deputation, der den Passus streichen wollte, sondern der Antrag der Minderheit
angenommen worden. — Es ist schade, dass diese Berichtigung nothwendig war,
und dass man also — einen Unterschied mehr hat bestehen lassen! Doch
muss ja unseren Wünschen etwas übrig bleiben! Noch will ich bemerken, dass
mir der Irrthum nicht unterlaufen wäre, wenn mich nicht das sonst völlig zu-
verlässige Amtsblatt der Resi de nz ausnahmsweise falsch unterrichtet hätte.
Im übrigen war unser Bericht vollständig wahrheitsgetreu, und es bleibt nur noch
hinzuzufügen, dass sowol das Pensions- als das Gehaltsgesetz (rückwirkend) be-
reits mit 1. Januar 1892 in Kraft getreten und neuerdings auch von einigen pä-
dagogischen Blättern ihrem vollen Wortlaute nach abgedruckt ist: „Sächs. Schul-
zeitung" Nr. 21 und 22, „Padag. Revue" (Wurzen-Leipzig, Ad. Thiele) Nr. 86.
Dem Gesetz, wie es nun im Verordnungsblatte steht, sieht man es nicht
an, dass es viel Kampf gekostet hat, dessen ich keine weitere Erwähnung
gethan habe, weil die geehrten Leser des „Pädagogiums" längst wissen, dass
nichts, wenigstens nichts Gutes ohne Kampf gewonnen wird. Da ich jedoch
einmal am Schreiben bin, will ich hierüber noch ein Wort nachtragen: Ver-
hältnismäßig nobel ging es in der zweiten Kammer her bei den Berathungen
über die „Lehrervorlagen." Wir haben aber auch eine erste Kammer,
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welche dem preußischen Herrenhaide mit seinen Junkern gleicht, and in dieser
wurde bei der Schlussberathung am 31. März etwas Erkleckliches geleistet
an nnmotivirbaren Angriffen auf den Lehrerstand. Es traten drei Kammer-
herren auf, deren erster durch eine geradezu unbändige und banale Bede die
Lehrer zähmen wollte; es wurde diesen Rednern aber wenigstens von einem
sehr vernünftig, wenn auch zu maßvoll und zartfühlend entgegnet — vom
Herrn Unterrichtsminister. Von den drei Kammerherren könnte man, Unland
variirend, sagen: So standen sie da „und sprachen, die drei", doch kam nichts
Gescheites heraus dabei! Darum wollen wir uns auch nicht weiter damit be-
fassen, sondern Mos noch bemerken, dass ihre Namen, die jedenfalls in „kein
Lied, kein Heldenbuch " übergehen werden, sowie ihre Worte, die sich von
selbst richten, schon durch die „Allgem. Deutsche Lehrerzeitung" (92, Nr. 18,
Seite 175 — 76) der Öffentlichkeit unterbreitet worden sind.
Nach den Ergebnissen der Abgangsprüfungen der höheren Lehran-
stalten Sachsens ist der Besuch der (lateinlosen) Realschulen in stetigem
Wachsen begriffen. Es zeigt sich, dass der Besuch der Gymnasien, während
die Frequenz der Realanstalten ununterbrochen zunimmt, seit 1886 in stetem
Rückgang begriffen ist, sowie dass die Schülerzahl beider Arten von Real-
anstalten zusammengenommen die Schülerzahi der Gymnasien alljährlich über-
steigt und dieses Übergewicht der Realanstalten in fortwährendem Wachsen
ist. Mittheilungen aus Preußen besagen, dass man von der einseitigen Forde-
rung des humanistischen Unterrichts jetzt auch dort zurückkommt und bestrebt
ist, die der Vorbereitung für den praktischen Lebenslauf dienenden lateinlosen
Realschulen zu vermehren.
Auffallend ist die Thatsache, dass in keinem Jahre ein so außerordent-
licher Zudrang zu den sächsischen Lehrerseminaren stattfand, wie Ostern
1892. (S. „Pädagogium 44 Februarheft 1888 und Juniheft 1890, Rundschau!)
Die Ursachen dieses Andranges mögen jedenfalls folgende sein: Der z. Zt.
stockende Geschäftsgang in Handel und Gewerbe; die von der Regierung und
den Ständen beschlossene materielle Besserstellung der Lehrer, ihrer Witwen
nnd Waisen; ein genaueres Bekanntwerden der Vortheile und Vergünstigungen,
die durch die Einrichtungen der Seminare gewährt sind; der Umstand, dass
die Seminare wenigstens zu den höheren Lehranstalten gerechnet
werden (Gesetz über die Gymnasien, Realschulen und Seminare von 1876),
obgleich ihr Abgangszeugnis nicht zum Einjährig-Freiwilligendienst berech-
tigt und also dem der übrigen höheren Schulen nicht volkommen gleichwertig
erachtet wird; endlich die Möglichkeit, unter gewissen Bedingungen (wenn die
I. oder die „II. Censur mit Empfehlung" erlangt wird) zum Besuche der
Landesuniversität überzugehen u. a. m.
Aus dem Großherzogthum Baden. (Ende Mai.) Ein alter Satz, der
sich auf Erfahrung gründet, besagt, dass man die Culturhöhe der Leiter von
Staats- und Gemeindewesen an dem Interesse, das sie dem Schulwesen ent-
gegenbrächten, mit fast apodiktischer Sicherheit erkennen könne. Dieser Satz,
auf Baden angewandt, stellt ihm das günstigste Zeugnis aus. Am 6. Mai nahm
die I. badische Kammer den von der II. Kammer berathenen und einstimmig
angenommenen neuen Schulgesetzentwurf ebenfalls einstimmig an, ohne
irgendwelche Änderungen an demselben vorgenommen zu haben. Die Sanction
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diese» Gesetzes durch den schul- und lehrerfreondlichen Landesherrn, welcher
vor wenigen Tagen (am 29. April) auf eine reichgesegnete vierzigjährige
Regierung zurückblicken konnte und dem ohne Unterschied der Parteien alle
Herzen seiner Unterthanen in dankbarer Liebe und Verehrung entgegenschlagen,
steht unmittelbar bevor. Der Berichterstatter der Commission der I. Kammer
betonte in seinem Schlnsswort, dass das Gesetz, welches die rechtliche und
finanzielle Lage der Lehrer regele, eines der wichtigsten der ganzen Tagung
sei; wer die Schule habe, dem gehöre die Zukunft. Die Wünsche der Lehrer
würden durch das Gesetz, soweit es möglich gewesen, erfüllt. — Wir stimmen
diesen Worten bei und bekennen mit Freude, dass die badische Lehrerschaft
— ungeachtet einer verschwindenden Ausnahme derjenigen Kategorie, die ihren
Verstand nicht durch Nachdenken zu belästigen pflegt — mit dem neuen Gesetz
zufrieden und den Factoren, die am Zustandekommen desselben mitwirkten,
zum Danke verpflichtet ist. Wenn auch noch nicht alle berechtigten Wünsche
der Lehrer in dem in Rede stehenden Gesetze erfüllt sind, so muss doch an-
erkannt werden, dass dasselbe einen colossalen Fortschritt bedeutet, insonder-
heit in Bezug auf die „rechtliche und finanzielle Lage" der Lehrer. Uns ist
kein deutscher Staat bekannt, der in gleicher Weise seine Schulgesetzgebung
in zeitgemäßer Richtung so gestaltet hätte, wie, um mit Herrn von Zedlitz zu
reden, der „liberale Musterstaat Baden". (Was indessen diese Bezeichnung
betrifft, so muss constatirt werden, dass sie — den ostpreußischen Kraut- und
Schlotjunkern conservativer und muckerischer Sippe zum Trotz — bezüglich
des neugeordneten Volksschulwesens vollkommen zutreffend ist.) Vor allem
müssen wir den noblen Ton, die würdige und wolwollende Art der Abgeord-
neten beider Kammern während derBerathnng des Gesetzes lobend erwähnen;
stets wurde die Arbeit der Lehrer, das Verhalten derselben, ihre in Petitionen
niedergelegten Wünsche etc. in freundlicher, ja zustimmender Weise be-
sprochen; die einzelnen Parteien wetteiferten geradezu, einander zuvorzu-
kommen. Dies war früher nicht immer zn constatiren. Wenn auch einzelne
Parteien (namentlich die ultramontane) diesmal vielleicht Nebenabsichten ge-
habt haben mögen, so ändert dies an der Thatsache nichts. Dem einmüthigen
Wolwollen der Abgeordneten ist es auch wesentlich zu danken, dass die Regie-
rung, die anfangs aus finanziellen Rücksichten hartnäckig eine von der II. Kammer
gestellte bedeutende Mehrforderung nicht bewilligen zu können meinte, doch
endlich nachgab. Wie nachträglich bekannt wird, war der Hauptgegner Finanz-
minister Dr. Ellstätter, welcher trotz Steuerüberschüssen „kein christlich Herz
im Bnsen fühlte"; einem on dit zufolge, wurde ihm doch zuletzt „das Herz
bezwungen", als der Großherzog seinen lehrerfreundlichen Wunsch und Willen
geäußert und sämmtliche Abgeordneten energisch auf ihrer Forderung beharrten.
— Die definitiv angestellten Lehrer erhalten sonach 1100 Mark Anfangsgehalt
und steigen von drei zu drei weiteren Dienstjahren um je 100 Mark bis zum
Höchstgehalt von 2000 Mark. (Der Regierungsentwurf — vergl. „Psedagogium"
VI. Heft, Seite 387 ff. — hatte nur 1000 Mark Anfangs-, 1800 Mark Höchst-
gehalt und ein Vorrücken von vier zu vier Jahren um je 100 Mark gefordert)
Außer diesem Gehalt hat der Lehrer freie Dienstwohnung oder einen pensions-
fähigen „Wohnungsgeldzuschuss", welcher — je nach den drei Ortsclassen —
350, 210 oder 155 Mark beträgt, zu beanspruchen. Die Vergütung für Ver-
sehung des Organistendienstes, das Honorar für die drei Fortbildungsschul-
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stunden (ä Stunde p. a. 50 Mark), die Bezüge für jede über die gesetzliche
Höchstzahl hinaus ertheilte wöchentliche Unterrichtsstande, ausgenommen Turn-
nnd Arbeitsunterricht, für welche jährlich nur 25 Mark — für Schulen, in
denen der Turnunterricht nicht auf das ganze Jahr sich erstreckt, nur 15 Mark
für jede Wochenstunde — vergütet wird, bilden das nichtpensionsfHhige Neben-
einkommen. Definitive Lehrerinnen, sowie die nicht etatmäßigen Lehrer
(Lehrerinnen) erhalten die in dem Regierungsentwurf vorgesehene „Vergütung".
(Kein „Gehalt"; „Gehalte" beziehen nur die etatmäßigen Beamten; „Besoldung"
bekommen nur die vom Großherzog ernannten Beamten [Minister etc.]: „Ab-
wechselung ergötzt") Alle übrigen, im Schulgesetzentwurf auf das Einkommen
bezüglichen Propositionen erhielten Gesetzeskraft, ausgenommen die „Über-
gangsbestimmungen". Letztere wurden auf Antrag der Abgeordneten-Commission
so geregelt, dass definitive Lehrer mit 15 Dienstjahren sofort 1300, mit 20
Dienstjahren 1400, und mit je weiteren 5 Dienstjahren 100 Mark mehr bis
zu 2000 Mark erhalten. Die unständigen Lehrer treten sofort in den neuen
Gehaltsbezug ein. — Die Pensions- und Witwenbezüge (cfr. „Psedagogium"
S. 388!) richten sich nach den Bestimmungen des „Beamtengesetzes", welchem
die Lehrer als ordentliche Staatsbeamten unterstehen. Zur Ergänzung sei noch
angefügt, dass die definitive Anstellung eines Lehrers nur nach erfolgreicher
Ablegung der „Dienstprüfung für einfache oder erweiterte Schulen" möglich*
ist; diese Prüfung kann nach Verlauf von drei Jahren nach der Entlassung
aus dem Seminar gemacht, muss aber nach Verfluss von sechs Jahren mit Er-
folg bestanden werden, wenn nicht die Streichung des Candidaten aus der
Gandidatenliste erfolgen soll. — Die definitive Anstellung richtet sich
nach dem jeweiligen Bedarf, d. h. nach den vorhandenen vacant gewordenen
oder neu errichteten Stellen; nach bestandener Dienstprüfung hat jeder Lehrer
das Recht, sich um eine — zur Bewerbung ausgeschriebene — etatmäßige
Stelle zu bewerben; „jedoch kann mit Zustimmung der betreffenden Ortsschul-
behörde auch eine Besetzung ohne Ausschreiben stattfinden". Vor der etat-
mäßigen Besetzung jeder dieser Stellen „ist der Ortsschulbehörde Gelegenheit
zu geben, ihre etwaigen Bedenken oder besondere Wünsche zu äußern. Zu
diesem Zwecke wird der Ortsschulbehörde ein nach dem Dienstalter geordnetes
Verzeichnis der als Bewerber aufgetretenen oder sonst in Betracht kommenden
Lehrer (Lehrerinnen) mitgetheilt". (Das Durchschnittsalter der Lehrer bei der
definitiven Anstellung ist, wie das der übrigen Staatsbeamten, 26 bis 28 Jahre.)
In Bezug auf Versetzung der Lehrer bestimmt das Gesetz: „Außer dem
Falle der Strafversetzung kann die Versetzung eines etatmäßigen Lehrers ohne
dessen Zustimmung (Beamtengesetz §. 5) nur stattfinden, nachdem auch die
Ortsschulbehörde der Stelle, von welcher der Lehrer entfernt werden soll,
darüber vernommen worden ist. Lehrer, gegen welche wegen unzüchtiger
Handlungen mit Schulkindern, oder nach erlittener gerichtlicher Verurtbeilung
wegen eines die öffentliche Achtung entziehenden Vergehens Dienstentlassung
ausgesprochen worden, dürfen im Schuldienste nicht wieder verwendet werden."
Was die Benutzung der Schulgüter seitens der Lehrer betrifft, so
kann dieser sie in „Selbstbewirtschaftung" nehmen, verliert aber dadurch die
je nach dreijährigem Verfluss fällig werdenden Zulagen ; beim Verzicht auf die
Benutzung der Schulgüter steht es dem Lehrer zu, dieselben von der Gemeinde
in Pacht zu nehmen. Hierdurch tritt das unzweideutige und durchaus gerecht-
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fertige Bestreben der Behörde zutage, den Lehrer lediglich auf die Tätig-
keit in seinem Berufe zu beschränken. (Die Pflege etc. des Schulgartens wird
nicht als Schulgutsbenutzung aufgefasst.)
Die neugesetzlichen Bestimmungen über die Beaufsichtigung der
Schulen und Lehrer haben in der badischen Lehrerschaft eine sogenannte
„gemischte Aufnahme" gefunden. Das Gesetz kennt nur die „Fachaufsicht4'.
Dieselbe wurde aber bisher fast ausschließlich von Nichtfachmännern, nament-
lich von Theologen (sogar von jungen Caplänen oder Vicaren), ausgeübt. Wenn
auch in neuester Zeit eine Änderung zum Bessern dadurch eingetreten ist, dass
man „ Reallehrer " zu Schulaufsichtsbeamten ernannte, so ist damit noch nicht
die Fachaufsicht als solche durch- und eingeführt. Wir meinen, dieselbe würde
nur dann thatsächlich stattfinden, wenn tüchtige und erfahrene, in der Volks-
schulpraxis stehende Lehrer zu Rectoren und Kreisschulräthen berufen
würden. Wir begrüßen daher trotz vielseitiger und gegenteiliger Ansicht in
Lehrerkreisen die Bestimmung des neuen Gesetzes, wonach „für Volksschulen
mit mehreren definitiven Lehrern durch die Oberschulbehörde in stets wider-
ruflicher Weise bestimmt wird, welcher der einzelnen dieser Lehrer die Stelle
des „ersten Lehrers" (Oberlehrers) einzunehmen hat". Dieser „erste Lehrer"
hat rectoratliche Befugnisse und Sitz und Stimme im örtlichen Schulvorstand.
• (Der Schulvorstand besteht aus dem Bürgermeister — als Vorsitzendem — ,
dem „ersten Lehrer", aus je einem Pfarrer (Rabbiner und freireligiösen Pre-
diger) der im Orte vertretenen Gonfession und aus 2 oder 3 vom Gemeinde-
rath gewählten Bürgern.) Der „erste Lehrer" erhält eine Vergütung von 100.
bezw. 200 Mark (vergl. „Pjedagogium", S. 338!). Mit dieser Bestimmung ist
wenigstens — unserer Ansicht nach — der Anfang der Fachaufticht de facto
gemacht; ans der Zahl der „Oberlehrer" dürfte es dem Oberschulrathe leicht
werden, tüchtige Kreisschulräthe auszuwählen, ohne eine Anleihe bei Fach-
lehrern (Reallehrern), die der Volksschulpraxis durch Anstellung an Mittel-
schulen entfremdet wurden, oder bei Philologen nnd Theologen zu machen.
Hoffen wir für die Zukunft von dieser Einrichtung das Beste! Recht betrübend
ist es jedoch, dass man die Lehrer in denjenigen Städten, welche der „Städte-
ordnung" unterstehen, nicht für befähigt erklärt, eine Rectoratsstelle zu be-
kleiden; diese Befähigung wird nur akademisch gebildeten Leuten (dazu ge-
hören auch bekanntlich die Theologen) zuerkannt (cfr. „Pädagogium", S. 389!) — ,
mit welchem Recht freilich, — das ist eine andere Frage, die wir jedoch dies-
mal nicht näher erörtern wollen. Thatsache ist, dass diese Bestimmung den
städtischen Lehrern ein testimonium paupertatis ausstellt und in diesen Kreisen,
sowie in Bürgerkreisen Verstimmung bezw. berechtigtes Aufsehen erregte.
Auch in anderer Beziehung behandelt das neue Gesetz die Lehrer in den
größeren Städten stiefmütterlich; zumeist überlässt es den betreffenden Städten,
die nicht alle so schul- und lehrerfreundlich sind wie Mannheim und Carls-
ruhe, die Besoldungsverhältnisse ihrer Lehrer zu regeln, so dass mindestens
das Gehalt, welches das Gesetz normirt, bezahlt werden muss; — es setzt,
wie die Petition des Lehrervereinsvorstandes (leider vergeblich) erbat, keinen
Höchstgehalt fest. Ferner lässt das Gesetz es nicht zn, dass — entgegen dem
Beamtengesetz — das von dem Lehrer bezogene Gehalt in diesen Städten voll
zur Anrechnung bei der Pensionirung kommt. Wenn die betreffenden Städte,
kraft des Gesetzes, keine Pensionszuschüsse gewähren, so müssen alte, seit
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Decennien in diesen Städten lebende nnd wirkende Lehrer an ihren Lebens-
abenden die liebgewordene Stätte ihres jahrelangen Wirkens verlassen und
sieh anf dem Lande ansiedeln, da es unmöglich ist, dass sie mit dem gesetz-
lichen Pensionsbezug: in den Städten bei den allerbescheidensten Ansprüchen
leben können. Wir wollen indessen hoffen, dass die betreffenden Städte, welche
so rücksichtsvoll für ihre (Gemeinde-) Bediensteten gesorgt haben, ihre verdienten
Lehrer nicht wie einen Mohren, der „seine Schuldigkeit gethanu, behandeln
werden. Das einzige Gute, welches das neue Gesetz den Lehrern in den größeren
Städten bringt, ist die Erhöhung des Witwen- und Waisengeldes, wogegen sie
aber auch .erhöhte Beiträge zur Witwencasse leisten müssen. In dem Bewußt-
sein aber, dass das ganze Lehrerthum durch das Gesetz gefördert wurde, werden
die Stadtlehrer sich, so hoffen wir, nicht verbittern lassen, zumal die Städte,
besonders Mannheim, den Impuls zu der Bezahlung der Lehrer nach dem Dienst-
alter gaben und sicherlich auch die erwähnte, offenbare Härte des Gesetzes
ausgleichen werden.
Über die Schulpflicht der Kinder bestimmt das Gesetz (§. 2): „Das
schulpflichtige Alter dauert vom 6. bis zum 14. Jahre. Es beginnt und endigt
jeweils an Ostern gleichzeitig mit dem Anfang bezw. dem Schluss des Schul-
jahres für Knaben sowol als Mädchen, wenn sie bis zum nächstfolgenden
SO. Jon! (einschließlich) ihr 6. bezw. 14. Lebensjahr zurücklegen.
Für Kinder, die schwächlich oder in der Entwickelung zurückgeblieben
sind, kann hinsichtlich des Anfangstermins ihrer Schulpflicht Nachsicht ertheilt
werden.
Mädchen müssen auf Verlangen ihrer Eltern oder der Stellvertreter der-
selben am Schlüsse des Schuljahres schon dann aus der Schule entlassen werden,
wenn sie bis zum nächstfolgenden 31. December (einschließlich) ihr 14. Lebens-
jahr vollenden werden."
Letztere Bestimmung ist eine Concession an die Ultramontanen, die sogar
beantragt hatten, das achte Schuljahr für Mädchen abzuschaffen, warum, —
weiß jeder Einsichtige. — Kraft des vorstehenden Gesetzes müssen anch die-
jenigen Kinder, welche zu Anfang des Sommers aus Österreich und der Schweiz
in das südliche Baden kommen, um Hütedienste großer Hofbestände während
des Sommers und Herbstes zu besorgen, die badische Schule besuchen, was
bisher nicht der Fall war. —
„Zur Aufbringung des nach der Zahl der Schulkinder sich richtenden
Gemeindebeitrages ist als „Schulgeld" für jedes Kind, welches die Volks-
schule besucht, ein Vorausbeitrag von 3 M. 20 Pf. jährlich von dem zur Er-
nährung des Kindes Verpflichteten an die Gemeinde zu entrichten. Besuchen
mehrere Kinder einer Familie gleichzeitig die nämliche Volksschule, so ist nur
für das erste der volle Betrag, für das zweite, dritte und vierte dagegen nur
die Hälfte und für die übrigen Kinder kein Schulgeld zu zahlen" . . . „Durch
einen mit zwei Drittheilen der Stimmen gefassten, von der Staatsbehörde ge-
nehmigten Gemeindebeschluss kann anf die Erhebung des der Gemeinde
zukommenden Schulgeldes verzichtet werden." Von dieser Bestimmung
werden zweifellos viele Gemeinden Gebrauch machen. Wie wir hören, hat
Mannheim auch hierin wieder den beispielgebenden, rühmlichen Anfang gemacht.
„Die Befreiung von der Schulgeldzahlung gilt nicht als Armenunter-
stützung." Diese Bestimmung wurde, wenn wir nicht irren, vor zwei Jahren,
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als die Landtagsabgeordneten Mannheims den Antrag auf Aufhebung des
Schulgeldes im Landtage einbrachten, aber keinen Erfolg erzielten, getroffen.
Die betreffende Bestimmung beseitigt eine große Harte, die um so empfind-
licher war, als der Schulgeldbefreite dadurch auch sein Wahlrecht verlor.
Zur Bestreitung der Gehalte und anderer Bezüge der Volksschul-
lehrer hat jede Schulgemeinde in die Staatskasse als Pauschbetrag einzuzahlen:
1. Einen Jahresbeitrag für jede an der Volksschule der Gemeinde errich-
tete ständige Lehrerstelle, und zwar:
a) für definitive Lehrerstellen in Gemeinden von nicht über 500 Ein-
wohnern 780 M., von 501 bis 1000 Einwohnern 840 M., von 1001
bis 2500 Einwohnern 960 M., von mehr als 2500 Einwohnern
1080 Mark;
b) für jede nicht etatmäßige Lehrerstelle in Gemeinden von nicht
über 2500 Einwohnern 660 M., von mehr als 2500 Einwohnern
700 Mark.
Für Lehrerstellen, welche über die gesetzlich vorgeschriebene Zahl hinaus-
errichtet sind, ist von der Gemeinde jährlich zu zahlen: für jede solche etat-
mäßige Stelle 1450, für nicht etatmäßige Stellen 850 Mark.«
2. Einen weiteren Jahresbeitrag, welcher — nach einer Durchschnitts-
berechnung von einer zehnjährigen Periode — für jedes Schulkind 2,8 Mark
in Anrechnung bringt.
In jeder Volksschule sind so viele Lehrerstellen zu errichten, dass auf
einen Lehrer dauernd nicht mehr als hundert Schulkinder kommen. Mit provi-
sorischen Lehrern sind an Volksschulen mit 2 bis 5 Lehrstellen eine, bei 6
bis 10 Lehrerstellen zwei, bei 11 bis 15 drei Stellen u. s. f. zu besetzen;
beträgt jedoch die Zahl der Schulkinder dauernd mehr als 180 oder als 280,
so sind zwei, bezw. drei definitive Lehrer anzustellen. An Schulen mit einer
größeren gesetzlich vorgeschriebenen Zahl von Lehrern darf die Zahl der
provisorischen Lehrer ]/8 der Gesammtzahl dauernd nicht übersteigen. — Die
Schülerzahl einer Fortbildungsschule darf, auf einen Lehrer berechnet, 40
nicht überschreiten. Die Durchschnittszahl der Schüler in den größeren Städten
beträgt pro Classe circa 50.
Die Handarbeitslehrerinnen werden nur in provisorischer Eigenschaft von
den Gemeinden angestellt, jedoch kann eine solche in etatmäßiger Weise an-
gestellt werden, wenn die Gemeinde ihre Zustimmung dazu gibt und die näheren,
im Gesetz angegebenen Bedingungen erfüllt werden. Die Industrielehrerinnen
erhalten ihre Ausbildung in der „Schule für Arbeitslehrerinnen in Carlsruhe*
(fünfmonatlicher, einclassiger Cursus).
Die Bestimmungen über Lehrgegenstande, Stundenzahl etc., wie dies im
VI. Heft des „Ptedag." S. 388 ff. als Excerpt des Schulgesetzentwurfs mit-
getheilt wurde, erhielten, wie wir schon anfangs bemerkten, Gesetzeskraft.
Zu erwähnen ist noch aus der Landtagsverhandlung, dass ein conservativ-
adliger Herr eine vierte (wöchentliche) Religionsstunde verlangte; da jedoch
kein Bedürfnis dafür erkannt wurde, so blieb sein Verlangen ein „frommer
Wunsch". Die socialdemokratischen Abgeordneten, zwei an der Zahl, im Verein
mit den demokratisch-freisinnigen Abgeordneten, traten für die zeitgemäße
Forderung ein, an Stelle des confessionellen Religionsunterrichtes in
den Schulen einen confessionslosen, allgemein sittlich - religiösen
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Unterricht einzuführen; trotz vorzüglicher Begründung blieben die betretten-
den Abgeordneten in der Minderheit. Da sich die gesunden, fortschrittlichen
Ideen nicht auf die Daner ignoriren lassen, so darf mit Sicherheit angenommen
werden, dass auch die in Rede stehende Idee, vielleicht in nicht zu ferner Zeit,
verwirklicht wird.
Schließlich müssen wir bedanern, dass die Bitte in der Petition des
wackeren nnd rührigen Lehrervereins- Vorstandes in Bezug auf die Lehrer-
bildungsfrage unerörtert und alles beim alten blieb, wonach zur Ausbildung
eines Lehrers eine zweijährige, auf privatem Wege oder in einer Präparanden-
schule erlangte Vorbereitung für das Seminar nnd ein dreijähriger Seminar-
besuch verlangt wird. Es wird die Aufgabe des Lehrervereins sein, die För-
derung der Lehrerbildungsfrage nicht aus dem Auge zu verlieren. Hoffentlich
wird auch hierin Baden es sich nicht nehmen lassen, zuerst die Initiative zu
ergreifen, wie es — wir sagen nicht zu viel! — es durch sein neues Schul-
gesetz die Frage der Stellung und Bezahlung der Lehrer im ganzen und
großen glücklich nnd beispielgebend für andere Staaten, namentlich für den
größten deutschen Staat, gegeben hat. — Endlich sei noch darauf hingewiesen,
dass der erlangte Erfolg durch die Einigkeit und Sammlung der Lehrer im
Lehrerverein, durch welche die Lehrerschaft ein bedeutender Factor geworden,
errungen wurde. Auch hierin dürfte Baden als „ Musterstaat u zur Nach-
ahmung empfohlen werden. —
Fassen wir unser Urtheil über das neue badische Schulgesetz zusammen
nnd bedenken wir, dass der Staat Baden mit seinen l1/, Millionen Einwohnern
1 200000 Mark für Volksschulz wecke opfert, daneben 14 Gymnasien, 4 Pro-,
2 Realgymnasien, 1 Realprogymnasium, 6 Realschulen, 25 höhere Bürger-
and 9 höhere Mädchenschulen, 1 Lehrerinnenseminar, 3 Lehrerseminare mit
3 Präparandenschulen und 3 Hochschulen von bewährtem Rufe unterhält, ausser-
dem eine Kunstgewerbe- und eine Baugewerkschule, 54 Gewerbeschulen, 2
Taubstummen- und eine Blindenanstalt subventionirt, so zeugt dies wol genug
für die „Cnlturhöhe der Leiter unseres Staatswesens". Wir wünschen dem
badischen Schulwesen auch fernerhin eine glückliche Ausgestaltung! -r.
Erinnert man sich jetzt in Baden auch des Mannes, der s. Z. (1886 — 1888) in
seinem Blatte die Forderungen stellte, die, bis auf die Lehrerbildung- und die
Scbulaufsichtsfrage, durch das neue Gesetz erfüllt wurden? Es ist Dr. Adolf Meuser
in Mannheim. Da wir seinen Namen bis jezt in den bezüglichen Berichten nicht
gefunden haben, so sei er an dieser Stelle genannt. Meuser hat für die nunmehr
erzielten Erfolge redlich gestritten und gelitten, weshalb es eine Ehrenpflicht der
badischen Lehrerschaft ist, ihn in gutem Andenken zu behalten. D. R.
Aus der Schweiz. (G. S.) Unseren schweizerischen Volksschulen
ist besonders bei Anlass der deutschen Volksschuldebatte die seltene Ehre un-
parteiischer und sehr günstiger Beurtheilung im Ausland, sogar in „oberen"
Kreisen zutheil geworden, indem man in Wort und Schrift auf die Vorzüge
des r Volksschulwesens in der kleinen Schweiz", auf ihre „vortrefflichen Ein-
richtungen und Institutionen u auf allen Gebieten des Jugendunterrichtes —
trotz „der verschiedenen Confessionen und Parteien" — hinwies, hauptsächlich
veranlasst durch eine just im rechten Momente erschienene Broschüre des
städtischen Lehrers Ernst Ewald, der im Auftrage der Berliner Diesterweg-
Stiftung eine Studienreise nach Bern, Zürich und Basel unternommen und
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die Ergebnisse derselben in einem summarischen Berichte niedergelegt hat.
Aach die Presse nahm hiervon Notiz. So schreibt das „ Berliner Tageblatt M :
„Die sehr sorgfältig abgefasste Darstellung der Organisation des Schalwesens
verdient in den weitesten Kreisen bekannt zu werden. Wir sind ja bei uns
in Preußen jetzt mitten in der Arbeit, unser Volksschulwesen auf neue, gesetz-
liche Grundlagen zu stellen; da ist es denn nur um so lehrreicher, einmal
seinen Blick auf ein kleines bedeutsames Culturgebiet in unserer unmittel-
baren Nachbarschaft schweifen zu lassen. Ein neuer preußischer Cultns-
minister könnte überdies manche schätzbare Anregung für die Neugestaltung
seines Reformwerke* aus dem Schulwesen jenes Landes gewinnen. tt Die fol-
genden Schlusssätze des Ewaldschen Berichtes verdienen als objectives Urtheil
eines Fachmannes wol in weitesten Kreisen volle Beachtung:
„1. Trotzdem das Princip der allgemeinen Volksschule (in allen drei
Städten) vollständig durchgeführt ist, so kann doch von einem Überwuchern
des Privatschulwesens nicht die Rede sein.
2. Die Vereinigung beider Geschlechter in derselben Classe
hat sich in Bern so bewährt, dass sie in allen Primarschulen eingeführt wer-
den soll, obgleich die Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahre dauert.
3. Einer der Hauptvorzttge des Volksschulwesens in den genannten Städten
ist die mäßige Schülerzahl in den einzelnen Classen.
4. Die Ausscheidung der sehr schwach begabten Schüler aus der
allgemeinen Volksschule ist ein anerkennenswerter Versuch, diesen Kindern
unterrichtlich ganz besonders zu Hilfe zu kommen ; doch ist zugleich auch vor-
gesorgt, dass kein Missbrauch mit dieser Maßregel getrieben werden kann.
5. In allen drei Städten werden den Kindern der Primarschule, in Basel
auch denjenigen der Secundarschule alle obligatorischen Lehrmittel,
sowie Schreib- und Zeichenmaterialien unentgeltlich geliefert"
Die Schweiz scheint mehr und mehr, auch von anderen Staaten aus, das
Endziel pädagogischer Exkursionen werden zu wollen. So besuchte kürzlich
Mr. Mason aus Boston die Schulen vieler Schweizerstädte Es wäre nur zu
wünschen, dass auch schweizerische Pädagogen durch praktische Berufsreisen
zum Vortheil ihrer und anderer Wirksamkeit ähnliche Studien unternähmen.
Der Gesundheitspflege schenkt man in der Schule (praktisch und
theoretisch) je länger je mehr Aufmerksamkeit, indem von berufener Seite mit
Becht betont wird, die Schule verfehle den Zweck des Staates, wenn sie durch
einseitige Entfaltung der geistigen Anlagen und Fähigkeiten das Gleichmaß
mit den körperlichen stört Nicht nur, bemerkte z. B. Dr. Denz im Jahres-
bericht des bündnerißchen Lehrervereins, müssen Schulhäuser und deren
innere Einrichtungen den sanitärischen Anforderungen entsprechen, sondern
anch der Unterricht selbst trägt sehr viel bei zur Gesundheit der Schüler, ja
auch der kommenden Generationen, so dass alle Ärzte und Pädagogen Hand
in Hand die Schulhygiene zu fördern haben.
„Wo das Blut frisch kreist die Wangen blühend und rund sind," fährt
der objective Berichterstatter fort, „da wohnt auch ein reger, lebendiger Geist
Welcher leicht das Gegebene anfnimmt und verarbeitet Gesunde Kinder
machen dem Lehrer halbe Arbeit, weil sie mit Aufmerksamkeit dem Vor-
tragenden folgen. Schon bei der Schulpflichtigkeit sollten Lehrer und Arzt
gemeinschaftlich ihre Ansicht darüber äußern, ob das Kind geistig und körper-
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lieh so entwickelt ist, dass es zum Schulbesuch zugelassen werden kann. Der
endgültige Beschlnss darüber fällt dann in die Competenz des Scbnlrathes.
Viele Kinder scheinen im schulpflichtigen Alter schulfähig und schulreif,
während sie es in der That nicht sind." Soweit der Arzt, dessen Urtbeil wol
dasjenige von tausend und tausend seiner Collegen ist. Die Ärzte nehmen
je länger je mehr activen Antheil am praktischen Schulleben; sie werden in
weit größerer Zahl als früher in dieComites und Behörden gewählt vom Kinder-
garten bis hinauf zum Verwaltungsrath einer Hochschule. Man zieht Autoritäten
unter ihnen bei zu den wichtigsten Berathungen beim Bau neuer Schulhäuser,
zum Entwurf von Schulorganisationen, wie z. B. in Zürich, wo Dr. G.Custer
schon oft um sein entscheidendes Wort ersucht wurde. So ventilirte man die
Schularztfrage im Schulverein und nahm folgende Resolution Dr. Custers an:
1. Dor Sch.-V. erklärt sich mit der in dem Entwurf zur neuen Gemeinde-
ordnung vorgesehenen Ernennung eines Stadtarztes besonders in der Voraus«
Setzung einverstanden, dass letzterer auch als Schularzt nach speciellen
Anweisungen seines Dienstreglementes funetioniren werde.
Der Sch.- Verein hält es für wünschenswert, dass auch der Centralschul-
pflege im neuen Gemeindewesen Zürich der Stadtarzt als berathendes Mitglied
für Vertretung und Begutachtung schulhygienischer Fragen beigegeben werde.
3. In jedem der fünf Schulkreise sollte ein Arzt bezeichnet werden, der
sich unter der Leitung des Stadtarztes mit der Controle der schulhygienischen
Einrichtungen (auch in Kleinkinderschulen, Kindergärten und Privatschulen)
zn befassen hätte.
Dem Gewerbeschulwesen wird von Jahr zu Jahr mehr Vertrauen
entgegengebracht, wie die von Prof. Pupikofer (St. Gallen) redigirten
„Blätter für den Zeichen- und gewerblichen Berufsunterricht" dies anschaulich,
überzeugend und chronologisch-lückenlos beweisen; spendet ja doch der Bund
Jahr für Jahr höhere Subventionen. Mit gutem Beispiel gehen die Städte,
insbesondere Basel und Zürich, voran. Neu-Zürich nähert sich auf diesem Ge-
biete dem Ideal der alten Stadt seit dem Vereinigungsact weit mehr, als man
erwarten durfte. Dies zeigte auch eine Ausstellung mannigfacher Modelle in
Thon und Gips, in Zeichnungen der Mechaniker, Schlosser, Möbel- und Bau-
schreiner, der Tapezierer, Maler, Spengler und Schuster, sowie in Freihand-
zeichnungen.
Da der Besuch der Gewerbeschulen ein freiwilliger ist (an späten Abenden
oder Sonntag-Morgen), so sind die Leistungen, ob sie auch da und dort den
Mangel an technischer Fertigkeit, die schwielige, schwere Hand etc. verrathen,
doch sehr hoch zu taxiren ; sie bilden mit der steigenden Frequenz (85 Schüler
im Jahre 1873/74, 563 im Jahre 1883/84 und 748 im Vorjahre) den un-
trüglichsten Beleg für das wachsende Bildungsbedürfnis der jungen Leute.
Voraussichtlich leistet die neue Stadt als ein Ganzes in Zukunft noch mehr
als bisher (schon im Jahre 1890 unterstützte die Stadt die Gewerbeschulen
mit fs. 9250, der Canton und Bund zusammen mit fs. 19000); gehören doch
50°/0 der Bevölkerung dem Handwerks- und Gewerbestand an.
Die naturgemäße Kleinkindererziehung tritt, dank der Energie
und Ausdauer des schweizerischen Kindergarten- Vereins (Präsident: HerrSchul-
director Küttel-Zürich) in ein neues Stadium der schönsten Entwicklung.
Das Central-Comite hat in einer seiner letzten Sitzungen mehrere Fragen grund-
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Bätzlich in entschieden fortschrittlichem Sinne gelöst und mehrere Beschlüsse
gefasst (z. B. betreffend Übersetzung der Vereinsstatuten ins Französische,
Verbreitung derselben mit Einladungen zum Beitritt auch in der französischen
Schweiz), die eine numerische Erstarkung des jetzt schon sehr verbreiteten,
segensreich wirkenden Vereins bedeuten.
Obwol die Eindergartenbestrebungen mit Ausnahme von Genf und Neuen-
burg nur Privatsache sind, dringen doch die gesunden Fröbelschen Grundsätze
selbst in der Familienerziehung und in „Kleinkinderschulen" allmählich durch,
und manchenorts bedürfte es nur einiger einflussreicher und energischer Fröbel-
freunde in den obersten Behörden, um die Eindergärten wenigstens indirect
unter staatliche Aufsicht und Leitung' zu stellen.
Im abgelaufenen Schuljahre wurde in St. Gallen (ab wecbslungs weise mit
Zürich) ein Kindergarten-Curs abgehalten, und sämmtlichen Teilnehme-
rinnen konnten schweizerische Diplome ertheilt werden. Einige sehr tüchtige
Schülerinnen werden, da sie sich besonders für Familienerziehung eignen,
mit Vorliebe Privatstellen annehmen. Die Nachfrage nach solch allseitig
tüchtig vorgebildeten Eindergärtnerinnen ist auch in der Schweiz im Wachsen
begriffen.
Unter den zahlreichen Institutionen mit gemeinnützig -pädagogischer
Tendenz nimmt das Pestalozzianum in Zürich eine der ersten Stellen ein.
Schon ist dessen 17. Jahresbericht (ehemals Schweiz, permanente Schulaus-
stellung) erschienen. Man hofft, in nicht allzuferner Zukunft für das Pesta-
lozzianum in Verbindung mit einer andern Anstalt ein eigenes Heim zu schaffen.
Zu diesem Zwecke ist die Leitung mit der Gewerbeschule in Verbindung ge-
treten und das gemeinsame Projekt zielt ab auf die Eröffnung eines der Stadt
Zürich würdigen Pestalozzianums mit Lesesälen im Jahre 1896, dem 150-
jährigen Geburtsjahre Pestalozzis.
Als Mittelpunkt der Pestalozziforschung und -künde (im Pestalozzistübchen),
aber auch als Institut, in welchem allseitige pädagogische Anregung eine Stätte
haben soll im Sinn und Geiste Pestalozzis, wird es durch seine sehr reichhaltige
Sammlung, seine Bibliothek und sein Archiv der Erziehung und der Schule
große Dienste leisten und reiche Geisteszinsen abwerfen vom sicher angelegten
Capital der Mühe und Arbeit, Umsicht und Sorge seiner Leiter, sowie auch
aus den beträchtlichen Subventionen des Bundes (ft. 1900), des Cantons
(fs. 3000) und der Stadt Zürich (fs. 1850). Im weiteren flössen Beiträge
von 40 Primär- und Secundarschulpflegen des Cantons Zürich, von den Ver-
einsmitgliedern und anderen Privaten. Voraussichtlich wird das Pesta-
lozzianum in Zukunft noch allseitiger unterstützt und noch mehr von allen
denen benutzt, welche bloße Anregung oder billige Gelegenheit zu erfolgreichen
Quellenstudien wünschen.
Für zahlreiche Culturzwecke gibt der Bund alljährlich große Summen
aus. Damit nun auch auf dem litterarisch-pädagogiscben Gebiete nicht vieler-
lei Eräfte vereinzelt nur einen halben Effect erzielen, hat das Central-Comite
für schweizerische Landeskunde das Project des genialen Minister Stapfer, eine
eidgenössische Nationalbibliothek zu gründen, wieder aufgenommen,
und die Realisirung desselben dürfte um so eher gelingen, als die Centrai-
bibliothek in Bern, die schon längst über den Bahmen einer eigentlichen Ver-
waltungsbibliothek hinausgewachsen, den Grundstock zu einer solchen bilden
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könnte. Anf dem Gebiete der Schweizergeschichte , der Landeskunde etc.
häufte sich nämlich recht viel Material anf, das mit anderem schon an und
für sich eine reichhaltige Sammlung ausmacht. Und obwol man anf den Er-
werb neuester nationaler Werke durch Kauf und auf Schenkungen angewiesen
sein wird, dürfte die nöthige Summe von ca. fs. 10 000 jährlich, die zum Be-
zug sämmtlicher in unserem Lande in und außer dem Buchhandel erschei-
nenden Druckschriften erforderlich ist, aufgebracht werden können.
Dadurch würden viele Schulbücher, Zeitungen, pädag. Zeitschriften, Flug-
blätter, Broschüren, Bücher mit einer einzigen Auflage, als getreue Spiegel
einer culturell interessanten, politischen oder pädagogischen Bewegung für Ge-
lehrte, Forscher und Pädagogen äußerst wichtig, eine reiche Fundgrube des
fruchtbarsten Wissens auf einem Spezialgebiete, während solche und ähnliche
literarische Producte bisher unbarmherzig dem Untergange geweiht waren.
Das Bedürfnis des freien Ideenaustausches gibt sich unter der
schweizerischen Lehrerschaft mehr als je kund, in kleineren Cirkeln, Kränzchen,
Special- und Hauptconferenzen sowol, als auch in größeren Versammlungen,
und fleißig wird besonders aus dem Canton Zürich, aber auch aus anderen
Gegenden hierüber berichtet, meistens summarisch an den Herausgeber des
Jahrbuchs für das Unterrichtswesen der Schweiz, C. Grob in Zürich, der auch
dieses Frühjahr Lehrer, Schul- und andere Jugendfreunde mit einem recht in-
sructiven Bericht hierüber, wie über zahlreiche andere Gegenstände und
brennende, die Schule betreffende Fragen überrascht hat
In dem geistig regsamen und sehr strebsamen Basel ist seither eine frei-
willige Schulsynode gegründet worden, da eine obligatorische Organi-
sation, wie sie in Bern, Zürich, Thurgau etc. besteht, einen bezüglichen Artikel
des Schulgesetzes nothwendig gemacht hätte. Sie bezweckt zunächst die
Einigung der Lehrerschaft aller unserer öffentlichen Schulanstalten, um im
ferneren Schul fragen in den Kreis ihrer Berathungen zu ziehen, welche das
ganze baselstädtische Schulwesen gemeinsam betreffen. Um die Hitwirkung
aller Elemente der so heterogenen pädagogischen Welt zu ermöglichen, sind
vorläufig politische und religiöse Parteifragen von den Traktanden ausge-
schlossen. Wenn man bedenkt, dass jetzt schon jeder der drei pädagogischen
Vereine, der „Allgem. Lehrerverein", der „Freisinnige Schulverein" und der
„Evang. Schulverein M für sich allein sehr Schönes geleistet, in nachhaltigster
Weise gearbeitet und bei den Oberbehörden Einfluss erlangt hat, verspricht
man sich schon nach dieser Richtung hin mit Recht manch eine Errungen-
schaft zum Wole der Schule und des Lehrkörpers, nach der sich die Collegen
anderer Städte und Cantone vergeblich sehnen.
Allein auch in Bern, Ölten etc. fanden vor und nach Schluss des Wintercurses
freie Lehrerversammlungen statt, dort auf die Initiative des Herrn
Secundarlehrers Grüning hin, der die Frage erörterte, wie der Schweiz. Volks-
schule durch Bundessubvention (besonders in den finanziell ungünstig
situirten Bergkantonen) beholfen werden könnte. Ein Initiativ-Comite lud so-
dann auf den 1. Mai Delegirte verschiedener Lehrervereine nach Ölten ein,
wo unter dem Vorsitze von Secundarlehrer Gass (in Basel), der schon vor fünf
Jahren das gleiche Thema mit allseitiger Zustimmung in demselben Sinne be-
handelt hatte, eine Versammlung von nahezu 200 Lehrern aus den meisten
Cantonen nach durchschlagenden Voten der Herren Grüning -Bern, derSchul-
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inspectoren Weingartner-Bern, Dr. Largiader-Basel, Heer-Glarus, Scharf-
Neuenbürg und Fritschi -Zürich den einstimmigen Beschluss fasste, der
Central-Auaschuss des Schweiz. Lehrervereins sei zu ersuchen, die Frage der
Unterstützung des Volksschnlwesens durch den Bund unter Zuzug
von geeigneten Persönlichkeiten zu prüfen und in dieser Sache
das weitere zu veranlassen."
Auf der Bildfläche der freien Discussion ist schon vor mehreren Jahren
auch die Frage der Militärpflicht der Lehrer wieder aufgetaucht nnd
vor kurzem richtete der Centralausschuss des Schweiz. Lehrervereins eine Ein-
gabe an das eidgenössische Militärdepartement um Gleichstellung der
Lehrer mit den anderen Bürgern, in welcher u. a. folgender Passus
vorkommt:
„Es erscheint uns als wesentlich, dass der Lehrer in Hechten und Pflichten
anderen Bürgern gleich gestellt werde. In den Cantonen, wo dieser Grund-
satz zur völligen Geltung gekommen ist, befindet man sich gut dabei und
wünscht keine Änderung.
Es ist wünschbar, dass die Lehrer nicht in besonderen Recruten schulen,
sondern vermischt mit den anderen jungen Bürgern zum Militärdienst einbe-
rufen werden, immerhin vorausgesetzt, dass für sie, wie für Angehörige anderer
Stände, die Lebensstellung bei Auswahl der Waffe und bei Festsetzung der
Einberufungstermine in billige Berücksichtigung falle. Die Abschlieflung der
Lehrer von den anderen Ständen ist weder für den Lehrer noch für die Schule
von Nutzen.
Auch dem Avancement der Lehrer sollte nach unserer Ansicht kein
Hindernis in den Weg gelegt werden. Es kann die Lust an der Erfüllung
der Militärpflicht nicht fördern, wenn der Lehrer sich anderen Rechtes sieht
als andere Bürger. Andererseits würde die Zulassung der Lehrer zum
Offleiercorps diesem eine gewiss nur wolthätige Stärkung bringen. a Man er-
wartet allgemein, dass das Militärdepartement diesen gewiss berechtigten
Wünschen entsprechen werde.
Einer besonderen Blüte erfreuen sich in der Schweiz die Privatanstalten,
nicht etwa blos die Kindergärten und Mädchen-, sondern vor allem auch die
Knabeninstitute der Ostscbweiz. Offenbar liegt die innere Ursache hiervon
in der gewissenhaften, vorzüglichen Führung derselben, aber auch in der ge-
nauen Controlirung ihrer Wirksamkeit von Seite des Staates. So z. B. ist
mit der Cantonschule Trogen (Canton Appenzell) ein bewährtes Internat
verbunden, das Zöglinge aus fremden Cantonen und Ländern aufnimmt und
dieselben nach einem Vorbereitnngscurs auf die Universität, das Polytechnicum
und die commerzielle Carriere ganz individuell vorbereitet und zwar in Ckssen
mit mäßiger Schülerzahl. — Ebenso genießt das noch junge Institut Dr. Schmidt
in St. Gallen selbst im Auslande den besten Rnf, da darin, wie in obge-
nanntem Convict auf Gesundheit des Leibes und der Seele ein Hauptgewicht
gelegt und alles das gewissenhaft beobachtet wird, was zur harmonischen Aus-
bildung des Charakters und Gemüthes wesentlich mithelfen kann. Bei aller
Pflege des religiös-sittlichen Lebens finden wir auch da jene Freiheit des
Geistes, verbunden mit einer Arbeitsfreudigkeit, die in Zukunft vortreffliche
Resultate erwarten lässt
Geradezu als ein Unicum unter den internationalen Lehr- und Erziehung»-
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anstalten erscheint diejenige von Dr. Bertsch in Nenmünster-Zürich,
indem daselbst durchschnittlich Jahr um Jahr unter 25 — 30 Nationen 10 bis
13 Sprachen und Classen von der Stufe des vorbereitenden Unterrichts für
Zöglinge ganz verschiedener Muttersprachen bis zur Schwelle der akade-
mischen Studien vertreten sind.
Auch hier wechseln zahlreiche officielle Besuche (von Seite der obersten
Erziehungsbehörden) mit privaten stets ab und alljährlich wird vom Director
(zugleich Besitzer dieses Institutes mit einer ca. lOOköpfigen Familie) zu
Händen der Zürcherischen Erziebungsdirection ein ganz einlilsslicher Bericht
abgegeben über das Personal, die Studiencoramission, den Lehrkörper und die
Zöglinge.
Eigenartig ist schon die Entstehung und großartige, ungeahnte Ent-
wickelung dieser Anstalt, und wenn auch die außergewöhnliche Frequenz in
Verbindung mit der Mannigfaltigkeit der Sprachidiome das Individualisiren
bei jedem einzelnen Zöglinge — nicht Schüler — erschweren, so dürfte doch
die treffliche Organisation, die auf Jahrzehnte langen ununterbrochenen Er-
fahrungen des Directors beruht, sowie dessen Geschick in der glücklichen
Übersetzung gesunder Erziehungsgrundsätze in die Praxis selbst denjenigen
beruhigen, der, der Massenerziehung zum voraus abhold, unter die Berichte
der bestorganisirten Erziehungsanstalten en gros sonst sein Fragezeichen setzt.
Charakteristisch ist hier besonders auch die Thatsache, dass die römische
Clerisei schon seit mehr als zwanzig Jahren ihre giftigen Pfeile gegen dieses
nicht nur internationale, sondern auch interconfessionelle Institut,
und zwar immer vergeblich, abgeschossen hat, wahrscheinlich deshalb, weil
der Director religiöse Gesinnung als Grundpfeiler jeder wahrhaften (guten)
Erziehung betrachtet und offenbar auch dem Grundsätze huldigt: „Eine
Privatanstalt muss mehr leisten als eine Öffentliche Schule, wenn
sie mit Erfolg concurriren will."
Österreich. Der Vorstand des AI lgemeinen niederösterreichischen Volks-
bildungsvereins, Zweig „Wien und Umgebung" hat auf den niederösterreichi-
schen Volksbildungstagen zu St. Pölten und Wiener-Neustadt den Auftrag
erhalten und übernommen, die Gründnng eines Central Verbandes sämmtlicher
deutsch-österreichischen Volksbildungsvereine (Vereine für Volkserziehung, für
Verbreitung gemeinnütziger [landwirtschaftlicher] Kenntnisse, für Volksbiblio-
theken etc.) ins Werk zu setzen. Die Aufgabe dieses Verbandes hätte zu be-
stehen in der Anbahnung und Pflege regen Verkehrs aller verwandten Vereine,
in der gegenseitigen geistigen Förderung derselben und vornehmlich in der
öffentlichen Berathung aller die Hebung des Volksbildungswesens betreffenden
Fragen sammt Beschlussfassung hierüber. Zu diesem Behufe bedarf es einer
vollständigen Liste aller derartigen Vereine, ihrer Satzungen und Berichte,
sowie der Angabe ihres Mitgliederstandes. Es wird nun ersucht, die bezüg-
lichen Nachrichten möglichst bald einzusenden an den Obmannstellvertreter des
Zweigvereins „Wien und Umgebung" Herrn Dr. Eduard Leisching in Wien,
I. TegetthoffstraÄe 4. Im Herbste soll dann eine allgemeine Delegirten -Ver-
sammlung in Wien stattfinden.
PirdaRo^inni. ü. Jahrg. Heft X.
47
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Die Lehrmittelaammelstelle Fetersdorf bei Trautenau in
Böhmen bietet Schulen und Lehrern den Vortheil, da&s sie einfache Lehr-
behelfe, besonders Mineralien-, Petrefacten-, Käfer-, Schmetterling-, Pflanzen-
und Conchylien-Saminlungen, ferner Entwicklungsstadien von den meisten nütz-
lichen und schädlichen Insecten und Amphibien zusammenstellt und diese ohne
jeden Verdienst, daher äußerst billig, an bedürftige Schulen aber sogar unent-
geltlich abgibt und alle Vorkommnisse bestimmter Gegenden gegen diese Lehr-
mittel auch in Tausch nimmt, weshalb Lehrern, welche einigermaßen Gegen-
stände ihrer Berufisstation zusammentragen, die Erwerbung von Naturalien der
verschiedensten Art ohne große Auslagen möglich gemacht ist. Kleine Mine-
ralien-Sammlungen, enthaltend: Bergkrystall, Milchqnarz, Rosenquarz; Amethyst,
Carneol, Achat, Jaspis, Chalcedon, Feuerstein, Probirstein, Kiesel, Holzstein,
Kieselschiefer; Porcellanjaspis; Speckstein, Talk, Granat, Turmalin, Opal, Mond-
stein, Katzenauge, Anthracit, Torf, Pechstein, Bernstein, Braunkohle; Kalkstein,
Kalkspat, Gips, Oolith, Flussspat, Tropfstein, Kalktuff, Aragonit, Dolomit.
Sprudelstein, Marmor; Rotheisenerz, Brauneisenerz, Magneteisenerz, Bleigknz.
Kupferkies, Eisenspat, Schwerspat, Zinkblende, Schwefelkies; Steinsalz; Granit,
Feldspat, Glimmer, Gneis, Orthoklas, Hornblende, Diorit, Augit, Porphyr,
Melaphyr, Trachyt, Phonolith, Basalt, Glimmerschiefer, Roth- und Weiss-
liegendea, Quader, Grauwacke, Conglomerat, Brecde, Zechstein u. s. w., zu-
sammen 80 Stück werden um Mos 1 fl. = 1 Mk. 80 Pfg. geliefert, und bei
Abnahme von 10 Stück wird noch eine Sammlung gratis gegeben. Samm-
lungen zu 100 Stück mit größeren Exemplaren kosten Mos 1 fl. 80 kr. =
3 Mk., noch größere Sammlungen nach diesem Verhältnisse im Preise höher.
Auch Einzeln-Mineralien und sogenannte Cabinetstücke sind billig zu haben,
und bei Bedarf braucht nur der Name und die ungefähre Größe des gewünschten
Exemplare« angegeben zu werden, worauf die denkbar niedrigste Preisstellung
gemacht wird. Sammlungen nachgeahmter Edelsteine, 20 Stück in einem
schönen Etui mit Glasdeckel, kosten 2 fl. 50 kr. = 4 Mk. 20 Pfg. Sodann
gibt die Sammelstelle auch einzelne Petrefacten aus den verschiedensten For-
mationen, besonders aber Solnhofer Vorkommnisse, als: Frösche, Krebse, In-
secten u. dgl. sehr billig ab. Besonderen Anklang finden die Pilzmodelle aus
Papiermache (20 Stück, täuschend ähnlich) für Mos 5 fl. — 8 Mk. 75 Pfg.
Die Sammlung von Seethieren, 20 Expl., blos 2 fl. 50 kr. = 4 Mk. 20 Pfg.
Das Präparat des Borkenkäfers 75 kr. = 1 Mk. 30 Pfg., der Biene 1 fl. =
1 Mk. 80 Pfg., der Wespe 60 kr. = 1 Mk., der Motte 60 kr. = 1 Mk.,
des Seidenspinners 75 kr. = 1 Mk. 30 Pfg., des chinesischen und Ailanthus-
spinners je 1 fl. 80 kr. = 3 Mk. Schmetterling- und Käfer-Sammlungen von
1 fl. 20 kr. = 2 Mk. angefangen u. v. a. Man verlange gegen Einsendung
einer gewöhnlichen Briefmarke des Landes das jeweilige ausführliche Vorraths-
Verzeichnis von Gustav Settmacher, Oberlehrer, Vorstand.
Giebichenstein. Den geehrten Herren, welche mir von dort am 8. Juni
einen freundlichen Gruß sandten, sage ich meinen herzlichen Dank mit der
Versicherung, dass mich Djre theilnehmende Zuspräche hocherfreut hat, und
dass mir Ihre Namen stets in angenehmer Erinnerung bleiben werden.
Dittes.
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Aus der Fachpresse.
558. ComeninB und seine pädagogische Bedeutung für unsere
Zeit (C. Andreä, Nene Bahnen 1892, III*). Vielleicht die nutzlichste unter
allen anlässlich der Comenins- Feier gebotenen Leistungen unserer Fachpresse.
— Absicht: „Von dem Standort der Gegenwart rückwärts blickend, diejenigen
Seiten (der pädagogischen Persönlichkeit des C.) hervorzukehren, welche in
sonderlichem Maße geeignet erscheinen, unsere pädagogische Lage kritisch zu
beleuchten und damit die Punkte und Stellen zu bezeichnen, an Welchen die
Schul- und Lebensverhältnisse unserer Tage das Bild einer theilweise krank-
haften Entartung bieten." Diese Vergleichnng und Kritik wird denn in allen
Abschnitten kräftig durchgeführt. — I. Kennzeichnung unserer Zeit (der all-
gemeinen und der pädagogischen Gesellschaft), ihrer Lebensauffassung, ihrer
Schulen. („Bei unsern Zeitgenossen besteht vielleicht für keine Einwirkung so
wenig Entgegenkommen, als für eine pädagogische in großem Stile. Schon die
ersten Bedingungen dafür, gemüthliche Ruhe nnd contemplative Stimmung, sind
für weite Kreise unverständliche Zumuthungen. u In unserm „imposanten Bil-
dungskörper" fehlt „die pädagogische Seele". Man sucht vergeblich „die
pädagogische Tapferkeit und Begeisterung im Dienste einer Idee". Die ver-
schiedenen Schularten stehen „vielfach in fast feindlicher Haltung einander
gegenüber, und man hat Mühe, sich gegenseitig zu verstehen.") — II. Des
Comenins Wesenheit. — IQ. Comenins als Maßstab: „Kein Pädagoge der Ver-
gangenheit ist in gleichem Maße würdig, zu einer Prüfung im großen Stile die
Maßstäbe zu liefern, wie Comenins." — IV. Die „leuchtenden Seiten" seiner
praktischen Pädagogik: „Vielseitigkeit seines Interesse — seelsorgerlicher Zug
seiner Arbeit — Encyclopädismus seiner didaktischen Bestrebungen." —
V. Einzelne Hauptgrundsätze des C. (unbedingte Notwendigkeit sinnlicher
Anschauung und Übnng — „Die Volkssprachen müssen den gelehrten vorauf
geschickt werden" — „Allgemeiner Unterricht aller, die als Menschen geboren
sind, zu allem Menschlichen" — „Die Lehrer sollen Menschenbildner, aber nicht
Bildschnitzer sein") und die entsprechende (oder vielmehr nicht entsprechende)
Praxis unserer Tage. — (Treffliche Randbemerkungen: „Jede Gedenkfeier
erhält nur dadurch ihre innere Berechtigung nnd höhere Bedeutung, dass sie'
Anlass wird zu einer Prüfung im großen Stile." „Tbatsachen lehren nur, indem
sie antreiben, nene, andere zu schaffen." „Alle pädagogische Thätigkeit entspringt
ihrem tiefsten Grunde nach dem Mitleid und Wolwollen." rWo es mit rechten
Dingen zugeht, da verdichtet sich stets pädagogisches Thun zn einer Art von
pädagogischer Stimmung." „Jene pädagogische Stimmung ist nur da, wo man
aus dem Bewusstsein unbegrenzter Verantwortung anch unter Verzicht und
Opfern bereit ist, den geistig und sittlich Bedürftigen beizustehen, wo das Ge-
fühl einer die Gesammtheit umfassenden solidarischen Verpflichtung also in der
Gesellschaft lebendig wird, dass man gerade diese Art des Wolwollens als die
höchste Form edler Menschlichkeit übt nnd ehrt.")
559. Comenins und Ratke (J. Meyer, Neue Bahnen 1882, III). Be-
antwortung der Frage: „Worin liegt es begründet, dass die Bestrebungen des
A. C. größeren Einfluss auf Erziehung und Unterricht ausgeübt haben nnd noch
ausüben als die Ratke's?" Vergleichnng der beiden „nach ihrer Geistes- und
*) „Comeniusheftu, mit dem Bildnis des Meisters, Preis 75 Pfg.
47*
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- 680 -
Charakterttichtigkeit — ihrem Wirken in Theorie und Praxis — den äußeren
Umständen, die ihr Wirken beeinflussten."
560. Bemerkungen zum badischen Volksschulgesetz (E. v. Sall-
würk, Rhein. Bl. 1892, III). »Die badischen Volksschullehrer sind Staatsdiener
geworden." Kann man einerseits „befürchten, dass das Interesse der Gemeinden
für ihre Schulen sich mindern werde, so ist anderseits ganz gewiss, dass das
Interesse des Staates an der Schule mit der neuen Einrichtung sich erhöhen
wird. Es ist ja eine alte Erfahrung, dass man die Menschen oft nicht darum
höher bezahlt, weil man sie höher schätzt, sondern dass man sie für wertvoller
hält, je mehr man für sie aufwenden muss. Das wird dem badischen Staate
auch nicht anders gehen. Er hat sich die Volksschule näher gerückt, als je
ein Staat es bis jetzt gewagt hat; er wird die Folgen daraus ziehen, und sie
werden für die Bildung des Volkes nur heilsam sein." „Wir sehen in der Neu-
gestaltung der badischen Volksschule viel verheißende Anfänge zur Besserung
und zum Aufschwung auf dem wichtigsten Gebiete der Bildung und Gesittung
und zwar, wie wir hoffen, nicht blos in den Grenzen des kleinen badischen
Landes." „Die wesentlichen inneren Eigenheiten der badischen Volksschule —
der simultane Charakter und die durchaus weltliche Beaufsichtigung — sind
geblieben." Die Lehrer wünschen nur auch eine Erhöhung (oder Vertiefung)
ihrer beruflichen Vorbildung, um die Aufsichts- und Verwaltungsstellen, die
ihnen offenstehen, in ersprießlicher Weise ausfüllen zu können.
561. Der VormittagB- bezw. Übermittagsunterricht (B. Ofenloch,
Kepert. d. Päd. 1891/92, VII). Gegen das in jüngsten Tagen an verschiedenen
Orten aufgetauchte, als „Zeitfrage" beachtenswerte Begehren, den gesammten
Unterricht (besonders an höheren Schulen) auf die Zeit von 7 oder 8 bis 1 Uhr
zu verlegen, hegt Verfasser folgende erhebliche Bedenken: Auf Seite des
Schülers wie des Lehrers gesundheitliche Nachtheile (des langen Sitzens, des
Athmens in verdorbener Luft), körperliche Übermüdung, geistige und gemtith-
liche Abspannung, Häufung der Vorbereitungsarbeiten ; Überladung des Schü-
lers mit Wissensnahrung (»jede Lust zum Lernen wird ihm für die ersten
Stunden nach Schulschluss vergangen sein") — daher der „freie Nachmittag"
eine Illusion. Überdies: Störung der häuslichen Tagesordnung.
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Recensioiien.
Dr. Friedrich Dütes, Über die sittliche Freiheit mit besonderer Be-
rücksichtigung der Systeme von Spinoza, Leibniz, Kant. Ge-
krönte Preisschrift. Nebst einer Abhandlang über den Eadämonismas.
Zweite, neu durchgesehene Auflage. Leipzig n. Wien 1892, Jnl. Klinkhardt.
146 Seiten. 2 M.
Die in diesem Buche vereinigten zwei Abhandlungen sind den zwei Grund-
fragen der Ethik gewidmet: Was kann der Mensch in sittlicher Beziehung,
und was soll er? Oder: wie weit reicht sein moralisches Vermögen, und
was ist seine moralische Aufgabe? Oder: welches ist die Form, und was
ist der Inhalt des sittlichen Willens? — Seit langen Jahren im Buchhandel
vergriffen, tritt diese Schrift jetzt nochmals an die Öffentlichkeit, da sich wieder
mehr Interesse für ethische Untersuchungen zeigt, als in den letzten Jahr-
zehnten. In weiteren Kreisen bricht sich wieder die Überzeugung Bahn, dass
menschlichen Wolfährt theils ungeeignet, theils ungenügend sind, durchaus
aber einer festen Richtschnur bedürfen, welche nur in der Ethik gefunden
werden kann. Ob nun das vorliegende Buch hierzu eine brauchbare Weg-
weisung biete, dies mögen die Leser entscheiden; Verfasser kann nur sageu,
das» er es einst mit grosser Liebe geschrieben hat und noch heute mit Ver-
gnügen liest. D.
K.O.Lutz, Neue Wandtafeln zum Unterricht in der Naturgeschichte.
30 Blätter, Preis 24 M. Im Selbstverlag von K. G. Lutz in Stuttgart,
Hohenheimerstr. 79.
Endlich liegt dieses vortreffliche Lehrmittel, ein Werk hervorraffender
Tüchtigkeit und ausdauernden Fleißes, vollendet vor uns. In seinem Vater-
lande Württemberg ist der Autor längst als gewiegter Kenner und Förderer
der Naturgeschichte wol bekannt, insbesondere auch durch die Gründung des
„Lehrervereins für Naturkunde", welcher bereits gegen 2500 Mitglieder zählt.
Daher erklärt es sich, dass sein neues Werk, welches auch die schulbehördliche
Anerkennung gefunden bat, bereits von nahezu 700 württembergischen Schulen
angeschafft worden ist. Die Anlage und Ausführung desselben ist jedoch derart,
dass es Bich keineswegs blos für ein einzelnes Land, sondern für alle Volks-
schulen im deutschen Sprach gebiete vorzüglich eignet.
Unter dem Titel „Präparationen zum Unterricht in der Naturgeschichte"
hat Herr Lutz seinen Wandtafeln eine Druckschrift von 74 Seiten beigegeben,
welche zugleich als erläuternder Text zu diesem Lehrmittel und als Leitfaden
für den naturgeschichtlichen Lehrgang treffliche Dienste leistet Er bemerkt
da, dass er bei Herstellung seines Werkes zunächst einfache Schulverhältnisse
im Auge hatte, was jedoch die Verwendbarkeit desselben in gehobenen Schulen
nicht ausschließt, und sagt weiter: „Aus dem Pflanzenreich sind nur einige
charakteristische Vertreter, aus dem Mineralreich nur eine Anzahl fossiler
Thiere und ein idealer Durchschnitt durch ein Stück der Erdrinde geboten.
Das auf den Tafeln für diese beiden Reiche noch Fehlende gehört in die
Schul-Naturaliensammlung, oder der Lehrer holt es nach Bedarf in der freien
die bisher vorwiegend
- 682 -
Natur." Denn Naturkörper, welche ohne bedeutende Mühe und Kosten ge-
sammelt werden können und auch präparirt noch gute Dienste leisten, braucht
man nicht abzubilden; das Hauptgewicht ist sonach auf das Thierreich gelegt,
von den Insecten sind aber nur einige ganze Entwickelungen gegeben. Be-
sondere Berücksichtigung ist solchen Vorkommnissen gewidmet, welche sich in
der Natur nnr selten beobachten lassen, die aber im Leben der Tbiere
charakteristisch sind.
Nachdem wir das vorliegende Werk genau geprüft haben, müssen wir es
als ein höchst gelungenes, seinem Zweck bestens entsprechendes bezeichnen.
Selbst die mäßige Größe der Tafeln ist eher ein Vorzug als ein Fehler, da sie
den sehr billigen Preis des Werkes ermöglichte und, geschickte Handhabung
vorausgesetzt, den Zweck der Abbildungen keineswegs beeinträchtigt. Die
Zusammenstellung, sowie die zeichnerische und colorative Ausführung der
Bilder ist durchaus aller Anerkennung wert, und wir stimmen gern dem be-
reits von anderer Seite gefällten Urtheile zu: „In Bezug auf Zeichnung, Colorit,
künstlerische und naturliche Anordnung kommt das Werk den allerbesten der
bisher vorhandenen Schultafeln gleich; es übertrifft aber fast alle in Bezug
auf naturwissenschaftliche Genauigkeit und sorgfältige Ausführung auch des
Kleinsten und scheinbar Nebensächlichen." M. M.
Brümmer, Deutschlands Helden in der deutschen Dichtung. Statt-
gart, Greiner & Pfeifer. 6 M.
Eine deutsche Geschichte in Gedichten ist das obengenannte Sammelwerk.
Unter den ca. 750 Gedichten sind ca. 250 hier zum erstenmal in die Dienste
des Unterrichtes gestellt. Nur einem Hanne wie Brümmer, der durch seine
biographischen und bibliographischen Werke mit der neuesten Literatur Fühlung
hat, war es möglich, ein so umfassendes Material zusammenzubringen. Wie
viel der Vorarbeit mag sich dem Sammler bei näherem Zusehen als nicht
brauchbar erwiesen haben und musste beiseite gelassen werden. Was man
wolgesichtet zusammengetragen sieht, ist vielleicht nur der kleinere Theil des
von Brümmer Gelesenen und Gesammelten. Ist somit der Fleiß und die auf
dies Werk verwandte Mühe aller Anerkennung wert, so auch die Art der Zu-
sammenstellung. Die Gedichte sind mit Bücksicht auf das verherrlichte Er-
eignis chronologisch geordnet. Das erste Gedicht schildert den Cimberneinfall,
eines der letzten Moltke's Tod. Eine recht praktische Zusammenstellung gibt
das Inhaltsverzeichnis, das zuerst die Gedichte in der genannten Ordnung auf-
zählt und dann sie nach ihrem Inhalt ordnet in solche, die z. B. die Geschichte
Brandenburgs oder der österreichischen Länder oder Badens oder der anderen
deutschen Landschaften erzählen. So dient das Buch auch der Localgescbichte.
Naturgemäß findet sich neben Vollwichtigem auch mancher Lückenbüßer; ja
manche Perle deutscher Dichtung (z. B. Josefs II. Denkmal v. Zedlitz. Lenau's
Schlacht bei Aspern) wurde gegenüber mehr erzählenden Gedichten minderen
Wertes zurückgesetzt. Das Buch ist ein Werk für die reifere Jugend, und
da die Ausstattung wirklich gediegen ist, eines, das sich zu einem Geschenke
vortrefflich eignet. .. W.
Bütticher und Kinzel, Denkmäler der älteren deutschen Literatur.
(I. 1. 2. Die deutsche Heldensage, HL 3. Martin Luther, Vermischte Schriften
weltlichen Inhalte.) Halle, Waisenhaus.
Die „Denkmäler" stellen sich die Aufgabe, im Sinne des preuß. Ministerial-
erlasses vom 31. März 1882, in charakteristischen möglichst vollständigen
Werken gewisse Centren zu bieten für den literaturgeschichtlichen Unter-
richt. Drei solche Centren: die deutsche Heldensage in der vorclassisohen Zeit
(a. Hildebrandslied, b. Waltharilied, c. die Zaubersprüche, d. Muspilli — Heft L 1)
und in der classischen Zeit (Gudrun, Heft I, 2), sowie Luthers weltliche
Schriften in Auswahl (Heft in. 3) liegen uns zur Begutachtung vor. L 1 und
L 2 bieten den Text in einer Übertragung ins Neuhochdeutsche, I. 1 mit
gegenüberstehendem Originaltext für die Gedichte a, c, d, mit Proben des
Originaltextes für b und die Gudrun (I. 2). Luthers Schriften sind in der ur-
sprünglichen Fassung abgedruckt. Die Übersetzung schließt sich eng an den
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683 —
Text an, liest sich trotzdem leicht und gibt den Charakter des Originals gut
wieder. Sprachlich oder sachlich dunkle Stellen Bind unter dem Text erläutert;
Einleitungen klaren zur Genüge über die literargeschichtliche Stellung des
Werkes auf. Die Gudrun ist, als Schulausgabe gedacht, in gekürzter Form
aufgenommen und der erste Theil, Spielmannspoesie, nur in Form einer Nach-
erzählung gegeben. Bei der Kürzung waren in erster Linie ästhetische Rück-
sichten maßgebend. Dass zahllose Interpolationen gerade bei diesem Werke
vorgenommen worden sind, ist ja keine Frag«, freilich die betreffenden Strophen
als solche zu erkennen uns noch weniger möglich als etwa die unechten
Strophen des Nibelungenliedes. Jedeafalls gibt die Kürzung, wie sie die
„Denkmäler" bieten, dies Gedicht in genießbarer Form, mag sie es auch immer-
hin nicht in der ursprünglichen Gestalt herausgeschält haben. — Die Auswahl
aus Luthers weltlichen Schriften — darunter Fabeln, Sprüche, Dichtungen,
Briefe, Aphorismen — befriedigt außerordentlich. Luther tritt da als der
Weltweise und Weltkluge, als der Berather seines Volkes auf allen Gebieten
des Lebens recht scharf vor unsere Seele. Und wie bündig, klar und treffend
ist da nicht alles erläutert! Selbst der grammatische Anhang, eine Übersicht
über die Sprache Luthers (S. 217—252) mit seinem Hinweis auf die alten
Formen, wie sie noch heute in Gedichten unserer Modernen vereinzelt fort-
leben, ist, so knapp er auch gehalten ist, ein kleines Meisterstück. Wir em-
pfehlen das ganze Sammelwerk, insbesondere aber diesen letzt genannten Band
recht eindringlich der Privatlectüre unserer Seminaristen. W.
Monatshefte der Comenius- Gesellschaft, 1. Jahrgang, 1. Heft. 135 S.
Leipzig, R. Voigtländers Verlag. Jährlich 10 Mk. Einzelne Hefte 21/, Mk.
Prof. Dr. Eschweiler, Haas and Schale. Ein Mahn- and Trostbachlein in
Briefen an die Eltern unserer studirenden Jagend. Bielefeld, Aug. Helmich.
78 S. 1.25 Mk., eleg. geb. 2 Mk.
6. Helmke, Die Behandlang jagendlicher Verwahrloster and solcher Jagend-
lichen, welche in Gefahr sind za verwahrlosen. Halle a. d. S., Hermann
Schrödel. 70 S. 1.25 Mk.
August Weiß, Die Frau nach ihrem Wesen and ihrer Bestimmung. Leipzig,
Rossbergsche Buchhandlung. 85 S. 1.50 Mk.
Otto Sutermeister, Dichten und Lägen. Vortrag. Frauenfeld, Huber. 38 S.
Hans Trunk, Der Volksschullehrerstand im Spiegel der Mitwelt. Gekrönte
Preisschrift. Zweite Auflage. Graz, Leuschner & Lubensky. 66 S.
Meyer-Markau, Der Lehrer Leumund. Urschriftliche Worte zeitbürtiger
deutscher Schriftsteller, Dichter und Gelehrten über Lehrer und Schule.
Duisburg a. Rh. Zu beziehen vom Verfasser. 209 S.
J. Pawlecki, Dichterstimmen aus der deutschen Lehrerwelt. Hamburg, Ver-
lagsanstalt A.-ir. (J. F. Richter). 382 S. Geb. 4.50 Mk., brosch. 3 Mk.
J. W. Dörnfeld, Das Fundamentstück einer gerechten, gesunden, freien und
friedlichen Schul Verfassung. 1. Lieferung. Hilchenbach, L. Wiegand. 63 S.
75 Pf. Vollständig in 4 Lieferungen.
Hofmiller, Kftsch und Königbauer, Schemata und Lehrproben. Nach den
sechs psychologischen Stufen für Volksschulen bearbeitet. Bamberg, C.
Buchner. 198 S.
Hans Sommert, Methodik des deutschen Sprachunterrichts. 2. Aufl. Wien,
Pichler. 224 S. 1.40 fl.
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— 684 —
Adalbert Maia, Rede-, Schreib- and Stilübungen. 2. Abtheilung:. Wien,
Pichler. 159 S. 1 fl.
Httttich und Veiter, Alphabetisches Nachschlagebuch für deutsche Recht-
schreibung. Nach der für Schulen in Österreich amtlich festgestellten
Rechtschreibung. 2. verbesserte Aufl. Wien und Prag, F. Tempsky.
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geschichte als Vorbereitung für den weltkundlichen Unterricht, namentlich
als Vorschule der Geographie. Zwei Gänge (für Mittel- und Oberstufe).
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Pichler. 185 S. 1 fl.
Franz Schindler, Naturlehre für Volksschulen. Mit 112 Abbildungen. Wien
und Prag, F. Tempsky. Leipzig, G. Freytag. 118 S. Geh. 40 kr., geb. 55 kr.
Anton Gindelys Lehrbuch der Geschichte für Bürgerschulen. Bearbeitet von
Kraft und Rothaug. Ausgabe für Knaben-Bürgerschulen. 1. TheiL 37
Abbildungen. 4 Karten. 11. Aufl. Wien und Prag, F. Tempsky. Leipzig,
G. Freytag. 125 S. Geh. 55 kr., geb. 70 kr. — 2. Theil. 25 Abbildun-
gen. 3 Karten. Neunte Aufl. 109 S. Geh. 50 kr., geb. 65 kr.
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4 Karten. Zwölfte Aufl. 119 S. Geh. 55 kr., geb. 70 kr.
Rudolf Bantz, Formenstudien. Musterzeichnungen für Schule und Haus. 500
Master. Frankfurt a. M., August Frey. 3.50 Mk.
Emil Franke, Holzschrift-Monogramme. Zürich, Orell Ftissli. 2 Mk.
Ule, Die Erde und die Erscheinungen ihrer Oberfläche nach Reclus. 1. Liefe-
rung. Vollständig in 15 Lieferungen & 60 Pf.
Kubach, Einführung in den geographischen Unterricht. Düsseldorf, Schwann. 18S.
Dietlein-Schumann, Deutsches Lesebuch für sechs- und mehrclassige Schulen.
Gera, Hofmann.
Goldschmidt, Die deutsche Ballade. Programm der Talmud Tora. Hamburg.
Taschek, Vorschläge zur Vereinfachung des grammatischen Unterrichts in der
Volksschule. Wien, N.-Ö. Landeslehrerverein.
Zurbongen, Literaturkunde. Berlin, Nicolai.
Prffll, Sind die Reichsdeutschen berechtigt und verpflichtet, das Deutschthum
im Auslande zu stützen? Kiel und Leipzig, Tischer.
Verantworte Redacteur Dr. Friedrieh Oittei. Buc hdrackerei Julius Klinkhardt, Leipzig.
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Verlag oon 3uliuö Ältnf&ttrbt in gcip^fl.
^t!tfd)rtuiui^iuttcrrtrf)t unb ^>etm<ttfimbe
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Die löaürifche üehrerjeitung fdjreibt über baf 2Berf: „Sin i^nch mit aufgejeichneten
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roerben tann, befouberf Wenn nodj bie Jibel toon bemfelben SJerfaffer bem Sefe unterrichte &u
örunbe gelegt ift.
^äbagog. Anzeiger jur ÄUgem. Deutfdjen Setjrer^eitung: „3ütting unb 5Bebcr
finb auf bem Gebiete be$ SInfcbauungfunterrtchtf unb ber §cimat£funbe bahnbrechenb voran
gegangen. Sie moKen biefe (Gebiete jum SDtittelpunft bef Unterrichts für bie 6— 10 jährige 3uacnb
gemacht tniffen, benn bamit ift bie Sorfdmle für alle biejentgen Unterrichtsfächer gegeben, bie Dom
5. Schuljahre an erft felbftänbig auftreten follen. 3m oorliegenben SBeric werben nun ©runbiä&c,
Sehrftoffe unb Sehrproben geboten, Äflef ift grünblich erroogen unb trefflich aufgeführt. Alflen
ben kehrern, bie bie fiefebüdjer ber genannten SJerfaffer benufcen, ift biefe Vlrbeit ein unentbehr*
tiefer l'eitfaben; aber auch jeber anberc iöolfffchullehrer finbet hier reiche Anregung unb roertöofle
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Digitizec
3m «erläge t>on $m. Xv. äÖollcr, üeipjia.,
erfd)ien foeben in IV. «uilage:
Bischoff,
6tfd)iil)tf Ufr d)timid)rn ftirdir
in ©ilbern,
neu bearbeitet, bebeutenb erweitert unb bis auf
bie ©egenwart fortgeführt öon
©uftotj Slbolf Jdcupolb,
caud. rev. min., Oberlehrer am Äönigl. Seminar
AU TreSben-ftriebricbftabt.
32 »ogen flarf 8° ftormai.
^Jrei* brofdnert SR. 4.—.
$te «nerfennung, welche bem Werte in IIJ-
Auflage au teil geworben ift, bie genaue Xurcb-
arbeitung unb bebeutenbe erweiterung ber IV.
Auflage mit ber Fortführung ber ©efcfycbte bi*
*ur 9feujeit, laffen uu* hoffen, ein Wert ge-
Uaffen au haben, welche« al* Stoff Aum Unter-
rieht in ber ftiref»cngefd)icf)U alle« ba* bieten
bürfte, wa« ber £eb"* oon einem guten fiebr-
buch ber fiircpengefcbicbte oerlangt
©IcicpAettig fei noch °a# ™ «"f1^
erfepienene Wertct/en
©tfdjoff, fieitfaben beim Unterricht in ber @e-
fd)id)te ber d)riftl. tfirepe 3R. L—
empfohlen.
3n meinem »erläge ift foeben erfchienen:
ber
aUgrmrinrn ParrnMe
für jtDfiklaffigr fianbflßfdiulrn nnb für
bie DorbcrrttmmeklalTc leerer ^anbflß
lrljraiiftaltcn
oon
Äarl irtttgrr,
$rof- ber Wremial'fcanbelS-Sacbfcbule ber
Wiener Äaufmannfcbaft.
9KU 24 «btildunflcn. 1Mrei* &rofd>. SK. 2.-.
3n biefem SBerte finb bie Waren nach ben
für^ben Kaufmann wieptigfren &t[\ä)iipnnlttn,
wie ihren charafteriftifchen gigenfepaften , ihrer
©ewinnung«- ober 3>arfteüungSw«ife, ihrer 8er-
menbung unb ihrer SJroüenienA behanbelt, fowic
bie wiebtigften unb gangbarften "üanbelSforten
namhaft gemacht roorben. fcäufiger ooriomnieiibe
»erfätfepungen einjelner Waren ftnb nach Gebühr
berücfiichtigt unb bie einfacheren SRetpoben
anaeaeben, iene »u erfennen.
&« Such J iebe »ucpbanblung au
«erlag oon Juliiiö ftluilparDt in t'etpjlg-
&intorgattftt=£irtfr.
Sine Sammlung oon neuen
(BtlegcnlifitB-, Spiel- unö fioMitDem
fär tad tartc «uiDeortltcr.
3um Gebrauche in Schule unb framilie lompouicrt
oon
ftäbtifeper Schulleiter in Wien.
IRit einer (Einleitung oon Geor« §r«IL
dritte, umgearbeitete unb oermeprte Auflage,
ar. 8°. Vci* 6tofdj. % *K. 40 *f.
„$ie Sammlung enthält 350 einftimmige
(Gelegenheit*', Spiel- unb Jtofelieber für
Aartc Äinbe*alter unb niept auSfrblietjltcp
ben Äinbergarten berechnet.
£ie Xejrte finb faft burebweg in eept n
lichem ©eifte gepalten, bafür bürgen fepon b
Hamen oon 3ugenbfcpriftftenern wie: ttT™«*»
Dieffenbacp, Saufa, fcep, Sturm, l^slin, $of-
mann, ©. «ruft u. f. unb Schule unb jpauJ
bürfte bie hier gebotene Auswahl niept feiten
recht toillfommen fein. «Rögen bie freunbll$M
Weifen noch manchen 3ugenbfrühlmg erpeitern
unb noch recht ütele unferer lieben Kleinen bf
aleiten auf iprem erfien unb folgewteptigen ©ang
bureb ben 3ugenbgarten." (Scbweijer fiebrer-
jeirung 1892. 9fr. 6.)
»erlag t-on ^uliilö ÄHnfpardl in t'cipiifl.
ftfentenfe
ber
i)olköunrtfd)aftölcl)rc.
SSon
Dr. |U. ilruratlj,
SJrof. an ber f. f. fcocbicpule für »obenfultnr
in Wien.
2. «uflogr. broidj. UM. 2 "»0.
<üh erfte «uflage biefe« ©erfe« — etn ge»
brängter fieitfaben — mar in furjer ;ieit oer«
ariifen. Ter Cerfaffcr %at nun in bem «uebe.
rodeheö häufig »um Selbftftubium benum
rourbe, ben Stoff bebeutenb erweitert, fo ba&
bie jefcige Äuflage ein fleinc* ßeprbueb ge-
worben ift. Xro$ aüer ßür*e unb «napp^ett
oereinigt bad «uep letcptfaDlicpe DarfteOung mü
mahrer ©iffcnfchaftlicpfeit
Beste Violinschule:
Hohmann-Heim
164 Seiten gröeete» Noten«
form. Prachtausgabe 5 Hefte
je I M.i in I Band 3 M.
P. J. Ton^er, Möln h Ith.
Hierzu 1 Beilage vom Pestalozzistift zu Leipzig.
Baohdracker«» Juliui KUnkhardt, Leip«i»
<
\ AUG 76 i»M2
Paedagogiüm
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
!>!•. Frieclrioli
117. Jatafau.
IL Heft, August 1891
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
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Inhalt des 11. Heftes.
Seit«
Jean Paul's „Levana oder Erziehlehre" nach Plan und Grundgedanken dargestellt
nnd von dem Standpunkte der heutigen Pädagogik beleuchtet von P. H.
Bemerkungen zur Fremd Wörterfrage. Von Alfred von Ehrmann-Baden
bei Wien
Macht und Arbeit in ihren Bildungselementen. Von Joh. Kaulich-Mähr.
Schönberg
Die Waffen nieder! Von 0. B.-Str
Meister und Jünger des Lehrerberufs
Pädagogische Rundschau. Universitäten. — Berlin. Vom Deutschen Lehrer-
Verein. Rechtsschutz — Von der Weichsel. — XI. Congrcsa für erzieh-
liche Knabenhandarbeit zu Frankfurt a. M. — Aus Bayern. — Aufruf. —
Fortschritte in Bosnien und der Herzegowina
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717
725
726
738
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Abonnements -Preis pro Quartal m. 2.25.
«
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Jean PauTs „Levana oder Erziehlehre"
nach Plan und Grundgedanken dargestellt und von dem Standpunkte der heutigen
Pädagogik beleuchtet von P. II,
llicht mit Unrecht hat man das achtzehnte Jahrhundert, jenes
Jahrhundert der Völker- und Geistesbewegung, des Kriegsgetümmels
und der emsigen Culturarbeit, jenes Jahrhundert, das in unaufhalt-
samem Ringen nach Aufklärung, Fortschritt und socialer wie reli-
giöser Befreiung, sowie auch im Streben nach vollständiger Populari-
sirung der Freiheitsideen wol von keinem Zeitalter übertreffen wird,
seiner Vielseitigkeit wegen bewundert. Die großen Männer, welche
jenem vielbewegten Jahrhundert den Stempel ihres Geistes aufdrückten,
waren schaffend und wirkend nach allen Richtungen hin thätig. Keine
Provinz des großen Geistesgebietes blieb unangebaut von ihrer be-
freienden und erlösenden Arbeit. Im Streben, das morsch gewordene
Alte zu stürzen und der aus den Fluten einer trüben Vergangenheit
emporsteigenden neuen Zeit feste Grundlagen zu schaffen, wandte man
sich an alle Volksclassen. Ja, jedes Geschlecht und jede Altersstufe
sollte theilhaben an den Errungenschaften der neu aufblühenden
Periode. Daher konnte es nicht ausbleiben, dass man auch einer
Wissenschaft und Kunst, deren Aufgabe es ist, die neu gewonnenen
Schätze einer tiefer grabenden und forschenden Gemeinde von geistes-
großen Männern dem Gesammtvolke nahe zu bringen und das jung-
aufwachsende Geschlecht seiner Zeit würdig zu machen, rege Be-
achtung zollte. Diese Wissenschaft mit ihrer Anwendung als so
bedeutungsvolle Kunst ist die Pädagogik. Darum darf es uns nicht
auffallen, wenn im erwähnten Jahrhunderte auf ihrem Gebiete eine
lebhafte Strömung eintrat, wenn zur Darstellung pädagogischer Wissen-
schaft und pädagogischer Kunst Männer hervortraten, deren eigent-
liches Gebiet im Reiche mannigfaltiger anderer Künste und Wissen-
schaften zu suchen ist. Aus nahe liegenden Gründen nahmen sich
vor allem Philosophen und Dichter der pädagogischen Sache an,
Pädagogium. Ii. Jahrg. Heft XL 48
I.
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und vorzüglich auch durch ihre Bemühungen wurde eine heilsame
Umgestaltung derselben herbeigeführt. Selbstverständlich ist, dass
jeder ins Bereich der von ihm behandelten Wissenschaft seine eigene,
längst gewohnte Sprache übertrug, und so kam es, dass wir aus jener
Zeit philosophische Bearbeitungen der Pädagogik und poetische
Darstellungen derselben besitzen.
Das bedeutungsvollste unter den Werken letztgenannter Art ist
nun die „Levana" oder „Erziehlehre" von Jean Paul Friedrich
Richter. Zwar fällt die Herausgabe derselben nicht mehr ins
achtzehnte Jahrhundert, da ihre erste Auflage erst im Jahre 1806
erschien; aber die Grundgedanken des Werkes, sowie die empirische
Unterlage desselben lagen sicherlich schon Jahrzehnte vorher im
Geiste ihres Verfassers; die Antriebe, welche unseren Dichter zur
Abfassung seines Buches drängten, sind schon in jüngeren Jahren
Jean Pauls wirkend gewesen. Und so glauben wir durchaus keinen
Anstoß zu erregen, wenn wir die „Levana" zu den pädagogischen
Erzeugnissen des achtzehnten Jahrhunderts rechnen. Hiermit haben
wir zugleich einem sehr wichtigen Zuge zur Charakterisirung des ge-
nannten Erziehungsbuches Ausdruck verliehen. Jean Pauls „Levana"
ist nämlich in hohem Grade ein Kind ihres Zeitalters, sie ist das in
ihren Vorzügen wie in ihren Fehlern, im Inhalte wie in der Form.
Wenn zudem der Verfasser eines Werkes eine so scharf ausgeprägte
Individualität und eine so subjective Natur wie Jean Paul ist, so er-
scheint es als selbstverständlich, dass für das Buch auch hierin eine
Quelle zahlreicher Eigentümlichkeiten liegt. So ist es denn ge-
kommen, dass der „Levana" unseres Dichters ein reiches Maß von
sehr charakteristischen Merkmalen anhaftet, deren Ursprung theils in
dem Standpunkte der damaligen Wissenschaft, namentlich der päda-
gogischen, theils in der ganzen Persönlichkeit ihres Verfassers und
dem Leserkreise, für den er sein Buch bestimmte, zu suchen ist.
Jean Paul ist im eminenten Sinne Humorist; als solchem musste ihm
ein feines Gefühl eigen sein für alle jene Kleinheiten und Kleinig-
keiten des menschlichen und namentlich auch des kindlichen Lebens,
die er als Dichter in poetisch durchhauchter Form zu schildern wusste.
Er war aber näherhin vorzugsweise ein Lieblingsdichter der höheren,
d. h. vornehmen Stände, und dieser Umstand konnte ebenfalls nicht
ohne Einflass auf die Art seiner Darstellung sein. Die letztere ist
allzu charakteristisch, als dass wir nicht hier einige Bemerkungen
darüber machen möchten, da namentlich auch in dieser Hinsicht die
„Levana" eine gänzlich isolirte Stellung in der pädagogischen Lite-
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ratur einnimmt. Wie Jean Paul als Schriftsteller überhaupt das
Wirkende seiner Geisteserzeugnisse mehr im Sonderbaren, Über-
raschenden, darum aber auch Einseitigen und Regellosen, als in der
makellosen Reinheit des Schönen gesucht zu haben scheint, wie das
Bestechende seiner Bilder mehr in ihrer überraschenden Seltsamkeit
und Häufung, als in ihrer Anschaulichkeit und poetisch feinen Ge-
staltung zu suchen ist, so schreibt auch Jean Paul der Pädagog.
Stellenweise fesselnd und die poetische wie die pädagogische Theil-
nahme aufs höchste steigernd, ist sein Werk anderseits zuweilen breit
bis zur Langweiligkeit und sonderbar bis zur Geschmacklosigkeit.
Dennoch ist die „Levana" ein vielgenanntes, wenn auch nicht in
gleichem Umfange bekanntes Glied der pädagogischen Literatur, und
ihr unter zuweilen so wenig ansprechender Hülle geborgener Kern
wertvoll genug, um unsere Beachtung auf sich zu ziehen und eine
eingehendere Beschäftigung mit dem Werke zu rechtfertigen.
Bei unserer Betrachtung von Jean Pauls Erziehlehre wollen wir
zunächst in den Plan und die äußere Gliederung derselben eingehen,
um sodann die Grundgedanken des Werkes in übersichtlicher Weise
zu entwickeln und schießlich eine kritische Beleuchtung derselben
nach Maßgabe des heutigen Standpunktes der pädagogischen Wissen-
schaft zu versuchen.
n.
Es ist eine bekannte, oft getadelte Eigentümlichkeit Jean Pauls,
dass er in seinen Werken nie nach einem bestimmten feststehenden
Plane arbeitete, sondern seine Gedanken in bunter Mannigfaltigkeit,
wie sie ihm der Augenblick eingab, der Leserwelt darbietet. Die
anmutigsten Bilder malt er uns, die lieblichsten Zaubertöne weiß er
zum Ausdruck zu bringen, mit Meisterschaft bringt er jede Saite des
Gemütslebens zum Erklingen; aber immer sind es einzelne, sich von
der Umgebung abhebende, schimmernde Krystalle und duftende, auch
von Unkraut um wucherte Blumen, die den Genuss bereiten, und dem
Leser bleibt es überlassen, in angenehmer Erinnerung der reichlich
gebotenen Genüsse die kostbaren Edelsteine zu einer Schnur zu
sammeln und die lieblichen Pflanzen zu einem duftenden Blumen-
strauße zu winden. Nach einem geschlossenen Gedankengang, einer
auf einheitlicher Grundlage sich entwickelnden Ideenfolge wird man
jedoch vergeblich in seinen Werken suchen: es ist ihm eben, wie er
selbst gesteht, nie ganz gelungen, den „ungebundenen Geist in
gebundene Form zu bringen." Auch in seinem für den Päda-
gogen wichtigsten und interessantesten Werke, der „Levana", tritt
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dieser Mangel zutage, auch hier vermisst man bei aller Fülle geist-
reicher und origineller Gedanken eine logische Verknüpfung der ein-
zelnen Theile zu einem organischen Ganzen. Anfangs scheint Jean
Paul sich allerdings einen bestimmten Plan vorgesetzt zu haben. Nach
Feststellung des Zweckes der Erziehung finden sich in genetischer
Folge die Gattungs- und die individuellen Eigenschaften, sowie die
Entwickelungsgesetze des Erziehungsobjektes dargestellt, und es
scheint fast, als wolle der Verfasser, von der ersten Erziehung aus-
gehend, eine Theorie der gesammten Erziehungsthätigkeit nach ein-
heitlichen Grundgedanken aufbauen. Bald jedoch verlässt er voll-
ständig den eingeschlagenen Weg und behandelt in ziemlich unge-
regelter Aufeinanderfolge die wichtigsten Erziehungsfragen, wodurch
das Werk bei aller Gedankentiefe und Ideenfülle doch den Eindruck
eines wohlgegliederten, widerspruchsfreien Ganzen nicht aufkommen
lässt. Dessen war sich jedoch niemand besser als der Autor selbst
vollständig bewusst. Schon die Überschriften der einzelnen Capitel
wie „Bruchstück", „Nachschrift", „Traum", „Ergänzungsblatt" lassen
erkennen, dass er kein System im strengen Sinne des Wortes zu
liefern gedenkt. Verschiedene in den Text eingedruckte Bekenntnisse
beweisen dies noch klarer. „Dem ersten und zweiten (Theile) hätte
eine frühere Stelle gebürt .... wenn es überhaupt in diesem Er-
fahrungswerkchen darauf ankäme, die Stellen der Materien nach
strenger Rangordnung zu vergeben", sagt Jean Paul in der Ein-
leitung zur weiblichen Erziehung, und ein andermal bittet der Dichter
gar den Leser um Verzeihung „ob der wilden Anordnung des Stoffes!"
Wäre es auch noch so sehr zu wünschen gewesen, dass Jean Paul
bei seinem psychologisch so interessanten Lebensgang und seiner der
Pädagogik nie ganz entfremdeten Thätigkeit einen logisch durch-
sichtigen Plan eingehalten und die wertvollen Beobachtungen, welche
er als denkender Familienvater und zeitweise praktischer Lehrer ge-
macht hatte, unter einheitliche Gesichtspunkte gebracht hätte, so ist
nun einmal nicht zu leugnen, dass der Plan der „Levana", besonders
wenn wir ihn mit dem unserer modernen Erziehungsbücher ver-
gleichen, in geradezu vollständiger Planlosigkeit besteht, und dass
in der ganzen Anordnung des Stoffes „der Dichter zu sehr hinter
dem Pädagogen durchblickt". Nicht zu tibersehen ist allerdings, dass
diese der inneren logischen Anordnung entbehrende, unverknüpfte
Nebeneinanderstellung der einzelnen Gedanken in dem eigenartigen
Naturell des Dichters begründet und auf vollständig bewusster Igno-
rirung eines streng geschlossenen Systems zurükzuluhren ist; dies
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geht auch aus dem Umstände hervor, dass Jean Paul mit damaligen
systematisch gearbeiteten Meisterdarstellungen der pädagogischen Wissen-
schaft durchaus nicht unbekannt war. Der Verfasser der „Levana"
mochte die vielseitigen Schwächen seiner sonst so reichbegabten
Dichternatur zur Gentige gekannt haben, um die Wahl einer Form
bei Seite zu lassen, bei deren Anwendung er, aller Voraussetzung
nach, jedenfalls einen hervorragend hohen Grad der Vollkommenheit
nicht erreicht hätte. Das sporadische Ansammeln seiner oft so über-
raschend schönen und durch Anwendung lichtvoller Bilder im höchsten
Grade wirkungsvoll gemachten Gedanken war ihm zur Gewohnheit
geworden. Man vergleiche damit, um diese Behauptung richtig zu
finden, seine beiden anderen Werke, die ihrer ganzen Materie nach be-
stimmt zu sein scheinen, in ihrer Darstellung einen wissenschaftlichen
Charakter zu tragen, die „Vorschule der Ästhetik" und die „Seiina"!
Nicht minder mochte er aber auch mit dem Geschmacke seiner so
zahlreichen Leserwelt, die jedes neue Buch aus seiner Feder mit Jubel
begrüßte und sich an die vielfach zerhackte Darstellungsweise ihres
Lieblingsdichters gewöhnt hatte, gewissermaßen in stillem Einver-
ständnisse gearbeitet haben. Fand doch seine „Levana* Aufnahme
und lebhafte Benutzung in Kreisen, denen eine ernstwissenschaftliche
Sprache fremd war! Aus diesen Gründen ist es leicht begreiflich,
warum Jean Paul einer Sprache, wie sie z. B. Herbart führte, aus
dem Wege ging.
Die „Allgemeine Pädagogik" des letztgenannten Philosophen fuhrt
der Verfasser in der Vorrede zur 2. Auflage (1811) an und kommt
bei dieser Gelegenheit auch auf den speculative Grundlage und streng
wissenschaftliche Methode vereinigenden Charakter dieses Werkes zu
sprechen. Hier, wie bei der Erwähnung von Grasers „Divinität der
Menschenbildung" nimmt er Gelegenheit, unumwunden seine Abneigung
gegen Anwendung eines pädagogischen Systems auszudrücken. Er
meint, „dass Herbart das Titel-Vorrecht „allgemeine" nicht möchte so
allgemein benutzt haben und durchgeführt," und mehrmals erfährt
der Leser, dass die „Levaua" nur eine Blütenlese von pädagogischen
Urtheilen sei, etwa in dem Sinne, wie ihr Verfasser z. B. bei Er-
wähnung von Schwarz „Erziehungslehre den Ausdruck Blumen-
kataloge von Kinderseelen" gebraucht hat. So ist es denn gekommen,
dass die „Levana", den Ansichten ihres Verfassers entsprechend, der
inneren Gliederung, wie sie eine erschöpfende Darstellung des Stoffes
nöthig gemacht hätte, fast gänzlich entbehrt Betrachten wir die
äußere Gliederung des Werkes nun etwas näher!
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III.
Dasselbe zerfällt in drei „Bändchen", in welchen nenn „Bruch-
stücke" untergebracht sind, von denen jedes wieder aus einzelnen
„Capiteln" besteht. Das „erste Bruchstück" behandelt im ersten
Capitel die Wichtigkeit der Erziehung. Schon im zweiten und
dritten Capitel wird jedoch der Fluss der Auseinandersetzung unter-
brochen durch zwei in höchst sonderbarem Geschmack gehaltene
„Schulreden M, von denen die erste in allerdings humoristischer Form,
Gründe gegen die Wirksamkeit der Erziehung vorbringt, während
die zweite in ernster Weise letztere darzuthun sucht. Das zweite
„Bruchstück" beschäftigt sich sodann im ersten Capitel mit „ Geist
und Grundsatz der Erziehung" und entwickelt im zweiten Capitel,
hiervon ausgehend, die Individualität des Idealmenschen. Man sieht,
bis hierher hat Jean Paul, abgesehen von den „zwei Schulreden",
deren Einfügung wol nur stattfand, um den Charakter eines Lehr-
buches zu vermeiden und der „Levana" ein mehr dichterisches
Gepräge zu geben, seinen Stoff mit ziemlicher Folgerichtigkeit der
sich aneinander schließenden Ideen behandelt. Auch das dritte
Capitel „über den Geist der Zeit" und das vierte Capitel von der
Bildung zur Religion stehen in ihrem Gedankeninhalt nicht allzu
fremd den vorhergegangenen Ausfuhrungen gegenüber. Dagegen
bringt das erste Capitel des „dritten Bruchstückes* schon eine „Ab-
schweifung über den Anfang des Menschen und der Erziehung", wel-
cher jede Verbindung mit den Schlussbemerkungen des zweiten
„Bruchstückes" fehlt. Hieran schließen sich in ungeordneter Auf-
einanderfolge Ausführungen über verschiedene wichtige Punkte des
Kindeslebens. So beschäftigen sich Capitel 2 und 3 mit der Freudig-
keit der Kinder und mit dem Spiel derselben. In Capitel 4, 5, 6, 7
und 8 finden sich Gedanken über das Tanzen, die Musik, Gebieten
und Verbieten, das Strafen und das Schrei- Weinen der Kinder. Von
besonderer Wichtigkeit ist noch das neunte Capitel, worin sich Jean
Paul „über den Kinderglauben" ausspricht. Nun 'folgen wieder zwei
Unterbrechungen des vorherrschenden Ganges in der äußeren Glie-
derung. Ein „Anhang zum dritten Bruchstück" handelt über die
physische Erziehung, während ein „komischer Anhang und Epilog"
ein „geträumtes Schreiben an den sei. Prof. Geliert, worin der Ver-
fasser um einen Hofmeister bittet", enthält.
Das nun folgende „vierte Bruchstück" scheint den abgebrochenen
Faden der pädagogischen Ausführung wieder anknüpfen zu wollen;
es handelt (in 5 Capiteln) „von der weiblichen Erziehung". Aber
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wieder ist von keiner Ordnung der dargebotenen Gedanken die Rede,
und Jean Paul muss dies wol gefühlt haben, wenn er sagt, dass
man in seinem Bruchstück über Mädchen die systematische Ordnung
vermissen und „nur eine für Weiber systematische Anordnung" an-
treffen könne. Das erste Capitel des neuen Bruchstückes beschäftigt
sich mit den Fehlern in der weiblichen Erziehung, denen in der Form
einer „Beichte Jaquelinens" Ausdruck gegeben ist. Die drei folgen-
den Capitel handeln von der Bestimmung des weiblichen Geschlechte,
der Natur der Mädchen, der Bildung der Mädchen in Hinsicht der
mannigfaltigsten Aufgaben, Gewohnheiten und Eigenschaften des weib-
lichen Geschlechtes. Das fünfte (Schlusscapitel) wird gebildet durch
eine „geheime Instruction eines Fürsten an die Oberhofmeisterin
seiner Tochter". Das „fünfte Bruchstück" ist der Fürstenerziehung ge-
widmet. Neben allgemeinen Ausführungen über die Bildung eines
Fürsten enthält es einen Brief an den „Prinzen-Hofmeister, Herrn
Hofrath Adelhard, über Fürstenerziehung". Außer jeglichem Zusam-
menhang mit dem Inhalte dieses Bruchstückes stehen die Ausführungen
des sechsten Bruchstückes. Dasselbe trägt die Überschrift „Sittliche
Bildung des Knaben", handelt jedoch in seinem ganzen Verlaufe von
sittlicher Bildung überhaupt und ist deshalb namentlich im letzten
Theile seinem Inhalte nach für beide Geschlechter bestimmt. Der
sittlichen Stärke soll nach den Ausführungen des ersten Capitels die
körperliche vorausgehen. Darum enthält dieses Gedanken über „Ver-
wundspiel," „Schädlichkeit der Furcht und des Schrecks", „Lebenslust",
„Unzulänglichkeit der Leidenschaftlichkeit", „Notwendigkeit der
Jugendideale". Das zweite Capitel handelt von der Bildung zur
Wahrhaftigkeit, das dritte von der Bildung zur Liebe, die nicht nur
alle Menschen umfassen, sondern sich auch auf die Thiere erstrecken
soll. Das vierte Capitel wird gebildet durch einen „Ergänzanhang
zur sittlichen Bildung14, welcher „vermischte tröstliche Regeln" ent-
hält, über „Geschichte der Eltern für ihre eigenen Kinder, über
Kinderreisen", über die „Missüchkeit voreiliger Schamlehre" und „über
die Kinderkeuschheit" handelt. Das siebente Bruchstück enthält Aus-
führungen „über die Entwicklung des geistigen Bildungstriebes".
Nach einer näheren Bestimmung desselben im ersten Capitel befinden
sich im zweiten Capitel „Gedanken über Sprache und Schrift", im
dritten „über Aufmerksamkeit und Vorbildungskraft", „Pestalozzi",
„Unterschied der Mathematik von der Philosophie"; das vierte Capitel
behandelt die Bildung zum Witze, das fünfte die „Bildung zu Re-
flexion, Abstraction, Selbstbewusstsein" und enthält einen „Anhang*
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Paragraphen über That- oder Weltsinn". Im sechsten Capitel spricht
sich Jean Paul ans „Über die Ausbildung der Erinnerung, nicht des
Gedächtnisses". Das achte Bruchstück enthält Betrachtungen über
die Ausbildung des Schönheitssinnes und handelt im ersten Capitel
über die „durch den äußeren und inneren Sinn bedingten Schönheiten",
das zweite Capitel ist Erwägungen über classische Bildung gewidmet.
Den folgenden Abschnitt der „Levana" bezeichnet Jean Paul selbst
als „Neuntes Bruchstückchen oder Schlussstein". In demselben kommt
der Verfasser u. a. auch auf das Unterrichten zu sprechen, „welches
überhaupt in späteren Jahren immer mehr mit dem Erziehen zu-
sammenfallt". Als drei Classen der Wissenschaft, die dem „Drei-
klang der Bildung entsprechen", bezeichnet er die lateinische Sprache,
die Messkunst und die Geschichte. Außerdem enthält das letzte
Bruchstück aphoristische Gedanken über die verschiedensten Theile
der Erziehung. Mit einem sehr edeln Schlussaccorde klingt die
„Levana" aus. Jean Paul schließt mit einer „Dichtung vom jüngsten
Tage und den zwei letzten Kindern u: „Sie wurden geboren, als eben
die Welt voll Sünden unterging und blieben allein; sie griffen mit
spielenden Händen nach den Flammen und endlich wurden sie auch
davon mit Adam und Eva ausgetrieben, und mit dem kindlichen
Paradiese beschloss die Welt." —
Findet sich also, wie wir zu beweisen gesucht haben, in der
„Levana" kein streng eingehaltener Plan, noch weniger ein festge-
schlossenes System der gesammten Erziehungswissenschaft, so ist das
Werk doch überaus reich an trefflichen Gedanken über die mannig-
faltigsten Aufgaben der Erziehung, und die in ihm niedergelegten
Ideen und Vorschläge für Herbeiführung einer besseren Jugend- und
Menschenbildung werden so lange der Beachtung gewiss sein, so lange
es eine Wissenschaft von der Erziehung gibt und sich Menschen finden,
welche die Bildung der heranwachsenden Jugend als die vornehmste
Aufgabe der Familie und des Staates betrachten. „In wenigen
Büchern" sagt Grube, „ist in die allgemeine Menschennatur, bis zu
ihren Elementen herab, so klar hineingeleuchtet, die Einderseele so
innig und allseitig belauscht, sind so viele zarte Seiten derselben be-
rührt worden, so viele Hämmer zu ihrer richtigen Stimmung gegeben."
IV.
Welches sind nun die in der „Levana" enthaltenen Grundge-
danken der Jean Paulschen Pädagogik? Um die bedeutungsvollsten
derselben kennen zu lernen, erscheint es in erster Linie von Wichtig-
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keit, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche Ansicht Jean Paul
von dem Geiste und der Aufgabe der Erziehung überhaupt hatte;
denn je nach der Idee, die der Erziehende sich über das Wesen und
die Ziele der von ihm vertretenen Wissenschaft gebildet hat, wird er
die zur Verwirklichung dieser Idee nöthigen Veranstaltungen treffen.
„Zum Ziele der Erziehungskunst, das uns vorher klar und
groß vorstehen muss, ehe wir die bestimmten Wege dazu messen, ge-
hört die Erhebung über den Zeitgeist: Nicht für die Gegenwart ist
das Kind zu erziehen, sondern für die Zukunft." Spricht schon aus
diesen Worten Jean Pauls ein hohes ideales Ziel, zu dem der junge
Mensch der „leidenschaftlichen Begehrkraft" eines „schwankenden
Zeitgeistes" gegenüber erzogen werden soll, so erläutert er es in dem
weiteren Verlaufe des Werkes an verschiedenen Stellen noch näher.
„Gegen die Zukunft, ja gegen die eindringende Zeit ist das Kind mit
einem Gegengewicht dreier Kräfte auszurüsten, wider die drei Ent-
kräftungen des Willens, der Liebe, der Religion".
Und wenn er bei der Betrachtung von Geist und Grundsatz der
Erziehung „den gewöhnlichen Eltern" vorwirft, dass sie statt „eines
Urbildes" ein „ganzes Bildercabinet von Idealen den Kindern vor-
stellten", so erkennt man daraus, wie ernst es Jean Paul mit der
Einheitlichkeit aller Erziehungszwecke nimmt und mit welcher Ent-
schiedenheit er auf ihre Verknüpfung und ihren harmonischen Zu-
sammenschluss zu einer einheitlichen Lebensauffassung dringt. „Einen
festen und reinen Charakter", mit diesen Worten bezeichnet er das
Ziel der Erziehung, wenn ^er von der „Bildung eines Fürsten" spricht,
und den durch Geburt und Bestimmung „auf der Menschheit Höhen"
stehenden jungen Menschen wollte der Dichter gewiss die reifsten
Früchte seiner pädagogischen Lebenserfahrung angedeihen lassen!
Doch unterlässt es Jean Paul in dem weiteren Verlaufe des Werkes,
an dieser Ansicht festzuhalten und in wissenschaftlicher Strenge
ihre äußersten Consequenzen zu ziehen. Der kritische Blick des Ge-
lehrten weicht in seiner Ansicht bald dem durch ein äußerst lebhaftes
Spiel der mannigfaltigsten Empfindungen gelenkten Urtheile des
Dichters. Überhaupt tritt in der „Levana", wie in den meisten ande-
ren Werken Jean Pauls, wieder höchst charakteristisch für die Poeten-
natur ihres Verfassers, der Gedanke von der großen Erziehungsmacht
der uns umgebenden Natur, und dem das Individuum treflenden Lebens-
schicksale stark hervor, und Jean Paul ist sehr geneigt, diesen beiden
Erziehern des Menschen eine allzugroße Macht einzuräumen, was ja
schon an und für sich einem einheitlichen Erziehungsprincipe, dessen
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Verwirklichung nur durch die Hand eines denkenden Erziehers, eines
Menschen, erreicht werden kann, entgegen sein würde. Aber der
Verfasser der „Levana" erinnert anderseits fortwährend an die Wich-
tigkeit eines Ideals, das dem Erzieher bei seinem Geschäfte voran-
leuchten soll, bei näherer Bestimmung desselben bleibt er sich jedoch
durchaus nicht gleich; darum darf es uns nicht wundern, wenn Jean
Paul seine anfangs innegehaltene Stellung verlässt und bei der Wahl
eines Erziehungsideals seinen Blick nicht nach der fernen Zukunft der
zur Erreichung gegebenen Erziehungsaufgabe lenkt, sondern die Natur
und Beschaffenheit des Objectes, das die Erziehung bei Beginn ihres
Geschäftes vorfindet, in den Brennpunkt seiner pädagogischen Auf-
fassung rückt Durch die Erforschung der Natur des Erziehungs-
objectes, das die Erziehung bei Beginn ihres Geschäftes vorfindet, die
bei der Geburt des Kindes bereits vollständig ausgeprägt sei, glaubt
Jean Paul schon die ganz bestimmten Zwecke der Erziehung ge-
geben, während ihm diese Erkenntnis doch eigentlich nur dazu dienen
sollte, eine klare Einsicht über Art, Anwendbarkeit und Wirk-
samkeit der Erziehungsmittel zu erlangen. Betrachten wir nun
die Ansichten der „Levanau über die Natur des Kindes etwas näher!
„Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiß geboren und vom
Leben zum schwarzen geförbt." Spricht schon aus diesen Worten die
Überzeugung von einer angeborenen Güte der Menschennatur, so er-
scheint sie bei Jean Paul in voller Gewissheit, wenn er weiter sagt:
„Ein erstes Kind auf der Erde würde uns als ein wunderbarer aus-
ländischer Engel erscheinen, der ungewöhnt unserer fremden Sprache,
Miene und Luft, uns sprachlos und scharf, aber himmlisch rein an-
blickte, wie ein Raphaelisches Jesuskind " „So werden täglich
aus der stummen, unbekannten Welt diese reinen Wesen auf die wilde
Erde geschickt." An gleichem Orte heißt es: „Nur die Angewöh-
nungen an sie (die Kinder) und ihre uns oft bedrängenden Bedürfnisse
verhüllen den Reiz dieser Seelengestalten, welche man nicht weiß
schön genug zu benennen, Blüten, Thautropfen, Sternchen, Schmetter-
linge " In den Grundsätzen, auf welchen diese Äußerungen
ruhen, finden wir den Verfasser der „Levana" in Übereinstimmung
mit J. J. Rousseau, einem Manne, der durch seine originellen, von
den früheren Ansichten über Erziehung abweichenden Gedanken über-
haupt eine mächtige Anregung gegeben hatte, und der durch die
Macht seiner Ideen — um mit Jean Paul zu reden — „in Europa
die Schulgebäude bis zu den Kinderstuben herab erschütterte und
reinigte". Gleich ihm hält unser Dichter den Menschen von Natur
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aus für gut, wie Rousseau, so schreibt Jean Paul die spätere Ent-
artung des Individuums einer falschen Einwirkung von außen zu.
Doch unterscheidet sich wieder der deutsche Dichter von dem fran-
zösischen Philosophen durch den geringeren Grad der Schärfe, mit
der er seine Ansicht vertheidigt, wie auch durch die Art und Weise,
wie ihm die angeborene Güte des jungen Menschen erscheint, Ist
nach Rousseau der neu geborene Mensch einem weißen Blatte gleich,
das der Erzieher mit Schriftzügen bedecken kann, so dass letzterer
„eine schöpferische Personbildung aus dem Nichts" als seine Aufgabe
betrachten muss, so bringt nach Jean Paul jeder Mensch schon eine
ganze Anzahl angeborener Geistesschätze und Eigentümlichkeiten mit,
die auf sein späteres Leben von ganz entschiedenem Einflüsse sind.
Diesen „inneren Menschen", der in jedem Kinde noch umhüllt liegt,
nennt er „Idealmensch". Bei dem großen Einflüsse, welchen die An-
sicht eines Pädagogen von der angeborenen Natur des Erziehungs-
objectes auf den weiteren Auf- und Ausbau seiner Wissenschaft aus-
übt, halten wir es für nöthig, diesen „Idealmenschen," wie er Jean
Paul vorschwebte, auf Grund der in der „Levana" über ihn ent-
haltenen Bemerkungen näher zu bestimmen. „Jeder von uns hat
seinen idealen Preismenschen in sich, den er heimlich von Jugend auf
frei und ruhig zu machen strebt. Am hellsten schauet jeder diesen
heiligen Seelen-Geist an in der Blütezeit aller Kräfte, im Jünglings-
alter; später verwelkt bei der Menge der Idealmensch von Tag zu
Tage — und der Mensch wird, fallend und überwältigt, lauter Gegen-
wart, Geburt der Noth und Nachbarschaft.- Aber die Klage eines
Jeden: was hätt' ich nicht werden können, bekennt das Dasein oder
Dagewesensein eines ältesten paradiesischen Adams neben und vor
dem alten Adam" „Sollte man übrigens den Preis- und Ideal-
menschen in Worten übersetzen, so könnte man etwa sagen, er sei
das harmonische Maximum aller individuellen Anlagen zusammenge-
nommen." Doch nicht „das Maximum" dieser „individuellen Anlagen"
allein ist ihm der „Ideal mensch", er ist auch Ideal des zu erziehenden
Kindes, Voraussetzung und Ziel der Erziehung zugleich: „Das Subject
trägt sein Ideal in sich, bringt es mit auf die Welt, das Ideal ist die
innerste Persönlichkeit des Menschen selbst." Also das, was die Er-
ziehung einestheils als gegeben voraussetzen darf, was ihr aber wieder
als zu erreichendes Ziel vorschweben kann, „der innere Mensch", der
„von dem von seiner Zeit und seinem Jahrhundert verschliffenen
Säcular-Menschen so rein und gleichförmig abliegt, wie der Rousseau'-
sche Natur-Mensch", das ist nach Jean Paul der „Idealmensch", den
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das Kind „als Morgengabe seinem Erzieher darbietet". Sehr ent-
schieden verwahrt sich unser Autor gegen den Glauben, als nehme
er den Preis- oder Idealmenschen, der „in jedem Einzelwesen wohnen
und athmen inuss", als bei säramtlichen Individuen nur in einer be-
stimmten Form auftretend an; er ist vielmehr nach seiner Auffassung
so sehr von dem eines jeden anderen Menschen verschieden, dass
selbst die scheinbarste Ähnlichkeit, die man entdecken möchte, im
Grunde nur eine Täuschung wäre: „Der Idealmensch Fenelons —
so voll Liebe und voll Stärke — der Idealmensch Cato's — so voll
Stärke und voll Liebe — könnten gleichwohl sich nie gegeneinander
ohne Geisterselbstraord auswechseln oder seelenwandern". Steht also
Jean Paul in seiner Ansicht von der angeborenen Güte der mensch-
lichen Natur auf Seite Rousseau's, so erinnert er in der Auffassung
und Erklärung von seinem „Idealmenschen" lebhaft an Plato und
seine Lehre „von den angeborenen Ideen". „Nach der Ansicht des ge-
nannten griechischen Weltwcisen liegen nämlich übersinnliche Wahr-
heiten (Ideen) ursprünglich im Menschen, bereits vor Vereinigung
mit dem Leibe hat die Seele diese Ideen besessen, durch Verbindung
mit dem (unvollkommenen) Leibe verhüllt, müssen sie durch richtige
Erziehung frei gemacht und von der Seele reproducirt werden.
Ist es also nach Jean Pauls wiederholt angeführten Worten seine
Überzeugung, dass der Idealmensch dem Kinde angeboren, außerdem
sein Ideal, ja seine innerste Persönlichkeit selbst ist, so muss in Hin-
blick auf den hohen Wert der Individualität es Hauptaufgabe des
Erziehers sein, Sorge zu tragen, dass dieser Idealmensch ungehindert
zur Ent wickelung gelangen kann; ja das nächste Ziel aller erzieh-
lichen Veranstaltungen muss darauf gerichtet sein, „den Idealmenschen,
der in jedem Kinde umhüllt liegt, frei zu machen durch einen Frei-
gewordenen". Dasselbe meint Jean Paul, wenn er an einem anderen
Orte sagt: „In einem Anthropolithen (versteinerten Menschen) kommt
der Idealmensch auf der Erde an; ihm nun von so vielen Gliedern
die Steinrinde wegzubrechen, dass sich die übrigen selber befreien
können, dies ist oder sei Erziehung." Schonende Beachtung des
Ideals, „ohne welches der Mensch auf vier Thierklauen niedersänke",
erscheint umsomehr geboten, „als jetzo die meisten Culturmenschen
ein Feuerwerk sind, das unter einem Regen abbrennt, unverbunden
mit zerrissenen Gestalten glänzend halbe Namenzüge malend". Mit
Recht wendet sich deshalb auch die „Levana" gegen jene Erzieher,
welche diese Individualität nicht zu schonen wissen, sondern „stark
darauf hinarbeiten, „dass das Kind nichts Werde, als „ihr Stief- und
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Kebs-Ich". Doch wäre es irrig, anzunehmen, der „Levana" schwebe
der rein abwehrende Modus der Erziehung als Ideal vor und ihr Ver-
fasser rede der negativen Erziehung, wie sie Rousseau in seinem „Emil"
predigt, das Wort. Gestutzt auf längere Beobachtungen, die er als prak-
tischer Erzieher machte, wusste Jean Paul allzuwol, dass es eben nur
das erste Kind wäre, das als „wunderbarer, ausländischer Engel" er-
scheinen würde; die nicht zu ignorirende Wirklichkeit belehrte ihn,
zu welch unendlicher Mannigfaltigkeit, auch nach der schlimmen Seite
hin, die in dem Kinde wohnenden Keime sich entwickeln können, und
so war es ein Tribut, den er der auf jeden Erzieher eindringenden
Thatsächlichkeit brachte, wenn er sagt: „ein jeder liegt, so leicht
blühend er sich nach oben anschaue, noch belastet mit einer Wurzel
in der finsteren Erde." Deshalb hat der Erzieher, von der Indi-
vidualität^ die er wachsen lässt, eine andere zu trennen, die er beu-
gen oder lenken muss. Die Antwort auf die Frage, welche Indi-
vidualität der Erzieher wachsen lassen und welche andere er beugen
oder lenken muss, gibt Jean Paul nun allerdings in eigentümlicher
Weise, wenn er hinzusetzt: „jene ist die des Kopfes, diese ist die des
Herzens". Einer intellectuellen Veranlagung, die zum Beispiel einer
künstlerischen Individualität anhaften könnte, darf der Erzieher „nicht
den Schlaftrunk schon am Morgen des Lebens geben — ." „Aber ganz
anders ist die sittliche zu behandeln; denn ist jene Melodie, so ist
diese Harmonie. Einen Euler darfst du nicht durch einen einge-
impften Petrarca entkräften oder diesen durch jenen, denn keine
intellectuelle Kraft kann zu groß werden und kein Maler ein zu
großer Maler; aber jede sittliche Eigenthümlichkeit bedarf ihrer Grenz-
berichtigung durch Ausbildung des entgegengesetzten Kraftpols, und
Friedrich der Einzige soll die Flöte nehmen und Napoleon den Ossian.
Hier darf die Erziehung z. B. an dem Heldencharakter Friedens-
predigten halten, sowie den Siegwarts-Charakter mit ein paar elek-
trischen Donnerwettern laden, . . . „Übrigens bleib' es Gesetz, da
jede Kraft heilig ist, keine an sich zu schwächen, sondern nur ihr
gegenüber die andere zu erwecken, durch welche sie sich harmonisch
dem Ganzen zufügt."
Heute würde ein Pädagoge diese Frage natürlich anders beant-
worten; denn die Psychologie lehrt uns so viele Berührungspunkte
zwischen dem intellectuellen und ethischen Elemente der Menschen-
natur, dass der Grundsatz einer durchaus harmonischen Aus-
bildung beider bei aller Erziehung leitend sein muss.
(Schluss folgt.)
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Bemerkungen zur Fremdwörterfrage.
Von Alfred von Ehrmann-Baden b. Wien.
orc teutsche Sprach ist nicht dergestalt arm und bawfällig,
wie sie etliche naßweise nunmehr machen, die sie mit frantzösischen
und italienischen Plätzen also flicken, dass sie auch nicht eyn kleines
Briefleiu fortschicken, es seye denn mit anderen Sprachen dermaßen
durchspickt, dass einer, der es will verstchn, fast in allen Sprachen der
Christenheit bedörfft Erkanntnuss haben, zu großer Schande und Nach-
theil unserer teutschen Sprach, die in jbr solch Vollkommenheit hat,
dass sie auch alles, was da könnte für fallen, gar wol kann andeuten
und verständlich gnug ohne zuthun anderer Sprachen zu verstehen
geben."
(Fabricius von Hilden um 1600.)
Vorstehendes Citat aus einem fast verschollenen Schriftsteller des
XVil. Jahrhunderts wäre wol ganz geeignet, das Alter jener philo-
logischen Streitfrage, welche neuerdings wieder zu einer brennenden
geworden ist, aufs deutlichste zu beweisen. Aber nicht aus diesem
Grunde habe ich es meinen Ausführungen vorangesetzt. Dass die
Fremdwörterfrage nicht von diesem Jahrzehnt herrührt, ja, dass nicht
einmal unser Jahrhundert den Vorzug in Anspruch nehmen darf, sie
zuerst aufgeworfen zu haben, ist wol zur Genüge bekannt. Wenn
noch Beweise angeführt werden müssten, so gäbe es viel ältere als
es der oben citirte ist.
Was mir aber in dem wolgemeinten, wenngleich unglaublich
schwerfälligen Satze des Herrn von Hilden ganz besonders beachtens-
wert scheint, ist die schlagende Ähnlichkeit seiner Ausdrucksweise
mit derjenigen unserer Sprachreiniger von heute. Die Mahnworte
und Aufrufe dieser letzteren sind genau auf den Ton gestimmt, wel-
chen jener Zeitgenosse des üppigsten Franzosenthums in Deutschland
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anschlägt Dieser Umstand gibt zu denken. Dass die Klagen Hildens
vollberechtigt waren, darüber kann kein Zweifel bestehen. In jenen
unglückseligen Zeiten, aus denen sein Ruf zu uns dringt, ging Sprach-
verwilderung mit wirtschaftlicher und sittlicher Verwilderung Hand
in Hand. Soldtruppen der verschiedensten Nationen hatten im heil,
römischen Reiche gewirtschaftet und in manchem Gau die Pest zu-
rückgelassen; die Sprache war durch sie nicht minder verseucht
worden. Hildens Rügeruf klingt noch maßvoll gegenüber der trost-
losen Entartung, welche er thatsächlich vorfand. Unsere berufenen
Sprachwächter der jüngsten Zeit führen dagegen manchmal eine weit
schärfere Sprache. Daraus müsste nun füglich geschlossen werden,
dass der Übelstand noch in demselben Maße fortbestehe, wie vor
300 Jahren, da er heute eben so heftig gerügt wird wie damals.
Dies scheint uns aber kaum denkbar. Sollte es wirklich nach all den
siegreich beendeten Kämpfen auf nationalem und literarischem Gebiete
noch immer nicht besser stehen um die Reinheit und Selbstständigkeit
unserer Sprache? Luthers große Tliat hätte ihre Früchte getragen,
die Nachwehen des dreißigjährigen Krieges wären überwunden, eine
blühende Literatur wäre erstanden, auf die wir jetzt schon wieder als
auf eine klassische Epoche zurückblicken, und unsere Sprache hätte
sich noch immer nicht von fremder Bevormundung befreien können?
Deutschland wäre einig geworden und das Deutsche stünde noch nicht
auf eigenen Füßen? —
Wer die Texte aus jenen unruhigen Zeiten nur einigermaßen
kennt und sie mit einer Probe aus unserem Schriftthum vergleicht,
wird über diesen Punkt beruhigt sein.*) Wenn man die Riesenarbeit
überblickt, die seither sowol von den wenigen großen Baumeistern
der Sprache, als auch von den Tausenden literarischer Handlanger
in unverdrossenem Zusammentragen geleistet worden ist, so wird man
sich sagen müssen, dass uns kaum der zehnte Theil dieser Arbeit
noch zu leisten übrig bleiben kann. Dass die Sprache sich aus der
damaligen Verwälschung und Entnationalisirung nur langsam und mit
*) Der Merkwürdigkeit halber Bcien hier die — wie ich glaube — sehr wenig
bekannten Verse wiedergegeben, in denen damals ein „deutscher" Dichter die Dame
»eines Herzens besang: Rcverierte Dame
Phönix meiner ämc
Gebt mir Audienz
Eurer Gunst meriten
Machen zum fallitcu
Meine Patieuz.
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— 700 —
Mühe befreien konnte, ist selbstverständlich; wie sie geschulmeistert
und oft pedantisch genug zur Reinlichkeit erzogen wurde, wissen wir
ja aus der Geschichte der Blumen-, Palmen-, Schwanenorden und ähn-
lichen Sprach reinigungsgesellschaften mit botanischen und zoologischen
Namen! Es war ein langer und beschwerlicher Weg, den unsere
Sprache von da bis Klopstock und Lessing zurückzulegen hatte! Ein
nicht zu unterschätzendes Hindernis erstand ihr dabei noch außerdem
in dem übermächtigen Einflüsse, den gerade zu jener Zeit Frankreich
und seine unter Ludwig XIV. blühende Literatur auf das ganze da-
malige Europa, in erster Linie natürlich wieder auf Deutschland aus-
zuüben begann. Von den größeren und kleineren deutschen Fürsten,
von denen die meisten, geblendet durch die Herrlichkeit des Pariser
Hofes, in eine sklavische Nachahmung desselben verfallen waren,
konnte natürlich eine Förderung deutscher Art und Poesie auch nicht
erwartet werden. Manche unter diesen Miniaturdespoten und Nach-
äffern des Sonnenkönigs warfen sich in ihren Residenzen, die sie zu
einem Klein-Paris umgestaltet hatten, und auf ihren Landhäusern,
welche als After- Versailles mit dem Schweiß und Blut ihres Volkes
oder gar mit den Ertraggeldern des schändlichsten Unterthanen-
schachers erbaut waren, viel eher zu Mäcenen wälscher Tanzmeister
und Komödianten, als zu Beschützern heimischer Poeten auf. Kann
ja doch sogar dem großen Friedrich der Vorwurf nicht erspart wer-
den, dass er die Bedeutung des Deutschen als Staats- und Literatur-
sprache vollkommen verkannt hat! —
Ihr Entwicklungsgang konnte jedoch durch all diese Hemmnisse
nur auf kurze Zeit aufgehalten werden. Denn derselbe ist auch in
der Messiade und in der bahnbrechenden Prosa Lessings kein abge-
schlossener. Über Goethe und seine Epigonen hinaus setzte, wenigstens
im Schriftthum, die Sprache ihre Bestrebungen fort, sich zu bereichern,
zu klären, zu läutern. Französische Wörter kehren von da an seltener
wieder, und auch in der Anwendung jener gelehrt scheinensollenden
Zwitterbildungen aus griechischen und lateinischen Stämmen mit
deutscher Ableitungssilbe ist man sparsamer geworden. Für alle diese
verlassenen Wörter lag nun aber der entsprechende deutsche Aus-
druck nicht immer bequem bei der Hand. Manchmal hieß es ein
wenig suchen, aus der Redeweise der Väter Einiges herübernehmen,
einen Griff in die Volksmundart thun, vielleicht sogar bilden oder
wenigstens umbilden. Daraus eben erwuchs der Sprache ein neuer
Segen: Sie bereicherte sich, lernte die eigenen Hilfsquellen kennen
und aus ihnen schöpfen. Nicht alles, was auf diese Weise gewonnen
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- 701 —
wurde, fand von den Bächern aas den Weg in die lebendige Umgangs-
sprache; nnd nicht alles, was sich festzusetzen wusste, ist auch ein
unbedingter Gewinn für die letztere gewesen. Aber selbst minder ge-
schickte Übertragungen oder Neubildungen sollten da nicht allzu
streng beurtheilt werden: das Verdienst, einen fremden Eindringling,
der lange geherrscht hatte und vielleicht für unabsetzbar galt, ent-
thront zu haben, darf es uns allenfalls übersehen lassen, wenn der
Verdränger selbst von etwas fraglicher Herkunft oder nicht ganz
regelrechter Bildung wäre — abgesehen davon, dass es der Theorie
doch niemals etwas nützen würde, einer sprachlichen Einführung, die
bereits in die Praxis übergegangen ist, böse Augen zu machen. Dem
Götzen des Erfolges muss widerwillig auch die Sprachwissenschaft
opfern. —
Dass hinwiederum gerade die wissenschaftliche Forschung die
Entwickelung und Reinigung unserer Sprache ungemein gefördert hat,
ist nicht zu leugnen. Ihr Einfluss war allerdings kein direkter. Der
Gelehrte steht der großen Masse des Volkes denn doch zu fern, um
von selbst und ohne vermittelnde Factoren auf dasselbe einwirken zu
können. Auf die Hunderte, die an seinen Arbeiten Antheil nehmen
können, kommen Hunderttausende, denen es entweder mangelnde oder
in gänzlich verschiedene Richtung geleitete Bildung unmöglich macht,
auch nur die wichtigsten Resultate dieser Forschungen kennen zu
lernen. Zum Glück besteht aber in der Dichtung und im Schrift-
thum eine Vermittlungsstelle zwischen dem Gelehrten und dem
Publicum. Und gerade die deutschen Dichter — unter welchen ja
so viele selbst sattelfeste Philologen sind — haben sich von jeher den
Vortheil nicht entgehen lassen, die Ergebnisse der Arbeiten auf philo-
logischem Gebiete für sich auszunützen. Genaue Kenntnis des Stoffes,
in welchem sie bilden, musste ihnen ja immer ein Hauptförderungs-
mittel in ihrer Kunst sein. Die Sprache ist nun aber in dem unge-
heuren Aufschwünge, den die vergleichende Sprachwissenschaft im
Verlaufe des XIX. Jahrhunderts genommen, nicht nur genauer er-
kannt und bis auf die Quellen erforscht, sie ist auf demselben sieg-
reichen Entdeckungszuge auch bereichert worden. Bereichert in-
sofern, als mancher wertvolle Ausdruck gehoben wurde aus dem
uralten Sprachschatze, nach welchem ein Grimm, ein Unland und ihre
Mit- und Nacharbeiter in alten Handschriften und Sagenbüchern eifrigst
schürften. Solche Ausdrücke setzten sich oft mit merkwürdiger
Schnelligkeit im schriftlichen und wol auch im mündlichen Gebrauche
fest. Es waren aber nicht künstliche, gezwungene Neubildungen,
PaxUgogiam. 14. Jahrg. Heft XI. 49
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sondern eigentlich nur Wiedererweckungen längst verschollener Aus-
drucksweisen, gleichsam alte Münzen, die lange außer Kurs gewesen,
an deren Form und Wert sich aber eine dunkle, ahnungsvolle Er-
innerung im Gedächtnis des Volkes erhalten hat War doch unter die-
sen neu in Umlauf gesetzten Goldstucken urdeutscher Ausdrucksweise
so manches, das eigentlich nur in den Büchern und im Verkehr der
Vornehmen seine Giltigkeit eingebüßt, unter dem Volke aber unver-
ändert weiter gegolten hatte und auf dem flachen Lande noch jetzt
— wenngleich vielfach entstellt, sozusagen mit verwischter Prägung —
als unscheinbare Scheidemünze von Hand zu Hand geht! —
Bei der vergleichenden Methode der heutigen Sprachwissenschaft
wurde auch der Dialekt in das erweiterte Forschungsgebiet einbe-
zogen. Niemals früher war ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt
wordeo, als gerade jetzt geschieht. Und auch hierüber hat sich das
Hochdeutsche nicht zu beklagen. Ein besonderes Merkmal unserer
neueren und neuesten schöngeistigen Literatur ist, wie schon gesagt
wurde, ihr Bestreben, sich die Ergebnisse der wissenschaftlichen
Forschung zunutze zu machen. Die Sprache soll fortwährend be-
reichert, sie soll immer ausdrucksfähiger gemacht werden: Ausbeutung
der lebenden Mundarten gewährt hierzu ein ebenso unentbehrliches
Mittel, wie die fleißige Benützung der alten Quellen.
Hierin, besonders in Bezug auf den Dialekt, haben die Oster«
reicher unter den Lebenden z. B. Rosegger, manches Erwähnenswerte
geleistet Berliner Schriftsteller, meist der modern-realistischen Lite-
raturströmung angehörend, schöpfen nicht ohne Geschick aus der
eigenen Quelle, dem Plattdeutschen, welches ihnen nur leider nicht
immer aus erster Hand, sondern oft schon getrübt durch den Strom
des großstädtischen Lebens, als Berlinerisch, zu Gebote steht Auch
die Schweizer Keller und Mayer, haben manchen kernigen Ausdruck
aus dem allemannischen Sprachgebiete in ihr im ganzen etwas alter-
tümlich und dialektisch gefärbtes Hochdeutsch aufgenommen. Man
betrachte aufmerksam einen solchen Text, etwa eine Stelle aus den
„Sieben Legenden" oder aus den „Züricher Novellen" Kellers, und
es wird jedermann auffallen, wie spärlich darin das Fremdwort wird.
Es ist — um ein kühnes Bild zu wagen — als ob der fremde Ein-
dringling sich in seiner welschen Tracht inmitten all dieser urdeutschen
Umgebung unbehaglich fühle und sich gleichsam von selbst zurückziehe.
Nach alledem erschiene es also, als stünde es um die Reinheit
unserer geliebten Muttersprache in diesen gegenwärtigen Tagen denn
doch nicht allzu schlimm. Will man nun die Richtigkeit der Tliai-
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sachen, welche im Vorstehenden in Erinnerung gebracht wurden, zu-
geben, so entsteht die Frage: wie stimmen hierzu die steten Klagen
über diesen Punkt? Sind sie nicht ernsthaft zu nehmen? Erscheinen
sie übertrieben? oder verspätet?
Um darauf antworten ZU können, werden wir allerdings die ganze
Fremd Wörterangelegenheit von einer anderen Seite betrachten müssen,
als dies bisher geschehen. In den vorstehenden Andeutungen über
den Entwicklungsgang des Deutschen war eben einseitig nur die
Literatursprache ins Auge gefasst. Aber das Organ von einigen
Hunderten Auserwählter darf freilich nicht als Maßstab für jenen aus-
gedehnten Begriff genommen werden: die Sprache eines Millionen-
volkes. Die Masse spricht eben durchaus nicht „wie ein Buch" —
in gewisser Hinsicht ist dies nicht einmal zu bedauern — und es gibt
gewisse breite Schichten der Bevölkerung, auf welche das Buch über-
haupt noch keinerlei Einfluss ausgeübt hat. Die Zeitung dehnt ihre
Herrschaft schon eher bis zu jenen Regionen aus; ob aber ihr Ein-
fluss auf das sprachliche Gefühl ihrer Leser immer ein günstiger ist,
wäre wol erst genauer zu untersuchen.
Im ganzen genommen, lässt sich nicht leugnen, dass die Sprache
des gewöhnlichen Lebens arg mit fremden Elementen durchsetzt ist Sie
hat erstlich Vieles, was ihr von früher anhing, noch immer nicht ab-
schütteln können; und anderseits wird sie in unserem Zeitalter, dem
Zeitalter der großen Industriebetriebe und des erhöhten Verkehres
mit dem Auslande noch fortwährend gezwungen, neu aufzunehmen.
Dass die Reinheit der Sprache im modernen Lebensgetriebe gefährdet
ist, bleibt eine Thatsache, der man sich nicht verschließen darf. Der
Zusammenstoß der verschiedensten Nationen in den Welthandels-
plätzen, welche oft zugleich geistige Mittelpunkte für große Bezirke
bilden, der Fortschritt der Wissenschaft, der Technik, welche für neu
gewonnene Begriffe neue Ausdrücke braucht, das in Deutschland be-
sonders eifrig betriebene Studium fremder Sprachen und Literaturen,
ausländische Moden, Zeitungslectüre — alle diese und einige andere
Ursachen wirken zusammen, um schließlich in der Sprache des täg-
lichen Verkehrs zwischen Gebildeten und Ungebildeten eine gewisse
Duldsamkeit gegen das Fremdwort zu erzeugen.
Dieser Duldsamkeit setzt nun seit einiger Zeit eine gewisse
Partei von Fachmännern wie Laien die äußerste Unduldsamkeit ent-
gegen. In Aufsätzen und Broschüren wird da jedes Wort, welches
nicht auf den ersten Blick die germanische Abstammung verräth,
einzeln bekämpft, in Verdeutschungs- Wörterbüchern und -büchelchen
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werden Vorschläge zur geeigneten Abhilfe gegeben. Der Standpunkt,
welcher hierbei angenommen wird, ist nicht so sehr der sprachwissen-
schaftliche, als vielmehr der nationale. Gehobenes National gefü hl
ist ja überhaupt eine der wirksamsten Triebfedern der jüngeren
Sprachreiniguugsbewegung. Seit dem ruhmvollen Ausgange des
deutsch-französischen Krieges ist in Deutschland zugleich mit dem
Bewusstsein von der politischen Bedeutung des neuen, großen, einigen
Vaterlandes wol auch das Gefühl für die Größe nnd Schönheit der
deutschen Sprache in größerer Deutlichkeit erwacht. Dieselbe rein
zu erhalten oder, war sie es nicht mehr, sie vom Fremden zu säubern,
musste von diesem Standpunkte aus ein verdienstliches Streben sein.
Leider wird die Sache vielfach übertrieben. So gewiss man seit
den 70er Jahren von einem deutschen Chauvinismus sprechen
kann, so gewiss hat dieser Chauvinismus auch einen großen Antheil an
dem erstaunlichen Eifer, mit welchem die Fremd Wörterhetze von Sprach-
vereinen und einzelnen Deutschthümlern hie und da betrieben wird.
So schön aber auch die Sache wäre, um die sich jene bemühen,
sie wird nicht erreicht werden. Die Sprache des täglichen Verkehrs
wird sich niemals ganz des fremden Beiwerks entledigen können, ob
dasselbe auch noch so unschön, und scheinbar noch so leicht durch
Besseres aus dem Eigenen zu ersetzen wäre. Und ich halte es für
gewiss, dass die hierauf verwendeten Kräfte zum größten Theil nutz-
los versplittert werden — d. h. wenn ich lediglich die Umgangs-,
Geschäfts- und Verkehrssprache ins Auge fasse, also diejenige, welche
rein praktischen Zwecken zu dienen hat. Das Nützlichkeitsprincip
ist hier maßgebender als das ästhetische. Hier kann die Sprache sich
nicht Selbstzweck sein, wie sie es in der Dichtung allenfalls werden
darf. Und darum glaube ich , dass der Versuch ein vergeblicher wäre,
den Millionen, welche in der Sprache nichts als ein Verständigungs-
mittel sehen, ästhetische Grundsätze für den Gebrauch derselben auf-
zwingen zu wollen. Was nicht das natürliche, in der Volksseele
ruhende Sprachgefühl zu reguliren vermag, wird durch alles Drängen
von außen nicht gebessert werden. An das Bleibende, das ewig
Wertvolle, an unsere Literatursprache mag die Kritik ihre ästhetischen
Forderungen stellen; hier wird sie manches durchsetzen können, weil
das Feld noch übersehbar ist. Aber der stetige Veränderungsprocess,
dem eine lebende Sprache unterworfen ist, wird nie und nimmer
durch Einzelne beeinflusst werden. Das Organ eines ganzen lebenden
und strebenden, um die gewöhnlichsten Bedürfnisse des Daseins, um
die gemeine leibliche Nothdurft kämpfenden Volkes wird sich auf
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seinem Entwickelungsgange nicht durch schöngeistige Bedenken auf-
halten lassen. Es wird den Zwecken, denen es dienen soll, zu ent-
sprechen suchen. Dabei können Auswüchse entstehen, Bildungsfehler,
Verletzungen der grammatischen Grundgesetze. Auch massenhafte
und unnöthige Neueinfuhrungen von jenseits der Grenze können hier-
bei einreißen. Aber gleichwie die Hand des Arbeiters Schwielen auf-
weist, und man schlanke Finger und wohlgepflegte Nägel nur in den
Salons finden wird, so darf man in den Werkstätten und im Gewühl
des Marktes ebensowenig eine gewählte und mit Bewusstsein correcte
Bede weise fordern.
Übrigens haben wir Deutsche den modernen Entartungen unserer
Volkssprache gegenüber wenigstens den einen Trost, dass wir diesmal
nicht die allein Betroffenen sind. Ein Blick auf das Ausland, eine
Vergleichung unserer sprachlichen Missstände mit ähnlichen Vorgängen
in Sprache und Literatur der Grenznachbarn kann uns den Beweis er-
bringen, dass wir um nicht allzu vieles übler daran sind als sie.*)
Betrachten wir einmal kurz den Stand des Französischen, und
zwar des Französischen von heute.**) Da könnten nun wir Deutsche,
wenn wir schadenfroh wären, es mit einer gewissen Befriedigung be-
merken, wie die französische Sprache, die seit langer Zeit für fertig
und feststehend galt und sich unter den Fittigen der Academie vor
jeder Überrumpelung sicher wähnte, nun auch dem Zeitgeist ihren
Tribut entrichten muss und wie sie im Verkehr mit aller Welt neuer-
dings Allerweltsmanieren anzunehmen droht. Man nehme nur eine
französische Tageszeitung zur Hand und man wird erstaunt sein zu
sehen, wie da manche Artikel mit Wörtern, die sich einer franzö-
sischen Aussprache durchaus nicht anbequemen wollen, förmlich ge-
spickt sind. Das Englische scheint hierin den Hauptantheil zu haben.
Ausdrücke für Jagd- und Rennsport, für Maschinenwesen, für Herren-
*) Eine gründliche Arbeit Uber diesen Gegenstand könnte überhaupt der
ganzen Fremdwörterangelegenheit sehr zu statten kommen. Jetzt, da schon bei-
nahe alle Wissenschaft „vergleichend" sein muss, fällt es ordentlich auf, dass nicht
auch die Fremd Wörterfrage eine umfassendere Behandlung von diesem Standpunkte
aas erfahren hat; ich wenigstens forschte vergebens nach einer solchen. Was im
Nachfolgenden an Beispielen in den Text aufgenommen wurde, ist natürlich nur
eine Kostprobe, eine karge Auswahl aus dem Allernächsten und Augenfälligsten.
**) Ein Rüeklick auf die nicht unbedeutende Erisis, welche die Sprache schon
früher einmal, im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Catbarina von Medici durch massen-
hafte Einschleppung italienischer Wörter zu erleiden hatte, wäre zwar bei dieser
Gelegenheit auch sehr lehrreich gewesen. Interessanteres bieten aber jedenfalls die
gegenwärtigen Zustände.
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moden und ähnliche Dinge, in denen Albion tonangebend ist, kommen
meist von jenseits des Kanals. Sport, turf, jockey, clown, groom,
steeple-chase, cottage, smoking, dann wagon, sleeping car, tender,
tunnel sind in Frankreich ebensogut heimisch wie bei uns. Daneben
kommen aber bemerkenswerter Weise noch eine ganze Menge anderer
Benennungen, für welche wir den guten deutschen Ausdruck noch
immer beibehalten haben, in den französischen Texten vor. Manchmal
wird durch solche Anglicismen sogar ein gut französisches Wort ver-
drängt oder am Aufkommen gehindert Das englische „rail" ist z. 6.
das in Frankreich allein giltige Wort für (Eisenbahn-) Schiene; und
„Fahrkarte" wird ganz allgemein mit „ticket" bezeichnet — viel-
leicht eine Vergeltung für das „billet" welches wir von den Franzosen
annehmen mussten.
Eigentümlich steht es mit einigen Fachausdrücken wie budget,
jury, drainage, wagon, tunnel, touriste, die wir dem Französischen
entlehnt haben und auch mit französischer Aussprache gebrauchen,
obwol sie in dieser Sprache ebensowol fremd als in unserer und ein-
fach rein englisch sind.
Aber auch deutsche Brocken entdeckt man in den französischen
Texten immer häufiger und es scheint, als ob das Studium unserer
Sprache in Frankreich ein allgemeineres würde, denn die Wörter wer-
den jetzt weniger verballhornt als früher. Ich will hier nur zwei
oder drei Beispiele, welche durch Merkwürdigkeit hervorstechen, an-
führen. „IV AI penstock" findet sich bei Daudet und Theuriet, vielleicht
auch bei Andern. Ebenso hat der Verfasser des „Tartarin" mit köst-
licher Unbefangenheit das Zeitwort „yodler" aus unserem „jodeln*
gebildet. Chope, bock (nicht mehr „un verre de biere", sondern
kurzweg un bock), Kursaal mögen als Muster für eine ganze Reihe
ähnlicher Ausdrücke deutschen Ursprungs dienen, deren Einführung
es bestätigt, dass man jetzt auch in Frankreich hie und da für fremde
Dinge und Verhältnisse den eigentümlichen Ausdruck der betreffen-
den Sprache unverändert einsetzt, statt matte Übertragungen zu geben.
In diesem Sinne haben auch die Engländer die Bezeichnung „Kinder-
garten-Schools" für die treffliche Fröbelsche Einrichtung angenommen.
Weniger schmeichelhaft ist jedoch für uns die Einführung des Wortes
Krach („le Krach") ins Französische: als ob diese unangenehmste Er-
rungenschaft des XIX. Jahrhunderts eine deutsche Erfindung wäre!
Als ganz international muss aber die Art bezeichnet werden,
mit welcher das Publicum der drei Hauptnationen Europas im
Concertaaale und Theater seinen Beifall und den Wunsch nach Wieder-
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holnng kundgibt. "Wir Deutsche rufen italienisch da capo, der Fran-
zose gebraucht das lateinische bis und bildet davon bisser »zur
Wiederholung verlangen", der Engländer das französische encore,
woraus das Zeitwort to encore. — Man sieht, hier bat Keiner dem
Andern etwas vorzuwerfen. —
Was an den obenstehenden Beispielen gezeigt werden soll, das
ist die Erscheinung, dass für eine von auswärts eingeführte Erfindung,
für einen Gebrauchsgegenstand u. dergl. nur allzuleicht auch die Be-
nennung aus der betreffenden fremden Sprache sich festzusetzen weiß.
Im Deutschen ebenso wie anderswo. Beispielsweise hat für das aus
England eingeführte Bicycle die ganz vortreffliche Übertragung
„Zweirad, Reitrad oder Fahrrad" noch immer nicht rasch genug zur
Stelle sein können, um die englische Bezeichnung ganz aus dem Felde
zu schlagen. Wie viel ist nicht an dem armen „Gensdarmes" herum-
übersetzt worden, ohne dass irgend eine der vorgeschlagenen Über-
setzungen vermocht hätte das, noch dazu unsinnige, Fremdwort zu
verdrängen. Und wie sollte man wol jenes in keinem deutschen Hause
fehlende Polstermöbel, die „Chaiselongue" verdeutschen? Etwa mit
„Divau", oder mit „Sopha", oder „Canape" oder „Ottomane"? —
Wenn weiter oben die Vcrgleichung unserer Sprache mit dem
Französischen und Englischen in Hinsicht auf die Fremdwörter em-
pfohlen wurde, so ist noch hinzuzufügen, dass wir ja nicht einmal so
weit zu gehen brauchen, sondern schon in unseren Mundarten reiches
Material für solche Vergleiche aufbringen könnten. Denn auch diese
enthalten fremdsprachliche Einsprengungen, und zwar kaum einen ge-
ringeren Procentsatz davon, als das Hochdeutsche — abgesehen natür-
lich von den zahllosen Fremdwörtern aus der maschinen-technischen
Sprache, welche bis jetzt noch immer auf die großen Industriemittel-
punkte beschränkt blieben. Im oberbayerischen Dialekt und speciell
im obderennsischen kann man gar manches Fremdwort entdecken,
welches im Schriftdeutschen entweder nie existirt hat oder längst
daraus entfernt worden ist. Akkrat, extra, kamot, Profit, Regard
(Beachtung, Ansehen), Plarament gehören hierher; für sie und eine
Menge ähnlicher wird der entsprechende deutsche Ausdruck nie oder
fast nie gebraucht. An einigen solcher Eindringlinge hat sich der
volksthümliche Sprachgeist wenigstens insofern wirksam erwiesen, als
er sie umgemodelt, dem idiomatischen Lautbestande angepasst und da-
durch oft bis zur Unkenntlichkeit verändert hat*). Das Obderenn-
*) Solche Veränderungen werden häufig in tadelndem Sinne „Entsteilungen"
genannt. Aber gerade sie sind eine Erscheinung, über welche wir uns eigentlich
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sische bietet besonders schlagende Beispiele hierfür. Progrädä (aus
Procurator) Hochzeitsbitter, und Pasch än, Person, klingen gewiss eben
so unverfälscht breit bayerisch, als nur irgend ein mittelhochdeutsches
Prachtwort, wie sich deren so viele im Obderennsischen erhalten
haben. — Bei manchem Fremdwort ist ein Wandel der Bedeutung
zu beobachten, welchen es bei seiner Hinübernahme in den Dialekt
durchzumachen hatte. „Solid" bezeichnet auf dem flachen Lande
längst nicht mehr stoffliche Festigkeit, sondern Beständigkeit des
Charakters; „rar" ist nicht „selten", sondern vielmehr „gut", vielleicht
in richtiger Würdigung des Umstandes, dass alles Gute selten zu sein
pflegt. — „Kuraschi" ist der im österreichischen Deutsch einzig und
allein übliche Ausdruck für den Begriff „persönlicher Muth". Es gibt
zwar im Obderennsischen ein Wort „Muath", dieses aber hat bezeich-
nender Weise genau dieselbe Bedeutung, wie das mittelhochdeutsche
Wurzelwort, also nicht „Tapferkeit", sondern „Sinn", „Gemüth". —
Interessant zu betrachten ist auch jene im ganzen oberdeutschen Sprach-
gebiet verbreitete Bezeichnung für ein zum Formen seiner Mehlspeisen
oder zum Butterformen benutztes Küchengeräth, die „Model"; hoch-
deutsch sprechende Hausfrauen werden sich versucht fühlen, sie für
eine Verdrehung aus „Modell" zu halten und vielleicht der Köchin
das Fremdwort statt des Dialectausdruckes angewöhnen wollen. In
diesem Falle aber hätte die Hausfrau unrecht, denn „Model" ist eine
gut deutsche, ganz regelrecht gebildete Form, dem das lateinische
„modulus" entspricht, während „Modell" höchstens aus einer Zwischen-
form von „modus" hergeleitet werden könnte. Bezeichnender Weise
haben die Italiener und Franzosen neben den gelehrten Bildungen
„modells" und „modele" auch die volkstümlichen „modulo" und
„moüle", genau in derselben Bedeutung wie unser „Model". — Be-
säße nur unser Wortschatz recht viele solcher umgebildeter Fremd-
wörter, so wären es eben keine Fremdwörter mehr, sondern Lehn-
wörter und die Fremdwörterfrage wäre dann bei uns ebensowenig
— oder ebensoviel — berechtigt, als sie es in den anderen Cultur-
sprachen ist —
zu freuen haben, denn es erweist sich in ihnen die treibende und bildende Kraft
der lebenden Sprache, welche sich das Fremde, wenn es dasselbe schon nicht abzu-
stoßen vermag, wenigstens assimilirt. Das Englische verdankt solchen „Entstellungen"
aus (dem Normannisch-Französischen) eine starke Hälfte seines riesigen Wortschatzes!
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Macht und Arbeit in ihren Bildungselementen.*)
Von Joh* Kaulich-Mäkr. Schimberg.
Die Macht ist nur eine kalte Größe.
Sie wirkt nicht durch die Qualität ihres Inhaltes: sie zwingt sich
auf durch die bloße Thateache ihrer Existenz. Man achtet sie, weil
sie da ist; aber man schätzt sie nicht wie das wirklich Edle.
Der Mächtige hat viele Sclaven und wenig Freunde; denn die
Macht blendet ohne zu wärmen; man unterwirft sich ihr ohne die
bessere Einsicht, die der zweckmäßigen und würdigen Unterordnung
vorausgehen soll; sie kann für den Augenblick selbst zur Bewunde-
rung hinreißen, aber nur schwer in der Prüfung bestehen, die der
eherne Griffel der Geschichte über sie verhängt. Die Geschichte,
welche die Daseinsformen der Macht auf ihre Berechtigung und ihren
Wert für die Entwickelung der Menschheit hin untersucht, pflegt sehr
kühl dabei zu verfahren; das zornige Dichterwort: „Wenn sich die
Großen nicht scheuen zu handeln, was sollte den gemeinen Mann ab-
halten, diese Handlungen zu beurtheilen?" ist ihr längst zum wissen-
schaftlichen Grundsatz geworden. Was ist aus der von einer Welt
bewunderten, von Dichtern gepriesenen Göttergestalt Ludwigs des
Vierzehnten geworden? Wie viel kleiner erscheint der „große Corse",
wenn ihn die kritische Hand aus dem Schimmer der Bajonnette und
der blutigen Romantik seiner Schlachtfelder herausschält I Wo ist sein
Kriegsruhm hingerathen, seit die unerbittliche Forschung die gewal-
tige Kraft des französischen, auf dem Requisitionssystem beruhenden
Volksheeres, dessen Keime wiederum im Freiheitskampfe der Ameri-
kaner liegen, der lahmen Taktik der gegnerischen, an die Magazin-
verpflegung halb geketteten Armeen gegenübergestellt hat?
Gleichwol hat die Macht ihre geschichtliche Berechtigung.
Sie kann die Masse für einen gegebenen Zweck organisiren, in-
dem sie vorgefundene, dem Einzelnen kaum merkliche Bedingungen
*) Ein trefflicher Beitrag asur Reform des Unterrichtes in der Weltgeschichte. D.
geschickt zusammenfasst: in dieser Thätigkeit ruht die geschichtliche
Größe Friedrichs des Zweiten und seine Bedeutung für den preußi-
schen Staat.
Sie kann, obgleich seltener und nicht immer ersprießlich, Land
und Volk aus barbarischer Vergangenheit in die plötzliche Helle einer
fortgeschrittenen Cultur schleudern und damit einen Zustand er-
zwingen, der — ohne ein wirklicher Fortschritt zu sein — doch
künftige Bewegungen erzeugen wird: Unter diesem Gesichtspunkte
wird Peter der Große fast ein nationaler Held.
Sie kann endlich die herrschenden geistigen, sittlichen und wirt-
schaftlichen Strömungen eines Zeitalters in ihrem Gebote verdichten
und damit in wahrhaft staatemännischer Weisheit einem thatsach-
lichem Bedürfnisse gerecht werden: Dies ist die hinreißendste Form
der Macht, denn ihre Ti-äger erscheinen als die Verkörperung des
Nützlichen und Guten, und die Geschichte segnet ihre Thaten; — in
diesem Rahmen leuchten die hehren Gestalten Josefs H. und seiner
großen Mutter.
Die Betrachtung der Macht nach ihrer besonderen Form, ihrem
Einflüsse, ihrem Werden und Vergehen ist in hohem Grade belehrend;
man kann in gewissem Sinne sogar von einer „Philosophie der Macht"
sprechen. Das Lehrbuch dieser Philosophie erschien 1532 im Drucke:
es ist der „Fürst" von Macchiavelli. In diesem merkwürdigen Buche
sind die Grundlagen und Grundsätze der Macht mit mathematischer
Schärfe auf eine nackte Formel abgezogen: es ist eine Grammatik
der Macht, zu der die Geschichte aller Zeiten die erklärenden und
beweisenden Beispiele liefern muss. Der Verfasser sagt dies aus-
drücklich in der Widmung an Lorenzo von Medici: „. . . ich finde
nichts in meinem Vorrathe, was mir werter wäre oder ich höher
schätzte, als die Kenntnis und das Verständnis der Handlungen großer
Männer, die ich durch lange Erfahrung der neuern Zeit und unab-
lässiges Lesen der alten erworben. Diese habe ich mit großem Fleiße
lange durchdacht und geprüft und jetzt in ein kleines Buch zusammen-
gefasst, welches ich Euch überreiche, großmächtiger Herr!" Das
klingt fast wie ein Satz aus der Vorrede zu einem Lehrbuche der
Methodik, das ein im Dienste ergrauter Schulmann, der seine reiche
Erfahrung der Welt erhalten will, seinen jüngeren Collegen zueignet
Was Macchiavelli unter „großen" Männern versteht, darüber lassen
die angezogenen Beispiele nicht den kleinsten Zweifel aufkommen. Es
hat nicht viel zu bedeuten, dass das Buch zahlreiche Feinde fand;
es verfiel sogar dem verdammenden ürtheile des Papstes. Der Wider-
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spruch erschien mehr in der Form eines Ärgers über den Freimuth
des Verfassers: Macchiavelli sprach wahr, aber unvorsichtig. Mit
Recht bemerkt ein Übersetzer, dass das Buch am lautesten von denen
angeklagt sei, die am meisten daraus gelernt hatten.
Der „Principe4* von Macchiavelli ist noch aus einem anderen
Gruude der genauesten Beachtung wert: er zeigt die Verwendbarkeit
einer gewissen Gruppe historischer Stoffe in Hinsicht der darin ent-
haltenen Bildungselemente.
Eine planvolle Betrachtung der Formen, in die sicli die Macht
kleidet; der Handlungen, welche ihre Träger begehen; der Motive, die
jene Handlungen hervorrufen ; der persönlichen Eigenart, welcher diese
Motive entspringen; — wirkt aufklärend und belehrend; wendet sich
als reine Verstandesthätigkeit zunächst an den Verstand; schärft das
geschichtliche Urtheil; wird unter Umständen zu einer flir den spe-
cialen Fall höchst ersprießlichen Dressur.
Kann eine ausschließliche Betrachtung der Macht und ihrer
Formen, der Handlungen ihrer Träger in dem Sinne, wie sie uns die
landläufige Geschichtsschreibung überliefert, auch erziehend wirken?
Denn das, was die Lehrbücher der Geschichte bis auf diese Stunde
der Jugend feilbieten, sind die Lebensäußerungen der Macht; die per-
sönlichen Vorbilder, die sie dem jugendlich erregbaren Gemüthe der
Leser vorstellen, sind fast ausschließlich die Männer der Macht, nicht
selten die Träger der rohesten Gewalt. Nicht selten auch steigert
sich diese Auswahl zur planmäßigen Einseitigkeit; es ist hundert
gegen eins zu wetten, dass die grelle Schilderung, die in den meisten
Fällen dem rauhen Vorgehen eines Cortez und Pizarro zutheil wird,
ein Interesse an der milderen Entdeckergestalt eines Vasco da Guma
gar nicht aufkommen lässt. Schon Heine spricht von Cortez, der den
frechen Namen einschreibt ins Buch der Weltgeschichte, einschreibt
neben dem Namen Columbus, — und
Der Schulbub' auf der Schulbank
Lernt auswendig beide Namen.
Die Geschichte des Alterthums, des Mittelalters und der meisten
Vorgänge der neueren Zeiten ist die Geschichte der Macht. Die That-
sache, dass ein löbliches Sti eben die Darstellung einer Epoche zu-
weilen mit der summarischen Betrachtung einiger Culturformen be-
schließt, fallt nicht sonderlich ins Gewicht. Dass diese Darbietung
des historischen Stoffes auf den ältesten Vorbildern ruht, ist augen-
scheinlich, aber ohne Belang; dass diese Methode für bestimmte Zeiten
und gegebene Verhältnisse von Wert sein konnte, wird sich wahr-
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— 712 —
scheinlich beweisen lassen, — hebt aber die Frage nicht auf, ob sie
noch der Gegenwart mit ihrem durchaus veränderten Inhalte frommt.
Nach einem bekannten Dichterworte, dessen thatsächliche Be-
deutung sich mit dem Umfange seines Gebrauches keineswegs deckt,
ist das Beste an der Geschichte der Enthusiasmus, den sie erregt.
Allein der Enthusiasmus ist — wie das Mitleid — eine sehr gewöhn-
liehe Äußerung der Seele; die Mittel, ihn zu erregen, sind die denk-
bar wolfeüsten. Weit mehr Augenblicksrausch, denn werkthätige Folge
eines seelischen Processes, ist er — wie das Mitleid — rasch zur
Hand, steigert sich leicht zu hoher Intensität und zeigt dabei alle
Schattenseiten des Affects: ein wahres Strohfeuer der Seele. Das
Beste, was die Geschichte erregen sollte, müsste eine gesunde, ruhige,
nachdenkliche Bewunderung sein. Die Geschichte sollte zeigen, was
sich durch geduldigen Fleiß, durch eiserne Ausdauer, durch Mäßigkeit
und Sparsamkeit, durch Unterordnung unter ein Gemeinnütziges —
die geschichtlich so überaus nothwendige Form der Selbstverleugnung
— erreichen lässt. Es fehlt den Lebensäußerungen der Macht nicht
an Erscheinungen, die zum Enthusiasmus hinreißen: jene maßvolle und
nachhaltige Bewunderung erzeugt nur die Betrachtung einer schlichten
Größe.
Die Macht — rein äußerlich genommen — vermag das Indi-
viduum nicht zu erziehen, denn sie knebelt es; ihr gewöhnlichster
Lohn ist der scheue Seitenblick der Erbitterung.
.... der Mann
Ist nun zum Gott erhöht, und Cassius ist
Ein arm Geschöpf und moss den Rücken beugen,
Nickt Cäsar nur nachlässig gegen ihn.
Aber auch der Träger der Macht, insofern er als ein Vorbild
angesehen werden kann, muss es sich gefallen lassen, dass man ihn
der Hülle seiner Gewalt entkleidet ; denn, wie beim jüngsten Gerichte,
so wird ihm auch beim Unterrichte nur das angerechnet, was von
ihm als Mensch übrig geblieben ist.
Die schlichte Größe, die darum vorzugsweise die vorbildliche
Größe ist, ruht nur in der Arbeit, und auch die Männer der Macht
sind blos insoweit geschichtlich groß, als sie zugleich Männer der
Arbeit waren. Ludwig der Vierzehnte gegen Joseph den Zweiten.
Damit aber erglänzt neben der Göttin in Purpur und Krone das
irdische Weib im härenen Gewände in ganz eigener Beleuchtung, und
das Auge des Zuschauers schweift mit Wolgefallen von der dämo-
nischen Figur des corsischen Eroberers nach der stillen Gestalt Georg
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— 713 —
Stephensons. Zwei Zeitgenossen: der 8chlachtenkaiser gegen den
Eisenbahnkönig.
Die Geschichte schafft zuweilen sonderbare Analogien.
Es war im Spätherbst 1796, als die Welt durch die ersten Nach-
richten über die beispiellose Siegeslaufbahn Bonaparte's in Italien aus
einer Bewunderung in die andere fiel; damals saß der fünfzehnjährige
Stephenson im Werkhause zu Water Row auf einem Kohlenbaufen
und suchte beim Scheine des Maschinenfeuers die einfachen arith-
metischen Beispiele zu lösen, die ihm Robin Cowens, sein erster
Lehrer, der im Dorfe für die Grubenleute eine Abendschule hielt,
gegen eine Entschädigung von drei Pence auf eine Schiefertafel zu
schreiben pflegte. Und als Napoleon, der es vortrefflich verstanden
hatte, sich die geschicktesten administrativen Talente Frankreichs
botmäßig zu machen, von dem gebildeten Europa als Gesetzgeber und
Organisator gepriesen wurde, da erwarb sich der junge Bremser zu
Black Callerton durch seine Verbesserungen an den Pumpmaschinen
der ganzen Grafschaft die begeisterte Dankbarkeit seiner schwer-
arbeitenden Kameraden.
Wer kennt nicht das kühne Wagstück des Corsen bei Arcole?
Wie er, vom Pferde springend, die Fahne ergreift; an der Spitze der
provencalischen Grenadiere nach der Brücke stürmt; beim Getümmel
ins Wasser fällt; wieder auf dem Platze erscheint; endlich den Sieg
gewinnt?
Aber es gibt noch einen anderen Heldenmuth. Die That Stephen-
sons, der in Killingworth in den im Feuer stehenden Schacht einfährt,
durch seine umsichtigen Anordnungen einige hundert Grubenlente
rettet, indes die Menge der Frauen und Kinder, die den kühnen Mann
in maßlosem Erstaunen in den Flammen verschwinden sieht, ängst-
lich der Dinge wartet; — diese That ist auch der Erwähnung wert.
Man pflegt mit einem gewissen Behagen zu berichten, wie es
Bonaparte verstanden habe, durch seine unerschrockene Haltung gegen-
über den Pestkranken den Muth seiner Soldaten aufrecht zu erhalten;
ein Meister der älteren französischen Malerschule nahm sogar Veran-
lassung, dies wenig künstlerische Motiv zu einem historischen Ge-
mälde zu verwenden.
Aber das Leben Stephensons enthält noch einen weit größeren
Zug. An der Grube zu Killingworth erfand er — lange vor 8ir
Humphry Davy — seine Sicherheitslampe. Nächtlicherweile steigt er,
die Erfindung zu erproben, mit zwei beherzten Männern in die Tiefe,
indes seine Frau und sein Knabe in Todesangst seiner Heimkehr
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harren, entzündet den Docht und nähert sich ftirchtios der Stelle, wo
das gefährliche Gas zischend ausströmt. Seine beiden Begleiter er-
greifen angstvoll die Flucht, während sie ihn mit brennendem Lichte
verschwinden sehen. Da flammt das Licht plötzlich auf, dann erlischt
es; das kühne Experiment war gelungen. Einer der Biographen des
Eisenbahnkönigs, der diesen Vorfall erzählt, macht dazu die durch-
aus treffende Bemerkung: „Indem Stephenson mit größter Ruhe sein
eigenes Leben aufs Spiel setzte, um ein Verfahren zu entdecken, wo-
durch das Leben Vieler gerettet und in diesen verhängnisvollen Höhlen
der Tod entwaffnet werden möchte, bot er ein Beispiel männlichen
Muthes dar, der noch edler und glorreicher war als der, welcher in
der Aufregung der Schlacht und im Sturme eines Angriffs einen Sol-
daten dem feuerspeienden Schlünde einer Kanone entgegenführt,"
Es bedarf ferner kaum der Frage, wer unserem Herzen näher
stehen sollte — der unersättliche Schlachtenlenker, der die junge
Kraft seines Volkes erbarmungslos dem eisigen Hauche der russischen
Schneestürme aussetzt; oder der menschenfreundliche Ingenieur, der
die Arbeit seines Lebens auf die Erfindung einer Maschine richtet,
die mehr als irgend ein anderes dazu berufen ist, die allgemeine
Verbrüderung der Nationen anzubahnen.
Man schwelgt gern in der Romantik eines von Bonaparte ge-
leiteten Alpenüberganges oder dem Zauber der Überlegenheit, die der
Franzosenkaiser den diplomatischen Taschenspielereien seiner Wider-
sacher entgegensetzt. Aber der ebenso sinnreich erdachte als kühn
ausgeführte Damm, der das schnaubende Maschinenross des Englän-
ders über das tückische Chat-Moor trägt ; die classisch ruhige Haltung
Stephensons vor dem superklugen Comite des Hauses der Gemeinen, —
das alles ist so überaus groß, so menschlich wahr, dass jenes andere,
in diesem Lichte besehen, nur etwa wie die stilvoll-romantische Deco-
ration zu einem Drama oder wie der gefallige Dialog eines Scribe-
schen politischen Lustspieles zu wirken vermag.
Wahrscheinlich hat die Gestalt Bonaparte's für die Jugend der
Gegenwart so viel — oder so wenig — Bildungswert als die Gestalten
der Römer; es ist die Gefühlskälte, die den Corsen zum Römer stem-
pelt und darum in einen Gegensatz stellt zu dem, was den Inhalt der
modernen Persönlichkeit ausmacht; es ist die Verkennung der Größe
der bürgerlichen Arbeit, die den gewöhnlichsten Menschen adelt, zu
Gunsten der auf die Spitze getriebenen Idee der Macht, was Gestalten
dieser Art zu vorbildlicher Wirkung ungeeignet erscheinen lässt. Die
Sehnsucht der Gegenwart ist der Staat, in dem der Einzelne nach
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Maßgabe seiner Fähigkeiten Geltung hat. Darum hatte die Begeiste-
rung für Napoleon nur den Wert eines Augenblicksrausches. Einer
seiner Hauptanbeter heißt Heinrich Heine-, aber das Buch „le Grand"
entstammt einer Feder, die ebenso leicht für den Spott als für das
Lob zu haben war. Immerhin bleibt die Erscheinung lehrreich, dass
unter denjenigen, welche die historische Größe Napoleons leugneten,
der vornehme Walter Scott und der ehrlich-harte Grillparzer anzu-
treffen sind.
Um so höher kann der Typus, den Stephenson vertritt, im Preise
steigen. Nicht nur verkörpert er die Regungen der Gegenwart nach
der rein menschlichen Seite, — er ist vor allem auch das klassische
Beispiel für den Wert und die schlichte Größe, die in der Arbeit liegt.
Auch unter den Trägern der Macht sind die Männer der Arbeit zu
finden; aber die Jugend soll erfahren, dass sie dort nicht ausschließ-
lich gefunden werden. Man begegnet hier leicht den Ideen, die der
unermüdliche Riehl verkündet.
„Wert und Würde der Arbeit ist nicht nach der zufälligen socialen
Stellung der Arbeitenden zu messen, sondern nach dem in der Arbeit
selbst ruhenden Gehalte der Thatkraft und des Erfolges. Dieser Ge-
danke hat die Arbeit überhaupt frei gemacht und die mittelalterlichen
Stände als sociale Rechtskreise gebrochen." (Riehl „Die deutsche
Arbeit".)
Dies zeigt uns den Weg, auf dem die kräftigsten Bildungs-
elemente gefunden werden könnten. Die Geschichte, in der Art wie
sie zur Zeit für die Jugend extrabirt wird, gibt keineswegs die Ent-
wickelung der Menschheit, sondern eine Darstellung der Thätigkeiten
einer bestimmten Menschenclasse. Man kann beinahe den Eindruck
gewinnen, als ob einem Fürstensohne die Geschichte seines Hauses vor-
gestellt werden solle. Eine solche Einseitigkeit birgt die Gefahr der
Meinung in sich, dass nur die Arbeit der Mächtigen den Fortschritt
der Menschen gefördert hätte; die Wahrheit aber ist, dass die hohe
Thätigkeit des Zimmermannssohnes von Nazareth den stolzen Bau des
römischen Weltreiches überdauert hat.
Es kann kein Zweifel darüber sein, dass die Männer der Arbeit
in der Reihe der Fürstenbilder, welche der Jugend gewöhnlich ge-
boten wird, in weit größerer Zahl vorkommen müssten, als dies gegen-
wärtig der Fall ist, und dass der Jugend gerade beim Geschichts-
unterrichte gezeigt werden sollte, wie der Mann mit Schürze und
Hammer dem Helden mit Schwert und Marschallsstab unter Um-
ständen vollkommen ebenbürtig ist.
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Die Geschichte erschiene dann als eine Gallerte wirklich er-
ziehender Vorbilder; manch edle Fürstengestalt würde neben dem
Helden der Arbeit und des Gedankens um so herrlicher erglänzen:
der Schüler stünde vor einer wahren Ruhmeshalle. Vor allem konnte
dann das Hauptgewicht gelegt werden auf jene Thatsachen, denen die
Gegenwart ihre Existenz und ihren Inhalt verdankt.
Der Blick der Jugend würde sich — nicht zum Schaden der
Zukunft — abwenden von den marmorkalten Gestalten unterge-
gangener Culturformen und sich an dem Feuer des Vorhandenen ent-
zünden. Ein Wort Pestalozzis, des größten Schulmeisters der moder-
nen Welt — ein wahrer Stephenson der Pädagogik — verwirklichte
sich, — das Wort: „Suchet euren Lehrstoff nicht tausend Jahre rück-
wärts, ihr habt ihn um euch!"
Freilich gäbe es wieder einen Kampf gegen das Imperium roma-
num; der deutsche Geist schweift gerne über die Alpen und wühlt in
den classischen Trümmern nach Vorbildern für die vaterländische
Jugend.
Aber die romantische Zeit der Hohenstaufen fand durch einen
Schweizer Grafen ein volkstümliches Ende, und es könnte sein, dass
die Mahnung des Schweizer Schulmeisters endlich auch hier einen
kräftigen Willen entzündete.
Wo aber ein Wille ist, da findet sich leicht ein Weg.
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Die Waffen nieder!
Von O. B.-Str.
es Ereignisse gibt, die sich unaustilgbar fest dem Gedächt-
nisse einprägen, so gibt es auch Bücher, die dem, der sie einmal ge-
lesen, ewig unvergesslich sind.
Auf ein solches Buch möchten wir die Aufmerksamkeit der Lehrer
— gleichviel, welcher Confession und Nationalität — hinlenken; es
heißt: „Die Waffen nieder!" Eine Lebensgeschichte von Bertha von
Snttner (E. Pierson, Dresden und Leipzig. 2. Aufl. 1890). Ein
Buch, das eine deutsche Zeitung „ein Ereignis" nannte; von dem ein
Berliner Schriftsteller (Hans Land) sagte: „Von Hand zu Hand will
ich es reichen! Wie ein Evangelium soll es Jünger finden, die es
in die Welt tragen!" — ein Buch, auf das der österreichische Finanz-
minister v. Dunajewski im Abgeordnetenhause (18. April 1890) hin-
wies mit den Worten: „Ich bitte Sie, einige Stunden diesem er-
schütternden Werke zu widmen, und wer dann noch Passion für den
Krieg hat, den bedauere ich wirklich."
Die in Niederösterreich wohnende Verfasserin, von Geburt eine
Gräfin Kinsky, ist in Prag 1843 geboren und erzählt diese „Lebens-
geschichte", deren Tendenz schon der Titel freimüthig ausspricht,
augenscheinlich auf Grund eigenster Lebenserfahrung und tiefster
Kenntnis dessen, was sie schildert. Vielleicht ist sie nicht nur inner-
lich verwandt, sondern sogar identisch der jungen Gräfin Doteky, der
Heldin des Buches, der durch den Krieg zwei geliebte Gatten, der
verehrte Vater, die blühenden Geschwister geraubt werden. Durch
diese Schiksalsschläge aus ihrer vornehmen Ruhe, aus dem gedanken-
losen Dahinleben der Haute-volee aufgerüttelt, beginnt die unglück-
liche Frau, die Lebensanschauungen und Standesvorurtheile jener
höchsten Adelskreise, denen sie durch ihre Geburt angehört, auf ihren
wahren Wert zu prüfen. Vorzüglich ist es die Frage des Krieges
und der in Militärkreisen üblichen Kriegsvergötterung, die ihre Seele
mächtig bewegt. Im Verein mit ihrem zweiten Gatten, der 1870 in
Pedftgogiam. 14. Jahrg. Heft XI. 00
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Paris der Spionage verdächtigt und standrechtlich erschossen wird,
ist sie fortan bestrebt, dem wahren Wesen des Krieges nachzuspüren,
seine geheimsten Ursachen zu entdecken, und den Völkerhass, dessen
Ausfluss er ist, zu bekämpfen. Die Briefe ihres Gemahls vom Kriegs-
schauplatze bestätigen immer wieder, dass der „Schlachteneifer nichts
Übermenschliches, sondern — Untermenschliches ist, eine Reminiscenz
aus dem Reiche der Thierheit — ein Wiedererwachen der Bestialität"
.... „Merkwürdig", schreibt er aus den böhmischen Schlachtfeldern,
„wie blind die Menschen sind! Anlässlich der einst „zur größeren
Ehre Gottes" entflammten Scheiterhaufen brechen sie in Verwün-
schungen über blinden und grausamen, sinnlosen Fanatismus aus, und
für die leichenbesäeten Schlachtfelder der Gegenwart sind sie voll
Bewunderung. Die Folterkammern des finsteren Mittelalters flößen
ihnen Abscheu ein — auf ihre Arsenale aber sind sie stolz" Sie
durchschauen die Hohlheit und Hinfälligkeit der Motive, welche das uner-
raessliche Tausende und abermals Tausende von Existenzen vernichtende
Unglück immer und immer wieder heraufbeschwören; die politische
Phrase, die verherrlicht, was das ungeheuerlichste Verbrechen unter
der Sonne ist; die religiöse Phrase, die dieses Verbrechen als den
Willen des „Herrn der Heerscharen" darstellt; sie erkennen, dass
„die Potentaten und Diplomaten den Krieg wollen. Aber das Volk?
Man frage es nur, bei ihm ist der Friedenswunsch glühend und wahr" . . .
Und sie kommen zu dem Resultat: „Es kann keine Logik und Ge-
rechtigkeit geben in jenem Nationalgefühl, dessen oberster Grundsatz
der ist: Wir sind wir — das heißt die Ersten, die Andern sind Bar-
baren .... Der Kriegsgeist und. der patriotische Egoismus ist die
Verneinung aller Gerechtigkeit." —
Doch dies genüge, um die Tendenz und den tiefen ethischen Kern
des Werkes anzudeuten. Für den Lehrer gewinnt es noch einen be-
sonderen Wert durch seinen pädagogischen Gehalt.
Selbstverständlich denkt die Gräfin Dotzky auch darüber nach,
woher die Begeisterung für den Militarismus und die Kriegsvergötte-
rung stammen. Sie selbst hat als Siebzehnjährige für kriegerische
Heldenthaten geschwärrat und oft bedauert, nicht als Knabe geboren
zu sein. Für Gelehrte, Dichter, Länderentdecker konnte sie wol
einige Hochachtung empfinden; aber eigentliche Bewunderung flößten
ihr nur die Schlachtengewinner ein. Das waren ihrem kindlichen
Verstände „die vorzüglichen Träger der Geschichte, die Lenker der
Länderschicksale; die waren doch an Wichtigkeit, an Erhabenheit —
an Göttlichkeit beinahe — über alles andere Volk so erhaben, wie
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Alpen- und Himalayagipfel über Gräser und Blümlein des Thals."
Sie erblickt in dieser falschen Schwärmerei die Folge einer ver-
kehrten Erziehung. Was sie über diesen Punkt sagt, erscheint uns
so treffend und überzeugend, dass wir es auszugsweise wiedergeben:
„Die Geschichte ist, so wie sie der Jugend gelehrt wird, die
Hauptquelle der Kriegsbewunderung. Da prägt sich schon dem Kin-
dersinne ein, dass der Herr der Heerscharen unaufhörlich Schlachten
anordnet; dass diese sozusagen das Vehikel sind, auf welchem die
Völkergeschicke durch die Zeiten fortrollen; dass sie die Erfüllung
eines unausweichlichen Naturgesetzes sind und von Zeit zu Zeit immer
kommen müssen, wie Meeresstürme und Erdbeben; dass wol Schrecken
und Greuel 'damit verbunden sind, letztere aber voll aufgewogen wer-
den: für die Gesammtheit durch die Wichtigkeit der Resultate, fin-
den Einzelnen durch den dabei zu erreichenden Ruhmesglanz, oder
doch durch das Bewusstsein der erhabensten Pflichterfüllung. Gibt
es denn einen schöneren Tod, als den auf dem Felde der Ehre — eine
edlere Unsterblichkeit, als die des Helden? Das alles geht klar und
einhellig aus allen Lehr- und Lesebüchern „für den Schulgebrauch"
hervor, wo nebst der eigentlichen Geschichte, die nur als eine
lange Kette von Kriegsereignissen dargestellt wird, auch die
verschiedenen Erzählungen und Gedichte immer nur von helden-
müthigen Waffenthaten zu berichten wissen. Das gehört so zum
patriotischen Erziehungssystem. Da aus jedem Schüler ein Vater-
landsvertheidiger herangebildet werden soll, so muss doch schon des
Kindes Begeisterung für diese seine erste Bürgerpflicht geweiht wer-
den. Man muss seinen Geist abhärten gegen den natürlichen Abscheu,
den die Schrecken des Krieges hervorrufen könnten, indem man von
den furchtbarsten Blutbädern und Metzeleien, wie von etwas
Gewöhnlichem, Nothwendigem so unbefangen als möglich
erzählt, dabei nur allen Nachdruck auf die ideale Seite dieses alten
Völkerbrauches legend — und auf diese Art gelingt es, ein kampfes-
muthiges und kriegslustiges Geschlecht zu bilden."
„Die Mädchen — welche zwar nicht ins Feld ziehen sollen —
werden aus denselben Büchern unterrichtet, die auf die Soldaten-
züchtung der Knaben angelegt sind, und so entsteht bei der weib-
lichen Jugend dieselbe Auffassung, die sich in Neid, nicht mitthun
zu dürfen, und in Bewunderung für den Militärstand auflöst.
Was uns zarten Jungfräulein, die wir doch in allem Übrigen zu Sanft-
muth und Milde ermahnt werden, für Schauderbilder aus allen
Schlachten der Erde, von den biblischen, macedonischen und punischen
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bis zu den dreißigjährigen und napoleonischen Kriegen vorgeführt
werden, wie wir da die Städte brennen und die Einwohner „über die
Klinge springen" und die Besiegten schinden sehen — das ist ein
wahres Vergnügen .... Natürlich wird durch diese Aufhäufung
und Wiederholung der Greuel das Verständnis, dass es
Greuel sind, abgestumpft. Alles, was in die Rubrik Krieg
gehört, wird nicht mehr vom Standpunkte der Menschlich-
keit betrachtet — und erhält eine ganz besondere, mystisch-histo-
risch-politische Weihe. Es muss sein — es ist die Quelle der höchsten
Würden und Ehren — das sehen die Mädchen ganz gut ein: haben
sie doch die kriegsverherrlichenden Gedichte und Tiraden auch aus-
wendig leinen müssen. Und so entstehen die spartanischen Mütter
und die — Fahnenraütter und die zahlreichen, dem Officiercorps ge-
spendeten Cotillonorden während der Damenwahl."
Es liegt ohne Frage eine tiefe psychologische Wahrheit in diesen
Ausführungen. Die Vorwürfe, welche hier erhoben werden, treffen
nicht etwa allein das Gymnasium und die höhere Töchterschule, son-
dern, wennschon vielleicht nicht in demselben Umfange — auch die
Volksschule. Zwar hat die pädagogische Theorie schon seit Jahren die
Forderung erhoben: der Geschichtsunterricht berücksichtige die Caltur-
geschichte in weitestem Umfange; und wenn in Preußen die Aller-
höchste Ordre vom 1. Mai 1890 und die dieselbe auslegenden Mini-
sterialerlasse mit Genugthuung und Freude begrüßt wurden, so war
es nicht darum, weil in ihnen bahnbrechende Elemente vorhanden
waren, sondern weil man hoffön durfte, dass durch diese amtlichen
Kundgebungen die Aufmerksamkeit der Aufsichtsorgane, der Schul-
räthe und Inspectoren, die ja leider der frei schaffenden und vor-
wärtsstrebenden Pädagogik zu selten Gehör schenken, auf die in Rede
stehende wichtige Reformfrage gelenkt werden würde. Ob sich diese
Hoffnung erfüllen wird, muss die Zeit lehren. Vorläufig wird in der
Praxis noch immer kaum etwas anderes als Kriegs- und Fürsten-
geschichte gelehrt. Das ist die Regel — lobenswerte Ausnahmen
mögen ja immerhin vorkommen — , und es wäre Thorheit, diese That-
sache zu verhehlen oder den Blick von ihr wegzuwenden. Die Ver-
antwortung dafür tragen die Lehrer durchaus nicht allein. Nicht nur,
dass ihre eigene Jugenderziehung sich in diesen Bahnen bewegt und
ihnen die traditionelle Auflassung der Geschichte eingeimpft hat: auch
in den Seminaren mag — bisher wenigstens — selten eine Auffassung
der Geschichte von einem höheren Standpunkte den jungen Leuten
beigebracht worden sein; auch hier wird nichts wesentlich anderes
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getrieben, als Kriegs- und Fürstengeschichte, and wo der Seminar-
unterricht den Rahmen des in den Vorbereitungsanstalten — mögen
sie nun Volksschule und Präparande oder Realschule oder wie sonst
noch heißen — beigebrachten Geschichtswissens überschreitet, da
handelt es sich im großen und ganzen um eine quantitative Erwei-
terung des Stoffes; das Princip des Unterrichts bleibt dasselbe. Hat
es sich doch jüngst ereignet, dass bei einer Lehrerinnenprüfung in
Stettin eine Unmenge Fragen rein militärischer und strategischer
Natur (z. B. Wie standen die Truppen bei Moll witz? — Nach welcher
Himmelsrichtung sahen die Preußen? — welche Truppentheile siegten bei
Zorndorf? u. s. w.) an die jungen Mädchen gerichtet wurden — Fragen,
über die der Kaiser geurtheilt bat, sie möchten vielleicht in ein
Officiersexamen gehören, nimmer aber in eine Lehrerinnenprüfung.
Höchst charakteristisch ist der Umstand, dass gerade durch den er-
wähnten kaiserlichen Erlass, der u. a. die Wichtigkeit der vater-
ländischen Geschichte (im engeren Sinne) betont, diese Übertreibung
veranlasst worden ist! —
Die üblichen Leitfaden und Lehrbücher, die mit verschwindenden
Ausnahmen in der von B. von Suttner charakterisirten Weise ange-
legt und ausgearbeitet sind, sorgen dafür, dass der Lehrer, besonders
derjenige, dem die umfassenden Werke unserer classischen Geschichts-
schreiber nicht zu Gebote stehen, sich beim besten Willen nicht von
den Fesseln der Tradition befreien kann. Was soll man dazu sagen,
wenn in den für die Mittelstufe bestimmten, im übrigen ausgezeich-
neten „Geschichtsbildern M von Albert Richter (Leipzig, Rieh. Richter,
1890), ein Werkchen, in dem die Culturgeschichte in einer ganz
eigenartigen, anziehenden Weise dargestellt ist, der neuesten Ge-
schichte (seit 1815) nur 41/, von 114 Seiten eingeräumt werden, und
dass der auf diesen Seiten behandelte Abschnitt sich — abgesehen
von ein paar auf den Kaiser Friedrich hinweisenden Zeilen — ledig-
lich mit dem Kriege von 1870 und 1871 beschäftigt? — Wenn einem
so tüchtigen Pädagogen, wie dem Verfasser des Quellenbuches für den
Geschichtsunterricht, so ein Fehlgriff begegnen konnte, was darf man
dann von den nach alten, abgegriffenen Recepten gemachten Lehr-
und Hilfsbüchern erwarten? — Wie sehr das übliche Aufsich tssystem,
die zahlreichen Revisionen und Schulprürungen das üppige Inskraut-
schießen des Notizenkrams der Kriegsgeschichte begünstigen, darauf
ist so oft hingewiesen worden, dass ein Verweilen bei diesem Gegen-
stande überflüssig erscheint.
Man könnte sich vorstellen, dass es möglich wäre, alle Hinder-
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nisse, die dem vernünftigen und gedeihlichen Betriebe des Geschichts-
unterrichts entgegenstehen, mit einem Schlage zu beseitigen: der Stoff
könnte nach neuen Gesichtspunkten ausgewählt, die Lehrbücher könnten
verbessert, der Schulaufsichtsapparat könnte vereinfacht werden u. s. w.
Ob durch diese Maßnahmen eine Neugestaltung des Unterrichtes in
unserem Sinne herbeigeführt werden würde? — Schwerlich! — Den
stärksten Druck übt hier wie Uberall der Geist der Zeit aus. Wir
stehen eben in einer Periode grenzenloser Überschätzung des
Militarismus. Dafür zeugen die unerhörten Lasten, die der Unter-
halt der stehenden Heere den Völkern auferlegt, Lasten, die kaum
noch zu ertragen sind; zeugt die einseitige Überschätzung derer, welche
die Officiersuniform tragen, resp. getragen haben — gilt doch der
Titel „Reserveofficier" auch im bürgerlichen Leben für eine ganz be-
sondere Ehre und Auszeichnung! Wer noch weiterer Bestätigung be-
darf, der durchwandere die Hauptstadt des deutschen Reiches und
lenke seinen Blick auf die Kunst, die ja immer den Geist einer Zeit
am treuesten zurückstrahlt: überall wird er den Standbildern von
Fürsten und Kriegern begegnen, selten, sehr selten aber der Statue
eines Geisteshelden, eines Künstlers. Auch in der häuslichen Er-
ziehung treibt der Militarismus seine schönsten Blüten. Gibt es ein
beliebteres Spielzeug für Knaben, als Bleisoldaten, als Säbel und Ge-
wehr? Und wenn dann der kleine mit aller Gewalt zum Militär ge-
stempelte Manu seinen kriegerischen Muth zunächst an harmlosen
Fröschen, Kaninchen und Katzen auslässt, indem er sie misshandelt,
bis sie unter seinen unbarmherzigen Streichen erliegen, darf man ihm
deshalb zürnen? — Er hielt sie in seiner Phantasie für Feinde, für
Franzosen! Er folgte nur den grausamen Instincten seiner Zeit; un-
möglich dürft ihr ihn allein für seine Roheit verantwortlich machen!*)
*) Die Militfirvergötterung hat besonders in Preußen die sonderbarsten Blüten
getrieben. Hält mau es doch in Preußen für eine ganz besondere Ehre, Reserve-
Officier zu sein. Der Titel „Lieutenant der Reserve" prangt ja mit besonderem
Glänze auf Visitenkarten und in der Rubrik „Familien-Nachrichten" der Zeitungen.
Besonders schneidige Gutsbesitzer, die einmal Officiersuniform getragen haben, lassen
sich mit Vorliebe von ihren Untergebenen „Herr Lieutenant" betiteln. DcrBerufe-
offleier nun gar nimmt eine ganz exceptionelle Stellung in der Gesellschaft ein.
Der jüngste Secondelieutenant dttukt sich durch sein Porteepec unendlich erhaben
über alles übrige Volk. Diese grenzenlose Überhebung führt zu Ausschreitungen,
die an das Faustrecht der ehemaligen Strauchritter erinnern. Geschah es doch —
um nur ein Beispiel anzuführen — im Frühling dieses Jahres, dass ein Seconde-
lieutenant der Husaren in Mainz, der Sohn des ehemaligen preußischen Landwirt-
schaftsministers v. Lucius, einem städtischen Polizeibeamten, der eine Strafanzeige
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Der Lehrer befreie zunächst sich selbst von der Herrschaft der
üblichen Militär- nnd Kriegsverherrlichung, vom politischen Phrasen-
thum; er breche mit der traditionellen Auffassung der Geschichte! —
Das Werk einer echten Dichterin, einer von glühender Menschenliebe
beseelten Frau helfe uns, diese That zu vollbringen. Lernen wir von
ihr das weltumfassende Mitleid, das nach Abschaffung alles Elends
begehrt; lernen wir den Völkerhass, der in der That noch heute einen
Theil der bürgerlichen Erziehung bildet, in der eigenen Brust besiegen!
Prägen wir unserem Geiste die erschütternden Bilder grausigen Kriegs-
elends ein, die B. v. Suttner mit genialen Zügen entwirft, Bilder, die
in ihrer packenden Natur Wahrheit entsetzlicher sind, als die aus-
schweifendste Phantasie sie zu malen vermöchte. Wer wäre imstande,
folgende Scene — die Verfasserin hat dem Vorgange selbst beige-
wohnt — je zu vergessen: Am Allerseelentage des Jahres 1866, als
Hunderte und abermals Hunderte nach den böhmischen Schlacht-
feldern wallfahren, um den geliebten Toten nahe zu sein, erscheint
ohne jede Begleitung auf dem Schlachtfelde von Sadowa Kaiser Franz
Josef. Auch er fühlt das Bedürfnis, für die Gefallenen zu beten.
Lange steht er, „unbedeckten, gebeugten Hauptes, in schmerzerfüllter
Ehrerbietung vor der Majestät des Todes" .... Welche Gedanken,
welche Empfindungen mögen durch seine Seele gehen! — Endlich
bedeckt er sein Gesicht mit beiden Händen, und, nicht mehr Herr
seines Schmerzes, bricht er in lautes, heftiges Weinen aus ... . Was
können seine Thränen bedeuten, als ein: Fluch dem Kriege!
„Schon stehen wir an der Pforte einer neuen Zeit", schreibt
B. von Suttner, „die Blicke sind nach vorwärts gerichtet, alles drängt
mächtig zu anderer, zu höherer Gestaltung. Die Wildheit mit ihren
Götzen und ihren Waffen — schon schleudern sie Viele von sich.
Wenn wir der Barbarei auch noch näher sind, als die meisten glauben,
so sind wir vielleicht auch der Veredlung näher, als Viele hoffen.
Schon lebt vielleicht der Fürst oder der Staatsmann, der die in aller
künftigen Geschichte als die ruhmreichste, leuchtendste der Thaten
geltende That vollbringen wird, der die allgemeine Abrüstung durch-
setzt .... Schon haben wir die Schwelle eines Zeitalters betreten,
gegen ihn gemacht, den Säbel auf die Brust setzte mit der Drohung, ihn „zusammen-
zustechen", wenn er die Anzeige nicht sofort als unrichtig zurücknehmen würde! —
Dieser Fall ist typisch. Die Gesellschaft hat kaum das Recht, sich über dergleichen
Roheiten besonders zu entrüsten; denn sie trägt durch ihre blinde, kritiklose Ver-
götterung des Militarismus die Hauptschuld an solchen Vorfällen. D. V.
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wo die Menscheit sich zur Menschlichkeit erhebt, zur Edel-
menschlichkeit" ....
Wer aber wäre mehr berufen, dieses Zeitalter heraufführen zu
helfen, an dem Werke echter Humanität mitzuarbeiten, als der
Lehrer? —
Zugatz von Seiten der ßedaction. Da man sich über die Lasten
und moralischen Schäden des Militarismus in der Regel damit tröstet, dass er
wenigstens ein fester Schutz des Vaterlandes sei, so gestatten wir uns hier
ein Wort von John Locke, den hoffentlich auch unser hochweises Zeitalter
noch ein wenig respcctiren wird, den obigen Ausführungen anzufügen:
„Wenn ein zügelloses Leben erst das Gefühl für wahre Ehre ver-
scheucht hat, so pflegt die Tapferkeit selten noch lange zu verweilen. Ich
glaube gewiss, man wird kein Beispiel einer Nation aufweisen können, so
berühmt sie ihrer Tapferkeit wegen sein mag, welche ihren kriegerischen
Credit erhalten und sich ihren Nachbarn furchtbar gemacht hätte, nach-
dem das Verderben der Sitten unter ihnen eingerissen und den Damm der
Ordnung und der Gesetze durchbrochen, und nachdem das Laster dergestalt
sein Haupt erhoben, dass es ohne Scheu sein Angesicht unverhüllt umher-
tragen durfte."
Und bezüglich der kriegerischen Verrohung, welche so häufig im welt-
geschichtlichen Unterrichte gepflegt wird, sagt derselbe Weise:
„Läuft doch das ganze Geschwätz, womit die Geschichte uns bewirtet,
fast auf nichts anderes, als auf Fechten und Totschlagen hinaus. Und
muss nicht die Ehre, die wir den Eroberern (die doch meist nichts anderes,
als die großen Schlächter des Menschengeschlechts sind) so freigebig aus-
spenden, den heranwachsenden Jüngling- auf dem falschen Wege weiter fort-
leiten? Muss er nicht dahin kommen, dass er Mord für ein lobenswürdig«s
Geschäft des Menschen und für die erste der heroischen Tugenden hält?
Dadurch wird unnatürliche Grausamkeit in unsere Seele gepflanzt; und
was die Menschlichkeit verabscheut, dass macht uns die Gewohnheit nicht
nur erträglich, sondern sie empfiehlt es uns dadurch, dass sie es uns auf
den Weg der Ehre stellt!"
Wer Ohren hat, zu hören, der höre! D.
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Meister und Junger des Lehrerberufs.
XJnlängst feierte das Lehrerseminar zu Annaberg in Sachsen das fünfzig-
jährige Jubiläum seines Bestehens. Unter den bei dieser Gelegenheit gehalte-
nen Ansprachen fand besonders ein im Namen der früheren Zöglinge verfasstes
Begrüßungsgedicht von Herrn Schuldirector Moritz Kleinert in Dresden (zu-
gleich Redacteur der „Allgem. deutsch. Lehrerzeitung") großen Beifall. Wir
theilen aus demselben nachstehend einige Strophen mit, von denen die drei
ersten die Aufgabe der Seminarlehrer skizziren, die übrigen den Seminaristen
eine Wegleitung bieten.
Und euch, würd'ge Männer alle, die ihr schafft am edlen Werke,
Rüste Gott stets aus mit Weisheit und mit seines Geistes Stärke!
Welch ein Amt und welche Schätze sind in eure Hand gegeben!
Sollt dem Jüngling Leben spenden, dass er wieder wecke Leben;
Sollt ihn, wie der Geist der Pfingsten, zu der Wahrheit Quelle leiten,
Ihm voran die schmalen Gleise strenger Selbstverleugnung schreiten,
Ihn durch euer Vorbild spornen, sich zum Sonnenlicht zu recken,
Dass dereinst auch seine Schüler sich mit Kraft nach oben strecken.
Wem ward gleicher Sendung Würde, wer soll höh'res Ziel erreichen?
Wahrlich, eures Amts Bedeutung hat im Staat kaum ihresgleichen!
Wenn nicht der Begeistrung Feuer euch in Herz und Seele lohte —
Eure Arbeit war" vergeblich, war' zum Leben nicht, — zum Tode.
Nun an euch, ihr jungen Freunde, sei mein Wort zuletzt gerichtet.
Glaubt es, alte Herzen fühlen, was ein junges Herze dichtet,
Und wie's auf der Zukunft Wogen weder Stein noch Dornen ahnet,
Wie's im Rausche jungen Frühlings himmelwärts den Weg sich bahnet.
Glück zum Traume, Glück zum Leben, Glück zum Streben, junger Schwärmer!
An Erfahrung wirst du reicher, doch an Hoffnung wirst du ärmer.
Nur, dass dir ein Lenz tieünnen ewig grüne, knospe, blühe!
Nur, dass dir das heil'ge Feuer nie im Busen je verglühe!
Dazu lass' dich hier am Herde unsere Seminars entzünden,
Dazu magst du mit den edelsten der Freunde dich verbünden:
Dass die 8chulzeit deiner Jugend durch dein ganzes Leben leuchte,
Dass im Alter die Erinnrung oft dir noch das Auge feuchte.
Wenn zu unsrer alma mater du nach aber fünfzig Jahren,
Wo wir längst im Grabe ruhen, froh des Weges kommst gefahren,
Um zu zollen dieser Stätte deines Dankes goldne Kränze: —
Dass ein Schein von ew'ger Jugend dir noch von dem Auge glänze!
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Pädagogische Rundschau.
Universitäten. Im VII. Jahrgänge (Märzheft 1885, S. 394—423)
brachte das „Pädagogium" eine sehr interessante Abhandlung von Professor
J. Schuhmann-Rom über das Öffentliche Unterrichtswesen in Italien, deren
vierter Abschnitt sich mit den Universitäten der Apenninen-Halbinsel be-
fasste. In der letzten Zeit ist nun vielfach die Rede davon gewesen, dass
Italien zu viel Universitäten habe und im Interesse einer sparsameren Ver-
waltung mehrere abschaffen müsse.*) Einen Einblick in die Grundlagen dieses
Verlangens gewährt uns die von Dr. Richard Kukola in der Zeitschrift
„Akademische Tagesfragen41 veröffentlichte Weltstatistik der Univer-
sitäten. Sie stützt sich auf das Wintersemester 1890/91 und berück-
sichtigt nur die matriknlirten Studenten. Wir entnehmen ihr die auf Italien
bezüglichen Angaben, indem wir zugleich die übrigen Länder, inabesondere
Deutschland, zum Vergleiche heranziehen. Mit diesen Angaben wolle der ge-
ehrte Leser auch die Mittheilungen vergleichen, welche sich im Aprilhefte
(S. 446 — 47) und im Junihefte (S. 580) dieses Jahrganges vorfinden, aber
auf das Winterhalbjahr 91/92 sich beziehen. —
Italien hat von allen Ländern die meisten Universitäten, nämlich 21,
während das Deutsche Reich, das 20 Millionen mehr Einwohner hat, nur
20 Universitäten besitzt. (Außerhalb des Deutschen Reiches gibt es noch 8
[9. D. R.] Universitäten, auf denen in deutscher Sprache gelehrt wird,
nämlich: Wien, Prag, Graz, Innsbruck, Czernowitz, Basel, Zürich**) und
Dorpat) In Italien gab es in dem gedachten Semester 17 558, in Deutsch-
land 29 569 Studenten; in Italien lehrten 1522, in Deutschland 2406 Pro-
fessoren. Das Verhältnis der Lehrer zu den Studenten war in Italien 1 zu
11,5, in Deutschland 1 zu 12,3; das Verhältnis der Studenten zu der ganzen
Bevölkerung in Italien 1 zu 1705, in Deutschland 1 zu 1584. Das wären
keine allzu großen Verschiedenheiten. Auffallender ist, dass in Deutschland
auf einer Universität durchschnittlich 1478, in Italien nur 836 Studenten sind.
Das ist die niedrigste Ziffer von allen Ländern, Holland und die Schweiz aus-
genommen, wo nicht alle Universitäten sämmtliche Facultäten besitzen. Im
einzelnen wird der Unterschied noch drastischer. Die kleinste deutsche Uni-
versität, Rostock, zählt 371 Studenten, dann kommen Kiel mit 489, Gießen
mit 549, Jena mit 675, Königsberg mit 682 u. s. w.; Deutschland hat über-
haupt nur 9 Universitäten mit weniger als 1000 Studenten. Italien aber hat
solcher 12, darunter folgende 10 mit weniger aU 400 Studenten: Modena319,
*) „Italien bedarf der Stärkung seiner wissenschaftlichen Mittelpunkte, nicht
einer Vermehrung derselben." Psedagogium VII, S. 413.
**) Hier hätte noch Bern genannt werden sollen. D. R.
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•
Messina 310, Ferraral91, Siena 183, Perugia 178, Cagliaril57, Lassari 132,
Macerata 115, Camerino 96 und Urbino 93 Studenten. Acht Universitäten,
also mehr als der dritte Theil, haben überhaupt weniger als 200 Studenten.
Da ist natürlich auch das Verhältnis der Studenten zu den Lehrern ein un-
richtiges. Unter den deutschen Universitäten hat verhältnismäßig am meisten
Lehrer Kiel, nämlich 89, so dass dort 5 Studenten auf einen Lehrer kommen.
In Königsberg und Jena kommen 7, in Göttingen 8, in Straßburg und in
Kostock 9, in Heidelberg, Marburg, Gießen und Breslau 10 Studenten auf
einen Lehrer u. s. w. Die größte Verhältnisziffer haben Hänchen und Würz-
borg: 22 zu 1; dann kommen Erlangen (19:1), Leipzig (18:1), Tübingen
(17: 1), Berlin (16:1) u. s. w. So hohe Ziffern hat Italien überhaupt nicht;
die höchste bat Turin (16), dann kommen Genua und Pavia (13), Palermo
und Neapel (11), Padua und Rom (10), Ferrara (9), Pisa (7), Perugia (6),
Urbino (5), endlich haben in Messina, Cagliari, Modena, Lassan und Siena je
4 Studenten die Ehre, einen Professor zu haben, und in Camerino haben sogar
schon 3 Studenten diese Ehre. Hier ist offenbar der wunde Punkt, wo die
italienische Universitätsreform, wenn es zu einer solchen kommen soll, ansetzen
muss. — Der erwähnten Statistik entnehmen wir noch folgende Angaben :
Österreich-Ungarn zählt 11 Universitäten mit 19 659 Studenten und 994
Lehrern, England 10 Universitäten mit 19 264 Studenten und 596 Lehrern,
Kussland 9 Universitäten mit 13 809 Studenten und 739 Lehrern, Spanien
bat 11, die Schweiz 6, Belgien und Holland je 4 Universitäten. Die besuch-
teste Universität ist Paris mit 9215 Studenten; sie ist dafür auch die einzige
vollständige Universität in Frankreich. Dann kommt Wien mit 6220, Berlin
mit 5527, Neapel 4328, München 3551, Budapest 3533, Athen 3500, Edin-
burgh 3488, Moskau 3473, Leipzig 3458, Madrid 3182 u. s. w. Eine eigen-
tümliche Stellung nimmt Prag ein, das zwei Universitäten hat, eine deutsche
und eine tschechische; erstere ist von 1580, letztere* von 2361 Studenten be-
sucht; die Gesammtzahl beträgt also 3941. — Im allgemeinen muss man mit
Schlüssen aus der vergleichenden Universitätsstatistik vorsichtig sein, da die
Organisation und der Umfang der Universitäten nicht überall gleich sind.
Berlin. Vom Deutschen Lehrer-Verein. Rechtsschutz. Aus
einem Berichte des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Lehrer-Ver-
eins über das Geschäftsjahr 1891 theilen wir Folgendes mit. Die in dem
Diester wegjahre 1890 in allen größeren und kleineren Lehrer- Vereinen ver-
anstalteten Gedächtnisfeiern zum Andenken des Vaters und Schützers der freien
Vereine sind nicht ohne Wirkung geblieben, und die in allen Festreden, Fest-
artikeln und Festschriften wiederkehrenden, eindringlichen Mahnworte des ge-
feierten Meisters: „Lebe im Ganzen", „Schließ an ein Ganzes Dich anu, sind
nicht erfolglos verhallt, denn die Erhöhung der Mitgliederzahl, welche der
Deutsche Lehrer-Verein sowol durch das erfreuliche Wachsthum der alteren
Zweigverbände als auch durch Hinzutritt einer ganzen Anzahl neuer Vereine
erfahren hat, muss als eine ganz bedeutende bezeichnet werden. Während
nach unserem letzten Geschäftsberichte 44 449 Mitglieder in 1257 Verbänden
dem Vereine angehörten, ist der gegenwärtige Bestand auf 49636 Mitglieder
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gestiegen, so dass eine Zunahme von 5187 Mitgliedern stattgefunden hat.*)
Dieses Wachstimm ist nm so erfreulicher, als man von verschiedenen Seiten
gerade im Anschluss an die hervorragendste, beim VIIL Deutschen Lehrertage
veranstaltete, Diester weg-Feier bemüht war, Zwietracht in die Bethen der
Lehrerschaft hineinzutragen und durch planmäßiges Vorgehen die Zersetzung
des Deutschen Lehrer- Vereins anzustreben. Wurden doch selbst von der
Tribüne der Landesvertretung des größten deutschen Staates in Anknüpfung
an die Diesterweg geltende Festrede auf dem Lehrertage die unerhörtesten
Angriffe gegen die Tendenz des Deutschen Lehrer- Vereins und gegen die
„radicalen Führer" desselben geschleudert, und schreckte man in einer ge-
wissen Presse doch selbst vor Verdrehungen, Entstellungen und wissentlich
falschen Anschuldigungen nicht zurück, um den Verein zu discreditiren, wie
das in der von einigen Mitgliedern des geschäftsfiihrenden Ausschusses ver-
fassten Schutzschrift: „Der VIIL Deutsche Lehrertag und seine Gegner4 zur
Genüge gekennzeichnet worden ist. Aber wie diese maßlosen Angriffe die
deutsche Lehrerschaft nur noch mehr in dem Gefühl ihrer engen Zusammen-
gehörigkeit bestärken konnten, so vermochten auch jene ungeheueren Anstren-
gungen, die Lehrerschaft durch Gründang eines katholischen Verbandes nach
Confessionen zu spalten, dem Deutschen Lehrervereine keinen nennenswerten
Abbruch zu thun, denn gerade in den vorwiegend katholischen Landestheilen,
wie Westpreußen, Rheinland, Westfalen etc. ist seine Mitgliederzahl bedeutend
gewachsen. Die Mitglieder des Deutschen Lehrer- Vereins jedoch, welche sich
der im Dienste politischer und kirchlicher Parteien stehenden Gründung an-
schlössen, gehörten innerlich längst nicht mehr zu demselben und befreiten den
Verein durch ihren Austritt nur von einem unnützen, die zielbewusste Thätig-
keit lähmenden Ballast. — Dass nun auch das innere Leben in den Vereinen
ein gesundes, dass für die Thätigkeit derselben nur treues und ernstes Streben
nach den vorgesteckten Zielen maßgebend war, kann der geschäftsftihrende
Au8scliuss infolge der ihm zu Gebote stehenden Informationen und infolge
seines Verkehrs mit den Vereinen mit Genugthuung hervorheben. Der Aus-
schnss wurde von dem Berliner Lehrer-Vereine, welcher durch die Vertreter-
Versammlung wiederum zum Vorort bestimmt war, gewählt, verstärkte sich
durch Zu wähl auf 17 Mitglieder und nahm bald nach dem Lehrertage seine
regelmäßige Thätigkeit auf. Leider war der langjährige, um den Deutschen
Lehrer- Verein so hochverdiente Vorsitzende Tiersch durch Beinen Gesundheits-
zustand gezwungen, eine Wiederwahl zu diesem Amte ablehnen zu müssen.
An seiner Stelle wurde Clausnitzer gewählt. — In Erledigung der ihm von
der 13. Vertreterversammlung gewordenen Aufträge traf der Ansschuss zu-
nächst die nöthigen Vorbereitungen zur Auswahl der Verbandsthemen durch
*) Neu haben sich angeschlossen der Verein Chemnitz mit 357 Mitgliedern
und einige Verbände in den Kleinstaaten Deutschlands. Erheblicher jedoch ist die
Zunahme durch das Wachsthum der Provinzial-Vereinc in Preußen. Sie beträgt
3898 Mitglieder. Es stieg die Mitgliederzahl dieser Verbände in Sachsen um 493
auf 3876, in Ostpreußen um 529 auf 3029, in Pommern um 450 auf 2750, in der
Rbeinprovinz um 436 auf 2816, in Schlesien um 400 auf 6000, in Brandenburg um
389 auf 4007, in Schleswig-Holstein und Hannover um je 200 anf 2675 resp. 3265,
in Westpreußen um 170 auf 1950, in Posen um 161 auf 1718 und in Westfalen
und Hessen um je 100 auf 1400 resp. 2000. — Anm. des Referenten.
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den GeBammtvor8tand. Auf Vorschlag des Ausschusses wurden ans den zahl-
reich namhaft gemachten Themen nur zwei für die Berathungen in den Lehrer-
vereinen ausgewählt, und zwar erklärte sich die Mehrheit der Gesammtvor-
Standsmitglieder 1. für „Die allgemeine Volksschule in Rücksicht auf die
sociale Frage" und 2. für die „Lehrerbildung". Wie in den früheren Jahren,
so veröffentlichte der Ausschuss auch diesmal, nachdem er sich mit vorstehen-
den Fragen selbst eingehend beschäftigt, die bekannte einschlägige Literatur,
auch brachten die Referenten des Ausschusses im Vereinsorgan längere orien-
tirende Artikel. Mit Genugthuung können wir die erfreuliche Thatsache her-
vorheben, dass diese Themen in der größten Mehrzahl der Vereine und Ver-
bünde zur gründlichen Durchberathung gelangt sind. — Ferner trat der Aus-
schuss seinem Auftrage gemäß mit der Versicherungsgesellschaft Providentia
in Verhandlungen wegen Verlängerung des Feuerversicherungsvertrages und
unterbreitete den von ihm mit der Providentia vereinbarten neuen Vertrag
den Gesammtvorstandsmitgliedern, welche denselben einstimmig genehmigten.
— Bezuglich der auf der Vertreter Versammlung nicht zur Erledigung ge-
langten Militärfrage regte der Ausschuss die einzelnen Landesvereine zur Ab-
sendung von Petitionen an die betr. Minister um Gewährung der Berechtigung
zum Einjährig-Freiwilligendienste an. — Die auf dem VIII. Deutschen Lehrer-
tage verhandelte Frage über die „Befreiung des Lehrers vom niederen Küster-
dienste" gab dem Ausschüsse Veranlassung, sich in einem besonderen Schreiben
an die Vorstände der Zweigverbände des Deutschen Lehrervereins zu wenden
und sie zu einem zielbewussten Vorgehen in dieser Frage aufzufordern. — Die
Kasse des Deutschen Lehrer- Vereins hatte pro 1890 im ganzen 6091,80 Mk.
Einnahme. Davon wurden verausgabt: für Drucksachen 296, 55 Mk., Fahr-
kosten für Delegirte nach Berlin 3528,30 Mk., Reisekosten für Ausschussmit-
glieder 206,50 Mk., Diäten für Ausschussmitglieder beim Lehrertage 378 Mk.,
für 113 Exemplare der Pädagogischen Zeitung 452 Mk. u. a. Im ganzen be-
trug die Ausgabe 5114,01 Mk.
Die Inanspruchnahme des Rechtsschutzes steigert sich von Jahr zu Jahr.
Während sich bis zum Jahre 1889 die Bewilligungen, wenn auch allmählich
steigend, doch immer nur in solcher Höhe hielten, dass es möglich war, einen
nothwendigen Reservefonds von über 3000 Mk. zu bilden, so stiegen dieselben
1890 auf ca. 1700 Mk., also fast zu der Höhe der Einnahmen, und haben in den
ersten 9 Monaten des Jahres 1891 bereits die Summe von 2100 Mk. erreicht.
Die Ursache dieser Steigerung liegt darin, dass der Deutsche Lehrer- Verein
in den letzten 2 Jahren um fast 25 Procent seiner Mitglieder gewachsen ist,
und dass die Einrichtung des Rechtsschutzes erst jetzt vielen Vereinsmit-
pliedera zur Kenntnis bezw. zum Verständnis kommt. Die Einrichtung des
Rechtsschutzes hat sich in der Lehrerschaft eine solche Anerkennung er-
worben, dass auch andere Vereine, wie der Badische Lehrerverein, unter enger
Anlehnung an das Statut des Deutschen Lehrer- Vereins eine derartige Ein-
richtung ins Leben gerufen haben. Es ist aber zu erwägen, dass Lasten,
welche ein großer Verein leicht trägt, von kleineren Gemeinschaften nur schwer
getragen werden können. So haben verschiedene Zweigvereine des Deutschen
Lehrer- Vereins größere Summen aus der Rechtsschutzkasse erhalten, als sie
an Beiträgen zu derselben gezahlt haben. — Von den Fällen, in welchen der
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Rechtsschutz des Deutschen Lehrer-Vereins in letzter Zeit eingetreten ist, er-
wähnen wir folgende:
1. Das Landgericht zn L. in Ostpreußen verurtheilte einen 27 Jahre
alten Lehrer wegen Überschreitung des Züchtigungsrechtes zu sechs Monaten
Gefängnis und Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter auf die Dauer
von einem Jahre. Das Reichsgericht hob auf eingelegte Revision das ürtheil
auf und verwies es an die erste Instanz zurück. Hier erfolgte nun eine Ver-
urteilung zu 60 Mark Geldstrafe. Die Kosten mit 402,37 Mark trug der
Rechtsschutz.
2. Ein Lehrer aus Schlesien war des Verbrechens gegen die Sittlichkeit,
begangen an Schulmädchen, angeklagt, jedoch freigesprochen worden. Die
Kosten fielen der Staatskasse zur Last; die persönlichen Auslagen im Betrage
von 74,10 Mark niusste der Lehrer tragen. Dieselben wurden ihm von der
Rechtsschutzkasse ersetzt.
3. Eine Arbeiterfrau wurde von einem Lehrer in Pommern wegen Be-
leidigung im Amte verklagt und zu 20 Mark nebst den dem Kläger erwach-
senen Kosten verurtheilt Die Verurtheilte war aber besitzlos und die Exe-
cution laut Attest des Gerichtsvollziehers fruchtlos. Diese Kosten im Betrage
von 12,95 Mark wurden dem Lehrer aus der Rechtsschutzkasse ersetzt
4. Wegen Beschimpfung eineB Erwachsenen auf der Straße und wegen
frecher Reden züchtigte ein Lehrer in Schlesien einen Knaben mit einer Ohr-
feige und einigen Stockhieben. Die Eltern des Knaben behaupteten nun, der
Knabe sei von der Ohrfeige schwerhörig geworden, und es fand sich in der
That ein Arzt, der dies bescheinigte. Da aber die Annahme begründet er-
schien, dass der Knabe nur simulire, und der Arzt das Attest nach ganz ober-
flächlicher Untersuchung ausgestellt habe, begab sich der Lehrer unter fremdem
Namen zu demselben Arzt, gab vor, dass er infolge einer am Tage vorher er-
haltenen Ohrfeige schwerhörig geworden sei und bat um ein entsprechendes
Attest. Dies wurde ihm nach ganz oberflächlicher Untersuchung sofort aus-
gestellt; außerdem erhielt er noch zwei Medikamente, eins zum Einspritzen
in das vermeintlich kranke Ohr, eines zur „Beruhigung". Als der Lehrer, um
zu beweisen, welchen Wert ein Attest von diesem Arzte habe, dasselbe dem
Gerichtshofe vorlegte, beantragte selbst der Staatsanwalt, der die Anklage
wegen Körperverletzung erhoben hatte, die Freisprechung, die auch erfolgte.
Dieser Fall lehrt, welcher Wert unter Umständen einem ärztlichen Atteste
beizulegen ist.
5. Ein Lehrer in Schleswig-Holstein wurde von einem Vater wegen an-
geblicher Misshandlung seines Kindes verklagt. Die Regierung lehnte den
Competenzconflict vorläufig ab, um zunächst das Ergebnis der Verhandlung
in der ersten Instanz abzuwarten. Der Verklagte wurde freigesprochen. Da
der Kläger aber mit Armutsattest geklagt hatte, konnte der Lehrer von ihm
Ersatz seiner Auslagen nicht erlangen. Diese ersetzte ihm die Rechts-
schutzkasse.
Von der Weichsel. Andrang zum Lehrerberufe. Resultate der
zweiten Prüfungen. Petition zur Einführung des Litauischen als
Schulsprache.
Der Andrang zum Lehrerberufe in der Provinz Westpreußen ist jetzt
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erheblich schwächer als anfangs der achtziger Jahre. So erschienen zu den
Aufnahmeprüfungen an den sechs Seminaren 1881: 358 nnd 1882: 324 junge
Leute. Damals war die Zahl der zum Eintritt ins Seminar reif befundenen
Präparanden so groß, dass nicht alle Bestandenen Aufnahme finden konnten;
1881 wurden 10 Procent und 1882 sogar 18 Procent derselben zurück-
gewiesen. In den folgenden Jahren verringerte sich die Zahl der Präpa-
randen stetig, so dass bald nur der jedesmalige Bedarf gedeckt wurde. Im
Jahre 1888 dagegen reichte die Zahl der Lehramtsaspiranten nicht mehr aus;
etwa 30 mussten den Seminaren aus anderen Provinzen zugewiesen werden.
Durch diese Abnahme des Andranges zum Lehrerberufe sah sich die Schul-
behörde veranlasst, zwei neue königliche Praparanden-Anstalten, zu Schwetz und
zu Deutsch-Krone, zu den bereits vorhandenen zwei einzurichten. Dadurch er-
scheint der Bedarf an Schulamtspräparanden für die Seminare zurZeit gesichert.
Im Jahre 1891 haben die vier staatlichen Präparanden-Anstalten denselben zusam-
men 97 junge Leute zugeführt. Zu den Aufnahmeprüfungen bei den Semi-
naren fanden sich 232 privatim vorgebildete Präparanden ein und von diesen
wurden 127 aufgenommen. Es sind also im ganzen 224 junge Leute im
Jahre 1891 neu in die Seminare getreten, welche sich auf sechs Haupteurse und
einen Nebencursus (zu Marienburg) vertheilen. Dass die Vorbildung derjenigen
Aspiranten, welche keine Präparanden- Anstalt besucht haben, gegenwärtig zu
wünschen übrig lässt, ersieht man daraus, dass von den 232 Präparanden nnr
127 oder 55 Procent aufnahmfähig waren und in Graudenz von 25 nur 6,
in Berent von 17 nur 6, in Marieburg von 27 nur 12 und in Löbau von
30 nur 14 bestanden. — Bei den Aufnahmeprüfungen an den 4 königlichen
Präparanden-Anstalten trat im Jahre 1890 ein Mangel an genügend vor-
gebildeten Präparanden zutage. Im Jahre 1891 konnte der Bedarf gerade
gedeckt werden. Im ganzen stellten sich zur Aufnahme 159 junge Leute und
von diesen hatten 101 die erforderlichen Kenntnisse.
Die zweite Lehrerprüfung machten in Westpreußen 1891 im ganzen
194 Lehrer gegen 219 im Jahre zuvor. Von ihnen bestanden 144 und er-
langten das Recht zur definitiven Anstellung, außerdem wurden sieben Lehrern die
Lehrbefähigung für Unterclassen von Mittel- und höheren Töchterschulen zu-
erkannt. 1890 fielen bei der zweiten Lehrerprüfung 26 Procent der geprüften
Lehrer durch, 1891 dagegen 25 Procent. Demnach haben sich die Ergeb-
nisse der zweiten Prüfung etwas gebessert, stehen aber noch immer zurück
hinter denen der letzten Jahre; denn es bestanden 1890= 73,97 Procent, 1889
= 75,74 Procent, 1888 = 82,63 Procent, 1887 = 77,77 Procent, 1886
= 79,09 Procent und 1885 = 80,9 Procent. — Die Resultate der zweiten
Prüfungen an den katholischen Seminaren sind erheblich ungünstiger als an
den evangelischen; denn bei den 3 evangelischen Seminaren bestanden von 98
Lehrern 81 oder 82,6 Procent und bei den 3 katholischen von 96 Lehrern
nur 63 oder 65,6 Procent. Der Unterschied beträgt also 17 Procent. Diese
Erscheinung tritt übrigens schon länger, seit 1885 zutage, wie folgende Über-
sicht zeigt. Es bestanden:
A. An den evangelischen Seminaren: B. An den katholischen Seminaren:
1885 von 115 Lehrern 95 = 82,70 °'ü; von 105 Lehrern 83= 79,10 °/o-
1886 „ 117 „ 103 = 88,03 „ ; „ 103 „ 71 = 68,90 „
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1887 von 107 Lehrern 94 = 87,85 °/0; von 100 Lehrern 67 = 67,00 °/o
1888 n
110
„ 96
= 87,27 „ ;
„ 103
„ 80=77,67 „
1889 n
105
87
-= 82,86 „ ;
„ 97
„ 66 = 67,83 „
1890 „
137
* no
= 80,29 „ ;
a 82
n 52 = 63,41 „
1891 „
98
n 81
= 82,60 „ ;
* 96
i) 63 = 65,60 „
Eanm waren die den Polen seitens des früheren Cnltnsministers gemachten
Zugeständnisse bezüglich Anwendung der polnischen Sprache im Unterricht
bekannt geworden, als auch von heißspornischen Litauern recht eifrig die Werbe-
trommel gerührt wurde zur Sammlung von Unterschriften für eine Petition, die
für die Litauer nicht nur das den Polen Zugestandene, sondern noch bedeutend
mehr verlangt. Die Petition ist zustande gekommen und hat gegen 20000
Unterschriften gefunden. Sollte es nach den Wünschen der Petition gehen,
so würde in Ostpreußen nicht nur das mit Mühe Wurzel fassende Deutsch-
thum aus den ganz litauischen, sondern auch das Deutsche ans den gemischt-
sprachigen Gegenden verschwinden. Freilich ist zwischen Wunsch und Er-
füllung eine weite Kluft, und es ist wol kaum zu erwarten, dass irgend eine
preußische Unterrichts Verwaltung sich dazu hergeben wird, das Litauische in
dem gewünschten Umfang in den Volksschulen zu gestatten und so die in allen
Kreisen erfreulich fortschreitende Verdeutschung aufzuheben. Die Litauer ver-
langen nicht nur den bereits gestatteten Religionsunterricht in der Mutter-
sprache, sondern auch litauischen Unterricht in sämmtlichen Fächern, und zur
Bemäntelung ihrer kaum zu begründenden Forderung zwar auch deutschen
Unterricht, doch so, dass beispielsweise die deutschen Lesestücke in litauischer
Sprache erklärt werden, d. h. mit anderen Worten: Auch die in der Schule
befindlichen deutschen Kinder sollen litauisch lernen und litauisch werden.
Wer sind denn nun die Leute, die so die Wiedereinführung des Litauischen
erstreben? Eltern, die ihre Kinder zur Schule schicken? Nur zum kleinen
Theil. In der Regel sind es solche Leute, die keine Kinder haben oder deren
Kinder bereits der Schule entwachsen Bind. Die Litauer wissen sehr wol den
Wert der deutschen Bildung für ihre Kinder zu würdigen. Wolhabende Li-
tauer in großer Zahl schicken Söhne und Töchter auf höhere städtische Schulen
und dann die ersteren auf Universitäten, wo das Litauische von Amts wegen
nirgends gelehrt wird. Dass solche Leute ihre Muttersprache nicht lieben,
soll damit nicht gesagt werden. Im Gegentheil, gerade diese einflussreichen
Litauer sind, wenn ihre Kinder erst der Schule entwachsen sind, die eifrigsten
Verfechter des Litauerthums. Und so begegnet man auch unter den Unter-
schriften der Petition nicht wenigen Namen, deren Träger erst eifrige Ver-
fechter des Litauischen als Schulsprache geworden sind, nachdem ihre Kinder
bereits der Schule entwachsen waren. Andere der Petenten würden, wenn
sie den wirklichen Zweck der Petition in seiner ganzen Tragweite kennen
möchten, sich wol hüten, unter ein solches Schriftstück, das aufs neue von
der Großmannssucht der Litauer Zeugnis ablegt, ihren Namen zu setzen.
XI. Congress für erziehliche Knabenhandarbeit zu Frank-
furt a. M. Nach einer Begrüßungssitzung am Abend des 10. Juni fand am
11. Juni zunächst eine Versammlung der Werkstattlehrer und -Leiter und eine
Sitzung des Gesammtausschusses statt, worauf Herr v. Schenkendorff -Görlitz,
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da der 1. Vorsitzende A. Lammers-Bremen erkrankt ist, die 6. Hauptver-
sammlung des Deutschen Vereins für erziehliche Knabenhandarbeit eröffnete.
Das Wort nimmt alsdann Herr Dr. Götze -Leipzig1, der Direktor der Lehrer-
bildungsanstalt des Vereins, zu seinem Vortrage: „Soll die Knabenhandarbeit
vornehmlich in den Dienst der Erziehung, oder des Schulunterrichtes gestellt
werden?" Die Freunde der Handarbeit, so führt Dr. Götze aus, spalten sich
in zwei Richtungen. Die einen verlangen einen Unterricht, der einen selbstän-
digen, durch die technischen Schwierigkeiten bestimmten methodischen Gang
einhält; der Hauptvertreter dieser ist Lehrer Groppler-Berlin. Die anderen
wollen einen Unterricht, der im engsten Zusammenhang mit den übrigen Fächern,
besonders mit Raumlehre und Zeichnen ertheilt wird. Dieser Standpunkt wird
neuerdings mit besonderem Geschick von Schulinspector Scherer-Worms ver-
treten. Redner hat auf Grund seiner praktischen Erfahrung die Überzeugung
gewonnen, dass sich beide Anschauungen gegenseitig ergänzen und korriglren
und darum zu verbinden sind. Rein theoretisch betrachtet hat der Schulhand-
arbeitsunterricht vieles für sich, er entspricht völlig den psychologischen Ge-
setzen und will thatsächlich das Wissen in Können überfuhren, die Begriffe
verkörpern. Allein, solange der Schüler nicht die Elemente der Technik be-
herrscht, iat er undurchführbar. Deshalb muss der Gang der Handarbeit durch
die Technik und nicht durch den Unterricht bestimmt werden, die Gegenstände
aber mögen dem Unterricht entnommen werden. Doch ist auch hierbei nicht
zu vergessen, dass das Wertvolle nicht das Produkt der Arbeit, sondern die
darauf verwandte Thatigkeit ist. So wird die Durchführung des Schulhand-
arbeit8unterrichts erst durch den reinen Arbeitsunterricht ermöglicht und wir
entgehen der bei der Schülerwerkstatt naheliegenden Gefahr, in technische
Einseitigkeiten und handwerksmäßiges Thun zu verfallen. — An den Vortrag
knüpfte sich eine ziemlich lange Debatte, die an dem großen Fehler litt, dass
sie sich in Sachen verlor, die mit dem Vortrag gar nichts zu thun haben. Ich
hebe daraus nur hervor, dass Groppler seine volle Übereinstimmung mit dem
Redner feststellte und Scherer ausführlichere Mittheilungen über seine Versuche
in den Wormser Schulen machte, die auf den theoretischen Darlegungen des
Prof. Kumpa- Darmstadt beruhen und keine besonderen Werkstätten erfordern.
Nach Scherers Überzeugung lassen sie schon jetzt auf gute Erfolge hoffen.
Scherer versteht auch nicht, dass der Verein sich mit der Forderung eines wahl-
freien Unterrichts begnügt, da er dem Unterrichte eine so große Bedeutung
beilegt, und meint, der Schwerpunkt der Bewegung müsse sich auf die Gestal-
tung des Lehrlingswesens richten. Folgender Satz, vom Stadtschulrath
Pfundtner- Breslau beantragt, wird mit einem Zusatz von Groppler ange-
nommen: „Die Knabenhandarbeit soll in erster Linie in den Dienst der allge-
meinen Erziehung, aber auch in den Dienst der Schule gestellt werden. Für
die gegenwärtige Entwickelung der Sache ist die Thätigkeit der Schnlerwerk-
Stätten neben der Schule nothwendig; jeder Versuch aber, den Arbeitsunterricht
bereits jetzt mit der Schule zu verbinden, ist mit Freude zu begrüßen." —
Den zweiten Vortrag hielt Stadtschulrath Dr. Rohmeder-München: „Wer
soll den erziehlichen Handarbeitsunterricht leiten, der Handwerksmeister oder
der Lehrer? Redner fasste seine Ausführungen in folgenden Sätzen zusammen:
„Der Unterricht in der Knabenhandarbeit verfolgt vor allem erziehliche Zwecke,
obgleich die Ergebnisse desselben mittelbar dem praktischen Leben zugute
Pädagogium. 14. Jalirg. Heft XI. 51
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kommen. System und Methode dieses Unterrichts müssen deshalb nach päda-
gogischen Gesichtspunkten ausgebildet werden. Dann wird die Handarbeit zu
einem wertvollen, zeitgemäßen Erziehungsmittel der Schule werden. Hieraus
ergibt sich, dass die unmittelbare Leitung des Handarbeitsunterrichts dem
berufsmäßigen Erzieher, d. i. dem Lehrer, zukommt. Die unterstützende und
berathende Mitwirkung der Vertreter des Gewerbes — je nach den besonderen
Örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen — wird seitens der Schule dankbar
begrüßt.4* Diese Sätze wurden en bloc angenommen. — Aus dem Kassenbericht
des Schatzmeisters Dir. Nöggerath-Hirschberg ergab sich die Nothwenidgkeit
die Mitgliederbeiträge etwas zu erhöhen, da ein kleiner Fehlbetrag entstanden
ist. Gegen 2 Uhr wurde der Vereinstag geschlossen.
Deröffentliche Congress, der die weiteren Kreise für die Vereinsbestrebungen
erwärmen soll, wurde am 12. Jnni um 11 Uhr durch einen Männerchor eingeleitet
und durch v. Schenkendorff mit einem Berichte über die Fortschritte der
Bewegung in den beiden letzten Jahren eröffnet. Nach einer wahrscheinlich
unvollkommenen Statistik bestehen im deutschen Reiche 253 Schülerwerk6tätten;
davon entfallen auf Preußen 143, auf Sachsen 53, auf Bayern 15, auf Sachsen-
Weimar 9, auf Württemberg, Bremen und Elsass-Lothringen je 6. Im Namen
ihrer Schulbehörden begrüßen den Congress: Geh. Reg. Rath Brand i-Berlin.
Oberschulrath Wall raff- Karlsruhe, Geh. Oberschulrath G reim- Darmstadt
(„Wo die Fahne des Fortschritts entrollt wird, da werden wir Hessen nicht
zurückbleiben"), Reg. u. Schulrath Dr. Schlemmer- Straßburg. Vom Auslande
waren officiell vertreten die Erziehungsdirektion Basel-Stadt, das Luxemburgische
und das Belgische Ministerium. Herr v. Schenkendorff legte dann in einem
mit großem Beifalle aufgenommenen Vortrag „Über die sociale Frage und die
Erziehung zur Arbeit in Jugend und Volk" die ideellen Ziele der Handfertig-
keiubewegnng und ihre Berechtigung dar. Die Gedächtnisrede auf Comenius
musste ausfallen, da der Redner R. Rissmann leider durch Krankheit zn
erscheinen verhindert war. Der Name des Redners hatte gerade zahlreiche
Lehrer herbeigezogen. Schluss gegen 1 Uhr.
Mit dem Congress war eine sehr umfangreiche Ausstellung von Schüler-
arbeiten verbunden. Sind auch die einzelnen Arbeiten von ungleichem Werte,
weil das Alter der Schüler zwischen 10 und 17 Jahren und ihre Betheiligung
an der Arbeit zwischen 1 und 5 Jahren schwankt, so sind es doch ohne Aus-
nahme durchaus anerkennenswerte Leistungen, einzelne Anstalten haben
geradezu hervorragende Arbeiten ausgestellt.
Aus Bayern. Das IX. Heft des „ Pädagogium" ist mir sehr verspätet, erst
vor einigen Tagen zugekommen, ich musste dasselbe reclamiren. Dort findet
sich auf Seite 591—593 eine Correspondenz „Aus Bayern", die zu einer ein-
gehenden Erwiderung und Richtigstellung verschiedener Mittheilungen und Re-
flexionen geradezu herausfordert. Wollte ich die eingreifenden Fragen zusammen-
fassen und sie etwa unter dem gemeinsamen Thema „Schule, Lebrerstand und
Lehreraufbesserung in der bayrischen Abgeordnetenkammer M so behandeln, dass
auch Nichtbayern eine klare Einsicht erschlossen werde, so würde hieraus ein
förmlicher Aufsatz werden, wozu mir augenblicklich die nöthige Zeit nicht zur
Verfügung steht, weshalb ich mich auf einige Bemerkungen beschränke.
Die pädagogische Journalistik hat bislang das Princip, oline es förmlich
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- 735 —
verkündet und ihren Vertretern zur Pflicht gemacht zu haben, sogenannte
Stimmungs- and Umschauberichte aas dem Gesichtspunkte allseitiger Würdigung
aller einschlägigen Verhältnisse heraas entstehen za lassen, hochgehalten und
sich hierdurch von der oft tendenziösen Mache der politischen Presse sehr
vorteilhaft ausgezeichnet. Wenn bayrische Lehrer den angezogenen Corre-
spondenzartikel im „Pädagogium" vorurtheiLslos lesen — und das thuu sie — ,
so wird jeder sagen, dass die Mittheilungen auf S. 592 Abs. 3 nicht mehr
sachlich gegeben sind. Waren dem Berichterstatter des „Pädagogium" die
Verhaltnisse des Bayrischen Volksschullehrervereins und die Vorgänge in der
bayrischen Abgeordnetenkammer bekannt, dann konnte er nicht so schreiben,
wie hier zu lesen ist; waren ihm die Dinge unbekannt, dann sollte er über-
haupt über die fragliche Sache nicht schreiben, und die Leser des „Psedagogium"
wären nicht zu kurz gekommen, wenn er die Feder nicht eingetaucht hätte.
Nachdem letzteres aber geschehen und der Federschnabel bis auf den Grund
des Tintenfasses gestossen worden ist, so gebietet schon die Rücksichtnahme
auf den Bayrischen Lehrerverein, dessen Vorstand zu sein ich die Ehre habe,
dann aber auch diejenige auf meine Freunde in deutschen Landen, des Corre-
spondenten Artikel an jener Stelle, die sich mit dem genannten Vereine, der
„Bayrischen Lehrerzeitung " und meiner Person befasst, zu berichtigen.
Das „Psedagogium" ist nicht der Ort, wo über innere Verhältnisse des
Bayrischen Volksschullehrervereins von mir, dem Vorstande dieses Vereins,
gesprochen werden konnte. Nur so viel sei bemerkt, dass unser Verein, wie
wol alle Lehrervereine, sich mit Politik nicht befasst; sein Ziel ist: Förderung
des Volkschulwesens und Kräftigung des Lehrerstandes. Unter dieser Fahne
konnten und haben sich nahezu alle Lehrer Bayerns zusammengeschart. Wie
wir keines unserer Hitglieder nach seiner Confession fragen, so auch nicht nach
seinem politischen Glaubensbekenntnisse. Die Folge ist die, dass in unserm
Vereine Männer der verschiedenen Confessionen und der verschiedensten poli-
tischen Richtungen anzutreffen sind. Es ist wol eine ausgemachte Sache, dass
der Vorstand eines solchen Vereins in allen jenen Handlungen, wo er als
solcher auftritt und betrachtet wird, auf diese Verhältnisse Rücksicht zu
nehmen und sich häufig da Reserve aufzuerlegen hat, wo jedes andere Vereins-
mitglied seiner Meinung gemäss „ frisch von der Leber" sprechen kann.
Den „Vorstand des Bayrischen Lehrervereins" konnte ich auch als Ab-
geordneter des bayrischen Landtags nicht zu Hause lassen, sorgten doch die
politischen Gegner dafür, dass mehr der erstere als letzterer in den um-
fangreichen Schuldebatten des jüngsten bayrischen Landtages aufgerufen wurde.
Mit mir werden, was ohne Übertreibung gesagt werden darf, viele tausende
von bayrischen Amtsbrüdern und viele politische Freunde und Feinde gefühlt
haben, wie schwierig meine Stellung in der bayrischen Abgeordnetenkammer
war. Davon und dass die Ultramontanen im bayrischen Landtage die Majo-
rität bilden, scheint der Correspondent des „Ptedagogium" keine Vorstellung
und keine Kenntnis gehabt zu haben, als er Folgendes schrieb: „Der Abgeord-
nete Schubert aber hat nach meinem Glauben nicht die glänzendste Rolle
gespielt; er hielt ein paar schönstilisirte Reden und befolgte im übrigen
die Taktik unserer Kammerliberalen: Das Centrum durch keine Principienfrage
zu reizen — so trefflich, dass er schliesslich selbst mit in die Verurtheilung
der Lehrerzeitung, des Vereinsorgans, einstimmte, indem er sich so oft und
51*
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nicht stets erforderlicherweise zum Worte meldete." Den letzen Theil dieses
Satzes verstehe ich nicht; im übrigen findet die Erwartung Ausdruck, dass ich das
„Centrum" hätte „reizen14 sollen. Für mich, der ich das erstemal einer par-
lamentarischen Körperschaft angehörte, lag keine Nöthigung vor, den politi-
schen Gegner zu „reizen". Als dieser aber auf dem Plane erschien und das
Gefecht eröffnete, war ich auch da und vertheidigte Schule, Lehrerstand und
den Bayerischen Schullehrerverein. Nicht um zu „reizen", ergriff ich „so oft"
das Wort, sondern Angriffe abzuweisen und Aufklärung zu verbreiten. Die
Art und Weise, wie das geschah, war zwar nicht nach dem Geschmacke des
Correspondenten des • „Psedagoginm", wird aber von dem vorurtheilslos Prü-
fenden als der Ausfiuss der Erwägung unserer Vereins- und anderer Verhält-
nisse erkannt und gewürdigt Die Behauptung, dass ich „schließlich mit in die
Verurtheilung der Lehrerzeitung, des Vereinsorgans, eingestimmt44 habe, ist
eine starke Unverfrorenheit. In einem nichtbayrischen pädagogischen Blatte
werde ich niemals Vereinsangelegenheiten, am allerwenigsten tiefer liegende,
analysiren. Der Correspondent würde von seinem „Glauben" nicht bekehrt,
auch wenn der Redakteur unseres Vereinsorgans hier Zeugnis ablegen wurde.
Die mit der nächstjährigen Hauptversammlung verbundene Delegirtenver-
sammlung des bayrischen Lehrervereins ist der Ort, wo Uber alle Vereins-
angelegenheiten mehr gesprochen, als hier geschrieben werden kann. Dort
zu erscheinen zur Rede und Gegenrede, möchte ich heute schon den Corre-
spondenten des „Paedagogium" einladen. Dann wird er möglicherweise auch
einsehen lernen, dass der „Abgeordnete Schubert44 weder „de- noch wehmüthig"
war, wenn er nicht alle Presserzeugnisse in Sache der Lehreraufbesserung
in Schutz nahm. Ein Vereinsvorstand wird aber, wenn jeder, auch der
albernste Zeitungsartikel dem ganzen Vereine aufgemutzt werden will, berechtigt
sein, den Verein gegen solches Unterfangen frei zu halten. Würde der „Glaube"
des Correspondenten sich mit der Ansicht des ganzen bayrischen Lehrer-
vereins decken, dann wäre dem Vorstande die nächste Aufgabe gezeigt; da
jedoch in genanntem Vereine die Ansicht die herrschende ist, dass die Prin-
eipien desselben durch die Abgeordnetenthätigkeit des Vorstandes nicht verletzt
worden sind, wird letzterer auf dem Wege beharren, den er für Schule und
Lehrer als gut befunden hat. Sollte der mehrfach angezogene Artikel zu dem
Zwecke veröffentlicht worden sein, mich dem deutschen Lehrerstande als finste-
ren Reaktionär anzuzeigen, so muss ich meine Zufriedenheit in meiner unver-
änderten Überzeugung suchen und finden und mich damit trösten, dass es un-
möglich ist, es allen Leuten recht zu machen. Für meinen Gegner im „Pseda-
gogium" empfinde ich den aufrichtigen Wunsch, dass er zur Zeit der Schul-
debatten nur einen Tag meine Stellung in der bayrischen Abgeordneten-
kammer eingenommen haben möchte.
Schließlich mögen die Leser des „Pädagogium" mir freundlich verzeihen,
dass die Erwiderung länger geworden ist, als beabsichtigt war, und dass ich
zu viel in der ersten Person gesprochen habe. Das klingt freilich nicht schön,
allein ea gibt Fälle, wo beides, die Länge und das „Ich", nicht vermieden
werden kann; ein solcher Fall liegt in dem IX. Heft des „Pcedagogium" vor.
Augsburg, 4. Juli 1892. J. B. Schubert
P. S. Dass „eine Anzahl bayrischer Städte beschloss, dem Lehrer in
der Schulcommission nicht nur eine berathende, sondern auch eine beschließende
— 737
Stimme zuzugestehen", ist auf Veranlassung des bayrischen Staateministeriums
des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten geschehen und kann als
Erfolg des Hauptausschusses des bayrischen Lehrervereins bezeichnet werden.
Aufruf. Anfang September a. c. tagt in Berlin die VII. Konferenz
für das Idioten wesen. — Ich beabsichtige, bis dahin eine Statistik über
die in Deutschland, der Schweiz und Osterreich bestehenden Schulen für
schwachsinnige, schwachbefahigte Kinder (Hilfsschulen, Hilfsklassen, Nach-
bilfeklassen) aufzustellen. Die werten Collegen, welche an solchen Schulen
arbeiten, bitte ich, mir das Material für diese Statistik gütigst zukommen zu
lassen. — Namentlich kommt es auf Beantwortung folgender Fragen an: Seit
wann besteht die betr. Einrichtung und unter welchem Namen? Wie viel
Klassen? Wie viel Lehrer? Oberleitung? Erhalten die betr. Lehrer persönliche
Zulage und in welcher Höhe? Unterrichtslocai (ob in eigenem Gebäude)?
Unterrichtsfächer und wöchentliche Stundenzahl derselben? Anzahl der Schüler?
Auch Blödsinnige, Epileptische, Verwahrloste? Ist eine Anstalt in der Nähe
der Stadt? Wohin kommen die ganz Blödsinnigen, die epileptischen Kinder
der Stadt, des Bezirkes? In welchen Städten wird die Errichtung einer Hilfs-
schule geplant? u. s. w. u. s. w.
Je ausführlicher die Mittheilungen, welche ich mir bis zum 20. August
erbitte^ sind, um so zweckentsprechender können sie verwertet werden. Die
Statistik wird von mir in der „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger
und Epileptischer" (Dresden) veröffentlicht werden.
Die pädagogische Presse wird im Interesse der Sache um Abdruck dieses
Aufrufes höflichst gebeten.
Gera, Reuß j. L., den 30./6. 1892. M. Weniger,
Agnes-Str. 45. Lehrer für schwachsinnige Kinder.
Fortschritte in Bosnien und der Herzegowina. Kaiser Franz
Josef hat an Herrn von Kailay zur zehnten Jahreswende seiner Betrauung mit
der obersten Leitung der bosnisch-herzegowinischen Angelegenheiten am 4. Juni
ein Telegramm abgesendet, in welchem die Anerkennung für dessen zehnjähriges
Wirken ausgesprochen wird. Es dürften — im Anschluss hieran — für die
Entwickelung von Bosnien und der Herzegowina in dieser Epoche folgende
«iffermäßige Angaben sprechen: Die Bevölkerung der occupirten Provinzen
hat sich seit dem Jahre 1885 durchschnittlich um 1,09% im Jahre und im
ganzen um 102085 Personen vermehrt. Diese Thatsaehe zeigt, wie wenig
von den zeitweise auftauchenden Meldungen über eine Massenauswanderung
aus Bosnien und der Herzegowina zu halten ist. Im Jahre 1882 bestanden
42 Schulen mit 3344 Schülern, im Jahre 1892 137 Schulen mit 11273
Schülern, zu welchen noch 87 confessionelle Schulen mit 6100 Schülern und
4 Privatschulen mit 187 Schülern hinzukommen. Überdies wurden in diesem
Zeiträume errichtet: ein Obergymnasium mit 251 Schülern, 9 Handelsschulen
mit 435 Schülern und eine technische Mittelschule mit 56 Schülern. Mit diesen
halbamtlichen Mittheilungen vergleiche man den Originalbericht im „Peedag."
(Märzheft d. J.).
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— 738 —
Ans Bulgarien. In dem vielangefochtenen Bulgarien macht sich ein
erfreulicher Aufschwung im Schulwesen bemerkbar, wie dies aus einer vor
kurzer Zeit veröffentlichten Statistik des Unterrichtsministeriums ersichtlich ist.
Im letzten Schuljahre 1890/91 zählte Bulgarien im ganzen 4193 Schulen gegen
3844 in dem Jahre 1888/89. Unter diesen Schulen sind 2747 bulgarische,
1327 türkische, 46 griechische, 39 israelitische, 11 armenische, 11 katholische,
11 protestantische und 1 rumänische. Diese Anstalten wurden besacht von
269 314 Schülern gegen 172183 im Jahre 1888/89; davon fallen 196779
Schüler auf die bulgarischen, 61 510 auf die türkischen, 4681 auf die griechi-
schen, 2924 auf die jüdischen, 1378 auf die katholischen, 623 die armenischen,
266 auf die protestantischen und 85 auf die rumänischen Schulen.
Aus der Fachpresse.
562. Der Begriff des Oemüthes (zur Preisbewerbung, Deutsche
Schulpr. 1892, 15). „Keine andere Sprache der Welt hat ein Wort, mit dem
sie alles das auszudrücken vermag, was die deutsche Sprache unter Gemüth
versteht oder Verstanden hat." — Das Wesentliche aus der Geschichte des
Wortes. „Wir verstehen jetzt unter Gemüth vorzugsweise die Gesammtheit
der einzelnen Seelenstimmungen." — Der Begriff bei Philosophen und Psycho-
logen. (Kant: Gleichsetzung desGemüthes mit der Seele; ähnlich Hegel, Fichte.
Bei Schelling und den Naturphilosophen: Gemüth = Quelle und Wurzel alles
Geisteslebens, das eigentlich Ifenschliche im Menschen. In der Herbart'scben
Schule untergeordnete Rolle [Hauptrolle dem Vorstellen zugetheilt]: „die Seele
ist Gemüth, sofern sie fühlt und begehrt." Ed. v. Hartmann: Gemüth = der
unbewusste Grund des Gefühls, der ihm die Stetigkeit verbürgt) — Nach dem
Psychiatriker L. Wille (Basel) sind die Bedingungen für die Entwicklung des
Gemüths: ein empfindungsfiihiger Organismns — Art und Weise seiner Reac-
tionen und Reize (angeborene, wol auch anererbte Elemente des Gemüths) —
Entstehung von Gefühlen und Vorstellungen — deren Haften innerhalb des
Bewusstseins und fortwährende Bewegung infolge äußerer und innerer Reize
— Erregung zahlreicher und mannigfaltiger Nervencentren auf Grund der leb-
haften Gefühlsvorgänge. Wesen: G. nur eine weitere Entwicklungsform psy-
chischer, von organischen Vorgängen abhängiger Elementarerscheinnngen
(Spencer) — G. die Art und Weise, in der unser Bewusstsein in Bezug auf
Beinen Inhalt an Gefühlen und Vorstellungen auf Reize zurückwirkt. „Dieses
Gemüth ist es, das als Grundlage des individuellen Seelenlebens, wie der Volks-
seele — sei's im engen Rahmen des häuslichen und Familienlebens, sei's im
Öffentlichen und staatlichen Leben — in Kunst und Poesie wie in Religion
und Politik die edelsten Früchte treibt, aber auch zu den erschütterndsten
Ereignissen drängt.1'
563. Kranke Kinder (Ed. 8., Schule und Haus*) 1892, V). Ein „zeit-
gemäßes", und von der Echtheit des „Schulmannes", der es ausspricht, zeu-
gendes Wort: „Es kann nicht oft und eindringlich genug gepredigt werden,
dass die körperliche Erziehung der Kinder die Sorge der Eltern in erster Reihe
in Anspruch nehmen muss, und dass die Rücksicht auf das körperliche Wol
*) Einzelheit 40 Pfg.
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der Kinder höher steht als die Rücksicht auf deren geistige Entwicklung-.
Denn was in Hinsicht auf die gedeihliche leibliche Heranbildung des Kindes
unterlassen wird, ist später uneinbringlich, und ein kranker Mensch ist ein
unglücklicher Mensch, er mag an Wissen und Gelehrsamkeit alle in den Schatten
stellen. Etwaige Mängel in der geistigen Ausbildung der Kinder aber lassen
sich später fast immer ausgleichen/
564. Beurtheilung und Behandlung symptomatischer Fehler
oder Unarten (G. A. Kretschmar, Cornelia*) 1892, II). Erklärung: Fehler
oder Unarten, die sehr verschiedene moralische Ursachen haben können, daher
jeder einzelne Fall auf seine Ursache hin untersucht und nur mit besonderer
Vorsicht bestraft werden muss. — Erörtert werden Diebstahl, Unaufmerksam-
keit, Neigung zu Neckereien, Streitsucht, Unbändigkeit, Widersetzlichkeit.
Falsche Beurtheilung und Behandlung hauptsachlich deshalb, weil man beim
Kinde dieselbe „gleichmäßige moralische41 Einsicht voraussetzt, wie sie der
sittlich gebildete Erwachsene hat. — Gute Winke für das erzieherische Ein-
schreiten in Diebstahlßfällen und bei Neck-, Streit-, Lärmlust.
565. Begründung der sechs psychologischen Stufen des Unter-
richts (Allg. deutsche Lehrerz. 1892, 4**). Die sechs (von den bekannten
Ziller'schen nicht unwesentlich abweichenden) Stufen: I. Betätigung der Sinne
a) ohne, b) mit Hilfe des Lehrers („selbstatändiges Sehen, Hören, Sprechen,
Hantiren der Kinder"; erst wenn sie nichts mehr vorzubringen wissen, „macht
der Lehrer nach einem gewissen Plane noch auf das aufmerksam, was den
ungeübten Sinnen entging"). II. Ordnen des Stoffes zur Vorstellung („der
Lehrer übernimmt die Führung und stellt eine Reihe Kernfragen nach be-
stimmten Gesichtspunkten"), m. Sicherung des gewonnenen Stoffes durch
zusammenhängende Wiedergabe und Begründung desselben. IV. Verknüpfung
mit Ähnlichem („das Kind hat nun eine klare Vorstellung des neuen Gegen-
standes"). V. Ableitung des Begriffes, des Gesetzes oder Grundgedankens.
VI. Verwertung des Gegenstandes im menschlichen Leben, und zwar in Bezug
auf Nutzen oder Schaden, auf Poesie, Sittlichkeit, Religion. — Begründung
einfach und sicher.
566. Über Stil im Unterricht und Leben (K. Wehrmann, Zeitschr.
f. d. deutsch. Unt. 1892, I). Man soll fremden Stil nicht nachahmen. Immer
erwerbe man sich guten Ausdruck in der Muttersprache, am besten durch
„Übung im freien Gebrauch derselben, ohne Nachstreben nach irgend einem
Vorbild bei innigster Vertiefung in den Stoff mit ernstestem Streben nach
Klarheit und Ordnung der Gedanken." Den Lehrern wird empfohlen: „öfters
Prosa auswendig lernen zu lassen, oft freie Sprechübungen vorzunehmen, bild-
lichen Redensarten und Redewendungen nachzugehen." — Wesentliche sprach-
liche Förderung durch das Interesse fürs öffentliche Leben: es erregt den
Wunsch, sich mündlich und schriftlich gewandt ausdrücken zu können, und
damit ein allgemeineres und stärkeres Interesse an der Muttersprache. So bei
*) Einzelheft 60 Pfg. — Wir empfehlen hier noch aus Heft I und II der
Cornelia: Zwei Briefe an Unland yon seiner Mutter — Ernestine Voss — Ein Tage-
buch Uber das Kind — Kinderfragen.
**) Einer Arbeit des Seminarinspeetors Königbauer im Jahresbericht der bair.
Lehrerbildungsanstalt zu Lauingen (für 1890/1) entnommen. Auch im Rep. d. Päd.
1892, VII. abgedruckt.
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den Franzosen und namentlich bei den Engländern, in deren politischen Ver-
sammlungen „ganz einfache Männer ohne Vorbereitung im Zusammenhang über
Tagesfragen mit der größten Ruhe und Sicherheit sprechen, äußerst gewandt
und klug im Debattiren sind und jede Schwäche des Gegners sofort entdecken4*.
Auch in Deutschland werde „die Sicherheit und Fertigkeit des mündlichen und
schriftlichen Ausdruckes mit dem gesteigerten Interesse am öffentlichen Leben
(das hier noch zu jung ist) zunehmen/
567. Der Altmeister Diesterweg im Lichte der Reformbe-
strebungen auf dem Gebiete des Unterrichts und der Erziehung in der
Gegenwart (F. Bartels, Rhein. Blätter 1892, I — III). Verf. sucht mittelst
Citaten nachzuweisen, dass der deutsche Kaiser Wilhelm IL als „Schul-
reformatorw („unser thatkräftiger Kaiser, der in Wahrheit ein Pädagoge
unter den Fürsten und ein Fürst unter den Pädagogen der Gegenwart
ist") und Adolf Diesterweg ganz dasselbe wollen! Aus Diesterweg
„weht derselbe Geist, der beute vom erhabenen Throne des Kaisers in die
stillen Räume der Volksschule und der höheren Schule hineingetragen wird."
Mit den Worten: „Ich bin entschlossen, neue Bahnen zu betreten" will Wil-
helm II. nichts anderes sagen, als dass er „die Bahnen wieder wandeln will,
die unser Altmeister Diesterweg der deutschen Schule als Prophet und Seher
gewiesen hat." Der Erlass des Kaisers vom 1. Mai 1891 ist „ganz im Sinne
Die8terwegstf verfasst. Beide „ Pädagogen * rufen die Schule „zum Kampfe
gegen die socialistischen Ideen" auf. Kurz: Diesterweg und Wilhelm II.
sind infolge innigster Seelenverwandtschaft Gesinnungs- und
Bundesgenossen — und darum: „Heute am Ende des Jahrhunderts
ist die Zeit der Reaction vorüber" — !
568. „Der rechte Lehrer (A. Dodel, Schweiz, päd. Zeitschr. 1892, II:
„Die Volksschule und die Pflanzenwelt") ist vor allem ein rechter Mensch;
er ist ein wissender, ein ästhetisch betrachtender Weltbürger; er ist ein Freund
der Natur, ein Erkennender ihrer Gesetze und Erscheinungen; er weiß die
Hauptresultate aller Disciplinen in einen natürlichen Zusammenhang zu setzen
und steht dem Weltganzen nicht mehr wie ein Unwissender oder wie ein Kind
als einem absoluten Geheimnis gegenüber. Aus dem Schatze seines Wissens
fließt die Erkenntnis in hundert Kinderseelen, und seine Art des Betrachtens
der äußeren WTelt pflanzt sich in die Herzen seiner Schüler unvermerkt und
uncontrolirbar, aber glücklich machend und befähigend, im Genuss der Wahr-
heit und Schönheit zu wachsen, auch wenn der Schüler die vier Wände der
Schulstube für immer verlassen hat."
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Recensionen.
Sammlung Göschen, Heft 16: Griechische Alterthumskunde von Dr.
Maisch. Heft 17: Anfsatzentwttrfe von Dr. Straub. Stuttgart,
Göschen. Preis des Bändchens in elegantem Leinwandband 80 Pf.
Die beiden Bändchen verdienen es, dass wir die Aufmerksamkeit unserer
Leeer auf sie hinlenken. Nur wer den Stoff vollständig beherrscht, vermag so
zu schreiben, wie die beiden Autoren. Maisch behandelt seinen geschickt aus-
gewählten Stoff so klar, dass es ein Vergnügen ist ihn zu lesen, selbst für
den, dem er nichts Neues zu sagen hat Als Einführung in die griechische
Alterthumskunde möchte es wol der beste Leitfaden sein, den wir derzeit haben,
ja es ist auch das erste Büchlein, das die neuesten Ausgrabungen in Tiryns
und die erst vor kurzem entdeckte Schrift des Aristoteles „über das Staats-
wesen der Athener", die eine von der bisher üblichen so verschiedene Auf-
fassung der Athenischen Verfassungsgeschichte gibt, für den Unterricht ver-
wertet. — SchUlcrbibliotheken sei auch das andere Heftchen bestens empfohlen.
Ein so feinfühlender Schriftsteller wie Straub entwickelt in eigenartiger Weise
die ausgewählten Themen, die sich etwa für eine Seeunda oder Prima als
Auüsatzübungen eignen. Das sind nicht Themen, deren Titel schon sagt, wie
sie zu bearbeiten sind, sondern Fragen, die zum Nachdenken, zum Urtheil
anregen. — r.
Dr. Carl Spitz, Lehrbuch der Stereometrie mit 350 Übungsaufgaben für
höhere Lehranstalten und zum Selbststudium. 201 S. 114 Fig. im Text.
6. verb. Auflage. Hierzu ein Anhang der Resultate der Aufgaben nnd An-
deutungen zu deren Lösung. Leipzig, Winter. 3 M. 80 Pf.
Die erste Auflage dieses Buches ist schon vor mehr als 30 Jahren erschienen,
nnd seither war der Verfasser fortwährend bemüht durch Verbesserungen desselben
dem Fortschritte der Wissenschaft Rechnung zu tragen. Es wurde das Prismatoid
von Wittstein und die Definition der Ähnlichkeit nach Gergonne neu auf-
genommen ; dann wurden gewisse Paragraphe, welche ohne den Zusammenhang
des Ganzen zu stören auch wegbleiben können, mit Kennzeichen versehen, end-
lich die Aufgaben in der Richtung verbessert, dass Druckfehler vermieden und
die Ergebnisse möglichst abgerundet wurden.
Der grössere Theil des Buches wird eingenommen von den Erörterungen
über die Lage gerader Linien nnd Ebenen im Räume, von den Lehrsätzen Uber
die körperliche Ecke und von der Beschreibung der geometrischen Körper; der
kleinere Theil, etwa zwei Fünftel desselben, entfällt sodann auf die Berech-
nungen von Oberflächen und Rauminhalt. Wol mit Rücksicht auf die
Bestimmung des Buches für das Selbststudium ist besonders der erste Theil etwas
weitläufig: gehalten. Lehrsätze wie: „Zwei Keile verhalten sich wie ihre
Neigungswinkel"; oder jene von der Größe der Sehnenkreise der Potenzlinien
der Kugeln mit ihren sehr ausführlichen Beweisen erscheinen beinahe als un-
nöthig. Dagegen haben wir den Satz über die Entfernung und den Winkel
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sich kreuzender Geraden im Lehrtexte vergeblich gesucht, und erst unter den
Aufgaben eine etwas schwerfällige Lösung gefunden; während doch diese Dinge,
welche zu den Grundvorstellungen über räumliche Gebilde gehören, in neueren
Lehrbüchern sonst eine sehr einfache und fassliche Lösung erfahren. Auch der
Lehrsatz des Cavalieri verdiente eine allgemeinere Fassang und Anwendung.
Dass die Übungsaufgaben in hinreichender Menge vorhanden sind, ergibt sieh
schon aus deren oben angeführter Anzahl; es ist aber außerdem noch zu sagen,
dass sie mit Sorgfalt aufgestellt nnd geordnet sind. Besonders hat uns gefallen
die Übertragung der Berühruugsprobleme auf räumliche Gebilde und die Be-
rechnung des Inhaltes von Tetraedern aus deren Kanten.
Um das Buch völlig zu kennzeichnen, fügen wir hinzu dass es allen An-
forderungen entspricht, welche man an einen Lehrbehelf zum Zwecke des
Selbststudiums stellen kann, dass es uns dagegen scheint, es werde beim Schul-
gebrauche der Lehrer häufig in die Lage kommen, auf verschiedene umfang-
reiche und nebensächliche Paragraphe zu verzichten. Da dies Lehrmittel aber
zu den verbreitetsten an den höheren Schulen Deutschlands gehört, so scheint
es, dass die Lehrer weniger Wert darauf legen, ihren Schülern ein kurzes,
übersichtlich zusammenfassendes Buch, gleichsam eine Gedächtnisbrücke in die
Hand zu geben, als vielmehr ein Lehnnittel, aus welchem die Schüler den
empfangenen Unterricht in voller Weitläufigkeit zu wiederholen vermögen,
und von diesem Gesichtspunkte aus verdient das vorliegende allerdings beste
Empfehlung. H. £.
Aiiton Brenner, Präparandenlehrer, 300 algebraische Aufgaben zur
Lösung mittelst einfacher Schlüsse. 4. Anfl. 48 S. Freising, Datterer.
50 Pf.
Oberlehrer J. Hüller in München bestätigte dem Verfasser schon im Vor-
worte der ersten Auflage, dass er eine dankenswerte Arbeit geschaffen habe.
Es gibt nun heute wol keinen Mangel an verschiedenartigen Aufgabensamm-
lungen, aber es ist auch kein Zweifel, dass ein Seminarlehrer zunächst in der
Lage ist* den Bedürfnissen angehender Lehrer entsprechend die Sammlung zu-
sammenzustellen. Wir zweifeln auch nicht, dass der Verfasser dieses Bedürfnis
richtig beurtheilt hat, da seine Arbeit schon die dritte Auflage erlebte; nur
gegen die Bemerkung im Titel, „zur Lösung mittelst einfacher Schlüsse",
müssen wir uns insofern wenden, als es scheinen könnte, diese Aufgaben
wären durchgehende mittelst Kopfrechnen zu lösen. Im Gegentheile müssen
wir sie für die Stufe von Seminaristen als verwickelte Textgleichungen be-
zeichnen; die Schlüsse allein in ihrer Aufeinanderfolge im Kopfe zu behalten,
würde schon Bechenkünstler erfordern, umsomehr erst deren Durchführung mit
drei- bis fllnfziflerigen Zahlen. Im übrigen aber scheint uns das Heftchen für
Seminare, Bürgerschulen, Gewerbeschulen und verwandte Lehranstalten sehr
brauchbar zu sein und auch wegen seines geringon Preises Beachtung zu ver-
dienen. H. E.
Emil Muthsam, Bürgerschullehrer, Beiträge zur Raumgröfienrechnung
für die Volksschule. 77 Fig. im Text. 48 S. Beichenberg, Zannasch.
70 Pf.
Der Verfasser hat sich mit dieser Aufgabensammlung dem in den öster-
reichischen Bürgerschulen gebräuchlichen Lehrbuche von Mocnik angeschlossen;
zunächst hat er für sich und Beine nächsten Collegen die Übungsbei.spiele
Mocniks ausgerechnet, sodann aber weitere Aufgaben gesammelt und beigeragt
und ist schließlich der Aufforderung der Collegen gefolgt, seine Arbeit durch
den Druck zu veröffentlichen, um sie — natürlich nur „für die Hand des
Lehrers" — allen Stundesgenossen zugänglich zu machen. Die Aufgaben,
welche sich sowol auf Flächen-, als auch auf Kaumberechnung beziehen, sind
in der That zum großen Theile den Verkehrsbeziehungen entnommen, und
daher wolgeeignet, auf den Unterricht belebend nnd anregend einzuwirken;
übrigens kann es jüngeren Lehrern gewiss nur erwünscht sein, eine Beihc von
Mustern fttr kurze und bündige Lösungen zu erhalten. H. E.
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— 743 —
Franz Yillicus. Professor in Wien, Lehr- and Übungsbuch der Arithmetik
für Unterrealschulen. III. Theil mit 623 Aufgaben für die m. Classe.
6. Aufl. 143 S. Wien, Pichler. 1 M. 30 Pf.
In der dritten Classe der Bealschulen sind die Schiller in das Rechnen mit
allgemeinen Zahlen einzuführen; dementsprechend enthält das Buch die vier
Grundrechnungsarten mit allgemeinen Zahlen. Der Schüler begegnet beim
Eintritte in die allgemeine Zahlenlehre nicht blos den Buchstaben, als Zahlen
gebraucht, sondern auch dem Vorzeichen, Coefficienten und Exponenten als
ihm neuen Begriffen; es ist daher dieser Übergang ein recht schwieriger,
welcher leicht für den Schiller zur Klippe werden kann, wenn der Lehrer nicht
der Leitung vollkommen gewachsen ist. Das vorliegende Lehrbuch verdient
aber die größte Beachtung, weil es die Schwierigkeiten der Einführung in die
allgemeine Zahlenlehre von den uns bekannten Lehrmitteln am besten über-
winden hilft. Wir waren und sind noch in der Lage, nach verschiedenen
Lehrbüchern unterrichten zu müssen, haben jedoch bei keinem anderen Lehr-
buche gefunden, dass der Lehrer so leicht mit dem Buche im Einklänge bleiben
könne und dabei so gut von dem Schuler verstanden werde, wie bei diesem.
Denn der Verfasser versteht einerseits die wissenschaftlichen Grundsätze fest-
zuhalten, während er es anderseits nicht verabsäumt, durch Vorführung nahe-
liegender Beispiele die Begriffe zu popularisiren und dem Verständnisse des
Schulers nahe zu bringen. Es sind schon Bücher durch unsere Hände ge-
gangen, wo die Erklärung der Grundbegriffe geradezu wie ein Selbstverständ-
liches übergangen wurde, während ihre Anwendung sofort vom Anbeginn eine
vielseitige war. Dagegen finden wir im vorliegenden 18 Seiten der Erklärung
und Einübung der neuen mit der Buchstabenrechnung verbundenen Formen
gewidmet; dann erst folgen die vier Grundrechnungsarten in allgemeinen
Zahlen, das Quadriren und Cubiren und Ausziehen der Quadrat- und Cubik-
wurzel. Den Schluss machen die Anweisung zum Gebrauch der Tabellen zur
Zinseszins-Berechnung, Beispiele darüber und Übungsaufgaben aus dem Gebiete
der bürgerlichen Rechnungsarten.
Es kann wol nicht erwartet werden, dass ein derartiges Schulbuch über
die Grenzen jenes Gebietes, für welches es geschrieben wurde, hinaus große
Verbreitung finde; aber wir fühlen uns gedrungen, allen geehrten Fachgenoesen,
welche sich selbst an die Verfassung von Lehrbüchern wagen, dieses in Bezug
auf die Einführung in die allgemeine Arithmetik gewiss musterhafte Buch
bestens zur Beachtung zu empfehlen. H. E.
Hermann Müller, Leitfaden der elementaren Mathematik mit Sammlung:
von Aufgaben. 6 Aufl. Bearbeitet von Dr. Max Zwerger, Studienlehrer.
1. Abth. Arithmetik. 171 S. 2 M. 40 Pf. 2. und 3. Abth. Geometrie
und Trigonometrie. 171 Fig. im Text. 215 S. 3 M. München, Lindauer.
Dieser Leitfaden gehört zu den beliebten Lehrbüchern Bayerns, und es
ist durchaus nicht zu verkennen, dass sowol der erste Verfasser als auch der
spätere Bearbeiter fortgesetzt bemüht waren, das Werk nach moderner Auf-
fassung zu verbessern. Der erste Theil umfasst außer den sieben Rechnungs-
arten noch die Lehre von den Gleichungen bis zu jenen zweiten Grades mit
mehreren Unbekannten, sodann Progressionen, Zinseszins-Rechnung, Combinations-
lehre, den binomischen Lehrsatz und die Wahrscheinlichkeitsrechnung, nebst
mehr als 900 zweckmäßig ausgewählten, den einzelnen Abschnitten zugeordne-
ten Aufgaben — sammt deren Lösungen. Obwol das Vorgetragene richtig
und fasslich gegeben wird, so können wir doch mit verschiedenem bei den
Rechnungsarten vorkommenden nicht ganz einverstanden sein. Von Paragraph
sieben bis fünfzehn, d. i. auf fünf Seiten finden sich eine Menge das Gedächt-
nis überlastender und an sich nutzloser Lehrsätze, welche alle durch zwei zu
ersetzen wären. Eine Summe sowol als eine Differenz ist an sich wieder eine
Zahl; es ist daher ganz unnöthig, Lehrsätze über das Rechnen mit Summen und
Differenzen aufzustellen, insofern dies bei den Rechnungsarten ersten Ranges
leicht vermieden werden kann; es genügt voUständig ein Lehrsatz für die Aus-
führung einer Addition mit allgemeinen Zahlen, und ebenso ein Lehrsatz für
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die Subtraction; alle möglichen Variationen, welche hierbei vorkommen
können, kann der Schüler unter Anwendung dieses einen Lehrsatzes zu be-
handeln leicht angeleitet werden. — Für die Multiplication empfiehlt sich
außer der im Paragraph achtzehn vorfindlichen Tafel positiver Einheiten auch
noch eine solche negativer Einheiten; endlich auch zum Satze Uber die Multi-
plication eines angezeigten Productes eine solche Tafel mit einer allgemeinen
Zahl an Stelle der Einheit. Ganz veraltet und verunglückt ist die Begründung
der Zeichenregel mit Hilfe der Null, welche nichts zu beweisen vermag, da
sie ja die Verneinung der Zahl ist. — Auch die Sätze über Verbindung von
Quotienten und Producten wären der Vereinfachung fähig und bedürftig; end-
lich niuss man die Darstellung des Wurzelausziehens unbeholfen nennen, da
doch der Divisor nicht zwischen die abzuziehenden Posten hineingeschoben
werden kann.
Dagegen dürfen wir mit unserem Lohe nicht zurückhalten, insofern in der
Stoff Vertiefung hinreichend weit gegangen wird, wie sich dies zum Beispiel
aus der eingehenden Behandlung des Factorenzerlegens ergibt, welches andere
Lehrbücher wenigstens in Bezug auf Polynome mit Stillschweigen übergehen.
— Sehr gefallen hat es uns auch, dass das Rechnen mit Brüchen gelehrt wird
beinahe ohne den Namen „Bruch", der eben als angezeigter Quotient benannt
und behandelt wird. Ebenso einfach als anschaulich ist ferner die Einführung
in das Rechnen mit Wurzeln, und nicht minder verdient es Anerkennung, dass
die Aufgaben in hinreichender Menge und mit entsprechender Schwierigkeit
beigeordnet sind.
Der zweite Theil enthält Planimetrie, Stereometrie, ebene und sphärische
Trigonometrie. Am Schlüsse jedes Capitels folgt eine große Zahl von Con-
struetionsaufgaben in systematischer Reihenfolge. Es wurde den neueren An-
schauungen insofern Bechnung getragen, als durch Stellung von Constructions-
aufgaben und Anleitung zu deren Lösung nicht blos das Erlernen von Lehr-
sätzen, sondern auch deren Anwendung als Beweis des Könnens von Seite des
Schülers als Nothwendigkeit hingestellt wird. Es hätte aber nicht geschadet,
wenn diesen neueren Anschauungen noch mehr Rechnung getragen worden
wäre; ganz besonders eine frühzeitige Einführung des Begriffes der Symmetrie-
achse erleichtert erheblich das Erfassen der Lehrsätze Uber die wesentlichen
Eigenschaften von Dreiecken. Im übrigen ist ja nicht zu verkennen, dass
dieses Buch ein sehr reichhaltiges Lehrmittel ist, in welchem man viele recht
interessante und dem Buche eigenartige Lehrsätze findet, so die Darlegung
über das Thcilvcrbältuis dor Schworlinien, über die Lage der merkwürdigen
Punkte in einer Oeraden und über den Neun-Punkte-Kreis. Manches allerdings
scheint uns in einer schwierigeren Fassung gegeben, als es nothwendig und
wünschenswert ist, z. B. die Theilung nach dem „goldenen Schnitt". — Eigen-
artig, aber wenig berechtigt ist die Benennung der Winkel an Parallelen: was
wir Gegenwinkel, nennt der Verfasser Correspondirende, und seine Gegenwinkel
nennen wir Anwinkel; am meisten zu bedauern ist aber die mangelhafte Aus-
führung der Figuren. In der 27. Figur sollten fünf gleiche Strecken vor-
kommen, leider ist aber keine mit der anderen gleich lang; ebenso wird an
der Figur 29 ein einigermaßen geübtes Auge sofort erkennen, das die Drei-
ecke, welche congruent sein sollen, es nicht sind. Dieser Übelstand setzt sich
auch in der Stereometrie fort Die descriptive Geometrie lehrt, dass seitlich
angesehene Kreise als Ellipsen erscheinen; anstatt dessen zeigen die Figuren
des Buches durchaus Zweiecke, von denen noch die 159. Figur an einer be-
sonderen Missgestalt leidet.
In der Trigonometrie geht sachgemäß die Goniometrie der Dreiecks-
auflösung voraus, auch hier fanden wir manches eigenartige und interessante.
Das rechtwinklige sphärische Dreieck wird als ein besonderer Fall des schief-
winkligen behandelt; dadurch werden allerdings die Ableitungen weitläufiger
und wenig übersichtlich. Unrichtig ist es, die Formeln von Gauß und Moll-
weide zu verwechseln; letztere beziehen sich ausschließlich auf das ebene Dreieck.
Im ganzen muss man sagen, dass das vorliegende Buch nach seiner Reich-
haltigkeit und Stoff Vertiefung gewiss ein höchst brauchbares Lehrbuch bildet,
welches wolgeeignet ist, dem Schüler eine gründliche Bildung zu übermitteln;
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- 745 —
data es jedoch wünschenswert wäre, bei Neu-Auflagen "Verbesserungen anzu-
bringen. H. E.
Constatin Rossmanith, weil. Prof. in Bielitz. Die Elemente der Geometrie
in Verbindung mit dem geometrischen Zeichnen. 2. vermehrte und ver-
besserte Auflage. Bearbeitet von Karl Schober: Prof. in Innsbruck.
204 S., 157 Fig. im Text. Pichler in Wien. 2 M. 20 Pf.
Das vorliegende Lehrmittel ist für die 2., 3. u. 4. Classe der österreichi-
schen Realschulen bestimmt und für diesen Zweck vom Unterrichtsministerium
genehmigt. Den Instructionen dieser Behörde gemäß wird auf die „innige
Verbindung der Geometrie und des geometrischen Zeichnens" der größte Wert
gelegt und zur Ausbildung der Anschauung bei Herleitung der geometrischen
Wahrheiten über Bewegung, Drehung, Verschieben und Umklappen vielfach
Gebrauch gemacht. Nicht minder wurden nach Möglichkeit die Lehren von
der centrischen und achsialen Symmetrie in Anwendung gebracht. — Die Ver-
besserungen, welche der Bearbeiter der zweiten Auflage an dem Werke des
ursprünglichen Verfassers angebracht hat, beziehen sich hauptsächlich auf eine
größere Genauigkeit des Ausdruckes und auf vermehrte Klarheit der Defina-
tionen. Die Vermehrung der Auflage besteht in Vermehrung des Übungsmateriales.
In der Planimetrie werden nach den einleitenden Erklärungen die Con-
gruenzlchre, Flächen Verwandlung und Ausmessung, Ähnlichkeitslehre, Anwendung
uer Algebra auf die Geometrie und die Kegelschnittslinien abgehandelt. Die
Stereometrie erörtert zuerst die möglichen Lagen von Ebenen und Geraden im
Räume; dann folgt ein Mehrercs über orthogonale Projection der einfachen
Grundgebilde; endlich die Beschreibung, Darstellung und Messung der einfachsten
geometrischen Körper. Sowol nach dem Titel als nach der Vorrede ist zu er-
warten, dass auf die Ausführung der Figuren großer Wert gelegt werde.
Und in der That muss man sagen, dass dieselben mit Sorgfalt entworfen und
ausgearbeitet sind, so dass sie wol den Schülern als Muster zu dienen ver-
mögen. Ganz besonders schön erdacht sind die Figuren, welche die centrische
und acbsialc Symmetrie zur Darstellung bringen; nicht minder zweckmäßig ist
von Schraffirung zur Darlegung der Flächen gleichheit und bei Schnittflächen
räumlicher Gebilde Gebrauch gemacht. — Die Sätze über Sehnen und Tan-
gentenvierecke sind zur Hervorhebung der Gegenseitigkeit zweispaltig angeord-
net. — Selbst solcho Figuren, welche, wie bei den Kegelschnittslinien, der
Natur der Sache nach Überladen sein müssen, erscheinen der sehr sorgfältigen
Ausführung zufolge noch immer verständlich. Kurz, es wurde von Seite des
Verfassers sowol als des Verlegers alles aufgeboten, um diesem Lehrbehelfe
eine möglichst schöne Ausstattung zu geben. Wenn wir also nach dieser Rich-
tung hin nur das Beste zu sagen haben, so scheinen uns doch noch einige Be-
merkungen nöthig in Bezug auf die Stoffvertiefung. An den österreichischen
Realschulen wird der Unterricht in der Geometrie zweistufig ertheilt; auf der
Unterstufe ist er in nahe Verbindung mit dem Zeichenunterrichte gesetzt und
soll in der Beweisführung mehr anschaulich als abstract verfahren, erst in der
Oberstufe wird ein streng wissenschaftlicher Unterricht der Geometrie ertheilt.
Deragemäss lässt sich das Vorliegende allerdings nicht mit Lehrbüchern ver-
gleichen, wie jene von Wiegand, Wittstein, Henrici und Treutlein,
doch haben wir schon manche Lehrbücher für höhere Schulen Deutschlands in
Händen gehabt, welche an Fasslichkeit des Vortrages, ganz besonders aber an
Schönheit der Figuren dem vorliegenden nachstehen, 60 dass wir es als ein ganz
beachtenswertes Lehrmittel empfehlen können. H. E.
Georg Paysen Petersen, Reinhart Rothfuchs. Die deutsche Thiersage für
jung und alt erzählt. Mit 6 Vollbildern von August Dressel. Leipzig 1892,
Spamer. 289 S. 3 M., geb. 4 M.
In 52 Capiteln erzählt dies Buch die bekannte uralte Thiersage und zwar
in der ungebundenen Sprache des täglichen Lebens; nur die Inhaltsangaben der
einzelnen Abschnitte, hie und da auch lehrhafte Sentenzen, sind in Verse ge-
kleidet, was den Vortrag hebt und belebt. Das Ganze hat einerseits eine
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Erweiterung erfahren, indem verschiedene Züge der deutschen Thierdichtung,
welche seit langer Zeit in Vergessenheit gerathen waren, geschickt in den
Reineke verflochten worden sind, anderseits eine Kürzung, indem alles, was
gegen Anstand und gute Sitte verstösst, entfernt worden ist. Der Verfasser
sah sich hierzu veranlasst, weil er die alte Dichtung in tadelloser Eeinheit
als Volks- und Jugendschrift neu beleben wollte.
Diese Absicht hat ihn auch zu einer noch bedeutenderen Abänderung ge-
führt. Da nämlich in allen bisherigen Bearbeitungen Reineke, dieser Ausbund
von Hinterlist und Bosheit, obwol er sich mit allen nur denkbaren Schandthaten
bedeckt und bis ans Ende ohne jede Besserung in seiner Niedertracht verharrt,
dennoch allen selbstverschuldeten Bedrängnissen glücklich entkommt und schließ-
lich auch aus dem Kampfe mit dem Wolf triumphirend hervorgebt: so erscheint
die ganze Dichtung zweifellos als eine Verne rrlichnug der Schlauheit im Bunde
mit moralischer Verworfenheit. Und es ist daher der ärgste Widerspruch und
Faustschlag gegen die Wahrheit, den eine Dichtung leisten kann, wenn es
z. B. bei Goethe am Ende seiner Bearbeitung heißt: „Hochgeehrt ist Reineke
nun. Zur Weisheit bekehre bald sich jeder und meide das Böse, verehre die
Tugend! Dieses ist der Sinn des Gesangs." Nein, das ist er nicht; vielmehr
ist Bein Sinn der: Sei möglichst schlau, verachte rücksichtslos alle Tugend und
ergib dich ganz und gar dem Bösen, denn dies allein bringt Glück und Ehre.
— Um nun diesem triumphirenden Umsturz der ganzen sittlichen Staats- und
Weltordnung einen Riegel vorzuschieben, hat Herr Petersen den Nimbus des
Reineke ein wenig abgedunkelt Im Kampfe mit dem Wolfe bleibt er keines-
wegs Sieger, wird er vielmehr Übel zugerichtet und vom Tode nur durch einen
aufregenden Zwischenfall gerettet. Schließlich muss Reineke selbst durch Hei-
lung des kranken Königs die Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung an-
bahnen, damit die wilde Anarchie mit ihrem Rauben und Morden, dem eigent-
lichen Metier des Faches, ein Ende nehme. Freilich war dies alles keine
freiwillige und innere Besserung des Frevlers, sondern ein Werk der Not zur
eigenen Rettung. Aber eben damit wird gezeigt, dass mit der Moral des
Fuchses kein Reich bestehen und gedeihen kann, und selbst der Einzelne nicht
für immer geborgen ist. Und nun gelangt man zu dem verständlichen und
versöhnlichen Schluss: „Seine Bosheit schuf ihm nur Leid; aber sein Verstand
half ihm aus aller Not. Möget auch ihr die Klugheit des Fuchses bewundern
und ihr nacheifern, doch seine Tücke und Arglist hassen, möget ihr euch frei-
willig und freudig des Guten befleißen, das Reinhart nur gezwungen und
widerstrebend that. Mahnen will euch dies Buch, dass ihr euch zur Weis-
heit bekehrt, das Laster meidet und die Tugend übt."
Sprache und Stil des Buches zeichnen sich aus durch Reinheit, Correctheit
und Wollnut, was wir um so lieber hervorheben, als in der modernen Literatur
diese Merkmale immer seltener, hingegenLicdcrliehkeitundUnartenimmerhaufigcr
werden. Die dem Buche beigegebenen Bilder sind von feinstem Geschmack
und machen einen herzerfreuenden Eindruck; auch die sonstige Ausstattung
in Papier, Druck und Einband verdient alles Lob. E.
Dr. W. Neurath, Prof. an der k. k. Hochschule für Bodencultnr in Wien,
Elemente der Volkswirtschaftslehre. Zweite Auflage (großenteils neu
bearbeitet and vermehrt). Wien bei Manz and Leipzig bei Jal. Klinkhardt,
1892. 487 Seiten. 2 M. 50 Pf.
Heutzutage sind die Grundbegriffe der Volkswirtschaftslehre für jeden Ge-
bildeten, besonders auch für den Pädagogen ein Bedürfnis, und mit Recht sagt
Prof. Neurath: „Immer weitere Kreise des Volkes treten heran oder werden
herangezogen zur Besprechung, Beratung und Beurtheilung volkswirtschaft-
licher Fragen; eine rein negirende Kritik der bestehenden Grundlagen unseres
socialen Aufbaues dringt in alle Schichten der Bevölkerung und selbst in die
Köpfe uad Herzen der Jugend ein. Alles hält Bich tür befähigt und berech-
tigt, über den Aufbau unseres Social- und Wirtschaftslebens abzuurtheilen.
Unter solchen Verhältnissen muss, wenn wir vor den schlimmsten Gefahren
bewahrt werden sollen, Volk und Jugend mit den höchsten Wahrheiten der
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— 747 —
Volkswirtschaft und der socialen Ethik bekannt gemacht und mit social-ethi-
schem Idealismus beseelt werden." — Diese Umstände veranlassten uns schon
beim erstmaligen Erscheinen des hier angezeigten Buches, dasselbe der Auf-
merksamkeit unserer Leser zu empfehlen und seine Vorzüge bervonjuheben.
In dieser neuen, sorgfaltig überarbeiteten und bedeutend vermehrten Auflage
verdient es in noch weit höherem Maße die Beachtung aller derer, welche sich
mit den Hauptpunkten der Nationalökonomie vertraut machen wollen, besonders
auch derer, welche diese Wissenschaft nicht gerade als Specialfach betreiben,
sondern in ihr nur eine Orientierung über die heutige sociale Lage suchen.
Denn bei aller Wissenschaftlichkeit des Inhaltes und der Anlage zeichnet sich
das Neuratbscbe Werk durch anschauliche, leichtfassliche, bündige und klare
Darstellung derart aus, dass es auch für den Selbstunterricht höchst geeignet
ist. Ohne weitläufiges Raisonniren führt Verfasser den Leser stets direct und
einleuchtend in die Sache selbst, in das wirkliche Leben ein, und wer ihm
achtsam folgt, wird sich an seinen lehrreichen Ausführungen ein selbstständiges
Urtheil über die Fragen des wirtschaftlichen Lebens zu bilden vermögen.
E.
Neu erschienene Bächer.
Dr. G. Deschmann, Führer durch Österreichs Schulen. Eine systematische
Darstellung der Unterrichts- und Erziehungsanstalten der Unter- und Mittel-
stufe für die männliche Jugend. Pilsen, Steinhäuser. 180 S. 1 fl.
Prof. Dr. W. Clasen, Führer durch die Lehr- und Erziehungsanstalten Deutsch-
lands für Angehörige der besseren Gesellschaftskreise. Berlin, Adolf Hein.
116 S. Gratis und franco.
Schulrath Dr. Jnl. Roth fuchs, Bekenntnisse aus der Arbeit des erziehenden
Unterrichtes. Das Übersetzen in das Deutsche und manches Andere. Mar-
burg, El wert. 173 S.
F. W. Dürpfrld, Das Fundamentstück einer gerechten, gesunden, freien und
friedlichen Schul Verfassung. 2. Lieferung. Hilchenbach, Wiegand. 65. bis
157. S. Das ganze Werk erscheint in 4 Lieferungen und kostet 3 M. 50 Pf.
Otto Zock, Die Evangelien des christlichen Kirchenjahres. Eine Handreichung
zur Gewinnung ethisch-religiöser Gedanken aus den Evangelien. Zweiter
Theil: Von Ostern bis Advent. Dresden, Kühtmann. 146 S. 3 M.
— , Die biblischen Geschichten des alten und neuen Testamentes. Für evan-
gelische Schulen zusammengestellt. 3. Aufl. 173 S. Mit einer Karte von
Palästina, Dresden, Kühtmann.
Director 0. Sehaarsehmidt, Biblische Geschichten im Zusammenhange mit
dem Bibellesen zu Lebens- und Geschichtsbildern zusammengestellt. 6. Aufl.
Braunschweig, Appelhans & Pfenningstorff. 156 S. IM.
Herrn. Radeker und Wilhelm Piltz, Der Geaüinun^sunterricht im ersten und
zweiten Schuljahre oder: Vorbereitungskursus für den Religionsunterricht.
Mülheim a. d. Ruhr, Baedeker. 168 S.
Prof. Dr. J. W. Otto Richter, Die Ahnen der preußischen Könige. Volks-
tümliche Lebensbilder der hohenzollernschen Burggrafen von Nürnberg und
Kurfürsten von Brandenburg. Hannover und Leipzig, Leopold Ost 350 S.
4 Mark.
G. Krause und F. Wöllniaim, Geschichtsbilder aus der allgemeinen, der
deutschen und brandenburgisch-preußischen Geschichte für Volks- und Bürger-
schulen. Mit zahlreichen Abb. und Karten. 3. Aufl. Leipzig, Bredt. 120 S.
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748 —
Heinrich Lewiii, Unsere Kaiser and ihr Haus, nebst dem Wichtigsten aas dem
Leben unserer Vorfahren. Geschichtsbilder für die Schüler der Mittel- und
Oberstufe. 2. Aufl. Hilchenbach, Wienand. 160 S. 60 Pf.
Dr. W. Sommer, Znr Methodik des literaturkundlichen Unterrichts an Volks-.
Mittel- und höheren Mädchenschulen. Beitrag .zur Förderung einer natio-
nalen Jugenderziehung. Prenzlan, Biller. 94 S. 1 M. 20 Pf.
Dr. W. Jütting, Die deutsche Sprache. Methodisch behandelt für Bürger-,
•höhere Mädchen-, Mittelschulen und Präparandenanstalten. 3. Aufl. bearb.
von Dr. H. Zimmermann. Hannover, Karl Meyer. 141 S. 80 Pf.
R. Gottesleben, Der Unterricht im Deutschen auf der Mittelstufe. Eine An-
leitung zur Behandlung des Lesebuches in Mittelklassen. 3. Aufl. Straß-
burg, Friedrich Bull. 264 S.
J. F. Holtmann, Deutsches Sprachbuch. Methodisch geordnete Beispiele,
Lehrsätze und Aufgaben für den Sprachunterricht in Elementar- und Fort-
bildungsschulen Erster Theil. 20. Aufl. Stade, Schaumburg. 80 S. 50 Pf.
Karl Martens, Deutsche Sprachübungen. Methodisch geordnete Übungen im
richtigen Sprechen und Schreiben. Für Volks- und Bürgerschulen. 2. Heft
(Mittelstufe). Honnover-Linden, Manz & Lange. 56 S. 40 Pf.
E mannet Reinelt, Sprachbuch für österreichische allgemeine Volksschulen.
4 Hefte ä 23, 32, 88 u. 80 Seiten, Preis 10, 15, 25 u. 25 Kreuzer. Wien
und Prag, Tempsky.
E. Römermann, Ausführliche und vollständige Sprachlehre zum Gebrauch in
Volksschulen. 2 Hefte, 30 u. 48 Seiten. 2. Aufl. Hilchenbach, Wiegand.
Gesammtpreis 40 Pf.
Friedr. Franke, Schulwörterbuch. Als Hilfsbuch für den deutschen Unterricht
nach Reihen und Familien geordnet und mit einem Regelbuche versehen.
Leipzig, Ernst Hoppe. 104 S.
Dr. Panl Harre, Hauptregeln der lateinischen Formenlehre. 54 S. 50 Pf.
Berlin, Weidmannsche Buchhandlung.
Hermann Perthes, Lateinische Formenlehre zum wörtlichen Auswendiglernen.
5 Aufl. besorgt von Prof. W. Gillhausen. 75 S. 80 Pf. Ebenda.
Max Engelhardt, Die Stammzeiten der lateinischen Conjugation wissenschaft-
lich und pädagogisch geordnet. Handbuch für Lateinlehrer. 47 S. 1 M.
20 Pf. Ebenda.
Hermann Perthes, Grammatisch-etymologisches Vocabularium im Anschluss
an Perthes lateinisches Lesebuch für Sexta. Mit Bezeichnung sämmtlicher
langer Vokale von Dr. Gustav Löwe. 5. Aufl. herausgeg. von Prof. W. Gill-
hausen. 96 S. Ebenda.
— , Lateinisches Lesebuch für die Sexta der Gymnasien und Realgymnasien.
5. Aufl. herausgegeben von Prof. W. Gillhausen. 55 S. Ebenda.
Ph. Plattner, Elementarbuch der französischen Sprache. 3. Aufl. Karlsruhe,
J. Bielefeld. 264 S. 1 M. 80 Pf.
Vcrantwortl. Redaoteur Dr. Friedrich Dittee. Bsebdrockerci Jolim Klinkhardt, Leipzig.
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lX».
Iniversite de Geneve.
Annee 1892 1893.
Facultas des Seleaees (y compris fkole de Chimie), des Lettres et des sciences
soeiales (s6tuinaire de langue francaise), de Droit, de Theologie, de Mldeeine (Stades
m6dicales et pbarmaceutiques. Ecole dentaire.
Les cours s'ouvriront le 22ime Octobre 1892.
On peut se procurer le programnie des cours, ainsi que les programmes detailles des
cxatnens de grades, au bureau du Secretaire-Caissier (Universite). — Les inscrlptions pour
les examens d Octobre seront recues du I««" aa 8*»»«' Oetobre.
Pour pensions et logemcnts, ainai que pour recevoir gratuitement des informatioas
sur les Etablissements d'instruction de Geneve, s'adresser au ßareau de renseignements
educatifs, 5. Quai du Mont-Blanc.
Le Recteur: Professear Gustave Julliard.
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tignng. Vortrag gehalten im Setpjiger ßeljrer-
toerein. 40 $f.
«erlag bon ^Itliiiä Rlinfftarot in t'eiajifl.
€m(l unti fjumnr aus Htm SW- unö
£fljrfrltten untrer Seit.
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waljrlofung ber 3ugenb. — r,*Ul)tlontl)ropin4' für
bie armen SHnber. — „^eftalo^ium." (Olüm-
pifc^ed Sdjulmärdien.) — Sdjulmcifterblut. —
Iraualtar unb ^äbagogtf. — gine intereffante
©djulinfpeftion. — Die 9iert>ofität in ber ©djulc.
— gericnbummel. — 9iodj einige Seijrer-
Originale. — fclte unb moberne SBanberleljrer.
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a) 2)aö erfte SBocbenbudj. b) !}a$ le^te ÜBodjen*
bud). — £), alte «urfd)enb,errlid)feit.
gtn edjter Sdjul- unb ßelprfreunb, bem
ba^ pcrfönltdjc 9Boi?l ber Sdjulfiuber warm am
^)erjen liegt, ber aber aud) ein menfcbenroürbigeg
25a)'etn für bie Seljrer forbert, fpctdjt in biefem
«üd)lein ju und. @r ift ein ed)ter .^umorifi,
ber feine (Jrfabrungcn unb Srlebniffe trefflich
cinjufleiben öerftebt; aber fein §umor greift
an^ §erj unb in§ (Meroiffen. ßr weint mit bem
einen Äuge, mäbtenb er mit bem anbern lad)t.
— 2)a§ fd)lid)te «üdjlein ift eine örädjttge
Seftüre für alle ßebjer.
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Verlag wn Sülms MHnfbarbt in gripM uub Berit*.
Pas Strafrrifjt brs ffiirrrs in kr llolköfdjule.
(Sin jraftlirdjer ÄafgcBer für £f(jrer unb Ä^ufottfri^tsßfttmtc.
Gearbeitet oon 21. (5". Sofcfc, Sef)rer.
$reis 3 3«.
Über biefcS $uch, febretbt bie „ftattjolifcbe Schulleitung": $oJ öc-rliegenbe SBert be
eine SRaterie oon ber böebfren Söicbtigtcit. Sie bie Serbältniffc b>t liegen, hängt oon bei
babung be3 SrrafrechtS in oielcn Sailen SBobl unbSBebe ber fiehrerfamilie ob. *?ir tonnen bähet
oem 2ebrer nicht bringenb genug *u einer »eifert Jponblmbung biefeä JRecbte* raten. Um nun
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ba*u mi gelangen, roirb man fich bem ernfieften Srubium besfelben hingeben miiiieu
folchen Stubium bietet ba5 oorlicgenbe 2öud) einen oorjüglicben Rubrer. 3n jtoei iei
be« SchulftrafrechtS", „©eiefclicbe SJcftimmungen unb gerichtliche (inti'rheibungen ba$ Sdjufftrap
recht bttreffenb" bcl)anbelt ee bie ganje ernfte ftragc mit großer ©rünbtichreit unb Sachten ntni*.
^«?^re!L!l,irb.b.ad23cr,d,fn nid,t obl,c bfn Q^Bten Segen für feine gejamte unterriihtltche unb
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3n meinem Berlage ift foeben erfebienen:
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oon Sjnnout, Cribnij, fiant.
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Son Dr. ^riebrteg Sitte*.
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SSorftetjenbe «Schrift mar feit 13 ^ahrei MB-
griffen unb c« tonnte fich ber ^erfaffer bisher
Aur Verausgabe einer neuen Auflage nicht ent«
fd)(ießen. Wachbem aber in lefcter 3eü bie SU*
fragen unb Jöefteflungen auf ba$ S?erf ftd> be«
ftänbig mehrten, lag feine Seranlaffung mehr
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Diefclbe ift grünblich burebgefeben unb, fotoeit
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14. Auflage.
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Hierzu 3 Beilagen: 1. von Bleyl & Kaemmerer in Dresden. 2. von Julius Klinkhardt
in Leipzig. 3. von Paul Neff in Stuttgart
Bacbdxackerci Julius Klinkbardt, Leipzig
Monatsschrift
für
Erziehung und Unterricht.
Herausgegeben
unter Mitwirkung hervorragender Paedagogen
von
Dr. JF"rio<ii*icli X>ittes.
ny. Mmi
12. Heft, September 1891
Leipzig.
Verlag von Julius Klinkhardt.
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Inhalt des 12. Heftes.
Seite
Jean PauTs „Levana oder Enriehlehre" nach Plan und Grundgedanken dargestellt
und von dem Standpunkte der heutigen Pädagogik beleuchtet von P. H.
(Schiaas) 749
Über den Geburtsort des Comenius. Vom Herausgeber 765
Die Bezirksschulinspection. Eine ungelöste Frage des österreichischen Volks*
Schulwesens. Besprochen von Wilh. Taschek-Vöslau 771
Hygiene und Erziehung. Ihre Anwendung «ur wirksamen Bekämpfung des
Idiotismus. Von Rector 0. Hintz- Berlin 778
Pädagogische Bundschau. Osterreich. — Aus Bayern. — Elsass- Lothringen . 787
Aus der Fachpresse , 791
Kecensionen 800
Abonnements- Preis pro Quartal M. 2.25.
Alle Buchhandlungen und Postanstalten nehmen Bestellungen an.
■ um —
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( SEP 21 m2 J
Jean Paul'« ..Levana oder Erziehlehre"
nach Plan nnd Grundgedanken dargestellt und von dein Standpunkte der heutigen
Pädagogik beleuchtet von P. II*
^Schluss.)
V.
I^ach Betrachtung der allgemeinen Ansichten Jean Pauls über
Geist und Grundsatz der Erziehung, Natur des Kindes und Indivi-
dualität des Ideal nienschen, in denen offenbar der Schwerpunkt der
„Levana" liegt, wollen wir zunächst untersuchen, welche Grundsätze
in dem weiteren Verlauf der Darstellung sich über das Einzelne der
Erziehung vorfinden. Mit besonderer Wärme wird die Wichtigkeit
der Erziehung in den drei ersten Lebensjahren, dieser „Dämmer-
periode der aufkeimenden Menschheit", betont. „Wie die Eier der
Sing- und der Raubvögel und wie das neugeborene Küchlein der
Taube und des Taubengeiers, so verlangen anfangs alle nur Wärme
und was ist Wärme für das Menschenküchlein? — Freudigkeit!"
Sie lässt die jungen Kräfte wie Morgenstrahlen aufgehen, sie ist der
Himmel unter dem alles gedeiht, Gift ausgenommen. ' Die Wichtig-
keit der ersten Eindrücke betont Jean Paul mit besonderem Nach-
druck. Er sagt: „Alles Erste bleibt ewig im Kinde, die erste Farbe,
die erste Musik, die erste Blume malen den Vorgrund des Lebens
aus; noch aber kennen wir dabei kein Gesetz als dieses: „beschirmt
das Kind vor allen heftigen und starken, sogar vor süßen Empfin-
dungen!" Nicht sie machen den Menschen und das Kind „heiter und
selig/ sondern die Thätigkeit. „Die gewöhnlichen Spiele der Kinder
sind nun nichts als die Äußerungen ernster Thätigkeit, aber in leich-
testen Flügelkleidern," zugleich aber auch „die erste Poesie des
Menschen." Als Spielsachen sind jedoch nicht herausgeputzte Puppen
und andere zierliche Gegenstände am Platze, denn „an reicher Wirk-
lichkeit verwelkt und verarmt die Phantasie.4 Jede Spiel-
puppe und Spiel weit sei „nur ein Flachsrocken, an welchem die Seele
ein buntes Gewand abspinnt." Als bestes Spielmittel wird in der
„Levana" der Sand empfohlen; ihn vermag das Kind auf das Mannig-
fachste zu verwenden. „Philosophen! streuet Sand weniger in als
P»cLigo&mm. 14. Jahrg. Heft XII. 52
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— 750 —
vor die Augen in den Vogelbauer eurer Kinder." Diejenige Eigen-
schaft, welche den Charakter des Kindes ganz besonders liebenswert
macht, die unbefangene, rückhaltlose Hingabe an unsere Führung,
mit einem Wort, den „Kinderglauben, ohne den es gar keine
Erziehung gäbe", betrachtet Jean Paul als Haupthebel der Erzie-
hung. Eine nothwendige Consequenz aus den humanen Grundsätzen
unseres Dichters ist es, dass derselbe sich über Belohnung und
Bestrafung in der mildesten Weise äußert. „Habt keine Freude*,
sagt er, „am Gebieten und Verbieten, sondern am kindlichen Frei-
handeln"; ist aber einmal ein Gebot oder Verbot als unumgänglich
noth wendig erachtet worden, dann sei es „unabänderlich" und „ein-
silbig". Je jünger das Kind, desto mehr ist Einsilbigkeit nothwendig.
„Erst später sagt mit sanfter Stimme Gründe, blos um durch die
schönen Zeichen der Liebe den Gehorsam sanfter herbeizufuhren u. s.w. u
Mit Achtung und Liebe betrachte das Kind seine Eltern, mit Pünkt-
lichkeit gewöhne es sich daran, ihr Wort zu erfüllen, aber sein Wille
werde nicht durch zu vieles Gebieten und Verbieten geknickt, die
ganze frei emporstrebende Persönlichkeit nicht zu einer willigen Ma-
schine in der Hand des Erziehers erniedrigt; nie erfolge ein Gebot
oder Verbot, wenn nicht ein höherer Beweggrund dazu antreibt!
Also auch in diesem Punkte findet der Grundgedanke der „freien
Entwickelung des Individuums", überhaupt „das Princip der Libera-
lität in Erziehungssachen" seine Betonung und Vertheidigung, auch
hier „kräftigen und Kraft lassen" das „erste und letzte Erziehungs-
wort." Überzeugt von der angeborenen Güte der Kindesnatur konnte
unser Autor es nicht gestatten, dass mit rauher Hand „der blinkende
Morgentauscbimmer" von der „Menschen-Blume" abgestreift und durch
eine verkehrte Behandlungsweise das „helldunkele Kindersein durch
voreiliges Hineinleuchten mit der nackten Wirklichkeit verkürzt werde."
So hat Jean Paul,— um mit Grube zu reden — „in seiner ,Levana'
das christliche ,Lasset die Kindlein zu mir kommen' mit wahrhaft
psychologischer Meisterschaft commentirt." Auch die speciell weib-
liche Erziehung findet in Jean Paul einen geistreichen Beurtheiler
und erfahrungsreichen Freund. Ja, man kann mit allem Recht behaup-
ten, dass kein Schriftsteller über diesen Punkt schönere und richtigere
Regeln aufgestellt hat, wie unser Autor. Von besonderer Wichtig-
keit erscheint ihm dieselbe, „denn in weiblicher, in Mutterhand ruht
die Erziehung der ersten Hälfte des ersten Lebens-Jahrzehnts"
„Vergesset darum, Mütter, die heiligste Aufgabe nicht, deren Lösung
zugleich den schönsten Lohn bringt." „Verächtlich ist eine
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- 751 —
FraUj die Langeweile haben kann, wenn sie Kinder hat." Zwar ist
nach Jean Paul das Weib, wie auch Rousseau annimmt, von der
Natur zur Gattin und Mutter bestimmt; doch wäre es nach der
„Levana" verkehrt, wollte man das Mädchen nur für ihre Bestimmung
als Mutter erziehen; „die mütterliche Bestimmung kann nicht die
menschliche überwiegen oder ersetzen, sondern sie muss das Mittel,
nicht der Zweck derselben sein. Sowie über dem Künstler, über
dem Dichter, über dem Helden, so steht über der Mutter der Mensch."
Und wenn die Natur in scheinbarem Gegensatz zu dieser Ansicht die
„Weiblichkeit" einseitig zur „Mütterlichkeit" hinzuarbeiten scheint, so
muss der Erzieher nach dem Princip der Heilighaltung jeder Kraft,
diesen Zweck wenn nicht bestreiten, so doch ergänzen, indem er „die
unterdrückende Kraft durch die wagehaltenden Kräfte mildert, reinigt
und einstimmt." Sehr entschieden wendet sich die „Levana" gegen
die frühe Entwickelung der Gefühle bei der Mädchenerziehung;
die Mutter „schone und erwarte jedes zarte und warme Gefühl, das
die Jahre von selber bringen und bilden" und „schwelge nicht etwa
an der Empfindsamkeit ihrer Tochter." „ Versündigt euch nicht," —
ruft unser Dichter den Müttern zu — „dass ihr den Töchtern das
Heilige des Herzens auch nur von weitem als Männer-Köder, als
Jagdzeug zum Gattenfange geist- und gottlästernd zeigt und anem-
pfehlt " Der Sittlichkeit beste Stütze ist das gute Bei-
spiel. Da aber Mädchen mit gleichjährigen Mädchen verbunden in
einem „Tauschhandel weniger ihrer Vorzüge als Schwächen" stehen,
sollen sich dieselben „mehr in Gesellschaft von Männern, ja selbst
von Jünglingen bewegen." So kann es uns nicht wundern, wenn in
der „Levana" über die Mädchen-Pensionsanstalten ein sehr hartes
Urtheil gefällt wird: „Das höchste, was ein Mädchen in einer Pension
wiederfinden könnte, wäre eine Mutter, aber doch würde der Vater
mangeln." Achtung und Liebe gegen das eigene Geschlecht,
Unterdrückung der Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit,
Lebens- und Arbeitsgymnastik sind die drei wichtigsten Gebote,
die nach Jean Paul eine Mutter ihrer Tochter mit auf den Lebens-
weg geben kann. Bezüglich des letzten Punktes warnt die „Levana"
besonders vor der sog. „Frauenzimmerarbeit", durch welche „der müßig
gelassene Geist verroste und den Wogen der Phantasie übergeben
sei." Die Elemente der Realfächer und Mathematik, sollten unsern
Mädchen nicht fremd bleiben; das Hauptaugenmerk aber ist zu
richten auf die nöthige Kenntnis und Geschicklichkeit zur
Führung der vielseitigen Geschäfte des Hauswesens.
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I
- 752 —
VI.
An diese kurze Darstellung der allgemeinsten Grundsätze von
Jean Pauls Pädagogik, die in ihrer Allgemeinheit auch eine gene-
relle Bedeutung in der praktischen Erziehung haben, wollen wir die
Betrachtung der specielleren Momente der Erziehung, welche ihrer-
seits den verschiedenen Seiten der Persönlichkeit des Erziehungs-
objectes entsprechen, anschließen. Es handelt sich also hier um die
Darstellung der Grundsätze, welche für Jean Paul bei Anwendung der
Erziehungsthätigkeit auf die verschiedenen Theile der Menschennatur
maßgebend sind. Schon oben wurde erwähnt, dass Jean Paul in der
Individualität des Zöglings zwei Seiten streng in der erziehlichen
Behandlung unterschieden wissen will, die intellectuelle und die mora-
lische. Für erstere gilt ihm das Princip ungestörter Selbstent-
faltung. Der geistige Bildungstrieb, der in jedem Menschen schlum-
mert und durch die Mittel der Erziehung zu nachhaltiger Kraftent-
faltung sich entwickeln soll, werde — so verlangt es Jean Paul —
schon im frühesten Kindesalter auf die denkbar vielfachste Weise
angeregt, dem jungen Menschen, der mit ungetrübtem Auge die lebens-
und gestaltenreiche Welt betritt, soll vor allem ein frei waltendes
Interesse für die der Gesammtheit seiner Sinne zunächst liegenden
Erscheinungen angebildet werden. Mit schrankenloser Thätigkeit
wende er sich deshalb den bunten Gestalten der Außenwelt zu, ihren
Bildern verschaffe er eine sichere Stätte im Räume seines Bewusstseins.
Darum muss denn auch vor allem darauf gedrungen werden, dass dem
Individuum die nöthige Freiheit der Geistesentfaltung gewahrt
bleibt, wodurch der sich entwickelnde Mensch in die Lage kommt,
als unumschränkter Gebieter über die seinem Geiste eingepflanzten
Vorstellungen zu schalten, sie mit einander zu vergleichen, zu ver-
knüpfen, und er auf diese Weise zum Ausbau einer reichen Gedanken-
welt die Befähigung erlangt Die Erringung dieser geistigen Kraft
und Arbeitsfähigkeit glaubt nun Jean Paul am wirksamsten durch
Übungen des Witzes erreichen zu können. Und in der That ist
der Witz diejenige Geisteskraft, deren Äußerung darin besteht, die
verschiedensten Gegenstände und Erscheinungen unter Bezugnahme
auf die Gleichartigkeit gewisser Merkmale mit einander zu vergleichen
und zu verknüpfen. Schon dem Kinde fallen bei Betrachtung der
Außenwelt an den Gliedern derselben, die ihm entgegentreten, Über-
einstimmung und Verschiedenheit ihrer Merkmale auf, wenn auch an-
fangs nur in gröbster Form. Je mehr es nun durch Ausbildung der
genannten Geisteskraft befähigt ist, die feineren und tiefer liegenden
— 753 —
Beziehungen der Anschauungsobjecte erkennen zu lernen, desto mehr
werden die hervorgerufenen Denkgebilde den Charakter wirklicher
Geistesarbeit an sich tragen; ja gerade auf diese Weise gelangt das
Kind zur Bildung der ersten Begriffe, deren Entstehung ausschließ-
lich durch Vergleichung mehrerer Anschauungen und durch Vereini-
gung derselben unter die Einheit eines höheren Vorstellnngsgebildes
bedingt wird. Freilich wird der jugendliche Geist in seinen Ver-
suchen mit den gewonnenen Bildern der Erscheinungen zu arbeiten,
durchaus nicht den Weg strenger Denkprocesse einhalten. Die Sonder-
barkeit und Ungeregeltheit der entstandenen Denkgebilde wird uns
vielmehr berechtigen, der im jugendlichen Alter besonders unumschränkt
waltenden Einbildungskraft einen hervorragenden Antheil an ihrer
Bildung zuzuschreiben. Allein Jean Paul hielt die oben angedeuteten
Thätigkeiten des Witzes und der Einbildungskraft für so wichtig zur
Grundlage der intellectuellen Bildung, dass er ihnen einen sehr
weiten Spielraum gewährte. Er suchte, durch eigene Beispiele
anregend, seinen Schülern witzige Einfälle zu entlocken und schrieb
dieselben sorgfältig auf, da er sie als wichtiges Moment in der
geistigen Bildungsgeschichte des Individuums ansah. An die Bildung
zum Witze anschließend, behandelt Jean Paul die Bildung zur Reflexion,
Abstraction und zum Selbstbewusstsein. Sie ist ihm zu erreichen
durch Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Innenwelt, was ein gleich-
wertiger Gegensatz zur Sinnesthätigkeit nach außen sein und die
Harmonie der Erziehung aufrecht erhalten soll. Was die Bildung
der Erinnerung und des Gedächtnisses anbelangt, so weist unser
Autor auf die Wichtigkeit derselben nachdrücklich hin. Ihm ist die
Lebendigkeit, die jene Geisteskräfte erreichen sollen, bedingt durch
den Reiz des Gegensatzes. Das Interesse ist ihm tonangebend für die
Festigkeit des Aufgenommenen — „daher hat kein Mensch für alles
ein Gedächtnis, weil keiner für alles ein Interesse hat." — Zur Aus-
bildung der intellectuellen Seite des Menschenwesens, welche ja die
Kräfte der Erkenntnis, der Einbildungskraft und der Erinnerung in
sich fasst, weist nun Jean Paul auch auf Beschäftigung mit den ver-
schiedenen Wissenschaften hin. Da es ihm aber nicht darum zu
thnn ist, eine Unterrichtslehre zu geben, sondern seine „Levana"
auf das Gebiet der Erziehung ausschließlich beschränkt bleiben soll,
so dürfen wir keine genaueren Darlegungen in dieser Beziehung er-
warten. Ebenso ist es begreiflich, dass der Dichter bei dem dama-
ligen Stande der Methodik die formal bildende Kraft der Realien
gänzlich verkannte. Die Naturgeschichte ist ihm beispielsweise „das
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— 754 —
Zauberbrot", welches der Lehrer den Kindern vor der Lehrstunde
gibt, nm ihre Aufmerksamkeit für seinen folgenden Unterricht zu
gewinnen. Sie ist ihm also nur wirksam durch die Neuheit und das
Fesselnde ihrer Thatsachen, nicht aber durch das Bildende, welches
die in ibr gegebenen Beziehungen der Naturwesen und Naturkräfte
darbieten. Von der Geographie kennt er nur einen praktischen
Nutzen. Von besonderer Schönheit sind jedoch die Ausführungen,
welche die „Levana" über Bildung zur Sprache enthält Ihrem Ver-
fasser war die große Wirkung, welche namentlich das gesprochene
Wort auf den Geist des Menschen ausübt, vollständig klar, außerdem
ist ihm die Sprache in ihrem Gesammtorganismus ein formales Bil-
dungsmittel von unvergleichlicher Wichtigkeit. „Sprachenlernen ist
etwas Höheres als Sprechenlernen, und alles Lob, das man den alten
Sprachen als Bildungsmittel ertheilt, fällt doppelt der Muttersprache
anheim, welche noch richtiger die Sprachmutter hieße "
„Die Muttersprache ist die unschuldigste Philosophie und Besonnen-
heitsübung für Kinder," „Sprecht recht viel und recht bestimmt und
haltet sie selber im gemeinen Leben zur Bestimmtheit an ■
„Sogar kleine Kinder strengt zuweilen durch Widerspruchsräthsel der
Rede an." Die Sprachlehre ist ihm „als Logik der Zunge" die erste
Philosophie der Reflexion, und der Umgang mit ihr „unter den früheren
Übungen der Denkkraft die gesündeste." Mit Recht gilt ihm die
Sprache als Mittel, dem Geiste einen Schatz von Vorstellungen zuzu-
führen; denn „durch Benennung wird das Äußere wie eine Insel
erobert." Dem Aufnehmen des sprachlichen Materials mit seinem Un-
tergrunde von klaren Vorstellungen soll jedoch stets producirende
Thätigkeit von Seiten des Zöglings parallel gehen. Bim dünkt
das geklärte und geordnete Darstellen der eigenen Gedanken durch
die Sprache und namentlich durch die Schrift als Bildungsmittel so
wichtig, dass er sagt: „Ein Blatt schreiben regt den Bildungstrieb
mächtiger an als ein Buch lesen." — Als zu verwirklichendes Ideal
der sittlichen Bildung des Knaben nennt unser Autor „sittliche
Stärke und sittliche Schönheit", und die Art und Weise, wie er
diese Ansicht darlegt, geschieht in einer Fülle der zutreffendsten Aus-
sprüche. Die sittliche Stärke wird nach ihm am besten durch das
Beispiel erzielt; deshalb gebe man dem aufstrebenden Kind eine das
Herz durchwurzelnde Idee, etwa die der Ehre. Auch der „Erweckung
der Vaterlandsliebe" und dem „Aufwecken des Ehrtriebs" wird in
der „Levana" in ausführlicher Begründung das Wort geredet. Soll
der Knabe zu einem brauchbaren Manne erstarken, so „erfülle man
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- 755
ihn mit der verklärten Heldenwelt, mit lieblich ausgemalten Groß-
menschen der verschiedensten Art und mit einem poetischen Ideale."
Auch möge der Knabe so viel als möglich in die stoische Schule hin-
ein hören! „Lasset ihn sehen, dass das Kernfeuer der Brust gerade
in jenen Männern glühe, welche ein durch das ganze Leben reichen-
des Wollen, nicht aber, wie der Leidenschaftliche, einzelne Wollungen
und Wallungen haben." Und da Jean Paul als genauer Menschen-
kenner nur allzu wol weiß, wie gewaltig die Hindernisse oft sind, die
sich der im Erstarken begriffenen Männlichkeit entgegenstellen, ver-
langt er mit dem ganzen Feuer seiner Begeisterung Belebung der
Idealität; nicht stark genug kann er seinen Gegensatz zu denen
betonen, die in unbegreiflicher Unkenntnis von der wahren Bestimmung
des Menschen das Idealisiren der Tugend verdammen und bei all
ihrem Thun und Lassen das reine Nützlichkeitsprincip in den Vorder-
grund treten lassen. Zu diesen Bildungsmitteln der sittlichen Stärkung
trete dann noch die Wahrhaftigkeit, eine Zierde der Jugend und
auch in späteren Jahren noch die Blüte der sittlichen Mannesstärke.
Das Ideal der sittlichen Schönheit findet er im Reiche der Liebe, der
Milde und der Wolthätigkeit. Seiner Grundanschauung von der mensch-
lichen Natur entsprechend, findet sich die Liebe, die „eigentliche posi-
tive Sittenlehre", schon bei der Geburt in Kinderherzen, und deshalb
ist es nicht nöthig, „die Blütenknospe der Liebe einzuimpfen," sondern
nur „das Moos und Gestnipp des Ich wegzunehmen, welches der Liebe
die Sonne verdeckt." „Bringet dem Kinde" — so ruft er aus — „das
fremde Leben und das fremde Ich lebendig und genug vor das seinige,
so wird es lieben." Auch das thierische Leben halte es heilig;
darum „gebet ihm das Herz eines Hindu, statt des Herzens eines car-
tesischen Philosophen." Endlich lasse der Erzieher durch eigenes
Thun das Kind die Liebe kennen lernen. — „Lehrt lieben, sag' ich,
das heißt liebt — ." Mit diesen Worten schließt Jean Paul seine von
feiner psychologischer Beobachtungsgabe und einem warmftihlenden
Herzen zeugenden Ausführungen über diesen in der Erziehung so
wichtigen Punkt. Auch in Bezug auf die Ausbildung des Schönheits-
sinnes entwickelt die „Levana" eine Fülle höchst beachtenswerter
Ansichten. Eines der wirksamsten Mittel zur Bildung des Schönheits-
sinnes ist allerdings die Betrachtung der Natur in ihren ewigen, un-
vergänglichen Reizen. Weil jedoch diese neben dem Vollkommenen
auch das Unvollkommene, neben dem Vollendeten vieles Unfertige
und Verkümmerte bieten, so fordert unser Dichter die Betrachtung
der verschiedensten Kunstwerke, und zwar in der Weise, dass das
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— 756 —
Kind früher in das Kunstreich der durch äußere Sinne bedingten
Schönheiten, der Malerei, Musik, Baukunst einzuführen sei, als „in das
Reich der durch den inneren Sinn bedingten, das der Dichtkunst."
„Fangt an mit Raphael und mit Gluck, allein nicht mit Sophokles.'-
Erst dann, wenn die „Mann- und Weibbarkeit sich ent-
zündet haben" und „alle Kräfte Einheit und Zukunft suchen", trete
der Dichter auf und „sei der Orpheus", „der tote Körper so gut belebt,
als wilde Thiere bezähmt." Unter den poetischen Meisterwerken,
deren Studium auf den jugendlichen Geist veredelnd einwirken soll,
soll jedoch nach Jean Paul in der Weise eine Auswahl getroffen
werden, dass vornehmlich die Erzeugnisse der Nationalliteratur
berücksichtigt werden. Was die eigene Nation schuf, das steht dem
Einzelnen, dessen Denken, Fühlen und Wollen ja so vielfach im Bann-
kreise der nationalen Bildungsverhältnisse liegen, jedenfalls näher als
Fremdes. Aus diesem Grunde muss es aber auch einen viel nachhal-
tigeren Einfluss auf die ästhetische- und Charakterbildung der heran-
wachsenden Jugend bewirken; denn wenn Bekannte, deren Stimme
wir kennen, deren innerliches Fühlen und Denken uns so nahe liegt
und vielfach selbst bewegt, zu uns reden, so verstehen wir ihre Worte
und sie werden uns viel fester im Geiste haften. Diesen großen Ge-
danken von der Gemüths- und Herzensbildung durch nationale Kunst
fasste Jean Paul in seiner ganzen Tragweite auf und gibt ihm viel-
fach Ausdruck. In mehreren Capiteln verbreitet sich sodann die
„Levana" ausführlich über die religiöse Bildung des Zöglings, ihre
Notwendigkeit und den Zeitpunkt ihres Beginnens. Dem jeder kalten
Verständigkeit tief abholden Naturell unseres Dichters, der die großen
Angelegenheiten des Menschengeschlechts und die Unzahl ihrer ver-
worrenen Fragen viel mehr in beschaulicher Innerlichkeit des Ge-
fühls erwägte, als mit der Schärfe des Verstandes prüfte, war es
jedenfalls sehr entsprechend, dass er den Antheil des Gemüthes und
der Gefühle an der Religiosität des Menschen besonders stark betont
und auch in der Erziehung besonders hervorgehoben wissen wollte.
Scharf wendet er sich gegen den Glauben, als hänge die religiöse
Bildung des Zöglings von der Anzahl der Religionsstunden und der
Menge des dargebotenen Stoffes ab. Solche Ansichten kann sein
klarer Geist für das Zeitalter der Humanität nicht mehr als praktisch
verwendbar ansehen. Für unser Jahrhundert, in dem „die geborstenen
Kirchenglocken nur noch dumpf den Volksmarkt zu Kirchenstille
rufen," verlangt er eine mehr auf das sittlich religiöse Leben des
Menschen abzielende Thätigkeit des Erziehers. Unpassend erscheint
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— 757 —
es ihm weiter, „das Kind durch Beweise in die Welt der Religion
einfuhren zu wollen." „Jede Sprosse der endlichen Erkenntnis", — so
führt er aus — „wird durch Allmählichkeit erstiegen; aber das Un-
endliche kann nur auf einmal angeschaut werden, nur auf Flügeln,
nicht auf Stufen kommt man dahin." Steht in dieser Auffassung die
„Levana" im Gegensatz zu den Ansichten Rousseau's und der Philan-
thropisten, die bekanntlich bei der religiösen Unterweisung Vernunft-
gründe als ausschlaggebend betrachteten , so glaubt Jean Paul auch
hinsichtlich des Zeitpunktes, zu welchem der Unterricht in der Reli-
gion beginnen soll, nicht den genannten Pädagogen beistimmen zu
können. Denn will Rousseau die Entwickelung der religiösen Welt-
anschauung bei seinem Zögling erst mit dem Alter der Vernunft be-
ginnen, so kann Jean Paul mit ihr nicht frühe genug anfangen. Die
Religion ist ihm ein Lebenselement, dessen Nothwendigkeit für alle
Altersstufen gleichmäßig ist. Ihrer bedarf auch das Herz des Kindes,
und die schönste Aufgabe des Erziehers bleibt es, ihm die tröstlichen
und das denkende Sein des Menschen in sich beruhigenden Wahr-
heiten derselben einzuflößen.
Noch bleibt uns übrig, die Ansichten Jean Pauls über die phy-
sische Erziehung zu betrachten. Außer der Bedeutung, welche die-
selbe als Bildung und Entwickelung der leiblichen Seite des Menschen-
wesens schon in sich selbst hat, schätzt er dieselbe als Hebel der
geistigen, namentlich moralischen Erziehung. Der Körper ist ihm der
„Panzer und Kürass der Seele" und „körperliche Abhärtung ist, da
der Körper der Ankerplatz des Muthes ist, schon geistig nöthig." „Ihr
Zweck und Erfolg ist nicht sowol Gesundheitsanstalt und Verlängerung
des Lebens, als Aus- und Zurüstung desselben wider das Ungemach
und für Heiterkeit und Thätigkeit." Durchdrungen also wie Rousseau
und die Philanthropisten von der Wichtigkeit dieses Theiles der Er-
ziehung, widmet er ihm eine verhältnismäßig genaue, in die Gestalt
eines Briefes „an einen Neuvermählten" gekleidete Darstellung, wobei
er auf Kleidung, Wohnung und andere Angelegenheiten der leiblichen
Erziehung zu sprechen kommt, und in diesen Dingen sich mit seinen
Ausführungen ganz den Grundsätzen der oben genannten Männer an-
schließt. Abhärtung des Körpers gegen Kälte und Hitze, die Fähig-
keit desselben zum Ertragen von Anstrengungen und Schmerzen, Stär-
kung der Glieder und Übung des Leibes, das sind ihm die Ziele der
physischen Erziehung. „Jeder Vater baue um sein Haus ein kleines
gymnastisches Schnepfenthal! * mit dieser Forderung dringt er darauf, dass
aile Eltern die erwähnte Seite der Erziehung aufs möglichste unterstützen.
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— 758 —
VII.
Nachdem wir nunmehr den Plan der „Levana" und die wichtig-
sten der in ihr niedergelegten pädagogischen Grundgedanken kurz zu
entwickeln versucht haben, bleibt uns noch übrig, die Hauptsätze der
Jean Paulschen Pädagogik von dem Standpunkt der heutigen Er-
ziehungswissenschaft aus zu beleuchten und dieselben auf ihren Wert
oder Unwert zu prüfen. Es liegt in der Natur der Sache, dass be-
reits bei der Entwickelung des Planes der „Levana- und ihrer Grund-
gedanken öfters, wenn auch nur kurz, auf die Ansichten älterer Päda-
gogen und auch mitunter auf die Gegenwart hingewiesen wurde, und
schon in der Einleitung erwähnten wir die Einflüsse, welche das
Naturell des Dichters, die damaligen Zeitverhältnisse und der Stand
der Pädagogik überhaupt auf den Geist der „Levana" hatten. Aus
diesen Gründen dürfen wir wol auf eine ins Einzelne gehende Beur-
theilung verzichten und wollen nur die wichtigsten der in bestimmter
Form auftretenden und die Kritik besonders herausfordernden päda-
gogischen Leitgedanken in gedrängter Kürze einer Beleuchtung unter-
ziehen.
Schon als wir den Jean Paulschen Grundsatz von der Güte der
Kindesnatur darzustellen versuchten, wiesen wir darauf hin, dass er
diese Ansicht mit Rousseau theile. Durch die pädagogischen Schriften
des letzteren wurde sie in die Erziehungswissenschaft eingeführt und
namentlich von den Philanthropisten aufgenommen und aufs nachdrück-
lichste vertreten. Die meisten pädagogischen Schriftsteller zu Jean
Pauls Zeit huldigten ihr und bis in unsere Tage fand sie begeisterte
Vertreter. Dem gegenüber hielt die traditionelle Pädagogik nach wie
vor, gestützt auf die Lehre von der „Erbsünde," an einer angeborenen
Verderbtheit der menschlichen Natur fest. Selbstverständlich ist das
Überwiegen der einen oder der anderen Anschauung stets von weit-
gehendem Einfluss auf die pädagogische Praxis gewesen. Nach der
auch von Jean Paul vertretenen Anschauung hat die Erziehung den
neugeborenen Menschen nicht nur als ein von allen sittlichen Mängeln
reines, sondern auch mit den höchsten Vorzügen ausgestattetes Wesen
zu betrachten. Demgemäß wird ihre Behandlungsweise in einer sorg-
fältigen Abhaltung der ihm etwa von außen zuströmenden üblen Ein-
flüsse bestehen, da nur hierdurch der Meusch die unbefleckte Reinheit
seines Wesens, wie sie die Natur in ihn legte, beibehalten und zur
höchsten Ausbildung bringen kann. Die gegenteilige Ansicht dagegen
wird den Menschen als unter dem Einflüsse ursprünglicher Verderbnis
stehend betrachten, die ihm hauptsächlich durch das Gebundensein
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an seine sinnliche Natur anhafte. Diese verwerflichen Eigentümlich-
keiten der Menschennatur wird demnach die Erziehung nach Möglich-
keit zu unterdrücken haben, um einem von außen her dem Menschen
gesetzten Ideal Kaum zu verschaffen und demselben die Herrschaft
über die natürliche Verderbtheit zu erringen. Dass die Befolgung dieser
beiden einander gegenüber stehenden Ansichten in der pädagogischen
Praxis zu Unzuträglichkeiten führen müsse, erscheint bei näherer
Betrachtung als selbstverständlich; denn die erstere besteht in einer
Überschätzung der menschlichen Veranlagungen, während die letztere
eine Unterschätzung derselben in sich schließt. Auf Grundlage der
Errungenschaften unserer modernen Psychologie ist die neuere päda-
gogische Wissenschaft in dieser Frage zu einer selbstständigen Stellung
gelangt, wodurch die Übertreibungen der beiden angeführten Anschau-
ungen glücklich vermieden werden. Lassen wir einen berufenen Ver-
treter derselben hierüber sprechen! Diester weg gibt, wenn er die
Hauptgegensätze der traditionellen und der modernen Pädagogik ein-
ander gegenüber stellt, den Standpunkt der letzteren in den Worten
an: „Die menschliche Natur ist zu Anfang ungebildet (roh), sie trägt
die Keime zu einer unendlichen Mannigfaltigkeit in sich, durch Er-
ziehung wird sie gebildet und veredelt." Das natürliche Wachsthum
der im Menschen liegenden Keime führt demnach weder ausschließlich
zum Guten noch ausschließlich zum Schlimmen. Nach beiden Seiten
hin kann vielmehr je nach den Bedingungen, unter welchen die Er-
ziehung steht, eine Entfaltung stattfinden. Aufgabe einer guten Er-
ziehung wird es natürlich sein, die dem Menschen von der Natur ver-
liehenen Kräfte und Fähigkeiten harmonisch zu entwickeln und sie so
in den Dienst des Wahren, Guten und Schönen zu stellen.
Was die Ansichten der „Levana" über den „Idealmenschen" und
dessen Natur betrifft, so wurde schon oben angegeben, dass dieselben
mit den idealistischen Lehren Plato's über die angeborenen Ideen im
Zusammenhange stehen. Der wissenschaftliche Realismus, gestützt auf
die Ergebnisse einer möglichst exacten Psychologie, hat sich gegen
eine derartige Auffassung der Menschennatur jederzeit ablehnend ver-
halten müssen, da sie nicht nur jeder unbefangenen Erwägung, sondern
auch namentlich der Erfahrung gänzlich widerspricht. Nach der er-
wähnten Ansicht sind nämlich alle wesentlichen Verhältnisse der aus-
gebildeten Menschennatur schon in der unausgebildeten derart gegeben,
dass die Erziehung nichts weiter thun kann, als das auf dem Grunde
der Seele schlummernde zu wecken und ihm etwa nur in unwesent-
lichen Einzelheiten eine besondere Richtung zu geben. Zur näheren
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Ausführung dieser Gedanken und zur Widerlegung derselben wollen
wir ebenfalls einen berufenen Vertreter, F. E. Beneke, sich aus-
sprechen lassen. ,.Wie es eine durchaus unhaltbare Erdichtung ist,"
sagt er, „dass der Marmor schon die Züge der Bildsäule irgendwie
in sich tragen soll, so auch die Anwendung auf die Erziehung. Die
menschliche Seele besitzt keinerlei ursprüngliche Anlagen von solcher
Bestimmtheit und Ausbildung, und der Erzieher hat also keineswegs
nur auseinander zu wickeln, oder das Schlummernde zu wecken, sondern
was er einst in Zukunft finden will, muss er erst in sich, und dann
in der Seele des Kindes mit Liebe und Sorgfalt und nicht selten mit
selbstverleugnender Anstrengung begründen. u
Jean Paul selbst widerspricht denn auch der im Anfang von ihm
festgestellten Theorie, wenn er sagt, ,,dass der Erzieher von einer
Individualität, die er wachsen lassen muss, eine andere zu trennen
hat, die er beugen oder lenken soll." Erstere ist ihm die intellec-
tuelle, letztere die sittliche. Mit ganz richtigem Gefühle tritt er also
zunächst in der sittlichen Erziehung seinem anfangs gelehrten Grund-
satze entgegen, dass der im Idealraenschen enthaltenen Individualität
ungehindertes Wachsthum zu gewähren sei. Aber auch in Betreff der
intellectuellen Bildung hätte er seine Grundansicht in ihrer Anwen-
dung als verfehlt betrachten müssen. Das folgt schon aus dem engen
Zusammenhang, in welchem die intellectuelle und die moralische Seite
des Menschenwesens stehen; aber schon der Grundsatz einer harmo-
nischen Ausbildung aller Kräfte verlangt es, dass sich das beugende
- und lenkende Element der Erziehung auf sämtliche Leibes- und
Seelenkräfte zu erstrecken hat.
Zu den Eigentümlichkeiten der Jean Panischen Pädagogik,
welche von jeher den lautesten Widerspruch erfahren haben, gehören
namentlich auch die Ansichten, welche er über die Bildung zum
Witze entwickelt. Wenn der Verfasser der „Levana" der Übung
jener Geisteskraft eine große Bedeutung, namentlich für die erste
Entwickelung des kindlichen Geistes zuerkennt, so wird ihm dies
nicht geradezu abgestritten werden können. Wenn er aber den
Übungen in witzigen Einfällen und Gedanken allzu großen Spielraum
gewährt; wenn er einen besonderen Theil der Unterrichtszeit darauf
verwendet wissen will; wenn er diesen ersten kindlichen Versuchen
im Witzspiele alle Gegenstände fast ohne Auswahl überlässt und so-
gar die Person des Lehrers denselben aussetzt: so dürfte dies doch
weit über die Grenze des pädagogisch Erlaubten hinausgehen. Ver-
mehrt werden diese Bedenken noch, wenn man überlegt, dass Jean
Paul diese unreifen Erzeugnisse des kindlichen Geistes sogar aufzu-
schreiben empfiehlt. Hierin liegt ganz gewiss eine Überschätzung
dieser regellosen Einfälle, welche auf Seiten des Kindes gar leicht zu
Eitelkeit, Einbildung und Dünkel führen kann. Vielleicht ist die
Maßlosigkeit der Jean Panischen Ansichten in diesem Punkte zurück-
zuführen auf seine Hinneigung zu Ideen der Philanthropisten, die sich
bekanntlich angelegen sein ließen, „das Lernen nur in lauter Sonnen-
schein zu betreiben" und dasselbe dem Kinde nicht zu einer Kraft
heischenden Arbeit, sondern zu einem augenehmen Spiele des Geistes
zu gestalten.
Obschon es nicht möglich ist, in einem kritischen Überblick über
die hauptsächlichsten pädagogischen Grundansichten der „Levana"
auf alle Einzelheiten einzugehen, so ist es dennoch von Interesse,
eine besonders auffallende Erscheinung hervorzuheben, nämlich die
Rangordnung, welche Jean Paul den einzelnen Unterrichtsfächern
nach Maßgabe ihrer erziehlichen Kräfte zutheilt. Besonders merk-
würdig ist in dieser Hinsicht, dass Jean Paul die Realfächer ganz in
den Hintergrund treten lässt und von ihrem formalbildenden Einflüsse
eine so sehr geringe Meinung hegt. Dr. K. Lange, der eine neue
Ausgabe der „Levana" besorgt hat, spricht sich hierüber in folgenden
Worten aus: „Wenn heutzutage schwerlich jemand diese befremdliche
Ausicht theilen und den sogenannten „Realien" mit Jean Paul einen
so geringen Bildungsgrad beilegen wird, so ist das ein erfreuliches
Zeichen dafür, dass seit dem Anfang dieses Jahrhunderts Theorie
und Praxis des Unterrichts wesentliche Fortschritte gemacht
haben. Zur Zeit, da der Verfasser der „Levana" unterrichtete, be-
stand der Sachunterricht allerdings ziun guten Theil aus einem „an-
häufenden Vorlehren" von Raritäten und bunt zusammengewürfelten
nützlichen Kenntnissen; von geistiger Durchdringung und Belebung
des heterogenen Stoffes, von einer Autfassung des Natur- und Menscheu-
lebens als eines organischen Ganzen konnte damals bei der Unvoll-
kommenheit der betreffenden Fachwissenschaften nicht die Rede sein.
Und so darf uns nicht wundern, dass Richter die Bedeutung der
Realien für die Bildung der Intelligenz, ja für das gesammte geistige
Leben übersieht und ihnen die Fähigkeit, den Bildungstrieb zu wecken
und zu fordern, abspricht,"
VIII.
Wir sind am Schlüsse unserer Betrachtungen über Jean Pauls
„Levana" angelangt. Bei der Kürze unserer Arbeit konnte es uns
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unmöglich gelingen, dieselben erschöpfend zu gestalten. Aber selbst
bei Anhäufung von viel umfassenderem Material würde es schwer
fallen, dem eigenartigen und interessanten Buche gerecht zu werden.
Die Fülle des Geistes und der sinnigen Beobachtungen, welche die
„Levana" in ihrem weiten Rahmen birgt, lässt sich nur durch lange
Beschäftigung und inniges Vertrautsein mit diesem Werke völlig er-
gründen und dem eigenen Gedankenkreise nutzbar machen. Ein Buch,
an dem einer unserer fruchtbarsten und schreibgewandtesten Dichter
nach eigenem Geständnisse 10000 Stunden arbeitete, muss der Räthsel
viele bieten und dem Geiste Stoff zu langdauernder Arbeit geben.
Tiefgründig, wie Jean Pauls Erziehlehre ist, wird sie stets dem tiefer
Denkenden und Grabenden eine Quelle zahlreicher Gedankenkeime
sein, die sich im Gemüthe des emsig weiter Forschenden und die
Aufgaben seiner Wissenschaft vertiefenden Erziehers zu einer Fülle
der herrlichsten Gedankenblüten entfalten. Und doch sehen wir, wie
das schätzbare Werk des poesiereichsten unserer Pädagogen immer
mehr vereinsamt und der großen Mehrheit unserer Zeitgenossen zum
bloßen Namen herabzusinken droht. Wie auffallend ist diese That-
sache, wenn wir bei ihrer Beurtheilung an die Zustände in den Tagen
Jean Pauls denken!
Damals war seine „Levana" eines der meist gelesenen Werke
unserer Literatur, und in höheren Ständen, wo man die Überzahl der
übrigen Erziehungsbücher als langweilige Leetüre aus der Familien-
bibliothek ausschloss, galt es als notwendige Bedingung für jede ge-
bildete Mutter, die „Levana" gelesen zu haben. So verpflanzte dieses
Buch einen reichen Schatz pädagogischer Gedanken und Erfahrungen
in die Angehörigen jener Stände, an welchen bis dahin die Hochflut
pädagogischer Reformbestrebungen spurlos vorübergerauscht war. Auf
diese Weise wurde unser Dichter mit seinem gehalt- und erfolgreichen
Buche ein wirksamer Seitenkämpfer und eine sehr bedeutungsvolle
Ergänzung Pestalozzis, der zu jener Zeit im Schweizerlande mit
begeisterter und aufopfernder Thätigkeit fiir Menschenheil durch Jugend-
bildung wirkte. Das ist, wie gesagt, im Laufe der letzten Jahrzehnte
anders geworden. Als Familienbuch wird die „Levana" nur höchst
selten noch gefunden, und selbst in pädagogischen Kreisen ist man
großenteils mit Jean Pauls Erziehlehre nicht sehr bekannt. Ja,
die Theilnahme für uuser Buch ist nachgerade fast zum blos histo-
rischen Interesse herabgesunken! Citirt werden die goldenen Worte
des Werkes zwar allenthalben, und einzelne seiner gehaltreichsten
Sätze wandern von Mund zu Mund. An rückhaltloser Bewunderung
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— 763 —
für Jean Fauls pädagogische Schrift hat man niemals gespart, aber
mit dem Lesen derselben ist es in unseren Tagen schlecht bestellt.
Es kann uns nicht schwer fallen, für diesen anscheinend auffälligen
Umstand eine ausreichende Erklärung zu finden. Den Zeitgenossen
Jean Pauls war die „Levana" wie die übrigen Schriften dieses
Dichters eine Lieblingslectüre; denn sie fanden in diesen Werken
Spiegelbilder ihres eigenen Denkens und Fühlens. Ganz wie jenes
Zeitalter, in welchem unsere „Levana" das Licht der Welt erblickte,
dachte und fühlte ihr Autor. Sein Werk ist ein Ausfluss all jener
Ideen, welche seine Zeit bewegten, abgespiegelt und modificirt durch
die Persönlichkeit eines Dichters, der sich getragen fühlte von dem
Gedanken, den besten seiner Mitlebenden genug gethan zu haben.
Die Humanität, jener wunderthätige „Gral unserer classischen Tafel-
runde" (Gottschall), der Philauthropismus mit seinem eifrigen und
nicht selten übereilten Streben nach einer möglichst rationellen Jugend-
bildung, diese Richtungen gaben unserem Dichter die Leitgedanken
zur „Levana". Dazu kam noch ein stark ausgeprägter Zug von
Sentimentalität als persönliche Zugabe ihres Verfassers. Darum kann
es nicht Wunder nehmen, wenn Jean Pauls Werk eine so weitgehende
Verbreitung und begeisterte Aufnahme fand. Da aber unser Jahr-
hundert gerade mit den hervorragendsten der damaligen Streit- und
Zeitgedanken ziemlich zum Abschluss gekommen ist, oder dieselben
doch wenigstens in veränderter Form vertritt, so musste auch die
Theilnahme für ein Werk, das in der Art der „Levana" durch die-
selbe beeinflusst ist, allmählich erkalten. Außerdem ist nicht zu ver-
kennen, dass für unser Buch in jetziger Zeit Ersatz gegeben ist
durch pädagogische Werke, welche in ihrer Darstellung den Fort-
schritten und Interessen der Gegenwart in höherem Maße Rechnung
tragen. Was aber die „Levana" wirkte und pflegte zur
Blütezeit ihres Bestandes, was sie an Theilnahme und Be-
geisterung zum Nutzen der pädagogischen Kunst und Wissen-
schaft erweckte, das kann nie entschieden genug betont
werden, und das in dieser Richtung Erzielte bildet ein
schönes Blatt im Lorberkranze ihres Dichters. Auch heute
noch liest sein Werk, wer die mitunter schwer zu durchbrechende
Hülle nicht scheut, um ins Heiligtlmm einer reichen Fülle pädago-
gischer Gedanken zu gelangen, mit hohem Genuss, und die Ernte an
wirksamen Antrieben und begeisternden Hinweisen auf die edlen Ziele
unserer Wissenschaft ist nicht gering. Namentlich die große Zahl
der Pädagogen im engeren Sinne sollte an dem gehaltreichen Erzeug-
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nisse ihres großen Mitstrebenden nicht theilnahmslos vorübergehen;
denn wie ein Feuer auf dem Berge den Wanderern im Thale die
Pfade erhellt und den Weg zu höheren Regionen ihren Blicken ent-
hüllt, so leuchten die edlen Gedanken der „Levana* als taghelle
Geistesblitze in jedes Erziehers Gemüth, es erwärmend und begeisternd
für das Heilige seiner Aufgabe, und ihm in fernem goldenen Schim-
mer zeigend das höchste Princip seines Denkers, das Ideal seines
Berufes.
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Über den Geburtsort des Comenins.
-Bekanntlich hat der dreihundertste Gebartstag des Comenius
eine große Bereicherung der diesen berühmten Schulmann betreffenden
Literatur mit sich gebracht. Doch sind noch keineswegs alle Einzel-
heiten seines Lebens und Wirkens völlig geklärt. So wird z. B. noch
eifrig gestritten um seinen Geburtsort. Wenn dieser nun auch an
dem geistigen Bilde und der inneren Bedeutung des großen Mannes
nichts ändern kann, so ist es doch störend und zeitraubend, in Büchern,
Reden und Lehrvorträgen immer und immer wieder langen Unter-
suchungen und Contro versen über diesen Gegenstand zu begegnen;
noch weniger aber kann es befriedigen, hierüber nur mit unzuver-
lässigen Notizen abgespeist zu werden. Gewiss wäre es also von Vor-
theil, wenn endlich die so viel umstrittene Frage durch ein sicheres
Ergebnis zum Abschluss gebracht werden könnte. Und in der That
glaube ich, dass über den Geburtsort des Comenius heute kein
Zweifel mehr bestehen kann.
Bekanntlich sind im Laufe der Zeit von verschiedenen Schrift-
stellern drei Orte als Geburtsstätten des Comenius bezeichnet worden,
die sämtlich im südöstlichen Mähren und nicht weit von einander ent-
fernt liegen: nämlich Komna (oder Komnia), Niwnitz und Ungarisch-
Brod. Für die mit den Örtlichkeiten nicht Vertrauten sei kurz folgen-
des bemerkt. Die Stadt Ungarisch-Brod findet sich in jedem nicht
allzudürftigen Atlas. Etwa 5 Kilometer südlich davon liegt der Markt-
flecken Niwnitz ; ungefähr doppelt so weit von Ungarisch-Brod entfernt
liegt in der Mitte zwischen dieser Stadt und Trentschin an der Waag
das Dorf Komna (Komnia), hart an der ungarischen Grenze. Dasselbe
wird in folgendem nicht weiter in Betracht kommen, da gegenwärtig
Pädagogium. 14. J»hrg. Heft XII. 03
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feststeht, dass es nicht der Geburtsort des Comenius, sondern nur
der Stammort seiner Familie ist, indem entweder die Eltern des Pä-
dagogen oder schon frühere Vorfahren desselben ans Komnia aus-
wanderten, um sich in Ungarisch-Brod (nicht in Niwnitz) niederzulassen.
Der Streit dreht sich also derzeit nur noch um Ung.-Brod und Niwnitz.
Da ich schon längst gewünscht hatte, die Heimat des Comenius
zn sehen, so begab ich mich im September vorigen Jahres dorthin,
begleitet von dem verdienten Vorsitzenden der Wiener Pädagogischen
Gesellschaft, Herrn M. Zens; als freundlicher und kundiger Führer
schloss sich uns Herr Bürgerschullehrer Fr. Lang in Ung.-Brod an.
Besondere Aufmerksamkeit widmeten wir natürlich u. a. den zwei
Mühlen, deren gegenwärtige Besitzer nebst vielen anderen Personen
mit Entschiedenheit, man kann sagen mit Stolz und Begeisterung be-
haupten, dass daselbst Arnos Comenius das Licht der Welt erblickt
habe. Die eine dieser Mühlen liegt in Niwnitz, die andere gehört zu
Brod, liegt aber außerhalb der noch mit Festungsmauern umgebenen
Stadt, in der Richtung nach Niwnitz. Natürlich konnten die Argu-
mente, welche wir in diesen Mühlen hörten, uns weder für die eine
noch für die andere Tradition gewinnen, da ihnen keine urkundliche
Beweiskraft zur Seite stand. Es ist nicht einmal sicher bezeugt, dass
Comenius der Sohn eines Müllers war, wenn auch diese Überlieferung
— trotz der neuerlich gegen sie vorgebrachten Zweifel — wegen ihres
hohen Alters und ihrer Beständigkeit im Volksmunde die Wahrschein-
lichkeit für sich hat.
Die bisherige Unsicherheit über den Geburtsort des Comenius
beruhte in erster Linie darauf, dass die älteste und wichtigste Urkunde
hierüber verloren gegangen ist, wie es scheint für immer: es sind
nämlich weder in Ung.-Brod noch in Niwnitz Geburtsregister aus
der hier in Betracht kommenden Zeit erhalten; wahrscheinlich hat da,
wie in vielen anderen Fällen, der 30jährige Krieg vernichtend gewirkt.
In zweiter Linie ist die Unsicherheit daher gekommen, dass die etwas
späteren und erhaltenen Nachrichten über die vorliegende Frage
sich widersprechen, indem sie teils auf Niwnitz, teils auf Ung.-Brod
lauten. Daher erklärt es sich auch, weshalb noch unter den neuesten
Biographen des Comenius gerade diejenigen zwei, welche am gründ-
lichsten auf die Quellen eingehen, nämlich Kvacsala und Vrbka, be-
züglich des fraglichen Geburtsortes entgegengesetzter Meinung sind,
indem jener für Niwnitz, dieser für Ung.-Brod eintritt, obwol jeder
von beiden noch einen schwachen Zweifel gegen seine Annahme zu-
lässt. Wer hat nun Recht?
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I
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Die Nachrichten, auf welche Kvacsala und Vrbka sich stützen,
und auf welche wir derzeit ausschließlich angewiesen sind, rühren
theils direct von Arnos Comenius selbst her, theüs von solchen Personen,
die aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Informationen eben auch von
Arnos Comenius — mittelbar oder unmittelbar — erhalten hatten.
Weil nun diese Nachrichten von unanfechtbarer Echtheit, keineswegs
aber so unvereinbar sind, wie es nach ihrem Wortlaute scheinen
könnte, so sind sie meines Erachtens in der vorliegenden Frage
völlig entscheidend, da man nicht bezweifeln kann, dass
Arnos Comenius selbst gewusst habe, wo er geboren war.
Die in Betracht kommenden Nachrichten nun ergeben, dass Co-
menius in seinen jüngeren Jahren immer Niwnitz als seinen Geburts-
ort bezeichnet hat, dass jedoch später von anderen Personen und auch
einmal von ihm selbst Ung.-Brod als seine Heimat bezeichnet worden
ist. Bevor wir auf die Lösung dieses Widerspruches eingehen, wollen
wir ihn erst deutlicher darstellen.
I. Comenius nennt sich: Niwnicensis, Niwnicenus, Arnos Nivanus
Joh. Arnos e Marcomannis Niwnicenus, also immer so, dass er zweifel-
los Niwnitz als seinen Geburtsort bezeichnet — und zwar namentlich
bei folgenden Anlässen: 1. bei seiner Inscription an der Hochschule
in Herborn (1611), 2. bei Unterzeichnung seiner ersten (erhaltenen)
literarischen Arbeit, eines lateinischen Gedichtes (1612), 3. bei seiner
Inscription an der Universität Heidelberg (1613), 4. beim Ankauf einer
Handschrift von Copernicus, indem er auf dieselbe seinen Namen
setzte (1614).
II. Zu Elbing, wo sich Comenius bekanntlich 1642 — 1648 aufhielt,
wurde er in den Rathsprotokollen „Johannes Arnos Comenius Hunno-
brodensis" genannt*), ebenso nannte er sich selbst in einer in der
Schule zu Saros-Patak von ihm gehaltenen Rede (1650), endlich be-
findet sich im British Museum zu London ein Manuscript, welches den
Text zu einer Grabschrift für Comenius enthält, in der u. a. folgende
Stelle vorkommt: Natus die 28 Martii MDXCH Hunnobrodae.
Nun halte ich die erste Gruppe von Zeugnissen über den Ge-
burtsort des Comenius für unbedingt entscheidend und alle an ihnen
versuchten Deutungen für ganz willkürlich und belanglos. Was die
zweite Gruppe derselben betrifft, so können sie nur daraus erklärt
werden, dass Comenius die seinem Geburtsort benachbarte Stadt
deshalb als seine Heimat bezeichnete, weil in der Ferne von dem
*) Siehe Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 1. Jhrg. S. 66.
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•
kleinen Niwnitz niemand etwas wusste, während Ung.-Brod immerhin
eine nicht unbedeutende Stadt war und in jener Zeit, sowie schon
früher, als Festung eine Rolle in der Kriegsgeschichte spielte und oft
genannt wurde. Auch war ja diese Stadt der Wohnort seiner Eltern
und sein eigener in seinen 12 ersten Lebensjahren, nur eben nicht
sein Geburtsort. In Herborn und Heidelberg durfte sich Comenius
mit dieser ungefähren, weniger genauen Bezeichnung seines Ge-
burtsortes nicht begnügen, weil dies in allen officiellen Verhältnissen,
besonders auch bei Aufrahme in Schulen, nicht statthaft ist; denn
in solchen Fällen ist volle Genauigkeit Vorschrift und allgemeiner
Usus. Auch kann man sich gar keinen Grund denken, weshalb Co-
menius einen unbedeutenden Flecken als seinen Geburtsort bezeichnet
haben sollte, wenn er in der benachbarten ansehnlichen Stadt zur
Welt gekommen wäre. Gerade das Rangverhältnis zwischen Niwnitz
und Ung.-Brod ist insofern von erheblichem Belang, als man dem
Comenius ein widersinniges Vorgehen zuschreiben müsste, wenn er statt
Hunnobrodensis „Niwnicenus" geschrieben hätte, während es nicht
verwundern kann, wenn er gelegentlich statt Niwnicensis „Hunno-
brodensis" sagte, was dann auch von seinen Zeitgenossen (in England,
Schweden, Elbing, Amsterdam u. 8. w.) angenommen wurde. Nun stößt
man sich aber besonders an der erwähnten Grabschrift*) und zwar
hauptsächlich deshalb, weil man als ihren Verfasser des Comenius leib-
lichen Sohn Daniel ansieht, der doch wol das Richtige gewusst haben
müsse. Diese Autorschaft ist nun zwar nicht sicher erwiesen, wie
man auch nicht weiß, ob die besagte Inschrift wirklich auf des Co-
menius Grab gesetzt worden ist. Geben wir aber beide Umstände
bereitwillig zu, was folgt dann? Etwa, dass Comenius wirklich in
Ung.-Brod geboren wäre? Mit nichten, sondern höchstens, dass dies
der Verfasser der Grabschrift geglaubt hat. War dieser Verfasser
des Comenius Sohn Daniel, der seinen Vater in der That tiberlebte,
so stand er eben unter der nämlichen Überlieferung, wie andere Leute,
da Comenius in seinen späteren Jahren und in der Fremde jedenfalls
die Gewohnheit angenommen hatte, als seine Heimat kurzweg Ung.-
Brod zu bezeichnen, um weitläufigen Angaben tiberhoben zu sein.
Dass aber auch sein Sohn Daniel das Genauere nicht wusste, kann
deshalb nicht sehr auffallen, weil dieser fern von Comenius* Heimat
(nämlich in Elbing) geboren war und diese nie gesehen hat.
Nun legt Vrbka (auf Grund archivalischer Forschungen von Kuöera)
*) Selbst Kvacsala ist von ihr in Verlegenheit gesetzt.
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besonderes Gewicht darauf, dass die Eltern des Comenius bis zu ihrem
Tode (1604) wirklich in Ung.-Brod ansässig waren und nirgends er-
sichtlich ist, dass sie diesen Wohnort einmal mit einem anderen, etwa
mit Niwnitz vertauscht hätten. Aber können sie 'nicht vorüber-
gehend, auf kurze Zeit im nahen Niwnitz gewesen sein? Jedenfalls
hat sich wenigstens die Mutter des Comenius am 28. März 1592
daselbst befunden, sei es in der von der- Volkssage bezeichneten Mühle
oder in einem anderen Hause, sei es zum Besuche bei Verwandten
oder aus . einem andern, vielleicht dringlichen Anlass. Denn dass Arnos
Comenius an jenem Tage in Niwnitz geboren wurde, muss als der
einzige Grund angesehen werden, weshalb dieser Ort überhaupt in
der Lebensgeschichte des großen Pädagogen Erwähnung und Bedeutung
erlangt hat, weil ein anderer Grund hierfür nicht besteht. Gönnen
wir dem Orte also ohne weitere Anfechtung seinen in der That wol-
begründeten Ruhm, zumal der unansehnliche Markt sonst nichts auf-
zuweisen hat, was seinem Namen eine historische Bedeutung sichern
könnte. Ung.-Brod aber möge sich damit begnügen, dass es die Eltern
des Comenius und auch diesen selbst zwölf Jahre lang beherbergt, ihm
auch den ersten Schulunterricht geboten hat. Bei alledem ist übrigens
nicht ausgeschlossen, dass der Vater des Comenius, obwol er in der
Stadt selbst ein Haus besaß, auch Eigenthümer der oben erwähnten
Mühle außerhalb der Stadtmauern gewesen sein kann.
Und liegt denn in der Thatsache, dass Comenius nicht im Wohn-
ort seiner Eltern, sondern eben in Niwnitz geboren wurde, etwas
so gar Seltsames, das man schwer glauben könnte? Keineswegs; ähn-
liche Fälle kommen öfters vor, und es sind deren auch allgemein be-
kannt. Ich erwähne namentlich zwei, an die man gerade bei Comenius
sich leicht erinnert. Die Eltern Jesu wohnten in Nazareth und doch
wurde er selbst in Bethlehem geboren; und obwol Bethlehem sein
Geburtsort war, hieß er dennoch Jesus „von Nazareth" („Nazarenus").
Warum könnte also Comenius, obwol Niwnitz sein Geburtsort ist, nicht
Hunnobrodensis heißen? — Martin Luther ferner, obwol seine Eltern
in Mansfeld wohnten, wurde doch in Eisleben geboren. Und wenn
er auswärts, etwa in Magdeburg, Erfurt oder sonstwo von anderen
oder von sich selbst ein „Mansfeld er" genannt worden wäre — was
ich weder behaupten noch bestreiten kann — so würde trotzdem sein
Geburtsort Eisleben bleiben. — Der oben erwähnten Grabschrift
zuliebe möge nun noch ein interessantes Analogon angeführt sein. Der
berühmte Dichter Vergilius war, als Sohn eines Bauern, zu And es
in der Gegend von Mantua geboren. Im Alter von 12 Jahren ver-
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ließ er die Heimat, um die Schale von Cremona zu besuchen; von da
ging er, um sich weiter auszubilden, nach Mailand, dann nach Rom»
Als er ein berühmter Mann geworden war, nannte man ihn den „Man-
tuaner", und wahrscheinlich nannte er sich selbst so; denn seine Grab-
schrift, die von ihm selbst dictirt sein soll, jedenfalls von sicherer
Hand stammt, beginnt mit den Worten: „Mantua me genuit". Warum
stößt man sich also an dem „Natus Hunnobrodae"? — So gewiss Jesus
in Bethlehem, Luther in Eisleben, Vergil in Andes geboren war: eben
so gewiss war meines Erachtens der berühmte Pädagog. welcher in
seinem späteren Leben den Zunamen Hunnobrodensis führte, in
Niwnitz geboren.
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Die Bezirksschulinspection.
Eine ungelöste Frage des österreichischen Volksschulwesens.
Besprochen von Wilh. Taschek - Y'öslau.
Bekanntlich sind die Bezirksschulinspectoren in Österreich seit
dem Bestände des Reichsvolksschulgesetzes provisorische Schulbeamte
gewesen. Sie wurden aus dem Stande der Volks- und Bürgerschul-
lehrer oder jenem der Mittelschulprofessoren auf Vorschlag des Bezirks-
schulrathes vom Unterrichtsminister für die Dauer einiger Jahre er-
nannt, nach deren Ablauf ein neuerlicher Vorschlag erstattet werden
musste.
Dieser Zustand dauerte bis 1892, wo insofern eine Änderung des-
selben eintrat, als mittelst Reichsrathsbeschluss das Definitivum der
Bezirksschulinspectoren für Galizien zum Gesetz erhoben wurde, wäh-
rend für die übrigen cisleithanischen Länder das Provisorium verblieb.
Dieses Provisorium nun bildet seit vielen Jahren den Gegenstand
der Erörterung in der Fachpresse. Es stehen sich nämlich zwei An-
sichten gegenüber; die eine hält das Provisorium, die andere das De-
finitivum der Inspectoren für das bessere.
Als im Jahre 1889 der Herr Unterrichtsminister dem Herrnhause
einen Gesetzentwurf vorlegte, in den auch die fixe Anstellung der
Bezirksschulinspectoren mit einbezogen war, hat dieser Antrag der
obersten Schulverwaltung die Zustimmung der großen Mehrheit der
Lehrerschaft erfahren; denn die Gründe für die Stabilität der Bezirks-
schulinspectoren gegenüber ihrem Provisorium sind so in die Augen
springend, dass es nur wunder nehmen muss, wie die Lehrerschaft
nicht schon eindringlicher und in Form größerer Kundgebungen für
das Definitivum der Inspectoren eingetreten ist Wie die Sachen
liegen, bedeutet der Schritt vom Provisorium zum Definitivum dieser
Schulaufsichtsorgane durchaus keine einschneidende Umwälzung be-
stehender Verhältnisse; denn gewählt wurde bis jetzt noch kein
Inspector; es gibt keine Schulbehörde in Österreich, die das Recht
hätte, den Inspector zu wählen. Der Bezirksschulrath schlägt ihn
blos vor (aber nicht in jedem Falle); ernannt wird der genannte
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Functionär immer vom Minister, der an den Vorschlag des Bezirks-
schulrates selbstverständlich nicht gebunden ist. Also von einer
Wahl des Inspectors kann keine Rede sein; bleibt nur das Proviso-
rium desselben, das etwa vertheidigt werden könnte, übrig. Mit wel-
chen Gründen will man dies aber vertheidigen? Dass er nach drei
Jahren, sofern ihm das Amt nicht zusagt, wieder in seine frühere
Stellung zurückkehren kann, ist richtig, aber als Grund für das
Provisorium gewiss nicht ausschlaggebend; denn, Hand aufs Herz —
wie viel tausend Menschen gibt es, die neben den Freuden des Be-
rufes nicht auch seine Leiden tiefer empfänden, als sie es voraus-
gesehen? Und wer sagt uns, ob nicht in vielen Fällen gerade das
Provisorium daran schuld ist, wenn hie und da ein Inspector sein
Amt zurücklegt? Hat die Übernahme eines Amtes „auf Zeit" denn
gar so viel Verlockendes an sich? Übrigens beweisen ja die That-
sachen, dass es bei der Anstellung der Inspectoren irgend ein Häk-
chen geben muss! Dafür spricht der starke Wechsel dieser Beamten.
Es gibt Schulbezirke, die seit dem Inslebentreten des neuen Schul-
gesetzes fünf und noch mehr Inspectoren absorbirten. Dieser immer-
währende Wechsel ist aber weder ein Vortheil für die Schulen, noch
eine Annehmlichkeit für die Lehrerschaft. Nebst der fachmännischen
Befähigung, die der Inspector mit ins Amt bringen muss, ist es die
genaue Bekanntschaft mit den Schulen des Bezirkes und die nach-
haltige, gute Einwirkung auf schwächere Lehrkräfte, wovon sich
eine ersprießliche Wirksamkeit des Inspectors erwarten lässt Nun
liegt es doch klar auf der Hand, dass sich eine genaue Kenntnis der
Schulzustände und der Lehrerschaft eines Schulbezirkes, sowie eine
gewisse, von jedem Amte geforderte Routine nur erwarten lässt, wenn
man sich in seinen Wirkungskreis eingelebt hat, d. h. wenn man
immer dabei ist. Sobald aber ein Inspector dem anderen rasch im
Amte folgt, so muss selbstverständlich jeder die ganze Scala der Er-
fahrungen immer wieder von vom anfangen. Das schafft nun für die
Lehrer keine begehrenswerte Lage; denn jeder neue Inspector bringt
auch seine eigentümlichen Ansichten und Ansprüche mit ins Amt:
dieselben müssen nicht unrichtig, bezw. tiberspannt sein; es genügt,
dass sie in vielfacher Beziehung andere sind als jene seines Vor-
gängers. Die Lehrer müssen früher geltende Gesichtspunkte fallen
lassen und sich den neueren anbequemen — und dies kann unter
Umständen so oft geschehen, dass die Lehrerschaft dieser Unbeständig-
keit gegenüber förmlich in Gleichgiltigkeit verfallt, nicht im Berufs-
eifer, sondern in Berücksichtigung des obigen Umstandes.
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Dies tritt am auffälligsten zu Beginn der Amtswirksamkeit eines
neuen Inspectors zutage, indem er, von lobenswertem Eifer getrieben,
etwas Tüchtiges zu leisten, sich zu der regsten Thätigkeit angespornt
fühlt. Erst nach und nach, sowie er sich in sein Amt mehr einlebt,
einen Überblick von größerer Sicherheit und damit einen Regulator
seiner Anforderungen gewinnt, schlägt er ein ruhigeres Tempo ein,
die Hauptsache fest im Auge behaltend, ohne der Nebenumstände zu
vergessen. Das ist durchaus keine tadelnswerte, vielmehr eine gute
Seite der menschlichen Natur, beziehungsweise eines pflichttreuen, in
seinem Berufe aufgehenden Charakters.
Daher empfehlen wir definitiv angestellte Bezirksschulinspectoren;
Männer, die nicht nach Verlauf einiger Jahre vom Schauplatze ihrer
Wirksamkeit abtreten müssen. Allein auch der freiwillige Rücktritt
in den Kreis der Lehrerschaft, der man einmal vorgesetzt war, dürfte
eher unangenehme Gefühle als andere zu erwecken geeignet sein —
denn jedem recht thun, d. h. allen Wünschen entsprechen, ist un-
möglich!
Die Verfechter des Provisoriums befürchten von definitiven Be-
zirksschulinspectoren als Regierungsbeamten eine Änderung des
Verhältnisses zur Lehrerschaft; ja sie verlangen sogar, der Inspector
möge im praktischen Schuldienste verbleiben, um die Fühlung
mit der Schule nicht zu verlieren. Wir fragen dagegen: Ist der In-
spector gegenwärtig nicht schon ein provisorischer Regierungsbeamter?
Was ist er denn sonst?
Noch weniger können wir einsehen, warum sich sein Verhältnis
zur Lehrerschaft dann, wenn er als Regierungsbeamter eine definitive
Stellung erlangt, im schlimmen Sinne ändern sollte. Ein Mann, der
seiner Lehrerschaft anders als mit Gerechtigkeit und Wolwollen ent-
gegenzukommen imstande ist, wäre wol — ob definitiv oder provi-
sorisch — nicht auf seinem Piatee. Übrigens geht die Sage, dass es
auch schon provisorische Inspectoren gegeben haben soll, die des con-
cilianten Tones im Verkehre mit den Lehrern vergaßen und das har-
monische Zusammenwirken mit denselben unterließen.
Und im praktischen Schuldienst verbleiben! Ein idealer Stand-
punkt, aber nicht durchführbar! „Woher nähme der vielbeschäftigte,
vielschreibende Inspector die Zeit, eine Schülerabtheilung zu unter-
richten? Er findet kaum Zeit genug, sich seinem eigentlichen Amte,
der Inspection, in dem Maße zu widmen, um im Laufe eines Jahres
sämmtliche Schulen seines Bezirkes zu besuchen." Die Schulbezirke
L
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sind viel zu groß, als daß sie nicht die ganze Kraft eines Mannes
in Anspruch nehmen sollten. —
Haben wir im Voranstehenden unsern Standpunkt zur Inspectoren-
frage in der Hauptsache präcisirt, so wollen wir nun zwei gewichtigen
Stimmen das Wort ertheilen, die bei Gelegenheit des diesjährigen
deutsch-österreichischen Lehrertages in Linz ihre Ansichten einander
entgegenstellten; es sind dies: der Ausschuss des deutsch-österreichi-
schen Lehrerbundes, und der deutsche Landeslehrerverein in Böhmen.
Der erstere stellte folgende Leitsätze auf:
1. Durch definitive Anstellung und Einreihung in die Kategorie
der Staatsbeamten steigt das Ansehen des Inspectors bei der Bevölke-
rung und erhöht sich damit sein Einfluss.
2. Eine definitive Anstellung enthebt den Inspektor der Besorgnis,
sein Amt zu verlieren und gibt ihm daher eine gewisse Bewegungs-
freiheit;
aber auf das Inspectoramt allein angewiesen und der Rückzugs-
linie zum Lehramte verlustig, verfallt er in bedenklichem Grade der
Beamtendisciplin.
3. Die definitive Anstellung macht das Inspectoramt zum Lebens-
beruf und ermöglicht die Sammlung der ganzen Kraft für dasselbe;
aber das Bewusstsein, im Inspectoramte den Lebensberuf gefunden
zu haben, birgt die Gefahr einer Abkehr von der lebendigen Gemein-
schaft mit den Lehrern in sich und führt leicht zu einer Verkennung
und Missachtung der Interessengemeinschaft beider Theile.
4. Das Definitivum mehrt die zu einer ersprießlichen Amtsführung
nöthige Erfahrung, Personenkenntnis und Kenntnis specieller Ver-
hältnisse ;
aber der provisorische Inspector, der bei tüchtiger Amtsführung
in der Regel wieder ernannt wird, ist gleicherweise in der Lage, sich
die erwähnten Erfahrungen und Kenntnisse zu sammeln.
5. Das Definitivum schließt die Gefahr geistiger Erstarrung, des
Verfalles an das Schablonenthum, der Verbureaukratisirung in sich.
6. Eine definitive Anstellung stabilisirt ungeeignete Kräfte.
7. Der definitive Inspector, der nicht mehr als College in den
Kreis der Lehrer zurückkehren wird, steht in Gefahr, den concilianten
Ton im Verkehre mit den Lehrern zu verlieren und das harmonische
Zusammenwirken mit ihnen zum Schaden der Schule zu unterlassen.
8. Im Provisorium liegt, eine gerechte Beurtheilung des Wirkens
vorausgesetzt, ein Ansporn zur treues ten Amtsführung, da nur so eine
Wiederernennung zu erreichen ist.
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Der Ausschass des deutsch-böhmischen Lehrervereins, der schon
vor zwei Jahren eine Petition an das Unterrichtsministerinm für das
Definitivum der Inspectoren gelichtet hatte, vertrat seine Ansichten
in folgenden Leitsätzen:
1. Durch definitive Anstellung und Einreihung in die Kategorie
der Staatsbeamten steigt das Ansehen des Inspectors bei der Bevöl-
kerung, und es erhöht sich damit sein Einfluss.
Es ist der Würde und dem Ansehen der staatlichen Schulinspecto-
ren in hohem Grade abträglich, dass der provisorische Bezirks-
schulinspector aus den Kreisen der Volks- und Bürgerschullehrer nicht
vom Staate besoldet wird, sondern nach wie vor seine Bezüge als
Lehrer aus den Mitteln der Gemeinde, des Schulbezirkes und des
Landes erhalten muss, sowie auch der labile Znstand seiner Stellung
nicht geeignet ist, zur Erhöhung seines Ansehens beizutragen.
2. Eine definitive Anstellung enthebt den Inspector der Besorg-
nis, sein Amt zu verlieren, verleiht ihm daher eine gewisse Bewegungs-
freiheit, erhöht seine Berufsfreudigkeit, und das Bewusstsein von der
Sicherheit seiner Stellung wirkt fördernd auf seine Charakterfestig-
keit ein.
Der provisorische Inspector hat beständig mit der Enthebung
zu rechnen, die auch aus Gründen erfolgen kann, die mit seiner Amts-
führung nicht in Verbindung zu bringen sind, ja sogar schon dann in
drohende Erscheinung tritt, wenn die Mittel des Normalschulfonds für
die Dotirung der Personalunterlehrerstelle nicht mehr ausreichen.
3. Die definitive Anstellung macht das Inspectoramt zum Lebens-
beruf und ermöglicht die Sammlung der ganzen Kraft für dasselbe.
Das Provisorium verleiht dem Schulinspectorate den Charakter
eines Nebenberufes, denn nur der eigentliche Beruf als Lehrer bleibt
dem Bezirksschulinspector gesichert. Überdies wird der Lehrer an
Volks- und Bürgerschulen durch die Annahme eines provisorischen
Inspectorpostens in seinem berechtigten Streben nach Erreichung einer
leitenden Stellung gehemmt, und endlich wirft jede aus was immer
für einem Grunde erfolgte Enthebung einen düstern Schatten auf sein
ferneres Wirken, da die große Menge eine Einsicht in den eigent-
lichen Sachverhalt nicht haben kann.
4. Das Definitivum mehrt infolge der Stabilität der Stellung
die zu einer ersprießlichen Amtsführung nöthige Erfahrung, Personen-
kenntnis und Kenntnis besonderer localer Verhältnisse.
Das Provisorium schafft nicht nur exemte Schulen als Hinder-
nis für die gleichförmige pädagogische Führung innerhalb desselben
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Schulbezirkes, sondern die nur auf eine beschränkte Anzahl von Jahren
in Aussicht genommene Verwendung von provisorischen Bezirksschul-
inspectoren bringt die Schule und die Lehrer beständig in die Gefahr
des verderblichen Wechsels in den leitenden Grundsätzen hinsichtlich
der pädagogischen und administrativen Führung.
5. Das Definitivum bewahrt den Bezirksschulinspector infolge
seiner gesicherten Stellung vor einem allzu großen Nachgeben in
Sachen der bureaukratischen Verwaltung und des Schablonenthums.
6. Das Definitivum des Schulinspectorats sichert infolge der
freien Concurrenz die Auswahl der geeignetsten Bewerber.
Das Provisorium bietet nicht den Weg der freien Concurrenz,
sondern ist derzeit nur auf dem Wege der Berufung erreichbar, sodass
Missgriffe viel leichter ermöglicht sind.
7. Das Definitivum wird im Gefolge haben, dass das Streben
der Lehrerschaft nach der Einsetzung von Bezirksschulinspectoren
aus den Kreisen der Volks- und Bürgerschullehrer verwirklicht wird.
Solange das Provisorium besteht, ist an eine Erfüllung dieser
berechtigten Forderung nicht zu denken.
8. Durch das Definitivum werden viele Stellen an Volks- und
Bürgerschulen für vorwärts strebende Berufsgenossen frei, zudem stellt
das Definitivum auch die Erreichung einer weiteren Stufe auf der be-
ruflichen Laufbahn des Lehrers in Aussicht
Das Provisorium bietet dem betreffenden Inspector aus dem
Kreise der Volks- und Bürgerschullehrer bei der kargen Bemessung
des Reisekosten- und Diätenpauschales und bei dem Wegfall des
Naturalquartieres, beziehungsweise der Quartiergeldentschädigung nicht
nur keine Vermehrung des Einkommens, sondern hat eine solch un-
gleiche materielle Stellung der Inspectoren hinsichtlich der Gehalts-
bezüge im Gefolge, wie sie in keiner anderen Beamtenkategorie vor-
kommt.
9. Durch das Definitivum entfallen die Supplirungen des In-
spectors an der Schule, der er als Lehrperson angehört.
Durch die für die Dauer der Function als provisorischer
Bezirksschulinspector bedingte Beurlaubung einer tüchtigen Lehr-
person vom Lebramte werden sowol der Unterricht, als auch die
Disciplin an der betreffenden Schule geschadigt, da die Supplirung
insbesondere an Volks- und Bürgerschulen von jungen, unerfahrenen,
oft vorläufig nicht entsprechend lehrbefähigten Personalunterlehrern
besorgt wird.
Dies die gegnerischen Ansichten. Welcher von den beiden Theilen
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hat nun Recht? Da sie in einigen Punkten vollkommen übereinstimmen,
während sie in anderen gänzlich auseinandergehen wie Nacht und Tag:
so empfängt man den Eindruck, dass die lnspectorenfrage entweder
an und für sich noch nicht spruchreif ist, oder aber dass beide Theile
ihre Thesen auf Grund ganz entgegengesetzter Erfahrungen aufgestellt
haben.
Wir stehen ganz entschieden auf Seite des Deutschen Lehrer-
vereins in Böhmen. Wir haben dessen Standpunkt schon früher ein-
genommen und sind durch seine Thesen darin nur bestärkt worden.
Dieselben erscheinen uns in allen Theilen beweiskräftiger und über-
zeugender als jene des Bundesausschusses. Denn wenn die definitive
Anstellung das Ansehen des Inspectors hebt und ihm eine größere
Bewegungsfreiheit gibt; wenn sie ihm die Sammlung der ganzen
Kraft für sein Amt ermöglicht und seine Erfahrung, Personenkenntnis
und Kenntnis specieller Verhältnisse mehrt, was doch von beiden
Theilen zugegeben wird: so dürften schon diese Umstände schwer-
wiegend genug sein, um die Wagschale für das Definitivum zum Sinken
zu bringen. Aber auch die vom Bundesausschuss gänzlich bestrittenen
oder gar nicht erwähnten Thesen des deutschen Lehrervereins in
Böhmen enthalten ganz zutreffende Argumente; denn es ist unbestreit-
bar, dass der definitive Inspector mehr Aussicht hätte, durch Bei-
stellung eines Hilfsbeamten vom Bureaudienst entlastet zu werden;
dass bei freier Concurrenz die Auswahl der geeignetsten Bewerber
viel leichter wäre, und dass endlich der Stand der Volks- und Bürger-
schullehrer eher ein Inspectorat erreichen könnte als dermalen.
Alles in allem betrachtet, stehen die Vortheile auf Seite des De-
finitivums der Inspectoren und wird trotz des Beschlusses des dies-
jährigen Lehrertages, demzufolge sich derselbe nach einem von Jessen
erstatteten Referate für das Provisorium entschied, dennoch von einer
Mehrheit der Lehrerschaft angestrebt werden, bis das Ziel erreicht
seiu wird. Es hängt übrigens diese Frage ziemlich eng mit der Idee
der Staatsschule zusammen. Sollte daher die Ständigkeit der Bezirks-
schulinspectoren zum Gesetze erhoben werden, so würde dies einen
weiteren Schritt zur Verstaatlichung der Volksschule bedeuten.
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Hygiene und Erziehung.
Ihre Anwendung zur wirksamen Bekämpfung des Idiotismus.
Von Bector O. Hintz- Berlin.
weder von Geburt an besteht oder als Folge eines abgelaufenen Krankheits-
proce&ses angesehen werden muss. Er ist eine Geistesschwäche und nicht zu
verwechseln mit Geisteskrankheit, dem Irrsinn. Dieser ist unter Umständen
heilbar, während Geistesschwäche niemals vollständig beseitigt, sondern nur
durch ein heilpädagogisches Verfahren gemildert werden kann; denn nur die
vorhandenen geringen Geisteskräfte können bis zu einem gewissen Grade ent-
wickelt und ausgebildet werden. Diese Entwickelung wird weder normal sein,
noch kann sie ganz zur Normalität führen. Oft ist eine geistige Ausbildung
auch ganz unmöglich, wie ja auch manche Geisteskrankheit unheilbar ist
Die diesen Kategorieen angehörenden Unglücklichen stehen demnach auf
gleicher Stufe, wenn auch die Ursachen der abnormen Geisteszustände ver-
schiedener Art sind.
Während der Irrsinnige bisweilen dem Geistesschwachen gegenüber inso-
fern im Vortheil ist, als für ihn die Hoffnung einer vollständigen Genesung
besteht, ist man betreffs der Bekämpfung des Irrsinns in seiner Entstehung
ganz und gar machtlos. Wer kennt und erkennt im voraus alle Übelstände
im Leben des Einzelnen, welche die Zerrüttung des menschlichen Geistes ver-
anlassen, und wie sollte man sie alle beseitigen? Unsere Lebensgewohnheiten
sind derartige, dass sie sehr häufig den geistigen Buin herbeizuführen ver-
mögen, wenn der einzelne Mensch nicht selbst mit seiner ganzen sittlichen
Kraft dagegen ankämpft. Die Gesellschaft kann in solchem Falle nicht hel-
fend eintreten; sie wird nur den für sie unbrauchbar, vielleicht sogar gefahr-
lich gewordenen Unglücklichen aus ihrer Mitte entfernen und einer Anstalt
zu etwaiger Heilung übergeben. Damit glaubt sie ihre Aufgabe erfüllt zu
haben. Anders verhält es sich mit dem Idiotismus. Dieser lässt sich erfolg-
reich bekämpfen und wird auch vielfach mit Erfolg bekämpft. Naturgemäß
muss sich die Zahl der Idioten verringern, während — seltsame Einrichtung
menschlichen Geschickes! — die Zahl der Irrsinnigen sich stetig vermehrt
So bedauerlich die letztere Thatsache ist, so erfreulich ist die erstere. Jene
lässt sich leider — wenigstens unter den bestehenden Verhältnissen — nicht
aus der Welt schaffen; umsomehr sollten wir Sorge tragen, den Idiotismus
mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln anzugreifen und zu beseitigen.
Dass das möglich ist, hat die Erfahrung gelehrt und ist sogar statistisch fest-
er Idiotismus ist eine Abnormität des menschlichen Geistes, die ent-
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gestellt worden, and die Erfolge würden noch weit größer sein, wenn man der
Hygiene im socialen Leben einen größeren Einfluss als bisher auszuüben ge-
statten wollte.
Noch ist das, was für die Bekämpfung des Idiotismus geschehen ist,
äußerst gering, daher die Zahl der Idioten und Kretinen ungemein groß. Für
Deutschland lasst sich diese nur ungenau feststellen, weil bisher keine specielle
Statistik darüber geführt worden ist. Wol haben die allgemeinen Volks-
zählungen annäherungsweise eine Schätzung ermöglicht. Auch lässt sich nach
der amtlichen Statistik über „das gesammte Volksschulwesen im preußischen
Staate im Jahre 1866" ungefähr die Zahl der in preußischen Erziehungs-
anstalten untergebrachten Schwachsinnigen bestimmen; doch kann uns das nur
einen geringen Anhalt für die richtige Feststellung der Zahl geben. M. Jaeger,
Pfarrer und Districtsschulinspector in Kirchmohr (Rheinpfalz) ist der Ansicht,
dass in Deutschland nach ungefährer Schätzung etwa 40000 Idioten und
Schwachsinnige vorhanden seien*). Nach Dr. G.Mayr**) kommen auf 10000
Einwohner in Preußen ungefähr 14, in Bayern 15, in Württemberg 15, in
Sachsen 14, in Hessen 10, in Sachsen-Weimar 23, in Braunschweig 12, in
Sachsen-Meiningen 22, in Sachsen-Altenburg 25 u. s. w. Blöd- und Schwach-
sinnige. Im ganzen ergibt die Zusammenstellung 54519 Idioten, wobei jedoch
Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Schaumburg-Lippe und Hamburg
nicht in Betracht gezogen worden sind. Nehmen wir als Durchschnittszahl 15
an, so dürften in Deutschland auf Grund jener Erhebungen cirka 60000 Idi-
oten leben. Diese Sanitäts-Statistik mag keinen Anspruch auf genaue Richtig-
keit haben, muss aber wol der Wirklichkeit nahe kommen, weil die statistischen
Berichte aus anderen Staaten zu ähnlichen Ergebnissen geführt haben. Rech-
net man alle Geistesschwachen leichteren Grades hinzu, dann stellt sich noch
ein weit ungünstigeres Resultat heraus. Nach G. Kielhorn***) kommt auf je
1000 Einwohner ein schwachbefähigtes Kind, so dass Deutschland hiernach
ungefähr 45000 geistesschwache Kinder besitzen muss; die Zahl aller Geistes-
schwachen dürfte sich hiernach auf ungefähr 100000 beziffern. Nach
Dr. G. Mayr rechnet man für die Schweiz auf 10000 Einwohner 29 Idioten
und Irrsinnige. Sie hat nämlich nach der in seinem vorhin angeführten
Werke enthaltenen Zusammenstellung 7764 Idioten und Irrsinnige. Wenn
man die letzteren in Abzug bringt, so dürfte das Ergebnis den Mittheilungen
entsprechen, die der Präsident der ersten Schweizerischen Conferenz für das
Idiotenwesen, A. Ritter, Pfarrer in Neumünster, bei der Eröffnung der Ver-
sammlung am 3. Juni 1889 in Zürich machtef). Hiernach beläuft sich die
Zahl der Idioten in der Schweiz auf 5150; dabei sind die Schwachbefähigten
nicht mitgerechnet worden. Neuere Zählungen haben, wie er erwähnt, sogar
ergeben, dass auf 200 normal veranlagte Kinder ein blöd -oder schwachsinniges
*) Idiotismus und Schwachsinn. Ein Wort an Geistliche, Lehrer und Eltern
von M. Jaeger, 8. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer,
VII. (XI.) Jahrg. Nr. 1 u. 2, S. 11 ff.
**) Dr. G. Mayr. Die Verbreitung der Blindheit, der Taubstummheit, des Blöd-
sinns, des Irrsinns, herausgegeben vom Künigl. Bayr. statistischen Bureau, XXXV. Heft,
München 1877.
***) Pwdagogiuni, 8. Jahrg., 6. Heft,
f) Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer, V. (IX.)
Jahrgang. Nr. 2. In Commission bei Warnatz & Lehmann zu Dresden.
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oder 2— 4 sch wachbefäbigte Kinder kom men , so dass die Berechnungen Dr. Birchers,
welcher auf Grund der Recrutenprüfungen zu dem Resultat gelaugte, dass in
der Schweiz ungefähr 30000 Idioten im weiteren Sinne des Wortes leben, an
Wahrscheinlichkeit gewinnen. Betreffe der Begabung Londoner Schulkinder
haben, wie die Zeitschrift für Schulgesundheitspflege angibt, genaue Unter-
suchungen zu dem Ergebnis geführt, dass etwa 1% der Schulbevölkerung, d.h.
circa 6500 Kinder der öffentlichen Schulen Londons zu den geistig schwach
veranlagten Schülern gezählt werden müssen*).
Diese nackten Zahlen haben uns einen Blick in die Tiefen des mensch-
lichen Elends thun lassen und veranlassen uns zu der Frage, welche hygie-
nischen Maßregeln zur Bekämpfung der Idiotie getroffen werden könnten. Ob-
wol hier ausschließlich die Verhältnisse einer Großstadt ins Auge gefasst
werden sollen, lassen sich daraus doch leicht etwaige andere Maßnahmen für
jeden beliebigen Ort herleiten.
Betreffs der Wohnungsverhältnisse ist in den letzten zwanzig Jahren
viel Gutes geschaffen worden; trotzdem bleibt noch viel zu leisten übrig. Ob-
wol in jeder Großstadt alljährlich herrliche Prachtbauten erstehen, gibt es in
den sogenannten „Miethskasernen" doch noch viele Wohnungen, deren Be-
wohner an Raum, Licht und Luft großen Mangel leiden. Ein einziges Wohn-
zimmer, durch Kreidestriche auf dem Fußboden in verschiedene Abtheilungen
getheilt, beherbergt oft mehrere Familien mit großer Kinderschar. Die Mög-
lichkeit freier Bewegung in einem solchen Baume ist den armen Kindern voll-
ständig genommen. Auf dem Hofe dürfen sie auch selten verweilen. Das ver-
bieten in der Regel die Hausbesitzer, und neuerdings sind sogar Stimmen in
der Presse laut geworden, der Jugend auch auf den Trottoirs das Spielen und
Umhertummeln nicht zu gestatten, weil die Erwachsenen dadurch belästigt
werden.
Was helfen da wol Verfügungen einsichtsvoller Behörden, der Jugend
recht viel freie Körperbewegung zu verschaffen und zu gewähren, wenn
diesen Mahnungen in solcher Weise seitens Erwachsener entgegengetreten
wird! Mancher Vater, manche Mutter möchte zwar dem eigenen Kinde jede
freie Bewegung gönnen, aber sie allen anderen Kindern untersagen. Den hu-
manen, so natürlichen Gedanken, dass diesen doch dieselben Rechte gewährt
werden müssen wie dem eigenen Kinde, können solche Eltern in ihrem Egois-
mus gar nicht fassen. Viele verbieten sogar ihren eigenen Kindern das freie
Bewegen und Umhertummeln auf den Straßen und Spielplätzen, um sie vor
Versuchungen zum Bösen zu bewahren. Welches Resultat erzielt aber solche
Elternliebe? Mag dadurch auch ein Kind wirklich vor dem Kennenlernen
gewisser Untugenden bewahrt bleiben, was noch immer zweifelhaft sein dürfte,
da es ja doch nicht hermetisch von jedem Verkehr mit andern Kindern ab-
geschlossen werden kann, so lernt es andererseits auch viele gute Charakterzüge
nicht kennen, die im Kindesleben hervortreten. Seine Geistesbildung wird ein-
seitig werden, ganz abgesehen davon, dass eine solche Abgeschlossenheit auch
in moralischer Beziehung nachtheilig wirken muss. Auch werden das Gemüth
und die Gesundheit des Kindes darunter zu leiden haben, was wol erklärlich
*) Zeitschrift Mt die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer, VIII.
(XII.) Jahrg., Nr. 1.
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ist, da eine solche Erziehung den Naturgesetzen widerspricht. Einen Aus-
gleich zwischen geistiger und körperlicher Anstrengung zu schaffen, ist zu
keiner Zeit so wichtig als im Kindesalter. Wenn Haus, Schule, Gemeinde und
Staat nicht mit ganzer Energie für diesen Ausgleich Sorge tragen, kann nur
ein ungesundes Geschlecht heranwachsen, das den Keim der Idiotie auf die
nachfolgenden Geschlechter vererbt.
Sind die Kinder noch sehr jung, vielleicht noch im ersten oder zweiten
Lebensjahre, dann wird sich der Einfluss ungesunder Wohnräume sogar durch
allerlei Krankheitserscheinungen geltend machen, zu denen häufig auch Er-
krankungen des Gehirns oder gewisser Hirnpartien gehören. Sonne und gute
Luft braucht der werdende Mensch ebenso sehr wie die Pflanze, wenn er sich
entwickeln und gedeihen soll. Auch darf nicht vergessen werden, dass das
enge Zusammenwohnen der armen Bevölkerung moralische Folgen nach sich
zieht, die zur Vermehrung des Idiotismus führen können. Wenn viele Kinder
mit Eltern und Schlafburschen in einem engen Räume wohnen, kann die Sitt-
lichkeit nicht gedeihen; denn die Wolanständigkeit, welche den sinnlichen
Leidenschaften eines gebildeten Menschen Zügel anlegt, kennen solche Eltern
oft nicht und tragen dazu bei, dass ihre Kinder Sittlichkeitsverbrecher werden,
die das Wachsthum des Idiotismus fördern. So können Armut und Sitten-
losigkeit, ja jedes sociale Elend eine Quelle seiner Vermehrung und Ausbrei-
tung werden. Gesundheitsschädlich sind jedoch nicht allein die engen, finsteren
Hofwohnungen mancher Häuser, sondern auch viele Kellerwohnungen. In
Berlin z. B. ist die Sitte ziemlich allgemein verbreitet, die Keller zu mensch-
lichen Wohnräumen einzurichten, und sie werden sogar sehr gesucht, na-
mentlich von armen, den Kleinhandel treibenden Leuten. In neu erbauten
Häusern sind die Kellerwohnungen sogar in der Regel zuerst bezogen, und
häufig sind diese so feucht und dumpfig, dass sie sehr bald furchterregende
Krankheitsherde für Kinder und Erwachsene werden. Erfreulicher Weise ent-
hält die in Berlin seit dem 1. Januar 1888 in Kraft getretene neue Bauord-
nung einige wichtige sanitäre Vorschriften, die früher nicht immer zur An-
wendung kamen, z. B. betreffs der Anlage von Closetts, von Badeeinrichtungen,
Mädchengelassen n. dgl. m. Leider bringen solche Maßnahmen den ärmeren
Volksclassen nur wenig Gewinn; denn es ist natürlich, dass die Miethspreise
der so vorschriftsmäßig eingerichteten neuen Wohnungen und mit ihnen auch
vielfach die der alten sich erheblich steigern, dass daher der arme Mann sich
desto größere Beschränkungen in Betreff der Größe seiner Wohnung auferlegen
mu8s. Daher thut es dringend noth, mehr als bisher für gesunde Arbeiter»
Wohnungen zu sorgen. Es ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit, dass man
neuerdings diesen Bestrebungen größeres Interesse zu schenken beginnt.
üm die Ernährungsverhältnisse einer Großstadt hygienisch zu
bessern, miisste die Armenverwaltung vielleicht weniger Unterstützungen an
Geld als an Naturalien gewähren, da es nicht selten vorkommt, dass das von
ihr gespendete Geld in die Branntweinschänken getragen wird, während die
Familie des Unterstützten Noth leidet. Untersuchungen, die in London an
50000 Kindern angestellt worden sind, haben gelehrt, dass gerade die Armut
und der damit im Zusammenhang stehende Mangel an Licht, Luft und aus-
reichender Ernährung nicht nur ungenügende körperliche Entwickelung, sondern
Predagogium. 14. Jahrg. Heft XII. 54
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auch als eine Folge derselben Unfähigkeit zu angespannter geistiger Beschäf-
tigung veranlassen*).
Damit es der Jugend nicht an genügender Körperbewegung in
frischer, gesunder Luft mangelt, empfiehlt es sich sehr, die Zahl öffentlicher
Anlagen, namentlich der Spielplätze, angemessen zu vermehren. Der Erlass
Sr. Excellenz des früheren Cultusministers von Gossler vom 27. October 1882,
welcher auf die Nothwendigkeit einer größeren Körperpflege hinweist, hat
vielen Städten eine dankenswerte Anregung gegeben, nicht nur für Spielplätze,
sondern auch für eine methodische Leitung des Jugendspiels zu sorgen. Auch
in Berlin hat man seit Jahren die Einrichtung getroffen, im Sommer verschie-
dene öffentliche Plätze für gewisse Tagesstunden der Jugend zum Spielen
zu überlassen; doch die Anzahl derselben, wie auch die Zahl der angesetzten
Spielstunden kann im Vergleich zu der jugendlichen Bevölkerung Berlins noch
keineswegs als ausreichend bezeichnet werden.
Weit mehr als für geräumige Arbeiterwohnungen und geeignete Spiel-
plätze sorgt man verhältnismäßig neuerdings für die Einrichtung von Kinder-
gärten und Kinderhorten. Die Zweckmäßigkeit Fröbelscher Kindergärten
ist ja von pädagogischer Seite anerkannt worden; doch alle Theorie ist „grau".
Wie steht's denn heutzutage mit der praktischen Durchführung der Fröbel-
schen Ideen? Mir erscheint der kleine Artikel in Schorers Familienblatt**),
betitelt: „Sind Kindergärten ein Segen?" sehr beachtenswert. Es kommt
weniger auf die große Zahl der Kindergärten als vielmehr darauf an, dass
ihre Organisation und der in ihnen herrschende Geist der lieben Kinderwelt
zum Segen gereichen. Dass dies heutzutage immer geschieht, möchte ich be-
zweifeln. So kann ich beispielsweise aus eigener Erfahrung anführen, dass
die Schüler, welche mir aus Kindergärten zugeführt wurden, einen Ballast
von Wissenskram in ihren jungen Köpfen aufgespeichert hatten, der mir er-
staunlich groß schien. Sie konnten u. a. zahllose Bibelsprüche, zahllose Gedichte
hersagen, sogar nothdürftig lesen und schreiben. Das Lesen war in der Regel
ein unklares Gemisch von Lautiren und Buchstabiren. Das Denkvermögen
war nicht entwickelter als bei anderen Kindern gleichen Alters ohne besondere
Vorbereitung. Auf die Ausbildung des Zahlensinnes schien gar keine Rücksicht
genommen worden zu sein; kurz, die Kinder kamen viel ungleichmäßiger vor-
gebildet zur Schule als diejenigen, mit denen sich ausschließlich das elterliche
Haus beschäftigt hatte. Sie machten daher auch in der Regel geringere Fort-
schritte als die letzteren. Die Ursachen dieser Erscheinung sind unschwer zu
errathen. Die Kindergärten, denen jene Schüler entstammten, hatten keinen
Wert darauf gelegt, die Phantasie der Kleinen anzuregen, ihren jugendlichen
Geist zu beleben, ihren zarten Körper zu kräftigen, sondern nur darauf, ihr
mechanisches Gedächtnis Ubermäßig anzustrengen und zu überladen. Sollen
Kindergärten wirklich segensreich wirken, dann dürfen sie meiner Ansicht
nach dem Elternhause nur einen Theil der Erziehung abnehmen, und der
Mittelpunkt ihrer erzieherischen Tbätigkeit muss das Spiel der Kleinen sein.
Jeder Unterricht ist aus ihren Räumen zu verbannen. Welche Gefahren
ein eigentlicher Unterricht in Kindergärten in sich schließt, ersehen wir bei-
*) Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger etc., VIII. (XII.) Jahrgang,
Nr. 1, Februar 1892.
**) Schorers Familienblatt, Jahrgang 1887, Nr. 10.
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spielsweise aus einem Bericht über „Schweizerische Volksschulen und Kinder-
gärten," worin der Verfasser n. a. anführt: „Die Sprechübungen halte ich
für den weitaus schwierigsten Unterricht in Kindergärten, schon hinsichtlich
der Wahl des Stoffes. Es dürften gerade die schlagfertigen Antworten der
besonders regsamen Kinder sein, welche die Lehrerinnen bei der Wahl des
Gegenstandes in Gefahr bringen, das Gebiet des wirklich für die Kinder An-
schaubaren zu verlassen und dennoch im Unterricht so zu verfahren, freilich
unbewusst, als ob die Kinder wirkliche Anschauungen gewonnen hätten. Der
Schaden muss lange, vielleicht für die ganze Schulzeit nachwirken"*). Es
darf nicht die Aufgabe der Kindergärten sein, recht viele äußerlich sichtbare
Resultate zu erzielen, weil es nur auf Kraftbildung ankommt, auf Stärkung
der schwachen Körper und Weckung der schlummernden Geisteskräfte. Diese
Gymnastik des Körpers und Geistes soll erst in der Schule ihre segenbringenden
Wirkungen offenbaren. Dass viele Kindergärten ihre eigentliche Aufgabe
ganz verkennen, liegt u. a. an der unfertigen pädagogischen Bildung vieler
Kindergärtnerinnen, die in einem Alter von 16 — 17 Jahren, in welchem sie
selbst oft noch nicht die völlige Reife der Erziehung erlangt haben, schon
Meister in der Erziehung vorstellen wollen. Es erscheint mir wichtig, meinen
Standpnnkt in dieser Frage scharf zu kennzeichnen und die Aufmerksamkeit
auf die problematischen Leistungen zahlreicher Kindergärten zu richten, da
man für eine allgemeinere Einführung derselben Propaganda zu machen sucht.
In einem Aufsatz, betitelt: „Kindergärten und Fortbildungsschulwesen"**),
bricht Th. Landmann, Rector zu Schwetz a. W., eine Lanze für die Einführung
obligatorischer Kindergärten. Er ist der Ansicht, dass durch sie die Kinder
für den Besuch der Volksschule so vorbereitet werden könnten, dass die be-
stehenden Fortbildungsschulen ganz zu entbehren wären. Diese sollen seiner
Meinnng nach nur die Ergänzung und Erweiterung der mangelnden Schulbil-
dung bewirken, damit der normale Grad der Bildung erzielt werde; sie sind
hiernach nur für diejenigen bestimmt, welche das Ziel der Volksschule nicht
erreichen. Er glaubt nun, durch obligatorische Kindergärten könne die Jugend
im vorschulpflichtigen Alter so weit gefördert werden, dass „sie im allgemeinen
das der Volksschule gesteckte Ziel zn erreichen imstande sein dürfte." Es be-
darf aber wol keines Beweises, dass der Verfasser sich einer Täuschung hin-
gibt; denn man darf nicht vergessen, dass die Erfolge nicht nur von Unter-
richt und Erziehung, sondern auch von der individuellen Begabung des Kindes
abhängig sind. Den Anfang der rationellen geistigen Entwickelung in dieser
obligatorischen Form in die früheste Kindheit zu verlegen, halte ich psycho-
logisch nicht nur für ungerechtfertigt, sondern geradezu für schädlich. Solche
frühe Treibhau8cnltur des kindlichen Geistes kann eine große Gefahr für das
ganze Leben des Kindes heraufbeschwören; denn die praktische Erfahrung hat
vielfach gelehrt, dass eine sehr frühe und schnelle Entwickelung eine vorzei-
tige geistige Erschlaffung zur Folge gehabt hat, und schon manche sogenann-
ten Wunderkinder sind in wenigen Jahren fast Idioten geworden. Eher ließe
es sich rechtfertigen, für den Abschluss der elementaren Ausbildung eine
*) Schweizerische Volksschulen und Kindergärten. Bericht Uber eine Studien-
reise nach den Städten Bern, Zürich und Basel, im Auftrago der Diesterweg-Stif-
tung zu Berlin auageführt von Ernst Ewald. (Als Manuskript gedruckt. Berlin 1892.)
**) Pädagogium, XI. Jahrg, 12. Heft.
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höhere Altersgrenze, vielleicht das fünfzehnte oder sechzehnte Lebensjahr,
festzusetzen. Ob das aber ausführbar und überhaupt noth wendig ist, will ich
dahingestellt sein lassen. Thatsächlich beschäftigt man sich schon seit Jahren
recht eingehend mit Projecten, welche eine Erweiterung der Ziele der Volks-
schule im Auge haben. Man will n. a. der Volksschule eine zweicursige ge-
hobene Bürgerschule als Kopf aufsetzen, die den Lehrstoff befestigt und er-
weitert und dabei die Bedürfnisse des geschäftlichen und gewerblichen Lebens
besonders berücksichtigt. Dieser Gedanke, dem ich schon vor 12 Jahren in
einer pädagogischen Zeitschrift Ausdruck gegeben*), ist auch auf der XXVIII.
Allgemeinen deutschen Lehrerversammlung zu Augsburg im Jahre 1889 durch
einen von A. Weichsel aus Würzburg gehaltenen Vortrag**) angeregt worden***).
Unsere heutigen Kindergärten wollen mir gar nicht so nothwendig
scheinen, da sie ihre Wirksamkeit selten auf diejenigen Kinder ausdehnen,
deren Mütter des Broterwerbes wegen außerstande sind, der Kindererziehung
die nöthige Zeit und Sorgfalt zu widmen, sondern größten theils von Kindern
wol habender Eltern besucht werden, für deren Erziehung diese auch in anderer
Weise zu sorgen vermögen; dagegen könnten Volks- Kindergärten großen
Segen stiften, wenn sie in der von mir vorhin angedeuteten, dem Fröbelschen
Geiste entsprechenden Weise geleitet würden.
Für die obligatorische Einführung von Kindergärten aber kann ich
mich nicht begeistern, und ich halte sie schon deshalb für bedenklich, ja
geradezu für unmöglich, weil die körperliche Constitution der Kleinen vom
3. — 6. Lebensjahre sehr oft so beschaffen ist, dass es unbillig wäre, von ihnen
zu verlangen, vielleicht weit entfernt liegende Kindergärten aufzusuchen und
darin sich täglich 3—4 Stunden aufzuhalten. Die Verhältnisse auf dem
Lande sind heutzutage oft noch so ungünstig, dass selbst die schulpflichtigen
Kinder sehr weite Wege zurückzulegen haben. Nach der amtlichen Statistik
über „das gesammte Volksschulwesen im preußischen Staate im Jahre 1886"
haben noch 131000 Kinder einen über 3 Kilometer langen Schulweg; für
einige beträgt er sogar über 7 Kilometer. Wie könnte man da wol den
armen Kleinen im vorschulpflichtigen Alter solche Tagesmärsche zumuthen.
Außerdem dürfte dieses Project schon an der Kostenfrage scheitern. In einer
Zeit, wo noch in Preußen mehr als eine Million Kinder sich mit halbem An-
recht auf einen Unterrichtsranni begnügen muss, kann wol von einer Ein-
führung obligatorischer Kindergärten keine Bede sein. Man wird sich daher
mit facnltativen Volkskindergärten begnügen müssen, ond es wäre wünschens-
wert, dass in ihnen vorzugsweise die ärmsten Kinder Aufnahme fänden,
deren Eltern genöthigt sind, tagüber ihrem Broterwerb nachzugehen, und die
deshalb zu Hause unbeaufsichtigt und unbeschäftigt verweilen, weil gerade sie
das größte Contingent der schwachbefähigten Schüler stellen.
Auch die neuerdings ins Leben gerufenen Kinderhorte leisten noch
*) „Die Mittelschulen"; siehe Lehrerzeitung für die Provinz Ostpreußen, Organ
des Pestalozzivereins, 1880, 11. Jahrgang, Nr. 9, 10, 11.
**) „Der Ausbau der deutschen Volksschule"; Biehe Ptedagogium, XI. Jahrgang
unter dem Titel: „Die XXVIII. Allgemeine Deutsche Lehrerversammlung von
Wilhelm Meyer-Duisburg.
*♦*) In der Schweiz ist dieser Gedanke zur That geworden; ich verweise auf die
dortigen Secundnrschulen.
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lange nicht das, was sie eigentlich erstreben. In ihnen werden Kinder während
ihrer schulfreien Zeit täglich mehrere Stunden beaufsichtigt und mit Anfer-
tigung von Handarbeiten oder häuslichen Schulaufgaben beschäftigt. Gewisse
Stunden werden durch Wanderungen ins Freie ausgefüllt oder dienen dem
Gesang und Jagendspiel. Die Kinder gehören größtenteils Witwen oder
Eheverlassenen an oder solchen armen Eltern, die den Tag über außer dem
Hause thätig sind, und sollen in der schulfreien Zeit von sachverständigen
Pflegern überwacht, gepflegt und vor schädlichen Einflüssen geschützt werden,
damit sie nicht der Verwilderung und Verwahrlosung und somit dem jugend-
lichen Verbrecherthum anheimfallen. In Berlin sind die Kinderhorte von dem
Stadt-Sehulinspector Dr. Zwick ins Leben gerufen worden, der sich auch um
ihren bisherigen Aasbau sehr verdient gemacht hat. Da sie fast ausschließlich
dem Wohlthätigkeits8inn der städtischen Bevölkerung ihr Bestehen zu verdanken
haben, sind sie leider noch nicht so gut fundirt, dass jedem Kinderhorte ein
großer Saal und ein Garten zur Verfügung steht, wie es eigentlich der Fall
sein müs8te, wenn sie ihrem Zweck vollkommen entsprechen sollten.
Der so nothwendige Aufenthalt der Kinder im Freien kann nur ein be-
schränkter sein, und auch die heutzutage so sehr empfohlenen Jugendspiele
können in den Kinderhorten noch nicht ganz zu ihrem Rechte kommen. Dass
man den Handfertigkeitsunterricht in diesen Anstalten eingeführt hat, ist sehr
erfreulich; doch so sehr ich auch den Segen der Arbeit schätze und ihren Ein-
fluss auf die Willensbildung der Kinder, und so sehr ich überzeugt bin, dass
in der manuellen Beschäftigung starke Wurzeln ihrer einstigen sittlichen
Kraft liegen, halte ich doch eine weise Beschränkung, ein rechtes Maßhalten
für angebracht
Während ich sonach den Kindergärten und Kinderhorten vom pädago-
gischen und hygienischen Standpunkte nur bedingungsweise ihre Existenz und
ihren weiteren Ausbau im Dienste der Jugendbildung gestatten möchte, halte
ich die Krippen und Kinderbewahranstalten für ganz unschätzbare In-
stitutionen zur Bekämpfung des Idiotismus. Für den Säugling, für das Kind
in den ersten Lebensjahren kann die arme Mutter oft wenig thun, da sie gleich
dem Vater dem Broterwerb nachgehen rauss, obwol das Kind gerade in der
ersten Zeit vorzugsweise der Pflege und Wartung bedarf, wenn es gesund
bleiben und gedeihen soll. Weit mehr als in anderen größeren Städten sind
die Frauen der Arbeiterbevölkerung Berlins darauf angewiesen, den Mann in
der Sorge für die Existenz der Familie thatkräftig zu unterstützen. Bisweilen
reicht der Verdienst des Mannes nicht hin, seine zahlreiche Familie zu er-
nähren; bisweilen — und das ist leider keine seltene Erscheinung — ver-
braucht er den Verdienst ausschließlich für seine eigene Person und überlässt
es der armen Frau, sich die Mittel für den Unterhalt allein zu erwerben. Oft
wird diese noch durch Scheltworte und Schläge gezwungen, einen Theil ihrer
sauer verdienten Pfennige, für die sie den Kindern Brot kaufen wollte, dem
Manne zu geben, damit er dem Laster des Trunkes fröhnen könne, oder er
verlässt die Familie in der Erwartung, dass die Armen Verwaltung für seine
Kinder sorgen werde. Soll man sich da wundern, wenn die Sunden der Väter
sich an den Kindern rächen? Wo das Haus in so unverantwortlicher Weise
seine Pflicht vernachlässigt, da müssen Gemeinde und Staat mit aller Energie
helfend einschreiten, damit das Übel nicht ein schlimmeres zeitigt. Man hat
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neuerdings große Kinderhospitäler errichtet — nnd jeder gote MenBch und
Kinderfreund wird sich darüber freuen — ; man sorgt für Gefängnisse, die
in hygienischer Hinsicht oft geradezu musterhaft ausgestattet sind ; doch noch
weit wichtiger erscheint mir die Sorge für Institutionen, welche zur Ver-
minderung von Kinderkrankheiten und zur Ausrottung des Vagabunden- und
Verbrecherthums wesentlich beitragen. Dazu gehören wolorganisirte Krippen
und Kinderbewahranstalten. Die Mittel für solche Institute werden sicherlich
productiv angelegt; denn was mau für dieselben verausgabt, wird reichlich er-
setzt und aufgewogen durch Verringerung der Ausgaben für Krankenhäuser
und Gefängnisse. Jene Institute sind mir auch darum viel wichtiger als
Kindergärten und Kinderhorte, weil sie unmittelbar, die letzteren jedoch im
günstigsten Falle nur mittelbar zur Bekämpfung des Idiotismus beizutragen ver-
mögen. Leider haben sie ihr Bestehen bisher fast ausschließlich der Privat-
wolthätigkeit zu verdanken; auch tragen sie fast durchgehend« ein kirchliches
Gepräge. Sie werden erst als Gemeinde- oder Staatsanstalten, im Sinne der
modernen Erziehungswissenschaft geleitet, ihre segensreiche Wirksamkeit ernst-
lich bethätigen können.
Da die Pflege eines Kindes reicher Eltern häufig einer Amme obliegt und
bisweilen noch von einem Arzte controlirt wird, so hängt oft von der Wahl
dieser Personen die ganze Zukunft des jungen Weltbürgers ab. Wie selbst
durch falsche ärztliche Behandlung aus einem normal geborenen Kinde ein
idiotisches werden kann, dafür liefert folgendes Beispiel einen Beleg. Das
Kind einer mir bekannten Familie war circa sechs Wochen alt. Der Amme
desselben waren zu ihrer Pflege täglich verschiedene Weinsorten zur Verfügung
gestellt worden. Eines Tages hatte sie nicht nur sich, sondern auch ihren
kleinen Schützling durch Wein in einen aufgeregten Zustand versetzt Das
Kind schien fieberkrank zu sein. Man holte den Arzt. Auf seine Anordnung
erhielt das Kind Eisumschläge, die in kurzen Zwischenräumen wiederholt
werden mussten, und die der Amme weit dienlicher gewesen wären. Dadurch
wurde binnen kurzer Zeit nicht nur eine Lähmung der Arme und Beine,
sondern auch des Gehirns hervorgerufen, und das arme Kind ist ein blödsin-
niger Kretin geworden.
Wie Behörden durch sanitäre Einrichtungen, so können Arzte, Lehrer
und sonstige Menschenfreunde durch Belehrungen, gute Rathschläge, durch
Vortrage in Vereinen, durch Petitionen betreffs Beseitigung gesundheitsschäd-
licher Übelstände viel Gutes schaffen und zur Bekämpfung des Idiotismus
wesentlich beitragen. Namentlich bietet sich dem Arzt ein großes Feld erfolg-
reicher, dankenswerter Thätigkeit. Bedauerlicher Weise richtet sich diese
heutzutage noch vielfach nur darauf, entstandene Übel zu heilen, statt die Ur-
sachen der Krankheiten zu bekämpfen. Jeder Arzt müsste zugleich Pädagoge
und Volksredner sein und durch Lehre und Ermahnung auf eine geregelte
Lebensweise, die dem hygienischen Standpunkt entspricht, hinzuwirken bestrebt
sein. Während man jetzt in der Kegel den Arzt nur aufsucht, wenn die
größte Gefahr im Verzuge ist und häufig auch dann noch erst zur Medicin-
pfuscherei seine Zuflucht nimmt, würde man, auf die unscheinbarsten Krankheits-
symptome aufmerksam gemacht, sich so frühzeitig wie möglich an den ärztlichen
Bathgeber wenden. (Wird fortgesetzt)
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Pädagogische Rundschau.
Österreich. Am 18. und 19. Juli wurde in Linz die vierte Voll-
versammlung des Deutsch-österreichischen Lehrerbandes abgehalten. Wer der-
selben als objectiver Beobachter beiwohnte, um sie als einen Spiegel des Zeit-
geistes und der beutigen Schulzustände aufzufassen . der konnte aus manchen
Anzeichen einerseits erkennen, dass gegenwärtig keineswegs eine allgemeine
Frische, Freudigkeit, Zuversichtlichkeit und Harmonie in der deutsch -öster-
reichischen Lehrerschaft herrscht, dass aber anderseits der Kern derselben
sich gesund und thatkräftig erhalten hat, daher mit unentwegter Treue und
Entschiedenheit die Fahne des Reichsvolksschulgesetzes festhält.
Die Tagesordnung war, wie bei solchen Versammlungen gewöhnlich, eine
überreiche, nämlich 1. eine Gedenkrede auf den ersten allgemeinen öster-
reichischen Lehrertag im Jahre 1867; 2. das Thema: „Was wir wollen";
3. Verhandlung über die Frage: „Ist die definitive Anstellung der Bezirks-
schulinspectoren ihrer provisorischen Berufung vorzuziehen?" — Hierzu kam
noch die Besprechung des Planes, durch Errichtung einer Hasner-Stiftung den
Schöpfer des österr. Schulgesetzes in bleibender Erinnerung zu erhalten, wor-
über sogleich bemerkt sei, dass die Versammlung dem bezüglichen Antrag
des Referenten, Oberlehrers Holczabek-Wien, mit Begeisterung zustimmte.
Die Berichterstattung über die Punkte 2 und 3 der Tagesordnung war
den Herren Karl Hiller-Traiskirchen und Christian Jessen-Wien übertragen.
Beide erledigten sich ihrer Aufgabe in klaren, sachgemäßen und alle ein-
schlagenden Verhältnisse berücksichtigenden Auseinandersetzungen, welche
freilich nicht auf Originalität und zündende Kraft Anspruch machen konnten,
sondern einen mehr geschäftsmäßigen, ruhig abwägenden Charakter annehmen
mussten, da die Themata bereits lange vorher vom Bundesausschuss , von
Delegirtenversammlungen, Bezirksconferenzen u. s. w. , ebenso von den päda-
gogischen Blättern vielfach und eingehend erörtert worden waren; auch sind
diese Themata, namentlich das unter Nr. 2, so viel umfassend, dass sie in
einer Sitzung nicht wol genügend durchgeführt werden können, wie denn
auch eine eigentliche Debatte über dieselben nicht stattfand. Es möge daher
hier nur erwähnt werden: 1. dass die von Herrn Hilber formulirten, sehr zahl-
reichen Resolutionen hauptsächlich das unverbrüchliche Festhalten an den
Grundsätzen des österr. Schulgesetzes vom 14. Mai 1869, demgemäß die
stetige Verbesserung der Volksschuleinrichtungen, sowie die Hebung der Bil-
dung, der amtlichen, rechtlichen und socialen Stellung des Lehrerstandes be-
tonten und die Wiederherstellung der ursprünglichen Intentionen der Schul-
reform in Aussicht nahmen, welchen Forderungen die Versammlung zu-
stimmte; 2. dass bezüglich der Schulinspectoren die Versammlung im Sinne
Jessens sich mit großer Majorität für die provisorische Berufung aussprach,
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— 788 —
indem nur 26 Stimmen für die Ständigkeit abgegeben wurden (womit aber der
Streit kaum beigelegt sein dürfte, vgl. den obigen Aufsatz von Taschek).
Den größten Erfolg auf dem diesjährigen Lehrertag erzielte Herr Eduard
Jordan- Wien mit seiner Gedenkrede auf den ersten allgem. österr. Lehrertag,
welcher vor 25 Jahren (1867) zu Wien in der kaiserlichen Burg abgehalten
wurde. Der dankbare Stoff wurde vom Redner in so plastischer, schwung-
voller und herzergreifender Weise behandelt, dass die Versammlung von all-
gemeiner Begeisterung bewegt, wiederholt und besonders am Schlüsse in
stürmischen und lang anhaltenden Beifall ausbrach. Jedenfalls wird die Rede
auch in dem bald zu erwartenden stenographischen Versammlungsbericht
recht viele zustimmende Leser finden. Wir bemerken hier nur, dass Jordan
vor allem ein lebendiges Bild der Zeit vor 25 Jahren und der damaligen
Lehrerversammlung entwarf, dann besonders hervorhob einerseits, was seitdem
erreicht, anderseits, was nicht erreicht, bezuglich wieder verloren worden ist.
Und leider ist auch des letzteren nicht wenig. Das Gesetz vom 14. Mai
1869 ist nicht mehr in voller Kraft. Die gegenwärtige Situation lässt sich
kurz so bezeichnen: Die Neuschule, geschaffen durch die Gesetze von 1868
und 1869, und die alte Schule, d. i. die clericale, wie sie auf dem Concordat
von 1855 beruhte, bestehen derzeit neben einander, jene von Rechts wegen,
diese thatsächlich , auf Grand besonderer Errungenschaften, Abmachungen,
corporativer Agitationen und administrativer Maßregeln. Über dem Ganzen
schwebt das Motto: „Lasset beide miteinander wachsen/ welches frei-
lich recht unparteiisch klingt, in diesem Falle aber sehr bedenklich und an-
fechtbar ist. Wir hahen kein Definitivum mehr, sondern einen Zwischen-
zustand, der ohne Zweifel in einigen Jahren wieder zu einem Entscheidungs-
kampfe führen wird. Vorläufig wächst die alte (clericale) Schule, während
die neue (liberale) abnimmt; es ist ein Waffenstillstand, der zur Rüstung be-
nutzt wird: aber dieses Geschäft, die Rüstung, wird nur auf einer Seite, näm-
lich bei den Clericalen, mit Eifer, klarem Blick und großem Erfolg betrieben,
indem sie fortwährend neue Heerhaufen sammeln, neue Bollwerke anlegen und
neue Waffen schmieden. Dem gegenüber versinken die Liberalen mehr und
mehr in Opportunismus und Schlummer, indem sie sich stellen, als gebe es
keine Gefahr. Nun, sobald die Gegenpartei sich stark genug fühlen wird,
wird sie einen großen Feldzag eröffnen und auch die förmliche Aufhebung
der ihr verhassten Gesetze fordern, und das dürften wir spätestens in 5 Jahren
erleben. M.
Aus Bayern. In Erlangen erfolgte am 17. Juli im Vorgarten des
Knabenhort „Sonnenblume" die feierliche Enthüllung der Erzbüste Schmid-
Schwarzenbergs, des Begründers der Knabenhorte. Außer dem Gesammtvor-
stande des Vereins für Volkserziehung nnd den Knaben der Sonnenblume
waren viele angesehene Herren und Corporationen der Stadt sowie Männer
und Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung erschienen. Herr Commerzien-
rath Drossbach hielt die Festrede. Nach herzlicher Begrüßung der Festver-
sammlung entrollte er ein Bild des Lebens und Wirkens Schmid-Schwarzen-
bergs, dem wir Nachstehendes entnehmen. Dr. F. Schmid-Schwarzenberg
wurde am 22. October 1819 zu Schwarzenberg am Dreisesselberg geboren.
Seine Kindheit war reich an Entbehrungen und Anstrengungen. Im Benedic-
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tinerkloster Kremsmünster herangebildet, beendete er seine Gymnasialstudien
zu Salzburg. Hierauf widmete er sich dem Studium der Theologie und später
dem der Philosophie. 1856 habilitirte er eich an der Erlanger Universität für
Philosophie. 1862 wurde er zum Professor ernannt, in welcher Stellung er
bis zu seinem Lebensende verblieb. Von seinen Volksschriften sind zu er-
wähnen „ Quellwasser für das deutsche Volk", „Bestaubte Blätter", „Himmels-
ring", „Freie deutsche Herzen" u. s. w.
Von den sechziger Jahren an wendete er sich vornehmlich der Pädagogik
zu. Die Armut und die Noth der niederen Volksclassen kannte er aus
eigener Erfahrung. Insbesondere gelangte er zu der Überzeugung, dass vor
allem eine bessere Erziehung der Kinder der Arbeiter ein Mittel sei, die sociale
Noth zu heben. Durch Vorlesungen über Pädagogik und durch pädagogische
Schriften — „Briefe über vernünftige Erziehung", „Über Volkserziehang",
„Klytia" — suchte er verwandte Geister für sich zu gewinnen. Im Verein
mit solchen gründete er am 31. März 1871 den Verein für Volkserziehung
und die „Sonnenblume". In kurzer Zeit traten ähnliche Vereine nnd Anstalten
in Bäumenheim, Augsburg, München, Bamberg, Fürth, Nürnberg, Wtirzburg,
Kempten, Lauf u. s. w. ins Leben. Aufgabe dieser Knabenhorte ist es, den
schulpflichtigen Kindern derjenigen armen Eltern oder Pflegeeltern, welche
durch täglichen Broterwerb gezwungen sind, den ganzen Tag über in oder
außer dem Hause zu arbeiten, und deshalb ihre Kinder nicht selbst beaufsich-
tigen und erziehen können, während der schulfreien Stunden' eine Heimstätte
zu bieten, in welcher dieselben im Anschluss an Familie und Schule erzogen
werden. Leider sollte Schmid-Schwarzenberg die Früchte seiner pädagogischen
Thätigkeit nicht lange schauen. Im November 1883 erkrankte er und starb
am 28. d. M.
Auf dem Syenitsockel des ihm nun gesetzten Denkmals befindet sich die
Inschrift: „Schmid-Schwarzenberg, Begründer des 1. deutschen Knabenhortes,
1819. 1883."
Elsass-Lothringen. Es ist ja wol für Altdeutschland von einem ge-
wissen Interesse, gelegentlich auch etwas aus dem Schul- und Lehrerleben
Elsass-Lothringens zu hören. Im großen ganzen freilich herrscht hier zu
Lande viel Ruhe, sowol im höheren als im niederen Unterrichtsbereiche. Im
Elementarlehrerstand, der nicht besonders hervortritt und fast nur in amtlichen
Conferenzen zusammenkommt, hat in den letzten Jahren die Zahl der jungen
Lehrer, die sich dem Mittelschul- uud dem Rectoratsexamen unterziehen, in
erfreulicherweise zugenommen. Diese Examina sind nach preußischem Muster
eingerichtet und ursprünglich dazu bestimmt, Seminarlehrer und Kreisschul-
inspectoren heranzubilden. Es erwächst aber den so vorgebildeten Leuten
neuerdings eine bedeutende Concurrenz durch katholische Priester und junge
Philologen, abgesehen davon, dass die evangelischen Lehrer überhaupt kaum
Aussicht haben anzukommen. Denn seit des seligen Herrn v. Manteuffels Zeit
sind die Seminare confessionell getrennt, und von den 9 vorhandenen sind nur
zwei evangelisch, wovon eines, das Lehrerinnenseminar, nur eine männliche
Lehrkraft besitzt. Unter den 24 Kreisschulinspectionen aber sind nur etwa
ein halbes Dutzend mit Protestanten besetzt. So bleiben nur die in einzelnen
Städten bestehenden Mittelschulen, eine Art gehobener Elementarschulen mit
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französischem Unterricht. — Das Elementarschulwesen wird noch von den
drei Bezirken selbstständig verwaltet, da die alten franzosischen Departements
Haut-Rhin als Oberelsass, Bas-Rhin als Unterelsass und Lorraine als Lothringen
auch in diesem Verwaltungszweig beibehalten worden sind und jedem Be-
zirkspräsidenten ein oder zwei Schulräthe, welche sämtlich katholisch sind,
zur Seite stehen. So nimmt es sich gelegentlich seltsam aus, wenn man liest,
dass ein Lehrer aus dem Schuldienst des Unterelsasses entlassen worden sei,
um in den des Oberelsasses oder in den höheren Schuldienst, der dem Ober-
schulrath für Elsass- Lothringen untersteht, einzutreten. Es werden daher
jährlich auch drei verschiedene Lehrertage abgehalten, und es bestehen drei
Unterstützungseassen für die 3000 Lehrer der Elementarschulen des Reichs-
landes. Ein gemeinsames Band bildet das vor einigen Jahren gegründete
el8as8-lothringische Lehrerwaisenstift, dessen Vermögen bereits die stattliche
Summe von 85000 Mark aufweist, und an dessen Spitze ein Oberschulrath
als Präsident steht, während sämmtliche Kreisschulinspectoren des Landes
ihm als Ehrenmitglieder angehören. — Der Schulzwang ist, wie bekannt, erst
durch die deutsche Verwaltung, im Jahre 1872, eingeführt worden und hat
bis jetzt den erfreulichen Erfolg gehabt, dass bei der letzten Recmtenaus-
hebung nur 0,37 Procent ohne Schulbildung waren und nur 57a Procent
französische Schulbildung besaßen. — Sehr ungünstig steht verhältnismäßig
bezüglich des Elementarunterrichts die Hauptstadt des Landes, da sich die
Schulbevölkerung so vermehrt, dass seit der Übernahme durch die deutsche
Verwaltung die Zahl der Classen sich mehr als verdoppelt hat, und in einer
Classe immer noch mindestens sechzig Schüler sitzen. Da sich die Stadt auch
sonst bedentend entwickelt und für Bauten aller Art, Straßen, Brücken, Häfen
viel Geld nöthig ist, so sind die Volksschulhäuser zum Theil in einem nichts
weniger als zeitgemäßen Zustand. In letzter Zeit wird besonders dem Zeichnen
viel Aufmerksamkeit zugewandt und auch der Handfertigkeitsunterricht, über
dessen Nutzen und Berechtigung allerdings auch hier die Ansichten noch ge-
theilt sind, ist in einigen Orten facultativ eingeführt worden. Die katholischen
Schüler sind seit einigen Jahren nicht mehr, wie anfänglich, nach den Schul-
bezirken der Stadt den Schulen zngetheilt, sondern es sind sog. Pf an schulen
errichtet worden, in welche die Schüler nach der jeweiligen Zugehörigkeit zu
einer Pfarrei eingereiht sind. Diese Einrichtung ist auf Wunsch der katho-
lischen Geistlichkeit getroffen worden; wie sie sich vom Unterrichtsstand puukt
bewährt, wird die Zukunft noch lehren müssen.— So ist denn der Zukunft der
Staut Straßburg hinsichtlich des gesammten Volksschulwesens noch eine schöne
Aufgabe vorbehalten. Hoffen wir, dass sie zum Segen des Landes, des Deutsch-
thums und des gegenwärtigen wie des zukünftigen Geschlechtes gelöst werde. —
Das nächste Mal etwas über das höhere und höchste Unterrichtswesens.
R. W.
Comenius-Geaellschaft. Der aus Anlass der Jahrhundertfeier be-
gründeten Comenius - Gesellschaft hat der E. Preuß. Cultusminister, Herr
Dr. Bosse, einen Beitrag von 500 M. überwiesen und die Städte Prag.
Amsterdam und Danzig haben ihr je 500, 165 und 100 M. bewilligt; es ist
Aussiebt vorhanden, dass die übrigen Länder und Städte, deren Geschichte
mit der bahnbrechenden Thätigkeit des Comenius verknüpft ist, vor allem
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Österreich-Ungarn, Großbritannien, die Niederlande, Schweden n. s. w. dem
gegebenen Beispiel folgen werden. Die soeben zur Ausgabe gelangte Lieferung
der „Monatshefte der Comenius-GesellschafV (R. Voigtlanders Verlag, Leipzig-
Gohlis) enthält einen Aufcatz von K. Mämpel-Eisenach über die intereonfessio-
nellen Friedensideale des Comenius, worin die philosophisch-religiöse Seite seines
Wirkens in Rücksicht anf vergangene und gegenwärtige Zeiten anter neuen
Gesichtspunkten betrachtet wird. Die Gesellschaft, die sich die Aufgabe ge-
stellt hat, dem Geist des Comenius unter nns von neuem lebendige Verbreitung
zu verschaffen, hat rasch viele Freunde gefunden und zählt schon jetzt in
Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Italien, den Nieder-
landen, Norwegen, Österreich-Ungarn, Rumänien, Russland, Schweden, der
Schweiz, Serbien und den Vereinigten Staaten hohe Beamte, bekannte Gelehrte
und freigebige Gönner — im ganzen 845 Personen — zu Mitgliedern. An-
meldungen nehmen für Deutschland das Bankhaus Molenaar u. Co., Berlin C,
Burgstraße, für Österreich-Ungarn A. Pichlers Witwe und Sohn, Wien V, Marga-
rethenpl. 2, für Frankreich die Buchhandlung Fischbacher, Paris, Rue de
Seine 33, für Schweden C. E. Fritze's Hofbuchhandlung, Stockholm, entgegen.
Ans der Fachpresse.
569. Das Gesicht des Lehrers (Schles. Schulz/) 1892, 17). Eine
anmuthige humoristisch-satirische Leistung. Nachdem Verf. die bekannten
Phrasen, welche fordern, das Auge, der Blick u. s. w. des Lehrers solle den
Einzelnen wie die Classe bezähmen und bezaubern, gebärend gewürdigt, fährt
er fort: „Wer weiß, wie kurze Zeit ein Blick eine Classe ungezogener und
unerzogener Kinder bannt, wie ungefährlich denselben das Gewitter erscheint,
das nur um die umwölkte Stirne droht, wie leicht sie sich an die zornig in die
Höhe gezogenen Brauen, den streng zusammengekniffenen Mund gewöhnen —
ja dass sie in kindlicher Freude über all diese symbolischen Strafen zu fragen
gesonnen wären: Herr Lehrer, können Sie auch mit den Ohren wackeln? —
der wird jene salbungsvollen Worte für recht schön (?), aber für herzlich un-
praktisch halten. Und wenn die Augen des Lehrers ein ganzes Arsenal von
Dolchblitzen wären und der Mund ein Himmel voll Hagelwettern: das Gesicht
des Lehrers reicht zur Aufrechterhaltung einer strammen Schulzucht nicht aus."
570. Arbeitsziele (J. Meyer, Neue Bahnen 1892, I: „Zur Einfüh-
rung"): „Erweiterung unserer Individualerziehung zur Socialerziehnng —
Ausscheidung aller althergebrachten Stoffe, die für das Leben der Gegenwart
wertlos sind — sorgsame Pflege der religiösen und der patriotischen Erziehnng
— selbstständige Stellung der Schule gegenüber Staat und Kirche — eine
Organisation der Schule, welche die Charakterbildung der Jugend ermöglicht
— eine der culturellen Bedeutung der Schule entsprechende Stellung, Be-
soldung und Bildung der Lehrer. „Nichts soll uns fremd bleiben, was auf die
Entwickelung der Schulerziehung Einfluss haben kann (Haus- und Gesellschafts-
erziehung)."
*) Preis der einzelnen Nummer 15 Pfg.
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571. Zur Frage der allgemeinen Volksschule (Deutsche Schul-
praxis 1892, 18). Verf. erinnert an einen Aufsatz vom Jahre 1806 in der
„Zeitschrift für Pädagogik" (Herausgeber: Guts Muths), wo sich ein Super-
intendent und Consistorialrath Ziegenbein folgendermaßen äußert: „Wir wollen
hier nicht unbemerkt lassen, dass gerade die Vermischung der Kinder von
allen Klassen und Ständen wolthätig auf die äußere Bildung der Kinder aus
den niederen Ständen zurückwirkt, ohne den Kindern der Honoratioren nach-
theilig zu werden; die ersten werden mehr humanisirt und civilisirt, indes man
gewiss überall finden wird, dass die letzteren — wenn sie sich anders nicht
in den Bedienten- und Kinderstuben zu viel umhergetrieben und daselbst
schlechte Sitten angenommen haben — durch diese Vermischung an Humani-
tät und Civilisation nicht verlieren. Möchte man doch immer mehr einsehen
nnd beherzigen, dass die Kinder der niederen wie der vornehmen Stände
bis zum vierzehnten Jahre nur einerlei Bildungsbedürfnis haben, und dass
alle woleingerichteten Staatsverfassungen künftig mehr als bisher dafür Sorge
tragen müssen, dass sich überall gemeinsame gute Elementarschulen finden."
Als Gleichgesinnte werden zwei andere Consistorialräthe citirt.
572. Getrübter Kinderhimmel (C. Pilz, Cornelia 1892, III*). Von
den (jedem Erzieher bekannten) verschiedenen Arten „Wolken". Hr. P. em-
pfiehlt den Eltern, welche ihren Kindern einen „ungetrübten Lebenshimmel "
sichern wollen, die Befolgung der wol nicht allgemein bekannten fünf Regeln
Lavaters (in dem Briefe an eine Freundin): „die Kinder stets in guter Laune
erhalten; sie an Ordnung gewöhnen; unerlaubte Dinge bestimmt abschlagen;
soviel wie irgend zulässig gestatten und nicht am Verbieten Freude haben;
sie immer in Beschäftigung erhalten".
573. Das Gemüth und dessen Erziehung (Grashey, Bayr. Lehrer-
zeitung**) 1892, 7). Das Gemüth hängt ab von den Ernährungs Verhältnissen
des Gehirns. Voraussetzung der Gemfi Überziehung: normal ernährtes Gehirn.
Aufgabe der Gemüthserziehung: „zwischen die beiden Extreme des Gefühls
(Affecte des Schmerzes und der Freude) die übrigen Affecte, alle die feinen
Nuancen der Gemtithsempfindungen einzuschalten — die Affecte, welche an
und für sich etwas Rohes sind, nach und nach zu veredeln." „Denn nur der
kann tugendhaft handeln, welcher gelernt bat, tugendhaft zu fühlen; erst das
Gefühl gibt uns die Kraft zum Handeln." („Winke von roedicinischer Seite, die
nicht am Schreibtische gemacht, sondern aus der Praxis geschöpft sind").
574. Vom Verknüpfen und Verweben der Unterrichtsstoffe
(H. Weber, Allg. deutsche Lehrerz. 1892, 14—16). Gegensatz zur Herbart-
Zülerschen Theorie: „Sie sucht in Märchen, auf wüsten Inseln, bei den Rich-
tern Israels n. s. w. Mittelpunkte für die Gedankenkreise, während wir uns
unmittelbar an das uns umflutende Leben halten." Darum hat „das Gedeihen
eines auf Verknüpfung und Verwebung ausgehenden Unterrichtes zur Voraus-
setzung" : „dass im ersten und zweiten Schuljahre der Anschauungsunterricht
wieder mehr auf seine ursprüngliche Bestimmung, die Schärfung der Sinne,
die Übung im Auffassen und die Bereicherung der Sprache zurückkomme —
*) Außerdem lesenswert: Über Luthers häusliche Erziehung. — Aus den Auf-
zeichnungen eines Unmündigen.
**) Preis der einzelnen Nummer 15 Pfg.
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— 793
dass im dritten nnd vierten Schuljahre die Heimatekunde als der gemeinsame
Wurzelstock aller realen Lehrfach er betrachtet werde — dass im fünften bis
achten Schuljahre (Sachsen) die einzelnen Lehrfächer wol ihren eigenen Weg
gehen, aber alle die Kunde der Heimat, von welcher oft auszugehen und zu
welcher oft zurückzukehren ist, noch mit enthalten. u (Daran schließen sich
etliche selbstverständliche Forderungen an den einzelnen Lehrer, an das Col-
legium und an den Verein an). — Beispiele hauptsächlich für den „Religions-
unterricht" des letzten Schuljahres, für „Verwertung literarischer Unterrichte-
Stoffe" (im besonderen des Liedes von der Glocke).
575. Der deutsche Unterricht und die Reform der höheren
Schulen in Preußen (R. Lehmann, Zeitechr. f. d. deutschen Unterr. 1892,11.)
Das Charakteristische der „LehrplRne und Lehraufgaben " *) eine Anzahl
Widersprüche: Streben nach weitgehender Erleichterung und ohne Noth ver-
mehrte Belastung (Hausaufgaben); grundsätzliche Concentration und tatsäch-
liche Zersplitterung; einerseits Verzicht auf systematische Grundsätze, ander-
seits Versuch, die Einzelheiten des Unterrichte reglementmäßig festzulegen;
Gegensatz zwischen der Bedeutung, die dem Fache beigelegt, und dem Räume,
der ihm gewährt wird (für das gesain rate Gymnasium eine Vermehrung von
drei Stunden wöchentlich: „ein Abstand zwischen Worten und That, zwischen
Zweck und Mittel, wie er stärker nicht gedacht werden kann"!) „Von den
neuen Lehrplänen ist ein neuer Aufschwung des deutschen Unterrichte nicht
zu erwarten." Sie sind — kurz gesagt, ein phrasen volles Pfuscherwerk, und
können nichts anderes sein. (Man weiß ja, wes Geistes Kind ihr „geistiger
Vater" ist!)
576. Bedenken gegen den neuen Lehrplan für den erdkund-
lichen Unterricht an den preußischen höheren Lehranstalten (Zeit-
schrift für Schulgeogr. 1892, IV. VII). Resultate der „Reform": Beseitigung
der Erdkunde aus den Oberclassen und aus der Abiturientenprüfung — in
den Abschlussprüfungen der Untersecunda können ungenügende geographische
Leistungen durch jedes andere Fach ausgeglichen werden — Ertheilung der
praktischen facultas docendi durch die Directoren (denen die Einsicht in die
einschlägigen Verhältnisse fehlt!), und zwar voraussichtlich an die „Altphilo-
logen" (! weil sie an Stunden und damit an Besoldung eingebüßt haben), unter
denen nur eine ganz geringe Zahl geographische Studien gemacht hat.
577. Die Phantasie und ihre Bildung durch den Zeichenunter-
richt (D. Titschen, Zeitechr. d. Vereins deutscher Zeichenlehrer 1892, 11 — 14).
..Rogein" für die „Bildung der Phantasie durch den Zeichenunterricht":
1. „Sorge dafür, dass das Kind vor dem Zeichnen eine klare Vorstellung des
zu zeichnenden Objecto bekommt". („Erst wenn die Kinder imstande sind,
sich klar und deutlich über die Aufgabe auszusprechen, kann man mit dem
Zeichnen beginnen.") 2. „Gib durch passende Aufgaben den Kindern Gelegen-
heit, das Gelernte in freier Weise zu üben und anzuwenden." (Aufgaben, „deren
Form zu erfinden innerhalb gewisser Grenzen dem Kinde ganz allein über-
lassen wird", z. B. „aus einer Figur durch Hineinlegen einiger Linien eine
neue zu bilden"; schwieriger: Einzeichnen von Blättern in bestimmte geo-
metrische Figuren; für Mädchen: Verwendung von „Kanten".) 3. „Sorge für
*) Lehrplftnc und Lehtaufgaben für die höheren Schulen. Berlin 1891. Wilh. Hertz.
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— 794 —
äußere und sittliche Reinheit in allem, was du dem Kinde im Unterrichte dar-
bietest; nur solche Anschauungen nnd Vorstellungen sollen dem Kinde geboten
werden, aus denen sittlich reine, edle Phantasiebilder entstehen können". (Man
ist wol ein wenig erstaunt, diese „Regel" gerade hier zu finden.)
578. Charakter und Charakterbildung (Päd. Ref. 1892, 29.)
Die Schule sorgt für Charakterbildung, indem sie in den Zöglingen die Fähig-
keit entwickelt, „ stets logisch zu denken und nach sittlichen Grundsätzen zu
handeln. ** (.Logisch denken heißt vor allen Dingen, die Gedanken von
Schönheitspflästerchen und Anstandsschminke rein halten nnd jeden Gedanken
ordentlich ausdenken bis zu den letzten Conseqnenzen, und sittlich handeln
heißt, sich zur größtmöglichen Vollkommenheit emporschwingen, dabei aber
niemals die berechtigten Interessen seiner Mitmenschen schmälern, auch stets
sein eigenes Wol dem Wole des Ganzen unterordnen"). Unter der deutschen
Lehrerschaft herrscht viel Mangel an Charakter, was sich auch wieder auf dem letz-
ten Deutschen Lehrertag in verscliiedenen, vom Verfasser theilweise angeführten
Äußerungen gezeigt. („In der Lehrergehaft tritt reichlich stark hervor die
Missachtung der eigenen Menschenwürde, die Spekulation auf die Eitelkeit der
Höherstehenden, das Bestreben, stets einen guten Schein zu wahren, besonders
auf großen Lehrerversamminngen. " — Diese berechtigten Vorwürfe sind noch
lange nicht oft genug erhoben worden.)
579. Schäden auf dem Gebiete des modernen Jugendunter-
richts (K. A. Geil, Repert. d. Päd. 1892, VIII.) Grundübel im heutigen
Schulwesen: r Große Forderungen an das Wissen, geringe Ausbildung der
selbsttätigen freien Arbeitskraft." (Folgen: „Unklarheit über das Wesen
der Arbeit, geringer Respect vor geistiger Thätigkeit, Unlust zur Arbeit. *
Notwendiges Gegengewicht als Mittel, Lust zur Arbeit zu erwecken und zu
steigern: Handarbeit.)
580. Über Individualitätsbilder (E. Brinkmann, Neue Bahnen 1892,
IV. V). Eine gründliche, umfassende Arbeit, 47 Seiten 8°. — Begriff — Ge-
schichte) Pestalozzi: Neuhof, Iferten; Herbart: Hauslehrerthätigkeit, Umriss
pädagogischer Vorlesungen; Rauhes Haus in Hamburg; akademisch-pädago-
gische Seminarien in Leipzig und Jena) — Wert (Nachweis überflüssig;
Verfasser bringt ihn aber doch, da bisher „nur kleinere Kreise die theore-
tischen Forderungen in die Praxis übertragen haben") — Inhalt (Vermögens-
verhältnisse der Eltern, Anzahl der Familienglieder, Wohnungsverhältnisse.
Beruf des Vaters, Bildung nnd Interesse der Eltern an der Schule, Charakter-
eigenschaften und n Moral" der Eltern. Körperliche, nspeciell gesundheitliche"
Verhältnisse des Kindes; „ Gaben und Fähigkeiten", geistiger Entwickelnngs-
gang; Leistungen in den einzelnen Unterrichtsfächern; Temperament; „Tugen-
den und Fehler in unterrichtlicher Beziehung"; Verhalten gegen Eltern nnd
Lehrer, Mitschüler und Fremde; „besondere Vorkommnisse" im Leben des
Kindes) — Quellen oder Mittel für die Beobachtungen (allgemein bekannt). —
Ein Schlusswort spricht von den Schwierigkeiten der Arbeit, besonders in
schülerreichen Classen. Erleichterung: „Das Individualitätenbuch, das die ge-
sammelten Beobachtungen enthält, begleitet einfach die Schüler von Gasse zu
Classe; für die Zurückbleibenden*) werden die betreffenden Blätter heraus-
*) Verf. spricht von „zurückbleibenden Remanenten"!!
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— 795 —
gelöst (ähnlich beim Übergang eines Kindes in eine andere Schule). Noch ein-
facher: statt des Individualitätenbnchs eine Mappe mit losen Blattern. Für
jeden Schüler würde ein Blatt bestimmt sein, welches ihm mitgegeben wird,
wenn er in eine andere Classe oder Schale übergeht. Ein eigentliches, aus-
führlicheres Individualitätsbild würde dann nur von einigen psychologisch be-
sonders interessanten oder schwer zu behandelnden Kindern anzufertigen sein,
während sich der neue Lehrer betreffs der übrigen Schüler mit den einzelnen
Notizen des Individualitätenbuches begnügen müaste."
581. Die Logik des Sprachgeistes (R. Hildebrand, Zeitschr. f. d.
deutsch. Unt. 1892, III.) „Logik des Sprachgeistes" kein „formales Arbeiten,"
sondern „Walten der Sache, des Inhalts, des Lebens selber " (die uns von
außen kommen und sich in uns sozusagen selber weiter verarbeiten"). Der
Sprachgeist „ist wie der Sachgeist selber". Das „ Schuldenken " geht der
(äußeren) Wirklichkeit, der Sprachgeist der (inneren) Wahrheit nach. —
Zu der Thatsache, dass Auge und Ohr in gewissen Fällen nur in der Einzahl,
in anderen nur in der Mehrzahl gebraucht werden, bemerkt Meister Hildebrand:
„Da liegt eine doppelte Art zu denken vor; die eine, kann man sagen, erfasst
die Wirklichkeit (denn wir haben ja in Wirklichkeit zwei Augen und Ohren),
die andere aber die Wahrheit; denn die zwei Augen sind in Wahrheit doch
wie eins. Die eine Art zu denken fasst das Ding in seinem Außen, die andere
in seinem Innen, die eine von der den Sinnen vorliegenden Oberfläche, die
andere in seiner den Gedanken sich erschließenden Tiefe. Dieser Unterschied
des Außen und Innen in ihrer Verschiedenheit für das Erfassen und Denken
ist aber überhaupt von der höchsten Wichtigkeit für die letzten Ziele
unseres Daseins, und dem jagendlichen Geiste schon kann an den
gegebenen Beispielen der Zugang zu dieser Erkenntnis leicht geöffnet werden.
Das ist nm so brauchbarer oder nöthiger, als der Zeitgeist von heute, in dessen
Luft sie (die Schüler) doch nun einmal aufwachsen, einseitig dem Außen zu-
gekehrt ist und dem Innen, in dem doch alles wahre Leben wohnt und wur-
zelt, gern den Rücken kehrt oder es gar zu leugnen bestimmt ist, und zwar
alles das in dem Wahne, endlich den rechten Weg der Wahrheit gefunden zu
haben."
582. Das Studium sprachlicher Entwickelungen (R. Dietrich,
Zeitschr. f. d. deutsch. Unt. 1892, IV.) „Von Berufswegen zu Wanderungen
in die Sprachgeschichte genöthigt" : Psychologen, Philosophen, Erzieher (letztere
am meisten). „Weil aber die Wörter Schöpfungen der Volksseele sind, und
weil es eine Pflicht der Vaterlandstreue ist, die Volksseele zu kennen und zu
verstehen, so hat jeder Bürger die Aufgabe, sich wenigstens mit den Aus-
drücken inhaltsvoller Hauptbegriffe, welche die Regeln der einfachen Lebens-
führung bestimmen, vertraut zu machen." (Darstellungen solcher Entwicke-
lungsgeschichten für „Volksblätter" sind stilistische Meisterstücke.) — Wie
das Studium zu betreiben ist: an den Hochschulen (Lehrbuch: Grimms Wörter-
buch — „sprachgeschichtliche Übungen" am „deutschen Seminar"), Mittel-
schulen (im Geschichtsunterricht mindestens ein Jahr lang Entwickelungsgänge
namentlich solcher Begriffe, die sich auf die staatlichen, gesellschaftlichen
und Verkehrsverhältnisse beziehen; die Schüler legen sich für gewisse Haupt-
worte des Volkslebens Sammelhefte an), Volksschulen (zunächst gilt es nur —
nach der in Hildebrands Sprachunterricht gebotenen Anleitung — Wortsippen,
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— 796
Einzelzüge aus dem Ent wickelungsgang eines bestimmten Alltags Wortes, Sprach-
bilder zu gewinnen und so „den Boden zu bereiten.") Im ganzen kann die
Volksschule „nur eine geringe Anzahl Lebensgeschichten deutscher Wörter
bieten. Da wäre es denn ein hohes Verdienst der Jugendzeitschriften, wenn
sie hier reichlich ergänzend einspringen wollten. u Wie dies geschehen kann,
wird an drei Beispielen (Kaufmann, Krämer, Knappsack) gezeigt, von denen
die beiden ersten bereits in der ..Deutschen Jugend" (Oct./Nov. 1888) Auf-
nahme gefunden haben. — Anhangsweise ist der Arbeit beigefügt „eine
sprachgeschichtlich- pädagogische Studie" des Begriffes Kunst, zugleich als
Muster für die im deutschen Seminar der Hochschule anzufertigenden „Lebens-
bilder."
583. Geld („Zur Preisbewerbung u, Deutsche Schulpraxis 1892, 29).
„Das Geld ist ein so ungemein wichtiges Ding „da draußen in der Welt",
dass es ohne Zweifel einmal in der Schule (die ja „fürs Leben" bilden soll
und will) einer näheren Betrachtung unterzogen werden muss. Das könnte auf
der Oberstufe der Volksschule, etwa während des letzten Jahres, in zwei, drei
Bechenstunden oder im Deutschen (Aufsatz) oder erst in der Fortbildungs-
schule (Volkswirtschaftslehre) geschehen. Nun ist es aber klar, dass das
Interesse ein lebhafteres und die Einsicht eine tiefere sein wird, wenn wir die
Schüler in die Entwicklungsgeschichte des Begriffs einführen." Zeit und
Fassungskraft der Schüler erlauben es, wenigstens das Wesentliche aus dieser
Geschichte lebendig vorzuführen. — (Der Aufsatz ist durch Nachlässigkeit
des Correctors äußerlich benachtheiligt worden. Er zerfällt offenbar in drei
Theile. Die „III" springt sofort ins Auge, die „I" übersieht man leicht —
und die „IIU sieht man gar nicht. Dazu eine Menge Druckfehler!)
584. Über Zeichnen und Anschauungsunterricht (C. Gurlitt,
Zeitschr. f. d. gewerbl. Unten*.*) 1892/93, I). Im wesentlichen ein Referat
über die „Aufgaben der Kunstpsychologie" von G. Hirth (2 Theile München
1891), der in diesem seinem Buche „mit Meisterhand die Grundfehler unseres
Unterrichte umschrieben." — Aus den Einleitungs- und Schlussworten Gurlitts:
„Was soll dem Kinde das Bild der Kub, des Schafes, des Hahnes, wenn es
nicht im Gedächtnis die Vorstellung des lebenden Thieres findet; was hilft die
vollendetste Kunst des Zeichners und Erklärers, wenn sie doch nur in der Ab-
straktion gegeben wird, d. h. ohne lebendige Anschauung. Es ist ein Zug von
Unwahrheit, von Phrasenthum in dieser Form der Belehrung. Das Kind be-
kommt ein vorbereitetes Bild der Natur, schafft sich nicht selbst ein solches.
Es lernt erst die Darstellung und dann die Wahrheit kennen; es misst die
Darstellung nicht an der Wahrheit, sondern die Wahrheit an der Darstellung.
Ein Monat auf einem Gutehofe scheint mir lehrreicher als die ganze Brehm-
sche Naturgeschichte mit ihren zahllosen Bildern; denn nicht das Viel erhöht
die Anschauung, sondern die intensive Art des Sehens, das vollkommene Ein-
dringen in die einzelneu wechselnden Formen, und dies ist zunächst nur an
wenigen oft gesehenen belebten Gegenständen möglich." — „Unser Zeichen-
unterricht ist vor lauter systematischem Geist der Lehrer der geistloseste ge-
worden. Er will den Kindern nach unfehlbarem System Handfertigkeit im
Zeichnen geben und entwöhnt sie vom Zweck, nämlich von der bildlichen Dar-
*} Eiuzelheft 60 Pfg.
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— 797
Stellung eines in das Gedächtnis aufgenommenen Gegenstandes. Was würde
man von einem Lehrer des Schreibens sagen, der die Buchstaben zu schönen
Reibungen zusammenfügte, aber die Kinder nicht Worte, Sätze schreiben
ließe; der sie die Schrift lehren wollte, ohne den Zweck der Schrift, den Aus-
druck von Gedanken!"
585. Malendes Zeichnen (A. Küppers, Monatsbl. f. d. Zeichenunterr.
i. d. Volkssch.*) 1892, VII.) „Trotz der anerkennenswerten Fortschritte, die
der Zeichenunterricht in den letzten Jahren sowol in Bezug auf Methode als
anf Lehrmittel und Literatur gemacht, ist sein Abschluss noch immer nicht be-
friedigend." Er wird es nach der Ansicht des Verf., wenn neben dem „exacten
Zeichnen" (Üben der Elemente, geistiges Erfassen der Formen) ein „angewandtes,
malendes Zeichnen oder Skizziren" hergeht, beide sich gegenseitig unter-
stützen. Malendes Zeichnen von Anfang, d. h. vom ersten Schuljahre an ein
Zeichnen nach der Natur. „Die zeichnerischen Formen werden ahnlich wie die
Schriftformen bis zur größten Fertigkeit geübt." Das Üben der Blattformen,
Schnabel-, Zehen- u. ä. Linien erfolgt wie beim Schreiben im Takte („das
gibt der ganzen Thätigkeit Schneid, Lebendigkeit und Interesse; und bei
richtiger Consequenz und Energie sind die Erfolge überraschend"). Lehrplan,
Stoffverteilung, ünterrichtsbeispiele. — „Ein Schüler, welcher regelmäßig
(8 Jahre lang) die Volksschule besucht hat, muss bei seinem Abgange befähigt
sein, die Bilder von Dingen, welche in seinem Anschauungskreise liegen, mit
einer gewissen Fertigkeit entwerfen (skizziren) zu können."
Unter den neuen Broschüren möge besonders und mit warmen Em-
pfehlungen hervorgehoben werden : „Zum religiösen Frieden von J. Froli-
s( liammer" (26 Seiten, Breslau bei Eduard Trewendt). Als Probe aus
dieser bedeutenden Abhandlung sei folgende Stelle mitgetheilt:
„Der moderne Staat lässt verschiedene Confessionen zu, gewährt Beken-
nern verschiedener Religionen staatsbürgerliche Rechte, — während die
Kirche deren Vertreibung oder Ausschließung fordert. Er duldet und übt
nicht mehr Anwendung physischer Gewalt gegen Excommunizirte und Ketzer —
was die päpstliche Kirche noch im sogenannten Syllabns ausdrücklich fordert;
er schützt die freie wissenschaftliche Forschung, während diese Kirche und auch
andere Orthodoxien dieselbe unterdrücken, in Unterwerfung halten wollen; er
hebt die Immunität des Clerus auf und unterwirft denselben seinen Gerichten
in Widerspruch mit dem canonischen Rechte u. s. w. Wollte der Staat sich
in allem den Forderungen der Kirche fügen, um nicht in ihr Gebiet einzu-
greifen, dessen Grenzen die kirchliche Autorität selbst bestimmt, so müaste er
sich selbst und die ganze Wissenschaft und Civilisation der modernen Gesell-
schaft aufgeben und anf Realisirung der Humanitätsidee verzichten. Allein
der Staat hat ein Recht, auch bezüglich der Religion allgemeine Bestimmungen
im Interesse der Sittlichkeit (des sittlichen Gewissens — oft im Gegensatz
gegen das religiöse resp. kirchliche Gewissen) und der wirklich christlichen
Gottesverehrung zu geben. Das Christenthum ist nicht Eigenthum eines
Standes, des Clerns, das derselbe nur unter seinen Bedingungen mittheilen
oder versagen könnte, sondern ist Allgemeingut der Menschheit und insofern
♦) Einzelnummer 40 Pfg.
Pwdagogittm. u. Jahr». Heft XII. 55
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— 798 —
auch des (christlichen) Staates, das dieser der Jagend und dem Volke kann
mittheilen lassen, ohne erst vom Clerus oder einer Kirche um Erlaubnis dazu
betteln zu müssen, die ihm etwa nur gegeben werden soll unter der Bedingung,
dass er auf seine wichtigsten Rechte verzichte und es sich unmöglich mache,
seine RechtB- und Culturaufgaben zu erfüllen.
Wir verhehlen uns nicht, dass es wol noch geraume Zeit dauern mag, ehe
dieses Programm zur Herstellung des religiösen Friedens zur Ausfuhrung
kommen wird. Ja gegenwärtig erschienen die Verhältnisse so geartet, als ob
vielmehr das Gegentheil davon zur Ausführung kommen sollte. Der Staat
weicht fast allenthalben, besonders in Deutschland, vor den Angriffen und
Forderungen der Orthodoxien und besonders der päpstlichen Kirche zurück und
sucht durch Concessionen und Compromisse zu beschwichtigen oder zu befrie-
digen, und kaum irgend ein Vertreter der Staatsregierungen wagt es mehr,
entschieden den kirchlichen Prätensionen entgegen zu treten, sondern allent-
halben verhält man sich nur vertheidigungsweise um des lieben Friedens willen, —
den erregten Fanatismus des ungebildeten Volkes und seiner zelotischen Führer
fürchtend. So gewinnt der Clericalismus immer mehr Boden und Macht, und
wenn die Staatsmänner noch so sehr Friede! Friede! rufen, wird doch kein
Friede sein, ehe nicht volle Unterwerfung des Staates unter die Kirche er-
reicht ist. Wenigstens bezüglich der päpstlichen Kirche gilt dies, da diese
absolute Herrschaft und directe Göttlichkeit oder Stellvertretung Gottes auf
Erden beansprucht und daher von Völkern und Fürsten unbedingte Unterwer-
fung fordert in allem, was sie für kirchliche Angelegenheit erklärt. Diese
Forderung wird seit Jahrhunderten gestellt und durchzuführen gesucht. Es
gelang dies auch in früherer Zeit vielfach in hohem Grade bei der Gläubigkeit
des Volkes und bei der allgemeinen Unwissenheit und Unkenntnis in kirchlichen,
insbesondere in kirchengeschichtlichen Dingen. Nun aber, nach so vieler
wissenschaftlicher Forschung im Gebiete der Natur und Geschichte, sind der-
gleichen Ansprüche nicht mehr aufrecht zu erhalten und anzuerkennen. Man
hat die Entstehung der sich als absolut gebenden kirchlichen Autorität erkannt
und die allmähliche Entstehung der Glaubenssatzungen näher erforscht und
deren menschlichen Ursprung und Charakter genugsam erkannt, so dass man
die Forderungen ihrer Träger und Sachwalter nicht mehr für absolut gültig
halten kann, als kämen sie von Göttern gegenüber den bloßen Menschen — wie
man dies bisher geltend gemacht hat. Wozu wäre z. B. insbesondere die Ge-
schichtsforschung, wozu historische Commissionen, Vereine und wissenschaftliche
Institute aller Art, wenn man zuletzt doch die erforschte historische Wahrheit
nicht kundgeben und im Interesse der Wahrheit und des Rechtes geltend
machen dürfte? Das wirkliche Christenthum selbst wird dadurch keineswegs
zerstört oder irgendwie beeinträchtigt; es ist ein Kampf zwischen dem theolo-
gischen und hierarchischen oder theokratischen Christenthum und dem Christen-
thum Christi; die Wissenschaft, die Geschichte und Philosophie insbesondere,
stehen dabei auf Seiten des letzteren in seiner einfachen, religiös-sittlichen
Form. — Es ist freilich ein undankbares Beginnen, dergleichen auszusprechen
und der Wahrheit Zeugnis zu geben gegenüber der äußerlichen, auch weltlichen
Macht der Kirchen und Confessionen, und es ist wenigstens vorläufig noch ein
vergebliches Bemühen, dies ins Bewusstsein der Völker einzuführen und zur
Überzeugung derselben zu machen; aber der Verlauf der geschichtlichen Ent-
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— 799 —
Wickelung wird schließlich doch zur Ausführung, zur Realisirung des skiz-
zirten Programms führen, wie schon so manches besonders in der neueren
Zeit zor Ausführung kam, was man für unstatthaft oder unmöglich hielt."
Nürnberger Rechenbrett. Diesen Namen führt ein Apparat, welchen
Herr Ernst Trölltsch, Lehrer in Nürnberg, vor einigen Jahren erfunden
Jiat, und der dazu dient, sämmtliche Rechenoperationen im Zahlenraum von
1—20 zu veranschaulichen. Da derselbe nach und nach in einer Reihe von
deutschen Staaten amtlich genehmigt und empfohlen und von einer großen An-
zahl von Schulmännern höchst lobend beurtheilt worden ist, so fanden wir uns
veranlasst, denselben einer praktischen Prüfung zu unterziehen, welche zu
dem Ergebnis führte, dass der erwähnte Apparat in der That den ihm gespen-
deten Beifall und daher weitere Verbreitung in vollem Maße verdient.
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I
Rezensionen.
Comenia 8- Literatur.
Bevor wir diesen Jahrgang des „Paedagogiums" schließen, müssen wir noch
einen Blick auf etliche Schriften werfen, welche sich mit dem großen Schulmann
befassen, der in dem jüngsten Zeitabschnitt mit Recht so viel gefeiert worden ist
and gewissermaßen der pädagogische Regent des Jahres 1892 genannt werden kann.
Schon im Märzhefte bemerkten wir über eines der hierher gehörigen Werke, das
damals zu erscheinen begann, dass es „wol die umfassendste und gründlichste aller
bisherigen Arbeiten über Comenius werden dürfte." Seit einigen Monaten liegt es
nun unter folgendem Titel vollendet vor:
Johann Arnos Comenius. Sein Leben nnd seine Schriften von Dr. Jo-
hann Kvacsala, Prof. am ev. Lyceum in Pressborg. Berlin, Leipzig nnd
Wien bei Julias Klinkhardt. 480 nnd 89 Seiten. Preis 4 Mark 80 Pf.
Unsere Voraussagung hat bereits eine gewichtige Bestätigung erhalten.
Anton Gindely, der hier gewiss competent ist, sagt nämlich: „Den ganzen
Lebenslauf und die gesammte literarische Thätigkeit des Comenius hat Kvacsala
zum Gegenstand der eingehendsten Untersuchungen gemacht und auf deren
Grundlage eben ein Werk veröffentlicht, das den ersten Platz unter den bis-
herigen Biographien des Comenius und den Beurtheilungen seiner literarischen
Thätigkeit einnimmt." (Siehe „Pädagogischer Literaturbericht" Jahrgang II,
Nr. 10, Znaim bei Fournier & Haberler.) Erst aus dem Werke Kvacsala's
tritt uns der ganze Comenius, wie er mit allen Bewegungen seiner Zeit em-
pfangend und wirkend verwachsen war und fast alle Länder unseres Erdteils
umspannte und beeinflusste, lebenstreu und hell beleuchtet entgegen. Das vor-
liegende Buch fasst nicht nur die Ergebnisse der bisherigen Comeniusforschungen
zusammen, sondern bereichert sie auch beträchtlich durch Ausbeutung bisher
unbenutzter Quellen. So erscheint nun Comenius, indem besonders auch seine
kirchliche und politische Wirksamkeit eingehend dargelegt wird, als eine weit
reichere, vielseitigere und activere Persönlichkeit, als bisher, zum Theil in
anderer Gestalt als bei früheren Biographen. Natürlich mussten da auch seine
Verirrungen und Missgriffe deutlich hervortreten, zugleich aber ihre genetische
Erklärung finden. Seine Vorläufer und Zeitgenossen sind weit vollständiger
und genauer dargestellt, als in anderen Schriften, und selbst über die welt-
geschichtlichen Ereignisse seiner Zeit enthält Kvacsala's Werk neue Auf-
schlüsse. — Dies alles konnte nur erzielt werden durch eingehendes Studium
eins höchst umfänglichen Quellenmaterials, wie es in großen Bibliotheken,
Archiven, Museen und sonstigen Sammlungen — zu Prag, Budapest, Wien,
Dresden, Hannover, Herrnhut, Lissa, London u. s. w. — sich findet nnd dessen
erfolgreiche Verwertung nur bei so ausgebreiteten Sprachkentnissen, wie sie
Herrn Kvacsala zu Gebote stehen, gelingen konnte.
Gern wird man in Erwägung alles dessen einige 3Iüngcl entschuldigen,
welche dem Werke anhaften. Dass es hie und da „sprachliche Unebenheiten"
aufweisen würde, sah der Herr Verfasser selbst voraus, da das Deutsche nicht
seine Muttersprache ist; indessen sind dieselben geringer, als man wol hätte
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— 801 —
erwarten können, und kaum irgendwo stören sie den Sinn. Die Darstellung-
möchte man im ganzen frischer, plastischer und Übersichtlicher wünschen; die
eigentlichen biographischen Data treten oft nicht genügend scharf aus den
überwuchernden theologischen, kirchlichen und politischen Händeln hervor.
Ungern vermisst man ein Inhaltsverzeichnis, und auch ein Index wäre sehr
erwünscht, da das umfang- und stoffreiche Buch durch solche Behelfe leichter
genießbar werden würde. Indessen werden sich diese Mängel in einer neuen
Auflage des Werkes, die wir ihm recht bald wünschen, abstellen lassen; schon
jetzt aber ist es, wie gesagt, die bedeutendste und wertvollste Arbeit ihrer
Art, die zwar keinen Massenabsatz zu erwarten hat, wol aber Aufnahme in
jede einigermassen ansehnliche Bibliothek beanspruchen darf.
Hieran reihen wir ein mehr populäres Buch, nämlich:
Leben und Schicksale des Johann Arnos Comenins. Mit Benützung
der besten Quellen dargestellt von Anton Vrbka. Mit einem Verzeichnis
der neueren Comenios-Literatnr nnd 12 Abbildungen. Znaim, Fonrnier &
Haberler. lfiö und 14 Seiten. 2 Mark.
Eine schöne, selbstständige, sorgfältig und mit edler Begeisterung ver-
tagte Schrift, die unter den Werken ähnlicher Bestimmung mit Ehren be-
stehen kann. Zwar können wir dem Verfasser bezüglich des Geburtsortes des
Comenius nicht zustimmen (s. oben), auch lässt er hie und da eine merkliche
Lücke, wie er z. B. den wichtigen Schulbesuch in Prerau gar nicht erwähnt:
dagegen bringt er auch wertvolle Ergänzungen zu dem bisher Bekannten und
selbst Berichtigungen alter Irrtümer. So wird man ihm z. B. Recht geben
müssen, wenn er den Tod der Eltern des Comenius in das Jahr 1604 verlegt,
obgleich noch Kvacsala an der älteren Tradition, die auf 1602 lautet, festhält,
allerdings in Übereinstimmung mit Comenius selbst» dem aber hier jedenfalls
ein Gedächtnisfehler unterlaufen ist. Hervorheben wollen wir auch, dass Vrbka
den schönen Ausspruch von Comenius bringt: „Gewissen und Freiheit, die kost-
barsten Güter, verkauft man um kein Geld." — Auch die dem Buche einver-
leibten Bilder sind sehr schätzenswert, nnd überhaupt gehört dasselbe zu den-
jenigen Schriftwerken, denen man mit Nutzen und Vergnügen vollen Antheil
widmet. — Hieran reiht sich ehrenvoll an:
Comenins als Kartograph seines Vaterlandes. Nach der böhmischen
Abhandlung von Josef Smaha, mit einem Neudruck der Karte des Comenins
deutsch herausgegeben von KarlBornemann. Znaim, Fonrnier & Haberler.
4S Seiten Text. 1 fl.
Eine nicht voluminöse, aber höchst dankenswerte Gabe. Denn gewiss
werden aus diesem Beitrag zur Comenius-Literatur viele, selbst sehr belesene
Schulmänner den großen Pädagogen von einer neuen Seite kennen und schätzen
lernen. Als er nämlich, aus Amt und Heimat vertrieben, sich im Exil ver-
bergen mus8te, beschäftigte er sich u. a. damit, sein Vaterland Mähren karto-
graphisch darzustellen, und Anno 1627 war die Zeichnung vollendet. Mit
vielem Vergnügen sehen wir dieses für jene Zeit vorzügliche Werk — Moraviae
nova et post omnes priores accuratissima delineatio, auetore J. A. Comenio —
der verbesserten Originalausgabo von 1645 vollständig getreu nachgedruckt vor
uns liegen. Die Textbeigaben enthalten alles, was man nur immer zur Be-
leuchtung des kartographischen Werkes wünschen kann.
Nun seien noch zwei Bücher angeführt, welche zwar nichts Neues bringen,
immerbin aber wegen ihrer im ganzen guten Darstellung des Bekannten ge-
nannt zu werden verdienen:
Johann Arnos Comenins. Sein Leben nnd seine Werke. Von W. Kaiser.
Mit Brustbild. Hannover-Linden, Manz & Lange. IM Seiten. 2 M.
Johann Arnos Comenins nach seinem Leben und Wirken. Eine Jubiläums-
gabe zu seiner 300jährigen Geburtstagsfeier von F. Gr und ig. Gotha,
Thienemann. 92 Seiten. 1 M.
In biographischer Hinsicht lassen beide Schriften zn wünschen übrig, ent-
halten sie auch manche Fehler: so sagt Kaisers. B.: Comeniussei .zufällig*
znm Studium der lateinischen Sprache gelangt, während er sie doch als
ordentlicher Zögling einer lateinischen Schule regelrecht erlernte; ferner spricht
er von den „müßig-4 verlebten Jahren der Kindheit des Comenius, was doch
unrichtig ist: die Angabe, dass Comenius bis 1657 in Saros-Patak geblieben sei,
ist wol ein Druckfehler. Grundig spricht von dem reine Stunde von Niwnitz-
gelegenen Dorfe Ungarisch Brod" und sagt, Comenius' Vater sei von Kcmnia
nach Niwnitz gezogen u. dgl. Indessen sind beide Schriften, besonders für
Volksschullehrer, aus dem Grunde zu empfehlen, weil sie genauer und im
ganzen richtig in die Pädagogik, besonders in die Unterrichtslehre des Come-
nius, einführen (Kaiser bringt übiigens Manches, was über seine Aufgabe
hinausgeht).
Doch wir müssen abbrechen, da es unmöglich ist, in einer allgemeinen
pädagog. Zeitschrift die höchst umfängliche Comenius-Literatur, die ja selbst
poetische Erzeugnisse — und darunter recht gute — aufzuweisen hat, nur
annähernd vollständig anzuführen. Wir veiweisen daher nur noch auf die
Specialschrift
Monatshefte der Comenius-Gesellschaft (Jahrgang 10 Mark, ein
Monatsheft 2 M. 50 Pf.), Leipzig bei R. Voigtländer,
welche sehr wertvolle und zuverlässsige Beiträge und auch eine voll-
ständige Bibliographie der Comenius-LiteTatur darbietet.
Dr. Julius Bothfuchg, Provinzialschulrat zu Münster in Westfalen, Be-
kenntnisse ans der Arbeit des erziehenden Unterrichtes. Das
Übersetzen in das Deutsche und manches andere. Marburg 1892, El wart.
173 S. 3 M.
Ein schönes Stück Gymnasialpädagogik. Ausgehend von den vielfach er-
hobenen und, von Übertreibungen abgesehen, nicht unberechtigten Klagen
über die Schädigung des deutschen Stils durch das Übersetzen aus den alt-
classischen Sprachen, besonders aus dem Lateinischen, eine Schädigung, welche
sich namentlich in Latinismen und sogenannten „Stilblüten" kund gibt, macht
Verfasser dieses Übersetzen, eine Hauptbeschäftigung in den Gymnasien, zum
Gegenstande eingehender Untersuchung, Prüfung und pädagogischer Berathung.
Wenn dabei sein Hauptzweck war, zu zeigen, wie einerseits der Gefahr, durch
das Überaetzen das Gefühl für die Eigenart uer Muttersprache zu trüben, vor-
zubeugen sei, anderseits eben dieses Mittel gerade im Gegentheil dazu dienen
könne, den deutschen Gedankenausdruck zu bereichern und zu verfeinern:
so hat doch Dr. Rothfuchs, um sein Thema allseitig zu beleuchten, auch die
demselben verwandten Materien in Bett acht gezogen. Namentlich gilt dies
von der Lectürc classischer Schriftwerke in ihrer Ausdehnung, Anlage und
Einrichtung, sammt den hierzu gehörigen Präparationen, ihren Beziehungen zu
Lexikon und Grammatik, ihrer Bedeutung für Nährung und Veredelung des
Geistes, ihrer diseiplinarischen Kraft u. s. w. Dabei konnte natürlich auch die
Besprechung allgemeiner Schulfragcn, wie die über Methode und Methodik,
über Persönlichkeit und Stellung des Lehrers, über Überbürdung der Schüler,,
über Charakter und Wert der griechisch- römischen Literatur u. s. w. nicht
umgangen werden, und auch in dieser Hinsicht bringt das Buch höchst
schätzenswerte Ausführungen, wie z. B. die kurze aber treffende Parallele
zwischen Demosthenes und Cicero auf Seite 101 f., oder die kernige Skizze über
„Methode und Persönlichkeit" auf Seite 156 f. — Bei alledem bleibt aber „das
Uebersetzen in das Deutsche" das Hauptthema des Buches, und ist dieses mit
einer solchen monographischen Gründlichkeit und Allseitigkeit bebandelt, wie
unseres Wissens bisher nirgends. Fügen wir hinzu, dass sich in dem ganzen
Buche eine reiche fachmännische Erfahrung, ein feiner, freier, allem sr •bablonen-
haften, eigensinnigen und rechthaberischen Pedantismus abgeneigter Geist,
endlich warme Liebe zur Jugend und zum Erzichungsberuf ausspricht, so haben
wir gesagt, welchen Eindruck das Buch auf uns gemacht hat.
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803 —
Dr. Raimund Oehier, Classisches Bilderbuch mit weit über 100 Tafeln,
enthaltend über 200 Abbildungen nebst 6 Plänen und 1 buntfarbigen Tatel.
Leipzig, Schmidt und Günther. Preis 1 M. 80 Pf., geb. 2 M. 50 Pf.
Ein sehr schätzenswertes Lehr- und Lernmittel für den Gymnasialunter-
richt zu Händen der Schüler. Abgebildet sind Götter, historische Personen, Bau-
und Kunstwerke, Waffen, Kriegs- und Hausgerätbc, Schmucksachen, Städte,
Landschaften u. s. w., wie sie in der classischen Leetüre und im historischen
Unterricht des Gymnasiums vorkommen. Den einzelnen Bildern ist ein er-
läuternder Text beigegeben. Es war ein sehr glücklicher Gedanke, ein solches
Werk zu entwerfen, und die Ausführung kann als gelungen bezeichnet werden.
Hier ist in der Tbat, wie man bisweilen ohne Berechtigung sagt, einem
wirklichen und längst gefühlten Bedürfnisse abgeholfen, und das Werk wird
seinen Weg machen.
Hermann Masius, Bunte Blätter. Altes und Neues. Halle a/S., 1892,
Buchhandlung des Waisenhauses. 384 S.
Eine reichhaltige Sammlung kleiner Meisterstücke des geistigen Schaffens
und der stilistischen Darstellung, geordnet in die drei Abtheilungen: Beden,
Biographische Charakteristiken und Naturskizzen. Von ersteren erwähnen wir
die Festreden auf Schiller, Fichte, Francke und die Lehrvorträge über den
Humanismus in seinen Einwirkungen auf die deutschen Gelehrtenschulen und
und über den Erzbischof Bruno von Köln; von den Arbeiten der zweiten Kate-
gorie: Germanicus, ein Bruchstück römischer Geschichte, Ulrich Zwingli, be-
sondere als Humanist und Pädagog, Friedrich August Eckstein, die Natur-
anschauung Luthers, Erasmus als Sittenmaler. Wenn alle diese Essays ver-
möge ihrer eleganten und fasslichen Darstellungsform den Leser leicht an-
sprechen und gewinnen, so muthen sie ihm doch auch zur Bewältigung des
in ihnen aufgespeicherten Schatzes vielseitiger Gelehrsamkeit und anregender
Gedanken eine stete Spannung der Aufmerksamkeit zu, wofür ihm dann die
dritte Abtheilung des Buches mit ihren „ Naturskizzen w wie zur Erholung eine
leichtere, anmuthige und dennoch immer lehrreiche Unterhaltung gewährt.
Wem die sinnige Art der Naturbetrachtung, die feine Beziehung des mensch-
lichen Daseins auf seine physischen Umgebungen, oder die geistreic he Behandlung
des scheinbar Unbedeutenden und andere Züge dieses gewiegten Beobachters
und Darstellers nicht bekannt sind, der lese in diesem dritten Theile z. B.
„Marder und Sperling", „Aus dem Leben der Katze", „Das Haar4, „Der Mond
in Sage und Dichtung".
Dr. 6. Peschmann, Führer durch Österreichs Schulen. Eine systema-
tische Darstellung der Unterrichts- und Erziehungsanstalten der Unter- und
Mittelstufe für die männliche Jugend in den im Reichsrathe vertretenen
Königreichen und Ländern. Pilsen 1892, Steinhauser. 180 S. 1 Fl.
Das Buch bringt zur Darstellung: die Kindergärten und verwandte An-
stalten, die Volks- und Bürgerschulen, die Lehrerbildungsanstalten, Beschäfti-
gungeanstalten, Internate für Volks- und Bürgerschülcr, Waisen- und Bettungs-
häuser, Anstalten für nicht normal beanlagte Kinder; ferner die Mittelschulen
(Gymnasien, Realschulen etc.), die geistlichen Seminare und ähnliche Anstalten,
die militärischen, commerci eilen, gewerblichen, land- und forstwirtschaftlichen
Büdungsanstalten , die Anstalten für bildende, musikalische und dramatische
Kunst, sowie die Fachschulen für Thierheilkunde, SchifTahrt, Bergwesen, Phar-
macie. Überall sind die gesetzlichen Grundlagen, die Zwecke, Einrichtungen
und der tbatsächliche Bestand der Bildungsanstalten klar und übersichtlich
vorgeführt, so dass das Buch Eltern als Rathgeber bei der Unterbringung
ihrer Söhne in geeignete Schulen oder Internate gute Dienste leisten kann
und auch den Pädagogen von Fach zur Orientirung über die weiten Gebiete
seines Berufs willkommen sein wird. Die vom Heransgeber aufgewendete
Mühe und Sorgfalt verdient alle Anerkennung, die wir ihm um so mehr
wünschen, als von der Aufnahrae dieses Buches die Fortsetzung desselben,
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nämlich eine analoge Darstellung der Bildungsanstalten für das weibliche
Geschlecht, endlich der verschiedenen Hochschulen, abhängig ist.
Franz Villicns, die Geschichte der Rechenkunst vom Alterthume bis zum
XVIII. Jahrhundert mit besonderer Rücksicht anf Deutschland und Öster-
reich. Mit Illustrationen u. s. w. Wien, Karl Gerolds Sohn. 2. verb. und
verm. Aufl. 110 S. 8°.
Ein mit ausgebreiteter Sachkenntnis und großer Sorgfalt bearbeitetes
Werk, mit welchem sich der Verfasser, als Mathematiker wie als Methodiker
längst ehrenvoll bekannt, ein neues Verdienst um die Wissenschaft und zu-
gleich um die Unterrichtsprazis erworben hat; denn die Geschichte der Rechen-
kunst gehört nicht nur zu den interessantesten Phänomenen der menschheit-
lichen Culturentwickeluog , sondern gewährt auch der Lehrkunst wichtige
Gesichtepunkte und Winke. Das vorliegende Werk sei daher bestens em-
pfohlen. J. 8.
Herrn. Redeker und Willi. Pütz, Der Gesinnungsunterricht im ersten
und zweiten Schuljahre oder: Vorbereitungscursus für den Religionsunter-
richt Mühlheim a. d. Ruhr, Hugo Baedeker. 165 S.
Die Verfasser dieses Buches sind der Ansicht, dass die biblischen Geschich-
ten weder in Bezug auf den Inhalt noch in Bezug auf die Form dem Stand-
punkt sechsjähriger Kinder entsprechen, daher, mit Ausnahme der Jugend-
geschichte Jesu, nicht in die Anfangsciasse gehören und ihnen ein vorbereitender
Cursus vorangehen müsse. Der letztere könne aber weder im Anschauungs-
unterrichte odor der Heimatkunde, wie manche Pädagogen wollen, noch in
Märchen, wie Ziller vorschlug, mit geboten werden, sondern es würden sich
hierzu besonders Kinder- und Thiergeschichten eignen. Ihr Lehrstoff für den
elementaren Religionsunterricht ist nun folgender: Erstes Schuljahr: Hey'sche
Fabeln, Krumtnachersche Parabeln, Jugendgeschichte Jesu; zweites Schuljahr:
Geschichte von der frommen Ruth, Geschichte Josephs, Jesus als Kinder- und
Menschenfreund. Das Buch führt den hier bezeichneten Lehrstoff vollständig
vor und zeigt dann in einer Reihe von Lehrbeispielen die methodische Be-
handlung desselben. Die Sache bedarf der Prüfung. Jedenfalls aber zeigen
die Verfasser eifrige Hingebung an die vorliegende Aufgabe und didaktische
Gewandtheit, weshalb ihr Versuch der Beachtung wert ist und jedem Elementar-
lehrer nützliche Anregungen bieten wird.
Berthelt, Geographie in Bildern. 5. Aufl., neu bearbeitet von Schill-
mann. Leipzig, Jul. Klinkhardt. (Pr. 6 M.)
Berthelts Charakterbilder liegen in dieser fünften Auflage vollständig neu
bearbeitet vor. Insbesondere die „ Städtebilder" sind den Umgestaltungen
unserer Großstädte in der jüngsten Vergangenheit gemäß in dieser nenen Auf-
lage umgearbeitet; einige weniger anschauliche Schilderungen sind durch ge-
lungenere ersetzt, die seit der 4. Aufl. erschienen sind. Der Herausgeber
begnügte sich zumeist nicht mit dem bloßen Abdruck, sondern gestaltete die
Schilderungen mit Rücksicht auf seinen pädagogischen Zweck um, kürzte sie
oder vereinigte auch zwei oder mehrere Schilderungen zu einem Ganzen, aus
der oinen das, aus der anderen jenes auswählend, wie es eben sein Ziel ver-
langte. Hie und da griff er selbst zur Feder, um ein Stück Land oder eine
Stadt, für die keine geeignete Schilderung vorlag, dem jugendlichen Leser vor
Augen zu führen*). Kaum eine Gegend, besonders unseres Vaterlandes, die
*) Die Artikel „Bulgarien" und „Montenegro* verdienten eine Umarbeitung
denn hier finden sich manche ungehörige Hyperbeln und auch sachlich Unrichtiges,
z. B. Man könnte Bulgarien eine natürliche Festung nennen, weil es von hohen Ge-
birgen umstarrt ist, deren Engpässe unübersteiglich sind. Die höchsten er-
heben sich steiler gegen den Himmel als selbst die schroffsten Gipfel der Alpen . ..
Auf diesen Gebirgsketten befinden sich ungeheure Wiesen, die sich m den
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805
nicht beschrieben wäre. Es sind im ganzen 216 Bilder, darunter 125 Bilder
aus Europa; 110 Holzschnitte, sauber ausgeführt und gut ausgewählt, illu-
strieren den Text. Gegenüber anderen Charakterbildern trugen sie in der
Darstellung das Eigentümliche an sich, dass sie für die Volks- und Bürger-
Karte der Verbreitung der Deutschen in Europa, III. und IV. Section.
Verlag Flemming in Glogau. Preis der Section 3 M.
Die dritte und vierte Section veranschaulichen die Verbreitung der Deutschen
in Österreich-Ungarn (bis zur Theißlinie) und in Südwestdeutschland, der Schweiz
und Oberitalien. Da diese beiden Sectionen auch die Vertheilung der nicht-
deutschen Völker angeben, so sind sie zugleich ethnographische Karten der
oben genannten Gebiete überhaupt und, was Ausführung und Genauigkeit im
Detail anlangt, wahre Prachtblätter. Wir wenigstens erinnern uns nicht,
etwas so Obersichtliches und trotz des vielen Details so Klares unter den
ethnographischen Karten Österreich-Ungarns gesehen zu haben, und auf dem
jüngsten Geographentage zu Wien war doch manches Gute ausgestellt. Für
die Deutsehen in der Diaspora ist die Karte ein Augentrost und eine Herz-
stärke. W.
Methodik des natnrgeschichtliclien Unterrichtes von Prof. Dr. Carl
Rothe, Zweite verbesserte Auflage. Wien 1891, Verlag von Pichlers
Witwe und Sohn. 124 Seiten. Preis 1 M. 60 Pf.
Der Verf. dieser Methodik ist als Verf. vieler methodischer Lehrbücher für
Naturgeschichte bekannt, die große Verbreitung besitzen. Es lässt sich daher
von vornherein erwarten, dass er auch in diesem Werke das Richtige treffen
und den Lehrern manchen nutzbringenden Wink geben wird. Und so ist es
auch. In den Abschnitten Ziel und Zweck, Lehrform, Lehrstoff, Lehrmittel,
Geschichtliche Entwickelung der Naturgeschichte und eines methodischen Unter-
richtes in derselben und endlich Vertheilung des Lehrstoffes auf einzelne
Stufen folgt er zum Theile den behördlichen Anordnungen, zum Theüe gibt
er eigene beherzigenswerte Anschauungen kund. Besonders den Artikel: Lehr-
mittel möchten wir der größten Beachtung empfehlen, da unsere eigene Er-
fahrung uns überzeugt hat, dass in dieser Hinsicht am meisten gesündigt wird.
Den Lehrern jeder Kategorie sei das Büchlein aufs Wärmste empfohlen.
C. R. R.
Der Zweck und Umfang des Unterrichtes in der Naturgeschichte
am Gymnasium. Vortrag gehalten in der Versammlung des Vereins
Schweiz. Gymnasiallehrer in Baden von Dr. F. Mühlberg. Aaraii, Druck
und Verlag von H. R. Sauerländer.
In sehr gelungener Weise setzt der Verfasser die Verhältnisse des natur-
wissenschaftlichen Unterrichtes auseinander, Deutschland und die Schweiz, das
Einst und Jetzt mit einander vergleichend und gibt methodische Winke, wie
der naturhistorisebe Unterricht nicht nur die Wissensmenge fördernd beein-
flusst, sondern wie derselbe Herz und Verstand in einer Weise bilden kann,
wie kaum eine andere Disciplin. Der Verf. spricht viele Wahrheiten aus,
wofür man ihm nur dankbar sein kann. Das Werkehen kann allerseits, auch
den Gegnern der naturwissenschaftlichen Disciplin, bestens zum Studium em-
pfohlen werden. C. R. R.
Aus meinem naturgeschichtlichen Tagebuche. Beobachtungen und
Aufzeichnungen für einen fruchtbaren naturgeschichtlichen Unterricht von
H. H. Groth, Lehrer in Kiel. Langensalza, Druck und Verlag von Hermann
Beyer & Söhne. 1891. IV und 158 S. Preis IM. 60 Pf., geb. 2M. 40 Pf.
Wolken verlieren . . . Bulgarien stößt an zwei Meere etc. etc. Die Montene-
griner sprechen noch die alte 8prache, die vom Ararat stammt. Die West-
seite der Berge Montenegros ist schwärzer als Kohle etc. etc.
W.
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806
An den verschiedensten Orten werden Studien darüber gemacht, nach
welcher Methode man am nutzbringendsten de« naturgeschichtlichen Unter-
richt gestalten soll und naturlich diese Studien — veröffentlicht. Gutes und
Schlechtes läuft in diesem Genre auf dem Büchermärkte herum, jeder, auch
mancher dazu gänzlich unberufene Lehrer, der einige Pflanzen gesammelt und
bestimmt, einige Schmetterlinge oder Käfer gefangen und aufgespießt bat und
deren letzte Todeszuckungen sah, kramt seine Weisheit aus. Eine ehrenvolle
Ausnahme macht unter diesen Methodikern (?!) der Verf. dieses Werkes, dem
man es in jeder Zeile ansieht, dass jahrelanges Beobachten und Studium der
Naturkörper zu den Ideen geführt hat, welche hier niedergelegt sind. Den
Grundsatz, auf welchem seine Methode beruht, bespricht er in dem ersten
Artikel: der Lehrer lege kein Herbarium an, soi dem er führe ein natur-
geschichtliches Tagebuch. Möchten wir auch nicht jede seiner Sentenzen
unterschreiben oder vertbeidigen, so liegt doch dem Ganzen ein beherzigens-
werter Gedanke zugrunde, der sich insbesondere in den zwei Thesen ausspricht:
In dem Tagebuch sind vorzugsweise die Resultate von Beobachtungen des
Lebens der Pflanzen und der Thicre zu notiren, und zweitens: Ein solches
Tagebuch ist dem Lehrer eine Stütze sowol bei der Vertheilung des natur-
gcschichtlichen Stoffes als auch bei der naturgeschichtlichen Behandlung; jene
wird dann die Tbierwelt im Sommer nicht vernachlässigen, und diese wird die
Entwickelungsstufen der Pflanzen und Thiere mehr als bisher geschieht berück-
sichtigen. Die verschiedenen Beobachtungsnotizen Uber Pflanzen und Thiere
zeigen, wie der Lehrer vorgehen soll, um, freilich manchmal erst nach länge-
rer Zeit, alle Daten, welche notwendig sind, zusammenzubringen. Wir wollen
hier nicht das Verzeichnis der 18 Aufsätze, welche auf Grund solcher Notizen
verfasst und für den Vortrag bestimmt sind, wiedergeben, sondern bemerken
nur, dass die Mehrzahl derselben sehr interessant und für die Schüler auf-
munternd sind. Manchmal ist wol Unbedeutendes zu sehr in die Breite ge-
zogen, und was wir seinerzeit über Junge's „Dorfteich" bemerkten, müssen
wir hier wiederholen: es scheint uns eine solche Methode — mit dem Endziel
einer richtigen Zusammenfassung der Gemeinschaft der unter ähnlichen Be-
dingungen existirenden Lebewesen — für den Lehrer in der Stadt kaum oder
gar nicht durchführbar, da er wegen Zeitmangels und wegen zu großer Ent-
fernung vom Naturleben kaum dazu kommen kann, im Freien regelmäßige
Beobachtungen zu machen, um sie in der Schule zu verwerten. Er wird Ein-
zelnes, was im Buche vorgeschlagen ist, befolgen können: er soll das Keimen
der Pflanze demonstriren , einen Schmetterling durch Zucht heranbilden, die
Entwickelung der Spinne den Kindern zeigen; aber den Reiz der Wiese, die
Schönheit des Lebens im Walde, das Thun und Treiben im Wasser wird er
selbst nicht zu jeder Zeit des Jahres ausgiebig beobachten und so den Schillern
lebhaft vortragen können, weil ihm Zeit und — Geld dazu mangelt. Deesen«
ungeachtet muss man immer solchen Anregungen dankbar gegenüberstehen
und aus denselben, was ausführbar ist, auch wirklich entnehmen. Wahrhaft
erhebend und nutzbringend kann der naturgeschichtliche Unterricht nur durch
lebendige Demonstrationen werden, welche uns das In- und Durcheinanderleben
und die Wechselbeziehungen der Lebewesen zeigen — gegenüber dem starren
Doctrinarismus einer systematischen Naturgeschichte — , und deshalb empfehlen
wir nicht nur Volksschullehrern , sondern auch Lehrern der Naturgeschichte
an höheren Anstalten Groths Buch auf das angelegentlichste. Mögen sie
soviel Vergnügen und offen gesagt — Belehrung aus demselben schöpfen, als
wir in ihm gefunden haben. C. R. R.
Schulbotanik. Tabellen zum leichten Bestimmen der in Norddentschland
häufig wildwachsenden und angebauten Pflanzen mit besonderer Berück-
sichtigung der Ziergewächse und der wichtigsten ausländischen Cultnr-
pflanzen nebst den Grundzügen der allgemeinen Botanik bearbeitet von
W. Bertram t Pastor zu St. Catharinen in Braunschweig. Dritte Auflage,
Mit 200 in den Text eingedruckten Abbildungen. Braunschweig, Bruhns
Verlag. VII u. 180 Seiten. Preis 1 M. 20 Pf.
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807 —
Wir haben die frühere Auflage eingehend besprochen und müssen hier
nur unser Urtheil wiederholen, dass in Bertram» Büchlein ein recht praktisches
Bestimmungsbuch geboten wird, zumal dasselbe auch über den Rahmen hinaus-
geht, der sonst Bestimmungsbücher einengt, indem es auch Ziergewächse und
in- und ausländische Culturpflanzen in seinen Bereich zieht. DasB bei der ge-
ringen Ausdehnung des Werkchens nicht alle Species oder Varietäten aufge-
führt sind, halten wir für keinen Nachtheil im praktischen Gebrauche.
a r. r.
Müller-Pilling, Deutsche Schulflora, zum Gebrauch für die Schule und
den Selbstunterricht. Erster Theil, Verlag von Th. Hofmann in Gera.
48 Tafeln, Preis 4 M. 20 Pf.
Fast alljährlich erscheinen auf dem Büchermarkte Pflanzenabbildungen,
welche den Unterricht in der Botanik unterstützen und fördern sollen. Die-
selben sind meistens systematisch geordnet und enthalten schon aus diesem
Grunde, wenn 6ie nicht sehr reichhaltig sind, manche der gewöhnlichsten
Pflanzen nicht, dafür aber überflüssige Darstellungen. Die vorliegende Schul-
flora geht auf einem anderen Wege vorwärts. Im ersten Theile sind nur
solche Pflanzen abgebildet, welche zu den gewöhnlichsten gehören und die
Möglichkeit bieten, die Hanptformen der Wurzel-, Stengel-, Blätter- und Blüten-
gebilde zu erläutern und den Begriff von Gattung und Art zu festigen.
Nebenbei soll damit die Anlegung eines Herbariums, welches ja doch stets das
Endziel sein soll, erleichtert werden. Im nachfolgenden zweiten und dritten
Theile soll diese Kenntnis erweitert und auf die Hauptfamilien der Blatt- und
Spitzkeimer ausgedehnt und der Übergang zu den Ordnungen geschaffen wer-
den; der vierte Theil soll endlich einen ergänzenden Abaehluss bilden. In
einem Anhange wird, wenn sich das Bedürfnis dafür zeigt, über die Krypto-
gamen und ausländische Zier- und Kulturpflanzen gehandelt werden. — Die
Abbildungen sind, wenn auch mitunter etwas steif und in den Farben zu
wenig frisch, als naturgetreu und gelungen zu bezeichnen, besonders sind die
Durchschnitte und Detailzcrgliederungen höchst anerkennenswerte Beigaben,
wodurch die Charakteristik der Pflanzen ungemein gut illustrirt erscheint.
Für die Schule und den Selbstunterricht, besonders für die Hand des Lehrers,
wird das Werk vorzügliche Dienste leisten, da dem letzteren dadurch leicht
die Möglichkeit geboten wird, Einzelheiten, die er sonst nur mühsam den
Schülern in natura zeigen könnte, in vergrößerter Form auf der Tafel vor-
zuzeigen. Der Preis ist ein relativ billiger. C. R. R.
Räther, Heinrich, Theorie und Praxis des Rechenunterrichtes. I. Theil.
Die Zahlreihe bis 100. 108 S. 1 M. 20 Pf. — II. Theil. Die Zahlreihe
bis 1.000.000. 310 S. Breslau 1891, Morgenstern. 2 M.
Der Verfasser hat unser Interesse gleich zu Anfang des Buches in hohem
Grade gewonnen, da er die sittliche Bedeutung des Rechenunterrichtes hervor-
hebt. Die Ausnabmslosigkeit der Gesetze der Mathematik, gleich wie die
Befähigung desjenigen, der sie beherrscht, an die Lösung schwieriger Fragen
heranzutreten, heben einerseits das Selbstbewußtsein, während sie andererseits
die Grundlage einer Weltanschauung bilden, die wir ausschließlich als modern
zu bezeichnen vermögen. Der Verfasser geht sodann über zur Feststellung des
Zahlenbegriffes, welchen er als Ergebnis einer recht ausführlichen und klaren
Darlegung ein Abstractum nennt. Ganz einverstanden sind wir auch mit
seiner Empfehlung der Methode Grube's für den Zahlenraum bis zehn, sowie
mit der Hervorhebung der großen Wichtigkeit, welche der Zahlreihe 10- 20
zukommt; dagegen sind wir nicht einverstanden mit der Empfehlung des
Ti Hieb sehen Rechenkastens, weil die russische Rechenmaschine ein weit
vorzüglicheres Anschauungsmittel bildet; auch sind wir nicht damit einver-
standen, schon im Zahlenraume 100 den Unterricht nach Rechnungsarten zu
gliedern. Es tritt in diesem Zahlenraume als wichtigste und schwierigste
Aufgabe die Erlernung des Einmaleins an den Schüler heran; soll nun das
Gedächtnis nicht überladen, und dadurch Verwirrung hervorgerufen werden,
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— 808 —
so empfiehlt sich der allmähliche Vorgang nach Decaden, welcher eine weit
sicherere Bürgschaft des Erfassens und Behalteng gewährt.
Zu Beginn des zweiten Theiles fanden wir eine recht gute Auseinander-
setzung Uher die sogenannten algebraischen Aufgaben. Sie sind in der Volks-
schule Aufgaben des Kopfrechnens und von sehr erheblichem formellen Bil-
dungswerte, setzen jedoch voraus, dass die Seminarbildung des Lehrers in
diesem Zweige eine hinreichend weitgehende war; denn ungleich der schrift-
lichen Lösung von Gleichungsaufgaben, bei welcher immer derselbe Vorgang
befolgt wird, erfordert deren mündliche Lösung fast für jedes Beispiel eine
andere Behandlung. — Im folgenden Paragraph werden die im Rechenunter-
richte vorkommenden Fremdwörter verdeutscht; dabei fuhrt der Verfasser
selbst an, aus welcher Ursache die Verdeutschung von „plus" durch „und"
unzulässig ist, doch will er sich unter Berufung auf ein österreichisches Lehr-
buch von dem geliebten „Und" nicht trennen. Er hat Unrecht mit der Be-
rufung auf jenen Österreicher, denn hier wie dort wird durch die nicht
akademisch gebildeten Seminarlehrer Verwirrung in den Rechenunterricht
hineingetragen, und es sind hier wie dort nur die akademisch gebildeten
Lehrer, welche gegen derlei Missbrauch Stellung nehmen. — Der Verfasser
empfiehlt zu unserer großen Freude die Einführung des österreichischen Divi-
sions-Verfahrens; natürlich setzt dasselbe voraus, dass die Snbtraction mittelst
Ergänzung gelehrt werde, und dass man, um das leidige Umlernen zu er-
sparen, gleich von Beginn der schriftlichen Division das Aufschreiben der
Theilproducte unterlasse. Wir hatten schon viele Schüler theils aus Deutach-
land, tbeils auB Ungarn zu unterrichten, welche des österreichischen Divisions-
Verfahrens unkundig waren; der Heiterkeitaerfolg bei ihren Mitschülern ge-
nügte, um ihnen dasselbe in acht Tagen vollkommen geläufig zu machen.
Der Verfasser bemerkt des Fernern selbst, dass ein wesentlicher Unter-
schied zwischen „Theilen" und „Enthaltensein" nicht besteht, wenn aber
dennoch dieser Unterschied fortgesetzt aufrecht erhalten wird, m können wir
dies nur als ein unnöthiges Erschwernis einer thatsächlich einfachen Sache
bezeichnen. Wenn die Regel aufgestellt wird: Beim Enthaltenscin müssen die
gogebenen Zahlen zuerst gleichnamig gemacht werden, so kommt uns unwill-
kürlich der Fall in Erinnerung, dass Quadratmeter durch Längenmeter zu
dividiren seien, und wir müssen fragen, ist dieses ein Theilen oder Messen?
Darauf antwortet die Geometrie, dass es keines von beiden sei, sondern, dass
der Scbluss auf die Benennung des Quotienten, ein vom rechnungsmäßigen
Vorgange ganz unabhängiges Urtheil erfordere, so wie auch in allen anderen
Fällen. Wenn man z. B. drei Äpfel mit drei Pfennigen multiplicirt , so kann
das Product neun Äpfel oder neun Pfennige heißen, je nachdem vorausgesetzt
wurde, dass ein Apfel drei Pfennige kostet, oder dass man um einen Pfennig
drei Äpfel erhält. — Bei der Addition empfiehlt der Verfasser zur Probe die
Addenden in umgekehrter Reihenfolge zusammenzuzählen, dabei entgeht es
ihm aber, dass bei der Multiplication eine ganz Ubereinstimmende Probe mög-
lich ist, nämlich durch Vertauschung der Factoren.
Wir stimmen mit Bedauern zu, dass durch das Gesetz nur bei einem
Theile der Maße und Gewichte das metrische System vollständig durchgeführt
erscheint, müssen es jedoch der Schule zur Last legen, nicht mit größerem
Nachdrucke auf die thatsächliche Durchführung des metrischen Systems hin-
gearbeitet zu haben. — Auf die Frage, was ein DecimaJbruch sei, und ob das
Rechnen mit denselben vor oder nach dem Rechnen mit gemeinen Brüchen zu
lehren sei, haben wir die Antwort: Ein Decimalbruch ist ein System bruch,
welcher an Pfennigen und Millimetern ein sehr vorteilhaftes Anschauungs-
mittel findet. Wogegen ein Anschauungsmittel für Drittel, Sechstel, Siebentel,
sich thatsächlich nicht findet — Recht interessant fanden wir auch die ge-
schichtlichen Nachrichten, besonders die Erörterung vom Übergange des Rech-
nens am römischen Abacus zum Linienabacns mit der nachfolgenden Ein-
führung der Null. Dagegen erscheint es als überflüssig, Bilder ursprünglicher
Ziffern zu entwerfen, welche in Wirklichkeit niemals vorgekommen sind.
Wenn wir uns mit dem vorliegenden Werke etwas ausführlicher beschäf-
tigt haben, so geschah dies deshalb, weil wir im ganzen mit demselben wol
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— 809 —
einverstanden sind and nur wünschen, es möge der Verfasser bei einer zweiten
Auflage die beregten Mangel der Verbesserung für Wert halten; im übrigen
Mittenzwey, L., Dir. in Leipzig: Die Darstellungsformen im Rechnen
nebst methodischen Andentungen. 103 S. Gotha 1891, Behrend. 1 M. 60 Pf.
Im Vorworte beklagt der Verfasser den Schaden, welchen gewisse Schlag-
worte im Rechenunterrichte angerichtet haben. Er führt aus, dass das Rech-
nen nicht nur ein Wissen, sondern auch ein Können von Seite des Schülers
erfordere, und letzteres kann einer Anzahl verschieden begabter Schüler nicht
rascher und verständlicher beigebracht werden als durch ein Normalverfahren.
Es gibt jedoch Schulmänner, welche immerfort gegen den Mechanismus don-
nern, dabei aber ganz übersehen, wie sehr ein vorbereitender Ansatz geeignet
ist, Übersichtlichkeit und Klarheit in eine Sache zu bringen. Wir führen zu
Gunsten dieser Ansicht des Verfassers an, dass Dr. Theodor Walter die
Lösung der schwierigsten algebraischen Aufgaben lediglich durch einen mit
Geschick ausgeführten, vorbereitenden Ansatz den Schülern übermittelt. Auch
darin stimmen wir dem Verfasser bei, dass er die Ursache des mangelhaften
Erfolges im Rechenunterrichte in der ungenügenden mathematischen Aus-
bildung der Lehrer auf dem Seminare findet.
Überhaupt sind wir den Ausführungen des Verfassers mit großem Interesse
gefolgt und haben uns an denselben erfreut, ebensowol, weil sie mit verstän-
digerKlarheit vorgetragen sind, als weil sie mit unseren eigenen Erfahrungen
und Überlegungen zusammentreffen. So hat es uns ganz besonders angenehm
berührt, die zwecklose Unterscheidung von Messen und Theilen verurtheilt zu
finden; ebenso löblich ist es, thunlichsten Anschluss des Rechenunterrichtes an
die wissenschaftliche Behandlung der Mathematik zu suchen. Nur an einigen
Stellen haben wir die Angaben des Verfassers von unserer Erfahrung ab-
weichend gefunden. Der Verfasser will die Subtraction mittelst Ergänzung
nicht im dritten Schuljahre vornehmen, sondern einer späteren Klasse vor-
behalten; wir machen es umgekehrt, wir lehren zuerst die Subtraction mittelst
Ergänzung und das Borgen kommt nur vor beim Rechnen mit Sorten oder
gemischten Zahlen. Darum erscheint dem Verfasser auch das österreichische
Divisionsverfahren für die Volksschule nicht geeignet, während wir von An-
beginn des schriftlichen Rechnens kein anderes Verfahren kennen und üben,
und damit eine sehr beträchtliche Zeitersparnis erzielen. — Zur Vermeidung
des Umlernen8 empfiehlt es sich, auch in der Volksschule das Additionszeichen
mit „mehr" und das Gleichheitszeichen mit „ist gleich" zu lesen.
Wir stimmen dem Verfasser bei, dass jene Art von Brüchen zuerst zu
lehren sei, welche dem Verständnisse des Schülers näher liegen; wir meinen
aber, dass dies die Decimalbrüchc seien, und zwaT in der Form der hundert
Pfennige einer Mark, denen alsbald die tausend Millimeter eines Meters folgen.
Ausserdem spricht zu Gunsten der Decimalbrüche, dass sich das Rechnen mit
denselben fast ohne Hinzuthun neuer Regeln an das Rechnen mit den ganzen
Zahlen anschließt; während doch dem Rechnen mit gemeinen Brüchen, wenn
es belehrenden Inhalt gewinnen soll, die Tbeilbarkeitsregeln und das Auffinden
vom Maß und Vielfachen vorausgehen müssen.
Wie schwer Verbesserungen durchdringen, und wie sehr wir vom alt-
gewohnten beherrscht werden, dafür hat uns der Verfasser selbst ein Beispiel
gegeben: obwol er vorher ausdrücklich betont, dass man „durch" odeT ?inu
dividirt, so finden wir doch auf Seite 42 in fünf Zeilen nacheinander dreimal,
dass „mit" einem Divisor dividirt wird. Doch das Beste ist der Feind des
Guten, und so können wir nur wünschen, dass dieses gute Buch recht viel
Boden gewinne. H. E.
3Iaier, J. G., Oberl. zu Künzelsan, Lehrbuch der Elementar- Arithmetik
für Lehrerbildungsanstalten etc. I. Theil. Das Rechnen mit absoluten
Zahlengrössen. 2. venu, und verb. Aufl. 264 S. Stuttgart 1892, D. Gan-
dert. 4 M.
H. E.
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- 810 —
Der Verfasser gebt von der Notwendigkeit aus, dass der Lehrer mehr
können müsse, als der Schaler; er bietet sonach den Seminaristen mit Vor-
liegendem ein sehr ausführliche« Lehrbuch der Arithmetik besonderer Zahlen.
Wir loben daran besondere die richtige Stoffverteilung, welche an die vier
Grundrechnungsarten die Theilbarkeitskennzeichen anschließt, an welche sich
das Aufsuchen von Maß und Vielfachen und das Rechnen mit den Brüchen
folgerichtig anreiht. Die bürgerlichen Rechnungsarten werden nach verschie-
denen Seiten betrachtet und mehrfache Lösungsvorgänge dafür angegeben, um
dem Lehrer möglichste Einsicht und gründliches Erfassen des Wesens dieser
Aufgaben zu vermitteln. Nach der ausführlichen formellen Erörterung folgt
eine gleich eingehende sachliche Auseinandersetzung über alles, was zum Ge-
biete der bürgerlichen Rechnungsarten und der sogenannten algebraischen Auf-
gaben für diese Stufe erforderlich ist. An sehr zahlreichen Beispielen werden
die Auseinandersetzungen erläutert und sind noch mehr derselben zur Übung
beigegeben, so dass die Anführung der Resultate einen eng bedruckten Druck-
bogen in Anspruch nimmt. — Wir bedauern nur, dass der Verfasser sich noch
nicht entschließen honnte, nach dem österreichischen Verfahren auf das An-
schreiben der Thcilproducte bei der Hultiplication zu verzichten.
Die erste Auflage dieses Buches ist schon vor nahezu zehn Jahren er-
schienen, und wir haben schon damals dessen Vorzüge mit Anerkennung her-
vorgehoben; seither hat es der Verfasser nicht unterlassen, sein Werk in den
wiederholten Auflagen zu verbessern und zu vervollkommnen. Wir müssen es
daher ah* ein ausgezeichnetes Lehrmittel für Seminaristen bezeichnen und es
denselben auf das wärmste empfehlen. H. E.
Neu erschienene Bücher.
Chr. Hamann, Friedrich Schiller als Mensch und Dichter. Ein volkstümlich
dargestelltes Lebensbild. Hamburg, Herold. 178 S. Geb. 1 M. 25 Pf.
Fritz Jonas, Schillers Briefe. Kritische Gesammtausgabe in der Schreibweise
der Originale und mit Anmerkungen. Stuttgart, Leipzig, Berlin und Wien,
Deutsche Verlagsanstalt. 1. Lieferung, Bogen 1 — 3. 25 Pf. (Soll in circa
95 Lieferungen a 25 Pf. erscheinen.)
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Dr. Woldemar Götze, Katechismus des Knabenhandarbeits-Unterrichts. Leipzig,
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führungen zum Lehrplane für den Turnunterricht an den Bürgerschulen in
Hannover. 143 Seiten mit 111 Abbildungen. Hannover, Karl Meyer.
Karl Richter, Über die Verbindung der Koch- und Haushaltungsschulen mit
der Mädchenvolksschule. Gekrönte Preisschrift. Leipzig, Max Hesse. 76 S.
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Franz Frisch, Schule der Rundschrift. Für den Schul- und Selbstunterricht
bearbeitet. In drei Heften. Prag, Wien und Leipzig, Tempsky und Freitag.
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Fr. Koch, Die Steilschrift und deren Anwendung in der Kanzlei, der Schale
und im öffentlichen Leben. Ein Leitfaden für jedermann zum Selbststudium.
13 Seiten und 8 lithogr. Tafeln. Kaiserslautern, Gotthold. 1 M.
E. Merkel, Methodische und praktische Anleitung zum Denkrechnen. I. Ab-
theilung: das Normalrechnen. Selbstverlag: München, Isarthorplatz la.
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E. R. Müller, Vierstellige logarithmische Tafeln der natürlichen und trigono-
metrischen Zahlen nebst den erforderlichen Hilfstabellen. Stuttgart, Jul.
Maier. 32 S. 60 Pf.
R. Granitz, Bilder aus der Geschichte des Königreichs Sachsen für sächs.
Volks- und Bürgerschulen. Leipzig, Heinrich Bredt. 24 S. 20 Pf.
Prof. R. Heidvich, Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht in den
höheren Schulen. Nach des Verfassers „Handbuch für den Religionsunter-
richt" auf Grund des Lehrplanes vom 6. Jan. 1892 bearbeitet. Berlin,
J. J. Heine. 16 S. 60 Pf.
Dr. J. Ell £el mann, Leitfaden bei dem Unterricht in der Handelsgeographie
für Handelslehranstalten und kaufmännische Fortbildungsschulen. Erlangen,
Palm & Enke. 295 S. 3 M.
Dr. R. PetersdorfF, Die socialen Gegensätze und ihre Ziele für die Schule
und Familie beleuchtet. Strehlen, E. Asser. 50 S. 1 M.
Georg Volk, Auf der Ofenbank. Erzählungen in Odenwälder Mundart. Mit
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Anton Kultscher, Hoch Österreich! Declamatorium für die vaterländische
Jugend, zugleich Handbuch für alle Schulfestlichkeiten und Hausschatz für
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führungen für Seminarien etc. Hannover, Meyer. 2 M.
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stufe. Weinheim (Baden), Ackermann.
Mohr, Unsere Methode der Rechtschreibung. Flensburg, Westphalen. 2 M.
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Stufen höherer Lehranstalten. Dusseldorf, Schmitz & Olbertz. 1 M. 50 Pf.
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Penitewiß und Pausegram, Leitfaden für den Rechtschreib- und Sprachunter-
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nistische Zusammenstellung). Berlin, Cronbach.
Schumann und Heinze, Leitfaden der preußischen Geschichte. 2. Aufl. (Mit
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Nutzer, Übersichten zur preußisch -deutschen Geschichte. Für die oberste
Stufe des Geschichtsunterrichtes. Hannover, Hahn.
Verantwortl. Redacteur Dr. Friedrich Ditte». Bschdruckerei J»li*i Klinkhardt, Leipzig.
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Les cours s'ouvriront le 22^' Octobre 1892.
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les examens d'Octobre seront recues du 1er au 8*«"« Oetobre.
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edueatifc, 5. Quai du Mont-Blanc
Lc Recteur: Professcur Gustave Julliard.
Verlag von Wilh. Schultze in Berlin,
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Hierzu 1 Beilage von Bleyl & Kaemmerer in Dresden.
Bik hdmekerei Julius Klinkbardt, Lfipxi^
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