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Full text of "Paedagogium : Monatsschrift für Erziehung und Unterricht"

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Paedagogium 


HARVARD  UN1VERSITY 


LIBRARY  OF  THE 

GRADUATE  SCHOOL 
OF  EDUCATION 




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i 

Paedagogium. 

- 

-  - 

Monatsschrift 

für 

Erziehung  und  Unterricht 

Herausgegeben 

< 

von 

J>r.  Friedi-ioli  X>itte«. 

XIV.  Jahrgang,  1892. 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 
1892. 


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GRADU.ATl  *riOOL  rF  LDLlCAflON 
MONAOE  C  GU7MAN  UBRJ^l 


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- 


i 


-Mitarbeiter  des  vierzehnten  Jahrganges. 


K.  Albert.   S.  571. 
O.  B.    S.  717. 

August  Böhm'  in  Königsberg  in  Ostpreußen.   S.  541. 
Rudolf  Dietrich  in  Hottingen-Zttrich.   Siehe  „Fachpresse". 

Dr.  Friedrich  Dittes  in  Wien.   S.  111,  113,  362,  640,  765.   Außerdem  Beiträge  zur 
'  „Pädagogischen' Rundschau"  und  Rccensionen. 

Dr.  Drenke,  Realgymnasialdirector  in  Trier.   S.  137. 
Alfred  von  Ehrmann  in  Baden  bei  Wien.   8.  698. 
Schulrath,  Elterich  in  Oschatz.   S.  375. 

Dr.  J.  Frohschanuner,  Prof.  a.  d.  Universität  in  München.   8.  409. 
A.  Gild,  Rector  in  Cassel.   S.  441,  527,  668. 
A.  Goerth,  Scbuldirector  in  Insterburg.   S.  273,  337. 
P.  H.   S.  685,  749. 
O.  Hintz,  Rector  in  Berlin.   8.  778. 
Joh.  Kaulich  in  Mähr.-Schönberg.   S.  432.  709. 
Moritz  Klcinert,  Schuldirector  in  Dresden.   S.  725. 

L.  Korodi,  Rector  des  evang.  Gymnasiums  A.  B.  in  Kronstadt  (Ungarn).  S.  1. 
Dr.  Gotthold  Kreyenberg,  Director  in  Iserlohn.   S.  477. 
r  Dr.  Job.  Kvacsala,  Prof.  am  Lyceuni  in  Pressburg.   S.  363. 

Th.  Landmann,  Rector  in  Schwetz.   S.  145. 
Dr.  Oskar  Lehmann  in  Leipzig.   S.  69. 
Rudolf  Lenk,  Seminaroberlehrer  in  Dresden.   S.  22. 
Johann  Lipp,  Oberlehrer  in  Matzendorf,  N.-ö.   S.  86. 

Dr.  H.  Morf,  a.  Seminardirector  u.  Waisenvater  in  Winterthur.   S.  209, 294, 551, 629. 
H.  Neugeboren,  Prediger  in  Kronstadt  (Siebenbürgen).   S.  237,  495. 

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—    IV  — 


Dr.  Karl  Pilz  in  Leipzig.   S.  98. 
W.  Rübenkamp  in  Crefeld.   S.  29. 

A.  Schaffer  in  Berlin.   S.  310. 

Th.  Schütz,  Director  in  Antwerpen.   8.  12. 

Otto  Ernst  Schmidt  in  Hamburg.   S.  158. 

Geza  Somogyi,  Seminardircctor  in  ZniöY&rtüja.   8.  518. 

B.  St   8.  505. 

F.  A.  Steglich  in  Dresden.   S.  509.  613. 

Alois  Stolz  in  Pforzheim.   8.  530. 

Wilhelm  Taschek  in  Viislau.   8.  771. 

Franz  Ticak,  Schulinspector  in  P.  in  Wien.   8.  396. 

Theodor  Venmleken,  Prof.  und  Seminardirector  i.  P.  in  Oraz.   S.  93,  232. 

Theod.  Ludw.  Wolf  in  Leipzig.   8.  420. 

C!.  Ziegler  in  Eichen.   8.  123. 

Hierzu  mehrere  Autoren,  die  nicht  genannt  sein  wollen,  ferner  die  Corrcspon- 
denten  der  „Rundschau"  und  die  Fachrecensenteu. 


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Inhalt. 


a.   Nach  der  Reihenfolge  verzeichnet. 

Seite 

Erziehliche  Wirksamkeit  dc-s  Lehrers,  Korodi  ,  .  ,  .  ,  ,  .  .  .  .  .  .  1 

Wie  wird  man  Hnirumfrt,  Schütz  .  ,  .  ,  ,  .  ,  s  ,  .  .  .  ,  .  .  ,  12 

Jgggnderziehung  unter  dem  Einflüsse  großstädtischen  Lebens.   Lenk  ....  22 

Die  Bedeutung  Schillers  für  die  .lugend.    Hohenkamp   29 

Pädagogische  Kundschau.  .  38.  111.  171.  246.  315.  377.  446.  580.  655.  726.  787 
Aus  der  Fachpresse.  Dietrich  .59.  129.  197.  322.  401.  466.  534.  597.  679.  738.  791 
Reccnsiouen    .    .    .    .      63.  132.  201.  259.  327.  405.  469.  538,  601.  681.  741.  800 

Pädagogische  Ausblicke  vor  hundert  .fahren.    Lehmann  69 

Eine  Analogie.    Lipp  86 

Beitrüge  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes.    Vernalekeu   93.  232 

Die  Pe>t  des  Aherglauhens  und  ihre  Heilung  durch  die  Erziehung.    Pilz    .    .  98 

Otto  Knust  als  Lyriker  und  Essayist.    Zieglcr  123 

Der  intensive  Unterricht.   Dronke  137 

üher  Berufsfreudigkeit.    Landinaun   145 

Die  Pädagogik  der  Kunst.    .Schmidt  158 

Johann  Jakob  Wehili,  der  erste  thurgauische  Seminar-Director.  Morf  .  209.  294 
Adolf  T.Meaterweg  über  Eduard  Beneke  und  dessen  Lehre  vom  Angeborenen. 

Neugeboren  .  237 

Die  kirchliehe  und  philosophische  Sittenlehre.    Uocrth   273.  337 

Fremdes  und  Heimisches  im  Unterrichte.    SchäfFer  310 

AmOB  Coineniiis.    Kvacsala  362 

Die  Bocialc  Frage  und  die  Schule.   Frohscliammer  409 

Drei  Monate  Fabrikarbeiter.  Ergebnisse  und  Forderungen  fürdie  Volksschule.  Wolf  420 

Muttersprache  und  (irainmatik.    Kaulich  432 

Volksbildung  und  Volkshildungsmittel.    Oild  441 

Des  Thüringer  Reformators  Friedrich  Myconiua  Verdienste  um  das  Schulwesen. 

Kreyenberg  477 

Die  Reform  und  die  Stellung  unserer  Schulen.    Neugeboren  495 

tiedankeu  über  das  unvermeidliche   Thema:   „Der  Socialismus  und  die  Volks- 
schule"   B.  St  505 

Sollen  die  Lehrerbildungsanstalten  Internale  oder  Kxtcrnatc  sein?  .Steglieh  .  509 
Die  Frage  der  einheitlichen  Mittelschule  in  Ungarn  und  ihre  Beziehung  zur 

Volksbildung.    Somogyi  618 

Schulprogrimme.    Güd  527 

Bei  den  Kleinen.    Erinnerung  aus  dem  Lchrorlebcu.    Stolz  530 


—    VI  — 


Da«  Gewissen  und  weine  Pflege.    Böhm   f>41 

Aus  der  Geschichte  der  TaubBtunnnenhildung.    Morf                               661.  62M 

Die  Lehrer  und  die  Presse.    Gild    .  ,  ,  .  ,  .    .    .  .  .  .  .    .    .    .  ,  hM 

Lehrers  Erdenwallfahrt.    Albert   ö71 

Bemerkungen  Aber  die  Frohschammersche  Philosophie,  insbesondere  Aber  ihre 

Beziehungen  zur  Pädagogik.    Steglich   t>13 

Der  Lehrer  Leumuud  und  ein  Geheimer  Justizrat.    Dittes   )>40 

Jean  Pauls  „Levana  oder  Erziehungslehre."    P.  H  <>8.r).  74H 

Bemerkungen  zur  Fremdwürtcrfrage.    Ehriiiann   698 

Macht  und  Arbeit  in  ihren  Bildungbeiemeuten.    Kanlich        .    .    .  .    .    .  7QH 

Die  Waffen  nieder,    o.  B   717 

Meister  und  Jünger  des  Lehrerberufs.    Kleinert   72;') 

Uber  den  Geburtsort  des  <  'omenius.    Dittes    7Gö 

Die  Bozirksschuliuspoction,  eine   ungelöste  Frage  des  österreichischen  Ynlks- 

Kchulwesenü.  Taschok  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  221 

Hygiene  und  Erziehung.    Ihre  Anwendung  zur  wirksamen  Bekämpfung  des. 

Idiotismus    Hinte   778 

b.  Logisch  geordnet. 

I.   Znr  Grundlegung. 

Wie  wird  man  Humanist?   12 

Die  Bedeutung  Schillers  für  die  Jugend   29 

Adolf  Diesterweg  über  Eduard  Beneke  und  dessen  Lehre  vom  Angeborenen  237 

Die  kirchliche  und  die  philosophische  Sittenlehre                                   273.  337 

Bemerkungen  Aber  die  Frohschammersche  Philosophie   613 

Macht  und  Arbeit  in  ihren  Bildungselementen   709 

II.  Zur  historischen  Pädagogik. 

Pädagogische  Ausblicke  vor  hundert  Jahren   69 

Johann  Jak.  Wehrli,  der  erste  thurgauische  Seminardirector  20H.  21J4 

Ainoa  Comeniug   3<>2 

Des  Thüringer  Reformators  Friedrich  Myconius  Verdienste  um  das  Schulwesen  477 

Aus  der  Geschichte  der  Tauhstummenbildung  551.  Ü2t> 

Jean  Pauls  „Levana  oder  Erzichungslehre"                                         685.  749 

Ober  den  Geburtsort  des  Comenius   7fiö 


m.  Über  Schulerziehnng,  Unterricht  und  Unterrichtsanstalten. 

Erziehliche  Wirksamkeit  des  Lehrers   1 

Jugenderziehung  unter  dem  Einflüsse  großstädtischen  Lebens   22 

Beiträge  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes                              ...  93.  232 

Die  Pest  des  Aberglaubens  und  ihre  Heilung  durch  die  Erziehung    ....  98 

Der  intensive  Unterricht   137 

Über  Beru&freudigkeit   146 

Die  Pädagogik  der  Knust   168 

Fremdes  und  Heimisches  im  Unterricht   310 

Muttersprache  und  Grammatik   432 


—    VII  — 


Sollen  die  Lehrerbildungsanstalten  Internate  oder  Exteruate  sein  509 


Sehulprograinme     527 

Bei  den  Kleinen   530 

Das  Gewissen  und  seine  Pflege   541 

Lehrers  Erden  wallfahrt   571 

Macht  und  Arbeit  in  ihren  Bildungselementen   709 

Die  Waffen  nieder   717 

Meister  und  Jünger  des  Lehrerberufs   725 

Hygiene  und  Erziehung   778 

IV.  Zur  Charakteristik  des  gegenwärtigen  Schulwesens.  Zeitgeschichtliches. 

Kinc  Analogie  86 

Otto  Ernst  als  Lyriker  und  Essayist  123 

Die  sociale  Frage  und  die  Schule  409 

Drei  Monate  Fabrikarbeiter  420 

Volksbildung  und  Volksbildungsmittel  441 

Die  Reform  und  die  Stellung  unserer  Schulen  495 

Uedanken  über  das  unvermeidliche  Thema:  „Der  Sozialismus  und  die  Vulksschule"  505 

Die  Frage  der  einheitlichen  Mittelschule  in  l'ngarn  51H 

I'ie  Lehrer  und  die  Presse  568 

Der  Lehrer  Leumund  nnd  ein  Geheimer  Justizrat  640 

Bemerkungen  xur  Frcmdwörterfragc  698 

Die  Waffen  nieder  717 

Die  Bezirksschulinspection.   Eine  ungelöste  Frage  des  österreichischen  Volks« 

Schulwesens  771 

Aus  der  Fachpresse  .  .  .  59.  129.  197.  322.  401.  466.  534.  597.  UV:».  VHS.  791 
Pädagogische  Rundschau  und  Mittheihmgen : 

Zeitstimmen   38.  171.  245.  315 

Deutschland  ....  42.  48.  320.  446.  680.  586.  655.  726.  727.  732.  737.  790 
Preuflen     ...  43.  173.  179.  247.  249.  317.  377.  450.  585.  586.  660.  663.  730 

Bayern  591.  734.  788 

.Sachsen  ISO.  187.  391.  064 

Württemberg  255 

Raden  191.  386.  665 

"Idenburg  40 

Bremen  40 

Hamburg1  589 

Klsass-Lothringen  789 

<Mtcrreich-üngarn   52.  400.  518.  593.  677.  787 

Bosnien  und  Hercegowiua   396.  737 

England  55.  115 

Belgien  463 

Italien  726 

Schweiz   193.  593.  671 

Bulgarien  738 

Nordamerika  58 


Reeensirte  Bücher. 


Alphabetische*  Verzeichnis  der  Autoren  (bei.  Titel)  derjenigen  Werke,  welche  im  vorliegenden  Jahr- 
gang recensirt  aind.  Die  beigesetzte  Ziffer  beseichnet  d  ie  Seite,  auf  der  sich  die  Recension  findet. 

Andree-Schillmann  471.  Anspach  267.  Aus  unserer  Väter  Tagen  205.  Berthelt 
804.  Bertram  806.  Borchardt  334.  Borncmann  801.  Btttticher  und  Kinzcl  682. 
Brenner  742.  Brockmann  474.  Brümmer  682.  Busomann  473.  Cassian-Rirhter  470. 
Deschmann  803.  Dictlein  263.  Bitte»  681.  Dittmar  332.  Engelmann  204.  Ernst 
205.  Ernst  und  Tews  259  ,  323.  Fischer  67.  Focke  und  Grass  406.  Frenzel- 
Wende  605.  Fuhrmann  475.  Fuß  472.  Gaeblcr  472.  Gelhorn  470.  Griesmann 
267.  Göschcnsche  Sammlung  469,  741.  Goethe- Funke  333.  Goethe-Haspcr  469. 
Götz  263.  Grotb  805.  Grundig  801.  Harms  und  Kallius  406.  Haselmayer  471. 
Heidrich  261.  Hei  uze  263.  Heinze  und  Goettc  332.  Hentschel  und  Jänickc  206. 
Hentschel  und  Märkel  134.  Hocevar  538.  Hoffmeyer  und  Hering  264.  Jacohi  262, 
611.  Jahn  606.  .Tara  608.  Junge  269.  Kaiser  801.  Kambly  405.  Keil-Ricekc  471. 
Keller  604.  Kluge  66.  Knabe  407.  Knilling  328.  Kriebel  540.  Kvacsala  800. 
Lautar-Lucas  207.  Lehmann  607.  Leimbach  133.  Lübsen-Schurig  407.  Lutz  681. 
Lyon  469.  Maier  809.  Martin  334.  Meyer  263,  267.  Mittenzwey  809.  Mtthl- 
berg  805.  Müller  743,  807.  Müllcr-Dandliker  263.  Munderloh-Kröger  328.  Muth- 
sam  742.  Naberth  471.  Nadler  261.  Neurath  746.  Ochler  803.  Ohler  605. 
Ohlert  63.  Ortlepp  330.  Perle  266.  Petersen  745.  Pctiscus  334.  Pilling  807. 
Plattner  264.  Pünjer  266.  Pütz  804.  Räther  807.  Redeker  804.  Renneberg  470. 
Richter  66,  473.  Riedel  135.  Rinne  333.  Roese  269,  610.  Rossmanith  745. 
Rothe  805.  Rothfuchs  802.  Ruefli  134.  Sarrazin  266.  Sauer  328.  Schader  207. 
Schäfer  67.  Schanze-Jager  610.  Scherer  327.  Schleichert  603.  Schneitier  266. 
Schotten  330.  Schram-Schttssler  608.  Schröer  132,  327.  Seeger  606.  8ervus  205. 
Shakespeare  334.  Spitz  741.  Splittegarb  67.  Sprockhoff  136  ,  472.  Steffen  473. 
Stejskal  260.  Stephan  132.  Stichler  66.  Stö  kcl  133.  Strien  265.  Sutermeister 
333.  Thoma  607.  Ulbricht-Kämmel  262.  Valette  328.  Velhagen  und  Klasing  204. 
Vilücus  743,  804.  Vohs  605.  Vrbka  801.  Weiß  603.  Wclcker  329.  Wcsendonck 
262.  Wesßolhöft  270.  Wichcrkievicz  328.  Wiedasch  604.  Wrobel  638.  Ziegler  201. 


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Monatsschrift 

Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 

Dr.  JEVie<Ii-ieIi  Ditte«. 

 _   * 

117.  Jabreanc 

L  Heft,  October  1891. 


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Inhalt  des  1.  Heftes. 


Erziehliche  Wirksamkeit  des  Lehrers.    Von  L.  Korodi- Kronstadt  (Ungarn).  . 

1 

Wie  wird  man  Humanist.    Von  Direktor  Th.  Sc  hiltz  -  Antwerpen  

12 

Jugenderziehung  unter  dem  Einflüsse  großstädtischen  Lebens.    Vom  Semintir- 

oberlehrer  Rudolf  Lenk-Dresdeu  

22 

Die  Bedeutung  Schillers  für  die  Jugend.   Von  W.  Rttbönkamp-tVetcld    .  . 

29 

38 

Literatur     

63 

Abonnements -Preis  pro  Quartal  M.  2.25. 
AUe  Buchhandlungen  und  Postanstalton  nehmen  Bestellungen  an. 


f  •'    • . 


Erziehliche  Wirksamkeit  des  Lehrers. 

Rede  zur  Eröffnung  der  Prüfungen,  gehalten  von  L.  Korodit  Rector  des  evangel. 

Gymnasiums  A.  B.  in  Kronstadt  (Ungarn). 

Hochgeehrte  Versammlung!  Es  gibt  in  unseren  Tagen  wol 
kaum  einen  auch  nur  halbwegs  gebildeten  Menschen,  dem  das  so  all- 
gemein verbreitete  Schlagwort  vom  „erziehenden  Unterrichte" 
ganz  fremd  wäre,  —  kaum  einen,  der  nicht  wüsste,  dass  sich  in  diese 
zwei  Worte  eine  bedeutsame  Forderung  an  unsere  Lehranstalten  zu- 
sammenfasst ,  —  eine  Forderung  freilich,  über  deren  Umfang  und 
Gewicht  gar  mancher,  der  frischweg  in  dieselbe  einstimmt,  sich  kaum 
genügende  Rechenschaft  gegeben  hat. 

Darum  habe  ich  geglaubt,  es  lohne  sich  wol  der  Mühe,  in  einem 
Kreise  von  Lehrern  und  Eltern,  wie  ihn  auch  diesmal  Berufspflicht 
und  warmes  Interesse  für  unsere  Schulen  zusammengeführt  hat,  uns 
darüber  zu  verständigen,  in  welchem  Ausmaße  und  mit  wieviel  Be- 
rechtigung die  Forderung  des  erziehenden  Unterrichts  gegenüber  der 
Schule  und  den  Lehrern  erhoben  werden  könne. 

Um  diese  wichtige  Frage  entscheiden  zu  können,  müssen  wir 
uus  vor  allem  klar  machen,  was  wir  unter  „Erziehung"  und  „Unter- 
richt" verstehen. 

Das  Wort  erziehen  ist  gleichbedeutend  mit  heraufziehen,  in 
die  Höhe  ziehen.  Dieselbe  Bedeutung  hat  die  Silbe  „er"  in  zahl- 
reichen anderen  Zusammensetzungen.  So  ist  erwachsen  =  aufwachsen, 
erbauen  =  aufbauen,  errichten  =  in  die  Höhe  richten. 

Der  zu  erziehende  Mensch  soll  eben  heraufgezogen,  seine  noch 
gar  nicht  oder  unvollkommen  ausgebildete  Vernunft  zu  der  Höhe  der 
gebildeten  emporgehoben  werden.  In  diesem  Sinne  kann  jeder  Mensch, 
so  alt  er  auch  sei,  erzogen  werden,  beziehungsweise  sich  erziehen 
lassen  durch  Beispiel,  Umgang,  Studium  u.  s.  w.  Da  aber  die  Jugend 
des  Hinaufziehens  am  meisten  bedarf,  so  bestimmen  wir  nach  Beneke's 
Vorgang  den  Begriff  der  Erziehung  wol  mit  Recht  als  „absichtliche 
Einwirkung  von  Seiten  der  Erwachsenen  auf  die  Jugend,  um  diese  zu 

Pird^.finm.    14.  Jahrg.  Heft  I.  1 

- 

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der  höheren  Stufe  der  Ausbildung  zu  erheben,  welche  die  Einwirkenden 
besitzen  und  tiberblicken." 

Es  umfasst  also  die  Erziehung  den  ganzen  Menschen,  seine  leib- 
lichen Kräfte  ebenso  wie  seine  seelischen,  und  in  der  Seele  ebensowol 
die  Verstandeskräfte,  als  seine  Gefühle,  Schätzungen,  Begehrungen, 
Willensacte. 

Wird  die  Erziehung  in  diesem  weiteren  Sinne  verstanden,  so 
muss  auch  der  Unterricht  zur  Erziehung  gerechnet  werden.  Es 
föllt  nämlich  dem  eigentlichen  Unterrichte  als  sein  Arbeitsgebiet 
die  intellectuelle  oder  Ver Standesbildung  zu.  Der  Unterricht  be- 
zweckt ja  die  Bildung  von  Anschauungen,  Begriffen,  Urtheilen,  Schlüssen, 
sowie  die  Aneignung  äußerer  Fertigkeiten  durch  den  Schüler,  wie 
Lesen,  Schreiben,  Zeichnen,  Singen  u.  s.  w. 

So  oft  wir  aber  Unterricht  und  Erziehung  nebeneinander  nennen 
oder  sie  einander  gegenüberstellen,  wird  der  Begriff  der  Erziehung 
enger  gefasst.  Dann  verstehen  wir  unter  Erziehung  diejenige  Bildung, 
welche  nicht,  wie  der  Unterricht,  zu  Vorstellungen  und  Fertigkeiten 
führt,  sondern  die  affectiven  und  praktischen  Seelensrebilde  be- 
gründet und  entwickelt,  also  Gefühle,  Schätzungen,  Begehrungen, 
Willensacte.  In  dieser  engeren  Bedeutung,  an  der  wir  im  Folgen- 
den festhalten,  ist  somit  der  Erziehung  vorzugsweise  die  Gemüths- 
und  Charakterbildung  zur  Aufgabe  gestellt. 

So  scharf,  wie  es  in  der  eben  festgestellten  Definition  geschehen 
ißt,  lassen  sich  aber  Erziehung  und  Unterricht  im  Leben  nicht 
trennen.  Auch  in  der  Seele  des  Menschen  sind  ja  die  Elemente,  aus 
denen  der  Verstand  erwächst,  nicht  absolut  geschieden  von  denjenigen, 
welche  der  Gemüths-  und  Charakterbildung  zugrunde  liegen.  Im 
Gegentheile  kann  ja  bekanntlich  das  nämliche  Seelengebüde  nach 
beiden  Bichtungen  hin  zur  Anlage  geworden  sein. 

Wenn  ich  jemandem  ein  schönes  Bild  zeige,  und  zwar  mehreremal 
zeige,  so  erhält  er  eine  Vorstellung  von  diesem  Bilde.  Um  diese  Vor- 
stellung ist  sein  Intellect  gewachsen,  somit  habe  ich  ihn  unter- 
richtet. Sofern  aber  der  Anblick  des  Bildes  ihm  Lust  gewährt  hat, 
habe  ich  durch  diese  Luststimmung  auf  sein  Gemüth  eingewirkt;  in- 
wiefern die  Sehvermögen  den  allmählich  entschwundenen  Lustreiz 
wieder  begehren  und  von  diesem  Begehren  aus  der  Wille  entsteht, 
das  Bild  wieder  zu  sehen  oder  zu  kaufen,  habe  ich  sein  Begehren, 
Wollen,  Handeln  in  Bewegung  gesetzt.  Gemüth  aber  und  Begehren, 
Wollen,  Handeln  fallen  in  das  Gebiet  der  Erziehung. 

Wie  wir  nun  das  Intellectuelle  in  der  Seele  nicht  scharf  trennen 


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können  vom  Affectiven  und  Praktischen,  so  greifen  auch  Erziehung 
und  Unterricht  gar  oft  ineinander  und  bedingen  sich  gegenseitig. 
Allerdings  haben  die  Eltern,  —  die  natürlichen  Lehrer  der  Kinder 

—  je  mehr  die  Bildung  fortgeschritten  ist,  die  Besorgung  des  Unter- 
richts, zu  dessen  Ertheilung  ihnen  die  Zeit  oder  die  erforderlichen 
Kenntnisse  oder  die  Lehrgabe  fehlte,  an  die  Schulen  übertragen. 
Doch  wird  auch  des  geschicktesten  Lehrers  Unterricht,  selbst  bei 
gut  veranlagten  Kindern,  nicht  den  erwarteten  Erfolg  haben,  wenn 
nicht  die  Erziehung  des  Elternhauses  für  den  Unterricht  vorgearbeitet 
und  das  Kind  einigermaßen  an  Fleiß  und  Aufmerksamkeit  gewöhnt 
hat  Wenn  somit  in  diesem  Falle  das  Interesse  der  Jugendbildung 
es  oft  verlangt,  dass  die  Erziehung  des  Hauses  dem  Unterrichte 
fördernd  vorarbeite,  so  wird  dagegen  —  und  zwar  mit  vollem  Rechte 

—  auf  der  anderen  Seite  immer  lauter  und  dringender  die  Forderung 
gestellt,  dass  der  Unterricht  zur  Förderung  der  Gesammterziehung 
der  Jugend  beitrage,  dass  also  der  Lehrer  nicht  nur  unterrichte, 
sondern  durch  den  Unterricht  und  neben  dem  Unterrichte  auch 
erziehe. 

Auf  welche  Weise  nun  von  Seiten  des  Lehrers,  dessen  Haupt- 
aufgabe unbedingt  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichts  liegt,  auch 
dieser  Forderung  Genüge  geleistet  werden  könne,  das  ist  die  Frage, 
für  deren  Beantwortung  ich  mir  die  geneigte  Aufmerksamkeit  erbitte. 
Diese  Beleuchtung  der  erziehlichen  Wirksamkeit  des  Lehrers 
möchte  einerseits  dazu  dienen,  überspannte  Forderungen  an  die  Er- 
erziehungserfolge  der  Schule  herabzustimmen,  anderseits  aber  uns 
Lehrern  zu  lebendigerem  Bewusstsein  zu  bringen,  wie  manches  ein 
gewissenhafter  Lehrer  in  und  neben  dem  Unterrichte  im  Auge  zu 
behalten  habe,  wenn  er  den  Forderungen  an  seine  Berufstreue  auch 
als  Erzieher  möglichst  vollständig  genügen  will. 

Die  erziehliche  Wirksamkeit  des  Lehrers  auf  den  Schüler  kann 
stattfinden  1.  durch  den  Unterricht  selbst  und  2.  neben  dem  Unter- 
richte. Die  erste  Frage,  die  wir  zu  beantworten  haben,  lautet  dem- 
gemäß so:  Was  vermag  der  Lehrer  durch  den  Unterricht  selbst 
zur  Erziehung  der  Jugend  beizutragen? 

Wenn  wir  den  Begriff  der  Erziehung  im  weiteren  Sinne  fassen, 
darunter  also  auch  die  Ausbildung  des  Verstandes  und  Aneignung 
äußerer  Fertigkeiten  verstehen,  so  stellt  sich  die  Sache  für  die  Beant- 
wortung dieser  Frage  sehr  günstig.  Die  Ausbildung  des  Intellectuellen 
ist  ja  geradezu  die  Hauptaufgabe  des  Unterrichts,  und  es  hat  noch 
niemand  daran  gezweifelt,  dass  in  der  Schule  die  Wahrnehmungs- 

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—    4  — 


und  Beobachtungsvermögen,  die  Kräfte  des  Gedächtnisses  und  Ver- 
standes, das  Urteilsvermögen  von  tüchtigen  Lehrern  gründlich  und 
vielseitig  entwickelt  werden,  dass  die  Schule  nicht  nur  berufen,  sondern 
auch  befähigt  sei,  wertvolle  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  aller  Art  neu 
zu  begründen  und  bis  zu  einer  ansehnlichen  Bildungshöhe  zu  steigern. 
Ja  noch  mehr:  der  gute  Lehrer  kann  durch  den  Unterricht  auch 
auf  die  Gemüths-  und  Charakerbildung  der  Schüler  einen  förder- 
lichen Einfluss  ausüben,  wenn  auch  nur  —  was  wir  sehr  betonen 
müssen  — -  einen  mittelbaren  Einfluss.  Wir  wollen  diesen  Punkt 
scliärfer  ins  Auge  fassen. 

Wenn  der  Lehrer  (sei  es  in  welchem  Fache  immer)  das  not- 
wendige klare  und  wolgeordnete  Wissen  oder  die  erforderlichen  Fer- 
tigkeiten selber  besitzt,  und  wenn  er  die  Gabe  hat,  ebenso  klares 
geordnetes  Wissen  und  Können  den  Schülern  für  ihren  Standpunkt 
beizubringen,  so  überliefert  er  den  Schülern  durch  den  Unterricht 
musterhafte  Corabinationen  (Begriffe,  Sätze,  Ideale).  Diese  aber  werden 
in  der  Seele  der  Schüler  zu  „regelnden  Nonnen",  welche  dann  weit 
über  dasjenige  hinauswirken,  woraus  sie  zuerst  entstanden  sind.  So 
wird  z.  B.  der  Schüler,  wenn  ihm  der  Lehrer  gewisse  mathematische 
Verhältnisse  zu  vollem  klaren  Verständnis  gebracht  hat,  das  Bewusst- 
sein  der  so  erworbenen  Klarheit  „nicht  nur  zu  anderen  mathe- 
matischen, sondern  auch  zu  Sprach-  und  Lebensverhältnissen  hin- 
zubringen, so  dass  ihm  fortan  nichts  genügt,  was  hinter  diesem  Ideale 
zurückbleibt,  und  dass  er  deshalb  mit  Anspannung  aller  Kräfte  dessen 
Verwirklichung  auch  für  diese  Gebiete  erstrebt ;t.  (Beneke.) 

So  wird  auf  allen  Wissensgebieten  sowie  auch  auf  dem  Gebiete 
der  äußeren  Fertigkeiten  das  Vollkommenere,  das  im  Schüler  durch 
den  Unterricht  angelegt  worden  ist,  zu  einem  lebendigen  Triebe 
ausgebildet,  zu  einem  Streben,  das  ihn  nicht  ruhen  lässt,  bis  auch 
die  späteren  Entwicklungen  sich  in  derselben  vollkomraneren  Form 
ausgeprägt  haben.  Je  häufiger  nun  auf  solche  Weise  das  Interesse, 
die  Freude  am  Wissen  und  Können  im  Schüler  erregt  wird,  je  mehr 
in  ihm  durch  das  lustgesteigerte  KraftgefUhl  auf  diesen  Gebieten  die 
Wertschätzung  der  intellectuellen  Güter  und  infolgedessen  auch  das 
Streben  nach  denselben  wächst:  desto  mehr  werden  dadurch  die 
niedrigen  Lüste,  die  sinnlichen  Begierden  in  seiner  Seele  beschränkt 
und  aus  dem  Bewusstsein  zurückgedrängt.  Somit  kann  der  rechte 
Lehrer,  und  zwar  durch  den  Unterricht  selbst,  mittelbar  auch  die 
sittliche  Erziehung,  d.  h.  die  Gemüths-  und  Charakterbildung  des 
Schülers  nicht  unwesentlich  fordern. 

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Eine  andere  Frage  ist  es,  ob  der  Unterricht  auch  unmittelbar 
erziehen,  ob  er  also  (wie  manche  meinen)  das  Sittliche  und  Religiöse 
dem  Schüler  mittheilen,  es  direct  in  dessen  Seele  begründen,  neu- 
bilden könne? 

Viele  Eltern  sind  allzu  geneigt,  von  dem  Schulunterrichte  auch 
für  die  sittlich-religiöse  Bildung  fast  alles  zu  erwarten;  sie  entbinden 
sich  dadurch  in  recht  bequemer  aber  durchaus  unbegründeter  Weise  von 
der  Last  und  Verantwortung  eines  Berufes,  den  die  Natur  vor  allen 
ihnen  zugewiesen  hat.  Diesen  Irrthum  verschulden  diejenigen  Lehrer 
mit,  welche  —  obgleich  die  Erfahrung  ihnen  täglich  das  Gegentheil 
predigt  —  sich  für  die  Retter  der  Menschheit  halten,  indem  sie  sich, 
aus  Mangel  an  psychologischer  Erkenntnis,  in  dem  gefahrlichen  Wahne 
wiegen,  dass  der  Lehrer  direct  durch  den  Unterricht  erziehliche 
Wunder  wirken  könne,  wenn  nur  der  Unterricht  der  rechte  sei, 
nämlich  der  sogenannte  „Gesinnungsunterricht". 

Wenn  es  überhaupt  möglich  wäre,  durch  Unterricht  Gesinnungen 
zu  erzeugen,  dann  hätte  der  Lehrer  die  sittlich-religiöse  Erziehung 
vollkommen  in  seiner  Gewalt,  und  die  Eltern  könnten  ruhig  die  ganze 
Erziehung  —  welche  bis  heute  hauptsächlich  durch  die  Einwirkungen 
des  Lebens,  des  häuslichen  und  öffentlichen,  vermittelt  worden  ist  — 
der  Schule  überlassen. 

Leider  ist  das  aber  nicht  möglich.  Dies  ergibt  sich  aus  dem 
Wesen  und  der  Entstehungsweise  der  „Gesinnungen". 

Ein  weiser  Staatsmann  hat,  wie  seinem  edlen  Gemtithe,  so  auch 
seinem  psychologischen  Schartblicke  ein  ehrendes  Denkmal  gesetzt,  als 
er  den  Ausspruch  that:  Wenn  man  wolle,  dass  die  Bürger  eines 
Staates  ihr  Vaterland  lieben,  dass  sie  bereit  seien,  für  dasselbe  jeder- 
zeit Gut  und  Blut  einzusetzen,  so  müsse  man  ihnen  im  Vaterlande 
„die  Verhältnisse  lieb  machen". 

Das  ist  in  der  That  die  eben  so  einfache  wie  natürliche  Methode, 
die  Tugend  des  Patriotismus  in  die  Herzen  der  Landesbürger  zu 
pflanzen.  Es  ist  aber  auch  das  einzige  Mittel,  gute  Gesinnungen 
überhaupt  in  den  Menschenseelen  zu  begründen  und  zu  stärken, 
demnach  der  einzig  sichere  Weg  zur  sittlich  -  religiösen  Menschen- 
bildung. 

Was  thut  denn  der  weise  Erzieher,  was  thun  namentlich  ver- 
nünftige Eltern  überall,  wo  sie  im  Kinde  für  einen  gewissen  Gegen- 
stand Neigung  erwecken,  wo  sie  den  Zögling  nach  einer  bestimmten 
Richtung  hin  zum  Streben,  Wollen,  Handeln  in  Bewegung  setzen 
wollen?  Machen  wir  nicht  ganz  naturgemäß  dem  Kinde  die  erstrebens- 


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werte  Sache,  um  die  es  sich  handelt,  lieb?  Nicht  mit  Worten 
preisen  wir  dieselbe,  sondern  wir  versetzen  das  Kind  möglichst  oft 
in  Verhältnisse,  wo  jene  Dinge  (Personen  oder  Sachen)  steigernd, 
fordernd,  Freude  und  Lust  erregend  auf  es  einwirken.  Was  nämlich 
im  Menschen  oft  Freude  und  Lust  erzeugt,  das  schätzt  er  bald  als 
ein  Gut;  was  dagegen  Unbehagen,  Unlust,  Schmerz  in  ihm  wirkt,  das 
schätzt  er  als  ein  Übel.  Je  häufiger  wir  aber  etwas  infolge  seiner 
unmittelbaren  Einwirkung  auf  uns  als  ein  Gut  empfinden,  desto 
stärker,  weil  vielspuriger  wird  die  positive  Wertschätzung,  die  wir 
von  diesem  Gegenstande  in  uns  bilden,  und  desto  sicherer  wird  sich 
an  diese  Wertschätzung  ein  Begehren,  ein  Streben  anschließen, 
desto  eher  und  sicherer  wird  also  auch  unser  Handeln  nach  dieser 
Richtung  hin  erfolgen. 

Gesinnungen  sind  nichts  anderes,  als  vielspurige  Wert- 
schätzungen, welche  durch  die  Eindrücke  der  Dinge  selbst  in 
uns  entstehen  und  in  denen  wir  diese  Dinge  als  Güter  oder  als  Übel 
empfinden,  um  sie  demgemäß  zu  begehren  oder  zu  verabscheuen,  ihnen 
zu-  oder  entgegenzustreben.  Die  Gesinnungen  bilden  somit  die 
Grundlage  aller  praktischen  Entwicklung,  die  Basis  der  Charakter- 
bildung. 

Nach  dem  Vorausgeschickten  dürfte  sich  die  Frage  des  „Gesin- 
nungsunterrichtes" für  uns  nunmehr  mit  Sicherheit  beantworten  lassen. 
Die  Antwort  kann  nur  so  lauten:  Der  Unterricht  an  sich  ist  un- 
vermögend, Gesinnungen  zu  schaffen,  weil  die  Worte  des  Unterrichtes 
blos  hörbare  Zeichen  für  Begriffe  sind.  Die  Worte  vermögen  also 
auch  nur  Begriffe  unmittelbar  zum  Bewusstsein  zu  erregen,  zu  com- 
biniren,  klarer  auszubilden.  Die  belehrenden  Worte  des  Lehrers 
können  folglich  in  reb'giösen  und  sittlichen  Dingen  Aufklärungen  geben; 
sein  Unterricht  kann  ferner  wesentlich  dazu  beitragen,  die  Seelen  der 
Schüler  von  unsittlichen,  unreligiösen,  abergläubischen  Vorstellungen 
zu  befreien  und  kann  somit  in  diesen  Beziehungen  sehr  wichtige  und 
dankenswerte  Erfolge  erzielen;  doch  niemals  kann  er  ein  religiöses 
Gemüth  oder  sittliche  Gesinnungen  schaffen,  so  sehr  auch  manchmal 
der  äußere  Anschein  zu  solchem  Wahne  verleiten  mag. 

Wenn  z.  B.  beim  Unterrichte  in  Geschichte,  Religion,  Moral 
manche  Schüler  sich  erwärmt  und  begeistert,  zu  jedem  edlen  Streben 
und  Handeln  angeeifert  fühlen:  so  hat  nicht  der  Unterricht  diese 
so  erfreulich  zutage  tretenden  Stimmungs-  und  Strebungsgebilde  im 
Kinde  soeben  erzeugt,  sondern  das  Kind  hat  die  entsprechenden 
lebendigen  Gesinnungen  (Wertschätzungen)  und  Triebe  aus  der  häus- 

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liehen  Erziehung,  überhaupt  ans  dem  Leben  zum  Unterrichte  mit- 
gebracht. Dem  Unterrichte  verdanken  sie  nur  die  gegenwärtige 
Erregtheit 

Wo  aber  solche  sittlich -religiöse  Angelegtheiten  in  der  Kindes« 
seele  nicht  vorhanden  sind,  da  können  sie  natürlich  durch  keinen 
Unterricht  zum  Bewusstsein  erregt  werden,  für  solche  Seelen  bleibt 
das  Wort  der  Belehrung  ein  leerer  Schall.  Darum  sitzen  eben  manche 
Kinder  auch  beim  besten  „ethischen"  oder  „Gesinnungs" -Unterrichte 
so  kalt  und  theilnahmlos  da,  und  wenn  der  Lehrer  „mit  Menschen- 
und  mit  Kngelszungen  redete".  An  solchen  unglücklichen  Kindern 
hat  eben  das  Haus,  haben  besonders  die  Eltern  nicht  getban,  was 
sie  sollten.  Diesen  Mangel  zu  ergänzen  ist  aber  die  Schule  mit  allen 
ihren  Mitteln  nur  zum  kleinsten  Theil  imstande,  der  Unterricht 
überhaupt  nicht. 

Für  unsere  Ansicht  über  den  sogenannten  „Gesinnungsunterricht" 
sprechen  unter  anderen  auch  folgende  hochbedeutsame  Thatsachen. 
Es  ist  unbestreitbar,  dass  oft  ein  gewöhnlicher  Bauersmann  oder 
Handwerker  eine  reinere  und  tiefere  sittliche  Gesinnung  hegt,  als  ein 
Studirter,  welcher  von  den  tüchtigsten  Lehrern  mit  dem  denkbar 
besten  Erfolge  Unterricht  in  der  Sittenlehre  empfangen  hat.  Und 
wieder  dürfte  in  mancher  einfachen  Tagelöhnerin  oft  ein  frömmerer, 
religiöserer  Sinn  zu  finden  sein,  als  in  ihrem  Pfarrer,  der  vielleicht 
dabei  ein  grundgelehrter  Kenner  der  Religionswissenschaft  ist1*).  Diese 
Erfahrungen,  die  jeder  unbefangene  Beobachter  machen  kann,  bezeugen 
so  recht  augenfällig,  was  wir  durch  obige  Ausfuhrung  wissenschaftlich 
zu  erweisen  versuchten:  dass  nämlich  die  Theorie,  der  Unterricht 
für  die  Erzeugung  eines  sittlichen  Charakters,  eines  religiösen  Gemüthes 
etwas  Nebensächliches  ist. 

Beide,  Sittlichkeit  und  Religion,  entfalten  sich  aus  Keimen,  welche 

*)  Diese  unwidereprechliche  Thatsache  berühre  ich  aus  sachlichen  Gründen 
und  nicht  etwa  aus  „Feindschaft  gegen  die  Kirche".  Der  Verfasser  ist  ja  selber, 
wie  wir  siebenb.  sächs.  Mittelschullehrcr  alle,  zugleich  Theolog  und  hat,  bis  es  ihm 
die  Amtsgeschäfte  eines  Directors  dreier  Schulen  (Gyinnas.,  Realschule  und  Seminar) 
zu  sehr  erschwerten,  32  Jahre  lang  jahrlich  die  Kanzel  bestiegen.  Bei  uns  auf  dem 
einstigen  „Königsboden"  sind  überhaupt  geistliches  und  Schulamt  bis  heute  sehr 
innig  verbunden.  Bekanntlich  ist  jeder  unsrer  „akademischen"  Pfarrer  zuerst  an 
einer  Mittelschule  eine  oft  ziemlich  lange  Reihe  von  Jahren  angestellt  gewesen. 
Wir  kennen  den  quasi-Kulturkampf  der  Schule  gegen  die  Kireho,  —  wie  er  ander- 
wärts mit  erheblicher  Hitze  und  Erbitterung  geführt  wird,  —  nur  dem  Namen 
nach.  Hätten  wir  nur  keine  andern  Feinde;  die  „Kirche"  bereitet  uns  wenig 
Kummer,  so  wenig,  wie  wir  Lehrer  ihr,  unsrer  Bundesgenossin.  L.  K. 


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das  Leben,  das  häusliche  und  öffentliche,  in  die  Kindesseele  gepflanzt 

hat,  und  welche  durch  die  Lust  und  den  Schmerz,  die  Freude  und 

das  Leid  des  Lebens  weiter  entwickelt  worden  sind.  Dies  ist's,  was 

auch  der  Dichterkönig  uns  bezeugt  mit  den  classischen  Worten: 

rEs  bildet  ein  Talent  sich  in  der  Stille, 

Sich  ein  Charakter  in  dem  Strom  der  Welt." 

Die  Schule  kann  nur  insoweit  unmittelbar  auch  Gemtith  und 
Charakter  bilden,  als  sie  —  ein  Bild  der  Welt  im  kleinen  —  den 
Schüler  gleichfalls  in  praktische  Lebensverhältnisse  versetzt, 
nämlich  durch  den  Verkehr  mit  den  Mitschülern  und  durch  die 
Persönlichkeit  des  Lehrers. 

Hiemit  wenden  wir  uns  zur  Betrachtung  dessen,  wie  weit  der 
Lehrer  neben  dem  Unterrichte  erziehlich  zu  wirken  imstande  ist, 
nämlich  durch  seine  Persönlichkeit. 

Es  sind  sehr  wertvolle  sittliche  Eigenschaften,  welche  durch  die 
Persönlichkeit  des  Lehres,  durch  die  unmittelbare  Offenbarung  seines 
Gemüths  und  Charakters  auf  den  Schüler  übergehen  können. 

Im  engsten  Anschluss  an  den  Unterricht  werden  die  lebendige 
Erregtheit,  die  stetige  Ausdauer,  der  Eifer  und  die  Liebe  zum  Er- 
kennen und  Forschen,  die  der  Lehrer  beim  Unterrichte  zeigt,  unver- 
merkt sammt  den  so  übermittelten  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  in 
die  Seele  des  Schülers  aufgenommen  und  begründen  hier  allmählich, 
wenn  das  Beispiel  des  Lehrers  fortwährend  in  gleicher  Weise  einwirkt, 
die  entsprechenden  sittlichen  Eigenschaften. 

Aber  nicht  nur  die  Lust  und  den  Trieb,  die  Wahrheit  zu  er- 
kennen, kann  der  rechte  Lehrer  unmerklich  von  sich  auf  die  Schüler 
übertragen,  sondern  auch  —  was  noch  mehr  wiegt  —  den  hohen  sitt- 
lichen Muth,  die  Wahrheit  zu  bekennen,  selbst  wenn  dieses  unserer 
Selbstsucht  wehe  thut.  „Weißt  du,  —  erzählt  uns  Osk.  Jäger  in 
seinem  herrlichen  Buch  „Aus  der  Praxis",  —  weißt  du,  wann  ich  zum 
erstenmal  die  Majestät  der  Wissenschaft  empfunden  habe?  Als  unser 
verewigter  Lehrer  N.  —  ein  Mann,  vor  dem  selbst  der  trotzigste 
von  uns  Vierzigen  in  ein  Mauseloch  kroch,  obgleich  er  niemals  anders 
als  mit  Worten  strafte  —  vor  uns  armen  Jungen  erklärte,  der  und 
der  von  uns  hätte  gestern  mit  der  Übersetzung  der  Stelle  so  und  so 
recht  gehabt,  und  er  —  es  war  der  beste  Philologe  des  Landes  — 
hätte  unrichtig  übersetzt.  Er  war  ein  Sechziger  und  wir  waren 
dumme  Jungen  von  15  Jahren;  da  fühlten  wir,  dass  etwas  über  ihm 
und  uns  stand  —  die  Wahrheit." 

Sowie  hier  nicht  das  Wort  des  Unterrichts,  sondern  die  vorbild- 


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liehe  selbstverleugnende  That  des  Lehrers  das  Geintith  der  Schüler 
unmittelbar  ergriff,  ihre  Gesinnung  stärkte:  so  wirket  überhaupt  vor 
allem  das  lebendige  Beispiel  des  Lehrers  wieder  sittliches  Leben  im 
Schüler. 

Wir  wünschen,  dass  der  Zögling  seine  Schtilerpflichten  getreulich 
erfülle.  Das  erreichen  wir  aber  nicht  durch  noch  so  eindringliche 
Belehrungen,  noch  weniger  durch  die  musterhaftesten  „Schulgesetze", 
wol  aber  —  —  doch  ich  darf  hier  gleich  wieder  Jäger  das  Wort 
geben:  „Wenn  der  Lehrer,  jung  oder  alt,  seine  Lehrerpflicht  ernst 
nimmt,  sich  ehrlich  vorbereitet,  gewissenhaft  corrigirt  und  die  so 
corrigirteu  Hefte  pünktlich  auf  den  Tag  zurückgibt,  pünktlich  mit 
dem  Glockenzeichen  sich  anschickt,  seines  Amtes  zu  walten  und  in 
seinem  Thun  und  seiner  Haltung  ohne  Ostentation  den  Beweis  liefert, 
dass  ihm  sein  Amt  die  Hauptsache  ist:  so  weiß  ich  nichts,  was  er 
soviel  Extra-Erziehliches  thun  soll."  

Und  wie  zu  der  gewöhnlichen  täglichen  Pflichttreue,  so  können 
die  Schüler  selbst  zum  kräftigen  Ertragen  von  körperlichen  Verstim- 
mungen und  Schmerzen  um  der  Pflicht  willen  erzogen  werden 
durch  das  Beispiel  eines  Lehrers,  der  sich  stets  das  kräftige  Mahn- 
wort des  wackeren  Nägelsbach  vor  Augen  hält:  „Zu  warnen  ist  vor 
übertriebener  Zärtlichkeit  gegen  sich  selbst  im  Lehramt;  mit  Recht 
wird  ein  solcher  Lehrer  verachtet,  der  gegen  den  „Madensack"  so 
überaus  zärtlich  ist  und  solchen  Egoismus  verräth." 

Der  erziehliche  Einfluss  des  Lehrers  wird  ferner  um  so  mehr 
gesteigert  werden,  je  mehr  er  befähigt  und  in  der  Lage  ist,  auf  die 
moralische  Individualität  seiner  Schüler  Rücksicht  zu  nehmen. 
Dies  zeigt  sich  namentlich  bei  der  Ertheilung  von  Lob  und  Tadel, 
Strafe  und  Belohnung.  Sollen  diese  Mittel  nicht  verderblich  wirken, 
so  dürfen  nicht  starre  Gesetzesparagraphen  in  abstracter  Weise  ge- 
handhabt werden,  sondern  Lohn  und  Strafe  müssen  möglichst  der 
Persönlichkeit  des  Schülers  angepasst  werden.  Denn  das  nämliche 
Lob,  welches  den  einen  zu  angestrengter  Arbeit  und  sittlichem  Wol- 
verhalten  anfeuert,  macht  einen  andern  eingebildet  und  lässig;  und 
die  nämliche  Strafe  wirkt  bei  dem  einen  Besserung,  bei  dem  andern 
das  Gegentheil. 

Leider  aber  unterliegt  diese  Rücksichtnahme  auf  die  Schüler- 
individualitäten, für  so  wünschenswert  wir  sie  auch  ansehen,  in  der 
Schule  gewissen  nicht  unerheblichen  Beschränkungen  und  Hemmungen. 
Durch  die  größere  Anzahl  der  Zöglinge,  auf  welche  sich  die  Erzieher- 
arbeit des  Lehrers  vertheilt,  wird  Dämlich  seine  Wirksamkeit  weit 


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mehr  geschwächt,  als  die  der  Eltern  in  der  Familie.  Derselbe  Um- 
stand macht  es  aber  auch  nahezu  unmöglich,  dass  der  Lehrer  die 
Geistesgaben,  Gemüths-  und  Charakteranlagen  seiner  Schüler  so  genau 
kenne,  als  es  für  eine  individuelle  Behandlung  der  einzelnen  noth- 
wendig  wäre.  Wer  da  erfahren  hat,  wie  wenige  Eltern  ihre  eigenen 
Kinder,  soviel  sie  diese  um  sich  haben,  —  oft  ist's  nur  Eines!  — 
genügend  kennen,  um  sie  ihrer  Eigenart  angemessen  erziehen  zu 
können,  der  wird  vom  geschicktesten  Lehrer  nicht  erwarten  dürfen, 
dass  er  in  den  wenigen  Stunden  des  Unterrichts  neben  der  umfang- 
reichen und  schwierigen  Aufgabe,  die  intellectuelle  Bildung  der  Schüler 
innerhalb  einer  bestimmten  Zeitfrist  zu  einem  bestimmten  Ziele  zu 
fuhren,  auch  noch  die  höchst  verschiedenen  Individualitäten  von  20 
bis  50  Schülern  genau  erkenne  und  dieser  Erkenntnis  gemäß  sie  auch 
erziehe.  Und  dennoch  gibt  es  sogar  Lehrer,  die  eine  solche  Un- 
möglichkeit nicht  nur  andern  zumuthen,  sondern  sogar  selber  leisten 
zu  können  vorgeben.  Diesen  guten  Leuten,  welche  Lessing  „betrogene 
Betrüger"  nennen  würde,  antwortet  Jäger  aus  ruhmvoll  erprobter 
Praxis  heraus  wie  folgt:  „In  Wahrheit,  ihr  bindet  schwere  und  un- 
erträgliche Lasten!  Denn  es  heißt  wirklich  viel  verlangen,  wenn  der 
notorisch  selbst  noch  sehr  unerzogene  Candidat  und  jüngste  Lehrer  in 
diesem  Sinn  und  Umfang  schon  andere  erziehen  soll.  Und  indem  ihr 
ihm  theoretisch  in  euern  Reden,  die  so  blinkend  sind,  alles  mögliche 
auferlegt,  verleitet  ihr  ihn,  dass  er  es  auch  macht  wie  ihr,  —  nämlich 
Worte  für  Handlungen  hält  —  oder  ausgibt.«4 

Wenn  wir  aber  auch  annehmen  wollten,  was  wir  nicht  zugeben 
können,  dass  der  Lehrer  in  jeder  einzelnen  der  zahlreichen  Schtiler- 
seelen  wie  in  einem  offenen  Buche  lesen  könnte:  so  müsste  er  doch 
das  Individuelle  zum  Theil  fallen  lassen  und  nach  gewissen  allge- 
meinen Normen  verfahren.  Denn  auch  dann  wäre  es  ihm  unmöglich, 
sie  in  jedem  Augenblicke  ihrer  vollen  Eigentümlichkeit  gemäß  zu 
behandeln.  Er  müsste  denn,  wie  es  Beneke  ausdrückt,  „ein  geistiger 
Proteus  sein:  unendlich  viele  verschiedene  Formen  der  Behandlung, 
und  in  schwindelerregender  Schnelle  damit  wechselnd,  annehmen 
können." 

Und  brächte  er  selbst  dieses  zweite  Wunder  einer  blitzschnell 
wechselnden  Verschiedenheit  der  Behandlung  zuwege,  so  würde  er 
gerade  dadurch,  dass  er  jeder  Individualität  gerecht  zu  werden 
suchte,  den  Schülern  ungerecht  und  parteiisch  erscheinen  und  infolge- 
dessen ihr  Vertrauen  und  damit  ihre  Liebe  verscherzen. 

Gerade  das  Zutrauen  und  die  Liebe  der  Schüler  muss  sich  aber 


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der  Lehrer  vor  allem  erwerben  und  erhalten.  Dies  geschieht  besonders 
dadurch,  dass  er  ihnen  selber  Liebe  entgegenbringt.  Dann  hat  er 
den  mächtigsten  Hebel  für  seine  erziehende  Wirksamkeit  in  seiner 
Gewalt.  Ist  diese  Gotteskraft  in  ihm  wirksam,  dann  braucht  er  nie 
davon  zu  reden.  Die  Schüler  fühlen  sie  schon  heraus,  sogar  aus  dem 
Schmerz  der  Strafe,  wodurch  der  Lehrer  ihr  Wol  bezweckt.  Sie  em- 
pfinden die  Liebe  in  dem  gehaltenen,  freundlichen  Ernste,  der  von 
pedantischem  mürrischen  Wesen  gleich  weit  entfernt  ist,  wie  von  gut- 
müthiger  Schwäche.  Die  Liebe  zur  Jugend  bewahrt  dem  Lehrer,  so 
schwer  ihn  auch  draußen  oftmals  Kummer  und  Sorge  drückt,  die 
heitere  ruhige  Stimmung  in  den  geweihten  Räumen  der  Schule;  und 
diese  Stimmung  überträgt  sich  unbewusst  auch  in  die  Seelen  der 
Schüler  und  macht  sie  willig',  seinen  Lehren  achtsam  zu  horchen, 
seinen  Geboten  sich  freudig  zu  fügen.  Die  Liebe  erweist  sich  besonders 
in  der  rechten  Geduld  und  besonderen  Sorgfalt,  womit  sich  der  Lehrer 
der  Schwachen,  der  im  Hause  Verwahrlosten  annimmt,  damit  doch 
der  glimmende  Docht  nicht  vollends  erlösche.  Hat  man  es  doch 
geradezu  als  die  Signatur  einer  guten,  wahrhaft  christlichen  Schule 
bezeichnet,  was  sie  an  den  Schwachen  thue! 

Gleichwie  der  Erlöser  nicht  durch  Worte,  nicht  durch  Waffen- 
macht, sondern  durch  die  Kraft  der  Liebe,  die  er  im  Leben  und 
Streben  bethätigte,  die  große  Welt  überwunden:  so  wird  der  Lehrer 
durch  die  nämliche  Zauberkraft  siegreicher  Herrscher  in  der  kleinen 
Welt,  die  seinem  Wirken  anvertraut  ist  Am  Bande  der  Liebe,  das 
ihn  mit  den  jungen  Seelen  verknüpft,  zieht  er  sie  unbewusst  empor, 
fernab  vom  Schlechten  und  Gemeinen,  das  sie  schon  darum  fliehen, 
weil  es  dem  geliebten  Führer  Schmerz  bereiten  würde. 

Freilich  kann  dies  schöne  Werk  nur  dann  vollkommen  und  auf  die 
Dauer  gelingen,  wenn  die  Erziehung  im  Elternhause  schon  vor  der 
Schulzeit  vorbildend  die  Keine  des  Guten  und  Schönen  in  das  Kindes- 
herz zu  pflanzen  nicht  verabsäumt  hat,  wenn  das  häuslicheLeben  während 
und  nach  der  Schulzeit  mit  seinen  Einwirkungen  diejenigen  der  Schule 
nicht  abschwächt,  sondern  einstimmig  mit  dem  Streben  pflichtgetreuer 
Lehrer  die  Seelen  der  Kinder  empor  zieht.  Denn  die  wirksamsten 
Mittel  zur  Erziehung  sittlich-religiöser  Charaktere  birgt  das  Heilig- 
thum des  Hauses;  die  Schule  ist  nur  Mithelferin  am  hohen  Werke. 

Dass  auch  unsere  Schule  immer  fähiger  und  williger  werde, 
durch  ihre  Lehrer  das  Erziehungswerk  der  Eltern  in  treuer  Arbeit 
kraftvoll  zu  fördern,  das  ist  der  herzliche  Wunsch,  mit  welchem  ich 
schließe,  um  hiermit  zugleich  unsere  Jahresprüfungen  zu  eröffnen. 


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Wie  wird  man  Humanist? 

Von  Director  T/i.  SchUtz-AnUcerpen. 

Es  klingt  paradox,  dass  man  Humanist  werden  soll,  dass  man 
es  also  nicht  gleich  von  Geburt  an  ist.  Man  wird  dies  leicht  ver- 
stehen,' wenn  man  den  Begriff  in  der  Bedeutung  auffasst,  wie  er 
heute  besteht. 

Der  Mensch  ist  nach  einem  bestimmten  Plan  organisirt,  er  hat 
Leib  und  Seele,  von  denen  jedes,  obgleich  sehr  zusammengesetzt,  doch 
ein  Ganzes  bildet,  und  welche  beide  in  ihrer  Wechselwirkung  wiederum 
ein  Ganzes  ausmachen. 

Wer  den  Menschen  zum  Gegenstand  seines  Studiums  gemacht 
und  gefunden  hat,  dass  in  demselben  eine  strenge  Gesetzmäßigkeit 
herrscht,  wer  diese  Gesetzmäßigkeit  kennt,  und  in  ihr  die  Richtschnur 
für  sein  eigenes  Leben  findet,  der  ist  Humanist.  Der  Humanismus  ist 
auch  eine  Religion  und  zwar  die  Religion,  deren  Vorschriften  allge- 
mein befolgt  werden  müssten,  wenn  die  Menschen  zu  ihrem  eigentlichen 
Ziele  kommen  sollten.  Alle  positiven  Religionen  sollten  die  Haupt- 
lehren des  Humanismus  enthalten,  und  ohne  dieselben  sind  sie  nur 
Schein.  Das  echte  Christentum  ist  Humanismus,  und  nur  weil  in  ihm 
die  Menschheit  zu  sich  selbst  kam,  sich  selbst  wiederfand,  hatte  das 
Cliristenthum  eine  solche  Anziehungskraft  für  die  Menschen,  dass  es 
sich  rasch  ausbreitete.  Wären  die  Lehren  des  Christenthums  das  ge- 
blieben, was  sie  im  Anfang  waren,  wären  sie  nicht  im  Laufe  der  Zeit 
mit  so  viel  Zuthaten  vermischt  worden,  dass  man  nachher  vor  lauter 
Zuthaten  kaum  noch  den  rechten  Kern  erkennen  kann,  dann  wären 
noch  heute  alle  Christen  in  gewissem  Sinne  auch  Humanisten.  Aber 
kaum  ist  man  auf  die  Welt  gekommen,  so  wird  man  in  die  Zwangs- 
jacke einer  Confession  gesteckt,  und  das,  was  man  ist,  ein  Mensch, 
wird  in  uns  Nebensache,  durch  unzählige  Formalitäten  verdunkelt  und 
zum  Theil  erstickt,  wie  wir  es  an  gewissen  Ordensgeistlichen  wahr- 
nehmen. Wenn  man  auf  diese  Weise  in  eine  gewisse  Richtung  ge- 
drängt worden  ist,  fühlt  man  sich  gar  nicht  mehr  als  Mensch,  und  es 


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ist  sogar  so  weit  gekommen,  dass  das  Menschliche  an  uns,  wenn  es 
einmal  hie  and  da  zum  Durchbruch  zu  kommen  versucht,  als  etwas 
Sündhaftes  angesehen  wird.  Wir  sind  gewiss,  dass  diese  Zeilen  von 
vielen  Seiten  her  als  des  Teufels  Werk  angesehen  werden. 

Wenn  man  Humanist  wird,  so  hat  man  dazu  eine  ganz  besondere 
Begabung  und  eine  Veranlassung.  Die  wenigsten  Menschen  haben  An- 
lagen dazu,  und  sie  sind  von  Jugend  auf  gewöhnt  worden,  derartige 
humanistische  Anwandlungen  als  Verirrungen  des  Geistes  anzusehen. 

Uberhaupt  ist  es  vielen  Menschen  befremdend,  dass  man  von 
einer  religiösen  Entwickelung  reden  könne.  Sie  meinen,  die  Religion 
sei  etwas,  das  uns  fix  und  fertig  mit  auf  die  Welt  gegeben  würde, 
so  wie  eine  Erbschaft,  die  man  antritt.  Aber  das  ganze  Menschen- 
wesen widerspricht  dieser  Auffassung,  sowie  die  Geschichte  der  Mensch- 
heit und  die  Geschichte  der  Erde.  Alles,  was  wir  sind,  alles,  was  die 
Menschheit  ist,  alles,  was  die  Erde  ist,  ist  ein  Resultat  einer  unendlich 
langen  Entwickelung.  Unsere  Erde  hat  keineswegs  immer  so  ausge- 
sehen wie  jetzt,  ihre  ganze  Oberfläche  ist  fortgesetzten  Umwälzungen 
unterworfen  gewesen,  auf  derselben  hat  sich  ein  großartiger  Werde- 
process  abgespielt,  dessen  jetziges  Stadium  wir  vor  Augen  haben,  und 
dessen  Zukunft  wir  nur  durch  Schlüsse  auf  Analoges,  durch  Induction, 
ahnen  und  vermuthen  können. 

Und  der  Mensch?  Ist  er  nicht  selbst  ein  Kind  dieser  Erde, 
und  ein  Entwickelungsproduct  der  Jetztzeit  auf  der  Erde?  Das  Alter 
der  Erde  ist  nicht  zu  ergründen,  und  alle  muthmaßlichen  Angaben 
darüber  sagen  uns,  dass  das  Menschengeschlecht  schon  viele  Tausende 
von  Jahren  auf  der  Erde  lebt,  und  dass  vor  dem  Menschen  eine  un- 
absehbar lange  Reihe  von  Pflanzen  und  Thieren  den  Boden  bereitet 
haben,  den  der  Mensch  betreten  sollte.  Alles  deutet  die  Entwickelung 
an,  Entwickelung  ist  das  uns  allenthalben  entgegentretende  Natur- 
gesetz, und  davon  macht  der  Mensch  keine  Ausnahme.  Er  war  an- 
fangs seiner  ganzen  Gestalt  und  seinem  Wesen  nach  auf  einer  dem 
Thiere  ähnlichen  Stufe,  wie  wir  es  heute  noch  an  einzelnen  Völkern 
wahrnehmen,  aber  er  war  Mensch,  und  was  ihn  zum  Menschen  machte, 
das  damals  noch  schwache  Licht  der  Vernunft,  unterschied  ihn  doch 
wesentlich  von  dem  Thiere.  Er  hat  also  aus  schwachen  Anfangen  sich 
entwickelt,  sein  Leib  ist  vollkommener,  edler  geworden,  seine  Seele 
hat  sich  zum  Geiste  emporgeschwungen,  und  mit  dieser  Entwickelung 
hielt  auch  seine  Religion  Schritt 

In  der  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit  bildet  das  Religions- 
wesen den  wichtigsten  Zweig.   Mit  dem  Erwachen  des  Selbstbewusst- 


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seins,  mit  dem  noch  schwachen  Funken  des  göttlichen  Lichtes,  mit 
der  Vernunft,  trat  der  Mensch  in  die  Reihe  der  Geister  ein,  und  als 
solcher  ahnte  er  den  großen  Allgeist,  wenn  er  ihn  auch  zuerst  nur 
in  den  mächtig  sich  aufdrängenden  Naturgewalten  zu  erkennen  ver- 
mochte. Aher  dass  er  ihn  erkannte,  fürchtete,  verehrte,  ihm  opferte, 
das  war  seine  Religion,  und  war  auf  der  niederen  Stufe,  wo  er  stand, 
ebensoviel,  als  uns,  den  jetzt  lebenden  Menschen,  unsere  Religion  ist. 
Die  Religion  war  ja  nicht  einmal  nur  eine  Religion,  sondern  solange 
es  Menschen  gibt,  hatten  sie  vielerlei  Religionen,  und  dieselben  haben 
sich  immer  mehr  verzweigt.  Aber  daraus  geht  hervor,  dass  es  wieder 
ein  Naturgesetz  ist,  dass  die  Menschen  in  den  Formen  der  Religionen 
ebenso  verschieden  sind,  wie  in  ihrer  körperlichen  und  geistigen  Be- 
schaffenheit, wie  in  der  Hautfarbe,  in  den  Haaren,  den  Gesichtszügen. 
Ja,  so  wenig  wie  man  dem  Äußern  nach  zwei  Menschen  sieht,  die  ein- 
ander vollkommen  gleich  sind,  so  hat  auch  jeder  Mensch  seine  eigene 
Religion.  Sowie  aber  bei  aller  Verschiedenheit  das  eigentliche  Wesen, 
die  Grundlage  des  Menschenwesens,  immer  dasselbe  ist,  so  ist  auch 
das  Religionswesen  in  seinem  innern  Kern  immer  dasselbe:  Anerken- 
nung einer  höheren  Macht,  einer  Gesetzlichkeit,  einer  Ordnung,  und 
Unterwerfung  unter  dieselbe  im  Denken,  Fühlen  und  Handeln. 

Jeder  gebildete  Mensch  erkennt  das,  und  ebensowenig,  wie  man 
heutzutage  einen  Menschen  darum  weniger  als  Menschen  ansieht,  weil 
er  Neger,  oder  Chinese,  und  nicht  ein  Europäer  ist,  ebensowenig  fällt 
es  uns  ein,  einen  andern  Menschen  gering  zu  schätzen,  weil  er  nicht 
dieselbe  Religion  hat  wie  wir. 

Wenn  wir  zugestehen,  dass  die  Entwickelung,  die  Vervollkomm- 
nung ein  Grundgesetz  der  Natur  und  des  Menschenwesens  ist,  so  werden 
wir  auch  einsehen,  dass  das  Recht  auf  eine  solche  Entwickelung,  ebenso 
wie  es  jedem  Naturwesen  zukommt,  auch  das  erste  Naturrecht  jedes 
Menschenkindes  ist,  sobald  es  auf  die  Welt  kommt.  Würde  man  es 
nicht  für  eine  grausame  Barbarei  halten,  wenn  man  einem  kleinen 
Kinde  verwehren  wollte,  zu  wachsen,  groß  zu  werden,  seine  Arme 
und  Beine,  seine  Hände  und  Füße  größer  und  länger  werden  zu  lassen?  — 
Niemand  bezweifelt  das,  und  was  vom  Körper  gilt,  das  sollte  nicht 
von  der  Seele  gelten?  —  Und  doch  gibt  es  Menschen  und  ganze  Classen 
von  Menschen,  die  behaupten,  sie  hätten  das  Recht,  den  Menschen  die 
Entwickelung  des  Seelenlebens  zu  verbieten.  Ist  es  nicht  eine  Bar- 
barei, zu  sagen,  ein  Mensch  solle  nicht  fühlen,  nicht  denken,  nicht 
urtheileD?  Ist  denn  das  Seelenwesen  nach  allen  Zugeständnissen  nicht 
das  Beste  und  Edelste  am  Menschen?   Und  das,  was  man  am  Körper 


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zu  verkümmern  für  unrecht  hält,  das  Wachsthum,  das  zu  ersticken 
sollte  ein  Recht  werden,  wenn  es  sich  um  Seele  und  Geist  handelt?  — 

Wenn  es  nun  doch  Tausende  und  Tausende  von  Menschen  gibt, 
die  das  ruhig  geschehen  lassen,  die  sich  selbst  dieses  Rechtes  begeben 
haben,  die  in  allen  Dingen  sich  von  andern  leiten  lassen,  sich  in  allen 
geistigen  Angelegenheiten  blindlings  unterwerfen,  so  kann  man  das 
anders  nicht  begreifen,  als  durch  eine  jahrhundertelange  Angewöh- 
nung, die  es  endlich  dahin  gebracht  hat,  dass  man  sein  Menschen- 
wesen und  Menschenrecht  nicht  mehr  fühlt.  Wenn  aber  einer  sein 
Menschenwesen  nicht  mehr  fühlt,  dann  ist  er  auch  kein  rechter 
Mensch.  Nun  gibt  es  glücklicherweise  immer  noch  Menschen,  In  denen 
das  Selbstbewusstsein  nicht  ertödtet  ist,  und  die  sich  auf  sich  selbst 
auf  ihre  Rechte  besinnen,  die  beständig  über  sich  selbst  nachdenken, 
und  namentlich  über  ihr  Religionswesen.  Solche  Menschen  schlagen 
natürlich  aus  der  gewöhnlichen  Art  heraus.  Sie  finden,  dass  ihr 
Denkvermögen,  wenn  es  durch  die  Schulung  eines  guten  Unter- 
richtes gegangen  ist,  sich  nicht  unterdrücken  lässt,  und  dass  es  ein 
Unrecht  ist,  zu  verbieten,  dass  man  denken  und  nachdenken  soll,  auch 
über  Religion.  Wenn  es  irgendwie  ein  Gebiet  gäbe,  über  das  man 
nicht  nachdenken  dürfte,  dann  müsste  das  sich  auch  dem  eigenen  Denken 
bemerkbar  machen.  Es  gibt  solche  Gebiete,  bei  denen  unser  Denken 
haltmachen  muss,  weil  das  endliche  Denken  beim  unfassbaren  Un- 
endlichen angekommen  ist.  Aber  solange  man  nicht  an  einem  solchen 
Punkt  angekommen  ist,  kann  man  nicht  haltmachen,  man  muss  es 
durchdenken,  soweit  es  geht,  nnd  wird  endlicli  haltmachen,  wo  die 
Logik  am  Ende  ist,  aber  —  nicht  eher,  auch  nicht  im  Religionswesen. 
Und  doch  sagt  die  Kirche,  über  dieses  sollst  du  nicht  denken.  —  Sie 
hat  unrecht.  Das  Religionswesen  verdient  erst  recht,  dass  man  da- 
rüber nachdenke. 

So  darf  man  also  es  niemandem  verübeln,  wenn  einer  auch  hierin 
seinen  Weg  geht.  Die  erste  Bedingung  aber  ist  —  Wahrhaftigkeit, 
Redlichkeit  im  Denken,  Logik.  —  Was  man  auf  diesem  Wege  wird, 
das  wird  man  durch  seine  Erziehung,  durch  seine  Entwicklung.  Ein 
Denker  überlässt  sich  nicht  seiner  Trägheit,  er  arbeitet  beständig, 
jahrelang,  er  sucht,  forscht,  immer  dem  Drang  nach  Entfaltung,  nach 
Entwickelung,  nach  Wahrheit  folgend,  er  sucht  sich  dabei  nie  selbst 
zu  betrügen,  indem  er  sich  sagt,  dass  er  sich  an  eine  Schablone  binden 
müsse,  dass  er  die  Dinge  so  hinnehme,  wie  andere,  eine  Autorität 
oder  eine  Religionsgesellschaft  sie  ihm  bieten.  Dass  man  in  seinen 
Geist  Dinge  gerade  so  aufnehmen  müsste,  wie  andere  sie  uns  vor- 


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schreiben,  dass  man  nicht  verändern,  nicht  verarbeiten,  mit  einem 
Wort  —  nicht  kritisiren  dürfe,  das  kann  der  Denker  nicht  über  sich 
gewinnen.  Wenn  uns  einer  etwas  zu  essen  gibt,  und  man  dabei  nicht 
die  Augen,  die  Nase,  die  Zunge  gebrauchen  soll,  dass  man  es  unbe- 
sehen, unberochen,  ungeschmeckt  hinunterschlucken  soll— damit  kann  man 
sich  doch  unmöglich  einverstanden  erklären,  und  man  würde  einen  anderen 
für  dumm  halten,  der  es  thäte.  Warum  soll  man  also  Dinge  unbe- 
sehen, ungeprüft  in  seinen  Geist  aufnehmen,  sie  dort  ruhen  lassen,  un- 
verändert, wie  eine  todte  Sache  —  das  geht  doch  nicht.  Was  in 
meinen  Geist  einzieht,  das  muss  ich  erst  untersuchen,  meinem  Denken, 
meiner  Vernunft  unterbreiten,  und  wenn  ich  finde,  dass  diese  Instanzen 
es  nicht  billigen,  dass  sie  es  als  unwahr  erkennen,  dann  stoße  ich  es 
als  etwas  Schädliches  wieder  von  mir.  —  Sowie  wir  die  Sinne 
haben,  um  Controle  zu  halten  über  das,  was  in  unseren  Magen  ein- 
gehen soll,  —  so  haben  wir  auch  unser  logisches  Denkvermögen,  um 
eine  Controle  über  alles  anzustellen,  das  in  unseren  Geist  eingehen  soll. 
Was  nicht  in  den  Magen  passt,  bezeichnen  wir  als  Gift,  und  stoßen  es 
unwillkürlich  ab  von  uns.  Unwahrheit  ist  das  Gift  des  Geistes,  und 
wir  sollten  sie  ebenso  unwillkürlich  von  uns  abstoßen.  Wenn  jemand 
das  nicht  thut,  so  beweist  er  damit,  dass  sein  Denkvermögen,  seine 
Vernunft  schläft,  oder  dass  er  dieselben  ihres  hohen  Kritikeramtes 
entsetzt  hat,  und  damit  eigentlich  das  Göttliche  von  sich  abgestreift  hat 
und  dem  geistigen  Atavismus  verfallen  ist.  — 

Leider  sind  gerade  die  Menschen,  welche  auf  religiösem  Gebiete 
ihren  Geist  in  vollem  Gebrauch  erhalten  haben  und  sich  gegen  das 
Irrige  und  Unwahre  gewehrt  haben,  immer  verfolgt  worden,  und  sie 
haben  ihr  Leben  für  ihren  Muth  hingeben  müssen. 

—  —  „Die  wenigen,  die  was  davon  erkannt,  die,  thöricht  genug, 
ihr  volles  Herz  nicht  wahrten,  dem  Pöbel  ihr  Gefühl,  ihr  Schauen 
offenbarten,  hat  man  von  je  gekreuzigt  —  und  verbrannt."  • — 

Geistes-  und  Denkfreiheit  sind  und  bleiben,  solange  es  Geister 
gibt,  die  erste  Grundbedingung  für  das  Leben  des  Geistes,  und  sind 
daher  ein  unverlierbares,  unveräußerliches  Recht  des  Menschen.  Jedes 
Ding  in  der  Natur  stirbt,  wenn  es  in  seiner  Entwickelung  gehemmt, 
verkümmert  wird,  und  was  im  Gebiete  des  Organischen  Gesetz  ist, 
ist  es  erst  recht  für  den  Geist.  Der  Geist  soll  sich  entfalten,  oder  er 
stirbt.  Diese  Einrichtung  des  Geistes  zu  kennen,  ist  Humanismus,  und 
weil  unzählig  viele  Leute  dies  nicht  wissen  oder  vernachlässigen,  nicht 
beachten,  sind  sie  Atavisten. 

Atavismus  bedeutet  in  den  organischen  Naturwesen,  wo  doch  ein 


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Aufsteigen,  eine  Vervollkommnung  die  Regel  sein  sollte,  die  Erschei- 
nung, dass  sie  aus  dem  Zustande  der  Vervollkommnung,  in  den  sie 
durch  Arbeit  gekommen  sind,  in  einen  früheren  unvollkommenen  Zu- 
stand wieder  zurückfallen.  Wenn  man  dies  auf  den  Menschen  an- 
wendet, so  bemerkt  man  sehr  bald,  dass  der  Zustand  der  sittlichen 
Vervollkommnung,  den  die  Menschen  in  früheren  Zeiten,  oder  in  ganzen 
Völkerschaften,  Nationen  erreicht  hatten,  in  der  jetzigen  Zeit  wieder 
im  Rückgang  begriffen  ist;  dass  der  hohe  Standpunkt,  den  Christus 
selber  einnahm,  und  den  viele  nach  ihm  erreichten,  in  der  jetzigen 
Zeit  wieder  verlassen  ist.  Wenn  das  Menschengeschlecht  sich  aus  dem 
Thiergeschlecht  entwickelt  hat,  dadurch  dass  in  ihm  die  Vernunft  die 
oberste  Herrschaft  erlangte,  dann  muss  man  zugestehen,  dass,  wenn 
die  Vernunft  nicht  gebraucht  wird,  es  wieder  in  einen  thierischen  Zu- 
stand versinken  muss  und  dem  Atavismus  verfällt.  Wer  sich  die 
Menschheit  in  Bezug  auf  diesen  Punkt  einmal  ansieht,  der  wird  dies 
bestätigt  finden.  Wenn  die  Ideale,  welche  ja  die  höchste  Blüte  der 
Menschenvernunft  sind,  sich  zu  verlieren  beginnen,  oder  schon  jahr- 
hundertelang vernachlässigt  worden  sind,  dann  macht  sich  dieser 
Mangel  auch  schließlich  geltend  an  der  Gestalt  und  an  dem  Gesichts- 
ausdruck der  Menschen.  Das  geht  ganz  natürlich  zu.  —  Wenn  die  Liebe 
zu  den  Idealen  der  Schönheit,  Wahrheit  und  Güte  nicht  bei  der  Wahl 
eines  Ehegemahls  herrscht,  was  muss  denn  die  Folge  davon  sein?  — 
Die  Nachkommen  verlieren  diese  Eigenschaften  wieder,  die  das  Menschen- 
geschlecht viele  Jahrhunderte  lang  erworben  hatte;  die  Generationen 
verarmen  an  diesen  Idealen,  und  die  innere  Armut  wird  nach  und 
nach  äußerlich  sichtbar  an  dem  Körper,  der  ideale  Stempel  geht  ver- 
loren. 

Wenn  wir  diese  Idealität  in  dem  Menschen wesen,  den  Sinn  für 
Recht,  für  wahre  Schönheit,  für  Güte,  und  deren  Resultate,  die  ideale 
Kunst,  den  Sinn  für  Wahrhaftigkeit,  den  Sinn  für  echte  Freundschaft, 
die  edle  Gattenliebe,  die  hohe  Menschen-  und  Nächstenliebe  als  das 
Thermometer  für  den  Humanismus,  für  die  Fortscliritte  der  Mensch- 
heit ansehen  wollen,  und  wenn  wir  damit  einmal  den  wirklichen  Zu- 
stand der  menschlichen  Gesellschaft  vergleichen  —  dann  müssen  wir 
schamroth  werden,  dann  müssen  wir  unsere  Blicke  betrübt  zu  Boden 
senken,  weil  wir  finden,  dass  unsere  Generation  stark  an  Atavismus, 
oder  doch  an  Marasmus,  dem  Vorboten  des  Atavismus,  krankt.  Ata- 
visten  sind  alle,  welche  die  natürliche  Anlage  zur  Menschenliebe  in 
Hass,  Intoleranz,  Verfolgung,  Neid,  Verleumdung  umkehren;  Atavisten 
sind  alle,  welche  die  Gattenliebe,  die  nur  dem  einen  uns  verbundenen 

Pädagogium.    U.  Jahrgang.   Hüft  I.  2 


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Wesen  angehören  soll,  in  Geschlechtstrieb  verdrehen;  Atavisteu  sind 
alle,  die  Freundschaft  durch  die  Feindschaft  ersetzen;  Atavisten  sind 
alle,  die  keinen  Sinn  für  wahre  Schönheit  und  echte  Kunst  haben;  Atavisten 
sind  alle,  die  Wahrheit  in  Lüge,  Güte  in  Bosheit,  Recht  in  Unrecht  ver- 
wandeln. Die  Menschheit  ist  auf  abschüssigem  Wege,  und  es  ist  die 
höchste  Zeit,  dass  man  es  ihr  sage,  dass  man  ihr  den  Spiegel  der 
echten  Menschheit  vorhalte,  damit  sie  ihr  eigenes  Bild  neben  dem 
echten  Menschenbilde  sehe,  und  erschreckt  stehen  bleibe  und  sich  zur 
Umkehr  rüste. 

Freie  Entwicklung  des  Körpers  und  Geistes  sind  das  erste  und 
natürlichste  Menschenrecht,  und  da  die  Religion  mit  zum  Menschen  ge- 
hört, und  sogar  sein  Bestes  ausmacht,  so  ist  Religionsfreiheit  ebenfalls 
ein  Recht,  das  ihm  niemand  verkümmern  darf.  Religion  ist  Herzens- 
sache, aber  alle  Herzenssache  muss  unter  der  Controle  der  Vernunft 
stehen  und  sich  zum  vollen,  klaren  Bewusstsein  des  Zusammenhangs 
mit  Gott,  mit  der  sittlichen  Weltordnung  und  dem  sich  daraus  er- 
gebenden höchsten  Sittengesetz  erheben.  Wenn  das  zum  Selbstbe- 
wusstsein  gelangende  Göttliche,  die  Gottähnlichkeit,  das  eigentliche 
Wesen  im  Menschen  ausmacht,  dann  ist  die  Erkenntnis  desselben  doch 
echtes  Menschenthum,  und  das  Leben  nach  dieser  Erkenntnis  auch 
echte  Menschenreligion.  Darum  ist  das  echte  Christenthum  eigentlich 
nichts  Neues  gewesen,  sondern  das  uralte  Menschenthum,  wie  es  von 
einigen  griechischen  Philosophen  und  Christus  hauptsächlich  ver- 
kündet wurde.  Christus  hat  es,  veranlasst  durch  seine  große  Liebe 
zu  den  Menschen,  in  sich  selbst  zum  vollen  Bewusstsein  herausgear- 
beitet und  dem  damals  verkommenen  Judenthum  wieder  zum  Bewusst- 
sein bringen  wollen.  Humanismus,  Christenthum,  Religion,  Liebe  sind 
nahe  verwandte  Begriffe.  Liebe  ist  das  Grundwesen  des  Menschen- 
thums  und  der  Religion,  und  sie  sind  frei  im  Menschen,  sie  sind  sein 
eigenstes  Eigenthum,  an  das  ein  Dritter  kein  Recht  hat.  Religion  ist 
ja  auch  ein  Liebesverhältnis  zwischen  dem  einzelnen  Menschen  und 
Gott,  und  kann  daher  ebensowenig  die  Einmischung  eines  Dritten  ver- 
tragen, wie  alle  anderen  Liebesverhältnisse  auf  Erden,  z.  B.  zwischen 
zwei  Liebenden,  zwischen  Mutter  und  Kind,  zwischen  Mann  und  Weib. 
Man  fange  doch  endlich  an  dies  zu  begreifen,  und  vieles  wird  besser 
werden.  Man  fange  an  zu  verstehen,  dass  in  unserem  Schulbildungs- 
wesen gerade  das  Menschenthum  der  Berührungspunkt  mit  der  Kirche 
ist,  und  dass  die  Sehlde  nur  die  Aufgabe  hat,  Menschen,  rechte  Menschen 
zu  erziehen,  dass  sie  vollkommen  genug  thut,  wenn  sie  am  Menseben 
das  Göttliche  herausholt  und  dies  wieder  zur  praktischen  Bethätigung 


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am  Menschen  benatzt.  Damit  ist  die  Aufgabe  der  Schule  für  die  Er- 
ziehung gelöst.  Möge  es  der  Schule  nur  immer  gelingen,  rechte  Menschen 
zu  bilden,  dann  kommt  der  Himmel  von  selbst  auf  die  Erde. 

Wie  wird  man  also  aus  einem  Orthodoxen  zum  Humanisten? 

Keineswegs,  wie  man  es  oft  sagt,  durch  Abfall  von  der  Religion, 
um  ein  schlechtes,  sittenloses  Leben  führen  zu  können,  um  ohne  Schranken 
thun  und  lassen  zu  können,  was  man  will,  wenn  man  nur  nicht  mit 
den  Gesetzen  in  Widerspruch  geräth.  Dies  muss  entschieden  in  Ab- 
rede gestellt  werden,  denn  das  ruhige,  gedankenlose  Wandeln  auf  einem 
vorgeschriebenen  Wege  ist  viel  bequemer,  als  das  Hingen  und  Kämpfen 
um  eine  eigene  Überzeugung.  Das  erstere  ist  einer  großen,  alten, 
längst  ausgetretenen  Heerstraße  zu  vergleichen,  während  das  letztere 
ein  von  uns  selbst  geebneter,  mühsamer,  steiniger  und  dornenvoller 
Pfad  ist.  Derselbe  leitet  uns  nicht  in  einer  flachen  und  aussichtslosen 
Gegend  fort,  sondern  steigt  immer  bergan  und  bietet  eine  immer  weiter 
reichende  Aussicht  auf  die  zu  Füßen  liegende  Welt.  —  Nur  durch 
vieles  Denken,  mit  dem  unauslöschlichen  Trieb  nach  Wahrheit,  Klar- 
heit und  Licht,  durch  mühsames  Hindurcharbeiten  durch  alle  Zweige 
des  menschlichen  Wissens,  durch  eine  mit  ästhetisch-ethischem  Gefühl 
verfeinerte  Vernunft  kann  das  Ziel  erreicht  werden.  Der  Weg  ist 
weit  and  beschwerlich,  aber  der  Lohn  auch  um  so  größer. 

Eün  innerer  Zwiespalt  ist  in  einem  nach  Klarheit  und  Harmonie 
strebenden  Menschen  eine  große  Qual,  schlimmer  als  eine  Dissonanz 
in  der  Musik,  schlimmer  als  alles  Unharmonische  in  sonstigen  Dingen. 
Überhaupt  sind  unharmonische  Menschen  ein  Übelstand  für  die  Ge- 
sellschaft, für  den  Staat.  Das  sehen  wir  jetzt  deutlich  an  Deutsch- 
land. Es  ist  politisch  geeinigt,  aber  in  seinem  Herzen  vielfach  zer- 
rissen und  zerspalten. 

Solange  es  mit  dieser  Dissonanz  nicht  ins  reine  kommt,  wird  der 
innere  Friede  nicht  Platz  greifen  können.  Nur  eine  glückliche  Lösung 
des  religiösen  Zwiespaltes  kann  hier  Rath  schaffen.  Wann  wird  der 
Stifter  dieser  Vereinigung  kommen? 

Man  könnte  ja  bei  allen  religiösen  Differenzen  friedlich  mitein- 
ander auskommen,  wenn  man  die  Toleranz  üben  wollte,  wenn  man 
verstehen  wollte,  dass  das  Einigende  in  Religion  die  Hauptsache  und 
das  Trennende  nichts  als  Nebensachen  sind.  — 

Was  hat  man  in  der  Schulreform  an  diesem  Punkte  gethan?  So- 
viel wie  nichts,  weil  man  in  den  Schulen  die  Trennung  in  Confessionen 
bestehen  lässt  — 

Wenn  an  derselben  Lehranstalt  drei  verscliiedene  Confessionen 

2* 


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-    20  - 


gelehrt  (und  nachher  im  Examen  auch  examinirt)  werden,  so  müsste 
der  Schüler  ganz  gedankenlos  sein,  wenn  er  nicht  herausfände,  dass 
ein  Widerspruch  zwischen  den  Wahrheiten  der  Confessionen  besteht, 
und  dass  sie  doch  alle  drei  als  wahr  gelehrt  werden.  Dies  sind  That- 
sachen,  die  man  in  erster  Linie  bei  der  Reform  berücksichtigen  sollte, 
wenn  man  nicht  einen  religiösen  Zwiespalt  schaffen  will. 

Man  sagt,  die  Religion  sei  trocken  und  langweilig,  und  deshalb 
sei  die  Jugend  froh,  wenn  sie  dieselbe  hinter  sich  hat  und  keinen 
Religionsunterricht  mehr  genießt.  Das  ist  nur  ein  Beweis,  dass  sie 
schlecht  verstanden  und  schlecht  gelehrt  wird.  Die  echte  Menschen- 
religion ist  nicht  trocken  und  langweilig,  sie  ist  von  allen  Lehrgegen- 
ständen der  interessanteste  und  das  Gemüth  am  meisten  befriedigende. 
Der  Humanismus  schließt  die  dem  Menschen  so  sympathische  Natur 
nicht  aus  seinem  Bereich  aus,  er  benützt  sie  als  wertvolles  Material, 
um  daraus  das  Walten  des  göttlichen  Geistes  und  die  sittliche  Welt- 
ordnung zu  erkennen.  Er  benützt  die  Gefühlswelt  eines  Kindes  in 
seiner  praktischen  Anwendung  im  Leben,  in  der  Eltern-,  Geschwister- 
und  Freundesliebe,  in  der  Liebe  zu  Mitschülern  und  Lehrern,  um  das 
Gefühl  der  Liebe  erstarken  zu  lassen,  und  es  zur  Gottesliebe  zu  er- 
ziehen. —  Das  ist  nicht  langweilig,  sondern  wärmt,  begeistert,  erhebt 
und  bringt  das  religiöse  Wesen  mit  der  Wirklichkeit  in  und  außer 
dem  Kinde  in  die  engste  Verbindung.  Wenn  der  Schüler  gewöhnt  ist, 
das  Religiöse  überall  in  seiner  Umgebung,  in  seinem  Herzen,  in  der 
Natur,  im  Hause  zu  sehen,  wird  er  es  auch  später  in  der  Welt  und 
im  praktischen  Leben  nicht  mehr  verlieren.  Man  fragt,  warum  die  Leute, 
die  allgemein  als  religiös,  oder  kirchlich  gelten,  oft  in  ihrem  Leben 
außer  der  Kirche,  in  ihrer  Familie,  in  der  Öffentlichkeit  so  unliebens- 
würdig, lieblos,  hart,  schlau,  lügenhaft,  betrügerisch  sind,  warum  ihre 
kirchliche  Frömmigkeit  auf  dieselben  keine  sittliche  Kraft  ausübt,  und 
man  kann  kaum  eine  andere  Antwort  finden,  als  in  dem  Religions- 
wesen selbst.  Es  soll  doch  die  Menschen  gut  machen  oder  sie  ver- 
hindern, schlecht  zu  werden.  Wenn  es  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
diesen  Zweck  nicht  erfüllt,  wenn  es  die  Menschen  in  Unsittlichkeit 
verkommen  lässt,  so  kann  man  die  Ursache  nur  dem  Religionswesen 
selber  zuschieben,  welches  die  Menschen  nicht  mehr  religiös  erwärmt, 
welches  sich  begnügt,  wenn  die  Menschen  sich  durch  einige  Formali- 
täten mit  ihrem  Gewissen  abfinden  und  sich  um  Gott  wenig  kümmern. 
Die  Humanitätsreligion  ist  etwas  Innerliches,  in  Herz  und  Gemüth 
Wohnendes,  und  entzieht  sich  der  Controle,  oder  wenn  es  eine  solche 
gibt,  so  liegt  diese  in  den  Handlungen  des  Humanisten.   Sie  ist  wahr 


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—    21  - 

und  echt,  sie  betrügt  sich  nicht,  sie  macht  echte  Sittlichkeit  zur  Pflicht 
und  zur  Richtschnur  des  Lebens.  — 

Man  sieht  wol,  dass  es  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  nicht  so 
leicht  ist,  Humanist  zu  werden,  dass  man  es  durch  Trägheit,  Sich- 
gehenlassen nicht  wird.  Daher  kommt  es,  dass  so  unendlich  viele 
Menschen,  die  in  der  Schule  schon  den  religiösen  Zwiespalt  in  sich 
aufgenommen  haben,  sich  aus  demselben  im  Leben  nicht  mehr  heraus- 
winden, dass  sie  aus  Zweiflern  Ungläubige,  Indifferente,  Materialisten, 
Atheisten  werden,  wovon  die  Welt  voll  ist.  Der  Humanismus  muss 
in  ein  System  gebracht  und  schon  frühzeitig  in  den  Schulen  gelehrt 
werden;  der  orthodoxe  Religionsunterricht  gehört  nur  in  die  Kirche. 
Das  ist  der  einzige  Weg,  wie  man  zu  einem  befriedigenden  Zustand 
in  der  Welt  kommen  kann. 


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Jugenderziehung  unter  dem  Einflüsse  großstädtischen  Lehens. 

Vom  Scminaroberlchrer  Bwlolf  Lenk- Dresden. 

Es  wird  als  ein  besonders  günstiges  Geschick  gepriesen,  hinein- 
gestellt zu  sein  in  solchen  Reichthum,  solche  Fülle:  die  Großstadt 
bietet  alles  dar,  was  die  Entwicklung  eines  Seelenlebens  fordern  kann; 
aus  allen  Reichen  der  Natur  und  Kunst  steht  hier  das  Beste  täglich 
unsem  Augen  offen;  ein  jeder  Gang  durch  Straßen,  über  Brücken 
oder  Plätze  erinnert  uns  daran,  dass  hier  sich  einst  ein  Stück  Ge- 
schichte abgespielt,  dass  hier  die  Zeugen  einer  großen  Vergangenheit 
zu  uns  reden,  und  noch  wetteifern  unsere  besten  Geister  durch  erhebende 
Belehrung,  durch  künstlerische  Gaben  auch  uns  zu  höherem  Streben 
mit  emporzuziehen.  In  den  Streit  entgegengesetzter  Vorstellungsarten 
werden  wir  eingetaucht;  wir  erfahren,  wie  im  Kampfe  entbrennen  die 
eifernden  Kräfte,  wie  sie  Großes  bewirken  im  Streit,  Größeres  leisten 
im  Bund.  Wer  in  solchem  Leben  mitten  inne  steht,  vermag  sich  hier 
an  einem  Tage  weiter  fort  zu  bringen,  als  wer  am  andern  Ort  auf 
einsam  stiller  Bahn  an  selbstgeschaffenem  leeren  Trugbild  matter 
Phantasie  sich  jahrelang  abquält.  In  einer  großen  Stadt,  in  einem 
weiten  Kreise  fühlt  sich  auch  der  Ärmste,  der  Geringste;  während  in 
dem  engbeschränkten  Lebensgange  kleinerer  Gemeinschaft  auch  der 
Beste  und  der  Reichste  nicht  zu  freiem  Athemschöpfen  kommen  kann. 
Die  Großstadt  spendet  jedem  ihre  Gaben,  „dem  Blumen,  jenem  Flüchte 
aus;  der  Jüngling,  wie  der  Greis  am  Stabe,  ein  jeder  geht  beschenkt 
nach  Haus."  Wo  gab*  es  also  einen  bessern  Ort,  des  Strebens  Lust 
zu  reizen,  des  Wissens  Drang  zu  spornen  und  zu  stillen?  Wo  kann 
der  Körper  besser  zum  formgewandten  Werkzeug  einer  edlen  Seele 
herangebildet  werden  als  hier,  wo  jeder  Jüngling  an  den  Zerstreu- 
ungen und  Vergnügungen  der  Welt  mit  vernünftiger  Freiheit  Antheil 
nehmen  kann?  wo  er  erfahren  mag,  dass  im  Genuss,  den  das  Ver- 
gnügen bietet,  nicht  der  Reiz  zu  finden  sei,  den  eine  unerfahrene 
Phantasie  dahinter  sucht,  auf  dass  er  dann  als  reifer  Mann  die 
bittere  Erkenntniss  nicht  unendlich  theurer  zu  bezahlen,  mühsamer 


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nachzuholen  habe!  Alles  scheint  sich  in  der  Großstadt  zu  vereinigen, 
dem  Erzieher  reiche  Unterstützung  zu  gewähren  und  sein  Werk  zu 
fördern. 

Doch  müssen  wir,  wenn  wir  vom  Standpunkt  der  Erziehung 
aus  ein  richtiges  Urtheil  föllen  wollen,  auf  den  Entwicklungsgang 
des  Geisteslebens  unser  Auge  richten.  Als  erstes,  oberstes  Gesetz  des 
Geisteslebens  gilt  aus  der  Erfahrung,  dass  die  Seele  nicht  die  Fähig- 
keit besitzt,  Mannigfaltiges  und  Vieles  gleichzeitig  vorzustellen.  Em- 
pfinden und  Anschauen  einerseits,  Denken  und  Dichten  andrerseits 
finden  nie  vollkommen  gleichzeitig  statt.  Mit  je  größerer  Aufmerksam- 
keit wir  ein  äusseres  Object  betrachten,  um  so  weniger  vermögend 
sind  wir,  auf  unsere  Gedanken  zu  achten,  und  je  mehr  wir  in  diese 
vertieft  sind,  um  so  weniger  sehen  und  hören  wir,  was  um  uns  vor- 
geht. Wir  vermögen  nicht,  eine  größere  Mehrheit  von  Gedanken, 
von  bloßen  Vorstellungen  ohne  Beeinträchtigung  ihrer  Klarheit  im 
Bewusstsein  zu  erhalten.  Je  schärfer  wir  den  einen  Gedanken  fixiren, 
umsomehr  treten  die  anderen  zurück  oder  verschwinden  ganz.  Wo 
wir  aber  genöthigt  sind,  einem  Vielerlei  unsere  Aufmerksamkeit  mit 
einem  Male  zuzuwenden,  kann  sich  keine  Vorstellung  mit  so  starkem 
Eindrucke  bilden,  wie  sie  nothwendig  ist,  um  dem  Gedächtnis  zu 
verbleiben,  und  so  entstehen  unkräftige,  verblasste  Bilder  in  der  Seele, 
die  mit  der  Zeit  dem  ganzen  Geistesleben  ihren  Stempel  aufdrücken 
und  in  haltloser  Oberflächlichkeit  des  Menschen  ihren  Ausdruck  finden. 
Stellen  wir  dieser  Gesetzmäßigkeit  innerer  Vorgänge  die  Regellosigkeit 
der  Außenwelt  des  Großstadtlebens  gegenüber.  Wo  wäre  ein  so  viel- 
fach wechselndes  Bild  und  buntes  Allerlei  als  in  dem  täglich  sich 
abspielenden  Leben  der  Großstadt  zu  finden!  Kaum  lassen  die  un- 
aufhörlich vorüberflutenden  wechselnden  Erscheinungen  uns  Zeit  zur 
Besinnung  zu  kommen.  Da  ist  der  erste  Eindruck  noch  nicht  zum 
Bewusstsein  gelangt,  zwingt  uns  schon  ein  anderer  die  Beachtung  ab. 
Allenthalben  drängen  sie  von  allen  Seiten  zu,  begegnen  uns  auf  Schritt 
und  Tritt  und  fordern  für  sich  den  Tribut  der  Aufmerksamkeit.  Da 
gibt  es  weder  Zeit  noch  Raum  zu  ruhiger  Betrachtung,  die  Sinne 
fuhren  einen  fortwährenden  Verteidigungskrieg.  Im  heißen  Wirbel 
solchen  Lebens  kann  sich  nicht  die  Ruhe  finden,  die  uns  nöthig  ist, 
wenn  wir  Gemüth  und  Streben  auf  das  geistig  Große  richten  sollen. 
Der  Lärm,  das  wilde  Treiben  macht  das  Ohr  des  Geistes  taub  für 
unsere  stille  Stimme  in  der  eignen  Brust.  Der  Sinn  wird  weit  und 
flach  gleich  einem  Strome,  der  die  Wasser  in  der  breiten  Ebene  seicht 
und  ohne  Kraft  dahinfuhrt.   Das  Ubermaß,  die  Uberfülle  überreizt 


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das  Seelenleben  so,  dass  es  in  Übermüdung  fallt  und  dass  ihm  endlich 
alle  Leichtigkeit  und  alle  Kraft  des  Widerstandes  verloren  geht;  denn 
auch  der  Organismus  ist  verändert  worden ,  das  Nervenleben  krankhaft 
reizbar;  der  Mensch  wird,  wie  man  sagt,  nervös. 

Ludwig  Richter  zeichnet  uns  in  seinem  Lebenslauf  ein  Bild  von 
der  Geschichte  der  Entstehung  solcher  Leiden  mit  den  Worten:  „Wie 
still  und  öde  war  in  meiner  Jugendzeit  die  breite  Schlossstraße!  nichts 
von  den  glänzenden  Schaustellungen,  die  jetzt  sich  dem  Auge  auf- 
drängen; dafür  aber  zog  das  Wenige  und  an  sich  Geringe  umsomehr 
die  Aufmerksamkeit  auf  sich  und  prägte  sich  tief  dem  Auge  ein; 
während  jetzt  das  Viele  und  Vielerlei  zur  stumpfen  Gewohnheit  ge- 
worden, kaum  imstande  ist,  die  zerstreuten  und  übersättigten  Sinne 
auch  nur  für  einen  Augenblick  flüchtig  zu  reizen."  Überreiztheit  und 
Zerstreutheit;  Übersättigung  und  Stumpfheit  sind  die  Folgen  solcher 
Einwirkung  und  die  Kennzeichen  innerer  Zerrüttung.  Das  in  der 
Eigenthttmlichkeit  seiner  natürlichen  Anlage  beleidigte  Seelenleben 
rächt  sicli  für  die  Nichtbeachtung  der  in  ihm  herrschenden  Gesetze 
durch  solche  Leiden,  die  schon  an  unserer  Jugend  sich  bemerklich 
machen,  weshalb  man  neuerdings  genöthigt  war,  Nervenheilanstalten 
für  jugendliche  Kranke  zu  errichten,  ein  Umstand,  der  die  Wege 
unserer  Zeit  mit  grellem  Licht  beleuchtet.  Weniger  aber  eine  Folge 
der  Schulzucht,  sind  diese  Erscheinungen  vielmehr  auf  eine  Einwirkung 
durch  das  Leben  zurückzuführen,  und  es  wäre  unserer  Jugend  viel 
dienlicher,  sie  von  großen  Städten  als  von  großen  Schulaufgaben  zu 
befreien.  Da  wir  vorläufig  aber  mit  den  gegebenen  Verhältnissen  zu 
rechnen  haben,  so  fragt  sich  nur,  wie  können  wir  das  Übel  zu  ver- 
ringern suchen?  Nur  so,  dass  wir,  was  draußen  planlos  wirkt  im 
Leben,  in  der  Erziehung  einerseits  vermeiden,  andrerseits  vermindern. 
Da  in  der  Hand  des  Lehrers  aber  nur  der  Unterricht  für  die  Er- 
ziehung Wichtigkeit  und  Geltung  haben  kann,  so  muss  er  ihn  als 
Mittel  seiner  Gegenwirkung  brauchen.  Im  Unterricht  muss  er  dem 
Zögling  Geisteszucht  beibringen.  Hier  hat  er  zu  erfahren,  dass  auf 
wissenschaftlichem  Gebiete  eine  probehaltige  Einsicht  nur  durch  Auf- 
wendung eines  gewissen  Maßes  eigner  Anstrengung  erlangt  wird, 
dass  ein  bloßes  passives  Sehen  und  Hören,  ein  unthätiges  auf  sich 
Wirkenlassen  nicht  genügt  und  dass  der  Mensch,  „der  im  leichten 
Fluge  jedes  Wissen  umflattert  und  nicht  durch  stille,  feste  Anwendung 
seine  Erkenntnis  stärkt,  die  Bahn  der  Natur  verlässt".  Darum  muss 
seine  Kraft  in  Thätigkeit  gesetzt,  er  muss  gezwungen  werden,  auf 
einen  Gegenstand  sie  zu  beschränken  und  tiefeindringend  hinzulenken; 


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denn  nicht  am  Vielerlei  des  Wissens  liegt  es,  sondern  dass  die  Kraft 
geübt  und  frisch  erhalten  bleibe,  damit  sie  das  Erlernte  anzuwenden 
wisse.  Ein  bloßes  Füllen  mit  gelehrtem  Allerlei  kräftigt  das  Ver- 
mögen nicht;  es  überbürdet  nur  und  bildet  Phrasenhelden,  die  wol 
mit  Worten  trefflich  fechten  können,  doch  jeder  eignen  Ansicht  bar 
und  ledig  sind.  Und  hierin  trifft  uns,  ob  mit  Recht,  das  weiß  ich 
nicht,  der  Vorwnrf  eines  hochgelehrten,  welterfahrenen  Mannes,  des 
frühem  amerikanischen  Gesandten  (Whist)  in  Berlin,  welcher  sagt: 
-Bei  all  meiner  Bewunderung  für  das  deutsche  Unterrichts wesen  muss 
ich  mich  doch  zu  der  Überzeugung  bekennen,  dass  in  den  Schulen  zu 
viel  scholastischer  Druck  herrscht,  dass  die  Jugend  zwar  viel  lernen, 
aber  wenig  denken  muss,  wodurch  die  individuelle  Kraft  untergraben 
wird.  Darum  der  Mangel  an  noch  unverbrauchter  Kraft,  durch  welche 
unsere  amerikanische  und  englische  Jugend  im  praktischen  Leben  so 
sehr  gefördert  wird."  Nirgends  aber  bedarf  das  non  multa,  sed  mul- 
tum  im  Unterrichte  einer  strengeren  Beachtung  als  in  der  Großstadt, 
wo  der  Zögling  vielmehr  geradezu  einer  Regelung  seiner  Eindrücke, 
einer  Seelendiät  unterworfen  werden  muss,  wenn  er  vor  Störung  und 
Verwirrung  bewahrt  bleiben  soll.  Der  Unterricht  muss  liier  gleich- 
zeitiggeistig heilgymnastisch  wirken,  ausscheidend  Schädliches,  erzeugend 
Kraft  and  Halt  und  Festigkeit.  Darum  mag  es  wol  anerkennenswert 
sein,  wenn  unsere  Unterrichtsmethode  sich  bemüht,  das  Lernen  möglichst 
leicht  zu  machen,  nur  darf  es  nicht  darauf  hinauslaufen,  dass  ein 
Geschlecht  herangezogen  werde,  unfähig  auch  in  solchen  Dingen  etwas 
Tüchtiges  zu  leisten,  die  ihm  nicht  genehm  sind,  weil  sie  Kraft- 
anstrengung fordern.  Und  darum  ist  es  eine  fehlerhafte  Richtung,  die 
da  meint,  es  sei  notwendig,  dem  Kinde  die  Arbeit  des  Lernens  wo- 
möglich zum  Spiel  zu  machen.  Denn  gerade  das  Erarbeiten,  das 
Selbstsuchen  nnd  Selbstfinden  ist  das  Kraft-  und  Lebenweckende  bei 
jedem  Unterrichte.  Sollen  erworbene  Kenntnisse  für  das  Leben  Frucht 
bringen,  so  müssen  sie  verstanden  und  verarbeitet,  sie  müssen  Fleisch 
und  Blut  geworden  sein.  Dann  erst  erhält  das  Geistesleben  Saft  und 
Kraft  und  jene  Festigkeit,  die  der  Zersplitterung  wehrt,  und  dann 
erst  hat  die  Erziehung  ihr  Ziel  erreicht,  wenn  sie  im  Zögling 
Festigkeit  des  Strebens  herausgebildet  hat,  das  seinen  Stütz- 
punkt in  ernster  Sittlichkeit  gefunden. 

Auf  Seite  des  sittlichen  Lebens  drohen  dem  Zögling  aber 
ebenso  ernste  Gefahren  in  der  Großstadt.  Überall  winkt  das 
Genussleben  in  verführerischen  Formen  und  sucht  vom  Wege  ab- 
zuleiten.    Für   den  Lernenden,  Werdenden   soll  aber   der  gol- 


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26  — 


dene  Baum  des  genießenden  Lebens  noch  nicht  blühen.  Mit  dem 
ihm  geschenkten  Vorrecht,  in  einer  Welt  von  Idealen  zu  leben, 
ist  auch  die  Pflicht  verbunden,  sich  auf  diese  Welt  zu  beschrän- 
ken. Vergnügen  ist  eine  Klippe,  an  der  schon  mancher  Jüngling 
gescheitert.  Er  läuft  mit  vollen  Segeln  aus,  um  es  aufzusuchen, 
aber  ohne  Compass,  um  den  Lauf  danach  zu  richten,  und  ohne  hin- 
länglichen Verstand,  um  das  Steuer  zu  führen.  Darum  mahnt  Kant 
in  seiner  Anthropologie:  r  Junger  Mann,  versage  dir  die  Befriedigung, 
wenn  auch  nicht  in  der  stoischen  Absicht,  ihrer  gar  entbehren  zu 
wollen,  sondern  vielmehr  in  der  feinen,  epikuräischen,  einen  immer 
wachsenden  Genuss  im  Prospect  zu  haben."  Die  menschliche  Natur 
ist  so  dürftig  organisirt,  dass  sie  nur  einen  winzigen  Theil  Lust  ge- 
nießen  kann;  dem  Ubermaß  folgt  Uberdruss.  Und  was  kann  nun 
einem  Jüngling,  der  alle  Genüsse  der  Großstadt  durchgekostet,  ein 
Leben  voll  Mühe  und  Entbehrung,  das  seiner  harrt,  noch  Verlockendes 
zeigen?  „Wer  da  strebt,  das  erwünschte  Ziel  zu  erreichen,  that  und 
ertrug  als  Knabe  schon  viel,  trug  Hitze  und  Kälte,  lernte  entbehren 
der  Lust."  Im  Großstadtjüngling  aber  sind  die  feineren  Empfindungen 
durch  den  Lärm  einer  chaotischen  Welt  übertäubt,  und  so  bleibt  ihm 
nur  noch  Raum  tili*  grobe,  sinnliche  Genüsse,  und  vielen  unter  ihnen 
gilt  das  Wort  des  Dichters:  Besser  im  stillen  reift  er  zur  That  oft, 
als  im  Geräusche  wilden,  schwankenden  Lebens,  das  manchen  Jüngling 
verderbt  hat."  Weder  für  seine  geistige,  noch  für  die  sittliche  Aus- 
bildung des  Zöglings  können  wir  vom  Großstadtleben  eine  Förderung 
erwarten,  wir  haben  nur  Hemmungen  zu  fürchten.  Das  Leben  der 
modernen  Großstadt  vollzieht  eine  völlige  Abtrennung  des  Individuums 
vom  Naturleben.  Das  Kind  vollends,  selbst  noch  ein  Stück  Natur, 
muss  in  einer  solchen  Treibhauscultnr  frühzeitig  welken,  wenn  es  zu 
einer  Entfaltung  des  echt  Kindlichen  in  ihm  überhaupt  gekommen  ist: 
denn  auch  die  Thorheit  der  Erwachsenen  hilft  noch  mit,  die  Unnatur 
recht  zu  verstärken.  Man  hält  es  ja  für  seine  Pflicht,  dem  Kinde 
schon  das  Leben  so  genussreich  als  nur  möglich  zu  gestalten.  Theater- 
aufführungen und  Bälle  für  Kinder  hält  man  für  nöthig  und  nützlich, 
damit  das  Kind  in  geistig  und  physisch  verdorbener  Luft  an  Geist 
und  Körper  sich  gleichmäßig  vergifte.  Und  doch  sind  für  Kinder  die 
einzig  wolthätigen  Vorstellungen  die,  welche  die  Natur  aufführt  in 
Feld  und  Wald,  bei  Vogelsang  und  Waldesrauschen.  Hier  ist  der 
Tummelplatz  für  unsere  Jugend.  Hier  kann  sie  Geist  und  Körper 
stärken,  stählen,  bilden.  Hier  mag  der  Knabe  fröhlich  brauchen  Arme 
und  Beine,  die  Sinne  schärfen,  den  Verstand  entwickeln  an  allem, 


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—  27 


was  da  lebt  und  webt  auf  Flur,  im  Hain.  Hier  sind  die  Wurzeln 
deiner  Kraft,  hier  deine  Heimath,  Jugend! 

Darum  hat  auch  nur  der,  der  auf  dem  Lande  geboren,  sozusagen 
unter  freiem  Himmel,  bei  dessen  Geburt  die  Bäume  ihre  Zweige  zum 
Fenster  hereinsteckten ,  an  dessen  Wiege  die  Vögel  des  Waldes  sangen : 
mir  dessen  Erinnerung  hat  Heimweh  nach  dem  Ort,  wo  er  das  Licht 
der  Welt  erblickte,  wo  er  vom  Echo  der  Berge,  vom  Rauschen  des 
Waldes  das  Reden  lernte.  ..Wer  in  einer  großen  Stadt  geboren  und 
erzogen",  sagt  Saphir,  „der  hat  keine  Jugenderinnerung;  seine  Er- 
innerung bringt  ilim  nur  Häuser,  Steine,  Menschen,  Lehrer,  Schul- 
kameraden, Prügel  und  höchstens  einen  Weihnachtsbaum."  Man  raubt 
dem  Kind  das  Paradies  der  Lebenszeit,  das  man  hineinzwängt  in  die 
fremde,  kalte  Welt,  die  nichts  für  seinen  Kindessinn  und  seine  Neigung 
bietet 

Für  die  zweite  Stufe  des  ersten  Lebensalters,  bis  über  das 
vierzehnte,  fünfzehnte  Lebensjahr  hinaus,  eignet  sich  das  Leben  der 
Kleinstadt  mit  seinen  Handwerksstuben  und  seinen  einfacheren  Ver- 
hältnissen besonders  für  Knabenerziehung.  In  diesem  Alter  weisen 
Fähigkeit  und  Neigung  auf  die  Richtung  hin,  in  welcher  sich  der 
Lebensgang  bewegen  wird;  es  drängt  zu  der  Entscheidung,  ob  der 
Knabe  im  Kreise  der  Wissenschaften  oder  einer  handwerksmäßigen 
Beschäftigung  Befriedigung  und  Vollendung  finden  wird.  Entweder 
bleibt  er  hierauf  ganz  dem  Werkstattleben,  in  welches  er  durch  Arbeit 
seiner  Hände  eingeführt,  oder  er  folgt  dem  Drange  nach  weiterer 
wissenschaftlicher  Ausbildung:  und  auf  dieser  letzten,  höchsten  Stufe, 
der  Hochschulbildung ,  die  zum  Abschluss  bringen  und  auf  eigne  Füße 
stellen  soll,  muss  er  so  weit  gefestigt  sein,  dass  ihm  das  Großstadt- 
leben nicht  mehr  schaden  kann.  Geistig  und  sittlich  wolgegründet, 
empfängt  er  jetzt  die  Fülle  der  Anregungen  als  eine  Erweiterung 
seines  Verständnisses.  Nunmehr  kann  er  alle  Verhältnisse  und  Bildungs- 
raittel  in  anderer  Weise  auffassen],  verwerten  und  aneignen;  jetzt  mag 
er  auch  den  Kampfplatz  übersehen  lernen,  auf  welchem  er  sich  später 
selbst  versuchen  soll;  denn  „das  Leben  bildet  den  Mann  und  wenig 
bedeuten  die  Worte".  Jetzt  gibt  der  Kreis ,  in  welchen  er  tritt ,  seiner 
bisherigen  Bildung  Ergänzung  und  Vertiefung  und  erweist  sich  dämm 
als  naturgemäße  Fortsetzung  seiner  vorangegangenen  Entwicklung. 

So  gestaltet  wäre  die  Erziehung  erst  naturgemäß,  während  sie 
jetzt  in  der  Großstadt  der  Natur  zuwiderläuft,  da  Schule  und  Leben 
im  Widerspruch  stehen;  denn  sobald  der  Knabe  die  Schulstube  ver- 


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lassen  hat,  findet  er  überall  das  zerstreuendste  Leben  sich  abspielen, 
was  einen  Zwiespalt  in  seine  Seele  bringen  muss. 

Die  praktischen  Engländer  sind  uns  auch  hierin  lange  voraus. 
Johanna  Schopenhauer  schreibt  in  einem  Reisewerke  über  England 
und  Schottland:  „Dörfer  und  Flecken  rings  um  London  wimmeln  von 
Erziehungsanstalten,  die  alle  gedeihen,  da  fast  niemand  seine  Kinder 
zu  Hause  erzieht.  Sowie  Knaben  und  Mädchen  aus  der  Kinderstube 
kommen,  werden  sie  in  jene  Erziehungsanstalten  gegeben,  und  erst  nach 
vollendeter  Erziehung  kehren  sie,  fast  erwachsen,  ins  väterliche  Haus 
zurück."  Das  ist  der  Weg,  den  für  die  Großstadt  unserer  Zeit  der 
Staat  betreten  muss,  wenn  unsere  Jugend  nicht  an  Geist  und  Körper 
Schaden  leiden  soll.  Die  Großstadtatmosphäre  bietet  keine  Lebens- 
luft für  jugendliche  Seelen;  sie  tödtet  wie  ein  Gifthauch  ihre  zarten 
Keime,  vernichtet  wie  ein  Frühlingsreif  die  besten  Triebe,  und  was 
man  hierin  sündigt  an  der  Jugend,  wird  sich  einst  unausbleiblich 
rächen.  Wir  als  Erzieher  wollen  dessen  eingedenk  sein,  dass  uns  die 
Pflicht  obliegt,  auf  Gefahren,  welche  das  Erziehungswerk  bedrohen, 
hinzuweisen.  Unsere  Aufgabe  ist  es,  darauf  hinzuarbeiten,  dass  ein 
Geschlecht  aufwachse  kernhaft  und  stark,  gesund  und  unverdorben 
bis  ins  Mark.  So  dienen  wir  dem  Vaterland  am  besten.  Denn  in 
der  Kraft  und  Unverdorbenheit  der  Jugend  ruht  die  Macht  und  Größe 
eines  Landes. 


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Die  Bedeutung  Schillers  für  die  Jugend. 

Von  W.  Bübenkamp-Crtfdd. 

auch  darüber  gestritten  werden,  wer  der  größere  Dichter 
sei,  Goethe  oder  Schiller,  mag  auch  Goethe  in  seiner  natürlichen 
dichterischen  Begabung  und  in  der  Universalität  seines  Talentes  nicht 
von  Schiller  erreicht  werden,  so  steht  doch  Schiller  dem  Herzen  das 
deutschen  Volkes  nicht  minder  nahe  als  Goethe.  Und  der  Jugend 
steht  er  näher;  er  ist  der  Lieblingsdichter  der  Jugend.  „Die  Be- 
merkung, dass  Leser  bis  zu  ihrem  25.  Jahre  gewöhnlich  Schiller,  aber 
nach  dem  25.  Jahre  Goethe  den  Vorzug  geben,  ist  eine  vielleicht 
ziemlich  unparteiische  Beleuchtung  der  Frage  über  die  Vortrefflichkeit 
der  beiden  Dichter,"  meint  ein  Kritiker.  Für  uns  ist  dieselbe  eine 
Bestätigung  unserer  Behauptung. 

Während  Goethe  schon  an  der  Wiege  das  Glück  zugelächelt  hat, 
.seine  Kindheit  dem  Schmetterlinge  gleicht,  der  von  Blume  zu  Blume 
flattert,  wuchs  Schiller,  wenn  auch  nicht  unter  geradezu  ärmlichen,  so 
doch  bescheidenen  Verhältnissen  auf.  Goethe  umgibt  Uberfluss  und 
Wolhabenheit,  mannigfache  Belehrung  und  Anregung,  so  dass  der  auf- 
strebende Dichtergeist  sich  nach  allen  Seiten  frei  entwickeln  kann; 
Schillers  Jugend  verfließt  in  fast  gänzlicher  Abgeschlossenheit  vom 
Leben,  der  Entfaltung  seiner  Muse  stellen  sich  drückender  Zwang 
und  eine  tyrannische  Schuldisciplin  entgegen.  Die  Befriedigung  seines 
Dichtertriebes  erkaufte  Schiller  durch  die  mit  vielen  Gefahren  ver- 
knüpfte Flucht  aus  dem  Elternhause  und  die  Ungewissheit  einer 
ärmlichen  Existenz.  Und  als  die  endliche  Anerkennung  ihm  ein  freies 
dichterisches  Schaffen  ermöglichte,  war  der  schwächliche,  von  Krank- 
heiten und  Strapazen  heimgesuchte  Körper  nicht  mehr  imstande,  der 
verzehrenden  Einwirkung  anstrengender  Arbeit  zu  widerstehen.  Schiller 
ist  in  gewissem  Sinne  ein  Märtyrer  seiner  Ideen  geworden,  ein  Opfer 
auf  dem  Altare  des  Genius.  In  seinem  frühen  Tode  gleicht  er  dem 
Krieger,  der  mitten  im  Leben  im  Angesichte  einer  glückverheißenden 
Zukunft  den  Tod  des  Helden  stirbt, 


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Wenn  die  abenteuerlichen  Jugendschicksale  und  die  alle  Fesseln 
sprengende  Begeisterung  Schiller  die  Herzen  der  Jugend  im  Fluge  zu 
erobern  geeignet  sind,  kann  er  in  der  unermüdlichen  Verfolgung  des 
einmal  erkannten  Zieles  und  in  dem  Adel  seiner  Persönlichkeit  als 
ihr  Muster  hingestellt  werden. 

Unter  den  fortwährenden  Bedrängnissen  und  Widerwärtigkeiten 
würde  ein  gewöhnlicher  Geist  endlich  seine  höheren  Bestrebungen 
aufgegeben  und  nur  noch  zuweilen  einen  sehnsüchtigen  Blick  auf  die 
Träume  seiner  Jugend  zurückgeworfen  haben.  Schillers  energischer 
Geist  aber  wurde  durch  sein  widriges  Geschick  nur  noch  mehr  ge- 
stählt und  gewann  um  so  mehr  Spannkraft.  Die  riesige  Kraft,  mit 
welcher  er  seine  Ketten  sprengte,  zeigt  sich  in  dem  Erstlingsdrama: 
„Die  Räuber."  —  Wenn  von  berufener  Seite  Öfter  die  Äußerung  gethan 
wurde,  Goethe  sei  ein  gebomer,  Schiller  ein  gemachter  Dichter,  so 
kann  ihm  die  Anerkennung  nicht  versagt  bleiben,  dass  er  sich  selbst 
zu  dem  gemacht  hat,  was  er  war;  seine  dichterische  Vollkommenheit 
ist  vielfach  das  Werk  seines  ernsten  Ringens  und  Strebens.  Von  der 
Größe  seiner  Selbstausbildung  legen  seine  späteren  Dramen  Zeugnis 
ab,  welche  durch  ihre  classische  Glätte  und  Durchbildung  vornehm 
von  den  Producten  seiner  Sturm-  und  Drangperiode  abstechen. 

In  gleichem  Maße,  wie  Schiller  den  Fortschritt  in  seinen  poetischen 
Leistungen  seinem  energischen  und  beharrlichen  Streben  dankte,  legte 
er  mit  Entschiedenheit  Hand  an  die  Vervollkommnung  seines  mora- 
lischen Menschen,  und  wir  müssen  gestehen,  dass  er  durch  sein  unab- 
lässiges Ringen  das,  was  er  erstrebte,  in  einem  eigenthümlich  hohen 
Grade  erreicht  hat.  Es  ist  bemerkenswert,  dass  Heine,  wenn  auch 
nicht  ohne  Verleugnung  seiner  Ironie,  Schiller  „den  edelsten,  aber 
nicht  den  größten  Dichter  Deutschlands"  nennt.  So  stürmisch  und 
bewegt  die  Jugend  Schillers  war,  nicht  blos  in  den  äußeren  Lebens- 
schicksalen, sondern  auch  durch  stetige  innere  Kämpfe,  so  ruhig  und 
klar  floss  sein  späteres  Alter  dahin.  Wir  können  von  ihm  sagen, 
dass  er  in  seinem  Herzen  völlige  Befriedigung  genoss  durch  die  har- 
monische Übereinstimmung  seines  inneren  und  äußeren  Lebens,  durch 
die  Congruenz  seiner  Anschauungen  mit  seinem  Handeln.  Bei  ihm 
rinden  wir  nichts  von  der  Frivolität  eines  Heine,  von  der  Haltlosig- 
keit eines  Bürger,  von  dem  hin  und  her  wankenden  Skepticismus  und 
dem  finsteren  Pessimismus  Lenau's. 

Seine  Kraft  in  sittlicher  Beziehung  ruhte  aber  in  der  Begeiste- 
rung für  die  Aufgabe,  die  er  sich  gesetzt,  in  der  rückhaltlosen  Hin- 
gabe an  seinen  Dichterbernf.    Er  ist  oft  ein  Priester  am  Altare  der 


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Gottheit  genannt  worden,  und  er  ist  es  in  Wahrheit.  Keiner  konnte 
mehr  von  der  hohen- Bestimmung  des  Künstlers,  was  ja  in  gewissem 
Sinne  auch  der  Dichter  ist,  durchdrungen  sein  wie  er.  Prophetisch 
klingen  seine  Worte:  „Der  Menschheit  Würde  ist  in  eure  Hand  ge- 
geben, bewahret  sie!  Sie  sinkt  mit  euch,  mit  euch  wird  sie  sich 
heben!"  Schillers  Welt  war  fast  ausschließlich  eine  innere,  nicht  die 
der  Wirklichkeit,  sondern  die  der  Ideale.  Äußeren  Zerstreuungen  und 
Erholungen  in  geselligem  Kreise  war  er  zwar  nicht  abgeneigt,  aber 
er  suchte  sie  auch  nicht;  selbst  freundschaftliche  Genüsse  standen 
ihm  weit  unter  dem  Glücke,  welches  ihm  in  reichstem  Maße  aus  dem 
Borne  der  Poesie  quoll.  Der  Besitz  irdischer  Glücksgüter  war  ihm 
versagt;  sein  Gedicht:  „Die  Theilung  der  Erde"  findet  auf  ihn  selbst 
volle  Anwendung;  er  hat  aber  auch  wie  kein  anderer  von  der  dem 
Dichter  gewährten  Erlaubnis  Gebrauch  gemacht:  „Willst  du  in  meinem 
Himmel  mit  mir  leben,  er  soll,  so  oft  du  kommst,  dir  offen  sein",  und 
in  der  Gemeinschaft  der  Seligen  seines  Dichter-Olymps  kümmerte  ihn 
die  Armseligkeit  seiner  Erdenlage  wenig.  Selbst  die  Schwäche  und 
Hinfälligkeit  seines  Körpers  konnte  ihn  nicht  an  der  Ausübung  des 
Dichterberufes  hindern;  sein  ideales  Streben  waffnete  ihn  mit  einem 
wunderbaren  Starkmuth  in  seiner  Krankheit.  Ehre  oder  Ruhm  er- 
strebte Schiller  nicht;  wir  finden  bei  ihni  keine  Spur  von  Eitelkeit, 
kaum  von  berechtigtem  Stolze.  Noch  viel  weniger  buhlte  er  um  die 
Gunst  der  Menge:  „Kannst  du  nicht  allen  gefaUen  durch  deine  That 
und  dein  Kunstwerk,  mach  es  wenigen  recht;  vielen  gefallen  ist 
schlimm."  Wie  in  Ansehung  seiner  selbst  dient  er  auch  in  Berührung 
mit  seinen  dichtenden  Zeitgenossen  nur  der  Sache;  der  Kampf,  den 
er  gegen  die  zu  seiner  Zeit  herrschende  Niedrigkeit  der  gemeinen 
Literatur  führte,  wurde  ihm  eingegeben  von  der  Verehrung  für  die 
Kunst;  er  war  gegen  die  Sache  und  nicht  gegen  die  Person  gerichtet. 
Das  letztere  gilt  auch  von  der  oft  gerügten  Kritik  über  Bürger's 
Gedichte. 

Die  Eigenschaft,  welche  wir  an  dem  Menschen  Schiller  nicht  ain 
wenigsten  schätzen  müssen,  ist  seine  Wahrheitsliebe  und  seine  Un- 
parteilichkeit. Er  war  frei  von  gehässiger  Tendenz.  Wo  die  Natur 
der  Dinge  eine  SteUungnahme  erheischte,  legte  er  seine  Ansicht  ruhig 
und  offen  dar,  nur  um  der  Wahrheit  die  Ehre  zu  geben. 

Wir  müssen  unsere  kurze  Betrachtung  über  die  Persönlichkeit 
Schillers  schließen;  sind  aber  überzeugt,  dass  der  Dichter  als  Mensch 
bei  einer  eingehenderen  Untersuchung  stets  gewinnen  wird.  Dem 
Menschen  Schiller  gebürt  nicht  blos  die  Hochachtung  eines  jeden 


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sondern  er  ist  ein  Charakter,  der  durch  wahre  Größe  zu  allen  Zeiten 
hervorragen  wird,  an  dem  sich  jung  und  alt,,  namentlich  aber  die 
deutsche  Jugend  erbauen  und  emporranken  kann. 

Die  Hauptbedeutung  Schillers,  auch  für  die  Jugend,  liegt  in  seinen 
Werken.  Als  Mensch  lebte  und  wirkte  Schiller  nur  eine  kurze  Reihe 
von  Jahren  in  einem  engen  Kreise;  nur  dieser  stand  unter  der  un- 
mittelbaren Einwirkung  seiner  edlen  Persönlichkeit.  Aber  ewig  und 
für  alle  redet  sein  Dichtergeist  aus  seinen  Werken.  Was  Großes  und 
Erhabenes  in  diesem  Geiste  gewohnt,  die  Summe  seines  geistigen 
Lebens  hat  er  uns  in  denselben  hinterlassen;  in  ihnen  ruhen  unver- 
gängliche Schätze.  „Körper  und  Stimme  leiht  die  Schrift  dem  stummen 
Gedanken;  durch  der  Jahrhunderte  Strom  trägt  ihn  das  redende 
Blatt."  (Spaziergang.) 

All  sein  Dichten  ist  bei  Schiller  der  Ausdruck  und  Spiegel  seines 
edlen  Geistes.  Vor  allem  legen  seine  Schriften  Zeugnis  ab  von  der 
tief-ernsten  Auffassung  seiner  dichterischen  Aufgabe.  Das  lässt  sich 
ebensowol  aus  der  Wahl  als  aus  der  Behandlung  der  von  ihm  be- 
arbeiteten Stoffe  erkennen.  Er  widmete  sein  Talent  nur  würdigen 
Stoffen;  zu  poetischen  Spielereien  verschwendete  er  seine  Kraft  nicht, 
den  Leser  blos  zu  unterhalten,  verschmähte  er.  Wie  sehr  er  sclavische 
Nachahmung  hasste,  beweisen  seine  Verse  „An  Goethe",  als  er  deu 
Mahomet  von  Voltaire  auf  die  Bühne  brachte. 

,Einhcim'schcr  Kunst  ist  dieser  Schauplatz  eigen, 
liier  wird  nicht  fremden  Götzen  mehr  gedient  ; 
Wir  können  muthig  einen  Lorbeer  zeigen, 
Der  auf  dem  deutschen  Pindus  selbst  gegrünt/' 

In  allen  früheren  Schriften  Schillers,  ja  mehr  oder  weniger  in 
seinen  ganzen  Werken  tritt  ein  angeborner  aristokratischer  Wider- 
wille gegen  alles  Gewöhnliche  zutage.  Dass  indes  auch  die  kleinste 
und  geringfügigste  Erscheinung  der  Natur,  besonders  der  lebenden, 
ein  Urbild  des  unsichtbaren  Geistes  ist,  der  sich  in  der  Natur  thätig 
zeigt,  erkannte  Schiller  wol,  und  seine  späteren  Gedichte  und  Dramen 
beweisen,  dass  seine  unermüdlichen  Bestrebungen,  diesen  Mangel  seines 
Talentes  zu  ergänzen,  mit  Erfolg  gekrönt  waren.  Wenn  auch  die 
Erstlinge  der  Schillerschen  Muse  Ungeheuerlichkeiten  und  Maßlosig- 
keiten aufweisen  und  nicht  frei  sind  von  anstößigen  und  zweideutigen 
Stellen,  so  verleugnet  sich  doch  auch  in  diesen  Erzeugnissen  nicht  die 
hohe  sittliche  Idee.  In  seinen  späteren  Werken  sind  die  angedeuteten 
Fehler  fast  gänzlich  vermieden.  So  gleicht  Schiller  dem  brausenden 
Gebirgsbache,  dessen  ungestüme  Fluten  von  Sand  und  Geröll  getrübt 


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sind,  der  aber  bald,  nachdem  seine  geklärten  Wasser  die  Ebene  er- 
reicht haben,  das  Licht  der  Sonne  wiederspiegelt  und  Segen  und 
Freude  verbreitet  —  Schillers  Werke  besitzen  fast  durchgängig  den 
Vorzug  sittlicher  Reinheit,  der  für  einen  jugendlichen  Leserkreis  nicht 
gering  angeschlagen  werden  muss.  Soweit  dieselben  inbetreff  des 
Verständnisses  keine  Schwierigkeiten  bereiten,  dürfen  die  meisten 
seiner  Gedichte  und  Dramen  der  gereifteren  Jugend  ohne  Bedenken 
in  die  Hand  gegeben  werden. 

Ebenso  sehr  als  wegen  der  sittlich  reinen  Darstellung  sind  die 
Schriften  Schillers  durch  ihren  Reichthum  an  sittlichen,  wahrhaft 
großen  Ideen  für  die  Jugend  bedeutungsvoll.  Was  der  Dichter  in  der 
Vorrede  zu  seinem  Schauspiele  „Die  Räuber"  sagt:  „Ich  darf  meiner 
Schrift  mit  Recht  einen  Platz  unter  den  moralischen  Büchern  ver- 
sprechen; das  Laster  nimmt  den  Ausgang,  der  seiner  würdig  ist. 
Der  Verirrte  tritt  wieder  in  das  Geleise  der  Gesetze.  Die  Tugend 
geht  siegend  davon",  diese  Erwartung  durfte  er  fast  ohne  Ausnahme 
von  allem  hegen,  was  er  geschrieben.  Er  hat  sein  Talent  in  den 
Dienst  der  Sittlichkeit  gestellt,  und  wir  fühlen  uns  ermächtigt,  ihn 
mit  vollstem  Rechte  einen  moralischen  Dichter  zu  nennen.  Schiller 
fand  die  Gesetze  der  Sittlichkeit  und  der  Kunst  wol  vereinbar,  nicht, 
dass  er  sich  wie  Heine  zur  zweifelhaften  Ehrenrettung  einer  wanken- 
den Moral  das  Zeugnis  ausstellen  musste:  „seine  ästhetische  Anlage 
scheine  von  Natur  aus  stärker  entwickelt  zu  sein  als  der  Drang  nach 
Wahrheit".  Bei  tieferer  Kenntnis  der  Persönlichkeit  Schillers  finden 
wir  es  erklärlich,  dass  der  lehrende  Charakter  in  seinen  Dichtungen 
vorherrscht.  Gleichwol  ist  er  nicht  im  mindesten  Tendenzdichter,  und 
niemals  sinkt  er  zu  der  Trivialität  und  der  Alltagspoesie  mancher 
Dichter  früherer  und  neuerer  Zeit  herab.  Sein  Reich  liegt  weit  über 
der  Sphäre  des  gewöhnlichen  Lebens. 

Im  Hohen  und  Erhabenen  gipfelte  seine  Kraft;  hierin  ist  er  viel- 
leicht mehr  Meister  als  irgend  ein  anderer  Dichter. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  auf  die  einzelnen  Erzeugnisse  der 
Schillerschen  Muse  näher  einzugehen  und  ihren  Wert  und  ihre  Ver- 
wendung für  die  verschiedenen  Stufen  des  Jugendalters  zu  besprechen. 
Wir  müssen  uns  vielmehr  darauf  beschränken,  in  einem  allgemeinen 
Überblicke  die  Verdienste  des  Dichters  nach  den  drei  Richtungen  der 
Poesie,  der  lyrischen,  epischen  und  dramatischen  Dichtung,  zu  be- 
leuchten. 

Da  Schiller  als  Lyriker  nur  eine  untergeordnete  Stellung  ein- 
nimmt und  seine  lyrischen  Versuche  mit  wenigen  Ausnahmen  als  die 

Pxktfotium.  14.  Jahrg.  Heft  I.  3 


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schwächsten  Leistungen  seiner  Muse  angesehen  werden  müssen,  können 
wir  dieselben  fuglich  übergehen,  um  uns  mit  dem  Epiker  und  Drama- 
tiker Schiller  zu  beschäftigen.  —  Wenngleich  Schillers  Dichtergeist 
sich  auf  dem  Gebiete  des  Dramas  zu  der  höchsten  Stufe  künstlerischer 
Vollendung  emporgeschwungen  hat,  ruht  seine  Bedeutung  für  die 
Jugend  ebenso  sehr  in  seinen  epischen  Leistungen,  in  seinen  Balladen. 
Schon  der  Umstand,  dass  viele  der  letzteren  in  den  Lesebüchern  für 
höhere  und  niedere  Schulen  fast  allgemeine  Aufrahme  gefunden  haben, 
ist  ein  Beweis  für  die  Würdigung  ihres  erziehlichen  und  sprachlichen 
Wertes.  Noch  beredter  aber  spricht  ihre  Verbreitung  in  hohen  und 
niederen  Volksschichten  für  ihre  Beliebtheit  Wir  wiederholen  nur, 
was  unsere  Literarhistoriker  längst  tibereinstimmend  anerkannt  haben, 
wenn  wir  sagen,  dass  Balladen,  wie  der  Taucher,  der  Graf  von  Habs- 
burg, der  Kampf  mit  dem  Drachen',  der  Alpenjäger,  die  Bürgschaft, 
der  Ring  des  Polykrates,  die  Kraniche  des  Ibykus,  zu  dem  Vortreff- 
lichsten gehören,  was  die  deutsche  Literatur  auf  diesem  Gebiete  her- 
vorgebracht hat.  Schiller  ist  durch  seine  Balladen  in  gewissem  Sinne 
ein  Volksdichter  geworden,  obwol  dieselben  nicht  eigentlich  auf  die 
Bezeichnung:  „volkstbümlich"  Anspruch  erheben  können.  Ihn  selber 
trifft  dabei  nicht  der  Vorwurf,  den  er  gegen  Bürger  schleuderte:  „er 
vermische  sich  nicht  selten  mit  dem  Volk,  zu  dem  er  sich  nur  herab- 
lassen sollte".  Er  bleibt  der  „milde,  sich  immer  gleiche,  immer  helle, 
männliche  Geist,  der,  eingeweiht  in  die  Mysterien  des  Schönen,  Edlen 
und  Wahren,  zu  dem  Volke  bildend  herniedersteigt".  Der  Zauber, 
welcher  den  Balladen  Eingang  verschafft  hat  bei  vornehm  und  gering, 
bei  alt  und  jung,  liegt  nicht  weniger  in  der  Eigenart  der  Stoffe,  als 
in  der  eigenen  Bearbeitung.  Nicht  zum  geringsten  aber  ist  es  der 
sittliche  Gehalt,  die  Verherrlichung  echt  deutscher  Tugenden,  erhabener 
sittlicher  Ideen,  wodurch  diese  Kunstwerke  zum  nationalen  Eigenthum 
geworden  sind.  In  dem  Gedichte  „Der  Kampf  mit  dem  Drachen" 
liefert  der  Dichter  eine  begeisterte  Verherrlichung  des  ritterlich- 
deutschen Heldenmuthes ,  der  sich  allein  an  der  edlen  Liebe  zur 
Menschheit  entzündet  und  in  hoher  Selbstverleugnung  sich  nicht  nur 
jeglichen  Anspruches  auf  Anerkennung  begibt,  sondern  auch  und  in 
bescheidenem  Gehorsam  den  unverdienten  Tadel  willig  hinnimmt;  in 
der  „Bürgschaft"  hat  er  der  alle  Gefahren  und  selbst  die  Schrecknisse 
des  Todes  nicht  achtenden  Freundestreue  das  schönste  Denkmal  ge- 
setzt; „der  Graf  von  Habsburg"  gibt  ein  rührendes  Beispiel  inniger 
Frömmigkeit  und  demuthsvoller  Verehrung  des  Heiligen,  eines  kind- 
lichen Glaubens  an  die  göttliche  Vorsehung.    „Der  Taucher"  warnt 


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in  antik-classischen  Worten  vor  menschlicher  Vermessenheit  und  vor- 
witzigem Eindringen  in  der  Natur  unerforschliche  Geheimnisse;  nicht 
weniger  ergreifend  predigt  „der  Alpenjäger"  unter  Benutzung  heimat- 
lichen Sagenstoffes  Mitleid  mit  dem  verfolgten,  unter  dem  Schutze 
freundlicher  Geister  stehender  Thiere.  „Der  Bing  des  Polykrates" 
mahnt  an  den  Unbestand  alles  irdischen  Glückes,  in  den  „Kranichen 
des  Ibykus"  ergreift  aufs  tiefste  die  unversöhnliche  Rache  der  wachen- 
den Nemesis.  Auch  viele  andere,  theils  epische,  theils  lyrisch-epische 
Gedichte  Schülers  gewähren  eine  reiche  Ausbeute  sittlich  wertvoller 
Gedanken,  die  der  Jugend  zum  Verständnis  gebracht  werden  können, 
die  wir  aber  hier  wegen  des  gedrängten  Raumes  unberücksichtigt 
lassen  müssen. 

Die  mannigfachen  kostbaren  Schätze  zu  heben,  welche  Schillers 
Dramen  „Wilhelm  Teil",  „ Maria  Stuart",  „Die  Jungfrau  von  Orleans", 
„Wallenstein"  auch  in  sittlicher  Hinsicht  bergen,  bedürfte  einer  be- 
sonderen Untersuchung.  Die  genannten  Dramen  eignen  sich  fast  ihrem 
ganzen  Inhalte  nach  recht  wol,  wie  andere  im  Auszuge,  an  der  Hand 
eines  erfahrenen  Lehrers  für  die  Jugend  nutzbar  gemacht  zu  werden. 

Dass  der  Dichter  auch  in  seinen  in  aphoristischer  Form  gegebenen 
Sentenzen  einen  Platz  in  der  Jugendliteratur  beanspruchen  darf,  wollen 
wir  nur  kurz  erwähnen. 

Das  erotische  Element  überwiegt  nicht  in  Schillers  kleineren  und 
größeren  Dichtungen;  aber  auch  dort,  wo  es  eine  Berücksichtigung 
erfährt,  ist  das  Auftreten  desselben  meist  kein  Grund,  der  Jugend  die 
Leetüre  seiner  Werke  vorzuenthalten,  da  der  Dichter  alles,  was  ein 
zartes  Gefühl  beleidigen  kann,  soviel  wie  möglich  vermeidet.  Ohne 
uns  auf  theologische  Polemik  einzulassen,  glauben  wir  von  der  Reli- 
giösität  Schillers  überzeugt  sein  zu  dürfen,  wie  der  Dichter  ebenfalls 
der  Anerkennung  sicher  sein  darf,  niemals  mit  gehässiger  Absicht 
irgend  welchem  Bekenntnisse  entgegengetreten  zu  sein,  wol  aber  in 
manchen  seiner  Dichtungen  durch  den  innigen  Ausdruck  religiöser 
Gefühle  aus  dem  gläubigsten  Gemüthe  genug  gethan  zu  haben. 

Ein  Rückblick  auf  die  begeistert>fromme  Dichter-Persönlichkeit 
Schillers  und  ein  Hinweis  auf  unsere  früheren  Darlegungen  wird  die 
Anführung  fernerer  Beweisstellen  unnöthig  machen  und  uns  erkennen 
lassen,  dass  der  geübte  pädagogische  Blick  und  ein  für  das  Schöne 
oftener  Sinn  in  dem  poetischen  Nachlasse  des  Dichters  eine  reiche 
Fundgrube  für  die  Geistes-  und  Gemüthsbildung  unserer  Jugend  ent- 
decken kann,  für  die  Pflege  des  sympathischen  wie  des  Wahrheits- 
gefrthls,  des  religiösen  wie  ästhetischen  Sinnes. 

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Wenn  wir  auf  die  ästhetische  Bildung  besonders  aufmerksam 
machen,  welcher  doch  bei  der  Dichtkunst  überhaupt  der  reichste  An- 
theil  zufließt,  so  erblicken  wir  eine  Berechtigung  dazu  in  der  glühen- 
den Begeisterung  für  alles  Schöne,  von  welcher  namentlich  Schiller 
aufs  lebhafteste  erfasst  war,  und  in  dem  geläuterten  Geschmacke,  der 
ihn  bei  der  Ausübung  seiner  Kunst  leitete. 

Was  die  sprachliche  Bildung  durch  die  Schriften  Schillers  betrifft, 
so  müssen  wir,  ohne  einen  Tadel  auf  die  schwungvolle,  edle  Sprache 
des  Dichters  zu  werfen,  die  Jugend  vor  den  Versuchen,  dieselbe  in 
den  schriftlichen  Arbeiten  nachzuahmen,  warnen.  Solche  Versuche 
fuhren  meist  zu  Unklarheiten  und  Überschwänglichkeiten  des  Ausdrucks, 
weil  die  Jugend,  auch  die  reifere,  noch  nicht  zu  dem  erforderlichen 
Grade  geistiger  und  sprachlicher  Kraft  gelangt  ist.  Es  gilt  diese 
Vorsicht  ja  auch  nicht  allein  inbetreff  der  Schillerschen  Ausdrucks- 
weise, sondern  mehr  oder  weniger  der  Erzeugnisse  in  gebundener 
Rede  überhaupt.  Der  Lehrer,  welcher  bei  vorkommenden  Fehlern 
seiner  Schüler  Einkehr  in  sich  selbst  zu  halten  gewohnt  ist,  wird 
jedoch  wissen,  dass  die  unzureichenden  sprachlichen  Erklärungen  bei 
der  Behandlung  eines  Gedichtes  und  die  mangelhafte  Vorbereitung 
der  Schülerarbeiten  oft  einen  großen  Theil  der  Schuld  tragen  an  den 
soeben  gerügten  „Auswüchsen"  des  Stiles. 

Bevor  wir  von  Schiller  Abschied  nehmen,  wollen  wir  versuchen, 
ihm  in  einer  Sache  gerecht  zu  werden,  die  ihm  oft  überschwängliches 
Lob,  aber  ebenso  oft  ungerechte  Verkleinerung  seiner  Verdienste 
eingetragen  hat  und  welche  auch  bei  seiner  Bedeutung  für  die  Jugend 
sehr  in  die  Wagschale  fallt:  wir  denken  an  seinen  Idealismus.  Es 
ist  bekannt,  dass  Schiller  bei  seinem  Verweilen  in  den  sonnigen 
Dichterhöhen  sich  um  die  Armseligkeit  des  irdischen  Daseins  wenig 
kümmerte  und  in  seinem  idealistischen  Fluge  nicht  selten  die  Wirk- 
lichkeit aus  dem  Auge  verlor.  Wenn  wir  es  noch  nicht  wtissten, 
würden  uns  seine  Werke  darauf  hinweisen,  durch  welche  sich  diese 
Charaktereigenthümlichkeit  wie  ein  rother  Faden  hindurchzieht.  Seine 
idealistische  Weltanschauung  zeigt  sich  in  der  Wahl  des  Stoffes,  in 
der  Zeichnung  der  Personen,  der  Art  der  verkörperten  Ideen  und 
sogar  in  der  Sprache.  Indem  wir  anerkennen ,  dass  er  im  Ausdrucke 
des  Hohen  und  Idealen  eine  selten  erreichte  Kraft  besaß,  müssen  wir 
zugeben  —  was  er  auch  selbst  erkannte  —  dass  ihm  das  Vermögen, 
die  Welt  des  Kleinen  und  Gewöhnlichen  dichterisch  zu  verschönen, 
abging.  Sein  Bestreben,  auch  diesen  Mangel  abzulegen,  zeigt  sich  am 
glücklichsten  in  dem  Liede  von  der  Glocke.   Nur  wenige  seiner  Er- 


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Zeugnisse  leiden  an  einem  ungesunden  Idealismus,  und  wenn  auch 
dieser  Zug  der  Schillerschen  Poesie  als  ein  Mangel  seines  dichterischen 
Talentes  angesehen  werden  muss,  so  thut  er  der  Vollkommenheit  des 
einzelnen  Productes  doch  nur  selten  Eintrag.  Die  Befürchtung,  dass 
die  Jugend  durch  die  Leetüre  der  Werke  unseres  Dichters  zu  einem 
unwahren,  übertriebenen  Idealismus  verleitet  werde,  können  wir  also 
von  der  Hand  weisen,  um  so  eher,  als  es  die  Aufgabe  der  Schule  ist, 
durch  eine  weise  Auswahl  des  Lesestoffes  dem  angedeuteten  Übel  zu 
begegnen,  wie  durch  passende  Geistesbeschäftigung  in  anderen  Lehr- 
fächern ein  Gegengewicht  gegen  verkehrte,  einseitige  Bildung  zu 
bieten. 

Denjenigen  aber,  welchen  es  obliegt,  die  Jagend  durch  Einführung 
in  das  Verständnis  unserer  Dichter  zu  veredeln,  rufen  wir  die  Worte 
Schillers  zu: 

„Der  Menschheit  Würde  ist  in  eure  Hand  gegeben, 
Bewahret  sie! 

Sie  sinkt  mit  euch!   Mit  euch  wird  sie  sich  heben!" 


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Pädagogische  Rundschau. 

Zeitstimmen. 

[Hans  und  Schale.]  Das  Schulhaus  ist  die  erste  Arena,  in  welcher 
sich  alle  zu  üben  haben,  die  spater  die  Kämpfe  nms  Brot,  die  Schlachten 
des  Geistes,  die  Wettlaufe  nach  den  verschiedenen  Zielen  mitmachen  müssen. 
Der  Hausschüler  wird  dem  Volksschüler  meist  an  theoretischem  Wissen 
überlegen  sein;  aber  er  bleibt  unerfahren,  verweichlicht,  ungeschickt,  schüchtern, 
nnd  ihm  fehlt  jene  Gewandtheit  und  Kühnheit,  die  man  sich  eben  nur  im  Wett- 
ringen aneignet.  Allerdings,  die  Individualität  und  die  Unverdorbenheit  des 
Herzens  kann  bei  dem  Hausschüler  leichter  gewahrt  bleiben,  der  Charakter 
kann  sich  bei  demselben  rascher  und  entschiedener  entwickeln;  aber  trotzdem 
ist  einem  Schüler,  der  seine  materielle  Zukunft  sich  selber  gründen  soll,  mit 
dem  Einzelunterricht  verhältnismäßig  weniger  gedient,  als  mit  der  öffentlichen 
Schule,  in  welcher  er  —  freilich  oft  mit  dem  Opfer  seiner  Kindlichkeit  —  die 
Wege  des  Lebens  frühzeitig  kennen  lernt.  Außerdem  ist  der  Einzelunterricht, 
sowie  überhaupt  die  Absonderung  nnd  enge  Begrenzung  für  den  Schüler  eine 
Qnelle  erwachender  Selbstsucht,  während  in  der  öffentlichen  Schule  einer  für 
alle  und  alle  für  einen  stehen,  die  Resultate  des  einzelnen  allen  zu  Gute 
kommen,  nnd  so  der  Geist  der  Gemeinsamkeit  geweckt  wird.  Allerdings  strebt 
auch  das  Laster  des  einzelnen  der  Gemeinsamkeit  zu,  und  manches  sechs- 
oder  siebenjährige  Kind  sitzt  da  in  den  Bänken,  dessen  Auge  so  unschuldsvoll 
zu  blicken  weiß,  in  dessen  Busen  sich  aber  schon  junge  Schlangen  bergen,  die 
es  aus  dem  Drachenneste  der  dunklen  Heimstätte  seiner  verkommenen  Eltern 
mitgebracht  hat.  P.  Rosegger. 

[Patriotismus.]  Dasjenige  Element  des  Patriotismus,  das  von  der 
Schule  gepflegt  werden  kann,  ist  die  bewusste  und  willige  Einfügung  des  ein- 
zelnen in  eine  geordnete  Gesammtheit  ;  was  darüber  ist,  ist  vom  Übel.  In  einer 
Zeit,  in  der  die  Symptome  des  Byzantinismus  täglich  warnender  hervortreten, 
mü8Ste  eine  Behörde,  welche  das  Unterrichtswesen  leitet,  von  der  Einsicht  durch- 
drungen sein,  dass  jeder  Versuch,  eine  bestimmte  Uberzeugung  unmittelbar  her- 
vorzubringen, schlaue  und  strebsame  Köpfe  zur  Heuchelei,  herzhafte  Menschen 
zu  zornigem  Widerstreben  fülirt  und  nur  in  Schwächlingen  einen  vorüber- 
gehenden und  wertlosen  Erfolg  erzielt. 

[Staatsreligion.]  Gegenüber  der  verknöcherten,  innerlich  erstorbenen 
Staatsreligion  vertrat  Jesus  das  Recht  des  Menschen  auf  ein  persönliches 
Verhältnis  zu  Gott,  ohne  Vermittelung  der  Kirche.  Dafür  ist  er  denn  von  den 
Häuptern  und  Beauftragten  dieser  Kirche  umgebracht  worden.  Das  Tragische 
in  seinem  Schicksale  ist  nicht  so  sehr  sein  Tod,  trotz  all  der  unsinnigen  Grau- 


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samkeit,  mit  der  Priesterthum  nnd  Pöbel  ihn  umgeben  haben,  als  das  was  nach- 
her kam,  dass  über  seinem  Grabe  eine  neue  Kirche  aufgerichtet  worden  ist, 
deren  Pharisäer  und  Schriftgelehrte  wieder,  wie  einst  die  der  Juden,  in  den 
Gotteshäusern  und  an  den  Straßenecken  stehen  und  beten,  um  sich  den  Menschen 
zu  zeigen,  wieder  Gottes  Gebot  dahinten  lassen  und  an  der  Überlieferung  der 
Menschen  festhalten,  wieder  sich  anmaßen,  das  Reich  der  Himmel  vor  den 
Menschen,  die  ihnen  nicht  gehorchen  wollen,  zuzuschließen.  Auch  sie  schmücken 
das  Grab  des  Propheten  und  bauen  dem  Gerechten  Denkmäler  und  sagen: 
Wenn  wir  in  den  Tagen  des  Herodes  und  Kaiphas  gelebt  hätten,  wir  hätten 
ans  nicht  des  Blutes  des  Heiligen  schuldig  gemacht,  wie  die  Juden  gethan  haben. 
Und  doch  ist  hier  kein  Unterschied.  Im  Namen  des  Mannes,  der  für  die  Selbst- 
ständigkeit der  religiösen  Überzeugung  gestorben  war,  hat  man  seitdem  zahl- 
lose Geister  geknechtet  und  Leiber  zu  Tode  gemartert.  Und  was  ist  aus  seiner 
Lehre  geworden?  Man  sagt,  sie  habe  die  Welt  überwunden ;  man  könnte  ebenso- 
gut sagen,  sie  sei  von  der  Welt  überwunden  worden.  Ihre  kleinen  Mängel 
and  Unklarheiten  hat  man  zu  dogmatischen  Systemen  ausgebaut,  auf  die  man 
schwört,  um  sich  dafür  von  der  Pflicht  loszumachen,  dass  man  es  mit  seinen 

sittlichen  Geboten  ernst  nehmen  sollte          Keinen  größeren  Schaden  gibt  es 

für  die  sittliche  Bildung  unseres  Geschlechts,  als  dass  wir  von  Jugend  auf  in 
der  Moral  des  Christenthums  unterwiesen  und  zugleich  angeleitet  werden  uns 
einzubilden,  das  sei  die  Moral,  die  heute  wirklich  gilt. 

Dr.  Paul  Cauer, 
Staat  und  Erziehung,  Kiel  und  Leipzig  bei  Lipsius  &  Tischer. 

[Gebrechen  der  modernen  Cultur.]  Wir  denken  schneller  und  leben 
schneller,  als  unsere  Vorfahren  aus  der  guten  alten  Zeit.  Bei  der  Schwere  der 
Berufsarbeit  —  es  wird  hente  anhaltender  und  energischer  gearbeitet  als  je 
zuvor  —  fehlt  uns  die  Zeit,  die  Fülle  der  Erscheinungen  zu  fassen:  die  geistige 
Vertiefung,  das  liebevolle  Eingehen  auf  die  geistigen  Züge  einer  Individualität 
wird  uns  immer  schwerer  gemacht.  Seltener  als  früher  gelangt  der  Gebildete 
zu  dem,  was  unsere  Alten  die  Aasbildung  einer  harmonischen  Persönlichkeit 
nannten.  Schlimmer  sind  die  Wirkungen  der  modernen  Entwickelung  in  den 
tieferen  Schichten  der  Gesellschaft.  Heute  dringt  jeder  Einfall  eines  verrückten 
Hirns,  jede  Schlechtigkeit  und  Verleumdung  mit  Leichtigkeit,  trotz  Censur  und 
Polizei,  in  weite  Kreise.  Die  Sorglosigkeit,  mit  der  so  manche  Volksbeglücker 
anbewiesene  wissenschaftliche  Hypothesen  und  fragwürdige  Systeme  in  die  Welt 
senden,  ist  eben  so  groß  wie  die  Unfähigkeit  der  Masse,  das  ihr  Gebotene  auf 
sein  richtiges  Maß  zurückzuführen.  So  wächst  eine  Schein-  und  Halbbildung 
empor,  die  leichtfertig  über  die  verschiedensten  Wissensgebiete  schwätzt  und 
mit  dreistem  Urtheil  an  die  schwierigsten  Fragen  herantritt.  Damit  steht  im 
Zusammenhang  eine  Erhitzung  der  Phantasie,  die  über  die  Schranken  der  Wirk- 
lichkeit hinweghüpft  und  sich  in  ungemessene  Zukunftsträume  verliert.  Wahn- 
sinn und  Verbrechen  stehen  in  ihrem  Gefolge. 

[Grenzen  der  „exacten"  Wissenschaft.]  Die  Naturwissenschaft  hat 
«ich  hinter  die  Grenzen  des  der  exacten  Forschung  Erreichbaren  zurückgezogen 
and  überlässt  den  rein  geistigen  Mächten  das  ihnen  gebürende  Feld.  Heute 
versucht  man  nicht  mehr,  wie  Buckle,  die  naturwissenschaftliche  Methode  in 
der  Geschichte  zur  allgemeinen  Geltung  zu  bringen  und  ans  der  Statistik  die 


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Gesetzmäßigkeit  aller  menschlichen  Handlangen  zu  beweisen,  sondern  man  er- 
kennt an,  dass  anf  die  geistige  Entwickelang  der  Menschheit  Mächte  höherer 
Art  einwirken  —  Kinder  eines  Reiches,  das  der  Bestimmung  durch  Maß  und 
Zahl  ewig  verschlossen  ist.  Das  innere  Leben  des  Einzelwesens,  wie  das  ganzer 
Völker  und  im  letzten  Grunde  der  Menschheit  schafft  aus  sich  heraus  mächtige, 
seine  ganze  geistige  Entwickelung  regelnde  Kräfte,  Ideen  ethischen,  religiösen 
und  ästhetischen  Charakters,  die  sich  der  wissenschaftlichen  Zergliederung  ent- 
ziehen, nichtsdestoweniger  aber  durch  ihre  gewaltige  Einwirkung  auf  die  Er- 
scheinungen des  Lebens  ihre  sehr  greifbare  Realität  offenbaren. 

Oh ler t,  Die  deutsche  Schule  (Hannover,  Karl  Meyer). 


Von  der  Nordsee.  Die  Bremer  Lehrer  haben  kürzlich  Gehaltszulagen 
erhalten;  nach  dem  neuen  Gesetze  stellen  sich  die  Besoldungen  folgendermaßen: 

1.  Hauptschule  (Gymnasium).  Direktor  7000  —  8000  Mk.;  Lehrer  mit 
akademischer  Bildung  2500 — 6500  Mk.,  4  Alterszulagen  ä  1000  Mk.; 
seminaristisch  gebildete  Lehrer  2250—4250  Mk.,  4  Alterszulagen 
a  500  Mk. 

2.  Realschule.  Director  6000—7000  Mk.;  akademisch  gebildete  Lehrer 
2400—6000  Mk.,  4  Alterszulagen  ä  900  Mk.;  seminaristisch  gebüdete 
Lehrer  2000—4000  Mk.,  4  Alterszulagen  ä  500  Mk. 

3.  Seminar.  Director  6000—7000  Mk.;  Lehrer  2500—4500  Mk., 
4  Alterszulagen  a  500  Mk, 

4.  Volksschulen  in  der  Stadt.  Oberlehrer  3500 — 4500  Mk.,  2  Alters- 
zulagen a  500  Mk.;  Lehrer  1500— 3000  Mk.,  6  Alterszulagen  ä250Mk. 

5.  Schulen  des  Landgebietes.  Vorsteher  1 — 3classiger  Schulen  1500 
bis  3000  Mk.,  6  Alterszulagen  a  250  Mk.;  Vorsteher  4 — 8classiger 
Schulen  1800—3000  Mk.,  6  Alterszulagen  ä  200  Mk.;  Vorsteher  9  bis 
12classiger  Schulen  2100—3000  Mk.,  6  Alterszulagen  ä  150  Mk.  (Die 
Vorsteher  haben  freie  Wohnung.)  Ordentliche  Lehrer  1500 — 3000  Mk., 
6  Alterszulagen  ä  250  Mk. 

Sämmtliche  Alterszulagen  erfolgen  von  3  zu  3  Jahren,  5  Jahre  nach  dem 
Abgang  vom  Seminar  erhalten  die  Lehrer  1500  Mk.,  das  Maximum  erreichen 
sie  etwa  im  43.  Lebensjahre.  Die  Aufbesserung  ist  für  die  Lehrer  jedenfalls 
eine  wesentliche,  das  Maximum  ist  für  die  Lehrer  der  Stadt  um  300  Mk.  und 
für  die  Landlehrer  um  500  Mk.  erhöht,  und  früher  erfolgten  die  Zulagen  von 
5  zu  5  Jahren.  Ganz  richtig  ist  es  auch,  dass  man  den  Lehrern  auf  dem 
Lande  dieselben  Gehaltssätze  zahlt  wie  den  Lehrern  in  der  Stadt,  haben  sie 
doch  gleiche  Pflichten,  und  die  örtlichen  Verhältnisse  in  den  Dörfern,  welche 
der  Stadt  ja  alle  sehr  nahe  liegen,  sind  derart,  dass  man  auf  dein  Lande  nicht 
billiger  leben  kann  als  in  Bremen. 

Im  evangelischen  Theile  des  Herzogthums  Oldenburg  wird  neuerdings  die 
Frage  der  Schulaufsicht  vielfach  erörtert;  nicht  nur  das  Schulblatt  bringt 
Artikel  über  die  Schulaufsicht,  auch  die  Tagesblätter  besprechen  den  Gegenstand. 
Im  Herbste  des  vergangenen  Jahres  beantragten  einige  Prediger  bei  ihren 
Amtsbrtidern,  die  Localschulaufsicht  niederzulegen.  Es  wurde  eine  Versammlung 
abgehalten,  die  Antragsteller  blieben  jedoch,  wie  zu  erwarten  war,  in  der  Minder- 
heit. Anf  der  letzten  Landes-Lehrerversammlung,  die  am  Tage  nach  Pfingsten 
in  Delmenhorst  tagte,  hielt  Lehrer  Grape-Lehmden  einen  Vortrag  über 


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die  Schulaufsicht.  Der  Referent  verlangte  Aufsicht  durch  Fachmänner,  er  ver- 
warf die  LocalschulinBpection  durch  die  Geistlichen  und  verlangte,  dass  die 
Inspectoren  aus  den  Eeihen  der  Volksschullehrer  genommen  wurden.  Er  be- 
tonte, es  sei  nur  dann  gerechtfertigt,  einem  Stande  Vorgesetzte  aus  einem  anderen 
Berufe  zu  geben,  wenn  die  Fachmänner  nicht  die  nöthige  Befähigung  hätten, 
wenn  also  andere  Berufskreise  tüchtigere  Leute  für  dies  Amt  stellen  könnten. 
Die  Geistlichen  könnten  aber  nicht  den  Lehrern  mit  Rath  und  That  zur  Hand 
geben,  wollte  ein  Lehrer  sich  einen  guten  Rath  holen,  dann  dürfe  er  sich  nicht 
an  den  Localschulinspector  wenden.  Die  Anträge  des  Referenten  wurden  von 
der  Versammlung  einstimmig  angenommen. 

Die  Lehrer  hatten  ihre  Stellung  knndgegeben,  und  die  Antwort  hat  nicht 
lange  auf  sich  warten  lassen.  Der  General-Predigerverein  besprach  bald  nach- 
her in  einer  Versammlung  auch  die  Frage  der  Localschulaufsicht.  Auch  hier 
waren  noch  etliche  Stimmen  dafür,  dass  die  Geistlichen  die  Localschulaufsicht 
an/geben  müasten.  Diese  Herren  glaubten  freilich  nicht,  dass  den  Geistlichen 
die  Fähigkeit  abginge,  eine  wirklich  segensreiche  Aufsicht  zu  führen,  nein,  die 
Herren  haben  ja  Theologie  studirt  und  deswegen  —  sind  sie  geborene  Schul- 
inspeetoren  —  sie  haben  nur  nicht  die  nöthige  Zeit. 

Der  General-Predigerverein  fasste  mit  großer  Majorität  den  Beschluss,  nicht 
auf  dieLocalscholaufsicbt  zu  verzichten.  Er  veröffentlichte  folgende  Resolution: 

„In  Erwägung:  a)  dass  die  Beseitigung  der  Localschulaufsicht  als  solche 
eine  große  Gefahr  für  unsere  Volksschule  und  ihre  Lehrer  (!!)  sein  würde, 
b)  dass  die  Geistlichen  nicht  nur  an  den  meisten  Orten  die  einzigen  Männer 
sind,  die  befähigt  sind,  die  Localschulinspection  auszuüben,  sondern  dass  die- 
selben auch,  soweit  wir  christliche  Schulen  haben,  dazu  ganz  besonders  berufen 
sind,  erklärt  der  General-Predigerverein  es  für  geboten,  den  bestehenden  Zustand 
aufrecht  zu  erhalten  und  dafür  zu  wirken,  dass  in  der  Ausbildung  der  Geist- 
lichen die  für  die  Ausübung  der  Schulaufsicht  wünschenswerte  Ergänzung  eintritt." 

Wir  Lehrer  haben  natürlich  kein  anderes  Votum  erwartet,  doch  die  Fas- 
sung der  Resolution  erregt  vielfach  Heiterkeit.  Erst  sind  die  Geistlichen  an 
den  meisten  Orten  die  einzigen  Männer,  „die  befähigt  sind,  die  Localschul- 
inspection auszuüben",  und  dann  wollen  sie  dafür  wirken,  „dass  in  der  Aus- 
bildung der  Geistlichen  die  för  die  Ausübung  der  Schulaufsicht  wünschenswerte 
Ergänzung  eintritt"!  Die  Herren  widersprechen  sich  ja  selbst;  aber  freilich, 
fähig  sind  sie,  denn  sie  haben  ja  das.  Amt,  und  „wem  Gott  ein  Amt  gibt,  dem 
gibt  er  auch  den  Verstand!"  Es  ist  schade,  dass  der  betreffende  Referent  nicht 
seine  Arbeit,  in  welcher  er  obige  Resolution  begründet  hat,  veröffentlichte,  wir 
würden  dann  auch  jedenfalls  erfahren  haben,  warum  die  Aufhebung  der  Local- 
schulaufsicht eine  große  Gefahr  für  die  Volksschule  und  ihre  Lehrer  sein  würde. 
Warum  führt  man  nicht  für  die  höheren  Schulen  eine  Localschulaufsicht  ein? 
Esmüsste  dies  doch  auch  für  diese  Schulen  ein  großer  Segen  sein,  wenn  die 
Aufhebung  der  Localschulaufsicht  eine  Gefahr  ist.  Und  warum  hat  wohl  der 
Geistliche  keinen  Localaufseher? 

Bezüglich  der  wünschenswerten  Ergänzung  in  der  Ausbildung  der  Geist- 
lichen macht,  der  „Kirchliche  Anzeiger"  folgende  Vorschläge:  „Von  jedem  theo- 
logischen Candidaten  ist  der  Nachweis  zu  fordern,  dass  er  ein  Colleg  über  die 
Hauptgrundsätze  der  Pädagogik  und  über  ihre  Geschichte  mit  Erfolg  gehört 
bat.  Jeder  theologische  Candidat  hat  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Examen 


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einen  Corsas  von  J/4  Jahr  (!)  am  Oldenburger  Seminar  durchzumachen  unter 
Leitung-  des  Seminardirectors  und  der  Seminarlehrer  zur  Einführung  in  die 
Methodik  des  Unterrichts  mit  praktischen  Übungen." 

Gewiss,  die  Herren  nehmen  die  Sache  sehr  ernst,  in  anderen  Staaten 
6  Wochen,  in  Oldenburg  volle  13  Wochen.  Wenn  diese  Vorschläge  erst  aus- 
geführt sind,  dann  kann  doch  kein  Lehrer  mehr  den  Ruf  erheben:  Fort  mit 
der  Localschulaufsicht  durch  die  Geistlichen!  ' 

Doch  die  Herren  Geistlichen  mögen  sich  noch  so  sehr  sträuben,  die  Local- 
schulaufsicht wird  ihren  Händen  doch  entwunden,  und  es  wird  schließlich  auch 
bei  uns  dahin  kommen,  dass  die  Vorgesetzten  der  Lehrer  aus  unseren  Reihen 
entnommen  werden! 

Die  katholischen  Collegen  unseres  Landes  scheinen  sich  jedoch  unter  dem 
Erumm8tabe  sehr  wol  zu  befinden,  sie  wollen  an  den  bestehenden  Verhältnissen 
nicht  rütteln. 

Der  Pestalozziverein  —  Verein  zur  Unterstützung  von  Lehrerwitwen  und 
Waisen  —  konnte  im  Jahre  1890  4897  Mk.  vertheilen.  An  Geschenken  und 
aus  Verträgen  mit  Versicherungsgesellschaften  erhielt  der  Verein  4910  Mk., 
der  Lehrerverein  überwies  der  Pestalozzicasse  im  Jahre  1890  3000  Mk.  und 
für  1891  2500  Mk.  Der  Pestalozzi  verein  besteht  jetzt  27  Jahre,  er  hat 
im  Laufe  dieser  Jahre  51 707  Mk.  an  Unterstützungen  vertheilen  können  und 
31733  Mk.  Capital  angesammelt.  Diese  Zahlen  beweisen,  dass  die  Lehrer 
Großes  erreichen  können,  wenn  sie  nur  einig  sind.  Auch  der  Lehrerverein  kann 
mit  Zufriedenheit  auf  das  letzte  Jahr  zurückblicken,  die  Zahl  der  Mitglieder 
ist  um  etwas  gestiegen  und  nur  einzelne  evangelische  Collegen  stehen  noch 
abseits.  Besonders  freut  es  uns,  dass  die  gesammten  Lehrer  unseres  Seminars 
Mitglieder  des  Lehrervereins  sind. 

B.  Vom  deutschen  Ostseestrande.  Am  3.  August  a.  c  hatten  sich  im 
Landeshause  in  Danzig  die  Mitglieder  des  XXII.  anthropologischen  Con- 
gr  esses  versammelt.  Die  anwesenden  Gelehrten  wurden  durch  den  Oberpräsi- 
denten, Exmininister  von  Gossler  freundlichst  begrüßt,  worauf  Herr  Geheimrath 
Professor  Dr.  Virchow  im  Namen  der  anwesenden  Gäste  herzlichst  dankte 
und  den  Vorsitz  übernahm.  Besondere  Anerkennung  ließ  Dr.  Virchow  in 
seiner  Einleitungsrede  der  wissenschaftlichen  Gruppirung  desDirector  Dr.  Con- 
wentz  im  westpreußischen  Provinzial-Museura  zutheil  werden.  Nach  der  Er- 
stattung eines  ausführlichen  Cassenberichtes  wurde  Ulm  zum  nächstjährigen 
Congressort  gewählt.  Zum  Vorsitzenden  der  Gesellschaft  wurde  Herr  Professor 
Hölder-Stuttgart  und  zu  dessen  Stellvertretern  die  Herren  Professoren 
Virchow  und  Waldeyer-Berlin  ernannt. 

Am  zweiten  Sitzungstage  sprach  zunächst  Herr  Professor  Jentsch- 
Königsberg  über  die  geologischen  Verhältnisse  Westpreußens,  darauf  hielt 
Herr  Professor  Montelius-Stockholm  einen  Vortrag  über  die  Chronologie 
der  jüngeren  Steinzeit  in  Skandinavien.  Man  kann  drei  Perioden  unterscheiden, 
die  Zeit  ohne  Gräber,  die  Zeit  der  Gang-  und  Steinkistengräber  und  die  Zeit 
der  Hünengräber  mit  aufgetragenen  Hügeln.  Es  folgte  dann  ein  Vortrag  des 
Herrn  Stadtrath  Helm-Danzig  über  die  chemische  Zusammensetzung  der 
westpreußischen  Bronzen.  Hieran  knüpfte  Dr.  Virchow  einige  Bemerkungen 
über  kaukasische  und  transkaukasische  Alterthümer  und  über  die  Siemens'schen 


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Kupferbergwerke  im  Kaukasus.  Nach  einer  Pause  begann  die  anatomische 
Sitzung.  Professor  Waldeyer-Berlin  zeigte  die  sogenannte  Reil'sche  Tafel 
and  die  Syloi'sche  Furche  des  Gibbon  und  sprach  über  dieselben  Bildungen  bei 
den  übrigen  menschenähnlichen  Affen.  Sodann  stellte  Herr  Dr.  Lissauer- 
Danzig  einen  Fall  von  erblicher  Zwerghaftigkeit  vor.  Eine  lebhafte  Diskus- 
sion knüpfte  sich  an  den  Fall. 

Am  dritten  Sitzungstage  des  Cougresses  entwickelten  sich  lebhafte  Er- 
örterungen über  die  Schädelbildungen.    Es  betheiligten  sich  hieran  besonders 
Professor  Rahl-Graz,  Professor  Dr.  Ranke-München,  Dr.  Mies-Berlin, 
Professor  Szombathy-Wien  und  Virchow.    Dr.  Mies  zeigte  ein  neues  Ver- 
fahren zu  Schädelmessungen.    Über  einen  archäologischen  Fund,  eine  Bronze- 
Situla,  gefunden  bei  Gottweig  in  Nieder-Österreich,  berichtet  Herr  Dr.  Szom- 
bathy-Wien.  Hieran  knüpften  sich  Erörterungen  über  die  Merowinger-Fibel 
von  Sanitätsrath  Dr.  Grempler- Breslau.    Nach  einer  Erholungspause  legte 
Herr  Marinearzt  Dr.  Buschau-Kiel  eine  Samensammlnng  prähistorischer 
Pflanzen  vor,  deren  Zahl  jetzt  120  beträgt.    Hierauf  sprach  Herr  Professor 
Dr.  Dorr-Elbing  über  die  zahlreichen  Urnenfunde  und  Steinkistengräber 
seiner  Gegend.    Diese  Gräber  bergen  manche  Schmuckgegenstände,  welche  alle 
beweisen,  dass  die  dortigen  Völker  mit  den  Griechen  und  Römern  schon  vor 
christlicher  Zeit  in  lebhaftem  Handelsverkehr  gestanden  baben.    Auch  eine 
Bronzemünze  von  Hiero  II.  von  Syrakus  befindet  sich  seit  6  Jahren  im  Besitze 
des  Alterth  ums  vereine  in  Elbing.  Zum  Schlüsse  folgten  noch  Referate  von  Dr. 
Lissauer-Danzig  über  den  Formenkreis  der  slavischen  Schläfenringe,  von 
Dr.  Davids-Insterburg  über  die  orientalischen  Quellen  und  von  Rechts- 
anwalt Kleinschmidt-Insterburg  über  ostpreußische  Schulzenstöcke.  Herr 
Professor  Waldeyer  schloss  die  Sitzungen  um  4  Uhr  mit  Dankes  Worten  an 
alle  Personen  und  Vereine,  welche  zu  dem  guten  Verlaufe  des  22.  Congresses 
beigetragen  haben.   Am  folgenden  Tage  wurden  das  Kloster  Oliva,  der  Carls- 
berg, die  Flotte  bei  Zoppot,  die  Landzunge  Heia  besucht,  und  in  den  folgenden 
Tagen  auch  der  Marienburg,  den  Steinkistengräbern  in  der  Dörbecker  Schweiz 
und  bei  Lenzen  (Kreis  Elbing)  und  dem  Alterthnms-Museum  „Prussia"  in 
Königsberg  ein  Besuch  gemacht.    Die  fremden  und  zum  Theil  recht  weit  ge- 
reisten Gäste  rechneten  Fernsichten  über  bewaldete  Hügel  und  das  nabeliegende 
MeeT,  wie  vom  Carlsberge  bei  Danzig  und  von  Lenzen  bei  Elbing,  zu  den 
schönsten  in  Europa.  Alle  kehrten  voll  befriedigt  von  den  wissenschaftlichen 
und  Naturgenüssen  in  ihre  Heimat  zurück. 

Von  der  Weichsel  Bericht  über  die  X.  Westprenßische 
Provinzial-Lehrerversammlung  in  Dt.  Krone  vom  29.  bis  31.  Juli, 
Das  vorige  Jahr  war  für  die  Lehrervereine  insofern  von  hoher  Bedeutung, 
als  es  Gelegenheit  gab,  die  Wiederkehr  des  100jährigen  Geburtstages  Adolf 
Diesterwegs  zu  feiern.  Die  Erfolge  des  „Diesterweg-Jahres"  sind  höchst  er- 
freulich. Der  deutsche  Lehrerverein  ist  seinem  Ziele,  alle  deutschen  Lehrer  zur 
zielbewus8ten  Vertretung  der  Interessen  der  Schule  und  des  Standes  zu  vereinigen, 
erheblich  näher  gerückt.  Die  Zahl  seiner  Mitglieder  stieg  von  38912  auf 
44141.  Schon  im  Jahre  zuvor  fand  eine  Vermehrung  der  Mitglieder  um  6907 
statt  und  zwar  wesentlich  durch  den  Eintritt  ganzer  Landesvereine,  wie 
Württemberg,  Gotha,  Waldeck  u.  a.   Im  Jahre  1890  erfolgte  zwar  kein  Bei- 


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tritt  eines  ganzen  Verbandes,  dafür  war  aber  das  innere  Wachsthum  nm  so 
starker.  Die  Vermehrung  der  Mitgliederzahl  nm  5229  entfällt  fast  ausschließ- 
lich auf  die  Lehrerverbände  in  den  Provinzen  Preußens.  So  stieg  dieselbe 
in  Ostpreußen  um  900  auf  2500,  in  Sachsen  um  790  auf  3383,  in  der  Rhein- 
provinz um  622  auf  2380,  in  Schlesien  um  600  auf  5600,  in  Brandenburg 
um  433  anf  3618,  in  Westpreußen  um  404  auf  1780,  in  Posen  um  403  auf 
1557,  in  Pommern  um  300  auf  2300  und  in  Westfalen  um  273  auf  1296. 
Dieses  erhebliche  Wachsthum  berechtigt  zu  der  Hoffnung,  dass  die  deutsche 
Lehrerschaft  an  der  wirksamen  Verfolgung  ihrer  gemeinsamen  Interessen 
durch  die  versuchten  confessionellen  Spaltungen,  wie  sie  in  der  Begründung 
katholischer  Lehrerverbände  zu  Tage  tritt,  nicht  behindert  werden  wird. 

Auch  in  der  Provinz  Westpreußen  hat  das  Lehrer- Vereinswesen  in  den 
letzten  Jahren  einen  bemerkenswerten  Aufschwung  genommen.  Der  im  Jahre 
1873  gegründete  Provinzial-Lehrerverein  umfaaste  1885  erst  700  Mitglieder 
in  28  Vereinen,  und  im  vorigen  Jahre  betrug  die  Zahl  der  Mitglieder  bereits 
1780,  welche  sich  auf  80  Localvereine  vertheilen.  Fast  alle  Landrathskreise 
Westpreußens  sind  jetzt  im  Provinzial-Lehrervereine  vertreten,  wenngleich 
die  Vereinsthätigkeit  noch  hie  und  da  nicht  rege  genug  ist.  Dies  gilt  nament- 
lich auch  vom  westlichen  Theile  der  Weichselprovinz.  Um  dort  unter  den 
Lehrern  neue  Kräfte  für  das  Vereinswerk  zu  gewinnen,  wurde  als  Ort  der 
diesjährigen  Provinzial-Lehrer- Versammlung  das  Städtchen  Dt.  Krone  gewählt. 
Die  Bürgerschaft  bereitete  den  Gästen,  gegen  300  an  der  Zahl,  einen  sehr 
herzlichen  Empfang. 

Für  die  Hauptversammlung  am  30.  Juli  war  der  Vorstand  aus  den  Herren 
Hauptlehrern  Mielke  I.-Danzig,  Jaffa-Dt.  Krone  und  Kandulski-Briesen  gebildet. 
Zwei  Vorträge  wurden  in  derselben  gehalten:  Über  den  Geschichtsunterricht 
in  der  Volksschule  vom  Collegen  Meyer-Bankau  und  über  die  allgemeine  Volks- 
schule vom  Collegen  Vanselow-Elbing.  Der  erste  Vortrag  bot  neben  vielem 
Bekannten  auch  einiges  Neue.  So  forderte  der  Referent,  dass  der  Geschichts- 
unterricht bereits  auf  der  Unterabtheilung  beginnen  solle  mit  den  Geschichts- 
bildern „Mein  Leben",  „Mein  Vaterhaus"  und  „Mein  Kaiserhaus."  Die  Aus- 
führungen waren  ziemlich  gesucht,  so  dass  die  Mahnung  des  Collegen  Kuhn- 
Marienburg,  den  Unterricht  doch  ja  nicht  zu  künstlich  gestalten  zu  wollen, 
sehr  am  Platze  war.  Auch  bezüglich  des  jetzt  zur  Mode  gewordenen  „Rück- 
wärt8schreiten8"  wurde  Redner  in  die  gebürenden  Grenzen  verwiesen. 

Der  zweite  Redner,  College  Vanselow,  behandelte  das  Thema:  „Die  all- 
gemeine Volksschule  mit  Rücksicht  auf  die  sociale  Frage"  mit  hohem  Eifer 
recht  geschickt.  Redner  führte  aus,  dass  die  sociale  Frage  in  ein  Stadium 
getreten  sei,  in  dem  sie  dringend  Lösung  erheischt.  Alle  Culturfactoren  werden 
dabei  zur  Mithilfe  aufgefordert,  vor  allem  die  Schule.  Diese  thut  aber  zur 
Lösung  der  socialen  Frage  nichts,  im  Gegentheil,  sie  verschlimmert  das  Übel. 
Der  Besuch  der  bestehenden  höheren  und  niedereu  Schulen  hängt  nicht  ab  von 
den  Fähigkeiten  der  Schüler,  sondern  von  dem  Geldbeutel  der  Väter.  Dass 
nur  ja  nicht  das  Kind  des  Reichen  neben  dem  des  Armen  sitzt !  Es  könnte  ja 
vielleicht  Ungeziefer  bekommen.  Mindestens  würde  es  durch  den  Umgang  mit 
dem  Kinde  des  Plebejers  und  Proletariers  in  seiner  Würde  erniedrigt  werden. 
Das  sind  Vorurtheile,  die  wir  heute  nicht  nur  unter  den  oberen  Zehntausend, 
sondern  auch  in  den  breiten  mittleren  Schichten  der  Bevölkerung  finden.  Diese 


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Vornrtheile  erhalten  die  jetzigen  Schnleinrichtnngen.  Daneben  sind  dafür  maß- 
gebend das  Geld,  die  Stände  und  die  Mode.  Es  ist  heute  geradezu  modern 
geworden,  dass  der  Reiche  seinen  Sohn  in  das  Gymnasium  schickt,  wenn  er 
sich  auch  mit  Mühe  und  Noth  durch  die  Examina  windet  und  den  Eltern  große 
Kosten  verursacht.  Man  darf  die  heutigen  Schuleinrichtungen  nicht,  wie  es  zu- 
weilen geschieht,  deshalb  für  gut  halten,  weil  sie  alt  sind.  Nicht  das  ist  gut, 
was  alt  ist,  sondern  nur  das,  was  von  der  kritischen  Vernunft  für  gut  befunden 
wird.  Unsere  Schulen  aber  reißen  die  Jugend  auseinander  und  entfremden  sie. 
Die  Klüfte  zwischen  den  Standen  werden  dadurch  nicht  überbrückt,  sondern 
erweitert.  Es  ist  dahin  gekommen ,  dass  wir  außer  Reichen  und  Armen  Ge- 
bildete und  Ungebildete  haben.  Auf  der  einen  Seite  steht  das  große  Heer  derer, 
die  in  den  Gymnasien  an  den  Brüsten  des  Alterthums  gesogen  haben  und  häufig 
mit  dem  Dünkel  behaftet  sind,  in  den  Gymnasien  das  Nonplusultra  des  Menschen- 
thums gelehrt  erhalten  zu  haben,  auf  der  anderen  Seite  die  große  Masse  des 
Volkes,  das  außer  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  wenig  Bildung  in  das  Leben  mit- 
genommen hat.  Jene  sehen  mit  Verachtung  auf  das  Volk  herab,  und  dieses  ver- 
steht seine  Gelehrten  und  Forscher  nicht.  Es  ist  durch  die  verschiedenen  Grade 
der  Bildung  eine  innere  Entfremdung  herbeigeführt,  wie  die  Stände  eine  äußere 
verursacht  haben.  Nach  Schmoller  liegt  der  letzte  Grund  aller  socialen  Ge- 
iahren nicht  in  der  Dissonanz  des  Besitzes,  sondern  in  den  Bildungsgegensätzen. 
Angesichts  dieser  Thatsachen  und  Wahrheiten  kann  es  kaum  bestritten  werden, 
dass  die  heutigen  Schuleinrichtungen,  welche  auf  der  Absonderung  der  Stände 
beruhen,  einer  befriedigenden  Lösung  der  socialen  Frage  entgegenstehen.  Die 
Pädagogik  erkennt  und  fühlt  die  Schwäche  unserer  heutigen  Schulen  der  socialen 
Frage  gegenüber.  Darum  bringt  sie  so  zahlreiche  Reformvorschläge  zur  Ab- 
hilfe hervor.  Darum  fordert  sie  heute  mehr  denn  je  die  allgemeine  Volksschule. 

Die  Idee  der  allgemeinen  Volksschule  ist  nicht  neu.  Schon  Comenius  hat 
die  allgemeine  Volksschule  im  Geiste  gesehen,  Pestalozzi  sie  geahnt,  Fichte  in 
meinen  Reden  an  die  deutsche  Nation  gepredigt,  Diesterweg  sein  Leben  für  sie 
eingesetzt.  Der  Begeisterung,  mit  welcher  dieser  große  Meister  unserer  Pä- 
dagogik dafür  eintrat,  schien  es  zu  gelingen,  ihr  Bahn  zu  brechen.  Ihre  Freunde 
jubelten  auf,  als  unter  Falk  die  Simultanschulen  eingerichtet  wurden.  Nun 
glaubte  man  die  Hoflmung  auf  die  allgemeine  Volksschule  der  Erfüllung  nahe. 
Aber  Herr  von  Puttkamer  zerschnitt  der  Simultanschule  den  Lebensfaden. 
Doch  wurde  die  Idee  der  allgemeinen  Volksschule  dadurch  nicht  todt  gemacht. 
Sie  lebte  weiter,  und  je  schärfer  sich  die  sociale  Frage  zuspitzte,  je  lauter  der 
Schrei  nach  Beseitigung  der  bestehenden  socialen  Missverhältnisse  ertönte,  desto 
mehr  bemächtigte  sich  diese  Idee  der  breiten  Masse  des  Volkes.  Sie  lebt  heute 
nicht  nur  in  unserer  Pädagogik,  sie  lebt  in  unserer  modernen  Literatur,  sie 
lebt  in  der  Socialpolitik,  und  Männer,  wie  Dittes  Clausnitzer,  Seyffarth,  Fröhlich, 
Johannes  Meyer  stehen  nicht  vereinzelt  da  im  Kampfe  um  dieses  alte  und  noch 
immer  nicht  mündig  erklärte  Kind  unserer  Pädagogik. 

Redner  schloss  mit  folgenden  Thesen: 

1.  Die  gegenwärtige  Organisation  unserer  Schulanstalten,  welche  auf  der 
Absonderung  der  Stände  beruht,  steht  einer  befriedigenden  Lösung  der 
socialen  Frage  entgegen. 

2.  In  der  allgemeinen  Volksschule  ist  eine  gemeinschaftliche  Bildungsstätte 
für  das  ganze  Volk  einzurichten.   Dieselbe  muss  von  allen  Kindern  ohne 


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Unterschied  der  Stände  und  Confessionen  mindestens  bis  zum  12.  Lebens- 
jahre besucht  werden  und  mit  allen  sonstigen  Schulanstalten  organisch  ver- 
bunden sein. 

3.  Es  liegt  im  Wesen  der  allgemeinen  Volksschule,  dass  die  herrschende 
Macht  des  Gapitals  bei  der  Jugend  gebrochen  und  auch  dem  ärmsten 
Kinde  eine  seinen  Anlagen  und  seinem  Fleiße  entsprechende  Bildung  zu- 
gänglich gemacht  werde. 

4.  Die  allgemeine  Volksschule  würde  als  eine  deutsch-nationale  Einheits- 
schule wesentlich  zur  Überbrückung  der  Standes-,  Religions-  und  Partei- 
unterschiede beitragen  und  dadurch  unser  Volk,  das  nach  außen  stark 
und  einig  dasteht,  auch  innerlich  stärken  und  einigen. 

5.  Weil  zur  Lösung  der  socialen  Frage  eine  höhere  wirtschaftliche  und 
rechtskundliche  Bildung  unerlässlich  ist,  muss  die  allgemeine  Volksschule 
volkswirtschaftliche  und  gesetzeskundliche  Belehrungen  in  ihren  Lehr- 
plan aufnehmen. 

6.  Durch  Einführung  des  Arbeitsunterrichts  würde  eine  gerechtere  Beur- 
theilung  der  Arbeit  erzielt  und  damit  gleichfalls  zur  Lösung  der  socialen 
Frage  beigetragen  werden. 

7.  Die  allgemeine  Volksschule  bedingt  eine  gleichmäßigere  Bildung  und 
Besoldung  aller  Lehrer. 

In  der  dem  Vortrage  folgenden  Besprechung  führte  College  Schreiber- 
Danzig  aus,  dass  er  die  Durchführung  der  allgemeinen  Volksschule  für  unmöglich 
halte;  denn  eine  Bildungsgleichheit,  die  nach  den  Ausführungen  des  Redners 
mehr  als  Gütergleichheit  den  Classenhass  verschwinden  machen  könne, 
könne  doch  nicht  auf  der  Grundlage  der  Einheiteschule  erreicht  werden. 
Derartige  Versuche  der  Schulreform  würden  den  socialen  Riss  eher  erweitern, 
als  schließen.  Die  Debatte  schloss  mit  der  Annahme  des  Satzes:  „Die  Ver- 
sammlung hält  die  Forderung  der  Organisation  einer  allgemeinen  Volksschule 
insoweit  aufrecht,  als  darunter  eine  gleichmäßige  Einrichtung  des  Unterrichts 
in  den  ersten  Schuljahren  und  somit  eine  einheitliche  Grundlage  des  gesammten 
Schulsystems  verstanden  ist."  —  Bemerken  wollen  wir  noch,  dass  zuvor  der 
Antrag:  „Die  Versammlung  erblickt  in  der  Durchführung  der  allgemeinen 
Volksschule  ein  wesentliches  Mittel  zur  befriedigenden  Lösung  der  socialen 
Frage"  mit  geringer  Majorität  (109  gegen  103  Stimmen)  abgelehnt  worden  war. 

Der  letzte  Tag,  der  31.  Juli,  war  ganz  dem  Provinzial-Lehrerverein 
gewidmet,  zu  dessen  Delegirten- Versammlung  52  Vereine  zusammen  116  Ver- 
treter entsendet  hatten.  Der  vom  Vorsitzenden  erstattete  Jahresbericht 
lautete  recht  erfreulich:  Der  Verband  ist  um  5  Vereine  mit  190  Mitgliedern 
gewachsen  und  umfasst  jetzt  86  Local  vereine  mit  1950  Mitgliedern.  Wären 
nicht  4  Zweigvereine  mit  ihren  Beiträgen  im  Rückstände  geblieben,  so  hätte 
der  Provinzialverein  bereits  mehr  als  2000  Mitglieder. 

College  Chill-Thorn  hielt  einen  Vortrag  über  die  Frage:  Ist  es  wünschens- 
wert, dass  die  Westpreußischen  Provinzial-Lehrerversammlungen  in  Lehrertage 
umgewandelt  werden,  auf  denen  nur  die  gewählten  Vertreter  der  Vereine 
Stimmrecht  haben,  während  das  Recht  der  Berathung  allen  Theilnehmern  er- 
halten bleibt?  —  Redner  verglich  die  Lehrervereinsverhältnise  Deutschlands  mit 
denen  der  Provinz  Westpreußen,  verlangte  für  letztere  die  Schaffung  einer 


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Hauptversammlung  entsprechend  dem  deutschen  Lehrertage  und  fasste  seine 
Grande  in  folgende  Sätze  zusammen: 

1.  Ohne  unsere  Vereinsorganisation  kommt  eine  Provinzial-Lehrerversamm- 
lung  nicht  mehr  zustande.  Damit  der  Provinzial-Lehrerverein  seinem 
Zweck  „Förderung  der  Interessen  der  Volksschule  und  des  Lehrerstandes" 
ganz  entspricht,  muss  seine  Delegirten- Versammlung  so  ausgedehnt  wer- 
den, dass  sie  auch  allgemein  pädagogische  Tagesfragen  erörtern  nnd  dar- 
über beschließen  kann. 

2.  Die  Beschlüsse  der  Provinzial-Lehrerversammlung  können  weder  als 
Ausdruck  der  Lehrerschaft  Westprenßens,  noch  als  der  des  Provinzial- 
Lehrervereins  gelten,  da  sie  stets  vom  Orte  der  Versammlung  nebst 
Umgegend  stark  beeinflusst  werden.  Nur  durch  einen  Delegirten  tag 
lässt  sich  die  Meinung  der  Gesammtheit  zuversichtlich  ermitteln,  weil 
dieser  der  Idee  einer  gleichmäßig  über  alle  Bezirke  der  Provinz  bezw. 
des  Vereinsgebietes  vertheilten  Lehrerversammlung  entspricht. 

3.  Da  der  Provinzial-Lehrerverein  jetzt  ausschließlich  nicht  nur  für  das 
Zustandekommen  der  Provinzial-Lehrerversammlung,  sondern  auch  für 
geeignete  und  gründlich  vorbereitete  Verhandlungsgegenstände  und  Re- 
ferenten Sorge  trägt,  liegt  kein  Hindernis  vor,  dieselbe  ganz  in  den  Dienst 
des  Vereinsverbandes  zu  stellen  und  ihr  durch  Einführung  des  beschränk- 
ten Stimmrechts  ganz  den  Charakter  eines  Lehrertages  zu  geben. 

4.  Ein  Lehrertag  mit  beschränktem  Stimmrecht  verbürgt  sorgfältigere  Ver- 
handlungen und  Beschlüsse  als  eine  allgemeine  Lehrerversammlung, 
namentlich  wird  durch  ihn  die  Gefahr  einer  voreiligen  Beschlussfassung 
vermindert  und,  falls  die  Verhandlungsgegenstände  von  allen  Vereinen 
gründlich  vorberathen  sind,  wol  ganz  beseitigt. 

Die  kurze  Debatte  über  den  Vortrag  fährte  zu  dem  Beschluss,  denselben 
den  Localvereinen  zur  Berathung  zu  überweisen,  um  dann  auf  der  nächstjährigen 
Delegierten- Versammlung  die  Sache  endgültig  zu  erledigen. 

Die  beiden  in  der  Provinz  Westpreußen  bestehenden  Pestalozzi- Vereine 
sind  seit  dem  1.  October  v.  J.  zu  einer  Rechtscasse  für  Lehrer-Witwen  und 
Waisen  verschmolzen.  College  Spiegelberg-Elbing  berichtete  über  die  Fort- 
schritte des  neuen  Pestalozzi- Vereins.  Aus  den  alten  Vereinen  sind  265  und 
386  Mitglieder  über-  und  außerdem  164Collegen  neu  eingetreten,  so  dass  sich 
die  Zahl  der  Mitglieder  bereits  auf  815  mit  4257  Mk.  Jahresbeiträgen  beläuft. 
Die  behördliche  Bestätigung  des  Statuts  für  den  neuen  Verein  ist  in  nächster 
Zeit  zu  erwarten.  So  erfreulich  dieser  Bericht  lautet,  so  traurig  sind  die 
Hittheilungen,  welche  über  den  Emeriten-Unterstützungsverein  am  ersten 
Verhandlungstage  gemacht  wurden.  Dessen  Mitgliederzahl  geht  von  Jahr  zu 
Jahr  zurück  und  beträgt  heute  nur  ca.  400,  kaum  die  Hälfte,  wie  vor  12  Jahren. 
Das  kommt  daher,  weil  viele  Collegen  glauben,  der  Verein  sei  nach  Inkraft- 
treten des  Pensionsgesetzes  überflüssig.  Das  ist  aber  ein  Irrthum ;  denn  erstlich 
fällt  heute  noch  sehr  oft  die  Pension  eines  Lehrers  sehr  kärglich  aus,  und 
zweitens  gibt  es  noch  manche  Emeriten,  die  vor  dem  neuen  Pensionsgesetze 
in  den  Ruhestand  getreten  sind. 

Die  nächstjährige  Westpreußische  Pro\inzial-Lehrerversammlung  findet 
in  Preußisch-Stargardt  statt. 

Zu  Vertretern  des  Westpreußischen  Provinzialvereins  auf  dem  nächsten 


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deutschen  Lehrertage  sind  gewählt:  Hauptlehrer  Mielke  I-Danzig,  Landwirt" 
schaftsschullehrer  Kahn-Marienburg,  Lehrer  Adler-Neufahrwasser,  Haoptlehrer 
Spiegelberg-Elbing,  Mittelschullehrer  Dreyer-Thorn,  Töchterschullehrer  Back- 
haus-Könitz und  Hauptlehrer  Bohl-Ohra;  zu  Vertretern  auf  dem  Preußischen 
Lehrertage  die  2  zuerst  genannten  Herren  und  Lehrer  Meyer-Bankau  und 
Lehrer  Knechtel-Gollub. 

Der  VII.  Blindenlehrer-Congress  in  Kiel  vom  3.  —  7.  August  1891. 
Die  Versammlungen  der  Leiter  und  Lehrer  von  Blindenanstalten  finden  seit 
1873  regelmäßig  in  dreijährigen  Zwischenräumen  statt,  sind  also  noch  jüngeren 
Datums.  Das  kann  um  so  weniger  befremden,  als  auch  die  Blindenanstalten 
selbst  erst  eine  Errungenschaft  der  Neuzeit  sind.  Bis  zum  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts  wusste  man  mit  den  des  Augenlichts  Beraubten  nichts  anzufangen; 
sich  selbst  zur  Last,  der  öffentlichen  Armenpflege  oder  den  Verwandten  zur 
Bürde,  waren  sie  dazu  verurtheilt,  in  doppelter  Finsternis,  in  der  trostlosesten  Öde 
und  der  tödlichsten  Langeweile  ihre  Tage  zu  verbringen.  Erst  im  Zeitalter 
der  Aufklärung  gelang  es  edlen  Menschenfreunden,  durch  Erfindung  des  Bücher- 
drucks in  erhabenen  Schriftzeichen,  sowie  durch  Herstellung  sinnreicher  Schreib- 
und anderer  Apparate  dem  Blinden  die  Thore  zu  öffnen,  durch  welche  auch 
seinem  Geiste  ein  geeigneter  Bildungsstoff  zugeführt  werden  kann.  Allmählich 
sind  diese  Lehrmethoden  derartig  vervollkommnet,  dass  es  gegenwärtig  möglich 
ist,  blinden  Kindern  eine  Ausbildung  zu  geben,  die  derjenigen  völlig  gleich- 
wertig ist,  welche  von  der  Volks-  und  Bürgerschule  vermittelt  wird.  Auf  diesem 
Gebiet  hat  die  Erziehungskunst  Triumphe  zu  verzeichnen,  wie  sie  früher  auch 
nicht  annähernd  nur  geahnt  worden  sind.  Was  heute  der  Blindenunterricht  zu 
leisten  vermag,  ist  indes  nur  in  Specialschulen  zu  erreichen,  die  alle  Vorkeh- 
rungen und  Einrichtungen  den  durch  die  Blindheit  bedingten  Eigentümlichkeiten 
ihrer  Zöglinge  anzupassen  vermögen.  Derartige  Specialanstalten  zur  Ausbil- 
dung Blinder  sind  denn  auch  überall  ins  Leben  gerufen;  ihre  Zahl  beträgt  für 
Deutschland  z.  Z.  etwa  30.  Die  meisten  dieser  Anstalten  hatten  zu  dem  Kieler 
Congress  ihre  Vertreter  entsandt,  denen  Fachgenossen  aus  dem  Auslände,  aus 
England,  Frankreich,  Holland,  Russland,  besonders  zahlreich  ans  Österreich  und 
dem  benachbarten  Dänemark  sich  ansclüossen.  Die  Gesammtzahl  der  Congress- 
theilnehmer,  die  Gäste  eingeschlossen,  betrug  reichlich  100. 

Der  Zweck  der  Blindenlehrer-Congresse  besteht  naturgemäß  in  der  weiteren 
Ausbildung  aller  Vorkehrungen  nnd  Veranstaltungen  zum  Unterricht  der  Blinden, 
in  der  Weiterentwicklung  der  Kunst,  Blinde  für  einen  Lebensberuf  heranzu- 
bilden. Aber  wir  Blindenlehrer  sind  leider  noch  in  der  Lage,  einen  Neben- 
zweck, den  die  Congresse  bisher  gehabt  haben,  nicht  ganz  aus  den  Augen  ver- 
lieren zu  dürfen,  den  nämlich,  Propaganda  zu  machen  für  die  Blindensache. 
Man  hat  sich  allmählich  daran  gewöhnt,  alle  Vorgänge,  Zustände  und  Ein- 
richtungen des  öffentlichen  Lebens  von  socialpolitischen  Gesichtspunkten  aus 
zu  beurtheilen.  Nun  liegen  gerade  auf  dem  Gebiete  der  Bestrebungen  zur 
Hebung  der  Blindenbildung  noch  weite  Strecken  unangebaut,  viele  Hunderte  von 
Arbeitskräften  im  Volke  müssen  gleichsam  latent  bleiben,  viel  Menschenglück 
lässt  sich  hier  noch  begründen.  Auf  der  Arbeit  beruht  aller  Culturfortschritt 
der  Menschheit  als  Ganzes,  sie  ist  auch  die  Quelle  jedes  wahren  Glückes  für 
den  Einzelnen.  Ein  Leben  wird  vom  Psalraisten  als  köstlich  gepriesen,  wenn 


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-    49  - 


es  Mühe  and  Arbeit  gewesen.  Weil  die  civilisirte  Gesellschaft  ohne  Arbeit 
nicht  bestehen  kann ,  ist  jeder  zur  Arbeit  verpflichtet.  Aber  jeder  Pflicht  ent- 
spricht ein  Recht.  Der  Pflicht  zur  Arbeit  entspricht  das  Recht  zur  Antheilnahme 
an  den  Segnungen  derselben.  Hat  man  dieses  Recht  doch  selbst  dem  Sträfling, 
dem  Verbrecher  zugestanden.  Nur  dem  Blinden  wird  es  bisher  noch  vorent- 
halten. Da  sind  es  denn  die  Blindenlehrer,  die  auf  ihren  Versammlungen  die 
hohen  Staats-  und  Provinzialbehörden  eindringlich  daran  mahnen,  dass  alle 
Blinden  auf  eine  geordnete  Erziehung  in  einer  Anstalt  ihr  gutes  Anrecht  haben : 
dass  sie  kein  Almosen,  keine  lebenslängliche  Verpflegung  wollen,  wol  aber 
wahrend  ihrer  Jugendzeit  diejenige  Unterweisung  beanspruchen,  die  sie  in  den 
Stand  setzt,  später  ihr  eigenes  Brot  essen  zu  können:  kurz,  dass  die  Devise 
aller  BlindenbUdung  lautet:  Hilfe  zur  Selbsthilfe!  —  Diese  Art  von  Propa- 
ganda übte  gleich  der  1.  Vortrag  aus,  den  Director  Mecker- Düren  über  den 
.Anstaltszwang  fürBlinde*  hielt.  Der  Referent  betont,  dass  derCongress 
zu  Kiel  die  Forderung  betr.  Einführung  des  Anstaltszwanges,  in  der  alle 
Blindenpädagogen  einig  sind,  wiederum  feierlich  verkündigen  und  eingehend 
begründen  müsse,  weil  in  verschiedenen  Staaten,  namentlich  in  Preußen,  die 
neuesten  Unterrichtsgesetze  bezw.  Gesetzentwürfe  dieser  Forderung  keine  Rech- 
nnng  tragen.  Zur  Widerlegung  der  Bedenken,  welche  der  Einführung  des 
Anstaltszwanges  entgegenstehen,  wird  ausgeführt,  dass  die  persönliche  Freiheit 
durch  den  Anstaltszwang  nicht  mehr  eingeschränkt  wird,  als  es  die  Rücksicht 
auf  das  Wol  des  Einzelnen  und  der  Gesammtheit  erfordert,  nicht  mehr  als 
durch  den  allgemeinen  Schulzwang,  die  Militärpflicht,  den  Impfzwang  etc.  Die 
Liebe  der  Eltern  zu  ihren  Kindern  wird  nicht  in  ungebürlicher  Weise  ver- 
letzt. Die  Anstalten  können  durch  Propagandamachen  allein  nicht  alle  bil- 
dungsfähigen Blinden  an  sich  ziehen,  es  bleibt  immer  noch  ein  Rest  von  Kurz- 
sichtigkeit und  Eigennutz,  der  nur  durch  Gesetzeszwang  überwunden  werden 
kann.  Die  Mittel,  welche  zur  Errichtung  und  Unterhaltung  genügender  Anstalten 
erforderlich  sind,  können  beschafft  werden  und  lohnen  sich  zehnfach  durch  die 
erzielte  Erwerbsfähigkeit  der  Blinden.  Die  Ausbildung  der  Blinden  kann  nach 
Ansicht  des  Referenten  in  der  Volksschule  nicht  bewirkt  werden,  weil  diese  in 
den  ihr  gesetzlich  vorgeschriebenen  Fächern  die  Blinden  nicht  genügend  unter- 
richtenkann; weil  dieselbe  viele  der  Blindenschule  eigentümlichen  und  für  eine 
normale  Ausbildung  der  Blinden  unentbehrlichen  Fächer  gar  nicht  lehrt;  weil 
die  Volksschule  und  auch  sonstige  Anstalten  der  Sehenden  den  Blinden  die 
nöthige  technische  Berufsbildung  nicht  geben  können;  weil  endlich  die  Volks- 
schule und  sonstige  Einrichtungen  die  nöthige  Unterstützung  der  ausgebildeten 
Blinden  nicht  auszuüben  vermögen.  Ans  all  diesen  Gründen  wird  die  Resolution 
beantragt:  „Es  sind  in  allen  Staaten,  in  welchen  allgemeiner  Schulzwang  be- 
steht, aus  öffentlichen  Mitteln  nach  Zahl  und  Einrichtung  genügende  Blinden- 
anterrichtsanstalten  zu  gründen  und  zu  unterhalten,  und  alle  Blinden  unter 
ähnlichen  Bedingungen,  wie  die  Sehenden  zum  Besuche  der  Volksschulen,  durch 
Gesetz  zum  Besuche  dieser  Specialanstalten  zu  verpflichten. " 

Diese  Resolution  wurde  einstimmig  angenommen.  In  betreff  ihrer  weiteren 
Behandlung  und  Verwertung  wird  beschlossen,  dass  dieselbe  von  jedem  Anstalts- 
vorsteher mit  einem  besonderen  Bericht  über  die  Lage  des  Blindenwesens  in 
dem  betreffenden  Anstaltsbezirk  der  zunächst  vorgesetzten  Verwaltungsbehörde 
zur  instanzmäßigen  Übermittelung  an  das  Unterrichtsministerium  überreicht 

Pädagogium,  u.  Jahrg.  Heft  I.  4 


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werde.  Wünschen  wir  der  Petition  den  besten  Erfolg.  Der  anwesende  Ver- 
treter des  Cultusministers,  Herr  Obeiregierungsrath  Tappen,  sagte  thunlichste 
Beachtnng  der  gemachten  Vorschläge  zu. 

Die  2.  Hauptsitzung  wurde  fast  vollständig  von  der  Berathung  der  „Blinden- 
kurz8chriftu  in  Anspruch  genommen.  Bei  einer  Kurzschrift  für  Blinde  handelt 
es  sich  um  folgendes.  Das  Punktschriftsystem  für  Blinde,  erfunden  von  Louis 
Braille,  hat  Baum  für  62  Zeichen,  von  denen  indes  durch  das  gewöhnliche  Al- 
phabet mit  Einschluss  der  accentuirten  Buchstaben  (Frankreich)  und  der  Um- 
laute (im  Deutschen)  nur  die  größere  Hälfte  belegt  worden  ist.  In  England 
hat  man  nun  vor  20  Jahren  angefangen,  die  noch  übrigen  Zeichen  für  häufig 
vorkommende  Buchstaben  Verbindungen  (en,  er,  ge,  tion  etc.)  zu  benutzen. 
Ferner  kürzt  man  Wörter  mit  größerer  Frequenz  durch  den  Anfangsbuchstaben 
ab.  Diese  Art  der  Ausgestaltung  des  Braille'schen  Systems — Stenographic  Braille, 
Braille  with  contractions  —  hat  sich  in  England  glänzend  bewährt,  sind  doch 
in  demselben  mehr  als  170  Bände  gedruckt  worden.  Das  von  England  ge- 
gebene Beispiel  hat  Nachahmung  in  Frankreich,  Italien,  Dänemark  und  Deutsch- 
land gefunden.  In  letzterem  Lande  ist  es  der  selbst  blinde  Lehrer  Krohn  in 
Kiel  gewesen,  der  dem  Frankfurter  Congress  ein  System  der  Kurzschrift  vor- 
legte. Es  wurde  damals  in  einer  Commission  begraben,  feierte  aber  in  Amster- 
dam seine  Auferstehung  und  wurde  vor  3  Jahren  in  Cöln  zur  Prüfung  in  der 
Blindenschule  zugelassen.  Die  inzwischen  von  23  Anstalten  angestellten  Ver- 
suche lieferten  das  Resultat,  dass  in  18  derselben  befriedigende,  gute  und  sehr 
gute  Erfolge  mit  der  Kurzschrift  erzielt  worden  sind.  Ebenfalls  durch  Ver- 
suche war  ferner  festgestellt,  dass  von  8  Anstalten  6  bereits  auf  der  Mittel- 
stufe mit  der  Kurzschrift  günstige  Erfolge  erzielt  haben.  Auf  Grund  dieses 
Erfahrungsmaterials  beantragte  die  znr  Bearbeitung  dieser  Frage  eingesetzte, 
aus  7  Personen  bestehende  Commission,  dass  die  Kurzschrift  bereits  auf  der 
Mittelstufe  in  die  Blindenschule  eingeführt  werde.  Nach  langen,  zum  Theil 
erregten  Debatten  wird  folgender  Vermittelungsantrag  angenommen:  Der  VIL 
Blindenlehrer-Congress  empfiehlt  den  Anstalten  die  weitere  Prüfung  der  Kurz- 
schrift. Er  wünscht  die  Herausgabe  eines  Lesebuches  in  dieser  Schrift,  damit 
eine  Prüfung  möglich  ist.  Die  bestehende  Kurzschriftcommission  erhält  das 
Hecht,  sich  auf  9  Mitglieder  zu  verstärken.  —  Der  nun  folgende  Vortrag  von 
Lehrer  Görner-Leipzig  über  den  Handfertigkeitsunterricht  in  der  Blindenschule 
konnte  mangelnder  Zeit  halber  leider  nur  gekürzt  zu  Gehör  gebracht  werden. 
Referent  will  den  Handfertigkeitsunterricht  auf  der  Unterstufe  als  Handgriffe 
zur  Erlangung  persönlicher  Selbstständigkeit;  auf  der  Mittelstufe  als  Fröbel- 
beschäftigungen  und  deren  weitere  Anwendung  und  Verwertung  im  Schulunter- 
richt zur  Entwicklung  zielbewusster  Selbsttätigkeit;  auf  der  Oberstufe  als 
Arbeitsunterricht  in  der  Schülerwerkstätte  zur  Gewinnung  persönlicher  An- 
stelligkeit und  möglichst  vielseitiger  Handgeschicklichkeit  in  praktischen  Dingen. 
Am  Schluss  des  instructiven  Vortrages  gab  Herr  Görner  eine  Erläuterung  der 
Lehrgänge  für  den  Arbeitsunterricht  der  Schülerwerkstätte  in  Holzarbeiten,  in 
Papparbeiten  und  in  Metallarbeiten. 

Am  Donnerstage  hielt  Oberlehrer  Merle- Hamburg  einen  Vortrag  über  den 
Anschauungsunterricht  in  der  Blindenschule.  Wenn  diese  Disciplin  schon  für 
sehende  Kinder  von  großer  Wichtigkeit  ist,  so  bildet  sie  nach  Ansicht  des 
Redners  für  das  blinde  das  Hauptmoment  der  Erziehung,  weil  dieses  es  nicht 


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in  der  Macht  hat,  seine  Anschauungen  in  nennenswerter  Weise  zu  erweitern. 
In  den  unteren  Classen  ist  der  Anschauungsuntenich t  daher  als  Hauptgiied  des 
ganzen  Unterrichts  zu  betrachten,  in  den  oberen  so  viel  als  thunlich  mit  Hand- 
fertigkeitsunterricht zu  verbinden.  Der  Lehrstoff  für  die  Fibel  und  die  ersten 
Lesebücher  ist  thunlichst  dem  Lehrgange  für  den  Anschauungsunterricht  an- 
zuschließen. Die  Anschauungsmittel  müssen  die  denkbar  besten  sein,  damit 
dieselben  nicht  nur  richtige  Anschauungen  vermitteln,  sondern  auch  den  Sinn 
für  schöne  Formen  beleben  und  entwickeln. 

Im  Anschluss  hieran  sprach  Director  Kunz-Illzach  in  Elsass  über  das  Bild 
in  der  Blindenschule.  Der  Vortragende,  der  als  Herausgeber  ausgezeichneter 
Reliefkarten  in  der  Blindenwelt  ganz  Europas  rühmlichst  bekannt  ist,  führte  in 
kürze  das  folgende  aus :  Gute  Abbildungen  in  genügender  Zahl  erleichtern  und  be- 
leben den  Classen  Unterricht  in  beinahe  allen  Schulfächern;  sie  ermöglichen 
unmittelbare  und  rasche  Veranschaulichung  unzähliger  Gegenstände,  die  im 
Lese-,  Geschichte-  und  Geographieunterricht  zur  Sprache  kommen,  bilden  eine 
notwendige  Ergänzung  aller  unserer  Veranschaulichungsmittel,  eine  Hauptstütze 
des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  und  endlich  eine  wertvolle  Mitgabe  fürs 
Leben.  Deshalb  ist  die  Herausgabe  eines  Bilderatlasses  anzustreben.  Die  Ab- 
bildungen von  Körpern  sollen  in  erster  Linie  als  Halbmodelle,  bezw.  Flach- 
modelle, in  zweiter  Linie  als  Umrissbilder  (Skizzen)  zur  Ausgabe  kommen  und 
so  die  letzten  Glieder  der  absteigenden  Veranschaulichungsreihe  bilden  (z.  B. 
lebendes  Thier,  ausgestopftes  Thier,  Modell,  Halbmodell  oder  Flachmodell  und 
Umriss).  Zur  bildlichen  Darstellung  sollen  nach  und  nach  die  meisten  Dinge 
nnd  Erscheinungen  kommen,  mit  welchen  vollsinnige  Schüler  in  den  Elementar- 
nnd  Mittelschulen  bekannt  gemacht  werden,  ganz  besonders  aber  diejenigen, 
welche  infolge  ihrer  Größe,  ihrer  Kleinheit  oder  ihrer  Beschaffenheit  der 
Hand  des  Blinden  nicht  zugänglich  sind  oder  mit  Hilfe  derselben  nicht  wahr- 
genommen werden  können.  Das  Bilderbuch  soll  dem  Blinden  auch  das  Mikroskop 
ersetzen.  Der  Anfang  soll  mit  den  einfachsten  und  bekanntesten  Dingen  ge- 
macht werden,  damit  die  Kinder  Bilder  „lesen"  lernen.  Thiere,  vielleicht  auch 
Menschen,  sind  in  verschiedenen  Stellungen,  welche  ihre  Thätigkeit  erkennen 
lassen,  zur  Darstellung  zu  bringen.  Gruppenbilder  haben  nur  dann  eine  Be- 
rechtigung, wenn  die  gezeichneten  Gegenstände  in  einer  und  derselben  Ebene 
liegen.  —  Die  Versammlung  stimmte  dem  Vortragenden  zu;  die  Blinden  aber 
werden  froh  sein,  wenn  Herr  Kunz  sie  mit  einem  Bilderbuch,  wie  es  ihm  vor- 
schwebt, beschenkt,  was  leider  nicht  so  bald  gethan  ist,  da  die  Herstellung  der 
Bilder  sehr  viel  Zeit  erfordert. 

Am  4.  Congresstage  entwickelte  Director  Heller  vom  Israelitischen  Blinden- 
Institute  Hohe -Warte  bei  Wien  in  einstündiger  gedankenreicher  Bede  sein 
».System  der  Blindenpädagogik".  Des  beschränkten,  mir  verstatteten  Raumes 
wegen  ist  eine  Skizzirung  des  Gedankenganges  mir  nicht  möglich;  erwähnen 
wül  ich  nur,  dass  die  Grundlagen  dieses  Systems  vornehmlich  sind:  Übung  der 
Sinne,  die  Anschauung,  die  Darstellung,  die  nachahmenden  Thätigkeiten  und 
die  Erfahrung. 

Erwähnt  mag  noch  werden,  dass  ein  französischer  B lindenfreund ,  Herr 
Lavanchy-Clarke  in  Lausanne,  einen  Preis  von  250  Mk.  ausgesetzt  hatte  für 
die  beste  Bearbeitung  der  Aufgabe:  „Was  geschieht  in  Deutschland  für  die 
Blinden;  was  bleibt  für  sie  zu  thun  noch  übrig?"  Dieser  Preis  wurde  von  den 

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Preisrichtern,  Director  Mecker-Düren  und  Director  Ferchen-Kiel ,  dem  Blinden- 
lehrer Joseph  Libansky  in  Purkersdorf  bei  Wien  zuerkannt.*) 

Der  8.  Congress  wird  nach  3  Jahren  in  München  stattfinden.  M. 

Österreich-Ungarn.  Während  der  Sommerferien  haben,  wie  gewöhnlich, 
mehrere  größere  Lehrerversammlungen  stattgefunden.  Im  deutschen  Sprach- 
gebiete waren  besonders  bemerkenswert  die  Hauptversammlung  des  niederöster- 
reichischen Landeslehrervereins  am  16.  und  17.  Juli  in  Nennkirchen  und  die 
Hauptversammlung  des  deutschen  Landeslehrervereins  in  Böhmen  am  6.  und 
7.  August  zu  Gablonz.  Abgesehen  von  dem  großen  Werte  dieser  Versammlungen 
für  die  wichtigsten  Interessen  der  betreifenden  Landeslehrervereine  sind  die- 
selben auch  von  hoher  Bedeutung  für  die  allgemeinen  Schul-  und  Culturfragen. 
Und  zwar  haben  beide  Versammlungen  einhellig  Zeugnis  abgelegt,  dass  die 
Bestrebungen  der  Reaction,  die  moderne  Schule  in  Österreich  zu  stürzen,  bisher 
an  zwei  wichtigen  Stellen  erfolglos  geblieben  sind:  an  der  charaktervollen 
Lehrerschaft  und  am  intelligenten  Bürgerstande.  In  letzterer  Beziehung  mnss 
mit  besonderer  Befriedigung  hervorgehoben  werden,  dass  sowol  in  Neunkirchen 
wie  in  Gablonz  nicht  nur  den  Lehrern  eine  höchst  sympathische  Aufnahme  zn- 
theil  wurde,  sondern  auch  die  öffentlichen  Autoritäten  und  die  maßgebenden 
Bevölkerungskreise  ihr  treues  und  opferwilliges  Festhalten  an  dem  freisinnigen 
Schulgesetze  entschieden  an  den  Tag  legten.  Und  die  versammelte  Elite  der 
Lehrerschaft  (in  Neunkirchen  ca.  500,  in  Gablonz  ca.  800)  bekundete  einmüthig 
den  gleichen  Geist  des  besonnenen  und  thatkräftigen  Beharrens  auf  der  für  die 
Schule  Österreichs  zu  Recht  bestehenden  Bahn  des  Fortschrittes.  Besonders  deutlich 
zeigte  sich  die  Übereinstimmung,  welche  in  dieser  Beziehung  unter  der  öster- 
reichischen Lehrerschaft  herrscht,  dadurch,  dass  in  Gablonz  die  vollständige 
Durchführung  der  achtjährigen  Schulpflicht  entschieden  gefordert,  und  in  Neun- 
kirchen die  Verkürzung  derselben  durch  die  sogenannten  „Schulbesuchs-Er- 
leichterungen a  in  die  engsten  Schranken  verwiesen  wurde.  Ausdrückliche  Her- 
vorhebung und  Anerkennung  verdient  noch  folgende  von  der  niederösterreichischen 
Lehrerversammlung  einstimmig  gefasste  Resolution:  „Es  ist  Pflicht  der 
Staatsverwaltung,  der  auf  Grund  eines  sanctionirten  Reichsgesetzes 
geschaffenen,  erhaltenen  und  von  staatlichen  Organen  überwachten 
Schule  denselben  Schutz  angedeihen  zu  lassen,  den  alle  anderen 
Staatseinrichtungen  genießen.  Durch  die  fortwährenden,  geradezu  frevel- 
haften Angriffe  seitens  der  Gegner  muss  die  Schule  geschädigt,  das  Vertrauen 
des  Volkes  zu  derselben  erschüttert,  das  Ansehen  des  Lehrerstandes  untergraben 
und  somit  ein  Zustand  geschaffen  werden,  der  zersetzend  auf  die  breiten 
Schichten  des  Volkes  wirken  muss." 

Am  6.  August  tagte  in  Prag  der  czechische  Lehrercongress.  Der- 
selbe wies  mehr  als  5000  Theilnehmer  auf,  die  der  Mehrzahl  nach  aus  Böhmen 
stammten,  wozu  aber  auch  Mähren  und  Schlesien  ein  bedeutendes  Contingent 
nnd  selbst  die  südslavischen  Länder  eine  Anzahl  von  Gästen  gestellt  hatten. 
Die  Versammlung  trat  entschieden  und  einstimmig  für  die  Neuschnle  ein,  wie 
sie  durch  das  Gesetz  vom  14.  Mai  1869  geschaffen  wurde.  „Den  Bedürfnissen 
der  czechischen  Nation  kann  nur  eine  öffentliche,  allen  Confessionen  gleichmäßig 

•)  Unserem  wackeren  Mitarbeiter  die  herzlichsten  Glückwünsche !     D.  R. 


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zugängliche  und  allen  Glaubensbekenntnissen  gleich  gerecht  werdende  Schule 
genügen,  welche  der  staategrundgesetzlich  gewährleisteten  Glaubens-  und  Ge- 
wissensfreiheit entspricht.  Wie  nun  die  Aufsicht  über  die  religiöse  Erziehung 
und  den  Religionsunterricht  den  Religionsgenossenschaften  überlassen  ist,  so 
gebärt  die  Aufsicht  über  die  übrige  Erziehung  und  den  übrigen  Unterricht  nur 
erfahrenen  Fachmännern,  vorzugsweise  weltlichen  Volks-  und  Bürgerschul- 
lehrern. u  Diese  Resolution  wurde,  trotzdem  auch  etliche  Geistliche  der  Ver- 
sammlung beiwohnten,  einstimmig  angenommen.  —  An  Muth  und  Freisinn 
stehen  also  die  slavischen  Lehrer  ihren  deutschen  Collegen  keineswegs  nach, 
and  ist  zu  hoffen,  dass  die  ganze  österreichische  Lehrerschaft  wenigstens  in 
der  Vertheidigung  des  gemeinsamen  Schulgesetzes  einig  sein  und  bleiben  wird. 

Die  Lehrmittelsammelstelle  Petersdorf  bei Trautenau  (Böhmen)  ist 
bestrebt,  Schulen  ohne  große  Auslagen  mit  den  allerwichtigsten  Lehrmitteln  zu 
versehen  und  hat  hierfür  bereits  ein  großes  Lager  von:  Mineralien,  Käfern, 
Schmetterlingen,  Petrefacten,  Conchylien,  biographischen  Präpa- 
raten (Entwicklungsstadien  verschieden  er  Thiere),  Sammlungen  chemischer 
und  gewerblicher  Stoffe,  Modellen  der  Veredlungsarten,  Bienenstock- 
Modellen,  Pilz-Modellen,  Modellen  des  Hochofens,  zerlegbaren  De- 
cimalwagen,  einfachen  physikalischen  Apparaten,  verschiedenen 
Amphibien,  Stopfpräparaten  etc. 

Die  Sammelstelle  nimmt  keinen  Verdienst!  Gibt  an  bedürftige  Schulen 
anch  unentgeltlich  ab  und  sendet  das  jeweilige  Vorrathsverzeichnis  gegen  Ein- 
sendung einer  Briefmarke  bereitwilligst  ein. 

Tausch  wird  nach  allen  Richtungen  des  Sammelwesens  eingegangen. 

Spenden  werden  dankbarst  angenommen! 

Anfragen  beantwortet  der  Vorstand 

Gustav  Settmacher,  Oberlehrer. 

Der  königl.  ungarische  Minister  für  Cnltus-  und  Unterricht,  Graf  Albin 
Ceaky,  hat  den  XIX.  Jahresbericht  des  derzeit  unter  seiner  Leitung  stehenden 
Ressorts  und  aus  dem  Originalwerke  auch  einen  Auszug  in  deutscher  Sprache 
veröffentlicht  (gedruckt  in  der  k.  u.  Universitäts-Buchdruckerei  zu  Budapest). 
Der  Bericht  erstreckt  sich  auf  die  Studienjahre  1888—89  und  1889—90  uud 
nmfasst  sämmtliche  Anstalten  des  Schuldepartemente ;  wir  entnehmen  demselben 
einige  allgemein  interessirende  Daten.  Der  Minister  hat  vor  allem  eine  Reform 
des  Unterrichtsrathe8  eingeleitet,  da  derselbe  sich  nicht  durchaus  bewährt  hatte. 
Insbesondere  waren  in  demselben  bisher  zwar  die  einzelnen  Fächer  der  Wissen- 
schaft, nicht  aber  die  verschiedenen  Arten  von  Lehranstalten  genügend  ver- 
treten; die  Mitglieder  desselben  hatten  ferner  keine  Gelegenheit,  sich  mit  den 
thatsächlichen  Schulverhältnissen  durch  eigene  Wahrnehmungen  bekannt  zu 
machen,  die  Entlohnung  für  ihre  Mühewaltung  war  unzureichend  etc.  Dem 
gegenüber  sind  nun  zweckmäßige  Verbesserungen  eingeleitet  worden,  bei  welchen 
insbesondere  das  fachmännische  Element  eine  dankenswerte  Berücksichtigung 
gefunden  hat.  Auch  verdient  folgende  Maßnahme  mit  besonderem  Beifall  hervor- 
gehoben zu  werden:  „Die  Procedur  bei  der  Beurtheilung  der  Schulbücher 
soll  wesentliche  Moditicationen  erfahren,  welche  in  erster  Reihe  den  Zweck 
haben,  die  möglichste  Objectivität  der  Kritik  zu  verbürgen.   Aus  diesem 


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Gesichtspunkte  sollen  auch  außerhalb  des  Unterrichterathes  stehende  Fach- 
männer in  Anspruch  genommen  werden;  auch  soll  der  eine  der  Beurtheiler  stets 
jener  Art  von  Schulen  angehören,  für  welche  das  betreffende  Buch  bestimmt 
ist;  endlich  sollen  die  Kritiken  mit  den  Namen  der  Beurtheiler  den 
Verfassern  zugestellt  werden."  Wer  da  weiß,  wieviel  Willkür,  Unrecht, 
ja  Corruption  in  Sachen  der  Schulbücher  unter  dem  Deckmantel  des  Amts- 
geheimnisses hie  und  da  geübt  wird,  der  kann  die  citirten  Bestimmungen  nur 
mit  dem  lebhaftesten  Beifall  begrüßen. 

Graf  Csaky  bemerkt  ferner:  „Da  ich  die  bedeutendsten  Factoren  des 
Aufblühens  und  Fortschrittes  unseres  Volksschul- Unterrichtswesens  einer- 
seits in  der  wirksamen  und  fachmäßigen  Aufsicht,  anderseits  in  der  guten 
Lehrerbildung  suche,  habe  ich  diese  Theile  der  Schulorganisation  zum  Gegen- 
stande meiner  besonderen  Fürsorge  gemacht."  Demgemäß  war  er  darauf  be- 
dacht, den  Schulinspectoren  in  ihren  Kanzleiarbeiten  Erleichterung  zu  verschaffen, 
damit  sie  nicht  von  „ihrer  eigentlichen  und  wichtigsten  Aufgabe:  von  dem 
Besuche  der  Schulen  und  der  unmittelbaren  und  persönlichen  Berührung  mit 
den  Schulbehörden  und  Lehrern  abgezogen  werden",  ihnen  aber  auch  eine  bessere 
Dotirung  zu  sichern,  damit  sie  ihr  wichtiges  und  schweres  Amt  „ohne  materielle 
Sorgen"  verwalten  können;  ebenso  ließ  er  sich  die  stetige  Verbesserung  der 
Lehrerbildung,  sowie  der  Besoldung  der  Seminarlehrer  angelegen  sein. 

Das  ungarische  Schulwesen  zeigt  in  allen  seinen  Theilen  einen  gedeihlichen 
Fortschritt.  Die  Volksschulen  wurden  im  Jahre  1888  von  1,950879,  im 
folgenden  Jahre  von  2,015612  Kindern  thatsächlich  besucht,  während  sich 
diese  Zahl  anno  1869  nur  auf  1,152115  belief.  Im  Verhältnis  zur  Zahl  der 
schulpflichtigen  Kinder  war  zwischen  1869  und  1889  eine  Steigerung  des 
factischen  Schulbesuchs  von  50.42  °/0  auf  81.65°/0  eingetreten.  Und  während 
anno  1869  1598  Gemeinden  ganz  ohne  Schule  waren,  gab  es  solcher  Gemeinden 
1889  nur  noch  244.  Im  ganzen  bestanden  1889  16702  Volksschulen  gegen 
13798  im  Jahre  1869.  Volksschullehrer  gab  es  1869  17792,  1889  hingegen 
24645.  Die  Erhaltungskosten  der  Volksschulen  betrugen  im  ersteren  Jahre 
3,760123  fl.,  im  letzteren  15,117024  fl.,  die  hierzu  gewährte  Staatesub- 
vention im  ersteren  Jahre  407  72  fl.,  im  letzteren  1,794234  fl.  Was  die 
Nationalitäten  betrifft,  so  zeigt  sich  zwar  bei  allen  eine  Zunahme  des  that- 
8ächlichen  Schulbesuches  im  Verhältnis  zur  Schulpflichtigkeit ;  aber  ein  die 
Durchschnittsziffer  81.65%  überschreitender  factischer  Schulbesuch  zeigte  sich 
bisher  nur  bei  den  Schulpflichtigen  mit  ungarischer,  deutscher  und  slovakischer 
Muttersprache,  während  der  Schulbesuch  der  rumänischen,  serbischen,  kroati- 
schen und  ruthenischen  Kinder  hinterdieser  Ziffer  zurückblieb. 

„Mittelschulen"  bestehen  derzeit  in  Ungarn  180,  nämlich  151  Gym- 
nasien und  29  Realschulen.  Hiervon  sind  vollständig,  d.  h.  8classig  91 
Gymnasien  und  22  Realschulen,  die  übrigen  sind  erst  4 — 6classig.  Die 
Gymnasien  hatten  zusammen  36367,  die  Realschulen  7303  Schüler,  so  dass 
von  je  1000  Schülern  833  das  Gymnasium,  167  die  Realschule  besuchen. 
Hierzu  bemerkt  der  Minister:  „Die  Verhältniszahl  der  Gymnasial-  und  Real- 
schüler verändert  sich  seit  Schaffung  des  Mittelschulgesetes  dauernd  in  einer 
Richtung,  nämlich  zu  Gunsten  der  Realschulen."  Thatsächlich  kamen 
im  Schuljahr  1883/84  auf  je  1000  Gymnasiasten  147  Realschüler,  während  die 


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letztere  Ziffer  in  den  folgenden  Jahren  auf  151,  168,  178,  191,  198,  201 
«tief  (immer  im  Verhältnis  zu  1000). 

Bezüglich  der  Hochschulen  weist  der  Ministerialbericht  nach,  dass  die 
Contingente  der  Lehramtscandidaten  und  der  Techniker  in  Zunahme  begriffen 
sind  in  geringerem  Maße  auch  die  der  landwirtschaftlichen  und  der  militärischen 
Carriere.  „Die  oft  besprochene  und  vielfach  beklagte  übermäßige  Frequenz 
der  juridischen  Facultäten  und  Akademien  hat  auch  im  verflossenen  Schuljahr 
nicht  abgenommen.  Es  zeigt  sich  vielmehr  auch  hier  eine  kleine  Zunahme. 
Dagegen  zeigt  sich  bei  den  Theologen,  bei  den  Candidaten  des  forstmännischen 
nnd  des  bergmännischen  Berufes,  ja  auch  bei  den  Medicinern  leider  wieder  eine 
gewisse  Abnahme."  Bezüglich  des  Studienerfolges  ergibt  eich,  dass  im  Berichts- 
jahre von  877  Juristen  521  (59.52  °/o),  von  297  Medicinern  207  (69%),  von 
140  Hörern  der  phüosophischen  Facultät  blos  38  (27°/0),  von  210  Technikern 
80  (38°/0)  ihr  Ziel  erreicht,  d.  h.  das  Absolutorium  erreicht  hatten. 

Auf  diese  wenigen  Angaben  müssen  wir  uns  leider  für  diesmal  beschränken, 
and  indem  wir  diejenigen,  welche  sich  mit  dem  hochinteressanten  Schulwesen 
Ungarns  genauer  bekanntmachen  wollen,  auf  den  Bericht  selbst  verweisen, 
schließen  wir  mit  dem  Wunsche,  dass  Graf  Csaky  noch  recht  lange  auf  seinem 
wichtigen  Posten  verbleiben  möge.  Was  er  bisher  geleistet  hat,  zeugt  ebenso- 
wol  von  tiefem  Verständnis,  wie  von  redlichem  Willen  und  treuem  Eifer  für 
sein  bedeutsames  Amt  und  kann  dem  ungarischen  Patrioten  wie  allen  Freunden 
des  Culturfortschrittes  nur  zu  lebhafter  Genugthunng  gereichen. 


Die  „Bistritzer  Zeitung"  (Siebenbürgen)  bringt  einen  offenbar  von  sach- 
kundiger und  schulfreundlicher  Hand  verfassten  Aufsatz,  in  welchem  nachge- 
wiesen wird,  dass  die  Gymnasien  der  siebenbttrgischen  Sachsen  mit  den  bisherigen 
Mitteln  unmöglich  auf  die  Dauer  erhalten  werden  können.  Namentlich  sind 
die  Lehrergehälter  hinter  den  dringenden  Bedürfnissen  der  Gegenwart  weit 
zurückgeblieben.  Möge  es  dem  wackeren  Volke  gelingen,  der  offenbaren  Noth 
mit  den  rechten  Mitteln  abzuhelfen.  Es  handelt  sich  da  in  der  That  um  eine 
Lebensfrage  der  Siebenbttrger  Sachsen! 


England.  Während  in  Preußen  abermals  ein  Schulgesetz- Entwurf  ge- 
scheitert ist,  hat  England  einen  neuen  großen  Erfolg  auf  dem  Gebiete  der  Volks- 
bildung aufzuweisen.  Einen  sehr  beachtenswerten  Artikel  hierüber  bringt  die 
„Nene  freie  Presse",  dem  wir  mit  Vergnügen  Raum  geben.  Er  lautet: 

Von  allen  Gesetzen,  welche  die  eben  abgelaufene  Session  des  englischen 
Parlaments  beschlossen,  ist  keines  folgenreicher,  fruchtbarer  und  bedeutsamer, 
als  dasjenige  über  die  Volksschule.  Das  Forster'sche  Schulgesetz  vom  Jahre  1 870 
bat  den  Schulzwang  eingeführt  (dies  ist  nicht  ganz  richtig.  D.  R.),  aber  In- 
spector  und  Gemeindediener  vermochten  nicht  die  Massen  des  Volkes  für  den 
obligatorischen  Schulbesuch  zu  gewinnen,  die  Schnlgebüren,  welche  die  Eltern 
zu  entrichten  hatten,  waren  diesen  verhasst,  und  nach  wie  vor  blieben  die  Kinder 
der  ärmeren  Leute  der  Schule  fern ;  selbst  in  London  besuchen  thatsächlich  nur 
80  Percent  der  schulpflichtigen  Kinder  die  Elementarschulen.  Die  Londoner 
Behörden  haben  wol  gesetzlich  die  Aufgabe,  die  säumigen  Eltern  zu  verwarnen 
und  im  Wiederholungsfalle  zu  strafen,  allein  die  Behörden  unterließen  es  schließ- 
lich wegen  der  Massenhaftigkeit  der  Fälle.  Man  suchte  mit  philanthropischen 


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Mitteln  nachzuhelfen;  man  setzte  Preise  und  Belohnungen  aus;  der  Schulbesuch 
blieb  jedoch  ein  unregelmäßiger  und  mangelhafter,  die  Classenzimmer  blieben 
nach  einigen  Wochen  in  den  Grafschaften,  wie  im  Ostend  Londons  leer.  Ge- 
wissenlose Eltern  benützen  die  Kinder  zum  Broterwerb  und  Betteln,  sie  tragen 
das  Geld  lieber  in  die  Schenke,  als  in  das  Schulamt;  man  seufzte  in  England 
gerade  so  über  die  hohen  Schullasten,  wie  bei  uns  in  den  Alpenländern;  man 
wollte  die  Kinder  lieber  zum  Viehtreiben  oder  in  den  Webereien  und  Spinnereien 
verwenden,  als  sie  in  der  Volksschule  sitzen  sehen,  wie  bei  uns;  man  fand  es 
gerade  wie  bei  uns  überflüssig,  dass  die  Kinder  mehr  lernen  und  wissen  als 
die  Eltern;  auch  in  England  fanden  sich  genug  der  falschen  Propheten,  welche 
die  Lehre  predigten,  dass  der  Staat  nicht  gesetzlich  über  die  Kinder  und  ihre 
Erziehung  verfügen  dürfe,  dass  es  ein  Eingriff  in  das  Recht  der  Eltern  sei, 
wenn  der  Staat  verlange,  dass  die  Kinder  von  5  bis  14  Jahren  die  Schule  be- 
suchen. Dieselben  Argumente,  welche  wir  in  Österreich  von  den  ultramontanen 
Wortführern,  in  Deutschland  von  den  Centrumsrednern,  in  Belgien  von  der 
Geistlichkeit  und  ihren  Anhängern  in  der  Kammer,  in  Frankreichs  Legislative 
von  Bischof  Freppel  zu  hören  bekamen  —  sie  haben  wir  anch  in  England  zu 
verzeichnen  gehabt.  So  uniform,  so  armselig,  so  verlegen  klingen  diese  opposi- 
tionellen Reden  allenthalben,  und  Conservative  reinsten  Wassers,  wie  Bartley, 
erhoben  Kassandra-Rufe  und  verkündeten  das  Ende  Alt-Englands.  Noch  im 
März  dieses  Jahres  glaubte  man,  die  Volksschul-Bill  werde  auf  unbestimmte 
Zeit  verschoben,  sie  werde  nicht  zustande  kommen;  Gladestoneaner  und  Radi- 
cale  jubelten  bereits,  sie  nahmen  die  Bill,  mit  der  Ergänzung,  dass  das  ganze 
Elementar- Schulwesen  unter  die  Aufsicht  wählbarer  Behörden,  also  mittelbar 
auch  der  Wähler  selbst  zu  stellen  sei,  in  ihr  zukünftiges  Wahlprogramm  auf. 
Und  siehe  da!  Das  Gesetz  ist  angenommen,  durch  eine  geschickte  Verbindung 
liberaler  und  conservativer  Interessen ;  Salisbury  verstand  es,  seine  conservativen 
Anhänger  von  der  Nothwendigkeit  der  Sache  zu  überzeugen.  Unionisten,  Glade- 
stoneaner und  Radicale  mussten,  wollten  sie  nicht  ihre  Grundsätze  ganz  ver- 
leugnen, dafür  stimmen  —  und  so  sah  man  das  erhebende  Schauspiel,  wie  unter 
der  Devise:  „Für  dasWol  des  Landes"  alle  Parteien  der  Fahne  von  Sir  William 
Hart-Dyke,  dem  Verfasser  der  Bill,  dem  Vice-Präsidenten  des  Conseils,  folgten. 
Seine  Vorschläge  waren  so  einfach,  maßvoll  und  praktisch,  dass  ihr  Erfolg  un- 
fehlbar wurde:  sie  vermieden  es,  sich  gegen  die  Privat-  (freiwilligen)  Schulen, 
oder  gegen  das  Abkommen  bezüglich  des  Religionsunterrichtes  zn  wenden, 
noch  erhoben  sie  die  Normalschulfrage  auf  das  Programm  der  Regierung.  Die 
letztere  wusste,  dass  das  Hauptargument  gegen  den  Schulzwang  die  theuren 
Schulgebüren  seien ;  deshalb  richtete  sie  ihr  ganzes  Augenmerk  auf  die  Ver- 
wolfeilung  der  Gebttren,  so  dass  die  Schule  für  viele  ganz  kostenlos,  für 
andere  fast  unentgeltlich  wird ;  sie  vermied  es,  die  Schulgeldfrage  durch  andere 
Controverseu  zu  verwickeln,  und  so  gelang  das  Werk,  das  auf  Generationen 
hinaus  segensreich  wirken  wird. 

Ein  Werk  der  schwierigsten  Art.  In  England  mehr  als  irgendwo  sind 
der  Individualismus  und  das  Princip  der  Selbstverwaltung  entwickelt;  mehr  als 
der  Engländer  sträubt  sich  wol  niemand  gegen  staatliche  Bevormundung;  dazu 
war  ja  in  England  nicht  wie  in  Österreich  und  Deutschland  die  Schule  ein 
Politicum,  und  bis  vor  zwanzig  Jahren  entbehrte  das  Inselreich  ganz  und  gar 
der  politischen  Schulverfassung.  Erst  nach  der  Einführung  des  obligatorischen 


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(V  D.  R.)  Schulunterrichtes,  also  nach  1870,  traten  in  verschiedenen  Städten 
und  ländlichen  Bezirken  die  School- Boards  ins  Leben,  gewählte  Collegien,  welche 
die  Schulen  errichteten  und  verwalteten;  die School-Boards  hielten  alsoBoards- 
Schools.  Eine  gewisse  Controle  lag  in  den  Händen  der  Regierung  oder  des 
Council  of  Education,  von  dem  die  Schnlinspectoren  ernannt,  auf  dessen  Antrag 
auch  Zuschösse  von  der  Regierung  gewährt  worden.  Der  Staat  ließ  diesen 
Schulen,  die  sich  nach  Umfang  des  Unterrichtes  abstuften,  einen  weiten  Spiel- 
raum; von  dem  Umfange  des  Lehrplanes,  der  Zahl  der  Schüler  und  dem  Grade  der 
Leistung  der  Schule  hing  jeweilig  die  Höhe  der  staatlichen  Subvention  ab.  Der 
Staat  förderte  also  bisher  blos  den  Volksunterricht,  aber  die  Verwaltung  lag 
in  den  Händen  der  School-Boards,  und  die  Kosten  trugen  die  wahlberechtigten 
Steuerzahler.  Sie  hatten  bisher  im  Verhältnisse  zur  Hausmiete  eine  besondere 
Schulfiteuer  zu  entrichten,  ähnlich  wie  bei  uns  in  Wien.  Außer  dem  Einkommen 
aus  der  Schulsteuer  und  der  staatlichen  Subvention  war  noch  ein  Schulgeld 
eingeführt;  das  Board  war  vom  Parlamente  ermächtigt,  von  jedem  Schüler  jede 
Woche  einen  Beitrag  bis  zu  nenn  Pence  einzufordern.  Man  denke  sich,  eine 
ärmere,  mit  Kindern  gesegnete  Familie  hätte  jede  Woche  für  jedes  Kind  etwa 
funranddreißig  Kreuzer  zu  entrichten.  Freilich  gibt  es  Districte,  wo  das  Schul- 
geld weniger  beträgt;  immerhin  war  das  Schulgeld  hart  für  die  nothleidenden 
Massen,  unbeliebt  bei  den  Eltern  und  deraüthigend  für  den  Lehrer,  der,  wie 
der  Schulmeister  des  Vormärz  in  Österreich ,  in  der  Classe  von  den  Schülern 
selbst  die  Pence  einzusammeln  hatte.  Auch  dieser  Vorgang  verschwindet  fortan 
aus  den  englischen  Schulen. 

Eine  Frage  schwebt  auf  des  Lesers  Zunge:  Wie  verhält  sich  die  Geist- 
lichkeit zur  Schulreform?  Die  Schule  wird  ja  vor  allem  interconfessionell! 
Doch  nur  die  Staatskirche  hat  Ursache,  um  ihre  Kirchenschulen  besorgt  zu  sein. 
Die  Dissenters,  welche  nahezu  die  Hälfte  der  Bevölkerung  darstellen,  und  ins- 
besondere die  ärmere  Classe  sind  mit  dem  neuen  Schulgesetze  zufrieden,  denn 
m  vertreten  den  Grundsatz  der  Gleichstellung  aller  Secten  vor  dem  Gesetze 
und  ebenso  in  der  Schule.  Wie  die  Voluntary-Schools,  von  Kirchengemeinden 
erhalten,  sich  neben  der  kostenlosen  Staatsschule  behaupten  werden,  ist  die  Frage. 
Man  meint,  sie  werden  bald  eingehen;  vielleicht  werden  sie  sich  in  Sonntags- 
schulen, das  ist  Religionsschulen,  verwandeln.  Der  Religionsunterricht  ist  in 
England  nicht  Sache  des  Staates,  sondern  der  Kirche,  und  wird  thatsächlich 
von  dieser  in  den  Sonntagsschulen  gegeben.  Und  dennoch  ist  der  Einfluss  der 
Geistlichkeit  in  England  gewiss  kein  geringer  und  die  Frömmigkeit  der  Briten 
eine  sprichwörtliche.  Man  sieht,  auch  das  freie  und  fromme  England  hat  sich 
endlich  seiner  großen  Culturaufgabe  erinnert  und  sein  Souveränitätsrecht  als 
Gesetzgeber  der  Schule  aufgenommen;  die  Kirche  fügt  sich,  sie  nimmt  deshalb 
den  in  England  aussichtslosen  Culturkampf  nicht  auf  und  bestreitet  fürder  dem 
Staate  nicht  mehr  das  Recht  auf  Schulgesetzgebung,  Schulaufsicht  und  Schul- 
verwaltung. Auch  mit  diesem  neuen  Gesetze  nähert  Bich,  wie  mit  der  Social- 
gesetzgebung,  England,  das  insulare  und  isolirte,  mehr  und  mehr  dem  Continente 
und  seinen  Culturreformen.  Es  ist  dabei  ganz  von  seinem  Genius  berathen. 
Eh  fasste  die  Schulreform  als  Geldfrage  auf  und  fand  dafür  sofort  Verständnis. 
Das  neue  Gesetz  erweitert  die  bisherige  Subvention  der  Regierung  um  je  zehn 
Shilling  per  Kopf,  welche  das  Schulgeld  in  allen  Schulen  ersetzen  sollen,  in 
denen  der  Durchschnittsbetrag  desselben  am  letzten  Neujabrstag  nicht  ein  höherer 


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war.  In  allen  Elementarschulen,  in  denen  das  Schulgeld  im  Jahre  bisher  weniger 
als  zehn  Shilling  betrug,  wird  der  Unterricht  also  ein  völlig  unentgeltlicher 
werden.  Zwei  Drittheile  aller  Elementarschulen  bekommen  ganz  freien,  ein  Dritt- 
theil  einen  fast  freien  Unterricht.  Es  ist  eine  große,  segensreiche  That  der  Cultnr- 
politik,  und  die  Gesittung  des  englischen  Volkes  wird  von  diesem  Gesetze  eine 
neue  Epoche  datiren.  Dass  es  ein  conservatives  Cabinet  war,  welches  dieses 
Gesetz  vorgelegt  hat,  gereicht  ihm  zum  Kuhme  und  ist  auch  für  uns  Continen- 
talen  sehr  lehrreich.  Es  zeigt  den  ungeheuren  Unterschied  zwischen  den 
nConservativenu  des  Continents  und  denjenigen  Englands.  Was  sich  als  öster- 
reichischer Feudaler  und  Clericaler,  als  Junker  und  Hucker  in  Norddeutschland 
conservativ  nennt,  würde  ein  Tory  heutzutage  nicht  als  Gesinnungsgenossen 
gelten  lassen.  Disraeli  hat  den  Conservativen  Englands  die  Bahnen  gewiesen; 
er  hat  gezeigt,  dass  auch  Conservative  Reformgesetze  schaffen  können.  Die 
Grafschaft8räthe  des  Cabinets  Salisbury  haben  bewiesen,  dass  die  Conservativen 
anf  dem  Gebiete  der  inneren  Reform  nicht  ohne  Glück  sich  versuchen,  Salis- 
bury als  Beaconsfield's  trefflicher  Schüler  setzt  den  Ehrgeiz  darein,  zu  zeigen, 
dass  Conservative  die  überlebten  Einrichtungen  alter  Zeit  nicht  versteinern 
wollen,  wol  wissend,  dass  in  England  am  Ende  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
für  Conservative  vom  Schlage  österreichischer  und  preußischer  Hochtories  kein 
Raum,  keine  öffentliche  Bühne,  keine  politische  Macht  mehr  vorhanden  ist. 


Nordamerika.  Vom  30.  Juni  bis  4.  Juli  tagte  in  Cincinnati  (Ohio)  der 
„Deutsch-amerikanische  Lehrerbund  u.  Die  Schwierigkeiten,  mit  denen 
derselbe  zu  kämpfen  hat,  konnten  auch  diese  Versammlung  nicht  unberührt 
lassen.  Sie  bestehen  darin,  dass  dem  Deutschthom  und  besonders  der  deutschen 
Schule  in  Nordamerika  vielfach  Misstrauen  und  Feindseligkeit  entgegentritt, 
und  dass  unter  der  deutsch-amerikanischen  Lehrerschaft  heftige  Zwistigkeiten 
der  gemeinsamen  Sache  Abbruch  thun.  Diese  Verhältnisse  kamen  denn  auch 
schon  bei  Eröffnung  des  Lehrertages  in  Cincinnati  zum  Ausdrucke,  indem  der 
Vorsitzende  des  Ortsausschusses,  Herr  Rattermann,  die  „kleinlichen  Zänke- 
reien" beklagte,  „denen  wir  Deutschen  wegen  der  einmal  unvermeidlichen 
Krähwinkler  unter  uns,  die  alles  bemäkeln  müssen,  was  nicht  aus  ihrer  eigenen 
Werkstatt  kommt",  ausgesetzt  sind.  Meinungsverschiedenheiten  aus  sach- 
lichen Gründen  seien  statthaft  und  heilsam;  denn,  so  sagt  Herr  Rattermann 
schön  und  wahr:  „Gegensätze  bilden  die  Triebfeder  aller  Thätigkeit,  und  die 
Mannigfaltigkeit  der  Ideen  und  Anschauungen  ist  die  Würze  des  geistigen 
Daseins."  Aber  persönliche  Zerwürfnisse  seien  unter  allen  Umständen  ver- 
werflich und  zerstörend.  „Das  Deutschthum  hat  es  gerade  jetzt  nöthiger  als 
je,  6ich  in  Einheit  zusammenzuscharen  und  dem  drohenden  Anstürmen  feind- 
seliger Elemente,  welche  die  deutsche  Sprache  aus  Familie,  Schule  und  Gesell- 
schaft in  diesem  Lande  zu  verdrängen  sich  bemühen,  kräftig  entgegenwirken 
zu  können." 

Auch  der  Präsident  des  Lehrerbundes,  Herr  Fick,  schlug  in  seiner  Er- 
öffnungsansprache die  nämlichen  Töne  an:  „Ist  der  deutsche  Lehrer  sich  seines 
Rechtes  bewusst,  so  mag  er  muthig  eintreten  in  den  Kampf,  der  ihm  nicht  er- 
spart bleibt.  Aber  vor  allem  thut  hier  Zusammenhalten  noth.  Nur  der  Kräfte 
vereintes  Streben  führt  zum  Sieg,  wo  Zersplitterung  den  Ausgang  in  Frage  stellt." 


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Neben  Symptomen  mancher  Dissonanzen  bot  der  diesjährige  deutsch- 
amerikanische  Lehrertag  auch  recht  erfreuliche  Erscheinungen.  Die  Stadt 
Cincinnati  bewährte  ihren  alten  Ruf  der  Gastlichkeit  und  Gemüthlichkeit;  der 
0rtsans8chuss  hatte  die  besten  Vorbereitungen  getroffen;  die  Versammlung 
selbst  war,  wenn  auch  nicht  stark,  doch  immerhin  ausreichend  besucht  und 
entwickelte  löbliche  Ausdauer  in  ernster  Arbeit;  die  Vorträge  waren  mannig- 
faltig, zweckentsprechend  und  meist  sehr  gelungen.  Auf  letztere  gedenken  wir 
noch  zurückzukommen. 


Ans  der  Fachpresse. 

485.  Leitfaden  für  Gesellschafts-,  Staats-  und  Vaterlandskunde 
in  Fortbildungsschulen  (0.  Hunziker,  Die  gewerbl.  Fortbildungsschule 
1891,  VII).  Referat  vor  der  Fortbildungsschulcommission  der  Schweiz,  gemein- 
nützige Gesellschaft.  —  „ Grundzüge":  1.  Der  Schtilerleitfaden  soll  die  freie 
Thätigkeit  des  Lehrers  nicht  ersetzen,  sondern  nur  das  Nötigste  enthalten,  um 
den  Schüler  zu  befähigen,  dem  Lehrgang  leichter  folgen  zu  können  —  die 
wesentlichen  Punkte  klar  formuliren  —  die  für  das  Verständnis  schwierigen 
Ausdrücke,  in  sicherem  Wortbild  fixirt,  erklären.  —  2.  Auch  vom  Gesichts- 
punkte der  in  Fortbildungsschulen  für  die  fraglichen  Unterrichtsgegenstände 
verfügbaren  Zeit,  wie  von  demjenigen  einer  möglichst  geringen  finanziellen 
Belastung  der  Schüler  empfiehlt  sich  gedrängte  Kürze.  —  3.  Anzuknüpfen  an 
den  Gesichtskreis  der  Schüler.  —  4.  Volkswirtschaftslehre,  Gesellschafts-  und 
Staatskunde  als  Einführung  in  die  Vaterlandskunde  und  in  enger  Verbindung 
mit  dieser  darzubieten.  —  Aus  den  gesellschaftlichen  und  staatsgenossenschaft- 
lichen Verhältnissen  kommen  wesentlich  in  Betracht:  I.  Entstehung  der  geschicht- 
lichen Formen  socialen  Zusammenlebens  (Genossenschaft,  Gemeinde,  Staat). 
Innerhalb  derselben:  Beziehungen  von  Recht  und  Pflicht, Theilung  der  Arbeit; 
Ausblick  auf  die  socialen  Fragen.  —  II.  Verschiedenheiten  (Aristokratie,  Mon- 
archie, Republik;  Einheitsstaat,  Bundesstaat,  Staatenbund)  und  Gliederung 
(Gesammtstaat,  Canton,  Bezirk,  Gemeinde)  der  staatlichen  Organisation.  — 
III.  Elemente  der  Staatsverfassung  (Verfassung,  Gesetz,  Verordnung,  Tren- 
nung der  Gewalten.  Gesetzgebungs-  und  Verwaltungsbehörden.  Grund-  und 
Volksrechte.). u 

486.  Umgestaltung  des  Unterrichts  in  der  Physik  (E.  König, 
Rcpert  d.  Pädag.  1890/91,  X).  Berücksichtigung  ihres  Zusammenhanges  mit 
den  übrigen  naturwissenschaftlichen  Fächern.  Diese  sollen  zu  innerer  Einheit 
verbunden  werden  (Naturkräfte  —  Naturkörper!).  Beachtung  der  Thatsache, 
dass  sich  Naturkräfte  und  Naturkörper  denselben  Gesetzen  fügen.  Gegen  Endo 
einer  Jahreszeit  die  derselben  eigentümlichen  Erscheinungen  zusammenstellen 
und  zu  der  Aufgabe  der  betreffenden  Jahreszeit  in  Beziehung  setzen.  Ordnen 
des  Stoffes  nach  Gruppen  erst  am  Schlüsse  des  Jahres.  —  Ausgangspunkte: 
Beobachtungen  der  Schüler.  Gesetze  in  leicht  fasslicher,  nicht  mathematischer 
Form.  Beweise  nöthig;  aber  sie  sollen  nur  einfache,  verstandesgemäße  Schluss- 
t 'Igen  darstellen. 

487.  Zur  Geschichte  des  Philanthropismus  (E.  v.  Sallwürk,  Deut- 
sche Blätter  1891,  1.  2).  Summe  dessen,  was  der  Philanthropismus  seit 
120  Jahren  der  Erziehung  geleistet:  „Er  hat  durch  strenge  Durchführung 


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Lockescher  Gedanken  der  Pestalozzischen  Schule  vorgearbeitet  und  die 
psychologische  Führung  des  Elementarunterrichts  als  eine  unumstößliche  For- 
derung begründet;  er  hat  durch  Anerkennung  der  Pflicht,  den  ganzen,  auch 
den  leiblichen  Menschen  zu  bilden,  die  mittelalterliche  Anschauung  der  Er- 
ziehung beseitigt  und  auf  diesem  Gebiete  überhaupt  das  Muster  aufgestellt,  dem 
wir  in  der  öffentlichen  Erziehung  erst  völlig  nachzukommen  haben;  er  hat 
endlich  die  religiöse  Unterweisung,  welche  durch  die  pietistische  Schule  glück- 
lich aus  der  dogmatischen  Erstarrung  gerettet  worden  war,  auf  den  Weg 
geleitet,  auf  dem  allein  die  Religion  zu  einem  inneren  Bedürfnis  erhoben 
werden  kann." 

488.  Volksbildung  und  Lehrerbildung.  (E.  v.  Sallwürk,  Neue 
Bahnen  1891,  V.  VI).  Vorbemerkungen  —  Lehrerberuf  und  Volksbildung  — 
die  Didaktik  des  Volksschulseminars  —  die  Vorbildung  des  Volksschulsemina- 
risten.  —  Dieser  gehaltvollen  Arbeit  kommt  die  höchste  Bedeutung  zu:  sie 
löst  die  Frage  der  Lehrerbildung  in  ihrem  Kernpunkte  vollkommen. 

—  Wir  müssen  uns  hier  leider  darauf  beschränken,  die  allerwesentlichsten 
Stellen  herauszuheben:  „Wenn  die  Seminaristen  (geschult,  wie  gegenwärtig 
üblich)  zum  Abschluss  ihrer  Bildung  gelangen,  sind  sie  noch  nicht  reif  genug, 
die  große  Verantwortung  zu  begreifen  und  zu  tragen,  welche  ihr  zukünftiges 
Amt  ihnen  auferlegen  wird.  Aber  daran  trägt  nicht  etwa  die  kurze  Seminar- 
zeit die  Schuld,  sondern  die  Form  der  Seminarbildung."  „Wir  weisen  dem 
Volksschullehrer  seine  Stelle  an  unter  den  Gebildeten,  aber  nicht  unter  den 
Gelehrten."  (Im  Anschluss  an  diesen  Grundsatz  lesen  wir  hohe  Worte  über 
die  dem  künftigen  Volksschullehrer  zu  gebende  wahre  Bildung.)  „Der  Volks- 
schullehrer soll  ein  Mann  seines  Volkes  und  seiner  Zeit  sein."  Damm  von 
seiner  Bildung  in  erster  Linie  zu  fordern:  „dass  sie  ihn  mit  dem  ganzen  Um- 
fang der  allgemeinen  Volksbildung  bekannt  mache.  Das  ist  nicht  wenig  — 
und  nicht  genug."  „Gründlichkeit  muss  die  wesentlichste  Richtung  seiner 
Bildung  sein,  und  sein  Wissen  muss  die  Beziehungen  zum  täglichen  Leben 
überall  festhalten;  die  Gründe  alles  Wissens  müssen  sorgfältig  gelegt,  die 
Grundstoffe  jedes  Wissensgebietes  in  der  ganzen  Vielseitigkeit  ihrer  Be- 
ziehungen und  ihrer  Einwirkungen  auf  das  menschliche  Leben  aufs  genaueste 
durchforscht  und  zu  lebhaftester  Erkenntnis  gebracht  werden;  ein  reiches 
und  vielseitiges  Leben  ist  in  den  Volksschulseminaristen  aufzubauen."  „Die 
Seminaristen  müssen  über  alle  wichtigeren  Punkte  in  jedem  Fache  discutiren." 

—  Art  der  Vorbildung:  „Die  lateinlose  Realschule  (was  soll  der 
Volkssehullehrer,  wie  wir  ihn  meinen,  mit  der  Sprache  der  alten  Römer?), 
welche  in  sechs  Jahrescnrsen  einen  gut  abgeschlossenen  Lehrgang  gründlich 
durcharbeitet,  dient  nnsern  Zwecken  durchaus;  sie  bietet  alles,  was  wir  als 
Grundlage  der  künftigen  Seminarbildnng  wünschen  müssen."  —  (Nach  dieser 
abschließenden  That  Sallwürks  bedarf  die  Frage  der  Lehrerbildung  einer 
grundsätzlichen  Erörterung  nicht  mehr,  wir  haben  uns  nur  noch  mit  der 
zielgerechten  Ausgestaltung  des  eigentlichen  Unterrichtsbetriebs  im  Seminar 
zu  befassen.  (Sallwürk  liefert  dazu  mehr  und  weniger  ausgeführte  Skizzen.) 

489.  Der  deutsche  Unterricht  auf  der  V.  badischen  Directoreu- 
conferenz  (J.  H.  Schmalz,  Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.  1891,  VI).  Be- 
trifft die  höheren  Schulen.  Die  Conferenz  einigte  sich  u.  a.  über  folgende 
Punkte,  die  als  Ansicht  des  Directorencollegiums  gelten  können:  „Die  Pflege 


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der  Muttersprache  ist  mit  dem  ganzen  Unterrichtsbetriebe  unzertrennbar  ver- 
banden; jeder  Lehrer  der  Anstalt  ist  daher  zugleich  Lehrer  des  Deutschen: 
im  sprachlichen  Unterricht  nimmt  das  Deutsche  geradezu  eine  Central-Stellung 
ein."  „Der  Unterricht  im  Deutschen  ist  bis  Obertertia  womöglich  dem  Lehrer 
des  Latein  zu  übergeben/  „In  Prima  erscheint  eine  Verbindung  des  Deut- 
schen mit  der  Geschichte  auch  zweckmäßig."  „Die  allgemein  übliche,  der 
lateinischen  Sprache  entnommene,  geradezu  internationale  grammatische  Ter- 
minologie ist  auch  im  Deutschen  anzuwenden/  (Referent:  „Einheit  der  gram- 
matischen Bezeichnung  im  Gesammtsprachunterricht  durch  Einführung  deut- 
scher Namen  ist  ein  zu  erstrebendes  Ziel.")  Folgende  Reform  vorschlage  Franz 
Kerns  seien  „reif  zur  Einführung  in  die  Schnlpraxis" :  „  Ausgehen  vom  Verbum 
iinitnm  bei  der  Satzanalyse,  Beseitigung  der  Copula  (geringe  Majorität),  Be- 
seitigung der  Bezeichnungen  logisches  Subject,  prilpositionales  Object,  nackte, 
umkleidete,  zusammengezogene  und  abgekürzte  Sätze." 

490.  Die  Wissenschaft  und  der  Deutschunterricht  (Ad.  Socin, 
Schweiz.  Lehrerz.  1891,  17—22).  Nur  Lösung  der  Theilanfgabe:  „Die 
deutsche  Grammatik  in  der  Schule."  Verf.  hat  die  „lateinlose  Mittelschule" 
und  zwar  hier  die  „mittlere  Stufe"  im  Auge.  Für  diese  verlangt  er:  „einen 
kurzen  grammatischen  Abriss,  welcher  an  Hand  de«  Lesebuchs  und  der  Stil- 
übnngen  näher  zu  interpretiren  ist."  —  Endergebnis  der  Untersuchung:  „Die 
Bedeutung  der  wissenschaftlichen  deutschen  Grammatik  für  den  Unterricht 
liegt  mehr  auf  der  negativen  als  auf  der  positiven  Seite:  sie  kann  wenig  Neues 
einfuhren,  schafft  aber  manches  Systematische  ab.  Sie  legt  das  Hauptgewicht 
weniger  auf  abstracte  Begriffe  und  Augenblicksregeln,  als  auf  gedankliche 
Entwickelung  einzelner  Erscheinungen.  Durch  die  Abwerfung  des  überflüssigen 
Ballastes  ist  diese  indnetive  Methode  geeignet,  eine  wirkliche  Vereinfachung 
und  Entlastung  des  Deutschunterrichts  herbeizufuhren."  —  Bemerkung  über 
den  UnterTichtsbetrieb  im  allgemeinen:  „Nichts  verkehrter  als  die  Meinung, 
dass  der  Deutschunterricht  überall  nach  der  gleichen  Schablone  gegeben  wer- 
den müsse.  Die  neuhochdeutsche  Schriftprache  ist,  da  sie  ihren  Ursprung  so 
vielen  Dialektmischungen  verdankt,  überall  dem  Lernenden  halb  bekannt,  halb 
fremd;  das  Bekannte  und  das  Fremde  sind  aber  nicht  überall  das  Nämliche. 
Je  individualisirender  (liebliches  Wortl)  darum  der  Deutschunterricht  ist,  desto 
erfolgreicher  wird  er  wirken."  —  Einzelheiten:  a.  Die  Sprache  ist  nicht  sowol 
ein  Erzeugnis  der  Logik,  als  vielmehr  instinetiv  wirkender  seelischer  Factoren. 
b.  Maßgebend  für  die  Aussprache  des  Schriftdeutschen  sind  der  Buchstabe  und  die 
ortsübliche  Tradition,  c)  Die  Terminologie  ist  nur  ein  Mittel,  dazu  bestimmt,  ver- 
gessen zu  geben,  sobald  der  Zweck  erreicht  ist.  Beibehaltung  der  hergebrachten 
lateinischen  Bezeichnungen:  Das  ist  gerade  der  Vortheil  dieser  Ausdrücke,  dass 
man  an  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  gar  nicht  mehr  denkt,  sondern  dass, 
sowie  man  einen  von  ihnen  aussprechen  hört,  unwillkürlich  ein  Beispiel  unter- 
geschoben wird.  d.  Für  die  Unterschiede  in  der  Deklination  nur  Typen  auf- 
stellen, und  zwar  folgende  elf:  Hund,  Kind,  Narr,  Frau,  Bett,  Knabe,  Auge; 
Hand,  Mann,  Vogel;  Wagen  (maßgebend,  Mehrsilbigkeit,  Umlaut),  e.  Beim 
Verbum  ist  das  Fehlerverzeichnis  die  beste  Grammatik  für  den  Lehrer,  f.  Treff- 
liche Rathschläge  für  die  Satzlehre  bei  Erdmann,  Grundzüge  der  deutschen 
Schulen  nach  ihrer  geschichtlichen  Entwickelung,  Stuttgart  1886. 

491.  Geographische  Grundbegriffe  (H.Ellrich,  Freie  päd. Bl.  1891, 


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10).  Verf.  weiß  „für  alle  jene  Schulen,  die  mit  ihren  Kindern  von  der  Natur 
abgeschnitten  sind,  kein  besseres  geographisches  Lehrmittel  des  ersten  grund- 
legenden Unterrichts  als  ein  Landschaftsmodell. "  „An  einem  solchen  Bilde 
soll  das  Kind  sehen,  was  die  Erde  trägt  und  was  dem  Menschen  bei  einer 
Wanderung  durch  die  Welt  in  vergrößertem  Maßstabe  vor  das  betrachtende 
Auge  tritt."  „Die  Vorstellungen  würden  vor  einem  solchen  Anschauungsmittel 
niemals  von  der  Phantasie  auf  Irrwege  geführt  werden ;  sie  gestalteten  sich  von 
Anfang  an  richtig  und  gäben  einen  gesunden  und  festen  Untergrund  für  die 
Weiterreise  in  die  weite  Welt.rt  (Es  soll  „kein  bestimmtes,  durch  die  Wirk- 
lichkeit im  großen  vorgezeichnetes  Landschaftsbild",  sondern  ein  Phantasie- 
stück  sein.) 

492.  Die  Eisenbahnen  im  erdkundlichen  Unterricht  (A.Gorges, 
Deutsche  Blätter  1891,  17).  Das  Wort  „wichtig"  ist  in  der  Neuzeit  auf 
andere  Gesichtspunkte  zu  beziehen  als  früher.  Scheiden  wir  das  zwar  ehemals, 
aber  nicht  mehr  gegenwärtig  Wichtige  aus,  so  gewinnen  wir  die  nöthige  Zeit 
für  die  heute  sehr  wichtige  Eisen bahnkunde.  Am  einfachsten  und  natürlichsten 
anzureihen  an  die  Behandlung  der  Städte.  (Die  Bahnen  sind  stets  mit  ihrem 
amtlichen  Namen  zu  nennen.)  Beziehungen  zu  anderen  als  geographischen 
Unterrichtsstoffen  hauptsächlich  bei  den  naturwissenschaftlichen  Fächern  zo 
finden.  —  „Sicherlich  wird  der  Versuch  einer  eingehenderen  und  mehr  selbst- 
ständigen Bearbeitung  der  Eisenbahnkunde  den  Lehrer  mit  erhöhtem  Interesse 
seiner  Schüler  belohnen."  (Etwas  komisch  klingt  die  Äußerung:  „Tritt  nicht 
des  Schöpfers  Weisheit  im  hellsten  Lichte  zutage  in  den  mannigfaltigen  und 
wunderbaren  Kräften,  welche  beim  Bau  und  Betriebe  der  Eisenbahnen,  in  den 
göttlichen  Geistesgaben,  welche  im  Menschengeiste  bei  der  Verwertung  derselben 
(?)  zur  Erscheinung  kommen?") 

493.  Knaben  und  Mädchen  in  ihren  schriftlichen  Arbeiten  (K. 
Döring,  Päd.  Zeitschr.  1891,  30).  Thatsache:  Die  schriftlichen  Arbeiten  der 
Knaben  stehen  gegen  diejenigen  der  Mädchen  hinsichtlich  der  Sauberkeit  und 
Wolgefälligkeit  weit  zurück.  Ursache:  Kleidung,  Spiel  und  Spielzeug,  dazu 
die  Nadelarbeiten  der  Mädchen  verlangen  nothwendig  Sorgfalt,  Sauberkeit, 
Geschmeidigkeit,  leichten  und  leisen  Griff.  Daher  fällt  es  ihnen  verhältnis- 
mäßig nicht  schwer,  mit  Federhalter  und  Tinte  geschickt  umzugehen. 


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Literatur. 


Arnold  Ohler t,  Die  deutsche  Schule  und  das  classische  Alterthum.  Eine  Unter- 
suchung der  Grundlagen  des  gymnasialen  Unterrichts.  Hannover  1891,  Karl 
Meyer  (Gustav  Prior).   188  S.   2  M.  40  Pf. 

Diese  Schrift  gehört  zu  den  zahlreichen  Versuchen,  eine  Reform  der  höhereu 
Lehranstalten  oder,  wie  man  in  Österreich  und  Süddeutschland  sagt,  Mittel- 
schulen anzubahnen.  In  welchem  Sinne  der  Herr  Verfasser  die  Aufgabe  gelöst 
wissen  will,  dies  mögen  einige  Kernstellen  seines  Buches  zeigen.  „Man  nennt 
unser  Jahrhundert  realistisch.  Das  halten  wir  gerade  für  einen  großen  Vor- 
zug. Wer  es  deswegen  auch  materialistisch  nennen  und  ihm  die  Idealität  der 
Gesinnung  absprechen  will,  der  versteht  die  heutige  Zeit  nicht...  Der  Idealis- 
mus des  18.  Jahrhunderts  jagte,  vom  Boden  der  Wirklichkeit  losgelöst,  abstracten 
Träumereien  nach:  seine  große  Schwäche  ist,  das»  ihm  völlig  die  Fähigkeit 
abging,  seine  Ideen  in  Thaten  umzusetzen.  Heute  verwandeln  wir  unsere  Ideen 
in  praktische  Probleme,  das  heißt,  wir  streben  danach,  unsere  Ideale  nach 
Möglichkeit  zu  verwirklichen. . .  Wir  sind  in  unserer  Thätigkeit,  in  der  Wahl 
der  Mittel  zur  Ausführung  unserer  Ideen,  realistisch,  und  das  ist  unser  Stolz 
und  unser  Vorzug;  anderseits  streben  wir  in  der  Ausgestaltung  unseres  gesammten 
geistigen,  sittlichen  und  socialen  Lebens  viel  zielbewusster  und  energischer  dem 
Ideal  entgegen,  als  es  je  bisher  geschehen  ist.  Deshalb  setzen  wir  unser  ganzes 
geistiges  Leben  in  Beziehung  zur  Gegenwart u  (S.  91).  „Wer  sich  heute  von 
der  idealen  Arbeit  an  dem  Ausbau  unserer  staatlichen  Einrichtungen,  an  der 
Besserung  unseres  sittlichen  und  socialen  Lebens  ferne  hält,  den  zeihen  wir 
einer  nahe  an  Unsittlichkeit  grenzenden  Schwäche.  Aus  diesen  Gründen  ist 
die  Organisation  des  gymnasialen  Unterrichtes  so  unerträglich   Die  Gegen- 
wart hat  nicht  die  Zeit,  die  Beschäftigung  mit  einer  noch  so  interessanten 
Vergangenheit  zum  Mittelpunkt  des  Unterrichtes  zu  machen;  daher  drängt  sie 
mit  der  ganzen  Wucht  ihrer  Interessen  auf  eine  Einschränkung  des  classischen 

Unterrichte»  hin         Wir  haben  die  Entwicklung  des  geistigen  Lebens  der 

Gegenwart  nach  ihren  Hauptrichtungen  verfolgt.  Ibr  Charakter  besteht  in 
einer  entschiedenen  Loslösung  von  dem  Geistesleben  der  antiken  Cultur  und 
von  der  Humanitätsidee  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Drei  Mächte,  der  rea- 
listische, den  großen  Cultu  rauf  gaben  der  Gegenwart  zugewendete  Sinn,  die 
neuere  Wissenschaft  und  die  Nationalitätsidee,  beherrschen  das  Denken  uud 
Fühlen  der  modernen  Menschheit  immer  ausschließlicher.  Jede  einzelne  würde 
genügen,  um  das  hnmanistischo  Gymnasium  in  arge  Bedrängnis  zu  versetzen. 
Ihr  Zusammenwirken  macht  die  Lago  des  Gymnasiums  hoffnungslos"  (S.  92). 
„Dos  moderne  Denken  und  Empfinden  ist  über  die  antike  Cultur  wie  über  die 
Auffassung  des  achtzehnten  Jahrhunderts  endgiltig  hinweggeschritten. . . .  Die 
antike  Welt  kommt  für  den  Unterricht  lediglich  vom  historischen  Gesichtspunkte 
aus  in  Betracht   Es  gibt  nicht  zwei  gleichwertige  Bildungszicle.  Das  Gym- 
nasium darf  nicht  durch  eine  Spaltung  der  Schulen  gerettet  werden,  denn  das 
humanistische  Bildungsziel  entspricht  nicht  mehr  den  Anforderungen  der  Zeit. 
Die  deutsche  höhere  Schule  kann  nur  eine  Einheitsschule  sein   Der  Unter- 
richt muss  die  heranwachsende  Jugend  zu  modernen  Menschen  im  besten  Sinne  des 
Wortes  erziehen.  Der  Unterricht  muss  der  Pflege  deutschen  Wesens  die  höchste 
Aufmerksamkeit  zuwenden.  Deutsche  Sprache,  deutsche  Literatur,  deutsche  Ge- 
schichte müssen  der  Mittelpunkt  der  gesammten  deutschen  Erziehung  sein   So 


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besteht  da«  Ziel,  dem  die  Eutwickelung  unserer  höheren  Schule  entgegenstreben 
soll,  in  der  vollen  Ausgestaltung  aller  nationalen  und  modernen  Bildungsbcstand- 
theile  mit  Beibehaltung  des  griechischen,  aber  Beseitigung  des  lateinischen 
Unterrichtes"  (S.  150  ff.). 

Die  vorstehenden  Citatc  zeigen  zur  Genüge  den  Kern  des  hier  vorliegenden 
Reformprojeets.  Einen  Organisation»-,  speciell  einen  Lehrplan  für  die  in  Aus- 
sicht genommene  neue  Schule  hat  Herr  Ohlert  nicht  aufgestellt,  weshalb  wir 
Huch  in  dieser  Beziehung  nichts  zu  berichten  und  zu  beurtheilcn  haben.  Nur 
ist  noch  anzuführen,  dass  sich  Herr  0.  der  Schwierigkeiten,  welche  der  Durch- 
führung seiner  Ideen  entgegenstehen,  wol  bewusst  ist,  weshalb  er  ausdrücklich 
bemerkt,  es  könne  sich  ..der  Übergang  in  die  neuen  Verhältnisse  nur  anf  dem 
Wege  langsanier  Entwicklung  vollziehen."  ..Es«  ist  völlig  genügend",  filgt  er 
bei,  „wenn  vorderhand  der  lateinische  Aufsatz  wegfällt,  der  lateinische  Unterricht 
etwa  um  zwei  Stunden  vermindert  und  der  deutsche  entsprechend  verstärkt  wird." 

Was  nun  dio  Beurtheilung  der  vorliegenden  Schrift  betrifft,  so  kann  dieselbe 
in  dem  engen  Kähmen  einer  Buchanzeige  nur  andeutungsweise  erfolgen;  sie  all- 
seitig durchzuführen  und  zu  begründen,  würde  ein  neues  Buch  erfordern.  Herr 
Ohlert  hat  nämlich  zur  Begründung  seiner  Ansichten  so  weit  ausgeholt,  so  breite 
Exemtionen  in  dio  Welt-  und  ( Kulturgeschichte,  in  die  Natur-  und  Geistes- 
wissenschaften gemacht,  das«  dem  gegenüber  das  eigentlich  Pädagogische 
in  seinen  Ausfuhrungen  eine  sehr  unbedeutende  Rolle  spielt  und  eigentlich 
nur  am  Ende  wie  ein  selbstverständliches  Corollar  hingestellt  wird.  Das«  es 
auch  pädagogische  Normen  gibt,  welche  von  den  angestellten  Dlscurscn  unab- 
hängig sind,  scheint  HcrrO.  übersehen  zu  haben;  und  wenn  die  Neugestaltung 
der  Schule  die  Anerkennung  seiner  culturphilosophischen  Ansichten  zur  Voraus- 
setzung haben  soll,  dann  wird  diese  Neugestaltung  in  eine  unabsehbare  Ferne 
gerückt  werden.  Wir  wenigstens  sind  außerstande,  das  wegwerfende  Urtheil, 
welches  Herr  0.  über  das  classische  Alterthum  und  über  das  achtzehnte  Jahr- 
hundert fällt,  gutzuheißen.  Wäre  wirklich  die  Gegenwart  über  die  bewunderungs- 
würdige Höhe,  welche  in  jenen  Zeiten  die  Menschheit  erstiegen  hat,  endgiltig 
hinweg,  d.  h.  im  unaufhaltsamen  Niedergang  begriffen,  und  lebte  sie  wirklich 
in  dem  Wahne,  der  „moderne  Mensch*  habe  es  so  herrlich  weit  gebracht,  wie 
niemand  vor  ihm,  das  neunzehnte  Jahrhundert  sei  die  herrlichste  aller  bisherigen 
Cultnrperioden  -dann  müssten  wir  unserseits  die  Hoffnung  auf  eine  heilsame  Schul- 
reform aufgeben,  Wenn  -  um  doch  wenigstens  ein  paar  Hauptpuukte  zu  er- 
wähnen —  _die  Humanitätsidee  des  achtzehnten  Jahrhunderts"  definitiv  verab- 
schiedet und  durch  die  „Nationalitätsidee"  ersetzt  werden  soll,  so  wird  dies  nur 
eine  Wiederannäherung  an  die  Barbarei  vergangener  Zeiten,  ein  Stück  Atavis- 
mus, ein  moderner  Sündenfall  sein;  und  wenn  den  classischen  Völkern  jede  vor- 
bildliche Bedeutung  für  uns  ..moderne  Menschen"  und  besonders  für  unsere 
Jugend  abgesprochen  wird,  wenn  behauptet  wird:  „Alle  bürgerlichen  Tugenden, 
Muth  und  Tapferkeit,  Heldengröße  und  Aufopferungsfähigkeit  sind  auch  bei 
allen  anderen  Oulturvölkern  mindestens  (mindestens!)  in  derselben  Höhe  in  die 
geschichtliche  Erscheinung  getreten"  (S.  86)  —  so  möchten  wir  wissen,  was  denn 
die  gesammte  Weltgeschichte  bis  zum  heutigen  Tage  aufzuweisen  habe,  das 
der  Scelengröße  der  Griechen  in  den  Tagen  von  Marathon  Salamis,  Platää, 
oder  der  Seelengrößo  der  Römer  in  den  Zeiten  des  tarentini sehen  Krieges  als 
ebenbürtig  zur  Seite  gestellt  werden  könnte.  Die  gauze  Art  und  Weise,  wie 
Herr  0.  das  classische  Alterthum  und  das  achtzehnte  Jahrhundert  abfertigt, 
um  hierdurch  zur  Verherrlichung  der  Gegenwart  zu  gelangen  und  für  seine 
Zukunftsschu!e  eine  ausschließlich  moderne  Basis  zu  gewinnen  —  diese  ganze 
Art  und  Weise  macht  den  Eindruck,  als  ob  der  Herr  Verfasser  sich  niemals 
ernstlich  und  unbefangen  mit  der  Geschichte  jener  Perioden  befasst  hätte,  dn 
ihre  großartigen  thatsächlichen  Leistungen  gänzlich  ignorirt  werden.  Oder 
sollen  diese  Leistungen,  die  ja  historische  Facta  und  keine  Phantasmen  sind, 
nur  deshalb  null  und  nichtig  sein,  weil  sie  dem  naturalistischen  Realismus  nicht 
mehr  imponiren,  als  irgend  ein  mechanischer  Vorgang?  „Die  Weltgeschichte", 
sagt  Herr  0.  (S.  42),  „weiß  in  dem  unerbittlichen  (iange  ihrer  Entwiekcluug 
nichts  von  einer  Abschätzung  zwischen  gut  und  böse:  der  unbefangene  Beur- 
theiler  inuss  in  dem  Auf-  und  Niederwogen  der  Ereignisse  nur  die  Erschcinungs- 


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formen  einer  unabwendbaren  Notwendigkeit  erblicken:  Zeiten  einerfrisch  auf- 
blühenden Cultur  und  Zeiten  des  tiefsten  Verfalls  sind  für  ihn  gleich,  er  hat 
sie  nur  in  der  Folgerichtigkeit  ihrer  Gestaltung  zu  begreifen."  Nun,  wir 
glauben  nicht,  dass  dies  der  Standpunkt  großer  Geschichtsforscher  sei  Und 
wenn  darauf  der  Satz  folgt:  „Wol  aber  mögen  wir  Kinder  einer  gewaltig  auf- 
strebenden Zeit  uns  der  Segnungen  erfreuen,  mit  denen  eine  Lntwickelung, 
die  ihresgleichen  nicht  hat  in  der  Weltgeschichte,  uns  freigebig  überschüttet"  — 
so  gönnen  wir  jedermann  die  Freude  an  der  „hochentwickelten  Technik  unserer 
Tage"  und  an  den  Genüssen,  die  aus  ihr  entspringen;  doch  sind  wir  der  An- 
sicht, dass  eine  ausschließlich  auf  moderner  Basis  errichtete  Schule  dem  deutschen 
Volke  nicht  zur  Ehre  und  zum  Heile  gereichen  würde. 

Und  da  kommen  wir  auf  den  Hauptpunkt  in  dem  vorliegenden  Reformproject, 
„Deutsches  Wesen,  deutsche  Sprache,  deutsche  Literatur,  deutsche  Geschichte 
müssen  der  Mittelpunkt  der  gesammten  geistigen  Erziehung  sein."  Ja,  damit 
wären  wir  einverstanden,  wenn  nur  nicht  gerade  das  Beste  des  deutschen  Wesens 
und  der  deutschen  Literatur  ausdrücklich  verworfen  würde,  also  doch  jedenfalls  aus 
der  neuen  Schule  ausgeschlossen  werden  6oll.  Die  Kant,  Lessing,  Fichte,  Herder, 
Schiller  u.  s.  w.  sind  ja  implicite  in  Herrn  Ohl»  rts  Verwerfungsurtheil  ein- 
geschlossen; also  würden  uns  nur  die  Epigonen,  namentlich  die  Naturalisten  und 
Realisten  zu  sagen  haben,  was  deutsches  Wesen  ist,  und  den  Canon  für  unsere 
künftige  Nationalerziehung  liefern. 

So  darf  die  „Einheitsschule*'  nicht  beschaffen  sein,  wenn  sie  sich  empfehlen 
will.  Wol  sind  auch  wir  der  Meinung,  dass  eine  „Einschränkung  des  classischen 
Unterrichts**  nöthig  sei;  aber  diese  Einschränkung  soll  in  der  Breite  (Zahl  der 
Schüler),  nicht  in  der  Tiefe  (dem  gründlichen  Studium)  erfolgen  und  vor  allem 
nicht  in  der  Form  des  Zwanges,  der  Schablone,  wie  die  bisherigen  Projecte  der 
„Einheitsschule"  und  auch  das  Ohlert'sche  wollen.  In  Sachen  der  Erziehung 
ist  alle  Gcwaltthäügkeit,  alle  Uniformirung,  ebenso  die  bisherige,  wie  die  für 
die  Zukunft  geplante,  verwerflich,  und  solange  man  ihr  huldigt;  wird  es  keine 
heilsame  Schulreform  geben.  Referent  kann  daher  auch  nicht  mit  Herrn  Ohlert 
sprechen:  „Da  ist  es  hocherfreulich,  dass  vor  wenigen  Monaten  eine  mächtige 
Hand  in  die  stockende  Entwickelung  unseres  höheren  Schulwesens  eingegriffen 
hat."  Seltsam.  Unsere  Zeit  rühmt  sich  u.  a.  auch  ihres  Freisinnes  und  wirft 
den  classischen  Völkern  vor,  bei  ihnen  habe  der  Staat  „in  das  innerste  Heilig- 
thum der  Individuellen  Freiheit"  eingegriffen  (Ohlert  S.  87).  Ja  freilich,  wir 
haben  es  in  allem  so  herrlich  weit  gebracht  und  sind  im  Besitze  voller  Geistes- 
und Gewissensfreiheit.  Auch  gibt  es  keine  Spur  von  Byzantinismus  und  Servi- 
lismus. Nur  möchte  ein  jeder  die  Staatsgewalt  zu  autoritativen  Eingriffen  an- 
rufen, um  seine  subiectiven  Meinungen  durchzuführen.  Was  wird  denn  dann  „aus 
dem  innersten  Heiligthum  der  individuellen  Freiheit"?  Symptomatisch  ist  da 
auch,  dass  man  heute  ganz  ungenirt  „Lehrmaterial"  statt  Lehrpersonal  sagt 
(auch  Herr  0.  thut  dies  S.  156).  Dem  gewaltthätigen  Geiste  unserer  Zeit  sind 
eben  auch  die  Menschen,  selbst  die  Erzieher  der  Jugend,  nur  noch  —  „Material". 

Genug  mit  diesen  aphoristischen  Andeutungen.  Damit  aber  dieselben  nicht  Herrn 
Ohlert's  Buch  in  einen  ungünstigeren  Ruf  bringen,  als  es  verdient,  bitten  wir 
den  Leser,  dasselbe  selbst  zu  studiren.  Es  verdient  diese  Mühewaltung  vollauf, 
selbst  in  seinen  Irrthümern,  da  es  jedenfalls  mit  großem  Fleiße  gearbeitet  ist 
und  dabei  eine  typische  Denkweise  darstellt.  Allerdings  ist  es  nicht  völlig  aus 
einem  Gusse:  es  ringen  darin  zweierlei  Ansichten,  gewissermaßen  zwei  Seelen 
miteinander.  Wir  haben  uns  mit  derjenigen  befasst,  welche  schließlich  in  Herrn 
0.  das  Feld  behauptet.  Dass  er  aber  bisweilen  auch  anderen  Betrachtungen 
zugänglich  ist  und  dann  in  einer  Weise  spricht,  der  wir  vollen  Beifall  zollen 
müssen,  dafür  zwei  Belege.  Trotz  der  vielen  und  begeisterten  Lobreden  auf 
unsere  Zeit  kommt  doch  Herr  0.  auch  einmal  auf  einige  Schattenseiten  derselben  zu 
sprechen;  und  während  er  meistens  so  philosophirt,  als  ob  mit  der  bekannten 
Hypothese  von  der  „Erhaltung  der  Kraft"  das  ganze  Weltgetriebe  sattsam 
erklärt  sei,  lässt  er  doch  anderwärts  „Mächte  höherer  Art"  walten,  als  „Kinder 
eines  Reiches,  das  der  Bestimmung  durch  Maß  und  Zahl  ewig  verschlossen  ist". 
Diese  trefflichen  Stellen  haben,  damit  sie  jedermann  zugänglich  werden,  oben 
unter  dem  Titel  „Zeitstiram en"  Platz  gefunden.  D. 

PwUsogium.  M.  Jahrg.  Heft  I.  .  Ö 


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1 


—    66  — 

Neudrucke  pädagogischer  Schriften.  Herausgegeben  von  Albert  Richter. 
Leipzig,  Verlag  von  Richard  Richter. 

Von  diesem  Sammelwerke  liegen  uns  bis  jetzt  vier  Lieferungen  vor;  jede 
umfasst  durchschnittlich  80  Seiten  und  kostet  80  Pfennige.   Der  Inhalt  ist 
folgender:  I.  Geschichte  meiner  Schulen  von  Friedr.  Eberhard  von  Bochow. 
II.  Gregorius  Schlaghart  oder  die  Dorfschule  zu  Langenhausen.   Von  Johann 
Ferdinand  Schlez.    III.  Der  teutsche  Lehrmeister  von  Johann  Balthasar  Schupp. 
TV.  Kursächsische  Volksschulordnungen.  —  Jedes  Bändeben  beginnt  mit  einer 
Einleitung,  welche  den  Leser  über  den  Ursprung  und  die  Bedeutung  der  be- 
treffenden Schrift,  bezüglich  der  drei  ersten  auch  über  die  Lebensgeschichte 
der  Verfasser  unterrichtet;  die  Schrift  von  Schupp  (in.)  ist  auch  mit  erläuternden 
Anmerkungen  versehen  (von  Dr.  Paul  Stötzncr).   Der  Wert,  den  diese  Neu- 
drucke für  die  Geschichte  des  deutschen  Bildungswesens  haben,  liegt  auf  der 
Hand;  die  Beigaben  von  Seiten  der  Editoren  sind  gediegen  und  instruetiv;  der 
Druck  ist  gut,  und  so  erwirbt  sich  der  Herausgeber  dieses  Sammelwerkes  zu 
seinen  alten  literarischen  Verdiensten  ein  neues. 
i)r.  phil.  Ernst  0.  Stiehler,  Oberlehrer  am  Kgl.  Realgymnasium  zu  Döbeln. 
Streifzüge  auf  demGebiete  der  neusprachlichenReformbewegung. 
Marburg  1891.   Elwertsche  Verlagsbuchhandlung.   72  Seiten. 
Zur  Methodik  des  neusprachlichen  Unterrichts.   Zugleich  eine  Ein- 
führung in  das  Studium  unserer  Reformschriften.  Nebst  einem  ausführlichen 
Quellen  Verzeichnisse.  Von  demselben,  ebendaselbst.   VI  und  58  Seiten. 

Zwei  treffliche,  von  gründlicher  Sachkenntnis  und  feinem  pädagogischen 
Takt  zeugende  Schriften,  deren  Lectttre  wir  jedem  Lehrer  des  Französischen 
und  Englischen  aufs  wärmste  empfehlen.  D.  R. 

Kluge,  Etymologisches  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache.  5.  verb. 
Aufl.  Straßburg,  1891,  Trübner. 

Damals,  als  wir  die  erste  Auflage  dieses  Wörterbuches  im  „Pädagogium" 
anzeigten,  wiesen  wir  auf  die  wissenschaftliche  Bedeutung  desselben  hin.  Dass 
es  nach  ein  paar  Jahren  schon  die  fünfte  Auflage  erlebt,  also  tief  in  die  Kreise 
unserer  Gebildeten  eingedrungen,  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  für  seine  Brauch- 
barkeit. Der  Verfasser,  letzt  an  der  Universität  Jena,  arbeitet  aber  auch  un- 
ausgesetzt an  der  Vervollkommnung  seines  Werkes.  Wir  haben  in  unserer  An- 
zeige der  vierten  Auflage  diese  mit  der  ersten  Ausgabe  verglichen  und  eine  Reihe 
solcher  Verbesserungen  angeführt  („Paedagogium"  1889).  Noch  lehrreicher  ist's, 
diese  fünfte  wieder  mit  der  vierten  Ausgabe  zu  vergleichen.  Zwei  einschneidende 
Vervollkommnungen  treten  da  vor  unser  Auge:  Kluge  erbringt  nämlich  bei 
den  meisten  der  jüngeren  Wörter  den  Nachweis  ihres  ersten  Auftretens  in 
den  älteren  deutschen  Wörterbüchern,  und  zweitens,  er  zieht  den  Dialekt  viel 
stärker  heran,  als  dies  in  der  vierten  Auflage  schon  geschehen  ist.  Der  Leser 
vergleiche  nur  einmal,  was  Kluge  bei  dem  Worte  „Aar"  in  der  vierten  und 
was  er  in  der  fünften  Auflage  bringt:  Dort  die  Etymologie  ohne  Rücksicht 
auf  die  Geschichte  des  Wortes  im  Neuhochdeutschen,  hier  eine  solche 
und  eine  höchst  lehrreiche:  Das  Wort  tritt  seit  Ausgang  des  Mittelalters  hinter 
Adler  in  der  lebendigen  Volkssprache  zurück,  Luther  hat  als  Simplex  nur  Adler. 
Seit  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  tritt  es  als  poetisches  Wort 
wieder  auf,  z.  B.  bei  Göckingk  1781  (Gedichte  II,  45)  als  „Ahr"  mit  der  er- 
erklärenden Fußnote  „Adler".  Goethe  hat  nur  Adler,  nicht  Aar  als  poetisches 
Wort  und  Schiller  vereinzelt  Aar  imEleusischenFest,Str.  13,  was  Reinwald  brieflich 
(15.  Febr.  1799)  tadelt.— Und  während  Kluge  in  der  vierten  Auflage  über  das  dia- 
lektische Vorkommen  des  Wortes  nichts  sagte,  schreibt  er  in  der  fünften  Aufgabe: 
Die  Dialekte  kennen  Aar  als  Simplex  nicht  mehr  (nur  noch  in  Wallis  gilt  „aro"); 
so  ist  es  als  der  Volkssprache  fremd  für  Hessen  und  Schwaben  angegeben. 
Aber  in  Niederdeutschland  gilt  vielfach  noch  „ärnu,  z.  B.  in  Pommern  (und 
dementsprechend  haben  die  ndd.  Bibeln  in  der  ersten  Hälfte  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  noch  „arne",  während  Luther  schon  „Adler"  hat).  —  Die  Vervoll- 
kommnung der  fünften  Auflage  erstreckt  sich  aber  auch  auf  die  Zahl  der  be- 


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—    67  — 


sprochenen  Wörter.  Reicht  die  ernte  Lieferung  dor  vierten  Auflage  bis  zu  dem 
Buchstaben  D,  ho  die  der  fünften  Autlage  nur  bis  zu  dem  Worte  „burschikos". 
Nach  all  dem  Gesagten  dürfte  es  sich  selbst  für  die  Besitzer  der  vierten  Auflage 
empfehlen,  diese  neue  Ausgabe  zu  erwerben.  Sic  erscheint  in  10  Liefeningen 
ä  1  M.  W. 
Friedrich  E.  SchRfer,  Lehrer  in  Frankfurt  a.  Main,  Elementare  Naturlehre 

für  höhere  Bürgerschulen,  höhere  Mädchenschulen,  Präparandenschulen  und 

verwandte  Anstalten.  Leipzig  1890.  XVIII  und  205  Seiten.  Preis  2.40  M. 
In  anderer  Form,  als  man  es  jetzt  gewöhnt  ist,  nämlich  nicht  von  einem 
Experimente  oder  einer  Erfahrung  des  gewöhnlichen  Lebens  ausgehend,  sondern 
unmittelbar  in  der  Discussion  über  eine  physikalische  Thatsache  oder  Erschei- 
nung führt  der  Verfasser  zu  den  bekannten  wichtigsten  Sätzen  der  Naturlehre. 
Die  Form,  die  er  hierbei  anwendet,  ist  eine  gewandte  und  zweckentsprechende. 
Beispiele  und  Fragen,  am  Ende  der  betreffenden  Abschnitte  angefügt,  haben 
jedenfalls  für  den  Lehrer  einen  praktischen  Wert.  Überhaupt  strebt  der  Ver- 
fasser an,  seinem  Werkchen  eine  praktische  Bedeutung  zu  geben,  weshalb  auch 
bei  den  entsprechenden  Abschnitten  auf  die  mannigfaltigsten  Erscheinungen 
aus  der  allgemeinen  Geographie,  Meteorologie,  Geologie  und  selbst  Physiologie 
Rücksicht  genommen  ist.  Darin  scheint  uns  auch  der  Hauptwert  des  Büchleins 
zu  liegen.  Etwas  sonderbar  muthet  es  uns  an,  in  dem  ersten  Theile:  „Die  Grund- 
that*achen  der  Naturlehre"  nur  zum  Schlüsse  drei  Abbildungen  vorzufinden, 
welche  auch  übrigens  bei  dem  zweiten  Theile:  „Die  wichtigsten  technologischen 
Verwertungen  dieser  Grundthatsachenu  nur  bis  Zahl  20  sich  heben.  Wir  glauben, 
dass  heutzutage,  obgleich  wir  keine  Verehrer  der  vielen  „Bildchen"  in  Lehr- 
büchern sind,  doch  schematische  Figuren  für  den  Schüler  zur  Wiederholung 
höchst  wertvoll  sind,  auch  selbst  dann,  wenn  von  Seite  des  Lehrers  die  ent- 
sprechenden Zeichnungen  auf  der  Tafel  ausgeführt  und  von  den  Schülern  nach- 
gezeichnet oder  die  betreffenden  Apparate  gezeigt  worden  sind.  Sonst  ist  die 
Ausstattung  des  Werkes  eine  recht  gelungene.  C.  R.  R. 

Emil  Fischer,  Sprach-Stoffe  zu  Lehmann-Leutemann's  Thierbilder  für  den 

Anschauungsunterricht.  Dritte,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Leipzig, 

Verlag  von  Oskar  Leiner.  IV  und  222  Seiten.  Preis  2.50  M. 

In  sehr  guter  Weise  werden  zunächst  in  diesem  Spraeh-Stoffbuehe  natur- 
historische Erläuterungen  zu  den  bekannten  Lehmann-Leu tcmann'schen  Thier- 
bildern gegeben  und  zwar  stets  eine  kürzer  gefasste  und  eine  ausführlichere; 
an  dieselben  schließen  sich  dann  in  wolberechneter  Auswahl  Gedichte  und 
Lesestücke,  Räthsel  und  Lieder,  hie  und  da  auch  Kinderspiele  an,  welche  auf 
das  besprochene  Thier  Bezug  nehmen.  Sowol  die  erläuternden  Besprechungen, 
als  die  anderen  Lesestücke  sind  dem  kindlichen  Geiste  angepasst,  sowol  was 
die  Form  als  den  Inhalt  anbelangt,  Jeder  Volksschullehrer  wird  daran  seine 
Freude  haben  und  die  Kinder  mit  ihm,  und  letztere  werden  viel  daraus  fürs 
Leben  lernen.  Die  Ausstattung  des  Buches  ist  schön  zu  nennen.  C.  R.  R. 
Splittegarb,  E.,  Gymnasiallehrer  in  Elberfeld,  Kritik  der  Übungsbücher 

des  grundlegenden  Rechenunterrichtes.  69  S.   1.20  M. 
—  Rechenaufgaben  für  die  unteren  Classen  höherer  Lehranstalten,  sowie  für 

die  Volksschule,  in  3  Heften,  zusammen  166  S.  Düsseldorf  1890,  Schwann. 

1.30  M. 

Die  Kritik  der  gebräuchlichen  Methoden  enthält  eine  übersichtliche  Zusammen- 
stellung der  Einrichtung  der  gangbaren  Rechenbücher.  Um  die  Übersicht  zu  er- 
leichtern, theilt  der  Verfasser  die  gebräuchlichen  Rechenbücher  in  „gruppirende" 
und  versteht  darunter  solche  uach  der  Methode  Grube's,  dann  in  „trennende" 
mit  Abstufung  gewisser  Zahlenkreise,  und  endlich  in  „vermittelnde".  Der 
Verfasser  ist  ein  Gegner  Grube's  und  spricht  sich  selbst  für  die  „trennende" 
Methode  aus,  indem  er  die  Abstufung  des  Unterrichtes  nach  den  Zahlenräumen 

10,  20  und  100  verlangt ;  in  diesen  Stufen  wird  der  Lehrstoff,  beziehungsweise 


*«ta  der  Verfasser  es  nicht  unterlässt,  auf  die  Wichtigkeit  einer  fort  gesetzten 

5* 


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-   68  - 


Wiederholung  im  Rechenunterichte  hinzuweisen,  ho  ergibt  sich  daraus ,  dass 
auf  den  verschiedenen  Stufen  die  Rechnungsarten  doch  in  gemischter  Folge  vor- 
genommen werden  müssen.  Grube  verlangt  die  Betrachtung  jeder  Zahl  bia  100 
ata  eines  Zahliudividuums,  an  welchem  alle  Rechnungsarten  vorzunehmen  sind; 
der  Verfasser  theilt  diese  100  Individuen  in  4  Gruppen,  sondert  in  jeder  Gruppe 
die  Rechnungsarten  und  verlangt  eine  häufige  Wiederholung.  Dies  fahrt  praktisch 
so  ziemlich  auf  dasselbe  hinaus.  Man  mag  Grube  theoretisch  noch  so  heftig 
bekämpfen,  praktisch  wird  seine  Methode  mehr  oder  weniger  eingestanden, 
mehr  oder  weniger  bewusst  dennoch  nachgeahmt;  denn  sonst  müsstc  man  ja 
auf  das  reine  Reihenrochnen,  wie  es  vor  Grube  gebräuchlich  war,  zurückgreifen. 
Im  übrigen  kann  man  mit  den  mehr  auf  das  Praktische  gerichteten  methodischen 
Weisungen  und  Behauptungen  des  Verfassers  recht  wol  einverstanden  sein,  wie 
er  sieh  überhaupt  in  seinen  Schriften  ata  ein  sehr  erfahrener,  literarisch  hoch- 
gebildeter  Lehrer  bekundet.  Doch  vermögen  wir  unsere  Zustimmung  der  Be- 
hauptung nicht  zu  geben,  dass  das  Buch  für  den  Erfolg  belangreicher  wäre,  als 
der  Lehrer.  DaB  Buch  ist  immer  nur  das  Werkzeug,  der  Lehrer  ist  der  Meister; 
der  gute  Meister  versteht  es,  auch  mit  dem  schlechten  Werkzeuge  zweckent- 
sprechende Arbeit  zu  leisten.  Ja,  ist  das  Werkzeug  gar  zu  schlecht,  so  legt  er 
es  zur  Seite  und  schafft  sich  selbst  ein  besseres;  dagegen  ist  auch  das  beste 
Werkzeug  in  den  Händen  des  ungeschickten  Arbeiters  nutzlos.  Als  Lehrmittel 
empfiehlt  der  Verfasser  auf  das  lebhafteste  die  russische  Rechenmaschine,  welche 
wir  gleichfalls  für  das  beste  Anschauungsmittel  in  diesem  Gebiete  halten. 

Das  erste  Heft  der  Rechenaufgaben  umfasst  den  Zahlenraum  bis  100  in  vier 
Stufen.  Diesen  Stoff  im  ersten  Schuljahre  zu  bewältigen,  ist  wol  nur  in  der 
Vorschule  eines  Gymnasiums  möglich,  in  welche  die  Kinder  doch  mit  einigen 
elementaren  Vorkenntnissen  gelangen.  An  einer  Volksschule  hat  man  genup 
gethan  wenn  man  im  ersten  Jahre  den  Zahlenkreis  bis  90  bewältigt.  Für 
unnützen  Ballast  halten  wir  „Messen"  und  „Theilen"  zu  unterscheiden*);  es  kann 
dies  doch  nicht  durch  den  Umstand  begründet  Bein,  dass  einmal  als  Divisions- 
zeichen der  Doppelpunkt  und  ein  andermal  das  Vorwort  „in"  gebraucht  wird;  es 
ist  dies  ein  an  sich  ganz  unwesentlicher  Vorgang,  für  den  Schüler  aber  ein 
unnöthiges  Erschwernis.  Der  Verfasser  kann  doch  nicht  darin  den  Unterschied 
zwischen  Theilen  und  Messen  sehen,  dass  er  in  seinen  übrigens  ganz  netten 
Zahlbildern  den  trennenden  Strich  einmal  lot brecht  und  das  andercmal  wag- 
recht legt. 

Das  zweito  Heft  stuft  den  Zahlenraum  bis  1000  bei  200  ab;  es  ist  für  das 
zweite  Jahr  der  Vorschule  bestimmt  und  kann  auch  im  dritten  Jahre  der  Volks- 
schule gebraucht  werden.  Das  dritte  Heft  führt  uns  den  unbegrenzten  Zahlen- 
raum vor,  sodann  das  Rechnen  mit  ganzen  einnamigen  und  mehrnaniiffcn 
Zahlen  und  den  einfachsten  Bruchformen.  Die  Darlegung  des  dekadischen 
Zahlensystems  müssen  wir  in  Vergleich  mit  anderen  Lehrbüchern  ata  eine 
mangelhafte  bezeichnen. 

Die  vorliegende  Kritik  wird  gewiss  für  jeden  Lehrer  eine  anregende  Leetüre 
bilden;  die  Rechenbücher  jedoch  vermögon  wir  nicht  zu  empfehlen,  da  unsere 
Erfahrung  sehr  zu  Gunsten  der  Methode  Grube's  spricht.  H.  E. 


*)  Ich  halte  diese  Unterscheidung  für  wol  begründet.  D. 


Vcrantwortl.  Hed»oteur  Dr.  Friedrich  Ditte». 


Bnchdreckerei  JnlimKlinkhardt,  L«iprig. 

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3u(ill3  MlmrijnrDt 


v  m 


2>ie  ^fcgc  nationaler  38iföung 

bur.li  ben 

Unterricht  in  Der  SWutterfprarfje* 

ßugleid) 

lf ine  Oarürliung  Her  (GrmiMnbr  nnH  Her  fcinridjtong  bif  frs  Unit rridjto. 

33on  §ttg*  lUc her. 

Äif  dem  erjtcn  greife  der  5ie|WegRi|iuiig  in  &rfin  gekrönte  8(firi|t. 
Stteite,  umgearbeitete  Auflage. 
$rei*  brofdjicrt  3)1  3.— . 
3>ie  erfte  Auflage  biefer  öretegefrönten  Srhjift  fanb  in  ber  beutfdjen  Sebrertoelt 
allgemeinen  Slnflang.   9iad)bem  nun  neuerbin g*  im  6rjiebung*toefen  bem  Unterricht 
in  ber  beutfeben  Sprache  mer)r  ftufmerffamfeit  al*  bisher  getoibmei  rotrb  unb  bic 
9iad)f  ragen  naa)  bem  ©ud)e,  weifte*  feit  Dielen  Sohren  oergriffen  mar,  fidj  ftetig  mehren, 
habe  idb  mich  Aur  äerauänabe  einer  neuen  ^lufloae  eutfchlofieu. 


3n  meinem  ©erläge  ift  foeben  in  neuer  tt»ot)lfeiler  Wu*gabe  erfdjienen: 

(Sefamtcmsgabe 

ber 

Pfijdjologic  unb  l'ogih,  (Eqieljmtgs-  mtb  ihtferrutjtslrtjve,  <flfotljobik 
ber  ^olkafrijiüe,  G5efdjutjtc  ber  (Brjtfijung  unb  bes  Mnferrtcfyts 

Don 

Dr.  Ts r ir bi id)  $ttte$, 

früher  $irettor  bei  ^abagogtum*  in  SBien. 

4.  neu  Dmdmcfchciic  Auflage. 

Sßrei*  7  Jt,  gebuuben  in  &inroanb  8       in  §albleber  -M  8.50. 

3n  obiger  Sereinigung  bilben  bie  $itte*'feb,en  6d)riften  einen  oollftünbigen 
fiurfu*  ber  (ErftieQuitg*-  unb  Unterriftt*roifienfä>iit. 

3>er  ?Uui ,  toeldjen  ber  \Hutor  in  ber  fiefjrerwelt  geniefit,  bürgt  hinreichen*!  für  bie 
Ö5ebiegent)eit  feine*  SBerfe*  unb  inad)t  ba*  Stubium  be*fetben  einem  jeben  Setyrer,  ber 
auf  ber  $öb>  ber  päbogogifdjen  SJilbuttg  flehen  »oitt,  unentbebrlieb. 

Xrofo  bei  bebeutenb  ermäßigten  $reife*  ift  bie  Wu*ftattung  eine  jehr  fölenbibe, 
unb  auch  narrj  biefer  ©eite  bin  ift  ba*  SRöglirfjfie  gefd)eb«»»  um  bem  SBurije  bie  weitere 
»erbreitung  ju  fidjern,  toeld)e  übrigen*  burd)  bie  überaus  günftige  Aufnahme  ber 
£ieferung*au*gabe  bereit*  einen  redjt  erfreulieben  «nfong  genommen  bat. 

3u  bejteben  bureb  jebe  ©udjhaublung. 

f  ttlitt*  fdinhlinrbt,  SBerlagSbudiljanbiimg. 
Vciprig,  «erlitt,  SÖien. 


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Vertag  Don  gnliiifl  fllinCbtirdt  in  geijgtg  unb  ffcrün  W.  35. 


$raftifäc*  «cfr^enfmcrr  für  junge  «eftrer. 

3n  {weiter  oermehrter  unb  oerbefferter  Auflage  ifl  in  meinem  «erläge  erfebienen: 

(Ein  iüljrcr  für  äemtitarifieii,  jnitge  frbrer  unb  Celjrerimien. 

$on 

fcireftor  ber  TOäbdjenfcbule  in  Werburg. 
Vrei*  5  SNarf,  eleß.  nebiinöm  6  Warf  35  ff. 

Unter  ben  .Dielen  für  bie  fcanb  junger  Sebrer  beftimmten,  jum  Xeil  recht  guten  Serien 
aiebt  eS  nicht  eines,  welches  Anleitung  giebt,  wie  ben  Schülern  baS  SerftanbniS  unb  bif 
Kenntnis  beS  Dorjutrogenben  GJegenftanbeS  praftifd)  beizubringen  ift.  SBerfaffer  ift  nun  ber 
Weinung,  ju  einem  fruchtbringenben  Unterrichte  gehöre  Dor  allem,  ba&  ber  fiebrer  in  ber 
fraget  Hilft  Dollftänbig  TOeifter  ift,  unb  beShalb  betjanbelt  er  biefen  ©egenftanb  ganj  befonber* 
ausführlich.  Ohne  biefe  TOeifterfcbaft  finft  ber  Unterricht  ju  einem  blo&cn  b,anbioerf#mä|tgen 
beibringen  Don  Äenntniffen  unb  ftertigfeiten  berab. 

3>ie  frilc  Aufrage  hnt  ungemein  retten  II  vif«  Ii"  gefunben.  216er  100  anerRennenbe 
3afd)riff «it  ftnb  iVm  -JJerfafTer  aus  ollen  $egenben  Prut i .:i l':>.nöo  zugegangen,  unb  audj  bie 
?lc-in ["totu-u  in  öcn  pä&agogirrfjen  3eitrdjriften  fiaßen  luii  fad  bnrdjweg  för  fo6eno  ausgebrüht. 
IJnfofge  ber  warmen  ßmpfehTung  auf  oeut  großen  2>ie6cn6urgirrf}<tt  fieljrertage  ifl  6as  Sern 
aurfj  ins  &ngarilcjjefi6ertrag<n  »oroen. 

las*  ©er!  ift  buref)  jebc  93ud)ftanblung  ju  bejieljen. 


Hciitfdjcö  £cfcbitd) 

für 


piabdjcnrd)  nlcm 

(»it8ttitfjiijn|«M  M  tjnuBuiirtfrfiof  tlitftcn  llntcrriidtn.  i 

herausgegeben  Don 

Sirett«  bet  «aifrrin  «uflufle  *trtori«.6cfoile  ftäbt.  üebTet  in  Cetlin. 

ju  Scfjnetbi'inül)!. 

5n  8  <getCen. 

I.  teil.  2.  Aufl.  II.  Seif.  III.  teil.  2.  Aufl. 

finuo  unb  gjrimai.  finno  unb  Untrrlniiö.  finno  unb  iöfli. 

^reiS  90  <ßf.,  geb.  TO.  l.lö.      $reiS  TO.  1.20,  geb.  TO.  1.46.     $reiS  TO.  1.80,  geb.  TO.  2.10. 

$iefeS  neue  Sefebuch,  welches  am  15.  ftebruar  1891  nur  Aufgabe  gelangte,  hat  infolge 
feiner  Sigenartigteit  in  ber  gefamten  päbagogifcbat  SBelt  grofteS  Auffegen  erregt  unb  ift  fo  Diel« 
fad)  oerlangt  worben,  ba&  bereits  6  SBodjen  nach,  feinem  ©rfcheinen  Don  bem  I.  unb  III.  teilt 
neue  Auflagen  erfcheinen  mußten. 

Um  ju  beweifen,  welch  günftige  Aufnahme  baS  (£rnft  unb  Sews'fdje  ßefebudj  füt 
TOäbchenfchuleu  allerorten  unb  in  ben  Derfchiebenften  öefell fchaftSfreifen,  fowte  in  ber  pabagoeri« 
icben  unb  politifdjen  treffe  gefunben,  hat  bie  ©erlagSbanblung  eine  SReihe  eingegangener 
$ufchriften,  ©utaebten  unb  ^Besprechungen  in  einer  ©rofehüre  jufammengcfteHt,  bie  yebermann 
auf  SBunfd)  unentgeltlich  ju  2>icnften  ftebt  SS  ift  ju  erwarten,  fcaft  Dindj  dir  (vtnniliruini 
diefed  int  gefilmten  trutfdjcii  VotcrlnndP  fo  rinmiitiß  ttiiliromuirit  gel)cif;cnrii  l'rlir= 
mittels  in  bie  TOabdjenfdmlen  bie  ^örberung  beS  SBoh,leS  nid)t  nur  unferer  b>rantoadji'enben  meibr 
liiftcn  3«genb,  fonbern  ber  gefamten  lommenben  (Generation  heroorragenbe  Unterftüfcung  finben  bnrfte. 

Sejüglich  feiner  AuSftattung  in  2>rud  unb  kopier  ift  baS  fiefebuch  ben  fpejiellen  Anfor- 
berungen  ber  ©djulhtjgieine  in  Dollem  Umfange  gerecht  geworben.  3^'be  SBuchhanbtung  ifk 
imftanbe,  Anf ichtS-Sjemplare  beS  fompletten  SBcrfes  ju  liefern,  bod)  ift  auf  befonberen 
SÖunfd)  bie  ^crlagShanblung  ju  birefter  Öberfenbung  gern  bereit,  auch  wolle  man  betreff« 
Grleichterungen  bei  9ieueinführungen  mit  berfelben  in  Horrcfponbenj  treten. 

ZtipM  "nb  Berlin  W.  35.  3uliu8  JtUnQfttbt 


Bacbdruckvroi  Juliai  Klinkhaidt,  Leipzig, 

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Hierzu  eine  Beilage  von  Wilhelm  Rudolph  in  Glessen. 


Paedagogium. 



^Monatsschrift 

für 

Erziehung  und  Unterricht. 


unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 


W.  Jahrgang. 
2.  Heft,  November  189L 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt 


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Inhalt  des  2.  Heftes. 


Seit« 

Pädagogische  Ausblicke  vor  hundert  Jahren.  Von  Dr.  ÜBkar  Lehmann- 
Leipzig   69 

Eine  Analogie.   Von  Oberlehrer  Joh.  Lipp -Matzendorf,  N.-Ö   86 

Beiträge  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes  in  Bezug  auf  Inhalt  und  Lehr- 
weise.  VI.  Socialismus  und  Religionsunterricht.  Von  Prof.  und  Director 
Theodor  Vernaleken-Graz  93 

Die  Pest  des  Aberglaubens  und  ihre  Heilung  durch  die  Erziehung.  Von 

Dr.  Carl  Pilz-Leipzig  98 

Pädagogische  Rundschau.  Die  Pädagogik  als  Kunstlehre.  —  Körperliche 
Züchtigung  in  der  Schule.  —  Die  Schulgesundheitspflege  auf  dem 
VII.  internationalen  Congresse  für  Hygiene  und  Demographie.  —  Otto 
Ernst  als  Lyriker  und  Essayist  111 

Aus  der  Fachpresse.   Von  Rudolf  Dietrich -Hottingen-Zürich  129 

Literatur  132 


Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten  nehmen  Bestellungen  an. 


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I 


« 

►  r  ' 


Pädagogisehe  Ausblicke  vor  hundert  Jahren. 

Von  Dr.  Oakar  Lehmann- Leipzig. 

Die  Reformthätigkeit  war  mit  dem  16.  Jahrhundert  in  Fluss 
gekommen,  nachdem  schon  im  14.  und  15.  Jahrhundert  vereinzelte, 
wenig  erfolgreiche  Versuche  vorangegangen  waren.  Von  der  religiösen 
Bewegung  ausgehend,  ergriffen  die  Reformgedanken  immer  weitere 
Kreise.   An  die  kirchliche  Neugestaltung  schloss  sich  im  16.  Jahr- 
hundert die  auf  philosophischem  Gebiete,  der  Bruch  mit  dem  mittel- 
alterlichen Aristoteles,  an,  eingeleitet  durch  die  wissenschaftlichen 
Arbeiten  eines  Descartes,  Spinoza,  Baco  u.  a.  Hand  in  Hand  mit  der 
neuen  Philosophie  und  durch  die  grundlegende  Thätigkeit  der  letzteren 
befördert,  rang  sich  die  Naturwissenschaft  aus  den  Fesseln  der  mittel- 
alterlichen Scholastik  und  drang  auf  neuen  Bahnen  vor.   Die  erste 
befreiende  That  hatte  fast  gleichzeitig  mit  Luthers  kühnem  Auftreten 
gegen  Kirche  und  Papst  Copernicus  durch  die  Aufstellung  und  wissen- 
schaftliche Begründung  einer  neuen  Weltanschauung  gethan.  Ein 
Kepler,  Newton  u.  a.  gingen  auf  dem  neu  erschlossenen  Wege  weiter. 
Die  Naturwissenschaft  nahm  auf  allen  ihren  Gebieten  einen  groß- 
artigen  Aufschwung,  blieb   aber  jahrhundertelang  das  Eigen thum 
der  gelehrten  Kreise.    Die  neuen  Ideen  auch  in  weitere  Schichten 
der  Bevölkerung  zu  tragen,  war  die  Aufklärung  des  vorigen  Jahr- 
hunderts thätig.   Bayle  sammelte  zuerst  alles,  was  bis  zu  seiner  Zeit 
g-egen  das  herrschende  System  gesagt  war,  und  lieferte  in  seiner 
Zeitschrift  und  dein  großen  Wörterbuche  (Dictionnaire  historique  et 
critique,  Rotterdam  1697,  deutsch  von  Gottsched)  ein  reiches  Arsenal 
zum  Kampfe  gegen  das  Gewohnheitsmäßige,  Althergebrachte. 

Auf  allen  Gebieten  bemerkte  man  neben  Spuren  der  Auflösung 
Anzeichen  neuer  Entwicklung.  Die  Industrie  machte  mächtige  Fort- 
schritte. Am  gewaltsamsten  vollzog  sich  die  Umwälzung  auf  poli- 
tischem Gebiet.  Nirgends  bestand  aber  auch  ein  so  greller  Gegensatz 
zwischen    den  Ideen  der  Zeit   und  den  factisclien  Verhältnissen. 

PBda^ogiuni.    14.  Jahr?.  Hoft  II.  d 


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Während  die  Höfe  schwelgten  und  sich  mit  Prunk  und  Glanz  um- 
gaben, seufzte  das  Volk  unter  der  drückenden,  ihm  auferlegten  Last. 
Immer  lauter  erhob  sich  der  Ruf  nach  einer  Verbesserung  der  Lage 
aller  Classen.  Eine  Besserung  des  Volkes  und  seiner  Verhältnisse 
war  aber  nur  zu  erreichen  durch  Erziehung  und  Führung  zur  Selbst- 
ständigkeit im  Denken  und  Handeln.  So  erblicken  wir  denn  in 
dem  allgemeinen  und  dringenden  Rufe  nach  Reform  der  Er- 
ziehung und  des  Unterrichtes  im  18.  Jahrhundert  die  natur- 
gemäße Folge  der  bisherigen  Culturentwickelung. 

An  Anregungen  für  die  Hebung  des  Schulwesens  fehlte  es  nicht. 
So  forderte  schon  Locke  eine  Reform  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richtes. Es  folgten  bald  Voltaire's  Angriffe  auf  Schulen  und  Gelehrte 
und  Montesquieu's  Persische  Briefe.  Thomasius  und  Gottsched  machten 
auf  Übelstände  an  den  deutschen  Bildungsstätten  aufmerksam;  und 
Rousseau's  Emile  erschien  vielen  als  das  Evangelium  der  neuen  Er- 
ziehung. Geschrieben  wurde  viel  über  Erziehung,  aber  den  Worten 
folgten  keine  Thaten.  Mit  allgemeiner  Begeisterung  begrüßte  man 
es  daher,  als  Deutsche  sich  daran  machten,  einige  der  Rousseau'schen 
Ideen  praktisch  durchzuführen.  Aber  die  philanthropischen  Anstalten 
vermochten  nicht,  den  auf  sie  gesetzten  Erwartungen  zu  entsprechen, 
und  von  seiteu  der  Fachgenossen  erfuhr  die  Thätigkeit  der  „Menschen- 
freunde" eine  sehr  verschiedene  Beurtheilung,  die  zum  Theil  in  völlige 
Gleichgiltigkeit  und  Abneigung  gegen  die  neue  Richtung  ausging. 
Was  aber  einer  Hebung  und  kräftigen  Entwickelung  des  Schulwesens 
von  vornherein  den  Hemmschuh  anlegte,  war  die  Theilnahmlosigkeit 
der  Regierungen,  selbst  eines  Friedrich,  den  die'  neue  Partei  so 
hoffnungsfroh  als  Messias  begrüßt  hatte.  So  blieb  in  der  Erziehungs- 
Reform  das  meiste  eitel  Theorie. 

Kein  Wunder,  wenn  dem  einsichtsvollen  Schulmanne  das  Herz 
schwer  wurde,  da  er  sah,  dass  nach  ihm  und  seiner  Sache  keiner 
fragte,  dass  für  die  hohe  Aufgabe  der  Jugendbildung  so  gut  wie  nichts 
geschah.  Es  liegen  uns  eine  Reihe  Veröffentlichungen  aus  damaliger 
Zeit  vor,  die,  dictirt  von  einem  lebhaften  patriotischen  Gefühl  und 
von  Begeisterung  für  die  Sache  der  Erziehung,  uns  über  die  oben 
angedeutete  Lage  der  Schulen  und  der  Erziehung  Bericht  erstatten. 
Es  sind  dies  die  „Erziehungsschriften",  oder  wie  ursprünglich 
der  Titel  hieß:  „Gedanken,  Vorschläge  und  Wünsche  zur  Ver- 
besserung der  öffentlichen  Erziehung,  als  Materialien  zur 
Pädagogik",  herausgegeben  von  Friedrich  Gabriel  Resewitz, 
5  Bände,  1778 — 1786.   Berlin  und  Leipzig  bei  Carl  August  Nicolai. 


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—    71  — 


Resewitz,  der  in  der  Geschichte  der  Erziehung  von  K.  v.  Raumer  gar 
keine  Erwähnung  findet  und  von  K.  Schmidt  sehr  kurz  abgethan 
wird,  hat  unsere  Beachtung  wol  verdient.  Denn  er  war,  obschon 
kein  Bahnbrecher  wie  Rousseau  und  Basedow,  so  doch  ein  wackerer 
Kämpe  für  die  Schule  und  den  Lehrerstand .*) 

Wie  stand  es  vor  hundert  Jahren  um  das  Los  des  Schulmannes, 
des  Mannes,  der  Menschen  bildet  und  dem  Staate  Bürger  erzieht? 
Während  den  anderen  Ständen,  wie  dem  juristischen,  dem  geistlichen 


*)  Friedrich  Gabriel  Resewitz  wurde  geboren  zu  Berlin  am  9.  März  1729 
(nicht  1725,  vgl.  die  auf  Grund  seiner  eigenen  Angaben  aus  Gurlitt's  Papieren  von 
Prof.  Müller  veröffentlichte  Autobiographie),  besuchte  seit  1740  das  Joachims t harsche 
Gymnasium  und  studirte  1747 — 1750  in  Halle,  wo  ihn  besonders  Baumgartens  Vor- 
lesungen zu  einem  „denkenden-  Theologen  machten.  Als  Reiseprediger  des  Fürsten 
ron  Zerbst  hielt  er  sich  eine  Zeit  lang  in  Paris  auf,  trat  dann  in  Berlin  mit  Moses 
Mendelssohn  und  Nicolai  in  freundschaftlichen  und  gelehrten  Verkehr  und  wurde 
schließlich  auch  Mitarbeiter  der  „Briefe,  die  neueste  Literatur  betreffend".  Seit 
1767  Pastor  in  Quedlinburg,  folgte  er  1767  einer  Berufung  als  Pfarrer  an  die 
St.  Petrikirche  in  Kopenhagen  und  schloss  sich  dem  nordischen  Literaturkreise: 
Klopstock,  Cramer,  Schlegel  u.  a.  an.  In  Kopenhagen  erwarb  er  sich  als  Director 
des  Armenwesens  und  als  Gründer  der  königlichen  Realschule  (1771)  Verdienste. 
Seine  1773  veröffentlichte  pädagogische  Reformschrift:  „Die  Erziehung* des  Bürgers 
zum  Gebrauche  des  gesunden  Verstandes  und  zur  gemeinnützigen  Geschäftigkeit" 
wurde  viel  gelesen  und  besprochen  und  verschaffte  ihm  die  Berufung  zum  Abt  von 
Kloster  Bergen,  zu  welcher  Stelle  sich  auch  Basedow  gemeldet  haben  soll.  Am 
15.  Juni  1775  trat  er  sein  neues  Amt  an,  und  mit  dem  Jahre  1776  beginnen  die 
halbjährlichen  Veröffentlichungen,  deren  Inhalt  in  vorliegendem  Aufsatze  zur  theil- 
weisen  Besprechung  kommen.  1776  besuchte  er  auch  das  Philanthropin-Examen  zu 
Dessau.  Seine  religiös-freisinnigen  und  philanthropisch-milden  Erziehungagrundsätze 
machten  ihn  Friedrich  II.  angenehm,  wurden  aber  für  dessen  Nachfolger  Friedrich 
Wilhelm  II.  und  seinen  Minister  Wöllner  die  Veranlassung,  ihm  1796  die  Aufsicht 
über  Pädagogium  und  Lehrerseminar  zu  nehmen.  Resewitz  starb  am  30.  October  1806 : 
wenige  Jahre  darauf  ging  auch  die  Schule  zu  Kloster  Bergen  ein.  —  Resewitz  ge- 
hört zur  pädagogischen  Reformpartei  des  18.  Jahrhunderts.  Seine  Thatigkeit  ist 
viel  gelobt  und  viel  getadelt  worden.  Vgl.  Wieland  „Deutscher  Mercur",  das  „Braun- 
schweigische  Journal"  1788,  das  „Deutsche  Museum"  1784,  den  „Reisenden  für 
Länder-  und  Völkerkunde"  u.  a.  Der  Vorwurf,  dass  er  in  seiner  praktischen  Thätig- 
keit  das  nicht  hielt,  was  seine  Schriften  erwarten  ließen,  trifft  gleicherweise  wie 
ihn  auch  einen  Basedow,  Pestalozzi  und  andere  Theoretiker  der  Pädagogik.  —  Siehe 
über  Resewitz  den  Aufsatz  von  Kawerau  in  den  „Magdeburger  Geschichtsblättern" 
1880  und  Holstein'*  „Geschichte  der  ehemaligen  Schule  zu  Kloster  Bergen"  im 
neuen  Jahrbuch  für  Philologie  und  Pädagogik  1886,  2.  Abtheilung,  Band  32.  Sehr 
bezeichnend  für  unsere  geringe  Kenntnis  des  18.  Jahrhunderts  ist  es,  dass  in 
Schmid'ö  Encyklopädie  der  Name  Resewitz  nicht  zu  finden  ist,  während  doch 
schon  die  Encyklopädien  von  "Wörle.  Hergang  u.  a.  einige,  wenn  auch  unzureichende 
Notizen  bringen. 

6* 


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-    72  — 


und  militärischen  sichere  Aussieht  auf  eine  glückliche  Lebensstellung 
gegeben  war,  blieb  dem  ersteren  nichts  als  „Anstrengung  und  müh- 
selige Arbeit  und  oft  zur  Erholung  Kummer  und  Sorge,  fast  keine 
bürgerliche  Ehre  und  Würde,  als  nur  der  verachtete  Nachtrab  des 
geistlichen  Standes  zu  sein.u  Kein  Wunder,  wenn  immer  weniger 
tüchtige  Kräfte  sich  für  die  Dauer  diesem  Berufe  widmeten,  und 
junge  Theologen  ihn  nur  so  lange  betrieben,  als  ihnen  noch  nicht  ein 
geistliches  Amt  beschert  war.  Aber  gerade  dagegen,  dass  die 
Schule  etwa  als  Durchgangsstadium  in  das  Pfarramt  und  die  Schul- 
arbeit als  eine  Vorbereitung  für  den  Beiuf  des  Seelsorgers  angesehen 
werden  dürfe,  legt  Resewitz  Verwahrung  ein,  da  nach  seiner  Er- 
fahrung wenige  den  Unterricht  in  diesem  Sinne  betreiben  und  es 
doch  eine  gewagte  Sache  sei,  dem  zukünftigen  Seelsorger  'seine  Ge- 
schicklichkeit auf  Kosten  der  Jugendbildung  zu  verschaffen.  Die 
Schule  soll  Selbstzweck  werden  und  keiner  ohne  Lust  und  Liebe  für 
die  Sache  der  Erziehung,  ohne  Anlage  und  Vorbereitung  dazu,  Jugend- 
bildner sein.  An  wem  liegt  es  nun'  aber,  dass  es  an  guten  Lehr- 
kräften gebricht,  dass  überhaupt  nichts  Rechtes  für  die  Schule  ge- 
schieht? Am  Staate,  lediglich  an  der  Stellung,  die  dieser  zur  Unter- 
richtsfrage  einnimmt!  „Die  Erziehung  ist  dem  Staate  noch 
keine  wichtige  Angelegenheit  geworden!"*)  Wenn  Resewitz 
diesen  Satz  aufstellt,  so  ist  er  sich  wol  bewusst,  dass  man  ihm  ent- 
gegnen werde,  seine  Behauptung  sei  paradox  zu  einer  Zeit,  da  selbst 
Fürsten  ihr  Interesse  für  die  Bildung  an  den  Tag  legten,  Pläne  ent- 
worfen, auch  wol  Schulen  gegründet  und  Lehrerseminare  ins  Leben 
gerufen  würden.  Aber  derartige  Einwürfe  können  ihm  seine  Behaup- 
tung nicht  entkräften.  Alles,  was  man  in  diesem  Sinne  aufzuzählen 
vermöge,  seien  einzelne  Versuche  tüchiger  Männer,  zufällige,  partielle, 
aus  Laune  gewährte  Unterstützungen;  aber  einen  Plan  für  das  Ganze, 
eine  der  Lage  des  Staates  und  den  Bedürfnissen  des  Volkes  entspre- 
chende Organisation  des  Erziehungswesens  suche  man  vergebens.  Man 


*)  Ein  Mangel  an  guten  Lehrkräften  wurde  auch  von  den  Regierungen  und 
Fürsten  empfunden.  So  fordert  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Franeke  Schulmeister  für 
das  Potsdamer  Waisenhaus,  und  Friedrich  II.  ließ  acht  Lehrer  in  Sachsen  anwerben. 
Aber  zu  durchgreifenden  Maßregeln,  um  der  Lehrernoth  zu  steuern,  verstand  man 
»ich  nicht.  (Vgl.  Beckedorff,  Jahrbücher  de«  preußischen  Volkasohulwesens,  S.  31  fg.) 
—  Auch  die  Schule  zu  Kloster  Bergen  wurde  1736  von  Friedrich  Wilhelm  I.  auf- 
gefordert, Lehrer  zu  bilden.  Freilich  fanden  sich  zu  Seminaristen  keine  anderen 
Leute  als  Handwerksburschen  aus  Magdeburg  und  die  Diener  der  jungen  Adligen, 
die  das  Pädagogium  zu  Kloster  Bergen  besuchten. 


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habe  Dicht  nur  nichts  gethan  für  die  Schule,  sondern  sogar  oftmals 
die  zur  Zeit  der  Kirchenverbesserung  gestifteten  Fonds  verringert. 
Daher  der  Rückgang  der  Anstalten,  sowol  was  die  Zahl,  als  auch  die 
Leistungsfähigkeit  betreffe.  „Man  zuckt  die  Achseln;  man  will  oder 
kann  das  Geld  nicht  entbehren,  womit  das  wirklich  ausgeführt  werden 
soll,  was  ganz  schön  auf  dem  Papiere  steht.  Hier  hindert  es  die 
stehende  Armee,  dort  die  Schuldenlast,  hier  steht  die  Jagd,  dort  der 
ifofctaat  u.  s.  w.  im  Wege." 

YeTderblich  für  das  Ansehen  der  Schule  erscheint  dem  Abt  Rese- 
witz auch  das  Sinken  des  geistlichen  Einflusses  auf  das  Volk.  Die 
häusliche  Erziehung  stand  bisher  in  innigem  Zusammenhange  mit 
der  [Kirche,  und  die  Schule  genoss  vorwiegend  als  eine  Stütze  [von 
Religion  und  Kirche  Ansehen.  Den  Einfluss  des  geistlichen  Standes 
auf  das  Volk  und  damit  zugleich  die  Achtung  vor  der  Schule  sieht 
Resewitz  mehr  und  mehr  sinken.  Und  suchen  wir  heute  nach  dem 
Grunde  dieser  Thatsache,  so  erkennen  wir,  dass  es  nicht  blos  der 
Geist  der  Aufklärung  war,  der  die  geistliche  Macht  bekämpfte, 
sondern  dass  die  Entartung  der  .herrschenden  religiösen  Richtung 
das  Ansehen  der  Kirche  schwer  schädigte.  Dazu  kam  die  Einwirkung 
der  deistischen  und  materialistischen  Philosophie  auf  immer  weitere 
Kreise  des  Volkes. 

Die  Besoldung  des  Schulmannes  war  eine  klägliche  und  seine 
damalige  Abhängigkeit  von  Behörden  und  Schulpatronen  demüthigend. 
War  denn  die  Schularbeit  eine  geringere  oder  minderwerthige  ge- 
worden? Im  Gegentheil!  Nachdem  der  Gesichtskreis  des  Volkes 
sich  erweitert,  die  Zahl  der  Schulfächer  sich  vermehrt  und  die  An- 
forderungen an  das  heranwachsende  Geschlecht  sich  gesteigert  hatten, 
wurden  an  das  Wissen,  an  die  Urtheils-  und  Leistungsfähigkeit  des 
Schullehrers  weitaus  größere  Anforderungen  gestellt. 

Was  konnte  unter  solchen  Verhältnissen  der  Staat  von  der  Schule 
erwarten?  Kann  man  Eifer  und  ernstes  Streben,  eine  bessere  Ge- 
staltung des  Unterrichts  erwarten  von  Männern,  denen  unter  den 
drückenden  Nahrungssorgen  die  Freiheit  des  Geistes  und  die  Freudig- 
keit der  Arbeit  verloren  ging!  „Man  raüsste  die  menschliche  Natur 
nicht  kennen,  mit  dem  Philosophen  auf  dem  Throne  nicht  wissen, 
dass  Selbstliebe  und  Hoffnung  auf  das  Gefühl  eigenen  Wolseins  das 
große  Triebwerk  bürgerlicher  Tugenden  ist" 

Wie  der  Lehrerstand ,  so  war  das  gesammte  Erziehungswesen 
einer  Reform  dringend  bedürftig.  Resewitz  weist  in  dieser  Beziehung 
auf  einige  Punkte  hin,  so  auf  das  Fehlen  „ allgemein  wirksamer 


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Prinicipien"  in  der  Erziehung.  Die  Religion  hatte  einen  großen 
Theil  ihres  Einflusses  auf  dieselbe  verloren.  Da  in  der  häuslichen 
Erziehung  die  Pflege  des  religiösen  Sinnes  schwand,  so  darf  es  uns 
nicht  wundern,  vielfachen  Klagen  über  Religionsverachtung  und  Frei- 
geisterei zu  begegnen,  wie  wir  ja  auch  in  der  Literatur  damaliger 
Zeit  derartige  Personen  häufig  dargestellt  finden.  Neben  dem  Mangel 
an  Religiosität  beklagt  Resewitz  das  Schwinden  der  Ehrliebe,  des 
mühevollen,  mannhaften  Strebens  nach  Vervollkommnung  und  der- 
einstiger  moralischer  und  gesellschaftlicher  Tüchtigkeit,  an  deren 
Stelle  spielende  Eitelkeit,  Oberflächlichkeit  und  galantes  Wesen  ge- 
treten war.  Auch  den  Patriotismus,  die  Liebe  zum  deutschen  Vater- 
lande suche  man  vergebens.  Ja,  in  Büchern  sei  er  wol  zu  Hause, 
aber  in  Wirklichkeit  habe  er  dem  Weltbürgersinn  Platz  machen 
müssen.  In  der  That:  Ein  Deutscher  zu  sein,  galt  dem  Deutschen 
damaliger  Zeit  für  wenig  ehrenvoll.  Man  reiste  viel  in  fremde  Länder 
und  gefiel  sich  besonders  in  lächerlicher  Nachahmung  der  Franzosen. 
Luxus  und  Verschwendungssucht  griffen  im  Volke  immer  weiter  um 
sich.  Der  Sinn  für  Einfachheit  und  Häuslichkeit  ging  vielfach  ver- 
loren, die  Moralität  wurde  untergraben  und  in  dem  Kampfe  um  Er- 
langung der  Existenzmittel  fing  die  altdeutsche  Ehrlichkeit  an  zu 
leiden.  In  dem  Bestreben,  möglichst  angenehm  und  gut  zu  leben, 
ohne  sich  den  Aufgaben  der  Gegenwart  und  des  eigenen  Lebens- 
kreises ernstlich  zu  widmen,  gingen  gerade  die  Edlen  des  Volkes 
mit  schlechtem  Beispiele  voran.  Wer  hatte  unter  solchen  Verhält- 
nissen Lust  und  Zeit,  sich  der  mühevollen  Aufgabe  der  Erziehung 
zu  widmen! 

Welche  Mafiregeln  ergriff  man  nun,  um  allen  diesen  schädlichen 
Einflüssen  entgegen  zu  arbeiten?  Resewitz  weiß  keine  öffentlichen 
Vorkehrungen  gegen  dieses  „Heer  von  Übeln"  zu  nennen.  Und  doch 
konnte  hier  nur  die  öffentliche  Erziehung,  unterstützt  durch  eine 
weise  Gesetzgebung,  bessernd  auf 'das  Volk  einwirken.  Die  Fürsten 
mnssten  erst  einsehen  lernen,  das  vernünftige  Menschen  auch  die 
besten  Unterthanen  sind,  „dass  die  innere  Verbesserung  des  Staates 
großentheils  von  der  Einsicht  und  verständigen  Thätigkeit  seiner  Be- 
wohner abhängt  und  dass  man,  diese  zu  bewirken,  bei  einer  zweck- 
mäßigen Aufklärung  und  Unterweisung  der  Jugend  anfangen  muss." 
Wie  die  Fürsten  zum  Wole  der  Allgemeinheit  Moräste  aus- 
trocknen ließen  und  schöne  Gebäude  errichteten,  so  sollten 
sie  sich  endlich  auch  geneigt  zeigen,  verödete  und  unfrucht- 
bare Schulen  ihres  Landes  urbar  zu  machen.    Speciell  die 


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häusliche  Erziehung  schildert  Resewitz  mit  den  Worten:  „Man  schnitzt 
artige  Pappen  mit  schwachen  Gliedern  und  entarteten  Köpfen,  man 
bildet  an  ihnen  mühsam  ein  äußerliches,  gefallendes  Wesen,  französisirt 
den  deutschen  Sinn  und  das  deutsche  Blut  und  pfropft  französischen 
Leichtsinn  und  flachen,  modischen  Witz  auf  den  verdorbenen  deutschen 
Stamm. u  Auch  in  der  Hauserziehung  muss  eine  entschiedene  Besse- 
rung, die  der  Verflachung  und  Veräußerlichung  derselben  entgegen 
arbeitet,  angestrebt  werden. 

Die  Schriftsteller  damaliger  Zeit  erfahren  bezüglich  ihres  Ein- 
flusses auf  die  Jugend  eine  harte  und  zum  Theil  ungerechtfertigte 
Beurtheilung.  Denn  der  Vorwurf,  dass  sie  durch  Romane,  Lieder 
und  Gedichte  das  junge  Volk  in  eine  Traumwelt  führen,  es  untüchtig 
zu  praktischen  Geschäften  und  lediglich  (!)  zu  wimmernden,  über- 
spannten und  phantastischen  Träumern  machen,  darf  wol  auf  die 
dichterischen  Erzeugnisse  jenen  träumerischen  und  krankhaften  Senti- 
mentalität angewendet,  aber  nicht  auf  die  Dichtungen  des  stürmischen 
Thatendrangs  ausgedehnt  werden. 

Resewitz  stand  in  Ansehen  bei  seinen  Berufsgenossen.  Er  erfuhr 
bei  Veröffentlichung  seines  Aufsatzes,  was  unausbleiblich  ist  bei  einem 
derartigen  Standpunkte,  der  das  Bestehende  negirt,  ohne  mit  be- 
stimmten Vorschlägen  hervorzutreten,  dass  er  seinen  Berufsgenossen 
nur  das  Herz  schwer  gemacht  hatte,  ohne  Hoffhungen  auf  Besserung 
der  trostlosen  Lage  zu  wecken.  Das  spricht  der  Gegenartikel  eines 
Ungenannten  in  Band  II  aus. 

Aber  wenn  Resewitz  auch  die  Mängel  des  damaligen  Erziehungs- 
wesens tief  beklagte,  so  war  er  doch  weit  davon  entfernt,  die  Fort- 
schritte zu  verkennen,  die  in  den  letztvergangenen  Jahrzehnten  Auf- 
klärung und  Sittlichkeit  im  deutschen  Vaterlande  gemacht  hatten, 
und  gern  bereit,  zuzugestehen,  dass  man  allmählich,  wenn  auch  lang- 
sam, aufhörte,  sich  am  Gängelbande  der  Gewohnheit,  des  Vorurtheils 
und  der  Nachahmung  führen  zu  lassen.  Was  er  tief  beklagt,  das  ist 
die  Planlosigkeit  in  der  Erziehung,  die  Theilnahmlosigkeit  der  Ge- 
meindeverwaltungen und  die  Halbheit,  um  nicht  zu  sägen  Gleich- 
gültigkeit, von  seiten  der  Geistlichen.  Wer  waren  infolgedessen  die 
Jugendbildner?  Leute  ohne  Talent,  ohne  Bildung  und  Charakter, 
Männer,  die  in  anderen  Erwerbszweigen  verunglückt  waren  oder  sich 
als  untauglich  zeigten,  Leute,  wie  sie  der  Geschichtsprofessor  von 
Treitechke  in  völliger  Verkennung  einer  hundertjährigen  segensreichen 
Entwickelung  noch  heute  im  Volksschullehrerstande  erblickt.  Wer 
fragte  danach,  was  und  wie  gelehrt  wurde!   Großentheils  beschränkt 


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sich  der  Unterricht  nur  dahin,  sagt  Resewitz,  dass  die  Kinder  unter 
vieljährigen  Mühen  und  Plagen  die  unverstandenen  Worte  des  Katechis- 
mus auswendig  und  kümmerlich  lesen  und  schreiben  leinen.  (Band  V, 
4.  Stück:  „Über  National-Erziehung.") 

Wie  sehi*  auch  Resewitz  bei  den  Fürsten  die  rechte  Antheil- 
nahme  an  der  Bildung  des  Volkes  vermisste,  so  rühmt  er  doch,  dass 
Friedrichs  Regierung  die  geistige  Bewegung  des  18.  Jahrhunderts 
schuf,  oder  sagen  wir  lieber:  kräftig  förderte.  Vom  kommenden  Jahr- 
hundert erwartet  er  die  allgemeine  Verbreitung  der  Bildung;  in  diesem 
denkt  er  sich  alle  die  schönen  Bilder  seiner  für  das  Wol  des  Vater- 
landes erglühenden  Seele  verwirklicht,  so  dass  er  stets  mit  großer 
Hoffnung  und  Freude  vom  19.  Jahrhundert  spricht.  In  einem  Traum- 
bilde, das  einst  seine  Seele  fesselte,  als  er  in  solcher  Stimmung  bis 
in  die  Nacht  pädagogischen  Ideen  nachhing,  führt  er  uns  seine  Ge- 
danken über  Reform  des  Unterrichtswesens  vor. 

Während  bisher  jede,  auch  die  kleinste  Stadt  ihre  Ehre  dariu 
suchte,  eine  lateinische  Schule  zu  haben,  soll  jetzt  diese  mönchische 
Einrichtung,  nach  der  jeder  Knabe  jahrelang  mit  den  Anfangen  des 
Latein  und  Griechisch  gequält  wurde,  abgeschafft  werden.  Denn  es 
müsse  doch  jedem  vernünftigen  Menschen  einleuchten,  dass  mau  nicht 
die  gesaramte  Jugend  zu  Lateinern  und  Stubengelehrten  heranbilden 
könne.  Dass  mühsam  erlernte  kümmerliche  Brocken  aus  den  genannten 
Sprachen  dem  Gedächtnisse  bald  wieder  entfallen  und  für  die  Bildung 
zum  praktischen  Leben  damit  nichts  gewonnen  ist,  gilt  uns  heute 
(wenigstens  in  der  Theorie!!)  für  eine  ausgemachte  Sache.  Dazu  hat 
das  mächtige  Vorwärtsdrängen  der  Schulmänner  jener  Zeit  ,  auch  das 
eines  Resewitz,  wesentlich  beigetragen,  der  es  wiederholt  ausspricht, 
dass  es  eine  dringende  Angelegenheit  sei,  aus  der  unförmigen  und 
unzweckmäßigen  Masse  lateinischer  Schulen  eine  Anstalt  zu  schaffen, 
die  99  verwahrlosten  Knaben  unter  100  zugute  komme.  Diese  Be- 
strebungen, die  besonders  von  Hecker  vertreten  wurden  und  schon  in 
dem  Halleschen  Waisenhause  in  ihren  Anfängen  zu  finden  sind,  waren 
bedingt  'durch  die  Umgestaltung,  die  das  18.  Jahrhundert  bewirkte. 
Denn  da  rationelle  Bebauung  des  Bodens  immer  mehr  erforderlich 
wurde,  der  Handel  weitere  Ausdehnung  erlangte,  die  fortschreitende 
Industrie  größere  Anforderungen  an  die  Leistungsfähigkeit  des  Hand- 
werkers stellte  und  die  Verwaltung  des  Staatsorganismus  und  der 
Einzelbetriebe  tüchtige  Köpfe  erheischte,  so  musste  die  Bildungs- 
arbeit ihre  Aufgabe  darin  erblicken,  die  Jugend  diesen  veränderten 
Verhältnissen  gemäß  zu  erziehen. 


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Alle  lateinischen  Schalen  der  Landstädte  sollen  daher, 
das  ist  Besewitz'  Forderung,  in  „Bürgerschulen"  umgewan- 
delt werden,  in  denen  die  Jugend  einen  vernünftigen  und 
praktischen  Unterricht  in  der  Religion  und  sorgfältige  An- 
weisung im  Schreiben  und  Rechnen  erhält.  Sie  wird  be- 
kannt gemacht  mit  den  brauchbarsten  Naturproducten,  mit 
dem  Land-  und  Gartenbau*),  mit  den  gangbarsten  Künsten 
nnd  Handwerken.  In  der  Erdbeschreibung  genügt  die  all- 
gemeine Darstellung  der  Beschaffenheit  der  Erdtheile,  doch 
wird  vom  Schüler  die  genaueste  Kenntnis  des  deutschen 
Vaterlandes  gefordert.  Der  Geschichtsunterricht  soll  die 
alte  Zeit  in  einem  kurzen  Abrisse,  die  neueste  Zeit  aber, 
vom  Jahre  1700  an,  in  eingehendster  Darstellung  vorführen. 
Bekanntschaft  mit  den  Landesgesetzen  ist  für  jeden  späteren 
Börger  unerlässlich,  sowie  ein  Hinweis  auf  die  Vortheile 
nnd  Vorzüge  des  Vaterlandes,  wodurch  der  schlummernde 
Patriotismus  geweckt  werden  würde.  Mit  den  nöthigsten 
Gesundheitsmaßregeln  und  den  Maximen,  verständig  und 
klug  in  der  Welt  zu  leben,  soll  man  die  Jugend  in  passen- 
den Beispielen  ebenfalls  vertraut  machen.  Das  Zeichnen  ist 
mit  Rücksicht  auf  die  spätere  Beschäftigung  der  Schüler  zu 
betreiben.  Ganz  besonders  aber  sollen  zur  Bildung  des  Ver- 
standes und  des  Stiles  schriftliche  Übungen  über  das,  was 
durch  den  Unterricht  erarbeitet  ist,  angestellt  werden.  Der 
Lehrer  hat  dieselben  durchzusehen  und  daran  noch  Aufsätze 
zu  schließen,  die  auf  das  bürgerliche  Leben  vorbereiten. 

So  finden  wir  hier  von  Resewitz  eine  Reihe  fruchtbarer  An- 
regungen gegeben,  Ideen  ausgesprochen,  die  auf  die  Gestaltung 
unserer  heutigen  einfachen  Volksschule,  der  Bürgerschule  und  man- 
cher anderen  Lehranstalt  von  Einfluss  gewesen  sind.  In  diesem 
Sinne  kann  man  wol  sagen,  dass  das  19.  Jahrhundert  den  pädago- 
gischen Traum  des  18.  Jahrhunderts,  speciell  eines  Resewitz,  zur 
Wirklichkeit  machte. 

Wer  die  niedere  oder  einfache  Bürgerschule  besucht  hat  und 
Kaufmann,  Landmann,  Cameralist  oder  Officier  werden  will,  tritt 

*)  Diese  philanthropische  Forderung,  die  'zuerst  Salzmann  erhob,  finden  wir 
seit  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  in  den  Unterrichtsplänen  der  Lehrerseminare; 
et  wird  fttr  den  Seminaristen  die  Unterweisung  in  der  angewandten  Pflanzenkunde, 
im  Gartenbau,  in  der  Landwirtschaft  und  Obstbaumzucht  gefordert.  (Vergl.  Becke- 
dorff, S.  179,  200,  222. 


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noch  in  die  höhere  oder  „größere"  Bürgerschule  ein,  wie  eine  solche 
in  der  Hauptstadt  jeder  Provinz  einzurichten  ist. 

Auch  für  den  armen  Landmann  soll  gesorgt  werden.  Bisher, 
sagt  Resewitz,  ließ  man  ihn,  und  zwar  großenteils  mit  voller  Ab- 
sichtlichkeit, gleich  seinem  Lastvieh  in  dem  gewohnten  Gleise  blind 
und  verstockt  der  Weise  seiner  Väter  folgen.*)  Daher  stecke  er 
noch  so  tief  im  Aberglauben,  dass  er  sein  Leben  und  seine  Gesund- 
heit jedem  Jongleuer  und  Gaukler  preisgebe  und  man  ihn  ohne  viel 
jesuitische  Kunst  leicht  in  den  alten  papistischen  Aberglauben  zurück- 
stürzen könne.  Auch  Rochow  beklagte  die"  Unwissenheit  und  den 
Aberglauben  der  Landbewohner  und  wurde  dadurch  zur  Gründung 
einer  Landschule  geführt,  die  Resewitz  rühmt  und  als  die  einzige 
bezeichnet,  deren  Einrichtung  Aufmerksamkeit  verdiene.  Aber  nicht 
nur  einzelnen,  sondern  allen  Landbewohnern  soll  eine  planmäßige  Er- 
ziehung in  überall  zu  errichtenden  Landschulen  gewährt  werden. 

Die  lateinischen  Schulen  der  Städte  sind  keineswegs  völlig  zu 
beseitigen,  sondern  in  jeder  Provinzial-Hauptstadt  —  es  ist  an  preu- 
ßische Verhältnisse  gedacht!  —  wird  eine  derselben  weiter  erhalten 
und  aufs  beste  ausgebaut.  Sie  bereitet  für  den  Gelehrtenstand  vor. 
Die  Zöglinge  derselben  werden  aber  nicht  ohne  Auswahl  angenommen, 
sondern,  damit  man  nicht  gelehrte  Stümper  heranbilde,  nur  solche  für 
die  Dauer  zugelassen,  die  nach  einer  gewissen  Prüfungszeit  die 
nöthigen  Fähigkeiten  und  in  irgend  einem  Fache  besonderen  Eifer 
und  Anlage  gezeigt  haben. 

Wiederholt  wird  eine  consequent  durchzuführende  Trennung  in 
dem  Bildungsgange  des  gelehrten  Standes  und  der  Stände 
des  praktischen  Lebens  gefordert  und  eingehend  begründet.  Hente, 
nach  hundert  Jahren,  herrscht  in  dieser  Angelegenheit  noch  eine  auf- 
fallende Unklarheit,  sowol  was  die  öffentliche  Meinung,  als  auch  die 
Einrichtung  zahlreicher  Lehranstalten  betrifft»  Zur  Vorbereitung  für 
die  praktischen  Berufsarten  fordert  Resewitz,  die  Schüler  in  der 
Geographie  mit  den  Producten  des  Landes,  der  Natur  und  Cultur 
derselben,  mit  den  Artikeln  des  Handels,  ihren  Geburtsländern,  den 


*)  Das  Einzige,  wodurch  man  ihm  Belehrung  verschaffte,  waren  dieKatechisationen; 
nur  vereinzelt  wurden  seit  Anfang  des  18.  Jabrhunderts (Landschulen  gegründet.  Die 
Fürsten,  „zu  schonend  gegen  den  Adel,  überließen  die  erforderlichen  Leistungen 
lediglich  dem  guten  Willen  desselben.  Ja,  die  Bauern  selbst  waren  in  ihrer  Ver- 
kommenheit den  neuen  Anforderungen  entgegen".  (Siehe  Beckedorff,  S.  28,  und 
Keller,  Geschichte  des  preußischen  Volksschulwesens,  S.  64  und  95.) 


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Handelswegen  u.  s.  w.  bekannt  zu  machen.  Überhaupt  solle  man 
mehr  eingehen  auf  bürgerliche  Unternehmungen,  um  Thätig- 
keitssinn  und  Unternehmungslust  zu  wecken.  Damit  war  ein  Gedanke 
aasgesprochen,  der  uns  heute  auch  bei  Auswahl  und  Darstellung  des 
geschichtlichen  Stoffes  leitet  und  uns  noch  mehr  leiten  sollte,  als  es 
bisher  geschehen  ist. 

Wegen  der  Vermischung  von  gelehrtem  und  nicht  gelehrtem  Unter- 
richt tadelt  Resewitz  das  Philanthropin  zu  Dessau,  dessen  Plan  „  nicht  auf 
die  Beschaffenheit  des  Menschen,  wie  er  ist,  nicht  auf  die  Verfassung  der 
Welt  und  auf  die  wirklichen  Zwecke  der  Thätigkeit  ihrer  Bewohner 
calculirt  war"  und  nichts  hinterließ,  „als  den  allgemeinen  Wunsch, 
dass  er  mehr  Realität  gehabt  haben  möchte".  Basedow  habe  alle 
Altersclassen  und  Berufsarten,  Kinder  und  Erwachsene,  Studirende  und 
Xichtstudirende,  Landwirte,  Kaufleute,  Soldaten  gemeinsam  und  auf 
einerlei  Weise  heranbilden  wollen.  Jedem  Stande  gebüre  aber  seine 
eigene  charakteristische  Bildung.  Also  die  Forderung  der  Standes- 
schule spricht  Resewitz  hier  aus.  Was  er  dann  noch  an  anderer 
Stelle  über  das  Philanthropin  sagt,  zeigt  allerdings  von  wenig  Ver- 
ständnis für  die  durch  die  neue  Richtung  angestrebte  Reform.  Er 
erzählt,  wie  auch  er  anfangs  von  dem  allgemeinen  Begeisterungs- 
taumel mit  fortgerissen  worden  sei  und  Großes  für  die  Sache  der 
Bildung  erwartet  habe,  aber  nach  eingehender  Kenntnisnahme  der 
nenen  Bewegung  erscheint  sie  ihm  als  gefährlich  für  die  Erziehung 
des  Volkes,  weil  sie  „unter  Spiel  und  Tändelei,  unter  neuen  gym- 
nastischen Übungen,  nach  zwangloser  Freiheit  und  Eigenmächtigkeit 
und  nach  seichter  Methode"  die  Jugend  bilden  wolle.  Es  folgen  noch 
zahlreiche  Bedenken  und  Einwürfe  gegen  Ziel  und  Methode  der 
Philanthropen,  die  ich  als  bedeutungslos  übergehe.  Die  Philanthropen 
fanden  bekanntlich  zu  ihrer  Zeit  selten  Verständnis  und  wenige 
Freunde,  hingegen  viele  Feinde,  besonders  wegen  ihrer  Stellung  zur 
religiösen  Unterweisung  der  Kinder,  die  nach  Basedowscher  Art  wol 
auch  einem  Resewitz  nicht  behagte. 

Um  eine  bessere  Gestaltung  des  Unterrichts  herbeizuführen,  sollte 
in  erster  Linie  für  Herstellung  von  Lehrbüchern  in  allen 
nöthigen  Wissenschaften  gesorgt  werden.  Die  bisherigen  Bücher, 
besonders  die  für  Religion,  sind  ihm  zu  abstract  und  weitschweifig, 
ohne  Verständnis  und  Methode,  so  dass  die  „unverstandenen,  wiewol 
eingebleuten  Worte"  der  Jugend  bald  wieder  verloren  gehen.  Aber 
allgemeine  Veranstaltungen,  die  allein  hierin  gründliche  Abhilfe 
schaffen  könnten,  vermag  er  nirgends  zu  erblicken.  Ohne  Beschaffung 


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guter  Lehrbücher  erscheinen  ihm  alle  Schullehrerseminare  und  andere 
Vorkehrungen,  bessere  Schulleute  zu  erhalten,  erfolglos.  Bekannt 
sind  in  dieser  Beziehung  Basedow's  Bestrebungen,  die  leider  einen  so 
baldigen  Abschluss  fanden.  Resewitz  regte  in  seinen  Erziehungs- 
schriften zur  Abfassung  von  Lehrbüchern  auch  noch  dadurch  an,  dass 
er  Preise  aussetzte  für  die  besten  Lehrbücher  in  der  praktischen 
Logik  (Bd.  IV)  und  zur  Bilduug  des  Stils  (Bd.  III).  In  diesen  Er- 
ziehungsschriften erschienen  auch  Abhandlungen  über  die  Lehrmethode, 
über  Aufmerksamkeit,  Gewöhnung,  über  Ehrliebe  als  Triebfeder  der 
Erziehung,  Natur  und  Anwendung  der  Strafen,  über  mathematischen 
und  deutschen  Unterricht  u.  s.  w. 

Aber  alles,  was  er  und  seine  Mitarbeiter  boten,  sollte  nur  An- 
regungen geben.  So  sollte  auch  die  Abfassung  von  Lehrbüchern 
von  den  tüchtigsten  Männern  des  ganzen  Landes  in  die 
Hand  genommen  und  vom  Staate  geleitet  werden.  Nachdem 
die  Entwürfe  dazu,  sowol  was  die  Auswahl  und  Stufenfolge  des 
Stoffes,  als  auch  was  die  Anpassung  an  die  verschiedensten  Anstalten 
von  der  einfachen  Volksschule  bis  zur  Akademie  betrifft,  gemacht 
worden  sind,  sollen  die  Lehrbücher  gearbeitet  und  Männer  von  ein- 
gehender Fachkenntnis  und  entschiedenem  methodischen  Geschick  zu 
dieser  keineswegs  leichten  Aufgabe  durch  Ausschreiben  von  Preisen 
gewonnen  werden.  Es  erschien  auch  wünschenswert,  dass  von  den 
Lehrern  über  jeden  an  den  Büchern  bemerkten  Mangel  Bericht  er- 
stattet werde,  so  dass  dann  auf  Anregung  der  Oberbehörde  bei  einer 
Neu-Auflage  die  Abstellung  desselben  erfolgen  könne.  Um  den  rechten 
Gebrauch  der  neuen  Bücher  von  seiten  der  Lehrer  zu  verbürgen, 
müssen  genaue  Vorschriften,  wie  die  Bücher  beim  Unterricht  zu  be- 
nutzen, diesen  beigegeben  und  die  künftigen  Schulleute,  sowol  was 
den  Inhalt,  als  die  Darbietung  anbetrifft,  in  den  Lehrerbildungs- 
anstalten angeleitet  werden. 

Befähigte  Schüler  werden  in  den  Stadtschulen  zu  Lehrern  auf 
dem  Lande  ausgebildet.  Sie  erhalten  auch  Anweisung  im  Land-  und 
Gartenbau  und  prakticiren,  um  sich  zu  üben,  in  den  niederen  Schulen 
der  Stadt.  Für  den  Unterhalt  soll,  außer  einem  Barzuschuss  des 
Staates,  vom  Gemeindebesitz  ein  hinreichendes  Stück  Land  dem 
Schulmeister  zugetheilt  werden,  auf  dem  er  verpflichtet  ist,  besonders 
Frucht-  und  Krautgärten  anzulegen,  um  für  diese  damals  noch  wenig 
betriebene  Cultur  dem  Landbewohner  ein  Vorbild  zu  geben.  Der 
Lehrer  führt  die  Jugend  in  den  Schulgarten  und  macht  sie 
der  Jahreszeit  entsprechend  mit  der  Gartenarbeit  und  dem  Bau  der 


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nützlichsten  Producte  bekannt.    Die  Mädchen  erhalten  außerdem 
von  der  Frau  des  Lehrers  Unterweisung  im  Spinnen  und 
Stricken.   So  finden  wir  die  Idee  des  Schulgartens  und  der  weib- 
lichen Handarbeiten  als  eine  Forderung  des  18.  Jahrhunderts  von 
Eesewitz  vertreten.    Die  Schulgartenfrage  ist  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten in  der  pädagogischen  Presse  viel  erörtert  worden,  hat  aber 
bis  jetzt  leider  wenig  praktischen  Erfolg  gehabt,  während  die  weib- 
lichen Handarbeiten  in  vielen  Ländern  als  obligatorischer  Unterrichts- 
gegenstand Einführung  in  die  Volksschule  gefunden  haben. 

Die  Besoldungsfrage  bleibt  für  Resewitz,  da  ihm  eine  reiche 
Erfahrung  darüber  viel  Bitteres  gelehrt  hat,  der  wunde  Punkt,  um 
den  er  nicht  anders  herumzukommen  weiß,  als  dass  er  vorschlägt,  an 
jeder  Schule  nur  einen  ständigen  Lehrer  mit  dem  Titel  Rector  anzu- 
stellen. Ein  sorgenfreies  Auskommen  denkt  er  für  diesen  dadurch  zu 
gewinnen  —  ohne  einen  Mehraufwand  für  Lehrergehälter  nothwendig 
zu  machen,  zu  dem  ja  der  Staat  nicht  zu  gewinnen  war  —  dass  die 
bisher  fUr  6—8  Lehrer  aufgebrachte  Summe  zunächst  zu  ausreichen- 
der Bezahlung  des  Rectors  verwendet  werde,  während  die  unverhei- 
rateten Unterlehrer  sich  mit  einem  geringeren  Gehalte  begnügen 
müssen,  dessen  Unzulänglichkeit  er  voraussieht,  weshalb  er  die  jungen 
Lehrgehilfen  auf  Nebenverdienst  verweist.   Aber  Resewitz  mag  sich 
drehen  und  wenden,  wie  er  will,  die  Thatsache  lässt  sich  nicht  weg- 
leugnen, dass  es  dann  in  der  Schule  nur  einen  Zufriedenen  geben 
wird:  den  Herrn  Rector!  Es  drängt  sich  uns  weiter  auch  die  Frage 
auf:  Was  wird  denn  mit  den  unverheirateten  Unterlehrem?  Wie 
wenigen  wird  es  vergönnt  sein,  Rector  zu  werden!  Sollen  die  andern 
immer  unverheiratet  bleiben  und  sich  mit  einem  Hungerlohn  be- 
gnügen?   Unser  Gewährsmann  findet  einen  billigen  Ausweg.  Die 
Unterlehrer  sind  sämmtlich  Theologen.    Nach  Resewitz'  Plänen  ist 
jeder  Theologe  verpflichtet,  nach  seinem  Studium  drei  Jahre  im  Lehr- 
amt zu  verweilen.    Es  wirkt  geradezu  verblüffend,  wenn  man  liest, 
wie  erst  energisch  dagegen  Verwahrung  eingelegt  wird,  dass  die 
Schule  als  Mittel  für  theologische  Zwecke  benutzt  werde,  und  schließ- 
lich dieselbe  doch  nichts  anderes  wird,  als  das  von  Resewitz  erst  so 
eifrig  abgewehrte  Durchgangsstadium  ins  geistliche  Amt.   Denn  bei 
dem  fortgesetzten  Wechsel  der  Lehrkräfte,  der  sich  aus  solchen  Ver- 
Mfnissen  ergeben  muss,  kann  sich  doch  keine  Schule  wolbefinden. 
Doch  sollten  die  Theologen  auf  der  Universität  für  das  Lehramt  an- 
gewiesen werden,  aber  wie  wenig  Zeit  und  vielleicht  auch  Lust  — 
denn  die  Schule  ist  ja  doch  nicht  Hauptzweck!  —  blieb  dem  Theologen 


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neben  seinem  Studium!  Der  Rector  sollte  auch  jeden  zu  einem 
methodischen  Unterrichte  anleiten;  aber  nach  drei  Jahren  des  Lehr- 
amtes hat  man  noch  lange  nicht  ausgelernt,  und  noch  viel  weniger 
konnte  die  Schule  von  der  verbesserten  Lehrart  des  Präceptors  er- 
heblichen Nutzen  gezogen  haben. 

Wie  über  die  Theilnahmlosigkeit  der  Staatsregierungen, 
so  wird  auch  über  die  der  städtischen  Behörden  geklagt 
und  ihnen  für  die  Zukunft  nach  Resewitz'  Reformplänen  nichts 
anderes  zugestanden,  als  die  Verwaltung  des  Schulvermögens  und  das 
Recht,  aus  den  staatlich  geprüften  Aspiranten  Auswahl  zu  treffen. 
Selbst  der  Einfluss  der  Geistlichen  auf  die  Schule  erfährt  Einschrän- 
kung, da  mit  der  Qualifikation  zum  geistlichen  Amt  die  zur  Schul- 
aufsicht nicht  an  sich  verbunden  sei. 

Als  Schulbehörde  der  Provinz  soll  vielmehr  ein  Schul- 
rath oder  Schuldirectorium  aus  den  tüchtigsten  Schulleuten 
gebildet  werden,  deren  Besoldung  der  Staat  übernimmt. 
Diese  Behörde  hat  die  Lehramts-Candidaten  zu  prüfen,  anzustellen 
und  zu  controliren.  Dabei  wird  sie  von  den  Rectoren,  welche  jähr- 
lich zweimal  über  den  Stand  ihrer  Schulen  berichten  und  von  den 
Superintendenten,  die  jede  Schule  ihres  Bezirkes  jährlich  einmal  be- 
suchen und  darüber  Bericht  einschicken,  unterstützt.  So  leitet  der 
Provinzial-Schulrath  das  Schulwesen  der  ganzen  Provinz,  indem  er 
über  den  Fortschritt  in  der  Bildung  der  Jugend  sich  Kenntnis  ver- 
schafft, Verbesserungen  durchführt  und  die  geeigneten  Lehrkräfte 
unter  Zustimmung  der  Oberbehörde  zu  Rectoren  ernennt. 

Die  oberste  Schulbehörde  ist  das  Ober-Schuldirectorium 
oder  Ober-Schulcollegium  in  der  Residenz,  das  die  Leitung 
des  Schulwesens  im  ganzen  Lande  zu  überwachen  hat.  Es 
erhält  Berichte  von  allen  Provinzial-Schulräthen  und  Pläne  für  Ver- 
besserung des  Schulwesens  der  einzelnen  Provinzen,  resp.  des  ganzen 
Landes.  Jede  Besetzung  vacant  gewordener  oder  Gründung  neuer 
Stellen  erfolgt  nur  unter  seiner  Zustimmung.  Diese  „Schulminist er u 
wissen,  wie  es  um  die  Cultur  der  Nation  in  den  einzelnen  Theilen 
des  Landes  steht,  wo  und  wie  der  Hebel  der  Volksbildung  anzusetzen 
ist.  Es  sind  die  besten  philosophischen  Köpfe,  die  sich  in  Erziehung 
und  Unterricht  vorzüglich  bewährt  haben.  Den  Cousistorien  und 
Oberconsistorien  sollte  das  Recht  der  Schulaufsicht  genommen  werden, 
da  das  Consistorialamt  schon  an  sich  ein  Nebenamt  sei,  wieviel  mehr 
nun  gar  das  der  Schulaufsicht,  und  eine  Verbesserung  der  Erziehung 
daher  von  dieser  Seite  nicht  möglich  sein  könne. 


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Einige  pecuniäre  Opfer  werden  aber  vom  Staate  dringend 
gefordert.  Denn  „wo  der  Kopf  arbeiten  soll,  muss  das  Herz  frei 
sein;  nur  Tagelöhnerseelen  können  Noth  leiden  und  doch  ihr  mecha- 
nisches Tagewerk  dabei  vollenden."  Die  Ausgaben  würden  sich  so 
gar  hoch  nicht  stellen,  da  nur  ein  Theil  der  Mitglieder  in  den  Schul- 
behörden sich  lediglich  der  Aufsicht  und  ^Verwaltung  widmen  sollen, 
während  die  übrigen  zugleich  Leiter  einer  Schule  sein  können.  Den 
großen  Friedrich,  der  ja  Millionen  zum  allgemeinen  Besten  verwandte, 
möchte  man  gern  für  eine  Reform  des  Erziehungswesens  gewinnen. 
Man  ist  gewiss,  ganz  Deutschland  würde  ihm  folgen,  wie  es  seinem 
Geiste  und  Vorbilde  in  vielen  Dingen  schon  nachstrebte. 

Einige  der  tüchtigst  en  Vertreter  desSchulwesens  wünschte 
Kesewitz  als  Mitglieder  der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Berlin  zu  sehen,  um  sie  der  Nation  als  ihre  ersten  Köpfe  und  als 
die  verdientesten  Männer  des  Staates  zu  zeigen.  Dass  man  aber  zu 
Mitgliedern  der  Akademie  gar  Fremde  aus  dem  Auslande  berufe 
(wie  das  ja  unter  Friedrich  II.  geschah),  wird  in  heftigen  Worten 
getadelt,  da  solche  Leute  die  eigenartige  Culturentwickelung  des 
deutschen  Volkes  weder  verstehen  wollten,  noch  könnten,  ja  wol  gar 
mit  Geringschätzung  anblickten. 

Der  Staat  soll  sich  endlich  für  die  Sache  der  Erziehung  erwärmen, 
das  Schulwesen  in  seine  Hand  nehmen  und  die  Erziehung  des  heran- 
wachsenden Geschlechts  nicht  mehr  als  eine  geringfügige  Nebensache 
behandeln,  die  man  blos  ehrenhalber  betreibe.  Komme  es  denn  im 
Staate  lediglich  darauf  an,  möglichst  viel  Geld  einzunehmen  oder  die  Miliz  zu 
vermehren?  Selbst  diese  verkehrte  Ansicht  zugestanden,  sagt  Resewitz, 
ist  nicht  lediglich  ein  blühendes  Gewerbe  die  Quelle  des  Reichthums? 
Und  wodurch  anders  als  durch  Unterricht  und  Erziehung  wird  das 
Volk  zum  Fortechritt  in  Cultur  und  Gewerbe  befähigt?  Das  Bildungs- 
wesen der  Nation  verdiente  also  wol  ein  besonderer  Zweig 
der  Staatsaufsicht  und  Staatsverwaltung  zu  werden.  „Aber 
so  lange  man  es  noch  nicht  überzeugend  einsieht,  dass  das  wahre 
Capital  des  Staates  in  dem  Kopfe  und  der  Geisteskraft  seiner  Glieder 
besteht,  so  lange  ist  auch  an  keine  Nationalerziehung  uud  an  keinen 
allgemeinen  Plan  dazu  zu  denken." 

Ziehen  wir  in  kurzen  Worten  das  Resultat  der  vorstehenden 
Ausführungen,  so  finden  wir:  Resewitz  ist  gleich  Francke,  Hecker, 
Semler  u.  a.  Vertreter  des  Realismus  und  Gegner  jener  einseitig 
philologischen  Richtung  des  Humanismus.  Ohne  die  altclassischen 
Sprachen  ganz  verdrängen  zu  wollen,  verlangt  er  die  Berücksichtigung 


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der  lebenden  Sprachen  und  der  Realien,  überhaupt  Bildung  für  das 
praktische  Leben.  Während  das  Bildnngsziel  der  Philanthropen  die 
allgemeine  Jlenschenbildung  war,  willResewitz  für  jeden  Stand  die  ihm  ent- 
sprechende Bildung,  fordert  also  die  Standesschule.  Mit  wachsendem 
Erstaunen  sieht  man,  wie  die  von  ihm  vertretenen  Forderungen: 
dass  zur  Heranbildung  tüchtiger  Lehrkräfte  vor  allem  gediegene  Lehr- 
bücher nöthig  seien,  dass  den  Gemeinden,  Schulpatronen  und  Provin- 
zial-Verwaltungen  die  alleinige  Entscheidung  in  Schulangelegenheiten 
genommen  und  dem  Staate  übertragen  werden,  dass  die  Schulaufsicht 
aus  den  Händen  der  Geistlichen  in  die  pädagogisch  gebildeter  Männer 
gelegt  und  die  Schulverwaltung  auch  in  ihrer  obersten  Spitze  von 
der  kirchlichen  Verwaltung  getrennt  werden  müsse,  schon  in  den 
nächsten  Jahren  und  Jahrzehnten  Anerkennung  finden  und 
Wirklichkeit  erlangen.  »König  Friedrich  Wilhelm  II.  trennte  sofort 
nach  seinem  Regierungsantritt  die  Schulangelegenheiten  in  der  höchsten 
Instanz  von  dem  geistlichen  Fache  und  setzte  am  22.  Februar  1787 
das  Ober-Schulcollegium  ein;  in  der  Instruction  für  dasselbe  bestimmt 
er,  dass  es  „das  gesammte  Schulwesen  auf  das  zweckmäßigste  einzu- 
richten und  immer  zu  verbessern"  habe,  verpflichtet  es,  dafür  Sorge 
zu  tragen,  dass  „tiberall  zweckmäßige  Schulbücher  gebraucht  und 
eingeführt  und  wo  solche  mangeln,  durch  tüchtige  Männer  angefertigt 
werden".  Auch  flfir  gute  Lehrmethode  soll  gesorgt  und  nur  der  in 
einer  Stadtschule  angestellt  werden  oder  in  eine  höhere  Stelle  auf- 
rücken, der  seine  Tüchtigkeit  vor  dem  Ober-Schulcollegium  nach- 
gewiesen hat.  Den  Ämtern  und  Magistraten  wird  das  Recht,  irgend- 
welche beliebigen  Leute  zu  Lehrern  zu  erwählen,  abgesprochen.  Es 
wird  auf  die  Gründung  von  Seminaren  hingewiesen  und  der  Ober- 
schulbehörde die  öftere  Revision  des  Schulwesens  zur  Pflicht  gemacht. 
An  den  Lehrbüchern  und  Methoden  aufgefundene  Mängel  sollen  sofort 
abgestellt  werden.  (Vergl.  Beckedorif,  S.  45  u.  48  fg.) 

In  bestimmten  Worten  kam  unter  Friedrich  Wilhelm  II.  der 
Gedanke,  dass  die  Schule  ein  Institut  des  Staates  sei.  zum  Ausdruck. 
Das  schon  unter  Friedrich  II.  entworfene,  aber  erst  1794  veröffent- 
lichte Landrecht  erklärt  Universitäten  und  Schulen  für  „Veranstal- 
tungen des  Staates"  und  stellt  die  rechtlichen  Grundlagen  des  Schul- 
wesens in  der  Weise  fest,  wie  sie  auch  in  der  Verfassungsurkunde 
vom  Jahre  1850  enthalten  und  noch  heute'  für  die  gesammte  preußische 
Monarchie  geltend  sind.  In  dem  Generalbericht  des  Ministers  Massow 
über  seine  Visitationsreise  1798-1801  (vergl.  Keller,  S.  109)  heißt 
es:   „Das  Object  der  Reform  ist  Nationalerziehung  und  das  Terrain 

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—   85  — 

müssen  sämmtliche  preußische  Staaten  sein."  Auch  Massow  weist 
dringend  auf  die  Notwendigkeit  guter  Schulbücher  hin  und  spricht 
in  Bezug  auf  den  Religionsunterricht  den  Wunsch  aus,  „dass  der  Reli- 
gionsunterricht auf  die  allgemeinen  Wahrheiten  der  Religion  und  auf 
die  allen  kirchlichen  Parteien  gemeinsame  Sittenlehre  eingeschränkt 
werde."  Dass  man  auch  anfing,  der  Schule  einige  Selbstständigkeit  zu- 
zuerkennen und  das  Unterrichten  als  eine  Kunst  anzusehen,  die  ihre 
eignen  Gesetze  hat  und  gleich  jeder  andern  Kunst  erlernt  sein  will, 
das  zeigt  das  Schulreglement  für  Schlesien  vom  18.  Mai  1801,  §  51 
(vergl.  Keller,  S.  138  fg.),  in  dem  es  heißt:  „Zu  Schulinspectoren 
sind  bisher  immer  die  Priester  genommen  worden;  allein,  da  beide 
Amter  sehr  fuglich  getrennt  werden  können  und  der  Schulinspector 
vorzüglich  ein  munterer,  thätiger,  in  der  Pädagogik  erfahrener  Mann 
sein  muss,  so  soll  die  Vereinigung  beider  Posten  in  einer  Person  nicht 
mehr  noth wendig  sein.u 

Wir  sehen:  Im  18.  Jahrhundert  entstanden  Entwürfe  für  manches 
Große,  das  sehr  oft  für  eine  Errungenschaft  speciell  des  19.  Jahrhun- 
derts gehalten  wird;  und  manches,  was  schon  vor  hundert  Jahren 
keimte,  ist  noch  heute  nicht  zur  Reife  gekommen.  Ich  unterlasse  es, 
Vergleiche  mit  den  heutigen  Verhältnissen  anzustellen,  da  sie  dem 
Leser  sich  von  selbst  aufdrängen  werden.  Nur  auf  eins  möchte  ich 
noch  hinweisen:  Wenn  man  die  jetzige  Stellung  der  Pädagogik  und 
der  Pädagogen  bespricht,  so  geschieht  es  oft,  dass  man  entweder  des 
Klagens  kein  Ende  findet,  oder  das  Thema,  wie  wir's  doch  so  herr- 
lich weit  gebracht,  in  allen  möglichen  und  unmöglichen  Tonarten 
variirt.  Aber  wahren  wir  uns  immer  den  historischen  Blick,  suchen 
wir  bei  allem  die  Entstehung  und  bisherige  Entwickelung  zu  ergrün- 
den und  zu  verstehen.*  Denn  alles  Geschehen  ist  ein  Sich-Entwickeln, 
und  nur  wenn  wir  die  Vergangenheit  kennen,  stehen  wir  mit  festen 
Füßen  in  der  Gegenwart  und  sind  ein  gutes  Bindeglied  für  die  Zu- 
kunft. Dann  werden  wir  bescheiden  bezüglich  der  eigenen  Person 
und  gerecht  in  der  Würdigung  früherer  Männer  und  Zeiten,  stolz  und 
kampfbereit,  wenn  es  gilt,  das  von  den  Großen  des  Standes  gehaltene 
Banner  zu  schützen,  fest  und  treu,  wenn  es  darauf  ankommt,  für  des 
Standes  Wol  und  Wehe,  für  seine  Zukunft  einzutreten. 


14.  J«hrg.  Heft  II. 


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Eine  Analogie. 

Von  Oberlehrer  Joh.  IApp-Matzendorf,  N.-Ö. 

Wenn  in  dem  socialen  Getriebe  des  Alterthums  vornehmlich  Indivi- 
duen die  Zielpunkte  der  niedrigsten  Begeiferung  waren,  so  sind  es  in  der 
Gegenwart  Stände  und  Parteien.  Das  individuelle  Martyrium  hat  sich 
den  fortgeschritteneren  Verhältnissen  gemäß  zu  einem  Standesmartyrium 
ausgeweitet.  So  waren  es  besonders  Sokrates  und  Christus,  welche 
ihre  hochherzige  Veranlagung,  ihre  göttliche  Sendung  mit  einem 
schimpflichen  Tode  entgelten  mussten,  aber  dadurch  gleichzeitig  mit 
ihrem  Blute  besiegelten. 

Sophisten  waren  'es  vornehmlich,  welche  Sokrates  anfeindeten 
weil  ihnen  seine  Lehre,  wie  sein  Wandel  nicht  in  ihren  sophistischen 
Kram  passte.  Pharisäer  waren  es  vornehmlich,  welche  Christum  ver- 
folgten, weil  ihnen  seine  gotterfüllte  Lehre,  wie  sein  göttlicher  Wandel 
die  Maske  der  Heuchelei  von  dem  selbstgefälligen  Gesichte  riss. 

Die  Aufgabe  der  Culturentfaltung,  die  damals  den  Schultern  Ein- 
zelner aufgebürdet  erschien,  erscheint  gegenwärtig  auf  die  Schultern 
vieler  Gleichgesinnter,  auf  die  Schultern  ganzer  Stände  übertragen  — 
und  demgemäß  entleert  sich  der  Hass  des  sophistisch-pharisäischen 
Geschlechts  nicht  so  sehr  über  dem  Haupte  eines  Einzelnen*),  als 
vielmehr  über  den  Häuptern  des  ganzen  Standes.  Während  indessen 
die  alterthümliehe  Beschränktheit  des  Volkes  den  Finsterlingen  eine 
plumpe  Kampfesweise  gegen  die  Strahlenträger  göttlichen  Lichtes  ge- 
stattete, sieht  sich  gegenwärtig  die  Phalanx  derselben  zufolge  der 
vorsichtigeren  Urtheilsthätigkeit  der  Gegenwart  genöthigt,  die  unge- 
schickte Keule  plumper  Angriffe  mit  dem  handlicheren  Stilet  spitz- 
findiger Verleumdungen  und  jesuitischer  Verdrehungen,  dessen  Spitze 
mit  Leichengift  imprägnirt  ist,  umzutauschen  und  über  die  Fratze 
boshafter  Leidenschaftlichkeil  die  trügerische  Maske  edler  Biederkeit 

*)  Doch!  überall  sind  die  Führer  des  Fortschritte!}  in  erster  Linie  dem  Hasse 
und  der  Verfolgung  ausgesetzt.   D.  R. 


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-    87  - 

und  tiefer  Frömmigkeit  za  ziehen.  Es  ist  der  Kampf  des  Hercules 
mit  dem  Antäos,  den  die  Vervollkommnung  des  Menschengeschlechtes 
mit  dem  finsteren  Geiste  der  volksfeindlichen  Reaction  kämpft,  wobei 
den  Eulen  der  Nacht  der  blinde  Autoritätsglaube  der  Massen  die 
Mutter  Erde  ist,  aus  der  sie  stets  neue  Widerstands-,  stets  sich  verjüngende 
Agitationskraft  schöpfen,  und  wobei  die  Loslösung  ihrer  Principien 
von  dem  Bildungsinteresse  des  Volkes  das  Zerdrücken  des  Aufklärungs- 
feindes in  der  Luft  darstellen  wird.  — 

Wenn  man  den  Process  des  Sokrates  ins  Auge  fasst,  des  bedeu- 
tendsten Weisen  und  Lehrers  der  vorchristlichen  Zeit,  so  findet  man 
in  dessen  drei  Anklägern  Anytos,  Lykon  und  Melitos,  sowie  in  deren 
von  dem  letzteren  bei  dem  Archonten-Könige  eingereichten  förmlichen 
Schriftklage  eine  verblüffende  Analogie  mit  unseren  Feinden  und 
unserer  gegenwärtigen  Lage.  Es  repräsentiren  die  genannten  drei 
Ankläger  das  ganze  Heer  der  modernen  transalpinischen  Finsterlinge. 
Das  Richtercollegium  der  Heliasten,  dem  die  Sache  übergeben  worden 
und  welches  bei  jenem  Processe  ans  mehr  als  500  Richtern  bestand, 
finden  wir  in  der  Schar  der  theils  übelwollenden,  theils  übelberathenen 
Masse  wieder,  welcher  der  giftschwangere  Dunst  der  in  der  unheilvollen 
Hexenküche  gebrauten  Machinationen  auf  geschickte  Art  applirirt 
wird.  Und  vollends  erst  die  Anklage!  Sie  lautete:  „Melitos,  Sohn 
des  Melitos  aus  Pitthos,  erhebt  und  beschwört  gegen  Sokrates,  des 
Sophroniskos  Sohn  aus  Alopeke,  die  peinliche  Klage:  Sokrates  begeht 
ein  Verbrechen,  indem  er  nicht  an  die  Staatsgötter  glaubt,  sondern 
anderes,  neues  Dämonisches  einführt;  er  begeht  auch  ein  Verbrechen, 
indem  er  die  Jugend  verführt.  Die  Strafe  sei  der  Tod."  —  Sie 
lautet  gegen  die  Neuschule  heute  ebenso.  Wir  brauchen  in  ihr  blos 
die  Namen  den  Umständen  gemäß  zu  ändern  —  und  wir  haben,  wie 
wir  es  nicht  besser  wünschen  können,  sämmtliche  Anwürfe  der  Dunkel- 
männer gegen  jene  Institution  in  wenigen  Worten  treffend  zum  Aus- 
drucke gebracht. 

Das  Verderben  der  Jugend,  welches  seinerzeit  dem  Sokrates  und 
gegenwärtig  auch  der  Schule  oft  genug  vorgeworfen  wurde,  war  und 
ist  nichts  anderes,  als  die  Entwickelung  einer  neuen  Bildung  und  Er- 
ziehungsweise, worin  die  Dunkelmänner  den  ihre  Tendenzen  durch- 
kreuzenden Krebsschaden  wittern,  der  sich  mit  Centnerlast  an  ihr 
„menschenfreundliches"  Bestreben  heftet,  die  vorgeschrittene  Zeit  auf 
ihren  früheren  Standpunkt  zurückzudrehen. 

In  dem  Leben  des  Sokrates  so  wenig  wie  in  der  Bethätigung  der 
Neuschule  sehen  wir  eine  Handlung,  die  verdiente,  wie  es  damals 

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geschah  and  heute  geschieht,  mit  Namen  belegt  zu  werden,  wie  die  von 
pharisäischer  Selbstgefälligkeit  im  Tempel  der  Journalistik,  im  Bruder- 
hause der  Nächstenliebe  so  oft  variirten.  Heute  wie  damals  findet 
der  rechtschaffene  Kritiker  in  den  beiderseitigen  Bestrebungen  des 
Cultu8fortschrittes  keine  Aufforderung  zum  Aufrühre,  weder  gegen 
Staat,  noch  Kirche,  außer  gegen  Dummheit  und  Aberglaube  —  sondern 
nur  Lehre;  keine  andere  Gewalt,  als  die  des  Wissens  und  der  Liebe; 
keine  durch  Stiftung  geheimer  Gesellschaften  und  Verbindungen  ent- 
standene Partei  im  Staate;  nicht  einmal  ein  offensives  Vorgehen 
gegen  die  Hamster  der  Volkswolfahrt!  So  fehlen  also  beiderseits 
alle  Kriterien  eines  verabscheuenswerten  Nihilismus,  wie  er  insbeson- 
dere der  Neuschule  und  dem  „neuzeitigen"  Lehrstande  von  Dümmlingen 
oder  niedrigen  Sclavenseelen  vorgeworfen  wird. 

Aber  Sokrates'  Schüler,  Alkibiades,  Kritias,  die  dem  Volk  und 
Staat  so  viel  Unheil  bereitet  haben?  —  Aber  die  (sehr  vereinzelten!!) 
Fälle  jugendlicher  Verbrecher,  welche  der  Neuschule  entwachsen  sind?  — 
Bestätigt  nicht  das  Betragen  derselben  die  dem  Sokrates,  die  der 
Neuschule  vorgeworfene  schlechte  Einflussnahme  auf  die  Jugend?  — 
0  des  bedauernswürdigen  Lehrers,  der  unbedingt  verantwortlich  ge- 
macht werden  soll  für  die  Gesinnungen  seiner  an  Anlagen  und  Nei- 
gungen so  verschiedenen  Schüler,  deren  Gemüth  durch  Eltern,  Haus- 
erziehung, Familienereignisse,  geselliges  Leben,  Schicksale  u.  dgl.  oft 
so  widerstrebende  Eindrücke  erhält!  Wir  mögen  uns  freuen,  wenn 
gut  geartete  Seelen,  unserer  alleinigen  Obhut  anvertraut,  in  ihren 
reinen  Gefühlen  und  Gesinnungen  bewahrt,  und  bösartige  in  der 
Ausbildung  sinnlicher  Begierden  zurückgehalten  werden.  Aber  welcher 
Lehrer  sollte  in  einem  erfahrungsreichen  Leben  nicht  schon  einen 
kleinen  Alkibiades  unter  seinen  Schülern  gehabt  haben,  für  dessen 
Zukunft  er  sich  nicht  verbürgen  mochte?  —  Und  wo  bleibt  übrigens 
die  religiös-sittliche  Einflussnahme  der  Katecheten?  —  Sollten  diese, 
wenn  der  Lehrer  für  einzelne  Entartungen  individueller  Entwickelung 
verantwortlich  gemacht  wird,  an  der  Mitschuld  eines  solchen  Falles 
leer  ausgehen?  —  Fanden  sich  unter  den  oligarchisch  gesinnten 
Schülern  des  Sokartes  einige,  die,  obwol  gewandt  in  der  Rede,  doch 
ehrgeizig  in  ihren  Gesinnungen,  grausam  und  ungerecht  in  ihren 
Handlungen  waren,  so  beweist  dies  nur,  dass  sie  wol  anderes,  aber 
nicht  die  weise  Beherrschung  ihrer  selbst  von  ihrem  Lehrer  erlernt, 
nicht  sein  Gemüth  sich  angeeignet  hatten.  Ein  blos  gemüthlicher 
Mensch  ist  freilich  nur  ein  Schwächling;  aber  ein  geistvoller  ohne 
Gemüth  ein  verderbliches  Ungeheuer.  —  Finden  sich  nun  unter  den 


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unserer  Schale  entwachsenen  Schülern  hie  and  da  manche,  denen  der 
Friedenskranz  der  Tagend  nicht  zugesprochen  werden  kann,  so  beweist 
dies  ebenfalls  nur,  dass  auf  sie  neben  den  sittlich  bildenden  Einflüssen 
der  Schale  und  des  Lehrers  noch  andere,  den  Sittlichkeitscanon  ver- 
dunkelnde Einflüsse  mit  verderblicher  Nöthigung  eingewirkt  haben 
und  dass  sie-  wol  anderes,  aber  nicht  die  Principien  des  Lehrers  in 
sich  aufgenommen  haben.  —  Ihr  Weltverbesserer!  Hier  setzt  euren 
Hebel  ein!  Da,  wo  die  wahren  Ursachen  socialer  Entartungen  wie  in 
Maulwurfslöchern  verderbliche  Gifte  ausbrüten;  wo  der  fressende  Rost 
menschlichen  Elends  menschliche  Regungen  zernagt;  wo  die  Parias 
der  Gesellschaft  verachtet  und  gemieden  von  den  sogenannten  „Gebil- 
deten" umsonst  nach  bildendem  Umgang  schmachten;  wo  sie  verbittert 
gegen  Gott  und  Welt  selbst  die  Wolthat  der  Sonne  hassen,  weil 
ihnen  deren  Licht  ihr  sociales  Elend  nur  desto  greller  beleuchtet  — 
da  streckt  eure  „biedere"  Bruderhand  aus,  reicht  sie  dem  Nächsten 
brüderlich  hin  und  zieht  ihn  liebevoll  an  euer  Herz!  Schafft  Froh- 
sinn statt  Knechtsinn,  Brudersinn  statt  Kastengeist,  Duldung  statt 
Verfolgungswahn  —  und  ihr  werdet  Gelegenheit  haben  zu  sehen,  ob 
auch  dann  noch  „Räuber  und  Diebe"  aus  der  Neuschule  hervorgehen. 
Übrigens  denkt  der  Unparteiische  über  euer  Verhalten:  Parturiunt 
montes,  nascetur  ridiculus  mus! 

Sowie  Sokrates  für  das  Alterthum  der  Stammvater  der  Sittenlehre 
gewesen,  ebenso  ist  für  die  Neuzeit  die  Neuschule  ein  Grundpfeiler 
echter  Humanität  Man  bedenke  nur,  wie  die  durch  die  zunehmende 
künstliche  Verknöcherung  des  Dogmenglaubens,  durch  den  überhand 
nehmenden  Sport  in  der  Vereinsreligion,  durch  die  Materialisirung  des 
Immateriellen  in  der  Religionstibung  herbeigeführte,  genährte  und 
potenzirte  Heuchelei,  Intoleranz,  Gesinnungsniedrigkeit  und  Selbst- 
sucht der  Massen  den  Einflüssen  des  modernen  Bildungswesens  all- 
mählich wich,  um  sich  nach  und  nach  in  die  Bethätigung  echter 
Menschlichkeit  umzuwandeln  —  und  man  wird  die  echt  christliche 
Bedeutung  der  Neuschule  zu  würdigen  wissen. 

Tychsen  sagt  über  Sokrates:  „Der  eigenthümliche  Charakter  und 
das  größte  Verdienst  des  Sokrates  war,  dass  seine  ganze  Philosophie 
auf  die  Sittenlehre,  auf  Verbesserung  des  Herzens  und  Beförderung 
der  Tugend  leitete.   Bisher  war  der  Hauptgegenstand  der  Philosophie 

.seines  Zeitalters  Speculation  von  überirdischen  Dingen  

Auf  das  praktische  Leben  nahm  man  wenig  Rücksicht;  die  ganze 
Weisheit  der  damaligen  Philosophie  bestand  in  abstracten  Unter- 
suchungen, sowie  die  der  Sophisten  in  einer  künstlichen  Beredsamkeit, 


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—    90  — 


und  die  letzteren  lehrten  viele  Grundsätze,  die  für  die  Tugend  ebenso 
nachtheilig,  als  für  die  Ruhe  der  Staaten  gefährlich  waren.  Sokrates 
war  der  erste,  der  das  Unnütze  und  Gefährliche  dieser  Bestrebungen 

einsah  Er  war  es,  der  statt  einer  überirdischen  Weisheit 

eine  menschliche,  gemeinnützige  Weisheit  [unter  seine  Mitbürger  ver- 
breitete  u 

Klingt  dies  Urtheil  über  Sokrates  nicht  ebenso,  als  ob  es  sich 
auf  die  moderne  Pädagogik  bezöge,  deren  Schmerzenskind  die  Neu- 
schule ist?  —  Hat  es  diese  gegenüber  der  Anstrebung  eines  chine- 
sischen Formelwesens  durch  die  klerikale  Partei  nicht  ebenso  auf 
Verinnerlichung  der  Bildung,  auf  Verbesserung  des  Herzens  und  Be- 
förderung der  Tugend  abgesehen?  War  nicht  bis  zur  Schaffung  der 
modernen  Pädagogik  die  ganze  Welt  in  überirdische  Speculation  befangen? 
Hatten  es  die  früheren  Bildungsanstalten  nicht  hauptsächlich  auf  eine 
Wortbildung  abgesehen?  —  Weisheit  (durchaus  nicht  die  dem  moder- 
nen Bildungswesen  vorgeworfene,  aber  in  Jesuiten  schulen  florirende 
Kenntni8krämerei)  gilt  uns  ebenso  als  Inbegriff  aller  Tugenden  oder 
alles  Schönen  und  Guten,  wie  einst  Sokrates.  Aus  ihr  geht  die 
Glückseligkeit  noth wendig  hervor,  indem  Weisheit  und  Wolsein  so 
innig  miteinander  verbunden  sind,  dass  sie  eben  dadurch  das  höchste 
Gut  des  Menschen  ausmachen.  Die  Neuschule  lehrt  eigentlich  nichts 
anderes,  als  die  Moral  Sokrates,  die  Moral  Christi.  Denn  indem  sie 
klare  Vorstellungen  vermittelt  und  zum  richtigen  Denken  anleitet,  mit 
den  Vorstellungen  aber  das  Gemüth  in  innigem  Zusammenhang  steht» 
disciplinirt  sie  die  Gefühle,  den  Willen,  den  Charakter. 

Die  Art  des  Lehrens  ist  bei  Sokrates,  wie  bei  Christus,  wie  bei 
der  Neuschule  populär.  Jene  beiden  werden  von  der  modernen  Päda- 
gogik stets  als  leuchtende  Vorbilder  gefeiert  werden.  Die  Menschheit 
dem  Zwecke  ihres  Daseins  immer  näher  zu  bringen,  das  ist  das  Ziel, 
das  sich  alle  drei  Culturfactoren  vorgesteckt  hatten.  Das  Gute  zu 
erkennen  als  das  Absolute,  besonders  in  Beziehung  auf  Handlungen, 
und  jeden  zum  Nachdenken  über  sein  Verhältnis  zu  der  gesammten 
Erscheinungswelt  zu  führen  —  das  bildet  das  Wesen  ihrer  Lehren. 

Sokrates,  wie  Christus  waren  Lehrer;  und  es  erscheint  als  eine 
absichtliche  und  zielbewusste  Verdrehung  liistorischer  Thatsachen, 
wenn  man  den  letzteren  als  Priester,  als  Hierarchisten  hinstellt  und 
aufgefasst  wissen  will;  denn  weder  fungirte  er  jemals  als  solcher» 
noch  hielt  er  sich  selbst  für  einen  solchen  und  wurde  auch  niemals 
als  solcher  von  seinen  Mitmenschen  angesehen.  Im  Gegen theil  er  befand  sich 
gerade  in  contradictorischem  Gegensatz  zu  der  damaligen  Hierarchie  und 


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bekämpfte  dieselbe  in  ihren  entsittlichenden  Einflüssen  auf  das  ent- 
schiedenste, wodurch  er  seinen  Untergang  herbeiführte.  Mit  Recht 
dürfen  wir  deshalb  sagen,  Sokrates  und  Christus  sind  Ahnen  unseres 
Standes.  Als  Lehrer  treiben  wir  ebenso  wie  jene  das  Lehren  als 
einen  uns  zum  Bedürfnis  gewordenen  Tagesberuf,  ohne  allen  Eigen- 
nutz und  insbesondere  nicht  wie  eine  gewisse  Partei  im  Staate,  welche 
ans  ihrem  Berufe  ein  dominirendes  Wechselgeschäft  macht.  Unser 
Lehren  ist  eine  fortwährende  geistige  Anregung  zu  selbstständiger 
Bethätigung  des  Menschengeistes  und  Menschenherzens,  das  Qegentheil 
der  modernen  Sophisten,  die  durch  künstlich  ausgearbeitete  Reden  ihre 
Znhöher  mehr  verführen  als  belehren. 

Wenn  wir  die  Geschichte  der  Menschheit  durchlaufen,  so  werden 
wir  überall  bestätigt  finden,  dass  da,  wo  außerordentliche  Männer  als 
Reformatoren  auftraten,  sich  auch  immer  zwei  Parteien  bildeten,  deren 
eine  sie  hasste  und  verfolgte,  während  die  andere  sie  liebte  und  ver- 
ehrte. Dasselbe  gilt  auch  von  reformatorischen  Institutionen.  Wie  ist 
es  auch  anders  möglich!  Schon  das  Neue  einer  Lehre  oder  Institution 
als  solches  hat  für  viele  Tausende  eine  abstoßende  Kraft,  da  sie  theils 
das  Bessere  nicht  einsehen  oder  nicht  einsehen  wollen,  theils  für  ihr 
eigenes  Interesse  einen  Nachtheil  davon  fürchten.  Ist  es  nicht  so  ge- 
wesen bei  Sokrates  und  Christus  —  und  ist  es  nicht  so  bei  der  Neu- 
schule? Und  an  ihr,  analog  der  Lebensgeschichte  Sokrates'  und 
Christi,  verwirklicht  sich  jener  gehässige  Widerstand  umsomehr,  da 
sowol  sie  selbst  als  Institution  wenig  äußere  Macht  besitzt,  wie  auch 
ihre  unmittelbaren  Träger,  die  Lehrer,  weder  durch  Rang  und  Reich- 
thum, noch  durch  Prunkmittel  auf  irgend  welche  Art  bevorzugt  und 
gewichtigt  erscheinen,  sondern  nur  durch  den  Geist  der  modernen 
Pädagogik,  der  durch  seine  stark  einwirkende  Kraft  auf  das  Volks- 
bewusstsein  einen  um  so  stärkeren  Gegensatz  in  den  Übelwollenden 
hervorbringt. 

Fassen  wir  die  sich  auffällig  genug  darbietende  Analogie  zwischen 
dem  gegenwärtigen  Verhältnis  der  Neuschule  'zu  den  Pharisäern  der 
Neuzeit  und  dem  einstigen  Verhältnisse  Christi  zu  denen  des  hebräi- 
schen Alterthums  ins  Auge,  so  ist  es  gerade  so,  als  ob  ein  Kreislauf 
der  Weltbegebenheiten  bestünde,  in  dem  sich  principiell  dieselben 
Culturkämpfe  unter  äußerlich  veränderten  Umständen  wiederholen.  — 
Mit  kühnem  Freimuthe  wurde  beiderseits  gegen  den  erbärmlichen 
Charakter  und  die  niedrigen  Absichten  der  Pharisäer  gekämpft,  wurde 
das  Volk  zum  Selbstbewusstsein,  zur  geistigen  Selbstbefreiung,  zur 
sittlichen  Selbstverjüngung  zu  erheben  gesucht.    Deshalb  reagirt  die 


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Pharisäerzunft  am  stärksten  gegen  die  Grundsätze  der  modernen 
Pädagogik,  Institutionen  des  göttlichen  Geistes,  und  sucht  das  Volk 
zur  Vernichtung  der  Neuschule  aufzureizen,  um  dann  zu  ihrem  eigenen 
Vortheile  einen  Staat  im  Staate  herzustellen. 

Sowie  sich  Jesus  durch  seine  göttliche  Wirksamkeit  zahlreiche 
Schüler  und  Anhänger  sammelte,  ebenso  gewann  die  Neuschule  durch 
ihr  redliches,  treues  Bemühen  im  Sinne  unseres  erhabenen  Religions- 
stifters immer  mehr  an  Boden.  Sowie  Jesum  die  Pharisäer  hassten, 
weil  sie  in  ihm  den  Volksaufklärer,  den  gefährlichsten  Feind  ihrer 
Heirschaft  erblickten,  ebenso  und  aus  demselben  Grunde  hassen  die 
modernen  Pharisäer  die  Neuschule.  

Indes  mit  Beruhigung  dürfen  wir  der  Vervollkommnung  des 
Menschengeschlechtes  entgegen  blicken;  denn  die  Wahrheit  ist  unsterb- 
lich wie  Gott!  Das  beweist  die  Weltgeschichte  in  allen  ihren  Phasen. 
Wie  die  Übelwollenden  wol  Sokrates  und  Christus  tödten  konnten, 
aber  nicht  imstande  waren,  das  Princip  ihrer  reformatorischen  Thätig- 
keit  zu  vernichten,  so  kann  es  den  Übelwollenden  der  Gegenwart 
höchstens  gelingen,  die  jetzige  Form,  in  welche  sich  ganz  dasselbe 
Princip  kleidet,  ihrem  Vandalismus  zu  opfern  —  das  Princip  selbst 
aber  bleibt  ihrer  Vernichtungsmanie  unerreichbar.  Es  ist  und  bleibt 
ein  Phönix,  der  aus  der  Asche  wieder  ersteht  und  herrlicher  sich 
selbst  verjüngt. 

Der  Angriffspunkt  des  Widerstandes,  welcher  bei  Sokrates  und 
Christus  vorhanden  war,  war  dies,  dass  das  Princip  nur  als  Eigen - 
thum  eines  Individuums  auftrat.  Der  Angriffspunkt  der  Opposition, 
welcher  in  den  gegenwärtigen  Culturbestrebungen  liegt,  ist  dies,  dass 
das  Princip  als  Eigenthum  einer  Partei  auftritt.  Es  wird  aber  eine 
Zeit  kommen,  in  der  das  Princip  nicht  mehr  als  Eigenthum  eines 
Individuums,  nicht  mehr  als  Eigenthum  einer  Partei,  sondern  als 
Eigenthum  der  ganzen  Menschheit  auftritt  —  und  dann,  übelwollende 
Opposition!  bist  du  gerichtet!  —  Dass  diese  Zeit  mit  Zuversicht  er- 
wartet werden  kann,  erhellt  schon  daraus,  dass  jenes  Princip  trotz 
jahrhundertelanger  Widerstandskämpfe;  sich  doch  allmählich  den  Boden 
einer  großen  Partei  errungen  hat,  dass  es  nicht  mehr  individuell  ist, 
wie  bei  Sokrates  und  Christus,  dass  es  aus  seinem  ersten  Macht- 
stadium in  das  zweite  eingetreten  ist,  dem  das  dritte  Stadium,  das 
der  allgemeinen,  universellen  Geltung,  vermöge  der  Lebens-  und 
Überzeugungskraft  jenes  Princips  wird  folgen  müssen. 


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Beiträge  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes  in  Bezug  auf 

Inhalt  und  Lehrweise. 

Von  Prof.  und  Direktor  Theodor  Vernaleken-Graz. 
VI.  Socialismus  und  Religionsunterricht.*) 


_Lfie  sociale  Frage  der  Gegenwart  und  wie  sie  zu  beantworten 
und  zu  lösen  ist  —  das  beschäftigt  jetzt  alle  Köpfe,  die  lehrend,  ge- 
setzgebend oder  regierend  Einfluss  haben  auf  die  Gesellschaft. 
Da  bat  vor  kurzem  ein  junger  Theologe  den  guten  Einfall  gehabt, 
den  richtigen  Weg  der  eignen  Anschauung  und  Erfahrung  zu  betreten, 
indem  er  drei  Monate  lang  unerkannt  als  Fabrikarbeiter  in  Chemnitz 
zubrachte,  also  in  dem  Mittelpunkte  der  sächsischen  Großindustrie  und 
einem  der  Hauptorte  der  Socialdemokratie.  Darauf  veröffentlichte  er 
die  lehrreiche  Schrift:  „Drei  Monate  Fabrikarbeiter  und  Handwerks- 
bursche.  Eine  praktische  Studie  von  P.  Göhre,  Candidaten  der  Theo- 
logie; Leipzig  bei  Wilh.  Grunow,  1891." 

Diese  Schrift  gewährt  nicht  blos  einen  tiefen  Einblick  in  die 
Arbeiterwelt,  sondern  ist  auch  in  pädagogischer  Hinsicht  von  großem 
Interesse.  Für  meine  Zwecke  hebe  ich  dasjenige  heraus,  was  sich 
auf  den  Religionsunterricht  in  der  Volksschule  bezieht,  und  auf  das 
Verhältnis  desselben  zum  Leben  überhaupt  und  die  Einwirkung  auf 
das  Arbeitervolk  insbesondere. 

Die  veränderten  Verhältnisse  der  niederen  Classe  wie  auch  der 
Handwerker  sind  eingetreten  im  Gefolge  der  neuen  Erfindungen,  der 
Maschinen  und  des  vermehrten  Fabrikwesens.  Wie  anders  war  es, 
als  vordem  die  Handwerker*)  als  wandernde  Gesellen  von  Stadt  zu 

*)  Die  früheren  Artikel  über  dieses  Thema  finden  sich  in  den  letzten  Jahr- 
e;in£ren  dieser  Zeitschrift.   D.  R. 

**)  Man  lese  nar  die  meisterhafte  Darstellung  von  Jul.  Wolff  in  seinem  „Sülf- 
meister".  Um  den  Unterschied  zwischen  einst  und  jetzt  historisch  kennen  zu 
lernen,  verweisen  wir  auf  einzelne  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit  von 
ü.  Freytag. 


—    94  — 


Stadt  zogen,  sich  mit  wenigem  begnügten  und  nicht  massenweise  bei- 
sammen lebten,  unbekümmert  um  die  staatlichen  Dinge,  die  noch  nicht 
von  täglichen  Zeitungen  besprochen  wurden.  Auch  die  Schulbildung 
ist  nicht  mehr  so  gleichmäßig  wie  ehemals. 

Der  genannte  Beobachter  der  heutigen  Arbeiterkreise  unterschei- 
det mit  Recht  verschiedene  Stufen  der  geistigen  Bildung  der  Arbeiter. 
Ei*  beginnt  mit  der  Schilderung  der  Dorf-  und  selbst  Stadtschul- 
bildung, die  er  zum  Theil  noch  als  religiös  und  confessionell  dogmatisch 
erkannte.  Das  Wissen  ist  beschränkt,  die  Geschichtsauffassung  ver- 
knüpft mit  dem  Wunderglauben,  die  Natur  ist  ihnen  noch  ein  Rätbsel; 
sie  kennen  nichts  von  den  Entwicklungsgesetzen,  welche  die  moderne 
Wissenschaft  lehrt.  Biblisches  und  später  Hinzugekommenes  ward  der 
Jugend  nur  als  Lern-  und  Memorirstoff  schulmäßig  geboten,  wie  es 
im  Katechismus  formulirt  ist;  es  war  nicht  den  Herzen,  sondern  den 
Köpfen  der  Kinder  übermittelt.  Der  entschieden  streng  kirchlich  ge- 
sinnte Verfasser  dieser  Schrift  sagt:  Der  Religionsunterricht  ist  in 
solchen  Schulen,  aus  denen  die  Arbeiter  hervorgegangen  sind,  vor- 
wiegend Verstandesunterricht  anstatt  Erziehung  des  Charakters;  die 
christliche  Heilswahrheit  kalter  Lernstoff  anstatt  warme,  alles  durch- 
dringende Lebenskraft,  Jesus  Christus,  nach  dem  Vorgange  des  Dog- 
mas, mehr  ein  metaphysisches  Räthsel  als  eine  historische  gottvolle 
Persönlichkeit.  Die  biblischen  Bücher  gelten  den  meisten  als  wört- 
liche Autorität,  in  dem  Sinne  der  Inspiration.  Auch  im  Confirmanden- 
unterricht  wird  die  historische  Seite  nicht  genügend  aufgeklärt,  und 
wenn  dann  die  Leute  heranwachsen',  so  werden  die  ersten  Jugend- 
eindrücke spurlos  verwischt. 

In  höheren  Schulen,  sagt  der  Verfasser,  ist  der  Religionsunter- 
richt genau  wie  in  der  Volksschule  vorwiegend  Katechismusunterricht. 
Sein  Gegenstand  ist  das  logisch  mit  den  Mitteln  einer  längst  ver- 
alteten Wissenschaft  aufgebaute  Lehrgebäude  des  kirchlichen  Dogmas, 
seine  Aneignungsform  das  verstandesmäßige  Begreifen  und  Auswendig- 
lernen dieser  Glaubenssätze,  Bibelsprüche  und  Gesangbuch verse  ohne 
die  innerliche  Aneignung,  wie  sie  Christus  in  den  Evangelien  fordert. 
Dazu  kommt,  dass  in  dem  übrigen  sogen,  weltlichen  Unterrichte  eine  andere 
Auffassung  des  Gelernten  stattfinden  muss,  wenn  man  im  19.  Jahr- 
hunderte lebt.  Diese  widersprechenden  Bildnngskeime  wachsen,  sobald 
eine  oft  unvermeidliche  materialistische  Lebensanschauung  später  hin- 
zutritt. Die  zwei  dürftigen  Stunden  im  Religionsunterrichte  unserer 
Schulen  deuten  schon  darauf  hin,  dass  dieser  Zweig  des  Jugendunter- 
richtes als  etwas  besonders  Heikles  mit  Peinlichkeit  beschränkt  wird 


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—    95  - 


und  isolirt  dasteht.  Die  harmonische  Bildung  und  Erziehung  leidet 
darunter,  und  das  einzige  Bettungsmittel  ist,  dass  auch  der  Religions- 
unterricht in  den  zeit-  und  vernunftgemäßen  Dienst  der  Jugendbildung 
gezogen  werde.  Wer  andere  Mittel  vorschlägt,  der  begehrt,  dass  die 
Gewässer  der  Erde  bergauf  fließen. 

Eine  solche  zwiespältige  Schulbildung  macht  nun  in  der  Fabrik 
eine  völlige  Wandlung  durch:  sie  geht  in  einer  neuen,  der  socialdemo- 
kratischen  Richtung  unter.  Denn  diese  hat  sich  auch  der  Volks- 
bildungsfrage bemächtigt  und  eincneue  Volksliteratur  geschaifen,  deren 
Inhalt  im  Dienste  der  Arbeiter-Interessen  und  im  Dienste  herzloser 
Fabrikbesitzer  ist  Diese  Halbbildung  wendet  sich  bei  beiden  Parteien 
den  Lehren  Christi  gänzlich  ab.  Wie  diese  Lehren  von  den  Religions- 
lehrern  behandelt  würden,  haben  wir  oben  dargelegt;  den  Verlust  auf 
dem  religiösen  Gebiete  hat  großenteils  die  Dogmenkirche  verschuldet, 
deren  Vertreter  andere  Bestrebungen,  selbst  politischen,  noch  immer 
nachgehen.  Darum  wenden  sich  auch  besser  Gesinnte  von  solchen 
Vertretern  ab  und  gar  oft  auch  vom  Kirchenthum,  das  bei  der  päpst- 
lichen Kirche  wesentlich  in  Äußerlichkeiten  seinen  Halt  hat. 

Es  gibt  aber  dauerhafte  Grundlagen  für  die  christliche  Gesittung. 

In  den  Schlussbemerkungen  hebt  der  Verfasser  der  Schrift: 
„Drei  Monate  Fabrikarbeiter"  die  Ergebnisse  seines  Aufenthaltes  in 
der  socialdemokratischen  Luft  hervor.  Dem  jungen  Theologen  ist 
vieles  klar  geworden,  was  er  aus  Büchern  oder  in  einem  Seminar  im 
abgeschlossenen  bischöflichen  Convicte  nie  gelernt  hätte.  Charakter 
bildet  sich  nur  durch  Erfahrungen  im  Strome  der  Welt,  unter  Wider- 
wärtigkeiten und  harter  Arbeit. 

Die  Lohnfrage  allein,  meint  der  Verfasser,  ist  nicht  der  aus- 
schlaggebende Factor  der  heutigen  socialen  Bewegung.  Man  verlangt 
mit  Recht  auch  Anerkennung  des  Wertes  der  Arbeit  und  bürgerliche 
Gleichberechtigung.  Gewährt  man  dies  dem  sogen,  vierten  Stande,  so 
tritt  auch  an  ihn  eine  Pflicht  heran.  Er  muss  anerkennen,  dass  es 
auch  sittliche  Mächte  sind,  von  denen  die  höhere  und  freiere  Ent- 
wickeiung  wie  der  steigende  Wolstand  des  Volkes  zu  erwarten  sind. 
Der  Staat  allein  kann  nicht  für  alles  in  Anspruch  genommen  werden. 
Für  die  Wolfahrt  des  Ganzen  hat  jedermann  beizutragen  und  selbst- 
süchtigen Trieben  der  Arbeiter  wie  der  Arbeitgeber  Schranken  zu 
setzen. 

Bei  einer  Anzahl  von  Arbeitern  ist  gewiss  auch  der  Wunsch 
lebendig,  in  einer  neuen  wirt schaftlichen  Ordnung  nicht  blos  mehr 
stumme  Werkzeuge  eines  höheren  Willen,  sondern  kraftvoll  mitwirkende 


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Menschen,  nicht  nur  Hände,  sondern  auch  Köpfe  zu  sein.  Dies  prägt 
sich,  wenn  auch  noch  unklar  nnd  gährend,  dem  Beobachter  in  dieser 
Arbeiterbewegung  aus,  wenigstens  in  Deutschland.  Solche  Entwick- 
lung ist  nicht  mehr  aufzuhalten,  sie  ist  nur  in  gesetzliche  Bahnen 
zu  leiten.  Letzteres  wäre  die  Aufgabe  der  Regierungen,  denen  eine 
Mitbeteiligung  der  arbeitenden  Classe  nur  erwünscht  sein  muss. 
Schule  und  Kirche  müssen  dabei  mithelfen,  indem  sie  der  rohen  social- 
demokratischen  Lebensanschauung  ihr  materialistisches  Rückgrat  brechen. 

Auf  dieses  deuten  auch  einige  literarische  Erscheinungen  hin, 
die  auf  ein  wohrerstandenes  Christenthum  hinweisen,  das  von  Haus 
aus  social  ist  und  die  Liebe  zum  Princip  der  Gesellschaft  macht. 
Nicht  die  alten  Glaubenssätze  sind  es,  die  Erleichterung  bringen 
oder  Befreiung  von  den  Nöthen  der  Gesellschaft,  darum  wendet  man 
jetzt  der  ethischen  Seite  des  Christenthums  mehr  Aufmerksamkeit  zu. 
In  dem  recht  verstandenen  Evangelium  liegen  die  gewaltigsten  sitt- 
lichen Kräfte,  die  in  unserer  Zeit  entbunden  werden  müssen. 

Von  den  neuesten  Schriften  in  dieser  Richtung  nenne  ich  nur 
die  vom  Glasgower  Professor  der  Naturwissenschaften,  H.  Drummond, 
herausgegebenen  Broschüren:  „Das  Beste  in  der  Welt"  und  „Pax 
vobiscum."  Sie  sind  zu  Tausenden  auch  in  deutscher  Sprache  ver- 
breitet (Bielefeld  bei  Velhagen  &  Klasing  1891,  1  M.). 

Drummonds  kleine  Schrift:  „Das  Beste  in  der  Welt"  nach  Paulus 
(1.  Korinther  Brief  13)  setzt  den  Inbegriff  der  Liebe  fest,  in  Über- 
einstimmung mit  der  Nächstenliebe,  wie  sie  u.  a.  gefordert  wird 
bei  Marcus  12,  31  und  noch  deutlicher  bei  Matthäus  7,  12:  „Alles, 
was  ihr  wollt,  dass  euch  die  Leute  thun  sollen,  das  thuet  ihr  ihnen  — 
das  ist  das  Gesetz  und  die  Propheten."  Wer  der  Nächste  ist,  das 
erklärt  Jesus  bei  Lucas  10,  30  ff. 

Eigennützige  Besitzer  und  Fabriksleiter,  welche  den  Wert  der 
Arbeit  nicht  schätzen,  setzen  sich  freilich  über  solche  christliche 
Forderungen  hinaus.  Mit  der  Ausführung  «dieser  Grundsätze  wäre 
wol  im  allgemeinen  die  sociale  Frage  zu  lösen;  ich  setze  aber  hinzu: 
mit  Rücksicht  auf  die  Zeitverhältnisse  und  die  Zustände  des  betreffen- 
den Landes.  Die  kirchliche  Gesellschaft  kann  nur  mithelfen,  maß- 
gebende Ausführung  ist  Sache  der  staatlichen  Gesetzgebung.  Im  ge- 
wöhnlichen Leben  ist  das  Geld  allerdings  eine  Macht;  es  gibt  aber 
zwei  Imponderabilien,  die  auf  die  Dauer  noch  stärker  sind:  die  Liebe 
und  der  Gehorsam.  Familie  und  Schule  haben  dieses  Feld  zunächst 
zu  bebauen. 

Warum  habe  ich  neben  die  Liebe  auch  den  Gehorsam  gestellt? 


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Er  wird  in  unserer  Zeit  durch  manches  untergraben,  am  meisten 
in  der  Familienerziehung,  aber  auch  im  bürgerlichen  Leben.  Ich 
denke  oft  an  die  lehrreiche  Schule  der  früheren  Handwerksburschen 
und  an  ihre  dreijährige  Wanderpflicht.  Nur  theilweise  wird  diese 
Schule  ersetzt  durch  unsere  dreijährige  Wehrpflicht,  die  für  die 
meisten  insofern  eine  Wolthat  ist,  weil  sie  Land  und  Leute  kennen 
lernen  und  sich  an  eine  strenge  Zucht  gewöhnen,  abgesehen  von  den 
körperlichen  Übungen.  Für  eine  große  Zahl  muss  auch  das  Drillen 
znr  Erziehung  gerechnet  werden.  Das  Hobeln  geht  ja  dem  Poliren 
voran,  und  eine  gute  Gewöhnung  ist  bekanntlich  bei  der  Erziehung 
eine  große  Macht. 

Diese  Betrachtungen  mögen  den  Übergang  bilden  zur  Besprechung 
einer  zeitgemäßen  „Sitten-  und  Pflichtenlehre",  wie  sie  für  die 
Schule  noth wendig  geworden  ist  an  Stelle  des  im  Februarhefte  1891 
des  Paedagogiums  von  mir  besprochenen  Katechismus. 

Zum  Schlüsse  möchte  es  mir  gestattet  sein,  meinem  bescheidenen 
Socialismus  auch  vom  Standpunkte  der  Volkspädagogik  kurz  Ausdruck 
zn  geben. 

1.  Zufriedenheit  und  Wolstand  erlangt  der  Mensch  nur  durch 
eigenes  Bemühen,  und  dazu  kann  der  Staat  behilflich  sein  durch 
zweckmäßige  Agrargesetze  und  Hintanhaltung  von  Massenansammlungen 
in  große  Städte. 

2.  Sorge  für  ein  Eigenthum,  wenn  es  auch  noch  so  klein  ist. 
Diese  Sorge  wird  sehr  erleichert  bei  einem  gemäßigten  Tempo  im 
Rennen  und  Jagen  nach  Geld,  blos  zum  Großthun  und  zu  Vergnügungen. 

3.  Gründung  einer  Familie  und  gute  Erziehung  der  Kinder, 
wozu  ein  regelmäßiger  Schulbesuch  gehört,  denn  Schul-  und  Volks- 
bildung stehen  mit  der  wirtschaftlichen  Wolfahrt  in  innigem  Zusam- 
menhange. 

4.  Naturgemäße,  einfache  Lebensweise,  bei  der  man  sich  nach 
der  Decke  streckt  und  sich  nur  mit  denen  vergleicht,  die  weniger 
haben. 

5.  Bethätigung  der  christlichen  Liebe,  wie  sie  das  Evange- 
lium fordert. 

6.  Mitsorge  des  Staates  für  Unfälle  wie  auch  für  das  Alter. 
Die  Ausgaben  können  durch  eine  Progressiv-Steuer  von  den  oberen 
Zehntausend  gedeckt  werden. 

Wenn  das  alles  nicht  hilft,  dann  mag  in  Gottes  Namen  die  Sünd- 
flut kommen,  die  man  für  das  20.  Jahrhundert  allgemein  befürchtet 


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Die  Pest  des  Aberglaubens  und  ihre  Heilung  durch  die  Er 

Ziehung. 

Von  Dr.  Carl  Pilz-Leipzig. 


XjLberglaube  ist  em  Wort,  welches  wie  ein  dankler,  unheimlicher 
Schatten  aussieht.  Das  Licht  eines  gesunden  Glaubens  erhebt  und 
beseligt  den  Menschen;  das  Gaukelspiel  des  Aberglaubens  ist  zwar 
nicht  selten  unterhaltend,  ja  bestrickend,  aber  limmer  thöricht  und 
verderblich.  Die  Erscheinung  dieser  geistigen  Krankheit,  oder  — 
wie  man  auch  sagen  könnte  —  dieses  frevelhaften  Spieles  und  Spukes 
ist  so  alt  wie  das  Menschengeschlecht.  Sie  tritt  schon  im  alten 
Heidenthum  und  Judenthum  auf,  und  zwar  als  eine  Personificirung 
der  Vorgänge  in  der  Natur  und  als  Ausstattung  der  Welt  mit  aller- 
hand Göttern  und  Geistern,  denen  man  geheimnisvolle  Einwirkungen 
zuschrieb.  Und  als  in  spaterer  Zeit,  im  Mittelalter,  ein  mystischer 
phantastisch-theosophischer  Zug  vom  Orient  ausging,  als  die  Wissen- 
schaften zum  Sinken  kamen,  als  die  Magie,  der  Reliquiendienst,  die 
Astrologie,  Chiromantie,  Zauberei,  das  Hexenwesen  und  die  Gespenster- 
seherci  sich  ausbreiteten,  da  ging  die  unheilvolle  Saat  des  Aberglaubens 
mächtig  auf  und  verfinsterte  die  Köpfe.  Als  dann  später  die  Sonne 
der  Reformation  erschien,  wurde  es  zwar  heller  in  dem  Geistesleben 
der  Menschen,  die  Ammen-  und  Pfaffenmärchen  wurden  verlacht,  das 
Denken  von  Fesseln  des  Wahnes  befreit,  und  der  Aberglaube  begann 
zu  weichen.  Aber  wie  man  auch  denselben  bekämpfte,  auszurotten 
war  er  nicht,  und  er  hat  fort  grassirt  bis  auf  den  heutigen  Tag  und 
zwar  in  der  neuen  Welt  wie  in  der  alten,  namentlich  tiberall,  wo  die 
Denkfaulheit  ihm  einen  günstigen  Boden  schafft  „Kein  Fehler",  sagt 
Prof.  Strümpell  „ist  mehr  verbreitet  als  der  Aberglaube,  unten  und 
oben  und  in  der  Mitte  des  Volkes,  beiiden  Klugen  wie  bei  den  Ein- 
fältigen, bei  den  Reichen  wie  bei  den  Armen,  bei  den  Vornehmen  wie 
bei  den  Geringen,  bei  den  Gelehrten  wie  bei  den  Ungelehrten."  Und 
in  der  T hat  hat  es  immer  nicht  blos  abergläubische  Narren  gegeben, 


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sondern  auch  hervorragende  Männer,  die  bei  aller  Freisinnigkeit  doch 
von  dieser  Schwäche  nicht  loskommen  konnten.  Voltaire  kam  ganz 
betrübt  nach  Hause,  wenn  er  auf  dem  Felde  Raben  zu  seiner  Linken 
hatte  krächzen  hören,  Rousseau  warf  kleine  Steinchen  durch  das 
Loch  einer  Säule;  wenn  ihm  der  Wurf  gelang,  hielt  er  das  für  ein 
gutes  Zeichen,  und  Philipp  von  Orleans,  dieser  arge  Freigeist,  ließ  sich 
aus  dem  Kaffee  wahrsagen,  ob  er  hingerichtet  würde  oder  nicht  Auch 
heutzutage  erschrickt  mancher,  wenn  ihm  eine  schwarze  Katze  früh 
über  den  Weg  läuft  oder  ein  altes  Weib  begegnet.  Zu  den  Personen, 
die  oft  am  meisten  an  abergläubischen  Dingen  hängen  und  auch 
andere  gern  in  die  Schlingen  dieses  Fehlers  führen  und  bethören,  ge- 
hören: Schäfer,  Todtengräber,  Matrosen,  Spieler,  Jäger,  Schauspieler 
(besonders  auch  wahrsagende  Frauen),  und  jeder  Ort  hat  dabei  seinen 
besondern  Aberglauben,  so  dass  der  berühmte  Reisende  Schweinfurth 
nicht  so  ganz  unrecht  hatte,  wenn  er  sagte:  „Der  Aberglaube  eines 
Volkes  gehört  in  die  Geographie."  Was  ist  der  Aberglaube?  Er  ist 
ein  auf  subjectiven  Gemütszuständen  ruhendes  und  von  geschwächter 
Verstandesthätigkeit  erhaltenes  Fürwahrhaltcn  von  Dingen,  die  gar 
nicht  existiren,  oder  von  tibernatürlichen  Wirkungen  einfacher  Dinge; 
oder  er  ist  kurz  gesagt  der  gläubige  Ausdruck  der  Verstand losigkeit. 
Halten  wir  diesen  Begriff  fest,  so  erkennen  wir  leicht,  was  nicht  in 
den  Bereich  des  wirklichen  Aberglaubens  gehört.  Das  Träumen  von 
Unwolsein  ist  oft  die  wirkliche,  im  Körper  auftretende  Ankündigung 
eines  Übels;  das  Beachten  eines  solchen  Traumes  ist  daher  kein 
Aberglaube,  sondern  Gesundheitspflicht.  Wenn  man  sagt:  Ein  offen 
mit  der  Schneide  nach  oben  liegendes  Messer  bedeute  Unglück,  so  ist 
dies  sehr  erklärlich,  man  kann  sich  ja  leicht  verletzen  durch  dasselbe; 
wenn  der  Besuch  sich  setzen  soll,  um  die  Ruhe  nicht  mitzunehmen, 
so  ist  das  ganz  in  der  Ordnung,  da  das  Hin-  und  Hergehen  eines 
Besuches  manche  Menschen  nervös  oder  unruhig  macht.  Auch  gewisse 
Spielereien,  wie  das  Kartenschlagen  und  Auslegen,  das  Bleigießen  in 
der  Neujahrsnacht,  Holzscheit  raffen  (wenn  man  eine  gerade  Zahl 
Scheite  errafft,  bedeutet  es  Glück)  etc.  sind  nicht  hierher  zu  rechnen, 
da  es  bloße  Späße  sind,  die  zur  Unterhaltung  dienen;  ebensowenig 
die  Irrungen,  die  auf  falschen  Annahmen  hinsichtlich  der  Naturgesetze 
ruhen  und  noch  viel  weniger  die  nicht  selten  auf  falschen  Schlüssen 
beruhenden  philosophischen  Speculationen  und  Spitzfindigkeiten,  die  man 
mitunter  den  aristokratischen  oder  philosophischen  Aberglauben  ge- 
nannt hat;  oder  der  sogenannte  Heilmagnetismus,  für  den  Prof.  Nuss- 
baum  sogar  einen  Lehrstuhl  auf  der  Universität  wünschte.  Der  wahre 


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volksthümliche  Aberglaube  ist,  wie  bereits  erwähnt,  nur  das  Fürwahr- 
halten von  Dingen,  die  der  logisch  und  gesund  denkende  Verstand 
.  als  ganz  unmöglich  erkennt. 

Wo  liegen  nun  die  Quellen  zu  dieser  Krankheit?  In  tausend 
Dingen,  so  dass  man  ein  ganzes  Buch  darüber  schreiben  könnte.  Vor 
allen  Dingen  ist  die  tiefste  Quelle  zu  suchen  in  den  Resten  des  alten 
zertrümmerten  Naturdienstes  der  alten  Germanen  und  in  dem  Hang 
zum  Wunderbaren ,  zum  Schauerlichen  und  Abenteuerlichen,  der  unserm 
Volke  von  jeher  eigenthümlich  gewesen  ist.  Zu  den  weiteren  Quellen 
oder  Brutherden  für  den  Aberglauben  gehören:  auffallende  Natur- 
erscheinungen —  alte  Burgen*)  und  Klöster  —  Sinnestäuschungen 
oder  ungewöhnliche  Sinneneindrücke  von  räthselhaften  Erscheinungen, 
aus  welchen  die  Phantasie  ihre  Spukgestalten  webt;  verworrene  reli- 
giöse Vorstellungen  und  Gemütsbewegungen ,  die  entweder  in  der 
Furcht  oder  im  Eigennutz,  in  der  Selbstsucht  ihren  Grund  haben, 
oder  als  Erbkrankheiten  aus  alter  Zeit  stammen.  Sehr  wahr  und  er- 
schöpfend sagt  in  dieser  Hinsicht  Prof.  Strümpell:  „Zu  solchen 
Gemüthszuständen  gehören  außer  dem  Hoffen  und  Befürchten,  dem 
Wünschen  und  Verlangen,  das  Wolgefallen  am  Geheimnisvollen  und 
Räthselhaften  und  Wunderbaren,  die  Angst  und  das  Verzagen  in 
gefährlicher  Lebenslage,  das  drückende  Gefühl  und  die  Beklommen- 
heit bei  drohender  Gefahr;  die  Sehnsucht  nach  Hilfe,  die  Leiden- 
schaften der  Herrschsucht,  der  Gewinnsucht,  das  Verzagen  bei  körper- 
lichen Leiden,  das  quälende  Hungergefühl  in  Zeiten  der  Noth,  die 
Sorgen  im  Hinblick  auf  eine  hilflose  Zukunft,  der  Druck  der  Gewissens- 
bisse, die  Sehnsucht  der  Liebe  und  der  Liebesschmerz,  seelischer 
Kummer  aller  Art,  Schwärmerei  in  Erdichtungen,  die  erhebende  oder 
niederbeugende  Stimmung  im  Gedankenverkehr  mit  dem  Verehrungs- 
wesen, Ahnungen,  Vertiefung  in  religiöse  Vorstellungen,  die  Gefühle 
des  Hasses,  des  Neides,  der  Rache,  die  Trauer  über  Verlorenes,  Ver- 
langen nach  einem  Aufechluss  über  das  Künftige  oder  über  das  Dunkel 
des  Erlebten."  Ja,  wahrlich,  das  sind  die  geistigen  Regungen,  die  den 
Menschen,  besonders,  wenn  ihm  das  ruhige,  gesunde  Danken,  der 
nöthige  Halt  fehlt,  geradenweges  in  die  Arme  des  Aberglaubens  treiben. 

Weil  nun  der  Aberglaube  so  verschiedene  Quellen  hat,  da  ist 
auch  sein  Auftreten  unendlich  verschieden.  Das  wird  sich  klar  zeigen 


*)  Bei  den  Erbauern  der  alten  Ritterburgen  betrachte  der  Aberglaube,  das*  die 
Emmauerung  eines  lebendigen  Kindes  die  Burg  vor  Unfällen  schütze.  Die  kleinen 
Skeletts,  die  man  bei  Abtragungen  findet,  rühren  von  diesen  Opfern  her. 


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101  - 


wenn  wir  das  Gebiet  dieser  Krankheit  nach  einzelnen  Fällen  über- 
schauen.   Wir  betrachten  zuerst  den  Aberglauben,  der  am  unschul- 
digsten aussieht.    Dass  die  12  Tage  nach  Neujahr  Schicksalstage 
sind,  dass  man  eine  besondere  Furcht  vor  der  13  hat,  oder  vor  dem 
Freitage,  dass  Osterwasser  schön  macht,  vor  Bezauberung  schützt 
und  Ungeziefer  verscheucht,  sind  so  gewöhnliche  Dinge,  dass  ich 
davon  absehe.    Wol  aber  will  ich  zuerst  einige  abergläubische  Sitten 
berühren,  die  in  der  Familie  und  schon  an  der  Kindeswiege  ihr 
Wesen  treiben,  das  immerhin  thöricht  ist,  wenn  auch  nicht  gerade 
ein  offenbarer  Schade  dadurch  geschieht.   Während  der  Schwanger- 
schaft darf  die  Frau  keine  Speise  aus  der  Kelle  kosten,  sonst  schreit 
ihr  Kind  nachher  viel.   Bei  der  Taufe  muss  man  recht  lange  läuten, 
dann  wird  das  Kind  recht  klug;  schlägt  freilich  die  Thurmuhr  während 
des  Läutens,  so  stirbt  das  Kind  wieder.   Der  Name  des  Kindes  darf 
vor  der  Taufe  nicht  genannt  werden,  sonst  lernt  es  schwer  sprechen; 
die  Pathen  dürfen  sich  beim  Gange  zur  Kirche  nicht  umsehen,  sonst 
lernt  das  Kind  schielen;  wenn  sich  in  Böhmen  der  Geistliche  bei  der 
Taufe  verspricht,  so  redet  das  Kind  zeitlebens  im  Schlafe.   In  Alt- 
preußen tauft  man,  wenn  ein  Mädchen  und  ein  Knabe  getauft  wird,  das 
Mädchen  zuerst,  dass  es  den  Buben  nicht  nachlaufe;  aber  in  Zürich 
werden  die  Knaben  zuerst  getauft,  weil  sie  sonst  keine  Barte  bekommen. 
Hie  und  da  nagelt  man  kleine  Säckchen  mit  Amuleten  an  die  Wiege, 
legt  zwei  Messer  kreuzweis  und  ein  Gesangbuch  oder  die  Bibel  unter 
das  Kopfkissen  des  Kindes,  oder  man  badet  die  Kinder,  welche  Aus- 
schlag haben,  mit  Osterwasser  etc.    Mitunter  tritt  der  Aberglaube 
symbolisch  oder  in  poetischem  Gewände  auf.    So  gab  man  früher 
dem  neugebornen  Knaben  ein  Schwert  in  die  Hand,  dass  er  muthig 
werden  sollte;  und  dem  Mädchen  eine  eingefädelte  Nähnadel,  damit 
sie  fleißig  werde.  Die  Indianer  legen  den  Knaben  einen  kleinen  Bogen 
auf  die  Wiege;  in  vielen  andern  Gegenden,  wie  noch  jetzt  in  Griechen- 
land, legt  man  dem  Knaben  Geld  und  Schwert,  dem  Mädchen  Spindel 
und  Rocken  in  die  Wiege.   Mit  diesem  mehr  oder  weniger  unschul- 
digen Aberglauben  geht  der  lächerliche  und  dumme  Hand  in  Hand. 
Das  Folgende  wird  dies  zeigen.   Wer  Muth  bekommen  will,  muss 
Hasenkraut  in  der  Tasche  tragen;  Katzenliebhaber  bekommen  eine 
gute  Frau;  Schwalbennester  schützen  vor  Unglück.    Am  Rhein  isst 
man  am  Aschermittwoch  Hirsebrei  und  Blutwurst,  dass  man  recht 
viel  Gold  im  Beutel  behält  und  vor  Fieber  bewahrt  bleibt.   In  der 
Christnacht  knien  die  Thiere  nieder  und  erhalten  auf  Augenblicke 
menschliche  Rede  (so  dass  Bileams  Eselin  Nachfolger  hat);  das  im 

Pwdasroeliinj.    14.  Jahrpfttip.    Heft  II.  8 


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-     102  — 


Keller  bewahrte  Gemüse  fangt  an  zu  knospen;  die  Rose  von  Jericho 
öffnet  sich  in  der  Christnacht,  und  Bäume  blühen  und  tragen  Christ- 
nachtsfrüchte.   Das  Thierreich  genießt  die  schlimme  Ehre,  ganz  be- 
sonders dem  Aberglauben  dienen  zu  müssen.   Die  Kröte  als  Sinnbild 
des  Neides  bringt  viel  Unglück.   Viele  Thiere  hat  der  Wahn  als 
Todesboten  gekennzeichnet,  so  z.  B.  heulende  Hunde,  schwarze  Katzen, 
die  sich  aufs  Bett  setzen  oder  über  den  Weg  laufen,  Pferde,  die  beim 
Umzug  nicht  weiter  wollen,  Eulen  und  Nachtigallen.  Ein  ans  Fenster 
pickendes  Vögelchen  zeigt  den  Tod  eines  Verwandten  in  der  Ferne 
an.    Eines  besonders  guten  Rufes  erfreute  sich  die  Martinsgans; 
sie  galt  als  Prophet,  wenn  sie  gebraten  war.    War  das  Brustbein 
hell  und  klar,  gab's  einen  strengen  Winter;  war  es  grob  und  dunkel, 
so  stand  viel  Schnee  bevor.   Auch  die  Pflanzen  wurden  zu  Wahr- 
sagern gemacht,  wie  z.  B.  der  Klee,  die  Bohne,  die  Haselnuss  etc 
Lächerlich  und  thöricht  sind  namentlich  die  leider  noch  oft  genug 
auftretenden  abergläubischen  Mittel  gegen  allerlei  Übel.    Wer  von 
Warzen  sich  befreien  will,  wickelt  so  viel  Erbsen  wie  man  Warzen 
hat,  in  einen  Lappen  und  schmeißt  ihn  auf  die  Straße;  der  ihn  auf- 
hebt, bekommt  die  Warzen  (auch  mit  einem  auf  der  Warze  gelegenen 
Geldstück  fuhrt  man  dies  aus),  oder  man  bestreicht  Leichen  mit  den 
Warzen,  oder  reibt  sie  im  Mondschein.    Zahnschmerzen  heilt  man 
vollständig,  wenn  man  stillschweigend  vor  Sonnenaufgang  an  einen 
Weidenbaum  geht,  mit  einem  Splitter  so  lange  in  den  Zähnen  herum- 
stochert, bis  sie  bluten,  und  den  blutigen  Splitter  in  die  Rinde  des 
Baumes  steckt.  Wer  schön  werden  will,  muss  viel  Hasenfleisch  essen"; 
Taubenfleisch  bewirkt  Fieber;   gebackene  Hammelschwänze  machen 
heiter  und  starken  das  Gedächtnis;  Schweinefleisch  hilft  gegen  die 
Fallsucht. 

Gradezu  haarsträubende  Dummheit  leuchtet  aus  vielen  andern 
Vorkommnissen  in  Volkskreisen  heraus.  In  einem  Weinberg  am  Rhein 
war  vor  einiger  Zeit  alle  Abende  ein  Lichtlein  zu  sehen;  die  Menge 
hielt  es  für  eine  arme  Seele,  die  keine  Ruhe  im  Grabe  fände.  Es 
war  aber  nichts  als  eine  Mottenfalle.  In  Fünfkirchen,  wo  vor  kurzem 
ein  kleines  Mädchen  aus  Schi  eck  vor  einem  Schornsteinfeger  das  Fieber 
bekommen  hatte,  schrieb  der  Gemeinderichter  an  den  Meister  des  schwarzen 
Gesellen  und  bat  um  ein  paar  Haare  des  letzteren,  um  das  kranke 
Mädchen  damit  einzuräuchern  und  gesund  zu  machen.  In  Russland 
gruben  die  Bauern  vor  nicht  allzulanger  Zeit  einen  Brunnen,  dessen 
Wasser  als  Wunderwasser  ausposaunt  wurde,  das  wunderbare  Curen 
bewirke,  gegen  alle  möglichen  Krankheiten  helfe  und  selbst  den 


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Teufel  austreibe.  In  Friedrichsruh  wollte  man  vom  Himmel  gefallene 
Ziegelsteine  und  Sand  gefunden  haben,  auch  sah  man  flammende 
Schwerter  über  Bismarcks  Hause.  Eine  Frau  kroch  mit  ihrer  Tochter 
in  den  Backofen,  um  —  von  der  Dummheit  sich  zu  befreien.  Eine 
andere  abergläubische  Frau  kochte  für  ein  krankes  Kind  Thee  aus 
dem  alten  Myrtenkranze  einer  Braut.  Natürlich  starb  da«  Kind. 
Ein  Wunderdoctor  der  heutigen  Zeit  will  den  Typhus  durch  das 
Verbrennen  von  Judenknochen  wegräuchern.  Eine  Gattin  —  das  ist 
unlängst  geschehen  —  sticht  sich  in  den  Arm  und  thut  das  Blut  dem 
Manne  in  den  Kaifee,  um  seine  Liebe  wieder  zu  gewinnen.  Einen 
Backeligen  berühren  bringt  Glück;  wenn  aber  ein  Hinkender  im 
Kaukasus  in  den  Hof  tritt,  so  verkrüppeln  alle  Hühner  in  dem  Jahre. 
Zu  den  lächerlichen  Spielereien  der  Kinder  gehört  auch  die,  dass  man 
am  Weihnachtsfest  einen  Fingerhut  mit  Sand  füllt  und  dann  die 
Häufchen  auf  das  Papier  stellt.  Der,  dessen  Häufchen  am  1.  Feier- 
tage zusammengefallen  ist,  stirbt  in  dem  Jahre.  So  ganz  unbedenklich 
ist  auch  diese  Spielerei  nicht. 

Doch  nun  wenden  wir  uns  dem  gefährlichen  und  frevelhaften 
Aberglauben  zn;  er  führt  uns  Bilder  vor,  die  jeden  Menschenfreund  aufs 
tiefste  betrüben  müssen.  Wir  rechnen  liierher  zuerst  die  ganze  Wahr- 
sagerei, die  an  die  weltberühmte  Kartenschlägerin  Lenormand  in 
Paris  erinnert,  aber  anch  jetzt  noch  vielfach  vertreten  ist  und  immer 
Dummgläubige  findet.  Im  Jahre  1890  machte  eine  Kartenschlägerin 
einer  Witwe  weiß,  dass  sie  ihr  zu  einem«  Bräutigam  verhelfen  könne, 
nnd  nahm  derselben  viel  Geld  ab.  Ein  reicher  Mann  in  Petersburg 
ließ  einen  Complex  von  Gebäuden  bauen,  die  zu  einem  Bade  bestimmt 
waren.  Die  wahrsagende  Zigeunerin  sagte  ihm,  dass  er  an  demselben 
Tage,  wo  er  das  Gebäude  zum  Wohnen  übergebe,  sterben  werde.  Es 
steht  bereits  zehn  Jahre  leer.  Einem  Bauerngutebesitzer  in  Giesraanns- 
dorf  in  der  Lausitz  brachte  man  die  Einbildung  bei,  dass  sein  ganzes 
Haus  verhext  sei  und  schwindelte  ihm  mit  abergläubischen  Dingen 
viel  Geld  ab.  In  frühern  dunklen  Zeiten  ließen  freilich  sich  auch 
fürstliche  Personen,  Grafen,  Herzöge  etc.  von  Wahrsagern,  namentlich 
Schatzgräbern  dupiren.  Schaudern  muss  man  aber,  wenn  man  von 
solch  entsetzlichen  Thaten  des  Aberglaubens  hört,  wie  ich  hier  einige 
mittheileu  will.  Das  Beschreien,  Verwünschen  und  besonders  der 
böse  Blick  treibt  hie  und  da  noch  sein  Wesen  und  erfasst  besonders 
Geisteskranke.  Vor  kurzem  ist  der  Großvater  in  einer  Familie  er- 
schlagen worden,  weil  von  seinem  Blick  nach  Meinung  der  Leute  der 
Enkel  einen  Ausschlag  am  Arm  bekommen  haben  sollte.  Ein  70  Jahre 


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alter  Knecht  in  Wengern  hat  vor  kurzem  auf  dem  Kirchhofe  eine 
Kindesleiche  ausgegraben  und  ein  Stück  Fleisch  sich  auf  seine  Wunden 
zur  Heilung  gelegt.  Im  evangelischen  Dorfe  Kaldau  wurde  einer 
Leiche  der  Kopf  vom  Rumpf  geschnitten  und  umgedreht;  das  müsse 
man  machen  —  hieß  es  —  wenn  Angehörige  schnell  hintereinander 
sterben.  Da  man  hie  und  da  glaubt,  dass  Leichen  Vampyre  würden, 
welche  das  Blut  ihrer  Kinder  begehrten  und  überhaupt  den  Lebenden 
schadeten,  so  schnitt  ein  Bauernbursche  dem  gestorbenen  Großvater 
das  Haupt  ab.  Der  Verstorbene  hatte  selbst  gesagt,  dass  er  zum 
Vampyr  würde,  wenn  man  ihm  nicht  das  Haupt  abschlüge.  Eine 
Frau  in  der  Nähe  von  Danzig  erkrankte  1890  am  Kindbettfleber  und 
man  nahm  an,  dass  sie  von  einer  Frau  im  Dorfe  verhext  sei.  Man 
suchte  die  Frau,  führte  sie  zur  Kranken,  schlug  sie  dort  blutig  und 
gab  der  Kranken  das  Blut.  Natürlich  starb  diese  trotzdem.  Entsetz- 
lich ist  es,  wenn  wir  von  Ausgeburten  des  Wahnsinns  lesen,  wie  sie 
sich  bei  Menschen  gezeigt  haben,  die  da  glaubten,  dass  sie,  wenn  sie 
Fleisch  von  jungen  unschuldigen  Mädchen  genössen,  alles  thun  könnten, 
ohne  zur  Verantwortung  gezogen  zu  werden;  oder  bei  jenem  Bauer, 
der  die  Herzen  von  Kindern  aß. 

Am  widerwärtigsten  ist  der  religiöse  Aberglaube,  der  nicht  selten 
die  Bibel  mit  herbeizieht;  und  er  treibt  seine  schwarzen  Blüten  leider 
auch  immer  noch  in  unserem  Volke.  So  wollte  eine  Mutter  in  ihrem  reli- 
giösen Wahne  ihren  Sohn  opfern,  wie  Abraham  den  Isaak.  Zum 
Glück  wurde  er  ihr  noch  entrissen.  Vor  ganz  kurzer  Zeit  wurde  ein 
großer  Handel  mit  von  einem  Bischof  eingesegneten  Madonnen  -Gips- 
figuren getrieben.  Die  Abergläubischen  kauften  sie  für  20  Mark  das 
Stück.  Aber  die  Betrügerei  wurde  entdeckt,  und  die  Betrüger  erhielten 
10  Tage  Zellenhaft.  Wie  in  katholischen  Ländern  mit  den  Heilungen 
durch  Marienbilder  und  Reliquien  der  Aberglaube  genährt  wird,  das 
ist  so  bekannt,  dass  darüber  eigentlich  kein  Wort  gesagt  zu  werden 
braucht.  So  wissen  wir,  dass  1732  jeder  Student  ein  Agnus  Dei, 
welches  aus  von  dem  Papste  geweihten  Wachs  bestand,  Tag  und 
Nacht  auf  der  Brust  tragen  sollte,  um  vor  Leibes-  und  Seelengefahren 
sicher  zu  sein.  Haarsträubend  ist,  wie  sich  der  religiöse  Aberglaube  in 
früheren  Zeiten  mit  bösen  Geistern  und  namentlich  mit  dem  Teufel 
herumschlug,  der  sich  als  Bock,  Fuchs,  Hund,  Schwein  zeigte  und  die 
Schlangen  erschaffen  haben  sollte. 

Mit  den  Thieren  überhaupt  wurde  im  Mittelalter  formlich  Blas- 
phemie getrieben,  wie  es  z.  B.  historisch  nachgewiesen  ist,  dass  man 
u.  a.  den  Esel  verehrte  und  ihn  beim  Hochamte  mit  niederknien  ließ. 


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Wenn  wir  nun  nach  dieser  kurzen  Charakterisirung  des  Aber- 
glaubens seine  traurigen  Folgen  überblicken  wollen,  so  müssen  wir 
zuerst  einem  Einwände  begegnen.  Man  sagt:  Macht  doch  nicht  so 
viel  Wesens  von  dem  harralosen  Volksaberglauben;  was  schadet  es 
denn,  wenn  die  Mädchen  aus  der  zerpflückten  Blume  herauslesen:  „Er- 
hebt mich,  er  liebt  mich  nicht!"  oder  wenn  in  Norwegen  die  Heiratslustigen 
durch  die  Fettehenne  ihr  Schicksal  zu  ergründen  suchen  (indem  sie  zwei 
Zweige  dieser  Pflanze  in  Holzritzen  stecken  und  nun  warten,  ob  sie 
gegeneinander  wachsen  oder  nicht);  wenn  man  sich  beim  Spiel  nicht 
in  die  Karte  sehen  lässt,  nicht  mit  einer  Schimmeldroschke  oder 
mit  einer  Droschke  Nr.  13  fahren  will,  oder  wenn  man  den  Kuckuck 
zum  ersten  Male  schreien  hört  und  auf  die  Tasche  schlägt,  damit 
man  das  ganze  Jahr  Geld  hat,  oder  wenn  man  in  der  harmlosesten 
Weise  vierblättrige  Kleeblätter  als  Glücksbringer  sucht!  —  Ja,  manche 
gehen  in  der  Entschuldigung  dieses  Fehlers  noch  weiter,  indem  sie 
ihm  heilsame  Wirkungen  zuschreiben  und  z.  B.  sagen:  Wenn  die 
Hausfrau  glaubt,  dass  ein  in  der  Stube  liegender  Strohhalm  Besuch 
bedeute,  so  wird  sie  das  Haus  hübsch  sauber  halten.  Allein  wenu 
der  Aberglaube  auch  in  unschuldigeren  Formen  auftritt,  so  verwickelt 
er  die  Menschen  doch  in  Vorurtheile  aller  Art  und  in  lächerliche 
Widerspräche  mit  der  Natur  und  der  Vernunft,  und  das  ist  doch  der 
Ehre,  auf  die  ein  jeder  halten  soll ,  nicht  zuträglich.  Das  Schlimme 
ist,  dass  er  in  den  Köpfen  von  kleineu  Anfängen  an  sich  ausbreitet, 
schließlich  das  ganze  Verstandesgebiet  in  Gefahr  bringt  und  so  ver- 
dummt, dass  die  Betrüger  bei  jedem  Abergläubischen  leichtes  Spiel  haben. 

Doch  viel  trauriger  und  beklagenswerter  sind  die  Folgen  bei  den 
schlimmeren  Arten  des  Aberglaubens,  die  wir  oben  bereits  geschildert, 
und  in  erster  Linie  ist  hier  der  medicinische  Aberglaube  zu  nennen. 
Wenn  man  sich  auf  die  abergläubischen  Mittel  verlässt ,  so  versäumt 
man  dabei  die  allein  richtigen  und  vernünftigen.  Wie  viele  Opfer  an 
Jung  und  Alt  mag  das  schon  gekostet  haben  und  wie  manches  Grab 
ist  die  Frucht  der  schwarzen  Saat!  Auch  in  der  Wirtschaft  ist  der 
Aberglaube  verderblich.  Wenn  der  Bauer  glaubt,  dass  er  gutes  Vieh 
mit  Geheimmitteln  erlangen  kann,  so  kümmert  er  sich  weniger  um 
die  rechte  Pflege  und  Behandlung  seiner  Thiere,  und  wenn  er  glaubt, 
dass  ein  Zeichen  auf  der  Thürschwelle  die  Diebe  nicht  hereinlässt,  so 
wird  er  weniger  vorsichtig  und  kann  nun  erst  recht  bestohlen  weiden. 
Und  nicht  nur  der  Einzelne,  ganze  Völker  und  Länder  werden  ver- 
fuhrt, ausgesogen  und  verarmen  durch  die  aus  Aberglauben  begangenen 
Thorheiten  und  Verschwendungen.    Denn  es  ist  eine  alltägliche  Er- 


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scheinung,  dass  der  Aberglaube  wie  andere  Krankheiten  mitunter  epi- 
demisch durch  Miasma  oder  Contagion  sich  weithin  ausdehnt  und  ansteckt, 
und  es  ist  gleichfalls  eine  alte  Erfahrung,  dass  Abergläubische  gern 
andere  bekehren  wollen,  wie  der  Leipziger  Bürger,  der  alle  Menschen 
zum  Glauben  an  den  Storchschnabel  und  an  die  damit  bewirkten  ver- 
meintlichen Geistererscheinungen  bringen  wollte. 

Und  nun  denke  man  an  die  Erregung  von  Furcht,  Schrecken 
und  Gram  in  den  leicht  empfanglichen  und  empfindsamen  Gemüthern. 
Es  ist  noch  nicht  lange  her,  dass  eine  Braut  den  Verlobungsring 
verlor  und  in  ihrem  Aberglauben  sich  zu  Tode  härmte  und  der 
Bräutigam  sich  erschoss.  Alles  Früchte  solch  entsetzlichen  Wahn- 
glaubens. Mitunter  bringt  sich  der  Abergläubische  selbst  in  Gefahr. 
Bei  einem  schweren  Gewitter  soll  das  Läuten  helfen,  und  doch  schlägt 
der  Blitz  so  oft  in  die  Thürme.  1783  wurden  in  Deutschland  und 
Frankreich  während  drei  Monaten  96  Personen  während  des  Läutens 
vom  Blitz  erschlagen.  Und  erst  neulich  ist  der  Fall  in  Zopotten  (im 
Reußischen)  wieder  vorgekommen.  Ebenso  traurig  sind  die  Selbst- 
peinigungen, die  sich  Menschen  im  Aberglauben  auflegen,  wie  es  z.  B. 
noch  jetzt  in  Sicilien  geschieht,  wo  Männer  auf  den  Wegen  zur  Wall- 
fahrtskirche religiöse  Geißelungen  vornehmen  und  sich  Brust  und 
Beine  so  blutig  schlagen,  dass  nicht  selten  Todesfälle  daraus  hervor- 
gehen. Der  verhängnisvollste  Schaden  des  Aberglaubens  besteht  aber 
darin,  dass  er  zu  den  schlechtesten  Handlungen,  ja  zu  Verbrechen 
aller  Art  fuhrt.  Und  das  thut  vor  allem  der  religiöse  Aberglaube. 
Es  ist  nicht  auszusagen,  wie  viel  dieser  Moloch  im  Mittelalter  an 
Opfern  verschlungen;  die  Haut  muss  einem  schaudern,  wenn  man  liest, 
dass  in  Bamberg  binnen  3  Jahren  (1627—1630)  285  und  in  Würz- 
burg in  derselben  Zeit  175  Hexen,  ja  in  Quedlinburg  an  einem  Tage 
130  Hexen  lebendig  verbrannt  wurden,  und  dass  man  noch  1701  in 
Deutschland  eine  Hexe  hinrichtete,  weil  sie  ein  fleischliches  Liebes- 
verhältnis mit  dem  Teufel  gehabt  habe. 

Noch  heutigentags  macht  der  Aberglaube  fanatisch,  grausam,  ja 
wahnwitzig  und  nicht  selten  vollständig  irrsinnig.  Voltaire  hatte 
ganz  recht,  wenn  er  sagte:  „Der  Fanatismus  ist  für  den  Aberglauben, 
was  das  Delirium  für  das  Fieber,  die  Raserei  für  den  Zorn  ist.  Wenn 
einer  glaubt,  dass  er  durch  Beten  eines  Psalmen  oder  durch  allerhand 
„hocus  pocus"  seinem  Feinde  recht  schaden  könne,  so  wird  seine 
Rachlust  dadurch  nur  mehr  angefacht.  Und  sehen  wir  auch  von  den 
allerschwersten  Ausgeburten  und  Verbrechen  des  Aberglaubens  ab,  er 
bleibt  doch  schließlich  eine  Entweihung  des  Heiligsten  im  Menschen, 


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des  reinen,  gesunden  und  lichten  Gottesglaubens,  an  dem  er  zehrt 
wie  eine  Afterorganisation  am  Körper.  Mag  er  auch  mitunter  den 
Spott  erregen  und  belächelt  werden,  er  ist  und  bleibt  eine  tief  zu 
beklagende  Erscheinung  und  besonders  auch  eine  Übertretung  des 
biblischen  Gebotes,  das  da  lautet:  „Es  soll  nicht  unter  dir  gefunden 
werden  ein  Weissager,  oder  ein  Tagewähler,  oder  der  auf  Vogelgeschrei 
achte,  oder  ein  Zauberer,  oder  Beschwörer,  oder  Wahrsager,  oder 
Zeichendeuter,  oder  der  die  Todten  frage;  denn  wer  solches  thut,  ist 
dem  Herrn  ein  Greuel." 

Ich  könnte  noch  weiter  eingehen  auf  die  Verwüstungen,  welche 
dieser  Fehler  im  menschlichen  Geiste  anrichtet,  und  zeigen,  wie  er 
sein  Opfer  nach  und  nach  für  das  Leben  ganz  unbrauchbar  macht, 
doch  es  sei  genug.  Uberblicken  wir  nun  den  Weg  zur  Heilung  dieser 
Krankheit.  Er  ist  nicht  leicht,  die  Heilung  will,  wie  jede  andere, 
mit  Vorsicht  und  Schonung  ausgeführt  sein.  Spott,  den  man  als 
Heilmittel  gerathen  hat,  dürfte  nur  bei  ganz  aberwitzigen  Kund- 
gebungen des  Aberglaubens  am  Orte  sein;  überhaupt  hilft  auch  die 
verächtliche  Behandlung  des  Abergläubischen  nur  halb;  der  Irrthum 
desselben  wird  ins  Verborgene  getrieben  und  bleibt  dann  oft  um  so 
zäher  haften.  Ob  es  viel  helfen  wird,  wenn  man  Vereine  wie  in  Frank- 
reich gründet,  deren  Mitglieder  es  sich  zur  Aufgabe  stellen,  gerade  das 
zu  thun,  was  der  Aberglaube  verbietet,  also  z.  B.  Freitags  reisen,  die 
Zahl  13  benutzen  etc.,  das  ist  wol  auch  noch  die  Frage.  Immerhin 
ist  aber  ein  solcher  Verein  geeignet,  die  Wahnmeinungen  des  Volkes 
zu  erschüttern.  Dass  man  Schwache  nicht  ohne  Noth  verletzt,  und 
dass  man  nicht  überall  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschüttet,  also  mit 
dem  Aberglauben  nicht  auch  allen  Glauben  zerstört,  darauf  ist  sicher- 
lich zu  achten.  Es  ist  ja  klar,  dass  mancher  Aberglaube  aus  einem 
guten  Keime  hervorgegangen  ist,  als  dessen  Ausgeburt  er  dasteht. 
So  gründet  sich  manche  abergläubische  Sitte  auf  Sagen  und  Legen- 
den, die  mitunter  einen  tiefen,  zu  beachtenden  Sinn  haben,  der  bei  Aus- 
rottuog  des  Übels  nicht  mit  zerstört  zu  werden  braucht.  Dass  es  übrigens 
schwer  ist,  Erwachsene  vom  Aberglauben  zu  heilen,  selbst  wenn  sie 
ihn  erkennen,  kommt  daher,  dass  er  mit  dem  Leben  des  Menschen 
ganz  verwächst.  Das  alte  Wort:  scio  raeliora  proboque,  deteriora 
sequor  passt  leider  auch  hierher.  Der  große  Lessing  sagt:  „Der 
Aberglaub,  in  dem  wir  aufgewachsen,  verliert  auch  wenn  wir  ihn  erkennen, 
drum  doch  seine  Macht  nicht  über  uns."  Und  dass  die  Abergläu- 
bischen auch  dann  noch  bei  ihrer  Meinung  verharren,  wenn  sie  auch 
das  NichteintrefFen  derselben  sehen,  dies  spricht  das  Wort  Jean  Pauls 


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-    108  — 


treffend  aus:  „Dem  Aberglauben  wachsen  die  Federn,  der  Zufall  mag 
hm  dienen  oder  schaden." 

Um  so  notwendiger  ist  es  daher,  dass  die  Erziehung  dem  Übel 
vorbeugt  oder  es  heilt,  und  zwar  von  innen  und  von  außen.  Bei  der 
Heilung  von  innen  ist  die  erste  Regel  die,  alle  Furcht,  d.  h.  alle  un- 
nöthige  unsinnige  Furcht  aus  dem  Herzen  des  Kindes  zu  verbannen. 
Der  Furchtsame  sieht  überall  Gespenster,  ihm  wird  das  faule  Weiden- 
holz zum  feurigen  Manne,  der  Schatten  an  der  Wand  zur  Geister- 
erscheinung, die  Nacht  zum  Schreckensbild.  Zschokke  sagt  ganz 
richtig:  „Am  Tage  ist  jedermann  beherzt  und  fürchtet  sich  nicht, 
aber  am  Abend  oder  des  Nachts,  wenn  der  Körper  ohnehin  erschlafft, 
die  Seele  ermüdet,  die  Einbildungskraft  und  jede  Nerve  empfindlicher 
und  reizbarer  ist,  dann  fürchtet  der  schwache  Sterbliche  Dinge,  die  er 
am  Tage  verlacht."  Gegen  diese  Regel,  das  Kind  vor  Furcht  zu  be- 
wahren, wird  aber  tausendfältig  gesündigt.  „Wart,  der  schwarze 
Mann  wird  dich  holen!"  oder  beim  Gewitter:  „Horch,  wie  der  liebe 
Gott  schilt  und  zürnt!"  und  vieles  andere  kann  man  täglich  hören. 
Auch  vor  der  Finsternis  sollte  man  nie  dem  Kinde  Furcht  einjagen, 
und  eher,  wie  Rousseau  will,  Spiele  im  Finstern  ausführen  lassen.  Die 
Furcht  ist  und  bleibt  eine  Hauptquelle  des  Aberglaubens.  Zur  Hei- 
lung von  innen  gehört  auch,  dass  das  Kind  das  Unmoralische  des 
Aberglaubens  fühlt  und  sich  schließlich  sagt:  Ich  will  nicht  aber- 
gläubisch  sein.  Wenn  die  Uberwindung  des  Aberglaubens  möglich  ist 
(nach  Prof.  Strümpell)  durch  Selbstbeherrschung,  Selbstregierung, 
durch  charakterfeste  Grundsätze,  treue  Pflichterfüllung,  Muth  und  Un- 
verzagtheit  den  Wechsellallen  des  Lebens  gegenüber,  Zurückweisung  thö- 
richter  Wünsche  und  Begehrungen,  durch  einen  heiteren,  harmlosen  und 
zufriedenen  Sinn,  durch  Aneignung  und  Festhalten  eines  reinen  ge- 
läuterten Gottesglauben,  so  wie  ihn  die  wahre  Christenlehre  darreicht, 
und  durch  das  aus  ihm  entspringende  Vei trauen  auf  die  göttliche 
Vorsehung,  welche  die  gesetzlich  von  ihr  geordnete  Welt  überwacht 
und  nach  ihren  Zwecken  regiert  —  so  gilt  es  ganz  besonders  diese 
Kleinodien  bei  der  Jugend  zu  fördern,  soweit  es  nur  möglich  ist. 
Namentlich  muss  der  Trost  in  den  jungen  Herzen  feststehen:  Denen, 
die  Gott  lieben,  müssen  alle  Dinge  zum  Besten  dienen. 

Aber  die  Wurzel  des  Aberglaubens  muss  auch  von  außen  vertilgt 
werden  durch  Aufklärung  und  Beseitigung  aller  schlimmen  Unwissen- 
heit. Ein  englischer  Dichter  sagt:  Das  einzige  Mittel  gegen  den 
Aberglauben  ist  Wissenschaft.  Nichts  anderes  kann  diesen  Pestflecken 
aus  dem  menschlichen  Geiste  hinwegwischen;  ohne  sie  bleibt  der 


109  — 


Aussätzige  ungereinigt  und  der  Sclave  unbefreit.  Es  ist  daher  die 
heilige  Pflicht  der  Schule,  dem  Kinde  nach  allen  Seiten  hin  die  rechten 
Naturkenntnisse  beizubringen,  die,  wie  ein  Schriftsteller  sagt,  den  Un- 
glauben Wieden  Aberglauben  ausschließen;  in  dem  Schüler  denBeobach- 
tongssinn  zu  schärfen  (denn  schlechtes  Beobachten  führt  zu  Täuschungen); 
recht  viele  Experimente  vor  seinen  Augen  zu  machen  und  das  logische 
Denken  auf  alle  Weise  zu  wecken  und  zu  befestigen.  Und  hier 
schließt  sich  nun  die  nicht  genug  zu  wiederholende  Forderung  an,  dass 
man  beim  Unterricht  und  im  häuslichen  Verkehr  das  Kind  mit  albernen 
Ammenmärchen  und  Gruselgeschichten  verschont.  Manches  Kind,  dem 
man  von  Todten,  die  im  Grabe  keine  Ruhe  hätten,  vom  wilden  Jäger, 
oder  vom  Wassermann,  der  die  Kinder  in  die  Tiefe  zieht  etc.  erzählte,  ist 
dadurch  so  abergläubisch  geworden,  dass  es  sich  kaum  einen  Schritt  in 
der  Dunkelheit  zu  thun  getraut.  Lieber  soll  man  dem  Kinde  Geschichten 
erzählen,  in  welchen  der  Aberglaube  lächerlich  erscheint  und  die 
Täuschung  leicht  ersichtlich  ist.  Klärt  man  die  Jugend  in  rechter 
Weise  auf,  dann  werden  solche  Dinge  nicht  vorkommen,  wie  in  einer 
Berliner  Gemeindeschule,  wo  ein  an  die  Wandtafel  gemalter  Todten- 
kopf  mit  den  auf  einem  Zettel  stehenden  Worten:  „Ihr  seid  dumm 
und  ich  bin  dumm,  und  morgen  drehe  ich  euch  die  Köpfe  um"  einen 
furchtbaren  Auflauf  und  eine  schreckliche  Panik  anrichtete.  Gegen 
die  Gespensterfurcht  ist  es  rathsam,  auch  die  Ambition  ins  Feld  zu 
führen  und  das  Kind  beherzt  zu  machen;  es  muss  sich  schämen,  des 
Abends  nicht  über  einen  Gottesacker  gehen  zu  wollen. 

Ehe  ich  nun  meine  Betrachtung  abschließe,  muss  ich  hier  noch 
die  Bemerkung  anknüpfen,  dass  wir,  wenn  wir  die  Religion  lals  Heil- 
mittel des  Aberglaubens  hinstellen,  nicht  einem  überladenen  Glauben 
oder  der  Frömmelei  das  Wort  reden,  denn  diese  ist  gerade  eine  Stufe 
zum  Aberglauben,  wie  man  noch  heutigentags  in  bigotten  Volks- 
kreisen sehen  kann.  Die  geschnitzten  Heiligen  —  sagt  Lichtenberg  — 
haben  in  der  Welt  mehr  ausgerichtet  als  die  lebendigen;  ich  möchte 
sagen,  sie  haben  auch  mehr  Frömmelei  und  Aberglauben  verursacht 
als  die  lebenden.  Aber  ebenso  sehr  ist  zu  wünschen,  dass  nicht  eine 
schale  Freigeisterei  und  ein  verblendeter  Atheismus  in  unserm  Volke 
noch  mehr  Unheil  anrichte,  denn  sie  sind  ebenfalls  Stufen  zum  Aber- 
glauben, wie  ja  die  französische  Revolution  des  vorigen  Jahrhunderts 
beweist,  in  welcher  sich  ein  Diener  damit  brüstete,  dass  er  nicht 
einen  Buchstaben  mehr  als  sein  Herr  glaube  und  wo  man  doch  den  lächer- 
lichsten Thorheiten  anhing.  Man  muss  mit  Schiller  ausrufen :  Drum  edle 
Seele,  entreiß  dich  dem  Wahn  und  den  himmlischen  Glauben  bewahre! 


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—  110 


Es  ist  wol  anzunehmen,  dass  es  nicht  leicht  möglich  sein  wird, 
den  Aberglauben  im  Volke  gänzlich  zu  vertilgen,  weil  so  viele  Fac- 
toren  zu  seinem  Entstehen  zusammenwirken,  und  wenn  in  heutiger 
Zeit  so  viele  Tausende  nach  Trier  pilgerten,  um  sich  bei  dem  heiligen 
Rocke,  der  unter  den  vielen  (über  18)  heiligen  Röcken  als  der  echte 
erklärt  worden  ist  (welcher  von  der  Jungfrau  Maria  gewebt  und  mit 
dem  Christuskinde  so  gewachsen  sein  soll,  dass  ihn  der  Herr  auch 
als  Erwachsener  tragen  konnte),  Glück  und  Segen  zu  holen,  so 
könnte  man  fast  verzweifeln;  aber  ich  bin  überzeugt,  dass  unsere 
Zeit,  die  mit  manchem  Gespenst  einen  siegreichen  Kampf  gefiihrt 
hat,  auch  den  Berg  des  Aberglaubens  mit  seinen  schwarzen,  unheil- 
bringenden Kratern  um  ein  gutes  Stück  abtragen  wird,  und  wenn 
diese  meine  Betrachtung  auch  nur  dazu  diente,  ein  Körnchen  von 
diesem  unheimlichen  Berge  loszureißen,  so  würde  ich  mich  freuen. 
Möge  auf  deutscher  Erde  überall  in  Dorf  und  Stadt,  bei  hoch  und 
niedrig,  jung  und  alt,  die  Flamme  der  Aufklärung  brennen  und  möge 
der  Aberglaube  bald  nur  noch  als  ein  trauriges  Denkmal  der  Unwissen- 
heit in  nnsern  Büchern,  aber  nicht  in  unsern  Herzen  stehen!  Das 
gebe  Gott! 


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Pädagogische  Rundschau. 

Die  Pädagogik  als  Kunstlehre.  Über  dieses  Thema  hat  bekanntlich 
Herr  Kreisschulrath  Dr.  Weygoldt-Karlsruhe  auf  dem  Mannheimer  Lehrertage 
einen  Vortrag  gehalten,  welcher  beifallig  aufgenommen  und  dann  mehrfach 
abgedruckt  wurde.  Im  Verlaufe  seiner  Ausführungen  citirte  Herr  Dr.  Wey- 
goldt  auch  eine  Reihe  von  Autoren  (bez.  Autoritäten),  welche  Beiträge  zur 
Belenchtung  seines  Themas  geliefert  haben.  Doch  vermisst  man  den  Namen 
eines  Mannes,  der  dasselbe  gründlicher  behandelt  hat,  als  alle  die  genannt  sind, 
nnd  es  überdies  In  demselben  Sinn  und  Geist  behandelt  hat  wie  Herr  Dr.  W. 
Dies  ist  der  Münchener  Universitätsprofessor  Dr.  J.  F  roh  schäm  m  er,  der  seit 
vierzig  Jahren  mit  seltener  Kraft  und  großen  persönlichen  Opfern  der  freien 
Wissenschaft  gedient  hat,  und  dessen  geistvolle,  für  die  Pädagogik  hoch  be- 
dentsaroe  Werke,  auch  Herrn  Dr.  W.  wol  bekannt,  den  Schulmännern  aller 
Stufen  bei  jeder  schicklichen  Gelegenheit  empfohlen  werden  sollten.  Wir 
glauben  daher  eine  nicht  überflüssige  Ergänzung  zu  Weygoldts  Vortrag  zu 
liefern,  wenn  wir  insbesondere  auf  Frohschammers  Buch:  „Über  die  Organi- 
sation und  Cultur  der  menschlichen  Gesellschaft"  (München  1885 ,  Ackermanns 
Nachfolger)  aufmerksam  machen,  dessen  dritter  Haupttheil  dem  Erziehnngs- 
wesen  gewidmet  ist  und  in  einem  Abschnitte  unter  dem  Titel  „Die  Organe  der 
Erziehung"  (S.  418 — 436)  auch  das  obige  Thema  erörtert.  Einige  Stellen 
dieses  Abschnittes,  die  zu  Dr.  Weygoldts  Vortrag  in  naher  Verwandtschaft 
stehen,  mögen  hier  Raum  finden: 

„Tn  den  Schalen  handelt  es  sich  hauptsächlich  um  Bildung  des  Intellects 
und  um  Beibringung  bestimmter  Fertigkeiten  und  Kenntnisse,  die  für  den 
geistigen  Verkehr  befähigen.  Doch  muss  dieser  Unterricht  stets  anch  mit  er- 
ziehender Tendenz  verbunden  werden,  d.  h.  für  Bildung  des  Gemüthes  und 
Willens  geeignet  sein.  Die  Thätigkeit  der  Lehrer  ist  eine  künstliche,  berufs- 
mäßige, ja  gewissermaßen  künstlerische,  insofern  es  sich  darum  handelt,  die 
Anlagen  des  Kindes  zur  Entwicklung  zu  bringen  und  die  Idee  des  Menschen 
an  ihm  zur  Realisrung  zu  fördern.  Insofern  könnte  man  die  Thätigkeit  des 
Lehrers  als  die  höchste  Kunstübnng  betrachten  nnd  bezeichnen.  Indes  ist  der 
künstlerisch  bildenden  und  schaffenden  Thätigkeit  desselben  eine  Schranke 
gesetzt  durch  das  Material  selbst,  das  zu  bearbeiten,  zu  gestalten  ist:  durch 
die  lebendige,  bewusste  und  wollende  Menschennatur.  Diese  ist  eben  nicht 
blos  passiv,  wie  der  Stoff  des  Künstlers,  und  soll  es  nicht  sein,  sondern  stets 
auch  activ,  und  die  Aufgabe  des  Lehrers  ist  es,  den  Künstler  im  Menschen 
selbst  zu  wecken,  dass  er  sich  selber  bilde,  zum  intellectuellen  und  insbesondere 
zum  ethischen  Kunstwerk  nach  Möglichkeit  gestalte. 

Dieser  Umstand  nun .  dass  es  der  Lehrer  und  Erzieher  bei  seiner  Berufs- 


—    112  — 


thätigkeit  mit  einem  lebendigen,  bewnssten,  wollenden  Stoff  zu  thun  hat,  den 
er  bilden  soll,  das»  also  das  Object  seiner  künstlerischen  Bearbeitung  eben  ein 
Subject  ist,  fordert  eine  besondere  Begabung  desselben:  die  nämlich,  dass  er 
die  innere,  selbstständige  Mitthätigkeit  des  Zöglings  gewinne,  die  Hingabe  von 
dessen  Selbst  an  seine  Thätigkeit  und  an  ihn,  an  seine  Person.  Es  gibt 
Menschen,  die  von  Natur  aus  beanlagt  sind,  Sympathie  zu  erwecken,  allenthalben 
Theilnahme  für  das  zu  finden,  was  sie  sagen  und  thun,  und  darum  entgegen- 
kommende, vertrauende  Hingebung  für  ihre  Belehrung  und  Leitung.  Dies  sind 
die  geborenen  Pädagogen;  sie  sind  befähigt,  die  kindliche  Natur  zu  bilden, 
ohne  die  Selbstständigkeit  des  Geistes  zu  beeinträchtigen,  da  sie  freiwillige 
Antheilnahme  und  Hingebung  finden.  Außer  dieser  natürlichen  Grundeigen- 
schaft aber  wie  viel  anderer  wichtiger  Eigenschaften  bedarf  der  Lehrer  und 
Erzieher  für  tüchtige  Erfüllung  seines  Berufes!  Heiterkeit  des  Gemüthes  und 
doch  wieder  Ernst  in  der  Behauptung  der  Autorität,  Kindlichkeit,  Fähigkeit 
zur  kindlichen  Natur  hinabzusteigen  und  doch  wieder  männliche  Würde,  um 
sie  emporzuführen,  Lebhaftigkeit,  um  aufzuregen  und  Theilnahme  zu  finden, 
und  doch  wieder  Ernst  und  Ruhe,  frische,  freithätige  Phantasie  und  doch  auch 
Freiheit  von  Phantasterei,  klaren  Verstand,  besonnene  Urtheilskraft  u.  s.  w. 
Der  Verein  aller  trefflichen,  oft  scheinbar  sich  widersprechenden  Eigenschaften 
ist  nöthig,  um  einen  vollkommenen  Pädagogen  zu  ermöglichen  .... 

Den  Lelirer-Bildungsanstalten  erwächst  durch  all  diese  Erfordernisse  für 
tüchtige  Lehrer  und  Erzieher  der  Volksjugend  eine  gar  große  und  schwierige 
Aufgabe!  Zunächst  schon  handelt  es  sich  darum,  jene  auszulesen,  welche  die 
richtige  natürliche  Begabung  besitzen,  jene  Natur-Eigenschaften,  von  denen 
eben  die  Rede  war,  und  die  nicht  richtig  Begabten  zurückzuweisen,  damit  sie 
nicht  für  Lebenszeit  zur  Thätigkeit  in  einem  Bernfe  genöthigt  werden,  zu  dem 
sie  nicht  geeignet  sind  und  in  welchem  sie  darum  sich  selbst  und  die  Jugend 
erfolglos  abquälen.  Denn  die  genannten  Eigenschaften  sind  um  so  noth- 
wendiger,  je  mehr  es  sich,  wie  in  der  Volksschule,  nicht  Mos  um  Belehrung, 
Unterweisung,  sondern  auch  um  Erziehung  handelt,  —  während  allerdings 
ein  Lehrer  der  eigentlichen  Wissenschaft  sie  eher  entbehren  kann,  da  bei  ihm 
der  schon  mündigen  Jugend  gegenüber  es  sich  fast  ausschließlich  um  Mitthei- 
lung genauerer  Erkenntnisse  handelt  .  .  . 

Was  aber  dem  Lehrer  und  Erzieher  der  Volksjngend  in  der  Schule  am 
meisten  noththut  zur  gedeihlichen  Wirksamkeit,  das  ist  Begeisterung  für  seinen 
Beruf.  Diese  kann  nur  entstehen  und  erhalten  werden  durch  hohes  Interesse 
für  die  menschliche  Natur  und  deren  Bildung  und  durch  liebevolle  Theilnahme 
an  der  Kindesnatur  und  deren  Entwickelung  und  Gedeihen.  Ein  wissenschaft- 
licher Forscher  kann  seiu  ganzes  Interesse  der  Sache  selbst  und  deren  Erfor- 
schung zuwenden  und  braucht  sich  bei  der  Mittheilung  der  Resultate  derselben 
um  die  Zuhörer  oder  Leser  selbit  wieder  nicht  zu  kümmern.  Bei  dem  Lehrer 
der  Jugend  ist  es  anders.  Was  er  Sachliches  mitzutheilen  hat,  ist  für  ihn 
selbst  ein  Altbekanntes  und  Gewohntes,  wofür  das  Interesse  nicht  fortdauernd 
in  gleicher  Weise  lebhaft  sein  kann;  dagegen  kann  die  kindliche  Natur  in 
ihrer  Eigenheit  und  in  ihrer  Entwickelungsweise  immer  wieder  seine  innige 
Theilnahme  erregen,  ihn  lebhaft  interessiren  und  die  Liebe  und  Begeisterung 
für  seinen  Beruf  stets  neu  beleben.  Um  aber  dieses  Interesses  für  die  Kindes- 
natur und  deren  Entwickelung  recht  fähig  zu  sein,  ist  höchst  förderlich,  ja 


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113 


uothwendig,  diese  Natur  selbst,  soweit  nur  imuier  möglich,  nach  all  ihren  Fähig- 
keiten und  Entwickelungsarten  kennen  zu  lernen.  Eingehendes  Studium  derselben 
ist  daher  für  den  Erzieher  unerläßliche  Aufgabe,  und  psychologische  oder  all- 
gemeiner: anthropologische  Studien  sollen  ihn  unablässig  beschäftigen  und  sollen 
darum  auch  eine  Hauptbeschäftigung  in  Lehrerbildungsanstalten  bilden." 


Körperliche  Züchtigung  in  der  Schule.  Unlängst  brachte  die 
.Nene  badische  Schulzeitung"  eine  längere  Abhandlung  über  das  Thema: 
.Die  in  der  Volksschule  zulässigen  Strafmittel,  insbesondere  die  körperliche 
Züchtigung"  von  G.  A.  Weber,  Lehrer  in  Zweibrticken.  Die  Arbeit  ist  ein 
schönes  Zeugnis  fleißigen  Studiums,  pädagogischen  Geistes  und  maßvollen  ür- 
theils  und  wird  wol  den  Beifall  der  allermeisten  ihrer  Leser  gefunden  haben. 
Wenn  trotzdem  hier  einige  Bemerkungen  an  dieselbe  geknüpft  werden,  so 
geschieht  dies  deshalb,  weil  der  Verfasser  (Herr  Weber)  sich  u.  a.  auch  auf 
den  Herausgeber  des  „Ptedagogiums"  bezogen  hat  und  zwar  in  einer  Weise, 
die  nicht  blos  persönlicher  Art,  sondern  auch  von  sachlicher  Bedeutung  ist. 

Herr  Weber  erwähnt,  dass  ich  auf  der  ersten  Versammlung  des  deutsch- 
österreichischen Lehrerbundes  (1886)  mit  aller  Entschiedenheit  den  Antrag 
anfeine  Petition  um  Wiedereinführung  der  körperlichen  Züchtigung 
be kämpft  habe.  Das  ist  ganz  richtig,  und  auch  gegen  die  beigefügte  Skizze 
meiner  Ausführungen  habe  ich  nichts  Erhebliches  einzuwenden.  Anders  ist  es  mit 
den  zwei  Sätzen,  welche  Herr  Weber  noch  folgen  lässt  und  welche  lauten: 
-Solche  Worte  gehen  entschieden  zu  weit  und  schweben  über  der  realen  Erde 
nnd  über  dem  wirklichen  Schulhans.  Die  Abstimmung  des  Lehrerbundes  ergab 
181  Anhänger,  168  Gegner  der  körperlichen  Züchtigung." 

Was  nnn  znnächst  die  letztere  Angabe  betrifft,  so  muss  sie  den  Eindruck 
machen,  es  seien  auf  dem  erwähnten  Lebrertage  die  Anhänger  der  körper- 
lichen Züchtigung  in  der  Majorität  gewesen,  und  zu  der  Vermuthung  veranlassen, 
die  beantragte  Petition  sei  wirklich  zustande  gekommen.  Thatsächlich  aber 
waren  bei  der  ersten  Abstimmung  die  Gegner  der  körperlichen  Züchtigung: 
in  der  Majorität,  und  erst  bei  einer  zweiten  Abstimmung,  nachdem  sich  eine 
Anzahl  derselben  bereits  entfernt  hatte,  ergab  sich  jenes  entgegengesetzte 
Resultat.  Was  man  nun  auch  hierzu  sagen  möge:  Thatsache  ist,  dass  die  be- 
antragte Petition  um  Wiedereinführung  der  körperlichen  Züchtigung  in  die 
österreichische  Volksschule  unterblieben  ist,  und  das  bezügliche  Verbot  noch 
heute  besteht. 

Dies  führt  mich  auf  den  Punkt  ,  welcher  meines  Erachtens  für  jene  Ver- 
sammlung maßgebend  sein  mnsste,  von  Herrn  WTeber  aber  nicht  in  Betracht 
gezogen  worden  ist.  Nämlich :  es  ist  ein  großer  Unterschied,  ob  es  sich  darum 
bandelt,  die  noch  zu  Recht  bestehende  körperliche  Züchtigung  abzuschaffen, 
oder  darum,  die  bereits  abgeschaffte  körperliche  Züchtigung  wieder  ein- 
zuführen. In  der  ersten  Form  ist  die  Frage  z.  B.  in  Preußen  gegeben,  in 
der  zweiten  wurde  sie  auf  jenem  österreichischen  Lehrertage  aufgeworfen.  Im 
ersten  Falle  muss  die  Lehrerschaft  meines  Erachtens  sagen:  Ergreift,  ihr 
Schulbehörden,  vor  allem  geeignete  Maßregeln,  dass  wir  ohne  körperliche  Züch- 
tigungen unseren  Beruf  erfüllen  können,  dann  werden  wir  auf  dieses  Strafmittel 
mit  Freuden  verzichten:  im  zweiten  Falle  muss  sie  sagen:  Nachdem  die  körper- 


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—    114  — 


liehe  ZUchtigang  gesetzlich  abgeschafft  ist,  womit  wir  principiell  einverstanden 
sind,  bitten  wir  die  Schulbehörden  um  Ergreifung  solcher  Maßregeln,  welche 
geeignet  sind,  dieses  Strafmittel  zu  ersetzen.  Um  den  letzteren  Punkt  hätte 
sich  auf  jenem  Lehrertage  die  Discussion  hauptsächlich  bewegen  sollen  und 
sollte  sie  sich  auch  heute  stets  bewegen,  so  oft  sie  wieder  erhoben  wird.  Leider 
aber  gibt  es  noch  heute  Lehrer  —  ich  habe  deren  einige  kennen  gelernt, 
hoffentlich  ist  es  nur  eine  kleine  Minderheit  —  welche  principiell  für  Bei- 
behaltung der  körperlichen  Züchtigung  in  der  Volksschule  sind  und  die  Führung 
des  Stockes  als  eines  ihrer  wichtigsten  Amts-  und  Ehrenrechte  betrachten. 
Jede  Einwendung  hiergegen  nehmen  sie  ungefähr  mit  derselben  Entrüstung 
auf,  wie  ein  absoluter  Selbstherrscher  die  Aufforderung  zur  Niederlegung  seines 
Scepters  aufnehmen  würde.  Ich  aber  bin  und  bleibe  der  Ansicht,  dass  die 
Ehre  des  Lehrerstandes  dadurch,  dass  er  des  Schlagens  der  Schulkinder  über- 
hoben wird,  ebensoviel  gewinnt,  wie  dadurch,  dass  er  von  den  „ niederen 
Küsterdieu8tenu  befreit  wird.  Und  was  die  liebe  Jugend  betrifft,  so  bin 
ich  der  Ansicht,  dass  Kinder,  welche  schlechterdings  nicht  ohne  Prügel  gezogen 
werden  können,  nicht  in  die  öffentliche  Volksschule  gehören.  End- 
lich bin  ich  der  Ansicht,  dass  die  Volksschullehrer  alles  unterlassen  sollten, 
was  der  Meinung  Vorschub  leisten  kann,  die  Volksschule  sei  eine  Anstalt 
für  Proletarierkinder,  wo  der  Stock  als  selbstverständliches  Znchtmittel 
sein  Recht  behalten  müsse,  während  er  unter  Kindern  der  „besseren  Stände" 
verpönt  sei. 

Aus  diesen  Gründen  rechne  ich  mir  es  zum  Verdienste  an,  jene  Petition 
um  Wiedereinführung  der  körperlichen  Züchtigung  vereitelt  zu  haben.  Auch 
weiß  ich  und  wusste  ich  schon  damals,  dass  die  fragliche  Petition  nicht  nur 
keinen  Ei  folg  gehabt,  sondern  der  Lehrerschaft  eine  empfindliche  Zurecht- 
weisung eingetragen  hätte ,  die  in  Verbindung  mit  den  Kundgebungen  der 
„öffentlichen  Meinung"  ihr  wol  mehr  Kummer  bereitet  haben  würde,  als  meine 
wolgemeinte  und  wolüberlegte  Opposition  und  Warnung.    Es  thut  mir  leid, 
dass  dieselbe  nicht  jedermann  gefallen  hat;  aber  es  thut  mir  nicht  leid,  meiner 
Überzeugung  energischen  Ausdruck  gegeben  zu  haben.    Ich  weiß,  dass  ich 
hierdurch  der  österreichischen  Volksschule  und  Lehrerschaft  einen  guten  Dienst 
geleistet  habe.   Und  wir  wollen  doch  alle  das  Wol  der  Schule  und  des  Lehrer- 
standes, im  Einklang  mit  der  stetigen  Besserung  der  Cultnr  und  Gesittung. 
Wer  dazu  glücklichere  Wege  weiß  als  ich,  den  kann  und  will  ich  nicht  be- 
kehren; wo  ich  aber  aus  langer  und  vielseitiger  Erfahrung,  sowie  durch  alle 
nur  mögliche  Überlegung  das  Richtige  gefunden  zu  haben  glaube,  da  lasse  auch 
ich  mich  nicht  bekehren,  selbst  dann  nicht,  wenn  behauptet  wird,  meine  Worte 
„schweben  über  der  realen  Erde  und  dem  wirklichen  Schulhaus".    Ich  habe 
die  reale  Erde  und  das  wirkliche  Schulhaus  in  einem  langen  Schuldienst  und 
unter  sehr  verschiedenen  Verhältnissen  tattsam  kenuen  gelernt  und  rechne 
dazu  auch  jene  traurigen  Fälle,  welche  unter  dem  Titel  „Züchtigung  eines 
Schnlknaben  mit  tödlichem  Ausgang"  bekannt  sind,  und  von  denen  einer  in 
dem  nämlichen  Blatte  vorgeführt  ist,  wo  der  Schluss  des  Aufsatzes  von  Herrn 
Weber  steht.    Ich  selbst  habe  einige  höchst  fatale  Züchtigungsfälle  amtlich 
erlebt  und  mit  vieler  Mühe  zu  einem  für  die  betreffenden  Lehrer  glimpflichen 
Ende  geführt.    Aber  man  soll  mir  nicht  zumuthen,  einer  Praxis  das  Wort  zu 
reden,  welche  im  ganzen  von  sehr  fraglicher  Heilsarakeit  ist,  in  einzelnen, 


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immerhin  nicht  ganz  seltenen  Füllen  aber  zu  tragischen  Folgen  führt  und 
dann  in  weiten  Kreisen  der  Schnle  bittere  Feindschaft  erweckt. 

Schließlich  berichtet  Herr  Weber  über  meinen  Standpunkt  noch  Folgeudes: 
„üittes  war  auch  nicht  immer  radical  für  Ausschließung  der  körperlichen 
Strafen  engagirt.  Früher,  als  er  noch  Schulstaub  schluckte,  da  meinte  er. 
anstreben  müsse  jeder  die  gänzliche  Beseitigung  derselben  aus  der  Schule,  und 
darin  geben  wir  ihm  recht.  Nur  sollten,  fährt  er  fort,  die  Schulbehörden, 
solange  es  nun  einmal  noch  Kinder  gibt,  welche  allen  gelinden  Zuchtmitteln 
Trotz  bieten,  die  Bestrafung  grober  Vergehen  und  hartnäckiger  Widersetzlich- 
keit selbst  in  die  Hand  nehmen.  Denn  nicht  nur  das  Kind  bedürfe  des  Schutzes 
gegen  leidenschaftliche  Lehrer,  sondern  auch  der  Lehrer  und  die  Interessen 
der  Schule  bedürfen  des  Schutzes  gegen  böswillige  Kinder,  welche  vielleicht 
noch  von  ihren  Eltern  unterstützt  und  aufgereizt  werden."  —  Die  Eingangs- 
sätze dieses  Passus  lauten  so,  als  ob  ich  meine  Ansicht  geändert  hätte.  Darauf 
habe  ich  nur  zu  bemerken,  dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  sondern  dass  ich  das 
vorstehende  Citat  noch  heute  als  mein  geistiges  Eigenthum  anerkenne,  also 
noch  ebenso  denke  wie  „früher",  als  ich  noch  „Schulstaub  schluckte".  Und 
somit  hoffe  ich,  dass  mir  auch  Herr  Weber  die  freundliche  Gesinnung  bewahren 
wird,  die  er  mir  an  anderen  Stellen  seiner  trefflichen  Abhandlung  bekundet 
hat.  Dittes. 


Die  Schulgesundheitspflege  auf  dem  VII.  internationalen 
Congresse  für  Hygiene  und  Demographie,  London  1891.  Von  Dr.  Leo 
Burgerstein-Wien,  Delegirten  des  k.  k.  n.  ö.  Landesschulrathes  und  Hono- 
rary  Foreign  Counciller  beim  Congresse. 

Das  ursprüngliche  Programm  der  IV.  Section  des  Congresses  („Kindheit. 
Jugend  und  Schulleben")  erfuhr  bei  den  Verhandlungen  z.  Th.  eine  Umstel- 
lung seines  reichen  Inhaltes,  wodurch  an  Ort  und  Stelle  die  täglich  verwendeten 
Zeiten  fast  gleich  blieben;  der  besseren  Übersicht  wegen  soll  jedoch  hier  die 
Reihenfolge  nach  Programmpunkten  durchaus  eingehalten  werden. 

Abtheilung  I:  Das  Kind  unter  normalen  Verhältnissen. 

Nach  der  Eröffnungsansprache  durch  den  Vorsitzenden  J.  R.  Diggle, 
Präsidenten  des  London  School  Board,  referirte  Dr.  L.  Burgerstein-Wien  über 
rdie  Arbeitscurve  einer  Schulstunde".  Jeder  Lehrer  kann  die  Erfahrung  machen, 
dass  sich  nicht  selten  vor  Ablauf  einer  Stunde  Zeichen  von  Ermüdung  bei 
Schülern  zeigen.  Um  der  Eruirung  des  Optimums  der  normalen  Länge  der 
Schullection  näherzutreten,  wurden  nun  in  vier  Classen  mit  Kindern,  die 
durchschnittlich  11  J.,  11  J.  10  M.,  12  J.  2  M.  und  13  J.  1  M.  alt  waren, 
nach  bestimmtem  Schema  gearbeitete,  passend  vorgedruckte,  ganz  leichte  Rech- 
unngsaufgaben  gegeben  und  zwar  in  vier  Stücken  für  Zeiträume  von  je  zehn 
Minuten;  zwischen  den  Zehn-Minuten-Arbeitszeiten  waren  je  fünf  Iiinuten  Pause. 
Von  vornherein  ist  ein  Ansteigen  der  Leistung  so  lange  zu  erwarten,  als 
Überschuss  an  organischem  Materiale  vorhanden  ist.  Während  des  ganzen 
Experimentes  rechneten  nun  die  162  Kinder  zusammen  135010  Resultat- 
ziffern; die  Zunahme  der  gewonnenen  Resultatziffem  beträgt  zusammen  von  der 


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I.  zw  II.  Zehn-Minnten-Arbeitszeit  rund  4000  Ziffern 
II.       III.    ..        ..  „    3000  „ 

III.   ,  IV.    „        ..  „         „    4000  „ 

von  der  II.  zur  III.  Zehn -Minuten -Zeit  war  aber  die  Zunahme  des  Leis- 
tungsqnantuius  die  geringste.  Die  Fehlerzunahme  betrug  für  alle  Individuen 
von  der 

I.  zur  II.  Zehn-Minuten-Arbeitszeit  abgerundet  450  Fehler 

II.  -  HI-  n  v        700  „ 
III.  „  IV.    ,,  ,,        350  „ 

von  der  II.  zur  III.  Zehn-Minuten-Zeit  war  aber  die  Zunahme  der  Fehler  die 
größte.  —  Es  scheint  demgemäß,  dass  die  Kinder  bereits  in  der  dritten  Viertel- 
stunde merkbare  Zeichen  der  Ermüdung  geben,  unbewusst  rasten,  um  in  der 
vierten  mit  erneuter  Kraft  einzusetzen.    Redner  beantragt: 

„1.  Es  ist  wünschenswert,  dass  die  Frage  der  geistigen.überbürdung  auf 
exacte  Weise  durch  experimentelle  Untersuchungen  studirt  werde  und  dass  die 
Schulbehörden  Untersuchungen  in  dieser  Richtuug  fördern  mögen.*  (Einstimmig 
angenommen.) 

„2.  Ehe  die  Überbürdungsfrage  in  einer  modernen  wissenschaftlichen 
Weise  studirt  ist,  sollen  die  einzelnen  Schullectionen  im  allgemeinen  nicht 
länger  dauern ,  als  drei  Viertelstunden ,  unterbrochen  durch  Viertelstunden- 
Pausen/    (Mit  allen  gegen  eine  Stimme  angenommen.) 

Dr.  H.  Kuborn- Lüttich  sprach  über  die  Fortschritte  der  Schulhygiene 
in  Belgien  (siehe  Verhandlungen  des  Wiener  Congresses  1887),  W.  A.  Lane- 
London  wünscht  Unterricht  aller  mit  Erziehung  Beschäftigten  in  der  Anatomie 
und  Physiologie  der  Bewegungswerkzeuge,  A.  Feret-Paris  demonstrirte  seine 
bereits  im  Jalire  1889  in  Paris  vorgeführten  Subsellien. 

G.  White-London  verlangte  in  der  Schule  jedenfalls  ein  System  körper- 
licher Erziehung  und  die  dazu  nöthigen  materiellen  Behelfe,  als:  entsprechenden 
Raum,  den  freien  Spielplatz  und  die  gedeckte  Halle.  Unbedingt  soll  jede 
Schule  auch  für  Schwimmunterricht  sorgen.  Redner  anerkennt  die  bezügliche 
Action  des  London  School  Board,  der  beschlossen  hat,  überall  dort,  wo  sich 
ein  für  den  Unterricht  nicht  ganz  geeignetes  Schwimmbad  nahe  dem  Schul- 
hause befindet,  in  jeder  neu  zu  erbauenden  Schule  ein  solches  einzurichten, 
damit  die  Erziehung  aller  die  Schule  besuchenden  Knaben  und  Mädchen  all- 
mählich in  dieser  Richtung  vervollständigt  werden  könne.  Während  des  Vor- 
trages von  White  machten  24  gleich  costumirte  Schulmädchen  von  7 — 12 
Jahren  unter  dem  Commando  einer  Lehrerin  neuerdings  in  Londoner  Volks- 
schulen eingeführte  Frei-  und  Ordnungsübungen  auf  dem  zu  diesem  Zwecke 
geräumten  Podium  des  Saales,  um  gewisse  Stellen  des  Vortrages  zu  illustriren; 
diese  Übungen  boten  natürlich  für  uns  nichts  Neues. 

Lord  Meath -London,  spricht  sich  auch  für  den  Schwimmunterricht  und 
—  im  Gegensatz  zu  White  —  gegen  das  Geräthtumen  in  Volksschulen  aus. 
Er  hat  bereits  im  Hause  der  Lords  einen  eben  in  Verhandlung  stehenden 
Gesetzentwurf  betreffend  physische  Erziehung  in  der  Volksschule  eingebracht, 
nachdem  er  sich  von  dem  bisherigen  traurigen  Stand  dieser  Sache  in  England 
fiberzeugte:  Von  sämmtlichen  englischen  Städten  mit  mehr  als  15000  Ein- 
wohnern antwortete  nur  etwa  die  Hälfte  bejahend  auf  seine  Anfrage,  ob  irgend 


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eine  Körperübung  —  wenn  auch  nur  zwischen  den  Schultischen  —  von  Schul- 
wegen in  der  Elementarschule  getrieben  werde. 

Folgende,  ursprünglich  von  N.  S  mit h- London  aufgestellte  Thesen  werden, 
die  erste  mit  Majorität,  die  zweite  und  dritte  einstimmig  angenommen:  1.  „Die 
Haasarbeit  der  Schulkinder  ist  einzuschränken."  2.  „Ausgiebige  körperliche 
Erholung  soll  vorgenommen  werden. w  3.  „In  den  Intervallen  zwischen  den 
Übungen  soll  dem  Körper  gehörige  Rast  gegeben  werden." 

Dr.  A.  Schofield-London  spricht  sehr  überzeugend  von  der  Notwendig- 
keit hygienischen  Unterrichtes  für  das  Mädchen  als  künftige  Gattin  und  Mutter, 
Hausverwalterin  und  Erzieherin,  von  dessen  Wert  für  das  Weib  zur  Verlänge- 
rung des  Lebens  nnd  Erhaltung  der  weiblichen  Reize.  Redner  betont,  dass 
unter  den  armen  Gassen  die  Gesundheit  des  Mannes  thatsächlich  seine  Haupt- 
stutze, die  einzige  Garantie  für  Weib  und  Kind  ist,  Trunkenheit  u.  s.  f.  oft 
ihre  Ursache  nur  in  einem  ungesunden,  unordentlichen  Heim,  schlecht  gekochten 
Mahlzeiten  u.  dgl.  hat,  und  beantragt  die  (einstimmig  angenommene)  These: 
„Dieser  Congress  tritt  warm  für  den  Unterricht  der  Mädchen  und  Frauen  in 
der  persönlichen  Hygiene  und  der  des  Haushaltes  als  integrirenden  Theil  ihrer 
Erziehung  ein." 

Sir  Ph.  Magnus -London  plaidirt  für  den  Handfertigkeitsunterricht  mit 
Rucksicht  auf  dessen  intellectuellen,  schuldisciplinären,  industriellen  und  ökono- 
mischen Wert,  und  weist  darauf  hin,  dass,  wenn  er  auch  die  für  rein  geistige 
Arbeit  verfügbare  Zeit  vermindert,  er  dafür  durch  die  Unterbrechung  die  Em- 
pfänglichkeit für  geistige  Arbeit  steigert  und  einen  Theil  der  Bestrafungen 
mit  ihren  deprimirenden  Wirkungen  wegfallen  macht. 

Dr.  Desguin -Antwerpen  spricht  über  die  Hygiene  des  neugeborenen 
Kindes;  in  den  großen  französischen  Städten  wird  die  Kenntnis  der  ersten 
Pflege  Neugeborener  im  Volke  durch  massenhafte  Verbreitung  passender  Flug- 
schriften beträchtlich  gefördert. 

Abtheilung  II:  Das  Kind  unter  abnormen  Bedingungen. 

W.  Mitchell-Glasgow  stellt  die  Thatsache  fest,  dass  bei  den  arbeitenden 
Classen,  z.  B.  in  Glasgow,  häufig  ein  Zimmer  als  Wohnung  für  eine  Familie  mit 
halberwachsenen  Kindern,  ja  sogar  mit  Aftermietern,  benutzt  wird  und  ver- 
langt gesetzliches  Eingreifen  gegen  diesen  Übelstand,  ganz  besonders  wegen 
seiner  moralischen  Folgen.  Eine  diesbezügliche  These  wird  nach  längerer 
Discuasion  abgelehnt. 

Dr.  H.  Kuborn  hat  die  Bewegung  der  Criminalität  im  Vergleiche  mit 
der  der  Volksbildung  für  Belgien  studirt,  ersterc  während  eines  Zeitraumes 
von  50,  letztere  während  eines  von  40  Jahren  derselben  Periode  und  zwar  auf 
Grund  der  Amtsacten,  wobei  auf  gewisse  Änderungen  der  Gesetzgebung  hin- 
sichtlich der  Verbrechen  gebürend  Rücksicht  genommen  wurde,  was  auf  die 
Länge  der  den  einzelnen  Durchschnittsberechnungen  zugrunde  liegenden  Zeit- 
stöcke von  Einfluss  war.  Diesen  Verhältnissen  Rechnung  tragend  hat  Kuborn 
drei  Tabellen  aufgestellt,  eine  für  die  Verbrechen  im  allgemeinen  von  1850 
bis  1875,  die  andere  für  die  schweren  Verbrechen  1836 — 1875,  die  dritte 
für  die  Verbrechen  überhaupt,  betrachtet  vom  Gesichtspunkte  der  Criminal- 
gesetzgebung  seit  der  Reform  derselben  (1867)  bis  1885.    Kuborn  gelangt 

Pädagogium.  14.  Jahrg.   Heft  II.  0 

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—    118  — 

auf  streng  logischem  Wege  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Zahl  der  Verbrechen  sich 
in  Belgien  im  Verhältnis  zur  Bevölkerungsziffer  beständig  vermindere.  Die 
charakteristischen  Ziffern  am  Anfang  und  am  Ende  der  ganzen  Curve  sind  für 
die  schweren  Verbrechen:  Einer  auf   70141  Einwohner  1836—1839, 

„     „  102  523        h  1868—1875; 
Verbrechen  überhaupt:     „     „     18  452        „       1850 — 1855, 

„     „    40  367       „  1881—1885. 

Um  mit  der  Bewegung  der  Verbrechen  jene  der  Volksbildung  in  Vergleich 
zu  setzen,  betrachtet  Kuborn  die  Ziffern,  welche  die  Vermehrung  repräsentiren : 
der  Volksschulen,  des  Lehrpersonales,  des  Schulbesuches  im  Verhältnis  zur 
Bevölkerungsziffer,  der  Auslagen  für  Unterricht  und  der  nach  den  Assentproto- 
kollen  des  Lesens  und  Schreibens  Kundigen.  Die  Zahlen  der  letzteren  sind  in 
Procent  der  Abgestellten: 

1843:4915%;  1850:  5515%;  1860:  6059%;  1870:  70-77%; 
1880:  7834%;  1883:  81-51%. 

Das  constant  umgekehrte  Verhältnis  von  Criminalität  und  Volksbildung 
wird  in  die  Augen  springen  durch  die  bezüglichen  Curven. 

Nach  Abrechnung  der  Idioten  von  Geburt  sind  in  Belgien  unter  1000 
Geistesgestörten  2"94  absolute  Analphabeten  und  1*54  solche,  die  eine  mehr 
oder  weniger  vollständige  Schulbildung  genossen  haben.  —  Redner  bezieht 
sich  auch  noch  auf  die  Selbstmorde.  —  Kuborn  hat  durch  seine  Arbeit  den 
allgemein  gültigen  Nachweis  geliefert,  es  sei  die  seinerzeit  von  Franzosen 
für  Frankreich  aufgestellte  Behauptung  falsch,  dass  die  Moralität  in  umgekehrtem 
Verhältnis  zur  Volksbildung  stehe  (!). 

Oberst  Prendergast-London.  Man  bemüht  sich  in  England  seit  längerer 
Zeit  mit  viel  Erfolg,  jugendliche  Individuen,  die  vom  rechten  Wege  abweichen, 
in  eigene  Schulen  zu  bringen.  In  die  r  Industrial  Schools"  werden  bettelnde, 
vagirende,  in  Gesellschaft  von  Gewohnheitsdieben  betroffene  u.  s.  f.  Kinder 
gebracht.  Infolge  der  Industrial  School  Acte  haftet  solchen  Kindern  kein  Makel 
fürs  Leben  an.  —  Kinder,  die  dem  Schulbesuch  ausweichen,  kommen  neuerlich 
in  einen  eigenen  Zweig  der  Industrial  Schools,  die  Truant  Schools,  wo  ihnen 
Unterricht  und  Schulleben  überhaupt  recht  angenehm  gemacht  wird;  die  Wir- 
kung eines  einmonatlichen  Besuchs  dieser  Schulen  ist  gewöhnlich  eine  vortreff- 
liche (1890:  90%  für  regelmäßigen  Schulbesuch  gewonnen!),  oft  begleitet  von 
großer  Dankbarkeit  der  Eltern.  Hilft  die  Truant  School  nicht,  so  kommt  das 
Kind  in  eine  Industrial  School;  hingegen  wurde  die  Einzelhaft  nach  ausgiebiger 
Erfahrung  fallen  gelassen.  1880  passirte  eine  Ergänzung  der  Industrial 
School  Acte  in  wenigen  Stunden  ohne  Debatte  beide  Häuser  des  Parlaments: 
sie  betraf  weibliche  Kinder,  welche  von  den  Eltern  zur  Prostitution  aufgezogen 
werden.  Die  bezügliche  Auslage  für  pflichtvergessene  Eltern  fremder  Kinder 
spart  den  Steuerträgern  spätere  größere.  —  Jugendliche  Verbrecher  kommen 
in  die  Reforinatory  Schools.  —  In  Großbritannien  sind  außer  12  Küstenschiffen, 
wo  Matrosendienst  gelehrt  wird,  55  Reformatory  Schools  (Auslage  1890 
119  336  Pfund,  5854  Zöglinge)  und  141  Industrial  Schools  (1890:  360947 
Pfund,  22  735  Zöglinge). 

Dr.  Desguin  spricht  über  die  Erziehung  armer  Waisen;  diese  muss, 
da  die  Kinder  vielfach  erblich  belastet  sind  (Alkoholismus,  Syphilis,  Tuberculose) 
vor  allem  eine  gesunde  sein,  dann  eine  einfache.    Geschlossene  Waisenhäuser 


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sind  aufzulassen  und  dafür  ländliche  Colonien  und  Einmiethnng  in  Familien 
anzustreben. 

Frl.  M.  Nigg- Korneuburg,  N.-Ö.,  wünscht  die  Errichtung  von  Kinder- 
Reconvalescentenhäusern  aus  öffentlichen  Mitteln  und  schildert  unter  Vorzeigung 
von  Möbeln  etc.  die  Einrichtung  des  Herzmansky'schen  Kinder-Reconvalescenten- 
bauses  in  Weidlingau  bei  Wien. 

L.  Davies-London  spricht  für  arme  Kinder,  ohne  Rücksicht  auf  die 
Würdigkeit  der  Eltern  freie  Mahlzeiten,  nicht  nur  Mittagmahle  an,  ebenso  Kost 
f&r  arme  Mütter  während  einer  gewissen  Zeit  aus  öffentlichen  Mitteln;  seine 
Forderungen  wurden  in  beredter  Weise  von  Frau  Besant- London  secundirt. 
Was  in  unseren  Schulen  „Überbürdung u  genannt  wird,  ist  oft  nur  Nahrungs- 
mangel („over-pre&sure ,  under-feeding").  Der  Staat  hat  den  Unterricht 
obligat  gemacht,  er  hat  auch  dafür  zu  sorgen,  dass  das  Kind  die  auferlegte 
Pflicht  erfüllen  könne.  —  Rednerin  schlägt  folgende  These  vor:  „Indem  dieser 
Oongress  die  Pflicht  des  Staates  gegen  seine  zukünftigen  Bürger  hinsichtlich 
der  Erziehung  anerkennt,  erklärt  er,  dass  Ernährung  und  Bekleidung  zu  deren 
wirkungsvoller  Erziehung  nöthig  sei."  Diese  These  wird  angenommen,  nach- 
dem eine  lebhafte  Discussion  die  Nothwendigkeit  des  Fortschrittes  in  der  an- 
geregten Richtung  gezeigt  hat.  Ein  Zusatz  zur  These  Besants  verlangte 
Anwendung  von  Strafgesetzen  gegen  Eltern,  die  ihre  Kinder  vernachlässigen 
und  wurde  auch  angenommen. 

Abtheilung  III:  Das  unvollkommen  constituirte  Kind. 

Dr.  F.  Warner-London  hat  im  Verlaufe  von  drei  Jahren  50027  Kinder, 
26884  Knaben  und  23143  Mädchen,  in  106  Schulen  so  untersucht,  dass 
jedem  Kinde  in  einem  recht  hellen  Räume  ein  kleiner  Gegenstand  (Münze,  Blei- 
stift etc.)  hoch  vorgehalten  wurde,  wobei  Redner  aus  dem  Gesichtsansdruck, 
den  Augenbewegungen,  der  Kopf-  und  Körperhaltung  etc.  sehr  rasch  auf  die 
normale  oder  abnormale  Beschaffenheit  des  Kindes  schloss;  überdies  mussten 
die  Kinder  noch  die  Hände  hoch  emporheben,  endlich  wurde  der  Gaumen 
untersucht.  Nachdem  auch  die  Lehrer  die  Schwachbegabten  angegeben  hatten, 
die  Warner  allenfalls  nicht  ausgewählt  hatte,  wurden  die  derart  ausgeschiedenen 
Abnormen  genau  untersucht,  Kopfmaße  genommen  etc.  Nach  Warner  ist 
dieser  flinke,  Unterricht,  Lehrer  und  Kind  wenig  störende  Methode  seitens 
eines  geübten  Spitalarztes  mit  ganz  gutem  Erfolge  verwendbar.  Die  Details 
derselben  hat  er  allerdings  auf  dem  Congresse  nicht  geschildert.  Als  abnorm 
wnrden  5851  Kinder,  3616  Knaben  und  2235  Mädchen,  befanden;  Warner 
gibt  die  Specification  bezüglich  der  Defecte  des  Körperbaues  und  des  Nerven- 
systems (Abnormität  des  Gaumens,  des  Craniuras  etc.,  oder:  allgemeine  Balance 
schlecht,  Augenbewegungen  defectiv  etc.).  Die  Ziffern  in  der  Specification, 
leider  nicht  procentisch  gegeben,  sind  auch  fast  in  allen  Detailposten  bei  den 
Mädchen  geringer  als  bei  den  Knaben.  Dr.  Warner  nahm  in  der  Folge  in 
veränderter  Form  eine  These  auf,  die  ursprünglich  von  den  auf  dem  Gebiete 
der  psychopathischen  Minderwertigkeiten  so  wol  erfahrenen,  leider  beim  Con- 
gresse nicht  erschienenen  Herren  Dr.  L.  Strümpell,  Dr.  F.  L.  A.  Koch, 
Dr.  Emil  Schmidt,  Dr.  Ernst  Hasse  am  Schlüsse  ihres  gemeinsamen,  von 
Dr.  Kot el mann  verlesenen  Elaborates  aufgestellt  worden  war.    Diese  mit 

9* 


L 


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-    120  — 


allen  gegen  eine  Stimme  aufgenommene  These  lautete:  „Der  Congress  ernennt 
eine  Commission,  bestehend  ans  Personen  beziehungsweise  erfahren  in  der 
Untersuchung  1.  der  physischen  Beschaffenheit  der  Kinder,  2.  der  geistigen 
Verhältnisse  und  Leidenszustände  derselben,  3.  der  Erziehung  und  der  Methoden 
mit  Kindern  umzugehen ,  4.  der  statistischen  Couipilation  von  Thatsachen. 
Aufgabe  dieser  Commission  soll  es  sein,  die  Verhältnisse  der  die  Schulen  be- 
suchenden und  anderen  Kinder  zu  untersuchen  und  nach  einem  bestimmten 
Plane  vorzugehen.  Der  Congress  ermächtigt  die  Commission,  sich  durch 
Cooptation  zu  verstärken  und  anerkannte  Autoritäten  um  Unterstützung  anzu- 
gehen, wenn  sie  es  für  nöthig  findet." 

F.  Beach-Dartford  constatirt,  dass  die  Charity  Organisation  Society  viele 
defective  Kinder  dem  Verbrechen  zusteuernd  gefunden  hat.  Dr.  M.  Gauster- 
Wien  gibt  eine  Eintheilung  der  geiBtig  Defecten,  in  dem  Sinne,  dass  sie  ent- 
weder durch  Schule  und  Haus,  oder  blos  durch  Anstaltspflege  oder  überhaupt 
nicht  mehr  zu  heben  seien  und  wünscht  Fortschritt  in  dieser  Richtung. 

Dr.  A.  Jakobi-New  York  betont  die  Notwendigkeit ,  die  Gesunden, 
Starken,  vor  den  Gefahren  des  Zusammenseins  mit  Minderwertigen  zu  schützen. 

Dr.  L.  Down-London  constatirt,  dass  er  bei  seiner  vor  30  Jahren  in 
einem  Londoner  Gefängnis  gemachten  Untersuchung  eine  auffallend  große 
Zahl  der  „Verbrecher"  als  in  der  That  schwachsinnig  befunden  habe.  Er 
weist  auf  die  Correlation  zwischen  geistiger  Kraft  und  physischer  Ausgestal- 
tung hin. 

Dr.  J.  M.  Rhodes-Didsbury  bemerkt,  dass  ein  in  Frankreich  eben  vor- 
liegender Gesetzentwurf  die  Etablirung  je  einer  Schule  für  epileptische  und 
einer  für  nicht  epileptische  Idioten  in  jedem  Departement  verlangt. 

J.  P.  Richards  wünscht  die  Untersuchung  jedes  neu  in  die  Schule  ein- 
tretenden Kindes. 

Dr.  Gnye-Amsterdam  erörtert  das  vielfach  beobachtete  Auftreten  geistigen 
Zurückbleibens  als  Consequenz  behinderter  Nasenathmung  und  führt  außer- 
ordentlich beweisende  Fälle  aus  seiner  Praxis  dafür  auf,  wie  nach  operativer 
Eröffnung  der  verlegten  Athmungswege  die  geistigen  Fähigkeiten  und  die 
Leistungen  der  früher  unfähigen  Kinder  rapid  zunahmen.  Kein  Kind  sollte 
ohne  ärztliche  Untersuchung  in  die  Schule  eintreten. 

Dr.  Ed.  v.  Hofmann-Wien  wünscht  auf  Grund  seiner  Wahrnehmungen, 
dass  den  besonders  in  der  Pubertätsperiode  psychisch  erhöht  reizbaren  rhachi- 
tischen  und  hydrocephalischen  Kindern  mehr  Aufmerksamkeit  zugewendet 
werde.  Redner  berichtet  unter  Vorlage  abnorm  gebauter  Schädeldächer  von 
ihm  secirter  Kinderleichen  über  die  bei  jugendlichen  Selbstmördern  beobachteten 
auffallenden  Abweichungen  des  Schädelbaues  und  verweist  gleichfalls  auf 
Gmnd  seiner  Sectionsbefunde  auf  die  Thatsache,  dass  unter  Umständen  ganz 
leichte  Schläge  auf  den  Kopf  den  Tod  als  letzte  Consequenz  nach  sich  zu 
ziehen  vermögen.  Die  Schule  sollte  diesen  Dingen  mehr  Aufmerksamkeit  zu- 
wenden. 

Dr.  Th.  Esch  er  ich- Graz:  Defecte  Kinder  sind  fast  alle  in  der  Lage 
mit  der  linken  Hand  Spiegelschrift  zu  schreiben.  Spiegelschrift  bei  Knaben, 
die  über  acht  Jahre  alt  sind,  ist  ein  wahrscheinlicher  Hinweis  auf  geistige 
Abnormität  des  Kindes,  also  mit  ein  Anhaltspunkt  zu  der  bezüglichen  Beurthei- 
lnng.   Das  Procent  der  Kinder,  welche  Spiegelschrift  zu  schreiben  vermögen, 


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—    121  — 


nimmt  mit  der  Höhe  der  Classe  ab,  Mädchen  schreiben  sie  länger  als  Knaben, 
es  schreiben  sie  mehr  Frauen  als  Männer. 

Dr.  F.  J.  Campbell*) -London.  Die  Bliudenerziehung  soll  nicht  Wol- 
thätigkeitssache,  sondern  Aufgabe  der  öffentlichen  Erziehungsbehörde  sein.  — 
An  Campbeils  Schule  erhalten  sich  von  den  seit  1870  eingetretenen  Blinden 
80 — 90°/0  selbstständig,  manche  haben  einsehr  nettes  Einkommen  („handsome 
incomes");  1890  erwarben  die  ehemaligen  Schüler  zusammen  circa  16  000 
Pfand.  —  Das  Wichtigste  ist  vor  allem  eine  richtige  physische  Erziehung, 
welche  dem  Blinden  die  ihm  von  vornherein  mangelnde  Sicherheit  gibt.  Die 
blinden  Rinder  in  Campbeils  Schule  spielen  und  laufen  herum,  lernen  Turnen, 
Schwimmen,  Rudern,  Rollschuhlaufen;  es  ist  die  einzige  Schule  überhaupt  in 
Europa  (nicht  nur  Blindenschule),  welche  die  Sargant'schen  Apparate  eingeführt 
hat,  die  ansgiebig  und  mit  bestem  Erfolge  benützt  werden.  Es  wird  amerika- 
nisches, deutsches  und  schwedisches  Turnen  betrieben.  —  Außer  der  physischen 
Erziehung  muss  den  blinden  Kindern  schon  vom  Kindergarten  angefangen 
das  Verständnis  für  den  Ernst  der  kurzen  und  leichten  Lection  beigebracht 
werden.  Im  Elternhause  sollen  blinde  Kinder  nicht  erzogen  werden.  Nach 
dem  systematischen  Unterricht  in  den  gewöhnlichen  Schulgegenständen,  Hand- 
fertigkeit, sowie  Ciavier-  nnd  Harmoniumspiel,  wird  das  Kind  für  jene  Rich- 
tung, für  welche  es  Begabung  hat,  specieil  vorbereitet,  eventuell  für  ein  Hand- 
werk. —  Wichtig  ist  die  Thätigkeit  der  Schule,  den  ausgebildeten  Blinden 
Erwerbsstellungen  zu  vermitteln.  —  Campbell  will,  dass  alle  Blinden  aus  dem 
Zustand  des  Halb-Pauperismus  gerissen  werden  und  der  blinde  Bettler  ver- 
schwinde, nnd  stellt  folgende  einstimmig  (nnd  mit  dem  Zusätze  „und  Taub- 
stummenu  von  Moberly)  angenommene  These  auf:  „Die  Zeit  ist  gekommen,  in 
der  die  Erziehung  der  Blinden  nnd  Taubstummen,  auf  ein  höheres  Niveau  ge- 
hoben und  durchaus  praktisch  gemacht,  einen  Tbeil  des  nationalen  Erziehungs- 
systems ausmachen  sollte/ 

Campbell  berichtet  auch  über  seine  Verbesserungen  im  Lesen  und  Schreiben 
der  Blinden,  die  er  jedoch  nicht  in  die  Praxis  einführen  will,  ehe  sie  nicht  von 
sehr  zahlreichen  Blinden  und  deren  Freunden  anerkannt  sind,  um  die  Zahl  der 
Methoden  nicht  zu  vermehren. 

General  Moberly-London  bedauert,  dass  die  Londoner  Eltern  von  Taub- 
stummen oft  aus  Unwissenheit,  d.  h.  Unkenntnis  des  Nutzens,  ihre  Kinder  nicht 
in  die  Specialschulen  schicken.  Das  durch  die  Lautirmethode  Erlernte  werde 
wol  vielfach  wieder  vergessen,  da  die  Angehörigen  aus  dem  Volke,  die  nur  den 
Dialekt  kennen,  später  sich  nicht  die  Mühe  geben,  den  in  der  Schule  erlernten  ge- 
brochenen Worten  des  guten  Englisch  der  Taubstummen  zu  lauschen.  Audi 
das  Ablesen  vom  Munde  halte  er  nicht  für  sehr  wertvoll.  Redner  anerkennt 
die  guten  Wirkungen  der  kürzlich  eingeführten  körperlichen  Übungen  und  jene 
des  Kochens  bei  den  älteren  taubstummen  Mädchen. 

Dr.  H.  Gutzmann-Berlin  betont  dagegen  die  Verwendbarkeit  des  Ab- 
lesens  vom  Munde  und  den  Wert  der  Lautsprache  für  die  Entwickelung  der 
Brustorgaue  der  Taubstummen.  —  Auf  eine  Statistik,  die  sich  über  200000 
Kinder  erstreckt,  gestützt,  constatirt  er,  dass  von  den  in  die  Schule  eintretenden 


*)  Der  blinde  Diroctor  einer  großartig  eingerichteten,  nur  durch  Priratwol- 
thätisjkeit  erhaltenen  Blindenschule:  »eine  Frau  liest  den  Vortrag. 


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Sechsjährigen  bereits  0*5  °/0  an  Stottern  und  Stammeln  leiden,  im  zweiten 
Schuljahre  1  °/0>  von  den  14  jährigen,  also  am  Schlüsse  der  Volksschulzeit,  gar 
1*5  °/0.  Sonach  ist  eine  energische  Hygiene  der  Lautsprache  in  der  Schule 
nöthig  und  der  Staat  sollte  dafür  sorgen,  dass  die  Lehrer  in  ihrer  Ausbildungs- 
zeit die  nüthigen  sprachphysiologischen  und  sprachhygienischen  Vorkenntnisse 
erwerben. 

Dr.  L.  Kotel mann *)- Hamburg  bringt  die  mit  dem  nöthigen  Zifferndetail 
belegten  Resultate  seiner  gründlichen  Studie  über  die  Sehschärfe  der  Kinder 
Vor.  Im  allgemeinen  ist  das  linke  Auge  das  kräftigere.  Sowol  bei  den  Kurz- 
ais bei  den  Weitsichtigen  nimmt  die  Sehschärfe  mit  dem  Grade  der  Myopie  bezw. 
Hypermetropie  ab.  Erblich  belastete  Kurzsichtige  haben  eine  geringere  Sehschärfe 
als  nicht  erblich  belastete;  sie  ist  im  allgemeinen  relativ  die  beste,  wenn  nur 
die  Mutter,  schlechter  wenn  nur  der  Vater,  am  schlechtesten,  wenn  beide 
Eltern  belastet  waren.  Die  Sehschärfe  der  Normalsichtigen  nimmt  mit  den  Schul- 
und  Lebensjahren  zu,  die  der  Kurz-  und  Weitsichtigen  ab.  Redner  fordert  die 
Weiterbekämpfung  der  Kurzsichtigkeit  mit  den  bekannten  Mitteln. 

Abtheilung  IV:  Hygiene  des  Schullebens. 

Dr.  0.  Sturges-London  spricht  über  physische  Anzeichen  von  Übeln, 
hervorgerufen  durch  unrichtige  Behandlung  in  der  Schule,  speciell  über  Veits- 
tanz, der  sich  allmählich  entwickelt,  leicht  zu  übersehen,  aber  auch  leicht  zu 
constatiren  ist,  wie  Redner  an  drei  damit  behafteten  Kindern  zeigt:  Lässt  man 
sonst  auffallende  Kinder  in  der  Erregung,  z.  B.  bei  Prüfungen,  die  Arme  auf- 
heben, Handflächen  nach  vorwärts,  so  fällt  bei  dem  mit  Veitstanz  behafteten 
Kinde  eine  oder  die  andere  Hand  zurück  oder  vor,  zittert.  Man  sollte  in  der 
Schule,  wenn  angezeigt,  den  Versuch  machen. 

M.  Morris-London  spricht  über  die  —  von  anderen  Rednern  bestätigte 
—  Häufigkeit  des  Leidens  der  Kopfhaut  „Ringwurm"  in  den  Volksschulen 
Londons  und  die  nöthige  Behandlung,  Dr.  C.  E.  Shelly-Hertford  begründet  die 
Noth wendigkeit  und  fordert  die  Führung  systematischer  Berichte  über  Infections- 
kiankheiten  in  Schulen. 

Dr.  L.  Kotelmann  weist  an  zahlreichen  Photographien  und  Facsimiles 
nach,  dass  die  Schrägschrift  erst  im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  Eingang 
gefunden  hat.  Die  hygienischen  Vorzüge  der  Steilschrift  liegen  vor  allem 
darin,  dass  sie  nur  bei  „gerader  Mittenlage"  des  Heftes  geschrieben  werden 
kann,  die  Schrägschrift  aber  nnr  in  anderen  Lagen.  Jede  Rechtslage  ist  ver- 
werflich, weil  Kopf  und  Rumpf  dabei  nach  rechts  hin  gedreht  und  das  rechte 
Auge  dabei  der  Schrift  mehr  genähert  wird,  als  das  linke.  Die  schräge  Mitten- 
lage ist  nicht  weniger  nachtheilig,  da  der  Kopf  dabei  nach  links  geneigt  werden 
muss,  wobei  die  Wirbelsäule  nach  rechts  ausgebogen,  die  rechte  Schulter  ge- 
hoben, das  linke  Auge  der  Schrift  mehr  als  das  rechte  genähert  wird.  (Wundt- 
Lamansky'sches  Gesetz:  Die  Verbindungslinie  der  beiden  Augenmittelpunkte 
stellt  sich  jederzeit  parallel  der  Zeile.)  Bei  Steilschrift  und  gerader  Mittenlage 
hingegen  ist  zu  Kurzsichtigkeit  und  Rückgratsverkrümmung  kein  Anlass.  Sie 
bat  auch  pädagogische  Vorzüge:  weil  kein  schwierig  zu  merkender  schiefer 
Winkel  auftritt,  wird  sie  im  allgemeinen  leichter  erlernt  und  der  Lehrer 

*)  Redacteur  der  vortrefflichen  „Zeitschrift  für  Schulgcsundheitspflege". 

IL- . 


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braucht  nicht  immerfort  zum  Geradesitzen  zu  mahnen,  weil  dies  von  selbst 
geschieht.  Dr.  Kotelmann  beantragt  die  mit  allen  gegen  eine  Stimme  ange- 
nommene These:  „Da  die  hygienischen  Vortheile  der  Steilschrift  sowol  dnrch 
medicinische  Forschung  als  durch  das  praktische  Experiment  deutlich  erwiesen 
und  festgestellt  sind,  und  da  mit  Einführung  dieser  Schrift  die  schädlichen 
Körperhaltungen  in  so  hohem  Grade  vermieden  werden,  welche  geeignet  sind, 
Wirbelsauleverkrümmungen  und  Kurzsichtigkeit  hervorzurufen,  so  wird  em- 
pfohlen, Steilschrift  in  den  Volks-  und  Mittelschulen  allgemein  einzuführen, 
bezw.  zu  lehren."  —  J.  Jackson-London  behandelt  denselben  Gegenstand, 
ausgehend  von  der  Bedeutung  des  Schreibens  und  der  Handschrift. 

Abtheilnng'  V:  Das  Gesetz  in  seiner  Beziehung  zum  Kinde. 

Dr.  Jakobi  bespricht  die  gesetzliche  Regelung  der  Arbeit  des  Kindes  in 
den  Vereinigten  Staaten  und  wünscht  die  Ausdehnung  der  Gesetzgebung  auch 
auf  landwirtschaftliche  Arbeit,  damit  der  Schulzwang  allenthalben  durchführbar 
sei.  Dr.  E.  Paget-Salford  berichtet  über  nur  für  England  acute  Missbräuche 
bei  der  Lebensversicherung  von  Kindern.  — 

In  der  I.  Section  (präventive  Medicin)  wurde  der  Antrag  von  Dr.  E. 
Seaton-London  angenommen:  „Die  europäischen  Regierungen  sind  dringend 
zu  ersuchen,  eingehende  und  systematische  Nachforschungen  über  die  Ursachen 
der  Diphtherie  vornehmen  zu  lassen" ,  in  der  IX.  Section  (Staatshygiene)  der 
Antrag  von  Dr.  J.  G.  Currie-Neu -Braunschweig:  „Anzeigepflicht  für  In- 
fectionskrankheiten  soll  für  den  Arzt  und  den  Haushälter  obligatorisch  sein." 

Als  Ort  des  VIII.  internationalen  Congresses  für  Hygiene  und  Demographie 
1894  wurde  wegen  officieller  Einladung  der  Municipalität  Budapests  diese 
Stadt  vorgeschlagen  und  demgemäß  auch  gewählt. 


Otto  Ernst  als  Lyriker  und  Essayist.    Von  C.  Ziegler  —  Eichen. 

Die  pädagogische  Presse  hat  gewiss  nicht  nur  das  Recht,  sondern  aucli 
die  Pflicht,  neben  der  Pflege  der  pädagogischen  Wissenschaft  und  der  Vertre- 
tung der  Standesinteressen  auch  der  Culturgeschichte  des  Lehxerstandes,  wie 
ich  es  nennen  mochte,  ihre  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  und  ihren  Lesern 
auch  solche  Amtsgenossen  vorzustellen,  welche  sich  durch  ihre  Leistungen  auf 
einem  anderen  Gebiete  menschlicher  Geistesbethätigung  ausgezeichnet  haben. 
Die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  den  Begriffen  Lehrer  und  Schriftsteller 
bringt  es  mit  sich,  dass  in  dieser  Beziehung  die  literarische  Thätigkeit  die 
erste  Stelle  einnimmt,  der  sich  die  Tonkunst  anschließt.  Noch  vor  zwanzig 
Jahren  war  die  stetige  Klage  unserer  Fachpresse:  Mangel  an  Mitarbeitern,  und 
heute  wird  nicht  nur  ein  großer  Theil  derselben  mit  wirklich  gediegenen 
Arbeiten  bedient,  die  Lehrer  nehmen  vielmehr  in  allen  Zweigen  der  Literatur 
eine  bedeutende  Stelle  ein.  Kaum  zu  zählen  sind  die  pädagogischen  Männlein 
und  Fräulein  im  „Kürschner",  wo  allerdings  bedeutende  Namen  und  Nullitäten 
friedlich  nebeneinander  stehen.  Zu  den  ersteren  gehört  auch  Otto  Ernst,  und 
es  geht  schon  aus  unserer  Überschrift  hervor,  wo  er  sich  seine  Sporen  ver- 
dient hat. 

Wer  ist  nun  Otto  Ernst?  0.  E.  Schmidt,  so  lautet  sein  vollttändiger 
Name,  wurde  am  7.  October  1862  zu  Ottensen  als  vierter  Sohn  eines  Cigarren- 


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arbeiters  geboren  nnd  besachte,  von  einem  Bruder  seit  dem  5.  Lebensjahre  in 
den  Elementen  des  Wissens  unterrichtet,  von  1869  bis  1877  die  Volksschule 
seines  Heimatsortes.  Dem  Lehrerstande  wurde  er  durch  seinen  Lehrer  Karl 
Bindrich  zugeführt,  von  seinen  Eltern  war  er  für  den  Beruf  eines  Handwerkers 
oder  Fabrikarbeiters  bestimmt.  Bindrich,  der  das  schlummernde  Talent  er- 
kannt und  den  strebsamen  Schüler  liebgewonnen  hatte,  bot  ihm  aus  freien 
Stücken  unentgeltlichen  Unterricht  an  und  nnterwies  ihn  in  selbstloser  Weise 
ein  Jahr  lang  in  deutscher  Sprache  und  Literatur.  Von  1878  bis  1883  besuchte 
Schmidt  das  Präparandeum  und  das  Seminar  zu  Hamburg  und  förderte  sich 
nebenher  kräftig  durch  angestrengtes  Selbststudium.  Seit  dem  Abgang  vom 
Seminar  ist  er  Volksschullehrer  in  Hamburg  und  tritt  seit  einigen  Jahren  auch 
unter  großem,  allseitigem  Beifall  als  Recitator  auf. 

Mit  Gedichten  trat  Schmidt  zuerst  1882  in  Zeitschriften  an  die  Öffent- 
lichkeit; 1885  wurde  seine  mit  ausgezeichnetem  psychologischen  Scharfblick 
geführte  Untersuchung  über  den  Einfluss  des  Ehrgeizes  auf  Bildung  und 
Charakter  („Ein  Parasit  der  Seele ")  preisgekrönt,  und  in  demselben  Jahre  er- 
rang er  mit  seinem  Essay  „Der  moderne  literarische  Dilettantismus  und  seine 
Bekämpfung"  den  von  der  „Deutschen  Schriftstellerzeitung"  für  die  beste  Be- 
arbeitung dieses  Themas  ausgesetzten  Preis.  Das  Jahr  1889  brachte  ihm  den 
Augsburger  Schillerpreis  für  seine  bei  Hinricus  Fischer  Nachfolger  in  Norden 
erschienene  Sammlung  „Gedichte"  (Preis  3  M.).  Im  Frühjahr  1890  erschien 
unter  dem  Titel  „Offenes  Visier"  ein  Band  gesammelter  „Essays  aus  Lite- 
ratur, Pädagogik  und  öffentlichem  Leben"  (Hamburg,  Kloss.  2.50  M.).  Gegen- 
wärtig bereitet  Ernst  die  Herausgabe  eines  Bandes  Novellen  und  Feuilletons  vor*) 

Von  besonderem  Einflösse  auf  die  Gestaltung  seiner  dichterischen  Indivi- 
dualität ist  seine  Gattin,  eine  „lebendige  Muse",  der  die  Gedichte  zugeeignet 
sind,  deren  er  immer  wieder  „jubelnd  gedenken"  muss. 

„Du  mein  Weib  und  meine  Muse, 
Täglich  schenkst  Du  neue  Lieder 
Und  erweckst  ein  zartes  Echo, 
Alte,  längst  verrauschte  wieder. 

Und  solange  Du  mir  lächelst 
Mit  den  Augen  kindlich  helle, 
Weicht  der  Dichtkunst  süßer  Zauber 
Nicht  von  meines  Hauses  Schwelle." 

Sehr  anregend  wirkte  auch  sein  edler,  vielseitig  gebildeter  Vater  auf  ihn 
ein,  dessen  Andenken  er  das  „Offene  Visier"  widmet  mit  den  Worten: 

„Was  oft  in  Tagen,  die  in  Nacht  versanken, 
Mit  gleicher  Glut  in  unsern  Herzen  brannte, 
Was  dann  im  Tausch  verschwiegener  Gedanken 
Ein  froh  beredter  Blick  dem  andern  nannte : 
Aus  diesen  Blättern  sollt'  es  Dich  umweh'n 
Mit  der  Erinn'rung  traumbeglänztem  Flügel  — 
Nun  wird's  allein  durch  meine  Seele  geh'n 
Als  Geistergruß  von  einem  stillen  Hügel."  — 

-  Die  „Gedichte"  enthalten  in  einer  größeren  Abtheilung  „Lyrisches  und 
Episches"  und  in  einer  kleineren  scharf  pointirte  „Epigramme",  die  zum  Theil 


I<t|bereits  erschienen  und  wird  im  nächsten  Hefte  angezeigt.^!).  R. 


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eine  persönliche  Spitze  haben.  Von  den  übrigen  greife  ich  aufs  geratewol  zwei 
kleinere  heraus: 

Erkennen  und  Lehren. 

Zu  der  Erkenntnis  Höh'n  klimmst  Du  aus  finsterem  Thale 
Freudig  sicheren  Schritts;  droben  ja  glühet  dag  Licht! 
Aber  willst  Du  von  sonnigen  Höhen  die  Gabe  des  Lichtes 
Tragen  ins  finstero  Thal,  irrst  Du  zumeist  Dich  im  Pfad." 

Sinnspruch. 

Niemals  durchdringst  Du  einen  großen  Geist, 

Wenn  Du  an  seinem  kleinen  Irrthum  Dich  • 

Mit  überlegnem  Stolze  hämisch  weidest; 

Niemals  erschließt  sich  Dir  ein  edles  Herz, 

Wenn  Du  von  seinen  Zügen  all' 

Jedweden  leisen  Fehltritt  ängstlich  scheidest  : 

Dem  Großen  öffne  gern  und  ganz  den  Sinn; 

Denn  eine  reine  Stätte  will  das  Reine. 

Dann  fällt  ein  Strahl  von  jenem  Geist  auf  Dich, 

Und  jenes  Herzens  Flamme  wärmt  das  Deine." 

Otto  Ernst  ist  ein  scharf  ausgeprägter  Charakter  mit  einer  glühenden 
Begeisterung  für  Freiheit,  Recht  und  Wahrheit;  aufs  bitterste  hasst  er  jedes 
Versteckspiel : 

nDer  Feige  gibt  ein  schillernd  Wort  gelegner  Deutung  hin  — 
Ein  Sinn  beherrsche  jedes  Wort;  doch  nicht  das  Wort  den  Sinn." 

Freimüthig  und  ohne  Menschenfurcht  offenbart  er  uns  sein  Inneres,  ein 
edles,  warmes  Herz.  Sein  begeisterter  Idealismus  hält  sich  fern  von  jeder 
Schwärmerei;  er  ist  nicht  blind  gegenüber  dem  großen  Heer  von  Übeln  in 
dieser  besten  aller  Welten,  wo 

„So  nahe  wohnt  das  Leid  der  Lust, 
So  nah'  das  Leben  dem  Tod.u 

Selbst  in  der  Stunde  des  höchsten  Glückes  hört  erden  „ Schrei  verborgener 
Schmerzen"  der  Millionen,  die  in  gleicher  Stunde 

„  don  Becher  des  Todes 

Schlürfen  mit  kaltem  verbleichenden  Munde." 

Und  in  fast  abschreckender  Schärfe  verkündet  er: 

„Es  ist  ein  Staub  nur,  der  sich  freut, 
Die  Menschheit  blutet  morgen  wie  heut." 

Aber  der  Dichter  verliert  nicht  den  Glanben  an  die  Ideale,  lässt  sich 
durch  nichts  abhalten,  für  ihre  Verwirklichung  zu  kämpfen. 

-Drum,  ob  ein  tiefer  Ingrimm  um  Deine  Lippen  bebt, 
Ob's  jäh  in  Deine  Augen  heißquellend  sich  erhebt, 
Dn  musst  der  Lüge  lachen  bei  aller  stillen  Qual 
Und  trotzig  weiter  wandern  aufwärts  zum  Ideal." 

Er  hat  ein  scharfes  Auge  für  die  gesellschaftlichen  Sünden  unserer  Zeit 
und  führt  uns  das  sociale  Elend  in  ergreifenden  Bildern  vor: 

Vor  dem  Zuchthause. 

Die  Djr  das  Haupt  so  frei  zum  Himmel  hebt. 
Vergesset  nicht  in  Eurem  guten  Herzen, 
Dass  hinter  diesen  grauen  Kerkermanern 


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Ein  redlich  Thoil  von  Eurer  Sünde  wohnt, 

Und  laset  in  Eurem  Innern  wiederhallen 

Den  wilden  Schmerzensschrei  der  hier  Begrabnen, 

An  deren  Fuß  die  schwere  Kette  klirrt, 

Und  die  verdammt  sind  —  auch  um  Eure  Schuld. 

Und  doch  sehnt  er  sich  nicht  nach  den  romantischen  Zeiten  zurück,  doch 
hängt  er  mit  jeder  Faser  seines  Herzen»  an  der  modernen. 

Viele  Gedichte  athmen  eine  tiefe  Liebe  znr  Natur,  und  treffend  versteht 
Ernst,  worin  Theodor  Storni  eine  so  große  Meisterschaft  besaß,  die  geheimen 
Stimmen,  das  geheimnisvolle  Schweigen  in  der  Natur  auszumalen. 

„Still  war  alles. 

Da  zog  ein  Lufthauch  durch  die  Wipfel  der  Bäume, 
Zog  über  das  ruhige  Wasser  hin 
Und  kräuselte  seinen  Spiegel  zu  leichten  Wellen, 
Und  sieh!  Es  rauscht  leise  über  die  Fluten, 
Der  Wellen  Geister  flüsterten,  kicherten,  kosten. 
Die  Geisterklänge  trafen  mein  lauschend  Ohr 
Und  zogen  mich  fort  zn  sinnendem  Träumen. 
Wiederum  still  war  alles." 

Oder: 

-Welch  goldig  Leuchten  fließt  so  ungeahnt 

Wie  leichter  Zauber  um  die  starren  Bäume? 

Was  zittert  wie  geheimer  Feierton 

Mit  leisem  Klingen  durch  des  Himmels  Räume? 

Die  Flut  des  Lichtes  rinnt  in  froher  Hast 

Vom  Fclsenhaupt  bis  in  des  Abgrunds  Klüfte;' 

Und  horch!  —  schon  ruft  ein  Fink  mit  leisem  Schlag 

Zaghaften  Jubel  in  die  stillen  Lüfte.u 

Durch  einen  großen  Theil  der  Dichtungen  geht  ein  gewisser  didaktischer 
Zug,  der  oft,  namentlich  in  den  als  „Episches"  bezeichneten  Poesien,  eine  demo- 
kratische Färbung  zeigt.  Es  sind  Gedankendichtungen,  die  zum  Theil  absicht- 
lich musikalische  Formen  verschmähen. 

Das  eigentliche  Lied  des  Dichters  wurzelt  in  seinem  häuslichen  Gluck,  es 
besingt  die  eheliche  Liebe  in  den  zartesten  und  vielgestaltigsten  Tönen.  Ernst 
bietet  uns  hier  Perlen  von  unvergänglichem  Werte.  Hier  eine  Probe: 

Walpurgisnacht. 

Zu  Boss,  mein  Lieb,  mein  süßes  Lieb, 
Wir  müssen  schnell  von  dannen, 
Von  dannen  durch  die  tiefe  Nacht, 
Durch  Feld  und  Hag  und  Tannen! 
Hinweg  von  unsrer  Feinde  Herd, 
Die  uns  nur  Fluch  und  Hohn  beschert 
Und  uns  von  sich  verbannen. 

Blick  auf,  mein  Lieb,  mein  süßes  Lieb, 

Walpurgisnacht  ist  heute! 

Es  schwirren  um  den  starren  Berg 

Gar  wundersame  Leute. 

Es  drehen  sich  im  Hochzeitstanz 

Und  treiben  wilden  Mummenschanz 

Die  grauen  Hexenbräute. 


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—    127  — 


• 

Fürwahr,  mein  Lieb,  mein  süßes  Lieb, 

Sie  gleichen  ganz  den  Fratzen, 

Die  unser  Glück  vergifteten 

Mit  Droh'n  und  süßem  Schwatzen. 

Die  Augen  stieren  gläsern-kalt; 

Die  Leiber  sind  versebrumpft  und  alt, 

Sie  heulen  wie  die  Katzen. 

Hinweg,  mein  Lieb,  mein  süßes  Liebl 
Hier  kann  das  Glück  nicht  weilen. 
Umfasse  Du  mich  ohne  Graun 
Und  lass  uns  fttrder  eilen! 
Wir  finden  nnsre  Heimat  doch, 
Und  lag'  sie  in  der  Ferne  noch 
Viel  hundert,  hundert  Meilen!  — 

0  sieh,  mein  Lieb,  mein  süßes  Lieb, 
Wie  schwinden  schnell  die  Sorgen! 
Da  steigt  die  Sonne  roth  empor, 
Die  lange  war  verborgen. 
Was  dorten  prangt  in  stiller  Pracht, 
Und  was  so  hell  in  uns  erwacht: 
Das  ist  der  Maienmorgen. 

Der  Essayist  Otto  Ernst  steht  in  politischer  nnd  religiöser  Hinsicht  anf 
dem  äußersten  Fitigel  der  Linken.  Das  „Offene  Visier"  ist  dämm  nur  ein 
Bnch  für  gereifte  Männer.  Der  Titel  spannt  die  Erwartung  hoch,  aber  das 
Werk  macht  sie  nicht  znschanden.  Ein  Kämpe  von  der  Art  Ernst's  kann 
getrost  mit  offenem  Visier  in  die  Schranken  treten;  seine  Waffen  sind  scharf 
nnd  blank,  nnd  gewandt  weiß  er  sie  zu  handhaben.  Wahrhaft  berückend  ist 
der  Glanz  nnd  die  Schärfe  der  Diction. 

Das  Buch  enthält  folgende  Essays:  Glauben  und  Wissen.  Religion  oder 
Literatur  als  Centrum  des  Volksschulunterrichts?  Der  Lehrer  und  die  Lite- 
ratur. Ein  Parasit  der  Seele.  Constante  Majoritäten.  Eine  Phrase  der  Geistig- 
Armen.  Das  Elend  der  modernen  Lyrik.  Der  literarische  Dilittantismus.  Poe- 
tische Anschaulichkeit.  Literarische  Allotria.  Die  moderne  Literaturspaltung 
und  Zola.  Die  Geschlechtsliebe  und  ihre  literarische  Bedeutung.  Lessings 
Nathan  und  das  ästhetische  Phrasenthum.  Die  Charaktere  in  Goethe's  Egmont. 
Der  Hamerling'sche  Ahasver  un<T  sein  Ideengehalt. 

Am  bedeutendsten  sind  ohne  Zweifel  die  Aufsätze  aus  dem  Gebiete  der 
Literatur.  Selbstverständlich  wird  mancher  Leser  hie  und  da  anderer  Meinung 
sein  nnd  den  ästhetischen  Grundsätzen  nicht  immer  zustimmen.  Die  Glanz- 
leistung ist  naturgemäß  die  Preisarbeit  über  den  Dilettantismus,  in  der 
Pädagogik  und  Literatnr  eng  verschwistert  erscheinen.  Denn  das  Hauptmittel 
zu  seiner  Bekämpfung  besteht  nach  Ernst  darin,  dass  „man  die  große  Masse 
des  Volkes  consumtionsfähiger  macht  für  die  wahrhaft  edlen  und  gediegenen 
Erzeugnisse  der  Dichtkunst,  indem  man  es  lehrt,  von  selbst  eine  gesunde 
geistige  Nahrung  zu  wählen  und  den  Dilettantismus  mit  seinen  wertlosen  Mach- 
werken beiseite  zu  schieben." 

Einen  wunden  Punkt  deckt  die  Abhandlung  „Literarische  Allotria"  auf. 
Ich  setze,  gleichzeitig  um  ein  Bild  von  der  Prosa  des  Dichters  zu  geben,  einige 
Stellen  hierher:  „Der  heilige  Tempel  der  Literatur  wird  von  einer  schmutzigen 
Schacherer-  und  Trödlerbande  umlagert,  welche  mit  dem  kreischenden  und 


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feilschenden  Lockruf  ihrer  Stimme  die  banalen  Instincte  des  Pablicums  gefangen 
nimmt  .  .  .  Nächstens  werden  wir  es  erleben,  dass  ein  nenes  Blatt  sich  erbietet, 
den  16  jährigen  Jungfrauen  nnter  seinen  Abonnenten  Tränme  auszulegen  und 
strebsamen  Beamtenjünglingen  nach  Mittheilung  ihrer  politischen  Gesinnung 
und  Einsendung  der  Abonnementsbescheinigung  bezüglich  ihrer  zukünftigen 
Carriere  das  Horoskop  zu  stellen.  .  .  .  Eine  ganze  Reihe  dieser  Zeitschriften 
hängt  dem  speeifisch  literarischen  Theile  ihrer  Hefte  eine  wolgefüllte  Trödel- 
bude an,  und  mit  diesen  literarischen  Allotrien  ist  schon  recht  Respectables 
zum  geistigen  Verderb  des  Pablicums  und  zur  Verpäppelung  seines  Geschmackes 
geleistet  worden.  Man  kennt  die  reichbesetzte  Tafel  für  große  Kinder:  Rossel- 
sprung, Schach,  Seat,  Arithmogryph ,  Logogryph,  Akrostichon,  Homonym, 
Palindrom,  Räthsel,  Charade,  Rebus,  Salon-Magie  etc.  etc.  Man  missverstehe 
mich  nicht:  ich  weiß,  dass  man  Schach,  Seat  u.dgl.  spielen  kann,  ohne  kindisch 
zu  sein;  aber  wer  diese  Dinge  in  einem  ernsthaften  Literaturblatt  nicht  ent- 
behren kann,  der  ist  ein  großes  Kind,  und  wer  diese  Allotrien  in  das  Blatt 
hinein  bringt,  der  speculirt  auf  große  Kinder."  Mit  Recht  wendet  sich  Ernst 
auch  gegen  die  Art  und  Weise,  wie  das  Baby  Publicum  durch  die  Texte  zu 
den  Iiiastrationen  in  zärtliche  Bevormundung  eingewickelt  wird.  „Da  em- 
pfangen wir  den  unschätzbaren  Anfschluss,  dass  der  Bauemjunge,  der  auf 
jenem  Bilde  neben  dem  Bauernmädel  steht,  der  Schmalzbanern-Hans,  und  dass 
sie  die  Nudelbauern-Toni  ist.  Wir  erfahren,  dass  er  mit  dem  Mädel  schäkert, 
ihr  allerlei  Zärtlichkeiten  ins  Ohr  flüstert,  ihr  sagt,  wie  gut  er  ihr  sei  und 
von  der  Hochzeit  spricht,  die  nun  bald  kommen  werde.  0  glücklich  der,  den 
ihr  belehrt!  ihr  Illustrationsbeschreiber.  Man  hätte  ja  glauben  können,  dass 
die  beiden  über  auswärtige  Politik  oder  über  Kant's  kategorischen  Imperativ 

„schäkerten."  Wäre  ich  ein  reicher  Mann,  ich  legte  einen  Abzug  dieses 

Aufsatzes  allen  Redacteuren  und  allen  großen  Kindern  unter  den  Weihnachtsbaum. 

In  dem  Essay  über  die  Literaturspaltung  zeigt  Ernst,  wie  Idealismus  und 
Realismus  nichts  weniger  als  contradictorische  Begriffe  sind.  „Man  lasse  also 
die  blindwüthige  Principenreiterei  und  prüfe  die  künftigen  Erzeugnisse  der 
deutschen  Literatur  einfach  darauf  hin,  ob  sie  wirkliche  Dichterwerke,  d.  h. 
idealistisch  und  realistisch  sind.  Und  die  jüngeren  und  älteren  begeisterten 
Vertreter  des  realistischen  Gestaltens  können  ihr  ernstes  Streben  nicht  ein- 
leuchtender beweisen,  als  indem  sie  auch  nach  Verkörperung  eines  positiv- 
idealen Elements  in  ihren  Werken  ringen.  Die  Welt,  in  der  wir  leben,  treffend 
zu  kennzeichnen,  ist  etwas  Großes;  aber  die  Welt,  nach  der  wir  streben,  in 
dauernden  Gedanken  und  Gestalten  zu  befestigen,  ist  gewiss  nicht  minder 
groß.  Die  erstere  Arbeit  ist  von  Zola  als  bauendem  König  so  gründlich  in  die 
Hand  genommen  worden,  dass  nebenher  an  diesem  Bau  nur  noch  die  Kärrner 
zu  thun  haben.  Aber  Zola,  der  grimmig-düstere  Voltaire  unseres  social-revolu- 
tionären  Jahrhunderts,  wartet  auf  seinen  Ronsseau,  oder  besser,  er  wartet  auf 
einen  Mann,  der  beide  Kräfte,  die  niederreißende  und  die  aufbauende,  in  sich 
vereinigt  und  die  Menschheit  durch  strahlend  helle  Beleuchtung  des  Gegen- 
satzes von  Gut  und  Böse  in  unserer  Zeit  zu  einer  mannhaften  Auferstehung 
emporrnttelt.  Wann  und  wo  dieser  Mann  erstehen  wird  —  wer  weiß  es? 
Wenn  er  aus  unserer  Nation  erwüchse,  so  würde  sie  mit  diesem  Geiste  der 
Welt  vielleicht  das  größte  Geschenk  machen  von  allen,  die  ihr  die  Welt  über- 
haupt verdankt." 


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Einen  reichen  Genuss  gewähren  die  beiden  letzten  Abhandlangen,  welche 
an  die  Stelle  der  trockenen  philologischen  Erklärung  eine  poetisch  durch- 
wärmte, nachconstrnirende  Paraphrase  der  Dichtung  setzen.  Die  Abhandlung 
über  die  Geschlechtsliebe  enthält  eine  Fülle  feiner  psychologischer  Bemerkungen 
nnd  gestaltet  sich  ungewollt  zu  einer  hohen  Wertschätzung  der  Ehe,  d.  h. 
natürlich  der  echten  Ehe. 

Am  meisten  wird  der  zweite  Essay  anf  Widerspruch  stoßen,  welcher  als 
Mittelpunkt  des  Volksschulunterrichts  den  Literatnrunterricht  aufstellt,  also  an 
die  Stelle  der  religiösen  Erziehung  die  ästhetische  setzt  und  damit  einen 
Straaß'schen  Gedanken  wieder  aufnimmt. 

Wer  das  „Offene  Visier"  tüchtig  durchstudirt,  der  wird  ohne  Zweifel 
reichen  Gewinn  für  seine  Gedankenwelt  davontragen;  es  gehört  zu  den  Büchern, 
die  der  Markt  nicht  eben  alle  Tage  bringt. 

Otto  Ernst  ist  nicht  nur,  wie  viele  unserer  „Jüngsten",  stark  im  Nieder- 
reißen, er  ist  ebenso  groß  im  Aufbauen;  er  hat  nicht  nur  einen  kühlen  Kopf, 
sondern  auch  ein  warmes  Herz.  So  hat  er  die  beste  Aussicht,  in  unserem  Lite- 
ratnrkampfe  mehr  und  mehr  ein  „Rufer  im  Streit"  zu  werden  und  mit  offenem 
Visier  an  hervorragender  Stelle  die  Klinge  zu  schlagen. 


Aus  der  Fachpresse. 

Von  Rudolf  IHetrich-Hottingen-Zurich. 

494.  Ein  Vorläufer  Pestalozzis  (Fr.  Gärtner,  Bair.  Lehrerz.  1891,36) 
Job.  Mich.  Poppel,  gest.  1763.  Geburt  und  Jugend  unbekannt;  als  Student  in 
den  Waisenhäusern  zu  Freising  und  Erding  thätig.  Lange  Zeit  unsicheres 
Tasten  nach  dem  zusagenden  Beruf  wie  bei  Pestalozzi.  Helfer  der  durch  den 
baiiischen  Erbfolgekrieg  eitern-  und  obdachlos  gewordenen  Kinder  zu  München 
wie  Pestalozzi  zu  Stans.  Aber  er  (selbst  völlig  mittellos)  wurde  nicht  von  Be- 
hörden unterstützt,  erlangte  auf  seinen  verdrussreichen  Gängen  nur  geringe 
Mittel.  Trotzdem  eröffnete  er  sein  Waisenhaus  Ende  1742.  Erst  1751  erhielt 
es  die  sichere  Grundlage.  Gegenwärtig  ist  es  eine  städtische  Anstalt.  (Fresko- 
gemftlde  im  Nationalmuseum;  Gruppe  in  einem  Gemälde  des  Münchner  Rath- 
haossaales  von  Piloty.) 

495.  Zum Gedächtnjseinesschlesischen Schulmannes (R. Rissmann, 
Päd.  Ztg.  1891,  29):  Chr.  G.  Scholz,  geb.  19.  Juli  1791,  gest.  3.  Mai  1864, 
„der  sich  in  schwerer  Zeit  der  aufstrebenden  Lehrerschaft  angenommen", 
„zeitlebens  für  eine  freie  Schule  und  einen  freien  Lehrerstand  eingetreten." 
Durch  die  von  ihm  gegründete  „Schlesische  Schullehrerzeitung"  Hebung  des 
schlesischen  Lehrerstandes.  Beziehungen  zu  Harnisch,  Wander,  Diester  weg 
(„einer  der  hervorragendsten  Schulmänner  Diesterwegscher  Richtung"  —  Nach- 
ruf von  Diesterweg  in  den  Rhein.  Blättern). 

496.  Erweiterung  der  Lehrerbildung  (Fr.  Tomberger,  Päd.  Rund- 
schau 1891,  VI).  Vorbildung:  dreiclassige  Bürger-  (höhere  Volks-)  Schule. 
Eigentliche  Lehrerbildungsanstalt:  5  Jahrgänge  (Eintritt  mit  dem  14.  Alters- 
jahr);  in  den  vier  ersten  Classen  die  Wissenschaften  zu  erledigen,  die  letzte 
der  beruflichen  Ausbildung  zu  widmen.    Am  Schlüsse  des  vierten  Jahrgangs 


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Prüfung  auf  wissenschaftliche  Reife,  am  Schlüsse  des  fünften  Prüfung  auf 
Lehrfähigkeit.  Dazu  ein  sechstes  Jahr  für  Ausbildung  zu  Lehrern  an  höheren 
Volksschulen.  (Nachdem  wir  diese  österreichischen  Reform  vorschlage  noch 
notirt,  kommen  wir  auf  die  —  in  der  Theorie  gelöste  —  Lelurerbildungsfrage 
an  dieser  Stelle  nicht  mehr  zu  sprechen.) 

497.  Pädagogen  der  Gegenwart  als  Naturwissenschaftler 
(R.  Schulze,  Deutsche  Schulpraxis  1891,  33).  Verf.  macht  darauf  aufmerk- 
sam, „wie  leichtfertig  die  für  den  Volksschulunterricht  in  Physik  und  Chemie 
passenden  Lehrstoffe  von  gewissen  Pädagogen  behandelt  werden,"  wie  der  den 
Lehrern  „von  gewissen  Seiten  gemachte  Vorwurf  der  Halbbildung  oft  gar  zu 
sehr  begründet  ist".  Nachweis  hauptsächlich  an  dem  Polackschen  Realien- 
buch, „welches  von  Fehlern  strotzt",  eingerechnet  die  nachlässige,  nicht  durch- 
dachte Ausdrucks  weise.  (Wenn  Herr  S.  meint:  „Man  kann  sich  nicht  genug 
wundern,  wie  ein  solches  Buch  überhaupt  zur  Einführung  in  die  Schule  hat 
gelangen  können",  so  müssen  wir  dazu  bemerken,  dass  uns  dies  gar  nicht 
wundert.  Weiß  Herr  S.  nicht,  was  in  der  modernen  Welt  ein  Name  und  ein 
Titel  und  ein  Amt  bedeuten?) 

498.  Die  Notwendigkeit  der  allgemeinen  Volksschule  in 
Rücksicht  auf  die  sociale  Frage  (H.  Schröer,  Päd.  Ztg.  1891,  26).  Im 
Anschluss  an  das  „politische  Testament"  des  Freiherrn  von  Stein  und  den 
Schulgesetzes-Entwurf  des  preuß.  Staatsraths  Süvern  (1819),  die  beide  die  all- 
gemeine Vosk88cbule  gewollt,  deren  Grundsätze  „Stern  und  Kern  aller  Reform- 
vorschläge" genannt  werden,  charakterisirt  Verf.  einerseits  die  Schäden  der 
modernen  (deutschen)  Schulorganisation,  anderseits  die  wirtschaftliche  und 
gesellschaftliche  Bedeutung  der  allgemeinen  Volksschule.  —  Vgl.  eine  ähn- 
liche Arbeit  von  J.  Vanselow  (Deutsche  Schulztg.  1891,  36.  37),  wo  auch  auf 
die  Unterrichtsfächer  eingegangen  wird. 

499.  Die  dogmatisch-scholastische  und  die  biblisch-psycholo- 
gische Lehrweise  im  Religionsunterricht  (Neue  Bahnen  1891,  VII). 
I.  Die  rein  dogmatische  Methode  („der  Pietismus  hat  die  Alleinherrschaft  der 
Dogmatik  gebrochen").  II.  Die  rein  verstandesmäßige  Methode.  (I  und  II 
stimmen  überein,  „indem  sie  sich  an  den  Verstand  wenden  —  dogmatisch-ratio- 
nalistischer Intellectualismus").  III.  Die  dogmatisch -scholastische  Methode 
(Vereinigung  von  I  und  II,  vermöge  der  inneren  Verwandtschaft).  IV.  Die 
Mbli6ch-psychologische  Methode  (die  „Methode"  des  Verf.).  —  „Ist  es  auch 
möglich,  den  Kopf  ins  Herz  zu  bringen?  Diese  einfache  Frage  trifft  den  Kern- 
punkt der  ganzen  Methodik  des  Religionsunterrichts  besser  als  manches  dick- 
leibige Werk  über  Katechetik." 

500.  Die  Disposition  im  Aufsatzunterricht  (0.  Steinel,  Bair. 
Lehrerztg.  1891,  36)  —  an  Mittelschulen.  Verf.  beleuchtet  Notwendigkeit 
und  Wert  des  Arbeitsplans  und  bringt  Beispiele  aus  der  Praxis,  um  zu  zeigen, 
mit  wieviel  Fleiß  und  Lust  die  Schüler  die  Bausteine  zusammentragen.  Aber 
jeder  soll  seinen  eigenen  Plan  haben.  —  Ein  beachtenswerter  Wink  für  die 
Wahl  der  Themata:  Themen,  welche  sich  gelegentlich  im  Unterricht  ergeben 
und  für  welche  sich  ein  lebhaftes  Interesse  zeigt,  von  einem  Schüler  notireu 
zu  lassen.  (Vortheil:  Die  Schüler  werden  sich  mit  den  Stoffen  freiwillig  beschäf- 


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ügen,  sich  davon  miteinander  unterhalten.)  Anregung  znr  Wahl  aas  dem 
Scnülerkreise  selbst. 

501.  Lyrische  Gedichte  als  Lesestucke  (K.  Heißl,  Freie  Schul- 
zeitung  1891,  35.  38).  Erste  Sorge  des  Methodikers :  die  epische  Anknüpfung 
oder  Anreizung  („welche  die  zum  lyrischen  Ausdruck  drängenden  Gemüths- 
ßtimmungen  oder  Gefühlserregungen  hervorrief-1)  zu  erkennen.  „Nicht  blos  er 
selbst  wird  durch  das  klare  Erkennen  dieses  Hintergrundes  den  festen  Halt  ge- 
winnen, sondern  er  wird  auch  im  allgemeinen  vor  der  Leetüre  durch  Herbei- 
ziebong  dieser  Veranlassung,  die  wir  den  lyrischen  Standpunkt  nennen  möchten, 
die  Vorbedingung  für  das  Erwachen  unmittelbarer  Gefühle  und  Stimmungen 
bei  den  Schülern  erfüllen."  Die  „epische  Anreizung"  bietet  sich  aber  in  vielen 
Fällen  wirklich  unmittelbar  von  selber  dar:  Erscheinungen  im  Frühling  — 
Wanderungen  —  Ferienaufenthalt  auf  dem  Lande,  im  Walde  u.  ä.  Weiterhin  ist 
den  Schülern  die  Einheit  der  Stimmung  („lyrische  Einheit")  zum  Bewusstsein 
zn  bringen.  Mehr  nicht;  mit  der  Lösung  der  beiden  hier  gestellten  Aufgaben 
ist  in  erzieherischer  Hinsicht  genug  gethan. 

502.  Realunterricht  und  Sprachunterricht  (H.  Stucki,  Schweiz. 
Lehrerz.  1891,  32 — 34).  Die  drei  Realfacher  bilden  die  Begriffssphären: 
Naturleben,  Land  und  Leute,  Entwickelung  des  Volks.  „Sie  entspringen  der- 
selben Basis  des  unmittelbaren  Wahrnehmungskreises,  sie  greifen  auch  auf 
allen  Punkten  ineinander,  aber  sie  gipfeln  in  besonderen  Zielen:  Einblick  in 
den  Naturhaushalt,  Verständnis  des  Landes  und  Volkes,  Kenntnis  seiner  Ent- 
wickelungsgeschichte."  „Diese  Ziele  müssen  für  die  Volksschule  bestehen 
bleiben,  wenn  es  sich  um  tüchtige  Geistesschulung  handeln  soll.  Sie  dürfen 
bestehen  bleiben,  weil  die  Fähigkeit  des  correcten  und  geläufigen  mündlichen 
and  schriftlichen  Gedankenausdrucks  durch  sie  in  der  gründlichsten  und  nach- 
haltigsten Weise  gefördert  wird."  „Hauptbedingungen  für  den  Erfolg:  eigne 
Anschauung,  selbsttätiges  Prüfen,  Urtheilen  und  Schließen,  fortwährend  cor- 
rectes  Aussprechen  der  neu  gewonnenen  Kentnisse,  tagtägliches  Niederschreiben 
derselben." 

503.  Plan  für  naturkundliche  Gänge  in  den  Laubwald  (E.  Scheller, 
Deutsche  Blätter  1891,  19.  20).  Wir  machen  auf  diesen  an  Stoff  und  guten 
Winken  reichen  Plan  angelegentlich  aufmerksam.  —  Hauptpunkte:  I.  Namen. 
II. Lage  (dazu  auch:  Aussehen  von  ferne;  Umgebung;  Oberflächenform;  Wege; 
„schöne  Plätze";  Besonnung;  Winde).  III.  Menschen  im  Wald.  IV.  Boden- 
verhältnisse (Humusschicht;  Quellen;  Moos;  Laubdecke  im  Herbst  und  Früh- 
ling). V.  Der  Waldbestand  (woran  erkennen  wir  die  verschiedenen  Baum- 
arten? Angabe  aller  möglichen  Erkennungszeichen).  VI.  Waldpflanzen.  VH. 
Waldthiere.  VIII.  Nähere  Einzelbetrachtungen.  IX.  Versuche.  X.  Sammlungen 
(Steinarten;  Holzarten  mit  Rinde;  Blätter,  Blüten  und  Früchte  mit  Samen; 
Zweige  mit  Knospen ;  Keimpflanzen;  Thierspuren  an  den  Pflanzen;  Missbildungen 
und  Krankheitserscheinungen). 


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Literatur. 


Dr.  ii.  Stephan,  Die  häusliche  Erziehung  in  Deutschland  während  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts.    Wiesbaden  1891,  Bergmann.    162  S. 

Während  das  Großtheil  der  pädagogischen  Tagesliteratur  in  handwerks- 
mäßigen Compilationen  zu  handwerksmäßigem  Gebrauch  besteht,  liegt  uns  hier 
eine  Originalarbeit  vor,  die  in  der  That  eine  Lücke  ausfüllt,  bisher  Ver- 
borgenes ans  Licht  zieht  und  dem  Leser  eine  ebenso  lehrreiche  wie  anregende 
Lcctüre  bietet.    Nachdem  Referent  das  Buch  von  Anfang  bis  Ende  Wort  für 
Wort  gelesen  hat,  wundert  er  sich  nicht,  dass  ein  Culturhistoriker  wie 
Biedermann  demselben  die  lebhafteste  Anerkennung  zollt  und  ausdrücklich 
hervorhebt,  dass  hier  eine  ebenso  nothwendige  wie  ersprießliche  literarische 
Arbeit  mit  rühmlicher  Umsicht,  Gründlichkeit  und  Sachkenntnis  geleistet  ist. 
„Herr  Dr.  Stephan",  fügt  er  hinzu,  rhat  mit  einem  wahrhaft  staunenswerten 
Fleiße  aus  einer  Unmasse  theils  von  pädagogischen  und  anderen  Schriften 
jener  Zeit  (des  18.  Jahrhunderts  nämlich),  theils  und  insbesondere  von  Biogra- 
phien und  Selbstbiographien,  Briefwechseln  und  sonstigen  Aufzeichnungen  von 
Gelehrten,  Dichtern,  Staats-  und  Geschäftsmännern  u.  a.  w.  die  einzelnen  Bau- 
steine zu  seinem  Werke  zusammengetragen  und  hat  daraus  nicht  etwa  ein 
bloßes  lose  gefügtes  Mosaik,  sondern  ein  organisches,  in  allen  seinen  Theilen 
eng  zusammenhängendes,  sich  gegenseitig  ergänzendes  und  erläuterndes  Ganze? 
geschaffen."    In  der  anschaulichsten  WeiBC  führt  uns  Verfasser  in  das  häus- 
liche Leben,  die  Denkungsart,  die  Sitten,  Gesinnungen,  Gewohnheiten,  den 
Bildungsgrad,  die  socialen  Verhältnisse  der  mittleren  und  höheren  Stände  des 
18.  Jahrhunderts  und  besonders  in  ibre  Veranstaltungen  zur  Erziehung  und 
zum  Unterricht  der  Jugend  ein,  so  dass  uns  manches  vertraut  und  begreiflich 
wird,  was  in  den  Werken  über  allgemeine  Culturgeschichte  und  Geschichte 
der  Pädagogik  nur  schematisch  und  halb  räthselhaft  erscheint.    Das  helle 
Licht,  welches  hier  z.  B.  über  die  Hofmeister-Erziehung  und  Hofmeister-Päda- 
gogik verbreitet  wird,  dient  selbst  noch  zur  Aufklärung  über  actuellc  Er- 
scheinungen und  Streitfragen.    Aber  auch  in  vielen  anderen  Beziehungen  ist 
Stephan's  Buch  eine  schätzenswerte  Ergänzung  der  Cultur-,  Literatur-,  Schul- 
und  Erziehungsgeschichte.  D. 

Heinrich  Schröer,  Die  allgemeine  Volksschule  als  Grundbedingung  zur  end- 
gültigen Lösung  der  Schulreformfrage.  Erfurt  und  Leipzig  1891,  Bac- 
meister.    54  S. 

Verfasser  plaidirt  für  eine  einheitliche  Gestaltung  des  ganzen  deutschen 
Schulwesens  in  dem  Sinne,  „dass  die  sämmtlichen  Bildungsanstalten  des  Volkes 
in  organischem  Zusammenhange  stehen  und  ein  planvoll  gegliedertes,  in 
seinen  Theilen  zweckmäßig  zusammenwirkendes  Ganzes  darstellen",  und  widmet 
namentlich  der  allgemeinen  Volksschule,  als  dem  gemeinsamen  Unterbau  des 
ganzen  Bildung» werkes,  eine  genauere  Betrachtung.  Die  sogenannten  „Vor- 
schulen1*, eine  pädagogische  Specialität  Preußens  (auch  in  einigen  anderen 
Ländern  nachgeahmt),  werden  als  dem  einheitlichen  Aufbau  widerstrebend  mit 
besonderem  Nachdruck  bekämpft. 

Dass  die  deutschen,  besonders  die  preußischen  Volksschullehrer  diesem 
Schriftchen  ein  lebhaftes  Interesse  entgegenbringen  werden,  lässt  sich  mit 
Sicherheit  erwarten,  da  sie  in  Herrn  Schröer  mit  Recht  einen  ihrer  besten 
Wortführer  erblicken,  der  sich  schon  vielfach,  besonders  auch  als  langjähriger 


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Kcdacteur  der  Berliner  ..Pädagogischen  Zeitung"  bewährt  hat.  Auch  diese 
neue  Veröffentlichung  wird  seine  alten  Freunde  und  alle  diejenigen  Leser 
befriedigen,  welche  eine  kurze  und  klare  Oricntirung  über  die  autgeworfene 
Zeitfrage  wünschen;  zu  einer  gründlichen  Erörterung  Uber  die  Ausgangs- 
punkte, rrineipien  und  Consequenzcn  derselben  reicht  eine  Broschüre  von 
wenigen  Bogen  natürlich  nicht  aus.  Das  kürzeste  und  zugleich  schwächste 
Capitel  der  kleinen  Schrift  ist  das  sechste,  wo  der  eonf  essionelle  Religions- 
unterricht als  mit  der  allgemeinen  Volksschule  vereinbar  behandelt  und 
zugleich  behauptet  wird,  dies  sei  auch  die  Ansicht  der  „überwiegenden  Mehr- 
heit der  deutschen  Volksschullehrer".  Allerdings  ist  dies  bereits  oft  (namentlich 
von  Führern  der  preußischen  Volksschullehrer,  Jütting  u.  s.  w.)  behauptet, 
aber  niemals  bewiesen  worden;  dies  könnte  ja  nur  durch  eine  (allgemeine  und 
geheime)  Abstimmung  geschehen.  Wir  unsererseits  halten  daran  fest,  dass 
confessioncller  Religionsunterricht  in  die  allgemeine  Volksschule  nicht 
gehört,  weil  er  dem  einheitlichen  pädagogischen  Geiste  derselben  widerspricht; 
zudem  sind  wir  der  Überzeugung,  dass,  solange  er  fortbesteht,  auch  die 
geistliche  Schulaufsicht  mit  ihren  Consequenzcn  fortbestehen  wird  und  be- 
rechtigt ist.  Wer  jenen  will,  muss  sich  auch  dieser  unterwerfen.  (Auf  das 
Thema  der  allgemeinen  Volksschule  weiter  einzugehen,  glaubt  Referent  hier 
unterlassen  zu  können,  da  er  dasselbe  in  seiner  ..Schule  der  Pädagogik",  be- 
sonders in  der  „Methodik  der  Volksschule"  ausführlich  behandelt  hat.)  D. 
Lf imbach,  Die  deutschen  Dichter  der  Neuzeit  und  Gegenwart.  IV.  Bd. 
Kassel,  Th.  Kay. 

Von  diesem  Sammelwerke  liegt  nun  der  vierte  Band  vor,  der  die  Buchstaben 
H— K  umfasst  nnd  die  Zahl  der  Dichter  bis  auf  249  fortführt,  die  Zahl  der 
ausgewählten  Proben  aber  bis  auf  1765.  Neben  bekannten  Namen  erscheinen 
auch  wenig  gekannte  oder  nur  im  Freundeskreise  geehrte  Poeten:  neben  Jahns, 
Jensen,  Joidan,  Kaden,  Kalbeck,  Kaufmann,  Keim,  G.  Keller.  Klctke  z.B.  auch 
der  in  Tirol  beliebte  Hunold,  der  in  seiner  engeren  Heimat  Nordböhmen  viel 
gelesene  Jarisch,  der  in  Oberösterrcich  gefeierte  Kaltenbrunner,  der  sonst  nur 
als  Technologe  geschätzte  Karmarsch  und  der  Gründer  der  in  Deutschiami 
hochangesehenen  Vcrlagsfirma  Julius  Klinkhardt  (pseudonym  Karl  Th.  Kind)  u.  a., 
die  so  durch  Leimbach's  Werk  auch  weiteren  Leserkreisen  vielleicht  bekannt 
werden.  Und  gar  mancher  dieser  bislang  wenig  beachteten  Dichter  verdiente 
diese  Auszeichnung;  man  lese  z.  B.  die  ausgewählten  Proben  aus  Gottlob 
Keramlers  Gedichten,  und  man  wird  sich  erstaunt  fragen:  Wie  konnte  nur 
dieser  gottbegnadete  Sänger  aller  Welt  und  selbst  —  den  Literaturgcschichten- 
schreibern  so  ganz  unbekannt  bleiben!  Es  ist  nicht  das  letzte  Verdienst  Leim- 
bach's, auf  diese  Dichtergestalt  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  —  Was  für 
Mühe  und  Fleiß  in  Leimbach's  Buche  steckt,  das  vermag  nur  der  zu  würdigen, 
der  in  ähnlicher  Lage  sich  einmal  befunden  und  die  Literatur  über  einen 
neueren  Dichter  zu  sammeln  gezwungen  war.  Wie  viele  Stunden  vergeblichen 
Suchens  nach  einem  Datum,  nach  dem  Titel  einer  Schrift!  Nun  alles  so  bequem 
vorliegt:  Proben,  Biographisches,  Titel  der  Werke  und  Ausgaben,  Inhaltsangaben, 
Charakteristik  —  sollte  das  Werk  auch  gebürend  gewürdigt  werden  und  dem 
Verfasser  doch  wenigstens  für  seine  Mühe  die  Genugthuung  zutheil  werden, 
nicht  vergeblich  gearbeitet  zu  haben.  Leider  —  der  Verfasser  sagt  es  uns  in 
einer  Nachschrift  selbst  —  ist  sein  Werk  noch  lange  nicht  so  verbreitet,  wie 
es  sein  innerer  Wert  wol  verdient.  W. 
Stockei,  Geschichte  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit.  520  S.  München, 
Franz'scher  Verlag  (J.  Roth). 

Dieses  Handbuch  verdient  Beachtung;  es  ist  gut  stilisirt  und  übersichtlich, 
enthält  viel  interessantes  Detail  zur  Belebung  des  Unterrichtes  und  weist  in 
den  Anmerkungen  häufig  auf  analoge  Vorgänge  hin  oder  deckt  Beziehungen 
auf,  die  klären;  kurz,  man  sieht  es  ihm  an,  dass  der  Verfasser  in  der  histo- 
rischen Literatur  belesen  ist  und  zugleich  die  Bedürfnisse  des  Unterrichtes 
kennt.  Auch  ihm  gegenüber  können  wir  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken, 
die  wir  schon  bei  Besprechung  vieler  Handbücher  der  Geschichte  machen 
rauasten:  Sagenhaftes  oder  weniger  gut  Beglaubigtes  sollte  immer  so  scharf 

P»d*gf>Kium.  14.  Jahrg.  Heft  II.  10 


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134 


uls  nur  möglich  gekennzeichnet  werden.  Das  geschieht  auch  in  diesem  Buche 
uieht  immer.  loh  verweise  beispielshalber  nur  auf  S.  158,  wo  die  von 
Ottukar  er/ahlte  Huldigungsseene  geschildert  wird,  als  ob  sie  sich  wirklich 
zugetragen  hätte.  W. 
Heninchel  und  MHrkel,  Umschau  in  Heimat  und  Fremde.  II.  Band:  Europa 
mit  Ausschluss  des  Deutschen  Reiches.    Hirt,  Breslau.    Preis  3.60  M. 

Der  vorliegende  zweite  Band  dieses  geographischen  Lesebuches  umfasst 
759  Seiten  mit  zahlreichen  Abbildungen  von  Städten,  Landschaften,  Volks- 
typen, die  den  im  gleichen  Verlag  erschienenen  „Bildertafeln"  entnommen  sind. 
Den  Arten  der  Abbildungen  eutsprechen  auch  die  Texte.  Sie  sind  auB  Werken 
von  Land-  und  Leutekennern  geschöpft  und  so  stilisirt,  dass  sie  ein  Schüler 
der  oberen  Classcn  einer  Volksschulo  ohne  Schwierigkeit  versteht.  Die  Heraus- 
geber haben  zu  diesem  Zwecke  die  benutzten  Originale  an  manchen  Stellen 
kürzen  oder  umarbeiten,  ja  manchmal  auch  einen  Text  aus  zwei  oder  drei 
Schilderungen  herstellen  müssen.  Dass  es  ihnen  gelungen,  ein  wahrheits- 
getreues anschauliches  Bild  zu  entwerfen,  beweist  schon  der  eine  Umstand, 
dass  trotz  de«  kurzen  Bestandes  der  Sammlung  andere  Herausgeber  ähnlicher 
Lesebücher  aus  den  verschiedensten  Gegenden  die  Beschreibungen  in  der 
Fassung  llentschel-Mürkela  herübergenommen  haben.  Schülcrbibliotheken  mögen 
sich  das  Buch,  das  zur  Belebung  des  geographischen  Unterrichtes  beitragen 
kaun,  nicht  entgehen  lassen.  — r. 

J.  Rüefli,  Pestalozzi^  rechenmethodische  Grundsätze  im  Lichte  der  Kritik. 
137  S.    Beru  1890,  Schmid,  Francke  &  Co.    Preis  1.50  M. 

Der  Verfasser  hat  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht  nachzuweisen,  dass  der 
bekannte  Angriff,  welchen  Knilliug  gegen  Pestalozzis  Grundsätze  gerichtet 
hat,  und  Knillings  Reformvorsohläge  als  grundlos  und  hintällig  zu  betrachten 
sind.  —  Rüefli  geht  von  der  Überzeugung  aus,  die  Geschichte  der 
Jicchcnmethodik  habe  uns  darüber  belehrt,  es  könne  sich  in 
diesem  Unterrichte  nicht  mehr  um  ciu  Nicdcrreißon  des  bisher 
Geschaffenen  und  die  Aufrichtung  eines  Neubaues  handeln,  son- 
dern die  anzustrebenden  Verbesseru nge n  seien  lediglich  in  einer 
zweckmäßigen  Ausgestaltung  des  Vorhandenen  zu  suchen.  —  Kr 
bemeikt  ferner  in  der  Einleitung,  wenn  sich  jemand,  wie  Knilling,  berufen 
fühlt,  so  schonungslos  in  die  unklaren  Köpfe  anderer  hineinzuleuchten,  so 
dürfe  man  wol  au  die  Klarheit  und  Folgerichtigkeit  eine«  solchen  Reformators 
die  strengsten  Anforderungen  stellen  und  müsse  seine  Aufstellungen  ernster 
Bcurtheilung  uuterziehen. 

Im  ersten  Abschnitte  wird  der  Begriff  der  Zahl  erörtert.  Von  Pestalozzi 
wird  gesagt,  er  betrachtete  die  Zahl  als  eine  den  Dingen  zukommende  Eigen- 
schaft, welche  wir  auf  Grund  der  Anschauung  v*.»n  den  Dingen  abstrahiren. 
Er  definirt  die  Zahl  ausdrücklich,  als  das  iu  den  Dingen  real  vorhandene 
Verhältnis  des  Mehr  und  Minder. 

Bei  Kuilling  dagegen  schwankt  die  Ansicht;  bald  nennt  er  das  aus- 
oinauderliegendc  Viele,  die  concreten  Größen,  die  in  den  Dingen  selbst  be- 
gründeten  quantitativen  Unterschiede,  die  Zahl,  wie  wenn  sie  unabhängig 
von  unserem  Denken  bestünde;  dann  heißt  es  bei  ihm  wieder,  da«  auscinander- 
liegendc  Viele  sei  noch  gar  keine  Zahl,  es  sei  lediglich  das  Material,  aus 
welchem  das  Denken  in  freier  Thätigkeit  die  Zahl  erzeuge.  Mit  großer  Aus- 
führlichkeit weist  Rüefli  das  Schwanken  der  Begriffe  bei  Knilling  nach,  und 
zeigt,  wie  sonach  überhaupt  Folgerichtigkeit  entfallen  musstc.  Von  den  vielen 
recht  interessanten  Auseinandersetzungen  des  Verfassers  möchten  wir  nur  die 
eine  hervorheben,  welche  unverkennbar  die  Ursache  einer  weitverbreiteten 
Meinungsverschiedenheit  enthält.  Rüefli  meint  nämlich,  Knillings  Zahlbegrifl 
klebe  an  den  concreten  Dingen,  er  vermöge  gar  nicht  den  Begriff  der  reinen 
Zahl  zu  erfassen.  Es  sei  aber  wol  zu  unterscheiden  zwischen  einer  Anzahl 
von  Dingon,  das  ist  den  benannten  Zahlen,  und  der  reinen  oder  unbenaunten 
Zahl.  Wir  stimmen  hier  Rüefli  vollständig  bei  und  bemerken,  dass  die  Auf- 
fassung der  Zahl  als  Concretum  wol  nur  in  der  Volksschule  möglich  und 
kaum  iu  dieser  aufrecht  zu  erhalten  ist;  wogegen  die  Zahlcnlehre,  wenn  sie 


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1 35 


sich  nur  auf  eiuen  wenig  höhoreu  Stundpunkt  stellt,  es  nur  mit  den  reinen 
Zahlen  zu  thun  hat. 

Bei  Knilling  ist  das  Rechnen  weniger  eine  Verstandes-  als  vielmehr  eine 
Gedächtnissache,  in  Bezug  auf  welche  er  sogar  den  Ausdruck  gebraucht,  es 
sei  nicht  viel  mehr  als  gedankenloses  Geplapper.  Diesem  entgegen  gelingt 
Rüefli  sehr  schön  der  Nachweis,  dass  es  völlig  in  der  Hand  des  Lehrers  ge- 
legen sei,  aus  dem  Rechenunterrichte  hauptsächlich  eine  Sache  des  Verstandes 
oder,  wenn  er  will,  des  Gedächtnisses  zu  machen.  Damit  steht  im  innigen 
Zusammenhange,  dass  schwachveranlagte  Kinder  es  doch  zu  einer  ansehn- 
lichen Fertigkeit  im  Rechneu  zu  bringen  vermögen,  wenn  nämlich  der  Lehrer 
den  Unterricht  auf  die  Pflege  des  Gedächtnisses  und  mechanischer  Vorgänge 
einrichtet. 

Treffend  ist  ferner  Rüefli's  Bemerkung,  dass  auch  das  elementare  Rechnen, 
als  Zweig  der  Mathematik,  vor  andern  Fächern  durch  Klarheit  und  Bestimmt- 
heit seiner  Begriffe  und  Urthcilo  sich  auszeichnet,  dass  sonach  diese  Eigen- 
schaften bei  richtiger  Unterweisung  in  diesem  Gegenstande  auch  in  sprach- 
licher Beziehung  sich  ausprägen  müssen.  Unmöglich  ist  die  sprachliche  Ver- 
wertung des  Gegenstandes,  wenn  die  Begriffe  das  Lehrers  selbst  so  schwankend 
und  unsicher  sind,  wie  man  es  Knilling  an  einer  Reihe  mangelhafter  Defini- 
tionen nachzuweisen  vermag. 

Das  Äußerste  an  Widersprüchen  hat  Knilling  in  Bezug  auf  den  sittlichen 
Wert  des  Recheuunterrichtes  geleistet:  bald  wird  dessen  sittlicher  Wert  ganz 
verneint,  weil  ja  der  Gegenstand  eine  reine  Gedacht nissache  ist,  dann  wieder 
leuchtet  doch  die  Einsicht  auf,  in  wie  hohem  Maße  ein  Gegenstand,  bei  welchem 
da«  Kennen  wesentlich  mit  dem  Können,  das  heißt  das  Verstehen  mit  dem  Aus- 
üben zusammenfällt,  zur  Gewinnung  des  Selbstvertrauens,  zur  Festigung  des 
Charakters  und  der  Sittlichkeit  beitragen  muss. 

Sowol  Knilliug's,  als  Rüefli's  Bücher  sind  der  Methodik  des  Rechenunter- 
richtes gewidmet,  Das  Werk  des  ersteren  macht  vom  Anfang  bis  zu  Ende 
den  Eindruck  des  Entwurfes  zu  einom  beabsichtigten  Versuche;  man  wird 
beim  Lesen  die  Empfindung  nicht  los,  der  Verfasser  sei  ein  Projectenmacher. 
Dagegen  ist  Rüeflis  Buch  als  Kritik  entworfen  und  bezeichnet«,  aber  mit  so 
viel  Scharfsinn  und  Sachkenntnis  abgefasst,  dass  nicht  blos  Knilling's  Wider- 
sprüche und  Unnahbarkeiten  aufgedeckt  werden,  sondern  dass  der  Leser  aus 
demselben  einen  reichen  Gewinn  an  Belehrung  empfängt.  Wir  möchten  gern 
sagen,  wenn  es  gestattet  int.  Kleines  mit  Großem  zu  vergleichen,  es  hat  uns 
dies  Buch  an  Lessiug's  Auti-Götze  erinnert.  Sowie  ohne  Kenntnis  der  Schriften 
von  Götze  Lessing's  Streitschrift  allein  den  Gcnuss  der  Belehrung  gewährt, 
so  erfreut  uns  auch  Rüefli's  Buch,  ohne  seinen  Gegner  zu  kennen,  durch  Klar- 
heit und  Wahrheit,  welche  von  dem  einen  Leser  als  Belehrung,  von  dem 
anderen  als  Zustimmung  der  eigenen  Überzeugung  mit  Vergnügen  entgegen- 
genommen werden  mag.  H.  E. 

Die  Grnndlchren  der  astronomischen  Geographie  and  ihre  unter- 
riclitlichc  Behandlung.  Für  Lehrer,  Seminaristen  und  den  Privat- 
gebrauch bearbeitet  von  0.  Riedel,  Seminarlehrer.  Mit  57  Illustrationen 
nnd  zwei  Sternkarten.  Wittenberg  1890,  Verlag  von  R.  Herrose.  X  und 
177  Seiten.    Preis  2.50  M. 

Ein  Handbuch  für  den  Lehrer,  gibt  es  durchwegs  die  Methoden  an,  wie  den 
Schülern  die  astronomischen  Wahrheiteu,  die  Kenntnis  der  Erde  als  Welt- 
körper beigebracht  werden  können  und  sollen.  Fragen  von  den  einfachsten  an 
bis  zu  den  complicirteren  (für  Schüler  höherer  Schulen)  leiten  die  einzelnen 
Capitel  ein,  die  Antworten  sind  zumeist  beigefügt.  Einfache,  auf  der  Tafel 
leicht  auszuführende  Zeichnungen,  die  Beschreibung  der  Handhabung  einfacher 
Apparate  (besonders  wird  auf  die  Reichmann'scheu  Tellurien  und  Planetarien 
hingewiesen)  helfen  den  Unterricht  verständlich  machen.  Die  angewendete 
Methode  ist  eine  recht  glückliche  zu  nennen.  Das  Maß  des  Verlangten  geht 
wol  über  das  in  der  Volksschule  vorzunehmende  ziemlich  weit  hinaus  {z.  B.  Prä- 
cession  deT  Tag-  und  Nachtgleichcn),  aber  der  Verfasser  wollte  eben  sein  Buch 


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I 


—    136  — 

auch  für  höhere  Lehranstalten  brauchbar  gestalten.  Deshalb  ist  auch  zum 
Schlüsse  angegeben,  was  in  drei-  oder  einclassigen  Volksschulen  vom  gebotenen 
Materiale  zu  nehmen  ist.  Die  eingestreuten  Gedichte  sind  recht  gut  ab- 
gewählt, aber  für  ein  Handbuch,  da«  doch  kaum  der  Schiller  in  die  Hand  be- 
kommt, etwas  überflüssig.  Um  den  reichen  Inhalt  zu  charakterisiren,  führen 
wir  noch  an,  dass  nach  einer  methodischen  Einleitung  ein  Voreursus  folgt,  dd 
für  Schüler  von  8 — 11  Jahren  bestimmt  ist;  der  Hauptcursus  umfasst  folgende 
Oapitcl:  Horizont  und  scheinbare  Himmelsgestnlt;  Gestalt  der  Krdc,  Welt  räum 
und  Weltkörpcr;  Rotation  der  Erde;  Revolution  der  Erde;  Stellung  der  Erd- 
achse und  Parallclismus  ihrer  Lage;  das  Liniennetz;  die  Erdbahn  eine  Ellipse; 
Präcession  der  Aquinocticn;  der  Mond;  Planetenbcwegungen;  das  Sonnen- 
system; Schwerkraft  und  Schwungkraft;  Entfcrnungs-  und  Größcnbestiin- 
mungen;  die  Fixsternwert  (Bestimmung  der  Sternoite).  Die  Ausstattung  des 
Buches  ist  gut,  nur  die  erste  Sternkarte  (nördlicher  Himmel)  ist  nicht  in  alleu 
Theilcn  deutlich.  C.  R.  R. 

A.  Sprockhof!'»  Grund züge  der  Physik.  Übersichtliche  Anordnung  nnd 
ausführliche  Darstellung  des  Hauptsächlichsten  aus  dem  ganzen  Gebiete, 
unter  steter  Berücksichtigung  der  nenesten  Forschungen  und  Erfindungen, 
nebst  einem  Vorbereitungscursus:  Die  wichtigsten  Erscheinungen  des  täg- 
lichen Lebens  und  die  gewöhnlichsten  Gegenstände  des  täglichen  Gebrauches 
in  75  Einzelbildern.  -  Zweite  vollständig  umgearbeitete  nnd  verbesserte 
Auflage  mit  442  Abbildungen,  einer  Spectraltafel  in  Farbendruck  und  mit 
einem  geschichtlichen  Anhang.  Hannover,  Verlag  von  Carl  Meyer  (Gustav 
Prior)  1890.  —  XII  und  430  Seiten.    Preis  3.50  M. 

Sowol  in  den  Einzelbildern  als  in  der  systematischen  Physik  geht  Sprockhof! 
von  Versuchen  und  Beobachtungen  aus  und  leitet  daraus  die  Gesetze  ab, 
welche  sodann  durch  viele  Beispiele  erläutert  werden.  Die  systematische 
Physik  thcilt  er  in  drei  Haupttheile:  Mechanik  (Allgemeines,  M.  der  festen, 
flüssigen  und  luftförmigen  Körper),  Lehre  von  der  schwingenden  Bewegung 
(Schall,  Wärme,  Licht),  Magnetismus  nnd  Elektricität.  Die  Darstellung  ist 
eine  vorzügliche,  sowol  was  die  Beschreibung  der  Erscheinungen  und  Ver- 
suche, als  die  Gesetze  anbelangt.  Fußnoten,  oft  ziemlich  ausführlicher  Art, 
erläutern  eingestreute  Begriffe  oder  geben  historische  Daten  belehrender  Natur. 
Der  erste  Theil  des  Buches  (der  Vorbereitungscursus)  behandelt  nur  praktische 
Fragen  des  gewöhnlichen  Lebens  und  erkltirt  dieselben  iu  gelir  klarer  Weise. 
Der  geschichtliche  Anhang  stellt  in  tabellarischer  Form  die  Entdeckungen  aut 
dem  Gebiete  der  Physik  und  die  wichtigsten  Erfindungen  vom  Alterthume  an 
bis  zum  Jahre  1883  zusammen.  Die  Abbildungen  sind  sehr  verständlich  und 
sauber  ausgeführt.  Jedem  Lehrer  der  Physik,  auch  denen  an  höheren  Lehr- 
anstalten, wird  das  Lehrbuch  ein  willkommener  Rathgeber  sein.  Die  Aus- 
stattung ist  sehr  schön.  C.  R.  R. 


Vtruntwonl.  KetlüüUut  Dr.  Friedrich  Ditte*.    Buchdruckern  Juliua  Klinkhardt,  Uiffüg. 


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SitbaltSoer  jcictiniä: 

1.  ttt  gute  Xoii  in  Oaufi  und  ^umilie.   1.  Sie  SSoi^nung.   2.  Sie  ftinber.   ß.  Sie 
junge  SBclt.   4.  35er  £au3ljerr.   5.  Sie  ©atrin  unb  SRutter  :c. 

II.  tie  tVbciiöobidjninc  in  der  irauttltc.  1.  OJeburt.  2.  laufe.  3.  Konfirmation. 
4.  Verlobung  unb  Vrautftanb.  ö.  ftuiftattung,  $olterabenb.  6.  ^>od>jett.  7.  Qefonbere 
ftamilienereigniffc  je 

III.  tcr  gute  Xon  in  unü  mit  der  ^cfcüfdjoft.  1.  Ser  gute  Ion  unb  bie  fflefcllfdjaft. 
2.  Der  eintritt  in  bie  Söelt  unb  baS  sBorftellen.   3.  Sie  Haltung  im  atigemeinen  X. 

IV.  tcr  gute  Zun  im  öffentlidjen  unö  m  idjäftltdjcn  Veben.  1.  3n  berJHrcbe.  2.  Um 
ber  Stra&e  unb  $romenabe.  3.  3m  Äonjert  unb  Ibcater.  4.  3m  Äaffeetyaufe.  5.  ?luf 
Ausflügen  ini  2r«ie  IC. 

V.  Xcv  gute  Ion  in  defunHeren  Veoendlagen.  L  Stelle«  unb  Veföafrigungfudjcnbe. 
2.  Stellung  in  ^rioatfjäufmi  unb  ÖJcfdjdften.  3.  Sa$  Kaufen  in  Säben  unb  ©efdjäften. 
4.  Kaufen  burtb  Korrefponbenj.  5.  ftorbern  unb  Rahlen  Jioifc^en  ftadjleuten  unb 
$ub(ifum  :c. 

VI.  ter  gute  Xon  im  fdivif tlidicti  ©erfeqr.  L  2lHgemeine3.  2.  Der  3nf>alt.  Änjeigen 
unb  Berichte.  SMttfdniften  unb  $ittgefud)e.  Sanffagungen.  Sinlabungen.  Cmpfcb,- 
lungeu.  Sntfdmlbigungen.  (Erinnerungen  unb  Warnungen,  (Slüdroünfcfje.  ©eiletbe« 
fdjreiben.  3.  ?iuf}crlid)feiten  im  iBriefoerfebr.  Sie  Jorm.  Ort  unb  Saturn.  Sie  Sin* 
utt.  Ser  Gingang.  Slnreberoörter.  Ser  SAlufc.  Sie  9taä)fd)rift,  ba*  fJoftffriptum. 
ftuBerltdjfeiten  in  ber  Verfcnbung.   Sie  Äbreffe.  ©adjregifter. 

'Uli  2.  ergänjenber  Seil  erfdjien  fuerju: 

llnferet  jf tauen  3Men, 

35  (£fjaoä  öon  ber  93erfafferin  ber  „^äbagogtfdjen  Briefe". 

3.  «ufl.    20  «Bogen  8°.   $rei3  eleg.  geb.  mit  ©olbfdmttt  6  Warf, 
fieipjig  unb  «erlin  W.  35.  ^UliU«  tflintfrarbt, 

©erlagSbudjtjanblung. 


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Europas  €iertoelf  in  Bittrem. 

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brofd)iert  4  Warf. 

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S-Bdef>rung  über  bie  ^eimifebe  liermelt  ju  »ermitteln,  fyaben  $eranlaffung  |ar 
3ufammenfiettung  biefeS  S3ua>8  gegeben,  roeldjeS  ber  Sugcnb  eine  Sülle  öon  <£ajxl- 
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Hierzu  drei  Beilagen:  1. 


von  Bleyfl  &  Kaemmcrer  in  Dresden.   2.  von  R. 

1    »nn   Inline  IflittbhiiiuM  Im  I 


Paedagogiüm. 


Monatsschrift 

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Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

vou 


117.  Jaluw. 
3.  Heft,  Decemfcer  189L 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt 


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Inhalt  des  3.  Heftes. 

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Der  intensive  Unterricht.    Von  Realgytiumsiaidirector  Dr.  Dronke-Trier  .    .  137 

Übei'  Berut'st'reudigkiit.    Von  Reetor  I  ii.  Lnndinaun-Schwetz   145 

I>ie  Pädagogik  der  Kunst.    Von  Otto  Ernst  Schmidt- Hamburg    ....  158 
Pädagogische  Rundschau.    Zeitstimmcu.  —  Vom  Lehrertage  und  Pestalozzi- 
vcreiu  der  Provinz  Brandenburg.  --  Aus  Preußen.  —  Aus  Sachsen.  — 

Aus  Dresden.  -  Aus  dem  Großherzogthuni  Baden.  —  Aus  der  Schweiz.  171 

Aus  der  Fachpresse   197 

Literatur   201 


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Der  intensive  Unterricht. 

Von  Realgymnasialdirector  Dr.  Drenke-Trier. 

Bei  den  Berathungen  der  bekannten  Berliner  Schulcommission 
vrurde  besonderes  Gewicht  auf  den  „intensiven4*  Unterricht  gelegt, 
von  dem  man  hoffte,  dass  durch  ihn  vollständig  ersetzt  werde,  was 
durch  die  Verminderung  von  Lehrstunden,  sowie  der  häuslichen  Auf- 
gaben und  durch  die  recht  wesentliche  Einschränkung  der  einzelnen 
Fächer  zweifellos  verloren  gehen  müsse.  Wir  wollen  heute  nicht 
untersuchen,  ob  nicht  in  einer  richtig  geleiteten  Schule  der  Unterricht 
wirklich  intensiv  ertheilt  wird,  so  dass  das  Minimum  der  häuslichen 
Arbeiten  bereits  dort  eingeführt  ist,  ob  nicht  die  bisherige  Art  der 
Abiturientenprüfungen ,  sowie  die  immer  größeren  Anforderungen  an 
die  Schüler  seitens  der  aufsichtführenden  Behörden  den  wesentlichsten 
Theil  der  Schuld  tragen,  wenn  noch  an  vielen  Orten  die  Schuljugend 
unter  der  Arbeit  seufzt;  wir  wollen  auch  nicht  untersuchen  (eine  sehr 
dankbare  Aufgabe!),  wie  weit  an  der  nicht  genügend  kräftigen  Ent- 
wickelung  der  .lugend  das  Haus  die  Schuld  trägt  und  Umstände  mit- 
wirken, die  ganz  außerhall)  der  Macht  der  Schule,  wol  aber  dem 
Arzte  sehr  nahe  liegen;  wir  wollen  den  intensiven  Unterricht  selbst 
einer  etwas  genaueren  Betrachtung  unterziehen. 

Mathematisch  ausgedrückt,  ist  die  Intensität  einer  Kraft  die  Größe 
ihrer  Wirkung  in  der  Zeiteinheit;  der  Unterricht  ist  also  um  so  in- 
tensiver, eine  je  geringere  Zeit  verbraucht  wird,  um  dasselbe  Ziel  des 
Unterrichtes  zu  erreichen,  dem  Schüler  bestimmte  Kenntnisse  zum  klar 
bewnssten,  dauernden  Eigenthum  zu  machen,  so  dass  er  diese  nicht 
blos  stets  im  Geiste  gegenwärtig  hat,  sie  also  auch  im  geeigneten 
Falle  verwerten  kann,  sondern  dass  dies  Wissen  und  Können  auch 
sein  Wollen  und  Handeln,  seine  Denkungsart,  also  seine  sittliche 
Führung  beeinflusse.  Wodurch  aber  wird  diese  Intensität  vergrößert, 
und  unter  welchen  Bedingungen  ist  überhaupt  eine  größere  Intensität 
möglich?  Auch  liier  wird  der  Vergleich  mit  den  mechanischen  Ge- 
setzen uns  Klarheit  verschaffen.    Es   ist   stets   die  Intensität  der 

P*4affnei»n.    n.  Jahr*.  H<  ff  III.  II 


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geleisteten  Arbeit  direct  proportional  der  aufgewendeten  Kraft.  Bei  dem 
Unterrichte  sind  es  aber  zwei  Kräfte,  welche  das  Resultat  herbei- 
führen, die  productive  des  Lehrers  und  die  receptive  des  Schülers. 
Und  die  Widerstände,  welche  bei  der  Arbeitsleistung  zu  überwinden 
sind,  d.  h.  die  Bedingungen,  von  denen  die  Wirkung  der  Kräfte  ab- 
hängt, sind  theils  in  dem  Lehrer,  theils  im  Schüler,  theils  aber  auch 
in  äußeren  Verhältnissen  zu  suchen.  Was  nun  zunächst  den  Lehrer 
betrifft  ,  so  muss  er  während  des  gesammten  Unterrichtes  in  nie  ruhen- 
der, gespanntester  Aufmerksamkeit  selbst  den  Unterricht  ertheilen 
und  gleichzeitig  alle  Schüler  im  Auge  behalten,  um  ihrer  Aufmerk- 
samkeit sicher  zu  sein;  nicht  einen  Moment  lang  darf  sein  Geist  an 
irgend  etwas  anderes  denken,  als  an  den  zu  behandelnden  Gegenstand 
und  an  die  Schüler,  kein  anderes  Bild  darf  seine  Sinne  schwächen, 
sein  Auge  muss  klar  und  scharf  jederzeit  die  Mienen  der  Schüler  an- 
schauen, um  aus  ihnen  zu  erkennen,  ob  sie  auch  das  Gesagte  richtig 
erfassen,  mit  ganzer  Seele  beim  Unterrichte  sind.  Aus  diesen  For- 
derungen geht  hervor:  1)  dass  der  Lehrer  alles  das  meiden  muss,  was 
irgendwie  den  Unterricht  im  allgemeinen,  die  Aufmerksamkeit,  die 
volle  Hingebung  des  einzelnen  beeinträchtigen  könnte;  es  sind  also 
alle  Nebenfragen  über  Dinge,  die  nicht  zu  dem  Unterricht  gehören, 
fernzuhalten,  Anspielungen  auf  Vorkommnisse  dürfen  nie  gemacht 
werden,  da  sie  gerade  die  geistige  Aufmerksamkeit  ablenken  müssen; 
2)  dass  der  Lehrer  den  Unterricht  in  einer  möglichst  fesselnden  Forin 
ertheilt,  er  muss  daher  nicht  blos  absoluter  Herr  über  den  Stoff  sein, 
also  selbst  stets  sich  genau  vorbereiten,  um  auch  auf  jede  mit  dem 
behandelten  Thema  in  Zusammenhang  stehende  Frage  gerüstet,  mit 
jeder  Seite  des  zu  betrachtenden  Unterrichtsgegenstandes  genau  be- 
kannt zu  sein,  sondern  vor  allem  muss  er  selbst  an  der  Sache  und 
an  ihrer  didaktischen  Behandlung  das  lebhafteste  Interesse  haben  und 
dies  auch  durch  die  Art  seines  Unterrichtes  den  Schülern  zeigen,  mag 
die  Methode  je  nach  dem  Stoffe  heuristisch,  sokratisch,  akroamatisch 
oder  eine  andere  sein;  denn  nur  eignes  lebhaftes  Interesse  vermag  bei 
anderen  wieder  Interesse  zu  erregen  und  wachzuhalten;  es  müssen 
daher  diejenigen  Punkte,  welche  auf  der  betreffenden  Entwicklungs- 
stufe am  ehesten  die  Theilnahme  des  Schülers  erwecken  und  ihm  das 
klare  Verständnis  bringen,  hervorgehoben  werden;  denn  die  erstere 
kann  ohne  das  zweite  nie  entstehen;  3)  dass  in  dem  Schüler  durch 
den  Unterricht  das  Gefühl  der  weiteren  Entwicklung,  das  Bewnsst- 
sein  des  Fortschrittes  erzeugt  wird;  denn  das  Gefühl  des  Stehen- 
bleibens lässt  nie  die  freudige,  hingebende  Arbeitslust  aufkommen;  4)  dass 


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die  Methode  in  keinem  Fache  stets  dieselbe  sei,  sondern  sich  von  Fall 
zu  Fall,  je  nach  der  geistigen  Stufe  der  Schüler,  nach  der  eignen 
pädagogisch-didaktischen  Kraft  des  Lehrers  und  nach  dem  gerade  be- 
bandelten Gegenstand  lichten  muss;  wo  es  möglich  ist,  muss  der 
Schüler  selbst  das  Neue  finden,  den  Zusammenhang  zwischen  zwei  Er- 
scheinungen oder  die  Folgen  eines  Gesetzes  aufsuchen;  die  alte,  nach 
meinen  Erfahrungen  noch  immer  nicht  genügend  beachtete  Regel,  dass 
jede  Frage  an  die  Classe,  nicht  an  den  einzelnen  Schüler  zu  richten 
ist,  muss  streng  durchgeführt  werden;  auf  das  innere  Verständnis  ist 
möglichst  früh  starkes  Gewicht  zu  legen,  da  nicht  das  gedankenlose 
Aufnehmen  in  das  Gedächtnis,  sondern  nur  das  klare  Eindringen  in 
den  Zusammenhang  der  Dinge  die  dauernde  geistige  Theilnahme  sichert. 

Nach  dem  Vorstehenden  sind  die  Anforderungen  an  den  Lehrer 
sicher  keine  geringen  und  ihre  Erfüllung  bez.  Beachtung  sind  von 
einer  Reihe  von  Umständen  abhängig,  die  von  den  Lehrern  selbst, 
von  dem  Director  und  von  den  Behörden  wol  zu  berücksichtigen  sind. 
Da  ist  zunächst  die  physische  Kraft  des  Lehrers.  Wer  je  seinen  Unter- 
richt im  vollen  Sinne  intensiv  gegeben  hat,  der  weiß,  dass  es  unmög- 
lich ist,  Tag  für  Tag  mehr  als  zwei  solcher  Stunden  nacheinander  zu 
ertheilen.  Müsste  ein  Anwalt,  mit  der  vollen  Intensität,  wie  hier  an- 
genommen, Tag  für  Tag  arbeiten,  wochenlang  ohne  jede  Unter- 
brechung, z.  B.  tagtäglich  eine  drei-  bis  vierstündige  Rede  halten,  so 
würde  er  bald  zusammenbrechen.  Erst  nach  einer  Ruhepause  wird 
der  Lehrer  im  Stande  sein,  in  gleicher  Weise  weiter  zu  unterrichten. 
Jeder,  der  Neigung  dazu  hat,  sich  dem  Lehrfache  zu  widmen,  frage 
sich  daher  zuerst,  ob  er  stark  genug  ist,  die  Anstrengungen  auszu- 
halten Schon  jetzt  sind  die  Mühen  des  Lehrerstandes  sehr  auf- 
reibend. Zählten  doch  die  Rheinischen  Lehrercollegien  1888  nur  *///„ 
unter  ihren  Mitgliedern,  welche  40  bez.  mehr  Jahre  im  Dienste  ge- 
standen hatten,  und  noch  nicht  6°/0,  welche  ein  Dienstalter  von  über 
30  Jahren  erreicht  hatten!  In  welchem  andern  Stande  ist  ein  so  un- 
günstiges Verhältnis  zu  finden? 

Um  den  Lehrer  nicht  unnöthig  aufzureiben,  ihn  doch  möglichst 
lange  zu  erhalten,  muss  der  Stundenplan  mit  größter  Vorsicht  auge- 
fertigt werden.  Schon  jetzt  ist  es  nicht  leicht,  nur  unter  Berück- 
sichtigung der  Lehrgegenstände  einen  guten  Plan  aufzustellen,  in  Zu- 
kunft wird  dies  noch  unendlich  viel  schwieriger  sein. 

Sodann  muss  die  Arbeitsfreudigkeit  und  Geistesfrische  des  Lehrers 
stets  vorhanden  sein;  er  selbst  muss  daher  ein  heiteres  Gemüth  be- 
sitzen, es  verstehen,  mit  den  Schülern  jung  zu  sein,  in  ihren  heitern 

u* 


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Lebensansehanungen,  ihrem  frischen,  fröhlichen  Handeln  nicht  tiberall 
Unbotmäßigkeit  oder  schlechten  Geist  wittern.  Ein  grämlicher  Lehrer 
kann  viel,  viel  verderben.  Die  Stellung  und  das  Einkommen  des 
Lehrers  muss  aber  auch  so  sein,  dass  ihm  nicht  die  tägliche  Sorge  um 
die  Existenz  seiner  Familie  und  seiner  selbst,  nicht  die  stete  Zurück- 
setzung, der  er  noch  heute  in  allen  Verhältnissen  in  geradezu  gehäs- 
siger Weise  ausgesetzt  ist,  jeden  Lebensmuth  nehmen.  Es  soll  ja 
hierin  eine  Wandlung  geschaffen  werden.  Vor  allem  aber  ist  dann 
auch  die  Ausdehnung  des  Relictengesetzes  auf  alle  Lehrer  ein  absolut 
dringendes  Erfordernis.  Welche  Begeisterung  soll  es  im  Lehrer  einer 
stadtischen  Anstalt  erzeugen,  wenn  er  bedenkt,  dass  mit  seinem  Tode 
Krau  und  Kinder  dem  Elende  oder  der  öffentlichen  Wrolthätigkeit 
anheimfallen?  Welche  Gefühle  müssen  erwachen,  wenn  ein  im  Dienst 
ergrauter  Director  bei  öffentlichen  Festlichkeiten  trotz  der  Kgl.  Ca- 
binetsordre  vom  23.  December  1842  seinen  Platz  hinter  den  jüngsten 
Rathen  von  Landgericht  und  Regierung  angewiesen  erhält? 

Die  receptive  Thätigkeit  der  Schüler  1>edingt  ebenfalls  den  Erfolg 
auch  des  intensivsten  Unterrichtes  des  besten  Lehrers.  Möglichst 
gleichförmige  iutellectuelle  Bildung  der  sämmtlichen  Schüler  ist  hier 
die  Grundbedingung.  Gleiche  Beanlagung  der  ans  den  verschiedensten 
Kreisen  stammenden  Schüler  ist  nie  zu  erwarten,  gleich  gute  Kennt- 
nisse, ja  auch  nur  gleiche  geistige  Stärke  für  ein  scharfes  Achtgeben 
sind  nie  zu  hoffen.  Je  größer  aber  der  Unterschied  zwischen  den 
einzelnen  Schülern  in  dieser  Beziehung  ist,  um  so  weniger  wird  ein 
intensiver  Unterricht  ausrichten  können,  wenn  nicht  von  vornherein 
darauf  verzichtet  wird,  wenn  auch  nicht  alle,  so  doch  die  größte  Zahl 
der  Schüler  einer  Classe  regelmäßig  weiterzuführen.  Daher  wird  es 
noch  mehr  Pflicht  wie  früher,  schon  von  den  unteren  Olassen  an  die 
Schüler  zu  individualisiren  und  schärfer  bei  der  Versetzung  vorzu- 
gehen. 

Zu  den  äußeren  Umständen,  welche  von  wesentlichem  Einflüsse  auf 
die  Erfolge  eines  intensiven  Unterrichtes  sind,  hebe  ich  als  die  wich- 
tigsten hervor:  die  Erscheinung  des  Lehrers,  die  Zahl  der  Schüler 
einer  Classe  und  endlich  das  Classenzimmer  nach  seiner  Gestalt,  Größe, 
Beleuchtung  und  inneren  Einrichtung.  Der  Ernst  und  die  Würde  des 
Lehramtes  muss  sich  auch  im  Äußern  des  Lehrers  kundgeben;  wol 
kann  die  geistige  Überlegenheit,  die  Begeisterung  für  den  Unterrichts- 
sregenstand,  die  sicli  auf  dem  Gesichte  des  Lehrers  zeigt,  manchen 
Mangel  an  der  Erscheinung  desselben  den  Schülern  vergessen  machen, 
aber  das  Auftreten  und  die  Tracht  dürfen  ebensowenig  eine  lächer- 


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I 

liehe  Eitelkeit  als  eine  absolute  Vernachlässigung  der  äußeren  Persön- 
lichkeit zeigen;  beides  setzt  den  Lehrer  in  den  Augen  der  Schüler 
und  auch  der  Eltern  derselben  herunter,  ist  geeignet,  die  Aufmerk- 
samkeit der  ersteren  auf  die  Person  zu  lenken,  gegebenen  Falles 
sogar  den  Spott  herauszufordern,  während  gerade  das  Beispiel  des 
Jngenderziehers  auf  die  Knaben  wirken,  sie  zu  richtiger  Wert- 
schätzung der  Persönlichkeit  unbewusst  anregen  soll. 

Die  Zahl  der  Schüler  soll  nach  den  Beschlüssen  der  Comniissioii 
in  keiner  Classe  über  vierzig  betragen;  bei  stetem  intensiven  Unter- 
richt, der  bereits  für  die  unteren  Classen  eine  vollständig  indivi- 
duelle Behandlung  der  einzelnen  Schüler  voraussetzt,  ist  diese  Zahl 
eher  zu  groß  als  zu  klein;  vor  allem  aber  ist  darüber  zu  wachen, 
dass  diese  Zahl  auch  wirklich  nie  mehr,  auch  nicht  in  den  unteren 
Classen  überschritten  wird!  Wird  nun  nicht  mehr  gestattet,  dass  in 
allen  Classen  Doppelcöten  eingeführt  werden,  dann  wird  sich  erfah- 
rungsgemäß die  Gesammtschülerzahl  einer  Anstalt  auf  etwa  310  (?  D.  R.) 
stellen  (für  die  3  unteren  Classen  je  40,  für  die  3  mittleren  je  30,  für  die 
3  oberen  je  20).  Würden  aber  wieder  Doppelcöten  eingeführt,  und 
diese  müssen  für  alle  Classen  eingerichtet  werden  oder  für  keine), 
so  ergibt  sich  die  absolut  unzulässige  Zahl  von  über  600  (V  D.  K.) 
Schülern.  (Die  Maximalzahl  von  400  für  eine  Anstalt  stimmt  nicht 
mit  der  angenommenen  für  die  einzelnen  Classen.) 

Die  Schulräume  in  ihrer  inneren  Einrichtung  sind  in  den  letzten 
Jahren  ein  wahres  Versuchsfeld  für  berufene  und  unberufene  sog. 
Sachverstandige  gewesen.  Aber  trotz  aller  schönen  Aufsätze,  trotz 
aller  Zahlentabellen  über  die  Dimensionen  der  Bänke,  über  die  Größe 

i 

und  Höhe  der  Räume,  über  die  Größe  der  Fenster  u.  s.  f.  ist  leider 
eine  sehr  große  Zahl  von  Classenzimmern  auch  heute  noch  nicht 
den  Anforderungen,  die  man  bei  intensivem  Unterrichte  stellen  muss, 
entsprechend.  Der  Lehrer  muss  von  seiner  Stelle  ans  (Katheder, 
Tafel)  sämmtliche  Schüler  mit  einem  Blick  überschauen  können;  es 
darf  daher  das  Classenzimmer  weder  zu  lang  noch  zu  breit  sein;  wenn 
z.  B.  54  Schüler  zu  je  4  Schülern  in  Bänken  hintereinander  sitzen, 
wie  soll  der  Lehrer  diejenigen  in  der  vierzehnten  Bank  noch  von 
vorn  übersehen?  Oder  wenn  60  Schüler  in  2  Reihen  von  Bänken  zu 
je  6  sitzen,  also  5  Reihen  hintereinander,  so  gibt  es  auch  keine  Stelle 
im  Zimmer,  von  der  aus  auch  der  begabteste  Lehrer  gleichzeitig  alle 
übersehen  kann.  Die  beiden  gewählten  Beispiele  sind  mir  in  meiner 
Thätigkeit  an  einer  Anstalt  vorgekommen.  —  Die  richtige  Einrichtung 
der  Bänke  scheitert  noch  immer  an  der  einen  Thatsache,  dass  die 


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Grüße  (und  auch  das  Alter)  der  Schüler  einer  Classe  sehr  verschieden 
ist  und  selbst  in  einem  Jahre  oft  sehr  stark  wechselt.  Ein  großer  Fehler 
ist  es  bei  vielen  Bänken  neuerer  Construction,  dass  sie  auf  den  Boden 
festgeschraubt  werden  müssen,  also  nicht  verrückbar  sind,  und  dass 
sie  zu  viele  bis  nahe  zum  Boden  reichende  Eisen-  bez.  Holztheile 
besitzen  ;  infolgedessen  ist  die  ordnungsmäßige  Reinigung  nicht  möglich. 

Die  Vortheile,  die  man  von  dem  intensiveren  Unterricht  erhofft, 
sind  die  größeren  Leistungen  in  geringerer  Zeit,  namentlich  auch  die 
Verlegung  der  hauptsächlichsten  Lernarbeit  in  die  Schule,  d.  h.  die 
Entlastung  des  Schülers  von  häuslicher  Arbeit,  damit  die  Jugend  sich 
mehr  körperlichen  Übungen  hingeben  könne.    Ob  dies  aber  in  dem 
Grade  möglich  ist,  muss  erst  die  Erfahrung  lehren.   Um  bei  dem 
früheren  Vergleiche  zu  bleiben,  so  kann  eine  bestimmte  Kraft  in  einer 
bestimmten  Zeit  auch  nur  eine  gewisse  Arbeit  leisten;  die  Kraft  ist 
hier  die  des  Lehrers,  sie  kann  ebensowenig  wie  die  des  Dampfes  in 
einem  Kessel  beliebig  hoch  gespannt  werden;  andererseits  ist  die  Ar- 
beitsleistung einer  Maschine  abhängig  von  den  Reibungswiderständen 
und  der  Größe  der  Last;  bei  größerer  Kräften t Wickelung  wird  aber 
die  Arbeit  nicht  proportional  vergrößert,  vielmehr  werden  die  Achseu- 
lager u.  s.  f.  erhitzt,  die  Maschine  verdorben  und  statt  größeren 
Gewinn  zu  erzielen,  hat  man  schweren  Verlust.   Der  Geist  des  Kindes 
kann  innerhalb  einer  bestimmten  Zeit  nicht  beliebig  viel  in  sich  auf- 
nehmen und  zu  seinem  festen  Eigen thum  machen;  öftere  Wieder- 
holungen, langsames,  ganz  allmähliches  Fortschreiten  sind  nöthig, 
wenn  der  Wissenstoff  auch  dauernd  dem  Schüler  übermittelt  werden 
soll.   Vier,  ja  fünf  Stuuden  intensiven  Unterrichtes  nacheinander  hält 
kein  Lehrer,  noch  viel  weniger  aber  ein  Schüler  aus.    Wol  hat  es 
stets  einzelne  Lehrer  gegeben,  die  intensiven  Unterricht  gegeben  haben; 
ich  selbst  bekenne  auch,  dass  ich  dies  gern  gethan  habe;  aber  wenn 
dies  geschah,  dann  wollte  kein  anderer  Lehrer  die  darauffolgende 
Stunde  ertheilen,  weil  die  Schüler  so  abgespannt  waren,  dass  sie  gar 
nichts  mehr  leisteten.   Mit  Rücksicht  darauf,  dass  die  Schüler  in  allen 
Unterrichtsstunden  noch  eine  gewisse  geistige  Frische  haben  müssen, 
damit  nicht  eine  ungleichförmige  Bildung  erzeugt  werde,  habe  ich  die 
Sache  ändern  müssen;  und  wenn  auch  die  Schüler  fast  völlig  frei  von 
häuslichen  Arbeiten  und  Wiederholungen  sind,  so  habe  ich  dies  nur 
durch  wesentliche  Beschränkung  des  Unterrichtsstoffes  erreichen  können. 
Und  da  sind  wir  an  dem  Hauptpunkte  angekommen:  auch  bei  inten- 
siverem Unterrichtsbetriebe  als  bisher  ist  nur  dann  ein  Erfolg  möglich, 
wenn  die  Lehrziele  in  allen  Fächern  wesentlich  verringert  werden. 


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Eine  dahin  gehende  Bestimmung  mnss  sich  in  erster  Linie  an  die  die 
Aufeicht  fahrenden  Behörden  wenden;  Directoren  und  Lehrer  müssen 
sich  stets  nach  diesen  richten  und  von  den  Schülern  dasjenige 
verlangen,  was  von  den  Räthen  im  Examen  und  bei  Revisionen  ge- 
fordert wird. 

Als  wichtigstes  Mittel  zur  Verhütung  einer  Überanstrengung  der 
Schüler  scheint  die  Durchführung  des  Classenlehrersystems  empfohlen 
zu  sein.  An  ordentlich  geleiteten  Schulen  besteht  dies  bereits  raeist, 
nur  ist  vielfach  eine  noch  weitere  Durchführung  desselben  unmöglich, 
weil  die  Lehrkräfte  nicht  dementsprechend  sind.  Wo  gibt  es  z.  B. 
einen  Lehrer,  der  in  Deutsch,  Latein,  Griechisch,  Französisch  und 
(nach  den  neuen  Vorschlägen)  Englisch,  daneben  auch  vielleicht  in 
Geschichte  in  Secunda  gut  unterrichten  kann?  Wo  einen  solchen,  der 
diese  Bürde  auch  dauernd  tragen  kann?  Wenn  bis  jetzt  in  einzelnen 
Anstalten  das  Classenlehrersystem  noch  zu  mangelhaft  ausgebildet  ist, 
so  trifft  nicht  blos  dem  Director,  der  die  Vorschläge  dazu  gemacht 
hat,  sondern  mehr  noch  die  Behörde  der  Vorwurf,  dass  sie  solch  eine 
durch  und  durch  unpädagogische  Vertheiluug  des  Unterrichtes  ge- 
nehmigt, vielleicht  sogar  den  betr.  Director  besonders  ausgezeichnet  hat. 

Noch  einen  Punkt  möchte  ich  hervorheben:  es  ist  der  ethische 
Wert  der  häuslichen  Arbeiten.  Die  Aufgaben,  die  der  Schüler  außer- 
halb der  Classe  machen  soll,  sind  nicht  blos  bestimmt,  das  Wissen 
und  Können  zu  befestigen,  sondern  sie  sollen  auch  die  Jugend  daran 
gewöhnen,  den  eigenen  Willen  zu  üben,  die  Willenskraft  zu  stärken, 
die  Arbeit  als  eine  Pflicht  und  als  ein  Recht  anzusehen,  ihre  Zeit 
einzuteilen  und  mit  ihr  haushälterisch  umzugehen;  wer  in  den  jungen 
Jahren  es  nicht  lernt,  selbstständig  zu  arbeiten  (je  intensiver  der  Unter- 
richt wird,  um  so  mehr  wird  der  Schüler  zu  rein  receptiver,  unselbst- 
ständiger  Arbeit  angeleitet),  die  Erholung  nur  als  noth wendige  und 
erwünschte  Stärkung  von  Geist  und  Körper  anzusehen,  um  sich  desto 
eifriger  wieder  der  Pflichterfüllung  zu  widmen,  der  wird  auch  im 
Leben  nicht  ein  brauchbares  Mitglied  der  menschlichen  Gesellschaft 
werden;  für  ihn  ist  und  bleibt  die  Arbeit  ein  Fluch,  und  er  selbst  ist 
und  bleibt  für  seine  Mitmenschen  ein  Ballast;  wehe  dem  Staate  und 
der  Gesellschaft,  wenn  die  leitenden  Kreise  nicht  die  intensive  Arbeit 
als  ihr  uuveräußerbares  Recht,  als  ilire  heiligste  Pflicht  ansehen! 
Jene  Auswüchse,  welche  in  der  Jugend  jeden  Keim  der  fröhlichen 
Iiebenslust  ersticken  wollen,  sind  Gott  Dank  doch  nur  selten;  wo  sie 
sich  finden,  da  sollen  die  Behörden  rücksichtslos  einschreiten,  das 
eiternde  Giftgeschwür  aus  dem  gesunden  Organismus  ausschneiden. 


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Alier  man  hüte  sich  umgekehrt,  eine  Jugend  heranzubilden,  die  keine 
Selbstständigkeit  kennt,  die  Arbeit  nebensächlich  behandelt  und  die 
körperliche  Kraft  über  das  geistige  Können  setzt;  nur  eine  harmonische 
Ausbildung  der  körperlichen  und  der  geistigen  Kräfte  muss  das  Ziel 
der  Jugenderziehung  sein  und  bleiben. 

Man  erwarte  von  einer  intensiveren  Unterrichtsmethode  nicht  zu 
viel;  jedenfalls  wird  sie  viel  mehr  Kräfte  verbrauchen  bei  Lehrern 
und  bei  Schülern;  die  Zahl  der  letzteren,  welche  nicht  ihr  Ziel  erreichen, 
wird  stark  anschwelleu,  die  gesundheitlichen  Verhältnisse  werden 
kaum  wesentlich  bessere  werden,  wenn  nicht  auch  die  Lernziele 
bedeutend  verringert  werden.  Was  aber  zweifellos  stark  wachsen 
wird,  das  sind  die  Ausgaben  für  die  Schulen. 


- 


Uber  Berufst  reudigkeit. 

Voo  Rector  Th.  ZAtndmann-Schtretz. 

Lust  und  Liebe  zur  amtlichen  Thätigkeit,  also  „Berufsfreudig- 
keit-, bedarf  wol  kein  Stand  notwendiger  als  der  Lehrst  and.  Ab- 
gesehen davon,  dass,  was  ja  selbstverständlich  ist,  jede  Thätigkeit  unter 
den  segensreichen  Fittichen  der  Berufsfreudigkeit  besser  gedeiht,  reichere 
Erfolge  aufzuweisen  hat,  wirkt  sie  auch  anregend,  erfrischend  und  be- 
fruchtend auf  die  Umgebung,  auf  die  Mitarbeiter  oder  sonst  irgendwie 
mit  der  Thätigkeit  in  naher  Beziehung  Stehenden.  —  Unlust  dagegen, 
Widerwillen  oder  auch  nur  Gleichgültigkeit  sind  schlechte  Förderer 
der  Arbeit  und  üben  einen  lähmenden,  hemmenden  Einfluss  auf  die 
Umgebung  aus.  Mag  der  Mangel  an  Freudigkeit  in  den  meisten 
Berufsarten  durch  ernste  Pflichttreue  ersetzbar  sein,  —  in  dem  Lehr- 
amte ist  er  es  nicht!  Dort  leidet  nur  ein  einzelner  Mensch  und  etwa 
noch  eine  geringe  Anzahl  von  Erwachsenen,  die  mit  jenem  geschäftlich 
in  Berührung  kommen;  hier  aber  leidet  eine  ganze  Kinderschar;  denn 
die  Lust  oder  Unlust  des  Lehrers  tiberträgt  sich  naturgemäß  un^i  aus- 
nahmslos  auch  auf  die  Kinder.  Ein  frisches,  freudiges  Wesen  des 
Lehrers  wirkt  anregend  und  belebend  auf  die  noch  unentwickelten 
Geister  der  Kinder;  ein  mattes,  unlustiges,  gequältes  Unterrichten  be- 
wirkt das  Gegentheil;  die  geistige  glückliche  Entwicklung  der  Schüler 
hängt  in  der  That  wesentlich  von  der  mehr  oder  weniger  freudigen 
Stimmung  ihrer  Lehrer  ab.  Doch  das  ist  eine  alte  Wahrheit,  die 
indes  genügend  beweist,  dass  vorzugsweise  dem  Lehr  stände  um 
der  Jugend  willen  Berufsfreudigkeit  nothwendig  ist. 

Es  verlohnt  sich  daher  wol  der  Mühe,  einmal  etwas  eingehend 
den  Umständen  nachzuspüren,  von  denen  die  Berufsfreudigkeit  der 
Lehrerwelt  mehr  oder  weniger  abhängig  ist,  zumal  sich  dieselben  zum 
Theil  der  Kenntnisnahme  derjenigen  Männer  entziehen,  die  mit  ihrem 
Einfluss  und  ihrer  Macht  wesentlich  auf  eine  erhöhte  Bernfsfreudigkeit 
der  Lehrer  hinwirken  könnten. 


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-    146  - 


Als  die  wesentlichsten  Bedingungen,  unter  welchen  ein  Lehrer 
freudig  seines  Amtes  walten  könnte,  dürften  ohne  Zweifel  folgende 
anzusehen  sein: 

1.  Ein  Lehrer  muss  „inneren  Beruf u  für  sein  Amt  fühlen;  er 
soll  mit  ausgesprochener  Neigung  Pädagoge  werden. 

2.  Er  muss  in  den  Vorbereitungsanstalten  für  seinen  Beruf  zweck- 
gemäß und  würdig  vorbereitet  werden. 

3.  Tritt  er  in  seinen  Beruf  ein,  so  soll  er  materiell  so  gestellt 
werden,  dass  er  von  seinem  Einkommen  bei  bescheidenen,  seiner  Stellung 
angemessenen  Ansprüchen  sorgenfrei  leben  kann. 

4.  Er  muss  bei  der  Gründung  seiner  „  Häuslichkeit"  Vernunft  und 
Herzensneigung  walten  lassen,  damit  das  Familienleben  nicht  einen 
störenden,  sondern  erfrischenden,  fördernden  Einfluss  auf  seine  amtliche 
Thätigkeit  ausübe! 

5.  At  last,  not  at  least  —  bedarf  er  in  seinem  schweren  Amte 
auch  der  wolwollenden  Unterstützung  seitens  seiner  „Vorgesetzten-? 
d.  h.  der  Männer,  die  staatlich  verpflichtet  sind,  seine  Thätigkeit  zu 
überwachen  und  zu  fordern! 

Wenn  wir  zunächst  diese  fünf  Punkte  als  die  wesentlichsten  Be- 
dingungen, unter  denen  eine  „amtliche  Freudigkeit"*  möglich  ist,  au- 
erkennen, so  ist  es  klar,  dass  die  Berufsfreudigkeit  nur  zum  Theil  in 
der  Hand  der  Lehrer  liegt,  dass  dieselbe  dagegen  auch  vielfach  von 
außen  her  gegeben  oder  genommen,  erhöht  oder  vermindert  werden 
kann.  Eltern,  Lehrer,  namentlich  aber  niedere,  hohe  und  höchste 
Vorgesetzte  haben,  je  nachdem  sie  wol-  oder  übelwollend  verfahren, 
einen  großen  Einfluss  auf  „Lust  oder  Unlust"  des  Lehrerstandes. 

Wie  die  Neigung  überhaupt  bei  der  Wahl  des  Berufes  für  den 
Jüngling  entscheidend  sein  soll,  so  ist  sie  im  besonderen  von  höchster 
Wichtigkeit  bei  der  Entscheidung  für  den  pädagogischen  Beruf.  Wer 
ohne  innere  Neigung,  wol  gar  mit  Abneigung,  etwa  durch  die  Lebens- 
verhältnisse genöthigt  oder  um  des  „Brotes"  willen  den  Lehrstand 
wählt,  kann  ja  wol  bei  tüchtiger  Vorbereitung  und  gewissenhaftem 
Ernste  seine  Pflichten  mit  einigem  Erfolg  erfüllen,  wird  aber  kaum 
je  mit  voller  Befriedigung  und  Freudigkeit,  also  auch  nicht  mit 
besonderem  Segen  wirken.  Es  kann  daher  nur  wünschenswert  sein, 
dass  sowol  alle,  welche  keinen  inneren  Beruf  für  das  Lehramt  fühlen, 
demselben  fern  bleiben,  als  auch  dass  diejenigen,  welche  die  Herzens- 
neigung dazu  treibt,  sich  nicht  durch  äußere  Umstände  verleiten 
lassen,  einen  anderen  Berufszweig  zu  wählen,  sondern  sich  dem  ihnen 
von  Gott  gewissermaßen  zugewiesenen  Beruf  mit  ganzem  Interesse  in 


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147 


•lie  Arme  werfen,  unbekümmert  darum,  welches  materielle  Los  ihrer 
warte.  —  Diese  Forderung  klingt  ja  höchst  einfach  und  selbstverständ- 
lich, —  und  doch  dürfte  die  Durchführung  derselben  nicht  so  ganz 
leicht  imd  einfach  sein.  Irren  ist  menschlich;  gar  zu  leicht  aber 
täuschen  sich  junge  Leute  über  ihre  Anlagen  und  Fähigkeiten;  die 
äußeren  Verhältnisse  der  Berufsarten,  unter  denen  ihnen  die  Wahl 
freisteht,  üben  auf  die  unerfahrenen,  den  sinnlichen  Eindrücken  noch 
sehr  zugänglichen  Gemüther  naturgemäß  einen  großen  Einfluss;  Zu- 
reden guter  Freunde  und  Bekannten,  die  kein  psychologisches  Ver- 
ständnis haben,  wirken  oft  genug  verderblich  auf  die  Entschließung 
junger  Leute.  Selbst  die  eigenen  Eltern  führen  nicht  selten,  meist  in 
der  besten  Meinung,  ihre  Kinder  auf  einen  falschen  Weg.  —  Wer  es 
an  sich  selbst  erfahren,  welch  ein  Lebensunglück  es  ist,  in  einen 
falschen  Beruf  zu  gerathen,  der  darf  wol  ein  Wort  darüber  sprechen, 
—  ein  warnendes  Wort! 

Es  ist  sicher,  dass  in  vielen  Fällen  weder  der  Jüngling  selbst, 
noch  dessen  Eltern  oder  Angehörige  Einsicht  genug  haben,  die  richtige 
Berufswahl  zu  treffen;  aber  auch  ebenso  sicher  ist  es,  dass  aus  der- 
artigen Missgriffen  viel  Unheil,  Unzufriedenheit  und  Unsegen  erwächst. 
Hier  ist  zum  Theil  die  Quelle  so  manches  verfehlten  Lebens  zu  suchen. 
Hier  eröffnet  sich,  meine  ich,  für  die  Schulen  ein  wahrhaft  segens- 
reiches Feld  der  Thätigkeit.  Wenn  die  Lehrer,  besonders  aber  die  in 
den  ersten  Classen  unterrichtenden  Dirigenten  der  Schule  es  sich  zum 
Grundsätze  machen  würden,  bei  passender  Gelegenheit  wiederholentlich 
ernst  und  eindringlich  über  die  bevorstehende  Berufswahl  zu  sprechen, 
ihren  Schülern  besondere  ans  Herz  zu  legen,  dass  keine  anderen  Gründe, 
als  nur  die  eigene  Neigung  und  Beanlagung  bei  der  Wahl  des  Be- 
rufs maßgebend  sein  müsse  u.  s.  w.,  ja,  dann  könnte  so  manchem  unheil- 
vollen Missgriff  vorgebeugt,  so  manches  Lebensunglück  vermieden  werden! 
Dass  dies  nicht  in  dem  wünschenswerten  Umfange  geschieht,  das  mag 
zum  Theil  auch  an  der  Gewissenhaftigkeit  mancher  Lehrer  liegen;  sie 
halten  es  für  unrecht,  auf  Kosten  der  vorgeschriebenen  Pensen  der- 
gleichen Gespräche  zu  führen.  Und  doch  —  welcher  Segen  kann  für 
diesen  oder  jenen  der  Schüler  aus  solchen  Belehningen  fürs  ganze 
Leben  erwachsen,  während  ein  kleiner  Zuwachs  an  Kenntnissen  dem 
gegenüber  wahrhaft  unwesentlich  erscheint!  Andere  wieder  halten 
überhaupt  von  allgemeinen  moralischen  Belehrungen  nichts,  weil  sie 
ja  doch  keinen  Eindruck  auf  die  jugendlichen  Gemüther  machen,  also 
nur  auf  Zeitverschwendung  hinauslaufen.  Ja  —  wer  sich  so  wenig 
für  das  zukünftige  Wol  der  ihm  anvertrauten  Jugend  erwärmen 


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-    148  — 

kann,  dass  er  mit  seinen  Worten  keinen  Eindruck  zu  machen  glaubt, 
der  liefert  eigentlich  auch  schon  den  Beweis,  dass  er  seinen  Beruf  ver- 
fehlt hat.  Ohne  Zweifel  thut  den  Zöglingen  vor  ihrer  Ent- 
lassung aus  der  Schule  eine  möglichst  eingehende  Aufklärung 
über  die  bei  der  Wahl  des  Berufes  maligebenden  Grundsätze 
noth.  Gelegenheit  dazu  wird  sich  bei  Behandlung  der  verschiedenen 
Unterrichtsfacher,  namentlich  aber  bei  Schulfestlichkeiten.  Entlas- 
sungen etc.  oft  und  ungezwungen  finden.   Man  wolle  sie  nur  benutzen! 

Es  folgt  die  Besprechung  des  zweiten  Punktes,  der  zweiten  Be- 
dingung, die  überaus  wichtig,  ja  unerlässlich  für  die  spätere  Berufs- 
freudigkeit erscheint;  das  ist  die  würdige  und  zweckmäßige  Vorbe- 
reitung für  den  Lehrberuf.  Sprechen  wir  zuerst  von  der  Vorbildung 
der  später  an  höheren  Lehranstalten  wirkenden  Lehrer.  Die  eigent- 
liche Stätte  ihrer  Vorbildung  ist  also  die  „Universität4.  Schon  vor 
Jahren  habe  ich  in  einem  Artikel  dieser  Zeitschrift  „Ein  offenes  Wort- 
auf  die  Unzweckmäßigkeit  der  akademischen  Einrichtungen,  auf  die 
Verderblichkeit  und  den  Missbrauch  der  sogenannten  „akademischen 
Freiheit"  hingewiesen;  mag  das  hie  und  da  Anstoß  erregt  haben,  oder 
mag  man  mit  vornehmer  Geringschätzung  darüber  hinweggegangen  sein 
—  ich  kann  nicht  helfen,  noch  einmal  muss  ich  meiner  Überzeugung  Aus- 
druck geben,  wobei  ich  schlechterdings  nur  das  Heil  der  studirenden 
Jugend,  nicht  aber  die  Fehde  gegen  die  Träger  der  heute  noch  auf 
den  Universitäten  herrschenden  Richtung  im  Auge  habe!  

Schon  von  den  Gymnasien  bringen  die  meisten  jungen  Leute,  die 
sich  dem  Schulfach  widmen  wollen,  —  denn  wir  sprechen  hier  nur 
von  diesen,  —  einen  gewissen  wissenschaftlichen  Dünkel  mit  und  eine 
im  ganzen  unreife  und  verkehrte  Lebensauffassung.  Sie  haben  auf 
dem  Gymnasium  Homer,  Sophokles,  Horaz  etc.  gelesen  und  haben  aus 
diesen  Schriftstellern,  deren  Lecture  für  die  unreife  Jugend,  die  noch 
keine  Lebenserfahrung  hat,  entschieden  gefährlich  ist,  neben  vielem 
Schönen  und  Guten  eine  falsche  Lebensweisheit  geschöpft.  Nur  zwei 
Punkte  seien  aus  dieser  falschen  Vorstellungsweise  hervorgehoben: 
einerseits  halten  sich  diese  jungen  Studenten  für  etwas  Bevorzugtes 
anderen  gegenüber,  die  nicht  denselben  Bildungsgang  durchgemacht,  und 
andrerseits  leben  sie  unter  dem  irrthümlichen  Eindruck,  als  ob  der 
Zweck  des  Lebens  nur  —  gegenüber  den  gröberen  sinnlichen  Ge- 
nüssen der  niederen  Stände  —  ein  verfeinerter  geistiger  Genuss  wäre; 
demgemäß  sind  sie  auch  in  dem  für  die  später  von  ihnen  zu  erziehende 
Jugend  sehr  gefährlichen  Irrthum  befangen,  dass  das  von  ihnen  an- 
gestrebte Amt  nur  dazu  bestimmt  sei,  ihnen  selbst  Wolstand,  Genuss 


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—    149  - 


und  Ehre  zu  bringen,  während  sie  noch  keine  Ahnung  davon  haben, 
dass  ihre  zukünftige  Thätigkeit  im  Schulamte  der  Jugend  Nutzen  und 
Segen  schaffen  soll,  dass  es  später  die  Hauptsache  ist,  in  uneigen- 
nütziger Thätigkeit  Glück  zu  verbreiten  und  hierin  seine  ganze  innere 
Befriedigung  zu  suchen.  Dieser  Geist,  den  die  jungen  Leute  aus  dem 
Gymnasium  mitbringen,  findet  nunmehr  in  dem  akademischen  Leben 
und  Treiben  mannigfache  Nahrung.  Die  wissenschaftlichen  Studien 
werden  —  wenn  sie  überhaupt  in  den  ersten  Semestern  betrieben 
werden  —  in  einem  vollständig  über  das  Niveau  und  Bedürfnis  der  all- 
gemeinen Bildung,  die  doch  die  Schule  vermitteln  soll,  hinaus- 
gehender Weise  fortgesetzt,  Jeder  Studirende  wählt  sich  zwei  oder 
drei  Fächer,  in  die  er  sich  möglichst  vertieft,  während  er  in  anderen 
Unterrichtsgegenständen  selbst  die  Anforderungen  der  allgemeinen 
Büdung  vernachlässigt..  Im  übrigen  aber  wird  nunmehr  die  aus  dem 
Horaz  etc.  gewonnene  Theorie  des  Lebensgenusses  in  allen  möglichen 
Variationen  ins  Praktische  übersetzt.  Nun  heißt  es:  Nunc  est  biben- 
dnm,  nunc  pede  libero  pulsanda  tellus;  —  oder:  „dulce  est  desipere 
in  loco"  u.  s.  w.  —  Beide  Richtungen  des  akademischen  Lebens  sind 
offenbar  gleich  falsch  und  verderblich.  Die  Vertiefung  in  die  Fach- 
studien hat  zur  Folge,  dass  die  betreffenden  Studirenden  später  außer 
Stande  sind,  allgemein  bildend  auf  ihre  Zöglinge  zu  wirken;  in 
der  Neigung,  ihre  erworbenen  Kenntnisse  an  den  Mann  zu  bringen, 
gehen  sie  über  die  Grenze  der  zur  allgemeinen  Bildung  gehörenden 
Anforderungen  zum  Schaden  ihrer  Schüler  entweder  hinaus,  oder  sie 
ftiblen  sich  unbefriedigt,  dass  sie  dies  nicht  dürfen,  und  unterrichten 
nur  mit  halbem  oder  völlig  mangelndem  Interesse.  Beides  ist  gleich 
schlimm  für  die  zu  erziehende  Jugend.  —  Durch  nichts  zu  recht- 
fertigen ist  aber  das  Körper  und  Geist  verwüstende  -Kneipenleben" 
der  jungen  Männer,  die  dereinst  die  Träger  der  Volksbildung  und  der 
Volkswolfahrt  sein  sollen!  Mag  mit  der  Beobachtung  des  studentischen 
Comment,  mit  den  humoristischen  r  Bierorden"  und  Debatten  immerhin 
eine  gewisse  -Schulung  des  Geistes"  verbunden  sein,  die  geistige 
Richtung  kann  dadurch  wahrlich  nicht  in  die  rechten,  heilsamen 
Bahnen  gelenkt,  sondern  nur  abgelenkt  werden  von  allem  Guten  und 
Edeln.  —  Die  geistige  Frucht,  die  ans  solchem  Leben  erwächst,  ist 
einerseits  r  geistiger  Hochmuth",  andrerseits  eine  gewisse  traurige 
-Blasirtheit"  und  Genusssucht,  die  oft  genug  die  später  zu  über- 
nehmenden ernsten  Berufspflichten  als  eine  unliebsame  Last  empfinden 
tet.  In  den  schönen  Jahren,  in  denen  die  noch  nicht  zu  voller  Kraft 
nnd  Harmonie  entwickelten  Körper-  und  Seelenkräfte  noch  der  sorg- 


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samsteu  Pflege  und  Ausbildung  bedürfen,  werden  diese  von  Gott  dem 
Menschen  zu  seiner  Beglückung  verliehenen  Kräfte  zum  großen  Theil 
in  einer  wahrhaft  frevelhaften  Weise  geschwächt  und  vergeudet.  Wie 
aber  ist  diesem  alt  eingebürgerten  Treiben  Einhalt  zu  thun  oder  vor- 
zubeugen? Durch  Verbot  oder  äußeren  Zwang  meine  ich  nicht.  Nein  — 
vielmehr  ist  die  heilende  Wurzel  in  die  Gymnasien  zu  verlegen.  Diese 
sollten  es  sich  zur  Aufgabe  machen,  die  zur  Universität  abgehenden 
Jünglinge  so  vorzubereiten,  dass  sie  nicht  nur  einen  klaren  Einblick 
in  die  Gefahren  des  heutigen  Studentenlebens  und  in  die  allein  richtige 
und  heilsame  Verwertung  der  schönen  Studienjahre  zur  Universität 
mitbringen,  sondern  dass  sie  sogar  mit  Abscheu  vor  solch  schalem, 
frevelhaftem  Treiben  erfüllt  werden!  Durch  derartige  ernste,  wieder- 
holte und  nachdrückliche  Belehrungen  der  Primaner  würde  wahrlich 
mehr  Heil  verbreitet  werden,  als  durch  die  geistvollsten  Erklärungen 
„interessanter"  Stellen  aus  den  Classikern  u.  s.  w.!  Durch  solche 
Episoden  dürfte  so  manches  Jünglings  Lebensglück  begründet  oder 
gerettet  werden,  wählend  jene  „gelehrten  Kenntnisse"  den  Schülern 
nur  einen  flüchtigen  Genuss  gewähren,  ihren  geistigen  Dünkel  ver- 
mehren, im  günstigsten  Falle  wol  auch  ein  wenig  zur  Schärfung  des 
Verstandes  beitragen.  Doch  —  ich  will  mich  begnügen,  noch  einmal 
auf  diesen  „Krebsschaden"  des  Universitätslebens  in  der  Hoffnung  hin- 
gewiesen zu  haben,  dadurch  gewichtigeren  Stimmen  Anregung  gegeben 
zu  haben,  sich  gegen  diesen  alten  verderblichen  „Zopf"  zu  erheben!  — 
Und  wenn  an  die  Stelle  der  gelehrten  fachwissenschaftlichen  Vorträge 
Vorträge  treten  würden,  welche  den  späteren  Volksbildnern  volles 
Verständnis  für  ihren  schönen  Beruf,  Lust  und  Liebe  zu  dem- 
selben zu  vermitteln  geeignet  wären,  sollte  das  auf  ihre  zukünftige 
Berufsfreudigkeit  und  erfolgreiche  Wirksamkeit  nicht  von  bei  weitem 
günstigerem  Einfluss  sein?!  —  Ohne  Zweifel.  Recht  eingehende,  warm 
gehaltene  ethische,  philosophische  und  pädagogische  Vorlesungen  dürften 
zweckmäßig  den  Kern  der  akademischen  Studien  bilden.  Vorlesungen 
über  Philosophie,  Logik.  Psychologie,  Ethik,  Gesundheitslehre,  Päda- 
gogik, Unterrichts-  und  Erziehungslehre,  Geschichte  der  Erziehung 
und  des  Unterrichts  u.  a.  sollten  in  den  Vordergrund  treten  und  nicht 
wie  bisher  als  Nebensache  behandelt  werden.  Dagegen  könnten  eine 
Menge  fachwissenschaftlicher  Vorlesungen  fallen  oder  doch  ohne  Nachtheil 
erheblich  beschränkt  werden;  denn  der  Vortheil  dieser  Vorlesungen 
ist  doch  nur  eine  dürre  Frucht,  die  kein  lebensfähiges  Samenkorn 
enthält.  Von  großer  Wichtigkeit  aber  wäre  es,  wenn  das  kaiserliche 
Wort:  „Ein  jeder  Lehrer  soll  turnen  und  täglich  turnen"  auch  auf 


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--  löl  - 


die  Universitäten  Anwendnng  fände!  Wenn  jede  Universität  einen 
Tarnplatz  nebst  Turnhalle  hätte,  wenn  akademische  Turnlehrer  ange- 
stellt wären,  wenn  täglich  eine  Stunde  für  die  zukünftigen  Schulmänner 
angesetzt  würde,  in  der  sie  ihre  Körperkräfte  und  somit  auch  ihr  gei- 
stiges Leben  kräftigen  könnten,  statt  in  burschikosen  Vergnügungen 
Körper  und  Geist  zu  schwächen  und  zu  zerrütten,  oh,  welch  ein  großer 
Gewinn  wäre  das!  —  Nicht  nur,  dass  die  dadurch  gewonnene  leibliche 
und  geistige  Kraft  den  einzelnen  Studirenden  und  später  deren  Zög- 
lingen zu  gute  kommt,  nein,  es  hat  dies  auch  eine  praktische  Seite. 
Es  würde  dann  jeder  Lehrer  dereinst  befähigt  sein,  ohne  weiteres 
den  Turn-Unterricht  seiner  Classe  zu  übernehmen.  Wir  würden  dann 
allmählich  dahin  kommen,  dass  jede  Schulclasse  täglich  eine  Stunde 
den  Leibesübungen  widmen  könnte  —  und  wer  wollte  leugnen,  dass 
dies  überaus  wünschenswert  wäre?!  — 

So  viel  einstweilen  über  die  Universitäten,  als  Vorbereitungs- 
anstalten  für  das  höhere  Lehrfach.  Auf  die  Vorbereitungsantalten  für 
das  niedere  Lehrfach  komme  ich  wol  später  noch  einmal  zurück;  hier 
an  dieser  Stelle  habe  ich  nur  zu  bemerken,  dass  die  Vorbereitung  in 
den  Lehrerseminaren  offenbar  insofern  sich  vortheilhaft  von  dem 
Universitätsleben  abhebt,  als  die  Jünglinge  dort  ihre  Körper-  und 
Geisteskräfte  täglich  in  tüchtiger  Arbeit  üben  und  stärken,  und  als 
dort  mehr  für  allgemeine  Bildung,  namentlich  für  die  pädagogische  und 
turnerische  Ausbildung  geschieht. 

Im  allgemeinen  möchte  ich  als  Schlussstein  der  Besprechung  des 
zweiten  Punktes  nur  die  Behauptung  aufstellen,  dass  die  Berufsfreudig- 
keit und  somit  die  innere  Befriedigung  in  Erfüllung  der  Berufspflichten 
außerordentlich  abhängig  ist  von  der  Art  und  Weise  der  Vorbereitung 
auf  den  Beruf,  gleichviel  ob  die  im  Obigen  angedeuteten  Änderungs- 
vorschläge für  zweckmäßig  erachtet  werden,  oder  ob  andere,  und  viel- 
leicht bessere  in  Vorschlag  gebracht  werden  sollten. 

Als  dritte  Bedingung  stellten  wir  eine  sorgenfreie  Lebenslage  der 
Lehrer  hin.  —  Dass  eine  auskömmliche,  sorgenfreie  Existenz  zur  Be- 
lebung und  Erhaltung  der  Arbeitslust  und  Berufsfreudigkeit  im  all- 
gemeinen viel  beiträgt,  ganz  besonders  aber  dem  Lehrstande  not- 
wendig ist,  weil  eben  eine  mit  Nahrungssorgen  verknüpfte  Stellung 
allmählich  müde  und  verdrossen,  ja  endlich  „unfähig"  zur  Arbeit 
macht,  das  ist  ja  so  selbstverständlich,  dass  es  keiner  weiteren  Erörterung 
bedarf.  Es  fragt  sich  nun,  wo  der  Grund  der  traurigen  Thatsache 
zu  suchen  ist,  dass  eine  Menge  von  Lehrern  an  höheren  und  niederen 
Schulen  der  wünschenswerten  Sorgenfreiheit  entbehren  und  mehr  oder 


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weniger  darauf  angewiesen  sind,  sich  noch  neben  ihrem  Amte  Ein- 
nahmen zu  verschalten.  —  Nun  —  die  Antwort  ist  höchst  einfach: 
Theils  sind  die  Gehälter  der  Lehrer  in  der  That  zu  knapp  bemessen, 
so  dass  die  Einnahmen  auch  bei  den  bescheidensten  Ansprachen  nicht 
zur  Unterhaltung  einer  Familie  ausreichen,  theils  aber  sind  es  auch 
die  zu  hoch  geschraubten  Ansprüche  an  den  sogenannten  „ Lebens- 
genußu,  welche  selbst  ein  bei  vernünftigen  Ansprüchen  auskömmliches 
Gehalt  als  nicht  hinreichend  erscheinen  lassen.  Solch  abnorme  Fälle, 
wo  die  Schuld  an  lasterhaften  Gewohnheiten  oder  an  einer  absolut 
unglücklichen  Wahl  der  Lebensgefährtin  liegt,  wollen  wir  nicht  weiter 
berühren.  Die  erste  Voraussetzung  trifft  leider  noch  auf  einen  großen 
Theil  der  Volksschullehrer,  besonders  in  den  Städten,  zu,  deren  Ge- 
hälter schlechterdings  nicht  so  hoch  bemessen  sind,  dass  sie  „ohne 
Nebeneinnahmen"  ihre  Familien  „anständig"  ernähren  können.  Die 
zweite  Voraussetzung  passt  auf  eine  Menge  der  Lehrer  an  höheren 
Lehranstalten,  deren  Gehalt  ja  an  und  für  sich  recht  auskömmlich 
sein  könnte,  wenn  es  eben  die  heutige  Zeit  nicht  mit  sich  brächte, 
dass  höhere  Ansprüche  an  den  „Lebensgennss*  gestellt  werden,  als 
nothwendig,  ja  heilsam  sind.  Die  geselligen  Umgangsformen,  denen 
mau  sich  nur  auf  die  Gefahr  hin,  als  Sonderling  zu  erscheinen,  ent- 
ziehen kann,  erfordern  heutzutage  einen  Aufwand  von  Zeit  und  Mitteln, 
der  in  keinem  Verhältnisse  zu  dem  geistigen  Gewinn  steht,  den  man 
davonträgt,  wenn  überhaupt  von  einem  Gewinn  dabei  die  Rede  sein 
kann  und  nicht  vielmehr  von  einem  geistigen  „Verlust".  Denn  geist- 
und  gemüthanregend  pflegen  die  heutigen  geselligen  Zusammenkünfte 
nicht  zu  sein;  zum  höchsten  gewähren  sie  den  Betheiligten  durch  den 
sie  belebenden  humorvollen  Witz  eine  angenehme  Zerstreuung,  die  aber 
von  höchst  zweifelhaftem  moralischen  Werte  ist.  In  erster  Linie 
müsste  demnach  als  wünschenswert  bezeichnet  werden,  dass  die  Volks- 
schullehrer so  gestellt  würden,  dass  sie  bei  vernünftiger  Lebensweise 
nicht  nöthig  hätten,  sich  Nebeneinnahmen  zu  schaffen,  sondern  von 
ihrem  Einkommen  sich  mit  ihrer  Familie  anständig  zu  unterhalten  im 
Stande  wären.  Die  lediglich  auf  den  Erwerb  zielenden  Nebenbeschäf- 
tigungen nehmen  einen  großen  Theil  der  Kraft  und  des  Interesses  in 
Anspruch,  der  voll  und  ganz  dem  Berufe  gewidmet  sein  sollte;  sie 
beeinträchtigen  demnach  die  rBenifsfreudigkeit"  des  Lehrers  zum 
Schaden  seiner  Zöglinge  erheblich;  es  leidet  die  Jugend,  wenn  der 
Lehrer  nicht  auskömmlich  gestellt  ist.  In  dankenswerter  Weise  ist  ja 
nun  auch  an  maßgebender  Stelle  eine  entsprechende  Aufbesserung  der 
Lehrer-Gehälter  ins  Auge  gefasst  worden.   Möchte  die  Maßregel  keine 


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halbe  bleiben!  —  Um  aber  mit  dem  Gehalte  auskommen  zu  können, 
dazu  bedarf  es  einer  verständigen  Einrichtung,  und  diese  hängt  oft 
mehr  von  der  Frau  als  vom  Manne  ab.  Auf  eine  glückliche  Wahl 
der  Lebensgefahrtin  wird  also  viel  ankommen.  Die  Frau  des  Lehrers 
wird  nicht  nur  praktisch  und  tüchtig,  sondern  auch  an  Geist  und  Ge- 
müth  so  weit  gebildet  sein  müssen,  dass  sie  ein  klares  Verständnis  und 
ein  warmes  Interesse  für  die  Bestrebungen  ihres  Mannes  hat,  dass  sie 
ihm  nicht  als  hemmende  Last  das  Leben  erschwert  und  verbittert,  sondern 
dass  sie  ihm  in  seinem  schweren  Beruf  tröstend,  erheiternd  und  fördernd 
zur  Seite  steht.  Vorsicht  bei  der  Wahl  der  Lebensgefährtin  ist  daher  nicht 
nur  in  seinem  eigenen,  sondern  auch  besonders  im  Interesse  der  Jugend 
des  Lehrers  „heilige  Pflicht".  „Drum  prüfe,  wer  sich  ewig  bindet!"  —  — 

Indes,  was  hilft  es,  wenn  alle  jene  Bedingungen  erfüllt  sind,  wenn 
jemand  aus  wahrer  Neigung  Pädagoge  geworden,  wenn  er  tüchtig 
vorbereitet,  mit  Lust  und  Liebe  in  seinen  Beruf  eintritt,  wenn  seine 
materiellen  und  häuslichen  Verhältnisse  befriedigende,  ja  beglückende 
sind,  was  hilft  ihm  dies  alles,  wenn  er  durch  die  Maßnahmen  und 
Vorschriften  der  vorgesetzten  Behörden  in  seiner  freien  Thätigkeit 
gehemmt  und  in  Bahnen  gezwängt  wird,  die  seiner  individuellen  Rich- 
tuog  nicht  entsprechen?  —  Sehr  wol  fühle  ich,  dass  ich  hier  einen 
heiklen  Punkt  berühre,  dessen  offene  Besprechung  hie  und  da  An- 
stoß erregen,  wol  auch  gar  zu  Missdeutungen  Anlass  geben  könnte; 
indes  darf  mich  dieses  Gefühl  im  Hinblick  auf  das  Interesse  von  Tau- 
senden meiner  Collegen  nicht  abhalten,  aus  meiner  Erfahrung  heraus 
maßvoll  der  Wahrheit  die  Ehre  zu  geben. 

Zunächst  wird  niemand  die  Wahrheit  der  Behauptung  bestreiten 
können,  dass  es  Pflicht  und  Aufgabe  der  Schulbehörden,  sowol  der 
Patronats-  als  der  Aufsichtsbehörden  ist,  die  Thätigkeit  der  einzelnen 
Schulen  und  ihrer  Lehrer  zu  unterstützen  und  zu  „fördern".  Diese 
Förderung  kann  aber  nur  auf  dem  Wege  „wolwollenden"  Entgegen- 
kommens erreicht  werden!  Mögen  die  vorgesetzten  Behörden  mit 
Festigkeit  thörichte  Einrichtungen  beseitigen,  mögen  sie  Verirrungen 
und  Pflichtverletzungen  mit  Ernst  entgegentreten;  aber  sie  sollen  nicht 
nur  die  Herren  spielen,  nur  von  oben  herab  ohne  Rücksicht  auf  die 
Ansicht  und  Eigenthümliclikeit  der  Lehrer  herrschen  und  „befehlen" 
wollen.  Was  wird  denn  dadurch  gewonnen?  Nur  Lehrer,  die  eine 
sclavische  Gesinnung  und  kein  eigenes  Streben  haben,  können  durch 
solch  rücksichtslose  Behandlung  allenfalls  äußerlich  in  der  von  der 
Behörde  vorgeschriebenen  schablonenhaften  Thätigkeit  erhalten  werden, 
—  besser  aber  werden  sie  dadurch  nicht!  —  Edlere  Charaktere 

P«*Ugo&iiiin.    14.  Jahrg.    Heft  III.  12 


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-    154  — 


aber,  Männer,  die  eigenes  Wollen  und  eigenes  Streben  beseelt,  werden 
durch  solche  Behandlung  zunächst  bedrückt,  in  ihrer  freudigen  Thätig- 
keit  gehemmt  und  verlieren  schließlich  vollständig  den  Muth  und  die 
Lust  zu  der  ihnen  sonst  so  lieb  gewesenen  Arbeit!  —  Das  kann  nicht 
gut,  das  kann  nicht  heilsam  sein!  Doch  woran  liegt  es,  dass  der- 
gleichen traurige  Missverhältnisse  in  neuerer  Zeit  ganz  besonders  im 
Volksschulwesen  so  weit  verbreitet  sind?!  —  Der  Grund  kann  nur 
darin  liegen,  dass  die  Männer,  die  zur  Schulaufsicht  berufen  werden, 
aus  Schulen  hervorgegangen  sind,  deren  Thätigkeit  es  mehr  auf  die 
wissenschaftliche,  als  auf  die  moralische  Bildung  absieht,  und  — 
das  sind  unsere  „höheren  Schulen",  in  denen  heute  die  gemüthliche 
Seite  der  Bildung  immer  weniger  und  weniger  angeschlagen  wird. 
Alle  Achtung  vor  den  wissenschaftlichen  Leistungen  unserer  Gymnasien! 
Aber  —  mögen  sie  nur  zusehen,  dass  ihre  Zöglinge  „des  Wissens 
Schatz  nicht  mit  dem  Herzen  zahlen!"  —  Wieviel  Unheil  haben  doch 
schon  auf  Erden  sogenannte  „classische"  Worte  angerichtet,  die  von 
der  Jugend  als  Aussprüche  großer  Geister  mit  Begeisterung  als  die 
größte  Lebensweisheit  aufgefasst  werden,  während  sie  bei  Licht  be- 
sehen nicht  den  geringsten  moralischen  Wert  haben.  Beispielsweise 
will  ich  nur  das  Goethe'sche  Wort  anführen,  welches  jener  große 
Meister  vielleicht  einmal  bei  Gelegenheit  in  Weinseligkeit  hingeworfen! 
„Nur  die  Lumpe  sind  bescheiden!"  Welch  eine  Summe  von  Rücksichts- 
losigkeiten, ünbescheidenheit,  ja  Frechheit  mag  wol  in  der  Neuzeit 
ohne  dass  wir  es  ahnen,  die  Folge  dieses  Ausspruches  sein!  Für  über- 
aus unheilvoll  darf  man  ferner  mit  Recht  den  Ausspruch  des  Horaz 
halten ,  der  ja  eine  große  Macht  über  die  jugendlichen  Gemttther  er- 
rungen und  mit  Vorliebe  citirt  wird:  „Odi  profanum  vulgus  et  arceo." 
Man  stellt  wol  keine  zu  kühne  Behauptung  auf,  wenn  man  der  Wir- 
kung dieses  missverstandenen  Wortes  auf  die  Schuljugend  zum  großen 
Theil  jenen  heute  grassirenden  „geistigen  Aristokratismus"  zuschreibt, 
der  geradezu  mit  den  christlichen  Lehren!  allgemeiner  Menschenliebe 
in  Widerspruch  steht!  —  Mit  welchem  Recht  darf  sich  ein  Mensch, 
dem  Gott  die  Gnade  erwiesen  hat,  einen  Vater  zu  haben,  der  ihn  das 
Gymnasium  durchmachen  ließ,  wo  er  Griechisch  und  Lateinisch  lernte, 
über  einen  andern  überheben,  dem  es  nicht  so  gut  im  Leben  ge- 
worden, der  sich  aber  vielleicht  durch  eigene  Kraft  und  eigenes 
Verdienst  zu  ehrenvoller  Stellung  emporgerungen?!  Mit  welchem  Recht 
darf  einer,  der  Griechisch  und  Lateinisch  weiß,  sich  für  besser  halten 
oder  verächtlich  auf  andere  herabsehen,  die  jene  Sprachen  zwar  nicht 
gelernt  haben,  aber  vielleicht  viel  nützlichere  Dinge?!  Und  wo  liegt 


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—    155  — 

die  Berechtigung  für  einen  Menschen,  sich  für  allein  weise,  ja  für 
„unfehlbar"  zu  halten  und  von  allen  ihm  „Unterstellten"  verlangen 
zu  dürfen,  dass  sie  unbedingt  und  urtheilslos  seiner  Vorschrift  folgen 
sollen?!  Wie  darf  ein  Mensch  andere  selbstdenkende  Menschen  „un- 
mündig* machen?!  In  neuerer  Zeit  ist  ja  nun  für  das  Volksschulwesen 
viel  gethan  worden.  So  ist  namentlich  das  Aufsichtspersonal  bedeutend 
vermehrt  worden,  indem  nicht  nur  das  Amt  der  Kreisschulinspectoren 
vollständig  abgezweigt  ist  von  anderen  Ämtern,  sondern  auch  die  Zahl 
derselben  fast  um  das  Doppelte  vermehrt  worden  ist.  Zum  großen 
Theil  sind  aber  diese  Herren  dem  jüngeren  Lehrerkreise  der  höheren 
Schulen  entnommen;  es  sind  demnach  Männer,  welchen  der  Wirkungs- 
kreis, in  den  sie  nun  aufsichtführend,  also  „anordnend  und  fördernd*4 

eintreten  sollen,  bisher  ganz  fremd  gewesen  ist!  Es  fragt  sich 

doch  sehr,  ob  Männer,  die  vordem  nur  wissenschaftlichen  Unterricht 
in  einzelnen  Fächern  ertheilt,  sich  auch  so  bald  in  das  umfangreiche 
Material  des  Volksschulwesens  hineinarbeiten  werden,  dass  sie  sich 
darin  völlig  zu  Hause  fühlen,  zumal  den  meisten  von  ihnen  diese  neue 
Beschäftigung  im  Gegensatz  zu  der  früheren  wenig  sympathisch  sein 
dürfte!  Indes  —  das  ginge  noch;  bei  der  nöthigen  Intelligenz  und 
Energie  —  denn  nur  Männer  von  solchen  Eigenschaften  werden  ja 
gewählt  —  werden  sich  die  meisten  wol  über  kurz  oder  lang  hinein- 
finden.  Doch  ein  anderer  Gesichtspunkt  ist  es,  der  hierbei  weit  be- 
denklicher erscheint.  Es  bringen  nämlich  diese  Herren,  was  ihnen  ja 
nicht  zum  Vorwurf  gemacht  werden  kann ,  jenen  oben  erwähnten 
aristokratischen  Geist  mit  in  ihr  neues  Amt,  jene  Auffassung,  als  ob  sie 
etwas  Besseres,  etwas  Nobleres  wären,  als  die  Männer,  mit  denen  sie 
nunmehr  in  amtlichen  Verkehr  zu  treten  haben.  Was  sie  aber  nicht 
mitbringen,  das  ist  Wol  wollen  und  Herz  für  die  nunmehr  ihrer  Auf- 
sicht anvertrauten  Seelen,  junge  und  alte!  —  So  ist  es  denn  natur- 
gemäß und  nicht  zu  verwundern,  dass  die  aus  solchen  dem  Volksschul- 
wesen fernstehenden  Kreisen  gewählten  Kreisschulinspectoren  ihren 
vorläufigen  Mangel  an  Fachkenntnis  unter  einer  gewissen  „Zugeknöpft- 
heit" und  Schneidigkeit  zu  verbergen  genöthigt  sind;  denn  „imponiren" 
sollen  und  müssen  sie  doch  ihren  Lehrern.  Ob  sie  aber  dadurch  dem 
vernünftigen  Theil  der  Lehrerwelt  in  Wahrheit  imponiren??  —  Mit 
dem  Grundsatz:  „Oderint,  dum  metuant"  dürfte  man  doch  heute  nicht 
weit  kommen,  zumal  im  Schulwesen,  wo  der  Geist  der  Liebe  herrschen 
soll!  Ein  Beispiel  fürs  allgemeine:  Ein  jüngerer  Lehrer  kommt  vom 
8eminar  und  tritt  mit  freudigem  Eifer  seine  erste  Lehrerstelle  an.  Er 
arbeitet  mit  jugendlicher  Frische  und  vollem  Herzen;  in  freudiger 

12* 


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—    156  — 


Erwartung  sieht  er  der  ersten  Schulrevision  entgegen  in  dem  Bewusst- 
sein,  nach  besten  Kräften  im  Interesse  der  Jugend  gearbeitet  zu  haben. 
—  Der  Tag  erscheint  und  mit  ihm  der  Revisor,  ein  junger,  stattlicher 
Herr.  Nach  kurzer  Begrüßung  eilt  der  Revisor  in  das  Olassenzimmer 
und  nimmt  in  vornehmem  Schweigen  verharrend  sehr  eingehend  die 
Revision  ab.  Nach  Beendigung  derselben  hält  er  strenge  Kritik  ab, 
tadelt  dieses  und  jenes,  verlangt  hie  und  da  eine  Änderung  und  em- 
pfiehlt sich,  die  Erwartung  aussprechend,  bei  der  nächsten  Revision 
bessere  Resultate  zu  finden.  —  Enttäuscht  und  —  verstimmt  lässt  er 
den  Lehrer  zurück.  Wie  ganz  anders  hatte  sich  dieser  die  Revision 
gedacht!  Er  hatte  gehon%  in  dem  Revisor  einen  wolwollenden,  freundlichen 
Herrn  zu  finden,  der  auch  einige  Worte  maßvoller  Anerkennung  haben 
werde  für  das,  was  er  Gutes  geleistet,  der  ihn  da,  wo  er  gefehlt,  mit 
freundlichem  Geist  zurechthelfen ,  ihm  guten  Rath  und  praktische 
Fingerzeige  an  die  Hand  geben  werde.  Auch  hatte  er  vielleicht  im 
stillen  gehofft,  dass  der  Herr  sich  auch  ein  wenig  theilnehmend  um 
seine  persönlichen  Verhältnisse  kümmern  werde.  Und  nun?  —  Das 
vornehme,  zugeknöpfte  Wesen  des  Revisors  hat  ihn  verletzt;  die 
Wahmehmung,  dass  unbegründeter  Tadel  ausgesprochen  worden  ist, 
dass  Dinge  bemängelt  worden  sind,  welche  er  im  Seminar  gerade  als 
gut  und  praktisch  hat  preisen  hören,  nimmt  ihm  das  Vertrauen 
zu  seinem  Vorgesetzten  oder  auch,  was  noch  schlimmer  ist,  zu  sicli 
selbst.  Kurz  —  statt  sich  durch  die  Revision  —  wie  es  ja  sein  sollte  — 
angeregt  und  zu  neuer  Arbeit  erfrischt  zu  fühlen,  fühlt  er  sich  ge- 
drückt und  missmuthig.  Der  erste  Tropfen  „Wermuth"  ist  in  sein  amt- 
liches Leben  gefallen.  Fallen  der  Tropfen  mehr,  so  ist?s  wol  bald  um 
seine  schöne,  ihm  von  Gott  gegebene  Freudigkeit  geschehen;  dann 
wird  aus  dem  freudig  arbeitenden  und  strebsamen  Lehrer  ein  „miss- 
vergnügter", seine  Pflicht  nur  mit  Widerwillen  erfül lender  Lehrer.  — 
Von  Riteren,  pflichttreuen  Lehrern,  zumal  solchen,  die  studirt  haben 
und  etwa  zur  Leitung  von  Töchterschulen  berufen  sind,  die  aber 
einer  ähnlichen  Behandlung  ausgesetzt  sind,  —  da  ja  nach  neueren 
gesetzlichen  Bestimmungen  auch  die  höheren  Mädchenschulen  der 
jährlichen  Revision  durch  die  Kreisschulinspectoren  unterliegen,  — 

will  ich  gar  nicht  reden!  Wehe,  wehe,  wenn  ein  Lehrer  erst 

unterrichtet  mit  der  ,.geballten  Faust"  in  der  Tasche!  Warum,  wes- 
halb? —  Könnte  es  wirklich  nicht  anders  sein?!  Gewiss  —  es 
könnte!  —  Sollte  wirklich  eine  derartige  Vermehrung  der  Schul- 
aufsichtsbehörden und  eine  ähnliche  Art  und  Weise  der  Aulsichts- 
führung,  wie  die  erwähnte,  nothwendig  sein?  0,  das  wäre  ein  trauriges 


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—    157  — 


Zeichen  der  Zeit  und  eben  kein  Compliment  für  den  Lehrerstand.  Männer, 
die  dereinst  berufen  sind,  die  Jugend  zu  erziehen  und  derselben  in  ihrer 
ganzen  Lebensführung  als  Muster  zu  gelten,  sollten  und  dürften  nicht 
wie  r Unmündige*  behandelt  werden,  denen  beständig  auf  die  Finger 
gesehen  werden  muss.  Ist  das  bei  dem  einen  oder  andern  wirklieh 
nöthig,  so  sollte  er  auch  nicht  „Lehrer"  sein,  so  hat  es  an  der  rich- 
tigen Erziehung  oder  Vorbereitung  gefehlt.  —  Ceterum  censeo:  die 
Yorbereitungsanstalten,  die  Schulen,  die  Seminare  und  Universitäten 
könnten  ohne  Schaden  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  manche  Forde- 
rung fallen  lassen,  sollten  aber  mehr  auf  die  allgemein  menschliche, 
moralische  und  Gemüthsbildung  hinwirken!  Wenn  aus  den  Seminaren 
junge  Lehrer  hervorgehen,  die  Verständnis  für  das  Erziehungswesen, 
Eifer,  Lust,  Liebe  und  wahre  Freudigkeit  für  ihren  Beruf  mit- 
bringen, die  nicht  zu  knechtischer  Gesinnung,  sondern  zu  einer  edlen 
Selbstständigkeit  erzogen  sind,  dann,  —  ja  dann  wäre  das  jetzige 
—  polizeiliche  —  Aufsichtssystem  überflüssig,  dann  würde  ein  frischerer, 
freierer,  neuer  Geist  in  die  Lehrerwelt  kommen,  und  —  der  Staat 
könnte  viel  Geld  am  Aufsichtspersonal  ersparen! 

Viel  könnte  noch  gesagt  werden  über  Dinge,  Verhältnisse  und 
Einrichtungen,  die  namentlich  den  Leitern  von  Communal-Schulen  das 
Leben  zu  erschweren,  die  amtliche  Thätigkeit  zu  verleiden  und  die 
T Berufsfreudigkeit"  herabzustimmen  geeignet  sind,  wozu  namentlich 
der  so  überaus  beschwerliche  Verkehr  mit  der  Kgl.  Regierung  durch 
das  Landrathsamt,  den  Kreisschulinspector  und  die  städtische  Schul- 
deputation zu  rechnen  sein  würde;  indes  —  es  mag  genug  sein! 

Zum  Schlüsse  komme  ich  noch  einmal  auf  das  im  Anfang  Gesagte 
zurück:  Der  Lehrer  bedarf  im  Interesse  der  Jugend  mehr  als 
jeder  andere  Stand  der  Berufsfreudigkeit!  Nur  von  diesem  Ge- 
sichtspunkt schrieb  ich,  was  ich  schrieb! 


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Die  Pädagogik  der  Kunst. 

Von  Ott©  Ernnt  Schmidt- Hamburg. 
I. 

r 

er  von  einer  „Pädagogik"  der  Kunst  spricht,  hat  von  vorn- 
herein ein  starkes  Misstrauen  gegen  sich.  Denn  was  könnte  anders 
beabsichtigt  sein,  als  die  Kunst  zur  Schulmeisterin  zu  machen,  zur 
39jährigen  Katheder jungfrau  mit  spitzer,  brillentragender  Nase,  ge- 
drehten Locken  und  weitfaltigem  Gewände,  das  jedes  ungebundene 
Spiel  der  Muskeln,  jeden  unkeuschen  Formenreiz  verhüllt!  Wo  wird 
die  goldene  Freiheit  und  Selbstherrlichkeit  der  Kunst  bleiben?  Zur 
nüchternen  und  strengen  Pedantin  wird  sie  werden,  die  von 
Amts  wegen  zu  lehren  hat,  was  in  den  Büchern  der  anerkannten 
Religionen,  der  attestirten  Wissenschaften  und  der  gangbaren  Moral 
steht.  Mir  ist  ein  solches  Misstrauen  und  Missverständnis  nicht  erspart 
geblieben,  nachdem  ich  einmal  in  meinen  unter  dem  Titel  „Offenes 
Visir!"  erschienenen  „gesammelten  Essays  aus  Literatur,  Pädagogik  und 
öffentlichem  Leben"  auf  die  eminent  pädagogische  Bedeutung  der 
Kunst  hingewiesen  hatte.  Ein  scharfsinniger  und  feinfühliger  Kritiker 
hat  mir  in  der  „Gegenwart"*)  ausfuhrlich  den  Bescheid  gegeben,  ich 
wolle  die  Kunst  so  sehr  mit  rationalen  und  praktischen  Elementen 
bereichern,  dass  sie  in  ein  Verhältnis  strenger  Dienstbarkeit  zu 
Wissenschaft  und  Moral  trete  und  folglich  ihre  Sonderart  aufgeben 
müsse.  Im  folgenden  werde  ich  eingehender  meine  Meinung  ausein- 
ander setzen,  als  ich  in  meinem  Buche  Gelegenheit  dazu  fand,  und  dann 
hoffentlich  wenigstens  eine  Wirkung  erzielen,  entweder  die,  dass  die 
leuchtende  .Fleckenlosigkeit  meines  ästhetischen  Gewissens,  oder  die, 
dass  meine  ungeheure  Sündenblindheit  erkennbar  wird,  die  in  ihrer 
Hartnäckigkeit  noch  heute  nicht  sieht,  worin  mein  Verbrechen  liegt. 

Ganz  kurz  will  ich  schon  hier  bemerken,  dass  ich  mir  die  päda- 
gogische Wirksamkeit  der  Kunst  wahrhaftig  nicht  auf  die  Schule  und 

*)  Jahrg.  1890,  No.  33  und  34. 


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—    159  — 


das  Eindesalter  beschränkt  denke,  vielmehr  die  Knnst  als  Erzieherin 
aller  Menschen,  in  erster  Linie  der  erwachsenen  und  gereiften,  be- 
trachten will.   Damit  ist  vielleicht  schon  ein  kleiner  Theil  von  Miss- 
Verständnissen  beseitigt.   Aber  ganz  besonders  betonen  will  ich,  dass 
ich  anter  Erziehung  nicht  allein  die  Bildung  des  sittlichen  Menschen 
verstehe.  Die  Auffassung  des  Erziehungsbegriffs  in  diesem  beschränkten 
Sinne  ist  leider  ein  Irrthum  vieler  Laien.*)  Man  denkt  sich  dem  ent- 
sprechend auch,  wenn  man  von  einer  pädagogischen  Kunst  hört,  sofort 
etwa  eine  Literatur  vou  ehrbar  seichten  Gedichtchen  und  Geschienenen 
mit  moralisirender  Tendenz  für  artige  und  ungezogene  Kinder  und 
Erwachsene  und  empfindet  davor  natürlich  ein  sehr  berechtigtes  Grauen. 
Zugegeben  —  was  der  „modernste  Philosoph"  Friedrich  Nietzsche 
und  seine  Anhänger  nicht  zugeben  würden  und  auch  ich  gewiss  nicht 
als  ausgemacht  betrachten  will  —  zugegeben,  dass  es  eine  absolute 
Moral  gebe,  deren  Begriffe  unveränderlich  und  unantastbar  wären,  und 
zugegeben  ferner,  dass  die  sittliche  Büdung  des  Menschen  das  letzte 
und  eigentliche  Ziel  seiner  Erziehung  wäre,  so  bleibt  doch  uner- 
schütterlich bestehen,  dass  die  intellectuelle  und  die  Gefühlsbildung 
des  Menschen  die  unerlässliche  Voraussetzung  seiner  sittlichen  Ver- 
vollkommnung sind.    Es  ist  richtig,  dass  Gefühls-  und  Verstandes- 
büdung  niemals  eine  unbedingt  zuverlässige  Garantie  für  den  sittlichen 
Wert  eines  Menschen  bieten.   Geschichte  und  tägliches  Leben  bieten 
Beispiele  dafür,  dass  bei  hoher  Intelligenz,  bei  tiefer  Religiosität  und 
bei  feinem  ästhetischen  Empfinden  nicht  nur  einzelne  unsittliche  Hand- 
lungen, sondern  durchaus  unentwickelte,  schwache,  ja  missgebildete 
Charaktere  möglich  sind. 

Das  regelmäßige  Erschrecken,  das  gleichsam  rathlose  Staunen 
und  Nichtfassenkönnen,  mit  dem  wir  jene  unharmonischen  Naturen 
betrachten,  die  intelligent,  gefühlvoll  und  dennoch  unsittlich  sind,  sollte 
uns  darüber  belehren,  dass  wir  die  Functionen  des  Willens  in  eine 
zu  enge  causale  Verbindung  mit  dem  Denken  und  Fülüen  gebracht 
haben.  Auch  der  Einwand,  dass  in  jenen  Naturen  Verstand  und 
Gefühl  nur  nicht  gründlich  und  harmonisch  genug  durchgebildet 
seien,  hilft  nicht  über  alles  hinaus;  die  Erfahrung  entkräftet  diesen 
Einwand  nicht  selten.  Goethe  kann  in  dieser  Hinsicht  als  „classisches" 
Beispiel  gelten.  Man  wird  ihm  die  höchste  wissenschaftliche  Durch- 
büdung  des  Geistes  und  die  allerhöchste  Lebendigkeit  und  Beweg- 
lichkeit des  Gefühls  nicht  absprechen,  ihm  aber  doch  selbst  nach 


*)  Leider  auch  vieler  Pädagogen!   D.  R. 


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—    160  — 

seilten  begeistertsten  Biographen  keine  sittliche  Größe  zusprechen  können, 
die  einen  Vergleich  mit  jenen  Momenten  aushielte.  Das  Wort  Jung- 
Stilling's,  dass  Goethe's  Herz  so  groß  gewesen  sei  wie  sein  Verstand, 
vermag  selbst  ein  Lewes  nicht  überzeugend  genug  zu  illustriren.  Es 
scheint,  als  ob  der  Wille  zuweilen  seinen  eigenen  Kopf  hätte.  Mir 
allerdings  scheint  es  nur  so.  Mein  Name  müsste  nicht  Mensch  sein, 
wenn  nicht  mein  gesammter  Seeleninhalt  auf  ein  monistisches  Ziel 
hindrängte  und  nicht  auch  für  sich  selbst  nach  einer  einheitlichen 
Grundlage  suchte.  Unsere  „wissenschaftlichen  Gefühle",  sagt  J.  H. 
v.  Kirchmann  sehr  treffend,  „bestimmen  unwillkürlich  das  Denken,  den 
Monismus  höher  als  den  Dualismus  zu  stellen,  und  dienen  dem  Grund- 
satze zur  Stütze,  wonach  man  die  Principien  nicht  ohne  Noth  ver- 
mehren soll."  Ich  würde  nun  sehr  gern  auseinandersetzen,  wie  ich 
mir  eine  Einheitlichkeit  der  Functionen  des  Denkens,  Wollens  und 
Fühlens  denke  und  wie  ich  zu  der  Ansicht  komme,  dass  jede  För- 
derung des  Menschen  auch  thatsächlich  eine  Förderung  seines  Willens, 
d.  h.  seines  sittlichen  Wertes  bedeutet.  Aber  einesteils  würde  mich 
das  zu  weit  führen,  anderntheils  bin  ich  gewiss,  dass  ich  die  hohe 
pädagogische  Bedeutung  der  Kunst  auch  schon  auf  Grund  der  un- 
verkennbaren Wechselwirkung  zwischen  dem  Willen  einerseits  und 
dem  Denken  und  Fühlen  andererseits  klärlich  erweisen  kann. 

Sokrates  war  es  bekanntlich,  der  da  behauptete,  dass  die  Tugend 
ein  Wissen  sei,  dass  niemand  freiwillig  schlecht  handle,  niemand 
schlecht  handeln  würde,  wenn  er  sein  Bestes  kennte  —  und  alle  Be- 
actionäre  und  Dunkelmänner,  die  mit  Hingebung  und  Liebe  für  eine 
möglichste  Beschränkung  des  Volksschulunterrichts  wirken  und  der 
Überzeugung  leben,  dass  bei  möglichst  mangelhafter  Kenntnis  des 
Alphabets  die  öffentliche  Sittlichkeit  und  der  private  Vortheil  besonders 
vorzüglich  gedeihen:  alle  diese  Leute  könnten  wol  einen  Sokrates  ver- 
giften, aber  nicht  ihn  widerlegen.  Der  Einwurf,  dass  es  sich  bei 
Sokrates  um  ein  Wissen  der  Vernunft,  um  sittliche  Intelligenz  handle, 
verschlägt  nichts.  Denn  den  Inhalt  der  (praktischen)  Vernunft  bilden 
doch  wol  sittliche  Begriffe,  und  wer  will  Begriffe  erfassen  ohne  den 
Verstand?  Sittliche  Begriffe  erkennt  man  nur  mit  ganzer  Schärfe  und 
Deutlichkeit  auf  dem  Wege  der  Selbstbeobachtung,  überhaupt  auf  dem 
Wege  psychologischen  Denkens.  Selbstbeobachtung  wiederum  erfordert 
nicht  nur  die  größte  Schärfe,  sondern  auch  die  straffeste  Energie  der 
Verstandesthätigkeit.  Ich  habe  gefunden,  dass  der  Grad  der  Fähigkeit 
und  Neigung,  sich  selbst  zu  beobachten,  als  Gradmesser  dienen  kann  Ah- 
den gesammten  Wert  eines  Menschen.    Nur  bei  vornehmen  Naturen 


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—    161  — 


findet  man  diese  Beschäftigung  zur  Gewohnheit  ausgebildet,  und 
sicherlich  sind  die  „oberflächlichen"  Naturen*),  die  an  eine  Möglichkeit 
der  Selbstbeobachtung  überhaupt  nicht  denken,  wenn  auch  nicht  die 
verbrecherischsten,  so  doch  die  gemeinsten.  Aus  fortgesetzter  Selbst- 
beobachtung fließt  nothwendig  jenes  sokratische  Wissen  vom  wahren 
Heil  des  Menschen,  jene  Intelligenz,  die  folgerichtig  zur  Tugend  werden 
mass,  weil  ein  derartig  Beobachtender  einfach  nicht  im  Zweifel 
darüber  sein  kann,  ob  er  vor  einem  Morde  glücklicher  sein  werde  all 
nach  demselben. 

Es  ist  nicht  nöthig  zu  bemerken,  dass  die  Kunst  dem  Studium 
der  Psyche  ein  ungeheures  Material,  ja  das  ungeheuerste  Material 
bietet,  mehr  sogar  als  das  kleine  Selbst,  das  doch  so  unermesslich 
reich  ist  an  psychischen  Präparaten,  von  den  gewaltigsten  hinab  bis 
zu  den  mikroskopischen!  Aber  nöthig  ist  es,  die,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  Methode  des  künstlerischen  Denkens  in  Schutz  zu  nehmen.  Denn 
ihr  erstehen  oft  genug  Feinde,  die  sie  eine  große  Gefahr  für  die 
logische  Schulung  des  Geistes,  eine  haltlose  Beschäftigung  nennen,  die 
den  Verstand  zerfahren  und  verworren  mache.  Ein  trauriger  Irrthum! 
Es  versteht  sich,  dass  der  Geist  seine  elementare  Schulung  nur  durch 
die  Wissenschaft  erlangen  kann.  Danach  aber  beansprucht  die  Kunst 
als  formal  bildende  Kraft  mindestens  einen  Platz  neben  der  Wissen- 
schaft Denn  gibt  diese  unserem  Denken  eine  feste  Structur,  so 
verleiht  ihm  jene  die  Beweglichkeit.  Wenn  man  am  Seile  des  Systems 
schwimmt,  ertrinkt  man  vielleicht  nicht;  aber  ein  Schwimmer  ist  doch 
nur  der,  der  mit  einem  „Hilf  dir  selbst"  hinausplätschert  ins  un- 
begrenzte Meer  der  G edanken !  Beweglichkeit  ist  das  große  G eschenk, 
das  die  Kunst  dem  Intellect  spendet!  Denn  die  Beweglichkeit  der 
Vorstellungen,  ihr  „freies,  leichtes,  freudiges"  Verbinden  zu  unge- 
ahnten, überraschenden  Abstractionen,  wie  sie  die  Wissenschaft  nicht 
erreicht,  ist  das  Kriterium  der  Kunst.**)  Diese  Beweglichkeit  steckt 
an;  der  Kunstgenießende  fühlt  aucli  seine  Vorstellungen  in  stärkere 
Bewegung  versetzt:  er  fühlt  sich  „angeregt",  wie  man  sagt.  Den 
Pferden,  welche  jahraus,  jahrein  über  hartes  Pflaster  traben,  werden 
schnell  die  Beine  steif.  So  geht  es  dem  Geiste,  der  sich  mir  auf  dem 


*)  „Oberflächlich*  gerade  auch  in  dem  Sinne,  dass  sie  die  umgebende  Welt 
ftl*  Oberfläche  betrachten  und  «ich  selbst  mit  naivem  Egoismus  als  innersten  Kern 
setzen,  zu  dessen  Betrachtung  sie  natürlich  nicht  durchdringen. 

**)  Wer  aich  für  diese  Frage  interessirt,  den  darf  ich  vielleicht  auf  meine  Be- 
achtungen zur  Psychologie  der  Dichtkunst  im  „Magazin  fi\r  Literatur"  verweisen 
(Jahrg.  1890  und  91). 


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Fahrdamm  der  Systeme  bewegt.  Der  künstlerische  Gedanke  will  nicht 
als  absolute  Wahrheit  gelten;  eben  deswegen  tritt  er  nicht  mit  harter 
Unverletzlichkeit,  mit  dem  beängstigenden  Anspruch  der  Unerschtttter- 
lichkeit  an  uns  heran;  er  weicht,  wenn  es  sein  muss,  dem  Widerstand 
unserer  eigenen  Gedanken,  oder  er  schmiegt  sich  ihnen  an.  Bewegung 
auf  elastischem  Boden  sichert  den  Gliedern  die  Geschmeidigkeit.  Be- 
weglichkeit der  Vorstellungen  aber  ist  gleichbedeutend  mit  schöpferischer 
Kraft.  Und  das  ihr  eine  gewisse  schöpferische  Kraft  innewohne,  ist 
Erfordernis  für  jede  Seele,  die  sich  fortentwickeln  soll,  weil  nicht  aus- 
wendig gelernte,  sondern  nur  lebendig  in  uns  erwachsene  Ideale  der 
Verwirklichung  entgegendrängen.  Man  hat  mit  Recht  behauptet,  dass 
alle  Genies,  also  alle  Menschen,  die  eine  im  höchsten  Grade  selbst- 
standige  und  fruchtbare  Seelenthätigkeit  entfalten,  zugleich  in  gewissem 
Sinne  großei  Künstler  seien.  Mit  reducirten  Maßen  gilt  das  von 
jedem  bildungsfähigen  Menschen.  „Vor  jedem  steht  ein  Bild  dess, 
was  er  werden  soll";  der  einzige  Künstler  aber,  der  dieses  Bild  in 
ihm  nachzuschaffen  vermag,  ist  —  er  selbst. 

Jeder  Psychologe  kennt,  endlich  die  Bedeutung  der  Phantasie  für 
die  Bildung  der  Begriffe.  Der  Kunstgenuss  kräftigt  die  Phantasie, 
das  ist  selbstverständlich;  eine  entwickelte  Einbildungskraft  aber  wird 
mit  größerer  Genauigkeit  auch'  jene  abstrahlende  Thätigkeit  der 
Phantasie  ausüben,  welche  die  wesentlichen  Merkmale  eines  Dinges 
von  seinen  unwesentlichen  sondert  und  damit  die  wichtigste  Arbeit 
beim  Bilden  der  Begriffe  leistet.  Scharf  begrenzte  Begriffe  sind  die 
Hauptbedingung  des  logischen  Denkens. 

Es  liegt  auch  für  das  bescheidenste  Verständnis  nahe,  dass  das 
Gefühl  in  engerer  Beziehung  zum  Willen  steht  als  der  Verstand.  Bei 
der  Geburt  unserer  sittlich  bedeutungsvollen  Handlungen  können  für 
den  Augenblick  Verstand  und  Vernunft,  niemals  aber  kann  das  Gefühl 
bei  ihnen  unbetheiligt  sein.  Ja,  auch  jene  von  Sokrates  behauptete 
Wirkung  des  Wissens  auf  unser  sittliches  Thun  geschieht  nur  durch 
eine  eudämonische  Vermittelung,  durch  die  Vermittelung  des  Glücks- 
gefühls,  das  die  Erstrebung  und  den  Genuss  unseres  „wahren  Besten" 
begleitet  Zu  leugnen,  dass  der  Kunstgenuss  die  Lebhaftigkeit  und 
die  Mannigfaltigkeit  unserer  Gefühle  steigere,  das  fallt  nun  selbst 
den  fanatischen  Gegnern  der  ästhetischen  Erziehung  nicht  ein;  es  fällt 
ihnen  um  so  weniger  ein,  als  sie  glauben,  gerade  aus  dieser  Wirkung 
des  Kunstgenusses  eine  vorzügliche  Waffe  gegen  die  ästhetische  Er- 
ziehung schmieden  zu  können.  Dieselbe,  behaupten  sie,  erreiche  nichts 
als  Schwärmerei,  Überspanntheit,  Gefühlsduselei  und  jene  lächerliche 


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—    163  - 


und  erbärmliche  Einbildung,  die  sich  in  zarten  und  zartesten  Gefühlen 
genug  zu  thun  glaube;  nicht  aber  erziele  sie  eine  kernhafte  sittliche 
Tüchtigkeit.  Dass  unter  Umständen  solche  Erfolge  gezeitigt  werden, 
wissen  wir  alle.  Aber  es  wäre  schlimm,  wenn  sich  der  Einfluss  der 
Kunst  auf  eine  sittlich  irrelevante  Belebung  und  Bereicherung  der 
Gefühle  beschränkte.  Jedermann  weiß,  was  man  unter  dem  „Ethos 
des  Künstlers"  versteht.  Ein  Redacteur  äußerte  vor  einiger  Zeit  im 
Gespräch  gegen  mich:  „Ich  will  bei  jeder  Dichtung  merken,  dass  ein 
sittlich  tüchtiger  Mensch  dahinter  steht."  Wenn  ich  einschränkend 
hinzufugen  darf:  „falls  sich  Gelegenheit  dazu  bietet",  so  kann  ich 
mich  jener  Forderung  anschließen.  Nicht  nur  die  Musik  und  die  bil- 
denden Künste,  auch  die  Poesie,  in  der  doch  ethische  Stoffe  die  her- 
vorragendste Rolle  spielen,  hat  eine  Menge  von  Werken  aufzuweisen, 
bei  denen  die  sittliche  Persönlichkeit  des  Schöpfers  gar  nicht,  oder 
doch  nur  sehr  mittelbar,  durch  das  Medium  der  künstlerischen  Empfin- 
dung allenfalls,  mitwirkt  und  die  also  keinen  Schluss  auf  das  Ethos 
des  Künstlers  gestatten.  Allerdings  aber  will  ich  bei  keinem  Kunst- 
werk empfinden,  dass  ein  sittlich  schwacher  oder  gar  gemeiner  Mensch 
dahinter  steht!  Diese  Forderung  hat  für  mich  unbeschränkte  Gültig- 
keit.*) Ich  will  vor  jedem  Kunstwerk  die  Atmosphäre  einer  vor- 
nehmen Natur  athmen.  Alle  Kunst  ist  adlig;  wenn  sie  nicht  adlig  ist, 
ist  sie  auch  keine  Kunst.  Darum  aber  besteht  auch  der  Segen 
der  Kunst,  soweit  er  sich  über  unser  Gefühl  verbreitet,  wahrhaftig 
nicht  allein  darin,  dass  sie  es  mit  höherer  Kraft  durchglüht  und  seine 
Regungen  nach  tausend  neuen  Richtungen  sich  verzweigen  lässt:  er 
besteht  vor  allem  darin,  dass  die  Kunst  unser  gesammtes  Fühlen 
veredelt  und  es  unwiderstehlich  zu  jener  Höhe  erhebt,  wo  das  reine, 
unbedingte  Gefallen  am  Schönen  wohnt.  Ein  reines,  unbedingtes  Ge- 
fallen am  Schönen  ist  aber  auch  die  Liebe,  mit  der  wir  das  Gute  um 
seiner  selbst  willen  verehren:  so  hat  nicht  nur  Herbart  gedacht,  als 
er  die  sittlichen  Gefühle  ästhetische  nannte,  so  fühlt  und  spricht  auch 
unser  Herz.  Die  Eingewöhnung  der  Seele  in  das  Glück  des 
Schönen  ist  nun  der  Hauptfactor  aller  Erziehung. 

Das  ist  eine  Erfahrung,  die  sich  dem  vorurtheilslosen  Erzieher 
schon  sehr  bald  aufdrängt.  Die  oben  erwähnte  dunkle  Erscheinung 
einer  gewissen  beängstigenden  Selbstherrlichkeit  des  Willens,  die  ich 

*)  Obwol  en  Überflüssig  erscheint,  will  ich  doch  (der  größeren  Deutlichkeit 
wegen)  betonen,  dass  ich  selbstverständlich  nicht  nach  der  „so  beliebten"  Kölnisch- 
wa.»*er-Ästhetik  einen  Künstler  deswegen  für  unsittlich  halte,  weil  er  unsittliche 
Dinge  darstellt. 


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durchaus  nicht  durch  eine  principielle  Isolirung  des  Wollens  vom 
Denken  und  Fühlen  begründen  will,  kann  keinem  Menschenbeobachter 
verborgen  bleiben,  am  allerwenigsten  dem  Erzieher.  Sobald  er  sie 
aber  bemerkt,  erkennt  er  folgerichtig,  dass  die  Stelle,  von  welcher 
man  den  Willen  am  sichersten  packen  kann  —  der  Wille  ist.  Und 
ebenso  schnell  wird  es  zu  seiner  festen  Überzeugung,  dass  der  un- 
vernünftige Wille  des  Kindes  nur  durch  Handlungen  zuverlässig 
cultivirt  wird.  Durch  fortgesetztes  Handeln  unter  dem  consequenten 
vernünftigen  Zwange  des  Erziehers  lernt  das  Kind  aus  eigenster, 
innerster  Erfahrung  die  Schönheit  des  Guten  kennen,  während  es  sie 
in  Freuden  genießt.  Für  das  Kind  ist  schon  jede  Befolgung  des 
erzieherischen  Gebots  als  solche  eine  gute  That,  deren  innerer  Lohn, 
wie  bei  jeder  anderen,  sich  nie  versagt.  Selbstverständlich  findet  mit 
der  Zeit  eine  allmähliche  Entfesselung  des  kindlichen  Willens  statt; 
aber  auch,  wenn  der  freundliche  Zwang  sich  in  ernste  Führung  ver- 
wandelt hat,  wird  es  immer  den  Erzieher  dahin  treiben  müssen,  dass 
der  Zögling  durch  Handlungen  den  Eindruck  des  Sittlich-Schöneu 
in  sich  verstärke.  Die  Eingewöhnung  in  das  Glück  des  Schönen 
ist  die  denkbar  sicherste  Garantie  für  die  Gewinnung  eines 
sittlichen  Charakters;  an  dieser  Wahrheit  kann  auch  die  Annahme, 
dass  das  Gute  nur  ein  relativer  und  schwankender  Begriff  sei,  nichts 
ändern. 

Bekanntlich  wird  aber  nicht  nur  dem  Kinde,  sondern  auch  der 
größten  Zahl  der  Erwachsenen  die  heilsame  Übung  im  Rechttiniii 
durch  ein  enges  Leben  beschränkt.  Nicht  jeder  Mensch  und  am 
wenigsten  jedes  Kind  wird  durch  die  Verhältnisse  in  einen  Kreis  des 
Lebens  gestellt,  der  zu  einem  vielseitigen  Handeln  herausfordert. 
Damit  aber  auch  der  sittliche  Horizont  der  Menschen  kein  enger 
bleibe,  muss  also  Tugend  auch  gelehrt,  sie  kann  nicht  allein  geübt 
werden.  Und  da  die  Lehre,  welche  vom  Concreten  ausgeht,  die  beste 
ist,  so  ist  die  beste  Sittenlehre  das  vorgelebte  Beispiel.  Allein  auch 
das  Leben  unserer  Erzieher  und  Vorbilder  umfasst  bei  weitem  nicht 
die  ganze  Fülle  der  sittlichen  Erscheinungen.  So  tritt  denn  die  große 
Erzieherin  in  ihr  Recht,  die  ein  ungeheures,  unermesslich  reiches  Bild 
von  menschlichem  Trachten  und  Begehren  vor  uns  aufrollt:  die  Kunst! 
Die  Kunst  ist  ein  Leben,  weil  das  Blut  des  Künstlers  ihre  Werke 
durchpulst,  weil  ihre  Gestalten  der  schöpferische  Ruf  durchklingt,  der 
das  Leben  bedeutet:  Es  werde  Licht!  Der  unmittelbaren  Wirkung  des 
Lebens  so  nahe  wie  möglich  zu  kommen,  war  ja  des  Künstlers  großes 
Ziel!  Wir  leben  gerade  in  einer  Zeit  des  künstlerischen  Strebens,  die 


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sich  ereifert  und  erschöpft  in  der  heißen  Arbeit,  jenes  große  Bild 
durch  seelisch  wahre  Gestalten  zu  bereichern,  zu  den  feinsten  Wurzeln 
unserer  Handlungen  hinabzusteigen  und  aus  der  dunkelsten  Tiefe  die 
Wahrheit  zu  hoien.  Und  wenn  das  lebende  Beispiel  unserer  Mit- 
menschen immer  den  Vorzug  behaupten  wird,  den  das  Sein  vor  dem 
Schein  hat,  so  haben  die  erhebenden  oder  abschreckenden  Beispiele 
der  Kunst  den  Vorzug,  idass  sie  uns  sittliche  Phänomene  mit  ihrem 
ganzen  psychischen  Boden  darbieten,  dass  sie,  statt  die  Motive  der 
That  zu  verbergen,  wie  wir  es  seltsamerweise  oft  mit  unseren 
redelstenu  Handlungen  thun,  mit  heiliger  Rücksichtslosigkeit  die  Decke 
fortreißen  vom  Abgrund  unseres  Innern.  Dadurch  auch,  dass  die 
Kunst  den  Pfeil  des  sittlichen  Gedankens  mit  der  Feder  des  Gefühls 
beschwingt,  dringt  er  tiefer  in  unser  Wesen  ein,  als  wenn  etwa  eine 
nüchtern-instructive  Geschichte  in  moralisirender  Absicht  ihn  uns 
vorträgt  und  voraussetzt,  dass  wir  aus  der  trockenen  Hülle  den 
sittlich-süßen  Kern  gefalligst  herausschälen. 

IL 

Nachdem  ich  die  pädagogischen  Wirkungen  der  Kunst  —  nicht 
erschöpfend,  aber  andeutungsweise  —  erörtert  habe,  rufe  ich  alle  Welt 
zu  Zeugen  auf,  ob  ich  der  Kunst  irgendwo  ein  Ungebürliches,  ein 
Neues,  Unerhörtes  zugemuthet  habe,  ob  ich  irgendwo  gesagt  habe: 
Das  soll  die  Kunst  wirken!  und  nicht  immer:  Das  wirkt  sie  und 
das  kann  sie  wirken?  Will  ich  die  Kunst  ihrer  Sonderart  berauben? 
Will  ich  ihr  rationale  und  praktische  Elemente  aufzwingen,  die  ihr 
nicht  schon  eignen?  Will  ich  sie  irgend  einem  Factor  des  mensch- 
lichen Culturlebens  dienstbar,  will  ich  sie  zum  moralisirenden  Baculus 
inachen?  Pas  du  tout!  Rein  zum  Himmel  erheb*  ich  die  Hände.  Nichts 
will  ich,  als  dass  die  erziehlichen  Momente,  welche  die  Kunst  auf- 
zuweisen hat,  verwertet  werden,  weit  mehr  verwertet  werden, 
als  es  bisher  geschehen  ist,  und  dass  man  erkennt,  wie  alles  an  der 
Kunst  eine  erziehliche  Kraft  in  sich  hegt.  Die  Anmaßung,  die  Kunst 
mit  etwelchen  Elementen  bereichern  zu  wollen,  wäre  die  lächerlichste 
von  der  Welt;  die  Kunst  ist  so  reich,  dass  man  ihr  nichts  mehr 
schenken  kann:  alle  Elemente  der  sinnlichen  und  übersinnlichen  Welt 
hilden  ihren  unverlierbaren  Grundbesitz.  Und  wenn  ich  auch  der 
Kunst  ihre  Selbstherrlich keit  nehmen  wollte,  so  würde  ich  doch  so 
freundlich  sein  müssen,  sie  ihr  zu  lassen;  denn  die  große  Schul- 
meistern!, will  sagen  die  künstlerischen  Genies,  durch  die  sie  wirkt, 


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wählen  die  Erziehungsmittel  nach  souveränem  Belieben.    In  einer 
guten  Schule  entscheidet  bekanntlich  der  Lehrer,  was  und  wie  gelernt 
werden  soll,  nicht  die  Schüler.   Dass  man  Kindern  die  ästhetische 
Nahrung  controlirt,  werde  ich  woi  nicht  hervorzuheben  brauchen; 
aber  als  Erzieherin  des  Menschengeschlechts,   als  Ernährerin  der 
großen  Menschheitsseele  duldet  die  Kunst  keine  diätetische  Beschrän- 
kung.  So  vielseitig  immer  das  Bedürfnis  der  Menschenseele  ist,  so 
vielfältig  und  wunderbar  sind  die  Wege  der  Kunst.    Wir  durch- 
schreiten die  riesigen  Nebel-  und  Wolkengebilde  eines  jungen  Schiller 
—  wir  können  sie  durchschreiten,  weil  sie  nicht  körperlich  sind  — 
aber  während  wir  in  Wolken  stehen,  fühlen  wir  um  unsere  Brust 
den  freien  Hauch  der  Berge;  wir  wandeln  über  die  frostwetterkl&re 
Ebene  des  alten  Ibsen,  der  Wind  schneidet  scharf  ins  Gesicht;  aber 
wenn  wir  länger  rüstig  dahin  geschritten,  wird  uns  warm  und  winter- 
lich-gesund ums  Herz;  wir  schwingen  uns  unter  dem  heiteren  Himmel 
Goethe's  empor,  und  in  unserm  Auge  spiegeln  sich  rosenumsäumte 
Cirruswölkchen ;  wir  sinken  tief  hinab  zur  Erde,  um  einen  Zola'schen 
Eisenbahnzug  herankeuchen  zu  sehen,  und  während  der  Kohlendunst 
uns  in  die  Nase  steigt,  donnert  die  stampfende,  knirschende,  eiserne, 
unerbittliche  Gegenwart  über  die  Schienen  dahin;  ein  derb-gemüth- 
licher  Fritz  Reuter  zieht  uns  in  die  Mecklenburger  Bauernstube  hinein, 
wo  die  Behaglichkeit  getreuer  Herzen  in  den  Wolken  eines  ländlichen 
Kanasters  zittert,  oder  wir  klettern  in  die  Dachstube  eines  sogenannten 
fin  de  siecle-Menschen  hinauf  und  empfinden  bei  einer  russischen 
Cigarette  ein  Capriccio  über  die  tollen  Einfälle  der  äußersten  Nerven- 
spitzen.   Bis  ins  Endlose  könnten  wir  diese  Anführungen  fortsetzen; 
alle  Gebiete  der  Kunst  könnten  wir,  wie  hier  das  poetische,  durch- 
gehen, und  was  würden  wir  ewig  finden?  Individuen,  Individuen! 
Nicht  zwei  Menschen,  die  den  Namen  „Künstler"  verdienten,  haben 
auf  dieselbe  Weise  „Stimmung  gemacht",  selbst  nicht,  wenn  sie  zu 
derselben  „Schule"  gehörten.   Und  die  Theorie  lässt  es  schon  bleiben, 
irgend  jemand  für  die  Zukunft  vorzuschreiben,  welche  praktischen 
oder  unpraktischen,  rationalen  oder  irrationalen  Elemente  die  Kunst 
aufnehmen  oder  vermeiden  müsse:  das  Blamiren  vor  den  Genies  ist 
doch  nachgerade  zu  beschämend  häufig  vorgekommen.    Wer  aber  ist 
einseitig  und  parteiisch  genug,  in  jener  unendlichen  Vielheit  die 
Einheit  zu  verkennen?  Wer  empfindet,  wenn  das  Wald  weben  d^r 
Kunst  ihn  mit  tausend  Fäden  und  tausend  Stimmen  umspinnt  und 
umklingt,  wer  empfindet  nicht  zugleich  den  alle  Zweige  durchrinnenden 
Sonnenglanz  der  menschlichen  Gottbegeisterung?  Aus  dem  weiten  All 


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kommen  jene  Fäden  und  Klänge  gezogen  in  ein  frisches,  jugendfrohes 
Siegfriedherz,  und  ins  weite  All  streben  sie  wieder  aus  diesem  Herzen 
dahin.  Die  große  Leere  auszufüllen  zwischen  Erde  und  Himmel:  das 
ist  die  Aufgabe  der  Kunst.  Wer  will  ermessen,  was  diese  Weiten 
erf&llt?  Alles  aber,  was  diesen  Bäumen  angehört  —  weil  es  unser 
Denken  beflügelt,  unseren  Willen  reizt  und  unser  ganzes  Wesen  mit 
dem  Glänze  eines  heiligeren  Fühlens  übergießt  —  alles  das  ist  er- 
ziehlich ;  alles  das  hilft  uns  zur  GottÄhnlichkeit,  seien  es  die  Himmels- 
chöre  eines  Klopstock  oder  sei  es  das  Leben  eines  Zola'schen  Arbeits- 
pferdes, das  in  den  Steinkohlengruben  des  Vorcux  von  sonnigen, 
grünen  Wiesen  träumt. 

In  einem  Artikel  über  „die  Scheu  vor  der  Tendenzdichtung"*) 
habe  ich  darauf  hingewiesen,  dass  der  Künstler  seinem  Publicum 
gegenüber  eine  höhere  Culturpotenz  bedeute,  dass  während  des  Schaf- 
fens die  Menschheit  in  seiner  Brust  wachse  und  in  ihrem  ideellen 
Bfjsitzstande  gefördert  werde,  und  dass  die  Wirkung  jedes  Kunst- 
werks eine  menschheitlich-pädagogische  sei.  Noch  früher  habe  ich  in 
meinem  Buche  „Offenes  Visir!"  die  Kunst  als  den  sinnlichen  Ausdruck 
des  menschlichen  Vollendungsdranges  bezeichnet  und  behauptet,  dass 
sie  das  „bessere  Reale  der  Zukunft  vorabnend  vorbilde."  Das  sollte 
mir  schlecht  bekommen.  Denn  man  legte  mir  das  aus,  als  verlangte 
ich  von  den  Künstlern,  dass  sie  das  Telephon  gefalligst  200  Jahre 
im  voraus  erfinden,  als  nähme  ich  an,  dass  etwa  die  moderne  Kunst 
die  heilige,  gar  nicht  zu  umgehende  Verpflichtung  habe,  eine  tadellos 
construirte  Flugmaschine  mit  sämmlichen  Nieten  und  Schrauben  zu 
ahnen.  Man  machte  mir  bemerkbar,  dass  die  Werke  eines  Shakespeare 
(man  hätte  noch  wirksamer  Beethoven  oder  Raphael  heranziehen 
können)  doch  nichts  enthielten,  was  sich  in  einen  realen  Fortschritt 
ummünzen  lasse,  dass  man  den  Dichter  mit  Recht  auch  einen  „rück- 
wärtsschauenden Propheten"  genannt  habe  und  dass  es  doch  auch  die 
pessimistische  Kunst  eines  Byron,  Musset,  Leopardi  und  Richard  Wagner 
(?)  gebe.  —  Mit  dem  „rückwärtsschauenden  Propheten"  wollen  wir 
beginnen.  Gibt  es  solche  Leute?  Ist  der  Dichter  wirklich  ein 
Prophet  dieser  Art?  0  gewiss,  oft,  sehr  oft  —  meistens,  wenn  man 
will!  Nattirlich  handelt  es  sich  nicht  um  eine  Prophetie,  wie  sie 
Wildenbruch  übt,  der  den  siebenjährigen  Krieg  nnd  den  alten  Fritz 
prophezeit,  selbst  nicht  um  die  feinere  und  glaubhaftere  Art,  wie  sie 
Schiller  durch  seine  Johanna  betreiben  lässt.    Worin  bestellt  denn 


•)  „Magaain  für  die  Literatur",  Jahrg.  1890. 


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aber  die  rückwärtsschauende  Prophetie?  Gerade  nicht  darin,  dass 
sie  auf  Ereignisse  hinweist,  die  jedermann  kennt,  sondern  darin, 
dass  sie  auf  das  mit  dem  Finger  hinweist,  was  an  und  in  den  Ereig- 
nissen nicht  bemerkt  wurde:  das  Höhere,  das  Geistige,  das  Nicht- 
sinnliche, das  Allgemeingültige,  darin,  dass  sie  das  Geschehene  sym- 
bolisch behandelt  und  uns  unsere  eigene  Erfahrung  deutet.  Nicht 
darin  freilich  bewährt  sich  die  Prophetenkraft  eines  Shakespeare,  dass 
er  uns  die  Geschichte  eines  alten  Vaters  von  drei  Töchtern  erzählt, 
aber  darin,  dass  er  die  Tragödie  des  Undanks  mit  Jahrhunderte  durch- 
leuchtender Wahrheit  in  den  Seelen  sich  abspielen  lässt;  nicht  darin 
allerdings  bekundet  sich  die  Prophetenkraft  eines  Schubert,  dass  er 
Lieder  zu  Lust  und  Leid  der  Liebe  singt,  aber  darin,  dass  er  uns 
zwingend  daran  gemahnt,  wie  aus  vergessenen  Winkeln  des  eigenen 
Lebens,  aus  vergangenen  Stunden  vergangener  Tage  eigene  und 
dennoch  nie  gekannte  Stimmungen  uns  überfließen;  nicht  darin  wahrlich 
zeigt  sich  die  Prophetenkraft  eines  Claude  Lorrain,  dass  er  uns  mit 
dem  Pinsel  bedeutet,  es  gebe  auf  der  Welt  Bäume,  Wiesen  und  Bäche, 
aber  darin,  dass  er  sie  zu  einem  stimmung-überglänzten  Ganzen  com- 
ponirt  und  so  auf  unser  Auge  wirkt,  dass  unser  Ohr  bei  schweigender 
Versunkenheit  den  „Einklang  der  Natur  vernimmt".  Mithin  ist  wol 
die  rückwärtsschauende  Prophetie  der  Kunst  nichts  anderes  als  eine 
Betrachtung  des  Endlichen  im  Lichte  des  Ewigen.  Das  Ewige  aber 
ist,  wenigstens  für,  alle  optimistischen  Gemüther,  ein  Ding  der  Hoff- 
nung. Und  wenn  es  ein  Ding  der  Hoffnung  ist,  so  ist  es  ein  Ding 
der  Zukunft  Aber  dann  unterscheidet  sich  ja  das  Sehergeschäft  des 
Künstlers  gar  nicht  von  dem  anderer  Propheten!  In  der  That,  nein. 
Man  verzeihe  meinen  Irrthum:  es  gibt  doch  keine  rückwärtsschauenden 
Propheten! 

Aber  Pessimisten  gibt  es  freilich!  Inwieweit  eine  pessimistische  Kunst 
Kunst  und  inwieweit  sie  pessimistisch  ist,  soll  hier  nicht  untersucht 
werden.  Hinweisen  will  ich  aber  wenigstens  auf  den  sehr  beachtens- 
werten, gewöhnlich  aber  nicht  beachteten  Unterschied  zwischen 
principiellen,  philosophisch-consequenten  Pessimisten  und  Gelegenheits- 
pessimisten, wie  wir  alle  es  hin  und  wieder  und  wie  vor  allem  sen- 
sible Künstlernaturen  es  häufig  sind.  Der  nach  individueller  Erlösung 
vom  Sein  strebende  Pessimismus  Schopenhauers  ist,  wie  ich  das  schon 
früher*)  dargetlian  habe,  meines  Erachtens  überhaupt  nicht  mit  der 


*)  lu  dem  Essay  über  ^Die  moderne  Literaturspaltung  und  Zola"  in  meinem 
vorerwähnten  Buche. 


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Kunst  and  dem  Kunstgenuss  vereinbar;  etwas  anderes  scheint  es  mit 
dem  Pessimismus  Hart  mann "s  zu  sein.    Er  erhofft  und  erstrebt  einen 
universellen  Übergang  zum  Nichtsein  und  nimmt  eine  bis  dahin  gehende 
und  dahin  zielende  Fortentwickelung  an.   (Beiläufig  eine  Meinung,  die 
einen  starken  pessimistischen  —  Optimismus  voraussetzt.)    Und  die 
Wahrheit  des  Schönen  besteht  für  diesen  Pessimismus  in  der  ?.  Über- 
einstimmung des  Bewusstseins-Inhalts  mit  dem  idealen  Wesen  und 
Grunde  der  Welt"  (vulgo  dem  Göttlichen)  und  ist  eine  Wahrheit,  „die 
nicht  demonstrirt,  sondern  nur  von  dem  empfänglichen  Sinne  implicite 
erfasst  und  gefühlsmäßig  oder  ahnungsvoll  ergriffen*  wird.   (Dr.  A. 
Drews,  „Ed.  v.  Hart  mann  s  Philosophie  etc.")   Klar  ist  danach  jeden- 
falls, dass  auch  hier  die  Kunst  einen  eminent  pädagogischen  Wert 
hat,  dass  sie  mit  erzieht  zu  jener  universellen  Sehnsucht  nach  dem 
Nichtsein,  zur  Erlösung  aus  der  qualvollen  Welt  des  „dummen" 
Willens.  Ob  nun  das  pessimistische  Entwickelungsziel  erstrebenswert 
ist  —  das  ist  eine  Frage,  die  uns  hier  nicht  angeht.    Ich  für  mich 
bin  der  Überzeugung,  dass,  wenn  wir  die  von  Hart  mann  angenom- 
mene Reife  für  das  Nichtsein  erlangt  haben,  wir  uns  eines  Bessern 
besinnen  und  für  das  Weitersein  entscheiden ,  weil  das  Sein  auf  jenem 
Standpunkte  selir  köstlich  sein  muss,  das  Nichtsein  aber  aus  denselben 
Gründen,  aus  denen  es  nicht  sauer  sein  kann,  auch  nicht  süß  ist. 
Man  wird  nun  ja  wol  nicht  leugnen  wollen,  dass  die  Werke  Byrons 
und  Wagners,  und  wenn  sie  zehnmal  pessimistisch  wären,  uns  nicht 
nur  momentan  begeistern  und  entzücken,  sondern  auch  unserem  seeli- 
schen Fonds  die  köstlichsten  Momente  zu  dauerndem  Besitz  hinzu- 
fügen und  also  in  ihren  und  unseren  Ideen  und  Stimmungen  das 
bessere  Reale  der  Zukunft  vorahnend  vorbilden.   Ich  werde  ja  wol 
nicht  wiederholt  zu  betheuern  brauchen,  dass  ich  uuter  dem  besseren 
Realen  der  Zukunft  nicht  nur  Telegraphendrähte  und  Koch'sche  Heil- 
methoden verstehe.  Freilich  ist  es  schon  geschehen,  dass  selbst  so 
concrete  Dinge  poetisch  vorausgeahnt  wurden,  und  gewiss  ist  die  Geburt 
großer  physikalischer  Gedanken  oft  darauf  zurückzuführen,  dass  die 
Kunst,  wenn  auch  nicht  Empfängnis,  so  doch  Empfänglichkeit  und 
liebende  Begeisterung  bewirkte.   Das  bessere  Reale  der  Zukunft,  d.  h. 
der  allgemein  erhöhte  Glücksstand  der  menschlichen  Seele 
wird  aber  gleichwol  nicht  allein  auf  materiellen,  er  wird  vorwiegend 
auf  geistigen  Realitäten  beruhen.    Und  dass  sie  durch  geistige  und 
sinnliche  Realitäten  das  Ahnen  einer  Seligkeit  in  uns  erwecken,  dass 
sie  mit  Pinsel,  Meißel  oder  Feder  vor  uns  am  Himmel  die  verlockend 
hohe  Niveaulinie  jenes  Glücksstandes  (nicht  am  Lineal!)  verzeichnen: 

pjedagogiwn.   u.  Jahn?.   Heft  III.  13 

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—    170  - 


darin  besteht  die  große  pädagogische  Kraft  aller  künstlerischen  Ge- 
danken und  Stimmungen.  Dass  Homer  jene  Linie  schon  so  hoch 
zeichnet  wie  Schiller  —  selbst  wenn  dem  so  ist  —  was  sagt  das? 
„Tausend  Jahre  sind  vor  dir  wie  ein  Tag,  der  gestern  vergangen, 
und  wie  eine  Nachtwache." 

Schon  seit  langem  sehe  ich  im  Hintergrunde  dieser  Ausführungen 
einen  Vorwurf  lauern,  der  sprungbereit  mit  zornigen  Augen  mich 
anglüht.  Jetzt  ist  sein  Augenblick  gekommen;  er  setzt  mir  die  Tatzen 
auf  die  Brust  und  schüttelt  mich.  „Also  selbst  die  künstlerische 
Stimmung  ist  vor  dir  nicht  sicher?  Soweit  die  Kunst  greifbare  Ideen 
verkörpert,  mag  sie  ja  unsertwegen  erziehen  soviel  sie  will!  Aber  die 
Stimmung  sollst  du  uns  dadurch  nicht  verderben,  dass  du  sie  schul- 
meistern lässt.  Willst  du  uns  nicht  gefalligst  erklären,  wie  die  Stim- 
mung ,das  bessere  Reale  der  Zukunft4  vorbilden  soll?  Wirst  du  es 
wagen,  in  die  künstlerische  Stimmung  eine  Realität  hineinzutüfteln? 
Sie  ist  ein  Duft,  ein  Unbeschreibliches,  Unerklärliches!"  Von  solchem 
Ansturm  bin  ich  natürlich  ganz  betäubt,  und  ich  beschränke  mich 
deshalb  auf  die  höfliche  Bemerkung,  dass  ich  alle  Stimmung  für  ein 
gleichzeitiges  Wirken  zahlreicher  Vorstellungen,  dass  ich  sie  deshalb 
für  das  Chaos  halte,  aus  dem  sich  bei  plötzlich  verstärkter  Beleuchtung 
die  Sterne  der  Gedanken  bilden,  oder  dass  ich  sie  —  wenn  Herr  Carl 
Spitteier  mir  das  von  ihm  im  8.  Stück  des  „Kunstwart"  gebrauchte 
schöne  Bild  auf  einen  Augenblick  leihen  will  —  für  die  „elektricitats- 
schwangere  Atmosphäre*  halte,  aus  der  sich  (beim  Schaffenden,  wie 
beim  Genießenden)  der  Gedanke  „eines  unvorhergesehenen  Augenblicks 
wie  ein  Blitz  entladet".  Mit  dieser  diplomatischen  Umschreibung,  die, 
wie  ich  gern  zugebe,  keine  vollgültige  Antwort  ist,  weiche  ich  diesmal 
der  ungestümen  Bestie  aus,  um  ihr  und  dem  liebenswürdigen  Leser 
ein  anderes  Mal  in  dieser  Angelegenheit  ausführlicher  zu  begegnen. 

„Denn  klüger  acht'  ich's,  jetzo  hier  zu  schließen. 
Als  euch  vielleicht  durch  Länge  zu  verdrießen." 

Das  Eine  aber  wollte  ich  doch  nicht  vergessen  noch  zu  bemerken, 
nämlich:  dass  ich  die  Kunst  nächst  dem  Leben  für  die  berufenste  und 
mächtigste  Erzieherin  der  großen  und  kleinen  Menschen  halte  und 
dass  nach  meiner  Meinung  aus  praktischen  und  theoretischen  Gründen 
der  Literaturunterricht  den  Mittelpunkt  alles  Unterrichtes  auch  dort 
bilden  sollte,  wo  die  Kunst  nicht  im  classischen  Gewände  einlier- 
schreiten  und  ihre  Zöglinge  durch  Vocabeln,  Paradigmen,  Genus-  und 
Declinationsregeln  noch  inniger  an  sich  fesseln  kann. 


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Pädagogische  Rundschau. 

ZeitstimmeD.  [Los  des  Lehrerstandes.]  Das  19.  Jahrhundert  hat  die 
Stellung'  deß  Hauses  zur  Schule  vollständig  verändert.  Der  Staat  hat  den  Schul- 
zwang angeordnet  und  das  Bildungsmaß  vorgeschrieben,  das  jeder  Bürger  sich 
aneignen  muss.  Die  Zeugnisse  der  höheren  Schulen  sind  in  Berechtigungs- 
scheine umgewandelt  worden.  Da  wagen  die  Eltern  nicht  mehr,  sich  offen  den 
Einrichtungen  der  Schule  zu  widersetzen,  theils  aus  Furcht  vor  drohender 
Strafe,  theils  weil  sie  eingesehen  haben,  dass  die  Schule  mit  ihren  festgefügten 
Ordnungen  ihren  Kindern  unschätzbare  VortheUe  vermittelt.  Die  Lehrer 
freilich  müssen  auch  heute  noch  unter  einer  gewissen  Geringschätzung  von 
seiten  der  Eltern  leiden;  es  scheint  diesen  zum  historischen  Recht  geworden 
zu  sein,  den  Lehrerstand  über  die  Achsel  ansehen  zu  dürfen,  und  zwar  je  „ge- 
bildeter" die  Eltern,  desto  häufiger  diese  Erscheinung,  Ausnahmen  natürlich 
zugestanden.  —  Dr.  G.  Stephan,  Die  häuslicheErziehnng  in  Deutschland  während 
des  18.  Jahrhunderts. 

Vor  380  Jahren,  zur  Zeit  eines  Erasmus  und  Reuchlin,  da  war  der 
Philologe  der  erste  Mann  im  Staate,  um  den  Humanismus  und  um  die  Huma- 
nisten drehte  sich  einen  Augenblick  das  Interesse  einer  Welt.  Aber  gerade 
in  Deutschland  drängte  die  religiöse  Bewegung  rasch  genug  die  Bildnngs- 
frage  aus  der  ersten  in  die  zweite  Stelle,  und  die  Theologen  kamen,  wie  sie 
es  im  Mittelalter  gewesen  waren,  auch  jetzt  wieder  oben  auf;  die  Schule  wurde 
ein  Anhängsel  der  Kirche,  der  Lehrer  ein  Untergebener  des  Pfarrers; . . .  doch  das 
Rad  drehte  sich  weiter:  auf  das  theologische  Zeitalter  folgte  die  Vorherrschaft 
der  Juristen,  und  sie  besteht  heute  noch,  soweit  ihnen  nicht  der  Officier  den 
Rang  abgelaufen  hat.  Die  humanistischen  Lehrer  aber  sind  bei  diesen  Um- 
schwüngen des  Rades  immer  tiefer  nach  unten  gekommen,  und  so  ist  es  zuletzt 
auch  den  Medicinern  gelungen,  über  sie  hinanfzurücken  und  ihnen  und  der 
Schule  gegenüber  Controle  und  dilatorische  Gewalt  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Aber  freilich,  wenn  von  Schuld,  nicht  nur  von  dem  Begreifen  eines  historisch 
Gewordenen  die  Rede  sein  soll,  so  sind  hier  nicht  in  erster  Linie  die  Lehrer, 
sondern  es  ist  vor  allem  der  Staat  und  es  sind  ganz  besonders  die  Juristen  zu 
nennen.  Sie,  die  die  Gesetze  machen  und  die  Staatsgeschäfte  führen,  haben 
mit  einer  fast  naiv  zu  nennenden  Selbstsucht  die  Lehrer  drunten  gehalten,  den 
Abstand  zwischen  sich  und  ihnen  in  der  Bemessung  der  Besoldungen  markirt 
und  ihnen  auch  die  höheren  Stellen  im  Schulwesen  alle  vorenthalten  und  für 
sich  reservirt.  In  diesem  letzteren  aber  liegt  nicht  nur  eine  kränkende  Zurück- 
setzung des  Lehrerstandes,  sondern  zugleich  noch  etwas  ganz  anderes,  all- 
gemeineres: es  fehlt  den  Juristen  im  Durchschnitt  das  Herz  und  das  Ver- 
ständnis für  die  Schule;  niemand  wird  ihnen  das  verargen,  denn  woher  sollte» 
sie  es  haben?  Aber  wenn  dem  so  ist,  dann  muss  die  Schule  mit  Nothwendigkeit 

13* 


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—    172  — 


unter  ihrem  Regiment  leiden ;  und  so  sind  denn  auch  alle  für  unser  Schulwesen 
fruchtbaren  Gedanken  —  es  ist  ja  ganz  selbstverständlich  —  nicht  von  den 
an  der  Spitze  desselben  stehenden  Juristen,  sondern  von  den  Fachleuten,  von 
Schulmännern  ausgegangen;  dagegen  ist  jene  bureaukratisch  formalistische  Be- 
handlung und  Gestaltung  der  Schule,  die  wir  beklagen  und  bekämpfen,  im 
wesentlichen  ihr  Werk.  So  ist  denn  das  Verlangen,  dass  die  Schulverwaltung 
auch  in  ihren  höheren  Ämtern  und  Spitzen  Schulmännern  in  die  Hand  gelegt 
werde,  nicht  nur  im  Interesse  des  Standes,  sondern  im  Interesse  der  Schule 
selbst  und  ihrer  gedeihlichen  Entwicklung  durchaus  berechtigt.  —  Dr.  T  h  e  o  b  a  1  d 
Ziegler,  Die  Fragen  der  Schulreform. 

[Religion,  Schule,  Kirche  und  Staat.]  Der  Religionsunterricht  ist 
factisch,  und  natürlich  von  vielen  rühmlichen  Ausnahmen  abgesehen,  auf  unseren 
Gymnasien  im  Durchschnitt  schlecht  und  wirkt  daher  genau  so  wie  aller  andere 
schlechte  Unterricht  auch,  —  verderblich  auf  den  Geist  und  auf  die  Sitten  der 
Clasae.  Gerade  hier  hat  die  Phrase  vom  erziehenden  Unterricht  auf  falsche 
Bahnen  geführt:  Der  Religionsunterricht  ist  ein  Unterricht  wie  jeder  andere» 
man  wollte  ihn  aber  daneben  noch  direct  erziehend  oder  vielmehr  erbaulich 
machen  und  schrieb  ihm  eine  besondere,  um  nicht  zu  sagen  eine  fast  magische 
Wirkung  auf  die  Sitten  zu.  Dieses  absichtliche  Thun  und  „Machen*  aber 
erreichte  nichts  als  ein  gewisses  unklares  Schwanken  in  Ziel  und  Ton  des 
Unterrichtes  selbst,  und  bei  den  Jungen  war  eine  ganz  natürliche  Abneigung 
gegen  diese  sich  ihnen  aufdringende  Tendenz  die  nothwendige  Folge  oder 
verführte  sie,  was  noch  weit  schlimmer  ist,  zu  Heuchelei  und  tief  innerer 
Unwahrheit  .... 

Nur  in  völliger  Unabhängigkeit  von  der  Kirche  kann  die  moderne  Schule 
gedeihen  und  leisten,  was  sie  soll.  Und  darum  sind  auch  das  einzig  Richtige 
nicht  confessionelle,  sondern  Simultanschulen  .  .  .  Wollen  wir  denn  schon  auf 
den  Schulbänken  jene  confessionelle  Trennung  markiren,  die  unser  deutsches 
Volk  seit  370  Jahren  spaltet,  wesentlich  deshalb  spaltet,  weil  damals  ein 
spanischer  Kaiser  auf  dem  deutschen  Thron  gesessen  und  für  die  religiösen 
und  nationalen  Bedürfnisse  unseres  Volkes  kein  Herz  und  kein  Verständnis  ge- 
habt hat?  Die  Existenz  protestantischer  und  katholischer  Gymnasien  mag 
historisch  begründet  sein,  berechtigt  ist  sie  nicht  mehr,  und  die  Schaffung 
solcher  confessiouellen  Anstalten  in  unseren  Tagen  fast  gar  ein  Verbrechen  .... 
In  dem  immer  neu  entbrennenden  und  nie  bis  zur  Entscheidung  durchgefochtenen 
Kampf  zwischen  Kirche  und  Staat  die  Schule  dem  letzteren  zu  erhalten  und 
sie  gegen  die  Herrschaftsgelüste  der  Kirche  sicherzustellen,  ist  die  Pflicht 
aller  frei  gesinnten  Geister;  denn  der  Kampf  um  die  Schule  ist  ein  Kampf  für 
den  Staat. 

[Geschichtsunterricht.]  Und  nicht  viel  anders  (als  mit  dem  Religions- 
unterrichte, siehe  oben)  würde  es  mit  dem  Geschieh taunterrichte,  wenn  der- 
selbe in  bestimmter  Weise  patriotische  und  politische  Tendenzen  verfolgen  sollte. 
Daher  wäre  es  auch  nach  meiner  Auffassung  der  Dinge  geradezu  gefährlich, 
den  Lehrern  die  Bekämpfung  der  Socialdeinokratie  ausdrücklich  zur  Pflicht  zu 
machen  ....  Wahr  ist,  dass  an  die  Stelle  des  hochgehenden  jugendlichen 
Idealismus,  der  für  Kaiser  und  Reich  als  für  ferne  Tdeale  und  Ziele  schwärmte, 
der  Realismus  des  Besitzens  und  des  Behauptens  getreten  ist,  und  im  Zusammen- 
hange damit  ist  unsere  ganze  Zeit  nüchterner  geworden.    Die  Schäden,  die 


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darin  Hegen,  sehe  auch  ich  recht  wol.  Aber  unter  der  Hülle,  so  meine  ich, 
schlummern  die  idealen  Kräfte  des  deutschen  Volkes  doch  nach  wie  vor.  und 
wer  Beine  Zeit  versteht,  der  weiß  und  sieht,  nach  welcher  Richtung  hin  sie 
gra vitiren,  und  wie  sie  im  rechten  Augenblick  wieder  geweckt  werden  können. 
Aber  mit  ein  paar  Geschichtsstunden  mehr  weckt  man  das  schlafende  Dorn- 
röschen nicht  auf,  vollends  wenn  man  so  groß  wortig  und  weitspurig  das  chau- 
vinistische Tam-Tam  schlagt  und  verkündigt:  „Die  Anforderungen  der  Welt- 
stellnng  Deutschlands  an  die  Ausbildung  der  Jugend  reden  für  sich  selbst." 
Liebt  man  denn  die  Weltstellung?  Liebt  man  denn  sein  Vaterland  nur,  wenn 
es  eine  Weltmacht .  wenn  es  groß  und  mächtig  ist?  Das  ist  doch  eben  der 
schlechte  Realismus,  den  wir  bekämpfen  müssen,  diesen  Geist  der  großwortigen 
Unbescheidenheit,  diese  chauvinistische  Schneidigkeit  ....  Bis  1871,  aber  dann 
auch  keinen  Schritt  weiter!  In  der  Zeit  von  1871  ab  stehen  wir  selbst  mitten 
innen,  das  ist  noch  nicht  Geschichte,  sondern  das  ist  politische  Gegenwart,  und 
diese  gehört  nicht  auf  die  Schule,  weil  ihr  die  Leidenschaften  des  Tages  und 
die  Parteikämpfe  der  Zeit,  das  Buhlen  um  die  Gunst  nach  unten  oder  nach 
oben  fern  bleiben  müssen.  Über  die  großen  Zeit-  und  Streitfragen,  die  uns 
heute  beschäftigen,  kann  keiner  reden,  soll  keiner  reden,  ohne  Partei  zu  er- 
greifen, als  Mann  der  Partei  aber  verliert  der  Lehrer  mit  Nothwendigkeit  das 
Vertrauen  mindestens  eines  Theils  seiner  Schuler;  und  die  Schüler,  die  zu 
Hause  oder  in  der  von  den  Eltern  gehaltenen  Zeitnng  vielleicht  genau  das  Gegen- 
theil  hören  oder  lesen,  werden  durch  den  Lehrer  schwerlich  belehrt  und  bekehrt, 
wol  aber  frühreif  zum  Raisonniren  und  Kritisiren  herangezogen. 

Th.  Ziegler  a.  a.  0. 

Vom  Lehrertage  und  Pestalozziverein  der  Provinz  Branden- 
burg.*) Einer  freundlichen  Einladung  der  Stadt  Luckenwalde  folgend,  tagte 
daselbst  am  28.,  29.  und  30.  September  d.  J.  der  Lehrerverband  und  der 
Pestalozziverein  Brandenburgs. 

Am  28.  September  gleich  nach  11  Uhr  wurde  zunächst  eine  Vorstands- 
sitzung abgehalten,  in  der  diejenigen  Vorstandsmitglieder  bezeichnet  wurden, 
welche  in  den  verschiedenen  Abtheilungssitzungen  den  Vorsitz  führen  sollen. 
Eine  längere  Besprechung  veranlasst  ein  Referat  des  Unterzeichneten  über  die 
Zwangserziehung  verwahrloster  Kinder.  Es  wird  der  Beschluss  gefasst,  dem 
Vorstande  des  Landesvereins  preußischer  Volksschullebrer  die  in  dem  Referat 
niedergelegten  Meinungsäußerungen  zu  übermitteln,  damit  derselbe  der  „Inter- 
nationalen kriminalistischen  Vereinigung"  Kenntnis  von  unsem  Wünschen  be- 
züglich der  Zwangserziehung  verwahrloster  Kinder  gebe.  —  Nachdem  die 
Grundzüge  für  die  Tagesordnung  der  Hauptversammlung  durchgesprochen  und 
festgestellt  sind,  wird  die  Sitzung  nach  1  Uhr  geschlossen. 

Um  2  Uhr  eröffnet  der  Vorsitzende,  Hauptlehrer  Hohenstein-Brandenburg, 

*;  .Seit  Juhren  haben  wir  ausführlichen  Berichten  unter  obigem  Titel  Kaum 
Begeben,  weil  dieselben  ein  deutliches  Bild  von  der  Situation,  dem  Geiste  und  den 
Bestrebungen  der  Volksschullehrcr  in  der  Staminprovinz  des  preußischen  Staates 
geben,  also  gewissermaßen  von  typischer  Bedeutung  sind.  Anderseits  über  legt  uns 
der  Umfang  dieser  Blätter  unabweisliche  Rücksichten  auf,  weshalb  wir  diesmal  auch 
an  dem  Brandenburger  Bericht  einige  Kürzungen  vornehmen  mussteu,  ihn  im  übrigen 
jedoch  wortgetreu  folgen  lassen.   I).  R. 


ey  G( 


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—    174  — 


«He  Vertreterversammlnng.  Er  heißt  die  Herren  herzlich  willkommen  und  bittet, 
da  die  Tagesordnung  eine  sehr  reiche  sei,  bei  den  Debatten  kurz  und  rein 
sachlich  sein  zu  wollen.  Gern  stellt  er  fest,  dass  die  Vereinsarbeit  einen  er- 
freulichen Aufschwung  genommen  habe  und  dass  ihm  in  diesem  Jahre  fast  von 
der  Mehrzahl  der  Kreisverbande  die  Jahresberichte  rechtzeitig  zugestellt  worden 
seien ;  dennoch  müsse  er  es  rügen,  dass  ihm  nicht,  wie  es  sein  soll,  die  Mitglieder- 
verzeichnisse eingesandt  würden;  ebenso  werde  es  häufig  unterlassen,  ihm 
Kenntnis  von  dem  Wechsel  zu  geben,  der  sich  im  Vorsitz  der  Kreisverbande 
vollziehe;  das  alles  führe  aber  zu  mancherlei  Unzuträglichkeiten  und  Miss- 
Ständen.  Die  Delegirten  werden  ersucht,  dahin  wirken  zu  wollen,  dass  Ab- 
hilfe geschaffen  werde.  Würde  das  Vereinsorgan  von  allen  Mitgliedern  gelesen, 
so  könnte  so  etwas  gar  nicht  vorkommen,  und  es  würde  dem  Vorstande  die 
Arbeit  wesentlich  erleichtert  werden;  er  bitte  deshalb  recht  dringend,  da» 
Vereinsorgan  verbreiten  und  allen  Kollegen  dasselbe  warm  ans  Herz  legen 
zu  wollen. 

Die  nun  folgende  Feststellung  der  Vertreter  und  Verbände  ergibt  die 
Anwesenheit  von  77  Delegirten,  die  sich  im  Laufe  der  Verhandlungen  aut 
79  erhöhen;  von  diesen  werden  vertreten  36  Kreis  verbände  mit  132  Local- 
verbänden  und  4007  Mitgliedern.  Das  ergibt  gegen  das  Vorjahr  einen  Zu- 
wachs von  1  Kreisverband,  10  Localverbänden,  10  Delegirten  und  389  Mit- 
gliedern.   (Folgt  Geschäftliches.) 

Es  erhält  nunmehr  Herr  Pastor  prim.  SeyfFarth-Liegnitz  das  Wort.  Der- 
selbe führt  aus,  dass  er  vor  etwa  21  Jahren  die  Redaction  der  „Preußischen 
Schulzeitung"  in  der  Hoffnung  übernommen  habe,  durch  dieselbe  eine  allseitige 
Vertretung  des  Lehrerstandes  in  seinen  Interessen  herbeizufuhren.  Leider  rausa 
er  heute  bekennen,  dass  ihm  dies  bei  der  Lauheit  der  Lehrerschaft  nicht  voll 
und  ganz  möglich  geworden  ist.  Nachdem  Redner  die  Grundsätze,  nach  denen 
er  das  Vereinsorgan  geleitet,  und  die  Ziele:  innere  Kräftigung  des  Lehrerstandes 
und  äußere  Organisation  des  Schulwesens  —  feste  finanzielle  Grundlage  und 
innere  einheitliche  Bildung  des  Volkes  —  dargelegt,  appellirt  er  an  die  Lehrer 
der  Mark  Brandenburg,  zu  ihrem  eigenen  Vortheil,  in  ihrem  eigensten  Interesse 
sich  um  das  Vereinsorgan  zu  scharen  und  sich  das  einigende  Band  zu  erhalten. 
Dahin  müsse  es  kommen ,  dass  jedes  Mitglied  des  großen  Verbandes  auch  das 
Vereinsblatt  halte. 

Von  demselben  Referenten  wird  alsdann  über  das  zu  begründende  „Lehrer- 
heini"  in  Schreiberhau  berichtet  und  das  Unternehmen  auch  der  Unterstützung 
seitens  der  Lehrerschaft  Brandenburgs  warm  empfohlen.  — 

Hierauf  gelangt  der  Antrag  Zielenzig:  „Die  Neuregelung  der  Lehrer- 
gehälter mit  Rücksicht  auf  den  Ministerialerlass  vom  26.  Juni  cr.u  zur  Be- 
sprechung. In  der  Begründung  dieses  Antrages  wird  gefordert,  eine  Commission 
an  den  Herrn  Oberpräsidenten  zu  entsenden,  die  an  dieser  Stelle  die  Wünsche 
der  Lehrerschaft  zum  Ausdruck  bringen  soll.  Die  Versammlung  verhält  sich 
ablehnend  dazu,  empfiehlt  vielmehr  Rücksprache  mit  den  Herren  Landräthen, 
die  zu  der  von  dem  Herrn  Oberpräsidenten  einzuberufenden  Conferenz  ein- 
geladen sind,  zu  nehmen  und  diesen  specielle  Haushaltungspläne  vorzulegen, 
wie  dies  bisher  schon  von  vielen  Seiten  geschehen  sei.   (Folgt  Geschäft liches.) 

Der  29.  September  gehörte  dem  Pestalozziverein,  jedoch  fanden  vor  und 
nach  der  Hauptverhandlnng  noch  verschiedene  Sectionssitzungen  statt,  so  wurde 


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in  der  Abtheilung  für  Zeichnen  gesprochen  über:  „Das  Zeichnen  in  der  Mädchen- 
schule* ;  in  der  Section  für  Rechnen  kam  die  Frage  zur  Behandlung:  „In 
welchem  Umfange  hat  die  Behandlang  der  additiven  Snbtraction  Berechtigung 
in  der  Schule?"*)  und  in  der  Abtheilung  für  Physik  wurden  interessante  Expe- 
rimente mit  neueren  physikalischen  Apparaten  vorgefahrt,  auch  kam  hier  ein 
ganz  neuer  Apparat,  v Horizont u  genannt,  zur  Vorführung.  Mit  Hilfe  dieses 
Apparates  lassen  sich  die  Fragen  zuverlässig  beantworten:  -Wann  und  wie 
weit  vom  Ost-  bezw.  Westpunkte  entfernt  geht  die  Sonne  auf  oder  unter?"  — 
.Wie  groß  ist  der  Tag-,  der  Nachtbogen  ?"  —  „In  welcher  Höhe  steht  die 
Sonne  (Winkel  mit  der  Horizontfläche)  ?u  —  -  Welche  Neigung  hat  die  Horizont- 
flache zur  Erdachse  (Polhöhe)?"  Die  Fragen  können  gestellt  werden  für  jeden 
Ort  der  nördlichen  Erdhälfte  und  für  jeden  Tag  im  Jahre.  —  Der  dauerhaft 
und  mit  gewissenhafter  Genauigkeit  gearbeitete  Apparat  sei  als  brauchbares 
Anschauungsmittel  bestens  empfohlen;  der  Preis  beträgt  54  M. 

Gleich  nach  10  Uhr  wird  die  Pestalozziversammlung  durch  den  Vor- 
sitzenden, Gymnasiallehrer  a.  D:  Seilheim-Eberswalde,  eröffnet.  Es  erfolgt 
Absingung  der  Liedstrophe:  -Gieb,  dass  ich  thu  mit  Fleiß,  was  mir  zu  thun 
gebäret".  Nach  den  üblichen  Begrüßungen  und  den  darauf  folgenden  Dankes- 
worten nimmt  der  Vorsitzende  das  Wort  zu  einer  markigen  Ansprache  an  die 
zahlreich  besuchte  Versammlung  (400).  Leider  verbietet  es  uns  der  uns 
zugemessene  Raum,  näher  auf  die  treffliche,  von  Pestalozzis  Geist  und  Liebe 
erfüllte  Rede  einzugeben.  Hervorheben  aber  wollen  wir,  dass  der  Redner 
einer  von  den  Männern  gewesen  ist,  die  heute  vor  29  Jahren  an  der  Wiege 
des  jungen  Vereins  gestanden  und  seit  dieser  Zeit  nicht  müde  geworden  sind, 
in  hingebender  Liebesthätigkeit  den  armen  bedrängten  Witwen  und  Waisen 
zn  helfen  und  ihre  Noth  zu  lindern.  —  Die  sich  jetzt  geltend  machenden  Be- 
strebungen, den  Verein  in  einen  Rechtsverein  umzuwandeln,  weist  der  Redner 
zurück  und  bittet  alle  Collegen,  auch  fernerhin  die  freie  Liebesthätigkeit 
walten  zu  lassen,  die  Beiträge  aber,  da  die  Noth  der  Witwen  noch  immer  gar 
groß  sei,  nach  Kräften  erhöhen  zu  wollen.    (Folgt  Geschäftliches.) 

Damit  ist  die  heutige  Tagesordnung  erledigt  und  nach  Absingung  einer 
Liedstrophe  schließt  der  Vorsitzende  die  Versammlung. 

Am  Nachmittage  wurde  den  Gästen  ein  schöner  Genuss  durch  ein  herr- 
liches Kirchenconcert  bereitet,  das  mit  viel  Liebe  und  Sorgfalt  vorbereitet  und 
ausgeführt  wurde.  Allen  Mitwirkenden,  insonderheit  aber  dem  tüchtigen  Diri- 
genten Herrn  Lehrer  Albrecht-Luckenwalde  sei  an  dieser  Stelle  unser  wärmster 
Dank  dafür  gesagt.  Um  6  Uhr  begann  das  Festessen,  an  dem  reichlich  200 
Mitglieder  theilnahmen  und  das  die  Gäste  bis  nach  Mitternacht  zusammenhielt. 

Der  30.  September  brachte  uns  die  Hauptversammlung  des  Lehrer- 
verbandes der  Provinz  Brandenburg.  Bald  nach  10  Uhr  wurde  dieselbe  durch 
den  Vorsitzenden,  Hauptlehrer  Hohenstein -Brandenburg  a.  H.,  eröffnet.  Nacli 
Absingung  der  ersten  Strophe  des  Liedes:  „0  heü'ger  Geist,  kehr  bei  uns  ein'*, 
ergriff  der  Vorsitzende  das  Wort  zu  folgender  Ansprache: 

„Das  Alte  stürzt,  es  ändert  sich  die  Zeit,  und  neues  Leben  blüht  aus  den 
Ruinen.4  Diese  Worte  unseres  Schillers  drücken  die  Hoffnung  aus,  die  uns 
20  Anfang  unseres  Vereinsjahres  beseelte.    Das  Schulgetz  wurde  in  Aussicht 


*)  Hierüber  wären  oinige  Mitteilungen  erwünscht  gewesen.    D.  R. 


—    176  — 


gestellt.  Manche  Brust  hob  sich  erleichtert,  und  freudig  strömten  die  Worte 
des  Dichters  von  den  Lippen:  „Nun,  armes  Herz,  vergiss  der  Qualf  nun  muss 
sich  alles,  alles  wenden \u  Doch  zum  Schlüsse  derselben  heifit  es:  „Still,  auf 
gerettetem  Boot,  treibt  in  den  Hafen  der  Greis. w  Das  fast  seit  hundert 
Jahren  verheißene  und  erwartete  Schulgesetz  wurde  vorgelegt,  aber  es  brachte 
uns  nur  Enttäuschungen.  Die  Vertreter  der  Provinzialverbände  kamen  in  den 
Weihnachtsferien  in  Magdeburg  zusammen  und  „hielten  eifrig  Rath*,  welch«' 
Änderungen  bei  diesem  Gesetze  zum  Wole  der  Schule,  des  Volkes  und  des 
Staates  zu  wünschen  seien.  Diese  Wünsche  wurden  den  gesetzgebenden  Körper- 
schaften mitgetheilt,  aber  sie  fanden  bei  der  Berathung  des  Gesetzes  keine  Be- 
rücksichtigung. Die  Schule  bedarf  des  Friedens  und  muss  sein  eine  Stätte  des 
Friedens.  Das  Schulgesetz  aber  wurde  ein  Zankapfel  der  politischen  und 
religiösen  Parteien,  und  dabei  kann  die  Schule  nicht  gedeihen.  Die  Verhält- 
nisse gestalteten  sich  derartig,  dass  Herr  von  Gossler,  der  Schule  und  Lehrer 
stets  mit  Wolwollen  behandelt,  dem  wir  das  Pensionsgesetz,  die  Dienstalters- 
zulagen, den  Wegfall  der  Witwen-  und  Waisencassenbeiträge,  die  Halb-  und 
Ganzwaisengelder  zu  danken  haben,  der  unsere  freien  Vereinsbestrebungeu 
nicht  nur  duldete,  sondern  sogar  förderte,  der  überall  für  die  Achtung  und  die 
Ehre  unseres  Staudes  eintrat,  der  in  demselben  die  intellectuelle  und  moralische 
Kraft  erkannte,  die  fähig  und  stark  genug  sei,  alle  Verunglimpfungen  gebiirend 
abzuweisen  und  zu  ertragen,  der  die  Schule  als  einen  Eckstein  für  König  und 
Vaterland  hinstellte  —  und  dieses  alles,  meine  Herren,  wollen  wir  doch  ja 
nicht  vergessen  —  den  Ministersessel  verließ. 

Die  Zahl  unserer  Feinde  ist  auch  nicht  im  Abnehmen  begriffen,  und  in 
reichstem  Maße  sind  wir  in  diesem  Jahre  von  denselben  verunglimpft  worden. 
Herr  v.  Treitschke  führte  den  Beigen:  doch  ist  derselbe  nicht  mehr  ernst  zu 
nehmen.  Wer  so  wenig  Zeitgeschichte  kennt,  dass  er  uns  Ideen  unterschiebt, 
die  von  Geistern  stammen,  die  mit  ihm  gleiche  Bildung  genossen  haben,  der 
spielt  als  Historiker  eine  recht  klägliche  Rolle.  Wenn  er  sagt:  „Es  ist  ein 
schlechter  Geist  bei  den  Volksschullehrern  eingezogen,  sie  wenden  sich  von 
ihrer  eigentlichen  Beschäftigung  ab  und  halten  Versammlungen  ab",  so  beweist 
er  dadurch  nur.  dass  er  unsere  Versammlungen  gar  nicht  kennt.  Wir  arbeiten 
in  denselben  mit  Ernst.  Eifer  und  Hingebung  an  der  Hebung  der  Volksschule 
und  ihrer  Leiner  und  damit  für  das  Wol  unseres  deutschen  Volkes  und  zum 
Heile  des  Vaterlandes.  —  Der  Decan  Decker  in  Grünstadt  schreibt 
dagegen  in  der  r Union"  über  unsere  Versammlungen:  „ Vieles  der  Schule  Er- 
sprießliche ist  auf  den  Lehrerversammlungen  schon  beschlossen  und  ausgeführt 
worden.  Manches  hätten  die  Angehörigen  eines  Standes,  an  dessen  Wege 
reichliche  Dornen  wachsen,  nicht  erreicht,  wenn  sie  nicht  mit  vereinter  Kraft 
danach  gerungen  hätten.  Auch  sie  haben  erfahren,  dass  Einigkeit  stark  macht.*4 

Dr.  Cunradt ,  Gymnasialdirector  in  Greifenberg ,  gesellte  sich  Herrn 
v.  Treitschke  zu.  Seine  geringschätzigen  Äußerungen  über  unsere  Bildung  und 
Uber  unsere  Leistungen  sind  schon  von  anderen  Herren,  die  nicht  pro  domo, 
wie  Herr  Conradt,  gesprochen  haben,  in  das  rechte  Licht  gestellt  worden.  Herr 
Dr.  Thiel,  Geheimer  Oberregierungsrath,  sagt  bei  Berathung  der  Frage  über 
die  Ausbildung  von  Lehrern  an  Landwirtschaftsschulen:  „Die  Erfahrung  zeige, 
dass  die  Elementarlehrer  im  allgemeinen  bedeutend  bessere  Lehrer  als  die 
Gymnasiallehrer  seien."  —  Und  Herr  Professor  Dr.  Märcker-Halle  sagt:  „Bei 


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den  Prüftingen  der  Schüler  der  landwirtschaftlichen  Winterschulen  der  Provinz 
Sachsen,  welchen  er  im  Auftrage  der  Provinzialverwaltung  beizuwohnen  habe, 
zeige  sich  vielfach  bei  den  neueintretenden  Directoren  und  Lehrern  ein  »ehr 
bedenklicher  Mangel  hinsichtlich  der  Methodik  des  Unterrichts,  der  sich  be- 
sonders in  der  mangelhaften  Eintheilung  des  Stoffes  ausspreche.  Während  die 
professionellen,  d.  h.  seminaristisch  gebildeten  Lehrer,  welche  an  den  gleichen 
Anstalten  in  den  Elementargegenständen  unterrichten,  in  dieser  Beziehung  vor- 
züglich ausgebildet  seien  und  deshalb  auch  tiberall  Ausgezeichnetes  leisten,  trete 
der  Mangel  einer  seminaristischen  Vorbildung  bei  den  Fachlehrern  leider  häutig 
störend  hervor."  Wir  danken  diesen  Herren  für  ihre  Zeugnisse.  Herr 
r.  Treitscbke,  Herr  Conradt,  wie  siebt  die  Sache  jetzt  aus? 

Auch  Herr  von  Brühl,  unser  alter  Freund,  war  wieder  auf  dem  Plan. 
Bei  der  Berathung  der  Witwenpensionen  sagte  er:  „Man  müsse  bezüglich  der 
Concessionen  an  die  Lehrer  endlich  Halt  machen4*.  Ihm  zur  Seite  steht  die 
Koblenzer  Volkszeitung";  sie  schreibt:  „Der  Schulmeister  von  Sadowa  wird 
immer  gefräßiger;  es  ist  im  höchsten  Grade  noth wendig,  dass  man  ihm  endlich 
den  moralischen  Maulkorb  etwas  höher  hängt".  —  Die  Ausdrucksweise  ist  so 
wenig  edel,  dass  ich  der  Ehre  unseres  Standes  wegen  nicht  weiter  darauf  ein- 
gehen kann.  — 

Dagegen  schreibt  Herr  Pfarrer  Kohlrausch  in  seiner  Broschüre:  „Der 
evangelische  Geistliche  und  der  evangelische  Volksschullehrer" :  „Die  Besoldung 
der  Volksschullehrer  ist  eine  Schmach  und  Schande  für  unser  ganzes  Staats- 
wesen, und  man  begreift  nicht,  wie  diejenigen,  die  es  zu  verantworten  haben, 
ein  gutes  und  ruhiges  Gewissen  dabei  haben  können."  Und  unser  hoher  Chef, 
der  Herr  Cultusminister  v.  Zedlitz-Trütschler,  sagt  in  seinem  Erlasse  vom 
26.  Jnni:  „Dass  der  heutige  Zustand  den  Interessen  des  Unterrichtswesens 
und  den  billigen  Ansprüchen  des  Lehrerstandes  nicht  mehr  entspricht;  dass  zahl- 
reiche Beschwerden  und  allgemeine  Berichte  aus  neuerer  Zeit  die  Unhaltbarkeit 
der  gegenwärtigen  Verhältnisse  erkennen  lassen".  Wir  sind  Sr.  Excellenz  dieser 
Worte  wegen  ganz  besonders  dankbar.  Nach  einem  solchen  Zeugnisse  von  so 
hoher  Stelle  wird  doch  das  widerliche  Geschrei  niedrig  denkender  Seelen  von 
dem  „unzufriedenen  Schulmeister"  endlich  verstummen  müsBen. 

Meine  Herren,  wir  lassen  uns  nicht  irre  machen  durch  das  wüste  Geschrei 
ringsumher,  besonders  nicht  durch  das  der  Bochumer,  deren  bedeutendster  Ver- 
treter im  Abgeordnetenhause  Herr  Fuchs  war.  Wir  weisen  ganz  entschieden 
und  mit  Entrüstung  die  Unterschiebung,  dass  wir  die  religionslose  Schule  wollen, 
zarück.  Wir  fordern  den  Religionsunterricht  für  uns  als  Lehrgegenstand  in 
der  Schule;  wir  wollen  die  Lämmer  des  Herrn  weiden.  Wir  werden  deshalb 
nicht  ablassen,  uns  in  unseren  Versammlungen  anzuregen,  zu  begeistern  für 
den  hohen  Beruf,  den  Gott  uns  zugemessen.  Wir  werden  fort  und  fort  unsere 
Gedanken  austauschen  und  klären,  Irrthümer  und  falsche  Auffassungen  be- 
richtigen nod  unsern  Gesichtskreis  erweitern,  damit  wir  immer  würdiger  wei  den, 
das  zu  sein ,  was  unser  hoher  Chef  am  6.  Mai  im  Abgeordnetenhause  von  uns 
«agte,  als  er  die  unB  gemachten  Vorwürfe  mit  aller  Energie  zurückwies:  „Der 
Volkft8chullehrer  soll  ein  Hoherpriester  am  Hausaltare  unseres  Volkes  sein ;  aber 
ich  bestreite,  dass  die  Lehrer  dieser  Aufgabe  nicht  voll  genügen. "  Wir  steheu 
and  haben  immer  gestanden  im  Dienste  der  Ideen  unseres  erhabenen  Kaisers 
über  Lehrerbildung  und  Erziehung.  Wir  wollen  erziehen  ein  Volk,  das  sich 


—    178  - 


nicht  kehrt  an  falsche  Rede,  das  in  allen  Verkältnissen  treu  dem  Könige,  das 
in  Zeiten  der  Noth  Gut  nnd  Blut  opfert  für  die  Ehre  des  Vaterlande«;  denn 
„nichtswürdig  ist  die  Nation,  die  nicht  ihr  Alles  freudig  setzt  an  ihre  Ehre-. 
Unser  Wahlspruch  ist  und  bleibt:  „Mit  Gott  für  König  und  Vaterland!"  Ich 
fordere  Sie  auf,  sich  zu  erheben  nnd  mit  mir  einzustimmen  in  den  Ruf:  Kaiser 
Wilhelm,  der  Schirmer  des  Rechts,  der  Helfer  der  Schwachen,  der  Wahrer  des 
Friedens,  der  Förderer  der  Bildung  und  Wissenschaften,  der  Hüter  altdeutscher 
Sitte,  der  Pfleger  christlicher  Zucht,  er  lebe  hoch,  hoch,  hoch!  — 

Mit  großer  Begeisterung  stimmt  die  Versammlung  in  diesen  Hochruf  ein. 
Nachdem  noch  einige  Begrüßungen  ausgetauscht  sind,  wird  das  an  den  Herrn 
Unterrichtsminister  beschlossene  Telegramm  verlesen;  dasselbe  lautet:  „Sr.  Ex* 
cellenz  dem  hochverehrten  Chef  der  Unterrichtsverwaltung  senden  die  heute 
zur  Generalversammlung  anwesenden  Hitglieder  des  Brandenbnrgischen 
Provinziallehrerverbandes  ihren  ehrerbietigsten  Dank  und  Gruß". 

Aus  dem  Jahresbericht  des  Vorsitzenden  sei  noch  kurz  hervorgehoben: 
Unser  Verband  befindet  sich  nach  allen  Seiten  in  aufsteigender  Bewegung. 
Der  Besuch  in  den  Versammlungen  der  Einzelverbände  war  ein  sehr  reger  und 
ist  auch  dementsprechend  gearbeitet  worden.  Die  Berathung  des  Schulgesetzes 
hat  in  den  meisten  Verbänden  verschiedene  Versammlungen  beansprucht,  außer 
dieser  Arbeit  sind  aber  noch  753  Vorträge  gehalten  worden,  die  größtenteils 
Fragen  aus  unsenn  Beruf  behandelten.  Sie  sind  ein  Beweis  dafür,  wie  überall 
die  Lehrer  bestrebt  sind,  ihre  Zeit  zu  verstehen  und  sich  auf  der  Höhe  der  Zeit 
zu  erhalten.  Erfreulich  ist  es  auch,  dass  sich  in  verschiedenen  Verbänden 
Abtheilungen  bildeten,  welche  die  einzelnen  Unterrichtsdisciplinen  zum  Gegen- 
stande ihrer  Arbeit  gemacht  haben.  —  In  einzelnen  Gegenden  unserer  Provinz 
stehen  die  Lehrer  leider  noch  dem  Vereinsleben  vollständig  fremd  gegenüber: 
das  Diesterwegjahr,  auch  die  Vorlage  des  Schulgesetzes  hat  dieselben  nicht 
bewegen  können,  sich  an  der  gemeinsamen  Arbeit  zu  betheiligen;  möge  das 
Comeniusjahr  sie  dazu  treiben! 

Es  erhält  nunmehr  das  Wort  Herr  Lehrer  Otto- Charlottenburg  zu  seinem 
Vortrage:  „Die  Reform  des  Volksschulnnterrichts  im  Sinne  des  kaiserlichen 
Erlasses-.  Wir  müssen  uns  hier  damit  begnügen,  aus  dem  inhaltsreichen, 
schwungvollen  und  formschönen  Vortrage  die  Leitsätze  wieder  zu  geben:  I.  Der 
kaiserliche  Erlass  vem  1.  Mai  1889  fordert  mit  Recht  von  der  Schule,  dass 
sie  der  Ausbreitung  socialistischer  und  commnnistischer  Ideen  entgegen  arbeite; 
indessen  kann  die  Schule  nur  eine  beschränkte  Wirksamkeit  entfalten,  da  sie 
a)  nur  einen  Factor  in  der  Reihe  der  culturbildenden  Momente  eines  Volkes 
bildet,  und  b)  nicht  direct  in  die  socialen  Kämpfe  der  Gegenwart  einzugreifen 
vermag.  II.  Um  im  Sinne  des  kaiserlichen  Erlasses  zu  wirken,  ist  eine  Reform 
des  Religionsunterrichtes  und  eine  solche  des  Geschichtsunterrichtes  geboten. 
Dieselbe  ist  vorwiegend  stofflicher,  aber  auch  methodischer  Natur.  III.  Im 
Religionsnnterricht  ist  aj  der  Memorierstoff  auf  das  Nothwendige  zu  beschränken 
(zeitgemäße  Umgestaltung  von  Luthers  Erklärungen),  b)  muss  die  ethische  Seite 
in  den  Vordergrund  treten  (Zurücktreten  des  alten  Testaments  vor  dem  Lebens- 
bilde Christi).  IV.  Im  Geschichtsunterricht  muss  a)  neue  und  neueste  Zeit- 
geschichte besonders  getrieben  werden,  b)  ist  die  Geschichte  culturgeschichtlich 
zu  treiben  (Mangel  an  geeigneten  Lehrbüchern  für  den  Lehrer).  Belehrungeu 
über  Volkswirtschaft  und  socialpolitische  Gesetzgebung  sind  bei  geeigneter 


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—    179  — 

Veranlassung  mit  Geschichte,  Religion,  Geographie  und  Rechnen  zu  verknüpfen. 
V.  Einer  befriedigenden  Lösung  der  gestellten  Aufgabe  treten  zur  Zeit  noch 
mancherlei  Hindernisse  in  den  Weg  (Mangel  einer  obligatorischen  Fortbildungs- 
schale, überfüllte  Sehulclassen  u.  a.).  —  Der  Vortrag  wurde  von  der  Ver- 
sammlung mit  rauschendem  Beifall  auf-  und  die  Thesen  ohne  Debatte  unverändert 
angenommen. 

Nach  einer  kurzen  Pause  von  15  Min.  erhält  Herr  Mielecke-Spandau  das 
Wort  zu  seinem  Vortrage:  „Die  Sprachgebrechen  unserer  Schulkinder,  ihre 
Verhütung  und  Bekämpfung".  Auch  dieser  Vortrag  fand  Anklang  und  wurde 
mit  Beifall  aufgenommen.  In  der  Specialdebatte  wurden  statt  der  vom  Vor- 
tragenden aufgestellten  Thesen  folgende  drei  angenommen:  1.  Die  Maßnahmen 
zur  Verhütung  und  Bekämpfung  der  Sprachgebrechen  in  der  Schule  sind  noth- 
wendig:  denn  diese  üben  einen  unheilvollen  Einflnss  auf  die  Entwickelung  des 
Kindes  aus.  2.  Es  ist  nöthig,  dass  der  angehende  Lehrer  im  Seminar  mit  dem 
Wesen,  den  Ursachen,  der  Entwickelung  der  Sprachgebrechen  und  mit  der 
Methode  zur  Heilung  theoretisch  und  praktisch  vertraut  gemacht  werde.  3.  Die 
Bekämpfung  der  Sprachgebrechen  unserer  Schulkinder  bildet  die  zur  Zeit  dring- 
lichere Seite  dieser  Frage.  Die  Verhütung  derselben  aber  ist  die  wichtigere. 

Das  Schlusswort  spricht  der  Herr  Ehrenpräsident,  Pastor  prim.  Seyffarth- 
Liegnite.  In  demselben  gibt  er  in  einem  Rückblick  eine  knrze  Entwicklungs- 
geschichte des  Brandenburger  Provinziallehrerverbandes  seit  20  Jahren  und 
zeigt,  wie  sich  die  Versammlungen  immer  würdiger  entwickelt,  die  Verhand- 
inngen stets  ruhiger  gestaltet  haben.  Sollen  die  Hauptversammlungen  nach 
außen  hin  wirken,  so  liegt  doch  der  »Schwerpunkt  gerade  in  den  Sectionssitzungen . 
nnd  diese  sind  es  eben,  die  sich  in  den  letzten  Jahren  kräftig  entwickelt  haben. 
—  Es  ruht  ein  großer  Segen  auf  diesen  Versammlungen,  den  jeder  fühlen  muss, 
der  sich  daran  betheiligt.  Auch  edler  Frohsinn  sei  zu  pflegen :  doch  sind  uns 
als  Pädagogen  gewisse  Grenzen  gezogen,  die  wir  im  eigensten  Interesse  nicht 
überschreiten  dürfen.  —  Mit  Dankesworten  an  alle,  die  zu  dem  schönen 
Gelingen  dieser  Arbeits-  und  Festtage  beigetragen  haben,  sowie  auch  mit  Dank 
gegen  die  Vertreter  der  königl.  Regierung  und  der  städtischen  Behörden  schließt 
der  Redner.  Die  Versammlung  aber  singt  noch:  „Lob,  Ehr'  nnd  Preis  sei 
Gott"  und  geht  dann  mit  dem  Wunsche:  Anf  Wiedersehen  im  nächsten  Jahre 
in  Sorau!  auseinander. 

Für  den  Rest  des  Nachmittages  waren  noch  die  Besichtigungen  einer 
Hut-  nnd  Tuchfabrik,  sowie  ein  kleiner  Ausflug  in  die  Umgebung  der  Stadt 
Luckenwalde  geplant,  während  der  Abend  noch  die  Festtheilnehmer  bei  einem 
Concert  im  Schützenhause  vereinigen  sollte.  Viele  Festgenossen  indessen  reisten 
mit  den  nächsten  Zügen  bereits  ab  nnd  eilten  der  Heimat  zu.  Alle  aber,  des 
sind  wir  gewiss,  werden  dankerfüllten  Herzens  an  die  arbeitsreichen,  aber  doch 
auch  so  schönen  Tage  von  Luckenwalde  zurückdenken.  Den  braven  Lucken- 
walder  Collegen  aber  sei  hier  an  dieser  Stelle  noch  einmal  unser  wärmster 
Dank  für  alle  uns  erwiesene  Freundlichkeit  und  für  die  große  Mühe  und  Arbeit, 
die  sie  gehabt,  um  uns  eine  so  gastliche  Stätte  zu  bereiten,  ausgesprochen. 

Rector  Fr.  Friesicke-Freienwalde  a/0. 


Aus  Preußen.  [Niederer  Küsterdienst.]  Bekanntlich  ist  neuerdings 
der  niedere  Köster-  bez.  Messnerdienst,  welcher  in  Preußen  (und  auch  in  anderen 


—    180  — 


deutschen  Ländern)  vielen  Volksschnllehrern  obliegt,  «ehr  lebhaft  besprochen 
worden.  Worum  es  sich  da  eigentlich  handelt,  was  also  den  betreffenden 
Lehrern  neben  ihrem  Hauptdienste,  der  meist  eine  ganze  Kraft  verlangt,  noch 
zugemuthet  wird,  ersieht  man  aus  folgender  Mittheilung  der  Berliner  „Pädai?. 
Zeitung":  „Der  Minister  hat  vor  einiger  Zeit  Erhebungen  angeordnet  Ober 
den  Umfang  und  die  Weise,  wie  Kirchendienste  mit  Volksschullehrerstellen 
verbanden  sind,  namentlich  sollten  die  Regierungen  zur  Vermeidung  irriger 
Auffassung  Anleitung  geben,  was  als  niederer  Kirchendienst  anzusehen  ist. 
Dahin  ist  zu  rechnen:  a)  in  evangelischen  und  katholischen  Gemeinden:  Auf- 
nnd  Zuschließen,  Lüften  der  Kirche  und  Sacristei,  Lauten,  Anzünden  und 
Löschen  der  Kirchenlichte,  Anstecken  bez.  Schreiben  der  Liedernummern,  Setzen 
der  Stühle,  Aufstellen  der  Sammelbüchsen,  Aufrechterhaltung  der  äußeren 
Ordnung  beim  Gottesdienste  und  bei  den  geistlichen  Handlungen,  Besorgung 
von  Hostien.  Brot  und  Wein  für  die  Abendmahlsfeier,  Beschaffung  und  Auf- 
stecken der  Lichte,  Reinigen  der  Altargeräthe,  Beziehen  und  Schmücken  von 
Altar  und  Kanzel,  Heizung  der  Kirche  und  Sacristei,  Balgentreten  und  Schmieren, 
Reinigen  der  Kirche,  Kirchen  Wäsche,  sowie  Reinigung  und  Aufbewahrung  der 
vasa  sacra,  Dienstleistungen  bei  Taufen,  Stellung  von  Handtüchern,  Besorgung 
von  Glockenfett,  Schmieren  der  Glocken,  Glockenriemen  und  Kirchen  thüren, 
Ölen,  Aufziehen  und  Stellen  der  Thurmuhr,  Aufbewahrung  der  Kirchen- 
schlüssel, Begleitung  der  Geistlichen  zn  Krankencommunionen  nnd  zu  sonstigen 
Ministerialhandlungen,  sowie  Tragen  der  vasa  sacra,  Grabanweisung,  Reinigung 
des  Kirchhofs  und  der  Wege  von  der  Straße  zur  Kirche,  Beschneiden  der 
Kirchhofshecken,  Einladen  der  kirchlichen  Gemeindeorgane  zu  den  Sitzungen, 
Beförderung  von  Oircularen;  b)  speciell  in  den  evangelischen  Gemeinden:  Ein- 
sammlung des  Opfers  bei  Ministerialhandlungen,  Erhebung  und  Einsammlung 
besonderer  kirchlicher  Abgaben,  sowie  des  Geldes  für  Grabstellen,  Einladung 
zu  Hochzeiten  und  Leichenbegängnissen,  Patent-Controle,  Currendebeförderung, 
Gesang  bei  Beerdigungen ;  c)  speciell  in  den  katholischen  Gemeinden :  Besorgung 
der  Kohlen  zur  Räucherung,  An-  und  Auskleiden  der  Geistlichen  zu  den  Amts- 
handlungen, Unterhaltung  der  ewigen  Lampe,  Auslegen  und  Verwahren  der 
Paramente,  Besorgung  des  Weihwassers,  Besorgung  der  Todtenbahre  bei  Requial- 
messen,  Bedienung  der  Chorlampe. u    Sapienti  sat! 


Ans  Sachsen.  Will  man  unBer  in  ruhiger  Entwicklung  begriffenes 
Schulwesen  mit  einem  Schiff  vergleichen,  so  lässt  sich  auf  dasselbe  das  Wort 
Uhlands  anwenden: 

Ein  Schifflein  ziehet  leise 
Den  Strom  hin  sein  Geleise. 

Zuweilen  aber  hält  das  Schulschiff  an,  die  Insassen  steigen  ans  Land  nnd 
vereinigen  sich  zu  ernst-fröhlicher  Versammlung.  So  war  es  auch  letzte 
Michaelisferien,  in  weichender  Allgemeine  Sächsische  Lehrerverein  seine 
IX.  Generalversammlung  (seit  der  Reorganisation  von  1874)  abhielt,  nnd 
zwar  in  der  Haupt-  und  Residenzstadt  Dresden.  3002  Personen  des  Lehr- 
standes hatten  das  Schulschiff  verlassen  und  traten  in  großer  Versammlung  vor 
die  Öffentlichkeit.  Mit  so  hoher  Theilnehmerzahl  hat  die  Dresdner  Versammlung 
die  Größe  der  letzten  Allgera.  Deutsch.  Lehrerversammlung  in  Mannheim  erreicht 


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181 


and  zugleich  alle  bisherigen  Bächsischen  Lehrer  Versammlungen  über  troffen 
(i  „P*d.u  X,  H.  3  und  XII,  H.  3).  Der  so  zahlreiche  Besuch  ist  jedenfalls 
auch  der  schönen  und  centralen  Lage  Dresdens  mit  zuzuschreiben. 

Den  27.  September  abends  7  Uhr:  Versammlung  der  Abgeordneten 
(Delegirten)  im  Saale  der  Altstädter  Freimaurerloge.    Der  Schriftführer  Dir. 
Altner-Dresden  erstattet  den  Jahresbericht  über  die  Thätigkeit  des  Allg. 
Sachs.  L.-V.  und  seines  Vorstandes:  Der  Verein  umfasse  z.  Z.  6700  Mit- 
glieder, 500  mehr  als  im  vorigen  Jahre.  Er  gliedert  sich  in  66  Bezirkavereiue, 
welche  durch  206  Delegirte  vertreten  werden.   (  Auf  je  30  Mitglieder  ist  ein 
Delegirter   zu   wählen.)    Die  66  Bezirksvereine  hielten  im  Berichtsjahre 
1.  Oct.  1890 — 30.  Sept.  1891)  399  Versammlungen  ab,  in  welchen  haupt- 
sächlich die  Frage  einer  Revision  bez.  Verminderung  des  religiösen  Memorir- 
stoffes  erwogen  wurde.  Der  gesetzlich  vorgeschriebene  religiöse  Memorir- 
stoff  (Verlag  von  A.  Huhle,  Dresden)  ist  vom  Bez.-Ver.  Chemnitz  einer 
Revision  unterzogen  worden;  das  Gutachten  wurde  in  der  „Sächs.  Schulztg." 
veröffentlicht  (1891,  Nr.  26)  und  von  54  Bezirks  vereinen  durchberathen.  Das 
Ergebnis  der  Berathungen  ist  ein  sehr  verschiedenes:  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  mnss  sich  eine  Majorität  für  die  Revision  und  Beschränkung  des 
Memorirstoffes  ergeben,  nach  den  vorhandenen  Unterlagen  lässt  sich  aber 
noch  nicht  feststellen,  was  an  Stelle  des  bisher  Gültigen  treten  soll.  Das  vor- 
handene Material  wird  daher,  soweit  es  sich  dazu  eignet,  durch  die  „Sächs. 
.Scholztg.-  veröffentlicht  werden,  damit  eine  abermalige  Aussprache  erfolge, 
und  die  Bezirksvereine  Dresden  und  Freiberg  werden  mit  der  Ausarbeitung 
einer  endgültigen  Vorlage  betraut,  die  sodann  dem  kgl.  Ministerium  des  Cultus 
und  öffentlichen  Unterrichts  zugehen  soll  mit  der  Bitte,  die  vorgenommene 
Revision  gutzuheißen  und  gesetzlich  durchzuführen.  —  In  den  34)9  Sitzungen 
der  Bezirksvereine  sind  viele  wichtige  Fragen  aus  den  verschiedensten  Unter- 
richtsfächern erörtert ,  auch  Berichte  entgegengenommen  worden  über  die 
Mannheimer  Allgemeine  Deutsche  Lehrerversammlung  (5mal).    In  wirklich 
erhebender  Weise  ist  1890  Altmeister  Diesterweg  gefeiert  worden.  Aus 
24  Bezirken  liegen  darüber  Berichte  vor.  Nicht  minder  sind  im  Diesterweg- 
•Jahre  Pestalozzi,  Comenius,  Dittes  und  (in  diesem  Jahre)  Th.  Körner  gefeiert 
worden.  Von  literarischen  Erscheinungen  wurden  in  vielen  Vereinen  besprochen: 
1.  GüBfeldt:  „Die  Erziehung  der  deutschen  Jugend",  2.  Dr.  Langbein:  „Rem- 
braodt  als  Erzieher"  und  3.  M.  v.  Egidy:  r Ernste  Gedanken"  (über  die 
christliche  Religion),  Verlag  von  0.  Wigand,  Leipzig.  Letztgenanntes  Büchlein 
enthält  „ernste  Gedanken",  die  schon  oft  in  wissenschaftlichen  Werken  aus- 
gesprochen, aber  erst  jetzt  ins  Volk  drangen,  z.  B.  über  die  Frage:  „Ist  denn 
überhaupt  die  Rechtgläubigkeit  das  Wesentlichste  für  einen  rechtschaffenen 
Christen?  (S.  16)u.    Aufsehen  erregte  das  Schriftchen  besonders  deshalb,  weil 
der  Verfasser  Oberstlieutenant  und  etatsmäßiger  Kgl.  Sächs.  Stabsofhcier  war, 
der  nach  Erscheinen  seiner  Schrift  seinen  Abschied  nahm. 

Auf  vielfache  Anregungen  hin  hat  der  Vorstand  des  Allg.  S.  L.-V. 
tiesuche  an  die  Kgl.  Regierung  gerichtet,  es  möge  im  Verordnungswege  eine 
einheitliche  Schrift  (Antiqua)  und  für  alle  Bildungsanstalten  eine 
übereinstimmende  Censurenscala  eingeführt  werden.  Ersteres  ist 
wönschenswert ,  letzteres  nothwendig.  Der  Cassenbe rieht  weist  nach 
Abzug  der  Kosten  für  die  9.  Generalversammlung  einen  Bestand  von  4500  M. 


-    182  — 


auf,  von  welchen  sofort  500  M.  einstimmig  der  Comeniusstiftung  (päd. 
Central bibliothek)  zu  Leipzig  überwiesen  werden;  auch  im  Vorjahre  sind  der 
Bibliothek  vom  Allg.  S.  L.-V.  500  M.  zugeflossen.  Möchten  doch  alle  deutschen 
Lehrervereine  nach  ihren  Vermögensverhältnissen  die  Comeniusstiftung  unter- 
stützen, damit  sie  nicht  wieder  wie  die  letzten  Male  bei  einem  Deficit  anlange 
und  schließlich  gar  unter  den  Hammer  komme!  Die  deutsche  Lehrerschaft 
erhalte  das  Werk  Beegers  in  ihrem  eigenen  Interesse  (Vergl.  den  Bericht  über 
die  Stiftung  auf  der  Mannheimer  A.  D.  L.-Vers.)  —  Die  Delegirtenversammlung 
beschloss  weiter,  an  die  Kgl.  Regierung  und  die  demnächst  wieder  zusammen- 
tretenden Landstande  eine  vom  Vorstande  zur  Verlesung  gebrachte  Petition 
einzureichen,  in  welcher  um  Erhöhung  der  gesetzlichen  Hinimalgehalte 
(s.  Paed.  XII,  H.  9)  und  Übernahme  der  Alterszulagen  auf  die  Staatscasse 
gebeten  wird.  Die  Hauptversammlung  am  folgenden  Tage  trat  diesem  Beschlüsse 
bei.  Im  letzten  Vereinsjahre  ist  ein  Mitglied  des  Vorstandes  (Dir.  Fink-Zittau) 
zum  kgl.  Bezirks-Schulinspector  in  Camenz,  der  Geburtsstadt  Leasings,  ernannt 
worden.  Der  neugewählte  Vorstand  besteht  aus  9  Mitgliedern:  Schumann- 
Dresden,  Altner- Dresden,  Kleinert-Dresden  (Redacteur  der  trefflichen  „Allgem. 
Deutschen  Lehrerzeitung u,  Leipzig,  Klinkhardt),  Schunack-Zwickau ,  Freyer- 
Leipzig,  Kuhnert-Chemnitz,  Röder-Johanngeorgenstadt,  Morgenstern-Hermanns- 
dorf, Schäfer-Zittau.  Zum  Schlüsse  erstattete  Dir.  Jahn-Dresden  Bericht  über 
den  Stand  der  neuen  Kolbe -Stiftung  im  Sächs.  Pestalozzi  verein,  welche  z.  Z. 
3794  M.  betragt  und  von  welcher  die  Zinsen  dazu  dienen  sollen,  solche  Lehrer- 
familien zu  unterstützen,  deren  Oberhaupt  geistiger  Umnachtung  verfallen  ist.  — 
Die  1.  Hauptversammlung  ain  28.  September  wurde  durch  die 
Anwesenheit  Sr.  Exc.  des  Herrn  Unterrichtsministers  Dr.  v.  Gerber 
zur  wichtigsten  von  allen,  die  der  Allg.  S.  L.-V.  in  den  letzten  20  Jahren  ab- 
gehalten hat.  —  Der  Vorsitzende,  Dir.  Schumann-Dresden,  begrüßte  zunächst 
die  Versammlung  mit  einer  Ansprache,  in  der  er  betonte:  Der  Allg.  S.  L.-V. 
nnd  damit  zugleich  der  sächsische  Lelirerstand  habe  schon  viel  erreicht,  aber  noch 
gelte  es,  in  festem  Zusammenschluss  fortgesetzt  zu  arbeiten  an  der  Vervoll- 
kommnung unserer  Person,  unserer  Stellung,  unserer  Wissenschaft, 
unserer  Kunst!  In  Vertretung  des  Oberbürgermeisters  wurde  sodann  die 
Versammlung  namens  der  Stadt  Dresden  begrüßt  von  Bürgermeister  Bönisch, 
welcher  sagte:  „Wir  dürfen  Sie  als  die  würdigsten  und  besten  Mitarbeiter  an 
unseren  communalen  Bestrebungen  begrüßen."  Die  Volksschule,  bemerkte  Hr. 
Bürgermeister  Bönisch  weiter,  bilde  anerkanntermaßen  einen  der  hervorragendsten 
Verwaltungszweige  der  Gemeinden.  Gelten  doch  die  hohen  edlen  Zwecke  der 
Schule  der  Erziehung  tüchtiger,  brauchbarer  Menschen,  tüchtiger  Bürger  der 
Gemeinde  und  des  Staates,  der  Erziehung  von  Männern,  die  vor  allem  ihr 
Vaterland  lieben  und  ihm  zu  nützen  suchen.  Die  Stadt  Dresden  sei  sich  dieses 
Zieles  der  Schule  wolbewusst,  und  wenn  dieses  Ziel  überhaupt  erreicht  wird, 
so  sei  dies  der  tüchtigen  und  gewissenhaften  Arbeit  der  Lehrerschaft  zu  danken. 
Was  in  Dresden  der  Fall,  das  güt  für  das  ganze  Land.  Heute  seien,  Gott  sei 
Dank,  die  Zeiten  vorüber,  da  man  der  Schule  sich  noch  missgünstig  gegenüber- 
stellte. (?)  Mit  freudiger  Empfindnng  beobachtet  man  heute,  wie  sich  zwischen 
Schule  und  Haus,  Lehrern  und  Kindern  und  Eltern  ein  freundliches  Band  des 
Vertrauens  und  der  Hochachtung  geschlungen  hat.  So  begrüße  er  denn  die 
Versammlung  namens  der  Stadt  Dresden  auf  das  herzlichste,  mit  dem  Wunsche, 


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-   18a  — 

dass  die  Verhandlangen  von  den  ersprießlichsten  Erfolgen  begleitet  sein  and  die 
zu  Tage  tretenden  Anregungen  auf  recht  fruchtbaren  Boden  zum  Heile  der 
Schule  und  des  Gemeinwesens  fallen,  dass  damit  aber  auch  alle  Tbeilnehmer 
ein  recht  freundliches  Andenken  an  die  Stadt  Dresden  mit  hinwegnehmen  mögeu. 
Lautes  Bravo!)  Den  ersten  Vortrag  hielt  Herr  Oberlehrer  Zemmrich-Zwickau 
über  die  Frage:  Bedarf  die  Volksschule  einer  Vermehrung  der  Religions- 
stunden? Die  letzte  (V.)  evang.-luth.  Landessynode  des  KÖnigr.  Sachsen  hat 
eine  Petition  einer  Predigerconferenz  um  Vermehrung  der  Religionsstunden  der 
Volksschule  zur  Erwägung  bez.  Berücksichtigung  überwiesen;  seitdem  ist  obige 
Frage  bei  uns  eine  vielbesprochene.  Redner  beantwortet  sie  vollständig  negativ. 
Er  legt  den  Schwerpunkt  des  Religionsunterrichtes  in  die  Intensität  desselben, 
die  sich  aber  nur  durch  eine  Änderung  des  bisher  üblichen  (scholastischen) 
Lehrverfahrens  erreichen  Iässt.  Unser  heutiger  Religionsunterricht  leide  nicht 
nur  unter  dem  Encyklopädismus ,  sondern  auch  unter  der  Systematik. 
Die  Anwendung  der  letzteren  sei  für  die  Fassungskraft  der  Kinder  viel  zu 
hoch.  In  der  praktischen  Theologie  herrsche  gegenwärtig  eine  Bewegung,  die 
systematische  Dogmatik  von  der  Kanzel  zu  verweisen,  warum  solle  sie  nicht 
auch  aus  der  Schule  treten  können?  Redner  schließt  seinen  wiederholt  mit 
Beifallsrufen  unterbrochenen  Vortrag,  indem  er  folgende  Resolution  einbringt: 
„In  Erwägung  dessen,  dass 

1.  die  dem  Hohen  Landesconsistorium  eingereichten  Ephoralberichte  über 
die  Ertheilung  des  Religionsunterrichts  in  den  Volksschulen  ihre  Be- 
friedigung über  den  fraglichen  Unterricht  ausgesprochen  haben, 

2.  die  Verordnung  des  Hohen  Ministeriums  des  Cultus  und  öffentlichen 
Unterrichts  vom  21.  Mai  1881  für  die  Schulen,  in  welchen  die 
Ergebnisse  des  Religionsunterrichts  den  Anforderungen  der  Behörden 
nicht  entsprechen,  bereits  eine  zeitweilige  Vermehrung  der  Religions- 
stunden bestimmt, 

3.  in  der  Erreichung  des  Ziels  des  Memorirens  keine  allgemeine 
Unsicherheit  zu  erkennen  ist, 

4.  die  hie  und  da  beobachtete  Unsicherheit  der  Kinder  in  der  Beherr- 
schung des  religiösen  Memorirstoffs  nicht  in  dem  Mangel  an  Zeit, 
sondern  vielmehr  darin,  dass  ein  Theil  des  fraglichen  vorgeschriebenen 
Stoffes  zu  wenig  der  kindlichen  Fassungskraft  entspricht  und  nach 
Inhalt  und  Form  als  ungeeignet  zu  bezeichnen  ist,  ihre  Erklärung  findet, 

5.  bei  richtiger  Vertheilung  des  religiösen  Memorierstoffs  auf  die  einzelnen 
Altersstufen  —  die  Sichtung  und  Verringerung  desselben  voraus- 
gesetzt —  und  richtigerGestaltung  der  Wiederholung  die  zu  wünschende 
Sicherheit  in  der  Beherrschung  desselben  seitens  der  Kinder  sich  wol 
erreichen  lässt, 

6.  die  Zahl  der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden  aus  gesundheitlichen 
Gründen  in  den  mittleren  und  höheren  Volksschulen  nicht  vennehrt, 
auch 

7.  die  den  übrigen  Unterrichtsfächern  zugewiesene  Zeit  aus  didactischen 
und  erzieherischen  Gründen  nicht  verkürzt,  ingleichen 

8.  von  den  in  §  2  des  Volksschulgesetzes  vom  26.  April  1873  vor- 
gesehenen wesentlichen  Gegenständen  des  Unterrichts  ohne  Schädigung 
des  Erziehungszweckes  keiner  gestrichen  werden  kann. 


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—  184 


9.  Sachsens  Volksschulen  den  Luchsten  procentnalen  Satz  an  Religions- 
stunden  besitzen  und  endlich 
10.  die  erziehliche  Wirkung  des  Religionsunterrichts  nicht  von  der  dem- 
selben gewidmeten  Zeit,  auch  nicht  von  der  Masse,  sondern  allein  von 
der  Intensität  des  religiösen  Wissens  abhängt, 
vermag  die  9.  Hauptversammlung  des  Allgemeinen  Sächsischen  Lehrervereins 
die  Notwendigkeit  einer  Vermehrung  der  Religionsstunden  nicht  anzuerkennen, 
wol  aber  hält  dieselbe  angesichts  der  großen  Gefahren  des  sittlich-religiösen 
Lebens  eine  Vertiefung  des  religiösen  Wissens  und  zur  Erreichung  dieses 
Zweckes  eine  Beform  des  Religionsunterrichts  auf  der  Oberstufe  für  geboten 
und  zwar  dahingehend,  dass  der  Katechismusnnterricht  und  der  Unterricht  in 
der  biblischen  Geschichte  vereinigt  werde,  letzterer  die  Grandlage  der  religiösen 
Unterweisung  bilde  und  die  Kinder  insbesondere  eine  lebendige,  möglichst 
eingehende  Anschauung  und  Kenntnis  des  Lebens,  der  Wirksamkeit  nnd  der 
Lehre  des  Erlösers  und  der  Apostel  erhalten."  Die  Resolution  gelangte  nach 
kurzer  Debatte  gegen  3  Stimmen  (von  etwa  2200)  zur  Annahme.  An  der 
Debatte  betheiligte  sich  als  Gast  Consistorialrath  und  Superintendent  Dr.  tb. 
Dibelius- Dresden;  er  ging  auf  einige  Punkte  in  der  Begründung  der  Thesen 
ein  und  schloss  mit  einem  Danke  an  den  Vortragenden,  dass  dieser  am  Schlüsse 
des  Vortrages  klar  ausgesprochen  habe:  Nur  das  eine  Ziel  sei  zu  verfolgen, 
die  Kinder  zu  Christo  zu  führen.  (Beifall.)  Der  dem  e  in  flu  issreiche  u 
geistlichen  Redner  gezollte  Beifall  erklärt  sich  daraus,  dass  der  Lehrerstand 
mit  dem  genannten  Ziele  sittlich- religiöser  Bildung  vollständig  einverstanden 
ist  und  von  je  einverstanden  war.  Ja,  es  sei  hier  ausdrücklich  ausgesprochen, 
dass  die  Lehrerschaft  niemals  ein  anderes  als  das  angegebene  Ziel  religiöser 
Jugendbildung  gewollt  hat  und  auch  niemals  ein  anderes  erstreben  wird!  Des 
darf  die  gesaiumte  Geistlichkeit  sicher  sein!  Nur  über  den  Weg  zu  diesem 
Ziele  sind  die  Lehrer  mit  den  Geistlichen  nicht  allenthalben  einer  Meinung. 

„Uber  die  wirksamsten  Mittel  zur  Hebung  des  Lehrerstandes. 
Historisch-politische  Betrachtung",  so  lautete  das  Thema  des  2.  Vortrages, 
gehalten  von  Sem. -Dir.  Schulrath  Israel-Zschopau.  Diese  Betrachtung 
hatte  schon  an  sich  hohen  Wert:  sie  wurde  aber  noch  wertvoller,  weil  sie 
angestellt  ward  von  einem  Manne,  der  nicht  (wie  manche  —  oder  viele?  — 
seinesgleichen»  auf  hohem  Kothurn  einhersclireitet,  sondern  nach  dem  Vor- 
bilde Diesterwegs  fleißig  mit  den  Lehrern  verkehrt;  drittens  war  es  von 
Bedeutung,  dass  Se.  Exc.  der  Herr  Unterrichtsminister  gerade  diesem 
Vortrage  zuhörte.  Kurz  nach  Beginn  desselben  war  der  Minister  in  Begleitung 
des  Geh.  Schulraths  Kockel  erschienen.  Der  Redner  (Heiausgeber  von  „Neu- 
drucken päd.  Schritten",  Zschopau  bei  Kaschke)  entwarf  auf  Grund  reicher 
Quellenstudien  ein  Bild  der  ganzen  historischen  Entwicklung  des  (deutschen) 
Lehrerstandes.  Er  wies  nach,  wie  der  Lehrerstand  durch  die  „Klinke  der 
Gesetzgebung",  durch  gemeindliche  Fürsorge  uud  vor  allem  durch 
eigene  energische  Thatigkeit  (Bildung,  Fortbildung,  genossenschaftliche 
Selbsthilfe,  zu  dem  heutigen  Stande  gelangt  sei.  Es  ward  erwähnt:  Dass  die 
Reformation  nur  Kirchen  schulen  kannte;  dass  Balth.  Schopp  gesagt:  „Die 
Lehrer  haben  Zeisigfutter  und  Eselsarbeit";  dass  1764  eine  Dissertation 
erschien:  ,,De  jure  praeceptoris'',  durch  welche  der  Lehrstand  von  der  Rechts- 
wissenschaft zuerst  als  ein  selbstständiger  Stand  anerkannt  wird;  dass  (in 


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—    185  — 

Sachsen)  von  einer  eigentlichen  Hebnngdes  Lehrerstandes  erst  die  Rede  sein  kann, 
seitdem  das  Königreich  (1831)  ein  Verfassungsstaat  geworden  ist  n.  v.  a.  m. 
Redner  ließ  es  auch  nicht  an  beherzigenswerten  Mahn  wortenznm  Weiterbeschreiten 
der  eingeschlagenen  Bahnen  fehlen,  namentlich  ermahnte  er  den  Lehrerstand, 
sich  von  politischem  Parteigetriebe  jedwelcher  Art  fernzuhalten  und  in  den 
Forderungen  an  die  Regierung,  soweit  sie  auch  berechtigt  erscheinen,  einen 
maßvollen  Standpunkt  einzunehmen.  „Gerade  für  die  Lehrer  ist,  meine  ich, 
die  Fabel  von  Wandersmann,  Sonne  und  Wind  lehrreich ;  was  Wind  und  Sturm 
nicht  vermochten,  erreicht  gar  leicht  die  Sonne".  So  hat  nach  der  „Hannov. 
Schulztg."  am  12.  Juli  d.  J.  der  deutsche  Reichskanzler  a.  D.  Fürst  Bismarck 
in  Friedrichsruh  zu  der  Oberclasse  des  Seminars  aus  Weimar  gesagt,  die  ihm 
eio  Ständchen  brachte;  so  schloss  auch  Schulrath  Israel  seinen  mit  großem  Beifall 
aufgenommenen  Vortrag:  Die  Sonne  (der  Arbeit  und  Geduld)  muss  beharr- 
lich scheinen !  Dann  wird  der  Mann  im  eingehüllten  Mantel  denselben  ablegen. 

Nach  Beendigung  des  Vortrages  nahm  der  Vorsitzende  das  Wort,  um 
Sr.  Exc.  dem  Hrn.  Cultusminister  Dr.  v.  Gerber  für  dessen  Erscheinen  den 
Dank  der  Versammlung  zu  entbieten  und  ihn  zu  bitten,  dem  Lehrerstande 
Sachsens  das  demselben  bisher  entgegengebrachte  Wolwollen  auch  fernerhin 
zu  erhalten.  Die  Versammlung  folgte  freudig  der  Aufforderung,  Sr.  Exc.  ein 
dreifaches  Hoch  auszubringen.  Hr.  Dr.  v.  Gerber  dankte  mit  der  Versicherung, 
dass  es  ihm  ein  Vergnügen  gewesen  sei,  in  der  Versammlung  einige  Zeit  ver- 
weilen zu  können,  und  wünschte  den  ferneren  Berathungen  segensreichen  Erfolg-. 
Der  3.  Vortrag:  „Über  die  Beh  andlnng  stammelnder  und  stotternder 
Schulkinder"  wurde  gehalten  von  H.  E.  Stötzner,  Dir.  der  Taubstummen- 
anstalt zu  Dresden  (Redact.  des  „Anz.  f.  die  neueste  päd.  Literatur",  Beibl. 
zur  „Allg.  D.  Lehrerztg.").  Die  instructiven  Ausführungen  dieses  Fachmannes 
stützten  sich  u.  a.  auch  auf  das  im  „Paed."  namhaft  gemachte  Buch  von 
Gntzmann.  — 

In  der  2.  Hauptversammlung  am  29.  Sept.  sprach  zuerst  Lehrer 
Eberth-Dresden  über  die  Frage:  „In  welcher  Weise  kann  die  Fort- 
bildungsschule den  Anforderungen  der  Zeit  am  besten  Genüge 
leisten?"  Er  fasste  seine  Ausführungen  in  folgende  Sätze  zusammen: 

I.  Die  Fortbildungsschule  hat  neben  der  allgemeinen  Ausbildung  der 
Schüler  ganz  besonders  die  Aufgabe,  sich  in  den  Dienst  des  praktischen  und 
beruflichen  Lebens  zu  stellen. 

II.  Die  allgemeinen  Fortbildungsschulen  sind  überall  da,  wo  es  angängig 
ist,  in  fachberufliche  Schulen  bez.  in  Berufsclassen  umzuwandeln. 

III.  Um  eine  für  die  Unterrichtsergebnisse  wünschenswerte  Gliederung 
innerhalb  der  einzelnen  Berufsangehörigen  zu  ermöglichen,  empfiehlt  es  sich, 
in  großen  Orten  die  kleinen  Fortbildungsschulen  zu  vereinigen  und  unter  ein- 
heitliche Leitung  zu  stellen. 

IV.  Der  Lebensberuf  des  Schülers  bilde  so  oft  als  möglich  den  Ausgangs* 
punkt  für  die  unterrichtliche  Behandlung  der  Lehrstoffe. 

V.  Die  schwächsten  Schüler  sind  in  Nachhilfeclassen  zu  vereinigen,  in 
denen  nur  Deutsch  und  Rechnen  als  Unterrichtsgegenstände  auftreten. 

VJ.  Zur  Weckung  des  Interesses  ist  auch  in  diesen  Nachhilfeclassen  dem 
Unterrichte  eine  praktische  Färbung  zu  verleihen. 

Pfcd^o^iiun.  14.  Jahig.  Heft  in.  14 


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—    186  — 

VII.  Bei  Aufstellung  des  Lehrplanes  sind  geeignete  Vertreter  der  Berufs- 
arten su  Rathe  zu  ziehen  und  die  thätige  Theilnahme  hervorragender  Berufs- 
genossen an  der  Unterrichtsertheilung  ist  zu  empfehlen. 

VIII.  Für  jeden  Beruf  ist  eine  das  Geschäftsleben  wenig  störende  Unter- 
richtszeit auszusuchen;  doch  ist  hierbei  von  den  Abendstunden  und  vom  Sonntag 
Abstand  zu  nehmen." 

Diesen  Sätzen  wurde  im  allgemeinen  zugestimmt. 

Am  ersten  Tage  hatte  die  Versnmmlung  folgendes  Begriißungstelegrainni 
beschlossen:  „Sr.  Majestät  dem  König  Albert,  dem  ruhmreichen  Sieger  auf 
dem  Felde  der  Ehre,  dem  treuen  Förderer  der  Künste  und  Wissenschaften, 
dem  Schirmherrn  der  Wolfahrt  unseres  Volkes,  dem  auch  die  Volksschule  hohe 
landes väterliche  Fürsorge  zu  danken  hat,  sendet  ehrfurchtsvollen  Gruß  der 
Allg.  S.  L.-V."  Darauf  war  von  Sr.  Maj.  dem  König  eine  telegraphische 
Antwort  eingegangen  des  Inhalts:  „Ich  danke  herzlich  für  den  mir  zuge- 
gangenen freundlichen  Gruß.  Albert." 

Den  letzten  Vortrag  hielt  Lehrer  Moritz  Müller-Leipzig  über  „Bildung 
—Halbbildung"  unter  Beleuchtung  der  Angriffe  auf  die  Bildung  der  Volks- 
schullehrer.  Die  Widerlegung  dieser  Angriffe  bildete  uach  einer  eingehenden 
Deduction  der  Begriffe:  „Bildung  und  Halbbildung"  den  Haupttheil  der  Dar- 
legungen des  Redners.  Den  Angriffen,  sagte  er,  stehen  ebensoviele  und 
noch  weit  gewichtigere  Argumente  gegenüber,  welche  für  die  Bildung  des 
Lehrerstandes  und  seine  von  ihr  bedingte  Thätigkeit  ehrendes  Zeugnis 
ablegen;  gegenüber  der  versuchten  Herabwürdigung  des  Lehrerstandes  auf  der 
einen  Seite  bemerken  wir  eine  große  Hochachtung  und  Wertschätzung  auf 
der  anderen,  noch  competenteren  Seite.  So  erwähnte  der  Vortragende  u.a. 
auch  des  hochachtbaren  Münchener  Uuiversitäts-Prof.  Dr.  J.  Frohschainmer. 
dessen  Würdigung  des  Lehrerstandes  und  seiner  Aufgabe  besonders  in  den 
letzten  Schriften  dieses  deutschen  Denkers  hervortritt;  den  Lesern  des  „Paed.- 
ist  Dr.  J.  Frohschammer  allerdings  längst  bekannt  als  ein  Mann,  dem  die 
ganze  Lehrerschaft  in  Dankbarkeit  volle  Aufmerksamkeit  zuwenden  sollte, 
welche  er  um  seiner  Werke  willen  verdient.  Ganz  besonders  richteten  sich  die 
Ausführungen  des  Vortragenden  gegen  die  von  der  „Leipziger  Zeitung"  und 
den  „Grenzboten"  gebrachten  gehässigen  und  herabwürdigenden  Angriffe  gegen 
den  Lehrerstand,  die  tiefbetrübend  und  geradezu  den  Ruf  des  sächsischen 
Volkes  schädigend  seien  und  gegen  welche  Entehrung  die  Lehrerschaft  nicht 
nur  im  eigenen  Interesse,  sondern  auch  im  Interesse  der  Regierung  protestiren 
müsse.  Der  Vortrag,  der  mit  stürmischem  Beifall  begrüßt  wurde,  wird  gleich 
den  übrigen  in  seinem  ganzen  Umfange  in  der  „Sächs.  Schulztg."  zum  Abdruck 
gelangen. 

In  den  Neben  Versammlungen  wurde  gesprochen  über  den  Handfertigkeits- 
unterricbt,  über  neue  Anschauungsmittel  für  das  Rechnen  und  den  geometrischen 
Unterricht,  über  den  gegenwärtigen  Stand  des  Sterbefallversicherungswesens 
innerhalb  der  sächsischen  Lehrerschaft.  Außerdem  fanden  statt:  eine  Sitzung 
des  „Sächs.  Pestalozzivereins"  unter  Vorsitz  „des  hochverdienten  Veteranen  des 
sächs.  Volksschnlwesens",  des  78jährigen  Oberschulraths  A.  Berthelt;  eine 
Hauptversammlung  der  „Allg.  Brandversicherungsgesellschaft  sächs.  Lehrer"; 
eine  außerordentlich  reichhaltige  Lehnnittelausstellung  (Veranschaulichung  einer 
„Lebensgemeinschaft")  u.  s.  f. 


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-    187  — 

Zar  Verschönerung  der  Dresdner  Versammlung  diente  u.  a.ein  Concert 
des  „Dresdner  Lehrergesangvereins  "  („Die  Mette  von  Marienburg",  Dichtung 
von  Fei.  Dahn,  comp,  von  0.  Wermann,  op.  75)  unter  Leitung  des  k.  Musikdir. 
Prof.  Ose.  Wermann  und  unter  Mitwirkung  künstlerischer  Krilfte,  z.  B.  der 
berühmten  Wagnersängerin  FrL  Therese  Malten.  — 

Der  „Allg.  Sachs.  L.-V."  kann  mit  Befriedigung  auf  seine  9.  Haupt- 
versammlung zurückblicken  und  darf  hoffen,  dass  ihr  Wellenschlag  an  manches 
Ohr  gedrungen  ist.  Möge  ihm  dadurch  auch  manches  Herz  gewonnen  worden  sein ! 

„Wo  viel  Licht  ist,  ist  starker  Schatten**,  sagt  Goethe  im  „Götzr.  So 
ist  es  auch  bei  uns,  wo  sich  neben  dem  „Allg.  S.  L.-V.u  jüngst  eine  „ Freie 
Vereinigung  ev.-luth.  Lehrer  im  Kgr.  Sachsen"  gebildet  hat.  Wir  können  die 
Notwendigkeit  einer  solchen  Vereinigung  nicht  anerkennen!  Zwar  sagen 
die  Mitglieder  derselben:  „Wir  beabsichtigen  nicht,  uns  von  den  bereits 
bestehenden  Lehrervereinigungen  zu  trennen,  denn  wir  erkennen  freudig  an, 
wieviel  durch  ihre  bewährten  Vorkämpfer  für  die  Interessen  der  Volksschule  und 
ihrer  Lehrer  erreicht  worden,  wie  viel  Segen  aus  ihren  Bemühungen  hervorgegangen 
ist."  Thatsächlich  aber  ist  es  doch  eine  Trennung,  und  zwar  eine  beab- 
sichtigte! „In  den  Vereins -Versammlungen  sollen  Schul-  und  Erziehun&s- 
f ragen  der  Gegenwart  vom  kirchlichen  Standpunkte  aus  geprüft  und  be- 
sprochen werden."  Als  ob  dies  noch  besonders  nöthig  wäre!  Alle  „maßgebenden 
Factoren"  sind  bei  uns  dafür  besorgt,  dass  die  kirchlichen  Interessen  allzeit 
gewahrt  werden.  Wir  möchten  der  „F.  V.  e.-l.  L.  i.  K.  S."  zurufen:  Seid  ihr, 
wie  ihr  sagt,  „zu  thatkräftiger  Mitarbeit  an  den  socialen  Aufgaben  unserer 
Zeit"  bereit,  so  schließt  euch  nicht  ab,  sondern  thnt  wie  Paulus  und  gehet  hin 
r unter  das  Volk":  denn  nicht  unter  euch  ist,  wie  wir  glauben,  die  Religiosität 
im  Schwinden  begriffen,  sondern  „unter  dem  Volke**!  — 

Das  neueste  Handbuch  der  Schul  st ati  stik  für  das  Königreich  Sachsen 
bringt  folgende  Angaben  über  das  sächsische  Schulwesen:  Sachsen  hat  1898 
Orte  mit  und  1175  Orte  ohne  Volksschulen.  Die  Zahl  der  öffentlichen  evan- 
gelischen Volksschulen  beträgt  2171,  die  der  öffentlichen  römisch-katholischen  39. 
Außerdem  gibt  es  17  Vereins-  und  Stiftungs-  und  60  Privatachulen,  so  dass 
sich  2287  als  Gesainmtzahl  der  Volksschulen  ergibt.  Dazu  treten  1943  Fort- 
bildungsschulen. Die  Schülerzahl  sämmtlicher  Volksschulen  beläuft  sich  auf 
591 084,  von  denen 575  560  evangelisch,  13 131  römisch-katholisch  sind  und  2393 
anderen  Confessionen  angehören.  Die  Fortbildungsscholen  werden  von  79270 
Schülern,  einschließlich  1462  Mädchen,  besucht.  Als  Lehrkräfte  wirken  an  den 
evangelischen  Volksschnlen  285  Directoren,  7823  Lehrer  und  226  Lehrerinnen, 
zusammen  8334  Personen,  an  den  katholischen  7  Directoren,  112  Lehrer  und 
17  Lehrerinnen,  zusammen  136.  Außerdem  zählen  die  Privatschulen  576  Lehr- 
kräfte, von  denen  327  ansscbließlich  an  Privatschulen  wirken.  Hiernach  beläuft 
sich  die  Gesammtzahl  der  Lehrkräfte  überhaupt  auf  8797.  Auf  1  Lehrer 
kommen  durchschnittlich  67.19,  auf  eine  Volksschule  259  Schulkinder.  Das 
Verzeichnis  der  an  höheren  Schulen  nnd  an  Volksschulen  eineritirten  Lehrer 
führt  627  Namen  auf.  (Juniperus. ) 


Aus  Dresden.  [Zur  Frauenfrage.J  Das  „Pwd.-  hat  stets  der  Frauen- 
frage als  einem  wichtigen  (Erziehung»)-  Probleme  der  Gegenwart  große 

14* 


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1 


—   188  - 

Aufmerksamkeit  zugewandt;  ja,  es  hat  einige  der  gründlichsten  „Studien'1  zo 
derselben  veröffentlicht  (II,  S.  201  ff.;  VIII,  S.  700  ff.).  Vielleicht  ist  es  den 
Lesern  nicht  uninteressant,  einige  Meinungen  über  diesen  Gegenstand  ans  dem 
Kreise  der  Frauen  zu  hören.  Die  (berechtigte)  Agitation  in  Sachen  der 
„Frauenfrage"  hat  namentlich  der  seit  1865  bestehende  „Deutsche  Frauen- 
verein"  auf  seine  Fahne  geschrieben,  welcher  am  27.1  und  28.  Sept.  hierseM 
seine  16.  Generalversammlung  abhielt,  über  die  einiges  mitgetheilt sein  mag. 

Den  einleitenden  Vortrag  hielt  Frl.  Auguste  Schmidt-Leipzig  über 
die  Berufstätigkeit  der  Frau.  Rednerin  betrachtete,  was  für  und  wider 
die  Berufst hutigkeit  der  Frau  ins  Feld  geführt  wird.  Ausgehend  von  all- 
meinen  Gesichtspunkten  schilderte  Frl.  Schmidt  die  Stellung  der  Fran  inner- 
halb und  außerhalb  des  Hauses  und  tadelte  die  unrichtige  Erziehung,  welche 
meist  den  Töchtern  zutheil  wird;  man  müsse  sie  einer  menschlichen  Be- 
stimmung, nach  dem  Wesen  ihrer  Anlage,  zuführen.  Die  Frauen,  besondere  die 
der  oberen  Kreise,  werden  zum  Dilettantismus  erzogen,  und  man  wundert  eich 
dann  über  ihre  Oberflächlichkeit  und  Mittelmäßigkeit.  Nicht  im  Wesen  der 
Frau  liegen  diese  oft  vorkommenden  beklagenswerten  Eigenschaften,  sondern 
eben  in  mangelhafter  Ausbildung  und  Erziehung. 

Die  Rednerin  unterzieht  die  Stellung  der  Frau  in  der  Ehe,  als  Hausfrau 
und  Mutter,  einer  Betrachtung,  ebenso  die  Stellung  des  Sohnes  und  der  Tochter 
im  Hause. 

Neben  dem  natürlichen  Berufe  der  Frau  und  den  Pflichten  im  Hause 
er  wächst  heute  aber  auch  der  Frau  die  Nothwendigkei  t  einerBernfsthätigkeit  außer 
halb  der  Grenzen  des  Hauswesens  an  und  für  sich.  Die  Gegner  der  Bewegung 
sagen,  dass  eine  solche  Berufstätigkeit  den  Frauen  den  natürlichen  Beruf 
nähme;  aber  die  Bestrebungen  sind  gerade  darauf  gerichtet,  die  Frau  tauglicher 
zu  machen,  das  Haus  zu  erbauen. 

Zahlreich  sind  die  Einwürfe,  welche  man  dem  praktischen  Frauenberufe 
gegenüber  macht.  Es  war  der  Rednerin  darum  zu  thun,  diese  Einwürfe  zu 
prüfen  und  sie  als  nicht  stichhaltig  zurückzuweisen.  Der  erste  Einwand  sagt, 
dass  die  Frau  durch  die  Vorbereitungen  zur  Berufstätigkeit  dem  Hause  ent- 
fremdet werde.  Aber  die  Erfahrung  beweist  das  Gegentheil.  Die  treibende 
Kraft  für  die  häusliche  Thätigkeit  der  Frau  ist  die  Liebe  und  treue  Hin- 
gebung, und  solange  diese  Kraft  beim  praktischen  Berufe  nicht  verloren  geht, 
wird  auch  die  Frau  für  die  Erfüllung  der  häuslichen  Pflichten  immer  tüchtig 
bleiben.  Ebenso  hinfällig  ist  die  Behauptung,  dass  im  Berufsleben  die  Freude 
an  den  häuslichen  Arbeiten  erlahme  oder  schwinde.  Die  Ermüdung  etc.  sei 
individuell,  und  man  fände  vielmehr,  dass  eine  Berufstätigkeit  die  Frau 
kräftiger  und  widerstandsfähiger  mache,  als  dass  sie  die  Kräfte  vermindere. 
Die  Frau  wird  selbstständiger,  aber  nicht  etwa  —  wie  die  Männer  fürchten  — 
zn  deren  Nachtheil,  denn  die  verständige  Frau  wird  Recht  und  Unrecht  zu 
unterscheiden  wissen,  und  ihre  Selbstständigkeit  kann  nur  zum  Wole  der 
Familie  dienen.  Die  Natur  der  Frau  widerstrebt  praktischem  Berufe  nicht. 
Die  vielen  Tausend  arbeitenden  Frauen  beweisen  das.  Nur  die  Frauen  der  oberen 
Stände  sind  nicht  tähig  zu  solchem,  und  da  soll  eben  die  vernünftigere  Erziehung 
Abhilfe  schaffen.  Dann  aber  handelt  es  sich  auch  nicht  nur  um  körperliche, 
sondern  auch  um  ge  isti  ge  Arbeit.  Zu  solcher  soll  die  Frau  fähig  gemacht  werden 
und  die  Möglichkeit  ist  vorhanden.  Rednerin  leugnet,  dass  die  geistige  Bildungs- 


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f&higkeit  der  Frau  geringer  sei  als  die  des  Mannes.  Da  die  Entwickelang  des 
Denkprocesses  bei  der  Fraa  dieselbe  ist  wie  beim  Manne,  und  da  vermöge  des 
Denkprozesses  die  geistige  Bildung  aufgenommen  wird,  so  kann  dieselbe  auch 
bei  beiden  Geschlechtern  auf  die  gleiche  Stufe  gebracht  werden. 

Der  wichtigste  Einwand  gegen  die  Beru&thätigkeit  der  Frau  ist  die 
Concor  renzfrage,  aber  auch  dieser  ist  zu  begegnen.  Hier  ist  es  die  Not- 
wendigkeit; der  fleißigste  Mann  ist  nicht  immer  imstande,  die  Familie  zn 
ernähren,  und  die  Frau  muss  eingreifen.  —  Zu  tadeln  sei  die  ungleiche  Be- 
zahlung: derselben  Arbeit  bei  Mann  und  Frau.  Man  verlangt  die  Bezahlung 
des  Lohnes  nach  der  tkatsächlich  geleisteten  Arbeit  und  nicht  nach  dem 
Geschlecht.  Dann  stehen  sich  Mann  und  Frau  gleich  gegenüber.  Was  den 
Verlast  der  Weiblichkeit  betrifft,  den  man  bei  der  Berufstätigkeit  befürchtet, 
w  meint  man,  dass  diese  Weiblichkeit  bei  geordneter  Thätigkeit  besser  gewahrt 
sei.  als  bei  den  jungen  Mädchen,  die  weiter  nichts  zu  thun  haben,  als  sich  nach 
einem  Manne  umzusehen. 

Bei  den  unteren  Ständen  erhalten  die  Mädchen  die  gleiche  Erziehung 
wie  die  Knaben.  Die  höhere  Mädchenschule  aber  bringt  die  Trennung.  Die 
jetzige  Erziehungsweise  macht  es  erklärlich,  dass  die  Männer  die  Unterhaltung 
mit  den  Freunden  am  Stammtische  der  mit  der  Frau  zu  Hause  vorziehen. 

Die  Frauen  der  besitzenden  Classe  entschließen  sich  nur  schwer,  sich 
zu  einem  Berufe  heranzubilden,  sie  betrachten  die  Ehe  als  den  noth wendigen 
Ausgang  der  Jugend.  Von  diesen  Töchtern  wünscht  Hednerin,  dass  sie  länger 
als  bis  zum  16.  Jahre  in  der  Schule  bleiben,  natürlich  die  Zeit  zu  ernster  Arbeit 
ausnutzend;  dann  nach  geeigneter  Ausbildung  sollen  diese  Frauen  den  wol- 
tultigen  öffentlichen  Anstalten  ihre  Kraft  und  überflüssige  Zeit  widmen.  Anders 
ist  es  mit  den  Töchtern,  die  zwar  den  besseren  Ständen  angehören,  aber  nicht 
besitzend  siudV  Hier  macht  die  falsche  Erziehung  sich  am  meisten 
geltend,  wenn  die  Töchter  anspruchsvoll  aufgewachsen  und  nach  dem  Tode 
des  Vaters  mittellos,  kraftlos  und  aussichtslos  dastehen,  zu  keinem  praktischen 
Berufe  fähig. 

Es  spricht  Frau  Dr.  Henriette  Goldschmidt- Leipzig  über  das 
Thema:  „Die  Frauenfrage  eine  Culturfrage."  Die  Ausführungen 
der  Rednerln  kennzeichneten  die  Frauenfrage  zunächst  im  allgemeinen,  um 
sodann  die  Stellung  der  Frau  im  Culturleben  der  verschiedenen  Völker  zu 
beleuchten.  Die  Wünsche  der  Frauen  richten  sich  vor  allem  nach  dem  Recht 
der  Persönlichkeit  in  geistiger  und  sittlicher  Bethätigung  nnd  gegen  die 
Ungleichheit  im  politischen  und  Eherecht.  In  England  und  Amerika  etc.  muss 
der  Staat  bereits  mit  der  Frau  rechnen.  Die  Frauenfrage  sei  keine  Brot- 
ond  Erwerbsfrage  mehr  und  auch  keine  Jungfernfrage  (wie  Bich 
Eduard  von  Hartmann  ausdrückt),  sondern  das  Weib  müsse  seine  Talente 
nnd  Fähigkeiten  entwickeln  und  geltend  machen  können.  Die  von  Hartmann 
vorgeschlagene  Junggesellensteuer  würde  vielleicht  dem  Körper  Nahrung 
geben,  aber  den  Geist  darben  lassen,  und  hier  ist  Hilfe  am  meisten  nöthig. 
Innerhalb  der  Familie,  des  Staates,  des  socialen  Lebens  soll  der  Frau  diejenige 
Stellung  und  der  Eioflnss  eingeräumt  werden,  welche  der  Sonderheit  des 
Weibes  gebüren.  Die  Naturanlage  gibt  der  Frau  die  Stellung  als  Bildnerin, 
Erzieherin,  Pflegerin  in  der  Familie.  Dazu  ist  sie  geschaffen,  und  sie  besitzt 
zu  diesem  Berufe  ganz  besondere  Vorzüge.   Warum  soll  sie  die  Eigenschaften 


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nicht  weiter  aasbilden  und  auch  außerhalb  der  Familie  bethätigen können, 
wie  z.  B.  im  Lehrberufe,  im  ärztlichen  Berufe  u.  s.  w.?  Die  Fran  müsse  so, 
wie  sich  Fran  von  Mahren holtz-Bülow  einmal  ausdrückt,  die  geistige  Matter 
der  Menschheit  werden,  wie  sie  die  schützende,  pflegende  Matter  innerhalb  der 
Familie  ist.  Nicht  um  egoistische  Grandsätze  handle  es  sich,  denn  die  Frau 
verlange  nicht  nur  für  sich,  sondern  für  das  allgemeine  Wol  und  zum  Ausgleich 
bestehender  Gegensätze,  zur  Erfüllung  der  Mission  der  alles  versöhnenden  Liebe. 
Welche  segensreiche  Thätigkeit  hat  die  Fran  schon  jetzt  im  Kriege  entfaltet, 
und  wie  viel  mehr  könnte  sie  es  noch!  —  Frau  Dr.  Goldschmidt  behandelte 
ebenfalls  die  Concurrenzfrage,  auf  die  ausgleichende  Kraft  der  Natur  hinweisend. 
Dabei  sprach  sie  u.  a.  den  mit  besonderem  Beifall  ausgesprochenen  Satz  aus, 
dass  das  Studium  geistreicher  Frauen  vielleicht  dasjenige  der  mittelmüßigen 
Männer  einschränke.  Schließlich  wünscht  Rednerin  denjenigen  Bestrebungen 
Erfolg,  welche  darauf  gerichtet  sind,  der  Frau  die  Stellung  zu  verschaffen, 
die  sie  nach  ihren  Beziehungen  zu  den  culturellen  Verhältnissen  der  Zeit  zu 
beanspruchen  habe. 

Unmittelbar  an  diesen  Vortrag  schloss  sich  der  von  Frau  Professor 
Weber-Tübingen  über  „den  jetzigen  Stand  der  Ärztinnenfrage*. 
Frau  Weber  ist  bekannt  als  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Frauenfrage, 
speciell  hat  sie  sich  mit  der  Ärztinnenfrage  befasst.  Sie  wies  eingangs  ihres 
Vortrages  auf  die  Erfolge  hin,  welche  die  Frau  als  Ärztin  anderer  Länder 
errungen  hat,  so  namentlich  in  England,  Amerika,  der  Schweiz,  Schweden, 
Italien  und  selbst  in  der  Türkei.  Man  erkennt  zwar  auch  in  Deutschland  immer 
mehr  die  Berechtigung  des  Verlangens  nach  weihlichen  Ärzten  an,  viele  hervor- 
ragende Persönlichkeiten  und  Zeitungen  treten  dafür  ein,  aber  ein  greifbarer 
Erfolg  ist  noch  nicht  erzielt.  Die  Frage  wird  auch  in  Deutschland  nicht  mehr 
von  der  Bildfläche  verschwinden,  und  ihre  Erfüllung  wird  über  kurz  oder  lang 
Thatsache  werden.  Wie  in  England  und  anderswo  werden  die  Frauen  durch- 
dringen, wenn  sie  nur  fest  zusammenstehen  und  nicht  ermüden.  Hilfe  wird 
ihnen  ja  von  immer  mehr  Seiten  zutheil.  Rednerin  betrachtet  es  als  ein 
Räthsel,  dass  gerade  die  deutschen  Frauen  noch  am  unselbstständigsten  sind, 
während  doch  bei  den  alten  Germanen  die  Frau  in  cultureller  Beziehung  die 
bedeutendste  Stellung  hatte  und  dem  Manne  am  meisten  gleich  stand.  Zahl- 
reiche Frauen  üben  in  anderen  Ländern  ihren  Beruf  als  Ärztinnen  aus:  in 
Deutschland  verweigert  man  ihnen  die  Möglichkeit,  dahin  zu  gelangen.  Die 
Petition,  die  im  Frühjahre  1891  dieserhalb  an  den  Reichstag  gerichtet  wurde, 
blieb  ohne  Erfolg,  man  wird  aber  immer  neue  einbringen,  mit  Hinblick  auf 
den  auch  in  anderen  Ländern  erst  nach  mühsamen  Kämpfen  errungenen 
Sieg.  Freilich  gibt  es  auch  Länder,  die  ohne  Schwierigkeiten  sofort  zugestimmt 
haben.  In  Boston  gibt  es  beispielsweise  jetzt  40  und  in  Philadelphia  90  weib- 
liche Ärzte,  die  mit  den  männlichen  alle  Rechte  und  Pflichten  theileu. 

Frau  Prof.  WTeber  unterzog  die  Gegner  der  Ärztinnenfrage  einer  näheren 
Betrachtung  und  theilte  dieselben  in  drei  Classen  ein:  erstens  in  solche,  die 
sich  nicht  losmachen  können  vom  Altgewohnten;  zweitens  in  die  Landes- 
vertreter, die  zwar  im  stillen  dafür  sind,  aber  die  Schwierigkeiten  der  Aus- 
führung fürchten,  die  zufrieden  wären,  wenn  die  Sache  mit  einem  Male  erledigt 
wäre;  drittens  die  Ärzte  selbst,  welche  theils  der  Frau  die  Fähigkeit  absprechen, 
theils  aus  Concurrenzneid  dagegen  sind.   Allerdings  stehen  viele  Ärzte  auch 


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der  Frage  sympathisch  gegenüber,  was  schon  daraus  hervorgeht,  dass  die 
Petition  u.  a.  von  140  Ärzten  unterschrieben  gewesen  ist.  Besonders  nöthig 
ist  die  Ärztin  anf  dem  Lande  und  in  Fabrikgegenden.  Bei  der  Besprechung 
der  Art  und  Weise  des  Frauenstudiums  ist  Rednerin  der  Meinung,  dass  das 
Studium  nicht  etwa  in  eigenen  Anstalten,  sondern  in  Gemeinschaft  und  zu- 
sammen mit  den  männlichen  Studenten  erfolgen  müsse,  und  dass  ebenso  die 
Examina  dieselben  seien  und  gemeinschaftlich  abgelegt  werden  sollen.  Die 
Thatsache  lehrt,  dass  sich  aus  dem  gemeinsamen  Studium  der  Frauen  und 
.Männer  nicht  allein  keine  Unzuträglichkeiten  ergeben,  sondern  dass  im  Gegen- 
theil  ein  günstiger  Einfinss  auf  die  Lehrart  und  die  Studenten  ausgeübt  wird. 
Schließlich  macht  die  Rednerin  noch  mehrere  Vorschlage  betreffs  der  Übergangs* 
periode,  welche  sich  theils  auf  die  medicinische  Prüfungsordnung,  theils  auf 
wolwollende  Auslegung  der  Gewerbeordnung  u.  s.  w.  stützen. 

Den  nächsten  Vortrag  hielt  Frau  Marie  Stritt-Dresden,  Gattin  des 
früheren  Hofopernsängers  Stritt  Der  Vortrag  behandelte  die  häusliche 
Knabenerziehung  mit  Rücksicht  auf  die  Frauenfrage.  Der  so  oft  zu  findende 
Glaube  an  die  Unfähigkeit  der  Frau,  der  auf  falschen  Anschauungen  oder  Un- 
wissenheit beruht,  gründet  sich  in  der  Hauptsache  auf  die  Erziehung  der 
Knaben.  Denselben  werde  vom  ersten  Tage  ab  die  Meinung  von  der,  Minder- 
wertigkeit der  Schwester  beigebracht,  und  in  ihnen  werde  Egoismus  und  der 
Glaube  an  größeres  Recht  und  mehr  Stärke  geweckt.  Die  Rednerin  belegt 
durch  Beispiele,  wie  die  Knaben  zur  Missachtung  der  Mädchen  erzogen  werden, 
und  wie  dadurch  im  Schöße  der  Familie  Sünde  begangen  werde.  An  den  Sohn 
wendet  man  auch  viel  mehr  Geld,  als  an  die  Tochter;  man  lässt  die  Schwester 
ihm  manche  Dienste  leisten,  die  er  sich  selbst  leisten  müsste,  damit  er  auch  im 
Leben  von  den  Dienstleistungen  anderer  weniger  abhängig  werde.  Als  größten 
Erziehungsfehler  tadelte  Frau  Stritt  die  große  Nachsicht  der  Mütter  den 
Söhnen  gegenüber,  namentlich  bei  jenen  Streichen,  die  man  unter  die  Rubrik 
einreiht:  die  Jugend  muss  austoben.  Recht  gefährliche  und  verhängnisvolle 
Dinge  werden  mit  diesen  Worten  vom  Austoben  zugedeckt  und  stillschweigend 
geduldet,  und  leider  zeigt  es  sich  dann,  dass  das  Toben  nicht  aufhört.  Und 
wieder  ist  es  das  weibliche  Geschlecht,  das  unter  den  Ausschreitungen  der 
Männer  am  meisten  zu  leiden  hat.  Aufgabe  der  Mutter  sei  es,  die  Söhne  zu 
lehren,  die  Schwester  als  gleichberechtigt  anzusehen,  sie  nicht  als  geringeres, 
minderwertiges  Wesen  anzusehen ,  sondern  als  starke  Mitkämpferin  in  dem 
Kampfe  um  das  Dasein. 


Ans  dem  Großherzogthum  Baden.  [Mitte  October.]  Vor  10  Jahren 
wurde  auf  directe  Veranlassung  der  Hauptlehrer  Dühmig  in  Buhl  bei  Baden 
und  Dr.  Meuser  in  Mannheim  die  „Concordia",  eine  „Actiengesellschaft  für 
Druck  und  Verlag",  in  Bühl  gegründet.  Trotz  mannigfacher  Hindernisse  von 
oben  und  unten,  trotz  gemeiner  Schmähungen  der  genannten  Personen  in 
der  Presse  und  Maßregelung  des  oben  genannten  Dr.  M.,  gedieh  das  Unter- 
nehmen aufs  beste  und  steht  heute  nach  innen  und  außen  gefestigt  zur  Ehre 
der  badischen  Lehrerschaft  da.  Zweck  der  „Concordia''  ist  die  Unterstützung 
nothleidender  Lehrer  und  Lehrerrelicten.  Seit  ihrem  Bestehen  hat  die  „  Concordia  a 
an  die  beiden  Wolthätigkeitsanstalten,  den  bad.  Pestalozziverein  und  das  Witwen- 


—    192  - 


ünd  Waisen-Stift  der  Lehrer,  an  Unterstützungen  für  nothleidende  Lehrer  und 
Lehrerrelicten  die  bedeutende  Summe  von  36266  Mark  vertheilt.  Auch  in 
dem  abgelaufenen  Vereinsjahre  wurde  abermals  eine  namhafte  Summe  zu  ge- 
dachtem Zwecke  erübrigt.  „Bist  du  Christus,  so  hilf  dir  und  uns!"  heißt  es  in 
der  Bibel;  den  Christus  der  Lehrer  in  gedachtem  Sinne  vertritt  die  „Selbst- 
hilfe!" Möge  sie  immer  mehr  erstarken,  denn  ein  Zuwarten,  bis  die  „Hilfe 
von  Zionw  kommt,  könnte  zur  Verzweiflung  führen,  zumal  die  sog.  „Nothhilfe- 
in  den  meisten  Fällen  sehr  problematischer  Natur  ist.  — 

Am  5.  October  wurde  zu  Offenburg  die  Generalversammlung  des  „AI lg. 
Badischen  Volksschullehrer- Vereins"  abgehalten,  die  ein  höchst  erfreu- 
liches Bild  collegialer  Einmüthigkeit  und  Solidarität  der  Interessen  bot.  Dem 
Volksschullehrer  -Verein  gehören  nahezu  sämmtliche  Lehrer  Badens  als  Mit- 
glieder an,  die  alle  ein  Streben  beseelt  und  die  sich  fernhalten  von  denen, 
welche,  sei  es  im  Lutherrock  oder  in  der  Soutane,  sich  eifrigst  bestreben,  die 
Lehrer  zu  ihren  Zwecken  zu  missbrauchen  und  „in  die  Zeiten  charakterloser 
Minderjährigkeit"  zurückführen  wollen.  Die  bad.  Lehrer  kennen  ihre  Pappen- 
heimer und  bedauern  lebhaft,  dass,  wie  Dr.  Meuser  in  einem  Toaste  ausführte, 
jenseits  der  Mainlinie  ein  Theil  der  Lehrer  mit  Blindheit  geschlagen  sei,  indem 
er  den  Lockrufen  der  Rückwärtser  zum  Schaden  der  Schul-  und  Lehrerinteressen 
folge.  Als  Folge  einmütigen  Zusammenhaltens  der  bad.  Lehrer  wird  im  nächsten 
Landtage  ein  Gesetz  zustande  kommen,  das  eine  mächtige  Förderung  der 
materiellen  Besserstellung  der  Lehrer  und  ihrer  Relicten  involviren  dürfte. 
(Wir  behalten  uns  vor,  s.  Z.  darüber  zu  berichten.)  —  Einen  der  wichtigsten 
Punkte  der  Tagesordnung  bildete  der  Antrag  des  Vorstandes:  „Gründung  eines 
Rechtsschutz -Vereins."  Die  Zwecke  dieses  Vereins  sind  bekannt;  fast  mit 
Stimmeneinhelligkeit  ward  der  „Rechtsschutz -Verein"  gegründet  und  dessen 
Statuten  berathen  und  angenommen.  Ein  weiterer  Punkt  der  Tagesordnung}  war 
die  Erhebung  eines  Vereinsbeitrages  von  1  Mark  jährlich;  auch  dieser  Antrag 
wurde  einstimmig  angenommen,  besonders  deshalb,  um  ein  Capital  anzusammeln, 
aus  dessen  Zinsen  ein  namhafter  Beitrag  zur  Besoldung  des  freizustellenden  — 
d.  h.  den  dienstlich-disciplinären  Gewalten  entrückten  —  Redacteurs  des  Ver- 
einsblattes erzielt  werden  soll,  znmal  bei  den  jetzigen  Verhältnissen  das 
Damoklesschwert  stets  über  dem  Redacteur  hänge.  — 

Von  den  übrigen  „Anträgen"  der  umfangreichen  Tagesordnung  wollen 
wir  noch  denjenigen  „über  die  Betheiligung  der  Lehrer  an  der  Errichtung  von 
Kochschulen"  erwähnen.  Dire  Königl.  Hoheit  die  Frau  Großherzogiu  ist  in 
ihrem  edlen  Streben  bemüht,  der  socialen  Not h  in  den  unteren  Classen  der 
Bevölkerung  durch  materielle  Unterstützung  und  Belehrung  thunlichst  entgegen- 
zuwirken. Die  hohe  Frau  glaubt  daher  auch  in  der  Errichtung  von  Koch- 
schulen —  im  Anschluss  an  die  Volks-  oder  obligatorische  Fortbildungsschule 
—  ein  weiteres  Mittel  ihres  edlen  Zweckes  zu  erblicken.  Herr  Rector  Specht- 
Karlsruhe,  ein  zu  Neuerungen  auf  dem  Schulgebiete  —  auch  wenn  diese  sich 
in  der  Praxis  noch  nicht  erprobt  haben  —  sehr  geneigter  Schulleiter,  hatte 
sich  als  willfähriger  Interpret  der  Kochschulen  mit  einem  ihm  untergebenen 
Lehrer  der  Residenz,  dem  Referenten  über  dieses  Thema,  eingefunden.  Herr 
Specht  berichtete  u.  a.,  dass  (ehe  er  nach  Offenburg  geeilt  sei,  um  der  Volks- 
die  Kochschule  zu  freien)  er  in  Karlsruhe  der  Eröffnung  einer  Kochschule, 
welcher  zwei  Lehrerinnen  vorstünden,  die  in  einer  norddeutschen  Stadt,  wo 


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Kochschulen  beständen,  ihre  Ausbildung  erlangt  hatten,  beigewohnt  habe;  er 
empfahl  die  Errichtung  der  Kochschulen  im  Anschluss  an  die  Volksschule  sehr 
warm.  Ob  dabei  seine  pädagogische  Einsicht  zum  Ausdruck  gelangte,  haben  wir 
hier  nicht  zu  untersuchen;  praktisch  thätig  war  indessen  dieser  Herr  als  Volks- 
schullehrer —  er  ist  von  Haus  aus  Theologe  —  noch  nicht.  Von  anderer 
Seite  wurde  betont,  dass  es  im  Interesse  eines  gedeihlichen  Unterrichts  läge, 
keine  neue  Disciplin  der  Volks-  und  Fortbildungsschule  einzufügen;  die  Schule 
sei  nicht  das  bekannte  „Mädchen  für  Alles",  habe  wichtigere  Aufgaben  zu  er- 
füllen und  dürfe  sich  nicht  vermessen,  die  sog.  „sociale  Frage"  direct  lösen  zu 
wollen.  Auch  aus  practischen  Gründen  sei  der  Anschluss  der  Koch-  an  die 
Volks-  oder  Fortbildungsschule  nicht  zu  empfehlen,  da  u.  a.  die  Kinder  dazu 
nicht  die  wirtschaftliche  und  geistige  Reife  im  schulpflichtigen  Alter  hätten 
und  die  Zeit  des  Erlernens  der  Kochkunst  zu  weit  von  derjenigen  des  praktischen 
Verwertens  auseinanderliege.  Ein  Anschluss  der  Koch-  an  die  bereits  be- 
stehenden privaten  HaushaltungBschulen,  welch  letztere  auf  Kosten  des  Staates 
Überall  im  Lande  errichtet  werden  müssten,  sei  dagegen  nur  zu  empfehlen. 
Diese  Ansicht  konnte  jedoch  vorerst  nicht  die  Stimmenmehrheit  erlangen,  da- 
gegen einigte  man  sich  in  der  allgemeinen  Resolution:  „Die  Lehrer  stehen  der 
Frage,  die  Errichtung  der  Kochschulen  betr.,  sympathisch  gegenüber." 

Wir  sind  begierig,  die  Erfolge  der  Versuchsstation  Karlsruhe  inbetreff 
der  Kochschule  zu  erfahren  und  werden,  wenn  wir  s.  Z.  einen  ungeschminkten 
Bericht  über  sie  erhalten  können,  nicht  versäumen,  denselben  im  „  Pädagogium tt 
mitzutheilen.  — 

In  den  letzten  Tagen  durchlief  die  badische  (politische)  Presse  ein  Artikel, 
in  welchem  bittere  Klagen  darüber  geführt  wurden,  dass  die  Schulaufsichts- 
beamten der  Volksschulen  Badens  größtenteils  aus  den  Reihen  der  Theologen 
und  Philologen  genommen  würden,  trotzdem  im  vorigen  Landtage  sowol  von 
der  Regierung  als  der  Volksvertretung  ostentativ  hervorgehoben  worden  sei, 
dass  die  Volksschullehrer  auch  Rectoren  und  Kreisschulräthe  werden  könnten. 
So  sei  in  Karlsruhe  zum  Stellvertreter  des  Rectors  ein  „Lehramtspraktikant" 
(Candidat  des  höheren  Schulamtes)  erkoren  worden,  ein  Mann,  der,  wie  sein 
Titel  sagt,  sich  erst  in  der  Schulpraxis  „umzuthun"  habe,  um  dem  Gesetze  zu 
entsprechen  und  die  Befähigung  zur  definitiven  Anstellung  zn  erlangen.  Es 
sei  diese  Thatsache  um  so  auffallender,  als  tüchtige,  erfahrene  Lehrer,  selbst 
solche,  die  ein  höheres  Examen  bestanden  hätten,  jahrzehntelang  an  der  Volks- 
schule zu  .Karlsruhe  erfolgreich  wirkten;  auch  erhalte  die  Sache  dadurch  noch 
einen  eigenthümlichen  Beigeschmack,  dass  Hr.  Rector  Specht  im  Ausschusse  der 
„Allgemeinen  Deutschen  Lehrerversammlung4'  seit  der  Tagung  derselben  in 
Karlsruhe  sei  und  daher  vor  allem  die  Pflicht  habe,  die  Interessen  des  Volks- 
schullehrerstandes in  erster  Linie  zu  fördern. 


Aus  der  Schweiz.  Je  länger  je  mehr  schenkt  man  dem  gewerblichen 
Bildungswesen  die  gebürende  Aufmerksamkeit,  nicht  nur  in  Städten,  wie 
Basel,  Zürich,  Bern,  Genf  etc.,  wo  in  sehr  gut  organisirten  Schulen  Treffliches 
geleistet  wird,  sondern  auch  in  kleinem  Orten,  wo  Gewerbe,  Handel  und  Industrie 
einst  blühten,  nun  aber  darniederliegen.  So  projectirt  man  den  Ausbau  der 
gewerblichen  Fortbildungsschule  in  Frauenfeld,  woselbst  Secandarlehrer 


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Schweizer  im  Gewerbevereiii  in  einem  wirksamen  Vortrage  die  Notwendigkeit 
erweiterter  nnd  anf  praktischem  Gebiete  vertiefter  gründlicherer  Kenntnisse 
nachgewiesen  hat. 

Die  Schälerzahl  der  Gewerbeschulen  in  Basel.  Zürich  etc.  wächst  beständig. 
Jene  betrug  beispielsweise  im  verflossenen  Jahre  702,  diese  804.  In  Zürich 
erstreckt  sich  der  Unterricht  auf  folgende  Fächer:  Freihandzeichnen,  Perspec- 
tive, Linear-  nnd  gewerbliches  Zeichnen,  gewerbliches  Rechnen,  Geometrie,  dar- 
stellende Geometrie,  Schreiben,  einfache  Bachhaltung,  Geschäftsaufsatz,  fran- 
zösische Sprache,  Verfassungskunde,  Fachcnrse  für  Schuster  und  Schneider;  anch 
steht  ein  Zeichensaal  unter  Leitung  eines  Fachlehrers  zur  Benützung  frei.  Am 
besten  wird  durchschnittlich  der  Unterricht  im  Freihandzeichnen  und  Schreiben 
besucht. 

Die  Jahresaasgaben  beliefen  sich  auf  ca.  Fcs.  30000;  die  Lehrerbesol- 
dungen allein  erreichten  die  Summe  von  Fcs.  17443.  Um  das  beständige  Deficit 
aufzuheben,  beschäftigt  man  sich  auch  hier  mit  dem  Plane,  das  Fortbildungs- 
schulwesen unter  die  directe  Aufsicht  des  Staates  zu  stellen. 

Sogar  Städtchen  mit  5 — 10000  Einwohner  bringen  große  Opfer  zur 
Förderung  ihres  Fortbildungsschulwesens  oder  der  praktischen  Ausbildung  ihrer 
Jünglinge  und  Jnngfrauen.  Biel  hat  seit  etwas  mehr  als  einem  Jahre  sein 
Technikum  mit  173  Schülern,  welche  den  Unterricht  in  deutscher  und  fran- 
zösischer Sprache  erhalten.  Für  die  Uhrmacher  besteht  ein  vorzüglich  aus- 
gerüstetes Atelier,  in  dem  sie  den  Beruf  vollständig  erlernen  können,  nnd  eine 
mechanische  Werkstätte  nimmt  —  neben  einem  elektrotechnischen  Institut  — 
Klektrotechniker  und  Mechaniker  ans  der  Heimat  nnd  Fremde  bereitwilligst  auf. 

Die  ganze  Anstalt,  welche  den  Charakter  einer  theils  mittleren,  theils 
höheren  Gewerbeschule  hat,  besteht  aus  4  Fachabtheilnngen:  einer  mechanisch- 
technischen  (in  Verbindung  mit  der  ühr macherschule),  einer  elektrotech- 
nischen, einer  kunstgewerblich-bautechnischen  Abtheilung  und  einer 
Eisenbahnschule. 

In  einem  Vorcnrs  werden  die  jungen  Lente,  welche  bereits  längere  Zeit 
in  der  Praxis  gestanden,  zum  Eintritt  in  eine  dieser  Fachschulen  vorbereitet. 
Den  fremden  Sprachen  räumt  man  neben  sämmtlichen  mathematischen  und 
technischen  Fächern  viel  Zeit  ein,  so  das«  also  Ingenieure  und  Constructeure 
für  Maschinenbau,  Fabrikanten  und  Directoren  von  Maschinenfabriken  etc., 
Werkmeister,  Zeichner,  Aufseher,  Eleinmechaniker  und  Uhrmacher,  Mecha- 
niker, Monteure,  Modellenre,  Baumeister,  Bauführer  etc.  ans  diesem  Technikum 
hervorgehen,  die  in  den  zahlreichen  Etablissements  dieser  Kleinstadt  auch 
gründliche  praktische  Kenntnisse  sich  angeeignet  und  deshalb  schon  eine  relative 
Tüchtigkeit  in  ihrem  Berufe  haben. 

Der  1.  August  wird  der  Schweizer  Jugend  als  Tag  des  Ernstes  und  der 
Freude  unvergeßlich  sein,  wurde  er  ja  doch  in  Stadt  und  Land,  in  der  ab- 
gelegensten Bergschule  wie  an  der  Universität  der  Hauptstadt  mit  gleicher, 
freudiger  Begeisterung  gefeiert,  durch  Reden  und  Gesänge,  dramatische  Auf- 
führungen und  Jagendfeste  —  als  Gedenktag  des  sechshundertjährigen 
Bestehens  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft  Der  Jugend  be- 
sonders an  diesem  Tage  die  energischen  Thaten  ihrer  Väter  vorzuführen,  ihr 
den  Wert  der  Freiheit  und  Unabhängigkeit,  aber  auch  der  wahren  Bürgertugend 
klarzumachen  und  alt  und  jung,  hoch  und  nieder  zu  zeigen,  was  wahre 


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Vaterlandsliebe  vermag,  besonders  wenn  sie  von  der  Herrschsacht  and  Partei- 
leidenschaft der  Großen  bedroht  wird,  das  war  die  erhebende  Aufgabe  von 
tausend  und  tausend  Rednern  and  Lehrern  der  Jagend  and  des  Volkes.  Ihre 
Worte  haben  gezündet  und  Kindern  und  Erwachsenen  allerorten  Einsicht  ver- 
schart in  die  hohe  Bedeutung  dieses  Wiegenfestes  der  schweizerischen  Eid- 
genossenschaft. Ob  nun  auch  das  Unhistorische  des  Apfelscbusses  nachgewiesen 
und  selbst  der  Rntlischwur  in  Zweifel  gezogen  werden  mag,  noch  ist  das  ehr- 
würdige Pergament  erhalten,  auf  welchem  die  Waldstädte  eidlich  versprachen, 
mit  Rath  und  That,  Leib  und  Gut  einander  nach  Kräften  beizustehen  in  und 
außer  ihrer  Heimat,  und  noch  immer  lauschen  Jugend  und  Volk  gerne  den 
patriotischen  Worten  dessen,  der  es  versteht,  vom  Katheder  oder  der  Redner- 
büline  aus,  im  einfachen  Dorfschnlzimmer  oder  im  Hörsaal  der  Akademie  den 
rechten  Ton  anzustimmen  zum  volltönigen  Accorde  der  wahren,  selbstlosen 
Vaterlandsliebe,  so,  wie  z.  B.  auch  Schiller  sie  der  gesammten  deutschen  Jugend 
im  Zauber  der  dramatischen  Kraft  einflößt.  Das  Häuflein  freier,  muthiger 
Männer,  die  unsere  Alpenrepublik  begründet  und  befestigt  haben,  wurde  der 
empfänglichen  Jugend  überall  als  leuchtendes  Vorbild  vorgeführt,  und  die  Lehre 
der  Freiheit,  d.  h.  die  Wahrheit,  welche  in  der  Geschichte  und  Sage  liegt,  wird 
als  verborgener  Goldgehalt  von  den  zukünftigen  Bürgern  unseres  freien  Landes 
auch  in  der  Erinnerung  an  den  1.  August  1891  gehörend  geschätzt  und 
praktisch  verwertet  werden,  in  weiser  Selbstregierung  und  gewissenhafter 
Wahrung  der  theuer  erkauften  Unabhängigkeit. 

Ein  Volk,  das  seine  republikanische  Verfassung  —  die  einzige  in  Europa, 
die  sich  als  solche  seit  dem  Mittelalter  Ohne  Unterbrechung  erhielt  —  bei- 
behalten und  ihres  Segens  auch  für  die  Zukunft  theilhaftig  werden  will,  muss 
seine  Jugend  auf  das  hohe  Gut  der  Freiheit  durch  grundliche  und  allseitige 
Bildung  vorbereiten.  Das  Beben  alle  wahren  Patrioten  ein.  Daher  auch  die 
erhöhten  Anforderungen,  Gaben  und  Ansprüche  zu  Gunsten  der  Jugenderziehung. 

Das  Volksschulwesen  behauptet  trotz  der  Ungunst  der  Zeit  seinen  ruhigen 
Gang;  mancherorts,  wie  im  fortschrittlichen  Basel,  wird  viel  gethan  für  die 
Hebung  desselben  nach  verschiedenen  Richtungen  hin.  So  kommen  uns  von 
dort  her  Mittheilungen  zu  über  die  Schnlbäder,  laut  welchen  vom  27.  Jan. 
v.  J.  an  über  4000  Bäder  (Douchen)  an  51  Tagen  verabreicht  wurden.  Von 
den  Schülern  und  Schülerinnen,  die  von  Woche  zu  Woche  wechselten,  nahmen 
etwa  80  °/0  freiwillig  theil.  Die  Einrichtungskosten  stellten  sich  auf  Fcs.  2427 
die  Betriebskosten  auf  Fcs.  5.57  per  Tag  oder  7  Cts.  per  Bad. 

Seit  Beginn  des  neuen  Curses  werden  Versuche  mit  der  Steilschrift 
gemacht. 

In  vielen  kleineren  und  größeren  Ortschaften  wurde  in  letzter  Zeit  die 
unentgeltliche  Verabfolgung  der  Lehrmittel  beschlossen. 

Auf  dem  Gebiete  des  Volksgesanges  macht  sich  in  den  schweizer  Schulen 
eine  besondere  Strömung  geltend,  welche  das  Auswendigsingen  einfacher 
Volkslieder  empfiehlt.  Man  hat  nämlich  übereinstimmend  in  verschiedenen 
Gegenden  die  Wahrnehmung  gemacht,  dass  in  Familie  und  Gesellschaft  die 
Pflege  des  Singens  thatsächlich  zurückgeht,  trotz  der  reichhaltigen  Literatur 
und  den  schönen  Erfolgen  an  Sängerfesten  etc.  Ein  merklicher  Anlauf  ist  nun 
gerade  bei  der  Bundesfeier  gemacht  worden,  indem  jede  Schule  auch  mit  den 


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bescheidensten  Sangeskräften  einige  Vaterlandslieder,  wie  das  Rtttlilied,  die 
Nationalhymne  etc.  auswendig  sang  und  zwar  mit  der  denkbar  besten  Auffassung:. 

Die  Landesmuseumfrage  ist  endlich  entschieden  worden  und  zwar  zu 
Gunsten  von  Zürich,  das,  central  gelegen,  als  Statte  der  Kunst  und  Wissen- 
schaft von  Anfang  an  viele  Stimmen  auf  sich  vereinigte  und  auch  auf  jeder 
Stufe  des  Unterrichts  in  den  vordersten  Reihen  marschirt. 

Die  schweizerischen  Hochschulen  weisen  eine  bedeutende  Frequenz  auf, 
nämlich  1589  immatriculirte  Studenten,  worunter  26  Studentinnen.  Auf  Zürich 
entfallen  367,  auf  Basel  319,  auf  Bern  422,  auf  Genf  181,  auf  Lausanne  142, 
auf  Freiburg  104  und  auf  Neuenburg  54. 

Von  Zürich  aus  geht  infolge  Überbürdung  der  Medicin-Studirenden 
die  Anregung,  das  medicinische  Stadium  auf  10  Semester  auszudehnen. 

Des  Conferenzleben  entwickelt  sich  in  den  fortschrittlichen  Cantonen  in 
freiester  nnd  fruchtbarster  Weise,  so  in  Aargau,  Thurgau,  in  Zürich  und  Basel 
und  in  vielen  Landbezirken,  wo  neugewählte,  strebsame  und  energische  Collegen 
den  Sauerteig  ihrer  geistigen  Anregungen  auf  ihre  weiteste  Umgebung  hin 
wirken  lassen.  Deshalb  wurden  in  letzter  Zeit  von  Oberbehörden  mehr  als  je 
bisher  Fragen  von  principieller  Bedeutung  vor  das  Forum  der  Lehrerschaft 
gebracht,  und  selbst  anderweitige  Themata,  z.  B.  solche  rein  didaktischer  Natur 
erfreuten  sich  allerorten  einer  präcisen,  aber  dafür  ganz  praktischen  Behandlung. 
So  z.  B.  hörte  die  gesammte  Lehrerschaft  der  Stadt  St.  Gallen  ein  woldurchdachtes. 
auf  reichen  praktischen  Erfahrungen  beruhendes  Referat  von  Fräulein  Bohl  über 
die  Specialciasse  der  Schwachsinnigen,  welcher  die  Referentin  seit  der 
Gründung  mit  viel  Geschick  und  großer  Hingebung  vorsteht.  Solche  Sonderclassen 
wurden  allgemein  als  ein  Gebot  der  Nothwendigkeit  anerkannt,  und  die  Heran- 
bildung der  Schwachsinnigen,  denen  ja  auch  eine  möglichst  glückliche  Jugendzeit 
zutheil  werden  soll,  bezeichnete  man  durchaus  als  Pflicht  der  Gemeinde  oder 
de«  Staates. 

Auch  der  zweite  Verhandlungsgegenstand,  das  Mädchen  turnen,  trug 
den  Stempel  der  Schulpraxis,  indem  Herr  Niethamer  (neugewählt  an  die  St. 
Johannschule  in  Basel)  in  freiem  Vortrag  die  Ziele  und  den  zweckmäßigsten 
Stoff  des  Mädchenturnen8,  im  Anschluss  hieran  in  einer  nahezu  stündigen 
Lection  die  Übungen  selbst  in  seiner  sechsten  Classe  vorführte  und  zwar  so, 
dass  aller  Augen  mit  gespanntester  Aufmerksamkeit  den  ungezwungenen 
Bewegungen  der  frohen  Schar  folgten. 

Dieselbe  praktische  Tendenz  macht  sich  indessen  allmählich  mehr  und 
mehr  auch  in  Privatkreisen  geltend;  stellten  doch  kürzlich  hervorragende  Laien 
aus  eigener  Initiative  den  nachfolgenden  sehr  beachtenswerten  Entwurf  zu 
r Satzungen  eines  Privat-Lyceums"  (Privat-Akademie)  in  St.  Gallen  zusammen: 

1.  Die  Privat-Akademie  will  dem  unbestreitbaren  Bedürfnisse  eines  im 
Sinne  der  amerikanischen  Colleges  auf  das  praktische  Berufsleben  gerichteten, 
höheren  Unterrichtes  dienen. 

2.  Sie  nimmt  Schüler  resp.  Zuhörer  (auch  weibliche  Externe)  nach  voll- 
endetem 16.  Altersjahre  unter  der  Bedingung  normaler  Beanlagung  auf. 

3.  Sie  zerfällt  in  einen  Vorcurs  und  eine  akademische  Abtheilung.  Alle 
Neueintretenden  besuchen  zunächst  den  ersteren.  Letztere  hat  einen  propä- 
deutischen Charakter,  indem  sie  in  die  Anfänge  der  Theologie,  Jurisprudenz, 
Staatswissenschaft  und  Pädagogik  einführt.  Besondere  Curse  sind  für  solche 


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Beamte  in  Aussicht  genommen,  welche  aus  irgend  welchem  Grunde  sich  nicht 
durch  Universitätsstudien  auf  eine  rationelle  Amtsführung  oder  Staatsverwaltung 
vorbereiten  konnten  und  deshalb  in  irgend  einem  oder  in  mehreren  Zweigen 
(Buchhaltung,  Gesetzes-  und  Verfassungskunde  etc.)  praktische  Kenntnisse  noch 
besonders  nöthig  haben. 

Ob  eine  Vorbereitung  für  Theologen  beider  Confessionen  hier  möglich  und 
das  Hauptziel  erreichbar  sei,  das  wird  die  nächste  Zukunft  schon  lehren.  Be- 
deutsam, beachtens*  und  nachahmenswert  ist  für  alle  Fälle  die  zähe  Energie 
und  der  frohe  Muth,  mit  dem  die  leitenden  Persönlichkeiten  „den  erhöhten 
Volksrechten  eine  erhöhte  politische  und  wirtschaftliche,  practische  und  geistige 
Leistungsfähigkeit"  gegenüberstellen. 

Diese  praktische  Tendenz  scheint  nun  bereits  auch  auf  das  Gebiet  des 
höheren  Unterrichts  verpflanzt  worden  zu  sein,  wenigstens  beweisen  dies  theil- 
weise  die  Thesen,  welche  von  einer  Autorität  im  Zeichnen,  Herrn  Prof.  Schoop- 
Frauenfeld,  in  einem  anf  der  Hauptversammlung  der  Schweiz.  Zeichen-  und 
Gewerbeschullehrer  gehaltenen  Referate  *)  aufgestellt  wurden  und  u.  a.  dem 
Freihandzeichnen  in  Lehrerseminarien  die  Priorität  einräumen,  das 
Zeichnen  nach  Natnrkörpern  und  Modellen  obenanstellen,  die  Methode  des 
Zeichnens  der  obersten  Classe  des  Seminars  zuweisen  und  dem  Wandtafel- 
zeichnen die  nöthige  Beachtung  sichern.  —  Ebenso  befürwortet  Prof.  Dr. 
Hunziker  in  begeisterten  Worten  die  Aufnahme  der  Vaterlandskunde  in  die 
gewerbliche  Fortbildungsschule. 


Aus  der  Fachpresse. 

504.  Der  Stoff  des  Fortbildungsschnlzeichnens  (M.  Ludwig,  Die 
Fortbildungsschule  1891,  VII).  Verf.  hat  die  allgemeine  obligatorische  Fort- 
bildungsschule (mit  2 — 3  Jahresclassen)  im  Auge.  Für  diese  stellt  er  im 
wesentlichen  folgende  Regeln  auf:  a)  „Geeignetster  Stoff"  das  Linearzeichnen, 
und  zwar:  Zeichnen  von  Constructionen ,  geometrischen  Ornamenten  und  geo- 
metrischen Darstellungen  (?)  —  b)  im  Anschluss  an  a),  „spätestens  im  2.  oder 
.H.  Jahre":  Bemfszeichnen  in  vier  Hauptgrnppen  oder  Classen  (Kunstgewerbe- 
treibende, Holz-,  Stein-  und  Metallarbeiter)  —  c)  Aufgabe  des  Berufszeichnens: 
die  Schüler  sollen  einfache,  auf  ihren  Beruf  bezügliche  Zeichnungen  verstehen 
und  in  einem  andern  Maßstabe  selbstständig  wiedergeben  lernen  —  d)  „ein- 
gehendes Besprechen  mit  tüchtigen  Lehrmeistern  bezüglich  des  im  Zeichen- 
unterricht für  jeden  Beruf  Notwendigen." 

605.  Fr.  W.  Frikke  (P.  Hanke,  Neue  Bahnen  1891,  VIII).  Das 
Lebensbild  eines  Mannes  von  bewunderungswürdiger  Arbeitskraft,  Leistungs- 
fähigkeit und  Ausdauer.  Zusammenfassendes  Urtheil:  Frikkes  Denken  und 
Streben  wurzelte  in  der  Gegenwart  und  war  nur  auf  den  Fortschritt  gerichtet. 
Was  er  seine  ^Ilseu  zu  einem  Freunde  des  Rückschritts  sagen  lässt:  „Vor- 
wärts strebe,  den  Blick  auf  edle  Ziele  gerichtet;  zur  Salzsäule  erstarrt  jeder, 
der  hinter  sich  blickt!"  das  kennzeichnet  sein  ganzes  Wollen.  Was  ihm  fürs 
Dasein  des  Menschen,  für  die  Aufgaben  der  Menschheit,  für  die  Fortentwick- 


*)  Ausführlicheres  hierüber  in  den  von  Prof.  Puppikofer-St.  Gallen  vortrefflich 
redigirten  „Blattern  für  den  Zeichen-  und  gewerbl.  Berufsunter  rieht'"  Nr.  10. 


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hing  der  Cultur  nicht  wertvoll  erschien,  das  hielt  er  nicht  des  Durchdenken« 
für  wert.  Daraus  entsprang  bei  ihm  auch  die  Geringschätzung  für  so  manches 
Stück  Wissenschaft,  das  andere  für  wertvoll  halten."  „DieObjectivität,  mit  welcher 
er  bei  allen  Entscheidungen  das  Urtheil  aus  der  Sache  heraus  folgert,  wobei  er 
die  verschiedenen  Seiten  eines  Gegenstandes  und  alle  Einzelheiten  desselben 
nach  der  Richtung  aller  Ideale  hin  beleuchtet,  steht  gerade7U  einzig  da."  (Be- 
fremdlich ist  es,  dass  eine  pädagogische  Zeitschrift,  die  diesem  hervorragenden 
Geiste  mit  Recht  ein  ganzes  Heft  widmet,  keine  gründliche  Würdigung 
seiner  eigenartigen  „Erziebungs-  und  Unterrichtslehre"  bringt!) 

500.  Ansichten  über  wahre  Bildung  nebst  Erinnerungen  an 
alte  Schulkämpfe  (M.  Müller,  Allg.  deutsche  Lehrerz.  1891,  33.  34;.  Äuße- 
rungen eines  alten  Lehrers  vom  Geiste  Wanders  —  eine  Seltenheit  in  der 
deutschen  Fachpresse  der  Gegenwart.  —  In  dem  Abschnitte  über  „  wahre  Bil- 
dung" der  Nachweis,  dass  die  Bezeichnung  „Halbbildung"  sinnlos.  —  Aus  den 
„Erinnerungen" :  „Was  wir  brauchen  im  Schulwesen,  sind  bessere  Volksschulen 
und  höhere  Schulen,  in  welchen  Englisch  und  Französisch  statt  Latein  und 
Griechisch  gelernt,  und  dass  überhaupt  im  Geiste  unserer  Helden  der  Pädagogik 
in  allen  Schulen  die  Hauptsache  nicht  versäumt  wird:  gute  und  ver- 
nünftige Menschen  zu  erziehen,  und  zwar  auch  willenskräftige.  Zur 
Erreichung  dieses  Zieles  gehören  aber  auch  die  besten  Lehrer  an  die  Spitze 
des  Schulwesens  und  die  rechten  Anstalten,  in  welchen  Lehrer,  wie  sie  sein 
sollen,  gebildet  werden."  (Dies  in  einer  Flugschrift  Müllers  vom  Jahre  —  1858!) 

507.  Die  Entwicklungspädagogik  und  der  Religionsunterricht 
(R.  Köhler,  Rhein.  BL  1891,  V.  VI).  Eine  Kritik  der  Abhandlung  von 
Fr.  Polack:  „Der  Religionsunterricht  in  der  Erziehungsschule"  (Rh.  Bl.  1891, 
I),  welche  aufs  neue  die  hervorragende  Tüchtigkeit  des  Verfassers  —  früheren 
Leiters,  gegenwärtig  neben  Sallwürk  gediegensten  Mitarbeiters  der  Rh.  Bl.  — 
bekundet.  Nachweis  der  Widerspräche  gegen  sich  selbst  und  der  gegensätz- 
lichen Stellung  zu  Pestalozzi  und  Diesterweg,  in  die  jeder  geräth,  welcher  — 
wie  Polack  —  der  Pädagogik  und  der  Doginatik  zugleich  dienen  will.  Ver- 
werfung des  lutherischen  Katechismus  als  Unterrichtsstoff.  Von  der  Weitherzig- 
keit des  ursprünglichen  Christenthunis  und  der  Engherzigkeit  des  kirchlichen 
Dogmenwesens.  „Der  Religionsunterricht  hat  alles  kirchlich  Dogmatische 
anzuschließen."  Mahnung  zu  mannhafter  Aufrichtigkeit  unvernünftigen  Dogmen 
gegenüber.  (In  einem  „Nachwort  "  bringt  der  kgl.  preuß.  Schulinspector  Polack 
folgende,  das  Wesen  des  Mannes  scharf  kennzeichnende  Vertheidigung  des 
Katechismus:  „Er  ist  so  kurz,  vertheilt  sich  in  8  Schuljahren  in  so  kleinen 
Bissen,  ist  nach  seinem  Wortsinne  auf  biblischer  Grundlage  so  schlicht  [!!]  zu 
erläutern,  und  fasst  Lehrergebnisse  aus  der  biblischen  Geschichte  so  knapp  [!] 
als  „System"  zusammen,  dass  ich  ihn  um  keinen  [!!]  Preis  entbehren  möchte.. 
Znm  Zeugen  ruft  er  den  bekannten  Zillerianer  R.  Staude  auf.  Nebenbei  erfahren 
wir,  dass  P.  den  Katechismus  „noch  heute  auf  einsamen  Gängen  und  Fahrten 
oft  durchbetet".) 

508.  Obligatorischer  Religionsunterricht  in  der  Fortbildungs- 
schule? (0.  Pache,  Die  Fortbildungsschule  1891,  VII).  Obwol  P.  seine  Antwort 
anf  die  Verhältnisse  seines  engeren  Vaterlandes  (Sachsen)  gründet,  ist  sie  doch 
auch  für  weitere  Kreise  nicht  uninteressant.  Anlass  zu  dieser  Meinungsäußerung 
(Vortrag  im  Leipziger  Lehrerverein)  bot  eine  von  sächs.  Geistlichen  abgefasste 


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Petition,  welche  die  Einführung  des  obligatorischen  Religionsunterrichts  in  der 
Fortbild nngsschule  verlangt.  —  Pache  stellt  nun  fest,  „dass  kirchliche  Ein- 
richtungen vorhanden  sind,  welche  auch  den  Zöglingen  der  Fortbildungsschule 
Gelegenheit  zur  Pflege  ihres  religiösen  Lebens  bieten  (Besuch  des  Gottesdienstes; 
sonntägliche  „Katechiamu8unterredungenu)  und  dass  die  Fortbildungsschule  selbst 
redlich  bemüht  ist,  die  religiöse  Erkenntnis  zu  fördern  etc.M  Somit  geschehe 
für  die  „religiöse  Förderung  der  erwachsenen  Jagend"  genug-,  eine  weitere 
Einrichtung  sei  nicht  nöthig.  Im  übrigen  lasse  die  Thatsache,  dass  die  Jüng- 
linge „durch  die  Confirmation  in  die  Zahl  der  erwachsenen  Christen  eingereiht" 
worden  seien,  die  Durchführung  von  Maßregeln,  die  nur  -kirchlich  unmündigen 
Menschen "  gegenüber  zu  rechtfertigen  ist,  unstatthaft  erscheinen.  (Der  in 
diesen  letzten  Worten  vertretene  Standpunkt  ist  ohne  Zweifel  unanfechtbar.) 

509.  Die  Methodik  des  deutschen  Unterrichts  an  den  Mittel- 
schulen (Neudecker,  Repert.  d.  Päd.  1891,  IX).  Ziele:  I.  Sprachrichtigkeit 
—  Angemessenheit  des  Ausdrucks  und  Verständlichkeit  des  Zusammenhangs  —  • 
Herrschaft  über  die  Sprache  (Mittel:  „Produciren  —  Vertiefung  in  Master  der 
Sprachgewalt*).  II.  Gleichzeitig:  Denkzucht.  (Hauptsächlich  gilt  es,  „das 
Sinnlose  zu  bekämpfen".  „In  der  Gewöhnung  an  Gedankenlosigkeit,  an  Unlogik 
in  den  untersten  Classen  wurzelt  der  leidige  Hang  zum  unberechtigten  Genera- 
lisiren,  zu  den  einfältigsten  Superlativen,  den  vorschnellen,  halbwahren  Urtheilen 
und  Schlüssen,  die  uns  in  den  oberen  Cnrsen  jahrein  jahraus  ärgern.")  III.  Er- 
schließen des  Verständnisses  für  das  Wesen  der  Dichtkunst  und  Einführung  in 
die  Literatur  auf  die  Weise,  „dass  die  Beschäftigung  mit  ihr  zum  bleibenden 
geistigen  Lebensbedürfnis  würde".  (Die  „Wirkung"  einer  Dichtung  hat  der 
Lehrer  durch  die  „recht  sachliche  Analyse"  zu  „vermitteln".)  — Verf.  schreibt 
über  den  deutschen  Unterricht  in  einem  Stile,  der  von  leicht  vermeidlichen 
Fremdwörtern  wimmelt. 

510.  Einführung  in  die  Geschichte  der  deutschen  Sprache 
(K.  Kinzel,  Zeitschr.  f.  d.  deutsch.  Unterr.  1891,  VII).  „Geeignetste  Classe 44 : 
Obersecunda.  Form:  Freie  Unterhaltung.  Zweck:  Uebersichtliche  Zusammen- 
fassung des  auf  früheren  Stufen  erworbenen  Stoffes  und  Einführung  in  das 
Verständnis  der  sprachlichen  Vorgänge.  Weg:  Gegenwärtiger  Zustand  der 
deutschen  Sprache  (Mnndart  und  Schriftsprache;  Unterschied  zwischen  Nieder- 
deutsch und  Hochdeutsch  [Verf.  arbeitet  an  einer  Berliner  Schule];  Mittel- 
deutsch; große  Gegensätze  zwischen  ober-  und  niederdeutschen  Mundarten).  — 
Geschichte  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache  (übersichtliche  Darstellung  der 
Entwicklung)  —  von  den  Perioden  der  Sprachgeschichte  (Zeitabschnitte;  Ab- 
grenzung der  Gebiete)  —  vorgeschichtliche  Verhältnisse  —  die  wichtigsten 
Erscheinungen  unseres  sprachlichen  Lebens  —  als  Nachtisch:  Besprechung 
der  deutschen  Personennamen.   (Das  Ganze  auf  12  Stunden  berechnet.) 

511.  Plan  für  die  Heinia tsknnde  (Deutsche  Schulpraxis  1891, 
38.  39).  «Aus  der  Praxis  einer  Arbeitsconferenz."  Bezüglich  der  notwendigen 
Wanderungen  wird  vorgeschlagen  „9  größere  Ausgänge  von  etwa  3 — 4  stündiger 
Dauer  zu  unternehmen;  wenn  nöthig  können  zwischen  dieselben  noch  einige 
kleinere  eingeschoben  werden.  Auf  den  9  Ausgängen  ließe  sich  ein  Kreis  von 
etwa  l1/,  Stde.  Halbmesser  um  den  Heimatsort  herum  erledigen."  In  gemein- 
samer Arbeit  wird  von  der  Conferenz  erörtert,  welche  erdkundliche,  natur- 
wissenschaftliche, gesellschaftliche,  wirtschaftliche  Begriffe,  Lehren,  Beziehungen 


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die  Heimat  veranschaulicht  oder  darstellt.  Der  geplante  Stoff  wird  auf  die 
Ausgänge  vertheilt,  einer  der  letzteren  als  Beispiel  vorgeführt.  (Bei  dieser 
Gelegenheit  erfahren  wir,  dass  die  wackere  „Arbeitsconferenz",  auf  deren 
durchweg  tüchtige  Arbeiten  wir  hier  schon  mehrfach  hingewiesen,  die  sich  aber 
bisher  immer  in  den  Schleier  der  Anonymität  gehüllt,  nahe  bei  Zwickau  i.  S. 
haust.) 

512.  Barock,  Rococo  undZopf  im  heutigen  kunstgewerbl. Unter- 
richt (Moser,  Zeitschr.  f.  gewerbl.  Unterr.  1891,  IV).  „Die  kunstgewerblichen 
Schulen  oder  Classen  können  sich  dem  mächtigen  Vordringen  des  Barock-, 
Rococo-  (eventuell  auch  Zopf-)  Stiles  nicht  widersetzen  durch  grundsätzliches 
Nichtbeachten  oder  Nichtwollen,  sondern  sie  sind  es  dem  modernen  Kunst- 
gewerbe schuldig,  jene  Stile  auf  Grund  vorurteilsfreier  Würdigung  in  be- 
schränktem Maße  zu  pflegen.  Da  aber  ihr  Charakter  ein  höheres  persönliches 
Kunstvermögen  des  Schülers  bedingt,  sind  sie  als  ein  reservirtes  Gebiet  der 
Gutbegabten  zu  betrachten,  in  welches  diese  einzuführen  sind."  —  (Der  Künste 
kritiker  C.  Gnrlitt  sagt:  „Wir  kennen  sehr  wol  die  Mängel  und  Schwächen  des 
Barock  und  Rococo,  aber  wir  kennen  auch  ihre  unvergleichlichen  Schönheiten. 
Wir  wissen,  dass  das  17.  und  18.  Jahrhundert  keine  „ Verfallzeit u  waren, 
sondern  eine  eigenartige,  hochbedeutende  Kunstblüte  schufen.") 


Seit  einiger  Zeit  erscheint  bei  G.  Rüdlinger  in  Arbon  (Schweiz,  Thurgau) 
eine  „Wochenschrift  für  Kindergärtnerinnen,  Mütter  und  Lehre- 
rinnen an  Arbeits-  und  Volksschulen",  Preis  halbjährlich  Fr.  1.80. 

Die  Verlagshandlung  von  Karl  Klinner  in  Leipzig  versendet  soeben  da« 
erste  Hefte  von:  rSt.  Cacilia.  Monatsschrift  für  katholische  Kirchen- 
musik.11 Redacteur  Jakob  Gruber  in  München,  Preis  mit  Musikbeilagen 
M.  6.—,  ohne  solche  M.  H.20  jährlich. 

Die  Herren  Franz  und  Stephan  Grnmbach  in  Karlsbad-Drahowits  ge- 
denken mit  Beginn  des  nächsten  Jahres  eine  Monatsschrift  unter  dem  Titel 
„Freie  Bildungs-Blätter-1  zum  Preise  von  1  fl.  50  kr.  jährlich  heraus- 
zugeben. Gründung  von  Volksbüchereien,  Volksbildnngs-  und  Lesevereinen, 
Massenverbreitung  guter  Schriften  und  volkstümlicher  Aufsätze  soll  Zweck 
des  Blattes  sein. 

Soeben  erschien  der  erste  Band  der  14.  Auflage  von  Brockhaus' 
Conversationslexikon.  Mit  der  neuen  Auflage  erlebt  dieses  älteste  und 
angesehenste  Werk  seiner  Art  das  100jährige  Jubiläum,  und  die  Verlagrs- 
handlung  bietet  im  Verein  mit  350  Mitarbeitern  alles  auf,  um  dasselbe  in  Text 
und  Ausstattung  auf  die  Höhe  der  heutigen  Wissenschaft  und  Kunst  zu  stellen. 

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Literatur. 


Dt.  Theobald  Zie^ler,  Professor  der  Philosophie  und  Pädagogik  an  der  Uni- 
versität Straßburg,  Die  Fragen  der  Schulreform.  Zwölf  Vorlesungen. 
Stuttgart  1891,  Göschen.  176  S.  2,50  Mark. 

Wer  jahraas  jubrein  die  Hochflut  der  pädagogischen  Tagesliteratur  zu 
beobachten  und  zu  sondiren  verbunden  ist,  der  muss  gestchen,  dass  diese  Gat- 
tung unseres  Schriftthuins  im  Ganzen  einen  recht  traurigen  Eindruck  macht 
und  zum  weitaus  größercu  Theil  aus  Machwerken  besteht,  die  man  am  besten 
schweigend  zur  Seite  legt.  Um  so  erfreulicher  sind  die  weit  selteneren  Er- 
zeugnisse wahrhaft  berufener  Arbeiter  auf  diesem  Gebiete,  von  denen  vor- 
stehender Titel  eines  namhaft  macht.  Referent  muss  dieses  Buch  das  beste 
nennen,  welches  ihm  seit  Jahren  auf  dem  Markte  der  pädagogischen  Neuheiten 
begegnet  ist.  Nicht  als  ob  er  in  demselben  eine  endgiltige  Losung  jeder  ein- 
zelnen der  schwebenden  Reformfragcn  laude,  oder  jedem  Satze  dieser  zwölf 
Vorlesungen  zustimmte;  aber  es  ist  in  diesem  Buche  alles  vereinigt,  was  den 
pädagogischen  Schriftsteller  constituirt:  Wissenschaft,  Geist,  Charakter  und  Stil. 

Wie  schon  der  Titel  besagt,  beleuchtet  Herr  Professor  Ziegler  die  „Fragen 
der  Schulreform11  und  zwar  bezüglich  der  höheren  Schulen,  wie  solche  seit 
längerer  Zeit  auf  der  Tagesordnung  stehen  und  vor  Jahresfrist  auf  der  be- 
kanuten  Berliner  Conferenz  eine  ausführliche  Erörterung  erfahren  haben.  Den 
Verhandlungen  und  Resolutionen  dieser  Conferenz  wird  allenthalben  Beachtung 
und  eine  strenge,  aber  gerechte  Kritik  gewidmet.  Zugleich  nimmt  Verfasser 
auch  Stellung  zu  sonst  igeu  Äußerungen  zeitgenössischer  Pädagogen,  sofern 
sie  sich  mit  den  schwebeuden  Rclormfragen  befasst  hüben.  Wenn  somit  das 
Buch  keineswegs  einen  blos  akademischen  Charakter  tragt,  sondern  frisch  und 
mit  blanken  Waffen  an  actuelle  Probleme  herantritt  und  auch  der  Polemik 
Raum  gewährt:  so  würde  man  es  doch  schief  bcurthcilen,  wenn  man  es  nur 
als  eine  Gelegcnheitsschrift  von  ephemerer  Bedeutung  bezeichnen  wollte.  Viel- 
mehr ist  der  Kern  desselben  ein  allgemein  pädagogischer  von  bleibendem 
Werte;  es  handelt  sich  Herrn  Professor  Ziegler  hauptsächlich  um  Feststellung, 
Erläuterung  und  Verteidigung  jener  leitenden  Grundsätze  über  Erziehung  und 
Unterricht,  welche  über  allem  Tagesstreitc  erhaben  und  in  demselben  maß- 
gebend sein  müssen.  So  nähert  sich  dieser  Cyklns  akademischer  Vorlesungen 
sehr  einem  kurzgefaßten  Lehrbuch  der  Pädagogik  für  höhere  Schulen,  und 
man  kann  nur  wünschen,  dass  er  als  solches  recht  eifrig  studirt  werden  möge, 
besonders  von  Candidaten  des  Gymnasial-Lchramtes  und  von  jüngeren  Lehrern 
höherer  Schulen  aller  Art. 

Die  erste  Vorlesung  unter  dem  Titel:  „Klagen  und  Anklagen.  Die  Ber- 
liner Konferenz1*  —  führt  unmittelbar  in  den  gegenwärtigen  Stand  und  Zustand 
des  höheren  Schulwesens  in  Deutschland  und  damit  in  die  schwebenden 
Streitfragen  und  die  Versuche  zu  deren  Lösung  ein,  wobei  selbstverständlich 
die  Berliner  Conferenz  nicht  umgangen  werden  konnte.  Von  besonderem  Werte 
ist  dabei  der  Kückblick  in  die  Schubgeschichte,  aus  welchem  hervorgeht,  wie 
sich  die  heutigen  Zustände  und  damit  eben  auch  die  Probleme  und  Streitig- 
keiten entwickelt  haben.  Vermisst  haben  wir  unter  den  bewegeuden  Factoren 
der  Sehulent Wickelung  und  des  Schulkampfes  die  modernen  Sprachen. 

Die  zweite  Vorlesung,  über  „Erziehen  und  Unterrichten'*,  hält  Referent  für 
das  vorzüglichste  und  wertvollste  Stück  des  ganzen  Buches;  jeder  Lehramts- 

P«*U«ogium.  U.  Jahr*.  Heft  III.  15 


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candidat  sollte  sie  dreiinal  studiren  und  beherzigen  uud  duuu  jedes  Jahr  auts 
neue  gründlich  erwägen.  Denn  sie  enthält  das  A  und  ()  aller  Schnlpädagogik, 
da»,  was  jeder  Lehrer  unbedingt  und  zu  allererst  wissen  und  fühlen  muss. 
Auch  hier  knüpft  Verfasser  zunächst  an  eine  Zeitströmung,  an  die  aus  Her- 
bart'schen  Kreisen  so  oft  erschallende  Forderung  an,  das«  die  Schule  mehr  er- 
ziehen als  unterrichten,  der  Unterricht  jedenfalls  ein  ..erziehender"  sein  müsse. 
Dem  gegenüber  sagt  er:  „Die  Schulen  und  vor  allem  die  höheren  Schalen  sind 
Uuterrichtsanstalten :  das  ist  für  mich  ein  so  Selbstverständliches  und  lTn- 
widersprechliches,  dass  ich  darüber  gar  nicht  viele  Worte  machen  kann.  Es 
ist  nur  eine  Wirkung  und  Folge  von  der  Macht  der  Schlagwörter  und  Phrasen 
in  unserer  Zeit,  dass  man  das  verkannt  hat  und  darüber  streitet;  und  überdies 
ist  die  Herbart'sche  Pädagogik,  welche  von  Haus  aus  Hofmeistercrziehung  und 
Schulunterricht  nicht  genügend  unterschieden  und  auseinander  gehalten  hat, 
an  diesem  ganzen  unseligen  Streit  und  Missverständnis  initbetheiligt."  Und  nun 
folgt  ein  so  meisterhafter,  schlechthin  evidenter,  geradezu  classischcr  Nachweis 
über  die  erziehliche  Macht  des  Unterrichtes  als  solchen,  der  Schulen  als  Lehr- 
anstalten, wie  er  meines  Wissens  auf  so  engem  Räume  in  der  ganzen  pädago- 
gischen Literatur  noch  nirgends  erbracht  wurde. 

Die  nun  zunächst  folgende  dritte  Vorlesung  unter  dem  Titel:  „Der  Sturm 
auf  die  classiseben  Sprachen"  —  dürfte  auch  bezüglich  ihres  pädagogischen 
Gehaltes  und  Gewichtes  der  zweiten  am  nächsten  zu  stellen  sein.  Sie  bringt 
hauptsächlich  eine  Darlegung  des  Bildungswertcs  der  altclassischen  Sprachen 
und  Literaturen,  woraus  sich  dem  Verfasser  die  praktische  Folgerung  ergibt: 
„Eine  Herabsetzung  der  Unterrichtsstunden  in  den  alten  Sprachen  im  Ganzen 
halte  ich  im  Gegensatz  zu  den  Conferenzbeschlüssen  nicht  für  möglich,  wenn 
die  Einführung  in  die  classischen  Schriftsteller  wirklich  noch  gelingen  und 
fruchtbar  gemacht  werden  soll."  Referent  rechnet,  wie  schon  angedeutet,  die 
hier  vorliegenden  Ausführungen  zu  den  gelungensten  und  schätzenswertesten 
des  ganzen  Buches  und  ist  auch  mit  der  citirten  Folgerung  einverstanden;  er 
bedauert  aber,  dass  Herr  Professor  Ziegler  nicht  auch  den  modernen  Sprachen 
und  Literaturen,  sofern  sie  in  den  höhereu  Schulen  berücksichtigt  werden,  eine 
gleiche  didaktisch-pädagogische  und  allgemein  culturclle  Würdigung  hat  ange- 
deihen  lassen.  Dies  ist  in  der  That  eine  fühlbare  Lücke  in  seinen  Vorlesungen, 
welche  wir  gleich  hier  constatiren  wollon.  Gestreift  sind  allerdings  die  modernen 
Sprachen  und  Literaturen  an  mehreren  Stellen  des  Buches  (in  der  eisten,  dritten 
und  auch  in  späteren  Vorlesungen) :  aber  eine  der  hier  gebotenen  analoge  Be- 
leuchtung  haben  sie  nicht  erfahren,  und  infolgedessen  ist  auch  bezüglich  der 
künftigen  Gesumm  torganisation  deB  höheren  Schulwesens  eine  gewisse  Unsicher- 
heit geblieben. 

Nun  folgt  eine  Vorlesung  über  die  Frage:  „Bildungs- Einheit  oder  Mannig- 
faltigkeit?" Es  mögen  aus  derselben  zur  Bezeichnung  der  Stellung  des  Ver- 
fassers einige  Stellen  hier  Platz  finden:  „Es  ist  nicht  noth wendig,  dass  alle 
Griechisch  und  Lateinisch  lernen,  uud  ebenso  wenig  nothwendig,  dass,  um  ge- 
bildet zu  heißen,  ein  einzelner  es  gelernt  habe:  aber  dass  es  gelernt  werde, 
und  dass  eine  Stätte  da  sei.  wo  ein  erheblicher  Bruchtheil  unserer  gebildeten 
.lugend  es  lerne,  das  ist,  wie  schon  gesagt,  absolut  nothwendig."  .  .  .  „Die 
Einheit  der  Vorbildung  ist  nicht  nur  keine  Nothwendigkeit ,  sie  wäre  sogar 
bedauerlich  und  schädlich."  .  .  .  „Die  verschiedenen  Stände  und  Kreise  brauchen 
einander,  um  sich  gegenseitig  zu  ergänzen,  und  darum  braucht  unser  Volk 
Bildungsmannigfaltigkcit,  nicht  Bildungseinheit."  .  .  .  „ Antik  und  modern, 
historisch  und  naturwissenschaftlich  — ,  die  eine  Schule  zeige  diese,  eine  andere 
jene  Art  zu  denken  und  die  Welt  aufzufassen,  damit  es  in  unserem  Volke  nie 
an  Vertretern  dieser  verschiedenen  Bildungswege  und  Weltanschauungen  fehle. 
Und  ich  sehe  darin  auch  einen  Gewinn  für  die  Praxis.  Wenn  am  selben  grünen 
Tisch  unserer  leitenden  Kreise  Männer  sitzen,  von  denen  der  eine  antik  und 
der  andere  modern,  der  eine  historisch  durch  das  Studium  der  Geisteswissen- 
schaften, der  andere  empirisch  durch  die  Naturwissenschaften  vorgebildet  und 
geschult  worden  ist,  so  fürchte  ich  davon  keine  babylonische  Sprachverwirrung, 
sondern  ich  hoffe  vielmehr  umgekehrt  auf  eine  fruchtbare  gegenseitige  Er- 
gänzung, auf  eine  um  so  allscitigerc  Würdigung  der  gerade  in  Frage  stehenden 


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Angelegenheiten  und,  was  ich  am  höehsten  anschlage,  weil  ich  es  für  das 
Merkmal  höchster  Bildung  halte,  auf  verständnisvolles  Anhören  und  freundliche 
Duldsamkeit  auch  abweichenden  Ansichten  gegenüber."  —  Wieder  6timiut  Re- 
ferent zu;  aber  die  beigefügte  Folgerung:  -Mit  diesen  allgemeinen  Erwägungen 
ist  für  mich  zugleich  schon  die  Krage  der  Einheitsschule  erledigt  und  natürlich 
im  verneinenden  Sinne  entschieden"  —  kann  er  nicht  für  geboten  halten. 
Vielmehr  sieht  er  in  der  Einheitsschule  das  richtige  Ziel  «1er  jetzigen  Be- 
wegung: sie  ist  eine  Forderung  der  administrativen  Gerechtigkeit  und  ein 
Gebot  der  Pädagogik  in  dem  von  Prof.  Ziegler  soeben  selbst  bezeichneten  Sinne. 
Nur  darf  sie  nicht,  wie  es  die  landläufige  Agitation  will,  auf  L'niform,  Schablone 
und  Zwang  hinauslaufen,  sondern  sie  muss  der  individuellen  Freiheit  Kaum 
geben,  wie  sie  Zieglcr  selbst  so  schiin  detinirt  und  so  kraftvoll  vertritt. 

Doch  wir  müssen  der  Schranken  einer  Buchanzeige  gedenken  und  wollen  uns 
daher  bezüglich  der  übrigen  Vorlesungen  kurz  fassen.  Die  Titel  derselben 
lauten:  „Das  Realgymnasium  und  das  Gymnasialmonopol.  Die  Realschule  und 
der  Einjährig-Freiwilligen-Schein.  Der  staatliche  Lehrplan  und  die  Freiheit 
der  Bewegung.  Concentration  und  Überbürdung.  Geschichte  und  Deutsch. 
Turnen  und  Spielen.  Schule  und  Haus.  Das  Abiturientenexamen  und  der 
Schulrath.  Lehrerbildung  und  Lehrerstellung."  Auch  diese  Themata  sind  mit 
gleichem  Scharfblick,  wie  die  früheren  behandelt  und  haben  dem  Verfasser  zu 
einer  Reihe  glänzender  Ausführungen  Anlass  geboten,  in  denen  zugleich 
eine  reiche  Erfahrung  auf  dem  Gebiete  der  Schul-  und  Hauserzichuug  die 
fruchtbarste  Verwertung  gefunden  bat.  Dass  mau  auch  hier  in  einzelneu 
Punkten  von  den  Anschauungen  des  Verfassers  abweichen  kann,  thut  seinen 
allenthalben  belehrenden  und  fesselnden  Ausführungen  keinen  Eintrag.  Etliche 
der  schönsteu  und  bedeutsamsten  Stellen  aus  denselben  mögen  noch  an  einem 
anderen  Orte  dieser  Blätter  wortgetreu  wiedergegeben  werden.  Hier  seien 
nur  einige  mit  der  Schulpädagogik  in  engstem  Zusammenhange  stehende 
Partien  des  Buches  besonderer  Aufmerksamkeit  empfohlen,  namentlich  die  treff- 
liche Zeichnung  des  „Speeialistcnthums"  mit  seineu  „dünucn  Virtuositäten"  und 
schädlichen  Ausartungen  des  Fachlehrersystems:  ferner  die  brillante  Beleuch- 
tung der  hohen  Phrasen  von  der  „Concentration  des  Cnten-ichtes",  welche 
»ammt  den  zugehörigen  didaktischen  Versuchen  als  unpädagogische,  dilettan- 
tische und  gewaltsame  Schnurrpfeifereicu  mit  einer  guten  Dosis  von  Sarkasmus 
biosgelegt  werden;  nicht  minder  das  schöne  Capitcl  von  der  Bildung  und 
Stellung  der  Lehrer  an  höhercu  Schulen,  in  welchem  bezüglich  der  ersteren 
namentlich  auch  das  pädagogische  Element  gehörig  betont  wird.  Auf  die 
Frage,  ob  dieses  überhaupt  nöthig  und  nützlich  sei,  gibt  Ziegler  eine  ebenso 
einleuchtende  als  maßvolle  Antwort,  welche  er  mit  den  Worten  einleitet:  „Ich 
glaube  nicht,  dass  die  Fraee  jemals  verneint  worden  wiire,  wenn  nicht  das 
berechtigte  Verlangen  nach  einer  pädagogischen  Vorbereitung  und  Anlernuug 
alsbald  übertrieben  und  dieselbe  unglückscligcrwcisc  sofort  in  die  engen  spa- 
nischen Stiefel  einer  Schablone,  in  den  Formalismus  der  Herbart'schen  Päda- 
gogik eingeschnürt  worden  wäre." 

Doch  wir  müssen  zum  Schlüsse  eilen  und  erwähnen  daher  nur  noch,  dass 
Prof.  Zietrler  seinen  zwölf  Vorlesungen,  in  welchen,  wie  oben  gesagt,  vielfach 
auf  die  Berliner  Confereuz  Bezug  genommen  ist.  die  derselben  vorgelegten 
Fragen  des  Unterrichtsministers,  ferner  die  au  sie  gestellten  Fragen  des  Kaisers, 
endlich  die  Beschlüsse  der  Confereuz  beigefügt  hat,  was  um  der  Sache  willen 
zweckmäßig  war  und  vielen  Lesern  erwünscht  sein  wird. 

Die  vorliegenden  akademischen  Vorlesungen  sind  sehr  geeignet,  das  allmählich 
etwas  matt  gewordene  Interesse  an  solchen  Productionen  wieder  aufznfrischeu. 
Ihre  stetige  Fühlung  mit  dem  wirklichen  I,  ben,  ihr  immer  geradeaus  in 
media*  res  eindringender  Gedankengang,  ihre  frische,  kernige,  freimüthige  Sprache 
fesseln  und  erfreuen  den  Leser  von  Anfang  bis  Ende;  durchaus  ernst  und  ge- 
diegen im  Gehalte,  fließend  und  ungekünstelt  in  der  Diction,  bringen  sie  neben 
gründlicher  Gelehrsamkeit  auch  den  gesunden  Menschenverstand  und  einen  köst- 
lichen Humor  zum  wirkungsvollsten  Ausdrucke.  Wenn  man  dieses  Buch  durch- 
gelesen hat,  bedauert  man  nur  eins,  nämlich,  dass  es  schon  zu  Hude  ist.  Dann 

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dankt  mau  dem  Verfasser  und  beglückwünscht  die  Universität  Straßburg  zu  einer 
solchen  Lehrkraft,  die  deutsche  Pädagogik  zu  einem  Bolchen  Vertreter.  Ü. 

Ellgelmailll,  Bilderatlas  zu  Homer.  Leipzig,  Seemann.   3  M.  60. 

Derselbe,  Bilderatlas  zn  Ovids  Metamorphosen.  Ebenda.  2  M.  60. 
Bei  der  Bcurtheilung  dieser  Bilderatlanten  wird  man  vorerst  die  Frage  be- 
antworten müssen:  Kür  wen  sind  sie  bestimmt?  Wem  sollen  und  wem  können 
sie  dienen  nach  ihrer  Art  ,  ihrem  Inhalte?  Der  Herausgeber  dachte  sich  die 
Jugend  als  Benützcr,  dachte  sich  sein  Werk  als  eine  Art  Schulbuch.  Das 
dürfte  es  aber  kaum  werden,  wol  aber  ein  Werk  für  Krwachsene,  für  Freunde 
der  Archäologie,  für  den  Lehrer  in  erster  Linie,  der  mit  Homer  und  Oxid  sich 
beschäftigt;  für  all  diese  kann  es  ein  Werk  der  Belehrung,  eine  Quelle  reinsten 
Genusses  werden.  Diese  wird  es  intereasiren ,  zu  sehen,  wie  die  Alten  ihren 
Homer  und  Ovid  sich  illustrirteu,  welche  Scencn  sie  mit  Vorliebe  lasen, 
welche  die  Künstlcrphuntasic  am  meisten  anregten,  wie  sie  sich  dies  und 
jenes  ausmalten  u.  s.  w.  Ein  tieferes  Verständnis  der  genannten  Dichtungen 
wird  dagegen  die  Jugend  aus  der  Betrachtung  der  meisten  der  in  den 
Bilderutlanteu  enthaltenen  Abbildungen  kaum  ziehen,  ja  dcT  Gcnuss  Homers 
und  Ovids  kann  durch  die  Betrachtung  der  Bilder  ihr  vielleicht  geschmälert 
werden.  Der  Jugend  werden  nämlich  die  zumeist  der  älteren  Zeit  der 
Kunst  angehörigen  Bilder  wie  eine  Gurieatur  vorkommen,  wie  eine  Parodie 
dessen,  was  sie  sich  vor  der  Betrachtung  des  Atlas  blos  auf  Grund  der  Leetüre 
vorgestellt  hat.  Dort  ein  Achill,  ein  llector  in  aller  Schöne,  hier  ein  Männchen 
in  steifer  Haltung  mit  dem  vertracten  Spitzbart  und  dem  archaischen  höhni- 
schen, grinsenden  Lächeln  um  den  Mund  und  anderen  Dingen,  komisch  anzu- 
sehen, den  Alten  nicht  anstößig,  wol  aber  unserer  Jugend.  W. 

Velhagen  und  Kinsings  .Sammlung  deutscher  Schulaasgaben,  Lief.  1">: 
Das  Nibelungenlied,  übertragen  von  Legerlotz;  33:  Goethes  Leben  und 
Werke  von  Heinemanu;  37:  Homers  Ilias,  bearbeitet  von  Kern; 
39:  Schillers  Leben  von  Lyou;  40:  Klopstocks  und  Wielands  Leben 
von  Heinemanu  und  Boxberger;  42:  Das  deutsche  Volkslied,  Answahl  von 
Matthias;  44:  Auswahl  kleinerer  Schriften  Luthers  von  Schöppa;  48:  Her- 
ders Leben.  Lessings  Leben  von  Franz  und  Lösclthorn.  (Preis  des  Band- 
chens  geb.  ca.  60 — 75  Pf.) 

Die  eben  genannten  Bändelten  übermitteln  den  Schülern  unserer  höheren 
Schulen  vier  hervorragende  Litcraturwerke  und  die  Biographien  unserer  sechs 
Classikcr.  Die  Litcraturwerke  sind  selbstverständlich  in  einer  der  Schule  ent- 
sprechenden Weise  gekürzt  wiedergegeben:  Episoden  oder  die  Sitte  verletzende 
Stellen  sind  ausgeschieden,  desgleichen  z.B.  in  den  Schriften  Luthers  alles,  was 
über  das  Fassungsvermögen  oder  den  Interessenkreis  der  Jugend  hinaus  geht. 
Su  ist  eine  Lcctürc  hergestellt,  die  man  den  Schülern  unbesorgt  in  die  Hand 
geben  kann  und  die  sie  mit  Gcnuss  und  Nutacn  lesen  werden,  Anmerkungen 
erläutern  sachliche  oder  sprachliche  Schwierigkeiten  des  Textes  oder  fördern 
sonst  das  Verständnis  des  Gelesenen,  indem  sie  es  als  Glied  einer  Kette  be- 
trachten und  die  Stellung  zum  Ganzen  erörtern.  (Z.  B.  das  Volkslied  und 
seine  Typen.) 

Die  Biographien  sind  zweifacher  Art.  Die  Schillcrbiographie  Lyons  fasst 
die  Aufgabe  anders  als  die  Biographien  der  anderen  Glassiker.  Lyon  schildert 
nämlich  Schiller  vornehmlich  als  Menschen;  seine  Darstellung  wird  immer 
kürzer,  je  mehr  er  sich  der  Schilderung  des  Weimarer  Aufenthaltes  nähert, 
und  ist  am  ausführlichsten  bei  der  Vorführung  der  Leidensjahre  des  Dichtere. 
Der  Dichter  Schiller  auf  dem  Höhepunkte  seines  Sehaffens  kommt  so  nicht 
recht  zur  Geltung.  Lyon  mag  darauf  gerechnet  haben,  dasa  die  Leser  seines 
Büchleins  die  Einzelausgaben  der  Schiller'schen  Dramen  in  der  VeUiagen-Kla- 
singschen  Sammlung  in  den  Händen  haben  werden,  aus  deren  Einleitungen 
sie  das  Nähere  über  die  Entstehung  der  Werke,  ihre  Bedeutung  u.  s.  w.  er- 
fahren. —  Die  Biographien  der  anderen  Classiker  betrachten  ihr  Thema  ent- 
weder so,  das*  sie  mehr  den  Menscheu  oder  mehr  den  Dichter  in  den  Vorder- 


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-   205  — 


grund  rücken  und  setzen,  wie  z.  B.  Heinemanu  in  der  tioetlio-J^io^mphie, 
durch  die  Form  und  Betrachtungsweise  gereiftere  .Schüler  voraus,  indem  sie 
z.  B.  öfter  über  (ioethe  spricht,  als  von  Goethe  erzählt.  Ktwas  populärer, 
etwas  mehr  Jugendschrift !  sowilushet  man  bei  der  Lectttrc  öfter.  Das  erkennt 
man  aber  um  so  williger  au,  data  die  Verfasser  insgesammt  mit  dem  neuesten 
Stand  der  Forschung  vertraut  sind.  W. 
Otto  Ernst,  Aus  verborgenen  Tiefen.  Novellen  nnd  Skizzen.  Hamburg 
1891,  Conrad  Kloß.    244  S.   3  Mark. 

Dass  Otto  Ernst  ein  reich  begabter  Lyriker  ist,  hat  er  durch  seine  „Ge- 
dichte" bewiesen  und  ersieht  man  abermals  aus  dem  schönen  Widmungsgruße, 
welcher  seinem  neuen,  uns  eben  vorliegenden  Buche  vorgesetzt  ist.  Dieses  nun. 
eine  Reihe  von  Bildern  aus  dem  Leben  der  Gegenwart,  beweist  deutlich,  dass 
er  auch  in  der  Sprache  der  Prosa  die  gleiche  poetische  Begabung  zu  entfalten 
versteht.  Seine  „Novellen  und  Skizzen1'  malen  uns  mit  photographischer  Treue 
Personen,  Cuaraktcmige,  Gewohnheiten,  Bestrebungen,  Zustände  und  Schicksale, 
wie  sie  die  gegenwärtige  Gesellschaft,  namentlich  in  ihren  mittleren  und  untereu 
Schichten  aufweist;  sie  sind  ein  naturwahrer  Spiegel  des  socialen,  besonders 
des  häuslichen  Lebens  in  seiner  mannigfaltigen  Verschiedenheit  und  charak- 
teristischen Bedeutung  selbst  im  Kleinen  und  Einzelnen.  Bei  all  dieser  realisti- 
schen (oder  naturalistischen)  Genauigkeit  und  Trefflichkeit  im  Schildern  und 
Erzählen  spürt  man  jedoch  überall  den  Zug  ins  Allgemeine,  Ideale,  das  sinnige 
Belauschen  des  Menschen  in  seinem  Wesen,  seinem  Stande,  seinen  Gebrechen 
nnd  Vorzügen,  seinem  typischen  Gepräge  im  Thun  und  Lassen,  in  Lust  und 
Leid.  Wenn  uns  der  Dichter  im  Leben  der  Gegenwart  mehr  Schattenseiten, 
mehr  Betrübendes,  ja  Empörendes,  als  Lichtpunkte  und  erhebende  Züge  vorzu- 
führen weiß,  so  liegt  dies  wol  an  der  Natur  des  Objectes,  das  er  vorführt, 
eben  am  Leben  selbst.  Dass  er  uns  aber  allenthalben  zur  lebendigsten  Theil- 
nahme  zu  bewegen  versteht  und  mit  dem  scharfen  Blicke  des  Menschenkenners 
die  Wärme  des  fühlenden  Herzens  zu  vereinen  weiß,  dass  ist  sein  Verdienst, 
die  Frucht  seines  tiefen  und  reichen  Gemitthes ,  dargelegt  in  mustergiltiger, 
oft  schneidiger,  aber  stete  dem  Gedanken  adäquater  Sprache.  M. 

Ans  unserer  Väter  Tagen.    Bilder  aus  der  deutschen  Geschichte.    I.  An 

der  römischen  Grenzmark.    Geschichtliche  Erzählung  von  R.  Bah  mann. 

Illustrirt  von  Maler  F.  H.  Walther.  143  Seiten.  IL  Deutsche  Göttersagen. 

Für  die  Jugend  und  das  Volk  erzählt  von  Herinine  Möbius.  Illustrirt 

von  Maler  E.  H.  Walther.  138  Seiten.  III.  Im  Strome  der  Völkerwanderung. 

Von  Reinhold  Rahmann.  Illustrirt  von  Maler  E,  H.  Walther.  13(i  Seiten. 

Verlag  von  Alexander  Köhler  in  Dresden  und  Leipzig. 

Nr.  1  beginnt  mit  den  Einfällen  der  Römer  unter  Cäsar  in  Deutsehland  und 
schließt  mit  der  Hermannsschlacht.  Nr.  2  schildert  die  altdeutsche  Götterwelt 
mit  ihren  Mythen  und  Sagen.  Nr.  3  entwirft  ein  Bild  der  Bewegung  unter 
den  germanischen  Stämmen  zur  Zeit  der  Völkerwanderung.  Die  Verfasser, 
Herr  Bahmann  und  Frau  Möbius,  zeigen  sich  ihrem  Stoffe  gewachsen  und 
bringen  denselben  in  schöner  und  leicht  fasslicher  Sprache  zur  Darstellung. 
Die  beigegebenen  Bilder  tragen  wesentlich  zur  Belebung  des  Inhaltes  bei. 

Wer  für  die  reifere  Jugend,  etwa  zur  Weihnachtszeit  oder  bei  anderen  fest- 
lichen Gelegenheiten  eine  gute  Leetüre  sucht,  dem  sind  diese  Schriften  bestens 
zu  empfehlen.   Jedes  Bändchen,  schön  ausgestattet  und  gebunden,  kostet  nur 
1  Mk.  M. 
Servns,  Dr.  HL,  Prof.  in  Berlin,  Die  analytische  Geometrie  der  Ebene 

für  höhere  Schulen.  128  S.  Fig.  im  Text.  Leipzig  18W),  Teubner.  1,60  M. 
Der  Verfasser  hat  sein  Buch  geschrieben,  weil  ihm  kein  anderes  bekannt 
war,  welches  in  gleich  „ausfuhrlicher  und  einfacher  Weise"  denselben 
Lehrstoff  zur  Darstellung  brächte.  —  Nun,  wir  wären  in  der  Lnge,  sehr  viele 
Bücher  zu  nennen,  denen  die  angegebenen  Eigenschaften  im  höheren  Grade 
beizulegen  sind  als  dein  vorliegenden.  Mit  der  Ausfiilirlichkeit  kann  mau 
übrigens  noch  einverstanden  sein,  es  fehlte  uns  wesentlich  nur  die  Verbindung 


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mehrerer  Geraden,  um  wenig.iteus  beispielsweise  die  aus  der  Euklid'scken 
Geometrie  bekanuteu  Eigenschaften  der  Dreiecke  analytisch  abzuleiten;  auch 
kauu  man  ohne  zu  große  Weitläufigkeit  den  Begriff  der  Directrix  bei  den 
Kegelschnittsliuien  einführen  und  erörtern.  Was  aber  die  Faßlichkeit  der 
Darstellung  betrifft,  so  läast  sie  sehr  viel  zu  wünschen  übrig,  ja  es  muss 
geradezu  gesagt  werden,  dass  der  Verfasser  die  charakteristische  Eigeuthüm- 
lichkcit  der  nualv  tischen  Geometrie  verwischt.  Es  ist  doch  die  analytische 
Geometrie  uichts  Hudens,  als  die  Anwendung  der  Algebra  auf  die  Geometrie. 
Wir  setzen  die  Gleichung  der  Geraden  und  die  Gleichung  einer  Curve,  ver- 
binden dieselben  algebraisch  und  haben  sodann  das  Ergebnis  der  Rechnung 
geometrisch  zu  deuten;  dies  ist  der  Vorgang,  welchen  die  Schüler  kennen 
lernen  und  sich  aneigueu  sollen. 

Ganz  anders  aber  verfährt  der  Verfasser;  er  docirt  bei  der  Parabel:  Trage  die 
Abscisse  vom  Scheitel  in  der  entgegengesetzten  Richtung  auf.  so  erhältst  du  deu 
Durchschnitt  der  Tangente  mit  der  Abscissenachse;  ebenso  heißt  es  hei  der 
Hyperbel  und  Ellipse:  hulbire  den  Wiukel  der  Lcitstrahlen,  beziehungsweise 
den  Außenwinkel,  und  darauf  folgt  eine  weitläufige  Beweisführung,  etwa  wie 
wenn  man  die  Lehre  von  den  Kegelschuittslinieu  ohne  Kenntnis  der  analy- 
tischen Geometrie  auf  synthetischem  Wege  behandeln  wollte.  —  Durchaus  nicht 
zur  Vereinfachung  des  Lehrganges  trägt  es  ferner  bei,  dass  der  Verfasser  die 
Kegelschnittslinien  als  jene  Curven  definirt,  welche  einer  gewissen  Gleichung 
entsprechen.  Infolge  dieser  Definition  wiTd  die  Ableitung  der  verschiedenen 
Eigenschaften  dieser  Curven  viel  weitläufiger  und  verwickelter,  als  wenn  man 
vou  der  Gleichheit  beziehungsweise  Constanz  der  Summen  und  Differenzen  ge- 
wisser Abstände  ausgeht. 

Der  Verfasser  erweitert  übrigens  seinen  Lehrstoff  über  den  Titel  des  Buches 
hinaus  und  lehrt  die  Berechnung  des  Rauminhaltes  vom  dreiachsigen  Ellipsoid 
und  der  Rotationskörper  aus  Parabel  und  Hyperbel.  Dazu  benutzt  er  ganz 
unvermittelt  die  durch  Wittstein  bekannt  gewordene  Formel  für  den  Raum- 
inhalt des  Prismntoides.  So  ganz  auf  guten  Glauben  sollte  man  Schülern, 
welche  di  r  Abgangsprüfung  nahe  stehen,  mathematische  Wahrheiten  denn  doch 
nicht  bieten.  In  der  That  lässt  sich  an  das  Prineip  von  Cavalieri  an- 
knüpfen, wie  man  dies  bei  Hu  ebner  nachsehen  kann. 

Es  kann  auch  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  die  Mehrzahl  der  Figuren  un- 
richtig gezeichnet  ist:  gleich  die  erste  Parabel  auf  der  Seite  25  hat  am  Scheitel 
eine  falsche  Krümmung,  weil  sich  dort  ein  Schnabel  findet.  Von  den  räum- 
lichen Gebilden  hat  nur  die  Zeichnung  des  Ellipsoides  eine  richtige  Gestalt, 
alle  übrigen  Figuren  räumlicher  Gebilde  sind  unrichtig,  weil  alle  Curven  als 
Zweiecke,  das  heißt  mit  Schnabel  auftreten,  während  die  darstellende  Geometrie 
doch  lehrt,  dass  die  Projectionen  der  Kegelschnittslinien  in  Ebenen  keine 
Weudepuukte  besitzen  können.  Obwol  sich  dieser  Mangel  in  einer  sehr  großen 
Anzahl  von  Lehrbüchern  wiederfindet,  so  wäre  es  doch  Zeit,  denselben  abzu- 
stellen. Mindestens  den  Docenten  der  Hochschulen  sollten  die  Grondlehren 
verwandter  Wissenschaften  nicht  fremd  sein. 

Zum  Schlüsse  des  Buches  finden  sich  an  300  Aufgaben  zur  Einübung  des 
vorgetragenen  Lehrstoffes.  Im  übrigen  wollen  wir  ja  nicht  verkennen,  dass 
dieses  Werk  mit  viel  Fleiß  abgefasst  ist,  sn  zum  Beispiel  wird  die  Gleichung 
der  Geraden  auf  dreierlei  Art  vorgeführt  ,  und  da  sodann  von  den  Tangenten 
des  Kreises  die  Rede  ist,  wählt  der  Verfasser  zum  Vergleiche  jene  Formel  der 
Geraden  mit  Geschick,  welche  die  Beziehung  zwischen  Gerader  und  Kreis 
am  klarsten  ergibt.  Auch  das  über  coujugirte  Durchmesser  Vorgetragene  ist 
recht  lehrreich,  nur  stoßen  wir  auch  hier  wieder  auf  die  dem  Geiste  der  ana- 
lytischen Geometrie  durchaus  entgegenstehende  Fassang  in  synthetische  Form. 

H.  E. 

Heiltschel  E.,  weil.  Seminarlehrer  in  Weißenfels,  and  E.  Jiinicke,  Seminar- 
lehrer in  Halberstadt,  Rechenbuch  für  die  abschließende  Volksschule,  in 
Ii  Heften  il  40  Pf.   5.  Anfl.  Leipzig  1890,  Merseburger. 

Die  vorliegende  Ausgabe  wurde  vou  C.  Eicke  und  G.  Limpert  besorgt 
uud  dabei    neuesten  Wünschen  und  Strebungen  Rechnung  getragen.  Das 


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erste  Heft  enthält  in  zwei  Stufen  die  Zahlrnräumc  10  und  20,  wobei  in 
jedem  die  Rechnungsarten  gesondert  auftreten.  Das  /.weite  Heft  enthalt  den 
Zahlenraum  bis  100  ohne  Abstufung  und  mit  Sonderung  der  Rechnungsarten. 
Pas  dritte  Heft  erweitert  den  Zahlenraum  bis  1000  und  bis  zu  den  Hun- 
derteln und  macht  mit  den  einfachsten  Brüchen  bekannt.  Das  vierte  Heft 
enthält  den  unbegrenzten  Zahlonraum  uud  das  Rechnen  mit  mehrfachbenannten 
Zahlen.  Das  fünfte  Heft  lehrt  das  Rechnen  mit  gemeinen  und  Decimalbrüchen, 
das  sechste  endlich  die  bürgerlichen  Rechnungsarten  und  Raumbcrcchnungcn. 
Referent  ist  zu  sehr  von  dem  Nutzen  der  Grube 'sehen  Methode  durch  eigene 
Erfahrung  überzeugt,  als  dass  er  für  einen  anderen  Vorgang  ein  empfehlendes 
Wort  zu  sagen  vermöchte.  H.  E. 

Latitar,  Lucas,  Der  Reclienunterricht  in  der  Volksschule,  methodische 
Anleitnng.    79  S.  Laibach  1890,  v.  Kleinmayr  &  Bamberg.   1  M. 

Der  Inhalt  beiasst  sieh  mit  der  Anleitung  zum  Gebrauche  des  dritten  und 
vierten  Rechenbuches,  das  ist  im  Zahlenraume  bis  1000  und  im  unbegrenzten 
Zahlcnraumc;  es  sind  also  ohne  Zweifel  Rechenbücher  vom  Verfasser  veröffent- 
licht, welche  uns  jedoch  unbekannt  geblieben  sind,  und  zu  deren  Gebrauch 
vorstehende  Anweisung  zu  dienen  hat.  Im  allgemeinen  kann  man  mit  den 
Ausführungen  des  Verfassers  wol  einverstanden  sein;  es  hat  uns  nur  sonderbar 
geschienen,  dass  diese  Methodik  mit  dem  dritten  Schuljahre  beginnt.  Wo 
bleiben  die  beiden  früheren,  ganz  besonders  das  erste,  dessen  Methodik  den 
eigentlichen  Angelpunkt  bildet?  während  ja  doch  alles  Folgende  größtenteils 
Gedächtnissachc  und  Normalvcrfahren  ist.  Im  einzelnen  müssen  wir  ausstellen, 
dass  im  dritten  Schuljahre  die  Subtraction  als  Abziehen  und  erst  im  vierten 
Schuljahre  mittels  Hinzuzählen  gelehrt  wird.  Den  Schülern  wird  hiermit  die 
Aufgabe  durch  ein  ganz  unnützes  Umlernen  erschwert.  Man  kann  auch  schon 
im  ersten  Schuljahre  die  Subtraction  mittels  Zuziihlens  lehren,  und  es  ist  kein 
Grund  erfindlich,  weshalb  Uberhaupt  eine  andere  Art  zu  lehren  sei.  —  Natürlich 
kann  dann  auch  erst  im  vierten  Jahre  die  Division  ohne  Aufschreibung  der 
Theilproducte  gezeigt  werden,  was  gleichfalls  einem  unnöthigen  l'mlcrncn 
gleichkommt.  —  Das  Beispiel,  an  welchem  der  „Zusammengesetzte  Dreisatz- 
erläutert wird,  ist  so  ungeschickt  gewählt,  dass  die  Unbekannte  mit  der  gleich- 
namigen Bekannten  auch  numerisch  gleich  ist.  H.  E. 

S<*hader,  D.  F.,  Prof.  in  Hamburg,  Leitfaden  für  den  Reclienunterricht  in 
den  unteren  Classen  höherer  Lehranstalten  nebst  Aufgabensammlung.  I.  Th.: 
Leitfaden.   70  S.  Hamburg  1891,  Fritzsche. 

Der  Inhalt  des  Buches  verbreitet  sich  über  das  Rechnen  mit  ganzen  un- 
benannten  und  benannten  Zahlen  mit  geraeinen  und  Dccimalbrüchcn  und  über 
die  Mehrzahl  der  bürgerlichen  Rechnungsarten.  Man  kann  mit  dem  Inhalte 
dieser  Druckschrift  wol  einverstanden  sein,  denn  sie  sucht  möglichst  Zusam- 
menhang und  Fügung  herzustellen  zwischen  der  wissenschaftlichen  Arithmetik 
und  dem,  was  als  besondere  Arithmetik  auf  der  Unterstufe  mitzutheilcn  ist. 
Wenn  aber  der  Verfasser  auf  dem  Titelblatte  für  sich  eine  „neue  Methode" 
in  Anspruch  nimmt,  so  müssen  wir  bemerken,  dass  uns  nichts  in  seinem  Buche 
neu  war,  im  Gcgeuthcil  würden  wir  manches  von  dem  beibehaltenen  Mangel- 
haften gern  durch  Besseres  ersetzt  gesehen  haben.  So,  um  nur  eines  hervor- 
zuheben, scheint  uns  die  Schlussrechnnng  in  der  auch  beim  Verfasser  vorftnd- 
lichen  Form  unbeholfen  und  weitläufig  und  daher  praktisch  unbrauchbar. 
Geradezu  fehlerhaft,  weil  außerhalb  des  wissenschaftlichen  Zusammenhanges 
stehend,  ist  es  abcT,  das  Dividiren  auf  die  Subtraction  zurückführen  zu  wollen. 
Im  Ganzen  aber  ist  das  Buch  ein  gutes,  schon  wegen  seiner  übersichtlichen 
Hervorhebnng  des  Wichtigen  durch  stärkeren  Typensatz  und  verschiedene 
anerkennenswerte  Einzelheiten,  so  die  Subtraktion  mittels  Ergänzung  und  das 
sich  daraus  ergebende  einfachere  Verfahren  bei  der  Division;  dann  auch  die 
Einordnung  der  Theilbarkeitsrcgeln  von  Maß  und  Vielfachem  zwischen  Division 
und  Bruchrechnung,  das  ist  an  die  ihnen  systematisch  zukommende  Stelle. 

Wenn  der  Verfasser  überzeugt  ist,  dass  der  vorliegende  Leitfaden  auch  in 
Verbindung  mit  jeder  anderen  Aufgabensammlung  gute  Dienste  leisten  wird, 


1 


—    208  — 

»n  kann  man  dieser  m  iuer  Meinung  wol  zustimmen.  Wenn  er  aber  ferner  um 
Nachsicht  ersucht  weifen  des  Betretens  eines  noch  unbebauten  Feldes,  so 
müssen  wir  einerseits  sagcu,  da*s  er  keiner  Nachsicht  bedarf,  da  seine  Arbeit 
ganz  gewiss  den  besseren  ihrer  Art  beizuzählen  ist;  anderseits  aber  kann 
dieses  Gebiet  kein  unbebautes  Feld  genannt  werden,  da  uns  doch  eine  sehr 
rei«  he  Literatur  vorliegt.  Das  Buch  erseheint  für  die  unteren  Classcn  höherer 
Lehranstalten  recht  gut  brauchbar,  noeh  dringender  aber  möchten  wir  es  den 
Scminaricn  empfehlen,  an  welchen  man  zumeist  noeb  weit  entfernt  ist,  den 
Zusammenhang  zwischen  Rechenkunst  und  wissenschaftlicher  Arithmetik  ge- 
funden zu  haben.  H.  E. 


Neu  erschienene  Bücher. 

Josef  Bernhard,  Gymuasialprofessor  in  Leitmeritz,  a)  Formale  Logik  für 
Gymnasien.  121  S.  b)  Empirische  Psychologie  für  Gymnasien.  138  8. 
Prag.  Dominiens. 

Dr.  Hermann  Strasosk),  .lakob  Friedrich  Frieß  als  Kritiker  der  Hämischen 
Erkenntnistheorie.  Eiue  Antikritik.  Hamburg  und  Leipzig,  Leopold  Voss. 
75  S.    1.50  Mark. 

Dr.  Kvacsala  Janos,  Bisteifeld  Janos  Henrik  Eletrajza.  Budapest,  az  Athc- 
naemu  Ii.  t;\rsulat  Könyvnyomdaja.  66  Seiten. 

Neudrucke  pildagogischer  Schriften.  Heraasgcgeben  von  Albert  Richter. 
V.  Almau8or,  der  Kinder  Schalspiegel.  Von  Martin  Hayneccius.  Mit  einer 
Einleitung,  herausgegeben  von  Dr.  Otto  Haupt.  129  S.  80  Pf.  VI.  J.  G. 
Schlimme],  Fritzens  Reise  nach  Dessau  und  F.  E.  von  Rochow,  Authentische 
Nachricht  von  der  zn  Dessau  auf  dem  Philanthropin  den  13.-15.  Mai  1776 
angestellten  öffentlichen  Prüfung.  Mit  Einleitung  uud  Anmerkungen  heraus- 
gegeben von  Albert  Richter.   76  S.   80  Pf. 

D.  Schlie,  Dr.  Anton  Ree.  Zur  Würdigung  seiner  Bestrebungen  und  Ver- 
dienste.  Hamburg,  Conrad  Kloß.   115  S.   50  Pf. 

.1.  P.  Richter,  Das  französische  Schulwesen.  Auf  Grund  der  gesetzlichen 
Bestimmungen  und  der  behördlichen  Anordnungen  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  inneren  Einrichtung  dargestellt.  Halle,  Tausch  &  Grosse. 
115  S.   1,60  M. 

Karl  (wrundseheid,  Das  Schulwesen  Englands.  Bielefeld,  Heinrich.  28  S. 
75  Pf. 

Eduard  Teller,  Pädagogisches  Album.  Gedauken  über  Erziehung  und  Unter- 
richt in  Aphorismen  für  Lehrer  und  Eltern.  Im  poetischen  Gewände.  2.  Aufl. 
Naumburg,  M.  Schmidt.   127  S.    1,25  M. 

Johannes  ftuttzeit,  Reinmenschliche  Kindererziehuug.  Drei  Vorlesungen,  ge- 
halten in  Augsburg,  Nürnberg  und  Leipzig.  Leipzig,  Siegismund  und 
Volkeniug.   36  S.  40  Pf. 

Prof.  Dr.  Seved  Ribhiii£,  Die  sexuelle  Hygiene  und  ihre  ethischen  Couse- 
quenzen.  Drei  Vorlesungen.  Ans  dem  Schwedischen  übersetzt  von  Dr.  med. 
Oskar  Reyher.   5.  Aufl.  Leipzig,  Peter  Hobbing.   215  S.   2  M. 

H.  Wickenhagen,  Antike  und  moderne  Gymnastik.  Vergleichende  Betrach- 
tungen und  Vorschläge.  Wien,  Pichler.   127  S.   1,50  M. 


Verantwortl.  Redacteur  Dr.  Friedrieb  Dittes.    Bucbdnickerci  Jnlim  Klinkhtrdt,  L«i<zi£. 


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Soeben  eridnen: 

Per  ^efigtonsunfcrridjt  in  ber  §d)ufe, 

in  fltilrguuiig  au  Dir  St,  ttUgriu.  Iciitt'dK  Vrorrrurviautiuliiug, 

bebaubelt  uon 
4*01? £  Jpcfcnetöei*,  ^rebiijcr. 
ö  «ogen  gr.  8".   %*vri&  1  Warf. 

Tie  29.  öligem.  Teutidie  gebrertierjammlung,  meldie  reäbrenb  ber  ißftngfttage 
bieieJ  ^fl&Tf*  in  SMannljeim  tagte,  bat  bie  oft  Denttfierft«  ftrage  be*  fHeligionounST* 
riebt»  in  ber  Sdiule  unter  anberem  gunt  (Brgenftanb  ber  Vftraditimg  gemadjt.  3n 
nidit  genug  anjuerfeuueuber  SBeifc  ift  ber  SftnnenMafeU  einer  nachbriidlidjen  Betonung 
be*  etlniMiiMt  Unterrid)i6  gegenüber  bem  bogiuatiidKii  bas  &lort  gerebet  unb  bannt 
ber  Emanzipation  ber  Sd)iile  Don  ber  ttirrfie  uviter  vorgearbeitet  reorben. 

Um  ben  be^erjigen^merteii  Sorten,  bie  oon  Jrudnnäwiern  unb  Saieu  §u  biefer 
Jyrage  gefprodjen  mürben,  eine  aflgemeiue  Verbreitung  gn  üeridjaffen,  jugleid)  aber 
audi  um  ber   redithaberiidien  fteätgläublflfcU  gereifter  Verreu  burd)  fadjbienlidie 
Erörterung  einen  Tamm  entgegenliefen,  mürben  bie  norliegenben  Vliitter  berCneut 
lidjfeit  übergeben. 

I  if  V in idi ii rc  ift  $11  tu-; ii- in- ii  Dm di  alte  $iid)fjauDluiißen,  fotuir  gegen 
tfiniritduug  aco  betrage*  Otrcft  Uuit  oer  t!evlag*bud)l)ait&luug  nun 

|«  iU'ui.Jjnmcr  in  IHanulirim. 


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1  SKart  50  $i. 


IScrfaa,  von  c£.  5d)n>amt,  2>üflVR>orf. 


bem  reichen  3rtioi?,  iftrerCrfatjrnngen  mein  bic  befaunte 
Vertaner  in  ben  jungen  fyutäfrauen  managet  S&ijfcnftnectc  unb 
Äeue  über  alle  Webtetc  be r  frau#(}attung  mitzuteilen.  Oaudoriu 
iiung  Iieiu'tboten  4Nabl;ritcu  Weite  iiud  iiu c 
nut;iiug  lliiertuartete  Wäjte  tfinfäufe  iKafn  uiigfl 
mittel  —  SSäidK,  turj  alle  Wegeuftäube  be-?  ftaulbattri  :,iebt 
biefeä  In'tbjd)  auigeftattetc  Vii.hieiu  in  ben  Jtreii  'einer  ebenio 
amüfauten  mie  IrbrreiCTjeil  Klaubereien.  toirb  ein  mill- 
fommencr  ^Ratgeber  aller  tenen  fein,  reeldie  ein  itauoröge- 
iuäi;c!>  ftudfauimeii  audi  bei  bridiei&rucu  ^Mitteln  anftreben. 


3>orrdttfl  tn  (Uten  iHu. 


mtn.  (*ra.cn  ltiutfRtrati<i  ton  SR,  l-tiu  \r»'ot,;t  portufttir 
Suiiii  iniirii«  Per  S«liiB»^jaftliiM  i. 


Soeben  ersciieint: 


19000 

Abbildungen. 


16  Bände  geb.  ä  10  M. 
oder  256  Hefte  ä  60  Pf. 


J 160001 

Seite  nText. 


Brockhaus' 

Kon  versations  -  Lexikon. 


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74.  Auflage. 


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1 120  Chrpmotafela  und  480  Tafeln  in  Schwarzdmck.  | 


.1'  <!•■  I'.uehbnndliing  und  Postunsfalt  uinniit 
Bestellungen  entgegen  auf: 

Allgemeine  Dentsche  Lehrerzeitnna. 

Reraugegrhen  Ton  Moritz  Klflifrt. 


Musik 


|CU>».  u.  iin.Uii. F  o.llnlr.ouirrlurni, 
W'itr.  .Irin  *lr.  *«>  tri. 

laiische  Universal-Bibliothek. 

Jjede  Xr.tOPf.  V«  rrtHirt« 
[REffE  Vnnel.  Sti'l"  n-  Untrk,  »UrkuPipUr.  —  r.l'taiit  »■»• 
grttftltrtl  AIIiuiiiw»  1.10,  rr»i<lirt  loa  UkmuB«,  J»4m- 
Ikahnrtr.  —  <*»iiaa>ar  la^ik  allrr  l.ililionr«  —  II n m-r i »i ir«. 
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jtäiwpöifdjf  C5ffd)fBknifrkf  mi  {ftimirntiüilict. 


Soeben  ift  eridiienen: 


(£fjaraftcri)tijd)c 

;par(ieffuncjen  un6  §d>ir&crungcn 

ous  ber 

ffniiucr-  mib  Öölhcrfumic. 

*on 

*.  «ertljelt, 

Cbrr=2(±n'rat  in  Treben. 

JSnnile,  Knncbrtc  unb  mit  iio  fcoljkbnitten  perfebenc  Hufta«« 

neu  bearbeitet  »ou 

Hermann  ^diidmann, 

mt.  fröret  tn  Sctlm. 

gr.  8«.  in  dm.  Crtginalftaitd  gc*.  1*rct*  6 

brofdjtert  5 

liefe  neue,  fünfte,  unb  ftarr  uennebrte  9lufloflc  etned  feit  Qa^ren  allgemein 
beliebten  ^effijeidienf«  unb  ^rämienbudie*  ift  in  ooüftänbig  neuer  ©eftalt  erfreuen  unb 
bietet,  burd)  110  .\Soi*fd)nitte  reid)  iUufiricrt,  42  $oa,en  bc£  intereffanteften  erb»  unb 
DötfcrfunbUdien  Snhaltes  für  einen  iiiifeerft  njotjtfeiten  ^rct^. 

9(1*  ^enbfltit  fjtervi  Dtuüefi  l'ocbeu  bie  treffe: 

(Europas  (ZRertuelt  in  BUteru. 

^itr  btc  reifere  ^ugenb  jirinmmcngcftellt 

OOIl 

fib.  Jammer. 

mt  J«H  Mtfdjmüni  gr.  8.,  in  clcg.  Criniualbonb  acb.  Vrcis  5  W. 

brofcfjicrt  4  W. 

Tie  ^efirebungen  ber  Neuheit,  unferer  3ugrnb  in  erfter  Sinie  Äenntniß  unb 
SMeljrung  über  bie  l> e i m i f tti o  lierroctt  $u  vermitteln,  Ijabeu  $eranlaffung  $ur 
^ufanimenfiellung  biefeS  löurtie*  gegeben,  welche*  ber  3ugcub  eine  Sülle  Don  Sdjil« 
berintgen  unb  Anregungen  auf  btefem  (Hebietc  bringt  unb  burd)  präd)tige  SUuftrationen 
beftenS  wranfdwulidjt. 

39 o  eine  3ortimttt£'$ud)banblung  «id)t  jnr  Verfügung  ftcf>t,  ift  bie  Srrlag»» 
fjaitbfuttfl  gern  $u  birefter  fronfiertcr  3ufenbung  erbotig. 
^cip.^ifl  unb  Berlin  W.  H5. 

jiuliue  Älinfnarbt. 


Hierzu  zwei  Beilagen:  1.  von  G.  A.  Gloeckner  in  Leipzig.  2.  von  Heinrich  Matthes  in  Leipzig. 


p 


4     »  > 


,  \ 
1 


Paedagogium. 


Monatsschrift 

für 


Erziehung  und  Unterricht. 


unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 


iiv.  mmi 

4.  Heft,  Januar  1891 


Leiprig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt 


•  r; 


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Inhalt  des  4.  Heftes. 


Johann   Jakob   Wehrli,   der   erste   thurgauische    Seminar -Director.  Von 

Dr.  H.  Morf-Wintcrthur  209 

Heiträge  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes  in  Bezug  auf  Inhalt  und  Lehrweise. 

VII.  Über  Engel  und  ahnliche  .Mittel  weeen.  Von  Th.  Vernaleken-Graz  232 

Adolf  Diesterweg  über  Eduard  Beneke  und  dessen  Lehre  vom  Angeborenen. 
Mitgetheilt  von  Prediger  Heinrich  Neugeboren-Kronstadt  in 
Siebenbürgen  237 

Pädagogische  Rundschau.  Zeitstimmen.  —  Deutsche  Gymnasien  und  andere 
Schulen.  —  Volksbildung.  —  Tarnen.  —  Schularbeit  und  Schülerkraft. 
•         —  Von  der  Weichsel.  —  Aus  .Württemberg  .  245 

Literatur  259 

« 


■Preis  pro  Quartal  M.  SL25. 
Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten  nehmen  Bestellungen 


Johann  Jakob  Wehrli, 
der  erste  thurgauische  Seminar-Director.*) 

Von  Dt.  H.  Morf-Wintertkur. 
1. 

„Was  man  in  der  Jugend  wünscht,  hat  man  im  Alter."  Des 
jungen  Wehrli  schönste  Hoffnung  war  lange  die,  einst  in  der  Heimat 
als  Lehrer  wirken  zu  können.  Dem  gereiften  Manne  wurde  dieser 
Wunsch  in  einer  Weise  erfüllt,  wie  der  Jüngling  sich  nie  hätte 
träumen  können.  Er  war  nun  Lehrer  der  Lehrer.  Mit  umsomehr 
Muth  und  Zuversicht  trat  er  an  seine  Aufgabe  heran,  da  ihm  seit 
1829  eine  Gattin  zur  Seite  ging,  wie  er  unter  Tausenden  sie  nicht 
besser  hätte  finden  können.  Ohne  viel  Schulbildung,  aber  gesund 
an  Leib  und  Seele,  reich  an  Geist  und  Gemüth,  mit  gründlicher  wirt- 
schaftlicher Erfahrung,  von  unermüdlicher  Thätigkeit,  von  freundlichen, 
gewinnenden  Umgangsformen  bei  aller  Festigkeit  und  Bestimmtheit 
ihres  Willens,  von  klarer  Einsiebt  in  die  Aufgabe  ihres  Mannes,  war 
sie  diesem  eine  musterhafte  Gehilfin  im  Aufbau  des  neuen  Heimes 
und  war  und  blieb  eine  liebevolle  Mutter  der  in  ihrem  Hause  weilen- 
den Zöglinge  und  Lehrer  und  eine  treue,  unermüdliche  Pflegerin  ihrer 
kranken  Hansgenossen,  wie  der  Schreiber  dieser  Zeilen  reichlich  selber 
erfahren  hat,  der  das  Bedürfnis  fühlt,  der  edeln,  längst  Heimgegangenen 
ein  Wort  des  innigsten,  wärmsten  Dankes  nachzurufen. 

Zwei  Hauptforderungen  stellte  Wehrli  bei  Übernahme  der  Leitung 
der  Lehrerbildungsanstalt:  Einführung  des  für  alle  Zöglinge  obliga- 
torischen  Convicts  und  landwirtschaftliche  Übungen  neben  dem  wissen- 
schaftlichen Unterricht.  Die  Behörde  war  völlig  damit  einverstanden. 


*)  Vgl.  „Die  Lebensschule  Jobann  Jakob  Webrli'e"  ron  demselben  Verfasser, 
Pädagogium  XIII.  Jahrg.  Heft  7—9. 

Pädagogium.   14.  Jahrg.  Hef.  IV.  16 


Den  Convict  wollte  Wehr  Ii,  weil  das  Seminar  nicht  blos  eine 
Lehr-,  sondern  auch  eine  Erziehungsanstalt  sein  müsse.  Die  jungen 
Leute,  meinte  er,  kämen  gar  oft  aus  Familien  und  Kreisen,  in  denen 
eine  auf  fester,  sittlicher  Grundlage  ruhende  Lebenshaltung  und  damit 
auch  eine  wirkliche  Erziehung  der  Jugend  fehle.  Die  spätere  Haupt- 
aufgabe der  jungen  Männer  in  der  Schule  sei  aber  die  Erziehung. 
Um  derselben  genügen  zu  können,  sei  nöthig,  dass  sie  selbst  eine 
feste  innere  und  äußere  Lebensordnung  sich  zu  eigen  gemacht  hätten. 
Das  nun  zu  bewirken,  sei  Sache  und  Ziel  des  Convicts. 

Die  Einführung  der  Zöglinge  in  die  Landwirtschaft  hielt  Wehr  Ii 
darum  für  ein  wesentliches  .Erfordernis  der  Lehrerbildung,  weil  er 
mit  Fellenberg  und  andern  hervorragenden  Zeitgenossen  die  ratio- 
nelle Landwirtschaft  als  die  Grundbedingung  und  die  Basis  der 
wählen  Volkscultur  ansah,  als  das  Mittel  zur  geistigen,  sittlichen  und 
physischen  Regeneration  der  Menschheit  Die  Volkslehrer,  so  schloss 
er  weiter,  müssen  daher  nicht  nur  theoretisch  mit  der  culturellen  Be- 
deutung der  verbesserten  Landwirtschaft  bekannt  und  vertraut,  sondern 
auch  in  der  Ausübung  heimisch  gemacht  werden,  damit  sie  auf  dem 
Dorfe  Einsicht  und  Verständnis  in  dieser  Sache  verbreiten  und  den 
Gemeindegenossen  mit  Rath  und  That  an  die  Hand  gehen  könnten. 

Die  Ansichten  über  die  beste  und  zweckmäßigste  Art  der  Lehrer- 
bildung sind  heute  nicht  mehr  dieselben,  wie  vor  58  Jahren,  da 
Wehrli  sein  Amt  antrat.  Es  ist  ja  selbstverständlich,  dass  in  einem 
80  langen  Zeitraum  manche  einst  feststehende  Ansicht  überholt  wird. 
Aber  auch  heute  noch  sind  die  maßgebenden  Stimmen  nicht  in  allen 
Punkten  einig.    Über  den  tUmfang  der  zu  fordernden  Kenntnisse, 
über  die  Anstalten  zur  Erwerbung  derselben,  über  die  Weise  der 
speciell  beruflichen  Zuschulung  u.  s.  w.  gehen  die  Meinungen  noch 
ziemlich  auseinander.   Dasselbe  ist  der  Fall  in  Bezug  auf  die  äußere 
Einrichtung  einer  Lehrerbildungsanstalt.  Das  Seminar  in  Kreuzlingen 
hat  den  Convict  heute  noch,  und  es  scheint  derselbe  nie  Anfechtungen 
ausgesetzt  gewesen  zu  sein.  Bern  will  ihn  für  die  ersten  drei  Jahre, 
die  der  allgemeinen  Bildung  gewidmet  sein  sollen,  auch  feiner  bei- 
behalten. Basel  hält  ihn  für  das  in  Aussicht  genommene  Seminar  nicht 
für  nöthig,  und  Zürich  hat  denselben  als  der  Erziehung  verderblich 
abgeschafft.    Aargau  hat  in  letzter  Zeit  den  Convict  an  der  Can- 
tonsschule  eingeführt  und  rühmt  dessen  erzieherischen  Erfolg.  Es 
kann  jedoch  hier  nicht  meine  Aufgabe  sein,  auf  diese  verschie- 
denen Ansichten  und  deren  Begründung  näher  einzutreten,  sondern 
ich  möchte  nur  noch  nachweisen,  wie  Wehrli,  der  über  das,  was 


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—    211  — 


er  wollte  und  anstrebte,  völlig  mit  sich  im  klaren  war,  seiner  Aufgabe 
zu  genügen  suchte. 

2. 

Der  erste  Eindruck,  den  Wehrli  empfing,  als  er  im  September  1833 
in  das  Schlösschen  in  Kreuzlingen  einzog,  war  ein  wehmüthiger.  Der 
Gegensatz  gegen  das  reichbelebte  Hofwyl  war  ein  gar  zu  großer. 

„Wie  kam  ich  in  ein  ödes,  leeres  Schlössli,  wo  sich  bei  meine r 
Ankunft  nicht  einmal  ein  Stuhl  vorfand,  darauf  zu  ruhen!  Alles 
mussten  wir  nun  selbst  anschaffen,  was  ich  zu  einem  gedeihlichen 
Seminar-Familienleben  nöthig  glaubte.  Ich  hielt  dabei  den  gleichen 
Grundsatz  fest,  der  mich  in  Hofwyl  leitete,  nämlich  mit  dem  wenigsten 
möglichst  viele  und  gute  Zwecke  zu  erreichen.  Ich  fand  gar  keinen 
Grund,  warum  ich  nicht  auch  in  einem  Cantonsseminar  denselben 
Grundsatz  anwenden  sollte,  wie  in  Hofwyl,  indem  ja  die  Zöglinge 
auch  meistens  Landleuten  angehören  (selten  kam  einer  aus  einem  ver- 
möglichen Hause)  und  es  ihr  Glück  und  ihre  künftige  Tüchtigkeit 
mehr  fördert,  mit  Wenigem  sich  zu  genügen,  als  zu  sehen  und  zu 
lernen,  wie  man  mit  vielen  Mitteln  nicht  viel  erzielt.  Wer  muss 
nicht  zugestehen,  dass  dies  letztere  meistens  da  der  Fall  ist,  wo  die 
Geldmittel  und  die  Lehrapparate  zu  reichlich  beisammen  aufge- 
häuft sind?  Ungemeine  Langeweile  quälte  mich  beim  ersten  Aufent- 
halt in  Kreuzlingen.  Wie  gern  hätte  ich  meinen  Schritt  zurückge- 
nommen, wenn  ich  es,  ohne  Aufsehen  zu  machen,  hätte  thun  können! 
Doch  es  konnte,  es  durfte  nicht  sein." 

Die  Anschaffung  der  erforderlichen  Geräthe  für  die  künftige 
Seminarhaushaltung  half  die  Zeit  ausfüllen.  Man  kam  mit  diesen 
Vorbereitungen  nothdürftig  zum  Ziel,  bis  der  erste  Seminarcurs  im 
November  1833  mit  28  Zöglingen  seinen  Anfang  nahm.  Wehrli 
wählte  einen  jüngeren  Schullehrer,  der  den  Normalcurs  in  Hofwyl 
mitgemacht  hatte,  als  Gehilfen.  Der  musikalische  Unterricht  und  der 
katholische  Religionsunterricht  wurde  von  einigen  Conventualen,  der 
letztere  insbesondere  von  dem  Prälaten  des  nahen  Klosters  selbst 
übernommen.  In  dieser  ersten,  aus  Leuten  beinahe  gleichen  Alters 
und  gleicher  (geringer)  Vorkenntnisse  bestehenden  Seminarciasse  han- 
tirte  Wehrli  ganz  wie  ein  Dorfschulmeister  unterj  ABC-Schtitzen 
oder  wie  ein  Philosoph,  der  gar  nichts  voraussetzt.  In  jedem  Unterricht 
wurde  mit  den  ersten  Elementen  begonnen,  diese  Elemente  unter- 
schieden, zerlegt,  geordnet,  in  die  Stufenreihen  des  Fortschrittes  ab- 
getheilt,  und  nebenbei  traten  dann  die  Zöglinge  wieder  aus  ihrer 
Kinderrolle  heraus,  um  zu  überlegen,  warum  bei  dem  wirklichen 

16* 


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—    212  — 

Kinderunterricht  ein  solches  Verfahren  das  einzig  natürliche  und  er- 
folgreiche sei. 

Nun  hatte  Wehr  Ii  keine  Langeweile  mehr,  sondern  lebte  in 
freudigster  Thätigkeit.  „Von  da  an,"  erzählt  er,  „kam  ich  auch  in 
engere  Berührung  mit  mehreren  sehr  theilnehmenden  Hitgliedern  des 
Erziehungsrathes  (namentlich  auch  mit  Decan  Pupikofer  in  Bischofs- 
Zell).  Es  entstand  Leben,  Thätigkeit;  im  Hause  war  Lernlust,  und 
außerhalb  desselben  wurden  Straßen,  Wege,  Wassergräben  u.  s.  w. 
angelegt,  das  vernachlässigte  Schlösschen  und  seine  verwilderte  Um- 
gebung lebhaft  in  ein  kleines  Paradies  umgewandelt.  Die  äußerst 
reizende  Lage  am  See,  nahe  bei  Konstanz  und  Kreuzlingen,  von  den 
Leuten  und  bei  den  Leuten  (wie  man  zu  sagen  pflegt),  machte  auf 
mich  einen  stets  freundlicheren  Eindruck  —  und  endlich  ehe  ein 
Jahr  vorbei  war,  freute  ich  mich  des  gewonnenen  Wirkungskreises 
und  dankte  Gott  dafür.  Es  ging  besser,  als  ich  erwartet  und  als 
man  mir  vorausgesagt  hatte. " 

„Neben  den  Untemchtsstunden  hatte  jeder  Zeittheil  des  Tages 
für  jeden  einzelnen  Zögling  wieder  seine  bestimmte  Verwendung. 
Repetition  des  empfangenen  Unterrichts  und  Vorbereitung  auf  die 
folgenden  Unterrichtsstunden  — ,  Gartenarbeit,  Säuberung  der  Wege, 
Wassertragen,  Holzspalten,  Gemüserüstung,  Gymnastik,  Reinigung  der 
Schlafzimmer,  der  Schuhe  und  übrigen  Kleidung  u.  s.  w.  waren  auf 
gewisse  Stunden  des  Tages  verlegt,  und  jeweilen  waren  einzelne  Auf- 
seher, welche  über  die  Vollziehung  dieser  Beschäftigungen  Controle 
zu  führen  hatten.  (Jedes  Haus-  und  Gartengeräth  bekam  seine  Nummer 
und  seinen  ihm  angewiesenen  Platz.  —  Auf  diese  Weise  war  zugleich 
dafür  gesorgt,  dass  fast  jeder  Zögling  sein  besonderes  Aufseheramt 
hatte,  dass  infolge'  der  Wechselordnung  jeder  allmählich  in  allen 
Ämtchen  sich  versuchen  und  üben  musste  und  im  Ganzen  die  strengste 
Ordnung  herrschte." 

„Im  Schlafsaale  hielt  ein  Hilfslehrer  Aufsicht.  Mit  den  Zöglingen 
zur  Buhe  gehend,  wehrte  er  jeder  Verletzung  der  Sittsamkeit.  Am 
Morgen  erhoben  sich  alle  zu  der  festgesetzten  Stunde  aus  ihrem  Lager 
und  ordneten  ihre  Betten,  und  der  Zögling,  der  das  Wochenamt  hatte, 
sorgte  für  Reinigung  und  Lüftung.  Selten  mochte  ein  Tag  vorbei- 
gehen, ohne  dass  der  Director  seine  Oberinspection  vornahm  und 
auch  in  den  Betten  selbst  nachsah,  ob  nichts  Ungebürüches 
geschehen  sei" 

„Hatten  die  Zöglinge  durch  frisches  Wasser  Gesicht  und  Hände 
gewaschen  u.  s.  w.  und  sich  auf  dem  Lehrzimmer  durch  einige  Vor- 


-    213  - 


arbeiten  ernüchtert  und  ihre  Morgenandacht  verrichtet,  so  ging  es 
zum  Frühstücke.  Es  bestand  aus  Hafergrütze,  Milch,  Snppe  mit  Brot 
oder  Kartoffeln,  wie  die  Küche  es  mit  sich  brachte;  Kaffee  blieb  auf 
einzelne  festliche  Tage  beschränkt.  —  Der  Mittagstisch  war  einfach, 
brachte  wöchentlich  nur  3—4  mal  Fleisch','  selten  |ein  Kellergetränk, 
weil  die  Erfahrung  zeigte,  dass  die  Milch  nicht  theurer  zu  stehen 
komme,  dagegen  der  Gesundheit  förderlicher  sei.  —  Abends  6  Uhr 
ging  es  zum  Nachtessen,  Suppe  und  Gemüse  oder  Kartoffeln.  Wenn 
auch  verhätschelte  Leutchen  anfangs  das  Zwischenbrot  empfindlich 
vermissten,  so  gewöhnten  sie  sich  doch  bald,  mit  drei  Mahlzeiten  des 
Tages  sich  zu  begnügen. u 

Zwischen  8 — 9  Uhr  vor  dem  Schlafengehen  fand  sich  die  ganze 
Schar  der  Zöglinge  zur  Abendversammlung  ein.  Es  war  das  die 
Stunde  sittlich-religiöser  Prüfung.  Was  den  Tag  über  Auffal- 
lendes, Gutes  oder  Böses  vorgefallen  und  vom  Hausvater  beobachtet 
worden  war,  wurde  da  mit  den  Pflegesöhnen  besprochen,  mit  einem 
Ernst  und  mit  einer  Milde,  die  jedem  ans  Herz  griff.  Und  wenn  der 
Vater  mit  heiterem  Auge  den  vollendeten  Tag  und  sein  Werk  lobte, 
und  Gott  dafür  dankte  und  seinen  Söhnen  sein  „Schlafet  wolM  zurief, 
so  galt  ihnen  das  als  ein  himmlisches  Segenswort. 

Erkrankte  ein  Zögling,  so  nahm  ihn  die  Hansmutter  in  ihre 
Pflege.  Wol  bekannt  mit  allen  Schmerzlinderungmitteln  und  geübt 
in  der  Krankenbehandlung,  erwies  sie  sich  als  zartfühlende  Pflege- 
mutter, unermüdlich  bei  Tage  und  in  der  Nacht. 

So  gestaltete  sich  das  Seminarleben  zu  einem  wahren  Familien- 
leben, und  mancher  halb  verdorbene  oder  in  stumme  Sünden  ver- 
sunkene Jüngling  fand  da  Rettung  und  Heilung.  Verrieth  sich  bei 
einem  Zögling  eine  mitgebrachte  schlechte  Gewöhnung,  ein  Tempe- 
ramentsfehler, Plauderhaftigkeit,  Lügenhaftigkeit,  Naschhaftigkeit,  Träg- 
heit, Zornmüthigkeit,  Neid,  Wollust,  Unreinlichkeit  u.  s.  w.,  so  säumte 
Wehr  Ii  nicht,  ihn  zu  warnen,  ihm  Rath  zu  ertheilen',  wie  er  der 
Sünde  Herr  werden  möge.  Alles  mögliche  wurde  versucht,  das  Übel 
in  seiner  Wurzel  auszurotten.  Spät,  oft  fast  zu  spät  trug  er  bei  der 
Aufsichtscommission  auf  Entfernung  der  Unverbesserlichen  an.  Die 
Unverbesserlichkeit  eines  Menschen  einzugestehen,  widerstrebte  seinen 
pädagogischen  Ansichten  und  seinem  Gemüthe. 

In  andern  Unterrichtsanstalten  gilt  die  Beaufsichtigung  der  Zög- 
linge in  den  Freistunden  für  eine  der  schwierigsten  und  mühseligsten 
Aufgaben.  In  Kreuzlingen  war  man  dieser  Sorge  überhoben;  denn  da 
gab  es  keine  sogenannten  Freistunden.   Als  Erholungsstunden  galten 

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—    214  — 


die  Beschäftigungen  im  Garten  und  Gemüsefeld  und  in  der  Werk- 
stätte, sowie  die  zahlreichen  Handreichungen  in  der  Besorgung  des 
Haushalts.  Namentlich  wurde  der  Garten-  und  Gemüsebau  als  Er- 
ziehungsmittel benutzt.  Kam  ein  Fremder  zum  Besuche  ins  Seminar, 
so  konnte  er  auf  dem  Gemüseacker  zur  Sommerszeit  die  ganze  Schar 
der  Zöglinge  bei  der  Spatencultur  beschäftigt  sehen.  Jeder  Zögling 
hatte  einige  Quadratklafter  Boden,  den  er  für  die  Seminarküche  be- 
baute, mit  Kartoffeln,  Bohnen,  Kohl,  Rüben  u.  s.  w.  Das  geschah 
aber  ganz  kunstgerecht.  Der  Boden  war  sorgfältig  gelockert  und 
geebnet,  die  Pflanzen  genau  nach  der  Linie  und  rechtwinkelig  ein- 
gesetzt, das  Unkraut  tiberall  entfernt,  zwischen  den  Beeten  die  Wege 
rein  gehalten.  Es  war  die  strenge  Forderung;  denn  auch  in  der 
Bodenbearbeitung  sollte  der  Zögling  seinen  Ordnungs-  und  Schönheits- 
sinn üben.  Der  Ertrag  der  Arbeit  aber  war  zugleich  gemeinsamer 
Vortheil  aller;  denn  außerdem,  dass  sie  die  Gartenkunst  und  den 
Gemüsebau,'  gelernt  und  für  ihr  künftiges  Leben  eine  nützliche  Fertig- 
keit erworben  hatten,  wurde  durch  die  reiche  Gemüseernte  die  Kost- 
gelderdividende für  die  Seminarzöglinge  ermäßigt. 

Zwar  standen  neben  dem  Hofraume  auch  einige  Vorrichtungen 
zu  Turnübungen,  sie  fielen  aber  wenig  ins  Auge.  Als  daher  einst  die 
Zöglinge  einer  fremden  Erziehungsanstalt  darüber  ihr  Befremden  aus- 
drückten, entschuldigte  Wehrli,  dies  sei  eben  nur  der  kleine  Turn- 
platz, führte  sie  dann  auf  die  andere  Seite  des  Hauses  und,  auf  die 
Gemüsefelder  weisend,  sagte  er:  Hier  ist  unser  großer  Turnplatz! 

Wenn  in  den  Sommermonaten  die  Fortbildungscurse  für  ange- 
stellte Lehrer  begannen,  so  durfte  dadurch  die  eingeführte  Ordnung 
nicht  gestört  werden.  So  weit  die  beschränkte  Räumlichkeit  es  er- 
laubte, wurden  sie  im  Seminargebäude  untergebracht  und  ganz  wie 
die  Seminaristen  behandelt;  bei  andern,  welche  auswärts  ein  nächt- 
liches Obdach  suchen  mussten,  wurde  doch  den  Tag  über  dieselbe 
Regel  innegehalten;  nur  der  Betheiligung  bei  den  |Haushallungs- 
geschäften  blieben  sie,  damit  sie  in  den  Freistunden  den  Inhalt  des 
empfangenen  Unterrichts  aufzeichnen  könnten,  enthoben.  Gleichwol 
machte  die  Regsamkeit  und  Ordnung  im  Haushalte  und  besonders 
auch  der  Garten-  und  Gemüsebau  der  Seminaristen  auch  auf  ältere 
Lehrer  einen  so  vortheilhaften  Eindruck,  dass  manche  derselben  nach 
ihrer  Rückkehr  in  ihre  Gemeinden  wenigstens  für  sich  und  ihre 
Haushaltungen  Ähnliches  versuchten.  Die  Ansicht,  dass  der  Land- 
schullehrer nicht  blos  in  der  Schulstube,  sondern  auch  in  Garten  und 


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Feld  dnrch  Anleitung  und  Beispiel  zur  Volkserziehung  mithelfen  könne 
und  solle,  gewann  allgemeineren  Boden. 

Für  den  Umfang  des  Unterrichte  war  auch  in  Kreuzlingen  die 
herrschende  Ansicht  maßgebend,  dass  der  Volksschullehrer  eine  ency- 
klopädiscbe  Übersicht  über  alle  Zweige  des  menschlichen  Wissens  be- 
sitzen, namentlich  aber  die  Muttersprache  und  ihre  Regeln  und  die 
niedere  Mathematik  kennen,  in  Geographie  und  Geschichte  be- 
wandert, in  Gesang  und  etwas  Musik  geübt  sein  und  eine  gute  Hand- 
schrift führen  müsse.  Nach  Wehrli's  Ansicht  gehörte  aber  auch 
Naturkunde  und  besonders  Landwirtschaftslehre  und  einige  Fertigkeit 
im  Zeichnen  zu  den  Vorzügen  eines  guten  Schullehres. 

Mit  dem  Eintritt  einer  zweiten  Classe  im  Herbst  1834  wurden 
die  Lehrkräfte  angemessen  vermehrt  und  bald  darauf  ein  akademisch 
gebildeter  Hauptlehrer  für  Sprache,  Geschichte  und  Geographie  ange- 
stellt. 

Zur  praktischen  Vorbereitung  der  Zöglinge  auf  die  Schulführung 
wurden  nicht  blos  die  benachbarten  Schulen  benutzt,  sondern  es  wurde 
im  Seminar  selbst  für  eine  Anzahl  Kinder  eine  Privatschule  einge- 
richtet, in  welcher  die  Seminarzöglinge  abwechselnd  unter  Aufsicht 
Wehrli's  oder  eines  Gehilfen  die  ersten  Versuche  im  Unterrichten 
zu  machen  Gelegenheit  bekamen.  Die  Kinder  dieser  Seminarschule, 
für  die  sich  in  einem  benachbarten  Gebäude  eine  passende  Unterkunft 
iand,  wurden  von  jenen  Anfängern  der  Erziebungskunst  mit  einem 
Erfolge  unterrichtet,  der  bald  eine  größere  Anzahl  herbeizog  und 
endlich  zur  Einrichtung  einer  besonderen  Erziehungsanstalt  Veranlas- 
sung gab. 

3. 

So  entwickelte  sich  die  Anstalt  in  schöner  Weise.  Zöglinge  aus 
andern  Cantonen  drängten  sich  herbei,  und  sie  gewann  bald  einen 
allgemein  schweizerischen  Charakter.  Die  Jahresprüfung  im 
Herbst  1837,  also  nach  vierjährigem  Bestand  des  Seminars,  erhielt 
einen  besonders  feierlichen  Grundton,  weil  Wehr  Ii  in  einer  längeren 
Eröffnungsrede  eine  Art  Rechenschaft  vor  den  zahlreichen  Zuhörern 
ablegte,  die  ein  treues  Bild  von  seiner  Anstalt  gab  und  mit  großer 
Freude  angehört  wurde. 

Um  den  Leser  so  recht  mitten  in  das  Institut  einzuführen,  lasse 
ich  sie  hier  folgen: 

Tit.! 

Von  den  Jünglingen  und  jungen  Männern,  die  hier  vor  uns  stehen  und 
Rechenschaft  von  ihrem  Jahreswerk  ablegen  sollen,  wollen  sich  alle,  einer  aua- 


genommen,  dem  wichtigen  Lehrerberufe  widmen.  Ks  sind  ihrer  an  der  Zahl  71,  von 
denen  die  älteren  im  Jahr  1835  und  die  jüngeren  1836  ins  Seminar  getreten  sind. 
Die  älteren  (oder  die  Seminaristen  des  dritten  Curees  im  Seminar)  besteben  aus: 
23  Thurgauern,  18  St.  Gallern,  2  Glarncrn  und  1  Appenzeller.  Die  jüngeren  (oder  die 
Seminaristen  des  vierten  Curses  im  Seminar)  bestehen  aus  J6  Thurgauern,  4  St.  Gallern, 
4  Glarnern,  1  Basier,  1  Unterwaldner  und  1  Appenzeller. 

Die  ältere  Abtheilung  zeigte  bei  ihrem  Eintritt  eine  so  auffallende  Ver- 
schiedenheit in  den  Vorkenntnissen,  dass  wir  genöthigt  waren,  in  einigen  Unter- 
richtsfächern zwei  Unterabtheilungen  zu  mar  heu.  —  Indessen  haben  sich  die  meisten 
der  schwächeren  Abtheilung  fast  über  Erwartung  nachgemacht,  Überhaupt  hat  in 
allen  Classen  beinahe  ohne  Ausnahme  eine  Lernbegierde  sich  entwickelt  und  ein 
Fleiß  sich  kund  gethan,  die  beide  mir  viel  Freude  machten. 

Über  die  Thätigkeit  dieser  jungen  Leute  während  ihres  Aufenthaltes  im 
Seminar,  oder  überhaupt  über  dio  Bestrebungen  in  unserm  Hause  eine  kurze  Über- 
sicht zu  geben,  durfte  vielleicht  hier  nicht  am  unrechten  Platze  sein. 

Das  Leben  im  Seminar  ist  ein  dreifaches: 

a)  das  Leben  im  häuslichen  Kreise  oder  das  Familienleben; 

b)  das  Leben  in  der  Schulstube,  im  eigentlichen  Unterrichte,  oder  die  Thätig- 
keit in  der  wissenschaftlichen  Bildung,  und 

c)  das  Leben  außer  unsern  Mauern,  bei  gartenbaulichen  Beschäftigungen. 

Ich  stelle  absichtlich  das  häusliche  Leben  voran.  Warum?  Weil  der  häus- 
liche Kreis  die  beste  Erziehung  geben  kann  und  ein  Lehrer  vor  allem  eine  gute 
Erziehung  haben  muss,  Erzieher  werden  soll,  um  andere,  die  ihm  anvertraute 
Jugend,  erziehend  unterrichten  zu  können. 

Im  schönen  Familienleben  ist  der  Ort,  wo  man  sich  wechselseitig  durch 
Theilnahmc  an  Freud  und  Leid,  an  Glück  und  Unglück,  durch  Belehrung,  Rath, 
Trost,  Beispiel  zu  Einigkeit,  Liobe,  wechselseitigem  Vertrauen,  zu  edeln  Gesinnungen 
und  Handlungen,  zur  Tugend  ermuthigen,  erheben  kann. 

Im  schönen  häuslichen  Leben  kann  der  echt  religiöse  Sinn  am  ersten  und  die 
tiefeten  Wurzeln  fassen.  Im  häuslichen  Leben  ist's,  wo  die  Grundlage  zu  einem 
echt  christlichen  Leben  am  besten  gelegt  werden  kann.  Da  hat  man  fast  alle 
Augenblicke  Gelegenheit,  sich  in  der  dienenden  Liebe  zu  üben — die  besonders  auch 
beim  Schullebrer  eine  der  ersten  Tugenden  sein  soll;  da  ist's,  wo  Liebe  und  Ernst 
die  jüngeren  Glieder  zu  guten  und  verständigen  Menschen  heranbildet;  da  ist's,  wo 
eines  vom  andern  lernen  kann  und  lernen  wird:  —  da 

Wo  man  sich  für  alles  danket, 
Alles  gerne  leiht  und  gibt, 
Niemals  zürnet,  niemals  zanket, 
Immer  treu  und  zärtlich  liebt. 
Über  diesem  Friedenshaus 
Breitet  sich  der  Segen  aus. 

Wer  in  einem  solchen  Kreise,  auf  solche  Weise  erzogen  wird;  wer  so  in 
seinen  Mitmenschen  lauter  Brüder  erkennen  lernt,  ihnen  dient,  gern  dient,  wo  er 
kann,  und  so  die  ganze  Menschheit  ebenfalls  als  eine  große  Familie  betrachtet,  sie 
liebt  und  Gott,  ihren  Vater,  über  alles  liebt  —  wie  segensreich  wird  ein  solcher 
überall  wirken!  Welche  Weihe  gibt  das  allem  seinem  Thun  und  Laasen!  Welche 
Weihe  besonders  dem  Thun  und  Lassen  des  Lehrers!   Wie  ganz  andere  tritt  ein 


solcher  in  die  Schule,  wie  ganz  andere  verlässt  er  sie  als  derjenige,  dem  der  fromme 
Sinn  mangelt  und  dem  das  Herz  für  edlere  häusliche  Freuden  erstorben  ist! 

Wie  ganz  anders  ist  er  in,  wie  ganz  anders  außerhalb  der  Schule,  als  der- 
jenige, dem  eine  solche  sittliche  Durchbildung  abgeht! 

Wo  ist  ein  solcher  Lehrer  am  liebsten? 

Ein  solcher  Lehrer  ist  am  liebsten  in  dor  Schule  unter  seinen  Kindern  —  in 
diesem  Gotteshausc  —  im  häuslichen  Kreise  und  überhaupt  da,  wo  er  entweder 
Belehrung  geben  oder  Belehrung  finden  kann.  Ein  großer  bekannter  Mann  hat 
etwas  stark  gesagt:  „Einen  Schullehrer,  der  nicht  singen  kann,  sehe  ich  gar  nicht 
an."  Mit  ebenso  viel  Grund  könnte  man  auch  sagen:  Ein  Lehrer,  dem  der  Sinn 
fürs  schöne  häusliche  Leben  mangelt  —  sollte  sich  am  allerwenigsten  in  einer 
Schulstube  erblicken  lassen. 

Dass  wir  nun  bei  unserm  Zusammenleben  im  Seminar  nach  diesem  Ziele 
strebten;  dass  diese  Jünglinge  beinahe  ohne  Ausnahme  sich  ihres  Familienlebens 
freuten,  einer  dem  andern  diente,  der  Stärkere  dem  Schwächeren  nachhalf,  der  Ge- 
sunde den  Kranken  pflegte  und  am  nächtlichen  Krankenbette  wachte;  dass  sie  sich 
jeden  neuen  Morgen  mit  Gruß  und  Gegengruß  erfreuten  und  gemeinschaftlich  vor 
Gott  traten,  zu  ihm,  in  brüderlichor  Liebe  untereinander,  ihre  Herzen  erhoben,  vor 
ihm  gemeinschaftlich  den  Entscbluss  fassten,  die  köstliche  Zeit  wol  zu  nützen  und 
ihr  Tagewerk  so  zu  beginnen,  zu  mittein  und  zu  vollenden,  dass  sie  sich  desselben 
am  Abende  vor  ihm  freuen  dürfen;  —  dass  das  in  unserm  häuslichen  Kreise  ge- 
schehen sei,  darf  ich  öffentlich  aussprechen.  —  Noch  am  späten  Abende  ihres 
Lebens,  ich  bin  es  versichert,  werden  sie  sich  mit  Liebe  und  Freude  unserer 
Morgen-  und  Abenduntcrhaltung  erinnern,  und  wie  ich,  die  Entschlüsse  segnen,  die 
sie  da  mit  mir  gefasst  haben.  Ich  darf  hoffen,  dass  beinahe  alle  mit  diesem  Sinne 
und  Geiste  in  ihren  Schulen  wirken;  dass  ihre  Schulen  wahre  Pflanzstätten  zu 
einem  schönen,  religiösen,  häuslichen  Leben  und  Vorschulen  zu  einem  nicht  minder 
edeln  bürgerlichen  Leben  sein  werden. 

Gott  segne  unsere  Bemühungen,  unser  Streben  hierin! 

Auch  der  Sinn  für  ein  veredeltes  Äußeres,  für  Ordnung  und  Reinlichkeit 
hat  bei  unsern  jungen  Leuten  gewonnen,  hat  sich  erstarkt  an  den  Übungen,  die  sich 
in  unserm  häuslichen  Kreise  mannigfaltig  darbieten,  und  ich  darf  erwarten,  dass  sie 
auch  hierin  in  ihren  Schulen  mit  Gottes  Hilfe  Gutes  schaffen  werden.  Wie  werde 
ich  mich  jedesmal  freuen,  wenn  ich  ihre  Schulen  besuche  und  da  die  Schulstuben 
nett  und  reinlich  antreffe,  dass  sie  einen  anlachen!  Wie  werde  ich  mich  freuen, 
wenn  ich  die  Kinder  mit  reinen  Händen  und  reinem  Gesichte  erblicke  und  auch  die 
ärmsten  ein  ordentliches  Aussehen  haben!  Wie  werde  ich  mich  freuen,  diese  meine 
Zöglinge  einst  in  ihren  Schulen  auch  in  diesem  Äußern  als  Vorbilder  vor  ihren 
Kindern  zu  sehen  —  in  nettem,  reinlichem,  aber  einfachem  Gewände,  fern  von 
allem  Luxus,  fern  von  aller  Modenachäfferei  und  eitlem  Wesen  —  fern  von  eineT 
Frisur,  die  da  zeigt,  dass  der  Lehrer  einen  besseren  Blick  in  den  Spiegel  habe,  als 
in  die  Schulstube,  auf  die  vielleicht  beschmutzten  Fenster,  Wände,  Böden  und  mit 
Tinte  besudelten  Tische  —  geschweige  einen  Blick  in  die  Herzen  der  Kinder.  Wie 
werde  ich  mich  freuen,  wenn  ich  vernehme,  dass  die  Kinder  meiner  Zöglinge  in  der 
Schule  auf  diesem  Wege  (erziehend  gelehrt  und  lehrend  erzogen)  nach  und  nach  den 
Sinn  für  Einfachheit,  für  Reinlichkeit  und  Ordnung,  wie  Liebe  zu  Fleiß  und  Thätig- 
keit  mit  in  ihre  Häuser  und  Hütten  bringen  und  da  die  Schule  nachbilden! 

0  wie  schön!  Gott  gebe,  dass  es  geschehe! 


—  218 


Das  zweite  Leben  im  Seminar  macht  der  eigentliche  Unterricht  in  dem 
Schulsaalc  aus.  Bei  Lcrnhegicrdo  und  Fleiß  und  den  daraus  hervorgehenden  Fort- 
schritten wurden  den  meisten  oder  allen  die  Wochen  zu  Tagen  und  die  Tage  zu 
Stunden.  Ich  glaube  sagen  zu  dürfen,  dass  sich  die  meisten  recht  schöne  Kennt- 
nisse augeeignet  haben. 

Froh  wurde  der  Cnterricht  gegeben,  und  froh  wurde  er  empfangen.  Einen 
organischen,  naturgemäßen  Unterricht  zu  ertbeilen,  stets  vom  Leichteren  zum  Schwe- 
reren überzugehen,  und  durch  das  Bekannt«  aufs  Unbekannte  zu  kommen,  war  das 
einheitliche  Bestreben  aller  Lehrer  am  Seminar.    Alle  huldigten  dein  Grundsatze: 

a)  Was  du  lehrst,  das  lehre  gründlich  —  und 

b)  Was  die  Kinder  machen  oder  darstellen,  das  müssen  sie  recht  machen. 
Man  suchte  den  Unterricht  so  zu  geben,  wie  wir  wünschen  müssen,  dass  er 

in  der  Elementarschule  selbst  gegeben  werden  möchte. 

Der  für  die  thurgauischen  Schulen  entworfene  Lcctionsplan  lag  uns  dabei 
zu  Grunde.  Wie  dort  bei  allen  Unterrichtsfachern  auf  laute  und  stille  Beschäftigungen 
in  der  Schule  hingedeutet  ist,  so  versäumten  wir  nicht,  überall  auf  diese  Unter- 
scheidung in  der  Beschäftigung  der  Kinder  hinzudeuten,  nämlich: 

1.  auf  den  Stoff  aufmerksam  zu  machen,  den  der  Lehrer  laut  und  ent- 
wickelnd mit  den  Kindern  zu  bearbeiten  hat,  und 

2.  zu  zeigen,  wie  das  Entwickelte  zu  stillen  Beschäftigungen  und  Übungen, 
unter  Mithilfe  eines  Lehrschülers,  befestigt  werden  müsse. 

Dahin  müssen  wir  arbeiten,  dass  kein  Kind  mehr  unbeschäftigt  bleibe,  dass 
nicht  von  vornherein  Müßiggang  in  der  Schule  gelehrt  werde.  Fleiß  und  Thätig- 
keit  soll  aus  der  Schule  hervorgehen! 

In  unserm  Lectionnplanc  für  thurgauische  Schulen  ist  im  Anfange  das  Fach 
*  des  Unterrichtes  in  der  Religion  und  biblischen  Geschichte  vorgezeichnet.  Dieses 
besorgte  für  die  katholischen  Zöglinge  der  hochwürdige  Herr  Prälat  des  hiesigen 
Stiftes  und  für  die  cvanglischen  ich.  Die  biblische  Geschichte  wurde,  wie  es  der 
Lcctionsplan  andeutet,  zur  Grundlage  gemacht,  und  an  dieselbe  die  Glaubens-  und 
Sittenlehre  überall,  wo  der  Gegenstand  und  die  Umstände  dazu  auffordern,  angeknüpft. 

Als  zweites  Fr.cb  bezeichnet  der  Lectionsplan  die  Sprache.  Diese  zu  besorgen, 
hat  Herr  Bumüller  sich  zur  Aufgabe  gemacht.  Das  Lesen,  die  Wort-,  Satz-  und 
Aufsatzlehre  sind  die  Hauptstufen  darin.  Wie  weit  die  Zöglinge  gekommen  sind, 
mögen  ihre  Aufsätze  und  mehrere  nicht  ganz  misslungene  rhythmische  Versuche 
zeigen. 

In  den  Unterricht  der  Arithmetik  und  Geometrie  theilten  sich  die  beiden 
Herren  Lehrer  Wellauer  und  Azenwyler.  Alles,  was  unser  Lectionsplan  in  dieser 
Hinsicht  verzeichnet,  das  wurde  gelehrt.  Überdies  wurden  die  Zöglinge  noch  eine 
ordentliche  Stufe  weiter  geführt.  Sic  lernten  mit  dem  Messtische  umgehen  und 
blieben  mit  der  Ausziehung  höherer  Wurzeln  und  den  wichtigsten  Lehrsätzen  der 
eigentlichen  oder  wissenschaftlichen  Geometrie  und  ihrer  Anwendung  nicht  unbe- 
kannt. 

Aus  der  Naturkunde  dasjenige  zu  lehren,  was  ich  glaube,  dass  in  einem  Seminar 
gelehrt  werden  soll,  habe  ich  übernommen.  Ich  theilte  diesen  Unterricht  in  zwei 
Haupttheile:  in  die  Anschauungs-Naturkunde  und  in  die  systematische  Naturkunde, 
welche  letztere  wieder  in  Naturgeschichte  und  Naturlehre  zerfällt.  Einen  besondern 
Zweig  dieses  Faches  machte  eine  damit  verbundene  einfache  Landwirtschaftalehre  aus. 

Den  Unterricht  in  der  Geographie  besorgte  Herr  Bumüller.  Die  Abteilungen 


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—    219  — 


desselben  sind,  wie  bekannt,  die  Haus-,  Gemeinde-,  Cantons-,  Vaterlands-  und  Außer- 
vaterlandskunde. Gegen  das  Ende  des  Curees  führte  Herr  Bumüller  die  Zöglinge 
auch  noch  durch  die  mathematische  Geographie  von  der  Eide  hinauf  in  die  höheren 
Weiten  des  Himmels,  damit  sie  Gotte«  Allmacht  im  Großen  wie  im  Kleinen  bewun- 
dern und  anbeten  möchten.  — 

Die  mit  der  Geographie  so  nahe  verwandte  Geschichte  lehrte  ebenfalls  Herr 
Bumüller.  Die  Geschichte  unsere  Vaterlandes  war  uns  Hauptsache,  und  aus  der 
allgemeinen  Geschichte  wurde  nur  so  viel  damit  verbunden,  als  es  die  Anknüpfungs- 
punkte und  die  Umstände  geboten  oder  erlaubten. 

Den  Gesangunterricht  ertheilte  Herr  Professor  Anton,  und  zwar  nach 
Nägeli's  Methode.  Seine  Bemühung,  im  letzten  halben  Jahre  den  Zöglingen  einige 
Begriffe  von  der  Hannonielehre  beizubringen,  blieben  nicht  ohne  Erfolg,  indem  einige 
Versuche  in  der  Composition  nicht  so  übel  ausfielen. 

Die  Kalligraphie  besorgte  Herr  Wellauer.  Das  Zeichnen,  welches  in  Hand- 
zeichnen und  geometrisches  Zeichnen  zerfällt,  leiteten  Herr  Wellauer  und  Herr 
Azenwyler  gemeinschaftlich.  Wie  weit  es  die  Zöglinge  in  beiden  brachten,  das 
werden  die  vorzulegenden  Arbeiten  aufweisen. 

Bei  jedem  Unterrichtsfachc  wurde  bei  dem  Beginn  des  Curses  mit  dem  ein- 
fachsten Unterrichte  oder  den  Elementen  angefangen.  Man  wollte  jedesmal  einen 
sogenannten  Anschauungsunterricht,  d.  h.  eine  klare  Grundanschauung  vorausgehen 
lassen.  —  Wir  theilen  übrigens  den  ganzen  Seminarcurs  in  drei  Theile:  Der  erste 
beschäftigt  sich  mit  den  Elementen,  der  zweite  mit  den  Realien,  der  dritte 
mit  der  Repetition,  verbunden  mit  den  Vorführungsilbungen. 

Indem  wir  die  Zöglinge  nach  den  bereits  angebrachten  Bemerkungen  über 
den  Umfang  der  wissenschaftliehen  Ausbildung  allerdings  weiter  führten,  als  sie  in 
Elementarschulen  in  der  Regel  die  Schüler  bringen  werden,  lag  uns  doch  weniger 
die  Höhenstufe  der  Wissenschaft  am  Herzen,  als  vielmehr  die  Grundlegung  oder 
die  Anbahnung  eines  Weges  dazu  und  ein  sicheres  Fortgehen  auf  demselben,  so 
lange  und  so  weit  es  uns  der  auf  zwei  Jahre  beschränkte  Curaus  im  Seminar  er- 
laubte. Man  darf  nicht  aus  dem  Auge  lassen,  das*  das  Seminar  eine  Anstalt  sein 
soll  zur  Erziehung  und  Bildung  erziehender  Lehrer. 

Ist  es  etwas  anderes,  so  verfehlt  es  nach  meiner  Überzeugung  seinen  Zweck. 

Ein  drittes  Leben  oder  eine  dritte  Schule  bot  uns  unsere  kleine  Feldgärtnerei 
dar.  Auch  über  diesen  Theil  glaube  ich  einige  Rechenschaft  geben  zu  müssen. 
Nicht  nur  waren  uns  die  gartenbaulichen  Beschäftigungen  im  Laufe  der  milderen 
Jahreszeit  jeden  Abend  am  Schluss  einer  zehn-  nnd  mehrstündigen  geistigen  Thät  igkeit 
eine  Erholung  und  körperliche  Gymnastik,  durch  die  wir  den  Forderungen,  welche 
der  Körper  an  uns  macht,  um  gesund  und  kräftig  zu  bleiben,  entgegenkamen, 
sondern  sie  waren  uns  zugleich  eine  neue  bedeutsame  Schule,  die  nach  meiner  Über- 
zeugung jeder  Lehrer  auf  dem  Lande  unumgänglich  passiren  sollte-  — 

Auf  dem  Lande  die  Kinder  der  Landleute  sich  anvertraut  wissen  und  mir 
Keringe  Kenntnisse  von  der  Beschaffenheit  und  Wartung  der  Pflanzen  und  Thierc 
haben;  den  Boden  kaum  kennen,  aus  welchem  die  Pflanze  wächst;  den  Rettich  für 
Bohnen  und  die  Erbsen  für  Kartoffeln  ansehen  und  überhaupt  keinen  Sinn,  keinen 
Wahrnehmungsgeist  für  das  landbauliche  Leben  haben;  bei  Wohnungen,  Gärten 
und  Feldern  vorbeigehen,  ohne  einen  richtigen  Blick  auf  dieselben  zu  haben;  von 
der  Verbindung  des  Schönen  mit  dem  Nützlichen  im  ersten  und  allgemeinsten 
Menschenbcrufo  nur  geringe  Hegriffe  haben,  der  Naturkunde  nicht  eine  Richtung 


—    220  — 


zu  geben  wissen,  dass  sie  die  Landkinder  geistig  erregt,  mit  Kenntnissen  bereichert; 
durch  die  sie  fttr  die  Bebauung  des  Bodens  und  Erziehung  der  Pflanzen  freudig 
belebt  und  bethätigt  werden  müssen  —  ein  solcher  Lehrer  leistet  wenig  —  wenig  — 
gar  zu  wenig.  — 

Der  Schulunterricht,  vorzüglich  auf  dem  Lande,  muss  mit  dem  Leben  ver- 
bunden werden.  Die  Wissenschaft  darf  sich  da  am  wenigsten  von  ihm  absperren. 
Beide  müssen  untereinander  sich  im  schönsten  Ehebunde  vereinigen.  Erst  dann, 
wenn  der  Landschullehrer  einen  solchen  Unterricht  geben  kann,  einen  solchen  Geist 
unter  seine  Kinder  zu  bringen  weiß  —  erst  dann,  sage  ich,  passt  er  in  die  Land- 
schule ,  passt  er  mit  seinem  Sinne  für  Landwirtschaft,  diesem  vermittelnden  Element, 
zu  den  Landleuten,  Nur  dann  hat  der  Schullehrer  die  rechte  Stellung  zu  ihnen. 
Fehlt  ihm  aber  dieses  bindende  Element,  so  verfällt  er  leicht  in  Dünkelhaftigkeit,  glaubt 
zu  den  Gelehrten  zu  gehören,  benimmt  sich  in  und  außer  der  Schule  wie  ein  Ge- 
lehrter und  fühlt  nicht,  dass  er  unter  den  Landleuten  dasteht,  ich  hatte  fast  Lust 
zu  sagen,  wie  Loth's  Salzsäule.  — 

Dass  unsere  Feldgärtnerei  mit  dem  damit  verbundenen  landwirtschaftlichen 
Unterrichte  mich  zu  schönen  Hoffnungen  berechtigt,  indem  sie  von  vielen  unserer 
Zöglinge  in  rechtem  Sinne  aufgefasst  wiTd,  davon  habe  ich  viele  Beweise. 

Indes  wird,  wie  Uber  alles,  die  Zukunft  lehren.  —  Nur  auch  dann  nicht  die 
Hände  in  den  Schoß  gelegt,  wenn's  nicht  gleich  nach  unsern  Wünschen  geht.  — 
Lasset  uns  unserm  Heiland,  dem  Lehrer  aller  Lehrer,  ähnlich,  unermüdet  am  Wol 
unserer  Mitbrüder  arbeiten;  so  wir  nicht  erliegen,  werden  wir  einst  ernten  ohne 
Aufhören.   Gott  mit  uns!! 

Noch  ein  Wort,  verehrtest«  Herren!  und  Ihr  Schulmänner  besonders! 

Wenn  einmal  in  der  Schule  —  dieser  hochwichtigen  Volksbildungsanstalt  — 
•deT  Religionsunterricht  nicht  mehr  ein  verstand-  und  herzloses  Auswendiglernen  von 
schwer  zu  verstehenden  Dingen  oder  ein  trockenes  kaltes  Abfragen  darüber,  sondern 
ein  Unterricht  ist,  der  darin  besteht,  dass  man  mit  liebendem  Herzen  die  Kinder 
auf  ihre  Pflichten  gegen  die  Eltern,  gegen  den  lieben  Vater  im  Himmel,  gegen  die 
Hitmenschen  und  sich  selbst  aufmerksam  macht  —  und  dann  gleichsam  jedes  Wort, 
jeder  Blick,  jede  That  zeigt  und  lehrt,  dass  diese  Pflichten  zu  erfüllen,  jedes  Wort, 
und  Gott,  den  lieben  Allvater,  zum  besten  Freunde  zu  haben,  über  alles  in  der 
Welt  stehe  und  die  größte  Seligkeit  sei; 

wenn  wir  einmal  die  deutsche  Sprache,  fern  von  allem  grammatikalischen 
Luxus,  so  lehren,  dass  die  Schüler  durch  dieselbe  lernen  denken,  ihre  Gedanken 
ordentlich  ausdrücken,  gute  Bücher  mit  Verstand  und  daher  gern  lesen  und  einen 
Abscheu  vor  Entweihung  der  Sprache  durch  Lügen,  Fluchen  und  Verleumden  be- 
kommen; — 

wenn  einmal,  statt  des  mechanischen  Begclwesens  in  der  Rechenkunst  und 
anderer  für  das  Volk  ungenießbarer  mathematischer  Speisen,  ein  gesundes  Anschau- 
nngsrechnen  und  eine  gesunde  Anschauungsgeometrie  dem  Volke  seine  Arbeiten 
ordnen,  denkender  und  anstelliger  verrichten  lehrt,  dieser  Unterricht  überhaupt  mit 
dem  Berufsleben  in  nähere  Verbindung  gebracht  wird;  — 

wenn  die  Naturkunde  auf  ähnliche  Weise  uns  vom  Werke  zu  seinem  erhabenen 
Schopfer  führt  und  uns  nnserra  Erdenberufe  (Landbau  und  Handwerk)  bei  höherer 
jfci«tie;er  Auffassung  mit  herzlicher  Freude  und  Lust  zugethan  macht;  — 

wenn  einmal  die  vaterländische  und  weitere  Geographie,  wie  die  Geschichte, 
*o  gelehrt  werden,  dass  die  Jugend  durch  dieselben  vom  Elternhause  aus  ein  Herz 


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für  die  Gemeinde,  für  den  Canton,  fürs  Vaterland  bekommt,  ja,  die  ganze  Erde 
sich  vor  ihr  zu  einem  großen  Vaterland,  die  Menschheit  zu  einer  großen  Familie 
staltet  und  ihr  Herz  auch  für  die  Nachkommen  sich  erweitert  und  aufthut;  — 

wenn  einmal  der  Gesang  auf  eine  so  einfache  und  kunstlose  Weise  gelehrt 
wird  (wie  es  wol  möglich  ist),  dass  sich  alles,  alles,  wo  man  einander  trifft,  mit 
berzerhebenden  Gesängen  erfreut,  zur  Pflichterfüllung  begeistert,  Gott  und  seine 
Welt  besingt,  —  dass  jedes  Dorf,  der  ganze  Canton,  ja,  das  ganze  Vaterland  zu 
einer  großen  Gesanghalle  wird;  — 

wenn  der  Landbau,  dieser  große  Menschenbildungszwcig,  in  seiner  Würde 
aufgefasst  ist,  von  den  Schulen  aus  gefordert  und  erhoben  wird; 

und  wenn  alle  Lebrer  einmal  dahin  gekommen  sind,  das6  sie  auch  ihre 
eigenen  Schwachheiten  und  Mängel  erkennen  und  zugleich  einen  großen  Vortheil 
darin  erblicken,  dass  sie  durch  den  Unterricht,  den  sie  ihren  Kindern  geben,  selbst 
viel  gewinnen,  sich  veredeln,  tugendhafter  werden  müssen  und  sie  das  neben  dem 
Solarium  auch  in  Anschlag  zu  bringen  im  Stande  sind;  — 

wenn,  sage  ich,  alle  unsere  Schulen  einmal  so  lehren,  60  erziehen,  so,  auf 
diese  Weise  bilden,  wenn  alle  Lehrer  Apostel  und  ihre  Schulen  Jüngerschaften  ge- 
worden sind  —  dann  wird'B  besser! 

Herr,  die  Ernte  ist  groß,  sende  Arbeiter  in  dieselbe! 

4. 

Wie  Wehr  Ii  den  Erzieher-  und  Lehrerberuf  auffasste,  darüber 
gibt  ferner  uns  erquicklichen  Aufschluss: 

Ein  väterliches  Wort 

Unter  dieser  Aufschrift  hat  Wehrli  zu  Weihuachten  1840  als 
Neujahrsgruß  an  seine  bereits  in  mehreren  Cantonen  zerstreuten  Zög- 
linge eine  Reihe  Fragen  zur  Selbstprüfung  gestellt  und  damit  zugleich 
einen  neuen  Beweis  gegeben,  wie  sehr  ihm  ihre  Berufs-  und  Lehrer- 
treue am  Herzen  liege.  Sein  väterliches  Wort  ist  der  Erguss  eines 
wirklich  väterlichen  Gemüths,  hat  aber  einen  so  allgemein  gültigen 
Inhalt,  dass  es  als  feststehende  Beichttafel  für  jeden  Lehrer  und  Er- 
zieher, ja  selbst  für  jeden  Bürger  und  Christen  angesehen  werden 
kann.  Diese  Sorge  für  die  ausgetretenen,  bereits  in  Schulen  angestell- 
ten Zöglinge,  die  Dankbarkeit,  mit  welcher  von  denselben  die  Mah- 
nungen des  väterlichen  Lehrers  aufgenommen  wurden,  verbunden  mit 
dem  Vertrauen,  das  die  entwachsenen  Zöglinge,  wenn  sie  des  Rathes 
bedurften,  zu  ihrem  wolmeinenden  älteren  Freunde  geleitete,  rechtfer- 
tigen die  Aufnahme  des  väterlichen  Wortes  an  dieser  Stelle.  Es  ge- 
hört ja  wesentlich  zur  Schilderung  des  Wehrli 'sehen  Seminargeistes. 

'„Meine  lieben  Freunde!  Wie  gern  möchte  ich  heute  beim  Antritt  des  neuen 
Jahres  Euch,  meine  Lchrerzöglinge ,  die  nun  im  Amte  steheu  und  zu  wirken  be- 
ginnen, alle  um  mich  versammeln  und  einen  ernsten,  feierlichen  Tag  mit  Euch 
verleben!  Wie  sehr  wünschte  ich,  Euch  allen  sammt  und  sonders  mein  Herz  aus- 


1 

I 


—    222  - 

zulecren  und  besonder«  bei  dem  Ruf,  den  die  gegenwärtige  Zeit  an  uns  thut,  Euch 
auf  Euere  Stellung,  auf  Euere  Pflicht  und  Pflichterfüllung  wieder  aufmerksam 
machen  zu  können. 

Da  nun  aber  die  Hindernisse,  Euch  alle  in  diesem  Augenblicke  zu  einer 
solchen  Versammlung  hier  zu  vereinigen,  zu  viele  ßind,  so  wende  ich  mich  nun 
brieflich  an  jeden  besonders  und  hiermit  auch  an  Dich,  mein  lieber  Theophil! 
will  ich  Dich  nun  in  diesem  Schreiben  anreden). 

Von  Deiner  guten  Gesinnung,  von  Deinem  guten  Willen,  mit  dem  Du  das 
Seminar  verlassen  hast,  von  dem  Entschlüsse  vor  Gott  und  dem  Vaterlandc,  Dein 
Leben  nur  der  Menschcnbildung  zu  weihen,  wirst  Du,  wie  ich  annehmen  darf, 
nichts  weniger  als  zurückgekommen  sein.  Diese  edeln  Vorsätze  können,  des  Glaubens 
lebe  ich,  nicht  erloschen  sein.  Aber  eines  möchte  ich  fragen,  mein  lieber  junger 
Mann.  Stehen  sie  wirklich  noch  so  innig,  so  warm,  so  rein,  so  christlich  erhaben 
in  Deiner  Seele,  wie  damals,  als  Du  das  Seminar  verließest,  wo  Du  Dir  die  Welt 
viel  reiner  vorstelltest,  als  sie  wirklich  ist,  und  Du  noch  nicht  halb  so  viele 
Schwierigkeiten  ahntest,  wie  Du  sie  nuu  in  der  Wirklichkeit  findest?  —  Haben 
Dein  jugendliches  Alter,  Dein  Umgang  mit  verschiedenen  Menschen,  Deine  häuslichen 
und  andere  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  Lust  und  Last  verschiedener  Art,  Lob 
und  Tadel,  Deine  ökonomische  Lage  u.  a.  m.  erhebend  oder  niederdrückend  auf  Dich 
eingewirkt?  Hast  Du  Deine  im  Seminar  begonnene  Lehrerbildung  und  Lehrertüeh- 
tigkeit  im  Hinblicke  auf  das  Vorbild  des  göttlichen  Lehrmeisters  Jesu  stets  fort- 
gesetzt, wie  es  Dein  Vorsatz  war  —  oder  hast  Du  vielleicht  vergessen,  dass  die  Wahr- 
heit: „Wer  nicht  vorwärts  geht,  geht  rückwärts" ,  nirgends  schneller  ihre  Anwen- 
dung findet  als  beim  Lehrer  —  und  zwar  zum  großen  Nachtheil  seiner  selbst  und 
».einer  Schüler?  —  Ist  aber  letzteres  —  wie  Noth  thut  es  nun,  sich  von  dem 
Schlendrian  loszureißen  und  sich  zu  erheben,  oder  aber  abzutreten  von  einer  Stelle, 
wo  schon  die  bloße  Gleichgültigkeit  unzuberechnenden  Schaden  stiften  kann.  Ein 
Gärtner,  wenn  er  es  an  einer  Pflanze  versieht,  schadet  doch  gewöhnlich  nur  der 
behandelten  Pflanze.  Der  Schnlgärlncr  aber  setzt  nicht  blos  ein  Individuum  aufs 
Spiel,  sondern  schadet  der  ganzen  Schule,  und  dieser  Schaden  erstreckt  sich  oft  auf 
mehrere  Generationen. 

Ja,  lass  uns,  mein  lieber  Freund,  unsere  Lehrcraufgabe  durchaus  nicht  lau 
auffassen!  Lass  uns  beständig  über  uns  wachen,  daas  wir  uns  auf  keinerlei  Weise 
so  schwer  an  der  uns  anvertrauten  Jugend  versündigen!  Lass  uns  wachen  und 
beten,  dass  wir  hierin  auf.  keinerlei  Weise  in  Versuchung  fallen!  Ein  fortgesetzter 
Kampf  gegen  alle  Gleichgültigkeit,  gegen  alles  Gemeinwerden  —  ein  beständiges 
Ringen  nach  Vollkommenheit,  nach  dem  Lehrermustcr  Jesu,  führt  allein  dabin, 
dass  Gott  mit  seinem  Segen  uns  beisteht,  dass  wir  die  Jugend  wahrhaft  bilden  und 
veredeln,  unendlich  viel  Gutes  stiften  und  so  uns  des  Lehrerberufes  freuen  können. 

Ja,  kämpfen,  ringen  wollen  und  müssen  wir  beständig.  Ihr  seid,  Freunde, 
mit  uns  dessen  bewusst  ,  dass  jeder  Mensch  seine  schwache  Seite  bat  und  seine 
schwache  Stunde;  aber  eben  weil  wir  dieses  wissen,  eben  weil  wir  mit  Pälus 
fühlen,  dass  beim  besten  Willen  das  Fleisch  oft  sehr  schwach  ist,  so  lasst  uns,  wie 
er,  mit  aller  Anstrengung  und  Beharrlichkeit  den  guten  Kampf  kämpfen.  —  Diesen 
Kampf  zu  bestehen,  haben  wir  unter  anderem  ein  vorzügliches  Mittel  darin,  dass  wir 
auf  unserer  Lebensbahn  zuweilen  stille  stehen  und  einen  prüfenden  Blick  über 
unser  Thun  und  Lassen  in  die  Vergangenheit  werfen.   Dieses  Mittel  wollen  wir 


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-    223  — 


nun  auch  benutzen,  und  heute  beim  Eingang  zum  neuen  Jahre  eine  solche  ernate, 
strenge  Selbstprüfung  vornehmen. 

Frage  sich  jeder  selbst: 
A.  Wie  stehe  ich  als  Lehrer  und  Erzieher  unter  den  mir  anver- 
trauten Schulkindern? 

1.  Bin  icb  auch  ein  wahrhaft  väterlicher  und  erziehender  Lehrer? 

2.  Betrachte  ich  auch  jeden  Schüler  ab  von  Gott  mir  anvertraut? 

3.  Bedenke  ich,  dass  jeder  Schüler,  der  ärmste  wie  der  reichste,  das  Eben- 
bild Gottes  in  sich  trägt;  dass  der  göttliche  Keim  in  ihm  von  mir  zu  einer  frucht- 
tragenden Pflanze  entwickelt  worden  soll? 

4.  Bedenke  ich  stet«,  dass  ich  nun  Elternstelle  vertreten  und  das  Kind  nicht 
blos  einige  Kenntnisse  lehren,  sondern  erziehen  muss? 

6.  Bin  ich  mir  bewusst,  dass  ich  nach  Jesu  Lehre  das  Kind  ins  Reich  Gottes 
fahren  soll  —  und  das«  ich  es  mehr  durch  mein  eigen  Beispiel  thuc,  als  durch  das 
Wort  —  und  dass  Uberhaupt  der  Lehrer  mehr  leistet  durch  das,  was  er 
ist,  als  durch  das,  was  er  sagt? 

G.  Wo  zum  Vorbilde  die  Belehrung  tritt,  gebe  ich  sie  ernst,  herzlich,  eindring- 
lich —  doch  nicht  in  wortreichem  Geschwätz? 

7.  Weiß  ich,  dass  die  vielen  Strafen,  die  manche  Lehrer  geben,  den  Beweis 
leisten,  dass  der  Lehrer  seiner  Aufgabe  nicht  gewachseu,  dass  er  eben  kein  Er- 
zieher sei?  dass  er  die  Kinder  nicht  alle  zweckmäßig  beschäftige,  kurz,  dass  e6 
ihm  entweder  im  Kopf  oder  im  Ilerzen,  und  an  der  rechten  Erziehungskunst  fehle? 

8.  Weiß  ich  wol,  dass  das  Verhüten  des  Strafwürdigen  weit  edler 
ist,  als  das  Bestrafen  desselben?  —  und  dass,  wer  dem  Laster  den  Eingang 
in  daß  schuldlose  Herz  wehrt,  auch  der  Mühe  überhoben  ist,  es  aus  demselben  durch 
gewaltsame  Mittel  zu  vertreiben? 

9.  Sind  im  vergangenen  Jahre  meine  Schüler  durch  die  Wachsamkeit  auf 
ihre  Herzen,  durch  mein  Beispiel  und  meine  Lehre  wahrhaft  frömmer  und  gottes- 
forchtiger  geworden,  oder  vielleicht  nur  weniger  roh  und  äußerlich  anständiger? 

10.  Halte  ich  mit  allem  Ernste  darauf,  dass  meine  Schüler  fleißig  die  Kirche 
besuchen  —  still  und  sittsam  darin  seien  —  aufmerksam  zuhören  —  öfters  Rechen- 
schaft vom  Gehörten  geben  -—  an  allen  Theilcn  der  Gottesverehrung,  besonders  auch 
am  Gesänge  Antheil  nehmen? 

11.  Geben  die  Eltern  meiner  Schüler  mir  das  Zeugnis,  dass  ihre  Kinder  nicht 
nur  Kenntnisse,  sondern  auch  Liebe  und  Gehorsam  zu  ihren  Eltern,  Liebe  zur 
Arbeit  und  Liebe  zur  Reinlichkeit  und  Ordnung  aus  der  Schule  nach  Hause  bringen? 

12.  Halte  ich  strenge  darauf,  dass  auch  das  Äußere  meiner  Schule 
einen  bildenden  Einfluss  auf  die  Kinder  ausübe?  Halte  ich  darauf,  dass 
Lehrgeräthe,  Tische,  Bänke,  Wände,  Boden  u.  s.  w.  stets  rein  erhalten  werden,  und 
wenn  etwas  beschmutzt  worden  ist,  es  auf  der  Stelle,  wo  immer  möglich,  von  dem 
Verunreiniger  selbst  gereinigt  werde? 

13.  Gewöhne  ich  sie,  jederzeit  an  Händen  und  Gesicht  gewaschen  und  mit 
reinlichen  Kleidern  zu  erscheinen? 

14.  Bilde  ich  den  Schönheitssinn  auch  dadurch  aus,  dass  ich  alles,  was  im 
Zimmer  an  Geräthen  und  Lehrmitteln  aufzuhängen  oder  aufzustellen  ist,  symmetrisch 
und  gefällig  vor  ihre  Augen  hinbringe,  dass  die  Kinder  auch  selbst  ihre  eigenen 
Bücher  und  Lehrmittel  in  ihre  Fächer  wol  zusammenordnen? 

15.  Achte  ich  darauf,  dass  meine  Schüler  beim  Kommen  und  Weggehen 


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Lehrer  und  Schul  genossen  zu  grüßen  Bich  gewöhnen,  —  dass  sie  auch  außer  der 
Schule  die  Regeln  des  Anstände»  gegen  ihre  Mitmenschen,  welches  Alters  und  Stan- 
des sie  sein  mögen,  beobachten  und  die  schöne  Sitte  der  Begrüßung  und  des  Dankes 
sich  wol  aneignen? 

16.  Ist  in  meiner  Schule  gehörige  Ruhe  und  Stille?  Sind  die  Kinder  nach 
Andeutung  des  Lectionsplanes  gut  elassificirt?  Sind  alle  Classen,  mit  Ausnahme  der- 
jenigen, die  ich  gerade  laut  unterrichte,  mit  zweckmäßigen  stillen  Übungen  be- 
schäftigt? 

17.  Lese  ich  den  gegebenen  Lection>plan  öfters?  suche  ich  ihm  nachzukom- 
men? setze  ich  mir  lieber  ein  hohes,  als  cinniederei  Ziel? 

18.  Gehe  und  sehe  ich  während  des  Unterrichtes  Überall  allem  und  jedem 
fleißig  nach? 

19.  Helfe  und  ermuthige  ich,  wo  ich  kann?  Bin  ich  immer  eines  heiteren 
Ernstes?  Behalte  ich  den  schönen,  wichtigen  Glcichmuth?  Höte  ich  mich  yor 
zornigem  Wesen?  Habe  ich  nicht  etwa  Abneigung  gegen  die  einen  und  Vorliebe  für 
andere? 

20.  Weiß  ich  auch,  wie  leicht  sich  verborgene,  heimliche  Sünden  in  Familien 
und  Schulen  einschleichen  und  wie  ein  nagender  Wurm  Leben,  Gesundheit,  Heiter- 
keit uud  Denkkraft  zerstören?  Wie  dieses  schleichende  Übel  zu  entdecken  ist,  und 
was  ein  Lehrer  zur  Heilung  desselben  thun  kann? 

21.  Bemühe  ich  mich  im  Unterricht  der  einzelnen  Schumacher,  den  Schülern 
immer  klarer,  gründlicher  und  fasslicher  zu  werden?  Ist  mein  Unterricht  ein 
entwickelnder,  organischer,  oder  zielt  er  mehr  auf  geistige  Dressur? 
Lasse  ich  auch  der  Erklärung  und  Entwickclung  wo  möglich  unmittel- 
bar darauf  mündliche  oder  schriftliche  Durchübung  folgen? 

22.  Weiß  ich  im  Unterricht  der  biblischen  Geschichte  die  Kinderherzen  zur 
Liebe  zu  Gott,  Jesu  und  ihren  Mitmenschen  zu  erwärmen  und  zu  gewinnen?  Er- 
zähle ich  ihnen  aus  der  Bibel  jederzeit  das  Passende  klar,  kurz  und  innig,  frage 
ich  sie  darüber  ab  und  lasse  sie  wieder  erzählen?  Verwische  ich  beim  Lesen  ein- 
zelner Capitcl  nicht  den  wolthätigen  Eindruck  durch  eine  trockene  oder  lange 
Katechisation  oder  durch  den  Versuch  zu  predigen,  was  meines  Amtes  nicht  ist? 
Versäume  ich  nicht,  Kern-  und  Kraftsprttche  der  heiligen  Schrift  und  religiöse  Lieder, 
wie  die  von  Geliert,  auswendig  lernen  zu  lassen? 

23.  Bin  ich  der  Sprache  so  mächtig,  dass  ich  die  Sprache  der  Kinder 
sprechen,  das  heißt,  aus  meinem  Sprachschatze  immer  die  der  Fassungskraft  der 
Kinder  verständlichsten  Ausdrücke  zu  wählen  im  Stande  bin,  und  bin  ich  darin  so 
weit  gekommen,  dass  ich  nun  weiß,  wie  bei  einem  sehr  einfachen,  aller  grammati- 
kalischen Künsteleien  entbehrenden  Sprachunterrichte  die  Kinder  denken  und  reden 
und  Gedanken  schreiben  lernen  können?  Verstehe  ich  diese  Kunst?  Bringe  ich  sie 
wirklich  dahin,  dais  sie  geordnet  denken,  geordnet  richtig  sprechen,  Briefe  und 
andere  Lebensaufsätze  schreiben,  richtig,  schön  und  gerne  lesen  und  das  Gelesene 
verstehen? 

24.  Lernen  die  Kinder  mit  klarem  Verstand  im  Kopf  und  mit  der  .Ziffer 
rechnen,  Rechnungsaufgaben  geordnet,  leserlich  und  in  Kürze  darstellen  und  lösen? 
Lernen  sie  vorzüglich  auch  ein  ökonomisches  Haus-  und  Güterrechenbuch  führen, 
wenigstens  bevor  sie  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  ausziehen  lernen? 

26.   Außer  der  Zahl  ist  auch  der  Raum  ein  sehr  bildendes  Element.  Weiß 


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ich  dasselbe  zu  scharfen  Begriffsbestimmungen,  zur  Bildung  und  Scbärfung  des 
Verstandes,  des  so  wichtigen  Augenmaßes,  zur  Vorbereitung  im  Schönschreiben  und 
Zeichnen,  wie  auch  zur  Bildung  des  Schönheitssinnes  zu  benutzen?  —  Weiß  ich,  was 
ich  daraus  dem  Knaben,  dem  werdenden  Manne,  —  und  was  ich  dem  Mädchen, 
der  künftigen  Hansfrau,  zu  geben  habe? 

26.  Verstehe  ich  im  naturkundlichen  Unterrichte  die  Naturgegenstände  als 
ein  vorzügliches  Mittel  zu  gebrauchen,  den  Beobachtungsgeiet  zu  schärfen,  umsich- 
tiger und  vorsichtiger  zu  machen? 

Weiß  ich  die  Lehre  von  den  Mineralien,  Pflanzen  und  Thicren  so  zu  behan- 
deln, dass  dadurch  das  Interesse  zur  Hebung  und  Förderung  der  Landwirtschaft  und 
de»  Gewerbsfleißes  erhöht  wird? 

Werden  die  Kinder  bei  der  Naturgeschichte  des  Menschen  zu  höherer  Selbst- 
achtung und  zu  größerer  Sorgfalt  für  ihren  Leib  gelangen,  durch  die  Art,  wie  ich 
sie  mit  den  leiblichen  und  geistigen  Kräften  bekannt  mache?  Gebe  ich  auch  bei 
naturlehrlichem  (physikalischem)  Unterrichte  von  der  lebendigen  Anschauung  der 
Naturerscheinungen  aus?  Halte  ich  die  Schüler  an  zur  Betrachtung  mit  eigenen 
Augen,  statt  blos  mit  Bücheraugen?  Veranlasse  ich  sie  zu  Beobachtungen  der 
Licht-,  Wärme-,  Luft-  und  Wassererscheinungen,  die  sich  ihnen  täglich  vor  die 
Augen  stellen?  zu  Beobachtungen  im  Innern  des  Hauses,  im  Wohnzimmer,  in  Küche 
und  Keller,  wie  außerhalb  desselben  in  Feld  und  Wald,  in  Thälern  und  auf  Höhen? 
Bin  ich  im  Stande,  beide,  den  naturgesehic-htlichen  und  nat urlehrlichen  Theil,  so  zu 
behandeln,  dass  das  Gemttth  bei  Naturbetrachtungen  ergriffen  und  erhoben,  die 
Größe  und  Liebe  Gottes  immer  mehr  erkannt,  sein  Wille  mit  Anbetung  und  Ver- 
trauen vernommen  und  sein  Name  nie  anders  als  mit  hoher  Ehrfurcht  genannt  wird? 

27.  Weiß  ich  durch  die  vaterländische  Geographie  und  Geschichte  die 
Kinder  an  den  heimatlichen  Boden  zu  fesseln,  dass  sie  das  Land,  das  ihnen  Gott 
gegeben  hat,  lieben  und  achten  lernen  und  das  Streben  in  ihnen  geweckt  werde, 
durch  Fleiß,  Arbeitsamkeit,  wechselseitige  Theilnahme  und  in  der  Noth  durch 
willige  Beihilfe  und  Verteidigung  desselben  sich  wert  zu  raachen?  Weiß  ich 
diese  beiden  Bildungsmittel  so  zu  behandeln,  dass  sich  auf  diesem  Bildungswege  iu 
Zukunft  mehr  Einigkeit,  mehr  Liebe,  mehr  Thatkraft,  statt  bloßer  Schönrednern 
vom  Vaterland  erwarten  lässt? 

28.  Uud  du,  Gesang,  schöne,  herrliche  Gabe  von  oben  und  so  sehr  geeignet, 
in  das  Gemüth  des  Menschen  Liebe,  Sanftmuth,  Freude,  Friede  und  Ruhe  zu 
bringen  und  dasselbe  dadurch  himmelan  zu  erheben!  —  pflege  ich  dich  in  meiuer 
Schule,  wie  du  es  verdienst?  Singen  meine  Schüler  mit  Gefühl,  verstehen  sie  deu 
<>edanken  des  Gesangtextes,  ist  ihr  Gesang  nicht  blos  sinn-  und  herzloser  Schull? 
Ist  unser  Gesang  ein  anmuthiger,  ein  reiner,  ein  sanfter  und  doch  erhebender  Ge- 
sang? Lasse  ich  zuerst  den  Text  mit  Ernst  und  Würdo  lesen,  den  Sinn  klar  auf- 
fassen und  erst  dann  auf  den  Schwingen  der  Tonkunst  emporschweben?  Befördere 
ich  besondere  den  Choral-  und  Kirchengesang?  Weiß  ich  auch  die  ältere  Jugend 
in  der  Gesangliche  zu  erhalten  —  durch  Gesang  auf  ihre  Fortbildung  zu  wirken? 
Stehe  ich  einem  Gesangvereine  vor  —  uud  mit  welcher  Würde?  Schmälere  ich 
nicht  das  Gemüthhildendc  des  Gesanges  durch  Lieder  von  trivialem  Charakter? 
Halte  ich  auf  eine  Auswahl,  die  das  Herz  bessert,  die  Menschenwürde  ehrt  -  zu 
Gott  führt? 

29.  Beobachte  ich  auch  bei  diesem  Unterrichtsfache  einen  eleraentarieeli.ui 

P»«U*ogiam.  14.  Jahr*.   Heft  IV.  17 


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226  - 


Gang?  Geho  ich  vom  Leichteren  zum  Schwereren  nach  gegebener  Anleitung?  Bringe 
ich  es  dahin,  dase  leichte  Gesänge  vom  Blatt  weg  singen  gelernt  werden? 

30.  In  welchem  Fache  ich  auch  unterrichte,  vergesse  ich  nie  die  Regeln: 

a)  Nie  zu  viel  auf  einmal! 

b)  Alles,  was  ich  lehre,  sei  wahr  und  klar,  und  alles,  was  die 
Schüler  zu  machen  haben,  sollen  sie  echt  und  recht  machen! 

c)  Nicht  Mos  der  Lehrer,  sondern  auch  die  Schaler  sollen 
sprechen,  sollen  zum  Fragen  und  zum  Antworten  über  den 
Lchrgegeustand  angehalten  werden,  ein  Hauptmittcl,  sie  nicht 
in  Geistesträgheit  versinken  zu  lnssen. 

d)  Pic  Schüler  sollen  Rechenschaft  über  das  Gelernte  und  Ein- 
geübte geben  können. 

c)  Wiederholung  ist  die  Seele  des  Unterrichts. 

31.  Bin  ich  in  der  Schule  immer  der  erste  und  der  letzte?  Fange  ich 
dieselbe  jedesmal  mit  Gebet  oder  Gesang  an  und  endige  sie  wieder  mit  einer 
solchen  Weihe? 

B.    Wie  steht's  um  mich  in  meinem  engem  häuslichen  Lebenskreise? 

1.  Wohnt  bei  mir  in  einem  gesunden  Leibe  eine  gesunde  Seele? 

2.  Habe  ich  Sinn  für  das  häusliche  Leben?  Weiß  ich  die  Freude  desselben 
zu  vermehren?  Weiß  ich,  wie  scheinbare  Kleinigkeiten  oft  den  Anfang  zum  großen 
häuslichen^  Glück,  aber  auch  ebenso  leicht  zum  großen  häuslichen  Elend  werden 
können? 

3.  Bin  ich  der  Sohn  noch  lebender  Eltern,  ehre  ich  sie  nach  dem  vierten 
Gebot  mit  Wort  und  Thnt?  Erleichtere  ich  ihnen  ihr  Alter?  Verdiene  ich,  ihr 
Stolz  —  ihre  Freude  -  ihres  Alters  Stütze  und  Stab  zu  heißen?  Welches  Beispiel 
gebe  ich  hierin  meinen  Schülern? 

4.  Bin  ich  ein  treuer,  wolwollcnder  Bruder  meiner  Geschwister?  Könnte 
ich  mich  für  sie  zu  schweren  Opfern  verstehen?  Was  für  ein  Beispiel  gebe  ich  hier? 

5.  Und  will  ich  mich  in  eheliche  Verbindung  begeben  kenne  ich  die 
Wichtigkeit  dieses  Schrittes,  sowol  in  ökonomischer  als  physischer  und  moralischer 
Beziehung?  Ist  dieser  Schritt  nicht  zu  frühe  für  meine  Jahre?  Uasst  das  weib- 
liche Wesen,  welches  ich  mir  zur  Gattin  wünsche,  zu  meinem  Charakter  als  Mensch, 
zu  meinem  Beruf  als  .Tugendlehrer  und  zu  meinen  ökonomischen  Verhältnissen ? 
Lasse  ich  mich  bei  meiner  Wahl  nicht  durch  blinde  Leidenschaft  und  die  Außen- 
seite verführen?  Wehe  mir,  wenn  ich  dieses  thue;  denn  mein  ganzes  Lebensglück 
steht  hier  auf  der  Wage!  Bin  ich  Gatte  und  Vater  —  fühlt  sich  meine  Lebens- 
gefährtin durch  mich  glücklich?  Bin  ich  ihr,  was  ich  als  Mann  und  Gatte  sein 
soll?  Betrajre  ich  mich  in  meinem  Berufe  und  in  meinem  Hause  so,  dass  ich  ihn* 
Achtung  und  Liebe  verdiene?  —  Bin  ich  Vater  --  gebe  ich  in  der  Erziehung 
meiner  eigenen  Kinder  meiner  Gemeinde  ein  gutes  Beispiel?  Erziehe  ich  sie  in  der 
Ehrfurcht  Gottes  zum  Gehorsam  —  zum  Fleifl  -  zur  Bescheidenheit  —  zut  Ach- 
tung und  Liebe  der  Mitmenschen  -  zu  jeglicher  Tugend?  Erziehe  ich  sie  zur 
Einfachheit  in  Nahrung  und  Kleidung,  zur  Ordnung:,  Reinlichkeit  und  eigener  Selbst- 
tätigkeit? Sorge  ich  für  die  nöthigo  Ver.standc*bildung,  ohne  die  des  Herzens  zu 
vernachlässigen?  Verweichliche  ich  sie  nicht?  StäTke  ich  ihreu  Körper  durch  Be- 
wegung, durch  Handarbeit  mit  dem  gehörigen  Wechsel  von  Ruhe?  Hüte  ich 
mich  vor  jeder  Treibhäuscrci?  und  hüte  ich  mich,  durch  einen  Haufen 


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—    227  — 


▼on  Spielsachen  die  Kleinen  frühe  schon  launisc  h  und  lerngleichgültig 
zu  machen? 

6.  Im  häuslichen  Kreise  oder  wo  ich  mich  befinden  mag  —  strebt-  ich 
immer  darnach,  meinen  Reden  und  meinem  Thun  stets  eine  höhere,  bildende 
Richtung  zu  geben?  Suche  ich  immer  mehr  Licht  zu  erwerben  und  es  dann  zum 
Besten  meiner  Umgebung  leuchten  zu  lassen  nach  dem  Ausspruch  Jesu,  Matth.  5, 
Vers  16?  Vennehre  ich,  wo  ich  kann,  meine  religiöse  Gesinnung  —  Friede  im 
Hause  —  Friede  in  Gott? 

7.  Fröhne  ich  keinen  Leidenschaften,  die  mich  von  meinem  Bernfe  abziehen? 
Ist  mein  Herz  rein  von  tobenden  Begierden  -  quälenden  Wünschen  —  grämlicher 
Unzufriedenheit? 

8.  Fallt  der  Vorwurf  der  Spielsucht,  der  jeder  Lehrer  wie  einem  Satan  ent- 
gegen zu  arbeiten  verpflichtet  ist,  nicht  etwa  selbst  auf  mich? 

9.  Verschwende  ich  nicht  öfter  Zeit  iu  politischer  Kannengioßcrei  oder 
unterstütze  ich  gar  politische  Leidenschaften,  statt  vielmehr  dazu  beizutragen,  sie 
zu  beschwichtigen?  Bin  ich  nach  dem  Evangel.  Matth.  5,  Vers  6  und  6  ein  Sanft - 
müthiger  und  ein  Friedensstifter? 

10.  Diu  Hand  aufs  Heiz!  Kann  ich  nun  aufrichtig  sagen,  dass  ich  ein 
guter  Lehrer  »ei?  Dass  ich  noch  besser  zu  werden  mich  bemühe?  Dass  alle 
ineine  Thätigkeit  zur  Grundlage  das  hohe  Ziel  habe  zur  Tugend  und  zu  Gott 
führen?! 

C.    Wie  steht's  um  mich  im  Verhältnis  zur  Gemeinde? 

1.  Liegt  mir  der  moralische  und  ökonomische  Zustand  derselben  tief  am 
Herzen? 

2.  Traue  ich,  wo  ich  Gelegenheit  habe,  durch  Rath  und  Thnt,  ohne  ab- 
stoßende Aufdringlichkeit,  zur  Verbesserung  und  Verschönerung  der  Gemeinde  bei? 

3.  Biete  ich  gerne,  auch  da,  wo  es  größere  Anstrengung  erfordert,  zu  ge- 
meinnützigen Anstalten  das  Meinige  bei?  Bin  ich  da  eher  der  erste  als  der  letzte? 

4.  Gelingt's  mir,  zu  einem  einheitlichen,  friedlichen  Biirgerleben  mein 
Scherfleiu  beizutragen  und  verderbliche  Zank-  und  Trölsucht  ferne  zu  halten? 

ö.  Ist  mein  Haus,  so  einfach  es  sonst  sein  mag,  doch  in  Hinsicht  der  Ord- 
nung, der  Reinlichkeit,  zweckmäßiger  Einrichtung,  nicht  das  letzte  in  der  Gemeinde? 
Zeigt  das  In  und  das  Um  der  Wohnung,  dass  ich  Lehrer  und  Erzieher  der  Gemeinde 
sei?  Wie  sind  Stege  und  Wege  zu  derselben  beschaffen?  Wie  baue  ich  meinen 
Garten?  Wie  bestelle  ich  mein  Pnanzlnnd?  Welches  Beispiel  stelle  ich  hierin  unter 
meinen  Mitbürgern  auf? 

6.  Bestrebe  ich  mich,  mein  Möglichstes  zur  Belebung,  Würdigung  und 
Hebung  des  landwirtschaftlichen  Berufes  zu  thun?  Bemühe  ich  mich  iu  Beispiel, 
Wort  und  Tbat  eher  der  erste  als  der  letzte  zu  sein?  Arbeite  ich  an  Errichtung 
gemeinnütziger  Einrichtungen,  wie  z.  B.  au  Gemeindebackofen,  an  Gemeinde  Wasch- 
häusern. Bewahnschulen ,  Arbeitsschulen  für  Mädchen,  Löschanstalten,  Vermehrung 
der  Armen-  und  Schulfonds  etc.? 

7.  Ist  die  Erhaltung  der  Sitte  und  Zucht,  die  Fortbildung  in  weitereu 
Keontnissen  bei  der  älteren,  größeren  Gemeindejugend  auch  ein  Gegenstand,  der 
mich  beschäftigt,  und  was  leiste  ich  darin? 

8.  Bin  ich  ein  Freund  von  ununterbrochener  Thätigkeit?  Beseelt  und  be- 
lebt mich  bei  den  kleinsten  Verrichtungen,  z.  B.  Biiumepflanzen,  Gemüsebauen, 

17* 

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I 


—    228  - 

Stege  und  Wege  anlegen  und  verbessern,  Gchäme  ausstreuen,  Anstalten  gründen 
u.  dergl.  ein  höheres  Gefühl? 

9.  Und  Venn  mir  Widerspruch  begegnet  —  bin  ich  im  Stande,  solchen  zu 
erwägen,  zu  Vorsicht  und  Kräftigung  zu  benutzen,  oder  reizt  er  mich  gar  zur 
Heftigkeit  oder  Entmuthigung? 

10.  Kann  ich  wirklich  Widerspruch  ertragen?  Kann  ich  selbst  Gegnern 
mein  Wolwollcn  erhalten  und  sie  vielleicht  am  Ende  durch  Sanftmuth  gewinnen? 
Habe  ich  auch  selbst  die  Erfahrungswahrbeit  bewährt  gefunden?  —  Sanftmuth 
und  Liebe  bezwingen  alle  Herzen  —  Wenn  ich  nur  die  liebe,  die  mich 
lieben,  so  habe  ich  meinen  Lohn  dahin:  und  wenn  ich  dann  Muth  und  Kraft 
in  meinem  Amte  fühle,  weun  man  meine  TbUtigkcit  anerkennt,  mich  lobt  und. 
rühmt;  aber  verdrießlich  und  mutblos  werde,  sobald  etwa  auch  Tadel  auf  mich  fällt,  — 
dann  habe  ich  auch  meinen  Lohn  dahin. 

11.  Befleißige  ich  mich  auch  der  strengsten  Unparteilichkeit  gegen  jeder- 
mann? Widerstehe  ich  Versuchungen  dieser  Art,  wie  sie  oft  z.  B.  beim  Absenzen- 
verzeiehuis  eintreten,  aufs  kräftigste? 

12.  Gehe  ich  Überhaupt  in  allen  ['dickten  eines  guten,  dem  Gesetze  sich 
unterordnenden  und  friedlichen  Bürgers  der  Gemeinde  und  besonders  meinen 
Schulkindern  mit  einem  guten  Beispiele  voran? 

13.  Liegt  etwa  einer  meiner  Schüler  oder  meiner  Hitbürger  auf  dem 
Krankenlager  —  besuche  ich  ihn,  wo  ich  immer  kann,  um  durch  Bath  und  Trost 
zu  nützen,  dem  Arzte  an  die  Hand  zu  gehen  und  Gutes  zu  thun? 

14.  Wird  mein  gesellschaftlicher  Umgang  von  allen  Verständigen  und 
Guten  gebilligt?  Hüte  ich  mich,  Gesellschaften  zu  besuchen,  die  deT  Bürger  als 
der  Ehre  des  Lehrerstandes  nachthcilig  ansieht? 

15.  Gebe  ich  keinen  Anstoß,  kein  Ärgernis  durch  Hochmuth,  der  keinem 
Menschen  schlechter  ansteht  als  dem  Lehrer,  welcher  vorleuchtend  als  christ- 
licher LehTcr  in  Demuth  und  in  dienender  Liebe  Jesu  seinem  Herrn 
nachahmen  soll? 

16.  Gebe  ich  keinen  Anstoß  durch  irgend  eine  Modennacbäffung  in  Kleidern, 
z.  B.  in  der  Kopfbedeckung?  Bin  ich  auch  kein  Sonderling,  sondern  bestrebe  ich 
mich,  durch  nichts  mich  auszuzeichnen,  als  durch  tüchtige  und  gewissenhafte  Ver- 
waltung meines  Amtes  und  durch  Bescheidenheit? 

17.  Ein  Sprichwort  sagt:  „Sage  mir,  mit  wem  du  umgehst,  dann 
will  ich  dir  sagen,  wer  du  bist."  Welche  verständigen  Bürger  gehören  zu 
meinen  Freunden?  Habe  ich  solche,  durch  die  ich  an  Charakter  und  an  Tugend 
gewinne?  Suche  ich  vorzüglich  die  Freundschaft  und  den  Umgang  des  Geistlichen,  der 
unstreitig  meine  eigene  Bildung  am  vortheilhaftesten  fördern  kann?  Mache  ich  mich 
seiner  Freundschaft  durch  Unterstützung  in  seinem  Amte,  durch  gebürendo  Achtung  wert? 

18.  Weiß  ich  mich  auch  besonders  mit  den  mich  so  nahe  angehenden  Vor- 
stehern meiner  Schule  in  dasjenige  Verhältnis  zu  setzen,  aus  welchem  die  Schule 
Vortheil  ziehen  muss?  Mache  ich  sie  in  der  Schule  bereitwillig  mit  dem  bekannt,  was 
sie  wissen  müssen?  Lasse  ich  es  nicht  an  der  gehörigen  Zuvorkommenheit  und 
Achtung  fehlen,  welche  ich  ihnen  schuldig  bin?  Schade  ich  meiner  Achtung  nicht 
durch  eine  lästige  Zudringlichkeit? 

19.  Weiß  ich  hingegen  Einladungen  von  wolwollendcn  Bürgern  und  Freun- 
den zu  würdigen,  bescheiden  anzunehmen  und  sie  zu  wechselseitigen,  belehrenden 
und  zu  mancher  berichtigenden  Unterhaltung,  jedoch  mit  Vorsicht  zu  benutzen? 


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20.  Und  leiste  ich  "schließlich  selbst  thatsächlich  den  Betrete,  dass  in  Fleiß 
nnd  Arbeitsamkeit  die  höchste  bürgerliche  Tugend  besteht? 

D.  »Und  wie  stehe  ich  da  vor  meinem  allwissenden  Gott,  dem  ewigen 

Zeugen  meines  tiefsten  Innern? 

1.  Ist  er  mir  der  Geber  alles  Guten,  jeden  Tag  mein  erstes  und  letztes? 
Fange  ich  jedesmal  mit  Ihm  und  in  Ihm  mein  Tagewerk  an  und  ende  ich  es 
wieder  mit  Ihm? 

2.  Ist  Er  mein  liebster  und  bester  Freund?  Ist  mir  bei  Ihm  wol,  wenn  mir 
sonst  nirgends  wol  ist?  Wenn  mich  die  Welt  verkennt,  wenn  alles  mich  zu  ver- 
bissen scheint,  finde  ich  in  Ihm  hinreichende  Ruhe  und  Eisatz? 

3.  Wenu  ich  die  Erde,  den  Himmel  betrachte,  wenn  ich  meinen  Blick  auf 
die  unendlich  vielen  Geschöpfe  richte;  wenn  ich  meinen  wunderbar  gebauten 
Körper,  meine  Sinne,  raein  Bewusstsein  bedenke,  kann  ich  in  inniger  Liebe  und 
Vertrauen,  mit  kindlichem  Danke  ausrufen:  Vater!  in  Dir  leben,  wirken  und 
sind  wir!? 

4.  Ist  mir  Lehrer  das  Zeugnis  meines  Gottes,  des  alleinigen  Herzenskun- 
digen, über  alle  Zeugnisse  der  Menschen?  Sorge  ich  dafür,  dess  Er  stets  ein  reines 
Herz  in  mir  erblicke?  Stelle  ich  mir  oft  das  Vorbild  Jesu  vor,  wie  er  Tag  und 
Nacht  im  Dienste  seines  Vaters  arbeitete  und  nicht  Zeugnisse  nahm 
von  den  Menschen?   Joh.  5.  34. 

5.  Bekenne  ich  auch  öffentlich,  wovon  ich  erfüllt  und  durchdrungen  bin? 
Ist  mir  der  Sonntag  ein  heiliger,  ein  willkommener  Tag?  Ist  mir  der  feierliche 
<rlockenschlag  ein  hoher  Ruf  von  oben  und  gehe  ich  gern  zur  Versammlung  der 
Christen?   Befördere  ich  die  öffentliche  Gottesverehrung? 

Und  nun,  mein  lieber  Tneophil!  reiche  mir  die  Hand  und  sage  mir  ,  nach 
diesen  get hauen'  Fragen,  nach  dieser  Selbstbeschauung:  Inwieweit  bist  Du  nun 
«in  guter  Lehrer?  ein  guter  Sohn?  ein  guter  Bürger  und  Vater? 

Nicht  wahr,  es  bleibt  noch  manche*  zu  verbessern  übrig  auf  das  kommende 
Jahr?  Jawohl,  immer  noch  fehlen  wir  Lehrer  allesammt  viel.  Aber  arbeiten 
wollen  wir  auch  in  dem  neuen  Jahre,  damit  wir  wirklich  besser  werden. 

Wie  s  oft  ist  auf  Erden. 
Also  soll's  nicht  sein: 
Laset  uns  besser  werden, 
Gleich  wiTd's  besser  sein. 

Gottes  Gnade  und  Liebe  helfe  uns  und  stärke  uns  im  neuen  Jahre!  Die 
Liebe  Gottes  sei  mit  uns  und  vermehre  unsere  Liebe,  ohne  welche  wir  elende, 
lebendigtodte  Menschen  sind.  —  Die  Liebe  ist's,  die  uns  erwärmt  und  uns  zum 
besten  Lehrer,  zum  besten  Hausvater  antreibt,  zum  besten  Bürger.  Christen  und 
Menschen  macht.  Die  Liebe  hat  Freude  und  schafft  Freude.  Sie  bedarf  wenig 
und  gibt  viel.  Nur  durch  Liebe  werlen  wir  Gott  Ähnlich!  Lasst  uns,  meine 
lieben  Freunde,  täglich  Gott  bitten,  dass  Er  unser  kaltes  Herz  erwarme  und  mit 
Liebe  erfülle! 

Quelle  der  Weisheit,  gib  den  Wcisbeitsbcdürftigeu  Weisbeit! 
Ewige  Wahrheit,  lehre  die  Wahrheitsuchenden  Wahrheit! 
Nichts  gefällt  Dir  so,  wie  Lust  an  Pflicht  und  Berufstreuo  — 
0!  sie  verlasse  mich  nie,  die  Lust  und  die  heilige  Treue! 


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—    230  — 


Lehre  fröhlich  mich  thun,  was  Pflicht  und  Menschlichkeit  thun  heißt; 

Lehre  muthig  mich  tragen,  im  Blicke  auf  Dich,  des  Berufes  Last! 

Quelle  der  Liebe,  gib  dem  Liebebedürftigen  Liebe! 

Lehre  mich  stets  mehr  seiu  ein  Beispiel  der  Sanftuiuth  uud  Demutht 

Lehre  mich  jedes  Kind  als  vertraut  von  Dir  aus  betrachten! 

Gib  mir  Worte  «ler  Weisheit  aus  Deinem  Munde  für  alle! 

Lass  in  alle  Herzen  mich  pflanzen  Liebe  der  Wahrheit, 

Liebe  des  Rechts,  der  Religion  und  der  Tugend!" 

Bevor  ich  mein  Sendschreiben  schließe,  will  ich  Dir  noch  nachstehendes  Lied 
aus  meiner  Liedersammlung  mittheilen,  das  ich  Dir  recht  oft  und  viel  mit 
Nachdenken  zu  lesen  empfehlen  mochte! 

Das  Geheimnis  des  Lehrers. 

Kennst  du  die  Probe,  kennst  du  die  Frucht 
Von  deiner  Hände  Wirken,  deinem  Sinnen, 
Die  Kinder  zu  erzieh'n  zu  frommer  Zucht, 
Und  für  das  Reich  des  Vaters  zu  gewinnen? 
0  forsche,  wo  der  Stein  deT  Weisen  liegt, 
Damit  man  Herzen  leitet  und  besiegt, 
Der  alles  dir  gewinnet,  was  du  wagst, 
LTnd  ohne  den  du  ewig  nichts  vermagst. 

Der  Nächste  bist  du  dir;  das  eigne  Herz 
Genießt  zuerst  die  vorerwählten  Freuden; 
Am  tiefsten  kümmert  dich  der  eigne  Schmerz. 
Du  willst  zuerst  im  Winter  warm  dich  kleiden; 
Kennst  du  die  Freud'  und  ihren  holden  Schein, 
Dann  ladest  du  wol  andre  zu  ihr  ein; 
Floh  Nacht  und  Gram  von  deiner  Seele  fern, 
Dann  zeigst  du  andern  froh  den  Morgenstern. 

Der  Nächste  bist  du  dir;  liebst  du  dich  nicht, 
Rufst  du  dir  seiher  nicht:  Auf,  werde  Licht! 
So  wandelt  dir  der  andre  wol  im  Trüben! 
Wer  seiner  Sünde  nie  mit  Ernst  geflucht, 
Wer  seine  Seligkeit  nie  recht  gesucht, 
Der  reißt  den  Bruder  nicht  aus  Sündenuoth, 
Der  führt  niemanden  zum  lebend'gen  Gott. 

Der  Mcnschcnsohn,  der  auserwählte  Stein, 
Ist  Prüfstciu  deiner  Thaten  und  Gedanken; 
Fühlst  du  das  Heil,  sein  Eigenthum  zu  sein, 
Dann  kennet  deine  Liebe  keine  Schranken; 
Trieb,  Geist  und  Kraft  wird  mächtig  dich  durehgliihn, 
Die  Kindlein  auch  vor  seinen  Thron  zu  zieh'n;  — 
Liebst,  achtest  du  dich  selbst  in  Jesu  nicht, 
So  ist  dein  Leben  nur  ein  Traumgedicht. 


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—    231  — 


0  schwerer  Traum!    Hier  dunkel  schon  und  freudlos, 

Doch  freudenloser  noch  an  jenem  Tage, 

Wenn  du  vor  ihm  erscheinest  leer  und  blos. 

Wenn  dich  umgibt  verlorner  Lämmer  Klage! 

Weil  du  die  cig'ne  Seligkeit  verträumt, 

Hast  andere  zu  retten  du  versäumt, 

Und  über  dir,  wie  Sterne,  schön  und  klar, 

Steht  im  Triumph  der  treuen  Lehrer  Schar!  — 

Wach  auf,  mein  Geist!   In  deiner  Seligkeit, 

In  deinem  Glauben  ruhen  tausend  Keime 

Für  deiner  Brüder  Seelenheil  bereit! 

Auf,  komm  zum  Herrn;  verlas»  die  finstern  Träume! 

Liebst  du  das  Herz,  das  sterbend  für  dich  brach, 

So  lieben  dir  viel  andre  Herzen  nach; 

Mit  ihnen  wirst  du  edlen  Samen  säen, 

Mit  ihnen  dort  als  reife  Garbe  stehen! 

Und  nun,  mein  lieber  Theophil,  geht's  zum  Abschiede.  Möge  ich  mit  dicseu 
prüfenden  Fragen  Dich  an  Deine  Pflicht  und  Pflichterfüllung  erinnert  und  zu 
Deiner  Weiterbildung  und  Vervollkommnung  einen  muthigen  Antrieb  ins  kommende 
Jahr  gegeben  haben!  Ich  weiß,  der  junge  Lehrer  bedarf  zuweilen  einer  erneuerten 
Regulirung,  Ermuthigung  und  Einlenkung  inrs  Geleise  des  Obereichselbstwachens 
und  der  Denrath,  damit  er  nicht  wanke  oder  gar  falle.  Wir  Alten  habens  ja  noch 
nöthig—  wieviel  mehr  ihr  jungen  Amtebrtider!  Der  Ruf  dieser  Zeit,  meine  lieben  Freunde, 
geht  ernst  an  uns.  Achtet  auf  ihn  mit  allem  Fleiß!  Achte  auch  Du,  mein  lieber  Theophil, 
auf  ihn!  Mach' auch  Du,  dass  sich  das  Vaterland,  dasa  auch  ich  mich,  Dein  väterlicher 
Lehrer,  in  den  Hoffnungen  auf  Dich  nie  getäuscht  sehe!  Wird  mir  das  Vergnügen  zutlieil, 
Dich  in  Deiner  Schule  besuchen  zu  können,  so  hoffe  ich  mich  dann  tbat sächlich  über- 
zeugen zu  können,  dass  Du  Dich  bemühst,  in  die  Reihe  unserer  eifrigsten  und  an- 
ziehendsten Lehrer  zu  gehören.  Lies  gern  zur  Vermehrung  reiner  und  christlicher 
Lebens-  und  Lehreransichten  und  zu  höherem  Aufschwung  in  den  Evangelien  das 
Leben.',  Lehren  und  Wirken  des  göttlichen  Gesandten.  Diese  Leetüre,  mein  lieber 
Theophil,  erhebt,  stärkt  und  erleuchtet  mehr,  als  es  leider  in  unserer  Zeit  die  große 
Zahl  der  Lesesüchtigen  kaum  ahnet!  Bete  und  arbeite!  Das  seien  die  letzten 
Worte  im  alten  und  die  ersten  im  neuen  Jahre  von  Deinem 

väterlichen  Lehrer  und  Freund 
J.  J.  Wchrli. 

So  war  und  dachte  Wehrli.  Überall  der  väterliche  Freund  und 
Lehrer.  (Schluss  folgt.) 


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Beiträge  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes  in  Bezng 

auf  Inhalt  und  Lehrweise. 


von  allen  Schulbüchern,  die  in  den  Händen  unserer  Jugend 
sind,  halte  ich  die  kirchlichen  Katechismen  für  die  schädlichsten. 
Wollte  man  gegen  vieles,  was  der  Inhalt  bietet,  im  christlichen  und 
pädagogischen  Interesse  auftreten,  so  würde  man  ganze  Bücher  schreiben 
müssen.  Uns  Lebrer  kann  nur  das  interessiren,  was  einen  biblischen 
oder  culturgeschichtlichen  Anknüpfungspunkt  bietet  oder  wenigstens 
eine  poetische  Seite  hat. 

Die  Jugend  und  das  gemeine  Volk  steht  noch  immer  unter  dem 
Bann  alter  theologischer  Anschauungen,  die  den  reinen  Gottesbegrift 
beeinträchtigen  und  im  Cultus  herrschend  sind. 

So  'heißt  es  z.  B.  im  römischen  Katechismus:  „Die  Gläubigen 
haben  Gemeinschaft  mit  den  Heiligen  im  Himmel,  indem  die  Gläubigen 
auf  der  Erde  die  Heiligen  verehren  und  um  ihre  Fürbitte  anrufen."  — 
80  bestimmten  es  spätere  Concilien  und  Päpste;  die  heilige  Schrift 
weiß  nichts  davon,  also  auch  nichts  von  Schuteheiligen  (Patronen). 
Das  Christenthum  anerkennt  nur  Christum  als  den  einzigen  Mittler 
zwischen  Gott  und  den  Menschen.  Seine  wolverstandenen  Lehren 
bieten  alles,  was  wir  bedürfen. 

Andere  verhält  es  sich  mit  den  vermittelnden  Wesen,  die  das 
Christenthum  übernommen  hat  aus  dem  Alten  Testamente.  Diese 
Mittelwesen  zwischen  Gott  und  den  Menschen  sind  die  dem  semiti- 
schen Vorstellungskreise  eigen thümlichen  Engel,  die  als  Verkündiger 
und  Vollstrecker  des  göttlichen  Willens  erscheinen,  also  nicht  eignen 
Willen  haben,  wie  die  römische  Kirche  annimmt  Nach  der  hebräi- 
schen Weltanschauung  umgibt  ein  Heer  von  Engeln  den  göttlichen 
Thron,  und  diese  Vorstellung  ist  auf  das  Christenthum  übergegangen. 


Von  Th.  Verna leUen-Graz. 


VII.  Über  Engel  und  ähnliche  Mittelwesen. 


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Bei  den  heidnischen  Völkern  des  Alterthums  zeigen  sich  nur  ähn- 
liche Vorstellungen,  wie  denn  überhaupt  ihre  Naturreligionen  manches 
gemein  haben  mit  den  geoffenbarten.  Von  jeher  hat  sich  die  Ein- 
bildungskraft der  Völker  Wesen  geschaffen,  indem  sie  personificirte. 
Was  ursprünglich  der  Volksdichtung  angehört,  geht  in  den  Volks- 
glauben über  und  die  spätere  Theologie  macht  daraus  Glaubensartikel 
die  dann  Eingang  finden  in  den  religiösen  Cultus  und  zuletzt  in  die 
geschriebenen  Urkunden.  Das  ist  —  kurz  gesagt  —  der  historische 
Gang  der  Religionen,  der  aber  häufig  auf  allerlei  Irrwege  geführt  hat. 

Werfen  wir  vorerst  einen  Blick  auf  das  vorchristliche  Alterthum. 

Bei  den  Römern  bedeutete  Genius  so  viel  als  Schutzgeist,  der 
ähnlich  den  deutschen  Schicksalsschwestern  (Nornen),  den  Menschen 
von  seiner  Geburt  an  durch  das  Leben  begleitete  und  selbst  nach 
seinem  Tode  schützend  fortwirken  konnte.  Auch  jedem  Orte  schrieb 
man  seinen  Schutzgeist  zu.  Die  Römer  glaubten  an  gute  und  böse 
Genien.  Die  Griechen  hatten  ihre  Musen  als  Förderinnen  der  Kunst 
ilire  Dämonen,  die  auf  das  Schicksal  wolthätig  oder  verderblich  ein- 
wirkten. Man  stellte  die  Dämonen  in  die  Mitte  zwischen  die  Heroen 
und  Götter.  Nach  Piaton  bringen  sie,  den  christlichen  Engeln  ähn- 
lich, die  Befehle  und  Gaben  der  Götter  zur  Erde  nieder  und  tragen 
die  Bitten  und  Gebete  der  Menschen  zu  den  Göttern  hinauf.  Die  un- 
sichtbar den  Menschen  umschwebenden  Dämonen  brachten  Glück  oder 
Unglück.  Die  Juden  und  Christen  haben  später  alle  heidnischen. 
Götter  für  Dämonen  erklärt  und  zwar  für  böse  Dämonen,  für  Teufel. 

Als  das  deutsche  Heidenthum  durch  das  Christenthum  verdrängt 
wurde,  war  es  ganz  natürlich,  dass  die  vorher  verehrten  Gottheiten 
als  böse  Mächte  betrachtet  wurden.  Wie  man  einerseits  bisher  ge- 
hegte Vorstellungen  auf  die  Heiligen  übertrug  (z.  B.  Wodan  auf  den 
heil.  Martin  etc.),  machte  man  andererseits  die  früheren  Götter- 
gestalten zu  gespenstigen,  gottwidrigen  Wesen.  Um  den  Teufel  sam- 
meln sich  im  Volksglauben  viele  alte  Vorstellungen,  und  daher  sind 
unsere  Teufelssagen  so  zahlreich.  Dem  deutschen  Heidenthum  ist  der 
Teufel  fremd,  selbst  der  Name  Diabolos  ist  griechisch. 

Welche  Vorstellungen  hat  nun  das  Juden-  und  Christenthum  von 
den  Mittelwesen? 

Das  Alte  Testament  berichtet  von  den  Cherubim,  die  das  Neue 
Testament  nicht  mehr  kennt.  Ein  Cherub  mit  flammendem  Schwert 
hütet  das  Paradies,  nachdem  Gott  Adam  und  Eva  aus  demselben  ver- 
trieben hatte;  zwei  Cherubim  mit  ausgebreiteten  Flügeln  waren  auf 
der  Bundeslade  angebracht;  oft  heißt  es  auch,  Jehovah  fulu1  oder  flog 


—    234  — 


auf  dein  Cherub,  was  wol  bedeuten  soll,  er  bewegte  sieb  kraft  seines 
Geistes  durch  den  Raum.  Die  Cherubim  erscheinen  aber  auch  zum 
Theil  mit  thierischer  Gestalt,  als  geflügelte  Wunderthiere  mit  Menschen- 
gesicht. Nähere  Aufschlüsse  gibt  Herder  in  seiner  Schrift:  „Vom  Geist 
der  ebräischen  Poesie." 

Verschieden  davon  ist  die  Vorstellung  von  den  im  Alten  und 
Neuen  Testamente  vorkommenden  Engeln,  und  der  kirchliche  Glaube 
reicht  bis  auf  unsere  Zeit.  Darum  müssen  wir  im  Interesse  unseres 
Jugend-Unterrichtes  ausführlicher  darüber  sprechen. 

Vor  mir  liegt  der  „  Kleine  Katechismus"  M.  Luthers  und  der 
römisch-katholische.  Beide  sprechen  von  guten  und  bösen  Engeln 
(Teufeln)  und  citiren  als  Hauptbeleg  1,  14  des  Hebräer  -Briefes:  »Sind 
nicht  allzumal  die  Engel  dienende  Geister,  ausgesandt  um  derer  willen, 
die  ererben  sollen  die  Seligkeit  (das  Heil)?"  Der  unbekannte  Ver- 
fasser des  Briefes  an  die  Hebräer  zeigt  ihnen,  wie  die  neutestament- 
liehe  Offenbarung  durch  Christus  über  die  alttestamentliche  erhaben 
sei,  und  dass  der  Gottessohn  in  seiner  Würde  über  die  Engel  weit 
hinausragt.   Die  Engel  seien  nur  Boten  und  Diener  Gottes. 

Was  hat  nun  der  römische  Katechismus  daraus  gemacht?  Unsere 
Kinder  müssen  Folgendes  lernen:  „Die  merkwürdigsten  Geschöpfe 
Gottes  sind  die  Engel  und  die  Menschen.  Die  Engel  sind  reine 
Geister,  welche  Verstand  und  Willen,  aber  keinen  Leib  haben. a 
(S.  „Großer  Katechismus  für  die  kath.  Volksschulen."  Wien,  Schul- 
bücher-Verlag.) 

Was  sich  wol  die  Kinder  seit  Menschenaltern  dabei  gedacht  haben?! 
,.Was  man  nicht  versteht  —  sagt  Goethe  —  besitzt  man  auch  nicht." 
Da  die  vielen  Kinder  die  angeführten  Worte  ohne  Verständnis  aus- 
wendig gelernt,  werden  sie  dieselben  wol  bald  vergessen  haben,  und 
so  wird  es  auch  gehen  mit  dem  Zusätze:  „Viele  Engel  haben  die 
Gnade  Gottes  durch  die  Hoffart  verloren;  man  nennt  sie  Teufel  und 
sind  in  die  Hölle  verstoßen." 

Im  Zusammenhange  damit  steht  die  biblische  Überlieferung  von 
Lucifer,  wie  auch  die  griechische  Mythe  von  den  Titanen,  die  sich 
gegen  Zeus  empören.  Auch  die  germanischen  Riesen  waren  Feinde 
der  Götter,  und  die  bösen  Riesen  sind  nach  dem  christlichen  Volks- 
glauben später  Teufel  geworden.  - 

Unsere  Kinder  ahnen  es  nicht,  dass  sie  ein  Stück  heidnischer 
Mythologie  lernen. 

Es  liegt  darin  der  uralte  Gegensatz  von  Gut  und  Böse,  der  sich 
in  fast  allen  Religionen  findet,  indem  man  solche  den  Naturkräften 
entnommene  Anschauungen  persönlicht  (personificirt). 


—    235  — 


Kinder  vermögen  aber  Poesie  von  Wirklichkeit  noch  nicht  zu 
unterscheiden,  und  darum  werden  sie  nur  irregeführt,  besonders  wenn 
ein  nur  dogmatischgeschulter  Katechet  vor  ihnen  steht.  Besser  wäre 
es,  wenn  Schulbücher  nichts  enthielten,  was  den  Kindern  noch  nicht 
erklärt  werden  kann.  Ein  Kind  wird  nie  begreifen,  dass  Wesen  „ohne 
einen  Körper  doch  Verstand  und  Willen"  haben. 

Ähnlich  den  oben  genannten  Genien  und  Dämonen  sind  die 
Engel.  Das  Wort  E n gel  ist  griechischer  Herkunft,  aber  durch  die  heilige 
Schrift  in  alle  neueren  Sprachen  übergeführt,  weil  für  den  himmlischen 
Boten  und  Geist  kein  heimischer  Ausdruck  geeignet  schien.  Angelos 
heißt  Bote,  Gesandter,  Verkündiger,  also  eine  Art  Mittelwcsen.  Die 
alten  Griechen  glaubten,  der  Allherrscher  Zeus  kenne  das  Zukünftige 
er  verkünde  seinen  Willen  durch  Zeichen  verschiedener  Art,  durchr 
Träume,  durch  Blitz  und  Donner,  durch  Vögel  und  Orakel.  Auch  in 
anderen  Religionen  finden  sich  Vorzeichen  und  Verkündigungen  der 
unsichtbaren  Gottheit.  Im  ganzen  Morgenlande,  also  auch  bei  den 
Hebräern,  dachte  man  sich  solche  Mittelwesen  als  Verkündiger  des 
göttlichen  Willens.  Seit  den  Zeiten  des  babylonischen  Exils  ward 
diese  Vorstellung  mein-  versinnlicht,  indem  man  glaubte,  dass  ein  Heer 
von  Engeln  den  göttlichen  Thron  umgebe.  Unter  ihnen  gab's  wieder 
Vorstande,  von  denen  besonders  der  große  Fürst  Michael  (Daniel  12,  1) 
und  der  Erzengel  Gabriel  genannt  werden.  Vom  Erzengel  Michael 
ist  in  der  deutschen  Sage  viel  die  Rede.  St.  Michael  trat  an  Wodans 
Stelle;  mit  Schild  und  Schwert  bewaffnet  tritt  er  auf  dem  Bilde  Kalli- 
bachs als  „deutscher  heiliger  Michel"  auf  den  Nacken  Napoleons  III. 
(1870).  Auf  diesem  Bilde  ist  er,  wie  die  Engel  in  der  Kunst  über- 
haupt, mit  Flügeln  versehen,  um  sie  als  Boten  vom  Himmel  zu  be- 
zeichnen. 

Bei  dem  Evangelisten  Matthäus  (18,  10)  begegnen  wir  der  volks- 
tümlichen Vorstellung  von  Schutzengeln  der  Personen,  die  Gottes 
Angesicht  näher  oder  ferner  stehen.  Bei  Matth.  2,  13  erscheint  dem 
Josef  ein  Engel  des  Herrn  im  Traume  und  ermahnt  ihn  nach  Ägypten 
zu  fliehen  mit  dem  Kinde  und  seiner  Mutter. 

Diese  und  andere  Engelserscheinungen  im  Neuen  Testamente 
hängen  zusammen  mit  den  zahlreichen  Engelserscheinungen  des  Alten 
Testamentes,  und  diese  wieder  stimmen  zum  Theil  mit  den  Überliefe- 
rungen anderer  asiatischer  Religionen,  namentlich  mit  dem  Buddhismus.*) 
Bei  Lucas  1  verkündet  der  Engel  Gabriel  dem  Zacharias  die  Ge- 
burt des  Johannes,  und  der  Maria  verkündet  er  die  Geburt  Jesu. 

*)  Vgl.  Rud.  Seydel,  Das  Evangelium  von  Jesu  (Leipz.,  Brcitkopf )  S.  108. 


-    236  — 

Aus  dem  Gruße  (Vers  29  ff.;  hat  sich  später  das  Ave  Maria,  der  eng- 
lische Gruß  der  katholischen  Kirche  gebildet.  Damit  ist  zu  vergleichen 
die  Verkündigung  des  „Engels  des  Herrn"  an  die  Mutter  Simsons,  des 
Erlösers  Israels  (Richter  13)  und  die  ähnliche  Verheißung  an  Hanna, 
die  Mutter  Samuels  (1.  Samuel).  Als  dem  „Vater  unser"  gleich- 
gestelltes Laiengebet  kommt  das  Ave  Maria  mit  dem  erweiterten,  fast 
ans  Heidnische  grenzenden  Mariendienst  seit  dem  11.  Jahrhundert  vor 
und  noch  später  mit  einigen  Zusätzen. 

Von  dem  was  wir  hier  über  diese  Wesen  (etwa  für  den  Religions- 
unterricht in  Lehrerbildungs- Anstalten)  mitgetheilt  haben,  gehört  nur 
dasjenige  für  den  Jugendunterricht,  was  zur  Erläuterung  der  bibli- 
schen Erzählungen  dient,  in  denen  Engel  genannt  werden. 

Vieles  davon  ist  als  poetische  Umhüllung  anzusehen  und  kann 
nicht  zu  Glaubensätzen  gemacht  werden.  Der  Lehrer  geht  weniger 
irre,  wenn  er  auch  Bekanntschaft  gemacht  hat  mit  den  alten  Uber- 
lieferungen anderer  Nationen.  Man  kann  die  Leser  der  biblischen 
wie  auch  aller  religiösen  Urkunden  nicht  genug  daran  erinnern,  dass 
darin  drei  Elemente  in  eins  verwebt  sind:  1.  Geschichtliches,  2.  Lehr- 
haftes. 3.  Dichtung  und  Volksglaube  aus  der  jeweiligen  Periode  des 
betreffenden  Landes. 

Schließlich  sei  noch  erwähnt,  in  welcher  Weise  das  Wort  Engel 
in  unsern  deutschen  Sprachgebrauch  Eingang  gefunden  hat.  Selbst 
in  Eigennamen  finden  wir  es,  z.  B.  Engelhart,  Engelbert.  Außerdem 
heißen  wir  unschuldige  Kinder  vorzugsweise  Engel;  von  alten  Leuten 
wird  niemals  Engel  gesagt.  Nur  schöne  und  geliebte  Frauen  werden 
angeredet:  Mein  Engel;  auch  Walther  von  der  Vogelweide  schrieb: 
Tiusche  (deutsche)  man  sint  wol  gezogen,  rehte  als  (gerade  so  wie) 
engel  sint  diu  wip  getan.  Nach  einer  tiefgreifenden  Vorstellung 
des  biblischen  Alterthums  ist  jedem  Menschen  ein  Engel  beigegeben, 
der  über  ihn  wacht  und  ihn  geleitet,  woher  die  Ausdrucks  weise : 
Die  Kinder  am  Abhang  haben  ihren  guten  Engel;  das  spricht  dein 
guter  Engel  aus  dir;  das  gab  dir  dein  Engel*  ein.  Doch  sagt  auch 
Schiller:  Wer  bist  du,  den  sein  böser  Engel  mir  entgegen  schickt?  — 
Auch  Zusammensetzungen  sind  häufig,  z.  B.  Engelbild.  Engelbrot. 
Engelchor,  Engelgabe,  Engelgesang,  engelgleich  u.  s.  w. 

„Ein  Engel  flog  durchs  Zimmer!"  spricht  der  Volksraund,  wenn 
plötzlich  Stille  eingetreten.  Und  —  wir  schweigen  auch,  und  em- 
pfehlen das  Gesagte  dem  weiteren  Nachdenken  unserer  Leser. 


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Adolf  Diesterweg  über  Ednard  Beneke  und  dessen 
Lehre  vom  Angeborenen. 

Mitgetheilt  von  Prediger  Heinrich  Neugeboren- Kronstadt  in  Siebenbürgen. 

erste  Lieferung  der  zweiten,  durchgesehenen  Auflage  von 
Adolf  Diesterwegs  ausgewählten  Schriften  (herausgegeben  von  Eduard 
Langenberg  in  Frankfurt  am  Main,  bei  Morite  Diesterweg,  1890)  ent- 
hält auf  Seite  72  bis  8ö  einen  Aufsatz  „Über  das  Angeborne". 
Diesterweg  erwähnt  im  Eingang  desselben:  „Das  Beste,  was  wir  vor- 
zulegen haben,  rührt  nicht  von  uns  selbst,  sondern  vom  Professor 
Beneke  her,  dessen  »Lehrbuch  der  Psychologie,  Berlin1  und  dessen 
.Erziehungs-  und  Unterrichtslehre,  Berlin'  wir  bei  unsern  Betrach- 
tungen zum  Grunde  legen. u 

In  seinem  1856  er  pädagogischen  Jahrbuch  für  Lehrer  und  Schul- 
freunde theilt  Diesterweg  zwei  Aufsätze  mit  über  Benekes  Leben  und 
Forschungen,  welche  von  ihm  selbst,  von  Schmidt  und  Dressler  her- 
rühren. Im  ersten  Abschnitt  der  Biographie  sagt  Diesterweg  unter 
anderm :  „Beneke  war  mir  befreundet,  ich  schätzte  ihn  sehr  hoch, 
ebenso  sehr  als  Menschen,  wie  als  Gelehrten  und  Forscher.  Als  Mensch 
war  er  das,  was  die  Alten  eine  anima  Candida  (eine  reine  Seele) 
nannten;  ich  glaube,  dass  er  wie  eine  unberührte  Jungfrau  aus  der 
Welt  geschieden  ist  Was  er  als  Forscher  war  und  geleistet  hat, 
weiß  die  Welt  und  wird  auch  in  diesen  Blättern  noch  weiter  davon  die 
Rede  sein.* 

„Beneke  war  ein  edler  Mensch.  Einem  solchen  setzt  man  gern 
ein  Denkmal.   (Erstes  Motiv.) 

Beneke  war  ein  Philosoph.  Diese  Gattung  von  Menschen  wird 
seltener.  Aber  wir  hoffen  mit  Schiller,  dass,  wenn  auch  die  Philo- 
sophien verschwinden,  doch  die  Philosophie  fortbestehen  wird.  Die 
Beneke'sche  wird  aber  so  bald  nicht  verschwinden,  sie  verdient  ver- 
breitet zu  werden.   (Zweites  Motiv.)" 

„Seine  Philosophie  war  verständlich,  klar,  lernbar,  praktisch,  war 
Naturforschung,  ging  von  festen  Thatsachen  aus,  schwebte  also  nicht 


—   238  — 

in  der  Luft,  enthielt  keine  (speculativen)  Hirngespinste,  und  sie  er- 
probte sich  in  Anwendungen  sowol  theoretisch  in  der  Pädagogik  als 
Wissenschaft,  wie  auch  praktisch  in  der  Bildung  junger  Männer. 
Ganz  mit  Recht  gehören  daher  Schulmänner  mit  zu  den  Anhängern 
und  Verehrern  Benekes.u 

„Wir  halten  an  der  Überzeugung  der  deutschen  Pädagogen 
fest:  ohne  Nachdenken  über  psychologische  Erscheinungen  ist  kein 
klarbewusstes  Handeln  als  Erzieher  möglich;  ohne  rationelle  Psycho- 
logie gibt  es  keine  wissenschaftliche  Pädagogik.  Weil  nach  unserem 
Bedünken  die  Beneke'sche  Psychologie  in  diesen  wichtigen  Be- 
ziehungen mehr  leistet,  als  irgend  eine  andere,  so  halten  wir  an  ihr 
fest  und  empfehlen  ihr  Studium  den  Lehrern,  welche  mit  klarem  Be- 
wusstsein  zu  handeln  das  Bestreben  verspüren." 

Das  von  Diesterweg  im  Eingang  erwähnte  Lehrbuch  der  Psycho- 
logie von  Beneke  erschien  1861  in  Berlin  bei  E.  S.  Mittler  &  Sohn 
in  dritter  vermehrter  Auflage,  neubearbeitet  und  mit  einem  Anhang  über 
Beneke's  sämmtliche  Schriften  von  Johann  Gottheb  Dressler,  Seminar- 
director  a.  D.  in  Bautzen,  und  Beneke's  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
lehre wurde  in  dritter  Auflage  ebendort  1864  von  Dressler  heraus- 
gegeben. 

Ehe  Diesterweg  die  in  diesen  beiden  Werken  sowie  in  den  später 
erwähnten  „psychologischen  Skizzen"  Beneke's  enthaltenen  Bestim- 
mungen über  das  dem  menschlichen  Geiste  Angeborene  mittheilt,  er- 
geht er  sich  in  Betrachtungen  über  die  Geschichte  der  Wissenschaften, 
die  uns  in  ihrer  Entwicklung  zuerst  immer  rohe  Anfange,  Festhalten 
am  Sinnlichen  und  Groben,  Beharren  bei  den  äußeren  Erscheinungen 
zeigt  und  nachweist,  dass  der  Geist  nur  langsam  und  allmählich  er- 
starkt zum  Eindringen  in  das  dem  leiblichen  Auge  und  dem  groben 
Tastsinne  verschlossene  Innere.  Diese  Wahrheit  wendet  Diesterweg 
noch  in  kurzen  Bemerkungen  auf  drei  Gebiete  des  Erkennens  an: 
auf  Religion,  Sprache,  Psychologie.  In  Bezug  auf  die  letztere  sagt 
Diesterweg:  „Je  weiter  die  Wissenschaft  fortgeschritten,  je  tiefer 
man  in  die  Natur  des  Geistes  eingedrungen,  desto  mehr  hat  man  die 
früheren  Annahmen  von  ursprünglich  Gegebenem,  Positivem,  Angelegtem 
fahren  lassen,  desto  mehr  hat  man  die  Mannigfaltigkeit  der  Erschei- 
nungen auf  einfache  Grundvermögen  zurückzuführen  versucht  Vieles 
von  dem,  was  man  früher  für  angeboren  hielt,  erkennt  man  jetzt  als 
ein  Abgeleitetes,  ja,  man  begreift  zum  Theil  die  Art  seines  Entstehens 
und  Werdens."  „Für  die  Psychologie  nicht  nur,  sondern  auch  und  ganz 
besonders  für  die  Pädagogik  ist  die  Lehre  von  dem  dem  menschlichen 


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Geiste  Angeborenen  von  der  höchsten  Wichtigkeit.  Falsche  Voraus- 
setzungen führen  den  Erzieher  zu  falscher  Beurtheilung,  zu  falscher  Be- 
handlung. Der  theoretische  Mangel  wird  hier  gleich,  da  die  Päda- 
gogik eine  Kunst  ist,  zu  einem  praktischen  Fehler." 

Nach  solchen  und  ähnlichen  Bemerkungen  theilt  Diesterweg  folgen- 
den Auszug  aus  den  drei  früher  erwähnten  Schriften  ßenekes  mit. 

1.  In  der  ausgebildeten  Seele  unterscheiden  wir  dreierlei: 

a)  das  Gegenständliche  (Objective); 

b)  die  Form,  in  welcher  die  Gegenstände  psychisch  aufgefasst 
werden; 

c)  die  quantitativen  Bestimmungen  der  vorigen  Momente. 
Das  erste,  der  Gegenstand,  mit  dem  sich  die  Seele  beschäftigt, 

sei  er  materieller  oder  geistiger  Art,  kann  nicht  angeboren  sein. 
Eine  gegenständliche  Bestimmung  ist  etwas  Erworbenes;  daher  ge- 
hören die  Meinungen  von  angeborenen  Neigungen,  Leidenschaften  etc. 
zu  den  psychologischen  Erdichtungen.  Allerdings  entwickelt  sich  in 
dem  einen  Kinde  leichter  diese,  in  einem  andern  jene  Neigung.  Aber 
angeboren  ist  weder  die  eine,  noch  die  andere.  Es  rührt  dieses  eines- 
theils  von  den  Einwirkungen  von  außen,  anderntheils  von  der  Ver- 
schiedenheit der  Uraniagen  her,  wovon  nachher  die  Rede  sein  wird. 
Gewisse  Dinge  stimmen  mehr  mit  der  größeren  oder  geringeren  Kräftig- 
keit der  Uraniagen  in  einzelnen  Individuen  überein.  Ebensowenig  sind 
die  psychischen  Formen,  wie  wir  sie  in  der  ausgebildeten 
Seele  antreffen,  angeboren.  Allerdings  gehört  zu  einer  Einbildnngs- 
vorstellung  Einbildungskraft,  zum  Verstehen  Verstand,  zum  Wollen 
der  Wille;  aber  eine  angeborene  Einbildungskraft  etc.  folgt  daraus 
nicht.  Diese  Formen  haben  sich  erst  nach  vorgängigen  Entwicke- 
lungen  gebildet,  Allerdings  sind  diese  Entwickelungsgesetze  und  Ent- 
wickelnngsverhältnisse  mit»  einer  gewissen  Notwendigkeit  bedingt, 
sonst  würden  sich  nicht  in  allen  Menschen  dieselben  Formen  ent- 
wickeln; aber  diese  Bedingtheit  schließt  keine  Vorausbildung,  keine 
Präformation  ein.  Es  ist  Prädetermination,  Prädestination.  Wie  der 
Apfelkern  nicht  schon  die  Zweige,  Blätter  und  Blüten  des  künftigen 
Baumes  in  sich  vorgebildet  enthält,  ebensowenig  enthält  die  erst  zum 
heben  erwachende  Seele  die  Eigenschaften  und  Entwicklungen  der 
ausgebildeten.   Alle  psychischen  Formen  haben  späteren  Ursprung. 

Das  Angeborene  oder  Ursprünglich -Gegebene  äußert  auf  das 
dritte,  die  quantitativen  Bestimmungen  der  psychischen  Anlagen, 
den  größten  Einftuss.  Die  angeborenen  Anlagen  ziehen  nur  die 
Grenzen,  innerhalb  deren  sich  die  Ausbildung  der  Seele  halten  muss. 


Zwischen  den  äußersten  Punkten  sind  unzählige  Grade  möglich. 
Die  angeborene  Anlage  ist  der  sich  gleichbleibende  Factor,  zu  welchem 
andere  Momente  von  außen  hinzutreten. 

2.  Angeboren  sind  dem  Menschen  die  Uraniagen  der  verschiedenen 
Sinnessysteme,  durch  welche  die  Seele  von  den  Dingen  und  Be- 
schaffenheiten der  Dinge  der  äußeren  Welt  erregt  wird.  Jedes  dieser 
Systeme,  z.  B.  das  des  Gesichts,  des  Gehörs  etc.,  besteht  aus  einer 
unbestimmten  Zahl  von  ürvermögen,  welche  die  Fähigkeit  be- 
sitzen, von  bestimmten  Eigenschaften,  z.  B.  den  verschiedenen  Farben, 
gereizt  zu  werden.  Diese  sind  insofern  bestimmt,  als  jedes  System 
nur  für  eine  bestimmte  Art  von  Gegenständen  empfänglich  ist,  z.  B. 
die  ürvermögen  des  Gehörs  nur  für  Schälle,  nicht  fiir  Düfte,  Formen. 
Farben  etc.  In  jedem  dieser  Systeme  finden  wir  von  Anfang  an  drei 
individuell  bestimmte  Grundeigenschaften: 

a)  einen  gewissen  Grad  von  Reizempfänglichkeit; 

b)  einen  gewissen  Grad  von  Kräftigkeit,  wovon  die  Vollkom- 
menheit der  Auffassung  und  der  Aneignung  des  Reizes,  wie 
auch  das  Festhalten  und  die  Reproduction  desselben  abhängt; 

c)  einen  gewissen  Grad  von  Lebendigkeit.  Durch  sie  wird 
das  Maß  der  Schnelligkeit,  sowol  der  ursprünglichen  Auf- 
nahme und  Aneignung,  als  der  Reproduction  bestimmt 

Diese  drei  Grundeigenschaften  sind,  außer  der  unbestimmten 
Menge  der  Uraniagen,  das  Angeborene  der  Seele.  Sie  kommen  in 
jedem  Grundsystemc  vor,  und  sie  können  in  den  Ürvermögen  der 
einzelnen  Grundsysteme  in  den  verschiedensten  Graden  vorkommen. 
So  finden  wir  in  demselben  Individuum  eine  hohe  Reizempfänglichkeit 
des  Gesichtssystems  häufig  mit  einer  schwachen  des  Gehörsystems 
vereinigt;  in  einem  anderen  hohe  Kräftigkeit  des  Gehörsystems  mit 
schwacher  Kräftigkeit  des  Geschmacksystems  etc. 

3.  Außer  dem  bisher  Genannten:  den  Ürvermögen  in  gewissen 
Grundsystemen  und  den  genannten  drei  Beschaffenheiten  in  jedem  der- 
selben; ist  der  menschlichen  Seele  nichts  angeboren.  Alle  übrigen 
Anlagen  der  ausgebildeten  Seele  müssen  erst  entstehen.  Sie  ent- 
stehen nach  dem  allgemeinen  Entwickelangsgesetze:  dass  von  allen 
psychischen  Thätigkeiten,  welche  mit  einiger  Vollkommen- 
heit gebildet  sind,  auch  wenn  sie  aus  dem  Bewusstsein  ver- 
schwinden, eine  Spur  im  Innern  der  Seele  zurückbleibt, 
welche  eine  Anlage  (Angelegtheit)  begründet,  die  nun  als  solche 
oder  als  Kraft  in  die  späteren  Entwickelungen  eingehen  kann. 

Wirkt  z.  B.  die  rothe  Farbe  zum  erstenmale  auf  den  Gesichts- 


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sinn  eines  Kindes,  so  wird  von  ihr  noch  keine  deutliche  Vorstellung 
in  der  Seele  zurückbleiben,  wol  aber  eine  Spur.  Bei  dem  zweiten 
Eindruck  der  rothen  Farbe  wirkt  diese  Spur  mit,  das  Auffassen  des 
Eindrucks  wird  schon  bestimmter  und  die  Spur  wird  verstärkt  etc. 
so  dass  dadurch  eine  Anlage,  die  rothe  Farbe  wahrzunehmen,  entsteht. 

So  bilden  sich  Anlagen,  Neigungen,  Gemüthsbeschaffenheiten, 
Fertigkeiten,  Talente. 

Durch  die  Verbindung  der  gleichartigen  Spuren  ist  ein  unend- 
liches Wachsthum  in  Hinsicht  der  Stärke  der  psychischen  Gebilde  be- 
dingt, je  mehr  Spuren,  desto  starker  werden  die  Anlagen.  Außerdem 
vereinigen  sich  die  verschiedenen  Spuren  vermöge  des  Gesetzes  der 
Anziehung  des  Gleichartigen  zu  Gruppen  und  Reihen,  entweder  nach 
ihrer  objectiven  Verwandtschaft,  oder  nach  subjectiven  Verhältnissen, 
z.  B.  ihre  Aufnahme  zn  derselben  Zeit,  in  demselben  Räume  etc.; 
dadurch  entstehen  schon  unendlich  viele  Modificationen,  Verschieden- 
heiten und  Ungleichheiten  im  frühen  Kindesalter. 

4.  Die  Geistigkeit  oder  Vernünftigkeit  der  menschlichen 
Seele  beruht  auf  der  höheren  Kräftigkeit,  welche  den  Urvermögen 
der  Sinne  des  Menschen,  besonders  der  höheren,  vor  der  der  Thiere 
innewohnt.  Beizbarer  sind  zum  Theil  die  Sinne  der  Thiere  als  die  der 
Menschen,  und  die  Lebendigkeit  scheint  bei  Menschen  und  Thieren 
keinen  bestimmten  Grenzen  zu  unterliegen. 

Jene  höhere  Kräftigkeit  ist  ursprünglich  nur  ein  Gradunterschied, 
wird  aber  nach  und  nach  durch  tausendfache  Combinationen  zu  einem 
Artunterschiede;  das  Sinnliche  geht  in  Geistiges,  das  Unvernünftige 
in  Vernünftiges  über.  Die  menschlichen  Sinne  sind  vermöge  der 
größeren  Kräftigkeit  ihrer  Urvermögen  von  Anfang  an  geistige.  Schon 
die  einfachste  sinnliche  Empfindung  ist  beim  Menschen  eine  andere 
als  beim  Thiere.  Dadurch,  dass  sie  eine  andere  ist,  wird  der  Mensch 
föhig,  Begriffe  zu  bilden.  Diese  höheren  Formen  sind  der  mensch- 
lichen Seele  nicht  angeboren,  nicht  in  derselben  präformirt,  sondern 
weil  das  ursprunglich  Angeborene  eine  Sammlung  von  inneren  Spuren 
oder  Anlagen  bedingt,  so  entstehen  durch  diese,  vermöge  der  übrigen 
psychischen  Entwicklungsgesetze,  die  höheren  Formen  mit  Not- 
wendigkeit 

5.  Die  Wahrnehmungen  der  ausgebildeten  Seele  sind  ein  sehr 
zusammengesetztes  Product:  aus  der  neu  gebildeten  sinnlichen  Em- 
pfindung und  aus  den  unendlich  vielen  inneren  Spuren  oder  Anlagen 
von  früheren  Empfindungen  gleicher  Art  in  der  Seele  gebildet.  Die 
eiste  Empfindung  war  der  Empfindung  in  der  ausgebildeten  Seele 

14.  Julie.    Heft  IV.  18 


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zwar  der  Art  nach  gleich,  aber  unendlich  schwacher.  Durch  die  An- 
sammlung und  das  Hinzutreten  gleichartiger  Spuren  erwachsen  die 
Empfindungen  allmählich  zu  Wahrnehmungen,  und  das  ursprünglich 
Unbewusste  bildet  sich  zum  klar  ßewussten  empor.  Die  zurück- 
gebliebenen Spuren  wirken  als  Auffassungskraft,  die  Activitat  der 
Seele  wächst.  Das  Hinzutreten  der  angesammelten  Spuren  ist  die 
Aufmerksamkeit,  welche  erworben  werden  muss. 

6.  Die  Auffassungen  sind  alle  ganz  individueller  Art,  es  gibt 
kein  allgemeines  Auffassungs-  oder  Anschauungsvermögen,  außer  inwie- 
fern die  gleichen  Spuren  in  mehrere  Empfindungen  und  Wahrneh- 
mungen als  Bestandteil  einzugehen  geeignet  sind.  Die  Auffassung  der 
Farben  und  Gerüche  fördert  nicht  im  mindesten  in  Hinsicht  der  Auf- 
fassung von  Wörtern  und  Formen.  Für  jeden  besonderen  Inhalt 
des  Vorstellens  und  Empfindens  müssen  Auffassungsvermögen  und  Auf- 
merksamkeit besonders  gebildet  werden.  Darum  sorge  man  für  Mannig- 
faltigkeit der  Erregung! 

7.  Die  Erziehung  hat  den  höheren  Sinnen  das  Übergewicht  zu 
verschaffen  über  die  niederen.  Die  Harmonie  der  Bildung  besteht 
nicht  in  der  gleichen  Ausdehnung  und  Stärke  der  Kräfte,  sondern  in 
dem  Übergewicht  des  Höheren  über  das  Niedere.  Das  ist  die  Harmo- 
nie des  menschlichen  Seins  im  Gegensatze  zu  dem  bloß  thieri- 
schen. Ein  einmal  errungenes  Übergewicht  pflanzt  sich  in  der  Regel 
fort.  Es  gibt  daher  keine  angeborene  Faulheit,  Naschhaftigkeit  etc. 
Faulheit  beruht  auf  übermäßiger  Ansammlung  von  Spuren  und  Kräften 
des  thierischen  Vegetationslebens.  Sie  ist,  wie  alle  fehlerhaften  Nei- 
gungen, Fehler  der  Erziehung. 

8.  Die  inneren  Anlagen  oder  Angelegtheiten  können  wieder  von 
selbst  in  die  psychische  Entwickelung  hineingezogen  werden.  Hier- 
durch entstehen  die  geistigen  Formen,  die  wir  Gedächtnis,  Ein- 
bildungskraft, Erinnerungsvermögen  nennen.  Es  sind  keine 
besonderen,  angeborenen  Vermögen.  Das  Gedächtnis  besteht  nur  in 
der  Beharrungskraft  der  psychischen  Entwicklungen  und  ist  nichts 
außer  den  Vorstellungen.  Dasselbe  gilt  von  der  Erinnerungs-  und 
Einbildungskraft. 

Darum  ist  keine  allgemeine  Übung  und  Bildung  des  Gedächt- 
nisses, der  Erinneruugs-  und  Einbildungskraft  möglich.  Alle  drei  exi- 
stiren  nur  in  den  Spuren  von  Vorstellungen,  wie  dieselben  einzeln 
begründet,  einzeln  in  gewisse  Verbindungen  und  Verhältnisse  getreten 
sind.  Es  gibt  also  kein  allgemeines  Gedächtnis  von  einer  gewissen 
Stärke,  Leichtigkeit  der  Auffassung  etc.,  kein  allgemeines  Erinnerungs- 


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vermögen,  keine  allgemeine  Einbildungskraft;  sondern  jede  Anlage  ist 
nur  Anlage  für  das  in  ihr  Vorgebildete  und  für  dasjenige,  in  welches 
sie  als  Bestandteil  eingehen  kann. 

9.  Auch  der  Verstand  wird  gewöhnlich  als  ein  angeborenes 
Vermögen  der  Seele  aufgeführt,  mag  man  angeborene  Begriffe  oder 
nur  angeborene  Formen  für  die  Bildung  der  Begriffe,  Urtheile  und 
Schlüsse  annehmen.  Aber  vor  dem  ersten  Abstractionsprocess  existirt 
die  Verstandesform  gar  nicht  in  den  Anlagen  der  menschlichen  Seele, 
oder  der  Mensch  hat  keinen  Verstand.  Durch  ihn  oder  vielmehr  durch 
die  dadurch  im  Innern  zurückbleibende  Spur  wird  der  Verstand  erst 
begründet;  er  wird  erweitert  mit  der  Zahl  der  Abstractionspro- 
cesse  und  erhöht  in  dem  Muße  der  Verallgemeinerung  der  Abstractionen. 
Der  Grund  dazu  liegt  in  der  größeren  Kräftigkeit  der  Ürvermögen, 
die  wir  als  Verstandesvermögen  anzusehen  haben.  Aber  nur  im 
weitesten  Sinne  des  Wortes;  denn  diese  Anlage  enthält  ja  doch  nicht 
die  mindeste  Vorbildung  der  dem  Verstände  eigentümlichen  Form. 

Die  Bildung  des  Verstandes  kann  der  der  besonderen  Vorstellungen 
nur  folgen  und  setzt  die  gegenseitige  Anziehung  der  gleichartigen 
Vorstellungen  voraus.  Nur  das  kräftig  Aufgefasste  und  kräftig  Repro- 
ducirte  kann  zu  klaren  Begriffen  verarbeitet  werden.  Nichts  prägt 
sich  tiefer  ein  als  die  Producte  der  Selbsttätigkeit. 

Nur  aus  den  selbsterfahrenen  oder  doch  klar  vorgestellten  uud 
tief  empfundenen  einzelnen  Fällen  stammt  der  allgemeinen  Regel 
ihre  Wahrheit,  Anschaulichkeit  und  Wirksamkeit.  Wird  dieselbe  von 
Anfang  an  blos  abstract  gebildet,  so  entbehrt  sie  aller  festen  Hal- 
tung und  dient  höchstens  dazu,  dass  man  sich  einbildet,  von  einer 
Sache  zu  wissen,  von  der  man  doch  eigentlich  nichts  weiß. 
Darum  lässt  uns  eine  so  abstract  gebildete  allgemeine  Regel  im  Sticht 
wenn  es  ihre  Anwendung  auf  besondere  Verhältnisse  gilt. 

Durch  einseitige,  bevorzugte  Übungen  bilden  sich  besondere  Arten 
des  Verstandes.  Man  begünstige  in  der  Jugend  diese  Einseitigkeit 
nicht!  Man  gebe  sich  aber  nicht  dem  Wahne  hin,  als  wenn  es  allge- 
meine Übungen  des  Verstandes  gäbe.  Dieses  ist  nur  insoweit  der 
Fall,  als  dieVerstandesübungen  etwas  Gleichartiges  haben.  Übrigens  nützt 
«in  blos  an  Wörtern  geübter  Verstand  seiner  Thätigkeit  an  Sachen 
wenig  oder  gar  nichts.  Es  gibt  daher  ebensowenig  allgemeine 
Verstandes-  als  allgemeine  Gedächtnisübungen. 

10.  Die  Vernunft  ist  kein  angeborenes  Vermögen.  Sie  ist  nichts 
■anderes,  als  die  ideale  Norm  des  Allgemein-Menschlichen,  oder  die 

18* 

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Gesamtheit  der  höchsten  und  zugleich  fehlerlos  gebildeten  Producte 
des  menschlichen  Geistes  in  allen  ihren  Formen. 

Diese  kurzen  Auszüge  werden  hinreichen,  die  Ansichten  Beneke's 
in  Betreff  des  der  Seele  Angeborenen  anzudeuten.  Ein  Hehreres 
wurde  hier  in  aller  Kürze  nicht  beabsichtigt 

Allerdings  ist  das  Vorstehende  einer  weitläufigeren  Erläuteruug 
und  Begründung  bedürftig.  Wer  sich  darnach  sehnt,  wird  nach  der 
„Erziehungslehre"  des  Verfassers  selbst  greifen.  Es  ist  ein  sehr  reich- 
haltiges, ganz  neue  Forschungen  enthaltendes  Buch,  welches  nicht  ge- 
lesen, sondern  studirt  sein  will.  Eine  reiche  Ausbeute  ist  der  Ge- 
winn für  diese  Anstrengung. 

Eine  der  wichtigsten,  aber  zugleich,  schwierigsten  Theorien  der 
ganzen  Schrift  ist  die  Erklärung  des  Bösen  und  seiner  Entstehung. 
Die  Grundansicht  des  Verfassers  über  dasselbe  enthält  der  folgende 
Ausspruch:  „Weit  entfernt,  dass  das  Böse,  wie  von  einigen  be- 
hauptet worden  ist,  der  menschlichen  Natur  ursprünglich  eigen  oder 
angeboren  sein  sollte,  lässt  sich  vielmehr  nichts  nachweisen,  was 
derselben  in  gleichem  Maße  entgegen  wäre" 


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Pädagogische  Rundschau. 

Zeitstimmeu.  [Schale  and  Schablone.]  Es  ist  charakteristisch  für  die 
geschichtliche  Entwickelang  unseres  Mittelschalwesens,  dass  sie  dem  allgemeinen 
Zage  folgend  mündet  in  der  staatlichen  Centralisation.  Während  die  Geschichte 
der  Pädagogik  noch  im  vorigen  Jahrhundert  uns  von  den  eigenartigen  Schöpfungen 
pädagogischer  Enthusiasten  erzählt,  welche,  Schwärmer  und  Eiferer  und  wenig 
vorbildlich  im  Einzelnen,  durch  eine  Fülle  von  Anregungen  befruchtend  wirkten, 
die  pädagogische  Idee  lebendig  erhielten  und  auch  dem  großen  Kreise  der  Ge- 
bildeten vor  Augen  stellten,  dass  es  Probleme  der  Erziehung  gebe,  —  ist  es 
allmählich  allenthalben  stille  geworden,  alles  hat  sich  zur  glatten,  gleichför- 
migen Regelmäßigkeit  abgeglichen,  ist  in  den  Ring  der  unterschiedslosen  staat- 
lichen Uniformität  zusammengeschlossen,  und  nur  Sonderlinge  und  Schiff- 
brüchige erfahren  die  freiere  Behandlung  privater  Erziehungsthätigkeit,  Die 
Lehrpläne  sind  staatlich  coditicirt,  die  Lehrer  zu  Beamten  geworden,  die  man 
furchtet  und  die  manchem  Elternpaar  als  eine  Art  von  Bildungspolizei  er- 
scheinen; feste,  meist  überlieferte  Formen  umgeben  und  regeln  den  Schul- 
betrieb, und  seitdem  das  Bildongsideal  ein  militärisches  Normalmaß  erhalten 
und  die  Zeugnisse  sich  in  Berechtigungsscheine  umwandelten,  ist  die  Ordnung 
zu  jener  Höhe  gediehen,  auf  welcher  auch  der  Uneingeweihte  in  ihr  die  Un- 
natur zu  ahnen  beginnt. 

Allerdings  dem  Fremden  wird  solch  wolgefügte  Ordnung  immer  inipo- 
niren,  und  es  wäre  unbillig,  die  vortheilhafte  Seite  dieser  Entwicklung  ver- 
kennen zu  wollen.  Für  das  moderne  Haus  ist  die  derzeitige  Einrichtung  un- 
streitig höchst  bequem.  Der  fabrikartige  Zuschnitt  der  Schulthätigkeit  über- 
hebt den  Familienvater  aller  Überlegung  und  Sorge  um  die  Zweckmäßigkeit 
der  Mittel  und  Wege  für  die  Erziehung  der  männlichen  Jugend.  Ist  die 
Schulanstalt  gewählt  —  und  wie  sollte  man  sie  anders  wählen  als  nach  dem 
Maßstab  der  Berechtigung!  —  so  läuft  in  den  meisten  Fällen,  ein  Durch- 
schnittsmaaß  von  Gaben  und  Leistungen  vorausgesetzt,  der  Bildungsprocess 
mit  jener  beruhigenden  Regelmäßigkeit  ab,  welche  die  Familien  von  jeder  wei- 
teren Theilnahme  entbindet.  Erst,  wo  eigenartige  Knabennatnren  in  berech- 
tigtem oder  unberechtigtem  Widerstreben  den  erwarteten  Ansatz  der  üblichen 
Jahresringe  ablehnen  und  sich  gegen  die  Aufnahme  der  lehrplanmäßigen 
Nahrung  sperren  —  erst  da  treten  Fragen  und  Aufgaben  an  das  Elternhaus 
heran,  zu  deren  Lösung  weder  Geschick  noch  Neigung  vorhanden.    Irre  ich, 


—    246  - 


nicht,  so  liegt  die  Grundbedingung  für  die  Gesundung  unserer  Schulzustände 
in  der  'Wiedererweckung  der  pädagogischen  Idee.  Bei  der  historischen  Ge- 
staltung unserer  Schulen,  unter  dem  Druck  einer  vor  allem  auf  äußeren  Erfolg, 
auf  greifbare  Resultate  arbeitenden  Zeitrichtung,  in  dem  Streben,  sich  in 
erster  Linie  den  Schein  und  die  Vortheile  dessen,  was  für  Bildung  gilt,  zu 
sichern,  besteht  die  Gefahr,  dass  der  einfache  pädagogische  Sinn,  der  die 
deutsche  Schule  groß  gemacht,  verloren  gehe  und  die  Quelle  wahrhafter  Idealität 
verschüttet  werde. 

Dr.  Karl  Andreä,  Über  Gründe  und  Ziele  schulreformatoriscber 
Bestrebungen  (Langensalza,  Beyer  &  Söhne). 

[Deutsche  Gymnasien  und  andere  Schulen.]  Man  wird  nicht 
leugnen  können,  dass  die  Gymnasien  vielfach  eine  Art  von  Bildungs-Monopol 
für  sich  in  Anspruch  genommen  haben  und  noch  nehmen,  dass  sie  mit  der 
Prätension  auftreten,  als  ob  sie  allein  es  seien,  welche  Gebildete  aus  sich  her- 
vorgehen lassen,  und  dass  sie  deshalb  zuweilen  einen  gewissen  Bildungshoch- 
muth  zur  Schau  tragen.    Und  an  diesem  thörichten  Vorurtheii  participiren 

wir  „Akademiker"  alle,  junge  und  alte,  reichlich          Wir  wollen  ehrlich  sein 

und  gestehen:  auch  unter  uns  classisch  und  akademisch  Gebildeten,  unter  Phi- 
lologen und  anderen  Gelehrten,  unter  Hochschulprofessoren  und  Gymnasial- 
lehrern gibt  es  ungebildete  Menschen;  denn  einseitige  Fachbildung  ist  immer 
nur  halbe  und  schlechte  Bildung;  der  Student  hat  dafür  längst  schon  den 
treffenden  Ausdruck  „Fachsimpel"  und  „Fachsimpelei"  gefunden.  Wahre 
Bildung  ist  freilich  nur  Eine;  aber  der  Wege  dazu  kann  es  gar  verschiedene 
geben:  den  einen  bildet  Schule  und  Universität,  den  anderen  das  Leben; 
den  einen  die  humanistische  Schule,  einen  anderen  die  realistische.  Oder  viel- 
mehr, die  Schule  gibt  überhaupt  keine  Bildung,  sondern  nur  Vorbildung,  nur 
Grundlage  und  Anfang,  nur  Bruchstücke  und  Theile.  Bleiben  wir  bei  diesem 
loteten  Bilde:  Wenn  die  Bildung  ein  Ganzes  ist,  von  dem  auch  das  Gym- 
nasium nur  Theile  gibt,  so  lassen  sich  andere  Schulen  denken,  die  ebenfalls 
Theile,  andere  Theile  geben,  und  im  Lauf  des  späteren  Lebens  müssen  dann 
die  Besitzer  eines  solchen  Theils  dieses  Stückwerk  erst  ergänzen  und  in  sich 
zu  einem  Ganzen  ausbauen  und  abrunden. 

Ich  glaube,  dass  bei  uns  in  Deutschland  die  Bildnngswege  zu  peinlich 
normirt  und  vorgeschrieben,  die  Zugänge  zu  den  verschiedenen  Zielen  zu  ängst- 
lich verclausalirt  sind.  Wir  fragen  immer  erst  nach  dem  Woher,  und  wenn 
Bich  ein  Mensch  darüber  nicht  genügend  ausweisen  kann,  wenn  er  nicht  die 
richtige  Anstalt  besucht,  nicht  das  richtige  Abiturientenzeugnis  in  der  Tasche 
hat  und  vorzeigen  kann,  so  hilft  ihm  alles,  was  er  etwa  weiß  und  kann,  zu 
dem  gewünschten  Ziele  nichts  

Den  Frieden,  den  Schulfrieden,  den  wir  so  nothwendig  brauchen»  schafft 
sicher  nicht  die  Beseitigung  der  Realgymnasien,  sondern  vielmehr  nur  ihre  Er- 
haltung und  die  Vermehrung  und  Erweiterung  ihrer  Berechtigungen   

Woran  krankt  eigentlich  unser  Realschulwesen?  In  erster  Linie  an  der  allge- 
mein verbreiteten  Anschauung,  dasß  das  Gymnasium  die  vornehmere,  die  Real- 
schule die  weniger  vornehme  Anstalt  sei;  wer  daher  den  Trieb  der  Vornehm- 
heit hat  —  und  wer  hätte  ihn  nicht?  —  der  schickt  seine  Söhne  lieber  auf 


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da«  Gymnasium  als  auf  die  Realschule. . . .  Wer  den  Einjährig-Freiwilligen- 
schein  haben  will,  so  sagt  man,  geht  lieber  aufs  Gymnasium :  hier  erhält  er  ihn 
sozusagen  gratis,  ohne  besondere  Prüfung,  also  leichter;  hier  kann  man  ihn 
ersitzen:  denn  wenn  ein  Junge  fast  in  jeder  Gasse  zwei  Jahre  lang  die 
Bänke  gedruckt  hat,  so  erfasst  schließlich  die  Lehrer  ein  menschliches  Rühren, 
und  sie  lassen  ihn  los;  nnd  nicht  blos  das  menschlich«  Gefühl  des  Mitleids, 
sondern  das  Interesse  der  Schule  selbst  treibt  dazu  und  fordert,  dass  man  sich 
dieses  Ballastes  doch  immer  wieder  möglichst  rasch  entledige  

Was  wir  also  brauchen,  das  sind  mit  einem  Worte  Schulen  für  das 
Volk,  nicht  Schulen  für  künftige  Reserveofficire  und  Staatsbeamte....  Mehr 
ttüdnng  für  die  kleinen  Leute,  mehr  Bildung  für  das  Volk!  —  Wir  sind  all- 
zusehr gewöhnt,  die  Bildung  von  oben  herab  zu  sehen;  von  unten  ans  ange- 
schaut nimmt  sich  in  derselben  vieles  anders  aus;  und  dazu  gehört  im  Schul- 
wesen die  Schaffung  von  richtigen  Realschulen,  die  einen  brauchbaren  mittle- 
ren Bürger-  und  besseren  Arbeiterstand  heranziehen,  die  durch  und  durch 
praktisch  und  gar  nicht  gelehrt  und  gar  nicht  vornehm  sind.  Damit  ist  auch 
ein  Nationales  geleistet,  selbst  wenn  diese  Schule  dem  Heere  direct  keinerlei 
Dienste  mehr  thäte:  es  wäre  durch  sie  ein  Beitrag  gegeben  zur  Lösung  der 
socialen  Frage.  Mehr  Herz  fürs  Volk!  Das  ist  der  Ruf,  der  täglich  lauter 
erhoben  werden  rauss,  auch  auf  die  Gefahr  hin,  dass  er  einstweilen  noch  man- 
chem misstönend  in  die  Ohren  klingt  und  dem,  der  ihn  erhebt,  wenig  Dank 
einbringt;  hier  specialisirt  er  sich  dahin:  Schulen  für  das  Volk,  die  gut  volks- 
thämlich,  nicht  aristokratisch  vornehm  sein  müssen ! . . . 

Ich  kann  es  weder  sodalpolitisch  noch  moralisch  für  einen  Gewinn  an- 
sehen, wenn  das  Studium  immer  mehr  vertheuert  und  finanziell  belastet  und 
dadurch  immer  mehr  zu  einem  Privilegium  der  Reichen  gemacht  wird.  Das 
bringt  von  vornherein  einen  protzigen  Geist  in  unser  Beamtenthum,  nnd  das 
verbittert  auf  der  andern  Seite  die  ärmeren  Gassen  mit  Recht,  wenn  sie 
sehen,  wie  ihnen  oder  vielmehr  ihren  begabten  Söhnen  das  Aufsteigen  in  die 
höheren  Schichten  immer  mehr  erschwert,  geradezu  unmöglich  gemacht  wird. 

Dr.  Theobald  Ziegler,  Die  Fragen  der  Schulreform. 


[Volksbildung.]  Vom  Vorstand  der  „Gesellschaft  für  Verbreitung  von 
Volksbildung"  in  Berlin  erhalten  wir  folgende  Mittheilung:  Die  Volksbiblio- 
theken,  die  in  den  siebziger  Jahren,  nach  Begründung  der  „Gesellschaft  für 
Verbreitung  von  Volksbildung1*  einen  ganz  erheblichen  Aufschwung  nahmen, 
sind  in  den  letzten  Jahren  an  vielen  Orten  zurückgegangen,  ja  von  einzelnen 
Vereinen  ganz  anfgegeben  worden.  Die  Ursachen  scheinen  weniger  in  der 
Sache  selbst,  als  in  dem  Umstände  zu  liegen,  dass  sich  die  Aufmerksamkeit 
von  den  Bibliotheken  mehr  abgewandt  und  auf  andere  ähnliche  Einrichtungen 
gelenkt  hat.  Die  Volksbibliotheken  werden  aber  dort,  wo  sie  gut  verwaltet 
werden,  auch  entsprechend  benutzt,  so  dass  eine  lebhaftere  Fürsorge  für  dieses 
Velksbildungs- Institut  in  jeder  Beziehung  wünschenswert  erscheint.  Von  diesen 
Erwägungen  ausgehend,  fasste  der  Central-Ausschuss  der  Gesellschaft  für  Ver- 
breitung von  Volksbildung  nach  vorangegangenen  Berathungen  folgende  Be- 
schlüsse : 

1.  Der  Vorstand  der  Gesellschaft  wird  beauftragt,  eine  Broschüre  zu  ver- 


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öffentlichen,  in  welcher  die  Bedeutung  der  Volksbibliotheken  dargethan,  ihr 
augenblicklicher  Stand  gezeichnet,  die  gegen  sie  erhobenen  Vorwürfe  zurück- 
gewiesen und  Fingerzeige  zu  ihrer  Verbesserung  gegeben  werden.  Insbesondere 
soll  die  Broschüre  enthalten:  Musterverzeichnisse  für  ganz  kleine  Bibliotheken 
und  Verzeichnisse  derjenigen  bewahrten  Schriften  (ältere  und  neuere  Volks- 
classiker),  die  bei  Neugrttndung  einer  Volksbibliothek  in  erster  Linie  Berück- 
sichtigung verdienen,  sowie  besondere  Verzeichnisse  für  ländliche  Büchersamm- 
langen ,  in  denen  die  wirtschaftliche  Arbeit  der  Landbewohner  (Obstbau,  Vieh- 
zucht, Landwirtschaft,  Weincultur)  ausgiebig  Berücksichtigung  findet. 

2.  Die  Zeitschrift  der  Gesellschaft,  der  „Bildungs -Verein",  bringt  fort- 
laufend unter  einer  besonderen  Rubrik  eine  Anzeige  neu  erschienener  Bücher, 
die  sich  zur  Anschaffung  für  Volks-  und  Vereinsbibliotheken  eignen. 

3.  Die  Centraistelle  der  Gesellschaft  fördert  die  Einrichtung  von  Wander- 
bibliotheken für  Stadt  und  Land,  erlässt  einen  Aufruf,  in  welchem  um  unent- 
geltliche Überlassung  von  gut  erhaltenen  jBüchern  und  Zeitschriften  gebeten 
wird,  die  ärmeren  Vereinen  auf  Wunsch  zugesandt  werden  sollen,  und  versucht, 
durch  Anregung  und  Mithilfe  in  den  Berliner  Vororten  gute  Volksbibliotheken 
event.  mit  Lesezimmern  ins  Leben  zu  rufen. 

4.  Auch  für  die  Jugendbibliotheken  wird  unter  Benutzung  der  von  Lehrer- 
vereinen bearbeiteten  Verzeichnisse  ein  Musterkatalog  aufgestellt  und  wenn 
möglich,  in  gleicher  Weise  wie  für  die  übrigen  Bibliotheken  die  neu  erschei- 
nende Literatur  registrirt. 

Diese  Arbeiten  sollen  vom  Vorstande  der  Gesellschaft  sogleich  in  Angriff 
genommen  werden.  Wir  wünschen  den  Bemühungen,  die  herrlichen  Schätze 
unserer  Volksliteratur  in  jedes  deutsche  Haus  zu  bringen,  den  weitgehendsten 
Erfolg.  Sollte  einer  unserer  Leser  in  der  Lage  und  gewillt  sein,  in  der  einen 
oder  anderen  Weise  mit  Rath  und  That  zu  helfen,  etwa  durch  Hinweis  auf 
gute  Werke,  Bezeichnung  solcher  in  vorliegenden  gedruckten  Katalogen,  durch 
Mittheilung  von  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  des  Volksbibliothekswesens, 
durch  statistische  Mittheilungen  über  Benutzung  einzelner  Volksbibliotheken  etc., 
so  werden  Einsendungen  mit  größtem  Danke  entgegengenommen  vom  Bureau 
der  Gesellschaft,  Berlin  W.,  Maaßenstraße  20,  oder  von  deren  Generalsekretär. 
Lehrer  J.  Tews,  Berlin  NO.,  Pallisandenstr.  100. 


[Turnen.]  Unlängst  ist  bei  Helmich  in  Bielefeld  eine  Broschüre  unter 
folgendem  Titel  erschienen:  „Schulreform  und  Turnunterricht.  Eine  turn- 
pädagogische Streitschrift  als  ernstes  Mahnwort  an  die  Schulbebörden  und  den 
deutschen  Lehrerstand,  zugleich  eine  kritische  Betrachtung  über  die  XI.  deutsche 
Turnlehrer-Versammlung."  Wer  sich  über  die  derzeitige  Sachlage  auf  dem 
bezeichneten  Gebiete  orientiren  will,  darf  diese  Schrift  nicht  übersehen. 


[Schularbeit  und  Schülerkraft.]  Prof.  Dr.  Leo  Burgerstein,  der 
im  Novemberhefte  des  „Pädagogium"  über  den  VII.  internationalen  Congress 
für  Hygiene  und  Demographie,  London  1891,  berichtet  und  hierbei  auch  einen 
von  ihm  selbst  gehaltenen  Vortrag  skizzirt  hat  (siehe  S.  115  f.  unserer  Zeit- 
schrift), hat  nun  seinen  Vortrag  unter  dem  Titel:  „Die  Arbeitsknrve  einer 
Schulstunde4*  in  vollständigem  Wortlaute  veröffentlicht  (40  Seiten,  Hamburg 


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ood  Leipzig  bei  Leopold  Voss).  Wir  empfehlen  die  sinnreichen  und  an- 
regenden Untersuchungen  unseres  geschätzten  Mitarbeiters  eingehender  Be- 
achtung. 


Von  der  Weichsel.  [Polnischer  Privat-Sprachunterricht.  Fort- 
bildungsschule. Was  die  Lehrer  zu  erwarten  hätten,  wenn  die 
Schulgesetzgebung  in  Windthorst'sche  Bahnen  einlenken  würde. 
Polnische  Lehrer  im  Westen.] 

Unterm  11.  Aprü  1891  hat  Cultusminister  Graf  Zedlitz  an  die  königl. 
Regierungen  zu  Bromberg  und  Posen  folgende  Verfügung  erlassen: 

„Ans  den  Kreisen  der  polnischen  Geistlichkeit  wird  die  Beschwerde  er- 
hoben, dass  die  Erfolge  des  in  polnischer  Sprache  ertheilten  Religionsunter- 
richtes in  den  Volksschulen  durch  den  Fortfall  des  polnischen  Sprachunter- 
richtes beeinträchtigt  würden,  und  dass  die  Möglichkeit,  dieser  Beeinträch- 
tigung durch  Einrichtung  polnischen  Privatunterrichts  vorzubeugen,  durch  ein 
Verbot  der  königl.  Regierung  an  die  Volksschullebrer,  einen  derartigen  Privat- 
unterricht zu  übernehmen,  abgeschnitten  sei. 

Bereits  mein  Herr  Amtsvorgänger  hat  wiederholt  darauf  hingewiesen, 
dass  der  Fortfall  des  polnischen  Sprachunterrichts  in  dem  Lehrplan  der  Volks- 
schalen nur  bezweckt,  für  den  Betrieb  des  deutschen  Unterrichts  mehr  Zeit 
zu  gewinnen,  dass  aber  den  Betheiligten  überlassen  bleibe,  außerhalb  der 
Schule  Veranstaltungen  zu  treffen,  um  ihren  Kindern  besondere  Ausbildung  im 
polnischen  Lesen  und  Schreiben  zu  gewähren.  Wenn,  wie  es  den  Anschein 
hat,  das  Verbot  der  königl.  Regierung  an  die  Volksschullehrer  die  Wirkung 
gehabt  hat,  eine  weitere  Verbreitung  von  Veranstaltungen  für  Ertheilung  des 
polnischen  Lese-  und  Schreibunterrichts  überhaupt  zu  hindern,  so  ist  dasselbe 
über  den  vorbezeichneten  Rahmen  hinausgegangen. 

Demzufolge  veranlasse  ich  die  königl.  Regierung,  die  Volksschullehrer 
Ihres  Bezirks  darüber  zu  verständigen,  dass  die  Ertheilung  von  Privatunter- 
richt an  polnische  Kinder  im  polnischen  Lesen  und  Schreiben  innerhalb  ihrer 
Gemeinden  auf  Antrag  bei  der  königl.  Regierung  ihnen  werde  gestattet  werden. 
Den  Wünschen  der  Betheiligten  wird  es  zumeist  entsprechen,  dass  dieser 
Privat-Unterricht  in  den  Räumen  der  Schulen  ertheilt  wird  und  ist  hiergegen 
nichts  zu  erinnern,  sofern  die  Gemeinden  die  Benutzung  der  Schnlräume  ge- 
statten. 

Was  die  Sprache  des  katholischen  Religionsunterrichtes  in  den  Volksschulen 
anbelangt,  so  hat  zwar  mein  Herr  Amts  Vorgänger  durch  Verfügung  Vom 
22.  Januar  1888  den  Übergang  von  der  polnischen  zur  deutschen  Unterrichts- 
sprache vorgeschrieben,  und  ich  habe  ans  den,  mit  Erlass  vom  13.  December 
v.  Jb.  zurückgesendeten  Sprachtibersichten  ersehen,  dass  bestimmungsmäßig 
verfahren  und  fast  durchweg  für  polnische  Kinder  der  Religionsunterricht 
deutsch  ertheilt  wird.  Das  Auftreten  wiederholter  Beschwerden  auf  diesem 
Gebiete  lasst  es  indessen  wünschenswert  erscheinen,  bei  denjenigen  Volks- 
schulen, welche  nicht  ;in  unzweifelhaft  deutschem  Sprachgebiet  liegen,  und  in 
welchen  die  Ertheilung  des  katholischen  Religionsunterrichtes  sich  ganz  oder 
theilweise  in  deutscher  Sprache  vollzieht,  eine  erneute  Prüfung  in  dieser  Rieh- 


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tung  eintreten  zu  lassen,  ob  die  polnischen  hezw.  als  zweisprachig  geführten 

Kinder  mit  vollem  Verständnis  dem  Unterricht  folgen  können.  Ist  dies  nicht 
anzunehmen,  so  ist  je  nach  Lage  des  einzelnen  Falles  der  polnische  Religions- 
unterricht an  die  Stelle  des  deutsch  ertheilten  Unterrichts  zu  setzen." 

Dieser  Verfügung  des  Unterrichtsministers  wurden  von  den  betheiligten 
Collegen  von  Anfang  an  erhebliche  Bedenken  entgegengebracht.  Nachdem 
nahezu  ein  Jahr  seit  ihrem  Erlass  verflossen  ist.  lassen  sich  die  Folgen  einiger- 
maßen Ubersehen.  Was  den  Kennern  der  Verhältnisse  von  vornherein  klar 
war,  ist  zu  Tage  getreten:  Der  Ministerial-Erlass  über  die  Zulassung  des  pol- 
nischen Privatunterrichts  in  unsern  Volksschulen  hat  die  Begehrlichkeit  der 
Polen  von  neuem  erweckt.  Es  vergeht  kein  Tag,  ohne  dass  man  in  pol- 
nischen Blättern  lebhaften  Klagen  darüber  begegnet,  dass  die  untergeordneten 
.Schulbehörden  den  Anweisungen  des  Ministers  widerstreben.  Die  ganze  Be- 
wegung läuft  darauf  hinaus,  die  deutschen  Katholiken  zu  polonisiren.  Es 
wird  von  allen  Seiten  jedes  Mittel  angewandt,  dieses  Ziel  zu  erreichen.  Man 
betreibt  bei  den  Eltern  die  Absendung  von  Gesuchen  um  Überweisung  ihrer 
Kinder  in  die  polnischen  Abtheilungen  beim  Religionsunterricht-,  wol  auch 
Schulvorstände  und  Geistlichkeit  werden  dieserhalb  vorstellig.  Prüft  dann  ein 
Regierungsbeamter  die  Verhältnisse,  so  stellt  sich  heraus,  dass  die  angeblich 
polnischen  Kinder  von  deutschen  Eltern  stammen.  Freilich  beherrschen  diese 
Kinder  außer  der  Muttersprache  auch  das  Polnische.  Es  ist  aber  anerhört, 
jeden,  der  polnisch  spricht,  als  Polen  zn  bezeichnen.  Die  Begriffe  „polnisch" 
und  „katholisch"  sollen  gleichbedeutend  sein;  sie  sind  es  jedoch  nicht.  Die 
Lage  der  deutschen  Katholiken  lüerzulande  ist  keine  beneidenswerte;  sie  finden 
an  der  Geistlichkeit  keinen  Rückhalt  Es  ist  deshalb  sehr  weise,  dass  die  An- 
siedelungscommission  mit  der  Heranziehung  katholischer  Ansiedler  vorsichtig 
verfährt;  in  den  meisten  Fällen  ist  der  deutsche  Katholik  der  Slavisirung 
verfallen,  eben  weil  die  Geistlichkeit  zu  den  Vorkämpfern  der  Entdeutschung 
zählt.  Die  Lehrer  gehen  keineswegs  freudig  an  die  Erteilung  des  polnischen 
Unterrichts.  Von  der  Unterrichtsverwaltung  sind  sie  in  eine  missliche  Lage 
versetzt  worden:  sie  sollen  denselben  Kindern,  die  sie  polnisch  unterrichten. 
Kenntnis  der  deutschen  Sprache  beibringen,  sollen  das  Deutsche  brauchen,  das 
jetzt  verhasster  geworden  ist  als  früher.  Der  Pole  des  Mittelstandes  sagt: 
Der  Minister  will  gar  nicht  haben,  dass  unsere  Kinder  deutsch  unterrichtet 
werden,  sonst  hätte  er  nicht  angeordnet,  dass  polnischer  Privatunterricht  ertheilt 
werde;  nur  die  unteren  Behörden  tragen  die  Schuld,  dass  man  uns  nicht  mehr 
Zugeständnisse  macht.  Solche  Gedanken  kann  man  oft  aussprechen  hören. 
Die  polnischen  Ultras  schüren  das  Feuer  weiter.  Sie  fordern  nicht  nur  die 
Zurückversetzung  der  Lehrer,  die  seinerzeit  im  dienstlichen  Interesse  nach  dem 
Westen  geschickt  werden  mussten,  sie  fordern  auch  polnischen  Unterricht  an 
den  Seminaren.  Natürlich!  Man  will  eine  polnische  „national" -gesinnte Lehrer- 
schaft heranziehen,  um  dann  die  Schule  den  „nationalen"  Interessen  nutzbar 
zu  machen.  Nimmt  das  Centrum  den  „Kampf  nm  die  Schule"  auf,  wie  das 
jüngst  auf  dem  Danziger  Katholikentage  feierlich  verkündigt  wurde,  so  können 
die  polnischen  Sonderbestrebungen  dadurch  nur  gefördert  werden.  Die  Regie- 
rnng  wird  in  den  Parlamenten  Gelegenheit  haben,  zn  der  Angelegenheit  Stellung 
zu  nehmen.  Es  steht  zu  erwarten,  dass  von  polnischer  Seite  lebhafte  Klagen 
vorgebracht  werden.    Möchten  die  leitenden  Kreise  dann  die  Sachlage  un- 


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—    251  — 


befangen  prüfen.  Über  die  Notwendigkeit,  das  Deutscbthum  auch  fernerhin) 
gegen  slaviscke  Übergriffe  zn  schützen,  kann  kein  Zweifel  sein.  Man  täusche 
sich  nicht:  kleine  Zugeständnisse  machen  die  Polen  nicht  zn  einer  allertreuesten 
Opposition;  größere  verbietet  das  Staatswol.  Man  gebe  sich  keinen  Illusionen 
aber  die  eigentlichen  Zwecke  und  Ziele  der  polnischen  Propaganda  hin!  Der 
früheren  Nachgiebigkeit  gegen  unberechtigte  polnische  Ansprüche  verdanken 
wir  die  Polonisirung  von  Tausenden  deutscher  Katholiken.  Diese  bittere  Lehre 
sollte  niemals  vergessen  werden. 

Nach  der  bisher  von  den  königl.  Kreisschul inspectoren  geübten  Praxis 
durften  an  dem  polnischen  Privat«  Sprachunterricht  die  der  deutschen  Sprache 
mächtigen  und  von  Deutschen  stammenden  Kinder  von  angeblich  polnischen 
Eltern  mit  deutschem  Namen  nicht  theilnehmen,  auch  wenn  die  Eltern  selbst 
den  Wunsch  aussprachen,  dass  man  es  ihren  Kindern  gestatte.  Nachdem  die 
königl.  Regierung  in  vielen  Fällen  die  Gesuche  und  Beschwerden  der  Eltern 
abschlägig  beschieden,  hat  der  Unterrichtsminister  eine  Entscheidung  getroffen, 
welche  den  Wünschen  der  angeblich  polnischen  Eltern  Rechnung  tragt.  Seine 
darauf  bezügliche  Verfügung  lautet: 

»Auf  den  Bericht  vom  5.  September  d.  J.  erwidere  ich  der  königl.  Regie- 
rung, dass,  nachdem  durch  den  Erlass  vom  11.  April  den  Volksschullehrern  die 
Ertheilung  von  polnischem  Privatunterrichte  in  ihren  Gemeinden  verstattet 
worden  ist,  es  den  Eltern  —  mögen  sie  polnischer  oder  deutscher  Nationalität 
sein  —  anheim  gestellt  ist,  ihre  schulpflichtigen  Kinder  an  dem  in  ihrer  Ge- 
meinde zugelassenen  Privatunterrichte  im  Polnischen  theilnehmen  zu  lassen. 
Die  königl.  Regierung  hat  hiernach  die  Unterzeichner  der  wieder  beifolgenden 
Eingabe  zu  bescheiden  und  das  sonst  etwa  Erforderliche  zu  veranlassen/ 

Bei  den  Polen  herrscht  über  diesen  Entscheid  natürlich  große  Freude. 
Der  „Dziennik  Poznanski"  theilt  mit,  dass  bald  nach  Bekanntwerden  des  Er- 
lasses in  jeder  Posener  Schule  eine  Anzahl  rein  deutscher  Kinder  bei  den 
Lehrern  der  polnischen  Sprache  sich  gemeldet  und  im  Namen  der  Eltern  um 
ihre  Annahme  zu  diesem  Unterrichte  gebeten  hat.  Dieses  beweise  nach  An- 
sicht des  genannten  polnischen  Blattes,  dass  nicht  allein  bei  den  Polen,  sondern 
auch  bei  vielen  Deutschen  das  Bedürfnis  der  Kenntnis  der  polnischen  Sprache 
sich  fühlbar  gemacht  habe.  Dass  sich  die  Begehrlichkeit  der  Polen  steigert, 
sehen  wir  aus  einigen  Auslassungen  des  „Kuryer*.  Nachdem  dieses  polnische 
Blatt  dem  Cultusminister  für  die  Verfügung  Dank  ausgesprochen  hat,  heißt  es 
weiter:  Unsere  Dankbarkeit  würde  noch  größer  sein,  wenn  der  Herr  Minister 
nicht  auf  halbem  Wege  stehen  bleiben,  sondern  ebenso  wie  er  erlaubt,  dass 
sämmtliche  Kinder,  deren  Eltern  es  wünschen,  ohne  Ausnahme  im  Polnischen 
unterrichtet  werden  —  es  auch  gestatten  wollte,  dass  den  Kindern,  deren 
Eltern  es  verlangen,  der  Religionsunterricht  in  polnischer  Sprache  ertheilt 
werde....  Der  Herr  Minister  erklärt  im  Reacript  vom  11.  April,  dass  die 
Rücksicht  auf  den  Religionsunterricht  ihm  gebiete,  dafür  Sorge  zu  tragen, 
dass  die  polnischen  Kinder  polnisch  lesen  lernen.  Wie  kann  es  demgegenüber 
vom  Herrn  Minister  geduldet  werden,  dass  die  Kinder,  welche  zu  Hause  polnisch 
beten,  den  Religionsunterricht  in  der  Schule  in  einer  ihnen  nicht  genau  ver- 
ständlichen Sprache  erhalten,  in  einer  Sprache,  welche  nicht  in  der  Wärme  zn 
ihrem  Herzen  spricht,  wie  es  der  Religionsunterricht  erfordert,  wenn  er  Früchte 
bringen  soll?  — 


—    252  — 


Hauptsachlich  um  die  deutsche  Sprache  bei  den  schulentlassenen  polnischen 
Knaben  weiter  zu  pflegen,  wurde  im  Jahre  1887  die  obligatorische  Fortbil- 
dungsschule in  Posen  und  Westpreußen  eingeführt.  Die  anfanglich  befriedigen- 
den Erfolge  dieser  Einrichtung  gingen  jedoch  bald  zurück.  Bei  den  Meistern 
nicht  minder,  als  bei  den  Lehrlingen  zeigte  sich  ein  heftiger  Widerstand  gegen 
die  Fortbildungsschule.  Ihre  Schulerzahl  ging  immer  mehr  zurück,  die  Schulen 
wurden  leer  oder  lösten  sich  auch  völlig  auf.  Der  Besuch  des  Unterrichts 
aber  konnte  nicht  erzwungen  werden,  da  der  Richter  in  zahllosen  Fällen  dahin 
entschied,  dass  in  Preußen  die  Schulpflicht  mit  dem  vollendeten  14.  Lebensjahr 
aufhört,  ein  darüber  hinausgehender  gesetzlicher  Zwang  zum  Schulbesuch  aber 
nicht  bestehe.  Und  so  war  es  thatsächlich,  die  Gesetzgebung  hatte  eben  eine 
Lücke  gelassen.  Diese  Lücke  im  Gesetz  ist  nunmehr  durch  Einführung  des 
Zwangsparagraphen  in  die  Novelle  zur  Reichsgewerbeordnung  ausgefüllt. 
Danach  können  gewerbliche  Lehrlinge  und  Arbeiter  unter  18  Jahren  durch 
Ortsstatut  zum  Besuch  der  obligatorischen  Fortbildungsschule  unter  Anwendung 
empfindlicher  Strafen  gezwungen  werden.  Die  städtischen  Verwaltungen  in 
den  Provinzen  Posen  und  Westpreußen  sind  gegenwärtig  mit  der  Aufstellung 
solcher  Ortsstatuten  beschäftigt,  und  es  steht  zu  erwarten,  dass  die  obliga- 
torische Fortbildungsschule  sich  nunmehr  auf  sicherer  gesetzlicher  Grundlage 
in  den  polnischen  Landestheilen  weiter  kräftig  entfalten  wird.  Den  Meistern 
freilich  scheint  dieser  gesetzliche  Zwang  unbequem  zu  sein;  denn  sie  gehen 
vielerorts  mit  der  Gründang  sogenannter  „ Innungsschulen tt  vor,  um  insbesondere 
über  die  Bestimmung  der  Unterrichtszeit  freie  Hand  zu  behalten.  In  der 
Stadt  Posen  beispielsweise  wollen  drei  Innungen  solche  Schulen  einrichten. 
Alle  derartigen  Versuche  haben  indes,  wie  die  Erfahrung  vielfach  bestätigt  hat, 
nennenswerte  Erfolge  nicht  zu  erzielen  vermocht.  Es  wäre  daher  wol  zu 
wünschen,  dass  die  Regierung,  wenigstens  in  unserer  Gegend,  alle  Absonde- 
rungen beseitigen  und  die  staatliche  obligatorische  Fortbildungsschule  ohne 
Unterschied  durchführen  möchte.  In  anbetracht  der  Wiederzulassung  des  pol- 
nischen Privat-Sprachunterrichts,  der  die  Verdeutschung  des  polnischen  Ele- 
ments durch  die  Volksschule  immerhin  aufzuheben  geeignet  ist,  erscheint  es 
dringend  nöthig,  mit  der  allgemeinen  Wiedereröffnung  der  obligatorischen  Fort- 
bildungsschule auf  gesetzlicher  Grundlage  ungesäumt  vorzugehen. 

Was  die  Lehrer  zu  erwarten  hätten,  wenn  die  Schulgesetzgebung  in 
WindthorefBche  Bahnen  einlenken  würde,  das  hat  die  ermländische  Geistlich- 
keit unter  der  Führung  des  Bischofs  Dr.  Thiel  durch  ihr  Vorgehen  gegen  die 
katholischen  Mitglieder  der  Lehrervereine  mit  einer  Deutlichkeit  gezeigt,  die 
wol  geeignet  sein  könnte,  gewissen  Schwärmern  die  Augen  zu  öffnen.  Der 
Abg.  Krebs  hat  auf  der  Danziger  Katholikenversammlung  geäußert,  man  suche 
in  seiner  Heimat  (Ostpreußen)  die  Meinung  zu  verbreiten,  dass  die  katholischen 
Lehrer  nicht  dasselbe  Recht  hätten,  wie  die  anderen.  Schwerlich  hat  der  Herr 
hierbei  an  das  Treiben  des  ermländischen  Clems  gedacht,  sonst  würde  er  wol 
noch  hinzugefügt  haben,  dass  man  selbst  die  verwerflichsten  Mittel  nicht  un- 
versucht gelassen  hat,  um  die  Lehrer  zu  zwingen,  einem  bischöflichen  Willen 
zu  Gefallen  auf  die  Ausübung  ihrer  staatsbürgerlichen  Rechte  zu  verzichten. 
Weder  Lockungen  noch  Drohungen  sind  zu  diesem  Zwecke  gespart  worden, 
ja  man  hat  sogar  die  Kanzel  gemissbraucht,  nm  das  Volk  gegen  die  Lehrer 
aufzuhetzen  und  diese  dadurch  mürbe  zu  machen.    Man  hat  sie  ferner  bei 


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Bewerbungen  um  erledigte  Kirchschulstellen  mit  der  Begründang  abgewiesen, 
dass  sie  Mitglieder  der  sogenannten  freien  Lehrervereine  seien,  oder  von  ihnen 
eine  Bescheinigung  über  ihren  Anstritt  aus  den  Vereinen  verlangt.  Dass  solcher 
Druck  einzelne  Mitglieder  zum  äußerlichen  Abfall  bewogen  hat,  kann  nicht 
überraschen.  Die  Mehrzahl  aber  hält  allen  Anfechtungen  zum  Trotz  getreu- 
lich stand.  Diesen  gegenüber  sieht  sich  nun  der  Bischof  an  der  Grenze  seiner 
Macht.  Die  hie  und  da  gebrauchte  Androhung  kirchlicher  Strafen  verfängt 
nicht,  da  sie  in  unserer  Zeit  zur  Erreichung  hierarchischer  Zwecke  doch  nicht 
mehr  ausgeführt  werden  kann.  Anf  einer  Firraungs-  und  Yisitationsreise  nahm 
der  Bischof  Dr.  Thiel  mehrfach  Gelegenheit,  seinen  Uumuth  darüber  zu  äußern, 
dass  es  immer  noch  eine  große  Anzahl  von  Lehrern  gibt,  die  seine  Herrschaft 
auf  weltlichem  Gebiete  nicht  anerkennen  wollen.  Bei  der  Kirchenvisitation 
zu  W.  im  Kreise  Allenstein,  zu  welcher  auch  die  Lehrer  mit  den  Schulkindern 
erschienen  waren,  stellte  er  an  eine  Abtheilung  der  letzteren  die  Frage:  „Als 
was  ist  Christus  geboren  worden?"  und  erhielt  hierauf  die  Antwort:  „Als 
Mensch/  Diese  Antwort  brachte  den  Bischof  in  eine  solche  Aufregung,  dass 
er  vor  versammelter  Gemeinde  ausrief:  „Die  Kinder  kennen  nicht  einmal  die 
Grundwahrheiten  des  Christenthums!"  Offenbar  lag  dieser  Äußerung  die  Mei- 
nung zu  gründe,  die  Kinder  hätten  keine  Kenntnis  von  der  Gottheit  Christi 
gehabt.  Und  doch  dürfte  es  dem  Bischof  nicht  schwer  geworden  sein,  sich 
durch  näheres  Eingehen  auf  die  Sache  von  der  Unhaltbarkeit  jener  Meinung 
zu  überzeugen.  Aber  er  begnügte  sich  nicht  damit,  den  betreffenden  Lehrer 
vor  versammelter  Gemeinde  bioszustellen ,  sondern  er  führte  sogar  bei  der  königi. 
Regierung  darüber  Beschwerde,  dass  die  Classe  jenes  Lehrers  über  die  Grund- 
wahrheiten des  Christenthums  nicht  genügend  unterrichtet  sei,  da  es  ihm  (dem 
Bischof)  trotz  aller  angewandten  Mühe  nicht  gelungen  wäre,  aus  den  Kindern 
herauszubringen,  dass  Christus  Gott  sei.  Infolge  dieser  Beschwerde  wurde 
die  betreffende  Schule  durch  den  zuständigen  Kreisschulinspector  im  Auftrage 
der  Regierung  einer  gründlichen  Revision  in  Bezug  auf  den  Religionsunterricht 
unterzogen,  die  drei  Stunden  in  Anspruch  nahm.  Sie  ergab,  dass  die  Angaben 
des  Bischofs  jeder  thatsächlichen  Grundlage  entbehren.  Der  Bischof  hat  bei 
der  betreffenden  Kirchenvisitation  jene  Schulclasse  zunächst  nach  den  drei  gött- 
lichen Personen  gefragt  und  richtige  Antworten  erhalten,  worin  auch  die  Lehre 
vor  der  Gottheit  Christi  eingeschlossen  war.  Darauf  hat  er  dann  die  Frage 
gestellt:  „Als  was  ist  Christus  geboren  worden ?u  und  die  unzweifelhaft  rich- 
tige Antwort  erhalten:  „Als  Mensch.1'  Hierauf  hat  der  Bischof  an  jene  Kinder 
überhaupt  keine  Frage  mehr  gerichtet,  ist  vielmehr  in  seiner  Erregtheit  so- 
gleich zu  Tadel  und  Anklage  vor  versammelter  Gemeinde  übergegangen.  Dass 
sich  der  ganze  Vorgang  in  dieser  Weise  abgespielt  hat,  wurde  vom  Kreis* 
schulinspector  durch  Nachfrage  bei  den  Schulkindern  festgestellt.  Ebenso  ergab 
sich  hierbei  die  interessante  Thatsache,  dass  von  den  25  Kindern  dieser 
Schule,  die  bei  der  betreffenden  Kirchenvisitation  zugegen  gewesen,  die  Mehr- 
zahl (14)  bereits  confirmirt  ist.  Der  zuständige  Pfarrer  hätte  also,  wenn  die 
Anschuldigungen  des  Bischofs  begründet  wären,  es  auch  nicht  vermocht,  jenen 
Kindern  im  Confirmandenunterrichte  die  „Grundwahrheiten  des  Christenthumsa 
beizubringen,  und  er  hätte  sie  auch  ohne  die  Kenntnis  derselben  für  reife 
Christen  erklärt,  indem  er  sie  zu  den  Sacramenten  annahm.  So  liefert  denn 
jener  Umstand  einen  handgreiflichen,  wenn  auch  indirecten  Beweis  für  die  Hin- 


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Billigkeit  der  Behauptungen  des  Bischofs.  Hoffentlich  wird  letzterem  nach 
diesem  mißlungenen  Versuch  die  Lust  zu  weiteren  ungerechtfertigten  Angriffen 
vergehen. 

Wie  stände  es  nun  aber,  wenn  die  Windthorst'schen  Schulanträge  Gesetz 
wären?  Diese  fordern:  „In  das  Amt  eines  Volksschullehrers  dürfen  nur  Per- 
sonen berufen  werden,  gegen  welche  die  kirchliche  Behörde  in  kirchlich-religiöser 
Hinsicht  keine  Einwendungen  gemacht  hat  Werden  später  solche  Einwen- 
dungen erhoben,  so  darf  der  Lehrer  zur  Ertheilung  des  Religionsunterrichtes 
nicht  weiter  zugelassen  werden.4  Wie  leicht  „Einwendungen  in  kirchlich - 
religiöser  Hinsicht"  erhoben  werden  können,  geht  daraus  hervor,  dass  der 
Bischof  gerade  aus  angeblich  kirchlich -religiösen  Gründen  verlangt,  dass  die 
katholisehen  Lehrer  aus  den  sogen,  freien  Lehrervereinen  austreten  sollen. 
Für  die  Lehrer  ist  dies  freilich  eine  weltliche  Frage,  da  es  sich  hierbei  nm  die 
Ausübung  von  Rechten  handelt,  die  ihnen  durch  die  Verfassung  und  das 
Vereinsgesetz  gleich  allen  anderen  Staatsbürgern  zugesichert  sind.  Wer  zweifelt 
aber  nach  den  mitgetheilten  Thatsachen  noch  daran,  dass  der  Bischof  unter 
der  angeführten  Voraussetzung  gegen  alle  diejenigen,  die  ihm  in  dieser  welt- 
lichen Frage  den  Gehorsam  versagt  haben,  Einwendungen  „in  kirchlich-religiöser 
Hinsicht41  erheben  würde?  Eine  Prüfung  solcher  Einwendungen  durch  die  vor- 
gesetzte Schulbehörde  wäre  nach  dem  Windthorst'schen  Antrage  nicht  zulässig, 
es  würde  vielmehr  sofort  die  Entziehung  des  Religionsunterrichts  nnd  damit 
in  vielen  Fällen  der  Verlust  der  ganzen  Stellung  erfolgen.  Dagegen  zeigt 
der  mitgetheilte  Fall  unwiderleglich,  wie  nothwendig  es  ist,  dass  derartige  und 
iihnliche  Einwendungen,  die  ja  der  kirchlichen  Behörde  auch  unter  den  heutigen 
Verhältnissen  nicht  verwehrt  sind,  von  der  dem  Lehrer  vorgesetzten  Ober- 
behörde geprüft  werden.  Berechtigte  Beschwerden  werden  hierbei  gewiss  Be- 
rücksichtigung finden,  die  Lehrer  aber  sind  so  gegen  Vergewaltigung  geschützt. 
Dies  mögen  namentlich  diejenigen  unter  ihnen  bedenken,  die  mit  dabei  sind, 
die  Ketten  für  ihren  Stand  schmieden  zu  helfen.  Noch  ein  Beispiel  möge  hier 
angeführt  werden,  um  die  in  den  Windthorst'schen  Anträgen  enthaltene  Forde- 
rung zu  beleuchten,  dass  der  zur  Leitung  des  Religionsunterrichts  berufene 
Geistliche  befugt  sein  soll,  „den  Lehrer  für  die  Ertheilung  des  Religionsunter- 
richts mit  Weisungen  zu  versehen,  die  von  letzterem  zu  befolgen  sind."  Wenige 
l  äge  nach  der  oben  erwähnten  Revision  des  Kreisschnlinspectors  erschien  in 
derselben  Schule  der  Pfarrer  R.  aus  W.f  um  im  bischöflichen  Auftrage  eine 
Revision  des  Religionsunterrichts  vorzunehmen!  Er  wandte  sich  zuerst  an 
die  Ostern  d.  J.  in  die  Schule  aufgenommenen  Kinder  mit  der  Frage:  „Was 
ist  Gott?"  und  war  sehr  erstaunt,  von  sechsjährigen  Kindern  keine  regelrechte 
Definition  über  das  Wesen  Gottes  zu  erhalten.  Seiner  Verwunderung  hierüber 
gab  er  sofort  vor  den  K indem  Ausdruck  und  wollte  auch  die  Ausführungen 
des  Lehrers,  dass  derartige  Definitionen  sich  für  diese  Stufe  nicht  eignen  und 
daher  auch  in  den  dem  Unterrichte  zu  Grunde  gelegten  „Katechesen  von  Mey" 
umgangen  seien,  nicht  gelten  lassen,  sondern  er  blieb  dabei,  jene  Begriffsbestim- 
mung müsse  im  Religionsunterricht  den  Anfang  bilden,  gleichviel  ob  die  Kinder 
das  verstehen  oder  nicht.  Bei  der  weiteren  Frage  nach  dem  zweiten  Kirchen- 
gebot stellte  sich  heraus,  dass  der  Pfarrer  den  Wortlaut  desselben  nicht  genau 
kannte,  was  er  wieder  nicht  zugeben  wollte,  bis  er  durch  Vorhaltung  des 
Katechismus  überführt  wurde.    Welche  Förderung  könnte  wol  der  Religions- 


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Unterricht  erfahren,  wenn  Leute  einen  maßgebenden  Einfluss  auf  ihn  ausüben 
sollten,  die  weder  der  Methode  noch  des  Stoffes  Herr  sind?  Wäre  es  nicht  ge- 
radezu verderblich,  wenn  der  Lehrer  ihre  Weisungen  ohne  weiteres  befolgen 
ntüsste?  Pfarrer  E.  gehört  zu  den  vor  kurzem  ernannten  Localschuliuspectoren. 

Von  den  aus  den  Provinzen  Posen  und  Westpreußen  seit  1886  nach  dem 
Westen  versetzten  polnischen  Lehrern  befinden  sich  noch  53  in  der  Rhein- 
provinz, Westfalen  und  Hessen-Nassau,  und  zwar  18  im  Reg. -Bez.  Düsseldorf, 
10  im  Reg.-Bez.  Trier,  7  im  Reg.-Bez.  Koblenz,  6  im  Reg.-Bez.  Köln,  5  im 
Reg.-Bez.  Wiesbaden,  4  im  Reg.-Bez.  Münster  und  3. im  Reg.-Bez.  Aachen. 
15  polnische  Lehrer  sind  bereits  in  die  Heimat  zurückgekehrt.  Davon  sind  11 
als  Emeriten  aus  dem  Dienst  geschieden.  Neuerdings  haben  4  weitere 
Lehrer,  deren  Frauen  an  Heimweh  litten,  in  der  Provinz  Posen  Lehrerstellen 
erhalten,  und  3  Lehrer  stehen  aus  derselben  Ursache  mit  der  köüigL  Regie- 
rang wegen  ihrer  Zurückversetzung  nach  der  Provinz  Posen  in  Unterhandlung. 


[Ans  Württemberg.]  Die  Hochflut  schulpolitischer  Schriften  in  der2.  Hälfte 
des  vorigen  und  im  ersten  Viertel  dieses  Jahres,  sowie  die  lebhafte  Besprechung 
derselben  in  Schul-  und  politischen  Tagesblättern  ließ  hoffen,  dass  die  leitenden 
Kreise  den  schwebenden  Schulfragen  erhöhtes  Interesse  schenken  werden,  und 
in  dieser  Annahme  wurde  man  nicht  getäuscht :  das  Jahr  1891  hat  eine  Reihe 
nennenswerter  Besserungen  gebracht,  die  in  unserem  in  der  Schulentwickln ng 
so  sehr  zurückgebliebenen  Lande  doppelt  freudig  begrüßt  und  aufgenommen 
werden.  Zuerst  folgte  eine  Änderung  des  Conferenzwesens  und  eine 
Einschränkung  der  Aufsatzpflicht.  Die  Zahl  der  Conferenzen  wurde 
für  die  über  30  Jahre  alten  Lehrer  von  4  auf  2  herabgesetzt.  Die  jüngeren 
Lehrer  haben  bis  zu  dem  eben  genannten  Zeitpunkte  außerdem  noch  2  sogen. 
Sonderconferenzen  anzuwohnen.  Die  Aufsatzpflicht,  die  seither  bis  zum  %foll- 
endeten  fünfzigsten  Lebensjahr  dauerte,  wurde  aufs  40.  herabgesetzt;  auch 
wurde  die  Zahl  der  Aufsätze  theil weise  vermindert.  Während  bis  zur  Ände- 
rung des  Conferenzwesens  jeder  Lehrer  bis  zu  seinem  50.  Lebensjahre  jährlich 
2  Aufsätze  machen  musste,  sind  jetzt  nur  noch  die  jüngeren  Lehrer  bis  zum 
vollendeten  30.  Jahre  zur  Lieferung  dieser  Anzahl  verpflichtet.  Von  da  an 
bis  zum  40.  Jahre  ist  alljährlich  nur  ein  Aufsatz  auszuarbeiten  und  abzugeben: 
Die  Wichtigkeit  dieser  Neuregelung  besteht  nun  darin,  dass  durch  die  Ver- 
minderung der  Zahl  der  Conferenzen  von  jetzt  ab  weniger  geistliche  Conferenz- 
directoren  nöthig  sind  als  seither  und  dass  zur  Leitung  der  Sonder-  oder  Lern- 
conferenzen  auch  tüchtige  Volksschullehrer  berufen  werden  können.  Gegen- 
wärtig sind  es  evangelischerseits  deren  10.  Beides  zusammengenommen  — 
Entbehrlichkeit  mancher  geistlichen  Conferenzdirectoren  und  Beiziehung  von 
Lehrern  zur  Leitung  von  Conferenzen  —  ergibt  eine  ansehnliche  Einschränkung 
des  geistlichen  Einflusses  aufs  Schulwesen ,  denn  es  sind  eben  jetzt  erheblich 
weniger  Geistliche,  die  sich  mit  der  Schule  berufsmäßig  zu  beschäftigen  haben. 

Der  weitere  Verlauf  des  Jahres  brachte  eine  ansehnliche  Gehalts- 
erhöhung, welche,  was  wol  selten  der  Fall  sein  dürfte,  von  beiden  Kammern 
einstimmig  bewilligt  wurde.  Während  vor  2  Jahren  noch  im  40.  Jahre 
100,  im  45.  Jahre  140  und  im  50.  200  Mk.  Alterszulage  gereicht  wurden, 
hat  sich  infolge  der  seitherigen  zweimaligen  Aufbesserung  die  Sache  so  ge- 


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staltet,  dass  unständige  Lehrer  vom  zurückgelegten  25.  Jahre  an  vom  Staate  50  M. 
erhalten ;  ständige  Lehrer  erhalten  vom  Tage  des  Definitivums  an  (etwa  mit  27 
bis  28  Jahren)  bis  zum  35.  Lebensjahre  jährlich  150  Mk.,  welche  als  Stellen- 
zulage zu  betrachten  sind,  so  dass  jetzt  Württemberg  mit  1100  Mk.  Minimal- 
gehalt  (neben  freier  Wohnung)  wol  die  höchsten  Anfangsgehälter  in  Deutsch- 
land bezahlt.  Vom  35.  Jahre  an  beträgt  die  Altersznlage  200,  vom  40.  an 
250,  vom  45.  an  300,  vom  50.  an  400,  vom  55.  an  500.  Zugleich  wurde 
in  Aussicht  gestellt,  dass  die  größeren  Städte  zu  erheblichen  Mehrleistungen 
zu  den  Stellengehalten  herangezogen  werden  sollen.  Auch  sei  der  Unterschied 
in  der  Bezahlung  zwischen  Land  und  Stadt,  wenn  beide  dieselbe  Bevölkerungs- 
ziffer aufweisen,  aufzuheben.  Diese  Ausgestaltung  des  Systems  der  Alterszu- 
lagen wirkt  natürlich  auch  vortheilhaft  auf  die  Witwen-  und  Waisenpensionen, 
welche  in  3  Abstufungen  gereicht  werden,  für  deren  Bemessung  (wenigstens 
für  die  mittlere  und  obere  Stufe)  ein  fünfjähriger  Durchschnittsgehalt  von  1380, 
resp.  1910  Mk.  nötig  ist.  Infolge  dieser  neuesten  Aufbesserung  rückt  alsdann 
künftig  eine  sehr  große  Anzahl  Witwen  in  die  mittlere  Stufe  von  390  Mk. 
und  eine  ziemliche  Zahl  in  die  höchste  Stufe  von  480  Mk.  Die  Kinder  erhalten 
bis  zum  18.  Lebensjahr  als  Halbwaisen  je  ein  Viertel,  als  Vollwaisen  je  die 
Hälfte  der  betreffenden  Stufe. 

Wie  die  Regierung  und  die  Stände  in  diesem  Stücke  alles  thaten,  um 
den  Wünschen  der  Lehrer  gerecht  zu  werden,  so  machte  die  Regierung  auch 
einen  Anlauf,  die  Schulaufsicht  im  Sinne  der  Lehrerbestrebungen  zu  regeln. 
Allein  es  zeigte  sich,  dass  die  kirchlichen  Parteien  mächtiger  sind  und  mehr 
vermögen  als  der  gute  Wille  eines  Ministers.  Anlass  zur.  Erörterung  der 
Schulaufsicbtsfrage  gab  der  vom  Cultusminister  Dr.  von  Sarwey  eingebrachte 
Gesetzentwurf  betreffend  die  Ortsschulbebörden.  —  Württemberg  hat  seit 
1865  die  Einrichtung  der  Ortsschulbehörde.  Im  Laufe  der  Jahre  haben  sich 
jedoch  namentlich  durch  ein  neues  Kirchengemeindegesetz  Änderungen  als 
nothwendig  erwiesen,  die  einer  gesetzlichen  Regelung  bedurften.  Die  Neue- 
rungen betreffen  vor  allem  die  Zusammensetzung  dieser  Behörde;  insbesondere 
soll  die  Zahl  der  Geistlichen  niemals  3  übersteigen,  was  jetzt  in 
größeren  Orten  gegen  seither  ebenfalls  eine  Einschränkung  des  geistlichen  Ein- 
flusses bedeutet.  Im  Zusammenhang  über  die  Zusammensetzung  und  die  Ob- 
liegenheiten der  Ortsschulbehörde  schlug  nun  die  Commission,  welche  den  Ent- 
wurf vorzuberathen  hatte,  vor:  „In  größeren  Städten  mit  mehreren  Volks- 
schulen kann  die  Ortsschulaufsicht  einem  oder  mehreren  Ortsschulaufeetaern 
ohne  die  Befähigung  zu  einem  Eirchenamt  übertragen  werden."  Über 
diese  6  Worte  entspann  sich  eine  5tägige  Redeschlacht,  aus  welcher  wir  kurz 
Folgendes  erwähnen:  Auf  der  einen  Seite  wurde  mit  Freuden  begrüßt,  dass 
durch  diesen  Antrag  zum  erstenmal  das  Princip  der  rein  geistlichen  Schulauf- 
sicht durchbrochen  wurde;  auf  der  anderen  Seite  erblickte  man  in  diesem 
kleinen  Zugeständnis  an  die  Lehrerschaft  „das  große  Thor  für  die  Entchrist- 
lichung  der  Volksschule".  Ersteren  Standpunkt  vertraten  —  man  höre  und 
staune  —  württembergische  evangelische  Prälaten;  letzterer  wurde  von 
katholischen  Geistlichen  und  —  Lehrern  verfochten.  Die  schönsten  und 
beweiskräftigsten  Ausführungen  zu  Gunsten  der  Regierungsvorlage  wurden  von 
dem  Kanzler  der  Universität  Tübingen  (v.  Weizäcker)  vorgebracht,  der  darauf 
hinwies,  dass  bei  Lösung  der  Schulfragen  verschiedene  Factoren  concurriren 


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—    257  — 


^Da  ist  der  Staat,  da  ist  die  Kirche,  da  ist  die  Familie,  auch  die  Ge- 
meinde ist  genannt  worden.  Ich  möchte  noch  etwas  anderes  hinzufügen,  was 
zunächst  durch  den  Lehrerstand  vertreten  ist,  nämlich  die  Bildung,  die  aus 
der  Wissenschaft  hervorgeht,  an  der  auch  der  Volksschallehrer  seinen  Theil 
hat.4  Neben  diesem  weiteren  Factor  —  der  Wissenschaft  — ,  der  bei  Lösung 
dieser  Frage  in  Betracht  za  ziehen  ist,  stellte  der  Redner  das  Verhältnis  von 
Staat  und  Kirche  in  Beziehung  auf  die  Schule  fest.  Die  heutige  Schule, 
wie  sie  besteht,  ist  ein  Werk  des  Staates  und  des  großen  wissenschaft- 
lichen Fortschritts,  darum  hat  der  Staat  in  erster  Linie  ein  Recht  auf  die 
Schule.  —  Von  gegnerischer  (katholischer)  Seite  wurde  hervorgehoben,  „dass 
wir  uns  auf  abschüssigem  Wege  befinden,  wenn  man  darauf  hinarbeite,  der 
Lehrerwelt  eine  ganz  aufsichtslose  Amtsführung  zu  versebaffen.  Dieser 
Weg  führe  uns  zu  Dingen,  die  bis  jetzt  nur  als  Ziele  der  Socialdemokraten 
bezeichnet  worden  sind."  Diesen  Ausführungen  trat  ein  Redner  der  Linken 
energisch  gegenüber,  welcher  unter  anderem  betonte,  wie  billig  und  nichts- 
sagend der  diesmal  zur  Abwechslung  gegen  sie  gekehrte  Vorwurf  der  Förde- 
rung des  Socialismns  sei.  Die  Abstimmung  am  dritten  Tag  ergab  folgendes 
Resultat:  57  gegen  26  Stimmen  waren  dafür,  „dass  in  Städten  mit  mehr  als 
25  für  die  Angehörigen  einer  Confession  bestimmten  Volksschulclassen  für  diese 
die  Ortsschulaufsicht  einem  oder  mehreren  Ortsschulaufsehern,  welche  die 
Befähigung  zn  einem  Kirchenamte  nicht  haben,  übertragen  werden 
kann." 

So  weit  wäre  alles  gut  und  schön ;  aber  die  Kammer  der  Abgeordneten  — 
denkt  und  die  der  Standesherren  —  lenkt.  Dieses  kleine  Zugeständnis  an  die 
Lehrerschaft,  das  zur  Zeit  außer  Stuttgart  noch  4  weitere  Städte  getroffen 
hätte,  kam  den  meist  katholischen  Standesherren  zu  radical  vor,  weshalb  sie 
dem  Beschlüsse  der  anderen  Kammer  nicht  beitreten  konnten.  „In  Württem- 
berg hat  von  jeher  der  Grundsatz  der  geistlichen  Aufsicht  über  die 
Volksschule  bestanden."  Über  die  Universitäten  und  höheren  Lehranstalten 
früher  nicht  auch?  „Die  Wirkung  dieser  Einrichtung  ist  eine  wahrhaft  segens- 
reiche gewesen."  Ja  wohl;  '/a  der  gesammten  Schulzeit  muss  für  Religion 
verwendet  werden  und  die  Classen  sind  größtentheils  zu  Abtheilungsunterricht 
genöthigt,  trotzdem  die  Zahl  der  gleichzeitig  zu  unterrichtenden  Schüler  in 
bildungsfreundlichster  Weise  nur  auf  die  niedere  Zahl  90  festgesetzt  ist. 
„Ein  dringendes  Bedürfnis  zur  Änderung  dieser  Einrichtung  ist  nicht  zu  er- 
kennen." Es  ist  leider  bedauerlich,  dass  die  Kinder  des  Volks  auch  in  über- 
füllten Classen  noch  viel  zu  viel  lernen.  Diesem  Übelstand  muss  abgeholfen 
werden.  „Selbst  aber,  wenn  ein  solches  Bedürfnis  vorläge,  so  könnte  es  gegen- 
über der  Principienfrage  nicht  als  entscheidend  erachtet  werden."  Ist  natürlich 
das  Princip  gerettet,  dann  bleiben  auch  die  unhaltbaren  Schulzustände  be- 
stehen. „Würden  nunmehr  auch  Laien  zur  Ortsschulaufsicht  zugelassen,  so 
wäre  dies  eine  Durchbrechung  des  Principe  von  unabsehbarer  Tragweite."  Es 
ist  recht  gnädig  von  den  hohen  Standesherren,  dass  sie  Schul fachmänner, 
die  tagtäglich  im  Schulgeschäfte  thädg  sind  und  deren  eigenster  Beruf  die 
genaue  Kenntnis  der  Pädagogik  ist,  als  Laien  bezeichnen.  Es  ist  dies  eine 
vollständige  Verkennung  der  wirklichen  Sachlage.  Wir  Lehrer  betrachten 
die  Geistlichen  als  Laien  im  Schulgeschäft  und  Schulbetrieb.  Solange  dieselben 
nicht  mit  eigener  Verantwortlichkeit  wenigstens  ein  Jahr  lang  eine  Normal- 

Pidagoginm,  14.  Jahrg.    Heft  IV.  19 

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clane  von  90  Schülern  in  allen  Volksschulfächera  unterrichtet  haben,  niuss 
uns  Lehrern  das  Recht  zustehen,  sie  als  Laien  zu  betrachten.  rZwar  soll  der 
Sache  eine  nicht  unbedeutende  Einschränkung  gegeben  werden.  Oleichwol 
erhebt  sich  die  Besorgnis,  dass,  wenn  man  einmal  vom  Princip  abgewichen  ist, 
man  anf  eine  abschüssige  Bahn  geräth,  und  dan  nach  und  nach,  besonders 
bei  dem  jetzigen  bedenklichen  Zug  der  Zeit,  immer  weitere  Folgen  sich  daran 
knüpfen,  und  dan  am  Ende  sich  Verhältnisse  ergeben  würden,  welche  nichts 
weniger  als  erwünscht  wären."  Es  ist  schön,  dan  sich  die  Herren  so  klar 
und  deutlich  aussprechen.  Es  ist  ja  sicher,  dass  durch  Einführung  der  fach- 
männischen Schulaufsicht  die  Schnlverhältnine  bedeutend  gebessert  würden, 
womit  eine  Hebung  der  Volksbildung  Hand  in  Hand  gehen  müsste.  Gesteigerte 
Volksbildung  wäre  allerdings  etwas,  was  den  Herren  nicht  weniger  als  er- 
wünscht wäre.  Nacht  mun  es  sein,  schwarz,  rabenschwarz!  Man  führe  doch 
an,  was  durch  eine  allmähliche  Steigerung  der  Volksbildung  für  den  Staat, 
die  Gemeinde  nnd  die  Kirche,  wenn  dieselbe  nicht  vorgeschoben  wird  als  Deck- 
mantel zur  Befriedigung  hierarchischer  Gelüste,  Schlimmes  entstehen  könnte. 
Nun,  Geistlichkeit  und  Adel  stützen  sich  gegenseitig.  Mit  25  gegen  3  Stim- 
men wurde  der  modificirte,  bedeutend  eingeschränkte  Entwurf  der  Regierung, 
soweit  er  sich  anf  Zulassung  von  „Laien"  zu  Schulaufsichtsämtern  bezieht,  ab- 
gelehnt nnd  der  2.  Kammer  zur  nochmaligen  Berathung  übergeben.  Das  Er- 
gebnis derselben  war,  dan  jetzt  45  gegen  37  Stimmen  sich  gegen  die  Zu- 
lassung von  Lehrern  aussprachen.  Uns  Lehrern  ist  es  recht,  dan  es  so  ge- 
gangen. Was  geboten  wurde,  wäre  zu  wenig  gewesen  und  hätte  eine  durch- 
greifende Änderung,  die  ja  doch  nicht  mehr  zu  lange  auf  sich  warten  lassen 
kann,  bedeutend  verzögert.  Die  Lehrerschaft  nimmt  aber,  wie  ein  Abgeord- 
neter sehr  richtig  bemerkte,  die  Bewegung  für  die  Fachaufsicht  neu  auf,  ver- 
stärkt durch  den  moralischen  Erfolg  der  Landtagsdebatten,  und  ihre  Bestre- 
bungen sind  getragen  von  der  Sympathie  der  bürgerlichen  Kreise. 


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Literatur. 


A.  Ernst  und  J.  Tews,  Deutsches  Lesebuch   für  Mädchenschulen 

(Kit  Berücksichtigung  des  hauswirtschaftlichen  Unterrichts.)  In  drei  Bänden. 

Band  I.    Haus  und  Heimat.   (Für  das  2.  und  3.  Schuljahr.)  260  S.  90  Pf. 

Band  II.  Haus  und  Vaterland.  (Für  das  4.  u.  5.  Schuljahr.)  344  S.  1,20.  Mk. 

Band  m.  Haus  und  Welt.  (Für  das  6.,  7.  u.  8.  Schnljahr.)  563  S.  1,80.  Mk. 

Leipzig  und  Berlin  1891,  Julius  Klinkhardt. 

In  Würdigung  der  hohen  Wichtigkeit  den  Familienlebens  für  die  Bildung, 
Gesittung  und  Wolfahrt  der  ganzen  Nation,  und  geleitet  von  der  Über- 
zeugung, dass  dem  weiblichen  Geschlechte  der  mächtigste  Einflus*  auf  die 
Gestaltung  des  Familieniebens  zufällt,  haben  die  Verfasser  in  dem  vorliegenden 
Lesebuche  ein  möglichst  wirksames  Mittel  zur  Bildung  und  Erziehung  deutscher 
Mädchen  schaffen  wollen.  Dass  hierbei  auch  die  hauswirtschaftliche  Be- 
lehrung Anspruch  auf  Berücksichtigung  habe,  ist  seit  langer  Zeit  in  der 
Pädagogik  anerkannt,  in  der  Praxis  aber  leider  oft  vergessen,  daher  in  der 
Neuzeit  wieder  nachdrücklich  betont  worden.  Auch  die  Herren  Ernst  und  Tews 
erkennen  diese  Forderung  als  berechtigt  an,  wie  schon  der  Titel  ihres  Lese- 
buches zeigt,  und  machen  in  demselben  vollen  Ernst  damit,  ihr  zu  genügen. 
Hierin  liegt  zugleich  einer  der  Gründe,  weshalb  sie  für  Mädchenschulen  ein 
besonderes  Lesebuch  als  wünschenswert  betrachteten,  während  bisher  im  all- 
gemeinen beide  Geschlechter  in  den  Volksschulen  einerlei  Lesebücher  benutzt 
haben.  Außer  dem  erwähnten  Punkte  hat  aber  in  dem  neuen  Lesebuche  auch 
alles  andere,  was  dem  eigentümlichen  Wesen  des  Mädchens,  der  Lebens- 
stellung, dem  Gefühls-  und  Interessen  kreise  des  weiblichen  Geschlechtes  und 
seiner  naturgemäßen  Ausbildung  entspricht,  sorgfältige  Beachtung  gefunden. 
Nicht  als  ob  die  Herausgeber  einer  Bpröden  Absonderung  der  Mädchenbildung 
von  der  des  männlichen  Geschlechtes  Vorschub  leisten  wollten;  vielmehr  haben 
sie  die  gemeinsamen  Grundlagen  aller  wahrhaft  menschlichen  und  natio- 
nalen Erziehung  zu  voller  Geltung  gebracht,  so  dass  ein  sehr  großer  Theil  der 
hier  gebotenen  Lesestücke  auch  den  Knaben  zuträglich  sind  und  tbatsäclüicb 
geboten  zu  werden  pflegen:  nur  ist  einerseits  die  Pflege  der  Gemüthswelt, 
anderseits  die  praktische  Vorbildung  für  das  Leben  speciell  auf  Wesen  und  Beruf 
des  Weibes  gegründet.  Insofern  wollen  die  Herausgeber  allerdings  eine  Reform 
des  Mädchenunterrichtes  anbahnen  und  derselben  durch  ihr  Lesebuch  eine 
Stütze  bieten;  demgemäß  enthält  dasselbe,  durchaus  auf  sittlich-religiöser  und 
vaterländischer  Grundlage  ruhend,  „sowol  die  für  die  Jugend  beiderlei  Ge- 
schlechts bewährten  Lesestoffe  aus  den  Schätzen  der  deutschen  Literatur,  als 
auch  neue  Lesestücke,  die  das  Weib  in  seinem  häuslichen  Wirken  und  Schaffen 
als  Lehrerin  der  Kinder,  als  Pflegerin  der  Erkrankten,  als  Priesterin  des 
Hauses,  als  Genossin  des  Mannes  in  Freud  und  Leid  darstellen  und  dem  Mäd- 
chen den  Weg  zeigen,  den  es  arbeitend  und  schaffend  selbst  einst  wandeln 
soll,  um  die  hohen  Aufgaben  zu  erfüllen,  die  dem  deutschen  Weibe  im  deut- 
schen Volksleben  für  Gegenwart  und  Zukunft  gestellt  sind". 

Wolthuend  berührt  hierbei  der  Umstand,  dass  die  Herren  Ernst  und  Tews 
sich  frei  halten  von  der  stolzen  Selbstüberhebung,  mit  welcher  heute  so  viele 
Projectmacher  ihre  „Reformen"  anpreisen  und  alles  bisher  Geleistete  herab- 
setzen.  Die  Herausgeber  dieses  neuen  Lesebuches  sagen  ausdrücklich :  „Wir 

19* 


—    260  — 


halten  dag  Fundament  unserer  Volksschule  —  also  auch  der  Mädchenschule  — 
für  ein  durchaus  gesunde«:  wir  wollen  dasselbe  durchaus  nicht  erschüttern, 
sondern  im  Gegen theil  noch  befestigen;  wir  wollen  die  Allgemeinbildung 
nicht  verflachen,  sondern  vertiefen:  aber  wir  fordern  mit  derselben  Ent- 
schiedenheit, das«  die  Eigenart  der  weiblichen  Natur  und  der  Wirkungskreis 
des  Weibes  anf  allen  Stufen  volle  Würdigung  und  Berücksichtigung  finde." 
So  sprechen  Männer,  die  etwas  gelernt  haben  und  wissen,  was  sie  wollen. 
Auch  in  der  methodischen  Anordnung  der  in  ihrem  Lesebuche  aufge- 
speicherten Bildungsstoffe  folgen  sie  dem  naturgemäßen  und  längst  bewährten 
Principe,  nämlich  dem  der  concentrischen  Kreise,  welches  schon  auf  dem  Titel 
ihres  Werkes  erkennbar  ist.  Als  Mittelpunkt  alles  weiblichen  Denkens  und 
Wirkens  wird  überall  Haus  und  Familie  festgehalten,  um  den  feich  dann 
die  nächste  Umgebung  (Hof  und  Garten,  Feld,  Wiese  und  Wald,  die  Schule 
und  der  Heimatsort),  ferner  das  engere  und  weitere  Vaterland,  die  ganze  Natur, 
die  Erde,  der  Himmel,  die  weite  Welt  in  immer  wuchsenden  Kreisen  herum- 
lagern, indem  alles  von  dem  ersten,  nächsten  und  beharrlichsten  Schauplatze 
des  DaseinB  aus  betrachtet  und  wieder  auf  ihn  zurückbezogen  und  so  in  un- 
gezwungener Weise  eine  einheitliche,  aber  immer  tiefere  und  breitere  Durch- 
bildung des  Geistes  und  Herzens  erzielt  wird. 

Somit  können  wir  das  hier  vorliegende  Werk  im  Ganzen,  nach  seiner  Idee» 
seinem  Plan  und  seiner  Ausführung  nur  mit  lebhaftem  Beifalle  aufnehmen. 
Dass  sich  bei  genauerer  Kritik  und  beim  praktischen  Gebrauch  in  der  Schule 
im  Einzelnen  mancherlei  Ausstellungen  oder  wenigstens  Meinungsverschieden- 
heiten ergeben  werden,  kann  wol  bei  einem  so  umfänglichen  Unternehmen  als 
selbstverständlich  vorausgesetzt  werden.  Vielleicht  k  ann  dieses  oder  jenes 
Lesestück  durch  ein  anderes  ersetzt  oder  einfach  gestrichen  werden.  Um 
ein  Beispiel  anzuführen:  Referent  würde  die  beiden  Sonette  von  Heine  „An 
meine  Mutter"  (Band  HI,  S.  255  f.)  gern  entbehren;  sie  kommen  ihm  ziemlich 
leer  und  „gemacht"  vor,  nicht  auf  der  Höhe  ihres  Themas  stehend,  innerer 
Wärme  und  natürlichen  Schwunges  crmangelnd,  jedenfalls  nicht  zu  den  besten 
Erzeugnissen  des  Dichters  gehörend.  Indessen  —  zunächst  handelt  es  sich  um 
das  Ganze,  um  die  Hauptsache,  und  da  können  wir  nur  wünschen,  die  deutschen 
Lehrer  mögen  das  Werk  ihrer  beiden  Collegen  mit  Wolwollen  aufnehmen  und 
ihm  die  Thüren  der  Schulstuben  öffnen ;  sie  mögen  auch  selbst  durch  gerechte 
Kritik  und  gute  Rathschläge  an  der  Verbesserung  desselben,  wo  es  noch  noth- 
thut,  mitwirken.  Die  Verfasser  erklären  sich  bereit,  solche  Unterstützung  be- 
reitwillig entgegenzunehmen  und  dankbar  zu  verwerten.  Jedenfalls  haben 
sie  durch  ihre  mühevolle  Arbeit  ihren  Beruf  zur  Förderung  deutscher  Bildung 
sattsam  bewiesen;  und  die  Verlagshandlung  hat  dem  Werke  durch  schönen, 
correcten  Druck  auf  gutem  Papiere  und  durch  billigen  Preis  (3  Druckseiten 
großen  Formates  für  einen  Pfennig)  die  Verbreitung  erleichtert.         M.  M. 

l'rof.  Dr.  Karl  Stejska),  Hegeln  U.Wörterverzeichnis  für  die  deutsche 
Rechtschreibung.  Auf  Grundlage  der  vom  hohen  k.  k.  Ministerium  für 
Cultus  und  Unterricht  für  die  österreichischen  Schulen  festgestellten  Recht- 
schreibung.   Wien  1891,  Manz.    166  S.    Preis  gebunden  60  Kreuzer. 

Die  vielen  Reformversuche  und  Verordnungen  auf  dem  Gebiete  der  deutschen 
Orthographie  haben  es  endlich  dahin  gebracht,  dass  keine  deutsche  Ortho- 
graphie mehr  auf  Allgemeingiltigkeit  Anspruch  machen  kann,  und  man  es 
jedem  Schriftsteller  oder  Buchdrucker  überlassen  ihubs,  sich  zwischen  den  ver- 
schiedenen Systemen  ohne  heftige  Anstöße  durchzuwinden.  Am  Ende  wird 
man  bei  deT  nun  einmal  eingerissenen  Zerrüttung  unserer  Orthographie  dieselbe 
für  eine  Nebensache  halten  und  weitgehende  Duldung  gegen  ihre  verschiedenen 
Formen  üben  müssen.  Allein  in  der  Schule  wird  trotzdem  eine  Richtschnur 
unentbehrlich  bleiben,  weil  sonst  Lehrer  und  Schüler  rathlos  und  unange- 
nehmen Folgen  ausgesetzt  sein  würden,  da  ja  die  Orthographie  in  unserer  Zeit 
zn  einer  Regierungsangelegenheit  geworden  ist —  eine  seltsame  Erscheinung,  aber 
doch  eben  eineThatsache,  die  Beachtung  erheischt.  Und  so  sei  den  österreichischen 
Lehrern  und  Schulen  der  orthographische  Leitfaden  von  Dr.  Stejskal  als  Rath- 


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geber  und  Wegweiser  bestens  empfohlen;  kann  er  auch  nicht  beanspruchen, 
die  wissenschaftlich  allein  richtige  Schreibung  zu  lehren,  so  ist  er  doch  geeignet, 
vor  amtlichen  Verweisen  zn  sichern.  Sachkenntnis  und  Fleiß  sind  bei  Aus- 
arbeitung des  Buches  zn  voller  Geltung  gelangt:  die  Ausstattung  desselben  ist 
schön  und  bandlich,  der  Preis  sehr  billig.  M. 

Fr.  Nadler,  Rathgeber  für  Volks«chullehrer.  Dritte  Auflage.  Mit  37  in 
den  Text  gedruckten  Abbildungen.  Langensalza  1891,  Beyer  &  Söhn*. 
543  Seit.    5,40  Mk.. 

Ein  sorgfältig  ausgearbeitetes,  in  seiner  Art  recht  gutes  Buch.  Es  umfasst 
die  preußische  evangelische  Volksschule  in  allen  ihren  Verhältnissen 
und  Beziehungen  und  ist  daher  sehr  geeignet,  den  preußischeu  Volksschullehrcr 
und  Volksschulbeamten  in  seinen  Lebens-  und  Berufskreis  einzuführen,  den 
nicht-preußischen  Schulmann  Uber  die  preußische  Schulpraxis  zu  informiren 
und  zu  einem  Urtheil  Uber  dieselbe  zu  befähigen.  Der  erste  (kürzere)  Haupt- 
theil  des  Werkes  fährt  „die  wichtigsten  Einrichtungen,  Ordnungen  und 
amtlichen  Bestimmungen  für  Volksschulen"  vor,  wahrend  der  zweite  (größere) 
den  Unterricht  in  der  Volksschule  ausfuhrlich  behandelt  und  hauptsächlich 
Lehrgänge  für  die  verschiedenen  Schultächer  nebst  Probelectionen  bringt.  Stoff- 
und  Stundenpläne  für  verschieden  gegliederte,  kleinere  und  größere  Volks- 
schulen schließen  das  Werk  ab. 

Da  der  Verfasser,  preußischer  Seminarlebror  und  Übungsschulleitcr,  den 
Hauptzweck  verfolgte,  in  die  factisch  bestehenden  Verhältnisse  und  Normen 
einzuführen,  sowie  die  jetzt  herrschenden  Methoden  darzulegen,  ohne  ein 
neues  System  aufstellen  oder  die  Grundlagen  der  Pädagogik  und  Didaktik 
einer  fundamentalen  Untersuchung  unterziehen  zu  wollen,  so  gibt  sein  Buch 
im  wesentlichen  keinen  Anlass  zur  Kritik.  Was  er  wollte,  ist  ihm  gelungen; 
die  gegebenen  gesetzlichen  Weisungen  sowie  die  literarischen  Behelfe  für  die 
Volk ssc hulpraxis  hat  er  mit  Umsicht  in  seine  Darstellung  eingeflochten,  womit 
er  zugleich  die  Pflichten  und  Bechte  des  Volkssckullehrers  in  deu  verschiedenen 
Beziehungen  klargestellt  und  demselben  Mittel  zur  Fortbildung  bekannt  ge- 
macht hat.  D. 

Prof. R.  Heidrich,  Handbuch  für  den  Religionsunterricht  in  den  oberen 
Classen.  Dritter  Theil:  Glanbenslehre.  Berlin  1891,  Heine.  254  S.  5,20. Mk. 

Obwol  das  „Pädagogium1*  sich  mit  dem  Religionsunterricht  in  der  herkömm- 
lichen Form  wenig  zu  befassen  pflegt,  durfte  es  wol  einer  kurzen  Anzeige 
des  Hcidrich'schen  Werkes  Raum  zu  geben  bereit  sein,  da  dasselbe  principiell 
einer  besseren  Gestaltung  des  Religionsunterrichts  keineswegs  widerstrebt. 
Vor  allem  sei  aber  bemerkt,  dass  der  Titel  des  angezeigten  Buches  einiger 
Erläuterungen,  bez.  Zusätze  bedarf.  Es  ist  nämlich  für  den  Religionsunterricht 
in  den  oberen  Classen  höherer  Schulen,  namentlich  der  Gymnasien,  bestimmt, 
wie  denn  der  Herr  Verfasser  selbst  preußischer  Gymnasialdirector  ist;  ferner 
bat  er  den  Religionsunterricht  in  evangelischen,  speciell  lutherischen 
Schulen  im  Auge,  und  endlich  ist  es  nicht  etwa  für  die  Hand  der  Schiller, 
sondern  zum  Gebrauch  für  Lehrer  bestimmt. 

Was  nun  den  Geist  des  Werkes  anbelangt,  so  wird  er  am  besten  durch 
folgende  zwei  Grundsätze  gekennzeichnet:  1.  „Nicht  zu  der  Menschen  Füßen, 
nicht  einmal  der  Reformatoren,  sollen  Lehrer  und  Schüler  sich  setzen,  sondern 
zu  den  Füßen  dessen,  der  auch  der  Reformatoren  Meister  war."  (Vorwort.1 
2.  „Nicht  zum  ^System  der  Dogmati k'  soll  der  Schüler  der  oberen  ('lassen 
geführt  werden;  auch  hier  gilt  es,  immer  noch  mehr  Ernst  zu  macheu  mit  der 
w  sehr  beachtenswerten  Forderung  der  Erläuterung  zu  denLehrpläncn  der  höheren 
Sehnten,  dass  auch,  die  höhere  Schule  nicht  Theologie  lehre,  sondern  Religions- 
unterricht ertheile;  das  System  gehört  auf  die  Universität,  nicht  in  den  Schul- 
unterricht.1* (S.  8.)  Damit  kann  man  wol  einverstanden  und  unter  heutigen 
Verhältnissen  auch  zufrieden  sein,  besonders  wenn  diese  Grundsätze  so  ernst, 
besonnen,  vorurteilslos  und  mit  so  reichem  Wissen  durchgeführt  werden,  wie 
es  in  dem  höchst  beachtenswerten  Werke  des  Herrn  Prof.  Heidrich  geschieht. 


—    262  — 


C'.  Jacobi,  Bibel-Atlas  zum  Gebrauche  an  Lehrerseminarien,  Gym- 
nasien and  Realschulen,  sowie  für  Geistliche  and  Lehrer.  Neun; 
Karten  mit  erklärendem  Text.  Siebente,  vollständig  umgearbeitete  und 
erweiterte  Auflage  des  „Atlas  zur  biblischen  Geschichte".  Gera,  Th.  Hof- 
roann.    Preis  1,20.  Mk. 

Ein  sehr  gutes,  praktisch  eingerichtetes  und  schön  ausgeführtes,  seinem 
Zwecke  entsprechendes  Lehrmittel.  A. 

Dr.  Herrn.  Wesendonck,  Der  modern-religiöse  Wahnsinn  oder  Christi 
Lehre  —  keine  göttliche  Lehre,  Graf  Leo  Tolstois  Evangelium  — 
Narrheit.   Leipzig  1891,  Selbstverlag  des  Verfassers.  132  S.  2  Mk. 

Der  Pädagog  muss  seine  Zeit  verstehen.  Ein  wichtiges  Mittel,  sie  kennen 
zu  lernen,  ist  die  zeitgenössische  Literatur.  Darum  machen  wir  auf  das  ange- 
zeigte Buch  aufmerksam.  Wer  nur  Schriften  aus  irgend  einem  der  ver- 
schiedenen Parteilager  auf  sich  wirken  lässt  ,  wird  ein  bruchstückartiges,  ein- 
seitiges, verschrobenes  Bild  von  der  Lage  der  heutigen  Gesellschaft  und  ihren 
Geistesströmungen  erhalten.  Darum  gilt  es,  nach  allen  Richtungen  hin  Um- 
schau zu  halten  und  auch  Bücher,  wie  das  vorliegende  ernster  Prüfung  zu 
würdigen.  Der  Verfasser  hat  seiner  Zeit  im  Deutschen  Reiche  die  staatlich 
organisirten  und  controlirten  Schulen  sammt  den  gelehrten  Studien  rite  absolvirt* 
ist  dann  preußischer  Gymnasiallehrer  und  preußischer  Kreisschulinspector  ge- 
wesen, hat  also  mindestens  ebensoviel  Anspruch  darauf,  gehört  zu  werden, 
alt  viele  andere,  die  auf  dem  Büchermarkt  ihre  Stimme  erschallen  lassen. 
Freilich  wird  Wesendonck  darauf  gefasst  sein  müssen,  dass  man  ihn  todtzu- 
Bchweigen  oder  tod Zuschlagen  versucht  Aber  denen  dies  am  Herzen  liegt, 
die  mögen  an  ihre  eigene  Brust  klopfen  und  bedenken,  dass  die  hier  ange- 
schlagenen Töne,  welche  ihnen  so  grell  in  die  Ohren  dringen,  nicht  erschallen 
würdeu,  wenn  nicht  eine  so  ungeheuere  Summe  von  Lüge  und  Heuchelei  Tag 
für  Tag  gesprochen,  prakticirt  und  zu  Ehren  unserer  vielberufenen  Glaubens- 
und Gewissensfreiheit  der  Welt  aufgezwungen  wrtrde.  Wie  es  in  den  Wald 
schallt,  schallt  es  heraus.  Den  guten  Willen,  die  Wahrheit  zu  finden  und 
zu  sagen,  und  nur  sie  allein,  wird  man  Wesendonck  nicht  absprechen  können; 
wie  weit  er  sie  erreicht  hat,  das  mag  der  Leser  mit  sich  selbst  ausmachen. 
Dass  sich  Wesendonck  so  viel  mit  Tolstoi  beschäftigt,  findet  freilich  der- 
jenige für  überflüssig,  welcher,  wie  Referent,  den  Herrn  Grafen  Leo  Tolstoi 
niemals  für  einen  Propheten  oder  für  ein  gioßes  Licht  gehalten  hat.  Die  un- 
gezählten Tausende  aber,  welche  für  ihn  geschwärmt  haben,  mögen  nun  auch 
seine  neueste  Bescherung  sammt  der  ihr  auf  dem  Fuße  folgenden  Kritik  ge- 
nießen! E.  M. 

Ulbricht  und  Kämme),  Grnndzüge  der  Geschichte.  3  Theile.  Dresden, 
Höckner. 

Diese  „Grundzüge"  sind  für  den  Unterricht  auf  der  oberen  Stufe  der  Gym- 
nasien und  Realgymnasien  bestimmt,  und  das  bat  für  die  Auswahl  und  die 
Behandlung  des  Stoffes  entschieden.  Fast  möchten  wir  aber  glauben,  dass, 
was  das  erstere  betrifft,  des  Guten  etwas  zu  viel  geschehen  ist,  besonders  im 
III.  Theile,  der  Neuzeit,  wo  an  Namen  und  Zahlen  so  viel  geboten  ist,  das« 
nur  ein  vorzüglich  begabter  Jüngling  bei  großem  häuslichen  Fleiß  den  Stoff 
sich  einprägen ,  kaum  dieser  aber  auf  die  Dauer  ihn  behalten  wird.  Die  Be- 
handlung des  Stoffes  dagegen  ist  vortrefflich:  knapp  und  doch  klar,  weil  Über- 
sichtlich; pragmatisch,  also  Ursachen,  Folgen,  beeinflussende,  begleitende  Um- 
stände scharf  hervorhebend,  ohne  doch  das  biographische  Element  zurück- 
zudrängen. —  Dem  „Mittelalter"  ist,  das  dürfen  wir  nicht  übergehen  — 
eigentümlich,  dass  es  auf  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  Wert  legt  und  so 
nach  dem  Vorgange  Nitsche's  Capitel  heranzieht,  die  bislang  die  Lehrbücher 
vernachlässigten.  Gar  manches  Ereignis  erhält  dadurch  eine  ganz  andere  Be- 
leuchtung. Wenn  wir  dem  Buche  noch  einen  Wink  geben  sollen,  wie  es  für 
den  Unterricht  brauchbarer  werden  könnte,  so  ginge  er  dahin,  die  Art  des 


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Druckes,  insbesondere  der  Ziffern  und  Buchstaben  zu  ändern.    Hier  ließe  sich 
vieles  übersichtlicher  und  zweckmäßiger  gestalten.  W. 
Müller- Dändliker,  Lehrbuch  der  allgemeinen  Geschichte  für  höhere 
Volksschulen.  Seminarien  und  Mittelschulen.   Zürich  1891,  Schalt- 
hess. 3,60  Mk. 

Für  die  mittleren  der  drei  genannten  Schulen  halten  wir  dieses  Lehrbuch 
am  brauchbarsten.  Im  Gegensatze  zu  den  meisten  Lehrbüchern,  die  Kaiser  an 
Kaiser,  Krieg  an  Krieg  reihen,  fasst  es  die  geschichtliche  Entwicklung  tiefer, 
wie  dies  schon  aus  der  Gruppirung  des  Stoffes,  der  Ausscheidung  von  gewissen 
vereinzelt  stehenden  Thatsachcn  und  der  Zusammenziehung  des  sachlich  Zu- 
sammengehörigen erhellt,  dies  nun  unter  eine  höhere  Einheit  gefasst  und  nicht 
ganz  äußerlich  aneinander  gereiht  erscheint.  Ich  denke  dabei  besonders  an  die 
Kaiscrgeschichte  des  Mittelalters,  an  die  Römerzüge  u.  s.  w.  Auch  die  neueste 
Geschichte  ist  in  dieser  den  Stoff  beherrschenden  Weise  erzählt  (z.  B.  Einigung 
Italiens,  Einigung  Deutschlands,  nationale  Bestrebungen  im  Türkenreich).  Bei 
einem  Schweizer  Lehrbuch  braucht  man  das  eigentlich  nicht  zu  erwähnen, 
dass  es  der  Entwicklung  des  Bürgerstandes  und  seiner  Bedeutung  für  die 
Culturgeschichte  überall  gerecht  wird.  W. 

Edra.  Meyer,  Leitfaden  der  Geschichte  in  Tabellenform  für  preußische 
höhere  Lehranstalten.  II.Theil:  Mittelalter.  Berlin  1890,  Weidmann. 
Das  Charakteristische  dieses  Leitfadens  liegt  außer  in  der  Tabellenform  in 
manchen  eingestreuten  Bemerkungen  und  Fußnoten,  welche  Hinweise  enthalten 
auf  die  noch  andauernden  Nachwirkungen  der  mittelalterlichen  Ereig- 
nisse. Gewiss  ein  gesunder,  beherzigenswerter  Gedanke.  Gar  vieles  aus  dem 
Mittelalter  hat  Ja  nur  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet  für  die  Jugend 
Interesse.  —  Em  anderer  Zug  kennzeichnet  diesen  Leitfaden  als  ein  Buch  für 
die  oberen  Classen  der  höheren  Schulen:  Die  nach  dem  Originaltexte  mitge- 
theilten  Quellencitate  (zumeist  Charakteristiken  der  Herrscher)  und  der  Reich- 
thum  an  Detail,  besonders  was  die  deutsche  Rechtsgesehichte  betrifft  W. 

Heime,  Die  Geschichte  in  tabellarischer  Übersicht.  2.  Aufl.  Hannover 
1891,  Helwing. 

Ähnlich  wie  Edm.  Meyer  für  preußische  Gymnasien  hat  Heinze  die 
Geschichte  in  Tabellenform  für  Lehrerseminare  zusammengestellt.  Aus  den 
Verschiedenheiten  der  Lehrziele  beider  Arten  von  Schulen  ergeben  sich  auch 
die  Abweichungen  in  dem  Quantum  des  mitgetheilten  Stoffes  und  einige  andere 
Verschiedenheiten,  z.  B.  dort  Quellenstellcn  in  den  Anmerkungeu,  hier  nichts 
derartiges.  Beide  haben  aber  durch  die  Form  das  Gleiche  erreichen  wollen: 
eine  größere  Übersichtlichkeit  des  Lernstoffes,  ferner  die  Möglichkeit,  dass  der 
Schüler  selbst  den  Stoff  sprachlich  einkleide  und  so  vor  dem  leidigen  mecha- 
nischen Lernen  bewahrt  bleibe  und  ihm  außerdem  die  Repetition  erleichtert 
werde.  Was  leicht  hätte  vermieden  werden  können,  ist  der  stete  Gebrauch  des 
Präsens  statt  des  Imperfccts.  Der  Blick  des  Schülers  soll  in  die  Vergangen- 
heit gerichtet  sein,  und  das  Buch  sagt  z.  B.  1097  wird  Nicäa  erobert.  W. 
(»ötf,  Deutsche  Geschichte  in  Fragen  und  Antworten.    3.  Auflage. 

Nürnberg  1891,   Korn.   1,40  Mk. 

Wir  haben  seinerzeit  dio  zweite  Auflage  dieses  Buches  im  Pädagogium  au- 
fzeigt und  freuen  uns,  dass  der  Verfasser  dio  dort  gegebenen  Winke  zur 
Verbesserung  seines  Katechismus  in  dieser  neuen  „manchfach  verbesserten' 
Auflage  benützt  hat.  Schon  der  Druck  macht  diese  Ausgabe  viel  praktischer, 
auch  die  überall  durchgeführte  Gruppirung  der  Antworten  und  die  Auflösung 
mancher  Fragen  in  Unterfragen;  aber  auch  sachlich  ist  manches  viel  besser 
als  in  der  letzten  Auflage.  Einiges  ist  außerdem  neu  hinzugekommen  und 
auch  der  Anhang  um  eine  (auf  Grund  der  im  Lehrbuch  zerstreuten  Einzei- 
ligen zusammengestellte)  Entwicklungsfrage  vermehrt.  Solches  „Operiren" 
mit  dem  8toffe  zu  lehren  ist  nicht  das  geringste  Verdienst  des  Buches.  W. 
Dietleifl,  Die  Weltgeschichte.  3.  Aufl.  Braunschweig  1891,  Appelhans  & 

Pfenningstorff.    1,80  Mk. 


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Dieser  Leitfaden,  bestimmt  für  Schüler  und  Schülerinnen  in  Bürger-,  Mittel-, 
Präparanden-  und  höheren  Mädchenschulen,  nimmt  bei  der  Augwahl  des  Stoffes 
bereits  Rücksicht  auf  den  bekannten  kaiserlichen  Erlass  vom  1.  Mai  1889  und 
widmet  jedem  größeren  Abschnitt  der  politischen  Geschichte  immer  auch  einen 
Paragraphen  „Culturgeschichte".  Das  Lernen  wird  erleichtert  durch  eine 
jedem  Capitel  vorangestellte  Disposition  und  durch  eine  ihr  entsprechende  Zer- 
legung eines  größeren  Ganzen  in  Thcile,  die  durch  Ziffern  noch  besonders 
markirt  werden.  Größerer  und  kleinerer  Druck  scheidet  außerdem  Wichtigeres 
von  Nebensächlichem.  Die  Karten  entsprechen  dagegen  nicht  ihrem  Zweck. 
Es  sind  ihrer  acht.  Nr.  7:  Deutschland  zur  Zeit  der  Hohenstaufen,  Nr.  8: 
Karte  zur  Geschichte  Friedrichs  des  Großen!  Es  fehlen  also  Zwischenglieder. 
Was  ist  die  Folge?  Der  Kartenzeichner  setzte  auf  die  Karte  „Hohenstaufen' 
frischweg  Namen  wie  „Friedland,  H.  Waldstein,  Pilsen.  Wittenberg,  Ambras" 
u.  ä.!  W. 

Hofiiueyer  und  Hering,  Hilfsbach  für  den  Geschichtsunterricht  in 
Präparandenanstalten.  Hannover  1891,  Helwing. 

Auch  dieser  in  6.  Auflage  erscheinende  Leitfaden  ist  bereits  auf  Grund  des 
Erlasses  vom  1.  Mai  1889  umgearbeitet.  Die  Neuzeit  umfasst  jetzt  die  Seiten 
156—316  und  behandelt  die  Geschichte  bis  zur  Erwerbung  Helgolands.  Der 
Gesaromtstoff  wird  in  44  Capitel  zerlegt,  z.  B.  Cap.  14:  Chlodwig,  15:  Mohammed. 
16:  Bekehrung  der  Deutschen  zum  Christenthum,  17:  Karl  der  Große. 
18:  Heinrich  I.,  19:  Otto  I.,  20:  Heinrich  IV.  etc.  Manches  Capitel  enthält 
aber  außer  der  Geschichte  der  im  Titel  genannten  Person  oder  Thatsache 
auch  anderes;  Capitel  20  z.  B.  auch  die  Geschichte  Heinrichs  IDT.,  sachlich 
betrachtet  also  den  Höhepunkt  und  den  tiefsten  Stand  der  Kaisermacht  unter 
den  Saliern.  Ob  also  der  Titel  gut  gewühlt,  sei  dahingestellt  Wir  würden 
Heinrich  ni.  ein  eigenes  Capitel  einräumen  wie  Heinrich  IV.  Anerkennung 
verdient  im  allgemeinen  die  leichtfließende  Erzählung,  doch  zeigen  sich  auch 
hier  noch  manche  stilistische  Ungenauigkeiten  z.  B.  Karl  aß  mit  Frau  und 
Kindern  zusammen  und  führte  sie  auf  allen  seinen  Reisen  mit  sich.  Das  war 
sehr  lästig,  denn  er  hatte  keinen  festen  Wohnsitz  und  war  fast  immer  auf 
Reisen.  113).  —  Den  Anhang  dürfeu  wir  um  der  dort  mitgetheilten  Fragen 
willen  nicht  unbesprochen  lassen.  Es  sind  ihrer  siebenzig,  und  wir  können  wol 
sagen,  die  meisten  sehr  gut  gewählt.  Die  Beantwortung  setzt  voraus,  das* 
der  Schüler  sich  den  Stoff  des  Lehrbuches  nicht  mechanisch  angeeignet  habe, 
und  darauf  sollte  doch  jeder  Lehrer  als  eines  seiner  Hauptziele  hinarbeiten. 
Nur  wenn  der  Lehrer  so  fragt,  dass  der  Schüler  eine  neue  VorstellungBreihe 


J.  Bielfeld  ä  Karlsruhe,  1891.  Prix . d'abonnement :  un  an  7  francs  50. 
—  6  marcs. 

Unter  diesem  Titel  veröffentlicht  H.  Plattner,  Verfasser  von  zahlreichen 
trefflichen,  besonders  in  Deutschland  sehr  verbreiteten  französischen  Lohr- 
büchern, eine  Zeitschrift,  die  sich  die  Aufgabe  stellt,  alles,  was  für  den  Unter- 
richt im  Französischen  von  bleibendem  Werte  ist,  zu  bringen.  Für  Freunde 
uud  Kenner  des  Französischen  bestimmt,  besonders  aber  für  Lehrer  dieser 
Sprache,  wollen  die  Etudes  in  erster  Linie  das  moderne  Französisch  in  den 
Kreis  ihrer  Behandlung  ziehen,  also  nicht  eine  rein  wissenschaftliche  Publication 
sein,  ohne  jedoch  das  Lateinische,  das  Altfranzösische  und  die  anderen  romanischen 
Sprachen,  insoweit  sie  zur  Beleuchtung  und  Erklärung  des  heutigen  Sprach- 
gebrauches dienen,  unberücksichtigt  zu  lassen.  % 

Der  erste  Abschnitt,  Gramm aire,  wird  sich  bestreben,  nicht  etwa  die  Zahl 
der  Regeln,  die,  wie  bekannt,  nur  zu  oft  der  Laune  der  Grammatiker  ihre 
Entstehung  verdanken,  noch  zu  vermehren,  sondern  dieselben  wie  möglich  zu 
verringern  und  durch  Beispiele,  entnommen  vorzüglich  den  Schriftstellern  des 
19.  Jahrhunderts,  zu  stützen.  Ebenso  finden  hier  die  anderen  Zweige  des 
Sprachstudiums  Aufnahme.  —  Die  Litterature  wird  vornehmlich  Aufsätze 
bringen,  bestimmt,  die  Kenntnis  und  Erklärung  der  beliebtesten  Schnlautoren 


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zu  fördern.  —  Die  Pages  ehoisies  »ollen  den  Leser  mit  merkenswerten 
Stollen  aus  bekaimton  Bü-  hern  oder  solche,  die  es  zu  sein  verdienten,  vertraut 
machen.  —  Die  Analyse -critique  will  nur  wirklich  bedeutende  literarische 
Erscheinungen  berücksichtigen.  —  Die  Revue  deB  revues  stellt  sich  die 
Autgabe,  den  Inhalt  einiger  sprachwissenschaftlichen  Zeitschriften  in  möglichster 
Kürze  zu  resumiren,  ohne  sich  jedoch  mit  trockenem  Aufzählen  der  Namen 
deT  Autoren  zu  begnügen.  Aber  auch  die  Erscheinungen  der  letzten  zwanzig 
Jahre  sollen  einer  Rückschau  unterzogen  werden.  Auch  methodische  und 
andere  Unterrichtsfragen  werden  in  den  Etudes  besprochen.  Schließlich  öffnet 
die  Petite  correspondance  ihre  Spalten  allen  Mittheilungen,  Fragen,  Ant- 
worten seitens  der  Leser. 

Wir  rathen  allen  jenen,  die  sich  auf  eine  verhältnismäßig  billige  und  bequeme 
Weise  einen  angenehmen  und  verlasslichen  Führer  beim  Studium  des  Franzö- 
sischen verschaffen  wollen,  die  vorliegende  vielversprechende  Zeitschrift  zu 
abonniren,  und  sind  der  Überzeugung,  dass  sie  uns  für  diesen  Rath  dankbar 
sein  werden.  E.  R. 

Dr.  6.  Strien,  Eleinentarbuch  der  französischen  Sprache.    97  S. 
Halle  a.  S.  1890,  Verlag  von  Engen  Stein. 

Unstreitig  einer  der  besten  Lernbehelfe  für  die  erste  Untcrrichtsstufe.  Der 
Verfasser  findet,  dass  den  meisten  Elementarbüchern,  die  den  Forderungen 
der  neusprachlichen  Reform  Rechnung  tragen  wollen,  ein  Mangel  anhaftet: 
der  zu  schwierige  Text.  Um  denselben  zu  beseitigen,  verwendet  er  in  den 
ersten  Nummern  der  ersten  Abtheilung  seines  Werkchens  eine  Anzahl  fran- 
zösischer, schon  einem  zehnjährigen  Kinde  geläufiger  Wörter,  geht  also  von 
einem  theilweise  Bekannten  aus.  Dass  ein  solches  Verfahren  die  Reception 
und  die  Rcproduction  erleichtert,  ist  klar.  Die  Anfangslectionen  der  1.  Ab- 
theilnng,  die  der  Autor  selbst  verfasst  hatte,  um  ein  allmähliches  Fortschreiten 
vom  Leichten  zum  Schwereren  herzustellen,  sind  dem  Inhalte  nach  dem  Leben 
des  Kindes  in  Schule  und  Haus  entnommen.  Eingefügt  erscheinen  denselben 
einige  der  Altersstufe  des  Zöglings  entsprechende  Verse  und  Gedichtchen. 
Unter  B  stehen  die  auf  das  Lesestück  bezüglichen  Fragen;  0  bringt  die  Bei- 
spiele zu  den  aus  dein  Lesetexte  zu  entwickelnden  Regeln,  während  D  Auf- 
gaben zur  mündlichen  und  schriftlichen  Einübung  der  letzteren  vorführt. 

Der  2.  Abschnitt  enthält  eine  dem  vorhergehenden  entsprechende  Zahl 
deutscher  Lectionen,  deren  Inhalt  dem  der  correspondirenden  Nummern  des 
1.  Abschnitts  entspricht  und  somit  Gelegenheit  gibt,  das  franz.  Stück  in  etwas 
veränderter  Form  wiederzugeben.  Hierin  steht  wol  der  Verfasser  mit  den 
von  den  meisten  Neuerern  vertretenen  Anschauung  im  Widerspruche,  und 
auch  wir  würden  im  Interesse  des  Buches  und  dem  der  lernenden  Jugend 
wünschen,  dass  derartige  Forderungen  mit  weniger  Ungestüm  gestellt  würden. 
Eine  systematische  Zusammenstellung  des  behandelten  grammatischen  Stoffes 
durch  Beispiele  soll  die  Regeln  ersetzen. 

Das  allerliebste  Büchlein  dürfte  nach  Inhalt  und  dessen  Behandlung  der 
Aufgabe  vollends  entsprechen,  die  der  geschätzte  Reformer  Münch  dem  ersten 
Jahre  des  franz.  Unterrichts  zuweist,  denn  es  ist  ein  wesentlich  propädeutisches. 
Die  inneren  Vorzüge  werden  noch  durch  einen  schönen  und  großen  Druck,  der 
das  Werkchen  sofort  als  ein  für  die  Jugend  bestimmtes  erkennen  lässt,  erheb- 
lich vermehrt.  E.  R. 
Dr.  G.  Strien,  Lehrbuch  der  franz.  Sprache.  I.Theil.  148 S.  Halle a.S. 
1891,  Verlag  von  Eugen  Stein.   Geb.  1,40  Mk. 

Das  Pensum  der  Quarta  enthaltend,  schließt  sich  dieser  Lehrgang  au  den 
obgenannten  an.  Beide  sind  nach  denselben  Grundsätzen  bearbeitet  und 
gleich  eingerichtet.  Der  Inhalt  der  Lesestücke  ist  ein  mannigfaltiger;  auch 
die  Landeskunde  und  franz.  Geschichte  finden  Aufnahme.  Der  dritte  Abschnitt 
bietet  nur  zusammenhängende  Stücke  zum  Übersetzen  aus  dem  Deutschen. 
Dieselben  sind  theiis  Umarbeitungen  der  entsprechenden  franz.  Lesestücke, 
thcils  inhaltlich  von  denselben  verschieden,  doch  so  gewählt,  dass  nur  aus- 
nahmsweise die  Angabe  eines  neuen  Ausdrucks  nothwendig  wird.  Auch  dieser 
Arbeit  muss  man  die  vollste  Anerkennung  zollen  und  wünschen,  do*s  der 


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2.  Theü  des  Lehrbuchos,  dessen  Erscheinen  schon  in  kürzester  Zeit  in  Aussicht 
gestellt  wird,  eine  den  beiden  vorstehenden  ebenbürtige  Leistung  werde 

E.  B. 

J.  Pttnjer,  .Schulvorsteher  in  Altona,  Lehr-  und  Lernbuch  der  franz. 

Sprache.    2.  Aufl.    II.  Theil.    Hannover  1891 ,  Verlag  von  Carl  Mover. 

203  S.    1,60  Mk. 

Die  methodischen  Gesichtspunkte,  vou  denen  sich  der  Verfasser  bei  der  Be- 
arbeitung des  zweiten  Theiles  seines  Lehrbuches  leiten  ließ,  sind  gleich  den- 
jenigen des  von  uns  bereits  besprochenen  erstcu  Theiles.  Beide  bilden  ein 
zusammenhängendes  Ganze.  Princip  und  Durchfuhrung  verdienen  all  das  Lob, 
das  dem  Herrn  Autor  von  der  Fachpresse  geworden.  Die  Wortbildung,  deren 
eingehendere  Pflege  von  so  vielen  Seiten  befürwortet  wird,  zieht  sich  auch  in 
dem  vorliegenden  Lehrtexte  unter  steter  Anlehnung  an  den  Übung?  atoff  durch 
eine  Reihe  von  Leitionen  hin.  Der  Verfasser  hofft,  dass  die  Benutzung  des 
zu  etymologischen  Übungen  dienenden  Stoffes  für  die  sprachliche  Bildung  der 
Schüler  von  nicht  geringem  Werte  sein  wird  —  und  diese  Ansicht  wird  jeder 
erfahrene  Schulmann  mit  ihm  theilen.  E.  B. 

F.  H.  Sehneitler,  Lehrgang  der  franz.  Sprache  für  Kaufleute  und 
Vorschule  zur  franz.  Handelscorrespondenz.  2.  Aufl.  Dresden  1891, 
Verlag  von  Gerhard  Rühtmann.    181  S.    1  Mk.,  geb.  1,20  Mk. 

Was  nur  zu  oft  bloße  Phrase,  ist  hier  Thatsache:  Das  Werkchen  H.  Schneitiere 
entspricht  einem  tiefgefühlten  Bedürfnisse.  Mit  welchen  Schwierigkeiten  jene 
zu  kämpfen  haben,  die  französisch  nur  in  der  Absicht  lernen,  um  sich  die 
Kenntnis  der  Hundeiskorrespondenz  in  diesem  Idiom  anzueignen  und  zu  diesem 
Behufe  sich  an  der  Hand  irgend  einer  Grammatik  mit  den  Elementen  der 
Fremdsprache  vertraut  macheu ,  dann  erst  zu  einem  Handbuche  der  franz. 
(Korrespondenz  greifen,  weiß  der  Referent,  als  Lehrer  an  einer  Handelsschule, 
nur  zu  gut.  Den  offenbaren  Umweg  —  und  die^n  macht  man  fast  ausnahms- 
los, da  es  an  einem  für  diese  Zwecke  brauchbaren  Buche  bislang  fehlte  —  will 
nun  H.  Schneitier  durch  Veröffentlichung  des  vorliegenden  Lehrganges,  der  in 
erster  Linie  die  Bedürfnisse  der  Handelsschulen,  kaufmännischen  Fortbildungs- 
schulen und  ähnlicher  Anstalten  im  Auge  hat,  dem  Lernenden  ersparen. 

Aus  der  Grammatik  führt  dieser  Lehrgang  nur  die  für  die  praktische  Hand- 
habung der  Sprache  unbedingt  nothwendigen  Elemente  vor.  Der  Vocabelschatz 
und  die  Phraseologie  gehören  ausschließlich  der  kaufmännischen  Geschäfts- 
sprache an.  Der  Ubungsstoff  ist  zum  größten  Theile  der  „Correspondance 
commercialc  von  P.  Bree,  9.  Aufl.u  entlehnt.  Es  ist  somit  begreiflich,  dass  der 
Schülev  greift  er  später  zu  irgend  einem  Handbuehc  der  franz.  Correspondenz, 
etwa  zu  dem  eben  angeführten,  ein  Ganzes  vor  sich  hat,  dessen  einzelne  Theile 
ihm  bereits  bekannt  sind.  Deutsehe  Cbungsbeispicle  enthält  das  Buch  nicht; 
diese  sollen  durch  Retroversion  der  französischen  ersetzt  werden.  Ob  aber 
das  Interesse  den  Lernenden  und  auch  der  Erfolg  nicht  durch  wenigstens  theil- 
weise  Berücksichtigung  der  berechtigtesten  Forderung  der  neusprachlichen 
Reformer  erhöht  würde,  wir  meinen  die  zusammenhängende  Leetüre,  dies  geben 
wir  dem  Herrn  Verfasser  zu  bedenken.  (Ihne  den  Umfang  des  Buches  zu  ver- 
größern, könnte  eine  Anzahl  auf  den  Handel,  Industrie  u.  ft.  sich  beziehender 
Lesestücke  beigegeben,  dafür  viele  zur  Veranschaulichung  nicht  unbedingt 
nötbige  Einzelsätze  ausgeschieden  worden.  Allein,  selbst  in  der  gegenwar 
tigen  Fassung  zeugt  das  Buch  vou  dem  großen  Fleißc  und  der  ungewöhnlichen 
Sachkenntnis  des  Verfassers,  und  wir  hoffen,  dass  seine  Arbeit  in  den  Kreisen, 
für  die  sie  bestimmt  ist,  freudige  Aufnahme  Huden  wird.  E.  R. 

Memoires  du  Marquis  de  Ferrieres  sur  la  revolution  franc,aise  et 
surl'assembUeconstitnante,  herausgegeben  und  erklärt  von  Dr.  P.  Perle . 
107  S.  und  einein  Plan  von  Paris  im  Jahre  1793.   1,50  Mk. 

Memoires  et  Souvenirs  du  Comte  de  Lavallette,  herausgegeben  und 
erklärt  von  Dr.  J.  Sarrazin.  114  S.  1,50  Mk. 


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—    267  — 

Gehören  zu  der  Sanimluug  ge&ehiehtlieher  Quellcnwcrke  zur  neusprachlieheir 
Lectttre  im  höheren  Unterrichte,  die  unter  fachgenössischer  Mitwirkung  von 
Dr.  Friedrich  Perle  herausgegeben  wird  und  bei  Max  Niemeyer,  Halle  a.  S. 
'  verlegt  ist.  Diese  Sammlung,  umfassend  bis  jetzt  8  elegant  ausgestattete 
Bändchen,  will  eine  vertieftere  und  unmittelbarere  Erkenntnis  der  National- 
cntwickelung  der  Franzosen  und  Engländer  durch  die  Schullectüre  fördern. 
Diese  Quellenschriften  —  Reden,  Briefe  und  Memoiren  —  stellen  sieh  in  erster 
Linie  den  deutschen  Realgymnasien  iu  den  Dienst  und  behandeln  insgesammt 
Ereignisse  und  Zustände,  die  im  anderweitigen  Unterrichte  bereits  besprochen 
wurden.  E.  R. 

Cice>on  et  ses  amis,  6tude  sur  la  soeiäte  romaine  du  tenips  de 
Cesar,  par  Gaston  Boissier.  Ausgewählte  Abschnitte  zum  Schulgebrauch 
herausgegeben  von  l)r.  K.  Mever.  Halle  a.  S.  1891 ,  Verlag  von  Max 
Niemeyer.  151  S.  1,20  Mk. 

Ein  glücklicher  Gedanke  war  es,  einige  Abschnitte  aus  dein  obgenannten 
geschätzten  Werke  des  Akademikers  Boissier  in  usum  delphini  herauszugeben. 
Da  Boissier  in  demselben  in  äußerst  fesselnder  Weise  besonders  die  inneren 
Zustände  der  Geschiebte  Roms  schildert,  welche  dem  Primaner  eines  deutschen 
Gymnasiums  bereits  zum  Thcile  bekannt  sind,  so  wird  die  Leetüre  des  Auszuges 
zur  Vertiefung  und  Erweiterung  seiner  historischen  Kenntnisse  nicht  wenig 
beitragen.  Da  der  Herausgeber  selbst  gesteht,  dass  zum  gründlichen  Ver- 
ständnis dieser  Leetüre  namhafte  archäologische  Kenntnisse  erforderlich 
sind,  so  liegt  die  Frage  nahe,  ob  es  nicht  im  Interesse  der  Sache  wäre,  die 
diesbezüglichen,  nöthigen  Erklärungen  sei  es  in  Fußnoten  oder  im  Anhange  zu 
geben.  E.  R. 

Resume  de  l'histoire  de  la  litterature  franc,aise  par  Alfred  Anspach» 
Heidelberg  1892,  Verlag  von  Julius  Groos.   392  S.    4.50  fr. 

Der  Verfasser  war,  wie  er  in  der  Vorrede  bemerkt,  bestrebt,  besonders 
jene  Geisteswerke  hervorzuheben,  deren  Verdienst  und  Bedeutung  die  gesunde 
Kritik  und  der  gute  Geschmack  mehrerer  Generationen  unerkannt  hat.  Nicht  , 
jedermanns  Sache  ist  es,  eine  Literaturgeschichte  zu  schreiben.  Da  uns  nun 
der  Autor  versichert,  bei  der  Bearbeitung  des  vorliegenden  Handbuches  alle 
in  Sachen  der  Kritik  maßgebenden  Werke  zu  Rathe  gezogen  zu  haben,  so  sei 
es  auch  jenen  empfohlen,  die  sich  nicht  blos  mit  wolgedrechselten  ästhetischen 
Phrasen  zufriedenstellen.  Für  Candidaten  für  Französisch  an  Osten".  Bürger- 
schulen scheint  es  uus  ganz  passend  zu  sein.  E.  R. 

Bibliotheque  frangaise.  Dresden,  Verlag  von  Gerhard  Ruhtmann.  Preis 
pro  Band  geb.  60  Pf.,  Doppelband  90  Pf. 

Obgleich  in  erster  Linie  für  den  Sehulgebrauch  bestimmt,  hat  die  vorliegende 
Sammlung  von  französischen  Jugendschriften  bereits  die  stattliche  Zahl  von  52 
Bändchen,  von  denen  die  meisten  in  mehrfacher  Auflage,  auch  in  Privatkreiseu 
große  Verbreitung  gefunden.  Erklärende  Fußnoten,  ein  vollständiges  Wörter- 
verzeichnis und  die  auf  jedes  einzelne  Capitel  sich  beziehenden  Fragen  am 
Ende  des  Buches  unterstützen  die  LectÜTe  und  die  Convereation  in  erwünschter 
Weise.  Die  Auswahl  ist  eine  recht  gediegene;  die  besten  franz.  Jugendschrift- 
steller tinden  wir  darin  vertreten.  Somit  können  wir  die  Bibliotheque  fran- 
caise  den  Schülern  und  allen  jenen  getrost  empfehlen,  die  um  eine  gute  und 
angenehme  franz.  Jugendlectüre  verlegen  sind.  E.  R. 

Dr.  Johann  Ad.  Griesmann,  Director  in  Leipzig,  Der  Rechen  unter  rieht 
in  der  Volksschule.   Leipzig,  Richter.   201  S.    2,75  Mk. 

Der  Verfasser  bemerkt  im  Vorworte,  dass  durch  die  Einführung  des  decimal- 
gctheüten  Münz-,  Maß-  und  Gcwiehtsystcms  die  Bedeutuug  der  gemeinen  Brüche 
für  den  Volksunterrieht  uiehr  in  den  Hintergrund,  dagegeu  jene  der  Decimal- 
brüche  in  den  Vordergrund  gedrängt  worden  ist.  Diese  Veränderung  wurde 
aber  sofort  nur  von  einem  Theil  der  Lehrer  erfasst,  während  die  übrigen  noch 
beim  alten  Vorgange  verharrten;  somit  ist  denn  ein  gewisses  .Schwanken,  eine 


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—    268  - 


Unsicherheit  in  Bezug  auf  die  Stoffverteilung  in  den  einzelnen  Schuljahren 
eingetreten.  Der  Verfasser  widmet  sein  Buch  seinen  Collegen  an  den  Leipziger 
Volksschulen  und  hofft  damit  zunächst  an  diesen  wieder  einen  einheitlichen 
Vorgang  zu  erzielen.  Wir  meinen,  dass  der  Verfasser  die  ausgesprochene  Ab- 
sicht vollkommen  erreicht  habe,  und  dass  seine*  Arbeit  die  Grundlage  eines  ge- 
deihlichen und  einheitlichen  Unterrichtes  zu  bilden  vermöge,  außerdem  aber 
noch  höchst  beachtenswerte  Grundzüge  enthält.  Gleich  in  der  Einleitung  hat 
er  uns  wahrhaft  erfreut  durch  den  Nachweis,  dass  bei  der  Division,  „Messen" 
und  „Theilen"  zu  unterscheiden  eine  unnütze  Zeit-  und  Mühe- Verschwendung  sei, 
da  doch  die  Benennung  des  Rechnungsergebnisses  die  Folge  eines  Urtheils  ist, 
welches  vom  Rechnungsvorgange  ganz  unabhängig  gebildet  werden  muss. 
Auch  sind  wir  sehr  einverstanden  mit  der  Bemerkung,  dass  die  Volksschule 
im  Rechnen  sich  jener  Ausdrücke  und  Formen  zu  bedienen  habe,  welche  bei 
den  Mathematikern  von  Fach  gebräuchlich  sind.  —  Dagegen  können  wir  der 
Empfehlung  des  Rechenkastens  von  Tillich  im  allgemeinen  nicht  zustimmen; 
obwol  wir  dem  nicht  widersprechen  können,  dass  er  in  der  Hand  eines  ge- 
wandten Lehrers  gute  Dienste  zu  leisten  vermöge,  so  verdient  im  allgemeinen 
doch  die  Kugelrcchenmaschine  den  Vorzug. 

Für  das  erste  Schuljahr  setzt  der  Verfasser  als  Grenze  des  Lehrstoffes  den 
Zahlenraum  zwölf;  wir  halten  die  Grenze  zwanzig  tfir  richtiger  und  wichtiger 
und  wissen,  dass  an  den  Schulen  in  Österreich  mit  dieser  Abstufung  die 
besten  Erfolge  erzielt  werden.  Im  übrigen  bekennt  sich  der  Verfasser  als 
Anhänger  Grübe's  und  empfiehlt  die  Behandlung  des  genannten  Zahlenraumes 
nach  dessen  Methode,  womit  wir  durchaus  einverstanden  sind.  In  jedem  folgen- 
den Schuljahre  fordert  der  Verfasser  zunächst  die  Wiederholung  des  Voraus- 
gegangenen und  gibt  auch  genau  an,  wie  bei  dieser  Wiederholung  vorzugehen 
sei. — Dem  zweiten  Schuljahre  fällt  natürlich  die  Erlernung  des  Rechnens  im 
Zablenraume  bis  hundert  zu.  Höchst  beachtenswert  ist  die  Bemerkung  des 
Verfassers,  dass  zuerst  eine  Grundform  des  Einmaleins  wol  einzuprägen  sei, 
ehe  man  zur  Umkehrung  der  Factoren  schreitet.  (Die  Nichtbeachtung  dieses 
Grundsatzes  führt  zu  den  traurigsten  Misserfolgcn.) —  Ebenso  müssen  wir  zu- 
stimmen, wenn  der  Verfasser  hervorhebt,  der  Wert  des  Rechenunterrichtes 
liege  wesentlich  in  seiner  formalen  Seite,  durch  welche  die  materielle  stets 
werde  zurückgedrängt  werden.  —  Das  dritte  Schuljahr  beschäftigt  sich  mit 
dem  Rechnen  im  Zablenraume  bis  Tausend  und  der  Einführung  in  die  Bruch- 
rechnung. Dabei  bemerkt  der  Verfasser  unter  anderem,  man  habe  in  der 
Schule  zumeist  von  der  Benennung  „Kilogramm"  Gebrauch  zu  machen,  während 
die  Benennung  „Pfunde"  nur  ganz  ausnahmsweise  zu  gebrauchen  sei.  Es  hat 
sich  hierbei  in  der  That  die  Schule  ein  schweres  Versäumnis  zu  Schulden 
kommen  lassen.  Hätte  man  sich  den  Rath,  welchen  der  Verfasser  jetzt  erst 
ertheilt,  vor  20  Jahren  zur  Norm  genommen,  so  wäre  man  heute  über  das 
Wirrsal  der  verschiedenen  Maßsysteme  längst  hinaus.  —  Das  vierte  Schuljahr 
behandelt  den  Zahlenkreis  bis  zu  einer  Million  und  bis  zu  den  Tausendsteln. 
Es  kommen  mehrnamige  Zahlen  vor,  jedoch  nur  solche  mit  decimaler  Theilung. 
Mit  der  Einführung  in  die  Bruchrechnung  wird  weiter  vorgegangen.  Mit  dem 
allen  kann  man  wol  einverstanden  sein  und  auch  ganz  besonders  damit,  dass 
die  Subtraction  durch  Ergänzung  und  die  Division  ohne  Aufschreiben  der  Theil- 
produetc  gelehrt  wird;  dagegen  sind  wir  nicht  einverstanden  mit  der  Ein- 
führung des  Wortes  „Vollzanl",  welches  der  Verfasser  bald  für  Minuend,  bald 
für  Dividend  gesetzt  haben  will.  An  sich  ist  das  Wort  nichtssagend  und  daher 
als  Kunstwort  nicht  zu  empfehlen,  aber  durchaus  verfehlt  ist  es,  einem  Kunst- 
worte eine  zweifache  Bedeutung  zuzulegen.  —  Das  fünfte  Schuljahr  ist  der 
Erlernung  des  Rechnens  mit  gemeinen  und  Decimalbrüchen  gewidmet:  daran 
reiht  sich  die  Schlussrechnung,  von  welcher  der  Verfasser  nicht  verkennt,  dass 
ihr  etwas  Gekünsteltes  anhaftet,  da  die  Aufgaben,  welche  durch  dieselbe 
zweckmäßig  zu  lösen  sind,  dafür  künstlich  vorbereitet  sein  müssen.  Für  den 
thatsächlichen  Gebrauch  empfiehlt  er  den  Schluss  auf  die  Einheit,  wie  wir  das 
auch  schon  bei  anderen  gelesen  haben.  Am  Schlüsse  dieser  Abtheilung  finden  wir 
noch  die  Bemerkung:  Der  Bruch  i*t  ein  angezeigter  Quotient.    Der  Verfasser 


269  — 


unterläßt  06  auch  nicht  nachzuweisen,  wie  außerordentlich  fruchtbar  diese 
Erklärung  fflr  die  ganze  Durchführung  der  Bruchrechnung  und  für  die  Her- 
stellung des  Zusammenhanges  zwischen  gemeinen  und  Decimalbrttchen  zu  ver- 
werten ist. 

Im  sechsten  Schuljahre  beginnen  die  bürgerlichen  Rechnungsarten.  Im 
siebenten  tritt  noch  die  abgekürzte  Multiplication  und  Divisiou  auf,  und 
die  bürgerlichen  Rechnungsarten  werden  fortgesetzt.  Dabei  empfiehlt  der 
Verfasser  den  Bruchsatz  als  die  zweckmäßigste  Form.  Im  achten  Schuljahre 
sollen  die  Schüler  noch  einiges  erfahren  über  das  Rechnen  mit  Buchstaben  und 
die  Auflösungen  von  Bestimmungsgleichungen,  sodann  über  Wechsel,  Bürscn- 
effecten  und  Zinseszinstabellen,  endlich  über  Quadrat-  und  Kubikwurzeln. 

Wir  wurden  beim  Stadium  des  vorliegenden  Buches  unwillkürlich  vermöge 
des  Gegensatzes  an  das  Buch  des  Dr.  Hartmann,  welches  Gegenstand  und 
Titel  mit  dem  vorstehenden  gemein  hat,  erinnert.  Beide  sind  in  gleicher 
Heimat,  nämlich  in  Sachsen  entstanden;  das  ältere  Werk  führt  uns  einen  sehr 
ausgedehnten  gelehrten  Apparat  vor;  es  betritt  sozusagen  den  Schauplatz 
mit  großem  Pompe.  Die  Geschichte  der  Methodik,  die  Pädagogik  Herbarts 
und  Zillers  werden  als  Schaustücke  herangezogen.  Viel  einfacher  tritt  uns 
der  Verfasser  des  vorliegenden  entgegen;  seine  Bemerkungen  sind  Wahrheiten, 
welche  er  ohne  Zweifel  durch  schulmännische  Erfahrung  gewonnen  hat,  die  er 
aber  angemessen  zu  begründen  nicht  versäumt.  Was  den  Effect  betrifft,  so 
müssen  wir  gestehen,  bei  Dr.  Hartmann  keinen  gefunden  zu  haben,  zum 
mindesten  nicht  einen  solchen,  welchen  man  als  Fortschritt  zu  bezeichnen  ver- 
möchte; dagegen  ist  das  vorliegende  Buch  wol  dazu  angethan,  zwiespältige 
Meinungen  und  verschiedenes  Vorgehen  in  einheitliche  Bannen  zu  lenken  und 
auf  erfolgreichem  Wege  zn  gedeihlichem  Ziele  zu  führen.  H.  E. 

Ferdinand  Roese,  Oberlehrer  in  Wismar.  Elementargeometrie.  Wismar, 
Heinstorff.  98  S.   89  Figuren  im  Text  1,50  Mk. 

Derselbe,  Vorschule  der  Geometrie.   Ebenda.    16  S.  0,50  Mk. 

Der  Verfasser  nennt  sich  einen  Schüler  von  Karl  Snell,  findet  aber,  das» 
desscu  Lehrbuch  sich  für  die  Hand  des  Schülers  nicht  eigne,  und  bat  deshalb 
selbst  nach  der  Methode  von  Thibaut-Snell,  deren  Vorzüge  er  als  bekannt 
voraussetzt,  das  vorstehende  Lehrbuch  der  Planimetrie  abgefasst.  Wir  müssen 
gestehen  nicht  zu  wissen,  was  unter  der  genannten  Methode  zu  verstehen  ist; 
wir  vermuthen  aber,  es  sei  damit  der  Vorgang  gemeint,  dass  sich  an  die 
Voraussetzung  unmittelbar  die  Entwicklung  anschließt,  aus  welcher  souach 
zum  Schiusse  der  Lehrsatz  herauswächst ;  während  man  sonst  die  Behauptung  dem 
Beweise  voranstellt.  Von  dieser  Eigentümlichkeit  ist  schon  in  der  Methodik 
von  Reidt  die  Rede,  und  sie  wird  nicht  als  eine  unbedingt  musterhafte  hin- 
gestellt, weil  es  im  Gegentheile  wünschenswert  erscheint,  dass  dem  Schüler 
das  Ziel  bekannt  sei,  auf  welches  die  Eutwickelung  lossteuert.  Reidt  bemerkt 
weiter,  dass  das  Setzen  der  Behauptung  vor  oder  nach  dem  Beweise  nichts  zu 
schaffen  hat  mit  der  Bezeichnung  der  Methode  als  analytisch  oder  synthetisch, 
während  ja  ohnebin  docirend  oder  heuristisch  nicht  das  Lehrbuch,  sondern  nur 
der  Lehrer  verfahren  kann.  Im  übrigen  beschränkt  sich  das  Vorliegende  auf 
die  Lehren  des  Euklid;  von  neueren  Sätzen  ist  nichts  aufgenommen,  daher  wir 
wol  sagen  dürfen,  es  genüge  dieser  Leitfaden  den  Anforderungen  eines  Gym- 
nasiums, aber  nicht  denen  einer  Realschule. 

Des  Verfassers  Vorschule  legt  dem  Einführungsunterrichte  das  Zeichnen  zu 
Grunde.  Der  Text  enthält  Erklärungen  über  verschiedene  Figuren  und  An- 
weisung sie  zu  entwerfen.  Es  hat  gewiss  auch  seine  Vortheile,  den  Zeichen- 
unterricht zur  Propädeutik  der  Geometrie  zu  verwerten,  obwol  man  ohne 
Zweifel  rascher  zum  Ziele  gelangt,  wenn  man  die  Schüler  an  Modellen  zu 
sehen  anleitet.  H.  E. 

Friedrich  Junge,  Hauptlehrer  in  Kiel,  Naturgeschichte.  II.  Die  Cul- 
turwesen  der  deutschen  Heimat  nebst  ihren  Freunden  und  Feinden, 
eine  Lebensgemeinschaft  um   den   Menschen.     I.  Die  Pflanzenwelt. 


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—    270  — 


Kiel  und  Leipzig  1891,  Lipsius  &  Tischer.  XVI  u.  371  S.  Geh.  3Mk  . 
gut  geb.  3,80  Mk. 

Der  Verfasser  dieses  Werkes  machte  vor  einigen  Jahreo  ein  nicht  unberech- 
tigtes Aufsehen  durch  sein  Buch  „Der  Dorfteich  als  Lebensgemeinschaft. "  Er 
beabsichtigte  mit  demselben  dem  natarhistorischen  Unterrichte  in  den  unteren 
('lassen  eine  andere  Richtung  zu  geben,  denselben  aus  dem  schablonenhaften 
Wege  ku  einer  wirklich  praktischen  Bedeutung  zu  bringen.  Weniger  war 
ihm  um  das  Einzelwesen  hierbei  zu  thun,  als  um  das  Zusammenleben  und  die 
Wechselbeziehungen  der  Lebewesen,  um  das  Einheitliche  der  organischen  und 
t heilweise  selbst  der  unorganischen  Natur  in  einem  abgegrenzten  Ganzen.  Ähnliche 
Tendenz  verfolgt  auch  das  neuere,  eben  vorliegende  Werk.  Wie  wir  beim 
„Dorfteiche"  dieser  neuen  Richtung  alle  Anerkennung  zollten  und  nur  Bedenken 
äußerten,  ob  wol  überall  (auch  in  der  Stadt)  diese  Methode  praktisch  durchzu- 
führen sei,  so  müssen  wir  bei  dem  vorliegenden  Werke  unumwunden  das 
vollste  Lob  des  Dargebotenen  aussprechen.  —  Das  ganze  Buch  gründet  sich 
auf  selbsteigene  Beobachtung  —  sonst  könnte  es  nicht  mit  solcher  Wärme 
geschrieben  sein  —  und  leitet  den  Lehrer  an,  zu  seiner  eigenen  Belehrung 
oicht  nur  die  Natur  zu  beobachten,  sondern  auch  durch  Vorsuche  der  ver- 
schiedensten Art  in  die  Geheimnisse  des  Lebens  der  Pflanzen  einzudringen 
und  dieselben  den  Kindern  Uberzeugend  zu  erklären.  Das  Buch  ist  geradezu 
ein  Vade  mecum  für  den  gewissenhaften  Lehrer,  welches  ihm  nicht  Mos  in 
dem  Besprochenen  als  Führer  dienen  soll  und  kann  (es  ist  zumeist  für  holstei- 
nische, resp.  norddeutsche  Verhältnisse  geschrieben),  sondern  ihn  auch  anleitet, 
unter  allen  Verhältnissen  und  Himmelsstrichen  den  richtigen  Weg  zu  finden, 
wenn  er  mit  denkendem  Geiste  dasselbe  durchs  tudirt.  Die  Pflanzen  sind  in 
einer  gewissen  systematischen  Ordnung  besprochen,  „weil  es  unmöglich  ist,  für 
alle  deutschredenden  Schüler  eine  nach  Lebensgemeinschaften  geordnete  Natur- 
geschichte zu  schreiben";  dabei  ist  aber  das  Princip  der  Znsammengehörigkeit 
gewisser  Lebewesen  und  deren  Wechselbeziehung  darin  festgehalten,  dass  auf 
die  Schädlinge  entsprechende  Rücksicht  genommen  ist  und  auch  hie  und  da 
auf  jene  Thiere,  welche  fördernd  einwirken  können.  Auch  sind  in  einigen 
Rückblicken,  wie  „Wald",  „Moose",  „Pilze",  wirkliche  Lebensgemeinschaften 
geschildert,  und  möchten  wir  diesbezüglich  besonders  auf  den  Anhang  zum 
Walde,  „die  Knicke  in  Schleswig-Holstein"  aufmerksam  machen.  Dem  Ent- 
stehen und  Vergehen  der  Pflanzen  ist  allerorten  ein  bedeutendes  Augenmerk 
gewidmet  und  hier  selbst  in  tiefergehender  wissenschaftlicher,  chemischer  und 
physikalischer  Methode  der  Weg  angegeben,  wie  der  Lehrer  in  analogen  Fällen 
torschen  soll.  Die  Beschreibungen  sind  überall  höchst  gewissenhaft  durch- 
geführt und  auch,  trotz  der  leider  mangelnden  Abbildungen  (wir  sind  heutzutage 
so  sehr  daran  gewöhnt)  in  anschaulichster  Weise  gegeben.  Der  Verfasser  ist 
so  gewissenhaft,  an  vielen  Orten  anzugeben,  aus  welchen  Werken  er,  neben 
seinen  eigenen  Anschauungen,  geschöpft  hat.  —  In  besonders  gelungener 
Übersichtlichkeit  gibt  er  am  Schlüsse  in  einem  „Rückblicke  auf  das  Pflanzen- 
leben" eine  physiologische  Darstellung  desselben,  führt  die  fördernden  und 
hindernden  Erscheinungen  an,  so  dass  er  damit  eine  wahre  Rekapitulation 
und  Zusammenfassung  des  früher  im  Einzelnen  Gesagten  bildet.  In  einer 
„Zeittafel  für  Beobachtungen  und  Versuche"  leitet  er  eudlich  den  Lehrer  an, 
wie  er  es  einzurichten  habe,  an  der  Hand  deB  Buches  sieb  für  seine  Bedürf- 
nisse die  nöthigen  Daten  zu  sammeln.  —  Auch  bei  diesem  Werke  Junge's 
müssen  wir  den  Ausspruch  thun,  dass  es  für  die  Hand  des  Lehrers  der  richtige 
Führer  ist,  um  den  naturkundlichen  Unterricht  zu  einem  wirklich  ersprießlichen 
Resultate  zu  führen,  und  dass  nicht  etwa  nur  Volksschullehrer,  sondern  auch 
solche  höherer  Schulen  aus  demselben  sehr  viel  lernen  können  und,  wie  wir 
wünschen,  lernen  werden.  C.  R.  R. 

Johannes  Wesselhöft,  Der  Garten  des  Bürgers  und  Landmannes, 
insonderheit  des  Geistlichen  und  Lehrers  auf  dem  Lande.  Praktische  An- 
leitung, wie  man  sich  seine  nächste  Umgebung  durch  Gemüse-,  Obst-  und 


L 


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Blumenzucht  angenehm  machen  und  den  größtmöglichen  Nutzen  daraus  er- 
zielen kann.  3.  Auflage,  mit  140  Abbildungen.  Langensalza  1891, 
Beyer  &  Söhne.    396  S.    4  Mk. 

Referent,  welcher  selbst  «eit  lange u  Jahren  sich  viel  mit  Gartenbau  beschäf- 
tigt hat  und  mit  der  einschlägigen  Literatur  wol  vertraut  ist,  kann  das  Buch 
des  Herrn  Wesselhöft  bestens  empfehlen.  Dasselbe  behandelt  alle  Thcile  de« 
Garteubaues  —  die  allgemeinen  Bedingungen  desselben,  den  Gemüse-  und 
Obstbau,  die  Blumenzucht  und  sonstige  Ziergärtnerei  —  mit  fachmännischer 
Sachkenntnis,  sowie  mit  hinreichender  Ausführlichkeit  und  Anschaulichkeit:  es 
wird  sich  daher  allen  Gartenfreunden,  besondere  aber  Lehrern  und  Geistlichen 
auf  dem  Lande,  als  nützlicher  Führer  und  Ratgeber  erweisen.  E. 


Neu  erschienene  Bücher. 

E manuel  Bayr,  Steile  Lateinschrift.  Mit  zahlreichen  Illustrationen.   2.  Aufl. 

Wien,  Pichler.   175  Seiten  Text.  2,40  M. 
Hugo  Weber,  Die  Pflege  nationaler  Bildung  durch  den  Unterricht  in  der 

Muttersprache.  Gekrönte  Preisschrift.    2.  Aufl.  Leipzig,  Jul.  Klinkhardt. 

249  S.  3  M. 

F.  Harbort,  Sozialdemokratie  und  Volksschule.  Hannover,  Karl  Meyer.  58  S. 
80  Pf. 

Otto  Znck,  Bibellesen,  im  Anschluss  an  biblische  Geschichten  und  Katechismus. 
I.  Theil,  das  Alte  Testament.  157  S.  II.  Theil,  das  Neue  Testament.  164  S. 
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Dito  Zack,  Die  Evangelien  des  christlichen  Kirchenjahres.  Eine  Hand- 
reichung zur  Gewinnung  ethisch-religiöser  Gedanken  aus  den  Evangelien. 
Erster  Theil:  Von  Advent  bis  Ostern.   Dresden,  Kühtmann.   153  M.   2  S. 

«.  Raaek,  Epistel-Büchlein.  Die  Episteln  des  Schuljahres  zum  Gebrauch  für 
Pr&paranden,  Seminaristen  und  Lehrer.  Dresden,  Kühtmann.  156  S.  2  Mark. 

G.  Krause,  Perikopen-Erklärung.  Erster  Theil.  Erläuterung  von  66  Evan- 
gelien für  alle  Sonn-  und  Festtage  des  christlichen  Kirchenjahres  für  den 
Unterricht  der  evangel.  Jugend  und  die  häusliche  Andacht  der  evangel. 
Christen.   4.  Aufl.  Bremen,  Heinsius.  240  S.   2  M. 

Dr.  Bolle,  Deutsche  Übungsstücke  im  Anschluss  an  Wellers  Lesebuch  aus 
Herodot  Hildbnrghausen,  Kesselring.  92  S.  80  Pf. 

D.  Bernhard  Rogge,  Theodor  Körner  ein  Sänger  und  ein  Held.  Zum  hundert- 
jährigen Gedächtnis  seines  Geburtstages  dem  deutschen  Volke  geschildert. 
Wittenberg,  Herrose.  62  S.  50  Pf.  10  ExempL  4,50  M.,  25  Exp.  10  M., 
50  Exp.  17,50  M. 

M.Sitte,  Unser  Krieg  von  1870/71.  Selbstverlag,  Berlin,  Magdeburgerstr.  12. 
192  S.  2  M. 

K.  Krebs,  Beiträge  zum  Geschichtsunterricht  in  der  Volksschule  des  König- 
reichs Sachsen.    Leipzig,  Rossberg.   144  S.  2,20  M. 

F.  Gttnther,  Aus  der  Geschichte  der  Harzlande.  Viertes  Bändchen:  Aus  der 
Zeit  der  sächsischen  Kaiser.   Hannover,  Karl  Meyer.  92  S.   1  M. 


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R.  Helm,  Heimatkunde  von  Leipzig.  Ein  Führer  zu  Schülerausfltigen  in 
Leipzig  und  seiner  Umgebung  nebst  einer  systematischen  Heimatkunde. 
Mit  Abbildungen  und  Vogelschauansicht.  Leipzig,  J.  J.  Weber.  164  S.  2M. 

F.  ü.  Albert,  Liederbuch  für  Schulen.  Enthaltend  methodische  Übungen, 
Choräle  und  Lieder.  Zweites  Heft,  5.-8.  Schuljahr.  Altenburg,  Bonde. 
335  S.  80  Pf. 

Rudolf  Bautz,  Formenstudien.  Musterzeichnungen  für  Schule,  Haus  und  Ge- 
werbe. 110  Tafeln  mit  circa  500  Mustern.  Frankfurt  a.  M.,  August  Frey. 
3,50  M. 

H.  Herold,  Jugendlectüre  und  Schüler-Bibliotheken  unter  Berücksichtigung 
der  Zeitverhältnisse.  Mit  Auswahl  und  Inhaltsangabe  guter  Jugendschriften 
und  einem  Vorworte  von  Dr.  L.  Kellner.  Münster,  Schöningh.   146  S.  1  M. 

Dietrich  Thedeu,  Jugendgrüße.  Neue  Geschichten  für  die  Rinderwelt.  Mit 
vielen  Bildern.  (Prachtwerk!)  145  S.  Dresden  und  Wien,  Universum, 
Alfred  Hauschild. 

Kinder -Gartenlaube.  Farbig  illustrirte  Zeitschrift  zur  Unterhaltung  und 
Belehrung  der  Jugend  im  Alter  von  7 — 15  Jahren.  Band  XI.  Nürnberg, 
Verlag  der  Kinder-Gartenlaube.  288  S.  geb.  2,50  M. 

Neudrucke  pädagogischer  Schriften.  Herausgegeben  von  Albert  Richter» 
VIL  J.  B.  Schupp,  Vom  Schulwesen.  Mit  Einleitung  und  Anmerkungen 
von  Dr.  Paul  Stötzner.  106  S.  VIII.  J.  A.  Comenius'  Mutterschule. 
Mit  Einleitung  von  Albert  Richter.  86  S.  Verlag  von  Richard  Richter  in 
Leipzig.  Preis  jeder  Nummer  80  Pf. 

Oh.  6.  Salzitianiis  Ausgewählte  Schriften.  Mit  Salzmanns  Lebensbeschreibung; 
herausgegeben  von  Eduard  Ackermann.  II.  Band.  Langensalza,  Beyer  &  Söhne. 
294  S.  2,50  M. 

Konrad  Fischer,  Geschichte  des  deutschen  Volksschullehrerstandes.  Erste  und 
zweite  Lieferung,  ä  48  S.,  a  50  Pf.    Hannover,  Kail  Meyer  (Prior). 

Dr.  Beruh.  Heinzig,  Die  Schule  Frankreichs  in  ihrer  historischen  Entwicke- 
lung  besonders  seit  dem  deutsch-französischen  Kriege  von  1870 — 71,  nebst 
einer  Übersetzung  des  neuesten  franz.  Primärschulgesetzes.  Leipzig  u. 
Frankfurt  a.  M.,  Kesselring.   90  S. 

Dr.  C.  Kehr,  Theoretisch-praktische  Anweisung  zur  Behandlung  deutscher 
Lesestücke.  Eine  Methodik  des  deutschen  Sprachunterrichtes  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der  ungetheilten  Volksschule.  9.  Aufl.,  bearbeitet 
von  F.  Martin.  Gotha,  Thienemann.  505  S.   4,80  M. 

H.  Lüdeiiiaim,  Plan  und  Stoff  für  den  deutschen  Sprachunterricht  nebst  An- 
deutungen für  die  Behandlung  des  Stoflfes.  Bremen,  Rühle  &  Schlenker. 
284  S.   4  M. 

H.  Messien,  Materialien  für  die  schriftlichen  Arbeiten  in  der  Fortbildungs- 
schule. Auf  Grund  des  Lehrplans  für  die  Fortbildungsschulen  des  König- 
reichs Sachsen.   Meißen,  Schlimpert.   63  S.   50  Pf. 

Johannes  Meyer,  Archiv  für  die  Praxis  des  Volksschullehrers.  Erster  Band. 
Muster-Lehrproben  aus  allen  Unterrichtegebieten  der  deutschen  Volksschule. 
Hannover,  Karl  Meyer.   315  S.   3  M. 


V«r»ntwortl.  Red&cteor  Dr.  Friedrich  Ditte«.    Buchdruckern  Jnlins  Kliikhardt,  Leipzig. 


3um  27.  3rttttt.tr. 


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ttobl  am  beften  ber  Umftanb,  bog  in  ber  üerbältniSmäfüg  furjen  3«it  oon  brei 
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tage  ift  oollfränbig  neu  bearbeitet  unb  bist  nuf  bie  ©cgentoart  fortgeführt. 
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17 


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Brockhaus' 

Konversations -Lexikon. 


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Jede  Buchhandlung  und  Postaintalt  nimmt 
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Allpeine  Deutsche  Lehrerzeitoig. 

Herausgegeben  vun  Moritz  KleiniTt. 

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Musik 


1 1«»».  n.  in- -In.  t  n.  4hdc  Onvtrtar««, 
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alische  Universal-Bibliothek. 
_[  Jede  Mr.  *OPf.  !«■  midirtt 
HB  Y»n;l.8tl(h  i.  Dr«rk,  «Urko  Pipicr.  —  Pikant  ans- 
trf"i.iit.  tt  Album*  »  I.M,  rc\ldtrt       Rirmtnn,  J*d*s 
►»luMc  —  fcpbnndm'  X««ik  »lUr  HHmm,  —  RiBorMiea. 

▼•»•lehn,  «r.  u.  fr.  »on  Felix  Siegel.  Lftlozio.  l.iflrrlnutr.  t. 


□ogle 


Vom  hohen  k.  k.  Ministerium  für  Cultus  und  Unterricht  mit 
Eriass  vom  9.  September  1883,  Zahl  12192,  approbiert, 
beziehungsweise  empfohlen. 


5 


Elementar-Zeichenschule 

in  2  Abtheilungen 

nebst 

erläuterndem  Texte  und  einer  Farbenlehre 

(&  Vuiiuoe) 
nnd 

122  Farben  tafeln  zur  Farbenlehre 

nebst  Lehranweisung 
(».  Aufläse) 

von 

JOSEF  EICHLER, 

ÜbungaechuHehror  am  Wiener  Lehrer- Pädagogium. 


Ausführliche  Proepeete  mit  Angabe  der  Preise  und  der  Bezugs 
Bedingungen  vem-ndet  auf  Vorlangen    gntia  und  franco  die 


Manz'&che  t  u.  I  Hof-Verlags-  nM  üiiiv.-BncliliaDtllMi 

(Joliue  Klinkhardt  k  Co.) 
in  Wien,  I.,  Kohlmarkt  7. 


er" 


ff  50 


Von  k.  k.  Schulbehörden,  Lehrer -Vereinen 
und  Conferenzen,  sowie  von  allen  pädagogischen  Zeitschriften 


ausnahm: 


auf 


a  s 


tigst 


beurthe 


Verlag  oon  Julius  MliuföavDt  in  üeipjig. 


3k  3Pffegc  nationaler  25if&ung 

burrfj  ben 

Untcvrirfjt  in  »er  flWutferforadje. 

Sugletd) 

f inr  Parftrtfavg  tifr  törunMäfer  Kitt  itx  t«rülftiiii§  birfra  llnifrridjtö. 

-v>on  ^ttga  lUfbcr. 

üti  den  er|fn  greife  der  3>ifjicratfg|li{iniifl  in  Jßfrfin  gesrönie  Slrifi, 
Stoeite,  umgearbeitete  flitflaiie. 

$rei$  brofdnert  SR.  3. --. 

I>ie  erjte  «uffoae  biefer  preügeftönten  Schrift  fanb  in  ber  beutfrben  fiebrerroelt 
allgemeinen  Slnflang.  Siacbbem  nun  neuerbingi  im  Sr^iebungSloefen  bem  Unterließt 
in  ber  beutfdjen  Sprache  mebr  «ufmerffamfeit  als  bisher  gewibmet  wirb  unb  bie 
Slacbfragen  nad>  bem  Buche,  roelrheg  fett  nieten  Rubren  oergriffen  mar,  fid)  jtetig  mebren, 
öabe  i<b  midj  0ur  Verausgabe  einer  neuen  Auflage  cntfdblofien. 

$)urct)  (Srlafi  ber  ft.  Württemberg.  ftultugininifteriol-'?Ibtetlung  :c.  Pom  24.  Septem» 
bev  1891  3.4^0(1  ift  boä  Buch  jämtltd)en  3tettorolcn  ber  (tttiinitaitcti,  Mtealgnimtaficn  unb 
ihValanftalten  fotoie  ben  ^oritfheriimtftn  ber  Latein    uub  >Healfd)itlcn  unb  iünitlicben 


Hierzu  eine  Beilage  von  Wilh.  Rudolph  in  Glessen. 


lymzf 


V'/     r  A 


Paedagogium. 


Monatsschrift 


l'llr 


Erziehung  und  Unterricht. 


Herausgegeben 


unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 


von 


Dr.  Friodricli  I>itte*. 


UV.  Jahrgang. 
5.  Heft,  Februar  1892. 


y 

l.eipzijs:. 

Verlag  von  Julius  Klink  bar  fit. 


Inhalt  des  5.  Heftes. 


Die  kirchliche  und  die  philosophische  Sittenlehre.   Von  Director  A.  Goerth- 

Instcrburg   273 

Johann   Jakob   Wehrli,   der  erste   thurgauische    Seminar-Director.  Von 

Dr.  H.  Morf-Winterthur  (Schluss)   294 

Fremdes  und  Heimisches  im  Unterrichte.  Von  A.  Schäffer-Berlin  ....  310 
Pädagogische  Rundschau.    Zeitstimmen.  —  Entwicklung  des  Lehreretanries. 

—  Aus  Hessen-Nassau.  —  B.  Vom  deutschen  OstBcestrand   315 

Aus  der  Fachpresse  ....    322 

Literatur   327 


Abonnements  Preis  pro  Quartal  M.  2.25. 

* 

Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten  nehmen  Bestellungen  an. 

^  in  n  i 


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Die  kirchliche  und  die  philosophische  Sittenlehre. 

Von  Director  A.  Goerth-Insterburg. 

Die  rechte  Erziehung  bedarf  klarer  Erkenntnisse.  Wer  zur 
Sittlichkeit  erziehen  will,  muss  genau  wissen,  was  ihm  als  sittlich  und 
hochsittlich  oder  umgekehrt  als  unsittlich  und  verwerflich  oder  frevel- 
liaft  gilt,  und  welches  Thun  und  Denken  als  sittlich  gleichgültig  be- 
trachtet werden  darf.  Es  soll  darum  hier  ganz  objectiv  dargestellt 
werden,  welche  Ansichten  als  Hauptrichtungen  des  menschlichen 
Strebens  nach  Sittlichkeit  gegenwärtig  in  der  Welt  existiren,  und  in 
welcher  Weise  dieselben  vom  Mittelalter  ab  während  der  kirchlichen 
Reformation  und  in  der  Neuzeit  durch  bahnbrechende  Geister  ver- 
ändert worden  sind.  Es  sollen  jüngere*)  Lehrer  und  Erzieher  dadurch 
zum  Studium  dieser  ernsten  Fragen  und  zum  selbstständigen  Denken 
angeregt  werden. 

Während  des  Mittelalters  stand  das  gesammte  sittliche  Verhalten 
und  Streben  der  Menschen  im  Dienste  der  Religion.  Die  große 
allgemeine  Frage  der  Gläubigen  betraf  das  Heil  der  Seele  nach 
dem  Tode  und  demgemäß  den  Erwerb  des  Gnadenschatzes  für 
das  Jenseits.  Demgemäß  dachte  man  bei  seinem  Thun  und  Lassen 
stets  daran,  wie  dasselbe  vor  Gott  oder  der  Kirche  und  den  „Dienern 
Gottes",  den  Priestern,  gefalle,  und  welchen  Lohn  oder  welche  Strafe 
man  dafür  namentlich  nach  dem  Tode  zu  erwarten  habe.  Man  fürchtete 
eine  Nemesis  wol  schon  für  das  Leben  auf  der  Erde;  aber  diese 
Furcht  trat  jener  viel  größeren  und  nachhaltigem  gegenüber  leicht 
in  deu  Hintergrund.  Je  mehr  der  Sünder  seinen  Leidenschaften 
fröhnte,  je  mehr  er  in  leichtsinnigem  und  frechem  Spotte  sich  über 
jene  Seelenangst  hinwegsetzen  wollte,  desto  mächtiger  und  verzehren- 
der wurde  er  davon  ergriffen,  wenn  Krankheit  oder  Unglücksfälle  ihn 
an  seine  menschliche  Schwäche  und  Ohnmacht  gemahnten,  oder  wenn 
die  letzte  Stunde  nahte  und  seine  Seele  neben  den  Todesqualen  noch 


")  Kann  älteren  auch  nicht  schaden.    D.  K. 

Pädagogium.  U.  Jahrg.  Heft  V. 


20 


durch  Gedanken  an  die  Ewigkeit,  an  das  göttliche  Strafgericht  und 
die  ewige  Verdammnis  gemartert  wurde.  Der  gute,  milde,  liebevolle, 
redliche  Mensch,  der  seine  Pflichten  gegen  Gott  und  seine  Mitmenschen 
treulich  zu  erfüllen  strebte,  seine  Leidenschaften  beherrschte  und  der 
Kirche  und  ihren  Dienern  stets  gehorsam  und  unterthan  war,  brauchte 
zwar  vor  dem  Tode  und  dem  göttlichen  Strafgericht  nicht  zu  erbeben; 
aber  selbst  bei  ihm  erwies  sich  die  große  Zeitidee  so  mächtig,  dass 
er  unablässig  bemüht  war,  „seine  Seligkeit  unter  Furcht  und  Zittern 
zu  schaffen",  sich  stets  als  „unnützen  Knecht"  fühlte,  weil  er  „nur 
gethan,  was  er  zu  thun  schuldig  gewesen",  und  selbst  bei  seinen  un- 
eigennützigen, edeln  Thaten  stets  an  den  „Lohn  im  Jenseits"  oder 
mindestens  an  die  beifällige  Liebe  und  das  Wolwollen  seines  durch 
diese  Thaten  erfreuten  Gottes  dachte.  Bei  solch  einer  Gesinnung 
dachte  niemand  daran,  Lohn  oder  Strafe  für  sein  Thun  nur 
von  dem  Richterspruch  seines  Gewissens  abhängig  zu 
machen,  bei  jeder  That  lediglich  vor  sich  selber  zu  bestehen. 
Für  jeden  Christen  des  Mittelalters  galt  als  letztes  Gericht  das  ent- 
scheidende Urtheil  Gottes  und  Christi  im  Jenseits,  und  auf  Erden  das 
Gericht  der  Kirche  und  der  Geistlichen.  Die  Kirche  mit  dem  Papst 
an  der  Spitze  besaß  in  ihren  Augen  die  volle  Macht  „zu  lösen  und 
zu  binden",  die  Sünden  zu  vergeben  oder  durch  Weigerung  die  Sünder 
der  ewigen  Verdammnis  zu  übergeben.  Niemand  war  frei,  niemand 
wagte  es,  selbstgerecht  zu  leben  und  zu  handeln,  sein  sittliches  Thuu 
nnd  Lassen  von  seinen  religiösen  Pflichten  zu  trennen.  Alles  Denken 
und  Handeln  stand  im  Dienste  Gottes  und  der  Kirche. 

Diese  große  Idee  ist  nach  der  heiligen  Schrift  von  Christo  selber 
gelehrt  und  verbreitet  worden.  „Trachtet  am  ersten  nach  dem  Reiche 
Gottes  und  nach  seiner  Gerechtigkeit,  so  wird  euch  solches  alles  zu- 
fallen",  lehrt  der  Herr.  „Sammelt  euch  Schätze  im  Himmel,  die 
weder  Motten  noch  Rost  fressen  und  die  Diebe  nicht  nachgraben  und 
stehlen. *  „Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser  Welt,  wer  mir  nachfolgen 
will,  der  verkaufe,  was  er  hat,  und  gebe  es  den  Armen.  Dann  gleicht 
er  dem  Manne,  der  den  verborgnen  Schatz  im  Acker  durch  den  Er- 
lös von  seiner  Habe  erstand."  Wenn  Christus  die  Armen  belehrt,  ver- 
heißt er  ihnen  wie  den  Trostbedürftigen,  wie  allen,  die  „mühselig  und 
beladen  sind",  die  Belohnung  und  Versöhnung  im  Jenseits.  „Sie  wer- 
den getragen  von  den  Engeln  in  Abrahams  Schoß,  sie  werden  dort 
getröstet.  Die  Reichen  dagegen,  welche  hier  auf  Erden  herrlich  und 
in  Freuden  gelebt  haben  und  sich  um  die  Armen  und  Unglücklichen 
vor  ihrer  Thür  nicht  bekümmert  haben,  kommen  an  den  Ort  der 


—    275  — 


t^ual  und  werden  gepeinigt."  Die  Leidtragenden,  die  geistlich  Armen, 
die,  welche  hungern  und  dürsten  nach  der  Gerechtigkeit,  sollen  selig 
werden.  „Seid  friedfertig,  seid  barmherzig,  liebet  eure  Feinde,  nehmt 
auf  euch  mein  Joch  und  lernt  von  mir;  alles  wird  euch  im  Himmel 
wol  belohnet  werden."  „Seid  demüthig,  bereut  eure  Sünden.  Gott  ist 
die  Liebe.  Ich  werde  durch  mein  Blut  euch  bei  ihm  vertreten  und 
euch  von  seinem  Zorn  erlösen."  Der  Sünder  kann  bei  wahrer  Reue 
noch  in  seiner  Todesstunde  erlöst  werden.  „Wahrlich,  ich  sage  dir", 
wird  als  Trost  dem  reuigen  Schacher  am  Kreuz  zugerufen,  „heute  noch 
wirst  du  mit  mir  im  Paradiese  sein." 

Es  liegt  in  den  einzelnen  Gedanken  und  kleineren  Ideen,  aus 
denen  sich  jene  gewaltige  Idee  zusammensetzt,  ein  großer  Theil  der 
weltbezwingenden  Macht  des  Christenthums.  Das  ganze  Leben  wird 
nach  dieser  Idee  geregelt,  die  Erde  zu  einem  Vorort  des  Himmels, 
unser  irdisches  Leben  zu  einer  Vorbereitung  auf  das  Leben  im  Jen- 
seits gemacht.  Unser  ganzes  Denken  und  Streben  in  Sittlichkeit  und 
Sitte,  in  Kunst  und  Wissenschaft,  in  der  Gesellschaft  und  im  Staate 
soll  in  der  Religion,  in  der  Frömmigkeit  aufgehen;  alles  irdische 
Glück,  alle  irdische  Lust  und  Freude  hat  ihre  Berechtigung  nur  soweit, 
als  sie  mit  dieser  gewaltigen  Idee,  der  Allbeherrscherin  des  mensch- 
lichen Daseins,  nicht  in  Widerstreit  geräth,  von  ihr  gutgeheißen  oder 
geduldet  wird.  Wer  recht  und  gut  handelt,  soll  nicht  wähnen,  damit 
im  Jenseits  bestehen  zu  können;  denn  „wir  sind  allzumal  Süuder  und 
mangeln  des  Ruhmes,  den  wir  vor  Gott  haben  sollen".  Darum  stehen 
Demuth  und  Buße  höher  als  Gerechtigkeit  und  Tugendstolz.  „Es 
wird  im  Himmel  mehr  Freude  sein  über  einen  Sünder,  der  Buße  thut, 
als  über  neunundneunzig  Gerechte,  die  der  Buße  nicht  bedürfen."  Die 
größte  Liebe  des  Vaters  wird  bei  der  reuigen  Wiederkehr  dem  ver- 
loren geglaubten  und  nicht  dem  sittlich  unbescholtenen  gerechten 
Sohne  zutheil.  Der  demüthige|,  bußfertige  Zöllner  geht  „gerecht- 
fertigt vor  Gott"  aus  dem  Tempel,  und  nicht  der  streng  gesetzlich 
handelnde  tugendstolze  Pharisäer. 

Diese  große  weltbezwingende  Idee  ist  ausgesprochen  und  zur 
Klarheit  gebracht  worden,  als  „die  Zeit  erfüllet  war",  als  bereits  Mil- 
lionen von  Menschen  in  den  verschiedensten  Völkern  dunkel  ahnten, 
dass  die  alten  religiösen  Formen,  Anschauungen  und  Zustande  unhaltbar 
geworden;  als  die  Gemüther  der  Edelsten  und  Besten  unter  Juden 
und  Heiden  sich  in  tiefem  Sehnen  nachider  noch  verschleierten  Wahrheit 
fast  verzehrten  und  darum  geneigt  waren,  das  neue  Licht,  die  neue 
„frohe  Botschaft  des  Heils"  mit  wahrer  Inbrunst  zu  begrüßen.  Mochten 


I 


—    276  — 


viele  Lehren  des  Herrn  auch  nur  den  schärfsten  Denkern  klar  werden: 
die  Lehre,  dass  im  Himmel  ein  einiger  Gott,  der  Schöpfer,  Erhalter 
und  Regierer  der  Welt,  als  ein  liebender  Vater  aller  Menschen  walte; 
dass  dessen  Liebe  und  Erbarmen  namentlich  den  Armen,  den  Be- 
drückten und  Bekümmerten  zutheil  werde;  dass  dieselbe  Liebe  und 
Güte  sogar  die  ärgsten  Sünder  in  Gnaden  annehme,  diese  trostreiche 
und  erhebende  Lehre  wurde  in  ihrer  Einfachheit  selbst  von  dem  arm- 
seligsten Sclaven  begriffen.  ^Demgemäß  fand  die  andere  Lehre,  dass 
auf  das  elende,  gequälte,  unruhige,  sorgenvolle  Leben  auf  Erden  ein 
schönes,  schmerzfreies,  trostreiches  Leben  im  Jenseits,  im  Reiche  des 
liebenden  Vaters,  folgen  werde,  gar  leicht  das  willigste  Gehör  und 
mit  ihr  die  große  Idee,  dass  man  sich  während  des  ganzen  Lebens 
auf  Erden  auf  das  Jenseits  würdig  vorzubereiten,  mit  allen  Kräften 
für  das  Heil  der  Seele  nach  dem  Tode  zu  sorgen  und  bei  jeglichem 
Thun  und  Lassen  sich  zu  fragen  habe,  ob  es  im  Himmel  bestraft  oder 
wol  belohnet  werden  könnte. 

Diese  gewaltige  Idee  und  diese  Lehren  erfüllten  die  Gemüther  aller 
Christen  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach  Jesu  Opfertode  mit  tiefer, 
heiliger  Liebe  zu  Gott  und  zu  ihrem  Religionsstifter  und  Heilande, 
Jesu  Christo;  mit  der  echten  todesmuthigen  Begeisterung  für  ihren 
Glauben  und  mit  der  opferwilligsten  Liebe  zu  ihren  Mitmenschen  und 
zu  der  neuen  Gemeinschaft,  der  christlichen  Kirche. 

Aber  schon  im  zweiten  Jahrhunderte  nach  Christi  Tode  wurde 
das  innig  fromme,  liebevolle  und  schöne  Zusammenleben  in  der  neuen 
Gemeinde  getrübt.  Es  bildeten  sich  infolge  verschiedener  Lehr- 
meinungen arge  Spaltungen,  und  das  Sectenwesen  drohte  den  neuen 
Glauben  ganz  zu  zerstören  und  zu  durchsetzen.  Es  hatte  sich  leicht 
und  ohne  Widerspruch  die  Scheidung  in  Priester  und  Laien  vollzogen, 
in  Geistliche  mit  dem  Berufe,  die  heilige,  geliebte  Lehre  zu  studiren 
und  durch  Predigt  und  Seelsorge  zu  verbreiten,  und  in  die  Menge 
derer,  denen  diese  Studien  und  Predigten  zu  gute  kamen.  Aber  man 
bedurfte  jenen  Spaltungen  und  Secten  gegenüber  einer  Einheit  und 
darum  einer  Autorität,  die  durch  ihr  Ansehen  den  Hader  dämpfen, 
jede  abweichende  Meinung  zur  Unterwerfung  zwingen  konnte.  Dies 
Bedürfnis  schuf  das  Dogma  von  der  Priesterweihe,  erzeugte 
und  befestigte  die  Lehre,  dass  in  Glaubenssachen  nur  die  Priester 
vom  heiligen  Geist  erleuchtet  werden,  und  dass  die  Beschlüsse  der 
aus  Priestern  gebildeten  Concilien,  durch  welche  das  gesammte  Reli- 
gionswesen in  den  Hauptsachen  geregelt  und  festgestellt  wird,  als 
Ausflüsse  des  heiligen  Geistes  unantastbar  und  unfehlbar  seien.  Der 


y  Google 


—   277  — 

Nutzen  dieser  Dogmen  trat  sehr  deutlich  hervor,  als  Const  antin  im 
Anfange  des  4.  Jahrhunderts  die  christliche  Religion  zur  Religion  des 
ganzen  römischen  Staates  machen  wollte  und  darum  die  Frage  stellte: 
„Welche  Religionslehren  sollen  fortan  von  allen  Unterthanen  als  die 
wahren  anerkannt  und  befolgt,  welcher  Glaube  fortan  bekannt  werden?" 
Das  Concil  zu  Nicäa  gab  darauf  die  Antwort  (325),  verurtheilte  die 
Lehren  des  Bischofs  Arius  als  falsch,  nahm  das  Glaubensbekenntnis 
des  Athanasius  an  und  schuf  damit  die  „heilige  römisch-katho- 
lische Kirche". 

Als  die  Priesterschaft  zu  dieser  Machtfülle  gelangt  war,  wurde 
jene  große  christliche  Idee  von  ihr  als  die  Allbeherrscherin  des  ganzen 
Lebens  richtig  erkannt,  gewürdigt  und  mit  allen  ihr  zu  Gebote 
stehenden  Mitteln  zur  Durchführung  gebracht.  Mit  Hilfe  derselben 
suchte  sie  das  gesammte  sittliche  Leben  der  Menschen  zu 
regeln.  Man  soll  nicht  verkennen,  dass  diese  Unterordnung  des  ge- 
sammten  sittlichen  Lebens  und  Strebens  unter  jene  große  religiöse 
Idee  damals  aus  der  reinsten  Absicht  entsprang.  Inmitten  jener  Zeit 
greulicher  Roheit,  wüsten  Sinnentaumels,  entsetzlicher  Ausschwei- 
fungen, empörender  Gewalttätigkeit  und  Rechtlosigkeit  wollte  die 
Kirche  in  Christi  hehrem  Sinne  alle,  die  „mühselig  und  beladen  waren", 
in  ihren  starken  Schutz  nehmen,  und  die  in  Lüsten  aller  Art  und 
in  Selbstsucht  verkommenen  Menschen  mit  Hilfe  der  Religion  zu 
besserer  Sittlichkeit,  zu  einem  Gott  wolgefälligen  Leben  erziehen. 
Alles  was  sie  in  dieser  Absicht  befahl,  wurde  „in  majorem  Dei  glo- 
riama,  zur  höheren  Ehre  Gottes  angeordnet;  und  da  ihre  Befehle  wie 
göttliche  Gebote  betrachtet  wurden,  so  bildete  sich  überall  in  den 
europäischen  Culturstaaten  neben  der  volksthümlichen  Sitte  und  Sitt- 
lichkeit eine  besondere  Lebensführung,  die  sich  nach  den  Geboten 
der  besonderen  kirchlichen  Moral  richtete.  Dieselbe  fand  überall, 
selbst  bei  heftigem  Widerstreben,  ziemlich  schnell  Eingang,  weil  sie 
als  eine  heilige  Forderung  der  Religion,  als  der  Ausfluss  des  göttlichen 
Willens  hingestellt  und  durch  sehr  klug  gewählte  Mittel  aufgezwungen 
wurde.  In  kluger  Erkenntnis  der  menschlichen  Schwächen  und  Leiden- 
schaften behandelten  die  Priester  die  Laien  in  Gesammtheit  als  un- 
mündige, der  Erziehung  bedürftige  Kinder,  und  unterwarfen 
sich  die  edleren,  die  feineren,  ja  selbst  die  scharfsinnigen  Naturen 
durch  den  Hinweis  auf  den  guten  Zweck,  auf  den  göttlichen  Willen 
und  ihre  heilige,  göttliche  Sendung.  Bei  Gelegenheit  der  volksthüm- 
lichen Feste,  der  „Narren-  und  Eselsfeste"  und  des  „Carneval"  ge- 
stattete die  Kirche  der  gläubigen  Menge,  wie  Schulbuben  sich  auszu- 


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toben,  sich  in  freier  Laune  allen  fleischlichen  Gelüsten  hinzugeben,  ja 
Verspottung  des  Heiligen  und  Frevel  aller  Art  zu  begehen.  Sie 
wusste  genau,  dass  in  den  Tagen  der  inneren  Zerknirschung,  die  auf 
solchen  wüsten  Taumel  folgen,  die  Sünder  in  durchaus  bußfertiger, 
demüthiger  Stimmung  zu  den  Geistlichen  eilen  würden,  um  liier  Trost 
und  Vergebung  zu  finden.  Da  hatte  man  denn  reichlich  Gelegenheit, 
seine  Erziehungsmethode  auszuüben  und  die  Lehre,  dass  nur  die  Tliat 
sittlich  und  gut  sei,  die  von  der  Kirche  erlaubt  sei,  zu  unbedingter 
Anerkennung  zu  bringen. 

Dies  Erziehungssy stem  suchte  die  Kirche  durch  Belohnungen 
und  Bestrafungen  zu  unterstützen.  Da  die  meisten  Menschen 
weit  eher  geneigt  sind,  ihren  Lüsten  und  Begierden  zu  fröhnen,  als 
sich  um  des  Guten  willen  zu  beherrschen  und  sich  sinnliche  Vergnü- 
gungen zu  versagen:  so  glaubte  man  sie  am  leichtesten  zu  erziehen, 
wenn  man  den  schwachen  Willen  zum  Guten  durch  verlockende  Ver- 
heißungen zu  stärken  und  den  verderbten  durch  schwere  Drohungen 
mit  entsetzlichen  martervollen  Strafen  einzuschüchtern  und  in  Banden 
zu  halten  vermöge.  Dieser  Zweck  schuf  die  Lehre  von  dem  Fege- 
feuer, vom  Teufel  und  von  der  Hölle  mit  ihren  Schrecknissen  und 
entsetzlichen  Qualen,  und  die  vom  Himmel  mit  seinen  Engeln  und  den 
dort  gebotenen  seligen  Freuden.  Es  wurden  infolge  dieses  Zweckes 
die  verschiedenartigen  Kirchenstrafen  und  die  Mittel  bestimmt,  durch 
welche  der  Sünder  die  Vergebung  erlangen  könne.  Es  wurde  zu- 
gleich festgestellt,  welche  Thaten  als  verdienstvoll,  welche  Werke  als 
gute,  Gott  wolgeföllige  gelten,  und  welche  verdammenswert  seien. 
Für  die  ersteren  sicherte  die  Kirche  als  Verwalterin  aller  guten  Werke 
der  Menschheit  den  Gläubigen  hier  auf  Erden  „Absolution",  Vergebung 
der  Schuld,  und  nach  dem  Tode  die  Belohnung  im  Himmel;  für  die 
schweren  Versündigungen  bei  Unbußfertigkeit  die  entsetzlichen  Strafen 
und  Qualen  in  dem  Fegefeuer  und  in  der  Hölle. 

Um  dies  Erziehungssystera  wirksam  zu  machen,  war  es  nothwendig, 
dass  die  gläubige  Menge  die  Kirche  als  ihre  einzige  wahre  Heils- 
anstalt, den  Papst  als  den  Statthalter  Gottes  und  Christi,  die  Priester 
als  gottgeweihte,  heilige  Personen  betrachtete  und  ihre  Lehren  prü- 
fungslos als  wahr  annahm.  Die  Geschichte  lehrt,  welche  Anstrengungen 
gemacht,  welche  Kämpfe  geführt  wurden,  um  selbst  die  Mächtigsten 
auf  Erden  zur  Anerkennung  der  päpstlichen  Weltherrschaft  und  Macht- 
fülle zu  zwingen,  und  die  kirchliche  Lehre  von  allen  ketzerischen 
Ansichten  und  Lehrmeinungen  zu  reinigen.  Der  äußere  Erfolg  war 
ein  großartiger,  dies  beweisen  die  frommen  Siftungen,  die  „Seelen- 


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messen,"  die  Wallfahrten ,  die  Büß-  und  Betübungen,  die  Almosen- 
spenden, die  Verehrung  der  Heiligen  und  der  Jungfrau  Maria,  der 
freundlichen  und  bereitwilligen  Helfer  in  jeder  Seelennotb,  der  Abscheu 
vor  Ketzern,  Hexen  und  Teufelsdienern;  dies  beweist  die  ungeheure 
Macht,  deren  sich  ein  Innocenz  III.  am  Anfang  des  13.  Jahrhunderts 
rühmen  durfte.  „Die  Sorge  für  die  Seele",  sagt  Jul.  Lippert  in  seiner 
..Deutschen  Sittengeschichte",  ,.ist  |dem  Durchschnittsdeutschen  des 
Mittelalters  ganz  so  wichtig  wie  dem  dadurch  berühmten  Ägypter. 
Alle  Schenkungen  gehen  aus  der  Sorge  für  die  Seele,  für  das  Himmel- 
reich hervor,  sind  ,Seelgeräthe'.  Durch  Seelgeräthe  ist  der 
Grund  gelegt  worden  zu  dem  gesammten  überreichen  Kirchengute,  zu 
Abteien  und  Bisthümern  und  ihrem  Landbesitz.  Man  kann  glauben, 
eine  ägyptische  Urkunde  zu  lesen,  wenn  Thietmar  von  der  Bestattung 
Otto  III.  berichtet,  wie  Herzog  Heinrich  dessen  Herz  in  einer  Kapelle 
beisetzt  und  dazu  ,um  des  Seelenheils  des  Verstorbenen  willen  hundert 
Hufen  von  seinem  eigenen  Besitz'  schenkte.  Für  ihres  verstorbenen 
Gemahls  und  ihres  Sohnes  Seelenheil  hat  Mathilde,  die  Witwe  Hein- 
richs I.,  das  Kloster  Nordhausen  gestiftet.  Der  einst  reiche  Graf 
Liutbold  hatte  dem  Kloster  Zweifalten  soviel  von  dem  Seinen  geschenkt, 
dass  ihm  bei  seinem  Tode  zur  Belohnung  der  Diener,  die  den  Ge- 
lähmten im  Tragstuhle  zu  tragen  pflegten,  nichts  übrig  geblieben  war, 
als  sieben  Lammfelle.  Wer  sich  nicht  durch  eine  Schenkung  sichern 
konnte,  dass  für  ihn  eine  ,Seelenmesse'  abgehalten  wurde,  musste  sich 
auf  die  Treue  und  Liebe  seiner  Hinterbliebenen  stützen.  Aber  selbst 
auf  solche  Treue  wollte  niemand  die  Zukunft  seiner  Seele 
setzen." 

Wir  fragen:  Hat  dies  Erziehungssystem  der  Kirche  sich  frucht- 
bringend erwiesen?  Ist  die  Menschheit  dadurch  in  sittlicher 
Hinsicht  gebessert  worden? 

Die  Geschichte  muss  diese  Frage  verneinen.  Bei  Gelegenheit  des 
Ablasshandels  im  Anfange  des  16.  Jahrhunderts  zeigte  sich's,  dass  die 
Menschen  durch  die  bisherige  Erziehung  abergläubig,  feig,  sclavisch, 
eigennützig,  heuchlerisch,  feil,  gewinnsüchtig  geworden  waren  und  das 
Gefühl  für  die  Heiligkeit  schwerer  Pflichten ,  für  Gerechtigkeit  und 
für  Freiheit  der  Mehrzahl  nach  fast  ganz  verloren  hatten.  Diese 
Einsieht  bestimmte  unsern  großen  Luther  in  erster  Linie,  gegen  den 
Ahlass  und  gegen  diese  „Werkheiligkeit"  der  Scheinchristen  aufzu- 
treten. Die  Menschen  machen  aus  ihrer  Sittlichkeit  eine  Art  von 
Schachergeschäft,  bedenken  und  berechnen  stets  die  belohnende  Ver- 
geltung, thun  das  Gute  nie  um  des  Guten  willen,  nie  aus  reiner 

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Achtung  vor  dem  Gesetz,  sondern  nur  aus  Hoffnung  auf  Belohnung 
oder  aus  Furcht  vor  Strafe.  Selbst  bei  dem  Pfennig,  der  dem 
Bettler  gereicht  wird,  bedenken  sie,  dass  er  ihnen  oder  ihren 
Kindern  Zinsen  tragen  könnte.  „Gib",  wird  das  Kind  belehrt,  „damit 
der  liebe  Gott  dir's  später  vergelte!"  Vom  Unrecht  wird  durch  diese 
kirchliche  Lehre  niemand  zurückgehalten;  jeder  folgt  froh  und  frech 
seinen  Gelüsten  und  Begierden.  Werden  die  Gewissensbisse  zu  arg, 
so  lässt  man  sich  durch  Kirchenbuße  und  gute  Werke  vom  Priester 
entsühnen  und  folgt  in  Seelenruhe  den  neuen  stindlichen  Verlockungen. 
Diese  kirchliche  Erziehung  hat  in  Wirklichkeit  nur  Scheinerfolge 
aufzuweisen;  denn  noch  niemals  ist  ein  sündhafter  Mensch 
dadurch  in  seiner  Gesinnung  veredelt  worden. 

Die  auf  jener  großen  christlichen  Idee  beruhende  Sittenlehre  ist 
in  Bezug  auf  eine  besondere  Richtung  verhängnisvoll  geworden.  Wir 
denken  an  den  Einfluss,  den  die  Lehre  von  dem  Werte  der  Ascese 
ausübte.  Dieselbe  wurde  durch  die  Auffassung  erzeugt,  welche  die 
wortführenden  und  herrschenden  Priester  in  den  ersten  Jahrhunderten 
nach  Christi  Geburt  und  das  Mittelalter  hindurch  vom  Wesen,  der 
Bedeutung  und  der  Berechtigung  des  Weibes  besaßen  und  zur 
Geltung  brachten.  Den  Aposteln  und  den  Kirchenvätern  galt  das 
Weib  als  „unrein",  als  „das  Gefäß  der  Sünde",  als  „die;  Verführerin-, 
die  nach  der  Erzählung  der  Bibel  die  Sünde  in  die  Welt  gebracht 
hat  und  die  Männer  zu  Grunde  richte.  „Weib",  ruft  Tertullian,  „du 
solltest  stets  in  Trauer  und  Lumpen  gehen,  Thränen  der  Reue  weinen; 
denn  du  bist  die  Pforte  zur  Hölle."  In  jener  Zeit,  als  die  Frauen 
ganz  rechtlos  waren  und  scheinbar  die  Veranlassung  zu  den  greu- 
lichsten, geschlechtlichen  Ausschweifungen  und  den  unnatürlichen  Lastern 
gaben,  hatten  die  frommen  Eiferer  für  sie  nur  eine  fast  grenzenlose 
Verachtung.  Die  Ehe  galt  ihnen  darum  höchstens  als  „ein  not- 
wendiges Übel".  „Die  Ehe",  sagt  der  Apostel  Paulus,  „ist  ein  nied- 
riger Stand;  heiraten  ist  gut,  nicht  heiraten  ist  besser."  Kirchen- 
väter, wie  Hieronymus,  Origines  und  Augustinus,  nannten  die  Ehe 
„unrein  und  unheilig",  „stete  ein  Laster,  das  höchstens  zu  entschul- 
digen sei".  Augustinus  meinte  und  predigte:  „Die  Eheloseu  werden 
glänzen  am  Himmel  wie  leuchtende  Sterne,  während  ihre  Eltern  den 
dunkeln  Sternen  gleichen."  Das  Verlangen  nach  geschlechtlicher  Ver- 
einigung der  Männer  mit  den  Frauen  wurde  als  „fleischliches  Gelüste" 
bezeichnet  und  als  das  schwerste  Hemmnis  beim  Streben  nach 
dem  Himmelreich,  nach  der  ewigen  Seligkeit  betrachtet. 
„Wandelt  im  Geiste  und  widerstehet  den  Lüsten  des  Fleisches!" 


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Daraus  bildete  sich  sehr  bald  die  Ansicht,  dass  in  der  Ascese,  d.  h. 
in  der  gänzlichen  Enthaltung  von  jeder  Art  geschlechtlicher  Ver- 
bindung, ja  selbst  von  gemüthlichem ,  freundlichem  Umgang  mit  den 
Frauen  die  größte  Sittlichkeit,  das  Gott  am  meisten  wolgefällige  Leben 
zu  finden  sei.  Die  Wirkung  dieser  Lehre  zeigte  sich  im  Mönchs- 
gelübde, im  Klosterleben,  in  der  Einsetzung  des  Cölibats,  der  Ehe- 
losigkeit aller  Geistlichen.  Diejenigen  Priester,  welche  ihre  starken 
geschlechtlichen  Triebe  durch  blutige  Geißelung,  durch  Kasteiung  aller 
Art  unterdrückten  und  durch  diesen  besonders  ascetischen  Eifer  sich 
auszeichneten,  wurden  als  hochsittliche  und  sehr  fromme  Männer  be- 
trachtet und  wol  gar  heilig  gesprochen.*) 

Die  Ascese  blieb  sehr  bald  nicht  auf  die  Enthaltung  von  „  fleisch- 
lichen Gelüsten"  beschränkt,  man  dehnte  sie  aus  auf  „Augenlust  und 
hoffärtiges  Wesen,"  auf  alle  rauschenden  Feste  und  sinnlichen  Ver- 
gnügungen, zuletzt  auf  die  harmlosesten  sinnlichen  Genüsse  und 
Freuden.  Die  Bestrebungen  der  Künste  wurden  nur  soweit  geachtet 
und  erlaubt,  als  sie  zur  Verherrlichung  des  Gottesdienstes  beitrugen, 
im  Dienst  der  Religion  oder  vielmehr  der  Kirche  arbeiteten.  Sie  er- 
hielten die  freiere  Richtung  erst  unter  dem  Einfluss  der  classischen 
Studien,  zur  Zeit  als  auf,  religiösem  Gebiete  die  Reformation  begann. 
Infolge  der  kirchlichen  Moral  galt  während  des  Mittelalters  bei  den 
„ Frommen  vor  dem  Herrn"  die  Erde  als  ein  Jammerthal,  als  eine 
Stätte  der  Vorbereitung  für  das  Leben  im  Jenseits,  und  als  echte 
Sittlichkeit  die  größte  Enthaltsamkeit  von  allen,  auch  den  harmlosesten 
Genüssen  und  Freuden. 

Die  Wirkung  dieser  Forderung  ist  von  jeher  bedeutend  gewesen 
und  hat  namentlich  das  Ansehen  ascetischer  Geistlicher  so  sehr  ge- 
fordert, dass  die  Kirche  von  ihrem  Standpunkte  aus  alle  Ursache  hat, 
die  Ascese  als  sittliches  Gesetz  noch  jetzt  in  der  alten  strengen  Form 
aufrecht  zu  erhalten.  Die  große  Menge  hängt  zu  sehr  an  einem 
sinnlich-frohen  Genuss  des  Lebens,  als  dass  sie  ihre  Freuden  selbst 
um  der  idealsten  Forderungen  willen  willig  und  mit  Leichtigkeit 
opfern  sollte,  und  bewundert  darum  aufrichtig  jeden,  der  um  solcher 
allgemein  als  heilig  geltenden  Ideen  willen  seine  Lebensfreuden 
dauernd  zum  Opfer  bringt.  Darum  werden  diese  alten  Ansichten  von 
der  Ascese  noch  jetzt,  selbst  von  protestantischen  Priestern  aufrecht 

*y  So  der  heilige  Franciscus  von  Assisi.  Wenn  die  Phantasie  ihn»  verlockende 
Bilder  vorführte  und  sein  geschlechtliches  Verlangen  zu  arg  wurde,  hat  er  sich 
nackend  in  Brenn  nesseln  geworfen,  bis  der  Schmerz  die  wilde  Begierde  erstickte. 


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erhalten,  obwol  diese  Herren  nach  Luthers  Vorbild  heiraten;  obwol 
sie  an  dem  wackern,  kerngesunden  deutschen  Reformator  auch  in  Bezug 
auf  harmlose  Lebensfreuden  einer  edlen  deutschen,  bürgerlichen  Ge- 
selligkeit ein  leuchtendes  Muster  nehmen  könnten  und  bei  einem  an- 
ständigen, landesüblichen  Lebensgenuss  durch  kirchliche  Verordnungen 
keineswegs  beschränkt  werden.  Die  tonangebenden  orthodoxen  Herrscher 
unter  ihnen  möchten  gar  zu  gern  dieselbe  Macht  und  dasselbe  Ansehen 
genießen  wie  ihre  katholischen  „Brüder  in  Christo**,  und  wissen  sehr 
genau,  dass  diese  Idee  von  der  sittlichen  Verpflichtung  zu  strenger 
Ascese  zur  Befestigung  einer  solchen  Herrschaft  wesentlich  beiträgt. 
Wir  finden  jene  Ansicht  auch  überall  noch  bei  dem  Volke,  ja  selbst 
bei  vielen  Gebildeten.  Die  „Frommen  vor  dem  Herrn",  gleichviel, 
welcher  Confession  sie  seien,  erklären  auch  heutzutage  überall,  dass 
der  Christ  in  Bezug  auf  Nahrung,  Kleidung  und  andere  Bedürfnisse 
sich  auf  das  Notwendigste  zu  beschränken  und  sein  Leben  neben  der 
Arbeit  nur  frommen  Übungen  zu  widmen  habe. 

Das  bisher  geschilderte  kirchliche  Erziehungssystem  verlangte 
von  allen  Christen  unbedingte  Unterwerfung  unter  die  Lehren  und 
den  Willen  der  Kirche.  Dagegen  begann  erst  leise  in  schüchternen 
Anfängen,  dann  immer  lauter  und  energischer  das  Streben  nach 
Freiheit  und  Selbstbestimmung  hervorzutreten.  Es  soll  hier 
nicht  untersucht  werden,  in  welcher  Weise  die  Geistlichen  ihre 
Stellung  und  Machtfülle  missbraucht  und  die  Opposition  hervorgerufen 
haben.  Es  sei  nur  auf  die  geschichtlichen  Thatsachen  hingewiesen. 
Nach  mehrfachen  verunglückten  Versuchen  brach  im  Anfange  des 
10.  Jahrhunderts  der  Tag  des  großen  Befreiungskampfes  an,  der 
wenigstens  für  einen  großen  Theil  der  Christenheit  zum  Siege  führen 
sollte.  Es  begann  die  Reformation.  Ihr  Hauptheld,  unser  großer 
Luther,  erkannte  mit  seinem  scharfen  Geiste  sehr  bald,  dass  es  sich 
zunächst  darum  handle,  die  Macht  der  Kirche,  d.  h.  des  Papstes  und 
seiner  Geistlichen  über  die  Gemüther  der  Menschen  zu  brechen,  die 
Gewalthaber  ihrer  bisherigen  Heiligkeit  und  Unfehlbarkeit  zu  ent- 
kleiden. In  der  ersten  der  drei  berühmten  Schriften,  welche  für  sein 
Werk  bahnbrechend  wurden  („An  die  Fürsten  und  den  Adel  deut- 
scher Nation-*),  spricht  er  von  drei  Mauern,  die  die  Römlinge  um  sich 
gezogen  haben.  Indem  dieselben  durch  sein  gewaltiges  Wort  nieder- 
gerissen werden,  spricht  er  die  Grundsätze  aus,  dass  „jeder  Mensch 
sein  eigner  Priester  sei",  dass  „alle  Christen  zugleich  Geistliche, 
Priester  und  Weltliche  seien",  dass  „jeder  das  Recht  habe,  in  der 
Bibel  zu  forschen  und  daraus  seinen  Glauben  zu  schöpfen."  Er  macht 


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den  Geistlichen  zu  einem  Beamten  und  Diener  der  Gemeinde  zu  einem 
Prediger  und  Seelsorger.*) 

In  der  zweiten  jener  drei  bahnbrechenden  Schriften  („Von  der 
Freiheit  des  Christenmenschen")  legt  Luther  die  Grundzüge 
zu  einer  neuen  Sittenlehre,  die  mit  der  gereinigten  echten  Fröm- 
migkeit und  Religion  innig  verbunden  sein  soll.  „In  der  katholischen 
Welt*',  sagt  Heinrich  Lang  in  der  Darstellung  von  Luther's  religiösem 
Charakterbild,  „suchte  man  mit  seiner  Frömmigkeit  immer  etwas  zu 
verdienen,  der  endliche  Mensch  rechnete  und  marktete  mit  dem  unend- 
lichen Gott,  der  ihm  ferne  stand,  um  den  Preis  des  Himmels,  der 
außer  ihm  lag.  Aus  dieser  Quelle  des  Eigennutzes  und  der  Lohn- 
sucht flössen  die  Gesetzes-  und  Kirchenwerke,  denen  er  sich  unterzog 
Hier  bei  Luther  will  der  Mensch  nichts  verdienen;  wenn  er  Gott  hat, 
hat  er  alle«,  was  er  suchte;  im  Glauben  hat  er  volles  Genüge.  Was 
er  hinfort  thut,  geschieht  nicht,  um  einen  Himmel  zu  verdienen, 
sondern  weil  er  den  Himmel  in  sich  hat,  der  sich  aufschließt 
und  seinen  Segen  über  die  Welt  ausgießt." 

Luther  lehrt  ein  neues  Verhältnis  zu  Gott,  das  Verhältnis  des 
Kindes  zum  himmlischen  Vater.  Es  vertraut  dem  Wort  des  Vaters 
und  nimmt  dankend  die  Gaben,  die  er  ihm  darbietet.  Es  schenkt  dem 
Vater  sein  ganzes  Herz,  ist  in  diesem  liebenden  Nehmen  und  Geben 
glücklich  und  fühlt  sich  in  dieser  Freude  gedrungen,  den  Nächsten  zu 
lieben,  Gutes  zu  thun  und  andere  zu  beglücken.  Wenn  Versuchung 
sich  regt,  so  fürchtet  es  sich,  den  liebenden  Vater  zu  betrüben,  uud 
sucht  nach  dem  Fall  in  echter  Reue  seine  Versöhnung  zu  erlangen. 
Dazu  hilft  ihm  Christus,  sein  Mittler  und  Heiland.    „Wolan",  sagt 

*)  .Alle  Christen-,  sagt  Luther,  „sind  zugleich  (ieistliche,  Priester  und  Welt- 
liche. Ein  Bürgermeister  ist  ebensogut  eine  geistliche  Person  als  ein  Papst,  weil 
er  durch  das  Regiment,  das  er  führt,  zur  Bestrafung  der  Böseu  und  zum  Schutz  der 
Guten,  ebenso  die  Zwecke  des  Gottesreiches  fördert,  wie  der  Papst  mit  seinem  Pre- 
digen und  Segenspenden.  Will  man  aber  diejenigen  Personen,  welche  von  der 
Gemeinde  beauftragt  sind,  zu  predigen,  zu  taufen  u.  s.  w.,  in  besonderm 
Sinne  (ieistliche  und  Priester  nennen,  gut!  so  ist  das  ein  Gemeindeamt  wie 
jedes  andere,  und  der  Triigcr  desselben  ist  nur  durch  die  besondere  Art  seines 
Amtes  und  Werkes,  nicht  durch  ciue  höhere  Würde  und  besondere  Heilig- 
keit des  Standes  unterschieden  von  den  Trägern  anderer  Gemeindeämter.  Die 
«iesellschaft  ist  ein  Leib  mit  vielen  Gliedern;  jedes  Glied  hat  seinen  bestimmte 
Dienst,  und  in  dieser  dienenden  Stellung  sind  alle  einander  gleich.  Die 
weltliche  Obrigkeit,  der  Schuster,  der  Schmied,  der  Bauer  sind  Glieder  wie  der 
Prediger;  jeder  hat  sein  Amt  und  Werk,  womit  er  der  Gemeinschaft  nützlich  sein 
soll.  Alle  diese  Werke  wirken  zusammen,  Leib  und  Seele  zu  tördern,  wie  die  Glied- 
maßen des  Körpers  alle  einander  dienen." 


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Luther  in  jener  berühmten  Schrift,  „mein  Gott  hat  mir  unwürdigen 
Menschen  aus  lauter  Liebe  vollen  Reichthum  aller  Frömmigkeit  und 
Seligkeit  gegeben.  Ei,  so  will  ich  solchem  Vater,  der  mich  mit  seinen 
überschwänglichen  Gaben  also  überschüttet  hat,  wiederum  frei,  fröhlich 
und  umsonst  thun,  was  ihm  wolgeföllt,  und  gegen  meinen  Nächsten 
auch  werden  ein  Christ,  wie  Christus  mir  geworden  ist,  und  nichts 
mehr  thun,  denn  was  ich  sehe  ihm  noth,  nützlich  und  seliglich  sei, 
dieweil  ich  doch  durch  meinen  Glauben  alles  Dings  in  Christo  genug 
habe.  Siehe,  so  fließet  aus  dem  Glauben  die  Liebe  und  Lust  zu  Gott, 
und  aus  der  Liebe  ein  freiwillig- fröhlich  Leben,  dem  Nächsten  zu 
dienen  umsonst," 

Demgemäß  legt  Luther  das  Hauptgewicht  auf  das  gläubige 
Verhältnis  des  Christen  zu  seinem  Gott  und  Vater  und  den 
täglichen,  lebendigen  Verkehr  mit  ihm.  Alle  Büß-  und  Bet- 
übungen,  alle  „Werkheiligkeit",  sowie  der  sclavische  Gehorsam  gegen 
die  Gebote  der  Kirche  sind  wertlose  Bemühungen.  Wert  hat  nur 
die  echte  Frömmigkeit,  der  „Glaube,  d.  h.  das  volle  Vertrauen  und 
die  herzliche  Zuneigung  zu  dem  Gott,  der  mir  im  Wort  und  Leben 
Jesu  Christi  die  Zusage  seiner  Liebe  zu  mir  gegeben  hat".  Aus 
diesem  Glauben  soll  unser  ganzes  sittliches  Verhalten  ent- 
springen; wir  sollen  das  Gute  thun  und  das  Böse  meiden  um  dieses 
liebenden  Gottes  und  Vaters  willen,  sollen  uns  in  zweifelhaften 
Fällen  zuerst  fragen,  ob  wir  diesen  unsern  Gott  betrüben  würden. 
Darum  beginnt  Luther  in  seinem  „Katechismus"  jede  Erklärung  eines 
sittlichen  Gebotes  oder  Verbotes  mit  den  Worten:  „Wir  sollen  Gott 
furchten  und  lieben",  dass  wir  nicht  stehlen,  ehebrechen,  verrathen, 
tödten;  dass  wir  unsere  Eltern  und  Herren  lieben  und  in  Ehren  halten. 
Hauptsache  ist  bei  jeglichem  sittlichen  Thun  die  Gesinnung, 
nicht  die  That  selbst  Man  kann  ja  wolthätig,  diensteifrig,  ent- 
haltsam, maßig  sein  aus  nichtsittlichen  Beweggründen,  aus  Eitelkeit, 
aus  Klugheit,  aus  Lohnsucht,  aus  Heuchelei,  wie  die  Schale  der  Frucht 
schön  und  glänzend  sein  kann,  während  der  Kern  faul  ist.  Die  Werke 
machen  den  Menschen  nicht  gerecht,  sondern  ein  gerechter  Mensch 
macht  fromme  und  gerechte  Werke.*' 

Durch  dieses  Hervorheben  und  Betonen  der  Gesinnung  ist  der 
große  Luther  der  Reformator  nicht  nur  der  Religion,  sondern  zu- 
gleich der  Sittenlehre  geworden.  Fortan  wurde  den  bessern  Menscheu 
klar,  dass  nur  ein  wahrhaft  frommer  Mensch  sittlich,  nur  ein  wahrhaft 
sittlicher  Mensch  fromm  sein  könne.  Die  Lehre,  man  soll  das  Gute 
thun  und  das  Böse  meiden,  um  seinen  lieben  Gott  und  Vater  im 


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Himmel  nicht  zu  betrüben,  um  stets  seinen  Beifall  zu  erhalten,  uns 
seines  Wolwollens,  seiner  Liebe  freuen  zu  können,  ist  eine  so  ein- 
fache, so  leicht  fassliche,  dass  selbst  ein  kleines  Kind  sie  zu  begreifen 
und  danach  sein  Handeln  einzurichten  vermag.  Namentlich  erfreut 
diese  Lehre  so  hoch  und  innig  alle  hebevollen,  guten  Gemüther;  sie 
ist  dem  deutschen  Volke  so  recht  „aus  der  Seele  gesprochen".  Darum 
gilt  sie  noch  heute  bei  allen  einfachen  Menschen,  bei  allen  tiefen  Ge- 
müthern, bei  allen  Frauen,  namentlich  bei  allen  Müttern,  und  spricht 
ein  ernstes  und  gewichtiges  Wort  bei  der  Erziehung  der  Kinder  zu 
Sittlichkeit  und  Frömmigkeit. 

Ein  Kind,  das  Vater  und  Mutter  von  ganzer  unverdorbener  Seele 
liebt,  vermag  dies  Gefühl  unter  Anleitung  der  Mutter  und  der  Lehrer 
gar  leicht  auf  seinen  Gott  und  Vater  im  Himmel  zu  übertragen. 

Diese  kerngesunde  Reformation  des  sittlichen  Lebens  und  Strebens 
ist  später  dnrch  einen  gewissen  Rückfall  in  die  Ansichten  der  alten 
katholischen  Kirche  wieder  eingeschränkt  worden.  Luther  kehrte 
wieder  statt  des  liebenden  Vaters,  der  uns  alles  aus  lauter  Gnaden 
gibt,  zu  sehr  „den  alten  starken,  eifrigen  Gott"  heraus,  „der  über  die 
so  ihn  hassen,  .die  Sünde  der  Väter  heimsuchet  an  den  Kindern  bis 
ins  dritte  und  vierte  Glied  und  zu  strafen  drohet  alle,  die  seine  Ge- 
bote übertreten,"  dagegen  „allen,  die  dieselben  halten,  Gnade  und 
alles  Gute  verheißt."  Dabei  hat  der  große  Mann  in  seinem  Eifer,  die 
Menschheit  zu  erziehen,  den  Fehler  begangen,  in  das  sittliche  Handeln 
statt  der  vorhin  genannten  schönen  Beweggründe  die  frühere  Furcht 
vor  Gottes  Zorn  und  seiner  Strafe  und  die  Hoffnung  auf  seine  Be- 
lohnung hier  auf  Erden  und  im  Jenseits  hineinzutragen  und  dadurch 
die  alte  Lohnsucht  und  sclavische  Gesinnung  heraufzubeschwören.  Da 
er  die  Lehre  von  dem  Teufel,  von  der  Hölle  und  den  Höllenstrafen, 
wie  das  Mittelalter  sie  ausmalte,  fortbestehen  ließ*),  so  konnte  es 
nicht  ausbleiben,  dass  diese  Gesinnung  bei  der  Mehrzahl  der  Menschen 
in  der  alten  Weise  beharrte.  Dazu  kam  noch,  dass  Luther  mehr  als 
einmal  betonte:  „Dies  ist  der  furnehmste  Artikel  der  ganzen  christ- 


*)  Die  Furcht  vor  dem  Teufel  und  den  Hartem  in  der  Hölle  wird  von  den 
orthodoxen  evangelischen  Geistlichen  noch  heutzutage  eifrigst  geweckt  und  genährt. 
Leider  wird  das  Bemühen  nur  zu  sehr  mit  Erfolg  gekrönt.  Zur  Zeit  der  kirchlichen 
und  staatlichen  Reaction  in  den  fünfziger  Jahren  unseres  Jahrhunderts  waren  große 
Kirchenvüdtationen  eingeführt,  bei  denen  die  vornehmsten  Geistlichen  auf  diese  Lehre 
Hauptgewicht  legten.  Nach  einer  recht  grellen  Schilderung  der  Höllenstrafen  haben 
wir  gegen  500  Menschen  in  einer  protestantischen  Kirche  erzitteni  sehen,  haben  sie 
schluchzen  und  heulen  hören  müssen. 


I 


—    286  — 

liehen  Lehre,  nämlich,  wie  wir  selig:  werden  können."  Kein 
Wunder,  dass  die  alte  Werkheiligkeit  im  Grunde  bestehen  blieb.  Sie 
nahm  nur  andere  Formen  an. 

Als  die  reformatorischen  Ideen,  die  Ideen  der  Glaubens-  und 
Gewissensfreiheit,  immer  kräftiger  die  Welt  zu  beherrschen  be- 
gannen, stellte  sieh  mit  dem  Fortschritt  der  Aufklärung  das  Bedürfnis 
ein,  die  sittlichen  Lehren  und  Anschauungen  einer  erneuten 
Reformation  zu  unterziehen.  Dazu  trug  wesentlich  der  Umstand 
bei,  dass  der  Glaube  an  Gott  durch  den  großartigen  Aufschwung  der 
Naturwissenschaften  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  gebildeten 
Denker  eine  tiefgehende  Veränderung  erlitt. 

Schon  in  Luther's  großem  und  scharfem  Geiste  hatten  sich  in 
Bezug  auf  die  landläufige  Vorstellung  von  Gott  arge  Bedenken  geregt. 
Aber  er  hatte  dieselbe  bekämpft  und  hatte  als  echter  Mystiker  sich 
seinen  eigentümlichen  Gottesglauben  geschaffen.  Dieser 
Glaube  galt  ihm  als  der  unbedingt  wahre,  und  er  hielt  daran  sein  Lebe- 
lang mit  voller  Treue  fest.  In  diesem  Glauben,  sagte  er,  vermag  der 
Mensch  alles  selbst  über  Gott.  „Gott  thut  den  Willen  des  Gläubigen."  Als 
Melanchthon  nach  seinem  zornmüthigen  an  Gott  gerichteten  Gebete  wider 
alles  Erwarten  genas,  zweifelte  er  keinen  Augenblick,  dass  der  Freund 
und  Mitkämpfer  ohne  dies  Gebet  gestorben  wäre.  „Jeder  Mensch 
soll  festiglich  glauben,  dass  Gott  ihm  zu  der  Seligkeit  ein  Gott  sei, 
dass  Christus  für  ihn  gelitten  habe."  „Das  Wort:  für  euch",  heißt 
es  in  der  Erläuterung  zum  Sacrament  des  Altars,  ..erfordert  eitel 
gläubige  Herzen."  „Gott  ist  nicht  Gott,  wenn  er  nicht  unser 
Gott  ist."  „Wenn  Gott  allein  für  sich  im  Himmel  säße,  wie  ein 
Klotz,  so  wäre  er  nicht  Gott,"  Auf  diesen  mystischen  subjectiven 
Glauben  an  Gott  bant  er  den  Glauben  an  Christum  als  den  Erlöser 
und  den  Glauben  an  die  Auferstehung.  „Wenn  wir  der  Auferstehung 
nicht  warten  und  nicht  hoffen  dürfen,  so  ist  auch  kein  Glaube  und 
kein  Gott  nicht." 

Man  sieht  leicht  ein,  dass  dieser  mystische  Glaube  nicht  von 
allen  Menschen  getheilt  werden  konnte,  dass  die  Ansichten  namentlich 
durch  die  Fortschritte  in  den  Naturwissenschaften  einen  gewaltigen 
Stoß  erhalten  mussten.  Schon  Paulus  hatte  gesagt:  „Ist  Christus 
nicht  auferstanden,  so  ist  unser  Glaube  eitel."  Wie  nun,  wenn  die 
Naturwissenschaften  bewiesen,  dass  ein  Mensch,  dessen  Leib  wie  der 
unsrige  eingerichtet  gewesen  ist,  nie  hat  auferstehen  und  nie  in  sicht- 
barer und  greifbarer  Körpergestalt  wiederum  auf  Erden  hat  wandeln 
können? 


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Man  sieht  ferner  leicht  ein,  dass  mit  dieser  Veränderung  des 
Gottglaubens  zugleich  die  Sittenlehre  verändert  werden  musste; 
denn  wer  nicht  an  Gott  als  eine  Person,  als  den  liebenden  Vater  im 
Himmel,  glaubt,  kann  ihn  nicht  von  Herzen  lieben  und  auch 
nicht  die  sittlichen  Gebote  aus  Liebe  und  Ehrfurcht  vor  ihm 
befolgen. 

Welche  Veränderungen  der  Gottglaube  im  Laufe  der  Zeit, 
namentlich  in  den  gewaltigen  Bildungs-  und  Aufklärungsstürmen  des 
18.  Jahrhunderts  erlitten  hat,  ist  an  der  Hand  der  Geschichte  nach- 
zuweisen. Die  „Encyklopädisten"  in  Frankreich,  Diderot,  d'Alem- 
bert,  Helvetius,  Holbach,  la  Mettrie  und  ihre  Anhänger  in  den  andern 
europäischen  Staaten  —  man  denke  an  die  vornehmen  Kreise  im  da- 
maligen Russland  —  erklärten  den  ganzen  Gottglauben  für  veraltet, 
leugneten  des  Dasein  Gottes  frischweg  ab.  Die  „Deisten"  in  Eng- 
land (Hooker,  Herbert  von  Cherbury,  Shaftesbury,  Collins  u.  a.)  und 
ihre  Gesinnungsgenossen  in  Frankreich  und  in  Deutschland  —  den  . 
Offenbarung- Gläubigen  gegenüber  die  Rationalisten  genannt  — 
hielten  am  Dasein  Gottes  fest,  aber  ihr  Glaube  bestand  größtenteils 
nur  in  einem  kalten  Klügeln  und  Vernünfteln.  „Si  Dieu  n'existait  pas", 
sagte  Voltaire*),  „il  faudrait  le  creer;  mais  toute  la  nature  nous  crie 
qu'il  existe.u  Durch  Spinoza  breitete  sich  unter  den  bedeutenderen 
Dichtern  und  Denkern  der  classischen  Zeit  unserer  Dichtkunst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  der  „Pantheismus"  aus, 
die  Lehre,  dass  Gott  in  allem,  alles  in  der  Natur  und  im  Menschen- 
leben ein  Theil  der  Gottheit  sei.  Goethe  sprach  in  seinem  „Faust4- 
das  berühmte  pantheistische  Glaubensbekenntnis  aus,  das  mit  den  Worten 
schließt:  „Gefühl  ist  alles,  Nam'  ist  Schall  und  Rauch,  umnebelnd 
Himmelsglut."  Später  ist  der  Gottglaube  durch  die  wunderlichsten 
metaphysischen  Klügeleien  der  bedeutendsten  Philosophen  hin-  und 
hergezerrt  worden,  ohne  dass  es  gelungen  wäre,  eine  Ansicht  zu 
schaffen,  die  den  einfachen  Kinderglauben  der  naiven  liebevollen  Ge- 
müther ersetzen  oder  den  feinen  und  scharfen  Denker  irgendwie  be- 
friedigen könnte.  Oft  ist  man  beim  Studiren  dieser  Ansichten  ver- 
sucht, Schopenhauers  Urtheil  über  Hegel,  Fichte,  Sendling  zu  be- 
stätigen.**)   Jedenfalls  wird  jeder  Goethe  recht  geben,  wenn  er  in 

*)  Voltaire  und  J.  J.  Rousseau  gehören  nicht  zu  den  .. Enzyklopädisten",  otiwol 
sie  für  Diderot'«  „Encyklopädic"  Beitrage  lieferten. 

**)  Schopenhauer  sagt  (Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Anhangr. 
-Die  grüßte  Frechheit  im  Auftischen  baren  Unsinns,  im  Zusammenschmicrcu  sinn- 
loser, rasender  Wortgefechte,  wie  man  sie  bisher  nur  in  Tollhäunern  vernommen 


—    288  — 


Bezug  auf  solche  unklare,  thcilweise  ganz  sinnlose  Klügeleien 
ausruft: 

rSo  schwätzt  und  lehrt  man  ungestört, 

Wer  mag  sich  mit  den  Narr'n  befassen? 

Gewöhnlich  glaubt  der  Mensch,  wenn  er  nur  Worte  hört, 

Es  müsse  sieh  dabei  doch  auch  was  denken  lassen. u 

Für  E.  v.  Hartmann  ist  Gott  „das  Unbewusste"*  (Philosophie 
des  Unbewussten).  Dies  Unbewusste  bildet  und  erhält  die  Welt, 
bildet  und  erhält  in  den  Wesen  auf  Erden  den  Organismus,  gibt  ihm 
im  Instincte  das,  was  es  zu  seiner  Erhaltung  nöthig  braucht,  erhält  die 
Gattungen  durch  Geschlechtstrieb  und  Mutterliebe,  leitet  die  Menschen 
beim  Handeln  durch  Ahnungen  und  Gefühle,  fördert  den  bewussten 
Denkprocess,  beglückt  durch  das  Gefühl  fürs  Schöne."  „Kraft  seines 
absoluten  Hellsehens  (Allwissenheit)  kann  das  Unbewusste  nie  irren, 
ja  nicht  einmal  zweifeln  oder  schwanken;  es  besitzt  All  Weisheit,  All- 
gegenwart" etc. 

Es  ist  klar,  dass  unter  dem  Einfluss  dieser  verschiedenartigen 
Forschungen  und  Ansichten  bei  den  durch  ernste  Studien  Gebildeten 
eine  Sittenlehre  sich  ausbilden  musste,  die  mit  der  kirchlichen,  selbst 
mit  der,  welche  von  Luther  und  später  von  den  protestantischen  Geist- 
lichen gelehrt  wurde,  nicht  übereinstimmen  konnte.  Dazu  fehlte  der 
rechte  Glaube  an  Gott  und  der  Beweggrund,  die  sittlichen  Pflichten 
aus  Liebe  und  Ehrfurcht  vor  dem  himmlischen  Vater  zu  erfüllen.  In 
der  That  ist  eine  solche  neue  Sittenlehre  entstanden.  Sie  ist 
noch  nicht  weit  verbreitet,  ist  nur  unter  ernsten,  fein  gebildeten 
Denkern  zu  finden.  Sie  erfordert  ein  scharfes,  rücksichtsloses  und 
folgerechtes  Denken  und  wird  von  der  großen  Menge  schwerlich  je 
ganz  begriffen  und  gewürdigt  werden.  Aber  sie  ist  bei  den  edelsten 
Dichtern  und  Denkern  zu  finden,  beherrscht  den  Willen,  das  Thun 
und  Lassen  einer  schon  bedeutenden  Anzahl  der  wackersten  Menschen 
und  darf  darum  von  den  herrschenden  Mächten  im  Staate  und  in  der 
Kirche  nicht  mehr  abgewiesen  oder  gar  gewaltsam  unterdrückt  werden. 
Eltern  und  Erzieher  haben  die  ernste  Pflicht,  diese  neue  Sitten- 
lehre —  wir  wollen  sie  die  philosophische  nennen  —  mindestens 
genau  kennen  zu  lernen.  Bei  einer  recht  eingehenden  Prüfung  durfte 
sich's  herausstellen,  dass  gar  manche  ihrer  Forderungen  schon  bei  der 
Erziehung  kleiner  Kinder  zu  verwerten  sind. 

hatte,  trat  endlich  in  Hegel  auf  und  wurde  das  Werkzeug  der  plumpsten  allge- 
meinen Mystification,  die  je  gewesen,  mit  einem  Erfolg,  welcher  der  Nachwelt  fabel- 
haft erscheinen  und  ein  Denkmal  deutscher  Niaiserie  bleiben  wird." 


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—    289  — 


Der  Schöpfer  und  Begründer  dieser  philosophischen  Sittenlehre 
ist  der  große  Immanuel  Kant.  Der  philosophisch  gebildete  Leser 
wird  wissen,  welche  gewaltige  Umwälzung  in  der  Wissenschaft  durch 
diesen  großen  Denker  vollzogen  wurde.*)  Er  selbst  hat  seine  That 
(s.  Einleitung  zur  „Kritik  der  reinen  Vernunft")  mit  Fug  und  Recht 
mit  der  des  Kopernikus  verglichen.  „Er  kehrte  die  gesammte  Er- 
fahrung sammt  allen  historischen  und  exacten  Wissenschaften  ganz 
sacht  und  sicher  um"  durch  die  einfache  Annahme,  dass  unsere  Be- 
griffe sich  nicht  nach  den  Gegenständen  richten,  sondern 
die  Gegenstände  nach  unsern  Begriffen.  Der  Gedanke,  welcher 
ihn  zum  Reformator  der  Philosophie  macht,  ist  die  Einsicht,  dass  die 
Erfahrung  des  Menschen  ein  Product  gewisser  Stammbegriffe  ist,  durch 
welche  die  Erfahrung  bestimmt  wird. 

Man  kann  gar  nicht  „erfahren",  wenn  man  nicht  von  Hause  aus 
zur  Verbindung  von  Subject  und  Prädicat,  von  Ursache  und 
Wirkung  organisirt  ist.  Die  alte  Philosophie  lehrte:  Der  Causali- 
t&tsbegriif  stammt  nicht  aus  der  Erfahrung,  sondern  aus  der  reinen 
Vernunft,  und  ist  dieses  seines  höheren  Ursprungs  wegen  auch 
jenseits  der  Grenzen  menschlicher  Erfahrung  gültig  und  an- 
wendbar. Kant  lehrte  dagegen:  Der  Causalitätsbegriff  ist  ein  Stamm- 
begriff  der  reinen  Vernunft  und  liegt  als  solcher  unserer 
ganzen  Erfahrung  zu  Grunde.  Er  hat  eben  deshalb  im  Gebiete 
der  Erfahrung  unbeschränkte  Gültigkeit;  aber  jenseits  desselben 
keine  Bedeutung.  Die  Erschein ungs weit  folgt  aus  unsern  Begriffen. 
Nur  eine  relative  Wahrheit  ist  uns  zugänglich,  und  diese  liegt  nur 
in  der  Erfahrung.  Unser  ganzes  auf  Sinne  und  Verstand  gegrün- 
detes Erkennen  zeigt  uns  nur  eine  Seite  der  Wahrheit.  Die  andern 
können  wir  weder  durch  Wissenschaft,  noch  durch  Glauben,  noch 
durch  Metaphysik,  noch  durch  irgend  ein  anderes  Mittel  erkennen. 
Wenn  unser  Dichten  und  Handeln  Ideen  erzeugt  und  fordert,  die 
jenseits  aller  Erfahrung  liegen**),  so  führen  dieselben  uns  in  eine 
eingebildete  Welt.    Darin  liegt  ihr  Nutzen,  obgleich  sie  uns 

*)  Diese  Umwälzung  ist  so  gewaltig,  das*  sie  das  Bestehende  von  Grund  auf 
erschüttern  konnte.  Darum  ist  naturgemäß  ein  bedeutender  Rückschlag  erfolgt,  eine 
Reaction  auf  die  große  Revolution.  Aber  es  wird  der  Welt  nichts  helfen,  sie  wird 
allmählich  Kant's  Lehren  als  wahr  anerkennen  und  annehmen  müssen;  denn  sie  ent- 
halten die  absolute  Wahrheit  von  Naturgesetzen.  Darum  darf  man  mit  Recht  sagen: 
„Auf  Kant  zurückgehen,  heißt  Fortschreiten/ 

**)  Ideen  definirt  Kant  als  „nothwendige  Vernunftbegriffe",  denen 
kein  congruirendcr  Gegenstand  in  den  Sinnen  gegeben  werden  kann.  Solche  Ideen 
»ind  z.  B.  die  Begriffe  Gott,  Freiheit,  Unsterblichkeit,  Teufel,  Hölle,  Erbsünde  etc. 

P*  Ugogium.   14.  Jahrg.  Heft  V.  21 


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—    290  — 

keine  Erkenntnisse  geben.  Wir  betrügen  uns,  wenn  wir  durch 
sie  unser  Wissen  erweitern  wollen;  wir  bereichern  uns,  wenn  wir 
sie  zur  Basis  unsers  Handelns  machen.  „Gegenstände  der  Sinne"» 
sagt  Kant  in  einem  ßriefe,  „können  wir  nie  anders  erkennen,  als  Mos 
wie  sie  uns  erscheinen,  nicht  nach  dem,  was  sie  an  sich  selbst  sind, 
—  nie  das  ,Ding  an  sich,  —  und  übersinnliche  Gegenstände  sind  für 
uns  keine  Gegenstände  unserer  theoretischen  Erfahrung."  Der  ratio- 
nalen Theologie  bewies  er,  dass  ihre  bekannten  drei  Beweise  für  das 
Dasein  eines  persönlichen  Gottes  nicht  haltbar  seien  und  nur  beweisen, 
„wie  die  Vernunft  vergeblich  ihre  Flügel  ausspanne,  um  über  die 
Sinnenwelt  durch  die  bloße  Macht  der  Speculation  hinauszukommen." 
Ebenso  bewies  er,  dass  die  Ideen  über  Willensfreiheit  und  Unsterb- 
lichkeit sich  nicht  beweisen  lassen.  Der  Glaube  an  einen  persönlichen 
Gott,  an  Willensfreiheit  des  Menschen  und  seine  Unsterblichkeit  seien 
nur  „Postulate  der  praktischen  Vernunft".  „Das  einzige  Abso- 
lute, was  der  Mensch  hat",  sagt  Fr.  Alb.  Lange  in  seiner  „Ge- 
schichte des  Materialismus",  rist  nach  Kant  das  Sittengesetz; 
von  diesem  festen  Punkte  aus  sind  alle  Ideen  der  Menschheit  zu 
ordnen.  Das  Ideale  ist  nicht  nach  vermeintlichen  Beweisen,  sondern 
nach  seinen  Beziehungen  zu  den  sittlichen  Zwecken  der  Menschheit 
zu  beurtheilen."  Sowie  unsere  sinnliche  Anschauung  mit  der  AU- 
gemeLngültigkeit  für  alle  Menschen  nur  möglich  ist  bei  jenen  ein- 
geborenen Stammbegriffen  (Kategorien),  mit  Hilfe  deren  der  zugeführte 
Stoff  verarbeitet  wird,  so  ist  eine  feste  und  für  alle  gültige 
Sittlichkeit  nicht  möglich  ohne  gewisse  eingeborene  Sitten- 
gesetze. Diese  dürfen  nicht  aus  der  Erfahrung  geschöpft  sein, 
sondern  müssen  a  priori  lediglich  in  den  Begriffen  der  reinen 
Vernunft  wurzeln,  „völlig  a  priori  blos  durch  die  Vernunft  vorge- 
stellt werden."  Dies  eingeborene  Sittengesetz  ist  da;  es  ist 
die  eingeborene  Liebe  zum  Guten,  die  eingeborene  unbe- 
dingte Nöthigung  zur  Pflicht,  der  „kategorische  Imperativ**. 
Dies  Sitten-  und  Pflichtgebot  ist  eine  „ganz  unmittelbare,  nicht  weiter 
abzuleitende  Vernunftthatsache".  Der  menschliche  Geist  ist  sein 
eigener  Gesetzgeber  und  bethätigt  und  genießt  in  dieser  Selbstgesetz- 
gebung seine  Freiheit.  Indem  der  Wille  seinem  sittlichen  Gesetze 
gehorcht,  gehorcht  er  sich  selbst.  Diese  Freiheit  ist  zwar  unbegreiflich 
wie  die  von  jedem  Menschen  gefühlte  innere  Verpflichtung;  aber  ohne 
Freiheit  sei  keine  Sittlichkeit,  also  müsse  sie  sein.  Die  sittliche 
Würde  und  Hoheit  der  Menschheit  liege  einzig  und  allein 
in  dieser  freien  Selbstbestimmung  der  sittlichen  Vernunft. 


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Durch  diese  Lebren  wurde  Kant  der  Reformator  der  Sitten- 
lehre und  der  große  Erzieher  der  Menschen  zu  echter  Sitt- 
lichkeit. 

Zunächst  ist  festzuhalten,  dass  Kant  damit  Sittlichkeit  und 
Sittenlehre  scharf  von  Frömmigkeit  und  Religion  abtrennte. 
Der  sittliche  Gesetzgeber  ist  nicht  Gott,  sondern  der  Mensch  selbst. 
Da  die  sittliche  Verpflichtung,  der  „kategorische  Imperativ"  dem 
Menschen  (zum  Unterschiede  von  den  Thieren)  so  eingeboren  ist  wie 
der  Geschlechtstrieb  und  die  Fähigkeit,  die  Erscheinungen  nach  Ur- 
sachen und  Wirkungen  miteinander  zu  verbinden,  so  müssen  sämnit- 
liche  Sittengesetze  im  Laufe  der  Jahrhunderte  und  Jahrtausende  durch 
die  Menschen  selbst  geschaffen  worden  sein.  Dies  gilt  auch  für  die 
heiligen  zehn  Gebote,  obschon  dieselben  nach  der  Erzählung  aus  dem 
Alten  Testamente  auf  dem  Berge  Sinai  von  Gott  selbst  gegeben 
worden  sind. 

Die  Sittlichkeit  hängt  mit  der  Frömmigkeit  der  Menschen  inso- 
fern zusammen,  als  beide  Richtungen  des  menschlichen  Denkens, 
Fühlens  und  Strebens  ihre  Grundquelle  in  der  uns  eingeborenen 
idealen  Liebe  haben,  die  sich  in  den  oben  erörterten  drei  Haupt- 
richtungen als  Liebe  zum  Großen  (Frömmigkeit),  Liebe  zum  Guten 
(Sittlichkeit)  und  Liebe  zum  Schönen  zeigt.  Sittlichkeit  führt  auch  zu 
echter  Frömmigkeit  (s.  Kants  Vorrede  zu  „Religion  innerhalb  der 
Grenzen  der  bloßen  Vernunft");  aber  sie  hat  in  dieser  Fröm- 
migkeit nicht  ihre  Quelle.  Im  Gegentheil  darf  echte  Sittlichkeit 
eher  als  die  Quelle  der  echten  Frömmigkeit  betrachtet  werden,  denn 
eine  solche  Gefühlsgrundlage  besitzt  in  voller  Reinheit  nur  ein  wahr- 
haft sittlicher  Mensch.  Sie  ist  ohne  wahre  Sittlichkeit  gar  nicht  denkbar 
und  erhält  durch  sie  erat  ihren  wahren  Wert. 

Darum  ist  die  Sittenlehre  nach  Kant  von  der  Religion  und 
ihren  Lehren  und  Dogmen  ganz  unabhängig.  Sie  muss  sogar 
die  kirchlichen  Gebote  und  Forderungen,  welche  an  ein  bestimmtes 
sittliches  Thun  und  Lassen  Drohung  von  Strafen  und  Verheißung  von 
Belohnungen  auf  Erden  und  im  Jenseits  knüpfen,  als  unsittlich  und 
gefährlich  abweisien  und  verwerfen.  Es  ist  durchaus  falsch, 
einen  Menschen,  der  an  die  Dogmen  der  herrschenden  Kirche  nicht 
glaubt,  als  unsittlich  zu  bezeichnen.  Kant  sagt  ausdrücklieh,  „dass 
ein  Mann,  der  sich  festiglich  überredet  halte,  es  sei  kein  Gott  und 
kein  künftiges  Leben,  dennoch  rechtschaffen  und  dem  Rufe  seiner 
inneren  sittlichen  Bestimmung  anhänglich  bleiben  könne".  „Der  sitt- 
liche Mensch",  heißt  es  in  der  Vorrede  zur  „Religion  innerhalb 

21  * 


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der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft44,  bedarf,  um  seine  Pflicht  zu 
kennen  und  zu  beobachten,  weder  der  Idee  eines  andern  Wesens 
über  ihm,  noch  einer  andern  Triebfeder  als  des  Gesetzes 
selbst.44*)  Der  kategorische  Imperativ,  d.  h.  die  uns  eingeborene 
Verpflichtung  zum  sittlichen  Handeln,  löst  sich  auf  in  einzelne  Impe- 
rative, die  uns  unbedingt  zu  bestimmten  Handlungen  veranlassen. 
Dieselben  stammen  lediglich  aus  der  Vernunft  und  der  uns 
eingeborenen  Liebe  zum  Guten.  Darum  sagt  Kant  mit  Recht: 
„Das  Princip  der  Sittlichkeit  liegt  allen  Handlungen  vernünftiger 
Wesen  so  zu  Grunde,  wie  das  Naturgesetz  allen  Erscheinungen.4 
„Ist  der  menschliche  Wille  rein44,  heißt  es  in  der  „Kritik  der  prakti- 
schen Vernunft44,  „so  ist  sein  alleiniger  Bestimmungsgrund  das  mora- 
lische Gesetz/  Es  fallt  mithin  selbst  die  Verpflichtung,  das  Gute  zu 
thun  aus  Liebe  und  Ehrfurcht  gegen  Gott.  „Die  Annahme",  sagt 
Kant  weiter,  „dass  Gott  der  Urgrund  unserer  Verbindlichkeit  zur  Be- 
folgung der  Sittengesetze  sei,  ist  nicht  nothwendig;  denn  dieser 
Grund  beruht  (wie  hinreichend  bewiesen  worden)  lediglich  auf 
der  Autonomie  der  Vernunft  selbst."  Damit  fallen  selbstver- 
ständlich sämmtliche  Drohungen  mit  Gottes  Zorn  und  Strafgericht 
und  sämmtliche  Verheißungen  seiner  Belohnung  auf  Erden  und  im 
Jenseits,  denn  durch  den  Hinblick  auf  dieselben  wird  der  That  der 
Charakter  einer  echt  sittlichen  ganz  geraubt. 

Bei  einem  kategorischen  Imperativ  ist  jede  Frage  nach 
dem  Warum  des  Sollens  als  thöricht  abzuweisen.  Dies  gilt 
für  die  Sittengesetze  wie  für  die  Naturgesetze,  bei  denen  es  sich  statt 
des  Sollens  um  das  Müssen  handelt.  Will  man  Gott  als  den 
Schöpfer  der  Natur-  und  der  Sittengesetze  hinstellen,  so  hat  dieser 
Glaube  seine  volle  Berechtigung;  aber  daraus  folgt  nicht,  dass  der 
Zwang,  etwas  thun  zu  müssen  (Abhängigkeit  von  Naturgesetzen), 
oder  der  kategorische  Imperativ,  etwas  thun  zu  sollen  (Abhängigkeit 
vom  Sittengesetz)  in  jedem  besondern  Falle  auf  dieses  unseres  Schöpfers 
besonderen  Willen  und  Befehl  zurückzuführen  sei.    Der  wahrhaft 


*)  An  das  Dasein  Gottes  zu  glaubeu  und  unser  Verhältnis  zu  ihm  als  dem 
Schöpfer,  Erhalter  und  Regierer  der  Welt  und  liebenden  Vater  aller  Menschenkinder 
festzuhalten  und  zu  regeln,  ist  Sache  der  Religion,  nicht  der  Sittlichkeit. 
Um  diesen  Unterschied  klar  zu  erkennen,  studirc  man  Kant,  namentlich  seine 
„Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten",  „Kritik  der  praktischen 
Vernunft"  und  „Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft." 
Freilich  gehört  dazu  nothwendig,  dass  man  vorher  seine  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" sehr  sorgfältig  studirt  habe. 


—    293  — 


sittliche  Mensch  thut  das  Gute  lediglich  um  des  Guten  willen,  weder 
in  Hoffnung  auf  irgend  eine  Belohnung  noch  aus  Furcht  vor  irgend 
einer  Strafe  hier  auf  Erden  oder  im  Jenseits.  Wer  wahrhaft  sittlich 
bandelt,  denkt  bei  Vorsatz  und  Ausführung  weder  an  Gott*),  noch  an 
irgend  eine  fromme  oder  kirchliche  Verpflichtung.  Sobald  ihm  solche 
Gedanken  in  den  Sinn  kommen,  —  etwa  bei  der  Überlegung  vor 
einer  That,  —  wird  er  sofort  misstrauisch  gegen  die  Reinheit  seiner 
sittlichen  Gesinnung.  Dies  Misstrauen  ist  bei  der  gegenwärtigen  Er- 
ziehung durch  die  kirchliche  Sittenlehre  wol  begründet,  und  es  ist 
jedem  Menschen  nur  zu  rathen,  bei  seiner  Selbstprüfung  und  Selbst- 
erziehung darauf  ernstlich  zu  achten.  Das  Gefühl,  welches  den  wahr- 
haft sittlichen  Menschen  nach  treuer  Erfüllung  schwerer  Pflichten, 
namentlich  nach  einer  recht  schweren  Unterdrückung  seiner  sinnlichen 
Triebe  und  Neigungen  ergreift,  ist  nicht  das  Bewusstsein,  Gottes 
Willen  gethan  und  damit  Gottes  Liebe  erworben  zu  haben,  sondern 
wie  Kant  sagt:  „Die  Achtung  für  uns  selbst  im  Bewusstsein 
unserer  Freiheit."  Wir  fühlen,  dass  wir  vor  uns  selber  be- 
stehen können,  dass  wir  unserer  Menschenwürde  gemäß  ge- 
handelt haben.  Ein  echt  sittliches  Handeln  macht  uns  unmittelbar 
nicht  frömmer;  aber  es  macht  uns  ernster  und  mehr  geneigt,  auch 
eine  echt  fromme  Gesinnung  in  uns  auszubilden,  denn  wir  fühlen  die 
sittliche  Verpflichtung,  auch  die  Ehrfurcht  gegen  alles  Heilige  in  uns 
groß  zu  ziehen,  rGott  zu  geben,  was  Gottes  ist".**)  Die  Gefühle, 
welche  durch  sittliches  Streben  und  Handeln  in  uns  ausgebildet  worden, 
sind  jedoch  nicht  religiöser  Art,  haben  mit  dem  Übersinnlichen  ganz 
nnd  gar  nichts  zu  thun,  und  knüpfen  sich  demgemäß  auch  nur 


*)  Der  sittliche  Mensch  denkt  an  Gott  bei  Ereignissen  in  Freude  und  Leid, 
im  Glück  oder  Unglück  und  in  den  Geschicken  und  Wechselfällen  des  Lebens, 
die  ihn,  seine  nächsten  Lieben,  seine  Mitbürger  oder  die  Gesammtheit  aller  Menschen 
betreffen,  aber  nicht  bei  »einem  Handeln,  für  dos  er  sich  allein  oder  seinen 
Mitmenschen  gegenüber  verantwortlich  ist.  Darum  ist's  filr  ihn  z.  B.  ganz  gleich- 
gültig, ob  er  vor  Gericht  die  Eidesformel  in  einfacher  oder  in  feierlicher  Weise, 
knieend,  mit  der  Hand  am  Crucifix  ablegen  soll.  Er  spricht  die  Wahrheit  auch 
ohne  solch  eine  Verpflichtung,  lediglieh  um  der  Wahrheit  willen,  aus  Achtung 
vor  dem  Gesetz.  Der  Gedanke  an  Gottes  Strafgericht,  das  den  Meineidigen 
hier  auf  Erden  oder  im  Jenseits  ereilen  kftnne,  kommt  ibm  dabei  gar  nicht  in 
den  Sinn. 

**)  In  dieser  Weise  „führt  Sittlichkeit  zur  Religion".  Es  ist  klar,  dass  damit 
nicht  die  Verpflichtung  gemeint  ist,  an  bestimmte  geforderte  Dogmen  der  einzelnen 
Kirchen  zn  glauben.  Den  Glauben  uberlässt  die  Sittlichkeit  der  individuellen  Über- 
zeugung. 


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an  das  Leben  auf  dieser  unserer  Erde.  Der  Glaube  an  Un- 
sterblichkeit und  an  das  Leben  im  Jenseits  hat  mit  der  Sittlichkeit 
nichts  zu  thun,  sondern  gehört,  sowie  der  Glaube  an  Gott  ins  Gebiet 
der  Religion.  (Schlags  folgte 


Johann  Jakob  Wehrli, 
der  erste  thurgauische  Seniinar-Director. 

Von  Dr.  H.  Morf-Winterthur. 

(Schlug.) 

- 

o. 

Da  Wehrli,  wie  schon  nachgewiesen,  in  der  verbesserten  Land- 
wirtschaft die  Grundbedingung  aller  wahren  Volkscultur  er- 
kannte, ließ  er  sich  die  Förderung  derselben  auch  außerhalb  des 
Seminars  mit  großem  Eifer  angelegen  sein.  So  veranlasste  er  1835 
die  Gründung  eines  landwirtschaftlichen  Vereins,  um  durch 
denselben  nicht  nur  eine  rationellere  Bearbeitung  des  Bodens  und  ein- 
sichtigere Betreibung  der  Viehzucht,  sondem  auch  eine  edlere,  der 
culturellcn  Bedeutung  der  Landwirtschaft  genugthuende 
Auffassung  des  Bauernberufes  zu  verbreiten.  Er  nannte  die  Ge- 
sellschaft mit  Vorliebe  Bauern  verein.  Es  übte  derselbe  nach  und 
nach  großen,  wolthätigen  und  weitreichenden  Einfluss  auf  die  Bauern- 
schaft und  die  Betreibung  ihres  Geschäftes  aus,  weil  ihm  bald  alle 
bedeutenderen  Landwirte  und  die  einflussreichsten  Männer  des  Cantons 
beitraten.  Wehrli  wurde,  wie  billig,  an  die  Spitze  des  Vereins  gestellt. 

Mit  gleichem  Erfolge  wirkte  er  für  die  Errichtung  einer  can- 
tonalen  landwirtschaftlichen  Schule.  Im  Jahr  1839  ordnete  der 
Erziehungsrath  eine  landwirtschaftliche  Knabenanstalt  an,  noch  in 
Verbindung  mit  dem  Seminar  und  mit  der  Beschränkung  auf  Garten- 
und  Gemüsebau,  stellte  sie  aber  1841  selbststandig,  verlegte  sie  in  die 
Wirtschaftsgebäude  des  Klosters  Kreuzlingen  und  wies  ihr  ein  an- 
sehnliches Areal,  bis  auf  60  Jucharten,  an.  Die  Anstalt  wurde  ganz 
nach  Weh rli 's  Sinn  organisirt,  als  „eine  volkstliümliche  Erzieluings- 


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-    295  — 


anstalt  für  Bauernsöhne".  Die  Führung  derselben  wurde  einem  seiner 
tüchtigsten  Zöglinge,  Well  au  er,  übertragen.  Ihre  Leistungen  wurden 
bald  allgemein  anerkannt  und  gereichten  dem  Gründer  und  dem  Vor- 
steher zur  Ehre. 

Da  die  Armenerziehung  immer  Wehrli's  Herzenssache  war  und 
blieb,  ruhte  er  nicht,  bis  er  die  Gründung  einer  landwirtschaftlichen 
Armenschule  zur  Aufnahme  verwahrloster  Knaben  zu  Stande  gebracht 
hatte.  Als  die  nöthigen  Geldmittel  gesammelt  waren,  wurde  auf  dem 
Bernrain,  nahe  dem  Schlachtfeld  von  Schwaderloch,  eine  kleine  Stunde 
vom  Seminar  entfernt,  ein  Landgut  angekauft,  das  von  edlen  Obst- 
bäumen besetzt  war  und  eine  herrliche  Aussicht  bot  über  Constanz, 
Ereuzlingen,  die  Ufer  des  Boden-  und  Untersees.  Hier  wurde  die 
landwirtschaftliche  Armenschule  am  11.  December  1843  mit  5  Zög- 
lingen eröffnet  und  eingeweiht.  Auf  Wehrli's  Rath  wurde  sein 
Zögling  und  Schüler  Johannes  Bissegger  an  die  Spitze  derselben  ge- 
stellt Die  Wahl  war  eine  überaus  glückliche.  Mit  unbegrenzter  Hin- 
gebung, in  rastloser  Thätigkeit,  mit  seltenem  pädagogischen  Geschick, 
mit  rührender  Treue,  ein  zweiter  Wehrli,  lebte  er  seinem  schweren 
Arote  über  vierzig  Jahre  und  erfreute  sich  der  schönsten  Erfolge. 
Nur  die  Erschöpfung  der  Kräfte  konnte  ihn  zu  dem  Entschlüsse  bringen, 
seine  ihm  ins  Herz  gewachsene  Anstalt  und  seine  lieben  Pflegesöhne 
zu  verlassen  und  im  nahen  Kreuzlingen  Tage  der  wolverdienten  Ruhe 
zu  genießen.  Aber  er  sollte  deren  sich  nicht  lange  erfreuen.  Trotz 
der  liebevollsten  Pflege,  mit  der  ihn  die  Seinen  umgaben,  erlosch  sein 
Leben  bald,  und  er  ging  seiner  Gattin,  der  treuen,  wackern  Gehilfin 
in  seiner  langen  Erzieherlaufbahn,  voran. 

6. 

So  reichte  Wehrli's  Wirksamkeit  weit  über  die  Mauern,  die 
Gärten  und  Felder  seines  Schlösschens,  ja  selbst  über  die  Grenzen  des 
Cantons  hinaus.  Welches  Ansehen  er  genoss,  das  zeigte  namentlich 
das  landwirtschaftliche  Fest,  das  am  1.  und  2.  October  1846  zu  Bürgeln 
gefeiert  wurde.  Es  bildete  den  Höhe-  und  Glanzpunkt  des  Zeugnisses 
für  seine  Erziehungsbestrebungen. 

„Er  hatte  die  Landwirtschaft  als  Schulmann  aufgefasst  und  in 
seinen  Unterrichtsplan  im  Seminar  aufgenommen.  Auf  seinen  Betrieb 
hatte  die  Gesetzgebung  den  Schullehrern  als  Besoldungstheil  ein  Stück 
Land  zugewiesen  und  dadurch  die  Verbindung  der  landwirtschaftlichen 
Interessen  mit  den  Interessen  der  Schule  gleichsam  documentirt. 
Durch  ihn  war  man  zu  der  Erkenntnis  gelangt,  dass  in  der  ländlichen 


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Beschäftigung  das  zuverlässigste  und  nachhaltigste  Erziehungsmittel 
gegeben  sei.  Bei  dem  Feste  selbst  waren  es  die  mittelbaren  und  un- 
mittelbaren Schüler  Wehrli's,  die  Zöglinge  der  landwirtschaftlichen 
Schule,  die  Zöglinge  des  Seminars,  einzelne  durch  Wehr  Ii  für  die 
Landwirtschaft  gewonnene  Lehrer,  welche  zur  Ausschmückung  des 
Festlocals,  zur  Einordnung  der  Ausstellungsgegenstände,  zur  Ver- 
herrlichung der  Feier  durch  harmonische  Gesänge  das  Wesentlichste 
beigetragen  hatten,  um  das  landwirtschaftliche  Fest,  die  Decenniums- 
feier  des  landwirtschaftlichen  Vereins,  zu  einem  allgemeinen  schönen 
Volksfeste  zu  machen. 

Mochten  andere  bei  der  Betrachtung  der  Ausstellungsproducte 
die  Mannigfaltigkeit  und  Vollkommenheit  derselben  bewundern  oder 
aus  denselben  auf  die  Ertragsfahigkeit  des  Bodens  und  die  Vortheile 
des  Climas  thurgauischer  Gelände  Schlussfolgerungen  ziehen;  — 
mochten  wieder  andere  vom  finanziellen  oder  kaufmännischen  Stand- 
punkte aus  zu  Vergleichungen  des  landwirtschaftlichen  Gewerbes  mit 
anderen  Gewerben  sich  veranlasst  fühlen,  oder  die  Kehrseite  des 
Landbaues,  die  Mühen  und  die  Zinslasten  des  Landmanns  jenem  Ernte- 
reichthum der  Ausstellung  entgegen  halten;  —  mochten  endlich  die 
eifrigsten  unter  den  Festbesuchern  den  Kunstgriffen  nachforschen, 
vermittelst  welcher  der  Erde  so  ausgezeichnete  Producte  abgewonnen 
wurden:  —  bei  Wehrli  und  seinen  geistesverwandten  Freunden  war 
doch  bei  diesem  Feste  die  Hauptfreude  die,  in  der  Productenausstel- 
lung  und  in  der  allgemeinen  Theilnahme  des  Volks  den  Triumph  der 
naturgetreuesten,  landwirtschaftlichen  Erziehungs weise  zu  erkennen. 

Wehrli  war  die  Seele  des  landwirtschaftlichen  Festes,  und  mit 
vollstem  Rechte  desselben  Präsident. 

Es  gehört  nicht  hierher,  die  Einrichtung  und  den  Verlauf  des 
Festes  zu  beschreiben  oder  die  Volksmenge,  die  daran  theiinahm,  mit 
Zahlen  zu  bezeichnen,  oder  die  Herzensergießungen ,  Kraftworte  und 
Witzspiele  der  verschiedenen  Festredner  in  Erinnerung  zu  bringen, 
oder  die  ausgezeichnetsten  Gäste,  welche  aus  den  Nachbarcantonen 
und  auch  aus  den  entfernteren  Cantonen  Aargau  und  Bern  dabei  sich 
einfanden,  zu  nennen.  Ähnlicher  Aufmerksamkeit  werden  ja  oft  auch 
Dinge  gewürdigt,  die  nur  lustiger  Natur  sind.  Dass  aber  Lehrer  und 
Schulvorsteher  nach  den  eigentlichen  Festtagen  mit  ihren  ganzen 
Schulbevölkerungen  ein  Nachfest  begingen  und  den  jugendlichen 
Seelen  den  Segen  und  die  Würde  des  sonst  so  gering  geachteten 
Bauerngewerbes  in  seiner  rationellen  Umgestaltung  vor  Augen  hielten, 
war  ein  Beweis,  dass  Wehrli's  Erziehungsgrundsätze  in  die  Tiefe 


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—    297  - 


gedrungen  waren  und  auch  an  zukünftigen  Früchten  und  Erfolgen 
reich  sein  werden."  (Pupikofer.) 

7. 

Diese  erfolgreiche  Thätigkeit  nach  außen  minderte  Wehrli's 
Sorgfalt  und  Eifer  für  den  Mittelpunkt  seines  Wirkens,  für  das  Se- 
minar, in  keiner  Weise.  Von  den  Erlebnissen,  wie  das  eben  geschil- 
derte, von  seinen  Besuchen  in  seinem  lieben  Bernrain,  in  der  nahen 
landwirtschaftlichen  Schule,  von  Versammlungen  des  landwirtschaft- 
lichen Vereins  kehrte  er  immer,  erfrischt  und  ermuntert,  mit  neuer 
Kraft  und  neuer  Lust  in  seine  Anstalt  zurück.  Der  spätem  Ge- 
schehnisse wegen  ist  wol  angezeigt,  das  Urtheil  eines  Zöglings  des 
Wehrirschen  Seminars  über  Wesen  und  Geist  der  Anstalt  hier 
folgen  zu  lassen.  Der  als  tüchtig  anerkannte,  vor  etlichen  Jahren 
Heimgegangene  Schulmann  Schlegel  redet  aus  eigener  Anschauung 
und  Erfahrung  also: 

„Das  Seminar  war  Wehrli  Herzensangelegenheit.  Dieser  ersten 
Pflicht  lebte  er  mit  ganzer  Seele,  mit  der  größten  Gewissenhaftigkeit. 
Obschon  vielseitig  in  Anspruch  genommen  (viel  Zeit  erforderte  auch 
seine  ausgedehnte  Correspondenz),  gab  er  regelmäßig  seine  Unter- 
richtsstunden und  war  selten  von  Hause  abwesend." 

„Er  zersplitterte  seine  Kraft  nicht  an  alle  möglichen  Nebendinge 
und  Nebengeschäfte,  die  mit  seiner  Hauptaufgabe  in  keiner  engen  Be- 
ziehung standen,  sondern  er  concentrirte  seine  Thätigkeit  auf  die 
stete  Vervollkommnung  seiner  Anstalt,  die  seiner  Gegenwart  bedurfte. 
Er  befasste  sich  vielleicht  aus  diesem  Grunde  höchst  selten  mit 
schriftstellerischen  Arbeiten.  Von  der  Politik  hielt  er  sich 
stets  ferne." 

„Gleich wol  drängte  es  ihn,  seinen  gemeinnützigen  Sinn  auch  noch 
weiterhin  zu  bethätigen,  seine  reichen  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete 
der  Armenerziehung,  der  Volksbildung  und  der  Landwirt- 
schaft zu  verwerten.  Immerhin  war  aber  die  Wirksamkeit  außer 
dem  Seminar  eine  solche,  die  mit  seiner  Lebensaufgabe  in  innigstem 
Zusammenhang  stand." 

„Wehrli  hielt  große  Stücke  auf  den  familiären  Charakter  der 
Anstalt  Er  erkannte  im  Convict  einen  sittlichen  Hebel  der  Lehrer- 
bildung. Es  hängt  wol  wesentlich  von  der  Persönlichkeit  des  Con- 
victführers  und  der  ganzen  Leitung  ab,  ob  ein  Internat  sich  schädlich 
erweise,  oder  ob  es  auf  den  Charakter  und  die  Sittlichkeit  der  Zög- 
linge wolthätigen  Einfluss  ausübe.  Wehrli's  Seminar  machte  auf 
uns  nie  den  Eindruck  klösterlicher  Zucht  und  Abschließung. 


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—    298  — 


Gegentheils  waltete  in  dieser  Anstalt  allezeit  ein  trefflicher, 
pädagogischer  Geist.  Milde  und  Freundlichkeit  war  der 
herrschende  Ton.  Die  liebevolle  Behandlung  weckte  volles 
Vertrauen.  Die  Zöglinge  fühlten,  dass  sowol  die  Ermunte- 
rung, als  die  Warnung  aus  wolwollendem  Herzen  floss.  Willig 
folgten  sie  meist  dem  väterlichen  Rath.  Das  Verhältnis 
zwischen  Lehrern  und  Schülern  war  ein  vertrauliches,  unge- 
zwungenes. So  gestaltete  sich  das  Seminarleben  zu  einem 
wahren  Familienleben.  —  Regelmäßig  versammelte  Wehrli 
in  einer  Abendstunde  sämmtliche  Zöglinge,  um  gemeiusam 
die  Beobachtungen  und  die  Vorfälle  des  Tages  zu  besprechen 
Es  waren  Stunden  sittlich  religiöser  Prüfung.  Es  geschah 
dies  mit  einem  Ernst  und  einer  Milde,  die  jedem  ans  Herz 
griff." 

„Erkrankte  ein  Zögling,  so  nahm  ihn  die  Hausmutter  in  ihre 
Pflege.  Geübt  in  der  Krankenbehandlung  erwies  sie  sich  als  treue 
Pflegemutter,  unermüdlich  bei  Tag  und  in  der  Nacht.  —  Wer  bei 
Wehrli  war,  widmet  auch  der  ,Mutter  Wehrli'  ein  freundliches 
Andenken." 

„Es  war  Wehrli's  lebendige  Überzeugung,  dass  der  Garten-  und 
Gemüsebau  ein  höchst  beachtenswertes  Erziehungsmittel  sei,  deshalb 
sah  er  die  Beschäftigung  mit  Landbau  als  einen  integrirenden  Theil 
der  Lehrerbildung  an.  Derselbe  sei  körperlich  stärkend,  gemüth- 
bildend,  ein  treffliches  Mittel,  die  Sinne  zu  wecken,  die  beste  Übung 
zur  leiblichen  Selbstständigkeit-,  er  bezwecke  Ordnungssinn  und  Arbeits- 
lust, haushälterische  Einfachheit  und  Sparsamkeit.  Wehrli  erblickte 
in  solcher  Arbeit  ein  vermittelndes  Element  zwischen  Schule  und 
Haus,  ein  Mittel  zu  innigem  Verkehr  mit  dem  Volk,  insbesondere  mit 
der  Bevölkerung  agricoler  Landestheile.  Sie  sei  eine  gesunde  Ab- 
wechslung und  die  beste  Erholung  nach  geistigem  Schulunterricht. 
Wol  hatte  die  Anstalt  auch  Vorrichtungen  zu  Turnübungen;  doch  be- 
trachtete er  lieber  den  Acker  als  den  großen  Turnplatz  seines  Se- 
minars." 

„Jeder  Zögling  hatte  —  in  einer  bestimmten  Wechselordnung  — 
ein  Amt  als  Aufseher  über  die  Schlafsäle,  über  die  Arbeiten  im  Hot 
bei  Tisch,  im  Garten,  im  Holzschopf.  Jeder  erhielt  auch  ein  Stück 
Boden  zu  seiner  Bearbeitung.  Die  meisten  Zöglinge  arbeiteten  mit 
rechter  Lust." 

„Nach  den  Grundsätzen  Wehrli's  war  das  Seminar  nicht  nur 


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—    299  - 


Unterrichts-,  sondern  insbesondere  auch  Erziehungsanstalt.  Der 
Lehrer  müsse  zum  Erzieher  zuerst  selbst  erzogen  werden.  Er  legte 
das  Hauptgewicht  auf  die  Bildung  des  Charakters.  Das  Motto 
an  der  Front  des  Anstaltsgebäudes:  „ora  et  labora",  charakterisirte 
Wehrli's  Streben,  den  Geist  und  die  Richtung  des  Seminars.  Vor 
allem  forderte  er  von  einem  Erzieher  der  Jugend  und  des  Volkes  ein 
gesundes  Herz,  einen  hellen  Kopf,  eine  anstellige,  arbeitsame 
Hand.  Das  Ideal  einer  Volksschule  auf  dem  Lande  war  ihm  die 
mit  Garten-  und  Gemüsefeld  umgebene  und  mit  einer  Werkstätte 
versehene  Schule,  so  dass  der  Lehrer  neben  dem  Unterricht  im  Zimmer, 
oder  vielmehr  mit  demselben  abwechselnd,  die  Kinder  anleiten  könne, 
denkend  zu  arbeiten  und  arbeitend  zu  denken,  körperlich  und  geistig 
sich  zu  üben  und  zu  erholen,  schwächeren  und  weniger  gewandten 
Schülern  dienstfertig  nachzuhelfen." 

„Wer  Wehrli  sah  und  kannte,  musste  ihn  hochschätzen  und 
lieben.  Die  äußere  Erscheinung  entsprach  ganz  dem  inneren,  einfachen, 
schlichten  Wesen.  Der  kleine  Mann  imponirte  freilich  nicht  durch 
seine  Gestalt,  wol  aber  durch  seine  reine  Gesinnung,  den  großen 
Charakter,  die  reiche  Erfahrung,  durch  den  Seelenadel,  der  in  seinem 
Auge,  in  seinem  geistigen  Gesichtsausdrucke  sich  abspiegelte.  Seine 
hohe,  gewölbte  Stirn  verrieth  den  denkenden,  forschenden  Geist;  seine 
beobachtenden  Augen  leuchteten  wie  zwei  helle  Sterne;  sie  waren  der 
reinen  Seele  treues  Abbild.  Es  war,  als  ob  sie  in  unser  Innerstes 
blickten  und  lesen  wollten,  was  im  Grunde  des  Herzens  vorging.  Das 
Äußere  deutete  bei  ihm  auf  ein  reiches  Innenleben.  Sein  Aussehen 
war  gesund,  blühend,  jugendfrisch.  In  seinen  Manieren  war  nichts 
Affectirtes,  Geziertes,  Gezwungenes,  Gesuchtes.  Er  gab  sich,  wie  er 
war;  sein  Thun  war  natürlich,  ansprechend,  liebenswürdig.  In  seiner 
Kleidung  erschien  er  sauber,  ordentlich,  angemessen.  Das  war  nun 
allerdings  nicht  ganz  pestalozzisch,  aber  doch  recht.  Ei-  mied  alles 
Auffallende.  Stand  er  unterrichtend  vor  seiner  Classe,  so  hatte  er 
nicht  selten  die  Hände  über  den  Rücken  geschlagen.  Hielt  er  aber 
mit  der  Rechten  ein  Buch,  so  legte  er  die  Linke  über  die  Brust. 
War  er  im  Begriffe,  mit  seinen  Schülern  eine  schwierige  Aufgabe  zu 
lösen,  so  pflegte  er  wol  die  obere  Zahnreihe  über  die  Unterlippe  zu 
legen.  —  So  steht  Wehr  Ii' s  Bild  noch  heute  ganz  deutlich  vor 
unserer  Seele/ 

„Goethe's  Satz:  Tages  Arbeit!  Abends  Gäste!  Saure  Wochen! 
Frohe  Feste!  fand  auch  im  Kreuzlinger  Seminarleben  Anwendung. 
Auch  da  folgten  der  Arbeit,  dem  angestrengten  geistigen  Studium 


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I 


-    300  - 

als  wolthätige  Abwechslung  frohe  Spiele,  häusliche  gesellige  Fest- 
freuden  verschiedener  Art.  Wehrli  war  kein  Freund  von  finsterm 
Geist  und  Kopf  hängerei ;  er  liebte  jugendlich  heitern  Sinn,  fröhliches, 
frisches,  natürliches  Wesen.  Gern  gewährte  er  den  jungen  Leuten 
eine  Freude  „in  Ehren'4.  Schon  die  botanischen  Excnrsionen  machten 
uns  viel  Vergnügen,  noch  mehr  die  gemeinsamen  Ausflüge  und  Spazier- 
gänge am  Sonntag  Nachmittag,  besonders  wenn  damit  auch  eine 
Einkehr  verbunden  war.  Am  Geburtstage  Wehrli's  machten  wir 
eine  genussreiche  Reise  auf  den  Hohentwiel,  wo  Gesang  und  Rede 
das  Fest  verherrlichten.  Eine  hohe  Lust  war  uns  die  Seefahrt  nach 
dem  gegenüberliegenden  Mörsbnrg,  wo  wir  dem  badischen  Seminar 
einen  Besuch  abstatteten.  Seminardirector  Nabholz,  mit  dem  Wehrli 
in  freundschaftlichem  Verkehre  stand,  kam  mit  seinen  Seminaristen 
auch  herüber,  um  uns  einen  Gegenbesuch  zu  machen.  Wehrli  nahm 
uns  gern  in  die  Versammlungen  des  landwirtschaftlichen  Vereins  mit, 
wo  wir  auch  etwas  durch  Gesangsvorträge  zur  Verherrlichung  der 
Feste  beitragen  durften.  Er  gestattete  uns  regelmäßig,  an  den  can- 
tonalen  Sängerfesten  activ  theilzunehmen.  Ebenso  besuchten  wir  ein 
Sängerfest  im  nahegelegenen  Constanz.  Wehrli  war  mit  den  dortigen 
Professoren,  wie  Schmal  holz  u.  a.,  innig  befreundet.  Sie  ersuchten 
ihn,  einen  Toast  zu  bringen.  Und  als  sich  der  anspruchslose  Wehrli 
weigerte,  wurde  er  unter  dem  Jubel  der  Menge  auf  die  Rednerbühne 
getragen.  —  Recht  willkommen  und  angenehm  waren  uns  stets  die 
Sonn  tags- Abendunterhaltungen  im  Seminar,  denen  alle  Seminarlehrer, 
die  ganze  Familie  Wehrli  und  oft  noch  Befreundete  von  Constanz 
oder  Kreuzlingen  beiwohnten.  Da  wechselten  Chor-  und  Quartett- 
gesänge, Scherz  und  Emst  in  Declamation  und  dramatischen  Auf- 
führungen. Die  Auswahl  der  Gedichte  und  die  Anordnung  des 
Ganzen  war  gänzlich  der  Seminaristen-Abtheilung  überlassen,  die  nach 
der  Reihenfolge  für  Unterhaltung  zu  sorgen  hatte.  In  Ermangelung 
gedruckter,  passender  Theaterstücke  wurden  dieselben  wol  auch  von 
den  Seminaristen  selbst  fabricirt,  Waren  sie  auch  nicht  bühnengerecht 
angelegt,  so  machte  die  Aufführung  doch  oft  viel  Kurzweil.  So  be- 
schlossen wir,  als  die  Reihe  wieder  an  unsere  Bankabtheilung  kam, 
ein  Schattenbild  der  Schule,  die  alte  Regelwerk-,  Schablonen-  und 
Gedächtnisschule  vorzuführen,  den  pedantischen  Schulmeister  saramt 
seiner  steifen,  mechanischen  Methode  zu  persifliren.  Wie  es  schien, 
war  uns  die  komische  Darstellung  gelungen;  denn  Wehrli  freute  sich 
herzlich  und  klatschte  uns  Beifall  zu.  —  Das  war  die  helle,  heitere 
Seite  des  Seminarlebens,  seine  Poesie.   Denen,  die  zur  Ferienzeit  in 


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der  Anstalt  blieben,  war  zu  Spiel  und  Freude  noch  mehr  Raum  ver- 
gönnt So  überstiegen  wir  „Hörnlianer"  in  der  Morgenfrühe  des 
31.December  mittelst  Leitern  die  Umfassungsmauern  des  „Schlössli", 
stellten  uns  mit  unsern  Violinen  und  andern  Instrumenten  im  Hofe  in 
einen  Kreis  und  brachten  den  Sylvestern  ein  gar  köstliches  Concert. 
Wehrli  vertrug  die  Lustigkeit,  den  jugendlichen  Frohmuth,  sogar 
manche  Unebenheiten,  wenn  sie  nur  nicht  gute  Sitte  und  Anstand 
verletzten. u 

„Hell  leuchtet  uns  vom  pädagogischen  Himmel  Wehrli 's  Stern 
hernieder.  Wehrli  war  ein  Meister  im  Unterricht;  ein  Vater  in  der 
Erziehung;  er  war  schlicht  und  wahr,  treu  und  bieder.  Mit  dank- 
barem Herzen  gedenken  seine  Schüler  der  schönen  Stunden  des  Unter- 
richts, die  sie  bei  ihm  genossen.  Sagt,  Freunde,  wars  für  uns  nicht 
jedesmal  hoher  Genuss,  wenn  Wehrli,  von  innerster  Freude  verklärt, 
in  unsere  Mitte  trat?  Brachte  nicht  seine  Gegenwart  eine  festliche, 
sonntägliche  Stimmung  in  unser  Gemüth?  Waren  wir  nicht  Aug'  und 
Ohr,  wenn  er  entwickelte  und  mittheilte?  Wie  selten  einer,  verstand 
er's,  die  jungen  Geister  zu  wecken  und  sie  mit  hohen  Gedanken  zu 
erfüllen.  Sein  Unterricht  war  Weckung,  Kräftigung,  Anregung  zur 
Selbstthätigkeit  und  praktischen  Tüchtigkeit;  sein  Unterricht  trieb 
zur  Fortbildung,  zur  Arbeitsfreudigkeit.  Wo  er  war  und  wirkte,  war 
Leben  und  Streben  nach  Gutem  und  Rechtem.  Sein  Kernwort  und 
seine  Mahnstimme  hieß:  .Harmonische  Ausbildung  aller  Kräfte  ist 
wahre  Erziehung.  Bildet  drum  im  Schüler  hellen  Kopf,  gesundes 
Herz  und  eine  arbeitende  Hand!  Studirt  fleißig  die  Kindesnatur  und 
bildet  euch  selbst  durch  eigenes  Nachdenken  und  Beobachten!  Werdet 
echte  Jünger  des  größten  Meisters  und  Erziehers!'  —  Was  mich  immer 
am  stärksten  zu  Wehrli  zog,  und  was  mich  wie  Sonnenschein  durch- 
wärmte, das  war  seine  quellfrische  Heiterkeit,  sein  immerdauernder 
Frühling  im  Herzen,  seine  ewig  frische  Begeisterung  für  den  hohen 
nnd  herrlichen  Lehrerberuf.  Nie  vermochten  die  starren,  todten 
Formen  seinen  Geist  ans  Niedere  zu  bannen;  aufwärts  und  vorwärts!4 
das  war  sein  Losungswort.  Diese  Lust  am  Werke  der  Erziehung, 
die  reine  Freude  am  Idealen,  am  Wahren  und  Guten  gab  seinem 
Leben  die  rechte  Weihe.  Diesen  Sinn  fürs  Edle  suchte  er  auch 
seinen  Zöglingen  einzupflanzen.  Unvergesslich  bleiben  mir  die  Schluss- 
zeilen eines  Briefes  von  Wehrli:  ,1m  Frühling  komme  und  besuche 
uns!  Komm',  wenn  Du  nur  willst,  Du  redlich  aufstrebender  Mann, 
Du  bist  als  ein  treuer  Arbeiter  im  Reiche  Gottes  uns  immer  will- 
kommen \  Gott  erhalte  Dich  unserm  Lehrerstande  gesund  und  wol! 


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Bleibe  treu  imsern  Grundsätzen  für  Erziehung  und  Unterricht!  Himmel- 
an gehe  Dein  Streben  jederzeit!  Nach  oben!  Oben  ist  Licht!  Halte 
an  in  Arbeit  und  Gebet!4  —  Meine  Freunde!  Erneuern  wir  recht  oft 
das  Andenken  an  Vater  Wehrli!  Erfrischen  wir  unsern  Geist  an 
diesem  Hochbilde,  an  diesem  Lebensborn!  Erwerben  wir  uns  solche 
Heiterkeit  und  solchen  Muth!  Sein  Vorbild  mahne  uns,  in  seinem 
Sinn  und  Geiste  zu  wirken.  Ja,  auch  wir  wollen  unser  Leben  der 
Schule  und  den  Kindern  weihen."*) 

„Der  Erfolg  von  Wehr  Ii*  s  Seminar  Wirksamkeit  übertraf  alle  Er- 
wartungen. Er  brachte  die  Anstalt  in  kurzer  Zeit  zu  Ruf  und  An- 
erkennung. Nachdem  sie  alsdann  die  sechsjährige  Probezeit  glänzend 
bestanden  hatte,  erhielt  sie  für  eine  weitere  Zeitdauer  eine  gesicherte 
Stellung.  Die  Frequenz  nahm  zu.  Da  sich  das  Seminar  durch  seine 
Leistungen  bereits  bewährt  hatte,  erwarb  es  sich  bald  allgemeines  Ver- 
trauen.   Der  Zudrang  aus  verschiedenen  schweizerischen  Cantonen, 

*)  liier  mag  eine  Mittheilung  aus  dem  „rhätischen  Alpenbotcn"  über  die  Ver- 
sammlung schweizerischer  Schulmänner  (1849)  am  Platze  sein.  Referent  zeichnete 
Wehrli  mit  wenigen  Worten,  wie  er  leibte  nnd  lebte.  Da  hieß  e«  u.  a.:  „Denke 
dir  den  schlichten  nnd  wahren,  den  in  seinem  hohen  Alter  noch  so  muntern  und 
rüstigen  ,Vater  Wehrli',  einst  Fellenbergs  und  Pestalozzis  Mitarbeiter!  Mit  freude- 
verklärtem Antlitz  steht  er  mitten  in  einer  wackern  Schar  von  ihm  gebildeter, 
tüchtiger  Schulmänner,  nach  allen  Seiten  hin  die  Hände  reichend  zu  freundlicher 
Begrüßung  mit  herzlichen  Worten!  Nun  tönte  die  Glocke;  es  folgte  die  Eröffnung 
der  Verhandlungen.  ,Brüder  reicht  die  Hand  zum  Bunde'  schallt's  durch  die  weiten 
Räume.  —  Referat  und  Discussion  boten  hohen  Gcnuss.  Keller,  Kettiger  u.  a. 
äußerten  manch  gehaltvollen  Gedanken.  Doch  das  Beste  brachte  unstreitig  Vater 
Wehrli.  Ihm,  dem  Veteran  schweizerischen  Schulwesens,  wurde  nämlich  ein  herz- 
liches Hoch  gebracht.  Der  Gefeierte  erhob  sich  und  sprach  in  seiner  ansprachlosen, 
gemttthlichen  Weise  ungefähr  so:  Liebe  Freunde,  theure  Berufsgenossen !  Ich  soll 
da  auftreten  und  eine  Rede  halten:  aber  das  ist  meine  Sache  nicht.  Ich  bin  kein 
Redner,  doch  drängt  es  mich,  Euch  meinen  innigen  Dank  zu  bezeugen  für  die  mir 
zugedachte  Ehre.  Es  ist  vorhin  bemerkt  worden,  ich  sei  noch  einer  von  denen,  die 
einst  an  der  Seite  von  Vater  Pestalozzi  das  Feld  der  Volkserziehung  angebaut,  und 
das  ist  wahr;  mit  freudiger  Rührung  gedenke  ich  jener  Zeit.  Während  meiner 
seitherigen,  vieljährigen  Wirksamkeit  als  Schulmann  ist  schon  vieles  geforscht  und 
behauptet  worden  über  das,  was  noth  thut  im  Erziehungswesen,  über  das,  was  in 
die  Volksschule  gehöre.  Ich  habe  gefunden,  dass  es  drei  Hauptpunkte  sind,  anf  die 
wir,  theure  Berufsgenossen,  bei  der  Erziehung  und  Bildung  unserer  lieben  Schweizer- 
jugend unser  Augenmerk  zu  richten  haben.  Wir  müssen  darnach  trachten,  dass 
unsere  Zöglinge  1.  einen  hellen  Kopf  bekommen,  damit  sie  das  Wahre  vom  Fal- 
schen, das  Gute  vom  Bösen  unterscheiden  lernen,  2.  ein  gesundes  Herz,  3.  eine 
arbeitsame  Hand.  —  Diese  drei  Gedanken  führte  er  weiter  aus  in  einer  Weise, 
wie  es  allen  Anwesenden  tief  zu  Herzen  drang  und  sie  mit  neuer  Liebe  für  ihren 
heiligen  Beruf  begeisterte. 


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insbesondere  von  St.  Gallen,  Appenzell,  Glaras,  Schaffhausen,  Baselland, 
Schwyz,  Unter walden  etc.,  war  so  groß,  dass  die  Zahl  der  Zöglinge 
bald  auf  80  anwuchs  und  die  Räumlichkeiten  kaum  mehr  genügten." 

Nunmehr  bot  das  Schlösschen  für  die  so  zahlreiche  Anstalt  nicht 
mehr  genug  Raum.  Darum  wurde  sie  im  Jahr  1850  in  das  1848 
aufgehobene  Kloster  Krenzlingen  verlegt  Nun  hatte  sie  ein  geräu- 
miges, freundliches  und  bequemes  Heim.  Dieser  Einzug  bezeichnet 
einen  bedeutsamen  Markstein  im  Leben  Wehrli's.  Er  stand  auf  der 
Höhe  seiner  äußerlichen  Lebensstellung,  seines  Strebens  und  Wirkens. 
In  diesen  neuen  Räumen  feierte  er  am  6.  November  1850  seinen 
60.  Geburtstag.  Mit  Befriedigung  durfte  er  auf  seine  Vergangenheit 
zuiückschauen.  Sein  Wirken  hatte  Früchte  getragen.  Ein  Zeugnis 
dafür  war  auch  diese  Feier.  Dem  Schreiber  dieser  Zeilen,  der  als 
Mitglied  der  Seminarlehrerschaft  mit  dabei  war,  ist  dieselbe  in  leb- 
haftester Erinnerung  geblieben.  Pupikofer,  der  seinen  Freund 
Wehr  Ii  durch  seine  Gegenwart  erfreute,  sagte  von  diesem  Fest: 

„Als  Wehrli  im  klösterlichen  Refectorium  seinen  sechszigsten 
Geburtstag  feierte,  umgeben  von  seiner  Familie,  seinen  Mitarbeitern 
und  Freunden  und  in  der  Mitte  seiner  Zöglinge,  und  jede  Classe  seiner 
Zöglinge  durch  ihren  Sprecher  dem  treuen  Vater  und  der  guten 
Mutter  und  Krankenwärterin  Wehrli  den  tiefgefühlten  Dank  aus- 
sprach und  im  Preise  des  Erzieherberufs  überfloss,  wie  freudig  glänzte 
dabei  des  Altmeisters  Auge,  wie  herzlich  dankte  er!  Zwischen  den 
Tischen  umhergehend,  begrüßte  er  jeden  mit  einem  liebenden  Worte  oder 
vertrauenden  Blicke.  Es  war  das  zwar  nichts  Ungewohntes;  denn  so 
oft  sein  Namenstag  auch  früher  gefeiert  oder  einer  abgehenden  Se- 
minarclasse  ein  Abschiedsmahl  gegeben  worden  war,  pflegte  Ähnliches 
zu  geschehen.  Aber  der  Übergang  des  geliebten  Lehrers  über  den 
sechszigsten  Markstein  seines  segensreichen  Lebens  war  für  seine 
Zöglinge  eine  herzergreifende  und  begeisternde  Ermunterung, 
für  Menschenbildung  und  Seelenrettung  wie  er  zu  leben  und 
zu  wirken." 

Jedoch  sollte  die  Glanzperiode  seines  Schaffens  nur  noch  kurze 
Zeit  dauern.  Die  herbsten  und  schmerzlichsten  Erfahrungen  warteten 
seiner.  Ein  scharfer  Wind  erhob  sich  von  Südwesten  her. 
Eine  im  stillen  vorbereitete  Opposition  gegen  die  Unter- 
richts- und  Bildungsweise  im  Seminar,  gegen  die  angestrebte  Rich- 
tung in  der  Entwicklung  des  thurgauischen  Schulwesens,  gegen  die 
Schulbücher,  bei  deren  Erstellung  doch  die  Lehrerconferenzen  begut- 
achtend mitgewirkt,  gegen  Wehrli's  Persönlichkeit  selber,  fing  an, 


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sich  hören  zu  lassen.  Zum  eigentlichen  Ausbruch  des  Sturms  gab  die 
beabsichtigte  Gründung  einer  Cantonsschule  in  Frauenfeld  Anlass.  Die 
Primarlehrerschaft  sah  sich  durch  die  Errichtung  einer  höheren  Lehr- 
anstalt in  ihren  materiellen  Interessen  bedroht.  Sie  verlangte,  es 
müsse  derselben  eine  bessere  Ausstattung  der  Volksschule  und  die 
ökonomische  Besserstellung  der  Lehrer  vorangehen.  Wehr  Ii,  meinte 
sie,  sollte  als  Vorkämpfer  in  dieser  Sache  auftreten.  Aber  dazu  war 
sein  ganzes  Wesen  nicht  angethan;  auf  eine  Arena  zu  treten,  war  nicht 
seine  Sache;  seiner  Natur  entsprach  die  Vermittlerrolle,  die  er  dann 
auch  in  dem  erbitterten  Streit  als  seine  Aufgabe  ansah.  Das  zog 
ihm  scharfen  Tadel  zu  von  Sprechern  der  Lehrerschaft,  die  auch 
wieder  ihre  Instructionen  von  leitender  Seite  empfingen.  Von  da  an 
wurde  die  ganze  Wirksamkeit  Wehr  Ii 's  einer  scharfen  —  um  nicht 
zu  sagen  böswilligen  —  Kritik,  die  ihre  Quelle  außerhalb  des 
Lehrerstandes  hatte,  unterworfen  und  sein  ganzes  Thun,  wenn  nicht 
verderblich,  doch  verkehrt  gefunden. 

„In  einer  Lehrerversammlung  in  Kreuzlingen"  (1851),  erzählt 
Schlegel,  „welcher  Wehrli  präsidirte,  kam  der  Sturm  zum  Ausbruch. 
Es  schmerzte  Wehrli  um  so  tiefer,  da  sogar  manche  seiner  Zöglinge 
in  unüberlegtem  Eifer  auf  Seite  seiner  erbitterten  Gegner  sich  stellten. 
Schlag  auf  Schlag  folgten  Angriffe  auf  Wehrli,  das  Seminar  und  den 
Erziehungsrath.  Das  war  eine  harte  Zeit,  eine  schwere  Prüfung  für 
den  edlen  Mann,  der  in  unwandelbarer  Treue  sein  Leben  der  Hebung 
und  Entwicklung  des  Volksschulwesens  und  der  Heranbildung  eines 
tüchtigen  Lehrerstandes  gewidmet  hatte.  Diese  Verkennung  that  ihm 
weh;  doch  ließ  er  dem  Parteikampf  seinen  Lauf  und  schwieg.'4 

Die  Zahl  der  Gegner,  berichtet  Pupikofer,  bestand  zwar  aus 
einer  nur  sehr  kleinen  Minderheit  der  Lehrerschaft;  aber  Heftigkeit 
und  Beharrlichkeit  ersetzten  ihre  numeräre  Schwäche.  Die  treuen 
Freunde  Wehrli' s  ersuchten  ihren  väterlichen  Freund  um  die  Er- 
laubnis, die  Angriffe  abwehren  zu  dürfen;  er  verweigerte  sie  ihnen; 
auch  enthielt  er  sich  selber  aller  Erwiderung;  er  wollte  das  Stroh- 
feuer ausflackern  lassen.  Und  doch  konnte  er  den  Schmerz,  von  seinen 
Zöglingen  bekämpft  und  geschmäht  zu  werden,  seine  Erziehungs- 
grundsätze von  seinen  Geistessöhnen  mit  Füßen  getreten  zu  sehen, 
kaum  verwinden.  In  dämmeriger  Abendstille  klagte  er  seinem  Ver- 
trauten (Papikofer)  seufzend,  wie  er  nicht  fassen  könne,  dass  Gottes 
Weltregierung  die  wahre  Volkserziehung  preisgeben  könne.  Als  jener 
ihm  hierauf  etwas  barsch  die  Frage  vorhielt,  ob  er  denn  auf  das  Ge- 
lingen größere  Ansprüche  machen  wolle  als  Christus,  der  unter  zwölf 


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■Jüngern  einen  Verräther  zählte,  antwortete  er  leise:  „Ich  will  nicht 
mehr  klagen,  sondern  an  den  Heiland  denken." 

Die  Anklagen  gegen  das  Seminar  gingen  wesentlich  dahin,  es 
verde  über  die  Sorge  für  Charakter  und  Gemüth  die  Verstandes- 
bildong  vernachlässigt,  und  die  wissenschaftliche  Ausrüstung  sei  eine 
ungenügende. 

Der  Unterricht,  der  am  meisten  angefochten  wurde,  war  der  in 
der  Religion,  den  Wehrli  ertheilte.  Es  fehle  demselben  die  wissen- 
schaftliche und  dogmatische  Grundlage.  Die  Geistlichkeit,  vorab  die 
strenggläubige,  verlangte,  dass  er  einem  Theologen  übertragen  werde. 
Aber  Wehrli  war  entschlossen,  ihn  nicht  aus  der  Hand  zu  geben. 
Wie  dieser  Unterricht  beschaffen  war,  darüber  belehrt  uns  ein  com- 
petenter  Beurtheiler  des  Fachs  und  der  vertrauteste  Kenner  des  Se- 
minars, Decan  Pupikofer,  also: 

„Auf  den  Religionsunterricht  legte  Wehrli  großes  Gewicht,  nicht  blos  weil 
ihm  die  Religion  ein  Hilfsmittel  der  Erziehung,  sondern  weil  sie  ihm  Herzenssache 
war.  Ob  er  aber  Rationalist  oder  Supernaturalist  war,  Gegensätze,  in  denen  die 
damaligen  Religions-Streitigkeiten  fast  ausschließlich  sich  bewegten,  hätte  er  selbst 
bei  aller  seiner  Aufrichtigkeit  und  Klarheit  kaum  beantworten  können.  Ihm  er- 
schien die  Welt  als  das  große  Vaterhaus  .Gottes  und  die  ganze  Natur  als  eine 
Offenbarung  seiner  Macht,  Weisheit  und  Güte;  aber  auch  die  Notwendigkeit  der 
Arbeit  nicht  ahs  ein  Fluch,  oder  als  eine  Strafe,  sondern  als  eine  segensvollc  Ein- 
richtung Gottes.  Er  schöpfte  die  Religion  nicht  aus  der  Natur  und  betrachtete  sie 
auch  nicht  als  ein  Erzeugnis  der  Vernunft;  aber  er  fühlte  das  Bedürfnis,  die  Lehren 
der  Offenbarung  mit  der  Natur  und  Vernunft  im  Einklang  zu  wissen,  und 
fand  in  Christi  Lehre  das  Zeugnis  für  solche  Übereinstimmung.  Mit  seineu 
Schülern  las  er  im  Religionsunterrichte  am  liebsten  die  Evangelien  und  Gellerts 
Lieder  und  machte  davon  Anwendung  auf  Herz,  Leben  und  That;  und  was  durch 
Wort  und  Lehre  gefunden  war,  wurde  durch  Gesang  bekräftigt.  Die  Vorschrift: 
rBcte  und  arbeite",  machte  sich  überhaupt  bei  Wehrli  auch  in  Bezug  auf  die 
Religion  so  durchgreifend  geltend,  dass  bei  ihm  Frömmigkeit  und  Arbeitsfreudigkeit 
zwei  Dinge  waren,  die  ohne  einander  gar  nicht  bestehen  können,  aber  doch  nur  so 
lange  zusammen  bestehen  können,  als  die  Liebe  sie  miteinander  verbindet.  Indem 
er  diese  Auffassung  auf  seine  Zöglinge  übertrug,  durfte  er  die  tiefere  Begründung 
und  die  confessionelle  Ausdrucksweise  des  Bekenntnisses  dem  Leben  und  der  Kirche 
anheimstellen." 

Auch  die  übrigen  Unterrichtsfacher  wurden  bemängelt,  und  die 
Leistungen  als  völlig  ungenügend  bezeichnet  in  öffentlichen  Blättern 
selbst  von  Leuten,  die  das  Seminar  nie  betreten  hatten.  Im  Jahr  1850 
tarn  ich,  einem  Ruf  von  Wehrli  folgend,  als  Lehrer  dahin,  blieb  als 
solcher  zwei  Jahre  in  der  Anstalt  und  glaube  mich  berechtigt,  in 
dieser  Sache  ein  Wort  mitreden  zu  dürfen.  Ich  traf  drei  wolbesetzte 
Süccessivclassen  mit  —  Wehrli  inbegriffen  —  sieben  Lehrern.  Der 

P«Jagogium.    14.  Jahrg.   Heft  V.  22 


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Geist,  der  Ton  und  die  Arbeitsfreudigkeit  in  der  Anstalt  waren  so, 
wie  Schlegel  sie  oben  geschildert.  Sämmtliche  Lehrer  ertheilten  ihren 
Unterricht  mit  gründlicher  Sachkenntnis,  mit  gewissenhaftem 
Eifer  und  mit  einem  Erfolg,  wie  ihn  andere  Seminare  nicht 
besser  aufzuweisen  hatten.  Auch  im  späteren  Berufeleben  zeigten 
die  Schüler  Wehr  Ii 's,  dass  sie  in  jeder  Beziehung,  in  wissenschaft- 
licher Ausrüstung,  wie  in  der  praktischen  Schulführung  den  Lehrern 
anderer  Cantone,  auch  desjenigen,  aus  dem  der  Wind  kam,  durchaas 
ebenbürtig  seien.  Dass  Wehr  Ii  hervorragender  Begabung  die  richtige 
Wegleitung  und  mächtige  Anregung  zur  Weiterbildung  zu  geben  ver- 
stand, beweisen  die  Namen  Wellauer,  Müller,  Bissegger,  Hafter, 
Tschudi,  Schlegel,  Sendling,  Graf,  Ribi,  Ruedin,  Zingg,  Gull, 
Gonzenbach,  Bartholdi,  Schlaginhaufen,  Burkhard  u.  v.  a. 
Aber  wenn  einmal  „von  richtiger  Seite"  die  Parole  ausgegeben  ist,  so 
wird  sie  ungeprüft  geglaubt,  und  der  Glaube  pflanzt  sich  durch  De- 
cennien  fort. 

Mitten  in  diesen  Sturmzeiten  erlebte  Wehrli  die  Genugtuung, 
von  der  Berner  Regierung  einen  Ruf  zur  Übernahme  der  Direction 
des  Lehrerseminars  zu  Münchenbuchsee  zu  erhalten.  Seine  Freunde 
im  Cauton  Bern  erinnerten  sich  nach  zwanzigjähriger  Abwesenheit 
seiner  um  die  Schulen  des  Cantons  Bern  erworbenen  Verdienste  und 
boten  ihm  durch  jenen  Ruf  ein  ehrenvolles  Asyl  in  der  Nähe  Hofwyls. 
Indessen  Vater  Fellenberg  war  todt,  die  dortigen  Erziehungs- 
anstalten waren  aufgelöst;  Wehrli 's  Gesundheit  war  erschüttert,  und 
so  sehr  es  ihn  in  die  Nähe  Hofwyls  zog,  fand  er  doch  besser,  den 
Ruf  abzulehnen.  Auch  in  Thurgau  legte  sich  der  Sturm;  die  lautesten 
Eiferer  kamen  zu  der  Einsicht,  man  sei  im  Streit  viel  zu  weit  ge- 
gangen. Aber  infolge  der  Neuwahl  des  Erziehungsrathes  1852,  in 
dem  nunmehr  seine  Ankläger  die  Mehrheit  hatten,  fand  er  es  an  der 
Zeit,  zurückzutreten.  Er  sah  voraus,  dass  nun  eine  Reorganisation 
der  Anstalt  kommen  werde.  Da  aber  seine  ganze  Persönlichkeit  mit 
der  damaligen  Einrichtung  innigst  verwachsen  war  und  ihm  eine 
totale  Umgestaltung  unmöglich  zusagen  konnte,  gab  er  sogleich  seine 
Entlassung  ein,  ließ  sich  aber  dazu  bewegen,  noch  bis  Frühjahr  1853 
zu  bleiben. 

Das  Winterhalbjahr  1852  auf  1853  war  für  Wehrli  eine  harte 
Zeit.  Der  Gedanke,  vom  Seminar  sich  trennen  zu  müssen,  drückte 
ihn.  Die  Lungenblutungen,  die  ihn  früher  schon  heimgesucht,  stellten 
sich  mit  vermehrter  Heftigkeit  wieder  ein.  Die  Forderungen  der 
neuen  Aufsichtsbehörde,  wenn  sie  auch  in  milder  Form  gestellt  wurden, 


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verlangten  manches  Ungewohnte.  Der  Abschluss  der  Rechnungen  und 
die  Inventarisation  brachten  doppelte  Arbeit.  Es  war  dem  mit  seinem 
Seminare  gleichsam  verwachsenen  Manne,  als  wenn  er  bei  lebendigem 
Leibe  beerbt  würde. 

Doch  machte  er  in  dieser  Zeit  auch  trostreiche,  erquickende  Er- 
fahrungen, dass  er  nicht  umsonst  gelebt  und  die  Misskennung  keine 
allgemeine,  dass  die  Hochachtung  und  Liebe  der  Edelsten  und  Besten 
ihm  geblieben  sei.  Am  Neujahrstage  1853  trafen  mehr  als  vierzig 
Männer  aus  den  Cantonen  Thurgau,  St.  Gallen,  Appenzell,  Glarus, 
einstige  Zöglinge,  bei  ihm  ein,  an  ihrer  Spitze  die  Armenerzieher 
Lütschg  aus  der  Linthcolonie,  Zellweger  aus  der  Schurtanne  zu  Trogen, 
damals  in  Gais,  Wellauer,  Erzieher  im  Waisenhause,  Schlaginhaufen, 
Vorsteher  der  Töchterschule  in  St  Gallen.  Sie  waren  gekommen,  im 
Namen  von  nahezu  vierhundert  Hofwyler  und  Kreuzlinger  Zöglingen, 
ihm  eine  Dankadresse  zu  überreichen  mit  einem  Album,  in  welchem 
die  Unterzeichner  ihre  Namen  mit  einem  Denkspruche  begleitet  hatten, 
der  den  geliebten  väterlichen  Freund  an  seine  Verdienste  um  sie  zu 
erinnern  und  ihrer  Dankbarkeit  zu  versichern  geeignet  war. 

Einige  Monate  später,  unmittelbar  vor  seinem  Abschiede  aus  dem 
Seminar,  überbrachten  eine  große  Anzahl  thurgauischer  Lehrer,  ange- 
führt von  den  Lehrern  Bartholdi  in  Frauenfeld,  Habisreutinger  in 
Islikon,  Hanselmann  in  Güttingen,  dem  väterlichen  Erzieher  und 
Freunde  eine  zweite  Dankadresse  mit  beigefügtem  Album  von  sieben- 
undneunzig  Lehrern.  Die  Worte  tiefgefühlten  Dankes  und  inniger  Ver- 
ehrung, welche  dabei  gesprochen  wurden,  konnten  ihren  Zweck  nicht 
verfehlen. 

Die  Bitternis,  die  der  im  Dienste  der  Jugend-,  Lehrer-  und  Volks- 
bildung ergraute  Wehrli  im  Frühjahr  1853  bei  der  officiellen  Über- 
gabe des  Seminars  und  der  Ankündigung  einer  neuen  und  besseren 
Zeit  aus  amtlichem  Munde,  ohne  ein  Wort  des  Dankes  an  den 
Scheidenden,  noch  durchzukosten  hatte,  bleibe  hier  unerörtert. 

8. 

„Als  in  den  Maitagen  von  1853  Wehrli  das  Seminar  Kreuzlingen 
verließ  und  auf  das  Landgut  seines  Schwiegersohnes  Moosherr  nach 
Guggenbühl  hinübersiedelte,  bezog  er  ein  zum  Zwecke  einer  Erziehungs- 
anstalt woleingerichtetes,  neues  Haus.  Eine  starke  Stunde  von  Kreuz- 
igen landeinwärts  in  der  Gemeinde  Andwyl  auf  einer  Hügelfläche 
gelegen,  gewährt  Guggenbühl  eine  weite,  reizende  Aussicht  zunächst 
den  Thalgrund  von  Erlen  und  auf  idie  denselben  durchschneidende 

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und  belebende  Eisenbahnlinie  von  Zürich  nach  Romanshorn;  dann  über 
die  gegenüber  liegenden  Hügel  von  Schloss  Eggishausen,  Wertbühl, 
Gübris,  auf  den  Gebirgskranz  der  Alpen,  südöstlich  aus  dem  Bodensee 
sich  erhebend,  von  den  österreichischen  Vorarlbergen  bis  zu  den  Tiroler- 
und  Bündneralpen  hinauf;  südlich,  gerade  gegenüber  hinter  dem  dunkleu 
Tannenberg  auf  den  gewaltigen  Säntis  und  seine  Ausläufer;  süd- 
westlich auf  die  Glarner-  und  Schwyzer-  und  die  angrenzenden  Berner- 
aipen, so  dass  westlich  die  Kette  des  Hörnli  und  in  weiter  Ferne  der 
Albis  und  Ütliberg  den  Horizont  begrenzen.  Rings  um  Guggenbühl 
her  breiten  sich  schattenreiche  Obstbaumpflanzungen  aus,  unter  denen 
zahlreiche  Dörfer  und  Höfe  halbversteckt  hervorschauen.  Guggenbühl 
wurde  daher  von  Alters  her  schon  mit  gutem  Grund  als  der  Lugins- 
land oder  Guckinsland  der  Umgegend  bezeichnet.  Einem  Mann,  der 
sein  ganzes  Leben  der  angestrengten  Arbeit  gewidmet  hatte  und  der 
Ruhe  bedurfte,  versprach  die  von  Wehr  Ii  gewählte  neue  Wohnstätte 
den  mannigfaltigsten  Naturgenuss."  (Pupikofer.) 

Etwa  zwanzig  Zöglinge  der  Seminarschule,  welche  ihm  von 
Freunden,  namentlich  aus  der  westlichen  Schweiz  zur  Erziehung 
waren  anvertraut  worden,  folgten  ihm  nach  Guggenbühl.  Ohne  Rast 
begann  also  auch  hier  wieder  ein  frisches  Anstaltsleben.  Den  Ort 
hatte  Wehr  Ii  gewechselt;  er  selbst  war  sich  gleich  geblieben. 

Im  Sommer  1853,  lesen  wir  bei  Schlegel,  zog  sich  Wehrli 
durch  Erkältung  eine  Brustentzündung  zu.  Eine  Cur  im  Heilbade 
Weißenburg,  bei  welchem  Anlass  er  seine  Berner  Freunde  besuchte, 
hob  sein  Übel  nicht.  Nachdem  im  Jahre  1854  mehrere  Rückfalle  er- 
folgten und  Wehrli  die  Hoffnung  auf  Genesung  aufgab,  traf  er  seine 
letzten  Anordnungen.  Am  15.  März  1855  schlummerte  er  sanft  zur 
ewigen  Ruhe  ein.  Damit  war  ein  Leben  rühm  würdiger,  rastloser 
Thätigkeit,  ein  Leben  voll  Mühe  und  Arbeit  geschlossen.  Bis  zur 
letzten  Stunde  war  er  seinem  Wahlspruch:  „bete  und  arbeite*,  treu 
geblieben.  Noch  auf  seinem  Kranken-  und  Sterbebette  schrieb  er  ein 
Testament  an  seine  Zöglinge,  es  waren  seine  Lebensregeln  und  Segens- 
wünsche.  Das  war  sein  letzes  Berufswerk. 

Eine  große  Volksmenge  geleitete  am  20.  März  den  Heimge- 
gangenen zum  Grabe  auf  dem  Kirchhof  in  Andwyl.  Pfarrer  Bion*) 
hielt  die  Leichenrede  und  zeichnete  in  Kürze  ein  getreues  Lebensbild 
des  braven  Mannes,  dessen  Tod  das  ganze  Land  betrauerte.  In 
Hunderten  von  Volksschulen  und  Rettungshäusern  in  der  Nähe  und 

*)  Der  Vater  des  Gründers  der  Feruneolonicn. 


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in  der  Ferne  ist  es  die  dankbare  Erinnerung  an  Vater  Wehrli,  was 
Lehrer  und  Erzieher  zu  freudiger  Thätigkeit  im  Jugendunterricht 
belebt," 

Wol  konnte  der  Gründer  der  rasch  aufblühenden  Guggenbtthler 
Wehrlischule  bei  seinen  gestörten  Gesundheitsverhältnissen  der 
jnngen  Anstalt  nicht  mehr  die  Thätigkeit  widmen,  die  er  gerne  geübt 
hätte;  aber  er  hatte  sich  treuer  Hilfe  zu  erfreuen.  Seine  rechte  Hand, 
seine  Stütze  und  sein  Trost  in  diesen  letzten  Jahren  war  einer  seiner 
tüchtigsten  Schüler,  der  überdies  bei  Wehrli's  Freund  Eberhard 
als  Lehrer  an  der  landwirtschaftlichen  Armenschule  in  Carras  bei 
Genf  sich  für  die  Erzieheraufgabe  trefflich  erprobt  hatte:  J.  J.  Müller, 
nnnmehr  Verwalter  des  Cantonsspitals  in  Winterthur. 

Seinem  väterlichen  Freunde  war  er  mit  inniger  Liebe  und  Ver- 
ehrung zugethan.  Er  setzte  die  Anstalt  nach  dessen  Tode  eine  Reihe 
von  Jahren  fort,  bis  seine  heimatliche  Regierung  seine  Begabung  und 
Tüchtigkeit  zur  Leitung  von  Anstalten  erkennend,  ihnizu  einer  höheren, 
freilich  auch  schwierigeren  Aufgabe  berief. 

In  seinem  Heimatdörfchen  Eschikofen  blieb  Wehrli  unvergessen. 
Damit  sein  Andenken  auch  bei  den  zukünftigen  Geschlechtern  fort- 
lebe, setzte  ihm  die  Gemeinde  nahe  beim  Schulhaus  einen  Denkstein 
mit  der  Inschrift: 

Dein  Andenken  de»  treuen  Lehrers  J.  J.  Wehrli,  Seminardireotor, 
geb.  zu  Eschikofen  1790,  gest.  auf  Guggenbühl  1855. 

Dessen  Wahlspruch: 
Bete  und  arbeite. 

Gewidmet  von  der  Heimatgeuieinde. 

Es  bewahrheitet  sich  ewig: 
Das  Andenken  des  Gerechten  bleibet  im  Segen! 


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Fremdes  und  Heimisches  im  Unterrichte. 

Von  A.  Schäffer- Berlin. 

In  vielen  deutschen  Schulen  und  ebenso  in  vielen  Familien  wird 
die  französische  und  die  englische  Sprache  gelernt,  ausländische  Li- 
teratur geübt  und  betrieben.  Gegen  die  Anwendung  dieses  Bildungs- 
mittels durfte  nichts  einzuwenden  sein,  vielmehr  ergeben  sich  leicht 
die  mannigfachen  Vortheile  desselben.  Wer  eine  fremde  Sprache  nach 
ihrem  elementaren  Grundstoffe,  nach  ihren  syntaktischen  Gesetzen  und 
ihrem  Geiste  kennt,  wird  fortwährend  veranlasst,  die  eigene  Sprache, 
deren  er  sich  von  Jugend  auf  mit  unreflectirter  Gewohnheit  bedient, 
durch  eingehende  Vergleichung  mit  der  fremden  tiefer  und  vielseitiger 
aufzufassen.  Hierzu  bieten  sorgfältige  und  sinngemäße  Ubersetzungen, 
sowol  aus  der  fremden  Sprache  in  die  eigene,  als  aus  dieser  in  jene, 
eine  vortreffliche  Grundlage  und  zugleich  eine  Anleitung,  sich  im  be- 
stimmten und  klaren  Gebrauche  der  Muttersprache,  besonders  auch 
durch  geschickte  Anpassung  mancher  syntaktischen  Wendungen, 
formell  zu  vervollkommnen.  Doch  dies  bedarf,  für  den  Kundigen 
wenigstens,  hier  keiner  weiteren  Ausführung.  Nicht  weniger  wird 
man  sich  in  der  Erweiterung  seiner  Kenntnis  durch  die  aufmerksame 
Leetüre  fremder  Prosaiker  und  Dichter,  besonders  derjenigen,  welche 
auf  die  Gestaltung  der  heimischen  Erzeugnisse  einen  größeren  oder 
geringeren  Einfluss  geübt  haben,  gefördert  sehen.  Man  kläre,  kräftige 
und  bereichere  seinen  Geist  aus  dem  nahrhaften  Kerne  jener  Literatur, 
indem  man  die  faden  oder  schädlichen  Hülsen  derselben,  soweit  diese 
sich  vorfinden,  beiseite  wirft.  Außerdem  ist  die  Kenntnis  fremder 
Sprachen  und  die  geübte  Fertigkeit  in  ihrem  Gebrauche  für  die  ge- 
schäftliche Correspondenz,  die  gesellige  Verständigung  oder  Unter- 
haltung mit  Ausländern  oft  unentbehrlich  und  also  in  jeder  Hinsicht 
durchaus  zu  empfehlen. 

Nur  eines,  worauf  es  vor  allem  ankommt,  was  zum  Nachtheile 
der  beabsichtigten  Bildung  stets  versäumt  und  vergessen  wird,  ist 
hierbei  wol  zu  beachten.  Vertiefe  man  sich  doch  in  keine  fremde 
Sprache  und  Literatur,  ohne  sich  zunächst  mit  den  reichen  Formen  und 
Schätzen  der  heimischen  Sprache  und  Literatur  einigermaßen  vertraut 


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zu  machen.  Es  ist  vielfach  bildend,  verwendbar  und  lobenswert,  das 
fremde  Idiom  mit  einiger  Kenntnis  und  Sicherheit  behandeln  zu 
können;  aber  widersinnig  und  lächerlich  erscheint  dies,  wenn  man  es 
nach  allem  planmäßigen  Unterrichte,  nach  allem  Auffassen  und  Lernen 
nicht  so  weit  gebracht  hat,  einen  Vorrath  eigener  Gedanken  und  Ge- 
fühle in  der  Muttersprache  geschickt,  klar  und  schön  auszusprechen. 
Um  dieses  zu  können,  muss  man  zuvor  durch  Bereicherung  und 
Schärfung  des  Denkens  jenen  Vorrath  in  sich  angesammelt  haben; 
denn  ausprägen  lassen  sich  Münzen  nur  insoweit  als  das  Metall  dazu 
vorhanden  ist.  In  dieser  schätzenswerten  Fertigkeit,  diesem  edelsten 
Ergebnisse  echter  und  gründlicher  Geistesbildung,  werden  unsere 
allerlei  treibenden  und  lernenden  Zöglinge  nirgends,  weder  auf  höheren 
noch  auf  niederen  Unterrichtsanstalten,  ausreichend  gefordert.  Ihr 
erworbenes  Wissen  besteht  (mit  Ausnahme  des  arithmetischen  und 
geometrischen)  überwiegend  in  größerer  oder  geringerei*  Anfüllung  des 
Gedächtnisses,  welches  zwar  die  stoffliche  Grundlage  alles  Könnens 
und  Schaffens,  aber  nicht  dieses  selbst  darstellt.  Was  wir  an  schrift- 
lichen Leistungen  dort,  selbst  bei  den  Begabteren,  zu  sehen  bekommen, 
das  besteht  meist  aus  kaltem  und  geschmacklosem  Flickwerke,  in 
welchem  keine  'Bildung  des  eigenen  Denkens  und  des  sprachlichen 
Ausdrucks  hervortritt.  Man  mache  hierauf  getrost  die  Probe,  und 
man  wird  das,  was  ich  gesagt  habe,  gewiß  nicht  übertrieben  finden. 
Verursacht  wird  diese  Schwäche  theils  durch  den  Mangel  an  gehöriger 
Übung,  theils  auch  durch  die  oft  unpassende  Wahl  der  Aufgaben, 
welche,  besonders  auf  den  höheren  Stufen  des  Unterrichts,  zur  Be- 
arbeitung gestellt  werden.  Da  uns  nur  das  zu  gelingen  pflegt,  was 
wir  mit  der  nöthigen  Sachkenntnis  und  mit  Neigung  ergreifen,  so  ist 
nicht  zu  erwarten,  dass  der  Schüler  solche  Stoffe,  welche  zu  weit- 
schichtiger oder  unbestimmter  Natur  sind,  welche  außerhalb  seiner 
Erfahrung  und  Theilnahme  liegen,  mit  liebevollem  Fleiße  behandele. 
Zudem  unterlässt  es  der  Lehrer  gemeinhin,  die  aufgegebenen  Stoffe, 
besonders  solche  von  mehr  sittlich-abstractem  Inhalte,  seien  sie  an 
sich  auch  wolgeeignet,  durch  mündliche  Ausführung  und  Zergliederung 
dem  Denken  des  Schülers  vorher  zu  nahem  und  dadurch  anziehender 
zu  machen.  Ein  Muster  dieser  |Art  von  Behandlung  bieten  uns  die 
vielfachen  Gespräche  des  Sokrates,  welche  Xenophon  in  seiner  einfach- 
schönen Weise  dargestellt  hat.  Was  dort  der  alte  hellenische  Meister 
fragend  und  erörternd  mit  Männern  vollzieht,  das  kann  der  sorgsame 
Lehrer  da,  wo  es  sich  um  genauere  Bestimmung  unklarer  Begriffe 
handelt,  in  kleinerem  Maßstabe  auch   mit  seinen  Schülern  thun. 


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Übrigens  bedarf  es  wol  kaum  der  Bemerkung,  dass  die  Schüler  nicht 
etwa  zu  fertigen  Meistern  der  Rede  und  der  Schrift  ausgebildet 
werden  sollen;  denn  die  Meisterschaft  kann  sich,  bei  stets  fortgesetzter 
Übung,  nur  im  Laufe  einer  langen,  durch  vielfache  Erfahrungen  und 
Beobachtungen  bereicherten  Entwickelung  der  männlichen  Kraft  er- 
geben. Nur  das  soll  auf  dieser  Stufe  erreicht  werden,  was  von  dem 
jugendlichen  Alter  als  nöthige  Ausrüstung  für  das  Leben  selbst  zu 
wünschen  und  zu  erwarten  ist.  Nicht  wenig  trägt  zur  geistigen  An- 
regung des  Schülers  allerdings  das  Lesen  geeigneter  Schriften  bei 
(mitunter  sogar  mehr,  als  aller  Unterricht  der  Schule  selbst).  Aber 
die  üble  Seite  dieser  Beschäftigung  liegt  darin,  dass  dem  Schüler  zu 
vielerlei  geboten  und  er  selten  angeleitet  wird,  das,  was  er  liest, 
sinnvoll  in  sich  zu  verarbeiten.  Gewiss  hätte  er  weit  größeren  Vortheil 
von  einigen  wenigen  Büchern,  welche  er,  beliebig  blätternd  und 
wählend,  in  behaglicher  Muße  zwanzigmal  hintereinander  liest  und 
durchdenkt,  als  von  Hunderten,  welche  er  in  gedankenloser  Hast  auf 
Nimmerwiedersehen  durchfliegt.  In  dieser  flüchtigen  Weise  aber  pflegt 
die  lernende  Jugend  die  zuströmenden  Lesestoffe  zu  genießen,  ganz 
ebenso,  wie  es  die  Erwachsenen  meist  selbst  zu  thun  pflegen.  Das 
Ergebnis  derselben  bildet  eine  regellose  Überfüllung  und  Verwirrung 
des  Geistes,  verbunden  mit  nachtheiliger  Aufregung  der  Phantasie, 
welche  den  Überreizten  nicht  selten  auf  abenteuerliche  Abwege  leitet. 
Nur  in  wenigen  wird  die  Kraft  des  sachgemäßen  und  vernünftigen 
Denkens  entwickelt;  und  diese  eben  bedarf  am  meisten  der  Stärkung 
und  der  sprachlichen  Ausbildung.  Wo  es  später  noth  thut,  greifen 
dann  Viele  zu  der  Hilfe  eines  gedruckten  Briefstellers,  ganz  ähnlich, 
wie  schwache  Versmacher  sich  wol  des  Gradus  ad  Parnassum  be- 
dienen. Aber  wie  trocken  und  leer  muss  ein  Geist  sein,  welcher,  um 
eine  größere  Ausführung,  einen  Brief  der  Neigung  oder  Liebe  herzu- 
stellen, sich  solcher  schablonenhaften  Muster  bedient;  desgleichen  der. 
bei  welchem  solche  matte  und  kalte  Schriftstücke  anschlagen!  Für 
eine  so  traurige  Verarmung  und  Verödung  des  Sinnes  ist  nicht  weniger 
der  einst  genossene  Unterricht,  als  der  ungeschickte  und  verwahrloste 
Verfasser  selbst  verantwortlich  zu  machen.  Um  Geist  und  Gemüth 
zu  erwecken,  zu  der  angemessenen  Form  der  Sprache  umzuleiten,  dazu 
hat  jener  frühzeitig  mitzuwirken;  er  soll  die  Kraft  des  Denkens  und 
Wollens  anregen  und  entwickeln,  wie  der  Gärtner  durch  künstliche 
Pflege  aus  einfachen  und  wildwachsenden  Blumen  gefüllte  und  duft- 
reiche herstellt.  Das  verfehlt  er  aber,  wenn  er,  bei  den  ins  Endlose 
getriebenen  Haarspaltereien  der  grammatischen  Analyse,  wie  sie  in 


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vielen  Anstalten  üblich  sind,  es  an  tüchtiger  und  nachhaltiger  Übung 
im  Gebrauche  fehlen  lässt.  Was  würde  man  zu  einer  Folge  unfertiger 
und  roissrathener  Speisen,  sagen,  deren  Anfertiger  sich  stolz  auf  seine 
Kenntnis  der  besten  Kochbücher  beriefe?  Lieber  weniger  graue  Theorie 
und  dafür  mehr  lebendige  und  thatkräftige  Praxis!  Alle  Sprache  und 
alle  Kunst  des  Vortrages  ist  früher  gewesen  als  Grammatik  und 
Rhetorik,  wie  auf  anderem  Gebiete  die  anschauende  Auffassung  und 
Beobachtung  der  Dinge  selbst  als  unentbehrlicher  Grundstoff  dem 
Gebrauche  der  logischen  Denkformen  vorausgeht 

Auf  das  sachgemäße  Können  und  Leisten  also  kommt  es  an,  und 
bei  allem,  was  gut  oder  vortrefflich  hergestellt  ist,  beachtet  man  weit 
mehr  den  geistigen  Inhalt  und  seine  klare  und  schöne  Darstellung, 
als  die  Beobachtung  der  syntaktischen  Regeln,  welche  dazu  mitgewirkt 
hat.  Welchen  Nutzen  gewähren  uns  alle  modernen  und  antiken 
Muster  der  Geschichte,  der  Redekunst,  der  denkenden  Forschung  und 
Darstellung,  wenn  wir  in  der  eigenen  Sprache  gedankenarme  und 
geschmacklose  Stümper  bleiben,  ohne  es  dabei,  wie  gewöhnlich,  in 
einer  fremden  zu  gewandter  Sicherheit  zu  bringen?  Im  herrlichen 
Paris  und  London,  im  classischen  Athen  und  Rom,  auch  im  weiten 
Orient  sind  wir  zu  Hause;  aber  in  der  Heimat,  in  unserem  eigenen 
Inneren  erscheinen  wir  als  unfertige  und  unbeholfene  Fremdlinge. 
Da  haben  unsere  großen,  ewig  frischen  und  blühenden  Classiker. 
welche  wir  an  allen  Orten  durch  eherne  und  marmorne  Denkmäler,  durch 
pomphafte  Zweckessen  und  Toaste  zu  ehren  lieben,  die  Arbeit  ihres 
mühevollen  Lebens  umsonst  verschwendet.  Unzweifelhaft  sind  ihre 
Werke  zu  dem  Zwecke  da,  in  anderen  eine  gleiche  oder  doch  ähnliche 
Kraft  des  Anschauens,  Denkens  und  Schaffens  anzuregen,  nicht  aber, 
diese  ungepflegt  verkümmern  zu  lassen  und  nebenbei  einer  müßigen 
und  flüchtigen  Leselust  zu  dienen.  Es  gibt  im  allgemeinen,  wie  be- 
kannt, nichts  Schwächeres,  Unklareres  und  Ungeschickteres,  als  schrift- 
liche Leistungen  eines  Menschen,  welcher,  nach  zurückgelegten  Schul- 
und  Lehrjahren,  mit  Vernachlässigung  alles  anderen  sich  als  Geschäfts- 
mann, besonders  als  Handwerker,  seinem  Berufe  widmet.  Bei  Gelegenheit 
kann  man  auch  häufig  bemerken,  wie  er  Gedrucktes  oder  Geschrie- 
benes, sei  dieses  selbst  von  der  einfachsten  und  leichtesten  Art,  kaum 
deutlich  zu  lesen  und  sinngemäß  aufzufassen  versteht.  Um  diesem  zu 
begegnen,  bemühen  sich  viele  unserer  Zeitschriften,  ihre  Mittheilungen 
in  recht  volkstümlicher  und  zugleich  breit  geschmackloser  Weise 
einzurichten,  welche  Einrichtung,  beiläufig  bemerkt,  auch  für  die 
Fassungsgabe  mancher  Gebildeten  unerlässlich  erscheint.    Dass  ein 


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Mensch  von  so  mangelhafter  Ausbildung  seiner  Anlagen  nicht  imstande 
ist,  als  Bürger  an  den  Angelegenheiten  des  Verfassungslebens  und  der 
Gemeindeverwaltung  erfolgreich  mitzuwirken,  liegt  auf  der  Hand. 
Zwar  wird  mancher  dieses  untergeordneten  Schlages,  zu  Besitz  und 
Ansehen  gelangt,  dieses  oder  jenes  bürgerlichen  Ehrenamtes  theilhaftig, 
aber  jedenfalls,  wie  man  oft  sieht,  zum  fühlbaren  Schaden  des  Ge- 
mein wols;  denn  mit  dem  Mangel  an  geistiger  Durchbildung  verbindet 
sich  meist  eine  gemeine  und  eigennützige  Denkart,  durch  welche  der 
reine  Eifer  für  Wahrheit,  Becht  und  Gemeinwol  niedergehalten  wird. 
Ohne  Sachkenntnis,  ohne  Übersicht  und  Urtheil,  erfüllt  so  ein  Spieß- 
bürger seine  staatsbürgerlichen  Pflichten  nur  obenhin,  als  dienstbarer 
Anhänger  dieses  oder  jenes  beredten  Wortführers,  welcher  ihn  für 
seine  Zwecke  oder  für  die  seiner  Partei  zu  gewinnen  und  auszunutzen 
versteht. 

An  allen  Orten  haben  wir  jetzt  sogenannte  Fortbildungsschulen. 
Möchten  diese  Anstalten  darauf  hinarbeiten,  dass  ihre  Zöglinge  nicht 
nur  das  Gute  und  Brauchbare,  was  sie  vordem  auf  Schulen  gelernt 
haben,  in  sich  auffrischen,  befestigen,  auch  durch  neue  Kenntnisse 
erweitern,  sondern  vor  allem  tüchtige  Anleitung  zum  mündlichen  und 
schriftlichen  Ausdruck  der  Gedanken  erhalten.  Befruchtet  und  ge- 
stärkt aber  wird  das  Denken  durch  die  anschauliche  Erkenntnis  alles 
dessen,  was  im  sittlichen,  geselligen  und  staatlichen  Leben  für  den 
Menschen  wichtig  und  wissenswert  erscheint;  und  der  beste  Weg  zu 
diesem  Erkennen  ist  der  einer  wechselseitigen  Untersuchung  und  Er- 
örterung, welche  den  vorliegenden  Stoff,  unter  Beachtung  alles  Ge- 
gebenen und  Vorhandenen  klar  und  fertig  hinstellt.  Der  gegebenen 
Anleitung  müsste  sich  dann  behufs  weiterer  Selbstbildung  ein  reges 
und  wachsendes  Interesse  für  die  reichen  Schätze  unserer  Literatur 
anschließen.  Dies  wäre  zugleich,  soweit  es  belebend  fortwirkt,  das 
beste  Mittel,  um  der  sinnlichen,  ästhetischen  und  sittlichen  Verwilde- 
rung, in  welcher  wir  so  viele  Menschen,  besonders  des  Handwerker- 
standes, gedrückt  und  traumartig  dahinleben  sehen,  wirksam  entgegen- 
zuarbeiten. Über  die  genannten  Übelstände  ergehen  sich  Viele  in  be- 
gründeten Klagen;  aber  sie  beklagen  den  schlechten  Ertrag  eines 
Feldes,  dessen  Anbau  und  Pflege  aus  Nachlässigkeit  versäumt  wird. 
Wo  es  bei  allen  Mitteln  der  Industrie,  des  äußeren  Comforts  und  Ver- 
kehrs an  jenem  geistigen  Hintergrunde,  an  humaner  Gesittung  und 
Bildung  der  Bürger  fehlt,  da  erweisen  sich  für  den  Bestand  des 
Ganzen  selbst  die  feinsten  und  besten  Formen  der  Verfassung  und 
des  geselligen  Lebens  als  unzulänglich. 


Pädagogische  Rundschau. 


Zeitstiminen.  [Der  Kampf  ums  Recht.]  Welch  tiefe  Beschämung: 
muss  es  in  uns  hervorrufen,  wahrzunehmen,  wie  jener  einfache  Gedanke  des 
gesunden  Rechtsgeluhls,  dass  in  jedem  Recht  die  Person  selber  mit  ihrem 
ganzen  Recht  und  ihrer  ganzen  Persönlichkeit  angegriffen  und  verletzt  er- 
scheint, der  Wissenschaft  in  einer  Weise  abhanden  kommen  konnte,  dass  sie 
die  Preisgabe  des  eigenen  Rechts,  die  feige  Flucht  vor  dem  Unrecht  zur  Rechts- 
ptlicht  erheben  konnte!  Kann  es  Wunder  nehmen,  wenn  in  einer  Zeit,  in  der 
solche  Ansichten  sich  in  der  Wissenschaft  ans  Tageslicht  wagen  durften,  der 
Geist  der  Feigheit  und  apathischen  Erduldung  des  Unrechts  auch  die  Geschicke 
der  Nation  bestimmte?  Wol  uns,  die  wir  erlebt  haben,  dass  die  Zeit  eine  andere 
geworden,  —  solche  Ansichten  sind  jetzt  geradezu  eine  Unmöglichkeit  gewor- 
den (das  wäre  sehr  zu  wünschen!  D.  R.),  sie  konnten  nur  gedeihen  in  dem 
Sumpf  eines  politisch  und  rechtlich  gleich  verkommenen  nationalen  Lebens. 

Mit  der  soeben  entwickelten  Theorie  der  Feigheit,  der  Verpflichtung  zur 
Preisgabe  des  bedrohten  Rechts,  habe  ich  den  äußersten  wissenschaftlichen 
Gegensatz  zu  der  von  mir  vertheidigten  Ansicht  berührt,  welche  umgekehrt 
den  Kampf  ums  Recht  zur  Pflicht  erhebt.  Nicht  ganz  so  tief,  aber  immer  tief 
genug  unter  der  Höhe  des  gesunden  Rechtsgefühls  liegt  das  Niveau  der  An- 
sicht eines  neueren  Philosophen,  Herbart,  über  den  letzten  Grund  des  Rechts. 

Er  erblickt  denselben  in  einem  ästhetischen  Motiv:  dem  Missfallen  am  Streit  

Wäre  der  ästhetische  Standpunkt  bei  der  Würdigung  des  Rechts  ein  berech- 
tigter, ich  wüßte  nicht,  ob  ich  das  ästhetisch  Schöne  beim  Recht  anstatt  darein, 
dass  es  den  Kampf  ausschließt,  nicht  vielmehr  gerade  darein  setzen  sollte, 
dass  es  den  Kampf  in  sich  schließt.  Wer  den  Kampf  als  solchen  ästhetisch 
unschön  findet,  wobei  ja  die  ethische  Berechtigung  desselben  ganz  außer  Frage 
gelassen  wird,  der  möge  nur  die  ganze  Literatur  und  Kunst  von  Homer's  Ilias 
und  den  Bildnerarbeiten  der  Griechen  an  bis  auf  unsere  heutige  Zeit  streichen ; 
denn  es  gibt  kaum  einen  Stoff,  der  für  sie  eine  so  hohe  Anziehungskraft  be- 
währt hätte  als  der  Kampf  in  allen  seinen  verschiedenen  Formen,  und  den- 
jenigen soll  man  noch  erst  suchen,  dem  das  Schauspiel  der  höchsten  Anspannung 
menschlicher  Kraft,  das  die  bildende  Kunst  und  die  Dichtkunst  verherrlicht 
haben,  statt  des  Gefühls  ästhetischer  Befriedigung  das  des  ästhetischen  Miss- 
fallens einflößte.  Das  höchste  und  wirksamste  Problem  für  die  Kunst  und 
Literatur  bleibt  stets  das  Eintreten  des  Menschen  für  die  Tdee,  heiße  die 


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Idee  Recht,  Vaterland,  Glaube,  Wahrheit.  Dieses  Eintreten  aber  ist  stets 
ein  Kampf. 

Allein  nicht  die  Ästhetik,  sondern  die  Ethik  hat  uns  Aufschluss  darüber 
zu  geben,  was  dem  Wesen  des  Rechts  entspricht  oder  widerspricht.  Die  Ethik 
aber,  weit  entfernt,  den  Kampf  ums  Recht  zu  verwerfen,  zeichnet  ihn  den 
Individuen  wie  den  Völkern  ...  als  Pflicht  vor.  Das  Element  des  Kampfes, 
das  Herbart  aus  dem  Rechtsbegriff  ausscheiden  will,  ist  sein  ureigenstes,  ihm 
ewig  innewohnendes  —  der  Kampf  ist  die  ewige  Arbeit  des  Rechts. 
Ohne  Kampf  kein  Recht,  wie  ohne  Arbeit  kein  Eigenthum.  Dem  Satz:  „Im 
Schweiße  deines  Angesichts  sollst  du  dein  Brot  essen, u  steht  mit  gleicher 
Wahrheit  der  andere  gegenüber:  „Im  Kampfe  sollst  du  dein  Recht  finden." 
Von  dem  Moment  an,  wo  das  Recht  seine  Kampfbereitschaft  aufgibt,  gibt  es 
sich  selber  auf  —  auch  vom  Recht  gilt  der  Spruch  des  Dichters: 

Das  ist  der  Weisheit  letzter  Schluss: 

Nur  der  verdient  sich  Freiheit  wie  das  Leben, 

Der  täglich  sie  erobern  muss. 

Dr.  Rudolf  von  Ihcring,  Der  Kampf  ums  Recht,  10.  Aufl. 

(Mit  der  Herbart'schen  Maxime  vergleiche  man  auch  die  von  Ihering  zur 
Bestätigung  seiner  eigenen  Anschauung  citirten  Aussprüche  Kaut's:  Wer  sich 
zum  Wurm  macht,  kann  nachher  nicht  klagen,  wenn  er  mit  Füßen  getreten 
wird."  „Lasst  euer  Recht  nicht  ungeahndet  von  anderen  mit  Füßen  treten."  Dies 
sei  „Pflicht  in  Beziehung  auf  die  Würde  der  Menschheit  in  uns";  dagegen  sei 
„Wegwerfung  seiner  Rechte  unter  die  Füße  anderer  Verletzung  der 
Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst.") 

[Ent  Wickelung  des  Lehrerstandes.]  Es  gab  Zeiten,  da  deutsche  Ge- 
lehrte, Zierden  der  Wissenschaft,  mit  gemeiner  Not  und  Entbehrung  kämpfen 
mussten.  Heute  noch  finden  sich  die  Lehrer  an  den  höheren  Schulen  zurück- 
gesetzt und  können  unerfreuliche  Vergleichungen  mit  anderen  Berufsclassen 
nicht  abweisen,  die  bei  dem  gleichen  Einsatz  an  Zeit  und  Kräften  weit  mehr 
Ansehen  haben  als  sie,  einfach  aus  dem  Grunde,  weil  ihnen  ein  reicherer  Lohn 
zutheil  wird.  Noch  größeren  Nachtheilen  ist  der  deutsche  Volksschullehrer  - 
stand  ausgesetzt  gewesen.  Seine  kümmerliche  Lage,  sein  geringes  Ansehen 
ist  fast  sprichwörtlich  geworden  in  dem  Volke,  das  sich  rühmen  darf,  in  Be- 
ziehung auf  die  allgemeine  Volksbildung  unerreicht  dazustehen  ...  Es  war 
ein  zweifelhaftes  Geschenk  für  den  ganzen  Stand,  als  die  Schule  und  mit  ihr 
die  Lehrer  zum  Gegenstande  politischer  Rücksichten  und  Erwägungen  gemacht 
wurden.  Bald  umworben,  bald  zurückgestoßen,  bald  ein  willkommener  Helfer, 
bald  mit  Misstrauen  betrachtet,  heute  angespornt,  morgen  zurückgehalten, 
wurde  der  Lehrerstand  oft  in  seinem  Ringen  nach  Selbstständigkeit  gehemmt 
und  in  seiner  Ent  Wickelung  gestört  und  in  den  Kampf  der  Parteien  gezogen. 
Es  wäre  wunderbar,  wenn  er  sich  dabei  stets  tadelfrei  erhalten  hätte  .... 
Die  deutschen  Volksschullehrer  waren,  wie  das  deutsche  Volk  sie  haben  wollte, 
und  manchmal  waren  sie  besser,  als  man  sie  wünschte  ....  Ist  es  nach  dem 
Vorgange  der  Dichter  erlaubt,  den  Entwickelungsgang  eines  ganzen  Standes 
unter  dem  Leben  und  der  Charakterbildung  eines  einzelnen  Menschen  aufzu- 
fassen, so  kann  man  der  ferneren  Entfaltung  des  deutschen  Volksschullehrer- 
standes mit  freudiger  Zuversicht  entgegensehen.  Eine  harte  Jugendzeit  bereitet 


—    317  — 

einen  gediegenen  Mannescharakter  vor.  Oft  enttäuscht,  verachtet,  vergessen 
und  verkannt,  durch  Leiden  nnd  Entbehrungen  geprüft  und  gestählt,  hat  er 
doch  in  sich  selbst  Halt  gefunden  und  schreitet  zu  größerer  Festigkeit  und 
Tüchtigkeit  nnd  zu  größerer  Selbstständigkeit  rüstig  fort.  Konrad  Fischer, 
Geschichte  des  deutschen  Volksschnllehrerstandes  (Hannover,  Karl  Meyer). 

Aus  Hessen-Nassau.  Wer  hätte  es  geahnt,  dass  der  Besuch  des 
Kasseler  Friedrichs-Gymnasiums  von  Seiten  unseres  Kaisers  einmal  der  Anstoß 
zu  einer  weitgehenden  Keform  des  Schulwesens  werden  würde!  Wie  lange  hat 
man  Reformen  gefordert,  wie  hartnäckig  haben  sich  die  alten  Gymnasialpädagogen 
gegen  dieselben  gesträubt.  Doch  bewahrheitet  sich  auch  hier  wieder  in  einem 
eigenen  Sinne  das  alte  Wort:  Caesar  supra  grammaticos.  Unser  Kaiser  musste 
als  Schüler  an  sich  erfahren,  dass  man  in  unseren  Schulen  nicht  zuviel,  sondern 
zu  wenig  für  das  Leben  lernt,  dass  das  Lernen  vielfach  ein  Rennen  mit  Hin- 
dernissen  ist.  Die  Zunge  des  Kindes  hat  kaum  die  Fähigkeit  erlangt,  in  der 
Muttersprache  reden  zu  können,  da  quält  man  sie  schon  mit  der  Aussprache 
fremder  Wörter,  ja  es  kommt  zur  ersten  fremden  Sprache  bald  die  zweite, 
dritte,  für  manchen  selbst  die  vierte  hinzu.  Der  Schüler  tritt  kaum  in  die 
Schule,  und  man  beschäftigt  ihn  im  Religionsunterricht  mit  den  größten  Räthseln 
für  den  Menschengeist,  mit  der  Schöpfung  der  Welt,  mit  der  Sünde  und  der 
Erlösung;  in  der  Geschichte  versetzt  man  ihn  nach  Rom,  Griechenland,  In- 
dien u.  s.  w.,  und  der  arme  Junge  weiß  kaum,  wo  er  selbst  zu  Hause  ist.  Die 
fortwährende  Belastung  des  Gedächtnisses,  die  Vielgeschäftigkeit,  das  Vielerlei, 
das  Hasten  und  Eilen  von  einem  Wissensgebiet  zum  anderen,  die  mangelnde 
Einsicht  in  den  Stoff,  die  fehlende  Durchdringung  und  Beherrschung  desselben 
erzeugen  Unsicherheit,  Unruhe,  geistige  und  körperliche  Erschlaffung.  Unsere 
Schüler,  die  mit  einem  Bildungsstoff  gequält  werden,  der  ihnen  und  dem  Leben 
fremd  ist  und  fremd  bleiben  wird,  gleichen  Menschen,  deren  Kraft  man  durch 
Waten  in  einer  endlosen  Sandwüste  erhöhen  will.  Wenn  man  einen  Menschen 
durch  eine  unbekannte,  uninteressante  Gegend  führt,  so  wird  er  bald  Miss- 
behagen, Ermüdung  und  das  immer  heißere  Verlangen  empfinden,  in  schönere 
Gefilde  zu  gelangen;  so  geht  es  den  meisten  Schülern  unserer  höheren  Schulen, 
die  mit  Schiller  singen  können:  „Ach,  aus  dieses  Thaies  Gründen,  die  der 
kalte  Nebel  drückt,  könnt  ich  doch  den  Ausgang  finden,  acb,  wie  fühlt  ich  mich 
beglückt!" 

Bei  dem  Unterricht  bleiben  vielfach  die  anerkanntesten  pädagogischen 
Forderungen  unberücksichtigt,  wie  z.  B.  die,  dass  derselbe  die  menschliche 
Natur  und  deren  Entwickelnngsgesetze  zu  berücksichtigen  hat,  dass  der  Un- 
terrichtsstoff nach  dem  Standpunkte  und  der  geistigen  Entwickelung  des  Schülers 
auszuwählen  und  zu  vertheilen  ist,  dass  die  Gegenstände  mehr  nacheinander  als 
nebeneinander  zu  betreiben  sind,  dass  man  vom  Bekannten  zum  Unbekannten, 
vom  Nahen  zum  Fernen  fortzuschreiten  hat.  Nicht  Auswendiglernen,  sondern 
Anschauung,  nicht  Wortbegriffe,  sondern  Einsicht,  nicht  Wissen,  sondern  Kraft, 
nicht  mechanische  Fertigkeiten,  sondern  freies  Können  und  Wollen  muss  der 
Unterricht  bezwecken,  wenn  er  wahrhaft  bildend  sein  soll.  Der  fremdsprach- 
liche Unterricht  beginne  erst,  nachdem  eine  genügende  Kenntnis  der 
Muttersprache  erlangt  ist;  die  Mathematik  werde  erst  gelehrt,  wenn  die 
bürgerlichen  Rechnungsarten  begriffen  und  bis  znr  Sicherheit  geübt  sind;  im 


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Religionsunterricht  gehe  man  vom  Leben  and  der  Lehre  Jesu  aas  and  be- 
handle die  Geschichte  des  Reiches  Gottes  and  die  Lehre  der  confessionellen 
Bekenntnisschriften  erst  dann  in  der  Sprache  der  Lutherbibel  and  der  Kate- 
chismen, wenn  der  Schüler  sprachlich  soweit  gefördert  ist,  die  veralteten  For- 
men zu  verstehen;  in  der  Geographie,  Geschichte  und  Naturkunde  gehe  man 
von  der  Heimat  aus  und  verweile  da  so  lange,  bis  die  Fähigkeit  erlangt  ist, 
Fernliegendes  zn  begreifen;  die  Gesetze  der  deutschen  Sprache  suche  man 
erst  zn  erkennen,  wenn  der  Schüler  Sprache  hat,  und  verschone  ihn  ganz  oder 
möglichst  lange  mit  der  von  der  lateinischen  Sprache  entlehnten  Terminologie. 
Alles  das  hat  der  deutsche  Kaiser  in  seiner  bedeutsamen  Rede  bei  Eröffnung 
der  Schulconferenz  und  in  seinen  Schulerlassen  auch  gewünscht,  seine  Schüler- 
erfahrungen, sein  Verkehr  mit  Männern,  die  von  der  Noth wendigkeit  der  Schul- 
reform überzeugt  sind,  haben  ihm  das  nahegelegt;  allein  wir  haben  aus  den 
Verhandlungen  der  Schulconferenz  ersehen,  dass  die  Mehrzahl  der  Schulmänner 
nicht  für  diese  Reform  zu  gewinnen  war.  Diese  beriefen  sich  immer  auf  das 
bewährte  Alte  uud  bedachten  dabei  nicht,  dass  unsere  Gymnasien  schon  längst 
leer  ständen,  wenn  sie  nicht  gerade  mit  den  meisten  Berechtigungen  aus- 
gestattet wären.  In  der  Hauptstadt  der  Provinz  Hessen-Nassau  hat  der  deutsche 
Kaiser  den  Anstoß  zu  seinen  Reformbestrebungen  erhalten,  in  der  größten  Stadt 
dieser  Provinz,  in  Frankfurt  am  Main,  will  man  jetzt  den  ersten  Versuch  zur 
Erprobung  des  Neuen  machen.  Von  Ostern  1892  an  wird  ein  städtisches 
Gymnasium  seinen  Lehrplan  derart  gestalten,  dass  in  Sexta  mit  dem  Fran- 
zösischen begonnen  wird,  während  das  Latein  erst  in  Untertertia,  das 
Griechisch  erst  in  Untersecunda  auftreten  soll.  Auch  ein  Realgym- 
nasium, die  Musterschule,  wird  Ostern  1892  in  Sexta  mit  dem  Französischen 
beginnen,  den  Beginn  des  Lateinischen  ebenfalls  nach  Untertertia,  den 
Anfang  des  Englischen  nach  Untersecunda  verlegen.  Diese  Anstalten 
wollen  dieselben  Ziele  wie  bisher  verfolgen,  und  wir  sind  der  Ansicht,  sie  wer- 
den sie  leichter,  weil  naturgemäßer,  gründlicher  und  sicherer  erreichen.  Selbst- 
verständlich sind  ihnen  dieselben  Berechtigungen  zugesichert,  die  diesen  Schul- 
gattungen nach  dem  neuerlichen  Erlasse  zuertheilt  sind.  Es  ist  bisher  nur  von 
den  Sprachen  die  Rede,  gewiss  werden  aber  auch  die  oben  gezeichneten  For- 
derungen für  die  anderen  Unterrichtsfächer  Berücksichtigung  finden,  da  ja 
durch  die  Veränderungen  in  den  Sprachen  Zeit  und  Raum  dafür  gewonnen 
werden.  Nicht  nur  für  die  Erreichung  des  Bildungszieles  werden  diese  Ein- 
richtungen des  Lehrplans  von  der  größten  Bedeutung  sein,  sondern  auch  für 
das  Verhältnis  der  Schulen  za  einander:  es  werden  fernerhin  Gymnasium,  Real- 
gymnasium, Oberrealschule  und  Realschule  bis  Quarta  einen  gemeinsamen 
Unterbau  haben,  Gymnasium  und  Realgymnasium  sogar  bis  Obertertia  ein- 
schließlich. Ist  man  soweit  gegangen,  so  wird  man  auch  bald  dahin  gelangen, 
eine  geraeinsame  Grundlage  für  alle  Schulen  zu  finden,  dies  umso  eher,  je 
mehr  man  die  socialen  und  wirtschaftlichen  Nachtheile  erkennt,  welche  die 
Zersplitterung  unseres  Schulwesens  mit  sich  bringen.  Mehr  als  70  preußische 
Städte  mit  nur  je  einer  höheren  Schule  haben  sich  vor  kurzem  an  den  Kaiser 
gewandt  und  gebeten,  es  möchte  die  Reform  des  höheren  Schulwesens  auf 
der  Grundlage  eines  einheitlichen  Unterbaues  für  alle  höheren  Schulen  erfolgen, 
wir  fordern  mehr,  wir  fordern  einen  gemeinsamen  Unterbau  für  alle  Schulen. 
Unleugbar  ist  eine  der  Hauptursachen  der  vielfältigen  und  tiefen  Spal- 


—   319  - 


tungen  in  unserem  Volksleben,  die  in  den  leidenschaftlichen  Interessen«  und 
Principienkämpfen  der  Gegenwart  in  die  Erscheinung  treten  und  einer  gedeih- 
lichen Fortentwickelung  der  Nation  sich  hinderlich  erweisen,  die  Zersplitterung 
unseres  Schulwesens.  Jedoch  wäre  es  ein  Irrthum,  anzunehmen,  dass  nur  die 
gegenwärtig  bestehende  Vielköpfigkeit  des  höheren  Schulunterrichts  hieran  die 
Schuld  trägt:  viel  tiefer  einschneidend  ist  die  von  unten  auf  bestehende  Ab- 
sonderung der  höheren  Stände  von  den  niederen,  der  vermögenden  vou  den 
nnvermögenden  durch  die  gesondert  bestehenden  Vorschulen  und  das  immer 
weiter  um  sich  greifende  Kasten-  und  Standesschulwesen.  Die  Einheit  des 
Volksgeistes  beruht  nicht  nur  auf  der  Einheit  der  höheren  allgemeinen  Bildung, 
sondern  vielmehr  auf  einer  allgemein  verbreiteten  Volksbildung.  Daher  muss 
die  höhere  Unterrichtsanstalt  (Gymnasium,  Realgymnasium,  Oberrealschule) 
mit  der  Mittelschule  (preuß.  Mittelschule,  höhere  Bärgerschule,  Realschule)  und 
der  allgemeinen  Volksschule  (Bürgerschule)  in  organische  Verbindung  gesetzt 
werden.  Eine  solche  Reform  unseres  deutschen  Schulwesens  fordert  das  Na- 
tionalitätsprincip,  fordert  die  Röcksicht  auf  die  sociale  Einheit. 

Auch  in  wirtschaftlicher  Beziehung  ist  die  Zerspellung  unseres  Schul- 
wesens ein  Fehler.  Wie  manche  kleinere  Stadt  hat  neben  der  Börgerschule 
eine  Mittelschule,  höhere  Töchterschule,  eine  Realschule,  ein  Progymnasium, 
Realprogynina8ium,  oder  gar  ein  Gymnasium  und  Realgymnasium,  dazu  zu 
allem  Überfluss  noch  gesonderte  Vorschulclassen  für  die  höheren  Schulen.  Dass 
durch  eine  Vereinfachung  hier  viel  Geld  gespart  werden  kann,  wird  jedermann 
einleuchten.  So  wenig  als  die  Knabenmittelschulen  und  höheren  Schulen  be- 
sondere Vorschulclassen  nöthig  haben,  so  wenig  bedürfen  sie  die  Mädchen- 
m ittelschulen  und  höheren  Töchterschulen,  und  alle  Kinder  der  Nation, 
Knaben  und  Mädchen,  sollen  wenigstens  in  den  drei  ersten  Schuljahren  die 
allgemeine  deutsche  Volksschule  besuchen.  Fllr  alle,  welche  eine  weiter 
angelegte  Bildung  erstreben,  schließt  sich  an  die  drei  ersten  Schuljahre  die 
Mittelschule.  Die  höhere  Schule  setze  erst  mit  dem  7.  Schuljahr  ein. 
wo  für  Gymnasium  und  Realgymnasium  das  Latein  beginnt.  Die  allgemeine 
Volksschule  hat  8,  die  Mittelschule  7,  das  Gymnasium  und  Realgymnasium 6, 
die  Oberrealschule  nur  2  besondere  Jahrescurse.  Die  Volksschule  nimmt  ihre 
Schüler  nach  dem  vollendeten  6.,  die  Mittelschule  nach  dem  9.,  das  Gymnasium 
und  Realgymnasium  nach  dem  12.,  die  Oberrealschule  nach  dem  16.  Lebens- 
jahre auf.  Die  Mittelschule  ersetzt  demnach  für  diejenigen  Schüler,  welche 
später  die  höhere  Lehranstalt  besuchen  wollen,  die  Gassen  Sexta,  Quinta  und 
Quarta. 

In  den  drei  ersten  Schuljahren  sind  Religion,  Deutsch  und  Rechnen  die 
Hauptfacher,  die  Volksschule  erweitert  dieselben  spater  durch  die  Realien;  die 
Mittelschule  hat  in  ihren  drei  ersten  Schuljahren  (4—6.)  noch  besonders 
Französisch;  wenn  die  Schüler,  welche  in  die  höhere  Lehranstalt  eintreten 
wollen,  abgehen,  kommt  Englisch  und  in  Knabenmittelschulen  Mathematik  hinzu. 

Eine  solche  Einrichtung  unseres  Schulwesens,  bei  welcher  eine  Dreiheit 
gewissermaßen  zur  Einheit  wird,  bewahrt  den  guten  Kern  der  bisherigen  Ent- 
wicklung, setzt  aber  Ordnung  an  die  Stelle  der  Zerklüftung,  die  bisher  soviel 
beklagte  Überbürdung  der  Schüler  wird  nicht  mehr  so  leicht  vorkommen,  weil 
die  schwierigeren  Fächer  später  auftreten,  und  die  Entscheidung  über  die  Be- 
rufswahl kann  dann  erst  auf  Grund  der  nöthigen  Erfahrung  getroffen  werden. 


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'  Der  Segen  aber,  den  diese  Einheitsschale  in  socialer  and  wirtschaftlicher  Be- 
ziehung bringen  wird,  ist  unberechenbar.  A.  G. 

[B.  Vom  deutschen  Ostseestrand.]  Die  gewaltigen  Erschütterungen 
des  kirchlichen  Lebens,  welche  uns  der  Kulturkampf  gebracht  hat,  werden 
hier  noch  fortgesetzt  bis  zum  einsamsten  Fischerdorfe  im  weißen  Dünensande 
verspürt.  Es  war  nicht,  sondern  es  ist  noch  heute,  wie  vor  20  Jahren,  ein 
Kampf  „vom  Fels  zum  Meere",  vom  Bodensee  bis  an  den  Belt  Zwar  wird  dieser 
heftige  Bürgerkrieg  nicht  mit  Blut  und  Eisen,  sondern  mit  den  Waffen  des 
Geistes  geführt.  Wann  der  Sieg  endlich  entschieden  sein  wird,  wer  kann  das 
wissen?  —  „Noch  ruhen  in  der  Zeiten  Schöße  die  heiteren  und  die  schwarzen 
Lose."  Was  die  Zukunft  auch  für  das  nächste  Jahrhundert  bringen  mag, 
eines  glauben  wir  schon  heute  zu  wissen,  dass  die  gesunde  Menschenvernnnft 
sich  nicht  wird  ans  dem  Felde  schlagen  lassen.  Welches  sind  denn  nun  die 
bisherigen  Errungenschaften  des  in  Kirche  und  Schule,  in  den  Parlamenten 
und  Bierstuben,  in  den  Vereinen  wie  in  den  Ministerien  geführten  heißen  Cultur- 
kampfes  der  letzten  20  Jahre?  Die  große  Lehre  für  alle  Gebildeten 
ist  die  gewesen,  dass  die  gewöhnlichen  Volksclassen  für  kirch- 
liche Freiheiten  ebensowenig  die  zeitgemäße  Reife  haben,  wie  für 
die  politischen.*)  Daher  war  die  Aufhebung  der  Maigesetze  eine  unbe- 
dingte praktische  Nothwendigkeit  (?  D.  R.).  Die  nach  Völkerfrieden  duftenden 
Siuiultauschulen  wurden  durch  kalte  Kirchenluft  überall  niedergedrückt,  ja  die 
schön  eingewurzelten  Anstalten  waren  ein  Dorn  in  den  Augen  christlicher 
Heißsporne.  Es  konnte  nunmehr  das  Unglaubliche  geschehen,  dass  einige  Orte 
Simultanschulen  neben  Confessionsschulen  hatten,  dass  z,  B.  die  Stadt  Elbin g 
sechs  siebenclassige  Simultan-Mädchenschulen  und  sechs  siebenclassige  Con- 
fe8sion&-Knaben8chulen  besaß.  Dieses  Beispiel  ist  unseres  Erachtens  von  größerer 
Bedeutung  in  dem  sensationellen  Principienstreite,  als  es  auf  den  ersten  An- 
blick scheinen  könnte.  Wenn  es  wahr  ist,  dass  bei  dem  Lehrerwechsel  zur 
Religionsstunde  an  manchen  Orten  gerufen  worden  ist:  „Katholiken  heraus", 
oder  von  der  anderen  Seite:  „Ketzer  heraus",  so  sind  das  nicht  bloße  Un- 
gescbliffenheiten,  sondern  Hetzen,  die  das  Gegentheil  von  dem  fördern,  was 
durch  die  Schöpfung  der  Simultanschule  erreicht  werden  sollte,  nämlich  der  Friede. 

Eine  weitere  Folge  des  mit  Dr.  Windthorst  nur  scheinbar  zu  Grabe  ge- 
tragenen Culturkampfes  ist  die,  dass  die  kleinen  und  großen  Bombensplitter 
als  religiöse  Streitfragen  unter  das  Volk  flogen  und  dieses  zum  Selbstdenken 
herausforderten.  Gerade  hierin  liegt  ein  großer  Segen,  welcher  zu  den  schönsten 
Hoffnungen  berechtigt. 

Einstweilen  befinden  wir  uns  hier  in  den  weiten  Strandgegenden  noch  in 
dem  Stadium  des  Überganges  zu  hoffentlich  besseren  Verhältnissen,  in  welchen 
die  prophetischen  Worte:  „Es  wird  eine  Herde  und  ein  Hirte  werden,*'  mehr 
Geltung  gewinnen  mögen.  Es  gab  früher  Fechtvereine,  d.  h.  solche  Vereine, 
welche  durch  kleine  Gaben  große  Capitalien  ansammelten,  um  damit  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Cenfession  Waisenhäuser  zu  errichten.  Jetzt  gibt  es  in  ganz 
Norddeutschland  nur  katholische  und  evangelische  Fechtvereine.  Früher 
gab  es  Gesellenvereine,  jetzt  katholische  und  evangelische  Gesellen  vereine. 


*)  Steht  es  um  die  herrschenden  Olassen  besser?   D.  R. 


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-    321  — 


Früher  gab  es  Armenvereine,  jetzt  katholische  and  evangelische  Armen- 
vereine. Früher  gab  es  Lehrer  vereine,  jetzt  katholische  und  evangelische 
Lehrervereine.  Ein  GIBck  ist,  dass  die  katholischen  Lehrervereine  in  Preußen 
noch  meistens  dem  allgemeinen  Landesverein  angehören  dürfen,  welcher  im 
letzten  Jahre  einen  Zuwachs  von  3898  Köpfen  erhalten  hat  und  nunmehr 
39410  Mitglieder  zählt.  Wie  lange  die  katholischen  Collegen  diese  Freiheit 
noch  genießen  werden,  ist  eine  andere  Frage.  Einen  ungleichen  Kampf  fährt 
zur  Zeit  der  Vorsitzende  des  ermländischen  Lehrervereins,  Herr  Rector  Fischer 
in  Allenstein,  gegen  den  Bischof  in  Frauenburg  wegen  derartiger  Bevormun- 
dung. .  Wer  hier  unterliegen  wird,  ist  unschwer  vorauszusehen.  Ziehen  wir 
ferner  die  Jaden-  und  Menonitenfrage  in  Betracht,  durch  welche  Ost-  und 
Westpreußen  sehr  stark  berührt  wird,  so  sieht  man,  wie  ungeheuer  sich  die 
religiösen  Differenzen  und  Bestrehungen  seit  dem  Beginn  des  sogenannten 
Culturkampfes  zugespitzt  haben. 

Die  evangelischen  Bewohner,  welche  in  Lethargie  die  Decennien  dahin- 
rollen  sahen,  wurden  nun  auch  wacker  aufgerüttelt.  Eine  besondere  Anregung 
brachte  noch  das  Jahr  1883  mit  seiner  400jährigen  Lutherfeier.  Es  ent- 
standen Luther  festspiele  von  Hans  Herrig  und  anderen,  und  immer  häufiger 
ertönte  in  Stadt  und  Land:  „Ein'  feste  Burg  ist  unser  Gott",  als  ob  ein  gefähr- 
licher Glaubensfeind  im  Anzüge  sei.  Es  bildeten  sich  Vereine  zu  einer  Luther- 
stiftung: Die  deutsche  Lutherstiftung  steht  unter  der  hohen  Protection 
Sr.  Majestät  des  deutschen  Kaisers  und  Königs  von  Preußen  Wilhelm  II.  Sie 
gliedert  sich  in  einen  Centraiverein  mit  vielen  Localvereinen  und  erstrebt  das 
Ziel,  das  Andenken  des  großen  Reformators  im  evangelischen  Theile  des 
deutschen  Volkes  rege  zu  erhalten  und  damit  gleichzeitig  Zwecke  der  Wohl- 
thätigkeit  zu  verbinden.  Der  Hauptverein  für  Ostpreußen  zählt  704  Mitglieder 
und  hat  seinen  Sitz  in  Königsberg.  Im  letzten  Geschäftsjahre  wurden  Pfarrer- 
nnd  Lehrerkinder  unterstützt  mit  drei  Gaben  a  100  Mk.,  fünf  Gaben  ä  75  Mk. 
und  vier  Gaben  a  50  Mk.  Der  Verein  besitzt  außerdem  ein  zinstragendes 
Capital  von  8000  Mk.  Znm  Vorstand  gehören  Oberbürgermeister  Selke,  Pro- 
fessor Dr.  jnr.  Zorn,  Gymnasiallehrer  Dr.  Baldus,  Landgerichts-Präsident  Kessler, 
Consistorialrath  Lic.  Eilsberger,  Commercienrath  Weller,  Graf  Dönhoff-Fried- 
richsstein, Graf  Eulenburg-Prassen,  Superintendent  Eschenbach,  General-Super- 
intendent Pötz,  Rechtsanwalt  Dr.  Kranz,  Gymnasial-Director  Dr.  Grosse,  Justiz- 
rath Dr.  Jüterbock,  Rittergutsbesitzer  Meßling-Ziegenburg  und  Rittergutsbesitzer 
Dr.  Seydel-Chelchen.  So  schön  auch  alle  solche  Veranstaltungen  sein  mögen,  so 
tragen  sie  zur  Schlichtung  religiöser  Händel  sicherlich  nichts  bei.  Mehr  im  Stillen 
wirken  außerdem  emsig  die  Baptisten,  die  Irvingianer,  die  Herrnhuter,  die  Phi- 
lipponen,  die  Reformirten,  die  Gichtelianer  etc.  Ei,  wenn  die  erst  noch  alle  ihre 
Confessions8chulen  beanspruchen,  dann  wird  guter  Rath  theuer  werden!  Doch 
halt!  —  hier  kann  uns  geholfen  werden.  Soeben  ziehen  die  ersten  Apostel  der 
englischen  Heilsarmee  durch  unsere  Ostpro viuzen.  Gelingt  es  diesen,  die 
neue  Lehre  zur  Gesammtannahme  zu  bringen,  so  ist  das  Ende  des  Culturkampfes 
besiegelt.  Leider  scheint  hierzu  wenig  Aussicht  zu  sein.  Die  in  Danzig, 
Königsberg  und  Elbing  vorläufig  abgehaltenen  Versaromlungen  waren  nur  spär- 
lich besucht.  Alle  wurden  durch  Absingen  geistlicher  Lieder  und  durch  Ge- 
bete eröffnet.  In  Elbing  glaubte  man  vielleicht  eher  Propaganda  zu  raachen, 
indem  man  einen  bekehrten  Biedermann,  einen  Ostpreußen,  der  Versammlung 

Pwdagoginm,  14.  Jahrg.   Heft  V.  23 


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—   322  — 

vorführte,  welcher  im  Restaurationssaale  gleich  an  Ort  und  Stelle  ein  langes 
Glaubensbekenntnis  im  echten  Pharisäerton  hersagte.  Auch  dieses  Mittel  zog 
aber  nicht,  und  so  ist  es  bei  diesem  einen  „Heiligen"  einstweilen  geblieben, 
und  der  Kampf  in  der  Kirche  und  Schule  dauert  fort.  Mit  großer  Spannung 
sehen  alle  Parteien  dem  Erscheinen  des  neuen  preußischen  Unterrichts- 
gesetzes entgegen.  Möchte  es  gelingen,  durch  dasselbe  den  ersehnten  „Welt- 
frieden", wenigstens  in  preußischen  Landen,  anzubahnen! 

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9 

Aus  der  Fachpresse. 

513.  Pädagogische  Ketzereien  (J.  Mähly,  Schweiz.  Lehrerz.  1891, 
49 — 52).  Ein  geistreicher  Mann,  der  hier  spricht,  ohne  Zweifel!  Aber  er 
urtheilt  oberflächlich,  setzt  „den  Theil  fürs  Ganze",  Übertreibt  stark,  hantirt 
mit  Phrasen  und  Witzeleien,  gibt  vor,  den  thatsächlichen ,  d.  h.  den  Durch- 
schnitts-Betrieb des  Unterrichts  zu  schildern,  malt  jedoch  nur  die  allerschlimmsten 
Zustände  aus.  Selbst  die  Verhältnisse  der  „höheren"  Schulen  (wo  allerdings 
mehr  als  genug  „Professoren"  ohne  jede  pädagogische  Ahnung  „wirken"),  mit 
denen  er  sich  hauptsächlich  beschäftigt,  verzerrt  er.  Noch  weniger  gerecht 
wird  er  der  Volksschule;  den  gegen  wältigen  Stand  der  Volksschalpädagogik, 
die  vielfach  erfreulichen  Leistungen,  die  wackeren  Reformbestrebungen,  von 
denen  unsere  Fachpresse  zeugt,  kennt  er  überhaupt  nicht.  „Es  ist  —  nach 
Hrn.  M.  —  ein  unanfechtbarer  Haupt-  und  Cardinalsatz,  dass  die 
Schale,  und  selbst  die  besteingerichtete,  im  Grunde  ein  notwen- 
diges Übel  sei"  (weil  sie  so  viele  so  verschiedene  Individualitäten  „zu- 
sammenpfercht"). 

514.  Ist  die  Schule  ein  nothwendiges  Übel?  (G.  Stucki,  Schweiz. 
Lehrerz.  1891,  50.  51).  Entgegnung  auf  den  „Haupt-  und  Cardinalsatz"  des 
Vorigen.  —  „Eine  in  jeder  Hinsicht  gut  eingerichtete  Schule  ein  würdiges, 
der  vollen  Kraft  der  Besten  wertes  Ziel  der  Zukunft."  —  Wie  nach  des  Verf. 
Wunsch  eine  „best  eingerichtete"  Schule  aussieht:  Gasse  mit  40  Kindern  in 
zwei  Jahrgängen,  also  2  mal  20  („es  ist  aus  einer  Reihe  von  Gründen  gut. 
wenn  immer  die  Hälfte  der  Gasse  schriftlich  arbeitet").  Kinder  gut  genährt 
und  gesund  (wofür,  wenn  nöthig,  „selbstverständlich"  der  Staat  sorgt),  normal 
begabt  (Schwachbegabte  und  Einseitigveranlagte  ausgeschieden).  Räumliche 
Verhältnisse,  Ausstattung  der  Zimmer  vollkommen  entsprechend.  Lehrer  mit 
möglich  freiem  Spielraum  (nicht  „eingeschnürt  durch  Reglements,  Stundenpläne, 
Handbücher,  Examen  u.  ä.").  Maßgebend  für  Stoffauswahl:  Verdauungsprocess 
der  kindlichen  Seele  (Studium  desselben,  Sammlung  bezüglicher  Erfahrungen 
„vornehmste  Aufgabe  des  Schulmanne»").  Die  wirksamsten  Beweise  für  den 
höheren  Wert  des  Gassenunterrichts.  („Die  Pädagogik  wird  dem  Einzel- 
unterricht niemals  den  Vorzug  vor  dem  Gassenunterricht  einräumen  können." 
Sobald  es  „best  eingerichtete"  Schulen  gibt  —  allerdings!) 

515.  Über  die  Ordnung  der  Natur  und  ihre  Bedeutung  für  das 
Erziehungswesen  (Bähring,  Pfälz.  Lehrerz.  1891,  28).  Wir  notiren  gern 
ein  vernünftiges  Wort  wie  das  folgende  (wenn  wir  den  Gedanken  auch  nicht 
zum  ersten  Male  ausgesprochen  hören):  „Auf  dem  heimischen  Boden,  der  überall 


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! 


—   323  — 


triebkrüftig-  ist  oder  triebkräftig  gemacht  werden  kann,  muss  das  Erziehung»- 
werk  aufgebaut  werden,  nicht  auf  Papier  und  Druckerschwärze." 

516.  Vorschläge  zur  Hebung  der  pädagogisch-literarischen 
Kritik  (Deutsche  Schulpr.  1891,  51).  Verf.  empfiehlt  in  seinem  kurzen 
„preisgekrönten"  Aufsatz  u.  a.  '„summarische  Übersichten"  dieser  Art:  „Durch 
Zusammenstellung  ähnlicher  Erscheinungen,  durch  Beleuchtung  von  verschie- 
denen Gesichtspunkten  aus,  durch  Hervorhebung  der  Vorzüge  und  Mängel  der 
einzelnen  Bücher,  durch  Angaben  darüber,  welche  Bedürfnisse  durch  dieses 
oder  jenes  Buch  befriedigt  werden  etc.  —  könnten  (im  Verhältnis  zu  der  Zahl 
der  besprochenen  Schriften)  knappe  Aufsätze  geschaffen  werden,  welche  sich 
interessanter  lesen  als  gewöhnliche  RecenBionen,  eine  Übersicht  geben  über  die 
neueren  Fachschriften  und  es  ermöglichen,  dass  der  Leser  aus  der  Menge  der 
Neuheiten  das  für  seine  Ansprüche  Geeignetste  herausfindet."  —  Eine  zwar 
nicht  neue,  in  unseren  Fachblättern  aber  doch  nur  selten  dargebotene  Form 
(weil  ihre  notwendigen  Bedingungen  großes  stilistisches  Geschick,  Treffsicher- 
heit, .umfassende  pädagogische  und  wissenschaftliche  Bildung  sind). 

517.  Aufgaben  der  Bürger  den  Lehrlingen  gegenüber  (Schule 
und  Werkstatt*),  1891,  IV).  „Der  Bürgerschaft  fällt  die  hohe  und  lohnende 
Aufgabe  zu,  alle  Einrichtungen,  welche  geeignet  erscheinen,  dem  aufwachsen- 
den männlichen  Geschlecht  (die  Beziehungen  zur  Familie  und)  den  freien  Ver- 
kehr mit  Erwachsenen  zu  erleichtern,  thatkräftig  zu  unterstützen."  Beispiel: 
Lehrlingsabtheilungen  in  (Berliner)  Turnvereinen.  Nothwendiger  Monatsbeitrag 
seitens  der  freiwilligen  Förderer:  20—30  Pfg.  Verlauf  der  Übungsstunden: 
Kürturnen  —  Volkslied  —  geregeltes  Turnen  (bei  den  Gerät  hübungen  Mit- 
glieder der  Männerabtheilungen  als  Riegenführer)  —  Kürturnen  —  Volkslied. 
Spiele  —  Turnfahrten.   Bedeutung  und  vielseitige  Aufgabe  der  Leiter. 

518.  Der  Religionsunterricht  und  seine  Reform  (Fricke,  Die 
deutsche  Volksschule  1891,  21—25).  Zweckbestimmung:  „Der  Religions- 
unterricht iuus8  in  die  Bahnen  innerlicher  Einwirkung  geleitet  werden,  wenn 
er  seinen  Zweck  —  Willensläuterung  —  erfüllen  soll."  Er  soll  den  Schüler 
also  geschickt  machen,  dass  er  später  im  Leben  draußen  „den  Schwerpunkt 
aller  Ereignisse  in  sein  Inneres  zu  legen"  fähig  ist  —  die  Wege  bahnen  „zur 
Selbsterkenntnis,  die  das  Übel  nicht  im  Äußeren,  sondern  im  Inneren  sucht, 
wodurch  der  Selbst  Verblendung  entgegengewirkt,  die  Unzufriedenheit  aufgehoben 
wird  und  der  Mensch  die  rechte  Stellung  zu  seinem  Nächsten  gewinnt.-  — 
Keine  Neuigkeit,  nur  eine  nothwendige  Wiederholung. 

519.  Hauswirtschaftlicher  Unterricht  (Päd.  Reform  1891,  34). 
Verf.  behandelt  die  Frage  als  „Ketzer."  Und  in  zwei  wesentlichen  Pnnkten 
hat  er  Recht,  indem  er  nämlich  1 .  das  vielfach  noch  Dilettanten-  und  Pfuscher- 
hafte der  bezüglichen  Bestrebungen  tadelt,  2.  treffend  bemerkt:  Der  nächste 
Schluss  (aus  der  Thatsache  der  wirtschaftlichen  und  gemnthlichen  Missstände 
in  der  sog.  Arbeiterfamilie)  wäre:  der  „Arbeiter"  und  der  kleine  Handwerker 
müssen  so  gestellt  werden,  dass  auch  von  ihren  Häusern  und  ihren  Hausfrauen 
das  vielcitirte  Wort  Schiller's  („....  und  drinnen  waltet  ....  und  lehret  die 
Mädchen")  gelten  kann.   Da  aber  diese  Schlussfolgerung  schon  stark  nach 


*)  „Mittheilungen  des  Vereins  für  das  Wol  der  aus  der  Schule  entlassenen 
Jagend,"  Berlin. 


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Socialdemokratie  riecht,  and  die  Schale  nach  gewissen  „Autoritäten"  aach  die 
Aufgabe  hat,  die  Socialdemokratie  zu  bekämpfen,  so  mnss  die  „sociale  Frage" 
auf  anderem  Wege  gelöst  werden,  and  so  kommt  man  „natürlich"  auf  die 
Haushaltungsschulen  and  den  haaswirtschaftlichen  Unterricht. 

520.  Das  Zeichnen  von  Bin  ten  form  od  (Th.  Wunderlich,  Die  Kreide 
1891,  IX).  Der  Unterricht  im  freien  Zeichnen  soll  die  Bestrebungen  der  Neu- 
zeit, die  Formen  der  heimischen  Flora  dem  Kunstgewerbe  mehr  and  mehr 
dienstbar  zu  machen,  berücksichtigen  —  deshalb  Vorlagen,  welche  durch  ein  Ab- 
zeichnen natürlicher  Pflanzenformen  mit  geringer  Umbildung  gewonnen  werden 
können.  Eine  Beilage  bietet  „einige  charakteristische  Beispiele  solcher  Blüten- 
formen"  (von  Bntomus  umbellatus,  Tilia  parvifolia,  Borago  ofticinalis,  Solanum 
tuberosum,  Myosotis  palustris,  Geranium  pratense),  gezeichnet  nach  natürlichen 
Pflanzen,  jedoch  nicht  naturalistisch  (dass  alle  jene  Unregelmäßigkeiten  und 
Zufälligkeiten,  welche  die  Naturform  aufweißt,  wiedergegeben  waren),  sondern 
so,  dass  die  geometral  ausgebreitete  Blütenform  von  allen  Mängeln  befreit 
erscheint  (Theile  symmetrisch  durchgebildet  und  mit  Hinsicht  auf  den  orna- 
mentalen Zweck  frei  umgestaltet).  Selbstverständlich  mehrere  natürliche  Exem- 
plare zur  Vergleichung  vorhanden.  Überdies  geeignete  Besprechung,  wobei 
einerseits  „botanische  Belehrungen  nicht  umgangen  werden  dürfen**,  anderer- 
seits durch  die  Schüler  die  „charakteristischen  Hülfslinien"  zu  finden  sind. 

521.  Sätze  für  den  Schreibunterricht  an  gewerblichen  Vor* 
bereitungsschulen  (K.  Prinz,  Päd.  Rundschau  1891,  XI).  Der  Vorschlag, 
die  Übungssätze  vornehmlich  der  Gesundheit«-  und  Wirtschaftslehre  und  den 
besonderen  Berufsverhältnissen  zu  entnehmen,  lässt  sich  hören  (ist  übrigens 
nicht  neu,  und  Verf.  bringt  außerdem  noch  „Kegeln"  aus  anderen  Gebieten). 
Nur  sollten  „Mustersätze"  (selbstverständlich)  durch  eine  gewisse  Vornehmheit, 
jedenfalls  Gedrängtheit  des  Stils  sich  auszeichnen.  Dieser  Vorschrift  genügen 
aber  diejenigen  des  Hrn.  Pr.  in  der  Mehrzahl  nicht:  sie  sind  wortreich,  alt- 
backen, schulmeisterlich  —  etliche  sogar  komisch  oder  sinnlos,  wie:  „Suche 
dir  deine  Concurrenten  durch  gediegene  Arbeit  und  rasche  Bedienung  vom 
Hal8e(!)  zu  schaffen."  (Wenn  nun  —  was  man  doch  wünscht  —  alle  dieser 
Mahnung  folgen,  wer  lässt  sich  dann  „vom  Halse  schaffen"?)  „Das  Kind  er- 
ziehe man  kindlich,  den  Jüngling  mit  Ernst  und  gründlich."  „Den  starken 
Mann,  den  schwachen  Greis  erziehet,  Menschen,  mit  Fleiß  (!!).  —  So  was  ist 
also  in  unserer  Fachpresse  immer  noch  „möglich". 


Von  neuen  Broschüren  ist  vor  allen  eine  hochwichtige  Kundgebung  des 
berühmten  Münchener  Professors  J.  Frohschammer  zu  erwähnen.  Sie  führt 
den  Titel:  „Tu  es  Petrus!  Ein  geschichts-  und  religionsphilosophischer  Essay11 
(Breslau,  Eduard  Trewendt,  32  Seiten).  Der  gelehrte  und  scharfsinnige  Verf. 
unterzieht  diejenigen  Stellen  des  neuen  Testamentes,  welche  als  Rechtsbasi* 
für  das  Papstthum  geltend  gemacht  werden  —  Matthäus  XVI,  18  f.  und  einige 
andere  —  einer  gründlichen  Untersuchung  bezüglich  ihrer  Echtheit  und  Be- 
deutung, um  zu  einer  klaren  Entscheidung  über  die  wichtigste  aller  jetzt 
schwebenden  Culturfragen  zu  gelangen.  Wie  bei  Frohschammer  diese  Ent- 
scheidung ausfällt,  dies  möge  mit  ein  paar  Sätzen  seiner  Abhandlung  bezeichnet 
werden.    „Weder  ist  irgendwo  bezeugt  oder  bewiesen,  dass  Petrus  je  Bischof 


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in  Rom  war,  da  vielmehr  alle  beglaubigten  Urkunden  davon  schweigen  oder 
geradezu  das  Gegentheil  andeuten,  noch  ist  dem  Petrus  je  von  Christus  der 
Primat  aber  die  übrigen  Apostel  und  die  ganze  Kirche  übertragen  worden.44 
Bezüglich  der  Begründung  des  Papstthnms  auf  die  Stelle  bei  Matthäus  und  auf 
einige  ähnliche  kommt  Frohschammer  insbesondere  zu  folgendem  Resultate: 
„Wer  dieselbe  zurückweist  als  unecht  oder  ungiltig,  der  thut  nichts  anderes, 
als  was  Petrus  selbst  und  die  Apostel  gethan  haben.  Wenn  dagegen  das 
römische  Papstthum  sich  auf  diese  Stelle  und  ein  paar  andere,  ebenso  proble- 
matische gegründet  hat  und  noch  darauf  stützt  mit  seinen  Ansprüchen  auf 
Vorrang  und  Herrschaft,  so  handelt  es  dabei  vollständig  anders,  als  Petrus  selbst 
sammt  den  übrigen  Aposteln  und  die  ganze  alte  Kirche  gethan  haben."  Diese 
Citate  sollen  nicht  zum  blinden  Glanben  an  Frohschammers  Lehre,  sondern  zu 
ernstem  Studium  und  gründlicher  Prüfung  seiner  Schrift  auffordern.  Es  liegt 
hier  ein  „Entweder  —  oder4*  vor,  dem  nur  Schwachköpfe  oder  schwankende 
Charaktere  ausweichen  können.  Entweder  ist  der  Papst  Christi  und  Gottes 
Statthalter,  oder  er  ist  es  nicht.  Im  ersten  Falle  sind  ihm  alle  Völker,  Staats- 
lenker und  Fürsten  bis  zu  den  Kaisern  hinauf  unbedingten  Gehorsam  schuldig; 
im  anderen  Falle  sind  seine  Ansprüche  unberechtigt.  Tertium  non  datur,  außer 
für  schwache  und  zweideutige  Seelen.  Die  Frage  mu88  entschieden  werden, 
wenn  über  die  Grundbedingung  aller  Cnltur,  über  die  Geistes-  und  Gewissens- 
freiheit, entschieden  werden  soll.  Niemals  wird  sie  verstummen,  bis  sie  endgiltig 
gelöst  ist,  sei  es  im  Triumphe  oder  im  Untergänge  der  modernen  Cultur.  Hier 
gilt  nicht  farblose  Halbheit,  diplomatisches  Laviren,  hinterhaltiges  Schachern, 
Entgegenkommen  und  Ausweichen,  sondern  nur  ein  klares  Ja  oder  ein  klares 
Nein  und  ein  dementsprechendes  mannhaftes  Handeln.  Es  wäre  doch  endlich 
Zeit,  dass  man  begriffe,  um  was  es  sich  handelt.  Am  27.  December  des  Jahres 
1891  ist  im  Lateran  das  von  Leo  XIII.  seinem  Vorbilde,  dem  Papste  Inno- 
cenz  III.,  errichtete  Denkmal  enthüllt  worden.  Und  dieser  Innocenz  III.  be- 
zeichnet den  Gipfelpunkt  der  päpstlichen  Ansprüche  und  der  päpstlichen  Gewalt; 
die  Oberherrschaft  über  Könige  und  Kaiser  erklärte  er  für  sein  unanfechtbares, 
gottgesetztes  Recht,  welches  er  dann  auch  triumphirend  durchsetzte.  Nun  hat 
ihm  sein  Nachfolger  in  diesen  Tagen  ein  Denkmal  errichtet.  Ist  es  da  noch 
immer  nicht  Zeit,  dass  die  Völker  erfahren,  worauf  denn  eigentlich  das  Recht 
der  römischen  Weltherrschaft  beruhe?  Wir  glauben,  dass  Frohschammer  ein 
sehr  zeitgemäßes  Thema  angeschlagen  hat  mit  seinem  „Tu  es  Petrus!44  - 


In  Preußen  werden  noch  immer  die  Ergebnisse  der  bekannten  Berliner 
Schulconferenz  lebhaft  erörtert.  Wer  sich  in  Kürze  über  die  Hauptpunkte  der  Ver- 
handlungen eine  klare  Information  verschaffen  will,  dem  empfehlen  wir  die  kleine 
Schrift  vom  Gymnasialdirector  Dr.  Grumme  in  Gera:  „Die  wichtigeren  Be- 
schlüsse der  Berliner  Schulconferenz  von  1890  nebst  ein  paar  kurzen  Betrach- 
tungen über  die  Reform  des  höheren  Schulwesens"  (Gera  bei  Hofmann,  30  S.). 
Der  vollständige  (offizielle)  Bericht  über  diese  Verhandlungen  ist  in  einem 
Bande  von  800  Seiten  erschienen  und  erfordert  ein  langwieriges  Studium,  zu 
dessen  Erleichterung  kürzlich  ein  sehr  erwünschter  Behelf  unter  folgendem 
Titel  erschienen  ist:  „Alphabetisch  geordnetes  Sachregister  zu  den  Verhand- 
lungen etc.  Herausgegeben  von  Dr.  H.  G.  Stemm ler"  (Ohrdruf,  Selbstverlag, 
23  Seiten). 


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—    326  — 


Im  Canton  Bern  ist  von  einer  ans  angesehenen  Schulmännern  zusammen- 
gesetzten Commission  ein  „Catalog  für  die  Lehrerbibliotheken"  zu- 
sammengestellt worden,  welcher  auch  anderwärts  als  guter  Rathgeber  bei 
Anschaffung  von  Büchersammlungen  für  größere  Lehrerkreise  Beachtung  ver- 
dient. Der  als  Manuscript  gedruckte  Catalog  dürfte  auf  Verlangen  von  Hrn. 
Seminardirector  M artig  in  Hofwyl  bereitwillig  geliefert  werden. 

Bei  Schmid,  Francke  &  Co.  in  Bern  ist  eine  „ Biblisch-topographische 
Karte  von  Palästina"  von  R.  Leuzinger  (Preis  M.  1.60)  erschienen,  welche  als 
eine  ganz  vorzügliche  Leistung  der  Kartographie  bezeichnet  werden  kann. 

Der  Lehrerverein  „Freie  Schule"  zu  Horn  in  Niederösterreich  hat  einen 
vom  Bürgerschullehrer  Alois  Schrimpf  verfassten  „Leitfaden  für  den  Elementar- 
unterricht in  der  mathematischen  Geographie"  (43  Seiten,  30  Kreuzer.  Verlag 
des  genannten  Vereins)  herausgegeben,  welcher  in  Fachkreisen  viel  Beifall  ge- 
funden hat. 

Von  der  längst  als  vortheilhaft  bekannten  Schulgeographie  von 
E.  v.  Seydlitz  (Verlag  von  F.  Hirt  in  Breslau  u.  Leipzig)  ist  eine  italienische 
Bearbeitung  erschienen,  deren  erste  Auflage  in  5000  Exemplaren  binnen  sechs 
Wochen  verkauft  war. 


Nachtrag. 

In  Preußen  ist  wieder  einmal  ein  Schnlgesetz-Entwurf  auf  der  Tages- 
ordnung. Die  Besprechung  desselben  musste  wegen  schwerer  Erkrankung  des 
Herausgebers  dieser  Blätter  dem  nächsten  Hefte  vorbehalten  bleiben. 

Am  28.  Januar  feierte  unser  verehrter  Mitarbeiter  Herr  Theodor  Ver- 
naleken  seinen  achtzigsten  Geburtstag.  Wir  kommen  hierauf  im  nächsten 
Hefte  zurück. 


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Literatur. 


H.  Sfherer,  Schulinspector  in  Worms,  Wegweiser  zur  Fortbildung  deutscher 
Lehrer  in  der  wissenschaftlichen  und  praktischen  Volksschulpädagogik  und 
zum  Ausbau  derselben.  Auf  geschichtlicher  Grundlage  und  mit  Angrte  der 
Literatur  und  Lehrmittel.  I.  Die  wissenschaftliche  Volksschulpädagogik. 
394  S.  Leipzig  1892,  Friedrich  Brandstetter.  5  Mk. 

Verfasser  bietet  zunächst  einen  Überblick  der  geschichtlichen  Eni  Wickelung 
der  deutschen  Volksschulpädagogik  und  Volksschule  bis  auf  Diesterwcg,  worauf 
er  das  Zeitalter  Diesterwegs,  diesen  selbst  und  seine  Mitarbeiter,  besonders 
deren  Pädagogik  darstellt,  dann  den  Ausbau  der  Pädagogik  nach  Diesterweg 
ausführlich  vorführt  und  schließlich  eine  vergleichende  Charakteristik  der 
Diesterwegschen  und  der  Herbart-Zillerschen  Pädagogik  entwirft.  Ein  lite- 
rarischer Wegweiser  schließt  den  Band  ab.  Die  Arbeit  zeugt  von  umfassender 
Sachkenntnis,  großem  Fleiße  und  klarem  ürtheil.  Die  verschiedenen  Rich- 
tungen auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  Methodik  der  Volksschule  bis  zur 
Gegenwart  werden  eingehend  und  objectiv  dargelegt,  wobei  als  besonders  ver- 
dienstlich hervorzuheben  ist,  dass  Scherer  die  Diesterwcgsche  Pädagogik, 
welche  seit  längeren  Jahren  durch  Unwissenheit,  Stümperei  und  Afterweisheit 
im  Bunde  mit  reaktionärem  Geiste  stark  verdunkelt  und  in  manchen  Gegenden 
fast  verdrängt  war,  wieder  in  das  gehörige  Licht  gestellt  hat.  Sein  Werk 
kann  der  heutigen  deutschen  Lehrerwelt,  besonders  der  jüngeren  Generation, 
in  der  That  als  wertvoller  „Wegweiser"  empfohlen  werden.  Es  bietet  der- 
selben eine  gute  Grundlage  und  zugleich  die  Mittel  und  Wege  zu  gründlicher 
Fortbildung  in  ihrer  Berufswissenschaft.  D. 

Dp.  M.  M.  Arnold  Schröer,  Prof.  a,  d.  Univers.  Freiburg  i.  Br.,  Über  Er- 
ziehung, Bildung  und  Volksinteresse  in  Deutschland  und  England.  99  S. 
Dresden  1891,  Oskar  Damm.   1  Mk.  50  Pf. 

Eine  Reihe  von  Abhandlungen  über  folgende  Themata:  Schule,  Erziehung 
und  Weltherrschaft  der  Engländer.  Die  Lehr-  und  Lernfreiheit  an  unseren 
rniversitäten.  Wissenschaft  und  Publicum.  Literarische  Production  und  Über- 
produetion.  Unsere  Bibliotheken.  Zur  Beurtheilung  der  heutigen  Engländer: 
Drage's  Cyril.  —  Es  sind  vorzugsweise  die  obersten  Stufen  des  Bildungswesens 
und  die  ihnen  dienenden  Mittel,  Kräfte  und  Anstalten  in  Betracht  gezogen. 
Dabei  sind  durchgehends  die  Zustände  in  Deutschland  und  die  in  England 
einander  gegenübergestellt,  um  das  Bessere  von  beiden  Seiten  zur  Geltung  zu 
bringen.  Hauptzweck  ist  dem  Verfasser  einerseits:  Die  Wissenschaft  der  Na- 
tion verständlich  und  wert  zu  machen,  anderseits  die  Nation,  ihre  Wohlfahrt 


bei  so  gewichtigem  Stoffe  möglich  —  leicht,  elegant,  feuületonistisch ,  aber 


A.  Ernst  und  J.  Tews,  Deutsches  Lesebuch  für  städtische  und  gewerbliche 
Fortbildungsschulen.  Zugleich  als  Haus-  und  Familienbuch  für  Handwerker 
und  Gewerbetreibende.  Band  I.  Für  einfachere  Schulverhältnisse  und  die  un- 
teren Stufen  mehrclassiger  Fortbildungsschulen.  377  S.  lMk.50Pf.  Band  II. 


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—    328  - 


Für  die  oberen  Stufen  melirclassiger  Fortbildungsschulen.  430  S.    1  Mk. 

70  Pf.    Leipzig  und  Berlin,  Julius  Klinkhardt. 

Im  vorigen  Hefte  dieser  Zeitschrift  haben  wir  das  von  den  Herren  Ernst 
und  Tews  herausgegebene  deutsche  Lesebuch  für  Mädchenschulen  angezeigt 
und  empfohlen.  Mit  gleichem  Beifall  bringen  wir  das  für  Fortbildungs- 
schulen bestimmte  Lesebuch  derselben  Verfasser  zur  Kenntnis  der  beteiligten 
Kreise.  Dasselbe  ist  für  Lehrlinge  und  Gehilfen  des  Handwerker-  und  Ge- 
werbestandes  bestimmt,  zugleich  aber  auch  sehr  geeignet,  den  bereits  gereiften 
Gliedern  dieser  Gesellschaftsciasse  als  belehrendes,  unterhaltendes  und  gemüth- 
bildendes  Lesebuch  zu  dienen.  Besondere  Rücksicht  ist  bei  Abfassung  desselben 
auf  die  in  Preußen  und  im  deutschen  Reicho  für  den  Gewerbestand  maß- 
gebenden Verhältnisse,  Gesichtspunkte  und  Normen  genommen.  Die  Anordnung 
des  Stoffes  ist  nach  dem  Princip  erfolgt,  ebenso  das  eigentümliche  Berufsleben, 
wie  die  ethischen  Seiten  der  socialen  Verbände  (Familie,  Gemeinde)  und  die 
Rechte  und  Pflichten  des  Staatsbürgers  gleichmäßig  zur  Geltung  zu  bringen. 
Gin  Anhang  bringt  schätzenswerte  Anweisung  und  Muster  für  schriftlichen 
Verkehr  (Geschäftsaufsätze).  Auch  bei  diesem  Werke  ist  die  bewährte  con- 
centrische  Disposition  zur  Anwendung  gekommen,  sodass  der  zweite  Band  als 
eine  naturgemäße  Vertiefung  und  speciellere  Ausarbeitung  des  ersten  erscheint. 
Die  Verlagshandlung  hat  wie  immer  durch  solide  Herstellung  und  billigen  Preis 
des  Werkes  die  Intentionen  der  Herausgeber  wirksam  unterstützt   M.  M. 

C.  M.  Sauer,  Italienisches  Conversationalesebuch,  4.  Auflage.   XII  n.  400  S. 

Heidelberg  1891,  Julius  Groos.   Geb.  3  Mk.  60  Pf. 
T.  (4.  CL  Valette,  Niederländische  Conversations- Grammatik.  VI  u.  370  S. 

Heidelberg  1891,  Julius  Groos.   Geb.  4  Mk.  60  Pf. 
Dr.  Wladislans  Wicuerkiewicz,  Polnische  Conversations-Grammatik.  VII  u. 
485  S.  Heidelberg  1892,  Julius  Groos.  Geb.  4,60  Mk. 

Indem  wir  unsere  Leser  auf  die  obigen  neuesten  Bände  der  bei  Julius  Groos 
in  HcidelbeTg  erscheinenden  Sammlung  neusprachlicher  Lehr-  und  Lesebücher 
nach  der  Methode  Gaspey-Otto-Sauer  aufmerksam  machen,  halten  wir  eine 
weitere  Empfehlung  derselben  in  Anbetracht  des  außerordentlichen  Beifalles, 
den  die  Gaspey-Otto-Sauerschen  Sprachbücher  bisher  gefunden,  für  überflüssig. 

Rudolf  Knill ing,  Der  Zahlenraum  von  1 — 20.  Ein  Leitfaden  beim  ersten 
Unterricht  in  Stadt-  und  Landschulen.  43  S.  München  1892,  Theodor 
Ackermann.    60  Pf. 

Bekanntlich  hat  Verf.  mit  eigentümlichen  Reformversuchen  auf  dem  Gebiete 
des  elementaren  Rechenunterrichtes  eine  lebhafte  Bewegung  hervorgerufen,  die 
an  ihm  selbst  nicht  spurlos  vorübergegangen  ist.  Das  vorliegende  Schriftchen 
zeigt,  dass  er  sich  von  gewissen  Irrthümern  und  Missgriffen  losgemacht  und 
sich  den  bewährten  Grundsätzen  und  methodischen  Behelfen  des  Reebenunter- 
richts wieder  genähert  hat.  Gern  citiren  wir  aus  dem  Vorworte  seiner  neuen 
Arbeit  den  Satz:  „Der  Abfassung  des  Leitfadens  sind  die  gründlichsten  und 
sorgfältigsten  Studien  vorangegangen."  Auch  wollen  wir  ihm  nicht  wider- 
sprechen, wenn  er  beifügt:  „Und  so  dürfte  es  dem  Verfasser  in  der  That  ge- 
lungen sein,  etwas  Gutes,  Brauchbares,  Praktisches  und  vielleicht  sogar 
MustergUtiges  zu  schaffen."  Jedenfalls  wud  es  sich  lohnen,  den  hier  gezeigten 
Gang  einmal  ernstlich  durchzuführen;  er  ist  klar,  leicht,  natürlich  und  ver- 


H.  F.  Munderloh  und  C.  H.  Kröger,  Rectoren  in  Oldenburg,  Rechenbuch  in 
zwei  TheUen.  I.  Tbl.  166  S.  11.  Aufl.  1  Mk.  II.  Tbl  186  S.  18.  Aufl. 
1  Mk.  Oldenburg  1890,  Schulze. 


Die  Aufgaben  beginnen  sofort  mit  dem  unbegrenzten  Zahlenraume,  zunächst 
mit  vier  Grundrechnungsarten  in  ganzen  unbenannten,  dann  in  mchrnamigen 
Zahlen,  darauf  folgt  das  Rechnen  mit  gemeinen  und  schließlich  das  mit  Deci- 
malbrüchen.  Wir  haben  uns  schon  wiederholt  dahin  ausgesprochen,  dass  die 
Decimalbrüche  vor  den  gemeinen  Brüchen  leicht  zu  behandeln  sind,  weil  die 


spricht  guten  Erfolg. 


M.  J. 


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—    329  — 


Schüler  infolge  der  decimalen  Theilung  von  Münzen,  Maßen  und  Gewichten 
in  Bezug  auf  diese  Brüche  ein  weit  vollständigeres  Anschauungsmaterial  be- 
sitzen, als  für  gemeine  Brüche.  —  Die  vereinfachte  Division  nämlich  ohne 
Aufschreibang  der  abzuziehenden  Theilproducte ,  scheint  den  Verfassern  noch 
unbekannt  zu  sein;  im  übrigen  haben  wir  nur  zu  bedauern,  dass  für  Decimal- 
brüche  ein  kleinerer  Typensatz  gebraucht  wurde  und  überhaupt  der  Satz  an 
vielen  Stellen,  z.  B.  Seite  66—68,  dann  125—129  und  166—159  so  gedrängt 
erscheint,  dass  er  den  Augen  umsomehr  empfindlich  wird,  als  auch  das  Papier 
keine  ganz  weiße  Farbe  besitzt. 

Über  den  zweiten  Theil  hatten  wir  schon  Gelegenheit  uns  sehr  anerkennend 
auszusprechen,  da  sein  reicher  Inhalt  in  Bezug  auf  bürgerliche  Rechnungsarten 
und  Verwandtes  ihn  zu  einem  höchst  beachtenswerten  Lehrbehelf  für  Bürger-, 
Handeln-  und  Gewerbeschulen  macht.  H.  £. 

.1.  Welcker,  Oberlehrer  zu  Wiesbaden,  Übungsbuch  zum  mundlichen  und 
schriftlichen  Rechnen,  vollständige  Umarbeitung  des  Übungsbuches  von 
B.  Frickhöffer.  3  Hefte.   5.— 13.  Aufl.    Wiesbaden  1890,  Limbartk. 

Jedes  Heft  40  Pf. 

Des  ersten  Heftes  erste  Abtheilung  ist  für  die  ersten  zwei  Schuljahre 
bestimmt;  die  erste  Stufe  enthält  den  Zahlenraum  bis  fünf,  dann  folgt  die  Ab- 
stufung von  jeder  Decade  zur  anderen.  Im  ganzen  Hefte  kommt  nur  Addition 
und  Subtraction  vor,  welche  Rechnungsarten  zu  dem  sogenannten  Zählen  in 
Reihen  entwickelt  werden;  auf  diese  Art  und  Weise  war  der  Rechenunterricht 
schon  vor  50  Jahren  Üblich.  Man  kann  nun  nicht  sagen,  dass  die  Kinder  vor 
50  Jahren  nicht  auch  rechnen  gelernt  hätten,  doch  wurden  seither  bezüglich 
der  Leichtigkeit  des  Erlernens  mittelst  der  Gru besehen  Methode  so  gün- 
stige Erfahrungen  gemacht,  dass  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Lehrer  und 
der  Lehrbücher  mehr  oder  weniger  sich  dieselbe  zu  eigen  gemacht  haben. 

Des  ersten  Heftes  zweite  Abtheilung  ist  uns  nicht  zugegangen,  dürfte 
aber  wahrscheinlich  die  Multiplieation  und  Division  mit  ganzen  Zahlen  ent- 
halten. Das  zweite  Heft  lässt  abwechselnd  zwei  Abschnitte  über  das  Rechnen 
mit  gemeiuen  Brüchen  und  zwei  mit  mehrfach  benannten  Zahlen  aufeinander 
folgen.  Der  fünfte  Abschnitt  enthält  Aufgaben  über  das  Rechnen  mit  Dezimal- 
brüchen. Der  Verfasser  vertheidigt  diese  Anordnung  mit  der  Behauptung,  dass 
im  Verkehrsleben  die  gemeinen  Brüche  häufiger  vorkommen  und  daher  dem 
Verständnisse  des  Kindes  näherstehen,  eine  Behauptung,  welcher  wir  durchaus 
widersprechen.  Wir  haben  uns  »überzeugt,  dass  seit  Einführung  der  decimal 
ge theil ten  Münzen,  Maße  und  Gewichte  das  anschauliche  Verständnis  der 
Kinder  für  die  Dezimalbruche  mindestens  ebensogroß  ist,  als  für  die  gemeinen 
Brüche,  und  dass  daher  das  Rechnen  mit  Decimalbrttchcn  ohne  erhebliche 
Schwierigkeiten  im  vierten  Schuljahre  durclitjetuhrt  werden  kann.  Das  dritte 
Heft  enthält  Aufgaben  über  die  bürgerlichen  Rechnungsarten,  in  einem  auf 
das  Notwendigste  beschränkten  Umfange.  Wenn  wir  also  auch  nicht  in  der 
Lage  sind,  irgend  einen  methodischen  Fortschritt  an  diesem  Lehrbehelfe  zu 
erkennen,  so  können  wir  doch  zugeben,  dass  er  dem  Bedürfnisse  einer  drei-, 
vierclassigen  Landschule  wol  entspricht.  Nur  muss  man  sich  dabei  bewusst 
bleiben,  so  zu  unterrichten,  wie  dies  auch  schon  vor  50  Jahren  üblich  war.  H.  E. 

Rechenbuch  für  Mädchenschulen  in  5  Heften.  40 — 88  S.  Hildburg- 
hausen 1890,  Gadow.    25—35  Pf. 

Das  erste  Heft  unterscheidet  nur  die  Zahlenränmc  10  und  100,  in  welchen 
die  Aufgaben  nach  Rechnungsarten  gesondert  vorkommen.  Das  zweite  Heft 
gelangt  bis  zum  Zahlenraume  10000  und  führt  einfache  Brüche  vor.  Im 
dritten  Hefte  gelangt  man  bis  zum  unbegrenzten  Zahlenraume,  die  Einfüh- 
rung in  das  Rechnen  mit  gemeinen  und  Decimalbrüchen  wird  fortgesetzt  Das 
vierte  Heft  bringt  die  Bruchrechnung  zum  Abschluss.  Das  fünfte  Heft 
endlich  enthält  die  bürgerlichen  Rechnungsarten,  einiges  aus  der  Raumlehre 
und  gemischte  Aufgaben. 

Wir  haben  schon  des  öfteren  bemerkt,  dass  dio  Schüler  außerordentlich  au- 
geregt werden,  wenn  ihr  künftiger  Beruf  oder  ihre  wahrscheinliche  Lebons- 


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■ 


-    330  — 

Stellung1  in  den  Kreis  des  Unterrichts  gezogen  wird:  es  ist  also  gar  kein 
Zweifel,  dass  der  obigen  VerlagKhancllung  durch  die  Veröffentlichung  dieses 
Rechenbuches  von  einem  ungenannten  Verfasser  ein  glücklicher  Wurf  gelungen 
ist.  Gewiss  wird  es  die  Mädchen  sehr  freuen,  ihre  eigenen  Namen,  anstatt 
jener  der  Knaben  in  den  Textaufgaben  zu  lesen ;  außerdem  aber  kann  ein  Rechen- 
buch für  Mädchen  nicht  anders  aussehen,  als  ein  solches  für  Knaben.  (?  D.  R.) 
Nur  im  zweiten  Theil  des  letzten  Heftes  wird  dieser  Unterschied  hervor- 
ragend markirt.  Dem  Rechenunterrichte  wird  ja  auch  zugemnthet,  die 
Schiller  in  die  tatsächlichen  Verhältnisse  des  Vcrkehrslebens  einzufahren  und 
dieser  Aufgabe  wurde  aus  dem  Standpunkte  des  Mädchens  im  letzten  Theile 
Rechnung  getragen.  Wir  finden  die  Aufgaben,  welche  sich  auf  weibliche 
Handarbeiten  und  auf  Hauswirtschaft  beziehen;  ja  sogar  ein  auf  14  Tage  aus- 
gedehnter Speisezettel  nebst  Kostenuberschlag  befindet  sich  abgedruckt.  Fernere 
Ausgaben  beziehen  sich  auf  Wäsche,  Garten,  Putzmacherin  und  Lebensversiche- 
rung. Wir  stehen  nicht  an  zu  erklären,  dass  das  vorstehende  Lehrmittel  als 
ein  recht  erfreulicher  Fortschritt  zu  begrüßen  ist,  da  dasselbe  in  hohem  Grade 
das  Interesse  der  Schulerinnen  anzuregen  und  damit  die  Arbeit  zu  erleichtern 
und  zu  fordern  vermag.  H.  E. 

Ortlepps  patentirte  Rechenmaschine.    Universal-Lehrmittel-Apparat  für 

Rechnen,  Geometrie  und  Zeichenunterricht.    Max  Rossbach  in  Erfurt, 

Patentinhaber  und  Fabrikant.   Selbstverlag,  1890. 

Die  unter  obigem  Titel  erschienene  Druckschrift  empfiehlt  die  genannte 
Rechenmaschine  auf  das  wärmste.  Diese  Rechenmaschine  kommt  in  ihrer 
Grundform  der  russischen  Kugclrechenmaschine  gleich,  nur  sind  die  Stäbe  in 
vertiealer  Richtung  verschiebbar  gemacht  und  die  Kugeln  durch  Würfel  ersetzt. 
Die  Würfel  sind  normal  oder  diagonal  durchbohrt  im  Vorrath  zu  halten,  und 
da  sie  auch  noch  verschieden  bemalte  Flächen  haben  können,  so  ist  klar,  dass 
die  Vorrichtung  nicht  blos  zum  Rechnen,  sondern  auch  zum  Zeichenunterrichte 
verwendbar  ist.  Ja  es  lassen  sich  sogar  die  Würfel  auf  eine  Weise  ordnen, 
dass  sich  Flächcnberechnungcn  und  Flächenvcrwandlungen  ergeben.  Der  Preis 
des  Apparates,  welcher  nahe  einen  Quadratmeter  Größe  erreicht,  stellt  sich  auf 
30 — 40  Mk.  Er  vermag  ohne  Zweifel  an  einer  Volksschule  recht  gute  Dienste 
zu  leisten,  was  auch  durch  Zeugnisse  von  verschiedenen  Seiten  bestätigt  wird.  H.  E. 

Dr.  Heinrich  Schotten,  Inhalt  und  Methode  des  planimetrischen  Unterrichts, 
eine  vergleichende  Planimetrie.  370  S.   Leipzig  1890,  Teubner.    6  Mk. 

Der  Verfasser  sagt  vorwortlich,  dass  sehr  viele  Lehrbücher  der  Geometrie 
veröffentlicht  werden,  für  deren  Entstehung  ausreichende  Gründe  zu  fehlen 
scheinen.  Offenbar  wollte  jeder  Verfasser  etwas  Besseres,  als  das  bisher  vor- 
handene bieten;  sehr  häufig  aber  konnte  dieser  Gedanke  nur  bestehen  und  zur 
Durchführung  gelangen,  weil  der  betreffende  Verfasser  nicht  hinreichend  mit 
der  schon  vorhandenen  Literatur  vertraut  war.  Es  wird  gewiss  jedem  Fach- 
genossen erwünscht  sein,  ehe  er  daran  geht  neue  Grundsätze  und  Auffassung» 
in  einem  Lehrbuche  durchzuführen,  darüber  Aufschluss  zu  erhalten,  ob  das  ihm 
als  neu  Erscheinende  nicht  schon  früher  bekannt,  ob  es  nicht  schon  kritisch 
beleuchtet,  oder  vielleicht  gar  verworfen  wurde.  Diesem  thatsächlich  bestehen- 
den Bedürfnisse  hat  der  Verfasser  durch  die  vorliegende,  mühevolle  und  höchst 
dankenswerte  Arbeit  abzuhelfen  gesucht. 

Der  vorliegende  erste  Band  des  Werkes  beginnt  mit  einem 

Abschnitte 

„Uber  die  Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete  des  planimetri- 
schen Unterrichtes" ;  derVerfasser  vertheidigt  die  Sätze:  I.  „Der  geometrische 
Unterricht  muss  vor  dem  arithmetischen  entschieden  bevorzugt  werden,  weil 
er  die  Grundlage  bildet,  weil  er  in  den  unteren  Claasen  verständlicher  ist 
H.  Der  arithmetische  Unterricht  beginne  erst  in  Secunda;  einzelne  Theile  er- 
fordern nur  mechanische  Einübung.  DX  Die  Methode  des  geometrischen  Un- 
terrichtes ist  im  Sinne  der  neueren  Geometrie  umzuformen,  ohne  jedoch  die 
Zwecke  der  Schule  zu  verleugnen.  r7.  Der  Zeichenunterricht  muss  für  alle 
Classen  obligatorisch  gemacht  werden,  ist  jedoch  im  systematischen  Zusammen- 
hange mit  der  Geometrie  zu  ertheilen,  also  ein  rein  geometrisches  Zeichnen. 


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—   331  - 


Zur  Unterstützung  dieser  seiner  Meinung  fährt  der  Verfasser  eine  grobe  Menge 
von  Citaten  an;  dieselben  füllen  nahe  an  fünf  Druckbogen  und  sind  44  ver- 
schiedenen Schriftstellern  entlehnt  Unseren  größten  Beifall  verdient  wol  die 
Anführung  über  die  Bedeutung  der  Mathematik  für  die  Charakterbildung  der 
Jugend,  indem  sie  die  freie  Selbsttätigkeit  mehr  fördert,  als  irgend  ein  an- 
derer Lehrgegenstand. 

Die  vorstehenden  Erörterungen  über  die  Reform bestrebungen  sind  gleichsam 
als  Einleitung  gesetzt  Das  erste  Capitel  des  eigentlichen  Werkes  trägt  die 
Überschrift  „Der  Baum",  welchem  Unbcgrenztheit ,  diesfalls  gleichbedeutend 
mit  Unendlichkeit,  dann  Stetigkeit  und  auch  Gleichartigkeit  zukommen.  Auch 
hier  sind  die  Ausführungen  des  Verfassers  verhältnismäßig  kurz,  gegenüber 
der  großen  Menge  von  Citaten,  welche  gleichfalls  einer  reichen  Literatur  ent- 
nommen sind.  Unter  denselben  gefiel  uns  am  besten  ein  Vorschlag  von  Erd- 
in ann,  anstatt  des  Lehrsatzes:  die  Winkelsummc  eines  Dreieckes  ist  gleich 
zweien  Rechten,  lieber  den  Satz:  Die  Winkelsumrae  der  Vielecke  ist  constant, 
unter  dio  grundlegenden  Wahrheiten  aufzunehmen.  Das  zweite  Capitel 
erörtert  die  Frage:  was  ist  Gegenstand  der  Geometrie?  und  ist  ziemlich  kurz 
gehalten.  Im  dritten  Capitel  mit  der  Überschrift  „Raumgebilde"  ver- 
theidigt  der  Verfasser  die  Meinung,  dass  die  Anordnung:  Körper,  Fläche,  Linie, 
Punkt  die  einzig  berechtigte  ist:  der  Körper  als  anschauliches  Ding  muss  an 
die  Spitze  gestellt  werden,  die  übrigen  Raumgebilde  sind  nicht  anschaulich, 
sondern  Begriffe.  Letzteres  ist  auch  die  Ursache,  dass  der  Verfasser  mit  den 
Aufstellungen  von  Heimholt z  über  zweidimensionale  Geometrie  sich  nicht 
einverstanden  erklären  kann,  sondern  einen  großen  Theil  dieses  Capitels  dem 
Nachweise  der  Hinfälligkeit  der  Helmholtzschen  Annahmen  widmet.  Im 
vierten  Capitel  „Ebene"  und  im  fünften  Capitel  „Gerade"  geht  der 
Verfasser  von  der  Behauptung  aus,  dass  dies  a  priori  vorhandene  Begriffe 
seien,  welche  in  dem  Schüler  nur  geweckt  zu  werden  brauchen.  Eine  Vor- 
stellung a  priori  erinnert  sehr  an  ein  Wunder;  es  ist  wie  in  der  Xaturlehrc: 
wenn  man  mit  den  Erklärungen  zu  Ende  ist,  so  stellt  die  „Kraft"  als  Wort 
zu  rechter  Zeit  sich  ein.  Um  dem  Wunderbaren  auszuweichen,  wollen  wir 
lieber  sagen:  Ebene  und  krumme  Flächen,  gerade  und  krumme  Linien  sind 
dadurch  zu  unterscheiden,  dass  die  einen  das  Begrenzte  in  deckungsgleiche, 
die  anderen  dasselbe  in  ungleiche  Theile  theilen.  Diese  Erklärung  wird  vom 
Verfasser  als  von  Archimcdes  herrührend  angeführt.  Sie  ist  so  einfach,  als 
es  die  Sache  zulässt,  über  welche  wir  allerdings  durch  die  tägliche  Erfahrung 
lange  vorher  belehrt  sind,  ehe  in  der  Schule  der  Geometrieunterricht  begonnen 
hat.  Ein  einjähriges  Kind,  welches  seine  ersten  Gehversuche  unternimmt, 
gewinnt  schon  eine  Reihe  von  Erfahrungen  über  Ebene  und  Gerade.  Es  ist 
aber  durchaus  nicht  nöthig,  Begriffe,  welche  den  allereintachsteu  Erfahrungen 
zugänglich  sind,  als  angeboren  zu  erklären.  Überhaupt  sind  wir  der  Über- 
zeugung, dass  nur  Anlagen,  aber  niemals  Begriffe  angeboren  sind.  Der  Beweis 
für  das  Gegentheil  wurde  noch  nicht  erbracht.  —  Nicht  einmal  den  Begriff 
des  Ichs  kann  man  als  einen  angeborenen  bezeichnen;  denn  es  kann  mit  voller 
Berechtigung  die  Behauptung  vertreten  werden,  dass  dieser  Begriff  durch 
Erfahrung  gewonnen  sei.  Dann  ist  aber  auch  der  Begriff  der  Richtung,  als 
der  Beziehung  zwischen  mir  und  einem  anderen  außer  mir,  nicht  mehr  an- 
geboren, sondern  Erfahrungssache. 

Des  weiteren  will  der  Verfasser  von  parallelen  Linien  nicht  gesagt  haben, 
dass  sie  die  gleiche  Richtung  haben,  sondern  dass  sie  eine  ähnliche  Richtung 
haben.  Dies  ist  wol  mehr  ein  Streit  um  Worte,  welcher  wenig  erheblich 
scheint.  Doch,  meinen  wir,  würde  die  Parallelen-Theorie  durch  Vergleichung 
einschlägiger  astronomischer  Verhältnisse  nicht  unerheblich  gewinnen.  Bekannt- 
lich besitzen  nur  wenig  Fixsterne  eine  jährliche  Parallaxe,  das  heißt,  für  die 
Mehrzahl  der  Fixsterne  würde  mit  unseren  Instrumenten  betrachtet  die  jähr- 
liche Bewegung  der  Erde  in  ihrer  Bahn  als  ausdehnungsloser,  ruhender  Punkt 
erscheinen.  In  anderer  Deutung  würde  dieses  heißen:  Ein  cylinderfönniges 
Strahlenbüschel,  dessen  Grundfläche  einen  Durchmesser  von  40  Millionen  Meilen 
besitzt  erscheint  aus  der  Entfernung  der  meisten  Fixsterne  wie  eine  gerade 
Linie.    Im  Vergleich  mit  dieser  Thatsachc  wird  man  wohl  zugestehen  müssen, 


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-   332  — 


das;  jene  Parallelen,  welche  wir  auf  der  Erdoberfläche  zu  ziehen  vermögen, 
nicht  nur  als  von  ähnlicher,  sondern  geradezu  ab  von  gleicher  Richtung  be- 
zeichnet werden  müssen. 

Es  wird  ferner  noch  angeführt,  die  Gerade,  beziehungsweise  die  Ebene,  könne 
als  der  geometrische  Ort  aller  jener  Punkte  erklärt  werden,  welche  von  zweien 
gegebenen  Punkten  gleiche  Entfernung  haben;  dies  ist  aber  gewiss  keine 
einfache  Erklärung,  sondern  eine  solche,  welche  schon  ein  ziemlich  vorge- 
schrittenes geometrisches  Vorstellungsvermögen  erfordert.  Dagegen  die  Er- 
klärung der  geraden  Linie  als  der  Richtung  des  Lichtstrahles  zwar  einfach 
ist,  aber  doch  gewiss  nur  auf  Erfahrung  beruht,  und  durchaus  nicht  ein  syn- 
thetisches Urtheil  a  priori  genannt  werden  kann.  Der  Verfasser  hätte  die 
synthetischen  Urthcile  a  priori  nicht  wieder  aus  dem  Grabe  der  Vergessenheit 
hervorholen  »ollen,  in  welches  sie  ja  auch  von  der  Philosophie  seit  mehreren 
Decennien  schon  gelegt  worden  sind.*)  Im  übrigen  ist  sein  Werk  gewiss  ein 
sehr  wertvoller  Beitrag  für  die  Didaktik  der  Geometrie,  welcher  in  Hin- 
kunft von  jedem  Schriftsteller  auf  diesem  Gebiete  zu  rathe  gezogen  wer- 
den muss.  H.  E. 
Dittmar,  Geschichte  des  deutschen  Volkes  in  drei  Bänden.  Heidelberg,  Winter. 

Diese  „Deutsche  Geschiehteu  wendet  sich  an  ein  anderes  Publicum,  als  die 
im  Jahre  1889  erschienene  deutsche  Geschichte  von  Kftmmel,  deren  Eigen- 
tümlichkeiten wir  im  „Piedugogium"  seinerzeit  darlegten.  Sie  ist  noch  popu- 
lärer in  der  Fassung  und  stofflich  nicht  so  reichhaltig  wie  jene.  Ihr  schlichter 
Ton.  ihre  Klarheit  in  der  Zeichnung  der  Situationen  und  Charaktere,  du- 
kräftige  Hervorhebung  der  leitenden  Idee,  ihre  mehr  gleichmäßige  Behandlung 
der  einzelnen  Epochen  unserer  Geschichte  wird  ihr  Freunde  genug  gewinnen, 
auch  das,  da*s  sie  das  culturgeschichtliche  Element  in  breiter  Weise  heran- 
zieht, und  als  einen  Theil  des  Ganzen  in  die  Schilderung  der  einzelnen  Ab- 
schnitte verwebt  und,  weil  sie  auch  die  Einflüsse  fremden  Lebens  auf  unsere 
Geschichte  betont,  die  Eigentümlichkeiten  desselben  des  breiteren  ausführt. 
So  —  um  das  zuletzt  Gesagte  durch  ein  Beispiel  zu  veranschaulichen  —  er- 
zählt Dittmars  deutsche  Geschichte  bei  der  Darstellung  des  Unterganges  des 
Westgothenreiches  auch  die  Entstehung  des  Islams,  dessen  Lehren  und  Aus- 
breitung, die  Organisation  der  arabischen  Kroberungen  und  die  Geschichte  der 
Omajaden-Dynastie.  Der  erste  Band  (Lief.  1—5,  ä  1  Mk.)  führt  die  Erzählung 
bis  zum  Jahre  1256,  der  zweite  bis  1648.  Das  ganze  Werk,  von  Seite  des  Ver- 
lages sehr  hübsch  Ausgestattet,  wird  in  15  Lieferungen  abgeschlossen  sein.  W. 
Heinze  und  Goette,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  von  Goethe'i  Tode  bis 

auf  die  Gegenwart.    Dresden  1890,  P.  Heinze.    6  Mk. 
Dieselben.    Deutsche  Poetik.    Dresden  1891,  P.  Heinze.    5  Mk. 

Neben  den  Werken  eines  Gottschall  und  eines  Salomon  wird  auch  diese 
Literaturgeschichte  den  Weg  ins  Publicum  finden,  das  ein  Bedürfnis  fühlt, 
sich  über  die  deutsche  Literatur  der  Gegenwart  und  jüngsten  Vergangenheit 
zu  orientiren.  Sie  behandelt  an  die  500  Namen  der  letzten  60  Jahre  auf 
452  Seiten,  die  jetzt  beliebten  Schriftsteller  ausführlicher  (Biographie,  ihre 
Werke,  Inhalt  derselben,  Charakteristik  und  kritische  Würdigung),  die  zahl- 
reichen anderen  kürzer  (Name,  Hauptwerk,  Vorzüge  und  Mängel  durch  ein 
Hei  wort  oder  einen  einzigen  Satz  andeutend,  z.  B.:  „eine  geistreiche,  aber 
etwas  scharf  gepfefferte  Satire,  die  das  politische  und  literarische  Gebiet  uro- 
lasst.  pflegt  Daniel  Spitzer  in  den  bekannten  Wiener  Spaziergängen. 
8.  391.)  Um  den  Leser  über  die  Massenproductionen  der  Literatur  leichter  zu 
orientiren,  ist  dor  Stoff  in  einer  recht  passenden  Weise  gruppirt  und  die  be- 
kannte Eintheilung  nach  der  Heimat  der  Dichter  aufgegeben;  das  Auffinden 
irgend  eines  Namens  aber  durch  ein  Inhaltsverzeichnis  leicht  gemacht.  Die 
Darstellung  ist  schlicht  und  frei  von  Phrasen  und  Wortgeflunker,  was  bekannt- 
lich nicht  von  jeder  Literaturgeschichte  gilt. 

Ähnlich  sachlich  gehalten  ist  auch  die  Poetik  der  beiden  Verfasser.  Es  ist 
eine  Beschreibung  der  Eigentümlichkeiten  jeder  einzelnen  Versform  und  Dich- 


*)  Siehe  Wundt,  Logik,  I.  460. 


—    333  — 


tuut^art,  oft  —  und  das  ist  gewiss  nur  inblich  —  an  der  Hand  eines  bestimmten 
Gedichtes.  Dabei  begnügt  sie  Bich  nicht  mit  einer  Definition,  sondern  geht 
tiefer  in  die  Technik  jeder  Dichtungsart  ein,  sodass  der  Leser  wirklich  auf- 
geklärter an  die  Leetüre  der  Dichtungen  schreiten  kann,  vieles  beachten  wird, 
was  er  sonst  übersehen  hätte.  Auch  in  der  Poetik  ist  die  Einteilung  eine 
vielfach  andere  als  in  den  üblichen  Handbüchern.  So  thcilt  das  Bach  die 
Gedankenlyrik  z.  B.  in  Welt symboli k  (8chillers  Glocke,  Spaziergang),  Poesie 
der  Lebenserkenntnis  (Sprüche  Salomons,  Lieder  des  Mirza  Schaffy)  und 
prophetische  Dichtung  (Hamerlings  Germanenzug).  W. 

(«oethe's  Hermann  und  Dorothea,  erläutert  von  Dr.  A.  Funke.  5.  Aull. 
Paderborn,  Schöningu.    1  Mk. 

Diese  Erläuterung  will  ein  Hilfsmittel  sein  zum  achulmäßigen  Verständnis 
des  im  Titel  genannten  Werkes.  Sic  begleitet  den  Text  mit  Fußnoten,  in 
denen  sie  über  Sachliches  Auskunft  gibt,  sprachliche  Schwierigkeiten  (betreffen 
sie  das  Lexikon  oder  die  Grammatik)  hinwegräumt,  auf  eigentümliche  Schön- 
heiten gewisser  Stellen  aufmerksam  macht  und  die  der  Handlung  oder  den 
Gesprächen  zugrunde  liegende  Disposition  hervorhebt,  oder  endlich  Fragen 
aufwirft,  durch  deren  Beantwortung  der  Schüler  bestimmte  Beziehungen  u.  dgl. 
erkennt.  Es  bietet  das  Buch  sojnit  all  das,  worauf  der  Lehrer  bei  der  Er- 
läuterung eines  Gedichtes  in  den  oberen  Classen  höherer  Schulen  zu  achten  hat. 
Der  Anhang  bietet  ihm  Aufsatzthemas  im  Anschluss  an  die  Lectürc  (123),  dann 
Fragen  (zumeist  mit  beigesetzter  Lösnng)  über  einzelne  Gesänge  und  über  dos 
ganze  Gedicht  (z.  B.  über  die  historische  Grundlage,  wobei  ein  lehrreicher 
Hinweis  auf  den  Stoff  von  Longfcllow  Evangeline,  über  die  Motive  der  Ände- 
rungen an  der  Vorlage  u.  s.  w.)  W. 

Otto  Suternleister,  Praktische  Stikchule.  Zürich  1890,  Schul thess.  2  Mk. 
Diese  Stilschule  ist  keine  Schablonarbeit,  mag  man  nun  die  jeder  Themen- 
gruppe vorangeschickten  „Winke",  die  Beispiele  oder  die  Aufgaben  ins 
Auge  fassen.  Überall  Originalität.  Der  eine  oder  der  andere  wird  dies  und 
das  Thema  selbst  für  die  oberste  (.'lasse  eines  Gymnasiums  zu  hoch  gegriffen 
erklären,  wir  werden  ihm  nicht  widersprechen;  aber  das  wird  auch  uns  jeder 
ohne  Unterschied  zugeben  müssen,  dass  auf  keiner  der  Aufgaben  jener  be- 
kannte fingerdicke  Schulstaub  liegt,  dass  ferner  unter  den  Beispielen  die  stereo- 
typen Erbstücke  fehlen  und  dass  endlich  selbst  der  zur  Erleichterung  der 
Gedankenfindung  eingestreute  Citatenschatz  nicht  zum  hundertstemnale  ab- 
gedruckte Ware  ist.  Nur  wenige  Lehrer  werden  sich  einer  solchen  Belesenheit 
rühmen  dürfen  wie  Sutenneister.  W. 

Rinne,  Praktische  Stillehre.  3.  Aufl.  Stuttgart  1891,  Koch. 

Derselbe,  Praktiache  Dispositionslehre  in  neuer  Gestaltung  und  Begründung. 
5.  Aufl.  Stuttgart  1891,  Koch. 

Beide  Bücher  sind  in  der  Lehrerwelt  seit  langem  als  praktische  Hilfsbücher 
bekannt.  Die  praktische  Stillehre  gruppirt  die  Themen  nach  der  Schwierigkeit 
für  den  Schüler,  gibt  ihm  bei  jeder  Gruppe  Winke  (Compositionsregeln),  dann 
ein  oder  das  andere  Musterbeispiel  (viele  sind  eigene  Arbeit  Rinne's),  und 
endlich  Themen,  die  nach  dem  Muster  zu  bearbeiten  sind,  im  ganzen  1909. 
Darin  wird  ein  BeurtheUer  den  Schwerpunkt  des  Buches  finden,  dass  Rinne 
gezeigt  hat,  wie  die  schriftlichen  Übungen  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Unter- 
richtsstufe an  die  Leetüre  angeschlossen  werden  können. 

Die  praktische  Dispositionslehre  hat  bei  ihrem  ersten  Erscheinen  Aufsehen 
gemacht.  Sie  gibt  nämlich  ein  Schema,  nach  dem  eine  Abhandlung  über 
eine  einfache,  allgemeine  Behauptung  geschrieben  werden  muss  und 
erläutert  es  eingehend  an  Beispielen.  Charakteristisch  an  der  Methode  ist  die 
Art,  wie  der  Übergang  von  der  Einleitung  zum  Thema  („der  große  Übergang") 
und  der  vom  Thema  zum  Schluss  („der  kleine  Übergang")  bewerkstelligt  wird. 
Rinne  verlangt  nämlich,  dass  in  denselben  stets  (und  darin  liegt  ein  Mangel, 
Schablone)  drei  Momente  wiederkehren:  Zugeständnis,  Entgegnung,  Thema  in 
dem  großen,  und  Zugeständnis,  Entgegnung  (Beschränkung),  Folgerung  in  dem 
kleinen  Übergang  (durch  die  dabei  gebrauchten  Conjunctionen  und  Partikeln 


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-    334  — 


etwa  so  ausgedrückt:  „Zwar  —  aber."  ^Unzweifelhaft  —  allerdings,  dangen.")  — 
In  einem  Tbeile  des  Buches  modificirt  Kinne  Bein  Schema  anch  für  andere 
Thcmengruppen  ab}  die  oben  genannte.  —  Nebenbei  bemerken  wir,  dass  der 
gehässige  AiiHfall  gegen  „Cholevius  (S.  5)  und  einen  Herrn  Dr.  Laasu  auf 
8.  14  füglich  wegbleiben  könnte.  W. 
Friedrich  Martin,  Schalgrammatik  der  deutschen  Sprache.  4.  Aufl.  Breslau,  Hirt. 
Martins  Grammatik  ist  nicht  für  eine  bestimmte  deutsche  Landschaft 
geschrieben  und  nimmt  dementsprechend  auch  nicht  auf  den  Dialect  einer 
bestimmten  Gegend  Rücksicht,  etwa  zu  dem  Zwecke,  die  Schüler  von  ihrem 
Umgangsdeutsch  zum  fehlerlosen  Gebrauch  der  hochdeutschen  Schriftsprache  zu 
erziehen;  auch  ist  sie  keine  historische  Grammatik,  die  durch  Heranziehung 
älterer  Sprachformen  das  heute  Geltende  erklären  will.  Den  Kernschen  Re- 
formen gegenüber  ist  sie  sehr  conservativ,  selbst  die  Kernscbe  Definition  des 
Satzes  iii mint  sie  nicht  an.  Eigentümlich  ist  ihr  ferner,  dass  sie  nicht  blos 
die  Ergebnisse  des  Unterrichtes  mittheilt,  sondern  auch  den  Gang  desselben 
und  auf  die  begriffliche  Seite  einen  großen  Wert  legt.  Beispiele  bringt  sie 
in  geringer  Zahl;  die  Terminologie  ist  die  lateinische,  doch  ist  sie  nicht  conse- 
quent  festgehalten.  So  heißt  es  z.  B.  öfter:  Ein  Dingwort  im  Nominativ,  ein 
Eigenschaftswort  als  Attribut  u.  ä.  Zu  loben  ist  dagegen  die  Übersichtlichkeit, 
die  in  jeder  Weise,  auch  durch  den 'Druck,  durch  Randtitcl,  Paragraphen. 
Ziffern  und  Buchstaben  gefördert  wird.  W. 

Shakespeare^  dramatische  Werke.    Deutsche  Verlagsanstalt  in  Stuttgart. 

Geb.  3  Mk. 

Um  diesen  Preis,  drei  Mark,  dürfte  wohl  noch  niemals  ein  so  wertvolles 
Werk  in  so  schöner  Ausstattung  dargeboten  worden  sein.  Die  36  Dramen  in 
der  Schlegel-Tieckschen  Übersetzung  sind  in  einem  Großoctavbande  von 
942  Seiten  mit  gut  lesbaren  Lettern  abgedruckt;  außerdem  ist  dem  Ganzen 
ein  prächtiges  Porträt,  ferner  eine  markig  geschriebene  Einleitung  Uber 
Shakespeare's  Leben  und  eine  Charakteristik  seines  Schaffens,  sowie  jedem 
einzelnen  Drama  eine  Würdigung  aus  der  Feder  des  bekannten  Shakespeare- 
Forschers  Oechelhäuser  vorangeschickt.  Die  Shakespeare-Gesellschaft  hat  iu 
der  That  mit  dieser  Ausgabe  dem  deutschen  Volke  ein  Geschenk  gemacht.   — r. 

Borehardt,  Die  sprichwörtlichen  Redensarten  im  deutschen  Volksmund.  478  S. 
Leipzig,  Brockhaus. 

Iu  jüngster  Zeit  sind  mehrere  Bücher  erschienen,  die  den  Zweck  verfolgen, 
die  sprichwörtlichen  Redensarten  im  deutschen  Volksmund  nach  Sinn  und  Ur- 
sprung zu  erläutern  und  so  dem  Lehrer  ein  bequemes  Hilfsmittel  zu  geben, 
sie  im  deutschen  Unterrichte  in  der  mannigfachsten  Weise  zu  verwerten.  In 
die  Reihe  dieser  Schriften  stellt  sich  auch  Borcbardt,  der  nicht  weniger  als 
1132  sprichwörtliche  Redensarten  alphabetisch  nach  einem  Stichwort  ordnet, 
deutet  und  auf  den  Ursprung  zurückzuführen  sucht.  In  den  meisten  Fällen 
ist  das  letztere  ihm  gelungen;  in  anderen  freilich,  wie  dies  in  der  Natur  der 
Sache  hegt,  kann  er  nur  Muthmaßungen  geben,  die  ihn  mit  Vorliebe  auf 
das  Gebiet  der  germanischen  Mythologie  führen,  wohin  ihm  kaum  alle  Leser 
immer  folgen  werden.  Was  an  seiner  Sammlung  aber  uneingeschränkt  zu 
loben  ist  ,  das  betrifft  die  Auswahl  und  das  Heranziehen  ähnlicher  sinnver- 
wandter Ausdrücke  und  Wendungen  bei  der  Erläuterung  irgend  eines  der 
Sprichwörter  oder  geflügelten  Worte.  — r. 

Petiscns,  Der  Olymp.  20.  Aufl.  Leipzig,  Amelang. 

Wenn  ein  Buch  trotz  zahlreicher  ähnlicher  Werke  zwanzig  Auflagen  erlebt, 
so  muss  es  ein  gutes  Buch  sein,  d.  h.  alles  und  zwar  in  schöner  Form  bieten, 
was  ein  bestimmter  Leserkreis  von  ihm  verlangt.  Der  Leserkreis  ist  hier  die 
sonst  gar  nicht  leicht  zu  befriedigende  Jugend.  Sie  findet  in  dem  Buch  dir 
classische  und  germanische  Mythologie  schlicht  und  einfach  erzählt,  iUustrirt 
durch  47  schön  geschnittene  Abbildungen  der  auf  dem  Höhepunkte  der  antiken 
Kunst  geschaffenen  Göttertypen,  ferner  all  jene  Heldensagen,  deren  auch  ein 
jeder  von  uns  in  längst  entschwundenen  Tagen  mit  gespanntester  Aufmerk- 
samkeit gelauscht,  endlich  die  Schilderung  der  Cultatätten  und  Hauptfeste, 


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—    335  — 


sowie  die  Erläuterung  der  Symbole  der  Gottheiten  und  die  Art  ihrer  Dar- 
stellung in  der  bildenden  Kunst.  Antikes  greift  mit  allen  Fasern  in  unser 
Leben  ein,  sodass  das  Studium  desselben  keine  verlorene  Mühe  genannt  wer- 
den darf.  — r. 


Neu  erschienene  Bücher. 

Odo  Twiehausen,  Naturgeschichte  I.  Der  naturgeschichtliche  Unterricht  in 
ausgeführten  Lectionen.  Nach  den  neuen  methodischen  Grundsätzen  für 
Behandlung  und  Anordnung  (Lebensgemeinschaften).  I.  Abtheilung,  Unter- 
stufe.  3.  Aufl.   Leipzig,  Ernst  Wonderlich.   248  S.   2  Mk.  80  Pf. 

Georg  Schneider,  Der  Religionsunterricht  in  der  Schule,  in  Anlehnung  an 
die  29.  Allgemeine  deutsche  Lehrerversammlung.  Mannheim,  Bensheimer. 
73  S.   1  M. 

Dr.  Hermann  Schiller,  Schularbeit  und  Hausarbeit,  Ein  Vortrag.  Berlin, 
Weidemann.   51  S.   60  Pf. 

Dr.  Josef  Loos,  Der  österreichische  Gymnasiallehrplan  im  Lichte  der  Con- 
centration.   Wien,  Alfred  Hölder.   70  S.   90  kr. 

A.  Patnschka,  Volkswirtschaftliches  Lesebuch  für  jedermann.  Nach  den 
Quellen  bearbeitet.    2.  Aufl.  Gotha,  Behrend.  243  S.  2  M. 

Franke's  Neues  Stickerei-Monogramm.  312  Monogramme  von  AA  bis  ZZ 
(7  cm  hoch).   Zürich,  Orell  Füssli.  3  Mk.  80  Pf. 

Calmberg-Utzinger.  Die  Kunst  der  Rede.  3.  Aufl.  Leipzig  und  Zürich,  Orell 
Füssli  &  Co.  ( 

Fitschei),  Anfsatzstoffe  für  die  Mittel-  und  Oberstufe  mehrclassiger  Volks- 
schulen.   2.  Heft:  Beschreibungen.   Hannover,  Manz. 

Krämer,  Praktisch  erprobte  Musteraufsätze  und  Übungsstoffe.  2.  Theil:  Mittel- 
stufe.  Weinheim  (Baden),  Ackermann. 
Martens,  Deutsche  Sprachübungen.   1.  Heft.   Hannover,  Manz.   30  Pf. 

Otto-Zimmermann,  Anleitung,  das  Lesebuch  als  Grundlage  und  Mittelpunkt 
eines  bildenden  Unterrichtes  in  der  Muttersprache  zu  behandeln.  8.  Aufl. 
Leipzig,  Amelang. 

Wald,  Eine  Vereinfachung  der  deutschen  Rechtschreibung.  Bielefeld,  Helmich. 

Zeynek,  Lehrbuch  der  deutschen  Stilistik  und  Poetik.  6.  Aufl.  Graz,  Leuschner 
&  Lubansky.   2  Mk.  60  Pf. 

Unterrichtsstoff  für  die  deutsche  Grammatik  und  Orthographie,  zusammengestellt 
von  Lehrern  der  königl.  Vorschule  zu  Berlin.  2.  Theil.  Berlin. 
Habel. 

Hans  Sommert,  Methodik  des  deutschen  Sprachunterrichts.  Zweite,  um- 
gearbeitete Auflage.  Wien  1892,  A.Pichlcr's  Witwe  &  Sohn.  224  Seiten. 
1  fl.  40  kr.  ö.  W.  =  2  Mk.  80  Pf. 

Adalbert  Maxa,  Rede-,  Schreib-  und  Stilübungen.  Ein  praktisches  Hnndbuch 
für  Lehrer.  II.  Abtheilung.  Wien  1892,  A.  Pichler's  Witwe  *.  Sohn. 
159  Seiten.    1  fl.  =  2  Mk. 


1 

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-    336  - 


A.  SpBttel,  Zur  Sprachreinigung.  Eine  Sammlung  der  gebräuchlichsten  Fremd- 
wörter etc.  mit  Bezeichnung  der  Aussprache  und  Angabe  ihrer  Abstammung 
nebst  deren  Anwendung  in  Sätzen.  München  1891,  Max  Kellerer's  Hof- 
Buch-  und  Kunsthandlung.    39  Seiten. 

Feierstauden.  Gedenkbuch  für  deutsche  Lehrer.  Zum  Besten  des  Jütting- 
Denkmals.  Unter  Mitwirkung  hervorragender  Freunde  und  Vertreter  des 
Lehrerstandes  herausgegeben  von  C.  Bademacher,  Scheve,  Backes,  Lehrern 
in  Köln  a.  Rh.  Bielefeld,  A.  Helmich  (Hugo  Anders).  183  Seiten.  2  Mk.f 
geb.  3  Mk. 

M.  Jost,  Annuaire  de  l'Enseignement  primaire.  Huitieme  Anne«  1892.  Paris, 
Librairie  Classique  Armand  Colin  et  Cie. 

Wilhelm  Buley  und  Karl  Vogt,  Das  Turnen  in  der  Volks-  und  Bürgerschule 
für  Knaben  und  Mädchen,  sowie  in  den  Unterlassen  der  Mittelschulen. 
II.  Theil.  Das  Turnen  im  sechsten,  siebenten  und  achten  Schuljahre.  Zweite 
verbesserte  Auflage.  Wien  1892,  A.  Pichler's  Witwe  &  Sohn.  185  Seiten. 
1  fl.  ö.  W.  =  2  Mk. 

Theodor  Vernaleken,  Kinder-  und  Huusmärchen,  dem  Volke  treu  nacherzählt. 
Zweite,  neu  durchgesehene  Auflage.  Mit  6  Farbendruckbildern.  300  S. 
Wien  u.  Leipzig  1892,  Wilhelm  Braumüller. 


> 


Vcnntwortl.  Redacteur  Dr.  Friedrich  Dittei.    Buchdrockerei  Juli«»  Klinklurdt,  Leipzig. 


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Kerlog  oon  ^ttltilg  flliiifpovot  in  fettig  unb  «erlitt  W.  35. 


$raftifd)c3  «efdjcutttierf  für  juttge  «e(jrer* 

3n  fttofUer  oermehrter  unb  oerbefferter  Auflage  ift  in  meinem  «erläge  erfdjienen: 

£)\e  JLefyx&uxxft. 

(Ein  innrer  fär  «Semtnarilten,  junge  £e!jrer  unb  Lehrerinnen. 

Bon 

©acril), 

Xireftor  ber  9Jtäbd>cnfd)ulc  in  3nfterburg. 
*reis  5  SHarf,  de«,  geüunbrit  6  Wart  23  *f. 

Unter  ben  üielen  für  bie  $anb  junger  fiehrer  befiimmten,  jum  leil  red)t  guten  SEBerlen 
gitbt  e3  nidjt  eines,  weihet  Anleitung  giebt,  roic  ben  Schülern  baS  SerftänbniS  unb  bie 
stenntnü?  beS  oorjutrogenben  ©egenftanbe«  praftifd)  beizubringen  ift.  SBerfaffet  ift  nun  bec 
Meinung,  jn  einem  frud)tbringenben  Unterrichte  gehöre  oor  aflem,  baft  ber  2eh«r  in  ber 
frragefunft  oollfiänbig  9Jteifter  ift,  unb  be£t)a!b  bebanbelt  er  biefen  ©egenftanb  ganj  befonber* 
ausführlich.  Df|ne  biefe  SReifterfcbaft  finft  bec  Unterricht  &u  einem*  bloßen  b^nbroerfömä&igen 
beibringen  oon  Stenntniffen  unb  Tyertigfeiten  herab. 

Vit  erfte  ftuffage  fjal  ungemein  reidjen  Setfau*  gefunden.  -hber  100  anerfiennenbe 
Safdjriften  ftnb  bem  JferfafTer  aus  allen  ßegenben  Deutidjfanbs  zugegangen ,  unb  audj  bie 
Scjeufwuen  tu  ben  päbagogirdjeu  3*if fc^riffen  IjaBen  Itdj  faft  burdjweg  fef)r  foöenb  ausgebrüht. 
3afofge  ber  warmen  Öfmpffhfuna,  auf  bem  große«  $te6eu6ürgtfd)e* '  £eljrertage  iß  bas  39erR 
•:i'.h  ins  2lngarirdje  übertragen  warben. 

PF"  $ct3  SBerf  ift  burd)  jebc  93ud)fjanblung  *u  begeben. 


Soeben  crfd)icn: 

pie  Inrforgr  brr  ga^rnjolltrii 

für  ibr  2anb  unb  SJolf. 

Urgänjungen  junt  $olf§fd)ullefebud)c. 

Sugleicr)  ein  ftilf$büd)lein  für  ben  Unterridjt 
in  ber  oatcrlänbifd)en  OJefchichto. 


bem  93ilbni$  3r.  SJcajeftät  beS  ftaifer*. 
$rei3  geheftet  30  $f. 
Xnrd)  iebe  $ud)l)anblung  jur  Anfid)t  ju 
begehen. 

2!iefe8»üchlcin  ift  für  ben  öc}d)id)tS- 
Unterricbt  toie  auch  at3  Srgänsung  ju 
iebem  Sefebudj  beftimmt.  6ä  fdjilbert 
in  einfacher,  flarer  Sprache  bie  ftürforge 
ber  fcobenjotlern  um  bie  leibliche  unb  geiftige 
4Sot)lfat)rt  ihrer  Untertanen,  meldjer  ©egen- 
ftanb  burd)  ben  betannten  taiferlid)en  ©rlafi 
in  ben  iHorbergrunb  gerüdt  toorben  ift. 

»et  beabfichtigter  (Sinführung  roofle  man 
fid)  birert  an  bie  unterzeichnete  SBerlagS* 
hanblung  toenbeti. 

£.  Z  dmnum  tu  tnffrifctfrf, 

Ägt.  fcof«  unb  SBerlagSbudjhanblung. 


gür  Abiturienten,  SchulamtS-Äanbibaten  unb 
Afpiranten  ber  9NttrclfrtHiUri)rtrs  unb  Meft«: 
vaUH'nmimt  empfehle  bie  in  meinen  Verlag 
übergegangenen,  burd)  bie  päbagogifd)e  treffe 
öielieitig  beftenS  empfohlenen: 

foamrn-^atedrientrn. 

für 

Jöglinge  dürrer  ünttrridjtsanflalteii  u.  äfptranten 
öfr  ijHtttf Ifdjullfljrfr-  beirrt-  gektcratsprüfnng 


oon 


Dr.  ftermamt  C^offmciftcr. 


Musik 


»  !*»».  ii.  modn.J-  n.4hds.Omfrtorfn, 
LieUfr,  Arien  etc.  HOO  Hrn. 

alische  Universal-Bibliothek. 
JJede  Kr.  'io  Pf.  Heu  midirtf 
IUt?rn.T«rncl.»tkh  n.  Dru«*,  «Urke»  Pupkr.  —  Eleetat  an» 
C*>UtUU  Albunm  4  IM,  mUirt  van  Rirmunn,  Mm 
nkaHc  —  CtknaAkM  Inik  *\Ur  Kditientn.  —  Uum«ristia. 

V«r«l.  tin.  gr.  n.fr.  T..n  F»»X  Siegel,  Leipzig,  nilrrinntr.  1 


^eft  1 :  2)a«  pofttioe  Uöiffen  in  b.  Religion. 

2.  oerb.  Auflage  ....  SR.  2,40 
„  2:  $eutfd>c  Sprache  unb  Sitteratur  „  3,50 
„  3:  pbagogit.  2.  oerb.  Auflage  .  „  2,— 
„  4:  AOgemeine  Söettgefd)id)te  .  .  „  3,— 
„  5:  3)eutfd)e  Äulturgefd)ichte  .  .  .  „  3,— 
„  ß:  «ranbenb.-preui  ©efchid)te     .  „  2,25 

„  7:  Geographie  „  3^j0 

9U  ©rgänjungsheft  ju  Jpcft  3: 

^omcitiitöunD^cftölowt,  alööcßrün&cr  Her 

»0»öfd)uJc.SBiffenfd)aftlid)bargeftcata)c.l.50. 

RH  beziehen  burd)  alle  33ud)l)anblungen,  bod) 
ift  bie  unterzeichnete  SSerlag^budjhanblung  gern 
bereit,  bei  oorheriger  «njahlung  ober  (Jinfen* 
bung  oon  öriefmarfen  (aud)  cittsettte  ©änbdjen !) 
birett  unb  franfo  ju  überfenben. 

Seipjig  unb  S3erlin  W.  35. 

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i)Dii)iii!(l|tiilf  jiiiiwpiiifilic  !lnil)f  it ! 

Soeben  ift  erjrbieneii: 

im  ^iditc  iicr  llrntf <f|en  lliitcrrirtitopfirtüifliiiiip. 

3m  Auftrage  bc^  gefcbäfl*fül)renben  ?lu$icb,uffe*  be3  Xeutfrbf"  S?eI)rcrDercinfi<  berauägegtben 

non 

ca.  4  f  onen  §r.  8.  $rriö  75  Vf.  (->  tfrfcm>l.  W.  Ift.-.) 

Diefe  Slugfdjrift  wirb  in  beu  päbagogifdien  Streifen  ba$  größte  Vtuffct>cn  erregen; 
für  ityre  ©ebiegenljcit  bärgt  ber  Warne  be$  18erfaffer$. 

©egen  (iinfenbung  bc$  'Öetraged  in  Sricfmarfcn  erfolgt  franfierte  3uienbung  unter 
Ärou^bonb.  , 

«ort in  W.  86*  «nfang  Februar  1892. 

tttmpi*  n.  3uliud  Atlitit&arbt. 


$citulojiiitittia5Jfip|i!i, 

epartgcliffl>  Vehr:  u.  (£r$tcbtinßeanftalt  für 

jolcbe  10 — 16iä^r.  ftnaben  au$  belferen  Sränben, 
beren  ©raieljung  bem  (SIternbaufe  Srhroierigfeiten 
bereitet  u.  bie  beäfyalb  einer  befonberen  Leitung 
unb  getuiffenfjaften  iöeauffidjtigung  bebürfcn. 
Vt'ln  ^u'l:  ©ehobene  ©ürgerfduile,  eingefdjl.  Untere 
riebt  in  frcuijöfifdjer  u.  fafult.  englifther  Sprache. 
Vorbereitung  für  b.  mittleren  u.  oberen  Ä  [äffen 
böserer  Vebranftalten.  $enfion$pret$  750  9t 
pr.  3<»br.  i^rofpefte  foftenfrei.  WufnnbtnegeiurfK 
an   $iroftor  Xrntutb. 

Soeben 


(Someniua  nnü  {eftolifli 

als 

Jtegrün&cr  5er  #oili*ld}ufe. 

©iffenf^aftiid)  bargefteDt 
üon 

Dr.  Mrnnnint  {loffmctfter. 

<ßreiS  1  2R.  üO  fcf. 

Vcip;iü.  ^uliu6  MliurharDt. 

 SetlaflgbndftanblHng. 

ersctielnt : 


19000 

Abbildungen. 


16  Bände  geb.  a  10  M. 
oder  266  Hefte  a  50  Pf. 


160001 

SeitenText. 


Brockhaus' 

Konversations  -Lexikon. 

_     74.  Auflage. 


Pianinos  vi>i>  aMi  Iii»  1800  Mk. 
Harmoniums.  ;,;uts1ehp "nd , »««ik-  Ootteg^ 

— Ortrrln    I  '  vi  run  Mk.  Mo  «n. 
Jh'Iunfl.    At77  Fabrikate,    lülutcr  UwurmbaU. 
Alie  Vorthrilt'.    llluktr.  K  i  il •  •  ■<•  ffrati». 

Willi.  I  f  ii<1< >1 1  »Ii  in  < -» i .  — .«  Ii. 

Krösates  Piaiiu.Verwinilt-tJrioli.'ltt  1»  'UtacliluinU. 


Jede  Buchhandlung  und  Postanstalt  nimmt 
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Allgemeine  Deutsche  Lebrerzeitm. 

Herausgegeben  von  M«riU  Kleinere. 
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Hierzu  drei  Beilagen:  1.  von  Bleyl  &  Kaemmerer  in  Dresden.  2.  von  H.  Bredt  in  Leipzig. 

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Paedagogium. 


Monatsschrift 

für 

Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 

Dr.  JFri<»cli*ieli  I>itte*«. 


UV.  Mrpj. 
6.  Heft,  März  1892. 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 


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Inhalt  des  6.  Heftes. 


Saite 

Die  kirchliche  und  die  philosophische  Sittenlehre.    Von  Director  A.  Goerth- 

Insterburg  (Schluss)   337 

Arnos  Comenius   362 

Pädagogische  Rundschau.   Aua  Preußen.  —  Aus  dem  Großherzogthum  Baden. 

—  Ans  Sachsen.  —  Die  Schulzustände  in  Bosnien  und  der  Hercegovina. 

—  Theodor  Vernaleken   377 

Aus  der  Fachpresse   401 

Becensionen   405 


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H  bv  Goo 


Die  kirchliche  und  die  philosophische  Sittenlehre. 

Von  Director  A.  Gvert/i-In Sterbur g. 
(Schluss.) 

Die  redliche  Erfüllung  sittlicher  Pflichten  gewährt  uns  Selbst- 
achtung, edeln  Stolz,  Seelenruhe  (die  Ruhe  des  guten  Gewissens), 
innere  Heiterkeit,  echte  Lebensfreude,  Kraft  und  Festigkeit  im  Kampfe 
gegen  jeden  Unterdrücker  des  guten  Rechtes,  gegen  Angriffe  der  Thor- 
heit  und  Bosheit,  edeln  Freiheitssinn,  edeln  Gemeinsinn,  Mäßigkeit  im 
Glück,  Würde  im  Unglück,  echtes  Mitleid  mit  jedem,  der  Gewalt 
und  Unrecht  erdulden  muss,  und  sichert  uns  die  Achtung  und  Liebe 
aller  Guten  und  Edeln  und  eine  ruhige  Sterbestunde. 

Es  ist  klar,  dass  eine  Sittenlehre,  die  eine  solche  Gesinnung 
fordert  und  solche  Gefühle  und  Eigenschaften  ausbildet,  mit  der  oben 
geschilderten  kirchlichen  Sittenlehre  ihrem  innersten  Wesen  nach  im 
Widerspruch  stehen  muss.  Dort  Abhängigkeit  von  der  Kirche  oder 
von  dem  durch  die  Kirche  ausgelegten  Willen  Gottes,  hier  die  Autono- 
mie der  menschlichen  Vernunft  und  die  freie  Selbstbestimmung  des 
Menschen;  dort  steter  Hinblick  auf  das  göttliche  Gericht  auf  Erden 
und  im  Jenseits,  und  demgemäß  die  stete  Frage  nach  Gottes  Beifall 
oder  Missfallen;  hier  nur  der  Hinblick  auf  das  Gesetz  und  die  Frage 
nach  der  vernunftgemäßen  Beurtheilung  unseres  Thuns  oder  Lassens 
durch  das  eigene  Gewissen.  Unter  diesen  Verhältnissen  können  höch- 
stens bei  den  beiden  Lehren  einzelne  Gebote  oder  Verbote  gleichen 
Wortlaut  haben. 

Bevor  wir  diese  Gebote  selbst  beleuchten,  fragen  wir  uns:  Welche 
Grundsätze  fordert  die  durch  Kant  begründete  philosophische 
Sittenlehre  im  Gegensatz  zur  kirchlichen? 

Sie  fordert:  Frage  nie  nach  Lohn  oder  Strafe  auf  Erden  oder  im 
Jenseits,  sondern  thu'  das  Gute  aus  Achtung  vor  dem  Gesetz,  aus 
Ehrfurcht  vor  der  die  Welt  erhaltenden  heiligen  Pflicht.   Thue  recht 

P*d*gogium.  14.  Jahr*.  Heft  VI.  24 


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und  scheue  niemand.  Wenn  du  siehst,  dass  das  gute  Recht*)  gebeugt, 
das  Gesetz  frevelhaft  verletzt  wird,  so  lass  dich  weder  durch  die 
Rücksicht  auf  deine  eigene  Behaglichkeit,  auf  deine  irdische  Glück- 
seligkeit, noch  durch  die  Furcht  vor  dem  bösen  Blick  und  den 
Drohungen  der  Gewalthaber  und  eigensüchtigen  Übelthäter  von  dem 
sittlichen  Kampfe  um  diese  heiligen  Güter  zurückhalten.  „Die  Ehr- 
wurdigkeit  der  Pflicht  hat  nichts  mit  Lebensgenuss  zu  schaffen;  sie 
besitzt  ihr  eigenthümliches  Gesetz  und  ihr  eigenthümliches  Gericht.'* 
(Kant.)  Jede  fremde  Autorität,  die  statt  des  Gesetzes  als  Norm  ihren 
Sonder  willen  aufstellen  und  durchführen  will,  hat  für  sich  keine  sitt- 
liche Berechtigung  oder  Geltung  und  soll  unter  Umstanden  als  gefähr- 
liche Tyrannei,  als  verderbliches  Hemmnis  für  die  Ausbreitung  und 
Ausübung  echter  Sittlichkeit  aufs  äußerste  bekämpft  werden.  „Handle 
nur  nach  derjenigen  Maxime,  durch  die  du  zugleich  wollen  kannst, 
dass  sie  ein  allgemeines  Gesetz  werde".**) 

Die  echte  philosophische  Sittenlehre  schließt  nicht  jeden  Lebens- 
genuss aus.  „Wir  sind",  wie  Kant  sagt,  „Bürger  zweier  Welten, 
der  wirklichen  und  der  intelligibeln  Welt",  und  darum  hat  das 
aus  der  nothwendigen  Selbstliebe  stammende  natürliche  Streben  nach 
irdischem  Glück  und  Wolsein  neben  dem  idealen  seine  volle  Berech- 
tigung und  soll  uns  durch  keinen  Priester  der  Welt  verkümmert 
werden. 

„Freude  heißt  die  starke  Feder, 
In  der  ewigen  Natur; 
Freude,  Freude  treibt  die  Bäder 
In  der  großen  Weltenuhr." 

Eine  freudlose,  unter  Sorgen,  Noth  und  Entbehrungen,  unter 
Zurücksetzungen  und  Kränkungen  aller  Art  verlebte  Jugend  lässt  sich 
nie  verwinden;  die  Rückerinnerung  vergällt  uns  das  spätere  Leben, 
selbst  wenn  dasselbe  glücklichere  Tage  und  reiche  Mittel  zum  Ge- 
nuss  gewährt.  Dagegen  zehren  wir  alle  in  unseren  alten  Tagen  von 
den  glücklichen,  d.  b.  genussreichen,  frohen  Stunden,  die  wir  in  der 
Jugend  verlebt,  von  den  harmlosen  Freuden,  die  wir  in  vergangenen 
Tagen  genossen  haben.  „Eine  frohe  Stunde  wiegt  ein  Jahr  von 
Schmerzen  auf" 

*)  Wer  echt  sittlich  aus  Achtung  vor  dem'Gesetz  handeln  lernen  soll,  muss  das  gute 
Recht  und  das  Gesetz  als  heilige  Güter,  mit  anderen  als  die  höchsten  Güter  des 
Lebens  anerkennen  und  achten. 

**)  Die  Maxime  ist  das  subjective  Princip  zu  handeln,  ist  also  der  Grundsatz, 
nach  welchem  der  Mensch  handelt.  Der  Imperativ  oder  das  Gesetz  ist  die  Ver- 
pflichtung, nach  der  er  handeln  soll. 


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Aber  freilich  kann  das  Streben  nach  Genuss  leicht  ausarten  und 
dem  höhereu  idealen  leicht  hinderlich  werden. 

•,\Venn  wir  zum  Guten  dieser  Welt  gelangen, 
Dünkt  uns  dos  Bessre  Trug  und  Wahn. 
Die  uns  das  Leben  gaben,  herrliche  Gefühle 
Erstarren  in  dem  irdischen  Gewühle/ 

Der  Genuss  soll  unser  Leben  nur  würzen,  er  darf  nicht  seine 
Speise  bilden.  Eine  übertriebene  Hingabe  an  das  Sinnenleben  erschlaftt 
die  Seele  und  raubt  ihr  die  Fähigkeit,  sich  dem  für  das  ideale  Streben 
noth wendigen  Zwange  ohne  Murren,  ja  mit  Freudigkeit  zu  unterziehen. 
Da  jedes  Streben  nach  Genuss  nur  die  Befriedigung  der  eigenen 
Lust,  nur  das  eigene  Glück  im  Auge  hat,  so  muss  es  bei  unmäßiger 
und  unweiser  Erfüllung  unserer  Begier  die  edle  Ehrfurcht  vor  dem 
Heiligen  und  seinen  idealen  Forderungen  schwer  beeinträchtigen  und 
dagegen  in  bedenklicher  Weise  die  Quelle  alles  Bösen,  die  Selbst- 
sucht fordern. 

Darum  verurtheilt  die  Sittenlehre  unbedingt  jeden  unmäßigen 
Genuss,  weil  derselbe  uns  im  Streben  nach  dem  Ideal  sittlicher  und 
religiöser  Vollkommenheit  hindert;  aber  Genuss  als  solchen  sieht  sie 
als  noth  wendig  und  darum  als  vernünftig  und  erlaubt  an  und  bezeich- 
net jedes  Streben  nach  Lehensfreude  und  irdischer  Glückseligkeit, 
solange  dasselbe  kein  Gebot  einer  idealen  Pflicht  verletzt 
oder  der  Erfüllung  desselben  hinderlich  wird,  durchaus  als 
gut  und  löblich.  Die  Lehre  der  kirchlichen  Moral  von  dem  sitt- 
lichen Wert  und  der  Nothwendigkeit  der  Ascese  wird  von  der  philo- 
sophischen Sittenlehre  verworfen.  Dagegen  fordert  dieselbe,  dass  der 
Mensch  in  Anerkennung  der  Gefahr,  welche  die  übermäßige  Hingabe 
hd  sinnlichen  Genuss  bereitet,  um  der  höhern  Pflicht  willen  seine  sinn- 
lichen Triebe  und  Neigungen  in  fester  Zucht  halten  und  darum  un- 
ablässig nach  Selbsterkenntnis,  nach  rechter  Erkenntnis  seiner 
Schwächen  und  Fehler  und  nach  Selbstbeherrschung  streben 
soll.  Du  sollst,  so  lautet  der  Grundsatz,  steine  sittliche  Gefühlsgrund- 
lage so  ausbilden,  dass  du  im  Urtheilen  und  im  Handeln  mit 
dem  Denken,  Urtheilen  und  Handeln  eines  ideal  sittlichen 
Charakters  übereinstimmst.  Damit  wirst  du  zugleich  dein  sitt- 
liches Gewissen  bilden,  so  dass  jede  deiner  Thaten  und  deine 
Gedanken  von  diesem  innern  Richter  scharf  und  rücksichtslos  gelobt 
oder  getadelt  werden.  Bei  einer  recht  sorgfältigen  Selbsterziehung 
wirst  du  sittlichen  Tact  erlangen  und  schließlich  dahin  kommen, 
nicht  anders  als  sittlich  handeln  zu  können;  das  Sittengesetz 

24  * 

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wird  dich  beherrschen  wie  ein  Naturgesetz.  Dieser  Zustand 
soll  das  Endziel  deiner  sittlichen  Selbsterziehung  bilden*). 
Trotz  der  Verwerfung  der  Ascese  verlangt  die  philosophische  Sitten- 
lehre, dass  wir  unter  Umständen  uro  der  Pflicht  willen  jeden  Genuss, 
ja  alles  das,  was  wir  irdisches  Glück  nennen,  zum  Opfer  bringen  und 
selbst  das  Opfer  unseres  Lebens  nicht  scheuen  sollen.  „Nichtswürdig 
ist  die  Nation,  die  nicht  ihr  alles  freudig  setzt  an  ihre  Ehre."  Für 
das  Vaterland  und  die  Freiheit  —  Begriffe,  die  die  kirchliche  Sitten- 
lehre gar  nicht  kennt  —  hat  schon  mancher  wackre  Mann  freudig 
sein  Herzblut  vergossen;  andere  haben  für  ähnliche  hohe  sittliche  Ideen 
freudig  ihr  Vermögen,  ihre  Ruhe  und  ihre  Gesundheit  geopfert.  „Die 
Tugend  ist  kein  leerer  Wahn." 

Da  zu  solchem  Thun  ein  hoher  Grad  von  Selbstbeherrschung  und 
ein  starker  sittlicher  Wille  gehört,  so  fordert  die  ernste  Sittenlehre, 
dass  wir  uns  von  frühester  Jugend  an  in  strenger  Selbst- 
beherrschung üben  und  darin  keine  Nachsicht  gestatten 
sollen.  Das  Naturgesetz  lehrt,  dass  rückwärts  kommt,  wer  nicht 
vorwärts  geht;  dass  man  der  Sclave  seiner  Triebe  und  Begierden 
werden  muss,  wenn  man  sie  nicht  zu  bändigen  versteht.  Das  Bän- 
digen kann  nicht  früh  genug  begonnen  werden**).  Freilich 
scheinen  manche  Menschen,  wenn  sie  nach  wüst  und  wild  verlebter 
Jugend  zur  Besinnung  gekommen  sind,  diese  Behauptung  zu  wider- 
legen. Sie  leben  vielleicht  Jahrzehnte  hindurch  als  gesetzte,  scheinbar 
recht  sittliche  Bürger  und  Bürgerinnen  und  meinen  jenes  Naturgesetzes 
spotten  zu  dürfen.  Irret  euch  nicht!  Diese  Menschen  sind  ihres 
Willens  nie  sicher.  Die  wüsten  Begierden  ihrer  wilden  Jugend- 
zeit können  plötzlich  wieder  erwachen  und  sie  entsetzlich  unterjochen. 
Dann  hilft  keine  Warnung,  kein  Gedanke  an  den  einst  heiß  geliebten 
Mann,  an  das  einst  heiß  geliebte  Weib,  an  die  geliebten  Kinder; 
keine  mahnende  Vorstellung  von  Ehre  und  Liebe  der  Mitmenschen. 
Alles,  alles  wird  der  neu  erwachten  verzehrenden  Leidenschaft  zum 
Opfer  gebracht.  Der  scheinbar  ausgetriebene  Teufel  ist  zurückgekehrt 
und  „hat  sieben  unreine  Geister  mitgebracht*.  Wer  nicht  in  seiner 
Jugendzeit  gelernt  hat,  das  wilde  Herz  zu  zähmen,  vergiftet  sein 


*)  Der  vortreffliche  Arzt,  Professor  Dr.  Heim  in  Berlin,  überall  „der  alte 
Heini"  genannt,  pflegte  in  Fällen,  da  ihm  seine  Pflicht  sehr  schwer  wurde,  zu 
sagen:  „Ich  möchte  gern  anders  handeln,  wenn  nur  dag  dumme  Gewissen 
nicht  wäre." 

*♦)  Wir  werden  später  bei  Beleuchtung  der  Erziehung  kleiner  Kinder  (unter 
4  Jahren)  zu  unbedingtem  Gehorsam  darauf  zurückkommen. 


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innerstes  Leben  und  mnss  nur  zu  oft  das  entsetzlich  traurige,  erschüt- 
ternde Wort  sprechen:  Es  ist  zu  spät!" 

«And  thua,  untaught  in  youth  my  heart  to  tatue, 

My  Springs  of  life  were  poison'd.    Tis  too  latc!u  (Byron.) 

Darum  warnt  diese  ernste  Sittenlehre  den  Jüngling,  von  der 
Meinung  abzustellen,  dass  ein  gelegentliches  Sündigen,  eine  gewisse 
Nachsicht  gegen  unsere  Schwächen  bei  den  schwereren  sittlichen  Pflich- 
ten oder  argen  Verlockungen  und  Versuchungen  in  der  Jugendzeit 
nicht  viel  schaden  werde.  Man  ist  in  dieser  Zeit  nur  zu  sehr  geneigt 
sich  zu  entschuldigen  und  sich  wol  gar  darauf  zu  berufen,  dass 
Genialität  ein  „Austoben"  nothwendig  mache,  dass  es  genug  geniale 
Menschen  gegeben,  die  bei  einem  wahrlich  nicht  streng  sittlichen 
Leben  doch  Hervorragendes,  ja  Großes  geleistet  haben  und  sogar  von 
der  Nachwelt  bewundert  und  gepriesen  werden.   Bei  der  Sittlichkeit 
kommen  die  Werke  des  schaffenden  Geistes  nicht  in  Betracht,  sondern 
nur  das  Gemüth  und  die  Gesinnung.   Man  halte  daran  fest,  dass 
Nachsicht  und  Feigheit  im  sittlichen  Kampfe  wie  in  jedem  andern 
nur  Schaden  bringen  und  den  Sieg  vereiteln;  dass  sie  den  sittlichen 
Ernst  der  Gesinnung  beeinträchtigen  und  den  Willen  zum  Guten 
schwächen  müssen.   Dies  Naturgesetz  gilt  für  alle  Menschen, 
auch  für  die  genialen,  höchst  begabten  und  wird  sich  nie 
ändern. 

Die  strenge  philosophische  Sittenlehre  hat  bei  ibren  Forderungen 
nicht  nur  den  einzelnen  Menschen,  sondern  auch  die  Gemeinschaft 
aller  im  Auge  und  schreibt  demgemäß  sehr  ernste  Pflichten  vor. 
Christus  hat  dieselben  durch  den  schönen  Grundsatz  ausgedrückt: 
„Liebe  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst."  Die  rechte  Betrach- 
tung der  Folgen,  die  uns  nothwendigerweise  aus  unserer  Selbstbeherr- 
schung erwachsen  müssen,  zeigt,  dass  diese  sittliche  Kraft  auch 
um  unserer  Mitmenschen  willen  nöthig  ist.  Die  wolthätigen 
Folgen  einer  echt  sittlichen  Handlungsweise  erstrecken  sich  nicht  nur 
auf  unsere  nächsten  Angehörigen  oder  Mitbürger,  sondern  auf  alle 
Menschen  ohne  Unterschied.  Sie  tragen  dazu  bei,  den  Bau  der  sitt- 
lichen Welt  zusammenzuhalten  und  auf  Erden  das  Reich  des 
Friedens  und  der  Liebe  gründen  zu  helfen. 

Im  Hinblick  auf  diese  Pflicht  der  Nächstenliebe  verlangt  die 
philosophische  Sittenlehre  von  jedem  Menschen  Gemeinsinn,  bereit- 
willige Hilfe  allen,  die  unrecht  erdulden  müssen,  —  „Hilfe,  wo 
die  Unschuld  weint*)"  —  von  Unterdrückern  des  Rechts  bedrängt  oder 

*)  Das  Mitleid  mit  den  Kranken  und  den  Armen,  die  unverschuldet  nicht 


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verfolgt  werden;  Treue  (Treue  gegenüber  dem  gegebenen  Worte, 
der  ehrlichen  Überzeugung,  seinem  Glauben,  den  Freunden,  dem  Gatten, 
dem  Fürsten,  dem  Vaterlande),  Achtung  des  fremden  Rechts, 
Redlichkeit  und  Billigkeit  in  Handel  und  Wandel,  Achtung 
vor  der  fremden  auf  festem  Glauben  beruhenden  Überzeugung 
und  vor  jeder  sittlich  berechtigten  Persönlichkeit,  gleichviel 
welchem  Stande  und  Berufe  sie  angehöre,  welche  Stellung  sie  im 
Leben  einnehmen  möge;  Wahrhaftigkeit  —  „Wahrheit  gegen 
Freund  und  Feind"  — ,  Wahrheitsmuth  d.h.  den  Muth,  seine  Gesin- 
nung offen  zu  zeigen,  jedem,  der  unrecht  thut,  möge  er  noch  so  hoch 
stehen,  die  Wahrheit  zu  sagen  und  ebenso  offen  die  eigene  Schuld  zu 
bekennen  (edlen  Freimuth),  und  endlich  Milde  und  Versöhnlich- 
keit, Überwindung  der  Leidenschaft  des  Hasses,  Austilgung  aller 
Rachegelüste  (Rache  ist  stets  unedel  und  unsittlich)  und  echte  Toleranz, 
d.  h.  die  achtungsvolle  Anerkennung,  dass  jede  fremde  Überzengung, 
welche  des  Menschen  Denken  und  Handeln  als  Pflicht  regelt,  neben 
der  unserigen  völlig  gleiche  Berechtigung  habe.  Diese  Forderung 
bezieht  sich  nicht  allein  auf  die  verschiedenen  religiösen  Überzeugungen, 
sondern  gilt  auch  für  die  beiden  großen  sittlichen  Gebiete,  für  das 
politische  und  das  sociale. 

Zugleich  mit  diesen  Forderungen  stellt  diese  strenge  Sittenlehre 
an  uns  das  Verlangen,  die  diesen  Grundsätzen  entgegenstehenden 
Grundsätze,  Ansichten  und  Bestrebungen  der  Selbstsucht  zu 
verachten  und  dieselben  mit  Aufbietung  aller  Kräfte  zu  be- 
kämpfen.*)   Es  ist  durchaus  unrecht,  bei  solchen  Kämpfen  sich  feig 


durch  Menschen,  sondern  durch  das  Schicksal  ins  Elend  geraten,  ist  eine 
fromme  Pflicht,  gehört  ins  Gebiet  der  Religion. 

*)  Herrliche  Schilderungen  solcher  Kämpfe  und  verschiedener  Menschen,  die 
durch  einzelne  jener  sittlichen  Tugenden  hervorleuchten,  geben  uns  jene  volkstüm- 
lichen Epen,  welche  aus  alten  im  Volke  geschaffenen  und  vielfach  gesungenen 
einzelnen  Heldenliedern,  Balladen  oder  Romanzen  zusammengestellt  worden  sind, 
wie  das  Nibelungenlied,  das  Gudrunlied,  das  Waltharilied,  der  „Cid".  (S.  Herders  „Cid".) 
Wie  herrlich  bekunden  die  Helden  und  Heldinnen  in  jenen  die  verschiedenen  hoch- 
sittlichen Forderungen  der  deutschen  Treue;  wie  herrlich  zeigt  der  spanische  Volks- 
held neben  der  heldenmüthigen  Tapferkeit  cdcln  Freimuth,  Wahrheitsmuth,  „Männer- 
stolz vor  Königsthronen",  Treue  und  Vaterlandsliebe,  selbst  bei  dem  schnödesten  Un- 
dank, dessen  sein  König  sich  ihm  gegenüber  schuldig  macht!  Als  der  König  Don 
Sancho  seine  Schwester  üraka  ihres  Erbtheils  berauben  will  und  dem  Cid  befiehlt, 
ihm  dazu  behilflich  zu  sein,  folgt  der  Held  dem  Befehl  der  höhern  sittlichen  Pflicht, 
die  Unschuld  zu  beschützen  und  geht  ruhig  in  die  darob  über  ihn  verhängte  Verban- 
nung.  Als  allo  Reichsbarone  sich  fürchten,  dem  neuen  Könige  Alfbnso  den  vom 


oy  Goq§le 


—    343  — 


zurückzuziehen  oder  unthätig  zuzuschauen.  Das  Gesetz  des  weisen 
Solon,  dass  im  Staate  jeder  Partei  ergreifen  solle,  gilt  für 
alle  Zeiten  und  für  alle  diese  Kämpfe  als  weise  und  sittliche  Forderung. 

Die  Erhabenheit  einer  solchen  Sittlichkeit  und  solch  einer  Sitten- 
lehre zeigt  sich  namentlich  darin,  dass  sie  diese  Forderungen  auf- 
stellen, ohne  dafür  irgend  einen  Ersatz  zu  bieten  oder  zu  ver- 
heißen, dass  Menschen,  welche  diese  schweren  Forderungen  erfüllen, 
dabei  ;nur  an  ihre  Menschenwürde  denken,  diese  Opfer  nur  bringen, 
um  vor  sich  selber  zu  bestehen.  Diese  Sittenlehre  kennt  bei  allen 
ihren  Forderungen  nur  das  eine  erhabene  Wort:  J)u  sollst! 
Wenn  der  Jünger  im  Hinblick  auf  die  süßen  Freuden  der  verbotenen 
Genüsse  zweifelnd  ausruft:  „Warum  soll  ich  diesen  Genuss,  dies  süße 
Glück  meiden,  warum  darf  ich  mich  nicht  den  zwar  leichtsinnigen 
aber  so  lustigen  Genussmenschen  anschließen?",  so  ertönt  statt  jeder 
Begründung  nur  dies  eine  erhabene  Wort:  Du  sollst!  Du  bist 
ein  Mensch  und  hast  als  Vorzug  vor  den  Thieren,  als  eigenthümliche, 
specifisch  menschliche  Begabung  die  Kraft  erhalten,  diesen  Befehl  als 
einen  unbedingten  zu  fühlen.  Darum  lebe  und  strebe  wie  ein  Mensch 
und  erhebe  dich  mit  jeder  Besiegung  deiner  Gelüste  über  das  Thier 
und  thierische  Triebe  und  Bedürfhisse.  Versuche  es  nur,  dich  redlich 
zu  bemühen  und  Selbstbeherrschung  zu  erlangen,  so  wird  dir  allmäh- 
lich klar  werden,  was  der  weise  Kant  sagt:  „Zwei  Dinge  erfüllen 
das  Gemüth  mit  immer  neuer  und  zunehmender  Bewunderung:  der 
gestirnte  Himmel  über  mir  und  das  moralische  Gesetz  in  mir." 
Du  wirst  allmählich  die  Wahrheit  des  Wortes  erkennen: 

„Dass  wir  Menschen  nur  sind,  der  Gedanke  beuge  das  Haupt  dir; 
Doch,  dass  Menschen  wir  sind,  richte  dich  freudig  empor." 

Willst  du  auf  das  heilige  Sittengesetz  nicht  hören  und  deinen 
Lüsten  fröhnen,  so  lebe  wie  ein  Thier!  Du  wirst  dafür  nicht  mit  der 
göttlichen  Strafe  im  Jenseits,  nicht  mit  den  Qualen  in  Fegefeuer  und 
Hölle  bedroht.  Wir  weisen  nur  daraufhin,  dass  die  Folgen  deiner 
Handlungsweise  mit  der  Nothwendigkeit  von  Naturgesetzen 
sich  einstellen  müssen  und  sich  einstellen  werden.  Es  gibt 
für  dich  einen  Himmel  und  eine  Hölle  hier  auf  Erden.  Dir  ist  die 
Harmlosigkeit  versagt,  mit  der  das  Thier  alle  seine  Triebe  befriedigt. 
Du  weißt  was  gut  und  böse  ist,  was  du  sollst  und  was  du 

Reichstage  geforderten  Reinigungseid  abzunehmen,  unterzieht  er  sich  dieser  wich- 
tigen Aufgabe,  obwol  er  weiß,  dass  der  stolze  Gebieter  ihn  deswegen  hassen  und 
verfolgen  wird.  Man  möge  die  Jugend  über  diese  Thaten  und  Grundsätze  recht 
aufklären,  damit  sie  dieselben  sich  zum  Muster  nehme. 


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nicht  sollst.  Du  hast  ein  Gewissen3")  und  musst  seine  Stimme 
hören,  magst  du  immerhin  dich  bemühen,  sie  zu  unterdrucken  oder 
dich  dagegen  zu  betäuben.  Darum  bleiben  dir  die  Vorwurfe  des 
bösen  Gewissens  nicht  erspart,  und  dieselben  können  unter  Umstän- 
den zu  entsetzlichen,  nie  aufhörenden  Qualen  werden.  Auf  die  köst- 
liehe  Ruhe  und  stille  Seligkeit  des  guten  Gewissens,  auf  edles  Selbst- 
bewusstsein,  edeln  Stolz,  auf  echte  Menschenwürde  musst  du  dann 
verzichten.  Wenn  du  dich  zum  Sclaven  deiner  Lüste  erniedrigst,  so 
machst  du  dich  naturgemäß  zum  Sclaven  aller,  die  in  selbst- 
süchtiger Herrschbegier  oder  aus  anderen  schlechten  Beweg- 
gründen die  Fehler  und  Schwächen  ihrer  Mitmenschen  aus- 
zubeuten pflegen.  Sei  gewiss,  dass  du  dieser  Sklaverei  nie  ent- 
rinnen kannst,  so  schwer  die  Fesseln  dich  auch  drücken  mögen.  Du 
wirst  ohne  sittliche  Selbstbeherrschung  auch  nie  die  köstliche  innere 
Heiterkeit,  die  rechte  Lebensfrische  und  Lebensfreude  erlangen,  die 
uns  Menschen  bei  schweren  Unglücksfällen,  in  den  schwierigsten 
Lebenslagen  aufrecht  erhält**).  Du  wirst  infolge  der  inneren  Unruhe 

*)  Gewissen  ist  das  Wissen  um  den  sittlichen  Wert  und  die  Bedeu- 
tung unseresThuns  und  Lassens,  unserer  sittlichen  oder  unsittlichen  Handlungs- 
weise. Man  kann  es  daher  „den  innern  Richter"  nennen.  Es  ist  eine  Seelen- 
thätigkeit,  bei  der  unser  sittliches  Verhalten  klar,  begrifflich  durchdacht 
wird.  Die  Warnung,  welche  der  Mensch  vor  der  That,  die  Reue  und  Angst,  resp. 
die  Freude,  welche  er  nach  derselben  fühlt,  haben  mit  diesem  Gewissen 
eigentlich  nichts  zu  schaffen.  Da  sie  dasselbe  aber  begleiten  und  von  seinem 
Richterspruche  unzertrennlich  sind,  so  spricht  man  von  einem  guten  und  einem 
bösen  Gewissen  und  sagt,  dass  das  letztere  den  Übeltbätcr  „schlage"  oder  peinige. 
Es  ist  besser,  zu  sagen,  dass  diese  Qualen  von  der  Seele  oder  vom  Gemüthe  aus- 
gehen. Das  Gewissen  rauss  durch  Aneignung  klarer  Begriffe  und  durch  Übung  im 
Fühlen  und  Durchdenken  sittlicher  Gesetze  und  Thaten  in  ähnlicher  Weise  wie 
das  Kunsturtheil  gebildet  werden. 

**)  Eine  herrliche,  herzerfrischende,  sittlich  denkende  und  strebende  Natur  hat 
Dickens  in  seinem  Roman  „Martin  Chuzzlewits  Leben  und  Schicksale" 
gezeichnet.  Der  ehrliche  wackere  Hausknecht  und  Kellner  Mark  Tapley  besitzt 
eine  so  köstliche  Lebensfrische,  dass  er  meint,  in  glücklichen,  geordneten,  guten  Ver- 
hältnissen, bei  denen  ihm  das  Leben  leicht  wird,  nicht  genug  Ehre  erwerben  zu 
können.  „Jedermann  kann  heiter  und  guter  Dinge  sein",  sagt  er,  „wenn  er  gut 
gokleidet  ist.  Wenn  ich  recht  zerlumpt  und  doch  recht  lustig  wäre,  so  würde  ich 
glauben,  mir  darauf  etwas  zu  gute  thun  zu  dürfen."  „Wenn  man  als  Totengräber 
oder  als  Leichenbestatter  oder  bei  einer  Lungenentzündung  vergnügt  wäre,  so 
würde  dabei  wenigstens  Ehre  zu  erholen  sein."  Diese  köstliche  auf  echter  Sittlich- 
keit beruhende  Lcbensfrischo  erhält  ihn  in  allen  Lagen  nicht  nur  aufrecht,  sondern 
zugleich  stete  heiter.  Als  es  ihm  und  seinem  Herrn  Martin  in  Amerika  so  schlecht 
geht,  dass  sie  in  der  That  Ursache  zum  Verzagen  haben,  so  sagt  Mark  zu  sich  selbst : 
„Nun,  Meister  Tapley,  gib  acht!  Die  Dinge  sehen  ungefähr  so  schlecht  aus,  wie  sie 


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„von  Begierde  zum  Genuss  taumeln,  und  im  Genuss  vor  Begierde 
verschmachten1*,  bis  du  zuletzt  erkennen  musst,  „dass  der  Zauberbecher 
des  Lebens  nur  am  Rande  glänzt,  dass  für  den  gierigen  Trinker  unten 
wermutbittere  Hefe  liegt."  (Byrons  „Childe  Harold's  Pilgrimage: 
Life's  enchanted  cup  but  sparkies  near  the  brim.  His  had  been  quafFd 
too  quickly.  and  he  found  The  dregs  were  wormwood.  (Canto  III.) 
Versuche  es  dann  mit  dem  Priester,  kaufe  dir  Ablasszettel,  lass  dich 
mit  Verheißungen  trösten:  wir  können  dir  nur  sagen,  dass  alle  Trö- 
stungen der  Religion  und  alle  religiösen  Übungen  dir  jene  kostbaren 
Güter  nicht  geben  werden*).  Das  Walten  der  ehernen  Naturgesetze 
vermag  niemand  zu  ändern. 

Du  musst  bei  einer  solchen  Verachtung  der  sittlichen  Pflicht  der 
Selbstbeherrschung  auch  auf  die  rechte  Achtung  und  Liebe  unter 
deinen  Mitmenschen  verzichten.  Freilich  hat  der,  „welcher  irrt, 
gar  viele  Gespielen";  aber  wehe  dem,  der  auf  solche  Freunde  baut, 
oder  von  ihnen  Achtung,  Liebe  und  Gegendienste  erwartet.  Wahre 
Freunde  hat  nur  der  sittlich  Strebende,  der  Redliche. 

Die  Achtung  und  Liebe  der  Mitmenschen  zeigt  sich  am  klarsten 
bei  der  durch  größere  Gemeinschaften  vollzogenen  Wahl  der  Tüchtigen, 
Tapferen,  Leistungsfähigen,  welche  ein  Vertrauensamt,  eine  wichtige 
oder  hervorragende  Stelle  einnehmen,  oder  im  Kampfe  um  die  heilig- 
sten Güter  des  Lebens  als  Führer  dienen  sollen.  Meinst  du,  dass 
man  dich  Schwächling,  dich  leichtsinnigen,  lüsternen  Genussmenschen 
zu  solch  einer  Stellung,  zu  solcher  Führerschaft  für  würdig  erachten, 
mit  Vertrauen  beehren  wird?  Vielleicht  wählen  dich  jene  Menschen, 
welche  gefügige  Werkzeuge  brauchen,  um  ihre  Ideen  gewaltsam  zur 
Geltung  zu  bringen,  oder  um  gewissenlose,  im  Grunde  verbrecherische 
Plane  ausführen  zu  können.  Du  kannst  durch  sie  wo!  zu  Belohnungen, 
ja  zu  einer  einträglichen,  wol  gar  hohen  Stellung  und  zu  äußerlich 


auasehen  können,  junger  Mann.  Du  wirst,  so  lange  du  lebst,  keine  andere  derar- 
tige Gelegenheit  finden,  deinen  Humor  zn  zeigen,  mein  feiner  Bursche.  Und  des- 
halb, Tapley,  ist  jetzt  deine  Zeit  da,  dich  als  Mann  zu  erweisen  oder  nie."  Und 
er  bleibt  unverzagt  und  rettet  sich  und  seinen  Herrn. 

*)  Maria  Stuart:  Frisch  blutend  steigt  die  längst  vergebne  Schuld 

Aus  ihrem  leichtbedeckten  Grab  empor. 

Des  Gatten  racheforderndes  Gespenst 

Schickt  keines  Messedieners  Glocke,  kein 

Hochwürdiges  in  Priesters  Hand  zur  Gruft.  (Act  I  Sc.  4.) 

Dies  gilt  nicht  blos  für  den  Mord,  sondern  auch  für  andere  Versündigungen. 
Man  vermag  nie,  sie  auszustreichen.  Wir  erinnern  an  die  Sage  von  dem  „Skelet 
im  Hause". 


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ehrenden  Auszeichnungen  gelangen;  aber  diese  Menschen  verachten 
dich  als  ihren  bezahlten  Sclaven,  als  ihren  Hatzhund*)  und  stoßen 
dich  mit  dem  Fuße,  sobald  sie  deiner  nicht  mehr  bedürfen  oder  den 
lästigen  Mitwisser  und  Helfershelfer  entfernen  wollen. 

Die  Folgen  unsittlichen  Thuns,  leichtsinniger  oder  frevelhafter 
Vernachlässigung  oder  Verhöhnung  des  Sittengesetzes,  die  den  eher- 
nen Naturgesetzen  gemäß  unabwendbar  sich  einstellen,  enthalten  eine 
Nemesis,  die  bisher  viel  zu  wenig  beachtet  worden  ist  Sie  zeigt 
sich  am  deutlichsten  gerade  bei  den  fein  organisirten,  hochbegabten 
Menschen;  denn  diese  haben  bei  ihren  gewaltig  drängenden  und 
stürmenden  Trieben  zugleich  sehr  feine  Empfindungen  und  demgemäß 
die  Anlagen  zu  einem  feinen  Gemüth  und  feiner  Unterscheidung  für 
Gut  und  Böse,  Recht  und  Unrecht.  Daraus  erwächst  so  vielen  der 
Größten  und  Gewaltigsten  die  tiefe  Tragik  ihres  Lebens**).  Wir 
haben  diese  Nemesis  bereits  vorhin  durch  die  Darstellung  einzelner 
Folgen,  die  aus  der  leichtsinnigen  Hingabe  an  die  Sinnenlust  erwach- 
sen, in  einzelnen  Zügen  angedeutet.  Diese  Züge  lassen  sich  leicht 
vermehren,  und  sie  rechtfertigen  vollkommen  Goethe's  Wort:  „Alle 
Schuld  rächt  sich  auf  Erden." 

Freilich  hört  man  von  verschiedenen  Seiten,  namentlich  von  den 
Anhängern  der  kirchlichen  Sittenlehre  behaupten,  dass  diese  Nemesis 
auf  Erden  fehle,  dass  der  freche  und  aalglatte  Schurke  ungestraft 
bleibe,  dass  die  Unschuld  leiden  müsse,  Ungerechtigkeit  und  Bosheit 
nur  zu  oft  triumphiren,  und  dass  es  darum  notwendig  sei,  an  das 
alles  Unrecht  ausgleichende  Strafgericht  Gottes  im  Jenseits  zu  glauben. 
Aber  dies  ist  eine  von  jenen  Behauptungen,  die  sich  von  Jahrhundert 
zu  Jahrhundert  fortschleppen,  wie  Dogmen,  wie  Axiome  prüfungslos 
angenommen  und  gedankenlos  nachgesprochen  werden. 

Das  Wort  des  weisen  Goethe  ist  wahr.  Die  philosophische  Sitten- 


*)  Füret  Bismarck  soll  in  Bezug  auf  einen  früher  sehr  hoch  gestellten  Mann  in 
offener  Verachtung  seiner  Sclavcndienste  gesagt  haben:  „Er  ist  ein  guter  Hund; 
aber  auf  Befehl  schwimmt  er  selbst  durch  die  ärgste  Pfütze.,< 

*♦)  Wer  im  Leben  selbst  nicht  Gelegenheit  hat,  diese  Wahrheit  aus  eigenen 
Beobachtungen  zu  schöpfen,  der  studire  Shakespeare's  und  namentlich  unseres  Schiller 
großartige,  wunderbar  tief  und  schön  angelegte  und  kunstvoll  ausgeführte  Tragödien. 
Leider  hat  die  Nation  sich  gegenwärtig  von  ihrem  edelsten  und  erhabensten  Dichter, 
ihrem  einstmaligen  Lieblinge,  in  bedenklicher  Weise  abgekehrt.  Dem  gebildeten 
Strebervolk  unserer  Tage,  dessen  selbstsüchtige  Grundsätze  bereits  in  die  Schulen 
eingedrungen  zu  sein  scheinen,  ist  der  große  Dichter  zu  ernst  und  zu  streng  sitt- 
lich. Seine  Tragödien  werden  nicht  mehr  studiert.  Man  paukt  lieber  Literator- 
geschichte! 


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I 


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lehre  weist  den  Glauben  an  Gottes  Richteramt  und  Straf- 
gericht im  Jenseits  in  der  Erkenntnis  zurück,  dass  eine 
Nemesis  auf  Erden  existirt;  dass  dieselbe  in  den  notwendigen 
auf  Naturgesetzen  beruhenden  Folgen  unserer  sittlichen  oder  unsitt- 
lichen Handlungsweise  begründet  ist,  und  dass  die  tiefere  Erkennt- 
nis derselben  ein  ruhiges  unverfälschtes  Rechtsgefühl  voll- 
kommen befriedigen  könne.  Sie  lässt  bei  dieser  Zurückweisung 
den  Glauben  an  Gottes  Liebe  und  Vatergüte,  an  sein  Erbarmen  und 
seinen  himmlischen  Trost  unangetastet;  aber  derselbe  wird  nur  denen 
zutheil,  die  unschuldig  unter  den  Schlägen  des  Schicksals  oder 
unter  menschlicher  Thorheit  und  Verworfenheit  zu  leiden 
haben,  nicht  denen,  welche  sich  durch  unsittliches  Thun  oder  Thor- 
heit und  mangelhaften  Gebrauch  der  ihnen  verliehenen  Gaben  ihr 
Schicksal  selbst  bereiten.  Diese  Lehre  ist  die  Consequenz  jener 
oben  erörterten  Grundansicht,  dass  alle  sittlichen  Gesetze  lediglich 
aus  der  menschlichen  Vernunft  stammen,  und  der  Urgrund  unserer 
Verbindlichkeit,  sie  zu  befolgen,  nicht  in  Gott,  sondern  in  der  Auto- 
nomie der  menschlichen  Vernunft  zu  suchen  sei. 

Diese  Lehre  könnte  für  die  Menschheit  wahrhaft  befreiend  und 
erlösend  wirken;  denn  sie  führt  bei  echter  Anwendung  zu  erhöhter 
Selbsterkenntnis  und  zum  sorgfältigeren  Gebrauch  unserer  Vernunft  und 
der  anderen  seelischen  Gaben.  Aber  in  dieser  Forderung,  sich  selber 
besser  zu  erkennen  und  die  Schuld  für  unser  Leiden,  für  Unglück 
und  das  Misslingen  verschiedener  Pläne  zunächst  in  uns  selbst  zu 
suchen,  liegt  leider  ein  bedenklich  großes  Hemmnis  für  ihre  allseitige 
Annahme.  Niemand  will  schuldig  sein;  jeder  sucht  Vorwürfe  und 
Schuld  auf  den  anderen  zu  schieben,  „der  letzte  auf  den  Teufel,  der 
Teufel  auf  seine  Großmutter. w  Niemand  vermag  ruhig  selbst  gerech- 
ten Tadel  zu  ertragen.  Gründe  zur  Entschuldigung  sind  stets  bei  der 
Hand,  sind  „wohlfeil  wie  Brombeeren"  und  werden  dem  strafenden 
Gewissen  gegenüber  nur  zu  leicht  aufgefunden.  Wahrhafte  Reue,  die 
nur  bei  aufrichtigem  Bekenntnis  der  eigenen  Schuld  möglich  ist,  wird 
in  der  Welt  nicht  oft  angetroffen.  Darum  suchen  die  Menschen  nur 
zu  leicht  für  ihre  eigenen  Thorheiten  und  selbstverschuldeten  Leiden 
die  Mitmenschen  verantwortlich  zu  machen,  klagen  über  mangelhafte 
Gerechtigkeit  auf  Erden,  über  ihr  trauriges  Schicksal  und  fordern 
von  Gott  dem  Herrn,  dass  er  das  Richteramt  ausüben  und  das  not- 
wendige Strafgericht  vollziehen  solle.  Die  leichtsinnige,  träge  und 
vergnügungssüchtige  Mutter  klagt  „Gottesklage"  über  ihre  verwahr- 
losten, undankbaren  Kinder  und  fordert  sie  vor  Gottes  Richterthron. 


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Ihr  presst  der  Kummer  über  die  Verluste  an  Hab'  und  Gut,  an  Ehre 
und  Liebe,  die  sie  durch  die  Kinder  erlitten  hat,  jene  Klagen  aus. 
Es  kommt  ihr  nicht  in  den  Sinn,  diesen  Kummer  als  die  gerechte 
Nemesis,  als  die  Folge  ihres  schlechten  Beispiels,  ihrer  frevelhaften 
Nachlässigkeit  bei  der  Erziehung  der  Kinder  anzusehen.  Der  fromm 
gewordene  Vater  verstößt  den  ungeratenen  Sohn  und  droht  ihm  mit 
Gottes  Strafgericht.  Er  vergisst  dabei,  dass  er  in  seinem  geistlichen 
Hochmuth  die  Fehler  des  Knaben  stets  übersehen  und  ihn  durch  un- 
vernünftiges Überbürden  mit  Bet-  und  Andachtsübungen  zum  Frevler 
oder  zum  Heuchler  erzogen  hat.  Eigennützige  Feiglinge  pflegen  sich 
um  das  Unrecht,  das  tyrannische  Gewalthaber  ihren  Mitmenschen  zu- 
fügen, gar  nicht  zu  bekümmern.  AVenn  das  Unrecht  so  arg  wird,  dass 
sie  trotz  ihrer  Gefügigkeit  und  kriechenden  Demuth  selbst  zu  leiden 
haben,  sind  sie  gewöhnlich  die  ärgsten  Schreier,  klagen  über  „himmel- 
schreiende" Ungerechtigkeit  und  seufzen  über  das  trostlose  Erden- 
leben, in  dem  der  Gerechte  am  meisten  leiden  müsse. 

Man  könnte  ähnliche  Fälle  mit  Leichtigkeit  in  großer  Zahl  an- 
führen; aber  dies  Gesagte  wird  'genügen,  um  das  Wort  des  weisen 
Goethe  zu  rechtfertigen.  Man  möge  nur  wirkliche  Schickungen 
von  eigentlichen  Verschuldungen  trennen  und  Schuld  oder  Unschuld 
sorgfältig  abwägen.  Die  Nemesis  zeigt  sich  oft  in  überraschender 
und  verwunderlicher  Weise,  und  es  ist  wahrlich  nicht  nöthig,  seine 
Zuflucht  zu  den  vielen  Fabeln  zu  nehmen,  welche  von  Dichter- 
lingen und  Anhängern  der  kirchlichen  Moral  erfunden  sind,  um  den 
Menschen  das  Walten  des  göttlichen  Strafgerichts  auf  Erden  zu 
Gemüthe  zu  führen.  Die  ganz  natürlichen  Folgen  frevelhaften  Thuns 
sind  für  den  klar  sehenden  Denker  so  überzeugend,  dass  er  zur  Be- 
friedigung seines  Rechtsgefühls  eines  überirdischen  Richters  gar  nicht 
bedarf*).  Es  hat  sich  schon  oft  genug  zugetragen,  dass  vornehme 
Schurken  in  wahnsinnige  Frömmelei  oder  in  Tobsucht  verfielen,  dass 
Gauner  sich  aus  Wuth  über  einen  verfehlten  oder  verabsäumten  Betrug 
selbst  entleibten,  dass  geizige  Betrüger  durch  Verluste  in  Wahnsinn 
geriethen  und  mitten  im  Reichthum  zu  verhungern  fürchteten,  dass 
böse,  hinterlistige  Verfolger  sich  in  ihren  eigenen  Schlingen  fingen. 
Der  ehrgeizige  und  gewissenlose  Streber  wird  durch  die  Qualen, 

*)  Eine  Seite  des  großen  erziehlichen  Wertes,  der  in  den  herrlichen  erzahlea- 
den  Gedichten  (Romanzen,  Balladen)  unseren  großen  Schüler  liegt,  beruht  darauf, 
dass  der  klar  denkende  philosophische  Dichter  überall  bemüht  ist,  die  Nemesis 
auf  das  Walten  von  Naturgesetzen  zurückzuführen.  (Kraniche  des  Ibikus, 
Gang  nach  dem  Eisenhammer  etc.) 


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welche  Neid  und  Ehrgeiz  verursachen,  oft  in  erschrecklicher  Weise 
gemartert,  und  wie  gar  oft  vollzieht  sich  die  Nemesis  durch  die 
Kinder,  die  durch  das  väterliche  Beispiel  in  Worten  und  Thaten  er- 
zogen werden!  Es  dürfte  bekannt  sein,  wie  schwer  so  viele  an  den 
Folgen  einer  wüst  und  wild  durchlebten  Jugendzeit  zu  leiden  haben; 
welche  Qualen  ihnen  täglich  durch  den  Anblick  ihrer  armseligen,  ver- 
krüppelten leidenden  Kinder  erwachsen,  deren  Gesundheit  durch  jenes 
Sündenleben  schon  im  Keime  verdorben  worden*).  Man  vergesse  doch 
nicht  die  furchtbare  Nemesis,  die  sich  in  den  schlaflosen  Nächten,  in 
den  wüsten  Träumen,  in  den  wilden  Phantasiegebilden  zeigt,  die 
mit  ihren  Vorwürfen  und  Martern  immer  wiederkehren.  „Der  Teufel 
ist  die  Reue"  (Reue  hier  =  Schuldbewusstsein)  sagt  ein  moderner 
Dichter.    Sie  ist  zugleich  Fegefeuer  und  Hölle. 

Die  Lehre  von  dem  göttlichen  Strafgericht  wird  von  den  An- 
hängern der  kirclilichen  Sittenlehre  aufrecht  erhalten,  weil  sie  ihrer 
Meinung  nach  nothwendig  ist,  um  die  Bösen  vom  Sündigen  abzu- 
schrecken. Diese  Absicht  wird  von  der  philosophischen  Sittenlehre 
verworfen,  weil  ein  Unterlassen  böser  Pläne  aus  sclavischer  Furcht 
vor  Strafe  den  Menschen  nicht  bessern  kann.  Sie  sieht  den  wahren 
Fortschritt  zum  Bessern  in  der  vernunftgemäßen  Erziehung 
der  Kinder,  in  der  rechten  Ausbildung  von  Verstand  und  Vernunft 
und  eines  kräftigen  Willens  zum  Guten;  denn  sie  meint,  dass  die 
Menschen  durch  klare  Einsicht  in  die  naturnothwendigen,  unausbleib- 
lichen Folgen  ihres  Thuns  und  Lassens  am  sichersten  und  wirksam- 
sten zur  Besinnung  und  zur  Selbstbeherrschung  gebracht  werden  können. 

*)  Beim  Anblicke  der  oft  so  entsetzlichen  Leiden  dieser  unschuldigen  Wtlrm- 
chen  und  des  unheilbaren  Siechthuras  ihrer  späteren  Lebensjahre  tritt  der  schöne 
Glanbe  an  Gottes  Vatergüte  und  an  seine  versöhnende  und  ausgleichende  Liebe  in 
seine  Rechte.  Die  Lehre,  ndass  Gott  die  Sünden  der  Väter  heimsuchet  an  den 
Kindern  bis  ins  dritte  und  vierte  Glied"  entspricht  nicht  dem  milden  Geiste 
unsres  Religionsstifters,  gehört  nicht  zu  seiner  schönen  „Religion  der  Liebe." 
Der  große  edle  Luther  hat  nicht  recht  gethan,  diese  finstere  Anschauung  des  Mittel- 
alters zu  übernehmen  und  durch  sein  Ansehen  zu  erhalten.  Unser  Gott,  wie 
Christus  ihn  gelehrt  hat,  ist  nicht  der  alte  finstere,  zornige,  rachsüchtige  Stammes- 
gott der  Juden,  sondern  der  liebende  Vater  aller  Menschen.  Jene  finstere  Lehre 
entspricht  weder  der  Vernunft  noch  den  neueren  Forschungen  der  Wissenschaft. 
Durch  Vernunftgründe  lässt  sich's  nicht  rechtfertigen,  dass  die  nachgeborenen  un- 
schuldigen Generationen  für  die  Sunden  der  Voreltern  leiden  sollen.  Die  Wissen- 
schaft beweist,  dass  zum  Verbrecher  oder  Sünder  niemand  geboren  wird. 
Eingeboren  ist  nur  der  Trieb  zum  Leben,  der  Hunger,  der  Geschlechtstrieb,  die  ideale 
Liebe  und  der  auf  ihr  beruhende  „kategorische  Imperativ".  Alle  Eigenschaften, 
die  sich  im  Laufe  der  Zeit  entwickeln,  sind  Productc  der  Erziehung. 


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Sie  weist  darauf  hin,  dass  durch  Religionslehren  und  fromme  Übungen 
noch  niemand  sittlicher  und  besser  geworden  ist. 

Eine  vorurtheilsfreie  Erwägung  der  Gründe,  durch  welche  die 
meisten  Menschen  bewogen  werden,  an  Gottes  Strafgericht  zu  appe- 
liren,  und  dasselbe  herbeizuwünschen,  uiuss  es  jedem  klar  machen, 
dass  dies  Verlangen  in  den  meisten  Fällen  auf  sehr  unlautere 
Regungen,  auf  Neid,  Hass  und  Rachegelüste  zurückzuführen 
ist.  Die  Erziehung  ist  leider  eine  so  mangelhafte,  dass  diese  Regungen 
bei  den  meisten  Männern  und  selbst  bei  der  Mehrzahl  der  Frauen 
sich  zu  einer  bedenklichen  Stärke  entwickeln,  nur  zu  oft,  namentlich 
bei  heftigen  (cholerischen)  Naturen  den  Charakter  der  Leidenschaft 
annehmen  und  das  Gemüth  selbst  bei  kleinlichen  Anlässen  in  Afiect 
zu  setzen  vermögen.  Wer  sclavisch  erzogen  wird,  muss  ein  Tyrann 
werden,  sobald  er  irgendwie  zur  Macht  gelangt.  Der  beständig  zurück- 
gesetzte, geschlagene,  gestoßene,  brutal  behandelte  Junge  wird  ein 
brutaler,  rachsüchtiger  roher  Wütherich,  sobald  die  Körperkraft  ihn  in 
den  Stand  setzt,  seine  Gelüste  an  Schwächeren  auszulassen.  Der  Mensch, 
welcher  nie  an  Gehorsam  gewöhnt  worden,  wird  eigensinnig,  herrsch- 
süchtig, gewaltthätig  und  damit  neidisch  und  rachsüchtig  und  voller 
Hass  gegen  alle,  die  seinem  selbstsüchtigen  Willen  entgegentreten. 
Bei  edieren  Naturen  wird  durch  ungerechte  tyrannische  Behandlung 
der  finstere  Geist  tückischer  Widersetzlichkeit,  wilden  und  starren 
Trotzes  und  Hasses  und  unversöhnlicher  Rache  erzogen.  Diese  leiden- 
schaftlichen Regungen  beeinflussen  gewöhnlich  bei  Beurtheilung  frem- 
der Thaten  unser  Rechtsgefühl  und  bringen  ein  zu  heftiges,  oft  ein 
leidenschaftliches  Verlangen  nach  Bestrafung  der  Schuldigen,  nach 
Sühne  hervor.  In  solchen  Stimmungen  muss  die  hier  auf  Erden  wal- 
tende Nemesis  selbstverständlich  zu  gering  erscheinen.  Gewöhnlich 
wird  sie  gar  nicht  beachtet,  oft  geradezu  bestritten,  oder  als  ganz  un- 
zureichend betrachtet,  weil  sie  jene  leidenschaftlichen  Regungen  nicht 
befriedigen  kann.  Was  die  schlechte  Erziehung  angebahnt  hat,  wird 
bei  gar  vielen  durch  die  auf  Spannung  und  jene  niedere  Leidenschaften 
spekulirende  Romanlectüre  vollendet.  Kein  Wunder,  dass  sogar  Frauen 
und  Mädchen  selbst  bei  den  Klatschgeschäften  in  ihren  Kalfeegesell- 
schaften  auf  Bestrafung  und  Sühne  der  Schuldigen  dringen  und  von 
einer  versöhnlichen  Stimmung  nichts  wissen  wollen.  Unser  Herr  und 
Meister  hatte  wahrlich  recht  uns  zuzurufen,  dass  wir  unserem  Belei- 
diger und  Verfolger  nicht  siebenmal,  sondern  siebenzigmal  siebenmal 
vergeben  sollen.  Bildet  die  Kraft  zu  lieben,  zu  vergeben  in  eurer 
Seele  aus,  so  wird  euch  die  hier  auf  Erden  waltende  Nemesis  wol 


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genügen;  so  werdet  ihr  geneigt  werden,  nicht  zn  richten,  sondern 
„stets  an  den  Balken  im  eigenen  Ange  zu  denken."  Reinigt  euren 
Gottglauben ,  macht  unsern  Herrgott  nicht  zum  Vollstrecker  eurer 
kleinlichen  oder  niedrigen  und  verächtlichen  Bachegelüste,  oder  zu 
einem  Werkzeug  für  Pläne  der  Herrschsucht  und  anderer  Leidenschaf- 
ten; macht  euren  Kopf  klar  und  euren  Willen  stark,  dem  Vernunft- 
gesetze zu  folgen  und  eure  Leidenschaften  zu  beherrschen,  so  werdet 
ihr  größere  und  reinere  Liebe  zu  Gott  und  zu  euren  Mitmenschen 
gewinnen;  ihr  werdet  sittlicher  und  dadurch  zugleich  frömmer  werden. 

Eins  bleibt  noch  zu  erörtern.  Es  dürfte  jemand  sagen:  „Wenn 
der  Mensch  nicht  den  Richtei-spruch  noch  das  Strafgericht  Gottes  zu 
fürchten  hat;  wenn  er  nur  durch  sein  eigenes  Gewissen  oder  höchstens 
durch  das  Urtheil  der  Mitmenschen  gerichtet  und  bestraft  werden 
soll,  so  braucht  er  nur  sein  Gewissen  durch  Übung  zum  Schweigen 
zu  bringen  und  den  Menschen  gegenüber  sich  fein  zu  verstellen,  um 
allen  Vorwürfen  zu  entgehen  und  unbehelligt,  ja  mit  frecher  Stirn 
stehlen,  betrügen,  verraten,  auf  die  verschiedenste  Weise  sündigen, 
die  sittlichen  Gesetze  und  Grundsätze  übertreten  und  verlachen  zu 
können.  Wenn  [man  nicht  mehr  die  göttliche  Nemesis  zu  furchten 
hat,  so  braucht  man  ja  nur  recht  klug  zu  handeln,  um  der  auf 
Naturgesetzen  beruhenden  irdischen  Nemesis  zu  entgehen." 

Irret  euch  nicht!  So  klug  ist  niemand,  dass  ihm  solch  ein  Be- 
mühen auf  die  Dauer  glücken  könne.  Während  er  eine  Art  von 
Folgen  klug  vermeidet,  bereitet  sich  unmerklich  die  andere  vor  und 
packt  ihn,  wenn  er  sich  sicher  und  geborgen  wähnt,  mit  vernichten- 
der Gewalt.  Das  Sittengesetz  ist  nicht  eine  willkürliche  Erfindung 
der  Menschheit,  sondern  beruht  auf  einem  Naturgesetz,  auf  der  uns 
Menschen  eingeborenen  idealen  Liebe  und  der  damit  zusammenhängen- 
den unbedingten  Verbindlichkeit  gegenüber  der  sittlichen  Pflicht. 
Darum  kann  niemand  dieses  Gesetzes  spotten,  ohne  die 
Nemesis  in  irgend  einer  Weise  heraufzubeschwören.  Man 
vergesse  nicht,  dass  durch  dies  eingeborene  ideale  Streben  beständig 
in  gemeinsamer  geistiger  Arbeit  Ideen  erzeugt,  dass  die  heranwach- 
senden Generationen  nach  solchen  Ideen  erzogen*),  die  Erwachsenen 
von  diesen  großen  geistigen  Mächten  des  Lebens  beherrscht  und  ge- 
leitet werden.   Ihrem  Einflüsse  kann  sich  niemand  entziehen,  selbst 


*)  Wie  oft  gehen  aus  Verbrecherkreisen  Menschen  mit  sittlichen  Grundsätzen 
und  sittlichem  Streben  hervor.  Es  sind  zu  ihnen  sittliche  Ideen  gedrungen 
und  haben  dies  scheinbare  Wunder  gewirkt. 


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wenn  er  sie  um  seiner  selbstsüchtigen  Gelüste  willen  frech  verspottet, 
„Die  Teufel  glauben  auch  und  zittern."  Darum  kann  niemand  sein 
Gewissen  ganz  zum  Schweigen  bringen,  und  ebensowenig  wird  es 
ihm  gelingen,  seine  Mitbürger  durch  den  Schein  von  Rechtschaffen- 
heit auf  die  Dauer  zu  täuschen.  „Der  Krug  geht  so  lange  zu  Wasser, 
bis  er  bricht",  und  „Unrecht  schlägt  seinen  eigenen  Herrn".  Die 
Kinder  nehmen  die  Grundsätze  der  Eltern  an,  betrügen,  belügen,  be- 
stehlen, verraten  den  eigenen  Vater.  Der  gewissenlose  Staatsbeamte 
wird  durch  diejenigen  gestürzt,  die  er  als  Helfershelfer  zu  Reichthum 
und  Ehren  gebracht;  der  schlaue  Betrüger,  welcher  durch  kluge  Be- 
nutzung menschlicher  Schwächen  und  Thorheiten  Reichthum  auf  Reich- 
thum häuft,  erzieht  dabei  in  sich  die  Gier,  die  ihn  schließlich  ins 
Verderben  bringt,  (Vgl.  A.  v.  Chamisso's  Gedicht:  Abdallah.)  Überall 
„betrogene  Betrüger"! 

Aber  es  gibt  freilich  Ideen,  welche  solch  ein  frevelhaftes  Auf- 
lehnen gegen  die  heiligsten  sittlichen  Pflichten  befördern  und  schwache 
Menschen  nur  zu  leicht  zum  Bösen  verführen  können.  Es  sind  die 
Ideen,  welche  aus  der  Selbstsucht  und  deren  Gelüsten  und 
aus  bösen  volksthümlichen  Leidenschaften  stammen.  Man 
denke  an  die  Ideen,  welche  durch  den  Hass  gegen  Andersgläubige, 
gegen  Ketzer  und  Juden,  durch  die  hochmüthige  Verachtung  des 
Bürgers  und  Bauern  unter  Adeligen,  durch  den  Ingrimm  des  Prole- 
tariers gegen  die  Reichen,  durch  den  Trotz  des  Strand-  und  Grenz- 
bewohners gegen  die  Grenzaufseher  erzeugt  wurden.  Mau  denke  an 
die  gefährlichen  Ideen,  welche  in  der  Neuzeit  durch  Herrschsucht 
und  Parteileidenschaft  erzeugt  sind  und  die  entsetzliche  Strebersucht 
unserer  Tage  herbeigeführt  haben.  Die  guten,  segensreichen  aus  der 
idealen  Liebe  geborenen  Ideen  haben  mit  diesen  unheilvollen  frevel- 
haften Mächten  einen  beständigen  Kampf  zu  bestehen  und  nur  zu  oft 
muss  das  Gute  in  diesem  Ringen  unterliegen.  Die  Geschichte  belehrt 
uns  über  Zeiten,  in  „denen  sich  alle  Bande  frommer  Scheu  lösten", 
in  denen  die  schrecklichen  Zustände  zur  Wahrheit  wurden,  welche 
der  große  Schiller  uns  in  seinem  „Spaziergang"*)  so  ergreifend 


*)  Aus  dem  Gespräche  entschwindet  die  Wahrheit,  Glauben  und  Treue 
Aus  dem  Leben,  es  lügt  selbst  auf  der  Lippe  der  Schwur. 
In  der  Herzen  vertraulichsten  Bund,  in  der  Liebe  Geheimnis 
Drängt  sich  der  Svkophant,  reißt  von  dem  Freunde  den  Freund. 
Auf  die  Unschuld  schielt  der  Venrath  mit  verschlingendem  Blicke, 
Mit  vergiftendem  Bisa  tötet  des  Lästerers  Zahn. 
Feil  ist  in  der  geschändeten  Brust  der  Gedanke,  die  Liebe 


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-    353  — 


geschildert  hat.  Da  treten  denn  die  gemeinen  Scharken  hohnlachend 
in  ihrer  ganzen  brutalen  Frechheit  auf,  und  der  noch  schwankende 
Schwächling  wird  durch  den  Hinblick  auf  das,  was  „gäng  und 
gäbe  geworden",  was  „alle  thun",  nur  zu  leicht  verfuhrt,  die  besseren 
Begnügen  seines  Innern  leichtfertig  abzuweisen.  Da  scheint  in  der 
That  mit  dem  Aufgeben  des  Glaubens  an  das  göttliche  Strafgericht 
die  einzige  Möglichkeit  einer  Nemesis  und  Sühne  und  damit  einer  Ab- 
schreckung von  bösen  Wegen  geraubt  und  das  Gute  rettungslos  dem 
frevelhaften  Streben  des  Bösen  preisgegeben  zu  sein.  Aber  selbst  in 
solchen  schrecklichen  Zeiten,  in  denen  die  Edelsten  „das  große  gigan- 
tische Schicksal "  packt,  „welches  den  Menschen  erhebt,  wenn  es  den 
Menschen  zermalmt",  braucht  niemand  in  seinem  Glauben  an  die  auf 
Erden  waltende  Nemesis  irre  zu  werden,  und  darf  der  festen  Zu- 
versicht leben,  dass  das  Gute  allmählich  dennoch  den  Sieg 
davontragen  werde.  Durch  den  Glauben  an  das  göttliche  Straf- 
gericht, an  Fegefeuer  und  Höllenpein  ist  noch  nie  ein  Frevler  von 
seinem  bösen  Thun  abgeschreckt,  sondern  höchstens  nach  der  That 
von  unfruchtbarer  Angst  gepeinigt  worden.  Auch  ziemt  es  dem  Edeln 
nicht,  selbst  beim  Unterliegen  Rachegedanken  zu  hegen  und  für  die 
Gegner  und  Feinde  besondere  Strafen  zu  verlangen.  Man  denke  an 
Christum,  unser  sittliches  Ideal.  Der  wahrhaft  sittliche  Mensch 
trägt  gar  kein  Verlangen  nach  einer  göttlichen  oder  irdischen  Nemesis. 
Er  kämpft  und  unterliegt  in  solchen  Zeiten  mit  dem  Bewusstsein  des 
todesmuthigen  Kriegers,  der  Festigkeit,  Seelenruhe  und  Heiterkeit  in 
dem  Glauben  findet,  dass  er  sich  für  seine  Mitbürger,  für  die  Ehre 
und  die  Freiheit  des  Vaterlandes  opfert,  dass  er  damit  eine  heilige 
Pflicht  erfüllt,  und  sein  Opfertod  dazu  beitragen  werde,  den  hohen 
Ideen,  für  die  er  sein  Blut  vergossen,  zum  Siege  zu  verhelfen.  Mag 
die  auf  Erden  waltende  Nemesis  den  Frevler  scheinbar  gar  nicht  er- 
reichen, eins  darf  man  mit  Sicherheit  annehmen:  die  innere  Buhe 
und  Heiterkeit,  das  innere  Glück,  welches  im  Bewusstsein  redlicher 
Pflichterfüllung  liegt,  kann  und  wird  den  Frevler  selbst  bei  den 
größten  Erfolgen  und  den  größten  Triumphen  nie  beglücken,  und  nie 


Wirft  des  freien  Gefühle  göttlichen  Adel  hinweg. 
Deiner  heiligen  Zeichen,  o  Wahrheit,  hat  der  Betrug  sich 
Angemaßt,  der  Natur  köstlichste  Stimmen  entweiht, 
Die  das  bedürftige  Herz  in  der  Freude  Drang  Bich  erfindet; 
Kaum  gibt  wahres  Gefühl  noch  durch  Verstummen  sich  kund. 
Auf  der  Tribüne  prahlet  das  Recht,  in  der  Hütte  die  Eintracht, 
Des  Gesetzes  Gespenst  steht  an  der  Könige  Thron. 
Pa>dABroKinan.   14.  Jahrg.  Heft  VI.  25 


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wird  er  dem  Tode  wie  ein  wackerer  sittlicher  Kämpfer  heiter  und 
gefasst  entgegen  gehen. 

Es  dürfte  jemand  noch  fragen:  „Wie  ist  eine  Erlösung  des 
schuldbeladenen  Menschen  denkbar,  wenn  man  nicht  mehr  an 
das  göttliche  Gericht,  an  Bestrafungen  und  Belohnungen  im  Jenseits 
glauben  soll?-4 

Darauf  antwortet  die  philosophische  Sittenielire  Folgendes:  Die 
echte  Sittlichkeit  hat  es  nur  mit  der  wahren  Reue  zu  thun,  die 
nicht  in  der  Angst  vor  den  Folgen,  sondern  in  der  Trauer 
über  die  That  selbst  besteht.  Diese  „Traurigkeit,  welche  zur 
Seligkeit  wirket",  sucht  nach  der  verlorenen  Ruhe,  nach  dem  durch 
eigene  Schuld  verlorenen  Seelenfrieden,  und  erhebt  den  Blick  des  Menschen 
von  der  Erde  aufwärts  zu  dem  himmlischen  Helfer  und  Erlöser. 
Solch  ein  wahrhaft  reuiger  Mensch  hat  sich  bereits  selbst 
gerichtet  und  bestraft;  er  bedarf  nicht  mehr  eines  Richters, 
sondern  nur  eines  liebenden  und  erbarmungsvollen  Vaters. 
Den  wird  er  bei  rechtem  frommen  Glauben  im  Himmel  finden,  und 
wird  durch  ihn  erlöst  und  getröstet  werden.  Wenn  Christus  davon 
spricht,  dass  Gott  die  Sünder,  wenn  sie  wahrhaft  bereuen,  mehr  liebt 
als  die  „Gerechten,  welche  der  Buße  nicht  bedürfen";  wenn  er  dem 
wahrhaft  reuevollen  Schächer  noch  in  seiner  Sterbestunde  die  trost- 
reiche Versicherung  gibt:  „Wahrlich,  heute  noch  wirst  du  mit  mir 
im  Paradiese  sein",  so  denkt  er  bei  diesen  Leliren  niemals  an  den 
strafenden  und  streng  richtenden  Gott,  sondern  stets  nur  an  den 
liebevollen  Vater,  der  das  kummervolle  Kind  in  seiner  erbarmungs- 
reichen  Liebe  aufrichten  und  durch  Liebe  trösten  will.  Diese  schöne 
Lehre  wird  durch  das  Gleichnis  „vom  verlorenen  Sohn"  in  jeder  Hin- 
sicht bestätigt 

Versuchen  wir  nach  diesen  Erörterungen  noch  die  Frage  zu 
beantworten,  welche  Gebote  und  Verbote  aus  diesem  großen 
Kampfe  der  Ideen  um  das  wahrhaft  sittlich  Gute^als  all- 
gemein giltig  hervorgegangen  sind? 

Wie  bereits  gesagt  wurde,  ist  der  „kategorische  Imperativ"  d.  h. 
der  innerlich  gefühlte  Befehl,  höhere  Gebote  als  die  unserer  sinnlichen 
Triebe  als  unbedingt  verpflichtend  anzuerkennen,  als  specifisch 
menschliche  Eigenschaft  in  der  Disposition  allen  Menschen  ohne  Unter- 
schied gegeben.  Damit  hängt  zusammen  das  aus  der  idealen  Liebe*) 


*)  Kant  nennt  die  Eigenschaft  der  menschlichen  Seele,  welche  bei  allen  sitt- 
lichen Forderungen  thätig  ist,  die  Vernunft,  und  definirt  dieselbe  als  „das 


►ogle 


—    355  — 


stammende  Streben  nach  dem  Ideal  sittlicher  Vollkommenheit, 
ans  dem  als  einzelne  kategorische  Imperative  die  Ideen  hervoi-gehen, 
d.  h.  Meinungen  über  neae  sittliche  Pflichten,  über  das,  was  geschehen 
soll,  um  jenem  Ideal  immer  näher  zu  kommen. 

Aus  der  Betrachtung  dieses  gemeinsamen  idealen  Strebens  aller 
Menschen  wird  die  Erkenntnis  hervorgehen,  dass  zu  allen  Zeiten  eine 
Menge  sittlicher  Gebote  erst  im  Werden  begriffen  sein  müssen;  dass 
während  des  Kampfes  um  sittliche  Ideen  neue  Gebote  aufgestellt, 
alte  als  nicht  mehr  verpflichtend  anerkannt,  ja  als  gefahrlich  und 
unsittlich  verurtheilt  und  unterdrückt  werden.  Man  wird  leicht  heraus- 
finden, dass  einzelne  sittliche  Gebote  in  alten  Zeiten  ganz  anders 
gelautet  haben,  als  heutzutage;  dass  die  Summe  aller  Gebote  jetzt 
eine  größere  und  bedeutendere  ist,  als  in  vergangenen  Jahrhunderten, 
dass  die  sittlichen  Gebote  und  Verbote,  welche  gegenwärtig  Geltung 
haben,  nicht  die  Summe  der  Pflichten  für  jeden  Menschen 
ohne  Unterschied  bilden;  dass  diese  sittlichen  Verpflichtungen  je 
nach  Geschlecht,  Stand  und  Beruf,  Bildung  und  Begabung  verschie- 
dene sein  können.  Es  hat  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  und  Jahr- 
tausende bei  allen  diesen  Kämpfen  um  sittliche  Ideen  als  objectiv 
wahr  und  giltig  nur  ein  kleiner  Kern  von  Geboten  und  Ver- 
boten herausgebildet.  Derselbe  wird  wenigstens  unter  den  gebil- 
deten Culturvölkern  als  Canon  echter  Sittlichkeit  anerkannt. 
Dieser  Canon  schließt  sich  an  die  sieben  der  sogenannten  heiligen 
zehn  Gebote  an  —  die  drei  ersten  derselben  betreffen  das  religiöse 
Leben  —  und  an  einzelne  Lehren  Christi,  die  nach  des  Herrn  eigenen 
Worten  in  der  Forderung  gipfeln:  „Liebe  deinen  Nächsten  wie  dich 
selbst".  Das  Strafgesetz  des  Staates  gründet  sich  auf  Anerkennung 
dieser  Gebote,  wenn  es  die  Übertretung  derselben  als  unsittliche 
Handlungsweise  seinem  Richterspruche  unterwirft.  Außerdem  hat 
jedes  Volk  seine  besonderen  sittlichen  Anschauungen  von  Treue,  von 

Vermögen  der  Ideen."  Ideen  sind  bei  ihm  „nothwcndige  Vernunftbegriffe,  denen 
kein  congruircnder  Gegenstand  in  den  Sinnen  gegeben  werden  kann",  z.  ß.  die  Be- 
griffe Gott,  Freiheit,  Unsterblichkeit.  Hier  müssen  die  neueren  Forschungen  der 
Psychologie  zu  Hilfe  genommen  werden;  denn  Begriffe  haben  keine  zu  Thaten 
treibende  Kraft.  Diese  Kraft  ruht  in  der  strebenden  und  schaffenden  idealen 
Liebe.  Die  aus  ihr  stammenden,  zu  Thaten  treibenden  geistigen  Mächte  sind  die 
Ideen.  Ich  bitte  daher  den  Leser,  diesen  Begriff  Idee  festzuhalten  (S.  meine  Ab- 
handlung „Über  Ideen"  im  „Pädagogium*  Jahrg.  XII,  S.273;  auch  in  der  2.  Aufl. 
meiner  „Lehrkunst")  und  den  Kantschen  Begriff  „Vernunft"  noch  mit  dem  Wesen 
jener  schaffenden  idealen  Liebe  zu  verbinden. 

25* 


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Ehre,  von  Recht  und  Unrecht,  gut  und  böse.  Dieselben  zeigen  sich 
in  den  volksthümlichen  Sitten  und  in  der  damit  zusammenhängenden 
volks  thümlichen  Erziehung,  Denk-  und  Handlungsweise. 

Es  scheinen  demnach  alle  Sittengesetze  mit  Ausnahme  dieses 
kleinen  Canons  „in  der  freien  Luft  der  Meinung  und  des  Gewissens 
zu  schweben".  Demgemäß  dürfte  ein  Jünger  zu  der  Frage  berechtigt 
sein:  „Wo  finde  ich  außer  in  diesen  wenigen  Sittengesetzen 
einen  Halt,  wo  die  führenden  und  leitenden  Vorschriften, 
die  mich  vor  Irrthum  und  Irrwegen  bewahren  mögen? 

Die  Kirche  ist  bei  einer  solchen  Frage  flugs  mit  der  Antwort 
bereit:  Einen  Halt  findest  du  nur  bei  uns,  nur  in  unserer,  der  allein 
seligmachenden  Kirche  und  Religion*).  Bei  uns  ist  die  ewige  Wahr- 
heit; sie  ist  uns  enthüllt  worden  durch  den  Beistand  des  heiligen 
Geistes.  Alles,  was  aus  der  menschlichen  Vernunft  stammt,  ist  dem 
Irrthum  unterworfen;  unsere  Gebote  und  Offenbarungen  stammen  von 
Gott  selbst  und  sind  darum  unfehlbar  und  unantastbar. 

Da  die  philosophische  Sittenlehre  die  Religion  mit  ihren  Lehren, 
Tröstungen  und  Verheißungen  auf  ihr  besonderes  Gebiet  verweist; 
da  ihre  Lehre  lediglich  aus  der  menschlichen  Vernunft  stammt,  und 
sich  nur  mit  dem  Leben  der  Menschen  auf  dieser  unserer  Erde  be- 
schäftigt: so  kann  sie  dem  ringenden  und  strebenden  Jünger  für  die 
im  Werden  begriffenen  Sittengesetze,  für  die  Theilnahme  an  dem  sitt- 
lichen Ringen  seiner  Zeit,  ja  selbst  für  die  rechte  Befolgung  und 
Ausführung  jenes  oben  genannten  Canons  einen  absolut  sicheren  und 
unfehlbaren  Halt  nicht  bieten  und  rauss  ihn  auf  die  eigene  Ver- 
nunft, auf  sich  selbst  verweisen.  Sie  kann  ihm  nur  die  Haupt- 
regel geben:  Bekämpfe  standhaft  und  tapfer  alle  Regungen 
der  Selbstsucht  und  folge  nach  Christi  hehrem  Vorbilde  stets  den 
Eingebungen  der  idealen  Liebe.  Noblesse  oblige!  „Adel  ist  auch 
in  der  sittlichen  Welt."  Freiheit  kann  nie  geschenkt,  sie  mnss 
stets  errungen,  mit  Aufopferung  selbstsüchtiger  Gelüste  und  Aufbie- 
tung unserer  besten  Kräfte  erkämpft  werden.  Bei  der  philosophischen 
Sittenlehre  ist  alles  Ubernatürliche  und  darum  auch  jede  Hilfe  und 
Unterstützung,  die  außerhalb  der  eigenen  Kraft  liegt,  völlig  ausgeschlos- 
sen. Je  sorgfaltiger  der  Jüngling  seine  Geisteskräfte  bildet,  jemehr 
er  sich  daran  gewöhnt,  seine  Triebe  und  Neigungen  um  höherer  Ge- 
bote willen  zu  beherrschen,  desto  mehr  wird  er  an  Klarheit  gewinnen, 

♦)  So  Bprcchen  nicht  allein  die  katholischen,  sondern  auch  die  orthodoxen 
protestantischen  Geistlichen,  wenngleich  sie  den  Ausdruck  „allein  seligmachend*1 
nicht  gebrauchen. 


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die  Forderungen  echter  Sittlichkeit  zu  erkennen-,  desto  mehr  wird  er 
sein  Gewissen  verfeinern  und  den  Willen  üben,  diese  Gebote  zu  er- 
füllen. Vor  Irrthum  bleibt  auf  Erden  kein  Mensch  bewahrt;  wir 
können  zur  Wahrheit  nur  durch  Irrthum  gelangen.  Jeder  mag  glauben, 
im  Schöße  der  Kirche  absolute  Wahrheit  zu  finden  und  dort  für  sein 
Leben  den  rechten  Halt  suchen.  Dies  Glück  soll  ihm  unangetastet 
bleiben.  Aber  er  soll  nicht  hoffen,  dadurch  sittlicher  zu 
werden,  für  die  Erkenntnis  der  Lehren  echter  Sittlichkeit  zu  besserer 
Klarheit  zu  gelangen,  oder  das  Gewissen  und  den  Willen  zum  Guten 
dadurch  zu  stärken.  Er  darf  hoffen,  dass  durch  echt  sittliches  Leben 
und  Ringen  sein  Gemüth  immer  mehr  für  echte  Frömmigkeit  geöffnet 
werde;  aber  nicht  umgekehrt*). 

Die  philosophische  Sittenlehre  ist  strenge  und  in  ihrem  heiligen 
Emst,  wie  bereits  erörtert  wurde,  ganz  unerbittlich.  Sie  stellt  den 
Menschen  lediglich  auf  sich  selbst.  Sie  kann  nur  einen  Halt 
gewähren:  derselbe  liegt  in  dem  echten  auf  ideale  Liebe 
gegründeten  sittlichen  Glauben. 

Mit  Recht  fordert  die  Religion  von  jedem  Menschen  frommen 
Glauben;  nicht  jenes  bloße  „Für wahrhalten",  jenes  verständige  „nicht 
zweifeln  an  dem,  das  man  nicht  siehet",  sondern  innige  aus  der 
idealen  Liebe  stammende  Hingabe  des  ganzen  Gemüthes  an  das  Heilige. 
Glauben  ist  Liebe,  Liebe  ist  Glauben.  Einen  ähnlichen  Glauben 
fordert  auch  die  ernste  Sittenlehre  und  weist,  sowie  ihrerseits 
die  Religion,  dem  Jünger  überzeugend  nach,  dass  er  in  diesem 
Glauben  den  rechten  Halt  für  das  irdische  Leben  finden 
werde. 

'  Der  rechte  sittliche  Glaube  betrachtet  die  Forderungen  der  streng- 
sten Sittlichkeit  als  heilige;  denn  er  sieht  in  der  Erfüllung  der- 
selben das  Heil  der  Welt.  Der  wahrhaft  sittlich  lebende  und 
strebende  Mensch  glaubt,  dass  durch  sie  auf  Erden  das  Reich 
des  Friedens  und  der  Liebe  herbeigeführt  und  fest  begrün- 
det werden  könne.  Er  sieht  das  Glück  der  Menschen  nicht  im 
Genuss,  sondern  in  sittlicher  Arbeit^  im  sicheren  Besitze  seiner  Rechte 
und  Freiheiten  und  in  der  gesetzlich  berechtigten  allseitig  freien 

*)  Es  zeigt  sich  auch  hierin,  dass  die  That  des  großen  Kant,  dem  wir  diese 
m  hochwichtige  Erkenntnis  zu  verdanken  haben,  der  des  Kopernikus  zu  vergleichen 
ist.  Für  alle  Erzieher  erwächst  daraus  die  ernste  Pflicht,  die  Sittenlehre  nicht 
wie  bisher  als  ein  nebensächliches  Anhängsel  des  Religionsunterrich- 
tes zu  behandeln,  sondern  derselben  im  Unterricht  eine  selbstständige 
nnd  hervorragende  Stelle  einzuräumen. 


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Entfaltung  seiner  Persönlichkeit.  Er  glaubt,  die  ernste  Sittlichkeit 
und  ihre  Lehre  könne  die  Menschheit  im  Laufe  der  Zeiten  so  erziehen,, 
dass  jeder  den  Nächsten  achten,  ihD  zugleich  wie  sich  selbst  lieben 
und  sein  streng  gesetzliches  Handeln  durch  Schönheit  zu  einem  edeln 
Handeln  verfeinern  werde.  In  der  Erkenntnis,  dass  die  Vorschriften 
der  heiligeu  Sittenlehre  das  freie  Ergebnis  der  frei  und  selbstständig 
geführten  sittlichen  Kämpfe  der  Menschen  sind;  dass  diesen  Kämpfen 
das  auf  idealer  Liebe  beruhende  Streben  nach  dem  heiligeu  Ideal  sitt- 
licher Vollkommenheit  zu  Grunde  liegt:  gelten  ihm  als  heilig  auch 
die  groftcn  sittlichen  Ideen,  um  die  jene  den  idealen  Fortschritt 
erstrebenden  Kämpfe  gefuhrt  werden.  Er  weiß  wol,  dass  in  der  Idee 
noch  nicht  die  absolute  Wahrheit  zu  finden  ist;  aber  er  glaubt,  dass 
aus  dem  unausgesetzten  Kampfe  um  diese  „größten  geistigen  Güter 
des  Lebens"  allmählich  die  ewige  absolute  Wahrheit  hervor- 
gehen und  alle  Parteien  im  seligen  Frieden  vereinigen 
werde.  Demgemäß  glaubt  er  an  die  Gerechtigkeit  seiner  Sache 
und  vermag  um  derselben  willen  in  diesem  Glauben  als  Opfer  sein  ir- 
disches Glück  und  Wolsein,  ja  selbst  sein  Leben  einzusetzen*).  Wer 
in  solch  einem  Ringen  und  Kämpfen  irrt,  kann  nie  schuldig 
werden;  von  Schuld  darf  man  nur  bei  denen  sprechen,  die  mensch- 
liche Fehler  wie  Hass,  Herrschsucht,  Verfolgungssucht  walten  lassen 
und  zur  Unterdrückung  ihrer  Gegner  sich  fremder  Gewalt,  Willkür, 
Beugung  des  Rechts  und  anderer  unlauterer  Mittel  bedienen. 

Man  sieht,  in  diesem  sittlichen  Glauben  kann  man  mit  voller 


*)  In  diesem  Glauben  handeln  selbst  einfache,  wenig  gebildete  Menschen..  Sie 
wirken  nicbt  sich  darüber  Reebenschaft  abzulegen;  aber  dennoch  ist  dieser  Glaube 
in  ihnen  vorhanden,  veredelt  ihre  Gesinnungen  und  stärkt  ihre  Treue  für  die  von 
ihnen  als  recht  und  gut  erkannte  Sache.  Bei  den  gebildeten  Denkern,  die  ihre  Er- 
kenntnis durch  das  Studium  der  Ideenkämpfe  vergangener  Zeiten  verfeinert  uud 
vertieft  haben,  scheint  dieser  sittliche  Glaube  seit  den  großen  socialen  und  politi- 
schen Kämpfen  des  vorigen  Jahrhunderts  in  erfreulicher  Weise  gekräftigt  worden 
zu  sein.  Denn  neben  dem  weit  verbreiteten  und  künstlich  genährten  Streberthum 
.  unserer  Tage  zeigt  sich  e i n  echtes  sittliches  Märtyrerthum,  wie  es  in  früheren 
Jahrhunderten  nur  auf  dem  religiösen  Gebiete  zu  finden  war.  Wir  begegnen  diesen 
Märtyrern  der  echten  Sittlichkeit  auf  dem  Gebiete  der  großen  socialen  und  politischen 
Kämpfe,  in  denen  für  der  Menschheit  höchste  Güter,  für  Recht  und  Freiheit 
gerungen  wird.  Einzelne  dieser  Märtyrer  gehören  bereits  der  Geschichte  an;  so  der 
Württembergische  Rechtsgelehrte  und  Staatsmann  Joh.  Jak.  Moser,  so  die  sieben 
Göttinger  Professoren,  welche  1837  im  sittlichen  Kampfe  um  ihr  und  ihrer 
Mitbürger  gutes  Recht  ihrer  Stellen  entsetzt  und  (zum  Theil)  de«  Landes  verwiesen 
Warden. 


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Seelenruhe  und  gutem  Gewissen  leben  und  in  diesem  Glauben  nach 
redlichem  Eingen  ruhig  sterben. 

Da  dieser  Glaube  in  dem  Leben  eines  jeden  ernsten,  tüchtigen 
Menschen  eine  so  große  Rolle  spielt,  so  fordert  die  philosophische 
Sittenlehre,  dass  man  Toleranz  üben,  d.  h.  den  Glauben  des  ehr- 
lichen Gegners  achten  und  neben  dem  seinigen  als  gleichberechtigt 
anerkennen  soll.  Der  Fortschritt  zum  Besseren  kann  nie  ohne  Kampf 
erzielt  werden.  Ruhe,  Stillstand  ist  Tod;  Leben  bringt  nur  der 
Kampf.  Darum  müssen  in  der  Welt  naturgemäß  zwei  große 
kämpfende  Parteien  existiren,  durch  deren  Ringen  auf  den 
verschiedenen  geistigen  Gebieten  Fortschritt  und  Leben  erzielt  wird. 
Die  Anhänger  der  einen  Partei  sind  von  Natur  so  begabt,  dass  ihre 
Seele  überall  geneigt  ist,  die  Initiative  zu  ergreifen,  dem  Alten 
und  Veralteten  gegenüber  für  Neues,  Besseres  einzutreten,  energisch,  oft 
stürmisch  und  drängend  den  Fortschritt  anzubahnen.  Es  sind  auf  dem 
kirchlichen,  dem  politischen  und  dem  socialen  Gebiete  die  Männer 
des  Fortschritts,  die  „Freisinnigen",  die  „Liberalen."  Die 
Anhänger  der  anderen  Partei  sind  von  Natur  so  begabt,  dass  sie  das 
Heil  der  Welt  mehr  in  der  Erhaltung  des  Bestehenden,  histo- 
risch Entwickelten  sehen  und  daher  jedes  Vorwärtsstreben  als 
ein  Wagnis  betrachten  und  zu  zügeln  versuchen.  Ihrer  Natur  nach 
sind  sie  nie  gesonnen,  zu  irgend  einem  Fortschritt  die  Initiative  zu 
ergreifen.  Sie  werden  auf  den  oben  genannten  Gebieten  als  „Con- 
servative",  auf  dem  kirchlichen  auch  wol  als  „ Orthodoxe",  Offen- 
barungsgläubige bezeichnet.  Da  diese  großen  Parteien  —  nebst  ihren 
verschiedenen  Schattirungen  mehr  nach  links  oder  rechts  oder  nach 
der  Mitte  hin  —  in  ihrem  Streben  beide  gleich  berechtigt  sind, 
so  muss  es  vom  sittlichen  Standpunkte  als  frevelhaft,  als  ein  Ein- 
griff in  jedes  Menschen  heiligste  Rechte  bezeichnet  werden, 
wenn  Gewalthaber  irgend  welcher  Art  fordern,  dass  man  seinen 
sittlichen  (socialen  oder  politischen)  und  seinen  religiösen 
Glauben  aus  Gehorsam  gegen  die  Macht,  welche  Gewalt  über  uns 
hat,  zum  Opfer  bringen  und  die  befohlene  Gesinnung  und 
Überzeugung  annehmen  solle.  Der  Frevel  wird  zum  Verbrechen, 
wenn  dazu  Gewaltmittel  irgend  welcher  Art  angewandt  werden.  Es 
wird  zugleich  klar,  dass  man  von  einem  socialen  und  politischen 
„Glaubensbekenntnis"  sprechen  und  die  Treue  gegen  dasselbe  als 
eine  ernste  sittliche  Pflicht  betrachten  darf.  Leider  ist  die 
Bedeutung  dieser  Pflicht  noch  nicht  tief  in  die  Kreise  der  weniger 
Gebildeten  eingedrungen,  um  das  Leben  im  allgemeinen  bereits  regeln 


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zu  können.  Die  Frauen  kennen  diese  Pflicht  überhaupt  nicht  (?  d.  R.) 
und  unter  den  Männern  gilt  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
vom  Eigennutz  dictirte  Grundsatz:  „Wes  Brot  ich  esse,  des  Lied 
ich  singe."  Einen  von  sclavischer  Furcht  oder  Eigennutz  veranlassten 
Wechsel  des  politischen  Glaubensbekenntnisses  rechnet  man  als  poli- 
tische „Fahnenflucht",  als  ein  feiges  unsittliches  Thun  nur  den  Gebil- 
deten an,  die  sich  über  das  sociale  und  politische  Leben  und  Streben 
im  Staate  ein  selbstständiges  Urtheil  bilden  können.  Die  mehr  als 
80  Procent  der  ungebildeten  Staatsbürger  werden  mehr  oder  weniger 
mit  grobem  Witzeln  als  „Stimmvieh",  als  „Nummern"  betrachtet,  als 
Menschen,  die  wegen  ihrer  Abstimmung  oder  Parteihaltung  sittlich 
gar  nicht  verantwortlich  gemacht  werden  dürfen.  Honen  wir,  dass 
die  Bestrebungen  der  Besten  in  allen  Nationen,  die  Bildung  durch 
guten  Schulunterricht  und  fortgesetzte  Belehrungen  aller  Art  auch 
dem  einfachen  Arbeiter  zugänglich  zu  machen,  allmählich  die  nöthige 
Änderung  herbeifuhren  und  die  sittliche  Bedeutung  der  Treue  gegen 
unsere  politische  Überzeugung  auch  in  diese  Volkskreise  bringen  werde! 

Kant  hat  durch  seine  Forschungen  und  seine  Lehren  auf  uns 
Deutsche  eine  ebenso  großartige  wie  segensreiche  Wirkung  ausgeübt. 
Seit  der  Zeit  beherrscht  sein  strenger,  hehrer  Tugendbegriff  die  edel- 
sten und  besten  Dichter  und  Denker  unseres  Volkes.  Unser  großer 
Schiller  lebte  und  wirkte  im  Sinne  dieser  erhabenen  Sittenlehre;  er 
opferte  dem  Studium  der  Philosophie  des  großen  Königsbeiger  Denkers 
die  besten  Jahre  seines  Lebens.  Seine  und  Kants  eindringliche  Worte 
begeisterten  die  gebildete  deutsche  Jugend,  als  im  Jahre  1813  der 
große  Befreiungskampf  begann,  und  bestimmten  die  edelsten  Männer 
und  Frauen  zu  heldenmüthigen  Opfern.  Die  begeisterten  Anhänger 
der  philosophischen  Sittenlehre  bilden  bereits  eine  große,  wenngleich 
stille  und  anspruchslose  Gemeinde.  Die  schärfsten  Denker  unter 
ihnen  behaupten,  dass  die  Sittlichkeit,  in  dieser  Strenge  und  Erhaben- 
heit aufgefasst,  für  das  Leben  der  Menschheit  eine  höhere  Bedeutung 
habe  als  die  Religion;  alle  stimmen  darin  überein,  dass  mindestens 
diesen  beiden  großen  Mächten  die  gleiche  Bedeutung  zukomme. 

Schiller  konnte  sich  nicht  mit  dem  Gedanken  befreunden,  dass 
die  größte  Tugend  nur  durch  schwere  Kämpfe  und  Siege  über  die 
sinnlichen  Triebe  und  Neigungen  errungen  werden  könne.  Er  nennt 
Kant  darum  in  „Anrauth  und  Würde"  den  „Drako  seiner  Zeit" 
und  stellt  den  herben,  tugendstrengen  Gemüthern  die  „schönen  Seelen u 
gegenüber,  bei  denen  „das  sittliche  Gefühl  sich  aller  Empfindungen 
bis  zu  dem  Grad  versichert  hat,  dass  es  dem  Affect  die  Leitung  des 


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Willens  ohne  Scheu  überlassen  darf  und  nie  Gefahr  läuft,  mit  den 
Entscheidungen  desselben  in  Widerspruch  zu  stehen."  Der  große 
Dichter  hat  dabei  wol  mehr  die  Frauen  als  die  Männer  im  Auge  gehabt. 
Das  weibliche  Geschlecht  kann  in  der  That  sich  einzelner  solcher 
„schönen  Seelen u  erfreuen.  Aber  es  ist  wol  zu  beachten,  dass  selbst 
die  schönsten  und  edelsten  Seelen  nicht  als  solche  schon  geboren, 
sondern  zu  dieser  edeln,  feinen  Sittlichkeit  erzogen  werden- 
Eingeboren  ist  dabei  nur  ein  großes  Maß  von  idealer  Liebe  und  eine 
feine  Reizempfanglichkeit  und  Kräftigkeit  der  Vermögen,  die  bei  der 
schönen  sittlichen  Ausbildung  die  Hauptrolle  spielen.  Diese  Ausbil- 
dung selbst  kann  nur  durch  eine  sorgfältige  und  von  besonders  glück- 
lichen Umständen  begünstigte  Erziehung  bewirkt  werden.  Es  gibt  in 
der  That  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  des  Schönen,  sondern  auch  auf 
dem  sittlichen  und  religiösen  ganz  bevorzugte,  man  möchte  sagen 
künstlerisch  begabte  Naturen.  Aber  der  Bau  der  sittlichen  Welt  wird 
nicht  durch  sie,  sondern  durch  die  hart  ringenden,  wackeren,  treuen, 
redlichen  Kämpfer  zusammengehalten  und  fest  begründet;  jene  „schönen 
Seelen"  bilden  nur  dessen  lieblichen  Schmuck.  Daran  sollen  wir 
Lehrer  denken  und  bei  unserem  Erziehungswerke  jedem  Kinde  zum 
klaren  Bewusstsein  bringen,  dass  wir  abgesehen  von  besonderen  Be- 
gabungen als  Menschen  wahren  Wert  nur  in  dem  Maße  be- 
sitzen, wie  esunsgelingt,unseresinnlichenTriebeundLeiden- 
schaften  zu  beherrschen  und  im  weitesten  Sinne  unsere  Pflicht 
zu  erfüllen. 


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Arnos  Comenius. 


.Am  28.  März  werden  es  300  Jahre,  seit  Arnos  Comenius  ge- 
boren wurde. 

Im  Vorblick  auf  diesen  Gedenktag  hatte  der  Herausgeber  dieser 
Blätter  letzten  Herbst  die  mährische  Heimat  des  unvergesslichen 
Mannes  besucht,  um  in  den  Gefilden  von  Nivnitz  und  Ung.-Brod  der 
Stätte  nachzuforschen,  wo  seine  Wiege  gestanden,  die  Natur  zu  be- 
trachten, welche  seinem  Geiste  die  frühesten  Eindrucke  geboten,  und 
sich  die  Menschen  weit  zu  vergegenwärtigen,  welche  seinem  Gemüthe 
das  erste  Gepräge  verliehen.  Hierdurch  neu  angeregt  und  überdies 
mehrfach  aufgefordert,  wollte  nun  der  dankbare  Nachfahre  das  ruhm- 
volle Wirken,  das  unvergängliche  Verdienst,  das  begeisternde  Vorbild 
und  den  edlen  Charakter  des  großen  Vorgängers  nochmals  in  Wort 
und  Schrift  vorführen,  wie  er  es  ehedem  so  oft  gethan  —  in  Lehr- 
vorträgen, Festreden  und  besonders  auch  in  seiner  „Schule  der  Pä- 
dagogik". 

Leider  aber  muss  er  diesmal,  noch  von  den  Nachwehen  schwerer 
Krankheit  belastet,  den  Versammlungen  fernbleiben  und  selbst  die 
Feder  ruhen  lassen;  doch  wird  es  hierfür  nicht  an  Ersatz  fehlen. 
Denn  gewiss  werden,  nachdem  Comenius  in  weiteren  Kreisen  bekannt 
geworden  und  zu  seinen  Ehren  selbst  ein  eigener  Verein  entstanden 
ist,  aller  Orten  Männer  auftreten,  die  unserem  trüben  Zeitalter  die 
Lichtgestalt  des  17.  Jahrhunderte  kraftvoll  vor  Augen  führen.  Wolan, 
so  sei  es! 

Wir  unsererseits  bieten  im  Folgenden  einige  Partieen  aus  einem 
demnächst  erscheinenden  Werke  von  Prof.  Dr.  Kvacsala*),  welches 


*)  Jobann  Arno«  Comeniu«.   Sein  Leben  und  seine  Schriften  von  Dr.  Jobann 
Kvacsala.   8  Lieferungen.    Preis  complet  M.  5,40   Verlag  von  Julius  Klinkbardt. 

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—    363  — 

wol  die  umfassendste  und  gründlichste  aller  bisherigen  Arbeiten  über 
Comenius  werden  dürfte.   

Anschluss  an  seine  Vorläufer  und  Neugestaltung 

der  Didaktik. 

In  Lissa  widmete  sich  Comenius  den  anstrengendsten  didaktischen 
Arbeiten.  Die  Anregung  zu  denselben  hatte  er  schon  aus  Böhmen 
mitgebracht.  Doch  wollen  wir  hier  nicht  auf  jene  frühere  Epoche  im 
einzelnen  zurückgreifen,  sondern  nur  die  wichtigsten  Vorgänger  Co- 
menius' kurz  betrachten. 

Aisted t,  der  Lehrer  des  Comenius,  ist  selbst  ein  Schüler  des 
lionnäus.  Alstedt  hat  innerhalb  seines  großen  Systems  alles  Wissens- 
werte, auch  die  Didactica  und  Schulwissenschaft,  bearbeitet  und  die 
in  diesen  beiden  Wissenschaften  entwickelten  Priucipien  waren  wol 
auch  für  seine  praktische  Wirksamkeit  maßgebend.  Alstedts  päda- 
gogische Thätigkeit  und  Schriften  sind  nicht  nur  als  diejenigen  des 
Lehrers  des  Comenius  für  die  Geschichte  der  Pädagogik  wertvoll; 
sie  haben  mehrfach  einen  selbstständigen  Wert.  Eine  große  Lust 
zur  Zergliederung,  die  durch  seine  ganze  Encyklopädie  hindurchzieht, 
charakterisirt  seine  Pädagogik.  Er  behandelt  das  Material  in  zwei 
Disciplinen,  die  in  der  Reihenfolge  weit  von  einander  abstehen;  es 
sind  dies  die  Didactica  (Encyklopsedi*  T.  I.  84 — 124)  und  die  Schola- 
stica  (Encyklopaediae  T.  III.  273 — 318)  deren  Unterschied  wol  im  Namen 
liegt,  aber  in  der  Ausführung  nicht  genau  beachtet  wird,  weshalb  wir 
auch  der  Unterscheidung  keine  weitere  Bedeutung  beimessen.  Wir 
beschränken  uns  bei  der  Wiedergabe  des  geschichtlich  Interessanten 
auf  die  wichtigeren  Mittel  der  Didaktik.  Unter  denselben  wird  die 
Autopsie  betont  (E.  I.,  p.  97).  Der  Schüler  soll  nicht  nur  zuhören, 
sondern  auch  selbst  thätig  sein,  die  durch  Anschauung  erworbene 
Kenntnis  ist  viel  sicherer  als  die  durch  Abstraction.  Ein  weiteres 
wichtiges  Mittel  ist  die  Ordnung,  betreffend  die  Eintheilung  der  ein- 
zelnen Stunden.  Eine  solche  Eintheilung  finden  wir  sowol  in  der  Di- 
daktik, als  in  der  Scholastik. 

Aisted  unterscheidet  drei  Schulen:  die  Volksschule,  Schola  verna- 
etüa  mit  der  Muttersprache  als  Unterrichtssprache,  die  mittlere  oder 
classische  Schule,  deren  Hauptaufgabe  die  Einübung  in  das  Lateinische 
und  Griechische  bildet,  und  die  Hochschule.  Wenn  dies  unseren  Schul- 
zustanden im  allgemeinen  völlig  zu  entsprechen  scheint,  so  ist  doch 
bei  näherer  Betrachtung  manches  wesentlich  verschieden.  Die  Schola 
vernacula  ist  nur  für  die,  die  keine  höhere  Bildung  erreichen  wollen 
die  Mittelschule  ist  eine  selbstständige  Anstalt,  welche  die  Schüler 


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vom  Anfang  ihrer  Bildung  aufnimmt,  ohne  dieselben  nachher  sogleich 
ihren  Berufsstudien  zu  übergeben;  letztere  werden  mit  der  Mittelschule 
durch  einen  dreijährigen  philosophischen  Curs  verbunden. 

Im  einzelnen  ist  bei  der  Volksschule  bemerkenswert,  dass  auch 
Mädchenunterricht,  ferner  die  Absonderung  der  Geschlechter  streng 
gefordert  wird.  Für  den  Lehrer  folgen  einige  methodische  Winke 
und  als  Anfangsjahr  wird  das  angehende  fünfte  Jahr  festgestellt.  Die 
Hauptschule  ist  die  Mittel-  oder  classische  Schule;  selbe  wird  in  sechs 
Classen  eingetheilt,  die  aber  je  zwei  Jahre  lang  dauern,  aber  nicht 
ohne  Ausnahme,  denn  die  Begabteren  können  auch  eher  fertig  wer- 
den. Die  Aufgabe  dieser  Schule  ist  die  Philologie  und  so  ziehen  sich 
durch  die  sechs  Classen  die  Grammatik,  Syntax,  Oratoria,  Rhetorik, 
Logik  und  Poetik  hindurch.  Jede  Classe  hat  noch  besondere  Wei- 
sungen für  ihren  Unterricht;  uns  interessirt  hauptsächlich  die  Stellung, 
die  Alstedt  gegenüber  den  verschiedenen  Richtungen  der  sprachlichen 
Methodik  einnimmt  und  die  sich  als  Befolgung  der  synthetischen  Me- 
thode bezeichnen  lässt.  Er  geht  nicht,  wie  Ratich  will,  von  einem 
gegebenen  Texte  aus,  sondern  er  sendet  die  Vocabulatur  voraus  und 
geht  erst  nach  Erlernung  der  Paradigmen  zu  der  grammatikalischen 
Übung  über.  Mit  Ratich  aber  stimmt  er  in  der  Wahl  des  Autors 
Terenz  überein.  Selbstverständlich  bildet  die  lateinische  Sprache  nicht 
den  einzigen  Gegenstand.  Dass  die  Religionslehre  sorgfältig  gepflegt 
werden  soll,  ist  kaum  nöthig  besonders  zu  erwähnen.  Schon  im  zwei- 
ten Jahre  lernt  der  Schüler  das  Griechische,  die  Elemente  der  Musik 
und  Arithmetik;  wir  werden  also  beinahe  an  das  mittelalterliche 
trivium  und  quadrivium  erinnert;  die  drei  höheren  Classen  verbinden 
den  Sprachunterricht  mit  mannigfaltigen  Übungen  aus  dem  Gebiete 
der  Rhetorik,  Poetik  und  Logik,  und  zwar  sowol  in  der  lateinischen, 
als  in  der  griechischen  Sprache  und  bilden  dann  den  Übergang  zu  der 
Philosophie.  Wenn  der  Schüler  mit  dem  15.  Jahre  aus  der  Schola 
media  heraustritt,  was  allerdings  nur  möglich  ist,  wenn  eine  von  den 
sechs  Classen  in  einem  Jahre  absolvirt  wird,  steht  ihm  ein  dreijähriger 
philosophischer  Curs  bevor,  dessen  erstes  Jahr  er  hauptsächlich  mit 
der  Mathematik,  das  zweite  mit  der  physischen  und  metaphysischen, 
das  dritte  mit  der  praktischen  Philosophie  zu  thun  hat.  Die  Aneig- 
nung der  Philosophie  geht  Hand  in  Hand  und  wird  vollendet  mit 
stylistischen  und  anderen  Übungen,  die  die  Wiederholung  der  philo- 
sophischen und  humanistischen  Kenntnisse  voraussetzen,  und  ganz 
gewappnet  und  ausgerüstet  geht  der  junge  Gelehrte  mit  Ende  des 
18.  Jahres  zum  eigentlichen  Berufsstudium  über,  das  wol  auf  vier 


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Biennien  berechnet  wird,  gewiss  aber  nicht  unbedingt  so  lange  dauern 
nmss.  Es  wird  darin  zuerst  die  theoretische,  nachher  die  praktische 
Ausbildung  in  dem  Fache  des  Schülers  verlangt  und  zum  Schlüsse 
die  peregrinatio,  Studienreise,  welchem  Gegenstande  er  auch  eine  be- 
sondere Schrift,  die  Epistola  ad  Josuam  Tann  de  peregrinatione  (er- 
schienen nach  seinem  Tode,  1641),  gewidmet  hat. 

Dies  die  Hauptzüge  des  in  der  großen  Encyklopädie  enthaltenen 
pädagogischen  Systems.  Früher  entstanden,  aber  weniger  ausführlich 
und  systematisch  ist  die  Didactica  sacra  in  dem  biblisch -encyklopädi- 
schen  Werke,  dem  Triumphus  Bibliorum  Sacrorum  (p.  15—21),  der 
wir  nur  einige  Aphorismen  entnehmen  wollen.  Großes  Gewicht  wird 
darauf  gelegt,  dass  der  Lehrer  immer  als  Freund  dem  Schüler  gegen- 
über auftrete,  dass  man  in  einer  Zeit  nur  eins  lehre,  dass  das  Nöthigere 
und  Leichtere  früher  gelernt  werde.  Man  wende  beim  Unterrichte 
häufige  Unterbrechungen  an;  alles  soll  von  selbst  ohne  Gewaltsamkeit 
vorgehen,  man  soll  zugleich  mit  Ohr  und  Auge  lernen,  man  soll  nicht 
weiter  gehen,  ehe  man  etwas  gehörig  erfasst  hat,  und  bei  dem  An- 
eignen einer  Disciplin  stelle  man  Eintheilungen  in  derselben  an.  Für 
die  Realien,  die  in  der  Encyklopädie  bearbeitet  werden,  finden  wir  in 
seinem  Lehrplane  keinen  Raum.  Die  ausschließliche,  übermäßige  Be- 
schäftigung mit  Sprache  und  Grammatik  bewirkt  eine  allzu  formale 
Gewandtheit,  welche  die  Gefahr  der  Hohlheit  der  Kenntnisse  mit  sich 
bringt.  Man  denke  nur:  zwölf  Jahre  mit  dem  Studium  der  classischen 
Sprachen  fast  ausschließlich  zugebracht,  und  man  wird  sich  des  Ge- 
dankens kaum  erwehren  können,  dass  sich  der  Geist  dabei  abstumpfen 
muss.  Ebenso  ist  zu  rügen,  dass  die  Muttersprache  ganz  verdrängt 
und  nur  für  diejenigen,  die  auf  keine  hohe  Bildung  Anspruch  erheben, 
als  Bildungsmittel  zugelassen  ist. 

Wie  bei  Bonnäus,  baut  sich  auch  bei  Alstedt  die  Theorie  der 
Erziehung  (nebst  selbstständig  erforschten  Ergebnissen)  wesentlich 
auf  den  Anschauungen  der  Alten  auf.  Von  dem  neuen  Geist,  der 
durch  Baw,  Ratich  und  ihre  Nachfolger  sich  in  der  Philosophie  und 
Pädagogik  zu  regen  begann,  besitzt  er  fast  keine  Kenntnis.  Sein 
philosophischer  Gewährsmann,  Ramus,  enthebt  ihn  wol  principiell  der 
Autorität  des  Aristoteles,  thätsächlich  aber  nicht.  Weht  aber  auch 
aus  seinen  Schriften  keineswegs  die  Neuzeit:  so  gab  er  doch  zu  dem 
systematisierenden  Zug  das  Encyklopädische  dazu,  nicht  nur  als  eine 
principielle  Forderung,  sondern  auch  als  tatsächlichen  Behelf  für 
seine  Schüler  in  jenen  beiden  großen  Werken,  in  der  philosophischen 
und  in  der  biblischen  Encyklopädie. 


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So  soll  es  nichts  Wissenswürdiges  geben,  das  in  der  Encyklopadie 
nicht  enthalten  wäre.  Allerdings  lässt  sich  da  manches  auch  von 
seinem  Standpunkte  aus  tadeln,  aber  man  darf  sein  Verdienst  doch 
nicht  gering  anschlagen.  Der  Gedanke,  alles  Wissenswerte  zusammen- 
zufassen, war  wol  nicht  zuerst  in  Alstedt  aufgetreten,  allein  die  Auf- 
führung  hat  niemand  vor  ihm  mit  der  Genauigkeit,  mit  dem  Umfang 
des  Stoffes  und  mit  dem  unermüdlichen  Eifer  betrieben. 

Es  erübrigt  nur  noch  über  die  Didaktik  des  Bodinus  einige  Worte 
zu  sagen. 

Bodinus  Arbeit  enthält  eigentlich  Rathschläge  für  den  ganzen  Unter- 
richt, aber  einen  festen  logischen  Plan  finden  wir  hier  nicht,  um  so 
weniger  ein  System.  Unter  den  darin  enthaltenen  Principien  finden 
wir  aber  viele  hochwichtige.  Sogleich  dasjenige,  das  an  der  Stirne 
des  Buches  steht:  Omnia  faciliora  facit  Ratio,  Ordo  et  Modus.  Die 
Einleitung  stellt  als  eine  echte  Forderung  des  Unterrichts  die  Natur- 
mäßigkeit hin,  die  dem  gegenwärtigen  Unterrichte  völlig  abgehe,  nn<l 
die  der  Verfasser  vorerst  bei  der  Fibel  darin  findet,  dass  man  in  einer 
Tabelle  die  Silben  zusammenstellt,  damit  das  Kind  mit  dem  Syllabieren 
nicht  zuviel  Zeit  verliere  (p.2).  Beim  Schreibenlehren  sollte  man  bei 
einem  jeden  Buchstaben  drei  Fundamentalstriche  unterscheiden,  es 
gebe  ferner  sechs  Umwandlungen  bei  der  Schrift,  bei  deren  Berück- 
sichtigung man  in  drei  Tagen  das  Schreiben  erlerne  (p.  4).  Bei  dem 
grammatischen  Unterricht  möge  man  darauf  achtgeben,  dass  der 
Flexion  der  deutsche  Sinn  derselben  beigegeben  werde.  Viele  tech- 
nische Winke  folgen  nun  über  die  Aneignung  und  Unterscheidung  der 
Redetheile,  sowie  auch  über  die  Bildung  der  Supina  und  Präteriten, 
schließlich  auch  über  einige  syntaktische  Erscheinungen  der  lateini- 
schen Sprache  (p.  8).  Aus  einem  verdeutschten  Exempel  könne  der 
Knabe  besser  etwas  lernen,  als  aus  der  Regel  (p.  22).  Die  Grammatik 
sei  der  Schlüssel  des  Unterrichts  (p.  47),  aber  man  solle  diesen  Unter- 
richt mit  der  Leetüre  verbinden,  was  auch  ein  Ausspruch  des  Rotter- 
damus fordere  (p.  49). 

Die  Bücher,  die  gegenwärtig  zum  Erlernen  des  Wortschatzes 
dienen,  seien  dazu  durch  ihren  großen  Umfang  ungeeignet;  es  wäre 
ein  Compendium  noth wendig,  das  die  Phrasen  und  Res  zusammen  böte; 
Verfasser  hat  so  eins  verlangt,  aber  niemand  hat  es  geliefert.  Cicero 
vertrete  gar  nicht  den  ganzen  lateinischen  Wortschatz,  den  man  er- 
weitern möge  (p.  59).  Einheit  der  Sprache  und  der  Res  mögen  auch 
darin  zur  Geltung  gelangen  (p.  65).  Auf  die  Muttersprache  werde  auch 
Wert  gelegt  (p.  71—72).   Bilder  und  Ordnung  verhelfen  dem  Unter- 


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rieht  in  trefflicher  Weise  zum  Erfolg  (p.  85).  Einige  persönliche  Be- 
merkungen lassen  es  hervorleuchten,  dass  der  Verfasser  vielfach  ange- 
feindet wurde;  man  nannte  ihn  einen  Pseudo-Grammaticus  (p.  35),  man 
warf  ihm  auch  vor,  dass  er  ohne  Grammatik  unterrichte  (p.  80),  dass 
er  seine  Neuerungen  aus  Brotneid  und  Gewinnsucht  unternehme  (p.  89 
bis  90),  welche  Anfeindungen  so  weit  gingen,  dass  er  sogar  auf  der 
Straße  angegriffen  wurde,  worüber  aber  genauere  Berichte  nicht  ge- 
geben werden  (p.  90 — 95). 

Am  Schlüsse  fordert  Bodinus  noch,  es  möge  dem  Schüler  auch 
der  Zweck  des  Lehrens  gezeigt  werden,  der  nichts  anderes  sei,  als 
das  ewige  Heil.  Von  dieser  Methode  können  Gebrauch  machen,  die 
in  ihrer  Jugend  etwas  versäumt  haben,  die  20  bis  30  Jahre  alt  sind 
und  nichts  wissen;  die  Kleinen  und  schließlich  die  Frauenspersonen, 
für  die  der  Verfasser  auch  alle  Gegenstände  der  Bildung  (Grammatica, 
Logica)  (p.  98 — 99)  wünscht. 

Der  Inhalt  zeigt,  dass  die  Schrift  sich  der  Hauptsache  nach  auf 
die  Sprachmethotik  beschränkt,  dass  der  Verfasser  ein  Anhänger  der 
neuen  Richtung  war,  im  ganzen  gesunde  Ansichten  verkündete  (einige 
minder  verständliche  beziehen  sich  unter  anderem  auf  die  Erlernung 
der  Syntax),  von  denen  wir  einige  auch  im  Systeme  des  Comenius 
auffinden  werden. 


Diese  Bestrebungen  waren  Comenius  schon  vor  seiner  Auswande- 
rung bekannt  geworden.  In  Lissa  kamen  ihm  nun  stets  neue  Didak- 
tiker und  Lehrkräfte  zur  Sicht;  auf  einige  müssen  wir  noch  die  Auf- 
merksamkeit des  Lesers  lenken.  —  Eilhard  Lubin  (1565  geboren)» 
hat  sich  an  den  deutschen  Schulen  besonders  zu  einem  ausgezeich- 
neten Kenner  des  Griechischen  herausgebildet;  Bayle  erwähnt  noch, 
dass  er  lateinische  Verse  schrieb,  dabei  ein  Redner,  Mathematiker  und 
Theologe  war;  im  Jahre  1605  wurde  er  zum  Professor  der  Theologie 
in  Rostock  ernannt.  Als  solcher  gab  er  eine  griechisch  -  lateinische 
Parallelausgabe  des  neuen  Testaments  heraus  „cum  prseliminari  Epi- 
stola,  in  qua  Consilium  de  latina  lingua  compendiose  a  pueris  ad- 
discenda  exponitur."  Seine  Invectiven  gegen  den  grammatikalischen 
Unterricht  hat  Comenius  ausführlich  wiedergegeben;  statt  desselben 
schlägt  Lubin  zweierlei  vor:  entweder  ein  coenobium  oder  aber  ein 
illustrirtes  Sprachbuch,  wo  die  Dinge  in  ihrer  Ordnung  dem  Schüler 
vor  die  Augen  gefuhrt  werden.  Hier  ist  zum  erstenmal  die  Forde- 
rung einer  Verbindung  der  beiden  Unterrichtszweige  und  auch  die 
nähere  Bestimmung  derselben  ausgesprochen. 


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E.  Vogel,  Conrector  des  Paedagogiums  zu  Göttingen,  verfasste 
wirklich  ein  Buch,  in  dem  er  fürs  ganze  Jahr  und  zwar  für  jeden 
Tag  desselben  den  Lehrstoff  in  der  lateinischen  Sprache  vorgezeichnet 
hat.  In  der  dasselbe  einleitenden  Didaktik  schreitet  er,  nachdem  er 
die  Schwierigkeiten  der  üblichen  (vulgaris)  Grammatik  gekennzeichnet 
hat,  zur  Begründung  einer  besseren  Methode,  deren  Gang  seine  De- 
finition beleuchtet.  Die  Sätze,  deren  einige  für  jeden  Tag  bestimmt 
werden,  sollen  inhaltlich,  syntaktisch,  etymologisch,  phraseologisch  er- 
klärt werden,  daran  sollen  sich  lateinische  Aufsätze  und  lateinische 
Gespräche  anschließen,  und  nach  einem  Jahre  werde  die  lateinische 
Sprache  zu  einem  Eigenthum  des  Schülers  werden. 

Die  Ansicht  über  die  Zweckmäßigkeit  der  ccenobia  hat  Cäcilius 
Frey  ausgebildet.  Er  hofft  auf  diese  Weise  ebenfalls  im  Laufe  eines 
Jahres  das  Ziel  besser,  als  wie  immer  sonst,  erreichen  zu  können. 
Derselbe  fordert-  auch  ausdrücklich  „una  cum  verborum  intellectu 
grammatico  rerum  distributionem  philosophicam,  und  neben  Mathematik 
auch  neuere  Geschichte  uud  Gymnastik. 

Und  damit  ist  das  Bild  nicht  vollendet.  Nicht  genug  an  dem, 
dass  einzelne  neue  Grundgedanken  ausgesprochen  wurden,  —  es  be- 
gann überhaupt  ein  so  reges  Leben  auf  dem  Gebiete  der  Didaktik, 
insbesondere  der  Methodik  des  Sprachunterrichtes,  dass  wenige  Zeit- 
alter ähnliches  aufweisen.  Jeder  eilte  heran,  um  mit  seinem  Scherf- 
lein zu  jenem  Gemeingute  beizusteuern,  wovon  die  ihre  schönste 
Lebenszeit  unglücklich  zubringende  Jagend  Linderung  ihrer  Geistes- 
qualen erhalten  sollte.  Morhof  führt  vor  der  Palingenesia  der  Wissen- 
schaften und  nach  derselben  eine  große  Anzahl  Didaktiken  auf,  die 
nur  über  den  lateinischen  Unterricht  handeln,  und  nennt  noch  lange 
nicht  alle.  Wir  haben  uns  auf  die  hauptsächlichsten  Schriften  be- 
schränkt, die  Comenius  selbst  aufzählt.  Sein  Plan  über  die  Schul- 
organisation wird  schon  1628  fertig  gewesen  sein.  Bekanntlich  unter- 
scheidet seine  Didaktik  vier  Schulen,  auf  eine  jede  sechs  Jahre  be- 
rechnend. Die  ersten  sechs  Jahre  wird  das  Kind  zu  Hause  bei  der 
Mutter  unterwiesen.  Die  kaum  20  Zeilen  lange  Anweisung  der  Di- 
daktik wird  durch  eine  besondere  Schrift,  „Informatorium  der  Mutter- 
schuleu,  ergänzt.  In  XII  Kapiteln  schildert  sie  den  Wert  der  Kin- 
der, deren  Bedürfnis  nach  der  Erziehung,  und  weist  nach,  wie  man 
alle  ihre  Gaben  in  den  ersten  sechs  Jahren  zu  einer  ganz  detaillirt 
dargelegten  Stufe  entwickeln  soll  Es  werden  darunter  die  Kate- 
gorien der  Kenntnisse  und  Fähigkeiten,  Sitten,  Religion,  alle  geistigen 
Anlagen  des  Menschen,  und  zwar  meistens  in  ihrem  Fortschritte  von 


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Jahr  zu  Jahr  berücksichtigt.  Allein  das  Buch  sorgt  nicht  nur  hier- 
für; es  betrachtet  das  Kind  gleich  vom  Anfang,  von  seiner  Empfäng- 
nis an,  und  gibt  auch  wertvolle  Rathschläge  für  die  Leihespflege. 

Da  auf  eine  eingehendere  Analyse  hier  verzichtet  werden  muss, 
verweise  ich  auf  zwei  Punkte:  Es  sei  die  Pflicht  der  Mutter,  dass  sie 
ihr  Kind  selbst  säuge  —  was  er  mit  vielen  Gründen  stützt;  und  die 
Erweckung  des  poetischen  und  musikalischen  Gefühls  sei  durch  viele 
liebliche  Beispiele  ans  Herz  gelegt.  Sein  eigener  Sinn  und  seine  Gabe 
zur  Dichtung  kommt  überall  zum  Vorschein,  wo  es  sich  darum  han- 
delt, fremde  Verse  ins  Böhmische  zu  übertragen,  und  auch  sonst  zeigt 
die  Schrift  dieselbe  elegante  Sprache,  die  alle  böhmisch  geschriebenen 
Werke  des  Verfassers  kennzeichnet.  Nach  den  drei  ersten  einleiten- 
den Kapiteln  gibt  das  vierte  das  allgemeine  Ziel  der  Mutterschule, 
das  fünfte  Rathschläge  für  die  leibliche  Gesundheit,  das  sechste  für 
die  Pflege  der  Intelligenz,  das  siebente  des  thätigen  Lebens,  das  achte 
der  Eloquenz,  das  neunte  der  Sittlichkeit,  das  zehnte  der  Frömmig- 
keit. Das  vorletzte  Kapitel  betont,  dass  die  Aneignung  dieses  Lehr- 
stoffes die  Hauptsache  bleibe,  auch  wenn  die  Zeit  der  Aneignung  mit 
dem  sechsten  Jahre  nicht  übereinstimme.  Nach  dem  letzten  Kapitel 
sollen  die  Eltern  den  Kindern  die  Schule  nicht  als  einen  Schrecken, 
sondern  als  etwas  Angenehmes  und  Vielverheißendes  hinstellen. 

Dem  Plane  weiter  folgend  wollte  der  Verfasser  des  „Informato- 
rium  der  Muttersprache"  auch  für  die  Volksschulen  sorgen,  und  so 
verfasste  er  auch  für  die  sechs  Klassen  dieser  zweiten  Schule  die 
nöthigen  Lehrbücher. 

Nach  dem  „Violarium"  (I.  Cl.)  folgt  ein  „Rosarium"  (IL),  beide 
mit  ganz  allgemeiner  Inhaltsbestimmung;  für  die  dritte  Classe  ist  das 
„Viridarium"  bestimmt,  das  alles  Wissenswerte  vom  Himmel,  von 
der  Erde  und  von  den  Künsten  angenehm  beschreibt;  der  für  die 
vierte  Classe  bestimmte  „Labyrinthus  Sapientiae"  gibt  nützliche  Fragen 
zur  Schärfung  des  Verstandes  und  des  Gedächtnisses;  das  „Spirituale 
Balsamentum",  für  die  fünfte  Classe,  zeigt  die  Nutzanwendung  aller 
menschlichen  Künste  und  Wissenschaften,  überhaupt  alles,  was  zu  sehen 
und  zu  thun  ist;  die  letzte  Classe  (VI.)  bekommt  ein  religiöses  Buch 
„Paradisus  Animae",  mit  dem  Inhalt  der  ganzen  heiligen  Schrift,  den 
hauptsächlichsten  Kirchenliedern  und  Gebeten. 

Nach  den  ersten  zwei  Jahren,  die  hauptsächlich  der  Aneignung 
der  Elementarien  gewidmet  sind,  kommt  in  dem  dritten  die  Mit- 
theilung alles  Wissenswerten,  um  Stoff  für  die  Bildung  zu  reichen. 
Dieser  Stoff  wird  in  der  folgenden  Stufe  hauptsächlich  zur  Stärkung 

P«da«o&inni,  14.  Jahrg.  Heft  VI.  26 


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des  Verstandes  und  Gedächtnisses  verarbeitet.  Die  fünfte  lehrt  die 
Praxis  im  Menschenleben,  während  die  letzte  hauptsachlich  die  reli- 
giöse Bildung  im  Auge  hat.  Sollte  der  Inhalt  dieser  Lehrbücher  im 
Grunde  derselbe  sein  und  sich  nur  durch  die,  dem  besonderen  Zwecke 
angepasste  Behandlung  unterscheiden  (wie  wir  dies  etwa  bei  den  la- 
teinischen Schulbüchern  finden),  dabei  aber  allen  Forderungen,  die  die 
Gesammtentwickelung  des  Geistes  stellt,  Genüge  leisten,  so  muss  man 
für  diese  Schulbücher  das  höchste  Interesse  empfinden  und  ihren  Ver- 
lust besonders  schmerzlich  beklagen. 

Eigentlich  sind  diese  Bücher  bereits  im  ersten  Lissaer  Jahre  ver- 
fasst  worden;  nur  eine  stete  Verbesserung,  wie  wir  sie  bei  allen 
Schulbüchern  des  Comenius  finden,  veranlasst  uns,  deren  endgiltige 
Abfassung  in  das  Jahr  1630  zu  setzen.  Während  der  Abfassung  dieser 
Bücher  —  also  bevor  er  mit  ihnen  fertig  geworden,  verfiel  er  auf  die 
Idee,  ein  Buch  zu  schreiben,  das  die  ganze  Sprache  und  die  Gesammt- 
heit  der  Dinge  in  sich  begreifen  und  „Seminarium  Linguarum  et 
Scientiarum  omniumu  genannt  werden  sollte.  —  Alle  die  Versuche 
einer  Methodik  der  lateinischen  Sprache,  die  für  diesen  Gedanken 
vorgearbeitet  haben,  waren  ihm  nach  seinem  eigenen  Ausspruch  un- 
bekannt gewesen,  ausgenommen  natürlich  Elias  Bodinus,  dessen  Di- 
daktik er  vor  einem  Jahre  in  Böhmen  gelesen  hatte.   Diesem  hat 
allerdings  etwas  Ähnliches  vorgeschwebt.   Er  fordert,  dass  man  die 
1700  gebräuchlichsten  Worte  in  einige  Satze  mit  Hilfe  von  subsidia 
mnemonica  so  vertheile,  dass  sie  der  Schüler  gar  nicht  vergessen 
könne,   Später  klagt  Bodinus,  dass  Niemand  so  eine  Arbeit  unter- 
nehme.  Nun  drückt  Comenius  die  Idee  und  die  Bestimmung  eines 
solchen  Buches  viel  klarer  aus;  aber  wir  dachten  dem  sonst  ver- 
gessenen Bodinus  diesen  Hinweis  schuldig  zu  sein.  —  So  legte  sich 
also  Comenius  während  der  Verfassung  der  Schulbücher  für  die  Volks- 
schulen auf  die  Ausarbeitung  eines  „Seminarium  Linguarum  et  Scien- 
tiarum omnium".  —  Wie  klein  auch  der  Umfang  des  Werkes  geplant 
wurde,  so  kostete  es  eine  überaus  große  Mühe.  —  Als  einige  Freunde, 
bei  ihrem  Interesse  für  die  Arbeiten  des  Comenius,  von  dessen  neue- 
stem Vorsatz  Kenntnis  erhielten,  machten  sie  ihn  auf  ein  Werk  auf- 
merksam, das  aus  Spanien  stammend,  unter  dem  Titel  Janua  Lingua- 
rum den  ganzen  Wortschatz  in  einige  hundert  Sätze  so  vertheilt,  dass 
jedes  nur  einmal  vorkomme,  und  das,  seitdem  mehreremal  von  Neuem 
herausgegeben,  das  Erlernen  der  lateinischen  Sprache  besonders  er- 
leichtere.  Aber  das  mit  großer  Freude  und  Erwartung  in  die  Hand 
genommene  Buch  rechtfertigte  nach  dem  Durchlesen  die  daraufgesetzte 


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Hoffnung  nicht  und  so  arbeitete  Comenius  das  Jahr  1630  mit  unver- 
ändertem Eifer  an  der  Schrift  fort. 

Die  beiden  Jahre  1629  und  1630  war  er  mit  der  Janua  so  sehr 
beschäftigt,  dass  er  kaum  etwas  anderes  zu  unternehmen  versuchte. 
Sein  Verfahren  war  Folgendes:  um  einen  Parallelismus  der  Worte  mit 
■den  Dingen  zur  Geltung  zu  bringen,  ordnete  er  die  Dinge  nach  der 
Fassungskraft  der  Kinder  in  gewisse  Classen  ein  und  so  entstanden 
100  gewöhnlichste  Inschriften  der  Dinge.  Nun  wählte  er  die  ge- 
bräuchlichsten Wörter  aus,  und  suchte  für  jedes  Wort  das  Ding,  zu 
dessen  Bezeichnung  es  ursprünglich  und  nachträglich  angewendet 
wurde;  aus  den  8000  Wörtern  bildete  er  1000  Perioden  und  diese 
ordnete  er  auch  stufenartig  ein,  erst  kamen  kurze,  dann  längere, 
mehr-  und  mehrgliedrige;  jedes  Capitel  enthielt  dann  10  Punkte.  Die 
Wörter  wählte  er  nach  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  und  eigenem 
Sinn,  ausgenommen  nur  jene  wenigen,  welche  denselben  verloren  haben 
oder  in  der  Muttersprache  (auf  welche  er  fortwährend  Rücksicht 
nahm)  nicht  nach  jenem  gebraucht  werden  konnten.  Die  Homonymen 
hat  er  an  vielen  verschiedenen  Stellen  angewendet;  die  Synonymen 
meistens  nebeneinander  gestellt;  die  Wortfügungen  ordnete  er  nicht 
nur  mit  Rücksicht  auf  die  Syntax,  sondern  auch  etymologische  und 
grammatische  Umstände  beachtend.  Während  der  Arbeit  bekam  er 
immer  neue  Werke  über  die  Schulfragen,  hauptsächlich  über  die  Latein- 
methode zur  Hand,  die  ihn  einerseits  veranlassten,  an  seiner  Didaktik 
fortwährend  etwas  zu  vervollkommnen,  anderseits  den  bescheidenen 
Schulmann  von  Lissa  in  seiner  wunderbar  gehobenen,  fast  möchten 
wir  sagen  schwärmerischen  Stimmung  nährten  und  erhielten.  In  dem 
Brief,  den  er  bei  der  Gelegenheit  einer  Reise  Lochars  an  Menzel 
schrieb,  berichtet  er:  „Es  ereignen  sich  Wunderdinge,  die  ein  neues 
Paradies  versprechen,  und  das  von  unseren  Sehern  versprochene  Jahr- 
hundert sehe  ich  schon  in  unseren  Händen."  Und  wie  dies  eben 
durch  die  Leetüre  der  neueren  Bücher  bewirkt  worden,  darüber 
schreibt  er  an  den  Paladin  von  Beiz:  Ratichs  Werke  habe  er  schon 
früher  in  Mähren  benutzt;  1627  verfiel  er  auf  mehrere  ähnliche 
Schriften,  die  er  in  der  Vorrede  zur  Didaktik  und  Physik  erwähnt. 
„Da  begann  ich  viel  zu  hoffen  über  das  beginnende  neue  Jahrhundert 
und  wurde  gewaltig  gestärkt  darin,  dass  das  Danielsche:  „ „Viele 
werden  da  forschen  und  die  Wissenschaft  wird  vermehrt""  von  diesen 
letzten  Zeiten  zu  verstehen  sei." 

Und  dazu  kamen  noch  äußere  Umstände.  Die  Berichte  vom 
Auftreten  des  Schwedenkönigs  verbreiteten  sich  wie  ein  elektrischer 

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Funke  durch  die  ganze  evangelische  Welt  —  und  wer  hoffte  mehr 
von  demselben,  als  die  Verbannten?  Je  tiefer  er  in  das  Beich  drang, 
desto  fester  wurde  die  Überzeugung,  er  sei  jener  verkündigte  Löwe 
des  Nordens,  den  Gott  in  diesen  letzten  glorreichen  Tagen  zu  seinem 
Werkzeug  auserwählt.  Und  in  dieser  allgemeinen  bis  zur  Betäubung 
gesteigerten  Stimmung  fühlte  der  Geist  des  Oomenius  seine  Kräfte 
doppelt  und  so  brachte  er  denn  anfangs  des  Jahres  1631  seine  Janua 
zum  Erscheinen.  Eine  vom  4.  März  datirte  Vorrede  schildert  die 
Mangelhaftigkeit  der  Erfolge  des  Lateinunterrichtes,  der  außerdem 
noch  die  Zeit  der  Erlernung  der  Kealien  absorbire;  eine  Abhilfe 
durch  das  die  beiden  Unterrichtskreise  verbindende  Buch  zu  schaffen, 
entspreche  vielseitigen  Bestrebungen,  von  denen  besonders  jene  der 
spanischen  Janua  erwähnenswert  sei.  Gegen  diese  hat  er  dreierlei 
einzuwenden:  es  fehlen  da  viele  Worte,  die  man  oft  zu  gebrauchen 
hat,  die  Homonyma  seien  nicht  darin  enthalten,  und  auf  die  ursprüng- 
liche Bedeutung  des  Wortes  lege  das  Buch  kein  Gewicht.  Dazu 
nehme  man  noch,  dass  sehr  viele  Sätze  keinen  pädagogischen  Wert 
haben.  All  dem  Übel  will  seine  Schrift  abhelfen;  der  Verfasser  sieht 
selbst  viele  Mängel  in  ihr;  aber  da  sie  die  Fracht  einer  dreijährigen 
Arbeit  sei  und  er  zu  einer  neuen  Umarbeitung  keine  Muße  habe,  so 
übergebe  er  sie  der  Öffentlichkeit  in  der  Hoffnung,  dass  in  dieser, 
durch  das  Interesse  für  die  Didaktik  so  fruchtbaren  Zeit  seine  un- 
vollkommene Arbeit  bald  durch  eine  bessere  werde  verdrängt  werden. 

Trotzdem  die  Arbeit  mit  Rücksicht  auf  die  Muttersprache  aus- 
geführt worden  war,  veröffentlichte  er  diesmal  nur  den  lateinischen 
Theil,  besonders,  weil  es  ihm  um  das  Urtheil  vieler  zu  thun  sei,  die 
den  böhmischen  Text  nicht  verstünden;  —  statt  des,  von  der  spani- 
schen Janua  angewendeten  Index  verspricht  er  ein  etymologisches 
Lexicon,  mit  den  Stämmen  und  Ableitungen  einzelner  Wörter  „nova, 
succincta,  facili  ratione".  Statt  der  Benennung  Janua  Linguarum 
gefällt  ihm  aber  die  Benennung  Seminarium  Lingua?  et  Artium  besser, 
weil  hier  den  Dingen  ebensolche  Sorgfalt  zugewendet  werde,  wie  der 
Sprache,  wodurch  die  ersten  Begriffe  der  Erziehung,  Sitte  und  Fröm- 
migkeit, Grund  und  Gestalt  erhalten  sollten. 

Die  hundert  Kapitel  der  Janua  bieten  wol  kein  strenges  System, 
eine  gewisse  Gradation  nach  dem  Werte  des  Gegenstandes  ist  aber 
doch  im  allgemeinen  festzustellen.  Nach  einer  kurzen  Einleitung  I. 
werden  die  Naturreiche  (2. — 20.),  dann  der  Mensch  (21. — 30.),  seine 
Thätigkeiten  (31. — 48.)  und  bürgerlichen  Verbältnisse  (49. — 68),  dann 
nach  einander  die  Erziehung  (69.-82),  die  Sitten  (96.)  und  ganz  kurz 


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der  Glauben  (97. — 99.)  erörtert,  worauf  ein  kurzer  Sehluss  folgt,  der 
mit  Gottes  Lob  endet  Die  Art  der  Behandlung  und  den  Reichthum 
des  Inhaltes  mag  folgende  Probe  zeigen:  93.  De  amicitia  et  huma- 
nitate. 

XCIII.  Von  der  Freundschaft  und  Freundlichkeit  (Leutseligkeit). 

901.  Wenn  du  willst,  dass  deine  Gesellschaft  (dein  Umgang)  jedem 
angenehm  sei,  so  sei  gegen  die  Geringeren  leutselig  und  freundlich, 
gegen  deinesgleichen  dienstfertig,  gegen  die  höheren  ehrerbietig,  ge- 
horsam, so  wirst  du  Gunst  erlangen,  gewinnen. 

902.  Den,  von  welchem  du  weggehest  (scheidest),  sollst  du  nicht 
unwert  halten  zu  segnen,  den,  welchen  du  heimsuchst,  oder  bei  dem 
du  vorübergehst,  freundlich  (liebreich)  zu  grüßen,  den,  der  dich  grüßt, 
wieder  zu  grüßen  (zu  danken),  den,  der  von  dir  weggehet,  ein  Stück- 
chen zu  begleiten. 

903.  Antworte  sanftmüthig  dem,  der  da  fraget,  zum  wenigsten  mit 
Zuwinken,  oder  Abwinken,  mit  Einwilligen  oder  Abschlagen. 

904.  Falle  dem  Redenden  nicht  in  die  Rede,  doch  hilf  dem  ein, 
welcher  etwas  nicht  weiß,  wenn  es  dir  einfällt;  du  sollst  den  nicht 
aufhalten,  der  deiner  wartet 

905.  Wenn  du  jemandem  in  irgend  einer  Sache  willfahren  (einen 
Gefallen  erzeigen)  kannst,  so  sollst  du  es  nicht  versagen  (abschlagen, 
verweigern),  weder  sei  es  dir  lästig,  noch  beschwerlich,  noch  auch  der 
Mühe  unwert. 

906.  Brauchet  jemand  einen  Rath,  so  rathe  ihm,  bedarf  er  des 
Trostes,  so  tröste  ihn,  der  Hilfe,  so  komme  ihm  zu  Hilfe  und  stehe 
ihm  bei,  der  Beipflichtung,  so  stimme  ihm  bei;  besuche  die  Kranken, 
so  wirst  du  dir  bei  allen  -Gewogenheit  und  Gunst  erwerben  (ge- 
winnen). 

907.  Hat  dich  jemand  verletzet  (beleidiget),  so  sieh  es  ihm  nach 
(sieh  ihm  durch  die  Finger),  so  wirst  du  ihn  beschämen,  gereut  es 
ihn  (bedauert  er's),  dass  er  es  gethan  hat,  so  halte  es  ihm  zu  gut 
(verzeihe  es  ihm),  so  wirst  du  ihn  dir  sehr  verpflichtet  und  verbunden 
machen  (verbinden). 

908.  Bist  du  selbst  einem  zuwider  gewesen,  so  schäme  dich  nicht 
ihn  anzusprechen,  zufrieden  zu  stellen,  zu  versöhnen,  ihm  abzubitten, 
and  ausgesöhnt  zu  werden:  nicht  zum  Schein,  sondern  ernstlich. 

909.  Den  Groll  (die  heimliche  Feindschaft)  lass  nicht  alt  werden 
(verjähren),  damit  er  sich  nicht  in  Hass  verwandle. 

910.  Stubengesellen  und  Tischgesellen  geziemet  die  Einmüthig- 
keit,  besonders  in  der  gemeinen  Stube  und  im  Esssaale. 


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911.  Es  ist  zwar  nicht  möglich,  dass  nicht  Missstand  und  Un- 
einigkeit dazwischen  kommen  (sich  einschleichen)  sollten. 

Aber  die  Einträchtigkeit  soll  durch  die  Gegengeduld  erneuert, 
und  die,  so  uneins  sind,  durch  ins  Mittel  tretende  (sich  schlagende) 
Unterhändler  versöhnet  werden. 

912.  Hat  jemand  glücklichen  Fortgang,  so  sieh  nicht  scheel,  son- 
dern gönne  es  ihm,  hat  er  Unglück,  habe  Mitleiden  mit  ihm.  Ein 
Barmherziger  soll  sich  der  Elenden  erbarmen. 

913.  Vor  allen  Dingen  befleißige  dich  der  Wahrhaftigkeit,  nicht* 
ist  abscheulicher  (scheußlicher)  als  Lügen;  wer  Lügen  erdenket,  ist 
verhasst. 

914.  Ist  dir  etwas  Heimliches  kund  worden,  so  sprenge  es  nicht 
aus,  lass  es  auch  keinen  andern  von  dir  erfahren,  ob  er  schon  dar» 
nach  frage:  schweige  still,  sage  ich,  verschweige  (verbeiße)  es,  deine 
Verschwiegenheit  wird  keinem  schaden,  Ungelegenheit  machen,  dich 
aber  wird  sie  überaus  lieb  und  wert  (beliebt)  machen  (empfehlen). 

915.  Unter  den  Lustigen  sei  nicht  sauertöpfisch,  doch  auch  nicht 
ausgelassen  fröhlich. 

916.  Gegen  andere  sei  nicht  schwatzhaft,  und  wo  du  was  Artiges 
im  Reden  einmischest,  lass  es  Scherz,  nicht  Gespötte  sein;  zanke  nicht, 
damit  du  nicht  einen  aus  den  Gegenwärtigen  aufbringest,  oder  einen 
aus  den  Abwesenden  verleumdest. 

917.  Denn  zanken,  hadern  und  sich  balgen  ist  bäurischer  Leute 
Sache,  der  Ohrenbläser  und  falschen  Angeber  Art  aber  ist  es,  zu 
schmähen  und  fälschlich  anzugeben. 

Unter  der  strengen  Durchführung  des  Grundgedankens  hatte 
allerdings  sowol  die  Sprache  als  auch  der  Inhalt  zu  leiden.  Um  alles 
zu  geben,  gab  der  Verfasser  in  den  Kapiteln  55. — 85.  über  Geburt 
der  Kinder  und  über  die  Keuschheit  manches,  was  der  kindlichen 
Phantasie  nichts  nützen  kann  und  in  mehreren  Kapiteln  kommen  Be- 
nennungen unästhetischer  Gegenstände  und  Vorgänge  vor,  auf  die  man 
ganz  gut  verzichten  könnte.  Andererseits  musste  er  bei  vielen  Benennun- 
gen, wo  der  classische  Wortschatz  nicht  zu  Gebote  stand,  zu  Wortbil- 
dungen greifen,  die  wol  auch  Bodinus  anempfohlen,  die  aber  die  Freunde 
der  reinen  Latinität  zu  seinen  Feinden  machten.  Dass  der  Grundton, 
der  durch  das  Werk  zieht,  ein  recht  sittlich  ernster  und  tief  christlicher 
sei,  braucht  wol  kaum  hinzugefugt  zu  werden.  Der  Erfolg  des  Werkes 
war,  wie  Comenius  nach  25  Jahren  erzählt,  einer,  wie  er  sich  ihn 
nicht  habe  vorstellen  können;  es  geschah,  dass  das  Werk  mit  allge- 
meinem Applaus  von  der  ganzen  gebildeten  Welt  aufgenommen  wurde. 


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Es  bewiesen  dies  sehr  gebildete  Männer  der  verschiedensten  Völker, 
theils  durch  an  den  Verfasser  gerichtete  Briefe,  theils  dadurch,  dass 
sie,  wie  wetteifernd,  Übersetzungen  in  die  Muttersprachen  unternahmen 
So  dehnte  sich  der  Kreis  seiner  Bekannten  auf  die  ganze  gebildete 
Welt  aus  und  Lpbsprüche  dienten  ihm  zum  Sporn  und  zur  Freude 
zugleich.   

Mit  Vergnügen  schließen  wir  hieran  ein  treffliches  lateinisches 
Gedicht,  verfasst  und  unserem  Blatte  gewidmet  von, Herrn  Schulrath 
Elberich  in  Oschatz: 

Iii  Meinoriani 
J,  A.  Comenii 
Natali  Trccentesimo 
D.  XXVIII.  Mart.  MDCCCXCII. 
Salve  festa  die«  natalis!  Aveto  Comeni 

Cantetur  toto  nomeu  in  orbe  Tuum! 
Quia  nogtrum  potis  est  illius  dicere  lau  des, 

Qui  quoquc  nunc  juvenes  educat  atque  docet? 
Diffugere  debinc  tria  saecula,  clare  Comeni! 

Sed  monumenta  Tibi  non  peritura  manent! 
Major  Aristoteles  verbis  —  Tu  cclsior  actis 

Imperiumque  scholae  tradidit  ille  Tibi! 
Primus  eras,  qui  res  ipsaa,  nec  verba  docebas 

Doctrinamque  dabas  cum  pietate  simul! 
Sic  ais:  „Omnis  homo,  diviua  Stirpe  creatus, 

Coelos  exoptat,  Semper  imago  Dei!" 
„Dux  Natura  mihi!  Naturae  convenienter 

Annis  jam  primis  erudiendus  homo! 
Corporis  ergo  prius  vires  sensusque  colendi, 

Tum  vires  animi,  tum  rationis  opes! 
Leniter  it  tardoquc  gradu  Natura  per  orbem 

Praecipitatque  nihil  —  Fac,  moderator,  idem!" 
Optima  dux  Natura  quidem  —  nam  provida  rerum 

Est  haec  ipsa  parens  —  flectitur  arte  Urnen. 
Haqc  artem  methodumquc  novam  jam  repperit  Arnos 

Et  primo  juvenes,  quod  monet,  ipse  f'acit. 
„Est  prius  exemplum,  postremo  regula  danda 

Exemplisqne  bonis  duc,  age,  discipulos!" 
„Nil  juvenes  discant  unquam,  quod  inutilc  vitae! 

Nam  doctrina  minus,  plus  valet  intcgritas! 
Si  quid  mente  tenet  juvenis,  mox  exprimat  orei 

Nil  pner  ediscat  quod  necat  ingenium!" 
„Funditus  exercenda  prius  vernacula  lingual 

Quod  puer  ipse  legit,  scribere  debet  idem!" 
Parcite  jam  —  cursus  vestros  inhibete,  sodales! 

Num  memores  jnssi  semper  eramus  adhuc? 


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—    376  — 


Non  ego  crediderim.   Moneat  nos  proridus  Arnos, 

Ut  metbodus  studiis  convenienter  eat! 
Egregii  clarique  viri  Te,  Mogne,  sequuntur: 

Franckius  ille  pius,  par  Tibi  mente  sua. 
Tum  —  fere  maximus  est  —  hic  Pestalozzis  unus, 

Qui  populo  totura  se  dedit  atqu«  scbolac 
Denique  magnanimus  quoque  Diesterwegius  ille, 

Qui  de  sorte  scholae  inaxima  damna  tulit. 
Omnibus  bis  tarnen  es  major,  Tu  Magne  Comeni 

Es  pater  —  bi  nati  discipulique  Tui! 


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Pädagogische  Kundschau. 


Aus  Preußen.  [In  Canossa.]  „Traurig  genug,  das«  heutigestages 
wiche  Betrachtungen  nothwendig  sind,  dass  noch  gekämpft  werden  muss 
um  die  wertvollsten  Grundlagen  der  deutschen  Nationalbildung 
nod  nm  die  wichtigsten  Rechtstitel  der  deutschen  Nationalehre: 
um  die  Freiheit  des  Gedankens  und  des  Wortes,  des  Glaubens  und 
Gewissens,  der  Wissenschaft  und  Lehre!" 

So  lautete  die  wuchtige  Anklage  eines  kühnen  und  wahrheitsliebenden 
Mannes  am  27.  Mai  1890  im  Concertsaale  der  Philharmonie  zu  Berlin  — 
und  4000  Schulmänner,  darunter  die  165  Abgeordneten  von  59  709  Mit- 
gliedern der  Lehrervereine  aller  deutseben  Gaue,  stimmten  dem  unerschrockenen 
Redner  zu. 

Wie  hat  man  denselben,  einen  „gewissen  Dittes  aus  Wieu",  dafür  ge- 
scholten und  verketzert,  wie  hat  man  über  Missbrauch  des  Gastrechts  durch 
liesen  „Ausländer"  sich  entrüstet,  wie  hat  man,  überlegen  lächelnd,  ihn  der 
übertriebenen  Schwarzseherei  beschuldigt  oder  doch  wenigstens  wegen  seiner 
verbitterten  Rücksichtslosigkeit  verurtheilt!  Er  hätte  doch  über  gewisse  (an 
sich  freilich  nicht  zu  leugnende)  Verhältnisse  sich  fein  manierlich  ausschweigen, 
an  dem  Schleier  nicht  so  täppisch  zupfen  sollen!  Hetzte  er  damit  nicht  die 
ganze  wilde  Jagd  der  Schwarzbündler  vom  großen  Windthorst  bis  herab  zum 
kleinen  Stöcker  und  denen  von  Hammerstein  und  Consorten  auf  uns  wehrlose 
Geschöpfe? 

Nun  freilich,  die  damalige  große  Lehrerhetze  hat  er  allerdings  ver- 
schuldet! Aber  gerade  dadurch  hat  der  zeitkundige  Kufer  und  Warner  sich 
ein  großes  Verdienst  erworben:  auch  dem  blödesten  Auge  wurde  nun  klar, 
*o  die  Schützen  ihre  Aufstellung  genommen  hatten,  und  selbst  das  argloseste 
Wild  sah  sich  nun,  die  Größe  der  Gefahr  erkennend,  aus  trügerischer  Sicher- 
heit und  verhängnisvoller  Ruhe  jäh  anfgescheucht.  Wie  eine  Blendlaterne 
leuchtete  die  Dittes'sche  Rede  mitten  in  das  Dunkel  hinein,  wo  die  Wider- 
sacher des  Fortschritts,  der  Geistesfreiheit  und  —  der  modernen  Volksschule 
ihre  Waffen  schmieden.  Einem  Windstoß  vergleichbar,  welcher  die  Nebel  zer- 
reißt, um  einen  Abgrund  aufzudecken,  zeigte  sie  nicht  allein  dem  Lehrerstande, 
sondern  zugleich  allen  Gebildeten  der  Nation,  soweit  sie  sehen  wollten, 
die  ungehenre  Schwäche  unserer  Zeit   Und  darum  wird  jener  Lehrertag,  auf 


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—    378  — 


welchem  ein  Dittes  die  Ritter  der  Nacht  durch  seine  Herausforderung  zwang, 
ihr  Visir  zu  lüften,  von  un vergesslicher  Bedeutung  bleiben! 

In  den  herrschenden  Classen  unseres  Volkes  machen  sich  Kräfte  geltend, 
welche  geradezu  den  Freunden  des  Umsturzes  unserer  Gesellschaftsordnung  in 
die  Hände  arbeiten,  indem  sie  an  den  Grundsäulen  rütteln,  auf  denen,  historisch 
nachweislich,  die  Macht  und  Größe  unseres  Vaterlandes  beruht.  Freilich  nicht 
mit  Absicht  und  Bewusstsein  thun  sie  dies  —  ganz  im  Gegentheil!  —  wol 
aber  mit  unfehlbarem  Erfolge!  Der  sicherste  Beweis  dafür  ist  der  dem  preußi- 
schen Abgeordnetenhause  vorgelegte  Entwurf  eines  Volksschulgesetzes 
für  den  preußischen  Staat.  Dieser  Entwurf,  der  den  Namen  eines  Zedlitz 
trägt  —  jener  alten  schlesischen  Adelsf auiilie ,  welche  schon  mehr  als  einmal 
glänzende  Vertheidiger  der  Glanbens-  und  Gewissensfreiheit  gestellt  hat  — , 
fuhrt  uns  weit  hinter  die  Zeiten  des  Mühlerschen  und  Raumerschen  Schul- 
regiments znrück.  Seit  neun  Jahrzehnten  steht  in  Preußen  der  Erlas«  eines 
Unterrichtsgesetzes  auf  der  Tagesordnung;  seit  mehr  denn  40  Jahren  ist  die 
gesetzliche  Regelung  der  Unterrichtsangelegenheiten  durch  die  Verfassung 
gewährleistet;  acht  Entwürfe  dieser  Art  sind  bereits  „zu  den  Acten"  ge- 
wandert; seit  dein  Anfange  unseres  Jahrhunderts  hat  die  schon  vom  Freiherrn 
von  Stein  und  seinen  Mitarbeitern  erkannte  Wahrheit:  dass  das  Glück  des 
Vaterlandes  auf  der  in  den  Schulen  begründeten  Geistesfreiheit  und  Gesittung 
beruht,  ihre  immerwährende  Bestätigung  gefanden ;  mehrere  große  Kriege  haben 
gelehrt,  wie  eine  auf  freiheitlichen  Grundlagen  erbaute  Volksbildung  die  vor- 
züglichsten Waffen  gewährt  und  den  festesten  Grenzwall  zum  Schutze  der 
vaterländischen  Grenzen  bildet;  vor  den  Augen  aller  Zeitgenossen  haben  die 
scheußlichen  Thaten  verabscheuungswürdiger  Meuchler  wie  Hödel  und  Nobiling 
den  Irrwahn  widerlegt,  als  ob  eine  religiöse  Erziehung  nach  den  Forderangen 
der  römischen  oder  protestantisch -orthodoxen  Zeloten  vor  den  schwersten  Ver- 
letzungen göttlicher  and  menschlicher  Ordnung  zu  bewahren  vermöchte  

und  doch  muss  man  es  erleben,  dass  der  preußischen  Volksvertretung  die  Gut- 
heißung von  Vorschlägen  zugemutet  wird,  welche  den  Glauben  erwecken 
könnten,  dass  ihre  Verfasser  hundert  Jahre  —  aus  ihrem  Gedächtnis  ge- 
strichen hätten! 

Freilich  war  es  nicht  möglich  gewesen,  die  freisinnigen  Entwürfe  von 
Altenstein  (1819)  und  Falk  (1877)  durchzubringen.  Aber  lagern  nicht 
auch  die  Vorlagen  der  Minister  Bethmann-Hollweg  (1862),  Mühler  (1869) 
und  Gossler  (1890)  in  den  Actenschränken  des  Cultusministeriums?  Und 
haben  nicht  sogar  die  Raumerschen  Regulative  dem  Geiste  einer  neuen 
Zeit  weichen  müssen? 

Doch  gehen  wir  einmal  kurz  auf  den  Inhalt  des  Zedlitz'schen  Entwarft 
ein.  Vorausschicken  müssen  wir  indes,  dass  derselbe  nicht  benrtheilt  werden 
kann  ohne  einen  Blick  auf  gewisse  parlamentarische  Verhältnisse  und  Vor- 
gänge in  Preußen. 

Der  Gang  und  die  Entwicklung  der  inneren  Politik  Preußens  und  Deutsch- 
lands ist  etwa  seit  dem  Jahre  1877  stark  beeinflusst  worden  durch  die  Hal- 
tung der  ultramontanen  Partei  unter  der  genialen  Führung  Windthorst«. 
Nicht  ohne  deren  Mitwirkung  vollzog  sich  der  Sturz  des  unvergeßlichen  Cnltus- 
ministers  Falk  nnd  die  Berufung  eines  Mannes  von  so  hervorstechend  reac- 
tionärer  Richtung,   wie  derjenigen  Puttkamers,  in  seine  Stellung.  Und 


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—    379  — 


« 


als  dann  auf  Puttkamer  der  Cultusminister  von  Gossler  folgte,  zeigte  sich 
der  Einßuss  der  ultramontanen  Partei  schon  deutlicher,  indem  sich  dieselbe 
nicht  mehr  damit  begnügte,  was  sie  auf  kirchlichem  Gebiet  von  der  Regie- 
rung zurückerobert  hatte,  sondern  auch  den  Kampf  um  den  Besitz  der 
Schule  eröffnete.   „Wir  wollen, u  erklärte  Windthorst,  „die  Schule  wieder  so 
haben,  wie  sie  vor  dem  Schulaufsichtsgesetz  (!)  war.  Können  wir  Wandel 
hier  nicht  erreichen,  so  werden  wir  darauf  dringen,  dass  mehr  als  es  bisher 
geschehen,  endlich  die  Bestimmungen  der  Verfassung  erfüllt  werden,  welche 
volle  Unterrichtsfreiheit  (!)  verbürgen.  Wir  können  als  Eltern  verlangen, 
dass  unsere  Kinder  von  solchen  unterrichtet  werden,  denen  wir  vertrauen 
und  welche  unsere  Religion  aufrecht  erhalten,  und  dass  der  Kirche  ge- 
stattet wird,  ihrerseits  Schulen  zu  gründen  (!)  .  .  .    Es  werden  ja 
neue  Unterrichtsgesetze  geplant,  und  die  daran  arbeiten,  mögen  wissen,  wie 
wir  Katholiken  zur  Sache  stehen  .  .  .  Die  Schule  gehört  der  Kirche  ganz 
allein(!).w 

Das  war  offen  und  ehrlich  gesprochen,  und  jedermann  wusste  also,  wo  das 
Ceritruni  hinaus  wollte.  —  Allein  Herrn  von  Gossler  und  dem  ganzen  Ministe- 
rium Bismarck  gingen  diese  Forderungen  denn  doch  zu  weit.  Man  hatte  viel 
bewilligt  und  viel  geopfert,  man  hatte  sich  tief  und  tiefer  gebeugt,  aber  vor 
der  kleinen  Excellenz  im  Staube  liegen  und  auf  dem  Bauche  rutschen  —  nein, 
dazu  konnte  man  sich  nicht  entschließen.  Hatte  doch  auch  der  unglückliche 
Kaiser  Heinrich  noch  das  immerhin  menschenwürdige  Vorrecht  bewahrt,  im 
Schlosshof  von  Canos6a  wenigstens  zu  stehen! 

So  zeigte  denn  der  Minister  von  Gossler  gar  keine  Eile,  sogleich  einen 
Entwurf  vorzulegen,  welcher  den  Windthorstschen  Forderongen  Ausdruck  ver- 
lieh. Das  veranlasste  den  unermüdlichen  Centrum sftihrer,  dem  Minister  zu  Hilfe 
zu  kommen:  er  selbst  formulierte  diejenigen  Sätze,  welche  den  Hauptinhalt 
des  vorzulegenden  Unterrichtsgesetzes  ausmachen  sollten.  Und  damit  nicht  alle 
Welt  sogleich  erkennen  sollte,  dass  hier  dasjenige,  was  die  ultramontanen 
Führer  auf  den  Katholikenversammlungen  klipp  und  klar  in  reinem,  gutem 
Deutsch  verlangt  hatten,  bewilligt  sei,  kleidete  er  es  gebührendermaßen  in  das 
Mäntelchen  einer  fein  diplomatischen  Ausdrucksweise.  „1)  In  das  Amt  des 
Volksschullehiers  dürfen  nur  Personen  berufen  werden,  gegen  welche  die 
kirchliche  Behörde  in  kirchlich- religiöser  Hinsicht  keine  Einwendung 
gemacht  hat.  Werden  später  solche  Einwendungen  erhoben,  so  darf  der 
Lehrer  zur  Ertheilung  des  Religionsunterrichtes  nicht  weiter  zu- 
gelassen werden.  2)  Diejenigen  Organe  zu  bestimmen,  welche  in  den  ein- 
zelnen Volksschulen  den  Religionsunterricht  zu  leiten  berechtigt  sind, 
steht  ausschließlich  den  kirchlichen  Obern  zu.  3)  Das  zur  Leitung 
des  Religionsunterrichts  berufene  kirchliche  Organ  ist  befugt,  nach 
eigenem  Ermessen  den  schul  planmäßigen  Religionsunterricht  selbst  zu 
erteilen  oder  dem  Religionsunterricht  des  Lehrers  beizuwohnen,  in  diesen 
einzugreifen  und  für  dessen  Ertheilung  den  Lehre-r  mit  Weisungen  zu 
versehen  (!),  welche  von  letzterem  zu  befolgen  sind.  4)  Die  kirchlichen 
Behörden  bestimmen  die  für  den  Religionsunterricht  und  die  religiöse  Übung 
in  den  Schulen  dienenden  Lehr-  und  Unterrichtsbücher,  den  Umfang  und 
Inhalt  des  schalplanmäßigen  religiösen  Unterrichtsstoffes  und  dessen  Ver- 
theilung  auf  die  einzelnen  Classen."  —  Das  wirkt  doch,  jeder  muss  ea 


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—    380  - 


gestehen,  nicht  so  abschreckend,  wie  der  Satz:  „die  Schule  gehört  der  Kirche 
ganz  allein"  —  wenn  es  auch  in  der  Hauptsache  dasselbe  ist! 

Und  siehe  da,  es  half!  Der  Minister  vertiefte  sich  in  diese  Windthorst- 
schen  Anträge  vom  Jahre  1888  so,  dass  er  zwei  Jahre  spater  in  der 
Lage  war,  einen  Entwurf  vorzulegen,  welcher  den  Ansprüchen  des  Centrums 
ungefähr  siebenachtelweges  entgegen  kam.  Hatte  er  auch  bei  der  Verhand- 
lung des  Abgeordnetenhauses  über  diese  Anträge  nachweisen  können,  dass  die 
Klagen  der  Ultramontanen  unberechtigt  seien  —  indem  bei  seinem  Amts- 
antritte (1881)  2200  katholische  Geistliche  von  Ertheilung  oder  Leitung  des 
Religionsunterrichts  ausgeschlossen  waren,  1888  aber  nnr  noch  190,  und  nach 
Abzug  Posens  gar  nur  50  einschließlich  der  evangelischen  — ,  so  enthielt  sein 
Entwurf  doch  folgende  grundlegenden  Bestimmungen:  Die  Religionsgesell- 
Schäften  haben  mitzuwirken  bei  Einführung  neuer  Lehrpläne  und  neuer 
Schulbucher  im  Religionsunterricht;  sie  laßsen  durch  ihre  Organe  den  Unter* 
rieht  in8piciren.  Diese  Organe  sind  berechtigt,  in  den  Religionsunterricht  ein- 
zugreifen und  den  Lehrer  am  Schlüsse  sachlich  zu  berichtigen  .  .  . 
Wo  die  Zahl  der  Schulkinder  einer  Religionsgesellschaft  über  60  steigt,  kann 
die  Schulaufsichtsbehörde  die  Errichtung  einer  besonderen  Volksschule  für 
dieselben  anordnen  (behufs  Ausrottung  der  Simultanschulen  1  Der  Verf.). 

Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  dass  solche  Bestimmungen  mit  der  bis* 
herigen  Auffassung  maßgebender  Stellen  über  das  Verhältnis  zwischen  Staat, 
Kirche  und  Schule  nicht  vereinbar  sind.  Der  moderne  Staat  hat,  gegenüber 
den  Zielen  der  hierarchischen  Parteien,  vollen  Grund,  das  unbeschränkte  Auf- 
aichts-  und  Leitungsrecht  über  die  Volksschule  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Damit  aber  bei  den  immerhin  beschränkten  Mitteln  des  Staates  die  kostspielige 
Weiterentwickelung  des  Schulwesens  nicht  aufgehalten  werde,  bedarf  es  der 
opferfreudigen  Mitwirkung  kleinerer  Verbände,  namentlich  städtischer  Gemein- 
wesen, deren  Wetteifer  bereits  schöne  Erfolge  aufzuweisen  hat.  Soll  dieser 
Factor  indess  nicht  völlig  außer  Rechnung  gestellt  werden,  so  dürfen  die  aus 
dem  großartigen  Steinschen  Reformgedanken  der  Selbstverwaltung  herrührenden 
Befugnisse  der  communalen  Körperschaften  nicht  so  weit  eingeengt  werden, 
wie  es  unter  anderen  betreffs  aller  bisherigen  Rechte  für  Ernennung  u.  s.  w. 
der  Lehrkräfte  im  Gossler'schen  Entwurf  geschah. 

Letzterer  wanderte  übrigens,  nachdem  er  in  langwierigen  Commissions- 
beratnngen  noch  mancherlei  Veränderungen  erfahren  hatte,  und  nachdem  Herr 
von  Gossler  dem  Andrangen  des  Centrums  zufolge  seinen  Ministersessel  an  den 
Grafen  Zedlitz  abzutreten  genöthigt  gewesen  war,  ohne  Sang  und  Klang  den 
Weg  aller  preußischen  Unterrichtsgesetz -Entwürfe,  und  heute  liegt  ein  neues 
Werk  vor. 

Hatte  Windthorst  noch  im  Jahre  1887  die  Aufhebung  des  Falkschen 
Scilulaufsichtsgesetzes  verlangt,  so  zeigt  der  Zedlitz'sche  Entwurf, 
dass  es  in  dem,  was  für  das  Centrum  die  Hauptsache  ist,  auch  ohne  eine  solche 
formelle  Aufhebung  geht.  Die  Schule  ist  so,  wie  der  Lehrer  ist.  Hat  man 
den  Lehrer  in  der  Gewalt,  so  besitzt  man  die  Schule  und  mit  ihr  die  Zukunft 
Was  ein  Windthorst  sich  vielleicht  nicht  hat  träumen  lassen:  dass  es  jemals 
gelingen  könnte,  die  Lehrerschaft  im  ganzen,  also  den  katholischen  und  evan- 
gelischen Theil  derselben,  wieder  unter  die  volle,  uneingeschränkte  Botmäßig- 
keit der  Kirche  (d.  i.  ihrer  leitenden  Organe)  zu  bringen,  das  stellt  der 


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Zedlitz'sche  Entwurf  in  sichere  und  nahe  Aussicht   Windthorst  konnte  wol 
darauf  rechnen,  dass  es  den  Organen  der  päpstlichen  Kirche  mit  ihrem  wol- 
dnrchdachten  und  unfehlbar  wirkenden  System  eiserner  Disciplinarmittel  ge- 
lingen müsste,  die  katholischen  Lehrer  den  Absichten  der  Hierarchie  dienst- 
bar zu  machen;  nie  aber  konnte  er  hoffen,  dieselbe  Herrschaft  auch  auf  die 
evangelischen  Lehrer  auszudehnen.    Nun  aber  zeigt  eine  Regierungs- 
vorlage die  Möglichkeit,  wie  mit  Hilfe  der  Staatsgewalt  die  Ideale  Windt- 
horst« nicht  blos  zu  erreichen,  sondern  noch  zu  übertreffen  sind!  Herrn 
von  Zedlitz  genügt  es  nicht  mehr,  dass  der  confessionell-religiös  erzogene  junge 
Mann  in  ein  confessionell  eingerichtetes  Lehrerseminar  eintritt,  dort  weiter 
einen  confessionellen  Religionsunterricht  unter  Aufsicht  der  betreffenden  kon- 
fessionellen Regierungsabtheilung  erhält,  gleicherweise  seine  Lehramtsbefähigung 
für  den  confessionellen  Religionsunterricht  durch  ein  Examen  erwirbt  und  dann 
unter  dem  Mitbeaufsichtigungs-  und  Vetorecht  der  kirchlichen  Organe  seinen 
Religionsunterricht  ertheilt;  es  genügt  ihm  nicht,  dass  die  Einführung  neuer 
Lehrpläne  und  Lehrbücher  für  den  Religionsunterricht  der  Seminare  —  wo 
bekanntlich  zumeist  Theologen  als  Directoren  und  erste  Lehrer  angestellt 
werden  bezw.  den  Religionsunterricht  ertheilen  —  „im  Einvernehmm  mit  den 
zuständigen  kirchlichen  Oberbehörden M  erfolgen  muss.   Nein,  das  könnte  in 
einem  zwar  durch  und  durch  vom  Confessionalismas  durchsetzten  und  be- 
herrschten Staatswesen  doch  noch  die  Möglichkeit  einer  selbstständigen  reli- 
giösen Entwickelung,  welche  nicht  ganz  dem  Geschmack  des  Oberkirchen raths 
oder  Bischofs  entspräche,  übrig  lassen.   Deshalb  wird  bestimmt:  „Die  mit  der 
Ertheilung  des  Religionsunterrichts  (der  Seminare,  Verf.)  zu  beauftragenden 
Lehrer  (Lehrerinnen)  sind  vorher  den  kirchlichen  Oberbehörden  nam- 
haft zu  machen  behufs  Äußerung,  ob  gegen  Lehre  und  Wandel  derselben 
Einwendungen  zu  erheben  sind."    Wie  mag  den  Ultramontanen  das  Herz  im 
Leibe  hüpfen,  wenn  sie  diesen  vortrefflichen  Paragraphen,  der  auch  die  Semi- 
nare in  ihre  Hände  spielt,  sich  ansehen!    Doch  weiter:  Nicht  genug  damit, 
dass  ein  von  der  kirchlichen  Oberbehörde  entsandter  Commissar  mit  Stimm- 
recht an  jeder  Lehreranstellungprüfung  theilnimmt  —  nein,  wenn  derselbe 
„wegen  ungenügender  Leistungen  eines  Examinanden  in  der  Religion  im 
Gegensatz  zu  der  Mehrheit  der  Prüfungscommission  Widerspruch 
gegen  die  Ertheilung  des  Befähigungszeugnisses  erhebt,  so  ist  an  den  Ober- 
präsidenten als  Vorsitzenden  des  Provinzialschulcollegiums  zu  berichten*, 
welcher  nun  nicht  etwa  selbstständig  die  Entscheidung  trifft,  sondern  „im  Ein- 
vernehmen mit  der  kirchlichen  Oberbehörde"  zu  entscheiden  hat.  Ist 
ein  Einvernehmen  nicht  zu  erzielen,  so  wird  dem  Lehrer  das  Lehramtszeugnis 
„mit  Ausschluss  der  Befähigung  für  den  Religionsunterricht"  er- 
theilt.   Was  es  mit  dieser  Bestimmung  auf  sich  hat,  ist  leicht  zu  ermessen: 
sie  bedeutet,  dass  derjenige,  welcher  dem  bischöflichen  oder  protestantischen 
Delegaten  nicht  gefällt,  nie  und  nirgends  —  zum  wenigsten  aber  in  seinem 
Vaterlande  —  eine  Anstellung  finden  wird,  welche  seinen  Wünschen  ent- 
spricht.  Die  Prüfungscommission  bei  den  Seminarprüfungen  besteht  aus  Com- 
missarien  des  Provinzialschulcollegiums  und  des  Regierungspräsidenten,  dem 
Director  und  den  Lehrern  des  Seminars,  —  daneben  noch  dem  kirchlichen 
Delegierten.  Und  wenn  nun  die  ersteren  allesamt,  vielleicht  mit  alleiniger 
Ausnahme  des  jüngsten  Seminarlehrers,  überzeugt  sind,  dass  der  Examinand 


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die  Eigenschaften  besitzt,  welche  zur  Ertheilung  eines  fruchtbringenden  Religions- 
unterrichte in  der  Volksschule  befähigen,  der  kirchliche  Vertreter  aber  diese 
Überzeugung  nicht  mit  ihnen  teilen  kann,  so  sind  alle  ihre  Stimmen  null 
und  nichtig  gegenüber  jenes  Einen  Stimme  —  wenn  es  nicht  etwa  der 
Überredungsgabe  des  Oberpräsidenten  gelingt,  ein  „Einvernehmen"  herzustellen! 

Nichte  kennzeichnet  so  deutlich  den  Geist  des  neuen  Entwurfs,  als  diese 
eine  Bestimmung!  Welche  ungeheure  Geringschätzung  gegenüber  den  Organen 
des  Staates,  welchen  Gipfel  von  Misstrauen  gegen  alle  nichtkirchlichen  Be- 
amten, welche  maßlose  Herrschbegier  müsste  sie,  wenn  nicht  bereite  vorhanden, 
erzeugen.  Das  ist  die  gelungenste  Umschreibung  der  Windthorstechen  Prä- 
tension: „die  Schule  gehört  der  Kirche  ganz  allein";  und  hatte  Windthorst 
selbst  in  seinen  Anträgen  von  1888  es  versuch^  diesen  Satz  in  unverfängliche 
Formeln  zu  bringen,  so  ist  sein  Diplomatenstil  hiermit  in  den  tiefsten  Schatten 
gestellt! 

Allein  auch  mit  so  weitgehenden  Vorsichtsmaßregeln  scheint  der  Zedlitz'sche 
Entwurf  seines  Erfolges  noch  nicht  gewiss  zu  sein.  Am  Ende  traut  die  „Kirche" 
auch  den  Lehrern  noch  nicht,  welche  auf  solche  Art  in  den  Besitz  des  Be- 
fähigungszeugnisses für  den  Religionsunterricht  gelangt  sind;  sie  scheint  wenig 
Vertrauen  zu  ihrer  eigenen  Sache  zu  haben  und  Herr  von  Zedlitz  muss  das 
wol  wissen.  Natürlich,  der  junge  Lehrer  kann  in  üble  Gesellschaft  geraten, 
er  kann  böse  Bücher  lesen,  er  kann  unter  anderen  erfahren,  dass  z.  B.  einmal 
ein  Theologe,  Namens  Schleiermacher,  gelebt  hat,  welcher  andere  Ansichten 
vertrat,  als  das  heute  herrschende  Kirchenregiment,  oder  dass  es  Päpste  ge- 
geben hat,  gegen  deren  Wandel  und  Lehre  sich  Einwendungen  erheben 
lassen  —  kurz,  er  kann  schwankend  werden,  dem  Satan  in  die  Hände  fallen. 
Dem  wird  durch  folgende  Maßnahmen  vorgebeugt:  Den  Religionsunterricht  in 
der  Volksschule  leiten  natürlich  die  betreffenden  Religionsgesellschaften.  Mit 
Ertheilung  desselben  werden  nur  solche  Lehrer  beauftragt,  welche  das 
entsprechende  Befähigungszeugnis  besitzen.  Der  kirchliche  Vertreter  aber  hat 
„das  Recht,  dem  Religionsunterricht  in  der  Schule  beizuwohnen  (siehe 
Windthorsteche  Anträge,  3)  durch  Fragen  sich  von  der  sachgemäßen  Erthei- 
lung desselben  und  von  den  Fortechritten  der  Kinder  zu  überzeugen  („ein- 
zugreifen", nennt  es  Windthorst  weniger  unverblümt),  den  Lehrer  nach  Schluss 
des  Unterrichte  sachlich  zu  berichtigen,  sowie  dementsprechend  mit  Wei- 
sungen zu  versehen  (Windth.  Anträge,  3)M.  Dem  gegenüber  wird  sich 
künftighin  kaum  noch  ein  Lehrer  die  Freiheit  nehmen,  in  religiöser  Beziehung 
eine  eigene  Meinung  zu  haben,  und  wenn  er  sie  doch  hätte,  wird  er  sie  klüg- 
lich in  den  Schrein  seines  Herzens  einschließen  und  die  Meinung  seiner  kirch- 
lichen Vorgesetzten  heucheln  oder —  zu  Grunde  gerichtet  werden.  Die  „Kirche" 
aber  wird  blühen  und  triumphiren!   Wie  lange?  Das  weiß  Gott  allein! 

In  einem  Punkt  geht  der  Entwurf  noch  weiter,  als  die  Windthorstechen 
Anträge,  welche  vom  preußischen  Abgeordnetenhause,  mit  Einscbluss  der  Con- 
servativen,  im  Jahre  1888  mit  Entrüstung  abgewiesen  wurden.  In  diesen 
Anträgen  hatte  Windthorst  das  auf  den  Katholikentagen  so  stark  betonte  Ver- 
langen nach  „voller  Unterrichtefreiheit",  nach  dem  Recht  der  Kirche,  „ihrer- 
seits Schulen  zu  gründen",  klüglich  verschwiegen.  Der  Zedlitz'sche  Ent- 
wurf will  ganze  Arbeit  machen:  auch  dieser  Wunsch  des  verstorbenen  Cen- 
trumsführers ist  nicht  vergessen.    Der  Entwurf  enthält  keine  Bestimmung, 


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-    383  — 


welche  es  der  reichen  katholischen  Kirche  fernerhin  verbietet  oder  auch  nur 
erschwert,  die  uneingeschränkte  Unterrichtafreiheit  dnrch  Begründung  kirch- 
licher Schulen  mit  vollen  Zügen  zu  genießen.  Und  sie  wird  es  nicht  einmal 
immer  mit  ihrem  Gelde  zu  bezahlen  haben!  Ist  doch  sogar  Vorsorge  getroffen, 
dass,  „wo  die  Zahl  der  Schulkinder  einer  vom  Staate  anerkannten  Religions- 
gesellschaft in  einer  Schule  anderer  Confession  über  dreißig  steigt  (der 
Gosslersche  Entwurf  setzte  60!!)tt,  die  Errichtung  einer  besonderen  Volks- 
schule für  dieselben  stattfinden  kann!  Es  wird  künftig,  wenn  und  so  lange 
etwa  dieses  Gesetz  bestehen  sollte,  von  Errichtung  einer  mehrclassigen  Simul- 
tanschule an  Stelle  mehrerer  einclassiger  Confessionsschulen  nicht  mehr  die 
Rede  sein,  ungeachtet  der  Thatsache,  dass  eine  derartige  Zersplitterung  der 
ohnehin  geringen  Finanzkraft  der  Communen  nachtheilig  ist,  und  ungeachtet 
der  anerkannten  Wahrheit,  dass  ein  mehrgliedriger  Schulorganismus  in 
Berücksichtigung  der  Schülerindividualität  mehr  leisten  kann,  als  mehrere 
einfache  Schulkörper  ohne  jegliche  Gliederung.  Gilt  es  doch,  der  verhassten 
Simultanschule  endgiltig  den  Todesstoß  zu  geben.  Das  Volk  wolle  sie  nicht, 
meinte  vertheidigend  Herr  von  Zedlitz,  als  sein  Entwurf  im  Abgeordnetenhause 
die  Anklagebank  zierte.  Das  „Volk"  will  sie  nicht?  Wozu  dann  solche  Be- 
stimmungen? In  Nassau  besteht  die  Simultanschule  schon  volle  75  Jahre, 
und  soeben  erhebt  sich  die  gesamte  nassauische  Bevölkerung  gegen  den  Ver- 
such, ihr  die  liebgewordene,  seit  Generationen  im  Segen  wirkende  Simnltan- 
schule  zu  nehmen!  Das  Volk  will  sie  nicht?  So  braucht  man  auch  keine 
Zwingburgen  aufzuführen,  mit  deren  Hilfe  die  religiöse  Duldsamkeit  zu  Boden 
geworfen  werden  soll!  Fürchtet  aber  die  Regierung,  wie  ihre  sorgsamen  Maß- 
nahmen allerdings  deutlich  genug  erkennen  lassen,  dass  gerade  das  Volk  sie 
wolle,  so  bleibt  für  die  Äußerung  des  Ministers  nur  eine  Erklärung  übrig, 
die  wir  respectvoll  unterdrücken.  Der  Entwurf  stellt  sich  auf  den  Standpunkt 
de«  starrsten  Confessionalismns.  Einmal  über  das  anderemal  erklärte  Herr 
von  Zedlitz  im  Abgeordnetenhause,  dass  es  der  Kegierung  darum  zu  thun  sei, 
die  Bestimmungen  der  Verfassung  mit  diesem  Entwurf  zur  Ausführung  zu 
bringen  —  und  doch  geht  derselbe  über  jene  Bestimmungen  weit  hinaus,  ja 
er  thut  ihnen  geradezu  Zwang  an.  Wo  steht  in  der  Verfassung  geschrieben, 
dass  in  der  Schule  die  engherzigste  Confessionalität  zum  Ausdruck  kommen 
soll?  Nirgends!  Hier  aber  werden  Bestimmungen  empfohlen,  welche  mit  pein- 
lichster Gewissenhaftigkeit  diesem  Ziele  zustreben.  Dagegen  ist  dieselbe  Ge- 
wissenhaftigkeit nicht  beobachtet  worden  gegenüber  dem  aus  der  Friedericia- 
nischen  Zeit  herübergekommenen  Allgemeinen  Landrecht  von  1794.  In 
demselben  wird  z.  B.  bestimmt:  „Kinder,  die  in  einer  anderen  Religion,  als 
welche  in  den  öffentlichen  Schulen  gelehrt  wird,  nach  den  Gesetzen  des  Staates 
erzogen  werden  sollen,  können  dem  Religionsunterricht  in  derselben  beizu- 
wohnen nicht  angehalten  werden."  Das Ge gentheil  davon  will  fast  100  Jahre 
später  die  heutige  preußische  Regierung  zum  Gesetz  machen.  Ein  derartiger 
Vorstoß  gegen  die  Glanbens-  und  Gewissensfreiheit  des  Volkes  ist  im 
Staate  Friedrichs  des  Großen  seit  den  Tagen  eines  Wöllner  nicht  mehr  ge- 
macht worden! 

Äußerst  bedenklich  sind  auch  diejenigen  Bestimmungen  des  Entwurfs, 
welche  darauf  abzielen,  die  Rechte  der  Gemeinden  bezüglich  der  Mitwirkung 
an  der  Schulverwaltung  zu  beschneiden.  Alle  diese  Rechte  gehen  grundsätzlich 


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an  den  Regierungspräsidenten  über.  Nor  insoweit,  als  dieser  es  fttr  zweck- 
dienlich hält,  werden  die  Gemeinden  zur  Antheilnahme  an  diesem  idealsten 
aller  Selbstverwaltungszweige  zugelassen.  „Der  Regierungspräsident  befiehlt, 
die  Gemeinde  —  zahlt!"  Das  ist  der  korzgefasste  Inhalt  der  bezüglichen  Be- 
stimmungen. „Der  Regierungspräsident",  konnte  der  Abgeordnete  Richter 
mit  Recht  sagen,  „bestimmt,  ob  eine  neue  Schale  eingerichtet  werden  darf; 
der  Regierungspräsident  oder  die  Aufsichtsbehörde  bestimmt  die  Classen;  der 
Regierungspräsident  bestimmt,  wie  gebaut  werden  soll;  der  Regierungspräsi- 
dent bestimmt  die  Ausstattung  der  Schule;  der  Regierungspräsident  bestimmt, 
wie  der  Lehrplan  sich  auf  die  einzelnen  Classen  vertheilen  soll;  ohne  den 
Regierungspräsidenten  kann  kein  neuer  Lehrer  angestellt  werden;  der  Re- 
gierungspräsident mit  dem  Bezirksausschuss  setzt  das  Minimalgehalt  fest;  der 
Regierungspräsident  bestimmt,  wie  die  Dienstwohnung  beschaffen  sein  soll,  und 
ob  der  Lehrer  eine  solche  haben  soll;  der  Regierungspräsident  bestimmt,  ob 
freie  Feuernng  und  Heizung  verabreicht  wird;  der  Regierungspräsident  be- 
stimmt, ob  der  Mann  in  den  Ruhestand  zu  versetzen  ist;  er  regelt  die  einst- 
weilige Wahrnehmung  der  Lehrerstelle;  kurzem,  der  Regierungspräsident  be- 
stimmt alles!" 

Die  kurze  Signatur  des  Ganzen  lautet  hiernach:  Priesterherrschaft 
im  Innern,  Allmacht  der  Bureankratie  im  Äußern! 

Bezeichnend  ist  es,  dass  der  Ministerpräsident,  Graf  von  Caprivi,  den 
Widersprach  gegen  diesen  Entwurf  damit  glaubte  stigmatisiren  zu  dürfen,  dass 
er  behauptete:  es  bandle  sich  hier  um  Christenthum  und  Atheismus  — 
wer  diesen  Entwurf  ablehne,  sei  kein  Christ,  sondern  ein  Atheist  Ängstliche 
Gemüther  mag  das  schrecken;  im  allgemeinen  aber  wird  dieser  Schreckschuss 
wenig  oder  gar  nichts  nützen. 

Und  wenn  der  Entwurf  Gesetzeskraft  erlangen  sollte?  Sind  doch  Ultra- 
montane und  Conservative  bereit,  ihn  anzunehmen!   Was  dann? 

Zunächst  wird  die  von  der  Regierung  gehegte  Hoffnung,  dass  das  Gesetz 
geeignet  wäre,  eine  friedliche  Lösung  der  socialen  Frage  herbeizufuhren, 
sich  als  nichtig  erweisen.   Wir  sind  in  keinem  Palast  geboren  und 
wandeln  nicht  auf  den  Höhen  der  „Gesellschaft";  wir  kennen  daher  das  „Volk" 
und  glauben  sicherer  in  seiner  Seele  lesen  zu  können  als  jene,  welche  aus 
äußerlich  begünstigt erer  Stelle  auf  die  Kreise  herabsehen,  in  denen  es  gährt 
und  grollt.  Und  daher  wissen  wir  es,  dass  wiederum  der  Abgeordnete  Richter 
das  rechte  Wort  traf,  wenn  er  behauptete,  dies  Gesetz,  mit  welchem  die  Re- 
gierung die  socialen  Gewitterstrahlen  auffangen  wolle,  sei  ein  zerbrochener 
Blitzableiter.   Ja,  so  ist  es;  wenn  dieser  Entwurf  zum  Gesetz  erhoben 
werden  sollte,  so  wird  es  wirken,  wie  ein  schadhafter  Blitzableiter,  der  die 
Gefahr  vermehrt,  statt  sie  zu  vermindern.   Nimmermehr  wird  die  Sozial- 
demokratie durch  die  Herrschaft  eines  solchen  Gesetzes  entwaffnet  werden. 
Die  preußischen  Regulative  von  1854  haben  es  gelehrt,  dass  derartige  Maß- 
nahmen nicht  geeignet  sind,  um  die  Menschheit  zu  veredeln  oder  auch  nur  von 
den  scheußlichsten  Verirrungen  abzuhalten,  dass  jede  geistliche  Verknöche- 
rung des  Volksschulwesens  als  natürliche  Gegenwirkung  das  entgegen- 
gesetzte Extrem,  nämlich  völlige  Gleichgiltigkeit  in  kirchlichen  Dingen, 
hervorruft   Und  dabei  gingen  die  Regulative  nicht  so  weit,  wie  dieser 
Entwurf! 


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-    385  - 


Geradezu  verhängnisvoll  würde  das  Gesetz  auf  den  Lehrerstand  wirken. 
Zweifelsohne  wurde  eine  Fortbildung  der  Pädagogik  seinerseits  auf  lauge 
Zeit,  mindestens  länger  als  das  Gesetz  dauert,  ausgeschlossen  sein.  Wie  die 
bildende  Kraft  des  Künstlers,  der  nicht  mehr  frei  schaffen  und  nicht  mehr 
seiner  Eingebung  folgen  darf,  allmählich  erlahmt,  so  kann  ein  Lehrer,  der  am 
OJingelbaude  geführt  wird,  dessen  Seele  in  der  Folterkammer  einer  „recht- 
gläubig"-kirchlichen  Approbation  geknetet,  geklopft,  gezupft  und  gezwickt 
worden  ist,  kein  Pädagoge  mehr  sein;  er  sinkt  zum  elendesten  Stundengeber 
herab!  Diejenige  Geistlichkeit  aber,  welche  im  Sinne  und  Geiste  dieses  Ge- 
setzes die  Aufsicht  und  Leitung  der  Volksschule  übernähme,  könnte  —  das 
liegt  in  der  Natur  der  Sache  —  weder  Beruf  noch  Neigung  besitzen,  sich  mit 
der  Theorie  und  Praxis  einer  Wissenschaft  näher  zu  befassen,  deren  Grund- 
lagen, einmal  betreten,  sie  völlig  abseits  der  ihr  zugewiesenen  Aufgaben 
fuhren  müssten. 

Und  wo  sollte  dem  Lehrerstande,  dessen  berufliche  Erfolge  in  erster  Linie 
von  einer  unverwüstlichen  und  stets  sich  erneuernden  freudigen  Hingabe  ab- 
hängen, die  Kraft,  die  Ausdauer  herkommen,  wenn  er  am  Grabe  aller  seiner 
Hoffnungen  stehen  niüsete,  wenn  zur  materiellen  Not  die  Pein  des  inneren 
Zwiespalts  käme,  wenn  er  geknickt,  seines  Selbstbewusstseins ,  seiner  Ver- 
antwortlichkeit entkleidet  dastünde,  ein  Spielball  herrschsüchtiger  Priester, 
die  für  ihn  kein  Herz  haben!  Es  ist  eine  furchtbare  Verantwortung,  welche 
diejenigen  auf  sich  nehmen,  welche  einen  Theil  des  Lehrerstandes  zur  Ver- 
zweiflung oder  —  zur  Gesinnungslumperei  treiben  wollen.  Die  Lehrer  sind 
Christen  und  wollen  Christenthum  lehren;  aber  sie  wollen  nicht  willenlose 
Werkzeuge,  tote  Mundstücke  sein.  Sie  wollen  nicht  im  Geiste  einer  unduld- 
samen Priesterschaft,  sondern  im  Geiste  Christi  selbst  den  Religionsunterricht 
ertheilen.  Sie  wollen  sich  nicht  der  Tortur  einer  modernen  Inquisition  unter- 
worfen sehen.  Wahrhaft  christliche  Vertreter  des  geistlichen  Standes  selbst 
lehnen  ein  derartiges  Gesetz  ab.  Sie  thun  wol  daran.  Denn  das  gute  Ein- 
vernehmen zwischen  Kirche  und  Schule  kann  nur  gedeihen,  wenn  sich  die 
Kirche  wie  eine  liebende  Schwester,  nicht  aber  wie  eine  tyrannische  Herrin 
benimmt. 

Wir  schweigen  davon,  dass  der  Entwurf  keine  der  Forderungen  erfüllt, 
welche  der  Lehrerstand  eben  so  oft  und  eindringlich,  wie  mit  gutem  Recht 
erhoben  hat.  Löst  er  die  Frage  einer  verbesserten  Lehrerbildung?  Nein! 
Schützt  er  den  Lehrer  oder  seine  Hinterbliebenen  furderhin  vor  Noth?  Nein! 
Gewährt  er  die  Fachaufsicht?  Nein!  Weder  in  ideeller  noch  in  mate- 
rieller Beziehung  erhebt  er  die  Lehrerschaft  in  diejenige  Stellung, 
welche  ihr  vermöge  der  Wichtigkeit  ihres  Berufes  und  jahrzehnte- 
langer treuer  Pflichterfüllung  gebührt.  Selbst  die  Vertretung  im 
Schulvorstande,  welche  der  Entwurf  dem  Lehrer  gewährt,  ändert  nicht  das  Ge- 
ringste an  diesem  Urtheil.  Der  Lehrer  soll  von  Amts  wegen  im  Schul  vorstände 
vertreten  sein,  und  wo  ihrer  mehrere  sind,  nach  freier  Wahl.  Der  Entwurf 
aber  bestimmt,  dass  zum  Schul  vorstände,  dessen  Vorsitzender  der  Ortsschul- 
inspector  (im  Geiste  des  Entwurfs  also  wol  ausnahmslos  der  Geistliche)  ist, 
ein  „von  der  Kreis-  (Stadt-)  Schulbehörde  dazu  ernannter  Lehrer"  gehören 
soll.  Das  ist  nicht  die  Forderung  der  Lehrerschaft! 

Auch  von  den  politischen  Wirkungen  dieses  Gesetzes  wollen  wir  nicht 

PaMLnrotfum,  14.  Jahrg.  Heft  VI.  27 


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-    386  — 

sprechen.  Das  gehört  an  eine  andere  Stelle.  Aber  als  Patriot  kann  auch  kein 
Lehrer  ohne  tiefstes  Bedanern  wahrnehmen,  wie  schon  der  bloße  Entwnrf  die 
Folge  hat,  dass  es  im  Reichsgebäude  verdächtig  knistert  und  knackt,  als  sei 
dasselbe  in  den  Grundfesten  erschüttert.  Wer  Augen  hat  zu  sehen,  der  sehe, 
und  wer  Ohren  hat  zu  hören,  der  höre! 

Man  hat  noch  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Anschauungen  und  Stand- 
punkten aus  die  Klage  erhoben,  dass  im  deutschen  Volke  die  Ideale  im  Sinken 
wären.  Der  lebhafte  Widerspruch  jedoch,  welchem  dieser  Gesetzentwurf  be- 
gegnet, hat  gezeigt,  dass  wenigstens  in  denjenigen  Volkskreisen,  welche  nicht 
zu  den  Hörigen  der  hierarchisch -reactionären  Mehrheit  des  preußischen  Abge- 
ordnetenhauses gerechnet  werden  können,  der  Idealismus  keineswegs  erloschen 
ist.  Die  drohende  Unterdrückung  der  geistigen  Freiheit  des  pro- 
testantischen Deutschland  wird  die  idealen  Kräfte  mobil  machen, 
und  wenn  das  frevle  Werk  auch  vorübergebend  gelingen  sollte:  dauern  wird 
es  nicht!  Die  preußische  und  deutsche  Schule  wird  niemals  sein,  was  sie 
schon  zu  Altensteine  Zeit  nach  dem  Wunsche  der  preußischen  Bischöfe  sein 
sollte:  eine  causa  ecclesiastica*). 

Zur  Zeit  freilich  sind  unsere  Aussichten  trübe.  Wir  stehen  im  Bann  des 
Clerikali8mus,  im  Schlosshofe  von  Canossa.  Unsere  nichtpreußischen  Brüder 
aber  sollen  deshalb  nicht  verächtlich  auf  uns  herabsehen,  noch  auch  phari- 
säisch beten.  Wer  da  steht,  der  sehe  zu,  dass  er  nicht  falle  l  Schon  mehr  als 
einmal  hat  das  preußische  Volk  bewiesen,  dass  es  fremdes  Joch  nicht  zu  tragen 
vermag.  So  wird  es  auch  diesmal  sein!  Und  kein  Zweifel:  wenn  der  Aar 
seine  Schwingen  erheben  wird,  dann  sucht  das  Nachtgevögel  seine  dunklen 
Schlupfwinkel  auf. 

Wir  bleiben  nicht  in  Canossa!  — ö  — 


Aus  dem  Großherzogthum  Baden.  {Ende  Januar.)  „Duo  qnom 
faciunt  idem,  non  est  idem."**)  Diese  oft  auf  ihre  Richtigkeit  bezweifelten, 
altclassi8chen  Worte  finden  wieder  einmal  ihre  Bestätigung  in  den  fast  gleich- 
zeitig erschienenen  Gesetzentwürfen  über  das  Elementarschulwesen  in  Preußen 
und  Baden.  Während  der  preußische  Gesetzentwurf  nach  dem  v.  Mühler- 
schen  Liede,  d.h.  mit  Veränderung  des  Substantives  „Wirtshaus"  in  „Kirche", 
also:  „Grad  aus  der  Kirche  komm'  ich  heraus"  abgestimmt  ist,  bietet  der 
Schulgesetzentwurf  Badens  eine  die  Gemüther  im  großen  und  ganzen  be- 
ruhigende und  erhebende  Composition  dar.  Das  Leitmotiv  des  letzteren  ist 
das  liberale,  bis  jetzt  zu  Recht  bestandene  Schulgesetz  vom  Jahre  1868  mit 
seinen  zeitgemäßen  Ergänzungen  (obligatorische  Fortbildungsschule,  obligato- 
rische Einführung  des  Knabenturnunterrichts  etc.).  Während  der  Schulgesetz- 
entwurf des  Landes  „der  Gottesfurcht  und  frommen  Sitte"  einer  total  rück- 
schrittlichen, engherzig -confessionellen  Tendenz  entsprungen  ist,  fordert  der 
badische  Entwurf  in  Bezug  auf  den  Unterricht  der  Volksschule: 


*)  Clausnitzer,  Geschichte  des  preußischen  Unterrichtsgesetzes. 
Berlin,  Verlar  von  E.  Goldschmidt.  (Soeben  in  dritter,  bis  auf  die  neueste  Zeit  fort- 
gefiihrtor  Auflage  erschienen!) 

*♦)  Wenn  zwei  dasselbe  thun,  so  ist  es  nicht  dasselbe. 


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„Der  Unterricht  in  der  Volksschule  wird  sämintlichcn  schulpflichtigen  Kindern 
gemeinschaftlich  erthcilt,  mit  Ausnahme  des  Religionsunterrichts,  sofern  die  Kinder 
verschiedenen  religiösen  Bekenntnissen  angehöreu.  Die  den  politischen  Ge- 
meinden obliegende  Verpflichtung  kann  weder  im  ganzen  noch  zum  Theile  durch 
eine  vorzugsweise  zur  Erfüllung  confessioneller  Zwecke  begründete  Oorporations- 
anstalt  geleistet  werden." 

Die  Unterrichtsgegenstände  der  Volksschule  erhalten  durch  den  „Hand- 
fertigkeitsunterricht" für  Knaben  nnd  durch  „Unterweisung  der  Mädchen  in 
der  Haushaltungskunde"  eine  Bereicherung.  An  dem  Unterricht  dieser  Gegen- 
stände nehmen  jedoch  nur  solche  Kinder  theil,  deren  Eltern  oder  deren  Stell- 
vertreter sie  zur  Theilnahme  bestimmten.  —  Die  Schulpflicht  dauert  acht 
volle  Jahre;  der  Eintritt  der  Mädchen  in  die  Schule  in  dem  Jahre,  in  welchem 
sie  sechs  Jahre  alt  werden,  scheint  uns  jedoch  etwas  zu  frühe  zu  sein;  jeden- 
falls wird  diese  Stelle  des  Entwurfes  eine  Änderung  erfahren.  —  Was  den 
örtlichen  Schulvorstand  betrifft,  so  sind  die  Bestimmungen  hierüber  die 
alten  geblieben;  nach  denselben  hat  der  dienstälteste  Lehrer  Sitz  und  Stimme 
iin  Schul  vorstand,  in  welchem  der  Ortsvorstand  (Bürgermeister)  in  der  Regel 
den  Vorsitz  führt.  —  Auch  die  Vorbildung  der  Lehrer  ist  leider  unverändert 
geblieben  (zweijährige  Vorbereitung  in  einer  Präparandenschule  (auch  private 
oder  Besuch  einer  Mittelschule)  und  dreijährigen  SeminarbeBnch.  (In  Baden 
bestehen  zwei  katholische,  ein  evangelisches  und  ein  „gemischtes"  Seminar.) 

Wenn  der  preußische  Schnlgesetzentwurf  Gesetzeskraft  erlangt,  so  werden 
bedauerlicherweise  die  Lehrer  Prenßens  total  abhängig  von  der  Geistlichkeit, 
sie  werden  „Diener  der  Kirche",  welche  die  Schule  als  „Tochter  und  Magd 
der  Kirche"  zu  behandeln  haben;  dass  dann  jeglicher  Fortschritt  der  Päda- 
gogik mit  dem  Maßstabe  eines  Thomas  von  Aquino  oder  des  „Luthermannes 
Stöcker"  gemessen,  d.  h.  zunichte  gemacht  wird,  ist  selbstverständlich.  BadenB 
Schulgesetzentwurf  dagegen  bestimmt  : 

„Lehrer,  die  einen  durch  die  zuständige  kirchliche  Behörde  ihnen  angetragenen, 
tur  die  Kirchen-  (Heligions-)  Gemeinde,  welcher  der  Lehrer  selbst  angehört,  aus- 
zuübenden Organisten-  bezw.  Vorsängerdienst  —  überhaupt  oder  unter  den  ange- 
botenen Bedingungen  —  anzunehmen  sich  weigern,  könuen  auf  Antrag  der  kirch- 
lichen Oberbehörde  des  betreffenden  Religionsthcilcs  durch  die  Oberschulbehörde  zur 
Übernahme  und  Besorgung  des  Dienstes  angehalten  werden.  Dabei  sind  durch  die 
Oberschulbebörde  nach  Anhören  der  Kirchenbehörde  und  des  Lehrers  der  Betrag  der 
Vergütnog,  sowie  nöthigcnfalls  die  woitertn  Bedingungen  festzusetzen,  von  deren 
Leistung  bezw.  Einhaltung  die  Verpflichtung  des  Lehrers  zur  Übernahme  des  Dienstes 
abhängig  sein  soll.  Andere  niedere  kirchliche  Dienste  dürfen  die  Lehrer 
nicht  übernehmen.-4 

Von  wesentlicher  Bedeutung  für  die  Stellnng  der  Lehrer  Badens  ist 
ferner,  dass  —  laut  des  Entwurfes  —  die  Lehrer  aus  ihrer  bisherigen  Zwitter- 
stellung, wonach  sie  bald  als  Gemeinde-,  bald  als  Staatsbedienstete  behandelt 
werden  konnten  und  infolgedessen  eine  Masse  von  Unzuträglichkeiten  zu  er- 
dulden hatten,  als  Staatsdiener,  bezw.  „etatmäßige  Staatsbeamte"  (nach 
definitiver  Anstellung)  erklärt  werden.  Dass  infolge  dieser  Stellung  der  seit- 
herige Besoldungsmodus  —  Bezahlung  nach  Or tsclassen  —  fallen  und  an 
seine  Stelle  die  Bezahlung  nach  dem  Dienstalter  treten  mußte,  ist  selbst- 
verständlich. Durch  diese  Änderung,  für  welche  schon  seit  Decennien  in  den 
badischen  Schulzeitungen  plaidirt  wurde,  wird  eine  Ungerechtigkeit  von  miss- 
lichen Folgen  aller  Art  beseitigt. 

Der  Anfangsgehalt  eines   etatmäßigen   Lehrers   beträgt   1100  Mark, 

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welcher  bis  1800  Mk.  durch  Zulagen  ansteigt;  die  erste  (Anfangszulage) 
erfolgt  nach  Ablauf  von  drei  Jahren  seit  dem  Zeitpunkte  der  ersten 
etatmäßigen  Anstellung,  die  weiteren  (ordentlichen)  Zulagen  erfolgen  nach  je 
vier  Dienstjahren  in  der  Höhe  von  je  100  Mk.  Außerdem  hat  jeder  definitiv 
angestellte  Lehrer  eine  freie  Wohnung  oder  eine  Wohnungsentschädigung-, 
wie  sie  das  „  Beamtengesetz u  je  nach  drei  Ortsclassen  normirt  (350,  180  nnd 
160  Mk.),  zu  beanspruchen.  „Die  Dienstwohnung  soll  in  der  Regel  mindestens 
vier  Wohnräume  —  davon  zwei  von  je  20 — 25  Quadratmeter  Grundfläche 
und  heizbar,  die  übrigen  von  je  15 — 18  Quadratmeter  Grundfläche,  ferner 
eine  Küche  und  die  sonst  noch  erforderlichen  Haushaltungsräume  umfassen." 
Ferner  erhält  der  erste  (Haupt-)  Lehrer,  welcher  vom  Oberschulrath  bestimmt 
wird,  in  Orten,  die  mindestens  drei  definitive  Lehrer  haben,  100,  in  Orten  mit 
mehr  als  vier  Lehrern  200  Mk.  Dienstzulage.  Die  Pflichtstundenzahl  an  n  ein- 
fachen Volksschulen M  beträgt  32;  für  jede  weitere  wöchentlich  zu  ertheilende 
Unterrichtsstunde  (Fortbildungsschul-  und  Turnunterricht)  wird  50  Mk.  jährlich 
vergütet. 

Definitive  Lehrerinnen  erhalten  Gehalt,  wie  die  definitiven  Lehrer,  jedoch 
nur  bis  zu  dem  Höchstgehalt  von  1400  Mk.  und  nur  Mietsentschädigung  der 
oben  erwähnten  Ortsclassenbeträge. 

„Lehrer  und  Lehrerinnen  in  nicht  etatmäßiger  Stellung  erhalten  eine 
Vergütung  von  jährlich  800  Mk.  Diese  Vergütung  erhöht  sich  auf  900  Mk. 
für  das  Jahr  für  Lehrer  und  Lehrerinnen,  welche  die  Dienstprüfung  bestanden 
haben  und  zwar  vom  Anfang  des  auf  die  Ablegung  der  Prüfung  folgenden 
Monats  an."  Neben  dieser  Vergütung  haben  die  betreffenden  Lehrpersonen 
einen  mit  dem  erforderlichen  Schreinwerk  eingerichteten  heizbaren  Wohnraum 
von  mindestens  18  Quadratmeter  Grundfläche  oder  eine  MiethsentschHdigung 
von  %  des  obengenannten  Wohnungsgeldes  zu  beanspruchen.  Schulverwalter, 
das  sind  provisorische  Lelirer,  welche  eine  definitive  Lehrstelle  verwalten, 
erhalten  den  für  den  definitiven  Lehrer  bestimmten  Betrag  des  Wohnungsgeldes. 

Der  Pensions-  und  Witwengehalt  —  ersterer  richtete  sich  bisher  nach 
dem  Einkommen  der  Ortsclassenstelle,  letzterer  betrug  390  Mk.  jährlich  außer 
dem  Nahrungs-  und  Versorgungsbeitrag  der  etwaigen  Kinder  —  richtet  sich 
nach  den  Bestimmungen  des  „Beamtengesetzes".  Nach  diesem  erhält  ein  pen- 
sionsfähiger Lehrer,  wenn  die  Zuruhesetzung  nach  vollendetem  zehnten ,  jedoch 
vor  vollendetem  elften  Dienstjahre  eintritt,  30%  der  Summe,  welche  unmittel- 
bar vor  der  Zuruhesetzung  den  Einkommensanschlag  (Gehalt  und  Wohnungs- 
geld) darstellt,  und  steigt  von  da  an  mit  jedem  weiter  zurückgelegten  Dienst- 
jahre um  1%%  jener  Summe;  der  Ruhegehalt  darf  75°/0  des  Einkommens- 
anschlags nicht  überschreiten. 

Der  Witwengehalt  beträgt  30%  des  maßgebenden  Einkominens- 
anschlags;  außerdem  erhält  eine  Witwe  während  der  auf  den  Todestag  folgen- 
den drei  Monate  den  vollen  Betrag  des  von  dem  Verstorbenen  bezogenen  Ge- 
haltes und  Wohnungsgeldes  (Sterbegehalt).  Das  gesetzliche  Waisenge ld  (bis 
zum  18.  Jahre)  beträgt  für  Kinder,  deren  Mutter  lebt,  2/10  des  Witwengeldes 
für  jedes  Kind;  für  Ganzwaisen,  wenn  nur  ein  Kind  vorhanden  ist,  4/10,  wenn 
zwei  Kinder  dieser  Art  vorhanden  sind  7/,0,  wenn  drei  oder  mehrere  dieser 
Art  vorhanden  sind,  für  jedes  derselben  >l/,0  des  Witwengeldes. 

Die  Städte,  welche  der  Städteordnung  unterstehen  (dies  sind  die  größeren 


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Städte  des  Landes),  können  ihr  Schulwegen  auf  Grund  des  Gesetzes  beliebig 
ordnen,  besitzen  das  Präsentationsrecht  der  Lehrer  und  haben  keinen  Beitrag 
au  die  Staatsschnlcasse  zu  leisten;  die  Gehalte  der  Lehrpersonen  müssen  jedoch 
mindestens  so  viel  betragen,  als  dieselben  anderwärts  nach  den  gesetzlichen 
Bestimmungen  bezögen.  Die  Bestreitung  der  Ruhegehalte  und  Witwen-  und 
Waisenversorgung  liegt  der  Staatscasse  ob.  —  Für  die  technische  Leitung 
können  die  Städte  einen  Kector  (Stadtschulrath)  durch  die  staatliche  Unter- 
richtsverwaltung anstellen.  „Das  Amt  desselben  kann  als  ein  für  sich  be- 
stehendes eingerichtet,  oder  mit  dem  Dienste  eines  akademisch-gebildeten  oder 
für  höheren  Unterricht  geprüften  Lehrers  der  Volksschule  der  Stadt  verbunden, 
oder  als  Nebenamt  einem  im  Hauptdienst  anderweit  verwendeten,  der  staat- 
lichen Unterrichtsverwaltung  unterstehenden  Beamten  übertragen  werden." 

Würde  diese  Bestimmung  des  Entwurfs  Gesetzeskraft  erlangen,  so  müsste 
dies  in  Hinsicht  auf  das  Ansehen  des  Volksschullehrerstandes  lebhaft  bedauert 
werden,  weil  diese  dann  nolens  volens  von  der  Bekleidung  dieser  Stelle  aus- 
geschlossen würden  und  die  Forderung  der  neueren  Pädagogik  unbeachtet  bliebe, 
wonach  der  Schule  nur  eine  fachmännische  Leitung  ersprießlich  ist.  Un- 
zweifelhaft halten  wir  einen  tüchtigen  und  erfahrenen  Volksschullehrer  viel 
geeigneter  zur  Versehung  einer  Rectorstelle,  als  z.  B.  einen  akademisch  gebil- 
deten Lehramtspraktikanten  oder  einen  Pfarrcandidaten.  Ebenso  findet  Para- 
graph 94  mit  allem  Recht  seitens  der  Volksschullehrer  die  abfälligste  Beurthei- 
lung,  weil  betreffender  Paragraph  verlangt,  dass  an  „erweiterten  Schulen- 
auch  solche  Lehrer,  die  für  höhere  Schulen  (Mittelschulen)  sich  die  Lehr- 
befähigung erworben  haben  (Reallehrer),  ferner  akademisch  gebildete  Lehrer 
an  denselben  angestellt  werden  können.  Hierdurch  würden  alle  Volksschul- 
lehrer, die  der  Volksschule  treu  geblieben  und  das  Examen  für  „erweiterte 
Schulen"  abgelegt  haben,  eine  Beeinträchtigung  erfahren.  Die  Volksschule 
sollte  nicht  als  Versorgungsanstalt  für  solche  Herren  betrachtet  werden,  für 
welche  die  Behörde  keine  entsprechende  Verwendung  hat.  Snnm  cuique. 
Hoffentlich  erhält  auch  dieser  Paragraph  keine  Gesetzeskraft. 

In  Vorstehendem  haben  wir  die  Grundzöge  des  badischen  Volksschnl- 
gesetzentwurfs  im  großen  und  ganzen  dargelegt.  Er  enthält  unleugbar  be- 
deutende Fortschritte,  welche  die  Lehrerschaft  dankbar  anerkennt.  Ein  schönes 
Vorrecht  jedoch,  das  die  definitiv  angestellten  Lehrer  bisher  besaßen,  das  Recht 
der  Unversetzbarkeit,  fällt  mit  dem  neuen  Gesetz;  die  Lehrer  sind,  wie  die 
anderen  Beamten  des  Staates,  fernerhin  „im  Interesse  des  Dienstes"  versetzbar; 
auch  ist  eine  neue  Versetzungsart  für  die  Lehrer,  welche  sie  bisher  nicht 
kannten,  vorgesehen:  die  „Strafversetzung".  —  Hinsichtlich  der  unverkenn- 
baren Vorzüge  dieser  Gesetzesvorlage  muss  man  die  kleineren  Übel  mit  in 
Kauf  nehmen,  da  es  undankbar  sein  hieße,  etwas  Gutes  zu  verkennen,  weil  es 
hätte  besser  sein  können.  Indessen  wird  auch  die  Berathung  des  Entwurfes, 
das  hoffen  wir,  noch  manches  Unebene  abschleifen.  —  Wie  wir  hören,  wird 
der  rührige  und  wackere  Lehrervereins  vorstand,  besonders  der  Obmann  des 
Vereins,  Herr  Hauptlehrer  Heyd,  noch  dahin  wirken,  dass  der  Anfangsgehalt 
auf  1200  und  der  Höchstgehalt  auf  2000  Mk.  erhöht  wird.  Die  badische 
Lehrerschaft  verdankt  die  unleugbaren  Fortschritte,  welche  der  in  Rede  stehende 
Gesetzentwurf  enthält,  in  erster  Linie  seiner  Einigkeit,  ferner  der  thätigen 
und  umsichtigen  Fürsorge  des  Lehrervereinsvorstandes  und  endlich  dem  wol- 


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wollenden,  lehrerfreundlichen  und  liberalen  Minister  Staatsratb  Dr.  Nokk. 
Wir  zweifeln  nicht  an  der  stellenweisen  Verbesserung  und  Annahme  des  Gesetz- 
entwurfes seitens  der  Ständekammern.  Zo  wünschen  wäre,  dass  die  in  schwer- 
verständlicher Fassung  gehaltenen,  sogenannten  „  Übergangsbestimmungen  - 
einer  recht  sorgfältigen  Dnrchberathung  unterzogen  und  manche  Härten  der- 
selben beseitigt  würden.  Wir  behalten  uns  vor,  über  den  weiteren  Verlauf 
der  Sache  s.  Z.  zu  berichten. 

Zum  Schlüsse  fügen  wir  noch  die  Mittheilung  an,  dass  man  sich  in  libe- 
ralen Kreisen  Badens  darüber  wundert,  dass  der  preußische  Minister  Miquei, 
welcher  sich  vor  etwa  drei  Jahren  noch  für  keine  starre  confessionelle  Jugend- 
erziehung in  Hannover  aussprach,  die  Hand  zu  einer  engherzig -confessionellea 
Schulgesetzentwurf  bieten  konnte.  Wir  möchten  dem  Großstaate  Preußen,  der 
noch  so  vieles  an  der  Schule  und  den  Lehrern  gutzumachen  hat.  zurufen:  Gehe 
nach  Baden  und  lerne  von  ihm!  — r. 


Bei  den  academischgebildeten  Lehrern  Badens  ist  eine  Petition  im  Um- 
lauf, in  welcher  um  Gleichstellung  in  Gehalt  und  Alterszulagen  mit  den  Amts- 
richtern gebeten  wird.  Die  genannten  Lehrer  wurden  nämlich  durch  das 
Beamtengesetz  insofern  verletzt,  als  den  Richtern  nach  zwei  Jahren  die  erste 
Zulage  von  500  Mk.  nach  je  acht  Jahren  bis  zur  Erreichung  des  Maximalsatzes 
von  5000  Mk.  zugestanden  ist,  während  den  Professoren  nach  zwei  Jahren 
nur  400  Mk.  und  je  alle  drei  Jahre  nur  je  400  Mk.  zugedacht  wurden.  — 
Wir  wünschen  besten  Erfolg. 


Mannheim.  (Resolution.)  In  einer  dahier  abgehaltenen  Versamiuluug 
des  Freisinnigen  Vereins  hielt  Herr  Dr.  Meuser  einen  Vortrag  über  den 
preußischen  Schnlgesetzentwurf  unter  Bezugnahme  auf  das  badische 
Schulgesetz,  worauf  folgende  Resolution  einstimmig  angenommen  wurde: 

„Die  am  9.  Februar  1892  durch  den  Freisinnigen  Verein  einberufene 
Versammlung  spricht  die  Überzeugung  aus,  daß  die  Durchführung  des 
preußischen  Schulgesetzentwurfs,  bei  der  innigen  geistigen  Zusammen- 
gehörigkeit aller  Theile  unseres  Vaterlandes  einen  unheilvollen  Einfluss  auf 
die  culturelle  Entwicklung  der  gesammten  deutschen  Nation  ausüben  würde. 
Sie  dankt  daher  den  freisinnigen  Abgeordneten  des  preußischen  Landtag 
für  ihre  energische  Bekämpfung  dieses  Entwurfes  und  hofft,  daß  es  den 
vereinten  Bemühungen  der  Liberalen  aller  Schattirungen  gelingen  wird, 
die  Annahme  desselben  zu  verhindern.  Gegenüber  den  im  preußischen 
Abgeordnetenhause  gefallenen  Äusserungen  erklärt  die  Versammlung,  dass 
sich  die  confessionell  gemischte  Volksschule  Badens  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  in  segensreicher  Wirksamkeit  erprobt  hat  und  dass  die  große 
Mehrheit  des  badischen  Volkes  entschlossen  ist,  an  dieser  Errungenschaft 
einer  toleranten  und  freigesinnten  Gesetzgebung  mit  allen  Kräften  fest' 
zuhalten."  N.  B.  Sch. 


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—   391  — 

Ans  Sachsen.  (Nov.  1891  bis  Jan.  1892.)  Der  hohen  Entwicklungs- 
stufe, anf  welcher  nach  dem  Zeugnis  vieler  unser  Volksschulwesen  steht,  ent- 
spricht allerdings  noch  nicht  die  materielle  und  soziale  Stellung  der 
Lehrer.  Die  Blicke  derselben  sind  aus  diesem  Grunde  auf  den  gegenwärtig 
versammelten  24.  Landtag  gerichtet,  der  im  November  vom  Könige  mit  einer 
Thronrede  eröffnet  wurde,  welche  u.  a.  ankündigte: 

„In  Übereinstimmung  mit  den  Gründen,  welche  zu  einer  allgemeinen 
Aufbesserung  der  Beamtengehalte  führen,  wird  Ihnen  auch  ein  Gesetz- 
entwurf über  eine  Erhöhung  der  Minimalgehalte  der  Volksschul- 
lehrer vorgelegt  werden. 

Die  letzte  Ständeversammlnng  hat  sich  ferner  für  eine  neue  Regu- 
lirung  der  Pensionsverhältnisse  der  Geistlichen  und  Lehrer  ausgesprochen. 
In  diesem  Sinne  werden  Ihnen  einige  Gesetze  und  mehrere  Änderungen 
der  statutarischen  Bestimmungen  der  Landesuniversität  zur  Beschließnng 
zugehen." 

Und  in  dem  dem  Landtage  vorgelegten  Berichte  hieß  es: 

Den  Anträgen  der  letzten  Ständeversammlnng  gemäß  ist  erlassen  worden : 
das  Gesetz,  den  Wegfall  der  Pensionsbeiträge  der  Geistlichen  und  Lehrer  be- 
treffend, unter  dem  10.  März  1890. 

Dem  bei  Berathung  des  vorerwähnten  Gesetzes  über  den  Wegfall  der 
Pensionsbeiträge  der  Geistlichen  und  Lehrer  gestellten  Antrage  und  der  in 
Beziehung  hierauf  in  dem  letzten  Landtagsabschiede  gegebenen  Zusicherung 
entsprechend  wird  nunmehr  den  Ständen  ein  Gesetzentwurf,  die  Aufhebung  der 
Befreiung  der  Geistlichen  und  Lehrer  von  den  persönlichen  Anlagen  für 
Kirchenzwecke  betreffend,  zugehen. 

Wegen  Gleichstellung  der  Pensionsverhältnisse  der  Geist- 
lichen und  Lehrer  mit  denen  der  Staatsdiener  haben  die  angestellten 
Erwägungen  zur  Aufstellung  zweier  hierauf  bezüglicher  Gesetzentwürfe  ge- 
führt, welche  den  Ständen  gleichfalls  zngehen  werden. 

Ein  weiterer  Gesetzentwurf  wird,  den  Verhandlungen  über  das  letzte 
Finanzgesetz  entsprechend,  den  Ständen  vorgelegt  werden,  welcher  bezweckt, 
die  für  die  Schulgemeinden  ausgesetzten  Staatsbeihilfen  danernd  zu  gewähren, 
desgleichen  ein  Gesetzentwurf,  welcher  eine  weitere  Erhöhung  der  Lehrer- 
gehalte an  den  Volksschulen  in  Aussicht  nimmt. 

Von  der  (bei  Capitel  96  des  Staatshaushaltsetats)  von  den  Ständen  er- 
theilten  Ermächtigung  zur  Gewährung  einer  Unterstützung  für  die  Lehrer- 
bildungsanstalt des  Deutschen  Vereins  für  Knabenhandarbeit  zu 
Leipzig  ist  Gebrauch  gemacht  worden.  (Vgl.  hierzu:  Pfedag.  XII,  Heft  9, 
Rundschau.) 

Der  Gesetzentwurf,  welcher  die  Befreiung  der  Lehrer  und  Geistlichen 
von  den  Kirchenanlagen  aufhebt,  ist  bereits  im  Januar  angenommen  wor- 
den.—  Von  den  beiden  anderen  Entwürfen  entspricht  der  über  die  Pensions- 
verhältnisse  der  Geistlichen  und  Lehrer  allen  Forderungen  der  Gerech- 
tigkeit: Die  Lehrer  werden  nebst  den  Geistlichen  den  Staatsdienern  gleich- 
gestellt! Endlich!  sagen  wir,  uns  freuend.  Dass  der  Gesetzentwurf  unver- 
mindert Annahme  finden  wird,  ist  mit  Sicherheit  anzunehmen.  So  ist  doch  das 
unablässige  Streben  des  Allg.  Sächs.  Lehrervereins,  der  noch  1888  in  einer 
gründlichen  Denkschrift  seine  Wünsche  in  Betreff  der  Pensionsverhältnisse  der 


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—    392  — 


Volksschullehrer  darlegte,  nicht  vergeblich  gewesen.  (S.  Pasdag.  XI,  Heft  2.) 
Dag  Gesetz  Boll  zugleich  rückwirkende  Kraft  erhalten;  es  beabsichtigt,  die 
Pensionen  der  bereits  im  Ruhestand  befindlichen  Geistlichen  and  Lehrer,  sowie 
der  Hinterlassenen  derselben  in  derselben  Weise  zu  erhöhen,  wie  dies  in  einem 
anderen  Gesetzentwurfe  für  die  im  Ruhestand  befindlichen  Civilstaatsdiener 
und  deren  Hinterlassenen  beantragt  ist.  Es  sollen  daher  erhöht  werden  1.  um 
121/,  Prozent  die  Pensionen  der  Geistlichen  und  Lehrer  bis  mit  1500  M.,  der 
Witwen  bis  mit  600  M.,  der  Halbwaisen  bis  mit  120  und  der  Ganzwaisen  bis 
mit  180  M.;  2.  um  10  Prozent  die  Pensionen  der  Geistlichen  und  Lehrer  von 
1500—3000,  der  Witwen  von  600—1200,  der  Halbwaisen  von  120—240 
und  der  Ganzwaisen  von  180 — 360  M.;  3.  um  71/«  Prozent  alle  höheren  Pen- 
sionen. 

•In  der  Vorberathung  erinnerte  Abg.  Geyer  daran,  dass  vor  zwei  Jahren, 
als  die  Regierung  den  Erlass  der  Pensionskassenbeiträge  fdr  die  Geistlichen 
und  Lehrer  beantragt,  die  socialdemokratische  Partei  diesen  Erlass  zwar  für 
die  Lehrer  bewilligt  habe,  nicht  aber  fdr  die  Geistlichen,  welche  ohnedies  in 
behaglicher  Lage  sich  befänden.  Auch  diesmal  werde  aus  demselben  Grunde 
seine  Partei  die  Pensionserhöhungen  nur  für  die  Lehrer  bewilligen. 

So  erfreulich  unser  Pensionsgesetz  gestaltet  werden  soll,  so  viel  lasst  das 
Dotationsgesetz  noch  zu  wünschen  übrig.  Der  vorgelegte  Entwurf  besagt : 

§  1.  Das  zu  Geldwert  angeschlagene  Gesammteinkommen  eines 
ständigen  Lehrers  oder  einer  ständigen  Lehrerin  an  einer  Volksschule 
darf  nicht  unter  1000  M.  jährlich  betragen.  Die  Anzahl  der  von  dem 
Lehrer  oder  der  Lehrerin  zu  unterrichtenden  Kinder  ist  hierbei  ohne  Ein- 
fluss.  Die  freie  Wohnung  oder  die  Wohnungsentschädi^ung-  ist  in  diese* 
Einkommen  nicht  einzurechnen.  Das  Einkommen  vom  Kirchendienste 
darf  in  dieses  Einkommen  vom  Schuldienste  nur  insoweit  eingerechnet 
werden,  als  es  die  Summe  von  900  M.  jährlich  übersteigt 

§  2.  Den  Schuldirectoren  ist  neben  freier  Wohnung  oder  einer  ent- 
sprechenden Geldentschädigung  dafür  in  Orten  bis  zu  5000  Einwohnern 
ein  jährliches  Einkommen  von  nicht  weniger  als  2100  M.,  in  Orten  von 
mehr  als  5000  Einwohnern  ein  solches  von  nicht  weniger  als  2700  M.  zu 
gewähren. 

§  3.  Jedem  Hilfslehrer  ist  außer  freier  Wohnung  und  Heizung  oder 
einer  von  der  Bezirksschulinspection  genehmigten  Entschädigung  dafür 
ein  barer  Gehalt  von  wenigstens  720  M.  jährlich  auszusetzen. 

§  4.  Das  Einkommen  ständiger  Lehrer  und  Lehrerinnen  an  Volks- 
schulen, welche  mehr  als  40  Kinder  zählen,  ist  durch  Zulagen,  welche 
die  Schulgemeinde  zu  gewähren  hat,  folgendermaßen  zu  erhöhen:  Nach 
einer  vom  erfüllten  25.  Lebensjahre  des  Lehrers  an  zu  rechnenden  Dienst- 
zeit von  5  Jahren  bis  auf  1100  M.,  von  10  Jahren  bis  auf  1200  M.. 
von  15  Jahren  bis  auf  1300  M.,  von  20  Jahren  bis  auf  1400  M.,  von 
25  Jahren  bis  auf  1500  M.  In  Orten  von  mehr  als  6000  Einwohnern 
sind  diese  Gehaltssätze  auf  1200  M.,  1350  M.,  1500  M.,  1650  M.  und 
1800  M.  zu  erhöhen.  Den  ständigen  Lehrern  und  Lehrerinnen  an  Volks- 
schulen von  40  und  weniger  Kindern  sind  in  jedem  der  angegebenen  fünf 
Stadien  60  M.  zuzulegen. 


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—    893  — 

Die  Gesetzvorlage  enthält  weit  niedrigere  Sätze,  als  der  Allg.  Sache. 
L.-V.  in  seiner  im  letzten  Herbste  eingereichten  Petition  erbeten  hatte,  näm- 
lich: für  alle  festangestellten  (ständigen)  Lehrer:  1200  M.  Anfangsgehalt  und 
nach  je  4  Jahren  Erhöhung  auf  1400, 1600,  1800,  2000,  2200  und  2400  M.; 
für  Hilfslehrer:  900  M.;  für  Directoren:  2700—3600  M.  —  Sofort  nach  Be- 
kanntwerden dieses  Entwurfes  hat  der  Vorstand  des  Sachs.  Lehrervereins  eine 
statistische  Erhebung  vornehmen  lassen,  welche  dargethan  hat,  dass  die 
Gesetzesvorlage  durch  die  ^tatsächlichen  Verhältnisse  weit  über- 
holt ist,  und  dass  die  geplante  Aufbesserung  kaum  den  Namen  einer  Nach- 
besserung verdient  Es  würden,  wenn  der  Entwurf  Gesetz  würde,  von  291 
Directoren  241,  von  3737  Lehrern  3594  und  von  den  1380  Hilfslehrern 
1155  nichts  zugelegt  erhalten;  das  sind  je  ca.  83,  93  und  84  Procent  der 
Gesammtheit!  Von  „allgemeiner"  und  „durchgreif ender"  Aufbesserung  kann 
da  keine  Rede  sein!  —  Die  Enttäuschung  und  Missstimmung  der  Lehrerschaft 
nach  dieser  Seite  hin  war  groß.  Und  sie  ist  auch  in  entsprechender  Weise 
znm  Ausdruck  gekommen,  z.  B.  in  der  „Neuen  Pädag.  Revue"  von  Beeger 
(1891,  Nr.  6,  S.  41.  Leipzig,  Zangenberg  &  Himly).  Auf  diesen  die  Sache 
völlig  treffenden  Artikel  mag  hier  der  Kürze  halber  noch  hingewiesen  sein, 
ebenso  auf  die  orientirenden  Mittheilungen  der  umsichtigen  „Allg.  Deutschen 
Lehrerztg.«  (1891,  S.  462,  S.  493,  Leipzig,  Klinkhardt).  Der  Vorstand  des 
Landeslehrervereins  hat  die  Ergebnisse  seiner  Statistik  den  Ständen  in  einer 
Denkschrift  überreicht,  und  es  ist  zu  hoffen,  dass  dieselben  die  Sätze  der  Vor- 
lage um  etwas  erhöhen  werden.  Indem  wir  dieser  Hoffnung  Raum  geben, 
wollen  wir  zugleich  hervorheben,  dass  die  Bitten  der  Lehrer  auch  von  Geist- 
lichen unterstützt  werden:  Die  Pastoralconferenzen  von  Lommatzsch, 
Nossen  und  Wilsdruff  haben  im  letzten  Monat  an  beide  Ständekammern  eine 
Petition  gerichtet,  in  welcher  gleichfalls  um  eine  höhere  Normirung  der  Lehrer- 
gebälter  gebeten  wird.  Die  Petenten  sagen,  dass  sie  in  ihrer  amtlichen  Thätig- 
keit  das  Wirken  der  Lehi-er  zur  Genüge  kennen  zu  lernen  Gelegenheit  haben 
und  demselben  ihre  Anerkennung  zollen,  und  bringen  im  Weiteren  dieselben 
Gründe  vor,  welche  die  Lehrer  für  ihre  Bitten  ins  Feld  geführt.  (S.  „Sächs. 
Schulztg."  1892,  Nr.  5,  S.  60,  Leipzig,  Klinkhardt,  Preis  0,20  M).  Man 
hofft,  dass  die  selbstlose  Bitte  der  Pastoren  nicht  unbeachtet  bleiben  werde. 
Wenn  auch  diese  meinen,  was  wir  sagen,  so  wird  es  wol  wahr  sein!  Alle 
Ehre  aber  solchen  Geistlichen,  die,  nachdem  ihnen  Gott  gegeben  reichlich  (oder 
wenigstens  hinreichend),  auch  ihren  Mitarbeitern  günstig  gesinnt  sind!  Mit 
solchen  Männern,  die  in  echt  geistlichem  Sinne  reden  und  handeln,  wer- 
den die  Lehrer  allezeit  gerne  am  Werke  der  Volkserziehung  arbeiten.  —  Ein 
weiteres  über  diesen  Gegenstand  wird  den  geehrten  Lesern  bemerkt  werden, 
wenn  der  Entwurf  zur  Regelung  der  Lehrergehälter,  verbessert  oder  —  nicht 
verbessert,  beschlossene  Sache  sein  wird. 

Im  diesjährigen  sächs.  Staatshaushalt  sind  die  meisten  Kapitel  mit  viel 
höheren  Beträgen  als  früher  eingestellt;  so  sind  für  die  Lehrerseminare  in- 
folge Erhöhung  der  Lehrer-  und  Beamtenbesoldungen  und  Erbauung  eines 
Seminargebäudes  in  Rochlitz  436130  M.,  für  die  Volksschulen  wegen  der 
Beihilfen  an  die  Schulgemeinden  zur  Bestreitung  ihrer  Lehrergehalte  und 
Steigerung  der  Lehrerzahl,  ingleichen  wegen  Verstärkung  der  Fonds  zur  Ge- 
währung von  Unterstützungen  und  Beihilfen  an  Volksschullehrer  und  Schul- 


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—    394  — 


gemeinden,  zur  Förderung  des  Volksschulwesens  und  zur  Gewährung  von  Pen- 
sionen etc.  an  Lehrer  und  deren  Hinterlassene  1956178  M.  mehr  angesetzt. 

Zugleich  ist  raitgetheilt,  dass  die  Errichtung  eines  neuen  Seminars 
in  Plauen  bei  Dresden  für  die  Finanzperiode  1894/95  in  Aussicht  genommen 
sei.   (S.  Paedag.  X,  Heft  5.) 

Dem  Minister  v.  Gerber,  welcher  die  drei  genannten  Gesetzentwürfe 
vorlegte,  sollte  es  nicht  be  schieden  sein,  dieselben  unter  Dach  zu  bringen.  Ein 
plötzlicher  Tod  raffte  am  23.  December  den  68jährigen  Staatsmann  hinweg, 
der  über  20  Jahre  an  der  Spitze  deB  sächsischen  Ministeriums  des  Cultus  und 
öffentlichen  Unterrichts  gestanden.  In  der  letzten  Landeslehrerversammlung 
war  v.  Gerber  das  erste  Mal  unter  der  Volkeschullehrerschaft  erschienen. 
(S.  Psedag.,  Dez.-Heft  dies.  Jahrg.,  S.  184  f.)  Es  sollte  leider  zugleich  das 
letzte  Mal  sein.  Man  hoffte  nämlich  seitdem,  dass  Dr.  v.  Gerber  nunmehr  auch 
dem  Volksschullehrerstande  eine  besondere  Aufmerksamkeit  zuwenden  werde; 
man  vermutet  auch,  dass  die  Petition  des  Allg.  Sächs.  L.-V.,  am  14.  Okt.  ein- 
gereicht, bei  Ausarbeitung  des  Gesetzentwurfs  über  die  Lehrergehälter  nicht 
mehr  hat  berücksichtigt  werden  können,  weil  derselbe  vielleicht  schon  fertig 
war;  man  glaubt  nicht  allgemein,  dass  unsere  Bitte  so  sehr  hat  unberücksich- 
tigt bleiben  sollen.  —  Unter  dem  Minister  v.  Gerber  ist  in  Sachsen  für  das 
Schulwesen,  insbesondere  aber  für  das  der  höheren  Schulen,  viel  gethan 
worden,  und  eine  große  Anzahl  segensreicher  Gesetze  und  Einrichtungen  sind 
unter  seinem  Namen  ergangen.  Naturgemäß  kann  nicht  alles  Geschehene 
sein  Verdienst  sein,  da  ja  jede  mächtige  Zeitströmung  schließlich  zu  Ände- 
rungen und  Besserungen  führt,  gleichviel,  wer  an  der  Spitze  steht. 

Karl  Friedr.  Wilh.  ?.  Gerber  war  am  11.  April  1823  zu  Ebeleben  im 
Fiirstenthum  Schwarzburg-Sondershausen  geboren,  wo  sein  Vater  Rector  der 
Stiftsschule  war.  Er  besuchte  das  Gymnasium  zu  Sondershausen  und  widmete 
sich  von  Ostern  1840  bis  1841  in  Leipzig  unter  Albrecht  und  Puchta,  dann 
bis  1843  unter  Mittermaier  und  Vangerow,  dem  Studium  der  Rechtswissen* 
schaft.  Nachdem  er  1843  die  juristische  Doctorwürde  erworben  hatte,  trat 
er  1844  als  Privatdocent  in  die  Universität  Jena  eiu,  um  sich  der  akademi- 
schen Lehrtätigkeit  zu  widmen.  Im  Jahre  1846  erschien  sein  grundlegendes 
Werk:  Das  wissenschaftliche  Princip  des  geraeinen  deutschen  Privatrechts, 
worin  Gerber  die  Dogmatik  des  deutschen  Privatrechts  auf  neuen  Boden  stellte. 
In  demselben  Jahre  wurde  er  zum  ausserordentlichen  Professor  ernannt,  und 
1847,  einem  Rufe  nach  Erlangen  folgend,  übernahm  er  als  Nachfolger  von 
Laspeyres  die  ordentliche  Professur  für  deutsches  Recht  an  der  dortigen  Uni- 
versität. Gerber  war  also  im  Alter  von  24  Jahren  bereits  ordentlicher  Pro- 
fessor. Alsbald  ging  er  in  Erlangen  an  die  Ausarbeitung  seines  Systems  des 
deutschen  Privatrechts,  das  in  den  Jahren  1848  und  1849  in  Jena  erschien. 
Dieses  bahnbrechende  Werk  hat  bis  heute  immer  neue  Auflagen  erlebt  und 
steht  noch  allen  ähnlichen  Werken  voran.  Es  brachte  ihm  1851  den  Ruf 
nach  Tübingen,  wo  er  als  Professor  und  Nachfolger  von  Wächters  die  Stellung 
eines  Kanzlers  der  Universität  übernahm.  Damit  erhielt  er  zugleich  Sitz  und 
Stimme  in  der  württembergischen  Kammer  der  Abgeordneten.  In  den  Jahren 
1857 — 1861  nahm  er  als  Abgeordneter  des  Königreichs  Württemberg  thätigen 
Antheil  an  der  in  Nürnberg  und  Hamburg  tagenden  Konferenz  zur  Feststellung 
des  deutschen  Handels-  und  Seerechts;  um  das  Zustandekommen  dieses  Werkes 


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hat  er  sich  besondere  Verdienste  erworben.  Darauf  werde  ihm  im  März  1861 
das  Ministerium  des  Cultus  in  Württemberg  angeboten,  dessen  Übernahme  er 
jedoch  ablehnte.  Dagegen  nahm  er  1862  die  Berufung  zum  Professor  der 
Rechte  und  Oberappellationsgerichtsrath  in  Jena  an,  doch  vertauschte  er  diese 
Stellung  1863  mit  der  Professur  des  deutschen  Privat-,  Staats-  und  Kirchen- 
rechts in  Leipzig.  Hier  ließ  er  1865  seine  Grundzüge  eines  Systems  des 
deutschen  Staatsrechts  erscheinen,  wiederum  ein  grundlegendes  Werk  für  die 
wissenschaftliche  Behandlung  des  Gegenstandes,  auf  dem  z.  B.  Laband  in  seinem 
Lehrbuche  des  deutschen  Staatsrechts  durchaus  fußt.  Im  Jahre  1867  war 
Gerber  Mitglied  des  constituirenden  Beichstags  des  Norddeutschen  Bundes,  und 
1871  stand  er  als  Vorsitzender  an  der  Spitze  der  ersten  Landessynode  in 
Sachsen.  Als  in  demselben  Jahre  Freih.  von  Falkenstein  von  seinem  Amte 
zurücktrat,  berief  ihn  Se.  Majestät  der  König  von  Sachsen  als  Staatsminister 
und  Minister  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichtes  zu  dessen  Nachfolger. 
Von  wissenschaftlichen  Veröffentlichungen  sind  fernerhin  nur  noch  die  Ge- 
sammelten juristischen  Abhandlungen  (Jena  1872)  zu  erwähnen,  in  welchen  er 
zahlreiche  kleinere  Schriften  und  Aufsätze  besonders  aus  den  von  ihm  und 
Ihering  1857  gegründeten  Jahrbüchern  für  die  Dogmatik  des  römischen  und 
deutschen  Privatrechts  vereinigte.  Um  so  bedeutender  ist  die  Thätigkeit,  die 
Gerber  als  Staatsmann  entfaltete.  Wichtige  Aufgaben  hat  er  mit  großem 
Geschick  und  weitschauendem  Blick  zum  Segen  für  Sachsen  gelöst.  Zunächst 
verdanken  wir  seiner  Mitwirkung  das  Zustandekommen  der  kirchlichen  Gesetz- 
gebang  (1873  und  1874),  durch  welche  das  Verhältnis  zwischen  Staat  und 
Kirche  in  befriedigender  Weise  festgestellt  wurde.  Eine  schwierige  Aufgabe 
wurde  durch  diese  Gesetzgebung  in  grundlegender  Weise  gelöst.  Nicht  minder 
sind  nnter  Gerber  die  Verhältnisse  der  katholischen  Kirche  zum  Staate  geregelt 
worden;  liegen  die  Verhältnisse  hier  weniger  schwierig  als  auf  dem  gleichen 
Gebiete  in  Preußen,  so  ist  es  doch  nicht  zu  unterschätzen,  dass  wir  durch  diese 
Gesetzgebung  vor  allen  kirchlichen  Streitigkeiten  bisher  durchweg  bewahrt 
worden  sind. 

Von  größter  Bedeutung  ist  sodann  das  Gesetz  über  das  sächsische  Volks- 
schnlwesen  vom  26.  April  1873  nebst  den  Ausführungsverordnungen  vom 
25.  August  1874,  dem  seitdem  eine  lange  Reihe  ergänzender  Gesetze  und  Ver- 
ordnungen gefolgt  sind.*)  Wenn  wir  nicht  irren,  steht  bis  jetzt  dieses  um- 
fassende Gesetz  in  Deutschland  einzig  da.  Während  man  in  Preußen  heute 
bemüht  ist,  ein  solches  Gesetz  erst  ins  Leben  zu  rufen,  hat  sich  diese  bedeut- 
same Schöpf nng  des  verstorbenen  Cultusministers  v.  Gerber  bei  uns  schon 
17  Jahre  lang  bewährt.  Die  Aufgabe,  der  Kirche  wie  den  Gemeinden  gleich 
gerecht  zu  werden,  ist  hier  ziemlich  glücklich  gelöst.  Nicht  minder  wichtig 
ist  die  Gesetzgebung  auf  dem  Gebiete  des  höheren  Schulwesens,  die  unter 
Gerbers  Leitung  für  Sachsen  ins  Leben  getreten  ist.  Hier  ist  das  Gesetz 
über  die  Gymnasien,  Realschulen  und  Seminare  vom  22.  August  1876*)  zu 
erwähnen,  das  als  grundlegende  Arbeit  auf  diesem  Gebiete  die  erste  Stellung 
t  inniiuint.  Dieses  wie  die  ergänzenden  Gesetze  von  1882  und  1884  —  letztere 
die  Realgymnasien  und  Realschulen  betreffend  —  haben  bewirkt,  dass  Sachsen 
bis  heute  eine  hervorragende  Stellung  auf  dem  Gebiete  des  höheren  Schulwesens 


*)  Sämmtlich  erschienen  bei  (\ C.  Meinhold  &  Söhne  in  Dresden. 


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eingenommen  hat.  Die  jetzt  geplante  Schulreform  völlig  durchgeführt  zu  sehen, 
war  dem  Minister  nicht  vergönnt. 

Verdienste  hat  er  sich  ferner  um  die  Weiterentwickelung  der  Landes- 
Universität  Leipzig  erworben;  seiner  Anregung  nnd  Wirksamkeit  verdankt  sie 
es  mit,  das8  sie  gegenwärtig  eine  der  ersten  Stellen  unter  den  deutschen  Uni- 
versitäten einnimmt.  Mit  Erfolg  ist  Gerber  bemüht  gewesen,  ihr  stets  tüchtige 
Kräfte  zuzuführen.  Die  großartigen  medizinischen  und  naturwissenschaftlichen 
Institute,  die  einen  großen  besonderen  Complex  ausmachen,  sind  ihrer  wissen- 
schaftlichen Disposition  nach  Mosteranstalten.  Die  prachtvolle  neue  Bibliothek 
und  die  Augenheilanstalt  bilden  die  letzten  Glieder  dieser  bedeutsamen  Neu- 
bauten, denen  durch  ein  neues  Auditorienhaus  der  Abschluss  gegeben  werden 
soll.  Auch  ist  zu  erwähnen,  dass  unter  Gerber  das  Polytechnikum  in  Dresden 
zur  Hochschule  umgebildet  worden  ist. 

Zu  Anfang  Januar  meldeten  die  Amtsblätter:  Se.  Majestät  der  König  hat 
dem  zeitherigen  Geh.  Begier  ungsrath  im  Ministerium  des  Cultus  und  öffent- 
lichen Unterrichts  Kurt  Damm  Paul  von  Seydewitz  unter  Ernennung  zum 
Staatsminister  die  Leitung  des  Ministeriums  des  Cultus  und  öffentlichen 
Unterrichts  übertragen,  ingleichen  den  Auftrag  in  Evangelicis  ertheüt.  — 
Möge  das  Wirken  des  neuen  Ministers  für  die  Allgemeinheit  und  für  die 
Lehrerschaft  im  besonderen  ein  gesegnetes  sein! 


Die  Schulzustände  in  Bosnien  und  der  Hercegovina.  Solange 
Bosnien  und  die  Hercegovina  unter  der  Osmanenherrschaft  gestanden,  und  so- 
lange dort  hinsichtlich  der  Verkehrsmittel  und  der  Sicherheit  des  Lebens  und 
des  Eigenthums  die  asiatischen  Zustände  anzutreffen  waren,  haben  sich  sehr 
wenige  getraut,  diese  Länder  behufs  einer  wissenschaftlichen  Erforschung  zu 
bereisen,  seitdem  aber  diese  Provinzen  durch  Österreich-Ungarn  occupirt  und 
dort  die  herrlichsten  Verkehrsmittel  angelegt  sind,  und  seitdem  dank  der 
Energie  der  Staatsmanner  eine  moderne  Verwaltung  eingeführt  ist  und  in 
jeder  Hinsicht  geregelte  Zustände  platzgegriffen  haben,  hat  die  Gelehrtenwelt 
diesen  Ländern  mehr  Aufmerksamkeit  geschenkt,  und  es  pilgern  Archäologen. 
Geologen,  Kartographen  und  viele  andere  dahin,  um  Forschungen  anzustellen 
und  ihr  Wissen  zu  bereichern.  Über  die  seit  der  Occupation  dieser  Länder 
allseits  wahrnehmbare  culturelle  Entwickelung  ist  bereits  soviel  Gutes  ge- 
schrieben worden,  dass  die  Staatslenker  mit  Stolz  auf  diese  Errungenschaften 
zurückblicken  können.  In  allen  Verwaltungszweigen  ist  ein  bedeutender  Fort- 
schritt bemerkbar,  und  auch  auf  dem  Gebiete  der  Volksbildung  ist  bereits 
vieles  gethan,  obwol  noch  manches  nachgeholt  werden  muss. 

In  jedem  geregelten  Staate  bildet  die  Schule  einen  sehr  wichtigen  Factor, 
denn  von  einem  gut  und  praktisch  organisirten  Schulwesen  hängt  die  Zukunft 
desselben  ab.  Als  Schulmann  habe  ich  mir  zur  Aufgabe  gemacht,  das  Schul- 
wesen in  den  occupirten  Provinzen  einer  näheren  Betrachtung  zu  unterziehen. 

Während  meiner  activen  Dienstleistung  als  Schulinspector  in  der  ehe- 
maligen Militärgrenze  hatte  ich  Gelegenheit  gehabt,  das  bosnische  Schulwesen 
vor  der  Occupation  kennen  zu  lernen  und  ließ  im  Jahre  1879  über  die  dama- 
ligen Schulzustände  im  „Paedagogium"  eine  kurze  Skizze  erscheinen.  Damals 


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gab  es  in  Bosnien  nnd  der  Hercegovina  nnr  confessionelle  Schalen  u.  z.  waren : 
917  muhamedanische  Kiemen  tarschalen  (türkisch  mejtefe); 
41  röm.  kath.  Elementarschulen; 

57  gr.  or.  Elementarschulen; 

43  höhere  muhamedanische  Schalen  (türkisch  Medresse)  and 

24  Bürgerschulen  (türkisch  mektebi  rizdje). 

Diese  letzteren  waren  bezüglich  des  Lehrstoffes  and  des  Unterrichtszieles 
ganz  primitiv  und  ähnelten  nicht  im  entferntesten  unseren  gegenwärtigen 
Bürgerschalen. 

Nach  den  statistischen  Daten  vom  Jahre  1890,  also  nach  Verlauf  von 
12 jähriger  Occupation,  bestehen  nun  im  Okkupationsgebiete  folgende  Schalen: 
1  vollständiges  Ober-Gymnasium  in  Sarajevo; 

1  Privat-Gymnasium  in  Travnik  (unter  der  Leitung  der  P.  P.  Jesuiten); 
1  technische  Schule  in  Sarajevo; 

1  Präparandie  in  Sarajevo  zur  Heranbildung  der  Elementarlehrer  (Internat); 
1  Militär-Pensionat  in  Sarajevo; 
8  Handelsschulen; 
41  Medresse; 

26  röm.  kath.  Elementarschulen; 

58  gr.  or.  Elementarschulen; 

1  israelitische  Elementarschule; 

4  Privat-Elementarschulen  und 

150  allgemeine  Elementarschulen. 

Aus  diesen  Daten  ist  ersichtlich,  dass  der  confessionelle  Charakter  der 
Elementarschulen  nicht  ganz  gewichen  ist,  und  dies  läset  sich  auch  nicht  sobald 
erwarten ,  zumal  die  Gegensätze  der  einzelnen  Religionsgenossenschaften  zu 
scharf  zugespitzt  sind.  Die  jüngere  Generation  dürfte  vielleicht  in  dieser 
Hinsicht  mehr  zur  Einsicht  gelangen,  die  Schule  als  eine  allgemeine,  allen 
Bewohnern  des  Landes  gleich  zugängliche  Bildungsstätte  anzusehen. 

Vergleicht  man  die  Schulzastände,  wie  sie  vor  der  Occupation  bestanden, 
mit  den  gegenwärtigen,  so  sieht  man,  dass  auch  auf  dem  Gebiete  des  Unter- 
richtswesens ein  bedeutender  Fortschritt  gemacht  worden  ist;  obwol  sich  nicht 
leugnen  lässt,  dass  manches  nicht  so  aufgefasst  und  durchgeführt  werde,  wie 
es  die  pädagogischen  Principien  erheischen.  Zur  Klärung  der  so  wichtigen 
Angelegenheit  werde  ich  einige  Mängel,  welche  bei  der  Organisation  des  Schul- 
wesens wahrzunehmen  sind,  hervorheben  und  insbesondere  die  Errichtung  der 
Handelsschulen  einer  näheren  Besprechung  unterziehen.  Derjenige,  der  mit  der 
Organisation  des  Schulwesens  betraut  wird,  muss  nicht  nur  höhere  pädago- 
gische Kenntnisse,  sondern  auch  praktische  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  der 
Organisation  dieses  wichtigen  Culturzweiges  besitzen;  er  soll  nicht  nur  das  • 
Schulwesen  seines  Heimatlandes,  sondern  auch  das  Schulwesen  anderer  Cultur- 
8taaten  genau  kennen,  damit  er  das  Beste  für  das  Land,  wo  er  seine  Thätig- 
keit  entwickelt,  herausfinden  and  den  Landesverhältnissen  anpassen  könne. 
Man  mag  in  einem  Provinzial-Städtchen  ein  guter  Volksschullehrer  gewesen 
sein,  ohne  deshalb  die  Fähigkeit  eines  Organisators  zu  besitzen. 

Wer  ein  Gebäude  solid  und  dauerhaft  aufführen  will,  der  muss  vor 
allem  darauf  bedacht  sein,  gutes  und  gesundes  Material  zu  bekommen,  und 
solches  erfahrenen  und  bewährten  Meistern  zur  Bearbeitung  übergeben.  Wendet 


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man  diesen  Gesichtspunkt  auf  die  bosnischen  Handelsschulen  an,  so  muss 
man  unwillkürlich  zu  der  Überzeugung  gelangen,  dass  man  diese  Schulen 
ohne  Rücksicht  auf  die  Vorbildung  der  Frequentanten  entstehen  ließ.  Der 
Zweck  der  Handelsschulen  ist,  ihren  Zöglingen  eine  den  Bedürfnissen  des 
praktischen  Geschäftslebeus  möglichst  entsprechende  fachliche  Ausbildung  zu 
gewähren,  und  nebstbei  auch  jene  allgemeinen  Bildungszwecke  zu  fordern, 
welche  die  Hauptrichtnng  dieses  Fachunterrichtes  zunächst  ergänzen.  Auf 
Grund  dessen  muss  demnach  der  Unterricht  in  diesen  Schulen  das  ganze  Gebiet 
der  kaufmännischen  Fachwissenschaften,  sowie  die  hierzu  gehörenden  wichtig- 
sten humanistischen  Lehrfächer  umfassen.  Um  dies  erzielen  zu  können,  müssen 
die  Zöglinge  dieser  Lehranstalten  wenigstens  eine  Bürgerschule  oder  ein  Unter- 
gymnasium oder  eine  Unterrealschule  mit  gutem  Erfolge  absolvirt  haben.  Ist 
dies  aber  bei  den  bosnischen  Handelsschulen  der  Fall?  Nein!  Die  bosnischen 
Handelsschulen  bekommen  ihre  Zöglinge  ans  den  allgemeinen  Elementarschulen, 
.-wo  die  geistigen  Anlagen  noch  nicht  so  entwickelt  sind,  um  die  verschiedenen 
Unterrichtsgegenstände  mit  Erfolg  auffassen  zu  können.    Durch  die  Überbür- 
dung mit  Lehrstoff  muss  die  Jugend  geistig  erlahmen  und  auch  in  der  körper- 
lichen Entwickelung  gehemmt  werden.  Jeder  pädagogisch  Gebildete  weiß  aus 
Erfahrung,  dass  durch  Überladung  des  Lektionsplanes  mit  Unterrichtsfächern, 
die  ein  buntes  Allerlei  bieten,  das  Wissen,  mit  welchem  vielleicht  für  die 
Prüfung  geprunkt  werden  kann,  ein  äußerliches  bleibt,  im  Gemttth  aber  keine 
Wurzel  schlägt  und  der  Entwickelung  des  Geistes  besonders  bei  sehr  mangel- 
haft Vorgebildeten  keine  feste  Grundlage  bereitet.  Alles  oberflächliche  Wissen, 
alles  blos  gedächtnismäßig  angeeignete,  nicht  mit  voller  Selbsttätigkeit  nnd 
Theilnahme  des  inneren  Menschen  Erworbene  leistet  der  Blasirtheit,  welche 
jede  gründliche  Geistesarbeit  hasst,  Vorschub.    Ein  treibhausartiger  Erwerb 
von  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  hat  keinen  Halt  und  ist  für  die  Menschheit 
verderblich.    Die  bosnischen  Kinder  sind  zwar  von  der  Natur  gnt  beanlagt, 
aber  Wunderkinder  sind  sie  doch  nicht.    Unreif  kommen  sie  in  die  Handels- 
schule und  unreif  müssen  sie  diese  Anstalten  verlassen  und  werden  zuletzt  als 
kaufmännisches  Proletariat  auftauchen. 

Die  Idee  zur  Errichtung  der  Handelsschulen  in  Bosnien  und  der  Herce- 
govina,  wo  der  Handelsverkehr  ein  ziemlich  reger  ist,  ist  zwar  sehr  lobens- 
wert, aber  zu  verfrüht.  Hätte  man  statt  dieser  Schulen  Bürgerschulen, 
wie  Bolche  in  Österreich-Ungarn  errichtet  sind  und  sich  sehr  bewährt  haben, 
hergestellt,  so  hätte  man  nicht  nnr  den  Bürgerstand,  dessen  geistige  Bildung 
noch  in  den  Windeln  liegt,  geistig  gehoben,  sondern  auch  einen  sehr  branch- 
baren Nachwuchs  für  die  Handelsschulen  und  die  Lehrerbildungsanstalt  und 
bei  eventueller  Errichtung  der  Gewerbe-  und  Ackerbauschulen  auch  für  diese 
•  Anstalten  gewonnen.  Solche  Bürgerschulen  wären  für  Bosnien  und  die  Herce- 
govina  eine  große  Wolthat  und  würden  eine  höchst  segensreiche  Wirkung 
hervorbringen.  Aus  dem  Erwähnten  sieht  man,  dass  das  Material  für  die 
Handelsschulen  nicht  gut  ist,  und  dass  somit  auch  das  Gebäude  nicht  solid  nnd 
dauerhaft  genannt  werden  kann. 

Wie  steht  es  aber  mit  den  Lehrpersonen  dieser  Fachschule?  Gerade  wie 
mit  den  Zöglingen.  Ich  glaube  mit  Recht  behaupten  zu  dürfen,  dass  kein  ein- 
ziger Lehrer  an  diesen  Handelsschulen  eine  specielle  Fachbildung  für  derlei 
Anstalten  besitze.    Ich  kenne  einige,  die  in  der  ehemaligen  Militärgrenze 


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einfache  Volksschullehrer  waren,  und  nnn  finde  ich  sie  als  Directoren  solcher 
Handelsschulen.  Wo  und  wie  sie  sich  die  Fachbildung  für  eine  Handelsschule, 
wo  doch  die  Landessprache  (kroatisch-serbisch)  und  ihre  Literatur,  kaufmännische 
Buchführung,  Handelscorrespondenz,  Wechselrecht,  Handelsgeographie,  Handels- 
gescbichte,  Warenkunde,  Handelsrecht,  kaufmännisches  Beebnen,  die  Grundzüge 
der  Nationalökonomie  und  wenigstens  eine  fremde  Sprache  (deutsch,  französisch, 
englisch  oder  italienisch)  zu  lehren  sind,  erworben  haben,  bleibt  mir  ein  Räthsel. 

Wenn  man  die  Errichtung  der  Handelsschulen  für  nothwendig  gehalten 
hat,  so  hätte  es  vorläufig  genügt,  eine  solche  Schule  an  die  technische  Schule 
in  Sarajevo  durch  Errichtung  eines  dreijährigen  Curaus  anzulehnen,  wie  man 
dies  an  der  Oberrealschule  in  Agram  mit  Erfolg  prakticirt  hat.  Dann  hätte 
eine  solche  Schule  dem  Zwecke  entsprochen,  denn  sie  würde  ans  der  technischen 
Schule  gut  vorgebildete  Schüler  und  fachmännisch  gebildete  Lehrer  erhalten. 
Sollte  auch  an  dieser  Schule  kein  speciell  für  das  Handelsfach  vorgebildetes 
Lehrindividuum  vorhanden  sein,  so  müsste  ein  solches  an  die  Handelsakademie 
nach  Wien  behufs  fachmännischer  Heranbildung  entsendet  werden,  wie  dies 
seitens  der  kroatisch-slavonischen  Landesregierung  in  Agram  fast  jährlich 
geschieht. 

Wenden  wir  jetzt  unsere  Betrachtung  der  Lehrerbildung  für  Elementar- 
schulen zu.  Dass  die  Lehrerbildung  eine  sehr  wichtige  Angelegenheit  im 
Staatsorganismus  ist,  beweisen  zur  Genüge  die  Thatsachen,  dass  sowol  der 
Staat  als  auch  die  Gemeinden  wetteifern,  den  Lehrern  eine  derartige  päda- 
gogische Bildung  angedeihen  zu  lassen,  welche  sie  in  den  Stand  setzt,  die  ihnen 
zur  Erziehung  und  zum  Unterrichte  anvertraute  Jugend  zu  gesitteten  Menschen 
und  würdigen  Staatsbürgern  heranzubilden.  Wie  steht  es  nun  mit  der  Lehrer- 
bildung in  Bosnien  und  der  Hercegovina  und  woher  recrutiren  sich  die  Zög- 
linge für  diese  Berufsschule?  Da  noch  sehr  wenige  Mittelschulen  und  gar  keine 
Bürgerschulen  oder  ähnliche  Lehranstalten  vorhanden  sind,  so  erhält  die 
Lehrerbildungsanstalt  ihren  Nachwuchs  meistens  aus  den  Elementarschulen. 
Es  ist  wol  wahr,  dass  man  im  Zeiträume  von  kaum  14  Jahren  keinen  tüchtigen 
Lehrerstand  heranzubilden  vermochte;  aber  es  hätte  doch  besser  werden  können, 
wenn  man,  wie  bereits  erwähnt,  gleich  in  den  ersten  Jahren  nach  der  Occu- 
pation  Bürgerschulen  errichtet  hätte,  wo  ein  genügender  Nachwuchs  für  die 
Lehrerbildungsanstalt  herangezogen  worden  wäre.  Es  leuchtet  somit  ein,  dass 
gegenwärtig  auch  für  diese  sehr  wichtige  Berufsschule  keine  genügende  Vor- 
bildung vorhanden  sei.  Mit  den  an  dieser  Anstalt  wirkenden  Lehrpersonen  ist 
es  etwas  besser  bestellt,  zumal  doch  einige  ihre  Lehrbefähigung  für  Bürger- 
schulen erlangt  haben;  aber  trotzdem  muss  die  Lehrerbildung  als  eine  sehr 
mangelhafte  bezeichnet  werden,  weil,  wie  erwähnt,  die  Vorbildung  der  Zöglinge 
keine  hinreichende  ist.  Um  wenigstens  für  die  städtischen  Schulen  bessere 
Lehrkräfte  zu  bekommen,  musste  man  solche  aus  den  Nachbarprovinzen,  vor- 
nehmlich aus  der  ehemaligen  Militärgrenze,  ans  Kroatien  undSlavonien  heran- 
ziehen. Wie  es  im  Anfange  der  Occupationsjahre  mit  der  Lehrerbildung  be- 
stellt war,  geht  zur  Genüge  daraus  hervor,  dass  der  frühere  Director  der 
Lehrerbildungsanstalt  ein  ganz  simpler  Volksschullehrer  ohne  jede  höhere 
pädagogische  Bildung  war,  und  gegenwärtig  als  Mitreferent  über  das  Schul- 
wesen dem  Schuldepartement  bei  der  Landesregierung  in  Sarajevo  zugetheilt  ist. 

Indem  ich  meine  Ausführungen  hiermit  schließe,  hone  ich  mit  allen  treuen 


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Staatsbürgern,  dass  sich  auch  auf  dem  Gebiete  des  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
wesens in  den  occnpirten  Provinzen  alles  zum  Bessern  wenden  werde.  In 
dieser  Hoffnung  bestärkt  uns  noch  der  Umstand,  dass  nach  dem  Berichte  des 
Referenten  in  den  verflossenen  Delegationssitzungen  die  Staatslenker  in  Bosnien 
und  der  Hercegovina  diesem  wichtigen  Culturzweige  durch  Einstellung  bedeu- 
tender Geldsummen  für  die  Hebung  des  Schulwesens  und  für  die  Errichtung 
neuer  Unterrichteanstalten  ihre  vollste  Aufmerksamkeit  geschenkt  haben. 

Franz  Tiöak. 


Theodor  Vernaleken. 

Im  letzten  Hefte  haben  wir  mitgetheilt,  dass  unser  geschätzter  Mitarbeiter 
Theodor  Vernaleken  am  28.  Janaar  in  Graz  seinen  80.  Geburtstag  gefeiert 
hat.  Wir  benutzen  diesen  Anlass,  einen  kurzen  Lebenslauf  des  wackeren 
Jubilars  vorzuführen. 

Vernaleken  wurde  am  28.  Januar  1812  zu  Volkmarsen  in  Westfalen 
geboren.  Er  erhielt  seine  Schulbildung  in  Warburg  und  Paderborn,  worauf  er 
1830 — 1834  das  Lyceum  zu  Fulda  besuchte.  Anfangs  widmete  er  sich  dem 
Studium  der  Theologie  und  Philologie,  aber  bald  überkam  ihn  die  Wanderlust ; 
es  zog  ihn  nach  der  Schweiz,  der  Heimat  Pestalozzis.  Hier  gelang  es  ihm 
bald,  mit  einigen  Schülern  und  Mitarbeitern  des  großen  Pädagogen  in  Verbin- 
dung zu  treten,  namentlich  mit  dem  Seminardirector  in  Küssnacht,  F.  Sehen* 
(Bruder  Johannes  Scherrs).  Bei  diesem  lehrte  und  lernte  er  und  besuchte 
nebenbei  die  Vorlesungen  an  der  Hochschule  zu  Zürich.  1837  begann  er  seine 
praktische  Laufbahn  als  Lehrer  in  Winterthur.  Im  Jahre  1846  gründete  und 
leitete  er  die  r Schweizerischen  Blätter  für  Erziehung  und  Unterricht",  hielt 
•  ift'entliche  literar-historische  Vorlesungen  und  entfaltete  schon  damals  eine  be- 
deutende schriftstellerische  Thätigkeit.  Im  Jahre  1848  schlug  Vernaleken  tief- 
eingreifende Reformen  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtes  vor.  In  diese  Zeit 
fällt  auch  sein  Briefwechsel  mit  dem  Ministerialrathe  Exner  in  Wien,  dessen 
Aufmerksamkeit  er  durch  Übersendung  einiger  Schriften  auf  sich  gezogen 
hatte.  Der  österreichische  Unterrichtsminister  Graf  Leo  Thun  ernannte  ihn 
im  Jahre  1850  zum  Professor  am  Polytechnikum  in  Wien  und  zog  ihn  sofort 
zu  den  Berathungen  heran,  welche  damals  bezüglich  der  Lehrpläne  für  die 
neu  zu  errichtenden  Realschulen  stattfanden.  Gleichzeitig  wurde  er  mit  der 
Ausarbeitung  von  Lesebüchern  für  die  Volksschule  beauftragt,  welche  jedoch 
ihrer  liberalen  Tendenzen  wegen  Anstoß  erregten.  Vernalekens  Entwurf  für 
das  erste  Sprach-  und  Lesebuch  bezweckte  Bildung  des  Geistes  und  Herzens, 
Weckung  der  Phantasie,  Anregung  und  Ausbildung  des  Sprachgefühls  durch 
verständige  Aneignung  des  Inhalts,  Weckung  des  kindlichen  Gemüths  zur 
Gottesfurcht,  zur  Sitte  und  Vaterlandsliebe.  Leider  fand  dasselbe  nicht  die 
Genehmigung  der  österreichischen  Bischöfe;  die  Vernalekenschen  Lesebücher 
mussten  auf  kirchliches  Verlangen  umgearbeitet  werden.  Als  in  Wien  die 
ersten  selbststandigen  Realschulen  ins  Leben  gerufen  wurden,  kam  Vernaleken 
im  Jahre  1851  als  Professor  der  deutschen  Sprache  und  Literatur  an  die 
neugegriindete  Ober -Realschule  am  Schottenfeld  mit  der  gleichzeitigen  Er- 
nennung zum  Mitgliede  der  Prüfungscommission  für  Realschulen;  damals  fiel 
auch  auf  Vernaleken  die  auszeichnende  Wahl,  die  Erzherzogin  Henriette, 
die  nunmehrige  Königin  der  Belgier  und  Mutter  der  Kronprinzessin  -  Witwe 


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Stephanie,  dritthalb  Jahre  lang  in  Sprache,  Literatur  and  Geschichte  zn  unter- 
richten. An  der  Realschule  arbeitete  Vernaleken  rastlos  für  die  Verbesserung 
des  Sprachunterrichts;  zu  diesem  Zwecke  arbeitete  er  sein  dreibändiges  Lite- 
raturbuch aus.  Das  Studium  der  Grammatik  bahnt«  er  zuerst  mit  dem 
deutschen  Sprachbuche  an,  diesem  folgte  die  Formenlehre  der  deutschen  Sprache 
and  zuletzt  seine  große  zweibändige  Syntax,  ein  Werk  unermüdlichen  Sammel- 
eifers. Um  einen  größeren  Einfluss  auch  auf  die  Förderung  des  österreichischen 
Volksschul wesens  zu  erlangen,  gründete  Vernaleken  im  Vereine  mit  dem  Schul- 
rathe  M.  A.Becker  den  „Österreichischen  Schulboten".  Vernaleken  war  rast- 
los thätig  für  die  Neugestaltung  der  österreichischen  Volksschule.  Zu  Anfang 
der  Sechziger  Jahre  hielt  er  an  der  Schottenfelder  Realschule  für  die  Wiener 
Volksschullehrer  Vorlesungen  über  Sprache  und  Literatur  und  gab  damit  ge- 
wissermaßen ein  Vorspiel  des  Wiener  Lehrer-Predagogiums.  Nach  dem  Jahre 
1866  schrieb  Vernaleken  eineAnfsehen  erregende  Broschüre:  „Über  den  Volks- 
schulunterricht", und  half  mit  dieser  den  Boden  für  das  österreichische  Reichs- 
Volks8cbulgesetz  vom  14.  Mai  1869  vorbereiten.  Er  wurde  von  dem  liberalen 
ünterrichtsminister  v.  Hasner  an  die  alte,  von  Maria  Theresia  gegründete 
Lehrer- Präparandie  St.  Anna  bernfen,  um  diese  im  Sinne  und  Geiste  des  neuen 
Schulgesetzes  umzugestalten.  Am  1.  März  1870  übernahm  Vernaleken  die 
Leitung  der  Anstalt,  die  er  bis  zum  Jahre  1877  führte.  Bei  seiner  Pensio- 
nirung  erhielt  er  in  Anerkennung  seines  verdienstvollen  Wirkens  das  Ritter- 
kreuz des  Franz-  Josephs-Ordens.  Mit  Vernaleken  schied  von  der  Wiener  Lehrer- 
Bildnngsanstalt  ein  Schulmann,  der  voll  Überzeugungstrene  und  Festigkeit  in 
seiner  Gesinnung,  strenge  gegen  sich,  gerecht  und  wolwollend  gegen  andere 
war.  Die  Lehramtszöglinge  liebte  er  wie  ein  Vater  seine  Kinder;  er  be- 
trachtete sich  als  ihr  älterer  Freund.  Viele  Gegner  machte  er  sich  allerdings 
dadurch,  dass  er  frei  und  ohne  Rückhalt  aussprach,  dass  der  bisherige  Reli- 
gionsunterricht einer  gründlichen  Reform  bedürfe.  In  den  letzten  Jahren 
schrieb  Vernaleken  noch  zahlreiche  Aufsätze  pädagogischen  Inhalts  im  „Päda- 
gogium" von  Dr.  Dittes  und  viele  kleine  Erzählungen,  Schwänke  und  Sagen 
im  „Heimgarten"  von  Rosegger.  Zu  erwähnen  ist  noch,  dass  Vernaleken  auch 
als  Germanist  sich  verdient  gemacht  hat.  Seine  Schriften  fanden  den  Beifall 
von  Jak.  Grimm,  Unland  und  Pfeiffer.  Ebenso  hat  er  auf  dem  Gebiete  der 
Sagen-  und  Märchenforschung,  überhaupt  der  Volkspoesie  und  Sittengeschichte 
Ansehnliches  geleistet  Seit  seinem  Rücktritte  vom  Amte  lebt  er  in  Graz. 
Möge  ihm  ein  heiterer  Lebensabend  beschieden  sein! 

Aus  der  Fachpresse. 
522.  Zur  Theorie  des  Lehrplans  (C. Spielmann,  Neue  Bahnen  1891, 
XII).  Ein  „System4  des  Lehrplans,  wie  es  längst  von  den  Zillerianern  — 
wenigstens  in  ähnlicher  Gestalt  —  ausgedacht  worden,  nur  dass  Hr.  Sp.  noch 
das  schöne  Wort  „Normalität"  dafür  erfunden  hat.  Hr.  Sp.  spielt  überhaupt 
gern  mit  Worten,  besonders  auch  mit  Fremdwörtern  („die  zwingende  Enge 
des  alles  an  sich  ziehenden  —  centripetirenden  —  Gesinnungsunterrichts"  — 
„formal  bildend"  heißt  bei  ihm  zuweilen  „sittlich  bildend").  Den  Begrifl 
„Umgang"  scheint  er  als  eine  von  ihm  ausgekramte  Neuigkeit  ausgeben  zu 
wollen;  denn  er  fühlt  sich  zu  der  Mahnung  bewogen:  „Man  beachte  beim  Lesen 
meiner  Abhandlung  dies  oft  wiederkehrende  Wort"  —  während  doch  „dieses 

P*digogi0ni.    U.  Jahrg.  Heft  VI.  28 


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402 


Wort"  jedem  oberflächlichen  Kenner  der  Herbart  -  Zillerschen  Lehre  geläufig 
ist.  „Die  Geschichte  muss  unbedingt  aus  dem  Realien winkel  hervorgeholt, 
und  auf  ihre  hohe  Bedeutung  muss  hingewiesen  werden"  —  als  ob  dies  nicht 
schon  längst  geschehen  wäre,  und  zwar  mit  solcher  Übertreibung,  dass  eich 
ein  starker  Gegenstrom  entwickelt  hat  (von  den  Naturwissenschaften  her,  wie 
allgemein  bekannt!)  —  Am  Schlüsse  „glaubt"  Verf.  „nicht",  dass  jemand  die 
„Systematisirung  des  Lehrplans  für  die  Volks-  und  Mittelschule  für  eine 
wissenschaftliche  Spielerei  halten"  werde  —  wir  halten  sie  allerdings  dafür, 
und  mit  „hinreichenden  Gründen".  Zu  allerletzt  aber  steht  geschrieben: 
„Wird  nur  das  dringende  Bedürfnis  der  Systematisirung  der  Fächer  anerkannt 
und  auf  dieselbe  von  allen  Seiten  hingewiesen  und  gewirkt,  dann  ist  mein 
sehnlichster  Wunsch  erfüllt."  Ja  — ■  wenn  ein  Lehrerberz  in  gegen- 
wärtigen Zeitläuften  nichts  sehnlicher  zu  wünschen  brauchte  als  jenes  oder 
ähnliches:  dann  müssten  wir  mindestens  schon  im  Vorhofe  zum  pädagogischen 
Paradiese  sitzen!  —  (Welche  Bewandtnis  es  mit  dem  römischen  „Sprtichwort« 
Mens  sana  in  corpore  sano  hat,  wolle  Hr.  Sp.  im  Rep.  d.  Pied.  1889/90,  VII 
nachlesen.) 

523.  Die  Ferien  und  die  körperliche  Entwickelung  des  Kindes 
(0.  Janke,  Päd.  Zeit#.  1891,  33).  Hauptzweck  der  Ferien:  „Vollständige 
Compensation  der  hemmenden  Einflüsse  des  Schullebens."  „Sie  müssen  so 
lange  dauern,  dass  ihr  Hauptzweck  in  möglichster  Vollkommenheit  erreicht 
werden  kann"  ;  deshalb  einmal  im  Jahre  „große"  Erholungsferien.  (Alle  nicht 
mit  Rücksicht  auf  das  Kind  angeordneten  Ferien  sind  auf  die  geringste  An- 
zahl Tage  zu  beschränken.)  Gleiche  Dauer  für  alle  Schulen.  Die  Erholungs- 
ferien sind  auf  die  Zeit  zu  verlegen,  wo  das  Wachsthum  der  Kinder  am  ge- 
ringsten und  wo  Aufenthalt  im  Freien,  Baden  u.  ä.  möglich  ist.  —  Mit  inter- 
essanten Mittheilungen  über  die  Messungen  nnd  Wägungen  in  schwedischen 
und  dänischen  Schulen. 

524.  Über  den  Bilderreichthum  der  deutschen  Sprache  und 
dessen  Verwendung  im  Unterricht  (J. Bucher,  Schweiz.  Lehrerztg.  1891, 
28.  29.)  „Die  Muttersprache  lernen,  heißt  leben  und  erfahren."  —  Überall 
Anklänge  an  Hildebrand,  wie  denn  diesem  Meister  auch  ein  Theil  der  zahl- 
reichen Beispiele  entlehnt  ist.  —  Solche  „Denkübungen"  (im  Sinne  Hildebrands), 
„die  man  zur  Feststellung  der  eigentlichen  Bedeutung  der  Wörter,  oder  zur 
Klarlegung  des  Bedeutungswandels  anstellt,  sind  sehr  dankbar"  und  eignen 
sich  sowol  für  Unter-  wie  für  Oberklassen,  „indem  der  Lehrer  die  Schwierig- 
keiten stets  zu  steigern  vermag."  Hauptgewinn  für  die  Grammatik;  „denn 
man  kann  mit  Bezug  auf  diese  nie  genug  betonen,  dass  das  Formelle  der 
Sprache  stets  vom  Inhalt  getragen  werden  müsse"  (besonders  günstig:  Wort- 
paare wie  trinken  und  tränken.) 

525.  Gedanken  über  den  Atlas  und  über  das  Kartenlesen 
(R.  Schmidt,  Prakt.  Schulmann  1891,  I.  II).  Eine  gehaltvolle  Abhandlung, 
die  jeder  Lehrer  der  Erdkunde  mit  Genuss  lesen  wird.  —  Wir  skizziren  im 
Folgenden  die  Hauptgedanken:  Schwierigkeiten  beim  Gebrauch  der  Planigloben 
und  der  „Erdkarte  in  Mercators  Projection"  —  Übersichtakärtchen  (um  Ver- 
breitung der  Menschenrassen,  Pflanzen,  Industrien,  um  Bodencultur,  klima 
tische  Verhältnisse  zu  veranschaulichen)  gehören  nicht  in  den  Volksschulatlas 
—  getreues  Bild  von  der  Stellung  der  Erde  zu  anderen  Weltkörpern  an  der 


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Wand  des  Schnlcorridors  —  Karte  der  Meeresströmungen  (zugleich  Übersicht 
der  Weltmeere)  nöthig;  Veranschaulichung  des  Verhältnisses  zwischen  Wasser 
und  Land  mittelst  graphischer  Darstellung  —  Schiffahrtslinien  auf  den  Karten 
der  Erdtheile,  Eisenbahnlinien  nur  in  den  günstigsten  Fällen  (Vereinigte 
Staaten)  —  Wichtigkeit  des  Maßstabes  von  Länderkarten  (für  das  Verständnis 
der  Raumverhältnisse,  zum  Zwecke  der  Vergleichung,  auch  mit  dem  ent- 
sprechenden Globus;  dazu  viele  gutgewählte  Beispiele  aus  der  Längen»  und 
Flächenberechnung:  Aufgaben,  deren  Lösung  wol  meistens  der  Rechenstunde 
[„Sacbrechnen!"]  zuzuweisen  ist)  —  Wert  der  Profilzeichnungen  —  auch 
Höhenangaben  in  Kilometern  —  gewisse  eng  begrenzte  Gebiete  als  typische 
Landschaften  besonders  ausfuhrlich  zu  behandeln  (Beispiel:  Rhonegletscher- 
Landschaft)  —  die  verschiedenen  im  Atlas  vorhandenen  Kartenbilder  desselben 
Landes  nacheinander  betrachten,  mit  dem  im  kleinsten  Maßstabe  gegebenen 
beginnend  —  Anknüpfen  an  Meldungen  der  Tagesblätter  („leben  in  und  mit 
der  Gegenwart")  —  Vertrauen  auf  die  Einbildungskraft  —  Hauptzweck  der 
Anschaulichkeit:  von  jedem  Gebiete  auf  die  einfachste  Weise  in  der  Seele  des 
Lernenden  eine  Reliefkarte  zu  erzeugen. 

526.  Über  Lücken  im  botanischen  Unterricht  der  Volksschule 
(R.  Hobohm,  Deutsche  Blätter  1891,  30).  Mangel  an  Aufklärung  über  solche 
Kryptogamen,  die  für  das  praktische  Leben  hohe  Bedeutung  haben  und  vor- 
züglich geeignet  sind,  das  physikalische  und  biologische  Verhalten  der  Pflanzen 
begreifen  zu  lehren.  —  Unterrichtsbeispiel :  Mehlthaopilz  auf  Gurkenblättern. 
Vorgeschlagen  werden  ferner  verschiedene  Algen  (in  Tümpeln.  Teichen,  Brunnen- 
trögen), die  ein  Bild  der  Meerespflanzen  geben,  oder  die  Erdkruste  bilden 
helfen,  Polirschiefer,  Zahnpulver  u.  a.  liefern ;  Mutterkorn  (durch  dessen  Ein- 
sammeln sich  die  Kinder  Geld  verdienen  können),  Weizenrost,  Weinpilz,  Pinsel- 
schimmel, Kartoffelpilz.  Dagegen  beschränke  man  sich  bei  manchen  unwich- 
tigen „Blümeleintt  auf  die  Benennung  und  Hervorhebung  charakteristischer 
Züge.  —  Das  Mikroskop  soll  nötigenfalls  vom  Fleisch beschauer  entlehnt  wer- 
den. —  Gute  Führer  für  den  Lehrer:  Auerswald  (Botanische  Unterhaltungen); 
Behrens  (Lehrbnch  der  allgemeinen  Botanik,  und  Leitfaden  der  botanischen 
Mikroskopie.) 

Soeben  ist  bei  Jnl.  Klinkhardt  in  Leipzig  und  Berlin  erschienen:  Der 
preußische  Schulgesetzentwurf  im  Lichte  der  deutschen  Unterrichtsgesetzgebung. 
Im  Auftrage  des  geschäftsführenden  Ausschusses  des  deutschen  Lehrervereins 
bearbeitet  von  J.  Tews.  (56  S.)  Eine  mit  vollkommener  Sachkenntnis  und 
großer  Sorgfalt  ausgearbeitete,  sehr  zeitgemäße  und  instructive  Schrift,  welche 
wir  allen  Lehrern  und  Schulinteressenten  bestens  empfehlen. 


Die  „Steiger-Stiftung"  in  Luzern,  die  alljährlich  an  Lehrer-,  Volks-  und 
.Tugendbibliotheken  Bücher  verschenkt,  hat  im  letzten  Jahre  an  Lehrerbiblio- 
theken des  Kantons  Lnzern  die  „Schule  der  Pädagogik u  von  Dr.  Fried- 
rich Pitt  es  gratis  verabfolgt. 


Zum  bevorstehenden  Comeniusfeste  offerire  ich  ein  Comenius- Portrait 
68x58  cm  im  feinsten  Chromo  mit  16  Farben  ausgeführt  zu  M.  2,50  mit 
Postversendung  zu  M.  2,80.    Dasselbe  am  Blindrahmen  und  auf  Leinwand 

28» 


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—    404  - 


aufgespannt  in  antiken  Rahmen  mit  vergoldeten  Friesen  eingesetzt  zo  8  M. 
Kiste  für  ein  Bild  M.  1,20,  für  jedes  weitere  nm  M.  0,40  mehr.  Miniatnr- 
portrait  von  Comenius  in  der  Größe  von  13V2Xl8  cm  100  St  zu  6  M.  Das 
kleine  Portrait  eignet  sich  zum  Vertheilen  unter  die  Jugend.  Dieses  Miniatur  - 
Portrait  ist  in  jeder  Buchhandlung  zu  sehen.  Sollte  das  große  Portrait  dem 
Geschmacke  des  Bestellers  nicht  entsprechen,  so  wird  dasselbe  zurückgenommen, 
wenn  die  Ketonrnirung  franco  geschieht.  Bei  Bestellung  bitte  Bahnstation 
anzugeben.    V.  Neubert:  Chromolithographische  Kunstanstalt  Prag-Smichow. 

Wie  wird  ein  Conversationslexikon  gemacht?  Uber  den  gewal- 
tigen Organismus,  welcher  bei  Herstellung  eines  solchen  Riesenbuchs  in  Be- 
wegung ist,  hat  man  vielfach  keine  richtige  Vorstellung,  obwol  es  einleuchtet, 
dass  ein  Werk  wie  der  „Brockhaus"  nicht  von  wenigen  Personen  geschrieben 
und  gedruckt  sein  kann.  Aber  wer  hätte  geglaubt,  dass  allein  mit  der  Aus- 
arbeitung und  Redaction  der  nahezu  100000  Artikel,  in  welchen  die  14.  Auf- 
lage das  Wissen  und  Können  der  Gegenwart  zu  umfassen  sucht,  an  vier- 
hundert Gelehrte  und  Fachmänner  aller  Disciplinen  beschäftigt  sind,  dass 
die  Herstellung  des  Werkes  außerdem  ein  technisches  und  buchhändlerisches 
Personal  der  Firma  von  GOO  Köpfen  mehr  oder  weniger  regelmäßig  bean- 
sprucht, also  insgesammt  eintausend  Personen  jahrelang  daran  thätig  sind! 

Trotz  der  schlimmen  Folgen,  welche  der  lang  andauernde  Buchdrucker- 
streik auf  die  Herstellung  eines  derartigen  Werkes  haben  musste,  scheint  es 
der  Verlagshandlung  und  Druckerei  zu  gelingen,  das  Versäumte  nachzuholen, 
da  sie  den  zweiten  Band  für  das  jetzige  Frühjahr  verspricht.  Derselbe  soll 
sich  wie  der  erste  Band  durch  eine  Fülle  von  trefflichen  Chromos,  Karten  und 
sonstigen  Abbildungen  und  durch  wichtige  und  reichhaltige  Artikel,  welche 
von  neuen  Gesichtspunkten  aus  bearbeitet  sind,  auszeichnen.  Wie  lang  muss 
wol  der  Artikel  Berlin  werden,  wenn  Aachen  im  ersten  Bande  beinahe  vier 
Seiten  füllt?  Wie  wir  hören,  findet  das  monumentale  Werk  eine  so  günstige 
Aufnahme,  dass  dem  sehr  hoch  bemessenen  ersten  Druck  schon  jetzt  ein  Neu- 
druck des  ersten  Bandes  gefolgt  ist.  Es  müssen  Berge  von  Hanuscripten  und 
Correcturen  die  Redaction  und  die  Druckerei  passiren,  bis  auch  nur  die  tausend 
Seiten  und  Abbildungen  eines  der  16  Bände  mit  einwandfreiem  Texte  in  die 
Hand  des  Käufers  gelangen! 


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Receusionen. 


Kambly's  Element  ar-Mathematik.  bearbeitet  von  Dr.  Hugo  Langguth. 
I.  Theil:  Arithmetik  nnd  Algebra.  32.  Anfl.  Für  Realschulen.  213  S. 
2  Mk.  —  für  Gymnasien.    108  S.    1,65  Mk.   Breslau  1890,  Hirt. 

Der  Bearbeiter  gesteht  im  Vorworte,  dass  die  Lehrbücher  Kambly's  in 
ihren  letzten  Autlagen  den  Fortschritten  der  Wissenschaft  nicht  mehr  gefolgt 
sind;  er  sab  eich  daher  genöthigt,  nicht  nur  auf  eine  Erweiterung  des  Stoffes, 
sondern  auch  auf  wissenschaftliche  Durchdringung  desselben  bedacht  zunehmen, 
und  in  der  That  ist  ihm  die  Herstellung  eines  recht  brauchbaren  Lehrbuches 
gelungen.  Den  ersten  Abschnitt,  welcher  von  den  vier  Rechnungsarten  in 
absoluten  Zahlen  handelt,  halten  wir  für  sehr  wertvoll  zum  Zwecke  einer  all- 
mählichen Einführung  des  Schülers  in  die  allgemeine  Arithmetik.  Wenn  man 
sogleich  neben  den  Buchstaben,  Coeflicieuten  und  Exponenten  auch  noch  mit 
den  negativen  Zahlen  beginut,  so  ist  das  eine  so  große  Häufung  neuer  Begriffe, 
dass  eine  schwächere  Begabung  darüber  leicht  in  Verwirrung  geräth.  Leider 
hat  sich  zwischen  den  Paragraphen  sieben  und  elf  ein  Widerspruch  einge- 
schlichen, denn  während  der  Paragraph  sieben  die  Summe  von  der  Reihenfolge 
der  Addenden  für  unabhängig  erklärt,  verlangt  der  Paragraph  elf  in  dieser 
Beziehung  ungerechtfertigter  Weise  ein  Vorgehen  von  „links"  nach  „rechts." 
Paragraph  zwölf  erfordert  eine  ganz  unnütze  Belastung  des  Gedächtnisses. 
Nachdem  Paragraph  sieben  die  Vertauschbarkeit  der  Addenden  ausgesprochen 
hat,  ist  der  ganze  Paragraph  zwölf  nur  eine  beispielsweise  Ergänzung  von 
Paragraph  sieben.  —  Wras  weiters  die  Unterscheidung  von  „Messen1'  und 
nTheilenu  betrifft,  so  halten  wir  es  ganz  mit  Professor  Westermann, 
welcher  die  Benennung  der  Rechnungsergebnisse  einem  Urtheile  zuschreibt, 
das  vom  Rechnungsvorgange  vollkommen  unabhängig  dasteht. 

Der  zweite  Abschnitt  führt  die  algebraischen  Zahlen,  zugleich  auch  das 
Rechnen  mit  Null  und  Unendlich  ein.  Das  Rechnen  mit  diesen  beiden  Nickt- 
zahlen  bereitet  den  Schülern  jederzeit  große  Schwierigkeiten,  in  der  That 
kann  man  ja  mit  denselben  auch  gar  nicht  rechneu,  denn  die  Mehrzahl  der 
Resultate  wird  unbestimmt;  es  braucht  daher  der  Schüler  nur  diese  Formen 
als  Ausdrücke  der  mathematischen  Unbestimmtheit  —  und  dazu  noch  viel 
später  bei  mehrerer  Festigung  seines  Wissens  kennen  zu  lernen.  Der  Verfasser 
bedarf  jedoch  des  Rechnens  mit  der  Null  zur  Begründung  der  Vorzeichenreg-el 
der  Multiplication,  wozu  sie  jedoch  nicht  nöthig  ist;  wir  bedienen  uns  hierfür 
einer  Anzahl  negativer  Einheiten  in  Reihen  und  Spalten  geordnet  ähnlich  wie 
die  positive  Einertafel  auf  Seite  17  zur  Begründung  des  Satzes  von  der  Ver- 
tauschbarkeit der  Factoren  gebraucht  wird.  Die  Verwertung  solcher  positiver 
und  negativer  Einertafeln  für  die  Entwicklung  der  elementaren  Lehrsätze 
kann  nicht  genug  empfohlen  werden,  denn  sie  dienen  zur  Begründung  eines 
analytischen  Urtheils,  welches  in  der  Mathematik  stets  von  einer  viel  erfreu- 
licheren Klarheit  begleitet  ist,  als  synthetische  Urtheile. 

Der  dritte  Abschnitt  befasst  sich  mit  der  Anwendung  der  vier  Grund- 
rechnungsarten der  allgemeinen  Arithmetik  auf  die  besondere  Arithmetik, 
worunter  besonders  das  vierte  Capitel  von  den  Proportionen  den  bürgerlichen 
Rechnungsarten  wissenschaftliche  Grundlage  verleiht  und  in  dieser  Richtung 


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besondere  Beachtung  von  jenen  verdient,  welche  »ich  mit  diesen  Rechnungs- 
arten des  Mehreren  befassen.  Der  vierte  Abschnitt  bandelt  von  Rechnungs- 
arten der  dritten  Stufe  und  hat  in  jeder  Beziehung  unseren  vollsten  Beifall 
gefunden.  Einzig  der  Paragraph  66  ließe  sich  vielleicht  noch  anschaulicher 
gestalten,  wenn  man  von  der  Gleichung  ausginge  n  =  b*  =  ey  woraus  sich 
des  Weiteren  ergibt,  dass  Mog  n  =  x  =  y.  l,log  e  sein  muss.  Der  fünfte 
Abschnitt  lehrt  die  Auflösung  der  Bestimmungsgleichungen  bis  su  den  quadra- 
tischen mit  mehreren  Unbekannten;  es  werden  die  verschiedenen  Methoden, 
welche  zur  Autlösung  vou  Gleichungen  gebräuchlich  sind,  an  einer  Anzahl 
von  Beispielen  erläutert,  den  Determinanten  wird  dabei  ein  angemessener 
Raum  zugewiesen.  Recht  zweckmäßig  finden  wir  auch  die  Übersichtliche 
Zusammenfassung  der  bürgerlichen  Rechnungsarten  unter  verallgemeinernde 
Formeln.  Der  ßechste  und  siebente  Abschnitt  machen  mit  den  Progressionen, 
Kettenbrüchen,  der  Combinationslehre  und  Wahrscheinlichkeitsrechnung  bekannt  , 
und  damit  schließt  auch  die  für  Gymnasien  bestimmte  Ausgabe.  —  Der  Aus- 
gabe für  die  Realschulen  sind  noch  drei  weitere  Abschnitte  beigegeben,  welche 
von  den  arithmetischen  Reihen  höherer  Ordnung,  den  Gleichungen  dritten  und 
vierten  Grades,  und  den  unendlichen  Reihen  handeln.  Daraus  verdient,  als 
mit  besonderer  Sorgfalt  und  Fasslichkeit  dargelegt,  das  Kennzeichen  für  die 
Oonvergenz  unendlicher  Reihen  hervorgehoben  zu  werden. 

Da  dem  vorliegenden  Lebrtexte  Übungsaufgaben  nicht  beigegeben  sind,  so 
hat  die  Verlagshandlnng  Herrn  Oberlehrer  W  iminenauer  in  Moers  veranlasst, 
eine  dem  vorliegenden  Lehrhuche  angepasste  Aufgabensammlung  zu  veröffent- 
lichen. Wenn  wir  uns  erlaubt  haben,  im  Vorstehenden  Vorschläge  zur  Ver- 
besserung zu  inachen,  so  geschah  das  in  der  Wolmeinung,  dass  diesem  Lehr- 
bnche  wenig  fehle,  um  zu  den  allerbesten  gezählt  werden  zu  können,  und  wir 
wollen  es  noch  einmal  aussprechen,  dass  die  Umarbeitung  durch  Dr.  Langgut h 
eine  so  vollkommen  gelungene  ist,  dass  sie  dem  Lehrbuche  Kambly's  den  vor 
Decennien  besessenen,  später  aber  wieder  verlorenen  Ruf,  das  beste  Lehrbuch 
zu  sein,  wieder  zurück  zu  erobern  wol  geeignet  ist.  Endlich  hat  auch  die 
Verlagshandlung  sowol  mit  Rücksicht  auf  die  Ausstattung  als  auch  in  Bezu^ 
auf  Billigkeit  das  Thunlichste  geleistet.  H.  E. 

Dr.  M.  Focke  und  Dr.  M.  Krass   Lehrbuch  der  allgemeinen  Arithmetik 

und  Algebra  nebst  Aufgabensammlung  für  höhere  Lehranstalten.  5.  Aufl. 

227  S.   Münster  1890,  Coppenrath.   2,50  Mk. 

Die  Auflage  wird  eine  verbesserte  und  vermehrte  genannt  und  in  der  That 
finden  wir  an  diesem  Lehrbuche  nichts  auszusetzen.  Wenn  sich  auch  manches 
anders,  vielleicht  einfacher  fassen  ließe,  so  müssen  wir  das  Vorliegende  doch 
als  ein  Lehrbuch  bezeichnen,  mit  welchen  wir  leicht  auszukommen  vermöchten. 
Die  Stoffvertietung  geht  hinreichend  weit;  außer  den  sieben  Rechnungsarten 
werden  die  Gleichungen  bis  zu  jenen  dritten  Grades  und  den  diophantischen 
abgehandelt;  deneu  noch  Progressionen,  Combinationslehre,  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung, binomischer  Lehrsatz  und  Kettenbrüche  folgen.  Den  einzigen  Wunsch 
möchten  wir  aussprechen,  es  möge  das  Aufsuchen  des  größten  gemeinsamen 
Maßes  in  etwas  einfacherer  Form  vorgenommen  werden. 

Die  dem  Lehrtexte  beigegebene  Aufgabensammlung  nimmt  nahezu  die  Hälfte 
des  Buches  ein,  ist  demnach  eine  reichhaltige  zu  nennen,  welche  in  den  letzten 
Auflagen  durch  Einschaltung  neuer  Aufgaben  noch  vermehrt  wurde;  dabei 
blieb  die  alte  Numerirung  aufrecht  und  wurde  die  Erweiterung  durch  beson- 
dere Numerirung  kenntlich  gemacht.  Die  Verfasser  bemerken  zu  dieser  Auf- 
gabensammlung, dass  sie  wesentlich  bestimmt  sei,  dem  Schüler  die  Einübung 
des  Lehrstoffes  zu  ermöglichen,  und  dass  daher  der  Stil  dieser  Aufgaben  ein 
einfacherer  sei,  als  etwa  bei  Heis  oder  Barday.  Dieses  Lehrbuch  erscheint 
der  vollen  Beachtung  der  Fachgenossen  und  der  besten  Empfehlung  für  Weiter- 
verbreitung wert.  H.  E. 
Chr.  Harms,  Prof.  in  Oldenburg  und  Dr.  Alb.  Kalling,  Prof.  in  Berlin. 

Rechenbuch  für  Gymnasien,  Realschulen,  Seminare  n.  s.  w.    15.  Auflage. 

264  S.  Oldenburg  1890,  Gerhard  Stalling.  2,25  Mk. 


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-    407  - 


Die  vorliegende  Aufgabensammlung,  welche  sich  so  ziemlich  über  das  ge- 
summte Gebiet  der  besonderen  Arithmetik  erstreckt,  war  schon  in  ihren  ersten 
Auflagen  als  eine  sehr  reichhaltige  zu  bezeichnen,  [u  den  späteren  Auflagen 
hat  das  Werk  die  Verbesserung  erfahren,  dass  das  alte  Maß-  und  Gewichts- 
system ausgeschieden  und  vollständig  durch  das  neue  ersetzt  wurde.  Damit 
im  Zusammenhange  wurden  die  Aufgaben  über  die  Dezimalbrüche  von  den 
Aufgaben  übeT  die  gemeinen  Brüche  unabhängig  gemacht,  obwol  ihre  Stelle  im 
Buche  belassen  wurde,  und  die  Pccimalbrüche  den  gemeinen  Brüchen  erst  nach- 
folgen. Somit  können  wir  nur  constatiren,  dass  das  Buch,  so  weit  es  unbe- 
dingt nothwendig  ist,  Verbesserungen  erfahren  hat  und  dies  genügt  wol,  da 
sich  diese  Sammlung  wie  die  zahlreichen  Auflagen  beweisen,  einer  starken  Ver- 
breitung erfreut.  H.  E. 
Rieh.  Knabe,  Rector  in  Magdeburg.    Gewerbliches  Rechenbuch  nebst 

Buchführung  für  Handwerker-  und  Fortbildungsschulen.   82  S.   Halle  a.  S. 

1890,  Mühlmann.  50  Pf. 

Die  Aufgaben  dieser  Sammlung  beginnen  mit  solchen,  welche  einer  Wieder- 
holung des  Rechnens  mit  ganzen  Zahlen  dienen.  Es  folgen  sodann  Aufgaben 
über  das  Rechnen  mit  gemeinen  und  Dccimalbrüchen,  mit  mehrfach  benannten 
Zahlen  und  über  die  bürgerlichen  Rechnungsarten.  Den  Schluss  machen  einige 
Bemerkungen  über  Wechsel,  Kostenüberschläge  und  Buchführung;  sogar  der 
Umschlag  ist  noch  zweckmäßig  verwertet  zum  Abdruck  des  großen  Einmaleins. 
Die  Aufgaben  sind  hauptsächlich  aus  des  Verf.  Lehrtätigkeit  herausgewachseu 
nnd  sind  dem  Bedürfnisse  der  Gewerbeschulen  sehr  gut  angepasst,  bei  denen 
es  Erfordernis  ist,  die  formalen  Übungen  mit  den  sachlichen  Beziehungen  des 
Verkehrelebens  auf  das  innigste  zu  verknüpfen.  Da  außerdem  die  Sammlung 
sehr  reichhaltig  ist.  so  verdient  sie  gewiss  für  die  genannte  Stufe  beste  Em- 
pfehlung. H.  E. 

H.  B.  Lübsen,  Ausführliches  Lehrbuch  der  Elementar-Geometrie.  Ebene 
und  körperliche  Geometrie  zum  Selbstunterricht  mit  Rücksicht  auf 
die  Zwecke  des  praktischen  Lebens.  27.  Aufl.  193  Fig.  im  Text.  178  S.  3  Mk. 
—  Ausführliches  Lehrbuch  der  ebenen  und  sphärischen  Trigonometrie  zum 
Selbstunterricht  mit  Rücksicht  auf  die  Zwecke  des  praktischen  Lebens. 
15.  Anfl.  58  Fig.  im  Text.  115  S.  2,40  Mk.  Beide  bearbeitet  von 
Richard  Scharig.  Leipzig,  Brandstetter. 

Lübsens  mathematische  Lehrbücher  erfreuen  sich  schon  seit  langem  großer 
Beliebtheit,  und  diese  ist  eine  wolcrworbene  zu  nennen,  da  der  Verfasser  bei 
der  Anordnung  des  Lehrstoffes  vot  allem  darauf  Bedacht  genominen  hat  ,  die 
Auffassung  desselben  für  den  Schüler  zu  erleichtern;  nicht  minder  zielt  die 
Darlegung  und  Vortragsweise  vornehmlich  auf  Klarheit  und  leichte  Fasslich- 
keit.  Nach  dem  Tode  des  Verfassers  wurde  Richard  Schur  ig  mit  der  Bear- 
beitung der  neuen  Auflagen  betraut,  welcher  fortgesetzt  bemüht  ist,  die  dem 
Buche  eigentümliche  Euklidische  Behandlung  in  eine  solche  von  verbesser- 
ter und  modernerer  Form  hinüber  zuleiten.  Allerdings  betont  schon  der  erste 
Verfasser  die  Nothwendigkeit  der  Anschaulichkeit  der  Beweisführung,  aber  zur 
Zeit  der  ersten  Veröffentlichung  seines  Werkes  war  von  Symmetrie  und  Sym- 
metrieachse in  den  Lehrbüchern  noch  wenig  die  Rede,  und  so  entbehrt  auch 
noch  die  gegenwärtige  Auflage  dieses  allerdings  ganz  vorzüglichen  Anschau- 
ungsmittels. Nicht  minder  ist  es  ein  bekannter  Mangel  der  Euklidischen  Geo- 
metrie, ihre  Lehrsätze  nicht  nach  Principien  geordnet  zu  haben,  und  so  hat 
denn  auch  im  Vorliegenden  die  moderne  Sonderung  der  Lehren  nach  Congruenz, 
Ähnlichkeit  und  Flächenverschiebnng  wenig  Berücksichtigung  gefunden,  ganz 
zu  geschweigen  von  Theilverhältnis,  harmonischer  Theilung  und  allem,  was 
zur  sogenannten  modernen  synthetischen  Geometrie  gehört. 

Auch  die  „körperliche  Geometrie"  bleibt  in  den  ihr  von  Euklid 
gezogenen  Grenzen,  woran  übrigens  umsomehr  festzuhalten  war,  da  ja  eine 
entschiedene  Verbesserung  in  moderner  Richtung  in  diesem  Theile  noch  nicht 
bekannt  geworden  ist.  Der  Stereometrie  folgt  noch  die  Anwendung  der  Algebra 


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408  — 


auf  die  Geometrie,  worin  wir  eine  sonst  wenig  bekannte  von  Gauß  herrührende 
cyklische  Formel  für  die  Berechnung  der  Flächeninhalte  unregelmäßiger  Poly- 
ne  gefunden  haben.  Den  Schlüge  des  Buches  macht,  ein  Anhang  von  siebzehn 
iten  über  „praktische  Geometrie". 
Noch  mehr  als  im  Vorhergehenden  findet  sich  in  der  Trigonometrie  die 
Stoffverteilung  mit  Rücksicht  auf  das  leichte  Erfassen  von  Seite  des  Schülers 
vorgenommen.  Es  wird  mit  einer  Einleitung  begonnen,  welche  dem  Schüler 
Zweck  und  Bedeutung  dieses  Theiles  der  Mathematik  klar  macht.  Im  ersten 
Buche  werden  die  trigonometrischen  Functionen  am  rechtwinkligen  Dreiecke 
und  im  ersten  Quadranten  erklärt,  es  folgt  sodann  auf  sieben  Seiten  die  Be- 
lehrung über  die  Einrichtung  der  trigonometrischen  Tafeln  von  Brunns,  an 
welche  man  sich  nicht  hätte  binden  sollen,  weil  man  gegenwärtig  das  Arbeiten 
mit  siebenstelligen  Tafeln  in  der  Schule  für  Zeitverschwendung  halt,  da  auch 
ernste  Rechner  mit  fünf  Stellen  völliges  Auslangen  finden.  —  Nach  der  Auf- 
lösung des  rechtwinkligen  Dreieckes  folgt  jene  des  gleichschenkligen,  womit 
man  zugleich  zum  Begriff  des  Sinus  eines  stumpfen  Winkels  gelangt.  Das 
vierte  Buch  beschäftigt  sich  mit  der  Auflösung  schiefwinkliger  Dreiecke, 
dabei  führt  der  Cosinussatz  auch  zum  Cosinus  des  stumpfen  Winkels.  —  Der 
sogenannte  Tangentensatz  zwischen  zwei  Seiten  und  ihren  Gegenwinkeln 
wird  synthetisch  dargelegt.  Es  hat  uns  aber  seit  je  geschienen,  dass  ein  syn- 
thetisch begründeter  Satz  minder  leicht  fasslich  sei,  als  ein  analytisch  begrün- 
deter; aus  dieser  Ursache  haben  wir  es  auch  immer  im  Unterrichte  vorgezogen, 
die  Goniometrie  der  Dreiecksauflösung  vorauszusenden.  Es  mag  wol  sein,  dass 
diese  Auffassung  nur  von  der  individuellen  Begabung  abhängt. 

Es  folgen  nun  einige  Aufgaben  mit  Unterstellung  sachlichen  Textes  zur 
Lösung  schiefwinkliger  Dreiecke,  sodann  die  Goniometrie,  die  Functionen  über- 
stumpfer  Winkel  und  die  Anwendung  der  Goniometrie  zur  Gewinnung  der 
Mollweid'schen  Formeln  und  zur  Lösung  trigonometrischer  und  goniome- 
trischer  Gleichungen. 

Im  zweiten  Theile  wird  der  umgekehrte  Weg  eingeschlagen;  es  wird  mit 
Lösung  des  scbiefwinkeligen  Dreieckes  begonnen,  und  dessen  Formeln  werden 
sodann  für  das  rechtwinkelige  speeificirt,  wobei  allerdings  nicht  eine  große 
Weitläufigkeit  zu  vermeiden  ist.  Wir  haben  mit  der  vorstehenden  Inhalts- 
angabe wesentlich  andeuten  wollen,  wie  sehr  der  Verfasser  bei  seiner  Stoff- 
veTtheilung  darauf  bedacht  war,  die  Anordnung  nach  dem  Grundsatze  des  Fort- 
schreitens vom  Leichteren  zum  Schwereren  zu  tTcffeu;  dass  eine  solche  Anord- 
nung nicht  ohne  Beeinträchtigung  der  allgemeinen  Übersichtlichkeit  möglich 
ist,  muss  zugegeben  werden.  Und  wenn  wir  derselben  auch  nicht  zustimmeu 
wollten,  so  hat  doch  das  allgemeine  Urtheil  gegen  uns  entschieden,  und  es 
scheint,  dass  sich  auch  bei  dieser  Stoffverteilung  die  allgemeine  Übersicht 
wenigstens  nachträglich  einstellt.  Unsere  Neigung  ist  überhaupt  nur  streng 
systematischen  Lehrbüchern  zugewendet,  das  vorstehende  kündigt  sich  aber 
schon  in  seiner  Vorrede  als  ein  solches  an,  welches  das  Hauptgewicht  auf  die 
Methodik,  das  heißt  auf  leichtes  Erlerneu,  legt,  dann  aber  müssen  wir  bekennen, 
dass  diese  Absicht  auf  das  vollkommenste  erreicht  ist.  Der  Vortrag  lässt  an 
Klarheit  und  Fasslichkeit  nichts  zu  wünschen.  Er  wird  von  zahlreichen  gut 
ausgeführten  Figuren  unterstützt,  und  da  die  Verlagshandlung  mit  größter 
Sorgfalt  für  die  Richtigkeit  des  schwierigen  Ziffernsatzes  gesorgt  hat,  so  ver- 
dient sie  dafür,  wie  für  schöne  Ausstattung  überhaupt  und  billigen  Preis  den 
besten  Erfolg,  der  bei  der  dauernden  Beliebtheit  dieses  Buches  wol  auch  nicht 
ausbleiben  wird.  H.  R. 


VeimntworÜ.  Red*oteur  Dr.  Friedrich  Dittes.   Bnohdinckerei  Jnlint  Kliakhtrdt,  Leipzig. 


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gerfqg  bog  Willing  ftlinffaorftt  in  geÜMtl  unb  Berlin  W.  35. 


Vraftifdjc*  ^cfrijctifiurvf  für  junge  tfrljrer* 

3n  itutitcv  üermctjrter  unb  berbefferter  Auflage  ift  in  meinem  Berlage  erfebjenen: 

din  iiilirrr  für  iSemtnariften,  junge  l'chrcr  unb  l'ehr  er  innen. 

Direftoc  ber  iKubdjenfdjule  in  3n[terburg. 
flreifi  5  Warf,  eleg.  nrlwnDcit  6  ÜKart  35  Vf. 

Unter  ben  bielen  für  bie  $anb  junger  2ct)rer  beftimmten,  jum  Xeil  redjt  guten  SBerfen 
giebt  e$  nid)t  eine«,  roelcijeS  Anleitung  giebt,  roie  ben  3 rfiülern  ba£  iBerftänbniS  unb  bie 
ffenntni*  bt£  oorjurragenben  ©egenftanbeS  braftifd)  beizubringen  ijt.  SBerfaffer  i[t  nun  ber 
Meinung,  \u  einem  frudjtbringenben  Unterrichte  gefjöre  bor  allem,  baü  ber  Setjrer  in  ber 
$ragcfunft  boüftänbig  Wo  ift  er  ift,  unb  beSljalb  bet)anbelt  er  biefen  GJegenftanb  ganj  befonberS 
auöfürjrlicr).  Dirne  biefe  SRctfterfdjaft  finft  ber  Unterricht  ju  einem  blofjen  t)anbroerfömäfiigen 
beibringen  Don  ftenntniffen  unb  ^ertigfeiten  herab. 

Vit  crlle  äufTage  fjat  ungemein  reiben  Seifau*  gefunben.  £(6er  100  anerRennenoe 
3u  fünften  Rno  oem  SerfafTer  aus  au*en  ßegenoen  I>etttfdjranos  ju^enongen.  unO  aurf)  bie 
Ke^rnftonen  in  ben  päoagogifdjen  Beiiltlinticn  hofjcn  firfj  faß  bnrd)»eg  fe^r  robetib  nuogeorüdW. 
3nfofge  ber  «armen  (SntpferKung  auf  oem  großen  9>ie6en6nrgirdjen  £eljrerlage  tll  bas  IT*  er  Ii 
nuetj  ins  2lngarifdjeä6ertragett  rooröen.  _ 
gßfT  $>a8  SBerf  ift  burdj  jebe  ©ucfjbanblung  ju  bejietjen. 

Soeben  erscheint: 

190001 a  so0 1 1 16000 1 


Abbildungen. 


SeitenText. 


Brockhaus1 

Kon  versations  -  Lexikon. 


600Tafeln 


/4.  Auflage. 


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1 120  Uiromotafeln  und  400  Tafeln  in  Schwarzdruck.  | 


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«iicfc  5111  ttusbtlouitfl  von 

Belum  In 
$anDfertigfciteuaterrtcbt. 

'litoflrnmiiif  burdj 
Dr.  |M.  «3öttr  in  1 >i|>iifl. 


DER  GUTE  TON 

in  nllen  Hjfbenwlitßen.  F.in  Handbuch  für  der»  Verkehr  in  der  Familie,  in  der  — -^r 
Gesellschaft  und  im  öffentl.  Leben  von  Fran*  Ebharät.  12.  verb.  Aufl.  Prachtwerk  §Lߣa 
in  8°.  Gedr.  in  2  Färb.  a.Vclinpap.  m.  viel.Vign.  47«log.  eleg.ireb  m.  <  10  1 M  im.  IOMk. 

IL  Teil.  Unserer  Frauen  Leben.  ,•^ti»t^^B«!h?t, 

oder  direkt  portofrei  v.  Verl.  JULIUS  KLINKHARDT  in  Leipzig:  u.  Berlin  W.  js. 


3u  meinem  Berlage  ifl  foeben  erfebirneu: 

f  oljatnt  JUttos  <f  omeuhtö. 

#ei*t  cSteßen  tm6  feine  ^cfmften 

üon 

Dr.  gtflpttttt  gtoftTfitlii, 

^stofcfToc  am  cuaugeHf^cn  iltjceum  in  $r<6oug. 

$  tMcfernnaen  a  1  VR.  80  ff. 

SBerf  liegt  biß  Anfang  9lprtl  »ollftanbtg  oor. 

?ln  einer  auäführlicben  ©iograpf)ie  beä  SomeniuS  bat  e$  biityt  gänjdidj  gcfeblt, 
bo  bie  Ouellen  für  eine  grünblidje  unb  cingebenbe  Säuberung  jum  Jetl  gar  nitbt 
eröffnet,  junt  Seil  fdnoer  jugängltd)  waren,  fo  baß  man  btefjer  mit  einer  monograpbifeben 
iBetjanblung  oorlieb  nabm. 

3>er  SSerfoffer  bietet  nun  in  feiner  Sirbett  eine  3ufammenfaffung  ber  Srgebniffe 
ber  bi^berigen  ftorfdjung,  inbem  er  fotoeit  als  mö'gtirf)  alle  Schriften  unb  ftbfpmblnngen, 
bie  mit  fetner  Aufgabe  in  SBerbinbuug  ftanben,  gefammelt  unb  benufct  hat.  Aufjerbem 
ftnb  in  biefetn  SBerfe  eine  ganje  ?lnjahl  Sriefe,  9tuffäfee  unb  eine  weite  wiffenfcbaftlicbe 
Rorrefponbenj  über  Someniu»  jum  erften  male  r»eröffentlid)t. 

Scipjig.  3>uliu$  Älinf^arbt. 


JBüin  Ardbirjr.  l>r.  Äcücr  (SBorf.  b.  Gomeuiu$' 
gcfellfdjaft)  empfohlen: 

(Umtm*  Iis  fHrnfilf,  |löDflgog  n.C)rif. 

8on  Dr.  H.  9lc*c.  (50  $f.) 

Serner  madje  idj  aufmerffam  auf: 

CkbädjtniöbT  an  öamenius. 

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3>er  ^onurdjufqcfc^cntniurf. 

S3om  päbagogifdjcn  unb  fojialpolitifd)en  Stanb» 
punlt  beleuchtet,  «on^atiptl.  3. $rcfttcv. (50$f.) 
25  ®j.  11  SB.,  50  Gjr.  20  9R.,  100  @j.  35  3K. 

ßefdjidjtfidjes  $u  b.  ßisljeT.  ^ofRsr^ur- 
cjcjVfecnttPiirfVn.  1891. 

Sion  «ff.  CKtllÖridjtf.  (25  <ßf.) 
9tod)  (Sinfenbung  (+  5  «ßf.  ^orto)  fr.  üon 
tt.  &elmid|,  »icicffUr  

ßoicniii^  unii  $ejtnlojp 

alä 

Begründer  5er  $oflt0fd)ttfe. 

Siffenfdjaftlid)  bargeftcOt 
non 

Dr.  Hermann  &offutriftrr. 

$rei$  1  3«.  50  $f. 

Cetmtg.  Sulittö  Slintyat&t, 

SBerlag$bud)banblung. 


jjfrlag  non  | trbinanb  fjirt  &  Sotin  in  CfWta. 


1  Gittern  Seftncrf 

ift  ht  ben  mctbobifrfjen  $anbbüd)crn 
unb   in   allen   % ufgaben|eften  burdj 
nflättfic  über  baö  ^MUrtliÖitätÖ:  unb 
«Itci^ttcviidjcruiinöflcfcn  ergänzt  worben. 
t  greife  bleiben  unoeränbert.  Prüfung?» 
ercmplare  ber  Slufgabenbefte  foftenfret. 


ÜJieu  ctfd^ienen: 

anftalten,    fotutc  jum  Selbftunterrigt. 
5Ö01I  4>.  i>of;mniiti,  Seminarlebrer.  @ebun« 
ben  3,60  Warf. 

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Musik 


IIa»«,  ii.  nu'dn.  I-  n.  4tntir.  Onvtrlom.1 
Lin\«r,  Irl»  ttt,  800  In. 

alische  Liniversal-Bibliothek. 

J  Jede  Nr.  SO  Pf.  I«a  mitiirte 
luflagta.  Yorxfl.Slirh  ii.l»ro<k,  »UrLes Papier.  —  F>?atit  asu- 
IwUttfU  Albums  ä  I.SO,  midlrt  »«  Rkmaon.  J»du 
söhn  ftt.  —  tfbundenf  Sank  aller  Kditiimtn.  —  llniuorulif». 

Veroitlin.  yr.  ii.fr.  T..n  f9<lx  Slflflijl,  Lei^fig.  )>.-irrlrn.tr.  1. 


Jede  Buchhandlung  und  Postanstalt  nimmt 
Bestellungen  entgegen  auf: 

Allgemeine  Deutsche  Leliratni. 

Herausgegeben  von  Mtritc  Kleisert. 


Hierzu  drei  Beilagen:  1.  von  Bleyl  &  Kaemmerer  in  Dresden.  2.  von  Ferdinand  Hirt  &  Sohn 

in  Leipzig.   3.  von  Bruno  Krause  in  Dresden. 

.     .  ..  .  _  Digitized  by  Google 

Buchdrackerei  Julius  K'inkJurdt,  Leidig. 


Paedagogium. 


Monatsschrift 


für 


Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 

l>r.  I^riedrieli  I>ittee». 


7.  Heft,  April  1892. 


c 

Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 


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Inhalt  des  7.  Heftes. 

Seite 

Die  sociale  Frage  und  die  Schule.    Von  Prof.  Dr.  J.  Frohschammer- 

München    409 

Drei  Monate  Fabrikarbeiter.    Ergebnisse  und  Forderungen  filr  die  Volks- 
schule von  Theod.  Ludw.  Wolf- Leipzig  420 

Uutterspracho  und  Grammatik.  Von  Joh.  Kaulich-Mähr.-Schönberg  .  .  .  432 
Volksbildung  und  Volksbildungsmittel.  Von  Rector  A.  Gild-Cassel  ....  441 
Pädagogische  Rundschau.   Deutsches  Reich.  —  Vom  deutschen  Ostsecstrande. 

—  Aus  Westfalen.  —  Dankbare  Polen.  —  Eine  Madchen-Erziehungsanstalt. 

—  Aus  Belgien  446 

Aus  der  Fachpresse  466 

Literatur   .    .*  469 


Abonnements -Preis  pro  Quartal  M.  2.25. 
Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalton  nehmen  Bestellungen  an. 


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Die  sociale  Frage  und  die  Schnle. 

Von  Prof.  Dr.  «7.  Frofischammer-München. 

JEine  brennende  Frage,  ein  großes  Problem,  ein  vielbehandeltes 
Thema  der  Gegenwart  ist  es,  dem  wir  die  folgende  kurze  Unter- 
suchung widmen;  und  zwar  vom  Standpunkt  der  Philosophie  als  Ideal- 
wissenschaft aus,  d.  h.  jener  Philosophie,  welche  es  mit  den  Ideen  der 
Vollkommenheit  des  Seins  und  Geschehens  zu  thun  hat,  die  also  sich  so 
bezeichnet  ihres  Inhalts  wegen.  Demnach  nicht  vom  Standpunkte  der 
Idealwissenschaft  im  Sinne  der  Construction  a  priori  oder  der  Er- 
kenntnis durch  das  bloße  Denken  selbst,  wie  es  der  sogenannte  transscen- 
dentale  Idealismus  versucht,  der  von  Kant  ausging  und  seinen  Namen 
nicht  vom  Inhalt,  sondern  von  der  Erkenntnisweise  erhalten  hat. 
Es  ist  dabei  selbstverständlich,  dass  diese  Philosophie  die  sociale 
Frage  nicht  zu  lösen  versuchen  kann  durch  irgend  eine  Art  der  Ver- 
besserung der  materiellen  Lage  der  niederen  arbeitenden  Classen,  wie 
das  auch  die  Schule  nicht  vermag,  sondern  nur  durch  den  Staat  und 
die  Gesellschaft  selbst  geschehen  kann  unter  Leitung  der  wissenschaft- 
lichen Nationalökonomie,  der  Rechts-  und  Societatswissenschaft.  Für  die 
Philosophie  und  die  Schule  kann  es  sich  nur  darum  handeln,  ob  durch 
geistige  Mittel  zur  Lösung  dieser  Frage  etwas  beigetragen  werden 
kann,  und  wenn  dies  der  Fall  ist,  durch  welche  Mittel  und  auf 
welche  Weise  es  zu  geschehen  vermag.  Sicher  ist  ja,  dass  dem 
Schlechten,  dem  von  Leidenschaften  blind  Beherrschten,  dem  Trägen, 
Unwissenden  und  Unverständigen  durch  alle  materielle  Unterstützung 
nicht  geholfen  und  keine  Zufriedenheit  mit  seiner  Lebenslage  bei- 
gebracht werden  kann,  sondern  dass  zugleich  dessen  Bildung  und  Er- 
ziehung zu  höherer,  edlerer  Lebensauffassung  mitwirken  muss. 

Wenn  aber  von  geistigen  Mitteln  die  Rede  ist  zur  Lösung  oder 
Beschwichtigung  der  socialen  Frage,  dann  treten,  wie  bekannt,  so- 
gleich die  Häupter  und  Diener  der  Kirche  und  deren  Theologen  her- 

Pad^oginm,  14.  Jahrg.  Heft  VII.  29 


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I 


—   410  — 

vor,  behauptend,  dass  sie  es  seien,  nicht  die  Philosophie  und  die 
Schale,  welche  mit  geistigen  oder  vielmehr  geistlichen  Mitteln  dieses 
Problem  zu  lösen  und  die  Gesellschaft  zu  retten  haben  vor  der 
großen  Gefahr,  die  ihr  droht,  und  dass  sie  allein,  resp.  die  Religion 
oder  vielmehr  der  sog.  positive  oder  kirchliche  Glaube  dies  vermögen, 
wenn  ihnen  nur  die  not h ige  Freiheit  resp.  Machtentfaltung  gewährt 
oder  gestattet  werde.  Wir  stellen  nicht  in  Abrede,  dass  die  Religion 
in  der  socialen  Frage  und  deren  Lösung  eine  große  Bedeutung  habe 
und  eine  wichtige  Rolle  spielen  soll,  —  haben  wir  doch  selbst  ander- 
wärts die  Religion  als  ein  sociales  Gut  von  höchster  Wichtigkeit  be- 
zeichnet und  geltend  gemacht  *),  aber  die  sog.  positive  oder  kirchlich- 
dogmatische Religion,  wie  sie  sich  allmählich  gestaltet  hat,  wird 
unseres  Erachtens  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  wenig  oder 
nichts  zu  leisten  vermögen.  Hat  doch  diese  positive  kirchliche  Reli- 
gion nicht  zu  verhindern  gewusst,  dass  die  Zustände  in  der  Gesell- 
schaft allmählich  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  sich  gebildet  haben, 
wie  sie  gegenwärtig  sind.  Insbesondere  hat  z.B.  die  päpstlich-katho- 
lische Kirche,  die  sich  so  unaufhörlich  als  einzige  wahre  Retterin  der 
Gesellschaft  preist  und  vordrängt,  die  große  Revolution  mit  ihrer  ver- 
nichtenden grausamen  Wirksamkeit  nicht  verhindern  können  in  ihrer 
allmählichen  Vorbereitung  und  ihrem  endlichen  gewaltsamen  Ausbruch. 
Und  doch  hatte  sie  in  Frankreich  im  17.  und  18.  Jahrhundert  unbe- 
dingte Herrschaft,  und  auch  die  Generation,  welche  zur  Zeit  der  Re- 
volution lebte  und  wirkte,  war  unter  der  Herrschaft  der  Jesuiten  ge- 
bildet und  erzogen  worden!  Und  auch  im  19.  Jahrhundert  fehlte  es  ihr 
wahrlich  an  privilegirter  Stellung,  an  Macht  und  Einfluss  nicht,  und 
doch  konnte  sie  nicht  verhindern,  dass  der  Socialismus  auch  in  katho- 
lischen Staaten  sich  bildete  und  groß  wurde;  konnte  die  Völker  mit 
ihren  gewohnten  i  Mitteln  nicht'mehr  beherrschen  und  lenken  —  wie 
dies  sogar  im  Kirchenstaate  sich  am  auffallendsten  zeigte,  wo  es  der 
päpstlichen  Kirche  docli  sicher  nicht  an  Macht  und  an  Freiheit  fehlte, 
die  so  sehr  von  den  weltlichen  Regierungen  verlangt  wird,  als  unfehl- 
bares Mittel  Gesellschaft  und  Staat  von  dem  Übel  der  socialistischen  . 
Bestrebungen  zu  befreien.  Dies  lässt  wenig  Hoffnung  hegen,  dass  in 
der  Zukunft  die  kirchliche  Wirksamkeit  erfolgreich  sein  würde  gegen 
die  Socialdemokratie,  auch  wenn  ihr  alle  geforderte  Freiheit  gewährt 
ist.   Sie  würde  voraussichtlich  ihrem  absoluten  Standpunkt  und  ihren 

*)  S.  d.  Werk:  Über  die  Organisation  und  Cultnr  deT  menschlichen  Gesell- 
schaft.   München  1885.   S.  205—249. 

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hartnäckig  festgehaltenen  Grundsätzen  gemäß  den  modernen  Geistes- 
bedürfhissen  und  Forderungen  nicht  das  mindeste  Zugeständnis  machen, 
sondern  nach  altüblicher  Weise  verfahrend,  die  Wissenschaft  und  die 
Bildung  des  Volkes  möglichst  zu  hemmen  und  herabzudrücken, 
die  Prüfung  ihrer  Lehren  und  Institutionen  zu  hindern  suchen,  um 
durch  Urteilslosigkeit  der  Massen  den  Glauben  sicher  zu  stellen. 
Ihre  Glaubenssätze  und  sonstige  Satzungen  müsste  sie  daher  wieder 
durch  Glaubenszwang  und  physische  Gewaltmittel  aufdringen  und  zu 
erhalten  streben,  wie  es  ehemals  geschah  und  noch  geschieht,  wo  sich 
Möglichkeit  dazu  bietet  Nächstenliebe  und  Humanität  müssten  wie- 
der schweigen  gegenüber  der  sog.  Glaubenspflicht,  und  die  Wahrheit 
wäre  nicht  mehr  für  die  Vernunft  da,  sondern  nur  für  den  blinden 
Willen,  der  sich  ihr  nur  äußerlich  unterwerfen,  nicht  aber  sie  inner- 
lich annehmen  könnte.  Der  Glaube  müsste  wieder  Liebe  und  Mensch- 
lichkeit gegen  die  Mitmenschen  ertödten,  selbst  aber  nur  als  [auf- 
gelegtes Joch  getragen  werden.  Käme  man  nun  mit  all  diesem  wieder 
der  modernen  Cultus-Gesellschaft,  so  müsste  man  auch  sogleich  wieder 
die  physische  Gewalt  des  Staates  zur  Verfugung  haben.  Die  alte  gute 
Zeit  mit  ihrer  Gewalttätigkeit  und  Verfolgung  würde  dann  wieder- 
kehren, um  zuerst  den  rechten  Glauben  oder  vielmehr  Glaubensgehor- 
sam gegen  die  Kirchenautorität  zu  erzwingen  und  dann  erst  infolge 
davon  die  modernen  socialistischen  Bestrebungen  zu  verhindern  und 
zu  vernichten.  Es  muss  dann  ein  kirchliches  Verfahren  eintreten, 
wie  etwa  zur  Zeit  der  Gegenreformation,  wo  mit  Wort  und  Schwert 
bekehrt  wurde  —  durch  Kirche  und  Staat.  Kann  aber  die  Kirche 
mit  ihren  Mitteln  doch  Gewaltthätigkeit  und  Zwang  nicht  ersparen, 
um  ihre  vor  der  modernen  Wissenschaft  und  Civilisation  nicht  mehr 
haltbaren  Dogmen  und  Satzungen  geltend  zu  machen,  so  ist  es  ge- 
ratener für  den  Staat,  lieber  gleich  die  Sache  in  die  Hand  zu  neh- 
men, sowol  um  seine  Autorität  der  Kirchenherrschaft  gegenüber  zu 
wahren  und  nicht  als  deren  Werkzeug  zu  erscheinen,  als  auch  im 
Interesse  der  Religion  selbst,  um  diese  nicht  zum  Gegenstand  des 
Hasses  und  der  Verachtung  zu  machen  dadurch,  dass  in  ihrem 
Namen  Gewalt,  Zwang  und  Verfolgung  geübt  wird. 

Die  Religion  ist  also  zwar  ein  sehr  wichtiges  Moment  bei  der 
Lösung  der  socialen  Frage,  aber  sie  muss  erst  selbst  humanisirt  wer- 
den, d.  h.  aufhören  als  Gegenstand  wilder  Streitigkeiten  und  fana- 
tischer Verhetzung  der  Menschen  und  der  Völker  gegeneinander  miss- 
braucht zu  werden.  Sie  wird  dadurch  zugleich  wirklich  christlich, 
da  doch  die  Religion  Jesu  als  solche  angekündigt  worden  ist,  die  den 

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Menschen  Frieden  auf  Erden  bringen  soll,  die  eines  guten  Willens 
sind  —  nicht  etwa  nur  denen,  die  den  rechten  Glauben  haben,  d.  h. 
denen,  die  dem  Glauben,  der  Auffassung  der  christlichen  Religion  derer 
beistimmen,  welche  etwa  die  Gewalt  in  Händen  haben,  der  sog.  Ortho- 
doxen (nach  ihrer  eigenen  Behauptung).  Statt  dessen  haben  ja  die 
Kirchen -Oberen  und  ihre  Theologen  aus  dem  Christenthum  eine  Reli- 
gion unendlichen  Streites,  gegenseitigen  Hasses  unter  den  Bekennern 
Jesu  und  wilder  gegenseitiger  Verfolgung  gemacht! 

Hier  nun  ist  der  Schule  eine  erste,  wichtige  Aufgabe  gestellt. 
Sie  hat  der  Religion  den  humanen  Charakter  zu  verleihen,  welcher  in 
der  ursprünglichen  christlichen  Religion  durch  das  Gebot  der  Näch- 
stenliebe und  durch  Auffassung  Gottes  als  Vater  aller  Menschen  und 
dieser  als  Kinder  desselben  und  als  Brüder  beabsichtigt  und  gefordert 
ward,  aber  durch  die  endlosen  und  wüthenden  theologischen  Streitig- 
keiten um  des  sog.  orthodoxen  Glaubens  willen  fast  ganz  verloren 
gegangen  ist.  Dadurch  wird  sogleich  den  Menschen  allenthalben  das 
gleiche  Recht  zutheil,  eine  eigene  Überzeugung  zu  haben  und  ebenso 
es  anderen,  d.  h.  gegenseitig  zu  gewähren,  anstatt  des  Privilegiums  des 
einen  dem  anderen  (wenn  er  abweichenden  Glaubens  ist)  gegenüber.  Von 
den  Theologen  und  Kirchen-Autoritäten  ist  eine  solche  Friedensstiftung 
im  religiösen  Gebiete  schlechterdings  nicht  zu  erwarten,  sondern  nur 
fortwährender  unversöhnlicher  Streit  und  Krieg,  da  sie  einen  absoluten 
Standpunkt  gegenseitig  einnehmen,  absolute  Wahrheit  zu  besitzen  und 
Gottes  Sache  und  Recht  direct  und  ausschliesslich  zu  vertreten  be- 
haupten. Dieser  Behauptung  und  diesem  Glauben  gegenüber  wird  der 
Lehrerstand  eine  schwierige  Aufgabe  zu  erfüllen  haben,  aber  endlich 
muss  doch  wenigstens  bei  den  Cultur Völkern  die  Zeit  kommen,  wo 
Wissenschaft  und  Civilisation ,  weltliche  Regierung  und  öffentliche 
Meinung  dahin  wirken,  dass  die  Religion,  insbesondere  die  christliche, 
zu  einer  Stätte  des  Friedens  und  der  Eintracht  werden  —  anstatt, 
wie  bisher,  die  fortdauernde  Veranlassung  zu  Feindschaft,  Verfolgung, 
Schmähung  und  Verdammung  zu  werden  wegen  vermeintlicher  Recht- 
gläubigkeit und  Irrgläubigkeit.  Der  Religionsunterricht  der  sog.  posi- 
tiven Glaubensrichtungen  wird  freilich  wol  noch  lange  die  Gelegen- 
heit sein,  confessionell  zu  hetzen,  die  Jugend  und  damit  das  Volk 
wegen  verschiedener  Glaubensbekenntnisse  mit  Abneigung,  Verachtung, 
ja  Hass  zu  erfüllen  wegen  unwesentlicher  Cultusbräuche  und  wegen 
abweichender  Glaubenssätze,  von  denen  das  Volk  doch  gar  kein  eigent- 
liches Verständnis  erlangen  kann,  ja  sie  gar  nicht  verstehen  darf  und 
die  für  praktisches  Christenthum,  für  Anbetung  Gottes  im  Geiste  und 


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in  der  Wahrheit  und  für  Nächstenliebe  doch  keine  wesentliche  Be- 
deutung haben. 

Eine  weitere  Aufgabe  der  Schule  ist  die  intellectnelle  Bildung, 
d.  h.  die  möglichste  Entwickelung  der  Erkenntniskräfte,  wodurch  so- 
wol  dem  Einzelnen  es  leichter  wird,  sich  im  harten  Kampfe  ums  Da- 
sein mit  seinen  Fähigkeiten  geltend  zu  machen,  als  auch  das  ganze 
so  gebildete  Volk  und  damit  das  Staatswesen  selbst  an  Kraft  und 
Bedeutung  gewinnt,  da  nur  die  geistig  gebildeten  Völker  in  der  Welt- 
geschichte eine  wirkliche  Bedeutung  und  das  Übergewicht  über  die 
anderen,  weniger  gebildeten  Völkermassen  erlangen.  Indes  gerade 
diese  Forderung,  dass  durch  die  Schule  das  Volk  zu  möglichst  hoher 
intellectueller  Bildung  gebracht  werde,  um  an  der  Wissenschaft  und 
Cultnr  einigermaßen  theilnehmen  zu  können,  wird  von  conservativer 
oder  reactionärer  und  clerikaler  Seite  vielfach  angefeindet.  Das  Volk 
soll  diesen  zufolge  intellectuell  nicht  zu  sehr  gebildet  werden, 
weil  es  dadurch  die  Lust  an  der  Arbeit  verliere,  sich  in  geringer 
Lebensstellung  unglücklich  fühle  und  in  Unwissenheit  glücklicher  sei, 
auch  wol  leicht  der  Gefahr  der  Halbbildung,  Verflachung  u.  s.  w.  ver- 
falle. Außerdem  sei  die  übermäßige  intellectuelle  Bildung  der  Jugend 
und  des  Volkes  dem  religiösen  Glauben  vielfach  gefahrlich  und  schäd- 
lich, veranlasse  leicht  Zweifel  an  der  Wahrheit  der  religiösen  posi- 
tiven Lehren,  störe  den  Seelenfrieden,  den  der  feste  zuversichtliche 
Glaube  dem  Menschen  gewähre  und  untergrabe  die  Unbedingtheit 
willigen  Gehorsams  gegen  die  geistliche  Autorität.  —  Es  ist  nun 
allerdings  kein  Zweifel,  dass  die  fortschreitende  intellectuelle  Bildung 
des  Volkes  diese  und  ähnliche  Gefahren  mit  sich  bringt,  aber  soll 
deshalb  diese  Bildung  ohne  weiteres  unterlassen  und  der  Einzelne, 
wie  das  ganze  Volk  der  Vortheile  beraubt  bleiben,  welche  sie  bringt? 
Soll  gerade  die  höchste  Gabe  der  Menschennatur  unentwickelt  bleiben, 
durch  welche  er  sich  über  alle  anderen  Wesen  der  Erde  so  hoch  er- 
hebt, und  soll  das  Volk  in  Unbildung  und  Unwissenheit,  also  mög- 
lichst nahe  dem  thierischen  Zustande  erhalten  werden,  weil  mit  der 
Bildung  auch  Gefahren  verbunden  sind?  Unmöglich,  denn  dies  wäre 
gegen  alle  Natur  und  Geschichte,  gegen  alles  Recht  und  alle  Vernunft. 
Es  ist  die  Aufgabe  der  Culturentwickelung,  nicht  das  Volk  in  Unbil- 
dung und  Stumpfsinn  zu  erhalten,  damit  es  keine  höheren  Ansprüche 
an  das  Leben  erhebe,  sondern  es  so  zu  bilden,  dass  die  damit  ver- 
bundenen Gefahren  auch  allmählich  überwunden  oder  ganz  vermieden 
werden.  Es  ist  dies  aber  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  Er- 
ziehungskunst,  die  sich  gerade  der  Lehrerstand  nach  und  nach  au- 


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eignen  muss.  Handelte  es  sich  um  Bedürfnis-  nnd  Anspruchslosigkeit 
im  Leben,  wie  sie  mit  Unbildung  uud  Stumpfsinn  verbunden  sind, 
dann  wäre  das  sicherste  Glück  des  Daseins  überhaupt  darin  begrün- 
det, gar  keinen  Verstand  zu  haben,  oder  den  dem  Menschen  verliehe- 
nen so  zu  behandeln,  dass  er  gar  nicht  zur  Entwickelung  käme,  außer 
nur  für  ganz  sinnliche  Genüsse  und  Angelegenheiten,  wie  es  bei  den 
Thieren  der  Fall  ist.  Kann  aber  dies  vernünftigerweise  nicht  ge- 
stattet werden,  >um  des  'vermeintlichen  mit  Unbildung  und  Roheit 
verbundenen  sog.  Glückes  willen,  dann  auch  nicht  die  Vernachlässigung 
der  dem  Menschen  innewohnenden  intellectuellen  Kraft,  deren  Bildung 
sowol  dem  Einzelnen  als  dem  ganzenj  Volke  von  höchster  Förderung 
sein  kann,  ja  für  Realisirung  der  Weltidee  überhaupt  ein  wesentliches 
Moment  ist.  Den  Gefahren  der  „Halbbildung"*)  wird  wol  mehr  und 

*)  Mit  dem  Vorwurf  der  „Halbbildung"  ist  man  in  neuerer  Zeit  gegen  den  Lehrer- 
stand sehr  freigebig,  besonders  von  Seite  derer,  welche  denselben  möglichst  nieder- 
halten wollen  in  untergeordneter  Stellung.  Er  soll  möglichst  ungebildet  bleiben, 
damit  er  nicht  der  Halbbildung  und  deren  Gefahren  Ycrfalle!  Ein  seltsames  Ver- 
langen! Ganz  ungebildet  wird  man  den  Lehrerstand  doch  wol  auch  nach  der  Mei- 
nung dieser  Leute  nicht  lassen  dürfen,  —  wie  weit  darf  man  ihn  dann  aber  bilden, 
damit  er  nicht  halbgebildet  werde?  Ist  eine  Grenze  anzugeben,  —  etwa  von  Vier- 
tels-, Halb-  und  Ganzbildung?  Es  lässt  sich  mit  dem  Begriff  „Halbbildung"  gar 
nichts  Bestimmtes  bezeichnen,  es  sei  denn,  dass  darunter  die  bloße  Scheinbildung 
verstanden  werde,  die  von  diesem  oder  jenem  Gebiete  oder  von  mehreren  Gebieten 
nur  oberflächliche  und  phrasenhafte  Kenntnisse  hat  und  auf  Grund  deren  sich  ab- 
sprechend und  eingebildet  verhält.  Zu  wahrer  und  ganzer  Bildung  kann  man  heut- 
zutage bei  der  unermesslichen  Erweiterung  uud  Vertiefung  der  Wissenschaft  nicht 
verlangen,  dass  jemand,  um  Halbbildung  zu  vermeiden,  in  allen  Wissenschaften 
oder  auch  nur  in  einigen  vollkommen  durchgebildet  sei;  sondern  es  muss  zur  Ver- 
meidung derselben  und  zur  ganzen  Bildung  genügen,  in  einem  bestimmten  Gebiete 
vollkommen  durchgebildet  zu  sein,  und  das  ist  für  den  Lchrerstand  das  pädagogische« 
Wollte  man  zur  Vermeidung  der  Halbbildung  mehr  verlangen,  so  müsste  man  so 
ziemlich  alle  Vertreter  der  verschiedenen  Wissenschaften  für  Halbgebildete  erklären, 
denn  bei  der  Theilung  der  Wissenschaften  'bleiben  den  Vertretern  der  verschiedenen 
wissenschaftlichen  Gebiete  die  anderen  größtenteils,  wo  nicht  ganz  fremd.  So  ist 
es  z.  B.  größtenteils  bei  den  Naturforschern,  den  Historikern,  den  Philologen,  den 
Juristen  u.  s.  w.  Den  Theologen  insbesondere  bleiben  in  der  Regel  nicht  Mos  die 
eigentlichen  Wissenschaften  und  deren' Gebiete  fremd,  sie  werden  auch  noch  sehr 
einseitig,  blos  theologisch  gebildet  und  mit  Vorurteilen  besonders  gegen  die 
moderne  Wissenschaft  erfüllt.  Sie  könnten  daher  nach  obiger  Forderung  ganz 
besonders  als  blos  der  „Halbbildung"  theilhaftig  bezeichnet  werden!  Es  ist  richtig: 
„Halbbildung"  im  Sinn  von  Scheinbildung  soll  bei  dem  Lehrerstand  vermieden  wer- 
den; dies  kann  aber  nicht  durch  Unbildung,  sondern  nur  durch  gründliche  Durch- 
bildung in  ihrem  eigenen  Fach  vermieden  werden,  in  welchem  sie  möglichst  ganze 
Bildung  crlangeu  sollen. 


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mehr  vorgebeugt  werden  können,  je  mehr  die  Erziehungswissenschaft 
und  -Kunst  Fortschritte  zu  machen  imstande  sein  wird.  —  Was 
endlich  die  Gefährdung  des  religiösen  resp.  kirchlichen  positiven 
Glaubens  betrifft,  welche  die  intellectuelle  Bildung  zur  Folge  haben 
soll,  so  ist  darüber  einfach  zu  sagen,  dass  im  allgemeinen  eine  Reli- 
gion, welche  die  intellectuelle  Bildung  der  Völker  überhaupt  zu  fürch- 
ten hat  und  nicht  ertragen  kann,  nicht  die  wahre,  echte  Religion  sein 
kann,  sondern  entweder  schon  im  Grundwesen  falsch  sein,  oder  in  der 
Entwickelung  eine  falsche  Richtung  genommen  und  in  ihrer  Gestal- 
tung von  der  Zeit  und  den  Fortschritten  der  Erkenntnis  überholt 
sein  muss,  also  einer  Reform  bedürftig  ist.  Denn  eine  Religion  kann 
nicht  richtig  und  berechtigt  sein,  die  gegen  die  Vervollkommnung  der 
Menschennatur  sich  richtet,  welche  zum  Bestand  die  Niederhaltung 
der  höchsten  Geisteskraft  von  den  Menschen  fordert.  Wird  der  In- 
tellect  in  seiner  Thätigkeit  und  Vervollkommnung  gehemmt  oder  unter- 
drückt, muss  sozusagen  das  Auge  der  Vernunft  verschlossen  bleiben, 
damit  blindlings  geglaubt  werden  kann,  dann  werden  auch  die  ande- 
ren Geisteskräfte,  Gemüth  und  Willen  nicht  in  normaler  Weise  thätig 
sein  und  sich  entwickeln  und  vervollkommnen  können. 

Um  die  Bildung  dieser  beiden  Geistesvermögen  handelt  es  sich 
aber  gerade  in  der  Erziehung,  die  demnach  die  Bildung  des  Intellects 
zugleich  erfordert.  Dass  zur  Bildung  von  beiden  blos  theoretische  Unter- 
weisung nicht  genüge,  insbesondere  nicht  etwa  bloßes  Auswendig- 
lernen von  Dogmen  und  sittlicher  Gebote  und  Verbote,  ist  wol  päda- 
gogisch fast  allgemein  anerkannt,  wenn  auch  praktisch  nicht  immer 
dieser  Einsicht  gemäß  verfahren  wird.    Es  sind  insbesondere  edle 
Beispiele  als  Vorbilder,  die  hier  wirksam  sind,  weil  sie  auf  die  Phan- 
tasie besonders  der  Jugend"  wirken  und  zu  edlen  Entschlüssen  und 
nachahmendem  Verhalten  anregen.   Nicht  mit  Unrecht  ist  behauptet 
worden,  dass  der  Mensch  so  sei,  wie  seine  Phantasie  beschaffen  ist. 
Phantasie -Vorstellungen  machen  Helden,  kühne  Unternehmer,  liebe- 
volle werkthätige  Menschenfreunde  und  selbst  Asceten,  da  durch 
Phantasiethätigkeit  Furcht  wie  Hoffnung  erzeugt  und  zu  bestimmtem 
Thun  angeregt  wird.  Freilich  sollen  diese  Vorbilder  von  der  Art  sein, 
dass  sie  in  normaler  Weise  nachgeahmt  werden  können,  nicht  aber 
Extreme  in  Ascese  und  Wunderlichkeiten,  die  für  die  Menschen  im 
allgemeinen  unnachahmbar  sind  und  nur  Verwunderung,  Scheu  oder 
Mitleid  erregen  können  —  für  das  praktische  Leben  aber  vollständig 
unfruchtbar  sind,  und  auch  andere  nicht  dafür  als  Vorbilder  frucht- 
bar machen  können.   Es  ist  ein  Hauptmangel  der  Religionen  bezttg- 


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lieh  der  Erziehung,  dass  solche  Wundermenschen  am  höchsten  gestellt 
werden  und  das  Volk  gerade  mit  ihnen  am  meisten  bekannt  gemacht 
wird,  über  welche  es  sich  doch  nur  wundem  kann,  ohne  ein  Beispiel 
der  Nachahmung  an  ihnen  zu  gewinnen. 

Als  eine  Hauptaufgabe,  durch  deren  Erfüllung  die  Schule  zur 
glücklichen  Lösung  der  socialen  Frage  der  Gegenwart  beitragen  kann, 
i>t  endlich  noch  dies  hervorzuheben,  dass  sie  die  Jugend  und  damit 
auch  das  Volk  zur  richtigen  Würdigung  der  Daseins  Verhältnisse,  zur 
Sehätzung  der  Dinge  und  Güter  nacli  ihrem  wahren  Werte  anleite 
und  dadurch  von  jenen  Illusionen  befreie,  die  hauptsächlich  dazu 
beitragen,  dass  das  Volk  unzufriedeu  wird  und  sich  unglücklich  in 
seinen  untergeordneten  Lebenslagen  und  Berufsbeschäftigungen  fühlt. 
Es  ist  vor  allem  die  Noth wendigkeit  der  Arbeit  selbst,  die  als  ein 
Missgeschick,  als  eine  Last,  ja  zum  Theil  als  ein  göttlicher  Fluch 
angesehen  wird,  während  Freisein  von  derselben,  Müßiggang  als  eiu 
großes  Gut  und  Glück  und  gewissermaßen  als  ein  Götterleben  be- 
trachtet wird  Es  sind  dann  die  äußerlichen  Lebensgüter,  Beichthum, 
sinnlicher  Geuuss,  hohe  Titel  und  Würden,  die  man  für  schönste,  be- 
glückendste  Lebensgüter  ansieht,  die  man  wünscht,  um  die  man  andere, 
denen  sie  zutheil  geworden,  beneidet,  ja  mit  Zorn  und  Ingrimm 
betrachtet.  Dass  hier  große  Illusionen  vorliegen,  ist  ohne  große 
Schwierigkeit  zu  erkennen.  Diese  sind  soviel  als  möglich  zu  zer- 
streuen, und  sind  dafür  die  wahren,  wirklich  wertvollen  Lebensgüter 
zum  Bewusstsein  zu  bringen.  Vor  allem  ist  dem  Wahne  entgegen  zu 
wirken,  als  ob  Müßiggang,  Nichtsthnn  und  bloßes  sinnliches  Genießen 
ein  menschenwürdigerer  und  glücklicherer  Zustand  wäre  als  Arbeiten 
und  mäßiges  Leben.  Die  Arbeit  wird  noch  vielfach,  zum  Theil  durch 
religiöse  Ansichten,  als  ein  Strafzustand,  ja  sogar  als  Folge  göttlichen 
Fluches  über  die  Meüschheit  angesehen,  der  infolge  des  sog.  Sünden- 
falls der  ersten  Menschen  über  die  ganze  Menschheit  soll  von  Gott 
ausgesprochen  worden  sein  (Genes.  3,  17  ft'.);  —  eine  Annahme,  die 
schon  mit  dem  biblischen  Berichte  selbst  nicht  in  Übereinstimmung 
steht,  da  dem  Menschen  selbst  im  sog.  Paradiese  vom  Schöpfer  von 
Anfang  an  die  Aufgabe  gestellt  wird,  die  Erde  zu  bauen  und  zu  be- 
wohnen (Genes.  2,  15).  Die  Arbeit,  das  Schaffen  begründet  im  Gegen  - 
theil  das  Glück,  wie  die  Würde  und  Ehre  des  Menschen,  da  dieser 
nur  so  viel  wert  ist,  als  er  für  seine  eigene  Vervollkommnung  und 
für  das  Wol  seiner  Mitmenschen  leistet,  und  nur  durch  seine  Wirksamkeit 
Wert  und  Bedeutung  für  das  Dasein  überhaupt  und  insbesondere  für 
sein  Volk  und  die  Menschheit  erhält.  Schiller  lässt  es  so  aussprechen: 


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„Ehr  den  König  seine  Würde,  ehret  uns  der  Hände  Fleiß."  Jede, 
auch  die  geringste  Arbeit  hat  ihre  Bedeutung  im  Gesammtdasein  der 
Menschheit  so  gut  wie  die  auf  den  Höhen  der  Gesellschaft,  wie  das 
Fundament  seine  große  wichtige  Bedeutung  hat,  auf  dem  die  Figur 
sich  erhebt.  Was  aber  das  Lebensglück  betrifft,  so  ist  es  nicht  durch 
Genuss,  Glanz,  prunkenden  Schein  begründet,  sondern  durch  schaffende 
Arbeit,  die  sowol  den  Schaffensdrang  befriedigt,  als  auch  die  not- 
wendigen Lebensgenüsse  erhöht  und  veredelt.  Hat  doch  schon  Aristo- 
teles behauptet,  dass  das  wahre  Glück  des  Menschen  durch  nichts 
anderes  erreicht  werde,  als  durch  erfolgreiche  Thätigkeit,  —  also 
nicht  von  Reichthum,  Genuss  und  den  gewöhnlichen  Glücksgütern  be- 
gründet werden  kann.  Allerdings  ist  die  Arbeit  auch  vielfach  mit 
Beschwerden  und  selbst  Gefahren  verbunden,  aber  immerhin  lässt  sich 
doch  jeder  Art  derselben  irgendeine  bedeutungsvolle  und  selbst  ideale 
Seite  abgewinnen,  und  dies  um  so  mehr,  je  beschwerlicher  sie  ist,  da 
sie  stets  zum  Ganzen  des  Weltprocesses  und  der  Erfüllung  der  Auf- 
gabe der  Menschheit  gehört,  wie  Schiller  es  ausdrückt: 

Beschäftigung,  die  nie  ermattet, 

Die  langsam  schafft,  doch  nie  zerstört, 

Die  zu  dem  Bau  der  Ewigkeiten, 

Zwar  Sandkorn  uur  und  Sandkorn  reicht. 

Doch  von  der  großen  Schuld  der  Zeiten 

Minuten,  Tage,  Jahre  streicht. 

Es  ist  selbstverständlich  bei  all'  dem  immer  vorauszusetzen,  dass  die 
materielle  Lage  der  in  den  unteren  Gebieten  des  Daseins  Arbeitenden 
verbessert  werde,  soweit  es  nach  Lage  der  physischen  und  geistigen 
Daseinsweise  des  Menschen  und  der  menschlichen  Gesellschaft  nur 
immer  möglich  ist. 

Die  Aufgabe  der  Schule  wird  hierbei  eine  sehr  große  und  schwie- 
rige sein,  denn  in  diesem  sinnlichen  Dasein  den  vorherrschend  im 
Sinnlichen  Lebenden  und  Wirkenden  die  richtige  Würdigung  der  Arbeit 
und  die  richtige  Schätzung  der  Dinge,  Güter  und  Verhältnisse  nach 
ihrem  wahren  Werte  beizubringen,  eine  Schätzung,  in  der  man  schon  im 
Alterthuin  die  Weisheit  erblickte  und  ein  Resultat  philosophischen  Denkens 
sah,  ist  schwer.  Grundsätze  allgemeiner  Art  und  vernünftige  Lebens- 
regeln  vermögen  auf  solche  Menschen  nicht  nachhaltig  zu  wirken,  es 
ist  hier  nothwendig,  dass  auch  die  wirkliche  Religion,  das  wahre 
Christenthum  in  seiner  ursprünglichen  Reinheit  zur  Geltung  gebracht 
werde.  Das  Christenthum  hat  die  Armut  nicht  blos  erleichtern 
wollen  durch  das  Gebot  der  Nächstenliebe,  das  dem  der  Gottesliebe 
gleichgestellt  wurde,  es  hat  dieselbe  sogar  gewissermaßen  geadelt,  als 


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vollkommeneren  Zustand  geltend  gemacht,  als  den  Besitz  von  Reich- 
thum, so  zwar,  dass  dieselbe  von  Tausenden  freiwillig  gewählt,  dem 
Besitz  von  Reichthum  und  Genuss  vorgezogen  ward.  Ahnliches  sollte 
auch  in  Bezug  auf  die  Arbeit  angestrebt  werden,  da  dies  noch  viel 
wichtiger  wäre  als  jenes.  Die  Erhebung  [der  Armut  brachte  manche 
Missstände  mit  sich,  förderte  missbräuchlich  anch  den  Müßiggang* 
und  den  Bettel  in  einer  Weise,  die  dem  Einzelnen  und  dem  Gemein- 
wesen zum  Schaden  gereichte.  Dies  ist  bei  Förderung  einer  höheren 
Auffassung  der  Arbeit  und  selbst  einer  gewissen  religiösen  Weihe  der- 
selben nicht  der  Fall,  im  Gegentheil  werden  dadurch  die  Einzelnen 
in  ihrer  Lebenslage  gefördert  und  werden  die  Völker  und  Staaten 
dadurch  nicht  blos  moralisch  und  intellectuell  gehoben,  sondern  auch 
materiell  reicher  und  phj'sisch  mächtiger. 

Alle  Bestrebungen  der  Lehrer  in  den  Schulen  in  Bezug  auf  rich- 
tige Würdigung  der  Arbeit  und]  ,in  Bezug  auf  vernünftige  Wert- 
schätzung der  Güter  nnd  Genüsse  des  menschlichen  Lebens  werden 
aber  kaum  den  gewünschten  für  das  Wol  und  den  Frieden  der  Gesell- 
schaft noth wendigen  Erfolg  erzielen,  wenn  sie  nicht  unterstützt  wer- 
den von  den  höheren  und  gebildeten  Olassen  der  Gesellschaft  durch 
das  Beispiel  nnd  das  Vorbild  edler  Gesinnung  und  richtiger  Schätzung 
der  Lebensgüter  und  Genüsse  nach  ihrem  wahren  Werte.   Man  kann 
von  den  ungebildeten  Volksclassen  nicht  eine  hohe  und  edle  Gesinnung 
und  weise  Benrtheilung  der  Dinge  erwarten,  wenn  diese  unaufhörlich 
wahrnehmen,  dass  die  höheren,  an  Rang  und  Bildung  über  ihnen 
stehenden  Gesellschaftsclassen  sie  selbst  nicht  bekunden.   Wie  sollen 
die  niederen  Classen  z.  B.'  die  Arbeit  hochschätzen  als  die  Ehre  und 
Würde  des  Menschen  und  als  das  wahrhaft  das  Lebensglück  Begrün- 
dende, wenn  sie  wahrnehmen,  dass  jene  selbst  ein  müßiges  Leben  für 
das  Höchste  und  für  das  wahre  Götterleben  erachten  und  danach 
streben?  Und  wie  sollen  sie  sinnliche  Genüsse  nicht  für  das  Höchste 
erachten,  wenn  sie  sehen,  dass  die  höher  Gebildeten  so  sehr  denselben 
nachjagen  und  außerdem  der  großen  Mehrzahl  nach  gierig  streben 
nach  leeren,  prunkenden  Titeln,  Ehrenbezeugungen  und  eitlen  Äußer- 
lichkeiten aller  Art?   Ja,  wenn  sie  sehen,  dass  nicht  blos  die  Träger 
der  Bildung,  sondern  sogar  die  der  Religion,  die  Vertreter  und  Macht- 
haber des  religiösen  (kirchlichen)  Glaubens  dergleichen  Nichtigkeiten  nach- 
jagen, das  Leere  und  Bedeutungslose  hochschätzen,  während  sie  verlangen, 
dass  das  ungebildete  Volk  sich  an  das  wahrhaft  Wertvolle  halte, 
ideale  Gesinnung  kundgebe  und  bethätige,  während  sie  nach  glänzen- 
dem Firlefanz  streben? 


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-    419  — 


Es  ist  also  zwar,  wie  schon  eingangs  bemerkt,  auf  das  Höchste  zu 
wünschen,  dass  die  materielle  Lage  der  in  niederen  Lebenssphären 
Arbeitenden  so  gut  als  nur  immer  möglich  gebessert  und  gehoben  werde, 
und  unserer  Zeit  wird  es  zum  unvergänglichen  Ruhme  gereichen, 
dazu  großartige  Anstalten  versucht  zu  haben,  —  aber  ohne  geistige, 
ohne  intellectuelle  und  sittliche  Bildung  wird  alles  vergeblich  sein, 
denn  den  Unvernünftigen,  von  Leidenschaften  Fortgerissenen  und  den 
Schlechten  kann  durch  nichts  geholfen  werden! 


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Drei  Monate  Fabrikarbeiter. 

Ergebni>se  und  Forderungen  für  die  Volksschule 
von  Ttteod.  Lwiw.  Wotf-Leipzü/. 

Xj  nter  dem  Titel  „Drei  Monate  Fabrikarbeiter"*)  bat  vor  einiger 
Zeit  Herr  Paul  Göhre,  Candidat  der  Theologie  und  Generalsecretär 
des  evangelisch-socialen  Congresses  in  Berlin,  eine  Studie  veröffentlicht, 
die  in  allen  Kreisen  lebhafte  Aufnahme  gefunden  zu  haben  scheint, 
nicht  am  wenigsten  in  Lehrerkreisen.  Der  Verfasser  hat,  um  „seine 
ärmeren  Mitbrüder  und  ihre  Lage,  ihre  Gedanken,  ihr  Sorgen  und  ihr 
Sehnen"  kennen  zu  lernen,  unerkannt  drei  Monate  in  Chemnitz  als 
einfacher  Arbeiter  einer  großen  Maschinenfabrik  mit  anderen  Fabrik- 
arbeitern „taglich  11  Stunden  gearbeitet,  mit  ihnen  gegessen  und  ge- 
trunken, als  einer  der  ihrigen  unter  ihnen  gewohnt,  die  Abende  mit 
ihnen  verbracht,  sich  die  Sonntage  mit  ihnen  vergnügt". 

Dem  Verfasser  ist  es  ernst  um  die  Lösung  seiner  selbstgestellten 
Aufgabe  gewesen,  und  er  hat  sich  diese  nicht  leicht  gemacht;  er  ist 
mit  sittlichem  Eifer  an  sie  herangetreten;  diesen,  eine  tiefe  Liebe  zum 
Volke  und  ein  heißes  Sehnen  und  Bemühen,  dem  „vierten  Stande"  zu 
helfen,  erkennt  man  auf  jeder  Seite.  Er  hütet  sich,  und  warnt  selbst 
davor,  seine  Ergebnisse  zu  verallgemeinern;  was  er  uns  bietet,  gilt 
zunächst  nur  von  den  sächsischen  Industrie-Arbeitern;  er  berichtet  es 
mit  der  nöthigen  Objectivität,  dem  nöthigen  Freiin uthe  und  greift 
ohne  Scheu  in  offene  und  geheime  Wunden.  Herr  Göhre  belichtet 
über  die  materielle  Lage  der  Arbeiter,  über  die  Arbeit  in  der  Fabrik, 
die  Agitation  der  Socialdemokratie,  über  die  socialen  und  politischen 
Gesinnungen  seiner  Arbeitsgenossen,  über  Bildung  und  Christenthum, 
über  sittliche  Zustände,  und  in  einem  Schlusscapitel  zieht  er  das 
Facit  seiner  Erlebnisse. 

Was  dem  Pädagogen  das  Buch  so  wertvoll  macht,  sind  zunächst 

*)  Drei  Monate  Fabrikarbeiter  und  Handwerksbureehe.  Eine  praktische  Studie 
von  Paul  Göhre.    Zweites  Zehntausend.    Leipzig.  1891.  Fr.  W.  Grunow. 


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—    421  — 

nicht  die  Ausführungen  über  die  wirtschaftlichen ,  politischen  oder 
socialen  Verhältnisse  der  Arbeiter,  sondern  das  was  er  über  religiöse, 
sittliche  und  wissenschaftliche  Bildung  berichtet.  Das  kann  uns 
Lehrern  einen  Anhalt  geben,  wo  die  Schule  den  Hebel  anzusetzen 
hat,  um  an  dem  socialen  Problem  mit  zu  arbeiten. 

Es  zeigt  immer  von  einer  Verkennung  der  Thatsachen,  wenn  man 
meint,  die  Schule  könne  die  sociale  Frage  lösen;  sie  kann  es  allein 
ebensowenig  wie  die  Kirche.  „Die  richtigen  Ärzte  aller  socialen  Krank- 
heiten", sagt  einmal  K.  E.  Franzos,  „sind  der  Volkswirt,  der  Priester, 
der  Schulmeister."  Gewiss,  da  die  sociale  Frage  eine  hervorragend 
ethische  Frage  ist;  nur  soll  jeder  auf  dem  Gebiete  helfen,  auf  dem  er 
competent  ist.  Die  Schule  darf  sich  nie  als  Waffe  im  Kampfe  gegen 
irgend  welche  politische  Partei  gebrauchen  lassen;  jede  Politik  liegt 
ihrem  Wesen  fern.  Auch  ihr  kann  es,  wie  Göhre  es  von  der  Kirche 
behauptet,  gleichgiltig  sein,  „ob  sie  in  einem  Feudal-,  Manchester-  oder 
Socialstaate  wirkt".  Das  Ethisch-Religiöse  ist  der  Boden,  auf  dem  die 
Lehrer  kämpfen  müssen. 

Die  Schule  beansprucht  die  Gebiete  des  Unterrichts  und  der  Er- 
ziehung. Sie  hat  damit  zwei  Verpflichtungen,  die  der  Familie  zu- 
kommen, auf  sich  nehmen  müssen.  Der  Unterricht  bleibt  ihr  unbe- 
stritten, wiewol  sie  auch  auf  diesem  Felde  die  Unterstützung  des 
Hauses  nicht  gut  entbehren  kann.  Mit  dem  Begriff  des  Unterrichts 
hat  sich  der  der  Erziehung  allmählich  unlöslich  verbunden;  ja  dieser 
hat,  und  musste  es,  als  das  wesentlich  wichtigere  Moment,  die  erste 
Stelle  eingenommen.  Für  die  Erfolge  auf  diesem  zweiten  Felde  muss 
aber  die  Familie  in  weit  höherem  Maße  als  die  Schule  verantwortlich 
gemacht  werden.  Hier  kann  die  Schule  niemals  die  Erbin  des  Hauses, 
sondern  nur  seine  Freundin,  Helferin  und  Beratherin  werden.  Dass 
Pestalozzi  die  Wohnstube  als  Rettungsanstalt  in  socialen  Nöthen  an- 
sah, dass  er  in  der  Mutter  die  weitaus  beste  Erzieherin  erkannte, 
das  muss  für  alle  Zeiten  Geltung  haben,  davon  dürfen  wir  nicht  ab- 
kommen. „Das,  was  Eltern  die  Kinder  lehren  können,  ist  und  bleibt 
immer  die  Hauptsache  fürs  menschliche  Leben,  und  das  versäumen 
die  Eltern  den  Kindern  in  ihrer  Wohnstube  zu  geben  und  bauen  auf 
Wörter,  die  ihnen  ein  Schulmeister  voi*sagt,  die  zwar  wol  recht  und 
gut  sind  und  viel  Schönes  und  Braves  bedeuten,  aber  immer  doch  nur 
Wörter  sind  und  aus  einem  fremden  Munde  kommen  und  den  Kindern 
nie  so  anpassen  wie  ein  Vater-  und  Mutter  wort."  *) 


♦)  Pestalozzi,  Christ,  u.  Else.    I.  S.  239  ff. 


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—    422  — 


Wo  bleibt  aber  die  Familienerziehung,  wenn  das  Familienleben 
that8ächlich  im  Schwinden  begriffen  ist?  Herr  Göhre  hat  dafür  eine 
Menge  Belege  in  den  Kreisen  seiner  Arbeitsgenossen  gesammelt.  Vor 
allem  sind  die  jämmerlichen  Wohnungsverhältnisse  an  der  Lösung  der 
Familienbande  schuld  *)  „Das  Traurige  an  dem  ganzen  Wohnungs- 
wesen", sagt  Herr  Göhre  (S.  21),  „war  das  Missverhältnis  zwischen 
der  Enge  der  Räume  und  der  Zahl  ihrer  Bewohner.  Weitaus  die 
meisten  Familien  hatten  eine  Schar  Kinder,  hatten  Schlafleute  und 
Kostgänger."  „Das  Ärgste  von  Wohnungsnoth,  was  ich  erlebte,"  um 
das  drastischste  Beispiel  anzuführen,  „war  bei  einem  Mann  aus  meiner 
Fabrik.  Das  war  thatsächlich  nicht  mehr  menschenwürdig.  Der 
Mann  war  ein  alter  und  langjähriger  Arbeiter.  Er  hatte  eine  kränk- 
liche, halbgelähmte,  blutflussige  Frau.  Ihre  Kinder  waren  bereits  er- 
wachsen und  verheiratet;  sie  hatten  nur  eine  von  ihnen  herzlich  gepflegte 
Enkelin  noch  bei  sich,  dagegen  fünf  fremde  Schlafleute!  Dieses  Mannes 
Wohnung  bestand  aus  folgenden  Gelassen:  aus  einer  Stube,  einem 
Alcoven,  einer  einfenstrigen  Kammer  und  einer  Dachkammer.  In 
dieser  standen  zwei  Betten:  in  dem  einen  schlief  ein  ganz  junges  Ehe- 
paar, das  hier  zur  Aftermiete  wohnte,  und  in  dem  andern  das  zwölf- 
jährige Mädchen,  das  Enkelkind!"  —  Das  geschieht  in  einem  Staate, 
der  sich  nicht  mit  Unrecht  seiner  verhältnismäßig  guten  sanitären  und 
sittenpolizeilichen  Verordnungen  und  Einrichtungen  rühmen  darf!  „Das 
Schlafstellen-  und  Kostgängerwesen  ist  der  Ruin  der  deutschen  Arbeiter- 
familie. Aber  es  ist  für  sie  in  den  allermeisten  Fällen  eine  wirt- 
schaftliche Notwendigkeit."  **) 

Dass  dabei  trotzdem  „die  Zahl  der  Familien,  die  bei  aller  Be- 
schränktheit der  Lebenshaltung  und  Wohnung  so  gut  als  möglich  auf 
Adrettheit  und  Anstand  zu  halten  versuchten  und  auch  thatsächlich 
hielten,  unendlich  größer  war  als  diejenigen,  bei  denen  es  ans  irgend 
einem  Grunde  nicht  der  Fall  war",  das  spricht  laut  genug  für  den 
noch  immer  gesunden  Sinn  für  das  Häusliche  unserer  Arbeiter. 

Zu  diesen  trüben  Wohnungsverhältnissen  kommt  noch  als  zweiter 
Missstand  die  lange  Arbeitsdauer.  Elf  Stunden  ist  der  Vater,  zum 
Theil  auch  die  Mutter  in  der  Fabrik  beschäftigt,  die  Kinder  befinden 
sich  in  der  Schule.  Selbst  der  Mittag  versammelt  die  Familie  nicht 
zu  gemeinsamer  Mahlzeit.  Eine  einstündige  Mittagspause,  ein  weiter 
Weg  von  der  Arbeitsstätte  zur  Wohnung!   Die  Mahlzeit  muss  auf 


*)  H.  Albrecht,  Wohnung  der  Armen.  Deutsche  Rundschau  XVII,  2  ff. 
♦*)  Göhre  a.  a.  0.  S.  24. 


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■ 


der  Straße,  wenn  es  gut  geht  im  Fabrikgebäude  selbst  eingenommen 
werden.  „Wie  kann  solch  eine  Mahlzeit  auf  der  Straße  jemals  eine 
gesegnete  sein?  Wie  kann  man  im  Ernst  tadeln,  dass  sie  ohne  Gebet 
und  Händefalten  hineingeworfen  wird?  Wie  muss  sie  ganz  anders 
als  Agitatorenworte  es  vermögen,  den  Familiensinn  des  Vaters  und 
der  Mutter  und  damit  Familienglück  und  Familienleben  zerstören? 
Denn  diese  Zustände  und  ihre  Folgen  treffen  ja  nicht  nur  den,  dem 
man  das  bisschen  Essen  im  Topfe  auf  die  Promenadenbank  bringt, 
sondern  stets  die  ganze  Familie."  *)  Und  wie  ist  es  am  Abende? 
Müde  und  abgespannt  kehrt  der  Vater  heim  von  der  Arbeit  in  seine 
unfreundliche  Behausung;  soll  er  sich  dann  noch  viel  mit  seinen  Kin- 
dern beschäftigen?  Oft  sind  sie  ja  längst  schon  zur  Ruhe  gegangen. 
Ungestört  und  allein  zusammen  können  Eltern  und  Kinder  nur  wäh- 
rend der  Nacht,  vielleicht  auch  Sonntags  sein.  Es  erhellt  daraus 
dass  „infolge  dieser  Zustände  in  weiten  Kreisen  unserer  großstädtischen 
Industriebevölkerung  die  überlieferte  Form  der  Familie  heute  schon 
nicht  mehr  vorhanden  ist.  Der  alte,  auf  Blutsverwandtschaft  von 
Eltern  und  Kindern  ruhende  und  aus  allein  solchen  blutsverwandten 
Gliedern  zusammengesetzte  Organismus  der  Familie,  an  den  sich  in 
besseren  Ständen  bisher  nur  einzelne  Dienstboten  fester  oder  loser 
anschlössen,  hat  in  der  That  in  jener  Bevölkerungsschicht  heute  bereits 
mehr  oder  weniger  einem  erweiterten,  auf  den  rein  wirtschaftlichen 
Bedürfhissen  gemeinschaftlichen  Wohnens  und  Lebens  aufgebauten,  in 
der  Zusammensetzung  seiner  Glieder  durch  Zufälligkeiten  gebildeten 
Kreise  von  Blutsverwandten  und  Fremden  Platz  gemacht.  Und  nicht 
die  Socialdemokraten  und  deren  Agitation  haben  daran  die  Haupt- 
schuld, sondern  eben  jene  Zustände,  (die  eine  Frucht  unserer  ganzen 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  sind  und  die  es  den  Arbeitern  unmög- 
lich machen,  gemeinsam  ihre  Morgen-  und  Mittagsmahlzeiten  ein- 
zunehmen, die  sie  zwingen,  die  allerdürftigsten  und  allerengsten  Woh- 
nungen zu  beziehen,  dazu  noch  wildfremde,  häufig  wechselnde  Schlaf- 
gäste bei  sich  aufzunehmen  und  ihnen  den  vertraulichsten  gemein- 
samen Umgang  zu  gestatten,  den  man  sonst  nur  mit  den  eigenen 
Familienangehörigen  zu  pflegen  gewohnt  war."  **) 

Was  sollen  da  Koch-  und  Haushaltungsschulen  helfen?  Was 
sollen  Schulsparcassen ,  Knabenhorte  und  ähnliche  Einrichtungen? 
Sie  haben  nur  eine  interimistische  Bedeutung,  für  so  lange  nämlich, 


*j  Göhre  a.  a.  0.  S.  36. 
*)  Göhre  a.  a.  0.  8. 37  ff. 


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als  die  Familie  ihren  Verpflichtungen  nicht  nachkommt  und  nicht 
nachkommen  kann.  „Was  sollen  Reformen  der  Erziehung,  solange 
diese  socialen  Schäden  fortdauern?  Nur  eine  Rechtsordnnng,  welche 
die  Gesellschaft  selbst  reformirt,  kann  hier  allmählich  Wandel 
schaffen."*)  Damit  nehmen  wir  nicht  die  Verantwortung  von  der 
Schule,  dass  sie  durch  den  erziehlichen  Unterricht  die  Familienglieder 
an  ihre  Familienpflichten  erinnere;  denn  die  Schule  soll  und  kann 
auch  zur  Erziehung  der  Gesellschaft  beitragen.  Der  wahre  Volks- 
schullehrer muss  das  sein,  was  Diesterweg  von  ihm  fordert,  ein  Volks- 
pädagog. 

Die  Klagen  über  zunehmende  Verrohung  der  Jugfnd,  über  das 
Anschwellen  der  Unsittlichkeit  sind  ebenso  allgemein  wie  berechtigt. 
Man  werfe  nicht  ein,  dass  die  sittlichen  Zustände  vergangener  Zeit 
schlechtere  gewesen  seien,  als  die  der  Gegenwart..  Denn  darin  eben 
liegt  der  Vorzug  unserer  Zeit  vor  der  Vergangenheit,  dass  der  Mensch 
heute  besser  sein  kann,  nicht  darin,  dass  er  besser  ist.  Ist  es  aber 
ein  Wunder,  dass  die  sittlichen  Zustände  so  unerfreuliche  sind?  Ist 
es  nicht  vielmehr  ein  Wunder,  dass  sie  nicht  noch  weit  schlimmere 
sind?  Dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  dessen  rühmen  wir  uns,  das  dankt 
man  zumeist  der  Schule.  Hören  wir  darüber  Herrn  Göhre!  Er  sagt: 
„Das  Sittengesetz  des  Christenthums,  das  in  der  geschichtlichen  Person 
Jesu  von  Nazareth  als  erfülltes  Ideal  uns  von  Gott  offenbart  ist,  seit- 
dem das  starke  Rückgrat  aller  christlichen  Jugenderziehung,  sitzt 
noch  als  das  beste  Stück  ihres  sittlichen  Charakters  und  ihrer  selbst 
oft  unbewusst  auch  in  den  Herzen  der  mir  nahe  gekommenen  Arbeiter 
fest.  Es  gilt  auch  ihnen  noch  als  Maßstab  und  Wertmesser  für  alle 
Handlungen  und  Gedanken,  als  die  unsichtbare  letzte  Instanz,  die 
Macht  des  Gewissens,  die  zwar  oft  beiseite  geschoben,  umgangen  und 
zum  Schweigen  gebracht  wird,  die  aber  trotzdem  auch  in  ihren  Augen 
eine  unantastbare  Autorität  und  selbstverständliche  und  natürliche 
Ordnung  ist."  **)  Ja,  das  Gewissen  ist  eine  Macht,  aber  nur  für  den 
sittlich  schon  erzogenen  Menschen.  Wer  aber  mahnt  den  jugendlichen 
Arbeiter  daran,  der  Stimme  seines  Gewissens  zu  lauschen?  Wer  ist 
ihm  Führer  in  der  „Jugendwüste",  um  mit  Dörpfeld  zu  reden,  die 
vom  Austritt  aus  der  Schule  bis  zur  Mündigwerdung  sich  ausstreckt? 
„Man  denke  daran,  dass  die  unverhältnismäßig  günstigen  Löhnungs- 
verhältnisse der  unbeaufsichtigten  Jugend  nothwendig  zu  dem  Leicht- 


*)  Wandt,  Ethik.  S.  462. 
**)  Göhre  a.  a.  0.  8. 191. 


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sinn,  der  Roheit  und  der  Verschwendungssucht  führen  müssen,  die 
man  unter  ihnen  in  erstaunlichem  Umfange  verbreitet  findet."  *)  Soll 
dann  die  „Schule  des  Militärs"  den  sittlich  Gefallenen  wieder  auf- 
richten? Sie  könnte  es;  aber  sie  erfüllt  ihre  erziehliche  Pflicht  nicht. 
Denn  darüber,  dass  ein  Mensch,  wenn  er  nicht  sittlich  kerngesund  ist, 
mit  dem  Eintritt  ins  Militär  den  letzten  Rest  von  Schamhaftigkeit, 
Anstand  und  Menschenwürde  verliert,  darüber  ist  wol  jeder  Ein- 
geweihte sich  klar.  Der  jugendliche  Gymnasiast  hat  einen  sittlichen 
Halt  in  der  Familie,  in  der  Schule;  unserm  jugendlichen  Arbeiter  fehlt 
er.  Die  evangelischen  Jünglings-  oder  katholischen  Gesellenvereine 
helfen  hier  nicht  aus,  weil  sich  ihnen  gerade  die  selbstständigeren,  selbst- 
bewussteren  Elemente  entziehen.  Die  Fortbildungsschule  soll  man  bei 
der  geringen  Zeit,  die  sie  dem  Zögling  widmen  kann,  nicht  verant- 
wortlich machen  für  seine  Entsittlichung.  Und  wie  stünde  es  dann 
bei  den  Madchen,  die  auch  dieses  Zwanges  ledig  sind?  „Ich  behaupte", 
sagt  Göhre  (S.  205),  „dass  kaum  ein  junger  Mann  oder  ein  junges 
Mädchen  aus  der  Chemnitzer  Arbeiterbevölkerung,  das  über  17  Jahre 
alt  ist,  noch  keusch  und  jungfräulich  ist.  Der  geschlechtliche  Um- 
gang, auf  den  Tanzböden  vor  allem  groß  gezogen,  ist  unter  dieser 
Jugend  heute  im  weitesten  Umfange  verbreitet.  Er  gilt  einfach  als 
das  Natürliche  und  ganz  Selbstverständliche;  von  dem  Bewusstsein, 
dass  man  damit  eine  Sünde  begeht,  ist  selten  eine  Spur  vorhanden. 
Das  sechste  Gebot  existirt  in  diesem  Sinne  da  unten  nicht."  Und 
darin  eben  besteht  das  Gefährliche,  dass  man  das  Unsittliche  bereits 
gar  nicht  mehr  als  solches  ansieht,  sondern  als  etwas  ganz  Selbst- 
verständliches. Soll  das  so  weiter  gehen?  Soll  die  freie  Liebe  als 
ein  sittlicher  Zustand  anerkannt  werden?  —  Die  Familie  kann  auch 
hier  Retterin  werden.  Da  sie  es  aber  vorläufig  nicht  ist,  mtisste  die 
Fortbildungsschule  in  ihren  Zielen  und  Fächern  erweitert  werden, 
musste  aber  auch  ihre  Disciplinargewalt  ausgedehnt  werden.  Die  Zeit, 
in  welcher  der  Charakter  anfängt  sich  zu  bilden  und  zu  festigen,  ist 
so  wichtig,  dass  sie  solche  Forderungen  rechtfertigt.  „In  diesem 
wichtigsten  Abschnitte  des  Lebens  die  Jugend  in  sittlicher  Reinheit  zu 
erhalten  und  vor  der  Bahn  des  Lasters  zu  bewahren,  das  wäre  ein 
Problem,  das  weit  über  das  sociale  im  engeren  Sinne  hinausgeht, 
eben  weil  seine  Lösung  die  Voraussetzung  für  die  Lösung  aller  socialen 
Fragen  bildet"  **) 


♦)  Göhre  a,  a.  O.  8. 192. 

♦•)  Tröper,  Die  Schale  und  die  sociale  Präge.   III.  8. 37. 

P*d«go*ium.    14.  Jahrf.   Heft  VIT.  30 


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Wenn  irgend  der  Moralunterricht  eine  Berechtigung  hat,  so  hat 
er  sie  gerade  für  die  Periode  der  Mündigwerdung.  Damit  und  von 
ethischen  Grundsätzen  durchdrungen  müssen  volkswirtschaftliche  Be- 
lehrungen und  ein  Unterricht  in  der  Gesellschaftskunde  Hand  in 
Hand  gehen.*) 

Aber  betont  muss  hierbei  immer  werden,  dass  nicht  das  Wissen, 
nicht  Verstandesbildung  den  Menschen  sittlich  machen  kann.  Luthardt 
citirt  in  seiner  Apologie  des  Christenthums  (IV.  228,  17)  Matthias 
Claudius  mit  folgenden  Worten:  „Es  ist  zwischen  den  Begriffen  und 
dem  Wollen  im  Menschen  eine  große  Kluft  befestigt.  Das  Bad  des 
Wissens  und  das  Bad  des  Willens,  ob  sie  wol  nicht  ohne  Verbindung 
sind,  fassen  nicht  ineinander.  Sie  werden  von  verschiedenen  Elemen- 
ten umgetrieben."  Will  die  Schule  erziehlich  wirken,  so  muss  sie  vor 
allem  den  Willen,  das  Gefühl,  den  Trieb  bilden.  Sie  sind  die  psychi- 
schen Grundphänomene,  von  welchen  alle  geistige  und  sittliche  Ent- 
wicklung ausgeht**)-,  sie  sind  die  Steuer,  die  der  Lehrer  bewegen 
muss,  um  die  Lebensschiffe  in  das  rechte  Fahrwasser  zu  leiten.  «Der 
Mensch  handelt  nicht  das  eine  Mal  nach  unmittelbarem  Gefühl,  ein 
anderes  Mal  nach  Reflexion,  sondern  immer  nach  Gefühlen.***)  Wie 
aber  steht  es  mit  der  Gefühls*  und  Willensbildung  in  unseren  Schulen? 
Hören  wir,  was  Herr  Göhre  darüber  in  dem  Capitel:  Bildung  und 
Christenthum  berichtet! 

Er  unterscheidet  drei  Bildungssphären.  Aus  der  ersten  traten 
diejenigen  ländlichen  Arbeiter  hervor,  welche  die  (in  Sachsen  meist 
zwei-  oder  viere  lassigen)  einfachen  Volksschulen  besucht  hatten.  In 
der  zweiten  standen  die  aus  Mittelstädten  eingetretenen  Arbeiter,  die 
aus  der  achtclassigen  mittleren  Volksschule,  der  sogenannten  Bürger- 
schule hervorgegangen,  und  in  der  dritten  die  großstädtischen  Fabrik- 
arbeiter, die  in  der  einfachen  achtklassigen  Bezirksschule  ihre  Bildung 
erhielten.  „Die  Dorfbildung",  sagt  er  (S.  144  u.  ff.),  „zeigte  sich,  da» 
ist  ihr  oberstes  Charakteristicum,  als  durchaus  religiös  und  con- 
fessionell  dogmatisch  bestimmt,  als  eine,  man  kann  wol  kurz  sagen, 
biblische  Bildung.  Der  Reh'gionsunterricht  ist  das  starke  Blickgrat 
des  gesammten  Übrigen  Unterrichts.  Der  Geist  und  der  Ton,  der  in 
jenem  herrscht,  wird  weniger  in  ausdrücklichen  Worten  und  mit  be- 
wusster  Lehrtendenz  als  durch  die  Persönlichkeit  und  die  Haltung 


*)  Dörpfeld,  Theorie  des  Lehrplaus. 
•♦)  Wundt,  Physiol.  Psychol.  II.  24.  Gap. 
*•*)  Wundt,  Ethik.   8.  487. 


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des  Lehrers  und  durch  die  ganze  Art  seines  Unterrichtens  auch  in 
die  übrigen  Lehrstanden  hineingetragen  und  gilt  jedenfalls  vor  allem 
in  den  Augen  der  Blinder  als  derselbe  hier  wie  dort."  „  Diese  biblische 
Anschauungsform  von  Welt  und  Leben  erwies  sich  mir  um  so  fester 
in  Kopf  und  Herz  der  Leute  eingeprägt,  als  sie  deutlich  in  ihren 
Augen  getragen  und  gestfitzt,  verbrieft  und  versiegelt  erschien  durch 
die  überlieferte  und  unfehlbare  Autorität  der  Schrift,  aus  der  sie 
stammt.  Diese  Autorität  gilt  ihnen  gemäß  der  alten  Auffassung  von 
der  Inspiration  nicht  blos,  soweit  diese  Schrift  „Jesum  Christum  treibet", 
sondern  sie  gilt  gleichwertig  und  gleich  einschränkungslos  von  allem 
anderen,  was  sie  an  profanem  Wissen  mittheilt,  bis  auf  den  Punkt 
über  dem  i."  „Dazu  trat  als  eine  dritte  ebenso  wichtige  und  von 
allen  ernsten  gedankenvollen  Männern  längst  anerkannte  Erscheinung 
der  Umstand  hinzu,  dass  heutzutage  in  der  Schule  die  Heilsthatsachen 
des  Evangeliums  nicht  als  persönliche  Lebenswahrheiten  unmittelbar, 
sondern  als  Lern-  und  Memorirstoff  lehr-  und  schulmäßig,  wie  sie  im 
Katechismus  formulirt  sind,  nicht  den  Herzen,  sondern  den  Köpfen  der 
Kinder  übermittelt  zu  werden  pflegen.  Der  Religionsunterricht  ist 
hier  also  vorwiegend  Verstandesunterricht  anstatt  Erziehung  des 
Charakters;  die  christliche  Heilswahrheit  kalter  Lernstoff  anstatt 
warme,  alles  durchdringende  Lebenskraft;  Jesus  Christus  —  nach  dem 
Vorgange  des  Dogmas  —  mehr  ein  metaphysisches  Räthsel  als  eine 
historische  gottvolle  Persönlichkeit."  Auch  der  Confirmanden Unter- 
richt, den  der  Geistliche  im  letzten  Schuljahre  ertheilt,  leistet  nach 
Göhre's  Erfahrung  (und  nicht  nur  nach  seiner)  nicht  das,  was  von 
ihm  erwartet  werden  könnte.  Dieser  so  mangelhafte  religiöse  Unter- 
richt war  die  Ursache  einer  schweren  intellectuellen  und  religiösen 
Krisis  für  diese  ländlichen  Arbeiter,  sobald  sie  in  die  Fabrik  eintraten, 
„in  der  diese  Bildung  dann  fast  immer  Bankerott  und  einer  anderen 
Platz  machte". 

„Einen  anderen  Charakter  zeigte  die  Bildung  der  jungen  Leute, 
die  aus  meist  besser  situirten  Handwerker-  und  kleinen  Beamten- 
familien eben  erst  in  die  Fabrik  hereingekommen  waren.  In  den 
Bürgerschulen,  die  sie  besucht  hatten,  sind  die  Schulstunden  zahl- 
reicher, der  Lehrplan  reichhaltiger,  der  Lehrinhalt  größer  und  gehalt- 
voller als  in  jenen  Dorfschulen."  „Der  in  ihnen  gelehrte  Wissensstoff 
fußt  auf  den  Ergebnissen  der  neuen,  modernen  Wissenschaft  und  ist 
unabhängiger  als  dort  von  dem  Wissensstoffe  der  Bibel  und  der  Ge- 
dankenwelt des  überlieferten  Dogmas."  Doch  auch  hier  geschieht  die 
Aneignung  des  religiösen  Lehrstoffes  „unter  selbstverständlicher  An- 

30* 


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—    428  — 

erkennung  der  wörtlichen  Inspiration  der  Schrift  und  der  Richtigkeit 
auch  aller  ihrer  profanen  Bestandtheile.  Aber  man  erlaubt  sich  hin- 
sichtlich der  letzteren  in  der  Praxis  eine  starke,  wenn  auch  still- 
schweigende Correctur,  indem  man  in  den  übrigen  Unterrichtsstunden 
eben  diese  nach  innerer  logischer  Notwendigkeit  allgemeingültige 
Autorität  eliminirt  und  die  modernen  Erkenntnisse  hier  als  Autorität 
anerkennt  und  benutzt,  ohne  jedoch  in  eine  klare  Auseinandersetzimg 
dieses  inneren  Widerspruchs  einzutreten." 

„Endlich  die  großstädtische  Gemeindeschulbildung.  Sie  ähnelte 
wol  in  manchem  derjenigen  der  Bürgerschule,  aber  sie  steht  nach 
Bildungsziel  und  Lehrcharakter  der  Schule  im  Grunde  doch  nur  auf 
etwa  demselben  Niveau  wie  die  Bildung  einer  großen  völlig  aus- 
gebauten achtclassigen  Dorfschule.  Auch  hier  die  übertriebene  Ab- 
hängigkeit der  profanen  Wissensbestandtheile  von  denjenigen  der  Bibel, 
auch  hier  die  falsche  Auffassung  von  deren  Autorität,  auch  hier  die- 
selbe überwiegend  verstandesmäßige  Mittheilung  und  Aneignung  der 
christlichen  Heilsthatsachen  ähnlich  wie  bei  jedem  andern  Lehrstoff/ 

„Die  Unruhe  des  neuen  socialen  Lebens  übt  auch  auf  den  gei- 
stigen und  religiösen  Bildungschai  akter  der  meisten  einen  folgen- 
schweren Einfluss  aus.  Sie  lässt  es  zu  keiner  Erhaltung  und  Festigung 
der  in  der  Schule  angeeigneten  Bildungselemente  kommen,  schwemmt 
vielmehr  eine  Menge  davon  schnell  wieder  hinweg,  macht  bedenklich 
gegen  die  Zuverlässigkeit  der  bewahrten  und  weckt  damit  zugleich 
das  Bedürfiiis  und  die  Sehnsucht  nach  einer  besseren  und  umfassen- 
deren Bildung,  die  frei  von  Widersprüchen  ist,  die  vor  der  modernsten 
Kritik  besteht,  die  ihnen  wieder  imponirt,  und  för  die  sie  bereit  sind 
die  ganze  alte,  niemals  geliebte,  weil  niemals  recht  fruchtbar  gewordene 
schulmäßige  Jugendbildung  zu  opfern." 

„Die  drei  Arten  von  Bildung  machen  in  der  Fabrik  eine  völlige 
Wandlung  durch.  Sie  werden  unter  dem  Einflüsse  der  Socialdemo- 
kratie  unaufhörlich  zerstört  und  gehen  in  einer  neuen,  der  socialdemo- 
kratischen  Bildung  unter." 

Lehrer  und  Geistliche  sind  nur  dazu  da,  dies  ist  die  allgemeine 
Ansicht  in  jenen  Kreisen,  dass  sie  der  großen  Masse  „etwas  weis- 
machen", die  Religion  ist  ein  Käfig  für  die  Bestie  Mensch;  „die  Kerle 
glauben  doch  selbst  nicht,  was  sie  reden". 

Ist  es  soweit  gekommen?  Ist  das  die  Frucht  achtjährigen  Reli- 
gionsunterrichts? Dass  die  Kirche  in  ihrer  heutigen  Gestalt  ihren 
Beruf  nicht  erfüllt,  das  erkennt  man  in  allen  Schichten  der  Gesell- 
schaft; man  denke  nur  an  die  Bewegung,  die  der  ehemalige  sachsische 


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I 


-    429  — 

Oberstlieutenant  von  Egidy  durch  seine  „ Ernsten  Gedanken"  hervor- 
gerufen. Doch  damit  haben  wir  als  Lehrer  nichts  zu  schaffen.  Die 
Kirche  muss  aus  sich  selbst  heraus  neu  gestaltet  werden.  Fragen 
wir  zunächst,  was  kann  die  Schule  thnn.  um  dieser  crassen  religiösen 
Indifferenz  zu  steuern.  Unser  Religionsunterricht,  das  hat  man  nun- 
doch  erkannt,  krankt  daran,  dass  er  viel  zu  dogmatisch,  viel  zu  lehr- 
haft ist.  Eine  Hauptschuld  daran  trägt  der  Luthersche  Katechismus. 
Mag  man  ihn  mit  noch  so  süßen  Worten  preisen  und  uns  mit  noch 
so  bitteren  schmähen,  die  Stimmen  nach  seiner  Beseitigung  aus  der 
Schule  werden  immer  lauter  erschallen.  Darin  liegt  der  große  Fehler, 
dass  man  glaubt,  wenn  von  dem  religiös-dogmatischen  Lehrgebäude 
auch  nur  ein  Steinchen  herausgenommen  werde,  dass  dann  der  ganze 
Bau  in  sich  zusammenbreche.  Das  geschieht  nicht,  wenn  die  morsch- 
gewordenen Steine  von  berufener  Hand  entfernt  und  durch  neue  er- 
setzt werden;  es  geschieht  aber,  wenn  die  Stürme  der  socialen  Be- 
wegung, wie  das  ganz  unausbleiblich  ist,  daran  stoßen.  Ihnen  hält, 
wie  wir  aus  Göhre's  Schrift  deutlich  erkennen  und  wie  es  uns  täglich 
die  Erfahrung  lehrt,  das  Gefüge  nicht  stand,  wol  aber  begräbt  es 
meist  den,  über  dem  es  errichtet  wurde. 

Wir  hüten  uns  ängstlich,  Zweifei  in  dem  Kinde  zu  erregen;  aber 
der  Zweifel  wird  furchtbar,  wenn  das  Kind  der  leitenden  Hand  des 
Lehrers  entwächst,  und  der  logisch  nicht  Geschulte  muss  ihm  in  den 
meisten  Fällen  unterliegen;  es  kann  nicht  anders  sein.  .Die  Natur 
beginnt  nichts  Unnützes",  sagt  Comenius,  rin  den  Schulen  also  möge 
nichts  behandelt  werden,  was  nicht  den  gediegenen  Nutzen  gewährt 
für  dieses  und  das  zukünftige  Leben,  vorzugsweise  aber  für  das  zu- 
künftige"*). Wrozu  also,  um  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen  und  um 
ein  Wort  Wundt's  zu  gebrauchen,  den  mosaischen  Schöpfungsmythus 
als  die  unumstößlichste  naturwissenschaftliche  Wahrheit  lehren,  warum 
die  mühsame  und  gesuchte  Eindeutung  in  die  Ergebnisse  der  heutigen 

Wissenschaft!  Für  den  modernen  Menschen  wird  die  Sonne  nie  mehr 

•  i  ] . 

stillstehen  zu  Gibeon,  noch  der  Mond  im  Thale  Ajalon. 

Das  Bekenntnis,  sich  einmal  geirrt  zu  haben,  schadet  der  Auto- 
rität des  tüchtigen  Lehrers  durchaus  nicht;  so  verhält  es  sich  auch 
mit  der  Autorität  der  Bibel,  sie  wird  trotz  ihrer  Irrthüraer  das  Buch 
der  Bücher  bleiben.  Wir  untergraben  nicht  die  Religion,  wenn  wir 
die  heilige  Schrift  ihrer  falschen  Autorität  entkleiden,  wir  bringen  sie  im 
Gegentheil  dem  Volke,  dem  sie  mehr  und  mehr  entschwindet,  wieder  nahe. 

■  :  •  »     .     <\  .\  w 

*)  Comenius.  Gr.  Did.  Herausjreflr.  v.  Dr.  Lion,  S.jl26. 


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-   430  - 

Es  ist  möglich,  dass  auf  einer  späteren  Stufe  menschlicher  Ent- 
wickelung  sich  die  Gebiete  des  Religiösen  und  des  Sittlichen  trennen; 
heute  ist  es  noch  nicht  der  Fall.  Was  wir  für  die  Schule  brauchen, 
ist  daher  eine  religiöse  Ethik,  aber  ja  keinen  Katechismus  der  Ethik 
wie  ihn  Frankreich  hat,  damit  wurde  für  eine  alte  Wunde  nur  eine 
neue  geöffnet;  sondern  die  ethischen  Wahrheiten  müssen  an  der  ge- 
schichtlichen Person  Jesu,  aus  seinen  Reden,  vor  allem  aus  seinen 
Gleichnissen  gewonnen  werden,  sie  müssen  ferner  gewonnen  werden 
aus  der  sittlichen  Persönlichkeit  des  Lehrers.  „Der  Lehrerstand", 
sagt  Prof.  Frohschammer,  „muss  der  Vertreter  des  sittlichen  Gewissens 
werden."  Dann  darf  der  Lehrer  aber  nicht,  wie  das  ja  leider  immer 
noch  der  Fall  ist,  nur  als  Strafmeister  erscheinen,  sondern  er  muss 
mit  Liebe  und  Geduld  die  sittlich  und  geistig  Schwachen  und  Schwäch- 
sten tragen,  ohne  dabei  in  unmännliche  Weichheit  zu  verfallen.  Die 
Liebe  offenbart  sich  auch  in  der  Strafe  und  da  mehr  als  im  Lohne. 
Voraussetzung  zu  dieser  Forderung  wäre  dann  eine  geringere  Schüler- 
zalü  in  der  Classe,  die  es  dem  Lehrer  ermöglicht,  sich  dem  Einzelnen 
mehr  zu  widmen,  und  andrerseits  ein  möglichst  langes  Beieinander- 
bleiben einer  Classe  mit  ihrem  Lehrer. 

Das  Bild,  welches  uns  Herr  Göhre  entrollt  hat,  zeigt  wenig  Er- 
freuliches. Im  Vorstehenden  sollte  gezeigt  werden,  wie  es  durch  die 
Schule  einigermaßen  retouchirt  werden  könnte.  Aber  eine  gründliche 
Besserung,  das  muss  immer  wieder  betont  werden,  kann  nur  von 
einer  gründlichen  Reform  der  gesellschaftlichen  Zustände  erhofft  wer- 
den. „Der  ganze  Zustand  der  heutigen  Gesellschaft  tendirt  zur  Er- 
zeugung zweier  Gesellschaftsclassen:  einer  besitzenden  und  beruflosen, 
deren  Lebenszweck  im  Genuss  besteht,  und  einer  besitz-  und  beruf- 
losen, die  sich  im  Streben  nach  versagtem  Genuss  erschöpft."  Diese 
Kluft  zu  überbrücken,  muss  die  Auffassung  mehr  und  mehr  durch- 
dringen, dass  der  Besitz  nicht  blos  (Rechte  einräumt,  dass  er  auch 
verpflichtet,  und  andrerseits,  dass  Beruflosigkeit  eine  Schande  ist 
Dazu  kann  und  muss  auch  die  Schule  beitragen,  wenn  sie  vor  allem 
auch  betont,  dass  Arbeit  adelt.  Die  alte  mosaische  Ansicht  der  Arbeit 
als  Fluch  muss  einer  besseren  Platz  machen.*)  Sie  muss  ferner  ihre 
Zöglinge  den  rechten  ästhetischen  Genuss  kennen  lehren.  Der  moderne 


*)  Dann  wird  auch  die  lächerliche  Furcht  schwinden,  dass  hei  vermehrter 
Bildung  „es  vor  lauter  grölen  und  hochgebildeten  Geistern  keinen  mehr  gfthe,  der 
den  Acker  bestellen,  Stiefel  machen  und  [putzen  wolle."  (Wolfg.  Mensel,  Krit.  d. 
mod.  Zeitbewussts.  „Vom  päd.  Schwindel",  S.  184.1 


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—   431  - 

Mensch,  der  in  so  heißem  Kampfe  und  mit  so  vielen  Widerwärtig- 
keiten um  seine  Existenz  ringen  muss,  bedarf  einer  Erfrischung  des 
Gemüthes.  Diese  Forderung  erfüllt  nächst  der  Religion  kein  Lebens- 
gebiet so  als  die  Kunst  Die  Schule  muss  das  Gefühl  für  das  Schöne 
anregen,  das  Leben  voll  entwickeln.  So  muss  es  uns  gelingen,  die 
Flammen  der  Idealität,  der  reinen  Begeisterung,  die  zu  verlöschen 
drohen,  von  neuem  anzufachen. 

Vor  allem  aber  muss  die  Schule  immer  und  immer  als  eins  ihrer 
unvergänglichen  Rechte  fordern,  die  Kinder  aller  Stände  in  ihren 
Räumen  zu  versammeln.  Darum  müssen  wir  solche  Reformen,  wie  sie 
Herr  Dr.  H.  Göring  in  seiner  „Neuen  Deutschen  Schule"  und  Herr  Panl 
Güzfeld  in  seinem  viel  zu  sehr  gepriesenen  Buche  „Die  Erziehung  der 
deutschen  Jugend"  vorschlagen,  solange  sie  sich  nicht  auf  die  Kinder 
aller  Stände  erstrecken,  zurückweisen,  als  eine  halbe  Sache,  die  uns 
nur  rückwärts  führt.  „Nicht  früh  genug  kann  der  aus  einer  ein- 
seitigen Standeserziehung  entspringende  Kastengeist  bekämpft  werden"  *). 

Wir  leben  in  der  gefährlichen  Zeit,  in  der  alte  sittliche  Motive 
verschwinden,  neue  Lebensformen  auftauchen;  das  Empfinden  und 
Denken  der  heranwachsenden  Jugend  mit  dem  Verfall  des  Alten  zu 
versöhnen,  mit  dem  Neuen  vertraut  zu  machen:  das  ist  die  nächste 
Aufgabe  der  Volksschule,  die  sie  unserer  Zeit  gegenüber  hat. 


*)  Wundt,  Ethik.  S.  662. 


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Mattersprache  und  Grammatik. 

Von  Joh.  Kaulich -Mähr.-Schönberg. 

L 

j/jxi  den  wenigen  Bachern,  die  man  immer  wieder  gern  zur 
Hand  nimmt,  ohne  die  Absen wächung  eines  ersten,  genussreichen  Ein- 
druckes besorgen  zu  müssen,  gehört  die  „Geschichte  der  griechischen 
Literatur"  von  Ottfried  Müller. 

Ein  deutscher  Forscher  versenkt  sich  in  die  Geheimnisse  einer 
längst  abgeschiedenen  Welt  und  belauscht  mit  jener  Sinnigkeit  und 
Tiefe,  die  germanischem  Gemüthe  eigen,  das  verborgene  Weben  und 
die  formenbildende  Kraft  einer  Sprache,  die  jener  Welt  zum  Ausdrucke 
eines  Gedankenstoffes  diente,  der  die  Jahrhunderte  überdauert  und  die 
Bildung  und  Erziehung  der  modernen  Menschheit  bis  zu  dieser-Sttmde 
auf  das  nachdrücklichste  beeinflusst  hat. 

Und  was  jener  Geist  mit  der  Gründlichkeit  des  deutschen  Ge- 
lehrten erfasst  und  geklärt  hat,  das  wird  dem  Leser  des  Buches  mit- 
getheilt  in  der  Sprache  seiner  deutschen  Heimat;  einer  Sprache,  die 
ebenso  zur  Bewunderung  hinreißen  kann,  als  die  glänzende  Durch- 
dringung und  die  reizvolle  Gruppirung  des  gebotenen  Stoffes. 

Es  ist  kein  Gelehrtendeutsch  mit  Nebensätzen,  die  „den  Haupt- 
satz erdrosseln":  es  ist  die  schlichte,  aber  formvollendete  Sprache 
eines  Mannes,  der  das,  was  sein  Geist  in  der  Fremde  und  an  dem 
Fremden  erlauscht  hat,  in  den  trauten  Klängen  der  Heimat  bei  be- 
wusstem  Streben  nach  volkstümlicher  Darstellung  auszudrücken  be- 
müht ist 

Eine  mühsam  verhaltene  Begeisterung  für  die  Welt  der  Hellenen 
funkelt  zwischen  den  Zeilen. 

„Während  überhaupt  die  neueren  Sprachen"  —  heißt  es  da  — 
„ohne  im  Ohre  zu  verweilen,  sich  sogleich  ihren  Weg  zum  Verstände 
bahnen,  suchen  die  classischen  Sprachen  des  Alterthums  zugleich  eine 
entsprechende  Wirkung  auf  den  äußeren  Sinn  hervorzubringen  ,'und 


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—    433  — 


die  Denkkraft  dadurch  zu  unterstützen,  dass  sie  das  Ohr  vorläufig  mit 
einer  Art  von  dunklem  Bewusstsein  des  durch  die  Worte  mitzutheilen- 
den  Gedankens  erfüllen." 

Oder  an  anderer  Stelle:  „In  den  Lauten,  welche  durch  die  ver- 
schiedene Articulation  der  Stimme  gebildet  werden,  zeigt  die  grie- 
chische Sprache  jenes  glückliche  Mittelmaß,  welches  allen  Geistes- 
erzeugnissen jenes  Volkes  eigentümlich  ist;  gleich  fem  von  der  tiber- 
strömenden Fülle,  wie  von  der  mageren  Dürftigkeit  anderer  Sprachen." 

Fast  unübertrefflich  sind  die  Untersuchungen,  durch  welche  Sprache 
und  sprachbildende  Art  und  Kraft  mit  den  Regungen  des  Volksthums 
in  allen  seinen  Schattirungen  in  Verbindung  gesetzt  werden. 

„Sowie  die  Mundart  der  Dorier"  —  resumirt  der  Verfasser  — 
..überall  die  breiten,  kräftigen  und  rauhen  Töne  vorzieht  und  sie  mit 
unbiegsamer  Regelmäßigkeit  festhalt,  so  können  wir  natürlich  auch 
die  Neigung  erwarten,  einen  Geist  der  Strenge  und  der  Ehrfurcht  vor 
den  alten  Gebräuchen  durch  den  ganzen  Bau  ihrer  bürgerlichen  und 
häuslichen  Verfassung  walten  zu  lassen.  Die  Ionier  dagegen  zeigen 
schon  in  ihrem  Dialecte  die  Neigung,  die  alten  Formen  nach  Ge- 
schmack  und  Laune  zu  verändern,  dabei  ein  Streben  nach  Verschöne- 
rung und.  Verfeinerung." 

Ottfried  Müllers  Buch  ist  weit  verbreitet;  neuestens  liegt  eine 
Bearbeitung  desselben  durch  einen  Schüler  des  berühmten  Philologen 
vor.  Einem  guten  Theile  der  deutschen  Jugend  sind  die  darin  aus- 
gesprochenen Ideen  geläufig:  Alt -Hellas  feiert  im  weiten  Germanien 
noch  immer  seine  Auferstehung. 

Uber  dem  Todten  wird  leicht  das  Lebendige  vergessen;  und  man 
kann  sich  bei  der  Leetüre  jenes  Buches  des  quälenden  Gedankens 
nicht  entschlagen,  dass  wir  in  Deutschland  auch  nicht  eine  Schrift 
besitzen,  die  Ottfried  Müllers  geist-  und  gemüthvolle  Methode  auf  die 
deutsche  Muttersprache  und  ihre  reiche  Beziehung  zum  deutschen 
Volksthume  anwenden  würde. 

Die  deutsche  Sprachwissenschaft  wie  die  deutsche  Geschicht- 
schreibung gehen  parallele  Bahnen,  die  mit  dünner  Wurzel  am  Boden 
des  Volksthums  hängen  und  sich  in  breiter  Krone  in  den  Sternen  des 
Gelehrtenhimmels  verlieren. 

Unsere  Jugend  wird  angeleitet,  in  der  Sprache  des  Alterthums 
das  Wehen  der  Helmbüsche  und  den  „geviertelten  Takt"  des  Huf- 
schlages dahineilender  Rosse  zu  vernehmen.  Dass  unser  Deutsch 
selbst  in  den  trivialen  Formen  der  Dialecte  eine  geradezu  herrliche 
Kraft  in  der  Nachahmung  von  Naturlauten  besitzt,  fallt  kaum  auf; 


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—    434  - 


sofern  es  nicht,  wie  an  einzelnen  Stellen  der  „Glocke"  von  Schiller 
besonders  sinnfällig  hervortritt. 

Man  bewundert  in  Casars  „Gallischem  Kriege"  den  ans  den  ge- 
schilderten Situationen  hervorgehenden  Typus  der  Darstellung;  ob 
Jemand  Goethe'sche  oder  Klaus  Grote'sche  Verse  unter  demselben 
Gesichtswinkel  betrachte,  gilt  als  bedeutungslos. 

Die  reiche  Pracht  und  Klangfülle  unserer  starken  Zeitwörter, 
sowie  die  Naturtreue  in  den  Lauten  jener  schwachen  Zeitwörter, 
welche  Nuancen  von  Gehöreempfindungen  ausdrücken,  ist  ein  köst- 
licher, erfrischender  Bergwald,  den  man  vor  den  Bäumen  unserer 
„  Sprachbücher  •  kaum  mehr  zu  Gesichte  bekommt  Darum  sieht  die 
Gesammtheit  der  Menschen,  welche  deutsche  Staaten  bewohnen,  ihr 
köstlichstes  Gut,  die  Sprache,  mit  den  Augen  des  nachternsten  Schul- 
bttcherverstandes  an.  Die  Wirkung  auf  den  „äußeren  Sinn",  welche 
dem  Deutschen  so  gut  wie  dem  Griechischen  eigen  ist;  das  „Ach,  wie 
klingest  du  so  klar!"  unseres  Schenkendorfs  droht  verloren  zu  gehen. 

Die  Stachelhecke  der  Grammatik  schließt  ein  Dornröschen  ein. 
Man  ist  eben  an  der  Arbeit,  das  Französische  und  Englische  aus 
diesem  Gefängnis  an  die  frische  Luft  zu  bringen:  wie  lange  wird  die 
deutsche  Prinzessin  noch  schlafen  müssen? 

IL  * 

Die  Schul gi  ammatik  mit  ihrer  einseitigen  Betonung  der  Formen 
und  Veränderungen  ist  ein  Mechanismus.  Aber  die  Sprache  ist  ein 
Organismus.  Vielleicht  steht  man  hier  vor  einer  besonderen  Er- 
scheinungsform jenes  Gegensatzes,  der  zur  Zeit  als  „Vitalismus"  und 
„Mechanismus"  das  Gebiet  der  Naturwissenschaften  durchdringt 

„Bis  jetzt"  —  sagt  ein  neuerer  Schriftsteller,  dem  man  nach- 
rühmen muss,  in  vielen  Dingen  den  Nagel  auf  den  Kopf  zu  treffen,  — 
„bis  jetzt  hat  man  nur  von  Casar  gehört,  dass  er  in  der  Grammatik 
zu  seinem  Vergnügen  las.  Nur  ein  sehr  reicher  Geist  kann  leere 
Kategorien  ausfüllen  und  miteinander  in  Verbindung  setzen  und  da- 
durch zu  lebendigen  Organen  umschaffen;  so  hohe  Anforderungen  darf 
man  an  den  Durchschnittsmenschen  nicht  stellen;  dieser  ist  der  leben- 
digen Einwirkung  einer  gesprochenen  Sprache....  weit  zugänglicher 
als  einem  Schwall  wissenschaftlich  geordneter  Einzelheiten,  deren  sinn- 
lose  Nebeneinanderstellung  er  zwar  nicht  erkennt,  aber  doch  em- 
pfindet" 

In  unseren  Tagen  wird  die  deutsche  Grammatik  von  Lehrern  und 
Schülern  in  der  That  schwer  empfunden,  und  es  steht  zu  besorgen, 


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-   435  — 


dass  über  dieser  Empfindung  die  trauliche  Zuneigung  verloren  gehe, 
die  man  der  Sprache  seiner  Heimat  unter  allen  Verhältnissen  ent- 
gegenbringen sollte.  Trotz  der  großen  Fortschritte,  welche  Lehrbücher 
und  Methode  auf  allen  Gebieten  des  modernen  Unterrichts  aufweisen, 
stützt  sich  die  gebräuchliche  Grammatik  im  wesentlichen  noch  immer 
auf  die  ehrwürdigsten  Urbilder;  und  ihre  gelehrte  Terminologie,  die 
mit  Zopf  und  Palmenfrack  bis  in  die  niederste  deutsche  Volksschule 
schreitet,  enthält  zahlreiche  Elemente,  die  sich  aus  dem  Zeitalter  der 
Humanisten  als  eine  Art  vorsintflutlicher  Oberreste  auf  die  Gegen- 
wart vererbt  haben. 

Die  Sprache  ist  älter  als  die  Grammatik,  welche  das  mechanische 
Gesetz  aus  dem  lebendigen  Organismus  erst  herausklügelt,  nicht  selten 
auch  in  jenen  Organismus  hineinklügelt.  Es  kann  daraus  direct  ge- 
schlossen werden,  dass  die  Anwendung  eines  grammatischen  Unterrichts 
auf  der  Unterstufe  absolut  auszuschließen  sei,  und  dass  auch  die  mittlere 
Stufe  gänzlich  unbemerkt  mit  Mensur  und  Regel  verfahren  müsse. 

Der  modernen  Volksschule  zumal  thäte  eine  „Grammatik  der 
Kinderstube",  die  freilich  noch  geschrieben  werden  müsste,  dringend 
noth.  —  Der  Schüler  bringt  aus  der  Kinderstube,  weit  seltener  aus 
dem  Kindergarten,  viel  von  jener  Art  Sprachbildung  mit,  die,  indem 
sie  sich  mehr  an  den  „äußeren  Sinn"  wendet,  dem  innersten  Kerne  der 
Sprache  am  nächsten  kommt.  Er  versteht  es,  die  Stimmen  der  Thiere 
nachzuahmen,  und  er  hört  im  Toben  des  Windes  den  menschlichen 
Laut.  Lehrst  du  ihn,  die  Dinge  benennen,  dann  wird  ihm  jener 
Name  am  geläufigsten,  der  direct  aus  dem  Laute  der  Thätigkeit  her- 
vorgehl Denn  mit  dem  Geiste  des  Kindes  erfasst  er  am  liebsten  die 
Dinge  in  ihren  Lebensäußerungen.  Darin  aber  liegt  die  Natur- 
geschichte des  „Zeitwortes",  jenes  belebten  und  belebenden  Trägers 
der  Sprache,  den  die  Grammatik  so  richtig  als  bezeichnend  das 
„Verbum"  genannt  hat  Welche  Sprach-  und  Klangfülle  schlummert 
auch  für  die  engbegrenzte  Auffassung  des  Kindes  in  dem  klingenden 
Wesen  dieses  wundersamen  Wortes! 

Die  Grammatik  wird  jenem  Wesen  nur  zum  kleinsten  Theile  ge- 
recht: über  der  Form  vergisst  sie  des  Inhaltes.  Eine  rein  technische 
Seite  des  Verbums  wird  sogar  Veranlassung  es  zu  benennen:  wenig- 
stens kann  man  zweifeln,  ob  die  Bezeichnung  '„Zeitwort"  glücklich 
gewählt  ist  Ebenso  sieht  die  Grammatik  bei  den  Kategorien  der 
„persönlichen,  transitiven  u.  s.  w.  Zeitwörter"  nicht  sowol  auf  das 
eigentliche  Wesen  des  Wortes,  als  vielmehr  auf  eine  außerhalb  des- 
selben liegende,  halb  formelle,  halb  sachliche  Beziehung. 


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III. 

Es  kann  aber  als  eine  Pflicht  des  Unterrichts  angesehen  werden, 
vor  allem  den  Sinn  des  Schülers  dahin  zn  üben,  dass  er  das  Wesent- 
liche und  Eigentümliche  einer  Sache  zuerst  beachte.  Das  Wesent- 
liche des  Wortes  ist  Inhalt  und  Umfang  des  Begriffes,  den  es  bezeich- 
net; das  Eigentümliche  sein  Klang.  Die  Formen  stellen  Gebrauchs- 
werte vor;  ihre  Kenntnis  ist  weniger  das  Resultat  einer  Verstandes- 
thätigkeit,  als  vielmehr  Sache  einfacher  Übung.  Vertiefung  des  Sprach-  * 
geftthls  reicht  in  den  meisten  Fällen  aus;  methodisches  Geschick  macht 
ganze  Abschnitte  des  Sprachbuches  überflüssig. 

Wenn  einem  Schulmann  ein  älterer  College  den  Rath  gab,  bei 
jeder  Unterrichtsmaterie,  die  er  aus  dem  Gebiete  der  Grammatik 
seinen  Schülern  darbieten  wolle,  sich  erst  die  Frage  zu  9teilen:  „Was 
weiß  man  da,  wenn  man  das  weiß?"  —  und  lachend  hinzufügte: 
„Sie  werden  staunen,  wie  wenig  man  dann  von  dem  mitzutheilen  hat, 
was  unsere  Sprachbücher  enthalten"  —  so  ist  dies  mehr  als  ein  guter 
Einfall.  Denn  worin  liegt  der  Wert  der  Erkenntnis,  dass  das  Verbum 
„dröhnen"  schwach  sei,  gegen  das  Traurige  der  Erscheinung  gehalten 
dass  zahlreiche  Personen  mit  durchschnittlicher  Volksschulbildung  durch 
das  Leben  gehen,  ohne  die  Bedeutung  jenes  Verbums  nach  seinem 
Wesen  zu  verstehen?  Wörter  dieser  Art  ziehen  sich  allmählich  in  die 
„oberen  Zehntausend"  zurück,  indem  sie  als  Gebrauchswörter  ein 
immer  kleiner  werdendes  Gebiet  einnehmen.  Man  suche  deutsche 
Gebirgsdörfer  ab,  nach  Wörtern  jener  Art!  Die  Volksschule  kann 
dem  Dialecte  nicht  aufhelfen,  wohl  aber  der  Verödung  der  Schrift- 
sprache steuern  durch  eine  gründliche  Reform  des  Unterrichts  in  der 
Muttersprache.  Vor  allem  müsste  erkannt  werden,  dass  Kenntnis  der 
Formen  unter  Umständen  zur  Wortarmut  führen  kann,  und  dass  die 
Einreihung  eines  Gegenstandes  in  eine  begriffliche  Kategorie  noch 
kein  Verständnis  desselben  ist. 

Man  pflegt  Schenkendorfs  schönes  Gedicht  von  der  „Mutter- 
sprache" an  die  Spitze  der  Lesebücher  zu  stellen;  es  stünde  bezeich- 
nender als  Motto  auf  dem  ersten  Blatte  einer  vernünftig  und  pietät- 
voll abgefassten  Schulgrammatik:  die  wenigen  Strophen  enthalten  ein 
ganzes  Programm,  dessen  Verwirklichung  anzustreben  nationale  Ehren- 
sache sein  sollte.  Denn  die  Sprache  ist  ein  blühendes,  klingendes  Reich, 
das  die  Seele  mit  tausend  lebendigen  Fäden  umspinnt;  die  mikro- 
skopische Methode  der  Grammatik  legt  in  ihren  zusammenhanglosen 
Übungsbeispielen  diese  Fäden  einzeln  blos  und  tödtet  sie  zuvor,  um 
sie  besser  auf  ihre  Structur  prüfen  zn  können. 


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—   437  — 


Ein  russischer  Dichter  sagt  von  seiner  Muttersprache:  „Das  ist 
eine  melodische  Sprache,  die  zu  Herzen  dringt;  eine  Sprache,  die  man 
in  ihrem  von  herben  Dissonanzen  unterbrochenen,  traurig  -  zärtlichen 
Wollaute  einem  Strauß  von  Orchideen  vergleichen  möchte,  mit  Steppen- 
kräutern vermischt."  Sollte  es  nicht  an  der  Zeit  sein,  auch  die 
deutsche  Jugend  in  dem  Sinne  dieses  Unheiles  aus  dem  Staube  der 
Grammatik  frischweg  hinaus  auf  die  Sprachwiese  zu  fahren  und  sie 
schlicht  anzuleiten,  die  gefundenen  Blumen  und  Kräuter  zum  Strauße 
zu  binden,  ohne  vorher  jedes  einzelne  Pflänzchen  nach  dem  todten, 
trockenen  Herbarium  des  Sprachbuches  zu  bestimmen? 

Die  Natur  ist  unter  allen  Umständen  unsere  Lehrmeisterin,  und 
darum  unter  allen  Umständen  schulfähig.  Wir  wollen  ihrem  frischen 
und  erfrischenden  Hauche  auch  in  jenen  Stunden  das  Fenster  geöffnet 
halten,  die  der  Pflege  der  Sprach-  und  Sprechfertigkeit  gewidmet  sind. 

„Um  das  Schulhaus  heult  der  Wind;  er  rüttelt  an  Fenstern 
und  Thüren.  Er  schüttelt  die  Bäume,  dass  alle  Äste  zittern.  Es 
wimmert  in  den  Dachrinnen;  es  ächzt  und  kracht  in  den  Balken 
des  Daches.  Hoch  oben  kreischen  die  Wetterfahnen.  In  den  Ställen 
der  Bauernhöfe  brüllen  die  Rinder;  die  Pferde  wiehern  laut  und 
poltern  mit  den  Hufen.  Der  Dorfbach  braust;  laut  rollt  der 
Donner." 

Das  vorstehende,  zusammenhängende  Sprachstück  enthält  einen 
für  kindliche  Auffassung  vollkommen  verständlichen,  gedrängten 
Ciavierauszug  einer  sommerlichen  Gewitter-Symphonie.  Bei  richtiger 
—  zuerst  mündlicher,  dann  schriftlicher  —  Mittheilung  an  Schüler 
einer  unteren  oder  mittleren  Stufe  wird  die  Musik  der  darin  ent- 
haltenen Zeitwörter  vollkommen  überzeugend  sein.  Die  Modulationen 
der  Vocale,  die  kräftigen  Accente  der  Doppelconsonanten,  die  scharf 
ausgeprägte  Rhythmik  der  einsilbigen  Aussageformen  werden  sich  nicht 
nur  sogleich  an  den  „Verstand  wenden",  sondern  auch  „vorläufig  das 
Ohr  mit  einer  Art  von  dunklem  Bewusstsein  des  durch  die  Worte 
mitzutheilenden  Gedankens  erfüllen."  Eine  rein  musikalische  Betrach- 
tung jener  Verba  wird  die  Schreibung  derselben  klar  machen,  und 
naheliegende  Analogien  in  der  Anwendung  der  bezeichneten  Natur- 
töne werden  eine  Vertiefung  in  den  Inhalt  der  Wörter  ermöglichen. 
Leicht  treten  die  dem  Verbum  zukommenden  Merkmale,  die  es  als  ein 
die  Thätigkeit  bezeichnendes,  nicht  selten  auch  nachahmendes  Glied 
der  Sprache  erscheinen  lassen,  hervor.  Indem  das  dargestellte  Natur- 
schauspiel in  späteren  Tagen  als  ein  Vergangenes,  oder  in  Voraus- 
ahnung des  noch  Kommenden  als  ein  Zukünftiges  von  den  Schülern 


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—    438  - 


unter  gelegentlicher,  vielleicht  nicht  immer  nöthiger  Anleitung  ge- 
schildert wird,  tritt  eine  technische  Seite  des  Verbums  gleichsam  von 
selbst  in  die  Erscheinung  und  lässt  die  Bedeutung  der  zur  Unter- 
stützung herbeigeholten  „Hilfszeitwörter"  auf  die  natürlichste  Art  er- 
kennen. Das  Resultat  dieser  Übung  liefert  ein  vollkommen  ausreichen- 
des Gerüst  für  alle  übrigen  Gebrauchsformen  des  Verbums,  die  im 
Wege  beständiger,  lebensvoller,  immer  synthetischer  Übung  zum  gei- 
stigen Eigenthum  der  Schüler  gemacht  werden. 

Was  braucht  es  nun  noch  der  Kategorien  von  unpersönlichen, 
rückbezüglichen,  starken,  schwachen,  unregelmäßigen  Zeitwörtern? 
Welchen  Wert  hätte  jetzt  gar  die  Bestimmung  des  Verbums  in  seiner 
gelegentlichen  Function  als  Prädicat?  Wo  läge  jetzt  die  Begründung 
für  die  Ansicht,  dass  der  Behandlung  des  Verbums  die  Kenntnis  des 
für  die  Unterstufe  so  schwieligen  als  unnützen  Prädicatsbegriffes  vor- 
ausgehen müsse? 

Die  Auffassung  und  das  Verständnis  eines  Tonstückes  werden  um 
nichts  vielseitiger  und  tiefer,  wenn  man  es  auf  die  Lage  seiner  Drei- 
klänge und  die  Berechtigung  seiner  Modulationen  prüft:  Bichard 
Wagner  erledigte  das  bekannte  Gesetz  von  den  Quintenparallelen  im 
kurzen  Wege  mit  der  Bemerkung:  „Der  rechte  Musiker  wendet  sie 
nur  dann  nicht  an,  wenn  er  sie  nicht  braucht!" 

Ein  poetisches  Stück  auf  seine  Fassung  grammatisch  zu  prüfen 
wird  in  Ausführung  dieses  Gedankens  von  vielen  Schulmännern  als 
wenig  taktvoll  angesehen:  die  „lebendige  Einwirkung  der  ge- 
sprochenen Sprache"  ist  eben  das  Best«,  was  der  Unterricht  zu  bieten 
vermag. 

IV. 

Die  Stellung,  welche  die  deutsche  Satzlehre  im  System  der 
Grammatik  einnimmt,  und  die  Behandlung,  welche  die  Recepte  der 
Syntax  dem  gesunden,  kräftigen  Stamme  einer  der  schönsten  der 
lebenden  Sprachen  angedeiben  lassen,  kann  Mitleid  erregen. 

Spannt  die  Flexionslehre  das  deutsche  Wort  auf  den  Secirtisch, 
so  legt  die  Lehre  vom  Satzbau  deutschem  Geiste  die  unerträglichste 
Schulfessel  an;  und  ganz  besonders  schmachtet  hier  germanisches 
Wesen  in  lateinischen  Banden.  Das  Imperium  Roman  um,  politisch 
und  historisch  überwunden,  beherrscht  zwei  reiche  Gebiete  durch  die 
Form:  die  deutsche  Sprache  und  das  deutsche  Recht.  Neben  der  Ver- 
gewaltigung des  ursprünglichen  germanischen  Rechts  durch  den  For- 
malismus des  römischen  steht  die  grammatische  Dressur,  welche  huma- 


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—   439  — 


nistische  Schulweisheit  germanischem  Denken  zutheil  werden  ließ, 
als  würdiges  Seitenstück. 

Das  römische  Recht  basirt  auf  dem  nackten  Eigenthumsbegrift 
und  sieht  das  Merkmal  der  Persönlichkeit  klipp  und  klar  als  die  Be- 
fugnis an,  Eigenthum  zu  erwerben  und  zu  verlieren.  Die  landläufige 
Syntax  ruht  auf  ihrer  erprobten  Schulfonnel  und  gestattet  der  Sprache, 
zu  dieser  Formel  die  Beispiele  zu  bilden. 

Daneben  schreibt  Montesquieu  über  den  „Geist  der  Gesetze"  und 
donnert  Klopstock  seine  Verse  von  „Deutschlands  Sprache". 

Aber  die  Idealisten  werden  unbarmherzig  auf  realen  Boden  ge- 
zogen. Hundert  Jahre  nach  dem  französischen  Philosophen  durfte 
Karl  Marx  hohnlachend  ausrufen:  „Der  Geist  der  Gesetze  ist  das 
Eigenthum!";  während  Altmeister  Goethe  einige  Jahre  früher  dem 
russischen  Gelehrten  Uwaroff  schrieb:  „Benutzen  Sie  in  Frieden  den 
unermesslichen  Vortheil,  die  deutsche  Sprachlehre  nicht  zu  kennen;  es 
ist  jetzt  fast  30  Jahre,  dass  ich  daran  arbeite,  sie  zu  vergessen!" 

Auch  die  neuere  Zeit  ist  an  dieser  Arbeit  Mit  derbem  Hammer 
schmetterte  Rudolf  von  Jhering  in  seinem  „Kampf  ums  Recht"  an  die 
tönenden  Formen  römischer  Jurisprudenz,  indem  er  den  ethischen  In- 
halt eines  Michel  Kohlhaas  mit  flammenden  Worten  verfocht;  während 
Heinrich  Heine  in  den  ganz  und  gar  ungrammatischen  Tönen  seines 
Spottliedes  dem  deutschen  Satz-  und  ,Versbau  den  Grabgesang  an- 
stimmte. 

Grammatische  Dressur  hat  zwei  bezeichnende  Sprachtypen  ge- 
zeitigt: den  Quellenstil  und  das  Kanzleideutsch.  Der  erste,  vielen 
Werken  gelehrtdeutscher  Geschichtschreibung  eigenthümlich,  geht  den 
correcten  Schritt  der  Forschung:  er  dreht  und  wendet  den  Ausdruck 
gleich  einem  historischen  Actenstücke.  Seine  [Signatur  ist  das  vor- 
nehm Leidenschaftslose.  Das  zweite  wandelt  die  Bahn  erprobter  For- 
meln. Da  die  Grammatik  in  der  Lehre  vom  Nebensatz  Vorder-,  Zwi- 
schen- und  Nachsatz  kennt,  so  bauen  die  Meister  des  Amtsstiles 
beruhigt  ihre  sinnverwirrenden  Satzgefüge,  in  denen  der  Gedanken- 
tropfen eines  Hauptsatzes  nnter  einer  wahren  Seeschlange  von  Neben- 
sätzen verdampft.  Sein  Merkmal  ist  das  conventionell  Langweilige. 

Dem  Zopfe  gegenüber  fallen  wallende  Perücken  um  so  mehr  auf; 
man  thut  gern  ein  paar  tiefe  Athemzüge  bei  ihrem  Erscheinen.  Zu 
den  Schriften  dieser  Art  gehören  Moltke's  Reiseschilderungen,  Bis- 
marck^ Reden  und  Briefe,  Hebbel's  Prosa.  Das  vielberufene  Rem- 
brandt-Buch  nannte  in  fröhlicher  Übertreibung  dieses  Gedankens 
Moltke  den  einzigen  deutschen  Schriftsteller  der  Gegenwart.  Zuweilen 


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—    440  — 

weht  die  Locke  besonders  ungebunden,  wie  im  Tagebnehe  unseres 
Grillparzer's;  aber  man  liest  sich  darin  in  eine  geistige  Sommerfrische 
Iiinein.  Die  Sprache  dieser  Männer  ist  ein  Beispiel  für  den  Satz: 
„Es  gibt  nur  eine  Grammatik,  die  des  Verstandes!"  Sie  stellen 
praktisch  den  echt  französischen  Spruch  auf:  „Der  Stil  ist  der 
Mensch!"  Aber  die  Grammatik  schüttelt  dazu  das  ehrwürdige  Formel- 
haupt,  denn  ihre  Tendenz  heißt:  „Der  Stil  ist  die  Regel!44 

Jeder  Unterricht  hat  das  begreifliche,  zum  Theil  vielleicht  not- 
wendige Bestreben,  einen  Gedankenstoff  in  eine  Formel  zu  verdichten. 
Da  ist  denn  dem  Sprachunterrichte  die  Grammatik  ein  gefunden  Essen; 
die  Erkenntnis,  dass  die  elementare  Dressur  in  den  Formen  der 
Muttersprache  die  höhere  Dressur  in  den  „classischen"  und  „modernen44 
Sprachen,  die  das  Gymnasium  besorgt,  wesentlich  unterstützt,  wird 
nebenher  aulgelesen. 

So  hockt  neben  den  begehrteren  Schwestern  der  Vergangenheit 
und  des  Auslandes  das  heimatliche  Aschenbrödel  im  Schulwinkel. 
Wann  kommt  der  Freier,  der  es  als  Befreier  zum  fröhlichen  Beigen 
führt? 


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Volksbildung  und  Volksbildnngsmittel. 

Von  Rector  A.  Gild-Casscl. 

T  1 

Xn  früheren  Zeiten  hat  man  sich  lebhaft  darüber  gestritten,  wer 
als  gebüdet  gelten  könne.  Die  Discussion  über  diese  Frage  wird 
gegenwärtig  nicht  mehr  so  oft  und  weit  weniger  heftig  gefuhrt.  Man 
gibt  heute  schon  ziemlich  allgemein  zu,  dass  Wissen  an  sich  noch 
nicht  Bildung  sei,  sondern  erst  das  Eintreten  in  die  Welt  als  thätiges 
Glied,  die  Befähigung,  das  Wissen  und  Können  in  den  Dienst  des 
Ganzen  zu  stellen,  kurz  die  sociale  Thätigkeit  Goethe  sagt:  „Mit- 
geteiltes aufzunehmen  wie  es  gegeben  wird,  ist  Bildung",  mit  anderen 
Worten:  „Bildung  ist  die  aus  dem  an  sich  rohen  Zustande  heraus- 
arbeitende Thätigkeit,  in  welcher  die  Persönlichkeit  mittelst  An- 
eignung, Sichtung  und  Assimilirung  der  vorhandenen  Bildungselemente 
mittelst  Selbstentwickelung  und  Selbstbeschränkung  sich  im  Leben 
orientirt  und  mit  dem  Ganzen  in  die  Wechselbeziehung  des  Em- 
pfangens und  Wirkens  tritt."  Nicht,  dass  man  „schrecklich  viel  ge- 
lesen" habe  oder  in  fremden  Sprachen  reden  (häufiger  schweigen!) 
kann,  macht  die  Bildung  aus,  sondern  sie  erweist  sich  darin,  wie  man 
lebt  und  handelt,  was  man  für  das  Ganze  thut  und  für  dasselbe  wert 
ist.  Die  Bildung  ist  also  nicht  blos  eine  Ausstattung  des  Geistes, 
sondern  eine  Ausgestaltung  desselben,  sie  erweist  sich  nicht  nur  im 
Aufnehmen,  sondern  vielmehr  durch  selbstthätige  Entwickelung  und 
Äußerung.  Daher  spricht  man  bei  Knaben  und  Jünglingen,  die  noch 
von  andern  erzogen  und  unterrichtet  werden,  von  Erziehung  und 
Wissen,  nicht  aber  von  Bildung,  diese  erkennt  man  erst  dem  Manne 
zu,  der  sich  selbstthätig  fortgebildet  hat 

Aus  dem  dargelegten  Begriffe  der  Bildung  ergibt  sich,  dass  jeder 
bildungsfähige  Mensch  zu  seinem  und  des  Ganzen  Besten  eine  mög- 
lichst tüchtige  Bildung  erhalten  muss.  Ehemals  hielt  man  die  Bildung 
nur  für  die  höheren  Stände,  für  die  herrschenden,  nothwendig;  unsere 

Padagogi'un.  14.  Jahrg.  Heft  VII.  Hl 


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—    442  — 

Bildungsanstalten  tragen  noch  heute  vielfach  den  Stempel  der  Standes- 
schulen; aber  ein  Mensch,  der  öffentlich  ausspräche,  nur  bestimmte 
Stände  müssten  gebildet,  andere  aber  in  der  Unbildung  erhalten 
werden,  würde  für  hirnverbrannt  angesehen. 

Nachdem  unsere  Classiker  Lessing,  Schiller  und  Goethe  ein  neues 
Bildungsideal,  eine  dem  Fachgelehrten  wie  dem  Nichtgelehrten  gemein- 
same, allgemeine,  rein  menschliche  Bildung,  die  würdige  Darstellung 
der  Menschheit  in  dem  Einzelwesen  aufgestellt  hatten,  suchte  man 
die  Bildungsstoffe  zu  popularisiren,  die  große  Masse  des  Volkes  auf 
einen  höheren  Bildungsstandpunkt  zu  erheben  und  in  einen  gemein- 
samen Rhythmus  des  Fortschritts  zu  setzen.  Die  Wissenschaft  ist 
von  nun  an  nicht  mehr  die  Domäne  einzelner,  die  lateinischen  und 
griechischen  Zäune,  durch  welche  die  Menge  von  den  Bildungsquellen 
abgesperrt  wurde,  bekamen  immer  größere  Lücken,  die  Ergebnisse 
der  wissenschaftlichen  Forschungen,  die  neuen  Entdeckungen  und  Er- 
findungen wurden  jedermann  zugänglich  gemacht,  große  Künstler  ver- 
schmähten es  nicht,  Volks-  und  Kinderschriften  mit  ihren  Bildern  zu 
schmücken,  Bibliotheken,  Museen,  Galerien,  Ausstellungen  eic.  stehen 
jedem  ohne  Unterschied  offen,  das  Gebiet  der  Unterhaltungsschriften 
mit  belehrendem  Inhalt  aus  allen  Gebieten  der  Wissenschaft  und 
Kunst  erweiterte  sich  mit  jedem  Tage,  populäre  Schriften  über  die 
verschiedensten  Wissenszweige,  Encyklopädien,  Conversationslexika, 
Broschüren,  Flugblätter  und  nicht  zum  geringsten  Theile  die  öffentliche 
Presse  stellen  sich  in  den  Dienst  der  allgemeinen  Volksbildung. 

Die  Werke  unserer  Classiker,  die  vorzüglichsten  Volksbildungs- 
mittel, sind  so  billig  geworden,  dass  man  sie  auch  in  einer  be- 
scheidenen Wohnung  finden  kann.  Es  ist  ein  mächtiger  Strom,  der 
an  den  einzelnen  heranflutet;  leider  wird  er  aber  durch  den  Eigen- 
nutz der  Menschen,  die  gern  im  trüben  fischen,  durch  unreine  Bei- 
mischungen getrübt.  Wer  kennte  sie  nicht,  die  seichten  und  unreinen 
Unterhaltungsschriften,  die  mit  Erfolg  sich  an  die  niederen  Triebe 
des  Menschen  wenden,  seine  Phantasie  verunreinigen,  sein  Urtheü 
verwirren!  Dazu  drängt  sich  diese  Schmutzliteratur  vor,  sie  dringt 
in  die  Wohnungen  der  ungebildeten  Leute  ein  und  wird  dort  aus 
Mangel  an  Besserem  förmlich  verschlungen. 

Heutzutage  spricht  und  schreibt  man  viel  über  Volksbeglückung; 
dass  man  diese  nur  gründlich  durch  Erziehung  und  Bildung  erreichen 
kann,  gibt  man  wol  auch  zu,  thut  aber  zu  wenig  dafür.  Die  Vereine 
zur  Bekämpfung  der  Trunksucht,  der  Bettelei,  der  Unsittlichkeit  etc. 
bekämpfen  die  Folgen  eines  Übels,  die  Ursachen  können  nur  durch 


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-    443  — 


bessere  Volkserziehung  und  Volksbildung  beseitigt  werden.  Wir  sind 
ja  in  Bezug  auf  Bildung  der  breiten  Massen  andern  Völkern  voraus, 
doch  ist  noch  viel  Verdienst  übrig,  es  ist  noch  lange  nicht  genug 
geschehen. 

Unser  Volk  wird  erst  blühen  und  gedeihen,  wenn  man  die 
Bildung  der  großen  Masse,  die  man  gemeinhin  „Volk"  nennt,  ernst- 
lich und  mit  allen  Kräften  hebt,  nicht  aber,  wie  jetzt  noch  vielfach, 
die  Hauptbildungsstätte  des  Volks,  die  Volksschule,  in  einem  Zu- 
stande belässt,  der  nach  den  Aussagen  des  vormaligen  preußischen 
Unterrichtsministers  von  Gossler  in  Bezug  auf  Ausstattung  weit  hinter 
dem  Notwendigsten  zurückbleibt,  wenn  man  ferner  die  Zeit  nach  der 
Schulentlassung,  die  für  viele  ein  Zurückgehen  im  Wissen  und  Können, 
ein  Verwahrlosen  mit  sich  fuhrt,  für  die  weitere  Bildung  durch  Grün- 
dung von  Fortbildungsschulen  ausnützt,  wenn  man  allgemein  Ver- 
anstaltungen trifft,  auch  den  folgenden  Altersstufen  einen  geist-  und 
gemüthbildenden  Bildungsstoff  durch  Volksbibliotheken  darzubieten, 
überhaupt  allen  dazu  zu  verhelfen  sucht,  dass  sie  theilnehmen  an 
dem  Leben  und  Streben  der  Nation. 

II. 

„Unsere  Arbeiter  haben  ein  Recht  auf  Arbeit,"  hatte  Fürst  Bis- 
marck gesagt,  und  alsbald  schickte  man  sich  an,  die  Folgerungen  aus 
diesen  Worten  zu  ziehen.  Wir  wünschen  auch,  dass  in  Zeiten  der 
Noth,  wo  sich  Arbeitsmangel  einstellt,  von  Seiten  des  Staats,  der 
Communen  und  anderer  Verbände  lohnende  Arbeit  geschafft  werde; 
aber  wir  verlangen  noch  mehr  für  sie,  eine  ausreichende  Bildung  für 
den  Kampf  ums  Dasein. 

Bildung  macht  frei,  Bildungsarmut  also  unfrei,  Bildung  gibt  Macht, 
Bildungsmangel  macht  abhängig.  Das  wissen  die  Leute  sehr  wol,  die 
ihren  Kindern  eine  möglichst  weitgehende  Bildung  geben,  die  sie 
Schulen  besuchen  lassen,  die  mit  Berechtigungen  ausstatten,  die  in 
ihren  Bildungsstoffen  die  Zauberformeln  bieten,  mit  denen  man  über 
andere  zu  herrschen  vermag.  Für  das  Kind  des  geringen  Mannes 
hört  die  Bildungszeit  schon  mit  dem  14.  Lebensjahre  auf,  die  Volks- 
schule hat  keinerlei  Berechtigungen  mitzugeben,  die  in  ihr  erworbene 
Bildung  gilt  den  fremden  Bildungsstoffen  der  höheren  Schulen  gegen- 
über nicht  als  ebenbürtig. 

Wir  leben  in  einer  Zeit,  in  der  die  wunderbarsten  Entdeckungen 
und  Erfindungen  des  Menschengeistes  überall  ihre  Anwendung  finden. 
Wie  die  Erfindung  des  Schießpulvers  den  Verfall  der  Adelsherrschaft 

31* 


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—    444  - 


und  die  Befreiung  des  Bürger-  und  Baueinstandes  herbeiführte,  so 
hat  die  Entdeckimg  der  Dampfkraft  und  ihre  Anwendung  einen  neuen 
Stand  geschaffen,  der  in  der  Gegenwart  mächtig  aufstrebt  und  um 
Anerkennung  seiner  Forderungen  ringt.  Wie  die  Kraft,  die  ihn  ge- 
boren, äußert  sich  der  Wille  dieses  Standes  vielfach  in  einer  Weise, 
die  alle  Formen  zersprengen  möchte;  wenn  dieser  Wille  nicht  geleitet, 
nicht  regulirt  wird,  so  kann  er  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung 
gefahrbringend  werden.  Wie  will  man  dem  Umsturz  entgegen  wirken, 
wie  kann  man  unsere  Verhältnisse  für  alle  Theile  befriedigender  ge- 
stalten? Eins  der  vorzüglichsten  Mittel  finden  wir  in  der  Erziehung 
und  Bildung  des  Volkes.  Mit  aUem  Eifer  muss  auf  eine  vernünftige 
Erziehung  in  der  Familie  hingewirkt,  die  mit  oder  ohne  Schuld  der 
Eltern  und  Pfleger  vernachlässigten,  verwahrlosten  Kinder  müssen  in 
Erziehungsanstalten,  die  nicht  genügend  beaufsichtigten  in  Bewahr- 
anstalten und  Kinderhorten  während  der  Abwesenheit  der  Eltern  von 
Hause  beschäftigt  und  überwacht  werden,  die  Unterrichtsanstalten 
müssen  noch  mehr  als  bisher  die  Bedürfnisse  des  Lebens  ins  Auge 
fassen,  auf  die  Bildung  eines  klaren  Urtheils  und  eine  vernünftige 
Auffassung  des  Verhältnisses  des  einzelnen  zu  Gott,  den  Menschen 
und  der  Natur  hinwirken. 

Unsere  Volksschule  insbesondere  muss  der  Augapfel  unseres 
Volkes,  nicht  sein  Aschenbrödel  sein,  sie  muss  besser  ausgestattet 
werden  als  bisher  und  durch  die  Fortbildungsschule  ergänzt  oder 
aber  die  Schulpflicht  über  die  bisherige  Zeit  hinaus  verlängert  werden. 
Die  Gegenwart  verlangt  neue  Fächer:  Gesetzeskunde,  Volkswirte 
Schafts-  und  Gesundheitslehre.  Da  heißt  es  denn,  die  Schulen  sind 
mit  Stoff  überbürdet,  sie  können  die  neuen  Fächer,  so  sehr  auch 
deren  Nützlichkeit,  ja  Notwendigkeit  anerkannt  werden  muss,  nicht 
mehr  aufnehmen.  Dass  man  eine  Masse  unnützen  Gepäckes  abwerfen 
könne,  um  das  Brauchbare  und  Nöthige  tragen  zu  können,  sieht  man 
noch  nicht  Uberall  ein.  Die  Gesetzeskunde  lässt  sich  sehr  wol  in  den 
Keligions-  und  Geschichtsunterricht,  die  Gesundheitslehre  in  den 
naturkundlichen,  die  Volkswirtschaftslehre  in  den  deutschen  und 
Rechenunterricht  einflechten.  Man  glaube  nur  nicht,  dass  wir  eine 
systematische  Gesetzeskunde,  ein  System  der  Nationalökonomie  oder 
auch  der  Anatomie  fordern;  nur  das  für  den  künftigen  Bürger  des 
Staats,  das  vernünftige  Glied  der  Gesellschaft  und  der  Familie  aus 
diesen  Gebieten  Nöthige,  das  der  geistigen  Auffassung  Angemessene 
.soll  in  zweckentsprechender  Weise  gelehrt  werden. 

Da  aber  die  Volksschule  die  Kinder  in  einem  Alter  entlässt,  in 


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dem  sie  geistig  noch  unfertig,  in  sittlicher  Beziehung  aber  der  Führung 
mehr  als  zu  einer  andern  Zeit  des  Lebens  benöthigt  sind,  so  muss 
sie  durch  die  obligatorische  Fortbildungsschule  ergänzt  oder  noch 
besser  mit  verminderter  Stundenzahl  bis  zum  17.  Lebensjahre  fort- 
geführt werden.  Dagegen  lasse  man  die  Schulpflicht  erst  mit  dem 
vollendeten  7.  Lebensjahre  beginnen  und  schränke  die  bisherige 
Stundenzahl,  die  zur  körperlichen  Verkümmerung  vieler  Kinder  bei- 
trägt, wesentlich  ein.  Die  heute  so  vielfach  beklagte  geistige  Un- 
fertigkeit  und  sittliche  Verwahrlosung  haben  hauptsächlich  darin  ihren 
Grund,  dass  Einrichtungen  fehlen,  die  den  jungen  Menschen  in  seinem 
bildungsfähigsten  und  erziehungsbedürftigsten  Alter  vom  14. — 17. 
Lebensjahre  in  Zucht  nehmen,  üm  das  Lehr-  und  Bildungsbedürfnis 
des  Volkes  weiterhin  zu  befriedigen,  müssen  überall  Volksbiblio- 
theken eingerichtet  werden.  Dann  wird  die  Unsittlichkeit ,  Ver- 
brechen und  geistige  Verwirrung  erzeugende  Schund-  und  Schmutz- 
literatur am  wirksamsten  von  dem  Volke  abgehalten  und  vernichtet 
werden  können. 

Kommen  dann  noch  Veranstaltungen  hinzu,  die  für  edle  Gesellig- 
keit und  Unterhaltung  sorgen,  wie  die  an  manchen  Orten  schon  mit 
Segen  eingeführten  Volksunterhaltungsabende,  Lese-  und  Bil- 
dungsvereine, Gesangvereine  u.  a,,  dann  wird  es  um  vieles 
besser  werden,  vor  allem  werden  die  in  geistiger  Stumpfheit  und 
mangelnder  gesellschaftlicher  Zucht  wurzelnden  Roheiten  und  Aus- 
schreitungen immer  seltener  vorkommen.  Möchten  alle  Gebildeten 
dazu  beitragen,  dass  alle  Mittel  angewendet  werden,  um  unser  Volk 
zu  heben,  es  immer  mehr  zu  gleichmäßigem  Fortschritte  zu  befähigen 
Die  Gefahr,  die  uns  von  der  geistigen  Noth  und  sittlichen  Roheit 
droht,  mahnt  ja  immer  eindringlicher  dazu. 


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Pädagogische  Kundschau. 

Deutsches  Reich.  Über  den  Besuch,  dessen  sich  gegenwärtig  (Winter- 
semester 1891/92)  die  deutschen  Hochschulen  erfreuen,  gibt  folgende 
interessante  Übersicht  AufschlusB : 

Die  Universität  Königsberg  wird  in  diesem  Semester  von  667  Studirenden 
und  16  Hörern  (gegen  716  im  Sommer  1891)  besucht.  Der  theologischen 
Facultät  gehören  an  145,  der  juristischen  157,  der  medicinischen  222,  der 
philosophischen  143  Studirende.  —  Greifswald:  719  Stndirende  und  10 
Hörer  (829  im  Sommer  1891).  Die  theologische  Facultät  zählt  244,  die 
juristische  76,  die  medicinische  322,  die  philosophische  67  Studirende.  — 
Kiel:  480  Studirende  und  28  Hörer  (630  im  Sommer  1891).  —  Theologische 
Facultät  73,  juristische  47,  medicinische  259,  philosophische  101  Stndirende. 
—  Rostock:  377  Stndirende  und  4  Hörer  gegen  377  Besucher  im  vorigen 
Semester.  Theologen  41,  Juristen  56,  Mediciner  139,  Philosophen  145.  — 
Breslau:  12H2  Studirende  und  30  Hörer  (gegen  1305  im  Sommer  1891). 
Die  evangelisch -theologische  Facnltät  zählt  144,  die  katholisch -theologische 
182,  die  juristische  271,  die  medicinische  306,  die  philosophische  359  Stu- 
dirende. —  Würzburg:  1367  Studirende  und  22  Hörer  (1422  im  Sommer 
1891).  Hierzu  kommen  noch  125  Studirende,  welche  in  der  ärztlichen  Prüfung 
stehen.  Der  theologischen  Facultät  gehören  149,  der  juristischen  267.  der 
medicinischen  770,  den  philosophischen  Sectionen  und  der  Pharmacie  181  Stu- 
dirende an.  —  Bonn:  1204  Studirende  und  35  Hörer  (1392  im  Sommer 
1891).  Die  katholisch -theologische  Facultät  zählt  165,  die  evangelisch  -  theo- 
logische 108,  die  juristische  287,  die  medicinische  256,  die  philosophische 
388  Studirende.  —  Halle:  1522  Studirende  und  62  Hörer  (1493).  Die  theo- 
logische Facultät  zählt  600,  die  juristische  189,  die  medicinische  281,  die 
philosophische  452  Studirende.  —  Leipzig:  3431  Studirende  und  125  Hörer 
(3242).  —  Tübingen:  1172  Studirende  und  15  Hörer.  Der  evangelisch- 
theologischen Facultät  gehören  an  318,  der  katholisch-theologischen  167,  der 
juristischen  193,  der  medicinischen  230,  der  philosophischen,  staatswissenschaft- 
lichen und  naturwissenschaftlichen  Facultät  264  Studirende.  —  Göttingen: 
807  Studirende  und  36  Hörer  (838).  Der  theologischen  Facnltät  gehören 
184,  der  juristischen  164,  der  medicinischen  217,  der  philosophischen  242 
Studirende  an.  —  In  Marburg:  840  Studirende  und  42  Hörer  (947).  Der 
theologischen  Facultät  gehören  137,  der  juristischen  155,  der  medicinischen 
258,  der  philosophischen  Facnltät  290  Studirende  an.  —  Berlin  hat  5371 
Studirende,  außerdem  sind  320  Hörer  und  2651  Studirende  anderer  Hoch- 
schulen und  Lehranstalten  zum  Besuche  der  Vorlesungen  berechtigt  (4427). 


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Von  den  Stndirenden  gehören  707  der  theologischen,  1595  der  juristischen, 
1410  der  medicinischen,  1659  der  philosophischen  Facultät  an.  —  Heidel- 
berg: 932  Stndirende  nnd  144  Hörer.  Der  theologischen  Facultät  gehören 
73,  der  juristischen  253,  der  medicinischen  245,  der  philosophischen  178,  der 
naturwissenschaftlich-mathematischen  183  Stndirende  an.  —  Akademie  zu 
Münster:  384  Stndirende  und  13  Hörer  (377).  Der  theologischen  Facultät 
gehören  251,  der  philosophischen  133  Studirende  an.  —  Straßburg:  969 
Stndirende  und  57  Hörer.  Der  theologischen  Facultat  gehören  118,  der 
juristischen  229,  der  medicinischen  356,  der  philosophischen  113,  der  mathe- 
matischen und  naturwissenschaftlichen  153  Stndirende  an.  —  Jena:  581 
Stndirende  und  29  Hörer.  —  Giessen:  543  Studirende  und  42  Hörer.  — 
München  hat  3292  Studirende  und  55  Hörer,  darunter  136  Studirende  der 
Theologie,  1214  der  Jurisprudenz,  97  der  staatswissenschaftlichen  FacultHt, 
1081  der  medicinischen,  500  der  philosophischen  Abtheilungen,  264  studiren 
Pharmacie.  —  Erlangen:  1060  Studirende.  Davon  gehören  264  der  theo- 
logischen, 228  der  juristischen,  344  der  medicinischen  Facultät,  133  den 
philosophischen  Abtheilungen  an,  28  widmen  sich  dem  zahnärztlichen  Studium, 
63  der  Pharmacie.  Die  Zahl  der  Hörer  beträgt  13.  —  Fr  ei  bürg:  856 
Stndirende  und  62  Hospitanten.  Von  den  Studirenden  gehören  208  der  theo- 
logischen, 142  der  juristischen,  304  der  medicinischen  Facultät  und  der  Phar- 
macie an,  202  der  philosophischen  Facultät.  —  Von  den  Universitäten  zu 
Leipzig,  Jena  und  Giessen  fehlten  noch  die  Angaben  im  einzelnen.  Nach 
den  genannten  Frequenzziffern  finden  wir  an  den  übrigen  18  bez.  17  Hoch- 
schulen insgesammt  4414  Studirende,  welche  den  theologischen  Facul täten 
zugehören;  5620  gehören  den  juristischen  und  staatswissenschaft- 
lichen,  5906  den  philosophischen  und  7480  den  medicinischen  Facul- 
täten  an.  Am  größten  ist  demnach  zur  Zeit  der  Andrang  zum  ärztlichen 
Berufe.  —  Obwol  die  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  infolge  der  nicht 
günstigen  Finanzlage  Preußens  nur  beschränkt  sind,  ist  es  doch  möglich  ge- 
wesen, auch  für  das  Etatsjahr  1892/93  die  Lehrstühle  an  den  Uni- 
versitäten zn  vermehren.  So  sollen  außerordentliche  Professuren  für  die 
osteuropäische,  insbesondere  russische  Geschichte  in  Berlin,  frir  die  philosophische 
Facnltät  in  Greifswald,  für  die  neueren  Sprachen  in  Marburg  und  für  die  eng- 
lische Sprache  und  Litteratnr  in  Münster  geschaffen  werden.  An  Ersatz- 
ordinariaten sind  zwei  in  der  philosophischen  und  eines  in  der  medicinischen 
Facultät  in  Breslau,  sowie  ein  solches  in  der  theologischen  Facultät  in  Kiel 
vorgesehen.  Der  Decan  der  theologischen  Facultät  der  vereinigten  Fried- 
richs-Universität Halle-Wittenberg  hat  die  Preisaufgaben  für  das  Halbjahr 
vom  12.  Januar  bis  12.  Juli  1892  bekannt  gemacht.  Die  wissenschaftliche 
Preisaufgabe  verlangt  die  Bearbeitung  des  Themas:  „Darf  man  Christum  als 
Urbild  der  christlichen  Sittlichkeit  in  der  Ethik  behandeln?"  Vorbehaltlich 
der  erbetenen  höheren  Genehmigung  soll  bei  der  Bearbeitung  der 
Anfgabe  die  deutsche  Sprache  angewandt  werden.  Auch  ein  Zeichen 
der  fortschreitenden  Zeit! 


B.  Vom  deutschen  Ostseestrande.  Alle  methodischen  Fragen  waren 
hier  am  Strande  auf  dem  Gebiete  des  höheren  und  niederen  Schulunterrichts 
in  den  Hintergrund  getreten,  seitdem  man 


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1)  an  einem  neuen  Lehrplane  für  die  höheren  Unterrichtsaustalten; 

2)  an  einem  Dotationsplan  für  die  akademisch  gebildeten  Lehrer,  nnd 

3)  an  einem  allgemeinen  Volksschulgesetz  für  Preußen  im  Cultus- 
ministerium  arbeitete. 

Der  neue  Lehrplan  für  die  höheren  Unterrichtsanstalten  in  Preußen  ist 
glücklich  bis  zum  1.  April  1892  durch  das  bekannte  „Siebengestirn"  am  päda- 
gogischen Himmel  Borussias  fertig  gestellt.  Wie  weit  man  darin  der  kaiser- 
lichen Directive:  „Wir  wollen  der  Jugend  nicht  die  Schulzeit  durch 
Überbürdung  verleiden,  und  wir  wollen  keine  Römer  erziehen" 
nun  Rechnung  getragen  hat,  wird  erst  die  Zukunft  lehren.  In  das  übertriebene 
Geschrei  über  die  Überbürdung  in  allen  Schulen  mischten  sich  laute  Rufe 
nach  Abschaffung  der  „todten  Sprachen".  Homer  und  Tacitus  wandeln  jedoch 
stolzen  Hauptes  in  20)0 j Übriger  Toga  auf  dem  Lehrplane  unter  germanischen 
Erscheinungen  nach  wie  vor  umher;  dem  letzteren  Wunsche  ist  also  nicht 
nachgekommen  worden.  Der  Glaube,  dass  die  Überbürdung  in  dem  aus- 
gedehnten Unterricht  im  Latein  und  Griechisch  zu  suchen  sei,  ist  durch  die 
Conferenzbeschlüs8e  der  „sieben  Weisen"  in  Berlin  widerlegt  worden,  wenn- 
gleich sie  Kürzungen  der  Pensen  hie  und  da  gestattet  haben. 

Soeben  ist  denn  auch  der  Besoldungsplan  für  die  Lehrer  an  den 
höheren  Lehranstalten  veröffentlicht  worden.  Man  hatte  erwartet,  dass 
durch  denselben  gerechten  Ansprüchen  für  lange  Zeit  würde  Genüge  geleistet 
werden.  Mit  großer  Spannung  wurde  seitens  der  akademisch  gebüdeten  Lehrer 
an  unsern  höheren  Schulen  das  Erscheinen  des  neuen  Normaletats  erwartet, 
mit  sehr  gemischten  Gefühlen  haben  dieselben  Kenntnis  von  demselben  ge- 
nommen. Seit  zwölf  Jahren  befindet  sich  diese  Kategorie  von  Lehrern  in  einer 
gesteigerten  Erregung  über  die  Unzulänglichkeit  ihres  Aufrückens  im  Dienst 
und  ihrer  Besoldung.  Zu  wiederholten  Malen  hat  das  Abgeordnetenhaus  und 
seine  Unterrichtscommission  diese  Missbräuche  anerkannt,  und  ebenso  bat  die 
Staatsregierung  wiederholt  erklärt,  dass  eine  „gründliche"  Besserung  der  Ver- 
hältnisse not  big  sei,  ja  im  April  1885  hat  der  Cultusminister  v.  Gossler  aus- 
drücklich im  Namen  der  Staatsregierung  die  Erklärung  abgegeben,  dass  sie 
die  Gleichstellung  der  Gymnasiallehrer  mit  den  Richtern  erster  Instanz  für 
berechtigt  halte.  Es  durften  nach  allen  den  Vorgängen,  besonders  auch  nach 
dem  Erlass  der  Cabinetsordre  des  Kaisers  vom  17.  December  1890,  die  be- 
treffenden Kreise  erwarten,  dass  die  Staatsregierung  jetzt  die  Angelegenheit 
zu  einem  befriedigenden  Ende  führen  werde.  Diese  Hoffnungen  sind  durch  die 
Gehaltssätze,  wie  sie  das  Ministerium  in  Vorschlag  gebracht  hat,  gründlich 
getäuscht. 

Das  neue  Volksschulgesetz  hat  unsern  Dünensand  zu  förmlichen 
Sandhosen  aufgewirbelt.  So  sehr  man  seit  Erlass  der  Verfassung  von  1848 
auf  ein  Volksschulgesetz  wartete,  so  sehr  hat  sich  die  große  Majorität  gegen 
die  Fassung  des  noch  schwebenden  Entwurfes  geltend  gemacht.  Während  von 
der  einen  Seite  gefürchtet  wird,  dass  Gesetz  werde  Henchelei  und  religiöse 
Intoleranz  im  Volke  erziehen,  wollen  andere  sogar  behaupten,  dass  durch  das- 
selbe ein  wesentlicher  Theil  der  Segnungen  der  Reformation  werde  ver- 
loren gehen.  Wir  sehen  nicht  so  schwarz.  Paragraphen,  welche  sich  auf  ver- 
altete Pfahlbauten  stützen,  werden  den  Stürmen  unserer  Tage  nicht  lange  zu 
widerstehen  vermögen;  doch  rnhen  sie  auf  „deutschen  Eichen",  so  überdauern 


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sie  Jahrhunderte.  Noch  ist  ja  das  letzte  Wort  über  den  sensationellen  Ent- 
wurf nicht  gesprochen,  nnd  doch  ist  ein  Wort  ans  der  Generaldebatte  des  Ab- 
geordnetenhauses im  Januar  d.  J.  schon  über  alle  Lande  geflogen.  Herr  v. 
Zedlitz  meinte  zu  einigen  nationalliberalen  Forderungen  auf  dem  Gebiete  des 
Religionsunterrichts,  dass  er  mit  denselben  einverstanden  wäre,  wenn  es 
sich  um  den  Unterricht  in  den  höheren  Schulen  handelte.  Unser  deutsches 
Volk  ist  durchaus  nicht  daran  gewöhnt,  die  Religion  nur  als  Masse nbilndigerin 
anzusehen.  Für  unser  Volk  ist  die  Religion  die  Führerin  zur  ewigen  Glücks- 
seligkeit. Das  Volk  versteht  es  nicht,  weshalb  nun  den  Schülern  der 
höheren  Schulen  die  Heilswahrheiten  mit  einem  andern  Maße  zu- 
gemessen werden  sollen,  als  seinen  eigenen  Kindern.  Sind  die  Kinder 
von  reichen  Eltern  im  Stande,  auf  einem  andern  Wege  in  den  Himmel  zu 
kommen  als  unsere?  harschte  ein  Schlossermeister  Ihren  Referenten  an.  Das 
kommt  davon!   (Inzwischen  ist  der  fragliche  Entwurf  gefallen.    D.  R.) 

In  dieser  Zeit  des  Ringens  und  Strebens  nach  gesetzlich  geregelten  Schul- 
zuständen wird  der  Streit  um  die  Trennung  des  Religionsunterrichts  von 
der  Schule  mit  besonderer  Heftigkeit  geführt.  Außer  den  nicht  zu  unter- 
schätzenden Stimmen,  welche  aus  Süd  und  Nord,  West  und  Ost  laut  geworden 
sind,  verdient  eine  Abhandlung  des  Professors  der  Theologie,  Dr.  Pfleiderer, 
in  den  „Preußischen  Jahrbüchern u  die  weiteste  Verbreitung. 

Ich  kann  bei  meiner  heutigen  Rundschau  unmöglich  einen  garstigen 
Bombensplitter  unerwähnt  lassen,  welcher  aus  einem  Revolverprocess  in  Berlin 
entflog  und  viele  Köpfe  unserer  Strandpädagogen  erhitzt  hat.  Man  höre!  — 
Ein  begabter  Berliner  Rector,  Namens  Ahlwardt,  war  früher  in  arge  Schulden, 
zuletzt  auch  in  Beleidigungspro  cvsso  verwickelt.  A.  hat  sich  mit  Stöcker  ver- 
bunden und  ist  durch  mehrere  Broschüren  in  lebhaften  öffentlichen  Kampf 
gegen  das  „Judenthum"  getreten.  Eine  dieser  Broschüren  sollte  mehrfache 
Beleidigungen  gegen  ehemalige  Vorgesetzte  und  Collegen  des  Ahlwardt  ent- 
halten, und  so  wurde  im  Februar  d,  J.  gegen  den  Culturkämpfer  ein  Monstre- 
process  in  Scene  gesetzt,  in  welchem  er,  nebenbei  bemerkt,  bestraft  wurde.  Als 
Zeugen  in  diesem  Processe  traten  viele  Privatpersonen,  Stadtschnlräthe,  Lehrer, 
Lehrerinnen  etc.  und  auch  Dr.  Hermes,  eines  der  einflussreichsten 
Mitglieder  der  Berliner  Stadtschnldeputation,  auf.  Von  Dr.  Hermes 
behauptete  der  Angeklagte ,  dass  er  als  Schuldeputationsmitglied  mit  neu- 
zuwählenden Lehrern,  Rectoren  und  Directoren  ein  religiös-politisches  Examen 
angestellt  und  erklärt  habe:  „Die  göttliche  Abstammung  des  Heilandes 
nach  dem  2.  Artikel  ist  für  mich  ein  Märchen."  Zeuge  Dr.  Hermes 
gibt  zu,  diese  Erklärung  in  Gegenwart  von  Directoren  gemacht  zu  haben  und 
erklärt  ferner,  dass  er  eine  solche  Äußerung  in  Gegenwart  von 
Lehrern  für  „taktlos"  halte.  Ist  das  nicht  dieselbe  Geschichte?  —  Der 
2.  Artikel  hat  für  die  Lehrer  wol  heilsamen  Inhalt,  für  Directoren  ist  er  ein 
Märchen?  —  Wenn  sich  solche  Ansichten  noch  weiter  entwickeln,  dann  können 
wir  erwarten,  dass  man  für  gewisse  Stände  noch  Dogmen  für  nothwendig  hält, 
für  andere  aber  nicht.  Hiermit  sind  wir  denn  auf  ein  ernstes  Thema  gerathen, 
welches  die  ganze  Welt  weit  mehr  beschäftigen  wird,  als  der  Erlass  des 
preußischen  Volksschulgesetzes.  Wenn  nicht  alle  Zeichen  trügen,  so  ist  es  hohe, 
ja  höchste  Zeit,  dass  ein  zweiter  Luther  auftritt  und  die  christliche  Kirche 
von  allem  menschlichen  Beiwerk  unnachsichtlich  säubert.    Das,  was  „wahr- 


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haft  göttlich"  ist,  braucht  der  Volksschüler  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  der  Gymnasiast,  und  der  Director  nicht  minder  als  der  Lehrer.  Damit 
ist  der  Sache  nicht  gedient,  dass  man  diejenigen  einfach  verbrennt,  welche  am 
Nicäiscben  Glanbensbekenntnis  nur  rütteln.  Das  ist  eben  eine  große  Errungen- 
schaft  der  Reformation,  dass  wir  die  damaligen  Kirchenvater  ebenso  wenig  für 
„unfehlbar"  halten  wie  den  heutigen  Papst  und  sein  Cardinais -Collegium. 
Schon  vor  mehreren  Jahrzehnten  verlangten  sehr  fromme  Theologen,  es  sei 
z.  B.  Lic.  Nesselmann  genannt,  eine  gründliche  Reform  der  Bibel.  Die  Bibel 
sollte  von  all'  den  Capiteln  und  Versen,  welche  mit  dem  Heilsleben  der 
Menschen  nichts  zn  thnn  haben,  welche  aber  nach  Inhalt  und  Form  leicht 
Anstoß  erregen,  gereinigt  werden.  Bis  jetzt  ist  in  der  hochwichtigen  Angelegen- 
heit wenig  geschehen,  und  man  darf  sich  nicht  wundern,  wenn  es  immer  Leute 
gibt,  welche  das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten.  Andrerseits  nimmt  das 
Sectenwesen  in  rapider  Weise  zu.  Es  scheint,  als  ob  die  Menschheit  das 
Wort  Friedrichs  des  Großen:  „Jeder  kann  nach  seiner  Facon  selig  werden" 
zur  Wahrheit  machen  will. 

Ans  Westfalen.  Zwei  Thatsachen  sind  es,  über  die  ich  heute  den 
Lesern  des  „Paedagogiums"  berichten  möchte.  Schon  an  sich  sind  beide  ihrer 
Eigenartigkeit  wegen  höchst  beachtenswert,  sie  heischen  aber  besonderes  In- 
teresse wegen  ihrer  symptomatischen  Bedeutung  in  der  gegenwärtigen  Zeit. 
Sie  stehen  beide  in  dem  Zeichen  des  Zedlitz'schen  Volksschulgesetzes,  und 
wenn  sie  auch  in  keinem  direkten  Znsammenhange  mit  diesem  Entwürfe  stehen, 
so  athmen  sie  doch  den  Geist  von  seinem  Geiste.  Beide  sind,  obwol  zunächst 
nur  von  örtlicher  Bedeutung,  vorzüglich  geeignet,  dem  Leser  als  Zukunftsbild 
zu  dienen  hinsichtlich  der  Verhältnisse,  wie  sie  sich  nach  der  Annahme  des 
Zedlitz'schen  Gesetzentwurfes  in  Preußen  entwickelt  haben  würden.  Es 
handelt  sich  in  den  nachfolgenden  Zeilen  1)  um  den  Kampf  der  Stadt 
Hoerde  für  ihre  Simultanschule  und  2)  um  die  Verfügung  der  könig- 
lichen Regierung  in  Arnsberg  vom  26.  Januar  d.  J.,  wodurch  sie  den 
Lehrern  die  Mitarbeit  an  der  Presse  untersagte. 

Der  Schulkampf  in  Hoerde  dauert  bereits  annähernd  15  Jahre.  Er  ist 
ein  classisches  Zeugnis  dafür,  wie  der  Ultramontanismus  darauf  abzielt,  die 
Selbstverwaltung  der  Städte  zu  vernichten  und  überall  das  schwarze  Panier 
der  Intoleranz  aufzupflanzen,  wie  derselbe  die  Interessen  und  Rechte  anderer 
unter  die  Füße  tritt,  um  seinen  hierarchischen  Gelüsten  zu  fröhnen,  und  wie 
er  seine  Losung:  „Für  Wahrheit,  Recht  und  Freiheit!"  auffasst. 

Es  war  im  Jahre  1877,  als  die  städtischen  Behörden  in  Hoerde,  einem 
ausdrücklichen  Wunsche  der  Regierung  entsprechend,  den  Beschlnss  fassten, 
die  drei  confessionell  eingerichteten  Volksschulen  der  evangelischen,  römisch- 
katholischen und  israelitischen  Schulsocietäten  in  eine  städtische  Simultan- 
schule  umzuwandeln. 

Was  das  numerische  Verhältnis  der  beiden  hauptsächlich  in  Betracht 
kommenden  Confessionen  anbetrifft,  so  zählt  Hoerde  rund  8000  evangelische 
und  7000  katholische  Einwohner;  was  aber  die  Verhältnisse  des  Besitzstandes 
anbelangt,  so  sind  die  Evangelischen  und  Israeliten  im  ganzen  wolhabender 
und  somit  steuerkräftiger  als  die  Katholiken.  Zur  Illustration  dieser  Ver- 
hältnisse führen  wir  kurz  die  nachfolgenden,  der  „ Kölnischen  Zeitung"  ent- 


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nominenen  Zahlen  an:  Im  Jahre  1885/86  beispielsweise  worden  an  Staats* 
Stenern,  welche  bei  Berechnung  der  stadtischen  Stenern  zu  Grnnde  gelegt 
werden,  erhoben 

1)  von  den  Evangelischen  und  Israeliten  21 119,—  M. 

2)  von  den  Römisch -Katholischen   8372,—  „ 

and  das  zu  deckende  Schuldeficit  betrug 

bei  der  städtischen  Volksschule  (Evangelische  und  Israeliten)    34  788,50  M. 

bei  der  katholischen  Volksschule   31  870,84  „ 

mitbin  war  das  Deficit  der  Communalschule  mit  164  °/0,  das  der  römisch- 
katholischen Schule  mit  380  °/0  der  Staatssteuern  zu  decken.  Aus  diesen 
trockenen  Zahlen  erhellt  schon  ohne  Widerrede,  wie  uneigennützig  und  gerecht 
die  städtischen,  fast  ausschließlich  ans  Protestanten  bestehenden  Körperschaften 
handelten  und  welche  Wolthaten  sie  den  steuerzahlenden,  dazu  nicht  wol- 
habenden  katholischen  Bürgern  zuwenden  wollten,  wenn  sie  bereit  waren,  auch 
die  katholischen  Schulen  auf  den  städtischen  Etat  zu  übernehmen,  unter  der 
einzigen  Bedingung  nur,  dass  der  simultene  Charakter  der  Communalschule 
gewahrt  bleibe. 

Ja,  um  das  gleich  vorwegzunehmen,  vor  einigen  Jahren  ging  die  Stadt 
in  ihrer  Nachgiebigkeit  so  weit,  die  Übernahme  des  katholischen  Schuldeficits 
anzubieten,  wenn  der  Schulvorstand  bereit  wäre,  die  Schule  dem  städtischen 
Curatorium  zu  unterstellen,  damit  dieses  wenigstens  in  äußeren  Fragen  mit* 
zureden  habe;  der  confessionelle  Charakter  der  Schule  sollte  gänzlich  gewahrt 
bleiben.  Die  ruhigen,  verständigen,  objectiv  urtheilenden  Katholiken  waren 
für  diesen  Ausgleich,  nicht  aber  der  unter  dem  Einflüsse  des  römischen  Clerus 
stehende  Schulvorstand.  Bedingungslos  sollte  sich  die  Stadt  unterwerfen; 
man  wollte  ihr  die  Pflicht  des  Zahlens  aufhalsen,  im  übrigen  aber  sollte  sie 
kein  Wort  mitzureden  haben.  Infolge  dieser  Hartnackigkeit  blieb  hiernach 
den  katholischen  Bürgern  nichts  übrig,  als  weiter  zu  zahlen,  und  zwar  hatten  sie 
in  den  Jahren  von  1880 — 90  an  Communal-  und  Schulsteuern  zwischen  500 
und  670  °/0  der  Staatssteuern  aufzubringen,  während  die  übrigen  Bürger  nur 
zwischen  370  und  410  %  zahlten. 

Wenn  der  Minister  von  Zedlitz  bei  der  Berathung  des  Cultusetats  am 
7.  März  jedoch  die  Höhe  der  den  Katholiken  aufgebürdeten  Lasten  dem  Um- 
stände zuschrieb,  dass  die  Katholiken  bezahlt  hätten  für  die  Simultanschule 
und  für  ihre  eigene  Schule  auch,  so  war  das  ein  Irrthum,  den  der  Minister 
dann  auch  in  einer  späteren  Sitzung  zugeben  musste.  Die  Sache  liegt  viel- 
mehr so,  dass  die  Katholiken  allerdings  gesetzmäßig  verpflichtet  gewesen 
wären,  die  Lasten  der  simultanen  Communalschule  mittragen  zn  helfen,  — 
und  mir  ist  ein  Fall  bekannt,  dass  in  einer  unserer  Industriestädte  die  Katho- 
liken die  Communalsteuer  einschließlich  der  Schullasten  für  die  städtischen 
Schulen  zahlen  mussten,  obwol  sie  sich  auch  den  gleichen  Luxus  einer  eigenen 
confessionellen  Schule  leisteten  —  aber,  und  das  kennzeichnet  wieder  die  guten, 
friedlichen  Absichten  der  städtischen  Körperschaften  in  Hoerde,  schon  in  dem 
Beschlüsse,  durch  den  die  Simultanschule  geschaffen  wurde,  befreite  man  die 
Katholiken  ausdrücklich  von  diesen  Lasten,  weil  man  sich  in  richtiger  Er- 
kenntnis der  ultramontanen  Gehässigkeit  dem  Vorwurfe  nicht  aussetzen  wollte, 
den  man  voraussah  und  der  selbst  von  dem  Hinister  andeutungsweise  erhoben 
wurde.  Jene  Behauptung  also,  dass  die  evangelischen  und  israelitischen  Bürger 


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der  Stadt  auf  Kosten  der  katholischen  Mitbürger  Vortheile  genössen,  entspricht 
nicht  der  Wahrheit. 

Bis  zum  Jahre  1884  stand  die  Arnsberger  Regierung  auf  demselben 
Boden  der  Auffassung  wie  die  städtischen  Behörden.  Alle  Versuche  der 
katholischen  Schulsocietät,  die  Übernahme  der  katholischen  Schule  ohne  den 
Verzicht  auf  ihren  confessionellen  Charakter  nnd  unter  Wahrung  aller  ihrer 
bisherigen  Rechte  auf  den  stadtischen  Etat  herbeizuführen,  wurden  von  der 
Stadt  und  der  Regierung  gemeinsam  zurückgewiesen.  Als  jedoch  der  Wind 
umsprang  und  die  politische  Constellation  sich,  besonders  infolge  der  Bismarck» 
sehen  Wirtschaftspolitik,  änderte,  da  wechselten  auch  die  Bilder  im  kleinen : 
man  verbrannte,  was  man  bis  dahin  angebetet  hatte.  Vom  Jahre  1884  ab 
unterstützte  die  Arnsberger  Regierung  im  Gegensätze  zu  ihrer  früheren 
Haltung  die  Forderung  des  katholischen  Schul  Vorstandes  gegen  die  städtischen 
Behörden.  Es  würde  zu  weit  führen,  hier  die  Angelegenheit  in  den  einzelnen 
Stadien  ihrer  Entwicklung  zu  verfolgen  —  kurz,  am  14.  Februar  1891  be- 
schlossen die  Repräsentanten  der  katholischen  Schulsocietät  endlich,  die  letztere 
unter  Hinweis  auf  den  Vertrag  vom  18.  Juli  1877  bedingungslos  aufzulösen 
und  der  Stadt  die  Übernahme  der  katholischen  Schule  anheimzustellen.  Zu 
diesem  Schritte  waren  aber  die  Katholiken  nicht  etwa  gekommen,  weil  sie  in- 
zwischen ihre  Anschauungen  geändert  hatten  oder  im  Laufe  der  Zeit  mürbe 
geworden  waren;  nein,  in  ihrer  Klugheit  hatten  sie  sich  vorher  versichert, 
dass  jetzt  statt  ihrer  die  Regierung  bei  der  Übernahme  der  Schule  auf  den 
städtischen  Etat  a  tout  prix  auf  den  confessionellen  Charakter  der  Schule  be- 
stehen würde.  Die  Vertreter  der  Stadt,  die  ihre  Pappenheimer  kennen,  durch- 
schauten indes  den  schlau  ersonnenen  Plan  und  fielen  auf  diese  Finte  nicht 
hinein.  Nachdem  sie  sich  über  die  Absicht  der  Regiernng  Klarheit  verschafft 
hatten,  weigerten  sie  sich  rundweg,  die  Schule  zu  übernehmen,  und  so  führte 
auch  dieses  klug  abgekartete  Spiel  nicht  zu  dem  beabsichtigten  Ziele.  Jetzt 
zog  die  Regierung  andere  Saiten  auf.  Sie  beantragte  beim  Bezirksausschuß, 
die  Stadt  gemäß  §  2  des  Gesetzes  vom  26.  Mai  1887  zur  Übernahme  der 
Schule  zu  verurtheilen.  Das  geschah.  Die  hiergegen  unter  eingehender  Be- 
gründung an  den  Provinzialrath  gerichtete  Berufung  der  Stadt  wurde  ver- 
worfen, und  endlich  lehnte  auch  der  Oberpräsident  von  Westfalen  den  Antrag 
der  Stadt,  gegen  die  letzte  Entscheidung  beim  Oberverwaltungsgerichte  Klage 
erheben  zu  dürfen,  kurzer  Hand  ab.  Mit  Recht  bemerkt  die  „Kölnische 
Zeitung"  hierzu:  „Eine  solche  Ablehnung  ist  für  den  ruhigen  Staatsbürger 
schwer  verständlich.  Die  städtischen  Behörden  erbitten  weiter  nichts,  als 
dass  der  Oberpräsident  ihnen  ermögliche,  ihre  bisher  nur  von  Beschlnssbehörden 
benrtheilte  Sache  dem  Spruche  eines  Gerichtshofes  des  Oberverwaltungsgerichte« 
zu  unterbreiten.  Er  hätte  beachten  müssen,  dass  gerade  jetzt  unter  den  Ver- 
hältnissen, in  welchen  wir  im  preußischen  Staate  leben,  jeder  Anlass  zu  be- 
rechtigter Unzufriedenheit  möglichst  vermieden  werden  müsse.  Er  hätte  ferner 
sich  sagen  müssen,  dass  eine  evangelische  Bevölkerung  einer  Stadt,  welche 
14  Jahre  lang  mit  stets  gleicher  Ausdauer  den  Kampf  um  ihre  Schule  ge- 
führt hat,  auch  infolge  seiner  Ablehnung  in  diesem  Kampfe  nicht  erlahmen, 
sondern  ihre  Sache  bis  an  den  Minister  und  nötigenfalls  den  Landtag  der 
Monarchie  verfolgen  wird.  Er  hätte  ferner  wissen  können,  dass  auch,  wenn 
selbst  diese  Schritte  nicht  zu  dem  erwünschten  Ziele  führen,  den  städtischen 


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Behörden  immer  noch  auf  anderen  Wegen  die  Möglichkeit  verbleibt,  eine  Ver- 
handlung der  Sache  vor  dem  Oberverwaltungsgerichte  zu  erzwingen." 

Nicht  genug  hiermit,  ging  die  Arnsberger  Regierung,  bez.  der  Schulrath 
Tyszka,  im  Übereifer  dazu  über,  die  Hoerder  Communalschule  ihre»  simultanen 
Charakters  zu  entkleiden,  indem  er  die  Ausschulung  der  28  israelitischen 
Schaler  und  die  Bildung  einer  besonderen  jüdischen  Schulclasse  für  die  solcher- 
gestalt Ausgeschulten  verfugte. 

Alle  diese  Maßregeln,  die  mindestens  als  höchst  sonderbar  bezeichnet 
werden  müssen,  brachte  der  Abgeordnete  Rickert  bei  der  Berathung  des 
Cultusetats  im  Abgeordnetenhause  zur  Sprache,  und  der  Minister  erklarte 
wenigstens  bezüglich  des  letzten  Punktes,  dass  er  die  Ausschulung  der  is- 
raelitischen Schüler  selbstverständlich  inhibirt,  sobald  er  Kenntnis  von  der 
Absicht  der  Regierung  erlangt  habe.  „Dieser  ganze  Vorgang",  so  fuhr  der 
Minister  fort,  „wirft  jedoch  ein  höchst  interessantes  Licht  auf  die  Nützlichkeit 
der  Simultanschuleinrichtungen.  Nämlich  hier  ist  die  Regierung  in  Arnsberg 
nicht  der  schwarze  Mann  gewesen,  der  angefangen  hat,  sondern  die  Anregung 
zu  der  auch  nach  meiner  Auffassung  völlig  unmöglichen  Organisation  ist  aus 
Hoerde  selbst  gekommen,  und  zwar  ist  die  neue  Organisation  wunderbarer- 
weise motivirt  worden  aus  der  Simultanschule  heraus,  nämlich  damit,  dass  der 
Verkehr  in  dem  Lehrercollegium  und  in  den  Gassen,  namentlich  bei  Erörte- 
rungen von  Fragen,  die  den  Geschichtsunterricht  betreffen,  durch  die  Gegenwart 
des  jüdischen  Lehrers  eine  gewisse  bedenkliche  Beengung  fände.  Nach  meiner 
Meinung  ist  die  Regierung  nicht  glücklich  gewesen,  indem  sie  auf  eine  der- 
artige Anregung  eingegangen  ist.  Sie  hätte  sagen  sollen:  Ihr  seid  simultan, 
eine  Begründung  von  einer  besonderen  Classe  für  die  28  jüdischen  Kinder 
geht  nicht,  das  wäre  eine  Zurücksetzung  der  berechtigten  Interessen  dieser 
Kinder  und  ihrer  Eltern.  Also  sie  hätte  das  einfach  ablehnen  müssen;  sie 
ist  aber  auf  die  Sache  eingegangen,  hat  jedoch  eine  abschließende  Verfügung 
bisher  nicht  getroffen.  Ich  habe  ihr  zu  erkennen  gegeben,  dass  nach  meiner 
Ansicht  es  so  bleiben  müsse,  wie  es  bisher  gewesen  wäre,  und  dass  der 
jüdische  Lehrer  im  Collegium  ebenso  zur  Verwendung  kommen  müsse,  wie  er 
bisher  zur  Verwendung  gekommen  sei."  Diesen  Standpunkt  des  Ministers  und 
die  Desavouirung  der  Arnsberger  Regierung  durch  ihn  kann  man  nur  billigen, 
wenn  man  andererseits  auch  bedauern  muss,  dass  er  sich  nicht  auch  im  übrigen 
auf  die  Seite  der  Stadt  Hoerde  stellt.  Auffallen  muss  es  aber,  dass  der  Minister 
in  dem  einen  Punkte,  die  Beengung  der  evangelischen  Lehrer  durch  die  Gegen- 
wart des  israelitischen  Lehrers  betreffend,  der  Köln.  Ztg.  zufolge,  wiederum 
falsch  unterrichtet  gewesen  zu  sein  scheint.  Sie  schreibt:  „Es  wird  uns  zu- 
verlässig verbürgt,  dass  von  berufener  Seite  in  dieser  Beziehung  niemals  eine 
Klage  an  die  königliche  Regierung  zu  Arnsberg  gerichtet  worden  ist.  Im 
Gegentheil  haben  die  Herren,  welche  sich  an  in  dieser  Beziehung  maßgebender 
Stelle  befinden  und  welche  principielle  Gegner  der  Simultanschule  sind,  auf 
Befragen  versichert,  dass  Unzuträglichkeiten  irgend  welcher  Art  sich  in  keiner 
Weise  bemerkbar  gemacht  haben.  Auch  hier  ist  also  wiederum  der  Minister 
das  Opfer  einer  Berichterstattung  geworden,  die  in  keiner  Weise  die  örtlichen 
Verhältnisse  zutreffend  geschildert  hat."  Endlich  irrt  sich  der  Minister,  wenn 
er  behauptet,  die  Arnsberger  Regierung  könne  sich  zur  Rechtfertigung  ihres 
Vorgehens  nicht  auf  ihn  berufen.    Er  trat  sein  Amt  Mitte  März  an,  und 


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unterm  29.  Mai  entschied  er:  „Wenn  das  Protokoll  vom  18.  April  1877  von 
der  Einrichtung  von  Communalschulen  ohne  confessionellen  Charakter  spricht, 
so  entspricht  dies  nicht  den  thatsächlichen  Verhältnissen.  Die  kleine  jüdische 
Societät,  welche  gleichzeitig  aufgelöst  wurde,  kann  in  dieser  Frage  nicht  in 
Betracht  kommen.  Die  Stadtgemeinde  darf  sich  daher,  nachdem  sie  die  evan- 
gelische Schule  als  solche  übernommen  and  weiter  unterhalten  hat,  nicht 
weigern,  auf  Verlangen  auch  katholische  Schulen  als  Gemeindeanstalten  ein- 
zurichten." Irren  ist  zwar  menschlich,  und  selbst  ein  Minister  ist  dem  Irrthume 
unterworfen.  Wie  es  aber  möglich  ist,  dass  sich  der  Minister  bei  einer  solchen 
principiell  wichtigen  Angelegenheit  sozusagen  in  eine  ganze  Kette  von  Irrungen 
verstricken  konnte,  das  bleibt  einem  beschrankten  Unterthanenvemande  immer- 
hin schwer  erklärlich. 

Nachdem  so  die  Stadt  Hoerde  ihr  vertragsmäßiges,  ursprünglich  von  der 
Regierung  gewährleistetes  Recht  durch  alle  Instanzen  verfochten,  aber  nicht 
mit  Erfolg  durchzusetzen  vermocht  hatte,  forderte  der  Regierungspräsident  in 
Arnsberg  durch  Verfügung  vom  4.  März  d.  J.  die  städtische  Vertretung  auf. 
binnen  acht  Tagen  die  Kosten  für  die  katholischen  Volksschulen  in  den  Etat 
einzustellen,  andernfalls  werde  sofort  die  zwangsweise  Einstellung  erfolgen. 
Aber  sowol  Magistrat  wie  Stadtverordnetenversammlung  haben  das  Verlangen 
des  Regierungspräsidenten  rundweg  abgelehnt.  Soweit  ist  der  Kampf  gediehen. 
Das  ist  die  augenblickliche  Situation. 

Wäre  Graf  Zedlitz  Minister  geblieben,  so  könnte  man  schon  heute  die 
Sache  als  erledigt  betrachten;  Hoerde  hätte  der  Gewalt,  der  force  majeure, 
weichen  müssen.  Aber  in  dem  Augenblick,  da  diese  Zeilen  geschrieben  werden, 
durcheilt  die  Kunde  von  dem  Sturze  des  Ministers  die  überraschte  Welt. 
Gestern  noch  auf  stolzen  Rossen,  heute  durch  die  Brust  geschossen!  Möge 
das  ein  gutes  Vorzeichen  für  die  Stadt  Hoerde  sein.  Die  große  Mehrheit  des 
freien  Bürgerthums  wird  dem  Minister  ebenso  wenig  eine  Thrane  nachweinen, 
wie  dem  Werk,  mit  dein  er  stehen  und  fallen  wollte.  Er  ist  gefallen,  „und 
seine  Werke  folgen  ihm  nach".  Diese  unerwartete  Wendung  wird  in  der 
ganzen  culturfreundlichen  Welt  als  ein  erlösendes  Ereignis  freudig  begrüßt 
werden.  Als  Cultus-  und  Unterrichtsminister  war  dieser  ehemalige  Rittmeister 
ein  Anachronismus  der  schlimmsten  Art.  Er  war  kein  Frömmler  ä  la  Mühler, 
er  spielte  sich  auf  den  Politiker  hinaus,  der  die  Übel  der  Gegenwart  mit  den 
veralteten  Mitteln  und  den  verrosteten  Waffen  einer  längst  überwundenen 
Epoche  heilen  zu  können  wähnte.  Er  suchte  die  Bundesgenossenschaft  einer 
Nacht  —  schreibt  treffend  die  Frankf.  Ztg.  —  die  stets  für  die  Hilfe,  die 
man  von  ihr  öfter  erwartete  als  erhielt,  als  Preis  die  Herrschaft  gefordert  hat, 
einer  Macht,  für  die  jedes  Bündnis  nur  eine  societas  leonina  ist,  wie  sie  uns 
die  alte  Äsopische  Fabel  vom  jagenden  Löwen  schildert.  Er  täuschte  sich, 
als  er  der  Kirche  die  ganze  Hand  reichte,  nicht  nur  über  die  Bedeutung  dieser 
Politik,  sondern  vor  allen  Dingen  auch  über  ihre  Wirkung  auf  die  Geister. 
Er  wollte  einen  Kampf  gegen  den  „Atheismus"  führen,  die  Waffe  aber,  die  er 
enthüllte,  war  gegen  die  moderne  Weltanschauung,  gegen  die  geistigen  und 
politischen  Errungenschaften  des  Jahrhunderts  gerichtet,  und  der  Geist  des 
Jahrhunderts  war  es,  der  gegen  ihn  aufstehen  musste  und  in  entschlossenster 
Weise  wirklich  auch  sich  gegen  ihn  erhob.  Der  jähe  Sturz  des  Ministers  ist 
geeignet,  auf  der  einen  Seite  Hoffhungen,  die  bereits  aufgegeben  waren,  neu 


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zn  beleben,  auf  der  andern  Seite  aber  eine  Überhebung  und  einen  Übornruth 
zu  Btrafen,  die  sich  schon  vermaßen,  der  Nation  den  Fuß  auf  den  Nacken 

setzen  zu  können.  

Nach  dem  Artikel  27  der  Verfassung  für  die  preußische  Monarchie  hat 
jeder  Preuße  das  Recht,  durch  Wort,  Schrift  und  Druck  und  bild- 
liche Darstellung  seine  Meinung  frei  zu  äußern.    Dieses  verfassungs- 
mäßig garantirte  Recht,  das  zu  den  wertvollsten  eines  freien  Bürgers  gehört, 
steht  auch  dem  Lehrer  in  dem  gleichen  Maße  zu  wie  jedem  andern  Staats- 
bürger, und  die  Lehrer  begingen  das  schwerste  Unrecht  gegen  ihren  Stand, 
wenn  sie  sich,  durch  wen  es  auch  immer  sei,  dieses  Recht  nehmen  oder  ver- 
kümmern lassen  wollten.    Sofern  sie  in  ihrer  schriftstellerischen  Thätigkeit 
nicht  gegen  das  Pressgesetz  oder  andere  zu  Recht  bestehende  Verordnungen 
verstoßen,  hat  ihnen  niemand  darein  zu  reden,  haben  sie  niemandem  Rede  und 
Antwort  über  diese  Th&tigkeit  zu  stehen.  Der  §  104  des  Gesetzes  betreffend 
die  Dienstvergehender  nichtrichterlichen  Beamten  vom  21.  Juli  1852  bestimmt 
ausdrücklich,  dass  der  Beamte  in  seinen  Privatangelegenheiten  „nach  eben  den 
Gesetzen  und  Rechten  wie  andere  Bürger  des  Staates  beurtheilt"  werden  soll. 
Und  eine  Entscheidung  des  Oberverwaltungsgerichtes  vom  20.  Dezember  1886 
besagt:    „Der  Beruf  der  Unterthanen,  die  Krone  durch  die  von  ihnen  durch 
das  Mittel  der  Wahl  in  die  legislativen  Körperschaften  entsandten  Vertrauens- 
personen in  den  wichtigsten  Acten  der  Gesetzgebung  und  Staatsverwaltung 
fortgesetzt  zu  berathen,  führt  mit  Noth wendigkeit  zur  Bildung  politischer 
Parteien  und  zu  ihrer  Thätigkeit  in  der  Presse,  in  Versammlungen  und  Ver- 
einen, die  dazu  dient  über  die  Tagesfragen  der  Politik  zu  belehren,  Gleich- 
gesinnte zu  sammeln,  Fernstehende  heranzuziehen  und  zu  überzeugen.  Zu 
solcher  Thätigkeit  sind  auch  die  Staatsbeamten,  unmittelbare  wie  mittel- 
bare, berufen.    Kein  Gesetz,  keine  Norm  der  Dienstpragmatik  schließt  sie 
grundsätzlich  und  allgemein  davon  aus."   Dass  sie  sich  an  einem  politischen 
Treiben  von  Parteien  betheiligen,  welche  grundsätzlich  gegen  die  be- 
stehende Rechts-  und  Staatsordnung  kämpfen,  sei  mit  der  Stellung 
der  Beamten  nicht  verträglich.  Auch  dürfen  sie  nicht  die  Pflicht  der  rück- 
sichtsvollen Achtung  gegen  die  Vertreter  der  Staatsbehörde  verletzen  und  sich 
zu  ungerechten,  unwahren  Behauptungen  und  Angriffen  verleiten  lassen,  sowie 
das  Vertrauen  zu  einer  sachlichen  und  gerechten  Führung  des  anvertrauten 
Amtes  in  Frage  stellen. 

Nun  betrachte  man  im  Lichte  dieser  gesetzlichen  Bestimmungen  die  nach- 
folgende Verfugung  der  Königl.  Regierung  zu  Arnsberg  vom  26.  Januar  1892, 
die  folgenden  Wortlaut  hat: 

„Wie  in  der  letzten  Zeit  zu  unserer  Kenntnis  gekommen  ist,  befasst 
sich  eine  nicht  unerhebliche  Zahl  von  Lehrern  unsere  Aulsichtskreises  mit 
einer  mehr  oder  weniger  fortlaufenden  Mitwirkung  an  der  Tagespresse. 
Dass  eine  derartige  Thätigkeit  als  eine  nebenamtliche  Beschäftigung  im 
Sinne  der  bestehenden  Bestimmung  anzusehen  ist,  kann  um  so  weniger 
zweifelhaft  sein,  als  sie,  wie  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt  und  in 
mehreren  der  in  Betracht  kommenden  Fälle  auch  zugegeben  worden  ist,  der 
Regel  nach  gegen  ein  entsprechendes  Entgelt,  sei  es  durch  Barzahlung,  sei 
es  in  anderer  Weise,  geübt  wird.  —  Nach  dieser  Richtung  hin  bestimmt 
die  Allerhöchste  Cabinetsordre  vom  13.  Juli  1839,  dass  kein  Staatsbeamter 


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eine  mit  einer  besondern  Vergütung  verbundene  Nebenbeschäftigung  ohne 
die  Genehmigung  seiner  vorgesetzten  Behörde  übernehmen  darf,  und  der 
Ministerialerlas8  vom  31.  October  1841  besagt,  dass  den  Lehrern  nur  die 
Übernahme  solcher  Nebenbeschäftigungen  gestattet  werden  soll,  deren  Aus- 
richtung dem  Amte  und  der  Würde  eines  Lehrers  keinen  Eintrag  thut  und 
ihn  seinem  nächsten  Berufe  nicht  entfremdet.  —  Je  weniger  es  nun  in 
unserer  Absicht  liegen  kann,  den  Lehrern  die  Erörterung  fachmännischer 
Fragen  oder  die  Mittheilung  belangreicher  Wahrnehmungen  und  Erfahrungen 
in  den  einschlägigen  Blättern  zu  versagen  oder  ihnen  die  Mitwirkung  an 
der  Hebung  vaterländischer  und  religiöser  Gesinnung  zu  verschränken,  um 
so  entschiedener  wird  der  nebenamtlichen  Thätigkeit  eines  jeden  Staats- 
beamten dann  entgegenzutreten  sein,  wenn  diese  sich  entweder  in  einen 
auggesprochenen  Gegensatz  zu  den  vorgedachten  Bestrebungen  stellt,  oder 
ausschließlich  auf  die  Herbeischaffung  und  Ausbeutung  von  Tagesneuigkeiten 
abzielt  und  sich  zu  diesem  Behufe  auf  die  Anwendung  von  Mitteln  an- 
gewiesen  sieht,  die  ebenso  wenig  mit  dem  Amte,  wie  mit  der  gesammten 
Stellung  eines  Lehrers  vereinbar  sind." 

Dass  diese  Verfügung  in  der  unabhängigen  Fresse  nicht  gerade  in 
schmeichelhafter  Weise  beurtheilt  wurde,  kann  man  sich  denken.  So  schrieb 
u.  a.  die  Köln.  Ztg.,  das  hervorragendste  Organ  der  nationalliberalen  Partei: 
„In  unseren  Tagen,  wo  die  Empfindungen  des  preußischen  Lehrerstandes  durch 
das  neue  Volksschulgesetz  aufs  höchste  in  Mitleidenschaft  gezogen  und  erregt 
sind,  sollten  wenigstens  keine  Verfügungen  erlassen  werden,  die  in  Lehrer- 
kreisen peinlich  berühren  und  vielleicht  Erbitterung  hervorrufen  werden. 
Man  sollte  auch  den  Schein  vermeiden,  als  wolle  man  den  Lehrern  durch  Ein- 
schüchterungsversuche das  Recht  der  freien  Meinungsäußerung  verkümmern. 
Hält  man  aber  diese  Verfügung  mit  derjenigen  des  Begierungspräsidenten  zu 
Frankfurt  a.  d.  0.  zusammen,  so  drängt  sich  der  Argwohn  auf,  als  versuche 
man,  die  Erregung  der  Lehrerkreise  aus  der  großen  Öffentlichkeit  in  die  Brust 
des  armen  Lehrers  zurückzudrängen,  in  die  ja  die  Schulvorlage  auch  den 
Kampf  zwischen  Staat  und  Kirche  verlegt.  Grundsätzlich  können  wir  nicht 
anerkennen,  dass  die  Mitarbeit  an  der  Tagespresse  mit  der  Würde  des 
Lehrers  unvereinbar  sei;  die  Verfügung  legt  die  Empfindung  nahe,  dass  diese 
Mitarbeit  nur  dann  als  zulässig  betrachtet  werden  soll,  wenn  sie  sich  allerdings 
über  die  Nachrichten  erhebt,  aber  auch  im  Einklang  mit  den  wechselnden 
Anschauungen  der  jeweiligen  Begierungspolitik  steht" 

Die  Wurde  und  das  Ansehen  des  Lehrerstandes  an  ihrem  Theile  mit 
wahren  zu  helfen,  das  ist  nicht  nur  das  unbestreitbare  Recht  der  Regierung, 
sondern  es  ist  auch  zugleich  ihre  Pflicht,  und  zwar  eine  schöne  und  ehren- 
volle Pflicht  Die  Würde  und  das  Ansehen  des  Lehrerstandes  aber  dadurch 
heben  zu  wollen,  dass  man  den  Lehrern  die  Mitarbeit  an  der  Presse  ver- 
schränkt ,  das  heißt  nach  unserer  bescheidenen  Ansicht ,  das  Pferd  beim 
Schweife  aufzäumen.  Warum  bedienen  sehr  viele  Lehrer  die  Zeitungen  mit 
Tagesneuigkeiten  ?  „Um  dieselben  in  ihrem  Interesse  auszubeuten,  um  Bai  - 
zahlungen oder  sonst  Vergütungen  dafür  zu  erhalten",  sagt  die  Regierung; 
und  es  ist  ohne  weiteres  zuzugeben,  dass  sie  im  allgemeinen  damit  auf  richtiger 
Fährte  ist.  Aber  wir  können  in  der  That  nicht  begreifen,  warum  das  keine 
ehrliche  Arbeit  sein  soll,  der  man  das  Kainszeichen  der  Nichtwolanetändigkeit 


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auf  die  Stirn  drücken  müsste.  Es  erscheint  noch  immer  viel  ehrenvoller  für 
die  bei  ihrem  kärglichen  Gehalte  darbenden  Lehrer,  wenn  sie  sich  durch  ehr- 
liche Arbeit  und  deren  Ertragnisse  über  Wasser  zu  halten  suchen,  als  wenn 
sie  in  Schulden  untergehen.  Wenn  aber  die  Regierung  die  Wahrnehmung  zu 
machen  glaubt,  dass  im  Arnsberger  Bezirke  gerade  verhältnismäßig  viele 
Lehrer  an  den  Tagesblättern  um  des  Erwerbs  willen  mitarbeiten ,  so  können 
wir  ihr  nur  den  Rath  geben,  an  ihre  eigene  Brust  zu  schlagen  und  aus- 
zurufen: Mea  culpa!  Warum  gebraucht  sie  ihren  Einflnss  auf  die  Gemeinden 
nicht,  damit  diese  die  durchweg  unzulänglichen  Gehälter,  besonders  unzuläng- 
lich in  dem  industriereichen  Arnsberger  Bezirke,  zeitgemäß  aufbessern?  Aber 
jeder  Schreiber  und  Zeichner,  jeder  Eisenbahnbeamte  mit  noch  so  geringe) 
Bildung  steht  sich  ungleich  besser  als  die  Lehrer;  und  mit  verschränkten 
Armen  sieht  die  Regierung  solchen  himmelschreienden  Zuständen  zu.  Von 
Regierungsverfugungen ,  wie  der  obigen,  kann  schließlich  ein  Lehrer  seine 
Familie,  die  doch  auch,  sozusagen,  menschliche  Bedürfnisse  hat,  nicht  sättigen. 
Den  Lehrern  die  Erwerbsquellen  abgraben,  heißt  weder  sein  Ansehen  und 
seine  Würde  heben,  noch  „praktisches  Christentum"  treiben.  Nur  wer  zum 
Zweck  der  Hebung  der  religiösen  und  vaterländischen  Gesinnung  seine  Feder 
gebraucht,  der  soll  unbehelligt  weiter  schreiben  können.  Da  sind  sie  alle 
fein  heraus,  die  „  Gesinnungstüchtigen "  und  Leisetreter,  die  in  allem,  was  sie 
sprechen  und  schreiben,  genau  den  goüt  ihrer  jeweiligen  Vorgesetzten  zu 
treffen  wissen.  Die  vaterländische  Gesinnung  wird  in  den  amtlichen  Kreis- 
blättern, und  die  religiöse  in  den  Gemeindeblättchen  der  Herren  Pfarrer  cul- 
tivirt,  und  wenn  es  gerade  einmal  eilt,  so  hat  der  geistliche  Schulinspector 
auch  nichts  dagegen,  dass  der  gewünschte  Artikel  während  der  Unterrichts- 
zeit entsteht;  den  Kindern  thun  dann  und  wann  „stille  Denkübungen"  auch 
einmal  gut,  denn  viel  Wissen  macht  den  Leib  müde.  Auch  diese  Verfügung 
brachte  der  Abgeordnete  Rickert  im  Landtage  zur  Sprache,  indem  er  zugleich 
die  Frage  an  den  Minister  richtete,  ob  er  damit  einverstanden  sei,  dass  die 
Lehrer  wie  Schuljungen  behandelt  würden.  Der  Minister  erwiderte  darauf: 
Es  hat  sich  herausgestellt,  dass  Lehrer  vielfach  ihre  Hauptthätigkeit  in  den 
Arbeiten  für  die  Presse  gesehen  haben,  ein  Lehrer  war  sogar  Chefredacteur 
einer  Zeitung.  Die  Sache  ist  reparirt,  da  die  Regierung  selbst  eingesehen, 
dass  sie  sich  vergriffen  hat.  Dagegen  kann  man  die  Tendenz  durchaus  nicht 
missbilligen,  insofern  die  excentrische  und  agitatorische  Theilnahme  der  Lehrer 
an  der  Presse  eine  Gefährdung  derselben  bezüglich  ihres  Berufes  zur  Folge 
hat.  Es  ist  eine  große  Gefahr  für  die  Lehrer,  sich  in  das  politische  Partei- 
getriebe hineinzubegeben. 

Man  beachte  den  Gegensatz,  der  darin  liegt,  dass  die  Regierung  den 
Nachdruck  auf  die  dem  Lehrer  aus  seiner  Mitarbeit  an  der  Presse  zu- 
fließenden Einnahmen  legt  und  darin  das  Bedenkliche  erblickt,  während  der 
Minister  diese  Auffassung  als  unhaltbar  verwirft  und  vor  dem  agitatorischen 
Wirken  im  Interesse  politischer  Parteien  warnt.  Dass  aber  diese  Warnung 
berechtigt  wäre  in  Ansehung  der  westfälischen  oder  Arnsberger  Lehrer  und 
deren  Verhalten,  wird  jeder,  der  die  diesseitigen  Verhältnisse  kennt,  rundweg 
verneinen;  sie  sollte  auch  wol  nur  die  Niederlage  nothdürftig  verhüllen,  die 
sieb  die  Regierung  in  ihrem  übel  angebrachten  Eifer  verursacht  hatte. 


Pädagogium.    14.  Jahrg.    H«ft  VII.  32 


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Das  „Protestantische  Familienblatt"  von  Dr.  Riebard  Weitbrecht  (Ver- 
lag von  Carl  Classen  in  Stattgart)  enthält  folgende  Betrachtungen:  „Dank- 
bare Polen  hat  es  in  der  Weltgeschichte  bekanntlich  noch  nie  gegeben. 
Auch  die  von  heute  sind's  nicht.  Da  hat  die  Regierung  den  polnischen  Chau- 
vinisten v.  Stablewski  zum  Erzbischof  von  Posen  ernannt.  Die  deutschen  ka- 
tholischen Lehrer,  welche  die  Regierung  vor  einigen  Jahren  aus  dem  Innern 
des  Reichs  nach  Posen  und  Westpreußen  versetzte,  um  dort  einen  Schutz  des 
Deutschthums  zu  bilden,  müssen  wieder  in  ihre  Heimat  zurück  —  wenigstens 
wurde  ihnen  die  300  11k.  betragende  Jahreszulage  gestrichen  —  und  die 
edlen  Polen  haben  nun  freien  Lauf,  in  Schule  und  Kirche  ihr  Polenthum, 
voran  die  polnische  Sprache,  nicht  etwa  blos  zu  erhalten,  sondern  mit  aller 
Macht  auszubreiten,  wobei  sie  von  den  Römlingen  deutschen  Stammes  bereit- 
willigst unterstützt  werden,  vermöge  jener  Verquickung  von  reichsfeindlichen 
und  ultramontanen  Bestrebungen,  wie  sie  z.  B.  auch  in  Elsass-Lothringen  vor- 
handen ist  und  dort  ebenfalls  lange  Zeit  gehätschelt  wurde.  Und  der  Dank 
dafür?  Während  sich  der  Deutschen  jener  Gegenden  die  tiefste  Nieder- 
geschlagenheit bemächtigt  hat,  bezeichnen  die  Polen  all  das  ruhig  als  kleine 
Abschlagszahlung,  schicken  für  die  Ernennung  Stablewski's,  in  dessen  Em- 
pfangsausschuss  beiläufig  nicht  ein  einziger  Deutscher  gewählt  wurde,  eine 
Danksagung  nicht  etwa  an  den  Kaiser,  sondern  an  den  Papst,  und  freuen 
sich  unbändig  auf  den  nächsten  Krieg,  der,  mag's  gehen  wie  es  will,  ihnen 
nach  ihrer  Meinung  Gelegenheit  zu  polnischen  Thaten  geben  wird.  Am  päpst- 
lichen Segen  wird  es  ihnen  dann  in  keinem  Fall  fehlen,  am  wenigsten,  wenn 
sie  das  „deutsche  Joch"  abschütteln  könnten. 


Eine  Mädchen  -  Erziehungs-nsta.r.  n  N.,  1ji  Stunde  von  Bad  S.. 
schaut  von  einer  terrassenartig  ansteigenden  Höhe  ein  braunes,  heiter  und 
etwas  luttig  aussehendes  Gebäude  über  die  Vorberge  des  Taunus  hinweg. 
Das  ist  ein  „ Pensionat u,  ein  „Institut",  eine  Erziehungsanstalt  für  Mädchen, 
hatte  man  mir  gesagt,  als  ich  vor  einigen  Jahren  vorbeiBchlenderte.  Es 
solle  da  anders  zugehen,  als  in  den  meisten  Instituten,  und  es  werde  viel 
davon  gesprochen.  Die  Leiterin  der  Anstalt  sei  Fräulein  H.,  eine  Tochter 
des  ehemaligen  Professors  H.  in  Gießen.  Bestimmtes  über  die  Einrichtung  der 
Anstalt,  über  die  Art  und  Weise  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  konnte 
ich  nicht  erfahren.  Erst  später  hatte  ich  Gelegenheit,  auf  Einladung  eines 
Freundes,  der  der  Anstalt  vier  Töchter  zur  Erziehung  anvertraut  hat,  einer 
Halbjahrs- Prüfung  beizuwohnen. 

Herr  R.,  welcher  die  äußeren  Angelegenheiten  der  Anstalt  besorgt,  empfing 
mich  aufs  freundlichste.  Ich  war  um  zwei  Stunden  zn  früh  gekommen.  Dank- 
bar nahm  ich  die  Einladung  an,  bis  zum  Beginn  der  Prüfung  in  der  Anstalt 
zu  verweilen.  —  Einige  40  Mädchen  im  Alter  von  8  bis  18  Jahren  werden 
hier  erzogen.  Die  jüngeren  Zöglinge  kommen  nicht  selten  direct  ans  den  Fa- 
milien, die  älteren  aus  den  verschiedensten  Schulen  und  Instituten,  wo  manche 
bereits  den  ganzen  lehrplanmäßigen  Cursus  durchgemacht  haben.  Sie  ver- 
bleiben in  der  Anstalt  je  nach  dem  Alter,  in  welchem  sie  eingetreten,  ein  Jahr 
oder  auch  5  und  6  Jahre.  Die  meisten  Mädchen  stammen  natürlich  aus  Deutsch- 
land; aber  auch  aus  England,  Frankreich,  der  Schweiz,  Rumänien  sind  mehrere 


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da,  und  wird  deshalb  deutsch,  englisch  und  französisch  gesprochen  und  gelehrt. 
Man  kann  sich  die  Verschiedenheit  der  Zöglinge  kaum  noch  größer  denken. 
Da  ist  es  nun  wunderbar,  dass  alle  diese  Mädchen  nicht  in  gesonderten  Ab- 
theilungen (Classen)  von  mehreren  Lehrerinnen  und  Lehrern,  sondern  insgesammt 
von  Fräulein  H.  allein  unterrichtet  und  erzogen  werden.  Nur  für  Sprachen, 
Gesang  und  Cla vierspiel,  Zeichnen  und  Malen,  überhaupt  für  die  sogenannten 
technischen  Fächer  kommen  Hilfslehrer  aus  der  Umgegend. 

Während  so  Herr  R.  alles,  was  mir  neu  oder  doch  ungewöhnlich  war, 
bereitwilligst  beschrieb  und  erklärte,  ging  plötzlich  neben  mir  die  Thür  auf 
und  etwas  stürmisch  trat  eine  alte,  sehr  einfach  gekleidete  Dame  ein.  Ich 
hatte  kaum  Zeit  aufzustehen  und  das  „Fräulein  H.u  des  Herrn  R.  zn  vernehmen. 
Sie  fasste  mich  bei  beiden  Händen,  und  in  der  freundlichsten,  liebenswürdigsten 
Weise  begrüßte  sie  mich  wie  einen  alten  Bekannten,  den  man  seit  langer  Zeit 
nicht  gesehen.  „0,  ich  habe  große  Angst  vor  Ihnen  —  Sie  sollen  so  strenge 
sein  —  bei  mir  ist  so  wenig,  was  die  Welt  interessiren  kann,  —  aber  Sie 
sehen  ja  gar  nicht  so  schlimm  aus."  Damit  erhob  sie  ihre  Lorgnette  mit 
schwarzer,  ungemein  breiter  und  dicker  Horneinfassung,  hielt  sie  mir  ganz 
dicht  vor  die  Augen,  schaute  mehrere  Secunden  schweigend,  als  wollte  sie  das 
Innere  meines  Kopfes  ergründen,  wandte  sich  dann  ab,  setzte  sich  auf  einen 
Stuhl  und  zog  mich  nieder  auf  einen  andern. 

Nun  begann  eine  äußerst  lebhafte  Unterhaltung.    Unsere  Anstalt  —  so 
ungefähr  antwortete  mir  Fräulein  H.  in  heiterstem  Tone  anf  die  Fragen,  die 
ich  mir  erlaubte  —  ist  kein  Institut,  kein  Pensionat,  keine  Familie,  aber  alles 
zusammen,  am  meisten  eine  Familie.    In  gesunden  Körpern  gesonde  Seelen  za 
entwickeln,  ist  das  Endziel,  dem  hier  alles  dient.   Wir  bemühen  uns,  die  Zög- 
linge zu  eigener  Thätigkeit  anzuspornen,  an  eigenes  Denken  zu  gewöhnen. 
Nicht  gelehrte,  sondern  allgemein  gebildete,  liebevolle,  verständige,  thätige  und 
heitere  Frauen  braucht  die  Welt.    Für  das  Haus,  für  die  Familie  werden  sie 
erzogen,  gleichviel,  ob  es  ihnen  beschieden  wird  oder  nicht,  selbst  eine  Familie 
zu  gründen;  häusliche  Tugenden  zu  bethätigen  sind  sie  doch  alle  berufen.  Und 
darin  werden  sie  täglich  geübt,  werden  znr  Sorge  für  andere  und  zur  Ordnung 
angehalten,  die  sie  selbst  zu  erhalten  haben.    In  diesem  Sinne  geschieht  es, 
dass  sie  sich  in  die  verschiedenen  Pflichten  des  Haushaltes  theilen  und  darin 
abwechselnd  üben.    Für  die  kleineren  Kinder  haben  die  älteren  Mädchen 
mütterlich  zu  sorgen.    Gepflegt,  gekleidet,  beim  Spiel  und  bei  der  Arbeit  be- 
aufsichtigt werden  die  Kleinen  nicht  von  den  Dienstboten,  sondern,  wie  in 
wolgeordneten  Familien  von  treuen  Schwestern,  so  hier  von  ihren  älteren  Mit- 
schülerinnen.   Ohne  mein  Wissen  und  Wollen,  weder  aus  Laune  noch  unver- 
ständiger Liebe,  darf  auch  nur  das  Geringste  eigenmächtig  verfügt  werden. 
So  besorge  ich  eigentlich  die  Kleinsten,  aber  ich  besorge  sie  durch  die  Größeren, 
damit  diese  es  richtig  thun  lernen.    In  dem  gleichen  Sinne  wie  die  Kleinen 
werden  die  Großen  erzogen  —  alle  bilden  ja  bei  mir  eine  einzige  Familie. 
Aber  je  entschiedener  mit  den  zunehmenden  Jahren  die  Charakteranlagen  sich 
ausprägen,  um  so  nöthiger  wird  es,  an  der  Stelle  instinctiver  Impulse  eine 
'lenkende  und  verbindende  Fürsorge  walten  zu  lassen.    Es  ist  nicht  einerlei, 
welche  Schülerinnen  sich  zu  einander  hingezogen  fühlen.  Da  Mädchen  in  diesem 
Alter  mehr  einem  allgemeinen  Bedürfnisse  des  freundschaftlichen  Anschlusses 
folgen,  als  wirklich  individuelle  Zuneigungen  empfinden,  so  kann  und  muss 

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man  ihre  Gefühle  auf  den  passenden  Gegenstand  zu  lenken  suchen,  solche  ein- 
ander näher  bringen,  die  sich  wolthätig  zu  ergänzen  geeignet  sind,  und  die 
so  gebildeten  kleinen  Gruppen  dabei  mit  dem  großen  Ganzen  in  lebendiger  Be- 
rührung erhalten.  Ein  überschwängliches  Gefühl  darf  nie  die  Pflichten  gegen 
andere  in  den  Hintergrand  zurückdrängen;  der  überall  schädliche  Egoismus  ist 
auch  in  dieser  Form  zu  bekämpfen.  Nur  dadurch  lässt  sich  die  Bildung  von 
Cliquen  und  Coterien,  das  Aufkommen  kleinlicher  Intriguen  und  gehässiger 
Klatschsucht  verhüten;  nur  so  kann  in  der  Gesammtheit,  zum  Glück  und  Wol 
jeder  einzelnen ,  eine  Gemeinsamkeit  ernster  Arbeit  und  freudigen  Strebens 
bestehen  hleiben. 

In  den  höheren  Mädchenschulen,  bemerkte  ich,  ist  die  Neigung,  Cliquen 
und  Coterien  zu  bilden,  eine  höchst  auffällige  Erscheinung.  Es  gibt  da  Cliquen 
nach  dem  Stande,  nach  den  socialen  Verhältnissen  der  Eltern,  nach  den  Con- 
fessionen,  die  einen  Verkehr  miteinander  nur  auf  das  Geschäftliche  —  möchte 
man  sagen  —  beschränken.  Sie  werden  jedenfalls  begünstigt  und  gefördert 
durch  die  Schülerinnen  -  Kränzchen  mit  Kuchen,  Kaffee,  Wein,  Tänzchen  und 
Maskeraden,  wie  sie  jetzt  Mode  sind  und  gegen  die  vor  einigen  Jahren  ein  er- 
fahrener Schuldirector  alle  guten  Mütter  aufrief. 

„Wol  vergebens ",  meinte  Fräulein  H.  „Sie  wissen  nicht,  was  alles  in 
diesen  Kränzchen  und  den  anhängenden  Cliquen  vorkommt.  Mädchen,  welche 
an  solchen  theilgenommen,  sind  für  eine  Anstalt  die  größte  Gefahr;  sie  sind 
nicht  selten  so  in  den  Grund  verdorben,  dass  wir  sie  möglichst  schnell  ent- 
fernen  müssen." 

„Aber  ist  es  nicht  traurig,  solche  Mädchen  hinauszustoßen?  Bei  Ihnen 
war  vielleicht  der  einzige  Platz,  wo  sie  noch  gut  werden  konnten. M 

„Ja,  es  ist  traurig,  und  nur  um  die  übrigen  Zöglinge  vor  gewissen  Ge- 
fahren zu  schützen,  entschließen  wir  uns  zu  diesem  äußersten  Schritte.  Aber 
eine  Erziehungsanstalt  ist  doch  keine  Besserungsanstalt." 

r  Nehmen  Sie  in  solchen  Fällen  nicht  die  Hilfe  der  Eltern,  namentlich  der 
Mütter  in  Anspruch?"  —  „Ich  thue  es  leider  fast  immer  ohne  den  gewünsch- 
ten Erfolg.  Übrigens  haben  meine  Erfahrungen  mich  zu  dem  Grundsatze  ge- 
führt, von  meinen  Zöglingen  jede  Mitwirkung,  jeden  Einflusa  der  Eltern  fern- 
zuhalten.   Entweder  man  vertraut  mir  die  Kinder  ganz  oder  gar  nicht." 

Von  den  Müttern  kamen  wir  auf  die  Erziehung  in  der  Familie,  auf  die 
Kindergärten,  ihre  Begründer  und  ersten  Apostel,  denen  Fräulein  H.  zum  Theil 
persönlich  nahe  gestanden,  auf  die  Gegner  und  die  geistlosen  mechanisirenden 
Epigonen  und  manches  andere.  Aber  die  für  mich  sehr  lehrreiche  Unter- 
haltung musste  abgebrochen  werden;  denn  die  Stunde  der  Prüfung  war  heran- 
gerückt. 

In  einem  hellen  Saale  des  ersten  Stockes  hatten  Herren  und  Damen  aus 
der  Umgegend  Platz  genommen.  Die  Ausstattung  des  Saales  war  sehr  einfach; 
ein  Fest  schienen  nur  einige  Blumensträuße  auf  dem  Katheder  andeuten  zu 
sollen.  Die  Mädchen  wurden  nicht  wie  eine  Compagnie  Soldaten  in  den  Saal 
geführt.  Unbefangen  und  ungeordnet  kamen  sie  herein,  die  kleinen  und  die 
großen,  schoben  die  aus  dem  anstoßenden  Saale  mitgebrachten  Stühle  mit  ziem- 
lichem Geräusche  hin  und  her,  bis  alle  in  leidlicher  Ordnung  bequem  sitzen 
konnten. 

Hier  gibt's  also  weder  lange  B8nke,  noch  „wissenschaftlich"  ausgektinstelte, 


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an  die  Zwangsstühle  in  Zucht-  und  Irrenhäusern  erinnernde  Bank-  und  Tisch- 
aysteme,  in  denen  zwei  oder  vier  nebeneinander  gesteckte  Kinder  sich  wahrend 
des  allergrößten  Theiles  ihres  Lebens  nur  vorsichtig  rühren  und  wenden,  heben 
and  setzen  können.  Also  auch  deutsche  Kinder  darf  man,  wie  längst  die  ame- 
rikanischen, ohne  Schaden  für  die  körperliche  und  religiössittliche  Erziehung 
auf  ganz  gewöhnlichen,  billigen  Stühlen  während  des  Unterrichts  sitzen  lassen. 
Allerdings  saßen  die  Mädchen  auch  nicht  wie  die  Automaten  mit  zweimal 
genau  rechtwinklig  geknicktem  Körper  mit  aneinander  geklemmten  Gliedern  und 
senkrecht  aufgesetztem  Kopfe.  —  Nur  wenige  der  größeren  Mädchen  hatten 
zu  der  Prüfung  „Toilette  gemacht";  die  meisten  waren  offenbar  in  den  ein- 
fachsten Alltagskleidern  erschienen.  Kein  Mädchen  hatte  es  anständig  gefunden, 
sich  mit  einem  Sattel  unter  dem  Rocke  lächerlich  zu  machen,  und  keins  hatte 
mit  einem  Schnürleibchen  eine  „Büste"  im  Geschmack  der  Schneidergesellen 
und  Puppenkünstler  geformt. 

Fräulein  H.  trat  dicht  zu  den  Mädchen,  musterte  sie  aufmerksam  durch 
die  Lorgnette,  und  die  Prüfung  begann.  Von  der  eisigen  Behringsstraße, 
welche  Asien  und  Amerika  auseinander  hält,  ging  es  mit  Fragen  und  Antworten 
über  die  Ströme  und  Gebirge  der  neuen  Welt  bis  zum  Meer,  dann  flugs  nach 
dem  alten  Europa  und  hier  in  allerlei  Kreuz-  und  Querzügen  durch  Griechen- 
land, Italien,  das  alte  Rom,  durch  Frankreich,  England,  die  Schweiz,  Deutsch- 
land. Länder,  Städte  und  Völker,  die  in  den  Antworten  erschienen,  wurden 
geschickt  zu  Anknüpfungspunkten  für  die  Geschichte  und  Literatur  aller  Zeiten 
benutzt.  Die  Mädchen  gaben  mit  genauen  Zeitzahlen  Auskunft  über  die  Tar- 
quine  und  Julius  Cäsar,  über  Perikles  und  die  Paläologen,  über  Philipp  den 
Schönen  und  das  Zeitalter  Ludwig  IV.,  über  die  Angelsachsen  und  Heinrich  VIII., 
über  Wilhelm  Teil  und  Karl  von  Burgund,  über  Dietrich  von  Bern  und  die 
Gudrun,  über  die  Helden  und  Heldinnen  der  Nibelungen,  über  die  Reformatoren 
und  die  Hohenzollern,  über  Katharina  von  Medici  und  Elisabeth  von  England, 
übeT  Portia,  die  Gemahlin  des  Brntus,  und  Gertrud,  Stauffacher's  Gattin.  Ein 
Vergleich  ergab,  dass  die  deutsche  Frau  in  Schiller's  „Wilhelm  Teil"  viel 
gröüer  erscheine,  weit  höher  stehe,  als  die  römische  Frau  in  Shakespeare's 
Drama.  Das  Gespräch  der  Gertrud  mit  Stauffacher  wurde  von  zwei  Mädchen 
vor  getragen,  und  mit  erhobener  Stimme,  mit  feierlichem  Nachdruck  wiederholte 
die  Erzieherin  die  Verse: 

„Die  letzte  Wahl  steht  auch  dem  Schwächsten  oft'cu. 
Ein  Sprung  von  dieser  Brücke  macht  mich  frei." 

So  ging  es  in  freundlicher,  niemals  stockender  Unterhaltung  bis  nahezu 
iya6  Uhr.  Niemand  war  ermüdet,  am  wenigsten  die  alte  Dame,  die  keinen 
Augenblick  gesessen  nnd  sich  nur  manchmal  auf  eines  der  größeren  Mädchen 
gestützt  hatte. 

Das  war  eine  merkwürdige  Prüfung.  Der  systematisch  geschulte  Päda- 
goge, der  strenge  Unterrichtstechniker  hätte  vieles  an  den  Fragen  und  Ant- 
worten auszusetzen  gehabt;  aber  das  Ganze  und  der  Geist,  der  es  durchwehte, 
selbst  das  Wissen,  das  in  den  Antworten  der  Mädchen  zu  Tage  trat,  konnte 
jeden  befriedigen.  Wie  die  alte  Dame  die  mehr  denn  40  Mädchen  in  der 
Weise  zu  unterrichten  und  zu  erziehen  vermag,  wie  es  die  Prüfung  darthat, 
ist  mir  nicht  klar.  In  einem  zwar  gedruckten,  aber  nicht  veröffentlichten  Pro- 


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specte  wird  gesagt,  die  Zöglinge  müssen  den  Stoff,  welcher  in  der  Lehrstunde 
vorgetragen  und  durch  Kreuz-  und  Querfragen  vielseitig  beleuchtet  worden, 
selbstständig  verarbeiten  und  zwar  gruppenweise,  in  einer  Gemeinsamkeit  der  An- 
strengung und  gegenseitigen  Anregnng,  wobei  die  alteren  Mädchen  als  Lehr- 
gehilfinnen die  jüngeren  unterstützen  und  leiten.  Das  klingt  sehr  einfach.  Aber 
um  diese  Methode  (die  übrigens  anftällig  an  Pestalozzis  Schule  in  Stenz 
erinnert)  vollständig  verstehen  und  würdigen  zu  können,  würde  auch  der  er- 
fahrene Pädagoge  eine  längere  Beobachtung  nöthig  haben. 

Zum  Schlüsse  wurden  die  hübschen  Zeichnungen  und  Handarbeiten  be- 
sehen und  von  den  Mädchen  einige  mehrstimmige  Lieder  gesungen.  Nach  einem 
guten  Imbiss  durften  die  Mädchen  tanzen. 

Man  darf  wol  annehmen,  dass,  wenn  irgendwo  und  irgendwann  der  Er- 
folg entscheidet,  er  über  Erziehung  und  Unterricht  das  letzte  Wort  hat.  Herren 
und  Damen,  welche  die  Anstalt  durch  eigene  Kinder  und  durch  Kinder  be- 
freundeter Familien  kannten,  waren  des  uneingeschränkten  Lobes  voll.  Mäd- 
chen, so  erzählten  sie,  welche  daheim  die  „wildesten  Hummeln"  gewesen  und 
in  öffentlichen  Schulen  und  abgeschlossenen  Instituten  nicht  gut  gethan,  seien 
bei  Fräulein  H.  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  fleißig  und  gesittet  geworden. 
Die  Schwachen  würden  stark,  die  Kränklichen  gesund.  Denn  die  Erziehung 
umfasse  hier  alles:  Empfinden  und  Denken,  Arbeiten  und  Spielen,  Schlafen  und 
Wachen,  Essen  und  Trinken.  Keine  „Ordnung"  regle  das  Leben,  sondern  aus 
dem  Leben  miteinander  ergebe  sich  ungezwungen  die  Ordnung.  Jedes  wisse 
sich  mit  allen  anderen  gleich  beachtet  und  gleich  geliebt.  Es  wurden  mir 
Eltern  genannt,  welche  der  Anstalt  drei  und  vier  Töchter  zur  Erziehung  an- 
vertraut. Mütter,  die  vor  vielen  Jahren  hier  erzogen  worden,  hätten  auch  um 
Aufnahme  ihrer  Töchter  gebeten.  Mädchen,  selbst  solche,  die  schon  „reif  für 
die  Gesellschaft*,  erbäten  von  ihren  Eltern  als  schönstes  Geschenk  die  Erlaub- 
nis, noch  länger  in  dem  abgelegenen  Nauenhain  bleiben  zu  dürfen.  Auch 
wurden  Beispiele  erzählt,  wie  Frauen,  in  die  Drangsale  des  Lebens  verschlagen, 
mit  dem  letzten  Beste  der  Hoffnung  zu  ihrer  alten  Erzieherin  geeilt,  um  ge- 
tröstet und  berathen  zn  werden,  und  wie  sie  dann  mit  frischem  Mnth  und  fester 
Zuversicht  die  harte  Arbeit  um  ein  neues  Glück  begonnen  nnd  zu  Ende  ge- 
führt haben.  Von  Menschen,  welche  die  Jugend  bilden,  kann  Hühmenswerteres 
nicht  gesagt  werden. 

Ich  erzähle  nur,  was  ich  gesehen  und  gehört  habe.  Ich  getraue  mir  nicht, 
von  einem  Muster  zu  sprechen;  aber  auf  ein  Beispiel  möchte  ich  die  Blicke 
lenken.  Über  die  Erziehung  und  Bildung  der  Mädchen  wird  gegenwärtig  viel 
verhandelt.  Es  will  mir  scheinen,  dass  Männer  und  Frauen,  beamtete  nnd  nn- 
l>eamtete,  auf  ganz  neue  Gedanken  kommen  würden,  wenn  sie  auch  Anstalten 
wie  die  in  N.  gründlich  kennen  zu  lernen  suchten,  wenn  sie  Erzieherinnen 
wie  Fräulein  H.  auch  sorgsam  beobachten  und  ihre  Erfahrungen  und  Ansichten 
prüfen  und  mit  den  Grundsätzen  und  Vorschriften  in  „Ordnungen"  und  „Re- 
gulativen" vergleichen  wollten.  Freilich,  mit  aller  Unbefangenheit  müsste  es 
geschehen,  auch  wenn  es  nicht  zu  vermeiden  wäre,  einige  berühmte  Schablonen 
und  Meister  vor  dem  hier  waltenden  Geiste  eiligst  zu  verbergen. 


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—    463  — 


Aus  Belgien.  [Parteiverhältnisse.  Mädchen  -  Gewerbeschule, 
Ecole  professionelle  in  Antwerpen.]  Man  weiß,  dass  es  außer  den  vielen 
kleinen  Parteien  hauptsächlich  zwei  große  politische  Parteien  in  Belgien  gibt, 
die  sich  bei  den  Wahlen  in  die  Kammern  die  Majorität  streitig  machen:  die 
katholische  und  die  liberale.  Wenn  eine  der  Parteien  den  Sieg  davon  trägt, 
muss  der  König  derselben  entsprechend  sein  Ministerium  wählen;  er  muss  also 
bald  liberal,  bald  katholisch  sein,  je  nach  dem  herrschenden  Wind.  Man  würde 
jedoch  sehr  irren,  wenn  man  hier  dem  Ausdruck  „ katholisch u  eine  religiöse 
Bedeutung  unterlegen  wollte:  er  bezeichnet  nur  eine  politische  Partei,  welche 
allerdings  hauptsächlich  das  Interesse  der  römisch-katholischen  Kirche  vertritt. 
Sie  bat  den  großen  Vortheil,  dass  sie  eine  durchaus  einheitliche  Partet  ist,  d.  h. 
dass  sie  einer  einzigen  Führung  untersteht  und  daher  immer  genau  dieselben 
Ziele  verfolgt,  während  die  liberale  Partei  in  verschiedene  Unterabtheilungen 
zerfällt  und  eine  Menge  philosophisch-religiöse  Verschiedenheiten  darstellt,  die 
sich  untereinander  befehden  und  bei  den  Wahlen  oft  zersplittern.  Diese  Un- 
einigkeit war  der  Grund,  weshalb  im  Jahre  1883  die  liberale  Partei  der  katho- 
lischen unterlag. 

Als  die  liberale  Partei  noch  am  Ruder  war,  hat  sie  sich  besonders  be- 
müht, dem  ganzen  Unterrichtswesen  eine  freiere,  humanistische  Richtung  zu 
geben,  und  da  sie  das  aus  Staatsmitteln  nicht  konnte,  hat  man  allenthalben 
Geldsammlungen  in  Gang  gesetzt  und  daraus  einen  Schulfonds,  den  sogenannten 
denier  des  ecoles  gegründet.  Auf  allen  Festlichkeiten ,  sogar  bei  öffentlichen 
Aufzügen,  ließ  man  Sammelbüchsen  circuliren  und  brachte  so  eine  große 
Summe  zusammen,  wovon  man  liberale  Schulen  einrichtete.  Diese  ecoles  com- 
munales  waren  aber  dem  Clerus  ein  Dorn  im  Auge,  und  von  allen  Kanzeln 
ließ  er  gegen  diese  duivels  schoolen,  wie  man  sie  nannte,  donnern. 

In  dieser  Zeit  entstand  in  Antwerpen  auf  Anregung  liberaler  Männer 
eine  Schule  ganz  neuer  Art,  welche  hauptsächlich  für  die  unteren  und  mittleren 
BürgeTclassen  bestimmt  war,  und  den  Mädchen  eine  Gelegenheit  geben  sollte, 
sich  solche  Kenntnisse  zu  erwerben,  mit  denen  sie,  auch  ohne  zu  heiraten,  ihr 
Fortkommen  in  der  Welt  finden  könnten,  sei  es  in  Ladengeschäften  aller  Art, 
sei  es  im  Telegraphen-,  Telephon-  oder  Postdienst,  oder  in  der  Confection, 
Die  Schule  wurde  vom  denier  des  ecoles  gegründet,  und  es  bildete  sich  durch 
Subscription  ein  Verein  von  Herren,  in  dem  sich  jeder  zur  Zahlung  einer  jähr- 
lichen bestimmten  Summe  verpflichtete  ;  auch  erlangte  man  eine  jährliche  Sub- 
vention von  der  Stadt.  So  erhielt  sich  die  Schule,  welche  überdies  durch 
Schulgeldeinnahme  ihren  Bestand  stärkte.  Als  nun  1883  die  Regierung  wie- 
der in  die  Hände  der  Katholiken  kam,  gingen  diese  gegen  die  Communalschulen 
vor  und  vernichteten  einen  großen  Theil  derselben,  wobei  sie  die  Lehrer  anf 
ein  kleines  Wartegeld  setzten.  Man  hätte  gerne  tabula  rasa  mit  allen  liberalen 
Schulen  gemacht,  wenn  der  König  sich  nicht  widersetzt  hätte.  Die  6cole  pro- 
fessionelle entging  dem  Schicksale  der  Auflösung,  theils  weil  sie  von  Privat- 
mitteln gegründet  und  unterhalten  war,  theils  weil  der  liberale  Stadtrath  die 
Subvention  fortbestehen  ließ.  Die  Schule  hat  sich,  dank  der  vortrefflichen 
Leitung  und  der  vernünftigen  Einrichtung,  sehr  gut  entwickelt  und  nach  und 
nach  die  Sympathieen  des  Publicums  erworben;  die  Schülerzahl  ist  beständig 
gewachsen,  und  man  war  schon  längst  genöthigt,  die  drei  unteren  Gassen  in 
Parallelcötus  einzutheilen.    Die  Schule  ist  eine  öffentliche  Wolthat,  denn  sie 


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verlangt  für  den  umfangreichen  Unterricht  nur  15  fcs.  Schalgeld  pro  Trimester 
und  durch  hochherzige  Stiftungen  sind  eine  Anzahl  Freistellen  geschaffen  wor- 
den, welche  an  brave  arme  Mädchen  verliehen  werden.  Die  Anstalt  hat  jetzt 
nahe  an  300  Schulerinnen  in  8  Gassen  mit  14  Lehrerinnen  und  4  Hilfslehrern. 
Die  Mädchen  sind  im  Alter  von  12  bis  20  Jahren.  Die  Schule  steht  unter  der 
Oberaufsicht  des  Unterrichtsministers,  ferner  unter  der  Aufsicht  des  städtischen 
6chevin  de  l'instruction  publique  und  eines  Verwaltungsraths,  dessen  Mitglieder 
die  Schule  von  Zeit  zu  Zeit  besuchen.  Die  specielle  Leitung  liegt  in  den 
Händen  einer  ersten  und  einer  zweiten  Directorin,  welche  beide  mit  gewissen- 
hafter Strenge  die  Ordnung  und  Disciplin  handhaben  und  selbst  in  den  Zwi- 
schen- und  Erholungsstunden  keinerlei  Ausgelassenheit  aufkommen  lassen.  Auch 
in  den  Classen  wird  die  Disciplin  durch  Classenlehrerinnen  vortrefflich  erhalten. 
Die  Unterrichtssprache  ist  Französisch  und  Flämisch. 

Dreimal  im  Jahre  werden  allgemeine  Compositionen  in  den  Classen  ab- 
gehalten, die  erste  vor  Weihnachten,  die  zweite  vor  Ostern  und  die  dritte  vor 
dem  Schlüsse  des  Schuljahres,  im  Juli.  Die  Resultate  dieser  Compositionen 
werden  dann  von  den  Lehrerinnen  der  Directorin  in  Gestalt  einer  Ziffer  fiber- 
geben, welche  die  Anzahl  der  Punkte  bedeutet,  die  jede  Schülerin  in  jedem 
Fach  erhalten  hat.  Aus  diesen  Angaben  stellt  nun  die  Directorin  die  Berech- 
nung der  Punkte  zusammen,  welche  das  Gesammtresultat  der  Leistung  einer 
jeden  Schülerin  ergeben.  So  weiß  man  dann  mathematisch  genau,  welche 
Schülerinnen  in  jedem  Fach  die  besten  sind  und  bei  der  Preisvertheilung  den 
ersten  Preis  bekommen.  Außerdem  erhalten  die  Schülerinnen  des  V.  Jahrgangs, 
welche  die  Schule  verlassen  sollen,  ein  Diplom  ausgehändigt,  welches  vom  Ver- 
waltungsrath und  dem  Oberbürgermeister  unterschrieben  und  gesiegelt  ist,  und 
mit  welchem  es  der  Schülerin  leicht  wird,  eine  Stellung  zu  bekommen. 

Nun  noch  ein  Wort  von  der  öffentlichen  allgemeinen  Ausstellung  von 
Handarbeiten  der  Schülerinnen,  welche  ara  Schlüsse  des  Jahres,  Anfang  August, 
in  den  Räumen  der  Schule  veranstaltet  wird.  Sie  ist  sehr  besucht  und  auch 
sehr  interessant.  Da  findet  man  im  Zeichensaal  die  Resultate  des  Zeichnens 
und  Malens  auf  Papier,  Porzellan,  Holz  und  Seide,  in  dem  Confectionssaai  die 
Zeichnungen  von  Schnittmustern  aller  Bekleidungsstücke,  eine  reiche  Samm- 
lung von  Weißnäherei  und  Stickerei,  Stickereien  in  Wolle  und  Seide,  neu 
angefertigte  Bekleidungsstücke  aller  Art  bis  zum  Damenmantel  und  zur  Damen- 
robe. In  einem  andern  Saal  gibt  es  eine  reiche  Auswahl  künstlicher  Blumen 
in  den  mannigfachsten  Combinationen,  und  man  sollte  es  kaum  glauben,  dass 
diese  wunderschönen  Sachen  nur  von  den  Händen  der  Schülerinnen  herstammen. 
Die  Namen  der  Arbeiterinnen  sind  jedem  Artikel  angeheftet. 

Den  Schluss  des  Schuljahres  bildet  die  öffentliche  Preisvertheilung  in  dem 
prachtvollen,  mit  den  Porträts  aller  Künstler  vergangener  Zeiten  und  mit  Bil- 
dern lebender  Künstler  geschmückten  Saale  des  cercle  artistique.  Da  ver- 
sammeln sich  die  Lehrerinnen  und  Schülerinnen  der  Anstalt,  der  Oberbürger- 
meister, der  Unterrichtsschöffe  (Echevin),  der  Verwaltungsrath,  an  dessen  Spitze 
der  bekannte  Advocat  Delvaux  steht,  und  der  ganze  Saal  ist  von  Eltern  und 
Freunden  der  Schülerinnen  besetzt.  Eingeleitet  wird  der  Act  durch  Gtesang  mit 
Flügelbegleitung,  Reden  des  Oberbürgermeisters  und  der  andern  Herren.  Daun 
schreitet  man  zur  Preisvertheilung  selbst.  Die  Directorin  liest  die  Namen  der 
Prämürten  einzeln  laut  vor,  welche  dann  hervortreten  und  ihre  Preise  aus  den 


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Händen  des  Bürgermeisters  oder  der  andern  Herren  empfangen.  Die  Preise 
sind  hübsche  Bächer,  welche  aaf  einem  Tische  liegen  und  das  Ange  durch 
ihre  rothen,  grünen,  blauen  goldgepressten  Einbände  erfreuen.  Dann  richten 
die  Herren  an  die  Schülerinnen  ermunternde  und  belobende  Worte  und  tauschen 
Handschlag  mit  denselben.  Nachdem  auf  diese  Weise  alle  Preise  vertheilt 
sind  und  alles  wieder  auf  seinen  Plätzen  sitzt,  schließt  ein  Festgesang  die 
schöne  Feier. 

Es  bleibt  noch  übrig,  in  kurzem  eine  Übersicht  über  die  Classen  und  die 
Yertheilung  der  Lehrfächer  zu  geben. 

I*rc  annee  d'e'tndes  (A  u.  B). 

Flämisch,  Französisch,  Rechnen,  Geographie,  Geschichte  von  Belgien, 
Xaturlehre,  Geometrie,  Zeichnen  und  Handarbeiten,  Singen. 

II*m*  annäe  d'etudes  (A  u.  B). 

Flämisch,  Französisch,  theoret.  Rechnen,  Naturlehre,  Geographie  und  Ge- 
schichte, Zeichnen,  Geometrie,  Handarbeiten,  Singen. 

IJI*me  ann6e  d'etudes  (A  u.  B). 

Flämisch,  Französisch,  Englisch  oder  Deutsch,  allgemeine  Geschichte,  Geo- 
graphie, Handelsrechnen,  Geometrie  und  Projection,  Physik,  Kalligraphie,  Hand- 
arbeiten, Blumenmachen,  Confection,  Singen. 

IV*»e  ann$e  d'etudes. 

Flämisch,  Französisch,  Englisch  oder  Deutsch,  Geographie,  Handels- 
geographie, Handel8\vis8eu8chaft,  Physik,  Wirtschaftslehre,  Buchführung  mit 
Rechneu,  Zeichnen  nach  Gips  und  Modellen,  Gesundheitslehre,  Perspective, 
Confection,  Leinennähen,  Singen. 

V*,uo  annee  d'etudes. 

Flämisch,  Französisch,  Englisch  oder  Deutsch,  Handelsgeographie,  Physik, 
Chemie,  Zeichnen  nach  Modellen,  Gesundheitslehre,  Wirtschaftslehre,  Handels- 
gesetz, »Singen,  feine  Stickerei,  Robenconfection,  Leinwandnähen,  künstliche 
Blumen. 

Man  sieht,  dass  der  Religionsunterricht  keine  Stelle  im  Plane  hat,  eben- 
sowenig ein  allgemeiner  Sittenlehre-Unterricht.  Letzterer  wäre  sehr  angebracht, 
aber  das  Fach  ist  nicht  bearbeitet,  und  es  sind  keine  Lehrer  dafür  da. 


Der  ausgezeichnete  Pädagoge  Herr  Theodor  Schütz,  den  Lesern  des 
Pädagogiums  seit  langen  Jahren  wolbekannt,  eröffnet  zu  Ostern  ein  Lyceutn 
für  Haushaltung  und  weitere  Ausbildung  junger  Mädchen  in  Sinzig  an  der 
Ahr,  Rheinprovinz.  Wir  sehen  dem  Wirken  dieses  Instituts  mit  großem  Ver- 
trauen und  den  besten  Erwartungen  entgegen.  Interessenten  erhalten  nähere 
Auskunft  von  Herrn  Tb.  Schütz,  Eigenthümer  und  Director  der  Anstalt.  Die- 
selbe ist  sehr  günstig  gelegen  zwischen  Remagen  und  Sinzig  im  Rhein-  und 
Ahrthale. 


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Aus  der  Fachpresse. 

527.  Die  philanthropisch-pädagogischen  Bestrebungen  der 
Gegenwart  (Fr.  Reuß,  Rep.  d.  Päd.  1891,  VI—  VIII).  „An  den  von  den 
Menschenfreunden  and  Cosmopoliten  aufgestellten  Erziehungsgrundsätzen,  so- 
wie an  ihren  humanen  Ideen  überhaupt  hat  nun  schon  ein  ganzes  Jahrhundert 
gezehrt,  und  die  deutsche  Erziehungswissenschaft  und  Praxis  werden  noch 
lange  daran  zehren.  Ist  das  nicht  ein  vollgültiger  Beweis  für  die  Vor- 
trefflich keit ,  für  den  classischen  Wert  der  philanthropischen  Ideen  und 
Grundsätze?"  Diese  hat  R.  zusammengestellt,  mit  den  nöthigen  Quellennach- 
weisen, und  alsdann  die  ähnlichen  Bestrebungen  der  Gegenwart  (gewisser- 
maßen als  Fortsetzungen  jener)  skizzirt,  unter  Berufung  auf  bezeichnende 
Äußerungen  in  der  zeitgenössischen  Literatur.  —  Eine  dankenswerte  Arbeit. 

528.  Über  die  Bedeutung  der  Mutter  für  die  Menschen- 
bildung nach  E.  M.  Arndt  (A.  Schultz,  Rep.  d.  Päd.  1892,  V).  Aus 
Arndts  Lernsätzen:  „Die  Mutter  steht  im  Vordergrund  in  der  Kindheit,  tritt 
im  Knabenalter  gegen  den  Vater  zurück,  und  wird  von  der  Liebe  des  Jüng- 
lings wieder  aufgesucht  als  Urborn  alles  Seins."  „Die  Mutterliebe  und  die 
Natur  erziehen  das  Kind."  („O  heiliges  Weib,  wenn  du  beide  hast  und  be- 
wahrst!") „Die  Nichtzerstörung  des  einfältigen  Naturverfahrens  heißt 
Menschenbildung  im  höchsten  Sinn.  Die  Grundsünde  aber  ist:  Was  Natnr 
begann,  nicht  zu  vollenden."  „Alle  Erziehung  und  Bildung  des  jungen 
Menschen  soll  so  gehen,  dass  er  als  ein  schöner  Ton  anschlage  in  dem  all- 
gemeinen Accord  der  Naturmysterien,  dass  alles  Süßeste  und  Geheimste  seiner 
Natur  bewahrt  und  gepflegt  werde  für  die  heiligsten  Genüsse  und  Verständ- 
nisse."  (Siehe  Arndt,  Fragmente  der  Menschenbildung,  2  Bde.,  Altona  1805.) 

529.  Der  Volksschullehrerstand  im  Spiegel  der  Mitwelt  (H. 
Trunk,  Allg.  deutsche  Lehrerztg.  1891,  40—42).  Was  in  verschiedenen 
Kreisen  (auch  unter  den  Lehrern  selbst)  über  die  Lehrer  geurtheilt  wird  — 
woher  die  vielen  Aussetzungen  (hauptsächlich  die  Gründe  und  Anlässe  für  die 
Geringschätzung  des  Standes,  darunter  die  vielfach  verfehlte  Vorbildung,  die 
„trostlose  Carriere"  —  die  Verleihung  niedriger  „Orden"  [an  Stelle  sehnlich 
gewünschter  höherer!])  —  Mittel  zur  Besserung.  —  Im  ganzen  nur  eine  ge- 
schickte Znsammenstellung  dessen,  was  in  fast  allen  Fachblättern  schon  oft 
(theilweise  zu  oft)  gesagt  worden.  (Trotzdem  hat  der  Aufsatz  in  der  be- 
kannten jährlichen  Preisbewerbung  der  A.  d.  L.  den  ersten  Preis  erhalten  — 
deshalb  erwähnen  wir  ihn  hier.) 

530.  Wo  stehen  wir?  (R.  Seyfert,  Deutsche  Schulpr.  1892,  1 — 3). 
Eine  kritische  Abrechnung,  in  welcher  wir  bei  dem  Posten  „deutscher  Unter- 
richt" die  Aufforderung  zur  Nachfolge  Rud.  Hildebrands  (eine  warme  und 
nachdrückliche  Empfehlung  seines  Grundbuches)  vermissen.  —  Verf.  bezeichnet 
als  „allerwichtigste"  Aufgabe  der  zukünftigen  „pädagogischen  Forschung": 
„die  Errichtung  pädagogischer  Beobachtungsstationen,  die  nach  festgesetzter 
Methode  pädagogische  Thatsachen,  Erscheinungen,  Probleme  sammeln;  dann 
würden  an  einer  Centralstelle  diese  Beobachtungen  zu  sichten  und  zu  ver- 
arbeiten sein.  Die  Ergebnisse  dieser  Verarbeitung  würden  Beiträge  zur  Ge- 
winnung einer  Pädagogik  als  Wissenschaft  sein." 


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531.  Über  pädagogische  Discussionen  und  die  Bedingungen, 
unter  denen  sie  nützen  können  (B.  Männel,  Deutsche  Blätter  1891, 
50—52).  Als  „ Bedingungen"  der  „Nützlichkeit"  setzt  Verf.  fest:  a)  es  ist 
zu  vermeiden  ein  Vermischen  und  Hineinziehen  politischer  Theorien  und 
Strömungen  in  die  Pädagogik;  b)  die  Tagesordnung  enthalte  nur  zur  Sache 
Gehöriges;  c)  man  kämpfe  gegen  Partei  -  Terrorismus  und  ein  ärmliches  Nach- 
äffen eines  politischen  Parlamentarismus;  d)  es  werde  ein  vom  Vertrauen  des 
Gesammtvereins  getragener  Obmann  der  Leiter  der  Verhandlungen;  e)  man 
einige  sich  in  gewissen  Principien;  f)  die  Vereinsentwicklung  sei  eine  ans  dem 
Kleinen  herauswachsende;  g)  man  halte  sich  an  eine  aus  freiem  Interesse  an- 
genommene Vereinszucht;  h)  es  ist  zu  denken  an  eine  der  wachsenden  Er- 
kenntnis jedes  Vereinsmitglieds  entsprechende  Vereinserziehung;  i)  man  be- 
schränke sich  in  der  Auffassung  des  Begriffes  ,. pädagogische  Erfahrung". 

532.  Aufgaben  unserer  Fachpresse  (Zeitschr.  f.  d.  deutsch.  Unterr. 
1891,  XII).  In  der  Einleitung  zu  einein  Bericht  über  den  „deutschen  Unter- 
richt in  der  pädagogischen  Presse  des  Jahres  1890"  werden  drei  Aufgaben 
bezeichnet,  zu  deren  Lösung  „unsere  Wochen-  und  Monatsschriften  ausdrück- 
lich berufen  und  verpflichtet"  sind:  gute  neue  Gedanken  über  Ziele,  Mittel,  . 
Wege  („Fortschritte")  bekannt  zu  geben  —  wiederholt  mustergültige  Ver- 
arbeitungen der  „Erfindungen  und  Entdeckungen"  („solange  sie  noch  nicht 
Gemeingut  geworden")  zu  bringen  und  dafür  zu  sorgen,  „dass  letztere  in  vor- 
zügliche Gesammtdarstellungen  derjenigen  Gebiete,  welchen  sie  angehören  oder 
für  die  sie  fruchtbar  zu  machen  sind,  eingereiht  werden"  —  ernsthafte 
(schöpferisch  wirkende,  neue  Ausblicke  eröffnende,  Verhülltes  oder  Ver- 
borgenes ans  Licht  ziehende,  zum  Fortschritt  antreibende)  Kritik  immer  mehr 
zo  Worte  kommen  zu  lassen. 

533.  Was  soll  der  Lehrer  lesen?  (Schw.  Lehrerztg.  1892,  1). 
„Wer  dem  jungen,  unerfahrenen  Lehrer  eine  gewissenhafte  und  sachkundige 
Wegleitung  für  den  Ankauf  geeigneter  Bücher  gibt,  erweist  ihm  zweifelsohne 
eine  Wolthat,  die  ideellen  und  materiellen  Gewinn  bringt."  Ein  Versuch  ist 
durch  eine  von  der  Erziehnngsdirection  des  Cantcns  Bern  eingesetzte 
Commission  bereits  gemacht  worden.  Verf.  wünscht,  dass  der  „Central- 
ausschuss  des  schweizerischen  Lehrervereins  die  Bildung  einer  intei'cantonalen 
Commission  veranlasse,  die  mit  Geldbeiträgen  von  Bund  und  Cantonen  auf 
dem  Boden  der  vorliegenden  (Berner)  Grundlage  weiter  zu  bauen  hätte." 

534.  Die  Erziehung  des  Kindes  zum  „Patriotismus"  (Päd.  Ref. 
1891,  49).  „Gedanken  eines  Ketzers."  —  „Ist  der  Wahlspruch  (Mit  Gott 
für  König  und  Vaterland)  als  kriegerische  Devise  für  die  Kindererziehnng  un- 
brauchbar, wie  ist  es  da  mit  der  übertragenen  Bedeutung  derselben,  der  Liebe 
zum  „angestammten"  Herrscherhause  und  zum  regierenden  Fürsten,  der  Liebe 
zum  Vaterlande?"  „Der  ethische  Maßstab  allein  muss  es  sein,  der  für  die 
Auswahl  ethischer  Mustercharaktere,  der  urtheilslosen  Kinderseele  zum  Bei- 
spiel und  zur  Stütze  bestimmt,  die  Bedingungen  setzt."  „Die  Forderung,  die 
Kinder  sollen  das  Vaterland  lieben  lernen,  ist  gleichwertig  mit  dem  Gebote: 
Du  sollst  deinen  Vater  und  deine  Mutter  lieben  —  ebenso  überflüssig  wie  dieses. 
Kinder  lieben  nur  die,  von  denen  sie  geliebt  werden":  deshalb  u.  8.  w.  „Men- 
schen, die  das  Vaterland  geistig  und  körperlich  verkommen  lässt.  sollen  sich 
für  dieses  Vaterland  begeistern?" 


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....    468  — 


535.  Kinderdichter  (L.  Göhrmg,  Prakt.  Schulmann  1891,  II).  „Über 
nichts  hat  uns  unsere  Schulweisheit  —  Ästhetik  und  Pädagogik  —  so  sehr 
im  unklaren  gelassen,  als  Uber  das  Wesen  der  Kinderdichtung,  und  nur  die 
unverantwortliche  Sorglosigkeit,  womit  man  dergleichen  Dinge  von  jeher  ab- 
zuthun  gewohnt  ist,  könnte  unsere  Unwissenheit  entschuldigen,  wenn  Leicht» 
sinn  ein  Entschnldigungsgrand  wäre.  Wir  betrachten  nach  altem  Herkommen 
Kindergedichte  als  eine  Gattung  der  Poesie,  die  eigens  —  für  Kinder  passf. 
sind  aber  trotz  dieser  unendlich  geistreichen  Definition  außer  Stand  anzugeben, 
worin  dieses  Passende  eigentlich  besteht."  (Oberste  Richterin  auch  über  die 
Kinderdichtung  ist  die  Ästhetik.) 

Demnächst  wird  im  Verlag  von  R.  Oldenbourg-München  der  von  Pro- 
fessor Dr.  Karl  Vollmöller  herausgegebene  „Kritische  Jahresbericht 
über  die  Fortschritte  der  romanischen  Philologie"  erscheinen.  Der- 
selbe wird  auch  Berichte  über  den  Unterrichtsbetrieb  romanischer  Sprachen 
an  den  Hoch-  und  Mittelschulen  germanischer  Länder,  vornehmlich  Deutsch- 
lands und  Österreichs,  bringen.  Leiter  dieser  Abtheilung  ist  Professor 
Dr.  Wilhelm  Scheffler-Dresden. 


Um  in  deu  Volksschulen  die  Schiefertafel  durch  ein  besseres  Lern- 
mittel zu  ersetzen  und  die  ersten  Schreibübungen  sogleich  mit  Tinte  leicht 
ausführbar  zu  machen,  hat  Herr  Oberlehrer  Eduard  Schwalb  in  Groß- 
siehdichfur  bei  Marienbad  (Böhmen)  eine  Schreibtafel  sammt  Utensilien 
hergestellt,  worauf  wir  Elementarlehrer  mit  dem  Bemerken  aufmerksam 
machen,  dass  die  Probe,  welche  wir  mit  dem  neuen  Apparat  vorgenommen 
haben ,  denselben  als  der  Beachtung  und  Prüfung  sehr  wert  erscheinen 
lässt.  Wer  die  Schwierigkeiten  des  Elementarunterrichts  kennt,  wird  sich 
gern  mit  einem  Behelfe  zur  Erleichterung  desselben  bekannt  machen. 


Nachtrag  zur  Tagesgeschichte.  Am  24.  März  wurde  Graf  Zedlitz, 
der  Urheber  des  neuesten  preußischen  Schulgesetz-Entwurfes,  seines  Minister- 
postens enthoben.  An  seine  Stelle  trat  ein  Herr  Dr.  Bosse  (Jurist),  der  all- 
gemein als  „orthodox  und  conservativ"  bezeichnet  wird.  Auch  der  Reichs- 
kanzler Graf  Caprivi,  welcher  sich  mit  aller  Kraft  für  den  Zedlitz'schen  Ent- 
wurf eingesetzt  hatte,  legte  das  Amt  eines  preußischen  Ministerpräsidenten 
nieder  und  wurde  in  dieser  Stellung  durch  Graf  Botho  Eulenburg  ersetzt. 
Letzterer  erklärte  am  28.  März  im  preußischen  Abgeordnetenhause,  dass  die 
Regierung  auf  die  weitere  Berathung  des  neuen  Schulgesetz-Entwurfes  ver- 
zichte. Derselbe  ist  also  abgethan.  Diese  Vorgänge  haben  bei  den  reaktio- 
nären Parteien  große  Verstimmung,  bei  den  fortschrittlichen  Befriedigung 
erzeugt.  Doch  geben  sich  die  letzteren  keinen  ilberschwänglichen  Hoffnungen 
hin.  Einer  unserer  preußischen  Correspondenten  schreibt  uns:  „Es  ist  viel 
gewonnen,  aber  zum  Fröhlichsein  haben  wir  noch  keine  Veranlassung. u  Ein 
anderer  meint  bezüglich  des  neuen  Unterrichtsministers:  „Er  wird  etwas 
vorsichtiger  sein  als  der  vorige,  aber  sonst  die  alten  Wege  wandeln.'4 


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Rezensionen. 

1.  Nibelungen  and  Kadrun  in  Auswahl,  mhd.  Text,  2.  Leesing' 8  Philotas 

und  die  Poesie  des  siebenjährigen  Krieges.    3.  Lessing' 8  Minna  von 

Barnhelm.    4.  Lessing's  Nathan.    5.  Bader,  römische  Geschichte. 

6.  Kauffmann,  deutsche  Mythologie.    7.  Lyon,  deutsche  Grammatik. 

Preis  jedes  Bändchens  in  Leinwandband  80  Pf.    Göschen,  Stuttgart. 

Um  den  genannten  äußerst  billigen  Preis  bietet  die  Göschcn'sche  Samm- 
lung coinmentirte  Ausgaben  classischer  Werke  oder  Einführungen  in  bestimmte 
Wissensgebiete  (6—7),  deutlich  gedruckt  (also  nicht  in  der  Art  der  Reclam- 
oder  Meyer-Ausgaben)  und  elegant  gebunden.  Besonders  das  zweite  der  Bänd- 
chen wird  den  Beifall  der  Lehrerwelt  finden,  denn  der  Gedanke  an  ein  Haupt- 
werk die  gleichzeitige  Literatur,  die  sich  mit  demselben  Thema  beschäftigte, 
anzureihen,  ist  so  gut  und  glücklich,  dass  ihn  die  Schule  sich  nicht  entgehen 
lassen  sollte  und  verdiente  Nachahmung.  —  Unter  den  Bändchen  5—7  geben 
wir  Nr.  6  den  Vorzug.  Kauflfmann  behandelt  darin  ein  schwieriges  Capitcl, 
reich  an  Unsicherheiten  und  Hypothesen  und  wenig  geeignet  für  eine  plastische 
Darstellung,  mit  großem  Takt  und  unleugbarem  Geschick  für  Jugendschrift- 
stellerci.  — r. 

Goethe' s  Faust,  erläutert  von  L.  W.  Hasper.    Gotha,  Perthes. 

Die  vorliegende  Faustausgabe  ist  der  10.  Band  der  Kcck'schen  Schul- 
ausgaben der  classischen  deutschen  Dichtungen.  Sie  umfasst  eine  Einleitung, 
den  Abdruck  des  Textes  mit  einer  fortlaufenden  Erklärung  in  Fussnoten  und 
einen  Anhang,  der  einige  Capitcl  des  eingehenderen  bespricht  (z.  B.:  die  Mütter, 
Homuncolus,  Euphorion) ,  deren  Erörterung,  etwa  unter  den  Text  gesetzt,  dort 
zu  viel  Baum  eingenommen  hätte.  Die  Einleitung,  schlicht  und  verständlich, 
erwähnt  zuerst  der  allmählichen  Entstehung  des  Faust,  die  hineingearbeiteten 
Ideen  und  Probleme  und  erzählt  demgemäß  den  Inhalt  und  Gedankengang, 
die  Brücke  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Theile  und  manchen  der  Scenen 
dieses  Theiles  aufdeckend,  so  gut  das  nach  dem  Stande  der  Faustforschung 
eben  geht.  —  Die  Anmerkungen  sind  knapp  gehalten  und  die  Ergebnisse  der 
Faust-Literatur  verwertet  — r. 

Lyon,  Auswahl  deutscher  Gedichte.    Bielefeld  und  Leipzig,  Velhagen 

'  &  Klasing.    (504  Seiten.) 

Neben  dem  sogenannten  „eisernen1*  Bestand  unserer  deutschon  Lesebücher 
enthält  die  Auswahl  Lyon's  anch  Gedichte  moderner  Poeten,  wie  z.  B.  Gott- 
fried Kellers,  Martin  Greif  s,  Ernst  Wildenbruch  s  u.  a.  Den  Hauptstamm 
bilden  aber  doch  Goethe,  Schiller,  Unland.  Im  Ganzen  sind  95  DichteT  ver- 
treten, deren  Gedichten  sich  10  Volkslieder  anschließen.  Die  Dichterwerden 
in  alphabetischer  Reihenfolge  vorgeführt;  zurückgegangen  ist  bei  der  Auswahl 
bis  auf  Logau:  Dialectdichtcr  wie  Klaus  Groth,  Hebel,  Holtei,  Kobell,  Reuter, 
Stieler  sind  natürlich  nicht  ausgeschlossen,  Den  Gedichten  ist  jedesmal  eine 
kurze  Lebensskizze  ihres  Verfassers  vorausgeschickt.  Das  Buch,  schön  aus- 
gestattet, eignet  sich  gut  zu  einem  Festgeschenk.  W. 


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—    470  — 


Cassian- Richter,  Lehrbach  der  allgemeinen  Geographie  für  höhere 
Lehranstalten.    7.  Aufl.    Frankfurt  a.  II.  1891,  Jäger. 

Das  vorliegende  Lehrbuch  enthält  in  seinem  weitaus  größeren  Theil  die 
„Länderkunde"  {—  S.  382)  und  auf  ca.  100  Seiten  einen  Abriss  der  mathe- 
matischen und  physikalischen  Geographie,  den  Seminarlehrcr  Geisel  für  die 
7.  Auflage  überarbeitet  hat.  Zwei  Dinge,  um  dies  gleich  vornweg  zu  nehmen, 
wünschte  man  andere:  die  Kartenskizzen  mit  ihrer  eigentümlichen  Terrain- 
darstellung, ihrer  Häufung  von  Zeichen  und  Namen  und  der  daraus  folgenden 
Unübersichtlichkeit.  Die  Kartenskizze  soll  ja  nicht  einen  Atlas  ersetzen,  sondern 
hat  ganz  andere  Zwecke  als  dieser.  Das  zweite,  was  das  Studium  des  Buches 
erschweren  wird,  ist  die  Art  des  Druckes,  die  Zeilen  sind  zu  eng  aneinander 
gerückt;  das  Ganze  sieht  zu  unruhig  aus.  —  Da  das  Buch  für  höhere  Lehr- 
anstalten geschrieben  ist,  bietet  es  auch  viel,  ja  sehr  viel  Stoff;  manches  Capitel 
wird  wol  auch  nur  für  die  „Lectürc"  bestimmt  sein,  nicht  zum  „Lernen",  wie 
der  Schulausdruck  lautet.  Sieht  man  noch  von  einigen  Druckfehlern  ab,  so 
bleibt  an  dem  Buche  alles  andere  zu  loben:  die  Sorgfalt,  die  der  Herausgeber 
der  Richtigstellung  der  Daten  gewidmet  hat,  die  Behandlung  der  physischen 
Verhältnisse  Europas  nach  Gruppen,  die  Bo tonung  der  Laufrichtung  der  Flosse 
zum  Zwecke  des  Zeichnens,  die  eingestreuten  Aufgaben,  die  eine  Durchdringung 
des  Gelernten  bezwecken,  die  Art,  wie  das  stark  herangezogene  statistische 
Material  verwertet  ist,  und  endlich,  dass  dem  vergleichenden  Moment  überall 
Rechnung  getragen  und  der  causale  Zusammenhang  stets  betont  wird.  W. 

Renneberg,  Grundriss  der  Erdkunde.    2.  Aufl.    Leipzig,  Meraeburger. 
Preis  80  Pf. 

Das  Ausmaß  des  Lehrstoffes  ist  durch  den  Lehrplan  der  in  dem  ausführ- 
lichen Titel  des  Buches  genannten  Schulen  bestimmt.  Die  Übersichtlichkeit 
wird  durch  die  Stellung  der  Namen  auf  der  rechten  und  linken  Seite,  ent- 
sprechend der  Lage  der  durch  sie  bezeichneten  Objecte  und  durch  Gliederung 
des  Stoffes  nach  einem  Dispositionsschema  etc.  erleichtert,  bei"  fremden  Namen 
ist  auch  deren  Aussprache  angedeutet.  Beachtenswert  sind  die  am  Schlüsse 
der  Capitel  eingefügten  Fragen,  die  in  elementarer  Weise  den  Schüler  zu  Ver- 
gleichen, neuer  Reihenbildung,  kurz  zu  einer  instruetiven  Behandlung  anleiten. 
Insbesondere  wird  eine  genaue  Einprägung  der  Lage  eines  Ortes,  also  eine 
intensive  Beschäftigung  mit  der  Karte  durch  diese  Fragen  angestrebt,  ein 
Zweck,  der  ja  nur  zu  loben  ist.  \V. 
Gelhorn,  Wörterbuch  zur  Erläuterung  schulgeographischer  Namen.  Pader- 
born, SchöningU.    Preis  1  M.  20  Pf. 

Ähnlich  wie  Coordes  in  seinem  „schulgeographischen  Namenbuch"  bat 
auch  Gelhorn  nur  eine  Anzahl  geographischer  Namen  zur  Erläuterung  aus- 
gewählt. Während  aber  Coordes  blos  die  Übersetzung  des  Namens  überliefert 
mit  Angabe  der  Sprache,  aus  der  der  Name  stammt  oder  hergeleitet  wird, 
geht  Gelhorn  weiter.  Er  führt  auch  die  Form  des  Wortes  in  der  Sprache, 
aus  der  es  entlehnt  wurde,  an,  ferner  die  Formen,  die  es  durchlaufen  hat,  bis 
es  unsere  heute  übliche  erhalten.  Auch  ist  vielfach  eine  Erklärung  beigefügt, 
warum  dem  Objecte  gerade  dieser  Name  gegeben  wurde.  Recht  lehrreich  sind 
auch  die  an  einzelne  Namen  geknüpften  Hinweise  auf  Verwandtes;  so  wenig 
auf  den  ersten  Blick  die  Verwandtschaft  in  die  Augen  springt,  sie  ist  doch 
vorhanden,  und  diese  erkannt  oder  erfahren  zu  haben,  interessirt  die  Schüler 
sehr  und  belebt,  wie  ja  die  Ortserklärung  überhaupt,  den  geographischen 
Unterricht.  Dass  viele  Deutungen  der  Wahrheit  nur  nahekommen,  manche 
nur  wahrscheinlich  sind,  einige  bloße  Vermuthungen,  ja  vielleicht  gelehrte 
Spielerei,  weiß  jeder,  der  Namenserklärungen  in  den  verschiedenen  Werken 
geleseu  und  miteinander  verglichen  hat.  Das  wird  man  aber  Gclhorn  zu- 
gestehen müssen,  dass  er  lieber  einen  Namen  unerklärt  gelassen,  als  eine 
wissenschaftlich  weniger  begründete  Deutung  aufgenommen  hat.  Auch  in 
dieser  Hinsicht  ist  ein  Vergleich  mit  Coordes  nicht  uninteressant.  Nicht  wenige 
Namen  finden  dort  und  hier  eine  ganz  verschiedene  Deutung  (vergl.  z.  B„  um 
nur  ein  Beispiel  zu  nennen:  Abruzzen").  — r. 


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—    471  — 


Haselmayer,  ÜberOrtsnamenkande.    Würzbarg,  Kellerer  (Bauer). 

In  dieser  Broschüre  spricht  rieh  der  Verfasser  im  Anschluss  an  das  be- 
kannte Egli'sche  Werk  über  die  Entwicklung  der  wissenschaftlichen  Namen- 
forschung und  Namencrklärung  und  deren  Grundsatze  auB,  ferner  Uber  den 
Wert  der  Ortsnamenerklärung  für  den  geographischen  Unterricht.    Heine  De- 


zumeist  aus  der  deutschen  Ortsnamenkunde  und  bereichert  die  Namenforschung 
durch  zwei  neue  Erklärungen  der  Ortsnamen  Hammelburg  und  Pfraumbach. 


Nabert.  Karte  der  Verbreitung  der  Deutschen  in  Europa.  8  Sectionen. 
(Format  jeder  Section:  ein  Quadrat  mit  80  Ceutimeter  Seitenfläche,  Preis 
3  Mark.)    Glogau,  Flemming. 

Die  Karte,  im  Mafistab  1 : 926000,  umfasst  ein  Rechteck,  das  durch  die 
Punkte  Paris  —  Asow,  Karlskrona  —  Rimini  bezeichnet  wird.  Vorläufig  sind 
zwei  Sectionen  im  Buchhandel  erschienen,  das  obere  linke  Viertel  der  Karte 
oder  Norddeutschland  und  die  anstoßenden  Gebiete  Frankreichs ,  _  Belgiens, 
Hollands,  Dänemarks,  Russlands  (Ostseeprovinzen  und  Polens)  und  Österreichs 
(Nordböhmens).  Die  Karte  deutet  die  jetzige  Verbreitung  der  Deutschen  in 
den  genannten  Gegenden  an,  bezeichnet  zugleich  aber  auch  —  insofern  illustrirt 
sie  ein  Stück  deutscher  Geschichte  —  jene  Gebiete,  die  dem  Deutscbthura  seit 
der  Reformationszeit  verloren  gegangen  sind.  Es  geschieht  dies  dadurch,  dass 
die  verloren  gegangenen  Orte  mit  brauner  Schrift  oder  Schraffen  gedruckt 
sind.  Die  jetzige  Verbreitung  ist  durch  Flächencolorirung  ausgezeichnet,  und 
zwar  ist  für  das  deutsche  Sprachgebiet  die  gelbe  Farbe  (Niederdeutsche  licht- 
gelb, Oberdeutsche  dunkelgelb,  Niederländer  blassgelb)  gewählt,  von  der  die 
Farbentöne  deT  romanischen  und  slavischen  Sprachgegenden  recht  scharf  sich 
abheben.  Im  ganzen  enthält  die  Karte  20  Farbenstufen;  was  sich  dadurch 
erklärt,  dass  sie  ja  zugleich  eine  ethnographische  Karte  des  größten  Teiles 
von  Europa  werden  wird.  Dadurch,  dass  sich  diese  Töne  zu  drei  oder  vier 
Grundfarben  zusammenschließen,  ist  die  Übersichtlichkeit  und  der  harmonische 
Eindruck  gewahrt.  Die  Grenzen  des  Sprachgebietes  sind  nicht  blos  durch 
Farben  und  Linien,  sondern  auch  durch  die  Namen  der  Orte  markirt,  die 
hüben  und  drüben  knapp  an  der  Scheidelinie  liegen;  so  sind  auch  die  deutschen 
Enclaven  im  fremden  Sprachgebiet  bezeichnet.  Die  Karte,  ein  Werk  deutschen 
Fleißes  und  deutscher  Gründlichkeit,  ist,  wie  die  zwei  Sectionen  darthun,  sehr 
genau  gearbeitet  und  verdient  um  dessentwillen  sowie  wegen  des  Gegenstandes 
die  allerweiteßte  Verbreitung.  W. 

Andrer -Schillmann,  Schulatlas.  37.  Aufl.  Ausgabe  A.  Bielefeld  und 
Leipzig,  Velhagen  &  Klasing.    Preis  1  M. 

Der  Andree-Schillinann'sche  Schulatlas  ist  für  die  Volksschule  das,  was 
der  von  Kirchhoff  -  Kropatscbek  für  die  höheren  Schulen :  Klarheit  der  Zeich- 
nung, gutgewählte  Farbentöne,  geschickte  General isirung  des  Terrains  und 
zweckentsprechende  Auswahl  der  Objeete  machen  ihn  zu  einem  höchst  brauch- 
baren Hilfsmittel,  durch  das  der  Schüler  sich  die  physischen  und  topographischen 
Verhältnisse  eines  Landes  mit  Leichtigkeit  einprägen  kann.  Jede  der  Karten 
ist,  von  diesem  Standpunkte  betrachtet,  eine  Musterleistung,  der  man  —  ich 
glaube  es  behaupten  zu  können  —  keinen  anderen  Volksschulatlas  an  die 
Seite  stellen  kann.  Die  Blätter  1  und  2  mit  Test  am  Schlüsse  („Einführung 
in  das  Kartenverständnis")  und  6  (Stromgebiete  Deutschlands)  sind  wegen  ihres 
methodischen  Wertes  hervorzuheben;  die  letzten  Blätter  (32,  33  und  Ortskarte 
zur  Geschichte  Deutschlands)  sind  bestimmt,  dem  Geschichtsunterrichte  der 
Volksschule  zu  dienen.  W. 

KeiMliecke,  Deutscher  Schul atlas.  36.  Aufl.  Gera,  Hofmann.  Preis  1  M. 

Der  vorliegende  Schulatlas  legt  den  Hauptaccent  auf  die  physische  Karte, 
enthält  aber,  um  sich  leicht  dem  Gedächtnis  einzuprägen,  zu  viel  Namen  und 
eine  nicht  weit  genug  gehende  (jeneralisirung  des  Terrains.   Der  Andrce- 


— r. 


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—    472  — 

Schillmann'sche  ist  ihm  darin  weit  überlegen.  Eigentümlich  sind  ihm  zu 
seinem  Vortheile  die  Karten  zur  Culturgeographie  Deutsehlands  (9),  die  Karte 
der  mittleren  Jahrestemperatur  und  die  geologische  Überrichtskarte  von 
Deutschland.  Die  Farbentöne  der  Karten  sind  zu  grell,  insbesondere  das  Grün 
der  Tiefebenen,  desgleichen  stört,  das»  in  der  Gebirgsfarbenscala  einige  Stufen 
fehlen;  die  Folge  ist,  dass  z.  B.  die  Schweiz,  die  Alpen  zu  wenig  plastisch 
heraustreten.   Nach  dieser  Richtung  wäre  eine  Verbesserung  wünschenswert. 

W. 

(taebler,  Systematischer Schul-Handatlas.  3.  Aufl.  Leipzig, Lang.  90 Pf. 

Der  Schulatlas  von  Gacbler  ist  wie  der  von  Andree  -  Schillmann  für  die 
Volksschule  bestimmt,  bringt  aber  mehr  Stoff  und  nach  Art  des  „großen 
Gaebler-Dierke"  auch  Nebenkarten,  die  am  Rande  der  Hauptkarte  angebracht 
besonders  merkwürdige  Punkte  (z.B. Städte,  Passe  und  Gebirgsstöcke,  Seen, Inseln, 
Buchten  u.  s.  w.)  in  einem  bedeutend  größeren  Maßstäbe  als  die  Hauptkarte 
zur  Anschauung  bringen.  Mit  Ausnahme  einiger  Blätter,  die  die  physischen 
Verhältnisse*  gesondert  darstellen,  sind  die  meisten  Karten  so,  dass  sie  die 
politischen  und  physischen  Karten  vereint  vorführen,  und  zwar  die  politischen 
durch  Fläcbencolorirung.  Auch  legt  Giebler  großen  Wert  auf  die  Einzeichnung 
der  Communicationswege  zu  Lande  wie  zur  See;  er  benützt  zu  diesem  Zwecke 
feine  rothe  Linien.  Da  die  Gebirgszeichnung  auf  den  meisten  (politischen) 
Karten  durch  schwarze  Schraffen  angedeutet  ist,  treten  die  Terrainverhältnisse 
nicht  so  scharf,  so  plastisch  hervor,  wie  etwa  bei  Andree.  Ein  Vorzug  des 
Gaebler'sehen  Atlas  liegt  darin,  dass  ihm  5  Wandkarten  in  übereinstimmender 
Zeichnung  mit  dem  Atlas  zur  Seite  stehen.  W. 

Kleine  Naturlehre  für  Schulen.  Ein  Übungs-  und  Wiederholungsbüchlein 
für  die  Hand  der  Schüler,  bearbeitet  von  Konrad  Fnß.  Mit  vielen  Beob- 
achtungs-  und  Übungsaufgaben  und  zahlreichen  in  den  Text  gedruckten  Ab- 
bildungen. Nürnberg  1892,  Verlag  der  Friedr.  Korn'schen  Buchhandlung. 
IV  nnd  66  Seiten.    Preis  50  Pf. 

Eine  kleine  Physik  für  Volksschulen  darf  nur  das  Wichtigste  und 
leicht  Verständliche  bieten.  Der  Verfasser  hat  eine  gute  Auswahl  getroffen. 
Er  geht  stets  von  Beobachtungen  aus,  die  der  Schüler  leicht  machen  kann, 
fügt  daran  Erklärungen,  bei  Gesetzen  auch  kurze  und  leicht  verständliche 
Begründungen  und  schließt  mit  einem  ziemlich  reichen  Übungsstoffe.  An  die 
verschiedenen  Partien  der  Physik  reiht  er  auch  noch  „einige  der  Chemie  an- 
gehörige  Erscheinungen",  die  fürs  praktische  Leben  von  Wichtigkeit  sind. 
Im  einzelnen  haben  wir  keine  Unrichtigkeiten  bemerkt  und  uns  nur  gewundert, 
warum  das  Barometer,  das  schon  am  richtigen  Platze,  beim  Luftdrucke,  abge- 
handelt ist,  bei  der  Wärmelehre  nochmals  als  Wetterglas  auftritt;  einige 
Worte  über  das  in  der  Neuzeit  so  wichtige  Telephon  hätten  wol  eingeschaltet 
werden  können.  —  Außer  durch  seinen  präcisen  Inhalt  empfiehlt  sich  das 
Büchlein  auch  durch  seine  sehr  nette  Ausstattung.  C.  R.  R. 

Schul -Naturgeschichte.  Abtheilung  Zoologie.  Einzelbeschreibungen, 
Vergleichungen,  Gruppenbilder,  Bau,  Leben  und  Übersicht  der  Thiere.  Von 
A.  Sprockhof f,  königlichem  Seminarlehrer  in  Berlin.  Vierte  verbesserte 
Auflage.  Mit  vielen  Fragen  und  100  Abbildungen.  Hannover  1891,  Verlag 
von  Carl  Meyer  (Gustav  Prior).  192  Seiten.  Preis  1  M.  60  Pf.,  kart. 
1  M.  80  Pf. 

Wir  hatten  schon  öfter  Gelegenheit,  Sprockhofs  Lehrbücher  anerkennend 
zu  besprechen,  und  auch  dieser  neuen  Auflage  zollen  wir  Beifall.  In  con- 
centrischen  Kreisen  mit  den  Einzelwesen,  als  Repräsentanten  der  verschiedenen 
systematischen  Einheiten  beginnend,  geht  der  Verfasser  allmählich  auf  Ver- 
gleichungen und  Gruppenbilder  Über,  ein  methodischer  Vorgang,  der  für  die 
Unterstufe  der  Naturgeschichte  der  allein  richtige  ist.  Die  Beschreibungen 
sind  präcis,  klar  und  leichtverständlich.  Mit  der  systematischen  Anordnung 
in  den  Gruppenbildern  ließe  sich  etwas  rechten,  da  neuere  Einteilungen  und 


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—    473  — 


Anordnungen  nicht  berücksichtigt  sind;  so  z.  B.  Ein-,  Zwei-,  Vielhufer,  statt 
Paar-  nnd  Unpaarhufer;  ferner  dass  die  unvollkommenen  Säugethiere  (Beutel- 
tiere, Zahnarme  und  Schnabelthiere)  unter  den  anderen  Ordnungen  eingestreut 
erscheinen;  doch  hat  dies  für  die  Volksschule  keine  wesentliche  Bedeutung. 
Die  Ausstattung,  insbesondere  die  Abbildungen  sind  lobenswert.    C.  R.  R. 

Die  vorzüglichsten  essbaren  Pilze  Deutschlands,  gezeichnet  and  be- 
schrieben von  Max  Richter.  Langensalza  1891,  Drnck  nnd  Verlag  von 
Hermann  Beyer  &  Söhne.  26  Seiten  nnd  8  Farbendrucktafeln.  Preis  gebunden 
1  M.  50  Pf. 

Ein  Hilfsbuch  für  den  Sammler  und  den  Zubereiter  von  Schwammgerichten, 
enthält  dasselbe  kurze,  aber  ausreichende  Beschreibungen  der  gewöhnlichsten 
genießbaren  Schwämme,  unter  welchen  wir  aber  doch  einige  nicht  angegeben 
finden.  Die  Abbildungen  sind  nur  theilweisc  gut  zu  nennen,  da  die  Zeich- 
nungen mitunter  zu  steif,  die  Farben  nicht  ganz  natürlich  erscheinen;  gerade 
darauf  sollte  aber  bei  einem  illustrirten  Pikwerke  das  Hauptgewicht  gelegt 
werden,  was  nicht  schwer  ist,  da  ausgezeichnete  Bilder  in  anderen  Werken 
enthalten  sind.  0.  R.  R. 

Lehrbuch  der  reinen  und  technischen  Chemie.  Anorganische 
Experimentalchemie.  I.Band.  Die  Metalloide.  Mit 2208 Erklärungen, 
H32  Experimenten  und  366  in  den  Text  gedruckten  Figuren.  Für  das  Selbst- 
studium und  zum  Gebrauche  an  Fortbildungs-,  Fach-,  Industrie-,  Gewerbe- 
schalen und  höheren  technischen  Lehranstalten  bearbeitet  nach  dem  System 
Kley  er  von  W.  Steffen,  Chemiker  in  Homburg  v.  d.  Höhe.  Stuttgart 
1889,  Verlag  von  Jnlius  Meier.    XVI  und  819  Seiten.    Preis  16  M. 

Die  Kleyer'sche  Lehrbüchersammlung  ist  bestimmt,  solche  Personen,  welche 
keine  höhere  Bildung  genossen  haben,  in  die  verschiedenen  realistischen  Lehr- 
fächer einzuführen,  damit  sie  durch  Selbststudium  sich  die  praktische  und 
technische  Seite  der  Wissenschaften  aneignen  können.  Der  Verfasser  hatte 
hierbei  gerade  bei  der  Chemie  einen  schwierigen  Stand,  sollte  er  nicht  allzu 
flach  werden  und  das  Buch  auch  einem  gebildeten  Kreise  von  Lesern  nutz- 
bringend machen.  Er  hat  diese  Aufgabe  sehr  glücklich  gelöst.  Die  Auf- 
einanderfolge von  Fragen  und  Antworten,  die  Einstreuung  von  Erklärtingen 
und  Anmerkungen,  machen  es  auch  dem  minder  Gebildeten  möglich,  die  Wahr- 
heiten und  Hypothesen  der  Chemie  nach  den  neuesten  Erfahrungen  und  For- 
schungen der  Wissenschaft  zu  begreifen,  und  insbesondere  sind  die  zahlreichen 
Experimente,  welche  bis  auf  die  kleinsten  Handgriffe  genau  beschrieben  und 
durch  ausgezeichnete  Holzschnitte  unterstützt  sind,  das  richtige  Mittel,  durch 
Selbsterfahrung  sich  von  der  Richtigkeit  der  Antworten  zu  überzeugen.  Alle 
Fremdwörter,  die  in  der  Terminologie  nothwendig  Bind,  sind  verständlich 
erklärt,  kurz  es  ist  nichts  verabsäumt,  was  das  Buch  zu  einem  vorzüglichen 
Lehrmittel  für  den  Selbstunterricht  gestalten  kann.  Anders  dürfte  es  bei 
seiner  Verwendung  in  höheren  Anstalten  sein,  wo  ja  das  Wort  des  Vortragen- 
den und  Experimentators  alles  das  geben  muss,  was  in  dem  Buche  enthalten 
ist,  nnd  zur  Wiederholung  ein  kürzeres  Compendium  passender  wäre.  Besonders 
dankenswert  sind  auch  die  vielen  praktischen  Winke,  welche  oft  tief  in  Er- 
scheinungen des  Lebens  eingreifen.  Die  Ausstattung  des  Werkes  gereicht 
der  Verlagshandlung  zur  größten  Ehre  und  ist  demnach  auch  der  Preis  ein 
mäßiger  zu  nennen.  Wir  empfehlen  insbesondere  Lehrern,  welche  während 
ihrer  Studienzeit  nicht  Gelegenheit  hatten  praktische  Chemie  zu  betreiben,  das 
höchst  gelungene  Werk.  C.  R.  R. 

Chemiestunden  in  der  Volksschule.  Lehrerheft  zur  Chemie  für  die  Volks- 
schule. Mit  zahlreichen,  auch  von  den  Schülern  selbstst&ndig  ausführbaren 
Versuchen.  Herausgegeben  von  L.  Busemann,  Verfasser  der  „Naturkund- 
lichen Volksbücher44.  Hannover-Linden  1891,  Verlagsanstalt  von  CarlManz. 
IV  und  52  Seiten.  Preis  60  Pf. 

Pädagogium.   U.  Jahrg.   Heft  VII.  33 


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—    474  — 

Das  Büchlein,  welches  wol  vielen  nicht  viel  Neuejj  bietet  und  auch  nicht 
bieten  will,  ist  aus  der  Praxis  hervorgegangen,  das  merkt  man  jeder  Zeile 
desselben  an ;  es  setzt  aber  vielfach  Lehrer  voraus,  die  selbst  auch  in  den  ein- 
fachsten Vorgängen  der  chemischen  Praxis  noch  der  Belehrung  bedürfen,  und 
solcher  dürfte  es,  wenigstens  nach  den  Lehreinrichtungen  der  österreichischen 
Lehrerbildungsanstalten,  nur  sehr  wenige  geben.  Die  Einfachheit  des  Gefor- 
derten gibt  sich  auch  in  der  geringen  Zahl  des  verlangten  Materiales  an 
Chemikalien  und  an  Apparaten  kund.  Einiges  Sachliche  haben  wir  zu  be- 
mängeln. Seite  10  wird  stets  vom  Probirrylinder  gesprochen  und  ist  eine 
Retorte  (wie  auch  richtig)  abgebildet.  Die  Beschreibung  der  Wirkung  der 
Petroleumlampe  (S.  14)  ist  nicht  richtig,  da  doch  durch  Capillarität  das 
Petroleum  im  Dochte  zur  Brennstello  hinaufgesogen  wird.  Die  Bezeichnung 
des  Magneteisensteins  (S.  18)  als  natürlicher  Hamnierschlag  ist  etwas  gewagt. 
Der  Rotheisenstein  ist  reines  Eisenoxyd,  nicht,  wie  S.  19  gesagt  wird,  rotlies 
Eisenoxyd  und  Kieselstein  „zusammengeschmolzen";  ebenso  sind  auch  die 
Brauneisensteine  nicht  „von  Eisenrost  braungefärbte  Steinmassen".  Die  Schlacke 
(S.  20)  ist  sehr  häutig  grün  gefärbt.  Die  Wirkung  der  Kohlensäure  <S.  22)  in 
der  Hundsgrotte  ist  unverständlich,  da  von  dem  hohen  spec  Gewichte  der- 
selben nichts  gesagt  ist.  Der  Ausdruck  „Leichengift"  iS.  24)  bei  schmutziger 
Wäsche  ist  unrichtig.  Das  Znsammenwerfen  von  Kohlenoxydgas  und  Leucht- 
gas (S.  25)  ist  verfehlt,  da  ersteres  ein  Hydrat  ist.  Bei  dem  recht  praktisch 
durchgeführten  Vorgehen  zur  Belebung  in  Kohlenoxyd  Erstickter  (S.  26)  ist 
das  Wiederbeleben  Erdrosselter  nicht  passend  eingefügt.  —  Trota  dieser  Mängel 
möchten  wir  das  Büchlein  doch  empfehlen,  indem  die  praktische  Seite  des- 
selben, insbesondere  in  den  zum  Schlüsse  angefügten  Oapiteln,  Gerbsäure, 
Stärke,  Zucker,  Fett,  Fleisch,  Milch,  Eier,  Hunger  u.  s.  w.,  manche  sehr  beach- 
tenswerte Winke  enthält.  C.  R.  R. 

Brockmann,  F.  J.,  Oberlehrer  in  Cleve.  Versuch  einer  Methodik  zur  Lösung 
planimetrischer  Constructionsanfgaben  mit  zahlreichen  Beispielen, 
Figuren  im  Text.   111  S.   Leipzig,  Teubner.   1  M.  50  Vi 

Die  Lehrbücher  der  Geometrie  von  Brockroann  erfreuen  sich  einer  solchen 
Beliebtheit,  dass  sie  schon  in  mehreren  Auflagen  erschienen  sind;  auch  liegen 
vom  Verfasser  zweierlei  Sammlungen  von  Constructionsaufgabcn  vor,  durch 
deren  Veröffentlichung  er  sich  ohne  Zweifel  für  das  Vorliegende  zweckmäßig 
vorbereitet  und  eingearbeitet  hat.  Der  Verfasser  stellt  sich  das  Ziel,  nicht 
blos  Andeutungen  für  eine  mögliche  Lösung  von  Constructionsnufgaben  zu 
geben;  er  meint,  derlei  wäre  ja  wol  schou  vorhanden,  und  nennt  dies  eine 
latente  Methodik,  sondern  er  will  eine  systematische  Methodik  schaffen,  welche 
die  verschiedenen  Methoden  derart  zu  einer  Gesammtheit  vereinige,  dass  damit 
der  durchschnittlich  begabte  Schüler  zum  Ziele  geführt  werde.  Dabei  verkennt 
der  Verfasser  nicht,  wie  mangelhaft  die  Vorbereitung  des  Lehrers  gerade  für 
diesen  Uuterrichtszwcig  an  den  Hochschulen  betrieben  wird.  —  Das  Buch 
beginnt  mit  der  Erörterung  der  geometrischen  Analysis  und  unterscheidet  in 
Bezug  auf  dieselbe  die  Methode  der  Reduction  der  Aufgabe  auf  eine  frühere 
schon  bekannte  (Data),  ferner  die  Methode  der  Parallelverschiebung  und  Drehung, 
und  endlich  die  Ähnlichkeitsmethode.  Die  Anwendung  dieser  Methoden  wird 
au  125  Beispielen  mit  hinreichender  Ausführlichkeit  erklärt.  —  Über  Con- 
struetion  und  Beweis  fasst  sich  das  Buch  kürzer,  indem  bemerkt  wird,  dass 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  schon  durch  die  Analysis  das  hierfür  Nöthige  hin- 
reichend geklärt  ist.  Es  wird  auch  nur  für  nöthig  gehalten,  etwa  bei  dem 
fünften  Theil  der  vorausgegangenen  Aufgaben  noch  etwas  für  Construetion 
und  Beweis  beizufügen.  Dagegen  hält  der  Verfasser  die  Determination  für 
einen  hervorragend  wichtigen  Theil  der  Auflösung,  weil  dieselbe  eine  Menge 
lehrreicher  und  bildender  Momente  in  Bezug  auf  den  inneren  Zusammenhang 
zwischen  den  gegebenen  und  gesuchten  Größen  enthält. 

Es  folgen  nun  eine  grolle  Menge  von  Übungsaufgaben,  sämmtlicb  mit 
Lösungen,  die  letzten  in  der  Reihe  sind  Berührungsprobleme  von  Pappus  und 
Apollonius;  endlich  kommen  noch  in  einem  Nachtrage  Aufgaben  zur  Behand- 
lung, auf  welche  früher  andere  reducirt  wurden,  ohne  dass  dieselben  jedoch 


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—  475 


zu  den  Elementaraufgaben  gehörten;  es  linden  sich  im  ganzen  329  gelöste 
Aufgaben.  Es  ist  wol  nicht  anzunehmen,  dass  der  Anfänger  auch  nur  die 
Hälfte  derselben  im  ersten  Jahre  seines  Studiums  bewältigen  werde;  wäre  dies 
aber  der  Fall,  so  hätte  er  ohne  Zweifel  alle  nur  wünschenswerte  und 
mögliche  Fertigkeit  und  Sicherheit  in  Lösung  von  Constructionsaufgaben 
erreicht.  Es  scheint  uns  dieses  Buch  viel  mehr  dazu  bestimmt,  dass  der 
Lehrer  .mit  Sorgfalt  einzelne  Aufgaben  als  Wiederholungsstoff  herausbebe; 
dagegen  glauben  wir  im  Sinne  des  Verfassers  das  Vorliegende  recht  sehr  den 
jungen  Collegen  zum  Selbststudium  empfehlen  zu  sollen.  H.  E. 

Fuhrmann,  W..  Prof.  in  Königsberg,  Synthetische  Beweise  plani- 
metris eher  Sätze.    190  S.    14  Fig.-Taf.    Berlin,  Simion.    3  M. 

Der  Verfasser  betont  im  Vorworte  die  wichtige  Aufgabe  des  Unterrichtes 
in  deT  Geometrie,  dem  Schüler  das  Beweisen  zu  lehren.  Er  erkennt  ferner  die 
Verdienste  an,  welche  die  Verfasser  der  Sammlungen  geometrischer  Übungs- 
aufgaben, ganz  besonders  Petersen,  sich  um  die  Eutwicklung  der  Methodik 
dieses  Unterrichtszweiges  erworben  haben.  Er  hat  es  aber  mit  seinem  Buche 
nicht  lediglich  auf  eine  Sammlung  von  Übungsbcispielen  abgesehen,  sondern 
hat  wesentlich  den  Zweck  im  Auge,  die  Schiller  zum  selbststandisjen  Finden  von 
synthetischen  Beweisen  planimetrischer  Sätze  anzuleiten;  namentlich  glaubt  er 
damit  angehenden  Lehrern  einen  großen  Dienst  erwiesen  zu  haben.  Endlich 
wünscht  der  Verfasser  jene  Lehrsätze,  welche  erst  in  letzterer  Zeit  aufgefunden 
wurden,  und  welche  weniger  durch  ihre  fundamentale  Bedeutung,  als  durch 
ihre  elegante  Form  von  Belang  sind,  einem  größeren  Leserkreise  bekannt  zu 
machen. 

Der  Inhalt  des  Buches  ist  in  zwei  Theile  gegliedert,  deren  erster  befasst 
sich  mit  der  Angabe  allgemeiner  Ziele  und  Kegeln  und  der  verschiedenen 
Methoden  und  Hilfsmittel  bei  den  Beweisen;  der  zweite  Theil  erläutert  die 
theoretischen  Erörterungen  des  ersten  durch  deren  Anwendung  auf  Beispiele, 
bei  denen  vom  einfachsten,  das  ist  der  Lösung  von  Aufgaben  durch  Congrueuz- 
sätze,  ausgegangen  wird.  Eine  folgende  Gruppe  bringt  Aufgaben  mit  Lösungen 
durch  Proportionen,  und  endlich  die  letzte  Stufe  Autgaben,  deren  Lösung  die 
Benutzung  aller  möglichen  Hilfsmittel  erfordert,  zu  denen  neben  der  Trigono- 
metrie auch  die  projectivische  Geometrie  zu  zählen  sind.  Daran  reiht  sich  ein 
Anhang,  welcher  ein  Drittel  des  Buches  umfasst,  Uber  die  grundlegenden  und 
elementaren  Eigenschaften  der  Brocard' sehen  Geometrie  und  über  die  sich 
daraus  ergebenden  Sätze,  welche  sich  auf  Kegelschnitte  beziehen,  wie  sie  von 
Arzt  und  Kiepert  gefunden  wurden. 

Der  geehrte  Verfasser,  welcher  den  besten  Vertretern  unseres  Berufs- 
zweiges beizuzählen  ist,  hat  mit  dem  Vorliegenden  eine  sehr  dankenswerte 
Arbeit  veröffentlicht;  es  kommt  dieselbe  einer  sytematischen  Zusammenfassung 
vieler  Arbeiten  gleich,  welche  ursprünglich  an  verschiedenen  Orten  zerstreut 
veröffentlicht  wurden.  Da  aber  diese  verschiedenen  Zeitschriften,  Programm- 
aufsätze und  Abhandlungen  ursprünglich  nicht  jedermann  zugänglich  und 
später  schwer  auffindlich  sind,  so  ist  sowol  deren  Sammlung,  als  noch  in 
weit  höherem  Grade  ihre  systematische  Ordnung  eine  bochschätzbare  Leistung, 
gleichsam  ein  Markstein  des  Fortschrittes  der  Wissenschaft,  welcher  die  volle 
Beachtung  unserer  Fachgenossen  verdient.  H.  E. 


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Neu  erschienene  Bücher. 

Dr.  Johann  Kvacsala,  Johann  Arnos  Comenius.    Sein  Leben  and  seine 

Schriften.    3  Lfrgn.  Verlag  von  Julias  Klinkhardt  in  Leipzig,  Berlin  and 

Wien.    5  M.  40  Pf. 
W.  Kayser,  Johann  Arnos  Comenias.  Sein  Leben  und  seine  Werke.  Hannover- 
Linden,  Manz  &  Lange.    148  S.    2  M. 
Dr.  Matthias  Drbal,  Lehrbuch  der  empirischen  Psychologie.  5.  Aufl.  Wien 

und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller.    298  S.    2  fl. 
AV.  A.  Lay,  Psychologische  Grundlagen  des  erziehenden  Unterrichts  und  ihre 

Anwendung  auf  die  Umgestaltung  des  Unterrichts  in  der  Naturgeschichte. 

Eine  Festgabe  zur  Comeniusfeier.    Bohl,  Konkordia.    112  S. 
Dr.  R.  Heilmann r  Forderungen  der  gegenwärtigen  Zeit  an  den  Volksschul- 

Unterricht.   Vortrag.    Halle,  Hermann  Schroedel.   15  S.  60  Pf. 
Peter  Schaefer,  Das  geschichtliche  Anrecht  der  Kirche  und  des  Staates  auf 

die  Volksschale.    Köln,  Albert  Ahn.    84  S. 
Konrad  Fischer,  Geschichte  des  deutschen  Volksschullehrerstandes.    3.  Lief. 

Hannover,  Carl  Meyer.    144  S.    50  Pf. 
C.  Rademacher,  Scheve,  Bäkes,  Feierstunden.    Gedenkbuch  für  deutsche 

Lehrer.  Zum  Besten  des  Jütting-Denknials.  Bielefeld,  A.  Helmich.  183  S.  2  M. 
E.  von  Schenkendorff  und  Dr.  med.  F.  A.  Schmidt,  Über  Jugend-  und 

Volksspiele.    Hannover-Linden,  Manz  &  Lange.    III  S. 
Josef  Moser,  Über  Gefiihlsbildung  in  der  Schule.   Wien,  A.  Pichler's  Witwe 

&  Sohn.    37  S.    30  kr. 
Dr.Jnlin«*,  Taschenbuch  der  höheren  Schalen  Deutschlands.  Bei  Ed. Kummer 

in  Leipzig.    136  S.    1  M.  50  Pf. 
A.  Ch.  Jessen,  Volks-  und  Jugendbibliothek.    Bändchen  81—85.  Wien, 

A.  Pichler's  Witwe  &  Sohn. 
Hipp  und  Schmidt,  Unsere  Kleinen.  Ein  Buch  für  die  Kleinkinderlehrerinnen 

sowie  für  Lehrer  und  Mütter.  Straßburger  Verlagsanstalt.  173  S.  3  M. 
Otto  Janke,  Der  Beginn  der  Schulpflicht.  Ein  Beitrag  zur  Erörterung  dieser 

Frage.   Mit  8  Tabellen.  Bielefeld,  Helmich.   69  S.   1  M. 
Harry  Schmitt,  Das  kaufmännische  Fortbildungsschnlwesen  Deutschlands. 

Berlin,  Karl  Siegismund.  216  S.   7  Tabellen. 
Ferdinand  Thomas,  Das  Lesebuch  in  der  Bürgerschule.    Ein  Commentar  zu 

dem  im  k.  k.  Schulbücherverlage  in  Wien  erschienenen  dreitheiligen  Lesebuche 

für  Österreich.  Bürgerschulen.  l.Theil.  Wien,  Pichler.  200  S.  1 11.30  kr. 
Der  Schreibleseschüler.    Stereotyp  -  Ausgabe.    Cöthen,  Schettlers  Erben. 

78  S.    50  Pf. 

Vinzenz  LOssl,  Muster  der  im  bürgerlichen  Leben  vorkommenden  Geschäfts- 

aufsätze  und  Geschäftsbriefe.  Landshut  1891,  Attenkofer.  2  Theile  ä  35  Pf. 

Bemerkungen  zu  den  Geschäftsaufsätzen.   3.  Theil.  80  Pf. 
Der  Religionsunterricht  in  der  Volksschule  in  Hinsicht  auf  das  neue  preußische 

Volks8cbulgesetz.  Eine  Stimme  aus  dem  Reichsland.  Straßburg,  Bull.  24  S. 
Dr.  Horst  Keferstein,  Religionsunterricht  und  Erziehung  zur  Religion.  Harn- 

bürg,  Verlagsanstalt  und  Druckerei  A.-G.  (vormals  J.  F.  Richter).   64  S. 
Jos.  Ambros,  Die  senkrechte  Schrift.   Wien,  A.  Pichler.  80  S.   50  kr. 
Dr.  Anton  Schwarzhofer,  Steilschriftvorlagen.  Wien ,  A.  Pichler.  12  Bl.  40  kr. 

Verantwortl.  Redacteur  Dr.  Friedrich  Dittei.    Buehdruckerei  Julian  Klinkhardt,  Leipaig. 


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3n  einigen  Zeilen  erfc^etnt  b.  b.  9?erlag$= 
«nft.  u.  $rucf.,  (Dorm  3- 3-  3Jid)ter) 

Hamburg: 

Siditrritinmifiioiiöü.lücdrmiiclt 

t>on  3.  ^nmlcrfi,  ftäbt.  üeljrer. 
400  Seit.  gr.  8°. 
35a3  Grrfdjeinen  bes  33ud)c*,  eines  „unoer- 
gleicbl  ivfircufiiicitclo  f.  b.  fieljrerftanb" 
(5r.  SJoladS  Urteil  ü.  b.  SHanufcript)  rourbe 
Don  meb,r  olg  60  Sd)ul,\citungcn  begeiftert 
brgrfi§t,  u.  mirb  baSfelbe  9t uf  j eb. en  erregen! 
$er  Zutycript.  eleg.  gebb.49Ji\,  fpäter  teurer. 
SBorbeftellgn.  nur  a.b.Üierfnffer  —  Hamburg 5. 


Beste  Violinschule: 

Hohmann-Heim 

164  Seiten  grösstes  Noten- 
form. Prachtausgabe  5 Hefte 
je  I  M.,  in  I  Band  3  M. 

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3n  meinem  Berlage  ift  (orben  erfd)ienen: 

(Orlrgfiiliritsrrtfii 

^olf^rfiuUei'jrcr. 

herausgegeben  t>on 
Sdjutrat  Ernst  Eckardt, 

Ägl.  SejirtSfdjulinfpeftor. 
81/,  »ogen.   8.   $rei$  3».  1,80. 
*5>icfe  Sammlung  öon  fReben  unb  Wnjpracfyen 
eines  tüdjtigen,  oltberoÖf>rten  SdjulmanneS  toer« 
ben  manrb  iilngerem  Sebjer  als  Hilfsmittel  üor« 
trefflidje  SDienfte  leiften. 

«udj  enthält: 

I.  9iebcn  jur  Sdjulentlaffung.  (12.) 

II.  SRebeu  bei  ßbnftbefcfjerungen.  (2.) 
IIT.  «ßatriotifdje  »eben.  (3.) 

IV.  ffleben  beim  SlmtSroedn'el.  (4.) 
V.  SBeibereben  bei  ber  grridjtung  neuer  Sdml« 

gebäube.  (8.) 
VL  ftonferenjreben.  (2.) 

(Megen  ©infenbung  beS  SerragcS  erfolgt  gronfo- 
3ufenbung. 


Harmoniums,  ^eut"h"  und  Cottage. 

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grösstes  Piano-Vcrsandt-Geschäft  Deutschlands. 


Musik 


(BSE  u.  luodjj.!-  u.  •liiiL'.OinrrHirrn, 
l.it df  r,  Arifu  tu,  800  Ire. 

alischc  Universal-Bibliothek. 

_  Jed«*  Xr.  «O  l»f.  Rca  midirtr 
loflsrrn.  Vtnel.Stlrh  n.  Hrnrk,  Markts  Fapirr.—  UlfRint  au*- 
gmUUrte  AltiuniMa  l.'.O,  ruidirt  von  Binnaos,  Judas- 
sebn  itc  —  UrbDiidrnr  Intik  nll<r  Lditiosrn.  —  MunsrWtiea. 

Vtrxrl.lin.  et-.  ii.fr.  v.u  Felix  Siegel,  Lnlprifl.  lnlrrl»n«tr.  1. 


Soeben  erscheint 


Brockhaus1 

Konversations-Lexikon. 

  /4.  Auflage.   


600Tafeln.H^HHi300Karten.| 

1 120  Chromotafeln  und  480  Tafeln  in  Schwarzdruck. 


DER  GUTE  TON 

in  allen  LebenHlacen.  Ein  Handbuch  für  den  Verkehr  in  der  I  amilic.  in  der 
OeselUchaft  und  im  3ffentl.  Leben  von  Frant  Ebhaxtt.  12.  Verb.  Aufl.  I'rachtwerk 
■'jO*,  in  2  Färb.  a.Velinpap.  m.  viel.Vign.  47 Bog.  clcg.geb.iu.Gold*chn.  10  Mk. 

II.  Teil.  Unserer  Frauen  Leben.  •}  ;cr1b-  A"fl  *?  6$k- 

....  ^„  t.tviehen  durch  alle  Hurhh. 

oder  direkt  portofrei  v.  Verl.  JULIUS  KLINKHARDT  in  Leipzig  u.  Berlin  W.  35. 


Jtgj         «ntäjjlidi  ber  Jubelfeier  be3  ^unbertjä^rtgen  $eftel)en$  ber  Setpjiger  SRa  IS- 
fr  ei  fdjule  erfdjicn  tu  meinem  Berlage: 

Die  Jnquifition 

in  6er  c^ei^igcr  ^atefreifc^ure. 


(£iu  ßeitrag  jur  beutfdjcn  Sd)ulgefd)id)tt. 

Äil  frcn  BtlfcmJTcn  tocr  ©tccktorert  JrNato  unt»  Soli. 

beä  ^unbertjäljrigcn  33cftefjen$  bcr  Mnftalt 


tmtt 


Sdjriffen  Urs  Sereins  für  Me jBefdiidjte  it\m%.  fft.  IV. 

8°.    16  SBogen.   t^reiS  3  9Harf. 

$>en  früheren  Scfiülern  ber  9iat3freijd)ule,  bie  fidj  bcm  Sefjrerberufe  geiuibmet 
babcu,  wirb  biefe  $entfd)rift  feljr  nritlfommen  fein. 

t»ci*$iÄ.  3uliud  Ältnf&arM. 


2$  IT 


lag  üott  3uliu#  Älinfbarbt  in  £cip$iß. 


3n  meinem  Berlage  ift  foeben  erhielten: 

faljamt  Arnos  (Tomrnto. 

$ein  c^cßeti  tm5  feine  «griffen 

von 

Dr.  ^otjatttt  ÄtmrfiUrt, 

^roffffor  am  codueelifc^eii  i'ljceum  in  Sirt&butfl. 

3  Ciffertuigcn  a  1  SR.  SO  tff. 

Taö  $8erf  liegt  bis  6nbe  Slpril  boßfWnbig  öor. 

?(n  einer  auäfüfyrlidjen  S8iogrnpf)ie  bev  ßomeniuä  bat  ei  bi$b«r  gän^tid)  gefeblt, 
ba  bie  Duellen  für  eine  flriiublidje  unb  eingebenbe  Srfjilberung  jum  leil  gor  nid>t 
eröffnet,  $um  leil  fdjroer  jugänglid)  roaren,  fo  ba§  man  bisljer  mit  einer  monograbfyirf}fit 
33eijanb(ung  üorlieb  nabm. 

$er  SSerfoffer  bietet  nun  in  feiner  Arbeit  eine  3ufammenfaffung  ber  Crrgebniffe 
bcr  bisherigen  ^ron'd)Ung,  inbent  er  fotoeit  aU  mögltd)  ade  Sdjriften  unb  Äbljanblunaen, 
bie  mit  feiner  Sluigabc  in  SBcrbinbung  ftanben,  gejainmelt  unb  benufct  bot.  StuBerbem 
finb  in  biefem  Serfc  eine  ganje  $lnjat)t  Briefe,  Wufiäfce  unb  eine  weite  iwiffenfa>aftlidje 
fiorrcfponbnti  über  6omeiiiu~  jum  erften  male  ucrüjfentlid)t. 


Hierzu  sechs  Beilagen:  1.  von  Julius  Klinkhardt  in  Leipzig.  2.  von  Gerhard  KChtmann  in  Dresden. 
3.  vonR.  Mickisch  Firma:  E.Mecklenburg)  inBerlin.  4.  von  Hellmuth  Wollermann  in  Braunschweig 
5.  von  C.  C.  Buchner  Verlag  in  Würzburg.   6.  von  Wilh.  Rudolph  in  Glessen.,  m 


Paeda 


Monatsschrift 


für 


Erziehung  und  Unterricht. 


Herausgegeben 


unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 


von 


XIV.  Jalrgm. 
8.  Heft,  Mai  1892. 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 


2^ 


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Inhalt  des  8.  Heftes. 


Seite 

De«  Thüringer  Reformators  Friedrich  Myeonius  Verdienste  um  das  Schulwesen. 

Dargestellt  von  Director  Dr.  Gotthold  Kreyenberg-Iserlohn  .    .    .  477 

Die  Reform  und  die  Stellung  unserer  Schulen.    Ein  Referat  von  Heinrich 

Neugcboren-Kroustadt  in  Siebenbürgen   .  4J)5 

Gedanken  über  das  unvermeidliche  Thema:  „Der  Socialisnius  und  die  Volks- 
schule".   Von  B.  St  505 

Sollen  die  Lehrerbildungsanstalten  Internate  oder  Externate  sein?  Ein  Wort 
Diesterwegs  zur  Seminarfrage.  Mit  Beziehung  auf  die  Gegenwart  mit- 
getheilt  von  F.  A.  Stcglich-Dresden  51)9 

Die  Frage  der  einheitlichen  Mittelschule  in  Ungarn  und  ihre  Beziehung  zur 

Volksbildung.   Von  Seminardirector  G£za  Soinogyi-Zninväralja .    .    .  518 

Schulprogramme.   Von  Rector  A.  Gild- Cassel  527 

Bei  den  Kleinen.    Erinnerung  aus  dem  Lehrerlebcn.    Von  Alois  Stolz- 

Pforzheim  :    .  530 

Aus  der  Fachpresse  534 

Rezensionen  538 


Abonnements *Prcl$  pro  Quartal  M.  2.25. 
Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten  nehmen  Bestellungen  an. 


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Des  Thüringer  Reformators  Friedrich  Myconius  Verdienste 


ist  nachgerade  zum  öffentlichen  Geheimnis  geworden, 
dass  das  geistige  Leben  des  deutschen  Volkes  sich  gegenwärtig  in 
einem  Zustande  des  langsamen,  einige  meinen  des  rapiden  Verfalls 
befindet."  So  lautet  der  Anfang  des  vielbesprochenen  Buches:  „Rem- 
brandt  als  Erzieher,  von  einem  Deutschen,"  welches  den  immerhin  be- 


deutsamen, wenn  auch  nur  äußerlichen  Erfolg  hatte,  dass  es  in  der 
kurzen  Zeit  von  zwei  Jahren  beinahe  vierzig  Auflagen  erlebte.  Der 
Satz  ist  paradox,  wie  das  ganze  Buch.  Jedoch  fordern  beide  zum 
Nachdenken  auf,  und  etwas  Wahres  liegt  darin,  dass  in  unserem 
Leben  der  Kunst,  gegenüber  der  Wissenschaft,  ein  größeres  Gewicht 
als  bisher  gebüre.  Hätte  man  in  unserem,  wie  man  manchmal  sagt, 
pädagogischen  Zeitalter  wirklich  mehr  auf  die  Lehren  der  Pädagogik 
auch  für  die  moderne  Lebensführung  gehört,  so  würde  man  längst  der 
Kunst  oder  im  allgemeinen  dem  Können  eine  größere  Wichtigkeit  bei- 
gelegt haben  als  dem  einseitigen  Wissen.  Die  Menschen  wären  nicht 
nur  praktischer,  sondern  auch  veredelter;  denn  die  Wissenschaft  er- 
kältet, aber  die  Kunst  und  das  Können  erwärmt. 

Auch  darin  hat  der  Verfasser  im  ganzen  nicht  unrecht,  dass  die 
treibende  Grund-  und  Urkraft  alles  Deutschthums  der  Individualismus 
ist.  Nur  die  Folgerung,  in  Rembrandt  den  individuellsten  unter  allen 
deutschen  Künstlern  zu  erblicken,  der  aus  diesem  Grunde  „als  Vor- 
bild den  Wünschen  und  Bedürfnissen,  welche  dem  deutschen  Volke 
von  heute  auf  geistigem  Gebiete  vorschweben",  gelten  müsse,  ist  falsch; 
schon  deswegen,  weil  Rembrandt  diese  Bedeutnng  garnicht  hat.  Ein 
anderes  ist  es  aber,  die  entschwundenen  Vorbilder  der  Grund-  und  Ur- 
kraft durch  Vertiefung  in  die  deutsche  Vergangenheit  zu  suchen  und 
einem  verflachenden  Kosmopolitismus  entgegenzutreten,  ohne  jedoch 
nationaler  Simpelei  zu  verfallen,  aber  auf  dem  eigenen  Grund  und 
Boden  die  kostbaren,  noch  ungehobenen  Schätze  auszugraben.  Dann 
wird  sich  zeigen,  dass  unser  geistiger  Reichthum  noch  ein  so  un- 

Paxlago&iuin.  14.  Jahrg.  H«ft  VlU.  'M 


um  das  Schulwesen. 

Aus  Anlas»  seines  400jahrigen  Geburtstages 
dargestellt  von 
Director  Dr.  Gotthold  Kreuenberg-IserWm. 


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erschöpflicher  ist,  wie  vielleicht  bei  keinem  anderen  Volke,  dass  wir 
noch  weit  davon  entfernt  sind,  einen  geistigen  Bankerott  anmelden 
zu  müssen,  was  laut  Beginn  und  Inhalt  seiner  Ausfuhrungen  „Rein- 
brandt als  Erzieher"  doch  thun  möchte. 

Diese  Anschauungen  vom  unversiegbaren  geistigen  Reichthum 
unseres  Volkes  haben  eine  sehr  kraftige  Bestätigung  auch  durch  die 
Auslassungen  von  höchster  Stelle  erhalten,  nämlich,  dass  es  falsch  sei, 
von  dem  Grundsatze  auszugehen,  der  Schüler  müsse  so  viel  wie  mög- 
lich wissen:  ob  das  für  das  Leben  passe  oder  nicht,  sei  Nebensache. 
Nicht  nur  werde  die  Jugend  den  großen  Aufgaben  des  praktischen 
Lebens  ferngehalten,  sondern  dem  Unterrichte  und  der  Erziehung 
unserer  Jugend  fehle  die  „nationale  Basis".  „Wir  müssen  Deutsche 
erziehen,  nicht  junge  Griechen  und  Römer."  „Soll  echt  deutsches 
Volksbewusstsein  und  rechte  Liebe  zum  Vaterlande  in  unserem  reali- 
stischen Zeitalter  erhalten  werden,  so  ist  nöthig,  dass  jeder  einzelne 
die  großen  Begebenheiten  der  Vergangenheit  und  das  Wirken  der 
Vorfahren  kennen  lernt." 

Das  ist  jedoch  durchaus  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  die  so- 
genannten Haupt-  und  Staatsactionen  der  Vergangenheit,  die  Kriege 
und  Kriegszüge  derselben,  noch  eingehender  als  bisher  schon  erörtert 
werden  sollten.  Diese  Art  und  Weise  würde  eher  zur  Verrohung 
des  Volkes  beitragen,  als  dasselbe  auf  eine  höhere  Stufe  der  Sittlich- 
keit erheben.  „Wie  in  vergangenen  Zeiten,"  so  sagt  Herbert  Spencer, 
derjenige  englische  Philosoph,  welcher  in  neuester  Zeit  unbestritten 
einen  kräftigen  Anstoß  zur  Reform  des  Geschichtsunterrichts  ge- 
geben hat.  „der  König  alles  und  das  Volk  nichts  war,  so  füllen  in 
älteren  Geschichtsberichten  die  Thateu  des  Königs  das  ganze  Gemälde 
aus,  zu  dem  das  Volksleben  nur  einen  dunklen  Hintergrund  bildet. 
Erst  jetzt,  da  das  Wol  der  Völker  mehr  als  das  Wol  der  Fürsten 
sich  zum  herrschenden  Gedanken  emporschwingt,  beginnen  die  Geschicht- 
schreiber, sich  mit  den  Erscheinungen  gesellschaftlichen  Fortschritts  zu 
beschäftigen." 

Wo  aber  lässt  sich  in  der  Vergangenheit  ein  bedeutenderer  gesell- 
schaftlicher Fortschritt  erblicken,  als,  namentlich  für  Deutschland,  der 
durch  die  Reformation  hervorgerufene?  Ist  das  Christenthum  ohne 
jeden  Zweifel  der  mächtigste  Culturfactor  aller  Zeiten,  so  ist  es  in  fast 
nicht  geringerem  Maße  die  Erneuerung  desselben,  die  Reformation,  in 
ihrer  Einwirkung  auf  Kunst,  Wissenschaft,  Leben  und  Schule  für  die 
letzten  Jahrhunderte.  Der  Reformation  verdankt  Deutschland  nament- 
lich seine  jetzige  Volksschule  und  eine  ganz  bedeutende  Anz»hl  der 


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höheren  Lehranstalten.  Aber  auch  diejenigen  Schulen,  welche  noch  aus 
alterer  Zeit  stammen,  sind  kaum  von  dem  durch  die  Reformation  ge- 
weckten neuen  Geiste  unberührt  geblieben.  Jedoch  wer  kennt,  wenn 
es  sich  um  die  deutsche  Reformationsgeschichte  in  den  einzelnen  Landes- 
theilen  handelt,  die  Persönlichkeiten,  welche  bei  dieser  Neubelebung 
thätig  gewesen  sind  ?  Dem  deutschen  Knaben  werden  im  Unterrichte 
fast  alle  Feldherren  des  Alterthums  genannt.  Den  Hannibal  muss  er 
auf  allen  Kreuz-  und  Quer-Zügen  begleiten  und  jede  noch  so  unbedeu- 
tende Unternehmung  Julius  Casars  sich  einprägen.  Aber  die  geistigen 
Heerführer  der  Reformationszeit  werden  ihm  nur  sehr  summarisch 
vorgeführt,  und  den  Zug,  welchen  die  Reformation  durch  Deutschland 
genommen  hat,  kennt  er  nur  obenhin.  In  der  That  aber  handelt  es 
sich  dabei  um  geistige  Führer,  welche  nicht  etwa  blos  der  Local- 
geschichte  angehören,  sondern  recht  innerhalb  der  großen  Entwicke- 
lnng  standen,  ja,  als  treibende  Kräfte  ihre  Richtung  mit  bestimmt  und 
die  großen  Erfolge  mit  bewirkt  haben. 

Zu  diesen  Persönlichkeiten  gehört  auch  ein  Friedrich  Myconius. 
Er  war  der  Freund  Luthers  und  Melanchthons  und  hat  Schulter  an 
Schulter  mit  diesen  für  das  Wol  der  Schule  und  Kirche  gekämpft. 
An  fast  allen  wichtigen  Verhandlungen,  welche  den  Fortgang  der 
Reformation  bezeichneten,  nahm  er  theil.  Von  den  Ernestinern  1524 
nach  Gotha  berufen,  damit  er  dort  und  in  Thüringen  die  neue  Lehre 
einführe  und  befestige,  breitete  sich  sein  Ruf  bald  weiter  aus.  Bereits 
nach  einem  Jahrfünft  wohnte  er  auf  besonderen  Wunsch  des  Land- 
grafen yon  Hessen,  Philipp  des  Großmüthigen ,  dem  Marburger  Re- 
ligionsgespräche vom  1.  bis  4.  October  1529  bei. 

Wenn  freilich  jener  Fürst  gemeint  hatte,  Myconius  würde  sich 
nachgiebiger  zeigen  als  Luther,  so  war  er  im  Irrthum  befangen. 
Nichtsdestoweniger  ist  der  Einfluss  des  Thüringer  Reformators  auf 
das  Zustandekommen  der  Wittenberger  Concordie,  jener  milderen  Auf- 
fassung der  Abendmahlslehre,  nicht  zu  verkennen.  Im  Jahre  1537 
finden  wir  ihn  in  Schmalkalden  als  Kanzelredner  und  geistlichen  Be- 
rather thätig,  1538  als  ohne  Frage  wichtigstes  Mitglied  einer  Gesandt- 
schaft, die  in  England  unter  Heinrich  VIII.  den  allerdings  vergeblichen 
Versuch  machte,  Luthers  Lehre  dort  heimisch  zu  machen.  1539  sehen 
wir  ihn  auf  den  Reichstagen  zu  Frankfurt  und  Nürnberg  und  als  Re- 
formator im  Meißner  Lande,  wo  er,  unterstützt  von  Creuciger  und 
Pfefftnger,  nach  Georg  des  Bärtigen  Tode  die  Reformation  in  Leipzig 
einführte.  Nicht  genug  an  diesem  ebenso  schwierigen  wie  ruhmreichen 

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Werke,  betheiligte  er  sich  noch  am  Hagenauer  Convente,  1540,  dessen 
Erfolglosigkeit  seine  Schuld  durchaus  nicht  war. 

Hat  Myconius  demnach  hervorragend  für  die  Kirchenreformation 
auch  außerhalb  Thüringens  gewirkt,  so  nicht  minder  in  Thüringen  als 
Schulreformator  oder  richtiger,  da  die  Schulen  erst  zu  begründen 
waren,  als  Organisator  derselben.  Um  jedoch  gerade  diesen  Theil 
seiner  Lebensarbeit  zu  verstehen,  ist  es  erforderlich,  auf  sein  Leben 
und  seinen  Entwicklungsgang  etwas  näher,  wenn  auch  in  gedrängter 
Darstellung,  einzugehen. 

Nach  dem  vorhandenen,  von  L.  Kranach  gemalten  Bilde  war 
Myconius  im  Äußern  eine  Persönlichkeit,  welche  die  Mitte  zwischen 
Luther  und  Melanchthon  hielt.  Er  hatte  die  Größe  und  ungefähr  auch 
die  mehr  gedrungene  Gestalt  des  ersteren;  doch  seine  Züge  waren 
durchgeistigter,  ähnlich  denen  des  letzteren.  Er  war  überhaupt  eine 
Vereinigung  von  Herz  und  Verstand.  Nicht  ohne  Einfluss  mag  dabei 
der  Ort  seiner  Geburt  gewesen  sein,  das  als  Knotenpunkt  von  Eisen- 
bahnen bekannte  Lichtenfels  in  Oberfranken,  wo  nord-  und  süddeutsches 
Wesen  sich  scheidet,  aber  auch  ineinander  übergeht.  Als  die  Glocken 
der  romantischen  waldumkränzten  Benedictiner -Abtei  Banz  zu  Ehren 
des  zweiten  WTeihnachtsfeiertages,  des  Stephanstages,  erklangen  und 
das  Geläut  im  Wallfahrtsorte  Vierzehnheiligen  antwortete,  wurde  1491 
zu  Lichtenfels  einem  ehrsamen  Bürger  mit  Namen  Mecum  dieser 
Knabe  als  nachträgliches  Weihnachtsgeschenk  geboren.  Zwar  ist  in 
neuester  Zeit  geltend  gemacht  worden,  dass,  da  man  in  damaliger 
Zeit  den  Beginn  des  neuen  Jahres  manchmal  bereits  zu  Weihnachten 
schrieb,  das  wahrscheinliche  Geburtsjahr  schon  1490  sei.  Jedoch 
nehmen  alle  älteren  Biographen  1491  an,  und  auch  auf  einer  Denk- 
münze, die  zur  Verherrlichung  des  Myconius  geprägt  wurde,  ist  sein 
Alter  diesem  Geburtsjahr  entsprechend  angegeben,  so  dass  kein  Grund 
vorliegt,  von  der  ursprünglichen  Annahme  abzuweichen. 

Der  Vater  Mecum  gehörte  zu  den  in  jenen  Tagen  nicht  seltenen 
('bristen,  die  von  den  Zuständen  der  Kirche  keineswegs  befriedigt 
waren.  Und  docli  war  er  nur  ein  ganz  einfacher  Mann  ohne  gelehrte 
Bildung.  Man  sieht,  die  Reformation  lag  damals  so  zu  sagen  in  der 
Luft.  Mecum  wollte  mit  seinem  Sohne  auch  höher  hinaus.  Nachdem 
er  ihn  die  Lichtenfelser  Stadtschule  hatte  durchmachen  lassen,  sandte 
er  ihn  auf  die  Lateinschule  nach  Annaberg  in  Sachsen.  Diese  Stadt 
galt  zu  jener  Zeit  als  eine  Art  Eldorado.  Vor  kürzerer  Frist  hatte 
sich  dort  und  im  benachbarten  Buchholz  ein  sehr  ergiebiger  Silberbau 
aufgethan  und  die  „Neue  Stadt  am  Schreckenberg,"  wie  sie  zuerst 


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hieß,  war  daraufhin  gegründet  worden.  Kaiser  Maximilian  verlieh 
ihr  den  Namen  Annaberg  nach  der  heiligen  Anna.  Wie  in  unseren 
Tagen  die  Goldländer,  so  mochte  damals  jene  Gegend  die  Menschen 
anziehen.  Indes  hatten  die  Annaberger  über  den  materiellen  Bestre- 
bungen die  geistigen  nicht  vergessen.  Ihre  Lateinschule  genoss  unter 
dem  Rector  Andreas  Weidner,  genannt  Staffelstein,  sogar  einen  be- 
deutenden Ruf,  der  auch  in  den  Augen  des  jungen  Mecum  ein  wol- 
verdienter  war;  denn  dieser  spricht  mit  Achtung  von  seinen  Lehrern. 
Bald  war  er  der  lateinischen  Sprache  so  mächtig,  dass  er  dieselbe 
sprechen  konnte.  Vielleicht  würde  er,  mit  einer  tüchtigen  Bildung 
ausgerüstet,  eine  weltliche  Laufbahn  in  Annaberg  oder  anderswo  ein- 
geschlagen  haben;  das  war  auch  der  Wunsch  seines  Vaters.  Aber 
das  Schicksal  hatte  es  anders  beschlossen.  Kleine  Ursachen,  große 
Wirkungen. 

Mecums  Leben  bietet  in  seinem  Verlaufe  viele  Vergleichnngspunkte 
mit  demjenigen  Luthers.  Beide  waren  einfachen  Familien  entsprossen, 
beider  Väter  hatten  die  Söhne  für  eine  höhere  Lebensstellung  aus- 
bilden lassen,  beide  wendeten  sich  aber,  um  das  Heil  ihrer  Seele  be- 
sorgt, dem  geistlichen  Berufe  im  Kloster  zu.  In  beider  Schicksal  greift 
endlich  der  Ablasshandel  Johann  Tezels  bestimmend  ein. 

Gerade  auch  in  das  des  Mecum,  der  unterdessen,  einer  Sitte  jener 
Zeit  folgend,  seinen  ohnehin  schon  lateinischen  Namen  in  einen  noch 
lateinischeren  umgewandelt  hatte.  Gern  erging  er  sich  aber  auch  über 
seinen  ursprünglichen  Namen  in  Wortspielen,  z.  B.:  „Etiamsi  ambula- 
vero  in  medio  umbrae  mortis,  non  timebo  mala,  quia  tu  Mecum  es." 
Schon  1508  durchzog  Tezel  mit  seinem  Ablasshandel  das  Meißner  Land 
und  hatte  es  besonders  auf  das  wolhabende  Annaberg  abgesehen.  Seine 
Ernte  war  hier  gewiss  auch  eine  besonders  reiche.  Es  liegt  nämlich 
sonst  kein  Grund  vor,  weshalb  er  gerade  hier  die  Bekanntmachung 
erließ,  den  Armen  solle  nach  des  Papstes  Befehl  der  Ablass  bis  zu 
einem  bestimmten  Termine  unentgeltlich  verabfolgt  werden.  Obschon 
nun  der  Vater  des  Myconius  bereits  Zweifel  in  die  Seele  des  Sohnes 
über  die  Berechtigung  des  Ablasses  gesäet  hatte,  gesteht  der  junge 
Friedrich,  wie  wir  einem  berühmten  späteren  Briefe  desselben  an  den 
Wittenberger  Professor  Paul  Eber*)  entnehmen,  doch  freimüthig,  wel- 
chen mächtigen  Eindruck  die  Reden  des  päpstlichen  Commissars  auf 
ihn  ausgeübt  hätten.   Als  Armer  begab  er  sich  in  dessen  Absteige- 

*)  Jenisü  Annaebergae  bist.  lib.  II  fol.  4b.  sqq.  und  häufig  veröffentlicht,  auch 
LommatBSch.  narratio  de  Frid.  Myconius  pag.  lOff. 


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quartier,  redete  die  im  Vorzimmer  befindlichen  Priester  in  zierlichen 
Worten  lateinisch  an  und  begehrte  den  Ablass  umsonst.  Jedoch  Tezel, 
dem  die  Sache  schon  wieder  leid  geworden  war,  schlug  seine  Bitte 
ab  und  verwies  den  jungen  Gelehrten  auf  die  doch  stets  nöthige  „hilf- 
reiche Hand,"  wie  der  kirchliche  Ausdruck  hieß.  Nur  einige  Pfennige 
solle  er  wenigstens  darreichen,  und  diese  wollten  ihm  die  Priester 
schenken.  Aber  Myconius  schlug  alles  aus,  kehrte  in  sein  Kämmer- 
lein zurück  und  bat  nun  Gott  ohne  die  Vermittelung  anderer  um  Ver- 
gebung seiner  Sünden.  Jedoch  der  Stachel  des  Zweifels  blieb  in  seiner 
Seele  sitzen. 

Wie  Luther  fand  er  bald  im  weltlichen  Leben  keine  Befriedigung 
mehr.  Nach  Rücksprache  mit  seinem  Lehrer  Staffelstein  beschloss  er, 
ohne  Wissen  der  Eltern,  ins  Kloster  zu  gehen.  Die  reichen  Anna- 
berger hatten  das  dortige  Franciscanerkloster  neu  ausgestattet  und 
namentlich  mit  einem  prächtigen  Gebäude  versehen.  In  dieses  Kloster 
trat  Myconius  im  Juli  1510  ein  und  studirte  von  da  an  nicht  mehr 
vorzugsweise  die  Weltweisen,  wie  einen  Aristoteles,  sondern  den  Ale- 
xander von  Haies,  Bonaventura,  Gabriel  Biel,  Augustinus  und  andere 
heilige  Bücher.  Gleich  während  der  ersten  Nacht,  die  er  im  Kloster 
zubrachte,  hatte  er  einen  merkwürdigen  Traum,  über  den  er  in  dem 
bereits  angeführten  Briefe  nn  Paul  Eber  berichtet  Er  sei  in  eine 
gewaltige  Felseneinöde  gekommen,  wo  ihn  ein  Führer,  der  Apostel 
Paulus,  zuerst  zur  Quelle  des  Heils  gebracht  habe,  aus  welcher  zu 
trinken  er  sich  nicht  für  würdig  erachtete.  Dennoch  habe  ihm  Paulus 
zu  einem  Trünke  verholfen,  und  erquickt  sei  er  mit  seinem  Führer 
weitergezogen,  darauf  zu  einem  Ährenfeld  gelangt,  auf  dem  ein 
Schnitter  rüstig  gearbeitet  habe,  ein  starker  Mann  im  kräftigsten 
Alter,  im  Äußern  dem  Paulus  ähnlich.  Mit  ihm  vereint  habe  nun 
Myconius  eingeerntet,  aber  nur  die  Ähren  und  den  Weizen,  nicht  das 
Stroh  geschnitten.  Auch  noch  andere  seien  zu  dieser  lohnenden  Arbeit 
gekommen;  trotzdem  sei  Myconius  krank  und  kränker  geworden,  bis 
Paulus  ihn  auf  Christus  verwiesen  habe:  „Diesem  musst  Du  ähnlich 
werden!"  (Huic  oportet  te  conformem  fieri.) 

Damals  deutete  er  diesen  Traum  noch  keineswegs  auf  einen 
Luther  und  dessen  Schnitterarbeit,  sondern  natürlich  nur  auf  seinen 
Franciscanerorden,  der  ihn  aus  der  Einöde,  dem  weltlichen  Leben, 
herausleiten  werde;  die  Ernte  aber  sei  das  religiöse  Exercitium.  Nur 
kommt  ihm  zuweilen  ein  Bedenken:  im  ganzen  Traumgesichte  war 
ihm  auch  nicht  ein  einziger  Mönch  erschienen.  Vorläufig  erfasste  er 
aber  den  neuen  Beruf  mit  voller  Seele.   Die  Mönche  machten  den 


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gelehrten  Bruder  zum  Lector.  Bald  aber  regten  sieh  seine  alten 
Zweifel  wieder.  Um  sich  zu  zerstreuen  und  zu  erfrischen,  erlernte  er 
das  Drechseln,  hantirte  mit  Hacke  und  Spaten  und  schwang  die  Axt. 
Dann  saß  er  wieder  und  malte  Initialen  aus.  Aber  die  Summe  von 
allem  war  doch  ein  unbefriedigtes  Dasein. 

In  Annaberg  scheint  er  übrigens  nur  als  Novize,  darauf  in  Leip- 
zig gewesen  zu  sein;  jedenfalls  finden  wir  ihn  1516  in  Weimar,  wo 
er  zum  Priester  geweiht  wurde.  „Ich  sung,  wie  es  dazumal  unter 
dem  Papst  Gewohnheit  war,  meine  erste  Messe  auf  den  Pfingsttag." 
Die  sächsischen  Herzöge  und  späteren  Kurfürsten  Johann  der  Beständige 
und  Johann  Friedrich  der  Großmüthige  wohnten  dieser  „Erstmesse4* 
an,  der  letzten  übrigens,  bei  der  sie  überhaupt  zugegen  waren. 

Ein  Jahr  später  schlug  Luther  seine  Thesen  an  die  Thür  der 
Schlosskirche  zu  Wittenberg,  und  Myconius,  der  lebhaft  an  seine 
Begegnung  mit  Tezel  erinnert  werden  mochte,  stellte  sich  als  einer 
der  ersten  auf  des  neuen  Apostels  Seite.  Auch  das  war  zu  jener  Zeit 
keine  gefahrlose  Sache.  Melanchthon  erzählt  in  seiner  Apologie  der 
Augsburgischen  Confession  von  einem  Franciscanermönche  in  Eisenach, 
Johann  Hilten,  der  von  seinen  Klosterbrüdern  damals  in  den  Kerker 
geworfen  wurde,  weil  er  grobe  Missbräuche  in  der  Kirche  gerügt  hatte. 
Bis  an  sein  Lebensende  blieb  dieser  Mönch  ein  Gefangener.  So  wurde 
auch  Myconius  überwacht  und  sogar  nach  demselben  Eisenach,  darauf 
nach  Leipzig  und  seinem  Annaberg  geschickt,  wo  man  ihn  achtzehn 
Monate  in  klösterlichem  Gewahrsam  gehalten  haben  soll.  Mit  Hilfe 
einiger  Freunde  gelang  es  ihm  aber,  nach  Zwickau  zu  entkommen; 
dort  durfte  Luthers  Lehre  schon  gepredigt  werden.  Dem  Kloster 
entronnen  und  dem  Mönchsorden  nun  nicht  mehr  angehörig,  verkündete 
er  unerschrocken  auf  den  Kanzeln  der  sächsischen  Städte  das  neue 
Evangelium.  Gern  hätten  ihn  vor  allem  die  Buchholzer  als  ihren 
Geistlichen  ganz  bei  sich  behalten,  aber  Herzog  Johann  hatte  ihn 
bereits  für  Gotha  ausersehen,  wo  er  nicht  nur  die  Kirche,  sondern 
auch  das  Schulwesen  reformiren  sollte. 

Für  die  Reformation  waren  in  Thüringen  und  Gotha  schon  einige 
vorbereitende  Schritte  gethan  worden.  Ein  Herzog  Wilhelm,  Bruder 
des  Kurfürsten  Friedrich  des  Sanftmüthigen,  hatte  bereits  nm  die  Mitte 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  die  schlechte  Kirchenzucht  zu  verbessern 
gesucht.  Er  verbot,  um  den  Einfluss  der  Geistlichen  auf  das  richtige 
Maß  zurückzuführen,  seinen  Unterthanen,  mit  weltlichen  Händeln  vor 
ein  geistliches  Gericht  zu  gehen.  Ein  Dutzend  Jahre  später  sandte 
derselbe  Fürst  einen  Augustiner-Pro vinzial  nach  Gotha,  uro  der  Kirchen- 


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I 


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Ordnung  nachdrücklich  Geltung  zu  verschaffen,  „dieweil  das  wüste  und 
wilde  Wesen  der  Mönche  durchaus  nicht  zu  dulden  sei".  Jedoch  auch 
unter  den  Geistlichen  gab  es  bereits  eine  Anzahl,  die  einer  Kirchen- 
verbesserung  nicht  widerstrebte.  Andere  freilich  dachten  anders,  ja, 
missbrauchten  ihre  Gewalt.  Welche  eigenthümliche  Aulfassung  von 
Religion  und  Recht  zum  Beispiel  einige  Gothaer  Stifts  herren  hatten, 
—  und  dieser  Fall  steht  durchaus  nicht  vereinzelt  da,  —  erhellt  daraus, 
dass  ein  Gothaer  Bürger  und  Wundarzt,  Namens  Vogler,  der  einem 
Canonicus  die  Miete  nicht  bezahlt  hatte,  von  diesem  ohne  veiteres 
mit  dem  Bannfluch  belegt  wurde.  Als  Kurfürst  Friedrich  der  Weise 
von  diesem  Saerileg  hörte,  musste  der  Stiftsherr  natürlich  seinen 
Fluch  zurücknehmen,  und  die  Streitsache  kam  vor  ein  weltliches 
Gericht. 

Unter  den  Stiftsherren  aber,  die  damals  schon  auf  der  Höhe  ihrer 
Zeit  standen,  ist  ein  Konrad  Mut  (Mutianus)  besonders  erwähnens- 
wert. Aus  der  Schule  des  Alexander  Hegius  hervorgegangen,  ein 
Studiengenosse  und  Freund  des  Erasmus,  hatte  er  sich  nach  längerem 
Aufenthalte  in  Italien,  wo  er  an  den  Forschungen  berühmter  Gelehrten 
theilgenommen  hatte  und  nachdem  er  noch  einige  Zeit  hessischer  Hof- 
prediger gewesen  war,  auf  ein  ziemlich  gering  dotirtes  Canonicat  in 
Gotha  zurückgezogen.  Den  übrigen  Stiftsherren  war  er  zu  ernst  und  wol 
auch  zu  gelehrt.  Desto  mehr  schlössen  sich  strebsame  Jünglinge  ihm 
an,  die  er  in  die  Alterthumswissenschaft  einführte.  Zu  seinen  Schülern 
gehörte  vor  allen  Spalatin,  nachher,  wie  Myconius  sagt,  „dreier  Kur- 
fürsten Kaplan  und  Historicus".  Dieser  war  bekanntlich  Friedrichs 
des  Weisen  rechte  Hand.  Weniger  bekannt  möchte  aber  sein,  dass 
hauptsächlich  Mutianus  es  war,  der  den  Kurfürsten  bei  der  Gründung 
der  Universität  Wittenberg  und  bei  der  Wahl  ihrer  Professoren  mit 
seinem  Rathe  unterstützte.  So  half  er  als  ein  rechter  Humanist  durch 
Neubelebung  des  Forschertriebes  dem  sich  erneuernden  Kirchenglauben 
die  Wege  bahnen. 

Schon  1516  war  auch  Luther  im  Auftrage  von  Staupitz  zur  Re- 
vision des  Augustinerklosters  nach  Gotha  gekommen  und  hatte  dort 
über  die  Rechtfertigung  durch  den  Glauben  gepredigt.  Auf  seiner 
Reise  nach  Worms  ließ  er  sich  abermals  dort  hören.  „Da  riss,u  berichtet 
Myconius  über  diese  Predigt,  „der  Teufel  etliche  Steine  vom  Kirchen- 
giebel, die  hatten  über  200  Jahre  festgelegen."  Gleich  in  den  folgen- 
den Jahren  schloss  sich  ein  Gothaer  Pfarrer  der  Margaretenkirche, 
J.  Langenhain,  Luther  an.  Zwei  seiner  Gehilfen  aber,  Schneesing 
und  Eisenberg,  mussten  nun  wol  in  ihren  Predigten  unvorsichtige 


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Äußerungen  gethan  haben,  man  sollte  doch  einmal  rvom  Schlossberge 
oben  beim  Stifte"  anfangen  und  gründlich  die  schlechte  Wirtschaft 
auskehren.  Die  Prediger  meinten  natürlich,  die  Obrigkeit  oder  der 
Fürst  selbst  sollte  es  thun,  aber  der  gemeine  Mann  bezog  es  auf  sich. 
Da  geschah  ein  ..Pfaffensttirmen"  in  Gotha,  welches  Myconius  höchst 
anschaulich  schildert.  -Es  trug  sich  zu,  dass  am  Pfingstdienstage 
(1524)  wider  die  Freiheiten  der  Stadt  fremdes  Bier  zu  Bufleben  (bei 
Gotha)  eingelegt  wurde.  Die  Bürger  zogen  nbo  bewaffnet  hinaus,  um 
das  Bier  zu  holen.  Als  sie  zurückgekommen  waren,  begaben  sie  sich 
auf  das  Kaufhaus.  Das  eroberte  Bier  fing  an,  ihnen  zu  Kopf  zu 
steigen.  Da  liefen  einige  von  ihnen  den  Schlossberg  hinauf,  stürmten 
die  Hänser  der  Oanoniker,  stießen  Thüren  und  Offen  ein,  zerschlugen 
die  Fenster,  zerbrachen  Tische  und  Bänke,  zerrissen  Briefe  und  Siegel 
und  griffen  zuweilen  auch  nach  dem  Gelde.  Hauptsächlich  aber  nahmen 
sie  die  schlechten  Weibsbilder  und  führten  sie  in  den  Kram  unter  das 
Rathhaus.  Einige  Mitglieder  des  Rathes  und  besonders  die  Vornehm- 
sten hatten  ihren  Gefallen  daran  und  thaten  nicht  eher  Einhalt,  als 
bis  der  Schade  geschehen  war.  Doch  die  Oanoniker  klagten  es  dem 
Fürsten.  Da  wurden  über  hundert  Bürger  in  Verhaft  genommen.  Auf 
Vorbitte  Dietrich  Tunckels,  eines  angesehenen  und  rechtschaffenen 
Mannes,  erhielten  sie  ihre  Freiheit  wieder,  nachdem  den  Canonikern, 
zu  ihrer  Entschädigung,  dreihundert  rheinische  Gulden  ausgezahlt 
worden." 

Es  wäre  nun  unrichtig,  anzunehmen,  dass  die  Reformation  ihre 
Einführung  in  Gotha  etwa  einem  Bierscandal  verdanke.  Aber  diese 
Ausschreitung  veranlasste  doch  den  Herrscher,  auch  seinerseits  dem 
Treiben  der  Stiftsherren  ein  Ende  zu  bereiten.  Freilich  war  er  tiber- 
zeugt, dass  nicht  minder  die  weltliche  Zucht  daselbst  einer  durch- 
gehenden Reform  bedürfe  und  hoffte,  dass  Myconius  auch  für  die  letztere 
Aufgabe  der  rechte  Mann  sein  würde.   Er  hatte  sich  nicht  getäuscht. 

„Nach  Erfurt  ist  Gotha",  sagt  Myconius,  „fast  die  beste  und  vor- 
nehmste Stadt  im  ganzen  Fürstenthume  Thüringen  gewesen."  Aber 
eine  Miss  wir  tschaft  dort  begann  schon  zu  Ende  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts. Zu  jener  Zeit  waren  Friedrich  der  Weise  und  sein  Bruder 
Johann  noch  „junge  Herren",  und  der  Rath  von  Gotha  that  eben, 
was  er  wollte.  So  gerieth  die  Stadt  in  der  „allerfriedlichsten  Zeit" 
tief  in  Schulden.  Wer  in  den  Rath  gewählt  werden  wollte,  musste 
sich  von  vornherein  als  ein  gefügiges  Werkzeug  der  herrschenden 
Partei  zeigen.  Zunächst  hatte  er  ein  großes  Festgelage  zu  veran- 
stalten; denn  man  fragte  nicht  nach  seiner  Tüchtigkeit,  sondern,  wie 


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I 


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sich  Myconius  in  der  kräftigen  Sprache  der  damaligen  Zeit  ausdrückt, 
ob  er  auch  gehörig  „zu  fressen  und  zu  saufen"  geben  könnte.  Alle 
gemeinnützigen  Einrichtungen  waren,  wenn  sie  überhaupt  vorhanden 
waren,  schrecklich  mangelhaft.  Von  städtischem  Pflaster  fanden  sich 
nur  noch  Spuren  in  der  Nähe  des  Rathhauses.  Man  musste  auf  Holz- 
schuhen oder  gar  auf  Stelzen  gehen,  und  fast  alle  Rathsherren  bedienten 
sich  jener  Fußbekleidung  der  armen  Leute.  Saßen  sie  dann  in  der 
Rathsstube,  so  standen  die  Holzschuhe  draußen  nnd  man  konnte  „fein 
zählen",  wie  viele  von  ihnen  zur  Rathsversammlang  gekommen  waren. 
Es  kam  aber,  wer  gerade  Lust  hatte;  denn  es  war  weder  Ordnung 
noch  Gehorsam. 

Und  wie  die  Alten  sungen,  so  zwitscherten  die  Jungen.  Die 
Jeunesse  doree  trieb  es  nicht  weniger  arg  als  der  Rath.  Sie  belästigte 
und  schlug  die  Bürger  abends  und  auch  am  Tage  auf  der  Straße, 
kaum  war  jemand  seines  Lebens  sicher.  Überhaupt  war  die  Jugend 
ganz  „verwildert  und  verroht".  Wo  sollte  auch  das  gute  Beispiel 
herkommen! 

Unter  solchen  Verhältnissen  war  es  Myconius  klar,  dass  er  sein 
Reformationswerk  „von  unten  auf"  beginnen  müsse.  Und  so  fing  er 
gleich  im  ersten  Jahre  seines  Aufenthalts  in  Thüringen  mit  der  Grün- 
dung von  Schulen  an. 

Auch  was  er  auf  diesem  Gebiete  geleistet  hat,  finden  wir  in  den 
Quellenwerken  über  ihn  von  Seckendorff,  Sagittarius,  Tenzel  u.  a  ver- 
zeichnet. Sein  kostbarstes  Vermächtnis  ist  aber  eine  Chronik,  halb 
Selbstbiographie,  halb  Geschichte  der  Reformation,  ein  Jahrbuch,  das 
er  in  den  Tagen  der  Krankheit,  die  ihn  auch  später  hinraffte,  wol 
mehr  zusammenstellte  als  erst  niederschrieb.  Die  Mittheilungen  lesen 
sich  nämlich  so  frisch,  dass  sie  als  Tagebuchaufzeichnungen  unter 
dem  unmittelbaren  Eindrucke  jener  wichtigen  Ereignisse  aus  der  Zeit 
von  1517  bis  1542  abgefasst  sein  müssen.  Über  170  Jahre  hatte 
diese  nicht  genug  zu  schätzende  Chronik,  welche  nichts  mehr  nnd 
nichts  weniger  als  eine  erste  zuverlässige  Geschichte  der  Reformation 
ist,  im  Bibliothekenstaube  geruht,  bis  sie  endlich  ein  einsichtsvoller 
Consistorial-  und  Kirchenrath  des  über  Gotha  ragenden  Friedensteins, 
Dr.  Ernst  Salomon  Cyprian,  der  Vergessenheit  entriss,  indem  er  sie 
mit  Vorrede  und  Erläuterungen  versehen,  „und  des  Autoris  autographo" 
Gotha  1715  zuerst  veröffentlichte.  Aber  nicht  nur  des  Inhalts,  son- 
dern auch  der  Darstellung,  einer  kernigen  Prosa  wegen,  die  sich  der 
Lutherischen  würdig  anreiht,  ist  diese  Historia  Reformationis  Friderici 
Myconii  höchst  beachtenswert. 


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Iii  dem  Manuscriptenschatze  der  Gothaer  Herzoglichen  Bibliothek, 
welcher  bekanntlich  kein  geringer  ist,  bildet  diese  Chronik  einen  wert» 
vollen  Theil  in  einem  Sammelbande,  dem  ein  „ Neues  Erbbuch  und 
Kopey  der  Minis tratur  1524"  voransteht.  Auch  dieses  Manuscript  ist 
eine  ergiebige  Quelle  und  für  unseren  Zweck  eigentlich  noch  bedeut- 
samer, als  die  erwähnte  Chronik.  Dieses  „Erbbuch  etc."  enthält  näm- 
lich des  Myconius  Auszüge  ans  den  Acten  der  Gothaer  Archive  über 
Schul-  und  Kirchengerechtsame  und  gewährt  demnach,  in  Verbindung 
mit  anderen  Nachrichten,  ein  anziehendes  Bild  von  den  Schulverhält- 
nissen  jener  Zeit,  aber  auch  von  der  Arbeit  des  Thüringer  Reforma- 
tors für  die  Schule  selbst. 

Was  wir  in  Thüringen  an  Lehreinrichtungen  kurz  vor  der  Re- 
formationszeit finden,  sind  einzelne  mehr  oder  weniger  gute  Kloster-, 
Dom-  oder  sogenannte  Lateinschulen,  an  denen  theils  Mönche,  theils 
Zunftschulmeister  mit  fahrenden  Scholaren  unterrichteten,  die  ihre 
Schüler  in  die  katholische  Gottesgelahrtheit  einführten  und  sie  die 
lateinische  Sprache  lehrten.  Wenn  nun  auch,  wie  unsere  Erörterungen 
gezeigt  haben,  die  Zustände  in  manchen  Städten  gerade  damals  nicht 
die  erfreulichsten  waren,  so  lebte  doch  ein  gesunder  Sinn  im  deut- 
schen Bürgerthume.  Der  Kern  war  überall  gut  geblieben.  Und  so 
hatte  sich  Luther,  als  er  in  demselben  Jahre,  welches  auch  für  My- 
conius den  Anfang  seiner  kirchlichen  und  pädagogischen  Reformen 
bedeutet,  sein  zündendes  Sendschreiben  an  die  Bürgermeister  und 
Rathsherren  aller  Städte  Deutschlands  erließ,  in  der  That  an  die 
rechten  Mitarbeiter  gewendet.  Waren  diese  hie  und  da  noch  unbe- 
holfen, so  zeigten  sie  doch  guten  Willen.  Die  erleuchteten  Köpfe 
jener  Tage  aber,  die  ein  gutes  Stück  weiter  sahen,  ein  Myconius, 
Spalatin  und  viele  andere,  halfen  unermüdlich  und  mit  kräftiger  Hand. 

Die  erste  Kunde  über  die  Thätigkeit  einer  Schule  in  Gotha  selbst 
stammt  schon  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts.  In  der  ersten 
Hälfte  des  14.  besaß  es,  —  ein  in  den  Augen  der  Modernen  viel- 
leicht sehr  mäßiger  Fortschritt  —  schon  zwei  Schulen,  die  eine  bei 
der  Margaretenkirche  (die  Kirche  selbst  war  bereits  1254  vorhanden), 
die  andere  bei  der  1530  auf  Befehl  des  nachmaligen  Kurfürsten 
Johann  Friedrich  des  Großmüthigen  abgebrochenen  Marienkirche  am 
Schlossberge.  Übrigens  werden  auch  schon  besondere  Mägdleinschulen 
erwähnt. 

Das  erwähnte  „Pfaffenstürmen"  hatte  den  bestehenden  Schulen 
den  Garaus  gemacht.  Justus  Menius,  der  Amtsnachfolger  des  Myconius, 
sagt  darüber:  „Die  Schulen  waren  allerdings  gefallen  und  abgegangen, 


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also,  dass  nicht  allein  kein  einziger  Schüler  vorhanden  war,  sondern 
man  auch  große  Mühe  und  Arbeit  hatte,  dass  man  je  etliche  zur 
Schule  bringen  und  wiederum  von  neuem  anrichten  möcht,  und  die 
Sachen  fast  allenthalben  also  standen,  dass  Schulen  und  Studia  beim 
Pöbel  aufs  höchste  verachtet  waren  und  je  eher  zehn  zu  finden,  die 
Schulen  stürmen  und  verstören,  denn  einen  oder  zween,  so  sie  hätten 
auf-  und  anrichten  können. u 

Jedoch  diese  schullose,  die  schreckliche  Zeit  ließ  Myconius  nicht 
lange  währen.  In  der  erwähnten  Historia  Reformationis  berichtet  er 
Seite  55:  „Die  Schulen  haben  wiederumb  angefangen  und  restituiret. 
Ist  der  Anfang  geschehn  im  Augustinerkloster,  als  noch  die  Mönche 
in  ihren  habitibus  darinnen  waren,  Anno  1524." 

Das  Augustinerkloster  bestand  zu  Gotha  bereits  seit  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts.  Es  war  vom  Papst  Innocenz  V.  bestätigt 
und  von  frommen  Christen  mit  stattlichen  Stiftungen  bedacht  worden. 
Zur  Zeit  der  Reformation  betrug  die  Zahl  der  Mönche  noch  dreißig. 

Die  Räume  dieses  Klosters  nun  erschienen  Myconius  als  die 
geeignetsten  für  das  neue  Schulwerk.  Entsprachen  sie  auch  bei  weitem 
nicht  den  Anforderungen,  die  man  heutzutage  an  die  Beschaffenheit 
und  Einrichtung  von  Schulräumen  zu  stellen  pflegt,  so  war  man  in  alter 
Zeit  eben  weniger  ängstlich,  ohne  dass  das  herangebildete  Geschlecht 
kränklicher  als  das  heutige  gewesen  wäre.  Auch  die  Mönche  bildeten 
kein  störendes  Element  ,  da  sie  den  reformatorischen  Ideen  nicht  ab- 
geneigt waren,  im  übrigen  aber  ruhig  in  ihren  Zellen  hausten  und  sich 
höchstens  am  frohen  Treiben  der  Jugend  ergötzten.. 

Als  Rector  und  Hauptlehrkraft  führte  Myconius  dieser  neuen 
Schule  im  Augustinerkloster,  welche  er  aus  den  Überbleibsel  der 
beiden  vorhandenen  einrichtete,  den  Magister  Basilius  Monner  zu, 
keinen  Philologen,  die  es  als  specifische  Berufsclasse  damals  noch  kaum 
gab,  sondern  einen  Rechtsgelehrten.  Auch  wurde  die  Anstalt  schwer- 
lich schon  in  viele  Classen  eiugetheilt,  die  ganze  eigentliche  Schul- 
verfassung mag  zuerst  ziemlich  in  der  Luft  geschwebt  haben.  Indes 
wird  schon  aus  jenem  Anfang  die  Gründung  des  gothaischen  Gym- 
nasiums hergeleitet.    Als  Stiftungstag  gilt  der  21.  December  1524. 

Die  landesherrliche  Bestätigung  der  Schule  erfolgte  aber  erst 
nach  einem  Jahrfünft  auf  Grund  einer  Kirchen-  und  Schulenvisitation, 
welche  auf  Befehl  Johanns  des  Beständigen  der  kurfürstliche  Kanzler 
Brück,  Melanchthon  und  Myconius  vorgenommen  hatten.  1529  ließ 
dieser  Fürst  einen  Schenkungsbrief  aufsetzen,  kraft  dessen  das 
Augustinerkloster  mit  allem  Zubehör  und  sämmtlichen  Einkünften  in 


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den  Besitz  der  Stadt  Gotha  überging,  jedoch  mit  der  ausdrücklichen 
Bestimmung,  dass  die  Einkünfte  zu*  Kirchen-  und  Schulzwecken  ver- 
wendet werden  sollten.  Daneben  sollten  die  noch  übrig  gebliebenen 
Klosterpersonen  auf  Kosten  der  Stadt  weiter  verpflegt  und  ihnen  ihre 
Wohnung  sowie  das  ganze  Kloster  in  gutem  baulichen  Stande  erhalten 
werden.  Daraufhin  wurden  schon  drei  Schullehrer  angestellt;  mehr, 
so  meinten  die  Visitatoren,  seien  für  die  Schule  nicht  nötbig. 

War  es  nun,  dass  die  Stadt  ihre  Schuldigkeit  nicht  that,  oder 
dass  die  Einkünfte  nicht  zureichten,  welche  vielleicht  auch  unpünktlich 
eingingen,  schon  wieder  nach  einem  Jahrfünft  mussten  die  Stadtväter 
höheren  Orts  an  ihre  Pflicht  erinnert  werden,  nicht  nur  den  Gottes- 
dienst zu  fördern,  sondern  besonders  auch  die  Jugend  zur  Lehre  auf- 
ziehen zu  lassen;  „derohalben  sie  billig  Fleiß  fürwenden  sollten,  dass 
treulich  aus  dem  Einkommen,  so  zu  der  Kirchen-  und  Schulenbestellung 
verordnet  worden,  gehandelt  werde.  Denn  wir  wollen  euch  nicht 
bergen,  dass  unser  gnädiger  Herr  in  Erfahrung  kommen  ist  eures  Un- 
fleißes,  so  bei  euch  in  Verwaltung  der  Kirchengüter  und  sonsten 
befunden." 

Schien  danach  der  Bestand  des  Stadtschulwesens  noch  kaum 
gesichert,  so  dachte  doch  schon  in  jener  Zeit  Myconius  auch  an  die 
Begründung  des  eigentlichen  Volksschulwesens.  Hierzu  veranlassten 
ihn  offenbar  auch  die  Vorreden  zu  den  beiden  Katechismen  Luthers, 
in  welchen  dieser  sich  an  die  Geistlichen  wendete.  Die  Pfarrer  sollten 
an  den  Sonntagnachmittagen,  wenn  das  junge  Volk  und  Gesinde  zur 
Kirche  komme,  den  Kindern  und  den  Dienstboten  die  drei  Hauptstücke 
vorsprechen  und  einprägen.  Um  jedoch  den  Pfarrern  die  Arbeit  zu 
erleichtern,  wurde  zugleich  empfohlen,  dass  au  Stelle  der  Geistlichen 
die  Kirchendiener  „den  Katechisimum,  den  Kirchengesangk  und  das 
gebett  mit  allem  trewen  vnd  eyffer  der  Jugendt  einzubildten  und  mit 
jenem  (dem  Gesinde)  zu  üben  haben". 

Nach  dem  echt  evangelischen  Grundsatze,  dass  jeder  Christ  Gottes 
Wort  in  der  Bibel  lesen  sollte,  erwuchs  dann  diesen  Gehilfen  die 
weitere  Aufgabe,  an  einigen  Wochentagen,  besonders  während  der 
Wintermonate,  die  Kinder  im  Bibellesen  zu  unterrichten,  beziehentlich 
ihnen  das  heilige  Buch  zu  erklären.  Diese  Unterweisung  aber  war 
in  Thüringen  und  auch  anderswo  der  erste  Baustein  zur  evangelischen 
Volksschule.  Pfarrer  und  Kirchner  standen  damals  in  der  Regel  auf 
einer  Bildungsstufe,  beide  gingen  oft  aus  dem  Handwerkerstande  her- 
vor. Zur  Reformationszeit  waren  die  ersten  Landpfarrer  in  Thüringen 


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nicht  selten  schlichte  Handwerker,  der  eine  ein  Leineweber,  der  andere 
ein  Böttcher,  der  dritte  gar  ein  baderknecht. 

Es  war  überhaupt  ein  Zeitalter  des  Werdens.  Die  Umwälzung 
der  bestehenden  Verhältnisse,  hauptsächlich  die  Vermengung  von  geist- 
lichem und  weltlichem  Besitz,  machte  überall  Neuordnungen  not- 
wendig. So  finden  wir  in  jener  Zeit  auch  die  ersten  Normaletats  für 
Lehrerbesoldungen,  welche  Johann  Friedrich  der  Großmüthige  nach 
einer  neuen  Visitation  in  Thüringen,  an  der  wieder  Myconius  theil- 
nehmen  musste,  aufstellen  ließ.  Aus  den  Zahlungszeiten  scheint  her- 
vorzugehen, dass  das  Schuljahr  damals  nicht,  wie  jetzt  in  Thüringen 
und  Norddeutschland  üblich,  zu  Ostern,  sondern,  nach  mehr  süd- 
deutscher Sitte,  zu  Michaelis  seinen  Anfang  nahm. 

Beginnend  mit  dem  Michaelisfeste,  sollten  den  Kirchen-  und  Schul- 
lehrern  an  den  vier  Quatembern  ihre  Besoldungen  ausgezahlt  werden. 
Solange  noch  Mönche  und  Stiftsherren  zu  unterhalten  wären,  sollte 
der  Pfarrer  an  der  Augustinerkirche  100  fl.,  der  Schulmeister 
(oder  Rector)  60  fl.  und  von  seinen  beiden  „Gesellen"  jeder  45  fl. 
erhalten.  Die  Bezeichnung  Meister  und  Gesellen  beim  Schul- „Hand- 
werk" rührt  bekanntlich  aus  der  mittelalterlichen  Zeit  hei-,  in  welcher 
alles,  demnach  auch  das  Schulwesen,  nach  den  Regeln  der  Zunft  ein- 
gerichtet sein  musste. 

Würde  einmal  das  Kloster  von  allen  Lasten  frei  sein,  dann  sollten 
die  Besoldungen  aufgebessert  werden  und  der  Pfarrer  120  fl.,  der 
Schulmeister  70  fl.  und  seine  beiden  Gesellen  je  50  fi.  empfangen 
Der  eine  der  Unterlehrer  wurde  Baccalaureus,  der  andere  Kantor  oder 
Sangmeister  genannt. 

Auch  für  Dienstwohnungen  wurde  schon  gesorgt.  Alle  Kirchen- 
und  Schuldiener  sollten  mit  „bequemen  und  nothdttrftigen  Herbergen" 
versehen  werden. 

Angesichts  solcher  Fürsorge  fehlte  es  gerade  der  Gothaer  Schule 
von  allem  Anfange  nicht  an  hervorragenden  Lehrkräften.  Der  schon 
erwähnte  Monner,  ein  geborener  Weimaraner,  welcher  in  Wittenberg 
studirt  hatte,  war  ein  früher  Anhänger  Luthers.  Melanchthon,  dessen 
Unterricht  er  noch  genoss,  schätzte  ihn  so  sehr,  dass  er  der  neuen 
Schule  in  Gotha  keinen  besseren  Lehrer  empfehlen  konnte.  Aber 
Monners  größtes  Lob  ist  doch  sein  Schüler,  der  berühmte  neulateinische, 
vom  Kaiser  gekrönte  Dichter  Johann  Stigel  aus  Gotha,  erster  Professor 
der  Beredsamkeit  an  der  neugegründeten  Universität  Jena,  welcher 
auch  später  auf  Myconius  die  Grabschrift,  sogar  in  lateinischer  und 
griechischer  Sprache  zugleich,  verfasst  hat.    Nach  den  Rectoren 


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Schipper  und  Merula  der  Gothaer  Schule,  die  beide  später  ins  Pfarr- 
amt ubertraten,  brachte  dann  Pankratius  Süssenbach,  wie  Myconius 
selbst  schreibt,  die  Anstalt  erst  in  die  „rechte  Form  und  Ordnung". 

Damit  aber  auch  alles  in  der  richtigen  Ordnung,  „stet  und  fest", 
bliebe,  durfte  von  den  Kirchen-  und  Schulgütern  ohne  Zustimmung  des 
Kurfürsten  nichts  veräußert  werden.  Die  vom  Rathe  und  einem  Ge- 
meindemitgliede  geführte  Rechnung  wurde  im  Beisein  des  Amtmanns 
und  des  Pfarrers  gelegt  und  geprüft.  Konnte  bei  vorkommenden  Un- 
fällen das  Gehalt  nicht  gezahlt  werden,  so  war  dem  Kurfürsten  Mit- 
theilung zu  machen  und,  was  noch  viel  mehr  ist,  von  ihm  auch  Hilfe 
zn  erwarten. 

Trotz  dieser  vorsorglichen  Maßregeln  geschah  doch  die  Anstellung 
der  „Schuldiener  und  Kirchner"  immer  nur  auf  Kündigung.  Eine 
definitive  Anstellung  kannte  man  auch  später  noch  nicht.  „In  jedem 
Jahre,"  so  lautete  die  betreffende  Verordnung,  „wenn  ein  neuer  Rath 
ausgeht,  soll  vom  Pfarrherrn  und  Rathe  darüber,  ob  man  die  Schul- 
diener  und  Kirchner  bei  ihren  Diensten  länger  behalten  wolle,  gehandelt 
▼erden." 

Die  treue  Arbeit  des  Myconius  wurde  durch  rasche  und  sichere 
Erfolge  belohnt.  Bereits  nach  18  Jahren  kann  er  in  seiner  Refor- 
mationsgeschichte Seite  54  schreiben:  „Die  Schulen  ins  Augustiner- 
kloster ist  fundiert  und  zu  den  Ministeriis  das  Einkommen  erworben 
und  geordnet.  Und  ist  alles  durch  die  Kurfürsten  und  Visitatores 
bestätigt,  mit  Brief  und  Siegel  ratiftcirt  und  geordnet  worden.  Es 
hat  unglaublich  Arbeit  gekostet,  aus  dem  alten,  verspureten,  faulen 
Holz  ein  neues  Haus  zu  erbauen. u 

Deshalb  arbeitete  er,  trotz  schwerer  Krankheit,  an  diesem  Lieb- 
lingswerke auch  nach  dem  Jahre  1542  rastlos  weiter.  Waren  früher 
«chon  Stipendien  im  Betrage  von  je  20  fl.  für  „arme  Bürgersknaben, 
so  nach  Erkenntnis  des  Pfarrherrn  und  Schulmeisters  zum  Studieren 
geschickt  sind",  gestiftet,  ferner  zwei  Gehölze,  zum  Kloster  gehörig, 
dazu  bestimmt  worden,  für  die  Knaben  in  der  Schule  freies  Brenn- 
material zu  liefern,  so  gründete  er  1543  an  zwei  Tafeln  für  arme  und 
würdige  Schüler  im  Convictorium  des  Klosters  Freitische.  Diese  Ein- 
richtung erweiterte  sich  bald  zu  einem  Alumnate,  in  welchem  jedoch 
die  Knaben  nicht  ganz  unentgeltlich  gehalten  wurden.  Für  24  würdige 
und  bedürftige  auswärtige  Schüler,  welche  in  Gotha  die  Anstalt  be- 
suchten, sollten  aus  dem  Amte  Gotha  16  Malter  Korn  und  12  Malter 
Gerste  geliefert  werden,  um  sie,  soweit  es  reiche,  mit  „Brot  und 


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Bier"  (!)  zu  versorgen:  Die  Aufsicht  über  den  Tisch  hatte  der  Super- 
intendent und  später  der  Rector. 

Jedoch  wie  es  jedem  ergeht,  selbst  wenn  er  die  reinsten  Ab- 
sichten hegt,  auch  Myconius  hatte  seine  Gegner.  Es  waren  einige 
kurfürstliche  Käthe,  denen  die  ausgesetzten  Lehrergehälter  zu  hoch 
erscheinen  mochten.  Da  schrieb  1544  Mecum  eine  prächtige  Satire 
auf  sie,  ein  Sendschreiben  an  die  kurfürstlichen  Räthe  „von  der  wol- 
riechenden  köstlichen  Salbe,  damit  Maria  den  Herrn  zu  Bethania 
gesalbt,  wozu  Judas  der  Verräther  scheel  gesehen".  Was  aber  die 
Hauptsache  war,  der  Widerstand  wurde  besiegt  und  in  demselben 
Jahre  sogar  eine  erste  vollständige  Kirchen-  und  Schulordnung  vom 
Kurfürsten  erlassen,  die  man  nicht  mit  Unrecht  als  die  Grundlage 
des  Gothaer  uud  vielleicht  des  ganzen  Thüringer  Kirchen-  und  Schul- 
wesens bezeichnen  kann.  Sie  findet  sieh  in  Rudolphfs  bekanntem 
Buche  Gotha  Diplomatien,  Theil  I,  Seite  152  ff.  abgedruckt. 

Der  wesentliche  Fortschritt  in  der  neuen  Schulordnung  war  für 
Gotha  die  Bestimmung,  dass  nun  das  ganze  Augustinerkloster  mit 
Baulichkeiten  und  Hof  ausschließlich  zu  Schulzwecken  dienen  sollte. 
In  demselben  befanden  sich  nicht  nur  die  Lehrzimmer,  sondern  auch 
noch  die  Dienstwohnungen  des  Rectors,  der  Lehrer,  des  Ökonomen 
und  die  Räume  für  das  Alumnat.  Standen  aber  diese  Zimmer  den 
„Gesellen44  nicht  an  oder  waren  sie  für  Verheiratete  vielleicht  zu 
beschränkt,  so  mussten  diese  sich  selbst  mit  „Herbergen"  versehen. 
Die  Zahl  der  Lehrer  war  noch  um  einen  vermehrt  worden,  so  dass 
es  außer  dem  Rector  und  Cantor  einen  Ober-  und  Unterlehrer  gab. 
Für  die  Besoldung  ist  charakteristisch,  dass  Naturalobjecte  auftraten. 
Der  Rector  empfing  80  fl.  bar,  demnach  schon  20  fl.  mehr  als  vordem, 
ja,  wenn  „alle  Klosterlehen  heimfallen  würden",  sollten  100  fl.  voll- 
gemacht werden.  Außerdem  erhielt  er  5  Erfurter  Malter  Korn,  2  Er- 
furter Malter  Gerste,  1  Erfurter  Malter  Hafer  und  15  Schock  Geb  und 
Reisigholz.  Der  Ober-Baccalaureus  erhielt  50  fl.  bar,  8  Schock  Ge- 
bundholz und  1  Erfurter  Malter  Korn,  der  Baccalaureus  infimus  noch 
10  fl.  weniger. 

Über  Wahlmodus  und  Kündigung  wurde  festgesetzt,  dass  den 
Rector  der  regierende  Bürgermeister  mit  drei  „Rathsfreunden",  dann 
der  Schlossprediger,  der  Stadtpfarrer  und  die  drei  Diaconi  zu  wählen 
hätten.  Weltliche  und  geistliche  Stimmen  standen  dabei  also  wie  4 
zu  5.  Der  Bewerber  rausste  auf  der  kurfürstlichen  Universität  Witten- 
berg studirt  und  die  Magisterwürde  erlangt  haben.  Die  Bestätigung 
ertheilte,  nach  eingeholtem  Berichte  seitens  der  Universität,  der  Kur- 


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fürst  selbst.  „Würde  mit  dem  Schulmeister  eine  Änderung  vorzu- 
nehmen sein,  so  solle  ihm  dies,  damit  der  Schuldienst  keine  Störung 
erleide,  ein  ganzes  oder  halbes  Jahr  vorher  angezeigt  werden;  was 
auch  er  zu  beobachten  hat,  im  Falle  er  auf  seiner  Stelle  nicht  bleiben 
will.-  Die  Lehrer  wurden  vom  Kector,  Superintendenten  und  Bürger- 
meister gewählt  und  hatten  vierteljährliche  Kündigung.  Als  Auf- 
sichtsbehörde über  die  Schule  fungirte  eine  Art  Curatorium,  zu  welchem 
außer  dem  Bürgermeister  und  Superintendenten  noch  der  Schlosshaupt- 
mann und  der  „Schösser"  gehörten.  Hier  war  also  die  geistliche 
Vertretung  in  der  Minderzahl. 

Alle  diese  Einrichtungen  verdanktedie  Schule  der  unermüdlichen 
Thatigkeit  des  Myconius,  der,  als  er  kurz  vor  seinem  Hinscheiden 
einen  Abschiedsbrief  an  den  ihm  allzeit  gewogenen  Kurfürsten  richtete, 
in  demselben  schreiben  konnte,  er  empfehle  „aufs  allerunterthänigste 
und  fleißigste"  diesem  besonders  die  Schule.  Sie  sei  „wie  ein  Rosen- 
gärtlein  und  Würzgarten  Gottes". 

Diese  feste  Grundlage  trug  in  der  Folge  wesentlich  zur  weiteren 
gedeihlichen  Entwicklung  des  Gothaer  Schulwesens  bei.  Eine  seiner 
Glanzzeiten  war  diejenige  unter  Andreas  Reyher,  als  vornehme  Eltern 
aus  ganz  Norddeutschland  ihre  Söhne  auf  das  gothaische  Gymnasium 
sandten  und  ein  August  Hermann  Francke  aus  demselben  hervorging. 
Noch  immer  waren  es  aber  die  Klosterräume  des  Myconius,  welche 
die  Anstalt  umschlossen,  im  Laufe  des  Jahrhunderts  freilich  so  bau- 
fällig geworden,  dass  Reyher  häufig  genug  Klage  darüber  führte. 
Daher  war  es  hauptsächlich  der  Geist,  welcher  in  diesen  Räumen 
weiter  wirkte  und  den  schon  der  Praeceptor  Germaniae  belobt  hatte, 
als  er  dem  Schöpfer  des  Werkes,  Myconius,  auch  namens  der  Witten- 
berger Uuiversität  amtlich  für  dessen  großen  Eifer  dankte.  Universi- 
täten und  gelehrte  Schulen  erfreuten  sich  aber  damals  des  besonderen 
Wolwollens  der  evangelischen  Fürsten  nicht  ohne  tieferen  Grund. 
Sie  waren  die  geistigen  Rüstkammern,  aus  [denen  jene  sich  ihre  nie 
rostenden  Waffen,  und  die  Kasernen,  aus  denen  sie  sich  ihre  allzeit 
gewappneten  Streiter  holten.  Luther  mit  seinem  scharfen  Blicke  er- 
kannte dies  vorzugsweise.  „Lasset  uns  das  gesagt  sein",  äußerte  er 
sich,  „dass  wir  das  Evangelium  nicht  wol  werden  erhalten  können 
ohne  die  Sprachen.  Die  Sprachen  sind  die  Scheiden,  darinnen  dies 
Messer  des  Geistes  stecket.  Sie  sind  der  Schrein,  darinnen  man  dies 
Kleinod  träget.  Sie  sind  das  Gefäß,  darinnen  man  diesen  Trank  fasset. 
Sie  sind  die  Kammer,  darinnen  diese  Speise  lieget." 

Jedoch  ein  Luther,  ein  Myconius  und  überhaupt  die  Geisteshelden 

Pieda^nginm.    14.  Jahrg.    Hoft  VIII.  35 


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—    494  — 


der  damaligen  Zeit  sahen  doch  noch  weiter.  Nicht  nur  auf  die 
gelehrten  Kreise  sollte  die  Bildung  beschränkt  bleiben,  sie  sollte,  wie 
wir  aus  des  Thüringer  Reformators  Wirken  nicht  minder  ersehen 
haben,  in  alle  Schichten  des  Volkes  dringen.  Und  auch  in  dieser 
Beziehung  hatte  Myconius  die  schönsten  Erfolge  zu  verzeichnen.  In 
seiner  Reformationsgeschichte  konnte  schon  1542  dieser  Freund  seiner 
grüßten  Zeitgenossen  sagen,  dass  in  Thüringen  nun  jede  Stadt  ihre 
ordentliche  Schule  habe,  ein  für  die  Mitte  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts sehr  beachtenswertes  Ergebnis. 


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Die  Reform  and  die  Stellang  anserer  Schalen. 


Ein  Referat  von  Heinrich  Neugeboren- Kronstadt  in  Siebenbürgen. 

Unter  diesem  Titel  hat  Friedrich  Eduard  Beneke  als  Professor 
an  der  Universität  in  Berlin  im  sturmbewegten  Jahre  1848  im  Verlag 
von  E.  S.  Mittler  &  Sohn  ein  philosophisches  Votum  herausgegeben, 
welches  auch  heute  noch  bei  den  so  vielfach  umstrittenen  Streitfragen 
über  die  Schule  Beachtung  verdient*) 

Es  war  ihm  dabei  darum  zu  thun,  „einige  Punkte,  welche  man 
jedenfalls  als  Leuchtpunkte  im  Gesicht  behalten  muss,  wenn  man  sich 
nicht  gefährlich  verirren  will,  und  die  man  gleich wol  neuerlich  aus 
den  Augen  verloren  hat,  als  solche  vermöge  einer  tieferen  wissen- 
schaftlichen Nachweisung  entschieden  festzustellen". 

Auf  diese  „Leuchtpunkte"  hinzuweisen,  ist  die  Aufgabe  der 
folgenden  Auszüge  aus  dem  oben  genannten  76  Seiten  umfassenden 
Schriftchen. 

1)  Die  Geistesentwicklungen  und  Talente,  welche  zum  Einreißen 
drängen  und  befähigen,  sind  ihrer  ganzen  inneren  Organisation  nach 
so  verschieden  von  den  zum  Aufbau  erforderlichen,  dass  es  beinah  an 
Unmöglichkeit  grenzt,  dass  sich  beide  in  demselben  Individuum,  und 
dass  sie  sich  bei  einem  Volke  zu  derselben  Zeit  zusammenfinden 
sollten. 

2)  Alle  Einrichtungen  und  Formen  sind  ohne  Verlass,  wenn  nicht 
beseelend  und  maßgebend  der  rechte  Geist  zu  denselben  hinzukommt. 
Dies  gilt,  wie  von  den  politischen,  so  auch  von  den  socialen  Reformen. 
Es  ist  sehr  erfreulich  und  lobenswert,  dass  man  das  Los  der  körper- 
lich arbeitenden  Classen  in  der  neueren  Zeit  zum  Gegenstande  einer 


*j  Gewiss,  stellenweise  jedoch  cum  grano  sali».  D. 

35* 


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nur  zu  lange  aufgeschobenen  Aufmerksamkeit  gemacht  und  mit  warmer 
Menschenliebe  zu  verbessern  sich  bemüht  hat.  Aber  verdoppelt  ihnen 
ihren  Lohn  und  schafft  ihnen  noch  mehr  Muße,  als  sie  schon  gegen- 
wärtig haben:  wenn  ihr  ihnen  nicht  Gelegenheit,  Aufforderung  und 
vor  allem  Trieb  zu  geben  im  Stande  seid,  die  in  dieser  Weise  ge- 
wonnenen Mittel  für  ihre  individuelle,  gemtithliche,  moralische  Bildung 
anzuwenden,  wenn  sie  ihren  Erwerb  (wie  hiervon  nur  zu  viele  Er- 
fahrungen vorliegen)  im  Dienste  des  Lasters  vergeuden:  so  habt  ihr 
dadurch  nicht  einmal  ihr  äußeres  Wolergehen  und  Wolbefinden 
gefördert.  Alle  Bemühungen  dieser  Art  also  gewönnen  erst  die 
rechte  Sicherheit  des  Erfolges  und  die  rechte  Weihe,  wenn  dazu  noch 
andere  hinzukommen:  die  auf  die  Hebung  der  Volksbildung  ge- 
richteten. 

3)  Einigen  Berufsgattungen  ist  die  Auffassung,  die  Beurth  eilung 
die  Behandlung  der  Seelenwelt,  andern  die  Auffassung,  die  Be- 
urtheilung,  die  Behandlung  der  materiellen  Welt  als  Aufgabe 
gestellt. 

Der  Geistliche,  als  Kanzelredner,  als  Katechet,  als  Seelsorger,  der 
Richter  und  der  Sachwalter,  indem  sie,  dem  vom  Rechte  Abgewichenen 
gegenüber,  die  rechtlich  normale  Gestaltung  der  Lebensverhältnisse 
repräsentiren  und  zur  Wirklichkeit  bringen,  der  Gesetzgeber  und  der 
irgendwie  sonst  an  der  Regierung  Betheiligte,  die  Lehrer  aller  Classen  etc. 
haben  es  mit  der  Seelen  weit  zu  thun;  der  Landwirt,  der  Fabrikant 
und  die  mit  diesen  in  gleicher  Linie  Stehenden,  mögen  sie  immerhin 
die  umfassendsten  und  höchsten  Naturgesetze  für  die  Regelung  und 
Vervollkommnung  ihrer  Berufstätigkeit  zur  Anwendung  bringen, 
haben  die  materielle  Welt  zum  Gegenstand  wie  ihrer  leiblichen,  so 
auch  ihrer  geistigen  Wirksamkeit.  Und  wol  zu  merken:  nicht  nur 
dass  diese  beiden  Welten  den  Vorstellungen  nach  durchaus  von- 
einander verschieden  sind,  so  dass,  mit  Ausnahme  weniger,  auf  sehr 
großer  Höhe  der  Abstraction  liegender,  keine  einzige  Vor- 
stellung beiden  gemeinsam  ist:  sie  liegen  ebenso  auch  den  Geistes- 
kräften, den  Talenten  nach  außer  einander,  so  dass  (wir  müssen 
dies  mit  der  größten  Entschiedenheit  und  Schärfe  aussprechen)  keine 
einzige  Geisteskraft,  kein  einziges  Talent,  welche  für  die 
Auffassung,  die  Beurtheilung,  die  Behandlung  der  einen 
Welt  geeignet  sind,  zugleich  auch  für  die  der  andern  be- 
fähigen. 

4)  Gesetzt,  wir  haben  einem  Schüler  Tausende  von  Natur- 
producten  gezeigt,  haben  ihn  in  der  Auffassung  derselben  geübt, 


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haben  diese  Auffassungen  im  Verhältnis  der  Gleichartigkeit  zusammen- 
gebracht und  durch  deren  Verschmelzungen  Begriffe,  sowie  durch  die 
Hinzunahme  dieser  Begriffe  zu  neuen  Auffassungen  Urtheile  und 
Schlüsse  bilden  lassen;  wir  haben  ihn  ferner  aufmerksam  gemacht  auf 
die  ursächlichen  Beziehungen  zwischen  den  Naturerfolgen,  und  nach- 
dem auch  diese  zur  Auffassung  gebracht  worden  sind,  damit  Be- 
gehrungen   in  Verbindung  gesetzt,  durch  deren  Hinzutreten  die 
Causalreihen  in  Zweck-  und  Mittelreihen,  und  wo  mehrere  zur  Aus- 
wahl vorlagen,  in  Überlegungen  umgewandelt  worden  sind.  Un- 
streitig sind  durch  diese  Combinationen  nicht  blos  Acte,  sondern  auch 
Kräfte  von  diesen  höheren  Bildungsformen  gewonnen  worden.  Aber 
man  frage  sich  nun:  wird  wol,  vermöge  der  hierdurch  gewonnenen 
Auflassungs-,  Verstandes-,  Urtheils-,  Überlegungsvermögen  der  so  ge- 
bildete junge  Mensch  auch  Gemütsbewegungen,  Entschlüsse,  Charaktere, 
Lebensverhältnisse  vollkommener  aufzufassen,  zu  begreifen,  zu  be- 
ortheilen,  in  Überlegung  zu  nehmen  im  Stande  sein?   Mag  ich  mir 
noch  so  zahlreiche  und  vollkommene  Begriffe  und  Begriffskräfte  von 
Pflanzen,  von  Mineralien,  von  physikalischen  oder  chemischen  Processen 
erworben  haben:  ich  werde  hierdurch  nicht  im  mindesten  befähigt, 
einen  menschlichen  Charakter  besser  zu  verstehen,  als  derjenige,  wel- 
cher diese  Begriffe  und  Begriffskräfte  nicht  erworben  hat.  —  Die 
Bildung  aller  Geisteskräfte  reicht  jedesmal  nur  so  weit, 
als  der  Bewusstseinsinhalt  desjenigen  reicht,  an  welchem  sie 
erworben  worden  sind,  als  dieser  in  dem  nun  als  Aufgabe  Gestellten 
entweder  der  gleiche,  oder  doch  so  weit  ein  ähnlicher  ist,  dass 
das  Frühere  theilweise  in  die  neuen  Acte  als  Grundlage  (oder  Kraft) 
eingehen  kann.  —  Durch  die  Naturwissenschaften  können 
keineswegs  die  Kräfte  gebildet  werden,  welcher  derjenige 
bedarf,  dessen  künftiger  Beruf  auf  der  Seite  der  Seelen- 
welt liegt. 

5)  Es  muss  Unterrichtsanstalten  geben,  welche  für  die  Wirksam- 
keit auf  die  materielle  Welt  befähigen  und  dies  dadurch  erreichen, 
dass  sie  die  Naturwissenschaften  (und  die  Mathematik  in  der 
Richtung  zu  diesen  hin)  zur  Hauptgrundlage  des  Unterrichtes  machen. 
Diese  Unterrichtsanstalten  müssen  durchaus  selbstständig  hin- 
gestellt werden.  Aber  diesen  Unterrichtsanstalten  gegenüber  muss  es 
dann  andere  geben,  welche  für  die  Wirksamkeit  auf  die  Seelenwelt 
befähigen;  und  für  diese  Unterrichtsanstalten  können  jene  ebenso 
wenig  als  Äquivalente  eintreten. 

6)  Die  Sprache  ist  durch  und*  durch  Reflex  von  Seelen- 


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producten.  Jedes  Wort  bezeichnet  einen  Begriff  (eine  Zusammen- 
fassung von  mehrerem  Besondern,  auf  welches  er  zugleich  anwendbar 
ist,)  ebenso  jede  Form;  und  dieser  letzteren  liegen  außerdem  nochr 
in  reicher  Mannigfaltigkeit,  Combinationen  oder  Beziehungen-, 
anderer  Art  zum  Grunde.  So  von  dem  am  meisten  Elementarischen 
bis  zu  den  höchsten  dichterischen,  geschichtlichen,  philosophischen  etc., 
Werken;  und  wie  in  Betreff  der  Geistesproducte  des  einzelnen. 
Menschen,  so  in  Betreff  ganzer  Völker  und  Zeiten.  Indem  wir  nun 
die  Sprachdarstellungen  aufnehmen,  nehmen  wir  mehr  oder  weniger 
auch  die  Seelenproducte  auf,  welche  diesen  äußeren  Reflexen  als 
ihr  Inneres  zum  Grunde  liegen;  und  vermöge  der  inneren  Fortexistenz 
der  in  dieser  Weise  angeeigneten  Combinationen  werden  zugleich 
unsere  Auffassungskräfte,  Verstandeskräfte  etc.  in  dieser 
Richtung  fortgebildet. 

7)  Die  Gesammtheit  der  Seelenproducte  macht  die  Seelenwelt 
aus,  und  je  ausgedehnter  und  mannigfaltiger  wir,  vermöge  der  Sprach- 
darstellnngen,  die  ihnen  zum  Grunde  liegenden  Seelenproducte  zur 
Aneignung  und  Verarbeitung  bringen,  um  desto  ausgedehnte!'  und 
mannigfaltiger  erzeugen  wir  in  dem  Schüler  die  Talente,  welche  für 
die  Auffassung  und  Behandlung  der  Seelenwelt  erfordert  werden.  Für 
denjenigen  also,  der  sich  dies  anschaulich  gemacht  hat  und  welchem 
dabei  der  unendliche  Reichthum  der  Seelenwelt  und  der  inneren  Or- 
ganisation ihrer  Bestandteile  klar  vor  Augen  liegt,  kann  es  kaum 
etwas  Lächerlicheres  und  Widersinnigeres  geben,  als  den  bekannten 
Sprachgebrauch,  welcher,  den  Naturwissenschaften  gegenüber,  als 
Unterrichtsgegenständen,  die  es  mit  „Realien"  oder  „Sachen"  zu  thnn 
hätten,  den  Sprachunterricht  als  auf  „bloße  Namen  und  Formen44 
gehend  bezeichnet.  Von  „Namen"  und  von  „Wortformen tt  kann  da, 
wo  der  Sprachunterricht  in  (öffentlichen  Lehranstalten  seiner  wahren 
Bestimmung  gemäß  ertheilt  wird,  nicht  im  entferntesten  die  Rede 
sein  (?  D.) 

Um  „Formen"  handelt  es  sich  allerdings,  aber  um  Seelenformen, 
ganz  in  derselben  Weise  wie  es  sich  ja  auch  in  den  gewöhnlich  so- 
genannten Naturwissenschaften  durch  und  durch  um  Formen  (Bil- 
dungsformen)  des  Materiellen  handelt.  Wie  nun  diese  letzteren 
Formen  zugleich  (die  zu  erlernenden  Sachen  sind,  und  welche  da- 
durch, dass  sie  erlernt  worden,  zugleich  zur  Behandlung  dieser  Sachen 
in  den  Stand  setzen,  ebenso  auch  auf  der  Seite  des  Sprachunterrichts. 
Die  Formen,  mit  welcher  dieser  zu  thun  hat,  sind  Seelensachen,  und 
diese  sind  vollkommen  ebenso  viel,  wie  die  Sachen,  aus  welchen 


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die  materielle  Welt  besteht,  dabei  wertvoller  und  (was  uns  hier 
vorzuglich  angeht)  die  rechten  Sachen,  an  denen  allein  die  Geistes- 
kräfte derjenigen,  welche  zu  Seelsorgern,  zu  Richtern,  zu  Staats- 
männern etc.  bestimmt  sind,  die  ihnen  angemessene  methodische  Übung 
und  Stärkung  erhalten  können. 

8)  Nicht  nur  müssen  wir  verlangen,  dass  es  fortwährend  Unter- 
richtsanstalten gebe,  in  welchen  die  Ausbildung  für  die  Behandlung 
der  Seelenwelt  als  die  überwiegende  ins  Auge  gefasst  werde,  sondern 
auch  dass  die  in  dieser  Richtung  zu  bildenden  Schüler  schon  früh 
von  den  übrigen  gesondert  werden  (?  D.),  damit  wir  den  be- 
zeichneten Büdungszweck  mit  voller  Entschiedenheit  und  in 
stetiger  Spannung  zu  verfolgen  im  Stande  seien. 

9)  Man  hat  unter  den  vielen  Emancipationen  auch  schon  mehrfach 
die  Emancipation  vom  Sprachunterricht,  und  namentlich  von  den  alten 
Sprachen  verkündigt:  indem  durch  die  fortschreitende  Cultur,  welcher 
jener  Umschwung  gewissermaßen  das  Siegel  aufgedrückt,  dem  Menschen 
die  wirkliche  Welt  so  entschieden  näher  gerückt  sei,  dass  dahinter 
die  Beschäftigung  mit  den  Sprachen  zurücktreten  müsse.  Aber  wir 
müssen  entschieden  das  Gegentheil  behaupten.  Mögen  die  Aufgaben 
der  materiellen  Welt  gegenüber  (denn  diese  meinen  doch  die  Ver- 
fechter jener  Ansicht,  indem  sie  überhaupt  von  der  „wirklichen  Welt" 
reden)  in  der  neuern  Zeit  noch  so  sehr  gesteigert  sein:  die  der  Seelen- 
welt gegenüber  vorliegenden  Aufgaben  sind  jedenfalls,  und  namentlich 
infolge  des  neuerlichen  politischen  Umschwungs,  noch  ungleich  mehr 
gesteigert.  Konnte  man  als  Seelsorger,  als  Lehrer,  als  Richter  etc. 
bisher,  wo  es  sich  gewissermaßen  nur  um  eine  gleichmäßige 
Wiederholung  der  Vergangenheit  handelte,  unter  gewöhnlichen  Ver- 
hältnissen allenfalls  mit  bloßen  instinctartigen  Auffassungen  und  An- 
wendungen auskommen:  so  ist  den  ohne  allen  Vergleich  schwierigeren 
Aufgaben  der  Gegenwart  und  Zukunft  gegenüber  auch  eine  ungleich 
ausgedehntere,  klarere  und  bestimmtere  Auffassung  und  Anwendung 
erforderlich.  Eine  methodische  Verinnerlichung  und  Ver- 
geistigung  des  Sprachunterrichtes  also,  sowie  der  übrigen,  gleich 
ihm  auf  die  Seelenwelt  sich  beziehenden,  d.  h.  des  Unterrichts  in  der 
Moral  und  Religion,  und  des  Unterrichts  in  der  Geschichte  von 
seiner  inneren  Seite,  in  lebendig  gegliederter  Abstufung  so  eingerichtet, 
dass  die  Beschäftigung  mit  den  Sachen  zugleich  die  vollkommenste 
Bildung  der  Kräite  oder  Talente  ergibt,  ist  in  der  gegenwärtigen 
Zeit  recht  eigentlich  das  Eine,  was  noth  thut. 

10)  In  den  frühesten  Zeiten  nahm  die  materielle  Welt,  theils 


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in  feindlichem  Andrängen,  theils  von  Seiten  der  auf  sie  gerichteten 
Bedürfnisse,  fortwährend  tibermächtig  den  Menschen  in  Anspruch. 
Damals  also  mussten  ihr  gegenüber  alle  Menschen  Streiter  und 
Arbeiter  sein,  und  dagegen  war  die  Wirksamkeit  auf  die  Seelen  weit 
Sache  sehr  weniger.  Diese  letztere  reichte  kaum  über  die  Priester 
und  die  Philosophen  hinaus,  so  dass  sich  auch  die  Bildung  dafür  auf 
die  engen  Grenzen  der  Priester-  und  der  Philosophenschulen  beschrän- 
ken konnte  und  musste.  Wie  nun  in  der  gegenwärtigen  Zeit?  — 
Unstreitig  hat  sich  das  Verhältnis  umgekehrt.  Infolge  der  ungleich 
günstigeren  Stellung,  welche  der  Mensch  der  äußeren  Natur  gegen- 
über gewonnen,  und  der  hierdurch  möglich  und  angemessen  gewor- 
denen vielfachen  Theilung  der  Arbeit,  kann  jetzt  eine  nicht  unbedeu- 
tende Anzahl  von  Menschen,  im  Interesse  der  höheren  Geistesbildung, 
von  der  gegen  nnd  auf  die  materielle  Welt  gerichteten  Thätigkeii 
gänzlich  entbunden  werden.  Dem  gegenüber  hat  sich  in  Betreff  der 
Seelenwelt  immer  mehr  und  mehr  die  Forderung  herausgestellt,  dass 
von  jedem  eine  gewisse  geistige  Selbstständigkeit  er- 
worben werde:  entschieden  in  Betreff  des  Moralischen  nnd  Reli- 
giösen, damit  er  sich  in  Hinsicht  dieser  höchsten  und  heiligsten  In- 
teressen eine  eigene  Überzeugung  zu  bilden  im  Staude  sei,  aber 
auch  in  Betreff  des  Intellectuellen.  Auch  für  die  niedrigsten  Volks- 
schulen also  müssen  wir  verlangen,  dass  der  Unterricht  in  der  Sprache 
und  in  der  Religion  nicht  blos  für  ein  äußerlich  kümmerliches  An- 
lernen, sondern  geistbüdend  ertheilt  werde,  d.  h.  Kräfte  bildend  für 
die  Auffassung,  das  Aufbehalten,  das  Verständnis,  die  Beurtheihing: 
des  Geistigen.  Und  so  ist  denn  gegenwärtig  die  Aufgabe  der  Be- 
fähigung für  die  Seelenwelt  keineswegs  auf  einzelne  Gattungen  von 
Schulen  beschränkt,  sondern  eine  ganz  allgemeine. 

11.  Macht  sich  die  Bildung  für  die  Seelen  weit  für  alle  Kinder 
und  also  auch  für  alle  Schulen  unabweisbar  geltend,  so  versteht 
sich  auf  der  andern  Seite  von  selbst,  dass  auch  denjenigen,  welche 
vorzugsweise  für  die  Wirksamkeit  auf  die  geistige  Welt  bestimmt  sind, 
dessenungeachtet  die  materielle  Welt  nicht  fremd  bleiben  darf:  dass 
vielmehr  schon  während  der  Schulzeit  auch  in  ihnen  die  Kräfte  für 
deren  Auffassung  und  Beurtheilung  auszubilden  und  überdies  die 
Fähigkeit  und  die  Neigung  zu  entwickeln  sind,  die  Ausbildung  dieser 
Kräfte  später  selbstthätig  zu  erweitern  und  zu  vervollkommnen. 

12.  Durch  das  Hereinziehen  der  alten  Sprachen  und  der  alten 
Geistesbildung  überhaupt  in  den  Gymnasialunterricht  wird  der  Haupt- 
sache nach  zweierlei  bezweckt:  dass  der  Blick  des  jungen  Mannes 


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erweitert  werde  zur  Universalität  des  Musterhaften  welches  das 
menschliche  Geschlecht  in  allen  Richtungen  des  geistigen  Schaffens 
hervorzubringen  im  Stande  gewesen  ist,  und  dass  ihm,  weil  er  selbst 
für  ein  Schatten  dieser  Art  berufen  ist,  die  tiefsten  Grundgesetze 
und  Grundformen  der  seelischen  Naturentwicklung  aufgedeckt 
werden.  Denn  auch  hier  gehorcht  die  Natur  dem  Menschen  nur, 
wenn  er  zuvor  auf  die  Natur  gehorcht,  dieser  ihre  Bildungsgesetze 
abgehorcht  hat.  Beide  Zwecke  können  natürlich  während  des  ganzen 
Jugendunterrichtes  nur  in  beschränktem  Maße  erreicht  werden;  aber 
die  vollkommenere  Erreichung  derselben  ist  so  viel  als  möglich  vor- 
zubereiten: theils  von  Seiten  der  intellectuellen  Befähigung  dazu  und 
theils  indem  wir  lebendige  Triebe  zu  späterer  selbstständiger  Fort- 
führung dieser  Bildung  begründen.  Dies  sind  die  Hauptaufgaben  für 
das  Gymnasium,  und  sie  sind  im  allgemeinen  nicht  zu  lösen,  ohne 
die  Griechen  und  Römer.  Der  Charakter  des  Musterhaften  in 
diesen  ist  so  allgemein  anerkannt,  dass  diese  Anerkenntnis  selbst  in 
den  allgemeinen  Sprachgebrauch  übergegangen  ist,  welcher  ihre 
Werke  als  die  „Classiker"  im  engeren  Sinne  dieses  Wortes  bezeich- 
net. Aber  in  Betreff  der  zweiten  bezeichneten  Aufgabe  hat  man  die 
Notwendigkeit,  zu  den  Alten  zurückzugehen,  in  Zweifel  gestellt; 
dieser  Aufgabe  durch  die  neueren  Sprachen  ebensowol  genügen  zu 
können  geglaubt.  Man  hat  sich  in  dieser  Hinsicht  namentlich  darauf 
berufen,  dass  ja  doch  die  Alten  selbst  keine  alten  Sprachen 
gehabt  hätten.  Hierauf  ist  nun  zu  erwidern,  dass  sie  dessen  eben 
deshalb  nicht  bedurften,  weil  sie  ihre  Sprachen,  ihre  Bildung  hatten, 
welche  infolge  ihres  naiveren  (nativeren),  elementarisch-durchsichtigen 
Charakters  ein  weiteres  Zurückgehen  zu  einem  mehr  Elementarischen 
unnöthig  machten,  so  dass  ihnen  also  die  Auffassungen  und  die  Kräfte, 
auf  welche  es  für  die  bezeichnete  Lebensaufgabe  ankommt,  ohne 
weitere  Vermittelung  zuwuchsen.  Die  ihnen  in  dieser  Weise  zu- 
wachsenden Anschauungen  und  Kräfte  reichten  aus  für  die  ungleich 
einfacheren  religiösen,  juridischen,  didaktischen,  politischen  Verhältnisse, 
welche  ihnen  zur  Würdigung  und  Behandlung  vorlagen.  Unsere  zu- 
sammengesetzteren und  verwickeiteren  Verhältnisse  dagegen  fordern 
eine  mehr  vermittelte,  in  längerer  Reihenfolge  fortgeführte  Vorbildung; 
und  dem  parallel,  ist  alles,  was  hierfür  die  modernen  Sprachen,  und 
die  moderne  Bildung  überhaupt,  als  Hilfsmittel  darbieten,  von  einem 
zu  weit  vorliegenden,  zusammengesetzten,  verwickelten, 
und  dabei  von  einem  zu  reflectirten  Charakter,  als  dass  sich  die 
Schüler  unmittelbar  lebendig  und  vollständig  hineinzufinden  im  Stande 


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wären.  Wir  müssen  also  für  die  Jugend  jene  elementarisch-durch- 
sichtigere Bildung  voranschicken,  ganz  in  Einstimmung  damit,  dass 
sie  die  classische  Jugendbildung  der  Menschheit  gewesen  ist; 
die  Bildung,  durch  welche  hindurch  allein  die  Menschheit  im  Stande 
war,  sich  zu  der  männlich-reiferen  Bildung  zu  erheben,  deren  wir 
uns  gegenwärtig  zu  erfreuen  haben. 

13)  Nicht  auf  das  Außere  der  Sprache  oder  der  Literatur  kommt 
es  an,  sondern  auf  deren  geistige  Grundlage,  oder  bestimmter,  auf 
die  Anschauungen,  Begriffe,  Urtheile,  Schlüsse  und  sonstigen  Com- 
binationen,  welche  diese  von  dem  Seelischen  darbieten,  und  auf  die 
hierdurch  zu  erwerbenden  Talente.  Die  moderne  Bildung  ist  weit 
umfassender,  reicher,  tiefer  durchgebildet,  in  Betreff  der  Seelen- 
welt in  noch  höherem  Maße  als  in  Betreff  der  materiellen  Welt, 
auf  welche  letztere  zuweilen  die  zu  warmen  Verehrer  des  Alterthums 
den  Vorzug  der  neueren  Bildung  haben  beschränken  wollen.  Aber 
gerade  weil  die  moderne  Bildung  ungleich  umfassender,  reicher,  tiefer 
durchgebildet  ist,  dürfen  wir  für  diejenigen,  welche,  um  zur  Be- 
herrschurfg  der  Seelenwelt  befähigt  zu  werden,  dieselbe  gründlicher 
erfassen  sollen,  nicht  mit  ihr  den  Anfang  machen,  sondern  müssen  die 
Beschäftigung  mit  jener  enger  begrenzten,  weniger  reichen, 
weniger  tief  durchgearbeiteten  Bildung  voraugehen  lassen. 

14)  Die  größte  Beschränkung  des  seelischen  Gesichtskreises 
haben  wir  bei  der  Volksschule.  Die  Lebensaufgabe  der  in  ihr  Zu- 
bildenden geht  ja  zunächst  und  der  Hauptsache  nach  auf  die  Behand- 
lung der  körperlichen  Welt  durch  das  in  ihnen  Körperliche. 
Daneben  sollen  auch  sie  allerdings  zur  Auffassung,  Würdigung  und 
Behandlung  der  Seelenwelt  befähigt  werden.  Aber  was  wir  ihnen  in 
dieser  Beziehung  als  Aufgabe  stellen  können  und  müssen,  bleibt  doch 
jedenfalls  innerhalb  des  eigenen  Volkes  beschränkt.  Auch  in  dieser 
letzteren  Beziehung  fordert  ihre  Bildung  weder  alte  Sprachen,  noch 
neuere  fremde;  sondern  sie  hat  sich  auf  die  geistigen  Grundlagen  der 
Muttersprache,  der  vaterländischen  Geschichte,  der  (um  es  so 
zu  bezeichnen)  angeerbten  moralischen  und  religiösen  Gemeinschaft 
zu  beschränken. 

15)  Die  Berufsgattungen,  auf  welche  die  höhere  Bürgerschule 
vorbereiten  soll,  gehen  ebenfalls  auf  die  Behandlung  der  äußeren  Natur, 
aber  auf  ihre  Behandlung,  nicht,  wie  bei  den  in  der  Volksschule  Zu- 
bildenden, durch  das  in  dem  Menschen  Körperliche,  in  Verbindung  mit 
den  einfacheren  Überlegungen,  wie  sie  sich  dieser  Thätigkeit  mehr 
oder  weniger  von  selbst  anschließen,  sondern  durch  das  in  dem 


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—    503  — 


Menschen  Geistige,  oder  auf  der  Grundlage  einer  tieferen  Erfassung 
ond  Anwendung  der  Entwicklungsgesetze  dieser  Natur.  Sollen  die 
diesen  Berufsgattungen  Bestimmten  hierfür  wahrhaft  befähigt  werdenr 
so  müssen  sie,  der  materiellen  Welt  gegenüber,  auf  einen  bedeutenden 
geistigen  Höhepunkt  gestellt  werden,  und  zugleich  ist  es,  sowol  im 
Interesse  der  Vorbereitung  zu  diesem  Berufe  als  im  Interesse  der 
späteren  Anwendung,  höchst  wünschenswert,  ja  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  nothwendig,  dass  sie  über  die  Grenzen  des  einzelnen 
Volkes  hinausgerücjkt,  dass  sie  in  die  Gemeinschaft  und  den  Ver- 
kehr mit  den  übrigen  neueren  Völkern  eingeführt  werden,  welche 
sich  in  der  Erforschung  und  Beherrschung  der  äußeren  Natur  besonders 
hervorgethan  haben.  Sie  müssen  deren  Bildung,  zunächst  inwiefern 
sie  ihren  Beruf  angeht,  sich  zu  eigen  zu  machen  in  den  Stand  ge- 
setzt werden;  dann  aber  auch,  hierüber  hinaus,  wie  weit  es  erfordert 
wird,  um  für  ihre  ganze  Bildung  den  Umfang  und  die  Einheit  zu  ge- 
winnen, welche  dieselbe  allein  zu  einer  wolorganisirten  machen  und 
für  ihren  Bestand  Gewähr  leisten  kann. 

16)  Die  Schule  und  die  Kirche  zusammengenommen  umfassen  das 
gesammte  geistige  Fortschreiten  des  menschlichen  Geschlechts  (auch 
für  den  Staat  ist  das  seinige  (zuletzt  durch  das  Hintiberwirken  von 
ihnen  her  bedingt);  und  das,  bald  mehr  in  dunkler  Ahnung,  bald  mehr 
klar-bestimmt  ausgebildete  Bewusstsein  hiervon  ist  es,  was  sie  zu  Ver- 
bündeten von  jeher  gemacht  hat  und,  solange  das  menschliche  Ge- 
schlecht geistig  fortschreitet,  auch  fernerhin  machen  wird. 

17)  Man  soll  nicht  zu  viel  Gesetze  geben,  nicht  zu  viel  re- 
gieren, nicht  zu  viel  Aufsicht  üben  wollen.  Wo  das  Rechte  ohne 
dies  geschieht,  aus  freiem,  lebendigem  Triebe  heraus,  da  ist  es  jeden- 
falls besser. 

18)  Eins  der  heiligsten  Rechte  ist  dasjenige,  welches  der  Einzelne, 
und  ebenso  die  Stadt,  die  Landschaft  etc.  auf  ihre  Individualität 
haben,  wie  weit  sich  dieselbe  innerhalb  des  Rechten  ausgebildet  hat. 
Die  wahre  Freiheit  ist  Unabhängigkeit,  nicht  ein  ungehöriges 
Beherrschen  anderer,  indem  man  die  Minorität  einer  oft  zufällig 
oder  auch  hinterlistig  gebildeten  Majorität  unterwirft.  Wird,  durch 
Zwang  oder  durch  zufallige  Fluctuationen  der  Stimmung,  unter  solchen 
Umständen  wirklich  eine  Einrichtung  allgemein  festgestellt,  so  findet 
111  an  sich  unwol  in  dem  Kleide,  welches  nicht  passt;  vielleicht  alle 
zugleich';  und  dann  wird  so  lange  hin  und  her  gezogen  und  gezerrt, 
bis  das  Kleid  zerrissen  ist. 

Die  Verhältnisse  gegen  Ende  unseres  Jahrhunderts  scheinen  denen 


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gegen  die  Mitte  desselben  immer  ähnlicher  zu  werden.  Das  Drängen 
und  Treiben  auf  dem  socialen  Gebiet  im  allgemeinen  und  auf  dem 
Gebiet  des  Schulwesens  im  besondern  wird  immer  gewaltiger  und  be- 
ängstigender. Da  thut  es  denn  doppelt  noth,  sich  nach  Leitsternen 
umzusehen,  damit  man  nicht  ganz  abirre  vom  rechten  Wege.  Ein 
solcher  Leitstern  ist  das  philosophische  Votum  Beneke's.  Wenn  ancb 
nur  einige  der  Männer,  welche  bei  der  Reform  unserer  Schulen  mit- 
zurathen  und  mitzuthaten  berufen  sind,. durch  die  mitgetheilten  Aus- 
züge auf  dieses  Votum  aufmerksam  gemacht,  sich  dadurch  zu  ent^ 
sprechendem  Thun  bewogen  fühlen,  so  ist  die  geringe  Mühe  der  Ver- 
öffentlichung dieser  „Leuchtpunkte"  reichlich  belohnt. 


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Gedanken  über  das  unvermeidliche  Thema:  „Der  Socialismus 

und  die  Volksschale". 

Von  B,  St, 


JLl-lan  hat  sich  allmählich  gewöhnt,  dem  geduldigen  Aschenbrödel 
„Volksschule"  alles  in  die  Schuhe  zu  schieben,  alles  aufzubürden. 
Bricht  irgendwo  die  menschliche  Bestie  in  ihrer  Schreckensgestalt  her- 
vor; wissen  die  Zeitungen  von  Brutalitäten  und  Roheiten  zu  berichten; 
nehmen  Veruntreuungen,  Fälschungen,  Unterschlagungen  überhand; 
will  die  Sittlichkeit  etwas  mehr  in  die  Brüche  gehen,  als  es  sich  mit 
den  ohnehin  genügend  liberalen  Anschauungen  der  „Gesellschaft"  ver- 
trägt; erhebt  die  rothe  Internationale  noch  lauter  ihren  mord-  und 
branddrohenden  Kampfesruf:  da  ruft  man  nach  der  Volksschule.  Sie 
muss  der  zunehmenden  Verrohung  entgegentreten;  sie  muss  das  Pflicht- 
gefühl einpflanzen  und  anerziehen;  sie  muss  Zucht  und  gute  Sitte 
pflegen;  sie  muss  die  Irreligiosität  und  Vaterlandslosigkeit  bekämpfen; 
sie  muss  —  ja,  wer  mag  wissen,  was  die  Volksschule  noch  alles 
„soll"  und  „mussu! 

Augenblicklich  steht  die  lichterloh  brennende  sociale  Frage  auf 
der  Tagesordnung.  Hei!  wie  sich  die  pädagogischen  Federn  rühren! 
«Wie  erzieht  man  zum  Patriotismus?  Was  kann  die  Volksschule  zur 
Lösung  der  socialen  Frage  thun?  Wie  kann  die  Volksschule  die 
Classengegensätze  abmindern?"  So  und  ähnlich  erschallt  es  allerorten, 
nnd  die  Lehrerschaft  müht  sich  ehrlich  ab,  um  das  moderne  Sphinx- 
räthsel  zu  lösen.  Nun,  die  Volksschule  in  ihrer  heutigen  Organisation 
als  Standesschule  ist  wol  überhaupt  nicht  in  der  Lage,  die  Classen- 
gegensätze abzumildern;  sie  ist  vielmehr  im  Gegentheil  vortrefflich 
geeignet,  den  Classenhass  schon  in  die  Kinderwelt  hineinzutragen  und 
den  Standesunterschied  so  recht  schön  anschaulich  darzustellen.  Das 
hindert  aber  nichts  bei  jeder  Gelegenheit  wieder  das  stereotype  „Was 
k&nn  die  Volksschule  thun"  gebürend  zu  beleuchten,  sich  allen 
Ernstes  darüber  zu  erhitzen,  ob  man  der  vaterlandslosen  Socialdemo- 
kratie  wirksamer  entgegenarbeite,  wenn  man  die  Weltgeschichte  auf 
den  Kopf  stelle  und  rückwärts  construire.  Dass  die  Schule  ein  Object 
der  Partei-  und  Interessenpolitik  geworden  ist,  das  ist  das  größte 


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Unglück,  welches  ihr  widerfahren  konnte.  Immer  neue  Aufgaben 
werden  ihr  zugeschoben,  immer  neue  Forderungen  an  sie  gestellt,  die 
zwar  an  sich  allesammt  in  ihr  Gebiet  fallen,  von  denen  aber  jede 
nach  den  jeweiligen  Verhältnissen  die  wichtigste  sein  soll.  Die  Schule 
thut  sicherlich  ihre  Pflicht  und  wird  ihre  Pflicht  thun,  man  soll  aber 
nichts  Unmögliches  von  ihr  verlangen  und  nichts  Unmögliches  von 
ihr  erwarten.  Sie  kann  die  Irreligiosität  und  den  Internationalitäten- 
schwindel  bekämpfen,  aber  nicht  den  Socialismus. 

Im  Grunde  genommen  handelt  es  sich  in  der  Discussion  für  und 
wider  den  Socialismus  um  die  beiden  Streitfragen:  „Individualismus 
oder  Collectivismus  —  Privatbesitz  oder  Collectivbesitz  der  Productions- 
mittel  —  freie  Einzelproduction  oder  organisirte  Gesammtproduction. 
Alle  übrigen  in  die  sociale  Bewegung  hineingetragenen  Streitfragen 
sind  nur  individuelle  Meinungen  der  jeweiligen  Führer,  und  so  sind 
auch  die  giftsprühenden  Wuthausbrüche  mancher  Socialdemokraten 
gegen  Religion  und  Vaterland  nur  „subjective  Thorheiten  von  Heiß- 
spornen" *),  nur  Beiwerk,  nicht  aber  wesentliche,  mit  dem  Socialismus 
untrennbar  verbundene  Bestandteile.  Solange  sich  die  Gesellschaft 
nicht  über  diese  beiden  wirtschaftlichen  Grundsätze  endgütig  aus- 
einandergesetzt hat,  werden  auch  der  hundertköpfigen  Hydra  immer 
neue  Köpfe  an  Stelle  der  abgeschlagenen  nachwachsen.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  die  Volksschule  mit  diesem  wirtschaftlichen  Problem 
nichts  zu  thun  hat.**) 

Aus  dem  Obengesagten  geht  hervor,  dass  die  Socialdemokratie 
nicht  der  Socialismus  selbst,  sondern  nur  der  gegenwärtige  Repräsen- 
tant, die  gegenwärtige  Erscheinungsform  desselben  jst.  Man  sollte 
also  in  den  pädagogischen  Kampfartikeln  wenigstens  nicht  allgemein 
von  dem  doctrinären  Socialismus  reden,  der  an  sich  mit  Religion  und 
Vaterland  gar  nichts  zu  thun  hat,  vielmehr  ebensogut  eine  Wirt- 
schaftstheorie darstellt  wie  jedes  andere  System  der  Nationalökonomie, 
sondern  man  sollte  sich  correcter  Weise  nur  gegen  die  atheistisch- 
revolutionäre Socialdemokratie  wenden. 

*)  Schäffie,  Quintessenz  des  Sozialismus.  —  Auf  diese  Broschüre  eines  berufenen 
Fachmannes  muss  hier  anstatt  einer  tieferen  Begründung  obiger  Sätze,  die  zu 
weit  führen  würde,  verwiesen  werden.  Zur  weiteren  Orientirung  über  diese 
Fragen,  über  die  das  große  Publicum  mitsararat  der  schreibenden  und  lehrenden 
Fädiiffogenwelt  mitunter  noch  sehr  naive  Vorstellungen  hat,  sei  noch  „Bau  des 
socialen  Korpers"  von  demselben  Verf.  empfohlen  nebst  dem  umfassenden  national 
ökonomischen  Werke :   Mario ,  Organisation  der  Arbeit. 

**)  Etwas  anderes  ist  es  bei  offenbar  unrichtigen  Behauptungen  des  Socialismus 
auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  z.  B.  bei  dem  Satze:  „Nur  die  Arbeit  schafft  Werte", 
woraus  dann  der  berühmte  Satz  folgt:  „Das  Eigenthum  (der  Unternehmergewinn) 
ist  Diebstahl". 


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—    507  — 


Wer  wagt  es,  die  Gefährlichkeit  dieser  Partei  zu  verkennen? 
Es  hieße  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  man  hier  nochmals  die 
zersetzende  Wirkung  des  socialdemokratischen  Materialismus  nach- 
weisen. Jawol,  unser  Volk  zeigt  einen  erschreckenden  religiösen  und 
moralischen  Niedergang  infolge  der  rücksichtslosen  Agitation  jener 
„Volksbeglücker",  und  die  Schule  hat  unzweifelhaft  die  heilige  Pflicht, 
diesem  Niedergange  entgegenzuarbeiten,  wie  und  wo  sie  nur  kann. 
Man  sollte  sich  aber  um  alles  in  der  Welt  nicht  einbilden,  damit  den 
Socialismus  auszurotten. 

Vielleicht  aber  die  Socialdemokratie  —  ?  Möglich!  Es  fragt  sich 
nur:  Liegt  die  Zaubermacht  der  Socialdemokratie  in  ihrem  aufdring- 
lich laut  verkündeten  Atheismus  und  Kosmopolitismus,  oder  hat  sie 
einen  anderen  Grund? 

Freilich,  den  aberwitzigsten  Ideen  wohnt  in  gesellschaftlichen 
Krisen  eine  dämonisch  zwingende  Macht  inne,  gegen  welche  Vernunft- 
gründe genau  so  viel  ausrichten,  wie  ein  papierner  Protest  gegen 
hunderttausend  wolbediente  Bajonette;  aber  der  letzte  Grund  des  be- 
klemmenden Umsichgreifens  der  Socialdemokratie  ist  doch  wo  anders 
zu  suchen,  nämlich  auf  dem  wirtschaftlichen  Gebiete.  Die  Miss- 
verhältnisse innerhalb  der  modernen  Gesellschaft  sind  so  unbestreitbar 
und  so  augenfällig,  die  sociale  Noth  eines  großen  Theiles  der  arbeiten- 
den Classe  ist  so  schreiend,  dass  es  in  der  That  wunderbar  wäre, 
wenn  die  hilfeversprechende  Socialdemokratie  keinen  Anhang  fände. 
Der  Hunger  ist  eine  zu  reale  Macht,  vor  der  schließlich  alles  An- 
erzogene nicht  stand  hält,  welche  die  niedergehaltene  Bestie  aller 
Religion  und  allen  Sittengesetzen  zum  Hohne  entfesselt.  Und  dagegen 
soll  die  Volksschule  etwas  ausrichten  können?  Gestehen  wir  es  uns 
nur  ein:  die  Volksschule  trägt  selbst  socialistisches  Gepräge*),  und 
sie  verfährt  rein  socialistisch,  wenn  sie  Speisungen  armer  Kinder  ver- 
anstaltet und  das  Schulgeld  erlässt.  Überhaupt  weist  selbst  die  negi- 
rende  Socialdemokratie  so  manchen  gesunden  Gedanken  auf,  der  aber 
gewöhnlich  erst  dann  Anerkennung  findet,  wenn  er  vom  Ministertische 
aus  officiell  verkündet  wird. 

Die  Socialdemokratie  wäre  bei  weitem  weniger  gefährlich,  fände 
der  Kampfruf  der  nimmersatten,  zu  Streik  und  Boykott  jederzeit  be- 
reiten Schreier  der  Großstädte  und  Industriecentreu  nicht  in  der  Menge 
der  ruhigeren  Arbeiter  der  Landstädte  und  kleineren  Industrieorte. 

*)  Die  der  Volksschule  zugewiesenen  Aufgaben,  die  Classengegensätze  abzu- 
mildern, allen  Kindern  gleiche  Bildung  anzueignen,  gleiche  Liebe  zuzuweisen  u.  s.  f., 
haben  allesammt  socialistischen  Charakter. 


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—    508  — 

und  in  den  Kreisen  der  untersten  Beamten  ein  lautes  Echo.  Der 
Hungerlohn  aller  dieser  Leute  steht  meist  im  größten  Missverhältnis 
selbst  gegen  das  Einkommen  ihrer  streikenden  Collegen,  sie  vermögen 
aber  infolge  ihrer  isolirten  Stellung  nicht  mitzustreiken.  Dafür  hängen 
sie  offen  und  heimlich  der  Socialdemokratie  an  und  lassen  sich  nebst 
vielen  sonst  liberalen  Elementen  selbst  gegen  ihre  bessere  Überzeugung 
mit  fortreißen,  weil  sie  nur  von  der  Socialdemokratie  Besserung  ihrer 
Lage  erwarten.  Ohne  Zweifel  hat  der  Socialismus  und  speciell  die 
Socialdemokratie  schon  so  manche  alte  Gepflogenheit,  die  sich  längst 
überlebt  hatte,  hinweggefegt;  die  Wirkung  dieser  radicalen  Strömung 
ist  aber  doch  immer  die  des  Scheidewassers  auf  das  Eisen:  Der  Rost 
wird  unfehlbar  beseitigt,  aber  auch  das  Eisen  angefressen.  Sicherlich 
wird  aber  die  Socialdemokratie  so  lange  die  Arbeiterschaft  um  sich 
sammeln,  solange  sie  die  einzige  Partei  ist,  welche  die  Arbeiter- 
ftirsorge  als  Selbstzweck  auf  ihre  Fahnen  geschrieben  hat.  Es  bleibt 
nichts  anderes  übrig,  als  die  Arbeiter  durch  die  That  eines  Besseren 
zu  belehren.  Schafft  ihnen  das  Minimum  zum  menschenwürdigen  Da- 
sein oder  versucht  es  wenigstens  ohne  Hintergedanken  und  ohne 
egoistische  Ausflüchte,  sollte  es  auch  noch  so  schwere  Opfer  kosten; 
schafft  ihnen  eine  ehrliche  Vertretung,  die  auf  dem  Boden  der  Religio- 
sität und  des  Vaterlandes  steht  und  auf  die  sie  genau  denselben  An- 
spruch haben  wie  der  feudale  Großgrundbesitzer,  der  Industriebaron, 
der  Kaufmann  und  der  Börsenfürst:  dann  wird  auch  das  Wort  der 
Volksschule  ein  größeres  Gewicht  erhalten,  dann  wird  die  rothe  Inter- 
nationale in  kürze  zum  Popanz  für  Schwachköpfe  und  zum  Horte  der 
immer  und  ewig  unzufriedenen  Schreihälse,  der  echten  und  rechten 
Proletarier  herabsinken. 

Wird  dann  der  Socialismus  verschwunden  sein?  Nein!  Die  Ver- 
söhnung und  Verschmelzung  der  nun  einmal  von  Natur  vorhandenen 
Interessengegensätze  der  verschiedenen  Volkskreise,  die  Milderung  und 
möglichste  Ausgleichung  der  Classengegensätze,  kurz,  der  Socialisnius 
in  seiner  reinsten  Gestalt  gedacht,  wird  auch  dann  noch  noth wendig 
vorhanden  sein.  Kampf  wird  es  nach  wie  vor  geben,  und  muss  es 
auch  nach  wie  vor  geben;  denn  nur  aus  dem  Kampfe  der  wider- 
streitenden Ideen  geht  die  relativ  beste  Wahrheit  hervor.  Die  abso- 
lute Wahrheit  ist  für  uns  Menschen  unerreichbar,  und  das  zu  unserm 
Glücke;  sie  wäre  der  Tod  alles  Strebens  und  Ringens,  der  Tod  der 
Menschheit  selbst.  „Es  irrt  der  Mensch,  solang'  er  strebt",  und  es 
ist  gut  so. 


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Sollen  die  Lehrerbildungsanstalten  Internate  oder  Externate 

sein? 

Ein  Wort  Diesterwegs  zur  Seminarfrage. 
Mit  Beziehung  auf  die  Gegenwart  mitgetheilt  von  F.  A.  Steglich-Ih-esden. 

Die  29.  Allgem.  Deutsche  Lehrerversammlung  zu  Mannheim 
versuchte  eine  Antwort  zu  geben  auf  die  Frage:  Welche  Anforderungen 
stellt  unsere  Zeit  an  die  Ausbildung  der  Volksschullehrer?  (Vergl. 
den  Bericht  im  vor.  Jahrg.  des  „Psedag.")  Der  IX.  Deutsche  Lehrer- 
tag, welcher  Pfingsten  d.  J.  in  Halle  tagen  wird,  hat  ebenfalls  das 
Thema:  „Die  Lehrerbildung"  auf  seine  Tagesordnung  gesetzt.  In 
Rücksicht  auf  die  stattgehabte  und  im  Hinblick  auf  die  demnächst 
stattfindende  dieser  großen  Versammlungen  wird  die  Frage  der  Lehrer- 
bildung schon  seit  längerer  Zeit  in  pädagogischen  Versammlungen, 
Zeitungen  und  Broschüren  lebhaft  besprochen.  Und  nicht  nur  in 
Deutschland,  sondern  auch  in  Österreich  und  der  Schweiz  beschäftigt 
man  sich  z.  Z.  viel  mit  diesem  Gegenstande,  der  in  einer  Schrift  sogar 
als  „eine  sociale  Frage"  hingestellt  worden.*) 

Unter  den  Zeitschriften,  welche  in  den  letzten  Monaten  sich  in 
dieser  Sache  haben  vernehmen  lassen,  sind  u.  a.  die  „Allgem.  Deutsche 
Lehrerzeitung-  und  das  „Pädagogium"  zu  nennen**);  das  Beiblatt  der 
„Allgemeinen  Deutschen  Lehrerzeitung",  der  „Anzeiger  für  die  neueste 
pädagogische  Literatur",  hat  im  letzten  Jahre  eine  Anzahl  Schriften 
über  die  Lehrerbildung  namhaft  gemacht. 

Warum  über  die  Lehrerbildung  so  viel  zu  sagen  ist?  Weil  die 
Frage  als  eine  sehr  complicirte  sich  darstellt,  die  wieder  in  so  und 
so  viele  Unterfragen  zerfällt!   Von  diesen  ist  bekanntlich  eine  der 


*)  Beetz:  „Die  Lehrerbildung,  eine  sociale  Frage."  (Gotha  1891,  Verlag  von 
Emil  Behrend.)  Ei  ne  inhaltreiche  Schrift,  die  allerdings  auch  oft  den  Widerspruch 
des  Lesers  herausfordert. 

**)  „Allgem.  D.  Lehrereeitung"  (Leipzig,  Klinkhardt),  Jahrg.  1891:  Nr.  26!  Nr. 
43  (S.  416),  Nr.  45  und  46!  (S.  436,  438,  444,  445.)  1892:  Nr.  1  (S.  8),  Nr.  2 
fg.  —  „Pädagogium",  XIII.  Jahrg.  Heft  9—11.  XIV.  JahTg.  S.  60,  S.  112,  S.  129—130, 
S.210.  -  8.  ferner:  „Sächsische  Schulzeitung"  (Leipzig,  Klinkhardt.),  1891,  Nr.  21! 

Pädagogium.   U.  Jahrg.  Heft  VIII.  36 


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—   510  — 

am  meisten  umstrittenen  diese:  Sollen  die  Anstalten  für  die 
Lehrerbildung  Internate  (Convicte)  oder  sollen  sie  Externate 
sein?  Bei  der  Beantwortung  dieser  Frage  scheiden  sich  die  Päda- 
gogen in  zwei  fast  gleich  große  Heerlager;  auf  beiden  Seiten  werden 
mit  Eifer  und  Heftigkeit  zahlreiche  Erfahrungs-  und  Autoritätsbeweise 
ins  Feld  geführt.  Wie  lebhaft  bei  diesem  Gegenstande  die  Geister 
aufeinanderplatzen,  hat  man  aus  den  Verhandlungen  der  29.  Allge- 
meinen Deutschen  Lehrerversammlung  erfahren.1")  Man  wird  es 
auch  aus  den  Debatten  des  IX.  Deutschen  Lehrertages  ersehen. 

Zu  den  Autoritäten,  auf  welche  sich  viele  Redner  nicht  ungern 
berufen,  gehört  unstreitig  Diesterweg,  „ein  Mann,  der  gewiss  sach- 
verständig war",  wie  Dr.  Fr.  Bartels,  der  jetzige  Herausgeber  der 
„Rheinischen  Blätter",  in  Mannheim  mit  Recht  sagte.  Auch  Herr 
Dr.  Keferstein- Hamburg  berief  sich  auf  Diesterwegs  Ansichten.  In 
der  That  muss  es  auch  heute  erwünscht  sein,  Diesterwegs  Urtheil  in 
einer  so  wichtigen  Frage  zu  hören.  Freilich  ist  es  schwer,  des  Alt- 
meisters Ansichten  über  diesen  Punkt  zusammenzustellen,  da  sie  außer 
in  einigen  Broschüren  (Zur  Lehrerbildung,  Streitfragen  auf  dem  Gebiete 
der  Pädagogik  u.  a.)  in  40  Jahrgängen  der  „Rheinischen  Blätter" 
und  16  Jahrbüchern  niedergelegt,  diese  literarischen  Schätze  aber 
selten  oder  wol  nie  beisammen  zu  finden  sind.  Auch  die  Herren 
Dr.  Bartels  und  Dr.  Keferstein  haben  in  der  Mannheimer  Verhandlung 
specielle  Belegstellen  für  Diesterwegs  Anschauungen  nicht  angefahrt. 
Vielleicht  ist  es  daher  den  geehrten  Lesern  d.  Bl.  von  Interesse, 
wenigstens  eine  Aussprache  des  großen  Lehrerbildners  über  die  in 
der  Überschrift  gestellte  Frage  zu  hören,  gerade  jetzt,  wo  über  diese 
Frage  so  lebhaft  discutirt  wird. 

Wenn  wir  im  nachfolgenden  außer  der  Antwort  auf  die  erhobene 
Frage  noch  etliche  Worte  des  berühmten  Schulmannes  mittheilen,  so 
geschieht  es,  weil  dieselben  zu  dem  fraglichen  Gegenstande,  wie  er 
z.  B.  in  Nr.  26  und  Nr.  45  u.  46  der  „Allgemeinen  Deutschen  Lehrer- 
zeitung" vom  vorigen  Jahre  behandelt  ist,  in  sehr  naher  Beziehung 
stehen.  In  der  Einleitung  und  Begründung  des  Artikels,  der  1836 
geschrieben  ward,  bietet  uns  Diesterweg  einige  schulgeschichtliche 
Mittheilungen,  die  ebenfalls  unverkürzt  folgen  mögen,  weil  sie  aucli 
heute  noch  nicht  ohne  Wert  sind  und  sich  zu  manchen  der  darin  an- 
geführten Beispiele  sogar  Analogien  finden  lassen. 

Die  nachstehenden  Ausführungen  Diesterweg's  sind  zugleich  eine 


*)  S.  „Allgem.  D.  Lehrerzeitung".    1891,  Nr.  26! 


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511  — 


Beleuchtung  des  Aufsatzes  im  Junihefte  (8.  590—595)  des  vorigen 
Jahrganges  vom  „Pädagogium",  wo  es  u.  a.  heißt:  „.  .  .  Dass  diese 
Anstalten  (die  Seminare)  dann  Externate  und  nicht  Internate 
sein  müssen,  ergibt  sich  von  selbst.  Am  natürlichsten  dürfte 
es  demnach  erscheinen,  die  Seminare  und  Universitäten 
möglichst  in  Verbindung  zu  bringen  .  .  .M  (Aus  d.  Großh.  Hessen, 
(8.  594  fg.) 

* 

Der  Artikel  Diester wegs  lautet  : 

„Einiges  über  Seminarien.  Zu  gefalliger  Berücksichtigung  im 
Holsteinischen."  (1836.) 

„In  Dänemark  scheint  man  auf  die  Notwendigkeit  der  Vermehrung 
der  SchuUehrer-Seminarien  zurückzukommen.  So  viel  nämlich  verlautet, 
haben  die  Stände  des  Herzogthums  Holstein  einstimmig  beschlossen, 
Se.  Maj.  den  König  um  die  Wiederherstellung  des  holsteinischen 
Schullehrerseminars  zu  bitten.  Die  Regierungscollegien  scheinen  die- 
selbe zu  wünschen,  das  ganze  Land  wünscht  sie,  und  die  Umstände 
fordern  sie.  Man  glaubt  daher,  die  Bitte  werde  Allerhöchsten  Ortes 
gewährt  werden.  —  Das  ehemalige  Seminar  zu  Kiel  blühte  unter  der 
Leitung  Müllers  in  dem  letzten  Decennium  des  vorigen  Jahrhunderts. 
Zu  Ende  der  70er  Jahre  ward  es  gestiftet  und  zu  der  Stiftung  des- 
selben  damals  dem  Könige  von  der  schleswig-holsteinischen  Bitter- 
schaft ein  Capital  von  10000  Rthlr.  Schi. -Holst.  Cour,  geschenkt. 
Der  Staat  vermehrte  diesen  Fonds  mit  7000  Rthlr.,  und  durch  Rescript 
vom  8.  März  1780  ward  das  Seminar  mit  dem  damals  schon  be- 
stehenden Muhlius'schen  Waisenhause  in  Verbindung  gesetzt.  Durch 
nachtheilige  Gerüchte  über  den  (sittlichen  und)  religiösen  Geist  der 
Anstalt,  die  von  einer  feindseligen  Partei  gierig  auf'gefasst  wurden, 
kam  es  zu  Müllers  Removirung,  und  unter  Hermes  und  Gensichen 
sank  die  Anstalt,  in  sittlicher  Beziehung  vornehmlich.  Da  erschien 
1820  der  Königl.  Befehl  zur  allmählichen  Aufhebung  des  Seminars, 
1823  wurden  die  letzten  Zöglinge  entlassen,  und  die  Lehrer  Gensichen 
und  Carstens,  der  Verfasser  der  vortrefflichen  Katechetik,  wurden  mit 
ihrem  vollen  Gehalte  pensionirt.  Carstens  errichtete  ein  Privatseminar 
und  erhielt  bei  der  Benutzung  des  bisherigen  Gebäudes  die  Aufsicht 
über  das  Waisenhaus;  denn  nach  der  Stiftungsacte  musste  das  Seminar 
fär  den  Unterricht  der  Waisenkinder  sorgen.  Seine  Eleven  wurden 
auch  befördert,  wenn  sie  sich  einer  Prüfung  am  Tondern'schen  Seminar 
oder  an  der  Eckernförder  Normalschule  unterwarfen;  doch  waren  sie 
nicht,  falls  sie  Bauernsöhne  waren,  vom  Militärdienst  frei  wie  die 

36* 


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-    512  - 


Zöglinge  in  Tondern.  Vor  5  Jahren  ward  dieses,  welches  bis  dahin 
unter  Deckers  Leitung  stand  und  nach  dessen  Entlassung  interimistisch 
von  Sörensen  verwaltet  wurde,  reorganisirt.  Vom  Staate  wurde  Be- 
deutendes bewilligt,  prachtvolle  Gebäude  aufgeführt,  die  Bürgerschule 
vom  Seminar  getrennt  und  der  bisherige  Oollaborator  an  der  Gelehrten- 
schule  in  Flensburg,  Bahnsen,  zum  ersten,  der  Lehrer  an  der  Mädchen- 
schule in  Glückstadt,  Diekmann,  zum  zweiten  Lehrer  berufen.  Diese 
Anstalt  wurde  aber  nur  für  80  Zöglinge  berechnet  und  entlässt  also 
jährlich  25—27,  welche  Anzahl  natürlich  zur  Besetzung  selbst  der 
größeren  Schulstellen  in  beiden  Herzogthümern  nicht  hinreicht  Außer- 
dem hat  ein  Seminar  weit  im  Norden,  wo  man  schon  fast  nur  dänisch 
oder  schlecht  deutsch  spricht,  für  die  deutschen  Holsteiner  viel  Un- 
zuträgliches. —  Wenn  nun  das  holsteinische  Seminar  restituirt  wird: 
so  wird  Über  mancherlei  Fragen,  wie  man  hört,  in  den  Regierungs- 
collegien  ein  Zwiespalt  sein.  Einmal  gibt  es  nämlich  manche  Stimmen 
welche  Kiel  nicht  für  den  passenden  Ort  zu  einem  Schullehrer-Seminar 
halten,  weil  sie  von  der  Universität,  dem  Studentenleben,  dem  Luxus, 
den  vielen  Gelegenheiten  zu  Vergnügungen  üblen  Einfluss  furchten, 
während  andere  von  der  Universität  einen  günstigen  erwarten,  andere 
wiederum  äußere  Umstände  für  zwingend  halten,  dass  z.  B.  das  Ge- 
schenk der  Ritterschaft  nur  für  ein  Kieler  Seminar  gegeben  sei,  dass 
die  Fonds  desselben  mit  dem  des  Waisenhauses  unzertrennlich  ver- 
schmolzen wären  u.  s.  w.  Noch  andere  wollen  neben  dem  Haupt- 
seminar kleine  Privatanstalten  bei  Predigern  errichtet  und  die  Zöglinge 
derselben  für  die  ärmeren  Dorfschulen  bestimmt  wissen. 

Eine  zweite  Frage  ist  die:  Sollen  die  Seminaristen  in  einem 
Gebäude  vereinigt  werden,  so  dass  sie  darin  Wohnung,  Beköstigung, 
kurz,  alles  finden,  oder  soll  man  sie  bei  den  Bürgern  der  Stadt  unter- 
bringen? Zu  letzterem  scheint  man  sich  aus  dem  Grunde  hinzuneigen, 
weil  in  dem  Kieler  Seminar,  besonders  in  den  letzten  Zeiten  seines 
Bestehens,  Gebrechen  und  Laster  mancherlei  Art  eingerissen  gewesen 
sein  sollen. 

Diese  Gegenstände  scheinen  wichtig  genug,  dass  wir  uns  auf  eine 
kurze,  gedrängte  Beantwortung  einlassen. 

1.  Wenn  die  Zahl  tüchtiger  Schulamtscandidaten  nicht  hinreicht, 
die  jährlich  erledigten  Stellen  zu  besetzen,  so  muss  man  auf  deren 
sichere  Vermehrung  denken. 

Es  ist  zwar  gut,  dass  nicht  jeder,  der  Schullehrer  werden  will, 
gezwungen  werde,  in  ein  Seminar  einzutreten,  aber  als  Regel  muss 
es  angenommen  werden,  weil  nur  unter  sehr  begünstigenden  Umständen 


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-    513  — 

ein  Privatverhältnis  das  leisten  kann,  was  eine  Anstalt  leistet.  Die 
Zahl  der  Zöglinge  in  Tondern  zu  vermehren,  kann  kein  Sachkenner 
für  rathsam  erklären.  70 — 80  Zöglinge  ist  schon  sehr  viel,  wenn  ein 
jeder  von  den  Lehrern  individuell  berücksichtigt  und  praktisch  aus- 
gebildet werden  soll,  auf  welchen  beiden  Stucken  der  Wert  eines 
Seminars  wesentlich  beruht.  Ist  die  Zahl  der  Zöglinge  zu  groß,  so 
verschwinden  die  einzelnen,  nur  die  tüchtigeren  werden  zum  Unter- 
richten in  der  Seminar- Übungsschule  zugelassen,  und  es  entstehen 
Mängel  und  Gebrechen  mancherlei  Art.  Eine  Anstalt,  die  40—50  Zög- 
linge hat,  kann  sie  besser  ausbilden,  als  wenn  ihrer  70—80  sind. 

Darum  empfiehlt  sich  der  Gedanke  der  Errichtung  einer  neuen 
Anstalt  für  Holstein  von  selbst. 

Zwei  kleinere  Anstalten  sind  auch  aus  dem  Grunde  besser  als 
eine  einzige  große  oder  zu  große,  weil  unter  denselben  ein  heilsames 
Aufstreben  entsteht  und  man  Gelegenheit  hat,  Verschiedenes  nach 
seinem  Werte  oder  Unwerte  durch  Erfahrung  zu  erproben.  Besuchen 
die  Lehrer  beider  Anstalten  einander,  so  lernen  sie  voneinander,  und 
man  hat  Gelegenheit,  den  einen  oder  andern  von  der  einen  Anstalt 
zur  andern  zu  versetzen.  Eine  einzige  Anstalt  erscheint  leicht  als 
Inhaberin  eines  Monopols,  und  sie  unterliegt  leicht  dem  Geschick  der 
Versteinerung.   Darnm  zwei  Seminare! 

Aber  nicht  eine  Unzahl  kleinerer,  zerstreut  über  das  ganze 
Land!  Man  macht  dafür  den  Grund  geltend,  dass  manche  Schul- 
stellen sehr  schlecht  seien.  Aber  daraus  folgt  nicht,  dass  deren 
Lehrer  auch  eine  geringere  Ausbildung  bedürfen.  Gerade  umgekehrt 
sollte  man  eher  argumentiren!  Damit  der  Mensch  in  beschränkten 
Verhältnissen  nicht  verkümmere  oder  verbaure,  bedarf  er  einer  tieferen 
Bildung,  einer  höheren  Kraft. 

2.  Passt  eine  Universitätsstadt  für  ein  Lehrerseminar?*) 
Von  einer  Universität  kann  ein  Seminar  keinen  wesentlichen 
Gewinn  ziehen;  in  der  Regel  bringt  sie  ihm  großen  Nachtheil. 

Das  letztere  ist  offenbar,  wenn  die  Seminaristen  zerstreut  bei 
den  Bürgern  wohnen.  Sie  kommen  mit  den  Studenten  in  Berührung, 
werden  halbe  Studenten,  was  noch  schlimmer  ist,  als  wären  sie  ganze. 
Aber  wir  wollen  den  besseren  Fall  setzen:  sie  sind  in  einem  Gebäude 
vereinigt.  Alsdann  kommen  sie  mit  den  Herren  Studenten  in  keine 
Berührung,  wenigstens  kann  man  sie  davon  abhalten,  so  dass  es  im 


*)  Diese  und  die  folgende  Frage  hat  Diesterweg  gesperrt  drucken  lassen. 


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besten  Falle  für  sie  so  ist,  als  wären  die  Studenten  nicht  da.  Dann 
aber  könnt«  das  Seminar  auch  in  jeder  andern  Stadt  errichtet  werden. 

Den  Lehrern  des  Seminars  nützt  eine  Universität  auch  nichts, 
schadet  in  der  Regel  mehr.  Denn  was  die  Methode  betrifft,  so  müssen 
die  Seminarlehrer  darnach  trachten,  dass  sie  nichts  von  der  Methode 
der  Prozessoren  annehmen.*)  Deren  abstracte,  akroamatische  muss 
man  sorgfaltig  von  einem  Seminar  entfernt  halten.  Den  wissenschaft- 
lichen Lehrern  wird  solches  am  schwersten.  Um  sie  nicht  in  diese 
Versuchung  zu  fuhren,  thut  man  am  besten,  man  legt  das  Seminar 
nicht  in  eine  Universitätsstadt  Wollte  man  für  das  Gegentheil  an- 
fuhren: die  Seminarlehrer  erhalten  dadurch  Gelegenheit,  sich  weiter 
fortzubilden,  die  Sammlungen  der  Universität  sind  zu  benutzen  u.  s.  w., 
so  ist  zu  erwidern,  dass  bei  den  Seminarlehrern  vorauszusetzen  ist, 
dass  sie  die  nöthigen  Kenntnisse  besitzen,  dass  sie  von  den  Seminaristen 
und  Schülern  mehr  lernen  können  für  ihren  Beruf  als  von  den  sehr 
gelehrten  Professoren,  dass  man  aus  Büchern  in  der  Regel  ebenso 
viel,  wo  nicht  noch  mehr  lernen  kann,  als  aus  dem  todten,  oft  so  geist- 
losen Vortrage  deutscher  Professoren  **)  —  kurz,  man  kann  allenfalls 
die  schädlichen  Einflüsse  einer  Universität  auf  ein  Seminar  abwehren, 
aber  großen  Gewinn  kann  es  aus  der  Nähe  jener  nicht  schöpfen. 

3.  Sollen  die  Seminaristen  zusammen  wohnen  oder  bei 
den  Bürgern? 

Über  diese  Frage  kann  ich  aus  Erfahrung  sprechen.  In  den 
ersten  drei  Jahren  der  Existenz  des  Seminars  in  Mörs  wohnten  die 
dortigen  Seminaristen  bei  den  Bürgern,  dann  alle  in  der  Anstalt; 
hier  in  Berlin  wohnen  sie  zum  Theil  in  der  Anstalt,  die  meisten  in 
der  Stadt. 

Ich  bin  unbedingt  für  das  Zusammenwohnen,  weil  nur  dadurch 
ein  Zusammenleben  möglich  wird. 

Freilich,  wenn  der  Geist  einer  Anstalt  schlecht  ist,  so  ist  es 
besser,  dass  die  Seminaristen  auch  andere  Einflüsse  erfahren.  Aber 
dann  wäre  es  besser,  die  Anstalt  existirte  gar  nicht!   Wir  müssen 


*)  Vergl.  Prof.  Dr.  v.  Christ:  „Die  Reform  des  Universitäkronterrichtes.u 
(München  1891,  Riegersche  Universitätabuchhandluag.) 

**)  Dieses  Urtheil  Diesterwegs  will  jedenfalls  cum  grano  salis  verstanden  sein; 
die  deutsche  Wissenschaft,  die  doch  hauptsächlich  durch  Professoren  vertreten  wird, 
erfreut  sich  eines  guten  Rufes!  Wie  viele  Professoren  wissen  ihren  Gegenstand 
ausgezeichnet  darzulegen!  —  Hier  mag  zugleich  erwähnt  sein,  dass  dasselbe 
Heft  der  „Rheinischen  Blätter",  welchem  der  obige  Aufsatz  entnommen  ist,  die 
literarische  Anzeige  bringt,  dass  „als  drittes  Heft  der  Lebensfrage  der  Civüisation" 
bei  Q.  D.  Bffdeker  in  Easen  erschienen  ist:  „Über  das  Verderben  auf  den  deutschen 
Universitäten.   Von  Dr.  F.  A.  W.  Diesterweg."   (Preis  8  gOr.) 


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—   515  — 


also  voraussetzen,  der  Geist  der  Anstalt  ist  gut.  Man  hat  solches  ja 
auch  immer  in  der  Hand,  was  mit  nichten  von  dem  Geiste  einer 
Stadt  gilt.  Wohnen  die  Seminaristen  bei  den  Bürgern,  so  fehlt  eine 
genaue  Beaufsichtigung  und  Kenntnis  des  einzelnen,  und  wer  dazu 
neigt,  der  kann  von  der  Hauptsache  abgezogen  und  in  verderbliche 
Verhältnisse  gezogen  werden.  In  Idstein  wohnen  auch  die  Semina- 
risten in  der  Stadt.  Von  den  verderblichen  Wirkungen  dieser  Ein- 
richtung kann  der  Oberschulrath  G  runer*)  ein  Lied  singen.  Die  Lehrer 
mögen  noch  so  regsam  sein,  sie  können  nicht  wissen,  was  auf  den 
einzelnen  Stuben  geschieht  Der  Faule  findet  jederzeit  Gründe  zur 
Beschönigung  seiner  Faulheit.  Dann  gibt  es  in  jeder  Stadt  liederliche 
Dirnen,  die  jungen  Leuten  Gefahr  bringen;  und  wenn  auch  diese 
fehlen,  so  gibt  es  heiratslustige  Bürgermädchen,  welche  die  Semina- 
risten zu  frühzeitigen,  verderblichen  Eheversprechungen  verleiten,  oft 
gerade  die  besten.   Ich  kenne  das  aus  vielen  Erfahrungen. 

Allem  diesem  begegnet  man  ein  für  allemal,  wenn  man  die  Leute 
beisammen  hat.  Alles  geht  dann  den  geregelten  Gang:  Aufstehen  und 
Schlafengehen,  Essen  und  Trinken,  Erholung  und  Arbeit  Es  gibt 
einen  esprit  de  corps.  Man  ergreift  zuerst  für  die  Tüchtigkeit  einige, 
durch  diese  alle.  Es  kommt  ein  Geist  des  tüchtigen  Strebens  unter 
die  Schar.  Einer  lernt  vom  andern,  einer  übt  den  andern.  Es  wird 
eine  Familie,  Morgen-  und  Abendandachten  können  eingerichtet  werden, 
der  sittliche  Geist  der  Lehrer  verbreitet  sich  durch  die  ganze  Anstalt. 
Zwei  Klippen  sind  zu  vermeiden:  ein  roher  Ton  und  pietistische 
Richtung.  Wo  tüchtige  junge  Leute  beisammen  sind,  entsteht  leicht 
jener,  und  gerade  die  tüchtigsten  (genialsten)  verachten  am  ersten 
gute  äußere  Sitte.  Der  Pietismus  entsteht  leicht  durch  einen  kopf- 
hängerischen Director  oder  Hauptlehrer.  Beiden  Verirrungen  ist  aber 
leicht  zu  begegnen.  Der  Einwand:  durch  das  Zusammenleben  entstehe 
leicht  eine  klösterliche  Richtung,  knechtischer  Sinn,  Entfremdung  des 
bürgerlichen  Lebens  u.  s.  w.,  will  gar  nichts  besagen.  Die  Semina- 
risten haben  ja  bereits  17  Jahre,  d.  h.  solange  sie  gelebt  haben,  in 
der  Familie  gelebt  und  kehren  dahin  zurück,  leben  auch  im  Seminar 
in  einer  großen  Familie,  bringen  die  Ferien  bei  den  Ihrigen  zu  u.  s.  w. 
Dann  ist  ja  von  einer  gänzlichen  Abscheidung  vom  Leben  gar  nicht 
die  Rede,  und  an  Klosterzucht  denkt  kein  vernünftiger,  freier  Mann. 
Spielsucht,  Dieberei  und  andere  Unsittlichkeiten  entstehen  aber  viel 
eher  auf  den  einzelnen  Stuben  in  der  Stadt,  als  in  dem  Seminar,  wo 


♦)  S.  „Pädagogium"  VIT,  S.  267  (Januarheft  1885). 


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sie  gar  nicht  möglich  sind.  Denn  durch  sie  hört  alles  auf.  Damm 
existiren  nur  zwei  Fälle:  entweder  ist  das  Seminar  gut  —  oder  nicht. 
In  jenem  Falle  muss  man  die  Zöglinge  diesem  guten  Einflüsse  ganz 
übergeben,  in  diesem  wirkt  es  schlecht,  die  Seminaristen  mögen  drin 
oder  draußen  wohnen.  Wenn  draußen,  so  kommen  Schlechtigkeiten 
zu  Schlechtigkeiten! 

Nein,  alles  zusammen  in  eine  Anstalt!  Und  einen  Director  mit 
der  gehörigen  Vollmacht  versehen,  wie  an  allen  preußischen  Semina- 
rien!  Dann  kann  man  ihn  auch  für  alles  verantwortlich  machen. 
Wenn  aber  die  Herde  zerstreut  ist,  wie  kann  man  dann  von  dem 
Hirten  verlangen,  dass  keinem  der  Herde  etwas  geschehe?  Das  Zu- 
sammenwohnen nöthigt  die  Lehrer  zur  Gewissenhaftigkeit  und  Strenge. 
Das  ist  ein  vortreffliches  Ding.  Ein  Seminarlehrer  soll  kein  Stunden- 
geber, sondern  ein  Erzieher  sein.  Darum  nennt  man  auch  die  Semi- 
naristen mit  Recht  Zöglinge.  Damit  sie  dieses  seien,  müssen  sie 
mit  den  Lehrern  zusammen  wohnen  und  leben. 

Solches  empfiehlt  und  befiehlt  Erfahrung  und  Nachdenken. 

A.  D.« 

(„Rheinische  Blätter  f.  Erz.  u.  Unt.  mit  hes.  Berücksichtigung  des  Volksschul- 
wesena.  Hcrausgeg.  v.  Dr.  F.  A.  W.  Diesterweg."  Mai-  u.  Junibcft  1836,  S.  273 
bia  278.) 

# 

Nachschrift.  Viele  wird  es  überrascht  haben,  Diesterweg  so 
ganz  auf  der  Seite  derjenigen  zu  sehen,  die  für  das  Internat  sind. 
Freilich  ist  es  sozusagen  das  Ideal  eines  Internates,  das  ihm  vor- 
schwebt. —  Den  Lesern  dieser  Blätter  wird  es  interessant  sein,  die 
Übereinstimmung  der  Anschauungen  Diesterwegs  mit  denjenigen  Job. 
Jak.  Wehrli's,  des  ersten  thurgauischen  Seminardirectors,  festzustellen. 
(S.  das  Januarheft  des  „Paedag.",  S.  210.) 

Zum  Schluss  mag  noch  bemerkt  sein,  dass  die  Seminare  Sachsens 
den  Anforderungen,  die  Diesterweg  in  obigem  Aufsatze  stellt,  jeden- 
falls in  hohem  Grade  entsprechen;  sie  sind  Internate,  jedoch  nicht 
obligatorische,  ihre  Zahl  ist  ausreichend,  ja,  „man  denkt  auf  deren 
sichere  Vermehrung"  (z.  Z.  bestehen  15  evangelische  Lehrerseminare 
und  1  katholisches,  sowie  2  Lehrerinnenseminare,)  mit  der  Universität 
stehen  sie  in  keiner  directen  Verbindung.  Seminar  und  Präparande 
(Proseminar)  sind  nicht  getrennt  wie  in  Preußen  und  anderwärts, 
so  dass  die  Zöglinge  nicht  erst  mit  dem  17.  Lebensjahre,  wie  Diester- 
weg  in  obigem  sagt,  ins  Seminar  eintreten,  sondern  bereits  mit  dem  14; 
der  Cursus  ist  sechsjährig.  Die  gesetzlichen  Bestimmungen 
darüber  lauten:   Seminarcursus.   Der  Unterricht  wird  in  6  auf- 


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steigenden,  bei  dem  Unterrichte  voneinander  getrennten  Classen 
unentgeltlich  ertheilt  ...  Internat.  Den  Seminarzöglingen  wird  im 
Seminargebäude,  soweit  die  vorhandenen  Wohn-  und  Schlafräume 
reichen,  freie  Wohnung,  Heizung  und  Beleuchtung  gewährt. 

Wo  die  Räumlichkeiten  nur  theilweise  ausreichen,  haben  zunächst 
die  Zöglinge  der  Mittel-  und  ünterclassen  III  bis  VI  (14.— 18.  Lebens- 
jahr) darauf  Anspruch. 

Zöglinge,  deren  Eltern  am  Seminarorte  leben,  sowie  solche,  denen 
eine  nach  dem  Ermessen  des  Seminardirectors  geeignete  Wohnung 
außerhalb  des  Seminars  beschafft  wird,  können  außerhalb  des  Seminars 
wohnen. 

(§§  57  u.  61  des  Gesetzes  über  die  Gymnasien,  Realschulen  und 
Seminare  vom  22.  August  1876.  Nebst  der  Lehr-  und  Prüfungs- 
ordnung für  die  Seminare  erschienen  bei  C.  C.  Meinhold  &  Söhne, 
Königl.  Hofbuchdruckerei,  Dresden.) 


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Die  Frage  der  einheitlichen  Mittelschule  in  Ungarn  nnd  ihre 

Beziehung  zur  Volksbildung. 

Von  Seminar director  Q4xa  Somoffyi-Zniöväralja. 


XYleinere  Länder  haben  vor  größeren  den  Vortheil,  dass  sie  oft 
epochale  Fragen  leichter  und  schneller  lösen  können  als  letztere;  sie 
brauchen  nur  einen  energischen  Mann,  der  alle  Hindernisse  zu  besiegen 
weiß,  und  die  Sache  eilt  rasch  ihrer  Vollendung  entgegen.  Aber 
kleinere  Länder  sind  infolgedessen  auch  den  aus  Übereilung  stam- 
menden Missgriffen  mehr  ausgesetzt  Die  Frage  der  einheitlichen 
Mittelschule  beschäftigt  derzeit  alle  Culturländer;  uns  blieb  sie  auch 
nicht  verschlossen.  Aber  während  größere  Länder  noch  bei  der 
principiellen  Besprechung  verweilen,  nähern  wir  uns  in  raschem  Tempo 
der  Lösung  des  Problems.  Ob  diese  Lösung  uns  Ehre  bringen,  oder 
ob  sie  unsere  culturelle  Entwickelung  auf  kürzere  oder  längere  Zeit 
zurückwerfen  wird,  bleibt  Frage  der  Zeit.  Ich  will  mich  hierüber 
zunächst  jeder  Meinungsäußerung  enthalten;  aber  ich  kann  nicht  unter- 
lassen, nach  Vorführung  der  Ansichten  verschiedener  Vertrauensmänner 
darüber  mich  auszusprechen,  ob  ich  von  der  angestrebten  Reform  für 
die  Hebung  der  Volkserziehung  viel  oder  wenig  erwarte. 

Der  jetzige  Cultus-  und  Unterrichts-Minister  Graf  Albin  Csaky 
hat  die  Leitung  seines  Ressorts  vor  drei  Jahren  übernommeu.  Schon 
in  seiner  Programmrede  hat  er  sich  für  die  einheitliche  Mittelschule 
ausgesprochen.  Seit  der  Zeit  strebt  er  entschlossenen  Schrittes  seinem 
Ziele  zu.  Anfangs  hat  er  viel  Gegner  gehabt;  aber  ihre  Zahl  ver- 
mindert sich  von  Tag  zu  Tag:  in  der  EnquSte,  von  der  ich  jetzt 
berichten  will,  hat  sich  principiell  niemand  gegen  die  einheitliche 
Mittelschule  ausgesprochen. 

Die  Enqu6te,  welche  der  Minister  zur  Berathung  der  Frage  ein- 
berufen hat,  bestand  aus  7  höheren  Ministerialbeamten,  6  Universitäts- 
professoren, 3  Studien-Oberdirectoren,  2  Mittelschuldirectoren,  7  Mittel- 
schulprofessoren, aus  einem  Elementarschulinspector,  einem  Bttrger- 
schuldirector  und  aus  drei  anderen  hervorragenden  Unterrichtspolitikern, 


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also  zusammen  aas  30  Mitgliedern.  Die  Enquete  hielt  ihre  erste 
Sitzung  am  15.  Februar  und  dann  noch  5  Sitzungen.  Wir  wollen  die 
Berathungen  nicht  in  allen  ihren  Einzelheiten  verfolgen:  es  wird 
genügen,  wenn  wir  deren  wichtigste  Momente  hervorheben. 

Die  erste  Sitzung  hat  der  Minister  selbst  eröffnet  Er  betonte, 
dass  die  leitenden  Classen  der  Nation  nicht  einseitig  realistisch  oder 
humanistisch  gebildet  werden  dürfen;  außerdem  müssen  die  Eltern 
von  der  Last  befreit  werden,  zu  früh  eine  Laufbahn  für  ihre  Kinder 
wählen  zu  müssen.  Durch  die  einheitliche  Mittelschule  kann  die  terri- 
toriale Vertheilung  der  Mittelschulen  verbessert  werden,  wofür  der 
Minister  schon  eine  Skizze  entworfen  hat.  Endgiltig  will  er  aber 
nicht  eher  entscheiden,  als  er  die  Meinungen  der  EnquSte-Mitglieder 
gehört  und  erwogen  hat;  er  wünsche,  dass  jeder  ohne  Rückhalt  seiner 
Überzeugung  Ausdruck  gebe. 

Um  die  Discussion  zu  erleichtern,  hat  das  Ministerium  5  Frage- 
punkte aufgestellt,  und  zwar  folgende: 

1.  Welche  Form  der  einheitlichen  Mittelschule  entspricht  am 
meisten  unseren  gegenwärtigen  Verbältnissen?  Soll  sie  in  den  oberen 
Classen  einheitlich  oder  getheilt  werden? 

2.  Welche  Aufgabe  soll  in  der  neuen  Mittelschule  der  lateinischen 
Sprache,  die  bisher  eine  so  große  Rolle  gespielt  hat,  zufallen,  was  soll 
das  Endziel  des  Unterrichts  in  dieser  Sprache  sein,  und  in  welcher 
Classe  soll  er  beginnen? 

3.  Bis  zu  welcher  Classe  soll  die  Einheit  der  Mittelschule  reichen? 
Soll  sie  in  den  oberen  Classen  zwei-  oder  dreitheüig  werden?  Welches 
sollen  die  gemeinschaftlichen  Gegenstände  sein?  (Lateinische  Sprache, 
Realgegenstände,  moderne  Sprachen?) 

4.  Ist  es  nothwendig,  die  Mittelschule  in  zwei  Glieder,  z.  6.  in 
untere  und  obere,  zu  theilen?  Wäre  es  nicht  zweckmäßig,  die  Ab- 
solvirung  des  unteren  Gliedes  mit  einer  Prüfung  zu  verbinden  und 
zwar  unter  Aufsicht  von  Regierungscommissären? 

5.  In  welcher  Beziehung  soll  die  einheitliche  Mittelschule  zu  der 
Volksschule,  zu  den  praktischen  Fachschulen  und  zu  den  Hochschulen 
(Universität,  Akademien)  stehen? 

Ministerialrath  J.  Klamarik  erläutert  die  Fragepunkte  und  be- 
merkt dann,  dass  unter  denselben  zwei  Fragen  fehlen,  welche  trotz- 
dem berücksichtigt  werden  müssen.  Die  eine  betrifft  die  körperliche 
Erziehung,  die  andere  die  Überbürdung.  Von  der  letzteren  bemerkt 
er,  dass  sie  das  System  nicht  berühre;  sie  sei  eine  Frage  der  Methode. 

B.  L.  Eötvös,  Rector  der  Universität,  weist  darauf  hin,  'dass  in 


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der  Organisation  einer  guten  Mittelschule  zwei  Dinge  wichtig  sind, 
und  zwar:  1)  das  System,  d.  h.  eine  Organisation,  welche  den  Bedürf- 
nissen der  bürgerlichen  Gesellschaft  entspricht;  2)  der  gute  Lehrer. 
Es  fragt  sich,  welches  von  beiden  wichtiger  sei.  Er  hält  das  zweite 
für  wichtiger,  weil  der  gute  Lehrer  bei  jedem  System  gute  Resultate 
erzielen  wird.  Was  das  System  anbelangt,  so  stimmt  er  für  das 
jetzige  Gymnasium  mit  der  Modifikation,  dass  auf  das  Freihand- 
zeichnen, welches  für  die  allgemeine  Bildung  sehr  wichtig  ist,  mehr  . 
Gewicht  gelegt  werde.  Die  einheitliche  Mittelschule  soll  für  alle 
höheren  Schulen  befähigen.  Bei  der  Bi-  oder  Trifurcation  in  den 
oberen  Classen  wolle  er  möglichst  liberal  verfahren. 

Jul.  Schwarz,  Abgeordneter  und  einer  der  hervorragendsten 
unserer  Cultar-Politiker,  entwickelt  den  Plan  einer  achtclassigen  Mittel- 
schule, mit  einer  Trifurcation  in  den  oberen  Classen.  Die  Schüler, 
die  sich  den  Humanioren  widmen,  studiren  Latein  und  Griechisch, 
diejenigen,  die  sich  den  Naturwissenschaften  oder  den  polytechnischen 
Studien  zuwenden,  beschäftigen  sich  eingehender  mit  Mathematik  und 
Physik;  diejenigen,  welche  nicht  weiter  studiren,  lernen  National- 
ökonomie, Elemente  der  Rechtskunde,  Statistik  u.  s.  w.  Die  Bürger- 
schulen seien  aufzuheben. 

Karl  Szasz,  reformirter  Bischof,  wünscht  eine  neunclassige 
Mittelschule. 

Zoltan  Beöthy,  Universitätsprofessor,  will  ebenfalls  neunclassige 
Mittelschulen.  Die  ungarische  Mittelschule  soll  den  gemeinschaftlichen 
Grund  der  Nationalcultur  legen,  sowol  der  Form  wie  dem  Inhalte 
nach.  Die  nationale  Sprache  und  Geschichte  sollen  die  dominirende 
Stellung  in  dem  Lehrplan  einnehmen. 

Jul.  König,  Rector  des  Polytechnicums,  erklärt,  dass  das  Poly- 
technicum  keiner  besonderen  Mittelschulen  bedürfe.  Er  sei  ein 
eifriger  Anhänger  der  Einheitsschule,  mit  der  Bemerkung,  dass  die 
Mittelschule  von  den  Elementen,  die  nicht  hingehören,  gesäubert  werde 
müsse;  darum  sei  die  Ent Wickelung  der  Bürgerschule  noth wendig. 
Er  wünscht  neunclassige  Mittelschulen  mit  einer  Bifurcation  in  den 
oberen  Classen.  Er  ist  kein  Freund  der  halbobligatorischen  Gegen- 
stände. 

Ludwig  Spitkö,  Studien-Oberdirector,  deducirt  aus  dem  all- 
gemeinen System  der  Schulen  die  Notwendigkeit  der  einheitlichen 
Mittelschulen.  Für  die  Fachschulen  untersten  Grades  bereitet  die 
Volksschule  vor,  für  die  mittleren  die  Bürgerschule,  für  die  höheren 
die  Mittelschule.    Für  die  einheitliche  Mittelschule  stellt  Redner 


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-  521 


i 


folgende  Bedingungen:  1)  sie  soll  alle  wesentlichen  Elemente  der 
modernen  Wissenschaft  und  Nationalcultur  zur  Geltung  bringen;  2)  sie 
soll  die  Geschichte  des  Vaterlandes  in  den  Vordergrund  stellen;  3)  ihr 
wichtigster  Gegenstand  ist  die  Nationalsprache  und  Literatur;  4)  sie 
soll  die  idealen  und  culturellen  Elemente  des  Alterthums  nicht  ver- 
nachlässigen; 5)  sie  soll  die  lateinische  Sprache  für  jeden  obligatorisch 
machen;  6)  auch  eine  moderne  Sprache  (deutsch)  soll  sie  aufnehmen; 
7)  sie  soll  die  Naturwissenschaften  gehörig  berücksichtigen;  8)  das 
Zeichnen  ist  unbedingt  nothwendig.  Die  Mittelschule  soll  gegliedert 
—  in  zwei  Abtheilungen  (obere  und  untere)  —  werden  u.  s.  w. 

Hyppolit  Feher,  Studien-Oberdirector,  wünscht  die  gleichzeitige 
Reform  der  Bürgerschulen,  mit  der  Combination  der  niederen  Fach- 
schulen. Die  innere  Reform  der  Professorenbildung  sei  sehr  noth- 
wendig.  Die  Aufgabe  der  Mittelschule  sei  wesentlich  formell. 

Ludwig  Felmery,  Universitiätsprofessor,  begrüßt  die  Einheits- 
schule vom  Gesichtspunkt  der  einheitlichen  nationalen  Bildung,  tadelt 
in  den  heutigen  Mittelschulen  den  Encyklopädismus,  das  Memoriren, 
die  Überbürdung,  die  Vernachlässigung  der  körperlichen  Erziehung, 
der  nationalen  Bildung,  des  Idealismus.  Er  wünscht  eine  Mittelschule, 
deren  Hauptgegenstände:  die  ungarische  und  lateinische  Sprache  und 
Literatur,  die  vaterländische  Geschichte  sowie  Mathematik  wären. 
Die  sechs  unteren  Classen,  mit  einer  Schlussprüfung,  sollen  ein 
geschlossenes  Glied  bilden;  die  Maturitätsprüfung  soll  aufgehoben  und 
durch  eine  Aufhahmsprüfung  beim  Eintritt  in  die  Hochschule  ersetzt 
werden. 

Moricz  K&rmäm,  Universitätsprofessor,  wirft  einen  Rückblick 
auf  das  Historicum  der  Frage  und  beschreibt  die  Entwickelung  der 
Realschule  seit  zwanzig  Jahren.  Er  sieht  die  Bedürfnisse  der  National- 
cultur in  folgendem:  Jeder  Sohn  Ungarns  muss  in  der  Mittelschule 
jene  Elemente  der  Cultur  finden,  welche  man  im  Auslande  bietet;  es 
soll  eine  Organisation  zustande  kommen,  welche  jene  Gegenstände, 
die  man  überall  für  wichtig  hält,  genügend  würdigt;  darum  sei  die 
Rolle  wichtig,  welche  die  Reform  den  classischen  Studien  zuweist 
Kin  weiteres  Bedürfnis  sei,  dass  die  Mittel  der  Cultur  möglichst 
großen  Kreisen  zur  Verfügung  stehen.  Redner  weist  darauf  hin,  dass 
es  über  hundert  Ortschaften  gäbe,  in  welchen  nur  Gymnasien  bestehen; 
tlarum  sei  der  Andrang  zu  diesen  Anstalten  so  groß;  es  sollte  prin- 
cipiell  ausgesprochen  werden,  dass  da,  wo  es  noch  keine  Bürgerschulen 
gebe,  kein  Gymnasium  errichtet  werden  dürfe.  Das  Gymnasium  bleibe 
eine  wissenschaftliche  Schule. 


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-   522  - 


Alexander  Lengyel,  Bürgerschuldirector,  nimmt  die  Bürger- 
schalen in  Schutz  und  sagt,  dass  dieselben  nicht  mit  den  Mittelschulen 
concnrriren.  Die  Sache  sei  umgekehrt:  es  sei  auch  hier  betont  worden, 
dass  die  vier  unteren  Classen  der  Mittelschulen  ein  abgerundetes 
Ganze  bilden  mögen  für  diejenigen,  die  eine  praktische  Laufbahn  ein- 
schlagen wollen.  Er  weist  auch  jene  Behauptung  zurück,  dass  das 
Gymnasium  durch  die  Bürgerschule  von  seinem  Ballast  befreit  werden 
könne;  denn  wenn  ein  Schüler  im  Gymnasium  nicht  fortkommen  könne, 
würde  derselbe  auch  in  der  Bürgerschule  zu  nichts  kommen.  Er 
wünscht,  dass  die  Einheitsschule  Gymnasium  heiße,  die  Bürgerschule 
Mittelschule. 

Karl  Veredy,  Schulinspector,  sagt:  Es  wurde  constatirt,  dass 
die  Elementarschule  für  die  Mittelschule  nicht  vorbereitet;  die  Schüler, 
welche  von  der  Elementarschule  austreten,  sind  oft  faul  im  Denken, 
die  Ursache  davon  ist,  dass  man  die  Schüler,  welche  in  die  Mittel- 
schule eintreten  wollen,  mit  den  übrigen  gemeinschaftlich  unterrichtet. 
Er  wünscht  Vorbereitungclassen.  Die  Bürgerschule  soll  mit  der  Mittel- 
schule nicht  concurriren,  sie  soll  praktisch  entwickelt  werden. 

Emmanuel  Beke,  Mittelschulprofessor,  spricht  gegen  die  Auf- 
nahme von  der  dritten  Elementarciasse,  denn  das  wäre  nur  ein  Lehrer- 
wechsel, der  des  Opfers,  welches  die  Eltern  bringen  müssen,  nicht 
wert  sei.  Von  11 000,  die  in  die  erste  Classe  der  Mittelschule  ein- 
treten, blieben  für  die  fünfte  Classe  nur  4000.  Die  lateinische  Sprache 
sollte  man  anfangen,  wo  ein  Theil  der  Zöglinge  in  die  niedereren 
Fachschulen  übertrete.  Die  Geschichte  des  Schulwesens  zeige,  dass 
die  classischen  Studien  gegenüber  den  Realien  und  modernen  Sprachen 
allmählich  zurücktreten:  er  könne  sich  auch  diese  Reform  nicht  anders 
vorstellen,  als  dass  sie  einen  breiteren  Raum  für  die  Realgegenstände 
schaffe. 

Nachdem  noch  einige  Redner  gesprochen  hatten,  wurde  die  Special- 
debatte begonnen.  Es  würde  zu  weit  fuhren,  dieselbe  in  ihren  Einzel- 
heiten zu  verfolgen  ;  es  genüge,  die  Beschlüsse  bezüglich  der  einzelnen 
Fragepunkte  anzuführen. 

1.  Auf  den  ersten  'Fragepunkt  gibt  die  Antwort  die  General- 
debatte, das  heißt:  unseren  Verhältnissen  entspricht  am  meisten  die 
einheitliche  Mittelschule  mit  der  lateinischen  Sprache,  mit  größerer 
Berücksichtigung  der  Realgegenstände,  der  modernen  Sprachen  und 
des  Freihandzeichnens  und  mit  getheilten  oberen  Classen. 

2.  Die  lateinische  Sprache  ist  in  der  neuen  Mittelschule  obliga- 
torisch.  Der  Unterricht  soll  weniger  extensiv  als  intensiv  sein;  das 


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zu  viele  Grammatisiren  ist  schädlich.  Das  Endziel  ist  das  Verstehen 
der  lateinischen  Autoren.  Der  Unterricht  soll  nicht  in  der  ersten 
Classe  beginnen. 

3.  Die  vier  ersten  unteren  Classen  sollen  einheitlich  sein.  Ge- 
meinschaftliche Gegenstände  seien  die  des  jetzigen  Gymnasiums  mit 
Hinzufügung  des  Zeichnens  und  der  erweiterten  Naturwissenschaften. 
Getrennt,  als  compensatorische  Gegenstände  wurden  gelehrt  die 
griechische  und  eine  moderne  Cultursprache.  In  der  Einrichtung  der 
Anstalten  ist  eine  gewisse  Latitude  in  Betreff  der  Compensations- 
gegenst&nde  wünschenswert. 

4.  Die  Bifurcation  der  Mittelschule  ist  nicht  wünschenswert. 

5.  Die  Errichtung  der  Vorbereitungsclassen  ist  wünschenswert, 
aber  nicht  obligatorisch.  Die  Aufnahmsprüfung  von  der  dritten 
Elementarciasse  für  die  Vorbereitungsciasse  oder  von  der  vierten  Elemen- 
tarclasse  in  die  erste  Classe  ist  nicht  nothwendig.  Das  Übertreten 
von  der  Bürgerschule  in  die  Einheitsschule  soll  auf  Grund  einer 
Prüfung  gestattet  werden.  Die  sechsclassige  Bürgerschule  soll  für 
niedere  Beamtenstellen  qualificiren. 

Wenn  wir  nun  über  die  Verhandlungen  der  EnquGte  eine  Revue 
halten,  so  ist  eine  gemeinschaftliche  Idee,  welche  alle  Redner  geleitet, 
and  welche  sich  als  rother  Faden  durch  alle  Discussionen  hingezogen 
hat,  nicht  zu  verkennen.  Diese  Idee  ist  das  einheitliche  nationale 
Bewusstsein,  d.  h.  das  Wachrufen  dieses  Bewusstseins  als  Zweck  der 
geplanten  Einheitsschule.  Wird  dieses  Ziel  allein  durch  die  Mittel- 
schule, ohne  Beistand  der  Volksschule,  erreicht  werden  können?  Ich 
bezweifle  es  stark.  Man  kann  die  sogenannte  intellectuelle  Classe  bei 
uns  auf  200000  Köpfe  schätzen;  ihre  Zahl  ist  von  der  Gesammt- 
bevölkerung  (15  Millionen)  des  Landes  kaum  lV«°/o-  Ich  kann  nicht 
begreifen,  wie  es  unsere  Culturpolitiker  mit  der  Gerechtigkeit  verein- 
baren können,  dass  sie  bei  der  Regelung  des  Unterrichtswesens  nur 
die  Interessen  dieser  17«°/o  berücksichtigen. 

Ich  kann  meiner  Verwunderung  kaum  gehörig  Ausdruck  geben, 
dass  Männer  wie  Georg  Szatmäry  (gegenwärtig  Ministerialrath)  für 
die  Verteidigung  der  Volksschule  kein  Wort  hatten;  denn  er  war  es, 
der  sich  noch  vor  kurzem  geäußert  hat,  wie  folgt:  „In  unseren  Ver- 
hältnissen in  Ungarn  kann  wahrlich  nur  diejenige  Politik  für  national 
gehalten  werden,  welche  die  kräftige  Ausnützung  der  Volksbildung 
zu  ihrem  Programmpunkte  annimmt;  jedes  Regierungssystem  ist  nur 
soweit  wahrhaft  national,  soweit  es  die  Cultur  im  allgemeinen  und 
besonders  die  Interessen  der  Volkserziehung  befördert  und  ihnen  dient. 


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Wir  können  eine  gute  Justiz-,  Verkehrs-  und  nationalökonomische 
Politik  betreiben,  eine  gute  Administration  einführen,  aber  einzig  und 
allein  mit  diesen  und  durch  diese  wird  der  ungarische  Staat  um  kein 
Haar  mehr  ungarisch,  als  er  sonst  ist  ...  .  Einen  nationalen  Staat 
ohne  kräftige,  wirksame  Unterrichtspolitik  halte  ich  für  eine  Chimäre.« 
Das  Schicksal  der  Nation,  insofern  es  von  uns  abhängt,  wird  auf  dem 
Felde  der  Volkserziehung  entschieden.  Deswegen  liegt  die  Lösung 
der  erhabensten  nationalen  Probleme  auf  dem  Terrain  der  Volksbildung." 
(Siehe:  Ung.  Seminarlehrer-Zeitung  1889,  Oct.)  Wirklich,  ich  kenne  * 
keine  Stelle,  wo  die  nationale  Aufgabe  der  Volksschule  schöner  und 
prägnanter  bezeichnet  wäre. 

Betrachten  wir  die  Frage  nach  dem  Zweck  beider  Schulen 
(Mittel-  und  Volksschulen).  Beide  Schulen  haben  als  Zweck  die  all- 
gemeine Bildung.  Es  tragt  sich  nun,  welches  ist  der  Unterschied 
zwischen  der  Bildung,  welche  die  Mittelschule,  und  derjenigen,  welche 
die  Volksschule  zu  bieten  sich  zur  Aufgabe  gestellt  hat.  Ich  glaube 
mich  nicht  zu  irren,  wenn  ich  behaupte,  dass  jedes  Zeitalter  nur  eine 
Bildung  hat;  wer  den  Gedankenkreis,  das  Bestreben  seiner  Zeit  erfasst, 
wer  sich  für  die  Ideen  der  Erwählten  seiner  Zeitgenossen  zu  begeistern 
im  Stande  ist,  ist  gebildet.  Obwol  also  die  Bildung  jeder  Zeit  nur 
eine  ist,  hat  sie  doch  höhere  und  niedere  Stufen,  sozusagen  con- 
centrische  Kreise,  welche  sich  um  so  mehr  erweitern,  je  höher  man 
steigt.  Man  könnte  also  sagen:  die  Mittelschule  (hier  immer  das 
Gymnasium  zu  verstehen)  hat  die  Aufgabe,  die  allgemeine  Bildung  in 
ihrem  historischen  Zusammenhange,  die  eigene  nationale  Bildung  im 
Verhältnis  zur  Bildung  anderer  Völker  zu  bieten;  während  die  Volks- 
schule die  actuelle  Bildung  der  eigenen  Nation  ohne  Rücksicht  auf 
die  Vergangenheit  und  auf  die  Bildung  anderer  Völker  bietet.  Es 
ist  also  klar,  dass  die  eigentliche  Nationalschule  die  Volksschule  ist. 
Es  ist  ebenfalls  evident,  dass  das  gesammte  Unterrichtswesen  ein 
organisches  Ganze  bilden  muss;  und  jede  Culturpolitik  ist  verfehlt,  die 
ihre  Basis  außer  der  Volksschule  sucht.  Ich  kann  es  nicht  leugnen, 
ich  habe  von  den  Berathungen  der  Enquete  viel  gehofft;  ich  habe 
gehofft,  dass  die  Auserwählten  der  Nation  einen  Modus  finden  wurden, 
die  Mittelschule  zur  Volksschule  in  organischen  Zusammenhang  zu 
bringen,  ohne  die  letztere  zu  schädigen.  Darum  ist  die  Enttäuschung 
so  groß.  So  viel  zur  principiellen  Seite  der  Frage;  betrachten  wir 
nun  die  praktische  Seite. 

Mittelschulen  (Gymnasien  und  Realschulen)  haben  wir  183, 
Bürgerschulen  164,  höhere  Mädchenschulen  18;  zusammen  365.  Ge- 


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nannte  Schulen  nehmen  ihre  Zöglinge  aus  der  vierten  Elementarclasse 
auf;  darum  halten  es  solche  Gemeinden,  in  welchen  Mittel-  oder 
Bürgerschulen  sind,  nicht  für  nöthig,  die  fünfte  und  sechste  Classe 
der  Elementarschule  zu  errichten.  Wenn  wir  noch  dazunehmen,  dass 
78  °/0  unserer  Elementarschulen  ungetheilt  sind,  so  werden  wir  ersehen, 
wie  schlecht  es  mit  unserem  Volksschulwesen  steht.  Aber  das  ist 
eben  der  Haken:  die  gelehrten  Herren  wollen  von  den  Zöglingen  der 
ungetheilten  Volksschule  nichts  wissen.  Aber  ich  glaube,  die  Un- 
vollkommenheit  eines  Theils  einer  Institution  berechtigt  noch  nicht, 
die  ganze  Institution  zu  verdammen.  Wenn  die  Herren  mit  der  un- 
getheilten Elementarschule  nicht  zufrieden  sind,  sollen  sie  als  Be- 
dingung zur  Aufnahme  in  die  Mittelschule  die  Absolvirung  der  sechsten 
Classe  der  getheilten  Elementarschule  —  natürlich,  wenn  die  Mittel- 
schulen mit  sechs  Classen  eingerichtet  werden  —  aufstellen.  Diese 
Bedingung  würde  auch  die  Leiter  des  Volksschulwesens  anspornen, 
das  Verhältnis  der  getheilten  und  ungetheilten  Schule  zu  regeln.  Ich 
glaube,  auch  der  Unterricht  würde  dadurch  nur  gewinnen.  Denn  der 
gelehrte  Professor  der  Mittelschule  betrachtet  das  Unterrichten  in  der 
ersten  and  zweiten  Classe  nur  für  eine  Last,  welche  er  mit  Wider- 
willen trägt,  und  von  welcher  er  sich  möglichst  bald  zu  befreien 
strebt;  dagegen  betrachtet  der  Elementarlehrer  das  Unterrichten  in 
der  fünften  und  sechsten  Classe  als  die  Krone  seiner  Wirksamkeit, 
welche  er  mit  der  größten  Lust  und  Liebe  pflegt.  Dass  ein  Unter- 
richten, welches  mit  Lust  verrichtet  wird,  besser  ausfallen  muss,  als 
dasjenige,  welches  man  nur  mit  Unwillen  ausübt,  braucht  nicht  weiter 
erörtert  zu  werden.  Was  die  materielle  Seite  der  Sache  anbelangt, 
sei  folgendes  erwähnt.  Unsere  Elementarlehrer  würden  mit  einem 
Minimalgehalt  von  400  fl.  zufrieden  sein;  die  Mittelschulprofessoren 
sind  mit  ihren  1200  fl.  Grandgehalt  nicht  zufrieden.  Welch  eine 
Kostenersparnis  würde  daraus  entstehen!  Es  liegt  nicht  an  dem,  dass 
wir  für  die  Cultur  zu  wenig  opfern,  sondern  daran,  dass  wir  bei  der 
Ausgabe  nicht  ökonomisch  sind. 

Ich  könnte  meine  Betrachtungen  schon  schließen;  aber  ich  will 
doch  etliche  Äußerungen  über  die  Volksschule  nicht  ohne  Erwiderung 
lassen. 

Ein  geehrter  Redner  deducirt  die  Notwendigkeit  der  jetzigen 
Bürgerschulen  aus  der  Vorbereitung  zum  Gewerbe.  Ja,  wenn  die 
Bürgerschulen  zum  Gewerbe  erzögen,  dann  möchte  ich  der  eifrigste 
Vorkämpfer  dieser  Schulen  werden;  aber  ich  kenne  keinen  einzigen 
Zögling,  der  die  Bürgerschule  absolvirt  und  sich  eine  gewerbliche 

PawtarohUB.    U.  Jahrg.   Heft  VIII.  37 


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Laufbahn  gewählt  hätte.  —  Ein  anderer  Redner  beschuldigt  die  Volks- 
schulen, dass  manche  ihrer  Zöglinge  im  Denken  faul  seien.  Ich  kenne 
sehr  viele  diplomirte  Männer,  die  im  Denken  faul  sind;  sollen  wir  des. 
wegen  die  Hoch-  und  Mittelschulen  verurtheüen?  Außerdem  wird 
die  Sache  nicht  ganz  so  sein,  wie  es  scheinen  mag;  oft  kommt  viel- 
leicht die  angebliche  Denkfaulheit  von  der  Ckmsternirung  der  aus  der 
Volksschule  ausgetretenen  Zöglinge:  der  Elementarlehrer  unterrichtet, 
der  Mittelschullehrer  trägt  vor;  es  ist  also  naturlich,  dass  der  arme 
Zögling  sich  nicht  zurechtzufinden  weiß. 

Noch  eins.  Der  gute  Wille  des  Ministers,  die  verschiedenen 
Schulen  miteinander  in  organische  Verbindung  zu  bringen,  war  vor- 
handen. Dies  beweist  das.  Gesetz  von  den  Kleinkinderbewahranstalten, 
mit  welchem  wir  ganz  Europa  Uberholt  haben.  Wenn  also  die  Volks- 
schule auch  in  der  Zukunft  das  Aschenbrödel  des  Unterrichtswesens 
bleibt,  wird  nicht  der  Minister  schuld  sein,  sondern  jene  Männer,  die 
er  um  Rath  befragt  hat. 


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Schulprogramme. 

Von  Rector  A.  GUd-Ca»8ä. 

Seit  Jahrhunderten  ist  es  Brauch,  dass  sogenannte  „gelehrte" 
Schulen  Nachrichten  über  ihre  Einrichtungen,  ihren  Lehrplan,  die 
Lehrer,  die  Schüler,  Vorkommnisse  im  Schulleben  etc.  am  Schlüsse  des 
Schuljahres  veröffentlichen,  an  die  Eltern  der  Schuler,  an  Freunde 
und  Gönner  der  Anstalten  vertheilen  und  gegenseitig  austauschen. 
Dieser  Brauch  ist  auch  von  andern,  nicht  „gelehrten"  Schulen,  wie 
städtischen  Burger-  uud  Volksschulen,  angenommen  worden.  Meistens 
ist  den  Schulnachrichten  der  gelehrten  Schulen  eine  wissenschaftliche 
Abhandlung  beigefügt,  welche  in  den  zahlreichsten  Fällen  nur  Fach- 
männern verständlich,  daher  für  die  meisten  Eltern,  Freunde  und 
Gönner  und  auch  für  viele  Lehrer  ohne  Nutzen  ist.  Durch  einen 
Erlass  des  Cultusministers  Dr.  Falk  vom  26.  April  1875  ist  die  jähr- 
liche Ausgabe  solcher  Schulnachrichten  für  die  höheren  Lehranstalten 
allgemein  geboten,  während  die  Beigabe  einer  Abhandlung  nur 
empfohlen  ist.  Der  gegenseitige  Austausch  ist  durch  die  angezogene 
Verfügung  dahin  geregelt,  dass  jede  Central-  bezw.  Provinzialbehörde 
ein  Verzeichnis  der  ffir  Ostern  in  Aussicht  genommenen  Abhandlungen 
zusammenstellt  und  dasselbe  an  die  Teubner'sche  Verlagsbuchhandlung 
in  Leipzig  einschickt,  die  dann  alle  Verzeichnisse  zusammenstellt  und 
den  betheiligten  Behörden  und  Anstalten  zur  Auswahl  zusendet.  Mehr 
und  mehr  unterblieb  indessen  die  Beigabe  einer  wissenschaftlichen 
Abhandlung,  so  dass  sich  Minister  von  Puttkamer  veranlasst  sah, 
durch  einen  Erlass  vom  31.  October  1879  zu  empfehlen,  diese  für  das 
wissenschaftliche  Leben  des  höheren  Lehrerstandes  so  bedeutsame 
Sitte  festzuhalten,  bezw.  wieder  aufzunehmen.  Hiernach  könnte  es 
scheinen,  als  wären  die  Schulprogramme  nur  der  Lehrer  wegen  da 
oder  doch  vorzugsweise  ihretwegen;  dem  ist  jedoch  nicht  so.  Unserer 
Meinung  nach  waren  die  Programme  von  jeher  hauptsächlich  der 
Eltern  wegen  da,  die  über  das  Thun  und  Treiben  der  Anstalt,  der 
«e  ihre  Kinder  anvertraut  hatten,  unterrichtet  werden  sollten.  Dieser 

37* 


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Ansicht  ist  auch  Dr.  Kühner,  der  in  den  Programmen,  die  er  als 
Director  der  Musterschule  in  Frankfurt  jährlich  abzufassen  hatte,  auf 
den  Versuch,  „wissenschaftliche  Specimina"  zu  geben,  verzichtete  und 
sein  ganzes  Bestreben  dahin  richtete,  „nach  bestem  Vermögen  denen 
zu  dienen,  die  er  voraus  als  willige  Leser  kannte  oder  als  solche  zu 
gewinnen  hoffte".  Dass  diesem  Zwecke  auch  die  Form  der  Darstellung 
sich  anbequemen  müsse,  ergab  sich  ihm  von  selbst;  so  gestalteten  sich 
seine  Aufsätze  als  Versuche,  pädagogische  Gedanken  in  einer  für  den 
Laien  ansprechenden  und  verständlichen  und  doch  auch  dem  wissen- 
schaftlichen Sinne  annehmbaren  Form  zu  behandeln.  Im  übrigen 
waren  seine  Aufsätze,  wie  er  ausdrücklich  betonte,  nur  für  die  Eltern 
seiner  Schüler  bestimmt,  und  nur-  solche  pädagogische  Zustände,  Ge- 
wohnheiten und  Ansichten,  wie  er  sie  in  der  Schulgemeinde  charak- 
teristisch vertreten  fand,  bildeten  überall  den  Gegenstand  seiner 
Besprechung. 

Ist  das  Programm  nicht  so  eingerichtet,  dass  es  für  die  Eltern 
bestimmt  ist,  so  muss  es  dem  entsprechend  gestaltet  werden» 
wenn  es  mit  Grund  und  Recht  beibehalten  werden  soll.  Die  Lehrer 
haben  heutzutage  Mittel  und  Wege  genug,  sich  ihre  wissenschaftlichen 
Arbeiten  gegenseitig  zugänglich  zu  machen.  Hat  einer  eine  wissen« 
schaftliche  Abhandlung  geschrieben,  die  etwas  taugt,  so  findet  er 
dafür  jederzeit  einen  Verleger,  oder  er  kann  sie  in  den  zahlreichen 
Fachzeitschriften  veröffentlichen;  ist  sie  aber  nichts  wert,  so  sollte 
sie  auch  nicht  auf  Kosten  des  Staats  oder  der  Gemeinde  gedruckt 
werden.  Solche  Erwägungen  mögen  es  gewesen  sein,  welche  die 
Berliner  Communal Verwaltung  zu  dem  Beschlüsse  veranlassten,  die 
Mittel  zur  Drucklegung  der  Programmabhandlungen  nicht  mehr  be- 
willigen zu  wollen.  Außerdem  sind  die  Lehrer  nicht  an  den  Schulen 
angestellt,  um  wissenschaftliche  Steckenpferde  zu  reiten,  sondern  damit 
sie  von  dem,  was  sie  gelernt  haben  und  noch  dazu  lernen,  den  ent- 
sprechendsten Gebrauch  zum  Nutzen  ihrer  Schüler  machen.  Das  beste 
Studium  des  amtirenden  Lehrers  bleibt  die  beständige  Vorbereitung 
auf  den  Unterricht,  die  fleißige  Weiterarbeit  im  Fache  mit  steter 
Rücksicht  auf  den  Beruf,  das  Studium  der  Pädagogik.  Die  wissen- 
schaftlichen Abhandlungen  können  also  ohne  Schaden  für  die  Lehrer 
und  ihre  wissenschaftlichen  Bestrebungen  wegbleiben,  von  großein 
Vortheil  aber  würde  es  sein,  wenn  die  Schule  das  Programm  zu  dem 
gestalten  wollte,  was  es  eigentlich  sein  sollte,  zum  Rechenschafts- 
berichte, zum  Mittel  der  Verbindung  von  Schule  und  Haus  zwecks 
Verständigung  über  die  gemeinsamen  Aufgaben.  In  einer  Zeit,  in  der 


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man  so  viele  Klagen  der  Schule  über  das  Hans  und  umgekehrt  des 
Hauses  über  die  Schule  zu  hören  bekommt,  sollte  man  gar  nicht  mehr 
im  Zweifel  über  diese  Bestimmung  des  Schulprogramms  sein.  Da 
klagt  das  Haus  über  Schuleinrichtungen,  Uber  den  Lehrplan,  über 
Überbürdung  der  Schüler,  Eingriffe  der  Schule  in  die  Einrichtungen, 
Ordnungen  und  Grundsätze  des  Familienlebens,  was  die  Schule  ihrer- 
seits mit  Klagen  über  Mangel  an  Einsicht  in  die  Schulverhältnisse, 
über  verweichlichende  Erziehung,  offen  und  geheim  gewährten  Wider- 
stand etc.  erwidert.  Eine  Verständigung  thut  liier  sehr  noth,  und 
was  liegt  näher,  als  hierzu  das  Schnlprogramm  zu  benutzen?  Kämen 
dazu  noch  pädagogische  Abhandlungen  über  Schul-  und  Erziehungs- 
fragen, wie  z.  B.  Zeitein theilung,  häusliche  Leetüre,  Verwendung  der 
Freizeit,  Taschengeld,  Bekämpfung  der  Verfrühung  des  Genusses, 
Privatunterricht  u.  a.,  so  könnte  manches  Gute  in  der  Jugenderziehung 
durch  das  Programm  bewirkt  werden.  Weiß  man  aber  über  solche 
Dinge  nichts  zu  sagen,  so  verschone  man  auch  das  Haus  mit  wissen- 
schaftlichen Abhandlungen,  von  denen  es  in  den  meisten  Fällen  nichts 
hat  als  das  Anstaunen;  dann  spare  man  für  solche  Abhandlungen 
.Druckerschwärze,  Papier  und  Geld.  Manche  Directoren  fügen  ihren 
Programmen  schon  Abhandlungen  über  Schul-  und  Erziehungsfragen 
an,  warum  wollen  es  nicht  alle  thun?  Auch  die  Volks-  und  Bürger 
schulen,  die  Programme  ausgeben,  sollten  in  denselben  ein  Mittel  der 
Verbindung  mit  dem  Hause  sehen  und  sich  die  oben  angeführten 
Darlegungen  zu  nutze  machen.  Wenn  die  Bauleute,  die  gemeinsam 
ein  Gebäude  aufführen,  sich  nicht  nacheinander  richten  wollten,  so 
würde  nichts  Ordentliches  entstehen;  sollte  es  in  der  Erziehung  und 
bei  den  Erziehern  anders  sein?  Haus  und  Schule  müssen  sich  immer- 
mehr gegenseitig  anerkennen,  sich  vertrauensvoll  nähern,  und  dazu 
müssen  die  Schulprogramme  mithelfen. 


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Bei  den  Kleinen. 

Erinnerung  aus  dem  Lehrerleben. 
Von  Alois  Stolz-Pforzheim. 

Im  Kind  ist  Wahrheit,  reine,  unverfälschte.  Solange  ans  dieselbe  aas 
treuherzigen  Einderaagen  entgegenleachtet  and  von  frischen  Einderlippen  sich 
offenbart,  darf  ans  nicht  bangen  vor  der  Zukunft,  sofern  wir  uns  nur  der 
heiligen  Pflicht  bewusst  sind,  dieses  kostbare  Angebinde  der  Natur  zu  erhalten, 
den  Trieb  nach  Wissen  und  Wahrheit  zu  veredeln  und  in  die  rechten  Bahnen 
zu  lenken,  um  ihn  für  das  spätere  Leben  fruchtbar  zu  machen.  Sieben  Jahre 
lang  hatte  ich  die  ABC-Schtitzen  in  geistiger  Atzung  und  fand  dabei  reichlich 
Gelegenheit,  die  von  den  „Segnungen  der  Cultur"  fast  unberührte  Eindes- 
seele, wie  sie  sich  dem  Lehrer  eines  einsamen  Walddorfes  präsentirt,  in  ihrer 
ganzen  göttlichen  Ursprünglichkeit  kennen  zu  lernen.  Der  Umgang  mit  der 
kleinen  Schar  hatte  für  mich  immer  etwas  Erquickendes  und  Erfrischendes. 
Aus  jener  Zeit  sind  mir  zwei  Begebenheiten  erinnerlich,  die  sich  meinem 
Herzen  und  Gedächtnis  unauslöschlich  eingeprägt  haben. 

Wer  kennt  sie  nicht,  die  enfants  terribles?  sie  finden  sich  überall,  in 
der  Hütte  des  Waldbauern,  wie  im  Palaste  der  Großstadt,  und  nicht  zum 
mindesten  in  der  Dorfschule  zeigt  sich  ihre  köstliche  Naivetät  und  harmlose 
Unbefangenheit,  die  jedes  Ding  plattweg  beim  rechten  Namen  nennt.  Ein 
kleines  Plappermäulchen  mit  dem  poetischen  Namen  Veronika,  für  gewöhnlich 
hieß  sie  Vroni,  musste  eines  Tages  wegen  Mangel  an  Schweigsamkeit  mit 
„Dableiben"  bestraft  werden.  Sie  nahm  das  Verdict  anfangs  ruhig  hin,  offen- 
bar in  der  stillen  Hoffnung,  es  werde  ihr  am  Schlüsse  des  Unterrichts  mit  ein 
paar  freundlich-bittenden  Worten,  worin  sie  große  Virtuosität  besaß,  schon  ge- 
lingen, mein  Lehrerherz  zu  rühren  und  die  von  ihr  über  alles  geliebte  Freiheit 
zu  erbetteln.  Als  die  Kinder  das  Schullocal  verließen,  kam  die  kleine  Sünderin 
zaghaft,  die  Augen  reibend,  auf  mich  zu.  „Nun?"  „Herr  Schullehrer,  sei*) 
so  gut  und  lass  mich  heim;  ich  will  wieder  brav  sein."  „Wird  nichts  draus!" 
Großes  Jammern  und  Wehklagen.  „Hilft  nichts;  Du  musst  dableiben;  aber 
es  dauert  ja  nicht  lange."  „Ich  fürchte  mich."  „Ich  bleibe  bei  Dir;  arbeite 
jetzt  an  Deiner  Hausaufgabe."  „Aber  meine  Mutter  braucht  mich;  ich  werde 
von  ihr  gezankt,  wenn  ich  so  lange  nicht  komme." 

Bekanntlich  muss  das  zarte  Geschlecht,  ob  alt  oder  jung,  immer  das 
letzte  Wort  haben;  ich  verzichtete  also  auf  alle  weiteren  überzeugenden  Aus- 

♦)  Es  begegnet  dem  Lehrer  oft,  dass  ihn  die  Anfänger  mit  dem  vom  Eltern- 
hause,  her  gewohnten  „Du"  anreden,  mich  seldst  ergötzte  diese  gemüthliche  Anrede 
jedesmal  sehr,  und  ich  ließ  sie  ruhig  geschehen,  in  der  Gewissheit,  dass  sie  in  kurzer 
Zeit  dem  fremden  „Sie"  weichen  werde. 


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einandersetzungen  und  ließ  die  hoffnungsvolle  Kleine  ruhig  lamentiren  und 
arguiren ,  ohne  mich  weiter  um  sie  zu  kümmern.  Das  wirkte,  wie  immer  in 
solehen  Fallen,  ungemein  beruhigend.  Noch  ein  paar  schwere  Tropfen,  dann 
hellte  sich  der  trübe  Himmel  plötzlich  auf  und  mit  der  ganzen  Liebenswürdig- 
keit, deren  die  kleine  Hexe  fähig  war,  setzte  sie  ihre  Friedenspräliminarien 
in  anderer  Form  fort  „Herr  Schullehrer,  wenn  Du  mich  jetzt  fort  lässt,  danu 
bekommst  Du  meine  Birnen  und  den  Pfannkuchen";  sprach's  und  legte  als 
Pfand  ihrer  Freiheit  das  Vesper,  welches  ihr  die  fürsorgliche  Mutter  mit- 
gegeben,  auf  mein  Pult  Wer  hätte  auch  da  noch  widerstehen  können!  Vroni 
hatte  gesiegt,  und  ich  musste  schmählich  capituliren.  Inzwischen  war  eine 
gute  Viertelstunde  verstrichen  nnd  der  ausgleichenden  Gerechtigkeit  nach 
meinem  Ermessen  vollauf  Genüge  geschehen.  Mit  der  bekannten  ernsten 
Mahnung,  von  deren  nachhaltiger  Wirkung  auf  die  kleine  Windfuchtel  ich 
freilich  von  vornherein  keine  sonderlich  hohe  Meinung  hatte,  die  sie  jedoch 
trotzalledem  hoch  und  theuer  zu  respectiren  versprach,  entließ  ich  den  lieben 
Schelm,  der,  froh  über  solch  glänzenden  Verlauf  seines  Plaidoyers,  Birnen  nebst 
Pfannkuchen  alsbald  mit  tiefem  Biss  den  Garaus  machte.  — 

Ich  suchte,  wie  sich  das  jeder  gewissenhafte  Lehrer  angelegen  sein  lässt, 
auch  mit  den  Langsamen  und  Armen  im  Geiste  das  vorgeschriebene  Ziel 
wenigstens  annähernd  zu  erreichen.  Nach  mancherlei  Irrthümern  und  Fehl- 
griffen, die  ja  vor  keinem  Anfänger  sicher  sind,  brachte  ich  es  endlich  mit 
Fleiß  und  Beharrlichkeit  dahin,  dass  alle  Schüler  meinen  Anforderungen  mehr 
oder  minder  genügten.  Alle,  bis  auf  ein  kleines,  armes  Taglöhnerkind,  das 
in  der  häuslichen  Pflege  sehr  vernachlässigt  war  und  vielleicht  eben  deshalb 
ein  äußerst  scheues,  verschlossenes  Wesen  zeigte.  Seine  Kleider  waren 
schmatzig  und  verbreiteten  im  Verein  mit  einem  hässlichen  Ohrenleiden  gerade 
nicht  die  lieblichste  Atmosphäre.  Es  kostete  mich  eine  gewaltige  Überwindung, 
in  der  Nähe  des  armen  Wesens  zu  sein. 

Aber  Beispiele  erziehen,  und  das  erhabene  Vorbild  unseres  unvergeßlichen 
Lehrmeisters  Pestalozzi,  der  es  in  seiner  selbstvergessenden  Menschenliebe 
Über  sich  vermochte,  die  mit  Geschwüren  und  Ungeziefer  behafteten  Waisen- 
kinder eigenhändig  zu  waschen  und  zu  reinigen,  ließ  auch  mich  mit  der  Zeit 
den  Ekel  überwinden.  Mit.  mancherlei,  erfahrenen  Collegen  abgelauschten 
Kunstgriffen  und  Kniffen,  die  einem  Laien  im  Volksschulunterrichte  vielleicht 
lächerlich  erscheinen  könnten,  in  der  Praxis  aber  vorzügliche  Dienste  leisten, 
hatte  ich  der  „Bärbel"  die  Laute  und  Bucbstabenformen  beigebracht,  wenn 
auch  nach  manchem  verschluckten  Ärger  und  gewaltigen  Geduldsproben.  Das 
ging  endlich;  aber  mit  dem  Zusammenlesen  der  Laute  zu  Silben  kamen  wir 
während  8/4  Jahren  auch  um  kein  Haar  breit  vorwärts.  Immer  und  immer 
wieder  machte  sie  die  bekannte  fatale  Pause  zwischenbinein.  Schon  gab  ich 
die  Hoffnung  auf,  das  arme  Ding,  das  in  den  andern  Unterrichtsgegenständen 
sonst  leidlich  mitkam,  in  die  zweite  Classe  versetzen  zu  können  und  hatte  es 
auch  bereits  in  schonender  Weise  auf  diese  Calamität  vorbereitet.  Bei  jedem 
andern  Schüler  hätte  nun  eine  solche  Ankündigung  Heulen  und  Zähneklapperu 
hervorgerufen;  nicht  so  bei  der  Bärbel,  obschon  sie,  wie  ich  mich  später  über- 
zeugte, kein  geringes  Herzeleid  empfand.  Äußerlich  aber  erschien  sie  gegen 
mich  womöglich  noch  verschlossener  als  zuvor  und  vermied  von  nun  an  jeden 
Verkehr  mit  ihren  Genossen,  die  sie  ihrerseits  mitleidig  ihres  Weges  gehen 


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ließen.  Mich  dauerte  das  arme  Geschöpf  ;  aber  es  war  ihr  auf  keine  Weise 
beizukommen.  Sie  that  zwar  willig,  was  ich  sie  hieß;  doch  Milde  and  Freund- 
lichkeit ließen  sie  gl  eichgilt  ig,  und  ihr  Gesicht  zeigte  stets  denselben  lethar- 
gischen Ausdruck.  Manchmal  war  ich  geneigt,  dieses  Verhalten  der  Verstockt- 
heit und  Böswilligkeit  zuzuschreiben  und  Strenge  walten  zu  lassen.  Aber  der 
leise  melancholische  Zug  um  den  Mund  und  der  bekümmerte  Blick,  mit  dem 
mich  das  Kind  zuweilen  anschaute,  wenn  ich  mich  wieder  einmal  vergeblich 
mit  ihm  abgemüht  und  seufzend  von  der  Sisyphusarbeit  abstand,  ließen  mich 
instinetiv  fühlen,  dass  doch  ein  menschlich  Fühlen  unter  dieser  unfreundlichen 
Hülle  verborgen  sein  müsse,  und  ein  gewisses  psychologisches  Gefühl  sagte 
mir,  dass  Strenge  hier  sehr  übel  angebracht  wäre.  Also  immer  heiter  und 
wenn  auch  nur  Äußerlich;  denn  „Heiterkeit  ist  ja  der  Himmel,  unter  dem  alles 
gedeiht,  Gift  ausgenommen".  Wenn  viele  Tropfen  einen  Stein  höhlen,  so 
nmsste  doch  endlich  auch  meine  Arbeit  von  Erfolg  sein.  Mit  dieser  unverwüst- 
lichen Hoffnung,  die  mir  niemals  abhanden  kommen  möge,  widmete  ich  dem 
hilfsbedürftigen  Kinde  tätlich  einige  iiinuten,  erwartend,  dass  es  ihm  unter 
meiner  Assistenz  endlich  glücken  werde,  den  Stein  der  Weisen  zu  finden.  Und 
siehe  da,  mein  Glauben  wurde  belohnt  und  mein  heißes  Sehnen  erfüllt,  wenn 
auch  auf  ganz  eigenartige  Weise.  Das  kindliche  Geistesleben  offenbart  sich 
oft  höchst  merkwürdig.  Wonach  ich  mit  vielem  Mühen  solange  vergeblich 
gerungen,  das  brachte  ein  anderer  mühelos  in  einer  Nacht  zuwege.  Ein  alter 
Tröster  und  treuer  Kinderfreund  hatte  das  große  Problem,  wie  schon  so 
manches  andere,  spielend  gelöst  —  der  Schlaf.  Sein  milder  Engel  senkte  er- 
barmend die  Fittiche  über  das  arme  kleine  Menschenkind  und  wiegte  es  zur 
Ruhe.  Aber  die  kleine  Psyche  umgaukelte  und  quälte  ein  hässlicher  Traum. 
Barbele  befand  sich  in  der  Schule  und  versuchte  mit  mir  zu  lesen.  Ach,  wenn's 
doch  nur  einmal  ginge,  das  dumme  an,  am,  in,  im.  Doch  siehe,  es  geht  ja! 
Wunderbar,  wie  sich  die  widerspenstigen  Gesellen,  die  Laute,  heute  so  glatt 
zusammenfügen,  ganz  so,  wie  beim  Lehrer  und  bei  den  andern  Schülern.  Und 
was  das  geheimnisvolle  stille  Weben  des  Traumes  begonnen,  das  spielte  sich 
in  den  wachen  Zustand  hinüber.  Andern  Tages  kommt  Barbele,  ich  traute 
kaum  meinen  Augen  und  Obren,  mit  freudestrahlendem  Antlitz  und  der  frohen 
Botschaft:  „Herr  Schullehrer,  i  kann's!"  „Was  denn,  Barbele?"  „Jetzt  kann 
i's  z'samme  lese!"  „Ei,  was  Du  sa^st,  lass  mal  hören!"  Und  sie  las,  anfangs 
mit  erregter,  zitternder  Stimme,  die  Laute  zu  Silben  und  diese  nach  einigen 
Übungen  zu  Wörtern.  Hurra,  der  Knopf  war  gebrochen,  der  Rubicon  tiber- 
schritten. Mit  freudigem  Eifer  las  sie  jetzt  Zeile  um  Zeile,  immer  fließender, 
immer  besser.  Als  ich  sie  daraufhin  lobte  und  ihr  die  ersehnte  Promotion  in 
sichere  Aussicht  stellte,  da  drang  es  wie  ein  erwärmender,  belebender  Sonnen- 
strahl in  das  verdüsterte  Kinderherz.  Ein  nie  empfundenes,  beseligendes  Ge- 
fühl durchzuckte  die  junge  Seele  und  erweckte  sie  zu  neuem,  heiterem  Leben. 
Wo  übermächtige  Freude  keine  Worte  findet,  da  offenbart  sie  sich  in  Thränen, 
welche  die  wunderbare  Eigenschaft  besitzen,  den  Schmerz  zu  lindern  und  im 
Glücke  zu  beruhigen,  immer  aber  das  Gleichgewicht  der  Seele  herzustellen. 
Mein  Barbele  weinte  vor  Glück  und  Freude,  und  die  ganze  Ciasse  gab  ihrer 
Antheilnahme  an  dem  frohen  Ereignis  in  solch  natürlicher  und  rückhaltsloser 
Weise  Ausdruck,  dass  ich  hiervon  fast  mehr  gerührt  wurde  als  von  dem  Glücke 
des  Kindes.    Solch  ein  Blick  auf  den  Grund  der  Kindesseele  ist  ein  köstlicher 


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Genuas,  ein  Lichtstrahl  in  das  Allerheiligste  der  Schöpfung,  der  aber  nur  dem 
zutheü  wird,  dem  eine  gütige  Fee  die  Gabe  verliehen,  mit  heiterem  Gemüthe, 
„unbescbrien"  den  Schleier  vom  Antlitz  der  göttlichen  Psyche  zu  heben. 
Schöneren  Lohn  und  höheren  Genuss  für  treu  erfüllte  Pflicht  kann  es  nicht 
geben.  —  In  der  Seele  des  Kindes  aber  war  eine  wunderbare  heilsame  Wand- 
lung vor  sich  gegangen.  Von  jener  Stunde  an  legte  es  sein  scheues,  ver- 
schlossenes Wesen  ab  und  zeigte  sich  heiter  und  zuthunlich  gegen  mich  und 
seine  Kameraden. 

Vierzehn  Jahre  waren  verstrichen.  Das  Schicksal  und  die  Oberschul- 
behörde ließen  mich  inzwischen  durch  manche  Prüfung  gehen,  ohne  dass  ich 
glücklicherweise  einmal  das  Pech  gehabt  hätte,  zu  leicht  befunden  zu  werden. 
Nach  etlichen  Übergangsstationen  trieb  mein  Lebensschifflein  unter  mancherlei 
Fährten  und  Nöthen  und  öfterer  Gefahr  an  heimtückischen  Klippen  Havarie 
zu  leiden,  an  ein  sicheres  Gestade.  Von  da  führte  mich  im  vorigen  Jahre  in 
der  Ferienzeit  mein  Weg  zum  ersten  Male  wieder  in  jenes  traute  Dorf  lein, 
wo  ich  einst  meine  pädagogischen  Sporen  geholt.  Mit  dem  eigenartigen  freudig- 
bangen Gefühl,  das  einen  beschleicht,  wenn  man  eine  langentbehrte  alte  Heim- 
stätte zum  ersten  Male  wieder  betritt,  zog  ich  die  alte  Dorfstraße  hin. 
„Werden  und  wollen  sie  dich  auch  noch  kennen;  haben  sie  dir  ein  gutes  An- 
denken bewahrt;  was  wird  aus  deinen  Schülern  geworden  sein,  hat  der  oder 
jene  gehalten,  was  sie  zu  werden  versprachen ?u  Diese  und  ähnliche  Fragen 
und  Gedanken  beschäftigten  mich  beim  Betreten  des  Dorfes,  das  mir  zur 
zweiten  Heimat  geworden  war.  Jedes  Häuslein,  jeder  Baum  und  jedes  Gärt- 
chen,  an  dem  ich  einstmals  gleichgiltig  vorüberging,  sie  schienen  mich  wie 
alte  Bekannte  zu  grüßen,  und  ich  grüßte  sie  wieder.  Allenthalben  fand  ich 
ein  herzlich  „ Willkommen",  und  das  Händeschütteln  und  das  Fragen  nach 
meinem  Wolergehen  wollte  fast  kein  Ende  nehmen.  Ich  bin  von  Natur  aus 
nicht  mit  einem  übertriebenen  Ehrgeiz  ausgestattet;  aber  so  viele  Liebe  und 
Treue  that  meinem  Herzen  doch  ungemein  wol.  Alles  Schlimme,  was  ich 
etwa  einst  erfahren,  war  vergessen,  und  nur  Freundliches  und  Schönes  in 
meiner  Erinnerung  lebendig.  Unter  meinen  ehemaligen  Schülern,  die  sich  mir 
nunmehr  als  stattliche  junge  Männer  und  üppige  Dorfschönen  präsentirten, 
begrüßte  mich  auch  ein  junges  Weib,  es  war  das  Bärbele,  jetzt  eine  respectable 
Barbara,  Hausfrau  und  Mutter.  Sie  soll  sehr  arbeitsam  und  tüchtig  sein  und 
erfreut  sich  deshalb  auch,  wie  ich  wahrzunehmen  das  Vergnügen  hatte,  der 
Wertschätzung  ihrer  Nachbarn.  Die  Schularbeit  machte  ihr  nach  jenem  be- 
deutungsvollen Tag  keine  sonderlichen  Schwierigkeiten  mehr.  Später  war  sie 
mehrere  Jahre  in  einem  guten  Bauernhause  in  Dienst,  der  auf  ihre  Erziehung 
den  besten  Einfluss  hatte.  „Ei,  wie  mich's  freut,  Sie  wieder  einmal  zu  sehen, u 
sagte  sie,  mir  mit  einem  dankbaren  Blicke  derb  die  Hand  schüttelnd.  „Oft 
habe  ich  daran  denken  müssen,  wie  viele  Mühe  und  Geduld  Sie  mit  mir  gehabt, 
weil  ich  halt  eine  gar  so  Ungeschickte  gewesen  bin."  Ich  folgte  ihrer  freund- 
lichen Einladung  zu  einem  Besuch  und  war  sehr  befriedigt  von  der  bäuerlich 
einfachen,  aber  sehr  sauberen  Führung  ihres  Haushaltes  und  erkannte  an  dem 
vergnügten  Gesicht  ihres  Mannes,  dass  ein  guter  Geist  in  ihrem  Heimwesen 
walte.  Nicht  minder  aber  erfreute  mich  ihre  aufrichtige  Dankbarkeit;  denn 
sie  ist  eine  seltene  Frucht  im  Lehrerleben. 


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An«  der  Fachpresse. 


536.  Der  didaktische  Materialismus  im  deutschen  Sprach« 
Unterricht  (Päd.  Zeitung  1891,  41.  42).  Erscheinungen  des  rdid.  Mat.a: 
Übermaß  „orthogr.  Übungen"  („wie  mancher  Lehrer  greift  nicht  in  zweifel- 
haften Fallen  nach  seinem  Duden  —  man  gebe  doch  dem  Schüler  ein  ähnliches 
Nachschlagebuch  in  die  Hand;  er  kann  dafür  einige  andere  Bücher  sehr  gut 
entbehren")  —  „Analysiren"  —  Denken  über  die  Sprache  (statt  in  der 
Sprache)  —  der  „Heftecultus"  („er  ist  gewissermaßen  ein  Moloch,  dem  der 
Lehrer  einen  großen  Theil  seiner  Arbeitskraft,  der  Schüler  nicht  selten  seine 
Gesundheit  opfern  muss").  —  Nichtbefolgung  der  Hildebrandischen  Gesetze. 
(Hinsichtlich  des  Lesen»  wünscht  Verfasser:  „Das  Kind  sollte  auch  mit  etwas 
kritischem  Blick  lesen  lernen.") 

537.  Gedanken  zur  Comenius-Feier  (Päi  Ref.*)  1892,  12).  Eine 
kurze,  edler  Begeisterung  volle  Bede  von  höherem  als  wissenschaftlich-päda- 
gogischem —  von  social- pädagogischem  (oder  politischem)  Standpunkte  aus. 
Darum  nur  über  die  drei  Bestrebungen  des  Helden:  Friedliche  Vereinigung 
aller  Stände  nnd  Parteien  —  Errichtung  der  allgemeinen  Volksschule  — 
Pflege  der  Muttersprache  uud  des  wirklichen  Lebens  in  der  Schule.  —  „Man 
könnte  Comenius  kein  besseres  Denkmal  setzen,  als  ein  Monument  mit  der 
Inschrift  des  29.  Capitels  (didactica  magna)  und  der  Zahl  des  Jahres,  in  dem 
er  durch  die  großen  Gedanken  sich  die  Unsterblichkeit  erwarb."  —  Der  unge- 
nannte Sprecher  glaubt  (nach  seinen  Schlussworten),  dass  die  Verwirklichung 
der  „allgemeinen  Volksschule"  nicht  mehr  allzufern  sei:  „Schon  verkündet 
die  Dämmerung  den  anbrechenden  Morgen.  Die  Volksseele  ist  mächtig  ergriffen 
von  den  Ideen  „Menschenwürde  und  Menschenrecht" ;  sie  ringt,  um  die  Bande, 
welche  nun  schon  Jahrtausende  hindurch  ihre  Kraft  gefesselt  haben,  zu  zer- 
sprengen." 

538.  Die  Fragepnnkte  der  heutigen  Pädagogik  nach  ihrem 
geschichtlichen  Herkommen  (E.  v.  Sallwürk,  Rhein.  Blätter**)  1892, 
I,  II).  Als  Stufen  der  Entwicklung  (die  vier  Jahrhunderte  umfasst)  werden 
genannt  und  in  der  bekannten  meisterhaften  Weise  Sallwürk's  gekennzeichnet: 
die  Pädagogik  des  Humanismus  —  die  methodische  Reaction  —  die  Natur« 
erziehung  —  der  Neuhumanismus  und  seine  Ausläufer  —  die  Erzieher  der 
Besitzlosen  (Rochow,  Pestalozzi,  Diesterweg).  —  Schlussartikel  über  die  Päda- 
gogik von  heute:  Sie  „besitzt  eine  vortrefflich  ausgearbeitete  Theorie,  durch  die 
öffentliche  Schule  ihre  unbestrittene  Stellung  in  Staat  nnd  Gesellschaft/  Höchste, 
als  solche  klar  erkannte  Aufgaben:  sittliche  Bildung  und  Erweckung  geistiger 


Einzelnummer  20  Pfg. 


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Kraft"  (denen  die  „nützlichen  Kenntnisse  u  nur  als  Mittel  dienen).  „Technik 
des  Unterrichts*  „vortrefflich  ausgebildet-.  „Eine  noch  nicht  gelöste  Aufgabe 
ist  die  Einordnung  der  Bildungsstoffe  in  einen  den  höchsten  pädagogischen 
Zielen  angemessenen  Lehrplan.  In  der  Verfolgung  dieser  Aufgabe  muss  und 
wird  eine  Ausgleichung  der  sich  gegenwärtig  noch  bekämpfenden  pädagogischen 
Richtungen  stattfinden.  Dringlich  ist  diese  Aufgabe,  weil  man  von  der  Er- 
ziehung heute  eine  bestimmende  Einwirkung  auf  die  sittlichen  Verhältnisse  der 
(i egenwart  verlangt.  Dieser  Erwartung  darf  freilich  die  Pädagogik  und  die 
Schule  die  Bedingung  entgegenhalten,  dass  man  ihr  ungesäumt  freie  und 
selbständige  Arbeit  gewährleiste."  —  In  der  einleitenden  Erörterung  der 
„Meinung  und  Forschung  in  der  Pädagogik"  wird  bemerkt:  „Es  gibt  anf 
Erden  keine  mächtigere  Autorität  als  die  des  Lehrenden;  darum  kann  niemand 
ihn  seiner  Verantwortung  entbinden." 

539.  Homo  sum  (G.  Hauffe,  Repert.  d.  Päd.*)  1891/92,  VI).  Der  mit 
viel  Wärme  geschriebene  Aufsatz  ist  reich  an  Anregungen  zu  psychologischen 
and  philosophischen  Studien.  (Nach  Hauffe's  Ansicht  „besteht  die  ganze  Ent- 
wicklung: des  menschlichen  Geistes  nur  darin,  die  Fremdheit  der  Materie  zu 
fiberwinden  und  das  Band  zwischen  Leib  und  Seele,  welches  Gott  ist,  an  den 
hellen  Tag  des  Bewusstseins  zu  bringen."  „Die  Materie  ist  nur  ein  Moment 
in  der  Entwicklung  des  Geistes  selbst.  Der  Geist  ist  das  wahre  Wesen  des 
Menschen,  welches  an  der  Materie  nur  die  Weise  seiner  äußerlichen  Erscheinung 
hat.44   Vorangegangene  Aphorismen  suchen  diese  Behauptungen  zu  stützen.) 

540.  Die  Abgötterei  des  Wissens  (E.  Fitzga,  österr.  Schulz.**) 
1892,  1).  „Wissen  ist  Macht,  aber  nicht  Allmacht.  Die  Gegenwart  legt 
zuviel  Nachdruck  auf  die  Cultivirung  des  Verstandes,  vernachlässigt  daher 
Gemüth  und  Körper.  Die  Beurtheilnng  der  Menschen  schöpft  man  zumeist  nur 
ans  Studien-  und  Prüfungszeugnissen.  Je  mehr  deren  vorliegen,  desto  besser; 
daher  das  hentige  Wissensprotzenthum.  Wichtige  Eigenschaften,  die  in  keinem 
Zeugnisse  stehen,  wie  Sparsamkeit,  Treue,  Genügsamkeit,  Findigkeit,  prak- 
tischer Sinn  etc.,  werden  infolgedessen  zu  gering  geschätzt."  „Die  einseitige 
und  übertriebene  Verstandespflege  fördert  allzusehr  den  Egoismus."  „Das 
Wissen  muss  aufhören,  Selbstzweck  zu  sein,  und  sich  bequemen,  dem  Menschen 
zu  dienen  als  Rüstzeug  auf  seinem  Wege  zur  Sittlichkeit,  zum  Guten,  zur 
Vollkommenheit.  Ein  guter  Mensch  steht  höher  als  ein  blos  intelligenter, 
und  das  Gutsein  eines  Menschen  hängt  nicht  von  der  Ausdehnung  seines 
Wissens  ab."  (Ist  zwar  nicht  neu,  also  eine  Wiederholung  —  aber  eine 
nothwendige,  zeitgemäße.  Es  sind  bisher  nicht  viele  gewesen,  die  gegen  den 
jetzt  noch  in  den  weitesten  Kreisen  herrschenden  Wissenschaftscultns  eifern.) 

541.  Die  schweizerische  Fortbildungsschule  (E.  Zingg,  Schweiz, 
päd.  Zeitschr.***)  1892,  I).  „Die  Fortbildungsschule  isteine  nothwendige  Er- 
gänzung der  Primarschule  (deshalb  für  alle  verbindlich,  also  „Obligatorium"), 
und  durch  ihre  Einfügung  in  den  Schulorganismus  erhalten  wir  erst  eine 
eigentliche  Volksschule,  die  geeignet  ist,  auf  alle  Verhältnisse  des  privaten 


*)  Einzelheft  45  Pfg. 
**)  Einzelnummer  30  Pfg. 

***)  Einzelheft  1,20  Mk.  (4  Hefte  kosten  im  Jahresabonnement  6  Fr.,  für 
Abonnenten  der  Schweizer  Lcbrerzeitung  aber  nur  2  Ft.!) 


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und  öffentlichen  Lebens  einzuwirken."  Sorge  für  die  allgemeine  Volksschule 
soll  als  Sache  des  Bundes  erklärt  werden.  Als  Name  „Bürgerschule"  vor- 
zuziehen, weil  er  die  Hauptaufgabe  der  Schule  andeutet.  Schüler  vom  16.  bis 
18.  Altersjahre  in  drei  Halbjahrs^ Winter-)Cnrsen  mit  mindestens  4  Unter- 
richtsstunden wöchentlich.  Errichtung  von  Jahresschulen  (Befugnis  der  Ge- 
meinden) wäre  zu  erleichtern  und  zu  begünstigen.  —  Ideale  Unterrichtsweise : 
Vorträge  und  Discussionen  aus  den  Gebieten  der  Geschichte,  der  Landeskunde, 
der  Naturwissenschaften,  der  Volkswirtschaft  und  der  Gewerbe.  —  Besondere 
Lehrer,  die  ausschließlich  im  Bürgerschuldienst  stehen  (dazu  geeignet  nur  die- 
jenigen, welche  „Wissen  mit  praktischem  Geschick  verbinden,  auch  im  Leben 
draußen  ihren  Mann  stellen").  Die  berufliche  Vorbildung  der  Lehrer  (im 
Seminar)  hat  auf  die  spätere  Wirksamkeit  als  Bürgerschullehrer  Rücksicht  zu 
nehmen. 

542.  Die  erziehliche  Aufgabe  der  Handwerkerschule  und 
Mittel  zu  deren  Lösung  (Cathian,  Zeitschr.  f.  gewerbl.  Unten*.*)  1891/92, 
X).  Nur  eine  verschwindend  kleine  Zahl  junger  gewerblicher  Arbeiter  findet 
eine  angemessene  Erziehung  im  Eltern-  oder  Meisterhause.  Von  den  durch 
Behörden  und  Vereine  geschaffenen  Ersatzmitteln  (Lehrlingsheim,  Privat  pflege  ) 
verspricht  sich  Verfasser  nicht  viel.  „Es  bleibt  —  meint  er  —  fast  nur  die 
Schule.  Kann  die  sich  der  Erziehung  des  Lehrlings  nicht  nach  Kräften 
annehmen,  so  ist  die  Hoffnung  auf  eine  Besserung  der  sittlichen  Zustände  in 
den  Arbeiterkreisen  nur  eine  sehr  schwache."  „Die  erzieherische  Aufgabe 
der  Handwerkerschule  lässt  sich  in  der  Weise  präcisiren,  dass  wir  sagen:  die 
uns  anvertraute  Jugend  soll  für  das  Leben,  für  den  Kampf  ums  Dasein  vor- 
bereitet werden,  nicht  blos  nach  der  wirtschaftlichen,  sondern  auch  nach  der 
sittlich-religiösen  und  nach  der  gesellschaftlichen  Seite  hin."  Mittel:  Wort 
Schrift,  Beispiel.  —  Einzelziele:  Ehrfurcht  vor  der  Größe,  Schönheit,  Gesetz- 
mäßigkeit der  Welt  (Quellen:  naturwissenschaftliche  Fächer)  —  Mitgefühl 
(lässt  sich  erzeugen  durch  Betrachtung  der  Tagesvorgänge  —  Benutzung  von 
Zeitungsnachrichten!)  —  Selbstgefühl;  Selbstachtung  —  wahrer  Muth  des 
Mannes  —  Muth  der  Erkenntnis  und  des  Eingeständnisses  —  freiwilliger  Ge- 
horsam —  Sinn  für  Gerechtigkeit  und  Recht  —  geistige  Gewecktheit 
(Fähigkeit  des  raschen  Auffassens)  —  Unterdrückung  der  Neigung  zu  faulem 
Aufschieben,  zur  Unpünktlichkeit,  zur  Genusssucht,  Überhebung,  Vornehm- 
thuerei.  —  Der  Lehrer  freilich  „muss  ein  Mann  des  Volkes  sein;  er  darf 
dessen  Sitten  und  Gewohnheiten  nicht  fremd,  kühl  und  theilnahmlos  gegen- 
überstehen". 

543.  Die  Nothwendigkeit  der  Übung  im  lauten,  freien  und 
zusammenhängenden  Sprechen  aus  der  Natur  unserer  Sprache  er- 
wiesen (Fr.  Tauth,  Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.**)  1891,  XII).  Vorzüge 
des  hörbaren  (lebendigen,  natürlichen)  Lautes  vor  dem  sichtbaren  (todten, 
künstlichen)  Zeichen.  Vielseitigkeit,  Wärme,  Unmittelbarkeit  der  Lautsprache 
(Fähigkeit  zu  reichster  und  sorgfältigster  Gliederung)  —  Beschränktheit, 
Äußerlichkeit  der  Zeichensprache.  Darum  hat  der  Mensch  die  Lautsprache 
alB  herrschende  gewählt,  um  den  Eindruck  aller  Sinne,  sowie  die  Gebilde  seines 


*)  Einzelnummer  50  Pfe. 
**)  Einzelheft  1  Mk. 


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-    537  — 


eigenen  Denkens  damit  auszudrücken. u  „Die  laute  Sprache  setzt  eine  durch 
Vererbung  überlieferte,  bis  ins  feinste  gehende  Ausbildung  der  Athmungs- 
organe  und  des  Gehörs  mit  allen  dazu  gehörigen  Gehirntheilen  voraus.  Wenn 
wir  diese  Organe  nach  ihrer  Eigenart  nicht  benutzen  und  ausbilden,  so 
schädigen  wir  die  Grundlage  und  Ausbildungsfähigkeit  unserer  heutigen,  uns 
angeborenen  Sprachanlage  und  damit  unser  ganzes  geistiges  Leben."  „Soll 
unsere  Sprache  wieder  eine  ihrer  Natur  entsprechende,  volksthümliche  Schönheit, 
Wolklang,  Durchsichtigkeit,  Übersichtlichkeit,  Sicherheit  und  Eigenart  erhalten, 
so  müssen  wir  in  der  Schule  mehr  als  bisher  das  laute,  freie,  zusammen- 
hängende Reden  mit  besonderer  Betonung  der  Klarheit  und  Schönheit  sowol 
beim  Lernenden  wie  beim  Lehrenden  pflegen,  und  zwar  nicht  nur  in  der 
Einzelrede,  sondern  auch  in  Wechselrede  und  im  gemeinsamen  Sprechen,  im 
gemeinsamen  dramatischen  Spiel,  im  gemeinsamen  Gesang."  Muttersprache 
als  „Mittelpunkt  unseres  gesammten  Jagendunterrichts." 

544.  Die  verschiedenen  Gattungen  der  Geschichtsschreibung 
und  ihre  pädagogische  Bedeutung  (Allg.  deutsche  Lehrerz.*)  1892, 
9 — 11).  Verfasser  erörtert  eingehend  die  „erzählende  oder  referirende"  — 
.lehrhafte  oder  pragmatische"  —  „entwickelnde  oder  genetische  Geschichte" 
—  die  „physischen,  psychischen  und  cnlturellen  Bedingungen"  für  den 
„Werdeprocess  der  geschichtlichen  Ereignisse"  und  gelangt  schließlich  mit 
Bezug  auf  die  Schule  zu  folgendem  Ergebnis:  „Die  Hauptaufgabe  des  Ge- 
schichtsunterrichts in  der  Schale  möge  die  sein,  durch  die  Betrachtung  der 
culturgeschichtlichen  Entwicklung  der  Menschheit  unsern  Kindern  die  Erkenntnis 
von  der  fortschreitenden  Humanität  der  menschlichen  Gesellschaft  zu  vermitteln 
und  ein  Geschlecht  heranzubilden,  das  den  stetig  zunehmenden  Anforderungen 
unseres  cnlturellen  Lebens  gewachsen  ist.  In  der  Ausbreitung  und  Vertiefung 
des  humanen  Princips,  in  welchem  schon  Herder  die  Bedeutung  der  Geschichts- 
entwicklung erkannte,  muss  auch  die  Schule  ihr  höchstes  Ziel  erblicken,  und 
wenn  der  Geschichtsunterricht  zur  Erreichung  desselben  ein  Scherflein  bei- 
trugt, so  hat  er  offenbar  seine  schönste  und  wichtigste  Aufgabe  erfüllt." 

545.  Kopf-  und  Zwitterrechnen  (W.  Taschek,  Die  Volksschule**) 
1892,  1).  „Kopfrechnen  mit  Ziffern",  „schriftliches  Kopfrechnen"  =  „Zwitter- 
rechnen." Der  Kopfrechner  soll  es  immer  nur  mit  Zahlen  zu  thun  haben. 
Nachtheile  des  „Zwitterrechnens"  (erzeugt  u.  a.  kein  „Zahlengedächtnis"). 
Verf.  verlangt:  1.  Reines  Kopfrechnen  auf  allen  Stufen  vor  dem  Zifferrechnen. 
2.  Abschaffung  der  schriftlichen  Darstellung  mündlicher  Rechenbeispiele  vor 
dem  eigentlichen  Zifferrechnen  im  1.,  2.  und  auch  theil weise  noch  im  3.  Schul- 
jahre. (Die  dritte  Forderung  „Vermehrung  der  Rechenstunden"  ist  keine 
dringliche.) 

*)  Einzelnummer  25  Pfg. 
**)  Einzelnummer  30  Pfg. 


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RecensioneD. 

Dr.  E.  Wrobel,  Gymnasiallehrer  in  Rostock,  Übungsbuch  zur  Arithme- 
tik und  Algebra  für  höhere  Lehranstalten.  II.  Theil  für  Obersecunda 
und  Prima.    189  Seiten.  1.40  iL 

Resultate  hierzu.    97  S.    1.25  M.    Rostock,  Werther. 

Den  ersten  Theil  dieser  Sammlung  haben  wir  schon  im  vergangenen  Jahre 
mit  gebärender  Anerkennung  besprochen,  und  wir  vermögen  dieselbe  auch 
auf  diesen  zweiten  Theil  auszudehnen.  Die  Anlage  steht  im  Einklänge  mit 
dem  ersten  Theil,  indem  bei  jedem  Paragraph  eine  gedrungene  Auseinander» 
Setzung  der  einschlägigen  Lehrsätze,  Formeln  und  Lösungsmethoden  voraus* 
geht;  sodann  folgt  eine  große  Anzahl  sorgfältig  geordneter,  d.h.  vom  Leichteren 
zum  Schwereren  fortschreitender  Aufgaben.  Der  Inhalt  umfa&st  quadratische 
Gleichungeu  mit  einer  nnd  mehreren  Unbekannten,  Exponentialgleichungen, 
arithmetische  Progressionen  erster  und  höherer  Ordnung,  geometrische  Pro- 
gressionen, Zinseszins-  und  Rentenrechnung,  Kettenbrüche,  diophantische  Glei- 
chungen, Combinationslehre.  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  den  binomischen  und 
polynomischen  Lehrsatz. 

Wir  haben  uns  die  Muhe  nicht  verdrießen  lassen,  eine  beträchtliche  Anzahl 
der  Aufgaben  durchzurechnen,  und  haben  dabei  nicht  nur  keinen  Druckfehler 
gefunden,  sondern  auch  bemerkt,  dass,  wenn  ein  neuer  Vorgang  zur  Lösung 
erforderlich  wird,  das  Heft  der  Resultate  hierzu  Anweisung  gibt,  die  nächst- 
folgenden Aufgaben  sodann  wieder  unter  Fortentwicklung  des  angedeuteten 
Gedankens  ihre  Lösung  finden.  Wir  müssen  also  auch  von  diesem  zweiten 
Thcile  sagen,  dass  er  der  Sammlung  von  Heis  ebenbürtig  zur  Seite  steht, 
wenn  nicht  dieselbe  an  Sorgfalt  der  Anlage  und  Durchfuhrung  übertrifft,  und 
können  daher  diesem  Buche  nur  die  größte  Verbreitung  wünschen.  Es  scheint 
ja  wol  an  der  Zeit,  dass  die  vielfach  bis  zum  Überdrnss  durchgearbeitete 
Sammlung  von  Heis  durch  etwas  Neues  ersetzt  werde,  wozu  das  Vorliegende 
vollste  Eignung  besitzt.  H.  E. 

Dr.  Franc  Hodevar,  Professor  zu  Innsbruck,  Lehr-  und  Übungsbuch  der 
Geometrie  für  Untergymnasien.  2.  Aufl.  122  S.  195  Fig.  im  Text.  1.20  Mk. 

Derselbe,  Lehrbuch  der  Geometrie  für  Obergymnasien.  199  S.  213Fig. 
im  Text.  1.70  M. 

Derselbe,  Geometrische  Übungsaufgaben  für  Obergymnasien.  1.  Heft 

Planimetrie  und  Stereometrie.    51  S.    50  Pf. 
2.  Heft.   Trigonometrie  und  analytische  Geometrie.  46  S.  50  Pf. 
Prag  und  Wien,  F.  Tempsky;  Leipzig,  G.  Freytag. 

Wir  haben  unlängst  in  einem  Zeitungsartikel  den  Vorwurf  gelesen,  dass  die 
Besprechungen  neuer  Bücher  häufig  schwankend  und  unbestimmt  gehalten  seien, 
woraus  sieh  die  unangenehme  Folge  ergebe,  dass,  wenn  ein  Lehrer  ein  ver- 
altendes Buch  durch  ein  neues  ersetzen  wolle,  er  nicht  wisse,  nach  welchem 
er  greifen  solle,  ja,  dass  er  geradezu  sich  in  der  Notwendigkeit  befinde,  alle 
erschienenen  Lehrbücher  durchzustudieren,  ehe  er  zur  Wahl  schreiten  könne, 


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womit  die  Besprechung  neuer  Bücher  als  eine  ganz  vergebliche  Arbeit  hinge- 
stellt ist.  —  Diesen  Fehler  wollen  wir  nicht  auf  uns  laden,  und  wollen  sofort 
erklären,  dass  die  vorstehenden  Lehrbehelfe  als  musterhaft  zu  bezeichnen  sind. 
Bekanntlich  werden  an  den  höheren  Schulen  in  Österreich  nur  Lehrbücher  ver- 
wendet, welche  die  Billigung  des  Unterrichtsministeriums  erhalten  haben. 

Dieses  System  hat  nun  allerdings  den  Nachtheil,  dass  wissenschaftliche 
Fortschritte  nur  sehr  langsam  in  den  Lehrbüchern  und  des  weitern  auch  in  den 
Schulen  Eingang  finden;  dagegen  aber  auch  den  großen  Vortheil,  dass  nicht 
nur  ganz  mangelhaft«  Bücher  gar  nicht  in  die  Öffentlichkeit  treten,  sondern 
duss  sich  in  didaktischer  Beziehung  ein  stetiger  und  höchst  beachtenswerter 
Fortschritt  entwickelt  hat. 

Wie  aus  der  Titelangabe  ersichtlich,  wird  an  den  österreichischen  Gym- 
nasien der  Unterricht  der  Geometrie  zweistufig  ertheilt;  das  Buch  ffir  die 
Unterstufe  ist  zugleich  Lehr-  und  Übungsbuch  und  enthält  alle  Theile  der 
Euklidischen  Planimetrie  und  Stereometrie,  jedoch  weitaus  nicht  in  der 
Schwerfälligkeit  jener  Lehrbücher,  welche  sich  nicht  vom  Althergebrachten  zu 
trennen  vermögen;  es  wird  von  den  Mitteln  der  Auschauung  durch  Einfüh- 
rung' der  Begriffe  achsialer  und  centrischer  Symmetrie  ausgiebig  Gebrauch  ge- 
macht. Eine  sehr  große  Anzahl  vorzüglich  entworfener  und  ausgeführter  Figuren 
unterstützt  den  Text.  Man  findet  neuerdachte  Figuren,  in  Bezug  auf  die 
Lehrsätze  von  den  ungleichen  Gegenstücken  des  Dreieckes,  dann  von  den 
Mittelpunkten  der  Dreiecken  oder  Vierecken  umzuschreibenden  Kreise,  über  die 
mögliche  Lage  congruenter  Dreiecke,  über  die  Construction  congruenter  Polygone, 
über  das  Verhältnis  der  Flächen  ähnlicher  Figuren  u.  s.  w.  Nur  eine  einzige 
Figur  müssen  wir  als  minder  gelungen  bezeichnen,  es  ist  dies  die  Abwickelung 
des  Mantels  eines  schiefen  Prismas;  dabei  ergab  sich  ein  so  stumpfer  Winkel, 
dass  man  bei  minder  genauer  Betrachtung  denselben  für  einen  gestreckten 
halten  wird.  —  Zur  Berechnung  der  Körperinhaltc  führt  der  Verfasser  das 
Princip  von  Cavalieri  ein  und  gibt  demselben  fruchtbarste  Verwertung. 

Das  Buch  für  die  Oberstufe  enthält  die  Lehren  der  Planimetrie  und  Stereo- 
metrie in  größerer  Vertiefung  und  mit  streng  wissenschaftlicher  Begründung. 
Von  der  neuen  synthetischen  Geometrie  wurde  nichts  oder  fast  nichts  heran- 
gezogen, dagegen  auch  auf  dieser  Stufe  von  dem  Mittel  der  Anschauung  möglichst 
Gebrauch  gemacht.  Im  löblichen  Bemühen  wusste  der  Verfasser  für  dieselben 
Lehrsätze  auf  beiden  Stufen  verschiedene  Figuren  beizubringen,  wie  z.  B.  Uber 
die  Gegenstücke  ungleichseitiger  Dreiecke,  denen  beiden  achsiale  Symmetrie  mit 
gleicher  Anschaulichkeit,  jedoch  in  verschiedener  Gestalt  zu  Grunde  liegt.  In 
deT  Stereometrie  wird  das  Princip  der  sieh  entsprechenden  Gebilde  auch  äußer- 
lich zur  Veranschaulichung  gebracht,  indem  die  parallelen  Lehrsätze  über  die 
sich  entsprechenden  Gebilde  in  zweispaltig  bedruckten  Seiten  mitgetheilt  werden. 
Der  Satz  des  Cavalieri  erfährt  eingehende  streng  wissenschaftliche  Begrün- 
dung, sodann  aber  auch  ausgebreitete  Verwendung. 

Wir  hatten  schon  Gelegenheit,  das  Lehrbuch  des  Verfassers  für  Realschulen 
zn  besprechen  und  die  Vorzüge  zu  würdigen,  welche  bei  dessen  Abfassung  der 
Trigonometrie  und  analytischen  Geometrie  zutage  traten;  alle  diese  Vorzüge 
wusste  der  Verfasser  auch  seinem  Buche  für  die  Gymnasien  zu  bewahren,  ob- 
wol  die  eben  genannten  Theile  der  Mathematik  für  die  humanistischen  Anstalten 
viel  gedrängter  behandelt  sind  —  so  entfällt  namentlich  die  sphärische  Trigono- 
metrie gänzlich  und  von  der  Geometrie  der  Lage  wird  kaum  etwas  flüchtig 
angedeutet.  Dagegen  finden  wir  wieder  jene  wolerdachten  Figuren,  welche 
für  alle  Winkelgrößcu  eine  einheitliche  Ableitung  der  Formel  für  die  Functionen 
der  Summe  und  Differenz  zweier  Winkel  gestatten,  und  auch  jene  Figuren,  an 
welchen  die  Auflösungsformcln  der  Dreiecke  geometrisch  construirt  sind.  — 
In  der  analytischen  Geometrie  ist  die  Richtung  der  Drehnng  arithmetisch  fest- 
gehalten, indem  die  Drehung  entgegengesetzt  dem  Uhrzeiger  als  die  positive 


von  Winkelsymmetralen ,  deren  Verbindung  sodann  auf  die  symbolischen 
Formeln  führt. 

Die  beiden  Hefte  der  Übungsaufgaben  sind  dem  Lehrbuche  für  Obergymnasien 


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derart  angepaggt,  dass  die  Aufgaben  in  derselben  Weise  wie  das  Lehrbuch  ge- 
ordnet sind,  und  dass  Übungsheft  nach  Paragraphen,  Figuren  und  Zahlen  sich 
auf  das  Lehrbuch  bezieht,  so  dass  da»  eine  ohne  das  andere  kaum  zweckmäßig  ge- 
braucht werden  könnte.  Die  Sammlung  enthält  1541  Reispicle  und  ist  dem- 
nach eine  sehr  reichhaltige  zu  nennen;  auf  jeden  der  vier  Haupttheile  entfallen 
ungefähr  400  Nummern. 

Die  Verlagshandlung  hat  ihr  möglichstes  gethan  einerseits  für  eine  schöne 
und  sorgfältige  Ausstattung,  anderseits  für  einen  möglichst  billigen  Preis; 
es  verdient  daher  dieses  Buch  als  ein  in  jeder  Beziehung  musterhaftes  beste 
Empfehlung.  H.  £. 

Dr.  W.  Kriebel,  Schalinspector,  Ausgangspunkte  und  Ziele  des  geo- 
metrischen Unterrichtes  in  der  Volksschule.  54  S.  3.  Aufl 
Breslau,  Morgenstern.    50  Pf. 

Wir  haben  schon  bei  der  ersten  Auflage  vor  5  Jahren  bemerkt,  dass  der 
Titel  des  vorliegenden  Heftes  etwas  ganz  anderes  erwarten  lässt,  als  ge- 
boten wird;  der  Titel  scheint  auf  eine  Methodik  hinzuweisen,  der  Inhalt 
zeigt  sich  aber  als  ein  höchst  elementares  Lehrbuch  der  Geometrie.  Die 
„Unterstufe"  soll  die  Schüler  mit  dem  Gebrauch  von  Zirkel  und  Lineal  be- 
kannt machen,  will  also  im  ganzen  ein  propädeutischer  Unterricht  sein; 
dabei  kommen  jedoch  schon  auf  der  dritten  Seite  Winkel  „an"  Parallelen  zur 
Behandlung,  —  nicht  rzwischenM  Parallelen,  wie  dort  als  Aufschrift  unrichtig 
steht.  Sonderbarerweise  unterlässt  es  der  Verfasser,  der  Erklärung  der 
Winkel  an  Parallelen,  sowie  der  Eintheilung  der  Vierecke  eine  Figur  beizu- 
fügen, obwol  er  später  mit  den  Figuren  nicht  gerade  sparsam  ist.  Wir 
geben  für  den  propädeutischen  Unterricht  unbedingt  der  Darlegung  der  Be- 
ziehungen von  Linien  und  Figuren  an  Körpermodellen  den  Vorzug  und  sind 
auch  der  festen  Überzeugung,  dass  dieser  Vorgang  dem  Schüler  die  Sache  viel 
rascher  und  leichter  zum  Verständnisse  bringt,  als  der  vom  Verfasser  befolgte 
Vorgang. 

Die  „Mittelstufe"  setzt  den  geometrischen  Zeichenunterricht  fort  in  der 
Herstellung  von  Maßstäben,  in  der  Theilung  von  Strecken  und  Winkeln,  in 
der  Darstellung  von  regelmäßigen  Vielecken,  Ellipse u  u.  s.  w. 
..  Die  „Oberstufe"  beginnt  mit  der  Congrueuz,  bringt  etwas  Weniges  über  die 
Ähnlichkeit  und  geht  alsbald  über  zur  Berechnung  des  Inhalts  ebener  und  eisiger 
räumlicher  Gebilde.  Die  Figur,  welche  der  Verfasser  zur  Entwicklung  des  py- 
thagoräischen  Lehrsatzes  bringt,  ist  so  unbeholfen,  dass  sie  von  den  Schülern 
als  Eselsbrücke  bezeichnet  wird,  sie  wäre  daher  zweckmäßig  durch  eine  hand- 
samere, deren  es  sehr  viele  gibt,  zu  ersetzen.  Gleichfalls  unbeholfen  ist  die 
anf  Seite  42  angegebene  Art,  ein  regelmäßiges  Vieleck  zu  zeichnen,  und  auch 
unnöthig,  nachdem  schon  auf  Seite  28  ein  einfacherer  Vcrgang  dafür  gegeben 
ward.  Ohnehin  darf  angenommen  werden,  dass  der  Schüler  derart  zusammenge- 
setzte Coustructionen  rasch  vergisst  und  sich  beim  thatsächlicben  Bedarfe  entweder 
eines  Transporteurs  oder  der  versuchsweisen  Theilung  bedient.  —  Beim  Trapez 
und  beim  Ringausschnitt  kommen  Formeln  vor,  welche  der  algebraischen  Ortho- 
graphie ganz  zuwider  sind.  Ein  Verstoß  gegen  die  mathematische  Orthogra- 
phie ist  ein  viel  schwererer  Fehler  als  ein  Verstoß  gegen  die  sprachliche :  letzterer 
kann  den  Leser  höchstens  zu  der  Bemerkung  veranlassen,  dass  die  Recht- 
schreibung des  Verfasserseine  ungebräuchliche  sei;  ersterer  aber  veranlasst  den 
Leser  unbedingt  zu  einem  sachlichen  Irrthum  bezüglich  der  Ausführung  und 
Richtigkeit  einer  Rechnung.  Wenn  das  Büchlein  trotz  geringen  Inhaltes  und 
mangelhafter  Ausführung  es  doch  zur  dritten  Auflage  gebracht  hat,  so  sind 
die  Ursachen  dieser  Erscheinung  jedenfalls  wo  anders  zu  suchen,  als  im  Werte 
des  Gebotenen.  H.  E. 


Veramwortl.  Redwtenr  Dr.  Friedrich  Ditto».    Bocbdnickerei  Jnlim  Kliokhtrdt,  Leipzig. 

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gür  Abiturienten,  Sdmlamt^Staubibateu  unb 
Afpiranten  ber  ÜNittcljdmüc In  n unb  'Httto- 
rat£J*rüfung  empfel)le  bir  in  meinen  SSerlag 
übergegangenen,  burd)  bie  päbagogifdje  treffe 
Pielfeitig  beftenS  empfohlenen: 

(»'•jrtuiifii-iiiitriiiiöiitfii. 

^epefiftotiölrndjer 


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3ogünge  Ijfltjerfr  ilntfrridjtsf.ndaltfn  u.  Giranten 
Ufr  pttteifdjullfljrfr-  bt\m.  gektoratsprüfung 


Düll 


Dr.  Mmumiu  v>offmciftcv. 

4>eft  1 :  Sai  pofitibe  SBiffen  in  b.  Religion. 

2.  «erb.  Auflage  ....    SJi.  2,40 

„  2:  £eutfd)e  Spradje  unb  iHtteratur  „  3,50 

„  3:  $äbagogif.   2.  perb.  Auflage  .  „  2,— 

„  4:  Allgemeine  2Beltgefd)id)te     .    .  „  3,— 

„  ö:  2>eutfdje  ffutrurge?d)id)te  .   .   .  „  3,— 

„  6:  5Jranbenb.«prcu&.  (ifefdjirfitc     .  „  2,25 

„  7:  ©cograptjte  „  3,50 

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3u  belieben  burd)  alle  iöucfjbanblungen,  bed) 
ift  bie  unterzeichnete  $erlagt?bud)banblung  gern 
bereit,  bei  Pödinger  &injal)Iung  ober  (Sinjen- 
"bang  von  SBriefmarfen  (aud)  eitt$elnc  ^äubcfyen!) 
bfreft  unb  franfo  ju  überienbeu. 

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3n  meinem  Berlage  ift  foeben  erfdjienen  : 

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eines  tudjtigen,  altbemäbrten  Sd)ulmanneä  nun 
ben  mand)  jüngerem  üetjrer  ali  I Hilfsmittel  üor- 
trefflidje  3>ienftc  leiften. 
$a$  $udj  enthält: 

I.  Sieben  pr  Sdjulentlaffung.  (12.) 

II.  Sieben  bei  Ghriftbefdjerungen.  (2.) 

III.  ^atriotifdje  Sieben.  (3.) 

IV.  Sieben  beim  AmtSroedjfcl.  (4.) 

V.  Söeitjcreben  bei  ber  (£rrid)tung  neuer  Sdjul« 

gebäube.  (8.) 
VI.  Slonferenjreben.  (2.) 

Wegen  (Sinfenbung  be$  33eirageö  erfolgt  ftraufo« 
3uienbung.  ' 
tvci|ijifl.  3uiiu6  Mlinfbarbt. 


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Auflacm.  Vonrl.  Stirb  a.  Ilrurk,  »tarkf«  Papier.  —  Klrcant  aas- 
CntatUtf  AlhuniM  i  l.iO,  midirt  von  Kit  mann.  Jadas- 
Dohnftr.  —  drbundrnr  Jlnsik,  allrr  r'.dilioara.  —  Hamariatlca. 

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Gesellschaft  und  im  öiientl.  Leben  von  Frans  Ebhardt,  12.  vorb.  Aufl.  Prachtwerls 
in  8".  Gedr.  in  i  Karb.  a.  Velinpap.  ra.  viel.Vign.  47  Hui;.  >-lo^.  ^cb.m.Goldf<  ha.  10  Mk. 

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8«.  XXVI.  487  S.    Preis  2  Mk.  50  Pf. 
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Leipzig. 

Julius  klinklianlt. 


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Pungs)  in  Mülheim  ad.  Ruhr  ist  soeben 
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Der  Gesinnungsunterricht 

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einem  neuen  Anhang  über  ba$  9lltbeutjd;e 
in  ber  Sdmlc. 

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8«.  clcfl.  ßcb.  fttii  80  yi,  cltfl.  fort.  1  SR. 
$iefe  neue  Auflage  beS  altbtfanuten  Spiel- 
budjeS,  njel(he$  in  neuefter  $tit  oielfadje  Shirt- 
atymungen  gefunben,  bat  infolge  beS  t>.  ©ojjitr 
l'djen  förlaffeS  nom  27.  Dttober  1882  eine  tou» 
ftänbige  Umarbeitung  unb  Srtoettcrung  erfahren 
unb  aroar  bauptiädjlid)  auf  bem  ©ebieit  btr 
fog.  Xurnfpiete.  SBäbrenb  bie  früheren  Äni 
lagen  nur  122  Hummern  jaulten,  ift  bie  cor 
(iegenbe  neue  auf  150  Sümmern  erb^bl  warben 
unb  bringt  in  georbneter  3«famn»rnM»n3 
30  Sing»  unb  flieberfpiele  für  baS  fiinbergarten* 
alter,  21  Spiele  für  äuaben  unb  SJcäbdKH  int 
Alter  bi$  ga  9  %a\)xtn,  39  Xurn«  unb  anbere 
Spiele  für  Änaben  unb  10  Spiele  für  SKfflxben 
über  9  ^abjen,  ferner  44  ©efellicbaftSfpiele; 
aufeerbem  44  $fanbau$löfungcn,  50  Sjejier»  unb 
ftätfelfragen,  eine  2ln*abl  vu-wjtii  äBorte,  fooit 
Anleitung  ju  .'pauSmuieen  unb  ©artenfreuben 
ber  3ugenb;  enblid)  einen  Pollftänbigen  &hr< 
plan  für  ben  Xurnuntcrrirht  in  ber  SoßSjdjule 
für  Ätnaben  unb  äRäbdjen. 

$egen  Ginfenbung  be$  entfallenben  Würatf 
in  iöriefmarfen  bin  idj  gern  ju  bitefter  franhertrr 
ftufenbung  bereit. 
Seipjig  u.  SBcrlin  W.^35  (£ü|ojr^.n)- 

Hierzu  vier  Beilagen:  1.  von  Franz  Goerlich  in  Breslau.   2.  von  Georg  Lang  in  Leipzig. 
3.  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig.    4.  von  F.  Soennecken's  Verlag  in  Bonn. 


von 

Herin.  Redeker  und  Wilh.  Piltz. 

10»/,  Bogen.    Preis  IL  1.50. 

Schou  seit  zwei  Jahrzehnten  wogt  der  { 
Kampf  um  die  Lehrplantheorie,  uud  noch 
immer  ist  derselbe  nicht  entschieden;  noch 
immer  stehen  sich  die  Parteien  sehr  oft  gegen- 
über, auf  der  einen  Seite  die  Anhauger  des  j 
Beigebrachten,  auf  der  andern  Seite  die  An- 
hänger der  Zilb  tschen  Schule. 

Wer  spricht  das  versöhnende, 
vermittelnde  Wort? 

Obige  .Schrift  hat  sich  diese  Aufgabe  ge- 
stellt und  sucht  dieselbe  nicht  nur  theore- 
tisch, sondern  auch  praktisch  zu  läsen. 


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Paedagogium. 

Monatsschrift 

für 

Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 

Dr.  .Friedi-ioli  Dittea. 


XIV.  Jahrgang. 
9.  Heft,  Juni  1891 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 


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Inhalt  des  9.  Heftes. 


Seit« 

Das  Gewissen  und  seine  Pflege.  Von  August  Böhm- Königsberg  in  Ost- 
preußen   641 

Aus  der  Geschichte  der  Taubstummenbildung.   Von  Dr.  H.  Morf-Winterthur.  55t 

Die  Lehrer  und  die  Presse.   Von  Rector  A.  Gild-  Kassel   568 

Lehrers  Erdenwallfahrt.   Ein  Sang  von  Leid  und  Lust  des  Lehrerlebens  von 

K.  Albert   571 

Pädagogische  Rundschau.  Deutsches  Reich.  —  Aus  Sachsen.  —  B.  Vom  deut- 
schen Ostseestrand.  —  Aus  Preußen.  —  Aus  Westfalen.  —  Aus  Ham- 
burg. —  Aus  Bayern.  —  Aus  Österreich.  —  Aus  der  Schweiz.    .    .    .  580 

Aus  der  Fachpresse   597 

Eeceusionen   601 


>Prtit  pro  Quartal  M.  2.25. 
Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten  nehmen  Bestellungen  an. 


4 


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Das  Gewissen  und  seine  Pflege. 

Von  August  Böhm- Königsberg  in  Ostpreußen. 

In  seinem  neuesten  Essay:  „Ansichten  über  Social politik  des 
Staates",  führt  Herbert  Spencer  sehr  treffend  das  Folgende  aus: 
„.  .  .  .  Der  menschliche  Charakter  ist  das  Resultat  einer  viel  tausend- 
jährigen Geschichte,  in  der  die  Menschheit  sich  allmählich  aus  dem 
antisocialen  Zustande  ewiger  Kriege  zu  dem  heutigen  vergleichsweisen 
socialen  Zustande  emporgeschwungen  hat.  Eine  Menge  von  Zügen, 
die  in  jenen  vergangenen  Zeiten  wilder  Kämpfe  und  ungezügelter 
Leidenschaften  sich  ausgebildet  haben  und  damals  den  Menschen  zur 
Behauptung  im  Kampfe  ums  Dasein  geschickt  machten,  belasten  ihn 
noch  heute  und  bilden  die  Quelle  des  meisten  Elends  und  Unfriedens 
in  der  Gesellschaft"  — 

Ein  logischer  Irrthum  oder  verbissener  Pessimismus  bewog  ihn 
aber  dazu,  hinzuzufügen:  „Erziehen,  Predigen  hilft  hier  so  gut  wie 
nichts,  und  menschliche  Weisheit  ist  hier  ohnmächtig;  wirksam  ist 
nur  die  ununterbrochene,  langsame  und  grausame  Zucht,  die  durch 
die  Natur  der  Verhältnisse  geübt  wird."  —  Er  begeht  hier  offenbar 
den  Fehler,  dass  er  die  durch  Nachlässigkeit,  Zuchtlosigkeit  und 
Schlaffheit  der  führenden  Mächte  eines  Volkes  geschaffenen  Verhält- 
nisse mit  den  durch  Um-  und  Vorsicht,  sittlichen  Ernst  und  aus- 
harrende Treue  erstrebten  in  einen  Topf  wirft  und  außer  acht  lässt, 
wie  die  letzteren,  wenn  auch  sehr  langsam,  doch  schließlich  den  Sieg 
über  die  ersteren  errungen  haben. 

Wie  viel  elender  würde  es  aber  in  der  Welt  aussehen,  wenn 
Familie,  Schule,  Kirche  und  Staat  sich  jeder  Einwirkung  zum  Besseren 
enthalten,  wenn  Presse,  Wissenschaft  und  Kunst  muthlos  jedes  ver- 
edelnde Bestreben  unterlassen  und  alle  Bessergesinnten  die  Stimme 
der  Erfahrung  und  Vernunft  auf  der  ganzen  Linie  verstummen  lassen 
wollten!  Im  Gegentheil:  je  ernster  die  Zeit  —  und  unsere  ist  wahrlich 

Pädagogium.   14.  Jahrg.  Heft  IX.  38 


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—    542  — 

ernst  genug!  —  desto  eifriger  müssen  die  Vorkehrungen  zu  sittlicher 
Erstarkung  geprüft  und  nach  Befund  zur  Anwendung  gebracht  werden. 

Sehr  schwer  ist  es  aber,  die  richtigen  Heilmittel  herauszufinden 
in  einer  Zeit,  in  der  die  alten  Autoritäten  fast  durchweg  wanken, 
weil  ihre  Stutzen,  die  blinde  Furcht  und  die  Unfähigkeit  der  Menge 
zu  selbstständigem  Denken,  mit  ihnen  zugleich  zu  verschwinden  im 
Begriffe  sind.  —  Nachdem  man  lange  die  Hilfe  in  einseitiger  Pflege 
des  Intellects  gesucht,  allmählich  aber  gefunden  hat,  dass  die  Mehr- 
zahl der  so  Erzogenen  zu  herzloser  Selbstsucht,  sittlicher  Ode,  wo 
nicht  gar  zu  raffinirtem  Spitzbubenthum  heranreifte;  nachdem  man 
ferner  den  etwas  schüchternen  Versuch  der  Zurückschraubung  der 
Menschheit  in  die  alte  knechtende  Dummheit  aufgegeben  hat,  da  statt 
der  gewünschten  bescheidenen  Einfalt  eine  roh-thierische  Gleichgütig- 
keit  sich  einstellen  wollte,  will  man  es  jetzt  wieder  einmal  mit  der 
Kirche  versuchen,  stellt  reumüthig  alle  seit  Jahren  gegen  die  katho- 
lische Geistlichkeit  gebranchten  Waffen  beiseite  und  versieht  sie  wie 
die  evangelische  Kirche  mit  ungeahnt  reichen  Geldmitteln  und  den 
weitestgehenden  Machtbefugnissen  über  die  Schule.  —  Ob  es  helfen 

wird?  Wir  bezweifeln  es,  solange  die  Kirche  selbst  nicht  einen 

Schritt  vorwärts  thut,  um  sich  die  Theilnahme  aller,  auch  der  Ge- 
bildeten zu  erringen.  Und  so  bleibt  denn  vorläufig  die  abermals  in 
unverdiente  Fesseln  geschlagene  Schule  der  wichtigste  Factor  für  die 
Hebung  der  menschlichen  Gesellschaft  aus  dem  Sumpfe  der  Selbst- 
sucht und  Genusswuth  unserer  Tage.  Dieser  aber  ist  hierfür  kein 
anderes  Mittel  so  zu  empfehlen  als  die  Kräftigung  und  Ausbildung 
der  im  Innern  jedes  Kindes  schlummernden  Autorität:  des  Gewissens. 

Zunächst  nun  einige  Worte  über  dieses  selbst. 

Das  Wort  „Gewissen"  ist  seinem  Stamme  nach  von  dem  Worte 
„wissen"  abgeleitet,  während  seine  Vorsilbe  so  viel  wie  „mit"  oder  „zu- 
sammen" bedeutet.  —  Lange  kannte  man  dies  Wort  gar  nicht;  denn 
die  alten  Griechen  sprachen  nicht  vom  Gewissen,  sondern  von  Erinnyen 
(Furien),  welche  die  Bösen  plagen  sollten.  Erst  kurz  vor  ihrem  Ver- 
falle kamen  sie  der  Wahrheit  näher,  und  ihre  Sophisten  lehrten:  „Der 
Mensch  ist  das  Maß  aller  Dinge",  während  Sokrates  den  tiefsinnigen 
Satz  aussprach:  „Die  Tugend  ist  ein  Wissen;  nur  was  mit  dem  vollen 
Bewusstsein  des  sittlichen  Gesetzes  geschieht,  ist  gut,  und  wer  die 
Tugend  wirklich  in  ihrem  Wesen  erkannt  hat,  der  muss  noth wendig 
auch  tugendhaft  sein."  —  Unter  den  Römern  waren  es  besonders 
Cicero  und  Seneca,  welche  sehr  treffend  die  innerlich  mahnende  Stimme 
des  Gewissens  durch  ihre  Aussprüche  verdeutlichten;  denn  ersterer 


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—   543  — 


sprach  das  Wort:  „Jeden  qaält  seine  Bosheit",  und  Seneca  meinte: 
.Ein  sacer  Spiritus,  eine  heilige  Hegung,  ein  von  der  Gottheit  stam- 
mender Zug  der  Seele  wohnt  in  uns  als  ein  Beobachter  und  Wächter 
über  Gutes  und  Böses."  Aber  erst  dem  unV  ihre  Zeit  lebenden  Apostel 
Paulus  kam  der  rechte  Ausdruck  dessen,  was  sie  fühlten,  indem  er 
aus  Korinth  an  die  Christen  in  Rom  von  den  Heiden  schrieb,  „die 
das  Gesetz  nicht  haben  und  doch  von  Natur  thun  des  Gesetzes  Werk, 

....  sintemal  ihr  Gewissen  sie  bezeuget."  Und  seitdem  spricht 

man  häufig  vom  Gewissen,  so  häufig,  dass  man  oft  ganz  vergisst,  sich 
der  Bekanntschaft  mit  dem  Wesen  desselben  zu  befleißigen. 

Bekanntlich  fuhrt  ein  Wissenwollen  zu  jeder  Seelenthätigkeit; 
ohne  dieses  gäbe  es  keine  Wissenschaft,  keine  Lust  am  Schonen, 
keine  Kunst,  kein  Recht,  keine  Sittlichkeit,  keine  Religion.  Neben 
diesem  Wissenwollen  geht  der  menschliche  Grundtrieb  auf  ein  Ver- 
langen, ein  Streben  nach  einem  Gut,  welches  je  nach  der  Indivi- 
dualität des  Menschen  von  tausendfacher  Art  sein  kann.  —  In  dieses 
oft  widerstreitende  Triebleben  sucht  ein  uns  angeborener  Zug  Ordnung 
zu  schaffen,  was  bei  den  durchweg  sinnlichen  Bedürfhissen  der  Thiere 
nicht  der  Fall  ist.  Bei  ihnen  ist  daher  kein  innerer  Conflict,  er  sei 
denn  durch  Eingriffe  der  Menschen  ihnen  anerzogen.  Dies  Ordnen 
ist  neben  dem  logischen  Denken  auch  das  dem  Menschen  Charakte- 
ristische. Gewöhnlich  gelangt  dieser  Ordnungssinn  bei  ihm  auch  zur 
Herrschaft  über  alle  anderen  Triebe,  würde  aber,  da  der  ordnende 
Intellect  an  und  für  sich  interesselos  ist,  noch  wertlos  bleiben,  wenn 
im  Menschen  daneben  nicht  noch  ein  sittliches  Princip  wohnte,  das 
den  Ausgleich  der  selbstischen  mit  den  geselligen  Neigungen,  ein 
Unterordnen  der  Sinnlichkeit  unter  den  Geist  anstrebte.  Dieses  Princip 
ist  uns  offenbar  angeboren  und  als  ein  wesentliches  Gattungsmerkmal 
des  Menschen  anzusehen.  Selbst  bei  den  allerrohesten  Völkern  der 
Erde,  sogar  bei  den  Menschenfressern  finden  wir  es;  denn  bei  ihnen 
auch  gilt  eine  Unterwerfung  aller  unter  einen  Gebrauch,  unter  eine 
Ordnung.  Auch  sie  verachten  Feigheit,  Verlogenheit  u.  a.  m.  und 
ehren  Muth,  Verachtung  von  Schmerz,  Mühe  und  Geduld  bei  Ein- 
übung ihrer  Fertigkeiten  u.  dergl.  —  Und  von  diesen  Anfängen  an 
ist,  das  steht  fest,  das  sittliche  Princip  bildend  gewesen  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  bis  zur  Gestaltung  des  jetzigen  ästhetischen  Geschmackes 
in  allen  Künsten.  Die  von  diesem  Princip  gelenkten  Triebe  sind  zwar 
noch  kein  Gewissen,  bilden  aber  seinen  wichtigsten  Bestandteil;  denn 
zu  diesem  Angeborenen  tritt  nach  und  nach  eine  Gewinnung  von  fest 

und  immer  fester  werdenden  Normen  oder  Gesetzen  für  jedes  Indivi- 

38* 


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—  544 


duum,  zugleich  angepasst  dem  jeweiligen  Zeitgeiste.  Das  Ganze  dieser 
sittlichen  Vorstellungen  lagert  sich  schließlich  als  Richtschnur  für 
unser  Handeln  im  Gewissen  ab.  Das  Gewissen  ist  also  das  Gefühl 
einer  inneren  Nöthigung,  unser  Wollen  und  Handeln  nach  dem  Mafi- 
stabe der  von  uns  als  verpflichtend  vorgefundenen  und  anerkannten 
Normen  zu  prüfen  und  zu  richten. 

Bevor  ich  nun  zu  den  Ausführungen  über  die  Pflege  des  Ge- 
wissens übergehe,  möchte  ich  noch  zwei  Irrthümer  in  Bezug  auf  das- 
selbe widerlegen.  Der  eine  ist  der,  dass  man  annimmt,  das  Gewissen 
könne  irren;  er  beruht  aber  entschieden  darauf,  dass  man  von  einer 
falschen  Norm  aus  urtheilt  oder  logisch  falsch  schließt,  und  es  liegt 
dann  eben  ein  Irrthum  des  Verstandes  vor,  der  nicht  überlegend 
genug  eingriff.  Man  kann  also  wirklich  einmal  die  thörichteste  und 
verfehlteste  Handlung  mit  ganz  ruhigem  Gewissen  begehen  und  die 
vernünftigste,  ja  allein  richtige  nicht  ohne  vorhergängige  Einrede  und 
Beunruhigung  des  Gewissens.  —  Einen  anderen  Irrthum  begeht  man, 
indem  man  einen  Unterschied  zwischen  einem  bösen  und  guten  Ge- 
wissen macht  Er  hat  sich  jedenfalls  durch  einen  bloßen  Sprachgebrauch 
eingenistet;  denn  wenn  das  Gewissen  nach  unserer  oberflächlichen 
Meinung  so  recht  böse  zu  sein  scheint,  so  übt  es  seine  Function 
gerade  recht  gut  und  vollkommen  aus.  Es  geht  eben  mit  dem  Gewissen 
wie  mit  der  Gesundheit;  diese  ist  da,  wenn  kein  Schmerz  gefühlt  wird; 
das  Gewissen  ist  gut,  besser  ruhig,  wenn  es  nichts  Böses  zu  ver- 
neinen hat  Und  es  ist  übrigens  doch  eine  recht  gnädige  Einrichtung, 
dass  das  Gewissen  sich  auch  des  Institutes  der  Verjährung  und  Amnestie 

befleißigt,  sonst  kämen  wir  doch  wol  vor  ewiger  Unruhe  um.  — 

Wol  alle  Menschen  haben  ein  Gewissen;  das  nahmen  denn  auch  bisher 
alle  Gesetzgeber  an,  —  und  man  rüttle,  ganz  besonders  Charakter- 
schwachen gegenüber,  an  dieser  Wahrheit  nicht,  sonst  nimmt  bei  ihnen 
das  Entschuldigen  kein  Ende  —  aber  die  im  Leben  allmählich  ge- 
wonnenen Nonnen  sind  offenbar  sehr  verschieden,  je  nach  der  Bildungs- 
stufe, dem  Zeitalter,  dem  Volk  und  der  Individualität.  Das  Gewissen 
kann  also  ausgebildet  werden. 

So  tröstlich  diese  Gewissheit  auch  ist:  sie  hält  uns  Erziehern  zu- 
gleich eine  Pflicht  vor,  wie  sie  schwieliger  kaum  gedacht  werden 
kann.  —  0,  wie  athmet  selbst  mancher  ganz  gewissenhafte  Lehrer 
auf,  wenn  er  bei  einem  Überblick  des  vorgeschriebenen  Jahrespensums 
findet,  dass  dem  da  geforderten  Soll  gegenüber  ein  ziemlich  deckendes 
Haben  von  ihm  aufgewiesen  werden  kann;  und  doch  ist  seine  Pflicht 
damit  nur  dem  Äußeren  nach  erfüllt:  gerade  die  Hauptsache  will  aus 


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—   545  — 


der  Haltung  der  Classe  in  und  außer  der  Schule,  aus  der  Lebens- 
auffassung und  Lebenshaltung  der  schon  Erwachsenen  unter  seinen 
Schülern  herausstudirt  werden.  — 

„Nun,  damit  hat  es  gute  Wege",  meint  gewiss  mancher  städtische 
Lehrer,  der  an  einem  Schulungeheuer  von  zwölf,  achtzehn  und  mehr 
Classen  arbeitet  und  womöglich  in  der  Hälfte  derselben  zu  thuu 
hat  Und  leider  kann  er  es  sagen;  denn  wer  will  da  noch  nach- 
weisen, welches  seine  Schüler  sind?!  —  Niemand,  —  auch  der  Ge- 
wissenhafteste nicht,  —  kann  da  noch  eine  einheitliche  Einwirkung 
auf  die  Schüler  ausüben,  die  nach  drei  bis  vier  Schuljahren  von  der 
tiefsten  Bedeutung  vor  ihm  auftauchen,  um  nach  etwa  einem  Jahre 
bereits  wieder  aus  seinem  Gesichtskreise  unter  den  tausend  und  mehr 
seiner  Schüler  für  lange  oder  immer  zu  verschwinden,  die  gewöhnlich 
10  bis  20  und  mehr  Lehrer  gehabt  haben,  von  denen  jeder  nach  seiner 
Weise  an  ihnen  arbeitete!!  —  Allerweltsfreunde  und  wahre  Chamäleons- 
naturen  können  da  meistens  gezeitigt  werden,  auch  wenn  ein  solches 
Schulungethüm  den  tüchtigsten  Rector  hat,  der  auf  ein  ziemlich  ein- 
heitliches Verfahren  sein  Augenmerk  richtet.  —  Ja,  wie  sieht  es  damit 
aber  in  Wahrheit  aus?  —  Und  wie  kann  es  damit  aussehen  in  einer 
Stadt  von  150000  bis  300000  Einwohnern,  deren  Schulleitung  mit 
ihrem  Ungeheuern  Wust  von  Bureaukratismus  und  tausendfaltigen 
persönlichen  Bestrebungen  und  Wühlereien  im  Grunde  einem  Manne, 
dem  Stadtschulrath  von  „classisch-humanistischer  Sorte"  in  die  Hand 
gegeben  ist?!  —  —  Wollte  man  dieses  Tohuwabohu  einigermaßen 
scharf  beleuchten,  so  könnte  man  Bücher  voll  der  schrecklichsten 
Dinge  berichten.  Also  fort  davon!  —  Freue  dich  darum,  du  scheinbar 
annseliges  Landschulmeisterlein;  denn  du  hast  keine  Ahnung  von  dem, 
was  gerade  manchem  tüchtigen  und  charakterfesten  städtischen  Collegen 
die  Seele  zerreißen  muss,  kannst  zeigen  auf  diesen  und  jenen  deiner 
ehemaligen  Schüler  und  mit  Freude  und  Genugthuung  sagen:  Das  ist 
einer  meiner  Schüler,  sein  Werden  nach  dem  Geist  ist  mein  Werk!  — 

Wie  kann  nun  aber  das  Gewissen  des  Schülers  gekräftigt  und 
gut  ausgebildet  werden? 

Es  geschieht  dies  einmal  durch  Stärkung  jenes  angeborenen  sitt- 
lichen Princips.  Wer  sie  bewirken  will,  muss  sich  selbst  auf  den  Boden 
des  Guten  und  Rechten  stellen,  sonst  verletzt  er  täglich  und  stündlich 
die  zarten  Anlagen  des  seelischen  Keimpflänzchens  in  seinen  Zöglingen; 
sonst  verliert  er  mehr  und  mehr  alle  jene  unsichtbaren  Anknüpfungs- 
punkte zwischen  sich  und  den  zartbesaiteten  Kinderherzen.  —  Wei- 
das vermag,  der  braucht  sich  über  das  Wie  nicht  ängstlich  den  Kopf 


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—    546  - 

zu  zerbrechen:  seine  Schüler  hängen  an  ihm  mit  den  Augen  und  Herzen; 
sie  stellen  sich  auf  seine  Seite,  wenn  er  das  Schlechte  um  sie  her 
verdammt,  und  athmen  dankerfüllt  auf,  wenn  er  sich  für  das  Gute 
erhebt. 

Zum  andern  hilft  man  dem  Gewissen  der  Schuler  dadurch  auf, 
dass  man  sie  nach  und  nach  daran  gewöhnt,  auf  sich  selbst  zu  merken, 
wolverstanden:  der  einzelne  auf  sich  selbst  Wie  delicat  muss  aber 
diese  Sache  angefangen  werden,  wenn  man  nicht  mehr  verderben  als 
gutmachen  will.  —  Soll  doch  die  Jugend  ihre  Freude,  der  Jüngling 
seine  Lust  haben!  Weiß  man  doch,  wie  verderblich  der  Jesuitenorden 
gerade  auf  diesem  Gebiete  gewirkt  hat!  —  Und  doch  muss  es  gewagt 
und  gemacht  werden;  denn  ohne  innere  Einkehr  keine  Auskehr  der 
im  Innern  bereits  vernestelten  Untugenden.  —  Ich  sagte  schon,  dass 
man  sie  nach  und  nach  daran  gewöhnen  muss:  immer  milde,  aber 
dringend,  immer  mit  freudigem  Hoffen  auf  ein  gutes  Gelingen,  stets 
mit  Genugthuung  über  das  schon  Gewonnene,  mit  sieggewisser  Stim- 
mung dem  noch  zu  Überwältigenden  gegenüber,  bis  man  scldießlicb 
von  dem  Schüler  weniger  als  Lehrer,  denn  als  Freund,  weniger  als 
kühldenkender  Arzt,  denn  als  bewährter  Mitkämpfer  anerkannt  wird. 

Man  muss  ferner  das  Gewissen  der  Schüler  dadurch  auszubilden 
suchen,  dass  man  ihnen  fortgesetzt  aber  mit  Maßen  richtige  Nonnen 
bietet  und  auf  stete  Beachtung  derselben  hält.  Ein  paar  Stichwörter, 
mit  Beharrlichkeit  an  der  richtigen  Stelle  eingesetzt,  wirken  mehr 
als  hundert  langathmige  Lehren  und  Gesetze. 

Auch  glaube  man  ja  nicht,  dass  der  Stoff  und  die  Sache  selbst 
schon  zwingend  und  unentwegt  eine  veredelnde  Wirkung  ausüben  und 
alles  zum  Besten  kehren  wird!  —  0,  wie  manches  Gebotene  wird 
noch  nicht  erfasst  oder  nicht  hinreichend  gewürdigt  und  oft  nur,  weil 
die  innere  Theünahme  des  Anbietenden  keinen  treffenden,  packenden 
Ausdruck  fand.  Und  wie  oft  hat  man  in  Prüfungsfällen  keine  Zeit 
oder  Lust  mehr  dazu,  langwierige  und  tiefe  Betrachtungen  über  die 
sich  aufdrängende  Angelegenheit  anzustellen,  und  nur  das  glückliche 
Auftauchen  eines  so  oft  als  treffend  anerkannten  Wortes  brachte  die 
Rettung  vor  übereilter,  imbedachter  That.  Man  biete  den  Kindern 
auch  nur  solche  Normen,  die  einem  aus  dem  Herzen  kommen,  und 
nicht  solche,  welche  als  landläufige  Redensarten  bereits  bis  zum  Über- 
druss  gehört  sind  und  daher  verdächtig  oder  doch  abstoßend  wirken 
könnten. 

Erst  bei  vorgeschritteneren  Schülern  wage  man  es,  durch  An- 
legung eines  höheren  Maßstabes  die  sittlichen  Begriffe  seiner  Schüler 


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—    547  — 


zu  erweitern  und  zu  verfeinern.  Hierbei  ist  jedoch  gleichfalls  die 
größte  Vorsicht  zu  gebrauchen,  da  man  eben  nie  vergessen  darf,  dass 
man  es  mit  Kindern,  also  mit  Wesen  zu  thun  hat,  denen  sich  meistens 
erst  nach  dem  Austritte  aus  der  Schule  der  volle  Ernst  des  Lebens 
zu  erschließen  pflegt.  Hier  ist  meistens  ein  aufrichtiges  Wort  über 
selbst  erlebte  sittliche  Schwierigkeiten  mehr  am  Platze  als  gewisse 
Warnungen,  die  gerade  unbeabsichtigte  Unterweisungen  im  Bösen 
werden  können.  —  Wie  viel  Segen  würde  in  Bezug  auf  das  eben 
erwähnte  Mittel  zur  Gewissenspflege  eine  den  Zielen  nach  gleichartige, 
aber  nach  und  nach  sich  immer  zwangsloser  gestaltende  Fortbildungs- 
schule, die  sich  gleich  an  die  regelrechte  Schulzeit  anschließt,  schaffen! 
Erst  einem  Jünglinge  kann  man  mit  Erfolg  zurufen:  „Werde  ein 
Charakter'/  oder  „Wer  im  Geckenaufputz  einhergeht,  ist  eine  wan- 
delnde Lüge."  Und  der  Jungfrau:  „Unter  dem  Halbweltsflitter  leidet 
jede  Anmuth,  wie  jede  wahre  Schönheit,"  „Das  Äußere  muss  mit  dem 
Innern,  die  Kleidung  mit  der  Bildung  und  dem  Stande  übereinstimmen." 
Diesem  Alter  ruft  mau  eher  mit  Erfolg  ins  Gewissen:  „Jeder  hat  nur 
einen  Platz,  den  möge  er  gut  ausfüllen."  „Niemand  darf  wähnen, 
dass  er  in  dem  Mittelpunkte  des  Weltganzen  stehe."  „Wer  seine 
Affecte  noch  nicht  beherrscht,  der  sitzt  noch  tief  in  der  Knechtschaft," 
„Nicht  das  Behagen  des  Menschen,  sondern  seine  Pflicht  ist  der 
Zweck,  wohin  alles  tendirt."  „Edel  sei  der  Mensch,  hilfreich  und 
gut,"  —  Fort  also  mit  den  zu  spät  einsetzenden  Fortbildungsschulen, 
deren  Besuch  erst  erzwungen  wird,  wenn  eine  unheilvolle  Verwilde- 
rung bei  der  Jugend  eingerissen  ist,  und  die  außerdem  nichts  Gemüth- 
bildendes  bietet! 

Ein  ganz  besonders  erfolgreiches  Mittel  zur  Pflege  des  Gewissens 
ist  die  Erziehung  zur  Pietät  vor  allem  Großen  aller  Völker  und 
Zeiten.  Da  mir  das  Thema  nicht  gestattet,  mich  hierüber  eingehend 
zu  verbreiten,  so  deute  ich  das  Große  nur  an  mit  dem  Herzens  wünsche: 

Griechen  Schönheit,  keusch  und  wahr, 
Römer  recht,  parteilos,  klar, 
Briten praktik,  fest  und  gut, 
Deutsches  Wiesen,  deutscher  Muth, 
Galliens  Liebreiz,  gei  st  durchtränkt, 
Christen  lieb,  durch  nichts  beschränkt  , 
Nordlands  anspruchsloses  Wesen: 
Machet  doch  die  Welt  genesen! 

Aber  auch  durch  Gewöhnung  zur  Pietät  gegen  den  Einzelnen 
muss  das  Gewissen  geschärft  werden;  denn  „die  Ehrfurcht  bewirkt", 


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—    548  — 


sagt  Dr.  Paul  Güßfeld,  „dass  das  Kind  gehorsam  sein  will,  und  so  wird 
Gehorsam  das  Ziel  seines  Willens  und  nicht  dessen  Geißel.4*  Diese 
Ehrfurcht  vor  der  einzelnen  Persönlichkeit  ist  aber  heute  ein  gar 
seltenes  Ding;  denn  Leute,  die  alles  von  ihnen  bisher  Hochgeschätzte 
zusammenbrechen  oder  doch  wanken  sehen,  sind  sehr  geneigt,  auch 
die  achtenswerteste  Persönlichkeit  mit  einem  einzigen  Worte  gleichsam 
abzuthun  und  den  nun  gar,  der  in  eigenster  Weise  die  Welt  an- 
schaut und  auf  eigene  Weise  sich  mit  ihr  abfindet,  eben  weil  er  nicht 
zu  der  Dutzendware  und  den  oberflächlichen  Allerweltsfreunden 
gehört,  zu  verlachen  und  zu  besudeln.  —  Auch  das  begabteste  Kind 
muss  zur  Achtung  anderer  und  die  Menge  dahin  gebracht  werden,  dass 
sie  nicht  schamlos  dasjenige  bekrittelt,  was  mit  Ehrfurcht  und  Hoch- 
achtung angesehen  werden  will,  sondern  umgekehrt  jeden,  der  in 
seiner  Anlage  etwas  Großes  verspricht,  in  Selbstverleugnung  zu  heben 
und  zu  halten  trachtet. 

Ein  jeder  Mensch:  ein  einzig  Wesen, 
Das  so  zu  achten  ist  wie  du; 
Er  mag  sich  frei  sein  Ziel  erlesen, 
Führ'  frei  es  der  Vollendung  zu. 
Dem  wird  sein  Werk  wol  niemals  glücken, 
Der  sich  dabei  devot  muss  bücken. 

Ein  jeder  wünscht  ein  eignes  Streben, 
Weil  jeder  anders  sieht  die  Welt. 
Durch  vieler  eigenart'ges  Weben 
Wird  Harmonie  erst  hergestellt. 
Es  ist  hier  keineswegs  vonnöthen, 
Dass  alle  deine  Wege  kneten. 

Willst  du  die  Freunde  stets  nur  lenkeu, 
Wirst  du  gefttrehtet ,  nicht  geliebt; 
Indes  sie  dem  die  Führung  schenken, 
Der,  hochbegabt,  doch  Demuth  übt. 
Wie  tröstlich,  wenn  in  Kainpfeszeiten 
Erprobte  Kämpfer  dich  begleiten! 

Neben  der  Pietät  muss  aber  noch  etwas  als  Stütze  des  Gewissens 
gepflegt  werden,  was  weiter  hinaufweist.  Paul  Mantegazza  deutet 
dieses  mit  dem  Worte  an:  „Der  Mensch  ist  nur  dann  ein  Mensch, 
wenn  er  etwas  glaubt  und  hofft,  was  höher  steht  und  länger  dauert, 
als  er  selbst." 

Diese  Aufgabe  weist  zwar  zunächst  auf  den  ReHgionsunterricht 
hin,  eine  Disciplin,  welcher  wol  jeder  Lehrer,  wenn  er  erst  ihren 


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—    549  — 

ganzen  Stoff  beherrscht,  gern,  ja  mit  größter  Verinnerlichung 
obliegt;  aber  gerade  bei  näherer  Betrachtung  der  Stoffauswahl  müssen 
wir  immer  der  Kirche  gedenken,  die  die  einfachen,  rein  ethischen 
Stoffe  nur  zu  rücksichtslos  verdrängt,  um  die  Kinder  mit  Dingen  zu 
quälen,  die  nach  dem  Eingeständnis  der  Kirche  selbst  auch  dem 
glaubensfreudigsten  erwachsenen  Christen  oft  bis  zum  Tode  hin 
gründlichst  zu  schaffen  machen. 

Schon  erhebt  sich  der  Kampf  zwischen  denen,  die  da  rufen: 
„Christus  ist  für  uns  gestorben",  und  denen,  die  da  sagen:  „Christus 
hat  vor  allen  Dingen  für  uns  gelebt" ;  —  schon  schreibt  der  Professor 
und  evangelische  Theologe  Dr.  Kastan  -  Berlin  in  der  Wochenschrift 
„Christliche  Welt":  „Es  gibt  kein  anderes  Mittel,  den  Widerstreit 
aus  der  Welt  zu  schaffen,  als  indem  das  Dogma  aufgegeben  wird  .... 
Wir  brauchen  eine  Umbildung  der  Lehre.  Sie  muss  weit  ausholen 
und  fordert  ganze  Arbeit."  Und  da  entsteht  wol  auch  schier  in  der 
Luft  die  Frage:  Lehrer,  wie  wird  es  dir  bei  dem  Kampfe  ergehen? 

 Nun  der  preußische  Volksschullehrer  wird  sich  die  Antwort  auf 

diese  Frage  angesichts  des  Schulgesetzentwurfes  von  diesem  Jahre*) 
im  stillen  längst  mit  dem  Einwurf  beantwortet  haben:  Das  hängt 
ganz  von  der  Gesinnung  des  Pfarrers  ab,  der  meinen  Religionsunter- 
richt überwachen  wird.  —  Und  so  steht  es  leider  in  der  That,  wenn 
—  auch  nicht  ganz.  Gewiss  wird  man  an  den  meisten  Orten  wieder 
die  reine  biblische  Nomenclatur  treiben,  viele  Psalter,  Sprüche  und 
Lieder,  Definitionen  und  Gebete  auswendig  lernen  lassen  müssen,  ohne 
irgend  welche  Zeit  zu  einer  Erklärung  zu  behalten,  und  so  scheint 
denn  Herbert  Spencer,  von  dem  ich  in  dieser  Arbeit  ausging,  recht 
behalten  zu  sollen.  Wenn  aber  die  Lehrerschaft  auf  dem  Platze  ist  — 
und  sie  kann  ihrem  ganzen  Bildungsgange  nach  kaum  anders  —  so 
wird,  wenn  von  ihr  besonnene  Ruhe  beobachtet  wird,  die  Entwicke- 
lung  zu  einem  erhabenen  und  schon  winkenden  Ziele  ruhig  ihren  Gang 
weiterschreiten;  denn  der  Geist  macht  lebendig.  —  Ich  kann  nur 
andeuten,  was  ich  meine,  und  schließe  daher  mit  der  Bitte: 

* 

Drum  lasst  dem  Volk  die  dichterische  Sage, 
Lasst  ilim  der  jugcndwonn'gen  Märchen  Pracht , 
Das  gl&ub'ge  Sehen  übcrsel'ger  Tage; 
Bekämpft  den,  der  dies  alles  wüst  verlacht! 
Doch  lasst  es  fühlen,  wie  im  leisen  Ahnen, 
In  einem  steten,  milden  Übergang, 
Dase  die  Vernunft  zu  Besse rm  will  vermahnen 
Durch  Überzeugung,  ohne  jeden  Zwang! 

*)  Zum  Glück  war  er  nur  „von  diesem  Jahre\   D.  B. 


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—    550  — 


Für  jede  neue  Wahrheit  sichre  Wege, 
Voll  Sinnigkeit  und  lockender  Gewalt; 
Für  jeden  Fortschritt  treffende  Belege 
Voll  Mark  und  Saft,  in  packender  Gestalt. 
Nach  jeder  Wendung  planvolles  Vertiefen, 
Nach  jedem  Schritte  vorbedachte  Ruh'; 
Nach  jedem  Pact  ein  sicheres  Verbriefen: 
So  führen  wir  uns  der  Vollendung  zu. 


Ans  der  Geschichte  der  Taubstummenbildung.*) 


Von  Dr.  H.  Morf-Wintertkur. 

L 

Zur  Orientirung. 

Die  fünf  Sinne  sind  die  Thore,  durch  welche  die  Außendinge 
als  Bildungs-  und  Nährstoffe  des  Qeistes  in  unser  Innenleben  ihren 
Einzug  halten.  Diese  regen  die  seelischen  Kräfte  zur  Selbstthätig- 
keit  an,  und  aus  der  Wechselwirkung  zwischen  Receptivität  und  Pro- 
dnctivität  resultirt  die  allseitige  geistige  Bildung. 

Ist  eines  dieser  fünf  Thore  verschlossen,  d.  h.  ist  der  Nerv,  der 
dem  Organ  dient,  dauernd  unfähig,  die  Leitung  nach  Innen  zu  be- 
sorgen, so  entbehrt  die  Seele  der  Anregung  aus  demjenigen  Gebiete 
der  Außenwelt,  für  das  nur  der  in  Frage  stehende  Nerv  empfanglich 
ist.  So  erleidet  die  Seele  eine  Einbuße  an  Erkenntnis  und  Entwicke- 
hing,  die  um  so  größeren  Umfang  hat,  je  höher  der  Sinn  ist,  welcher 
der  Außenwelt  unzugänglich  bleibt.  Einen  fehlenden  Sinn  kann  kein 
anderer  gänzlich  ersetzen. 

Von  eminenter  Wichtigkeit  für  die  Ausbildung  des  Menschen  ist 
der  Gehörssinn.  Seine  eigentliche  Würde  und  Herrlichkeit  liegt 
darin,  dass  er  dem  Menschen  das  Reich  des  Geistes  aufschließt 
und  dadurch  die  entscheidende  Bedingung  einer  fortschrei- 
tenden geistigen  Cultur  darbietet.  Durch  alle  übrigen 
Sinne  hängt  der  Mensch  nur  mit  der  vergänglichen  Welt  zu- 
sammen, durch  das  Gehör  allein  mit  der  ewigen  und  höheren. 

Wessen  Ohl*  von  Geburt  an  todt  ist,  dem  sind  die  Zugänge  zu 
den  Mitteln  verschlossen,  deren  Einfluss  und  Kraft  allein  vermag,  den 
Menschen  zu  der  hohen  sittlichen  und  geistigen  Bildung,  zur  Humanität 

*)  Wir  hoffen,  daes  diese  Abhandlung  nicht  blos  Taubstummen- Lehrern, 
sondern  allen  Lesern  unseres  Blattes  als  zeitgemäß  und  lehrreich  erscheinen  werde. 

D.  R. 


—    552  — 


zu  erheben,  die  ihm  unter  den  übrigen  Geschöpfen  diejenige  Stellung 
Anweist,  die  ihm  gebürt.  Der  Gehörlose,  Taube,  bleibt  auch  zugleich 
stumm,  weil  die  Sprache  nur  durch  Sprechenhören  sich  erlernt.  Die 
Sprachwerkzeuge  selbst  sind  bei  den  Tauben  ebenso  normal  gebildet, 
wie  bei  den  Hörenden.  Die  Ursache  der  Stummheit  liegt  also  nicht 
bei  ihnen,  sondern  in  der  Taubheit.  Der  Taube  entbehrt  also  auch 
des  Gebrauchs  der  Sprache.  Diese  aber  gehört,  wie  die  höhere 
Geistesbildung,  unter  die  charakteristischen  Unterscheidungsmerkmale 
des  Menschen  vom  Thier,  aber  auch  unter  die  größten  Wolthaten  und 
Güter  der  Menschen,  denn  sie  ist  nicht  nur  die  hauptsächlichste  Be- 
dingung des  menschlichen  Zusammenseins,  sondern  auch  das  Mittel  des 
unaufhörlichen  Unterrichts,  so  wie  auch  das  Hauptmittel  der  ge- 
selligen Vergnügen. 

Der  Taube  und  Stumme,  der  Taubstumme,  ist  wol  unter  allen 
Gebrechlichen  der  unglücklichste  zu  nennen.  Die  (ungebildeten)  Taub- 
stummen stehen  im  natürlichen  Gebrauch  ihrer  Fähigkeiten  fast  voll- 
sinnigen Thieren  nach.  Sie  denken  nicht,  wie  der  Hörende,  in  Worten, 
in  Begriffen,  sondern  nur  in  Anschauungen  und  Bildern.  Ein  abs- 
tractes  Denken  ist  ihnen  unmöglich.  Auch  in  sittlicher  Hinsicht 
steht  der  (ungebildete)  Taubstumme  auf  sehr  niederer  Stufe,  besonders 
wenn  er  in  einer  Umgebung  aufgewachsen  ist,  die  sich  wenig  um  ihn 
gekümmert  oder  gar  durch  Beispiel  zum  Bösen  angereizt  hat.  So  ist 
er  auch  ohne  Gott,  ohne  Religion,  ohne  Sitte,  ohne  Gesetz,  eine  Last 
der  Gesellschaft. 

In  früheren  Zeiten  stellte  man  diese  Unglücklichen  in  die  Reihe 
der  Blödsinnigen.  Das  Alterthum  weiß  nichts  von  Versuchen  r  die 
Taubstummen  zu  bilden.  Aristoteles  erklärte  sie  für  jeder  Bildung 
unfähige  Wesen.  Auch  die  christliche  Kirche  nahm  sich  dieser  Un- 
glücklichen nicht  an.  Im  Hinweis  auf  Römer  10,  Vers  14  und  17: 
„Wie  sollen  sie  aber  anrufen,  von  dem  sie  nichts  gehört  haben? 
Wie  sollen  sie  aber  hören  ohne  Predigt?  So  kommt  der  Glaube 
aus  der  Predigt,  das  Predigen  aber  durch  das  Wort  Gottes"  —  hatte 
der  heil.  Augustinus  den  Satz  aufgestellt:  „Von  Geburt  aus  Taub- 
stumme können  niemals  Glauben  empfangen,  Glauben  haben;  denn 
Glauben  kommt  aus  der  Predigt,  aus  dem,  was  man  hört;  sie  können 
weder  lesen,  noch  schreiben  lernen."  Seine  Autorität  entschied  auf 
Jahrhunderte  hinaus  für  das  Verhalten  der  Kirche  zu  den  Gehör-  und 
Sprachlosen. 

So  überließ  man  die  Taubstummen  ihrem  Schicksal  und  betrachtete 
sie  mit  stummer  Scheu  als  von  Gott  Gezeichnete,  und  der  religiöse 


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Wahn,  man  dürfe  Gottes  an  solchen  Geschöpfen  kund  gethanen  Willen 
nicht  corrigiren,  den  Schöpfer  nicht  meistern  wollen,  war  bis  in  unsere 
Zeiten  der  Bildung  der  Taubstummen,  ja,  überhaupt  ihrer  guten  Be- 
handlung, hinderlich.  Die  Kirche  vergaß,  dass  Christus  selber  nach 
der  schönen  Erzählung  bei  Marc.  7,  31  in  der  Heilung  eines  Taub- 
stummen mit  seinem  Beispiel  vorangegangen  ist,  und  fühlte  sich  zur 
Nachfolge  in  solcher  Theilnahme  an  dem  Schicksal  der  Unglücklichsten 
aller  Unglücklichen  nicht  angeregt. 

Wol  fanden  im  16.  und  17.  Jahrhundert  einige  sporadische  Ver- 
suche zur  Bildung  von  jungen  Taubstummen  statt,  jedoch  nur  bei 
Sprösslingen  hoher  Häuser;  die  in  den  untern  Schichten  der  Gesell- 
schaft blieben  immer  noch  die  Ausgestoßenen.  Erst  dem  18.  Jahr- 
hundert war  es  vorbehalten,  in  der  Beurtheilung  der  Taubstummen 
Wandel  zu  schaffen.  Zwei  Männer  brachen  die  Bahn,  ein  Franzose 
und  ein  Deutscher,  de  1'EpGe  und  Samuel  Heinicke.  Sie  lebten 
des  festen  Glaubens,  die  Taubstummen  seien  ebenso  gut  beanlagt  und 
ebenso  bildungsfähig,  wie  die  Vollsinnigen.  Ihr  Glaube  war  aber  kein 
todter;  sie  betbätigten  denselben  durch  ihre  Hingebung  in  den  Dienst 
einer  bisher  so  herzlos  übersehenen  Menschenclasse.  Nicht  allein,  dass 
sie  die  ersten  Taubstummenanstalten  gründeten,  in  welchen  eine 
nicht  unbedeutende  Zahl  von  Zöglingen  ihre  Ausbildung  erhielt,  sie 
bildeten  auch  Lehrer  heran,  welche  das  Werk  fortzusetzen  befähigt 
wurden;  sie  erhoben  unausgesetzt  ihre  Stimme  zu  Gunsten  dieser  Un- 
glücklichen, vertraten  mit  Energie  wie  mit  Erfolg  das  Anrecht  der- 
selben an  genügsame  Mittel  und  Veranstaltungen  zu  deren  sittlicher» 
geistiger  und  leiblicher  Ausbildung  und  wurden  nicht  müde,  die  Zeit- 
genossen zu  mahnen,  das  an  ihnen  Jahrhunderte  lang  geübte  Unrecht 
nnd  die  erbarmungslose  Vernachlässigung  endlich  gut  zu  machen  und 
in  Vergessenheit  zu  bringen. 

„Einen  Taubstummen  bilden,"  so  lautete  ihre  Devise,  „heißt 
nicht  weniger,  als  ihn  zum  Menschen  machen." 

Bis  in  die  höchsten  Kreise  der  Gesellschaft  hinauf  wurde  die 
Stimme  der  beiden  Männer  gehört  und  dieselbe  erweckte,  so  weit  sie 
drang,  thätige  Theilnahme  an  der  von  ihnen  vertretenen  Sache. 

Diese  Pionire  in  der  Taubstummenbildnng  verdienen  also  reichlich, 
dass  wir  uns  mit  ihrem  Leben  und  Wirken  näher  bekannt  machen. 
Der  erste  Preis  aber  gebtirt  ohne  Widerrede  dem  Franzosen; 
darum  wollen  wir  unsere  Aufmerksamkeit  zuerst  ihm  zuwenden. 


I 


—   554  — 


II. 

Karl  Michel  de  l'Epee. 

De  l'Epee  entstammte  einer  sehr  angesehenen  und  reich  be- 
güterten Familie  in  Versailles.   Sein  Vater  war  königlicher  Architekt. 

Er  wurde  am  24.  November  1712  geboren.  Seine  große  geistige 
Begabung  und  sein  reiches  Gemüth  offenbarten  sich  schon  in  früher 
Jugend.  In  den  Schulkenntnissen  machte  er  bald  ungewöhnliche  Fort- 
schritte. Sein  Lerneifer,  seine  Liebe  zur  Arbeit  kannten  keine  Grenzen. 
Wie  er  die  Freude  und  der  Stolz  der  Eltern  war,  so  hing  auch  er 
mit  fast  leidenschaftlicher  Liebe  an  ihnen,  namentlich  an  seiner  geist- 
vollen Mutter.  Er  ergriff  das  Studium  der  Theologie  und  bestand  schon 
im  Alter  von  17  Jahren  mit  Ehren  die  theologische  Prüfung.  Da  er  sich 
aber  weigerte,  ein  von  den  Jesuiten  ihm  vorgelegtes  Glaubensformular 
zu  unterschreiben,  wurde  er  von  jeder  pfarramtlichen  und  kirch- 
lichen Wirksamkeit  ausgeschlossen.  Da  bezog  er  neuerdings  die  hohen 
Schulen  und  widmete  sich  der  Rechtswissenschaft  Mit  21  Jahren 
wurde  er  Parlamentsadvocat.  Allein  sein  neuer  Beruf  verleidete  ihm 
bald.  Seinem  stillen,  milden  Wesen,  seinem  zarten  Gemüth  war,  wie  er 
sich  ausdrückt,  der  Tumult  vor  den  Schranken  zuwider.  Er  sehnte  sich 
nach  der  stillen  Wirksamkeit  eines  Pfarrers.  Dieser  innigen  Sehnsucht 
kam  der  tolerante  Bischof  von  Troyes  entgegen.  Er  übergab  ihm  eine 
Pfarrei  in  seinem  Sprengel.  De  l'Epee 's  pfarramtliche  Wirksamkeit 
war  von  reichem  Segen  begleitet.  Seine  Pfarrkinder  waren  ihm  mit 
Verehrung  und  Liebe  zugethan.  Seine  glänzende  Beredsamkeit  hatte 
ihre  Quelle  im  Herzen  und  drang  darum  wieder  zum  Herzen.  Alle 
Tugenden,  die  er  lehrte:  Liebe  zu  Gott  und  den  Nächsten,  brüderliche 
Theilnahme  an  dem  Ergehen  anderer,  Sanftmuth,  Wolwollen,  Thätig- 
keit,  Bescheidenheit,  Einfachheit,  übte  er  selber.  Feind  jeder  Un- 
duldsamkeit, wiederholte  er  gern  und  oft  die  Worte  Heinrichs  IV.: 
„Alle  die,  welche  recht  thun,  gut  sind,  sind  von  meiner  Religion"; 
und  erinnerte  seine  Amtsbrüder,  wenn  sie  sich  etwa  ereifern  wollten, 
an  die  Mahnung  eines  frommen  Bischofs:  „Lasst  uns  alle  Religion 
dulden,  weil  Gott  sie  duldet !w  Er  hatte  sich  täglich  mehr  der  Früchte 
und  des  Segens  seiner  pfarramtlichen  Thätigkeit  zu  erfreuen. 

Aber  nach  dem  Tode  seines  Gönners  und  Beschützers  wurde  er 
plötzlich  zu  seinem  und  seiner  Pfarrkinder  großen  Schmerz  seines 
Amtes  entsetzt  und  von  der  Ertheilung  jedes  Religionsunterrichtes 
ausgeschlossen.  Diese  Maßregelung  ging  vom  Erzbischof  Beaumont 
aus,  dessen  blinde  Unduldsamkeit  durch  Rousseau'»  gewaltigen  Brief 


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—    555  — 


ebenso  verewigt  ist,  wie  die  des  Hauptpastors  Göze  durch  Leasings 
Streitschriften. 

Der  Abbe  de  l'Epee  zog  sich  nach  Paris  zurück  und  lebte 
10  Jahre  frei  und  unbehelligt  wissenschaftlichen  Studien.  Er  war 
ökonomisch  unabhängig.  Seine  jährlichen  Einkünfte  beliefen  sich  auf 
Fr.  14  000,  nach  heutigem  Geldwert  wol  Fr.  30  000  gleich  zu  schätzen. 

Gegen  das  Ende  des  Jahres  1753  kam  de  l'Epee  um  eines  nicht 
genannten  Geschäftes  willen  in  das  Haus  einer  Witwe  in  der  rue  des 
Fosses-St  Victoire.  Die  Hausmutter  war  abwesend;  man  führte  ihn 
in  ein  Zimmer,  wo  er  ihre  zwei  Töchter  —  Zwillinge  —  traf,  die 
eifrig  ihrer  Handarbeit  oblagen.  Er  grüßte  sie,  ohne  einen  Gegengruß 
zu  erhalten.  Er  redete  sie  weiter  mit  etwas  erhöhter  Stimme  an, 
um  eine  Unterhaltung  mit  ihnen  anzuknüpfen,  aber  ohne  allen  Erfolg. 
Bald  darauf  trat  die  Mutter  ein.  Von  ihr  vernahm  de  l'Epee,  dass 
die  beiden  Mädchen  taubstumm  und  seit  dem  Tode  des  Priesters 
Vanin,  der  ihnen  mit  Hilfe  von  Kupferstichen  einige  Kenntnisse  bei- 
zubringen versucht  habe,  ohne  allen  Unteiricht  und  ohne  irgend  welche 
geistige  Anregung  seien.  Sein  Anerbieten,  den  Unterricht  der  Mäd- 
chen wieder  aufzunehmen  und  ihre  geistige  und  religiöse  Entwicklung 
nach  Kräften  zu  fördern,  wurde  mit  heißem  Dank  von  der  Mutter 
angenommen.  Von  dieser  Stunde  an  bis  zum  Tage  seines  Todes,  den 
23.  December  1789,  lebte  er  der  von  der  Vorsehung  ihm  ohne  sein 
Zuthun  zugewiesenen  Aufgabe  der  Taubstummenbildung  mit  einer 
Liebe,  Hingebung,  aufopferungsvollen  Uneigennützigkeit,  welche  das 
Zeugiiis  einer  großen  Seele,  einer  erhabenen  Gesinnung  sind.  Wie 
die  Sache  anzufangen  sei,  wie  ein  solcher  Unterricht  an  die  Hand 
genommen  werden  müsse,  darüber  konnte  er  sich  selber  keine  Antwort 
geben.  Seine  philosophischen  und  theologischen  Studien  hatten  bis 
dahin  seine  ganze  Aufmerksamkeit,  sein  Sinnen  und  Denken  in  An- 
spruch genommen.  So  viel  schien  ihm  klar,  dass  mit  Kupferstichen 
nicht  viel  zu  erreichen  sei.  Er  fragte  sich,  woran  man  den  Unter- 
richt bei  den  vollsinnigen  Kindern  anknüpfe,  und  er  gab  sich  die 
naheliegende  Antwort:  An  die  Muttersprache,  welche  die  Kinder  auf 
dem  Wege  natürlicher  Entwicklung  sich  erwerben.  Auch  die  Taub- 
stummen, sagte  er  sich  weiter,  hätten  auf  dem  Wege  natürlicher  Ent- 
wicklung eine  Sprache  sich  angeeignet,  die  bei  ihnen  gleichsam  die 
Stelle  der  Muttersprache  vertrete:  das  sei  die  Geberdensprache. 
Diese  müsse  die  erste  Grundlage  des  Unterrichts  sein. 

Die  Zeichensprache  (les  signes  methodiques)  bildete  de  l'Epee 
so  weit  bis  ins  Detail  aus,  dass  er  seine  Zöglinge  mittelst  derselben 


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auch  in  der  idealen  Welt  einheimisch  zu  machen  vermochte.  Com- 
petente  und  unbefangene  Beurtheiler  bezeugen,  dass  dieselben  bei 
wiederholten  öffentlichen  Prüfungen  bewiesen  hätten,  dass  sie  in  der 
christlichen  Religion,  in  der  Pflichtenlehre  ebenso  bewandert  sich  ge- 
zeigt hätten,  wie  von  einem  Vollsinnigen  nicht  besser  zu  erwarten 
gewesen  wäre. 

Diese  Unterrichtsweise  ist  die  selbstständige  Erfindung  und 
Schöpfung  de  l'Epee's. 

Seine  Methode,  sein  Verfahren  beim  Unterricht  machte  er  wieder- 
holt und  bis  in  die  Einzelheiten  öffentlich  bekannt  und  lud  jedermann 
ein,  sich  durch  den  Augenschein  vom  Erfolg  zu  überzeugen. 

Die  Zahl  seiner  Zöglinge  nahm  rasch  zu,  und  er  entschloss  sich, 
den  Unterricht  der  Taubstummen  zu  seiner  einzigen  Lebensaufgabe 
zu  machen.  Im  Jahre  1760  gründete  er  in  Paris  die  erste  Taub- 
stummenanstalt der  Welt;  er  verlegte  sie  als  geschlossene  An- 
stalt nach  dem  Montmartre.  Er  nahm  nicht  nur  Zöglinge  aus  Paris, 
sondern  auch  aus  den  Provinzen  auf.  Die  Zahl  der  Pfleglinge  hielt 
sich  dauernd  auf  60  und  darüber.  Er  unterhielt  die  Anstalt  auf  seine 
Kosten.  Er  bestritt  nicht  nur  den  Unterhalt  der  Zöglinge,  sondern 
bezahlte  auch  die  Lehrer  und  Lehrerinnen.  Von  seinen  Einkünften 
brauchte  der  edle  Mann  gar  wenig  für  seine  persönlichen  Bedürfnisse. 
Er  versagte  sich  manche  Bequemlichkeit,  um  seinen  „lieben  Kindern" 
desto  mehr  leisten  zu  können.  So  wollte  er  in  dem  strengen  Winter 
des  Jahres  1788  —  er  zählte  schon  76  Jahre  —  sein  Zimmer  nicht 
heizen  lassen,  um  durch  den  Ankauf  von  Heizmaterial  die  kleine 
Summe  nicht  überschreiten  zu  müssen,  die  er  für  seine  eigenen  Be- 
dürfhisse festgesetzt  hatte.  Die  Vorstellungen  seiner  Haushälterin  und 
seiner  Freunde  blieben  fruchtlos.  Da  erschienen  eines  Tages  auf 
seinem  Zimmer  seine  Zöglinge  und  baten  ihn  unter  heißen  Thränen, 
seine  Wohnung  zu  erwärmen,  seine  Qesundheit  nicht  zu  gefährden, 
damit  er  so  ihnen  noch  recht  lange  erhalten  bleibe.  Schließlich  gab 
er  ihren  Bitten  nach.  Aber  noch  lange  nachher  machte  er  sich  Vor- 
würfe, seinen  geliebten  Kindern  die  für  Holz  ausgelegte  Summe  ent- 
zogen zu  haben,  die  er  für  sie  wol  hätte  ersparen  können. 

Er  nahm  am  liebsten  und  vorzugsweise  arme  Zöglinge  in  seine 
Anstalt  auf.  „Die  Reichen",  sagte  er  ausdrücklich,  „dulde  ich 
gleichsam  nur.  Ihnen  habe  ich  mich  nicht  gewidmet,  sondern  den 
Armen.  Ohne  diese  letzteren  würde  ich  niemals  die  Er- 
ziehung der  Taubstummen  unternommen  haben.  Die  Reichen 


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besitzen  die  Mittel,  um  Lehrer  für  ihre  Kinder  zu  suchen  und  zu 
bezahlen." 

Da  die  Einkünfte  zum  Unterhalt  der  großen  Familie  nicht  reichten, 
griff  de  l'Epee  seine  Capitalien  an,  trotz  dem  Abrathen  seiner  Freunde. 
Diese  aber  bemühten  sich  dann  mit  Erfolg  dafür,  dass  von  ver- 
schiedenen Seiten  namhafte  Gaben  in  die  Anstaltscasse  flössen. 
Dennoch  blieben  die  Deficite  nicht  aus.  Unter  solchen  Umständen  ließ 
de  l'Epee  sich  dazu  bewegen,  die  königliche  Regierung  um  einen 
jährlichen  Zuschuss  an  die  Unterhaltungskosten  der  Anstalt  zu  bitten. 
Aber  er  erhielt  blos  leere  Versprechungen.  Ja,  der  König  Lud- 
wig XVI.  sagte  zu  seinem  Beichtvater:  „Der  Abbe  de  l'Epee  thut 
Großes  an  seinen  Zöglingen;  aber  es  wäre  denselben  besser,  wenn  sie 
taubstumm  blieben,  als  dass  ihre  Ohren  dem  Jansenismus  geöffnet 
werden." 

Bald  aber  änderte  sich  die  Stimmung  am  Hofe.  Es  kam  nämlich 
1777  Kaiser  Joseph  II.  nach  Paris  zum  Besuch  seiner  Schwester, 
der  Königin.  Unter  den  Merkwürdigkeiten,  die  Paris  bot,  war  ihm 
eine  der  ersten  die  Taubstummenanstalt  von  de  l'Epee.  Er 
war  mehr  als  einmal  unter  den  Besuchern  der  Anstalt,  und  er  verließ 
dieselbe  stets  tief  ergriffen  von  der  Hingabe  des  edeln  Mannes  an 
seinen  Beruf  und  von  den  Leistungen  seiner  Schüler.  Bei  Hofe 
sprach  er  dann  unverholen  seine  Verwunderung  und  Missbilligung  aus 
über  die  geringe  Theilnahme  in  den  höchsten  Kreisen  an  dieser  wich- 
tigen Sache.  Die  Anstaltscasse  beschenkte  er  mit  50  Louisd'or  und 
de  l'Epee  mit  einer  goldenen  Dose.  Diesem  aber  bot  er  eine  Abtei 
in  seinen  Staaten  an.  De  l'Epee  gab  die  schöne  Antwort:  „Sire, 
ich  bin  schon  alt;  wenn  Ew.  Majestät  es  mit  den  Taubstummen  wol 
meinen,  so  verwenden  Sie  Ihre  Wolthaten  nicht  an  mich,  der  ich 
schon  mit  einem  Fuße  im  Grabe  stehe,  sondern  an  das  Werk  selbst. 
Es  ist  eines  großen  Fürsten  würdig,  dem,  was  der  Menschheit  wahr- 
haft nützlich  ist,  Dauer  und  Unvergänglichkeit  zu  sichern.-  Der 
Kaiser  theilte  de  l'Epee  ferner  mit,  dass  die  Eltern  eines  taub- 
stummen Mädchens  aus  den  höchsten  Kreisen  Wiens  ihrer  Tochter 
gern  eine  gute,  christliche  Erziehung  angedeihen  lassen  möchten  und 
fragte,  wie  sie  die  Sache  wol  am  zweckmäßigsten  anstellen  würden. 
De  l'Epee  antwortete:  „Es  gibt  zwei  Wege  zu  diesem  Ziel.  Der 
eine  besteht  darin,  dass  man  das  Mädchen  zu  mir  nach  Paris  sendet; 
ich  würde  mir  dessen  Ausbildung  angelegen  sein  lassen,  jedoch  keine 
persönliche  Entschädigung  dafür  annehmen.  Der  andere  Weg  wäre 
noch  der  einfachere,  der  darin  bestünde,  mir  einen  intelligenten  jungen 

Pädagogium.    14.  Jahrg.   Hoft  IX.  39 


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Mann  von  ungefähr  25—30  Jahren  zu  senden,  damit  er  meine  Unter- 
richtsweise kennen  und  ausüben  lernt,  um  dann  in  Wien  selber  einer 
solchen  Anstalt  vorstehen  zu  können." 

Dem  Kaiser  leuchtete  der  letztere  Weg  als  ein  weiter  reichender 
ein.  Nach  Wien  zurückgekehrt,  sandte  er  den  Weltpriester  Stork, 
einen  sehr  begabten  Mann  von  26  Jahren,  nach  Paris  in  die  Schule 
de  l'Epee's.  Nachdem  Stork  ein  Jahr  daselbst  zugebracht,  eröffnete 
er  in  Wien  eine  Taubstummenanstalt  nach  derselben  Methode. 

Auch  der  König  von  Frankreich  konnte  sich  nicht  auf  die  Dauer 
der  Unterstützung  der  Taubstummenanstalt  auf  dem  Montmartre  ent- 
ziehen. Jedoch  erst  manche  Jahre  nach  seines  Schwagers  Joseph  Be- 
such wies  er  derselben  eine  jährliche  Rente  von  6000  Fr.  an,  sowie 
einen  Theil  der  Einkünfte  eines  aufgehobenen  Cölestinerklosters  mit 
der  Zusicherung,  dass  das  Institut  sobald  als  thunlich  aus  der  bis- 
herigen Miethwohnung  in  die  bequemeren  Gemächer  eben  dieses 
Klosters  versetzt  werden  solle. 

Diese  Übersiedlung  erlebte  de  l'Epee  nicht  mehr.  Der  Tod  über- 
raschte ihn,  ihm  und  seinen  Freunden  ganz  unerwartet,  seinen  Zög- 
lingen zum  tiefsten  Schmerz,  Ende  December  1789.  Eine  an  herrlichen 
Früchten  reiche  Wirksamkeit  war  damit  abgeschlossen. 

Welche  erschöpfende  Arbeitslast  auf  de  TEpee  stets  geruht  hat, 
entnehmen  wir  einem  Briefe  vom  Juli  1783  an  seinen  vertrauten 
Freund  Keller,  Pfarrer  in  Schlieren  bei  Zürich: 

„Soixante-huit  sourds  et  muets  et  environs  trois  cent 
parlants  (vollsinnige  Besucher  der  Anstalt)  m'assiegent  sans  cesse. 
Mais  ces  visites  importantes  de  nos  concitoyens  et  des  Strangers  me 
derobent  les  moments  que  je  voudrais  employer  ä  m'acquitter  d'autres 
devoirs.  C'est  ainsi  que  mes  jours  s'ecoulent,  me  reprochant  toujours 
de  ce  que  je  ne  fais  pas  ce  que  je  devais  faire  et  ne  trouvant  pas 
neanmoins  le  loisir  de  m'y  appliquer.  La  nuit  est  le  seul  temps  dont 
il  semble  que  je  pourrais  disposer,  mais  ma  plume  tombe  des  mains. 
Mr.  Ulrich  sera  en  6tat  de  certifier  ce  qu'il  aura  vu  de  mes  occu- 
pations.« 

Erst  vier  Jahre  nach  seinem  Tode,  1793,  wurde  sein  Institut  zur 
Staatsanstalt  erhoben  und  damit  gefahrdrohenden  Wechselföllen  ent- 
hoben und  auf  festen  Boden  gestellt 

Verschiedene  Denkmäler  erinnern  an  ihn.  So  erhebt  sich  in  der 
Kirche  Saint-Roche  zu  Paris,  wo  auch  seine  sterblichen  Überreste 
ruhen,  sein  Monument,  und  zu  Versailles  ist  ihm  im  Jahre  1843  eine 
Statue  errichtet  worden. 


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Samuel  Heinicke. 

Samuel  Heinicke  wurde  im  Jahre  1727  in  Nauschütz  bei 
Weißenfels  an  der  Saale  als  Sohn  eines  Bauers  geboren.  Auf  sein 
sehr  bewegtes  Jugendleben  näher  einzutreten,  gestatten  die  Grenzen 
einer  kurzen  Skizze  nicht. 

Nach  7jährigem  Dienst  beim  Militär,  den  er  zu  seiner  allseitigen 
Ausbildung  eifrig  benutzt  hatte,  wurde  er  im  Alter  von  42  Jahren 
Schulmeister,  Organist  und  Küster  in  der  Gemeinde  Eppendorf  bei 
Hamburg.  Mit  Neujahr  1769  hatte  er  die  Stelle  anzutreten.  An- 
fänglich war  er  gar  nicht  auf  Rosen  gebettet.  Der  Ortspfarrer, 
Pastor  Granau,  hatte  die  Stelle  einem  Verwandten  zugedacht  ge- 
habt. Er  hatte  schon  vor  dem  Einzug  des  neuen  Cantors  in  der  Gemeinde 
.herumbieten  lassen,  derselbe  sei  ein  Freimaurer,  habe  in  Hamburg 
meist  mit  Comödianten  und  sonstigen  Freigeistern  Umgang  gepflogen. 
Am  Neujahrstag  predigte  der  Pastor  so  gewaltig  gegen  die  falschen 
Aufklärer  und  Freimaurer,  die  sich  nun  auch  in  der  stillen  Gemeinde 
Eppendorf  eingeschlichen  hätten,  dass  den  Dorfbewohnern  angst  und 
bang  wurde  und  sie  am  liebsten  den  neuen  Schulmeister  zum  Dorf 
hinaus  getrieben  hätten. 

Nur  unwillig  schickten  sie  die  Kinder  zur  Schule,  und  diese 
kamen  in  einer  Stimmung,  die  ganz  der  der  Eltern  entsprach.  Aber 
bald  sollte  es  anders  kommen.  Heinicke's  Unterricht  war  den  Schülern 
so  interessant,  fesselte  sie  so,  dass  sie  bald  kräftig  für  den  Lehrer 
eintraten  und  eine  bessere  Stimmung  für  denselben  erweckten.  Doch 
wollte  die  Lautirmethode,  die  Heinicke  statt  des  geiattödtenden 
Buchstabirwesens  einführte,  —  also  lange  vor  Graser  —  den  Leuten 
nicht  behagen.  Aber  als  er  eines  Tages  einige  Spectakler,  die  lär- 
mend in  die  Schulstube  gedrungen,  rasch  mit  kräftiger  Hand  und 
ohne  Worte  vor  die  Thür  hinaus  beförderte,  hörte  jeder  Widerspruch 
auf.  Der  Respect  vor  der  körperlichen  Kraft  des  Schulmeisters  war 
nicht  minder  groß,  als  der  vor  seiner  geistigen. 

Der  Pastor  musste  bald  erfahren,  dass  sein  Cantor  und  Küster, 
der  ihn  schon  äußerlich  —  „eine  Siegfriedsgestalt"  —  um  Kopfes- 
länge überragte,  auch  in  geistiger  Beziehung  nicht  weniger  über 
ihm  stand. 

Die  Stimmung  im  Dorfe  sollte  für  Heinicke  bald  noch  günstiger 
werden.  Der  Pachtmüller  in  Eppendorf  hatte  einen  taubstummen 
Knaben.  Diesen  traf  Heinicke  auf  einem  Spaziergang.  Er  anerbot 
sich,  dem  Sohn  des  Pachtmüllers  Unterricht  zu  ertheilen.   Mit  dank- 

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barer  Freude  nahm  der  Vater  das  Anerbieten  an.  Die  Dorfbewohner, 
obschon  sie  im  Sinne  ihrer  Zeit  das  Unglück  des  Pachtmüllers  als 
Strafe  Gottes  ansahen,  fühlten  die  Menschenfreundlichkeit  ihres  Lehrers 
heraus  und  näherten  sich  ihm  immer  mehr.  Nur  der  Ortspfarrer  stand 
ihm  immer  gleich  schroff  gegenüber.  Heinicke  brachte  den  wol- 
befähigten  taubstummen  Knaben  bald  so  weit,  dass  ihm  über  die 
sichtbare  und  höhere  Welt  viel  Verständnis  aufging,  dass  er  Worte 
und  Sätze,  wenn  auch  noch  in  unvollkommener  Weise,  aussprechen 
konnte.  Das  Staunen  der  Eppendorfer  kannte  keine  Grenzen,  als  sie 
den  Taubstummen  reden  hörten.  Nach  einigen  Jahren  war  dieser  so 
weit,  dass  Heinicke  ihn  zur  Conftrmation  anmelden  konnte.  Jetzt 
glaubte  der  Pastor  seinen  Mann  fassen  zu  können.  Zum  Erstaunen 
aller  predigte  er  jetzt  von  der  Kanzel  herab  gegen  Heinicke,  wies 
seinen  Zuhörern  nach,  dass  ihr  Schulmeister  ein  Frevler  an  Gottes 
Allmacht  und  Weisheit  sei,  ein  Mensch,  der  Gott  meistern  und  zu- 
rechtweisen wolle,  da  er  die,  welche  der  Herr  gezeichnet  habe, 
die  Taubstummen,  reden  lehre.  Da  ging  Heinicke  mit  seinem  taub- 
stummen Zögling  zu  dem  seit  Lessing  viel  geschmähten  Hauptpastor 
Göze  in  Hamburg.  Dieser  exaininirte  den  Knaben,  auch  in  Hinsicht 
auf  Religionskenntnis,  und  war  mit  dessen  Antworten  so  zufrieden, 
dass  er  erklärte,  der  Confirmation  stehe  nichts  im  Wege,  und  wenn 
Pastor  Granau  dieselbe  nicht  vollziehen  wolle,  so  sei  er,  Göze, 
gern  dazu  bereit. 

Nun  weigerte  sich  Granau  nicht  länger,  um  so  weniger,  da  er 
auch  vernahm,  wie  der  Hamburger  Oberpfarrer  sein  Auftreten  in  dieser 
Beziehung  beurtheilt  hatte. 

Es  konnte  nicht  fehlen,  dass  Heinicke's  Bemühungen  um  den 
taubstummen  Müllerssohn  auch  in  weiteren  Kreisen  Aufsehen  erregten. « 
Seine  Freunde,  Reimarus,  Büsching,  Unzer,  Klopstock,  Graf 
Schimmelmann,  die  mit  ihm  stetsfort  in  regem  persönlichen  Ver- 
kehr gestanden  und  an  seinen  Leiden  und  Freuden  in  Eppendorf  un- 
unterbrochen lebendigen  Antheil  genommen  hatten,  versäumten  nicht, 
von  dessen  glücklichen  Erfolgen  im  Taubstummenunterricht  der  Welt 
öffentlich  Kunde  zu  geben.  Die  Folge  davon  war,  dass  ihm  von  ver- 
schiedenen Seiten  Taubstumme  zur  Ausbildung  übergeben  wurden. 
Zu  Anfang  des  Jahres  1774  hatte  Heinicke  bereits  fünf  taubstumme 
Pensionäre  um  sich. 

Heinicke's  Ruhm  und  die  Zahl  seiner  taubstummen  Zöglinge 
wuchs  immer  mehr.  Die  Anforderung  an  seine  Kraft  überstieg  bald 
das  zulässige  Maß.   Die  Dorfschule  war  überfüllt  und  erforderte  eine 


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volle  Manneskraft,  und  doch  galt  es  auch,  die  taubstummen  Pensionäre 
nach  Möglichkeit  zu  fördern.  Es  war  eine  Riesenarbeit,  die  auf 
Heinicke  lastete,  die  nur  eine  solche  Persönlichkeit  einige  Jahre 
hindurch  bewältigen  konnte.  Auf  die  Dauer  konnte  es  aber  auch  diese 
eiserne  Natur  nicht  mehr  aushalten.  Dazu  kam,  dass  seine  Frau,  die 
als  Pflegemutter  seiner  Pensionäre  einen  guten  Theil  der  Last  zu 
tragen  hatte,  seit  ihrer  Ankunft  in  Eppendorf  fortwährend  kränkelte 
und  im  Herbst  des  Jahres  1775,  nachdem  sie  21  Jahre  lang  mit  ihm 
so  treulich  Freud  und  Leid  getragen,  ins  Grab  sank  und  ihm  vier 
unerzogene  Kinder  hinterließ.  Heinicke  fühlte,  dass  er  entweder  sein 
Schulamt  oder  sein  junges  Institut  aufgeben  müsse,  und  es  konnte 
ihm  nicht  fraglich  sein,  welches.  Zu  Ostern  1777  legte  er  seine  Stelle 
als  Schulmeister,  Küster  und  Cantor  nieder  und  lebte  allein  seinen 
taubstummen  Zöglingen;  doch  blieb  er  noch  ein  Jahr  in  Eppendorf. 
Dann  im  April  1778  zog  er  mit  seiner  Familie  und  9  Zöglingen  nach 
Leipzig  und  eröffnete  dort  seine  Anstalt,  die  heute  noch  als  ehrendes 
Denkmal  der  Thatkraft  und  treuer  Hingabe  des  Gründers  in  schönster 
Blüte  steht. 

Zwölf  Jahre  führte  Heinicke  die  Anstalt,  wenn  auch  oft  unter 
Schwierigkeiten  und  Anfechtungen,  mit  großem  Erfolg  fort.  Dass  er 
sich  in  so  viele,  seinem  Berufe  oft  gar  fern  liegende  Streitigkeiten 
verwickelte  —  er  brach  mehr  als  eine  Lanze  für  die  Kantische 
Philosophie  und  sprang  mit  den  Gegnern  derselben,  den  „Dunkel- 
männern", arg  genug  um  —  raubte  ihm  viel  Zeit  und  Stimmung, 
und  die  unzähligen  Fehden  machten  ihn  immer  händelsüchtiger.  Sein 
Streiten,  seine  Zähigkeit  und  Grobheit  galt  jedoch  immer  nur  dem, 
was  er  für  schlecht  und  verderblich  ansah. 

Seine  letzten  Lebensjahre  waren  keine  leichten.  Zu  allen  Bitter- 
keiten, die  er  durchzukosten  hatte,  traten  ernste  Gesundheitsstörungen. 
Die  Gicht  plagte  ihn.  Die  Anschuldigungen,  die  öffentlich  erhoben 
wurden,  er  behandle  seine  Zöglinge  hart,  scheinen  auf  argen  Über- 
treibungen von  Seite  seiner  vielen  Feinde  zu  beruhen. 

„Stand  auch  fast  alles  gegen  ihn  in  Waffen,  so  war  doch  in 
seinem  Hause  Friede  und  Freude.  In  diesem  Kreise  fand  er  Ruhe 
und  Erholung.  Seine  Zöglinge  und  seine  Kinder  bildeten  eine  große 
Familie,  bei  der  Mahlzeiten,  Erholung  und  Arbeit  gemeinsam  waren. 
Abends  aber,  wenn  die  Zöglinge  zur  Ruhe  gegangen  waren,  wurde 
viel  musicirt.  Heinicke  holte  die  Violine  herbei,  die  er  meisterhaft 
spielte,  die  Kinder  sangen,  und  nun  war  aller  Hader  und  Streit  ver- 
gessen; er  war  glücklich  im  Kreise  der  Seinen."  (Stötzner.) 


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Mit  Beginn  des  Jahres  1790  überfiel  ihn  die  Gicht  mit  erneuter 
Heftigkeit;  sie  verließ  ihn  nicht  mehr;  er  unterlag  derselben  in  der 
Nacht  vom  29.  auf  den  30.  April. 

Heinicke  hat  Über  100  Schüler  aus  aller  Herren  L&ndern  gehabt; 
aber  er  hinterließ  keine  Schätze,  seiner  zweiten  Gattin  nur  die  Sorge 
für  3  unerzogene  Kinder  und  für  die  immerhin  noch  junge  Anstalt 

Heinicke's  Grabstätte  ist  unbekannt;  in  den  Kriegsstürmen  der 
folgenden  Jahre  ist  sie  vergessen  worden. 

Nicht  aber  das  Andenken  an  den  verdienten  Mann.  Im  Jahr  1847 
erließ  ein  Comite  aus  den  ersten  Kreisen  Hamburgs  einen  „Aufruf 
znr  Begründung  eines  Nationaldenkmals  für  Samuel  Heinicke,  den 
Stifter  der  ersten  Taubstummenanstalt  Deutschlands."  Unter  Hinweis 
auf  die  allgemeine  Verehrung,  die  Frankreich  de  l'Epee  zollte,  sagt 
der  „Aufruf" :  „Aber  schuldet  nicht  auch  Deutschland  seinem  Wol- 
thäter  und  dem  der  Menschheit,  schuldet  nicht  namentlich  Hamburg, 
welches  ja  die  Wiege  des  deutschen  Taubstnmmenunterrichtes  ist,  dem 
um  die  Bildung  der  unglücklichen  Taubstummen  so  hoch  und  gewiss 
nicht  minder  als  de  l'Epee  verdienten  Heinicke  ein  Denkmal  der 
Liebe,  der  Dankbarkeit  und  der  Verehrung?" 

Der  Ertrag  der  Sammlung  war  jedoch  ein  geringfügiger  und 
reichte  nicht  zu  einem  Denkmal.  Ein  Theil  davon  wurde  zur  Unter- 
stützung einer  Enkelin  Heinicke's  verwendet,  der  Restbetrag  später 
an  Leipzig  abgegeben,  wo  die  Lehrer  und  Schüler  der  Taubstummen- 
anstalt im  Anschluss  an  die  Säcularfeier  des  Instituts  mit  Hilfe  von 
Freunden  dem  Gründer  desselben,  Heinicke,  im  August  1881  ein 
Denkmal  errichteten. 

Das  alte  Schulhaus  in  Eppendorf,  in  dem  Heinicke  seine  erste 
Wirksamkeit  als  Volks-  und  Taubstummenlehrer  ausübte,  ist  pietätvoll 
noch  in  seiner  alten  Ursprünglichkeit  erhalten.  Auch  hat  die  Ge- 
meinde das  Andenken  ihres  einstigen  Cantors,  Schulmeisters  und 
Küsters  dadurch  geehrt,  dass  sie  die  in  Eppendorf  auf  den  Markt- 
platz führende  breite  Straße  Heinickestraße  benannt  hat. 

rv. 

Methoden  des  Taubstummenunterrichts. 

Für  den  Taubstummenunterricht  werden  zwei  Hauptmethoden 
gehandhabt: 

Die  französische,  von  de  l'Epße  erfunden  und  befolgt,  und 
die  deutsche,  von  Heinicke  begründet. 

Das  Hauptunterrichtemittel  de  l'Epee 's  war  die  Zeichensprache, 


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—   563  — 

die  er  bis  ins  Detail  ausbildete.  Mittelst  derselben  brachte  er  den 
Schülern  alle  Kenntnisse  bei,  die  in  der  Schale  irgend  gelehrt  werden 
können,  Musik  ausgenommen.  Seine  staunenswerten  Erfolge  sind  un- 
widerleglich bezeugt.  An  die  Geberdensprache  schloss  er  die  Schrift- 
sprache, das  Schreiben,  an.  Erst  in  dritter  Linie  kam  bei  ihm  die 
Lautsprache,  die  Articulation,  das  Sprechen.  Diesem  Sprechen  sei 
einiger  Wert  für  den  Verkehr  mit  den  Menschen  zuzugestehen,  aber 
für  die  geistige  Ausbildung  der  Taubstummen  leiste  es  nichts;  es  sei 
ein  mechanisches  Thun  ohne  geistige  Ausbeute.  Er  gab  sich  darum 
geringe  Mühe,  seinen  Zöglingen  das  Sprechen  einzuüben. 

Heinicke  ging  ziemlich  den  umgekehrten  Weg.  Er  gründete 
den  Taubstummenunterricht  auf  die  Lautsprache,  die  Articulation,  das 
Sprechen.  Dieses  ist  ihm  die  Grundlage  für  die  geistige  Ausbildung, 
wie  für  die  Erwerbung  von  Kenntnissen.  Das  Schreiben  kommt  bei 
ihm  in  die  zweite,  die  Geberdensprache  in  die  dritte  Linie.  Zwischen 
de  l'Epee  und  Heinicke  entspann  sich  bald  ein  scharfer  Streit  über 
den  Wert  ihrer  Methode.  Heinicke  hatte  ihn  begonnen,  indem  er 
in  einer  Druckschrift  öffentlich  erklärte,  de  l'Epße's  und  anderer 
Thun  sei  nichts  weiter  als  Blendwerk,  Thorheit,  Betrug  und  Unsinn. 
In  der  so  begonnenen  Fehde  erwies  sich  de  l'Epee  als  ein  edler, 
ehrlicher,  gerader  Mann.  Er  legte  seine  Sache  klar,  deutlich,  für 
jedermann  verständlich,  dar.  Heinicke  erwies  sich  als  Meister  im 
polternden  Absprechen.  Sein  Unterrichtsverfahren  legte  er  nie  öffentlich 
und  klar  dar.  Er  behandelte  es  als  Geheimnis,  rühmte  sich  eines 
Arcanums  zur  Einprägung  der  Vocale.  Seine  Kunst,  seine  Wissen- 
schaft, sammt  dem  Arcanum  wollte  er  Stork  in  Wien  um  2000  Louisd'or 
verkaufen,  de  l'Epee  müsste  ihm  100000  Fr.  bezahlen.  De  l'Epee 
legte  die  Streitsache  unter  Beifügung  sämmtlicher  Actenstücke  einer 
großen  Zahl  von  Akademien  zur  Entscheidung  vor,  aber  nur  die  von 
Zürich  trat  darauf  ein,  wol  veranlasst  durch  den  intimen  Freund 
de  l'Epee's,  Pfarrer  Keller  in  Schlieren. 

Das  in  lateinischer  Sprache  abgefasste  Gutachten  der  Züricher 
ist  eine  vorzügliche  Arbeit,  würdig  im  Ton,  gründlich  und  klar  in  der 
Sache.  Die  Chorherren  und  Professoren  fassen  die  Hauptpunkte  des 
Streites  viel  bestimmter  auf  und  beweisen  eine  größere  Einsicht  in 
das,  um  was  es  sich  handelt,  als  die  beiden  Streitenden  selbst 

In  der  Einleitung  begründen  sie  ihre  Befugnis,  ein  Wort  in  dieser 
Sache  mitsprechen  zu  dürfen,  damit,  dass  sie  bezeugen  können,  nicht 
nur  die  eingesandten  Actenstücke,  sondern  auch  die  Schriften  beider 
Taubstummenlehrer  „sorgfältig  durchgangen"  zu  haben. 


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Es  sei  nun  zu  untersuchen,  ob  die  Behauptung  Heinicke's  richtig 
sei,  „dass  de  TEpee  vom  wahren  und  rechten  Weg  abgeirrt  sei  und 
er  allein  das  beste  und  vorzüglichste  Verfahren  in  dieser  Kunst  ge- 
funden habe  und  innehalte". 

„Also  das  ist  zu  erörtern",  wenden  sie  sich  direct  an  de  l  Epee, 
„was  er  an  dem  Verfahren  tadelt,  das  Du  als  ein  theilweise  von  Dir 
gefundenes  begonnen  hast  und  von  großem  Lob  wieder  gefeiert  schaust" 

Dann  analysiren  die  Züricher  Chorherren  das  Verfahren  de  l'EpeVs 
und  treten  dem  Vorwurf,  er  habe  keine  rechte  Grundlage,  da  er  die 
Lautsprache  nicht  gebrauche,  mit  folgenden  Worten  entgegen: 

„Wie  denn?  Brauchst  Du  einzig  das  Hilfsmittel  der  Schrift  im 
Unterricht  Deiner  Schüler,  setzest  Du  gar  nichts  an  die  Stelle  der 
Laute  (Tonsprache),  damit  der  Übergang  von  den  geschriebenen  Wörtern 
zum  Fassen  der  Dinge  selbst  erleichtert  würde?  Sind  also  die  Zeichen 
nichts  (les  signes  methodiques),  die  Du  methodische  heißest  und  wo- 
durch Du  nicht  nur  die  alltäglich  um  uns  herum  liegenden  Dinge 
aufs  geuaueste  bezeichnest,  sondern  auch  das  Verborgene,  den  Sinnen 
ganz  Unzugängliche  im  einzelnen,  wie  mit  einem  Körper  bekleidest, 
dass  es  deutlich  mit  den  Augen  geschaut  werden  kann?  Und  wenn 
wir  diese  Deine  unvergleichliche  und  über  alles  Glaubliche 
hinaus  ausgebildete  Kunst  über  alles  Lob  erhaben  heißen,  so 
fürchten  wir  nicht,  dass  wir  irgend  einem  Sachkundigen  und  Ein- 
sichtigen zu  viel  gelobt  zu  haben  scheinen.  So  hat  nun  der  Theil 
Deines  berühmten  Werkes  (Instruction  des  Sourds  et  Muete  par  la 
voie  des  signes  methodiques  1776)  auf  uns  einen  Eindruck  gemacht, 
dass  uns,  die  wir  vorher  über  manches  zweifelten,  nun  da  fürwahr 
ein  helles  Licht  hervorstrahlte,  und  so  haben  wir  da  Deinen  Scharf- 
sinn und  die  Sorgfalt  der  Lehre  bewundert.  Die  Schriftsprache  ist 
Dir,  Du  bewährter  Mann,  gar  nicht  ein  Werkzeug,  wodurch  Du  aus 
dem  Geist  der  Deinen  die  Kraft  zu  denken  und  zu  schließen  erst 
herauslocken  möchtest,  Uns  Vollsinnige  hat  die  klingende  Rede 
dorthin  geleitet,  die  Deinen  führt  eben  dahin  das  bewunderns- 
werte Kunstwerk  der  methodischen  Zeichen.  Was  wir  früher 
kaum  für  möglich  hielten,  das  zuzugeben  stehen  wir  gar  nicht  an, 
dass  nämlich  keine  der  im  Mund  und  Brauch  der  Menschen  lebende 
Sprache  voller  und  reichhaltiger  sei,  als  die,  welche  Du  mit  den 
Taubstummen  brauchst  Durch  sie  allein  würdest  Du  den  Deinen  allen 
das  Wesen  des  Menschen  wiedergeben,  wenn  Du  nicht  für  durchaus 
heilsam  hieltest  zur  Geistesbildung,  dass  überdies  das  Lernen  der  ge- 
schriebenen Buchstaben  dazu  komme  Doch  bedarf  Deine  Streit- 


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sache  ja  gar  wenig  der  Deckung  durch  Gründe;  sie  hat  nämlich,  was 
mehr  als  alle  Schlussfolgerung,  die  gewichtige  Autorität  der  Zeugen 
fftr  sich,  die  täglich  Dir  zuströmen;  deren  Wahrhaftigkeit  und  Ge- 
wissenhaftigkeit —  diejenige  Kaiser  Joseph's,  Linguet's,  selbst 
Perreire's,  Deines  Tadlers  —  mag  Heinicke,  wenn  er  es  kann,  zu- 
sammenreißen und  zeigen,  dass  falsch  und  von  Dir  ersonnen  sei,  was 
Du  sagst.  Wir  aber  haben  nicht  fern  von  unserer  Stadt  Deinen  ver- 
trauten Freund  Keller,  einen  trefflichen  Mann,  der  Deinen  Fuß- 
stapfen nachgehend,  in  der  gleichen  Kunst  aufs  schönste  waltet." 

Die  Begutachter  haben  aus  dem  Studium  von  Heinicke's  Streit- 
schriften die  Überzeugung  gewonnen,  „dass  er  de  l'Epee's  Verfahren 
nicht  kenne,  des  letzteren  oben  angeführte  Hauptschrift  nicht  gelesen 
und  nur  aus  ungewissem  Gerücht  geschöpft  habe  und  demnach  seine 
Einwendungen  nicht  zuträfen,  sondern  dahin  fielen". 

„Das  ist,  ruhmvoller  Mann,  was  wir  über  Euere  Sache  an  Dich 
glaubten  schreiben  zu  sollen,  nicht  um  Deiner  Sache  Hilfe  zu  bringen, 
was  Du  nach  unserm  Urtheil  nicht  bedurftest,  da  von  Dir  dem  Gegner 
über  genug  geantwortet  worden  ist,  sondern  nur,  um  Deinem  Ver- 
langen nachzukommen." 

„Dir  aber  sei  beschieden,  ein  friedvolles,  an  jeder  Glückseligkeit 
reiches  Alter  so  zu  genießen,  wie  Du  es  um  die  Menschheit  verdient 
hast.    Lebe  wol!" 

m 

Gegeben  den  7.  Februar  1783. 

Der  Convent  der  akademischen  Vorsteher: 
Dr.  Hess,  Professor  der  Philosophie. 
Dr.  Steinbrüchel,  Professor  der  griechischen  Sprache. 
Dr.  Schinz,  Professor  der  Physik  und  Mathematik. 
Dr.  Usteri,  Professor  der  Literatur. 
Dr.  Hottinger,  Professor  der  Beredsamkeit,  dem  die  Ab- 
fassung des  Gutachtens  übertragen  worden  war. 
Durch  die  Geheimniskrämerei  schadete  Heinicke  seiner  Sache 
so  sehr,  dass  sein  Unterrichtsverfahren  nach  seinem  Tode  völlig  ver- 
loren ging  und  die  französische  Methode  an  dessen  Stelle  trat,  selbst 
in  Leipzig.    Wandel  darin  schaffte  1832  erst  wieder  Pfarrer  Jäger, 
Lehrer  an  der  Taubstummenanstalt  Gmünden  in  Württemberg.  Er  erhob 
die  Laiitsprache,  das  Sprechen,  wieder  zur  Grundlage  des  Unterrichts. 
Von  da  aus  ging  dieses  Verfahren  in  den  30er  Jahren  durch  Scherr 
in  die  Taubstummenanstalt  in  Zürich  über. 

Der  Hauptreformer  aber  auf  dem  Gebiete  des  Taubstummenunter- 
richts in  unserer  Zeit  war  Hill,  als  Schriftsteller  und  Leiter  der 


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Taubstummenanstalt  in  Weißenfels.  Nicht  nur  hat  er  die  Lautsprache 
(in  Verbindung  mit  der  Schriftsprache)  zum  Hauptunterrichtsmittel 
erhoben,  sondern  auch  den  Unterrichtsstoff  organisirt  Nach  ihm 
soll  die  Taubstummenschule  —  mutatis  mutandis  —  der  wol- 
geleiteten,  nach  Pestalozzischen  Grundsätzen  geführten 
Volksschule  der  Vollsinnigen  gleich  sein.  Dieselbe  verstandige 
Auswahl  des  Lernstoffes  für  das  Leben,  nicht  blos  für  die  Schule  zum 
Abhören  am  Examen,  dieselbe  Anschaulichkeit  und  Lücken- 
losigkeit,  dieselbe  Selbstthätigkeit  im  Auffassen  und  Re- 
produciren. 

Die  von  Hill  angestrebte  und  auch  ins  Leben  gerufene  Gesammt- 
organisation  des  Taubstummenunterrichts  heißt  mit  vollem  Eecht  die 
deutsche  Schule.  Sie  hat  auch  für  lange  Zeit  vollständigen  Sieg 
errungen,  indem  sämmtliche  Taubstummeninstitute,  die  französischen 
nicht  ausgenommen,  fast  ohne  Ausnahme  ihr  Verfahren  adopürten. 

Wie  trefflich  der  Lehrer  Hill  seine  Schule  zu  fuhren  wusste, 
davon  war  der  Schreiber  dieser  Zeilen  1857  selbst  Zeuge.  Als  er  zu 
Hill  in  die  Classe  trat,  glaubte  er  sich  in  eine  gut  geführte  Schule 
Vollsinniger  versetzt,  so  frisch,  fröhlich,  lebendig  war  der  Unterrichts- 
verkehr in  der  Lautsprache.  Bei  wiederholten  Besuchen  habe  ich 
mich  immer  mehr  überzeugt,  welch  allseitigen  Gewinn  ein  Lehrer 
der  vollsinnigen  Kinder  aus  der  wiederholten  Anwohnung  bei  solchen 
Unterrichtsstunden  davon  trüge.  Er  würde  gründlich  davor  bewahrt, 
künftighin  über  die  Köpfe  der  Schüler  hinweg  ins  Wortwesen  oder 
—  mit  Pestalozzi  zu  reden  —  ins  Maulbrauchen  zu  verfallen. 
Hill  war  übrigens  in  der  Anwendung  seiner  Unterrichtsmittel  fern 
von  allem  Pedantismus.  So  sehr  er  die  Ausbildung  der  künst- 
lichen Zeichensprache  nach  de  l'Ep6e  missbilligte  und  für  eine  Ver- 
irrung  erklärte,  so  unbefangen  urtheilte  er  über  Wert  und  Anwendung 
der  natürlichen  Zeichensprache  beim  Unterricht.  Er  spricht  sich 
ganz  entschieden  gegen  den  Ausschluss  derselben  aus  und  begründet 
sein  Urtheil  ausführlich. 

Ganz  unerwartet  hat  sich  heute  nochmals  ein  Streit  entsponnen 
zwischen  der  deutschen  und  der  französischen  Methode.  Er  ist  bereits 
wieder  in  ein  acutes  Stadium  getreten,  kann  aber  nicht  mehr,  wie 
vor  hundert  Jahren,  den  Chorherren  in  Zürich  zum  Entscheid  vorgelegt 
werden.  Dagegen  ist  nun  die  höchste  Autorität  in  Deutschland,  der 
deutsche  Kaiser,  von  den  Taubstummen  selber  als  Schiedsrichter  an- 
gerufen. Der  Streit  ist  hervorgerufen  worden  von  einem  Lehrer  an 
der  Taubstummenanstalt  in  Breslau  durch  folgende  Reformschrift: 


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„Der  Taubstumme  und  seine  Sprache.  Erneute  Unter- 
suchungen über  das  methodologische  Fundamentalprincip 
der  Taubstummenbildung.  Von  Heidsiek,  Lehrer  an  der  Taub- 
stummenanstalt in  Breslau. u  Diese  Kundgebung  aus  den  Reihen  deutscher 
Taubstummenlehrer  macht  großes  Aufsehen.  Heidsiek  bestreitet,  dass 
der  deutschen  Methode  die  ausschließliche  Alleinherrschaft  ge- 
büre.  Er  verlangt  kategorisch,  dass  der  französischen  neben  ihr 
Baum  gegönnt,  und  dass  durch  eine  harmonische  Vereinigung  beider 
eine  allgemein  gültige  Methode  geschaffen  werde. 

„Dass  das  Votum  von  Heidsiek",  meint  Dittes,  „hie  und  da 
ziemlich  schroff  klingt,  und  dass  er  an  der  einen  Methode  die 
Schatten-,  an  der  andern  die  Lichtseiten  stärker  hervorhebt,  darf 
man  einer  Reformschrift  nicht  allzuhoch  anrechnen." 

Welche  Früchte  diese  Reformvorschläge  in  den  deutschen  Taub- 
stummenanstalten zeitigen  werden,  wird  die  nächste  Zukunft  lehren. 

In  den  jüngsten  Tagen  haben  die  Lehrer  an  der  Taubstummen- 
anstalt in  Breslau,  Heidsiek's  Collegen,  eine  scharfe  Erklärung  gegen 
diesen  in  der  Schlesischen  Zeitung  erlassen.  Sie  weisen  darauf  hin, 
dass  auf  den  internationalen  Congressen  zu  Mailand  und  Brüssel  die 
reine  Wortsprache  als  die  allein  richtige  erklärt  worden. 

Herrn  Heidsiek  aber  sind  die  Taubstummen,  die  Zöglinge  der 
deutschen  Taubstummenanstalten,  zu  Hilfe  gekommen.  Sie  treten  mit 
großer  Entschiedenheit  für  ihn  und  seine  Reformvorschläge  ein.  Das 
thut  nicht  nur  der  große  Taubstummenverein  in  Schlesien,  sondern  auch 
die  in  Preußen,  gegen  welche  hinwiederum  die  Taubstummenlehrer  Ber- 
lins auftreten.  Die  neueste  Kundgebung  ist  eine  von  Taubstummen  aus 
allen  Theüen  des  Deutschen  Reiches  unterzeichnete  Petition  an  den 
Kaiser,  worin  die  Petenten  bitten,  dass  die  lang  ersehnte  Einführung 
der  Geberdensprache  neben  der  Lautsprache  im  Taubstummenunter- 
richt Thatsache  werde.  Unter  dem  jetzigen  Mechanismus  „verblöde" 
und  „veröde"  der  Geist,   Das  Weitere  ist  abzuwarten. 

(Schluss  folgt.) 


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Die  Lehrer  und  die  Presse. 

Von  Rector  A.  Güd-Kassel 

Der  Lehrer  soll  seine  Thätigkeit  mit  der  Arbeit  in  der  Schale 
selbst  nicht  für  abgeschlossen  erachten,  er  muss  vielmehr  auch  aof 
die  Jugend  über  das  schulpflichtige  Alter  hinaus,  auf  die  Eltern  seiner 
Schüler,  auf  alle,  die  ein  Interesse  an  der  Schule  haben  oder  haben 
sollen,  einzuwirken  suchen.  In  kleineren  Orten  wird  ihm  das  durch 
persönliche  Unterredungen  möglich  sein,  in  größeren  Orten  seltener. 
Da  bietet  sich  ihm  ein  anderes  Mittel  der  Einwirkung,  das  ist  —  die 
öffentliche  Presse,  selbstverständlich  die  anständige.  Diese  Art  der 
Einwirkung  hat  den  besonderen  Vortheil,  dass  sie  sich  über  größere 
Kreise  erstreckt.  Wollte  man  einwenden,  dass  die  durch  die  Tages- 
presse  hervorgerufenen  Eindrücke  sich  schnell  wieder  verwischen,  so 
ist  das  nicht  ganz  abzustreiten,  es  bleibt  aber  doch  immer  etwas 
hängen,  wenn  der  richtige  Ton  angeschlagen  wird.  Die  Presse  be- 
schäftigt sich  heutzutage,  wo  sie  die  Wichtigkeit  der  Schule  als 
Culturfactor  anerkennt,  vielfach  mit  dieser.  Nicht  immer  geschieht 
dies  aber  in  einer  der  Schule  und  dem  Lehrerstand  ersprießlichen 
Weise.  Die  Lehrer  müssen  deshalb  selbst  eingreifen  und  für  die  Presse 
schreiben.  Ich  meine  nicht,  dass  sie  Reporter  für  dieselbe  werden 
sollen,  sondern  pädagogische  Volksschriftsteller.  Wenn  sie  dabei  nicht 
das  nächste  eigene  Interesse  durchblicken  lassen,  sondern  im  Interesse 
des  Volkes  schreiben,  so  wird  eine  heilsame  Rückwirkung  auf  die 
Verhältnisse,  das  Ansehen  und  die  Stellung  des  Lehrerstandes  nicht 
ausbleiben.  Wie  vielfach  kommen  die  Bewohner  größerer  Städte  in 
Verlegenheit,  wenn  die  Frage  an  sie  herantritt:  In  welche  Schule 
schicke  ich  mein  Kind?  Hier  bietet  sich  die  Gelegenheit,  den  Leuten 
für  die  ersten  Schuljahre  wenigstens  den  Besuch  der  Volks-  und  Bürger- 
schulen zu  empfehlen  und  damit  für  die  Idee  der  allgemeinen  Volks- 
schule thatkräftig  zu  wirken.  Tritt  die  Frage  der  Berufswahl  an  die 
aus  der  Schule  entlassenen  Kinder  und  ihre  Eltern  heran,  wer  sollte 
da  besseren  Rath  ertheilen  können  als  ein  einsichtiger  und  erfahrener 

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Schulmann?  Wie  mancher  wünscht  Aufklärung  über  den  Kindergarten, 
über  Jugendschriften,  Fortbildungsunterricht,  Taschengeld,  Tanz- 
stunden u.  a.  Der  Pädagoge  muss  in  diesen  Erziehungsfragen  das 
Elternhaus  berathen  können.  Gibt  er  hierin  guten  Rath,  so  hilft  er 
sein  eigenes  Erziehungswerk  vollenden  und  erwirbt  sich  den  Dank 
und  die  Anerkennung  der  Berathenen.  Die  Zeitungen  sind  mit  wenig 
Ausnahmen  noch  nicht  daran  gewöhnt,  ihren  Lesern  Leitartikel  über 
solche  Fragen  zu  bieten.  Wenn  sie  es  thäten,  so  würden  sie  ihren 
vornehmsten  Zweck,  nämlich  den,  der  Volksaufklärung  zu  dienen,  erst 
erfüllen.  Sollten  sie  jedoch  ihre  Leitartikel  nur  den  Fragen  der  hohen 
Politik  widmen  wollen,  so  stellen  sie  sicherlich  den  Raum  unter  dem 
Strich  zur  Verfügung.  Es  sind  besonders  die  Provinzialblätter  ins 
Auge  zu  fassen,  die  sicherlich  gern,  wenn  ihnen  guter  Stoff  geboten 
wird,  zugreifen  und  auch  Honorar  zahlen.  Diese  Blätter  suchen  recht 
eifrig  ihre  Leser  in  Lehrerkreisen;  sie  wissen,  der  Lehrer  liest  und 
hat  Einfluss.  Nun  beruht  alles  auf  Gegenseitigkeit:  soll  der  Lehrer 
ein  Blatt  halten,  dann  muss  ihm  dasselbe  auch  einen  Inhalt  bieten, 
der  ihm  zusagt  Die  Aufnahme  von  kurzen  Artikeln  über  Zeitfragen 
auf  dem  Gebiete  der  Schule  und  des  Lebens,  über  Schul-  und  Er- 
ziehungsfragen, Volkserziehung  und  Volksbildung  wird  heutzutage  keine 
Schwierigkeit  mehr  bereiten.  Da  sind  immer  wieder  zu  erörtern  die 
Fragen:  Weibliche  Bildung,  Fortbildung  der  Mädchen,  die  öffentlichen 
Schulprüfungen,  die  Hausaufgaben,  Fortbildungsschulen,  Gesetzeskunde 
in  der  Schule,  Volkswirtschaftliche  Belehrung  der  Jugend,  Knaben- 
handarbeit, Schulsparcasse,  Gesundheitspflege,  Schulaufsicht,  Volks- 
bildung, Volkserziehung  und  Volkswolfahrt,  Staats-  oder  Gemeindeschule, 
Allgemeine  Volksschule  oder  Standesschule,  Berechtigungswesen  u.  s.  w. 
Aach  wird  es  sich  empfehlen,  gelegentlich  des  Schulanfangs  einen 
Feuilletonartikel  über  den  ersten  Schulgang,  bei  der  Schulentlassung 
einen  solchen  über  den  letzten  Schultag  oder  an  deren  Stelle  an- 
sprechende Gedichte,  und  an  den  Gedenktagen  von  Männern,  die  sich 
um  das  Schul-  und  Erziehungswesen  verdient  gemacht  haben,  kurze, 
packende  Lebensabrisse  in  die  Blätter  zu  setzen,  ich  denke  da  an 
Comenius,  Pestalozzi,  Fröbel,  Diesterwcg  u.  a.  Auf  solche  Weise  wird 
das  öffentliche  Interesse  der  Schule  immer  mehr  zugewandt,  es  wird 
von  berufener  Seite  und  in  einer  der  Schule  und  dem  Lehrerstande 
förderlichen  Weise  über  Schul-  und  Erziehungsfragen  geschrieben,  und 
wenn  man  erst  einsieht,  welches  Kleinod  man  an  der  Schule,  ins- 
besondere der  Volksschule  hat,  dann  wird  solche  Einsicht  nicht  in 
letzter  Linie  den  Lehrern  zugute  kommen.   Warnen  möchte  ich  vor 


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der  zu  speziellen  Behandlung  der  Gehaltsfrage  der  Lehrer  in  der 
Tagespresse.  Werden  die  Einzelnheiten  derselben  mitgetheilt,  so  darf 
man  sich  nicht  wundern,  wenn  der  gewünschte  Erfolg  ausbleibt,  viel- 
mehr häufig  das  Gegentheil  eintritt.  Bei  schlechter  Gestellten  erregt 
die  Lage  der  Lehrer  vielfach  noch  Neid,  von  Seiten  des  Geldprotzen- 
thums aber  mitleidiges  Achselzucken,  ja  Verachtung. 

Man  hat  seitens  der  Lehrerschaft  die  verschiedensten  Zeitschriften 
begründet,  die  ein  einmüthiges  Zusammenwirken  von  Schule  und  Haus 
und  Aufklärung  über  Schulfragen  bezweckten,  der  Erfolg  blieb  aber 
weit  hinter  den  Erwartungen  zurück.  Die  Leute  sind  nicht  gewöhnt, 
Artikel  über  Erziehungs-  und  Schulfragen  zu  lesen.  Gewöhnen  wir 
sie  daran,  indem  wir  sie  ihnen  in  den  öffentlichen  Blättern  bieten. 
Ich  habe  seit  länger  als  einem  Jahrzehnt  die  verschiedenen  Blätter 
meines  Wirkungsortes  nach  dieser  Richtung  hin  beeinflusst  und  die 
günstigsten  Erfahrungen  gemacht.  Die  ausgestreuten  Samenkörner 
sind  oft  gar  bald  aufgegangen  und  haben  Früchte  gebracht.  Darum, 
Oollegen,  überall  ans  Werk. 

In  der  preußischen  Provinz  Schlesien  hat  der  Frankenstein-Peter- 
witzer  Lehrerverein  bereits  die  Anregung  zur  Bildung  einer  „Press- 
commission" gegeben,  welche  die  Aufgabe  hat,  das  Verhältnis  zwischen 
Schule  und  Haus  dadurch  zu  fördern,  dass  sie  kleine,  die  Schule  und 
das  Schülerleben  betreffende  Originalaufsätze  den  politischen  und  unter- 
haltenden Tagesblättern  zustellt.  Der  Schlesische  Provinzial- Lehrer- 
verein hat  die  Ausführung  dem  Görlitzer  Lehrerverein  übertragen,  der 
in  einem  längeren  Aufruf  an  die  schlesische  Lehrerschaft  diese  auf- 
fordert, ihn  durch  Abfassung  und  Einsendung  von  interessant  und 
populär  geschriebenen  Artikeln,  sowie  durch  Gewinnung  von  Zeitungen, 
die  geneigt  sind,  solche  Aufsätze  zu  veröffentlichen,  zu  unterstützen. 
Zur  Bearbeitung  werden  u.  a.  empfohlen:  Schul  Versäumnisse ,  das 
Zuspätkommen,  die  Hausaufgaben,  Jugendschriften,  Elternzeitungen, 
das  Romanlesen,  was  soll  das  Kind  vor  der  Schulzeit  lesen?  etc. 

In  derselben  Weise  sollten  alle  Provinzialvereine  vorgehen.  Auch 
für  den  von  Berlin  aus  geplanten  Deutschen  Lehrer-Schriftsteller-Bund 
wäre  das  eine  entsprechende  Aufgabe,  er  könnte  eine  literarische 
Sammelstelle  bilden,  von  wo  aus  die  deutsche  Presse  sich  mit  Stoff 
versorgen  könnte. 

Doch  das  eine  thun  und  das  andere  nicht  lassen;  bevor  solche 
Centraistellen  geschaffen  sind,  muss  der  Lehrer-Schriftsteller  in  seinem 
nächsten  Gebiete  die  Presse  beeinflussen. 


« 

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Lehrers  Erden  wall  fahrt. 

Ein  Sang  von  Leid  und  Lust  dos  Lehrerlebens  von  K.  Albert» 

Widmung. 

Euch  allen,  die  ein  ganzes  Leben 
Im  Dienst  der  Menschenbildung  stehn, 
Die  oft,  von  Sorgenschwall  umgeben, 
Verkannt  in  dunkler  Tiefe  gehn, 
Die  Feindesmund  des  schnöden  Sinnes, 
Ach,  wie  so  häufig!  lästernd  zeiht: 
Der  Sucht  des  Ehr-  und  Geldgewinnes  — 
Euch  allen  sei  dies  Lied  geweiht! 

Es  redet  nicht  von  Prunkpalästen, 
Es  singt  nicht  hoher  Helden  Preis 
Und  führt  Euch  nicht  zn  stolzen  Festen  — 
Nein,  in  des  eignen  Lebens  Kreis, 
In  jenen  stillen  Kreis,  darinnen 
Dir  selber  werdet,  lebt  und  schafft, 
Der  Menschheit  Segen  zu  gewinnen 
In  Treuen  ringt  mit  Ernst  und  Kraft. 

Manch  Bildchen  wird  Erinn'rung  wecken, 
Das  eine  trüb,  das  andre  froh, 
Gedenken  arger  Dornenhecken 
Und  schöner  Auen  sonnig-froh. 
Manch  Verslein  wird  Euch  herzlich  mahnen: 
„Ihr  Brüder,  überseht  es  nie, 
Wie  reich  auch  Eure  stillen  Bahnen 
An  echter,  reiner  Poesie!" 

Die  Freude,  die  in  stillen  Stunden 
Vielleicht  ein  Lehrerherz  beglückt, 
Das  solch  Erkennen  hier  gefunden  — 
Sie  ist  der  Lohn,  der  mich  entzückt! 
Sie  wird  die  Kräfte  neu  beleben, 
Ein  Himmelslicht  in  Alltagsnotht 
So  nehmet  denn,  was  ich  gegeben, 
So  freundlich  an,  wie  ich's  Euch  botl 


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-    572  — 


Erster  Gesang:. 

In  Prüfungsnoth. 

Frischer,  klarer  Frühlingsmorgen! 
Rein  und  kräftig  kam  sein  Odem 
Von  den  waldgekrönten  Höhen. 
Majestätisch  ruhig  ragten, 
Hell  vom  Glanz  der  Morgensonne 
Überflutet,  die  verklärten 
Gipfel,  flammenden  Altären 
Zu  vergleichen.   Mächt'ge  Säulen 
Lichten  Nebels  schwebten  schimmernd 
Wie  der  Rauch  von  Opferbränden 
Droben  langsam  himmelwärts. 

Thaufrisch  lag  die  weite  Ebne, 
Da  und  dort  noch  kahl  und  braun,  doch 
Meistens  Üppig  prangend  in  dem 
Lenzgewand  von  jungem  Grün,  drin 
Lächelnd  schon  zuweilen  lichte 
Blumenaugen  lockend  blinkten. 
Lustig  sprangen  jetzt  die  Häslein, 
Frei  von  Winternoth  und  Sorge, 
Durch  die  üpp'gen  Weidegründe. 
Wirbelnd,  wie  berauscht  von  Wonne, 
Schwang  die  Lerche  sich  zum  Himmel. 
Durch  die  feuchten  Wiesengründe 
Schritt  der  Burgherr  von  dem  Schornstein, 
Schritt  Freund  Storch,  der  rothbestrumpfte, 
Langbebeinte,  schnabelkräft'ge, 
Würdig  wie  ein  Herr  Geheimrath 
Gravitätisch  und  bedächtig 
Und  der  Froschjagd  ernst  beflissen. 
Traulich  saß  die  goldgeschmückte 
Liebe  Ammer  auf  den  Bäumchen, 
Die  am  Rand  der  breiten  Straße 
Eben  Blütenknösplein  trieben. 
Melancholisch  und  doch  seltsam 
Herzerquickend  klang  ihr  Lockruf 
Über  die  bethauten  Fluren 
An  das  Ohr  des  jungen  Wandrers, 
Der  an  Vögleins  luft'gem  Sitze 
Rüstig  dicht  vortiberschritt. 

Neckisch  halb  und  halb  verdrießlich 
Sah  der  schmächtig  aufgeschoss'ne, 
Kaum  den  Knabenschulen  entwachsne 
Jüngling  auf  das  liebe  Thierchen. 


-    573  — 


„Du  hast'ß  freilich  besser,  kleiner 
Lust'ger,  lieber  Freund  des  Landmanns  !** 
Sprach  er  mit  besorgten  Mienen. 
„Ohne  Kummer  schwirrst  du  selig 
Von  dem  ersten  Morgengrauen 
Bis  zum  Untergang  der  Sonne 
Durch  die  reinen  Frühliugslüfte, 
Schmausest,  treibst  mit  deinesgleichen 
Kurzweil  aller  Art  und  pfeifst  so, 
Wie  der  Schnabel  dir  gewachsen. 
Glücklich  bist  du!  Was  Examen 
Heißet,  du  erfährst  es  nie!" 

Und  das  Vöglein  blickte  schweigend, 
Schier  verwundert  auf  den  Jüngling, 
Fast,  als  wollt'  es  zu  ihm  sagen: 
„Eia,  Menschenkind,  wie  thöricht, 
Dass  du  an  solch  schönem  Morgen 
Gar  so  grämlich  in  die  Welt  schaust! 
Zwar  dein  Böcklein  ist  ein  wenig 
Abgeschabt,  besonders  an  den 
Nähten  und  den  Ellenbogen; 
Allzukurz  ist  auch  das  Höslein, 
Wie  gemacht  für  einen  andern, 
Wen'ger  rasch  getriebnen  Schössling. 
Selbst  das  Hütlein  ist  nicht  völlig 
Ohne  Spuren  höhern  Alters, 
Und  die  derben  Schuhe  künden, 
Dass  du  nicht  von  hohem  Adel. 
Doch  was  thut  das?  Im  Gebirge, 
Zwischen  Wiese,  Wald  und  Heide 
Bist  du  ja  gesund  erwachsen! 
Deines  Blutes  reine  Welle 
Kreist  gar  lustig  durch  die  Adern, 
Und  dein  Antlitz,  deine  Augen 
Können  wol  recht  fröhlich  leuchten. 
Fasse  Mut!  Wie  oftmals  denkt  man: 
,Wäre  doch  nur  das  und  jenes, 
Was  mich  jetzt  so  quält  und  ängstigt, 
Endlich,  endlich  auch  vorüber!' 
So  vertrauert  man  die  Tage, 
Statt  sie  freudig  zu  genießen. 
Und  ist  das,  was  man  solange 
Unter  Zittern,  unter  Zagen 
Nahen  sah,  vorbeigegangen, 
Denkt  man  meistens  leise  lächelnd: 
„Hm,  es  war  auch  weiter  nix!u 

racdagogiwin.    14.  Jahrg.    Heft  IX.  40 

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—    574  — 


Und  der  Jüngling  mit  dem  frischen 
Antlitz  and  den  hellen  Augen 
Schien  des  Vögleins  nngesprochne 
Milde  Mahnung  zu  verstehen, 
Hob  den  Kopf  mit  festem  Willen, 
Schwang  seiu  Knotenstöcklein  muthig 
Und  betrachtete  die  ferne 
Stolze  Stadt  mit  ihren  Thürmen. 
Ihrem  hochgelegnen,  alten 
Schlosse,  ihrem  Meer  von  Dächern 
Mit  ganz  andern  Blicken.  Rüstig 
Schritt  er  weiter  und  gelangte 
Zeitig  in  die  frühbelebten 
Lännerfüllten  sanbern  Straßen. 
Welche  Welt  von  Pracht  und  Wundern 
Für  das  schlichte  Kind  des  Waldes, 
Das  wie  träumend  an  den  Läden 
Voller  Glanz  und  voller  Schätze 
Und  voll  niegesehner  Dinge 
Langsam  still  vorüberwallte! 
Welche  Lust,  inmitten  solcher 
Herrlichkeiten  all'  die  künft'gen 
Tage  fröhlich  zu  verleben! 
Welches  Glück,  die  frischen  Krieger 
Künftig  immer  schaun  zu  können. 
Die  soeben  flott  und  schneidig 
Bei  dem  Klange  rauschend  lauter, 
Feuriger  Musik  an  unserm 
Jnngen  Freund  vorfiberschritten! 
Also  denkend,  kam  er  endlich, 
Müde  von  dem  vielen  Fragen, 
Nach  dem  Sitz  der  Lehrerbildung, 
Vor  das  alte,  düsterernste, 
Schwarzgrau  angehauchte  Kloster, 
Drin  voreinst  die  Franciscaner 
Ihre  Tage  still  beschaulich, 
Manches  Mal  auch  tapfer  zechend 
Zugebracht.   Mit  dumpfem  Dröhnen 
Rief  die  Klosterglocke  eben 
Hoch  herab  die  achte  Stunde. 
Arg  erschrak  das  Kind  der  Berge, 
Denn  genau  zur  achten  Stunde 
Sollte  es  im  Seminare 
Sich  zar  Prüfung  stellen;  also 
Stand  es  in  dem  großen  Briefe 
Von  der  höchsten  Schulbehörde 
Dürr  und  kalt  mit  strengen  Worten. 
Hurtig,  wie  verfolgt  von  Häschern, 


—    575  — 


Flog  der  Jüngling  durch  das  hohe, 
Düstere  Portal,  darüber, 
Hell  in  goldnen  Lettern  leuchtend, 
Stand  geschrieben  „Seminar". 

Eilig  trat  er  in  die  Schauer 
Feuchter,  dumpfer,  hochgewölbter 
Klosterräume.   Harrend  vor  der 
A  usgetretnen  Wendeltreppe 
Stand  der  hag're,  kühnbenaste, 
Mit  den  starren  Mäuseaugen 
.Rastlos  späh'nde  Anstaltsdiener, 
Den  die  übermüt'ge  Jugend 
Unter  sich  mit  zähem  Frevel 
„Cerberus4  zu  nennen  pflegte. 
Tadelnd  prüfte  der  Gestrenge 
Unsern  Spätling;  auf  der  Stirne 
Schwere  Falten,  leise  hüstelnd 
Wie  das  schleichende  Verhängnis, 
Wies  er  wortlos  aufwärts.  Zagend, 
In  der  Hand  die  Federbüchse, 
An  die  Brust  gepresst  die  eben 
Erst  erstandenen  unschuldweißen 
Blätter,  die  sein  bisslein  Wissen 
Darthun  sollten,  stand  der  Jüngling 
Vor  der  Thöre,  drauf  in  großen, 
Grausen  Zügen  stand  geschrieben 
„Prüfungssaal".   Er  pochte  leise, 
öffnete  und  schritt  in  Sorgen 
In  den  Raum,  so  leis,  so  zagend, 
Gleich  als  gelte  es  zu  wandern 
Durch  das  grause  Thor  des  Todes. 
Düster  schwärzlich  standen  schon  die 
Sehr  gestrengen  Herrn  Magister 
Vor  der  bangenden  Corona, 
Die  wie  eine  stumme  Horde 
Auserkorner  Opferthiere 
Auf  den  Bänken  harrte.  Fragend 
Schaute  nun  der  Herr  Director 
Auf  den  eben  Eingetretnen, 
Hielt  ihm  schweigend  seine  Uhr  hin, 
Sagte  feierlich  gemessen: 
„Pünktlichkeit  ist  hohe  Tugend, 
•Ganz  besonders  künft'ger  Lehrer  !tt 
Wies  dann  leise  lächelnd  nach  den 
Bänken,  also  ruhig  wehrend 
All'  den  stammelnd  vorgebrachten 
Worten  der  Entschuldigung. 

Nun  begann  der  Prüfungsrei?en. 

40* 

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—    576  — 


All'  die  Leutchen,  die  da  hockten. 
Hergeschneit  aus  allen  Winden, 
Mussten  anf  den  unschuldweißen 
Blattern  darthun,  was  an  Können 
Und  an  Wissen  schon  errungen. 
So  von  früh  bis  Sonnensinken 
Durch  zwei  lange,  lange  Tage 
All  die  klingenden  und  stummen 
Hirnregister  aufzuziehen, 
Traun,  das  ist  kein  Kirschenessen  f 
Erstlich  galt's,  der  Heimat  Reize 
Klar  und  fesselnd  darzulegen; 
Dann  in  nachgeschrieenen  Sätzen 
Nachzuweisen,  dass  man  mit  den 
Grausen  Regeln  richtigen  Schreibens 
Wol  vertraut  sei  und  nicht  etwa 
Gar  auf  offnem  Kriegsfuß  stehe. 
Dann,  o  Grausen!  mnssten  alle 
Mit  der  Teufelskunst  des  Rechnens, 
Mit  der  argen  Formenlehre 
Stundenlang  sich  weidlich  plagen. 
Mancher  saß  da  wie  vernagelt, 
Rathlos  an  der  Feder  kauend. 
Weiter  hatten  sich  die  Leutchen 
Mit  der  Weltgeschichte  Helden, 
Mit  den  Massen  fremder  Völker 
Gründlich  noch  herumzuschlagen, 
Mussten  ohne  Karten  kühnlich 
Auf  Entdeckungsreisen  ausziehn, 
Mit  den  Bestien  der  Wildnis, 
Mit  den  Lebenwesen  allen, 
Die  in  Waldern  und  in  Feldern, 
In  der  Luft  und  in  der  Erde 
Ihr  vergnüglich  Dasein  führen, 
Einen  argen  Strauß  bestehen. 
Mit  dem  Blitz  und  mit  dem  Donner, 
Mit  dem  Wunderbau  des  Auges, 
Mit  des  Hebels  arg  verzwickten 
Mancherlei  Gesetzen  mussten 
Sie  vertraut  sein.  Als  dies  alles 
Und  noch  manches,  manches  andre 
Endlich  war  vorbeigegangen, 
Kam  Frau  Musica  als  Abschluss. 
Hei,  wie  tastete  so  mancher 
Wunderliche  Harmonieen! 
Hei,  wie  ächzte,  quikte,  kreischte 
Manchmal  da  die  Violine, 
Wie  vom  bösen  Geist  besessen! 


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—    577  — 


Und  doch  war  es  eine  echte, 
Alte,  köstliche  Amati, 
In  den  rechten  Händen  feurig-, 
Schmelzend,  seelenvoll  erklingend. 
Schaudernd  hielt  der  würd'ge  alte 
Musikmeister  sich  die  Ohren 
Öfter  zu  mit  beiden  Händen, 
Wenn  die  Gute  unterm  Striche 
Eines  Stümpers  also  klagte. 
Auch  beim  Singen  war's  nicht  ohne; 
Manche  krähten  wie  die  Hähnlein, 
Scheu,  mit  halbgebrochner  Stimme, 
Und  mit  sorgenvoller  Stirne 
Hörte  stumm  der  Meister  zu. 

Als  nun  schriftlich  so  wie  mündlich 
Alles  nach  Gebür  vollendet, 
Zogen  sich  die  Lehrer  ernsthaft, 
Das  Ergebnis  zu  beraten, 
Aus  dem  Prüfnngssaal  zurück. 
Leise  plauderten  die  armen. 
Vielgeplagten  jungen  Leute 
Und  besahen  sich  genauer. 
Mancher  war  gar  seltsam  bäurisch. 
Ungelenk  und  träg  von  Worten, 
Sommersprossig,  ja  der  eine 
Leuchtete  im  Schmucke  feurig 
Rothen  Haares  wie  ein  Brandfuchs. 
Doch  gerade  diese  jungen 
Dorfbewohner  waren  alle 
Unverdorben,  harmlos-schüchtern. 
Andre,  die  in  feiner  Kleidung 
Prangten,  traten  keck  und  sicher 
Auf  wie  fesche  Modeherrlein. 
Und  doch  hatte  mancher  drunter 
Wenig  Grund  zu  solchem  Wesen, 
Denn  nachdem  er  lange  Jahre 
Fruchtlos  in  den  hohem  Schulen 
Bänke  wund  gescheuert  hatte, 
War  er  jetzo  abgeschlenkert, 
Und  das  ernste  Lehramt  sollte, 
Ob  er's  früher  gleich  verachtet. 
Nun  zu  Brot  verhelfen.  Leise 
Plauschte,  plauderte  die  Jugend 
Ton  den  Schrecken  des  Examens, 
Den  gemachten  Fehlern  und  den 
Ungezählten  bösen  Fragen; 
Von  der  Lehrer  Weise,  von  dem 
Zvl  erwartenden  Ergebnis 


—    578  — 


Sprach  man  sehen  in  Fnrcht  und  Hoffnung. 

Mancher  blähte  sich  gewaltig 

Wie  der  Gockel  auf  dem  Kirchthurm; 

Andre  wagten,  blass  vor  Sorge, 

Kaum  zu  athmen;  wieder  andre 

Bargen  ihres  Herzens  Ängste 

Hinter  schlechten  Witzen;  nur  der 

Leuchtende  Germanenjüngling 

Blieb,  geheimnisvolles  Lächeln 

Auf  dem  sommerspross'gen  Antlitz, 

Unbewegt  sich  völlig  gleich. 

Endlich  nahte  die  Entscheidung  f 
Würdig,  wie  sich's  für  die  Lehrer 
Künft'ger  Lehrer  will  gebüren, 
Traten  jetzt  die  schwärzlich-düstern 
Herren  wieder  ein.  Gewaltig 
Redete  das  Haupt  der  Anstalt 
Von  des  Lehramts  hoher  Würde, 
Von  dem  Segen,  den  ein  guter 
Lehrer,  wirkend  Übers  Grab  noch, 
In  der  Menschheit  stiften  könne; 
Von  den  ernsten  Forderungen, 

Die  man  heutzutage  schon  an 
Jene  jungen  Leute,  die  sich 

Diesem  herrlichen  Berufe 

Widmen  wollten,  stellen  müsse. 

Und  nun  las  er  unbarmherzig 

Ab  nach  alphabet'scher  Ordnung, 

Wer  bestanden,  wer  gefallen. 

Hei,  wie  leuchteten  die  Blicke 

Jener  nun  in  heller  Freude! 

Hu,  wie  schauten  diese  düster, 

Da  sie,  hurtig  abwärts  polternd, 

Also  glänzend  durchgerasselt! 

Mancher  von  den  feinen  Herrlein, 

Die  so  hoch  einhergefahren 

Und  die  „dummen  Bauernjungen" 

Ganz  von  oben  her  betrachtet, 

War  darunter  und  schlich  trotzig, 

Ein  verächtlich  Lächeln  um  die 

Festgekniffnen  Lippen,  aus  der 

Erst  so  kühl  und  überlegen 

Angeschauten  Anstalt,  die  sich 

Plackt  mit  Wissenselementen, 

Mit  der  Kunst  des  Lesenlehrens 

Und  mit  andern  schlechten  Dingen. 

Selig  glänzten  auch  die  Augen 

Unsers  jungen  Freundes  ans  dem 


—    579  — 


Waldgebirge,  denn  gar  gütig 
Hatte  des  Direktors  Stimme 
Ihm  verkündigt:  „Walter  Ehrlich 
Hat  bestanden  nnd  wird  wegen 
Ganz  besonders  guter  Leistung 
In  die  künft'ge  Gasse  als  der 
Zweite  Schüler  aufgenommen.- 
Wie  ein  fernes,  wunderreiches 
Land  voll  Sonnenschein  und  Wonne 
Sah  er  seiner  Zukunft  Tage 
Vor  den  trunknen  Blicken  liegen, 
Dass  ihm  fast  begann  zu  schwindeln. 
Was  sonst  noch  geschah,  er  merkte 
Nichts  davon  in  seiner  Freude, 
Nichts  vom  Grimm  der  Durchgefallnen, 
Von  dem  Glücke  Mitbeglückter. 
Immer  wieder  dacht'  er  fröhlich 
An  der  guten  Eltern,  an  des 
Treuen  Lehrers  und  des  wackern 
Pfarrherm  Frende  über  solches 
Unerwartetes  Gelingen. 
Doch  als  nnn  der  Anstalt  Führer 
Milde  Worte  der  Ermahnung 
An  die  vom  Erfolg  Gekrönten 
Richtete  nnd  ernste  Weisung 
über  manche  ttnß're  Dinge 
Gab,  da  spitzte  er  die  Ohren, 
Prägte  sich  die  Worte  sorglich 
Ins  Gedächtnis,  in  das  Herz  und 
Gab  sich  selber  das  Gelöbnis, 
Allezeit  ein  treuer,  frommer 
Thäter  solchen  Worts  zu  sein. 

Jetzt  mit  Segenswunsch  entlassen, 
Flog  behend  die  Jugend  abwärts, 
Flog  vorbei  an  dem  Gestrengen, 
Der  noch  immer  am  Portale 
Wache  hielt  mit  wunderbarem, 
Unbegreiflich  hohem  Ernste. 
Wie  sie  hergekommen,  stoben 
Dann  geschwind  nach  allen  Winden 
Unsre  jungen  Prüfungsopfer 
Auseinander.   Walter  Ehrlich 
Schritt  mit  frohgehobnem  Herzen 
Glücklich  lächelnd,  selig  träumend, 
Pfeifend,  singend  und  sein  Stöcklein 
Ab  und  zn  verwegen  schwingend, 
Gar  geschwinde  heimatwärts. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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1 

I 


I 


Pädagogische  Rundschau. 

Deutsches  Reich.  Im  Aprilhefte  (S.  446—47)  brachte  das  „Paedag." 
eine  Übersicht,  welche  ein  Bild  des  gegenwärtigen  6  es  ach  s  der  deutschen 
Universitäten  entwirft.  Hente  möge  dasselbe  noch  vervollständigt  werden, 
indem  wir  nach  Aschersons  Kalender  die  Zahl  der  Professoren  mittheilen, 
welche  an  den  Hochschulen  Deutschlands  (sowie  Österreichs  und  der  Schweiz) 
wirken:  Nach  der  Zusammenstellung  in  Professor  Aschersons  Universitäts- 
kalender hat  jetzt  die  Universität  Berlin  die  meisten  Lehrer,  nämlich 
356,  während  Wien  320  hat.  Es  folgen  Leipzig  mit  195,  München  165, 
Halle  139,  Breslau  138,  Bonn  126,  Straßburg  122,  Göttingen  und  Heidel- 
berg 120,  Zürich  119,  Bern  113,  Prag  108,  Freiburg  i.  Br.  und  Graz  106, 
Königsberg  95,  Jena  94,  Marburg  93,  Tübingen  91,  Kiel  88,  Greifswald  84, 
Innsbruck  80,  Wiirzburg  74,  Gießen  und  Erlangen  64,  Rostock  45,  die  Akademie 
Münster  43,  Czernowitz  (3  Fakultäten)  39,  Freiburg  in  der  Schweiz  38,  Lyceum 
Hoseanum  in  Braunsberg  9;  zusammen  3674  Lehrer.  Berlin  hat  auch  die 
meisten  außerordentlichen  Professoren,  nämlich  87;  es  ist  überhaupt  die  einzige 
Universität,  wo  die  Zahl  der  außerordentlichen  Professoren  die  der  ordentlichen 
übersteigt;  von  letzteren  gibt  es  in  Berlin  nur  83,  während  die  meisten  Wien 
mit  91  hat.  Im  ganzen  gibt  es  auf  den  deutschen  Universitäten  zur  Zeit  1476 
ordentliche  Professoren,  davon  in  München  66,  Leipzig  64,  Göttingen  63, 
Breslau  62,  Bonn  und  Straßburg  60,  Prag  54,  Halle  51,  Tübingen  50,  Königs- 
berg und  Heidelberg  45,  Freiburg  i.  B.  und  Greifswald  44  u.  s.  w.  Außer- 
ordentliche Professoren  gibt  es  im  ganzen  685,  nächst  Berlin  die  meisten  (51) 
in  Leipzig.  Leipzig  hat  auch  die  meisten  Honorarprofessoren,  nämlich  13, 
und  übertrifft  damit  auch  Berlin,  das  einschließlich  der  lehrenden  Mitglieder 
der  Akademie  der  Wissenschaften  10  Honorarprofessoren  zählt.  Heidelberg 
und  Jena  haben  je  8,  München  5,  Freiburg  i.  B.  4,  Wien  nur  3.  Die  meisten 
Privatdocenten ,  lesende  Assistenten,  hat  wiederum  Wien,  wo  deren  nicht 
weniger  als  172  lehren,  während  Berlin  den  zweiten  Platz  mit  156  einnimmt. 
Es  folgen  München  mit  67,  Zürich  mit  57,  Bern  mit  50,  Halle  mit  42  u.s.  w. 
Im  ganzen  gibt  es  1123  Privatdocenten.  Wenn  man  die  Lehrer  des  orienta- 
lischen Seminars  hinzurechnet,  hat  Berlin  auch  die  meisten  Sprach-  und  Exer- 
citienmeister  (20),  Wien  hat  13,  Halle  und  Heidelberg  10,  Breslau  8,  Greifs- 
wald, Marburg  und  Münster  7  u.  s.  w. 


Aus  Sachsen.  (Febr.  bis  Mai  1892.)  Während  unsere  Coilegen  in  Preußen 
weder  ein  Schul-,  noch  ein  Schul  dotationsgesetz  begrüßen  durften,  ist  uns 


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die  Freude  widerfahren,  dass  sowol  unser  Pensions-,  als  auch  unser  Dota- 
tionsgesetz wesentlich  verbessert  wurden. 

A.  Beide  Kammern  des  im  April  d.  J.  geschlossenen  Landtages  haben  das 
Pensionsgesetz  für  Lehrer  und  Geistliche,  durch  welches  dieselben  den 
Civilstaatsdienern  gleichgestellt  werden,  einstimmig  angenommen.  Wir  be- 
gnügen nns,  diesen  versöhnenden  Act  der  Gesetzgebung,  den  die  Lehrer  schon 
seit  mehr  als  7  Jahren  wünschten  (s.  Paedag.  VIII,  S.  475),  an  dieser  Stelle 
einfach  mit  Bank  zu  verzeichnen,  indem  wir  die  geehrten  Leser  auf  unsern 
vorigen  Bericht  hinweisen.    (S.  Märzheft  d.  J.,  S.  391—92.) 

B.  Das  Gesetz  über  die  Gehaltsverhaltnisse  der  Volksschul- 
Lehrer  ist  günstiger  geworden,  als  es  anfänglich  scheinen  wollte.  (März- 
heft S.  392 — 93.)  Die  Staatsregierung  hat  anfangs  Februar  das  Decret  Nr.  14 
zurückgezogen  und  den  Ständen  mittels  Decrets  Nr.  38  einen  neuen  Gesetz- 
entwurf über  die  Lehrergehaltsverhältnisse  unterbreitet.  Se.  Ex.  der  Minister 
v.  Seydewitz  erklärte,  dass  die  Regierung  bei  Beginn  des  Landtages  nicht 
habe  weiter  gehen  können,  als  in  dem  Entwürfe,  den  sein  Vorgänger  Dr.  v.  Gerber 
vorgelegt.  Inzwischen  habe  die  Finanzlage  des  Staates  gestattet,  dass  der 
Dispositionsfonds  für  das  Volksschulwesen  um  jährlich  300000  Mk.  erhöht  und 
so  die  Füglichkeit  gegeben  werde,  die  Minimalgrenze  für  die  Lehrergehalte  zu 
erweitern.  Daher  sei  der  modificirte  Entwurf  unterbreitet  worden; 
nicht  aber  sei  für  die  Regierung  bestimmend  gewesen  die  Agitation,  die  sich 
in  letzter  Zeit  kundgegeben  habe.  Die  Regierung  sei  ernstlich  bestrebt,  die 
Finanzlage  der  Lehrer  zu  verbessern,  soweit  es  ohne  Verletzung  anderer,  eben- 
falls berechtigter  Interessen  möglich  sei.  Auch  er,  der  Minister,  werde  immer 
ein  warmes  Herz  für  die  Bedürfnisse  des  Lehrerstandes  haben  und  es  gern 
bethätigen!  —  Das  neue  Gesetz  bestimmt  folgendes: 

§.  1.  (Schon  mitgetheilt  S.  392.)  Das  jährl.  Einkommen  eines  ständigen 
Lehrers  beträgt  mindestens  1000  Mk.  —  Es  ist  also  bei  der  ursprünglichen 
Festsetzung  geblieben,  obwol  von  zwei  Seiten  eine  Erhöhung  des  Anfangs- 
gehaltes gewünscht  wurde:  Für  eine  Erhöhung  auf  1100  Mk.,  welche  die 
badischen  Collegen  erhalten  (s.  Märzheft  d.  J.!),  sprach  sich  der  (conservative) 
Abg.  Commerzienrath  Haensel  aus;  für  eine  Erhöhung  auf  1200  Mk.  und  für 
Erfüllung  der  Wünsche  des  Allg.  Sächs.  L.-V.  traten  die  —  socialdemokratischen 
Abgg.  ein!  Neu  und  für  die  Cantoren  („Kirchschullehrer")  vortheilhaft 
ist  die  Bestimmung  des  §.  1,  dass  das  Kircheneinkommen  nur  insoweit  in  das 
Schuleinkommen  eingerechnet  werden  darf,  als  es  900  Mk.  (früher  blos  600  Mk.) 
jährlich  übersteigt.  §.  2.  Den  Schuldirectoren.  welchen  weniger  als  10  Lehr- 
kräfte unterstellt  sind,  ist  neben  freier  Wohnung  (oder  Wohnungsentschädigung) 
ein  jährliches  Gehalt  von  mindestens  2250  Mk.  zu  gewähren,  allen  übrigen  ein 
solches  von  mindestens  2700  Mk.  §.  3  setzt  das  Gehalt  eines  nichtständigen 
Lehrers  auf  mindestens  720  Mk.  fest.  (S.  392.)  §.  4.  Das  Einkommen  stän- 
diger Lehrer  und  Lehrerinnen  an  Volksschulen  ist  durch  Zulagen,  welche  die 
Schulgemeinde  zu  gewähren  hat,  folgendermaßen  zu  erhöhen:  nach  einer  vom 
erfüllten  25.  Lebensjahre  des  Lehrers  an  zu  rechnenden  ständigen  Dienstzeit 

von   5  Jahren  bis  auf  1200  Mk. 

„10      „      ,.     „  1350  „ 
15      r  ~  1500  r 

r  20     ,      „    „  1600  „ 


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—    582  — 

von  25  Jahren  bis  auf  1700  Mk. 
»  30  „     „   1800  „ 

In  diesem  wie  im  zweiten  §.  bat  man  die  Unterscheidung  der  Lehrer  and 
Directoren  nach  der  Größe  der  Orte  wegfallen  lassen,  desgleichen  hielt  man 
die  Scheidung  der  Lehrer  nach  Schulen  mit  40  oder  weniger  Kindern  und 
nach  Schulen  mit  mehr  als  40  Kindern  nicht  weiter  für  angezeigt,  und  dies 
nm  so  weniger  als  unter  den  vorhandenen  1905  Schulgemeinden  nur  49  sind, 
w*elche  40  oder  weniger  Kinder  haben.    (Vergl.  S.  392!) 

Die  Vergleichung  dieser  gesetzlichen  Bestimmungen  mit  den  anfänglich 
geplanten  bestätigt  unsere  Angabe,  dass  das  Dotationsgesetz  besser  ge- 
worden ist,  als  wir  dachten  oder  vielmehr  —  fürchteten.  Seit  1874  war  in 
Sachsen  keine  Aufbesserung  der  Lehrergehälter  erfolgt;  die  Regierung  hat 
gethan,  was  sie  nicht  länger  unterlassen  zu  dürfen  glaubte ;  in  der  Thronrede, 
mit  welcher  König  Albert  die  Stände  verabschiedete,  wird  dies  auch  aus- 
drücklich anerkannt  durch  folgenden  Passus: 

„Durch  die  Bewilligung  der  Mittel  zur  Erhöhung  der  Pensionen  von  in 
den  Ruhestand  getretenen  Staatsbeamten,  sowie  von  Geistlichen  und  Lehrern 
und  der  Witwen  und  Waisen  von  solchen  Bediensteten  haben  Sie  Meine 
Regierung  in  den  Stand  gesetzt,  in  vielen  Fällen  langersehnte  Hilfe  zu 
bringen  und  wahre  Noth  zu  lindern. 

Ihre  Fürsorge  für  das  Gedeihen  und  die  Fortentwicklung  der  Universität, 
sowie  für  die  Kirche  und  Schule  wird  zur  Hebung  und  Förderung  der  culturellen 
Interessen  des  Landes  dienen. 

Besonders  angenehm  hat  es  Mich  berührt,  dass  es  möglich  geworden  ist, 
die  Pensionen  der  Geistlichen  und  Lehrer  wesentlich  aufzubessern  und  durch 
angemessene  Erweiterungen  der  Grenzen  der  Minimalgehalte  der  Volksschul- 
lehrer, sowie  durch  Gewährung  dauernder  Staatsbeihilfen  zu  dem  Einkommen 
derselben  sowol  den  Lehrern  eine  erwünschte  Verbesserung  ihrer  Lage 
als  den  Schulgemeinden  eine  wertvolle  Erleichterung  zutheil  werden  zu  la8sen.tt 

Die  Lehrer  freuen  sich  dankbar  des  Erreichten.  Denn  wahrscheinlich 
wird  dieses  Jahrzehnt  und  mit  ihm  das  Jahrhundert  zu  Ende  gehen,  ehe  wieder 
einmal  eine  Besserstellung  stattfinden  wird.  Durch  dieselbe  werden  dann  viel- 
leicht die  Wünsche  befriedigt  werden,  die  bereits  ausgesprochen  und  vorhin 
mit  angeführt  worden  sind.  Interim  praeceptores  erunt  contenti.  Aber  wir 
müssen  auch  stets  eingedenk  sein  des  Wortes  Fr.  Rückerts:  „Etwas  wünschen 
und  verlangen,  etwas  hoffen  muss  das  Herz!"  — 

Von  Schulvorständen  waren  an  den  Landtag  zahlreiche  Petitionen  ein- 
gereicht worden,  in  welchen  gebeten  wurde,  dass  ein  und  dieselben. Schul- 
bücher, wenn  nicht  im  ganzen  Königreiche,  so  doch  wenigstens  in  jedem 
Schulbezirk  zur  Einführung  kommen  möchten.  Aus  den  von  der  Regierang 
gegebenen  Mittheilungen  ergibt  sich,  dass  zur  Zeit  22  Sammlungen  biblischer 
Geschichten,  8  Katechismen  mit  Spruch büchern ,  20  Fibeln,  10  Lesebücher, 
12  Rechenhefte,  16  Leitfäden  für  Realunterricht,  14  Atlanten  und  32  Lieder- 
bücher eingeführt  sind,  eine  Fülle  und  Mannigfaltigkeit,  deren  Einschränkung  zur 
Vermeidung  einer  unnöthigen  Belastung  der  minder  bemittelten  Bevölkerungs- 
clas8en  als  erstrebenswert  bezeichnet  wurde.  Bei  der  Berathung  dieser  und 
einer  Anzahl  ähnlicher  Petitionen  kennzeichnete  der  Unterrichtsminister- 
v.  Seydewitz  den  Standpunkt  der  Regierung  in  einer  interessanten  Rede, 


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deren  Inhaltsangabe  den  Schluss  unseres  heutigen  Berichtes  bilden  möge: 
v.  Seydewitz  machte  darauf  aufmerksam,  dass  vor  Erlass  des  Schulgesetzes 
von  1873  eine  viel  größere  Mannigfaltigkeit  der  Lehrbücher  im  Lande  be- 
standen habe.  Nach  dem  Entwürfe  des  Schulgesetzes  sollte  die  Auswahl 
der  Sehnlbücher  in  die  Hände  der  obersten  Schulbehörde  gelegt  werden;  die 
Deputation  der  Zweiten  Kammer  habe  aber  damals  beantragt,  diese  Auswahl 
den  Schulvorständen  im  Einvernehmen  mit  dem  Bezirksschulinspector  zu  über- 
lassen, und  diese  Bestimmung  sei  schließlich  Gesetz  geworden  unter  Einräu- 
mung der  Füglichkeit  an  die  oberste  Schulbehörde,  die  geeigneten  Schul- 
bücher zu  bezeichnen.  Von  der  Versammlung  der  Bezirksschulinspectoren- 
sei  es  als  Aufgabe  der  letzteren  festgesetzt  worden,  möglichste  Einheitlichkeit 
der  Schulbücher  in  ihren  Bezirken  und  möglichsten  Anschlags  an  die  Nachbar- 
bezirke anzubahnen;  gleichwol  habe  er  anzuerkennen,  dass  eine  Mannigfaltig- 
keit der  Lehrmittel  bestehe,  deren  Einschränkung  erwünscht  sei  und  wol  auch 
ohne  Schädigung  des  Schulwesens  geschehen  könne.  Eine  zwangsweise  Ein- 
führung einheitlicher  Schulbücher  halte  er  für  praktisch  unmöglich, 
weil  die  verschiedenen  Schulen  sich  ganz  verschieden  entwickelt  hätten;  man 
könne  dies  höchstens  für  die  einfache  evangelisch-lutherische  Volksschule  deutscher 
Sprache  ins  Auge  fassen.  Er  müsse  sich  aber  auch  gegen  eine  Uniformi- 
rung  in  diesem  beschränkten  Umfange  erklären,  denn  es  würde  dadurch  der 
einfachen  Volksschule  ein  großer  Theil  der  freiheitlichen  Entwicklungsmöglich- 
keit genommen  werden,  dem  die  Schule  ihren  Aufschwung  wesentlich  mit  ver- 
danke. Für  die  Einheitlichkeit  komme  im  wesentlichen  nur  in  Betracht  der 
finanzielle  Gesichtspunkt,  und  dieser  besitze  nicht  die  Wichtigkeit,  die 
ihm  von  den  Petenten  beigemessen  werde.  Wenn  jetzt  einheitliche  Schulbücher 
festgesetzt  würden,  so  würde  mit  einem  Schlage  den  Erziehungspflichtigen  ein 
großer  Aufwand  erwachsen.  Es  würde  aber  das  Verzeichnis  der  Lehrmittel 
auch  vod  Zeit  zu  Zeit  revidirt  werden  müssen,  wodurch  den  Erziehungs- 
pflichtigen neue  Ausgaben  aufgelegt  werden.  Doch  räume  er  ein,  dass  Miss- 
stände vorhanden  seien,  und  er  sei  gern  bereit,  zu  deren  Beseitigung  die  Hand 
zu  bieten.  Freilich  werde  er  damit  nicht  den  Beifall  aller  Schulvorstände 
linden.  —  Zur  Frage  des  Schulgeldes  sei  die  Stellung  der  Regierung  die- 
selbe wie  früher.  Die  Ausführung  des  Antrages  auf  Aufhebung  desselben 
würde  einen  Aufwand  von  etwa  22  Millionen  jährlich  verursachen,  und  die 
Finanzlage  sei  nicht  derart,  eine  solche  neue  Last  zu  übernehmen.  Dies  würde 
sich  nur  dann  rechtfertigen  lassen,  wenn  es  sich  um  die  Beseitigung  wirklich 
schreiender  Nothstände  handelte,  und  deren  Vorhandensein  könne  er  nicht  an- 
erkennen. Durch  die  Ausführungsbestimmungen  zu  der  Schuldotation  sei  jeden- 
falls für  Sachsen  dem  Schulgelde  der  Charakter  einer  drückenden  Last  ge- 
nommen worden.   (Vergl.  Paedag.  XII,  S.  601.) 


B.  Vom  deutschen  Ostseestrand.  Gegen  den  Strom  ist  schwer 
schwimmen,  und  doch  sollen  in  nachfolgenden  Zeilen  unsern  Lesern  einige 
Gedanken  gegen  eine  Zeitströmung  in  der  deutschen  Nation  vor  die  Seele 
geführt  werden.  Schon  tausendfach  sind  in  der  politischen  Presse,  in  Schulen 
und  Vereinen  die  glorreichen  Errungenschaften  der  Jahre  1864,  1866,  1870 
und  1871  besungen  worden;  sie  gipfeln  in  dem  weithin  über  die  Meere  strahlen- 
den deutschen  Kaiserthrone.  Aber  nicht  überall  ist  auf  die  Sehattenfolge  jener 


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glänzenden  Zeitepoche  hingewiesen  worden.  Als  solche  sei  zunächst  in  materieller 
Beziehung  das  bis  auf  200000  Mann  Vergrößerung  geschätzte  Vagantenheer 
erwähnt.  Ferner  sind  von  Jahr  zu  Jahr  gesteigerte  Kriegsrüstungen, 
von  denen  Feldmarsehall  von  Moltke  sagte,  dass  sie  für  die  Dauer  mit  gegen- 
wärtigen Geldopfern  kein  Land  ertragen  könne,  den  europäischen  Völkern 
auferlegt  worden.  Drittens  schließt  eine  mittelalterliche  Zollgrenze  All- 
dentschland  wie  eine  chinesische  Mauer  gegen  den  freien  Weltverkehr  in  der 
Zeit  des  Dampfes  und  der  Elektricität  ein.  In  geistiger  Beziehung  brachte  uns 
jene  denkwürdige  Zeit  den  Culturkampf  und  mit  ihm  ein  Canossa.  Das 
war  eine  Kraftprobe  nnd  siehe,  die  schwersten  Kanzlergeschosse  erstickten 
in  den  schwarzen  Kutten  römischer  Mönche.  Statt  einer  fortschreitenden 
Aufklärung  erlebten  wir  einen  Rückschlag,  und  tausendjährige  Heilige  erschienen 
auf  Ahorn-  und  Birnbäumen,  das  Wasser  gewisser  Dorfteiche  verrichtete  Wunder- 
curen,  blutendeMädchen  zogen  viele  tausend  Wallfahrer  an,  und  die  Welt  wurde 
mit  neuen  Dogmen  beglückt.  Als  die  Marodeure  der  Culturkämpfer  sind  die 
Antisemiten  oder  die  Feinde  der  schwarzen  Haare  anzusehen.  Von  der 
Religion  sind  wir  auf  die  Sprache  gekommen,  und  so  ist  eine  der  neuesten 
Strömungen,  und  zwar  die,  welche  hier  besonders  ins  Auge  gefasst  werden 
soll,  die  Bildung  von  r  Allgemeinen  deutschen  Sprachvereinen.  - 

So  weit  die  deutsche  Zunge  klingt, 
Und  Gott  im  Himmel  Lieder  sin^t. 
Das  soll  es  sein! 

Gewiss!  Das  soll  des  Deutschen  Vaterland  sein  und  überall,  wo  sich 
sonst  auf  der  weiten  Gotteserde  noch  Deutsche  finden,  mögen  sie  zusammen- 
treten und  sich  erfreuen  an  den  lieblichen  Tönen  der  Muttersprache.  Wie 
mancher  Landsmann  in  der  Fremde  jubelte  laut  auf,  wenn  diese  Heimat- 
klänge an  sein  Ohr  schlugen.  Die  Pflege  der  Muttersprache  ist  Pflicht  jedes 
Deutschen,  ihre  Ausbreitung  ein  frommer  Wunsch  desselben. 

Mit  den  Bestrebungen  des  „Allgemeinen  deutschen  Sprachvereins"  kann 
sich  der  Verfasser  jedoch  insofern  nicht  einverstanden  erklären,  als  der  Verein 
etwas  anstrebt,  was  unzeitgemäß  und  zwecklos  ist. 

Der  „ Allgemeine  deutsche  Sprachverein"  will  die  deutsche  Sprache 
von  allen  Fremdwörtern  reinigen.  Anerkannt  ist  jedoch  von  vielen  Seiten, 
dass  die  benutzten  Fremdwörter  die  Sache  oft  am  kürzesten  und  treffendsten 
bezeichnen.  Also,  warum  nicht  alle  Vortheile  gelten  lassen?  —  Die  Fremd- 
wörter sind  auch  keineswegs  durch  einen  großen  Sünder  nnd  Deutschfeiud 
in  der  Pelzmütze  in  unsere  Sprache  getragen  worden.  Sie  sind  durch  den 
Studenten,  durch  den  Krieger,  durch  den  Wandrer  schon  seit  Jahrhunderten, 
besonders  reichlich  jedoch  durch  den  enormen  Aufschwung  des  Verkehrs  der 
Völker  aus  den  verschiedensten  fremden  Sprachen  in  die  deutsche  Sprache 
übergegangen.  Wer  darin  eine  bedenkliche  Schädigung,  wol  gar  ein  Attentat 
auf  seine  angestammte  Nationalität  erblickt,  muss  sich  auch  gegen  die  Über- 
nahme fremdländischer  Sitten,  Gebräuche,  Erfindungen,  Künste  etc.  energisch 
verwahren.  Ob  dieses  vernünftig  wäre,  wollen  wir  den  Lesern  zu  beurtheilen 
überlassen.  Wir  halten  ein  solches  Beginnen  nicht  blos  für  unzeitgemäß, 
sondern  für  ebenso  unmöglich,  als  wenn  jemand  einen  mit  zwei  Locomo- 
tiven  bespannten  Eisenbahnzug  in  seinem  Laufe  mit  einem  Spazierstocke 


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aufhalten  wollte.  Recht  viele  Fremdwörter  sind  so  tief  in  die  Volkssprache  ein* 
gebtirgert,  dass  der  Laie  schon  lange  nicht  mehr  die  ausländische  Abstammung 
erkennt.  Ganz  besonders  thöricht  ist  es,  sich  über  die  französischen  Ein- 
dringlinge aufzuregen  und  gegen  dieselben  wüthende  Reden  zu  halten  und 
Reiseapostel  in  die  Welt  zu  schicken;  denn  sie  haben  wir  doch  nicht  etwa  des- 
halb, weil  sie  von  den  Franzosen  kommen,  sondern  nur  deshalb,  weil  sie 
durch  die  physische  Lage  des  Frankenreiches  zu  Alldeutschland,  durch  eine 
frühzeitig  dort  blühende  Literatur,  durch  den  Handel  mit  Wein  und  Seide  mehr 
als  andere  Gäste  freundliche  Aufnahme  fanden.  Würde  Gallien  durch  Italiener 
bewohnt,  so  hätten  wir  vielleicht  noch  mehr  italienische  Fremdwörter  iu 
unserer  Sprache,  als  wir  heute  französische  haben.  So  wenig  sich  die  deutsche 
Sprache  gegen  fremde  Elemente  hat  schützen  können,  so  wenig  werden  es  auch 
andere  Sprachen  haben  thun  können ,  und  nirgends  ist  bei  den  betreffenden 
Völkern  eine  allgemeine  Mobilmachung  gegen  Fremdwörter  —  als  zu  fürch- 
tende Reichs-  und  Nationalitätsfeinde  —  in  Scene  gesetzt  worden. 

Wenn  unsere  gerechte  Sache  nach  drei  blutigen  Kriegen  mit  Hilfe  unserer 
vorzüglichen  Feldherren  und  eines  ausgezeichneten  Heeres  siegte,  sind  wir 
noch  nicht  berechtigt,  allen  unsern  sonstigen  Besitz  der  Mitwelt  als  allein  selig- 
machende Heiligthümer  aufzudrängen  oder  darzustellen.  Nicht  die  todtgeborne, 
künstliche  Volapük  wird  Weltsprache  werden,  sondern  eine  natürliche, 
lebende  Völkersprache;  unsere  traute,  deutsche  Sprache  nur  dann,  wenn  sie 
Eigenschaften  besitzt,  welche  sie  den  chaotisch  durcheinander  strömenden 
Völkern  annehmbar  machen.  Wenn  nicht  alle  Zeichen  trügen,  wird  keine 
der  herrschenden  Sprachen  zur  Uni versalsprache  erkoren  werden,  sondern 
ans  diesen  wird  letztere  hervorgehen.  Alle  Unternehmungen  gegen  die 
unaufhaltsamen  sprachlichen  Entwickelungen  im  großen  Völkerleben  erscheinen 
als  ohnmächtige  Ruderschläge  gegen  den  „gewaltigen  Strom  der  Zeit". 


Aus  Preußen.  Wann  sollte  ich  wol  mehr  Grund  dazu  haben,  Ihnen 
mein  Herz  auszuschütten,  als  jetzt,  in  dieser  trüben  Zeit!  Das  neue  Schul- 
gesetz!*) Ich  bin  nicht  im  Zweifel,  wie  Sie  sich  hierzu  im  allgemeinen 
stellen.  Preußen,  das  Land  der  Schulen  und  Casernen,  hat  doch  schon  manche 
Bluten  der  verschiedenartigsten  Blumen  gezeitigt,  so  dass  wir  über  den  Gesetz- 
entwurf uns  nicht  zu  wundern  brauchen.  Aber  erwartet  haben  wir  ihn  nicht. 
Kommt  es  uns  nicht  vor,  als  halte  man  sich  die  Augen  zu,  um  den  Abgrund 
nicht  zu  sehen,  dem  man  zusteuert?  Rom  ist  es  gelungen,  einen  Keil  in  unser 
Vaterland  zu  schieben,  der  nach  der  Haltung  der  hohen  und  höchsten  maß- 
gebenden Kreise  bei  uns  wol  so  bald  nicht  herausgetrieben  werden  kann.  Der 
deutsche  Einheitsgedanke  ist  durchbrochen.  Hie  Luther!  Hie  Rom!  Die  geringe 
Innigkeit  des  Verkehrs  zwischen  beiden  Confessionen  unseres  Vaterlandes  wird 
noch  geringer  werden.  Hören  wir  nicht  schon  klingen:  „Luther  war  ein  Schuft, 
Selbstmörder,  Eidbrüchiger!"  und:  „Die Katholiken  sind  Narren,  und  der  Papst 
ist  ihr  Gott  auf  Erden!"?  Der  Staat  wird  auf  zwei  Grundlagen  gestellt; 
jedenfalls  bat  der  Gesetzgeber  die  Noth wendigkeit  dazu  aus  gewissenhafter 


*)  Obwol  inzwischen  die  Sachlage  eine  Änderung  erfahren  hat,  ist  dieser  Brief 
noch  immer  lesenswert.   D.  R. 


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Beobachtung  der  Natur  gelernt.  Wie  der  Mensch  ein  rechtes  und  ein  linkes 
Bein  hat,  so  inuss  der  Staat,  der  doch  eine  Summe  von  Menschen  darstellt, 
auch  auf  zwei  Beine  gestellt  werden.  Der  ganze  daraus  vielleicht  entstehende 
Streit  könnte  sich  höchstens  darum  handeln,  welches  Bein  das  rechte  und  welches 
das  linke  wäre.  Doch  diese  Frage  wäre  ja  für  die  Entwickelung  des  Staates 
unwesentlich.  Was  wird  nun  die  Schule?  Vermuthlich  ein  Sammelbecken  für 
zweibeinigen  Unrath.  (Entschuldigen  Sie  die  Härte!)  An  Stelle  der  Freiheit 
des  Lehrers  tritt  der  Befehl  des  Geistlichen,  an  Stelle  der  nach  Wahrheit  ringen- 
den Pädagogik  die  souveräne  Besserwissenheit  (nicht  Unwissenheit)  jedes  Päpst- 
leins. Für  letztere  Art  weht  schon  das  Frühlingslüftlein.  Sein  liebliches 
Wehen  hat  auch  unsere  Verkündiger  des  Evangeliums  aus  dem  Schlafe 
erweckt.  —  Erziehung  der  Kinder  zu  selbstständi^en  Menschen  soll  nicht  be- 
zweckt werden,  es  genügt  ja,  wenn  sie  voll  christlichen  Geistes  (d.  h.  „Wissens") 
sind,  die  10  Gebote  auswendig  wissen,  das  Gesangbuch  und  das  Kreisblatt 
lesen  können.  — 

Unser  Vaterland  ist  wol  noch  nicht  oft,  genug  unglücklich  gewesen?! 
Welches  Volk  kann  auf  einen  30jährigen  Krieg,  auf  eine  Erniedrigung  wie 
1806  u.  7  zurückblicken?  Starres  Festhalten  an  Dogmen  und  Menschensatzungen, 
veraltete  Einrichtungen;  Glaubenshochmuth  und  Glaubenshass,  Edelmanns-  und 
Heeresdünkel  und  Freiheitshass!  Was  war  die  Folge  des  30jährigen  Krieges? 
Man  mnsste  sich  gegenseitig  dulden  —  aus  Schwäche.  Dazu  kam,  dass  man 
es  zulassen  musste,  dass  die  Nachbarn  in  unsere  Töpfe  guckten,  uns  die  Kost 
vorschrieben,  wenn  sie  es  nicht  gar  vorzogen,  die  schmackhaften  Gerichte  selber 
zu  schlucken.  Als  1807  letzterer  Fall  wieder  eintrat,  da  war  der  Demokrat 
und  Atheist  gut  genug,  den  verrannten  Staatskarren  aus  dem  Sumpf  zu  holen. 

Glauben  Sie  nicht,  verehrter  Herr,  dass  ich  von  Erbitterung  vollgesogen 
sei,  —  ich  bin  meist  Optimist.  Das  bisschen,  das  ich  dazu  beitragen  kann, 
trübe  Zeiten  von  uns  abzuwenden,  werde  ich  redlich  thun,  sonst  käme  ich  mir 
vor,  wie  einer,  der  zu  seiner  unverbesserlichen  Umgebung  sagt:  „Macht,  was 
ihr  wollt!  Ich  hoffe,  dass  ihr  mich  noch  leben  lasst." 


Aus  Westfalen.  Hie  frei  —  hie  römisch;  hie  deutscher  Lehrerverein  — 
hie  katholischer  Lehrerverband!  Das  war  das  Feldgeschrei,  die  Signatur  der 
verflossenen  Ostertage  für  die  westfälische  Lehrerschaft.  Wie  bedauerlich 
auch  die  durch  hierarchisch-politische  Ränke  herbeigeführte  Trennung  der 
westfälischen  Lehrer  in  zwei  feindliche  Heerlager  sein  mag,  so  ist  eine 
„reinliche  Scheidung"  immerhin  für  alle  Theile  besser,  als  wenn  sich  so  wider- 
strebende Kräfte  in  einem  Vereine  bekämpfen,  wenn  die  einen  die  Pferde  hinter 
den  Vereinswagen  spannen,  während  die  anderen  ihm  die  fortschreitende  Bewe- 
gung geben  möchten.  Wer  sich  nicht  mehr  mit  uns  eins  fühlt  in  dem  großen 
und  heiligen  Werke  der  Jugenderziehung  nach  den  hohen  Idealen  eines 
Oouienius  und  Pestalozzi,  wer  sich  in  trauriger  Verblendung  abwendet  von 
den  auf  die  Hebung  des  Lehrerstandes  gerichteten  Bestrebungen,  wer  sich  zum 
willenlosen  Knechte  jener  macht,  die  den  frei  aufstrebenden  Menschengeist 
in  die  Fesseln  des  finstern  Mittelalters  schlagen  möchten,  der  scheide  sich 
getrost  von  uns;  für  uns  und  unsere  Vereinigung  kann  das  nur  ein  Gewinn  sein. 

Während  der  katholische  Lehrerverband  in  Neheim  tagte,  war 
der  westfälische  Provinziallehrerverein  in  der  alten  Metropole  West- 


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falens,  der  berühmten  Industrie-  und  Bierstadt  Dortmund,  der  ehrwürdigen 
Tremonia,  festlich  versammelt.  Als  höfliche  Leute  berichten  wir  zuerst  über  den 
katholischen  Lehrerverband;  die  Fremden  haben  ja  stets  den  Vortritt. 

Über  die  Versammlung  in  Neheim  berichten  ultramontane  Zeitungen,  dass 
die  Delegirten Versammlung  am  zweiten  Ostertage  durch  Vertreter  aus  30 
Einzelvereinen  mit  etwa  700  Mitgliedern  besucht  gewesen  sei.  Wieviel  von 
diesen  700  indes  Lehrer  sind,  lässt  sich  nicht  feststellen,  vielleicht  die  Hälfte? 
An  diesem  Tage  zog  auch  der  Bischof  Simar  in  Neheim  ein,  begrüßt  von  einer 
großen  Volksmenge.  In  der  Delegirtenversammlnng  gelangte  u.  a.  eine  Resolution 
zur  Annahme,  deren  2.  Theil  folgenden  Wortlaut  hat:  „In  Erwägung,  dass 
der  katholische  Lehrerverband  schon  in  seiner  ersten  Generalversammlung 
eine  Regelung  der  Lehrergehälter  für  dringend  nothwendig  erklärt  hat, 
spricht  der  westfälische  Provinzialverein  des  katholischen  Lehrerverbaudes 
sein  Bedauern  darüber  aus,  dass  auch  die  diesjährige  Tagung  des  Landtages 
kein  seinen  Bestrebungen  entsprechendes  Schulgesetz  gebracht  hat  und  ersucht 
den  Vorstand  des  Provinzialvereins,  nunmehr  für  möglichst  baldige  gesetzliche 
Regelung  der  Lehrergehälter  einzutreten."  Wie  wird  sich  die  eigene  Partei 
der  Herren  zu  dieser  Forderung  stellen?  Das  ist  jedenfalls  die  Hauptfrage. 
Wissen  die  Delegirten  nichts  über  die  Stellung  der  maßgebenden  Organe  der 
Centmmspartei  gegenüber  dem  deutsch-freisinnigen  Antrage  auf  Erlass  eines 
Dotationsgesetzes?  Haben  sie  denn  nicht  gelesen,  wie  r Germania",  „Kölnische 
Volkszeitung"  u.  a.  höhnend  erklären:  „Entweder  das  Ganze,  oder  nichts^ 
und  dass  das  Centrnra  niemals  die  Hand  dazu  bieten  werde,  einzelne  Sonder- 
fragen aus  dem  Gesetzentwurfe,  auf  deren  schnelle  Lösung  die  Liberalen  dringen, 
wie  beispielsweise  die  Gehaltsfrage,  herauszuheben  und  gesetzlich  zu  regeln? 
Ei,  freilich  wissen  sie  es  ganz  genau  ,  aber  die  große  Masse  braucht  es  doch 
nicht  zu  erfahren.  Man  sieht,  was  die  Herren  den  von  ihnen  Irregeführten 
zu  bieten  wagen.  Hätte  nicht  die  katholische  Priesterschaft  einen  ungemessenen 
Einflnss  auf  die  Gemüther  der  einzelnen,  so  könnte  das  Spiel  nicht  lange  dauern, 
es  müsste  an  seiner  eigenen  Unwahrhaftigkeit  zu  Grunde  gehen.  In  der 
Hauptversammlung  am  Dienstag  war  der  Bischof  zugegen.  Bei  dem  vorher- 
gehenden Hochamte  hatte  er  mit  Stab  und  Mitra  assistirt.  In  der  Er- 
öffnungsrede bat  ihn  der  Vorsitzende  um  seinen  oberhirtlichen  Segen.  Der 
Bischof  entsprach  diesem  Wunsche.  In  seiner  Ansprache  redete  er  von  der  hohen 
Bedeutung  des  Lehrerberufs,  die  von  niemand  bestritten  werde.  „Am  wenigsten 
geschehe  das  heute,  wo  eine  so  tiefgreifende  Scheidung  der  Geister  durch  die 
Frage  nach  den  höchsten  Zwecken  und  Aufgaben  der  Schule  eingeleitet  ist  und 
demgemäß  eine  klare  und  entschiedene  Lösung  jener  Frage  nicht  mehr  um- 
gangen werden  kann.  Für  Sie,  meine  Herren,  ist  diese  Frage  endgültig 
gelöst.  Sie  betrachten  es  als  Ihre  von  Gott  gesetzte  Aufgabe,  die  Ihnen  an- 
vertraute Jugend  für  Christus  zu  erziehen.  Dass  sie  christliche  Lehrerund 
Erzieher  der  Jugend  sein  wollen,  das  und  nichts  anders  ist  der  Grundgedanke, 
welcher  in  dem  katholischen  Lehrerverbande  seinen  Ausdruck  gefunden  hat. 
„  Diese  Versammlung  ist  ein  offenes  und  entschiedenes  Zeugnis  dafür,  dass 
Sie  die  christliche  Weltanschauung  in  Ihrem  Berufe  muthig  und  kraftvoll 
vertreten  wollen,  im  Gegensatze  zu  dem  vielgestaltigen  modernen  Un- 
glauben und  Atheismus."  —  Die  Verdächtigung  der  nicht  zum  katholischen 
Lehrerverbande  gehörenden  Lehrer,  die  der  Bischof  durch  die  Betonung  der 


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Gegensätze,  unter  der  abgeschmackten  Anfwärmnng  des  alten  Kohls  längst 
abgegriffener  Schlagwörter  offenbar  beabsichtigt,  richtet  sich  selbst;  sie  mag 
alles  sein,  eins,  dem  Gebote  des  Herrn  entsprechend,  christlich,  ist  sie  nicht. 
„Darauf",  so  berichtet  die  Kölnische  Volkszeitung,  „empfing  die  Ver- 
sammlung, welche  den  herrlichen  Worten  ihres  theuren  Oberhirten 
stehend  zugehört  hatte,  knieend  den  bischöflichen  Segen."  Zwei 
Vorträge  beschäftigten  sodann  noch  die  Versammlung:  1)  Die  Sittenlosigkeit 
eines  Theiles  unserer  Jugend  und  ihre  Grunde,  und  2)  Die  Verbindung  der 
vaterländischen  Geschichte  mit  der  Geographie. 

In  Dortmund,  auf  der  Delegirtenversammlung  des  westfälischen  Pro- 
vinz! ullehrervereins,  gab  der  Vorsitzende  Rector  Kuhlo-Bielefeld  in  seinem 
Jahresberichte  der  Genugthuung  über  das  Scheitern  des  Zedlitz'schen  Schulgesetz- 
entwurfs Ausdruck,  stellte  ein  Vorgehen  des  Landesvereins  der  preußirchen  Volks- 
ßchullehrer  behufs  gesetzlicher  Regelung  der  Lehrerdotation  in  Aussicht  und 
constatirte  mit  Befriedigung,  dass  der  Verein,  trotz  der  Feinde  ringsum,  in 
erfreulichem  Wachsthume  begriffen  sei,  seine  Mitgliederzahl  sei  im  verflossenen 
Jahre  von  1399  auf  1592,  und  die  Zahl  der  Einzel  verbände  von  45  auf  50 
gestiegen.  Aus  dem  Vorstande  ist  einer  der  beiden  katholischen  Collegen  — 
man  sagt,  infolge  eines  Gelübdes  —  ausgeschieden.  Da  die  Berathungen  der 
VereinBangelegenheiten  hier  nicht  weiter  interessiren,  so  sei  daraus  nur  mit- 
getheilt,  dass  der  nächstjährige  westfälische  Lehrertag  in  dem  im  äußersten 
Osten  der  Provinz  gelegenen  Minden  abgehalten  werden  soll.  Der  Antrag, 
den  17.  Lehrertag  nach  Hagen  zu  berufen  und  ihm  den  Charakter  einer 
Harkortfeier  zu  verleihen,  da  Friedrich  Harkort,  „Westfalens  Fritz", 
der  „Tribun  der  preußischen  Volksschule",  geb.  im  Februar  1793,  in  der 
Mark,  in  Hagen,  Herdecke  etc.  gelebt  und  gewirkt  habe,  fand  leider  nicht 
die  Mehrheit.  Der  Einwand,  dass  man  den  großen  Todten  auch  in  Minden 
feiern  könne,  wäre  wol  besser  nicht  erhoben  worden.  Man  konnte  ja  den  18. 
westfälischen  Lehrertag  in  Minden  abhalten.  Hoffentlich  ist  das  letzte  Wort 
in  dieser  Sache  noch  nicht  gesprochen;  wenn  aber  —  so  wird  der  märkische 
Gauverband  wissen,  was  ihm  Ehre  und  Pflicht  gebieten. 

Die  Hauptversammlung  am  Dienstag  fand  in  dem  großen  Saale  des 
„Fredenbaums"  bei  Dortmund  statt  und  war  von  ungefähr  2000  Lehrern  und 
Lehrerinnen  besucht.  Oberbürgermeister  Schmieding  wies  in  seiner  Begrüßungs- 
rede auf  die  Bedeutung  der  Selbstverwaltung  für  die  gedeihliche  Entwicklung 
des  Schulwesens  hin  und  hob  hervor,  wie  unser  Volksleben  seit  Einführung  der 
Verfassung  auf  viel  breiterer  Grundlage  in  allen  öffentlichen  Angelegenheiten 
ein  intensiveres  geworden  sei.  Indem  er  so,  wenn  auch  unausgesprochen,  der 
Tendenz  der  letzten  Schulgesetzvorlage  entgegentrat,  wandte  er  sich  anderseits 
gegen  die  Feinde  der  Lehrer  und  die  Verächter  ihrer  Versammlungen,  insofern 
als  er  die  kräftige  Mitarbeit  der  Lehrer  an  der  Förderung  des  Schulwesens 
rühmte  und  insbesondere  den  Segen  und  die  Bedeutung  der  Lehrertage  betonte. 

Rector  van  Ekeris,  der  Vorsitzende  des  Dortmunder  Lehrervereins,  flocht 
in  seine  Begrüßung  die  Gedächtnisrede  auf  Arnos  Comenius  ein,  und  verstand 
es,  die  große  Versammlung  in  eine  weihevolle  Stimmung  zu  versetzen. 

Den  ersten  Vortrag  über  „Die  Jugend-  und  Volksliteratur"  hielt 
Linneweber-Hagen.  College  Schepp-Berlin  sprach  in  anregender  Weise 
über  „Die  Orthographiereform".    Er  trat  für  die  Durchführung  des  phone- 


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tischen  Princips  in  der  Rechtechreibung  ein  und  empfahl  den  Auschluss  an 
den  von  Dr.  Wilh.  Fricke  begründeten  Verein  für  vereinfachte  Orthographie. 
Rector  Stückmann-Dortmund  hielt  einen  Vortrag  über  „Die  Fürsorge  für 
die  verwahrloste  Jugend". 

Mit  einem  durch  fröhliche  Gemüthlichkeit  gewürzten  Festessen  fanden  die 


Aus  Hamburg.  Seit  dem  Jahre  1887  ist  in  Hamburg  ein  merklicher 
Rückgang  der  Volksscbullehrergehälter  zu  verzeichnen,  da  das  Aufrücken  in 
die  feste  Anstellung  und  in  die  erste  Gehaltsciasse  später  als  früher  erfolgt. 
Dies  wird  um  so  schmerzlicher  empfunden,  als  seit  1888  durch  den  Zoll- 
anschluss Hamburgs  eine  bedeutende  Vertheuerung  fast  aller  Lebensbedürfnisse 
eingetreten  ist.  Bis  1887  wurden  die  im  Hamburger  Seminar  ausgebildeten 
Lehrer  nach  5  Dienstjahren  fest  angestellt;  1887  stellte  man  zum  ersten  Mal 
nur  die  Hälfte  der  Fünfjährigen  an  und  ließ  die  andere  Hälfte  noch  ein  Jahr 
warten;  jetzt  sind  6  Dienstjahre  bis  zur  festen  Anstellung  bereits  die  Regel 
geworden.  Bis  1887  erfolgte  die  Beförderung  in  die  erste  Altersclasse  in 
der  Regel  4  Jahre  nach  der  festen  Anstellung,  nunmehr  aber  erst  5  oder  6 
Jahre  nach  derselben.  Für  Lehrer  dagegen,  die  von  auswärts  eintreten,  haben 
sich  die  Anstellungsverhältnisse  in  den  letzten  Jahren  gebessert;  in  den 
Jahren  1887  und  88  wurden  sie  erst  nach  7 — 8  Dienstjahren  (seit  dem  Seminar- 
abgang) fest  angestellt,  gegenwärtig  schon  nach  6  Dienstjahren.  —  Seit  dem 
Zollanschluss  Hamburgs  arbeitet  eine  Commission,  bestehend  aus  Mitgliedern  des 
Senate  und  der  Bürgerschaft,  an  einem  neuen  Gehaltegesetz  für  die  Beamten. 
Bei  dieser  Gehalteregelung  sind  indes  die  Lehrer  noch  immer  nicht  an  die 
Reihe  gekommen;  zwar  gewährt  man  den  Beamten,  deren  Gehalt  noch  nicht 
geregelt  ist,  inzwischen  eine  Tbeuerungszulage,  beispielsweise  den  festange- 
stellten Lehrern  150  M.,  den  nicht  festangestellten,  sofern  dieselben  das  zweite 
Examen  bestanden  haben,  100  M.  jährlich.  Da  aber  der  Haushalt  einer 
Lehrerfamilie  mit  2  oder  3  Kindern  jetzt  etwa  400—500  M.  theurer  zu 
stehen  kommt  als  vor  dem  Zollanschluss,  so  ist  jene  Zulage  nur  sehr  dürftig. 
Dazu  kommt  noch,  dass  diese  Theuerungszulage  nicht  erhält:  1)  wer  ein 
Gehalt  von  3000  M.  oder  mehr  bezieht,  2)  wer  in  eine  andere  Beamtenstellung 
gelangt,  d.  h.  für  unsern  Fall:  wer  fest  angestellt  oder  in  die  erste  Gehalte- 
classe  befördert  wird.  So  wird  die  Zahl  derer,  denen  die  Zulage  zutheil 
wird,  von  Jahr  zu  Jahr  geringer. 

Ein  recht  merklicher  Unterschied  besteht  zwischen  dem  Gehalt  der  Lehrer 
nnd  dem  der  Hauptlehrer,  wie  folgende  Übersicht  zeigt: 

nicht  fest  angestellte  Lehrer:  1200 — 1800  M., 
fest  angestellte  Lehrer: 

2.  Gehalteclasse:  1750—2500  M., 
1.         „  2250—3500  M., 

(nach  je  3  Jahren  250  M.  steigend). 

Hauptlehrer:  3000—4400  M. 
(nach  je  3  Jahren  350  M.  steigend). 

Die  Hauptlehrer  beziehen  ferner  750  M.  Wohnungsgeld!  Das  Gehalt 
der  Hauptlehrer  ist  nun  für  hiesige  Verhältnisse  durchaus  nicht  zu  hoch;  um 

Pft  bfOKium.   Ii.  Jahrg.  Heft  IX.  41 


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so  weniger  genügt  da«  Gehalt  der  Lehrer,  namentlich  der  jüngeren.  —  Dem 
neuen  Gehaltagesetz  sehen  die  Lehrer  zum  Theil  mit  kühnen  Hoffnungen  ent- 
gegen.   Wie  wird  es  ausfallen? 

In  Hamburg  bestehen  z.  Z.  3  große  Lehrervereine:  die  „Gesellschaft  der 
Freunde  des  vaterländischen  Schul-  und  Erziehungswesens"  (wol  der  reichste 
Lehrerverein  Deutschlands  mit  vorzüglichen  Casseneinrichtungen:  Witwen-, 
Pensions-,  Kranken-,  Vorschuss-,  Unterstützungscasse  und  Diesterwegstiftung ; 
rund  650  active  und  zahlreiche  unterstützende  Mitglieder),  der  „schulwissen- 
schaftliche Bildungs  verein"  (behandelt  namentlich  schul  wissenschaftliche  Fragen ; 
rund  250  Mitgl.)  und  der  „Verein  Hamburger  Volksschullehrer"  (behandelt 
vorzugsweise  schulpolitische  und  ähnliche  Fragen,  rund  750  Mitgl.).  Im  vorigen 
Jahre  berieth  eine  Commission  aus  Mitgliedern  dieser  drei  Vereine  über  eine 
Vereinigung,  bezw.  ein  Zusammengehen  der  Vereine  in  wichtigen  Angelegen- 
heiten. Die  Verhandlungen  dieser  Commission  schienen  einen  recht  erfreulichen 
Ausgang  nehmen  zu  wollen;  schließlich  aber  ging  die  Commission,  ohne  that- 
sächliche  Ergebnisse  erzielt  zu  haben,  auseinander,  da  die  allerdings  recht 
verschiedenartigen  Vereine  nicht  gewillt  waren,  ein  entsprechendes  Stück  ihrer 
Sondereinrichtungen  und  Sonderinteressen  zu  opfern.  Es  ist  das  um  so  betrübender, 
als  schon  ohnedies  das  Gewicht  der  Lehrerschaft  in  unserm  durch  und  durch 
aristokratisch  regierten  Staate  kein  allzu  großes  ist,  um  so  betrübender,  als 
man  seit  einigen  Jahren  damit  umgeht,  den  Lehrern  (genauer  der  Schul- 
synode, bestehend  aus  den  Vorstehern  und  festangestellten  Lehrern  der 
öffentlichen  —  höheren  und  niederen  —  und  den  Vorstehern  der  nicht 
öffentlichen  Schulen)  das  Recht  zu  nehmen,  zwei  Abgeordnete  in  die  Oberschul- 
behörde zu  wählen.  Allerdings  steht  den  Lehrern  dieses  Recht  vorderhand 
noch  zu,  und  sie  haben  neuerdings  zwei  Vertreter  in  die  Oberschulbehörde  ge- 
sandt, die  oft  genug  ihr  warmes  Herz  für  die  Schule  bekundet  und  mit  ebenso 
viel  Muth  wie  Geschick  die  Interessen  der  Schule  und  der  Lehrerschaft 
wahrgenommen  haben:  Hauptlehrer  Fricke  und  Schuldirector  Dr.  Reinmüller. 
Solange  solche  Männer  uns  vertreten  und  solange  die  Leitung  des  Hamburger 
Volksschulwesens  einem  Manne  anvertraut  ist,  der,  wie  unser  Schulrath  Mahraun, 
die  innigste  Begeisterung  für  die  hohen  Ideale  wahrer  Menschenbildung  mit 
einer  so  sicheren  Hand  für  die  Praxis  der  Schulverwaltung  verbindet,  so  lange 
brauchen  wir  nicht  um  die  gesunde  Entwicklung  des  Hamburger  Volksschul- 
wesens besorgt  zu  sein.  —  Gleichwol  ist  und  bleibt  es  sehr  bedauerlich,  dass 
ein  Zu8ammenschlus8  der  großen  Lehrervereine,  der  über  das  bisherige  bloße 
Freundschaftsverhältnis  hinausgeht,  nicht  zustande  gebracht  ist.  Ein  Bild 
des  leider  urdeutschen  Particularismns  im  kleinen! 

Zum  Entwurf  des  preußischen  Volksschulgesetzes  hat  die  Hamburger  Volks- 
schullehrerschaft entschieden  Stellung  genommen  und  zwar  öffentlich  in  einer 
von  mehreren  hundert  Collegen  und  Colleginnen  besuchten  Versammlung  am 
20.  März,  in  welcher  Hauptlehrer  Fricke  (wie  oben  erwähnt  Mitglied  der  Ober- 
schulbehörde) einen  von  tiefer  Begeisterung  durchglühten  Vortrag  hielt. 
Die  Versammlung  nahm  folgende  vom  Redner  vorgeschlagene  Resolution  ein- 
stimmig an: 

„Die  am  20.  März  1892  in  Hamburg  tagende  allgemeine  Versammlung 
hamburgischer  Lehrer  und  Lehrerinnen  erblickt  in  der  Annahme  des  preu- 
ßischen Schulgesetzentwurfs  ein  Unglück  für  das  ganze  deutsche  Vaterland. 


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Sie  missbilligt  die  rückschrittliche  Tendenz  des  Entwurfs,  welche  durch  die 
Hervorhebung  der  Confessionalität  im  Religionsunterricht,  durch  den  Gewissens- 
zwang und  durch  die  Auslieferung  der  Staatshoheit  an  die  Kirche  bekannt  wird. 
Sie  missbilligt  das  geplante  Schulgesetz  ferner,  weil  durch  dasselbe  die  Schule 
politischen  Parteizwecken  dienstbar  gemacht  werden  soll,  dagegen  berechtigte 
Forderungen  einer  gesunden  Pädagogik  in  demselben  unberücksichtigt  gelassen 
werden." 

Zu  einem,  besonders  großartigen  Feste  gestaltete  sich  die  Hamburger 
Comeniusfeier,  veranstaltet  von  den  3  obengenannten  Vereinen  und  dem  Verein 
Hamburger  Landschullehrer  (26.  März).  Die  Glanzpunkte  der  von  rund 
3000  Personen  (Herren  und  Damen)  besuchten  Festversammlnng  bildeten, 
von  den  herrlichen  Chören  des  Hamburger  Lehrergesangvereins  abgesehen,  ein 
Prolog,  gedichtet  und  meisterhaft  vorgetragen  von  unserem  in  dieser  Zeitschrift 
schon  mehrfach  genannten  Otto  Ernst,  und  namentlich  die  begeisterte  und 
begeisternde  Festrede  des  Herrn  Schnlrath  Mahraun.  Hervorgehoben  zu  werden 
verdient,  dass  der  Herr  Schulrath  sich  mit  dem  Altmeister  Comenins  auf  den 
Boden  der  allgemeinen  Volksschule  und  eines  Religionsunterrichtes  stellte, 
der  in  erster  Linie  die  religiös-sittlichen  Ideale  pflegt,  nicht  aber  sich 
auf  die  confessionellen  Dogmen  steift. 

Wann  wird  man  überall  in  deutschen  Landen  wie  hier  solche  Worte 
von  oben  herab  hören? 


Aus  Bayern.  Seit  Wochen  freue  ich  mich  auf  die  Stunde,  wo  ich  —  an 
der  Hand  des  Landtagsberichtes  —  dem  geneigten  Leser  etwas  Erfreuliches  mit- 
theilen darf.  Und  nun  hat  wirklich  die  beispiellos  schwerfallig  arbeitende 
Landtagsmaschine  am  Beginne  des  Wonnemonats  das  Ergebnis  der  Gehalts- 
aufbessernngsfi'age  der  bayrischen  Volksschullehrer  (ich  bitte  wegen  der  Wort- 
schachtelei  um  Verzeihung)  ausgespien.  Diese  Gehaltsaufbesserung  mit  ins- 
gesammt  891  000  Mk.  hat  eine  lange  und  gar  seltsam  anzuhörende  Vorgeschichte. 
Als  nämlich  dem  Landtag  die  Regierungsvorlagen  zugingen,  war  trotz  eifrigen 
Suchens  nichts  von  Gehaltsaufbesserung  der  Beamten  und  Lehrer  zu  finden; 
die  Presse  und  die  Linke  murrten,  und  da  erklärte  der  Finanzminister,  falls 
die  Kammer  einen  Antrag  einbrächte,  wolle  er  und  die  Regierung  zusehen, 
was  sich  machen  ließe.  Der  Antrag  lief  ein  —  und  die  Regierung  verkündete 
Dinge,  mit  denen  die  Beamten  sich  nur  halb  und  die  Lehrer  gar  nicht  zu- 
frieden gaben.  Wieder  ein  Murren  in  der  Presse  —  bei  den  Lehrern  Protest- 
versammlungen und  scharfe  Worte,  die  dem  Cultusminister  nicht  gefielen  

und  die  Regierung  bot  einen  fetteren  Bissen;  d.  h.  der  fette  Bissen  fiel  den 
Ministern  zu,  die  bis  dahin  keinen  Finger  geregt,  nnd  bei  denen  sich  mit  dem 
besten  Willen  kein  Grund  für  die  Zehntausende  von  Mark  entdecken  lässt,  die 
man  ihnen  in  den  Schoß  geschüttet.  Danach  kamen  die  Beamten  —  immer 
dem  physikalischen  Satze  getreu:  dass  ein  großer  Körper  wiederum  große 
Brocken  anzieht,  während  an  kleineren  nur  etzliche  Splitter  haften  bleiben. 

Zuletzt  kamen  die  Lehrer  nnd  dann  nichts  mehr.    Allerdings  wartete 

hinter  den  Lehrern  noch  das  unabsehbare  Heer  der  nichtpragmatischen  Beamten 
mit  dem  Beamtenelend  in  unausgesprochenster  Form;  —  allein  das  bekam  nichts. 
Nicht  einmal  schöne  Worte. 

Was  aber  die  Aufbesserung  der  Lehrer  anlangt,  so  kam  die  folgender- 

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maßen  zustande.  Bisher  wurde  die  erste  Altergzulage  10  Jahre  nach  dem 
Seminaraustritt  gegeben;  in  Zukunft  wird  sie  schon  nach  5  Jahren  gereicht 
und  zwar  mit  90  Mk.  für  Lehrer  und  72  Mk.  für  unständige  Lehrer  und 
Lehrerinnen.  (Die  Regierung  hatte  je  45  Mk.  weniger  beantragt.)  Das  macht 
764  280  Mk.  -f  126  576  Mk.  =  890856  Mk.  oder  abgerundet  mit  Rücksicht 
auf  die  Heimfalle  865  000  Mk.  Zum  andern  wurde  ein  Antrag  des  liberalen 
Abgeordneten  Schobert  (des  ersten  Vorstandes  vom  Bayr.  Lehrerverein)  an- 
genommen, die  künftige  4.  AlterszuJage  statt  nach  16  schon  nach  15  Jahren 
zu  gewähren,  macht  in  Mark  26  000,  woraus  sich  zuletzt  die  obenangeführte 
Gesammtsumme  von  891  000  Mk.  zusammenklaubt. 

Ein  Abgeordneter  der  Linken  meinte,  diese  Regelung  sei  keine  endgiltige. 
ein  streitbarer  Centrumsmann  behauptete:  ja,  —  der  Coltusminister  versprach, 
die  einzelnen  Kreise  zu  Erhöhung  des  Kreiszuschusses  anzureizen  und  überall 
die  obligatorische  Verpflegung  der  Schulgehilfen  durch  die  ständigen  Lehrer 
einzuführen,  der  Centrumsführer  Dalier  —  er  ist  Gymnasialrector  in  Freising 
—  meinte,  850  Mk.  Barbesoldung  wäre  für  18— 22jährige  Schulgehilfen 
eigentlich  nicht  zu  wenig,  —  das  Haus  klatschte  zu  den  Abgangsworten  des 
Cultusministers:  „Ich  hoffe,  dass  mit  der  Aufbesserung  Freude  und  Zufrieden- 
heit in  die  Lehrerkreise  einzieht,  die  Berufsfreudigkeit  erhöht  wird  zum  Wole 

unserer  Kinder,  unserer  Schule  und  des  Staates!"  —  Beifall  und  der 

Vorhang  fiel  über  dieses  parlamentarische  Spiel. 

Es  versteht  sich,  dass  die  Aufbesserung  nicht  ohne  einige  böse  Worte 
seitens  der  Clerikalen  gereicht  wurde.  Während  der  Berathung  des  Capitela 
Volksschule  raste  der  schwarze  See,  und  das  Opfer,  das  er  diesmal  haben 
wollte,  war  die  „Bayr.  Lehrerzeitung a.  Die  Bayr.  Lehrerzeitung  wird 
nämlich  seit  Neujahr  jedem  Vereinsmitgliede  gegeben  und  entlädt  auf  diese 
Weise  ihren  gefährlichen  Inhalt  in  Schulhäuser,  die  bislang  von  liberalen 
Ansichten  nichts  wussten.  Unsere  Clericalen,  welche  die  Gefahr  erkannt, 
rüsteten  beizeiten  zum  Feldzug  und  begannen  die  Lehrerzeitung  als  katho- 
likenfeindlich anzuschwärzen.  Und  wahrhaftig!  Manch  einer,  würden  drohende 
pecuniäre  Verluste  (an  den  Wolthaten  des  Lehrerwaisenstiftes)  ihn  nicht  da- 
von abgehalten  haben,  wäre  fahnenflüchtig  geworden.  Wir  haben  in  Bayern 
in  jenen  Wochen  ein  Satirspiel  erlebt  —  das  Spiel  ist  nicht  einmal  aus  und 
hat  sogar  innerhalb  der  protestantischen  Mauern  Nürnbergs  eine  lustige  Blase 
geworfen  — ,  ein  Satirspiel,  das  einen  betrübenden  Einblick  in  die  Macht  des 
Ultramontanismus  gewährte.  Für  die  Sache  der  fortschreitenden  Schule  in 
Bayern  aber  wäre  es  nicht  von  Schaden  gewesen,  wenn  jene  Vereinsmitglieder 
ausgetreten  wären;  denn  sie,  die  geistig  Armen,  sind  doch  nur  Hemmschuh 
gewesen  und  werden  es  noch  lange  bleiben.  Der  Abgeordnete  Schubert  aber 
hat  nach  meinem  Glauben  nicht  die  glänzendste  Rolle  gespielt;  er  hielt  ein 
paar  schönstilisirte  Reden,  und  befolgte  im  übrigen  die  Taktik  unserer  Kammer- 
liberalen:  das  Centrum  durch  keine  Principienfrage  zu  reizen  —  so  trefflich, 
dass  er  schließlich  selbst  mit  in  die  Verurtheilung  der  Lehrerzeitung,  des 
Vereinsorgans  einstimmte,  indem  er  sich  so  oft  und  nicht  stets  erforderlicher- 
weise zum  Wort  meldete.  Ein  Abgeordneter  aber  sollte  am  wenigsten  das  Be- 
dürfnis fühlen,  in  den  de-  und  wehmüthigen  Satz  auszubrechen:  einzelne  Inder 
Frage  der  Aufbesserung  durch  die  Presse  veröffentlichte  Auslassungen  un- 
geeigneter Art  nicht  auf  Rechnung  der  ganzen  Lehrerschaft  zu  setzen!  Wäh- 


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rend  der  Cultusetat-Berathung  versuchten  die  Clericalen  wieder  einen  Vorstoß 
gegen  die  Simultanschule,  jedoch  ohne  Erfolg.  Der  neue  Cultusminister  fährte 
sogar  den  verwegensten  Kämpen  —  es  ist  ein  Gymnasialprofessor  aus  der 

Rheinpfalz  —  eigenhändig  und  sehr  elegant  ab  und  die  Stadt  Nürnberg 

beschloss,  gleichsam  als  Antwort  auf  jenen  Kriegsruf,  in  Zukunft  nur  noch 
Simultanschalen  zu  errichten.  Dieser  erfrenlichen  Mittheilung  kann  ich  zwei 
weitere  hinzufügen:  eine  Reihe  mittelfränkischer  Städte  richtete  an  die  Regie- 
rung die  Bitte  um  Beschneidung  des  üppig  ins  Kraut  schießenden  religiösen 
Gedächtmsstoffes,  —  und  eine  ziemliche  Anzahl  bayrischer  Städte  beschloss, 
dem  Lehrer  in  der  Schulcommission  nicht  allein  eine  berathende,  sondern  auch 
eine  beschließende  Stimme  zuzugestehen.  Ja,  die  mittelfränkische  Stadt  Schwa- 
bach beabsichtigt,  an  die  Spitze  ihres  Schulwesens  den  bestqualificirten  ihrer 
Volksschullehrer  zu  stellen,  falls  es  von  der  Regierung  erlaubt  wird. 


Aus  Österreich.  Der  „Deutsch-österreichische  Mittelschul  tag",  welcher 
in  der  vergangenen  Charwoche  zu  Wien  abgehalten  wurde,  beschäftigte  sich 
u.  a.  sehr  eingehend  mit  der  pädagogischen  Vorbildung  der  Mittel- 
schullehrer, d.h.  der  Lehrer  an  Gymnasien  und  coordinirten  Anstalten.  Als 
Referenten  über  dieses  Thema  fungirten  Professor  Dr.  Maiß  und  Prof.  Dr.  Höfler. 
An  der  sehr  lebhaften  Debatte  betheiligten  sich  außerdem  namentlich  Dr.  von 
Math,  Dr.  Singer,  Prof.  Hoppe,  Prof.  Martinagg,  Prof.  Dr.  Smolle.  Zur  An- 
nahme gelangten  folgende  2  Thesen:  1)  „Die  wesentliche  Vorbedingung  eines 
Fortschrittes  in  der  pädagogischen  Vorbildung  der  Mittelschullehrer  ist  die 
Pflege  philosophischer,  speciell  psychologischer,  logischer  und  ethischer  Studien 
der  Lehramte -Canditaten"  (Höfler).  2)  „Für  die  pädagogische  Ausbildung 
der  Lehramts-Candidaten  ist  neben  der  theoretisch- pädagogischen  Ausbildung 
an  der  Universität  das  Probejahr  der  Candidaten  not h wendig  und  hin- 
reichend; die  Einführung  pädagogischer  Seminare  und  Übungsschulen  ist 
nicht  anzustreben"  (Maiß). 


Aus  der  Schweiz.  Am  30.  Januar  d.  J.  starb  zu  Baden  (Aargau) 
Franz  Dula,  ein  Schulmann,  wie  er  eben  nur  in  der  Schweiz  möglich  ist.  Des- 
halb wollen  wir  hier  von  seinem  Lebensgange  kurz  berichten.  —  Dula  wurde  am 
10.  März  1814  im  Canton  Luzern  geboren,  besuchte  die  niederen  und  höheren 
Schulen  der  heimatlichen  Hauptstadt  und  schloss  seine  Studien  an  der  Uni- 
versität Jena  ab  (die  ihn  später,  bei  der  Feier  ihres  500jährigen  Bestandes, 
zum  Ehrendoctor  ernannte).  1836  trat  er  in  den  Schuldienst  als  Secundar- 
lehrer  in  Luzern,  fiel  aber  bei  der  Regierung  in  Ungnade,  da  er  seine  libe- 
ralen Gesinnungen  nicht  verhehlte  und  im  besondern  der  Rückberufung  der 
Jesuiten  entgegenarbeitete.  Er  nahm  deshalb  1842  eine  ähnliche  Lehrstelle 
im  Nachbarcanton  Aargau  an,  wo  er  sich  auch  einen  eigenen  Hausstand  grün- 
dete. Infolge  des  „Sonderbundkrieges"*)  (welchen  er  als  Schützencorporal 
mitmachte),  kehrte  er  in  seine  Heimat  zurück,  wurde  Mitglied  des  neuen 
Regierungsrath.es  und  brachte  als  solches  ein  neues  Unterrichtsgesetz  zustande. 

*)  Einschreiten  der  eidgenössischen  Mehrheit  gegen  den  bundeevertrags- 
widrigcn,  particularistisch -jesuitischen  „Sonderbund"  der  7  Cantone:  Luzern,  Uri, 
8chwyx,  Unterwaiden,  Zug,  Freiburg,  Wallis  (1847). 


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1849  Übernahm  D.  die  Leitung  des  Lehrerseminars  in  Rathausen  (Luzern), 
wo  er  eine  andere,  d.  i.  freisinnige  Lehrergeneration  heranbildete  und  dorch 
die  That  wie  durch  Wort  und  Schrift  für  die  Hebung  der  Volksschule  und  des 
Lehrerstandes  nach  jeder  Richtung  hin  wirkte;  zudem  erwarb  er  sich  hervor* 
ragende  Verdienste  auf  dem  Gebiete  der  Gemeinnützigkeit  (war  zeitweilig 
Präsident  der  Schweiz.  Gemeinnutz.  Gesellschaft),  z.  B.  durch  seine  Betheiligung 
an  der  Gründung  der  großen  Rettungsanstalt  Sonnenberg  bei  Luzern.  Doch  im 
Laufe  der  Sechziger  Jahre  gelangte  die  ultramontane  Partei  abermals  zur  Herr- 
schaft, und  so  folgte  Dula  dem  Rufe  der  aargauischen  Regierung  in  die 
Direction  des  Seminars  Wettingen  (1867).  Bis  1886  behielt  er  die  Leitung 
dieser  Lehrerbildungsanstalt,  biB  Herbst  1891  gehörte  er  ihr  noch  als  Lehrer 
(der  Pädagogik)  an.  Dass  ein  Mann  von  solcher  Gesinnungstüchtigkeit  und 
Thatkraft  einen  tiefen  erzieherischen  Einfluss  auf  seine  Schüler  ausübte,  be- 
darf kaum  der  Erwähnung. 

Wenn  wir  aber  D.  gleich  anfangs  als  eine  gerade  der  Schweiz  eigen- 
thümliche  Erscheinung  bezeichneten,  so  hatten  wir  hauptsächlich  die  Art  der 
Ämter,  welche  er  bekleidete,  den  Amtswechsel  im  Auge.  Diese  Möglichkeit, 
und  nicht  seltene  Wirklichkeit  des  Stellenwechsels  ist  in  der  That  für  die 
schweizerische  Lehrerschaft  charakteristisch.  Hier  noch  einige  Beispiele  (aus 
denen  man  freilich  sieht,  dass  es  sich  fast  ausschließlich  um  „höhere"  Volks- 
schullehrer handelt):  ein  Secnndarlehrer  wird  Stadtrath,  ein  anderer  Staats- 
schreiber (Vorsteher  der  Regierungskanzlei),  ein  dritter  Regierungsstatthalter 
(Bezirkshauptmann).  Oder:  der  Assistent  in  einem  Laboratorium  der  Universität 
(Doctor)  zieht  die  Stelle  eines  Lehrers  (für  welche  er  allerdings  die  Wahl- 
fähigkeit besitzt)  an  der  Mädchensecundarschule  vor,  ein  Bezirksschulinspector 
desgleichen;  der  Leiter  eines  staatlichen  Lehrerseminars  übernimmt  die  Direction 
einer  städtischen  Mädchenschule.  Oder  die  Wandlung  des  Herrn  F.:  Real- 
schullehrer —  Redacteur  einer  politischen  Zeitung  —  Übungsschullehrer  am 
Seminär  —  städtischer  Mädchenschullehrer.  Herr  G.  —  und  mit  ihm  schließen 
wir  die  Reihe  —  war  erst  Secnndarlehrer,  übernahm  dann  das  Rectorat  einer 
höheren  Töchterschule  und  ist  jetzt  Secretär  der  Erziehungsdirection  in  seinem 
Heimatcanton. 

Was  wir  hier  angeführt,  dürfte  deutschen  und  österreichischen  Lehrern 
im  allgemeinen  noch  unbekannt  sein  —  unbekannt  wie  manche  andere  Zustände 
und  Verhältnisse  im  Schulwesen  der  Schweiz,  und  wie  manche  Thatsache  der 
schweizerischen  Unterrichtsgeschichte.  Darüber  hat  man  sich  hierzulande 
mehrfach  beschwert.  So  z.  B.  jüngst  gelegentlich  der  Oomeniusfeier.  Dass 
Comenius  auch  zu  namhaften  Schweizern  in  wesentlichen  Beziehungen  ge- 
standen (man  wird  bald  Näheres  darüber  hören),  davon  wisse  man  „im 
Reiche  draußen"  nichts.  Auch  scheine  man  hie  und  da  immer  noch  Comenius 
Uber  Pestalozzi  stellen  zu  wollen  (was  aus  mehreren  Festschriften  zu  ersehen 
sei),  und  dies  beweise,  dass  man  die  wahrhafte  Bedeutung  Pestalozzis  in  ihrem 
Kern  noch  nicht  allenthalben  erfasst  habe,  auch  wol  mit  seiner  Lebensgeschichte 
noch  nicht  genügend  vertraut  sei.  Des  weiteren  wurde  kürzlich  bemerkt:  die 
deutschen  Verfasser  von  „Geschichten  der  Methodik"  scheinen  die  Verdienste 
der  Schweizer  nm  die  Entwicklung  des  erdkundlichen  Unterrichts  nicht  zu 
kennen.  Und  in  der  Schweiz.  Lehrerztg.  vom  2.  April  d.  J.  schließt  die  An- 
zeige der  „Geschichte  des  deutsch.  Turnunterrichts"  von  Prof.  Dr.  Euler  (Kehr, 


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Gesch.  d.  Hetfa.  V)  mit  den  Worten:  „Das  Turnen  in  der  Schweiz  ist  nicht 
behandelt.  Der  Verfasser  führt  blos  die  diesbezüglichen  Bestrebungen  von 
Zwingli  nnd  Pestalozzi  an  nnd  erwähnt,  dass  Spieß  und  Maul  in  der  Schweiz 
in  hervorragender  Weise  thätig  waren.  Wir  andern  glauben,  das  Turnen  bei 
ans  dürfe  sich  so  gnt  sehen  lassen  wie  das  so  manchen  Städtchens  „ennet  dem 
Rbyn",  und  der  Name  des  Turnvaters  Niggeler  wäre  der  Geschichte  der  Methodik 
des  deutschen  Volksschulunterrichts  so  gut  angestanden,  wie  der  mancher  an- 
dern Streiter."  —  Hier  handelt  es  sich  im  wesentlichen  um  die  Vergangenheit; 
häufiger  begegnet  man  Belegen  für  das  Nichtwissen  der  Gegenwart.  Nun  sind 
wir  zwar  selbstverständlich  keineswegs  so  eingebildet  zu  fordern,  der  deutsche 
oder  österreichische  Lehrer  müsse  in  dem  vielgestaltigen  Unterrichtswesen 
aller  unserer  25  Länder  und  Ländchen  bewandert  sein,  und  noch  weniger 
möchten  wir  uns  zu  der  mehr  als  kühnen  Behanptang  versteigen,  die  Schule 
der  vorgeschrittenen  Cantone  sei  die  Erziehungsschnle  im  Sinne  Pestalozzis, 
Diesterweg's,  Hildebrand's*)  und  darum  dem  gründlichen  Studium  jedes  aus- 
ländischen Beruftgenossen  dringend  zu  empfehlen  —  aber  doch  dürfen  wir 
wünschen,  dass  man  jenseits  des  Rheins  unsere  Schuleinrichtungen  wenigstens 
ihren  Grundzügen  nnd  ihren  Eigentümlichkeiten  nach  kenne;  soviel  steht 
fest:  diejenige  Beachtung,  welche  unsere  kleine  pädagogische  Welt  von  Seite 
der  größeren  Nachbarn  wirklich  verdient,  hat  sie  noch  nicht  gefunden. 

Woran  liegt  das?  —  Man  kann  nicht  behaupten,  dass  zu  wenig  ver- 
öffentlicht werde,  oder  dass  die  Veröffentlichungen  schwer  zugänglich  seien. 
In  dem  gegenwärtig  von  A.  Richter  (Leipzig)  herausgegebenen  „Pädagogischen 
Jahresbericht"  ist  stets  auch  der  Schweiz  ein  Abschnitt  gewidmet  (dessen  Be- 
arbeitung in  guten  Händen  liegt)  —  seit  1887  erscheint  überdies  (bei  Orell 
Füssii  in  Zürich)  ein  „Jahrbuch  des  Schweiz.  Unterrichtswesens"  —  die 
Schweiz.  Lehrerzeitung  kostet  jährlich  nur  5  Fr.  —  das  zwar  schon  1883  heraus- 
gegebene, aber  immer  noch  recht  brauchbare  „Handbuch  der  Schweiz.  Schul- 
gesetzgebung" von  0.  Hunziker  ist  jetzt  beim  Pestalozzianum  in  Zürich  zu 
dem  Spottpreise  von  50  Rappen  zu  haben.  Sonach  könnten  sich  wenigstens 
die  Lehrerbibliotheken  größerer  Schulen  und  die  Kreisbibliotheken  mit  guten 
Aufklärungsschriften  versehen.  Für  den  Einzelnen  aber  könnten  das  Beste 
die  größeren  Fachblätter  leisten.  Denn  es  gehört  gewiss  zu  deren  vielseitigem 
Beruf,  ihren  Lesern  zu  zeigen,  wie  und  in  welchen  Kreisen  das  pädagogische 
Leben  jenseits  der  Landesgrenzen  sich  abspielt.  Mit  einer  Reihe  klar  und 
knapp  gehaltener  Artikel  wäre  die  Aufgabe  gelöst.**)  Aber  auch  die  Quelle, 
oder  vielmehr  die  große  Sammelstelle  der  zahlreichen,  mehr  oder  weniger  stark 
sprudelnden  Einzelquellen  ist  jedem  (wenigstens  auf  dem  Postwege)  zugänglich 
—  wir  meinen  das  „Archivbureau"  des  Pestalozzianums  in  Zürich.***)  Wenn 


*)  Davon  sind  wir  noch  meilenweit  entfernt! 

**)  Eine  solche  Artikelreihe  bat  bereite  1889/90  die  frühere  Redaction  der 
Pädag.  Zeitung  (Berlin)  begonnen;  sie  fortzusetzen,  scheint  die  gegenwärtige  Lei- 
tung nicht  gewillt  zu  sein. 

***)  Hierher  sollten  zuerst  immer  auch  diejenigen  kommen,  welche  persönlich 
in  schweizerischen  Schulen  Umschau  halten  und  sich  dazu  so  gut  als  möglich  vor- 
bereiten wollen,  wie  es  im  vergangenen  Jahre  zwei  deutsche  Herren  gethan  (aus- 
gesandt von  der  Diesterwegstiftung  in  Berlin  und  von  der  Stadt  Plauen  i.  Vogtl). 
Der  Erstgenannte  hat  über  seine  Beobachtungen  zu  Zürich  und  anderen  Schweizer- 


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wir  uns  —  wie  es  im  Folgenden  geschehen  soll  —  über  diese  für  die  Schweiz 
hochbedeutsame  Anstalt  einlässlich  äußern,  so  durfte  das  sachlich  gerechtfertigt 
erscheinen. 

Das  Pestalozzianum  umfasst  eine  wolgefüllte  und  trefflich  geordnete  Aus- 
stellung von  Schulgeräthen  und  Lehrmitteln  (mit  einer  besonderen,  fast  ver- 
schwenderisch ausgestatteten  Abtheilung  für  Zeichen-  und  gewerblichen  Unter- 
richt) —  ein  Lesezimmer  mit  rund  70  unmittelbar  nach  ihrem  Erscheinen  anf- 
liegenden Zeitschriften  —  das  an  wertvollen  Reliquien  reiche,  würdig  und 
sinnig  gehaltene  „Pestalozzistübchen"  —  namhafte  Büchereien  —  das  bereits 
erwähnte  Archiv  als  Sammelstelle  für  alle  möglichen  Manuscripte  und  Druck- 
sachen, weiche  von  dem  öffentlichen  und  privaten  Schulleben  des  In-  und  Aus- 
landes Zeugnis  ablegen.  Das  Archivbureau  besorgt  die  Verwaltung  des  Archivs 
(auch  des  „Schweiz.  Gentraiarchivs  für  Gemeinnützigkeit")  und  der  Biblio- 
theken; außerdem  aber  ist  es  die  wissenschaftliche  Werkstätte  des  Pestaloz- 
zianums.  Als  solches  führt  es  aus:  einestheils  die  größeren,  meist  zur  Ver- 
öffentlichung bestimmten  Arbeiten  (und  die  literarische  Thätigkeit  ist  eine 
vielseitige),  anderntheils  die  verschiedenartigen  kleineren  Geschäfte,  welche 
hauptsächlich  darin  bestehen,  für  studirende  Lehrer  nach  deren  allgemein  ge- 
haltenen Angaben  und  Wünschen  aus  den  Archiven  und  Bibliotheken  der  An- 
stalt das  geeignete  Material  auszuwählen,  oder  für  solche  Zwecke  bei  Behörden 
und  Schulleitern  briefliche  Auskunft,  Actenstücke  u.ä.  einzuholen.  Im  Jahre  1891 
wurden  38  „größere  Arbeiten''  geliefert,  darunter:  Mittheilungen  über  das 
Schweiz.  Schulwesen  im  Jahre  1890  für  Richter's  Pädag.  Jahresbericht  —  Be- 
richt über  Entstehung  und  Entwicklung  der  Schweiz,  permanenten  Schulaus- 
stellungen  für  die  „Mittheilungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs- 
und SchulgeschichteM  (Jahrg.  I,  Heft  2)  —  Beitrag  zur  Geschichte  der  Schul- 
geographie in  der  Schweiz  (Monographie,  dem  internationalen  geogr.  Congress 
in  Bern  vorgelegt,  wo  dem  P.  ein  „erster  Preis"  zufiel)  —  Skizzen  in  die 
„Allgemeine  deutsche  Biographie"  —  Beiträge  zur  Geschichte  des  Schweiz. 
Fortbildungsschulwesens  (Zeitschr.  f.  Schweiz.  Statistik)  —  Vorarbeiten  zu 
einer  Statistik  der  einheimischen  Fortbildungsanstalten  für  Mädchen  und  Frauen 

—  Sammlungen  für  eine  schweizerische  Landeskunde,  Abtheilung  Unterrichts- 
wesen. —  Die  „kleineren  Geschäfte"  (1891:  138)  sind  zuweilen  im  Berichte 
übersichtlich  nach  den  Hauptgebieten  geordnet,  auf  welche  sie  sich  erstrecken, 
und  zwar  enthält  der  Bericht  über  das  Jahr  1891  folgende  Zusammenstellung 
(die  Ziffern  in  Klammern  bezeichnen  die  Zahlen  der  betreffenden  Auskunfts- 
und Ausleihbegehren) :  Gesetzgebung  und  Verwaltung,  Schulwesen  im  all- 
gemeinen (35)  —  Einzelne  Schularten  im  besondern  (23)  —  Lehrerverhält- 
nisse (10)  —  Geschichte  der  Pädagogik  (10)*)  —  Allgemeine  Pädagogik  (22) 

—  Methodik  (30)  —  Verschiedenes  (8). 


Städten  in  einem  Schriftchen  berichtet,  welches  durchzusehen  wir  noch  nicht  Ge- 
legenheit fanden.  —  Solche  Studienreisen  durch  fremde  Schnlen  sind  nun  ohne 
Zweifel  aufs  wärmste  anzurathen;  allein  da  sie  sich  in  der  Regel  nur  auf  wenige 
Tage  und  (größere)  Orte  erstrecken  können,  so  ist  das  Ergebnis  weit  davon  ent- 
fernt, das  Bild  vom  Schulwesen  des  Landes  darzustellen  und  zu  allgemeinen  Urtheilen 
zu  berechtigen. 

•)  Darunter  zwei  Erkundigungen  nach  der  Lebens-  und  Arbeitsgeschichte  des 
Herrn  Dr.  Dittes. 


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£8  leuchtet  ein:  unsere  Anstalt  kann  durch  die  erwähnten  verschiedenen 
Einrichtungen  sehr  viel  Gutes  stiften,  und  stiftet  es  wirklich;  sie  hat  sich  un- 
entbehrlich gemacht.  Aber  die  hohe  Aufgabe  eines  „Pestalozzianums"  ist 
damit  nicht  erfüllt,  auch  damit  noch  nicht,  dass  es  —  selbstverständlich!  — 
einen  „Mittelpunkt  für  die  Pestalozziforschung  und  Pestalozzikunde "  bildet. 
Seinem  höchsten  Ziele  wird  er  sich  erst  dann  nähern,  wenn  es  sich  —  seinem 
Namen  entsprechend  —  als  „pädagogisches  Nationalinstitut "  fühlt.  Es  muss 
erstreben,  was  noch  nicht  vorhanden  ist:  die  allgemeine  Volksschule  als  Schule 
Pestalozzis  —  die  naturgemäße  Erziehung  zur  reinen  Menschlichkeit  und  Vater- 
landstreue. Aber  so  wenig  die  deutsche  Literaturgeschichte  mit  dem  22.  März 
1832  zu  Ende  gegangen,  so  wenig  bezeichnet  der  Tod  Pestalozzis  den  Schluss- 
stein  der  Erziehungsgeschichte.  Man  ist  weiter  geschritten,  ganz  besonders 
auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik.  Und  wenn  auch  Pestalozzis  Grundgedanken 
—  Naturgemäßheit,  Wahrhaftigkeit,  Lebenstüchtigkeit  —  nnverkümmert  für 
alle  Zeiten  gelten  werden:  das  Pestalozzianum  muss  doch  mitten  im  „bunten, 
blühenden,  ewigbewegten  Leben"  stehen  (allerdings  auf  hoher  Warte)  und 
für  die  vaterländische  Schule  zu  gewinnen  und  zu  verwerten  suchen,  was  die 
Nachfolger  Pestalozzis  —  mögen  sie  wo  immer  zu  Hause  sein  —  Gutes  er- 
sinnen und  schaffen. 


Aus  der  Fachpresse. 

546.  Comenius  und  Pestalozzi*)  (Preisarbeit,  Allg.  d.  Lehrerz.  1892, 
12.  13.).  Eine  nüchterne,  unparteiische  (wenn  auch  nicht  durchaus  gründliche, 
sachlich  genaue),  „hauptsächlich  auf  eine  Reihe  von  Gegensätzen"  gerichtete 
Vergleichung,  für  deren  Ergebnisse  gern  mehr  oder  weniger  sinnliche  Schlag- 
wörter gesucht  werden.  Diese  Ergebnisse  sind:  „Eine  tiefe  Kluft  trennt  C. 
von  P.  hinsichtlich  des  Grades  ihrer  (wissenschaftlichen)  Bildung,  ihrer  Welt- 
und  Menschenkenntnis."  „C.  war  mehr  Lehrer  als  Erzieher,  P.  mehr  Erzieher 
als  Lehrer."  „C.  war  durch  seinen  Kopf,  P.  durch  sein  Herz,  was  er  war"; 
C.  ein  Apostel  —  P.  der  Leiter  eines  Missionshauses,  freilich  ohne  Leitungs- 
talent, welches  C.  in  ebenso  hohem  Maße  besaß  wie  die  P.  gänzlich  mangelnde 
Meisterschaft  in  der  Systematik.  C.'s  Mutterschule  den  Eltern,  P/s  ähnliches 
Werk  nur  der  Mutter  gewidmet;  jenes  verdient  vor  diesem  bei  weitem  den 
Vorzug.  C.  verfolgt  „praktisch-reale",  P.  im  wesentlichen  „formale"  Zwecke, 
daher  bei  jenem  Pflege,  bei  diesem  Vernachlässigung  der  „Realien".  Als 
hauptsächlicher  Schulerfolg  von  C.  intellectuelle,  von  P.  moralische  Förderung 
erwartet. 

547.  Comenius  und  Pestalozzi  (0.  Hunziker,  Pestalozziblätter**) 
1892,  II).  Rede  zur  Comenius-Feier  in  Zürich.  Nach  dem  Bericht  über  die 
„äußeren  Schicksale"  und  Schriften  des  C.  folgt  die  Vergleichung:  Verschieden- 
heiten in  ihrem  Lebensgang  und  Martyrthum  (C.  Märtyrer  der  Sache,  P.  Mär- 


*)  Von  besonderen  Aufsätzen  über  C.  führe  ich  noch  an  diejenigen  der:  Rhein. 
Blätter  I,  II  —  Schweiz.  Lehrerzeitung  13  („C.-Nummei"),  14  —  Deutsche  Blätter 
10,  11  („C.  der  Apostel  des  Friedens*)  —  Päd.  Zeitung  (16  Urthcilo  über  den  Orbis 
pictus,  darunter  die  Empfehlungen  einer  Magdeburger  Schulordnung  von  1658  und 
einer  Braunschweiger  von  1738,  und  lobende  Anerkennungen  durch  Leibniz,  Basedow, 
Goethe,  Herder). 

**)  Um  den  Preis  von  30  Pf.  zu  beziehen  beim  Pestalozzianum  in  Zürich. 


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tyrer  seiner  eigenartigen  Individualität)  —  „Comenius  wird  stets  ein  leuch- 
tender Stern  unter  den  Weisen  aller  Zeiten  sein;  Pestalozzis  Bild  wird  tiefer 
im  Herzen  aller  derer  haften,  denen  nichts  Menschliches  fremd  ist."  —  C. 
Schul-  und  Kirchenmann,  P.  Mensch  und  Bürger,  deshalb  auch  Politiker.*) 
—  „Comenius  legte  überzeugend  dar,  was  für  die  Erziehung  gethan  werden 
musste;  P.  wirkte  die  Begeisterung,  dass  es  gethan  wurde."  —  Gemeinsame 
Forderungen:  Unterricht  auf  die  Anschauung  zu  gründen  —  Naturgem&ßheit 
an  die  Spitze  aller  ErziehungsgrondsUtze  zu  stellen  —  allgemeine  Volksschule 
(aber  P.  wusste  nichts  von  C,  „den  theoretischen  Hintergrund  seiner  Be- 
strebungen bot  ihm  Rousseau's  Emil").  Beide  glaubten  an  die  allein  selig- 
machende, unbedingte  Macht  der  Methode  (Ziel:  Unterricht  und  Erziehung  zu 
„mechanisiren").  Doch  die  Volksschule  ist  für  C.  Hauptbildungsmittel,  für  P. 
nur  „Surrogat",  Nothbehelf.  C.  baute  vorzüglich  an  der  Organisation  der 
Schule;  P.  legte  die  „ psychologische  Basis  aller  Schulbildung".  C.  arbeitete 
im  Dienste  des  „ Universums",  P.  im  Dienste  des  Volkes,  des  einzelnen  und 
jedes  Menschen,  deshalb  geht  er  von  diesem  selbst,  C.  von  der  Bestimmung 
des  Menschen  aus.  —  Schloss:  Pestalozzis  innerste  Eigenart. 

548.  Psychologisches  aus  der  Didactica  magna  (Päd.  Ref.  1892, 
12).  „So  ist  in  den  Bewegungen  der  Seele  das  Hauptrad  der  Wille;  die 
treibenden  Gewichte  sind  die  Gefühle,  die  dem  Willen  eine  Neigung  nach  der 
einen  oder  anderen  Seite  hin  geben.  Das  Perpendikel,  welches  die  Bewegungen 
öffnet  und  schließt,  ist  die  Vernunft,  welche  ausmisst  und  festsetzt,  was,  wo, 
wie  weit  festgehalten  und  geflohen  werden  soll.  Wenn  daher  den  Wünschen 
und  Gefühlen  nicht  ein  allzu  großes  Gewicht  angehängt  ist,  und  das  Perpen- 
dikel, die  Vernunft,  recht  sperrt  und  öffnet,  so  kann  es  nicht  anders  sein,  als 
dass  die  Harmonie  und  die  Übereinstimmung  der  Tugenden  folgt."  —  Einsender 
bezeichnet  diese  Stelle  als  „von  entscheidender  Bedeutung  für  das  ganze  Er- 
ziehungswerk" und  findet  darin  eine  Aufforderung  des  Comenius  zu  vertiefter 
Gemüthsbildung. 

549.  Des  Comenius  Bedeutung  für  den  Zeichenunterricht  (Die 
Kreide**)  1892,  ni).  Mutterschule:  „Es  sollen  auch  die  Kinder  zum  Malen 
angeführt  werden,  dass  sie  bald  im  dritten  und  vierten  Jahre  mit  Kreide  oder 
Kohle  Punkte,  Linien,  Kreuze,  Ringlein  malen,  wie  sie  wollen,  was  man  ihnen 
allmählich  und  spielenderweise  zeigen  kann.  Denn  also  werden  die  Händlein 
fähig,  die  Kreide  zu  halten  und  Züge  zu  machen,  und  sie  begreifen,  was  ein 
Pnnkt  oder  Linie  sei,  was  den  Präceptoren  hernachmals  zu  hübschem  Vortheil 
gedeihen  wird."  —  Orbis  pictus:  Indem  man  die  Kinder  zum  „Malen"  anhält, 
werden  sie  gewöhnt,  „einem  Ding  recht  nachzusinnen  und  scharf  darauf 
Achtung  zu  geben,  auch  abzumerken  die  Ebenmaße  der  Dinge  in  Gegen- 
einanderhaltung derselben."  —  Weiter  werden  einschlägige  Stellen  aus  der 
Didactica  magna  angeführt,  und  am  Schluss  das  zusammenfassende  Urtheil. 
dem  wir  folgenden  Satz  entnehmen:  „Wir  wollen,  dass  bei  jeder  Kunst  von 
allem,  was  in  derselben  geleistet  werden  soll,  Ideen  oder  Vorbilder,  voll- 
ständige und  vollkommene,  aufgestellt  werden,  mit  Beifügung  von  Erinnerungen 


*)  Ob  die  Ursache  dieses  Gegensatzes  nur  in  den  Personen,  nicht  auch  (viel- 
leicht zumeist)  in  den  Zeiten  liegt? 
**)  Einzelnummer  2ft  Pf. 


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and  Kegeln,  welche  die  Gründe  des  Geschehenen  and  des  Thons  aufdecken, 
den  Nachahmungsversnch  leiten,  Verirrnngen  verhüten,  nnd  wo  solche  vor- 
gekommen, bessern." 

550.  Baumgarten*)  gegen  Diesterweg  (E.  v.  Sallwürk,  Deutsche 
Blatter**)  1892, 12).  Eine  Schutzrede  für  Diesterwegs  Stellung  zum  Kirchen- 
thum —  und  wenn  auch  der  Meister  ihrer  nicht  bedarf,  so  vernehmen  sie 
doch  seine  Jünger  gern.  S.  thut  übrigens  mehr:  er  vertheidigt  mit  Nach- 
druck die  Selbstständigkeit  und  Freiheit  der  modernen  Pädagogik  überhaupt 
und  ihrer  Diener.  „Die  Erziehung  ist  die  grörate  Gewalt,  die  über  einen 
Menschen  ausgeübt  werden  kann;  daher  kann  sie  nur  ihren  eigenen  Gesetzen 
folgen  und  keines  fremden  Herrn  Magd  sein,  und  nur  von  einem  ganzen  Mann 
ausgeübt  werden."  „Die  Religion  ist  blos  eine  Seite  unserer  Cnltur,  und  die 
religiöse  Unterweisung  der  ganzen  und  einheitlichen  Erziehong  unterzuordnen." 
Mit  dem  „Autoritätsglauben"  hat  die  Erziehung  nichts  zu  schaffen.  „Ja 
der  Lehrer  selbst  darf  dem  Kinde  keine  Auctorität  sein  wollen:  erst  sein 
Charakter,  sein  höheres  Wissen  muss  dem  Zögling  den  Beweis  liefern,  dass  er 
der  Leitung  des  Unterichtenden  sich  hingeben  dürfe,  und  dieser  darf  das  ihm 
entgegenkommende  Vertrauen  nur  dazu  benutzen,  in  dem  Kinde  die  heitere 
Ruhe  des  Gemüthes  hervorzurufen,  welche  den  Organen  des  Geistes  Regsam- 
keit und  Stetigkeit  verleiht." 

551.  Über  Elternabende  (0.  Schulze,  Deutsche  Blätter  1892,  11). 
Verfasser  will  dieses  neu  gefundene,  in  Lehrerkreisen  jetzt  viel  besprochene 
Bindemittel  zwischen  Schule  und  Haus  höheren  Zwecken  als  denjenigen,  die 
man  ihm  gewöhnlich  bestimmt,  dienstbar  gemacht  wissen.  —  Den  Eltern- 
abenden soll  (von  den  Lehrern)  nicht  blos  eine  „schulpädagogische",  sondern 
anch  eine  sociale  Aufgabe  gestellt  werden;  namentlich  sollen  sie  zur  Wach- 
samkeit über  die  der  Schule  entlassene  Jugend  anregen.  Überhaupt  sei  — 
entgegen  der  herrschenden  Meinung  —  in  der  Regel  die  Schule  der  gebende, 
das  Haus  der  empfangende  Theil. 

552.  Kritik  und  Kritiker (R.  Seyfert,  Pädag.  Führer***)  1892, 1—2). 
Ein  mit  Ernst  und  Feuer  geschriebener  Aufsatz,  dem  man  um  der  redlichen 
Absicht  willen  allzustarkes  Pathos  und  zu  große  Breite  gern  nachsieht. 
I.  Theil:  Allgemeines  („Nicht  umfassende  Kenntnisse,  nicht  durchdringender 
Scharfsinn  und  schlagende  Urtheilskraft  sind  das  Erste  und  Wichtigste,  was 
wir  vom  Kritiker  verlangen,  sondern  —  Opferwilligkeit,  Selbstverleugnung." 
Auch  „bares,  wirkliches  Geld"  —  nämlich  Zeit  —  muss  er  zu  „opfern"  bereit 
sein.)  II.  Theil:  Ausführlicher  Plan  für  Recensionen  „methodisch-praktischer" 
Werke  „mit  fachwissenschaftlichem  Inhalt"  (hier  eine  Erleichterung  durch  den 
Verleger  zu  wünschen:  dieser  soll  jeweilen  „einen  Fachgelehrten  gewinnen, 
der  mit  seinem  Namen  für  die  sachliche  Richtigkeit  des  Inhaltes  bürgt"). 
Wenn  S.  in  dem  von  ihm  geleiteten  Blatte  hält,  was  er  verspricht,  so  wird 
er  in  der  That  zur  Besserung  der  Recensionsverhältnisse  Wesentliches  bei- 
tragen. 


*)  Volksschule  und  Kirche,  auch  eine  fociale  Frage.  Ein  Beitrag  zur  Diesterweg- 
feier. Leipzig,  Grunow  1890. 
**)  Einzelnummer  20  Pf. 

***)  Beilage  zur  Deutschen  Schulpraxis.    Einzelnummer  20  Pf. 


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553.  Der  Gebrauch  der  Karte  im  erdkundlichen  Unterricht 
(P.  Weigeldt,  Prakt.  Schulmann*)  1892,  I.).  Kart«  im  Mittelpunkt;  Einföh- 
rung  ins  Kartenverständnis  nach  und  nach,  auf  jeder  Unterrichtsstufe,  also 
Entlastung  der  Unterstufe;  Sicherung  des  Verständnisses  soviel  als  möglich  in 
jeder  Stunde.  (Der  Atlas  verdient  eine  größere  Rolle,  als  sie  ihm  Verfasser 
zuweist;  er  ist  an  unterrichtlichem  Wert  der  Wandkarte  so  ziemlich  gleich 
zu  achten,  wenn  er  gut  ist;  und  gegenwärtig  besitzen  wir  in  der  That  etliche 
gute  Atlanten,  z.  B.  von  Schmidt,  Wettstein.) 

554.  Bemerkungen  über  den  Unterricht  in  der  Physik  und 
Chemie  (R.  Schulze,  Deutsche  Schulpraxis  1892,  7).  Lehrgang  für  den 
„Physikunterricht":  Schwerkraft  (Mechanik  fester  Körper  —  „hier  braucht 
man  so  wenig  als  möglich  vorauszusetzen;  dabei  sind  sämmtliche  anzustellende 
Versuche  derart,  dass  sie  nie  misslingen")  —  Molecularkräfte,  Mechanik  der 
flüssigen  und  luftförmigen  Körper,  Optik  (oder  letztere  „nach  der  Mechanik 
der  flüssigen  Körper,  der  günstigeren  Beleuchtung  wegen;  jedenfalls  die  Lehre 
vom  Licht  in  der  Zeit  vom  Juni  bis  August  oder  Anfang  September")  —  im 
Winterhalbjahr:  Schall,  Wärme,  Magnetismus,  Elektricität. 

555.  Beiträge  zum  deutschen  Unterricht  (K.  Strobel,  Deutsche 
Schulzeitung  1891,  45.  46).  1.  Grundgesetz:  Vergleichung  zwischen  Schrift- 
deutsch und  Mundart.  Bedeutung  der  Mundart  für  den  Unterricht  (das  erste 
Wort  darüber  von  Rud.  v.  Raumer;  dessen  Gedanken  1858  auszuführen  ver- 
sucht von  Burgwardt).  —  2.  Syntax,  Lehre  vom  Gebrauch  der  Wortclassen  und 
Wortformen  in  der  Rede  (Rectionsübungen  an  Redensarten).  —  3.  In  den 
letzten  Schuljahren  „Übungen,  die  einmal  zusammenfassen,  was  der  gesanimte 
Unterricht  an  sprachlichen  Belehrungen  täglich  ergeben  hat,  etwa  eine  Stunde 
im  Monat w  (namentlich  Hervorholen  der  Redensarten,  welche  in  den  Stunden 
vorgekommen  und  die  Kinder  aufgeschrieben).  —  4.  Der  deutsche  Unterricht 
im  Seminar:  „Das  Seminar  sollte  der  Mittelpunkt  sein,  wo  sich  alles  Volks- 
und Alterthümliche  der  ganzen  Landschaft  sammelt  und  wo  es  verarbeitet  wird." 
—  Zum  Schlüsse  meint  Verfasser:  „Wenn  erst  auf  dem  Gebiete  der  deutschen 
Grammatik  ein  Besinnen  einträte,  das  ihre  fehlerhafte  Behandlung  klarlegte, 
so  würde  diese  Einsicht  alle  anderen  (dringlichen)  Verbesserungen  und  Erneue- 
rungen ohne  weiteres  nach  sich  ziehen. u  (Natürlich  kommt  in  dieser  Arbeit 
auch  Hildebrand  gebürend  zu  Worte.) 

556.  Zum  deutschen  Aufsatz  in  den  unteren  und  mittleren 
C lassen  (K.  Koch,  Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.  1891,  VIII).  Vom  „Auf- 
satzelend'' und  wie  es  zu  heilen  —  vornehmlich  in  den  unteren  Classen  der 
höheren,  also  in  den  obersten  Classen  der  Volksschule.  „Wir  betrachten  von 
Anfang  an  den  Aufsatz  zu  sehr  als  etwas  Abgesondertes,  für  sich  Bestehendes, 
als  eine  Aufgabe,  die  mit  den  übrigen  Leistungen  der  Schule  wenig  zu  schaffen 
hat.  Darum  steht  ihm  auch  der  kleine  Schüler  mit  einem  ganz  eigenartigen 
Gefühle  gegenüber."  Die  Sprache,  die  da  auf  dem  Papier  stehen  soll,  erscheint 
ihm  von  vornherein  als  etwas  ganz  anderes."  „Die  gesprochene  und  die  ge- 
schriebene Sprache  bleiben  für  seine  Empfindung  zwei  völlig  verschiedene  Dinge. 
Das  muss  doch  wol  Schuld  der  Schule  sein.  Ihre  Pflicht  wäre  es  aber,  ihre 
Zöglinge  so  zeitig  als  möglich  die  Wahrheit  in  dieser  Sache  —  nicht  zu  lehren, 


♦)  Einzelheft  1.60  Mk. 


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sondern  erfahren  zu  lassen:  dass  das  geschriebene  Wort  nur  ein  Bild  des 
lebendigen,  gesprochenen  ist  nnd  dämm  von  Rechts  wegen  ihm  Zug  um  Zag 
gleichen  sollte;  dass  wir  nur  die  Nachlässigkeiten  der  mündlichen  Rede  nicht 
auf  die  geschriebene  übertragen  dürfen,  schon  deshalb  nicht,  weil  das  ge- 
schriebene Wort  von  uns  getrennt  und  von  anderen  gelesen  wird,  ohne  dass 
wir  fortwährend  ergänzend  und  berichtigend  dabei  stehen  können."  Die  Schule 
soll  lehren:  „Was  man  gehört,  erfahren,  gelernt  hat,  kann  man  mündlich  und 
schriftlich  wiederholen.    Beides  ist  im  Grunde  so  ziemlich  dasselbe. u 

557.  Ein  Wort  über  Aufsätze  (F.  Meli,  Schweiz.  Lehrerztg.  1891, 43). 
Der  Vorschlag  des  Verf.,  die  Aufsatzübungen  einzuschränken  und  dafür  „stille 
Beschäftigung  mit  geeignetem  Lesestoff"  (natürlich  auch  selbstständige  Ver- 
arbeitung und  freie  Wiedergabe)  einzuführen,  ist  beachtenswert.  Das  gering- 
schätzige Urtheil  über  die  Aufsatzübung  trifft  aber  keineswegs  diese  an  sich, 
sondern  den  verkehrten,  ungeschickten,  mit  seiner  Muttersprache  nicht  ver- 
trauten Lehrer-Mechaniker.  (Der  „Aufsatz"  als  Niederschrift  ist  und  bleibt 
neben  der  Redeübung  ein  notwendiges  Hauptmittel  sprachlicher  Bildung  und 
der  Selbstzucht.) —  Die  gewünschten  „Lesestoffe4  aufzutreiben  hält  sehr  schwer; 
denn  sie  sind  sehr  selten.  Die  Dichtungen  von  J.  Spyri  wären  wol  in  erster 
Linie  auszunützen;  alsdann  wären  Stücke  —  nur  Stücke  (die  allerdings  für 
sich  ein  kleines  Ganze  bilden  müssen)  —  aus  Lienhard  und  Gertrud,  aus  Reu- 
ter's  und  Rosegger's  Schriften  auszuwählen  und  meist  ein  wenig  umzuarbeiten: 
dazu  gehören  aber  wieder  —  abgesehen  von  gründlicher  Kenntnis  der  Kindes- 
seele —  tiefe  sprachliche  Einsicht,  und  ein  feines  Gefühl.  („ Volksschriften", 
auch  gute  und  mustergültige,  eignen  sich  für  Schulkinder  selbstverständlich  nicht.) 


Herr  Prorector  Dr.  Jaling  in  Schönberg-Mecklenburg  hat  ein  „Taschen- 
bach der  höheren  Schulen  Deutschlands"  (Auslieferung  bei  Ed.  Kummer 
in  Leipzig,  Preis  Mk.  1. 50)  veröffentlicht.  Der  I.  Theil  urafasst  das  Königreich 
Preußen,  der  II.  die  übrigen  deutschen  Staaten.  Da  ein  solches  „Nachschlage- 
buch für  akademisch  gebildete  Lehrer"  längst  erwünscht  war,  so  verdient  das 
Unternehmen  allseitige  Unterstützung  von  Seiten  der  Interessenten,  damit  die 
dem  ersten  Versuche  noch  anhaftenden  Mängel  in  den  folgenden  Jahrgängen 
ausgeglichen  werden. 


Der  wunderbare  Aufschwung  Berlins  von  einem  Städtchen,  das 
zur  Zeit  des  Großen  Kurfürsten  6000  Einwohner  zählte,  zu  dem  Riesengemein- 
wesen von  heute  zeigt  sich  an  seiner  jetzigen  Einwohnerzahl  von  1 6243 13  Köpfen. 
Dass  Brockhau8'  Conversations-Lexikon,  dessen  soeben  erschienenem 
zweiten  Bande  wir  dies  entnehmen,  schon  heute  die  Bevölkerungsziffer  vom 
1.  Januar  1892  mittheilt,  ist  ein  Beweis,  dass  darin  stets  die  neuesten  Daten 
gegeben  werden.  Die  Redaction  muss  vorzügliche  Beziehungen  zu  den  Behörden 
haben,  um  statistische  Zahlen  aus  dem  eben  erst  vergangenen  Jahre  1891  zu 
benutzen,  wie  die  Steuererträge  von  Berlin  (ca.  130  Millionen  Mark  gegen  ca. 
90  Millionen  Mark,  welche  das  ganze  Königreich  Belgien  nur  aufbringen  kann), 
oder  die  Bierproduction  und  -Consumtion  u.  dergl.  m.  München  allein  hat  nach 
dem  Brockhaus  im  Jahre  1890  178  360000  Liter  Bier  getrunken,  oder  den 
Inhalt  eines  etwa  300  Meter  im  Durchmesser  großen,  10  Meter  tiefen  Bier- 
sees! Wir  sind  erstaunt,  Thatsachen  bereits  berücksichtigt  zu  finden,  die  erst 


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den  letzten  Wochen  angehören,  z.  B.  das  Gesetz  über  den  Belagerungszustand 
in  Elsass-Lothringen,  oder  gar  Begriffe,  die  erst  im  Entstehen  sind,  wie  „Berufs- 
vereine". Was  sind  Berufsvereine?  Selbst  mancher  Jurist  kann  das  nicht 
sagen.  Sie  sind  der  Gegenstand  einer  Gesetzvorlage  von  großer  socialpolitischer 
Wichtigkeit,  welche  den  Reichstag  erst  in  der  nächsten  Session  beschäftigen 
wird.  In  der  guten  alten  Zeit  pflegten  die  Conversations-Lexica  dem  Fachmann 
und  selbst  dem  Laien  oft  nicht  viel  Neues  zu  bieten.  Das  ist  nun  freilich  beim 
„neuesten  Brockbaus u  anders.  Auf  allen  Gebieten  enthalten  die  Stich worte 
dieses  Bandes,  die  woi  über  6000  betragen,  erschöpfende  Darstellungen  des 
Wissenswerten ;  man  vergleiche  die  Artikel  Berlin,  Banken,  Besitz,  Bakterien, 
Bahnhöfe,  Bautaxe,  Baumwolle,  Bier,  wie  wir  sie  gerade  herausgreifen.  Die 
Biographien  sind  augenscheinlich  von  den  Lebenden  selbst  durchgesehen.  Nacli 
dem  Artikel  Beust  sind  wir  gespannt  auf  den  Artikel  Bismarck,  der  leider 
noch  nicht  in  diesem  Bande  enthalten  ist. 

Mit  besonderer  Genugthuung  heben  wir  hervor,  dass  auch  der  zweite 
Band  des  Brockhaus  Österreich-Ungarn  volle  Berücksichtigung  zutheil 
werden  lässt.  Dies  beweisen  nicht  nur  Artikel  wie  Baden,  Bilin,  Auersperg, 
Batthyanyi,  Benedek,  Biancbi,  auch  in  den  Artikeln  allgemeineren  Interesses 
tritt  es  zu  Tage.  So  ist  bei  den  juristischen  fast  immer  die  österreichische  Ge- 
setzgebung mit  angeführt,  und  bei  anderen  Artikeln,  wie  Bäder,  Bahnhöfe  u.  s.  w., 
ist  in  Wort  und  Bild  Heimisches  als  Muster  mit  herangezogen. 

Was  die  unübertroffene  Eleganz  der  äußeren  Ausstattung  des  Werkes  be- 
trifft, so  haben  wir  unserm  Urtheil  über  den  ersten  Band  nichts  hinzuzufügen. 
Überraschend  ist  wieder  die  Fülle  correcter  Karten,  Pläne  und  interessanter  Ab- 
bildungen auf  58  Tafeln,  zu  denen  noch  222  Textbilder  kommen.  Die  bunten 
Tafeln  sind  ein  hervorragender  Schmuck. 

Alles  in  allem  genommen:  das  Werk  ist  ein  unentbehrlicher  Hausschatz 
für  jeden,  der  auf  Bildung  Anspruch  macht. 


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Recensionen. 


Anleitung  zu  botanischen  Beobachtungen  und  pflanzenphysiolo- 
gischen Experimenten.  Ein  Hilfsbuch  für  den  Lehrer  beim  botanischen 
Schulunterricht.  Unter  Zugrundelegung  von  Detmer's  „ pflanzenphysiolo- 
gischem Prakticum"  bearbeitet  von  Franz  Schleichert,  Lehrer  in  Jena. 
Mit  52  Abbildungen  im  Text.  Langensalza  1891,  Druck  und  Verlag  von 
Bennau n  Beyer  &  Söhne.    VIII  und  152  Seiten.    Preis  2  M. 

Heutzutage  wird  in  der  Botanik,  wie  auch  in  der  Zoologie,  mit  Recht 
ein  besonderes  Gewicht  auf  die  Lebenserscheinungen  der  Lebewesen  gelegt. 
Soll  nun  in  der  Schule  dies  von  Nutzen  sein,  so  muss  wenigstens  hie  und  da 
der  Erklärung  mit  dem  Experimente  nachgeholfen  werden.  Freilich  lassen 
sich  viele  derselben  nicht  vor  den  Augen  der  Schüler  durchführen,  da  sie  Tage 
und  längere  Zeiträume  in  Anspruch  nehmen,  sollen  sie  ein  sichtbares  Resultat 
liefern.  Die  Durchführung  kann  oft  mit  den  einfachsten  Mitteln  gemacht 
werden,  aber  dazu  bedarf  es  einer  Anleitung,  und  eine  solche  gibt  in  gediegener 
Weise  das  uns  vorliegende  Buch.  Es  sind  in  demselben  Versuche  über  die 
Ernährung  der  Pflanzen  vorgeführt,  welche  aus  den  verschiedensten  Gruppen 
des  Pflanzenreiches  Ernährungserscheinungen  beleuchten,  so  z.  B.  Wassercultur, 
Assimilation,  indectenrressende  Pflanzen,  Transspiration,  Athmung  der  Pflanzen, 
Nebenproducte  des  Stoffwechsels  u.  s.  w.  Der  zweite  Abschnitt  handelt  vom 
Wachsthum  und  den  Reizbewegungen  der  Pflanzen  und  sind  in  demselben 
höchst  interessante  Versuche  über  Geo-  und  Heliotropismus  der  Pflanzen,  das 
Winden  nnd  andere  Bewegungen  enthalten.  Das  dritte  Capitel  bespricht  die 
vegetative  Vermehrung  und  geschlechtliche  Fortpflanzung  der  Gewächse  und 
führt  auch  hier  eine  große  Zahl  höchst  belehrender  Experimente  und  Beob- 
achtungen vor.  Der  Vortheil  des  Buches  liegt  darin,  dass  es  geradezu  nur  das 
für  die  Schule  Wichtige  bespricht,  denn  Neues  will  der  Verfasser  nicht  bieten, 
sondern  nur  das  Brauchbare  zusammenstellen,  und  das  ist  ihm  vollständig 
gelungen.  Kein  Lehrer  wird  das  Buch  ohne  Nutzen  aus  der  Hand  legen, 
zumal  die  Versuche  so  klar  erläutert  sind  und  mit  so  einfachen  Mitteln 
gemacht  werden  können,  dass  alle  als  leicht  durchführbar  bezeichnet  werden 
können.  Die  beigegebenen  Hlustrationen,  zumeist  anderen  gediegenen  WeTkeu 
entnommen,  erleichtern  das  Verständnis  ungemein.  Wir  empfehlen  das  Werk, 
das  auch  vorzüglich  ausgestattet  ist,  auf  das  angelegentlichste.      C.  R.  R. 

Lehrbuch  der  Mineralogie  und  Chemie  in  zwei  Theilen,  für  höhere  Lehr- 
anstalten und  zum  Selbststudium  von  Professor  Dr.  L.  Weiß,  Real-Gyra- 
nasiallehrer.  Erster  Theil:  Allgemeine  Chemie  und  Mineralogie. 
VII  und  298  Seiten.  Preis  2  M.  80  Pf.  Zweiter  Theil:  Elemente  und 
Verbindungen.  VIII  und  240  Seiten.  Preis  2  M.  60  Pf.  Bremen  1891, 
Verlag  von  M.  Heinsius  Nachfolger. 

Die  Vereinigung  von  Mineralogie  und  Chemie  beginnt  immer  allgemeiner 
zu  werden,  und  es  sind  auch  in  der  That  viele  Berührungspunkte  vorhanden, 
welche  diesen  Vorgang  rechtfertigen.  In  diesem  Lehrbuch  ist  auch  auf  ganz 


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bedeutende  Abschnitte  der  Physik  Rücksicht  genommen,  wie  es  fttr  ein  ein- 
gehendes Studium  der  Mineralogie  nothwendig  ist.  Aus  der  Inhaltsangabe 
wird  dies  klar  werden.  Den  allgemeinen  Erklärungen  folgen  Capitel  über  die 
Massenanziehung,  die  Cohäsionsformen,  die  physikalischen  Erscheinungen  des 
Lichtes  und  der  Wärme,  die  Änderungen  der  Cohäsion,  das  chemische  Ver- 
halten der  Wärme  und  des  Lichtes,  und  die  Elcktricität;  sodann  folgt  die 
chemische  Anziehung  (Affinität),  besondere  Ursachen  chemischer  Vorgänge, 
Stoffänderung  dureb  Tbeilung,  Mischungen  und  Verbindungen  und  die  anderen 
chemischen  Verhältnisse.  Hierauf  folgen  Belehrungen  über  das  Vorkommen 
und  die  Bildung  der  Mineralien  und  die  Eintheilung  derselben.  Der  Schlnas 
des  ersten  Buches  ist  wieder  rein  chemischer  Natur,  er  enthält  die  Gassen 
und  Gruppen  der  Elemente.  Im  zweiten  Buche  des  ersten  Theiles  werden  die 
Mineralien  nach  einer  chemischen  Eintheilung  behandelt,  hierauf  die  (Testeine 
und  die  Gebirgsformationen.  Der  zweite  Theil  ist  rein  chemischer  Natur,  indem 
in  demselben  die  Elemente  und  Verbindungen  in  systematischer  Reihentolge 
beschrieben  werden.  Aus  dieser  Skizzirung  ergibt  sich,  wie  reich  der  Inhalt 
des  Buches  ist.  Sehen  wir  die  einzelnen  Abschnitte  durch,  so  finden  wir  auch 
hier  eine  Reichhaltigkeit  des  Stoffes,  wie  man  sie  bei  dem  bescheidenen  Um- 
fange des  Buches  kaum  vermuthen  kann.  Als  einen  besonderen  Vorzug  des 
Werkes  möchten  wir  anfuhren,  dass  den  einzelnen  Stoffen  historische  Ab- 
schnitte vorangestellt  sind,  und  dass  ferner  die  praktische  Seite  der  Verwen- 
dung überall  in  ausreichender  Weise  durchgeführt  ist  Der  Methode  nach  ist 
da»  Buch  nicht  induetiv,  sondern  es  geht  vom  Allgemeinen  aus,  was  bei  einer 
mineralogischen  Chemie  (man  verzeihe  den  Ausdruck)  passend  erscheinen  mag. 
Den  Experimenten  ist  überall  Rechnung  getragen,  jedoch  fehlen  alle  Abbil- 
dungen von  Apparaten,  was  der  Verfasser  damit  rechtfertigt,  dass  er  ein  Bach 
für  Lernende  und  nicht  ein  Eiperimentirbuch  für  Lehrer  schreiben  wollte. 
Die  Darstellung  ist  überall  in  größter  Klarheit  durchgeführt,  ja  manche  Partien 
bilden  geradezu  einen  mastergilt  igen  Lesestoff.  Durch  Verschiedenheit  in  der 
Größe  der  Schrift  wird  deutlich  das  Wesentliche  von  dem  Nebensächlichen 
getrennt.  Wir  empfehlen  das  ausgezeichnete  Werk,  das  auch  mustergiltig 
ausgestattet  ist,  der  allgemeinen  Beachtung  und  eifriger  Benutzung. 

C.  R.  R. 

Homers  Odyssee  für  Schule  und  Haus.    Herausgegeben  von  Wiedasch. 
2.  Aufl.    Stattgart,  Metzler.    Preis  1  M.  40  Pf. 

Dass  die  Odyssee,  fast  möchte  einer  sagen,  wie  die  Bibel  zu  den  Büchern 
gehört,  die  der  Jugend  nicht  vorenthalten  werden  sollen  und  zu  denen  auch 
der  Mann  immer  wieder  zurückkehren  kann,  ist  so  unbestritten,  wie  freilich 
auch  das,  dass  beide  Bücher  der  Jugend  nicht  in  unverkürzter  Gestalt  geboten 
werden  dürfen.  Die  Odyssee  enthält  manche  Stelle,  die  anstößig,  verfänglich 
zum  minderten  genannt  werden  muss.  Wiedasch  hat  sie  in  seiner  FamÜien- 
Ausgabc  ausgeschieden,  aber  auch  sonst  den  alten  Homer  gekürzt,  theils  dort, 
wo  die  Homer-Forschung  Einschiebsel  entdeckt  hat,  theils  dort,  wo  nach 
unserem  oder  seinem  Geschinacke  die  Reden  zu  lang  angesponnen  sind  oder 
eine  Nebenhandlung  den  Fortgang  der  Haupthandlung  zu  lange  aufhält.  Da 
hat  der  Herausgeber  das  Wort  ergriffen  und  in  Kürze  die  Episode  erzählt. 

— r. 

Ernst  Keller,  Lehrbuch  für  den  erzählenden  Geschichtsunterricht 
an  Mittelschulen.    Freiburg  i.  B.  1891,  Wagner.    Preis  2  M.  80  Pf- 

Der  Referent  freut  sich,  ein  Lehrbuch  anzeigen  zu  können,  das  ähnlich 
wie  das  öchsü'sche  aus  dem  Vollen  heraus  geschrieben  ist  und  dem  man  es 
ansieht,  dass  an  ihm  ein  tüchtiger  Fachmann  mit  Lust  und  Liebe  gearbeitet 
hat.  Nur  wer  die  Geschichte  ganz  beherrscht,  weiß  so  die  Worte  zu  wählen 
und  so  den  Stoff  zu  gruppiren.  Da  ist  nichts  von  dem  mechanischen  Anein- 
anderreihen der  Regentenreihen  und  dürr  und  trocken  erzählter  Thatsachen  zu 
sehen,  das  so  viele  Leitfäden  ungenießbar  macht,  dass  sie  einem  vorkommen 
wio  das  Inhaltsverzeichnis  einer  umfangreichen  Weltgeschichte.  Abge- 
rundete Bilder  und  plastisch  gehaltene  Porträts  der  leitenden  Persönlichkeiten, 


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—    605  — 


ein  kräftiges  Xationalbewusstsein  und  eine  tolerante  Gesinnung  in  kirchlichen 
Fragen,  das  Bestreben,  die  Geschichte  zu  einem  „BUrgerbuch"  zu  machen,  also 
neben  der  Regenten-  und  Kriegsgeschichte  auch  die  Culturgeschichte ,  die  Ge- 
schichte des  Bürger-  und  Bauernstandes  zu  Worte  kommen  zu  lassen  —  all 
das  zeichnet  den  Keller'schen  Leitfaden  aus.  Dabei  wählt  er  sorgsam  die 
Zahlen  und  scheidet  Unwesentliches  aus  (nur  sollte  er  Sagenhaftes  öfter  noch 
als  solches  bezeichnen  oder  streichen);  er  rückt  das  leitende  Motiv  und  die 
führende  Persönlichkeit,  oft  Bchon  in  dem  Titel,  in  den  Vordergrund  und  bringt 
gar  manches  Detail,  das  jenes  Motiv  und  die  Gestalt  recht  scharf  heraustreten 


Völklein  als  Benützer  des  Leitfadens  kann  daran  seine  Lust  haben.  Wir 
wünschten,  der  Verfasser  schriebe  nun  in  demselben  Geiste  auch  ein  Handbuch 
der  Geschichte.    Er  hat  das  Zeug  dazu,  und  das  Buch  wäre  ein  Bedürfnis. 


Ohler,  Bilderatlas  zu  Cäsars  Büchern  de  bello  gallico.  Leipzig, 
Schmidt  &  Günther. 

In  jüngster  Zeit  hat  man  auch  dadurch  den  Unterricht  in  den  classischen 
Sprachen  zu  beleben  gesucht,  dass  uian  die  Ausgaben  der  Schriftsteller  illustrirte, 
natürlich  nicht  durch  Phantasiebilder,  sondern  nach  archäologischer  Seite  hin 
durch  Vorführung  von  Costümbildern,  Abbildungen  von  Gerätschaften,  Reliefs 
und  Büsten,  wie  solche  sich  in  unseren  Museen  finden,  von  Baulichkeiten, 
Plänen  u.  dgl.  Diesem  Reformgedanken  dient  auch  das  im  Titel  genannte 
Werk,  das  über  100  Illustrationen  auf  29  Tafeln  bringt  ?  die  auf  78  Seiten 
(gr.  8°)  knapp  und  unter  Hinweis  auf  die  betreffende  Stelle  in  Cäsars  gallischem 
Krieg  beschrieben  werden.  Ein  stets  der  Zeichnung  beigesetzter  Buchstabe 
gibt  dem  Leser  Kunde,  woher  sie  entnommen.  Zumeist  sind  es  Bilder  aus 
Duruy's  römischer  Geschichte.  — r. 

Vota,  Unsere  Colonien,  Land  nnd  Leute.    Leipzig  1891,  Brockhaus. 

Bei  dem  regen  Interesse,  das  wir  unseren  Colonien  entgegenbringen  und 
den  verschiedenartigsten  Urtheilen,  die  über  ihren  Wert  gehört  werden, 
wird  es  nicht  wundernehmen,  dass  bereits  eine  stattliche  Reihe  Schriften  er- 
schienen ist,  die  alle  sich  die  Aufgabe  setzen,  Land  und  Leute  zu  schildern. 
Sie  thun  es  zum  Theil  auf  Grund  eigener  Anschauung,  zum  größeren  Theil 
aber  auf  Grund  der  freilich  sich  oft  widersprechenden,  hoffhungsfreudigen  oder 
entmnthigenden  Berichte,  die  Missionäre,  Reichscommissäre,  gelehrte  Forscher 
und  Schiffscapitäne  von  ihrem  Standpunkte  aus  veröffentlicht  haben.  Auf  solch 
Material  baut  sich  auch  das  oben  genannte  Buch  auf.  Es  hat  das  Quellen- 
material gründlich  durchgearbeitet  und  gesichtet  und  in  dankenswerter  Weise 
dem  größeren  Lesepublicum,  zuvörderst  unserer  Jugend,  bequem  zugänglich 
gemacht.  Dass  es  dieser  letzteren  zusagen  wird,  ist  keine  Frage,  da  alles, 
was  ihr  an  Schilderungen  fremder  Völker  und  fremder  Länder  zu  gefallen 
pflegt,  ja  sie  fesselt,  hier  zu  finden  ist.  Urwaldbilder,  Savannenscenerien, 
Schilderungen  des  Vcrkchrslebens,  Typeu  aus  dem  Treiben,  Glauben  und  Ge- 
bräuchen des  Negers,  Papuas  etc.  in  friedlicher  oder  kriegerischer  Zeit,  aus 
dem  Leben  des  Deutschen  in  der  Handelsfactorei ,  in  der  Plantage  oder  Mis- 
sionsanstalt, und  ebensolch  prächtige  Schilderungen  der  eigenartigen  Fauna 
der  verschiedenen  Colonialgebiete  machen  die  Leetüre  anziehend  und  lehrreich 
zugleich.  71  Abbildungen  und  2  Karten  illustriren  das  Geschilderte  und  orien- 
tiren  den  Leser  über  die  Lage  der  im  Buch  beschriebenen  Ortschaften  und 
Reisewege  und  die  Sitze  der  zahlreichen  Volksstämine.  Als  Jugendschrift  kann 
darum  das  Volz'sche  Buch  bestens  empfohlen  werden.    Es  eignet  sich  für  das 


Frenxel-Wende,  Deutschlands  Colonien.    Hannover,  Meyer.  Preis  2  M. 


Ähnlich  wie  das  Volz'sche  Buch  wendet  sich  das  Büchlein  von  Frenzel- 
Wcnde  an  die  Jugend.  Ist  es  auch  an  malerischen  Naturschilderungen,  die 
das  erstgenannte  auszeichnen,  nicht  reich,  so  ist  es  doch  auschaulich  und  vor 
allem  übersichtlich  und  nicht  gar  zu  optimistisch  gehalten.    Es  hat  mehr  die 


W. 


reifere  Jugendalter. 


— r. 


50  Pf. 


P.xdfigogium.  14.  Jahrg.  Heft  IX. 


42 


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—    606  — 


Form  eines  Lehrbuches  und  beschreibt  demgemäß  nach  einer  streng  eingehaltenen 
Disposition  in  einer  Reihe  von  Paragraphen  1.  das  Land  nach  Lage,  Aus- 
dehnung, Bodenform,  Bewässerung,  Klima,  Pflanzen-  und  Thierwelt,  2.  die 
Bewohner  nach  der  Rasse  und  Zahl,  ihre  Wohnung,  Kleidung,  Nahrung,  Er- 
werbsquellen, Sitten,  Sprache  und  Religion,  endlich  3.  die  Art  der  Erwerbung 
und  Verwaltung  durch  das  Reich.  Dadurch  erleichtert  es  die  Einprägung  des 
Stoffes  und  die  Auffindung  und  ermöglicht  es  außerdem,  den  Inhalt  von  ge- 
wissen Gesichtspunkten  aus  bequem  zu  betrachten.  Seiner  Stilisirung  und 
seinem  Inhalte  nach  mehr  eine  Jugendschrift  für  die  mittlere  Altersstufe,  ist 
es  wie  Volz  mit  zahlreichen  (44)  Abbildungen  und  einer  Karte  geschmückt. 

— r. 

Seeger,  Deutsche  Schnlgrammatik  für  die  Classen  Sexta  bis  Tertia. 
Wismar  1891,  Hinstorff. 

Die  genannte  Grammatik  ist  für  die  Classen  Sexta  bis  Tertia  bestimmt 
und  stellt  den  Inhalt  (im  Anschluss  an  die  Satzlehre  die  Formenlehre)  in 
systematischer  Anordnung  dar,  so  dass  der  Lehrer  den  Unterrichtsstoff  für  die 
einzelnen  Classen  selbst  wird  auswählen  müssen.  Und  das  ist  kein  Mangel 
des  Buches,  da  das  Pensum  jeder  Ciasse  durch  die  Lehrplänc  zur  Genüge  fest- 
gestellt ist.  Für  manche  Schulen  wird  aber  das  schwerer  ins  Gewicht  fallen, 
dass  die  Seeger'sche  Grammatik  nur  wenig  Musterbeispiele  und  gar  keine 
Übungsaufgaben  bietet,  also  ein  eigenes  Übungsbuch  erfordert,  das  natürlich 
mit  dem  Gange  dieser  Grammatik  nicht  übereinstimmen  kann.  Die  Hercin- 
ziehung  einer  Anzahl  neuer  Termini  halten  wir  für  nicht  unbedingt  nöthig. 
Wenn  auch  die  Stilisirung  im  allgemeinen  zweckentsprechend  ist,  so  ist  doch 
noch  mancher  Ausdruck  zu  bemängeln  (z.  B.  die  Präposition  regiert  den 
Dativ  und  Accusativ;  oder  die  Fassung  der  Regel,  z.  B.  „In  gewissen  Fullen 
ist  es  möglich,  sich  auf  zwei  verschiedene  Standpunkte  zu  stellen."  Der 
Schüler  wird  aus  dieser  Fassung  nicht  entnehmen,  wann  er  sagen  rouss:  Karl 
starb  im  Jahre  814  oder  Karl  ist  im  Jahre  814  gestorben.  Ebensowenig 
wird  er  sich  über  die  Anwendung  des  Präsens  historicum  auf  Grund  des 
S.  25  Gesagten  klar  werden).  —  Lob  verdient  die  Seeger'sche  Grammatik  wegen 
ihrer  Hinweise  auf  Dialect-  und  ältere  Sprachformen,  die  sie  im  I.  Theil 
gelegentlich,  im  II.  Theil,  der  für  die  Tertia  bestimmt  ist,  systematisch  heran- 
zieht. Die  Lautlehre  auf  physiologischer  Grundlage,  insbesondere  die  Behand- 
lung des  Lautwandels  (mit  Ausnahme  der  „Brechung",  die  nach  der  älteren 
Grimmschen  Auffassung  gegeben  wird)  ist  so,  dass  sie  die  Schüler  spielend  in 
ein  interessantes  Capitel  der  deutschen  Sprachgeschichte  einführt.  W. 

M.  Jahn,  Methodik  der  epischen  and  dramatischen  Leetüre.  Leipzig 
1891,  Dürr.   Preis  2  M.  25  Pf. 

Jahn  erörtert  sein  Thema  mit  der  Voraussetzung,  diss  dem  Lehrer  des 
Deutschen  vier  Stunden  wöchentlich  zur  Verfügung  stehen.  Das  ist  nun  in 
den  Schulen  der  meisten  Staaten  nicht  der  Fall;  in  den  österreichischen  Mittel- 
schulen z.  B.  muss  sich  der  Unterricht  im  Deutschen  mit  drei  Stunden  der 
Woche  begnügen  und  diese  drei  Stunden  kann  er  selbstverständlich  nicht  aus- 
schließlich der  epischen  und  dramatischen  Leetüre  widmen.  Manche  der  Forde- 
rungen Jahns  mögen  also  schon  aus  diesem  rein  äußerlichen  Grunde  fallen;  andere, 
darunter  das  Lesen  mit  vertheilten  Rollen,  aber  auch  aus  inneren  Gründen. 
Wir  wundern  uns,  dass  ein  erfahrener  Lehrer  —  und  das  ist  nach  der  ganzen 
Art  des  Buches  der  Verfasser  —  nach  Klaucke's  verständigen  Bemerkungen 
noch  diese  Forderung  festhalten  kann.  Das  mochte  für  ältere  Herren  recht 
bequem  gewesen  sein,  besonders  an  heißen  Nachmittagen,  Sccne  für  Scene 
herunterlesen  zu  lassen,  aber  Nutzen  hat  es  den  Schülern  nicht  gebracht.  Wir 
würden  gar  nicht  solange  bei  diesem  Capitel  der  Schulpraxis  einer  „guten 
alten"  Zeit  verweilen,  wenn  wir  nicht  fürchteten,  ein  jüngerer  Lehrer  könnte, 
bestochen  durch  das  viele  Gute,  das  Jahns  Methodik  bietet,  auch  das  als  Aus- 
fluss  erprobter  Pädagogik  ansehen  und  nachahmen.  —  Was  an  Jahns  Darstellung 
besonders  gefällt,  ist  die  Verwertung  der  Literatur  mit  kritischem  Sinne,  das 
Heranziehen  concreter  Fälle  zur  Beleuchtung  und  zum  Beweise  des  Gesagten 
und  die  philosophische  Betrachtungsweise.   Der  jüngere  Lehrer  findet  außerdem 


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—   007  — 


im  Anhang  beinahe  die  ganze  Literatur  über  da«  behandelte  Thema  zusammen- 
gestellt, also  da«  in  bequemer  Form  mitgetheilt,  was  man  sich  früher  lange 
Jahre  hindurch  mühevoll  sammeln  musste.  W. 

Thoma,  Das  Drama.    Gotha  1891,  Thienemann. 

Dieses  kleino  Heft  verspricht,  was  der  weitere  Titel  sagt:  es  ist  eine 
gemeinverständliche  Darstellung  des  Wesens  und  Baues  des  Dramas.  Es 
bringt  das  für  die  Schule  Nothwendigo  in  einer  leicht  fasslichen  Form,  erläutert 
durch  Beispiele  aus  unseren  classischen  Dramen  und  schöpft  aus  guten  Quellen, 
unter  denen  natürlich  Freytag»  „Technik  des  Dramas"  obenan  steht.  Vielleicht 
hätte  es  sich  empfohlen,  eine  schematische  Darsteiung  des  Aufbaues  eines 
bestimmten  Dramas,  wie  sie  Uubeschcid  bis  ins  Detail  ausgeführt,  einzu- 
reihen. Das  wäre  von  größerem  praktischen  Nutzen  als  die  doch  sehr  dürftige 
und  wenig  erklärende  Skizze  auf  S.  20.  W. 

Lehmann,  Das  Kartenzeichnen  im  geographischen  Unterricht.  Halle 
a.  d.  Saale  1891,  Tausch  &  Grosse.   2.40  M. 

Im  Mittelpunkte  der  Discussion  üler  den  geographischen  Unterricht  steht 
gegenwärtig  das  Kartenzeichnen.  Viel  weniger  Freunde  ab  Feinde  und  Wider- 
sacher sind  ihm  in  der  Lehrerwelt  erstanden;  die  Freunde  selbst  sind  über  die 
geeignetste  Mothode  iu  Zwietracht  und  uncins  geworden.  Bei  dieser  Sachlage 
thut  vor  allem  Klärung  über  die  Zwecke  des  Kartenzeichnens  noth  und  dann 
eine  objective  Abschätung  des  bisher  Geleisteten.  Beides  versucht  Lehmann, 
Professor  der  Erdkunde  an  der  Akademie  zu  Münster,  in  dem  obengenannten 
Buche,  einem  etwas  veränderten  Abdrucke  der  betreffenden  Partie  seiner  „Vor- 
lesungen Uber  Hilfsmittel  und  Methode  des  geographischen  Unterrichtes1'.  Dort, 
wo  er  die  Bedeutung  des  Kartenzeichnens  erläutert,  kämpft  er  besonders 
gegen  die  bekannte  Schrift  Böttcher's,  der  dem  Kartenzeichnen  in  der  Schule  wenig 
Wert  beimisst  und  für  das  beschreibende  Verfahren  eine  Lanze  bricht.  Der 
Haupttheil  seiner  Arbeit  ist  aber  der  Methodik  des  Kartenzeichnens  ge- 
widmet. Er  bespricht  zuerst  das  Situation»-  und  dann  das  Terrainzeichnen, 
führt  die  einzelnen  Methoden  des  ersteren  vor  (die  Einzeichnung  iu  gegebene 
Grundlagen,  die  Skizzen  mit  Zugrundelegung  des  Quadrat-  oder  des  Grad- 
netzes oder  eines  Gerüstes  bloßer  Hilfslinien),  erläutert  sie,  zumeist  mit  den 
Worten  ihrer  Verfasser,  an  einem  concreteu  Beispiele  und  —  das  Wertvollsto 
und  Lehrreichste  —  schätzt  sie  auch  nach  ihren  Vorzügen  und  Fehlern  ab. 
Denn  das  ist  das  Eigenthümliche,  dass  jede  der  bisher  aufgestellten  Methoden 
für  gewisse  Zwecke  de«  geographischen  Unterrichtes  eine  besondere  Bedeutung 
gewinnen  kann  und  darum  nicht  kurzerhand  verworfen  werden  darf,  wenn 
sie  auch  als  Univcrsalmethode  sich  nicht  bewährt.  —  In  ähnlicher  Weise  be- 
handelt Lehmann  auch  die  Methoden  des  Terrainzeichnens.  Als  die  geeignetste 
für  beide  Arten  des  Zeichnens  erklärt  er  mit  wolerwogenen  Gründen  —  unter 
denen  nicht  der  letzte  die  Rücksicht  auf  den  gewöhnlich  zeichnerisch  nicht 
besonders  veranlagten  und  geschulten  Lehrer  der  Geschichte  und  der  Sprachen 
ist,  in  dessen  Hand  ja  bekanntlich  gegenwärtig  der  geographische  Unterricht 
an  den  höheren  Schulen  liegt  —  die  KirchhofPsche  (Zugrundelegung  eines 
geradlinigen  Gradnetzes),  beziehungsweise  die  in  Dcbes'  Zeichenatlas  ver- 
wendete. So  eifrig  tritt  er  für  dieselbe  ein,  dass  sich  sein  Buch  wie  eine 
Apologie  dieser  Methode  liest;  immer  und  immer  kehrt  er  zu  ihr  bei  der  Er- 
örterung der  anderen  Methoden  zurück.  Trotzdem  ist  er  aber  gegen  die 
letzteren  nicht  ungerecht,  nur  will  er  sie  auf  ganz  bestimmte  Zwecke  be- 
schränkt wissen,  über  die  er  in  einem  Rückblick,  S.  122  ff.,  sich  kurzgefasst  aus- 
spricht. Auf  zwei  Umstünde  wollen  wir  doch  hinweisen,  die  vielleicht  das 
Buch  hätte  auch  in  Erwägung  ziehen  können.  Der  eine  ist  die  Auswahl  der 
Kartenskizzen,  beziehungsweise  ihr  Inhalt.  Da  scheint  uns  Kaufmann-Mayers 
Verdienst  nicht  gebürend  hervorgehoben.  Der  andere  ist  die  Art,  wie  Matzat 
in  seiner  Erdkunde  (1.  Aufl.)  die  Küsten-,  Fluss-  und  Gebirgslinien  zum  Zwecke 
des  Extemporales  iu  Theile  zerlegt.  Der  Referent  kann  aus  einer  langjährigen 
Erfahrung  bestätigen,  dass  diese  Zerlegung  den  Schülern  die  Arbeit  bedeutend 
erleichtert,  die  Schüler  selbst  diese  Zerlegung  in  den  seltensten  Fällen  geschickt 
treffen  und  Matzat's  Art  nicht  allen  Lehrern  bekannt  ist.  (S.  91  ist  —  nebenbei 

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—    608  — 

bemerkt  —  eine  störende  Anordnung  des  Druckes.)  Was  man  Lehmann's  Buch 
aber  unbedingt  nachrühmen  mnss,  ist  die  Gründlichkeit  und  der  Ernst,  mit 
dem  die  Frage  behandelt  wird.  Es  ist  eine  erschöpfende  Darstellung  des 
auf  dem  bezeichneten  Gebiet«  Geleisteten;  zugleich  eine  kritische  Überschau 
und  —  nicht  als  das  letzte  möchten  wir  das  hervorheben,  eine  Leistung,  die 
das  in  der  Praxis  Erreichbare  nie  aus  den  Augen  verliert  und  darum  an 
praktischen  Winken  es  nirgends  fehlen  lässt.  W. 

K.  Jarz,  Kartenzeichnen  und  Kartenskizzen  im  ersten  geographi- 
schen Unterricht.  Znaim,  Fournier  und  Haberler.  40  Pf. 

Dieses  Heftchen  ist  ein  etwas  umgearbeiteter  Aufsatz,  den  der  Verfasser  in 
der  Zeitschrift  für  Schulgeographie  (1882)  veröffentlicht  hat.  Seine  Methode  des 
Kartenzeichnens  (Orientirungskrcuz,  gegeben  durch  den  Meridian  und 
Parallel,  welcher  das  zu  skizzirende  Gebiet  in  seiner  größten  Breiten-,  be- 
ziehungsweise Längenausdehnung  durchschneidet,  Fixirnng  bestimmter  Merk- 
punkte innerhalb  der  Vierecke;  als  Maßeinheit  dient  dos  Stück  des  Meridians, 
welches  vom  Durchkreuzungspunkte  mit  dem  Parallel  bis  zum  Nord-  oder  Süd- 
rande des  zu  zeichnenden  Gebietes  reicht)  erläuterte  er  dort  an  einer  Skizze 
von  Afrika,  hier  an  der  Mährens.  Lehmann  hat  in  seinem  Buche  „Das  Karten- 
zeichnen" die  Mängel,  die  auch  dieser  Methode  ankleben,  des  ausführlichen 
besprochen;  der  wesentlichste  scheint  uns  der,  dass  die  Zeichnung  sich  in  vier 
Felder  theilt,  die  jedesmal  auf  zwei  aneinander  anstoßenden  Seiten  offen  sind, 
so  dass  für  viele  Fixpunkte  die  Lage  nur  sehr  allgemein  bestimmt  werden 
kann  und  die  geschaffene  Zcichenhilfo  besonders  bei  schwierigereu  Objecten 
darum  nur  eine  geringe  sein  wird.  Unseren  ganzen  Beifall  dagegen  hat  die 
Einleitung  und  der  zweite  Theil  des  Heftchens,  der  die  Kartenskizzen  im 
Schulbuche  bespricht.  Da  ist  wirklich  keine  Seite,  die  nicht  den  erfahrenen 
Schulmann  verriethe.  W. 

Josef  Schräm,  Professor,  und  Rudolf  Schussler,  Doctor,  Vorschule  der 
Mathematik  für  österr.  Untergymnasien.  Mit  384  Fig.  (in  besonderem 
Hefte).  219  Seiten.  2.48  M. 

Hierzu  Übungsstoff  in  4  Heften  für  die  1.— 4.  Cause.  Zusammen  240 
Seiten.    Jedes  Heft  80  bis  90  Pf.    Wien,  Alfred  Holder. 

In  der  Instruction  für  den  mathematischen  Unterricht  an  den  Gymnasien  in 
Osterreich  wird  die  Forderung  ausgesprochen,  „dass  das  Lehrbuch  dem  Schüler 
den  ganzen  Lehrstoff  wolgeglicdcrt  und  geordnet  mit  seinen  Erklärungen  und  Lehr- 
sätzen vorführe".  Mit  anderen  Worten,  es  soll  der  Lehrstoff  nicht  jahrgangsweise 
in  Heften  getrennt,  sondern  in  einem  Lehrbuch  für  das  ganze  Untergymnasium 
vereint  sich  in  den  Händen  des  Schülers  befinden.  Dieser  Weisung  wurden 
die  Verfasser  mit  der  vorliegenden  Arbeit  gerecht,  und  dieselbe  hat  die  Zu- 
lassung für  den  Unterrichtsgebrauch  von  Seite  des  Ministeriums  erhalten. 

Der  Inhalt  ist  in  vier  Theile  gegliedert  mit  den  Überschriften:  Besondere 
Arithmetik,  allgemeine  Arithmetik,  Planimetrie  und  Stereometrie.  Der  erste 
Theil  umfasst  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen,  gemeinen  und  Dezimalbrüchen, 
dann  das  Rechnen  mit  mehrfach  benannten  Zahlen,  die  Proportionen,  die  ein- 
fache Schlussrechnung  und  die  einfachen  Rechnungen  des  Verkehrs.  Über 
dieses  Gebiet  liegen  so  ausgezeichnete  Bearbeitungen  des  Lehrstoffes  vor,  dass 
es  kaum  möglich  ist,  Neues  und  Besseres  zu  schaffen;  und  die  Verfasser  haben 
ganz  wol  gethan,  sich  im  allgemeinen  an  die  vorhandenen  ausgezeichneten 
Muster  zu  halten;  dennoch  ist  es  ihnen  gelungen,  an  verschiedenen  Stellen 
Verbesserungen  anzubringen.  So  finden  wir  eine  besondere  Darstellung  zur 
Erklärung  der  entscheidenden  Folge,  welche  der  Gebrauch  der  Ziffer  „Null" 
für  das  Zahlenschreiben  hatte.  Auch  für  die  Begründung  der  Theilbarkeits- 
Regeln  finden  wir  eine  eigenartige  Ableitung,  welche  das  bisher  Bekannte 
womöglich  noch  an  anschaulicher  Deutlichkeit  übertrifft. 

Weniger  zusagend  als  die  „besondere"  war  uns  die  „allgemeine  Arithmetik" ; 
besonders  bezüglich  der  für  den  Schüler  so  schwierigen  Einführung  in  die 
Buchstabenrechnung  scheint  eine  Anzahl  von  Sätzen,  wenn  nicht  erschwerend, 
so  zum  mindesten  unnöthig.   Die  Vereinigungssätze  der  Operationen  erster 


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609 


8tufe  und  der  allgemeinen  Vertauschungs.siitze  (140  und  142)  wären  leicht  in 
einfacherer  Form  zu  geben.  Bei  den  Operationen  zweiter  Stufe  findet  sich  die 
Weisung,  die  Null  mit  besonderer  Vorsicht  zu  behandeln;  besser  am  Platze 
schiene  uns  die  Erklärung,  dass  die  Null  als  Verneinung  der  Zahl,  überhaupt 
keine  Zahl  ist,  daher  mit  derselben  auch  nicht  wie  mit  Zahlen  gerechnet 
werden  kann.  Weiter  lesen  wir:  „Die  Erklärungen  deT  besonderen  Arithmetik 
für  größtes  Maß  und  kleinstes  Vielfaches  sind  für  allgemeine  Zahlen  ungeeignet.*' 
Diese  Behauptung  ist  völlig  unrichtig,  die  Erklärungen,  welche  diesbezüglich 
für  die  allgemeinen  Zahlen  (im  Punkte  166)  gegeben  werden,  haben  für  die 
besonderen  Zahlen  ihre  volle  Giltigkeit;  es  tritt  nur  frtr  letztere  ein  besonderes 
Verfahren  der  Auffindung  hinzu,  wodurch  aber  die  Giltigkeit  der  allgemeinen 
Definition  keine  Einbuße  erleidet.  Im  übrigen  verbreitet  sich  die  allgemeine 
Arithmetik  über  die  vier  Rechnungsarten  mit  ganzen  und  gebrochenen  allge- 
meinen Zahlen,  das  Ausziehen  der  (Quadrat-  und  Kubikwurzel,  die  Proportionen- 
Lehre,  die  zusammengesetzte  Schlussrechnung,  die  einfache  Zinsrechnung,  die 
Zinseszinsrechnung  und  die  Gleichungen  ersten  Grades  mit  einer  und  mehreren 
Unbekannten,  und  hält  sich  dabei  im  wesentlichen  an  das  Hergebrachte,  wie 
man  es  in  den  anderen  zugelassenen  österreichischen  Lehrbüchern  findet. 

An  Druckfehlern  haben  wir  nur  zwei  bemerkt :  einmal  auf  Seite  86,  wo  von 
der  Addition  der  Brüche  mit  verschiedenen  Nennern  gehandelt  wird,  zeigt  die 
Formel  doch  zweimal  denselben  Nenner;  und  auf  Seite  107  hat  die  Antwort 
des  ersten  Beispiels  eine  Null  zu  wenig. 

Die  Planimetrie  und  Stereometrie  enthalten  in  gedrängter  Form,  jedoch  mit 
klarem  Vortrage  alles,  was  aus  diesem  Gebiete  in  der  Unterstufe  geboten 
werden  kann;  das  ist  nach  den  einleitenden  Begriffen  das  Wichtigste  über  die 
Lehre  von  Congruenz,  Ähnlichkeit,  Flächengieichheit  und  Flächenmessung, 
aus  der  Stereometrie  einiges  über  die  Lage  von  Linien  und  Ebenen  im  Räume, 
sodann  die  Berechnung  der  am  häufigsten  vorkommenden  Körper,  wobei  uns 
besonders  das  etwas  nähere  Eingehen  auf  sphärische  Beziehungen  gefallen  hat, 
und  endlich  die  Erläuterung  der  Kegelschnittlinien. 

Die  Verfasser  haben  sieb  aller  Hillsmittel  bedient,  welche  die  neue  Literatur 
bietet,  um  dem  Schüler  die  schwierigen  Anfangsgründe  der  Geometrie  nach 
Thunlichkeit  anschaulich  und  fasslich  zu  machen.  Es  wird  alsbald  der  Begriff 
der  Symmetralen  eingeführt  und  mit  deren  Hilfe  die  Beziehung  zwischen  den 
Gegenstücken  der  Dreiecke  dargelegt.  Zur  Grundlage  der  einheitlichen  Durch- 
führung der  Raumberechnung  wurde  der  Satz  des  Cavalieri  benutzt,  nachdem 
er  in  einfacher  Weise  klargelegt  ist.  Der  Unterricht  in  der  Geometrie  wird 
ganz  besonders  durch  das  Figurenheft  gefördert,  welches  nahe  an  400  Figuren 


Figuren,  welche  den  Grundsatz  der  Beweglichkeit,  der  auch  im  Texte  ge- 
bürende  Beachtung  findet,  zur  Anschauung  bringen.  Auch  das  Erfassen 
flächengleicher  Gestalten  ist  durch  die  Art  der  Darstellung  fördeream  unter- 
stützt Die  Figuren  auf  der  Sphäre  müssen  wir  im  Vergleich  mit  denen  anderer 
Lehrbücher  wahrhaft  mustergiltig  nennen. 

Von  den  Heften  mit  Übungsstoff  ist  je  eines  für  ie  eine  dassc  des  Unter- 
gymnasiums bestimmt.  Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  dass  der  Übungsstoff 
in  reichlicher  Menge  geboten  ist,  und  wenn  man  ferner  beachtet,  eine  wie 
mannigfaltige  Fassung  ganz  besonders  die  Fragen  der  Geometrie  erhalten 
haben,  so  mnss  man  diesen  Übungsstoff  völlig  erschöpfend  nennen,  wenigstens 
in  dem  Sinne,  dass  ein  Bedarf  für  mehr  davon  nicht  vorhanden  ist.  Die  Auf- 
gaben sind  in  ihrer  Aufeinanderfolge  vom  Leichteren  zum  Schwereren  wol- 
geordnet  und  haben  uns  auch  in  der  Weise  befriedigt,  dass  Gleichartiges  nicht 
nur  nebeneinander  steht,  sondern  in  deutlich  abgetheilten  Gruppen  geordnet  ist. 

Dieses  Buch,  welches  den  Instructionen  der  Unterrichtsverwaltung  entspricht, 
wird  ohne  Zweifel  seinen  Weg  in  Österreich  machen;  doch  auch  außerhalb 
seiner  Heimat  wäre  dessen  Beachtung  höchst  empfehlenswert.  Die  geringen 
Bedenken,  welche  einige  Stellen  der  allgemeinen  Arithmetik  uns  erregten, 
können  nicht  verhindern,  dass  wir  das  Ganze  als  eine  Musterleistung  bezeichnen, 
deT  nur  wenig  Gleichwertiges  an  die  Seite  gestellt  werden  kann. 
Nicht  übersehen  darf  auch  werden,  dass  die  Verlagsbaudlung  das  möglichste 


gethan  hat,  um  sowol  den  Text,  als  ganz  besonders  die  Figuren  schön  auszu- 
statten und  dabei  doch  nur  einen  sehr  mäßigen  Preis  fordert.         H.  E. 
F.  Roese,  Oberlehrer  in  Wismar,  5000  Aufgaben  nebst  Resultaten  der 

Bruchrechnung.  46  S.  Duodezformat. 
Desselben.   Arithmetisches  Quellsalz.    Westentaschenformat.  Wismar, 
Hinstorff.    176  S.   50  Pf. 

Es  sind  die  vorstehenden  Verlagswerkc  beinahe  gleichlautend,  und  wahr- 
scheinlich nur  der  bequemeren  Handhabung  wegen  wurden  diese  zweierlei 
Formate  beliebt.  Auf  der  ersteu  Seite  steht  des  Verfassers  Gebrauchsanweisung, 
jedem  Schüler  eine  der  im  Buche  vorkommenden  mit  Buchstaben  überschriebenen 
Zahlengruppen  zuzutheilen,  sodann  erhalten  alle  gemeinschaftlich  eine  zweite 
Zahlengruppe,  welche  mit  der  ersten  durch  eine  der  vier  Grundoperationen 
7u  verbinden  ist.  Mit  Buchstaben  überschriebeno  Zahlengruppeu  finden  Mch 
fünfzig,  man  kann  also  fünfzig  Schülern  verschiedene  Aufgaben  zuweisen;  ferner 
gibt  es  je  zwanzig  Gruppen,  welche  mit  jenen  erster  Art  durch  Addition, 
beziehungsweise  Subtraction,  und  je  30,  welche  mittels  Multiplication  oder 
Division  zu  verbinden  sind,  wobei  fünfzigmal  dasselbe  Ergebnis  eintritt.  Die 
Verbindung  der  fünfzig  Gruppen  erster  Art  mit  den  100  Gruppen  zweiter  Art 
gibt  in  der  That  5000  verschiedene  Aufgaben.  Es  ist  wol  kaum  nüthig  hervor- 
zuheben, eine  wie  große  Erleichterung  dem  Lehrer  bei  der  beschwerlichen 
Arbeit  des  Aufgabeu-Corrigirens  durch  diese  Einrichtung  erwächst.  Es  lässt 
sich  auch  leicht  vermeiden,  das»  alle  Schüler  dasselbe  Ergebnis  erhalten,  da 
durch  die  zweite  Gruppe  der  gegebenen  Zahlen  eine  20-  bis  30fache  Ab- 
wechslung geboten  ist. 

Der  Verfasser  unterlägst  auch  nicht  mitzuthcilen,  auf  welche  Art  er  zur 
Ausführung  dieses  gewiss  schon  längst  empfundenen  Vetlangens  nach  Ver- 
einfachung der  Oorrectur  unter  Vermeidung  des  gegenseitigen  Abschreibens 
der  Schülerarbeiten  gelangte.    Er  stellt   eine  ganz  allgemeine  Gleichung 
zwischen  vier  unbestimmten  und  sechs  veränderlichen  Zahlen  auf,  woraus  sich 
unter  Hinzufügung  gewisser  Bedingungen  ergibt,  dass  von  den  sechs  ver- 
änderlichen zwei  vollständig  abhängig  sind.   Sonach  ist  es  möglich,  nicht  nur 
die  beschränkte  Anzahl  der  vom  Verfasser  gebildeten  Beispiele,  sondern,  wenn 
eben  die  unbestimmten  Werte  verändert  werden,  unzählige  Aufgaben  dieser 
Art  zu  bilden.    Wir  müssen  also  dem  Verfasser  danken,  nicht  nur  für  den 
von  ihm  ausgearbeiteten,  sehr  netten  Lehrstoff,  sondern  ganz  besonders  für 
dio  Wegweisung,  wie  überhaupt  solche  Aufgaben  herzustellen  sind.     H.  E. 
J.  Schanze,  Rector,  und  Th.  Jäger,  Lehrer  in  Eschwege,  Übungsbücher 
für  Handwerker-  und  Fortbildungsschulen,  in  Heften  von 50 — 75 S. 
zu  35 — 50  Pf.   Wittenberg,  Herrose. 

Das  erste  Heft,  schon  in  der  vierten  Auflage  erschienen,  enthält  das 
Rechnen  nebst  dem  Wichtigsten  aus  der  Wechsellehre  und  scheint  uns  ein 
recht  guter  Lehrbebelf  für  Handwerker-  und  Fortbildungsschulen  zu  sein,  da 
es  neben  einer  Reihe  von  Aufgaben  für  Wiederholung  des  Rechnens  in  ganzen 
Zahlen  und  Decimalbrtichen  noch  eine  beträchtliche  Menge  eingekleideter  Auf- 
gaben für  bürgerliche  Rechnungsarten  enthält. 

Die  B-Ausgabe  dieses  Heftes  ist  für  ländliche  Fortbildungsschulen  bestimmt; 
darin  wird  unter  Weglassung  der  Erklärungen  aus  der  WechsellehTe  der  Lehr- 
stoff von  64  auf  48  Seiten  zusammengezogen. 

Das  zweite  Heft  führt  die  Überschrift:  Praktische  Geometrie  und  ist 
schon  in  der  dritten  Auflage  erschienen.  Es  enthält  die  wichtigsten,  Eigen- 
schaften der  Dreiecke,  einige  Auseinandersetzungen  über  Congruenz,  Ähnlich- 
keit, Flächen-  und  Inhaltsberechnung  erläutert  durch  185  Übungsaufgaben 
und  endlich  die  ausführliche  Behandlung  eines  Kostenanschlages  zu  einem 
kleinen  Wohnhause. 

Das  dritte  Heft,  die  gewerbliche  Buchführung  enthaltend,  hat  es  auch 
schon  zur  zweiten  Auflage  gebracht;  wir  finden  in  demselben  nach  einer 
ziemlich  kurzen  Erwähnung  der  notwendigen  Geschäftsbücher  ein  auf  zwei 
Monate  ausgedehntes  und  ausgeführtes  Beispiel  der  einfachen  Buchführung 


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i 


—   611  — 


eines  Schlossers  mit  Inventur,  Tagebuch,  Cassabuch,  Memorial-  und  Hauptbuch; 
dann  folgen  noch  Geschäftsvorfälle  für  zehn  weitere  Buchungsbeispiele  ver- 
schiedener Handwerker.  Da  der  Berichterstatter  seit  zehn  Jahren  an  einer 
Gewerbeschule  im  Rechnen  und  in  der  Buchführung  unterrichtet,  so  darf  er 
wol  nach  seiner  eigenen  Erfahrung  ein  Urtheil  über  den  vorstehenden  Lehr- 
behelf abgeben,  welches  durchaus  günstig  lautet.  Das  Interesse  dieser  Schüler- 
gattung wird  nur  rege  gehalten  durch  Erörterungen,  bei  welchen  sie  einen 
unmittelbaren  Zusammenhang  mit  ihrer  Erwerbsthätigkeit  sehen.  Da  aber 
diese  eben  nach  den  Gewerben  verschieden  ist,  so  ist  eine  fortgesetzte,  mannig- 
faltige Abwechslung  in  der  Einkleidung  sowol  der  Rechnungs-  als  auch  der 
BuchfUhrangsuufgaben  erforderlich,  welcher  ziemlieh  schwierigen  Bedingung 
die  Verfasser  des  Vorliegenden  vollständig  Genüge  geleistet  haben.      H.  E. 

Karl  Jacobi,  Director  der  Handelsschule  in  Göttingen,  Leitfaden  der  Handels- 
lehre.  Göttingen,  Vandenhoeck.  141  S.  1.80  31. 

Dieses  Handbuch  erklärt  zuerst  das  Wesen  des  Handels,  sodann  die  Pflichten 
der  Handelspersonen,  Handelsgesellschaften  und  der  übrigen  beim  Handel  be- 
theiligten Personen.  Es  folgt  eine  Übersicht  über  Maße  und  Gewichte,  die 
Natur  von  Geld  und  Credit,  das  Wichtigste  des  Wcchselrechtes  und  die  ver- 
schiedenen Arten  von  Wertpapieren.  Von  den  Einrichtungen  zur  Erleichte- 
rung des  Handels  werden  die  Waren-Auctionen,  Märkte  und  Börsen,  sodann 
das  Zollwescn,  die  Handelsverträge,  die  Consulate,  Handelskammern  und 
Handelsgerichte,  endlich  die  Transport-  und  Verkehrsmittel  besprochen.  Es 
liegen  diesen  Erörterungen  wesentlich  die  Gesetze,  Einrichtungen  und  Ge- 
bräuche des  Deutschen  Reiches  zu  Grunde  und  werden  dieselben  in  einer  völlig 
modernen  Auffassung  durchgeführt.  Obwol  der  Verfasser  zunächst  nur  seinen 
Schülern  der  Handelsschule  ein  Lehrbuch  bieten  wollte,  ist  es  ihm  doch  ge- 
lungen, vermöge  eines  klaren  und  fasslichen  Vortrages  ein  Werk  zu  schaffen, 
welches  auch  außerhalb  der  Schule,  sowol  zum  Selbstunterricht  als  auch  als 
Nachschlagebuch  recht  gute  Dienste  zu  leisten  vermag  und  daher  der  Be- 
achtung bestens  empfohlen  zu  werden  verdient.  H.  E. 


Neu  erschienene  Bücher. 

Karl  Kehrbach,  Mittheilungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und 
Schulgeschichte.    1.  Jahrgang,  3.  Heft.    Heilin,  Hermann  Müller.    111  S. 

Anton  Vrbka,  Leben  und  Schicksale  des  Johann  Arnos  Comenius.  Znaim, 
Fournier  &  Haberler  (Karl  Boruemann).    160  S. 

Karl  Bornemann,  Comenias  als  Kartograph  seines  Vaterlandes.  Znaim, 
Fournier  &  Haberler  (Karl  Bornemann).    48  Seiten  und  1  Karte. 

F.  Gmndig,  Johann  Arnos  Comenius  nach  seinem  Leben  und  Wirken.  Gotha, 
Thienemann.    89  S. 

Dr.  Paul  Stötzner,  Ratichianische  Schriften  1.  Leipzig,  Richter.  88  S. 
80  Pf. 

Dr.  K.  Marold,  Hartmann  von  Aue,  Wolfram  von  Eschenbach  und  Gottfried 
von  Sti  aßburg.    Stuttgart,  Göschen'sche  Verlagshandlung.    160  S.   80  Pf. 

I'rof,  0.  (iüntter,  Walther  von  der  Vogelweide.  Stuttgart,  Göschen'sche 
Verhandlung.    152  S.    80  Pf. 

Dr.  Karl  Walcker,  Grundriss  der  Weltgeschichte  und  der  Quellenkunde  für 
Historiker,  Lehrer,  Examinanden  und  andere  Gebildete.  Karlsruhe,  Mack- 
lot'sche  Bachhandlung.  315  S.  10  Mk.  Kann  auch  in  10  Lieferungen 
zo  1  Mk.  bezogen  werden. 


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-    012  — 


Dr.  W.  Neurath,  Elemente  der  Volkswirtschaftslehre.  2.  Aufl.  (großentheils 
neu  bearbeitet  und  vermehrt).  487  S.  Wien,  Manz'sche  Hofbuchhandlung; 
Leipzig,  Julius  Klinkhardt. 

Franz  Mair,  Deutsches  Lesebuch  für  die  allgemeinen  Volksschulen  Österreichs. 
1.  Theil  (für  die  2.  Classe).  91  S.  Geb.  30  kr.  2.  Theil  (für  die  3.  Ciasse). 
180  S.  Geb.  36  kr.  3.  Theil  (für  die  4.  Classe).  212  S.  Geb.  55  kr. 
4.  Theil  (für  die  5.  Classe).    252  S.    Geb.  65  kr.    Wien,  Karl  Graeser. 

E.  Hähne)  und  R.  Patzig,  Deutsche  Sprachschule  in  concentrischen  Kreisen 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Wortbildung  und  Wortbedeutung. 
I.Heft.  3.  Schuljahr.  32  S.  20  Pf.  II.  Heft  4.  Schuljahr.  48  S.  20  Pf. 
IU.  Heft.  5.  Schuljahr.  64  S.  25  Pf.  IV.  Heft  6.  Schuljahr.  80  S. 
30  Pf.  V.  Heft.  7.  Schuljahr.  80  S.  30  Pf.  VI.  Heft.  8.  Schuljahr. 
80  S.   35  Pf.    Leipzig,  Ferdinand  Hirt  &  Sohn. 

Cr.  Stucki,  Materialien  für  den  naturgeschichtlichen  Unterricht  in  der  Volks- 
schule. I.  Theil:  Botanik.  2.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  Bern. 
Schmid,  Francke  &  Comp.    74  S.    90  Pf. 

—  Das  Rechnen  im  Anschluss  an  den  Realunterricht    Ebenda.    47  S.  60  Pf. 

Euiannel  Meyer,  Aufgaben  für  den  Unterricht  in  der  Buchführung.  Nürn- 
berg, Korn'sche  Buchhandlung.    20  S.    20  Pf. 

Rector  Bambach,  Der  Pöstverkehr.    Dortmund,  Ruhfus. 
Friedrich  Grell,  Gesanglehre  für  Volks-  und  Bürgerschulen.    2.  Abtheilun«?. 
3.  Aufl.    40  Pf. 

—  Lieder  für  die  deutsche  Volksschule.  I.  Heft  für  Unterclassen.  2.  Aufl. 
20  Pf.  II.  Heft  für  Mittelclassen.  2.  Aufl.  30  Pf.  in.  Heft  für  Ober- 
classen.   2.  Aufl.    50  Pf.    München,  Theodor  Ackermann. 

D.  C.  Fröst,  Chorgesangschule  für  den  Gesangunterricht  in  Bürger-  und  Volks- 
schulen. Heft  I.  25  Pf.  Heft  II.  40  Pf.  Heft  III.  1  Mk.  Kiel  und 
Leipzig,  Lipsius  &  Tischler. 

Karl  Knothe,  Einheitliches  Chorgesangbuch  für  evangelische  Schulen  in  ein- 
fachen Verhältnissen.  Ausgabe  A.  60  Pf.,  geb.  70  Pf.  Ausgabe  B.  Heftl. 
1—4.  Schuljahr.  40  Pf.  Heft  II.  5.-8.  Schuljahr.  80  Pf.,  geb.  1  Mk. 
Halle  a.  S.,  Hermann  Schroedel. 

Christian  Heinrich  Holuiiauii,  Praktische  Violinschule.  Neue  gänzlich  um- 
gearbeitete Ausgabe  von  Ernst  Heim.  Heft  I,  II,  m,  IV,  V  je  1  Mk.,  zu- 
sammen in  einem  Bande  3  Mk.    Köln,  P.  J.  Tonger. 

Jacob  Pauli i,  Religiöse  Betrachtungen,  übersetzt  von  S.  Bargum.  Verlag 
von  A.  Wohlenberg  in  Apenrade.    85  S. 

Chr.  Hamann,  Friedrich  Schiller  als  Mensch  und  Dichter,  ein  volkstMnüich 
dargestelltes  Lebensbild.  Hamburg,  Herold.    178  S.    Geb.  1.25  M. 


Vcr&ntwortl.  Hedactour  Dr.  Friedriob  Dittea.    Bachdruckerci  Julim  Klinkhardt,  Leipzig. 


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 Verlag  pon  3»Hug  ttliiifnmfrt  in  geifriia  unb  Berlin  W.  35.  

mr  WvaltWcZ  «efdienfiacrf  für  jititöc  Ce^rcr. 

Sn  ;  Wetter  oermehrter  unb  uerbeff erter  «uflage  ift  in  meinem  Verlage  erfreuen: 

(Ein  Jüljrer  für  Seminartten,  junge  £et)rcr  unb  £el)«rinnen. 

Von 

Sireftor  ber  3Jiäbct)en|'d)ute  in  3«ft«burg. 
Vic  iö  5  Warf,  eleu.  gebtlttben  6  Warf  35  $f. 

Unter  ben  oielcn  für  bie  $anb  junger  fiehrer  bestimmten,  jum  leil  recht  guten  SBerlen 
giebt  ti  nicht  eines,  welches  Anleitung  giebt,  mie  ben  Schülern  bog  VerftänbniS  unb  bie 
ÄenntniS  be3  norjutragenben  ©egenftanbeS  prafrifcb,  beijubringen  ift.  Verfaffer  ift  nun  ber 
Meinung,  ju  einem  frud)tbringenben  Unterrichte  gehöre  bor  allem,  ba&  ber  £et)rer  in  ber 
Jranctunft  Doüftänbig  SKeifter  ift,  unb  beShalb  behanbelt  er  biefen  ÖJegenftanb  ganj  befonberS 
ausführlich-  Ob,ne  biefe  2Jteifterf*aft  finft  ber  Unterri^t  ju  einem  blo|cn  hanbroerfsSmöfeigen 
beibringen  bon  Senntniffen  unb  ftertigfeiten  t>erab. 

$ie  erlte  anfrage  fjat  ungemein  reiben  Beifair  gefunben.  &6er  100  anerßennenbe 
3ufdjriften  (inti  bent  2Jerfa(Ter  aus  äffen  Csegenben  Deutfdjranbs  jugegangen,  unb  audj  bie 
Sejenfionen  tu  btn  »äbagogirdjen  Seitrcfiriften  §aben  fidj  faß  burdjmeg  fetjr  fo6enb  ausgebrüht. 
3nfofge  ber  warmen  Qfmufeljrung  auf  bem  großen  !!Me6en6ürgirdjen  £e(jrertage  ift  bas  Söerfc 
auefi  ins  &ngarifdjeü6erfraaen  roorben.  _ 
yGT  3)aS  SBerf  ift  burch  jebe  Vucbhanblung  p  beziehen. 


2?erfag  von      ^wann  in  I>üfT<fborf. 


Soeben  ift  erfd)ienen  unb  burd)  afle  Vuchhcmblungen  $u  bejtehen: 

ÖEnfCtttrfl,  f&.,   ßgl.  Sc^ulrat  unb  3.  Jrflljlt,  Sgl.  ©emtnarlehrer, 
Slttlcitmtfl  yxx  ^rtciluntt  bc*  ^cd)cnuntcrri*te*  unb  ber  5Raum 
le&re  in  ber  2$olr"$fc$ule.   ©in  £anbbud>  f«r  Scminartften  unb  Sehrer. 
«irrte,  tiöUifl  neu  bearbeitete  «uflane.  $reis  brofa).  9Jif.3.50;  geb.  SRI.  4.-. 

2Me  rühmlicbft  befannte  Anleitung  Don  ftentenieb  bilbet  in  ber  gegenwärtigen,  im 
mef entliehen  oon  §errn  Seminarlehrcr  3-  ftrohn  in  Vrübl  burchflf führten  Neubearbei- 
tung baS  juDerläffigfte  unb  praftifchfte  fcanbbuch  für  jeben  Rechenlehrer. 

SluS  bem  Vorworte  jur  tierten  Auflage  fei  baS  ftolgenbe  mitgeteilt:  2üe  „Einlei- 
tung" mifl  Seminariften  baS  ©tubium  beS  UnterrichtSgegenftanbeS  erleichtern,  junge 
£eb,rer  bei  ber  Vorbereitung  auf  ben  Unterricht  unb  auf  bie  zweite  Prüfung  untcrftüfyen, 
für  jeben,  ber  in  Rechnen  unb  Raumlehre  unterrichtet,  ein  ftanbbuth  fein,  welches  in 
fchmierigem  unb  aweifelbaften  ftßüen  Slufichlujj  giebt;  fie  roill  fiebrern  an  mehjflaffigen 
Schulen  burch  eingehenbe  Verüdficfjtigung  ber  ffiüt,  in  welchen  Schwantungen  unb  Ver* 
ftö&e  üorfommen,  ein  $>ilfSmtttel  bieten,  bem  Unterrichte  einen  feften  (Mang  ju  gfben  unb 
ihn  einheitlich  als  eine  Übung  im  flaren  $enfen  unb  richtigen  Sprechen  5U  grftalten. 

3>a3  Such  jerfätlt  in  feiner  Reugeftaltuug  iu  jroei  Seile:  Rcdjneu  unb  Raum* 
lehre.  25er  Untere  Xeil  ift  neu  hinjugefornmen.  3eber  ber  beiben  Seile  verfällt  raieber 
in  einen  allgemeinen  unb  einen  befonbern.  SBährenb  in  bem  allgemeineu,  befonber^  für 
baS  ©tubium  be«  fiehter«  beftimmten  leite  bie  ©runblage  für  bie  Snbaftif  bargflegt  ift, 
$eigt  ber  befonberc  Seil,  mie  bie  einzelnen  ftäQe  untenichtlich  ju  bchanbeln  finb. 

<DÜffeltlorf,  im  9Wai  1892. 

SerlagSbuchhanblung. 


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3m  Berlage  non  ^m.  Xr.  fööUrr,  Vnii;ui 

erfdbien  foeben  in  IV.  Auflage: 

Bischoff, 

(5rfd)id|tc  örr  diriftliriirn  £ird)f 

in  Silbern, 
neu  bearbeitet,  bebeutcnb  CTroritert  unb  bi«  auf 
bie  l^cgcnroart  fortgeführt  Don 

Wim  au  Slfcolf  V'cupolb, 

cand.  rcv.  min.,  Obererer  am  tt'önigl.  Seminar 
■  i!  2)reäben'Ivriebri(t)ftabt. 
32  Sogen  ftarf  8°  ftormat. 
%xtit  brofcbicrt  SÄ.  4.—. 
$>ie  ftnerfennung,  roeltbe  bem  SBerfe  in  I.— III. 
Auflage  ju  teil  geworben  vi,  bic  genaue  Xurcto« 
arbeitung  unb  bebeutenbe  ©rroetterung  ber  IV. 
Auflage  mit  ber  ftortfüfjrung  ber  (Wefcbidjte  bii 
*ur  ÜHeufteir,  laffen  un*  l)orfen,  ein  SBerf  ge« 
Idjaffen  ju  ljaben,  meierte«  als  3 1 off  ftiim  Unter- 
riebt  in  ber  Äirdjengefdjicfjte  aQeo  ba£  bieten 
bürfte,  tt>aä  ber  fie^rer  oon  einein  guten  2cbr« 
burb  ber  Sttrdjengefdjicbte  Bedangt. 

©lcidjjettiii  fei  nodj  ba$  in  XIII.  Auflage 
erimienenc  SBerf  eben 

tMfdiojf,  i'eitfaben  beim  Unterriebt  in  ber  ©e* 

jrbiebte  ber  drrtftl.  ftirebe  SJl.  1.— 
emüfotjlen. 

Beste  Violinschule: 

Hohmann-Heim 

164  Seiten  grösstes  Noten- 
form. Prachtausgabe  5  Hefte 
je  I  M.,  in  I  Band  3  hl. 
I*.  .1.  Toiicer.  kolii  a  Ith. 

Verlag  uon  ^uliue  SUütfbarDt  in  Vt  ii> ;tn 
Oabn,  l>r.        UUItgtfdiidjlr  für  rinfadit  ttolks- 
fonlrn.   Siad)  ben  Skfrtmmungen  be*  aflge* 
meinen  :yci)rplane$  com  5.  ^couember  1877 
bearbeitet.   50  5?f. 


3n  meinem  Berlage  ifi  foeben  erjehjenen  : 

6clrpl)fit$riiif!t 

für 

3$alf  3f  rfjitlfefjrcr* 

ivrauSgegeben  oon 
rdmtiat  Ernst  Eckardt, 

Jlgl.  SJerirfSfdjultnfpertor. 
8V«  »ogen.   8.   Skete  SR.  1,80. 
liefe  Sammlung  r-on  hieben  unb  Vlnfpradjen 
ei nct'  tüdjtigen,  altbewährten  3d)ulmannrä  wer- 
ben  mand)  jüngerem  Üebrer  al$  Hilfsmittel  uor> 
rrefflidje  Xienfte  leiften. 
Xad  $?ud)  enthält: 
I.  «eben  jur  Sebulentlaffung.  (12.) 
IL  Weben  bei  Ghriftbeidjerungen.  i'2.\ 

III.  Siatriotifdje  {Reben.  (3.) 

IV.  JReben  beim  Vlmtfrocdjfel.  (4.) 

V.  SScirjereben  bei  ber  Errichtung  neuer  Sefjul- 

gebäube.  (8.) 
VI.  sronferen$reben.  (2.) 

ÜJegen  ginfenbung  bed  betrage«  erfolgt  ftranfo» 
3ufenbung. 

wmig.  Julius  MlinfbarM. 


Pianinos  von  350  b«  1&00  nie. 

Harmonium«  itentaehc  nnd  amerilc.  Cottasc- 
narmuniums.  0rReln  (EaU}y)  Ton  ^  w  |- 

IvTu««?T!j\Tits  Fabrikate.   Höchster  Baaxrabatt. 

Alle  Vorthi-il«.    Illuitr.  K&IaIorc  pratii. 

Witt».   Kii.lolph  in  <ii.-»^  n. 

errötete«  Piano- Vere&ndt-Geachift  Deutschlands. 


Musik 


(Um.  n.  n»4a.  2- a.  (b«>.  iimriiRi 
LM*r.  Jrifa  etc.  HOIra. 

alische  Universal-Biblinthek 
J  Jede  Xr.üOI'f.  Vn  rnlihl 

«■Harm.  Vonirl.  Stkli ».  Dnck,  »urkwi  fitirr.  —  f'.l'rint  w 
KMUtUI«  Album»  a  IM,  miJirt  tan  Klesuae.  Js4m 
lohn  rtc  —  IrUindnif  Mutti  sllrr  Mitionm.  —  Hssiomtica. 

Vfrirlchn.  f.  n.  fr.  im  Fell»  SlBff'l.  LelpilQ.  l'f.r;  >.<i»tf.  t 


Soeben  ersctieiiit 


19000 

16  Bände  geb.  a  10  M. 
oder  256  Hefte  k  50  Pf. 

160001 

1  Abbildungen. 

Brock haus' 

rsations-Le. 

/4.  Auflage. 

SeitenText. 

Konve 

xikon. 

IßOOTafeln. 

300  Karte  n.l 

1 120  Cbromotafeln  nnd  480  Tafeln  in  Scbwarzdrock.  | 

1  ' 


Paedagogium. 


Monatsschrift 

fm 

Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 
J>r.  JPriedi*icli  Dittes. 


ny.  Mmi 

10.  Heft,  Juli  1892. 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt  / 
2^  ^ 


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Inhalt  des  10  Heftes. 


Seita 

Bemerkungen  über  die  Frohschammerscho  Philosophie,  insbesondere  Über  ihre 

Beziehungen  zur  Pädagogik.   Vortrag  von  F.  A.  Steglich-Dresden   .  613 
Aus  der  Geschichte  der  Taubstummenbildung.   Von  Dr.  H.  Morf-Winterthur. 

(Schluss)  629 

Der  Lehrer  Leumund  und  ein  Geheimer  Justizrath.   Vom  Herausgeber  .   .  640 
Pädagogische  Rundschau.    Der  IX.  Deutsche  Lehrertag.  —  Aus  Preußen.  — 
Aus  Ostpreußen.  —  Aus  Sachsen.  —  Aus  dem  Großherzogthum  Baden. 
—  Aua  der  Schweiz.  —  Österreich.  —  Die  Lehrmittelsammelstelle 

Petersdorf  bei  Trautenau  in  Böhmen.  —  Giebichenstein  665 

Aus  der  Fachpresse  679 

Kccensionen  681 


Abo nti  c iti© n  t s  Preis  pro  Quär  täl  Rfl  •  2*25* 


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Bemerkungen  über  die  Frohschammersche  Philosophie,  ins- 
besondere über  ihre  Beziehungen  zur  Pädagogik. 

Vortrag,  gehalten  im  Pädagogischen  Vereine  zu  Dresden  von 

jR  A.  Steglich-Dresfon. 

Hochverehrte  Versammlung! 

Eine  allgemeine  und  eine  besondere  Bedeutung  hat  für 
den  Pädagogen  die  Philosophie. 

Wie  Ihnen  bekannt,  ist  über  die  specielle  Wichtigkeit,  welche 
dieser  großen  Wissenschaft  für  die  Pädagogik  zukommt,  und  welche 
von  niemand  in  Abrede  gestellt  werden  kann,  neuerdings  wieder  im 
„Pädagogium"  (Juniheft  1891)  eine  klare  und  treffende  Auseinander- 
setzung von  sach-  und  fachkundiger  Seite  erschienen.  —  Unsere  An- 
sicht über  die  doppelte  Bedeutung  der  Philosophie  für  den 
Lehrerberuf  können  wir  kurz  in  folgende  zwei  Sätze  zusammen- 
fassen, die  für  den,  welcher  die  allgemeine  und  die  pädagogische 
Literatur  halbwegs  kennt,  keiner  weiteren  Begründung  bedürfen: 

a)  Auf  das  Geistesleben  des  deutschen  Volkes  hat  von  je,  nament- 
lich aber  seit  Leibniz,  Lessing  und  Kant,  die  Philosophie  einen  mäch- 
tigen Einfluss  geübt.  Trotz  gegenteiliger  Strömungen  zeigt  auch  in 
der  Gegenwart  „das  Volk  der  Dichter  und  Denker"  noch  Neigung, 
den  Erscheinungen  der  philosophischen  Literatur  Beachtung  zu 
schenken. 

b)  Die  Pädagogik  ist  philosophischen  Charakters;  ist  doch  ein 
großer  Philosoph  selbst  (Aristoteles)  der  Vater  der  Pädagogik  als 
Wissenschaft!  Ihre  Hilfswissenschaften  Logik,  Psychologie  und  Ethik 
sind  philosophische  Disciplinen.  Daher  befindet  sich  der  Lehrer  mit 
seiner  Berufswissenschaft  bereits  auf  dem  Boden  der  Philosophie. 

Der  Lehrer  sei  Bildner  des  Volkes!  Daher  für  ihn  die  all- 
gemeine Bedeutung  der  philosophischen  Wissenschaft.  Der  Lehrer 
sei  Bildner  des  Volkes!  Daher  für  ihn  die  specielle  Wichtigkeit 
der  Philosophie.  Wenn  also  der  Lehrer  uud  Erzieher  sich  mit  philo- 
sophischen Dingen  befasst,  so  erfüllt  er  nur  den  Rath  Diesterwegs: 
Mache  deinen  Beruf  auch  zum  Mittelpunkte  deiner  Leetüre!1) 

»)  „Wegweiser."   5.  Aufl.   Bd.  I.  S.  66. 

Padagogion».    14.  Jahrg.  Heft  X.  43 


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—    614  — 


Nun  entsteht  aber  die  Frage!  Mit  welcher  Philosophie  soll  sich 
der  Lehrer  beschäftigen? 

Von  Diesterweg  wurden  in  den  „Rheinischen  Blättern"2)  den 
Lehrern  mit  vollem  Rechte  die  Schriften  Schleiermachers  und  Benekes 
zum  Studium  empfohlen;  sie  verdienen  auch  heute  noch  vollste  Beach- 
tung. Neben  ihnen  und  den  älteren  Philosophen  dürfen  wir  Fichte 
und  Herbart  nicht  vergessen;  denn  jener  hat  die  Erziehung  und  die 
Erziehungswissenschaft  vom  politisch-nationalen,  dieser  vom  rein  wissen- 
schaftlichen (theoretischen)  Standpunkte  aus  zu  fördern  gesucht  und 
zu  fördern  verstanden.  Unter  den  neueren  Philosophen  sind  beson- 
ders Schopenhauer  und  Hartmann  zur  Berühmtheit  gelangt.  Soll  auch 
der  Lehrer  sich  ihnen  zuwenden? 

Schopenhauer,  der  den  Willen  als  Grundprincip  aufstellt,  defi- 
nirt  denselben  so,  dass  aus  ihm  nothwendig  die  pessimistische 
Charakterisirung  des  Lebens  und  eine  wunderliche  Ethik8)  folgt, 
welche  uns  in  das  Nirwana  der  Buddhisten  führt  und  somit  im  prak- 
tischen Nihilismus  endigt.  Auch  Hart  mann,  der  bewusste  Philosoph 
des  Unbewussten,  ist  Pessimist  wie  Schopenhauer,  ja  er  vertritt  den 
Pessimismus  noch  energischer  als  dieser.4)  Es  leuchtet  .aber  ein,  dass 
eine  pessimistische  und  nihilistische  Philosophie  und  Denkungsart  am 
wenigsten  geeignet  ist,  unserer  Zeit  da,  wo  es  fehlt,  aufzuhelfen. 
Denn  gerade  die  Gegenwart  erfordert  allseitig  thatkräftiges  Streben 
und  verlangt,  wie  Bismarck  einst  gesagt,  die  Bethätigung  „praktischen 
Christenthums u.  Hierzu  aber  ist  der  Pessimismus,  den  diese  Philoso- 
phen vertreten,  das  untauglichste  Hilfsmittel.  (Ich  spreche  nur  vom 
ethischen,  nicht  vom  wissenschaftlichen  Werte  ihrer  Werke.)  Zu  einem 
actionsfahigen  Streben  im  Dienste  des  Ganzen,  wie  solches  unser 
oberstes  sittliches  Princip  sein  soll,  befähigt  uns  nicht  der  krankhafte 
Pessimismus6),  sondern  lediglich  der  gesunde  Idealismus! 

Den  beiden  pessimistischen  Philosophen  stellen  wir  zwei  andere 
neuere  Denker  gegenüber,  die  eine  ungleich  höhere  Beachtung  ver- 
dienen, weil  sie  dem  Idealismus  Bedeutung  zu  erkennen  und  Unter- 

*)  Rhein.  Blätter.  1834,  Heft  5  u.  6;  1836,  Heft  1;  1835,  Heft  5;  1836, 
Heft  5.   Vgl.  auch  „Pädagogium",  Märzheft  1888. 

•)  Lic.  th.  Dr.  Friedr.  Kirchner:  „Über  das  Grundprincip  des  Weltprocessw.t 
Mit  bes.  Berücksichtigung  J.  Frohschammers.   (Kothen  1882,  P.  Schettler.)  S.  279. 

*)  J.  Stern:  „Sch weglers  Geschichte  <L  Philosophie."  (Leipzig,  Ph.  Beclam.) 
S.  498. 

*)  J.  Frohflchammer:  „Über  die  Organisation  und  Cultur  der  Gesellschaft'' 
(München  1885,  Ackermann.)   S.  291. 


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r 


—    615  — 

Stützung  gewähren:  Es  sind  dies:  Herrn.  Ulrici  und  mehr  noch 
Dr.  Jacob  Frohschammer,  Professor  der  Philosophie  an  der  k.  Uni- 
versität zu  München,  ein  Mann,  auf  welchen  ich  Ihre  Blicke  lenken 
möchte  durch  den  folgenden,  allerdings  nur  fluchtig  orientirenden  Vor- 
trag. —  Der  Name  dieses  Mannes  ist  Ihnen  nicht  unbekannt;  denn  ab- 
gesehen davon,  dass  Fr.  durch  eine  Reihe  interessanter  Artikel  in  den 
letzten  Jahrgängen  des  „Paedagogium"  der  Lehrerschaft  selbst  näher- 
getreten ist,  wurde  sein  Name  schon  früher  öfter  genannt.  Einmal 
spielte  Fr.  in  dem  vor  20  und  mehr  Jahren  geführten  römischen 
Kirchenstreite  infolge  seiner  literarischen  Thätigkeit  eine  wichtige 
Rolle,  ebenso  bedeutsam  wie  diejenige  des  Stiftspropstes  Ign.  v. 
Döllinger;  zum  andern  stellte  sich  Fr.  in  dem  nunmehr  beendeten 
„Culturkampfe"  mannhaft  und  entschieden  auf  die  Seite  des  deutschen 
Reiches,  wie  seine  hierauf  bezüglichen  Schriften  beweisen.6)  Über 
diese  seine  Wirksamkeit,  welche  in  mehrfacher  Hinsicht  an  diejenige 
Luthers  erinnert,  finden  Sie  näheren  Aufschluss  in  bekannten  Werken7), 
weshalb  ich  dieselbe  im  weiteren  unberührt  lasse.  —  In  den  letzten 
Jahrzehnten  hat  Frohschammer  ein  philosophisches  Original- 
system aufgestellt,  auf  welches,  wie  es  scheint,  erst  verhältnismäßig 
wenige  aufmerksam  geworden  sind,  obschon  einige  gewichtige  Stimmen 
auf  dasselbe  empfehlend  hingewiesen  haben.8) 

Fr.  ist,  wie  schon  angedeutet,  einer  der  hervorragenden  und 
hoffentlich  erfolgreichen  Vertreter  derjenigen  Richtung  in  der  Philo- 
sophie, welche  eine  Vereinigung  und  Versöhnung  des  Realismus  mit 
dem  Idealismus  anstrebt.  Die  Philosophie  in  allen  ihren  Ver- 
zweigungen hat  nach  Fr.  hauptsächlich  den  Zweck,  die  „ideale  Wahr- 
heit" zu  suchen,  während  die  übrigen  Wissenschaften,  z.  B.  Natur- 
wissenschaft, Geographie  u.  s.  w.,  es  mit  der  reinen  Wirklichkeit,  mit 
der  „realen  Wahrheit"  zu  thun  haben.  Fr.  geht  daher  auch  in  seinen 
Untersuchungen  meist  von  der  Wirklichkeit,  von  der  realen  Wahr- 
heit aus,  aber  er  prüft,  ob  diese  Wahrheit  auch  der  Idee  entspreche. 
Über  die  Aufgabe,  welche  er  der  Philosophie  im  allgemeinen  und  ins- 

")  „über  die  religiösen  und  kirchenpolitischen  Fragen  der  Gegenwart."  „Die 
wahre  Bedeutung  des  Culturkanipfes."   Elberfeld  1875,  1878,  b.  Ed.  Loll. 

Meyers  Convere.-Lcx.  3.  Aufl.  Bd.  VII  (1876),  S.  254.  Brockhaus1  Conv.-Lex. 
13.  Aufl.  Bd.  VH  (1884),  S.  371. 

8)  Kirchner:  „Über  das  Grundprincip  etc."  Kothen  1882,  Schettler.  — 
Dr.  E.  Reich:  „Betrachtungen  über  die  Philosophie  Frohschamnicrs."  Großenhain 
u.  Leipzig  1884,  Baumert  Ronge.  —  „Pädagogium"  VII,  S.  72  fg.,  VIII,  S.  69, 
S.  251  fg.;  Xn,  S.  4  fg. 

43* 


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—   616  — 

besondere  seiner  Philosophie  stellt,  sagt  er  selbst:  „Es  wird  wol  als 
selbstverständlich  betrachtet  werden  dürfen,  dass  auch  das  Gebiet 
des  Idealen,  dass  auch  die  höheren  Ziele,  Güter  und  Weisen  des 
Daseins  für  die  erkennende  Kraft  des  Menschengeistes  Gegenstand 
unablässiger  Prüfung  und  Forschung  seien.  Da  die  Menschen  wie  die 
Völker  ohne  dieses  Ideal  doch  nicht  leben  und  wirken  können  .  .  so 
hieße  es  nichts  anderes,  als  gerade  den  höheren,  besseren  Theil  des 
menschlichen  Daseins  dem  Zufall  und  der  Willkür,  der  Unwissenheit, 
dem  Wahn,  Trug  und  Aberglauben  überlassen  und  schutzlos  preis- 
geben, wollte  man  der  menschlichen  Erkenntniskraft  und  wissenschaft- 
lichen Forschung  es  versagen,  auch  in  diesem  Gebiete  unablässig  thätig 
zu  sein."9)  Wie  der  pragmatische  Geschichtschreiber,  so  soll  auch 
der  Philosoph  sein,  nämlich  stets  „die  reale  Thatsache  am  idealen 
Maßstabe  messend  und  beurtheilend." 10)  Da  die  Ideale  für  das  Geistes- 
leben der  Menschen  überhaupt  und  demnach  auch  für  die  Pädagogik 
von  großer  Tragweite  sind,  so  muss  auch  die  Wissenschaft  des 
Idealen  für  jeden,  namentlich  für  den  Pädagogen  von  Wichtigkeit 
und  Interesse  sein! 

Aber  nicht  nur  „Idealwissenschaft"  ist  die  Frohschammersche 
Philosophie,  sondern  auch  Erklärung  des  Weltvorganges  aus  einem 
einheitlichen  Princip,  also  System.  Als  „Grundprincip  des  Welt- 
processes"  stellt  Fr.  „die  Phantasie"  auf,  das  Wort  im  weiteren  als 
dem  gewöhnlichen  Sinne  gedacht  —  Wenn  wir  „Phantasie"  mit  „Ein- 
bildungskraft" übersetzen,  so  sprechen  wir  es  aus,  dass  sie  überhaupt 
eine  Bildungskraft  ist  Als  solche  macht  sie  sich  auch  reichlich  im 
Leben  der  Menschen  geltend,  wo  wir  sie  als  „subjective  Phanta- 
sie" bezeichnen.  Die  „subjective  Phantasie"  beherrscht  das  Kindesalter; 
sie  tritt  bei  der  Entwickelung  des  kindlichen  Geistes  deutlich  hervor, 
bis  endlich  der  Verstand  die  Oberhand  gewinnt.  —  Wenn  der  Knabe 
als  Reiter  erscheint,  das  Mädchen  mit  der  Puppe  spielt,  so  hat  ihnen 
den  Plan  dazu  ihre  „subjective  Phantasie"  eingegeben;  ohne  Einbil- 
dungskraft würden  sie  gar  kein  Gefallen  an  solchem  Thun  finden. 
Wenn  wir  irgend  ein  Gut,  einen  Genuss,  ein  Ziel  erstreben,  so  ist 
unsere  Einbildungskraft  die  Urheberin  dieses  Strebens;  sie  malt  uns 
die  (zukünftigen)  Güter  und  Genüsse  in  rosigen  Farben.  Jedes  Ge- 
schäftsunternehmen existirt,  ehe  es  ausgeführt  wird,  bereits  in  der 


8)  „Die  Philosophie  als  Idealwissenschaft  u.  System."  München  1884,  A.  Acker- 
mann. S.  67. 

10)  Ebd.  S.  24. 


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—    617  — 


„subjectiven  Phantasie"  der  Unternehmer;  wenn  der  Knabe  die  Schule 
bezieht,  so  erblicken  ihn  die  sorgenden  Eltern  schon  als  das,  was  er 
werden  soll;  wenn  ein  anderer  Knabe  zum  Meister  in  die  Lehre 
kommt,  so  malt  ihm  seine  Phantasie  schon  das  Bild,  wie  er  selbst  als 
Meister  schalten  und  walten  wird.  So  sehen  wir,  dass  alle  Zwecke, 
alle  Ziele  (Ideale)  menschlichen  Handelns  von  der  Phantasie  ein- 
gegeben und  bestimmt  werden.  Der  Verstand,  die  Urtheilskraft, 
hat  sodann  zu  bemessen,  ob  die  von  der  Phantasie  aufgestellten  Ziele 
erreichbar  sind  oder  nicht.  Sind  sie  unerreichbar,  so  sprechen  wir 
von  Luftschlössern,  von  fixen  Ideen,  von  Illusionen11),  durch  welche 
gleich wol  viele  Menschen  beherrscht  werden.  Der  Wille  endlich, 
den  Schopenhauer  als  Grundprincip  auffasst,  ist  beim  Menschen  eine 
secundäre  Erscheinung;  denn  erst  wenn  die  Phantasie  ein  Ziel  auf- 
gestellt und  der  Verstand  beurtheilt  hat,  ob  es  erreichbar  sei,  erst 
dann  entsteht  der  Wille,  der  das  Ziel  erstrebt,  bezw.  davon  ablässt 
(Verneinung).  Erst  ein  Ziel,  dann  ein  Wille!  —  Wir  müssen  dem- 
nach die  „subjective  Phantasie"  die  productive  Grundkraft  im  Menschen 
nennen. 

Als  diese  erweist  sie  sich  wie  im  Leben  überhaupt,  so  vorzugs- 
weise in  der  Kunst.14)  Die  Phantasie  ist  es,  von  welcher  alle 
Meister  aller  Künste  den  Antrieb  zum  Schaffen  und  Gestalten  em- 
pfangen, durch  welche  sie  ihre  Werke  gleichsam  schöpferisch  hervor- 
bringen. 

Die  größte  Künstlerin  ist  die  Natur.  Sie  erzeugt  unerschöpflich 
neues  und  —  was  hier  betont  sein  möge  —  vielgestaltiges  Leben. 
Betrachten  wir  die  Bäume  des  Waldes,  wir  werden  nicht  zwei  gewahren, 
die  einander  nach  Form  und  Größe  völlig  gleichen;  beschauen  wir  die 
Wolkenbildung  am  Himmel,  sie  ist  jeden  Tag  eine  andere;  bewundern 
wir  die  Felsen  des  Gebirges,  —  wir  finden  die  verschiedensten  Größen- 
und  Formenverhältnisse,  weshalb  wir  ja  von  „phantastischen"  Fels- 
bildungen sprechen;  mustern  wir  die  tausend  Menschen  einer  Ver- 
sammlung, —  nie  wird  trotz  der  oft  täuschenden  Ähnlichkeit  ein 
Gesicht  dem  andern  völlig  gleich  sein.  Über  die  Mannigfaltigkeit  in 
der  Fülle  der  Erscheinungen  schrieb  vor  fast  120  Jahren  Lavater  in 
seinen  „Physiognomischen  Fragmenten "  also18):  „Es  ist  keine  Rose 

")  S.  Frohschammcr:  „Über  d.  Organisat.  u.  Cultur  etc."   S.  272  fg. 

")  S.  Frohschammcr:  „Die  Phantasie  als  Grundprincip  des  Weltprocesses." 
München  1877,  Th.  Ackermann.   S.  31—36. 

")  Winterthur  1776,  1.  Versuch,  S.45.  —  Vergl.  Kehr  u.  Kriebitzsch:  „Lese- 
buch f.  deutsche  Lehrerbildungsanstalten."    Bd.  IV,  2.  Aufl.    (Gotha  1877.)  S.  223. 


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—   618  — 


einer  Rose,  kein  Ei  einem  Ei,  kein  Aal  einem  Aal,  kein  Löwe  einem 
Löwen,  kein  Adler  einem  Adler,  kein  Mensch  einem  andern  Menschen 
vollkommen  ähnlich  ...  Bei  aller  Analogie  und  Gleichförmigkeit  der 
unzähligen  menschlichen  Gestalten  können  nicht  zwo  gefunden  werden, 
die,  nebeneinandergestellt  und  genau  verglichen,  nicht  merkbar  ver- 
schieden wären."  Hätte  ein  Künstler  zu  all  dem,  was  geschaffen 
ist,  den  Plan,  die  Skizze  entwerfen  sollen,  wie  ein  Baumeister  den 
Grundriss  zu  einem  neuen  Gebäude  entwirft,  —  der  Künstler  hätte 
müssen  eine  immense  Phantasie  zu  eigen  haben.  Die  Natur 
besitzt  diese  unermessliche  Phantasie,  welche  wir  als  „objective 
Phantasie"  bezeichnen  im  Gegensatze  zu  der  begrenzten  „subjectiven 
Phantasie"  des  Menschen. 

Diese  „objective  Phantasie"  ist  das  in  der  Natur  waltende  Ge- 
staltungs-  und  Organisationsprincip;  sie  ist  die  Quelle  aller  Gesetz- 
mäßigkeit und  Einheit  bei  aller  Verschiedenheit  in  der  Organi- 
sation im  einzelnen.  Ein  solches  Princip  muss  wol  in  der  Natur 
gelten,  obgleich  wir  es  nicht  zu  entdecken  vermögen.  Bei  der  Zer- 
legung einer  Uhr,  die  der  Techniker  durch  Kunst  hervorgebracht  hat, 
finden  wir  auch  keine  treibende  Kraft,  kein  teleologisches  Princip, 
welches  darin  waltet;  und  dennoch  liegt  der  Uhr  ein  Princip  zu 
Grunde.14)  So  mag  auch  der  Natur,  „der  großen  Weltenuhr a, 
wie  sie  Schiller  nennt,  ein  Princip  innewohnen,  welches  unser  Philo- 
soph eben  als  „objective  Phantasie"  charakterisirt.  Die  „objective 
Phantasie"  wird  von  ihm  nur  als  solch  immanentes  Princip  aufge- 
fasst  und  dargestellt,  nicht  als  Princip  oder  Macht  über  oder  hinter 
der  Welt,  also  nicht  etwa  als  absolutes  Wesen.15)  In  welchem  Ver- 
hältnisse dieses  der  Welt  innewohnende  Formprincip  zu  der  über  der 
Welt  thronenden  Gottheit  stehe,  das  hat  Fr.  letzthin  in  einem  beson- 
deren Werke  „über  das  große  Geheimnis  des  Daseins"  genauer  unter- 
sucht, einem  Werke,  welches  in  das  Gebiet  der  Metaphysik  und  ratio- 
nalen Theologie  gehört.1*1) 

Eine  aufmerksame  Betrachtung  der  menschlichen  und  der 
kosmischen  Natur,  ein  verweilender  Blick  auf  den  Reichthum  und 
die  Vielgestaltigkeit  der  Welterscheinungen  macht  die  Richtigkeit  der 
Aufstellungen  des  Münchner  Philosophen  sehr  wahrscheinlich,  und  wir 
dürfen  auf  sein  System  vielleicht  das  Wort  des  geistreichen  Hippel 

")  S.  „Phantasie  ü\b  Qrundprincip  des  Weltproccsscs".   S.  176  fg. 
lb)  „Phantasie  als  Grundprincip  etc."    S.  V,  S.  17. 

lö)  „Über  das  mysterium  magnum  des  Daseins."  Leipzig  1891,  F.  A.  Brockhaua. 
Vgl.  „Pädagogium"  XIII,  S.  550. 


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—   619  — 


anwenden:    „Niemals  waren  Natur  und  Philosophie  sich  entgegen: 

Nunquam  aliud  natura,  aliud  sapientia  dicit".17) 

*  * 

- 

♦ 

Nach  diesen  knappen  Andentungen  über  das  neue  System  im 
allgemeinen  wenden  wir  uns  zu  einigen  Punkten,  durch  welche  das- 
selbe von  Wert  und  Bedeutung  für  die  Pädagogik  ist.  —  Die 
Frohschammersche  Philosophie  erscheint  als  eine  Bereicherung  unserer 
Berufswissenschaft  zunächst  durch  ihre  Psychologie. 

Frohschammer  betrachtet  die  Menschenseele  als  einen  Orga- 
nismus, wie  der  Leib  ein  Organismus  ist.  Wie  der  „physische 
Organismus"  durch Selbstthätigkeit  zur  Selbstständigkeit  gelangt 
und  diese  alsdann  behauptet,  „in  solcher  Weise  mag  es  sich  auch  mit 
dem  psychischen  Organismus  verhalten".18)  Und  unser  Philosoph 
führt  diese  Parallele  consequent  und  erfolgreich  durch,  womit  er 
zugleich  viele  fruchtbare  Anregungen  für  die  Pädagogik  gewinnt  und 
darbietet19).  Denn  es  leuchtet  ein,  dass  sich  aus  dieser  Auffassung 
der  Seele  ganz  andere  pädagogische  Maßnahmen  ergeben,  als  aus  der 
Annahme,  dass  die  Seele  ein  Mechanismus  oder  eine  tabula  rasa  oder 
sonst  etwas  sei.  Freilich  muss  zugegeben  werden,  was  man  oft  be- 
hauptet, dass  sich  in  der  empirischen  Psychologie,  von  welcher  der 
Erziehungskunst  die  meisten  Fingerzeige  kommen,  sehr  vieles  er- 
mitteln und  feststellen  lässt  auch  ohne  jede  metaphysische  Grund- 
ansicht über  das  Wesen  der  Seele.  Trotz  dieses  Zugeständnisses  ist  es 
aber  sicher,  dass  eine  solche  speculative  Ansicht  zur  Vertiefung  der 
psychologischen  Forschung  dienen  muss,  zumal  wenn  diese  Ansicht 
so  von  der  Wahrscheinlichkeit  gestützt  wird,  wie  bei  der  in  Rede 
stehenden  es  der  Fall  ist  Zudem  bewegen  sich  die  psychologischen 
Untersuchungen  unseres  Philosophen  keineswegs  blos  in  metaphysischer 
Sphäre,  sondern  sie  sind  zum  guten  Theil  Erfahrungsseelenlehre 
wie  diejenige  Benekes  und  fußen  auf  dem  Boden  der  modernen  Natur- 
wissenschaft Wer  sich  davon  überzeugen  will,  der  lese  besonders 
das  3.  Buch  des  Werkes  über  „die  Phantasie  als  Grundprincip  des 
Weltprocesses".  —  Bis  jetzt  fehlt  allerdings  noch  eine  genaue  An- 
wendung der  Frohschammerschen  Psychologie  auf  die  Pädagogik 
als  „Kunstlehre",  eine  Schrift,  welche  die  (vorhin  erwähnten)  päda- 

xr)  „Über  die  Ehe."    Leipzig,  Ph.  Reclam.   S.  26. 
,s)  „Über  die  Organisation  und  Cultur  etc."    S.  329. 

»)  „Die  Phantasie  als  Grundprincip  etc."    S.  398  ff.    „Pädagogium"  1886 
(Aprüheft),  S.  409  ff. 


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—    620  - 

gogischen  Consequenzen  zieht;  es  mangelt  noch  —  kurz  gesagt  — 
an  der  Bearbeitung  einer  sog.  „pädagogischen  Psychologie",  wie  sie 
Dörpfeld  im  Herbartschen  und  Dr.  Bartels  im  Lotze'schen  Sinne  unter- 
nommen hat.20)  Für  philosophisch  geschulte  Pädagogen  ist  hier  ein 
reiches  Feld  literarischer  Thätigkeit  offen,  und  es  ist  die  Klopstock- 
Mahnung  am  Platze:  Noch  viel  Verdienst  ist  übrig.  Auf,  hab' 
es  nur! 

Auch  die  Logik  erhält  und  erfahrt  durch  die  Frohschammersche 
Philosophie  eine  Stütze  und  Bereicherung,  wie  umgekehrt  die  von  der 
Logik  bisher  schon  festgehaltenen  Lehren  für  die  Richtigkeit  der 
Auffassung  des  Philosophen  sprechen.  — 

Im  Erkenntnisprocess  des  menschlichen  Geistes  spielt  die  „sub- 
jektive Phantasie"  eine  ausschlaggebende  Rolle.*1)  Ich  brauche  nur 
an  Bekanntes  zu  erinnern:  Schon  der  Wortbedeutung  nach  ist  die 
Einbildungskraft  das  innere  Bildimgsvermögen  der  Seele,  ihre  schöpfe- 
rische Energie,  ihre  Productivität.5*)  Demnach  ist  diese  Kraft  bei 
allem  Bilden,  das  in  der  Seele  stattfindet,  im  Spiele,  bei  dem  Bilden 
von  Begriffen,  Urtheilen,  Schlüssen,  bei  Gedächtnisacten  u.  s.  f.  Die 
Phantasie  ist  schöpferisch  bildend,  jedoch  nur  in  formaler  Hinsicht*8) 
Die  Logik  nun  ist  die  Lehre  von  den  Formen  des  Denkens.*4) 
Somit  erhellt  von  selbst  die  Wichtigkeit  der  „subjectiven  Phantasie" 
für  die  menschliche  Erkenntnis  und  für  die  Erkenntniswissenschaft. 
Ja,  man  kann  sagen:  Ein  Mensch,  der  keine  Phantasie  besäße,  würde 
auch  nicht  denken  können.  Ein  Mensch  aber,  bei  dem  die  Phantasie 
tibeiwiegt,  wird  meist  -—  wie  wir  sagen  —  unlogisch  denken.  Daher 
richtet  auf  eine  rechte  Pflege  der  Phantasie  auch  die  Erziehung  ihr 
Augenmerk;  ich  weise  hierbei  nur  hin  auf  die  Pädagogik  Fröbels! 
Wenden  wir  uns  zu  Frohschammers  Ethik!  — 
Man  hat  oft  gemeint,  die  Pädagogik  sei  keine  wahre  Wissen- 
schaft; denn  sie  entbehre  der  sicheren  ethischen  (wie  psychologischen) 
Basis;  als  Ziel  der  Erziehung  sei  bald  dies,  bald  jenes  hingestellt 
worden.  Noch  auf  der  jüngsten  „Allg.  Deutschen  Lehrerversammlung" 


»)  „Beiträge  zur  pädagogischen  Psychologie"  von  F.  W.  Dörpfeld.  Gütersloh, 
Bertelsmann.  „Padag.  Psychologie  nach  Herrn.  Lotze  in  ihrer  Anwendung  u.  s.  w." 
von  Dr.  Fr.  Bartels.  Jena  1890. 

*')  „Phantasie  als  Grundprincip  etc."  S.  73  ff. 

**)  Dr.  F.  Dittes:  Lehrbuch  der  Psychologie  u.  Logik.  (Gesammtausgabe.) 
Wien  1874.   §  25.  S.  130. 
a*)  Dittes,  ebd.  S.  132. 
«•)  Ebd.  8.  171. 


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—   621  - 

zu  Mannheim  an  Pfingsten  1891  hat  Herr  Kreisschulrath  Dr.  Weygoldt 
in  seinem  Vortrage**)  die  Fragen  gestellt:  „Auf  welche  Ethik  soll 
sich  denn  die  Pädagogik  stützen?  Auf  welche  von  den  verschiedenen 
Ethiken?  Auf  die  philosophische  oder  theologische?"  M.  H.  Diese 
Fragen  sind  für  uns  —  keine  Fragen!  Als  christliche  Lehrer  und 
Erzieher  halten  wir  es  mit  der  Ansicht,  welche  Dr.  Dittes  am  Schlüsse 
seiner  gründlichen  Kritik  der  Ethik  Herbarts  ausspricht,  indem  er 
sagt"):  „Als  Leitstern  des  Lebens  und  als  Richtschnur  der  Pädagogik 
kann  sie  (die  Ethik  Herbarts)  nach  meiner  Überzeugung  nicht  dienen. 
Wo  man  nach  solcher  Leuchte  oder  Regel  ausblickt,  da  wende  man 
sich  an  die  Sittenlehre  dessen,  von  dem  gesagt  ist:  Er  predigte  ge- 
waltig und  nicht  wie  die  Schriftgelehrten. u  Diese  Sittenlehre  Jesu 
ist  es,  welche  unser  Philosoph  auch  als  die  seinige  proclamirt,  weil 
er  in  ihr  die  wahre  „praktische  Philosophie"  erkennt.  —  Die  Ideale, 
welche  die  Sittlichkeit  bedingen,  werden  von  der  „subjectiven  Phan- 
tasie" der  Menschen  hervorgebracht  und  von  der  Vernunft  erkannt 
und  geläutert27).  In  ihrer  ganzen  Größe,  Deutlichkeit  und  Reinheit 
sind  uns  die  (sittlichen)  Ideale  aufgezeigt,  „geoffenbart"  in  der  Lehre 
Jesu.  Das  Leben  des  Herrn  mit  seiner  Gottinnigkeit  ist  die  voll- 
kommenste Realisirung  des  Sittlich-Idealen  („in  ihm  wohnte  die  Fülle 
der  Gottheit  leibhaftig")  und  daher  ein  „höchstes,  ewig  wahres  Vor- 
bild".48) Das  Wichtigste  für  die  christliche  Gemeinde  ist  es  und 
bleibt  es  darum,  dass  Jesu  Lehre  treu  verkündet  und  „die  Belebung 
seines  Geistes  durch  klare  Darstellung  seines  religiösen  und  ethischen 
Wirkens  und  Lebens" w)  angestrebt  werde.  Den  Mittelpunkt  seiner 
Lehre  bilden  die  Gebote  der  Gottes-  und  der  Nächstenliebe,  welche 
als  der  eigentliche  Kern  des  Christenthums  Christi  anzusehen  sind.80) 
„Das  Christenthum  Christi!"  Dies  ist  eine  Bezeichnung,  welche  sich 
oft  in  den  Werken  Frohschammers  vorfindet;  er  ist  auch  —  wenn  ich 
recht  unterrichtet  bin  —  nächst  Lessing  derjenige  deutsche  Denker, 


»)  „Die  Pädagogik  als  Kunstlehre."  Allgem.  Deutsche  Lehrerzeitung.  (Leipzig, 
Klinkhardt  1891,  Nr.  22,  S.  216.  —  Vgl.  dazu :  „  Pädagogium"  XIV,  S.  111.  (Nov.  1891) 
u.  „Psed.u  VII,  S.  1  ff.    „Über  Pädagogik  als  Wissenschaft"! 

")  „Pädagogium"  VH,  S.  601.  (Juniheft  1885.) 

97)  Frohschammer:  „Über  die  Organisation  und  Cultur",  S.  283.  —  „Über  die 
Genesis  der  Menschheit  und  deTen  geistige  Entwickelung  in  Religion,  Sittlichkeit 
u.  Sprache."  (Münch.  1883),  HI.  Theil.  —  „Phantasie  als  Grundprincip  etc."  S.  147—167. 

w)  Frohschammer:  „Das  neue  Wissen  und  der  neue  Glaube."  (Leipzig  1873, 
Brockhaus.)  S.  188. 

»)  Ebd.  S.  186. 

•°)  S.  „Pädagogium"  XIII,  S.  559,  560. 


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—   622  — 

welcher  diesen  Begriff  ganz  besonders  präcisirt  und  in  der  philoso- 
phischen Literatur  zur  Geltung  gebracht  hat.  Hat  er  doch  eigens 
eine  Schrift,  die  zwar  noch  polemischer  Art  ist,  unter  diesem  Titel 
geschrieben81)  und  einem  Theile  eines  andern  Werkes89)  diese 
Überschrift  gegeben:  „Das  Christenthum  Christi"!  Des  Philosophen 
Urtheil  über  diesen  Punkt  geht  dahin:  „Das  Christenthum  Christi 
scheint  uns  die  wahre  Wiederbelebung  und  Erneuerung  des  religiösen 
Glaubens  zu  gewähren,  und  es  wieder  in  dem  Bewusstsein,  in  dem 
Glauben  des  Volkes  herzustellen,  eine  der  großen  Aufgaben  der  Zeit 
zu  sein,  ebenso  wichtig  für  das  religiöse  Leben,  wie  für  Staat,  Wissen- 
schaft und  sociale  Ordnung".88)  Das  „Christenthum  Christi"  ist  die 
wahre  Ethik,  welche  ebenso  wissenschaftlich  wie  volksthümlich  ist.84) 
In  dieser  Ethik  haben  wir  auch  die  wahre  wissenschaftliche  Grund- 
lage der  Pädagogik  —  neben  der  psychologischen  —  zu  erblicken; 
wir  brauchen  nach  keinem  andern  ethischen  Fundamente  der  Erziehungs- 
Kunst  und  -Lehre  zu  suchen  und  dürfen  sagen:  Einen  andern  Grund 
kann  hier  niemand  legen  außer  dem,  der  gelegt  ist  durch  Christum 
Jesum! 

Die  Sittlichkeit,  sagt  Fr.,  ist  bei  der  Erziehung  als  Aufgabe  des 
Menschendaseins  geltend  zu  machen.86)  Wenn  nun  die  Menschen 
die  Gebote  der  Sittlichkeit,  die  Jesus  gegeben,  thatsächlich 
erfüllen  werden,  dann  werden  sie  auch  zur  Glückseligkeit  gelangen, 
sowol  die  einzelnen  als  die  Gesammtheit  Als  höchstes  Princip  der 
Erziehung  glaubte  unser  Denker  daher  die  Glückseligkeit  hinstellen 
zu  sollen,  allerdings  „so,  dass  darin  alle  anderen  Ziele  und  Principien 
der  Erziehung  eingeschlossen  erscheinen  als  Mittel  oder  Nebenzwecke".88) 
Das  Streben,  die  Idee  der  Divini  tat  oder  wenigstens  die  der  Huma- 
nität zu  verwirklichen;  die  Entfaltung  aller  Anlagen  und  Kräfte 
des  Menschen  u.  s.  f.  —  alles  soll  dazu  dienen,  „die  Glückselig- 
keit oder  wahre  irdische  Beglückung"8*)  zu  fördern.  Das  Wort 
„Glückseligkeit"  will  „allerdings  richtig  verstanden,  in  höherem,  idea- 
lem Sinne"  aufgefasst  sein,  wie  Fr.  selbst  hervorhebt,86)   Ein  rich- 

M)  „Das  Christenthum  Christi  etc."   Elberfeld  1876,  Ed.  Lolls  Verlag. 

Sl)  „Wissen  und  Glaube."  Leipzig  1873,  F.  A.  Brockhaus.  IV.  Tbeil. 
»•)  Ebd.  S.  201. 
«)  Ebd.  S.  187. 

,ö)  „Über  die  Organisation  und  Cultur  etc."  S.  366.  —  Vergl.  hierzu:  „Das 
Christenthum  Christi  und  die  Religion  der  Liebe."  Ein  Votum  etc.  von  Th.  Schultz«, 
Oberpräsidialrath  a.  D.  Leipzig  1891,  Wilh.  Friedrich.  —  S.  ferner:  „Pied."  XIV, 
S.  12  fg.  (Oct.  1891):  Von  Frohsehammer  ausführlich  begründete  Gedanken  und 
Ansichten!" 

»)  „Organisation  und  Cultur  etc."  S.  373. 


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—    623  — 

tiges  Verständnis  dieses  Begriffes  finden  wir  ja  bekanntlich  nicht 
einmal  bei  Schopenhauer.  Zur  Gewinnung  dieses  richtigen  Verständ- 
nisses wird  jedem  des  Philosophen  eigene  Darstellung  am  besten 
dienen  können;  deshalb  und  vor  allem  der  hier  gebotenen  Kürze 
wegen  sei  auf  dieselbe  angelegentlichst  hingewiesen!87) 

Aber  nicht  nur  mit  dem  Ziel  der  Erziehung  befassen  sich  die 
Schriften  des  Münchener  Philosophen,  sondern  auch  mit  dem  Ver- 
fahren derselben,  mit  ihrer  Methode.  —  Fr.  hat  es  unternommen, 
zu  zeigen,  „in  welcher  Weise  die  Phantasie  als  Grundprincip  des 
Weltprocesses  sich  auch  auf  dem  praktischen  Gebiete"  bewähre.88) 
Dieser  Versuch  ist  ausgeführt  in  dem  hochinteressanten  Werke  „über 
die  Organisation  und  Cultur  der  menschlichen  Gesellschaft",  welches 
auch  bezeichnet  wird  als  „philosophische  Untersuchungen  über  Recht 
und  Staat,  sociales  Leben  und  Erziehung"  und  in  welchem  „allent- 
halben die  idealen  Momente"  der  menschlichen  Thätigkeit  hervor- 
gehoben werden38).  Dieses  dritte  Hauptwerk  der  Frohscham merschen 
Philosophie  muss  als  eine  große  Bereicherung  der  Literatur  der 
Pädagogik  angesehen  werden,  als  welche  es  freilich  noch  in  sehr  ge- 
ringem Grade  bekannt  geworden  zu  sein  scheint.  Das  dritte  Buch 
der  Schrift  handelt  allein  von  der  Erziehung,  und  zwar  „über 
den  Gegenstand  derselben",  die  menschliche  Natur  in  leiblicher  und 
geistiger  Beziehung,  sowie  „über  das  Princip  der  Erziehung".  Es  er- 
örtert also  im  Umriss  die  anthropologischen  und  ethischen  Grundlagen 
der  Pädagogik  und  gibt  somit  eine  „pädagogische  Fundamental- 
lehre" (a).  Auf  diese  folgt  sodann  die  Methodenlehre,  die  eigent- 
liche Erziehungslehre  (b),  welche  handelt  „von  der  Methode"  und 
„von  den  Organen  der  Erziehung",  sowie  von  der  Schul-  und  Er- 
ziehungsorganisation. Diese  Erziehungslehre  bezweckt,  Winke  zu 
ertheilen  für  eine  „richtige  Einwirkung  der  mündigen  Generation  auf 
die  noch  unmündige,  um  diese  in  allen  Gebieten  des  socialen  Lebens 
und  Berufes  dafür  bereit  und  tüchtig  zu  machen". M)   Und  man  wird 

87)  „Organisation  u.  Cultur  etc."  in.  Buch,  2.  Capitcl,  S.  347—375.  Vcrgl. 
dazu:  „Prcdag."  VIII,  S.  252— 253!  (Januar  1886.)  —  Anin.  In  obiger  Skizze  konnte 
nur  die  Betätigung  der  „subjcctiven  Phantasie"  auf  dem  Gebiete  der  Sittlichkeit 
kurz  angedeutet  werden.  Wie  die  Macht  der  „objectiven  Phantasie"  die  sitt- 
lichen Verhältnisse  der  Menschen  überhaupt  begründete  und  beständig  aufrecht 
erhält,  musste  (leider)  übergangen  werden;  es  ist  ausgeführt  in  des  Philosophen 
Werk  über  „die  Genesis  der  Menschheit  und  deren  geistige  Entwickelung  in  Religion, 
Sittlichkeit  und  Sprache".   (München  1883.) 

M)  „Organisation  und  Cultur  etc."   S.  1. 

»)  Ebd.  S.  4. 


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—    624  — 

gestehen  müssen,  dass  dies  in  überaus  glücklicher  Weise  gelungen 
ist;  Fr.'s  Werk  ist  in  hohem  Grade  belehrend!  Es  wäre  daher  sehr 
interessant,  würde  aber  hier  jedenfalls  zu  weit  führen,  auf  den  In- 
halt dieser  instructiven  Abhandlungen  einzugehen.  Das  wäre  Stoff 
zu  einem  besonderen  Vortrage.  Es  mag  für  heute  genügen,  dieser 
Untersuchungen  Erwähnung  gethan  und  damit  auf  eine  frische  Quelle 
der  Erziehungswissenschaft  hingewiesen  zu  haben40)! 

M.  H.  Wenn  es  heute  sich  herausstellte,  dass  ein  Modephüosoph 
wie  etwa  Schopenhauer,  den  jetzt  sogar  die  Frauen  studiren  wollen41), 
eine  Erziehungslehre  geschrieben  habe,  ich  glaube,  Hunderte  würden 
sie  eifrig  lesen.  Nun  aber  Frohschammer,  welcher  nicht  (wie  jener) 
eine  negative,  sondern  eine  positive  Ethik  vertritt,  eine  Erziehungs- 
lehre geboten  hat,  wird  man  dieselbe  hoffentlich  mehr  und  mehr  nach 
ihrer  Bedeutung  und  Tragweite  zu  würdigen  versuchen.  Hierzu  sollte 
uns  auch  noch  der  Umstand  anspornen,  dass  sich  in  den  Schriften 
dieses  Philosophen  eine  große  Wertschätzung  des  Lehrerstandes  aus- 
spricht, wie  nach  dem  Angedeuteten  schon  vermuthet  werden  kann. 
Fr.  lehrt:  Der  moderne  Staat  soll  nicht  nur  ein  Rechts-,  sondern 
auch  und  hauptsächlich  ein  Culturstaat  sein!  Im  „Culturstaate"  aber 
hat  der  Lehrerstand  eine  hohe  Aufgabe  zu  erfüllen,  und  demnach  darf 
und  soll  er  auch  eine  hohe  (sociale)  Stellung  einnehmen44).  Die 
Hochachtung  vor  dem  Lehrerstande,  die  sich  in  den  Werken  unseres 
Denkers  kundgibt,  ist  sonach  nicht  eine  gelegentliche  Versicherung 
herzlichen  Wolwollens,  sondern  eine  Consequenz  seiner  philo- 
sophischen Lehren.  Und  je  mehr  dieselben  verbreitet  werden, 
desto  mehr  wird  auch  in  unserem  Volke  das  Verständnis  für  die  Auf- 
gaben des  Staates,  des  „Culturstaates"  wachsen,  desto  mehr  dann 
auch  die  Wertschätzung  der  Schule  und  des  Lehrerstandes  zunehmen. 
Wir  dürfen  sonach  in  der  Verbreitung  der  Werke  Frohschammers  ein 
wirksames  Mittel  zur  Hebung  des  Lehrerstandes  erblicken. 

Endlich  ist  hervorzuheben,  dass  das  letztgenannte  Hauptwerk 
des  Philosophen  auch  eine  ausgesprochen  social  päd  alogische 
Tendenz  hat.  Unser  Altmeister  Diesterweg  führt  uns  in  seinem  Weg- 
weiser48) unter  den  empfehlenswerten  Schriften  über  Pädagogik  auch 


40)  Vergl.  hierzu:  „Pädagogium"  VIII,  S.  251  fg.  u.  Jahrg.  XIV,  S.  111  ff. 

41)  S.  „Gartenlaube"  1891,  Nr.  27  (Briefkasten). 

At)  S.  die  Abhandlungen:  „Der  Culturstaat"  („Organisation  u.  Cultur  etc." 
8.  112  ff.)  und:  „Culturstaat  und  Lehrerstand"  („Ptedagogium"  IX,  1:  October- 
hcft  1886,  S.  1  ff.)! 

4S)  5.  Aufl.  Bd.  I,  S.  153. 


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—    625  — 


eine  Reihe  von  „Schriften  über  Social-Pädagogik"  vor.  Er  selbst 
schrieb  vor  55  Jahren  seine  „Beiträge  zur  Lösung  der  Lebensfrage 
der  Civilisation",  deren  erster  betitelt  ist:  „Über  die  Erziehung  der 
unteren  Classen  der  Gesellschaft".4*)  Es  wird  ja  gerade  gegenwär- 
tig, insbesondere  seit  der  Thronbesteigung  Kaiser  Wilhelms  II.,  sehr 
viel  über  die  sociale  Frage  geschrieben:  Wertvolles,  Minderwertiges  und 
Unnützes!  Das  dritte  Hauptwerk  der  Frohschammerschen  Philosophie 
gehört  ohne  Zweifel  zu  dem  Wertvollsten,  was  auf  diesem  Gebiete  existirt. 
Und  es  ist  bereits  1885  erschienen.  Die  materielle  Seite  der  Frage 
muss  bei  einer  philosophischen  Erörterung  selbstverständlich  aus- 
geschlossen bleiben.  Aber  die  ideelle,  die  geistige  Seite  des  Lebens 
der  Menschheit  wird  von  Fr.  allseitig  betrachtet  und  erwogen.  Seine  Auf- 
gabe in  dieser  Hinsicht  deutet  er  mit  den  Worten  an:  Das  sociale 
Leben  „ist  nun  ebenfalls  unter  dem  Gesichtspunkte  unseres  allgemeinen 
Principes  zu  betrachten.  Es  sind  dabei  insbesondere  die  brennenden 
socialen  Fragen  der  Gegenwart  in  Erörterung  zu  ziehen  und  es  ist 
zu  untersuchen,  wie  sich  die  Lösung  derselben  unter  dem  Gesichts« 
punkt  unseres  Principes  und  der  idealen  Lebensauffassung  gestalten 
möchte,  was  also  die  Philosophie  in  unserer  Auffassung  beitragen 
könne  zur  Lösung  des  schwierigen  Problems."4*)  Bei  dieser  Betrach- 
tung zeigt  es  sich,  welche  Macht  im  Gesellschaftsleben  die  „subjective 
Phantasie''  ist.  Als  eine  solche  erkennt  man  sie  ja  auch  an,  wenn 
man  z.  B.  von  der  „erhitzten  Phantasie  der  Massen4'  spricht.  —  Es 
ist,  m.  H.,  wiederum  nicht  möglich,  den  reichen  Inhalt  der  Froh- 
schammerschen Untersuchungen  jetzt  näher  zu  beleuchten.  Das  wäre 
Stoff  für  den  Vortrag  eines  Socialpolitikers.  Ich  muss  mich  darauf 
beschränken,  die  Uberschriften  der  hierhergehörigen  Abhandlungen 
anzuführen:  Der  „geschichtliche  Entwicklungsgang"  der  Gesell- 
schaft und  ihr  gegenwärtiger  „Zustand",  „Socialismus  und  Commu- 
nismus",  „Staats-Socialismus",  „die  Religion  als  sociales  Gut",  „ideale 
Güter  für  das  sociale  Leben",  „Illusionen  und  Ideale",  „der  Pessimis- 
mus und  die  sociale  Frage."46)  In  der  letztgenannten  Abhandlung 
ist  nachgewiesen,  wie  gerade  der  Pessimismus  die  Lösung  der  socialen 
Fragen  ungemein  erschwere  und  wie  derselbe  durch  eine  ideale  Lebens- 
auffassung ersetzt  werden  müsse,  wenn  die  Entwickelung  des  moder- 
nen Staats-  und  Gesellschaftslebens  zu  einem  glücklichen  Abschlüsse 
gelangen  soll.   Diese  von  unserm  Philosophen  vor  Jahren  dargelegten 

")  Essen  1836,  bei  G.  D.  Bädekcr. 

**)  „Über  die  Organisation  und  Cultur  etc.44   S.  2—3. 

")  Vergl.  „Pariagogium"  VEQ,  S.  251-253!  (Januarheft  1886.) 


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Ansichten  scheinen  mehr  nnd  mehr  auch  die  Überzeugung  hervor- 
ragender Staatsmänner  zu  werden.47)  Und  man  darf  vielleicht  mit 
Recht  behaupten,  dass  gerade  das  3.  Hauptwerk  der  Frischen 
Philosophie  die  größte  Beachtung  verdient  sowol  von  Seiten  der 
Socialpolitiker  und  Staatsmänner,  wie  von  Seiten  der  Rechtsgelehrten 
und  der  Lehrer  in  Kirche  und  Schule.  Man  wird  nach  der  Leetüre 
dieses  Werkes  und  nach  Kenntnisnahme  von  den  Schriften,  die  uns 
Diesterwegs  Wegweiser  nennt48),  kaum  noch  der  Meinung  Lindners 
sein  können,  welcher  in  seinem  „Handbuche  der  Erziehungskunde" 
(1884,  S.  228)  das  Gebiet  der  Socialpädagogik  als  unausgebaut  be- 
zeichnete. —  Vor  kurzer  Zeit  feierten  wir  den  100jährigen  Geburts- 
tag Th.  Körners,  der  das  Wort  gesprochen:  „Es  ist  so  schön,  die 
Menschen  zu  beglücken!"  Dieses  Wort  können  wir  als  Motto  der 
Frohschammerschen  Philosophie  betrachten.  Nur  diesem  Zwecke  will 
diese  neue  Schöpfung  deutschen  Geistes  dienen. 

M.  H.  Durch  eine  Reihe  kurzer  Bemerkungen  über  die  Froh- 
8chammersche  Philosophie  und  ihre  Beziehungen  zur  Pädagogik  habe 
ich  die  Wichtigkeit  derselben  andeuten  wollen,  aber  auch  nur  andeuten 
können.  Wichtig  und  wertvoll  ist  in  der  That  diese  Geistesschöpfung.**) 
Hoffentlich  wird  sie  einmal  für  das  Geistesleben  unseres  Volkes  frucht- 
bar und  förderlich  werden,  wie  es  einst  die  Kantsche  Philosophie  ge- 
worden ist,  deren  Hauptwerk  —  wie  nach  ihm  auch  dasjenige  Froh- 
schammers  —  erst  im  57.  Lebensjahre  seines  Verfassers  erschien. 
Die  Anzeichen  für  die  Berechtigung  einer  solchen  Hoffnung  mehren 
sich.*0) 

Anderseits  freilich  muss  es  fast  Verwunderung  erregen,  dass  dieses 
Orginalsystem  nicht  schon  mehr  Beachtung  und  Anklang  gefunden 


47)  „Es  lässt  sich  nicht  wegleugnen,  es  geht  durch  das  Land  ein  Pessimismus, 
der  mir  im  höchsten  Grade  bedenklich  ist.  Solange  deutsche  Philosophen  allein 
sich  damit  beschäftigten,  mochte  es  ja  eine  für  manche  anziehende  Beschäftigung 
sein.  Wenn  aber  diese  geistige  Richtung  auf  weite  Kreise  übergeht,  die  auf  Handel 
und  Arbeiten  angewiesen  sind,  dann  wird  dieselbe  gefährlich;  denn  ich  wüsstc 
nicht,  warum,  wenn  doch  alles  eitel  ist  nnd  bei  nichts  etwas  herauskommt,  man  sich 
überhaupt  dann  noch  quälen  soll."  Reichskanzler  von  Caprivi  am  27.  Nov.  1891  im 
deutschen  Reichstage. 

**)  5.  Aufl.  Bd.  I,  S.  153  fg. 

49)  „Deutsche  Denker  und  ihre  Geistesschöpfungen."  Heft  2—3:  J.  Froh- 
schammer.  (Berlin  1888,  Vertag  des  lit.  Deutschland.)  Herausgeg.  v.  Ad.  Hinrichsen. 

*°)  S.  „Allgemeine  Deutsche  Lehrerzeitung"  (Leipzig,  Klinkhardt),  1887, 
Nr.  27,  S.  260-261;  1889,  Nr.  37-38,  S.366,  375;  1891,  Nr.  19.  „Sächs.  Schulztg." 
1891,  Nr.  5. 


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—  627 


hat,  als  es  thatsachlich  der  Fall  ist.  Aber  die  Erscheinung,  dass  neue 
Gedanken  und  Ideen  Widerstand  finden,  ja  schroff  und  selbst  ohne 
Prüfung  abgewiesen  werden,  ist  bekanntlich  nicht  selten.  Je  neuer 
und  fremdartiger  sie  den  herrschenden  Vorstellungen  gegenüber  stehen, 
desto  mehr  haben  sie  solches  Schicksal  zu  erwarten.  Weder  ihre 
Wahrheit,  noch  ihre  Heilsamkeit,  noch  auch  der  strengste  Beweis 
vermag  sie  dagegen  zu  schützen,  während  umgekehrt  halb  Wahres 
oder  absolut  Falsches  und  Verderbliches  gläubige  Anerkennung  findet. 
Wir  stehen  in  einem  leider  allzu  bewegten  Zeitalter;  auf  dem  Bücher- 
märkte, wo  alljährlich  eine  große  Überschwemmung  eintritt,  bleibt  oft 
das  Beste  unbeachtet!  Angesichts  der  kühlen  Aufrahme  der  Froh- 
scham merschen  Philosophie  und  im  Gegensatze  zu  der  Berühmtheit 
mancher  anderen,  recht  oberflächlichen  Geistesproducte  ist  es  schwer, 
den  Gedanken  zu  unterdrücken,  den  der  große  Humorist  Lichtenberg 
ausgesprochen  hat:  „Wir  leben  in  einer  Welt,  in  welcher  zwar  ein 
Narr  viele  Narren,  aber  ein  weiser  Mann  nur  wenige  Weise  macht".51) 
Dennoch  dürfen  wir  überzeugt  sein,  dass  treue  Arbeit  im  Dienste  des 
Fortschrittes  der  Menschheit  nie  ganz  verloren  ist;  und  so  schließe 
ich  mit  dem  Urtheile,  welches  bereits  vor  Jahren  Dittes  aussprach *") 
und  welchem  ich  zustimme:  „Unbedingt  ist  Referent  davon  überzeugt, 
dass  in  dem  Werke  Frohschammers  eine  in  hohem  Maße  beachtens- 
werte Leistung  echter  Wissenschaft  und  genialer  Schöpferkraft  vor- 
liegt, und  dass,  falls  der  deutschen  Nation  noch  ein  neuer  Aufschwung 
des  Geisteslebens  beschieden  ist,  das  System  Frohschammers  eine 
segensreiche  und  ruhmvolle  Zukunft  hat." 

Leitsätze. 

I.  Allgemeine  and  besondere  Gründe  sprechen  dafür,  dass  der  Lehrer  auch 
der  Philosophie  ernste  Aufmerksamkeit  zu  widmen  habe. 

n.  Eine  besondere  Beachtung  verdient  die  Philosophie  Frohschammers, 
weil  sie  als  „Idealwissenschaft"  für  das  Geistesleben  überhaupt  und  für  die 
Pädagogik  im  besonderen  von  großer  Bedeutung  erscheint.  („Die  Philosophie  als 
Idealwissenschaft  und  System."   München  1884.) 

III.  Das  System  Frohschammers  stellt  ,,die  Phantasie  als  Grundprincip  des 
Weltprocessea"  auf,  welche  als  „objective  Phantasie"  in  der  Natur,  als  „sub- 
jective  Phantasie"  im  Leben  des  Menschen  und  der  Menschheit  wirksam  ist. 
(„Die  Phantasie  als  Grundprincip  des  Weltprocesses."  „Über  die  Genesis  der  Mensch- 
heit und  deren  geistigo  Entwickclung  in  Religion,  Sittlichkeit  und  Sprache".  „Über 
die  Organisation  und  Cultur  (Cultivirung)  der  menschlichen  Gesellschaft."  München 
1877,  1883,  1885.) 

rV*.  Die  Frohschammersche  Philosophie  ist  für  die  Pädagogik  von  Wichtig- 

•»)  Lichtenbergs  vermischte  Schriften.   Göttiugcn  1801,  Bd.  U,  S.  444. 
")  „Pädagogium"  MI,  S.  74.   (Octoberheft  1884.) 


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—    628  - 


keit  durch  ihre  Psychologie  und  Logik,  durch  ihre  Ethik  und  ihre  der  Elemen- 
tar* und  Social-Pädagogik  gewidmeten  Untersuchungen. 

A.  Psychologie,  Gegenüber  den  verschiedenen  Ansichten  über  das  Wesen  der 
Seele  („Mechanismus",  tabula  rasa  etc.)  betrachtet  die  Frohschainmersche  Philosophie 
die  Menschcnseclo  als  den  „psychischen  Organismus",  wie  man  den  Leib  als 
den  physischen  Organismus  hinstellt.  Diese  Auffassung  des  Geistes,  welche  —  wie 
FTohschammer  sagt  —  „die  Möglichkeit  gibt,  die  Einheit  dos  Geistes  und  die 
Vielheit  der  geistigen  Vermögen  zugleich  zu  behaupten  und  zu  erklären",  muss 
zu  andern  pädagogischen  Maßnahmen  (Consequenzen)  führen  als  die  Annahme  eines 
„psychischen  Mechanismus".  („Die  Phantasie  als  Grundprincip'4,  HL  Buch.  „Der 
psychische  Organismus."   Ptedagogium,» Aprilheft  1886.) 

B.  Logik.  Alles  Erkennen  und  Denken  sind  psychische  Functionen,  bei 
welchen  stets  die  „subjective  Phantasie  das  mitwirkende,  ermöglichende  Moment 
bildet".  —  Die  Erziehung  hat  die  Phantasie  in  rechter  Weise  zu  leiten;  Pädagogik 
Fröbels.  („Phantasie  als  Grundprincip",  I.  Buch,  3.  Capitel.  —  „Organisation  und 
Cultur",  III.  Buch,  3.  Capitel.) 

C.  Ethik.  Die  „objective  Phantasie"  ist  die  Begründerin  der  sittlichen 
Gemeinschaften;  die  „subjective  Phantasie"  die  Bildnerin  der  menschlichen 
Ideale,  welche  wesentlich  die  Sittlichkeit  bedingen,  die  ihre  höchste  Entwicke- 
Iungsstufe  im  Christenthume,  wie  es  Christus  gelehrt,  erreicht  hat.  —  Mit  dem 
„Christenthumc  Christi"  ist  zugleich  die  wahre  ethische  Grundlage  aller  Pädagogik 
gegeben.  („Genesis  der  Menschheit  und  deren  geistige  Entwickelnng  in  Religion 
und  Sittlichkeit."  „Das  Christenthum  Christi  etc."  (Elberfeld  1876.)  „Wissen  u.  Glaube." 
(Leipzig  1873,  Brockhaus.  IV.  Buch.) 

D.  Elementar-Piidagogik.  Wie  die  Frohschammersche  Philosophie  durch  ihro 
Psychologie  und  Ethik  eine  pädagogische  Fundamentallehre  darstellt,  so 
enthält  sie  auch  eine  Erziehungslehre,  welche  Andeutungen  geben  will  für  eine 
„richtige  Einwirkung  der  mündigen  Generation  auf  die  noch  unmündige,  um  diese 
in  allen  Gebieten  des  socialen  Lebens  und  Berufes  dafür  bereit  und  tüchtig  zu 
machen".*)  („Über  die  Organisation  und  Cultur  der  menschlichen  Gesellschaft". 
DZ.  Buch.) 

E.  Soclal-Pädairoerik.  Die  Frohschammersche  Philosophie  zeigt  „das  Streben» 
auch  dem  Volke  und  damit  der  Menschheit  Uberhaupt  in  ihrer  lebendigen  Entwicke* 
lung  einen  Dienst  zu  leisten"**);  sie  zieht  daher  in  den  Bereich  ihrer  Unter- 
suchungen auch  das  sociale  Leben  der  Gegenwart,  welches  durch  einen  krank- 
haften Pessimismus  und  durch  den  Umstand  sehr  geschädigt  wird,  dass  vielfach 
als  Ideal  gilt,  was  nur  Illusion  ist.  Es  müssen  (abgesehen  von  Anwendung 
materieller  Mittel)  die  „idealen  Güter  für  das  sociale  Leben"  eine  erhöhte  Wert- 
schätzung und  bedeutung  erlangen.  Dass  dies  geschehe,  dazu  kann  die  Froh- 
schammereche  Philosophie  in  hohem  Maße  beitragen.  („Über  die  Organisation  und 
Cultur  d.  m.  Gesellschaft."   IL  Buch.) 

♦j  nOrg*m«rtion  und  Cultur.-   S.  4. 

»Über  die  religiösen  Fragen  der  Gegenwart."   Elberfeld  1875.   8.  VI. 


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Ans  der  Geschichte  der  Taubst  ammenbildung. 


Von  Dr.  H.  Morf-Wintcrthur. 

(Schluss.) 
V. 


Staatliche  Fürsorge  für  die  Bildung  der  Taubstummen. 


J-Jine  genaue  Statistik  über  die  Zahl  der  Taubstummen  in  den 
verschiedenen  Ländern  scheint  nicht  zu  bestehen.  Man  nimmt  an, 
dass  auf  je  1500  Menschen  ein  Taubstummer  komme.  Für  die  Volks- 
zählung scheint  eine  besondere  Rubrik  für  dieselben  nicht  vorgesehen 
worden  zu  sein.  Unsers  Wissens  hat  in  der  Schweiz  nur  der  Kanton 
Graubünden  Erhebungen  gemacht.  Herr  Pfarrer  Grubenmann 
theilt  mit,  dass  dieselben  49  Taubstumme  im  schulpflichtigen 
Alter  —  also  nur  bis  zum  16.  Jahr  —  bei  einer  Einwohnerzahl  von 
96,291  ergeben  haben.  Die  Gesammtzahl  der  Taubstummen  betrüge 
nach  dem  oben  angenommenen  Procentsatz  circa  64;  es  müssten  so- 
mit 15  mehr  als  16  Jahre  zählen.  Von  den  49  Schulpflichtigen  sei 
ungefähr  die  Hälfte  bildungsunföhig,  von  den  bildungsfähigen  seien  17 
in  verschiedenen  Anstalten  untergebracht. 

Auch  im  Großherzogthum  Hessen  wurde  1887  eine  Statistik  „der 
im  schulpflichtigen  Alter  stehenden  bildungsfähigen  Taubstummen" 
aufgenommen.  Nach  derselben  gab  es  deren  126,  wovon  99  in  Anstalten 
untergebracht  seien.*)  Die  Zahl  der  bildungsunfähigen  in  diesem  Alter 
und  derjenigen,  die  über  16  Jahre  zählen,  ist  nicht  angegeben. 

Es  gibt  bereits  Staaten,  in  denen  der  Schulzwang  für  die 
Taubstummen  gesetzlich  eingeführt  ist  und  ebenso  streng  gehand- 
habt wird,  wie  gegenüber  den  Vollsinnigen;  nur  werden  die  Taub- 
stummen nicht  in  die  gewöhnlichen  Schulen  eingewiesen,  sondern  sie 
sind  der  für  sie  ausschließlich  bestimmten  Bildnngsschule  zuzuführen, 
wo  sie  durchschnittlich  8  Jahre  zu  bleiben  haben.**) 

Voran  ging  König  Christian  IV.  von  Dänemark.  Am 
8.  November  1805  verordnete  er,  dass  sämmtliche  unvermögende 

*)  Vcrjf).  Reuseliert.  Kalender  für  Taubstumineulohror  pro  18511,  S.  236. 
••)  Siehe  a.  a.  0.,  Seite  221  ff. 

Pn-da^mm.    14.  Jahr*.    Heft  X.  44 


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—    630  — 


Taubstumme  unter  15  Jahren  in  den  Herzogtümern  Schleswig  und 
Holstein  der  Taubstummenanstalt  in  Kiel  zu  übergeben  seien.  „Die 
Absendung  in  das  Institut  und  die  Ausrüstung  mit  den  nöthigen 
Kleidern  hat  auf  Kosten  der  Gemeinde  zu  geschehen;  der  Unterhalt 
in  der  Anstalt  fällt  zu  Lasten  des  Staates.  Für  das  Fort- 
kommen der  Taubstummen  nach  vollendeter  Bildungszeit  sorgt  der 
Staat  noch  in  besonderer  Weise." 

Durch  Circularverordnung  vom  21.  Mai  1807  wird  dieses  Obli- 
gatorium auch  auf  die  Taubstummen  ausgedehnt,  deren  Eltern  nicht 
ganz  vermögenslos  sind,  sondern  einen  Theil  der  Kosten  zu  tragen 
vermögen.    „Das  Fehlende  ist  vom  ganzen  Lande  zu  tragen." 

Durch  königliches  Patent  vom  30.  Jänner  1813  werden  auch  die 
vermögenden  Eltern  und  Angehörigen  von  Taubstummen 
unter  das  nämliche  Oesetz  gestellt  und  verpflichtet,  ihre  betreffenden 
Kinder  und  Verwandten  der  Taubstummenanstalt  zuzuführen.  Wieder- 
holt werden  „Obrigkeiten  und  Prediger"  der  beiden  Herzogthümer 
alles  Ernstes  aufgefordert,  die  schulpflichtigen  Taubstummen  gehörigen 
Orts  anzumelden;  den  Predigern  wird  insbesondere  eine  Buße  von 
5  Thalern  für  jede  daherige  Versäumnis  angedroht. 

Dem  schönen  Vorbild  folgte,  wenn  auch  erst  fast  70  Jahre  später, 
das  Großherzogthum  Sachsen-Weimar-Eisenach.  Das  betreffende 
Gesetz  vom  28.  Mai  1874  verordnet: 

„Der  Regel  nach  soll  jedes  taubstumme  (und  blinde)  Kind  der 
Taubstummenanstalt  übergeben  werden,  insoweit  nicht  a)  der  geistige 
oder  körperliche  Zustand  des  Kindes  dasselbe  als  für  die  Anstalt 
ungeeignet  erscheinen  lässt  oder  b)  nachweislich  für  die  besondere 
Erziehung  und  Ausbildung,  deren  das  Kind  wegen  seines  Sinnesmangels 
bedarf,  anderweit  genügend  gesorgt  ist." 

„Der  Aufenthalt  der  Kinder  in  der  Anstalt  dauert  in  der  Regel 
8  Jahre." 

„Wird  ein  taubstummes  Kind  von  seinen  Eltern  oder  Erziehern 
ohne  genügenden  Grund  der  Anstalt  vorenthalten,  so  sind  dieselben 
mit  Geldstrafe  bis  zu  150  Reichsmark  oder  mit  Haftstrafe  zu  belegen." 

Die  Kosten  für  die  Zuführung  in  die  Anstalt,  für  die  Kleider,  für 
den  Unterhalt  in  der  Anstalt  während  der  8  Jahre  haben  die  Eltern 
oder  sonstige  alimentationspflichtige  Verwandte  zu  tragen. 

Sind  sie  unvermögend,  so  hat  die  Gemeinde  einzutreten.  Würde 
diese  durch  die  ihr  auferlegte  Leistung  überlastet,  so  übernimmt  je 
nach  Umständen  die  Staatscasse  die  Kosten  theilweise  oder  ganz. 

Durch  Gesetz  vom  18.  Jänner  1876  wird  der  Schulzwang  für 


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631  — 


die  taubstummen  Kinder  nach  denselben  Bestimmungen  auch  im 
Herzogthum  Sachsen- Coburg -Gotha  eingeführt  und  mit  dem 
1.  April  1884  folgte  das  Herzogthum  Anhalt- Dessau. 

Das  Schulgesetz  des  Königreichs  Sachsen  vom  April  1873 
enthält  Paragraphen,  die  dem  Schulzwang  der  Taubstummen  ent- 
sprechen, aber  consequent  durchgeführt  wie  in  den  obengenannten 
Staaten  ist  es  bislang  nicht. 

In  der  großherzoglich-hessischen  zweiten  Kammer  stellte 
der  Abgeordnete  Vogt  den  Antrag  rauf  Einführung  eines  obli- 
gatorischen Besuches  der  Taubstummenanstalten  durch  alle 
taubstummen  Kinder  des  Landes  und  einer  8jährigen  Schul- 
zeit". Mit  16  gegen  13  Stimmen  wurde  dieser  Antrag  für  einstweilen 
abgelehnt. 

Auch  im  preußischen  Abgeordnetenhause  wurde  die  Frage 
der  Taubstummenbildung  wiederholt  discutirt.  Das  letzte  Mal  in  der 
Sitzung  vom  1.  December  1877.  Miquel,  nunmehr  preußischer 
Minister,  damals  Oberbürgermeister  in  Osnabrück,  trat  für  Einführung 
des  Schulzwanges  für  die  Taubstummen  ein.  Sein  treffliches  Votum 
in  der  Sache  ist  wahrhaft  ergreifend. 

In  der  Discussion  wurden  von  dem  Abgeordneten  Rickert  so 
viele  Schwierigkeiten  hervorgehoben,  die  einer  solchen  Maßregel  entgegen- 
ständen, dass  Miquel,  bei  der  Aussichtslosigkeit,  zu  einem  bestimmten 
Resultat  zu  gelangen,  seine  Erwiderung  also  schloss: 

„Mir  genügt  es,  wenn  nur  die  allgemeine  Überzeugung  sich  bildet, 
dass  man  unbedingt  das  Ziel  anstreben  muss  und  dass  man  sicli 
auch  dazu  nicht  scheuen  darf,  erhebliche  Mittel  aufzuwenden,  um 
gerade  hier  anzusetzen  und  alle  taubstummen  Kinder  zu  wirklich 
menschlichen  Wesen  zu  machen!"*) 

Damit  waren  die  Verhandlungen  geschlossen.  Mit  dem  Rücktritt 
des  Ministers  von  Gossler  ist  auch  das  von  Miquel  erhoffte  Schul- 
gesetz vertagt  worden;  somit  wird  der  Schulzwang  für  Taubstumme 
in  Preußen  noch  auf  sich  warten  lassen. 

In  allen  übrigen  deutschen  Ländern  ist  eine  solche  staatliche  Für- 
sorge auch  noch  der  Zukunft  vorbehalten. 

Der  um  das  bayerische  und  das  deutsche  Schulwesen  überhaupt 
hochverdiente  Graser  kam  auf  deu  Gedanken,  den  Taubstummen- 
unterricht zu  verallgemeinern  dadurch,  dass  die  Zöglinge  der  Lehrer- 
bildungsanstalten in  diese  Kunst  eingeweiht  werden  und  so  in  jedem 

♦)  S.  Reuschert,  Kalender  f.  Taubstummenlcurer  pro  1891,  S.  23S  ff. 

44* 

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—    632  — 


Dorf  solchen  Unglücklichen  Hülfe  gebracht  werden  könne.  Die 
Regierung  unterstützte  diesen  Vorschlag  und  beauftragte  Graser, 
eine  Anleitung  zu  diesem  Zweck  zu  verfassen  und  der  Behörde  zur 
Prüfung  vorzulegen.  Diese  fand  die  Arbeit  trefflich  und  ordnete  deren 
Veröffentlichung  an.  Sie  erschien  1829  und  führte  den  Titel:  „Der 
dnrchGesicht  uudTonsprache  derMenschheit  wiedergegebene 
Taubstumme."  Welche  große  Hoffnungen  Graser  auf  seina  ein- 
gehende Anleitung  setzte,  sagte  er  im  Vorwort  selber: 

„Indem  sie  nun  ans  Licht  tritt,  wird  die  Beschränkung  des  Unter- 
richts durch  ausschließende  eigne  Taubstummeninstitute  auf- 
hören, das  Vorurtheil  von  einem  ganz  besonderen  Kunstunterricht 
schwinden,  und  somit  der  auf  wenige  Unglückliche  beschränkte  Taub- 
stummenunterricht nicht  mehr  statt  haben." 

„Bald  wird  jeder  Schuldienstpräparand  aus  seinem  Seminar  auch 
als  Taubstummenlehrer  heraustreten,  und  kein  Vater  und  keine  Gemeinde 
mehr  nöthig  haben,  ihre  unglücklichen  Kinder  in  entfernte  Anstalten 
zum  Unterricht  zu  senden,  sondern  sie  werden  sie  unter  ihren  Augen 
und  zu  ihrer  Freude,  gleich  den  hörenden  Schülern,  heranbilden  sehen.  — " 

„Aber,  was  noch  das  Wichtigste  ist,  die  Eltern  solcher  Unglücklichen 
werden  in  der  Zukunft,  mit  dem  Taubstummenunterricht  in  der  Schule 
bekannt,  ihr  taubstummes  Kind  schon  vor  dem  Eintritte  in  die  Schule 
im  Sprechensehen  und  Sprechen  unterrichten  können." 

Aber  diese  Hoffnungen  erfüllten  sich  nicht.  Der  Versuch,  den 
Taubstummenunterricht  im  Sinne  Grasers  zu  verallgemeinern, 
brachte  keine  nennenswerten  Resultate.  Die  Sache  war  zu  schwierig. 

Und  bei  uns  in  der  Schweiz?  Unsers  Wissens  ist  noch  in  keiner 
gesetzgebenden  Versammlung,  weder  in  einer  cantonalen,  noch  in  der 
eidgenössischen,  die  Taubstummenbildung  in  grundsätzliche  Ver- 
handlung genommen  worden. 

VI. 

Zur  Geschichte  der  Taubstummenbildung  in  der  Schweiz. 

Der  erste  Taubstuinmenlehrer  in  der  Schweiz  war  Pfarrer 
Heinrich  Keller  (1728—1802)  in  Schlieren  bei  Zürich.  Die  Anregung 
zu  dieser  menschenfreundlichen  Thätigkeit  verdankt  er  offenbar  deFEpee. 
Es  ist  nicht  durchaus  erwiesen,  aber  sein  vertrautes  Freundschafts- 
verhältnis zu  diesem  Manne  lässt  es  als  sehr  wahrscheinlich  erscheinen, 
dass  er  denselben  auf  einer  Reise  in  Paris  aufgesucht  und  ihn  in 
seiner  lehrenden  Wirksamkeit  gesehen  und  bewundert  hat  Die  Pfarrei 
Schlieren,  die  ihm  1759  übertragen  worden,  zählte  nur  500  Seelen.  Die 
Amtsgeschäfte  füllten  also  seine  Zeit  nicht  aus.  Die  Muße  benuzte  er  zu 


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-    633  — 

psychologischen,  philosophischen  und  physiologischen  Studien.  Geleitet 
von  seiner  menschenfreundlichen  Gesinnung  übernahm  er  im  Jahre  1777 
die  Bildung  zweier  taubstummer  Brüder  von  6  und  8  Jahren,  Söhne  einer 
vornehmen  und  reichen  zürcherischen  Familie.  Er  gesellte  ihnen  noch 
einige  andere  taubstumme  Kinder  bei,  und  so  entstand  im  Pfarrhaus 
Schlieren  ein  kleines  Taubstummeninstitut,  das  erste  in  der  Schweiz. 
Uber  die  segensreiche  Wirksamkeit  desselben  gab  Chorherr  Usteri 
—  der  Vater  von  Paul  Usteri  —  im  „Helvetischen  Kalender"  in 
den  Jahrgängen  1780  und  1781  in  zwei  Abschnitten:  „Vom  Unterricht 
gehörloser  Kinder"  einem  weitern  Publikum  ausführliche  Kunde  und 
erweckte  in  gebildeten  Kreisen  für  die  noch  neue  Sache  das  höchste 
Interesse. 

Den  besten  Aufschluss  über  Verfahren  und  Erfolge  gibt  Keller 
selbst  in  seiner  Schrift:  „Versuch  über  die  beste  Lehrart, 
Taubstumme  zu  unterrichten.  Zürich  bei  Orell,  Gessner, 
Füssli  und  Comp.  1786.u 

Er  legt  nun  in  seiner  119  Seiten  zählenden  Schrift  sein  Verfahren 
ausführlich  dar  und  fügt  bescheiden  hinzu: 

„Übrigens  bin  ich  weit  davon  entfernt,  mir  zu  schmeicheln,  dass 
diese  Methode  nach  allen  Theilen  ihre  völlige  Reife  erlangt  habe.  Ich 
Labe  nichts  anderes  als  eigene  Erfahrungen  niedergeschrieben  und  dem 
Publicum  mittheilen  wollen.  Zu  wünschen  wäre  es,  dass  mehrere 
Gelehrte  ihre  Erfahrungen  in  diesem  Fach  der  Welt  bekannt  machen 
wollten;  so  wäre  zu  hoffen,  dass  aus  der  Kunst,  Taubstumme  zu 
unterrichten,  zuletzt  ein  Ganzes  herauskommen  werde." 

Unter  den  Verdiensten  Kellers  ist  das  nicht  das  kleinste,  dass 
er  einen  Taubstummenlehrer  herangebildet  hat:  Johann  Konrad 
Ulrich. 

Ulrich  war  Zögling  des  Waisenhauses  in  Zürich.  Lavater 
erkannte  seine  große  Begabung  und  brachte  ihn  im  Frühjahr  1779  zu 
Pfarrer  Keller  als  Schüler.  Während  seines  dreijährigen  Aufenthaltes 
daselbst  rechtfertigte  er  in  seltenem  Grade  das  auf  ihn  gesetzte  Ver- 
trauen. Seine  Gönner,  vorab  Lavater  und  Keller,  beschlossen,  ihn 
zu  seiner  weitem  Ausbildung  in  dem  „wundersamen  Unterricht"  zu 
de  l'Epee  nach  Paris  zu  schicken.  Mit  Empfehlungsbriefen  von 
Lavater  und  Keller  in  der  Tasche  reiste  er  im  Jahre  1782  dahin 
ab  und  wurde  aufs  freundlichste  von  dem  berühmten  Manne  auf- 
genommen. „J'ai  recu  un  beau  present  de  Mr.  Lavater,  et  de  vous," 
schrieb  de  l'Epee  an  Keller,  „ä  qui  j'en  ferai  mes  remerciments 


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l'ordinaire  prochain.  Assurez-vous,  que  je  donnerai  toute  mon  attention 
au  jeune  homme  qui  m'est  venu  de  sa  part  et  de  la  vötre." 

Nach  einjährigem  Aufenthalte  in  Paris  kehrte  Ulrich  nach  Zürich 
zurück  voll  guten  Willens  und  voll  schöner  Hoffnung,  in  seiner  Vater- 
stadt Handreichung  für  seine  Zwecke  zu  finden.  Durch  Versuche  in 
seiner  Kunst  wollte  er  sich  jedoch  zuerst  ausweisen.  Von  zwei  taub- 
stummen Knaben,  die  ihm  dazu  dienten,  war  der  eine  (in  Zürich) 
„schwachsinnig  bei  fehlerhaftem  Sprachorgan",  musste  also  als  unbild- 
sam aufgegeben  werden;  der  andere  aber  (in  Meilen),  ein  lebhafter, 
fähiger,  lieblicher  Knabe,  machte  rasch  erfreuliche  Fortschritte. 

Nun  glaubten  Freunde  und  Gönner  Ulrichs,  es  sei  an  der  Zeit, 
durch  einen  öffentlichen  Aufruf  „edle  Menschenfreunde  einzuladen,  durch 
milde  Gaben  die  Errichtung  einer  Privatanstalt  zum  Unterricht  taub- 
stummer Personen"  zu  ermöglichen. 

Der  Aufruf  trägt  das  Datum  vom  28.  März  1785  und  ist  unter- 
zeichnet von:  Rathsherr  Usteri,  Dr.  Rahn,  Diacon  Lavater, 
Pfr.  Keller,  Prof.  Breitinger,  Prof.  Hottinger,  Dr.  Hirzel, 
Hauptmann  von  Orell,  Director  Cramer  und  Chorherr  Rahn. 

Der  Aufruf  war  ohne  nennenswerten  Erfolg,  bot  bei  weitem  nicht 
die  Mittel  zur  Errichtung  einer  Anstalt  Bald  darauf  erhielt  Ulrich 
—  1786  —  einen  Ruf  nach  Genf  in  ein  Privathaus  als  Lehrer  eines 
7jährigen  taubstummen  Mädchens.  Er  blieb  9  Jahre  in  diesem  Dienst, 
der  ihm  große  öffentliche  Anerkennung,  ja  Verehrung  brachte.  Was 
ihm  aber  wol  noch  größere  Befriedigung  gewährte,  war  das  außer- 
ordentlich schöne  Resultat  seines  Unterrichts  bei  der  reichbegabten 
Tochter,  die  er  „zum  denkenden,  nützlichen,  sich  selbst  und  andere 
erfreuenden  Wesen  umgeschaffen  hatte."  Ihrem  Lehrer  blieb  sie  lebens- 
lang in  unaussprechlicher  Dankbarkeit  zugethan. 

Von  Genf  kehrte  Ulrich  wieder  nach  Zürich  zurück.  Es  wurden 
neuerdings  Anstrengungen  zur  Gründung  einer  Taubstummenanstalt 
in  seiner  Vaterstadt  gemacht.  Dieselben  schienen  den  besten  Erfolg 
zu  versprechen.  Aber  die  bald  darauf  eintretende  Staatsumwälzung 
zerstörte  diese  Hoffnungen.  Ulrich  wurde  in  den  Staatsdienst  gezogen; 
er  bekleidete  nach  einander  verschiedene  wichtige  Stellen  und  wirkte 
in  allen  bei  seiner  Gewissenhaftigkeit,  seiner  Treue  und  Einsicht  mit 
großem  Segen.  Seine  Amter  füllten  seine  Zeit  fast  ganz  aus,  doch 
verlor  er  sein  Lieblingsfach  nicht  ganz  aus  den  Augen.  Er  ertheilte 
einzelnen  taubstummen  Kindern  Unterricht  und  bemühte  sich  für  Heran- 
bildung von  Lehrkräften  für  diesen  Unterrichtszweig.  Er  starb  1828. 


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—    635  — 

Der  Gedanke  an  die  Pflicht,  den  unglücklichen  Taubstummen  zu 
Hülfe  zu  kommen,  sie  durch  Bildung  aus  ihrem  Elend  zu  erlösen, 
einmal  weit  herum  geweckt,  erlosch  nicht  wieder.  Die  nächste 
Anregung  ging  von  Stapfer  aus,  dem  helvetischen  Minister  der  Künste 
und  Wissenschaften,  der  selbst  durch  die  ärgsten  Sturmzeiten  sich 
nicht  irre  machen  ließ,  Behörden  und  Volk  auf  die  höchsten  Cultur- 
aufgaben  eines  Staates  immer  mit  neuem  Nachdruck  hinzuweisen. 

Von  Luzern  aus  erließ  er  am  26.  April  1799  ein  Kreisschreiben 
an  die  Regierungsstatthalter  der  einzelnen  Cantone. 

Er  beauftragte  diese  Cantonsvorsteher,  durch  die  Ortspfarrer  eine 
genaue  Statistik  aller  Taubstummen  in  ihren  Gemeinden  aufnehmen 
zu  lassen  und  in  zwei  Monaten  einzusenden. 

Nach  dem  beigefügten  Schema  sollen  die  Pfarrherren  Aufschluss 
geben:  über  die  Zahl  der  Taubstummen  in  jeder  Gemeinde,  über  deren 
Geschlecht,  Alter,  körperliche  und  geistige  Beschaffenheit,  über  ihre 
Vermögensverhältnisse,  über  die  Geneigtheit  der  Gemeinde,  für  den 
angegebenen  Zweck  Opfer  zu  bringen,  über  allfällige  Bildungsversuche, 
die  da  oder  dort  angestellt  worden  etc.  etc. 


Die  äußerst  aufgeregten,  kriegerfüllten  Zeiten  waren  nicht  dazu 
angethan,  solchen  Bestrebungen  Vorschub  zu  leisten.  Nur  wenige 
Antworten  gingen  ein.  Es  scheint,  dass  nur  aus  dem  Canton  Bern 
etliche  der  Centraibehörde  zukamen;  doch  finden  sich  dieselben  nach 
einer  gef.  Mittheilung  im  eidgenössischen  Archiv  nicht  mehr  vor. 

In  dem  zürcherischen  Staatsarchiv  liegen  zwei  Berichte,  die  mir  zur 
Einsicht  freundlich  zugestellt  worden  sind.  Sie  lauten  nicht  ermunternd. 

Der  eine  stammt  aus  der  Feder  von  Pfarrer  Denzler  in  Stamm- 
heim. Nach  demselben  zählte  die  Gemeinde  8  Taubstumme:  7  weiblichen 
und  1  männlichen  Geschlechts;  7  über  18  Jahre,  1  8  Jahre  alt. 

Diesen  Angaben  fügt  Denzler  folgende  Bemerkungen  bei: 

„Beineben  lässt  sich  von  keiner  aller  dieser  Personen  einige 
Neigung  oder  wirkliche  Geschicklichkeit  zu  mechanischen  Künsten 
merken.  Ich  weiß  von  keinen  besondern  Versuchen,  die  mit  den  einen 
oder  andern  wären  gemacht  worden,  außer  da  ss  vor  ku  rzerer  oder 
längerer  Zeit  mit  ihnen  medicinirt  worden  ist  und  dass  auch  die  einen 
vor  den  andern  eine  bessere  Auferziehung  genossen.  Ob  aber  bei 
jetzigen  Zeitumständen  die  Gemeinde  für  sie  freiwillig  etwas  thäte, 
bezweifle  ich  sehr,  um  so  viel  mehr,  als  schlechten  Glauben,  Hoffnung, 
Vertrauen  ich  bei  ihnen  und  ihren  Vorstehern  schon  gefunden."  Von 


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—    636  — 

einem  Institut  weiß  Denzler  nichts,  er  hat  „nur  gehört,  dass  Unter- 
statthaiter  Ulrich  seit  mehreren  Jahren  in  diesem  seltsamen  Fach 
arbeitet;  mit  wie  viel  Erfolg  weiß  ich  nicht". 

Pfarrer  Bosshart  in  Trüllikon  berichtet: 

„In  dieser  Gemeinde  sind  zwei  Taubstumme  männlichen  Geschlechts, 
23  und  22  Jahre  alt.  Beide  sind  gesund,  äußern  aber  nicht  die 
geiingsten  Verstandesfähigkeiten.  Hieraus  lässt  sich  leicht  schließen, 
was  für  eine  Beschaffenheit  es  mit  ihrem  sittlichen  Charakter  habe, 
und  dass  sie  zu  keinen  Arbeiten,  besonders  zu  solchen,  die  Verstand 
erfordern,  gebraucht  werden  können.  Holz  tragen,  dann  Vieh  Futter 
geben  und  es  weiden  ist  alles,  was  sie  können.  Und  da  sie  von  Geburt 
an  taubstumm  gewesen,  so  würde  nach  der  Eltern  selbsteigenen  Über- 
zeugung alle  Bemühung,  sie  zu  etwas  anzuhalten,  ganz  fruchtlos  und 
vergeblich  sein.  Und  gesetzt  auch,  dass  etwas  mit  ihnen  erzielt  werden 
könnte,  so  würden  doch  weder  die  Eltern,  deren  häusliche  Umstände 
nicht  die  besten  sind,  noch  auch  die  Gemeinde,  die  dermalen  mit  sich 
selbst  genug  zu  thun  hat,  imstande  sein,  etwas  für  ihre  Erziehung 
zu  bezahlen." 

Diese  beiden  Berichte  mögen  so  ziemlich  der  Stimmung  entsprechen, 
die  auf  der  Landschaft  überhaupt  herrschte.  Es  fehlte  nicht  nur  an 
den  pecuniären  Mitteln,  sondern  auch  am  Verständnis  einer  Sache,  die 
selbst  in  maßgebenden  Kreisen  noch  nicht  die  verdiente  Aufmerk- 
samkeit gefunden  hatte. 

Was  Ulrich  umsonst  angestrebt  hatte:  Gründung  einer  öffent- 
lichen Taubstummenanstalt,  das  erreichte  sein  Schüler  Konrad  Näf. 
Er  hatte  sich  zu  diesem  Zweck  in  dem  damaligen  pädagogischen 
Hauptquartier  der  Schweiz,  in  Yverdon,  niedergelassen. 

Im  Protokoll  der  „Versammlung  der  Schweizerischen  Gesellschaft 
für  Erziehung"  vom  7.  August  1811  lesen  wir: 

„Herr  Präsident  Pestalozzi  machte  die  Gesellschaft  auf  Herrn 
Näf  von  Zürich  aufmerksam,  welcher  mit  außerordentlichem  Geschick 
jetzt  in  Yverdon  seine  Bildung  zum  Taubstummenlehrer  fortsetzt, 
nachdem  er  den  des  Herrn  Präsidenten  Ulrich  in  Zürich  während 
längerer  Zeit  genossen.  Eine  Taubstummenanstalt  sei  mit  Gewissheit 
zu  erwarten,  und  überhaupt  verdiene  der  Unterricht  der  Taubstummen 
darum  die  größte  Aufmerksamkeit,  weil  in  demselben  gleichsam  das 
Vorbild  des  Unterrichts  enthalten  sei;  es  binde  derselbe  an  die 
genaueste  Stufenfolge  und  immer  scheine  klar,  was  von  dem  Gegebenen 
Auch  durch  den  Schüler  begriffen  sei." 

Noch  vor  Jahresschluss  1811  konnte  Näf  mit  Bewilligung  und 


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unter  Vorschub  der  waadtländischen  Regierung  seine  Anstalt  mit 
einigen  Zöglingen  beginnen.  Von  kleinen  Anfängen  erhob  sich  dieselbe 
rasch  zu  schöner  Blüte.  Doch  erst  1828  wurden  Taubstumme  auf 
Staatskosten  in  derselben  untergebracht.  Nach  Näfs  Tode  bedurfte 
die  Anstalt  zu  ihrer  Fortexistenz  die  Staatshilfe.  Es  wurden  ihr 
jährlich  Fr.  5000  gewährt.  1841  ging  sie  ganz  an  den  Staat  über 
und  wurde  nach  Moudon  verlegt. 


Die  Taubstummenanstalt  in  Yverdon  war  die  äußere  Veranlassung 
zur  Gründung  einer  solchen  im  Canton  Bern.  Die  Anregung  dazu 
ging  von  dem  menschenfreundlichen  Spitalverwalter  Otth  aus.  Der 
Kirchenrath,  an  den  die  Sache  geleitet  wurde,  billigte  den  Oedanken 
und  veranlasste  die  Regierung,  bei  einem  Versuche  für  das  erste 
Probejahr  eine  Unterstützung  von  300  Fr.  zuzusichern.  Über  das 
weitere  Vorgehen  gibt  der  erste  Verwaltungsbericht  folgenden  Auf- 
schluss: 

„Man  suchte  nun  einen  Mann  aus,  dem  man  den  Unterricht  an- 
vertrauen konnte.  Auf  die  Empfehlung  von  Wehr  Ii  in  Hofwyl  und 
nach  einigen  abgelegten  Proben  wurde  ein  für  die  Volksbildung  eifrig 
bemühter  Landmann  gewählt:  Johannes  Bürki,  gewesener  Schul- 
meister in  Trienstein,  Kirchgemeinde  Münsingen,  dann  in  Bremgarten 
(bei  Bern).  Man  schickte  ihn  auf  5  Monate  nach  Yverdon  zu  Herrn 
Näf,  der  dort  vor  mehreren  Jahren  eine  rühmlichst  bekannte  Taub- 
stummenanstalt errichtet  hat  und  ihm  die  nothwendige  Anleitung  zur 
Behandlung  dieser  Unglücklichen  ertheilte.  Dann  wurde  eine  Behausung 
gemietet  in  einem  stillen,  abgesonderten  Landsitz:  der  Bächtelen 
bei  Wabern,  eine  halbe  Stunde  von  Bern,  und  im  April  1822  fing  die 
Haushaltung  an  mit  Bürki,  einer  Haushälterin  und  2 — 3  Zöglingen. 
Im  Brachmonat  kam  ein  junger  Mann,  Johann  Stucki  aus  Erlenbach, 
frisch  aus  Herrn  Carl  es  Normalanstalt  für  Schulmeister  in  Boitingen 
zu  uns  und  bot  sich  freiwillig  an,  ohne  Besoldung  da  zu  bleiben,  theils 
als  Lernender,  theils  als  Gehülfe.  Mit  Freuden  namen  wir  ihn  als 
Unterlehrer  auf,  und  der  Erfolg  rechtfertigte  unser  Zutrauen! 

Man  legte  sich  die  Frage  vor,  ob  man  als  Hauptmittel  beim 
Unterricht  die  künstliche  Zeichensprache  (nach  de  l'Epee),  „wie 
es  sonst  tiberall  geschieht",  oder  die  Tonsprache  oder  die  Schrift- 
sprache wählen  solle.  Auf  Ausbildung  der  künstlichen  Zeichensprache 
wurde  verzichtet,  die  Tonsprache  für  später  in  Aussicht  genommen  — 
immerhin  mit  der  Hoffnung,  dass  bald  das  Ablesen  von  den  Lippen 


—    638  - 


der  Sprechenden  mit  etwelchem  Erfolg  geübt  weisen  könne  — ,  das 
Hauptgewicht  aber  auf  die  Schriftsprache  gelegt.  Die  Zahl  der  Zög- 
linge stieg  bald  bis  auf  25,  welche  Zahl  eine  verhältnismäßig  gar 
geringe  ist,  wenn  der  Kanton  Bern,  wie  die  Verwaltung  nach  un- 
gefährer Schätzung  glaubt,  wirklich  1000  Taubstumme  zählte.  Der 
Gang  der  jungen  Anstalt  war  immerhin  etwas  mühsam.  „Aller  Anfang 
ist  schwer."  Im  Herbst  1826,  nach  41  /Jähriger  Wirksamkeit  an  der 
Anstalt,  übernahm  Bürki  wieder  eine  Lehrstelle  an  der  Primarschule 
in  Münsingen,  und  die  Leitung  des  Instituts  fiel  Joh.  Stucki  zu. 
Im  Herbst  1834  wurde  dasselbe  vom  Staat  übernommen  und  nach 
dem  Kloster  Frienisberg  bei  Aarberg  verlegt  Mit  rastloser  Hingebung, 
mit  großem  Geschick  und  unwandelbarer  Treue  waltete  der  bescheidene, 
edle  Stucki,  der  seinen  Zöglingen  stets  ein  innig  liebender  und 
geliebter  Vater  war,  seines  schönen  aber  schweren  Amtes  bis  zu 
seinem  Tode  im  December  1864,  also  über  42  Jahre.  In  demselben 
Geiste  und  mit  demselben  Segen  leitet  seither  dessen  früherer  Mit- 
arbeiter, Friedrich  Übersax,  nun  bald  27  Jahre  die  Anstalt,  die 
mit  ihren  62  Knaben  im  Jahre  1890  nach  dem  Kloster  Münchenbuchsee 
dem  früheren  Sitz  des  Lehrerseminars,  übersiedelte. 


An  die  Taubstummenanstalten  in  Yverdon  und  Bern  reihte  sich 
bald  die  in  Zürich  als  dritte  an.  Es  bestand  daselbst  seit  1809  eine 
Blindenanstalt.  Nach  dem  Tode  ihres  Stifters  Hirzel  im  Jahre  1817 
wurde  Ulrich  zum  Präsidenten  der  Stiftungsgesellschaft  (Hilfsgesell- 
schaft) gewählt.  Bald  brachte  er  die  Bildung  der  Taubstummen  wieder 
in  Anregung.  Im  Jahre  1825  wurde  J.  Th.  Scherr,  Lehrer  an  der 
Taubstummenanstalt  in  Gmünd,  ein  Schüler  Jägers  (s.  v.  S.  565)  als 
Lehrer  an  die  Blindenanstalt  nach  Zürich  berufen.  „Was  war  natür- 
licher, als  dass  Ulrich  jetzt  die  Blicke  der  Mitvorsteher  auf  die  ver- 
lassenen Taubstummen  richtete.  Am  1.  Mai  1826  trat  der  erste  Taub- 
stumme in  die  Anstalt  ein.  Im  folgenden  Jahre  wurden  wieder  6 
derselben  aufgenommen,  und  so  sah  Ulrich  noch  vor  seinem  Tode  eine 
Anstalt  erblühen,  für  deren  Gründung  er  in  früherer  Zeit  sich  erfolg- 
los bemüht  hatte."  (J.  H.  von  Orell.)  Seit  1832,  also  fast  60  Jahre, 
steht  die  Anstalt  unter  der  bewährten  Leitung  des  all  verehrten 
Herrn  Director  Schibel,  der  trotz  seiner  hohen  Jahre  seines 
schweren  Amtes  mit  jugendlicher  Frische  und  Begeisterung  waltet. 
Möge  ihm  gestattet  sein,  noch  lange  solch  seltener,  mit  Liebesfülle 
gesegneter  Kraft  zu  erfreuen.    An  diese  drei  ersten  Taubstummen- 


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anstalten  reihten  sich  bald  andere  an.  Heute  zählt  die  Schweiz  deren  16. 

3  sind  cantonale  Anstalten:  Münchenbuchsee  im  Canton  Bern, 
Hohenrain  im  Canton  Luzern,  Mondon  im  Canton  Waadt; 

1  gehört  der  Gemeinde  Genf; 

3  sind  Eigenthnm  ihrer  Vorsteher:  Bettingen  bei  Basel,  Hephata, 
die  anch  Schwerhörende  aufnimmt,  in  Bern;  Petit-Saconnex-Genf; 

2  sind  gegründet  und  geleitet  von  Schwestern  vom  heil.  Kreuz  zu 
Ingenbohl:  Locarno,  Canton  Tessin,  und  Greierz,  Canton  Freiburg; 

7  stehen  unter  wolthätigen  Vereinen  und  erhalten  Staatsunter- 
stützung: Zürich,  St.  Gallen,  Zofingen,  Landenhof  bei  Aarau, 
Liebenfels  bei  Baden,  Wabern  bei  Bern,  Riehen  bei  Basel. 

Diese  16  Anstalten  beherbergen  490  Zöglinge,  265  Knaben  und 
225  Mädchen. 

Nach  dem  allgemein  geltenden  Procentyerhältnis  (1 : 1500)  zählt 
die  Schweiz  ca.  2000  Taubstumme;  davon  mögen  75°/0,  also  1500, 
im  schulpflichtigen  Alter  stehen  ;  mithin  haben  1000  dieser  Unglücklichen 
in  unsere  für  Milderung  ihrer  Gebrechen  organisirten  Anstalten  noch 
keine  Unterkunft  gefunden. 

Wol  dürfen  wir  annehmen,  dass  vielleicht  100  davon,  durch  Ver- 
hältnisse begünstigt,  anderweitig  die  nöthige  Handreichung  zu  ihrer 
Erhebung  aus  dem  Elend  in  ein  menschenwürdiges  Dasein  finden; 
aber  auch  bei  dieser  günstigen  Annahme  und  nach  Abzug  der  bildungs- 
unfähigen bleiben  immer  noch  wol  6 — 700  schulpflichtige,  bildungs- 
fähige Taubstumme  ihrem  traurigen  Schicksal  überlassen. 

Wäre  es  unter  solchen  Umständen  nicht  an  der  Zeit 
und  ist  es  nicht  unausweichliche  Menschenpflicht,  nach  dem 
ruhmreichen  Vorgange  der  oben  angeführten  deutschen 
Staaten  auch  bei  uns  in  der  Schweiz  den  Schulzwang  für  die 
Taubstummen,  an  den. sie  mindestens  ein  ebenso  gutes  An- 
recht haben  wie  die  Vollsinnigen,  gesetzlich  festzustellen 
und  mit  Strenge  durchzuführen? 

Heil  der  Stunde,  in  der  in  unserm  Lande  den  Unglück- 
lichsten der  Unglücklichen  ihr  volles  Recht  wird! 


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Der  Lehrer  Leimnnd  and  ein  Geheimer  Justizrath. 

Vom  Herausgeber. 

den  charakteristischen  Zügen  unseres  Zeitalters  gehört  die 
starke  Betonung  und  eifrige  Pflege  der  „Interessen".  Es  gilt  als 
Regel,  dass  ein  jeder  vor  allem  sein  persönliches  Interesse  wahre  und 
fördere.  Dazu  kommt  dann  eine  ganze  Legion  anderer  Interessen, 
als  da  sind  die  Interessen  zahlloser  Vereine,  Genossenschaften  und  Ringe, 
die  Interessen  der  Geschäftsleute  und  Grundbesitzer,  der  Arbeiter  und 
Capitalisten,  der  Beamten,  Künstler,  Schriftsteller  u.  s.  w.,  kurz  der  Stände 
und  Berufsclassen,  ferner  die  Interessen  der  Frauen,  der  politischen 
Parteien,  der  Nationalitäten,  Confessionen,  Kirchen  u.  s.  w.  Immer  und 
überall  ist  die  Rede  von  Interessen  und  spielt  der  Kampf  um  Interessen. 
Selbst  in  richterlichen  Erkenntnissen  begegnet  man  häufig  dem  Aus- 
spruche, der  Beklagte  habe  gehandelt  „in  Wahrung  berechtigter  Inter- 
essen"; und  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik,  wo  vordem  das  Interesse 
sich  damit  begnügen  musste,  neben  anderen  gleichberechtigten  Factoren 
die  gebürende  Stelle  einzunehmen,  hat  sich  eine  Partei  gebildet,  die 
mit  ihren  „Interessen"  alles  andere  an  die  Wand  drücken  möchte. 
Während  vormals,  als  der  Geist  eines  Kant,  Lessing,  Schiller  und 
anderer  Heroen  unseres  Volkes  noch  lebendig  fortwirkte  in  unserem 
Oulturleben,  Moral,  Pflicht,  Gewissen,  Recht  und  Gesetz  die  höchsten 
Normen  und  Triebfedern  für  jedermann  und  für  alle  menschliche  Ge- 
meinschaft waren,  treibt  unser  Zeitalter  einen  förmlichen  Interessen- 
cultus  und  eine  systematische  Interessenwirtschaft^  deren  Kern  allent- 
halben die  liebe  Selbstsucht  ist,  indem  ein  jeder  immer  in  erster  Linie 
sein  wertes  Ich  im  Auge  hat,  möge  er  nun  von  den  Interessen  seiner 
Person,  oder  von  den  Interessen  seines  Standes,  seiner  Partei,  seiner 
Nation,  seiner  Kirche  u.  s.  w.  reden.  Und  während  die  alte  Moral 
auf  Einigung  und  Frieden  ausging,  tendirt  die  neue  auf  Zersetzung 
und  Streit. 


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-    641  — 


Unter  solchen  Verhältnissen  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass 
auch  der  Lehrerstand  in  den  allgemeinen  Interessenkampf  hinein- 
gezogen wird  und  so  wie  alle  anderen  Gesellschaftsclassen  für  seinen 
Nutzen  und  sein  Ansehen  zu  Felde  zieht.  Andere  Leute  und  Stände 
glauben  ihren  Interessen  zu  dienen,  wenn  sie  den  Lehrer  und  den 
Lehrerstand  niederhalten  und  herabsetzen  und  thun  dies  bei  jeder 
Gelegenheit,  bald  unter  heuchlerischer  Maske,  bald  mit  offener  Bruta- 
lität. So  wird  es  begreiflich,  dass  sich  aus  der  Lehrerschaft  zahl- 
reiche Stimmen  erheben,  welche  zur  Abwehr  solcher  Unbill  auffordern 
und  Waffen  zu  dieser  Abwehr  anbieten.  Es  handelt  sich  da  vor 
allem  darum,  die  vielfachen  Anklagen  des  Lehrerstandes  in  die 
Schranken  des  berechtigten  Maßes  zurückzuweisen  und  die  wahren 
Ursachen  vorhandener  Missstände  klarzulegen,  aber  auch  unbestreit- 
bare Vorzüge  und  Verdienste  zur  Geltung  zu  bringen.  Hiermit  be- 
fasst  sich  nicht  nur  der  gelegentliche  Gedankenaustausch  im  Privat- 
verkehr, sondern  auch  ein  erheblicher  Theil  der  Vereinsthätigkeit  mit 
ihren  Vorträgen,  Resolutionen  und  Eingaben  an  Behörden,  ingleichen 
die  literarische  Arbeit,  wie  sie  in  Zeitschriften,  Broschüren  und 
Büchern  zu  Tage  tritt,  um  den  guten  Ruf  des  Lehrerstandes  zu 
wahren,  seine  sociale  Stellung  zu  verbessern,  bösen  Leumund  und 
feindseligen  Druck  von  ihm  abzuwehren. 

Bisweilen  erweist  sich  diese  Intention  als  mitwirkender  Factor 
selbst  bei  solchen  literarischen  Unternehmungen,  welche  an  sich  nicht 
dein  Tagesstreite,  sondern  dem  Frieden  des  Hauses  und  Gemüthes  ge- 
widmet sind.  So  erschien  unlängst  ein  freundlich  ansprechendes  Buch 
unter  dem  Titel:  „Dichterstimmen  aus  der  deutschen  Lehrer- 
we lf  von  J.  Pawlecki  (Hamburg,  Verlagsanstalt  und  Druckerei 
A.-G.,  382  S.,  Preis  3  Mark,  geb.  3,50  M.),  welches  von  125  deutschen 
Lehrern  poetische  Erzeugnisse  ihrer  Mußestunden  bringt,  die  in  erster 
Linie  genommen  sein  wollen,  wie  sie  sich  geben,  aber  doch  nicht  ohne 
Rücksicht  auf  das  Los  des  Standes  ihrer  Verfasser  gesammelt  sind. 
Der  Herausgeber  bemerkt,  dass  er  mit  dem  Werke  „dem  deutschen 
Lehrerstande  eine  Lanze  brechen  wollte",  was  er  auch  in  folgenden 
Strophen  seines  Widmungsgedichtes  andeutet: 

«Verkündet,  dass  in  Lehrerherzeu 
Ein  ew'ger  Bronnen  Bahn  sich  bricht, 
Dass  sie  in  Wintersturni  und  Darben 
Verschlossen  sich  dem  Frühling  nicht. 

Verscheucht  den  Schritt  der  Lugpropheteu, 
Der  Lästerzunge  Priesterschar; 
Der  Wahrheit  brechet  eiue  Gasse, 
liebt  sie  zum  Lichte  sonnenklar." 


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—    642  — 


Wenn  nämlich  den  Lehrern  u.  a.  bisweilen  auch  materialistischer 
Sinn  und  Gleichmütigkeit  gegen  höhere  Bestrebungen  vorgeworfen 
wird,  so  dienen  allerdings  die  hier  vorgeführten  Proben  idealer 
Lebensanschauung  in  schönem  poetischem  Gewände  zu  kräftiger  Wider- 
legung dieses  bösen  Leumunds  und  somit  dem  guten  Rufe  des  Lelirer- 
standes.  Möge  daher  das  schöne  Buch  recht  viele  Freunde  finden ;  es 
enthält  in  der  That  zahlreiche  Blüten  echt  dichterischen  Geistes. 

Direkt  auf  die  Lehrerfrage  geht  Hans  Trunk  ein  mit  seiner 
bereits  in  einer  zweiten  Sonderausgabe  vorliegenden  gekrönten  Preis- 
schrift: „Der  Volksschullehrerstand  im  Spiegel  der  Mitwelt* 
(Graz,  Leuschner  &  Lubensky,  66  S.).  Der  Verfasser  zeigt  zunächst, 
wie  man  in  verschiedenen  Kreisen  über  die  Lehrer  und  ihre  Be- 
strebungen urtheilt,  ferner,  woher  es  kommt,  dass  man  gerade  am 
Lehrerstande  eine  ungewöhnlich  herbe  Kritik  übt,  wobei  er  auf  die 
materielle  Stellung  dieses  Standes,  seine  Bildung,  sein  Verhältnis  zur 
Schulaufsicht,  zur  bürgerlichen  Gesellschaft  und  Politik,  aber  auch  auf 
die  innerhalb  des  Standes  selbst  vorhandenen  Fehler  und  Gebrechen 
zu  sprechen  kommt  und  schließlich  die  Mittel  zur  Anbahnung  besserer 
Zustände  darlegt.  Wenn  auch  diese  Themata  bereits  oft  und  viel- 
seitig behandelt  worden  sind,  so  verdient  doch  die  zusammenfassende, 
klare  und  freimtithige,  auch  manchen  neuen  Zug  bietende  Schrift  von 
Hans  Trunk,  der  sich  als  wackerer  Berufsgenosse  längst  bewährt  hat, 
allgemeine  Beachtung. 


Ein  ganz  eigenartiges  Buch  hat  jüngst  Herr  Wilhelm  Meyer- 
Markau  in  Duisburg  herausgegeben.  Es  fuhrt  den  Titel:  „Der 
Lehrer  Leumund.  Urschriftliche  Worte  zeitbürtiger  deutscher 
Schriftsteller,  Dichter  und  Gelehrten  über  Lehrer  und  Schule"  (216  S., 
2,50  Mark,  geb.  3  Mark,  Selbstverlag).  Die  Entstehungsgeschichte 
des  Buches  hat  der  Herausgeber  selbst  in  einem  Vortrage  geschildert, 
welcher  den  Titel  führt:  „Das  entschleierte  Bild  des  Volksschul- 
lehrers", und  bei  Helmich  in  Bielefeld  zum  Preise  von  40  Pfg.  zu 
haben  ist.  Wir  führen  aus  dieser  Entstehungsgeschichte  die  wich- 
tigsten Daten  an.  Um  zu  erfahren,  wie  die  „öffentliche  Meinung*' 
über  den  Lehrerstand  urtheile,  wandte  sich  Herr  Meyer  in  einem  Rund- 
schreiben an  ca.  1000  deutsche  Schriftsteller,  Dichter  und  Gelehrte 
(nicht  blos  in  Deutschland,  sondern  auch  in  Österreich,  der  Schweiz, 
Italien,  Russland  und  Nordamerika)  mit  der  Bitte,  ihre  bezüglichen 
Anschauungen  kundzugeben,  indem  er  eben  in  den  Personen  dieser 
Kategorie  die  berufenen  Vertreter  und  Organe  der  „öffentlichen 

I 

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Meinung"4  erblickte.  Um  denselben  einen  Leitfaden  für  ihre  Äußerungen 
zu  bieten,  bezeichnete  Herr  Meyer  eine  Reihe  von  Punkten,  welche 
in  Betracht  gezogen  werden  möchten,  nämlich  die  Vorbildung  der 
Volksschullehrer,  die  gesellschaftliche  Stellung  derselben,  ihre  Be- 
soldung; ferner  die  Vorschulfrage,  die  Bekämpfung  der  Social demo- 
kratie  durch  die  Schule,  die  Schülerzahl,  den  Heeresdienst  der  Lehrer, 
die  Fachaufsicht,  die  Trennung  der  Schule  von  der  Kirche,  die  Simul- 
tan- und  die  Confessionsschule,  die  Befreiung  der  Lehrer  vom  niederen 
Küsterdienste,  die  Versorgung  der  Witwen  und  Waisen  der  Lehrer, 
den  Mangel  eines  Volksschulgesetzes  in  manchen  Ländern,  die  Ver- 
wendung der  Person  des  Volksschullehrers  in  literarischen  Erzeug- 
nissen (meist  als  Caricatur).  —  Da  nun  das  Anschreiben  des  Herrn 
Meyer  znerst  keinen  genügenden  Erfolg  hatte,  sandte  er  demselben 
ein  Mahnwort  mit  einer  ermunternden  Beigabe  nach,  und  nun  stieg 
die  Zahl  der  Aussprachen  auf  166,  welche  denn  den  Inhalt  des  vor- 
liegenden Buches  bilden.  Außerdem  kamen  noch  eine  Anzahl  Briefe 
und  Postkarten,  welche  das  Nichteingehen  auf  die  Angelegenheit  ent- 
schuldigten. Werden  diese  mitgerechnet,  so  hat  ungefähr  Jeder  fünfte 
Briefempfänger"  Herrn  Meyer,  wie  er  selbst  sagt,  „einer  Antwort 
gewürdigt".  Mit  diesem  Ergebnis  ist  er  sehr  zufrieden,  so  dass  er 
sich  „im  Interesse  der  Sache  gar  nicht  dankbar  genug  auszudrücken 
vermag".  Diese  Freude  wurde  noch  dadurch  erhöht,  dass  in  den 
eingelaufenen  Aussprachen  „beinahe  durchgängig  der  Ton  größter 
Anerkennung,  ja  Hochachtung  über  die  Volksschule  und  deren  Lehrer 
angeschlagen  wird",  weshalb  Herr  Meyer  schließlich  das  zu  Stande 
gekommene  Buch  „ein  Hoheslied  auf  den  Lehrerstand"  nennt. 

Dieser  Optimismus  dürfte  kaum  in  vollem  Maße  gerechtfertigt 
sein,  und  man  kann  sogar  die  Frage  aufwerfen,  ob  der  von  Herrn 
Meyer  eingeschlagene  Weg  zur  Feststellung  des  Leumundes  der  Volks- 
schnllehrer  ein  ganz  zuverlässiger  sei.  Nur  an  solche  Zeitgenossen 
(Männer  und  Frauen)  hat  er  sich  gewendet,  welche  sich  durch  schrift- 
stellerische Thätigkeit,  überwiegend  belletristischer  Art,  bekannt 
gemacht  haben.  Dass  dabei  solche  Personen,  welche  in  eigner 
Sache  reden  würden,  also  die  Volksschullehrer  selbst,  sowie  Seminar- 
Directoren  und  -Lehrer,  ingleichen  die  Vorgesetzten  derselben,  prin- 
cipiell  ausgeschlossen,  hingegen  bezüglich  der  übrigen  Lebensstellungen, 
der  politischen  und  confessionellen  Partei  stand  punkte  u.  s.  w.  keinerlei 
Schranken  gezogen  wurden,  wird  man  für  zweckmäßig  ansehen  müssen. 
Die  Hauptfrage  ist  aber  die:  Sind  denn  wirklich  gerade  die  Schrift- 
steller die  besten,  d.  h.  die  einsichtsvollsten  und  gerechtesten  Richter 


—    644  — 


des  Lehrerstandes,  and  kommt  ihnen  als  Stimmführern  der  „öffent- 
lichen Meinung"  wirklich  jene  große  Autorität  zu,  welche  ihnen  Herr 
Meyer  beilegt?  Gewiss  haben  eine  Anzahl  seiner  Gewährsmänner  das 
in  sie  gesetzte  Vertrauen  durch  ihre  gediegenen  und  wolmeinenden 
Ausführungen  bestens  gerechtfertigt;  aber  daneben  finden  sich  auch 
nicht  wenige,  welche  mit  recht  schwacher  oder  zweifelhafter  Weisheit 
und  sehr  mangelhafter  Unbefangenheit  raisonniren.  Jedenfalls  sind 
in  solcher  Allgemeinheit,  wie  Herr  Meyer  glaubt,  die  „Schrift- 
steller" nicht  berufen,  das  Forum  des  Lehrerstandes  zu  bilden.  Unter 
den  Tausenden,  die  sich  heute  als  solche  aufspielen,  gibt  es  gar  viele 
problematische  Existenzen,  und  selbst  unter  den  gefeiertsten  ihrer 
Sippe  begegnet  man  recht  seichten,  verschrobenen  und  aufgeblähten 
Schwätzern;  wenn  sie  auch  mit  ihrer  Massenproduction  immer  reich- 
liche Nachfrage  und  einen  lohnenden  Markt  finden,  so  beweist  dies  in 
vielen  Fällen  nur,  dass  es  einen  großen  Haufen  lesesüchtiger,  aber 
nrtheilsunfahiger  Menschen  gibt,  die  ohne  einen  bedeutenden  Consum 
bedruckten  Papiers  ihre  öden  Geister  nicht  vor  gänzlichem  Erlöschen 
zu  bewahren  vermögen.  Und  anderseits  gibt  es  nicht  schriftstellernde 
Leute  genug,  gelehrte  und  ungelehrte,  deren  Urtheil  mehr  inneren 
Wert  hat,  als  das  vieler  Herren  und  Damen  von  der  Feder.  Selbst 
im  eigenen  Hause,  im  Bereiche  des  Lehrerstandes,  kann  man  fragen, 
ob  der  schriftstellernde  Theil  gerade  der  bessere  sei.  Es  gibt  viele 
schriftstellernde  Lehrer,  die  in  keiner  Weise  berufen  sind,  ihre  Col- 
legen  zu  erleuchten  und  zu  bessern,  und  viele  nicht  schriftstellernde, 
die  an  Geist,  Charakter,  Tüchtigkeit  und  Treue  im  Amte  ihren  Be- 
rufsgenossen als  Muster  dienen  können.  Die  Schriftstellerei  hat  in 
Deutschland  so  ungeheuer,  man  kann  sagen  epidemisch  um  sich  ge- 
griffen, dass  sie  bald  aufhören  wird,  ein  ehrenwertes  Metier  zu  sein, 
zu  dessen  zeitweiligem  Betrieb  gerade  die  Besten  der  Nation  sich  nur 
noch  mit  Widerstreben  entschließen,  weil  sie  nicht  mit  dem  Heere 
aufdringlicher  Sudler  concurriren  wollen  und  zu  der  Meinung  kommen, 
dass  das  Sprichwort:  „Reden  ist  Silber,  Schweigen  Gold  — "  auch 
auf  dem  Büchermarkte  eine  gewisse  Berechtigung  habe. 

Was  sodann  die  große  Befriedigung  des  Herrn  Meyer  über  den 
Erfolg  seines  Anschreibens  betrifft,  so  steht  ihr  leider  die  Thatsache 
gegenüber,  dass  (trotz  der  Wiederholung  desselben  nebst  ermuntern- 
der Beigabe)  von  1000  Angesprochenen  800  ihn  nicht  einmal  „einer 
Antwort  gewürdigt"  haben.  Nimmt  man  hinzu,  dass  von  den  übrigen 
200  ein  Theil  nur  eine  Entschuldigung  ihrer  Nichtbetheiligung  ein- 
schickte, ein  anderer  Theil  sich  auf  eine  kurze  und  in  der  Leumunds- 


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-    645  — 


frage  ganz  neutrale  Sentenz  beschränkte,  ein  dritter  halb  günstig  halb 
ungünstig  urtheilte,  ein  vierter  endlich  offene  Feindseligkeit  kundgab, 
so  bleiben  von  1000  höchstens  100  Stimmen  übrig,  welche  das  er- 
wähnte „Hohelied"  singen.  Die  vier  Fünftel  der  Angesprochenen, 
welche  hartnäckig  schwiegen,  darf  man  jedenfalls  mit  mehr  Grund 
auf  die  feindliche  als  auf  die  freundliche  Seite  stellen.  Denn  der 
Umstand,  dass  sie  trotz  der  ihnen  erwiesenen  Ehre  und  wiederholten 
warmen  Zuspräche  den  freiwilligen  Anwalt  des  Lehrerstandes  nicht 
einmal  „einer  Antwort  würdigten-,  macht  einen  üblen  Eindruck,  da 
man  sich  sagen  muss,  dass  wirkliche  Lehrerfreunde  eine  so  bequeme 
Gelegenheit  zur  Kundgebung  ihrer  Gesinnung  nicht  abgewiesen  haben 
würden.  Was  wären  denn  das  für  Freunde,  die  nicht  einmal  ein 
gutes  Wort  von  sich  zu  geben  Lust  hätten? 

Doch  —  das  Buch  ist  nun  da,  und  die  Lehrerschaft  kann  nichts 
besseres  thun,  als  es  gehörig  auszunützen.  Der  Herausgeber  hat  un- 
streitig die  gute  Absicht  gehabt,  seinem  Stande  einen  ersprießlichen 
Dienst  zu  erweisen;  zu  diesem  Zwecke  hat  er  viel  Mühe  und  Arbeit, 
überdies  bedeutende  Kosten  aufgewendet.  Daflir  verdient  er  die  Sym- 
pathie und  thätige  Unterstützung  von  Seiten  seiner  Kollegen,  also  eine 
freundliche  Aufnahme  seines  Buches.  Hierzu  kommt  aber,  dass  das- 
selbe in  der  That  ein  sehr  lehrreiches  ist  und  mit  vollem  Rechte  der 
gesammten  Lehrerschaft  und  allen,  die  mit  der  Volksschule  in  Be- 
rührung stehen,  zu  eingehendem  Studium  empfohlen  werden  kann. 

Wie  ein  Lied,  das  in  einheitlichem  und  leicht  ansprechendem 
Tone  von  Anfang  bis  Ende  dahin  fließt,  kann  es  freilich  nicht  ge- 
nossen werden.  Ich  habe  das  Buch  vollständig  und  aufmerksam  durch- 
gelesen, musste  mir  aber  dieses  Geschäft  auf  circa  20  Tage  vertheilen, 
da  ich  nicht  anders  allen  166  Stimmen  in  demselben  gerecht  werden 
zu  können  glaubte.  Herr  Meyer  hat  nämlich  die  Äußerungen  seiner 
Vertrauenspersonen  in  der  alphabetischen  Reihenfolge  ihrer  Namen 
vorgeführt,  damit  eine  jede  selbstständig  und  ohne  Unterbrechung 
gehört  werde.  Diese  Anordnung  hat  ihr  Gutes  und  war  in  Rücksicht 
auf  die  befragten  Personen  und  nach  dem  Plan  des  ganzen  Unternehmens 
die  allein  gebotene;  für  den  Leser  hat  sie  aber  den  Nachtheil,  dass 
nun  die  Discussion  über  die  aufgestellten  Fragepunkte  nicht  in  logi- 
scher Folge,  nicht  nach  dem  Gesichtspunkte  innerer  Zusammengehörig- 
keit, sondern  in  stetiger  Zersplitterung  und  Abwechselung  des  Stoffes 
geführt  wird,  was  ihn  ermüdet  und,  wenn  er  nicht  öfters  eine  Ruhe- 
pause macht,  außer  Stand  setzt,  den  letzten  Rednern  dieselbe  Auf- 
merksamkeit zu  widmen,  wie  den  ersten.    Ohnehin  bleibt  es  dem 

Pedagoginm.   14.  J.hrg.    Heft  X.  45 


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—    646  — 


Leser  überlassen,  sich  die  einzelnen  Stücke  des  Buches  nach  Maßgabe 
der  inneren  Verwandtschaft  zu  ordnen,  um  so  mehr,  da  nur  wenige 
derselben  nach  den  aufgestellten  Fragepunkten  oder  sonst  einer  Dis- 
position angelegt  sind.  Ihre  Bedeutsamkeit  war  eben  mitbedingt  durch 
die  den  Autoren  gelassene  volle  Freiheit  bezüglich  der  Grenzen,  des 
ümfanges,  der  Anlage  und  des  Tones  ihrer  Meinungsäußerungen,  falls 
sie  nur  überhaupt  zum  Thema,  zur  Lehrer-  und  Schulfrage  sprächen. 
Eine  Anzahl  derselben  hat  dies  nun  in  so  sachgemäßer,  einsichtsvoller 
und  gründlicher  Weise  gethan,  andere  haben  wenigstens  einzelne 
Punkte  durch  so  interessante  Bemerkungen  beleuchtet,  dass  das  Buch, 
ganz  abgesehen  von  der  Personalfrage,  eben  durch  die  Discussion  der 
vom  Herausgeber  aufgestellten  Fragen,  einen  unverkennbaren  Wert 
erhalten  hat.  Und  gerade  hierin  liegt  für  mich  der  Hauptnutzen  des 
Buches  und  das  Motiv,  es  allgemeiner  Beachtung  zu  empfehlen. 

Doch  wir  müssen  zur  Haupttendenz  desselben  zurückkehren,  also 
zu  dem  Versuche,  durch  dasselbe  den  Leumund  des  Lehrerstandes 
festzustellen.  Diese  Intention  ist  sowol  durch  den  Titel  des  Buches, 
als  durch  den  oben  erwähnten  Vortrag  des  Herausgebers  unzweideutig 
bezeugt  Dass  nun  in  dieser  Hinsicht,  wie  schon  nachgewiesen,  kein 
so  erfreuliches  Ergebnis  erreicht  ist,  wie  der  Herausgeber  annimmt, 
möge  noch  durch  einige  Beispiele  belegt  werden.  Auf  Seite  41  thut 
ein  Herr  Doctor  die  ganze  Angelegenheit  mit  folgender  Auslassung  ab: 

„Meine  zahlreichen  Erfahrungen  mit  Dienstmädchen,  Handwerkern, 
kleinen  Händlern  und  Personen  ähnlicher  Berufe  haben  mir  die  feste 
Überzeugung  beigebracht,  dass  unsere  Volksschule  weder  im  Lesen 
noch  im  Schreiben  eine  dem  Aufwände  von  8  Unterrichtsjahren  an- 
nähernd entsprechende  Gewandtheit  erzeugt.  Eine  Schule,  die  diese 
wichtigsten  Künste  so  schlecht  lehrt,  steht  schwerlich  auf  der  Höhe, 
die  ihr  nachgerühmt  wird." 

Das  ist  alles,  was  der  Herr  Doctor  zu  sagen  hat;  in  der  That, 
ein  sehr  bescheidener  Aufwand  von  Geist  und  Scharfblick  für  einen 
berufenen  Stimmführer  der  öffentlichen  Meinung! 

Und  ein  schriftstellernder  Herr  Baron  lässt  sich  auf  Seite  131 
folgendermaßen  vernehmen: 

„Die  Dorfschulmeister,  mit  denen  ich  Gelegenheit  hatte,  wieder- 
holt in  intensiven  Verkehr  zu  treten,  zeichneten  sich  vorzugsweise 
durch  eine  stark  ausgeprägte  Ansicht  über  die  Wichtigkeit  ihrer 
Persönlichkeiten,  durch  eine  unangenehm  berührende  Blasirtheit  aus, 
welche  namentlich  nur  halbgebildeten  Menschen  eigen  ist  —  kein 
Wunder  meiner  Ansicht  nach,  denn  gerade  den  Volksschullehrern 


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wird  von  allen  Seiten  viel  zu  viel  »weißgemacht4!  und  halbgebildete 
Menschen  vertragen  es  nun  einmal  nicht,  wenn  sie  allzuschnell  aus 
«iner  bis  dahin  gedrückten  Sphäre  emporgehoben  werden." 

Wieder  die  ganze  Summe  der  Weisheit  eines  berufenen  Richters 
über  den  Lehrerstand!  Von  Unbefangenheit,  besonnener  Umsicht  und 
hochherzigem  Wolwollen  wird  man  da  schwerlich  eine  Spur  entdecken 
können. 


Die  edelste  Perle  des  ganzen  Buches  hat  aber  ein  preußischer 
Geheimer  Justizrath,  Namens  L.  Passarge,  geliefert.  Ans  Lana 
ä.  d.  Etsch,  wo  er  zur  Erholung  weilte,  hat  er  sie  Herrn  Meyer  in 
Duisburg  eingesendet. 

„Sie  haben  sich  jedenfalls",  so  beginnt  Herr  Passarge,  „an  eine 
ungeeignete  Adresse  gewandt,  wenn  Sie  von  mir  eine  warme,  oder 
auch  nur  sachliche  Beurtheilung  der  angeregten  Frage  erwarten.  Ich 
habe  wenig  Gelegenheit  gehabt,  mit  Volksschullehrern  persönlich  in  Ver- 
bindung zu  treten."  —  Man  sollte  nun  meinen,  dass  hier  die  Rede  aus  sein 
müsse,  oder  wenigstens  nicht  den  Leumund  des  Lehrerstandes  betreffen 
könne.  Denn  es  ist  doch  die  elementarste  Regel  der  Gerechtigkeit, 
dass  man  nicht  Uber  Dinge  und  Personen  absprechen  soll,  die  man 
nicht  genügend  kennt,  oder,  wie  der  Jurist  sagt,  dass  man  kein  Ur- 
theil  fallen  soll,  solange  man  mit  der  Quaestio  facti,  mit  dem  That- 
bestand,  nicht  gehörig  vertraut  ist.  Der  Herr  Geheime  Justizrath 
Passarge  aber  fahrt  fort:  „Wo  es  geschehen,  habe  ich  oft  sehr  ehren- 
werte Leute  kennen  gelernt,  aber  auch  sehr  zweifelhafte  Persönlich- 
keiten." Nun  könnte  man  erwarten,  dass  er,  wenn  er  weiter  reden 
will,  doch  auch  den  „sehr  ehrenwerten  Leuten",  die  er  „oft  kennen 
gelernt  hat",  die  gebürende  Berücksichtigung,  nicht  aber  blos  ein  paar 
Phrasen  widmen  werde.  Allein  für  sein  Urtheil  haben,  wie  sich 
zeigen  wird,  die  „sehr  ehrenwerten  Leute"  wenig  Gewicht,  und  die 
schönen  Redensarten  scheinen  nur  den  Zweck  zu  haben,  bittere 
Pillen  zu  umhüllen  und  zu  beschönigen. 

„Der  Stand",  so  lautet  Herrn  Passarge's  Votum,  „hat  mir  fast 
überall  Missbehagen  verursacht,  so  dass  ich  einem  Volksschullehrer 
noch  oft  mit  Misstrauen  gegenübertrete.  Der  Stand  als  solcher  leidet, 
ähnlich  wie  der  der  Apotheker,  Künstler,  Buchhändler  u.  a.  an  dem 
Fluche  der  Halbbildung,  ein  Fluch,  der  in  der  Sache  selbst  liegt  und 
daher  nicht  zu  vermeiden  ist.  Das  Volk  fühlt  das  instinctiv  heraus 
und  stempelt  einen  Landschullehrer  leicht  entweder  zu  einer  gehassten 
oder  lächerlichen  Person.   Nur  sehr  wenigen  gelingt  es,  sich  in  dieser 

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prekären  Stellung  zu  behaupten.  Der  Schullehrer  hat  in  seiner  Classe 
eine  dominirende  Stellung;  indem  er  diese  auch  dem  ländlichen  Publi- 
cum gegenüber  geltend  machen  möchte,  wird  er  einfach  zum  Gespött. 
Aus  meiner  juristischen  Praxis,  die  sich  über  einen  Zeitraum  von 
vierzig  Jahren  erstreckt,  habe  ich  in  betreff  der  Lehrer  meist  nur 
peinliche  Erinnerungen.  Ja,  in  Litauen  ging  es  so  weit,  dass  wir 
Richter  der  höheren  Instanz  bei  besonders  schmutzigen  Processen  zu 
fragen  pflegten,  welcher  Lehrer  dahinter  stecke.  Denn  dort  sind  sie 
oft  sehr  fragwürdige  Winkelconsulenten  und  hetzen  die  Leute  an- 
einander. Gewöhnlich  entschuldigen  sich  solche  Lehrer  damit,  dass 
sie  zu  schlecht  gestellt  wären.  Ich  gebe  darauf  nichts.  Es  geht 
ihnen  hierin,  wie  den  heutigen  Fabrikarbeitern:  je  mehr  sie  haben, 
um  so  mehr  verlangen  sie.  Meiner  Ansicht  nach  sind  die  Lehrer  in 
Preußen  bereits  so  gestellt,  dass  sie  nothwendig  übermüthig  werden 
müssen.  Ihre  Gehälter  erhöhen ,  hieße  den  Stand  noch  mehr  dis- 
creditiren." 

Hier  müssen  wir  eine  Pause  machen,  um  uns  von  diesen  be- 
täubenden Schlägen  zu  erholen.  Und  wenn  es  uns  gelingt,  unsern 
Blick  von  den  gebrandmarkten  Delinquenten  abzuwenden,  um  uns  zum 
Anschauen  menschlicher  Vollkommenheit  zu  erheben,  dann  mögen  wir 
ausrufen:  Selig  der  Mann,  welcher  so  erhaben  in  seiner  Bildung  und 
Stellung  ist,  dass  er  auf  alle  Halbgebildeten,  als  da  sind  Volksschul- 
lehrer, Apotheker,  Künstler,  Buchhändler  u.  s.  w.,  sowie  auf  alle  Prole- 
tarier, wie  Volksschullehrer  und  Fabrikarbeiter,  mit  souveräner  Ver- 
achtung herabblicken  kann!  Gewiss  besitzt  er  nicht  blos  eine  ganze, 
sondern  mindestens  eine  Fünfviertelsbildung,  und  sicherlich  hat  er  in 
seiner  „juristischen  Praxis,  die  sich  über  einen  Zeitraum  von  vierzig 
Jahren  erstreckt",  so  unermessliches  Heil  über  die  Menschheit  ver- 
breitet, dass  er  Volksschullehrer  (und  Fabrikarbeiter)  als  eine  verrufene 
Menschenclasse  behandeln  kann,  die  nicht  einmal  einen  kärglichen  Tag- 
lohn wert  ist  Heil  dem  Wackeren,  der  grau  wurde  oder  die  Haare 
verlor  in  Ehren  und  Wolstand!  Schmach  dem  armen  Schlucker,  den 
schon  im  Mannesalter  die  Noth  und  böse  Menschen  zum  Staube 
niederbeugen!  — 

Doch  bevor  wir  uns  mit  Herrn  Passarge  genauer  auseinander- 
setzen, wollen  wir  ihn  erst  weiter  hören.  „Als  ich  noch  ein  Kind 
war  und  auf  dem  Lande  wohnte,  war  der  Stand  im  allgemeinen  ge- 
achteter als  jetzt,  und  zwar  darum,  weil  die  Lehrer  sich  nicht  dem 
Luxus  ergaben,  und  weil  sie  ihre  Aufgabe  sehr  ernst  nahmen  und 
sich  nicht  überhoben.44  —  Das  war  vor  ungefähr  60  Jahren;  die 


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heutigen  Lehrer  mögen  sich  in  diesem  Spiegel  beschauen  und  sich 
bessern,  zu  welchem  Behufe  ihnen  Herr  Passarge  die  Anweisung  gibt: 
„Die  Lehrer  müssen  damit  anfangen,  wieder  bedürfnisloser  zu  werden, 
nicht  aber  höhere  Gehälter  zu  verlangen.  Letzteres  ist  aber  der 
Kernpunkt  der  ganzen  Frage,  wie  sehr  man  dieselbe  auch 
sonst  aufbauschen  und  drapiren  mag."  (Diese  Stelle  ist  auch  im 
Buche  gesperrt  gedruckt.) 

Weiter  sagt  Herr  Passarge:  „Noch  Eines.  Ich  kenne  keine  mehr 
alberne  Redensart  als  die  vom  ,Sieger  von  Königgrätz*.  Das  Tüchtige 
steckt  entweder  schon  in  einem  Volke  oder  nicht.  Wissen  thut  gar 
nichts  hinzu.  Die  Tiroler,  in  deren  Mitte  ich  hier  lebe,  sind  im 
höchsten  Grade  bigott,  einfältig  und  unwissend,  aber  trotzdem  ein 
kräftiger,  tüchtiger  und  liebenswürdiger  Volksstamm,  der  an  Bildung 
des  Gemüthes  und  an  Charakter  viele  gebildete  Classen  in  Nord- 
deutschland weit  übertrifft."  —  Eine  prächtige  Theorie,  aus  welcher 
man  begreifen  kann,  warum  Herr  Passarge  so  schlecht  auf  die  Lehrer 
zu  sprechen  ist.  Wissen  thut  gar  nichts  hinzu  (zur  Tüchtigkeit). 
Der  höchste  Grad  von  Bigotterie,  Einfalt  und  Unwissenheit  macht 
Herrn  Passarge  keinen  Kummer.  Drum  wünscht  er  auch,  dass  seine 
landsmännischen  (preußischen)  Lehrer  etwa  so  gehalten  werden,  wie 
bisher  ihre  Collegen  in  Tirol,  denen  es  freilich  oft  recht  schwer  fallen 
musste,  gegen  Bigotterie,  Einfalt  und  Unwissenheit  anzukämpfen. 
Hätte  uns  nur  Herr  Passarge  auch  gesagt,  welches  die  „vielen  gebil- 
deten Classen  in  Norddeutschland"  sind,  die  von  den  biederen  Tirolern 
an  Bildung  des  Gemüthes  und  Charakters  übertroffen  werden.  Zum 
Glück  sind  es  nicht  die  Volksschullehrer  nebst  Apothekern,  Künst- 
lern u.  s.  w.;  denn  die  sind  nur  „halb"  gebildet,  während  Herr  Pas- 
sarge von  gebildeten  Classen  schlechthin  spricht.  Und  da  es  „vielett 
sind,  so  könnten  darunter  wol  auch  Geheime  Justizräthe  sein,  wie 
wir  da  einen  vor  uns  haben!  —  Noch  hält  dieser  Herr  den  deutschen 
Lehrern  ihre  Collegen  in  Norwegen  und  in  der  Schweiz  als  Muster 
vor,  an  denen  er  rühmliche  Sitten  mit  eigenen  Augen  beobachtet 
haben  will;  er  ist  ja  auch  Reisender.  Nur  schade,  dass  von  compe- 
tenten  Personen  in  Norwegen  und  der  Schweiz  die  Beobachtungen  des 
Herrn  Passarge  als  sehr  oberflächlich  und  seine  Raisonnements  als 
voreilig  und  schief  nachgewiesen  werden!  (Siehe  das  Buch.) 

Nun  noch  das  Schlusswort  des  Herrn  Passarge:  „Sie  sehen  aus 
allem  diesem,  dass  ich  den  Volksschullehrern  eine  besondere  Bedeutung 
für  unser  deutsches  Leben  nicht  beilegen  kann.  Dass  es  in  diesem 
Stande  viele  bedeutende,  ja  bewundernswerte  Ausnahmen  gibt,  versteht 


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—    650  — 


sich  von  selbst"  („ Ausnahmen ",  welche  die  Regel  nicht  umstoßen 
und  sich  überdies  „von  selbst  verstehen",  also  für  das  Urtheil  über 
den  ganzen  Stand  nicht  ins  Gewicht  fallen,  so  meint  Herr  Passarge); 
„mein  Urtheil  betrifft  —  wie  schon  erwähnt,  —  den  Stand,  nicht  die 
Personen".  (Ich  denke,  wenn  es  den  Stand  betrifft,  so  betrifft  es 
auch  die  Personen,  die  diesen  Stand  bilden.  Dieser  Geheime  Justiz- 
rath hat  eine  ganz  absonderliche  Logik!)  r Nicht  auf  den  Lehrer 
kommt  es  in  erster  Reihe  an,  sondern  auf  den  Schüler,  das  heißt  auf 
das  Volk.  Freuen  wir  uns,  dass  das  deutsche  Volk  ein  solches  ist, 
welches  einen  Vergleich  mit  seinen  Nachbarn  nicht  scheuen  darf." 
Nun  ist  Herr  Passarge  fertig,  und  wir  freuen  uns,  seiner  Schluss- 
bemerkung im  Hinblick  auf  den  letzten  preußischen  Schulkrieg  bei- 
stimmen zu  können,  in  welchem  sich  das  deutsche  Volk  in  der  That 
vernünftiger  zeigte,  als  jene  Sorte  der  superfein  Gebildeten,  von  der 
Herr  Passarge  ein  gelungenes  Exemplar  ist.  Es  sind  fast  durchaus 
Leute,  die  niemals  unter  der  Zucht  der  Volksschule  und  des  Volks- 
schullehrers gestanden  haben,  weil  es  ihnen  die  Mittel  ihrer  Eltern 
erlaubten,  sich  von  Kindesbeinen  an  vom  Pöbel  abzusondern. 

In  der  That:  das  Zeitalter  des  Interessenkampfes  treibt  merk- 
würdige, leider  sehr  betrübende  und  besorgniserregende  Blüten,  so 
dass  die  Hoffnung  auf  eine  friedliche  und  heilsame  Lösung  der  socialen 
Fragen  mehr  und  mehr  schwinden,  und  die  Aussicht  auf  die  Zukunft 
immer  trüber  werden  muss.  Die  auf  den  Höhen  sitzenden  Stande 
wollen  niemanden  mehr  hinauflassen,  weil  ihnen  sonst  der  Platz  zu 
eng  und  der  Brotkorb  zu  klein  werden  könnte.  Daher  vertheidigen 
sie  ihre  privilegirte  Stellung  mit  allen  möglichen  Waffen,  nur  nicht 
mit  denen  der  Vernunft  und  Moral.  Nackter  Egoismus,  bodenloser 
Hochmuth,  rücksichtslose  Verachtung  und  Schmähung  der  Wehrlosen, 
das  sind  die  Tugenden,  die  leider  nur  allzuoft  von  den  „besseren 
Ständen"  geübt  werden.  Da  wirft  man  täglich  den  Socialdemokraten 
vor,  dass  sie  den  Classenhass  schüren.  Ärger  aber,  wie  dies  der 
Herr  Geheime  Justizrath  Passarge  thut,  lässt  es  sich  schwerlich 
treiben.  Welchen  Anlass  hatte  er  denn,  in  seine  aufreizende  Kritik 
auch  die  Apotheker,  Künstler,  Buchhändler  u.  s.  w.  einzubeziehen, 
über  die  ihn  ja  niemand  befragt  hatte?  Und  was  wollte  er  sagen, 
wenn  nun  diese  mit  dem  „Fluche  der  Halbbildung"  —  einem  Fluche, 
„der  in  der  Sache  selbst  liegt  und  daher  nicht  zu  vermeiden  ist"  — 
beladenen  Gassen  sich  mit  gleicher  Brutalität  gegen  den  Stand  des 
Herrn  Geheimen  Justizrathes  wendeten?  Er  selbst  hat  ihnen  ja  Blößen 
genug  geboten.   Denn  wer  die  Welt  so  oberflächlich  beobachtet,  wer 


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so  leichtfertig  urtheilt,  so  knabenhaft  generalisirt,  so  lieblos  richtet, 
die  einfachsten  Gesetze  des  gesunden  Menschenverstandes  und  der 
Billigkeit  so  hart  verletzt,  wie  Herr  Passarge,  der  sollte  sich  doch 
hüten,  anderen  Leuten  die  Fenster  einzuwerfen.  Hätte  er  in  seiner 
juristischen  Praxis  denselben  Geist  bethätigt,  den  er  hier  ais  Schrift- 
steller an  den  Tag  legt,  so  würde  er  viel  Unheil  angerichtet  haben. 
Gewiss  ist,  dass  mit  solchem  Geiste  niemand  ein  leidlicher  Apotheker, 
Künstler  oder  Volksschullehrer  sein  kann,  geschweige  denn  ein  an- 
ständiger Geheimer  Schulrath  oder  etwas  dergleichen.  Aber  Herr 
Passarge  war  offenbar  von  einem  so  blinden  Lehrerhass  getrieben, 
dass  er  sich  nicht  nur  zu  Ausbrüchen  des  Classenhasses  hinreißen 
ließ,  sondern  auch  sich  selbst  und  den  eigenen  Stand  compromittirte. 

Leider  machen  es  unsere  socialen  Verhältnisse  in  Verbindung  mit 
unseren  Schuleinrichtungen  möglich,  dass  gar  mancher,  der  an  Schätzen 
des  Geistes  und  Gemtithes  recht  leicht  zu  tragen  hat,  mit  der  Marke  der 
classischen  und  akademischen  Bildung  einherstolziren  und  anderen  das 
Brandmal  der  Halbbildung  aufdrücken  darf,  wenn  sie  ihm  auch  an  Ein- 
sicht, Besonnenheit,  Zartgefühl,  Charakter  und  Verdienst  weit  überlegen 
sind.  In  unserer  Zeit,  besonders  in  Deutschland,  gilt  in  Sachen  der 
Bildung  der  innere  Gehalt  und  der  reale  Besitz  wenig,  die  amtliche 
Abstempelung  und  der  papierne  Schein  alles.  Daher  kommt  es,  dass 
gar  oft  die  innere  Verfassung  und  die  Manieren  der  Menschen  nicht 
in  Einklang  stehen  mit  den  Etiketten,  die  ihnen  ex  officio  aufgeklebt 
sind.  Mir  ist  unter  den  von  Herrn  Passarge  so  verächtlich  be- 
bandelten Apotheken),  Künstlern,  Buchhändlern,  Schulmeistern  und 
sonstigen  „Halbgebildeten"  bisher  niemand  begegnet,  welcher  ein  so 
unverständiges  und  rohes  Urtheil  über  ganze  Stände  gelallt  hätte, 
wie  der  Herr  Geheime  Justizrath.  Dies  mag  wol  daher  kommen,  dass 
die  „Halbgebildeten"  oft  mit  gutem  Erfolg  unablässig  nach  Vervoll- 
kommnung streben,  während  Leute,  die  schon  ais  unreife  Buben  mit 
dem  Wahne  der  Auserwählten  erfüllt  werden,  lebenslang  ihren  Dünkel 
behalten,  wahre  Durchbildung  aber  niemals  erlangen.  Beides  zeigt 
sich  deutlich  in  dem  Schmähartikel  des  Herrn  Passarge.  Ihm  ist  es 
eine  ausgemachte  Sache,  dass  der  ganze  Stand  der  Volksschullehrer 
dem  Hass  und  Gespött  des  Volkes  anheimfalle;  er  stellt  dies  als 
natürlich  und  unvermeidlich,  als  ein  Ergebnis  des  richtigen  Instincts 
der  öffentlichen  Meinung  dar  und  scheint  daran  sein  Vergnügen  zu 
finden,  wie  ihm  denn  die  ganze  Mission  des  Volksschullelirers  als  eine 
äußerst  geringfügige  erscheint,  die  daher  auch  keine  anständige  Ent- 
lohnung verdiene.   In  Preußen  hatten  nach  offiziellen  Angaben  Anno 


1886  mehr  als  3000  Volksschullehrer  weniger  als  600  Mark  Jahres- 
einkommen, mehr  als  30000  weniger  als  900  Mark,  und  seitdem  ist 
eine  gründliche  Verbesserung  dieser  Verhältnisse  nicht  erfolgt.  Und 
da  hat  Herr  Passarge  die  Stirn,  zu  sagen:  „Es  geht  ihnen  hierin  wie 
den  heutigen  Fabrikarbeitern:  je  mehr  sie  haben,  um  so  mehr  ver- 
langen sie.  Meiner  Ansicht  nach  sind  die  Lehrer  in  Preußen  bereits 
so  gestellt,  dass  sie  nothwendig  übermüthig  werden  müssen. 
Ihre  Gehälter  erhöhen  hieße  den  Stand  noch  mehr  discre- 
ditiren."  —  Man  würde  einen  so  herzlosen  und  brutalen  Ausfall 
nimmermehr  einem  Geheimen  Justizrath  zutrauen,  wenn  man  ihn  nicht 
schwarz  auf  weiß  vor  sich  hätte.  Die  Liebenswürdigkeiten,  welche  er 
noch  speciell  den  Lehrern  in  Litauen  erweist,  mögen  diese  selbst 
würdigen;  wahrscheinlich  beruhen  sie  auf  derselben  objectiven  Auf- 
fassung des  Thatbestandes,  wie  die  oben  erwähnten  Raisonnements 
über  die  Lehrer  in  der  Schweiz  und  in  Norwegen. 

Wenn  man  nun  bedenkt,  dass  Herr  Passarge  jedenfalls  viele  ge- 
heime Gesinnungsgenossen  hat,  und  wenn  man  die  vielen  anderen 
hochmögenden  Herren  hinzurechnet,  welche  längst  als  geschworene 
Lehrerfeinde  bekannt  sind,  weil  sie  ihrem  Hasse  bei  jeder  Gelegenheit 
öffentlich  den  schärfsten  Ausdruck  geben:  so  begreift  man,  warum  es 
den  deutschen,  besonders  den  preußischen  Lehrern  so  schwer  wird, 
sich  eine  bessere  Stellung  in  der  Gesellschaft  zu  erringen.  Unter 
solchen  Verhältnissen  wird  man  es  aber  auch  billig  finden,  wenn  end- 
lich einmal  ein  Exempel  statuirt  wird  an  den  Lästerern  des 
Lehrerstandes. 


Nun  noch  ein  Wort  an  die  deutschen  Lehrer  selbst.  Ich  bitte 
sie,  mir  einige  Rathschläge  zu  gestatten  und  dieselben  vorurteilslos 
zu  prüfen. 

1.  Wenn  uns  hier  in  den  Auslassungen  des  Herrn  Passarge  eine 
sehr  abschreckende  Probe  classischer  und  akademischer  Bildung  ent- 
gegentritt, so  wolle  sich  doch  niemand  zu  jener  voreiligen  Generali- 
sirung  verleiten  lassen,  welche  ein  untrügliches  Merkmal  der  Halb- 
bildung ist,  und  eben  in  dem  Gerede  des  Herrn  Passarge  eine  hervor- 
ragende Rolle  spielt.  Man  darf  aus  diesem  Specimen  keineswegs 
schließen,  dass  die  classische  und  akademische  Bildung  an  sich  zu 
solcher  Missgestalt  tendire  und  in  der  Regel  so  kläglich  auf  der 
Oberfläche  sitze,  wie  bei  Herrn  Passarge  und  vielen  andern.  Zum 
Glück  enthält  das  Buch  des  Herrn  Meyer  zahlreiche  Belege  gegen- 
teiliger Art.  Man  lese  z.  B.  die  im  Buche  enthaltenen  Ausführungen 


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von  anderen  Juristen,  ferner  von  Mediemern,  Philologen  (Männern 
des  höheren  Schulamtes)  und  Theologen  (Geistlichen),  und  man  wird 
da  fast  durchgängig  schöne  Proben  wahrer  Bildung  finden. 

2.  Lasst  euch  nicht  verbittern  und  niederschlagen  von  bösem  und 
falschem  Leumund!  Wenn  Herr  Passarge  darauf  auszugehen  scheint, 
den  Lehrerberuf  verächtlich  zu  machen  und  den  Lehrerstand  aufs 
äußerste  zu  demüthigen,  so  lasst  euch  nicht  das  Bewusstsein  rauben, 
dass  ihr  eine  hohe  und  ehrenvolle  Mission  an  eurem  Volke  zu  er- 
füllen habt! 

3.  Gebt  aber  auch  den  Stimmen  von  gerade  entgegengesetzter 
Art  kein  Gehör!  Einen  schroffen  Contrast  zu  Passarge's  Kapuzinade 
bildet  z.  B.  folgender  Ausspruch  eines  andern  auf  S.  169  des  Mey er- 
sehen Buches:  „Nur  eine  Untugend  besitzt  der  deutsche  Lehrer:  die 
Bescheidenheit.  Daher  kommt  es  auch,  dass  man  ihn  so  stiefmütter- 
lich behandelt.  Es  fehlt  ihm  die  Unverschämtheit  des  Juristen,  die 
Praxis  des  Börsenmannes  und  die  Brutalität  des  feudalen  Grund- 
besitzers, im  allgemeinen  das  selbstbewusste  Auftreten,  durch  welches 
er  sich  Geltung  erzwingt.  Freilich,  Bescheidenheit  ist  der  Stempel 
tiefen  Wissens  und  edlen  Herzens;  aber  wer  sie  übt,  gilt  nichts  in 
der  Welt  und  wird  in  ihr  stets  und  überall  zurückgesetzt  werden. 
O  deutsche  Lehrer,  seid  etwas  weniger  bescheiden,  damit  ihr  etwas 
mehr  von  dem  erhaltet,  was  euch  gebürt!"  —  Da  haben  wifs.  Den 
einen  sind  die  Lehrer  zu  hochmüthig,  den  andern  zu  demüthig;  aut 
beiden  Seiten  aber  spricht  sich  der  generalisirende  und  rücksichtslose 
Classenhass  und  Interessenkarapf  aus,  welcher  gegenwärtig  die  deutsche 
Nation  zerrüttet.  Da  heißt  es  denn  für  den  Lehrerstaud:  Vorsicht, 
Besonnenheit^  Ruhe!  Stimme  nicht  ein  in  dieses  wüste  Geschrei;  sei 
überzeugt,  dass  das  jetzt  heirschende  Sittensystem  kläglich  scheitern 
und  wieder  den  Moralgesetzen  der  Väter  unserer  Cultur  weichen 
wird!  Inzwischen  aber  lass  dir  den  „ Stempel  tiefen  Wissens  und 
edlen  Herzens"  besser  gefallen,  als  die  r Unverschämtheit"  und  „Bru- 
talität", womit  andere  ihr  Glück  begründen! 

4.  Wenn  wir  Männern,  welche  von  so  bornirten  Vorurtheilen  und 
von  so  blinder  Feindschaft  gegen  den  Lehrerstand  getrieben  werden, 
wie  Herr  Passarge,  jeden  Beruf  zur  Kritik  des  Lehrerstandes  schlecht- 
hin absprechen  müssen,  selbst  wenn  dieser  an  tausend  Sünden  litte, 
so  darf  dies  niemanden  dazu  verleiten,  jeden  für  einen  Feind  des 
Lehrerstandes  zu  halten,  der  überhaupt  Ausstellungen  an  ihm  zu 
machen  unternimmt.  Es  gibt  auch  Tadel,  welcher  eben  so  gerecht 
als  wolgemeint  ist.   Den  soll  man  sich  zu  Herzen  nehmen,  und  die 


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ihn  aussprechen,  soll  man  als  gute  Freunde  achten.  Meyers  Buch 
gibt  hierzu  genügende  Gelegenheit. 

5.  Die  Lehrer  sollen  bezüglich  ihrer  Reputation  nicht  allzu  em- 
pfindlich sein  und  sich  ihrerwegen  nicht  allzusehr  erhitzen.  Sie 
mögen  bedenken,  dass  es  auch  noch  verständige  und  gerecht  denkende 
Leute  gibt,  welche  sich  nicht  von  bösen  Zungen  dictiren  lassen,  was 
sie  vom  Lehrerstande  zu  halten  haben.  Nur  in  den  dringendsten 
Fällen  soll  er  sich  zu  einer  besonderen  Action  für  seine  Ehre  be- 
stimmen lassen;  oft  wird  die  stille  Verachtung  der  Lästerer  und  die 
Gelassenheit  rechtschaffenen  Verhaltens  die  beste  Waffe  sein,  und  oft 
auch  kann  der  Lehrerstand  die  Verteidigung  getrost  seinen  Freunden 
überlassen.  Keinesfalls  darf  nochmals  eine  Enquete  unternommen 
werden,  wie  sie  Herr  Meyer  angestellt  hat.  Diese  eine  sei  ihm  ver- 
ziehen; denn  sie  war  gut  gemeint,  brachte  viel  Lehrreiches  mit  sich 
und  war  überdies  der  erste  Versuch  ihrer  Art,  bei  welchem  über  die 
Schattenseiten  des  Unternehmens  noch  keine  Erfahrungen  vorlagen. 
Nun  aber  stehen  sie  fest,  und  daher  sei  es  genug  mit  dem  Gebotenen. 
Denn  einerseits  kann  der  Zweck,  den  „ Leumund  der  Lehrer"  zuver- 
lässig festzustellen,  auf  diesem  Wege  überhaupt  nicht  erreicht  werden, 
weil  die  Schriftsteller  im  allgemeinen  erstens  gar  nicht  berufen  sind,  die 
aufgeworfene  Frage  unter  sich  zu  entscheiden,  zweitens  aber  die  Mehr- 
zahl derselben  gar  kein  Votum  abgibt;  anderseits  liegt  in  besagter 
Enquete  manches,  was  mit  der  Selbstachtung  des  Lehrerstandes  nicht 
vereinbar  ist.  Derselbe  wird  überhaupt  gut  thun,  weniger  auf  die 
Meinung  der  Welt,  als  auf  die  Stimme  seines  Gewissens  zu  hören; 
nicht  sowol  darnach  zu  fragen,  was  dem  oder  jenem  Schriftsteller  be- 
liebt, als  darnach,  was  ihm  Ehre  und  Pflicht  gebietet 

0.  Der  Lehrerstand  soll  sich  gerechten  Tadel  zu  Nutze  machen, 
soll  achtsam  auf  alle  Fehler  und  Gebrechen  sein,  die  in  seinem  Schöße 
vorkommen,  und  soll  sicli  täglich  bemühen,  sie  abzustellen;  er  soll 
rastlos  an  seiner  Selbstvervollkommnung  arbeiten,  sowol  in  allgemein 
menschlicher  als  in  beruflicher  Beziehung;  böswilligen  Angriffen  auf 
seinen  Leumund  aber  soll  er  in  erster  Linie  die  stets  und  überall 
wirksamsten  Mittel  entgegensetzen:  ehrenhaften  Wandel  und  uner- 
schütterliche Treue  im  Dienst! 


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Pädagogische  Rundschau. 

Der  IX.  Deutsche  Lehrertag.  (Halle,  Pfingstwoche  1892.)  Also 
einen  möglichst  knappen  Bericht  wünschen  Sie  diesmal,  hochgeschätzter  Herr 
Redacteur?  Gut,  hier  haben  Sie  ihn! 

Aus  den  Verhandlungen  der  Vorversammlung  am  Abend  des  7.  Juni 
hebe  ich  hervor,  dass  außer  Feststellung  der  Tagesordnung  für  die  Haupt- 
versammlung zum  Vorstände  bestimmt  wurden  die  Lehrer  C lausnitzer, 
Berlin,  Bakkes,  Darmstadt,  und  Dr.  Schmeil,  Halle.  Warm  empfunden, 
inhaltlich  wol  abgerundet  war  eine  längere  Begrüßungsrede,  die  der  Hallesche 
Lehrer  Dr.  Schmeil  mit  zündender  Begeisterung  vortrug,  und  worin  be- 
sonders der  Segen  der  Lelirervereinigungen  betont  und  mit  Nachdruck  darauf 
verwiesen  wurde,  wie  der  IX.  Deutsche  Lehrertag  wiederum  unter  dem  Zeichen 
eines  großen  Pädagogen,  des  Comenius,  stehe,  gleich  wie  der  VIII.  in 
Diesterweg  seinen  bestimmenden  Ausdruck  gefunden  habe.  Trotz  Be- 
fleißiguiig  größtmöglicher  Kürze  kann  ich  nicht  umhin,  ein  Hoch  von  Lehrer 
Gallee  auf  den  Nestor  der  deutschen  Lehrerschaft,  den  „Großvater"  der 
hessischen  Lehrer,  Johann  Schmitt,  Darmstadt,  zu  verzeichnen.  Letzterer, 
der  seinen  78.  Geburtstag  feierte,  warf  in  seiner  Erwiderung  einen  Rückblick 
auf  die  Lehrerbewegung  in  den  letzten  60  Jahren,  an  denen  er  stets  regen 
persönlichen  Antheil  genommen  hat. 

Die  I.  Hauptversammlung  am  folgenden  Morgen  wurde  durch  einen 
Chorgesang  Hallescher  Lehrer  (M6hul:  „Hör  uns,  Gott,  Herr  der  Welt!")  eröffnet, 
worauf  der  1.  Vorsitzende  die  zahlreiche  Versammlung  (es  waren  1826  Gäste 
in  die  Theilnehmerliste  eingetragen)  in  kurzer  Ansprache  begrüßte.  Ein  paar 
Sätze  daraus  zu  verzeichnen,  möge  gestattet  sein:  „Ein  eisiger  Reif  drohte 
die  Entwickelung  des  Volksschulwesens  im  größten  deutschen  Bundesstaate,  in 
Preußen,  zu  hemmen.  Allein  das  Volk  wollte  sich  sein  herrlichstes  Kleinod  nicht 
verkümmern  lassen.  Ein  Sturm  der  Entrüstung  brauste  durch  das  Land  und 
zerstreute  die  der  Volksschule  drohenden  Gefahren."  Nach  einem  Hoch  auf 
den  Kaiser  des  Deutschen  Reichs  wurde  sodann  ein  Begrüßungstelegramin  an 
rden  obersten  Schirmherrn  des  Reichs  und  den  obersten  Schutzherrn  auch  der 
Schule"  beschlossen.  Mit  stürmischem  Beifall  wurde  die  Begrüßungsrede  des 
Oberbürgermeisters  von  Halle,  Staude,  entgegengenommen.  Auch  hier  wieder 
einen  die  Stimmung  in  Preußen  und  im  Reich  kennzeichnenden  Satz!  „Die 
städtischen  Behörden  in  Halle  seien  stets  bemüht  gewesen,  die  Volksschule  zu 
vermehren  und  zu  verbessern,  und  nachdem  es  gelungen  sei,  den  Zedlitz'schen 
Schul-Gesetzentwurf  zu  beseitigen,  werde  es  in  Halle  hoffentlich  gelingen,  ein 


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Schulwesen  zu  schaffen,  das  der  heutigen  fortstrebenden  Entwickelung  in  jeder 
Beziehung  zur  Ehre  gereichen  werde."  Auch  Schulrath  Dr.  Krähe  und  der 
Lehrerveteran  Taugermann  (letzterer  namens  der  gastgebenden  Lehrer- 
schaft) sprachen  Worte  der  Begrüßung.  Die  Festrede  zur  Comeniusfeier 
hatte  Pastor  primarius  Seyffarth,  Liegnitz,  übernommen,  der  eben  so  gründ- 
lich wie  anziehend  die  Erziehungsgrundsätze  des  großen  Schulmannes  auf  die 
Forderungen  der  modernen  Pädagogik  anzuwenden  verstand.  Comeniusreden 
sind  im  letzten  Jahre  viele  gehalten,  der  gedankenreichsten  eine  dürfte  die 
Seyffarthsche  gewesen  sein.  Wir  legen  den  Finger  wiederum  auf  einen  Satz, 
nämlich  auf  den  folgenden:  rComenius  wäre  selbstverständlich  nicht  fähig  gewesen, 
einen  Schulgesetzentwurf  auszuarbeiten  wie  den,  der  jüngst  glücklicherweise 
wieder  zu  Grabe  getragen  ist.*4  Dass  der  Redner  als  Theologe  sich  gegen 
die  confes8ionelle  Schule  erklärte,  dass  er  für  die  Befreiung  der  Schule  von 
kirchlicher  Bevormundung,  für  Einführung  eines  Unterrichts-  statt  Cultus- 
Ministeriums,  für  die  allgemeine  Volksschule,  für  eine  sorgenfreie  Lebens- 
stellung der  Lehrer  u.  s.  w.  eintrat,  soll  ihm  von  uns  Lehrern  mit  Dank  in 
unseren  Herzen  „gut  geschrieben"  werden.  Mochte  die  Rede  auch  zu  lang 
gerathen  sein,  sie  hatte  den  stürmischen  Beifall,  namentlich  am  Schlüsse,  wol 
verdient.  —  Den  folgenden  Vortrag  hielt  der  durch  seine  liberale  Auffassung 
der  Schul-  und  Erziehungsangelegenheiten  unter  Deutschlands  Lehrern  Vor- 
th eilhaft  bekannte  Wormser  Stadtschulinspector  Scherer  über  „Die  all- 
gemeine Volksschule  in  Rücksicht  auf  die  sociale  Frage."  Aus- 
gehend von  Comeniu8'  Forderung,  dass  die  Kinder  einer  Gemeinde  gemein- 
sam die  Mutterschule  vom  6.  bis  12.  Lebensjahre  besuchen  sollen,  damit  sie 
sich  gegenseitig  anregen  und  alle  zu  allen  Tugenden  —  Bescheidenheit,  Ein- 
tracht, gegenseitiger  Dienstbarkeit  —  erzogen  werden,  bevor  sie  zum  Hand- 
werk oder  Studium  übergehen,  —  hinweisend  auf  Pestalozzi,  der  zu  denselben 
Forderungen  kam,  stellte  Redner  die  Forderung  auf,  dass  der  Mensch  heute 
als  Glied  des  nationalen  Staates  aufzufassen  und  zu  erziehen  sei,  da  sich  die 
Individualerziehung  zur  Social erziehung  zu  erweitern  habe.  In  einem  sich 
anschließenden  geschichtlichen  Rückblicke  erinnerte  Scherer  daran,  dass  es  in 
dem  v.  Süvernschen  preußischen  Unterrichtsgesetzentwurfe  von  1819  heiße: 
„Die  Schule  gliedert  sich  bis  dahin,  wo  die  Thätigkeit  der  Universität  beginnt, 
in  die  allgemeine  Volksschule,  die  allgemeine  Stadtschule  und  das  Gymnasium : 
diese  drei  sind  als  eine  einzige  Anstalt  zur  Nationalschulerziehung  zu  be- 
trachten.** Auf  die  Entstehung  und  Entwickelung  der  Socialdemokratie  über- 
gehend, änßert  Redner  seine  Meinung  dahin,  dass  der  junge  Mensch,  der  ihr 
anheimfalle,  aus  seiner  kirchlich  dogmatischen  Schulbildung  keine  feste  sittliche 
Weltanschauung,  die  sein  Gemüth  und  sein  Denken  befriedige,  mitbringe.  Das 
machen  sich  die  Führer  der  Socialdemokratie  zu  nutze,  sie  bieten  ihm  die 
Weltanschauung  des  atheistischen  Materialismus.  Der  junge  Mensch  werfe 
uun  seine  alte  kirchlich-dogmatische  Weltanschauung,  welche  er  mit  dem  Ge- 
dächtnisse aufgenommen  habe,  beiseite,  damit  zugleich  aber  auch  die  ewig 
wahren,  religiösen  und  sittlichen  Wahrheiten,  die  man  ihm  nur  in  Verbindung 
mit  der  kirchlich-dogmatischen  Weltanschauung  geboten  habe.  Die  atheistische 
Weltanschauung  könne  dem  Menschen  die  innere  Befriedigung  auch  nicht 
geben.  So  wachse  ein  Mensch  heran,  dem  die  religiös  sittlichen  Ideale  fehlen, 
der  nur  seine  Sinneslust  zu  befriedigen  sucht,  der  mit  Hass  und  Neid  gegen 


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die  besitzenden  Classen  erfüllt  sei,  die  wiederum  ängstlich  sich  von  ihm  zu- 
rückzögen, für  seine  Lebensbedingungen  kein  Verständnis  hätten,  von  denen 
er  und  seine  Kinder  schon  vom  ersten  Schultage  an  getrennt  würden.  Darum 
sei  die  allgemeine  Volksschule  eines  der  Heilmittel  gegen  die  Ursachen  der 
Socialdemokratie.  Die  nationale  Einigung  des  deutschen  Volkes  müsse  zur 
wahren  Homogenität  desselben  ausgebildet  werden,  und  diese  bestehe  nicht  in 
äußeren  Dingen,  sondern  in  der  Gemeinschaft  der  geistigen  und  sittlichen 
Grundlagen.  Die  Trennung  der  Kinder  vom  ersten  Schuljahre  an  nach 
Ständen  und  Confessionen  sei  eine  künstliche,  denn  alle  Menschen  sind  in 
ihrem  Wesen  gleich  und  allgemeine  Emporbildung  zu  reinem  Menschenthum 
ist  Zweck  und  Aufgabe  der  Erziehung  bei  allen  Menschen."  Durch  die  all- 
gemeine Volksschule  werde  der  Mensch  zu  einem  religiös-sittlichen  Charakter, 
der  sein  Eigenwol  dem  Wole  des  Ganzen  unterordnen  und  sich,  wenn  auch 
die  Bildungs-  und  Berufswege  auseinandergehen,  doch  als  Glied  des  nationalen 
Ganzen  fühle.  Durch  sie  werde  der  Classenhass  verbannt  und  edler  Gemein- 
sinn  unter  den  Gliedern  der  Nation  erzeugt.  Es  werde  durch  sie  zwischen 
reich  und  arm  ein  Band  gegenseitiger  Liebe  und  Wertschätzung  geknüpft, 
das  Verständnis  der  Lebensverhältnisse  der  verschiedenen  Stände  unterein- 
ander, vor  allem  aber  der  vertrauliche  Verkehr  von  Person  zu  Person  ange- 
bahnt. Auch  die  besitzenden  Classen  würden  mehr  Interesse  an  der  Volks- 
schule gewinnen,  man  werde  kleinere  Klassen  bilden  n.  s.  w.  Auch  werde 
man  Volkskindergärten  einrichten.  Ebenso  werde  sich  mehr  Verständnis  für 
die  äußere  Lage  der  Lehrer  herausbilden.  Redner  geht  dann  zur  Organi- 
sationsfrage der  deutschen  Xationalschule  über,  deren  Unterbau  die  allge- 
meine Volksschule  zu  bilden  habe.  Des  Näheren  begründet  er  dann  noch  die 
folgenden  Leitsätze: 

I.  Die  Schule  kann  an  der  Lösung  der  socialen  Frage  dadurch  mitarbeiten, 
dass  sie,  soweit  es  die  ihr  zu  Gebote  stehenden  Mittel  gestatten,  alle  Glieder 
der  Nation  zu  möglichst  vollkommener  Entwickelung  ihrer  körperlichen, 
geistigen  und  sittlichen  Kräfte  im  nationalen  Sinn  und  Geist  bringt  und  eine 
Jugend  erzieht,  die  frei  ist  von  Standesvorurtheilen  und  erfüllt  ist  von  edlem 
Gemeinsinn  und  echter  Vaterlandsliebe. 

II.  Die  pädagogischen  Vorbedingungen  einer  so  gearteten  Schulerziehung 
können  am  vollkommensten  erfüllt  werden  durch  eine  Schnlorganisation,  durch 
welche  die  Angehörigen  aller  Stände  nach  Möglichkeit  zusammengeführt  werden 
und  für  den  Übertritt  aus  den  niederen  Stufen  in  die  höheren  durch  den 
organischen  Zusammenhang  aller  Schulanstalten  Sorge  getragen  wird. 

III.  Ans  diesen  Gründen  erhebt  der  IX.  Deutsche  Lehrertag  folgende 
Forderungen : 

1.  a)  Staat  und  Gemeinde  sollen  für  die  gemeinsamen  Bildungsbedürf- 
nisse auch  nur  gemeinsame,  allen  in  gleicher  Weise  zugängliche  Bildungs- 
anstalten  errichten. 

b)  Insbesondere  soll  für  den  allen  Kindern  nothwendigen  Elementar- 
unterricht nur  eine  Art  von  öffentlichen  Schulen  vorhanden  sein  und  sollen 
daneben  auf  Kosten  des  Staates  oder  der  Gemeinde  besondere  Vorschulen 
für  höhere  Lehranstalten,  Mittel-  und  höhere  Mädchenschulen  nicht  errichtet 
noch  organisch  damit  verbunden  werden.  Die  bestehenden  Vorschulen  sind 
aufzuheben. 


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2.  Auf  diesem  gemeinsamen  Unterbau,  der  „allgemeinen  Volksschule", 
bauen  sieb  auf: 

a)  die  Bürgerschule  (niedere)  und  deren  Fortsetzung,  die  Fortbildungs- 
schule; 

b)  die  höhere  Bürgerschule  (Mittel-,  Real-  und  höhere  Mädchenr chule) ; 

c)  die  höheren  Lehranstalten  (Oberrealschule,  Gymnasium  n.  s.  w.). 

3.  Die  vorhaudenen  Einrichtungen,  welche  begabten  ärmeren  Kindern 
den  Besuch  der  höheren  Lehranstalten  ermöglichen  (Befreiung  von  Schul- 
geld, kostenfreie  Alumnate  u.  s.  w.)  bedürfen  einer  weiteren  Ausdehnung 
und  werden  der  öffentlichen  und  privaten  Fürsorge  empfohlen. 

Der  Vortrag  wurde  oft  von  stürmischem  Beifall  unterbrochen  und  zum 
Schlüsse  langanhaltend  damit  ausgezeichnet.  (Wir  bemerken,  dass  derselbe 
zum  Preise  von  40  Pfennig  in  der  Meyer -Mai  kau  sehen  „Sammlung  päda- 
gogischer Vorträge"  [Bielefeld]  erschienen  ist.)  Den  von  Scherer  aufgestellten 
Leitsätzen  wurde  ohne  weitere  Besprechung  zugestimmt. 

Auch  die  II.  Hauptversammlung  am  Vormittag  des  8.  Juni  wurde 
mit  dem  Gesang  einer  Motette  („Unermesslich  ewig  ist  Gotttt)  eröffnet.  „Die 
Vorbildung  der  Volksschullehrer"  hieß  der  erste  Verhandlungsgegen- 
stand, Rektor  R.  Rissmann,  Berlin,  der  Redner.  In  bekannter  klarer  und 
wissenschaftlich  ruhiger  Vortragsweise  begründete  derselbe  die  folgenden 
Leitsätze: 

1.  Die  gegenwärtige  Vorbildung  des  Volksschullehrers  kann  gegen- 
über den  heutigen  Anforderungen  an  den  Lehrerberuf  nicht  als  genügend 
anerkannt  werden. 

2.  Behufs  einer  zweckmäßigen  Gestaltung  derselben  erscheint  in  erster 
Linie  eine  solche  Organisation  der  Lehrerbildungsanstalten  nothwendig,  dass 
dieselben  im  wesentlichen  nur  der  pädagogischen  Fachbildung  zu  dienen 
haben. 

3.  Die  als  Grundlage  der  letzteren  unerlässliche  allgemeine  Bildung  ist 
am  zweckmäßigsten  durch  Absolvirung  einer  der  bestehenden  höheren 
Bildungsanstalten,  vorzugsweise  der  Oberrealschule  zu  erwerben. 

4.  Es  ist  uneriässlich,  dass  die  an  Seminaren  wirkenden  Lehrer  neben 
der  erforderlichen  wissenschaftlichen  Bildung  auch  eine  durch  eigene  Er- 
fahrung gewonnene  genügende  Kenntnis  des  Volksschulwesens  besitzen. 

5.  Eine  Sonderung  der  Seminare  nach  der  Confession  ihrer  Zöglinge 
ist  aus  der  Eigenart  dieser  Schulgattung  nicht  zu  begründen.  Vielmehr 
folgt  aus  der  Auffassung'des  Seminars  als  einer  Fachschule  die  Einrichtung 
paritätischer  Anstalten. 

6.  Es  empfiehlt  sich,  die  Seminare  an  größeren  Orten  oder  doch  in 
deren  Nähe  anzulegen,  damit  die  an  solchen  vorhandenen  mannigfachen 
Bildungsmittel  den  Zöglingen  nutzbar  gemacht  werden  können. 

7.  Das  Internat  ist  nicht  als  eine  für  die  Erziehung  der  künftigen 
Lehrer  unentbehrliche  Einrichtung,  sondern  lediglich  als  eine  Veranstaltung 
zur  Unterstützung  bedürftiger  Zöglinge  zu  betrachten.  In  keinem  Falle 
darf  die  Hausordnung  desselben  eine  solche  sein,  welche  die  Zöglinge  von 
der  Außenwelt  abschließen  und  die  Entwickelting  selbstständiger  Charaktere 
hindern  würde. 

8.  Dem  Volksschnllehrer  ist  auf  Grund  seiner  Seminarbildung  unter 


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—    659  — 


Voraussetzung  hervorragender  praktischer  Leistungen  die  Befähigung  zur 

Bekleidung  eines  Schulaufsichtsamtes  zuzuerkennen. 

Der  Vortrag  wurde  äußerst  beifällig  aufgenommen;  die  Besprechung  ge- 
staltete sich  ebenfalls  sehr  lebhaft.  Wir  können  nur  ein  paar  der  Redner 
herausgreifen:  Hauptlehrer  Gressler,  Barmen,  der  bekanntlich  mit  50  Mark 
Ordnungsstrafe  belegt  wurde,  weil  er  gegen  den  Zedlitz'schen  Schulgesetz- 
entwurf mehrmals  öffentlich  aufgetreten  ist.  Dieser  Ursache  entsprang  sonder 
Zweifel  auch  der  großartige  Begrüßungssturm,  mit  dem  der  Redner  empfangen 
wurde.  Landtagsabgeordneter  Lehrer  Kalb,  Gera,  verwahrt  die  Schule 
davor,  immer  und  immer  mit  der  Sozialdemokratie  in  Verbindung  gebracht  zu 
werden.  Universitätsprofessor  Dr.  Rein,  Jena,  stimmt  den  Forderungen  des 
Vortragenden  nicht  nur  aus  pädagogischen,  sondern  auch  aus  socialpolitischen 
Gründen  zu.  Schulinspector  Scherer,  Worms,  will  als  Vorbereitungsanstalt  für 
das  Seminar  die  Oberrealschule  statt  der  von  Rissmann  ursprünglich  genannten 
höheren  Bürgerschule  anerkannt  wissen.  Reg.-  und  Schulrath  Schöppa,  Magde- 
burg, hält  an  der  Vorbildung  der  Seminaristen  auf  Präparanden-Anstalten  fest, 
deren  Verbesserung  er  freilich  für  nöthig  erachtet.  —  Auch  beim  zweiten  Gegen- 
stande der  Tagesordnung,  „Die  Behandlung  der  verwahrlosten  und  sitt- 
lich gefährdeten  Jugend"  von  Lehrer  und  Redacteur  Helmcke,  Magde- 
burg, müssen  wir  uns  vorgeschriebener  Kürze  halber  begnügen  mit  Wieder- 
gabe der  Leitsätze,  die  keine  Besprechung,  wol  aber  im  allgemeinen  Zu- 
stimmung erfahren.    Sie  lauteten: 

1.  Nur  eine  sorgsame  Erziehung,  nicht  aber  eine  einzelne  Strafe,  die 
blos  ein  Glied  in  der  Kette  der  Erziehungsmaßnahmen  sein  kann,  vermag 
einem  sittlich  verdorbenen  oder  gefährdeten  Jugendlichen  diejenige  sittliche 
Reife  und  Charakterstärke  zu  verleihen,  welche  allein  auf  die  Dauer  von 
Strafthaten  abhält. 

2.  Aus  mehrfachen  erziehlichen  Gründen  muss  die  Strafunmündigkeit 
mindestens  bis  zum  14.  Lebensjahre  ausgedehnt  werden. 

3.  Sowol  über  bereits  Bittlick  verwahrloste  Kinder  unter  14  Jahren, 
ganz  gleich,  ob  ihre  Verwahrlosung  bereits  in  einer  Strafthat  Ausdruck  ge- 
funden hat  oder  nicht,  als  auch  über  solche  Kinder,  deren  sittliche  Ver- 
wahrlosung zu  befürchten  steht,  weil  bereits  Anfänge  derselben  deutlich 
erkennbar  sind  oder  die  Persönlichkeit  der  Eltern  oder  sonstige  Verhältnisse 
eine  solche  herbeifuhren  müssen,  ist  staatlich  überwachte  Erziehung  zu  ver- 
hängen. 

4.  Die  Aufgabe  jeder,  also  auch  der  staatlich  überwachten  Erziehung 
ist  die  Heranbildung  eines  sittlich  festen  Charakters.  Es  muss  daher  mög- 
lich sein,  diese  Erziehung,  falls  nicht  früher  die  Gewähr  einer  weiteren  guten 
Führung  vorhanden  ist,  bis  zum  20.  oder  21.  Lebensjahre,  der  Heeres- 
pflichtigkeit  der  männlichen  Jugend,  auszudehnen. 

5.  Auch  für  jugendliche  Verwahrloste  zwischen  14  und  18  Jahren  ist 
die  staatlich  überwachte  Erziehung  als  erstes  Mittel  zu  ihrer  Besserung  ins 
Auge  zu  fassen. 

6.  Eine  gerichtliche  Freiheitsstrafe  als  Zusatzstrafe  ist  bei  den  mit 
derselben  verknüpften  Bedenken  allein  dann  empfehlenswert,  wenn  nur 
durch  eine  vorangehende  bedeutende  Erschütterung  des  Gemüths  ein  Ein- 
gehen auf  eine  erziehliche  Einwirkung  ermöglicht  oder  durch  die  Aussicht 


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660  — 


auf  einen  Erlass  der  nachfolgenden  Strafe  die  Wirksamkeit  der  erziehlichen 
Maßnahmen  unterstützt  werden  kann. 

7.  Da  das  Beispiel  den  nachhaltigsten  Einfluss  ausübt,  so  muss  die 
Strafhaft  auf  jeden  Fall  so  gestaltet  werden,  dass  nachtheilige  Einwirkungen 
ferngehalten  werden. 

8.  Die  staatlich  überwachte  Erziehung  muss  im  allgemeinen  Anstalts- 
erziehung und  kann  nur  ausnahmsweise  in  bestimmten  leichteren  Fällen 
Familienerziehung  sein,  weil  solche  nicht  in  ausreichendem  Maße  beschafft 
weiden,  weniger  Sicherheit  für  einen  Erfolg  bieten  und  schwerer  tiberwacht 
werden  kann. 

9.  Um  dem  übel  der  sittlichen  Verwilderung  so  viel  als  möglich  auch 
die  ersten  Quellen  zu  verschließen,  ist  die  obligatorische  Einführung  von 
Krippen,  Kinderbewahran stalten  und  Kinderhorten  erforderlich. 

10.  Die  Erziehung  der  Jugend,  welche  verwahrlost  ist  oder  sittlich 
gefährdet  erscheint,  muss  durch  ein  Reichsgesetz  in  den  oben  bezeichneten 
Umrissen  geregelt  werden. 

Damit  war  die  Tagesordnung  erledigt  und  der  L  Vorsitzende  schloss  die 
Verhandlungen  mit  den  üblichen  Dankesworten. 

Soll  ich  diesem  kurzen  Berichte  ein  Urtheil  über  den  Verlauf  der  Ver- 
sammlung anhängen,  so  kann  ich  dasselbe  nur  dahin  zusammenfassen,  dass  sich 
der  deutsche  Lebrertag  sowol  in  Bezug  auf  die  Verhandlungen,  wie  auch  im 
äußeren  Verlauf  durchaus  würdig  gestaltete. 

Möge  er  reichen  Segen  für  Schule  und  Lehrerstand  im  Gefolge  haben! 

Wilhelm  Meyer,  Duisburg. 


Aus  Preußen.  Wir  blieben  nicht  in  Canossa!  Ein  Flügelschlag  des 
Hohenzollern-Aars  wehte  das  dunkelste  Blatt  unserer  Zeitgeschichte  fort  und 
trug  uns  über  die  düsteren  Mauern  hinweg,  welche  das  deutsche  Volk  ein- 
schließen sollten.  Der  Cultusminister  von  Zedlitz  verschwand  sammt  seinem 
Unterrichtsgesetz  wie  in  einer  Versenkung;  wir  aber  athmeten  erleichtert  auf. 
Wie  tröstlich  und  wie  traurig  zugleich!  Dass  es  erst  eines  Wortes  aus  des 
Kaisers  Munde  bedurfte,  um  das  Machwerk  hierarchischer  und  reactionärer 
Mächte  zu  beseitigen,  ist  nicht  so  schmerzlich,  als  dass  dieses  Machwerk  unter 
den  Augen  des  Kaisers  überhaupt  das  Licht  der  Welt  erblicken  konnte.  Tröstlich 
aber  war  es,  dass  das  Kaiserwort  gesprochen  wurde,  ehe  die  Sonne  diesen 
Gesetzentwurf,  den  die  Blitzstrahlen  der  Volksstimmung  versengt  hatten, 
beschien. 

Dürfen  wir  nun  ruhig  sein  und  sorgloser  Beschaulichkeit  uns  hingeben? 
Nichts  wäre  thörichter  und  verderblicher!  Der  traurigste  Gesetzentwurf,  der 
je  aus  den  Räumen  eines  deutschen  Unterrichtsministeriums  hervorgegangen, 
ist  zwar  gefallen  und  hat  in  dieser  Form  auf  keine  Auferstehung  zu  hoffen. 
Aber  die  Kräfte,  denen  er  sein  kurzes  und  ruhmloses  Dasein  verdankte,  sind 
geblieben  und  suchen  unaufhörlich  nach  den  Punkten,  wo  sie  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  ihre  Hebel  ansetzen  können.  Freilich  werden  sie  entschlossenem  Wider- 
stande begegnen  bei  einem  Bürgerthum,  das,  aufgerüttelt  aus  träger  und  trü- 
gerischer Ruhe,  mehr  als  sonst  seiner  Pflicht  und  Kraft  sich  bewusst  geworden 
ist,  bei  einem  Lehrerstande,  welcher  mit  Ausnahme  der  unter  hierarchischer 
Vormundschaft  Stehenden  und  einiger  geistig  oder  sittlich  verlotterter  Creatoren 


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nichts  wissen  will  von  einer  Knebelung  ä  la  Windthors  t-Stöcker;  aber  sie 
finden  andererseits  anch  treffliche  Stützen  in  einer  Gesellschaft,  die  vielfach 
von  moralischer  Fäulnis  benagt,  vom  Parteizwist  durchwühlt,  von  roher  Genuss- 
sncht  entnervt,  von  blöder  Kurzsichtigkeit  befangen  ist.  Da  wird  es  denn 
eifriger  und  anhaltender  Thätigkeit  bedürfen,  wenn  eine  dauernde  Besserung 
unserer  Zustande  bewirkt,  eine  Wiederkehr  Zedlitz'scher  Vorschlage  in  anderer 
Gestalt  und  Einkleidung  verhindert  werden  soll.  Möge  daher  die  Lehrerschaft 
wachsam  und  besorgt  sein,  dass  die  Vertheidiger  der  freien  Schule  ihr  Öl  auf 
der  Lampe  haben! 

Man  hat  in  der  preußischen  Lehrerpresse  den  Ausspruch  gethan,  es  sei 
nunmehr  auf  den  Erlass  eines  Dotationsgesetzes  mit  allen  Kräften  hin- 
zuarbeiten. Wir  sind  damit  ganz  einverstanden.  Die  Verbesserung  und  gesetz- 
liche Sicherung  des  Lehrer-Einkommens  ist  in  Preußen  eine  der  allerdring* 
lichsten  Angelegenheiten.  Und  dass  es  nicht  möglich  ist,  ein  vollständiges 
Unterrichtsgesetz  mit  einemmal  fertig  zu  bringen,  wird  wol  endlich  all- 
gemein zugestanden  werden.  Diese  Ansicht  ist  so  verbreitet,  dass  sie  bereits 
in  der  Formel  Ausdruck  gefunden  hat:  „Jeder  preußische  Cultusminister,  der 
sich  an  ein  Unterrichtsgesetz  heranwagt,  muss  seinen  Abschied  nehmen."  So 
sagt  der  treffliche  L.  Clausnitzer  in  der  „Preuß.  Lehrerztg.",  und  er  nennt 
das  ein  Naturgesetz,  gegen  welches  niemand  ankämpfen  könne.  Es  liegt  darum 
nahe  genug,  die  stückweise  Lösung  der  Aufgabe  zu  verlangen  und  die  Erledi- 
gung der  Dotationsfrage  als  nächstes  Ziel  anzusehen.  Aber  was  kann  die 
preußische  Lehrerschaft  von  einem  Dotationsgesetz  erwarten,  das  bei  der 
jetzigen  Zusammensetzung  des  Landtages  zu  stände  käme?  Sollten  die  Par- 
teien, welche  für  den  Zedlitz'schen  Entwurf  einzutreten  entschlossen  waren, 
den  Lehrern  ihre  Haltung  gegenüber  jenem  Entwurf  verzeihen?  Würden  sie 
nicht  vielmehr  in  ein  Dotationsgesetz  ihre  Quittung  und  ihren  Dank  mit 
Lapidarzügen  einschreiben,  so  dass  den  Lehrern  die  Freude  verginge? 

Nach  unserem  Dafürhalten  müssen  die  preußischen  Lehrer  weiter  warten, 
wie  sie  bisher  warten  mussten.  Es  ist  eine  eiserne  Nothwendigkeit,  welche 
nur  durch  große  Ereignisse  beseitigt  werden  kann  und  —  beseitigt  werden 
wird.  Durch  den  gegenwärtigen  Landtag  werden,  dank  der  clerieal-conser- 
vaüven  Mehrheit,  die  Wünsche  der  Lehrerschaft  niemals  Befriedigung  finden. 
Ob  es  bei  einem  zukünftigen,  anders  zusammengesetzten,  Landtag  anders  sein 
wird,  wollen  wir  nicht  vorhersagen.  Dass  aber  dann,  wenn  anscheinend  unaus- 
bleibliche, heftige  Stürme  unser  Land  und  Volk  erschüttert  haben  —  Gott 
verhüte  es!  —  und  wenn  die  Nation  sich  daran  macht,  wieder  aufzubauen, 
was  des  Wetters  Wuth  zerknickt  —  dass  dann  unser  Volk  des  Lehrers  Wert 
und  Lehrers  Arbeit  besser  als  heute  schätzen,  dass  es  dann  seine  alten  Schulden 
dem  Lehrerstande  bezahlen  wird,  ist  unsere  felsenfeste  Überzeugung! 

Was  kann  also  die  Lehrerschaft  zur  Zeit  thun?  Soll  sie  hoffen  und  harren? 
Nein,  sie  hat  keine  andere  Wahl,  sie  kann  nur  warten  und  arbeiten!  Arbeiten 
wie  bisher  in  pflichtgetreuer  Weise,  ausdauernd,  selbstlos.  Jeden  Anlass  be- 
nutzend, welcher  der  Schule  und  ihr  selbst  förderlich  sein  kann,  soll  sie 
lebendigen  Antheil  nehmen  an  allen  Bestrebungen,  die  den  idealen  Gütern 
unseres  Cultur-  und  Volkslebens  dienen  wollen.  Wir  denken  dabei  besonders 
an  die  Mitarbeit  in  den  Vereinigungen,  welche  die  Veredelung  und  Bildung 
des  Volkes  zum  Zweck  haben.  Unaufhörlich  soll  die  Lehrerschaft  aber  auch 

Pädagogium.   14.  Jahrg.  Heft  X.  46 

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I 


—    662  — 

bestrebt  sein,  das  Volk  and  seine  Vertreter  aber  das,  was  das  wahre  Wol 
der  Schule  erheischt,  aufzuklären.  Die  diesjährige  Erinnerungsfeier  an  J.  A. 
Com en ins  bot  in  dieser  Hinsicht  einen  trefflichen  Anknüpfungspunkt,  und  wenn 
die  Lehrer  überall  eine  so  gute  Gelegenheit  zu  benutzen  verstanden  haben, 
so  werden  sie  manches  Samenkorn  in  fruchtbares  Erdreich  gestreut  haben. 
Ebenso  nützlich  kann  auch  dnrch  Veranstaltung  von  Versammlungen,  pädago- 
gischen Ausstellungen,  geeignete  Abhandlungen  über  pädagogische  Fragen  von 
allgemeinem  Interesse  gewirkt  werden.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  fassen 
wir  Veröffentlichungen  wie  diejenigen  über  den  preußischen  Unterrichtsgesetz- 
entwurf (Tews),  über  Beobachtungen  in  pädagogisch  fortgeschrittenen  Ländern 
(Ewald's  Bericht  über  eine  Studienreise  nach  der  Schweiz)  u.  a.  auf. 

Die  Stimmung  der  preußischen  Lehrer,  soweit  dieselben  am  Öffentlichen 
Leben  Antheil  nehmen,  ist  augenblicklich  nicht  so  trübe,  wie  sonst.  Hatte 
ihnen  schon  der  Fall  der  „lex  Zedlitz"  die  tiefste  Unmuthsfalte  von  der  Stirn 
gescheucht,  so  riefen  zwei  andere  Vorkommnisse  auch  noch  ein  paar  freund- 
liche Linien  in  ihrem  Gesichte  hervor.  Der  neue  Cultusminister  Dr.  Bosse 
ist  ein  Freund  der  allgemeinen  Volksschule!  In  dem  Augenblicke,  in 
welchem  die  deutsche  Lehrerschaft  sich  anschickte,  in  größerer  Versammlung 
zu  dieser  Frage  Stellung  zu  nehmen  (auf  dem  Lehrertage  in  Halle),  benutzte 
der  Minister  eine  Verhandlung  über  die  Gehaltsverhältnisse  der  Lehrer  an 
nichtstaatlichen  höheren  Lehranstalten,  um  sich  ganz  unzweideutig  gegen  die 
Vorschulen  und  für  die  allgemeine  Volksschule  auazusprechen.  Ganz  die- 
selben Gründe,  welche  die  Lehrerschaft  für  letztere  geltend  macht,  spricht 
der  Minister  aus.  Was  aber  die  Lehrerschaft  nicht  vermocht  hat,  auch  nicht 
mit  Hilfe  eines  der  hervorragendsten  Parlamentarier  der  Gegenwart  —  nämlich 
des  Abgeordneten  Rickert,  der  in  der  Commission  zur  Vorberathung  des 
Zedlitz'schen  Entwurfes  einen  Antrag  auf  Einschränkung  des  Vorschulwesens 
stellte  — :  weitere  Kreise  zur  Besprechung  und  Klärung  des  Gegenstandes  zu 
veranlassen,  das  haben  wenige  Worte  des  Ministers  vermocht.  Eine  in  neuerer 
Zeit  erschienene  Schrift  über  die  allgemeine  Volksschule,  durch  Kürze  und 
übersichtliche  Znsammenstellung  des  einschlägigen  Materials  zur  Einführung 
in  die  Sache  namentlich  für  Nichtlehrer  geeignet,  war  sehr  vielen  Tagesblättern 
zugestellt  worden;  sie  wurde  im  großen  und  ganzen  todtgesch wiegen.  Die 
Worte  des  preußischen  Unterrichtsministers  wird  man  nicht  todtschweigen ! 
Allenthalben  erhebt  sich  die  Discussion  über  die  allgemeine  Volksschule.  Die 
Beschlüsse  des  Halle'schen  Lehrertages  werden  hoffentlich  ein  lebhaftes  Echo 
finden.  Diese  Erwartung  und  der  Verlauf  der  ebenerwähnten  Versammlung 
können  wol  als  lichtvolle  Augenblicke  in  dem  sorgenreichen  Dasein  der  Lehrer- 
schaft angesehen  werden.  In  Halle  war  wiederum  der  Kern  des  deutschen 
Lehrerstandes  vertreten,  nnd  wiederum  zeigte  es  sich,  dass  die  planmäßige, 
stetige  Arbeit  in  unseren  Lehrervereinen  das  vorzüglichste  Mittel  ist,  um  die 
Meinungen  und  Bestrebungen  der  Mehrheit  zu  einem  deutlichen  und  klaren 
Gesammtausdruck  durchzubilden.  Mag  immerhin  noch  manches  daran  zu  be- 
mängeln sein:  dem  aufmerksamen  Beobachter  wird  ein  sicherer,  wenn  auch 
langsamer  Fortschritt  nicht  entgehen!  Wie  fein  nnd  doch  wie  wirksam  war 
die  Abwehr,  welche  der  diesjährige  Lehrertag  den  auf  Herabdrücknng  der 
Lehrerbildung  gerichteten  Bestrebungen  zn  theil  werden  ließ!  Welch  kläg- 
liche Rolle  spielen  gegenüber  der  lichtvollen,  überzeugenden  und  auf  die  Höhen 


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des  menschlichen  Denkens  hinaufführenden  Rede  über  die  Lehrerbildung  (R. 
Rissmann  - Berlin)  jene  Männer,  die  in  kurzsichtiger  oder  boshafter  Ver- 
leumdung des  heutigen  Lehrerstandes  und  Verschlechterung  des  Lehrerbildungs- 
wesens ihre  Aufgabe  erblicken!  Und  mit  gerechter  Befriedigung  konnte  es 
wol  jeden  Theilnehmer  erfüllen,  wenn  er  Zeuge  war,  in  welcher  durchschlagen- 
den und  geradezu  vornehmen  Weise  einer  der  höchsten  und  einflussreichsten 
Schulbeamten  Preußens  durch  den  einfachen  Volksschullehrer  berichtigt  wurde. 
Denn  kein  Geringerer  als  der  Wirkliche  Geheime  Ober-Regierungsrath  Dr. 
Schneider,  Mitarbeiter  Falk's  und  Verfasser  der  „Allgemeinen Bestimmungen" 
von  1872,  hatte  vor  wenigen  Wochen  im  Abgeordnetenhause  Äußerungen  fallen 
lassen,  welche  die  Befürchtung  hervorriefen,  es  könne  in  hohen  Regionen  eine 
Verringerung  der  Lehrerbildung  in  Preußen  geplant  werden.  Ein  reactionär- 
conservativer  Landrath  hatte  im  preußischen  Abgeordnetenhause  seiner  Auf- 
fassung über  Lehrerbildung  in  einer  Weise  Ausdruck  gegeben,  dass  jedem 
Lehrer  die  Röthe  des  Zornes  und  der  Entrüstung  ins  Angesicht  steigen  musste, 
und  —  der  anwesende  Vertreter  der  Königl.  Staatsregierung,  der  Wirkliche 
Geheime  Ober-Regierungsrath  Dr.  Schneider,  von  dem  die  Lehrerschaft  eine 
ernste  Zurückweisung  derartiger  Äußerungen  erwarten  durfte,  trat  dem 
Redner  nicht  nur  nicht  entgegen,  sondern  bestätigte  bis  zu  einem  gewissen 
Umfange  dessen  Anschauungen.  Er  bezeichnete  „das  Maß  des  positiven  Wissens, 
was  auf  dem  Wege  zum  Lehramt  erreicht  werden  soll",  als  „nicht  sehr  wesent- 
lich über  das  Maß  des  Wissens"  hinausgehend,  „was  in  einer  guten  mehr- 
classigen  Volksschule  schon  erworben  werden  kann."  Mehr  konnten  die 
Treitschke,  Gerlich  und  Genossen  von  einem  Regierungsvertreter  nicht  ver- 
langen! Die  Lehrerschaft  aber  war  in  ihrem  tiefsten  Innern  getroffen.  Glück- 
licherweise fühlte  Herr  Dr.  Schneider  nachträglich,  was  er  angerichtet  hatte, 
und  in  einer  Erklärung  des  „Reichsanzeigers"  wurde  den  aas  seiner  Auslassung 
hervorgegangenen  Befürchtungen,  freilich  etwa  21/*  Monate  verspätet,  mit  der 
Versicherung  entgegengetreten,  „dass  an  eine  Änderung  der  allgemeinen  Be- 
stimmungen vom  15.  October  1872,  sowie  überhaupt  an  eine  Herabdrückung 
der  Lehrerbildung  nicht  im  entferntesten  gedacht  wird".  Der  Halle'sche  Lehrer- 
tag hat  hierauf  die  Antwort  gegeben.  Sie  geht  dahin,  dass  die  bisherige  Art 
der  Vorbildung  des  Volksschallehrers  den  heutigen  Anforderungen  an  den 
Lehrerberuf  nicht  mehr  genügt  und  dass  eine  zweckmäßigere  Organisation 
des  Lehrerbildungswesens  nothwendig  ist. 

Wird  Ris8mann's  wirkungsvoller  Mahnruf,  den  der  9.  deutsche  Lehrertag 
sich  zu  eigen  machte,  ebenso  nachhaltig  nnd  erfolgreich  für  das  Lehrerbildungs- 
wesen in  Preußen  sein,  wie  es  einst  ein  ähnlicher  Ruf  des  Herausgebers  dieser 
Blätter  für  das  Königreich  Sachsen  gewesen  ist?  -ö- 

Aus  Ostpreußen.  Am  9.  Mai  feierte  der  „Ostpreußische  Provinzial- 
lehrerverein  das  50jährige  Amtsjubiläum  seines  liebenswürdigen  und  hoch- 
verdienten Vorsitzenden,  des  Herrn  Hauptlehrers  R.  Meier  in  Hufen  bei 
Königsberg.  Von  allen  Seiten,  nicht  nur  aus  der  nächsten  Umgebung,  sondern 
auch  aus  weiter  Ferne  erhielt  der  wackere  Jubilar  überaus  zahlreiche  Zeichen 
und  Kundgebungen  warmer  Anerkennung  und  aufrichtiger  Hochachtung,  und 
das  Fest  verlief  in  würdigster  und  erhebendster  Weise.  Um  nun  dem  Eindruck 
und  geistigen  Gehalt  desselben  Dauer  und  weitere  Verbreitung  zu  verleihen, 

46* 


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hat  der  Vorstand  des  Ostpr.  Prov.-Lehrervereins  unter  dem  Titel  „Meier- 
Album"  eine  Festschrift  herausgegeben,  welche  das  Bildnis  des  Jubilars,  die 
Biographie  desselben,  ferner  eine  Würdigung  seiner  Verdienste  um  den  Lehrer- 
stand, eine  Darstellung  seiner  Wirksamkeit  als  Redacteur  und  pädagogischer 
Schriftsteller,  sowie  die  demselben  zum  Jubiläum  gewidmeten  Huldigungen 
enthält.  Dieser  wertvolle  und  schöne  Inhalt  der  Festschrift  einerseits,  der 
wolthätige  Zweck,  dem  der  Ertrag  desselben  gewidmet  ist,  anderseits  lassen 
hoffen  und  wünschen,  dass  sie  recht  viele  Freunde  und  Abnehmer  finden  möge. 
Man  erhält  das  „Meier-Album"  portofrei  gegen  Mark  1,20  vom  Cassirer  des 
Ostpr.  Lehrervereins,  Herrn  Lehrer  Gimboth  in  Königsberg. 


*  Aus  Sachsen.  In  unserm  letzten  Berichte  des  Juniheftes  ist  leider  ein 
Irrthum  enthalten,  der  hiermit  richtiggestellt  werden  möge:  Das  Gesetz  über 
„die  Gehaltsverhältnisse  der  Lehrer  an  den  Volksschulen",  datirt  vom  4.Mai  1892, 
ist  —  nebst  den  Pensionsgesetzen  —  vor  kurzem  im  „Verordnungsblatt  für 
das  Königreich  Sachsen"  veröffentlicht  worden,  und  wir  sehen  (mit  Er- 
staunen!), dass  §.  4,  welcher  die  Alterszulagen  regelt,  zweierlei  Bestim- 
mungen über  dieselben  trifft.  Die  Normirung  der  Dienstalterszulagen,  wie 
sie  Seite  581—82  dieses  Jahrg.  dargestellt  ist,  gilt  nämlich  nur  für  „ständige 
Lehrer  an  Volksschulen,  welche  mehr  als  40  Kinder  zählen";  denn  §.  4 
enthält  sodann  folgenden  Passus:  „Der  Gehalt  ständiger  Lehrer  an  Volksschulen 
von  40  und  weniger  Kindern  ist  in  jedem  der  angegebenen  sechs  Abschnitte 
ihrer  Dienstzeit  um  75  Mark  zu  erhöhen."  Dieser  Absatz  war,  wie  Seite  582 
angegeben,  in  den  Landtagsverhandlungen  bekämpft  worden  auf  Grund  der 
Thatsache,  dass  es  z.  Z.  nur  49  solcher  Schulen  im  Lande  gibt,  in  diesen  49 
Orten  aber  nur  30  ständige  Lehrer  angestellt  sind,  während  in  den  19  übrigen 
Hilfslehrer  den  Schuldienst  versehen,  die  nach  wenigen  Jahren  in  andere 
Stellen  übergehen,  woraus  sich  ergibt  ,  dass  infolge  der  bisherigen  geringeren 
Ausstattung  dieser  49  Schulstellen  nicht  genug  geeignete  Lehrkräfte  für  sie 
zu  finden  gewesen  sind.  Dennoch  ist  nicht  der  Mehrheitsantrag  der  Finanz- 
deputation, der  den  Passus  streichen  wollte,  sondern  der  Antrag  der  Minderheit 
angenommen  worden.  —  Es  ist  schade,  dass  diese  Berichtigung  nothwendig  war, 
und  dass  man  also  —  einen  Unterschied  mehr  hat  bestehen  lassen!  Doch 
muss  ja  unseren  Wünschen  etwas  übrig  bleiben!  Noch  will  ich  bemerken, dass 
mir  der  Irrthum  nicht  unterlaufen  wäre,  wenn  mich  nicht  das  sonst  völlig  zu- 
verlässige Amtsblatt  der  Resi de nz  ausnahmsweise  falsch  unterrichtet  hätte. 
Im  übrigen  war  unser  Bericht  vollständig  wahrheitsgetreu,  und  es  bleibt  nur  noch 
hinzuzufügen,  dass  sowol  das  Pensions-  als  das  Gehaltsgesetz  (rückwirkend)  be- 
reits mit  1.  Januar  1892  in  Kraft  getreten  und  neuerdings  auch  von  einigen  pä- 
dagogischen Blättern  ihrem  vollen  Wortlaute  nach  abgedruckt  ist:  „Sächs.  Schul- 
zeitung" Nr.  21  und  22,  „Padag.  Revue"  (Wurzen-Leipzig,  Ad.  Thiele)  Nr.  86. 

Dem  Gesetz,  wie  es  nun  im  Verordnungsblatte  steht,  sieht  man  es  nicht 
an,  dass  es  viel  Kampf  gekostet  hat,  dessen  ich  keine  weitere  Erwähnung 
gethan  habe,  weil  die  geehrten  Leser  des  „Pädagogiums"  längst  wissen,  dass 
nichts,  wenigstens  nichts  Gutes  ohne  Kampf  gewonnen  wird.  Da  ich  jedoch 
einmal  am  Schreiben  bin,  will  ich  hierüber  noch  ein  Wort  nachtragen:  Ver- 
hältnismäßig nobel  ging  es  in  der  zweiten  Kammer  her  bei  den  Berathungen 
über  die  „Lehrervorlagen."     Wir  haben  aber  auch  eine  erste  Kammer, 


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—   665  — 

welche  dem  preußischen  Herrenhaide  mit  seinen  Junkern  gleicht,  and  in  dieser 
wurde  bei  der  Schlussberathung  am  31.  März  etwas  Erkleckliches  geleistet 
an  nnmotivirbaren  Angriffen  auf  den  Lehrerstand.  Es  traten  drei  Kammer- 
herren auf,  deren  erster  durch  eine  geradezu  unbändige  und  banale  Bede  die 
Lehrer  zähmen  wollte;  es  wurde  diesen  Rednern  aber  wenigstens  von  einem 
sehr  vernünftig,  wenn  auch  zu  maßvoll  und  zartfühlend  entgegnet  —  vom 
Herrn  Unterrichtsminister.  Von  den  drei  Kammerherren  könnte  man,  Unland 
variirend,  sagen:  So  standen  sie  da  „und  sprachen,  die  drei",  doch  kam  nichts 
Gescheites  heraus  dabei!  Darum  wollen  wir  uns  auch  nicht  weiter  damit  be- 
fassen, sondern  Mos  noch  bemerken,  dass  ihre  Namen,  die  jedenfalls  in  „kein 
Lied,  kein  Heldenbuch "  übergehen  werden,  sowie  ihre  Worte,  die  sich  von 
selbst  richten,  schon  durch  die  „Allgem.  Deutsche  Lehrerzeitung"  (92,  Nr.  18, 
Seite  175 — 76)  der  Öffentlichkeit  unterbreitet  worden  sind. 

Nach  den  Ergebnissen  der  Abgangsprüfungen  der  höheren  Lehran- 
stalten Sachsens  ist  der  Besuch  der  (lateinlosen)  Realschulen  in  stetigem 
Wachsen  begriffen.  Es  zeigt  sich,  dass  der  Besuch  der  Gymnasien,  während 
die  Frequenz  der  Realanstalten  ununterbrochen  zunimmt,  seit  1886  in  stetem 
Rückgang  begriffen  ist,  sowie  dass  die  Schülerzahl  beider  Arten  von  Real- 
anstalten zusammengenommen  die  Schülerzahi  der  Gymnasien  alljährlich  über- 
steigt und  dieses  Übergewicht  der  Realanstalten  in  fortwährendem  Wachsen 
ist.  Mittheilungen  aus  Preußen  besagen,  dass  man  von  der  einseitigen  Forde- 
rung des  humanistischen  Unterrichts  jetzt  auch  dort  zurückkommt  und  bestrebt 
ist,  die  der  Vorbereitung  für  den  praktischen  Lebenslauf  dienenden  lateinlosen 
Realschulen  zu  vermehren. 

Auffallend  ist  die  Thatsache,  dass  in  keinem  Jahre  ein  so  außerordent- 
licher Zudrang  zu  den  sächsischen  Lehrerseminaren  stattfand,  wie  Ostern 
1892.  (S.  „Pädagogium 44  Februarheft  1888  und  Juniheft  1890,  Rundschau!) 
Die  Ursachen  dieses  Andranges  mögen  jedenfalls  folgende  sein:  Der  z.  Zt. 
stockende  Geschäftsgang  in  Handel  und  Gewerbe;  die  von  der  Regierung  und 
den  Ständen  beschlossene  materielle  Besserstellung  der  Lehrer,  ihrer  Witwen 
nnd  Waisen;  ein  genaueres  Bekanntwerden  der  Vortheile  und  Vergünstigungen, 
die  durch  die  Einrichtungen  der  Seminare  gewährt  sind;  der  Umstand,  dass 
die  Seminare  wenigstens  zu  den  höheren  Lehranstalten  gerechnet 
werden  (Gesetz  über  die  Gymnasien,  Realschulen  und  Seminare  von  1876), 
obgleich  ihr  Abgangszeugnis  nicht  zum  Einjährig-Freiwilligendienst  berech- 
tigt und  also  dem  der  übrigen  höheren  Schulen  nicht  volkommen  gleichwertig 
erachtet  wird;  endlich  die  Möglichkeit,  unter  gewissen  Bedingungen  (wenn  die 
I.  oder  die  „II.  Censur  mit  Empfehlung"  erlangt  wird)  zum  Besuche  der 
Landesuniversität  überzugehen  u.  a.  m. 


Aus  dem  Großherzogthum  Baden.  (Ende  Mai.)  Ein  alter  Satz,  der 
sich  auf  Erfahrung  gründet,  besagt,  dass  man  die  Culturhöhe  der  Leiter  von 
Staats-  und  Gemeindewesen  an  dem  Interesse,  das  sie  dem  Schulwesen  ent- 
gegenbrächten, mit  fast  apodiktischer  Sicherheit  erkennen  könne.  Dieser  Satz, 
auf  Baden  angewandt,  stellt  ihm  das  günstigste  Zeugnis  aus.  Am  6.  Mai  nahm 
die  I.  badische  Kammer  den  von  der  II.  Kammer  berathenen  und  einstimmig 
angenommenen  neuen  Schulgesetzentwurf  ebenfalls  einstimmig  an,  ohne 
irgendwelche  Änderungen  an  demselben  vorgenommen  zu  haben.  Die  Sanction 


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—    666  — 

diese»  Gesetzes  durch  den  schul-  und  lehrerfreondlichen  Landesherrn,  welcher 
vor  wenigen  Tagen  (am  29.  April)  auf  eine  reichgesegnete  vierzigjährige 
Regierung  zurückblicken  konnte  und  dem  ohne  Unterschied  der  Parteien  alle 
Herzen  seiner  Unterthanen  in  dankbarer  Liebe  und  Verehrung  entgegenschlagen, 
steht  unmittelbar  bevor.  Der  Berichterstatter  der  Commission  der  I.  Kammer 
betonte  in  seinem  Schlnsswort,  dass  das  Gesetz,  welches  die  rechtliche  und 
finanzielle  Lage  der  Lehrer  regele,  eines  der  wichtigsten  der  ganzen  Tagung 
sei;  wer  die  Schule  habe,  dem  gehöre  die  Zukunft.  Die  Wünsche  der  Lehrer 
würden  durch  das  Gesetz,  soweit  es  möglich  gewesen,  erfüllt.  —  Wir  stimmen 
diesen  Worten  bei  und  bekennen  mit  Freude,  dass  die  badische  Lehrerschaft 

—  ungeachtet  einer  verschwindenden  Ausnahme  derjenigen  Kategorie,  die  ihren 
Verstand  nicht  durch  Nachdenken  zu  belästigen  pflegt —  mit  dem  neuen  Gesetz 
zufrieden  und  den  Factoren,  die  am  Zustandekommen  desselben  mitwirkten, 
zum  Danke  verpflichtet  ist.  Wenn  auch  noch  nicht  alle  berechtigten  Wünsche 
der  Lehrer  in  dem  in  Rede  stehenden  Gesetze  erfüllt  sind,  so  muss  doch  an- 
erkannt werden,  dass  dasselbe  einen  colossalen  Fortschritt  bedeutet,  insonder- 
heit in  Bezug  auf  die  „rechtliche  und  finanzielle  Lage"  der  Lehrer.  Uns  ist 
kein  deutscher  Staat  bekannt,  der  in  gleicher  Weise  seine  Schulgesetzgebung 
in  zeitgemäßer  Richtung  so  gestaltet  hätte,  wie,  um  mit  Herrn  von  Zedlitz  zu 
reden,  der  „liberale  Musterstaat  Baden".  (Was  indessen  diese  Bezeichnung 
betrifft,  so  muss  constatirt  werden,  dass  sie  —  den  ostpreußischen  Kraut-  und 
Schlotjunkern  conservativer  und  muckerischer  Sippe  zum  Trotz  —  bezüglich 
des  neugeordneten  Volksschulwesens  vollkommen  zutreffend  ist.)  Vor  allem 
müssen  wir  den  noblen  Ton,  die  würdige  und  wolwollende  Art  der  Abgeord- 
neten beider  Kammern  während  derBerathnng  des  Gesetzes  lobend  erwähnen; 
stets  wurde  die  Arbeit  der  Lehrer,  das  Verhalten  derselben,  ihre  in  Petitionen 
niedergelegten  Wünsche  etc.  in  freundlicher,  ja  zustimmender  Weise  be- 
sprochen; die  einzelnen  Parteien  wetteiferten  geradezu,  einander  zuvorzu- 
kommen. Dies  war  früher  nicht  immer  zn  constatiren.  Wenn  auch  einzelne 
Parteien  (namentlich  die  ultramontane)  diesmal  vielleicht  Nebenabsichten  ge- 
habt haben  mögen,  so  ändert  dies  an  der  Thatsache  nichts.  Dem  einmüthigen 
Wolwollen  der  Abgeordneten  ist  es  auch  wesentlich  zu  danken,  dass  die  Regie- 
rung, die  anfangs  aus  finanziellen  Rücksichten  hartnäckig  eine  von  der  II.  Kammer 
gestellte  bedeutende  Mehrforderung  nicht  bewilligen  zu  können  meinte,  doch 
endlich  nachgab.  Wie  nachträglich  bekannt  wird,  war  der  Hauptgegner  Finanz- 
minister Dr.  Ellstätter,  welcher  trotz  Steuerüberschüssen  „kein  christlich  Herz 
im  Bnsen  fühlte";  einem  on  dit  zufolge,  wurde  ihm  doch  zuletzt  „das  Herz 
bezwungen",  als  der  Großherzog  seinen  lehrerfreundlichen  Wunsch  und  Willen 
geäußert  und  sämmtliche  Abgeordneten  energisch  auf  ihrer  Forderung  beharrten. 

—  Die  definitiv  angestellten  Lehrer  erhalten  sonach  1100  Mark  Anfangsgehalt 
und  steigen  von  drei  zu  drei  weiteren  Dienstjahren  um  je  100 Mark  bis  zum 
Höchstgehalt  von  2000  Mark.  (Der  Regierungsentwurf  —  vergl.  „Psedagogium" 
VI.  Heft,  Seite  387  ff.  —  hatte  nur  1000  Mark  Anfangs-,  1800  Mark  Höchst- 
gehalt und  ein  Vorrücken  von  vier  zu  vier  Jahren  um  je  100  Mark  gefordert) 
Außer  diesem  Gehalt  hat  der  Lehrer  freie  Dienstwohnung  oder  einen  pensions- 
fähigen „Wohnungsgeldzuschuss",  welcher  —  je  nach  den  drei  Ortsclassen  — 
350,  210  oder  155  Mark  beträgt,  zu  beanspruchen.  Die  Vergütung  für  Ver- 
sehung des  Organistendienstes,  das  Honorar  für  die  drei  Fortbildungsschul- 


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stunden  (ä  Stunde  p.  a.  50  Mark),  die  Bezüge  für  jede  über  die  gesetzliche 
Höchstzahl  hinaus  ertheilte  wöchentliche  Unterrichtsstande,  ausgenommen  Turn- 
nnd  Arbeitsunterricht,  für  welche  jährlich  nur  25  Mark  —  für  Schulen,  in 
denen  der  Turnunterricht  nicht  auf  das  ganze  Jahr  sich  erstreckt,  nur  15  Mark 
für  jede  Wochenstunde  —  vergütet  wird,  bilden  das  nichtpensionsfHhige  Neben- 
einkommen. Definitive  Lehrerinnen,  sowie  die  nicht  etatmäßigen  Lehrer 
(Lehrerinnen)  erhalten  die  in  dem  Regierungsentwurf  vorgesehene  „Vergütung". 
(Kein  „Gehalt";  „Gehalte"  beziehen  nur  die  etatmäßigen  Beamten;  „Besoldung" 
bekommen  nur  die  vom  Großherzog  ernannten  Beamten  [Minister  etc.]:  „Ab- 
wechselung ergötzt")  Alle  übrigen,  im  Schulgesetzentwurf  auf  das  Einkommen 
bezüglichen  Propositionen  erhielten  Gesetzeskraft,  ausgenommen  die  „Über- 
gangsbestimmungen". Letztere  wurden  auf  Antrag  der  Abgeordneten-Commission 
so  geregelt,  dass  definitive  Lehrer  mit  15  Dienstjahren  sofort  1300,  mit  20 
Dienstjahren  1400,  und  mit  je  weiteren  5  Dienstjahren  100  Mark  mehr  bis 
zu  2000  Mark  erhalten.  Die  unständigen  Lehrer  treten  sofort  in  den  neuen 
Gehaltsbezug  ein.  —  Die  Pensions-  und  Witwenbezüge  (cfr.  „Psedagogium" 
S.  388!) richten  sich  nach  den  Bestimmungen  des  „Beamtengesetzes",  welchem 
die  Lehrer  als  ordentliche  Staatsbeamten  unterstehen.  Zur  Ergänzung  sei  noch 
angefügt,  dass  die  definitive  Anstellung  eines  Lehrers  nur  nach  erfolgreicher 
Ablegung  der  „Dienstprüfung  für  einfache  oder  erweiterte  Schulen"  möglich* 
ist;  diese  Prüfung  kann  nach  Verlauf  von  drei  Jahren  nach  der  Entlassung 
aus  dem  Seminar  gemacht,  muss  aber  nach  Verfluss  von  sechs  Jahren  mit  Er- 
folg bestanden  werden,  wenn  nicht  die  Streichung  des  Candidaten  aus  der 
Gandidatenliste  erfolgen  soll.  —  Die  definitive  Anstellung  richtet  sich 
nach  dem  jeweiligen  Bedarf,  d.  h.  nach  den  vorhandenen  vacant  gewordenen 
oder  neu  errichteten  Stellen;  nach  bestandener  Dienstprüfung  hat  jeder  Lehrer 
das  Recht,  sich  um  eine  —  zur  Bewerbung  ausgeschriebene  —  etatmäßige 
Stelle  zu  bewerben;  „jedoch  kann  mit  Zustimmung  der  betreffenden  Ortsschul- 
behörde auch  eine  Besetzung  ohne  Ausschreiben  stattfinden".  Vor  der  etat- 
mäßigen Besetzung  jeder  dieser  Stellen  „ist  der  Ortsschulbehörde  Gelegenheit 
zu  geben,  ihre  etwaigen  Bedenken  oder  besondere  Wünsche  zu  äußern.  Zu 
diesem  Zwecke  wird  der  Ortsschulbehörde  ein  nach  dem  Dienstalter  geordnetes 
Verzeichnis  der  als  Bewerber  aufgetretenen  oder  sonst  in  Betracht  kommenden 
Lehrer  (Lehrerinnen)  mitgetheilt".  (Das  Durchschnittsalter  der  Lehrer  bei  der 
definitiven  Anstellung  ist,  wie  das  der  übrigen  Staatsbeamten,  26  bis  28  Jahre.) 
In  Bezug  auf  Versetzung  der  Lehrer  bestimmt  das  Gesetz:  „Außer  dem 
Falle  der  Strafversetzung  kann  die  Versetzung  eines  etatmäßigen  Lehrers  ohne 
dessen  Zustimmung  (Beamtengesetz  §.  5)  nur  stattfinden,  nachdem  auch  die 
Ortsschulbehörde  der  Stelle,  von  welcher  der  Lehrer  entfernt  werden  soll, 
darüber  vernommen  worden  ist.  Lehrer,  gegen  welche  wegen  unzüchtiger 
Handlungen  mit  Schulkindern,  oder  nach  erlittener  gerichtlicher  Verurtbeilung 
wegen  eines  die  öffentliche  Achtung  entziehenden  Vergehens  Dienstentlassung 
ausgesprochen  worden,  dürfen  im  Schuldienste  nicht  wieder  verwendet  werden." 

Was  die  Benutzung  der  Schulgüter  seitens  der  Lehrer  betrifft,  so 
kann  dieser  sie  in  „Selbstbewirtschaftung"  nehmen,  verliert  aber  dadurch  die 
je  nach  dreijährigem  Verfluss  fällig  werdenden  Zulagen ;  beim  Verzicht  auf  die 
Benutzung  der  Schulgüter  steht  es  dem  Lehrer  zu,  dieselben  von  der  Gemeinde 
in  Pacht  zu  nehmen.  Hierdurch  tritt  das  unzweideutige  und  durchaus  gerecht- 


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—    668  — 


fertige  Bestreben  der  Behörde  zutage,  den  Lehrer  lediglich  auf  die  Tätig- 
keit in  seinem  Berufe  zu  beschränken.  (Die  Pflege  etc.  des  Schulgartens  wird 
nicht  als  Schulgutsbenutzung  aufgefasst.) 

Die  neugesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Beaufsichtigung  der 
Schulen  und  Lehrer  haben  in  der  badischen  Lehrerschaft  eine  sogenannte 
„gemischte  Aufnahme"  gefunden.  Das  Gesetz  kennt  nur  die  „Fachaufsicht4'. 
Dieselbe  wurde  aber  bisher  fast  ausschließlich  von  Nichtfachmännern,  nament- 
lich von  Theologen  (sogar  von  jungen  Caplänen  oder  Vicaren),  ausgeübt.  Wenn 
auch  in  neuester  Zeit  eine  Änderung  zum  Bessern  dadurch  eingetreten  ist,  dass 
man  „ Reallehrer "  zu  Schulaufsichtsbeamten  ernannte,  so  ist  damit  noch  nicht 
die  Fachaufsicht  als  solche  durch-  und  eingeführt.  Wir  meinen,  dieselbe  würde 
nur  dann  thatsächlich  stattfinden,  wenn  tüchtige  und  erfahrene,  in  der  Volks- 
schulpraxis stehende  Lehrer  zu  Rectoren  und  Kreisschulräthen  berufen 
würden.  Wir  begrüßen  daher  trotz  vielseitiger  und  gegenteiliger  Ansicht  in 
Lehrerkreisen  die  Bestimmung  des  neuen  Gesetzes,  wonach  „für  Volksschulen 
mit  mehreren  definitiven  Lehrern  durch  die  Oberschulbehörde  in  stets  wider- 
ruflicher Weise  bestimmt  wird,  welcher  der  einzelnen  dieser  Lehrer  die  Stelle 
des  „ersten  Lehrers"  (Oberlehrers)  einzunehmen  hat".  Dieser  „erste  Lehrer" 
hat  rectoratliche  Befugnisse  und  Sitz  und  Stimme  im  örtlichen  Schulvorstand. 
•  (Der  Schulvorstand  besteht  aus  dem  Bürgermeister  —  als  Vorsitzendem  — , 
dem  „ersten  Lehrer",  aus  je  einem  Pfarrer  (Rabbiner  und  freireligiösen  Pre- 
diger) der  im  Orte  vertretenen  Gonfession  und  aus  2  oder  3  vom  Gemeinde- 
rath gewählten  Bürgern.)  Der  „erste  Lehrer"  erhält  eine  Vergütung  von  100. 
bezw.  200  Mark  (vergl.  „Pjedagogium",  S.  338!).  Mit  dieser  Bestimmung  ist 
wenigstens  —  unserer  Ansicht  nach  —  der  Anfang  der  Fachaufticht  de  facto 
gemacht;  ans  der  Zahl  der  „Oberlehrer"  dürfte  es  dem  Oberschulrathe  leicht 
werden,  tüchtige  Kreisschulräthe  auszuwählen,  ohne  eine  Anleihe  bei  Fach- 
lehrern (Reallehrern),  die  der  Volksschulpraxis  durch  Anstellung  an  Mittel- 
schulen entfremdet  wurden,  oder  bei  Philologen  nnd  Theologen  zu  machen. 
Hoffen  wir  für  die  Zukunft  von  dieser  Einrichtung  das  Beste!  Recht  betrübend 
ist  es  jedoch,  dass  man  die  Lehrer  in  denjenigen  Städten,  welche  der  „Städte- 
ordnung" unterstehen,  nicht  für  befähigt  erklärt,  eine  Rectoratsstelle  zu  be- 
kleiden; diese  Befähigung  wird  nur  akademisch  gebildeten  Leuten  (dazu  ge- 
hören auch  bekanntlich  die  Theologen)  zuerkannt  (cfr.  „Pädagogium",  S.  389!)  — , 
mit  welchem  Recht  freilich,  —  das  ist  eine  andere  Frage,  die  wir  jedoch  dies- 
mal nicht  näher  erörtern  wollen.  Thatsache  ist,  dass  diese  Bestimmung  den 
städtischen  Lehrern  ein  testimonium  paupertatis  ausstellt  und  in  diesen  Kreisen, 
sowie  in  Bürgerkreisen  Verstimmung  bezw.  berechtigtes  Aufsehen  erregte. 

Auch  in  anderer  Beziehung  behandelt  das  neue  Gesetz  die  Lehrer  in  den 
größeren  Städten  stiefmütterlich;  zumeist  überlässt  es  den  betreffenden  Städten, 
die  nicht  alle  so  schul-  und  lehrerfreundlich  sind  wie  Mannheim  und  Carls- 
ruhe, die  Besoldungsverhältnisse  ihrer  Lehrer  zu  regeln,  so  dass  mindestens 
das  Gehalt,  welches  das  Gesetz  normirt,  bezahlt  werden  muss;  —  es  setzt, 
wie  die  Petition  des  Lehrervereinsvorstandes  (leider  vergeblich)  erbat,  keinen 
Höchstgehalt  fest.  Ferner  lässt  das  Gesetz  es  nicht  zn,  dass  —  entgegen  dem 
Beamtengesetz  —  das  von  dem  Lehrer  bezogene  Gehalt  in  diesen  Städten  voll 
zur  Anrechnung  bei  der  Pensionirung  kommt.  Wenn  die  betreffenden  Städte, 
kraft  des  Gesetzes,  keine  Pensionszuschüsse  gewähren,  so  müssen  alte,  seit 


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Decennien  in  diesen  Städten  lebende  nnd  wirkende  Lehrer  an  ihren  Lebens- 
abenden die  liebgewordene  Stätte  ihres  jahrelangen  Wirkens  verlassen  und 
sieh  anf  dem  Lande  ansiedeln,  da  es  unmöglich  ist,  dass  sie  mit  dem  gesetz- 
lichen Pensionsbezug:  in  den  Städten  bei  den  allerbescheidensten  Ansprüchen 
leben  können.  Wir  wollen  indessen  hoffen,  dass  die  betreffenden  Städte,  welche 
so  rücksichtsvoll  für  ihre  (Gemeinde-)  Bediensteten  gesorgt  haben,  ihre  verdienten 
Lehrer  nicht  wie  einen  Mohren,  der  „seine  Schuldigkeit  gethanu,  behandeln 
werden.  Das  einzige  Gute,  welches  das  neue  Gesetz  den  Lehrern  in  den  größeren 
Städten  bringt,  ist  die  Erhöhung  des  Witwen-  und  Waisengeldes,  wogegen  sie 
aber  auch  .erhöhte  Beiträge  zur  Witwencasse  leisten  müssen.  In  dem  Bewußt- 
sein aber,  dass  das  ganze  Lehrerthum  durch  das  Gesetz  gefördert  wurde,  werden 
die  Stadtlehrer  sich,  so  hoffen  wir,  nicht  verbittern  lassen,  zumal  die  Städte, 
besonders  Mannheim,  den  Impuls  zu  der  Bezahlung  der  Lehrer  nach  dem  Dienst- 
alter gaben  und  sicherlich  auch  die  erwähnte,  offenbare  Härte  des  Gesetzes 
ausgleichen  werden. 

Über  die  Schulpflicht  der  Kinder  bestimmt  das  Gesetz  (§.  2):  „Das 
schulpflichtige  Alter  dauert  vom  6.  bis  zum  14.  Jahre.  Es  beginnt  und  endigt 
jeweils  an  Ostern  gleichzeitig  mit  dem  Anfang  bezw.  dem  Schluss  des  Schul- 
jahres für  Knaben  sowol  als  Mädchen,  wenn  sie  bis  zum  nächstfolgenden 
SO.  Jon!  (einschließlich)  ihr  6.  bezw.  14.  Lebensjahr  zurücklegen. 

Für  Kinder,  die  schwächlich  oder  in  der  Entwickelung  zurückgeblieben 
sind,  kann  hinsichtlich  des  Anfangstermins  ihrer  Schulpflicht  Nachsicht  ertheilt 
werden. 

Mädchen  müssen  auf  Verlangen  ihrer  Eltern  oder  der  Stellvertreter  der- 
selben am  Schlüsse  des  Schuljahres  schon  dann  aus  der  Schule  entlassen  werden, 
wenn  sie  bis  zum  nächstfolgenden  31.  December  (einschließlich)  ihr  14.  Lebens- 
jahr vollenden  werden." 

Letztere  Bestimmung  ist  eine  Concession  an  die  Ultramontanen,  die  sogar 
beantragt  hatten,  das  achte  Schuljahr  für  Mädchen  abzuschaffen,  warum,  — 
weiß  jeder  Einsichtige.  —  Kraft  des  vorstehenden  Gesetzes  müssen  anch  die- 
jenigen Kinder,  welche  zu  Anfang  des  Sommers  aus  Österreich  und  der  Schweiz 
in  das  südliche  Baden  kommen,  um  Hütedienste  großer  Hofbestände  während 
des  Sommers  und  Herbstes  zu  besorgen,  die  badische  Schule  besuchen,  was 
bisher  nicht  der  Fall  war.  — 

„Zur  Aufbringung  des  nach  der  Zahl  der  Schulkinder  sich  richtenden 
Gemeindebeitrages  ist  als  „Schulgeld"  für  jedes  Kind,  welches  die  Volks- 
schule besucht,  ein  Vorausbeitrag  von  3  M.  20  Pf.  jährlich  von  dem  zur  Er- 
nährung des  Kindes  Verpflichteten  an  die  Gemeinde  zu  entrichten.  Besuchen 
mehrere  Kinder  einer  Familie  gleichzeitig  die  nämliche  Volksschule,  so  ist  nur 
für  das  erste  der  volle  Betrag,  für  das  zweite,  dritte  und  vierte  dagegen  nur 
die  Hälfte  und  für  die  übrigen  Kinder  kein  Schulgeld  zu  zahlen"  .  .  .  „Durch 
einen  mit  zwei  Drittheilen  der  Stimmen  gefassten,  von  der  Staatsbehörde  ge- 
nehmigten Gemeindebeschluss  kann  anf  die  Erhebung  des  der  Gemeinde 
zukommenden  Schulgeldes  verzichtet  werden."  Von  dieser  Bestimmung 
werden  zweifellos  viele  Gemeinden  Gebrauch  machen.  Wie  wir  hören,  hat 
Mannheim  auch  hierin  wieder  den  beispielgebenden,  rühmlichen  Anfang  gemacht. 

„Die  Befreiung  von  der  Schulgeldzahlung  gilt  nicht  als  Armenunter- 
stützung."  Diese  Bestimmung  wurde,  wenn  wir  nicht  irren,  vor  zwei  Jahren, 


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—    670  — 


als  die  Landtagsabgeordneten  Mannheims  den  Antrag  auf  Aufhebung  des 
Schulgeldes  im  Landtage  einbrachten,  aber  keinen  Erfolg  erzielten,  getroffen. 
Die  betreffende  Bestimmung  beseitigt  eine  große  Harte,  die  um  so  empfind- 
licher war,  als  der  Schulgeldbefreite  dadurch  auch  sein  Wahlrecht  verlor. 

Zur  Bestreitung  der  Gehalte  und  anderer  Bezüge  der  Volksschul- 
lehrer hat  jede  Schulgemeinde  in  die  Staatskasse  als  Pauschbetrag  einzuzahlen: 

1.  Einen  Jahresbeitrag  für  jede  an  der  Volksschule  der  Gemeinde  errich- 
tete ständige  Lehrerstelle,  und  zwar: 

a)  für  definitive  Lehrerstellen  in  Gemeinden  von  nicht  über  500  Ein- 
wohnern 780  M.,  von  501  bis  1000  Einwohnern  840  M.,  von  1001 
bis  2500  Einwohnern  960  M.,  von  mehr  als  2500  Einwohnern 
1080  Mark; 

b)  für  jede  nicht  etatmäßige  Lehrerstelle  in  Gemeinden  von  nicht 
über  2500  Einwohnern  660  M.,  von  mehr  als  2500  Einwohnern 
700  Mark. 

Für  Lehrerstellen,  welche  über  die  gesetzlich  vorgeschriebene  Zahl  hinaus- 
errichtet sind,  ist  von  der  Gemeinde  jährlich  zu  zahlen:  für  jede  solche  etat- 
mäßige Stelle  1450,  für  nicht  etatmäßige  Stellen  850  Mark.« 

2.  Einen  weiteren  Jahresbeitrag,  welcher  —  nach  einer  Durchschnitts- 
berechnung von  einer  zehnjährigen  Periode  —  für  jedes  Schulkind  2,8  Mark 
in  Anrechnung  bringt. 

In  jeder  Volksschule  sind  so  viele  Lehrerstellen  zu  errichten,  dass  auf 
einen  Lehrer  dauernd  nicht  mehr  als  hundert  Schulkinder  kommen.  Mit  provi- 
sorischen Lehrern  sind  an  Volksschulen  mit  2  bis  5  Lehrstellen  eine,  bei  6 
bis  10  Lehrerstellen  zwei,  bei  11  bis  15  drei  Stellen  u.  s.  f.  zu  besetzen; 
beträgt  jedoch  die  Zahl  der  Schulkinder  dauernd  mehr  als  180  oder  als  280, 
so  sind  zwei,  bezw.  drei  definitive  Lehrer  anzustellen.  An  Schulen  mit  einer 
größeren  gesetzlich  vorgeschriebenen  Zahl  von  Lehrern  darf  die  Zahl  der 
provisorischen  Lehrer  ]/8  der  Gesammtzahl  dauernd  nicht  übersteigen.  —  Die 
Schülerzahl  einer  Fortbildungsschule  darf,  auf  einen  Lehrer  berechnet,  40 
nicht  überschreiten.  Die  Durchschnittszahl  der  Schüler  in  den  größeren  Städten 
beträgt  pro  Classe  circa  50. 

Die  Handarbeitslehrerinnen  werden  nur  in  provisorischer  Eigenschaft  von 
den  Gemeinden  angestellt,  jedoch  kann  eine  solche  in  etatmäßiger  Weise  an- 
gestellt werden,  wenn  die  Gemeinde  ihre  Zustimmung  dazu  gibt  und  die  näheren, 
im  Gesetz  angegebenen  Bedingungen  erfüllt  werden.  Die  Industrielehrerinnen 
erhalten  ihre  Ausbildung  in  der  „Schule  für  Arbeitslehrerinnen  in  Carlsruhe* 
(fünfmonatlicher,  einclassiger  Cursus). 

Die  Bestimmungen  über  Lehrgegenstande,  Stundenzahl  etc.,  wie  dies  im 
VI.  Heft  des  „Ptedag."  S.  388  ff.  als  Excerpt  des  Schulgesetzentwurfs  mit- 
getheilt  wurde,  erhielten,  wie  wir  schon  anfangs  bemerkten,  Gesetzeskraft. 
Zu  erwähnen  ist  noch  aus  der  Landtagsverhandlung,  dass  ein  conservativ- 
adliger  Herr  eine  vierte  (wöchentliche)  Religionsstunde  verlangte;  da  jedoch 
kein  Bedürfnis  dafür  erkannt  wurde,  so  blieb  sein  Verlangen  ein  „frommer 
Wunsch".  Die  socialdemokratischen  Abgeordneten,  zwei  an  der  Zahl,  im  Verein 
mit  den  demokratisch-freisinnigen  Abgeordneten,  traten  für  die  zeitgemäße 
Forderung  ein,  an  Stelle  des  confessionellen  Religionsunterrichtes  in 
den  Schulen  einen  confessionslosen,  allgemein  sittlich  -  religiösen 


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Unterricht  einzuführen;  trotz  vorzüglicher  Begründung  blieben  die  betretten- 
den Abgeordneten  in  der  Minderheit.  Da  sich  die  gesunden,  fortschrittlichen 
Ideen  nicht  auf  die  Daner  ignoriren  lassen,  so  darf  mit  Sicherheit  angenommen 
werden,  dass  auch  die  in  Rede  stehende  Idee,  vielleicht  in  nicht  zu  ferner  Zeit, 
verwirklicht  wird. 

Schließlich  müssen  wir  bedanern,  dass  die  Bitte  in  der  Petition  des 
wackeren  nnd  rührigen  Lehrervereins- Vorstandes  in  Bezug  auf  die  Lehrer- 
bildungsfrage  unerörtert  und  alles  beim  alten  blieb,  wonach  zur  Ausbildung 
eines  Lehrers  eine  zweijährige,  auf  privatem  Wege  oder  in  einer  Präparanden- 
schule  erlangte  Vorbereitung  für  das  Seminar  nnd  ein  dreijähriger  Seminar- 
besuch verlangt  wird.  Es  wird  die  Aufgabe  des  Lehrervereins  sein,  die  För- 
derung der  Lehrerbildungsfrage  nicht  aus  dem  Auge  zu  verlieren.  Hoffentlich 
wird  auch  hierin  Baden  es  sich  nicht  nehmen  lassen,  zuerst  die  Initiative  zu 
ergreifen,  wie  es  —  wir  sagen  nicht  zu  viel!  —  es  durch  sein  neues  Schul- 
gesetz die  Frage  der  Stellung  und  Bezahlung  der  Lehrer  im  ganzen  und 
großen  glücklich  nnd  beispielgebend  für  andere  Staaten,  namentlich  für  den 
größten  deutschen  Staat,  gegeben  hat.  —  Endlich  sei  noch  darauf  hingewiesen, 
dass  der  erlangte  Erfolg  durch  die  Einigkeit  und  Sammlung  der  Lehrer  im 
Lehrerverein,  durch  welche  die  Lehrerschaft  ein  bedeutender  Factor  geworden, 
errungen  wurde.  Auch  hierin  dürfte  Baden  als  „  Musterstaat u  zur  Nach- 
ahmung empfohlen  werden.  — 

Fassen  wir  unser  Urtheil  über  das  neue  badische  Schulgesetz  zusammen 
nnd  bedenken  wir,  dass  der  Staat  Baden  mit  seinen  l1/,  Millionen  Einwohnern 

1  200000  Mark  für  Volksschulz  wecke  opfert,  daneben  14  Gymnasien,  4  Pro-, 

2  Realgymnasien,  1  Realprogymnasium,  6  Realschulen,  25  höhere  Bürger- 
and 9  höhere  Mädchenschulen,  1  Lehrerinnenseminar,  3  Lehrerseminare  mit 

3  Präparandenschulen  und  3  Hochschulen  von  bewährtem  Rufe  unterhält,  ausser- 
dem eine  Kunstgewerbe-  und  eine  Baugewerkschule,  54  Gewerbeschulen,  2 
Taubstummen-  und  eine  Blindenanstalt  subventionirt,  so  zeugt  dies  wol  genug 
für  die  „Cnlturhöhe  der  Leiter  unseres  Staatswesens".  Wir  wünschen  dem 
badischen  Schulwesen  auch  fernerhin  eine  glückliche  Ausgestaltung!  -r. 

Erinnert  man  sich  jetzt  in  Baden  auch  des  Mannes,  der  s.  Z.  (1886 — 1888)  in 
seinem  Blatte  die  Forderungen  stellte,  die,  bis  auf  die  Lehrerbildung-  und  die 
Scbulaufsichtsfrage,  durch  das  neue  Gesetz  erfüllt  wurden?  Es  ist  Dr.  Adolf  Meuser 
in  Mannheim.  Da  wir  seinen  Namen  bis  jezt  in  den  bezüglichen  Berichten  nicht 
gefunden  haben,  so  sei  er  an  dieser  Stelle  genannt.  Meuser  hat  für  die  nunmehr 
erzielten  Erfolge  redlich  gestritten  und  gelitten,  weshalb  es  eine  Ehrenpflicht  der 
badischen  Lehrerschaft  ist,  ihn  in  gutem  Andenken  zu  behalten.    D.  R. 

Aus  der  Schweiz.  (G.  S.)  Unseren  schweizerischen  Volksschulen 
ist  besonders  bei  Anlass  der  deutschen  Volksschuldebatte  die  seltene  Ehre  un- 
parteiischer und  sehr  günstiger  Beurtheilung  im  Ausland,  sogar  in  „oberen" 
Kreisen  zutheil  geworden,  indem  man  in  Wort  und  Schrift  auf  die  Vorzüge 
des  r  Volksschulwesens  in  der  kleinen  Schweiz",  auf  ihre  „vortrefflichen  Ein- 
richtungen und  Institutionen u  auf  allen  Gebieten  des  Jugendunterrichtes  — 
trotz  „der  verschiedenen  Confessionen  und  Parteien"  —  hinwies,  hauptsächlich 
veranlasst  durch  eine  just  im  rechten  Momente  erschienene  Broschüre  des 
städtischen  Lehrers  Ernst  Ewald,  der  im  Auftrage  der  Berliner  Diesterweg- 
Stiftung  eine  Studienreise  nach  Bern,  Zürich  und  Basel  unternommen  und 


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die  Ergebnisse  derselben  in  einem  summarischen  Berichte  niedergelegt  hat. 
Aach  die  Presse  nahm  hiervon  Notiz.  So  schreibt  das  „  Berliner  Tageblatt M : 
„Die  sehr  sorgfältig  abgefasste  Darstellung  der  Organisation  des  Schalwesens 
verdient  in  den  weitesten  Kreisen  bekannt  zu  werden.  Wir  sind  ja  bei  uns 
in  Preußen  jetzt  mitten  in  der  Arbeit,  unser  Volksschulwesen  auf  neue,  gesetz- 
liche Grundlagen  zu  stellen;  da  ist  es  denn  nur  um  so  lehrreicher,  einmal 
seinen  Blick  auf  ein  kleines  bedeutsames  Culturgebiet  in  unserer  unmittel- 
baren Nachbarschaft  schweifen  zu  lassen.  Ein  neuer  preußischer  Cultns- 
minister  könnte  überdies  manche  schätzbare  Anregung  für  die  Neugestaltung 
seines  Reformwerke*  aus  dem  Schulwesen  jenes  Landes  gewinnen. tt  Die  fol- 
genden Schlusssätze  des  Ewaldschen  Berichtes  verdienen  als  objectives  Urtheil 
eines  Fachmannes  wol  in  weitesten  Kreisen  volle  Beachtung: 

„1.  Trotzdem  das  Princip  der  allgemeinen  Volksschule  (in  allen  drei 
Städten)  vollständig  durchgeführt  ist,  so  kann  doch  von  einem  Überwuchern 
des  Privatschulwesens  nicht  die  Rede  sein. 

2.  Die  Vereinigung  beider  Geschlechter  in  derselben  Classe 
hat  sich  in  Bern  so  bewährt,  dass  sie  in  allen  Primarschulen  eingeführt  wer- 
den  soll,  obgleich  die  Schulpflicht  bis  zum  15.  Lebensjahre  dauert. 

3.  Einer  der  Hauptvorzttge  des  Volksschulwesens  in  den  genannten  Städten 
ist  die  mäßige  Schülerzahl  in  den  einzelnen  Classen. 

4.  Die  Ausscheidung  der  sehr  schwach  begabten  Schüler  aus  der 
allgemeinen  Volksschule  ist  ein  anerkennenswerter  Versuch,  diesen  Kindern 
unterrichtlich  ganz  besonders  zu  Hilfe  zu  kommen ;  doch  ist  zugleich  auch  vor- 
gesorgt, dass  kein  Missbrauch  mit  dieser  Maßregel  getrieben  werden  kann. 

5.  In  allen  drei  Städten  werden  den  Kindern  der  Primarschule,  in  Basel 
auch  denjenigen  der  Secundarschule  alle  obligatorischen  Lehrmittel, 
sowie  Schreib-  und  Zeichenmaterialien  unentgeltlich  geliefert" 

Die  Schweiz  scheint  mehr  und  mehr,  auch  von  anderen  Staaten  aus,  das 
Endziel  pädagogischer  Exkursionen  werden  zu  wollen.  So  besuchte  kürzlich 
Mr.  Mason  aus  Boston  die  Schulen  vieler  Schweizerstädte  Es  wäre  nur  zu 
wünschen,  dass  auch  schweizerische  Pädagogen  durch  praktische  Berufsreisen 
zum  Vortheil  ihrer  und  anderer  Wirksamkeit  ähnliche  Studien  unternähmen. 

Der  Gesundheitspflege  schenkt  man  in  der  Schule  (praktisch  und 
theoretisch)  je  länger  je  mehr  Aufmerksamkeit,  indem  von  berufener  Seite  mit 
Becht  betont  wird,  die  Schule  verfehle  den  Zweck  des  Staates,  wenn  sie  durch 
einseitige  Entfaltung  der  geistigen  Anlagen  und  Fähigkeiten  das  Gleichmaß 
mit  den  körperlichen  stört  Nicht  nur,  bemerkte  z.  B.  Dr.  Denz  im  Jahres- 
bericht des  bündnerißchen  Lehrervereins,  müssen  Schulhäuser  und  deren 
innere  Einrichtungen  den  sanitärischen  Anforderungen  entsprechen,  sondern 
anch  der  Unterricht  selbst  trägt  sehr  viel  bei  zur  Gesundheit  der  Schüler,  ja 
auch  der  kommenden  Generationen,  so  dass  alle  Ärzte  und  Pädagogen  Hand 
in  Hand  die  Schulhygiene  zu  fördern  haben. 

„Wo  das  Blut  frisch  kreist  die  Wangen  blühend  und  rund  sind,"  fährt 
der  objective  Berichterstatter  fort,  „da  wohnt  auch  ein  reger,  lebendiger  Geist 
Welcher  leicht  das  Gegebene  anfnimmt  und  verarbeitet  Gesunde  Kinder 
machen  dem  Lehrer  halbe  Arbeit,  weil  sie  mit  Aufmerksamkeit  dem  Vor- 
tragenden folgen.  Schon  bei  der  Schulpflichtigkeit  sollten  Lehrer  und  Arzt 
gemeinschaftlich  ihre  Ansicht  darüber  äußern,  ob  das  Kind  geistig  und  körper- 


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lieh  so  entwickelt  ist,  dass  es  zum  Schulbesuch  zugelassen  werden  kann.  Der 
endgültige  Beschlnss  darüber  fällt  dann  in  die  Competenz  des  Scbnlrathes. 
Viele  Kinder  scheinen  im  schulpflichtigen  Alter  schulfähig  und  schulreif, 
während  sie  es  in  der  That  nicht  sind."  Soweit  der  Arzt,  dessen  Urtbeil  wol 
dasjenige  von  tausend  und  tausend  seiner  Collegen  ist.  Die  Ärzte  nehmen 
je  länger  je  mehr  activen  Antheil  am  praktischen  Schulleben;  sie  werden  in 
weit  größerer  Zahl  als  früher  in  dieComites  und  Behörden  gewählt  vom  Kinder- 
garten bis  hinauf  zum  Verwaltungsrath  einer  Hochschule.  Man  zieht  Autoritäten 
unter  ihnen  bei  zu  den  wichtigsten  Berathungen  beim  Bau  neuer  Schulhäuser, 
zum  Entwurf  von  Schulorganisationen,  wie  z.  B.  in  Zürich,  wo  Dr.  G.Custer 
schon  oft  um  sein  entscheidendes  Wort  ersucht  wurde.  So  ventilirte  man  die 
Schularztfrage  im  Schulverein  und  nahm  folgende  Resolution  Dr.  Custers  an: 

1.  Dor  Sch.-V.  erklärt  sich  mit  der  in  dem  Entwurf  zur  neuen  Gemeinde- 
ordnung vorgesehenen  Ernennung  eines  Stadtarztes  besonders  in  der  Voraus« 
Setzung  einverstanden,  dass  letzterer  auch  als  Schularzt  nach  speciellen 
Anweisungen  seines  Dienstreglementes  funetioniren  werde. 

Der  Sch.- Verein  hält  es  für  wünschenswert,  dass  auch  der  Centralschul- 
pflege  im  neuen  Gemeindewesen  Zürich  der  Stadtarzt  als  berathendes  Mitglied 
für  Vertretung  und  Begutachtung  schulhygienischer  Fragen  beigegeben  werde. 

3.  In  jedem  der  fünf  Schulkreise  sollte  ein  Arzt  bezeichnet  werden,  der 
sich  unter  der  Leitung  des  Stadtarztes  mit  der  Controle  der  schulhygienischen 
Einrichtungen  (auch  in  Kleinkinderschulen,  Kindergärten  und  Privatschulen) 
zn  befassen  hätte. 

Dem  Gewerbeschulwesen  wird  von  Jahr  zu  Jahr  mehr  Vertrauen 
entgegengebracht,  wie  die  von  Prof.  Pupikofer  (St.  Gallen)  redigirten 
„Blätter  für  den  Zeichen-  und  gewerblichen  Berufsunterricht"  dies  anschaulich, 
überzeugend  und  chronologisch-lückenlos  beweisen;  spendet  ja  doch  der  Bund 
Jahr  für  Jahr  höhere  Subventionen.  Mit  gutem  Beispiel  gehen  die  Städte, 
insbesondere  Basel  und  Zürich,  voran.  Neu-Zürich  nähert  sich  auf  diesem  Ge- 
biete dem  Ideal  der  alten  Stadt  seit  dem  Vereinigungsact  weit  mehr,  als  man 
erwarten  durfte.  Dies  zeigte  auch  eine  Ausstellung  mannigfacher  Modelle  in 
Thon  und  Gips,  in  Zeichnungen  der  Mechaniker,  Schlosser,  Möbel-  und  Bau- 
schreiner, der  Tapezierer,  Maler,  Spengler  und  Schuster,  sowie  in  Freihand- 
zeichnungen. 

Da  der  Besuch  der  Gewerbeschulen  ein  freiwilliger  ist  (an  späten  Abenden 
oder  Sonntag-Morgen),  so  sind  die  Leistungen,  ob  sie  auch  da  und  dort  den 
Mangel  an  technischer  Fertigkeit,  die  schwielige,  schwere  Hand  etc.  verrathen, 
doch  sehr  hoch  zu  taxiren ;  sie  bilden  mit  der  steigenden  Frequenz  (85  Schüler 
im  Jahre  1873/74,  563  im  Jahre  1883/84  und  748  im  Vorjahre)  den  un- 
trüglichsten Beleg  für  das  wachsende  Bildungsbedürfnis  der  jungen  Leute. 
Voraussichtlich  leistet  die  neue  Stadt  als  ein  Ganzes  in  Zukunft  noch  mehr 
als  bisher  (schon  im  Jahre  1890  unterstützte  die  Stadt  die  Gewerbeschulen 
mit  fs.  9250,  der  Canton  und  Bund  zusammen  mit  fs.  19000);  gehören  doch 
50°/0  der  Bevölkerung  dem  Handwerks-  und  Gewerbestand  an. 

Die  naturgemäße  Kleinkindererziehung  tritt,  dank  der  Energie 
und  Ausdauer  des  schweizerischen  Kindergarten- Vereins  (Präsident:  HerrSchul- 
director  Küttel-Zürich)  in  ein  neues  Stadium  der  schönsten  Entwicklung. 
Das  Central-Comite  hat  in  einer  seiner  letzten  Sitzungen  mehrere  Fragen  grund- 


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Bätzlich  in  entschieden  fortschrittlichem  Sinne  gelöst  und  mehrere  Beschlüsse 
gefasst  (z.  B.  betreffend  Übersetzung  der  Vereinsstatuten  ins  Französische, 
Verbreitung  derselben  mit  Einladungen  zum  Beitritt  auch  in  der  französischen 
Schweiz),  die  eine  numerische  Erstarkung  des  jetzt  schon  sehr  verbreiteten, 
segensreich  wirkenden  Vereins  bedeuten. 

Obwol  die  Eindergartenbestrebungen  mit  Ausnahme  von  Genf  und  Neuen- 
burg nur  Privatsache  sind,  dringen  doch  die  gesunden  Fröbelschen  Grundsätze 
selbst  in  der  Familienerziehung  und  in  „Kleinkinderschulen"  allmählich  durch, 
und  manchenorts  bedürfte  es  nur  einiger  einflussreicher  und  energischer  Fröbel- 
freunde  in  den  obersten  Behörden,  um  die  Eindergärten  wenigstens  indirect 
unter  staatliche  Aufsicht  und  Leitung'  zu  stellen. 

Im  abgelaufenen  Schuljahre  wurde  in  St.  Gallen  (ab wecbslungs weise  mit 
Zürich)  ein  Kindergarten-Curs  abgehalten,  und  sämmtlichen  Teilnehme- 
rinnen konnten  schweizerische  Diplome  ertheilt  werden.  Einige  sehr  tüchtige 
Schülerinnen  werden,  da  sie  sich  besonders  für  Familienerziehung  eignen, 
mit  Vorliebe  Privatstellen  annehmen.  Die  Nachfrage  nach  solch  allseitig 
tüchtig  vorgebildeten  Eindergärtnerinnen  ist  auch  in  der  Schweiz  im  Wachsen 
begriffen. 

Unter  den  zahlreichen  Institutionen  mit  gemeinnützig -pädagogischer 
Tendenz  nimmt  das  Pestalozzianum  in  Zürich  eine  der  ersten  Stellen  ein. 
Schon  ist  dessen  17.  Jahresbericht  (ehemals  Schweiz,  permanente  Schulaus- 
stellung) erschienen.  Man  hofft,  in  nicht  allzuferner  Zukunft  für  das  Pesta- 
lozzianum in  Verbindung  mit  einer  andern  Anstalt  ein  eigenes  Heim  zu  schaffen. 
Zu  diesem  Zwecke  ist  die  Leitung  mit  der  Gewerbeschule  in  Verbindung  ge- 
treten und  das  gemeinsame  Projekt  zielt  ab  auf  die  Eröffnung  eines  der  Stadt 
Zürich  würdigen  Pestalozzianums  mit  Lesesälen  im  Jahre  1896,  dem  150- 
jährigen  Geburtsjahre  Pestalozzis. 

Als  Mittelpunkt  der  Pestalozziforschung  und  -künde  (im  Pestalozzistübchen), 
aber  auch  als  Institut,  in  welchem  allseitige  pädagogische  Anregung  eine  Stätte 
haben  soll  im  Sinn  und  Geiste  Pestalozzis,  wird  es  durch  seine  sehr  reichhaltige 
Sammlung,  seine  Bibliothek  und  sein  Archiv  der  Erziehung  und  der  Schule 
große  Dienste  leisten  und  reiche  Geisteszinsen  abwerfen  vom  sicher  angelegten 
Capital  der  Mühe  und  Arbeit,  Umsicht  und  Sorge  seiner  Leiter,  sowie  auch 
aus  den  beträchtlichen  Subventionen  des  Bundes  (ft.  1900),  des  Cantons 
(fs.  3000)  und  der  Stadt  Zürich  (fs.  1850).  Im  weiteren  flössen  Beiträge 
von  40  Primär-  und  Secundarschulpflegen  des  Cantons  Zürich,  von  den  Ver- 
einsmitgliedern und  anderen  Privaten.  Voraussichtlich  wird  das  Pesta- 
lozzianum in  Zukunft  noch  allseitiger  unterstützt  und  noch  mehr  von  allen 
denen  benutzt,  welche  bloße  Anregung  oder  billige  Gelegenheit  zu  erfolgreichen 
Quellenstudien  wünschen. 

Für  zahlreiche  Culturzwecke  gibt  der  Bund  alljährlich  große  Summen 
aus.  Damit  nun  auch  auf  dem  litterarisch-pädagogiscben  Gebiete  nicht  vieler- 
lei Eräfte  vereinzelt  nur  einen  halben  Effect  erzielen,  hat  das  Central-Comite 
für  schweizerische  Landeskunde  das  Project  des  genialen  Minister  Stapfer,  eine 
eidgenössische  Nationalbibliothek  zu  gründen,  wieder  aufgenommen, 
und  die  Realisirung  desselben  dürfte  um  so  eher  gelingen,  als  die  Centrai- 
bibliothek in  Bern,  die  schon  längst  über  den  Bahmen  einer  eigentlichen  Ver- 
waltungsbibliothek hinausgewachsen,  den  Grundstock  zu  einer  solchen  bilden 


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könnte.  Anf  dem  Gebiete  der  Schweizergeschichte ,  der  Landeskunde  etc. 
häufte  sich  nämlich  recht  viel  Material  anf,  das  mit  anderem  schon  an  und 
für  sich  eine  reichhaltige  Sammlung  ausmacht.  Und  obwol  man  anf  den  Er- 
werb neuester  nationaler  Werke  durch  Kauf  und  auf  Schenkungen  angewiesen 
sein  wird,  dürfte  die  nöthige  Summe  von  ca.  fs.  10  000  jährlich,  die  zum  Be- 
zug sämmtlicher  in  unserem  Lande  in  und  außer  dem  Buchhandel  erschei- 
nenden Druckschriften  erforderlich  ist,  aufgebracht  werden  können. 

Dadurch  würden  viele  Schulbücher,  Zeitungen,  pädag.  Zeitschriften,  Flug- 
blätter, Broschüren,  Bücher  mit  einer  einzigen  Auflage,  als  getreue  Spiegel 
einer  culturell  interessanten,  politischen  oder  pädagogischen  Bewegung  für  Ge- 
lehrte, Forscher  und  Pädagogen  äußerst  wichtig,  eine  reiche  Fundgrube  des 
fruchtbarsten  Wissens  auf  einem  Spezialgebiete,  während  solche  und  ähnliche 
literarische  Producte  bisher  unbarmherzig  dem  Untergange  geweiht  waren. 

Das  Bedürfnis  des  freien  Ideenaustausches  gibt  sich  unter  der 
schweizerischen  Lehrerschaft  mehr  als  je  kund,  in  kleineren  Cirkeln,  Kränzchen, 
Special-  und  Hauptconferenzen  sowol,  als  auch  in  größeren  Versammlungen, 
und  fleißig  wird  besonders  aus  dem  Canton  Zürich,  aber  auch  aus  anderen 
Gegenden  hierüber  berichtet,  meistens  summarisch  an  den  Herausgeber  des 
Jahrbuchs  für  das  Unterrichtswesen  der  Schweiz,  C.  Grob  in  Zürich,  der  auch 
dieses  Frühjahr  Lehrer,  Schul-  und  andere  Jugendfreunde  mit  einem  recht  in- 
sructiven  Bericht  hierüber,  wie  über  zahlreiche  andere  Gegenstände  und 
brennende,  die  Schule  betreffende  Fragen  überrascht  hat 

In  dem  geistig  regsamen  und  sehr  strebsamen  Basel  ist  seither  eine  frei- 
willige Schulsynode  gegründet  worden,  da  eine  obligatorische  Organi- 
sation, wie  sie  in  Bern,  Zürich,  Thurgau  etc.  besteht,  einen  bezüglichen  Artikel 
des  Schulgesetzes  nothwendig  gemacht  hätte.  Sie  bezweckt  zunächst  die 
Einigung  der  Lehrerschaft  aller  unserer  öffentlichen  Schulanstalten,  um  im 
ferneren  Schul  fragen  in  den  Kreis  ihrer  Berathungen  zu  ziehen,  welche  das 
ganze  baselstädtische  Schulwesen  gemeinsam  betreffen.  Um  die  Hitwirkung 
aller  Elemente  der  so  heterogenen  pädagogischen  Welt  zu  ermöglichen,  sind 
vorläufig  politische  und  religiöse  Parteifragen  von  den  Traktanden  ausge- 
schlossen. Wenn  man  bedenkt,  dass  jetzt  schon  jeder  der  drei  pädagogischen 
Vereine,  der  „Allgem.  Lehrerverein",  der  „Freisinnige  Schulverein"  und  der 
„Evang.  Schulverein M  für  sich  allein  sehr  Schönes  geleistet,  in  nachhaltigster 
Weise  gearbeitet  und  bei  den  Oberbehörden  Einfluss  erlangt  hat,  verspricht 
man  sich  schon  nach  dieser  Richtung  hin  mit  Recht  manch  eine  Errungen- 
schaft zum  Wole  der  Schule  und  des  Lehrkörpers,  nach  der  sich  die  Collegen 
anderer  Städte  und  Cantone  vergeblich  sehnen. 

Allein  auch  in  Bern,  Ölten  etc.  fanden  vor  und  nach  Schluss  des  Wintercurses 
freie  Lehrerversammlungen  statt,  dort  auf  die  Initiative  des  Herrn 
Secundarlehrers  Grüning  hin,  der  die  Frage  erörterte,  wie  der  Schweiz.  Volks- 
schule durch  Bundessubvention  (besonders  in  den  finanziell  ungünstig 
situirten  Bergkantonen)  beholfen  werden  könnte.  Ein  Initiativ-Comite  lud  so- 
dann auf  den  1.  Mai  Delegirte  verschiedener  Lehrervereine  nach  Ölten  ein, 
wo  unter  dem  Vorsitze  von  Secundarlehrer  Gass  (in  Basel),  der  schon  vor  fünf 
Jahren  das  gleiche  Thema  mit  allseitiger  Zustimmung  in  demselben  Sinne  be- 
handelt hatte,  eine  Versammlung  von  nahezu  200  Lehrern  aus  den  meisten 
Cantonen  nach  durchschlagenden  Voten  der  Herren  Grüning -Bern,  derSchul- 


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inspectoren  Weingartner-Bern,  Dr.  Largiader-Basel,  Heer-Glarus,  Scharf- 
Neuenbürg  und  Fritschi -Zürich  den  einstimmigen  Beschluss  fasste,  der 
Central-Auaschuss  des  Schweiz.  Lehrervereins  sei  zu  ersuchen,  die  Frage  der 
Unterstützung  des  Volksschnlwesens  durch  den  Bund  unter  Zuzug 
von  geeigneten  Persönlichkeiten  zu  prüfen  und  in  dieser  Sache 
das  weitere  zu  veranlassen." 

Auf  der  Bildfläche  der  freien  Discussion  ist  schon  vor  mehreren  Jahren 
auch  die  Frage  der  Militärpflicht  der  Lehrer  wieder  aufgetaucht  nnd 
vor  kurzem  richtete  der  Centralausschuss  des  Schweiz.  Lehrervereins  eine  Ein- 
gabe an  das  eidgenössische  Militärdepartement  um  Gleichstellung  der 
Lehrer  mit  den  anderen  Bürgern,  in  welcher  u.  a.  folgender  Passus 
vorkommt: 

„Es  erscheint  uns  als  wesentlich,  dass  der  Lehrer  in  Hechten  und  Pflichten 
anderen  Bürgern  gleich  gestellt  werde.  In  den  Cantonen,  wo  dieser  Grund- 
satz zur  völligen  Geltung  gekommen  ist,  befindet  man  sich  gut  dabei  und 
wünscht  keine  Änderung. 

Es  ist  wünschbar,  dass  die  Lehrer  nicht  in  besonderen  Recruten  schulen, 
sondern  vermischt  mit  den  anderen  jungen  Bürgern  zum  Militärdienst  einbe- 
rufen werden,  immerhin  vorausgesetzt,  dass  für  sie,  wie  für  Angehörige  anderer 
Stände,  die  Lebensstellung  bei  Auswahl  der  Waffe  und  bei  Festsetzung  der 
Einberufungstermine  in  billige  Berücksichtigung  falle.  Die  Abschlieflung  der 
Lehrer  von  den  anderen  Ständen  ist  weder  für  den  Lehrer  noch  für  die  Schule 
von  Nutzen. 

Auch  dem  Avancement  der  Lehrer  sollte  nach  unserer  Ansicht  kein 
Hindernis  in  den  Weg  gelegt  werden.  Es  kann  die  Lust  an  der  Erfüllung 
der  Militärpflicht  nicht  fördern,  wenn  der  Lehrer  sich  anderen  Rechtes  sieht 
als  andere  Bürger.  Andererseits  würde  die  Zulassung  der  Lehrer  zum 
Offleiercorps  diesem  eine  gewiss  nur  wolthätige  Stärkung  bringen. a  Man  er- 
wartet allgemein,  dass  das  Militärdepartement  diesen  gewiss  berechtigten 
Wünschen  entsprechen  werde. 

Einer  besonderen  Blüte  erfreuen  sich  in  der  Schweiz  die  Privatanstalten, 
nicht  etwa  blos  die  Kindergärten  und  Mädchen-,  sondern  vor  allem  auch  die 
Knabeninstitute  der  Ostscbweiz.  Offenbar  liegt  die  innere  Ursache  hiervon 
in  der  gewissenhaften,  vorzüglichen  Führung  derselben,  aber  auch  in  der  ge- 
nauen Controlirung  ihrer  Wirksamkeit  von  Seite  des  Staates.  So  z.  B.  ist 
mit  der  Cantonschule  Trogen  (Canton  Appenzell)  ein  bewährtes  Internat 
verbunden,  das  Zöglinge  aus  fremden  Cantonen  und  Ländern  aufnimmt  und 
dieselben  nach  einem  Vorbereitnngscurs  auf  die  Universität,  das  Polytechnicum 
und  die  commerzielle  Carriere  ganz  individuell  vorbereitet  und  zwar  in  Ckssen 
mit  mäßiger  Schülerzahl.  —  Ebenso  genießt  das  noch  junge  Institut  Dr.  Schmidt 
in  St.  Gallen  selbst  im  Auslande  den  besten  Rnf,  da  darin,  wie  in  obge- 
nanntem  Convict  auf  Gesundheit  des  Leibes  und  der  Seele  ein  Hauptgewicht 
gelegt  und  alles  das  gewissenhaft  beobachtet  wird,  was  zur  harmonischen  Aus- 
bildung des  Charakters  und  Gemüthes  wesentlich  mithelfen  kann.  Bei  aller 
Pflege  des  religiös-sittlichen  Lebens  finden  wir  auch  da  jene  Freiheit  des 
Geistes,  verbunden  mit  einer  Arbeitsfreudigkeit,  die  in  Zukunft  vortreffliche 
Resultate  erwarten  lässt 

Geradezu  als  ein  Unicum  unter  den  internationalen  Lehr-  und  Erziehung»- 


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anstalten  erscheint  diejenige  von  Dr.  Bertsch  in  Nenmünster-Zürich, 
indem  daselbst  durchschnittlich  Jahr  um  Jahr  unter  25 — 30  Nationen  10  bis 
13  Sprachen  und  Classen  von  der  Stufe  des  vorbereitenden  Unterrichts  für 
Zöglinge  ganz  verschiedener  Muttersprachen  bis  zur  Schwelle  der  akade- 
mischen Studien  vertreten  sind. 

Auch  hier  wechseln  zahlreiche  officielle  Besuche  (von  Seite  der  obersten 
Erziehungsbehörden)  mit  privaten  stets  ab  und  alljährlich  wird  vom  Director 
(zugleich  Besitzer  dieses  Institutes  mit  einer  ca.  lOOköpfigen  Familie)  zu 
Händen  der  Zürcherischen  Erziebungsdirection  ein  ganz  einlilsslicher  Bericht 
abgegeben  über  das  Personal,  die  Studiencoramission,  den  Lehrkörper  und  die 
Zöglinge. 

Eigenartig  ist  schon  die  Entstehung  und  großartige,  ungeahnte  Ent- 
wickelung  dieser  Anstalt,  und  wenn  auch  die  außergewöhnliche  Frequenz  in 
Verbindung  mit  der  Mannigfaltigkeit  der  Sprachidiome  das  Individualisiren 
bei  jedem  einzelnen  Zöglinge  —  nicht  Schüler  —  erschweren,  so  dürfte  doch 
die  treffliche  Organisation,  die  auf  Jahrzehnte  langen  ununterbrochenen  Er- 
fahrungen des  Directors  beruht,  sowie  dessen  Geschick  in  der  glücklichen 
Übersetzung  gesunder  Erziehungsgrundsätze  in  die  Praxis  selbst  denjenigen 
beruhigen,  der,  der  Massenerziehung  zum  voraus  abhold,  unter  die  Berichte 
der  bestorganisirten  Erziehungsanstalten  en  gros  sonst  sein  Fragezeichen  setzt. 

Charakteristisch  ist  hier  besonders  auch  die  Thatsache,  dass  die  römische 
Clerisei  schon  seit  mehr  als  zwanzig  Jahren  ihre  giftigen  Pfeile  gegen  dieses 
nicht  nur  internationale,  sondern  auch  interconfessionelle  Institut, 
und  zwar  immer  vergeblich,  abgeschossen  hat,  wahrscheinlich  deshalb,  weil 
der  Director  religiöse  Gesinnung  als  Grundpfeiler  jeder  wahrhaften  (guten) 
Erziehung  betrachtet  und  offenbar  auch  dem  Grundsätze  huldigt:  „Eine 
Privatanstalt  muss  mehr  leisten  als  eine  Öffentliche  Schule,  wenn 
sie  mit  Erfolg  concurriren  will." 

Österreich.  Der  Vorstand  des  AI lgemeinen  niederösterreichischen  Volks- 
bildungsvereins, Zweig  „Wien  und  Umgebung"  hat  auf  den  niederösterreichi- 
schen Volksbildungstagen  zu  St.  Pölten  und  Wiener-Neustadt  den  Auftrag 
erhalten  und  übernommen,  die  Gründnng  eines  Central  Verbandes  sämmtlicher 
deutsch-österreichischen  Volksbildungsvereine  (Vereine  für  Volkserziehung,  für 
Verbreitung  gemeinnütziger  [landwirtschaftlicher]  Kenntnisse,  für  Volksbiblio- 
theken etc.)  ins  Werk  zu  setzen.  Die  Aufgabe  dieses  Verbandes  hätte  zu  be- 
stehen in  der  Anbahnung  und  Pflege  regen  Verkehrs  aller  verwandten  Vereine, 
in  der  gegenseitigen  geistigen  Förderung  derselben  und  vornehmlich  in  der 
öffentlichen  Berathung  aller  die  Hebung  des  Volksbildungswesens  betreffenden 
Fragen  sammt  Beschlussfassung  hierüber.  Zu  diesem  Behufe  bedarf  es  einer 
vollständigen  Liste  aller  derartigen  Vereine,  ihrer  Satzungen  und  Berichte, 
sowie  der  Angabe  ihres  Mitgliederstandes.  Es  wird  nun  ersucht,  die  bezüg- 
lichen Nachrichten  möglichst  bald  einzusenden  an  den  Obmannstellvertreter  des 
Zweigvereins  „Wien  und  Umgebung"  Herrn  Dr.  Eduard  Leisching  in  Wien, 
I.  TegetthoffstraÄe  4.  Im  Herbste  soll  dann  eine  allgemeine  Delegirten -Ver- 
sammlung in  Wien  stattfinden. 


PirdaRo^inni.    ü.  Jahrg.   Heft  X. 


47 


678  - 


Die  Lehrmittelaammelstelle  Fetersdorf  bei  Trautenau  in 
Böhmen  bietet  Schulen  und  Lehrern  den  Vortheil,  da&s  sie  einfache  Lehr- 
behelfe, besonders  Mineralien-,  Petrefacten-,  Käfer-,  Schmetterling-,  Pflanzen- 
und  Conchylien-Saminlungen,  ferner  Entwicklungsstadien  von  den  meisten  nütz- 
lichen und  schädlichen  Insecten  und  Amphibien  zusammenstellt  und  diese  ohne 
jeden  Verdienst,  daher  äußerst  billig,  an  bedürftige  Schulen  aber  sogar  unent- 
geltlich abgibt  und  alle  Vorkommnisse  bestimmter  Gegenden  gegen  diese  Lehr- 
mittel auch  in  Tausch  nimmt,  weshalb  Lehrern,  welche  einigermaßen  Gegen- 
stände ihrer  Berufisstation  zusammentragen,  die  Erwerbung  von  Naturalien  der 
verschiedensten  Art  ohne  große  Auslagen  möglich  gemacht  ist.  Kleine  Mine- 
ralien-Sammlungen, enthaltend:  Bergkrystall,  Milchqnarz,  Rosenquarz;  Amethyst, 
Carneol,  Achat,  Jaspis,  Chalcedon,  Feuerstein,  Probirstein,  Kiesel,  Holzstein, 
Kieselschiefer;  Porcellanjaspis;  Speckstein,  Talk,  Granat,  Turmalin,  Opal,  Mond- 
stein, Katzenauge,  Anthracit,  Torf,  Pechstein,  Bernstein,  Braunkohle;  Kalkstein, 
Kalkspat,  Gips,  Oolith,  Flussspat,  Tropfstein,  Kalktuff,  Aragonit,  Dolomit. 
Sprudelstein,  Marmor;  Rotheisenerz,  Brauneisenerz,  Magneteisenerz,  Bleigknz. 
Kupferkies,  Eisenspat,  Schwerspat,  Zinkblende,  Schwefelkies;  Steinsalz;  Granit, 
Feldspat,  Glimmer,  Gneis,  Orthoklas,  Hornblende,  Diorit,  Augit,  Porphyr, 
Melaphyr,  Trachyt,  Phonolith,  Basalt,  Glimmerschiefer,  Roth-  und  Weiss- 
liegendea,  Quader,  Grauwacke,  Conglomerat,  Brecde,  Zechstein  u.  s.  w.,  zu- 
sammen 80  Stück  werden  um  Mos  1  fl.  =  1  Mk.  80  Pfg.  geliefert,  und  bei 
Abnahme  von  10  Stück  wird  noch  eine  Sammlung  gratis  gegeben.  Samm- 
lungen zu  100  Stück  mit  größeren  Exemplaren  kosten  Mos  1  fl.  80  kr.  = 
3  Mk.,  noch  größere  Sammlungen  nach  diesem  Verhältnisse  im  Preise  höher. 
Auch  Einzeln-Mineralien  und  sogenannte  Cabinetstücke  sind  billig  zu  haben, 
und  bei  Bedarf  braucht  nur  der  Name  und  die  ungefähre  Größe  des  gewünschten 
Exemplare«  angegeben  zu  werden,  worauf  die  denkbar  niedrigste  Preisstellung 
gemacht  wird.  Sammlungen  nachgeahmter  Edelsteine,  20  Stück  in  einem 
schönen  Etui  mit  Glasdeckel,  kosten  2  fl.  50  kr.  =  4  Mk.  20  Pfg.  Sodann 
gibt  die  Sammelstelle  auch  einzelne  Petrefacten  aus  den  verschiedensten  For- 
mationen, besonders  aber  Solnhofer  Vorkommnisse,  als:  Frösche,  Krebse,  In- 
secten u.  dgl.  sehr  billig  ab.  Besonderen  Anklang  finden  die  Pilzmodelle  aus 
Papiermache  (20  Stück,  täuschend  ähnlich)  für  Mos  5  fl.  —  8  Mk.  75  Pfg. 
Die  Sammlung  von  Seethieren,  20  Expl.,  blos  2  fl.  50  kr.  =  4  Mk.  20  Pfg. 
Das  Präparat  des  Borkenkäfers  75  kr.  =  1  Mk.  30  Pfg.,  der  Biene  1  fl.  = 
1  Mk.  80  Pfg.,  der  Wespe  60  kr.  =  1  Mk.,  der  Motte  60  kr.  =  1  Mk., 
des  Seidenspinners  75  kr.  =  1  Mk.  30  Pfg.,  des  chinesischen  und  Ailanthus- 
spinners  je  1  fl.  80  kr.  =  3  Mk.  Schmetterling-  und  Käfer-Sammlungen  von 
1  fl.  20  kr.  =  2  Mk.  angefangen  u.  v.  a.  Man  verlange  gegen  Einsendung 
einer  gewöhnlichen  Briefmarke  des  Landes  das  jeweilige  ausführliche  Vorraths- 
Verzeichnis  von  Gustav  Settmacher,  Oberlehrer,  Vorstand. 

Giebichenstein.  Den  geehrten  Herren,  welche  mir  von  dort  am  8.  Juni 
einen  freundlichen  Gruß  sandten,  sage  ich  meinen  herzlichen  Dank  mit  der 
Versicherung,  dass  mich  Djre  theilnehmende  Zuspräche  hocherfreut  hat,  und 
dass  mir  Ihre  Namen  stets  in  angenehmer  Erinnerung  bleiben  werden. 

Dittes. 


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-    679  — 


Aus  der  Fachpresse. 

558.  ComeninB  und  seine  pädagogische  Bedeutung  für  unsere 
Zeit  (C.  Andreä,  Nene  Bahnen  1892,  III*).  Vielleicht  die  nutzlichste  unter 
allen  anlässlich  der  Comenins- Feier  gebotenen  Leistungen  unserer  Fachpresse. 
—  Absicht:  „Von  dem  Standort  der  Gegenwart  rückwärts  blickend,  diejenigen 
Seiten  (der  pädagogischen  Persönlichkeit  des  C.)  hervorzukehren,  welche  in 
sonderlichem  Maße  geeignet  erscheinen,  unsere  pädagogische  Lage  kritisch  zu 
beleuchten  und  damit  die  Punkte  und  Stellen  zu  bezeichnen,  an  Welchen  die 
Schul-  und  Lebensverhältnisse  unserer  Tage  das  Bild  einer  theilweise  krank- 
haften Entartung  bieten."  Diese  Vergleichnng  und  Kritik  wird  denn  in  allen 
Abschnitten  kräftig  durchgeführt.  —  I.  Kennzeichnung  unserer  Zeit  (der  all- 
gemeinen und  der  pädagogischen  Gesellschaft),  ihrer  Lebensauffassung,  ihrer 
Schulen.  („Bei  unsern  Zeitgenossen  besteht  vielleicht  für  keine  Einwirkung  so 
wenig  Entgegenkommen,  als  für  eine  pädagogische  in  großem  Stile.  Schon  die 
ersten  Bedingungen  dafür,  gemüthliche  Ruhe  nnd  contemplative  Stimmung,  sind 
für  weite  Kreise  unverständliche  Zumuthungen. u  In  unserm  „imposanten  Bil- 
dungskörper" fehlt  „die  pädagogische  Seele".  Man  sucht  vergeblich  „die 
pädagogische  Tapferkeit  und  Begeisterung  im  Dienste  einer  Idee".  Die  ver- 
schiedenen Schularten  stehen  „vielfach  in  fast  feindlicher  Haltung  einander 
gegenüber,  und  man  hat  Mühe,  sich  gegenseitig  zu  verstehen.")  —  II.  Des 
Comenins  Wesenheit.  —  IQ.  Comenins  als  Maßstab:  „Kein  Pädagoge  der  Ver- 
gangenheit ist  in  gleichem  Maße  würdig,  zu  einer  Prüfung  im  großen  Stile  die 
Maßstäbe  zu  liefern,  wie  Comenins."  —  IV.  Die  „leuchtenden  Seiten"  seiner 
praktischen  Pädagogik:  „Vielseitigkeit  seines  Interesse  —  seelsorgerlicher  Zug 
seiner  Arbeit  —  Encyclopädismus  seiner  didaktischen  Bestrebungen."  — 
V.  Einzelne  Hauptgrundsätze  des  C.  (unbedingte  Notwendigkeit  sinnlicher 
Anschauung  und  Übnng  —  „Die  Volkssprachen  müssen  den  gelehrten  vorauf 
geschickt  werden"  —  „Allgemeiner  Unterricht  aller,  die  als  Menschen  geboren 
sind,  zu  allem  Menschlichen"  —  „Die  Lehrer  sollen  Menschenbildner,  aber  nicht 
Bildschnitzer  sein")  und  die  entsprechende  (oder  vielmehr  nicht  entsprechende) 
Praxis  unserer  Tage.  —  (Treffliche  Randbemerkungen:  „Jede  Gedenkfeier 
erhält  nur  dadurch  ihre  innere  Berechtigung  nnd  höhere  Bedeutung,  dass  sie' 
Anlass  wird  zu  einer  Prüfung  im  großen  Stile."  „Tbatsachen  lehren  nur,  indem 
sie  antreiben,  nene,  andere  zu  schaffen."  „Alle  pädagogische  Thätigkeit  entspringt 
ihrem  tiefsten  Grunde  nach  dem  Mitleid  und  Wolwollen."  rWo  es  mit  rechten 
Dingen  zugeht,  da  verdichtet  sich  stets  pädagogisches  Thun  zn  einer  Art  von 
pädagogischer  Stimmung."  „Jene  pädagogische  Stimmung  ist  nur  da,  wo  man 
aus  dem  Bewusstsein  unbegrenzter  Verantwortung  anch  unter  Verzicht  und 
Opfern  bereit  ist,  den  geistig  und  sittlich  Bedürftigen  beizustehen,  wo  das  Ge- 
fühl einer  die  Gesammtheit  umfassenden  solidarischen  Verpflichtung  also  in  der 
Gesellschaft  lebendig  wird,  dass  man  gerade  diese  Art  des  Wolwollens  als  die 
höchste  Form  edler  Menschlichkeit  übt  nnd  ehrt.") 

559.  Comenins  und  Ratke  (J.  Meyer,  Neue  Bahnen  1882,  III).  Be- 
antwortung der  Frage:  „Worin  liegt  es  begründet,  dass  die  Bestrebungen  des 
A.  C.  größeren  Einfluss  auf  Erziehung  und  Unterricht  ausgeübt  haben  nnd  noch 
ausüben  als  die  Ratke's?"   Vergleichnng  der  beiden  „nach  ihrer  Geistes-  und 

*)  „Comeniusheftu,  mit  dem  Bildnis  des  Meisters,  Preis  75  Pfg. 

47* 


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-    680  - 

Charakterttichtigkeit  —  ihrem  Wirken  in  Theorie  und  Praxis  —  den  äußeren 
Umständen,  die  ihr  Wirken  beeinflussten." 

560.  Bemerkungen  zum  badischen  Volksschulgesetz  (E.  v.  Sall- 
würk,  Rhein.  Bl.  1892,  III).  »Die  badischen  Volksschullehrer  sind  Staatsdiener 
geworden."  Kann  man  einerseits  „befürchten,  dass  das  Interesse  der  Gemeinden 
für  ihre  Schulen  sich  mindern  werde,  so  ist  anderseits  ganz  gewiss,  dass  das 
Interesse  des  Staates  an  der  Schule  mit  der  neuen  Einrichtung  sich  erhöhen 
wird.  Es  ist  ja  eine  alte  Erfahrung,  dass  man  die  Menschen  oft  nicht  darum 
höher  bezahlt,  weil  man  sie  höher  schätzt,  sondern  dass  man  sie  für  wertvoller 
hält,  je  mehr  man  für  sie  aufwenden  muss.  Das  wird  dem  badischen  Staate 
auch  nicht  anders  gehen.  Er  hat  sich  die  Volksschule  näher  gerückt,  als  je 
ein  Staat  es  bis  jetzt  gewagt  hat;  er  wird  die  Folgen  daraus  ziehen,  und  sie 
werden  für  die  Bildung  des  Volkes  nur  heilsam  sein."  „Wir  sehen  in  der  Neu- 
gestaltung der  badischen  Volksschule  viel  verheißende  Anfänge  zur  Besserung 
und  zum  Aufschwung  auf  dem  wichtigsten  Gebiete  der  Bildung  und  Gesittung 
und  zwar,  wie  wir  hoffen,  nicht  blos  in  den  Grenzen  des  kleinen  badischen 
Landes."  „Die  wesentlichen  inneren  Eigenheiten  der  badischen  Volksschule  — 
der  simultane  Charakter  und  die  durchaus  weltliche  Beaufsichtigung  —  sind 
geblieben."  Die  Lehrer  wünschen  nur  auch  eine  Erhöhung  (oder  Vertiefung) 
ihrer  beruflichen  Vorbildung,  um  die  Aufsichts-  und  Verwaltungsstellen,  die 
ihnen  offenstehen,  in  ersprießlicher  Weise  ausfüllen  zu  können. 

561.  Der  VormittagB-  bezw.  Übermittagsunterricht  (B.  Ofenloch, 
Kepert.  d.  Päd.  1891/92,  VII).  Gegen  das  in  jüngsten  Tagen  an  verschiedenen 
Orten  aufgetauchte,  als  „Zeitfrage"  beachtenswerte  Begehren,  den  gesammten 
Unterricht  (besonders  an  höheren  Schulen)  auf  die  Zeit  von  7  oder  8  bis  1  Uhr 
zu  verlegen,  hegt  Verfasser  folgende  erhebliche  Bedenken:  Auf  Seite  des 
Schülers  wie  des  Lehrers  gesundheitliche  Nachtheile  (des  langen  Sitzens,  des 
Athmens  in  verdorbener  Luft),  körperliche  Übermüdung,  geistige  und  gemtith- 
liche  Abspannung,  Häufung  der  Vorbereitungsarbeiten ;  Überladung  des  Schü- 
lers mit  Wissensnahrung  (»jede  Lust  zum  Lernen  wird  ihm  für  die  ersten 
Stunden  nach  Schulschluss  vergangen  sein")  —  daher  der  „freie  Nachmittag" 
eine  Illusion.    Überdies:  Störung  der  häuslichen  Tagesordnung. 


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Recensioiien. 


Dr.  Friedrich  Dütes,  Über  die  sittliche  Freiheit  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  Systeme  von  Spinoza,  Leibniz,  Kant.  Ge- 
krönte Preisschrift.  Nebst  einer  Abhandlang  über  den  Eadämonismas. 
Zweite,  neu  durchgesehene  Auflage.  Leipzig  n.  Wien  1892,  Jnl.  Klinkhardt. 
146  Seiten.    2  M. 

Die  in  diesem  Buche  vereinigten  zwei  Abhandlungen  sind  den  zwei  Grund- 
fragen der  Ethik  gewidmet:  Was  kann  der  Mensch  in  sittlicher  Beziehung, 
und  was  soll  er?  Oder:  wie  weit  reicht  sein  moralisches  Vermögen,  und 
was  ist  seine  moralische  Aufgabe?  Oder:  welches  ist  die  Form,  und  was 
ist  der  Inhalt  des  sittlichen  Willens?  —  Seit  langen  Jahren  im  Buchhandel 
vergriffen,  tritt  diese  Schrift  jetzt  nochmals  an  die  Öffentlichkeit,  da  sich  wieder 
mehr  Interesse  für  ethische  Untersuchungen  zeigt,  als  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten.  In  weiteren  Kreisen  bricht  sich  wieder  die  Überzeugung  Bahn,  dass 


menschlichen  Wolfährt  theils  ungeeignet,  theils  ungenügend  sind,  durchaus 
aber  einer  festen  Richtschnur  bedürfen,  welche  nur  in  der  Ethik  gefunden 
werden  kann.  Ob  nun  das  vorliegende  Buch  hierzu  eine  brauchbare  Weg- 
weisung biete,  dies  mögen  die  Leser  entscheiden;  Verfasser  kann  nur  sageu, 
das»  er  es  einst  mit  grosser  Liebe  geschrieben  hat  und  noch  heute  mit  Ver- 
gnügen liest.  D. 

K.O.Lutz,  Neue  Wandtafeln  zum  Unterricht  in  der  Naturgeschichte. 

30  Blätter,  Preis  24  M.    Im  Selbstverlag  von  K.  G.  Lutz  in  Stuttgart, 

Hohenheimerstr.  79. 

Endlich  liegt  dieses  vortreffliche  Lehrmittel,  ein  Werk  hervorraffender 
Tüchtigkeit  und  ausdauernden  Fleißes,  vollendet  vor  uns.  In  seinem  Vater- 
lande Württemberg  ist  der  Autor  längst  als  gewiegter  Kenner  und  Förderer 
der  Naturgeschichte  wol  bekannt,  insbesondere  auch  durch  die  Gründung  des 
„Lehrervereins  für  Naturkunde",  welcher  bereits  gegen  2500  Mitglieder  zählt. 
Daher  erklärt  es  sich,  dass  sein  neues  Werk,  welches  auch  die  schulbehördliche 
Anerkennung  gefunden  bat,  bereits  von  nahezu  700  württembergischen  Schulen 
angeschafft  worden  ist.  Die  Anlage  und  Ausführung  desselben  ist  jedoch  derart, 
dass  es  Bich  keineswegs  blos  für  ein  einzelnes  Land,  sondern  für  alle  Volks- 
schulen im  deutschen  Sprach  gebiete  vorzüglich  eignet. 

Unter  dem  Titel  „Präparationen  zum  Unterricht  in  der  Naturgeschichte" 
hat  Herr  Lutz  seinen  Wandtafeln  eine  Druckschrift  von  74  Seiten  beigegeben, 
welche  zugleich  als  erläuternder  Text  zu  diesem  Lehrmittel  und  als  Leitfaden 
für  den  naturgeschichtlichen  Lehrgang  treffliche  Dienste  leistet  Er  bemerkt 
da,  dass  er  bei  Herstellung  seines  Werkes  zunächst  einfache  Schulverhältnisse 
im  Auge  hatte,  was  jedoch  die  Verwendbarkeit  desselben  in  gehobenen  Schulen 
nicht  ausschließt,  und  sagt  weiter:  „Aus  dem  Pflanzenreich  sind  nur  einige 
charakteristische  Vertreter,  aus  dem  Mineralreich  nur  eine  Anzahl  fossiler 
Thiere  und  ein  idealer  Durchschnitt  durch  ein  Stück  der  Erdrinde  geboten. 
Das  auf  den  Tafeln  für  diese  beiden  Reiche  noch  Fehlende  gehört  in  die 
Schul-Naturaliensammlung,  oder  der  Lehrer  holt  es  nach  Bedarf  in  der  freien 


die  bisher  vorwiegend 


-    682  - 


Natur."  Denn  Naturkörper,  welche  ohne  bedeutende  Mühe  und  Kosten  ge- 
sammelt werden  können  und  auch  präparirt  noch  gute  Dienste  leisten,  braucht 
man  nicht  abzubilden;  das  Hauptgewicht  ist  sonach  auf  das  Thierreich  gelegt, 
von  den  Insecten  sind  aber  nur  einige  ganze  Entwickelungen  gegeben.  Be- 
sondere Berücksichtigung  ist  solchen  Vorkommnissen  gewidmet,  welche  sich  in 
der  Natur  nnr  selten  beobachten  lassen,  die  aber  im  Leben  der  Tbiere 
charakteristisch  sind. 

Nachdem  wir  das  vorliegende  Werk  genau  geprüft  haben,  müssen  wir  es 
als  ein  höchst  gelungenes,  seinem  Zweck  bestens  entsprechendes  bezeichnen. 
Selbst  die  mäßige  Größe  der  Tafeln  ist  eher  ein  Vorzug  als  ein  Fehler,  da  sie 
den  sehr  billigen  Preis  des  Werkes  ermöglichte  und,  geschickte  Handhabung 
vorausgesetzt,  den  Zweck  der  Abbildungen  keineswegs  beeinträchtigt.  Die 
Zusammenstellung,  sowie  die  zeichnerische  und  colorative  Ausführung  der 
Bilder  ist  durchaus  aller  Anerkennung  wert,  und  wir  stimmen  gern  dem  be- 
reits von  anderer  Seite  gefällten  Urtheile  zu:  „In  Bezug  auf  Zeichnung,  Colorit, 
künstlerische  und  naturliche  Anordnung  kommt  das  Werk  den  allerbesten  der 
bisher  vorhandenen  Schultafeln  gleich;  es  übertrifft  aber  fast  alle  in  Bezug 
auf  naturwissenschaftliche  Genauigkeit  und  sorgfältige  Ausführung  auch  des 
Kleinsten  und  scheinbar  Nebensächlichen."  M.  M. 

Brümmer,  Deutschlands  Helden  in  der  deutschen  Dichtung.  Statt- 
gart, Greiner  &  Pfeifer.    6  M. 

Eine  deutsche  Geschichte  in  Gedichten  ist  das  obengenannte  Sammelwerk. 
Unter  den  ca.  750  Gedichten  sind  ca.  250  hier  zum  erstenmal  in  die  Dienste 
des  Unterrichtes  gestellt.  Nur  einem  Hanne  wie  Brümmer,  der  durch  seine 
biographischen  und  bibliographischen  Werke  mit  der  neuesten  Literatur  Fühlung 
hat,  war  es  möglich,  ein  so  umfassendes  Material  zusammenzubringen.  Wie 
viel  der  Vorarbeit  mag  sich  dem  Sammler  bei  näherem  Zusehen  als  nicht 
brauchbar  erwiesen  haben  und  musste  beiseite  gelassen  werden.  Was  man 
wolgesichtet  zusammengetragen  sieht,  ist  vielleicht  nur  der  kleinere  Theil  des 
von  Brümmer  Gelesenen  und  Gesammelten.  Ist  somit  der  Fleiß  und  die  auf 
dies  Werk  verwandte  Mühe  aller  Anerkennung  wert,  so  auch  die  Art  der  Zu- 
sammenstellung. Die  Gedichte  sind  mit  Bücksicht  auf  das  verherrlichte  Er- 
eignis chronologisch  geordnet.  Das  erste  Gedicht  schildert  den  Cimberneinfall, 
eines  der  letzten  Moltke's  Tod.  Eine  recht  praktische  Zusammenstellung  gibt 
das  Inhaltsverzeichnis,  das  zuerst  die  Gedichte  in  der  genannten  Ordnung  auf- 
zählt und  dann  sie  nach  ihrem  Inhalt  ordnet  in  solche,  die  z.  B.  die  Geschichte 
Brandenburgs  oder  der  österreichischen  Länder  oder  Badens  oder  der  anderen 
deutschen  Landschaften  erzählen.  So  dient  das  Buch  auch  der  Localgescbichte. 
Naturgemäß  findet  sich  neben  Vollwichtigem  auch  mancher  Lückenbüßer;  ja 
manche  Perle  deutscher  Dichtung  (z.  B.  Josefs  II.  Denkmal  v.  Zedlitz.  Lenau's 
Schlacht  bei  Aspern)  wurde  gegenüber  mehr  erzählenden  Gedichten  minderen 
Wertes  zurückgesetzt.  Das  Buch  ist  ein  Werk  für  die  reifere  Jugend,  und 
da  die  Ausstattung  wirklich  gediegen  ist,  eines,  das  sich  zu  einem  Geschenke 
vortrefflich  eignet.  ..  W. 

Bütticher  und  Kinzel,  Denkmäler  der  älteren  deutschen  Literatur. 

(I.  1.  2.  Die  deutsche  Heldensage,  HL  3.  Martin  Luther,  Vermischte  Schriften 

weltlichen  Inhalte.)    Halle,  Waisenhaus. 

Die  „Denkmäler"  stellen  sich  die  Aufgabe,  im  Sinne  des  preuß.  Ministerial- 
erlasses  vom  31.  März  1882,  in  charakteristischen  möglichst  vollständigen 
Werken  gewisse  Centren  zu  bieten  für  den  literaturgeschichtlichen  Unter- 
richt. Drei  solche  Centren:  die  deutsche  Heldensage  in  der  vorclassisohen  Zeit 
(a.  Hildebrandslied,  b.  Waltharilied,  c.  die  Zaubersprüche,  d.  Muspilli  —  Heft  L  1) 
und  in  der  classischen  Zeit  (Gudrun,  Heft  I,  2),  sowie  Luthers  weltliche 
Schriften  in  Auswahl  (Heft  in.  3)  liegen  uns  zur  Begutachtung  vor.  L  1  und 
L  2  bieten  den  Text  in  einer  Übertragung  ins  Neuhochdeutsche,  I.  1  mit 
gegenüberstehendem  Originaltext  für  die  Gedichte  a,  c,  d,  mit  Proben  des 
Originaltextes  für  b  und  die  Gudrun  (I.  2).  Luthers  Schriften  sind  in  der  ur- 
sprünglichen Fassung  abgedruckt.   Die  Übersetzung  schließt  sich  eng  an  den 


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683  — 


Text  an,  liest  sich  trotzdem  leicht  und  gibt  den  Charakter  des  Originals  gut 
wieder.  Sprachlich  oder  sachlich  dunkle  Stellen  Bind  unter  dem  Text  erläutert; 
Einleitungen  klaren  zur  Genüge  über  die  literargeschichtliche  Stellung  des 
Werkes  auf.  Die  Gudrun  ist,  als  Schulausgabe  gedacht,  in  gekürzter  Form 
aufgenommen  und  der  erste  Theil,  Spielmannspoesie,  nur  in  Form  einer  Nach- 
erzählung gegeben.  Bei  der  Kürzung  waren  in  erster  Linie  ästhetische  Rück- 
sichten maßgebend.  Dass  zahllose  Interpolationen  gerade  bei  diesem  Werke 
vorgenommen  worden  sind,  ist  ja  keine  Frag«,  freilich  die  betreffenden  Strophen 
als  solche  zu  erkennen  uns  noch  weniger  möglich  als  etwa  die  unechten 
Strophen  des  Nibelungenliedes.  Jedeafalls  gibt  die  Kürzung,  wie  sie  die 
„Denkmäler"  bieten,  dies  Gedicht  in  genießbarer  Form,  mag  sie  es  auch  immer- 
hin nicht  in  der  ursprünglichen  Gestalt  herausgeschält  haben.  —  Die  Auswahl 
aus  Luthers  weltlichen  Schriften  —  darunter  Fabeln,  Sprüche,  Dichtungen, 
Briefe,  Aphorismen  —  befriedigt  außerordentlich.  Luther  tritt  da  als  der 
Weltweise  und  Weltkluge,  als  der  Berather  seines  Volkes  auf  allen  Gebieten 
des  Lebens  recht  scharf  vor  unsere  Seele.  Und  wie  bündig,  klar  und  treffend 
ist  da  nicht  alles  erläutert!  Selbst  der  grammatische  Anhang,  eine  Übersicht 
über  die  Sprache  Luthers  (S.  217—252)  mit  seinem  Hinweis  auf  die  alten 
Formen,  wie  sie  noch  heute  in  Gedichten  unserer  Modernen  vereinzelt  fort- 
leben, ist,  so  knapp  er  auch  gehalten  ist,  ein  kleines  Meisterstück.  Wir  em- 
pfehlen das  ganze  Sammelwerk,  insbesondere  aber  diesen  letzt  genannten  Band 
recht  eindringlich  der  Privatlectüre  unserer  Seminaristen.  W. 


Monatshefte  der  Comenius- Gesellschaft,  1.  Jahrgang,  1.  Heft.  135  S. 
Leipzig,  R.  Voigtländers  Verlag.  Jährlich  10  Mk.  Einzelne  Hefte  21/,  Mk. 

Prof.  Dr.  Eschweiler,  Haas  and  Schale.  Ein  Mahn-  and  Trostbachlein  in 
Briefen  an  die  Eltern  unserer  studirenden  Jagend.  Bielefeld,  Aug.  Helmich. 
78  S.   1.25  Mk.,  eleg.  geb.  2  Mk. 

6.  Helmke,  Die  Behandlang  jagendlicher  Verwahrloster  and  solcher  Jagend- 
lichen, welche  in  Gefahr  sind  za  verwahrlosen.  Halle  a.  d.  S.,  Hermann 
Schrödel.    70  S.    1.25  Mk. 

August  Weiß,  Die  Frau  nach  ihrem  Wesen  and  ihrer  Bestimmung.  Leipzig, 
Rossbergsche  Buchhandlung.    85  S.    1.50  Mk. 

Otto  Sutermeister,  Dichten  und  Lägen.  Vortrag.  Frauenfeld,  Huber.  38  S. 

Hans  Trunk,  Der  Volksschullehrerstand  im  Spiegel  der  Mitwelt.  Gekrönte 
Preisschrift.  Zweite  Auflage.  Graz,  Leuschner  &  Lubensky.  66  S. 

Meyer-Markau,  Der  Lehrer  Leumund.  Urschriftliche  Worte  zeitbürtiger 
deutscher  Schriftsteller,  Dichter  und  Gelehrten  über  Lehrer  und  Schule. 
Duisburg  a.  Rh.    Zu  beziehen  vom  Verfasser.    209  S. 

J.  Pawlecki,  Dichterstimmen  aus  der  deutschen  Lehrerwelt.  Hamburg,  Ver- 
lagsanstalt A.-ir.  (J.  F.  Richter).  382  S.   Geb.  4.50  Mk.,  brosch.  3  Mk. 

J.  W.  Dörnfeld,  Das  Fundamentstück  einer  gerechten,  gesunden,  freien  und 
friedlichen  Schul  Verfassung.  1.  Lieferung.  Hilchenbach,  L.  Wiegand.  63  S. 
75  Pf.  Vollständig  in  4  Lieferungen. 

Hofmiller,  Kftsch  und  Königbauer,  Schemata  und  Lehrproben.  Nach  den 
sechs  psychologischen  Stufen  für  Volksschulen  bearbeitet.  Bamberg,  C. 
Buchner.    198  S. 

Hans  Sommert,  Methodik  des  deutschen  Sprachunterrichts.  2.  Aufl.  Wien, 
Pichler.  224  S.    1.40  fl. 


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—   684  — 


Adalbert  Maia,  Rede-,  Schreib-  and  Stilübungen.  2.  Abtheilung:.  Wien, 
Pichler.   159  S.   1  fl. 

Httttich  und  Veiter,  Alphabetisches  Nachschlagebuch  für  deutsche  Recht- 
schreibung. Nach  der  für  Schulen  in  Österreich  amtlich  festgestellten 
Rechtschreibung.  2.  verbesserte  Aufl.  Wien  und  Prag,  F.  Tempsky. 
166  S.    80  kr. 

E.  Steckel,  Allgemeine  Heimatskunde  mit  Berücksichtigung  der  Cultur- 
geschichte  als  Vorbereitung  für  den  weltkundlichen  Unterricht,  namentlich 
als  Vorschule  der  Geographie.  Zwei  Gänge  (für  Mittel-  und  Oberstufe). 
Mit  17  Holzschnitten.  Halle  a.d.S.,  Hermann  Schrödel.   103  S.  1.35  Mk. 

Bnley  and  Vogt,  Das  Turnen  in  der  Volks-  und  Burgerschule  für  Knaben 
und  Madchen,  sowie  in  den  Unterclassen  der  Mittelschulen.  2.  TheiL  Wien, 
Pichler.    185  S.    1  fl. 

Franz  Schindler,  Naturlehre  für  Volksschulen.  Mit  112  Abbildungen.  Wien 
und  Prag,  F.  Tempsky.  Leipzig,  G.  Freytag.  118  S.  Geh.  40  kr.,  geb.  55  kr. 

Anton  Gindelys  Lehrbuch  der  Geschichte  für  Bürgerschulen.  Bearbeitet  von 
Kraft  und  Rothaug.  Ausgabe  für  Knaben-Bürgerschulen.  1.  TheiL  37 
Abbildungen.  4  Karten.  11.  Aufl.  Wien  und  Prag,  F.  Tempsky.  Leipzig, 
G.  Freytag.  125  S.  Geh.  55  kr.,  geb.  70  kr.  —  2.  Theil.  25  Abbildun- 
gen. 3  Karten.  Neunte  Aufl.   109  S.  Geh.  50  kr.,  geb.  65  kr. 

—  Dasselbe,  Ausgabe  für  Mädchen-Bürgerschulen.  1.  Theil.  38  Abbildungen. 
4  Karten.  Zwölfte  Aufl.   119  S.   Geh.  55  kr.,  geb.  70  kr. 

Rudolf  Bantz,  Formenstudien.  Musterzeichnungen  für  Schule  und  Haus.  500 

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Ule,  Die  Erde  und  die  Erscheinungen  ihrer  Oberfläche  nach  Reclus.  1.  Liefe- 
rung.  Vollständig  in  15  Lieferungen  &  60  Pf. 

Kubach,  Einführung  in  den  geographischen  Unterricht.  Düsseldorf,  Schwann.  18S. 

Dietlein-Schumann,  Deutsches  Lesebuch  für  sechs-  und  mehrclassige  Schulen. 
Gera,  Hofmann. 

Goldschmidt,  Die  deutsche  Ballade.  Programm  der  Talmud  Tora.  Hamburg. 

Taschek,  Vorschläge  zur  Vereinfachung  des  grammatischen  Unterrichts  in  der 
Volksschule.   Wien,  N.-Ö.  Landeslehrerverein. 

Zurbongen,  Literaturkunde.  Berlin,  Nicolai. 

Prffll,  Sind  die  Reichsdeutschen  berechtigt  und  verpflichtet,  das  Deutschthum 
im  Auslande  zu  stützen?  Kiel  und  Leipzig,  Tischer. 


Verantworte  Redacteur  Dr.  Friedrieh  Oittei.    Buc hdrackerei  Julius  Klinkhardt,  Leipzig. 


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Verlag  oon  3uliuö  Ältnf&ttrbt  in  gcip^fl. 


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1 — 4.  (5d)uljafn:  ntefjrftaffigcr  «Spulen. 
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In-  4.,  ööflig  umgearbeitete  Auflage  biefef  befannten  SJudjef ,  baf  bie  genannten  Sehr« 
gegcnftänbe  mit  auf  bie  rechte  ©ahn  gemtefen,  bietet  ben  reichen  unb  roohlgeglieberten  £eb,rftoff 
\e yt  in  abgerunbeter  ^rorm  bar.  Xtc  grünblich  entroicfelten  fachlichen  unb  fprachlichen  @runb* 
fa&e,  bie  aufgeführten  fleljrproben  unb  bie  tuertoollen,  übern  1!  eingeftreuten  praftifchen  SBtnfe 
bereit  igen  unf,  biefef  SBerl  allen  fiehrern  ju  empfehlen.  3nfbefonbere  wirb  ef  jüngeren  Se^rem 
unb  benen,  bie  mit  ben  fiefebüdjern  ber  ißerfaffer  arbeiten,  ein  f)öd)fi  rmflfommencr  Ratgeber 
unb  SBegroeifer  fein. 

Die  löaürifche  üehrerjeitung  fdjreibt  über  baf  2Berf:  „Sin  i^nch  mit  aufgejeichneten 
ü)runbfd^en,  reichem  fiebrftoffe  unb  meifterbaft  aufgearbeiteten  fiehrproben,  baf  beftenf  empfohlen 
roerben  tann,  befouberf  Wenn  nodj  bie  Jibel  toon  bemfelben  SJerfaffer  bem  Sefe unterrichte  &u 
örunbe  gelegt  ift. 

^äbagog.  Anzeiger  jur  ÄUgem.  Deutfdjen  Setjrer^eitung:  „3ütting  unb  5Bebcr 
finb  auf  bem  Gebiete  be$  SInfcbauungfunterrtchtf  unb  ber  §cimat£funbe  bahnbrechenb  voran 
gegangen.  Sie  moKen  biefe  (Gebiete  jum  SDtittelpunft  bef  Unterrichts  für  bie  6— 10 jährige  3uacnb 
gemacht  tniffen,  benn  bamit  ift  bie  Sorfdmle  für  alle  biejentgen  Unterrichtsfächer  gegeben,  bie  Dom 
5.  Schuljahre  an  erft  felbftänbig  auftreten  follen.  3m  oorliegenben  SBeric  werben  nun  ©runbiä&c, 
Sehrftoffe  unb  Sehrproben  geboten,  Äflef  ift  grünblich  erroogen  unb  trefflich  aufgeführt.  Alflen 
ben  kehrern,  bie  bie  fiefebüdjer  ber  genannten  SJerfaffer  benufcen,  ift  biefe  Vlrbeit  ein  unentbehr* 
tiefer  l'eitfaben;  aber  auch  jeber  anberc  iöolfffchullehrer  finbet  hier  reiche  Anregung  unb  roertöofle 
i'raftifche  Aufführungen. 

3n  beziehen  burch  iebe  ©uchhonblung.  2Bo  eine  foldje  nicht  jur Verfügung  fteht,  ift  bteSBer» 
lagfhanblung  ju  birefter  ^ufenbung  bereit. 


Musik 


ES  u.  uioiln.  i' a.  tkniir.  Outrrtur^n, 
Lieder,  irien  ett,  800  In. 

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lafl»c»n.  Von tl.  Mich  t.  Urnck,  stärket Papier.  —  Elf jrant tu- 
fetUUrt«  Albanai  I.W,  reildirt  \»n  Ki'mann.  J.nUv 
ttc  —  Cekaadeae  la»lk  aller  Mitionen.  —  Hnnoriitka. 
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Digitizec 


3m  «erläge  t>on  $m.  Xv.  äÖollcr,  üeipjia., 
erfd)ien  foeben  in  IV.  «uilage: 
Bischoff, 

6tfd)iil)tf  Ufr  d)timid)rn  ftirdir 

in  ©ilbern, 

neu  bearbeitet,  bebeutenb  erweitert  unb  bis  auf 
bie  ©egenwart  fortgeführt  öon 

©uftotj  Slbolf  Jdcupolb, 

caud.  rev.  min.,  Oberlehrer  am  Äönigl.  Seminar 
AU  TreSben-ftriebricbftabt. 
32  »ogen  flarf  8°  ftormai. 
^Jrei*  brofdnert  SR.  4.—. 
$te  «nerfennung,  welche  bem  Werte  in  IIJ- 
Auflage  au  teil  geworben  ift,  bie  genaue  Xurcb- 
arbeitung  unb  bebeutenbe  erweiterung  ber  IV. 
Auflage  mit  ber  Fortführung  ber  ©efcfycbte  bi* 
*ur  9feujeit,  laffen  uu*  hoffen,  ein  Wert  ge- 
Uaffen  au  haben,  welche«  al*  Stoff  Aum  Unter- 
rieht  in  ber  ftiref»cngefd)icf)U  alle«  ba*  bieten 
bürfte,  wa«  ber  £eb"*  oon  einem  guten  fiebr- 
buch  ber  fiircpengefcbicbte  oerlangt 

©IcicpAettig  fei  noch  °a#  ™  «"f1^ 
erfepienene  Wertct/en 

©tfdjoff,  fieitfaben  beim  Unterricht  in  ber  @e- 

fd)id)te  ber  d)riftl.  tfirepe  3R.  L— 
empfohlen.  

3n  meinem  »erläge  ift  foeben  erfchienen: 
ber 

aUgrmrinrn  ParrnMe 

für  jtDfiklaffigr  fianbflßfdiulrn  nnb  für 
bie  DorbcrrttmmeklalTc  leerer  ^anbflß 
lrljraiiftaltcn 

oon 

Äarl  irtttgrr, 

$rof-  ber  Wremial'fcanbelS-Sacbfcbule  ber 
Wiener  Äaufmannfcbaft. 
9KU  24  «btildunflcn.  1Mrei*  &rofd>.  SK.  2.-. 

3n  biefem  SBerte  finb  bie  Waren  nach  ben 
für^ben  Kaufmann  wieptigfren  &t[\ä)iipnnlttn, 
wie  ihren  charafteriftifchen  gigenfepaften ,  ihrer 
©ewinnung«-  ober  3>arfteüungSw«ife,  ihrer  8er- 
menbung  unb  ihrer  SJroüenienA  behanbelt,  fowic 
bie  wiebtigften  unb  gangbarften  "üanbelSforten 
namhaft  gemacht  roorben.  fcäufiger  ooriomnieiibe 
»erfätfepungen  einjelner  Waren  ftnb  nach  Gebühr 
berücfiichtigt  unb  bie  einfacheren  SRetpoben 
anaeaeben,  iene  »u  erfennen. 

&«  Such  J         iebe  »ucpbanblung  au 


«erlag  oon  Juliiiö  ftluilparDt  in  t'etpjlg- 

&intorgattftt=£irtfr. 

Sine  Sammlung  oon  neuen 

(BtlegcnlifitB-,  Spiel-  unö  fioMitDem 

fär  tad  tartc  «uiDeortltcr. 

3um  Gebrauche  in  Schule  unb  framilie  lompouicrt 

oon 

ftäbtifeper  Schulleiter  in  Wien. 
IRit  einer  (Einleitung  oon  Geor«  §r«IL 
dritte,  umgearbeitete  unb  oermeprte  Auflage, 
ar.  8°.  Vci*  6tofdj.  %  *K.  40  *f. 
„$ie  Sammlung  enthält  350  einftimmige 
(Gelegenheit*',  Spiel-  unb  Jtofelieber  für 
Aartc  Äinbe*alter  unb  niept  auSfrblietjltcp 
ben  Äinbergarten  berechnet. 

£ie  Xejrte  finb  faft  burebweg  in  eept  n 
lichem  ©eifte  gepalten,  bafür  bürgen  fepon  b 
Hamen  oon  3ugenbfcpriftftenern  wie:  ttT™«*» 
Dieffenbacp,  Saufa,  fcep,  Sturm,  l^slin,  $of- 
mann,  ©.  «ruft  u.  f. unb  Schule  unb  jpauJ 
bürfte  bie  hier  gebotene  Auswahl  niept  feiten 
recht  toillfommen  fein.  «Rögen  bie  freunbll$M 
Weifen  noch  manchen  3ugenbfrühlmg  erpeitern 
unb  noch  recht  ütele  unferer  lieben  Kleinen  bf 
aleiten  auf  iprem  erfien  unb  folgewteptigen  ©ang 
bureb  ben  3ugenbgarten."  (Scbweijer  fiebrer- 
jeirung  1892.   9fr.  6.) 


»erlag  t-on  ^uliilö  ÄHnfpardl  in  t'cipiifl. 

ftfentenfe 

ber 

i)olköunrtfd)aftölcl)rc. 

SSon 

Dr.  |U.  ilruratlj, 

SJrof.  an  ber  f.  f.  fcocbicpule  für  »obenfultnr 
in  Wien. 
2.  «uflogr.   broidj.  UM.  2  "»0. 
<üh  erfte  «uflage  biefe«  ©erfe«  —  etn  ge» 
brängter  fieitfaben  —  mar  in  furjer  ;ieit  oer« 
ariifen.   Ter  Cerfaffcr  %at  nun  in  bem  «uebe. 
rodeheö  häufig  »um   Selbftftubium  benum 
rourbe,  ben  Stoff  bebeutenb  erweitert,  fo  ba& 
bie  jefcige  Äuflage  ein  fleinc*  ßeprbueb  ge- 
worben ift.  Xro$  aüer  ßür*e  unb  «napp^ett 
oereinigt  bad  «uep  letcptfaDlicpe  DarfteOung  mü 
mahrer  ©iffcnfchaftlicpfeit  

Beste  Violinschule: 

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164  Seiten  gröeete»  Noten« 
form.  Prachtausgabe  5  Hefte 
je  I  M.i  in  I  Band  3  M. 
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Hierzu  1  Beilage  vom  Pestalozzistift  zu  Leipzig. 


Baohdracker«»  Juliui  KUnkhardt,  Leip«i» 


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\    AUG  76  i»M2 


Paedagogiüm 


Monatsschrift 

für 

Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 

!>!•.  Frieclrioli 


117.  Jatafau. 

IL  Heft,  August  1891 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 


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Inhalt  des  11.  Heftes. 


Seit« 


Jean  Paul's  „Levana  oder  Erziehlehre"  nach  Plan  und  Grundgedanken  dargestellt 
nnd  von  dem  Standpunkte  der  heutigen  Pädagogik  beleuchtet  von  P.  H. 

Bemerkungen  zur  Fremd  Wörterfrage.  Von  Alfred  von  Ehrmann-Baden 
bei  Wien  

Macht  und  Arbeit  in  ihren  Bildungselementen.  Von  Joh.  Kaulich-Mähr. 
Schönberg   

Die  Waffen  nieder!  Von  0.  B.-Str  

Meister  und  Jünger  des  Lehrerberufs  

Pädagogische  Rundschau.  Universitäten.  —  Berlin.  Vom  Deutschen  Lehrer- 
Verein.  Rechtsschutz  —  Von  der  Weichsel.  —  XI.  Congrcsa  für  erzieh- 
liche Knabenhandarbeit  zu  Frankfurt  a.  M.  —  Aus  Bayern.  —  Aufruf.  — 
Fortschritte  in  Bosnien  und  der  Herzegowina  

Aus  der  Fachpresse  

Receneionen  


Alle  Buchhandlungen  und  Postanstalten  nehmen  Bestellungen  an. 


685 

65)8 

709 
717 

725 


726 
738 
741 


Abonnements -Preis  pro  Quartal  m.  2.25. 


« 

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Jean  PauTs  „Levana  oder  Erziehlehre" 

nach  Plan  und  Grundgedanken  dargestellt  und  von  dem  Standpunkte  der  heutigen 

Pädagogik  beleuchtet  von  P.  II, 


llicht  mit  Unrecht  hat  man  das  achtzehnte  Jahrhundert,  jenes 
Jahrhundert  der  Völker-  und  Geistesbewegung,  des  Kriegsgetümmels 
und  der  emsigen  Culturarbeit,  jenes  Jahrhundert,  das  in  unaufhalt- 
samem Ringen  nach  Aufklärung,  Fortschritt  und  socialer  wie  reli- 
giöser Befreiung,  sowie  auch  im  Streben  nach  vollständiger  Populari- 
sirung  der  Freiheitsideen  wol  von  keinem  Zeitalter  übertreffen  wird, 
seiner  Vielseitigkeit  wegen  bewundert.  Die  großen  Männer,  welche 
jenem  vielbewegten  Jahrhundert  den  Stempel  ihres  Geistes  aufdrückten, 
waren  schaffend  und  wirkend  nach  allen  Richtungen  hin  thätig.  Keine 
Provinz  des  großen  Geistesgebietes  blieb  unangebaut  von  ihrer  be- 
freienden und  erlösenden  Arbeit.  Im  Streben,  das  morsch  gewordene 
Alte  zu  stürzen  und  der  aus  den  Fluten  einer  trüben  Vergangenheit 
emporsteigenden  neuen  Zeit  feste  Grundlagen  zu  schaffen,  wandte  man 
sich  an  alle  Volksclassen.  Ja,  jedes  Geschlecht  und  jede  Altersstufe 
sollte  theilhaben  an  den  Errungenschaften  der  neu  aufblühenden 
Periode.  Daher  konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  man  auch  einer 
Wissenschaft  und  Kunst,  deren  Aufgabe  es  ist,  die  neu  gewonnenen 
Schätze  einer  tiefer  grabenden  und  forschenden  Gemeinde  von  geistes- 
großen Männern  dem  Gesammtvolke  nahe  zu  bringen  und  das  jung- 
aufwachsende Geschlecht  seiner  Zeit  würdig  zu  machen,  rege  Be- 
achtung zollte.  Diese  Wissenschaft  mit  ihrer  Anwendung  als  so 
bedeutungsvolle  Kunst  ist  die  Pädagogik.  Darum  darf  es  uns  nicht 
auffallen,  wenn  im  erwähnten  Jahrhunderte  auf  ihrem  Gebiete  eine 
lebhafte  Strömung  eintrat,  wenn  zur  Darstellung  pädagogischer  Wissen- 
schaft und  pädagogischer  Kunst  Männer  hervortraten,  deren  eigent- 
liches Gebiet  im  Reiche  mannigfaltiger  anderer  Künste  und  Wissen- 
schaften zu  suchen  ist.  Aus  nahe  liegenden  Gründen  nahmen  sich 
vor  allem  Philosophen  und  Dichter  der  pädagogischen  Sache  an, 

Pädagogium.    Ii.  Jahrg.  Heft  XL  48 


I. 


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—   686  — 


und  vorzüglich  auch  durch  ihre  Bemühungen  wurde  eine  heilsame 
Umgestaltung  derselben  herbeigeführt.  Selbstverständlich  ist,  dass 
jeder  ins  Bereich  der  von  ihm  behandelten  Wissenschaft  seine  eigene, 
längst  gewohnte  Sprache  übertrug,  und  so  kam  es,  dass  wir  aus  jener 
Zeit  philosophische  Bearbeitungen  der  Pädagogik  und  poetische 
Darstellungen  derselben  besitzen. 

Das  bedeutungsvollste  unter  den  Werken  letztgenannter  Art  ist 
nun  die  „Levana"  oder  „Erziehlehre"  von  Jean  Paul  Friedrich 
Richter.  Zwar  fällt  die  Herausgabe  derselben  nicht  mehr  ins 
achtzehnte  Jahrhundert,  da  ihre  erste  Auflage  erst  im  Jahre  1806 
erschien;  aber  die  Grundgedanken  des  Werkes,  sowie  die  empirische 
Unterlage  desselben  lagen  sicherlich  schon  Jahrzehnte  vorher  im 
Geiste  ihres  Verfassers;  die  Antriebe,  welche  unseren  Dichter  zur 
Abfassung  seines  Buches  drängten,  sind  schon  in  jüngeren  Jahren 
Jean  Pauls  wirkend  gewesen.  Und  so  glauben  wir  durchaus  keinen 
Anstoß  zu  erregen,  wenn  wir  die  „Levana"  zu  den  pädagogischen 
Erzeugnissen  des  achtzehnten  Jahrhunderts  rechnen.  Hiermit  haben 
wir  zugleich  einem  sehr  wichtigen  Zuge  zur  Charakterisirung  des  ge- 
nannten Erziehungsbuches  Ausdruck  verliehen.  Jean  Pauls  „Levana" 
ist  nämlich  in  hohem  Grade  ein  Kind  ihres  Zeitalters,  sie  ist  das  in 
ihren  Vorzügen  wie  in  ihren  Fehlern,  im  Inhalte  wie  in  der  Form. 
Wenn  zudem  der  Verfasser  eines  Werkes  eine  so  scharf  ausgeprägte 
Individualität  und  eine  so  subjective  Natur  wie  Jean  Paul  ist,  so  er- 
scheint es  als  selbstverständlich,  dass  für  das  Buch  auch  hierin  eine 
Quelle  zahlreicher  Eigentümlichkeiten  liegt.  So  ist  es  denn  ge- 
kommen, dass  der  „Levana"  unseres  Dichters  ein  reiches  Maß  von 
sehr  charakteristischen  Merkmalen  anhaftet,  deren  Ursprung  theils  in 
dem  Standpunkte  der  damaligen  Wissenschaft,  namentlich  der  päda- 
gogischen, theils  in  der  ganzen  Persönlichkeit  ihres  Verfassers  und 
dem  Leserkreise,  für  den  er  sein  Buch  bestimmte,  zu  suchen  ist. 
Jean  Paul  ist  im  eminenten  Sinne  Humorist;  als  solchem  musste  ihm 
ein  feines  Gefühl  eigen  sein  für  alle  jene  Kleinheiten  und  Kleinig- 
keiten des  menschlichen  und  namentlich  auch  des  kindlichen  Lebens, 
die  er  als  Dichter  in  poetisch  durchhauchter  Form  zu  schildern  wusste. 
Er  war  aber  näherhin  vorzugsweise  ein  Lieblingsdichter  der  höheren, 
d.  h.  vornehmen  Stände,  und  dieser  Umstand  konnte  ebenfalls  nicht 
ohne  Einflass  auf  die  Art  seiner  Darstellung  sein.  Die  letztere  ist 
allzu  charakteristisch,  als  dass  wir  nicht  hier  einige  Bemerkungen 
darüber  machen  möchten,  da  namentlich  auch  in  dieser  Hinsicht  die 
„Levana"  eine  gänzlich  isolirte  Stellung  in  der  pädagogischen  Lite- 


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ratur  einnimmt.  Wie  Jean  Paul  als  Schriftsteller  überhaupt  das 
Wirkende  seiner  Geisteserzeugnisse  mehr  im  Sonderbaren,  Über- 
raschenden,  darum  aber  auch  Einseitigen  und  Regellosen,  als  in  der 
makellosen  Reinheit  des  Schönen  gesucht  zu  haben  scheint,  wie  das 
Bestechende  seiner  Bilder  mehr  in  ihrer  überraschenden  Seltsamkeit 
und  Häufung,  als  in  ihrer  Anschaulichkeit  und  poetisch  feinen  Ge- 
staltung zu  suchen  ist,  so  schreibt  auch  Jean  Paul  der  Pädagog. 
Stellenweise  fesselnd  und  die  poetische  wie  die  pädagogische  Theil- 
nahme  aufs  höchste  steigernd,  ist  sein  Werk  anderseits  zuweilen  breit 
bis  zur  Langweiligkeit  und  sonderbar  bis  zur  Geschmacklosigkeit. 

Dennoch  ist  die  „Levana"  ein  vielgenanntes,  wenn  auch  nicht  in 
gleichem  Umfange  bekanntes  Glied  der  pädagogischen  Literatur,  und 
ihr  unter  zuweilen  so  wenig  ansprechender  Hülle  geborgener  Kern 
wertvoll  genug,  um  unsere  Beachtung  auf  sich  zu  ziehen  und  eine 
eingehendere  Beschäftigung  mit  dem  Werke  zu  rechtfertigen. 

Bei  unserer  Betrachtung  von  Jean  Pauls  Erziehlehre  wollen  wir 
zunächst  in  den  Plan  und  die  äußere  Gliederung  derselben  eingehen, 
um  sodann  die  Grundgedanken  des  Werkes  in  übersichtlicher  Weise 
zu  entwickeln  und  schießlich  eine  kritische  Beleuchtung  derselben 
nach  Maßgabe  des  heutigen  Standpunktes  der  pädagogischen  Wissen- 
schaft zu  versuchen. 

n. 

Es  ist  eine  bekannte,  oft  getadelte  Eigentümlichkeit  Jean  Pauls, 
dass  er  in  seinen  Werken  nie  nach  einem  bestimmten  feststehenden 
Plane  arbeitete,  sondern  seine  Gedanken  in  bunter  Mannigfaltigkeit, 
wie  sie  ihm  der  Augenblick  eingab,  der  Leserwelt  darbietet.  Die 
anmutigsten  Bilder  malt  er  uns,  die  lieblichsten  Zaubertöne  weiß  er 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  mit  Meisterschaft  bringt  er  jede  Saite  des 
Gemütslebens  zum  Erklingen;  aber  immer  sind  es  einzelne,  sich  von 
der  Umgebung  abhebende,  schimmernde  Krystalle  und  duftende,  auch 
von  Unkraut  um  wucherte  Blumen,  die  den  Genuss  bereiten,  und  dem 
Leser  bleibt  es  überlassen,  in  angenehmer  Erinnerung  der  reichlich 
gebotenen  Genüsse  die  kostbaren  Edelsteine  zu  einer  Schnur  zu 
sammeln  und  die  lieblichen  Pflanzen  zu  einem  duftenden  Blumen- 
strauße zu  winden.  Nach  einem  geschlossenen  Gedankengang,  einer 
auf  einheitlicher  Grundlage  sich  entwickelnden  Ideenfolge  wird  man 
jedoch  vergeblich  in  seinen  Werken  suchen:  es  ist  ihm  eben,  wie  er 
selbst  gesteht,  nie  ganz  gelungen,  den  „ungebundenen  Geist  in 
gebundene  Form  zu  bringen."  Auch  in  seinem  für  den  Päda- 
gogen wichtigsten  und  interessantesten  Werke,  der  „Levana",  tritt 

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dieser  Mangel  zutage,  auch  hier  vermisst  man  bei  aller  Fülle  geist- 
reicher und  origineller  Gedanken  eine  logische  Verknüpfung  der  ein- 
zelnen Theile  zu  einem  organischen  Ganzen.  Anfangs  scheint  Jean 
Paul  sich  allerdings  einen  bestimmten  Plan  vorgesetzt  zu  haben.  Nach 
Feststellung  des  Zweckes  der  Erziehung  finden  sich  in  genetischer 
Folge  die  Gattungs-  und  die  individuellen  Eigenschaften,  sowie  die 
Entwickelungsgesetze  des  Erziehungsobjektes  dargestellt,  und  es 
scheint  fast,  als  wolle  der  Verfasser,  von  der  ersten  Erziehung  aus- 
gehend, eine  Theorie  der  gesammten  Erziehungsthätigkeit  nach  ein- 
heitlichen Grundgedanken  aufbauen.  Bald  jedoch  verlässt  er  voll- 
ständig den  eingeschlagenen  Weg  und  behandelt  in  ziemlich  unge- 
regelter Aufeinanderfolge  die  wichtigsten  Erziehungsfragen,  wodurch 
das  Werk  bei  aller  Gedankentiefe  und  Ideenfülle  doch  den  Eindruck 
eines  wohlgegliederten,  widerspruchsfreien  Ganzen  nicht  aufkommen 
lässt.  Dessen  war  sich  jedoch  niemand  besser  als  der  Autor  selbst 
vollständig  bewusst.  Schon  die  Überschriften  der  einzelnen  Capitel 
wie  „Bruchstück",  „Nachschrift",  „Traum",  „Ergänzungsblatt"  lassen 
erkennen,  dass  er  kein  System  im  strengen  Sinne  des  Wortes  zu 
liefern  gedenkt.  Verschiedene  in  den  Text  eingedruckte  Bekenntnisse 
beweisen  dies  noch  klarer.  „Dem  ersten  und  zweiten  (Theile)  hätte 
eine  frühere  Stelle  gebürt  ....  wenn  es  überhaupt  in  diesem  Er- 
fahrungswerkchen  darauf  ankäme,  die  Stellen  der  Materien  nach 
strenger  Rangordnung  zu  vergeben",  sagt  Jean  Paul  in  der  Ein- 
leitung zur  weiblichen  Erziehung,  und  ein  andermal  bittet  der  Dichter 
gar  den  Leser  um  Verzeihung  „ob  der  wilden  Anordnung  des  Stoffes!" 
Wäre  es  auch  noch  so  sehr  zu  wünschen  gewesen,  dass  Jean  Paul 
bei  seinem  psychologisch  so  interessanten  Lebensgang  und  seiner  der 
Pädagogik  nie  ganz  entfremdeten  Thätigkeit  einen  logisch  durch- 
sichtigen Plan  eingehalten  und  die  wertvollen  Beobachtungen,  welche 
er  als  denkender  Familienvater  und  zeitweise  praktischer  Lehrer  ge- 
macht hatte,  unter  einheitliche  Gesichtspunkte  gebracht  hätte,  so  ist 
nun  einmal  nicht  zu  leugnen,  dass  der  Plan  der  „Levana",  besonders 
wenn  wir  ihn  mit  dem  unserer  modernen  Erziehungsbücher  ver- 
gleichen, in  geradezu  vollständiger  Planlosigkeit  besteht,  und  dass 
in  der  ganzen  Anordnung  des  Stoffes  „der  Dichter  zu  sehr  hinter 
dem  Pädagogen  durchblickt".  Nicht  zu  tibersehen  ist  allerdings,  dass 
diese  der  inneren  logischen  Anordnung  entbehrende,  unverknüpfte 
Nebeneinanderstellung  der  einzelnen  Gedanken  in  dem  eigenartigen 
Naturell  des  Dichters  begründet  und  auf  vollständig  bewusster  Igno- 
rirung  eines  streng  geschlossenen  Systems  zurükzuluhren  ist;  dies 


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geht  auch  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  Jean  Paul  mit  damaligen 
systematisch  gearbeiteten  Meisterdarstellungen  der  pädagogischen  Wissen- 
schaft durchaus  nicht  unbekannt  war.  Der  Verfasser  der  „Levana" 
mochte  die  vielseitigen  Schwächen  seiner  sonst  so  reichbegabten 
Dichternatur  zur  Gentige  gekannt  haben,  um  die  Wahl  einer  Form 
bei  Seite  zu  lassen,  bei  deren  Anwendung  er,  aller  Voraussetzung 
nach,  jedenfalls  einen  hervorragend  hohen  Grad  der  Vollkommenheit 
nicht  erreicht  hätte.  Das  sporadische  Ansammeln  seiner  oft  so  über- 
raschend schönen  und  durch  Anwendung  lichtvoller  Bilder  im  höchsten 
Grade  wirkungsvoll  gemachten  Gedanken  war  ihm  zur  Gewohnheit 
geworden.  Man  vergleiche  damit,  um  diese  Behauptung  richtig  zu 
finden,  seine  beiden  anderen  Werke,  die  ihrer  ganzen  Materie  nach  be- 
stimmt zu  sein  scheinen,  in  ihrer  Darstellung  einen  wissenschaftlichen 
Charakter  zu  tragen,  die  „Vorschule  der  Ästhetik"  und  die  „Seiina"! 
Nicht  minder  mochte  er  aber  auch  mit  dem  Geschmacke  seiner  so 
zahlreichen  Leserwelt,  die  jedes  neue  Buch  aus  seiner  Feder  mit  Jubel 
begrüßte  und  sich  an  die  vielfach  zerhackte  Darstellungsweise  ihres 
Lieblingsdichters  gewöhnt  hatte,  gewissermaßen  in  stillem  Einver- 
ständnisse gearbeitet  haben.  Fand  doch  seine  „Levana*  Aufnahme 
und  lebhafte  Benutzung  in  Kreisen,  denen  eine  ernstwissenschaftliche 
Sprache  fremd  war!  Aus  diesen  Gründen  ist  es  leicht  begreiflich, 
warum  Jean  Paul  einer  Sprache,  wie  sie  z.  B.  Herbart  führte,  aus 
dem  Wege  ging. 

Die  „Allgemeine  Pädagogik"  des  letztgenannten  Philosophen  fuhrt 
der  Verfasser  in  der  Vorrede  zur  2.  Auflage  (1811)  an  und  kommt 
bei  dieser  Gelegenheit  auch  auf  den  speculative  Grundlage  und  streng 
wissenschaftliche  Methode  vereinigenden  Charakter  dieses  Werkes  zu 
sprechen.  Hier,  wie  bei  der  Erwähnung  von  Grasers  „Divinität  der 
Menschenbildung"  nimmt  er  Gelegenheit,  unumwunden  seine  Abneigung 
gegen  Anwendung  eines  pädagogischen  Systems  auszudrücken.  Er 
meint,  „dass  Herbart  das  Titel-Vorrecht  „allgemeine"  nicht  möchte  so 
allgemein  benutzt  haben  und  durchgeführt,"  und  mehrmals  erfährt 
der  Leser,  dass  die  „Levaua"  nur  eine  Blütenlese  von  pädagogischen 
Urtheilen  sei,  etwa  in  dem  Sinne,  wie  ihr  Verfasser  z.  B.  bei  Er- 
wähnung von  Schwarz  „Erziehungslehre  den  Ausdruck  Blumen- 
kataloge von  Kinderseelen"  gebraucht  hat.  So  ist  es  denn  gekommen, 
dass  die  „Levana",  den  Ansichten  ihres  Verfassers  entsprechend,  der 
inneren  Gliederung,  wie  sie  eine  erschöpfende  Darstellung  des  Stoffes 
nöthig  gemacht  hätte,  fast  gänzlich  entbehrt  Betrachten  wir  die 
äußere  Gliederung  des  Werkes  nun  etwas  näher! 


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—   690  — 


III. 

Dasselbe  zerfällt  in  drei  „Bändchen",  in  welchen  nenn  „Bruch- 
stücke" untergebracht  sind,  von  denen  jedes  wieder  aus  einzelnen 
„Capiteln"  besteht.  Das  „erste  Bruchstück"  behandelt  im  ersten 
Capitel  die  Wichtigkeit  der  Erziehung.  Schon  im  zweiten  und 
dritten  Capitel  wird  jedoch  der  Fluss  der  Auseinandersetzung  unter- 
brochen durch  zwei  in  höchst  sonderbarem  Geschmack  gehaltene 
„Schulreden M,  von  denen  die  erste  in  allerdings  humoristischer  Form, 
Gründe  gegen  die  Wirksamkeit  der  Erziehung  vorbringt,  während 
die  zweite  in  ernster  Weise  letztere  darzuthun  sucht.  Das  zweite 
„Bruchstück"  beschäftigt  sich  sodann  im  ersten  Capitel  mit  „ Geist 
und  Grundsatz  der  Erziehung"  und  entwickelt  im  zweiten  Capitel, 
hiervon  ausgehend,  die  Individualität  des  Idealmenschen.  Man  sieht, 
bis  hierher  hat  Jean  Paul,  abgesehen  von  den  „zwei  Schulreden", 
deren  Einfügung  wol  nur  stattfand,  um  den  Charakter  eines  Lehr- 
buches zu  vermeiden  und  der  „Levana"  ein  mehr  dichterisches 
Gepräge  zu  geben,  seinen  Stoff  mit  ziemlicher  Folgerichtigkeit  der 
sich  aneinander  schließenden  Ideen  behandelt.  Auch  das  dritte 
Capitel  „über  den  Geist  der  Zeit"  und  das  vierte  Capitel  von  der 
Bildung  zur  Religion  stehen  in  ihrem  Gedankeninhalt  nicht  allzu 
fremd  den  vorhergegangenen  Ausfuhrungen  gegenüber.  Dagegen 
bringt  das  erste  Capitel  des  „dritten  Bruchstückes*  schon  eine  „Ab- 
schweifung über  den  Anfang  des  Menschen  und  der  Erziehung",  wel- 
cher jede  Verbindung  mit  den  Schlussbemerkungen  des  zweiten 
„Bruchstückes"  fehlt.  Hieran  schließen  sich  in  ungeordneter  Auf- 
einanderfolge Ausführungen  über  verschiedene  wichtige  Punkte  des 
Kindeslebens.  So  beschäftigen  sich  Capitel  2  und  3  mit  der  Freudig- 
keit der  Kinder  und  mit  dem  Spiel  derselben.  In  Capitel  4,  5,  6,  7 
und  8  finden  sich  Gedanken  über  das  Tanzen,  die  Musik,  Gebieten 
und  Verbieten,  das  Strafen  und  das  Schrei- Weinen  der  Kinder.  Von 
besonderer  Wichtigkeit  ist  noch  das  neunte  Capitel,  worin  sich  Jean 
Paul  „über  den  Kinderglauben"  ausspricht.  Nun 'folgen  wieder  zwei 
Unterbrechungen  des  vorherrschenden  Ganges  in  der  äußeren  Glie- 
derung. Ein  „Anhang  zum  dritten  Bruchstück"  handelt  über  die 
physische  Erziehung,  während  ein  „komischer  Anhang  und  Epilog" 
ein  „geträumtes  Schreiben  an  den  sei.  Prof.  Geliert,  worin  der  Ver- 
fasser um  einen  Hofmeister  bittet",  enthält. 

Das  nun  folgende  „vierte  Bruchstück"  scheint  den  abgebrochenen 
Faden  der  pädagogischen  Ausführung  wieder  anknüpfen  zu  wollen; 
es  handelt  (in  5  Capiteln)  „von  der  weiblichen  Erziehung".  Aber 


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—    691  - 


wieder  ist  von  keiner  Ordnung  der  dargebotenen  Gedanken  die  Rede, 
und  Jean  Paul  muss  dies  wol  gefühlt  haben,  wenn  er  sagt,  dass 
man  in  seinem  Bruchstück  über  Mädchen  die  systematische  Ordnung 
vermissen  und  „nur  eine  für  Weiber  systematische  Anordnung"  an- 
treffen könne.  Das  erste  Capitel  des  neuen  Bruchstückes  beschäftigt 
sich  mit  den  Fehlern  in  der  weiblichen  Erziehung,  denen  in  der  Form 
einer  „Beichte  Jaquelinens"  Ausdruck  gegeben  ist.  Die  drei  folgen- 
den Capitel  handeln  von  der  Bestimmung  des  weiblichen  Geschlechte, 
der  Natur  der  Mädchen,  der  Bildung  der  Mädchen  in  Hinsicht  der 
mannigfaltigsten  Aufgaben,  Gewohnheiten  und  Eigenschaften  des  weib- 
lichen Geschlechtes.  Das  fünfte  (Schlusscapitel)  wird  gebildet  durch 
eine  „geheime  Instruction  eines  Fürsten  an  die  Oberhofmeisterin 
seiner  Tochter".  Das  „fünfte  Bruchstück"  ist  der  Fürstenerziehung  ge- 
widmet. Neben  allgemeinen  Ausführungen  über  die  Bildung  eines 
Fürsten  enthält  es  einen  Brief  an  den  „Prinzen-Hofmeister,  Herrn 
Hofrath  Adelhard,  über  Fürstenerziehung".  Außer  jeglichem  Zusam- 
menhang mit  dem  Inhalte  dieses  Bruchstückes  stehen  die  Ausführungen 
des  sechsten  Bruchstückes.  Dasselbe  trägt  die  Überschrift  „Sittliche 
Bildung  des  Knaben",  handelt  jedoch  in  seinem  ganzen  Verlaufe  von 
sittlicher  Bildung  überhaupt  und  ist  deshalb  namentlich  im  letzten 
Theile  seinem  Inhalte  nach  für  beide  Geschlechter  bestimmt.  Der 
sittlichen  Stärke  soll  nach  den  Ausführungen  des  ersten  Capitels  die 
körperliche  vorausgehen.  Darum  enthält  dieses  Gedanken  über  „Ver- 
wundspiel,"  „Schädlichkeit  der  Furcht  und  des  Schrecks",  „Lebenslust", 
„Unzulänglichkeit  der  Leidenschaftlichkeit",  „Notwendigkeit  der 
Jugendideale".  Das  zweite  Capitel  handelt  von  der  Bildung  zur 
Wahrhaftigkeit,  das  dritte  von  der  Bildung  zur  Liebe,  die  nicht  nur 
alle  Menschen  umfassen,  sondern  sich  auch  auf  die  Thiere  erstrecken 
soll.  Das  vierte  Capitel  wird  gebildet  durch  einen  „Ergänzanhang 
zur  sittlichen  Bildung14,  welcher  „vermischte  tröstliche  Regeln"  ent- 
hält, über  „Geschichte  der  Eltern  für  ihre  eigenen  Kinder,  über 
Kinderreisen",  über  die  „Missüchkeit  voreiliger  Schamlehre"  und  „über 
die  Kinderkeuschheit"  handelt.  Das  siebente  Bruchstück  enthält  Aus- 
führungen „über  die  Entwicklung  des  geistigen  Bildungstriebes". 
Nach  einer  näheren  Bestimmung  desselben  im  ersten  Capitel  befinden 
sich  im  zweiten  Capitel  „Gedanken  über  Sprache  und  Schrift",  im 
dritten  „über  Aufmerksamkeit  und  Vorbildungskraft",  „Pestalozzi", 
„Unterschied  der  Mathematik  von  der  Philosophie";  das  vierte  Capitel 
behandelt  die  Bildung  zum  Witze,  das  fünfte  die  „Bildung  zu  Re- 
flexion, Abstraction,  Selbstbewusstsein"  und  enthält  einen  „Anhang* 


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-    692  - 


Paragraphen  über  That-  oder  Weltsinn".  Im  sechsten  Capitel  spricht 
sich  Jean  Paul  ans  „Über  die  Ausbildung  der  Erinnerung,  nicht  des 
Gedächtnisses".  Das  achte  Bruchstück  enthält  Betrachtungen  über 
die  Ausbildung  des  Schönheitssinnes  und  handelt  im  ersten  Capitel 
über  die  „durch  den  äußeren  und  inneren  Sinn  bedingten  Schönheiten", 
das  zweite  Capitel  ist  Erwägungen  über  classische  Bildung  gewidmet. 
Den  folgenden  Abschnitt  der  „Levana"  bezeichnet  Jean  Paul  selbst 
als  „Neuntes  Bruchstückchen  oder  Schlussstein".  In  demselben  kommt 
der  Verfasser  u.  a.  auch  auf  das  Unterrichten  zu  sprechen,  „welches 
überhaupt  in  späteren  Jahren  immer  mehr  mit  dem  Erziehen  zu- 
sammenfallt". Als  drei  Classen  der  Wissenschaft,  die  dem  „Drei- 
klang der  Bildung  entsprechen",  bezeichnet  er  die  lateinische  Sprache, 
die  Messkunst  und  die  Geschichte.  Außerdem  enthält  das  letzte 
Bruchstück  aphoristische  Gedanken  über  die  verschiedensten  Theile 
der  Erziehung.  Mit  einem  sehr  edeln  Schlussaccorde  klingt  die 
„Levana"  aus.  Jean  Paul  schließt  mit  einer  „Dichtung  vom  jüngsten 
Tage  und  den  zwei  letzten  Kindern u:  „Sie  wurden  geboren,  als  eben 
die  Welt  voll  Sünden  unterging  und  blieben  allein;  sie  griffen  mit 
spielenden  Händen  nach  den  Flammen  und  endlich  wurden  sie  auch 
davon  mit  Adam  und  Eva  ausgetrieben,  und  mit  dem  kindlichen 
Paradiese  beschloss  die  Welt."  — 

Findet  sich  also,  wie  wir  zu  beweisen  gesucht  haben,  in  der 
„Levana"  kein  streng  eingehaltener  Plan,  noch  weniger  ein  festge- 
schlossenes System  der  gesammten  Erziehungswissenschaft,  so  ist  das 
Werk  doch  überaus  reich  an  trefflichen  Gedanken  über  die  mannig- 
faltigsten Aufgaben  der  Erziehung,  und  die  in  ihm  niedergelegten 
Ideen  und  Vorschläge  für  Herbeiführung  einer  besseren  Jugend-  und 
Menschenbildung  werden  so  lange  der  Beachtung  gewiss  sein,  so  lange 
es  eine  Wissenschaft  von  der  Erziehung  gibt  und  sich  Menschen  finden, 
welche  die  Bildung  der  heranwachsenden  Jugend  als  die  vornehmste 
Aufgabe  der  Familie  und  des  Staates  betrachten.  „In  wenigen 
Büchern"  sagt  Grube,  „ist  in  die  allgemeine  Menschennatur,  bis  zu 
ihren  Elementen  herab,  so  klar  hineingeleuchtet,  die  Einderseele  so 
innig  und  allseitig  belauscht,  sind  so  viele  zarte  Seiten  derselben  be- 
rührt worden,  so  viele  Hämmer  zu  ihrer  richtigen  Stimmung  gegeben." 

IV. 

Welches  sind  nun  die  in  der  „Levana"  enthaltenen  Grundge- 
danken der  Jean  Paulschen  Pädagogik?  Um  die  bedeutungsvollsten 
derselben  kennen  zu  lernen,  erscheint  es  in  erster  Linie  von  Wichtig- 


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—    693  — 


keit,  sich  Klarheit  darüber  zu  verschaffen,  welche  Ansicht  Jean  Paul 
von  dem  Geiste  und  der  Aufgabe  der  Erziehung  überhaupt  hatte; 
denn  je  nach  der  Idee,  die  der  Erziehende  sich  über  das  Wesen  und 
die  Ziele  der  von  ihm  vertretenen  Wissenschaft  gebildet  hat,  wird  er 
die  zur  Verwirklichung  dieser  Idee  nöthigen  Veranstaltungen  treffen. 

„Zum  Ziele  der  Erziehungskunst,  das  uns  vorher  klar  und 
groß  vorstehen  muss,  ehe  wir  die  bestimmten  Wege  dazu  messen,  ge- 
hört die  Erhebung  über  den  Zeitgeist:  Nicht  für  die  Gegenwart  ist 
das  Kind  zu  erziehen,  sondern  für  die  Zukunft."  Spricht  schon  aus 
diesen  Worten  Jean  Pauls  ein  hohes  ideales  Ziel,  zu  dem  der  junge 
Mensch  der  „leidenschaftlichen  Begehrkraft"  eines  „schwankenden 
Zeitgeistes"  gegenüber  erzogen  werden  soll,  so  erläutert  er  es  in  dem 
weiteren  Verlaufe  des  Werkes  an  verschiedenen  Stellen  noch  näher. 
„Gegen  die  Zukunft,  ja  gegen  die  eindringende  Zeit  ist  das  Kind  mit 
einem  Gegengewicht  dreier  Kräfte  auszurüsten,  wider  die  drei  Ent- 
kräftungen  des  Willens,  der  Liebe,  der  Religion". 

Und  wenn  er  bei  der  Betrachtung  von  Geist  und  Grundsatz  der 
Erziehung  „den  gewöhnlichen  Eltern"  vorwirft,  dass  sie  statt  „eines 
Urbildes"  ein  „ganzes  Bildercabinet  von  Idealen  den  Kindern  vor- 
stellten", so  erkennt  man  daraus,  wie  ernst  es  Jean  Paul  mit  der 
Einheitlichkeit  aller  Erziehungszwecke  nimmt  und  mit  welcher  Ent- 
schiedenheit er  auf  ihre  Verknüpfung  und  ihren  harmonischen  Zu- 
sammenschluss  zu  einer  einheitlichen  Lebensauffassung  dringt.  „Einen 
festen  und  reinen  Charakter",  mit  diesen  Worten  bezeichnet  er  das 
Ziel  der  Erziehung,  wenn  ^er  von  der  „Bildung  eines  Fürsten"  spricht, 
und  den  durch  Geburt  und  Bestimmung  „auf  der  Menschheit  Höhen" 
stehenden  jungen  Menschen  wollte  der  Dichter  gewiss  die  reifsten 
Früchte  seiner  pädagogischen  Lebenserfahrung  angedeihen  lassen! 
Doch  unterlässt  es  Jean  Paul  in  dem  weiteren  Verlaufe  des  Werkes, 
an  dieser  Ansicht  festzuhalten  und  in  wissenschaftlicher  Strenge 
ihre  äußersten  Consequenzen  zu  ziehen.  Der  kritische  Blick  des  Ge- 
lehrten weicht  in  seiner  Ansicht  bald  dem  durch  ein  äußerst  lebhaftes 
Spiel  der  mannigfaltigsten  Empfindungen  gelenkten  Urtheile  des 
Dichters.  Überhaupt  tritt  in  der  „Levana",  wie  in  den  meisten  ande- 
ren Werken  Jean  Pauls,  wieder  höchst  charakteristisch  für  die  Poeten- 
natur ihres  Verfassers,  der  Gedanke  von  der  großen  Erziehungsmacht 
der  uns  umgebenden  Natur,  und  dem  das  Individuum  treflenden  Lebens- 
schicksale stark  hervor,  und  Jean  Paul  ist  sehr  geneigt,  diesen  beiden 
Erziehern  des  Menschen  eine  allzugroße  Macht  einzuräumen,  was  ja 
schon  an  und  für  sich  einem  einheitlichen  Erziehungsprincipe,  dessen 


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Verwirklichung  nur  durch  die  Hand  eines  denkenden  Erziehers,  eines 
Menschen,  erreicht  werden  kann,  entgegen  sein  würde.  Aber  der 
Verfasser  der  „Levana"  erinnert  anderseits  fortwährend  an  die  Wich- 
tigkeit eines  Ideals,  das  dem  Erzieher  bei  seinem  Geschäfte  voran- 
leuchten  soll,  bei  näherer  Bestimmung  desselben  bleibt  er  sich  jedoch 
durchaus  nicht  gleich;  darum  darf  es  uns  nicht  wundern,  wenn  Jean 
Paul  seine  anfangs  innegehaltene  Stellung  verlässt  und  bei  der  Wahl 
eines  Erziehungsideals  seinen  Blick  nicht  nach  der  fernen  Zukunft  der 
zur  Erreichung  gegebenen  Erziehungsaufgabe  lenkt,  sondern  die  Natur 
und  Beschaffenheit  des  Objectes,  das  die  Erziehung  bei  Beginn  ihres 
Geschäftes  vorfindet,  in  den  Brennpunkt  seiner  pädagogischen  Auf- 
fassung rückt  Durch  die  Erforschung  der  Natur  des  Erziehungs- 
objectes,  das  die  Erziehung  bei  Beginn  ihres  Geschäftes  vorfindet,  die 
bei  der  Geburt  des  Kindes  bereits  vollständig  ausgeprägt  sei,  glaubt 
Jean  Paul  schon  die  ganz  bestimmten  Zwecke  der  Erziehung  ge- 
geben, während  ihm  diese  Erkenntnis  doch  eigentlich  nur  dazu  dienen 
sollte,  eine  klare  Einsicht  über  Art,  Anwendbarkeit  und  Wirk- 
samkeit der  Erziehungsmittel  zu  erlangen.  Betrachten  wir  nun 
die  Ansichten  der  „Levanau  über  die  Natur  des  Kindes  etwas  näher! 
„Der  innere  Mensch  wird,  wie  der  Neger,  weiß  geboren  und  vom 
Leben  zum  schwarzen  geförbt."  Spricht  schon  aus  diesen  Worten  die 
Überzeugung  von  einer  angeborenen  Güte  der  Menschennatur,  so  er- 
scheint sie  bei  Jean  Paul  in  voller  Gewissheit,  wenn  er  weiter  sagt: 
„Ein  erstes  Kind  auf  der  Erde  würde  uns  als  ein  wunderbarer  aus- 
ländischer Engel  erscheinen,  der  ungewöhnt  unserer  fremden  Sprache, 
Miene  und  Luft,  uns  sprachlos  und  scharf,  aber  himmlisch  rein  an- 
blickte, wie  ein  Raphaelisches  Jesuskind  "   „So  werden  täglich 

aus  der  stummen,  unbekannten  Welt  diese  reinen  Wesen  auf  die  wilde 
Erde  geschickt."  An  gleichem  Orte  heißt  es:  „Nur  die  Angewöh- 
nungen an  sie  (die  Kinder)  und  ihre  uns  oft  bedrängenden  Bedürfnisse 
verhüllen  den  Reiz  dieser  Seelengestalten,  welche  man  nicht  weiß 
schön  genug  zu  benennen,  Blüten,  Thautropfen,  Sternchen,  Schmetter- 
linge  "    In  den  Grundsätzen,  auf  welchen  diese  Äußerungen 

ruhen,  finden  wir  den  Verfasser  der  „Levana"  in  Übereinstimmung 
mit  J.  J.  Rousseau,  einem  Manne,  der  durch  seine  originellen,  von 
den  früheren  Ansichten  über  Erziehung  abweichenden  Gedanken  über- 
haupt eine  mächtige  Anregung  gegeben  hatte,  und  der  durch  die 
Macht  seiner  Ideen  —  um  mit  Jean  Paul  zu  reden  —  „in  Europa 
die  Schulgebäude  bis  zu  den  Kinderstuben  herab  erschütterte  und 
reinigte".   Gleich  ihm  hält  unser  Dichter  den  Menschen  von  Natur 


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aus  für  gut,  wie  Rousseau,  so  schreibt  Jean  Paul  die  spätere  Ent- 
artung des  Individuums  einer  falschen  Einwirkung  von  außen  zu. 
Doch  unterscheidet  sich  wieder  der  deutsche  Dichter  von  dem  fran- 
zösischen Philosophen  durch  den  geringeren  Grad  der  Schärfe,  mit 
der  er  seine  Ansicht  vertheidigt,  wie  auch  durch  die  Art  und  Weise, 
wie  ihm  die  angeborene  Güte  des  jungen  Menschen  erscheint,  Ist 
nach  Rousseau  der  neu  geborene  Mensch  einem  weißen  Blatte  gleich, 
das  der  Erzieher  mit  Schriftzügen  bedecken  kann,  so  dass  letzterer 
„eine  schöpferische  Personbildung  aus  dem  Nichts"  als  seine  Aufgabe 
betrachten  muss,  so  bringt  nach  Jean  Paul  jeder  Mensch  schon  eine 
ganze  Anzahl  angeborener  Geistesschätze  und  Eigentümlichkeiten  mit, 
die  auf  sein  späteres  Leben  von  ganz  entschiedenem  Einflüsse  sind. 
Diesen  „inneren  Menschen",  der  in  jedem  Kinde  noch  umhüllt  liegt, 
nennt  er  „Idealmensch".  Bei  dem  großen  Einflüsse,  welchen  die  An- 
sicht eines  Pädagogen  von  der  angeborenen  Natur  des  Erziehungs- 
objectes  auf  den  weiteren  Auf-  und  Ausbau  seiner  Wissenschaft  aus- 
übt, halten  wir  es  für  nöthig,  diesen  „Idealmenschen,"  wie  er  Jean 
Paul  vorschwebte,  auf  Grund  der  in  der  „Levana"  über  ihn  ent- 
haltenen Bemerkungen  näher  zu  bestimmen.  „Jeder  von  uns  hat 
seinen  idealen  Preismenschen  in  sich,  den  er  heimlich  von  Jugend  auf 
frei  und  ruhig  zu  machen  strebt.  Am  hellsten  schauet  jeder  diesen 
heiligen  Seelen-Geist  an  in  der  Blütezeit  aller  Kräfte,  im  Jünglings- 
alter; später  verwelkt  bei  der  Menge  der  Idealmensch  von  Tag  zu 
Tage  —  und  der  Mensch  wird,  fallend  und  überwältigt,  lauter  Gegen- 
wart, Geburt  der  Noth  und  Nachbarschaft.-  Aber  die  Klage  eines 
Jeden:  was  hätt'  ich  nicht  werden  können,  bekennt  das  Dasein  oder 
Dagewesensein  eines  ältesten  paradiesischen  Adams  neben  und  vor 
dem  alten  Adam"  „Sollte  man  übrigens  den  Preis-  und  Ideal- 
menschen in  Worten  übersetzen,  so  könnte  man  etwa  sagen,  er  sei 
das  harmonische  Maximum  aller  individuellen  Anlagen  zusammenge- 
nommen." Doch  nicht  „das  Maximum"  dieser  „individuellen  Anlagen" 
allein  ist  ihm  der  „Ideal mensch",  er  ist  auch  Ideal  des  zu  erziehenden 
Kindes,  Voraussetzung  und  Ziel  der  Erziehung  zugleich:  „Das  Subject 
trägt  sein  Ideal  in  sich,  bringt  es  mit  auf  die  Welt,  das  Ideal  ist  die 
innerste  Persönlichkeit  des  Menschen  selbst."  Also  das,  was  die  Er- 
ziehung einestheils  als  gegeben  voraussetzen  darf,  was  ihr  aber  wieder 
als  zu  erreichendes  Ziel  vorschweben  kann,  „der  innere  Mensch",  der 
„von  dem  von  seiner  Zeit  und  seinem  Jahrhundert  verschliffenen 
Säcular-Menschen  so  rein  und  gleichförmig  abliegt,  wie  der  Rousseau'- 
sche  Natur-Mensch",  das  ist  nach  Jean  Paul  der  „Idealmensch",  den 


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das  Kind  „als  Morgengabe  seinem  Erzieher  darbietet".  Sehr  ent- 
schieden verwahrt  sich  unser  Autor  gegen  den  Glauben,  als  nehme 
er  den  Preis-  oder  Idealmenschen,  der  „in  jedem  Einzelwesen  wohnen 
und  athmen  inuss",  als  bei  säramtlichen  Individuen  nur  in  einer  be- 
stimmten Form  auftretend  an;  er  ist  vielmehr  nach  seiner  Auffassung 
so  sehr  von  dem  eines  jeden  anderen  Menschen  verschieden,  dass 
selbst  die  scheinbarste  Ähnlichkeit,  die  man  entdecken  möchte,  im 
Grunde  nur  eine  Täuschung  wäre:  „Der  Idealmensch  Fenelons  — 
so  voll  Liebe  und  voll  Stärke  —  der  Idealmensch  Cato's  —  so  voll 
Stärke  und  voll  Liebe  —  könnten  gleichwohl  sich  nie  gegeneinander 
ohne  Geisterselbstraord  auswechseln  oder  seelenwandern".  Steht  also 
Jean  Paul  in  seiner  Ansicht  von  der  angeborenen  Güte  der  mensch- 
lichen Natur  auf  Seite  Rousseau's,  so  erinnert  er  in  der  Auffassung 
und  Erklärung  von  seinem  „Idealmenschen"  lebhaft  an  Plato  und 
seine  Lehre  „von  den  angeborenen  Ideen".  „Nach  der  Ansicht  des  ge- 
nannten griechischen  Weltwcisen  liegen  nämlich  übersinnliche  Wahr- 
heiten (Ideen)  ursprünglich  im  Menschen,  bereits  vor  Vereinigung 
mit  dem  Leibe  hat  die  Seele  diese  Ideen  besessen,  durch  Verbindung 
mit  dem  (unvollkommenen)  Leibe  verhüllt,  müssen  sie  durch  richtige 
Erziehung  frei  gemacht  und  von  der  Seele  reproducirt  werden. 
Ist  es  also  nach  Jean  Pauls  wiederholt  angeführten  Worten  seine 
Überzeugung,  dass  der  Idealmensch  dem  Kinde  angeboren,  außerdem 
sein  Ideal,  ja  seine  innerste  Persönlichkeit  selbst  ist,  so  muss  in  Hin- 
blick auf  den  hohen  Wert  der  Individualität  es  Hauptaufgabe  des 
Erziehers  sein,  Sorge  zu  tragen,  dass  dieser  Idealmensch  ungehindert 
zur  Ent wickelung  gelangen  kann;  ja  das  nächste  Ziel  aller  erzieh- 
lichen Veranstaltungen  muss  darauf  gerichtet  sein,  „den  Idealmenschen, 
der  in  jedem  Kinde  umhüllt  liegt,  frei  zu  machen  durch  einen  Frei- 
gewordenen". Dasselbe  meint  Jean  Paul,  wenn  er  an  einem  anderen 
Orte  sagt:  „In  einem  Anthropolithen  (versteinerten  Menschen)  kommt 
der  Idealmensch  auf  der  Erde  an;  ihm  nun  von  so  vielen  Gliedern 
die  Steinrinde  wegzubrechen,  dass  sich  die  übrigen  selber  befreien 
können,  dies  ist  oder  sei  Erziehung."  Schonende  Beachtung  des 
Ideals,  „ohne  welches  der  Mensch  auf  vier  Thierklauen  niedersänke", 
erscheint  umsomehr  geboten,  „als  jetzo  die  meisten  Culturmenschen 
ein  Feuerwerk  sind,  das  unter  einem  Regen  abbrennt,  unverbunden 
mit  zerrissenen  Gestalten  glänzend  halbe  Namenzüge  malend".  Mit 
Recht  wendet  sich  deshalb  auch  die  „Levana"  gegen  jene  Erzieher, 
welche  diese  Individualität  nicht  zu  schonen  wissen,  sondern  „stark 
darauf  hinarbeiten,  „dass  das  Kind  nichts  Werde,  als  „ihr  Stief-  und 


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Kebs-Ich".  Doch  wäre  es  irrig,  anzunehmen,  der  „Levana"  schwebe 
der  rein  abwehrende  Modus  der  Erziehung  als  Ideal  vor  und  ihr  Ver- 
fasser rede  der  negativen  Erziehung,  wie  sie  Rousseau  in  seinem  „Emil" 
predigt,  das  Wort.  Gestutzt  auf  längere  Beobachtungen,  die  er  als  prak- 
tischer Erzieher  machte,  wusste  Jean  Paul  allzuwol,  dass  es  eben  nur 
das  erste  Kind  wäre,  das  als  „wunderbarer,  ausländischer  Engel"  er- 
scheinen würde;  die  nicht  zu  ignorirende  Wirklichkeit  belehrte  ihn, 
zu  welch  unendlicher  Mannigfaltigkeit,  auch  nach  der  schlimmen  Seite 
hin,  die  in  dem  Kinde  wohnenden  Keime  sich  entwickeln  können,  und 
so  war  es  ein  Tribut,  den  er  der  auf  jeden  Erzieher  eindringenden 
Thatsächlichkeit  brachte,  wenn  er  sagt:  „ein  jeder  liegt,  so  leicht 
blühend  er  sich  nach  oben  anschaue,  noch  belastet  mit  einer  Wurzel 
in  der  finsteren  Erde."  Deshalb  hat  der  Erzieher,  von  der  Indi- 
vidualität^ die  er  wachsen  lässt,  eine  andere  zu  trennen,  die  er  beu- 
gen oder  lenken  muss.  Die  Antwort  auf  die  Frage,  welche  Indi- 
vidualität der  Erzieher  wachsen  lassen  und  welche  andere  er  beugen 
oder  lenken  muss,  gibt  Jean  Paul  nun  allerdings  in  eigentümlicher 
Weise,  wenn  er  hinzusetzt:  „jene  ist  die  des  Kopfes,  diese  ist  die  des 
Herzens".  Einer  intellectuellen  Veranlagung,  die  zum  Beispiel  einer 
künstlerischen  Individualität  anhaften  könnte,  darf  der  Erzieher  „nicht 
den  Schlaftrunk  schon  am  Morgen  des  Lebens  geben  — ."  „Aber  ganz 
anders  ist  die  sittliche  zu  behandeln;  denn  ist  jene  Melodie,  so  ist 
diese  Harmonie.  Einen  Euler  darfst  du  nicht  durch  einen  einge- 
impften Petrarca  entkräften  oder  diesen  durch  jenen,  denn  keine 
intellectuelle  Kraft  kann  zu  groß  werden  und  kein  Maler  ein  zu 
großer  Maler;  aber  jede  sittliche  Eigenthümlichkeit  bedarf  ihrer  Grenz- 
berichtigung  durch  Ausbildung  des  entgegengesetzten  Kraftpols,  und 
Friedrich  der  Einzige  soll  die  Flöte  nehmen  und  Napoleon  den  Ossian. 
Hier  darf  die  Erziehung  z.  B.  an  dem  Heldencharakter  Friedens- 
predigten halten,  sowie  den  Siegwarts-Charakter  mit  ein  paar  elek- 
trischen Donnerwettern  laden,  .  .  .  „Übrigens  bleib'  es  Gesetz,  da 
jede  Kraft  heilig  ist,  keine  an  sich  zu  schwächen,  sondern  nur  ihr 
gegenüber  die  andere  zu  erwecken,  durch  welche  sie  sich  harmonisch 
dem  Ganzen  zufügt." 

Heute  würde  ein  Pädagoge  diese  Frage  natürlich  anders  beant- 
worten; denn  die  Psychologie  lehrt  uns  so  viele  Berührungspunkte 
zwischen  dem  intellectuellen  und  ethischen  Elemente  der  Menschen- 
natur, dass  der  Grundsatz  einer  durchaus  harmonischen  Aus- 
bildung beider  bei  aller  Erziehung  leitend  sein  muss. 

(Schluss  folgt.) 


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Bemerkungen  zur  Fremdwörterfrage. 

Von  Alfred  von  Ehrmann-Baden  b.  Wien. 

orc  teutsche  Sprach  ist  nicht  dergestalt  arm  und  bawfällig, 
wie  sie  etliche  naßweise  nunmehr  machen,  die  sie  mit  frantzösischen 
und  italienischen  Plätzen  also  flicken,  dass  sie  auch  nicht  eyn  kleines 
Briefleiu  fortschicken,  es  seye  denn  mit  anderen  Sprachen  dermaßen 
durchspickt,  dass  einer,  der  es  will  verstchn,  fast  in  allen  Sprachen  der 
Christenheit  bedörfft  Erkanntnuss  haben,  zu  großer  Schande  und  Nach- 
theil unserer  teutschen  Sprach,  die  in  jbr  solch  Vollkommenheit  hat, 
dass  sie  auch  alles,  was  da  könnte  für  fallen,  gar  wol  kann  andeuten 
und  verständlich  gnug  ohne  zuthun  anderer  Sprachen  zu  verstehen 
geben." 

(Fabricius  von  Hilden  um  1600.) 

Vorstehendes  Citat  aus  einem  fast  verschollenen  Schriftsteller  des 
XVil.  Jahrhunderts  wäre  wol  ganz  geeignet,  das  Alter  jener  philo- 
logischen Streitfrage,  welche  neuerdings  wieder  zu  einer  brennenden 
geworden  ist,  aufs  deutlichste  zu  beweisen.  Aber  nicht  aus  diesem 
Grunde  habe  ich  es  meinen  Ausführungen  vorangesetzt.  Dass  die 
Fremdwörterfrage  nicht  von  diesem  Jahrzehnt  herrührt,  ja,  dass  nicht 
einmal  unser  Jahrhundert  den  Vorzug  in  Anspruch  nehmen  darf,  sie 
zuerst  aufgeworfen  zu  haben,  ist  wol  zur  Genüge  bekannt.  Wenn 
noch  Beweise  angeführt  werden  müssten,  so  gäbe  es  viel  ältere  als 
es  der  oben  citirte  ist. 

Was  mir  aber  in  dem  wolgemeinten,  wenngleich  unglaublich 
schwerfälligen  Satze  des  Herrn  von  Hilden  ganz  besonders  beachtens- 
wert scheint,  ist  die  schlagende  Ähnlichkeit  seiner  Ausdrucksweise 
mit  derjenigen  unserer  Sprachreiniger  von  heute.  Die  Mahnworte 
und  Aufrufe  dieser  letzteren  sind  genau  auf  den  Ton  gestimmt,  wel- 
chen jener  Zeitgenosse  des  üppigsten  Franzosenthums  in  Deutschland 


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anschlägt  Dieser  Umstand  gibt  zu  denken.  Dass  die  Klagen  Hildens 
vollberechtigt  waren,  darüber  kann  kein  Zweifel  bestehen.  In  jenen 
unglückseligen  Zeiten,  aus  denen  sein  Ruf  zu  uns  dringt,  ging  Sprach- 
verwilderung mit  wirtschaftlicher  und  sittlicher  Verwilderung  Hand 
in  Hand.  Soldtruppen  der  verschiedensten  Nationen  hatten  im  heil, 
römischen  Reiche  gewirtschaftet  und  in  manchem  Gau  die  Pest  zu- 
rückgelassen; die  Sprache  war  durch  sie  nicht  minder  verseucht 
worden.  Hildens  Rügeruf  klingt  noch  maßvoll  gegenüber  der  trost- 
losen Entartung,  welche  er  thatsächlich  vorfand.  Unsere  berufenen 
Sprachwächter  der  jüngsten  Zeit  führen  dagegen  manchmal  eine  weit 
schärfere  Sprache.  Daraus  müsste  nun  füglich  geschlossen  werden, 
dass  der  Übelstand  noch  in  demselben  Maße  fortbestehe,  wie  vor 
300  Jahren,  da  er  heute  eben  so  heftig  gerügt  wird  wie  damals. 
Dies  scheint  uns  aber  kaum  denkbar.  Sollte  es  wirklich  nach  all  den 
siegreich  beendeten  Kämpfen  auf  nationalem  und  literarischem  Gebiete 
noch  immer  nicht  besser  stehen  um  die  Reinheit  und  Selbstständigkeit 
unserer  Sprache?  Luthers  große  Tliat  hätte  ihre  Früchte  getragen, 
die  Nachwehen  des  dreißigjährigen  Krieges  wären  überwunden,  eine 
blühende  Literatur  wäre  erstanden,  auf  die  wir  jetzt  schon  wieder  als 
auf  eine  klassische  Epoche  zurückblicken,  und  unsere  Sprache  hätte 
sich  noch  immer  nicht  von  fremder  Bevormundung  befreien  können? 
Deutschland  wäre  einig  geworden  und  das  Deutsche  stünde  noch  nicht 
auf  eigenen  Füßen?  — 

Wer  die  Texte  aus  jenen  unruhigen  Zeiten  nur  einigermaßen 
kennt  und  sie  mit  einer  Probe  aus  unserem  Schriftthum  vergleicht, 
wird  über  diesen  Punkt  beruhigt  sein.*)  Wenn  man  die  Riesenarbeit 
überblickt,  die  seither  sowol  von  den  wenigen  großen  Baumeistern 
der  Sprache,  als  auch  von  den  Tausenden  literarischer  Handlanger 
in  unverdrossenem  Zusammentragen  geleistet  worden  ist,  so  wird  man 
sich  sagen  müssen,  dass  uns  kaum  der  zehnte  Theil  dieser  Arbeit 
noch  zu  leisten  übrig  bleiben  kann.  Dass  die  Sprache  sich  aus  der 
damaligen  Verwälschung  und  Entnationalisirung  nur  langsam  und  mit 


*)  Der  Merkwürdigkeit  halber  Bcien  hier  die  —  wie  ich  glaube  —  sehr  wenig 
bekannten  Verse  wiedergegeben,  in  denen  damals  ein  „deutscher"  Dichter  die  Dame 
»eines  Herzens  besang:      Rcverierte  Dame 

Phönix  meiner  ämc 

Gebt  mir  Audienz 

Eurer  Gunst  meriten 

Machen  zum  fallitcu 

Meine  Patieuz. 


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Mühe  befreien  konnte,  ist  selbstverständlich;  wie  sie  geschulmeistert 
und  oft  pedantisch  genug  zur  Reinlichkeit  erzogen  wurde,  wissen  wir 
ja  aus  der  Geschichte  der  Blumen-,  Palmen-,  Schwanenorden  und  ähn- 
lichen Sprach reinigungsgesellschaften  mit  botanischen  und  zoologischen 
Namen!  Es  war  ein  langer  und  beschwerlicher  Weg,  den  unsere 
Sprache  von  da  bis  Klopstock  und  Lessing  zurückzulegen  hatte!  Ein 
nicht  zu  unterschätzendes  Hindernis  erstand  ihr  dabei  noch  außerdem 
in  dem  übermächtigen  Einflüsse,  den  gerade  zu  jener  Zeit  Frankreich 
und  seine  unter  Ludwig  XIV.  blühende  Literatur  auf  das  ganze  da- 
malige Europa,  in  erster  Linie  natürlich  wieder  auf  Deutschland  aus- 
zuüben begann.  Von  den  größeren  und  kleineren  deutschen  Fürsten, 
von  denen  die  meisten,  geblendet  durch  die  Herrlichkeit  des  Pariser 
Hofes,  in  eine  sklavische  Nachahmung  desselben  verfallen  waren, 
konnte  natürlich  eine  Förderung  deutscher  Art  und  Poesie  auch  nicht 
erwartet  werden.  Manche  unter  diesen  Miniaturdespoten  und  Nach- 
äffern des  Sonnenkönigs  warfen  sich  in  ihren  Residenzen,  die  sie  zu 
einem  Klein-Paris  umgestaltet  hatten,  und  auf  ihren  Landhäusern, 
welche  als  After- Versailles  mit  dem  Schweiß  und  Blut  ihres  Volkes 
oder  gar  mit  den  Ertraggeldern  des  schändlichsten  Unterthanen- 
schachers  erbaut  waren,  viel  eher  zu  Mäcenen  wälscher  Tanzmeister 
und  Komödianten,  als  zu  Beschützern  heimischer  Poeten  auf.  Kann 
ja  doch  sogar  dem  großen  Friedrich  der  Vorwurf  nicht  erspart  wer- 
den, dass  er  die  Bedeutung  des  Deutschen  als  Staats-  und  Literatur- 
sprache vollkommen  verkannt  hat!  — 

Ihr  Entwicklungsgang  konnte  jedoch  durch  all  diese  Hemmnisse 
nur  auf  kurze  Zeit  aufgehalten  werden.  Denn  derselbe  ist  auch  in 
der  Messiade  und  in  der  bahnbrechenden  Prosa  Lessings  kein  abge- 
schlossener. Über  Goethe  und  seine  Epigonen  hinaus  setzte,  wenigstens 
im  Schriftthum,  die  Sprache  ihre  Bestrebungen  fort,  sich  zu  bereichern, 
zu  klären,  zu  läutern.  Französische  Wörter  kehren  von  da  an  seltener 
wieder,  und  auch  in  der  Anwendung  jener  gelehrt  scheinensollenden 
Zwitterbildungen  aus  griechischen  und  lateinischen  Stämmen  mit 
deutscher  Ableitungssilbe  ist  man  sparsamer  geworden.  Für  alle  diese 
verlassenen  Wörter  lag  nun  aber  der  entsprechende  deutsche  Aus- 
druck nicht  immer  bequem  bei  der  Hand.  Manchmal  hieß  es  ein 
wenig  suchen,  aus  der  Redeweise  der  Väter  Einiges  herübernehmen, 
einen  Griff  in  die  Volksmundart  thun,  vielleicht  sogar  bilden  oder 
wenigstens  umbilden.  Daraus  eben  erwuchs  der  Sprache  ein  neuer 
Segen:  Sie  bereicherte  sich,  lernte  die  eigenen  Hilfsquellen  kennen 
und  aus  ihnen  schöpfen.    Nicht  alles,  was  auf  diese  Weise  gewonnen 


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wurde,  fand  von  den  Bächern  aas  den  Weg  in  die  lebendige  Umgangs- 
sprache; nnd  nicht  alles,  was  sich  festzusetzen  wusste,  ist  auch  ein 
unbedingter  Gewinn  für  die  letztere  gewesen.  Aber  selbst  minder  ge- 
schickte  Übertragungen  oder  Neubildungen  sollten  da  nicht  allzu 
streng  beurtheilt  werden:  das  Verdienst,  einen  fremden  Eindringling, 
der  lange  geherrscht  hatte  und  vielleicht  für  unabsetzbar  galt,  ent- 
thront zu  haben,  darf  es  uns  allenfalls  übersehen  lassen,  wenn  der 
Verdränger  selbst  von  etwas  fraglicher  Herkunft  oder  nicht  ganz 
regelrechter  Bildung  wäre  —  abgesehen  davon,  dass  es  der  Theorie 
doch  niemals  etwas  nützen  würde,  einer  sprachlichen  Einführung,  die 
bereits  in  die  Praxis  übergegangen  ist,  böse  Augen  zu  machen.  Dem 
Götzen  des  Erfolges  muss  widerwillig  auch  die  Sprachwissenschaft 
opfern.  — 

Dass  hinwiederum  gerade  die  wissenschaftliche  Forschung  die 
Entwickelung  und  Reinigung  unserer  Sprache  ungemein  gefördert  hat, 
ist  nicht  zu  leugnen.  Ihr  Einfluss  war  allerdings  kein  direkter.  Der 
Gelehrte  steht  der  großen  Masse  des  Volkes  denn  doch  zu  fern,  um 
von  selbst  und  ohne  vermittelnde  Factoren  auf  dasselbe  einwirken  zu 
können.  Auf  die  Hunderte,  die  an  seinen  Arbeiten  Antheil  nehmen 
können,  kommen  Hunderttausende,  denen  es  entweder  mangelnde  oder 
in  gänzlich  verschiedene  Richtung  geleitete  Bildung  unmöglich  macht, 
auch  nur  die  wichtigsten  Resultate  dieser  Forschungen  kennen  zu 
lernen.  Zum  Glück  besteht  aber  in  der  Dichtung  und  im  Schrift- 
thum eine  Vermittlungsstelle  zwischen  dem  Gelehrten  und  dem 
Publicum.  Und  gerade  die  deutschen  Dichter  —  unter  welchen  ja 
so  viele  selbst  sattelfeste  Philologen  sind  —  haben  sich  von  jeher  den 
Vortheil  nicht  entgehen  lassen,  die  Ergebnisse  der  Arbeiten  auf  philo- 
logischem Gebiete  für  sich  auszunützen.  Genaue  Kenntnis  des  Stoffes, 
in  welchem  sie  bilden,  musste  ihnen  ja  immer  ein  Hauptförderungs- 
mittel in  ihrer  Kunst  sein.  Die  Sprache  ist  nun  aber  in  dem  unge- 
heuren Aufschwünge,  den  die  vergleichende  Sprachwissenschaft  im 
Verlaufe  des  XIX.  Jahrhunderts  genommen,  nicht  nur  genauer  er- 
kannt und  bis  auf  die  Quellen  erforscht,  sie  ist  auf  demselben  sieg- 
reichen Entdeckungszuge  auch  bereichert  worden.  Bereichert  in- 
sofern, als  mancher  wertvolle  Ausdruck  gehoben  wurde  aus  dem 
uralten  Sprachschatze,  nach  welchem  ein  Grimm,  ein  Unland  und  ihre 
Mit-  und  Nacharbeiter  in  alten  Handschriften  und  Sagenbüchern  eifrigst 
schürften.  Solche  Ausdrücke  setzten  sich  oft  mit  merkwürdiger 
Schnelligkeit  im  schriftlichen  und  wol  auch  im  mündlichen  Gebrauche 
fest.    Es  waren  aber  nicht  künstliche,  gezwungene  Neubildungen, 

PaxUgogiam.    14.  Jahrg.   Heft  XI.  49 


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702  — 


sondern  eigentlich  nur  Wiedererweckungen  längst  verschollener  Aus- 
drucksweisen, gleichsam  alte  Münzen,  die  lange  außer  Kurs  gewesen, 
an  deren  Form  und  Wert  sich  aber  eine  dunkle,  ahnungsvolle  Er- 
innerung  im  Gedächtnis  des  Volkes  erhalten  hat  War  doch  unter  die- 
sen neu  in  Umlauf  gesetzten  Goldstucken  urdeutscher  Ausdrucksweise 
so  manches,  das  eigentlich  nur  in  den  Büchern  und  im  Verkehr  der 
Vornehmen  seine  Giltigkeit  eingebüßt,  unter  dem  Volke  aber  unver- 
ändert weiter  gegolten  hatte  und  auf  dem  flachen  Lande  noch  jetzt 
—  wenngleich  vielfach  entstellt,  sozusagen  mit  verwischter  Prägung  — 
als  unscheinbare  Scheidemünze  von  Hand  zu  Hand  geht!  — 

Bei  der  vergleichenden  Methode  der  heutigen  Sprachwissenschaft 
wurde  auch  der  Dialekt  in  das  erweiterte  Forschungsgebiet  einbe- 
zogen. Niemals  früher  war  ihm  so  viel  Aufmerksamkeit  geschenkt 
wordeo,  als  gerade  jetzt  geschieht.  Und  auch  hierüber  hat  sich  das 
Hochdeutsche  nicht  zu  beklagen.  Ein  besonderes  Merkmal  unserer 
neueren  und  neuesten  schöngeistigen  Literatur  ist,  wie  schon  gesagt 
wurde,  ihr  Bestreben,  sich  die  Ergebnisse  der  wissenschaftlichen 
Forschung  zunutze  zu  machen.  Die  Sprache  soll  fortwährend  be- 
reichert, sie  soll  immer  ausdrucksfähiger  gemacht  werden:  Ausbeutung 
der  lebenden  Mundarten  gewährt  hierzu  ein  ebenso  unentbehrliches 
Mittel,  wie  die  fleißige  Benützung  der  alten  Quellen. 

Hierin,  besonders  in  Bezug  auf  den  Dialekt,  haben  die  Oster« 
reicher  unter  den  Lebenden  z.  B.  Rosegger,  manches  Erwähnenswerte 
geleistet  Berliner  Schriftsteller,  meist  der  modern-realistischen  Lite- 
raturströmung angehörend,  schöpfen  nicht  ohne  Geschick  aus  der 
eigenen  Quelle,  dem  Plattdeutschen,  welches  ihnen  nur  leider  nicht 
immer  aus  erster  Hand,  sondern  oft  schon  getrübt  durch  den  Strom 
des  großstädtischen  Lebens,  als  Berlinerisch,  zu  Gebote  steht  Auch 
die  Schweizer  Keller  und  Mayer,  haben  manchen  kernigen  Ausdruck 
aus  dem  allemannischen  Sprachgebiete  in  ihr  im  ganzen  etwas  alter- 
tümlich und  dialektisch  gefärbtes  Hochdeutsch  aufgenommen.  Man 
betrachte  aufmerksam  einen  solchen  Text,  etwa  eine  Stelle  aus  den 
„Sieben  Legenden"  oder  aus  den  „Züricher  Novellen"  Kellers,  und 
es  wird  jedermann  auffallen,  wie  spärlich  darin  das  Fremdwort  wird. 
Es  ist  —  um  ein  kühnes  Bild  zu  wagen  —  als  ob  der  fremde  Ein- 
dringling sich  in  seiner  welschen  Tracht  inmitten  all  dieser  urdeutschen 
Umgebung  unbehaglich  fühle  und  sich  gleichsam  von  selbst  zurückziehe. 

Nach  alledem  erschiene  es  also,  als  stünde  es  um  die  Reinheit 
unserer  geliebten  Muttersprache  in  diesen  gegenwärtigen  Tagen  denn 
doch  nicht  allzu  schlimm.   Will  man  nun  die  Richtigkeit  der  Tliai- 


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—    703  — 


sachen,  welche  im  Vorstehenden  in  Erinnerung  gebracht  wurden,  zu- 
geben, so  entsteht  die  Frage:  wie  stimmen  hierzu  die  steten  Klagen 
über  diesen  Punkt?  Sind  sie  nicht  ernsthaft  zu  nehmen?  Erscheinen 
sie  übertrieben?  oder  verspätet? 

Um  darauf  antworten  ZU  können,  werden  wir  allerdings  die  ganze 
Fremd  Wörterangelegenheit  von  einer  anderen  Seite  betrachten  müssen, 
als  dies  bisher  geschehen.  In  den  vorstehenden  Andeutungen  über 
den  Entwicklungsgang  des  Deutschen  war  eben  einseitig  nur  die 
Literatursprache  ins  Auge  gefasst.  Aber  das  Organ  von  einigen 
Hunderten  Auserwählter  darf  freilich  nicht  als  Maßstab  für  jenen  aus- 
gedehnten Begriff  genommen  werden:  die  Sprache  eines  Millionen- 
volkes. Die  Masse  spricht  eben  durchaus  nicht  „wie  ein  Buch"  — 
in  gewisser  Hinsicht  ist  dies  nicht  einmal  zu  bedauern  —  und  es  gibt 
gewisse  breite  Schichten  der  Bevölkerung,  auf  welche  das  Buch  über- 
haupt noch  keinerlei  Einfluss  ausgeübt  hat.  Die  Zeitung  dehnt  ihre 
Herrschaft  schon  eher  bis  zu  jenen  Regionen  aus;  ob  aber  ihr  Ein- 
fluss auf  das  sprachliche  Gefühl  ihrer  Leser  immer  ein  günstiger  ist, 
wäre  wol  erst  genauer  zu  untersuchen. 

Im  ganzen  genommen,  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  die  Sprache 
des  gewöhnlichen  Lebens  arg  mit  fremden  Elementen  durchsetzt  ist  Sie 
hat  erstlich  Vieles,  was  ihr  von  früher  anhing,  noch  immer  nicht  ab- 
schütteln können;  und  anderseits  wird  sie  in  unserem  Zeitalter,  dem 
Zeitalter  der  großen  Industriebetriebe  und  des  erhöhten  Verkehres 
mit  dem  Auslande  noch  fortwährend  gezwungen,  neu  aufzunehmen. 
Dass  die  Reinheit  der  Sprache  im  modernen  Lebensgetriebe  gefährdet 
ist,  bleibt  eine  Thatsache,  der  man  sich  nicht  verschließen  darf.  Der 
Zusammenstoß  der  verschiedensten  Nationen  in  den  Welthandels- 
plätzen, welche  oft  zugleich  geistige  Mittelpunkte  für  große  Bezirke 
bilden,  der  Fortschritt  der  Wissenschaft,  der  Technik,  welche  für  neu 
gewonnene  Begriffe  neue  Ausdrücke  braucht,  das  in  Deutschland  be- 
sonders eifrig  betriebene  Studium  fremder  Sprachen  und  Literaturen, 
ausländische  Moden,  Zeitungslectüre  —  alle  diese  und  einige  andere 
Ursachen  wirken  zusammen,  um  schließlich  in  der  Sprache  des  täg- 
lichen Verkehrs  zwischen  Gebildeten  und  Ungebildeten  eine  gewisse 
Duldsamkeit  gegen  das  Fremdwort  zu  erzeugen. 

Dieser  Duldsamkeit  setzt  nun  seit  einiger  Zeit  eine  gewisse 
Partei  von  Fachmännern  wie  Laien  die  äußerste  Unduldsamkeit  ent- 
gegen. In  Aufsätzen  und  Broschüren  wird  da  jedes  Wort,  welches 
nicht  auf  den  ersten  Blick  die  germanische  Abstammung  verräth, 
einzeln  bekämpft,  in  Verdeutschungs- Wörterbüchern  und  -büchelchen 

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-    704  — 


werden  Vorschläge  zur  geeigneten  Abhilfe  gegeben.  Der  Standpunkt, 
welcher  hierbei  angenommen  wird,  ist  nicht  so  sehr  der  sprachwissen- 
schaftliche, als  vielmehr  der  nationale.  Gehobenes  National  gefü  hl 
ist  ja  überhaupt  eine  der  wirksamsten  Triebfedern  der  jüngeren 
Sprachreiniguugsbewegung.  Seit  dem  ruhmvollen  Ausgange  des 
deutsch-französischen  Krieges  ist  in  Deutschland  zugleich  mit  dem 
Bewusstsein  von  der  politischen  Bedeutung  des  neuen,  großen,  einigen 
Vaterlandes  wol  auch  das  Gefühl  für  die  Größe  nnd  Schönheit  der 
deutschen  Sprache  in  größerer  Deutlichkeit  erwacht.  Dieselbe  rein 
zu  erhalten  oder,  war  sie  es  nicht  mehr,  sie  vom  Fremden  zu  säubern, 
musste  von  diesem  Standpunkte  aus  ein  verdienstliches  Streben  sein. 
Leider  wird  die  Sache  vielfach  übertrieben.  So  gewiss  man  seit 
den  70er  Jahren  von  einem  deutschen  Chauvinismus  sprechen 
kann,  so  gewiss  hat  dieser  Chauvinismus  auch  einen  großen  Antheil  an 
dem  erstaunlichen  Eifer,  mit  welchem  die  Fremd  Wörterhetze  von  Sprach- 
vereinen und  einzelnen  Deutschthümlern  hie  und  da  betrieben  wird. 

So  schön  aber  auch  die  Sache  wäre,  um  die  sich  jene  bemühen, 
sie  wird  nicht  erreicht  werden.  Die  Sprache  des  täglichen  Verkehrs 
wird  sich  niemals  ganz  des  fremden  Beiwerks  entledigen  können,  ob 
dasselbe  auch  noch  so  unschön,  und  scheinbar  noch  so  leicht  durch 
Besseres  aus  dem  Eigenen  zu  ersetzen  wäre.  Und  ich  halte  es  für 
gewiss,  dass  die  hierauf  verwendeten  Kräfte  zum  größten  Theil  nutz- 
los versplittert  werden  —  d.  h.  wenn  ich  lediglich  die  Umgangs-, 
Geschäfts-  und  Verkehrssprache  ins  Auge  fasse,  also  diejenige,  welche 
rein  praktischen  Zwecken  zu  dienen  hat.  Das  Nützlichkeitsprincip 
ist  hier  maßgebender  als  das  ästhetische.  Hier  kann  die  Sprache  sich 
nicht  Selbstzweck  sein,  wie  sie  es  in  der  Dichtung  allenfalls  werden 
darf.  Und  darum  glaube  ich ,  dass  der  Versuch  ein  vergeblicher  wäre, 
den  Millionen,  welche  in  der  Sprache  nichts  als  ein  Verständigungs- 
mittel sehen,  ästhetische  Grundsätze  für  den  Gebrauch  derselben  auf- 
zwingen zu  wollen.  Was  nicht  das  natürliche,  in  der  Volksseele 
ruhende  Sprachgefühl  zu  reguliren  vermag,  wird  durch  alles  Drängen 
von  außen  nicht  gebessert  werden.  An  das  Bleibende,  das  ewig 
Wertvolle,  an  unsere  Literatursprache  mag  die  Kritik  ihre  ästhetischen 
Forderungen  stellen;  hier  wird  sie  manches  durchsetzen  können,  weil 
das  Feld  noch  übersehbar  ist.  Aber  der  stetige  Veränderungsprocess, 
dem  eine  lebende  Sprache  unterworfen  ist,  wird  nie  und  nimmer 
durch  Einzelne  beeinflusst  werden.  Das  Organ  eines  ganzen  lebenden 
und  strebenden,  um  die  gewöhnlichsten  Bedürfnisse  des  Daseins,  um 
die  gemeine  leibliche  Nothdurft  kämpfenden  Volkes  wird  sich  auf 


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-    705  — 


seinem  Entwickelungsgange  nicht  durch  schöngeistige  Bedenken  auf- 
halten lassen.  Es  wird  den  Zwecken,  denen  es  dienen  soll,  zu  ent- 
sprechen suchen.  Dabei  können  Auswüchse  entstehen,  Bildungsfehler, 
Verletzungen  der  grammatischen  Grundgesetze.  Auch  massenhafte 
und  unnöthige  Neueinfuhrungen  von  jenseits  der  Grenze  können  hier- 
bei einreißen.  Aber  gleichwie  die  Hand  des  Arbeiters  Schwielen  auf- 
weist, und  man  schlanke  Finger  und  wohlgepflegte  Nägel  nur  in  den 
Salons  finden  wird,  so  darf  man  in  den  Werkstätten  und  im  Gewühl 
des  Marktes  ebensowenig  eine  gewählte  und  mit  Bewusstsein  correcte 
Bede  weise  fordern. 

Übrigens  haben  wir  Deutsche  den  modernen  Entartungen  unserer 
Volkssprache  gegenüber  wenigstens  den  einen  Trost,  dass  wir  diesmal 
nicht  die  allein  Betroffenen  sind.  Ein  Blick  auf  das  Ausland,  eine 
Vergleichung  unserer  sprachlichen  Missstände  mit  ähnlichen  Vorgängen 
in  Sprache  und  Literatur  der  Grenznachbarn  kann  uns  den  Beweis  er- 
bringen, dass  wir  um  nicht  allzu  vieles  übler  daran  sind  als  sie.*) 

Betrachten  wir  einmal  kurz  den  Stand  des  Französischen,  und 
zwar  des  Französischen  von  heute.**)  Da  könnten  nun  wir  Deutsche, 
wenn  wir  schadenfroh  wären,  es  mit  einer  gewissen  Befriedigung  be- 
merken, wie  die  französische  Sprache,  die  seit  langer  Zeit  für  fertig 
und  feststehend  galt  und  sich  unter  den  Fittigen  der  Academie  vor 
jeder  Überrumpelung  sicher  wähnte,  nun  auch  dem  Zeitgeist  ihren 
Tribut  entrichten  muss  und  wie  sie  im  Verkehr  mit  aller  Welt  neuer- 
dings Allerweltsmanieren  anzunehmen  droht.  Man  nehme  nur  eine 
französische  Tageszeitung  zur  Hand  und  man  wird  erstaunt  sein  zu 
sehen,  wie  da  manche  Artikel  mit  Wörtern,  die  sich  einer  franzö- 
sischen Aussprache  durchaus  nicht  anbequemen  wollen,  förmlich  ge- 
spickt sind.  Das  Englische  scheint  hierin  den  Hauptantheil  zu  haben. 
Ausdrücke  für  Jagd-  und  Rennsport,  für  Maschinenwesen,  für  Herren- 

*)  Eine  gründliche  Arbeit  Uber  diesen  Gegenstand  könnte  überhaupt  der 
ganzen  Fremdwörterangelegenheit  sehr  zu  statten  kommen.  Jetzt,  da  schon  bei- 
nahe alle  Wissenschaft  „vergleichend"  sein  muss,  fällt  es  ordentlich  auf,  dass  nicht 
auch  die  Fremd  Wörterfrage  eine  umfassendere  Behandlung  von  diesem  Standpunkte 
aas  erfahren  hat;  ich  wenigstens  forschte  vergebens  nach  einer  solchen.  Was  im 
Nachfolgenden  an  Beispielen  in  den  Text  aufgenommen  wurde,  ist  natürlich  nur 
eine  Kostprobe,  eine  karge  Auswahl  aus  dem  Allernächsten  und  Augenfälligsten. 

**)  Ein  Rüeklick  auf  die  nicht  unbedeutende  Erisis,  welche  die  Sprache  schon 
früher  einmal,  im  16.  Jahrhundert,  zur  Zeit  der  Catbarina  von  Medici  durch  massen- 
hafte Einschleppung  italienischer  Wörter  zu  erleiden  hatte,  wäre  zwar  bei  dieser 
Gelegenheit  auch  sehr  lehrreich  gewesen.  Interessanteres  bieten  aber  jedenfalls  die 
gegenwärtigen  Zustände. 


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moden  und  ähnliche  Dinge,  in  denen  Albion  tonangebend  ist,  kommen 
meist  von  jenseits  des  Kanals.  Sport,  turf,  jockey,  clown,  groom, 
steeple-chase,  cottage,  smoking,  dann  wagon,  sleeping  car,  tender, 
tunnel  sind  in  Frankreich  ebensogut  heimisch  wie  bei  uns.  Daneben 
kommen  aber  bemerkenswerter  Weise  noch  eine  ganze  Menge  anderer 
Benennungen,  für  welche  wir  den  guten  deutschen  Ausdruck  noch 
immer  beibehalten  haben,  in  den  französischen  Texten  vor.  Manchmal 
wird  durch  solche  Anglicismen  sogar  ein  gut  französisches  Wort  ver- 
drängt oder  am  Aufkommen  gehindert  Das  englische  „rail"  ist  z.  6. 
das  in  Frankreich  allein  giltige  Wort  für  (Eisenbahn-)  Schiene;  und 
„Fahrkarte"  wird  ganz  allgemein  mit  „ticket"  bezeichnet  —  viel- 
leicht eine  Vergeltung  für  das  „billet"  welches  wir  von  den  Franzosen 
annehmen  mussten. 

Eigentümlich  steht  es  mit  einigen  Fachausdrücken  wie  budget, 
jury,  drainage,  wagon,  tunnel,  touriste,  die  wir  dem  Französischen 
entlehnt  haben  und  auch  mit  französischer  Aussprache  gebrauchen, 
obwol  sie  in  dieser  Sprache  ebensowol  fremd  als  in  unserer  und  ein- 
fach rein  englisch  sind. 

Aber  auch  deutsche  Brocken  entdeckt  man  in  den  französischen 
Texten  immer  häufiger  und  es  scheint,  als  ob  das  Studium  unserer 
Sprache  in  Frankreich  ein  allgemeineres  würde,  denn  die  Wörter  wer- 
den jetzt  weniger  verballhornt  als  früher.  Ich  will  hier  nur  zwei 
oder  drei  Beispiele,  welche  durch  Merkwürdigkeit  hervorstechen,  an- 
führen. „IV  AI  penstock"  findet  sich  bei  Daudet  und  Theuriet,  vielleicht 
auch  bei  Andern.  Ebenso  hat  der  Verfasser  des  „Tartarin"  mit  köst- 
licher Unbefangenheit  das  Zeitwort  „yodler"  aus  unserem  „jodeln* 
gebildet.  Chope,  bock  (nicht  mehr  „un  verre  de  biere",  sondern 
kurzweg  un  bock),  Kursaal  mögen  als  Muster  für  eine  ganze  Reihe 
ähnlicher  Ausdrücke  deutschen  Ursprungs  dienen,  deren  Einführung 
es  bestätigt,  dass  man  jetzt  auch  in  Frankreich  hie  und  da  für  fremde 
Dinge  und  Verhältnisse  den  eigentümlichen  Ausdruck  der  betreffen- 
den Sprache  unverändert  einsetzt,  statt  matte  Übertragungen  zu  geben. 
In  diesem  Sinne  haben  auch  die  Engländer  die  Bezeichnung  „Kinder- 
garten-Schools"  für  die  treffliche  Fröbelsche  Einrichtung  angenommen. 
Weniger  schmeichelhaft  ist  jedoch  für  uns  die  Einführung  des  Wortes 
Krach  („le  Krach")  ins  Französische:  als  ob  diese  unangenehmste  Er- 
rungenschaft des  XIX.  Jahrhunderts  eine  deutsche  Erfindung  wäre! 

Als  ganz  international  muss  aber  die  Art  bezeichnet  werden, 
mit  welcher  das  Publicum  der  drei  Hauptnationen  Europas  im 
Concertaaale  und  Theater  seinen  Beifall  und  den  Wunsch  nach  Wieder- 


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holnng  kundgibt.  "Wir  Deutsche  rufen  italienisch  da  capo,  der  Fran- 
zose gebraucht  das  lateinische  bis  und  bildet  davon  bisser  »zur 
Wiederholung  verlangen",  der  Engländer  das  französische  encore, 
woraus  das  Zeitwort  to  encore.  —  Man  sieht,  hier  bat  Keiner  dem 
Andern  etwas  vorzuwerfen.  — 

Was  an  den  obenstehenden  Beispielen  gezeigt  werden  soll,  das 
ist  die  Erscheinung,  dass  für  eine  von  auswärts  eingeführte  Erfindung, 
für  einen  Gebrauchsgegenstand  u.  dergl.  nur  allzuleicht  auch  die  Be- 
nennung aus  der  betreffenden  fremden  Sprache  sich  festzusetzen  weiß. 
Im  Deutschen  ebenso  wie  anderswo.  Beispielsweise  hat  für  das  aus 
England  eingeführte  Bicycle  die  ganz  vortreffliche  Übertragung 
„Zweirad,  Reitrad  oder  Fahrrad"  noch  immer  nicht  rasch  genug  zur 
Stelle  sein  können,  um  die  englische  Bezeichnung  ganz  aus  dem  Felde 
zu  schlagen.  Wie  viel  ist  nicht  an  dem  armen  „Gensdarmes"  herum- 
übersetzt worden,  ohne  dass  irgend  eine  der  vorgeschlagenen  Über- 
setzungen vermocht  hätte  das,  noch  dazu  unsinnige,  Fremdwort  zu 
verdrängen.  Und  wie  sollte  man  wol  jenes  in  keinem  deutschen  Hause 
fehlende  Polstermöbel,  die  „Chaiselongue"  verdeutschen?  Etwa  mit 
„Divau",  oder  mit  „Sopha",  oder  „Canape"  oder  „Ottomane"?  — 

Wenn  weiter  oben  die  Vcrgleichung  unserer  Sprache  mit  dem 
Französischen  und  Englischen  in  Hinsicht  auf  die  Fremdwörter  em- 
pfohlen wurde,  so  ist  noch  hinzuzufügen,  dass  wir  ja  nicht  einmal  so 
weit  zu  gehen  brauchen,  sondern  schon  in  unseren  Mundarten  reiches 
Material  für  solche  Vergleiche  aufbringen  könnten.  Denn  auch  diese 
enthalten  fremdsprachliche  Einsprengungen,  und  zwar  kaum  einen  ge- 
ringeren Procentsatz  davon,  als  das  Hochdeutsche  —  abgesehen  natür- 
lich von  den  zahllosen  Fremdwörtern  aus  der  maschinen-technischen 
Sprache,  welche  bis  jetzt  noch  immer  auf  die  großen  Industriemittel- 
punkte beschränkt  blieben.  Im  oberbayerischen  Dialekt  und  speciell 
im  obderennsischen  kann  man  gar  manches  Fremdwort  entdecken, 
welches  im  Schriftdeutschen  entweder  nie  existirt  hat  oder  längst 
daraus  entfernt  worden  ist.  Akkrat,  extra,  kamot,  Profit,  Regard 
(Beachtung,  Ansehen),  Plarament  gehören  hierher;  für  sie  und  eine 
Menge  ähnlicher  wird  der  entsprechende  deutsche  Ausdruck  nie  oder 
fast  nie  gebraucht.  An  einigen  solcher  Eindringlinge  hat  sich  der 
volksthümliche  Sprachgeist  wenigstens  insofern  wirksam  erwiesen,  als 
er  sie  umgemodelt,  dem  idiomatischen  Lautbestande  angepasst  und  da- 
durch oft  bis  zur  Unkenntlichkeit  verändert  hat*).   Das  Obderenn- 

*)  Solche  Veränderungen  werden  häufig  in  tadelndem  Sinne  „Entsteilungen" 
genannt.   Aber  gerade  sie  sind  eine  Erscheinung,  über  welche  wir  uns  eigentlich 


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sische  bietet  besonders  schlagende  Beispiele  hierfür.  Progrädä  (aus 
Procurator)  Hochzeitsbitter,  und  Pasch än,  Person,  klingen  gewiss  eben 
so  unverfälscht  breit  bayerisch,  als  nur  irgend  ein  mittelhochdeutsches 
Prachtwort,  wie  sich  deren  so  viele  im  Obderennsischen  erhalten 
haben.  —  Bei  manchem  Fremdwort  ist  ein  Wandel  der  Bedeutung 
zu  beobachten,  welchen  es  bei  seiner  Hinübernahme  in  den  Dialekt 
durchzumachen  hatte.  „Solid"  bezeichnet  auf  dem  flachen  Lande 
längst  nicht  mehr  stoffliche  Festigkeit,  sondern  Beständigkeit  des 
Charakters;  „rar"  ist  nicht  „selten",  sondern  vielmehr  „gut",  vielleicht 
in  richtiger  Würdigung  des  Umstandes,  dass  alles  Gute  selten  zu  sein 
pflegt.  —  „Kuraschi"  ist  der  im  österreichischen  Deutsch  einzig  und 
allein  übliche  Ausdruck  für  den  Begriff  „persönlicher  Muth".  Es  gibt 
zwar  im  Obderennsischen  ein  Wort  „Muath",  dieses  aber  hat  bezeich- 
nender Weise  genau  dieselbe  Bedeutung,  wie  das  mittelhochdeutsche 
Wurzelwort,  also  nicht  „Tapferkeit",  sondern  „Sinn",  „Gemüth".  — 
Interessant  zu  betrachten  ist  auch  jene  im  ganzen  oberdeutschen  Sprach- 
gebiet verbreitete  Bezeichnung  für  ein  zum  Formen  seiner  Mehlspeisen 
oder  zum  Butterformen  benutztes  Küchengeräth,  die  „Model";  hoch- 
deutsch sprechende  Hausfrauen  werden  sich  versucht  fühlen,  sie  für 
eine  Verdrehung  aus  „Modell"  zu  halten  und  vielleicht  der  Köchin 
das  Fremdwort  statt  des  Dialectausdruckes  angewöhnen  wollen.  In 
diesem  Falle  aber  hätte  die  Hausfrau  unrecht,  denn  „Model"  ist  eine 
gut  deutsche,  ganz  regelrecht  gebildete  Form,  dem  das  lateinische 
„modulus"  entspricht,  während  „Modell"  höchstens  aus  einer  Zwischen- 
form von  „modus"  hergeleitet  werden  könnte.  Bezeichnender  Weise 
haben  die  Italiener  und  Franzosen  neben  den  gelehrten  Bildungen 
„modells"  und  „modele"  auch  die  volkstümlichen  „modulo"  und 
„moüle",  genau  in  derselben  Bedeutung  wie  unser  „Model".  —  Be- 
säße nur  unser  Wortschatz  recht  viele  solcher  umgebildeter  Fremd- 
wörter, so  wären  es  eben  keine  Fremdwörter  mehr,  sondern  Lehn- 
wörter und  die  Fremdwörterfrage  wäre  dann  bei  uns  ebensowenig 
—  oder  ebensoviel  —  berechtigt,  als  sie  es  in  den  anderen  Cultur- 
sprachen  ist  — 


zu  freuen  haben,  denn  es  erweist  sich  in  ihnen  die  treibende  und  bildende  Kraft 
der  lebenden  Sprache,  welche  sich  das  Fremde,  wenn  es  dasselbe  schon  nicht  abzu- 
stoßen vermag,  wenigstens  assimilirt.  Das  Englische  verdankt  solchen  „Entstellungen" 
aus  (dem  Normannisch-Französischen)  eine  starke  Hälfte  seines  riesigen  Wortschatzes! 


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Macht  und  Arbeit  in  ihren  Bildungselementen.*) 

Von  Joh*  Kaulich-Mäkr.  Schimberg. 
Die  Macht  ist  nur  eine  kalte  Größe. 

Sie  wirkt  nicht  durch  die  Qualität  ihres  Inhaltes:  sie  zwingt  sich 
auf  durch  die  bloße  Thateache  ihrer  Existenz.  Man  achtet  sie,  weil 
sie  da  ist;  aber  man  schätzt  sie  nicht  wie  das  wirklich  Edle. 

Der  Mächtige  hat  viele  Sclaven  und  wenig  Freunde;  denn  die 
Macht  blendet  ohne  zu  wärmen;  man  unterwirft  sich  ihr  ohne  die 
bessere  Einsicht,  die  der  zweckmäßigen  und  würdigen  Unterordnung 
vorausgehen  soll;  sie  kann  für  den  Augenblick  selbst  zur  Bewunde- 
rung hinreißen,  aber  nur  schwer  in  der  Prüfung  bestehen,  die  der 
eherne  Griffel  der  Geschichte  über  sie  verhängt.  Die  Geschichte, 
welche  die  Daseinsformen  der  Macht  auf  ihre  Berechtigung  und  ihren 
Wert  für  die  Entwickelung  der  Menschheit  hin  untersucht,  pflegt  sehr 
kühl  dabei  zu  verfahren;  das  zornige  Dichterwort:  „Wenn  sich  die 
Großen  nicht  scheuen  zu  handeln,  was  sollte  den  gemeinen  Mann  ab- 
halten, diese  Handlungen  zu  beurtheilen?"  ist  ihr  längst  zum  wissen- 
schaftlichen Grundsatz  geworden.  Was  ist  aus  der  von  einer  Welt 
bewunderten,  von  Dichtern  gepriesenen  Göttergestalt  Ludwigs  des 
Vierzehnten  geworden?  Wie  viel  kleiner  erscheint  der  „große  Corse", 
wenn  ihn  die  kritische  Hand  aus  dem  Schimmer  der  Bajonnette  und 
der  blutigen  Romantik  seiner  Schlachtfelder  herausschält I  Wo  ist  sein 
Kriegsruhm  hingerathen,  seit  die  unerbittliche  Forschung  die  gewal- 
tige Kraft  des  französischen,  auf  dem  Requisitionssystem  beruhenden 
Volksheeres,  dessen  Keime  wiederum  im  Freiheitskampfe  der  Ameri- 
kaner liegen,  der  lahmen  Taktik  der  gegnerischen,  an  die  Magazin- 
verpflegung halb  geketteten  Armeen  gegenübergestellt  hat? 

Gleichwol  hat  die  Macht  ihre  geschichtliche  Berechtigung. 

Sie  kann  die  Masse  für  einen  gegebenen  Zweck  organisiren,  in- 
dem sie  vorgefundene,  dem  Einzelnen  kaum  merkliche  Bedingungen 


*)  Ein  trefflicher  Beitrag  asur  Reform  des  Unterrichtes  in  der  Weltgeschichte.  D. 


geschickt  zusammenfasst:  in  dieser  Thätigkeit  ruht  die  geschichtliche 
Größe  Friedrichs  des  Zweiten  und  seine  Bedeutung  für  den  preußi- 
schen Staat. 

Sie  kann,  obgleich  seltener  und  nicht  immer  ersprießlich,  Land 
und  Volk  aus  barbarischer  Vergangenheit  in  die  plötzliche  Helle  einer 
fortgeschrittenen  Cultur  schleudern  und  damit  einen  Zustand  er- 
zwingen, der  —  ohne  ein  wirklicher  Fortschritt  zu  sein  —  doch 
künftige  Bewegungen  erzeugen  wird:  Unter  diesem  Gesichtspunkte 
wird  Peter  der  Große  fast  ein  nationaler  Held. 

Sie  kann  endlich  die  herrschenden  geistigen,  sittlichen  und  wirt- 
schaftlichen Strömungen  eines  Zeitalters  in  ihrem  Gebote  verdichten 
und  damit  in  wahrhaft  staatemännischer  Weisheit  einem  thatsach- 
lichem  Bedürfnisse  gerecht  werden:  Dies  ist  die  hinreißendste  Form 
der  Macht,  denn  ihre  Ti-äger  erscheinen  als  die  Verkörperung  des 
Nützlichen  und  Guten,  und  die  Geschichte  segnet  ihre  Thaten;  —  in 
diesem  Rahmen  leuchten  die  hehren  Gestalten  Josefs  H.  und  seiner 
großen  Mutter. 

Die  Betrachtung  der  Macht  nach  ihrer  besonderen  Form,  ihrem 
Einflüsse,  ihrem  Werden  und  Vergehen  ist  in  hohem  Grade  belehrend; 
man  kann  in  gewissem  Sinne  sogar  von  einer  „Philosophie  der  Macht" 
sprechen.  Das  Lehrbuch  dieser  Philosophie  erschien  1532  im  Drucke: 
es  ist  der  „Fürst"  von  Macchiavelli.  In  diesem  merkwürdigen  Buche 
sind  die  Grundlagen  und  Grundsätze  der  Macht  mit  mathematischer 
Schärfe  auf  eine  nackte  Formel  abgezogen:  es  ist  eine  Grammatik 
der  Macht,  zu  der  die  Geschichte  aller  Zeiten  die  erklärenden  und 
beweisenden  Beispiele  liefern  muss.  Der  Verfasser  sagt  dies  aus- 
drücklich in  der  Widmung  an  Lorenzo  von  Medici:  „.  .  .  ich  finde 
nichts  in  meinem  Vorrathe,  was  mir  werter  wäre  oder  ich  höher 
schätzte,  als  die  Kenntnis  und  das  Verständnis  der  Handlungen  großer 
Männer,  die  ich  durch  lange  Erfahrung  der  neuern  Zeit  und  unab- 
lässiges Lesen  der  alten  erworben.  Diese  habe  ich  mit  großem  Fleiße 
lange  durchdacht  und  geprüft  und  jetzt  in  ein  kleines  Buch  zusammen- 
gefasst,  welches  ich  Euch  überreiche,  großmächtiger  Herr!"  Das 
klingt  fast  wie  ein  Satz  aus  der  Vorrede  zu  einem  Lehrbuche  der 
Methodik,  das  ein  im  Dienste  ergrauter  Schulmann,  der  seine  reiche 
Erfahrung  der  Welt  erhalten  will,  seinen  jüngeren  Collegen  zueignet 
Was  Macchiavelli  unter  „großen"  Männern  versteht,  darüber  lassen 
die  angezogenen  Beispiele  nicht  den  kleinsten  Zweifel  aufkommen.  Es 
hat  nicht  viel  zu  bedeuten,  dass  das  Buch  zahlreiche  Feinde  fand; 
es  verfiel  sogar  dem  verdammenden  ürtheile  des  Papstes.  Der  Wider- 


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—    711  - 


spruch  erschien  mehr  in  der  Form  eines  Ärgers  über  den  Freimuth 
des  Verfassers:  Macchiavelli  sprach  wahr,  aber  unvorsichtig.  Mit 
Recht  bemerkt  ein  Übersetzer,  dass  das  Buch  am  lautesten  von  denen 
angeklagt  sei,  die  am  meisten  daraus  gelernt  hatten. 

Der  „Principe4*  von  Macchiavelli  ist  noch  aus  einem  anderen 
Gruude  der  genauesten  Beachtung  wert:  er  zeigt  die  Verwendbarkeit 
einer  gewissen  Gruppe  historischer  Stoffe  in  Hinsicht  der  darin  ent- 
haltenen Bildungselemente. 

Eine  planvolle  Betrachtung  der  Formen,  in  die  sicli  die  Macht 
kleidet;  der  Handlungen,  welche  ihre  Träger  begehen;  der  Motive,  die 
jene  Handlungen  hervorrufen ;  der  persönlichen  Eigenart,  welcher  diese 
Motive  entspringen;  —  wirkt  aufklärend  und  belehrend;  wendet  sich 
als  reine  Verstandesthätigkeit  zunächst  an  den  Verstand;  schärft  das 
geschichtliche  Urtheil;  wird  unter  Umständen  zu  einer  flir  den  spe- 
cialen Fall  höchst  ersprießlichen  Dressur. 

Kann  eine  ausschließliche  Betrachtung  der  Macht  und  ihrer 
Formen,  der  Handlungen  ihrer  Träger  in  dem  Sinne,  wie  sie  uns  die 
landläufige  Geschichtsschreibung  überliefert,  auch  erziehend  wirken? 

Denn  das,  was  die  Lehrbücher  der  Geschichte  bis  auf  diese  Stunde 
der  Jugend  feilbieten,  sind  die  Lebensäußerungen  der  Macht;  die  per- 
sönlichen Vorbilder,  die  sie  dem  jugendlich  erregbaren  Gemüthe  der 
Leser  vorstellen,  sind  fast  ausschließlich  die  Männer  der  Macht,  nicht 
selten  die  Träger  der  rohesten  Gewalt.  Nicht  selten  auch  steigert 
sich  diese  Auswahl  zur  planmäßigen  Einseitigkeit;  es  ist  hundert 
gegen  eins  zu  wetten,  dass  die  grelle  Schilderung,  die  in  den  meisten 
Fällen  dem  rauhen  Vorgehen  eines  Cortez  und  Pizarro  zutheil  wird, 
ein  Interesse  an  der  milderen  Entdeckergestalt  eines  Vasco  da  Guma 
gar  nicht  aufkommen  lässt.  Schon  Heine  spricht  von  Cortez,  der  den 
frechen  Namen  einschreibt  ins  Buch  der  Weltgeschichte,  einschreibt 

neben  dem  Namen  Columbus,  —  und 

Der  Schulbub'  auf  der  Schulbank 
Lernt  auswendig  beide  Namen. 

Die  Geschichte  des  Alterthums,  des  Mittelalters  und  der  meisten 
Vorgänge  der  neueren  Zeiten  ist  die  Geschichte  der  Macht.  Die  That- 
sache,  dass  ein  löbliches  Sti  eben  die  Darstellung  einer  Epoche  zu- 
weilen mit  der  summarischen  Betrachtung  einiger  Culturformen  be- 
schließt, fallt  nicht  sonderlich  ins  Gewicht.  Dass  diese  Darbietung 
des  historischen  Stoffes  auf  den  ältesten  Vorbildern  ruht,  ist  augen- 
scheinlich, aber  ohne  Belang;  dass  diese  Methode  für  bestimmte  Zeiten 
und  gegebene  Verhältnisse  von  Wert  sein  konnte,  wird  sich  wahr- 


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scheinlich  beweisen  lassen,  —  hebt  aber  die  Frage  nicht  auf,  ob  sie 
noch  der  Gegenwart  mit  ihrem  durchaus  veränderten  Inhalte  frommt. 

Nach  einem  bekannten  Dichterworte,  dessen  thatsächliche  Be- 
deutung sich  mit  dem  Umfange  seines  Gebrauches  keineswegs  deckt, 
ist  das  Beste  an  der  Geschichte  der  Enthusiasmus,  den  sie  erregt. 
Allein  der  Enthusiasmus  ist  —  wie  das  Mitleid  —  eine  sehr  gewöhn- 
liehe  Äußerung  der  Seele;  die  Mittel,  ihn  zu  erregen,  sind  die  denk- 
bar wolfeüsten.  Weit  mehr  Augenblicksrausch,  denn  werkthätige  Folge 
eines  seelischen  Processes,  ist  er  —  wie  das  Mitleid  —  rasch  zur 
Hand,  steigert  sich  leicht  zu  hoher  Intensität  und  zeigt  dabei  alle 
Schattenseiten  des  Affects:  ein  wahres  Strohfeuer  der  Seele.  Das 
Beste,  was  die  Geschichte  erregen  sollte,  müsste  eine  gesunde,  ruhige, 
nachdenkliche  Bewunderung  sein.  Die  Geschichte  sollte  zeigen,  was 
sich  durch  geduldigen  Fleiß,  durch  eiserne  Ausdauer,  durch  Mäßigkeit 
und  Sparsamkeit,  durch  Unterordnung  unter  ein  Gemeinnütziges  — 
die  geschichtlich  so  überaus  nothwendige  Form  der  Selbstverleugnung 
—  erreichen  lässt.  Es  fehlt  den  Lebensäußerungen  der  Macht  nicht 
an  Erscheinungen,  die  zum  Enthusiasmus  hinreißen:  jene  maßvolle  und 
nachhaltige  Bewunderung  erzeugt  nur  die  Betrachtung  einer  schlichten 
Größe. 

Die  Macht  —  rein  äußerlich  genommen  —  vermag  das  Indi- 
viduum nicht  zu  erziehen,  denn  sie  knebelt  es;  ihr  gewöhnlichster 
Lohn  ist  der  scheue  Seitenblick  der  Erbitterung. 

....   der  Mann 
Ist  nun  zum  Gott  erhöht,  und  Cassius  ist 
Ein  arm  Geschöpf  und  moss  den  Rücken  beugen, 
Nickt  Cäsar  nur  nachlässig  gegen  ihn. 

Aber  auch  der  Träger  der  Macht,  insofern  er  als  ein  Vorbild 
angesehen  werden  kann,  muss  es  sich  gefallen  lassen,  dass  man  ihn 
der  Hülle  seiner  Gewalt  entkleidet  ;  denn,  wie  beim  jüngsten  Gerichte, 
so  wird  ihm  auch  beim  Unterrichte  nur  das  angerechnet,  was  von 
ihm  als  Mensch  übrig  geblieben  ist. 

Die  schlichte  Größe,  die  darum  vorzugsweise  die  vorbildliche 
Größe  ist,  ruht  nur  in  der  Arbeit,  und  auch  die  Männer  der  Macht 
sind  blos  insoweit  geschichtlich  groß,  als  sie  zugleich  Männer  der 
Arbeit  waren.  Ludwig  der  Vierzehnte  gegen  Joseph  den  Zweiten. 
Damit  aber  erglänzt  neben  der  Göttin  in  Purpur  und  Krone  das 
irdische  Weib  im  härenen  Gewände  in  ganz  eigener  Beleuchtung,  und 
das  Auge  des  Zuschauers  schweift  mit  Wolgefallen  von  der  dämo- 
nischen Figur  des  corsischen  Eroberers  nach  der  stillen  Gestalt  Georg 


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Stephensons.  Zwei  Zeitgenossen:  der  8chlachtenkaiser  gegen  den 
Eisenbahnkönig. 

Die  Geschichte  schafft  zuweilen  sonderbare  Analogien. 

Es  war  im  Spätherbst  1796,  als  die  Welt  durch  die  ersten  Nach- 
richten über  die  beispiellose  Siegeslaufbahn  Bonaparte's  in  Italien  aus 
einer  Bewunderung  in  die  andere  fiel;  damals  saß  der  fünfzehnjährige 
Stephenson  im  Werkhause  zu  Water  Row  auf  einem  Kohlenbaufen 
und  suchte  beim  Scheine  des  Maschinenfeuers  die  einfachen  arith- 
metischen Beispiele  zu  lösen,  die  ihm  Robin  Cowens,  sein  erster 
Lehrer,  der  im  Dorfe  für  die  Grubenleute  eine  Abendschule  hielt, 
gegen  eine  Entschädigung  von  drei  Pence  auf  eine  Schiefertafel  zu 
schreiben  pflegte.  Und  als  Napoleon,  der  es  vortrefflich  verstanden 
hatte,  sich  die  geschicktesten  administrativen  Talente  Frankreichs 
botmäßig  zu  machen,  von  dem  gebildeten  Europa  als  Gesetzgeber  und 
Organisator  gepriesen  wurde,  da  erwarb  sich  der  junge  Bremser  zu 
Black  Callerton  durch  seine  Verbesserungen  an  den  Pumpmaschinen 
der  ganzen  Grafschaft  die  begeisterte  Dankbarkeit  seiner  schwer- 
arbeitenden Kameraden. 

Wer  kennt  nicht  das  kühne  Wagstück  des  Corsen  bei  Arcole? 
Wie  er,  vom  Pferde  springend,  die  Fahne  ergreift;  an  der  Spitze  der 
provencalischen  Grenadiere  nach  der  Brücke  stürmt;  beim  Getümmel 
ins  Wasser  fällt;  wieder  auf  dem  Platze  erscheint;  endlich  den  Sieg 
gewinnt? 

Aber  es  gibt  noch  einen  anderen  Heldenmuth.  Die  That  Stephen- 
sons, der  in  Killingworth  in  den  im  Feuer  stehenden  Schacht  einfährt, 
durch  seine  umsichtigen  Anordnungen  einige  hundert  Grubenlente 
rettet,  indes  die  Menge  der  Frauen  und  Kinder,  die  den  kühnen  Mann 
in  maßlosem  Erstaunen  in  den  Flammen  verschwinden  sieht,  ängst- 
lich der  Dinge  wartet;  —  diese  That  ist  auch  der  Erwähnung  wert. 

Man  pflegt  mit  einem  gewissen  Behagen  zu  berichten,  wie  es 
Bonaparte  verstanden  habe,  durch  seine  unerschrockene  Haltung  gegen- 
über den  Pestkranken  den  Muth  seiner  Soldaten  aufrecht  zu  erhalten; 
ein  Meister  der  älteren  französischen  Malerschule  nahm  sogar  Veran- 
lassung, dies  wenig  künstlerische  Motiv  zu  einem  historischen  Ge- 
mälde zu  verwenden. 

Aber  das  Leben  Stephensons  enthält  noch  einen  weit  größeren 
Zug.  An  der  Grube  zu  Killingworth  erfand  er  —  lange  vor  8ir 
Humphry  Davy  —  seine  Sicherheitslampe.  Nächtlicherweile  steigt  er, 
die  Erfindung  zu  erproben,  mit  zwei  beherzten  Männern  in  die  Tiefe, 
indes  seine  Frau  und  sein  Knabe  in  Todesangst  seiner  Heimkehr 


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harren,  entzündet  den  Docht  und  nähert  sich  ftirchtios  der  Stelle,  wo 
das  gefährliche  Gas  zischend  ausströmt.  Seine  beiden  Begleiter  er- 
greifen angstvoll  die  Flucht,  während  sie  ihn  mit  brennendem  Lichte 
verschwinden  sehen.  Da  flammt  das  Licht  plötzlich  auf,  dann  erlischt 
es;  das  kühne  Experiment  war  gelungen.  Einer  der  Biographen  des 
Eisenbahnkönigs,  der  diesen  Vorfall  erzählt,  macht  dazu  die  durch- 
aus treffende  Bemerkung:  „Indem  Stephenson  mit  größter  Ruhe  sein 
eigenes  Leben  aufs  Spiel  setzte,  um  ein  Verfahren  zu  entdecken,  wo- 
durch das  Leben  Vieler  gerettet  und  in  diesen  verhängnisvollen  Höhlen 
der  Tod  entwaffnet  werden  möchte,  bot  er  ein  Beispiel  männlichen 
Muthes  dar,  der  noch  edler  und  glorreicher  war  als  der,  welcher  in 
der  Aufregung  der  Schlacht  und  im  Sturme  eines  Angriffs  einen  Sol- 
daten dem  feuerspeienden  Schlünde  einer  Kanone  entgegenführt," 

Es  bedarf  ferner  kaum  der  Frage,  wer  unserem  Herzen  näher 
stehen  sollte  —  der  unersättliche  Schlachtenlenker,  der  die  junge 
Kraft  seines  Volkes  erbarmungslos  dem  eisigen  Hauche  der  russischen 
Schneestürme  aussetzt;  oder  der  menschenfreundliche  Ingenieur,  der 
die  Arbeit  seines  Lebens  auf  die  Erfindung  einer  Maschine  richtet, 
die  mehr  als  irgend  ein  anderes  dazu  berufen  ist,  die  allgemeine 
Verbrüderung  der  Nationen  anzubahnen. 

Man  schwelgt  gern  in  der  Romantik  eines  von  Bonaparte  ge- 
leiteten Alpenüberganges  oder  dem  Zauber  der  Überlegenheit,  die  der 
Franzosenkaiser  den  diplomatischen  Taschenspielereien  seiner  Wider- 
sacher entgegensetzt.  Aber  der  ebenso  sinnreich  erdachte  als  kühn 
ausgeführte  Damm,  der  das  schnaubende  Maschinenross  des  Englän- 
ders über  das  tückische  Chat-Moor  trägt ;  die  classisch  ruhige  Haltung 
Stephensons  vor  dem  superklugen  Comite  des  Hauses  der  Gemeinen,  — 
das  alles  ist  so  überaus  groß,  so  menschlich  wahr,  dass  jenes  andere, 
in  diesem  Lichte  besehen,  nur  etwa  wie  die  stilvoll-romantische  Deco- 
ration zu  einem  Drama  oder  wie  der  gefallige  Dialog  eines  Scribe- 
schen  politischen  Lustspieles  zu  wirken  vermag. 

Wahrscheinlich  hat  die  Gestalt  Bonaparte's  für  die  Jugend  der 
Gegenwart  so  viel  —  oder  so  wenig  —  Bildungswert  als  die  Gestalten 
der  Römer;  es  ist  die  Gefühlskälte,  die  den  Corsen  zum  Römer  stem- 
pelt und  darum  in  einen  Gegensatz  stellt  zu  dem,  was  den  Inhalt  der 
modernen  Persönlichkeit  ausmacht;  es  ist  die  Verkennung  der  Größe 
der  bürgerlichen  Arbeit,  die  den  gewöhnlichsten  Menschen  adelt,  zu 
Gunsten  der  auf  die  Spitze  getriebenen  Idee  der  Macht,  was  Gestalten 
dieser  Art  zu  vorbildlicher  Wirkung  ungeeignet  erscheinen  lässt.  Die 
Sehnsucht  der  Gegenwart  ist  der  Staat,  in  dem  der  Einzelne  nach 


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Maßgabe  seiner  Fähigkeiten  Geltung  hat.  Darum  hatte  die  Begeiste- 
rung für  Napoleon  nur  den  Wert  eines  Augenblicksrausches.  Einer 
seiner  Hauptanbeter  heißt  Heinrich  Heine-,  aber  das  Buch  „le  Grand" 
entstammt  einer  Feder,  die  ebenso  leicht  für  den  Spott  als  für  das 
Lob  zu  haben  war.  Immerhin  bleibt  die  Erscheinung  lehrreich,  dass 
unter  denjenigen,  welche  die  historische  Größe  Napoleons  leugneten, 
der  vornehme  Walter  Scott  und  der  ehrlich-harte  Grillparzer  anzu- 
treffen sind. 

Um  so  höher  kann  der  Typus,  den  Stephenson  vertritt,  im  Preise 
steigen.  Nicht  nur  verkörpert  er  die  Regungen  der  Gegenwart  nach 
der  rein  menschlichen  Seite,  —  er  ist  vor  allem  auch  das  klassische 
Beispiel  für  den  Wert  und  die  schlichte  Größe,  die  in  der  Arbeit  liegt. 
Auch  unter  den  Trägern  der  Macht  sind  die  Männer  der  Arbeit  zu 
finden;  aber  die  Jugend  soll  erfahren,  dass  sie  dort  nicht  ausschließ- 
lich gefunden  werden.  Man  begegnet  hier  leicht  den  Ideen,  die  der 
unermüdliche  Riehl  verkündet. 

„Wert  und  Würde  der  Arbeit  ist  nicht  nach  der  zufälligen  socialen 
Stellung  der  Arbeitenden  zu  messen,  sondern  nach  dem  in  der  Arbeit 
selbst  ruhenden  Gehalte  der  Thatkraft  und  des  Erfolges.  Dieser  Ge- 
danke hat  die  Arbeit  überhaupt  frei  gemacht  und  die  mittelalterlichen 
Stände  als  sociale  Rechtskreise  gebrochen."  (Riehl  „Die  deutsche 
Arbeit".) 

Dies  zeigt  uns  den  Weg,  auf  dem  die  kräftigsten  Bildungs- 
elemente gefunden  werden  könnten.  Die  Geschichte,  in  der  Art  wie 
sie  zur  Zeit  für  die  Jugend  extrabirt  wird,  gibt  keineswegs  die  Ent- 
wickelung  der  Menschheit,  sondern  eine  Darstellung  der  Thätigkeiten 
einer  bestimmten  Menschenclasse.  Man  kann  beinahe  den  Eindruck 
gewinnen,  als  ob  einem  Fürstensohne  die  Geschichte  seines  Hauses  vor- 
gestellt werden  solle.  Eine  solche  Einseitigkeit  birgt  die  Gefahr  der 
Meinung  in  sich,  dass  nur  die  Arbeit  der  Mächtigen  den  Fortschritt 
der  Menschen  gefördert  hätte;  die  Wahrheit  aber  ist,  dass  die  hohe 
Thätigkeit  des  Zimmermannssohnes  von  Nazareth  den  stolzen  Bau  des 
römischen  Weltreiches  überdauert  hat. 

Es  kann  kein  Zweifel  darüber  sein,  dass  die  Männer  der  Arbeit 
in  der  Reihe  der  Fürstenbilder,  welche  der  Jugend  gewöhnlich  ge- 
boten wird,  in  weit  größerer  Zahl  vorkommen  müssten,  als  dies  gegen- 
wärtig der  Fall  ist,  und  dass  der  Jugend  gerade  beim  Geschichts- 
unterrichte gezeigt  werden  sollte,  wie  der  Mann  mit  Schürze  und 
Hammer  dem  Helden  mit  Schwert  und  Marschallsstab  unter  Um- 
ständen vollkommen  ebenbürtig  ist. 


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Die  Geschichte  erschiene  dann  als  eine  Gallerte  wirklich  er- 
ziehender Vorbilder;  manch  edle  Fürstengestalt  würde  neben  dem 
Helden  der  Arbeit  und  des  Gedankens  um  so  herrlicher  erglänzen: 
der  Schüler  stünde  vor  einer  wahren  Ruhmeshalle.  Vor  allem  konnte 
dann  das  Hauptgewicht  gelegt  werden  auf  jene  Thatsachen,  denen  die 
Gegenwart  ihre  Existenz  und  ihren  Inhalt  verdankt. 

Der  Blick  der  Jugend  würde  sich  —  nicht  zum  Schaden  der 
Zukunft  —  abwenden  von  den  marmorkalten  Gestalten  unterge- 
gangener Culturformen  und  sich  an  dem  Feuer  des  Vorhandenen  ent- 
zünden. Ein  Wort  Pestalozzis,  des  größten  Schulmeisters  der  moder- 
nen Welt  —  ein  wahrer  Stephenson  der  Pädagogik  —  verwirklichte 
sich,  —  das  Wort:  „Suchet  euren  Lehrstoff  nicht  tausend  Jahre  rück- 
wärts, ihr  habt  ihn  um  euch!" 

Freilich  gäbe  es  wieder  einen  Kampf  gegen  das  Imperium  roma- 
num;  der  deutsche  Geist  schweift  gerne  über  die  Alpen  und  wühlt  in 
den  classischen  Trümmern  nach  Vorbildern  für  die  vaterländische 
Jugend. 

Aber  die  romantische  Zeit  der  Hohenstaufen  fand  durch  einen 
Schweizer  Grafen  ein  volkstümliches  Ende,  und  es  könnte  sein,  dass 
die  Mahnung  des  Schweizer  Schulmeisters  endlich  auch  hier  einen 
kräftigen  Willen  entzündete. 

Wo  aber  ein  Wille  ist,  da  findet  sich  leicht  ein  Weg. 


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Die  Waffen  nieder! 

Von  O.  B.-Str. 

es  Ereignisse  gibt,  die  sich  unaustilgbar  fest  dem  Gedächt- 
nisse einprägen,  so  gibt  es  auch  Bücher,  die  dem,  der  sie  einmal  ge- 
lesen, ewig  unvergesslich  sind. 

Auf  ein  solches  Buch  möchten  wir  die  Aufmerksamkeit  der  Lehrer 
—  gleichviel,  welcher  Confession  und  Nationalität  —  hinlenken;  es 
heißt:  „Die  Waffen  nieder!"  Eine  Lebensgeschichte  von  Bertha  von 
Snttner  (E.  Pierson,  Dresden  und  Leipzig.  2.  Aufl.  1890).  Ein 
Buch,  das  eine  deutsche  Zeitung  „ein  Ereignis"  nannte;  von  dem  ein 
Berliner  Schriftsteller  (Hans  Land)  sagte:  „Von  Hand  zu  Hand  will 
ich  es  reichen!  Wie  ein  Evangelium  soll  es  Jünger  finden,  die  es 
in  die  Welt  tragen!"  —  ein  Buch,  auf  das  der  österreichische  Finanz- 
minister  v.  Dunajewski  im  Abgeordnetenhause  (18.  April  1890)  hin- 
wies mit  den  Worten:  „Ich  bitte  Sie,  einige  Stunden  diesem  er- 
schütternden Werke  zu  widmen,  und  wer  dann  noch  Passion  für  den 
Krieg  hat,  den  bedauere  ich  wirklich." 

Die  in  Niederösterreich  wohnende  Verfasserin,  von  Geburt  eine 
Gräfin  Kinsky,  ist  in  Prag  1843  geboren  und  erzählt  diese  „Lebens- 
geschichte", deren  Tendenz  schon  der  Titel  freimüthig  ausspricht, 
augenscheinlich  auf  Grund  eigenster  Lebenserfahrung  und  tiefster 
Kenntnis  dessen,  was  sie  schildert.  Vielleicht  ist  sie  nicht  nur  inner- 
lich verwandt,  sondern  sogar  identisch  der  jungen  Gräfin  Doteky,  der 
Heldin  des  Buches,  der  durch  den  Krieg  zwei  geliebte  Gatten,  der 
verehrte  Vater,  die  blühenden  Geschwister  geraubt  werden.  Durch 
diese  Schiksalsschläge  aus  ihrer  vornehmen  Ruhe,  aus  dem  gedanken- 
losen Dahinleben  der  Haute-volee  aufgerüttelt,  beginnt  die  unglück- 
liche Frau,  die  Lebensanschauungen  und  Standesvorurtheile  jener 
höchsten  Adelskreise,  denen  sie  durch  ihre  Geburt  angehört,  auf  ihren 
wahren  Wert  zu  prüfen.  Vorzüglich  ist  es  die  Frage  des  Krieges 
und  der  in  Militärkreisen  üblichen  Kriegsvergötterung,  die  ihre  Seele 
mächtig  bewegt.   Im  Verein  mit  ihrem  zweiten  Gatten,  der  1870  in 

Pedftgogiam.  14.  Jahrg.  Heft  XI.  00 


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Paris  der  Spionage  verdächtigt  und  standrechtlich  erschossen  wird, 
ist  sie  fortan  bestrebt,  dem  wahren  Wesen  des  Krieges  nachzuspüren, 
seine  geheimsten  Ursachen  zu  entdecken,  und  den  Völkerhass,  dessen 
Ausfluss  er  ist,  zu  bekämpfen.  Die  Briefe  ihres  Gemahls  vom  Kriegs- 
schauplatze bestätigen  immer  wieder,  dass  der  „Schlachteneifer  nichts 
Übermenschliches,  sondern  —  Untermenschliches  ist,  eine  Reminiscenz 
aus  dem  Reiche  der  Thierheit  —  ein  Wiedererwachen  der  Bestialität" 
....  „Merkwürdig",  schreibt  er  aus  den  böhmischen  Schlachtfeldern, 
„wie  blind  die  Menschen  sind!  Anlässlich  der  einst  „zur  größeren 
Ehre  Gottes"  entflammten  Scheiterhaufen  brechen  sie  in  Verwün- 
schungen über  blinden  und  grausamen,  sinnlosen  Fanatismus  aus,  und 
für  die  leichenbesäeten  Schlachtfelder  der  Gegenwart  sind  sie  voll 
Bewunderung.    Die  Folterkammern  des  finsteren  Mittelalters  flößen 

ihnen  Abscheu  ein  —  auf  ihre  Arsenale  aber  sind  sie  stolz"  Sie 

durchschauen  die  Hohlheit  und  Hinfälligkeit  der  Motive,  welche  das  uner- 
raessliche  Tausende  und  abermals  Tausende  von  Existenzen  vernichtende 
Unglück  immer  und  immer  wieder  heraufbeschwören;  die  politische 
Phrase,  die  verherrlicht,  was  das  ungeheuerlichste  Verbrechen  unter 
der  Sonne  ist;  die  religiöse  Phrase,  die  dieses  Verbrechen  als  den 
Willen  des  „Herrn  der  Heerscharen"  darstellt;  sie  erkennen,  dass 
„die  Potentaten  und  Diplomaten  den  Krieg  wollen.  Aber  das  Volk? 
Man  frage  es  nur,  bei  ihm  ist  der  Friedenswunsch  glühend  und  wahr"  . . . 
Und  sie  kommen  zu  dem  Resultat:  „Es  kann  keine  Logik  und  Ge- 
rechtigkeit geben  in  jenem  Nationalgefühl,  dessen  oberster  Grundsatz 
der  ist:  Wir  sind  wir  —  das  heißt  die  Ersten,  die  Andern  sind  Bar- 
baren ....  Der  Kriegsgeist  und.  der  patriotische  Egoismus  ist  die 
Verneinung  aller  Gerechtigkeit."  — 

Doch  dies  genüge,  um  die  Tendenz  und  den  tiefen  ethischen  Kern 
des  Werkes  anzudeuten.  Für  den  Lehrer  gewinnt  es  noch  einen  be- 
sonderen Wert  durch  seinen  pädagogischen  Gehalt. 

Selbstverständlich  denkt  die  Gräfin  Dotzky  auch  darüber  nach, 
woher  die  Begeisterung  für  den  Militarismus  und  die  Kriegsvergötte- 
rung stammen.  Sie  selbst  hat  als  Siebzehnjährige  für  kriegerische 
Heldenthaten  geschwärrat  und  oft  bedauert,  nicht  als  Knabe  geboren 
zu  sein.  Für  Gelehrte,  Dichter,  Länderentdecker  konnte  sie  wol 
einige  Hochachtung  empfinden;  aber  eigentliche  Bewunderung  flößten 
ihr  nur  die  Schlachtengewinner  ein.  Das  waren  ihrem  kindlichen 
Verstände  „die  vorzüglichen  Träger  der  Geschichte,  die  Lenker  der 
Länderschicksale;  die  waren  doch  an  Wichtigkeit,  an  Erhabenheit  — 
an  Göttlichkeit  beinahe  —  über  alles  andere  Volk  so  erhaben,  wie 


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—    719  — 


Alpen-  und  Himalayagipfel  über  Gräser  und  Blümlein  des  Thals." 
Sie  erblickt  in  dieser  falschen  Schwärmerei  die  Folge  einer  ver- 
kehrten Erziehung.  Was  sie  über  diesen  Punkt  sagt,  erscheint  uns 
so  treffend  und  überzeugend,  dass  wir  es  auszugsweise  wiedergeben: 

„Die  Geschichte  ist,  so  wie  sie  der  Jugend  gelehrt  wird,  die 
Hauptquelle  der  Kriegsbewunderung.  Da  prägt  sich  schon  dem  Kin- 
dersinne ein,  dass  der  Herr  der  Heerscharen  unaufhörlich  Schlachten 
anordnet;  dass  diese  sozusagen  das  Vehikel  sind,  auf  welchem  die 
Völkergeschicke  durch  die  Zeiten  fortrollen;  dass  sie  die  Erfüllung 
eines  unausweichlichen  Naturgesetzes  sind  und  von  Zeit  zu  Zeit  immer 
kommen  müssen,  wie  Meeresstürme  und  Erdbeben;  dass  wol  Schrecken 
und  Greuel 'damit  verbunden  sind,  letztere  aber  voll  aufgewogen  wer- 
den: für  die  Gesammtheit  durch  die  Wichtigkeit  der  Resultate,  fin- 
den Einzelnen  durch  den  dabei  zu  erreichenden  Ruhmesglanz,  oder 
doch  durch  das  Bewusstsein  der  erhabensten  Pflichterfüllung.  Gibt 
es  denn  einen  schöneren  Tod,  als  den  auf  dem  Felde  der  Ehre  —  eine 
edlere  Unsterblichkeit,  als  die  des  Helden?  Das  alles  geht  klar  und 
einhellig  aus  allen  Lehr-  und  Lesebüchern  „für  den  Schulgebrauch" 
hervor,  wo  nebst  der  eigentlichen  Geschichte,  die  nur  als  eine 
lange  Kette  von  Kriegsereignissen  dargestellt  wird,  auch  die 
verschiedenen  Erzählungen  und  Gedichte  immer  nur  von  helden- 
müthigen  Waffenthaten  zu  berichten  wissen.  Das  gehört  so  zum 
patriotischen  Erziehungssystem.  Da  aus  jedem  Schüler  ein  Vater- 
landsvertheidiger  herangebildet  werden  soll,  so  muss  doch  schon  des 
Kindes  Begeisterung  für  diese  seine  erste  Bürgerpflicht  geweiht  wer- 
den. Man  muss  seinen  Geist  abhärten  gegen  den  natürlichen  Abscheu, 
den  die  Schrecken  des  Krieges  hervorrufen  könnten,  indem  man  von 
den  furchtbarsten  Blutbädern  und  Metzeleien,  wie  von  etwas 
Gewöhnlichem,  Nothwendigem  so  unbefangen  als  möglich 
erzählt,  dabei  nur  allen  Nachdruck  auf  die  ideale  Seite  dieses  alten 
Völkerbrauches  legend  —  und  auf  diese  Art  gelingt  es,  ein  kampfes- 
muthiges  und  kriegslustiges  Geschlecht  zu  bilden." 

„Die  Mädchen  —  welche  zwar  nicht  ins  Feld  ziehen  sollen  — 
werden  aus  denselben  Büchern  unterrichtet,  die  auf  die  Soldaten- 
züchtung der  Knaben  angelegt  sind,  und  so  entsteht  bei  der  weib- 
lichen Jugend  dieselbe  Auffassung,  die  sich  in  Neid,  nicht  mitthun 
zu  dürfen,  und  in  Bewunderung  für  den  Militärstand  auflöst. 
Was  uns  zarten  Jungfräulein,  die  wir  doch  in  allem  Übrigen  zu  Sanft- 
muth  und  Milde  ermahnt  werden,  für  Schauderbilder  aus  allen 
Schlachten  der  Erde,  von  den  biblischen,  macedonischen  und  punischen 

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—    720  - 


bis  zu  den  dreißigjährigen  und  napoleonischen  Kriegen  vorgeführt 
werden,  wie  wir  da  die  Städte  brennen  und  die  Einwohner  „über  die 
Klinge  springen"  und  die  Besiegten  schinden  sehen  —  das  ist  ein 
wahres  Vergnügen  ....  Natürlich  wird  durch  diese  Aufhäufung 
und  Wiederholung  der  Greuel  das  Verständnis,  dass  es 
Greuel  sind,  abgestumpft.  Alles,  was  in  die  Rubrik  Krieg 
gehört,  wird  nicht  mehr  vom  Standpunkte  der  Menschlich- 
keit betrachtet  —  und  erhält  eine  ganz  besondere,  mystisch-histo- 
risch-politische Weihe.  Es  muss  sein  —  es  ist  die  Quelle  der  höchsten 
Würden  und  Ehren  —  das  sehen  die  Mädchen  ganz  gut  ein:  haben 
sie  doch  die  kriegsverherrlichenden  Gedichte  und  Tiraden  auch  aus- 
wendig leinen  müssen.  Und  so  entstehen  die  spartanischen  Mütter 
und  die  —  Fahnenraütter  und  die  zahlreichen,  dem  Officiercorps  ge- 
spendeten Cotillonorden  während  der  Damenwahl."  

Es  liegt  ohne  Frage  eine  tiefe  psychologische  Wahrheit  in  diesen 
Ausführungen.  Die  Vorwürfe,  welche  hier  erhoben  werden,  treffen 
nicht  etwa  allein  das  Gymnasium  und  die  höhere  Töchterschule,  son- 
dern, wennschon  vielleicht  nicht  in  demselben  Umfange  —  auch  die 
Volksschule.  Zwar  hat  die  pädagogische  Theorie  schon  seit  Jahren  die 
Forderung  erhoben:  der  Geschichtsunterricht  berücksichtige  die  Caltur- 
geschichte  in  weitestem  Umfange;  und  wenn  in  Preußen  die  Aller- 
höchste Ordre  vom  1.  Mai  1890  und  die  dieselbe  auslegenden  Mini- 
sterialerlasse  mit  Genugthuung  und  Freude  begrüßt  wurden,  so  war 
es  nicht  darum,  weil  in  ihnen  bahnbrechende  Elemente  vorhanden 
waren,  sondern  weil  man  hoffön  durfte,  dass  durch  diese  amtlichen 
Kundgebungen  die  Aufmerksamkeit  der  Aufsichtsorgane,  der  Schul- 
räthe  und  Inspectoren,  die  ja  leider  der  frei  schaffenden  und  vor- 
wärtsstrebenden Pädagogik  zu  selten  Gehör  schenken,  auf  die  in  Rede 
stehende  wichtige  Reformfrage  gelenkt  werden  würde.  Ob  sich  diese 
Hoffnung  erfüllen  wird,  muss  die  Zeit  lehren.  Vorläufig  wird  in  der 
Praxis  noch  immer  kaum  etwas  anderes  als  Kriegs-  und  Fürsten- 
geschichte gelehrt.  Das  ist  die  Regel  —  lobenswerte  Ausnahmen 
mögen  ja  immerhin  vorkommen  — ,  und  es  wäre  Thorheit,  diese  That- 
sache  zu  verhehlen  oder  den  Blick  von  ihr  wegzuwenden.  Die  Ver- 
antwortung dafür  tragen  die  Lehrer  durchaus  nicht  allein.  Nicht  nur, 
dass  ihre  eigene  Jugenderziehung  sich  in  diesen  Bahnen  bewegt  und 
ihnen  die  traditionelle  Auflassung  der  Geschichte  eingeimpft  hat:  auch 
in  den  Seminaren  mag  —  bisher  wenigstens  —  selten  eine  Auffassung 
der  Geschichte  von  einem  höheren  Standpunkte  den  jungen  Leuten 
beigebracht  worden  sein;  auch  hier  wird  nichts  wesentlich  anderes 


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getrieben,  als  Kriegs-  und  Fürstengeschichte,  and  wo  der  Seminar- 
unterricht den  Rahmen  des  in  den  Vorbereitungsanstalten  —  mögen 
sie  nun  Volksschule  und  Präparande  oder  Realschule  oder  wie  sonst 
noch  heißen  —  beigebrachten  Geschichtswissens  überschreitet,  da 
handelt  es  sich  im  großen  und  ganzen  um  eine  quantitative  Erwei- 
terung des  Stoffes;  das  Princip  des  Unterrichts  bleibt  dasselbe.  Hat 
es  sich  doch  jüngst  ereignet,  dass  bei  einer  Lehrerinnenprüfung  in 
Stettin  eine  Unmenge  Fragen  rein  militärischer  und  strategischer 
Natur  (z.  B.  Wie  standen  die  Truppen  bei  Moll witz?  — Nach  welcher 
Himmelsrichtung  sahen  die  Preußen?  —  welche  Truppentheile  siegten  bei 
Zorndorf?  u.  s.  w.)  an  die  jungen  Mädchen  gerichtet  wurden  —  Fragen, 
über  die  der  Kaiser  geurtheilt  bat,  sie  möchten  vielleicht  in  ein 
Officiersexamen  gehören,  nimmer  aber  in  eine  Lehrerinnenprüfung. 
Höchst  charakteristisch  ist  der  Umstand,  dass  gerade  durch  den  er- 
wähnten kaiserlichen  Erlass,  der  u.  a.  die  Wichtigkeit  der  vater- 
ländischen Geschichte  (im  engeren  Sinne)  betont,  diese  Übertreibung 
veranlasst  worden  ist!  — 

Die  üblichen  Leitfaden  und  Lehrbücher,  die  mit  verschwindenden 
Ausnahmen  in  der  von  B.  von  Suttner  charakterisirten  Weise  ange- 
legt und  ausgearbeitet  sind,  sorgen  dafür,  dass  der  Lehrer,  besonders 
derjenige,  dem  die  umfassenden  Werke  unserer  classischen  Geschichts- 
schreiber nicht  zu  Gebote  stehen,  sich  beim  besten  Willen  nicht  von 
den  Fesseln  der  Tradition  befreien  kann.  Was  soll  man  dazu  sagen, 
wenn  in  den  für  die  Mittelstufe  bestimmten,  im  übrigen  ausgezeich- 
neten „Geschichtsbildern M  von  Albert  Richter  (Leipzig,  Rieh.  Richter, 
1890),  ein  Werkchen,  in  dem  die  Culturgeschichte  in  einer  ganz 
eigenartigen,  anziehenden  Weise  dargestellt  ist,  der  neuesten  Ge- 
schichte (seit  1815)  nur  41/,  von  114  Seiten  eingeräumt  werden,  und 
dass  der  auf  diesen  Seiten  behandelte  Abschnitt  sich  —  abgesehen 
von  ein  paar  auf  den  Kaiser  Friedrich  hinweisenden  Zeilen  —  ledig- 
lich mit  dem  Kriege  von  1870  und  1871  beschäftigt?  —  Wenn  einem 
so  tüchtigen  Pädagogen,  wie  dem  Verfasser  des  Quellenbuches  für  den 
Geschichtsunterricht,  so  ein  Fehlgriff  begegnen  konnte,  was  darf  man 
dann  von  den  nach  alten,  abgegriffenen  Recepten  gemachten  Lehr- 
und  Hilfsbüchern  erwarten?  —  Wie  sehr  das  übliche  Aufsich tssystem, 
die  zahlreichen  Revisionen  und  Schulprürungen  das  üppige  Inskraut- 
schießen  des  Notizenkrams  der  Kriegsgeschichte  begünstigen,  darauf 
ist  so  oft  hingewiesen  worden,  dass  ein  Verweilen  bei  diesem  Gegen- 
stande überflüssig  erscheint. 

Man  könnte  sich  vorstellen,  dass  es  möglich  wäre,  alle  Hinder- 


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nisse,  die  dem  vernünftigen  und  gedeihlichen  Betriebe  des  Geschichts- 
unterrichts entgegenstehen,  mit  einem  Schlage  zu  beseitigen:  der  Stoff 
könnte  nach  neuen  Gesichtspunkten  ausgewählt,  die  Lehrbücher  könnten 
verbessert,  der  Schulaufsichtsapparat  könnte  vereinfacht  werden  u.  s.  w. 
Ob  durch  diese  Maßnahmen  eine  Neugestaltung  des  Unterrichtes  in 
unserem  Sinne  herbeigeführt  werden  würde?  —  Schwerlich!  —  Den 
stärksten  Druck  übt  hier  wie  Uberall  der  Geist  der  Zeit  aus.  Wir 
stehen  eben  in  einer  Periode  grenzenloser  Überschätzung  des 
Militarismus.  Dafür  zeugen  die  unerhörten  Lasten,  die  der  Unter- 
halt der  stehenden  Heere  den  Völkern  auferlegt,  Lasten,  die  kaum 
noch  zu  ertragen  sind;  zeugt  die  einseitige  Überschätzung  derer,  welche 
die  Officiersuniform  tragen,  resp.  getragen  haben  —  gilt  doch  der 
Titel  „Reserveofficier"  auch  im  bürgerlichen  Leben  für  eine  ganz  be- 
sondere Ehre  und  Auszeichnung!  Wer  noch  weiterer  Bestätigung  be- 
darf, der  durchwandere  die  Hauptstadt  des  deutschen  Reiches  und 
lenke  seinen  Blick  auf  die  Kunst,  die  ja  immer  den  Geist  einer  Zeit 
am  treuesten  zurückstrahlt:  überall  wird  er  den  Standbildern  von 
Fürsten  und  Kriegern  begegnen,  selten,  sehr  selten  aber  der  Statue 
eines  Geisteshelden,  eines  Künstlers.  Auch  in  der  häuslichen  Er- 
ziehung treibt  der  Militarismus  seine  schönsten  Blüten.  Gibt  es  ein 
beliebteres  Spielzeug  für  Knaben,  als  Bleisoldaten,  als  Säbel  und  Ge- 
wehr? Und  wenn  dann  der  kleine  mit  aller  Gewalt  zum  Militär  ge- 
stempelte Manu  seinen  kriegerischen  Muth  zunächst  an  harmlosen 
Fröschen,  Kaninchen  und  Katzen  auslässt,  indem  er  sie  misshandelt, 
bis  sie  unter  seinen  unbarmherzigen  Streichen  erliegen,  darf  man  ihm 
deshalb  zürnen?  —  Er  hielt  sie  in  seiner  Phantasie  für  Feinde,  für 
Franzosen!  Er  folgte  nur  den  grausamen  Instincten  seiner  Zeit;  un- 
möglich dürft  ihr  ihn  allein  für  seine  Roheit  verantwortlich  machen!*) 

*)  Die  Militfirvergötterung  hat  besonders  in  Preußen  die  sonderbarsten  Blüten 
getrieben.  Hält  mau  es  doch  in  Preußen  für  eine  ganz  besondere  Ehre,  Reserve- 
Officier  zu  sein.  Der  Titel  „Lieutenant  der  Reserve"  prangt  ja  mit  besonderem 
Glänze  auf  Visitenkarten  und  in  der  Rubrik  „Familien-Nachrichten"  der  Zeitungen. 
Besonders  schneidige  Gutsbesitzer,  die  einmal  Officiersuniform  getragen  haben,  lassen 
sich  mit  Vorliebe  von  ihren  Untergebenen  „Herr  Lieutenant"  betiteln.  DcrBerufe- 
offleier  nun  gar  nimmt  eine  ganz  exceptionelle  Stellung  in  der  Gesellschaft  ein. 
Der  jüngste  Secondelieutenant  dttukt  sich  durch  sein  Porteepec  unendlich  erhaben 
über  alles  übrige  Volk.  Diese  grenzenlose  Überhebung  führt  zu  Ausschreitungen, 
die  an  das  Faustrecht  der  ehemaligen  Strauchritter  erinnern.  Geschah  es  doch  — 
um  nur  ein  Beispiel  anzuführen  —  im  Frühling  dieses  Jahres,  dass  ein  Seconde- 
lieutenant der  Husaren  in  Mainz,  der  Sohn  des  ehemaligen  preußischen  Landwirt- 
schaftsministers v.  Lucius,  einem  städtischen  Polizeibeamten,  der  eine  Strafanzeige 


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Der  Lehrer  befreie  zunächst  sich  selbst  von  der  Herrschaft  der 
üblichen  Militär-  nnd  Kriegsverherrlichung,  vom  politischen  Phrasen- 
thum; er  breche  mit  der  traditionellen  Auffassung  der  Geschichte!  — 
Das  Werk  einer  echten  Dichterin,  einer  von  glühender  Menschenliebe 
beseelten  Frau  helfe  uns,  diese  That  zu  vollbringen.  Lernen  wir  von 
ihr  das  weltumfassende  Mitleid,  das  nach  Abschaffung  alles  Elends 
begehrt;  lernen  wir  den  Völkerhass,  der  in  der  That  noch  heute  einen 
Theil  der  bürgerlichen  Erziehung  bildet,  in  der  eigenen  Brust  besiegen! 
Prägen  wir  unserem  Geiste  die  erschütternden  Bilder  grausigen  Kriegs- 
elends ein,  die  B.  v.  Suttner  mit  genialen  Zügen  entwirft,  Bilder,  die 
in  ihrer  packenden  Natur  Wahrheit  entsetzlicher  sind,  als  die  aus- 
schweifendste Phantasie  sie  zu  malen  vermöchte.  Wer  wäre  imstande, 
folgende  Scene  —  die  Verfasserin  hat  dem  Vorgange  selbst  beige- 
wohnt —  je  zu  vergessen:  Am  Allerseelentage  des  Jahres  1866,  als 
Hunderte  und  abermals  Hunderte  nach  den  böhmischen  Schlacht- 
feldern wallfahren,  um  den  geliebten  Toten  nahe  zu  sein,  erscheint 
ohne  jede  Begleitung  auf  dem  Schlachtfelde  von  Sadowa  Kaiser  Franz 
Josef.  Auch  er  fühlt  das  Bedürfnis,  für  die  Gefallenen  zu  beten. 
Lange  steht  er,  „unbedeckten,  gebeugten  Hauptes,  in  schmerzerfüllter 
Ehrerbietung  vor  der  Majestät  des  Todes"  ....  Welche  Gedanken, 
welche  Empfindungen  mögen  durch  seine  Seele  gehen!  —  Endlich 
bedeckt  er  sein  Gesicht  mit  beiden  Händen,  und,  nicht  mehr  Herr 
seines  Schmerzes,  bricht  er  in  lautes,  heftiges  Weinen  aus  ...  .  Was 
können  seine  Thränen  bedeuten,  als  ein:  Fluch  dem  Kriege! 

„Schon  stehen  wir  an  der  Pforte  einer  neuen  Zeit",  schreibt 
B.  von  Suttner,  „die  Blicke  sind  nach  vorwärts  gerichtet,  alles  drängt 
mächtig  zu  anderer,  zu  höherer  Gestaltung.  Die  Wildheit  mit  ihren 
Götzen  und  ihren  Waffen  —  schon  schleudern  sie  Viele  von  sich. 
Wenn  wir  der  Barbarei  auch  noch  näher  sind,  als  die  meisten  glauben, 
so  sind  wir  vielleicht  auch  der  Veredlung  näher,  als  Viele  hoffen. 
Schon  lebt  vielleicht  der  Fürst  oder  der  Staatsmann,  der  die  in  aller 
künftigen  Geschichte  als  die  ruhmreichste,  leuchtendste  der  Thaten 
geltende  That  vollbringen  wird,  der  die  allgemeine  Abrüstung  durch- 
setzt ....  Schon  haben  wir  die  Schwelle  eines  Zeitalters  betreten, 


gegen  ihn  gemacht,  den  Säbel  auf  die  Brust  setzte  mit  der  Drohung,  ihn  „zusammen- 
zustechen", wenn  er  die  Anzeige  nicht  sofort  als  unrichtig  zurücknehmen  würde!  — 
Dieser  Fall  ist  typisch.  Die  Gesellschaft  hat  kaum  das  Recht,  sich  über  dergleichen 
Roheiten  besonders  zu  entrüsten;  denn  sie  trägt  durch  ihre  blinde,  kritiklose  Ver- 
götterung des  Militarismus  die  Hauptschuld  an  solchen  Vorfällen.   D.  V. 


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wo  die  Menscheit  sich  zur  Menschlichkeit  erhebt,  zur  Edel- 
menschlichkeit"  .... 

Wer  aber  wäre  mehr  berufen,  dieses  Zeitalter  heraufführen  zu 
helfen,  an  dem  Werke  echter  Humanität  mitzuarbeiten,  als  der 
Lehrer?  — 


Zugatz  von  Seiten  der  ßedaction.  Da  man  sich  über  die  Lasten 
und  moralischen  Schäden  des  Militarismus  in  der  Regel  damit  tröstet,  dass  er 
wenigstens  ein  fester  Schutz  des  Vaterlandes  sei,  so  gestatten  wir  uns  hier 
ein  Wort  von  John  Locke,  den  hoffentlich  auch  unser  hochweises  Zeitalter 
noch  ein  wenig  respcctiren  wird,  den  obigen  Ausführungen  anzufügen: 

„Wenn  ein  zügelloses  Leben  erst  das  Gefühl  für  wahre  Ehre  ver- 
scheucht hat,  so  pflegt  die  Tapferkeit  selten  noch  lange  zu  verweilen.  Ich 
glaube  gewiss,  man  wird  kein  Beispiel  einer  Nation  aufweisen  können,  so 
berühmt  sie  ihrer  Tapferkeit  wegen  sein  mag,  welche  ihren  kriegerischen 
Credit  erhalten  und  sich  ihren  Nachbarn  furchtbar  gemacht  hätte,  nach- 
dem das  Verderben  der  Sitten  unter  ihnen  eingerissen  und  den  Damm  der 
Ordnung  und  der  Gesetze  durchbrochen,  und  nachdem  das  Laster  dergestalt 
sein  Haupt  erhoben,  dass  es  ohne  Scheu  sein  Angesicht  unverhüllt  umher- 
tragen durfte." 

Und  bezüglich  der  kriegerischen  Verrohung,  welche  so  häufig  im  welt- 
geschichtlichen Unterrichte  gepflegt  wird,  sagt  derselbe  Weise: 

„Läuft  doch  das  ganze  Geschwätz,  womit  die  Geschichte  uns  bewirtet, 
fast  auf  nichts  anderes,  als  auf  Fechten  und  Totschlagen  hinaus.  Und 
muss  nicht  die  Ehre,  die  wir  den  Eroberern  (die  doch  meist  nichts  anderes, 
als  die  großen  Schlächter  des  Menschengeschlechts  sind)  so  freigebig  aus- 
spenden, den  heranwachsenden  Jüngling-  auf  dem  falschen  Wege  weiter  fort- 
leiten? Muss  er  nicht  dahin  kommen,  dass  er  Mord  für  ein  lobenswürdig«s 
Geschäft  des  Menschen  und  für  die  erste  der  heroischen  Tugenden  hält? 
Dadurch  wird  unnatürliche  Grausamkeit  in  unsere  Seele  gepflanzt;  und 
was  die  Menschlichkeit  verabscheut,  dass  macht  uns  die  Gewohnheit  nicht 
nur  erträglich,  sondern  sie  empfiehlt  es  uns  dadurch,  dass  sie  es  uns  auf 
den  Weg  der  Ehre  stellt!" 

Wer  Ohren  hat,  zu  hören,  der  höre!  D. 


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■ 


Meister  und  Junger  des  Lehrerberufs. 

XJnlängst  feierte  das  Lehrerseminar  zu  Annaberg  in  Sachsen  das  fünfzig- 
jährige Jubiläum  seines  Bestehens.  Unter  den  bei  dieser  Gelegenheit  gehalte- 
nen Ansprachen  fand  besonders  ein  im  Namen  der  früheren  Zöglinge  verfasstes 
Begrüßungsgedicht  von  Herrn  Schuldirector  Moritz  Kleinert  in  Dresden  (zu- 
gleich Redacteur  der  „Allgem.  deutsch.  Lehrerzeitung")  großen  Beifall.  Wir 
theilen  aus  demselben  nachstehend  einige  Strophen  mit,  von  denen  die  drei 
ersten  die  Aufgabe  der  Seminarlehrer  skizziren,  die  übrigen  den  Seminaristen 
eine  Wegleitung  bieten. 

Und  euch,  würd'ge  Männer  alle,  die  ihr  schafft  am  edlen  Werke, 
Rüste  Gott  stets  aus  mit  Weisheit  und  mit  seines  Geistes  Stärke! 
Welch  ein  Amt  und  welche  Schätze  sind  in  eure  Hand  gegeben! 
Sollt  dem  Jüngling  Leben  spenden,   dass  er  wieder  wecke  Leben; 

Sollt  ihn,  wie  der  Geist  der  Pfingsten,  zu  der  Wahrheit  Quelle  leiten, 
Ihm  voran  die  schmalen  Gleise  strenger  Selbstverleugnung  schreiten, 
Ihn  durch  euer  Vorbild  spornen,  sich  zum  Sonnenlicht  zu  recken, 
Dass  dereinst  auch  seine  Schüler  sich  mit  Kraft  nach  oben  strecken. 

Wem  ward  gleicher  Sendung  Würde,  wer  soll  höh'res  Ziel  erreichen? 
Wahrlich,  eures  Amts  Bedeutung  hat  im  Staat  kaum  ihresgleichen! 
Wenn  nicht  der  Begeistrung  Feuer  euch  in  Herz  und  Seele  lohte  — 
Eure  Arbeit  war"  vergeblich,  war'  zum  Leben  nicht,  —  zum  Tode. 

Nun  an  euch,  ihr  jungen  Freunde,  sei  mein  Wort  zuletzt  gerichtet. 
Glaubt  es,  alte  Herzen  fühlen,  was  ein  junges  Herze  dichtet, 
Und  wie's  auf  der  Zukunft  Wogen  weder  Stein  noch  Dornen  ahnet, 
Wie's  im  Rausche  jungen  Frühlings  himmelwärts  den  Weg  sich  bahnet. 

Glück  zum  Traume,  Glück  zum  Leben,  Glück  zum  Streben,  junger  Schwärmer! 
An  Erfahrung  wirst  du  reicher,  doch  an  Hoffnung  wirst  du  ärmer. 
Nur,  dass  dir  ein  Lenz  tieünnen  ewig  grüne,  knospe,  blühe! 
Nur,  dass  dir  das  heil'ge  Feuer  nie  im  Busen  je  verglühe! 

Dazu  lass'  dich  hier  am  Herde  unsere  Seminars  entzünden, 
Dazu  magst  du  mit  den  edelsten  der  Freunde  dich  verbünden: 
Dass  die  8chulzeit  deiner  Jugend  durch  dein  ganzes  Leben  leuchte, 
Dass  im  Alter  die  Erinnrung  oft  dir  noch  das  Auge  feuchte. 

Wenn  zu  unsrer  alma  mater  du  nach  aber  fünfzig  Jahren, 

Wo  wir  längst  im  Grabe  ruhen,  froh  des  Weges  kommst  gefahren, 

Um  zu  zollen  dieser  Stätte  deines  Dankes  goldne  Kränze:  — 

Dass  ein  Schein  von  ew'ger  Jugend  dir  noch  von  dem  Auge  glänze! 


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Pädagogische  Rundschau. 


Universitäten.  Im  VII.  Jahrgänge  (Märzheft  1885,  S.  394—423) 
brachte  das  „Pädagogium"  eine  sehr  interessante  Abhandlung  von  Professor 
J.  Schuhmann-Rom  über  das  Öffentliche  Unterrichtswesen  in  Italien,  deren 
vierter  Abschnitt  sich  mit  den  Universitäten  der  Apenninen-Halbinsel  be- 
fasste.  In  der  letzten  Zeit  ist  nun  vielfach  die  Rede  davon  gewesen,  dass 
Italien  zu  viel  Universitäten  habe  und  im  Interesse  einer  sparsameren  Ver- 
waltung mehrere  abschaffen  müsse.*)  Einen  Einblick  in  die  Grundlagen  dieses 
Verlangens  gewährt  uns  die  von  Dr.  Richard  Kukola  in  der  Zeitschrift 
„Akademische  Tagesfragen41  veröffentlichte  Weltstatistik  der  Univer- 
sitäten. Sie  stützt  sich  auf  das  Wintersemester  1890/91  und  berück- 
sichtigt nur  die  matriknlirten  Studenten.  Wir  entnehmen  ihr  die  auf  Italien 
bezüglichen  Angaben,  indem  wir  zugleich  die  übrigen  Länder,  inabesondere 
Deutschland,  zum  Vergleiche  heranziehen.  Mit  diesen  Angaben  wolle  der  ge- 
ehrte Leser  auch  die  Mittheilungen  vergleichen,  welche  sich  im  Aprilhefte 
(S.  446 — 47)  und  im  Junihefte  (S.  580)  dieses  Jahrganges  vorfinden,  aber 
auf  das  Winterhalbjahr  91/92  sich  beziehen.  — 

Italien  hat  von  allen  Ländern  die  meisten  Universitäten,  nämlich  21, 
während  das  Deutsche  Reich,  das  20  Millionen  mehr  Einwohner  hat,  nur 
20  Universitäten  besitzt.  (Außerhalb  des  Deutschen  Reiches  gibt  es  noch  8 
[9.  D.  R.]  Universitäten,  auf  denen  in  deutscher  Sprache  gelehrt  wird, 
nämlich:  Wien,  Prag,  Graz,  Innsbruck,  Czernowitz,  Basel,  Zürich**)  und 
Dorpat)  In  Italien  gab  es  in  dem  gedachten  Semester  17  558,  in  Deutsch- 
land 29  569  Studenten;  in  Italien  lehrten  1522,  in  Deutschland  2406  Pro- 
fessoren. Das  Verhältnis  der  Lehrer  zu  den  Studenten  war  in  Italien  1  zu 
11,5,  in  Deutschland  1  zu  12,3;  das  Verhältnis  der  Studenten  zu  der  ganzen 
Bevölkerung  in  Italien  1  zu  1705,  in  Deutschland  1  zu  1584.  Das  wären 
keine  allzu  großen  Verschiedenheiten.  Auffallender  ist,  dass  in  Deutschland 
auf  einer  Universität  durchschnittlich  1478,  in  Italien  nur  836  Studenten  sind. 
Das  ist  die  niedrigste  Ziffer  von  allen  Ländern,  Holland  und  die  Schweiz  aus- 
genommen, wo  nicht  alle  Universitäten  sämmtliche  Facultäten  besitzen.  Im 
einzelnen  wird  der  Unterschied  noch  drastischer.  Die  kleinste  deutsche  Uni- 
versität, Rostock,  zählt  371  Studenten,  dann  kommen  Kiel  mit  489,  Gießen 
mit  549,  Jena  mit  675,  Königsberg  mit  682  u.  s.  w.;  Deutschland  hat  über- 
haupt nur  9  Universitäten  mit  weniger  als  1000  Studenten.  Italien  aber  hat 
solcher  12,  darunter  folgende  10  mit  weniger  aU  400  Studenten:  Modena319, 

*)  „Italien  bedarf  der  Stärkung  seiner  wissenschaftlichen  Mittelpunkte,  nicht 
einer  Vermehrung  derselben."  Psedagogium  VII,  S.  413. 

**)  Hier  hätte  noch  Bern  genannt  werden  sollen.   D.  R. 


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—   727  — 


• 

Messina  310,  Ferraral91,  Siena  183,  Perugia  178,  Cagliaril57,  Lassari  132, 
Macerata  115,  Camerino  96  und  Urbino  93  Studenten.  Acht  Universitäten, 
also  mehr  als  der  dritte  Theil,  haben  überhaupt  weniger  als  200  Studenten. 
Da  ist  natürlich  auch  das  Verhältnis  der  Studenten  zu  den  Lehrern  ein  un- 
richtiges. Unter  den  deutschen  Universitäten  hat  verhältnismäßig  am  meisten 
Lehrer  Kiel,  nämlich  89,  so  dass  dort  5  Studenten  auf  einen  Lehrer  kommen. 
In  Königsberg  und  Jena  kommen  7,  in  Göttingen  8,  in  Straßburg  und  in 
Kostock  9,  in  Heidelberg,  Marburg,  Gießen  und  Breslau  10  Studenten  auf 
einen  Lehrer  u.  s.  w.  Die  größte  Verhältnisziffer  haben  Hänchen  und  Würz- 
borg: 22  zu  1;  dann  kommen  Erlangen  (19:1),  Leipzig  (18:1),  Tübingen 
(17: 1),  Berlin  (16:1)  u.  s.  w.  So  hohe  Ziffern  hat  Italien  überhaupt  nicht; 
die  höchste  bat  Turin  (16),  dann  kommen  Genua  und  Pavia  (13),  Palermo 
und  Neapel  (11),  Padua  und  Rom  (10),  Ferrara  (9),  Pisa  (7),  Perugia  (6), 
Urbino  (5),  endlich  haben  in  Messina,  Cagliari,  Modena,  Lassan  und  Siena  je 
4  Studenten  die  Ehre,  einen  Professor  zu  haben,  und  in  Camerino  haben  sogar 
schon  3  Studenten  diese  Ehre.  Hier  ist  offenbar  der  wunde  Punkt,  wo  die 
italienische  Universitätsreform,  wenn  es  zu  einer  solchen  kommen  soll,  ansetzen 
muss.  —  Der  erwähnten  Statistik  entnehmen  wir  noch  folgende  Angaben : 
Österreich-Ungarn  zählt  11  Universitäten  mit  19  659  Studenten  und  994 
Lehrern,  England  10  Universitäten  mit  19  264  Studenten  und  596  Lehrern, 
Kussland  9  Universitäten  mit  13  809  Studenten  und  739  Lehrern,  Spanien 
bat  11,  die  Schweiz  6,  Belgien  und  Holland  je  4  Universitäten.  Die  besuch- 
teste Universität  ist  Paris  mit  9215  Studenten;  sie  ist  dafür  auch  die  einzige 
vollständige  Universität  in  Frankreich.  Dann  kommt  Wien  mit  6220,  Berlin 
mit  5527,  Neapel  4328,  München  3551,  Budapest  3533,  Athen  3500,  Edin- 
burgh 3488,  Moskau  3473,  Leipzig  3458,  Madrid  3182  u.  s.  w.  Eine  eigen- 
tümliche Stellung  nimmt  Prag  ein,  das  zwei  Universitäten  hat,  eine  deutsche 
und  eine  tschechische;  erstere  ist  von  1580,  letztere* von  2361  Studenten  be- 
sucht; die  Gesammtzahl  beträgt  also  3941.  —  Im  allgemeinen  muss  man  mit 
Schlüssen  aus  der  vergleichenden  Universitätsstatistik  vorsichtig  sein,  da  die 
Organisation  und  der  Umfang  der  Universitäten  nicht  überall  gleich  sind. 


Berlin.  Vom  Deutschen  Lehrer-Verein.  Rechtsschutz.  Aus 
einem  Berichte  des  geschäftsführenden  Ausschusses  des  Deutschen  Lehrer-Ver- 
eins über  das  Geschäftsjahr  1891  theilen  wir  Folgendes  mit.  Die  in  dem 
Diester wegjahre  1890  in  allen  größeren  und  kleineren  Lehrer- Vereinen  ver- 
anstalteten Gedächtnisfeiern  zum  Andenken  des  Vaters  und  Schützers  der  freien 
Vereine  sind  nicht  ohne  Wirkung  geblieben,  und  die  in  allen  Festreden,  Fest- 
artikeln und  Festschriften  wiederkehrenden,  eindringlichen  Mahnworte  des  ge- 
feierten Meisters:  „Lebe  im  Ganzen",  „Schließ  an  ein  Ganzes  Dich  anu,  sind 
nicht  erfolglos  verhallt,  denn  die  Erhöhung  der  Mitgliederzahl,  welche  der 
Deutsche  Lehrer-Verein  sowol  durch  das  erfreuliche  Wachsthum  der  alteren 
Zweigverbände  als  auch  durch  Hinzutritt  einer  ganzen  Anzahl  neuer  Vereine 
erfahren  hat,  muss  als  eine  ganz  bedeutende  bezeichnet  werden.  Während 
nach  unserem  letzten  Geschäftsberichte  44  449  Mitglieder  in  1257  Verbänden 
dem  Vereine  angehörten,  ist  der  gegenwärtige  Bestand  auf  49636  Mitglieder 


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gestiegen,  so  dass  eine  Zunahme  von  5187  Mitgliedern  stattgefunden  hat.*) 
Dieses  Wachstimm  ist  nm  so  erfreulicher,  als  man  von  verschiedenen  Seiten 
gerade  im  Anschluss  an  die  hervorragendste,  beim  VIIL  Deutschen  Lehrertage 
veranstaltete,  Diester weg-Feier  bemüht  war,  Zwietracht  in  die  Bethen  der 
Lehrerschaft  hineinzutragen  und  durch  planmäßiges  Vorgehen  die  Zersetzung 
des  Deutschen  Lehrer- Vereins  anzustreben.  Wurden  doch  selbst  von  der 
Tribüne  der  Landesvertretung  des  größten  deutschen  Staates  in  Anknüpfung 
an  die  Diesterweg  geltende  Festrede  auf  dem  Lehrertage  die  unerhörtesten 
Angriffe  gegen  die  Tendenz  des  Deutschen  Lehrer- Vereins  und  gegen  die 
„radicalen  Führer"  desselben  geschleudert,  und  schreckte  man  in  einer  ge- 
wissen Presse  doch  selbst  vor  Verdrehungen,  Entstellungen  und  wissentlich 
falschen  Anschuldigungen  nicht  zurück,  um  den  Verein  zu  discreditiren,  wie 
das  in  der  von  einigen  Mitgliedern  des  geschäftsfiihrenden  Ausschusses  ver- 
fassten  Schutzschrift:  „Der  VIIL  Deutsche  Lehrertag  und  seine  Gegner4  zur 
Genüge  gekennzeichnet  worden  ist.  Aber  wie  diese  maßlosen  Angriffe  die 
deutsche  Lehrerschaft  nur  noch  mehr  in  dem  Gefühl  ihrer  engen  Zusammen- 
gehörigkeit bestärken  konnten,  so  vermochten  auch  jene  ungeheueren  Anstren- 
gungen, die  Lehrerschaft  durch  Gründang  eines  katholischen  Verbandes  nach 
Confessionen  zu  spalten,  dem  Deutschen  Lehrervereine  keinen  nennenswerten 
Abbruch  zu  thun,  denn  gerade  in  den  vorwiegend  katholischen  Landestheilen, 
wie  Westpreußen,  Rheinland,  Westfalen  etc.  ist  seine  Mitgliederzahl  bedeutend 
gewachsen.  Die  Mitglieder  des  Deutschen  Lehrer- Vereins  jedoch,  welche  sich 
der  im  Dienste  politischer  und  kirchlicher  Parteien  stehenden  Gründung  an- 
schlössen, gehörten  innerlich  längst  nicht  mehr  zu  demselben  und  befreiten  den 
Verein  durch  ihren  Austritt  nur  von  einem  unnützen,  die  zielbewusste  Thätig- 
keit  lähmenden  Ballast.  —  Dass  nun  auch  das  innere  Leben  in  den  Vereinen 
ein  gesundes,  dass  für  die  Thätigkeit  derselben  nur  treues  und  ernstes  Streben 
nach  den  vorgesteckten  Zielen  maßgebend  war,  kann  der  geschäftsftihrende 
Au8scliuss  infolge  der  ihm  zu  Gebote  stehenden  Informationen  und  infolge 
seines  Verkehrs  mit  den  Vereinen  mit  Genugthuung  hervorheben.  Der  Aus- 
schnss  wurde  von  dem  Berliner  Lehrer-Vereine,  welcher  durch  die  Vertreter- 
Versammlung  wiederum  zum  Vorort  bestimmt  war,  gewählt,  verstärkte  sich 
durch  Zu  wähl  auf  17  Mitglieder  und  nahm  bald  nach  dem  Lehrertage  seine 
regelmäßige  Thätigkeit  auf.  Leider  war  der  langjährige,  um  den  Deutschen 
Lehrer- Verein  so  hochverdiente  Vorsitzende  Tiersch  durch  Beinen  Gesundheits- 
zustand gezwungen,  eine  Wiederwahl  zu  diesem  Amte  ablehnen  zu  müssen. 
An  seiner  Stelle  wurde  Clausnitzer  gewählt.  —  In  Erledigung  der  ihm  von 
der  13.  Vertreterversammlung  gewordenen  Aufträge  traf  der  Ansschuss  zu- 
nächst die  nöthigen  Vorbereitungen  zur  Auswahl  der  Verbandsthemen  durch 


*)  Neu  haben  sich  angeschlossen  der  Verein  Chemnitz  mit  357  Mitgliedern 
und  einige  Verbände  in  den  Kleinstaaten  Deutschlands.  Erheblicher  jedoch  ist  die 
Zunahme  durch  das  Wachsthum  der  Provinzial-Vereinc  in  Preußen.  Sie  beträgt 
3898  Mitglieder.  Es  stieg  die  Mitgliederzahl  dieser  Verbände  in  Sachsen  um  493 
auf  3876,  in  Ostpreußen  um  529  auf  3029,  in  Pommern  um  450  auf  2750,  in  der 
Rbeinprovinz  um  436  auf  2816,  in  Schlesien  um  400  auf  6000,  in  Brandenburg  um 
389  auf  4007,  in  Schleswig-Holstein  und  Hannover  um  je  200  anf  2675  resp.  3265, 
in  Westpreußen  um  170  auf  1950,  in  Posen  um  161  auf  1718  und  in  Westfalen 
und  Hessen  um  je  100  auf  1400  resp.  2000.  —  Anm.  des  Referenten. 


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den  GeBammtvor8tand.  Auf  Vorschlag  des  Ausschusses  wurden  ans  den  zahl- 
reich namhaft  gemachten  Themen  nur  zwei  für  die  Berathungen  in  den  Lehrer- 
vereinen ausgewählt,  und  zwar  erklärte  sich  die  Mehrheit  der  Gesammtvor- 
Standsmitglieder  1.  für  „Die  allgemeine  Volksschule  in  Rücksicht  auf  die 
sociale  Frage"  und  2.  für  die  „Lehrerbildung".  Wie  in  den  früheren  Jahren, 
so  veröffentlichte  der  Ausschuss  auch  diesmal,  nachdem  er  sich  mit  vorstehen- 
den Fragen  selbst  eingehend  beschäftigt,  die  bekannte  einschlägige  Literatur, 
auch  brachten  die  Referenten  des  Ausschusses  im  Vereinsorgan  längere  orien- 
tirende  Artikel.  Mit  Genugthuung  können  wir  die  erfreuliche  Thatsache  her- 
vorheben, dass  diese  Themen  in  der  größten  Mehrzahl  der  Vereine  und  Ver- 
bünde zur  gründlichen  Durchberathung  gelangt  sind.  —  Ferner  trat  der  Aus- 
schuss seinem  Auftrage  gemäß  mit  der  Versicherungsgesellschaft  Providentia 
in  Verhandlungen  wegen  Verlängerung  des  Feuerversicherungsvertrages  und 
unterbreitete  den  von  ihm  mit  der  Providentia  vereinbarten  neuen  Vertrag 
den  Gesammtvorstandsmitgliedern,  welche  denselben  einstimmig  genehmigten. 
—  Bezuglich  der  auf  der  Vertreter  Versammlung  nicht  zur  Erledigung  ge- 
langten Militärfrage  regte  der  Ausschuss  die  einzelnen  Landesvereine  zur  Ab- 
sendung  von  Petitionen  an  die  betr.  Minister  um  Gewährung  der  Berechtigung 
zum  Einjährig-Freiwilligendienste  an.  —  Die  auf  dem  VIII.  Deutschen  Lehrer- 
tage verhandelte  Frage  über  die  „Befreiung  des  Lehrers  vom  niederen  Küster- 
dienste" gab  dem  Ausschüsse  Veranlassung,  sich  in  einem  besonderen  Schreiben 
an  die  Vorstände  der  Zweigverbände  des  Deutschen  Lehrervereins  zu  wenden 
und  sie  zu  einem  zielbewussten  Vorgehen  in  dieser  Frage  aufzufordern.  —  Die 
Kasse  des  Deutschen  Lehrer- Vereins  hatte  pro  1890  im  ganzen  6091,80  Mk. 
Einnahme.  Davon  wurden  verausgabt:  für  Drucksachen  296,  55  Mk.,  Fahr- 
kosten für  Delegirte  nach  Berlin  3528,30  Mk.,  Reisekosten  für  Ausschussmit- 
glieder 206,50  Mk.,  Diäten  für  Ausschussmitglieder  beim  Lehrertage  378  Mk., 
für  113  Exemplare  der  Pädagogischen  Zeitung  452  Mk.  u.  a.  Im  ganzen  be- 
trug die  Ausgabe  5114,01  Mk. 

Die  Inanspruchnahme  des  Rechtsschutzes  steigert  sich  von  Jahr  zu  Jahr. 
Während  sich  bis  zum  Jahre  1889  die  Bewilligungen,  wenn  auch  allmählich 
steigend,  doch  immer  nur  in  solcher  Höhe  hielten,  dass  es  möglich  war,  einen 
nothwendigen  Reservefonds  von  über  3000  Mk.  zu  bilden,  so  stiegen  dieselben 
1890  auf  ca.  1700  Mk.,  also  fast  zu  der  Höhe  der  Einnahmen,  und  haben  in  den 
ersten  9  Monaten  des  Jahres  1891  bereits  die  Summe  von  2100  Mk.  erreicht. 
Die  Ursache  dieser  Steigerung  liegt  darin,  dass  der  Deutsche  Lehrer- Verein 
in  den  letzten  2  Jahren  um  fast  25  Procent  seiner  Mitglieder  gewachsen  ist, 
und  dass  die  Einrichtung  des  Rechtsschutzes  erst  jetzt  vielen  Vereinsmit- 
pliedera  zur  Kenntnis  bezw.  zum  Verständnis  kommt.  Die  Einrichtung  des 
Rechtsschutzes  hat  sich  in  der  Lehrerschaft  eine  solche  Anerkennung  er- 
worben, dass  auch  andere  Vereine,  wie  der  Badische  Lehrerverein,  unter  enger 
Anlehnung  an  das  Statut  des  Deutschen  Lehrer- Vereins  eine  derartige  Ein- 
richtung ins  Leben  gerufen  haben.  Es  ist  aber  zu  erwägen,  dass  Lasten, 
welche  ein  großer  Verein  leicht  trägt,  von  kleineren  Gemeinschaften  nur  schwer 
getragen  werden  können.  So  haben  verschiedene  Zweigvereine  des  Deutschen 
Lehrer- Vereins  größere  Summen  aus  der  Rechtsschutzkasse  erhalten,  als  sie 
an  Beiträgen  zu  derselben  gezahlt  haben.  —  Von  den  Fällen,  in  welchen  der 


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Rechtsschutz  des  Deutschen  Lehrer-Vereins  in  letzter  Zeit  eingetreten  ist,  er- 
wähnen wir  folgende: 

1.  Das  Landgericht  zn  L.  in  Ostpreußen  verurtheilte  einen  27  Jahre 
alten  Lehrer  wegen  Überschreitung  des  Züchtigungsrechtes  zu  sechs  Monaten 
Gefängnis  und  Unfähigkeit  zur  Bekleidung  öffentlicher  Ämter  auf  die  Dauer 
von  einem  Jahre.  Das  Reichsgericht  hob  auf  eingelegte  Revision  das  ürtheil 
auf  und  verwies  es  an  die  erste  Instanz  zurück.  Hier  erfolgte  nun  eine  Ver- 
urteilung zu  60  Mark  Geldstrafe.  Die  Kosten  mit  402,37  Mark  trug  der 
Rechtsschutz. 

2.  Ein  Lehrer  aus  Schlesien  war  des  Verbrechens  gegen  die  Sittlichkeit, 
begangen  an  Schulmädchen,  angeklagt,  jedoch  freigesprochen  worden.  Die 
Kosten  fielen  der  Staatskasse  zur  Last;  die  persönlichen  Auslagen  im  Betrage 
von  74,10  Mark  niusste  der  Lehrer  tragen.  Dieselben  wurden  ihm  von  der 
Rechtsschutzkasse  ersetzt. 

3.  Eine  Arbeiterfrau  wurde  von  einem  Lehrer  in  Pommern  wegen  Be- 
leidigung im  Amte  verklagt  und  zu  20  Mark  nebst  den  dem  Kläger  erwach- 
senen Kosten  verurtheilt  Die  Verurtheilte  war  aber  besitzlos  und  die  Exe- 
cution  laut  Attest  des  Gerichtsvollziehers  fruchtlos.  Diese  Kosten  im  Betrage 
von  12,95  Mark  wurden  dem  Lehrer  aus  der  Rechtsschutzkasse  ersetzt 

4.  Wegen  Beschimpfung  eineB  Erwachsenen  auf  der  Straße  und  wegen 
frecher  Reden  züchtigte  ein  Lehrer  in  Schlesien  einen  Knaben  mit  einer  Ohr- 
feige und  einigen  Stockhieben.  Die  Eltern  des  Knaben  behaupteten  nun,  der 
Knabe  sei  von  der  Ohrfeige  schwerhörig  geworden,  und  es  fand  sich  in  der 
That  ein  Arzt,  der  dies  bescheinigte.  Da  aber  die  Annahme  begründet  er- 
schien, dass  der  Knabe  nur  simulire,  und  der  Arzt  das  Attest  nach  ganz  ober- 
flächlicher Untersuchung  ausgestellt  habe,  begab  sich  der  Lehrer  unter  fremdem 
Namen  zu  demselben  Arzt,  gab  vor,  dass  er  infolge  einer  am  Tage  vorher  er- 
haltenen Ohrfeige  schwerhörig  geworden  sei  und  bat  um  ein  entsprechendes 
Attest.  Dies  wurde  ihm  nach  ganz  oberflächlicher  Untersuchung  sofort  aus- 
gestellt; außerdem  erhielt  er  noch  zwei  Medikamente,  eins  zum  Einspritzen 
in  das  vermeintlich  kranke  Ohr,  eines  zur  „Beruhigung".  Als  der  Lehrer,  um 
zu  beweisen,  welchen  Wert  ein  Attest  von  diesem  Arzte  habe,  dasselbe  dem 
Gerichtshofe  vorlegte,  beantragte  selbst  der  Staatsanwalt,  der  die  Anklage 
wegen  Körperverletzung  erhoben  hatte,  die  Freisprechung,  die  auch  erfolgte. 
Dieser  Fall  lehrt,  welcher  Wert  unter  Umständen  einem  ärztlichen  Atteste 
beizulegen  ist. 

5.  Ein  Lehrer  in  Schleswig-Holstein  wurde  von  einem  Vater  wegen  an- 
geblicher Misshandlung  seines  Kindes  verklagt.  Die  Regierung  lehnte  den 
Competenzconflict  vorläufig  ab,  um  zunächst  das  Ergebnis  der  Verhandlung 
in  der  ersten  Instanz  abzuwarten.  Der  Verklagte  wurde  freigesprochen.  Da 
der  Kläger  aber  mit  Armutsattest  geklagt  hatte,  konnte  der  Lehrer  von  ihm 
Ersatz  seiner  Auslagen  nicht  erlangen.  Diese  ersetzte  ihm  die  Rechts- 
schutzkasse. 


Von  der  Weichsel.  Andrang  zum  Lehrerberufe.  Resultate  der 
zweiten  Prüfungen.  Petition  zur  Einführung  des  Litauischen  als 
Schulsprache. 

Der  Andrang  zum  Lehrerberufe  in  der  Provinz  Westpreußen  ist  jetzt 


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erheblich  schwächer  als  anfangs  der  achtziger  Jahre.  So  erschienen  zu  den 
Aufnahmeprüfungen  an  den  sechs  Seminaren  1881:  358  nnd  1882:  324  junge 
Leute.  Damals  war  die  Zahl  der  zum  Eintritt  ins  Seminar  reif  befundenen 
Präparanden  so  groß,  dass  nicht  alle  Bestandenen  Aufnahme  finden  konnten; 
1881  wurden  10  Procent  und  1882  sogar  18  Procent  derselben  zurück- 
gewiesen. In  den  folgenden  Jahren  verringerte  sich  die  Zahl  der  Präpa- 
randen stetig,  so  dass  bald  nur  der  jedesmalige  Bedarf  gedeckt  wurde.  Im 
Jahre  1888  dagegen  reichte  die  Zahl  der  Lehramtsaspiranten  nicht  mehr  aus; 
etwa  30  mussten  den  Seminaren  aus  anderen  Provinzen  zugewiesen  werden. 
Durch  diese  Abnahme  des  Andranges  zum  Lehrerberufe  sah  sich  die  Schul- 
behörde veranlasst,  zwei  neue  königliche  Praparanden-Anstalten,  zu  Schwetz  und 
zu  Deutsch-Krone,  zu  den  bereits  vorhandenen  zwei  einzurichten.  Dadurch  er- 
scheint der  Bedarf  an  Schulamtspräparanden  für  die  Seminare  zurZeit  gesichert. 
Im  Jahre  1891  haben  die  vier  staatlichen  Präparanden-Anstalten  denselben  zusam- 
men 97  junge  Leute  zugeführt.  Zu  den  Aufnahmeprüfungen  bei  den  Semi- 
naren fanden  sich  232  privatim  vorgebildete  Präparanden  ein  und  von  diesen 
wurden  127  aufgenommen.  Es  sind  also  im  ganzen  224  junge  Leute  im 
Jahre  1891  neu  in  die  Seminare  getreten,  welche  sich  auf  sechs  Haupteurse  und 
einen  Nebencursus  (zu  Marienburg)  vertheilen.  Dass  die  Vorbildung  derjenigen 
Aspiranten,  welche  keine  Präparanden- Anstalt  besucht  haben,  gegenwärtig  zu 
wünschen  übrig  lässt,  ersieht  man  daraus,  dass  von  den  232  Präparanden  nnr 
127  oder  55  Procent  aufnahmfähig  waren  und  in  Graudenz  von  25  nur  6, 
in  Berent  von  17  nur  6,  in  Marieburg  von  27  nur  12  und  in  Löbau  von 
30  nur  14  bestanden.  —  Bei  den  Aufnahmeprüfungen  an  den  4  königlichen 
Präparanden-Anstalten  trat  im  Jahre  1890  ein  Mangel  an  genügend  vor- 
gebildeten Präparanden  zutage.  Im  Jahre  1891  konnte  der  Bedarf  gerade 
gedeckt  werden.  Im  ganzen  stellten  sich  zur  Aufnahme  159  junge  Leute  und 
von  diesen  hatten  101  die  erforderlichen  Kenntnisse. 

Die  zweite  Lehrerprüfung  machten  in  Westpreußen  1891  im  ganzen 
194  Lehrer  gegen  219  im  Jahre  zuvor.  Von  ihnen  bestanden  144  und  er- 
langten das  Recht  zur  definitiven  Anstellung,  außerdem  wurden  sieben  Lehrern  die 
Lehrbefähigung  für  Unterclassen  von  Mittel-  und  höheren  Töchterschulen  zu- 
erkannt. 1890  fielen  bei  der  zweiten  Lehrerprüfung  26  Procent  der  geprüften 
Lehrer  durch,  1891  dagegen  25  Procent.  Demnach  haben  sich  die  Ergeb- 
nisse der  zweiten  Prüfung  etwas  gebessert,  stehen  aber  noch  immer  zurück 
hinter  denen  der  letzten  Jahre;  denn  es  bestanden  1890=  73,97  Procent,  1889 
=  75,74  Procent,  1888  =  82,63  Procent,  1887  =  77,77  Procent,  1886 
=  79,09  Procent  und  1885  =  80,9  Procent.  —  Die  Resultate  der  zweiten 
Prüfungen  an  den  katholischen  Seminaren  sind  erheblich  ungünstiger  als  an 
den  evangelischen;  denn  bei  den  3  evangelischen  Seminaren  bestanden  von  98 
Lehrern  81  oder  82,6  Procent  und  bei  den  3  katholischen  von  96  Lehrern 
nur  63  oder  65,6  Procent.  Der  Unterschied  beträgt  also  17  Procent.  Diese 
Erscheinung  tritt  übrigens  schon  länger,  seit  1885  zutage,  wie  folgende  Über- 
sicht zeigt.    Es  bestanden: 

A.  An  den  evangelischen  Seminaren:      B.  An  den  katholischen  Seminaren: 

1885  von  115  Lehrern  95  =  82,70  °'ü;  von  105  Lehrern  83=  79,10  °/o- 

1886  „   117       „    103  =  88,03  „  ;   „   103      „     71  =  68,90  „ 


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—    732  — 


1887  von  107  Lehrern  94  =  87,85  °/0;  von  100  Lehrern  67  =  67,00  °/o 


1888  n 

110 

„  96 

=  87,27  „  ; 

„  103 

„     80=77,67  „ 

1889  n 

105 

87 

-=  82,86  „  ; 

„  97 

„     66  =  67,83  „ 

1890  „ 

137 

*  no 

=  80,29  „  ; 

a  82 

n     52  =  63,41  „ 

1891  „ 

98 

n  81 

=  82,60  „  ; 

*  96 

i)     63  =  65,60  „ 

Eanm  waren  die  den  Polen  seitens  des  früheren  Cnltnsministers  gemachten 
Zugeständnisse  bezüglich  Anwendung  der  polnischen  Sprache  im  Unterricht 
bekannt  geworden,  als  auch  von  heißspornischen  Litauern  recht  eifrig  die  Werbe- 
trommel gerührt  wurde  zur  Sammlung  von  Unterschriften  für  eine  Petition,  die 
für  die  Litauer  nicht  nur  das  den  Polen  Zugestandene,  sondern  noch  bedeutend 
mehr  verlangt.  Die  Petition  ist  zustande  gekommen  und  hat  gegen  20000 
Unterschriften  gefunden.  Sollte  es  nach  den  Wünschen  der  Petition  gehen, 
so  würde  in  Ostpreußen  nicht  nur  das  mit  Mühe  Wurzel  fassende  Deutsch- 
thum aus  den  ganz  litauischen,  sondern  auch  das  Deutsche  ans  den  gemischt- 
sprachigen Gegenden  verschwinden.  Freilich  ist  zwischen  Wunsch  und  Er- 
füllung eine  weite  Kluft,  und  es  ist  wol  kaum  zu  erwarten,  dass  irgend  eine 
preußische  Unterrichts  Verwaltung  sich  dazu  hergeben  wird,  das  Litauische  in 
dem  gewünschten  Umfang  in  den  Volksschulen  zu  gestatten  und  so  die  in  allen 
Kreisen  erfreulich  fortschreitende  Verdeutschung  aufzuheben.  Die  Litauer  ver- 
langen nicht  nur  den  bereits  gestatteten  Religionsunterricht  in  der  Mutter- 
sprache, sondern  auch  litauischen  Unterricht  in  sämmtlichen  Fächern,  und  zur 
Bemäntelung  ihrer  kaum  zu  begründenden  Forderung  zwar  auch  deutschen 
Unterricht,  doch  so,  dass  beispielsweise  die  deutschen  Lesestücke  in  litauischer 
Sprache  erklärt  werden,  d.  h.  mit  anderen  Worten:  Auch  die  in  der  Schule 
befindlichen  deutschen  Kinder  sollen  litauisch  lernen  und  litauisch  werden. 
Wer  sind  denn  nun  die  Leute,  die  so  die  Wiedereinführung  des  Litauischen 
erstreben?  Eltern,  die  ihre  Kinder  zur  Schule  schicken?  Nur  zum  kleinen 
Theil.  In  der  Regel  sind  es  solche  Leute,  die  keine  Kinder  haben  oder  deren 
Kinder  bereits  der  Schule  entwachsen  Bind.  Die  Litauer  wissen  sehr  wol  den 
Wert  der  deutschen  Bildung  für  ihre  Kinder  zu  würdigen.  Wolhabende  Li- 
tauer in  großer  Zahl  schicken  Söhne  und  Töchter  auf  höhere  städtische  Schulen 
und  dann  die  ersteren  auf  Universitäten,  wo  das  Litauische  von  Amts  wegen 
nirgends  gelehrt  wird.  Dass  solche  Leute  ihre  Muttersprache  nicht  lieben, 
soll  damit  nicht  gesagt  werden.  Im  Gegentheil,  gerade  diese  einflussreichen 
Litauer  sind,  wenn  ihre  Kinder  erst  der  Schule  entwachsen  sind,  die  eifrigsten 
Verfechter  des  Litauerthums.  Und  so  begegnet  man  auch  unter  den  Unter- 
schriften der  Petition  nicht  wenigen  Namen,  deren  Träger  erst  eifrige  Ver- 
fechter des  Litauischen  als  Schulsprache  geworden  sind,  nachdem  ihre  Kinder 
bereits  der  Schule  entwachsen  waren.  Andere  der  Petenten  würden,  wenn 
sie  den  wirklichen  Zweck  der  Petition  in  seiner  ganzen  Tragweite  kennen 
möchten,  sich  wol  hüten,  unter  ein  solches  Schriftstück,  das  aufs  neue  von 
der  Großmannssucht  der  Litauer  Zeugnis  ablegt,  ihren  Namen  zu  setzen. 


XI.  Congress  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  zu  Frank- 
furt a.  M.  Nach  einer  Begrüßungssitzung  am  Abend  des  10.  Juni  fand  am 
11.  Juni  zunächst  eine  Versammlung  der  Werkstattlehrer  und  -Leiter  und  eine 
Sitzung  des  Gesammtausschusses  statt,  worauf  Herr  v.  Schenkendorff -Görlitz, 


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—    733  — 


- 

da  der  1.  Vorsitzende  A.  Lammers-Bremen  erkrankt  ist,  die  6.  Hauptver- 
sammlung des  Deutschen  Vereins  für  erziehliche  Knabenhandarbeit  eröffnete. 
Das  Wort  nimmt  alsdann  Herr  Dr.  Götze -Leipzig1,  der  Direktor  der  Lehrer- 
bildungsanstalt des  Vereins,  zu  seinem  Vortrage:  „Soll  die  Knabenhandarbeit 
vornehmlich  in  den  Dienst  der  Erziehung,  oder  des  Schulunterrichtes  gestellt 
werden?"  Die  Freunde  der  Handarbeit,  so  führt  Dr.  Götze  aus,  spalten  sich 
in  zwei  Richtungen.  Die  einen  verlangen  einen  Unterricht,  der  einen  selbstän- 
digen, durch  die  technischen  Schwierigkeiten  bestimmten  methodischen  Gang 
einhält;  der  Hauptvertreter  dieser  ist  Lehrer  Groppler-Berlin.  Die  anderen 
wollen  einen  Unterricht,  der  im  engsten  Zusammenhang  mit  den  übrigen  Fächern, 
besonders  mit  Raumlehre  und  Zeichnen  ertheilt  wird.  Dieser  Standpunkt  wird 
neuerdings  mit  besonderem  Geschick  von  Schulinspector  Scherer-Worms  ver- 
treten. Redner  hat  auf  Grund  seiner  praktischen  Erfahrung  die  Überzeugung 
gewonnen,  dass  sich  beide  Anschauungen  gegenseitig  ergänzen  und  korriglren 
und  darum  zu  verbinden  sind.  Rein  theoretisch  betrachtet  hat  der  Schulhand- 
arbeitsunterricht vieles  für  sich,  er  entspricht  völlig  den  psychologischen  Ge- 
setzen und  will  thatsächlich  das  Wissen  in  Können  überfuhren,  die  Begriffe 
verkörpern.  Allein,  solange  der  Schüler  nicht  die  Elemente  der  Technik  be- 
herrscht, iat  er  undurchführbar.  Deshalb  muss  der  Gang  der  Handarbeit  durch 
die  Technik  und  nicht  durch  den  Unterricht  bestimmt  werden,  die  Gegenstände 
aber  mögen  dem  Unterricht  entnommen  werden.  Doch  ist  auch  hierbei  nicht 
zu  vergessen,  dass  das  Wertvolle  nicht  das  Produkt  der  Arbeit,  sondern  die 
darauf  verwandte  Thatigkeit  ist.  So  wird  die  Durchführung  des  Schulhand- 
arbeit8unterrichts  erst  durch  den  reinen  Arbeitsunterricht  ermöglicht  und  wir 
entgehen  der  bei  der  Schülerwerkstatt  naheliegenden  Gefahr,  in  technische 
Einseitigkeiten  und  handwerksmäßiges  Thun  zu  verfallen.  —  An  den  Vortrag 
knüpfte  sich  eine  ziemlich  lange  Debatte,  die  an  dem  großen  Fehler  litt,  dass 
sie  sich  in  Sachen  verlor,  die  mit  dem  Vortrag  gar  nichts  zu  thun  haben.  Ich 
hebe  daraus  nur  hervor,  dass  Groppler  seine  volle  Übereinstimmung  mit  dem 
Redner  feststellte  und  Scherer  ausführlichere  Mittheilungen  über  seine  Versuche 
in  den  Wormser  Schulen  machte,  die  auf  den  theoretischen  Darlegungen  des 
Prof.  Kumpa- Darmstadt  beruhen  und  keine  besonderen  Werkstätten  erfordern. 
Nach  Scherers  Überzeugung  lassen  sie  schon  jetzt  auf  gute  Erfolge  hoffen. 
Scherer  versteht  auch  nicht,  dass  der  Verein  sich  mit  der  Forderung  eines  wahl- 
freien Unterrichts  begnügt,  da  er  dem  Unterrichte  eine  so  große  Bedeutung 
beilegt,  und  meint,  der  Schwerpunkt  der  Bewegung  müsse  sich  auf  die  Gestal- 
tung des  Lehrlingswesens  richten.  Folgender  Satz,  vom  Stadtschulrath 
Pfundtner- Breslau  beantragt,  wird  mit  einem  Zusatz  von  Groppler  ange- 
nommen: „Die  Knabenhandarbeit  soll  in  erster  Linie  in  den  Dienst  der  allge- 
meinen Erziehung,  aber  auch  in  den  Dienst  der  Schule  gestellt  werden.  Für 
die  gegenwärtige  Entwickelung  der  Sache  ist  die  Thätigkeit  der  Schnlerwerk- 
Stätten  neben  der  Schule  nothwendig;  jeder  Versuch  aber,  den  Arbeitsunterricht 
bereits  jetzt  mit  der  Schule  zu  verbinden,  ist  mit  Freude  zu  begrüßen."  — 
Den  zweiten  Vortrag  hielt  Stadtschulrath  Dr.  Rohmeder-München:  „Wer 
soll  den  erziehlichen  Handarbeitsunterricht  leiten,  der  Handwerksmeister  oder 
der  Lehrer?  Redner  fasste  seine  Ausführungen  in  folgenden  Sätzen  zusammen: 
„Der  Unterricht  in  der  Knabenhandarbeit  verfolgt  vor  allem  erziehliche  Zwecke, 
obgleich  die  Ergebnisse  desselben  mittelbar  dem  praktischen  Leben  zugute 

Pädagogium.    14.  Jalirg.   Heft  XI.  51 


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kommen.  System  und  Methode  dieses  Unterrichts  müssen  deshalb  nach  päda- 
gogischen Gesichtspunkten  ausgebildet  werden.  Dann  wird  die  Handarbeit  zu 
einem  wertvollen,  zeitgemäßen  Erziehungsmittel  der  Schule  werden.  Hieraus 
ergibt  sich,  dass  die  unmittelbare  Leitung  des  Handarbeitsunterrichts  dem 
berufsmäßigen  Erzieher,  d.  i.  dem  Lehrer,  zukommt.  Die  unterstützende  und 
berathende  Mitwirkung  der  Vertreter  des  Gewerbes  —  je  nach  den  besonderen 
Örtlichen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  —  wird  seitens  der  Schule  dankbar 
begrüßt.4*  Diese  Sätze  wurden  en  bloc  angenommen.  —  Aus  dem  Kassenbericht 
des  Schatzmeisters  Dir.  Nöggerath-Hirschberg  ergab  sich  die  Nothwenidgkeit 
die  Mitgliederbeiträge  etwas  zu  erhöhen,  da  ein  kleiner  Fehlbetrag  entstanden 
ist.   Gegen  2  Uhr  wurde  der  Vereinstag  geschlossen. 

Deröffentliche  Congress,  der  die  weiteren  Kreise  für  die  Vereinsbestrebungen 
erwärmen  soll,  wurde  am  12.  Jnni  um  11  Uhr  durch  einen  Männerchor  eingeleitet 
und  durch  v.  Schenkendorff  mit  einem  Berichte  über  die  Fortschritte  der 
Bewegung  in  den  beiden  letzten  Jahren  eröffnet.  Nach  einer  wahrscheinlich 
unvollkommenen  Statistik  bestehen  im  deutschen  Reiche  253  Schülerwerk6tätten; 
davon  entfallen  auf  Preußen  143,  auf  Sachsen  53,  auf  Bayern  15,  auf  Sachsen- 
Weimar  9,  auf  Württemberg,  Bremen  und  Elsass-Lothringen  je  6.  Im  Namen 
ihrer  Schulbehörden  begrüßen  den  Congress:  Geh.  Reg.  Rath  Brand i-Berlin. 
Oberschulrath  Wall  raff- Karlsruhe,  Geh.  Oberschulrath  G  reim- Darmstadt 
(„Wo  die  Fahne  des  Fortschritts  entrollt  wird,  da  werden  wir  Hessen  nicht 
zurückbleiben"),  Reg.  u.  Schulrath  Dr.  Schlemmer- Straßburg.  Vom  Auslande 
waren  officiell  vertreten  die  Erziehungsdirektion  Basel-Stadt,  das  Luxemburgische 
und  das  Belgische  Ministerium.  Herr  v.  Schenkendorff  legte  dann  in  einem 
mit  großem  Beifalle  aufgenommenen  Vortrag  „Über  die  sociale  Frage  und  die 
Erziehung  zur  Arbeit  in  Jugend  und  Volk"  die  ideellen  Ziele  der  Handfertig- 
keiubewegnng  und  ihre  Berechtigung  dar.  Die  Gedächtnisrede  auf  Comenius 
musste  ausfallen,  da  der  Redner  R.  Rissmann  leider  durch  Krankheit  zn 
erscheinen  verhindert  war.  Der  Name  des  Redners  hatte  gerade  zahlreiche 
Lehrer  herbeigezogen.   Schluss  gegen  1  Uhr. 

Mit  dem  Congress  war  eine  sehr  umfangreiche  Ausstellung  von  Schüler- 
arbeiten verbunden.  Sind  auch  die  einzelnen  Arbeiten  von  ungleichem  Werte, 
weil  das  Alter  der  Schüler  zwischen  10  und  17  Jahren  und  ihre  Betheiligung 
an  der  Arbeit  zwischen  1  und  5  Jahren  schwankt,  so  sind  es  doch  ohne  Aus- 
nahme durchaus  anerkennenswerte  Leistungen,  einzelne  Anstalten  haben 
geradezu  hervorragende  Arbeiten  ausgestellt. 


Aus  Bayern.  Das  IX.  Heft  des  „  Pädagogium"  ist  mir  sehr  verspätet,  erst 
vor  einigen  Tagen  zugekommen,  ich  musste  dasselbe  reclamiren.  Dort  findet 
sich  auf  Seite  591—593  eine  Correspondenz  „Aus  Bayern",  die  zu  einer  ein- 
gehenden Erwiderung  und  Richtigstellung  verschiedener  Mittheilungen  und  Re- 
flexionen geradezu  herausfordert.  Wollte  ich  die  eingreifenden  Fragen  zusammen- 
fassen und  sie  etwa  unter  dem  gemeinsamen  Thema  „Schule,  Lebrerstand  und 
Lehreraufbesserung  in  der  bayrischen  Abgeordnetenkammer M  so  behandeln,  dass 
auch  Nichtbayern  eine  klare  Einsicht  erschlossen  werde,  so  würde  hieraus  ein 
förmlicher  Aufsatz  werden,  wozu  mir  augenblicklich  die  nöthige  Zeit  nicht  zur 
Verfügung  steht,  weshalb  ich  mich  auf  einige  Bemerkungen  beschränke. 

Die  pädagogische  Journalistik  hat  bislang  das  Princip,  oline  es  förmlich 


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-    735  — 


verkündet  und  ihren  Vertretern  zur  Pflicht  gemacht  zu  haben,  sogenannte 
Stimmungs-  and  Umschauberichte  aas  dem  Gesichtspunkte  allseitiger  Würdigung 
aller  einschlägigen  Verhältnisse  heraas  entstehen  za  lassen,  hochgehalten  und 
sich  hierdurch  von  der  oft  tendenziösen  Mache  der  politischen  Presse  sehr 
vorteilhaft  ausgezeichnet.  Wenn  bayrische  Lehrer  den  angezogenen  Corre- 
spondenzartikel  im  „Pädagogium"  vorurtheiLslos  lesen  —  und  das  thuu  sie  — , 
so  wird  jeder  sagen,  dass  die  Mittheilungen  auf  S.  592  Abs.  3  nicht  mehr 
sachlich  gegeben  sind.  Waren  dem  Berichterstatter  des  „Pädagogium"  die 
Verhaltnisse  des  Bayrischen  Volksschullehrervereins  und  die  Vorgänge  in  der 
bayrischen  Abgeordnetenkammer  bekannt,  dann  konnte  er  nicht  so  schreiben, 
wie  hier  zu  lesen  ist;  waren  ihm  die  Dinge  unbekannt,  dann  sollte  er  über- 
haupt über  die  fragliche  Sache  nicht  schreiben,  und  die  Leser  des  „Psedagogium" 
wären  nicht  zu  kurz  gekommen,  wenn  er  die  Feder  nicht  eingetaucht  hätte. 
Nachdem  letzteres  aber  geschehen  und  der  Federschnabel  bis  auf  den  Grund 
des  Tintenfasses  gestossen  worden  ist,  so  gebietet  schon  die  Rücksichtnahme 
auf  den  Bayrischen  Lehrerverein,  dessen  Vorstand  zu  sein  ich  die  Ehre  habe, 
dann  aber  auch  diejenige  auf  meine  Freunde  in  deutschen  Landen,  des  Corre- 
spondenten  Artikel  an  jener  Stelle,  die  sich  mit  dem  genannten  Vereine,  der 
„Bayrischen  Lehrerzeitung  "  und  meiner  Person  befasst,  zu  berichtigen. 

Das  „Psedagogium"  ist  nicht  der  Ort,  wo  über  innere  Verhältnisse  des 
Bayrischen  Volksschullehrervereins  von  mir,  dem  Vorstande  dieses  Vereins, 
gesprochen  werden  konnte.  Nur  so  viel  sei  bemerkt,  dass  unser  Verein,  wie 
wol  alle  Lehrervereine,  sich  mit  Politik  nicht  befasst;  sein  Ziel  ist:  Förderung 
des  Volkschulwesens  und  Kräftigung  des  Lehrerstandes.  Unter  dieser  Fahne 
konnten  und  haben  sich  nahezu  alle  Lehrer  Bayerns  zusammengeschart.  Wie 
wir  keines  unserer  Hitglieder  nach  seiner  Confession  fragen,  so  auch  nicht  nach 
seinem  politischen  Glaubensbekenntnisse.  Die  Folge  ist  die,  dass  in  unserm 
Vereine  Männer  der  verschiedenen  Confessionen  und  der  verschiedensten  poli- 
tischen Richtungen  anzutreffen  sind.  Es  ist  wol  eine  ausgemachte  Sache,  dass 
der  Vorstand  eines  solchen  Vereins  in  allen  jenen  Handlungen,  wo  er  als 
solcher  auftritt  und  betrachtet  wird,  auf  diese  Verhältnisse  Rücksicht  zu 
nehmen  und  sich  häufig  da  Reserve  aufzuerlegen  hat,  wo  jedes  andere  Vereins- 
mitglied seiner  Meinung  gemäss  „  frisch  von  der  Leber"  sprechen  kann. 

Den  „Vorstand  des  Bayrischen  Lehrervereins"  konnte  ich  auch  als  Ab- 
geordneter des  bayrischen  Landtags  nicht  zu  Hause  lassen,  sorgten  doch  die 
politischen  Gegner  dafür,  dass  mehr  der  erstere  als  letzterer  in  den  um- 
fangreichen Schuldebatten  des  jüngsten  bayrischen  Landtages  aufgerufen  wurde. 
Mit  mir  werden,  was  ohne  Übertreibung  gesagt  werden  darf,  viele  tausende 
von  bayrischen  Amtsbrüdern  und  viele  politische  Freunde  und  Feinde  gefühlt 
haben,  wie  schwierig  meine  Stellung  in  der  bayrischen  Abgeordnetenkammer 
war.  Davon  und  dass  die  Ultramontanen  im  bayrischen  Landtage  die  Majo- 
rität bilden,  scheint  der  Correspondent  des  „Ptedagogium"  keine  Vorstellung 
und  keine  Kenntnis  gehabt  zu  haben,  als  er  Folgendes  schrieb:  „Der  Abgeord- 
nete Schubert  aber  hat  nach  meinem  Glauben  nicht  die  glänzendste  Rolle 
gespielt;  er  hielt  ein  paar  schönstilisirte  Reden  und  befolgte  im  übrigen 
die  Taktik  unserer  Kammerliberalen:  Das  Centrum  durch  keine  Principienfrage 
zu  reizen  —  so  trefflich,  dass  er  schliesslich  selbst  mit  in  die  Verurtheilung 
der  Lehrerzeitung,  des  Vereinsorgans,  einstimmte,  indem  er  sich  so  oft  und 

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nicht  stets  erforderlicherweise  zum  Worte  meldete."  Den  letzen  Theil  dieses 
Satzes  verstehe  ich  nicht;  im  übrigen  findet  die  Erwartung  Ausdruck,  dass  ich  das 
„Centrum"  hätte  „reizen14  sollen.  Für  mich,  der  ich  das  erstemal  einer  par- 
lamentarischen Körperschaft  angehörte,  lag  keine  Nöthigung  vor,  den  politi- 
schen Gegner  zu  „reizen".  Als  dieser  aber  auf  dem  Plane  erschien  und  das 
Gefecht  eröffnete,  war  ich  auch  da  und  vertheidigte  Schule,  Lehrerstand  und 
den  Bayerischen  Schullehrerverein.  Nicht  um  zu  „reizen",  ergriff  ich  „so  oft" 
das  Wort,  sondern  Angriffe  abzuweisen  und  Aufklärung  zu  verbreiten.  Die 
Art  und  Weise,  wie  das  geschah,  war  zwar  nicht  nach  dem  Geschmacke  des 
Correspondenten  des  •  „Psedagoginm",  wird  aber  von  dem  vorurtheilslos  Prü- 
fenden als  der  Ausfiuss  der  Erwägung  unserer  Vereins-  und  anderer  Verhält- 
nisse erkannt  und  gewürdigt  Die  Behauptung,  dass  ich  „schließlich  mit  in  die 
Verurtheilung  der  Lehrerzeitung,  des  Vereinsorgans,  eingestimmt44  habe,  ist 
eine  starke  Unverfrorenheit.  In  einem  nichtbayrischen  pädagogischen  Blatte 
werde  ich  niemals  Vereinsangelegenheiten,  am  allerwenigsten  tiefer  liegende, 
analysiren.  Der  Correspondent  würde  von  seinem  „Glauben"  nicht  bekehrt, 
auch  wenn  der  Redakteur  unseres  Vereinsorgans  hier  Zeugnis  ablegen  wurde. 
Die  mit  der  nächstjährigen  Hauptversammlung  verbundene  Delegirtenver- 
sammlung  des  bayrischen  Lehrervereins  ist  der  Ort,  wo  Uber  alle  Vereins- 
angelegenheiten mehr  gesprochen,  als  hier  geschrieben  werden  kann.  Dort 
zu  erscheinen  zur  Rede  und  Gegenrede,  möchte  ich  heute  schon  den  Corre- 
spondenten des  „Paedagogium"  einladen.  Dann  wird  er  möglicherweise  auch 
einsehen  lernen,  dass  der  „Abgeordnete  Schubert44  weder  „de-  noch  wehmüthig" 
war,  wenn  er  nicht  alle  Presserzeugnisse  in  Sache  der  Lehreraufbesserung 
in  Schutz  nahm.  Ein  Vereinsvorstand  wird  aber,  wenn  jeder,  auch  der 
albernste  Zeitungsartikel  dem  ganzen  Vereine  aufgemutzt  werden  will,  berechtigt 
sein,  den  Verein  gegen  solches  Unterfangen  frei  zu  halten.  Würde  der  „Glaube" 
des  Correspondenten  sich  mit  der  Ansicht  des  ganzen  bayrischen  Lehrer- 
vereins decken,  dann  wäre  dem  Vorstande  die  nächste  Aufgabe  gezeigt;  da 
jedoch  in  genanntem  Vereine  die  Ansicht  die  herrschende  ist,  dass  die  Prin- 
eipien  desselben  durch  die  Abgeordnetenthätigkeit  des  Vorstandes  nicht  verletzt 
worden  sind,  wird  letzterer  auf  dem  Wege  beharren,  den  er  für  Schule  und 
Lehrer  als  gut  befunden  hat.  Sollte  der  mehrfach  angezogene  Artikel  zu  dem 
Zwecke  veröffentlicht  worden  sein,  mich  dem  deutschen  Lehrerstande  als  finste- 
ren Reaktionär  anzuzeigen,  so  muss  ich  meine  Zufriedenheit  in  meiner  unver- 
änderten Überzeugung  suchen  und  finden  und  mich  damit  trösten,  dass  es  un- 
möglich ist,  es  allen  Leuten  recht  zu  machen.  Für  meinen  Gegner  im  „Pseda- 
gogium" empfinde  ich  den  aufrichtigen  Wunsch,  dass  er  zur  Zeit  der  Schul- 
debatten nur  einen  Tag  meine  Stellung  in  der  bayrischen  Abgeordneten- 
kammer eingenommen  haben  möchte. 

Schließlich  mögen  die  Leser  des  „Pädagogium"  mir  freundlich  verzeihen, 
dass  die  Erwiderung  länger  geworden  ist,  als  beabsichtigt  war,  und  dass  ich 
zu  viel  in  der  ersten  Person  gesprochen  habe.  Das  klingt  freilich  nicht  schön, 
allein  ea  gibt  Fälle,  wo  beides,  die  Länge  und  das  „Ich",  nicht  vermieden 
werden  kann;  ein  solcher  Fall  liegt  in  dem  IX.  Heft  des  „Pcedagogium"  vor. 
Augsburg,  4.  Juli  1892.  J.  B.  Schubert 

P.  S.  Dass  „eine  Anzahl  bayrischer  Städte  beschloss,  dem  Lehrer  in 
der  Schulcommission  nicht  nur  eine  berathende,  sondern  auch  eine  beschließende 


—  737 


Stimme  zuzugestehen",  ist  auf  Veranlassung  des  bayrischen  Staateministeriums 
des  Innern  für  Kirchen-  und  Schulangelegenheiten  geschehen  und  kann  als 
Erfolg  des  Hauptausschusses  des  bayrischen  Lehrervereins  bezeichnet  werden. 


Aufruf.  Anfang  September  a.  c.  tagt  in  Berlin  die  VII.  Konferenz 
für  das  Idioten wesen.  —  Ich  beabsichtige,  bis  dahin  eine  Statistik  über 
die  in  Deutschland,  der  Schweiz  und  Osterreich  bestehenden  Schulen  für 
schwachsinnige,  schwachbefahigte  Kinder  (Hilfsschulen,  Hilfsklassen,  Nach- 
bilfeklassen)  aufzustellen.  Die  werten  Collegen,  welche  an  solchen  Schulen 
arbeiten,  bitte  ich,  mir  das  Material  für  diese  Statistik  gütigst  zukommen  zu 
lassen.  —  Namentlich  kommt  es  auf  Beantwortung  folgender  Fragen  an:  Seit 
wann  besteht  die  betr.  Einrichtung  und  unter  welchem  Namen?  Wie  viel 
Klassen?  Wie  viel  Lehrer?  Oberleitung?  Erhalten  die  betr.  Lehrer  persönliche 
Zulage  und  in  welcher  Höhe?  Unterrichtslocai  (ob  in  eigenem  Gebäude)? 
Unterrichtsfächer  und  wöchentliche  Stundenzahl  derselben?  Anzahl  der  Schüler? 
Auch  Blödsinnige,  Epileptische,  Verwahrloste?  Ist  eine  Anstalt  in  der  Nähe 
der  Stadt?  Wohin  kommen  die  ganz  Blödsinnigen,  die  epileptischen  Kinder 
der  Stadt,  des  Bezirkes?  In  welchen  Städten  wird  die  Errichtung  einer  Hilfs- 
schule geplant?  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Je  ausführlicher  die  Mittheilungen,  welche  ich  mir  bis  zum  20.  August 
erbitte^  sind,  um  so  zweckentsprechender  können  sie  verwertet  werden.  Die 
Statistik  wird  von  mir  in  der  „Zeitschrift  für  die  Behandlung  Schwachsinniger 
und  Epileptischer"  (Dresden)  veröffentlicht  werden. 

Die  pädagogische  Presse  wird  im  Interesse  der  Sache  um  Abdruck  dieses 
Aufrufes  höflichst  gebeten. 

Gera,  Reuß  j.  L.,  den  30./6.  1892.  M.  Weniger, 

Agnes-Str.  45.  Lehrer  für  schwachsinnige  Kinder. 


Fortschritte  in  Bosnien  und  der  Herzegowina.  Kaiser  Franz 
Josef  hat  an  Herrn  von  Kailay  zur  zehnten  Jahreswende  seiner  Betrauung  mit 
der  obersten  Leitung  der  bosnisch-herzegowinischen  Angelegenheiten  am  4.  Juni 
ein  Telegramm  abgesendet,  in  welchem  die  Anerkennung  für  dessen  zehnjähriges 
Wirken  ausgesprochen  wird.  Es  dürften  —  im  Anschluss  hieran  —  für  die 
Entwickelung  von  Bosnien  und  der  Herzegowina  in  dieser  Epoche  folgende 
«iffermäßige  Angaben  sprechen:  Die  Bevölkerung  der  occupirten  Provinzen 
hat  sich  seit  dem  Jahre  1885  durchschnittlich  um  1,09%  im  Jahre  und  im 
ganzen  um  102085  Personen  vermehrt.  Diese  Thatsaehe  zeigt,  wie  wenig 
von  den  zeitweise  auftauchenden  Meldungen  über  eine  Massenauswanderung 
aus  Bosnien  und  der  Herzegowina  zu  halten  ist.  Im  Jahre  1882  bestanden 
42  Schulen  mit  3344  Schülern,  im  Jahre  1892  137  Schulen  mit  11273 
Schülern,  zu  welchen  noch  87  confessionelle  Schulen  mit  6100  Schülern  und 
4  Privatschulen  mit  187  Schülern  hinzukommen.  Überdies  wurden  in  diesem 
Zeiträume  errichtet:  ein  Obergymnasium  mit  251  Schülern,  9  Handelsschulen 
mit  435  Schülern  und  eine  technische  Mittelschule  mit  56  Schülern.  Mit  diesen 
halbamtlichen  Mittheilungen  vergleiche  man  den  Originalbericht  im  „Peedag." 
(Märzheft  d.  J.). 


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—    738  — 


Ans  Bulgarien.  In  dem  vielangefochtenen  Bulgarien  macht  sich  ein 
erfreulicher  Aufschwung  im  Schulwesen  bemerkbar,  wie  dies  aus  einer  vor 
kurzer  Zeit  veröffentlichten  Statistik  des  Unterrichtsministeriums  ersichtlich  ist. 
Im  letzten  Schuljahre  1890/91  zählte  Bulgarien  im  ganzen  4193  Schulen  gegen 
3844  in  dem  Jahre  1888/89.  Unter  diesen  Schulen  sind  2747  bulgarische, 
1327  türkische,  46  griechische,  39  israelitische,  11  armenische,  11  katholische, 
11  protestantische  und  1  rumänische.  Diese  Anstalten  wurden  besacht  von 
269  314  Schülern  gegen  172183  im  Jahre  1888/89;  davon  fallen  196779 
Schüler  auf  die  bulgarischen,  61  510  auf  die  türkischen,  4681  auf  die  griechi- 
schen, 2924  auf  die  jüdischen,  1378  auf  die  katholischen,  623  die  armenischen, 
266  auf  die  protestantischen  und  85  auf  die  rumänischen  Schulen. 


Aus  der  Fachpresse. 

562.  Der  Begriff  des  Oemüthes  (zur  Preisbewerbung,  Deutsche 
Schulpr.  1892,  15).  „Keine  andere  Sprache  der  Welt  hat  ein  Wort,  mit  dem 
sie  alles  das  auszudrücken  vermag,  was  die  deutsche  Sprache  unter  Gemüth 
versteht  oder  Verstanden  hat."  —  Das  Wesentliche  aus  der  Geschichte  des 
Wortes.  „Wir  verstehen  jetzt  unter  Gemüth  vorzugsweise  die  Gesammtheit 
der  einzelnen  Seelenstimmungen."  —  Der  Begriff  bei  Philosophen  und  Psycho- 
logen. (Kant:  Gleichsetzung  desGemüthes  mit  der  Seele;  ähnlich  Hegel,  Fichte. 
Bei  Schelling  und  den  Naturphilosophen:  Gemüth  =  Quelle  und  Wurzel  alles 
Geisteslebens,  das  eigentlich  Ifenschliche  im  Menschen.  In  der  Herbart'scben 
Schule  untergeordnete  Rolle  [Hauptrolle  dem  Vorstellen  zugetheilt]:  „die  Seele 
ist  Gemüth,  sofern  sie  fühlt  und  begehrt."  Ed.  v.  Hartmann:  Gemüth  =  der 
unbewusste  Grund  des  Gefühls,  der  ihm  die  Stetigkeit  verbürgt)  —  Nach  dem 
Psychiatriker  L.  Wille  (Basel)  sind  die  Bedingungen  für  die  Entwicklung  des 
Gemüths:  ein  empfindungsfiihiger  Organismns  —  Art  und  Weise  seiner  Reac- 
tionen  und  Reize  (angeborene,  wol  auch  anererbte  Elemente  des  Gemüths)  — 
Entstehung  von  Gefühlen  und  Vorstellungen  —  deren  Haften  innerhalb  des 
Bewusstseins  und  fortwährende  Bewegung  infolge  äußerer  und  innerer  Reize 
—  Erregung  zahlreicher  und  mannigfaltiger  Nervencentren  auf  Grund  der  leb- 
haften Gefühlsvorgänge.  Wesen:  G.  nur  eine  weitere  Entwicklungsform  psy- 
chischer, von  organischen  Vorgängen  abhängiger  Elementarerscheinnngen 
(Spencer)  —  G.  die  Art  und  Weise,  in  der  unser  Bewusstsein  in  Bezug  auf 
Beinen  Inhalt  an  Gefühlen  und  Vorstellungen  auf  Reize  zurückwirkt.  „Dieses 
Gemüth  ist  es,  das  als  Grundlage  des  individuellen  Seelenlebens,  wie  der  Volks- 
seele —  sei's  im  engen  Rahmen  des  häuslichen  und  Familienlebens,  sei's  im 
Öffentlichen  und  staatlichen  Leben  —  in  Kunst  und  Poesie  wie  in  Religion 
und  Politik  die  edelsten  Früchte  treibt,  aber  auch  zu  den  erschütterndsten 
Ereignissen  drängt.1' 

563.  Kranke  Kinder  (Ed.  8.,  Schule  und  Haus*)  1892,  V).  Ein  „zeit- 
gemäßes", und  von  der  Echtheit  des  „Schulmannes",  der  es  ausspricht,  zeu- 
gendes Wort:  „Es  kann  nicht  oft  und  eindringlich  genug  gepredigt  werden, 
dass  die  körperliche  Erziehung  der  Kinder  die  Sorge  der  Eltern  in  erster  Reihe 
in  Anspruch  nehmen  muss,  und  dass  die  Rücksicht  auf  das  körperliche  Wol 


*)  Einzelheit  40  Pfg. 


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—    739  — 


der  Kinder  höher  steht  als  die  Rücksicht  auf  deren  geistige  Entwicklung-. 
Denn  was  in  Hinsicht  auf  die  gedeihliche  leibliche  Heranbildung  des  Kindes 
unterlassen  wird,  ist  später  uneinbringlich,  und  ein  kranker  Mensch  ist  ein 
unglücklicher  Mensch,  er  mag  an  Wissen  und  Gelehrsamkeit  alle  in  den  Schatten 
stellen.  Etwaige  Mängel  in  der  geistigen  Ausbildung  der  Kinder  aber  lassen 
sich  später  fast  immer  ausgleichen/ 

564.  Beurtheilung  und  Behandlung  symptomatischer  Fehler 
oder  Unarten  (G.  A.  Kretschmar,  Cornelia*)  1892,  II).  Erklärung:  Fehler 
oder  Unarten,  die  sehr  verschiedene  moralische  Ursachen  haben  können,  daher 
jeder  einzelne  Fall  auf  seine  Ursache  hin  untersucht  und  nur  mit  besonderer 
Vorsicht  bestraft  werden  muss.  —  Erörtert  werden  Diebstahl,  Unaufmerksam- 
keit, Neigung  zu  Neckereien,  Streitsucht,  Unbändigkeit,  Widersetzlichkeit. 
Falsche  Beurtheilung  und  Behandlung  hauptsachlich  deshalb,  weil  man  beim 
Kinde  dieselbe  „gleichmäßige  moralische41  Einsicht  voraussetzt,  wie  sie  der 
sittlich  gebildete  Erwachsene  hat.  —  Gute  Winke  für  das  erzieherische  Ein- 
schreiten in  Diebstahlßfällen  und  bei  Neck-,  Streit-,  Lärmlust. 

565.  Begründung  der  sechs  psychologischen  Stufen  des  Unter- 
richts (Allg.  deutsche  Lehrerz.  1892,  4**).  Die  sechs  (von  den  bekannten 
Ziller'schen  nicht  unwesentlich  abweichenden)  Stufen:  I.  Betätigung  der  Sinne 
a)  ohne,  b)  mit  Hilfe  des  Lehrers  („selbstatändiges  Sehen,  Hören,  Sprechen, 
Hantiren  der  Kinder";  erst  wenn  sie  nichts  mehr  vorzubringen  wissen,  „macht 
der  Lehrer  nach  einem  gewissen  Plane  noch  auf  das  aufmerksam,  was  den 
ungeübten  Sinnen  entging").  II.  Ordnen  des  Stoffes  zur  Vorstellung  („der 
Lehrer  übernimmt  die  Führung  und  stellt  eine  Reihe  Kernfragen  nach  be- 
stimmten Gesichtspunkten"),  m.  Sicherung  des  gewonnenen  Stoffes  durch 
zusammenhängende  Wiedergabe  und  Begründung  desselben.  IV.  Verknüpfung 
mit  Ähnlichem  („das  Kind  hat  nun  eine  klare  Vorstellung  des  neuen  Gegen- 
standes"). V.  Ableitung  des  Begriffes,  des  Gesetzes  oder  Grundgedankens. 
VI.  Verwertung  des  Gegenstandes  im  menschlichen  Leben,  und  zwar  in  Bezug 
auf  Nutzen  oder  Schaden,  auf  Poesie,  Sittlichkeit,  Religion.  —  Begründung 
einfach  und  sicher. 

566.  Über  Stil  im  Unterricht  und  Leben  (K.  Wehrmann,  Zeitschr. 
f.  d.  deutsch.  Unt.  1892,  I).  Man  soll  fremden  Stil  nicht  nachahmen.  Immer 
erwerbe  man  sich  guten  Ausdruck  in  der  Muttersprache,  am  besten  durch 
„Übung  im  freien  Gebrauch  derselben,  ohne  Nachstreben  nach  irgend  einem 
Vorbild  bei  innigster  Vertiefung  in  den  Stoff  mit  ernstestem  Streben  nach 
Klarheit  und  Ordnung  der  Gedanken."  Den  Lehrern  wird  empfohlen:  „öfters 
Prosa  auswendig  lernen  zu  lassen,  oft  freie  Sprechübungen  vorzunehmen,  bild- 
lichen Redensarten  und  Redewendungen  nachzugehen."  —  Wesentliche  sprach- 
liche Förderung  durch  das  Interesse  fürs  öffentliche  Leben:  es  erregt  den 
Wunsch,  sich  mündlich  und  schriftlich  gewandt  ausdrücken  zu  können,  und 
damit  ein  allgemeineres  und  stärkeres  Interesse  an  der  Muttersprache.  So  bei 


*)  Einzelheft  60  Pfg.  —  Wir  empfehlen  hier  noch  aus  Heft  I  und  II  der 
Cornelia:  Zwei  Briefe  an  Unland  yon  seiner  Mutter  —  Ernestine  Voss  —  Ein  Tage- 
buch Uber  das  Kind  —  Kinderfragen. 

**)  Einer  Arbeit  des  Seminarinspeetors  Königbauer  im  Jahresbericht  der  bair. 
Lehrerbildungsanstalt  zu  Lauingen  (für  1890/1)  entnommen.  Auch  im  Rep.  d.  Päd. 
1892,  VII.  abgedruckt. 


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—    740  — 


den  Franzosen  und  namentlich  bei  den  Engländern,  in  deren  politischen  Ver- 
sammlungen „ganz  einfache  Männer  ohne  Vorbereitung  im  Zusammenhang  über 
Tagesfragen  mit  der  größten  Ruhe  und  Sicherheit  sprechen,  äußerst  gewandt 
und  klug  im  Debattiren  sind  und  jede  Schwäche  des  Gegners  sofort  entdecken4*. 
Auch  in  Deutschland  werde  „die  Sicherheit  und  Fertigkeit  des  mündlichen  und 
schriftlichen  Ausdruckes  mit  dem  gesteigerten  Interesse  am  öffentlichen  Leben 
(das  hier  noch  zu  jung  ist)  zunehmen/ 

567.  Der  Altmeister  Diesterweg  im  Lichte  der  Reformbe- 
strebungen auf  dem  Gebiete  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  in  der 
Gegenwart  (F.  Bartels,  Rhein.  Blätter  1892,  I — III).  Verf.  sucht  mittelst 
Citaten  nachzuweisen,  dass  der  deutsche  Kaiser  Wilhelm  IL  als  „Schul- 
reformatorw  („unser  thatkräftiger  Kaiser,  der  in  Wahrheit  ein  Pädagoge 
unter  den  Fürsten  und  ein  Fürst  unter  den  Pädagogen  der  Gegenwart 
ist")  und  Adolf  Diesterweg  ganz  dasselbe  wollen!  Aus  Diesterweg 
„weht  derselbe  Geist,  der  beute  vom  erhabenen  Throne  des  Kaisers  in  die 
stillen  Räume  der  Volksschule  und  der  höheren  Schule  hineingetragen  wird." 
Mit  den  Worten:  „Ich  bin  entschlossen,  neue  Bahnen  zu  betreten"  will  Wil- 
helm II.  nichts  anderes  sagen,  als  dass  er  „die  Bahnen  wieder  wandeln  will, 
die  unser  Altmeister  Diesterweg  der  deutschen  Schule  als  Prophet  und  Seher 
gewiesen  hat."  Der  Erlass  des  Kaisers  vom  1.  Mai  1891  ist  „ganz  im  Sinne 
Die8terwegstf  verfasst.  Beide  „ Pädagogen *  rufen  die  Schule  „zum  Kampfe 
gegen  die  socialistischen  Ideen"  auf.  Kurz:  Diesterweg  und  Wilhelm  II. 
sind  infolge  innigster  Seelenverwandtschaft  Gesinnungs-  und 
Bundesgenossen  —  und  darum:  „Heute  am  Ende  des  Jahrhunderts 
ist  die  Zeit  der  Reaction  vorüber"  — ! 

568.  „Der  rechte  Lehrer  (A.  Dodel,  Schweiz,  päd.  Zeitschr.  1892,  II: 
„Die  Volksschule  und  die  Pflanzenwelt")  ist  vor  allem  ein  rechter  Mensch; 
er  ist  ein  wissender,  ein  ästhetisch  betrachtender  Weltbürger;  er  ist  ein  Freund 
der  Natur,  ein  Erkennender  ihrer  Gesetze  und  Erscheinungen;  er  weiß  die 
Hauptresultate  aller  Disciplinen  in  einen  natürlichen  Zusammenhang  zu  setzen 
und  steht  dem  Weltganzen  nicht  mehr  wie  ein  Unwissender  oder  wie  ein  Kind 
als  einem  absoluten  Geheimnis  gegenüber.  Aus  dem  Schatze  seines  Wissens 
fließt  die  Erkenntnis  in  hundert  Kinderseelen,  und  seine  Art  des  Betrachtens 
der  äußeren  WTelt  pflanzt  sich  in  die  Herzen  seiner  Schüler  unvermerkt  und 
uncontrolirbar,  aber  glücklich  machend  und  befähigend,  im  Genuss  der  Wahr- 
heit und  Schönheit  zu  wachsen,  auch  wenn  der  Schüler  die  vier  Wände  der 
Schulstube  für  immer  verlassen  hat." 


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Recensionen. 


Sammlung  Göschen,  Heft  16:  Griechische  Alterthumskunde  von  Dr. 
Maisch.  Heft  17:  Anfsatzentwttrfe  von  Dr.  Straub.  Stuttgart, 
Göschen.  Preis  des  Bändchens  in  elegantem  Leinwandband  80  Pf. 

Die  beiden  Bändchen  verdienen  es,  dass  wir  die  Aufmerksamkeit  unserer 
Leeer  auf  sie  hinlenken.  Nur  wer  den  Stoff  vollständig  beherrscht,  vermag  so 
zu  schreiben,  wie  die  beiden  Autoren.  Maisch  behandelt  seinen  geschickt  aus- 
gewählten Stoff  so  klar,  dass  es  ein  Vergnügen  ist  ihn  zu  lesen,  selbst  für 
den,  dem  er  nichts  Neues  zu  sagen  hat  Als  Einführung  in  die  griechische 
Alterthumskunde  möchte  es  wol  der  beste  Leitfaden  sein,  den  wir  derzeit  haben, 
ja  es  ist  auch  das  erste  Büchlein,  das  die  neuesten  Ausgrabungen  in  Tiryns 
und  die  erst  vor  kurzem  entdeckte  Schrift  des  Aristoteles  „über  das  Staats- 
wesen der  Athener",  die  eine  von  der  bisher  üblichen  so  verschiedene  Auf- 
fassung der  Athenischen  Verfassungsgeschichte  gibt,  für  den  Unterricht  ver- 
wertet. —  SchUlcrbibliotheken  sei  auch  das  andere  Heftchen  bestens  empfohlen. 
Ein  so  feinfühlender  Schriftsteller  wie  Straub  entwickelt  in  eigenartiger  Weise 
die  ausgewählten  Themen,  die  sich  etwa  für  eine  Seeunda  oder  Prima  als 
Auüsatzübungen  eignen.  Das  sind  nicht  Themen,  deren  Titel  schon  sagt,  wie 
sie  zu  bearbeiten  sind,  sondern  Fragen,  die  zum  Nachdenken,  zum  Urtheil 
anregen.  — r. 

Dr.  Carl  Spitz,  Lehrbuch  der  Stereometrie  mit  350  Übungsaufgaben  für 
höhere  Lehranstalten  und  zum  Selbststudium.  201  S.  114  Fig.  im  Text. 
6.  verb.  Auflage.  Hierzu  ein  Anhang  der  Resultate  der  Aufgaben  nnd  An- 
deutungen zu  deren  Lösung.    Leipzig,  Winter.    3  M.  80  Pf. 

Die  erste  Auflage  dieses  Buches  ist  schon  vor  mehr  als  30  Jahren  erschienen, 
nnd  seither  war  der  Verfasser  fortwährend  bemüht  durch  Verbesserungen  desselben 
dem  Fortschritte  der  Wissenschaft  Rechnung  zu  tragen.  Es  wurde  das  Prismatoid 
von  Wittstein  und  die  Definition  der  Ähnlichkeit  nach  Gergonne  neu  auf- 
genommen ;  dann  wurden  gewisse  Paragraphe,  welche  ohne  den  Zusammenhang 
des  Ganzen  zu  stören  auch  wegbleiben  können,  mit  Kennzeichen  versehen,  end- 
lich die  Aufgaben  in  der  Richtung  verbessert,  dass  Druckfehler  vermieden  und 
die  Ergebnisse  möglichst  abgerundet  wurden. 

Der  grössere  Theil  des  Buches  wird  eingenommen  von  den  Erörterungen 
über  die  Lage  gerader  Linien  nnd  Ebenen  im  Räume,  von  den  Lehrsätzen  Uber 
die  körperliche  Ecke  und  von  der  Beschreibung  der  geometrischen  Körper;  der 
kleinere  Theil,  etwa  zwei  Fünftel  desselben,  entfällt  sodann  auf  die  Berech- 
nungen von  Oberflächen  und  Rauminhalt.  Wol  mit  Rücksicht  auf  die 
Bestimmung  des  Buches  für  das  Selbststudium  ist  besonders  der  erste  Theil  etwas 
weitläufig:  gehalten.  Lehrsätze  wie:  „Zwei  Keile  verhalten  sich  wie  ihre 
Neigungswinkel";  oder  jene  von  der  Größe  der  Sehnenkreise  der  Potenzlinien 
der  Kugeln  mit  ihren  sehr  ausführlichen  Beweisen  erscheinen  beinahe  als  un- 
nöthig.    Dagegen  haben  wir  den  Satz  über  die  Entfernung  und  den  Winkel 


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—  742 


sich  kreuzender  Geraden  im  Lehrtexte  vergeblich  gesucht,  und  erst  unter  den 
Aufgaben  eine  etwas  schwerfällige  Lösung  gefunden;  während  doch  diese  Dinge, 
welche  zu  den  Grundvorstellungen  über  räumliche  Gebilde  gehören,  in  neueren 
Lehrbüchern  sonst  eine  sehr  einfache  und  fassliche  Lösung  erfahren.  Auch  der 
Lehrsatz  des  Cavalieri  verdiente  eine  allgemeinere  Fassang  und  Anwendung. 
Dass  die  Übungsaufgaben  in  hinreichender  Menge  vorhanden  sind,  ergibt  sieh 
schon  aus  deren  oben  angeführter  Anzahl;  es  ist  aber  außerdem  noch  zu  sagen, 
dass  sie  mit  Sorgfalt  aufgestellt  nnd  geordnet  sind.  Besonders  hat  uns  gefallen 
die  Übertragung  der  Berühruugsprobleme  auf  räumliche  Gebilde  und  die  Be- 
rechnung des  Inhaltes  von  Tetraedern  aus  deren  Kanten. 

Um  das  Buch  völlig  zu  kennzeichnen,  fügen  wir  hinzu  dass  es  allen  An- 
forderungen entspricht,  welche  man  an  einen  Lehrbehelf  zum  Zwecke  des 
Selbststudiums  stellen  kann,  dass  es  uns  dagegen  scheint,  es  werde  beim  Schul- 
gebrauche der  Lehrer  häufig  in  die  Lage  kommen,  auf  verschiedene  umfang- 
reiche und  nebensächliche  Paragraphe  zu  verzichten.  Da  dies  Lehrmittel  aber 
zu  den  verbreitetsten  an  den  höheren  Schulen  Deutschlands  gehört,  so  scheint 
es,  dass  die  Lehrer  weniger  Wert  darauf  legen,  ihren  Schülern  ein  kurzes, 
übersichtlich  zusammenfassendes  Buch,  gleichsam  eine  Gedächtnisbrücke  in  die 
Hand  zu  geben,  als  vielmehr  ein  Lehnnittel,  aus  welchem  die  Schüler  den 
empfangenen  Unterricht  in  voller  Weitläufigkeit  zu  wiederholen  vermögen, 
und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  verdient  das  vorliegende  allerdings  beste 
Empfehlung.  H.  £. 

Aiiton  Brenner,  Präparandenlehrer,  300  algebraische  Aufgaben  zur 
Lösung  mittelst  einfacher  Schlüsse.  4.  Anfl.  48  S.  Freising,  Datterer. 
50  Pf. 

Oberlehrer  J.  Hüller  in  München  bestätigte  dem  Verfasser  schon  im  Vor- 
worte der  ersten  Auflage,  dass  er  eine  dankenswerte  Arbeit  geschaffen  habe. 
Es  gibt  nun  heute  wol  keinen  Mangel  an  verschiedenartigen  Aufgabensamm- 
lungen, aber  es  ist  auch  kein  Zweifel,  dass  ein  Seminarlehrer  zunächst  in  der 
Lage  ist*  den  Bedürfnissen  angehender  Lehrer  entsprechend  die  Sammlung  zu- 
sammenzustellen. Wir  zweifeln  auch  nicht,  dass  der  Verfasser  dieses  Bedürfnis 
richtig  beurtheilt  hat,  da  seine  Arbeit  schon  die  dritte  Auflage  erlebte;  nur 
gegen  die  Bemerkung  im  Titel,  „zur  Lösung  mittelst  einfacher  Schlüsse", 
müssen  wir  uns  insofern  wenden,  als  es  scheinen  könnte,  diese  Aufgaben 
wären  durchgehende  mittelst  Kopfrechnen  zu  lösen.  Im  Gegentheile  müssen 
wir  sie  für  die  Stufe  von  Seminaristen  als  verwickelte  Textgleichungen  be- 
zeichnen; die  Schlüsse  allein  in  ihrer  Aufeinanderfolge  im  Kopfe  zu  behalten, 
würde  schon  Bechenkünstler  erfordern,  umsomehr  erst  deren  Durchführung  mit 
drei-  bis  fllnfziflerigen  Zahlen.  Im  übrigen  aber  scheint  uns  das  Heftchen  für 
Seminare,  Bürgerschulen,  Gewerbeschulen  und  verwandte  Lehranstalten  sehr 
brauchbar  zu  sein  und  auch  wegen  seines  geringon  Preises  Beachtung  zu  ver- 
dienen. H.  E. 

Emil  Muthsam,  Bürgerschullehrer,  Beiträge  zur  Raumgröfienrechnung 
für  die  Volksschule.  77  Fig.  im  Text.  48  S.  Beichenberg,  Zannasch. 
70  Pf. 

Der  Verfasser  hat  sich  mit  dieser  Aufgabensammlung  dem  in  den  öster- 
reichischen Bürgerschulen  gebräuchlichen  Lehrbuche  von  Mocnik  angeschlossen; 
zunächst  hat  er  für  sich  und  Beine  nächsten  Collegen  die  Übungsbei.spiele 
Mocniks  ausgerechnet,  sodann  aber  weitere  Aufgaben  gesammelt  und  beigeragt 
und  ist  schließlich  der  Aufforderung  der  Collegen  gefolgt,  seine  Arbeit  durch 
den  Druck  zu  veröffentlichen,  um  sie  —  natürlich  nur  „für  die  Hand  des 
Lehrers"  —  allen  Stundesgenossen  zugänglich  zu  machen.  Die  Aufgaben, 
welche  sich  sowol  auf  Flächen-,  als  auch  auf  Kaumberechnung  beziehen,  sind 
in  der  That  zum  großen  Theile  den  Verkehrsbeziehungen  entnommen,  und 
daher  wolgeeignet,  auf  den  Unterricht  belebend  nnd  anregend  einzuwirken; 
übrigens  kann  es  jüngeren  Lehrern  gewiss  nur  erwünscht  sein,  eine  Beihc  von 
Mustern  fttr  kurze  und  bündige  Lösungen  zu  erhalten.  H.  E. 


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—    743  — 

Franz  Yillicus.  Professor  in  Wien,  Lehr-  and  Übungsbuch  der  Arithmetik 
für  Unterrealschulen.  III.  Theil  mit  623  Aufgaben  für  die  m.  Classe. 
6.  Aufl.    143  S.    Wien,  Pichler.    1  M.  30  Pf. 

In  der  dritten  Classe  der  Bealschulen  sind  die  Schiller  in  das  Rechnen  mit 
allgemeinen  Zahlen  einzuführen;  dementsprechend  enthält  das  Buch  die  vier 
Grundrechnungsarten  mit  allgemeinen  Zahlen.  Der  Schüler  begegnet  beim 
Eintritte  in  die  allgemeine  Zahlenlehre  nicht  blos  den  Buchstaben,  als  Zahlen 
gebraucht,  sondern  auch  dem  Vorzeichen,  Coefficienten  und  Exponenten  als 
ihm  neuen  Begriffen;  es  ist  daher  dieser  Übergang  ein  recht  schwieriger, 
welcher  leicht  für  den  Schiller  zur  Klippe  werden  kann,  wenn  der  Lehrer  nicht 
der  Leitung  vollkommen  gewachsen  ist.  Das  vorliegende  Lehrbuch  verdient 
aber  die  größte  Beachtung,  weil  es  die  Schwierigkeiten  der  Einführung  in  die 
allgemeine  Zahlenlehre  von  den  uns  bekannten  Lehrmitteln  am  besten  über- 
winden hilft.  Wir  waren  und  sind  noch  in  der  Lage,  nach  verschiedenen 
Lehrbüchern  unterrichten  zu  müssen,  haben  jedoch  bei  keinem  anderen  Lehr- 
buche gefunden,  dass  der  Lehrer  so  leicht  mit  dem  Buche  im  Einklänge  bleiben 
könne  und  dabei  so  gut  von  dem  Schuler  verstanden  werde,  wie  bei  diesem. 
Denn  der  Verfasser  versteht  einerseits  die  wissenschaftlichen  Grundsätze  fest- 
zuhalten, während  er  es  anderseits  nicht  verabsäumt,  durch  Vorführung  nahe- 
liegender Beispiele  die  Begriffe  zu  popularisiren  und  dem  Verständnisse  des 
Schulers  nahe  zu  bringen.  Es  sind  schon  Bücher  durch  unsere  Hände  ge- 
gangen, wo  die  Erklärung  der  Grundbegriffe  geradezu  wie  ein  Selbstverständ- 
liches übergangen  wurde,  während  ihre  Anwendung  sofort  vom  Anbeginn  eine 
vielseitige  war.  Dagegen  finden  wir  im  vorliegenden  18  Seiten  der  Erklärung 
und  Einübung  der  neuen  mit  der  Buchstabenrechnung  verbundenen  Formen 
gewidmet;  dann  erst  folgen  die  vier  Grundrechnungsarten  in  allgemeinen 
Zahlen,  das  Quadriren  und  Cubiren  und  Ausziehen  der  Quadrat-  und  Cubik- 
wurzel.  Den  Schluss  machen  die  Anweisung  zum  Gebrauch  der  Tabellen  zur 
Zinseszins-Berechnung,  Beispiele  darüber  und  Übungsaufgaben  aus  dem  Gebiete 
der  bürgerlichen  Rechnungsarten. 

Es  kann  wol  nicht  erwartet  werden,  dass  ein  derartiges  Schulbuch  über 
die  Grenzen  jenes  Gebietes,  für  welches  es  geschrieben  wurde,  hinaus  große 
Verbreitung  finde;  aber  wir  fühlen  uns  gedrungen,  allen  geehrten  Fachgenoesen, 
welche  sich  selbst  an  die  Verfassung  von  Lehrbüchern  wagen,  dieses  in  Bezug 
auf  die  Einführung  in  die  allgemeine  Arithmetik  gewiss  musterhafte  Buch 
bestens  zur  Beachtung  zu  empfehlen.  H.  E. 

Hermann  Müller,  Leitfaden  der  elementaren  Mathematik  mit  Sammlung: 
von  Aufgaben.  6  Aufl.  Bearbeitet  von  Dr.  Max  Zwerger,  Studienlehrer. 
1.  Abth.  Arithmetik.  171  S.  2  M.  40  Pf.  2.  und  3.  Abth.  Geometrie 
und  Trigonometrie.  171  Fig.  im  Text.  215  S.  3  M.  München,  Lindauer. 
Dieser  Leitfaden  gehört  zu  den  beliebten  Lehrbüchern  Bayerns,  und  es 
ist  durchaus  nicht  zu  verkennen,  dass  sowol  der  erste  Verfasser  als  auch  der 
spätere  Bearbeiter  fortgesetzt  bemüht  waren,  das  Werk  nach  moderner  Auf- 
fassung zu  verbessern.  Der  erste  Theil  umfasst  außer  den  sieben  Rechnungs- 
arten noch  die  Lehre  von  den  Gleichungen  bis  zu  jenen  zweiten  Grades  mit 
mehreren  Unbekannten,  sodann  Progressionen,  Zinseszins-Rechnung,  Combinations- 
lehre,  den  binomischen  Lehrsatz  und  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  nebst 
mehr  als  900  zweckmäßig  ausgewählten,  den  einzelnen  Abschnitten  zugeordne- 
ten Aufgaben  —  sammt  deren  Lösungen.  Obwol  das  Vorgetragene  richtig 
und  fasslich  gegeben  wird,  so  können  wir  doch  mit  verschiedenem  bei  den 
Rechnungsarten  vorkommenden  nicht  ganz  einverstanden  sein.  Von  Paragraph 
sieben  bis  fünfzehn,  d.  i.  auf  fünf  Seiten  finden  sich  eine  Menge  das  Gedächt- 
nis überlastender  und  an  sich  nutzloser  Lehrsätze,  welche  alle  durch  zwei  zu 
ersetzen  wären.  Eine  Summe  sowol  als  eine  Differenz  ist  an  sich  wieder  eine 
Zahl;  es  ist  daher  ganz  unnöthig,  Lehrsätze  über  das  Rechnen  mit  Summen  und 
Differenzen  aufzustellen,  insofern  dies  bei  den  Rechnungsarten  ersten  Ranges 
leicht  vermieden  werden  kann;  es  genügt  voUständig  ein  Lehrsatz  für  die  Aus- 
führung einer  Addition  mit  allgemeinen  Zahlen,  und  ebenso  ein  Lehrsatz  für 


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die  Subtraction;  alle  möglichen  Variationen,  welche  hierbei  vorkommen 
können,  kann  der  Schüler  unter  Anwendung  dieses  einen  Lehrsatzes  zu  be- 
handeln leicht  angeleitet  werden.  —  Für  die  Multiplication  empfiehlt  sich 
außer  der  im  Paragraph  achtzehn  vorfindlichen  Tafel  positiver  Einheiten  auch 
noch  eine  solche  negativer  Einheiten;  endlich  auch  zum  Satze  Uber  die  Multi- 
plication eines  angezeigten  Productes  eine  solche  Tafel  mit  einer  allgemeinen 
Zahl  an  Stelle  der  Einheit.  Ganz  veraltet  und  verunglückt  ist  die  Begründung 
der  Zeichenregel  mit  Hilfe  der  Null,  welche  nichts  zu  beweisen  vermag,  da 
sie  ja  die  Verneinung  der  Zahl  ist.  —  Auch  die  Sätze  über  Verbindung  von 
Quotienten  und  Producten  wären  der  Vereinfachung  fähig  und  bedürftig;  end- 
lich niuss  man  die  Darstellung  des  Wurzelausziehens  unbeholfen  nennen,  da 
doch  der  Divisor  nicht  zwischen  die  abzuziehenden  Posten  hineingeschoben 
werden  kann. 

Dagegen  dürfen  wir  mit  unserem  Lohe  nicht  zurückhalten,  insofern  in  der 
Stoff  Vertiefung  hinreichend  weit  gegangen  wird,  wie  sich  dies  zum  Beispiel 
aus  der  eingehenden  Behandlung  des  Factorenzerlegens  ergibt,  welches  andere 
Lehrbücher  wenigstens  in  Bezug  auf  Polynome  mit  Stillschweigen  übergehen. 
—  Sehr  gefallen  hat  es  uns  auch,  dass  das  Rechnen  mit  Brüchen  gelehrt  wird 
beinahe  ohne  den  Namen  „Bruch",  der  eben  als  angezeigter  Quotient  benannt 
und  behandelt  wird.  Ebenso  einfach  als  anschaulich  ist  ferner  die  Einführung 
in  das  Rechnen  mit  Wurzeln,  und  nicht  minder  verdient  es  Anerkennung,  dass 
die  Aufgaben  in  hinreichender  Menge  und  mit  entsprechender  Schwierigkeit 
beigeordnet  sind. 

Der  zweite  Theil  enthält  Planimetrie,  Stereometrie,  ebene  und  sphärische 
Trigonometrie.  Am  Schlüsse  jedes  Capitels  folgt  eine  große  Zahl  von  Con- 
struetionsaufgaben  in  systematischer  Reihenfolge.  Es  wurde  den  neueren  An- 
schauungen insofern  Bechnung  getragen,  als  durch  Stellung  von  Constructions- 
aufgaben  und  Anleitung  zu  deren  Lösung  nicht  blos  das  Erlernen  von  Lehr- 
sätzen, sondern  auch  deren  Anwendung  als  Beweis  des  Könnens  von  Seite  des 
Schülers  als  Nothwendigkeit  hingestellt  wird.  Es  hätte  aber  nicht  geschadet, 
wenn  diesen  neueren  Anschauungen  noch  mehr  Rechnung  getragen  worden 
wäre;  ganz  besonders  eine  frühzeitige  Einführung  des  Begriffes  der  Symmetrie- 
achse erleichtert  erheblich  das  Erfassen  der  Lehrsätze  Uber  die  wesentlichen 
Eigenschaften  von  Dreiecken.  Im  übrigen  ist  ja  nicht  zu  verkennen,  dass 
dieses  Buch  ein  sehr  reichhaltiges  Lehrmittel  ist,  in  welchem  man  viele  recht 
interessante  und  dem  Buche  eigenartige  Lehrsätze  findet,  so  die  Darlegung 
über  das  Thcilvcrbältuis  dor  Schworlinien,  über  die  Lage  der  merkwürdigen 
Punkte  in  einer  Oeraden  und  über  den  Neun-Punkte-Kreis.  Manches  allerdings 
scheint  uns  in  einer  schwierigeren  Fassung  gegeben,  als  es  nothwendig  und 
wünschenswert  ist,  z.  B.  die  Theilung  nach  dem  „goldenen  Schnitt".  —  Eigen- 
artig, aber  wenig  berechtigt  ist  die  Benennung  der  Winkel  an  Parallelen:  was 
wir  Gegenwinkel,  nennt  der  Verfasser  Correspondirende,  und  seine  Gegenwinkel 
nennen  wir  Anwinkel;  am  meisten  zu  bedauern  ist  aber  die  mangelhafte  Aus- 
führung der  Figuren.  In  der  27.  Figur  sollten  fünf  gleiche  Strecken  vor- 
kommen, leider  ist  aber  keine  mit  der  anderen  gleich  lang;  ebenso  wird  an 
der  Figur  29  ein  einigermaßen  geübtes  Auge  sofort  erkennen,  das  die  Drei- 
ecke, welche  congruent  sein  sollen,  es  nicht  sind.  Dieser  Übelstand  setzt  sich 
auch  in  der  Stereometrie  fort  Die  descriptive  Geometrie  lehrt,  dass  seitlich 
angesehene  Kreise  als  Ellipsen  erscheinen;  anstatt  dessen  zeigen  die  Figuren 
des  Buches  durchaus  Zweiecke,  von  denen  noch  die  159.  Figur  an  einer  be- 
sonderen Missgestalt  leidet. 

In  der  Trigonometrie  geht  sachgemäß  die  Goniometrie  der  Dreiecks- 
auflösung voraus,  auch  hier  fanden  wir  manches  eigenartige  und  interessante. 
Das  rechtwinklige  sphärische  Dreieck  wird  als  ein  besonderer  Fall  des  schief- 
winkligen behandelt;  dadurch  werden  allerdings  die  Ableitungen  weitläufiger 
und  wenig  übersichtlich.  Unrichtig  ist  es,  die  Formeln  von  Gauß  und  Moll- 
weide zu  verwechseln;  letztere  beziehen  sich  ausschließlich  auf  das  ebene  Dreieck. 

Im  ganzen  muss  man  sagen,  dass  das  vorliegende  Buch  nach  seiner  Reich- 
haltigkeit und  Stoff  Vertiefung  gewiss  ein  höchst  brauchbares  Lehrbuch  bildet, 
welches  wolgeeignet  ist,  dem  Schüler  eine  gründliche  Bildung  zu  übermitteln; 


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-    745  — 


data  es  jedoch  wünschenswert  wäre,  bei  Neu-Auflagen  "Verbesserungen  anzu- 
bringen. H.  E. 

Constatin  Rossmanith,  weil.  Prof.  in  Bielitz.  Die  Elemente  der  Geometrie 
in  Verbindung  mit  dem  geometrischen  Zeichnen.  2.  vermehrte  und  ver- 
besserte Auflage.  Bearbeitet  von  Karl  Schober:  Prof.  in  Innsbruck. 
204  S.,  157  Fig.  im  Text.  Pichler  in  Wien.    2  M.  20  Pf. 

Das  vorliegende  Lehrmittel  ist  für  die  2.,  3.  u.  4.  Classe  der  österreichi- 
schen Realschulen  bestimmt  und  für  diesen  Zweck  vom  Unterrichtsministerium 
genehmigt.  Den  Instructionen  dieser  Behörde  gemäß  wird  auf  die  „innige 
Verbindung  der  Geometrie  und  des  geometrischen  Zeichnens"  der  größte  Wert 
gelegt  und  zur  Ausbildung  der  Anschauung  bei  Herleitung  der  geometrischen 
Wahrheiten  über  Bewegung,  Drehung,  Verschieben  und  Umklappen  vielfach 
Gebrauch  gemacht.  Nicht  minder  wurden  nach  Möglichkeit  die  Lehren  von 
der  centrischen  und  achsialen  Symmetrie  in  Anwendung  gebracht.  —  Die  Ver- 
besserungen, welche  der  Bearbeiter  der  zweiten  Auflage  an  dem  Werke  des 
ursprünglichen  Verfassers  angebracht  hat,  beziehen  sich  hauptsächlich  auf  eine 
größere  Genauigkeit  des  Ausdruckes  und  auf  vermehrte  Klarheit  der  Defina- 
tionen.  Die  Vermehrung  der  Auflage  besteht  in  Vermehrung  des  Übungsmateriales. 

In  der  Planimetrie  werden  nach  den  einleitenden  Erklärungen  die  Con- 
gruenzlchre,  Flächen  Verwandlung  und  Ausmessung,  Ähnlichkeitslehre,  Anwendung 
uer  Algebra  auf  die  Geometrie  und  die  Kegelschnittslinien  abgehandelt.  Die 
Stereometrie  erörtert  zuerst  die  möglichen  Lagen  von  Ebenen  und  Geraden  im 
Räume;  dann  folgt  ein  Mehrercs  über  orthogonale  Projection  der  einfachen 
Grundgebilde;  endlich  die  Beschreibung,  Darstellung  und  Messung  der  einfachsten 
geometrischen  Körper.  Sowol  nach  dem  Titel  als  nach  der  Vorrede  ist  zu  er- 
warten, dass  auf  die  Ausführung  der  Figuren  großer  Wert  gelegt  werde. 
Und  in  der  That  muss  man  sagen,  dass  dieselben  mit  Sorgfalt  entworfen  und 
ausgearbeitet  sind,  so  dass  sie  wol  den  Schülern  als  Muster  zu  dienen  ver- 
mögen. Ganz  besonders  schön  erdacht  sind  die  Figuren,  welche  die  centrische 
und  acbsialc  Symmetrie  zur  Darstellung  bringen;  nicht  minder  zweckmäßig  ist 
von  Schraffirung  zur  Darlegung  der  Flächen gleichheit  und  bei  Schnittflächen 
räumlicher  Gebilde  Gebrauch  gemacht.  —  Die  Sätze  über  Sehnen  und  Tan- 
gentenvierecke sind  zur  Hervorhebung  der  Gegenseitigkeit  zweispaltig  angeord- 
net. —  Selbst  solcho  Figuren,  welche,  wie  bei  den  Kegelschnittslinien,  der 
Natur  der  Sache  nach  Überladen  sein  müssen,  erscheinen  der  sehr  sorgfältigen 
Ausführung  zufolge  noch  immer  verständlich.  Kurz,  es  wurde  von  Seite  des 
Verfassers  sowol  als  des  Verlegers  alles  aufgeboten,  um  diesem  Lehrbehelfe 
eine  möglichst  schöne  Ausstattung  zu  geben.  Wenn  wir  also  nach  dieser  Rich- 
tung hin  nur  das  Beste  zu  sagen  haben,  so  scheinen  uns  doch  noch  einige  Be- 
merkungen nöthig  in  Bezug  auf  die  Stoffvertiefung.  An  den  österreichischen 
Realschulen  wird  der  Unterricht  in  der  Geometrie  zweistufig  ertheilt;  auf  der 
Unterstufe  ist  er  in  nahe  Verbindung  mit  dem  Zeichenunterrichte  gesetzt  und 
soll  in  der  Beweisführung  mehr  anschaulich  als  abstract  verfahren,  erst  in  der 
Oberstufe  wird  ein  streng  wissenschaftlicher  Unterricht  der  Geometrie  ertheilt. 
Deragemäss  lässt  sich  das  Vorliegende  allerdings  nicht  mit  Lehrbüchern  ver- 
gleichen, wie  jene  von  Wiegand,  Wittstein,  Henrici  und  Treutlein, 
doch  haben  wir  schon  manche  Lehrbücher  für  höhere  Schulen  Deutschlands  in 
Händen  gehabt,  welche  an  Fasslichkeit  des  Vortrages,  ganz  besonders  aber  an 
Schönheit  der  Figuren  dem  vorliegenden  nachstehen,  60  dass  wir  es  als  ein  ganz 
beachtenswertes  Lehrmittel  empfehlen  können.  H.  E. 

Georg  Paysen  Petersen,  Reinhart  Rothfuchs.  Die  deutsche  Thiersage  für 
jung  und  alt  erzählt.  Mit  6  Vollbildern  von  August  Dressel.  Leipzig  1892, 
Spamer.   289  S.  3  M.,  geb.  4  M. 

In  52  Capiteln  erzählt  dies  Buch  die  bekannte  uralte  Thiersage  und  zwar 
in  der  ungebundenen  Sprache  des  täglichen  Lebens;  nur  die  Inhaltsangaben  der 
einzelnen  Abschnitte,  hie  und  da  auch  lehrhafte  Sentenzen,  sind  in  Verse  ge- 
kleidet, was  den  Vortrag  hebt  und  belebt.   Das  Ganze  hat  einerseits  eine 


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Erweiterung  erfahren,  indem  verschiedene  Züge  der  deutschen  Thierdichtung, 
welche  seit  langer  Zeit  in  Vergessenheit  gerathen  waren,  geschickt  in  den 
Reineke  verflochten  worden  sind,  anderseits  eine  Kürzung,  indem  alles,  was 
gegen  Anstand  und  gute  Sitte  verstösst,  entfernt  worden  ist.  Der  Verfasser 
sah  sich  hierzu  veranlasst,  weil  er  die  alte  Dichtung  in  tadelloser  Eeinheit 
als  Volks-  und  Jugendschrift  neu  beleben  wollte. 

Diese  Absicht  hat  ihn  auch  zu  einer  noch  bedeutenderen  Abänderung  ge- 
führt. Da  nämlich  in  allen  bisherigen  Bearbeitungen  Reineke,  dieser  Ausbund 
von  Hinterlist  und  Bosheit,  obwol  er  sich  mit  allen  nur  denkbaren  Schandthaten 
bedeckt  und  bis  ans  Ende  ohne  jede  Besserung  in  seiner  Niedertracht  verharrt, 
dennoch  allen  selbstverschuldeten  Bedrängnissen  glücklich  entkommt  und  schließ- 
lich auch  aus  dem  Kampfe  mit  dem  Wolf  triumphirend  hervorgebt:  so  erscheint 
die  ganze  Dichtung  zweifellos  als  eine  Verne rrlichnug  der  Schlauheit  im  Bunde 
mit  moralischer  Verworfenheit.  Und  es  ist  daher  der  ärgste  Widerspruch  und 
Faustschlag  gegen  die  Wahrheit,  den  eine  Dichtung  leisten  kann,  wenn  es 
z.  B.  bei  Goethe  am  Ende  seiner  Bearbeitung  heißt:  „Hochgeehrt  ist  Reineke 
nun.  Zur  Weisheit  bekehre  bald  sich  jeder  und  meide  das  Böse,  verehre  die 
Tugend!  Dieses  ist  der  Sinn  des  Gesangs."  Nein,  das  ist  er  nicht;  vielmehr 
ist  Bein  Sinn  der:  Sei  möglichst  schlau,  verachte  rücksichtslos  alle  Tugend  und 
ergib  dich  ganz  und  gar  dem  Bösen,  denn  dies  allein  bringt  Glück  und  Ehre. 
—  Um  nun  diesem  triumphirenden  Umsturz  der  ganzen  sittlichen  Staats-  und 
Weltordnung  einen  Riegel  vorzuschieben,  hat  Herr  Petersen  den  Nimbus  des 
Reineke  ein  wenig  abgedunkelt  Im  Kampfe  mit  dem  Wolfe  bleibt  er  keines- 
wegs Sieger,  wird  er  vielmehr  Übel  zugerichtet  und  vom  Tode  nur  durch  einen 
aufregenden  Zwischenfall  gerettet.  Schließlich  muss  Reineke  selbst  durch  Hei- 
lung des  kranken  Königs  die  Wiederherstellung  von  Gesetz  und  Ordnung  an- 
bahnen, damit  die  wilde  Anarchie  mit  ihrem  Rauben  und  Morden,  dem  eigent- 
lichen Metier  des  Faches,  ein  Ende  nehme.  Freilich  war  dies  alles  keine 
freiwillige  und  innere  Besserung  des  Frevlers,  sondern  ein  Werk  der  Not  zur 
eigenen  Rettung.  Aber  eben  damit  wird  gezeigt,  dass  mit  der  Moral  des 
Fuchses  kein  Reich  bestehen  und  gedeihen  kann,  und  selbst  der  Einzelne  nicht 
für  immer  geborgen  ist.  Und  nun  gelangt  man  zu  dem  verständlichen  und 
versöhnlichen  Schluss:  „Seine  Bosheit  schuf  ihm  nur  Leid;  aber  sein  Verstand 
half  ihm  aus  aller  Not.  Möget  auch  ihr  die  Klugheit  des  Fuchses  bewundern 
und  ihr  nacheifern,  doch  seine  Tücke  und  Arglist  hassen,  möget  ihr  euch  frei- 
willig und  freudig  des  Guten  befleißen,  das  Reinhart  nur  gezwungen  und 
widerstrebend  that.  Mahnen  will  euch  dies  Buch,  dass  ihr  euch  zur  Weis- 
heit bekehrt,  das  Laster  meidet  und  die  Tugend  übt." 

Sprache  und  Stil  des  Buches  zeichnen  sich  aus  durch  Reinheit,  Correctheit 
und  Wollnut,  was  wir  um  so  lieber  hervorheben,  als  in  der  modernen  Literatur 
diese  Merkmale  immer  seltener,  hingegenLicdcrliehkeitundUnartenimmerhaufigcr 
werden.  Die  dem  Buche  beigegebenen  Bilder  sind  von  feinstem  Geschmack 
und  machen  einen  herzerfreuenden  Eindruck;  auch  die  sonstige  Ausstattung 
in  Papier,  Druck  und  Einband  verdient  alles  Lob.  E. 

Dr.  W.  Neurath,  Prof.  an  der  k.  k.  Hochschule  für  Bodencultnr  in  Wien, 

Elemente  der  Volkswirtschaftslehre.   Zweite  Auflage  (großenteils  neu 

bearbeitet  and  vermehrt).   Wien  bei  Manz  and  Leipzig  bei  Jal.  Klinkhardt, 

1892.  487  Seiten.  2  M.  50  Pf. 

Heutzutage  sind  die  Grundbegriffe  der  Volkswirtschaftslehre  für  jeden  Ge- 
bildeten, besonders  auch  für  den  Pädagogen  ein  Bedürfnis,  und  mit  Recht  sagt 
Prof.  Neurath:  „Immer  weitere  Kreise  des  Volkes  treten  heran  oder  werden 
herangezogen  zur  Besprechung,  Beratung  und  Beurtheilung  volkswirtschaft- 
licher Fragen;  eine  rein  negirende  Kritik  der  bestehenden  Grundlagen  unseres 
socialen  Aufbaues  dringt  in  alle  Schichten  der  Bevölkerung  und  selbst  in  die 
Köpfe  uad  Herzen  der  Jugend  ein.  Alles  hält  Bich  tür  befähigt  und  berech- 
tigt, über  den  Aufbau  unseres  Social-  und  Wirtschaftslebens  abzuurtheilen. 
Unter  solchen  Verhältnissen  muss,  wenn  wir  vor  den  schlimmsten  Gefahren 
bewahrt  werden  sollen,  Volk  und  Jugend  mit  den  höchsten  Wahrheiten  der 


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Volkswirtschaft  und  der  socialen  Ethik  bekannt  gemacht  und  mit  social-ethi- 
schem  Idealismus  beseelt  werden."  —  Diese  Umstände  veranlassten  uns  schon 
beim  erstmaligen  Erscheinen  des  hier  angezeigten  Buches,  dasselbe  der  Auf- 
merksamkeit unserer  Leser  zu  empfehlen  und  seine  Vorzüge  bervonjuheben. 
In  dieser  neuen,  sorgfaltig  überarbeiteten  und  bedeutend  vermehrten  Auflage 
verdient  es  in  noch  weit  höherem  Maße  die  Beachtung  aller  derer,  welche  sich 
mit  den  Hauptpunkten  der  Nationalökonomie  vertraut  machen  wollen,  besonders 
auch  derer,  welche  diese  Wissenschaft  nicht  gerade  als  Specialfach  betreiben, 
sondern  in  ihr  nur  eine  Orientierung  über  die  heutige  sociale  Lage  suchen. 
Denn  bei  aller  Wissenschaftlichkeit  des  Inhaltes  und  der  Anlage  zeichnet  sich 
das  Neuratbscbe  Werk  durch  anschauliche,  leichtfassliche,  bündige  und  klare 
Darstellung  derart  aus,  dass  es  auch  für  den  Selbstunterricht  höchst  geeignet 
ist.  Ohne  weitläufiges  Raisonniren  führt  Verfasser  den  Leser  stets  direct  und 
einleuchtend  in  die  Sache  selbst,  in  das  wirkliche  Leben  ein,  und  wer  ihm 
achtsam  folgt,  wird  sich  an  seinen  lehrreichen  Ausführungen  ein  selbstständiges 
Urtheil  über  die  Fragen  des  wirtschaftlichen  Lebens  zu  bilden  vermögen. 

E. 

Neu  erschienene  Bächer. 

Dr.  G.  Deschmann,  Führer  durch  Österreichs  Schulen.  Eine  systematische 
Darstellung  der  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalten  der  Unter-  und  Mittel- 
stufe für  die  männliche  Jugend.  Pilsen,  Steinhäuser.   180  S.   1  fl. 

Prof.  Dr.  W.  Clasen,  Führer  durch  die  Lehr-  und  Erziehungsanstalten  Deutsch- 
lands für  Angehörige  der  besseren  Gesellschaftskreise.  Berlin,  Adolf  Hein. 
116  S.   Gratis  und  franco. 

Schulrath  Dr.  Jnl.  Roth  fuchs,  Bekenntnisse  aus  der  Arbeit  des  erziehenden 
Unterrichtes.  Das  Übersetzen  in  das  Deutsche  und  manches  Andere.  Mar- 
burg, El  wert.   173  S. 

F.  W.  Dürpfrld,  Das  Fundamentstück  einer  gerechten,  gesunden,  freien  und 
friedlichen  Schul  Verfassung.  2.  Lieferung.  Hilchenbach,  Wiegand.  65.  bis 
157.  S.  Das  ganze  Werk  erscheint  in  4  Lieferungen  und  kostet  3  M.  50  Pf. 

Otto  Zock,  Die  Evangelien  des  christlichen  Kirchenjahres.  Eine  Handreichung 
zur  Gewinnung  ethisch-religiöser  Gedanken  aus  den  Evangelien.  Zweiter 
Theil:  Von  Ostern  bis  Advent.  Dresden,  Kühtmann.   146  S.   3  M. 

— ,  Die  biblischen  Geschichten  des  alten  und  neuen  Testamentes.  Für  evan- 
gelische Schulen  zusammengestellt.  3.  Aufl.  173  S.  Mit  einer  Karte  von 
Palästina,  Dresden,  Kühtmann. 

Director  0.  Sehaarsehmidt,  Biblische  Geschichten  im  Zusammenhange  mit 
dem  Bibellesen  zu  Lebens-  und  Geschichtsbildern  zusammengestellt.  6.  Aufl. 
Braunschweig,  Appelhans  &  Pfenningstorff.  156  S.  IM. 

Herrn.  Radeker  und  Wilhelm  Piltz,  Der  Geaüinun^sunterricht  im  ersten  und 
zweiten  Schuljahre  oder:  Vorbereitungskursus  für  den  Religionsunterricht. 
Mülheim  a.  d.  Ruhr,  Baedeker.   168  S. 

Prof.  Dr.  J.  W.  Otto  Richter,  Die  Ahnen  der  preußischen  Könige.  Volks- 
tümliche Lebensbilder  der  hohenzollernschen  Burggrafen  von  Nürnberg  und 
Kurfürsten  von  Brandenburg.  Hannover  und  Leipzig,  Leopold  Ost  350  S. 
4  Mark. 

G.  Krause  und  F.  Wöllniaim,  Geschichtsbilder  aus  der  allgemeinen,  der 
deutschen  und  brandenburgisch-preußischen  Geschichte  für  Volks-  und  Bürger- 
schulen. Mit  zahlreichen  Abb.  und  Karten.  3.  Aufl.  Leipzig,  Bredt.  120  S. 


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748  — 


Heinrich  Lewiii,  Unsere  Kaiser  and  ihr  Haus,  nebst  dem  Wichtigsten  aas  dem 
Leben  unserer  Vorfahren.  Geschichtsbilder  für  die  Schüler  der  Mittel-  und 
Oberstufe.  2.  Aufl.  Hilchenbach,  Wienand.   160  S.  60  Pf. 

Dr.  W.  Sommer,  Znr  Methodik  des  literaturkundlichen  Unterrichts  an  Volks-. 
Mittel-  und  höheren  Mädchenschulen.  Beitrag  .zur  Förderung  einer  natio- 
nalen Jugenderziehung.   Prenzlan,  Biller.   94  S.   1  M.  20  Pf. 

Dr.  W.  Jütting,  Die  deutsche  Sprache.  Methodisch  behandelt  für  Bürger-, 
•höhere  Mädchen-,  Mittelschulen  und  Präparandenanstalten.  3.  Aufl.  bearb. 
von  Dr.  H.  Zimmermann.   Hannover,  Karl  Meyer.   141  S.   80  Pf. 

R.  Gottesleben,  Der  Unterricht  im  Deutschen  auf  der  Mittelstufe.  Eine  An- 
leitung zur  Behandlung  des  Lesebuches  in  Mittelklassen.  3.  Aufl.  Straß- 
burg, Friedrich  Bull.  264  S. 

J.  F.  Holtmann,  Deutsches  Sprachbuch.  Methodisch  geordnete  Beispiele, 
Lehrsätze  und  Aufgaben  für  den  Sprachunterricht  in  Elementar-  und  Fort- 
bildungsschulen Erster  Theil.  20.  Aufl.  Stade,  Schaumburg.  80  S.  50  Pf. 

Karl  Martens,  Deutsche  Sprachübungen.  Methodisch  geordnete  Übungen  im 
richtigen  Sprechen  und  Schreiben.  Für  Volks-  und  Bürgerschulen.  2.  Heft 
(Mittelstufe).  Honnover-Linden,  Manz  &  Lange.  56  S.  40  Pf. 

E mannet  Reinelt,  Sprachbuch  für  österreichische  allgemeine  Volksschulen. 

4  Hefte  ä  23,  32,  88  u.  80  Seiten,  Preis  10,  15,  25  u.  25  Kreuzer.  Wien 
und  Prag,  Tempsky. 

E.  Römermann,  Ausführliche  und  vollständige  Sprachlehre  zum  Gebrauch  in 
Volksschulen.  2  Hefte,  30  u.  48  Seiten.  2.  Aufl.  Hilchenbach,  Wiegand. 
Gesammtpreis  40  Pf. 

Friedr.  Franke,  Schulwörterbuch.  Als  Hilfsbuch  für  den  deutschen  Unterricht 
nach  Reihen  und  Familien  geordnet  und  mit  einem  Regelbuche  versehen. 
Leipzig,  Ernst  Hoppe.   104  S. 

Dr.  Panl  Harre,  Hauptregeln  der  lateinischen  Formenlehre.  54  S.  50  Pf. 
Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung. 

Hermann  Perthes,  Lateinische  Formenlehre  zum  wörtlichen  Auswendiglernen. 

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Max  Engelhardt,  Die  Stammzeiten  der  lateinischen  Conjugation  wissenschaft- 
lich und  pädagogisch  geordnet.  Handbuch  für  Lateinlehrer.  47  S.  1  M. 
20  Pf.  Ebenda. 

Hermann  Perthes,  Grammatisch-etymologisches  Vocabularium  im  Anschluss 
an  Perthes  lateinisches  Lesebuch  für  Sexta.  Mit  Bezeichnung  sämmtlicher 
langer  Vokale  von  Dr.  Gustav  Löwe.  5.  Aufl.  herausgeg.  von  Prof.  W.  Gill- 
hausen. 96  S.  Ebenda. 

— ,  Lateinisches  Lesebuch  für  die  Sexta  der  Gymnasien  und  Realgymnasien. 
5.  Aufl.  herausgegeben  von  Prof.  W.  Gillhausen.  55  S.  Ebenda. 

Ph.  Plattner,  Elementarbuch  der  französischen  Sprache.  3.  Aufl.  Karlsruhe, 
J.  Bielefeld.  264  S.   1  M.  80  Pf. 


Vcrantwortl.  Redaoteur  Dr.  Friedrich  Dittee.   Bsebdrockerci  Jolim  Klinkhardt,  Leipzig. 


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 lX».  


Iniversite  de  Geneve. 


Annee  1892  1893. 


Facultas  des  Seleaees  (y  compris  fkole  de  Chimie),  des  Lettres  et  des  sciences 
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On  peut  se  procurer  le  programnie  des  cours,  ainsi  que  les  programmes  detailles  des 
cxatnens  de  grades,  au  bureau  du  Secretaire-Caissier  (Universite).  —  Les  inscrlptions  pour 
les  examens  d  Octobre  seront  recues  du  I««"  aa  8*»»«'  Oetobre. 

Pour  pensions  et  logemcnts,  ainai  que  pour  recevoir  gratuitement  des  informatioas 
sur  les  Etablissements  d'instruction  de  Geneve,  s'adresser  au  ßareau  de  renseignements 
educatifs,  5.  Quai  du  Mont-Blanc. 

Le  Recteur:  Professear  Gustave  Julliard. 


„Hiob-Mibel. 

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»erlog  üon  ^ultufi  »Utifljttrat  in  Seipjig. 
tföt tfler ,  ö.,  Über  eibtlaufjügt  uni  örrrn  ßrrto> 

tignng.  Vortrag  gehalten  im  Setpjiger  ßeljrer- 

toerein.   40  $f. 


«erlag  bon  ^Itliiiä  Rlinfftarot  in  t'eiajifl. 

€m(l  unti  fjumnr  aus  Htm  SW-  unö 
£fljrfrltten  untrer  Seit. 

«on 

lohf  AlUnin. 

ar.  8°.   IJJreifi  Uruidjirn  1  Warf. 

3nl)alt:  Sfinberoorftellungcn.  —  35ie  «er< 
waljrlofung  ber  3ugenb.  —  r,*Ul)tlontl)ropin4'  für 
bie  armen  SHnber.  —  „^eftalo^ium."  (Olüm- 
pifc^ed  Sdjulmärdien.)  —  Sdjulmcifterblut.  — 
Iraualtar  unb  ^äbagogtf.  —  gine  intereffante 
©djulinfpeftion.  —  Die  9iert>ofität  in  ber  ©djulc. 

—  gericnbummel.  —  9iodj  einige  Seijrer- 
Originale.  —  fclte  unb  moberne  SBanberleljrer. 
©n  «riefwcd)fel  mit  jtuet  «eilagen  unb  jnjar: 
a)  2)aö  erfte  SBocbenbudj.  b)  !}a$  le^te  ÜBodjen* 
bud).  —  £),  alte  «urfd)enb,errlid)feit. 

gtn  edjter  Sdjul-  unb  ßelprfreunb,  bem 
ba^  pcrfönltdjc  9Boi?l  ber  Sdjulfiuber  warm  am 
^)erjen  liegt,  ber  aber  aud)  ein  menfcbenroürbigeg 
25a)'etn  für  bie  Seljrer  forbert,  fpctdjt  in  biefem 
«üd)lein  ju  und.  @r  ift  ein  ed)ter  .^umorifi, 
ber  feine  (Jrfabrungcn  unb  Srlebniffe  trefflich 
cinjufleiben  öerftebt;  aber  fein  §umor  greift 
an^  §erj  unb  in§  (Meroiffen.  ßr  weint  mit  bem 
einen  Äuge,  mäbtenb  er  mit  bem  anbern  lad)t. 

—  2)a§  fd)lid)te  «üdjlein  ift  eine  örädjttge 
Seftüre  für  alle  ßebjer. 


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 Verlag  wn  Sülms  MHnfbarbt  in  gripM  uub  Berit*. 

Pas  Strafrrifjt  brs  ffiirrrs  in  kr  llolköfdjule. 

(Sin  jraftlirdjer  ÄafgcBer  für  £f(jrer  unb  Ä^ufottfri^tsßfttmtc. 

Gearbeitet  oon  21.  (5".  Sofcfc,  Sef)rer. 

$reis  3  3«. 

Über  biefcS  $uch,  febretbt  bie  „ftattjolifcbe  Schulleitung":  $oJ  öc-rliegenbe  SBert  be 
eine  SRaterie  oon  ber  böebfren  Söicbtigtcit.   Sie  bie  Serbältniffc  b>t  liegen,  hängt  oon  bei 
babung  be3  SrrafrechtS  in  oielcn  Sailen  SBobl  unbSBebe  ber  fiehrerfamilie  ob.   *?ir  tonnen  bähet 
oem  2ebrer  nicht  bringenb  genug  *u  einer  »eifert  Jponblmbung  biefeä  JRecbte*  raten.    Um  nun 


bell 
inh- 


ie 


ba*u  mi  gelangen,  roirb  man  fich  bem  ernfieften  Srubium  besfelben  hingeben  miiiieu 
folchen  Stubium  bietet  ba5  oorlicgenbe  2öud)  einen  oorjüglicben  Rubrer.   3n  jtoei  iei 
be«  SchulftrafrechtS",  „©eiefclicbe  SJcftimmungen  unb  gerichtliche  (inti'rheibungen  ba$  Sdjufftrap 
recht  bttreffenb"  bcl)anbelt  ee  bie  ganje  ernfte  ftragc  mit  großer  ©rünbtichreit  unb  Sachten  ntni*. 

^«?^re!L!l,irb.b.ad23cr,d,fn  nid,t  obl,c  bfn  Q^Bten  Segen  für  feine  gejamte  unterriihtltche  unb 
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_  Jede  Xr.  *OPf.  Uro  rriUlrt» 
Itlajrtn.  Voncl.  stirb  u.  brück,  lUrkrt Papirr.  —  V.U taut  au- 
Statut«  AlbuuiMa  I.SO,  rctlairt  tos  Kieauaa,  Jaoai- 
■abaftc  —  6«»ia«*n«  latik  allrr  MiUoMa.  —  Hmn»ri»tira. 

V«rrrli  hn.  fr.  u.  fr.  t.ui  Felix  SiBQfH.  Leipzig,  p.lrrlrn.lr.  I. 


3n  meinem  Berlage  ift  foeben  erfebienen: 

Über  Die  jittlirfic  ftrcilicit 

mit  bfronbfrrrerriiAftditignnfli  bfr%ftnnt 
oon  Sjnnout,  Cribnij,  fiant. 

($>cfir<5nte  "gf  v  e  t  a  ("d>  r  t  f  t. 
SRebft  einer 
Slbbanblung  über  bett  6ubämoni3nut$. 

Son  Dr.  ^riebrteg  Sitte*. 
3roeite,  neu  burebgefebene  aufläge. 

1*rciö  broitft.  8  4K. 

SSorftetjenbe  «Schrift  mar  feit  13  ^ahrei  MB- 
griffen  unb  c«  tonnte  fich  ber  ^erfaffer  bisher 
Aur  Verausgabe  einer  neuen  Auflage  nicht  ent« 
fd)(ießen.  Wachbem  aber  in  lefcter  3eü  bie  SU* 
fragen  unb  Jöefteflungen  auf  ba$  S?erf  ftd>  be« 
ftänbig  mehrten,  lag  feine  Seranlaffung  mehr 
oor,  mit  einer  neuen  Sluflaae  jurücfAubalten. 
Diefclbe  ift  grünblich  burebgefeben  unb,  fotoeit 
nötig,  erroeitert  toorben. 

Seipitfl-        3uliu6  MltnfbarM. 


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Monatsschrift 

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Erziehung  und  Unterricht. 

Herausgegeben 

unter  Mitwirkung  hervorragender  Paedagogen 

von 

Dr.  JF"rio<ii*icli  X>ittes. 


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12.  Heft,  September  1891 


Leipzig. 

Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 


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Inhalt  des  12.  Heftes. 


Seite 

Jean  PauTs  „Levana  oder  Enriehlehre"  nach  Plan  und  Grundgedanken  dargestellt 

und  von  dem  Standpunkte  der  heutigen  Pädagogik  beleuchtet  von  P.  H. 

(Schiaas)   749 

Über  den  Geburtsort  des  Comenius.    Vom  Herausgeber   765 

Die  Bezirksschulinspection.   Eine  ungelöste  Frage  des  österreichischen  Volks* 

Schulwesens.  Besprochen  von  Wilh.  Taschek-Vöslau   771 

Hygiene  und  Erziehung.   Ihre  Anwendung  «ur  wirksamen  Bekämpfung  des 

Idiotismus.   Von  Rector  0.  Hintz- Berlin   778 

Pädagogische  Bundschau.  Osterreich.  —  Aus  Bayern.  —  Elsass- Lothringen  .  787 

Aus  der  Fachpresse  ,   791 

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■  um  —  


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(   SEP  21  m2  J 
Jean  Paul'«  ..Levana  oder  Erziehlehre" 

nach  Plan  nnd  Grundgedanken  dargestellt  und  von  dein  Standpunkte  der  heutigen 

Pädagogik  beleuchtet  von  P.  II* 
^Schluss.) 

V. 

I^ach  Betrachtung  der  allgemeinen  Ansichten  Jean  Pauls  über 
Geist  und  Grundsatz  der  Erziehung,  Natur  des  Kindes  und  Indivi- 
dualität des  Ideal  nienschen,  in  denen  offenbar  der  Schwerpunkt  der 
„Levana"  liegt,  wollen  wir  zunächst  untersuchen,  welche  Grundsätze 
in  dem  weiteren  Verlauf  der  Darstellung  sich  über  das  Einzelne  der 
Erziehung  vorfinden.  Mit  besonderer  Wärme  wird  die  Wichtigkeit 
der  Erziehung  in  den  drei  ersten  Lebensjahren,  dieser  „Dämmer- 
periode der  aufkeimenden  Menschheit",  betont.  „Wie  die  Eier  der 
Sing-  und  der  Raubvögel  und  wie  das  neugeborene  Küchlein  der 

Taube  und  des  Taubengeiers,  so  verlangen  anfangs  alle  nur  Wärme  

und  was  ist  Wärme  für  das  Menschenküchlein?  —  Freudigkeit!" 
Sie  lässt  die  jungen  Kräfte  wie  Morgenstrahlen  aufgehen,  sie  ist  der 
Himmel  unter  dem  alles  gedeiht,  Gift  ausgenommen.  '  Die  Wichtig- 
keit der  ersten  Eindrücke  betont  Jean  Paul  mit  besonderem  Nach- 
druck. Er  sagt:  „Alles  Erste  bleibt  ewig  im  Kinde,  die  erste  Farbe, 
die  erste  Musik,  die  erste  Blume  malen  den  Vorgrund  des  Lebens 
aus;  noch  aber  kennen  wir  dabei  kein  Gesetz  als  dieses:  „beschirmt 
das  Kind  vor  allen  heftigen  und  starken,  sogar  vor  süßen  Empfin- 
dungen!" Nicht  sie  machen  den  Menschen  und  das  Kind  „heiter  und 
selig/  sondern  die  Thätigkeit.  „Die  gewöhnlichen  Spiele  der  Kinder 
sind  nun  nichts  als  die  Äußerungen  ernster  Thätigkeit,  aber  in  leich- 
testen Flügelkleidern,"  zugleich  aber  auch  „die  erste  Poesie  des 
Menschen."  Als  Spielsachen  sind  jedoch  nicht  herausgeputzte  Puppen 
und  andere  zierliche  Gegenstände  am  Platze,  denn  „an  reicher  Wirk- 
lichkeit verwelkt  und  verarmt  die  Phantasie.4  Jede  Spiel- 
puppe und  Spiel  weit  sei  „nur  ein  Flachsrocken,  an  welchem  die  Seele 
ein  buntes  Gewand  abspinnt."  Als  bestes  Spielmittel  wird  in  der 
„Levana"  der  Sand  empfohlen;  ihn  vermag  das  Kind  auf  das  Mannig- 
fachste zu  verwenden.     „Philosophen!  streuet  Sand  weniger  in  als 

P»cLigo&mm.   14.  Jahrg.    Heft  XII.  52 


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—    750  — 

vor  die  Augen  in  den  Vogelbauer  eurer  Kinder."  Diejenige  Eigen- 
schaft, welche  den  Charakter  des  Kindes  ganz  besonders  liebenswert 
macht,  die  unbefangene,  rückhaltlose  Hingabe  an  unsere  Führung, 
mit  einem  Wort,  den  „Kinderglauben,  ohne  den  es  gar  keine 
Erziehung  gäbe",  betrachtet  Jean  Paul  als  Haupthebel  der  Erzie- 
hung. Eine  nothwendige  Consequenz  aus  den  humanen  Grundsätzen 
unseres  Dichters  ist  es,  dass  derselbe  sich  über  Belohnung  und 
Bestrafung  in  der  mildesten  Weise  äußert.  „Habt  keine  Freude*, 
sagt  er,  „am  Gebieten  und  Verbieten,  sondern  am  kindlichen  Frei- 
handeln"; ist  aber  einmal  ein  Gebot  oder  Verbot  als  unumgänglich 
noth wendig  erachtet  worden,  dann  sei  es  „unabänderlich"  und  „ein- 
silbig". Je  jünger  das  Kind,  desto  mehr  ist  Einsilbigkeit  nothwendig. 
„Erst  später  sagt  mit  sanfter  Stimme  Gründe,  blos  um  durch  die 
schönen  Zeichen  der  Liebe  den  Gehorsam  sanfter  herbeizufuhren u.  s.w. u 
Mit  Achtung  und  Liebe  betrachte  das  Kind  seine  Eltern,  mit  Pünkt- 
lichkeit gewöhne  es  sich  daran,  ihr  Wort  zu  erfüllen,  aber  sein  Wille 
werde  nicht  durch  zu  vieles  Gebieten  und  Verbieten  geknickt,  die 
ganze  frei  emporstrebende  Persönlichkeit  nicht  zu  einer  willigen  Ma- 
schine in  der  Hand  des  Erziehers  erniedrigt;  nie  erfolge  ein  Gebot 
oder  Verbot,  wenn  nicht  ein  höherer  Beweggrund  dazu  antreibt! 
Also  auch  in  diesem  Punkte  findet  der  Grundgedanke  der  „freien 
Entwickelung  des  Individuums",  überhaupt  „das  Princip  der  Libera- 
lität in  Erziehungssachen"  seine  Betonung  und  Vertheidigung,  auch 
hier  „kräftigen  und  Kraft  lassen"  das  „erste  und  letzte  Erziehungs- 
wort." Überzeugt  von  der  angeborenen  Güte  der  Kindesnatur  konnte 
unser  Autor  es  nicht  gestatten,  dass  mit  rauher  Hand  „der  blinkende 
Morgentauscbimmer"  von  der  „Menschen-Blume"  abgestreift  und  durch 
eine  verkehrte  Behandlungsweise  das  „helldunkele  Kindersein  durch 
voreiliges  Hineinleuchten  mit  der  nackten  Wirklichkeit  verkürzt  werde." 
So  hat  Jean  Paul,—  um  mit  Grube  zu  reden  —  „in  seiner  ,Levana' 
das  christliche  ,Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen'  mit  wahrhaft 
psychologischer  Meisterschaft  commentirt."  Auch  die  speciell  weib- 
liche Erziehung  findet  in  Jean  Paul  einen  geistreichen  Beurtheiler 
und  erfahrungsreichen  Freund.  Ja,  man  kann  mit  allem  Recht  behaup- 
ten, dass  kein  Schriftsteller  über  diesen  Punkt  schönere  und  richtigere 
Regeln  aufgestellt  hat,  wie  unser  Autor.  Von  besonderer  Wichtig- 
keit erscheint  ihm  dieselbe,  „denn  in  weiblicher,  in  Mutterhand  ruht 

die  Erziehung  der  ersten  Hälfte  des  ersten  Lebens-Jahrzehnts"  

„Vergesset  darum,  Mütter,  die  heiligste  Aufgabe  nicht,  deren  Lösung 
zugleich  den  schönsten  Lohn  bringt."   „Verächtlich  ist  eine 


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-    751  — 

FraUj  die  Langeweile  haben  kann,  wenn  sie  Kinder  hat."  Zwar  ist 
nach  Jean  Paul  das  Weib,  wie  auch  Rousseau  annimmt,  von  der 
Natur  zur  Gattin  und  Mutter  bestimmt;  doch  wäre  es  nach  der 
„Levana"  verkehrt,  wollte  man  das  Mädchen  nur  für  ihre  Bestimmung 
als  Mutter  erziehen;  „die  mütterliche  Bestimmung  kann  nicht  die 
menschliche  überwiegen  oder  ersetzen,  sondern  sie  muss  das  Mittel, 
nicht  der  Zweck  derselben  sein.  Sowie  über  dem  Künstler,  über 
dem  Dichter,  über  dem  Helden,  so  steht  über  der  Mutter  der  Mensch." 
Und  wenn  die  Natur  in  scheinbarem  Gegensatz  zu  dieser  Ansicht  die 
„Weiblichkeit"  einseitig  zur  „Mütterlichkeit"  hinzuarbeiten  scheint,  so 
muss  der  Erzieher  nach  dem  Princip  der  Heilighaltung  jeder  Kraft, 
diesen  Zweck  wenn  nicht  bestreiten,  so  doch  ergänzen,  indem  er  „die 
unterdrückende  Kraft  durch  die  wagehaltenden  Kräfte  mildert,  reinigt 
und  einstimmt."  Sehr  entschieden  wendet  sich  die  „Levana"  gegen 
die  frühe  Entwickelung  der  Gefühle  bei  der  Mädchenerziehung; 
die  Mutter  „schone  und  erwarte  jedes  zarte  und  warme  Gefühl,  das 
die  Jahre  von  selber  bringen  und  bilden"  und  „schwelge  nicht  etwa 
an  der  Empfindsamkeit  ihrer  Tochter."  „  Versündigt  euch  nicht,"  — 
ruft  unser  Dichter  den  Müttern  zu  —  „dass  ihr  den  Töchtern  das 
Heilige  des  Herzens  auch  nur  von  weitem  als  Männer-Köder,  als 
Jagdzeug  zum  Gattenfange  geist-  und  gottlästernd  zeigt  und  anem- 
pfehlt  "  Der  Sittlichkeit  beste  Stütze  ist  das  gute  Bei- 
spiel. Da  aber  Mädchen  mit  gleichjährigen  Mädchen  verbunden  in 
einem  „Tauschhandel  weniger  ihrer  Vorzüge  als  Schwächen"  stehen, 
sollen  sich  dieselben  „mehr  in  Gesellschaft  von  Männern,  ja  selbst 
von  Jünglingen  bewegen."  So  kann  es  uns  nicht  wundern,  wenn  in 
der  „Levana"  über  die  Mädchen-Pensionsanstalten  ein  sehr  hartes 
Urtheil  gefällt  wird:  „Das  höchste,  was  ein  Mädchen  in  einer  Pension 
wiederfinden  könnte,  wäre  eine  Mutter,  aber  doch  würde  der  Vater 
mangeln."  Achtung  und  Liebe  gegen  das  eigene  Geschlecht, 
Unterdrückung  der  Heftigkeit  und  Leidenschaftlichkeit, 
Lebens-  und  Arbeitsgymnastik  sind  die  drei  wichtigsten  Gebote, 
die  nach  Jean  Paul  eine  Mutter  ihrer  Tochter  mit  auf  den  Lebens- 
weg geben  kann.  Bezüglich  des  letzten  Punktes  warnt  die  „Levana" 
besonders  vor  der  sog.  „Frauenzimmerarbeit",  durch  welche  „der  müßig 
gelassene  Geist  verroste  und  den  Wogen  der  Phantasie  übergeben 
sei."  Die  Elemente  der  Realfächer  und  Mathematik,  sollten  unsern 
Mädchen  nicht  fremd  bleiben;  das  Hauptaugenmerk  aber  ist  zu 
richten  auf  die  nöthige  Kenntnis  und  Geschicklichkeit  zur 
Führung  der  vielseitigen  Geschäfte  des  Hauswesens. 

52* 


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I 


-    752  — 


VI. 


An  diese  kurze  Darstellung  der  allgemeinsten  Grundsätze  von 
Jean  Pauls  Pädagogik,  die  in  ihrer  Allgemeinheit  auch  eine  gene- 
relle Bedeutung  in  der  praktischen  Erziehung  haben,  wollen  wir  die 
Betrachtung  der  specielleren  Momente  der  Erziehung,  welche  ihrer- 
seits den  verschiedenen  Seiten  der  Persönlichkeit  des  Erziehungs- 
objectes  entsprechen,  anschließen.   Es  handelt  sich  also  hier  um  die 
Darstellung  der  Grundsätze,  welche  für  Jean  Paul  bei  Anwendung  der 
Erziehungsthätigkeit  auf  die  verschiedenen  Theile  der  Menschennatur 
maßgebend  sind.   Schon  oben  wurde  erwähnt,  dass  Jean  Paul  in  der 
Individualität  des  Zöglings  zwei  Seiten  streng  in  der  erziehlichen 
Behandlung  unterschieden  wissen  will,  die  intellectuelle  und  die  mora- 
lische.  Für  erstere  gilt  ihm  das  Princip  ungestörter  Selbstent- 
faltung.   Der  geistige  Bildungstrieb,  der  in  jedem  Menschen  schlum- 
mert und  durch  die  Mittel  der  Erziehung  zu  nachhaltiger  Kraftent- 
faltung sich  entwickeln  soll,  werde  —  so  verlangt  es  Jean  Paul  — 
schon  im  frühesten  Kindesalter  auf  die  denkbar  vielfachste  Weise 
angeregt,  dem  jungen  Menschen,  der  mit  ungetrübtem  Auge  die  lebens- 
und  gestaltenreiche  Welt  betritt,  soll  vor  allem  ein  frei  waltendes 
Interesse  für  die  der  Gesammtheit  seiner  Sinne  zunächst  liegenden 
Erscheinungen  angebildet   werden.    Mit  schrankenloser  Thätigkeit 
wende  er  sich  deshalb  den  bunten  Gestalten  der  Außenwelt  zu,  ihren 
Bildern  verschaffe  er  eine  sichere  Stätte  im  Räume  seines  Bewusstseins. 
Darum  muss  denn  auch  vor  allem  darauf  gedrungen  werden,  dass  dem 
Individuum  die  nöthige  Freiheit  der  Geistesentfaltung  gewahrt 
bleibt,  wodurch  der  sich  entwickelnde  Mensch  in  die  Lage  kommt, 
als  unumschränkter  Gebieter  über  die  seinem  Geiste  eingepflanzten 
Vorstellungen  zu  schalten,  sie  mit  einander  zu  vergleichen,  zu  ver- 
knüpfen, und  er  auf  diese  Weise  zum  Ausbau  einer  reichen  Gedanken- 
welt die  Befähigung  erlangt   Die  Erringung  dieser  geistigen  Kraft 
und  Arbeitsfähigkeit  glaubt  nun  Jean  Paul  am  wirksamsten  durch 
Übungen  des  Witzes  erreichen  zu  können.    Und  in  der  That  ist 
der  Witz  diejenige  Geisteskraft,  deren  Äußerung  darin  besteht,  die 
verschiedensten  Gegenstände  und  Erscheinungen  unter  Bezugnahme 
auf  die  Gleichartigkeit  gewisser  Merkmale  mit  einander  zu  vergleichen 
und  zu  verknüpfen.   Schon  dem  Kinde  fallen  bei  Betrachtung  der 
Außenwelt  an  den  Gliedern  derselben,  die  ihm  entgegentreten,  Über- 
einstimmung und  Verschiedenheit  ihrer  Merkmale  auf,  wenn  auch  an- 
fangs nur  in  gröbster  Form.    Je  mehr  es  nun  durch  Ausbildung  der 
genannten  Geisteskraft  befähigt  ist,  die  feineren  und  tiefer  liegenden 


—    753  — 


Beziehungen  der  Anschauungsobjecte  erkennen  zu  lernen,  desto  mehr 
werden  die  hervorgerufenen  Denkgebilde  den  Charakter  wirklicher 
Geistesarbeit  an  sich  tragen;  ja  gerade  auf  diese  Weise  gelangt  das 
Kind  zur  Bildung  der  ersten  Begriffe,  deren  Entstehung  ausschließ- 
lich durch  Vergleichung  mehrerer  Anschauungen  und  durch  Vereini- 
gung derselben  unter  die  Einheit  eines  höheren  Vorstellnngsgebildes 
bedingt  wird.  Freilich  wird  der  jugendliche  Geist  in  seinen  Ver- 
suchen mit  den  gewonnenen  Bildern  der  Erscheinungen  zu  arbeiten, 
durchaus  nicht  den  Weg  strenger  Denkprocesse  einhalten.  Die  Sonder- 
barkeit und  Ungeregeltheit  der  entstandenen  Denkgebilde  wird  uns 
vielmehr  berechtigen,  der  im  jugendlichen  Alter  besonders  unumschränkt 
waltenden  Einbildungskraft  einen  hervorragenden  Antheil  an  ihrer 
Bildung  zuzuschreiben.  Allein  Jean  Paul  hielt  die  oben  angedeuteten 
Thätigkeiten  des  Witzes  und  der  Einbildungskraft  für  so  wichtig  zur 
Grundlage  der  intellectuellen  Bildung,  dass  er  ihnen  einen  sehr 
weiten  Spielraum  gewährte.  Er  suchte,  durch  eigene  Beispiele 
anregend,  seinen  Schülern  witzige  Einfälle  zu  entlocken  und  schrieb 
dieselben  sorgfältig  auf,  da  er  sie  als  wichtiges  Moment  in  der 
geistigen  Bildungsgeschichte  des  Individuums  ansah.  An  die  Bildung 
zum  Witze  anschließend,  behandelt  Jean  Paul  die  Bildung  zur  Reflexion, 
Abstraction  und  zum  Selbstbewusstsein.  Sie  ist  ihm  zu  erreichen 
durch  Lenkung  der  Aufmerksamkeit  auf  die  Innenwelt,  was  ein  gleich- 
wertiger Gegensatz  zur  Sinnesthätigkeit  nach  außen  sein  und  die 
Harmonie  der  Erziehung  aufrecht  erhalten  soll.  Was  die  Bildung 
der  Erinnerung  und  des  Gedächtnisses  anbelangt,  so  weist  unser 
Autor  auf  die  Wichtigkeit  derselben  nachdrücklich  hin.  Ihm  ist  die 
Lebendigkeit,  die  jene  Geisteskräfte  erreichen  sollen,  bedingt  durch 
den  Reiz  des  Gegensatzes.  Das  Interesse  ist  ihm  tonangebend  für  die 
Festigkeit  des  Aufgenommenen  —  „daher  hat  kein  Mensch  für  alles 
ein  Gedächtnis,  weil  keiner  für  alles  ein  Interesse  hat."  —  Zur  Aus- 
bildung der  intellectuellen  Seite  des  Menschenwesens,  welche  ja  die 
Kräfte  der  Erkenntnis,  der  Einbildungskraft  und  der  Erinnerung  in 
sich  fasst,  weist  nun  Jean  Paul  auch  auf  Beschäftigung  mit  den  ver- 
schiedenen Wissenschaften  hin.  Da  es  ihm  aber  nicht  darum  zu 
thnn  ist,  eine  Unterrichtslehre  zu  geben,  sondern  seine  „Levana" 
auf  das  Gebiet  der  Erziehung  ausschließlich  beschränkt  bleiben  soll, 
so  dürfen  wir  keine  genaueren  Darlegungen  in  dieser  Beziehung  er- 
warten. Ebenso  ist  es  begreiflich,  dass  der  Dichter  bei  dem  dama- 
ligen Stande  der  Methodik  die  formal  bildende  Kraft  der  Realien 
gänzlich  verkannte.  Die  Naturgeschichte  ist  ihm  beispielsweise  „das 


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—    754  — 


Zauberbrot",  welches  der  Lehrer  den  Kindern  vor  der  Lehrstunde 
gibt,  nm  ihre  Aufmerksamkeit  für  seinen  folgenden  Unterricht  zu 
gewinnen.  Sie  ist  ihm  also  nur  wirksam  durch  die  Neuheit  und  das 
Fesselnde  ihrer  Thatsachen,  nicht  aber  durch  das  Bildende,  welches 
die  in  ibr  gegebenen  Beziehungen  der  Naturwesen  und  Naturkräfte 
darbieten.  Von  der  Geographie  kennt  er  nur  einen  praktischen 
Nutzen.  Von  besonderer  Schönheit  sind  jedoch  die  Ausführungen, 
welche  die  „Levana"  über  Bildung  zur  Sprache  enthält  Ihrem  Ver- 
fasser war  die  große  Wirkung,  welche  namentlich  das  gesprochene 
Wort  auf  den  Geist  des  Menschen  ausübt,  vollständig  klar,  außerdem 
ist  ihm  die  Sprache  in  ihrem  Gesammtorganismus  ein  formales  Bil- 
dungsmittel von  unvergleichlicher  Wichtigkeit.  „Sprachenlernen  ist 
etwas  Höheres  als  Sprechenlernen,  und  alles  Lob,  das  man  den  alten 
Sprachen  als  Bildungsmittel  ertheilt,  fällt  doppelt  der  Muttersprache 

anheim,  welche  noch  richtiger  die  Sprachmutter  hieße  " 

„Die  Muttersprache  ist  die  unschuldigste  Philosophie  und  Besonnen- 
heitsübung für  Kinder,"    „Sprecht  recht  viel  und  recht  bestimmt  und 

haltet  sie  selber  im  gemeinen  Leben  zur  Bestimmtheit  an  ■ 

„Sogar  kleine  Kinder  strengt  zuweilen  durch  Widerspruchsräthsel  der 
Rede  an."  Die  Sprachlehre  ist  ihm  „als  Logik  der  Zunge"  die  erste 
Philosophie  der  Reflexion,  und  der  Umgang  mit  ihr  „unter  den  früheren 
Übungen  der  Denkkraft  die  gesündeste."  Mit  Recht  gilt  ihm  die 
Sprache  als  Mittel,  dem  Geiste  einen  Schatz  von  Vorstellungen  zuzu- 
führen; denn  „durch  Benennung  wird  das  Äußere  wie  eine  Insel 
erobert."  Dem  Aufnehmen  des  sprachlichen  Materials  mit  seinem  Un- 
tergrunde von  klaren  Vorstellungen  soll  jedoch  stets  producirende 
Thätigkeit  von  Seiten  des  Zöglings  parallel  gehen.  Bim  dünkt 
das  geklärte  und  geordnete  Darstellen  der  eigenen  Gedanken  durch 
die  Sprache  und  namentlich  durch  die  Schrift  als  Bildungsmittel  so 
wichtig,  dass  er  sagt:  „Ein  Blatt  schreiben  regt  den  Bildungstrieb 
mächtiger  an  als  ein  Buch  lesen."  —  Als  zu  verwirklichendes  Ideal 
der  sittlichen  Bildung  des  Knaben  nennt  unser  Autor  „sittliche 
Stärke  und  sittliche  Schönheit",  und  die  Art  und  Weise,  wie  er 
diese  Ansicht  darlegt,  geschieht  in  einer  Fülle  der  zutreffendsten  Aus- 
sprüche. Die  sittliche  Stärke  wird  nach  ihm  am  besten  durch  das 
Beispiel  erzielt;  deshalb  gebe  man  dem  aufstrebenden  Kind  eine  das 
Herz  durchwurzelnde  Idee,  etwa  die  der  Ehre.  Auch  der  „Erweckung 
der  Vaterlandsliebe"  und  dem  „Aufwecken  des  Ehrtriebs"  wird  in 
der  „Levana"  in  ausführlicher  Begründung  das  Wort  geredet.  Soll 
der  Knabe  zu  einem  brauchbaren  Manne  erstarken,  so  „erfülle  man 


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-  755 


ihn  mit  der  verklärten  Heldenwelt,  mit  lieblich  ausgemalten  Groß- 
menschen der  verschiedensten  Art  und  mit  einem  poetischen  Ideale." 
Auch  möge  der  Knabe  so  viel  als  möglich  in  die  stoische  Schule  hin- 
ein hören!  „Lasset  ihn  sehen,  dass  das  Kernfeuer  der  Brust  gerade 
in  jenen  Männern  glühe,  welche  ein  durch  das  ganze  Leben  reichen- 
des Wollen,  nicht  aber,  wie  der  Leidenschaftliche,  einzelne  Wollungen 
und  Wallungen  haben."  Und  da  Jean  Paul  als  genauer  Menschen- 
kenner nur  allzu  wol  weiß,  wie  gewaltig  die  Hindernisse  oft  sind,  die 
sich  der  im  Erstarken  begriffenen  Männlichkeit  entgegenstellen,  ver- 
langt er  mit  dem  ganzen  Feuer  seiner  Begeisterung  Belebung  der 
Idealität;  nicht  stark  genug  kann  er  seinen  Gegensatz  zu  denen 
betonen,  die  in  unbegreiflicher  Unkenntnis  von  der  wahren  Bestimmung 
des  Menschen  das  Idealisiren  der  Tugend  verdammen  und  bei  all 
ihrem  Thun  und  Lassen  das  reine  Nützlichkeitsprincip  in  den  Vorder- 
grund treten  lassen.  Zu  diesen  Bildungsmitteln  der  sittlichen  Stärkung 
trete  dann  noch  die  Wahrhaftigkeit,  eine  Zierde  der  Jugend  und 
auch  in  späteren  Jahren  noch  die  Blüte  der  sittlichen  Mannesstärke. 
Das  Ideal  der  sittlichen  Schönheit  findet  er  im  Reiche  der  Liebe,  der 
Milde  und  der  Wolthätigkeit.  Seiner  Grundanschauung  von  der  mensch- 
lichen Natur  entsprechend,  findet  sich  die  Liebe,  die  „eigentliche  posi- 
tive Sittenlehre",  schon  bei  der  Geburt  in  Kinderherzen,  und  deshalb 
ist  es  nicht  nöthig,  „die  Blütenknospe  der  Liebe  einzuimpfen,"  sondern 
nur  „das  Moos  und  Gestnipp  des  Ich  wegzunehmen,  welches  der  Liebe 
die  Sonne  verdeckt."  „Bringet  dem  Kinde"  —  so  ruft  er  aus  —  „das 
fremde  Leben  und  das  fremde  Ich  lebendig  und  genug  vor  das  seinige, 
so  wird  es  lieben."  Auch  das  thierische  Leben  halte  es  heilig; 
darum  „gebet  ihm  das  Herz  eines  Hindu,  statt  des  Herzens  eines  car- 
tesischen  Philosophen."  Endlich  lasse  der  Erzieher  durch  eigenes 
Thun  das  Kind  die  Liebe  kennen  lernen.  —  „Lehrt  lieben,  sag'  ich, 
das  heißt  liebt  — ."  Mit  diesen  Worten  schließt  Jean  Paul  seine  von 
feiner  psychologischer  Beobachtungsgabe  und  einem  warmftihlenden 
Herzen  zeugenden  Ausführungen  über  diesen  in  der  Erziehung  so 
wichtigen  Punkt.  Auch  in  Bezug  auf  die  Ausbildung  des  Schönheits- 
sinnes entwickelt  die  „Levana"  eine  Fülle  höchst  beachtenswerter 
Ansichten.  Eines  der  wirksamsten  Mittel  zur  Bildung  des  Schönheits- 
sinnes ist  allerdings  die  Betrachtung  der  Natur  in  ihren  ewigen,  un- 
vergänglichen Reizen.  Weil  jedoch  diese  neben  dem  Vollkommenen 
auch  das  Unvollkommene,  neben  dem  Vollendeten  vieles  Unfertige 
und  Verkümmerte  bieten,  so  fordert  unser  Dichter  die  Betrachtung 
der  verschiedensten  Kunstwerke,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  das 


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—    756  — 

Kind  früher  in  das  Kunstreich  der  durch  äußere  Sinne  bedingten 
Schönheiten,  der  Malerei,  Musik,  Baukunst  einzuführen  sei,  als  „in  das 
Reich  der  durch  den  inneren  Sinn  bedingten,  das  der  Dichtkunst." 
„Fangt  an  mit  Raphael  und  mit  Gluck,  allein  nicht  mit  Sophokles.'- 
Erst  dann,  wenn  die  „Mann-  und  Weibbarkeit  sich  ent- 
zündet haben"  und  „alle  Kräfte  Einheit  und  Zukunft  suchen",  trete 
der  Dichter  auf  und  „sei  der  Orpheus",  „der  tote  Körper  so  gut  belebt, 
als  wilde  Thiere  bezähmt."  Unter  den  poetischen  Meisterwerken, 
deren  Studium  auf  den  jugendlichen  Geist  veredelnd  einwirken  soll, 
soll  jedoch  nach  Jean  Paul  in  der  Weise  eine  Auswahl  getroffen 
werden,  dass  vornehmlich  die  Erzeugnisse  der  Nationalliteratur 
berücksichtigt  werden.  Was  die  eigene  Nation  schuf,  das  steht  dem 
Einzelnen,  dessen  Denken,  Fühlen  und  Wollen  ja  so  vielfach  im  Bann- 
kreise der  nationalen  Bildungsverhältnisse  liegen,  jedenfalls  näher  als 
Fremdes.  Aus  diesem  Grunde  muss  es  aber  auch  einen  viel  nachhal- 
tigeren Einfluss  auf  die  ästhetische-  und  Charakterbildung  der  heran- 
wachsenden Jugend  bewirken;  denn  wenn  Bekannte,  deren  Stimme 
wir  kennen,  deren  innerliches  Fühlen  und  Denken  uns  so  nahe  liegt 
und  vielfach  selbst  bewegt,  zu  uns  reden,  so  verstehen  wir  ihre  Worte 
und  sie  werden  uns  viel  fester  im  Geiste  haften.  Diesen  großen  Ge- 
danken von  der  Gemüths-  und  Herzensbildung  durch  nationale  Kunst 
fasste  Jean  Paul  in  seiner  ganzen  Tragweite  auf  und  gibt  ihm  viel- 
fach Ausdruck.  In  mehreren  Capiteln  verbreitet  sich  sodann  die 
„Levana"  ausführlich  über  die  religiöse  Bildung  des  Zöglings,  ihre 
Notwendigkeit  und  den  Zeitpunkt  ihres  Beginnens.  Dem  jeder  kalten 
Verständigkeit  tief  abholden  Naturell  unseres  Dichters,  der  die  großen 
Angelegenheiten  des  Menschengeschlechts  und  die  Unzahl  ihrer  ver- 
worrenen Fragen  viel  mehr  in  beschaulicher  Innerlichkeit  des  Ge- 
fühls erwägte,  als  mit  der  Schärfe  des  Verstandes  prüfte,  war  es 
jedenfalls  sehr  entsprechend,  dass  er  den  Antheil  des  Gemüthes  und 
der  Gefühle  an  der  Religiosität  des  Menschen  besonders  stark  betont 
und  auch  in  der  Erziehung  besonders  hervorgehoben  wissen  wollte. 
Scharf  wendet  er  sich  gegen  den  Glauben,  als  hänge  die  religiöse 
Bildung  des  Zöglings  von  der  Anzahl  der  Religionsstunden  und  der 
Menge  des  dargebotenen  Stoffes  ab.  Solche  Ansichten  kann  sein 
klarer  Geist  für  das  Zeitalter  der  Humanität  nicht  mehr  als  praktisch 
verwendbar  ansehen.  Für  unser  Jahrhundert,  in  dem  „die  geborstenen 
Kirchenglocken  nur  noch  dumpf  den  Volksmarkt  zu  Kirchenstille 
rufen,"  verlangt  er  eine  mehr  auf  das  sittlich  religiöse  Leben  des 
Menschen  abzielende  Thätigkeit  des  Erziehers.   Unpassend  erscheint 


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—    757  — 


es  ihm  weiter,  „das  Kind  durch  Beweise  in  die  Welt  der  Religion 
einfuhren  zu  wollen."  „Jede  Sprosse  der  endlichen  Erkenntnis",  —  so 
führt  er  aus  —  „wird  durch  Allmählichkeit  erstiegen;  aber  das  Un- 
endliche kann  nur  auf  einmal  angeschaut  werden,  nur  auf  Flügeln, 
nicht  auf  Stufen  kommt  man  dahin."  Steht  in  dieser  Auffassung  die 
„Levana"  im  Gegensatz  zu  den  Ansichten  Rousseau's  und  der  Philan- 
thropisten,  die  bekanntlich  bei  der  religiösen  Unterweisung  Vernunft- 
gründe als  ausschlaggebend  betrachteten ,  so  glaubt  Jean  Paul  auch 
hinsichtlich  des  Zeitpunktes,  zu  welchem  der  Unterricht  in  der  Reli- 
gion beginnen  soll,  nicht  den  genannten  Pädagogen  beistimmen  zu 
können.  Denn  will  Rousseau  die  Entwickelung  der  religiösen  Welt- 
anschauung bei  seinem  Zögling  erst  mit  dem  Alter  der  Vernunft  be- 
ginnen, so  kann  Jean  Paul  mit  ihr  nicht  frühe  genug  anfangen.  Die 
Religion  ist  ihm  ein  Lebenselement,  dessen  Nothwendigkeit  für  alle 
Altersstufen  gleichmäßig  ist.  Ihrer  bedarf  auch  das  Herz  des  Kindes, 
und  die  schönste  Aufgabe  des  Erziehers  bleibt  es,  ihm  die  tröstlichen 
und  das  denkende  Sein  des  Menschen  in  sich  beruhigenden  Wahr- 
heiten derselben  einzuflößen. 

Noch  bleibt  uns  übrig,  die  Ansichten  Jean  Pauls  über  die  phy- 
sische Erziehung  zu  betrachten.  Außer  der  Bedeutung,  welche  die- 
selbe als  Bildung  und  Entwickelung  der  leiblichen  Seite  des  Menschen- 
wesens schon  in  sich  selbst  hat,  schätzt  er  dieselbe  als  Hebel  der 
geistigen,  namentlich  moralischen  Erziehung.  Der  Körper  ist  ihm  der 
„Panzer  und  Kürass  der  Seele"  und  „körperliche  Abhärtung  ist,  da 
der  Körper  der  Ankerplatz  des  Muthes  ist,  schon  geistig  nöthig."  „Ihr 
Zweck  und  Erfolg  ist  nicht  sowol  Gesundheitsanstalt  und  Verlängerung 
des  Lebens,  als  Aus-  und  Zurüstung  desselben  wider  das  Ungemach 
und  für  Heiterkeit  und  Thätigkeit."  Durchdrungen  also  wie  Rousseau 
und  die  Philanthropisten  von  der  Wichtigkeit  dieses  Theiles  der  Er- 
ziehung, widmet  er  ihm  eine  verhältnismäßig  genaue,  in  die  Gestalt 
eines  Briefes  „an  einen  Neuvermählten"  gekleidete  Darstellung,  wobei 
er  auf  Kleidung,  Wohnung  und  andere  Angelegenheiten  der  leiblichen 
Erziehung  zu  sprechen  kommt,  und  in  diesen  Dingen  sich  mit  seinen 
Ausführungen  ganz  den  Grundsätzen  der  oben  genannten  Männer  an- 
schließt. Abhärtung  des  Körpers  gegen  Kälte  und  Hitze,  die  Fähig- 
keit desselben  zum  Ertragen  von  Anstrengungen  und  Schmerzen,  Stär- 
kung der  Glieder  und  Übung  des  Leibes,  das  sind  ihm  die  Ziele  der 
physischen  Erziehung.  „Jeder  Vater  baue  um  sein  Haus  ein  kleines 
gymnastisches  Schnepfenthal! *  mit  dieser  Forderung  dringt  er  darauf,  dass 
aile  Eltern  die  erwähnte  Seite  der  Erziehung  aufs  möglichste  unterstützen. 


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—    758  — 


VII. 

Nachdem  wir  nunmehr  den  Plan  der  „Levana"  und  die  wichtig- 
sten der  in  ihr  niedergelegten  pädagogischen  Grundgedanken  kurz  zu 
entwickeln  versucht  haben,  bleibt  uns  noch  übrig,  die  Hauptsätze  der 
Jean  Paulschen  Pädagogik  von  dem  Standpunkt  der  heutigen  Er- 
ziehungswissenschaft aus  zu  beleuchten  und  dieselben  auf  ihren  Wert 
oder  Unwert  zu  prüfen.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  be- 
reits bei  der  Entwickelung  des  Planes  der  „Levana-  und  ihrer  Grund- 
gedanken öfters,  wenn  auch  nur  kurz,  auf  die  Ansichten  älterer  Päda- 
gogen und  auch  mitunter  auf  die  Gegenwart  hingewiesen  wurde,  und 
schon  in  der  Einleitung  erwähnten  wir  die  Einflüsse,  welche  das 
Naturell  des  Dichters,  die  damaligen  Zeitverhältnisse  und  der  Stand 
der  Pädagogik  überhaupt  auf  den  Geist  der  „Levana"  hatten.  Aus 
diesen  Gründen  dürfen  wir  wol  auf  eine  ins  Einzelne  gehende  Beur- 
theilung  verzichten  und  wollen  nur  die  wichtigsten  der  in  bestimmter 
Form  auftretenden  und  die  Kritik  besonders  herausfordernden  päda- 
gogischen Leitgedanken  in  gedrängter  Kürze  einer  Beleuchtung  unter- 
ziehen. 

Schon  als  wir  den  Jean  Paulschen  Grundsatz  von  der  Güte  der 
Kindesnatur  darzustellen  versuchten,  wiesen  wir  darauf  hin,  dass  er 
diese  Ansicht  mit  Rousseau  theile.  Durch  die  pädagogischen  Schriften 
des  letzteren  wurde  sie  in  die  Erziehungswissenschaft  eingeführt  und 
namentlich  von  den  Philanthropisten  aufgenommen  und  aufs  nachdrück- 
lichste vertreten.  Die  meisten  pädagogischen  Schriftsteller  zu  Jean 
Pauls  Zeit  huldigten  ihr  und  bis  in  unsere  Tage  fand  sie  begeisterte 
Vertreter.  Dem  gegenüber  hielt  die  traditionelle  Pädagogik  nach  wie 
vor,  gestützt  auf  die  Lehre  von  der  „Erbsünde,"  an  einer  angeborenen 
Verderbtheit  der  menschlichen  Natur  fest.  Selbstverständlich  ist  das 
Überwiegen  der  einen  oder  der  anderen  Anschauung  stets  von  weit- 
gehendem Einfluss  auf  die  pädagogische  Praxis  gewesen.  Nach  der 
auch  von  Jean  Paul  vertretenen  Anschauung  hat  die  Erziehung  den 
neugeborenen  Menschen  nicht  nur  als  ein  von  allen  sittlichen  Mängeln 
reines,  sondern  auch  mit  den  höchsten  Vorzügen  ausgestattetes  Wesen 
zu  betrachten.  Demgemäß  wird  ihre  Behandlungsweise  in  einer  sorg- 
fältigen Abhaltung  der  ihm  etwa  von  außen  zuströmenden  üblen  Ein- 
flüsse bestehen,  da  nur  hierdurch  der  Meusch  die  unbefleckte  Reinheit 
seines  Wesens,  wie  sie  die  Natur  in  ihn  legte,  beibehalten  und  zur 
höchsten  Ausbildung  bringen  kann.  Die  gegenteilige  Ansicht  dagegen 
wird  den  Menschen  als  unter  dem  Einflüsse  ursprünglicher  Verderbnis 
stehend  betrachten,  die  ihm  hauptsächlich  durch  das  Gebundensein 


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an  seine  sinnliche  Natur  anhafte.  Diese  verwerflichen  Eigentümlich- 
keiten der  Menschennatur  wird  demnach  die  Erziehung  nach  Möglich- 
keit zu  unterdrücken  haben,  um  einem  von  außen  her  dem  Menschen 
gesetzten  Ideal  Kaum  zu  verschaffen  und  demselben  die  Herrschaft 
über  die  natürliche  Verderbtheit  zu  erringen.  Dass  die  Befolgung  dieser 
beiden  einander  gegenüber  stehenden  Ansichten  in  der  pädagogischen 
Praxis  zu  Unzuträglichkeiten  führen  müsse,  erscheint  bei  näherer 
Betrachtung  als  selbstverständlich;  denn  die  erstere  besteht  in  einer 
Überschätzung  der  menschlichen  Veranlagungen,  während  die  letztere 
eine  Unterschätzung  derselben  in  sich  schließt.  Auf  Grundlage  der 
Errungenschaften  unserer  modernen  Psychologie  ist  die  neuere  päda- 
gogische Wissenschaft  in  dieser  Frage  zu  einer  selbstständigen  Stellung 
gelangt,  wodurch  die  Übertreibungen  der  beiden  angeführten  Anschau- 
ungen glücklich  vermieden  werden.  Lassen  wir  einen  berufenen  Ver- 
treter derselben  hierüber  sprechen!  Diester  weg  gibt,  wenn  er  die 
Hauptgegensätze  der  traditionellen  und  der  modernen  Pädagogik  ein- 
ander gegenüber  stellt,  den  Standpunkt  der  letzteren  in  den  Worten 
an:  „Die  menschliche  Natur  ist  zu  Anfang  ungebildet  (roh),  sie  trägt 
die  Keime  zu  einer  unendlichen  Mannigfaltigkeit  in  sich,  durch  Er- 
ziehung wird  sie  gebildet  und  veredelt."  Das  natürliche  Wachsthum 
der  im  Menschen  liegenden  Keime  führt  demnach  weder  ausschließlich 
zum  Guten  noch  ausschließlich  zum  Schlimmen.  Nach  beiden  Seiten 
hin  kann  vielmehr  je  nach  den  Bedingungen,  unter  welchen  die  Er- 
ziehung steht,  eine  Entfaltung  stattfinden.  Aufgabe  einer  guten  Er- 
ziehung wird  es  natürlich  sein,  die  dem  Menschen  von  der  Natur  ver- 
liehenen Kräfte  und  Fähigkeiten  harmonisch  zu  entwickeln  und  sie  so 
in  den  Dienst  des  Wahren,  Guten  und  Schönen  zu  stellen. 

Was  die  Ansichten  der  „Levana"  über  den  „Idealmenschen"  und 
dessen  Natur  betrifft,  so  wurde  schon  oben  angegeben,  dass  dieselben 
mit  den  idealistischen  Lehren  Plato's  über  die  angeborenen  Ideen  im 
Zusammenhange  stehen.  Der  wissenschaftliche  Realismus,  gestützt  auf 
die  Ergebnisse  einer  möglichst  exacten  Psychologie,  hat  sich  gegen 
eine  derartige  Auffassung  der  Menschennatur  jederzeit  ablehnend  ver- 
halten müssen,  da  sie  nicht  nur  jeder  unbefangenen  Erwägung,  sondern 
auch  namentlich  der  Erfahrung  gänzlich  widerspricht.  Nach  der  er- 
wähnten Ansicht  sind  nämlich  alle  wesentlichen  Verhältnisse  der  aus- 
gebildeten Menschennatur  schon  in  der  unausgebildeten  derart  gegeben, 
dass  die  Erziehung  nichts  weiter  thun  kann,  als  das  auf  dem  Grunde 
der  Seele  schlummernde  zu  wecken  und  ihm  etwa  nur  in  unwesent- 
lichen Einzelheiten  eine  besondere  Richtung  zu  geben.   Zur  näheren 


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Ausführung  dieser  Gedanken  und  zur  Widerlegung  derselben  wollen 
wir  ebenfalls  einen  berufenen  Vertreter,  F.  E.  Beneke,  sich  aus- 
sprechen lassen.  ,.Wie  es  eine  durchaus  unhaltbare  Erdichtung  ist," 
sagt  er,  „dass  der  Marmor  schon  die  Züge  der  Bildsäule  irgendwie 
in  sich  tragen  soll,  so  auch  die  Anwendung  auf  die  Erziehung.  Die 
menschliche  Seele  besitzt  keinerlei  ursprüngliche  Anlagen  von  solcher 
Bestimmtheit  und  Ausbildung,  und  der  Erzieher  hat  also  keineswegs 
nur  auseinander  zu  wickeln,  oder  das  Schlummernde  zu  wecken,  sondern 
was  er  einst  in  Zukunft  finden  will,  muss  er  erst  in  sich,  und  dann 
in  der  Seele  des  Kindes  mit  Liebe  und  Sorgfalt  und  nicht  selten  mit 
selbstverleugnender  Anstrengung  begründen. u 

Jean  Paul  selbst  widerspricht  denn  auch  der  im  Anfang  von  ihm 
festgestellten  Theorie,  wenn  er  sagt,  ,,dass  der  Erzieher  von  einer 
Individualität,  die  er  wachsen  lassen  muss,  eine  andere  zu  trennen 
hat,  die  er  beugen  oder  lenken  soll."  Erstere  ist  ihm  die  intellec- 
tuelle,  letztere  die  sittliche.  Mit  ganz  richtigem  Gefühle  tritt  er  also 
zunächst  in  der  sittlichen  Erziehung  seinem  anfangs  gelehrten  Grund- 
satze entgegen,  dass  der  im  Idealraenschen  enthaltenen  Individualität 
ungehindertes  Wachsthum  zu  gewähren  sei.  Aber  auch  in  Betreff  der 
intellectuellen  Bildung  hätte  er  seine  Grundansicht  in  ihrer  Anwen- 
dung als  verfehlt  betrachten  müssen.  Das  folgt  schon  aus  dem  engen 
Zusammenhang,  in  welchem  die  intellectuelle  und  die  moralische  Seite 
des  Menschenwesens  stehen;  aber  schon  der  Grundsatz  einer  harmo- 
nischen Ausbildung  aller  Kräfte  verlangt  es,  dass  sich  das  beugende 
-  und  lenkende  Element  der  Erziehung  auf  sämtliche  Leibes-  und 
Seelenkräfte  zu  erstrecken  hat. 

Zu  den  Eigentümlichkeiten  der  Jean  Panischen  Pädagogik, 
welche  von  jeher  den  lautesten  Widerspruch  erfahren  haben,  gehören 
namentlich  auch  die  Ansichten,  welche  er  über  die  Bildung  zum 
Witze  entwickelt.  Wenn  der  Verfasser  der  „Levana"  der  Übung 
jener  Geisteskraft  eine  große  Bedeutung,  namentlich  für  die  erste 
Entwickelung  des  kindlichen  Geistes  zuerkennt,  so  wird  ihm  dies 
nicht  geradezu  abgestritten  werden  können.  Wenn  er  aber  den 
Übungen  in  witzigen  Einfällen  und  Gedanken  allzu  großen  Spielraum 
gewährt;  wenn  er  einen  besonderen  Theil  der  Unterrichtszeit  darauf 
verwendet  wissen  will;  wenn  er  diesen  ersten  kindlichen  Versuchen 
im  Witzspiele  alle  Gegenstände  fast  ohne  Auswahl  überlässt  und  so- 
gar die  Person  des  Lehrers  denselben  aussetzt:  so  dürfte  dies  doch 
weit  über  die  Grenze  des  pädagogisch  Erlaubten  hinausgehen.  Ver- 
mehrt werden  diese  Bedenken  noch,  wenn  man  überlegt,  dass  Jean 


Paul  diese  unreifen  Erzeugnisse  des  kindlichen  Geistes  sogar  aufzu- 
schreiben empfiehlt.  Hierin  liegt  ganz  gewiss  eine  Überschätzung 
dieser  regellosen  Einfälle,  welche  auf  Seiten  des  Kindes  gar  leicht  zu 
Eitelkeit,  Einbildung  und  Dünkel  führen  kann.  Vielleicht  ist  die 
Maßlosigkeit  der  Jean  Panischen  Ansichten  in  diesem  Punkte  zurück- 
zuführen auf  seine  Hinneigung  zu  Ideen  der  Philanthropisten,  die  sich 
bekanntlich  angelegen  sein  ließen,  „das  Lernen  nur  in  lauter  Sonnen- 
schein zu  betreiben"  und  dasselbe  dem  Kinde  nicht  zu  einer  Kraft 
heischenden  Arbeit,  sondern  zu  einem  augenehmen  Spiele  des  Geistes 
zu  gestalten. 

Obschon  es  nicht  möglich  ist,  in  einem  kritischen  Überblick  über 
die  hauptsächlichsten  pädagogischen  Grundansichten  der  „Levana" 
auf  alle  Einzelheiten  einzugehen,  so  ist  es  dennoch  von  Interesse, 
eine  besonders  auffallende  Erscheinung  hervorzuheben,  nämlich  die 
Rangordnung,  welche  Jean  Paul  den  einzelnen  Unterrichtsfächern 
nach  Maßgabe  ihrer  erziehlichen  Kräfte  zutheilt.  Besonders  merk- 
würdig ist  in  dieser  Hinsicht,  dass  Jean  Paul  die  Realfächer  ganz  in 
den  Hintergrund  treten  lässt  und  von  ihrem  formalbildenden  Einflüsse 
eine  so  sehr  geringe  Meinung  hegt.  Dr.  K.  Lange,  der  eine  neue 
Ausgabe  der  „Levana"  besorgt  hat,  spricht  sich  hierüber  in  folgenden 
Worten  aus:  „Wenn  heutzutage  schwerlich  jemand  diese  befremdliche 
Ausicht  theilen  und  den  sogenannten  „Realien"  mit  Jean  Paul  einen 
so  geringen  Bildungsgrad  beilegen  wird,  so  ist  das  ein  erfreuliches 
Zeichen  dafür,  dass  seit  dem  Anfang  dieses  Jahrhunderts  Theorie 
und  Praxis  des  Unterrichts  wesentliche  Fortschritte  gemacht 
haben.  Zur  Zeit,  da  der  Verfasser  der  „Levana"  unterrichtete,  be- 
stand der  Sachunterricht  allerdings  ziun  guten  Theil  aus  einem  „an- 
häufenden Vorlehren"  von  Raritäten  und  bunt  zusammengewürfelten 
nützlichen  Kenntnissen;  von  geistiger  Durchdringung  und  Belebung 
des  heterogenen  Stoffes,  von  einer  Autfassung  des  Natur-  und  Menscheu- 
lebens als  eines  organischen  Ganzen  konnte  damals  bei  der  Unvoll- 
kommenheit  der  betreffenden  Fachwissenschaften  nicht  die  Rede  sein. 
Und  so  darf  uns  nicht  wundern,  dass  Richter  die  Bedeutung  der 
Realien  für  die  Bildung  der  Intelligenz,  ja  für  das  gesammte  geistige 
Leben  übersieht  und  ihnen  die  Fähigkeit,  den  Bildungstrieb  zu  wecken 
und  zu  fordern,  abspricht," 

VIII. 

Wir  sind  am  Schlüsse  unserer  Betrachtungen  über  Jean  Pauls 
„Levana"  angelangt.    Bei  der  Kürze  unserer  Arbeit  konnte  es  uns 


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unmöglich  gelingen,  dieselben  erschöpfend  zu  gestalten.  Aber  selbst 
bei  Anhäufung  von  viel  umfassenderem  Material  würde  es  schwer 
fallen,  dem  eigenartigen  und  interessanten  Buche  gerecht  zu  werden. 
Die  Fülle  des  Geistes  und  der  sinnigen  Beobachtungen,  welche  die 
„Levana"  in  ihrem  weiten  Rahmen  birgt,  lässt  sich  nur  durch  lange 
Beschäftigung  und  inniges  Vertrautsein  mit  diesem  Werke  völlig  er- 
gründen und  dem  eigenen  Gedankenkreise  nutzbar  machen.  Ein  Buch, 
an  dem  einer  unserer  fruchtbarsten  und  schreibgewandtesten  Dichter 
nach  eigenem  Geständnisse  10000  Stunden  arbeitete,  muss  der  Räthsel 
viele  bieten  und  dem  Geiste  Stoff  zu  langdauernder  Arbeit  geben. 
Tiefgründig,  wie  Jean  Pauls  Erziehlehre  ist,  wird  sie  stets  dem  tiefer 
Denkenden  und  Grabenden  eine  Quelle  zahlreicher  Gedankenkeime 
sein,  die  sich  im  Gemüthe  des  emsig  weiter  Forschenden  und  die 
Aufgaben  seiner  Wissenschaft  vertiefenden  Erziehers  zu  einer  Fülle 
der  herrlichsten  Gedankenblüten  entfalten.  Und  doch  sehen  wir,  wie 
das  schätzbare  Werk  des  poesiereichsten  unserer  Pädagogen  immer 
mehr  vereinsamt  und  der  großen  Mehrheit  unserer  Zeitgenossen  zum 
bloßen  Namen  herabzusinken  droht.  Wie  auffallend  ist  diese  That- 
sache,  wenn  wir  bei  ihrer  Beurtheilung  an  die  Zustände  in  den  Tagen 
Jean  Pauls  denken! 

Damals  war  seine  „Levana"  eines  der  meist  gelesenen  Werke 
unserer  Literatur,  und  in  höheren  Ständen,  wo  man  die  Überzahl  der 
übrigen  Erziehungsbücher  als  langweilige  Leetüre  aus  der  Familien- 
bibliothek ausschloss,  galt  es  als  notwendige  Bedingung  für  jede  ge- 
bildete Mutter,  die  „Levana"  gelesen  zu  haben.  So  verpflanzte  dieses 
Buch  einen  reichen  Schatz  pädagogischer  Gedanken  und  Erfahrungen 
in  die  Angehörigen  jener  Stände,  an  welchen  bis  dahin  die  Hochflut 
pädagogischer  Reformbestrebungen  spurlos  vorübergerauscht  war.  Auf 
diese  Weise  wurde  unser  Dichter  mit  seinem  gehalt-  und  erfolgreichen 
Buche  ein  wirksamer  Seitenkämpfer  und  eine  sehr  bedeutungsvolle 
Ergänzung  Pestalozzis,  der  zu  jener  Zeit  im  Schweizerlande  mit 
begeisterter  und  aufopfernder  Thätigkeit  fiir  Menschenheil  durch  Jugend- 
bildung wirkte.  Das  ist,  wie  gesagt,  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte 
anders  geworden.  Als  Familienbuch  wird  die  „Levana"  nur  höchst 
selten  noch  gefunden,  und  selbst  in  pädagogischen  Kreisen  ist  man 
großenteils  mit  Jean  Pauls  Erziehlehre  nicht  sehr  bekannt.  Ja, 
die  Theilnahme  für  uuser  Buch  ist  nachgerade  fast  zum  blos  histo- 
rischen Interesse  herabgesunken!  Citirt  werden  die  goldenen  Worte 
des  Werkes  zwar  allenthalben,  und  einzelne  seiner  gehaltreichsten 
Sätze  wandern  von  Mund  zu  Mund.   An  rückhaltloser  Bewunderung 


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—    763  — 


für  Jean  Fauls  pädagogische  Schrift  hat  man  niemals  gespart,  aber 
mit  dem  Lesen  derselben  ist  es  in  unseren  Tagen  schlecht  bestellt. 
Es  kann  uns  nicht  schwer  fallen,  für  diesen  anscheinend  auffälligen 
Umstand  eine  ausreichende  Erklärung  zu  finden.  Den  Zeitgenossen 
Jean  Pauls  war  die  „Levana"  wie  die  übrigen  Schriften  dieses 
Dichters  eine  Lieblingslectüre;  denn  sie  fanden  in  diesen  Werken 
Spiegelbilder  ihres  eigenen  Denkens  und  Fühlens.  Ganz  wie  jenes 
Zeitalter,  in  welchem  unsere  „Levana"  das  Licht  der  Welt  erblickte, 
dachte  und  fühlte  ihr  Autor.  Sein  Werk  ist  ein  Ausfluss  all  jener 
Ideen,  welche  seine  Zeit  bewegten,  abgespiegelt  und  modificirt  durch 
die  Persönlichkeit  eines  Dichters,  der  sich  getragen  fühlte  von  dem 
Gedanken,  den  besten  seiner  Mitlebenden  genug  gethan  zu  haben. 
Die  Humanität,  jener  wunderthätige  „Gral  unserer  classischen  Tafel- 
runde" (Gottschall),  der  Philauthropismus  mit  seinem  eifrigen  und 
nicht  selten  übereilten  Streben  nach  einer  möglichst  rationellen  Jugend- 
bildung, diese  Richtungen  gaben  unserem  Dichter  die  Leitgedanken 
zur  „Levana".  Dazu  kam  noch  ein  stark  ausgeprägter  Zug  von 
Sentimentalität  als  persönliche  Zugabe  ihres  Verfassers.  Darum  kann 
es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  Jean  Pauls  Werk  eine  so  weitgehende 
Verbreitung  und  begeisterte  Aufnahme  fand.  Da  aber  unser  Jahr- 
hundert gerade  mit  den  hervorragendsten  der  damaligen  Streit-  und 
Zeitgedanken  ziemlich  zum  Abschluss  gekommen  ist,  oder  dieselben 
doch  wenigstens  in  veränderter  Form  vertritt,  so  musste  auch  die 
Theilnahme  für  ein  Werk,  das  in  der  Art  der  „Levana"  durch  die- 
selbe beeinflusst  ist,  allmählich  erkalten.  Außerdem  ist  nicht  zu  ver- 
kennen, dass  für  unser  Buch  in  jetziger  Zeit  Ersatz  gegeben  ist 
durch  pädagogische  Werke,  welche  in  ihrer  Darstellung  den  Fort- 
schritten und  Interessen  der  Gegenwart  in  höherem  Maße  Rechnung 
tragen.  Was  aber  die  „Levana"  wirkte  und  pflegte  zur 
Blütezeit  ihres  Bestandes,  was  sie  an  Theilnahme  und  Be- 
geisterung zum  Nutzen  der  pädagogischen  Kunst  und  Wissen- 
schaft erweckte,  das  kann  nie  entschieden  genug  betont 
werden,  und  das  in  dieser  Richtung  Erzielte  bildet  ein 
schönes  Blatt  im  Lorberkranze  ihres  Dichters.  Auch  heute 
noch  liest  sein  Werk,  wer  die  mitunter  schwer  zu  durchbrechende 
Hülle  nicht  scheut,  um  ins  Heiligtlmm  einer  reichen  Fülle  pädago- 
gischer Gedanken  zu  gelangen,  mit  hohem  Genuss,  und  die  Ernte  an 
wirksamen  Antrieben  und  begeisternden  Hinweisen  auf  die  edlen  Ziele 
unserer  Wissenschaft  ist  nicht  gering.  Namentlich  die  große  Zahl 
der  Pädagogen  im  engeren  Sinne  sollte  an  dem  gehaltreichen  Erzeug- 


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nisse  ihres  großen  Mitstrebenden  nicht  theilnahmslos  vorübergehen; 
denn  wie  ein  Feuer  auf  dem  Berge  den  Wanderern  im  Thale  die 
Pfade  erhellt  und  den  Weg  zu  höheren  Regionen  ihren  Blicken  ent- 
hüllt, so  leuchten  die  edlen  Gedanken  der  „Levana*  als  taghelle 
Geistesblitze  in  jedes  Erziehers  Gemüth,  es  erwärmend  und  begeisternd 
für  das  Heilige  seiner  Aufgabe,  und  ihm  in  fernem  goldenen  Schim- 
mer zeigend  das  höchste  Princip  seines  Denkers,  das  Ideal  seines 
Berufes. 


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Über  den  Geburtsort  des  Comenins. 

-Bekanntlich  hat  der  dreihundertste  Gebartstag  des  Comenius 
eine  große  Bereicherung  der  diesen  berühmten  Schulmann  betreffenden 
Literatur  mit  sich  gebracht.  Doch  sind  noch  keineswegs  alle  Einzel- 
heiten seines  Lebens  und  Wirkens  völlig  geklärt.  So  wird  z.  B.  noch 
eifrig  gestritten  um  seinen  Geburtsort.  Wenn  dieser  nun  auch  an 
dem  geistigen  Bilde  und  der  inneren  Bedeutung  des  großen  Mannes 
nichts  ändern  kann,  so  ist  es  doch  störend  und  zeitraubend,  in  Büchern, 
Reden  und  Lehrvorträgen  immer  und  immer  wieder  langen  Unter- 
suchungen und  Contro versen  über  diesen  Gegenstand  zu  begegnen; 
noch  weniger  aber  kann  es  befriedigen,  hierüber  nur  mit  unzuver- 
lässigen Notizen  abgespeist  zu  werden.  Gewiss  wäre  es  also  von  Vor- 
theil, wenn  endlich  die  so  viel  umstrittene  Frage  durch  ein  sicheres 
Ergebnis  zum  Abschluss  gebracht  werden  könnte.  Und  in  der  That 
glaube  ich,  dass  über  den  Geburtsort  des  Comenius  heute  kein 
Zweifel  mehr  bestehen  kann. 

Bekanntlich  sind  im  Laufe  der  Zeit  von  verschiedenen  Schrift- 
stellern drei  Orte  als  Geburtsstätten  des  Comenius  bezeichnet  worden, 
die  sämtlich  im  südöstlichen  Mähren  und  nicht  weit  von  einander  ent- 
fernt liegen:  nämlich  Komna  (oder  Komnia),  Niwnitz  und  Ungarisch- 
Brod.  Für  die  mit  den  Örtlichkeiten  nicht  Vertrauten  sei  kurz  folgen- 
des bemerkt.  Die  Stadt  Ungarisch-Brod  findet  sich  in  jedem  nicht 
allzudürftigen  Atlas.  Etwa  5  Kilometer  südlich  davon  liegt  der  Markt- 
flecken Niwnitz ;  ungefähr  doppelt  so  weit  von  Ungarisch-Brod  entfernt 
liegt  in  der  Mitte  zwischen  dieser  Stadt  und  Trentschin  an  der  Waag 
das  Dorf  Komna  (Komnia),  hart  an  der  ungarischen  Grenze.  Dasselbe 
wird  in  folgendem  nicht  weiter  in  Betracht  kommen,  da  gegenwärtig 

Pädagogium.    14.  J»hrg.    Heft  XII.  03 


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feststeht,  dass  es  nicht  der  Geburtsort  des  Comenius,  sondern  nur 
der  Stammort  seiner  Familie  ist,  indem  entweder  die  Eltern  des  Pä- 
dagogen oder  schon  frühere  Vorfahren  desselben  ans  Komnia  aus- 
wanderten, um  sich  in  Ungarisch-Brod  (nicht  in  Niwnitz)  niederzulassen. 
Der  Streit  dreht  sich  also  derzeit  nur  noch  um  Ung.-Brod  und  Niwnitz. 

Da  ich  schon  längst  gewünscht  hatte,  die  Heimat  des  Comenius 
zn  sehen,  so  begab  ich  mich  im  September  vorigen  Jahres  dorthin, 
begleitet  von  dem  verdienten  Vorsitzenden  der  Wiener  Pädagogischen 
Gesellschaft,  Herrn  M.  Zens;  als  freundlicher  und  kundiger  Führer 
schloss  sich  uns  Herr  Bürgerschullehrer  Fr.  Lang  in  Ung.-Brod  an. 
Besondere  Aufmerksamkeit  widmeten  wir  natürlich  u.  a.  den  zwei 
Mühlen,  deren  gegenwärtige  Besitzer  nebst  vielen  anderen  Personen 
mit  Entschiedenheit,  man  kann  sagen  mit  Stolz  und  Begeisterung  be- 
haupten, dass  daselbst  Arnos  Comenius  das  Licht  der  Welt  erblickt 
habe.  Die  eine  dieser  Mühlen  liegt  in  Niwnitz,  die  andere  gehört  zu 
Brod,  liegt  aber  außerhalb  der  noch  mit  Festungsmauern  umgebenen 
Stadt,  in  der  Richtung  nach  Niwnitz.  Natürlich  konnten  die  Argu- 
mente, welche  wir  in  diesen  Mühlen  hörten,  uns  weder  für  die  eine 
noch  für  die  andere  Tradition  gewinnen,  da  ihnen  keine  urkundliche 
Beweiskraft  zur  Seite  stand.  Es  ist  nicht  einmal  sicher  bezeugt,  dass 
Comenius  der  Sohn  eines  Müllers  war,  wenn  auch  diese  Überlieferung 
—  trotz  der  neuerlich  gegen  sie  vorgebrachten  Zweifel  —  wegen  ihres 
hohen  Alters  und  ihrer  Beständigkeit  im  Volksmunde  die  Wahrschein- 
lichkeit für  sich  hat. 

Die  bisherige  Unsicherheit  über  den  Geburtsort  des  Comenius 
beruhte  in  erster  Linie  darauf,  dass  die  älteste  und  wichtigste  Urkunde 
hierüber  verloren  gegangen  ist,  wie  es  scheint  für  immer:  es  sind 
nämlich  weder  in  Ung.-Brod  noch  in  Niwnitz  Geburtsregister  aus 
der  hier  in  Betracht  kommenden  Zeit  erhalten;  wahrscheinlich  hat  da, 
wie  in  vielen  anderen  Fällen,  der  30jährige  Krieg  vernichtend  gewirkt. 
In  zweiter  Linie  ist  die  Unsicherheit  daher  gekommen,  dass  die  etwas 
späteren  und  erhaltenen  Nachrichten  über  die  vorliegende  Frage 
sich  widersprechen,  indem  sie  teils  auf  Niwnitz,  teils  auf  Ung.-Brod 
lauten.  Daher  erklärt  es  sich  auch,  weshalb  noch  unter  den  neuesten 
Biographen  des  Comenius  gerade  diejenigen  zwei,  welche  am  gründ- 
lichsten auf  die  Quellen  eingehen,  nämlich  Kvacsala  und  Vrbka,  be- 
züglich des  fraglichen  Geburtsortes  entgegengesetzter  Meinung  sind, 
indem  jener  für  Niwnitz,  dieser  für  Ung.-Brod  eintritt,  obwol  jeder 
von  beiden  noch  einen  schwachen  Zweifel  gegen  seine  Annahme  zu- 
lässt.   Wer  hat  nun  Recht? 


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I 


—    767  — 

Die  Nachrichten,  auf  welche  Kvacsala  und  Vrbka  sich  stützen, 
und  auf  welche  wir  derzeit  ausschließlich  angewiesen  sind,  rühren 
theils  direct  von  Arnos  Comenius  selbst  her,  theüs  von  solchen  Personen, 
die  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ihre  Informationen  eben  auch  von 
Arnos  Comenius  —  mittelbar  oder  unmittelbar  —  erhalten  hatten. 
Weil  nun  diese  Nachrichten  von  unanfechtbarer  Echtheit,  keineswegs 
aber  so  unvereinbar  sind,  wie  es  nach  ihrem  Wortlaute  scheinen 
könnte,  so  sind  sie  meines  Erachtens  in  der  vorliegenden  Frage 
völlig  entscheidend,  da  man  nicht  bezweifeln  kann,  dass 
Arnos  Comenius  selbst  gewusst  habe,  wo  er  geboren  war. 

Die  in  Betracht  kommenden  Nachrichten  nun  ergeben,  dass  Co- 
menius in  seinen  jüngeren  Jahren  immer  Niwnitz  als  seinen  Geburts- 
ort bezeichnet  hat,  dass  jedoch  später  von  anderen  Personen  und  auch 
einmal  von  ihm  selbst  Ung.-Brod  als  seine  Heimat  bezeichnet  worden 
ist.  Bevor  wir  auf  die  Lösung  dieses  Widerspruches  eingehen,  wollen 
wir  ihn  erst  deutlicher  darstellen. 

I.  Comenius  nennt  sich:  Niwnicensis,  Niwnicenus,  Arnos  Nivanus 
Joh.  Arnos  e  Marcomannis  Niwnicenus,  also  immer  so,  dass  er  zweifel- 
los Niwnitz  als  seinen  Geburtsort  bezeichnet  —  und  zwar  namentlich 
bei  folgenden  Anlässen:  1.  bei  seiner  Inscription  an  der  Hochschule 
in  Herborn  (1611),  2.  bei  Unterzeichnung  seiner  ersten  (erhaltenen) 
literarischen  Arbeit,  eines  lateinischen  Gedichtes  (1612),  3.  bei  seiner 
Inscription  an  der  Universität  Heidelberg  (1613),  4.  beim  Ankauf  einer 
Handschrift  von  Copernicus,  indem  er  auf  dieselbe  seinen  Namen 
setzte  (1614). 

II.  Zu  Elbing,  wo  sich  Comenius  bekanntlich  1642 — 1648  aufhielt, 
wurde  er  in  den  Rathsprotokollen  „Johannes  Arnos  Comenius  Hunno- 
brodensis"  genannt*),  ebenso  nannte  er  sich  selbst  in  einer  in  der 
Schule  zu  Saros-Patak  von  ihm  gehaltenen  Rede  (1650),  endlich  be- 
findet sich  im  British  Museum  zu  London  ein  Manuscript,  welches  den 
Text  zu  einer  Grabschrift  für  Comenius  enthält,  in  der  u.  a.  folgende 
Stelle  vorkommt:  Natus  die  28  Martii  MDXCH  Hunnobrodae. 

Nun  halte  ich  die  erste  Gruppe  von  Zeugnissen  über  den  Ge- 
burtsort des  Comenius  für  unbedingt  entscheidend  und  alle  an  ihnen 
versuchten  Deutungen  für  ganz  willkürlich  und  belanglos.  Was  die 
zweite  Gruppe  derselben  betrifft,  so  können  sie  nur  daraus  erklärt 
werden,  dass  Comenius  die  seinem  Geburtsort  benachbarte  Stadt 
deshalb  als  seine  Heimat  bezeichnete,  weil  in  der  Ferne  von  dem 


*)  Siehe  Monatshefte  der  Comenius-Gesellschaft  1.  Jhrg.  S.  66. 

63* 


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-    768  — 

• 

kleinen  Niwnitz  niemand  etwas  wusste,  während  Ung.-Brod  immerhin 
eine  nicht  unbedeutende  Stadt  war  und  in  jener  Zeit,  sowie  schon 
früher,  als  Festung  eine  Rolle  in  der  Kriegsgeschichte  spielte  und  oft 
genannt  wurde.  Auch  war  ja  diese  Stadt  der  Wohnort  seiner  Eltern 
und  sein  eigener  in  seinen  12  ersten  Lebensjahren,  nur  eben  nicht 
sein  Geburtsort.  In  Herborn  und  Heidelberg  durfte  sich  Comenius 
mit  dieser  ungefähren,  weniger  genauen  Bezeichnung  seines  Ge- 
burtsortes nicht  begnügen,  weil  dies  in  allen  officiellen  Verhältnissen, 
besonders  auch  bei  Aufrahme  in  Schulen,  nicht  statthaft  ist;  denn 
in  solchen  Fällen  ist  volle  Genauigkeit  Vorschrift  und  allgemeiner 
Usus.  Auch  kann  man  sich  gar  keinen  Grund  denken,  weshalb  Co- 
menius einen  unbedeutenden  Flecken  als  seinen  Geburtsort  bezeichnet 
haben  sollte,  wenn  er  in  der  benachbarten  ansehnlichen  Stadt  zur 
Welt  gekommen  wäre.  Gerade  das  Rangverhältnis  zwischen  Niwnitz 
und  Ung.-Brod  ist  insofern  von  erheblichem  Belang,  als  man  dem 
Comenius  ein  widersinniges  Vorgehen  zuschreiben  müsste,  wenn  er  statt 
Hunnobrodensis  „Niwnicenus"  geschrieben  hätte,  während  es  nicht 
verwundern  kann,  wenn  er  gelegentlich  statt  Niwnicensis  „Hunno- 
brodensis" sagte,  was  dann  auch  von  seinen  Zeitgenossen  (in  England, 
Schweden,  Elbing,  Amsterdam  u.  8.  w.)  angenommen  wurde.  Nun  stößt 
man  sich  aber  besonders  an  der  erwähnten  Grabschrift*)  und  zwar 
hauptsächlich  deshalb,  weil  man  als  ihren  Verfasser  des  Comenius  leib- 
lichen Sohn  Daniel  ansieht,  der  doch  wol  das  Richtige  gewusst  haben 
müsse.  Diese  Autorschaft  ist  nun  zwar  nicht  sicher  erwiesen,  wie 
man  auch  nicht  weiß,  ob  die  besagte  Inschrift  wirklich  auf  des  Co- 
menius Grab  gesetzt  worden  ist.  Geben  wir  aber  beide  Umstände 
bereitwillig  zu,  was  folgt  dann?  Etwa,  dass  Comenius  wirklich  in 
Ung.-Brod  geboren  wäre?  Mit  nichten,  sondern  höchstens,  dass  dies 
der  Verfasser  der  Grabschrift  geglaubt  hat.  War  dieser  Verfasser 
des  Comenius  Sohn  Daniel,  der  seinen  Vater  in  der  That  tiberlebte, 
so  stand  er  eben  unter  der  nämlichen  Überlieferung,  wie  andere  Leute, 
da  Comenius  in  seinen  späteren  Jahren  und  in  der  Fremde  jedenfalls 
die  Gewohnheit  angenommen  hatte,  als  seine  Heimat  kurzweg  Ung.- 
Brod  zu  bezeichnen,  um  weitläufigen  Angaben  tiberhoben  zu  sein. 
Dass  aber  auch  sein  Sohn  Daniel  das  Genauere  nicht  wusste,  kann 
deshalb  nicht  sehr  auffallen,  weil  dieser  fern  von  Comenius*  Heimat 
(nämlich  in  Elbing)  geboren  war  und  diese  nie  gesehen  hat. 

Nun  legt  Vrbka  (auf  Grund  archivalischer  Forschungen  von  Kuöera) 


*)  Selbst  Kvacsala  ist  von  ihr  in  Verlegenheit  gesetzt. 


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besonderes  Gewicht  darauf,  dass  die  Eltern  des  Comenius  bis  zu  ihrem 
Tode  (1604)  wirklich  in  Ung.-Brod  ansässig  waren  und  nirgends  er- 
sichtlich ist,  dass  sie  diesen  Wohnort  einmal  mit  einem  anderen,  etwa 
mit  Niwnitz  vertauscht  hätten.  Aber  können  sie  'nicht  vorüber- 
gehend, auf  kurze  Zeit  im  nahen  Niwnitz  gewesen  sein?  Jedenfalls 
hat  sich  wenigstens  die  Mutter  des  Comenius  am  28.  März  1592 
daselbst  befunden,  sei  es  in  der  von  der- Volkssage  bezeichneten  Mühle 
oder  in  einem  anderen  Hause,  sei  es  zum  Besuche  bei  Verwandten 
oder  aus  .  einem  andern,  vielleicht  dringlichen  Anlass.  Denn  dass  Arnos 
Comenius  an  jenem  Tage  in  Niwnitz  geboren  wurde,  muss  als  der 
einzige  Grund  angesehen  werden,  weshalb  dieser  Ort  überhaupt  in 
der  Lebensgeschichte  des  großen  Pädagogen  Erwähnung  und  Bedeutung 
erlangt  hat,  weil  ein  anderer  Grund  hierfür  nicht  besteht.  Gönnen 
wir  dem  Orte  also  ohne  weitere  Anfechtung  seinen  in  der  That  wol- 
begründeten  Ruhm,  zumal  der  unansehnliche  Markt  sonst  nichts  auf- 
zuweisen hat,  was  seinem  Namen  eine  historische  Bedeutung  sichern 
könnte.  Ung.-Brod  aber  möge  sich  damit  begnügen,  dass  es  die  Eltern 
des  Comenius  und  auch  diesen  selbst  zwölf  Jahre  lang  beherbergt,  ihm 
auch  den  ersten  Schulunterricht  geboten  hat.  Bei  alledem  ist  übrigens 
nicht  ausgeschlossen,  dass  der  Vater  des  Comenius,  obwol  er  in  der 
Stadt  selbst  ein  Haus  besaß,  auch  Eigenthümer  der  oben  erwähnten 
Mühle  außerhalb  der  Stadtmauern  gewesen  sein  kann. 

Und  liegt  denn  in  der  Thatsache,  dass  Comenius  nicht  im  Wohn- 
ort seiner  Eltern,  sondern  eben  in  Niwnitz  geboren  wurde,  etwas 
so  gar  Seltsames,  das  man  schwer  glauben  könnte?  Keineswegs;  ähn- 
liche Fälle  kommen  öfters  vor,  und  es  sind  deren  auch  allgemein  be- 
kannt. Ich  erwähne  namentlich  zwei,  an  die  man  gerade  bei  Comenius 
sich  leicht  erinnert.  Die  Eltern  Jesu  wohnten  in  Nazareth  und  doch 
wurde  er  selbst  in  Bethlehem  geboren;  und  obwol  Bethlehem  sein 
Geburtsort  war,  hieß  er  dennoch  Jesus  „von  Nazareth"  („Nazarenus"). 
Warum  könnte  also  Comenius,  obwol  Niwnitz  sein  Geburtsort  ist,  nicht 
Hunnobrodensis  heißen?  —  Martin  Luther  ferner,  obwol  seine  Eltern 
in  Mansfeld  wohnten,  wurde  doch  in  Eisleben  geboren.  Und  wenn 
er  auswärts,  etwa  in  Magdeburg,  Erfurt  oder  sonstwo  von  anderen 
oder  von  sich  selbst  ein  „Mansfeld er"  genannt  worden  wäre  —  was 
ich  weder  behaupten  noch  bestreiten  kann  —  so  würde  trotzdem  sein 
Geburtsort  Eisleben  bleiben.  —  Der  oben  erwähnten  Grabschrift 
zuliebe  möge  nun  noch  ein  interessantes  Analogon  angeführt  sein.  Der 
berühmte  Dichter  Vergilius  war,  als  Sohn  eines  Bauern,  zu  And  es 
in  der  Gegend  von  Mantua  geboren.   Im  Alter  von  12  Jahren  ver- 


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—    770  — 


ließ  er  die  Heimat,  um  die  Schale  von  Cremona  zu  besuchen;  von  da 
ging  er,  um  sich  weiter  auszubilden,  nach  Mailand,  dann  nach  Rom» 
Als  er  ein  berühmter  Mann  geworden  war,  nannte  man  ihn  den  „Man- 
tuaner",  und  wahrscheinlich  nannte  er  sich  selbst  so;  denn  seine  Grab- 
schrift, die  von  ihm  selbst  dictirt  sein  soll,  jedenfalls  von  sicherer 
Hand  stammt,  beginnt  mit  den  Worten:  „Mantua  me  genuit".  Warum 
stößt  man  sich  also  an  dem  „Natus  Hunnobrodae"?  —  So  gewiss  Jesus 
in  Bethlehem,  Luther  in  Eisleben,  Vergil  in  Andes  geboren  war:  eben 
so  gewiss  war  meines  Erachtens  der  berühmte  Pädagog.  welcher  in 
seinem  späteren  Leben  den  Zunamen  Hunnobrodensis  führte,  in 
Niwnitz  geboren. 


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Die  Bezirksschulinspection. 

Eine  ungelöste  Frage  des  österreichischen  Volksschulwesens. 
Besprochen  von  Wilh.  Taschek  -  Y'öslau. 

Bekanntlich  sind  die  Bezirksschulinspectoren  in  Österreich  seit 
dem  Bestände  des  Reichsvolksschulgesetzes  provisorische  Schulbeamte 
gewesen.  Sie  wurden  aus  dem  Stande  der  Volks-  und  Bürgerschul- 
lehrer oder  jenem  der  Mittelschulprofessoren  auf  Vorschlag  des  Bezirks- 
schulrathes  vom  Unterrichtsminister  für  die  Dauer  einiger  Jahre  er- 
nannt, nach  deren  Ablauf  ein  neuerlicher  Vorschlag  erstattet  werden 
musste. 

Dieser  Zustand  dauerte  bis  1892,  wo  insofern  eine  Änderung  des- 
selben eintrat,  als  mittelst  Reichsrathsbeschluss  das  Definitivum  der 
Bezirksschulinspectoren  für  Galizien  zum  Gesetz  erhoben  wurde,  wäh- 
rend für  die  übrigen  cisleithanischen  Länder  das  Provisorium  verblieb. 

Dieses  Provisorium  nun  bildet  seit  vielen  Jahren  den  Gegenstand 
der  Erörterung  in  der  Fachpresse.  Es  stehen  sich  nämlich  zwei  An- 
sichten gegenüber;  die  eine  hält  das  Provisorium,  die  andere  das  De- 
finitivum der  Inspectoren  für  das  bessere. 

Als  im  Jahre  1889  der  Herr  Unterrichtsminister  dem  Herrnhause 
einen  Gesetzentwurf  vorlegte,  in  den  auch  die  fixe  Anstellung  der 
Bezirksschulinspectoren  mit  einbezogen  war,  hat  dieser  Antrag  der 
obersten  Schulverwaltung  die  Zustimmung  der  großen  Mehrheit  der 
Lehrerschaft  erfahren;  denn  die  Gründe  für  die  Stabilität  der  Bezirks- 
schulinspectoren gegenüber  ihrem  Provisorium  sind  so  in  die  Augen 
springend,  dass  es  nur  wunder  nehmen  muss,  wie  die  Lehrerschaft 
nicht  schon  eindringlicher  und  in  Form  größerer  Kundgebungen  für 
das  Definitivum  der  Inspectoren  eingetreten  ist  Wie  die  Sachen 
liegen,  bedeutet  der  Schritt  vom  Provisorium  zum  Definitivum  dieser 
Schulaufsichtsorgane  durchaus  keine  einschneidende  Umwälzung  be- 
stehender Verhältnisse;  denn  gewählt  wurde  bis  jetzt  noch  kein 
Inspector;  es  gibt  keine  Schulbehörde  in  Österreich,  die  das  Recht 
hätte,  den  Inspector  zu  wählen.  Der  Bezirksschulrath  schlägt  ihn 
blos  vor  (aber  nicht  in  jedem  Falle);  ernannt  wird  der  genannte 


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—    772  — 


Functionär  immer  vom  Minister,  der  an  den  Vorschlag  des  Bezirks- 
schulrates selbstverständlich  nicht  gebunden  ist.  Also  von  einer 
Wahl  des  Inspectors  kann  keine  Rede  sein;  bleibt  nur  das  Proviso- 
rium desselben,  das  etwa  vertheidigt  werden  könnte,  übrig.  Mit  wel- 
chen Gründen  will  man  dies  aber  vertheidigen?  Dass  er  nach  drei 
Jahren,  sofern  ihm  das  Amt  nicht  zusagt,  wieder  in  seine  frühere 
Stellung  zurückkehren  kann,  ist  richtig,  aber  als  Grund  für  das 
Provisorium  gewiss  nicht  ausschlaggebend;  denn,  Hand  aufs  Herz  — 
wie  viel  tausend  Menschen  gibt  es,  die  neben  den  Freuden  des  Be- 
rufes nicht  auch  seine  Leiden  tiefer  empfänden,  als  sie  es  voraus- 
gesehen? Und  wer  sagt  uns,  ob  nicht  in  vielen  Fällen  gerade  das 
Provisorium  daran  schuld  ist,  wenn  hie  und  da  ein  Inspector  sein 
Amt  zurücklegt?  Hat  die  Übernahme  eines  Amtes  „auf  Zeit"  denn 
gar  so  viel  Verlockendes  an  sich?  Übrigens  beweisen  ja  die  That- 
sachen,  dass  es  bei  der  Anstellung  der  Inspectoren  irgend  ein  Häk- 
chen geben  muss!  Dafür  spricht  der  starke  Wechsel  dieser  Beamten. 
Es  gibt  Schulbezirke,  die  seit  dem  Inslebentreten  des  neuen  Schul- 
gesetzes fünf  und  noch  mehr  Inspectoren  absorbirten.  Dieser  immer- 
währende Wechsel  ist  aber  weder  ein  Vortheil  für  die  Schulen,  noch 
eine  Annehmlichkeit  für  die  Lehrerschaft.  Nebst  der  fachmännischen 
Befähigung,  die  der  Inspector  mit  ins  Amt  bringen  muss,  ist  es  die 
genaue  Bekanntschaft  mit  den  Schulen  des  Bezirkes  und  die  nach- 
haltige, gute  Einwirkung  auf  schwächere  Lehrkräfte,  wovon  sich 
eine  ersprießliche  Wirksamkeit  des  Inspectors  erwarten  lässt  Nun 
liegt  es  doch  klar  auf  der  Hand,  dass  sich  eine  genaue  Kenntnis  der 
Schulzustände  und  der  Lehrerschaft  eines  Schulbezirkes,  sowie  eine 
gewisse,  von  jedem  Amte  geforderte  Routine  nur  erwarten  lässt,  wenn 
man  sich  in  seinen  Wirkungskreis  eingelebt  hat,  d.  h.  wenn  man 
immer  dabei  ist.  Sobald  aber  ein  Inspector  dem  anderen  rasch  im 
Amte  folgt,  so  muss  selbstverständlich  jeder  die  ganze  Scala  der  Er- 
fahrungen immer  wieder  von  vom  anfangen.  Das  schafft  nun  für  die 
Lehrer  keine  begehrenswerte  Lage;  denn  jeder  neue  Inspector  bringt 
auch  seine  eigentümlichen  Ansichten  und  Ansprüche  mit  ins  Amt: 
dieselben  müssen  nicht  unrichtig,  bezw.  tiberspannt  sein;  es  genügt, 
dass  sie  in  vielfacher  Beziehung  andere  sind  als  jene  seines  Vor- 
gängers. Die  Lehrer  müssen  früher  geltende  Gesichtspunkte  fallen 
lassen  und  sich  den  neueren  anbequemen  —  und  dies  kann  unter 
Umständen  so  oft  geschehen,  dass  die  Lehrerschaft  dieser  Unbeständig- 
keit gegenüber  förmlich  in  Gleichgiltigkeit  verfallt,  nicht  im  Berufs- 
eifer, sondern  in  Berücksichtigung  des  obigen  Umstandes. 


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—    773  — 


Dies  tritt  am  auffälligsten  zu  Beginn  der  Amtswirksamkeit  eines 
neuen  Inspectors  zutage,  indem  er,  von  lobenswertem  Eifer  getrieben, 
etwas  Tüchtiges  zu  leisten,  sich  zu  der  regsten  Thätigkeit  angespornt 
fühlt.  Erst  nach  und  nach,  sowie  er  sich  in  sein  Amt  mehr  einlebt, 
einen  Überblick  von  größerer  Sicherheit  und  damit  einen  Regulator 
seiner  Anforderungen  gewinnt,  schlägt  er  ein  ruhigeres  Tempo  ein, 
die  Hauptsache  fest  im  Auge  behaltend,  ohne  der  Nebenumstände  zu 
vergessen.  Das  ist  durchaus  keine  tadelnswerte,  vielmehr  eine  gute 
Seite  der  menschlichen  Natur,  beziehungsweise  eines  pflichttreuen,  in 
seinem  Berufe  aufgehenden  Charakters. 

Daher  empfehlen  wir  definitiv  angestellte  Bezirksschulinspectoren; 
Männer,  die  nicht  nach  Verlauf  einiger  Jahre  vom  Schauplatze  ihrer 
Wirksamkeit  abtreten  müssen.  Allein  auch  der  freiwillige  Rücktritt 
in  den  Kreis  der  Lehrerschaft,  der  man  einmal  vorgesetzt  war,  dürfte 
eher  unangenehme  Gefühle  als  andere  zu  erwecken  geeignet  sein  — 
denn  jedem  recht  thun,  d.  h.  allen  Wünschen  entsprechen,  ist  un- 
möglich! 

Die  Verfechter  des  Provisoriums  befürchten  von  definitiven  Be- 
zirksschulinspectoren als  Regierungsbeamten  eine  Änderung  des 
Verhältnisses  zur  Lehrerschaft;  ja  sie  verlangen  sogar,  der  Inspector 
möge  im  praktischen  Schuldienste  verbleiben,  um  die  Fühlung 
mit  der  Schule  nicht  zu  verlieren.  Wir  fragen  dagegen:  Ist  der  In- 
spector gegenwärtig  nicht  schon  ein  provisorischer  Regierungsbeamter? 
Was  ist  er  denn  sonst? 

Noch  weniger  können  wir  einsehen,  warum  sich  sein  Verhältnis 
zur  Lehrerschaft  dann,  wenn  er  als  Regierungsbeamter  eine  definitive 
Stellung  erlangt,  im  schlimmen  Sinne  ändern  sollte.  Ein  Mann,  der 
seiner  Lehrerschaft  anders  als  mit  Gerechtigkeit  und  Wolwollen  ent- 
gegenzukommen imstande  ist,  wäre  wol  —  ob  definitiv  oder  provi- 
sorisch —  nicht  auf  seinem  Piatee.  Übrigens  geht  die  Sage,  dass  es 
auch  schon  provisorische  Inspectoren  gegeben  haben  soll,  die  des  con- 
cilianten  Tones  im  Verkehre  mit  den  Lehrern  vergaßen  und  das  har- 
monische Zusammenwirken  mit  denselben  unterließen. 

Und  im  praktischen  Schuldienst  verbleiben!  Ein  idealer  Stand- 
punkt, aber  nicht  durchführbar!  „Woher  nähme  der  vielbeschäftigte, 
vielschreibende  Inspector  die  Zeit,  eine  Schülerabtheilung  zu  unter- 
richten? Er  findet  kaum  Zeit  genug,  sich  seinem  eigentlichen  Amte, 
der  Inspection,  in  dem  Maße  zu  widmen,  um  im  Laufe  eines  Jahres 
sämmtliche  Schulen  seines  Bezirkes  zu  besuchen."    Die  Schulbezirke 


L 


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—    774  — 

sind  viel  zu  groß,  als  daß  sie  nicht  die  ganze  Kraft  eines  Mannes 
in  Anspruch  nehmen  sollten.  — 

Haben  wir  im  Voranstehenden  unsern  Standpunkt  zur  Inspectoren- 
frage  in  der  Hauptsache  präcisirt,  so  wollen  wir  nun  zwei  gewichtigen 
Stimmen  das  Wort  ertheilen,  die  bei  Gelegenheit  des  diesjährigen 
deutsch-österreichischen  Lehrertages  in  Linz  ihre  Ansichten  einander 
entgegenstellten;  es  sind  dies:  der  Ausschuss  des  deutsch-österreichi- 
schen Lehrerbundes,  und  der  deutsche  Landeslehrerverein  in  Böhmen. 

Der  erstere  stellte  folgende  Leitsätze  auf: 

1.  Durch  definitive  Anstellung  und  Einreihung  in  die  Kategorie 
der  Staatsbeamten  steigt  das  Ansehen  des  Inspectors  bei  der  Bevölke- 
rung und  erhöht  sich  damit  sein  Einfluss. 

2.  Eine  definitive  Anstellung  enthebt  den  Inspektor  der  Besorgnis, 
sein  Amt  zu  verlieren  und  gibt  ihm  daher  eine  gewisse  Bewegungs- 
freiheit; 

aber  auf  das  Inspectoramt  allein  angewiesen  und  der  Rückzugs- 
linie zum  Lehramte  verlustig,  verfallt  er  in  bedenklichem  Grade  der 
Beamtendisciplin. 

3.  Die  definitive  Anstellung  macht  das  Inspectoramt  zum  Lebens- 
beruf und  ermöglicht  die  Sammlung  der  ganzen  Kraft  für  dasselbe; 

aber  das  Bewusstsein,  im  Inspectoramte  den  Lebensberuf  gefunden 
zu  haben,  birgt  die  Gefahr  einer  Abkehr  von  der  lebendigen  Gemein- 
schaft mit  den  Lehrern  in  sich  und  führt  leicht  zu  einer  Verkennung 
und  Missachtung  der  Interessengemeinschaft  beider  Theile. 

4.  Das  Definitivum  mehrt  die  zu  einer  ersprießlichen  Amtsführung 
nöthige  Erfahrung,  Personenkenntnis  und  Kenntnis  specieller  Ver- 
hältnisse ; 

aber  der  provisorische  Inspector,  der  bei  tüchtiger  Amtsführung 
in  der  Regel  wieder  ernannt  wird,  ist  gleicherweise  in  der  Lage,  sich 
die  erwähnten  Erfahrungen  und  Kenntnisse  zu  sammeln. 

5.  Das  Definitivum  schließt  die  Gefahr  geistiger  Erstarrung,  des 
Verfalles  an  das  Schablonenthum,  der  Verbureaukratisirung  in  sich. 

6.  Eine  definitive  Anstellung  stabilisirt  ungeeignete  Kräfte. 

7.  Der  definitive  Inspector,  der  nicht  mehr  als  College  in  den 
Kreis  der  Lehrer  zurückkehren  wird,  steht  in  Gefahr,  den  concilianten 
Ton  im  Verkehre  mit  den  Lehrern  zu  verlieren  und  das  harmonische 
Zusammenwirken  mit  ihnen  zum  Schaden  der  Schule  zu  unterlassen. 

8.  Im  Provisorium  liegt,  eine  gerechte  Beurtheilung  des  Wirkens 
vorausgesetzt,  ein  Ansporn  zur  treues ten  Amtsführung,  da  nur  so  eine 
Wiederernennung  zu  erreichen  ist. 


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Der  Ausschass  des  deutsch-böhmischen  Lehrervereins,  der  schon 
vor  zwei  Jahren  eine  Petition  an  das  Unterrichtsministerinm  für  das 
Definitivum  der  Inspectoren  gelichtet  hatte,  vertrat  seine  Ansichten 
in  folgenden  Leitsätzen: 

1.  Durch  definitive  Anstellung  und  Einreihung  in  die  Kategorie 
der  Staatsbeamten  steigt  das  Ansehen  des  Inspectors  bei  der  Bevöl- 
kerung, und  es  erhöht  sich  damit  sein  Einfluss. 

Es  ist  der  Würde  und  dem  Ansehen  der  staatlichen  Schulinspecto- 
ren  in  hohem  Grade  abträglich,  dass  der  provisorische  Bezirks- 
schulinspector  aus  den  Kreisen  der  Volks-  und  Bürgerschullehrer  nicht 
vom  Staate  besoldet  wird,  sondern  nach  wie  vor  seine  Bezüge  als 
Lehrer  aus  den  Mitteln  der  Gemeinde,  des  Schulbezirkes  und  des 
Landes  erhalten  muss,  sowie  auch  der  labile  Znstand  seiner  Stellung 
nicht  geeignet  ist,  zur  Erhöhung  seines  Ansehens  beizutragen. 

2.  Eine  definitive  Anstellung  enthebt  den  Inspector  der  Besorg- 
nis, sein  Amt  zu  verlieren,  verleiht  ihm  daher  eine  gewisse  Bewegungs- 
freiheit, erhöht  seine  Berufsfreudigkeit,  und  das  Bewusstsein  von  der 
Sicherheit  seiner  Stellung  wirkt  fördernd  auf  seine  Charakterfestig- 
keit ein. 

Der  provisorische  Inspector  hat  beständig  mit  der  Enthebung 
zu  rechnen,  die  auch  aus  Gründen  erfolgen  kann,  die  mit  seiner  Amts- 
führung nicht  in  Verbindung  zu  bringen  sind,  ja  sogar  schon  dann  in 
drohende  Erscheinung  tritt,  wenn  die  Mittel  des  Normalschulfonds  für 
die  Dotirung  der  Personalunterlehrerstelle  nicht  mehr  ausreichen. 

3.  Die  definitive  Anstellung  macht  das  Inspectoramt  zum  Lebens- 
beruf und  ermöglicht  die  Sammlung  der  ganzen  Kraft  für  dasselbe. 

Das  Provisorium  verleiht  dem  Schulinspectorate  den  Charakter 
eines  Nebenberufes,  denn  nur  der  eigentliche  Beruf  als  Lehrer  bleibt 
dem  Bezirksschulinspector  gesichert.  Überdies  wird  der  Lehrer  an 
Volks-  und  Bürgerschulen  durch  die  Annahme  eines  provisorischen 
Inspectorpostens  in  seinem  berechtigten  Streben  nach  Erreichung  einer 
leitenden  Stellung  gehemmt,  und  endlich  wirft  jede  aus  was  immer 
für  einem  Grunde  erfolgte  Enthebung  einen  düstern  Schatten  auf  sein 
ferneres  Wirken,  da  die  große  Menge  eine  Einsicht  in  den  eigent- 
lichen Sachverhalt  nicht  haben  kann. 

4.  Das  Definitivum  mehrt  infolge  der  Stabilität  der  Stellung 
die  zu  einer  ersprießlichen  Amtsführung  nöthige  Erfahrung,  Personen- 
kenntnis und  Kenntnis  besonderer  localer  Verhältnisse. 

Das  Provisorium  schafft  nicht  nur  exemte  Schulen  als  Hinder- 
nis für  die  gleichförmige  pädagogische  Führung  innerhalb  desselben 


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Schulbezirkes,  sondern  die  nur  auf  eine  beschränkte  Anzahl  von  Jahren 
in  Aussicht  genommene  Verwendung  von  provisorischen  Bezirksschul- 
inspectoren  bringt  die  Schule  und  die  Lehrer  beständig  in  die  Gefahr 
des  verderblichen  Wechsels  in  den  leitenden  Grundsätzen  hinsichtlich 
der  pädagogischen  und  administrativen  Führung. 

5.  Das  Definitivum  bewahrt  den  Bezirksschulinspector  infolge 
seiner  gesicherten  Stellung  vor  einem  allzu  großen  Nachgeben  in 
Sachen  der  bureaukratischen  Verwaltung  und  des  Schablonenthums. 

6.  Das  Definitivum  des  Schulinspectorats  sichert  infolge  der 
freien  Concurrenz  die  Auswahl  der  geeignetsten  Bewerber. 

Das  Provisorium  bietet  nicht  den  Weg  der  freien  Concurrenz, 
sondern  ist  derzeit  nur  auf  dem  Wege  der  Berufung  erreichbar,  sodass 
Missgriffe  viel  leichter  ermöglicht  sind. 

7.  Das  Definitivum  wird  im  Gefolge  haben,  dass  das  Streben 
der  Lehrerschaft  nach  der  Einsetzung  von  Bezirksschulinspectoren 
aus  den  Kreisen  der  Volks-  und  Bürgerschullehrer  verwirklicht  wird. 

Solange  das  Provisorium  besteht,  ist  an  eine  Erfüllung  dieser 
berechtigten  Forderung  nicht  zu  denken. 

8.  Durch  das  Definitivum  werden  viele  Stellen  an  Volks-  und 
Bürgerschulen  für  vorwärts  strebende  Berufsgenossen  frei,  zudem  stellt 
das  Definitivum  auch  die  Erreichung  einer  weiteren  Stufe  auf  der  be- 
ruflichen Laufbahn  des  Lehrers  in  Aussicht 

Das  Provisorium  bietet  dem  betreffenden  Inspector  aus  dem 
Kreise  der  Volks-  und  Bürgerschullehrer  bei  der  kargen  Bemessung 
des  Reisekosten-  und  Diätenpauschales  und  bei  dem  Wegfall  des 
Naturalquartieres,  beziehungsweise  der  Quartiergeldentschädigung  nicht 
nur  keine  Vermehrung  des  Einkommens,  sondern  hat  eine  solch  un- 
gleiche materielle  Stellung  der  Inspectoren  hinsichtlich  der  Gehalts- 
bezüge im  Gefolge,  wie  sie  in  keiner  anderen  Beamtenkategorie  vor- 
kommt. 

9.  Durch  das  Definitivum  entfallen  die  Supplirungen  des  In- 
spectors  an  der  Schule,  der  er  als  Lehrperson  angehört. 

Durch  die  für  die  Dauer  der  Function  als  provisorischer 
Bezirksschulinspector  bedingte  Beurlaubung  einer  tüchtigen  Lehr- 
person vom  Lebramte  werden  sowol  der  Unterricht,  als  auch  die 
Disciplin  an  der  betreffenden  Schule  geschadigt,  da  die  Supplirung 
insbesondere  an  Volks-  und  Bürgerschulen  von  jungen,  unerfahrenen, 
oft  vorläufig  nicht  entsprechend  lehrbefähigten  Personalunterlehrern 
besorgt  wird. 

Dies  die  gegnerischen  Ansichten.  Welcher  von  den  beiden  Theilen 


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—    777  — 


hat  nun  Recht?  Da  sie  in  einigen  Punkten  vollkommen  übereinstimmen, 
während  sie  in  anderen  gänzlich  auseinandergehen  wie  Nacht  und  Tag: 
so  empfängt  man  den  Eindruck,  dass  die  lnspectorenfrage  entweder 
an  und  für  sich  noch  nicht  spruchreif  ist,  oder  aber  dass  beide  Theile 
ihre  Thesen  auf  Grund  ganz  entgegengesetzter  Erfahrungen  aufgestellt 
haben. 

Wir  stehen  ganz  entschieden  auf  Seite  des  Deutschen  Lehrer- 
vereins in  Böhmen.  Wir  haben  dessen  Standpunkt  schon  früher  ein- 
genommen und  sind  durch  seine  Thesen  darin  nur  bestärkt  worden. 
Dieselben  erscheinen  uns  in  allen  Theilen  beweiskräftiger  und  über- 
zeugender als  jene  des  Bundesausschusses.  Denn  wenn  die  definitive 
Anstellung  das  Ansehen  des  Inspectors  hebt  und  ihm  eine  größere 
Bewegungsfreiheit  gibt;  wenn  sie  ihm  die  Sammlung  der  ganzen 
Kraft  für  sein  Amt  ermöglicht  und  seine  Erfahrung,  Personenkenntnis 
und  Kenntnis  specieller  Verhältnisse  mehrt,  was  doch  von  beiden 
Theilen  zugegeben  wird:  so  dürften  schon  diese  Umstände  schwer- 
wiegend genug  sein,  um  die  Wagschale  für  das  Definitivum  zum  Sinken 
zu  bringen.  Aber  auch  die  vom  Bundesausschuss  gänzlich  bestrittenen 
oder  gar  nicht  erwähnten  Thesen  des  deutschen  Lehrervereins  in 
Böhmen  enthalten  ganz  zutreffende  Argumente;  denn  es  ist  unbestreit- 
bar, dass  der  definitive  Inspector  mehr  Aussicht  hätte,  durch  Bei- 
stellung eines  Hilfsbeamten  vom  Bureaudienst  entlastet  zu  werden; 
dass  bei  freier  Concurrenz  die  Auswahl  der  geeignetsten  Bewerber 
viel  leichter  wäre,  und  dass  endlich  der  Stand  der  Volks-  und  Bürger- 
schullehrer eher  ein  Inspectorat  erreichen  könnte  als  dermalen. 

Alles  in  allem  betrachtet,  stehen  die  Vortheile  auf  Seite  des  De- 
finitivums der  Inspectoren  und  wird  trotz  des  Beschlusses  des  dies- 
jährigen Lehrertages,  demzufolge  sich  derselbe  nach  einem  von  Jessen 
erstatteten  Referate  für  das  Provisorium  entschied,  dennoch  von  einer 
Mehrheit  der  Lehrerschaft  angestrebt  werden,  bis  das  Ziel  erreicht 
seiu  wird.  Es  hängt  übrigens  diese  Frage  ziemlich  eng  mit  der  Idee 
der  Staatsschule  zusammen.  Sollte  daher  die  Ständigkeit  der  Bezirks- 
schulinspectoren  zum  Gesetze  erhoben  werden,  so  würde  dies  einen 
weiteren  Schritt  zur  Verstaatlichung  der  Volksschule  bedeuten. 


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Hygiene  und  Erziehung. 


Ihre  Anwendung  zur  wirksamen  Bekämpfung  des  Idiotismus. 

Von  Bector  O.  Hintz- Berlin. 


weder  von  Geburt  an  besteht  oder  als  Folge  eines  abgelaufenen  Krankheits- 
proce&ses  angesehen  werden  muss.  Er  ist  eine  Geistesschwäche  und  nicht  zu 
verwechseln  mit  Geisteskrankheit,  dem  Irrsinn.  Dieser  ist  unter  Umständen 
heilbar,  während  Geistesschwäche  niemals  vollständig  beseitigt,  sondern  nur 
durch  ein  heilpädagogisches  Verfahren  gemildert  werden  kann;  denn  nur  die 
vorhandenen  geringen  Geisteskräfte  können  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ent- 
wickelt und  ausgebildet  werden.  Diese  Entwickelung  wird  weder  normal  sein, 
noch  kann  sie  ganz  zur  Normalität  führen.  Oft  ist  eine  geistige  Ausbildung 
auch  ganz  unmöglich,  wie  ja  auch  manche  Geisteskrankheit  unheilbar  ist 
Die  diesen  Kategorieen  angehörenden  Unglücklichen  stehen  demnach  auf 
gleicher  Stufe,  wenn  auch  die  Ursachen  der  abnormen  Geisteszustände  ver- 
schiedener Art  sind. 

Während  der  Irrsinnige  bisweilen  dem  Geistesschwachen  gegenüber  inso- 
fern im  Vortheil  ist,  als  für  ihn  die  Hoffnung  einer  vollständigen  Genesung 
besteht,  ist  man  betreffs  der  Bekämpfung  des  Irrsinns  in  seiner  Entstehung 
ganz  und  gar  machtlos.  Wer  kennt  und  erkennt  im  voraus  alle  Übelstände 
im  Leben  des  Einzelnen,  welche  die  Zerrüttung  des  menschlichen  Geistes  ver- 
anlassen, und  wie  sollte  man  sie  alle  beseitigen?  Unsere  Lebensgewohnheiten 
sind  derartige,  dass  sie  sehr  häufig  den  geistigen  Buin  herbeizuführen  ver- 
mögen, wenn  der  einzelne  Mensch  nicht  selbst  mit  seiner  ganzen  sittlichen 
Kraft  dagegen  ankämpft.  Die  Gesellschaft  kann  in  solchem  Falle  nicht  hel- 
fend eintreten;  sie  wird  nur  den  für  sie  unbrauchbar,  vielleicht  sogar  gefahr- 
lich gewordenen  Unglücklichen  aus  ihrer  Mitte  entfernen  und  einer  Anstalt 
zu  etwaiger  Heilung  übergeben.  Damit  glaubt  sie  ihre  Aufgabe  erfüllt  zu 
haben.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Idiotismus.  Dieser  lässt  sich  erfolg- 
reich bekämpfen  und  wird  auch  vielfach  mit  Erfolg  bekämpft.  Naturgemäß 
muss  sich  die  Zahl  der  Idioten  verringern,  während  —  seltsame  Einrichtung 
menschlichen  Geschickes!  —  die  Zahl  der  Irrsinnigen  sich  stetig  vermehrt 
So  bedauerlich  die  letztere  Thatsache  ist,  so  erfreulich  ist  die  erstere.  Jene 
lässt  sich  leider  —  wenigstens  unter  den  bestehenden  Verhältnissen  —  nicht 
aus  der  Welt  schaffen;  umsomehr  sollten  wir  Sorge  tragen,  den  Idiotismus 
mit  allen  uns  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  anzugreifen  und  zu  beseitigen. 
Dass  das  möglich  ist,  hat  die  Erfahrung  gelehrt  und  ist  sogar  statistisch  fest- 


er Idiotismus  ist  eine  Abnormität  des  menschlichen  Geistes,  die  ent- 


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—    779  — 


gestellt  worden,  and  die  Erfolge  würden  noch  weit  größer  sein,  wenn  man  der 
Hygiene  im  socialen  Leben  einen  größeren  Einfluss  als  bisher  auszuüben  ge- 
statten wollte. 

Noch  ist  das,  was  für  die  Bekämpfung  des  Idiotismus  geschehen  ist, 
äußerst  gering,  daher  die  Zahl  der  Idioten  und  Kretinen  ungemein  groß.  Für 
Deutschland  lasst  sich  diese  nur  ungenau  feststellen,  weil  bisher  keine  specielle 
Statistik  darüber  geführt  worden  ist.    Wol  haben  die  allgemeinen  Volks- 
zählungen annäherungsweise  eine  Schätzung  ermöglicht.  Auch  lässt  sich  nach 
der  amtlichen  Statistik  über  „das  gesammte  Volksschulwesen  im  preußischen 
Staate  im  Jahre  1866"  ungefähr  die  Zahl  der  in  preußischen  Erziehungs- 
anstalten untergebrachten  Schwachsinnigen  bestimmen;  doch  kann  uns  das  nur 
einen  geringen  Anhalt  für  die  richtige  Feststellung  der  Zahl  geben.  M.  Jaeger, 
Pfarrer  und  Districtsschulinspector  in  Kirchmohr  (Rheinpfalz)  ist  der  Ansicht, 
dass  in  Deutschland  nach  ungefährer  Schätzung  etwa  40000  Idioten  und 
Schwachsinnige  vorhanden  seien*).  Nach  Dr.  G.Mayr**)  kommen  auf  10000 
Einwohner  in  Preußen  ungefähr  14,  in  Bayern  15,  in  Württemberg  15,  in 
Sachsen  14,  in  Hessen  10,  in  Sachsen-Weimar  23,  in  Braunschweig  12,  in 
Sachsen-Meiningen  22,  in  Sachsen-Altenburg  25  u.  s.  w.  Blöd-  und  Schwach- 
sinnige. Im  ganzen  ergibt  die  Zusammenstellung  54519  Idioten,  wobei  jedoch 
Mecklenburg-Schwerin,  Mecklenburg-Strelitz,  Schaumburg-Lippe  und  Hamburg 
nicht  in  Betracht  gezogen  worden  sind.  Nehmen  wir  als  Durchschnittszahl  15 
an,  so  dürften  in  Deutschland  auf  Grund  jener  Erhebungen  cirka  60000  Idi- 
oten leben.  Diese  Sanitäts-Statistik  mag  keinen  Anspruch  auf  genaue  Richtig- 
keit haben,  muss  aber  wol  der  Wirklichkeit  nahe  kommen,  weil  die  statistischen 
Berichte  aus  anderen  Staaten  zu  ähnlichen  Ergebnissen  geführt  haben.  Rech- 
net man  alle  Geistesschwachen  leichteren  Grades  hinzu,  dann  stellt  sich  noch 
ein  weit  ungünstigeres  Resultat  heraus.  Nach  G.  Kielhorn***)  kommt  auf  je 
1000  Einwohner  ein  schwachbefähigtes  Kind,  so  dass  Deutschland  hiernach 
ungefähr  45000  geistesschwache  Kinder  besitzen  muss;  die  Zahl  aller  Geistes- 
schwachen dürfte  sich  hiernach   auf  ungefähr   100000  beziffern.  Nach 
Dr.  G.  Mayr  rechnet  man  für  die  Schweiz  auf  10000  Einwohner  29  Idioten 
und  Irrsinnige.    Sie  hat  nämlich  nach  der  in  seinem  vorhin  angeführten 
Werke  enthaltenen  Zusammenstellung  7764  Idioten  und  Irrsinnige.  Wenn 
man  die  letzteren  in  Abzug  bringt,  so  dürfte  das  Ergebnis  den  Mittheilungen 
entsprechen,  die  der  Präsident  der  ersten  Schweizerischen  Conferenz  für  das 
Idiotenwesen,  A.  Ritter,  Pfarrer  in  Neumünster,  bei  der  Eröffnung  der  Ver- 
sammlung am  3.  Juni  1889  in  Zürich  machtef).    Hiernach  beläuft  sich  die 
Zahl  der  Idioten  in  der  Schweiz  auf  5150;  dabei  sind  die  Schwachbefähigten 
nicht  mitgerechnet  worden.    Neuere  Zählungen  haben,  wie  er  erwähnt,  sogar 
ergeben,  dass  auf  200  normal  veranlagte  Kinder  ein  blöd -oder  schwachsinniges 


*)  Idiotismus  und  Schwachsinn.  Ein  Wort  an  Geistliche,  Lehrer  und  Eltern 
von  M.  Jaeger,  8.  Zeitschrift  für  die  Behandlung  Schwachsinniger  und  Epileptischer, 
VII.  (XI.)  Jahrg.  Nr.  1  u.  2,  S.  11  ff. 

**)  Dr.  G.  Mayr.  Die  Verbreitung  der  Blindheit,  der  Taubstummheit,  des  Blöd- 
sinns, des  Irrsinns,  herausgegeben  vom  Künigl.  Bayr.  statistischen  Bureau,  XXXV.  Heft, 
München  1877. 

***)  Pwdagogiuni,  8.  Jahrg.,  6.  Heft, 
f)  Zeitschrift  für  die  Behandlung  Schwachsinniger  und  Epileptischer,  V.  (IX.) 
Jahrgang.  Nr.  2.   In  Commission  bei  Warnatz  &  Lehmann  zu  Dresden. 


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oder  2—  4  sch  wachbefäbigte Kinder  kom  men ,  so  dass  die  Berechnungen  Dr.  Birchers, 
welcher  auf  Grund  der  Recrutenprüfungen  zu  dem  Resultat  gelaugte,  dass  in 
der  Schweiz  ungefähr  30000  Idioten  im  weiteren  Sinne  des  Wortes  leben,  an 
Wahrscheinlichkeit  gewinnen.  Betreffe  der  Begabung  Londoner  Schulkinder 
haben,  wie  die  Zeitschrift  für  Schulgesundheitspflege  angibt,  genaue  Unter- 
suchungen zu  dem  Ergebnis  geführt,  dass  etwa  1%  der  Schulbevölkerung,  d.h. 
circa  6500  Kinder  der  öffentlichen  Schulen  Londons  zu  den  geistig  schwach 
veranlagten  Schülern  gezählt  werden  müssen*). 

Diese  nackten  Zahlen  haben  uns  einen  Blick  in  die  Tiefen  des  mensch- 
lichen Elends  thun  lassen  und  veranlassen  uns  zu  der  Frage,  welche  hygie- 
nischen Maßregeln  zur  Bekämpfung  der  Idiotie  getroffen  werden  könnten.  Ob- 
wol  hier  ausschließlich  die  Verhältnisse  einer  Großstadt  ins  Auge  gefasst 
werden  sollen,  lassen  sich  daraus  doch  leicht  etwaige  andere  Maßnahmen  für 
jeden  beliebigen  Ort  herleiten. 

Betreffs  der  Wohnungsverhältnisse  ist  in  den  letzten  zwanzig  Jahren 
viel  Gutes  geschaffen  worden;  trotzdem  bleibt  noch  viel  zu  leisten  übrig.  Ob- 
wol  in  jeder  Großstadt  alljährlich  herrliche  Prachtbauten  erstehen,  gibt  es  in 
den  sogenannten  „Miethskasernen"  doch  noch  viele  Wohnungen,  deren  Be- 
wohner an  Raum,  Licht  und  Luft  großen  Mangel  leiden.  Ein  einziges  Wohn- 
zimmer, durch  Kreidestriche  auf  dem  Fußboden  in  verschiedene  Abtheilungen 
getheilt,  beherbergt  oft  mehrere  Familien  mit  großer  Kinderschar.  Die  Mög- 
lichkeit freier  Bewegung  in  einem  solchen  Baume  ist  den  armen  Kindern  voll- 
ständig genommen.  Auf  dem  Hofe  dürfen  sie  auch  selten  verweilen.  Das  ver- 
bieten in  der  Regel  die  Hausbesitzer,  und  neuerdings  sind  sogar  Stimmen  in 
der  Presse  laut  geworden,  der  Jugend  auch  auf  den  Trottoirs  das  Spielen  und 
Umhertummeln  nicht  zu  gestatten,  weil  die  Erwachsenen  dadurch  belästigt 
werden. 

Was  helfen  da  wol  Verfügungen  einsichtsvoller  Behörden,  der  Jugend 
recht  viel  freie  Körperbewegung  zu  verschaffen  und  zu  gewähren,  wenn 
diesen  Mahnungen  in  solcher  Weise  seitens  Erwachsener  entgegengetreten 
wird!    Mancher  Vater,  manche  Mutter  möchte  zwar  dem  eigenen  Kinde  jede 
freie  Bewegung  gönnen,  aber  sie  allen  anderen  Kindern  untersagen.    Den  hu- 
manen, so  natürlichen  Gedanken,  dass  diesen  doch  dieselben  Rechte  gewährt 
werden  müssen  wie  dem  eigenen  Kinde,  können  solche  Eltern  in  ihrem  Egois- 
mus gar  nicht  fassen.  Viele  verbieten  sogar  ihren  eigenen  Kindern  das  freie 
Bewegen  und  Umhertummeln  auf  den  Straßen  und  Spielplätzen,  um  sie  vor 
Versuchungen  zum  Bösen  zu  bewahren.   Welches  Resultat  erzielt  aber  solche 
Elternliebe?  Mag  dadurch  auch  ein  Kind  wirklich  vor  dem  Kennenlernen 
gewisser  Untugenden  bewahrt  bleiben,  was  noch  immer  zweifelhaft  sein  dürfte, 
da  es  ja  doch  nicht  hermetisch  von  jedem  Verkehr  mit  andern  Kindern  ab- 
geschlossen werden  kann,  so  lernt  es  andererseits  auch  viele  gute  Charakterzüge 
nicht  kennen,  die  im  Kindesleben  hervortreten.  Seine  Geistesbildung  wird  ein- 
seitig werden,  ganz  abgesehen  davon,  dass  eine  solche  Abgeschlossenheit  auch 
in  moralischer  Beziehung  nachtheilig  wirken  muss.  Auch  werden  das  Gemüth 
und  die  Gesundheit  des  Kindes  darunter  zu  leiden  haben,  was  wol  erklärlich 


*)  Zeitschrift  Mt  die  Behandlung  Schwachsinniger  und  Epileptischer,  VIII. 
(XII.)  Jahrg.,  Nr.  1. 


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ist,  da  eine  solche  Erziehung  den  Naturgesetzen  widerspricht.  Einen  Aus- 
gleich  zwischen  geistiger  und  körperlicher  Anstrengung  zu  schaffen,  ist  zu 
keiner  Zeit  so  wichtig  als  im  Kindesalter.  Wenn  Haus,  Schule,  Gemeinde  und 
Staat  nicht  mit  ganzer  Energie  für  diesen  Ausgleich  Sorge  tragen,  kann  nur 
ein  ungesundes  Geschlecht  heranwachsen,  das  den  Keim  der  Idiotie  auf  die 
nachfolgenden  Geschlechter  vererbt. 

Sind  die  Kinder  noch  sehr  jung,  vielleicht  noch  im  ersten  oder  zweiten 
Lebensjahre,  dann  wird  sich  der  Einfluss  ungesunder  Wohnräume  sogar  durch 
allerlei  Krankheitserscheinungen  geltend  machen,  zu  denen  häufig  auch  Er- 
krankungen des  Gehirns  oder  gewisser  Hirnpartien  gehören.  Sonne  und  gute 
Luft  braucht  der  werdende  Mensch  ebenso  sehr  wie  die  Pflanze,  wenn  er  sich 
entwickeln  und  gedeihen  soll.  Auch  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  das 
enge  Zusammenwohnen  der  armen  Bevölkerung  moralische  Folgen  nach  sich 
zieht,  die  zur  Vermehrung  des  Idiotismus  führen  können.  Wenn  viele  Kinder 
mit  Eltern  und  Schlafburschen  in  einem  engen  Räume  wohnen,  kann  die  Sitt- 
lichkeit nicht  gedeihen;  denn  die  Wolanständigkeit,  welche  den  sinnlichen 
Leidenschaften  eines  gebildeten  Menschen  Zügel  anlegt,  kennen  solche  Eltern 
oft  nicht  und  tragen  dazu  bei,  dass  ihre  Kinder  Sittlichkeitsverbrecher  werden, 
die  das  Wachsthum  des  Idiotismus  fördern.  So  können  Armut  und  Sitten- 
losigkeit,  ja  jedes  sociale  Elend  eine  Quelle  seiner  Vermehrung  und  Ausbrei- 
tung werden.  Gesundheitsschädlich  sind  jedoch  nicht  allein  die  engen,  finsteren 
Hofwohnungen  mancher  Häuser,  sondern  auch  viele  Kellerwohnungen.  In 
Berlin  z.  B.  ist  die  Sitte  ziemlich  allgemein  verbreitet,  die  Keller  zu  mensch- 
lichen Wohnräumen  einzurichten,  und  sie  werden  sogar  sehr  gesucht,  na- 
mentlich von  armen,  den  Kleinhandel  treibenden  Leuten.  In  neu  erbauten 
Häusern  sind  die  Kellerwohnungen  sogar  in  der  Regel  zuerst  bezogen,  und 
häufig  sind  diese  so  feucht  und  dumpfig,  dass  sie  sehr  bald  furchterregende 
Krankheitsherde  für  Kinder  und  Erwachsene  werden.  Erfreulicher  Weise  ent- 
hält die  in  Berlin  seit  dem  1.  Januar  1888  in  Kraft  getretene  neue  Bauord- 
nung einige  wichtige  sanitäre  Vorschriften,  die  früher  nicht  immer  zur  An- 
wendung kamen,  z.  B.  betreffs  der  Anlage  von  Closetts,  von  Badeeinrichtungen, 
Mädchengelassen  n.  dgl.  m.  Leider  bringen  solche  Maßnahmen  den  ärmeren 
Volksclassen  nur  wenig  Gewinn;  denn  es  ist  natürlich,  dass  die  Miethspreise 
der  so  vorschriftsmäßig  eingerichteten  neuen  Wohnungen  und  mit  ihnen  auch 
vielfach  die  der  alten  sich  erheblich  steigern,  dass  daher  der  arme  Mann  sich 
desto  größere  Beschränkungen  in  Betreff  der  Größe  seiner  Wohnung  auferlegen 
mu8s.  Daher  thut  es  dringend  noth,  mehr  als  bisher  für  gesunde  Arbeiter» 
Wohnungen  zu  sorgen.  Es  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  der  Zeit,  dass  man 
neuerdings  diesen  Bestrebungen  größeres  Interesse  zu  schenken  beginnt. 

üm  die  Ernährungsverhältnisse  einer  Großstadt  hygienisch  zu 
bessern,  miisste  die  Armenverwaltung  vielleicht  weniger  Unterstützungen  an 
Geld  als  an  Naturalien  gewähren,  da  es  nicht  selten  vorkommt,  dass  das  von 
ihr  gespendete  Geld  in  die  Branntweinschänken  getragen  wird,  während  die 
Familie  des  Unterstützten  Noth  leidet.  Untersuchungen,  die  in  London  an 
50000  Kindern  angestellt  worden  sind,  haben  gelehrt,  dass  gerade  die  Armut 
und  der  damit  im  Zusammenhang  stehende  Mangel  an  Licht,  Luft  und  aus- 
reichender Ernährung  nicht  nur  ungenügende  körperliche  Entwickelung,  sondern 

Predagogium.  14.  Jahrg.  Heft  XII.  54 


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auch  als  eine  Folge  derselben  Unfähigkeit  zu  angespannter  geistiger  Beschäf- 
tigung veranlassen*). 

Damit  es  der  Jugend  nicht  an  genügender  Körperbewegung  in 
frischer,  gesunder  Luft  mangelt,  empfiehlt  es  sich  sehr,  die  Zahl  öffentlicher 
Anlagen,  namentlich  der  Spielplätze,  angemessen  zu  vermehren.  Der  Erlass 
Sr.  Excellenz  des  früheren  Cultusministers  von  Gossler  vom  27.  October  1882, 
welcher  auf  die  Nothwendigkeit  einer  größeren  Körperpflege  hinweist,  hat 
vielen  Städten  eine  dankenswerte  Anregung  gegeben,  nicht  nur  für  Spielplätze, 
sondern  auch  für  eine  methodische  Leitung  des  Jugendspiels  zu  sorgen.  Auch 
in  Berlin  hat  man  seit  Jahren  die  Einrichtung  getroffen,  im  Sommer  verschie- 
dene öffentliche  Plätze  für  gewisse  Tagesstunden  der  Jugend  zum  Spielen 
zu  überlassen;  doch  die  Anzahl  derselben,  wie  auch  die  Zahl  der  angesetzten 
Spielstunden  kann  im  Vergleich  zu  der  jugendlichen  Bevölkerung  Berlins  noch 
keineswegs  als  ausreichend  bezeichnet  werden. 

Weit  mehr  als  für  geräumige  Arbeiterwohnungen  und  geeignete  Spiel- 
plätze sorgt  man  verhältnismäßig  neuerdings  für  die  Einrichtung  von  Kinder- 
gärten und  Kinderhorten.  Die  Zweckmäßigkeit  Fröbelscher  Kindergärten 
ist  ja  von  pädagogischer  Seite  anerkannt  worden;  doch  alle  Theorie  ist  „grau". 
Wie  steht's  denn  heutzutage  mit  der  praktischen  Durchführung  der  Fröbel- 
schen  Ideen?  Mir  erscheint  der  kleine  Artikel  in  Schorers  Familienblatt**), 
betitelt:  „Sind  Kindergärten  ein  Segen?"  sehr  beachtenswert.  Es  kommt 
weniger  auf  die  große  Zahl  der  Kindergärten  als  vielmehr  darauf  an,  dass 
ihre  Organisation  und  der  in  ihnen  herrschende  Geist  der  lieben  Kinderwelt 
zum  Segen  gereichen.  Dass  dies  heutzutage  immer  geschieht,  möchte  ich  be- 
zweifeln. So  kann  ich  beispielsweise  aus  eigener  Erfahrung  anführen,  dass 
die  Schüler,  welche  mir  aus  Kindergärten  zugeführt  wurden,  einen  Ballast 
von  Wissenskram  in  ihren  jungen  Köpfen  aufgespeichert  hatten,  der  mir  er- 
staunlich groß  schien.  Sie  konnten  u.  a.  zahllose  Bibelsprüche,  zahllose  Gedichte 
hersagen,  sogar  nothdürftig  lesen  und  schreiben.  Das  Lesen  war  in  der  Regel 
ein  unklares  Gemisch  von  Lautiren  und  Buchstabiren.  Das  Denkvermögen 
war  nicht  entwickelter  als  bei  anderen  Kindern  gleichen  Alters  ohne  besondere 
Vorbereitung.  Auf  die  Ausbildung  des  Zahlensinnes  schien  gar  keine  Rücksicht 
genommen  worden  zu  sein;  kurz,  die  Kinder  kamen  viel  ungleichmäßiger  vor- 
gebildet zur  Schule  als  diejenigen,  mit  denen  sich  ausschließlich  das  elterliche 
Haus  beschäftigt  hatte.  Sie  machten  daher  auch  in  der  Regel  geringere  Fort- 
schritte als  die  letzteren.  Die  Ursachen  dieser  Erscheinung  sind  unschwer  zu 
errathen.  Die  Kindergärten,  denen  jene  Schüler  entstammten,  hatten  keinen 
Wert  darauf  gelegt,  die  Phantasie  der  Kleinen  anzuregen,  ihren  jugendlichen 
Geist  zu  beleben,  ihren  zarten  Körper  zu  kräftigen,  sondern  nur  darauf,  ihr 
mechanisches  Gedächtnis  Ubermäßig  anzustrengen  und  zu  überladen.  Sollen 
Kindergärten  wirklich  segensreich  wirken,  dann  dürfen  sie  meiner  Ansicht 
nach  dem  Elternhause  nur  einen  Theil  der  Erziehung  abnehmen,  und  der 
Mittelpunkt  ihrer  erzieherischen  Tbätigkeit  muss  das  Spiel  der  Kleinen  sein. 
Jeder  Unterricht  ist  aus  ihren  Räumen  zu  verbannen.  Welche  Gefahren 
ein  eigentlicher  Unterricht  in  Kindergärten  in  sich  schließt,  ersehen  wir  bei- 

*)  Zeitschrift  für  die  Behandlung  Schwachsinniger  etc.,  VIII.  (XII.)  Jahrgang, 
Nr.  1,  Februar  1892. 

**)  Schorers  Familienblatt,  Jahrgang  1887,  Nr.  10. 


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r 


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spielsweise  aus  einem  Bericht  über  „Schweizerische  Volksschulen  und  Kinder- 
gärten," worin  der  Verfasser  n.  a.  anführt:   „Die  Sprechübungen  halte  ich 
für  den  weitaus  schwierigsten  Unterricht  in  Kindergärten,  schon  hinsichtlich 
der  Wahl  des  Stoffes.    Es  dürften  gerade  die  schlagfertigen  Antworten  der 
besonders  regsamen  Kinder  sein,  welche  die  Lehrerinnen  bei  der  Wahl  des 
Gegenstandes  in  Gefahr  bringen,  das  Gebiet  des  wirklich  für  die  Kinder  An- 
schaubaren zu  verlassen  und  dennoch  im  Unterricht  so  zu  verfahren,  freilich 
unbewusst,  als  ob  die  Kinder  wirkliche  Anschauungen  gewonnen  hätten.  Der 
Schaden  muss  lange,  vielleicht  für  die  ganze  Schulzeit  nachwirken"*).  Es 
darf  nicht  die  Aufgabe  der  Kindergärten  sein,  recht  viele  äußerlich  sichtbare 
Resultate  zu  erzielen,  weil  es  nur  auf  Kraftbildung  ankommt,  auf  Stärkung 
der  schwachen  Körper  und  Weckung  der  schlummernden  Geisteskräfte.  Diese 
Gymnastik  des  Körpers  und  Geistes  soll  erst  in  der  Schule  ihre  segenbringenden 
Wirkungen  offenbaren.    Dass  viele  Kindergärten  ihre  eigentliche  Aufgabe 
ganz  verkennen,  liegt  u.  a.  an  der  unfertigen  pädagogischen  Bildung  vieler 
Kindergärtnerinnen,  die  in  einem  Alter  von  16 — 17  Jahren,  in  welchem  sie 
selbst  oft  noch  nicht  die  völlige  Reife  der  Erziehung  erlangt  haben,  schon 
Meister  in  der  Erziehung  vorstellen  wollen.  Es  erscheint  mir  wichtig,  meinen 
Standpnnkt  in  dieser  Frage  scharf  zu  kennzeichnen  und  die  Aufmerksamkeit 
auf  die  problematischen  Leistungen  zahlreicher  Kindergärten  zu  richten,  da 
man  für  eine  allgemeinere  Einführung  derselben  Propaganda  zu  machen  sucht. 
In  einem  Aufsatz,  betitelt:  „Kindergärten  und  Fortbildungsschulwesen"**), 
bricht  Th.  Landmann,  Rector  zu  Schwetz  a.  W.,  eine  Lanze  für  die  Einführung 
obligatorischer  Kindergärten.    Er  ist  der  Ansicht,  dass  durch  sie  die  Kinder 
für  den  Besuch  der  Volksschule  so  vorbereitet  werden  könnten,  dass  die  be- 
stehenden Fortbildungsschulen  ganz  zu  entbehren  wären.    Diese  sollen  seiner 
Meinnng  nach  nur  die  Ergänzung  und  Erweiterung  der  mangelnden  Schulbil- 
dung bewirken,  damit  der  normale  Grad  der  Bildung  erzielt  werde;  sie  sind 
hiernach  nur  für  diejenigen  bestimmt,  welche  das  Ziel  der  Volksschule  nicht 
erreichen.  Er  glaubt  nun,  durch  obligatorische  Kindergärten  könne  die  Jugend 
im  vorschulpflichtigen  Alter  so  weit  gefördert  werden,  dass  „sie  im  allgemeinen 
das  der  Volksschule  gesteckte  Ziel  zn  erreichen  imstande  sein  dürfte."  Es  be- 
darf aber  wol  keines  Beweises,  dass  der  Verfasser  sich  einer  Täuschung  hin- 
gibt; denn  man  darf  nicht  vergessen,  dass  die  Erfolge  nicht  nur  von  Unter- 
richt und  Erziehung,  sondern  auch  von  der  individuellen  Begabung  des  Kindes 
abhängig  sind.  Den  Anfang  der  rationellen  geistigen  Entwickelung  in  dieser 
obligatorischen  Form  in  die  früheste  Kindheit  zu  verlegen,  halte  ich  psycho- 
logisch nicht  nur  für  ungerechtfertigt,  sondern  geradezu  für  schädlich.  Solche 
frühe  Treibhau8cnltur  des  kindlichen  Geistes  kann  eine  große  Gefahr  für  das 
ganze  Leben  des  Kindes  heraufbeschwören;  denn  die  praktische  Erfahrung  hat 
vielfach  gelehrt,  dass  eine  sehr  frühe  und  schnelle  Entwickelung  eine  vorzei- 
tige geistige  Erschlaffung  zur  Folge  gehabt  hat,  und  schon  manche  sogenann- 
ten Wunderkinder  sind  in  wenigen  Jahren  fast  Idioten  geworden.    Eher  ließe 
es  sich  rechtfertigen,  für  den  Abschluss  der  elementaren  Ausbildung  eine 

*)  Schweizerische  Volksschulen  und  Kindergärten.   Bericht  Uber  eine  Studien- 
reise nach  den  Städten  Bern,  Zürich  und  Basel,  im  Auftrago  der  Diesterweg-Stif- 
tung  zu  Berlin  auageführt  von  Ernst  Ewald.  (Als  Manuskript  gedruckt.  Berlin  1892.) 
**)  Pädagogium,  XI.  Jahrg,  12.  Heft. 

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höhere  Altersgrenze,  vielleicht  das  fünfzehnte  oder  sechzehnte  Lebensjahr, 
festzusetzen.  Ob  das  aber  ausführbar  und  überhaupt  noth wendig  ist,  will  ich 
dahingestellt  sein  lassen.  Thatsächlich  beschäftigt  man  sich  schon  seit  Jahren 
recht  eingehend  mit  Projecten,  welche  eine  Erweiterung  der  Ziele  der  Volks- 
schule im  Auge  haben.  Man  will  n.  a.  der  Volksschule  eine  zweicursige  ge- 
hobene Bürgerschule  als  Kopf  aufsetzen,  die  den  Lehrstoff  befestigt  und  er- 
weitert  und  dabei  die  Bedürfnisse  des  geschäftlichen  und  gewerblichen  Lebens 
besonders  berücksichtigt.  Dieser  Gedanke,  dem  ich  schon  vor  12  Jahren  in 
einer  pädagogischen  Zeitschrift  Ausdruck  gegeben*),  ist  auch  auf  der  XXVIII. 
Allgemeinen  deutschen  Lehrerversammlung  zu  Augsburg  im  Jahre  1889  durch 
einen  von  A.  Weichsel  aus  Würzburg  gehaltenen  Vortrag**)  angeregt  worden***). 

Unsere  heutigen  Kindergärten  wollen  mir  gar  nicht  so  nothwendig 
scheinen,  da  sie  ihre  Wirksamkeit  selten  auf  diejenigen  Kinder  ausdehnen, 
deren  Mütter  des  Broterwerbes  wegen  außerstande  sind,  der  Kindererziehung 
die  nöthige  Zeit  und  Sorgfalt  zu  widmen,  sondern  größten theils  von  Kindern 
wol habender  Eltern  besucht  werden,  für  deren  Erziehung  diese  auch  in  anderer 
Weise  zu  sorgen  vermögen;  dagegen  könnten  Volks- Kindergärten  großen 
Segen  stiften,  wenn  sie  in  der  von  mir  vorhin  angedeuteten,  dem  Fröbelschen 
Geiste  entsprechenden  Weise  geleitet  würden. 

Für  die  obligatorische  Einführung  von  Kindergärten  aber  kann  ich 
mich  nicht  begeistern,  und  ich  halte  sie  schon  deshalb  für  bedenklich,  ja 
geradezu  für  unmöglich,  weil  die  körperliche  Constitution  der  Kleinen  vom 
3. — 6.  Lebensjahre  sehr  oft  so  beschaffen  ist,  dass  es  unbillig  wäre,  von  ihnen 
zu  verlangen,  vielleicht  weit  entfernt  liegende  Kindergärten  aufzusuchen  und 
darin  sich  täglich  3—4  Stunden  aufzuhalten.  Die  Verhältnisse  auf  dem 
Lande  sind  heutzutage  oft  noch  so  ungünstig,  dass  selbst  die  schulpflichtigen 
Kinder  sehr  weite  Wege  zurückzulegen  haben.  Nach  der  amtlichen  Statistik 
über  „das  gesammte  Volksschulwesen  im  preußischen  Staate  im  Jahre  1886" 
haben  noch  131000  Kinder  einen  über  3  Kilometer  langen  Schulweg;  für 
einige  beträgt  er  sogar  über  7  Kilometer.  Wie  könnte  man  da  wol  den 
armen  Kleinen  im  vorschulpflichtigen  Alter  solche  Tagesmärsche  zumuthen. 
Außerdem  dürfte  dieses  Project  schon  an  der  Kostenfrage  scheitern.  In  einer 
Zeit,  wo  noch  in  Preußen  mehr  als  eine  Million  Kinder  sich  mit  halbem  An- 
recht auf  einen  Unterrichtsranni  begnügen  muss,  kann  wol  von  einer  Ein- 
führung obligatorischer  Kindergärten  keine  Bede  sein.  Man  wird  sich  daher 
mit  facnltativen  Volkskindergärten  begnügen  müssen,  ond  es  wäre  wünschens- 
wert, dass  in  ihnen  vorzugsweise  die  ärmsten  Kinder  Aufnahme  fänden, 
deren  Eltern  genöthigt  sind,  tagüber  ihrem  Broterwerb  nachzugehen,  und  die 
deshalb  zu  Hause  unbeaufsichtigt  und  unbeschäftigt  verweilen,  weil  gerade  sie 
das  größte  Contingent  der  schwachbefähigten  Schüler  stellen. 

Auch  die  neuerdings  ins  Leben  gerufenen  Kinderhorte  leisten  noch 


*)  „Die  Mittelschulen";  siehe  Lehrerzeitung  für  die  Provinz  Ostpreußen,  Organ 
des  Pestalozzivereins,  1880,  11.  Jahrgang,  Nr.  9,  10,  11. 

**)  „Der  Ausbau  der  deutschen  Volksschule";  Biehe  Ptedagogium,  XI.  Jahrgang 
unter  dem  Titel:  „Die  XXVIII.  Allgemeine  Deutsche  Lehrerversammlung  von 
Wilhelm  Meyer-Duisburg. 

*♦*)  In  der  Schweiz  ist  dieser  Gedanke  zur  That  geworden;  ich  verweise  auf  die 
dortigen  Secundnrschulen. 


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lange  nicht  das,  was  sie  eigentlich  erstreben.  In  ihnen  werden  Kinder  während 
ihrer  schulfreien  Zeit  täglich  mehrere  Stunden  beaufsichtigt  und  mit  Anfer- 
tigung von  Handarbeiten  oder  häuslichen  Schulaufgaben  beschäftigt.  Gewisse 
Stunden  werden  durch  Wanderungen  ins  Freie  ausgefüllt  oder  dienen  dem 
Gesang  und  Jagendspiel.  Die  Kinder  gehören  größtenteils  Witwen  oder 
Eheverlassenen  an  oder  solchen  armen  Eltern,  die  den  Tag  über  außer  dem 
Hause  thätig  sind,  und  sollen  in  der  schulfreien  Zeit  von  sachverständigen 
Pflegern  überwacht,  gepflegt  und  vor  schädlichen  Einflüssen  geschützt  werden, 
damit  sie  nicht  der  Verwilderung  und  Verwahrlosung  und  somit  dem  jugend- 
lichen Verbrecherthum  anheimfallen.  In  Berlin  sind  die  Kinderhorte  von  dem 
Stadt-Sehulinspector  Dr.  Zwick  ins  Leben  gerufen  worden,  der  sich  auch  um 
ihren  bisherigen  Aasbau  sehr  verdient  gemacht  hat.  Da  sie  fast  ausschließlich 
dem  Wohlthätigkeits8inn  der  städtischen  Bevölkerung  ihr  Bestehen  zu  verdanken 
haben,  sind  sie  leider  noch  nicht  so  gut  fundirt,  dass  jedem  Kinderhorte  ein 
großer  Saal  und  ein  Garten  zur  Verfügung  steht,  wie  es  eigentlich  der  Fall 
sein  müs8te,  wenn  sie  ihrem  Zweck  vollkommen  entsprechen  sollten. 

Der  so  nothwendige  Aufenthalt  der  Kinder  im  Freien  kann  nur  ein  be- 
schränkter sein,  und  auch  die  heutzutage  so  sehr  empfohlenen  Jugendspiele 
können  in  den  Kinderhorten  noch  nicht  ganz  zu  ihrem  Rechte  kommen.  Dass 
man  den  Handfertigkeitsunterricht  in  diesen  Anstalten  eingeführt  hat,  ist  sehr 
erfreulich;  doch  so  sehr  ich  auch  den  Segen  der  Arbeit  schätze  und  ihren  Ein- 
fluss  auf  die  Willensbildung  der  Kinder,  und  so  sehr  ich  überzeugt  bin,  dass 
in  der  manuellen  Beschäftigung  starke  Wurzeln  ihrer  einstigen  sittlichen 
Kraft  liegen,  halte  ich  doch  eine  weise  Beschränkung,  ein  rechtes  Maßhalten 
für  angebracht 

Während  ich  sonach  den  Kindergärten  und  Kinderhorten  vom  pädago- 
gischen und  hygienischen  Standpunkte  nur  bedingungsweise  ihre  Existenz  und 
ihren  weiteren  Ausbau  im  Dienste  der  Jugendbildung  gestatten  möchte,  halte 
ich  die  Krippen  und  Kinderbewahranstalten  für  ganz  unschätzbare  In- 
stitutionen zur  Bekämpfung  des  Idiotismus.  Für  den  Säugling,  für  das  Kind 
in  den  ersten  Lebensjahren  kann  die  arme  Mutter  oft  wenig  thun,  da  sie  gleich 
dem  Vater  dem  Broterwerb  nachgehen  rauss,  obwol  das  Kind  gerade  in  der 
ersten  Zeit  vorzugsweise  der  Pflege  und  Wartung  bedarf,  wenn  es  gesund 
bleiben  und  gedeihen  soll.  Weit  mehr  als  in  anderen  größeren  Städten  sind 
die  Frauen  der  Arbeiterbevölkerung  Berlins  darauf  angewiesen,  den  Mann  in 
der  Sorge  für  die  Existenz  der  Familie  thatkräftig  zu  unterstützen.  Bisweilen 
reicht  der  Verdienst  des  Mannes  nicht  hin,  seine  zahlreiche  Familie  zu  er- 
nähren; bisweilen  —  und  das  ist  leider  keine  seltene  Erscheinung  —  ver- 
braucht er  den  Verdienst  ausschließlich  für  seine  eigene  Person  und  überlässt 
es  der  armen  Frau,  sich  die  Mittel  für  den  Unterhalt  allein  zu  erwerben.  Oft 
wird  diese  noch  durch  Scheltworte  und  Schläge  gezwungen,  einen  Theil  ihrer 
sauer  verdienten  Pfennige,  für  die  sie  den  Kindern  Brot  kaufen  wollte,  dem 
Manne  zu  geben,  damit  er  dem  Laster  des  Trunkes  fröhnen  könne,  oder  er 
verlässt  die  Familie  in  der  Erwartung,  dass  die  Armen  Verwaltung  für  seine 
Kinder  sorgen  werde.  Soll  man  sich  da  wundern,  wenn  die  Sunden  der  Väter 
sich  an  den  Kindern  rächen?  Wo  das  Haus  in  so  unverantwortlicher  Weise 
seine  Pflicht  vernachlässigt,  da  müssen  Gemeinde  und  Staat  mit  aller  Energie 
helfend  einschreiten,  damit  das  Übel  nicht  ein  schlimmeres  zeitigt.    Man  hat 


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neuerdings  große  Kinderhospitäler  errichtet  —  nnd  jeder  gote  MenBch  und 
Kinderfreund  wird  sich  darüber  freuen  — ;  man  sorgt  für  Gefängnisse,  die 
in  hygienischer  Hinsicht  oft  geradezu  musterhaft  ausgestattet  sind ;  doch  noch 
weit  wichtiger  erscheint  mir  die  Sorge  für  Institutionen,  welche  zur  Ver- 
minderung von  Kinderkrankheiten  und  zur  Ausrottung  des  Vagabunden-  und 
Verbrecherthums  wesentlich  beitragen.  Dazu  gehören  wolorganisirte  Krippen 
und  Kinderbewahranstalten.  Die  Mittel  für  solche  Institute  werden  sicherlich 
productiv  angelegt;  denn  was  mau  für  dieselben  verausgabt,  wird  reichlich  er- 
setzt und  aufgewogen  durch  Verringerung  der  Ausgaben  für  Krankenhäuser 
und  Gefängnisse.  Jene  Institute  sind  mir  auch  darum  viel  wichtiger  als 
Kindergärten  und  Kinderhorte,  weil  sie  unmittelbar,  die  letzteren  jedoch  im 
günstigsten  Falle  nur  mittelbar  zur  Bekämpfung  des  Idiotismus  beizutragen  ver- 
mögen. Leider  haben  sie  ihr  Bestehen  bisher  fast  ausschließlich  der  Privat- 
wolthätigkeit  zu  verdanken;  auch  tragen  sie  fast  durchgehend«  ein  kirchliches 
Gepräge.  Sie  werden  erst  als  Gemeinde-  oder  Staatsanstalten,  im  Sinne  der 
modernen  Erziehungswissenschaft  geleitet,  ihre  segensreiche  Wirksamkeit  ernst- 
lich bethätigen  können. 

Da  die  Pflege  eines  Kindes  reicher  Eltern  häufig  einer  Amme  obliegt  und 
bisweilen  noch  von  einem  Arzte  controlirt  wird,  so  hängt  oft  von  der  Wahl 
dieser  Personen  die  ganze  Zukunft  des  jungen  Weltbürgers  ab.  Wie  selbst 
durch  falsche  ärztliche  Behandlung  aus  einem  normal  geborenen  Kinde  ein 
idiotisches  werden  kann,  dafür  liefert  folgendes  Beispiel  einen  Beleg.  Das 
Kind  einer  mir  bekannten  Familie  war  circa  sechs  Wochen  alt.  Der  Amme 
desselben  waren  zu  ihrer  Pflege  täglich  verschiedene  Weinsorten  zur  Verfügung 
gestellt  worden.  Eines  Tages  hatte  sie  nicht  nur  sich,  sondern  auch  ihren 
kleinen  Schützling  durch  Wein  in  einen  aufgeregten  Zustand  versetzt  Das 
Kind  schien  fieberkrank  zu  sein.  Man  holte  den  Arzt.  Auf  seine  Anordnung 
erhielt  das  Kind  Eisumschläge,  die  in  kurzen  Zwischenräumen  wiederholt 
werden  mussten,  und  die  der  Amme  weit  dienlicher  gewesen  wären.  Dadurch 
wurde  binnen  kurzer  Zeit  nicht  nur  eine  Lähmung  der  Arme  und  Beine, 
sondern  auch  des  Gehirns  hervorgerufen,  und  das  arme  Kind  ist  ein  blödsin- 
niger Kretin  geworden. 

Wie  Behörden  durch  sanitäre  Einrichtungen,  so  können  Arzte,  Lehrer 
und  sonstige  Menschenfreunde  durch  Belehrungen,  gute  Rathschläge,  durch 
Vortrage  in  Vereinen,  durch  Petitionen  betreffs  Beseitigung  gesundheitsschäd- 
licher Übelstände  viel  Gutes  schaffen  und  zur  Bekämpfung  des  Idiotismus 
wesentlich  beitragen.  Namentlich  bietet  sich  dem  Arzt  ein  großes  Feld  erfolg- 
reicher, dankenswerter  Thätigkeit.  Bedauerlicher  Weise  richtet  sich  diese 
heutzutage  noch  vielfach  nur  darauf,  entstandene  Übel  zu  heilen,  statt  die  Ur- 
sachen der  Krankheiten  zu  bekämpfen.  Jeder  Arzt  müsste  zugleich  Pädagoge 
und  Volksredner  sein  und  durch  Lehre  und  Ermahnung  auf  eine  geregelte 
Lebensweise,  die  dem  hygienischen  Standpunkt  entspricht,  hinzuwirken  bestrebt 
sein.  Während  man  jetzt  in  der  Kegel  den  Arzt  nur  aufsucht,  wenn  die 
größte  Gefahr  im  Verzuge  ist  und  häufig  auch  dann  noch  erst  zur  Medicin- 
pfuscherei  seine  Zuflucht  nimmt,  würde  man,  auf  die  unscheinbarsten  Krankheits- 
symptome aufmerksam  gemacht,  sich  so  frühzeitig  wie  möglich  an  den  ärztlichen 
Bathgeber  wenden.  (Wird  fortgesetzt) 


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Pädagogische  Rundschau. 

Österreich.  Am  18.  und  19.  Juli  wurde  in  Linz  die  vierte  Voll- 
versammlung des  Deutsch-österreichischen  Lehrerbandes  abgehalten.  Wer  der- 
selben als  objectiver  Beobachter  beiwohnte,  um  sie  als  einen  Spiegel  des  Zeit- 
geistes und  der  beutigen  Schulzustände  aufzufassen .  der  konnte  aus  manchen 
Anzeichen  einerseits  erkennen,  dass  gegenwärtig  keineswegs  eine  allgemeine 
Frische,  Freudigkeit,  Zuversichtlichkeit  und  Harmonie  in  der  deutsch -öster- 
reichischen Lehrerschaft  herrscht,  dass  aber  anderseits  der  Kern  derselben 
sich  gesund  und  thatkräftig  erhalten  hat,  daher  mit  unentwegter  Treue  und 
Entschiedenheit  die  Fahne  des  Reichsvolksschulgesetzes  festhält. 

Die  Tagesordnung  war,  wie  bei  solchen  Versammlungen  gewöhnlich,  eine 
überreiche,  nämlich  1.  eine  Gedenkrede  auf  den  ersten  allgemeinen  öster- 
reichischen Lehrertag  im  Jahre  1867;  2.  das  Thema:  „Was  wir  wollen"; 
3.  Verhandlung  über  die  Frage:  „Ist  die  definitive  Anstellung  der  Bezirks- 
schulinspectoren  ihrer  provisorischen  Berufung  vorzuziehen?"  —  Hierzu  kam 
noch  die  Besprechung  des  Planes,  durch  Errichtung  einer  Hasner-Stiftung  den 
Schöpfer  des  österr.  Schulgesetzes  in  bleibender  Erinnerung  zu  erhalten,  wor- 
über sogleich  bemerkt  sei,  dass  die  Versammlung  dem  bezüglichen  Antrag 
des  Referenten,  Oberlehrers  Holczabek-Wien,  mit  Begeisterung  zustimmte. 

Die  Berichterstattung  über  die  Punkte  2  und  3  der  Tagesordnung  war 
den  Herren  Karl  Hiller-Traiskirchen  und  Christian  Jessen-Wien  übertragen. 
Beide  erledigten  sich  ihrer  Aufgabe  in  klaren,  sachgemäßen  und  alle  ein- 
schlagenden Verhältnisse  berücksichtigenden  Auseinandersetzungen,  welche 
freilich  nicht  auf  Originalität  und  zündende  Kraft  Anspruch  machen  konnten, 
sondern  einen  mehr  geschäftsmäßigen,  ruhig  abwägenden  Charakter  annehmen 
mussten,  da  die  Themata  bereits  lange  vorher  vom  Bundesausschuss ,  von 
Delegirtenversammlungen,  Bezirksconferenzen  u.  s.  w. ,  ebenso  von  den  päda- 
gogischen Blättern  vielfach  und  eingehend  erörtert  worden  waren;  auch  sind 
diese  Themata,  namentlich  das  unter  Nr.  2,  so  viel  umfassend,  dass  sie  in 
einer  Sitzung  nicht  wol  genügend  durchgeführt  werden  können,  wie  denn 
auch  eine  eigentliche  Debatte  über  dieselben  nicht  stattfand.  Es  möge  daher 
hier  nur  erwähnt  werden:  1.  dass  die  von  Herrn  Hilber  formulirten,  sehr  zahl- 
reichen Resolutionen  hauptsächlich  das  unverbrüchliche  Festhalten  an  den 
Grundsätzen  des  österr.  Schulgesetzes  vom  14.  Mai  1869,  demgemäß  die 
stetige  Verbesserung  der  Volksschuleinrichtungen,  sowie  die  Hebung  der  Bil- 
dung, der  amtlichen,  rechtlichen  und  socialen  Stellung  des  Lehrerstandes  be- 
tonten und  die  Wiederherstellung  der  ursprünglichen  Intentionen  der  Schul- 
reform in  Aussicht  nahmen,  welchen  Forderungen  die  Versammlung  zu- 
stimmte; 2.  dass  bezüglich  der  Schulinspectoren  die  Versammlung  im  Sinne 
Jessens  sich  mit  großer  Majorität  für  die  provisorische  Berufung  aussprach, 


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indem  nur  26  Stimmen  für  die  Ständigkeit  abgegeben  wurden  (womit  aber  der 
Streit  kaum  beigelegt  sein  dürfte,  vgl.  den  obigen  Aufsatz  von  Taschek). 

Den  größten  Erfolg  auf  dem  diesjährigen  Lehrertag  erzielte  Herr  Eduard 
Jordan- Wien  mit  seiner  Gedenkrede  auf  den  ersten  allgem.  österr.  Lehrertag, 
welcher  vor  25  Jahren  (1867)  zu  Wien  in  der  kaiserlichen  Burg  abgehalten 
wurde.  Der  dankbare  Stoff  wurde  vom  Redner  in  so  plastischer,  schwung- 
voller und  herzergreifender  Weise  behandelt,  dass  die  Versammlung  von  all- 
gemeiner Begeisterung  bewegt,  wiederholt  und  besonders  am  Schlüsse  in 
stürmischen  und  lang  anhaltenden  Beifall  ausbrach.  Jedenfalls  wird  die  Rede 
auch  in  dem  bald  zu  erwartenden  stenographischen  Versammlungsbericht 
recht  viele  zustimmende  Leser  finden.  Wir  bemerken  hier  nur,  dass  Jordan 
vor  allem  ein  lebendiges  Bild  der  Zeit  vor  25  Jahren  und  der  damaligen 
Lehrerversammlung  entwarf,  dann  besonders  hervorhob  einerseits,  was  seitdem 
erreicht,  anderseits,  was  nicht  erreicht,  bezuglich  wieder  verloren  worden  ist. 

Und  leider  ist  auch  des  letzteren  nicht  wenig.  Das  Gesetz  vom  14.  Mai 
1869  ist  nicht  mehr  in  voller  Kraft.  Die  gegenwärtige  Situation  lässt  sich 
kurz  so  bezeichnen:  Die  Neuschule,  geschaffen  durch  die  Gesetze  von  1868 
und  1869,  und  die  alte  Schule,  d.  i.  die  clericale,  wie  sie  auf  dem  Concordat 
von  1855  beruhte,  bestehen  derzeit  neben  einander,  jene  von  Rechts  wegen, 
diese  thatsächlich ,  auf  Grand  besonderer  Errungenschaften,  Abmachungen, 
corporativer  Agitationen  und  administrativer  Maßregeln.  Über  dem  Ganzen 
schwebt  das  Motto:  „Lasset  beide  miteinander  wachsen/  welches  frei- 
lich recht  unparteiisch  klingt,  in  diesem  Falle  aber  sehr  bedenklich  und  an- 
fechtbar ist.  Wir  hahen  kein  Definitivum  mehr,  sondern  einen  Zwischen- 
zustand, der  ohne  Zweifel  in  einigen  Jahren  wieder  zu  einem  Entscheidungs- 
kampfe führen  wird.  Vorläufig  wächst  die  alte  (clericale)  Schule,  während 
die  neue  (liberale)  abnimmt;  es  ist  ein  Waffenstillstand,  der  zur  Rüstung  be- 
nutzt wird:  aber  dieses  Geschäft,  die  Rüstung,  wird  nur  auf  einer  Seite,  näm- 
lich bei  den  Clericalen,  mit  Eifer,  klarem  Blick  und  großem  Erfolg  betrieben, 
indem  sie  fortwährend  neue  Heerhaufen  sammeln,  neue  Bollwerke  anlegen  und 
neue  Waffen  schmieden.  Dem  gegenüber  versinken  die  Liberalen  mehr  und 
mehr  in  Opportunismus  und  Schlummer,  indem  sie  sich  stellen,  als  gebe  es 
keine  Gefahr.  Nun,  sobald  die  Gegenpartei  sich  stark  genug  fühlen  wird, 
wird  sie  einen  großen  Feldzag  eröffnen  und  auch  die  förmliche  Aufhebung 
der  ihr  verhassten  Gesetze  fordern,  und  das  dürften  wir  spätestens  in  5  Jahren 
erleben.  M. 


Aus  Bayern.  In  Erlangen  erfolgte  am  17.  Juli  im  Vorgarten  des 
Knabenhort  „Sonnenblume"  die  feierliche  Enthüllung  der  Erzbüste  Schmid- 
Schwarzenbergs,  des  Begründers  der  Knabenhorte.  Außer  dem  Gesammtvor- 
stande  des  Vereins  für  Volkserziehung  nnd  den  Knaben  der  Sonnenblume 
waren  viele  angesehene  Herren  und  Corporationen  der  Stadt  sowie  Männer 
und  Frauen  aus  allen  Schichten  der  Bevölkerung  erschienen.  Herr  Commerzien- 
rath  Drossbach  hielt  die  Festrede.  Nach  herzlicher  Begrüßung  der  Festver- 
sammlung entrollte  er  ein  Bild  des  Lebens  und  Wirkens  Schmid-Schwarzen- 
bergs,  dem  wir  Nachstehendes  entnehmen.  Dr.  F.  Schmid-Schwarzenberg 
wurde  am  22.  October  1819  zu  Schwarzenberg  am  Dreisesselberg  geboren. 
Seine  Kindheit  war  reich  an  Entbehrungen  und  Anstrengungen.    Im  Benedic- 


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tinerkloster  Kremsmünster  herangebildet,  beendete  er  seine  Gymnasialstudien 
zu  Salzburg.  Hierauf  widmete  er  sich  dem  Studium  der  Theologie  und  später 
dem  der  Philosophie.  1856  habilitirte  er  eich  an  der  Erlanger  Universität  für 
Philosophie.  1862  wurde  er  zum  Professor  ernannt,  in  welcher  Stellung  er 
bis  zu  seinem  Lebensende  verblieb.  Von  seinen  Volksschriften  sind  zu  er- 
wähnen „ Quellwasser  für  das  deutsche  Volk",  „Bestaubte  Blätter",  „Himmels- 
ring", „Freie  deutsche  Herzen"  u.  s.  w. 

Von  den  sechziger  Jahren  an  wendete  er  sich  vornehmlich  der  Pädagogik 
zu.  Die  Armut  und  die  Noth  der  niederen  Volksclassen  kannte  er  aus 
eigener  Erfahrung.  Insbesondere  gelangte  er  zu  der  Überzeugung,  dass  vor 
allem  eine  bessere  Erziehung  der  Kinder  der  Arbeiter  ein  Mittel  sei,  die  sociale 
Noth  zu  heben.  Durch  Vorlesungen  über  Pädagogik  und  durch  pädagogische 
Schriften  —  „Briefe  über  vernünftige  Erziehung",  „Über  Volkserziehang", 
„Klytia"  —  suchte  er  verwandte  Geister  für  sich  zu  gewinnen.  Im  Verein 
mit  solchen  gründete  er  am  31.  März  1871  den  Verein  für  Volkserziehung 
und  die  „Sonnenblume".  In  kurzer  Zeit  traten  ähnliche  Vereine  nnd  Anstalten 
in  Bäumenheim,  Augsburg,  München,  Bamberg,  Fürth,  Nürnberg,  Wtirzburg, 
Kempten,  Lauf  u.  s.  w.  ins  Leben.  Aufgabe  dieser  Knabenhorte  ist  es,  den 
schulpflichtigen  Kindern  derjenigen  armen  Eltern  oder  Pflegeeltern,  welche 
durch  täglichen  Broterwerb  gezwungen  sind,  den  ganzen  Tag  über  in  oder 
außer  dem  Hause  zu  arbeiten,  und  deshalb  ihre  Kinder  nicht  selbst  beaufsich- 
tigen und  erziehen  können,  während  der  schulfreien  Stunden' eine  Heimstätte 
zu  bieten,  in  welcher  dieselben  im  Anschluss  an  Familie  und  Schule  erzogen 
werden.  Leider  sollte  Schmid-Schwarzenberg  die  Früchte  seiner  pädagogischen 
Thätigkeit  nicht  lange  schauen.  Im  November  1883  erkrankte  er  und  starb 
am  28.  d.  M. 

Auf  dem  Syenitsockel  des  ihm  nun  gesetzten  Denkmals  befindet  sich  die 
Inschrift:  „Schmid-Schwarzenberg,  Begründer  des  1.  deutschen  Knabenhortes, 
1819.  1883." 


Elsass-Lothringen.  Es  ist  ja  wol  für  Altdeutschland  von  einem  ge- 
wissen Interesse,  gelegentlich  auch  etwas  aus  dem  Schul-  und  Lehrerleben 
Elsass-Lothringens  zu  hören.  Im  großen  ganzen  freilich  herrscht  hier  zu 
Lande  viel  Ruhe,  sowol  im  höheren  als  im  niederen  Unterrichtsbereiche.  Im 
Elementarlehrerstand,  der  nicht  besonders  hervortritt  und  fast  nur  in  amtlichen 
Conferenzen  zusammenkommt,  hat  in  den  letzten  Jahren  die  Zahl  der  jungen 
Lehrer,  die  sich  dem  Mittelschul-  uud  dem  Rectoratsexamen  unterziehen,  in 
erfreulicherweise  zugenommen.  Diese  Examina  sind  nach  preußischem  Muster 
eingerichtet  und  ursprünglich  dazu  bestimmt,  Seminarlehrer  und  Kreisschul- 
inspectoren  heranzubilden.  Es  erwächst  aber  den  so  vorgebildeten  Leuten 
neuerdings  eine  bedeutende  Concurrenz  durch  katholische  Priester  und  junge 
Philologen,  abgesehen  davon,  dass  die  evangelischen  Lehrer  überhaupt  kaum 
Aussicht  haben  anzukommen.  Denn  seit  des  seligen  Herrn  v.  Manteuffels  Zeit 
sind  die  Seminare  confessionell  getrennt,  und  von  den  9  vorhandenen  sind  nur 
zwei  evangelisch,  wovon  eines,  das  Lehrerinnenseminar,  nur  eine  männliche 
Lehrkraft  besitzt.  Unter  den  24  Kreisschulinspectionen  aber  sind  nur  etwa 
ein  halbes  Dutzend  mit  Protestanten  besetzt.  So  bleiben  nur  die  in  einzelnen 
Städten  bestehenden  Mittelschulen,  eine  Art  gehobener  Elementarschulen  mit 


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französischem  Unterricht.  —  Das  Elementarschulwesen  wird  noch  von  den 
drei  Bezirken  selbstständig  verwaltet,  da  die  alten  franzosischen  Departements 
Haut-Rhin  als  Oberelsass,  Bas-Rhin  als  Unterelsass  und  Lorraine  als  Lothringen 
auch  in  diesem  Verwaltungszweig  beibehalten  worden  sind  und  jedem  Be- 
zirkspräsidenten ein  oder  zwei  Schulräthe,  welche  sämtlich  katholisch  sind, 
zur  Seite  stehen.  So  nimmt  es  sich  gelegentlich  seltsam  aus,  wenn  man  liest, 
dass  ein  Lehrer  aus  dem  Schuldienst  des  Unterelsasses  entlassen  worden  sei, 
um  in  den  des  Oberelsasses  oder  in  den  höheren  Schuldienst,  der  dem  Ober- 
schulrath für  Elsass- Lothringen  untersteht,  einzutreten.  Es  werden  daher 
jährlich  auch  drei  verschiedene  Lehrertage  abgehalten,  und  es  bestehen  drei 
Unterstützungseassen  für  die  3000  Lehrer  der  Elementarschulen  des  Reichs- 
landes.  Ein  gemeinsames  Band  bildet  das  vor  einigen  Jahren  gegründete 
el8as8-lothringische  Lehrerwaisenstift,  dessen  Vermögen  bereits  die  stattliche 
Summe  von  85000  Mark  aufweist,  und  an  dessen  Spitze  ein  Oberschulrath 
als  Präsident  steht,  während  sämmtliche  Kreisschulinspectoren  des  Landes 
ihm  als  Ehrenmitglieder  angehören.  —  Der  Schulzwang  ist,  wie  bekannt,  erst 
durch  die  deutsche  Verwaltung,  im  Jahre  1872,  eingeführt  worden  und  hat 
bis  jetzt  den  erfreulichen  Erfolg  gehabt,  dass  bei  der  letzten  Recmtenaus- 
hebung  nur  0,37  Procent  ohne  Schulbildung  waren  und  nur  57a  Procent 
französische  Schulbildung  besaßen.  —  Sehr  ungünstig  steht  verhältnismäßig 
bezüglich  des  Elementarunterrichts  die  Hauptstadt  des  Landes,  da  sich  die 
Schulbevölkerung  so  vermehrt,  dass  seit  der  Übernahme  durch  die  deutsche 
Verwaltung  die  Zahl  der  Classen  sich  mehr  als  verdoppelt  hat,  und  in  einer 
Classe  immer  noch  mindestens  sechzig  Schüler  sitzen.  Da  sich  die  Stadt  auch 
sonst  bedentend  entwickelt  und  für  Bauten  aller  Art,  Straßen,  Brücken,  Häfen 
viel  Geld  nöthig  ist,  so  sind  die  Volksschulhäuser  zum  Theil  in  einem  nichts 
weniger  als  zeitgemäßen  Zustand.  In  letzter  Zeit  wird  besonders  dem  Zeichnen 
viel  Aufmerksamkeit  zugewandt  und  auch  der  Handfertigkeitsunterricht,  über 
dessen  Nutzen  und  Berechtigung  allerdings  auch  hier  die  Ansichten  noch  ge- 
theilt  sind,  ist  in  einigen  Orten  facultativ  eingeführt  worden.  Die  katholischen 
Schüler  sind  seit  einigen  Jahren  nicht  mehr,  wie  anfänglich,  nach  den  Schul- 
bezirken der  Stadt  den  Schulen  zngetheilt,  sondern  es  sind  sog.  Pf  an  schulen 
errichtet  worden,  in  welche  die  Schüler  nach  der  jeweiligen  Zugehörigkeit  zu 
einer  Pfarrei  eingereiht  sind.  Diese  Einrichtung  ist  auf  Wunsch  der  katho- 
lischen Geistlichkeit  getroffen  worden;  wie  sie  sich  vom  Unterrichtsstand puukt 
bewährt,  wird  die  Zukunft  noch  lehren  müssen.—  So  ist  denn  der  Zukunft  der 
Staut  Straßburg  hinsichtlich  des  gesammten  Volksschulwesens  noch  eine  schöne 
Aufgabe  vorbehalten.  Hoffen  wir,  dass  sie  zum  Segen  des  Landes,  des  Deutsch- 
thums und  des  gegenwärtigen  wie  des  zukünftigen  Geschlechtes  gelöst  werde.  — 
Das  nächste  Mal  etwas  über  das  höhere  und  höchste  Unterrichtswesens. 

R.  W. 


Comenius-Geaellschaft.  Der  aus  Anlass  der  Jahrhundertfeier  be- 
gründeten Comenius  -  Gesellschaft  hat  der  E.  Preuß.  Cultusminister,  Herr 
Dr.  Bosse,  einen  Beitrag  von  500  M.  überwiesen  und  die  Städte  Prag. 
Amsterdam  und  Danzig  haben  ihr  je  500,  165  und  100  M.  bewilligt;  es  ist 
Aussiebt  vorhanden,  dass  die  übrigen  Länder  und  Städte,  deren  Geschichte 
mit  der  bahnbrechenden  Thätigkeit  des  Comenius  verknüpft  ist,  vor  allem 


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791  — 


Österreich-Ungarn,  Großbritannien,  die  Niederlande,  Schweden  n.  s.  w.  dem 
gegebenen  Beispiel  folgen  werden.  Die  soeben  zur  Ausgabe  gelangte  Lieferung 
der  „Monatshefte  der  Comenius-GesellschafV  (R.  Voigtlanders  Verlag,  Leipzig- 
Gohlis)  enthält  einen  Aufcatz  von  K.  Mämpel-Eisenach  über  die  intereonfessio- 
nellen  Friedensideale  des  Comenius,  worin  die  philosophisch-religiöse  Seite  seines 
Wirkens  in  Rücksicht  anf  vergangene  und  gegenwärtige  Zeiten  anter  neuen 
Gesichtspunkten  betrachtet  wird.  Die  Gesellschaft,  die  sich  die  Aufgabe  ge- 
stellt hat,  dem  Geist  des  Comenius  unter  nns  von  neuem  lebendige  Verbreitung 
zu  verschaffen,  hat  rasch  viele  Freunde  gefunden  und  zählt  schon  jetzt  in 
Belgien,  Dänemark,  Deutschland,  England,  Frankreich,  Italien,  den  Nieder- 
landen, Norwegen,  Österreich-Ungarn,  Rumänien,  Russland,  Schweden,  der 
Schweiz,  Serbien  und  den  Vereinigten  Staaten  hohe  Beamte,  bekannte  Gelehrte 
und  freigebige  Gönner  —  im  ganzen  845  Personen  —  zu  Mitgliedern.  An- 
meldungen nehmen  für  Deutschland  das  Bankhaus  Molenaar  u.  Co.,  Berlin  C, 
Burgstraße,  für  Österreich-Ungarn  A.  Pichlers  Witwe  und  Sohn,  Wien  V,  Marga- 
rethenpl.  2,  für  Frankreich  die  Buchhandlung  Fischbacher,  Paris,  Rue  de 
Seine  33,  für  Schweden  C.  E.  Fritze's  Hofbuchhandlung,  Stockholm,  entgegen. 


Ans  der  Fachpresse. 

569.  Das  Gesicht  des  Lehrers  (Schles.  Schulz/)  1892, 17).  Eine 
anmuthige  humoristisch-satirische  Leistung.  Nachdem  Verf.  die  bekannten 
Phrasen,  welche  fordern,  das  Auge,  der  Blick  u.  s.  w.  des  Lehrers  solle  den 
Einzelnen  wie  die  Classe  bezähmen  und  bezaubern,  gebärend  gewürdigt,  fährt 
er  fort:  „Wer  weiß,  wie  kurze  Zeit  ein  Blick  eine  Classe  ungezogener  und 
unerzogener  Kinder  bannt,  wie  ungefährlich  denselben  das  Gewitter  erscheint, 
das  nur  um  die  umwölkte  Stirne  droht,  wie  leicht  sie  sich  an  die  zornig  in  die 
Höhe  gezogenen  Brauen,  den  streng  zusammengekniffenen  Mund  gewöhnen  — 
ja  dass  sie  in  kindlicher  Freude  über  all  diese  symbolischen  Strafen  zu  fragen 
gesonnen  wären:  Herr  Lehrer,  können  Sie  auch  mit  den  Ohren  wackeln?  — 
der  wird  jene  salbungsvollen  Worte  für  recht  schön  (?),  aber  für  herzlich  un- 
praktisch halten.  Und  wenn  die  Augen  des  Lehrers  ein  ganzes  Arsenal  von 
Dolchblitzen  wären  und  der  Mund  ein  Himmel  voll  Hagelwettern:  das  Gesicht 
des  Lehrers  reicht  zur  Aufrechterhaltung  einer  strammen  Schulzucht  nicht  aus." 

570.  Arbeitsziele  (J.  Meyer,  Neue  Bahnen  1892,  I:  „Zur  Einfüh- 
rung"): „Erweiterung  unserer  Individualerziehung  zur  Socialerziehnng  — 
Ausscheidung  aller  althergebrachten  Stoffe,  die  für  das  Leben  der  Gegenwart 
wertlos  sind —  sorgsame  Pflege  der  religiösen  und  der  patriotischen  Erziehnng 

—  selbstständige  Stellung  der  Schule  gegenüber  Staat  und  Kirche  —  eine 
Organisation  der  Schule,  welche  die  Charakterbildung  der  Jugend  ermöglicht 

—  eine  der  culturellen  Bedeutung  der  Schule  entsprechende  Stellung,  Be- 
soldung und  Bildung  der  Lehrer.  „Nichts  soll  uns  fremd  bleiben,  was  auf  die 
Entwickelung  der  Schulerziehung  Einfluss  haben  kann  (Haus- und  Gesellschafts- 
erziehung)." 

*)  Preis  der  einzelnen  Nummer  15  Pfg. 


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—  792 


571.  Zur  Frage  der  allgemeinen  Volksschule  (Deutsche  Schul- 
praxis 1892,  18).  Verf.  erinnert  an  einen  Aufsatz  vom  Jahre  1806  in  der 
„Zeitschrift  für  Pädagogik"  (Herausgeber:  Guts  Muths),  wo  sich  ein  Super- 
intendent und  Consistorialrath  Ziegenbein  folgendermaßen  äußert:  „Wir  wollen 
hier  nicht  unbemerkt  lassen,  dass  gerade  die  Vermischung  der  Kinder  von 
allen  Klassen  und  Ständen  wolthätig  auf  die  äußere  Bildung  der  Kinder  aus 
den  niederen  Ständen  zurückwirkt,  ohne  den  Kindern  der  Honoratioren  nach- 
theilig zu  werden;  die  ersten  werden  mehr  humanisirt  und  civilisirt,  indes  man 
gewiss  überall  finden  wird,  dass  die  letzteren  —  wenn  sie  sich  anders  nicht 
in  den  Bedienten-  und  Kinderstuben  zu  viel  umhergetrieben  und  daselbst 
schlechte  Sitten  angenommen  haben  —  durch  diese  Vermischung  an  Humani- 
tät und  Civilisation  nicht  verlieren.  Möchte  man  doch  immer  mehr  einsehen 
nnd  beherzigen,  dass  die  Kinder  der  niederen  wie  der  vornehmen  Stände 
bis  zum  vierzehnten  Jahre  nur  einerlei  Bildungsbedürfnis  haben,  und  dass 
alle  woleingerichteten  Staatsverfassungen  künftig  mehr  als  bisher  dafür  Sorge 
tragen  müssen,  dass  sich  überall  gemeinsame  gute  Elementarschulen  finden." 
Als  Gleichgesinnte  werden  zwei  andere  Consistorialräthe  citirt. 

572.  Getrübter  Kinderhimmel  (C.  Pilz,  Cornelia  1892,  III*).  Von 
den  (jedem  Erzieher  bekannten)  verschiedenen  Arten  „Wolken".  Hr.  P.  em- 
pfiehlt den  Eltern,  welche  ihren  Kindern  einen  „ungetrübten  Lebenshimmel " 
sichern  wollen,  die  Befolgung  der  wol  nicht  allgemein  bekannten  fünf  Regeln 
Lavaters  (in  dem  Briefe  an  eine  Freundin):  „die  Kinder  stets  in  guter  Laune 
erhalten;  sie  an  Ordnung  gewöhnen;  unerlaubte  Dinge  bestimmt  abschlagen; 
soviel  wie  irgend  zulässig  gestatten  und  nicht  am  Verbieten  Freude  haben; 
sie  immer  in  Beschäftigung  erhalten". 

573.  Das  Gemüth  und  dessen  Erziehung  (Grashey,  Bayr.  Lehrer- 
zeitung**) 1892,  7).  Das  Gemüth  hängt  ab  von  den  Ernährungs  Verhältnissen 
des  Gehirns.  Voraussetzung  der  Gemfi  Überziehung:  normal  ernährtes  Gehirn. 
Aufgabe  der  Gemüthserziehung:  „zwischen  die  beiden  Extreme  des  Gefühls 
(Affecte  des  Schmerzes  und  der  Freude)  die  übrigen  Affecte,  alle  die  feinen 
Nuancen  der  Gemtithsempfindungen  einzuschalten  —  die  Affecte,  welche  an 
und  für  sich  etwas  Rohes  sind,  nach  und  nach  zu  veredeln."  „Denn  nur  der 
kann  tugendhaft  handeln,  welcher  gelernt  bat,  tugendhaft  zu  fühlen;  erst  das 
Gefühl  gibt  uns  die  Kraft  zum  Handeln."  („Winke  von  roedicinischer  Seite,  die 
nicht  am  Schreibtische  gemacht,  sondern  aus  der  Praxis  geschöpft  sind"). 

574.  Vom  Verknüpfen  und  Verweben  der  Unterrichtsstoffe 
(H.  Weber,  Allg.  deutsche  Lehrerz.  1892,  14—16).  Gegensatz  zur  Herbart- 
Zülerschen  Theorie:  „Sie  sucht  in  Märchen,  auf  wüsten  Inseln,  bei  den  Rich- 
tern Israels  n.  s.  w.  Mittelpunkte  für  die  Gedankenkreise,  während  wir  uns 
unmittelbar  an  das  uns  umflutende  Leben  halten."  Darum  hat  „das  Gedeihen 
eines  auf  Verknüpfung  und  Verwebung  ausgehenden  Unterrichtes  zur  Voraus- 
setzung" :  „dass  im  ersten  und  zweiten  Schuljahre  der  Anschauungsunterricht 
wieder  mehr  auf  seine  ursprüngliche  Bestimmung,  die  Schärfung  der  Sinne, 
die  Übung  im  Auffassen  und  die  Bereicherung  der  Sprache  zurückkomme  — 


*)  Außerdem  lesenswert:  Über  Luthers  häusliche  Erziehung.  —  Aus  den  Auf- 
zeichnungen eines  Unmündigen. 

**)  Preis  der  einzelnen  Nummer  15  Pfg. 


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—  793 


dass  im  dritten  nnd  vierten  Schuljahre  die  Heimatekunde  als  der  gemeinsame 
Wurzelstock  aller  realen  Lehrfach  er  betrachtet  werde  —  dass  im  fünften  bis 
achten  Schuljahre  (Sachsen)  die  einzelnen  Lehrfächer  wol  ihren  eigenen  Weg 
gehen,  aber  alle  die  Kunde  der  Heimat,  von  welcher  oft  auszugehen  und  zu 
welcher  oft  zurückzukehren  ist,  noch  mit  enthalten. u  (Daran  schließen  sich 
etliche  selbstverständliche  Forderungen  an  den  einzelnen  Lehrer,  an  das  Col- 
legium  und  an  den  Verein  an).  —  Beispiele  hauptsächlich  für  den  „Religions- 
unterricht" des  letzten  Schuljahres,  für  „Verwertung  literarischer  Unterrichte- 
Stoffe"  (im  besonderen  des  Liedes  von  der  Glocke). 

575.  Der  deutsche  Unterricht  und  die  Reform  der  höheren 
Schulen  in  Preußen  (R.  Lehmann,  Zeitechr.  f. d.  deutschen  Unterr.  1892,11.) 
Das  Charakteristische  der  „LehrplRne  und  Lehraufgaben "  *)  eine  Anzahl 
Widersprüche:  Streben  nach  weitgehender  Erleichterung  und  ohne  Noth  ver- 
mehrte Belastung  (Hausaufgaben);  grundsätzliche  Concentration  und  tatsäch- 
liche Zersplitterung;  einerseits  Verzicht  auf  systematische  Grundsätze,  ander- 
seits Versuch,  die  Einzelheiten  des  Unterrichte  reglementmäßig  festzulegen; 
Gegensatz  zwischen  der  Bedeutung,  die  dem  Fache  beigelegt,  und  dem  Räume, 
der  ihm  gewährt  wird  (für  das  gesain  rate  Gymnasium  eine  Vermehrung  von 
drei  Stunden  wöchentlich:  „ein  Abstand  zwischen  Worten  und  That,  zwischen 
Zweck  und  Mittel,  wie  er  stärker  nicht  gedacht  werden  kann"!)  „Von  den 
neuen  Lehrplänen  ist  ein  neuer  Aufschwung  des  deutschen  Unterrichte  nicht 
zu  erwarten."  Sie  sind  —  kurz  gesagt,  ein  phrasen volles  Pfuscherwerk,  und 
können  nichts  anderes  sein.  (Man  weiß  ja,  wes  Geistes  Kind  ihr  „geistiger 
Vater"  ist!) 

576.  Bedenken  gegen  den  neuen  Lehrplan  für  den  erdkund- 
lichen Unterricht  an  den  preußischen  höheren  Lehranstalten  (Zeit- 
schrift für  Schulgeogr.  1892,  IV.  VII).  Resultate  der  „Reform":  Beseitigung 
der  Erdkunde  aus  den  Oberclassen  und  aus  der  Abiturientenprüfung  —  in 
den  Abschlussprüfungen  der  Untersecunda  können  ungenügende  geographische 
Leistungen  durch  jedes  andere  Fach  ausgeglichen  werden  —  Ertheilung  der 
praktischen  facultas  docendi  durch  die  Directoren  (denen  die  Einsicht  in  die 
einschlägigen  Verhältnisse  fehlt!),  und  zwar  voraussichtlich  an  die  „Altphilo- 
logen" (!  weil  sie  an  Stunden  und  damit  an  Besoldung  eingebüßt  haben),  unter 
denen  nur  eine  ganz  geringe  Zahl  geographische  Studien  gemacht  hat. 

577.  Die  Phantasie  und  ihre  Bildung  durch  den  Zeichenunter- 
richt (D.  Titschen,  Zeitechr.  d.  Vereins  deutscher  Zeichenlehrer  1892,  11 — 14). 
..Rogein"  für  die  „Bildung  der  Phantasie  durch  den  Zeichenunterricht": 
1.  „Sorge  dafür,  dass  das  Kind  vor  dem  Zeichnen  eine  klare  Vorstellung  des 
zu  zeichnenden  Objecto  bekommt".  („Erst  wenn  die  Kinder  imstande  sind, 
sich  klar  und  deutlich  über  die  Aufgabe  auszusprechen,  kann  man  mit  dem 
Zeichnen  beginnen.")  2.  „Gib  durch  passende  Aufgaben  den  Kindern  Gelegen- 
heit, das  Gelernte  in  freier  Weise  zu  üben  und  anzuwenden."  (Aufgaben,  „deren 
Form  zu  erfinden  innerhalb  gewisser  Grenzen  dem  Kinde  ganz  allein  über- 
lassen wird",  z.  B.  „aus  einer  Figur  durch  Hineinlegen  einiger  Linien  eine 
neue  zu  bilden";  schwieriger:  Einzeichnen  von  Blättern  in  bestimmte  geo- 
metrische Figuren;  für  Mädchen:  Verwendung  von  „Kanten".)   3.  „Sorge  für 


*)  Lehrplftnc  und  Lehtaufgaben  für  die  höheren  Schulen.  Berlin  1891.  Wilh.  Hertz. 


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äußere  und  sittliche  Reinheit  in  allem,  was  du  dem  Kinde  im  Unterrichte  dar- 
bietest; nur  solche  Anschauungen  nnd  Vorstellungen  sollen  dem  Kinde  geboten 
werden,  aus  denen  sittlich  reine,  edle  Phantasiebilder  entstehen  können".  (Man 
ist  wol  ein  wenig  erstaunt,  diese  „Regel"  gerade  hier  zu  finden.) 

578.  Charakter  und  Charakterbildung  (Päd.  Ref.  1892,  29.) 
Die  Schule  sorgt  für  Charakterbildung,  indem  sie  in  den  Zöglingen  die  Fähig- 
keit  entwickelt,  „  stets  logisch  zu  denken  und  nach  sittlichen  Grundsätzen  zu 
handeln. **  (.Logisch  denken  heißt  vor  allen  Dingen,  die  Gedanken  von 
Schönheitspflästerchen  und  Anstandsschminke  rein  halten  nnd  jeden  Gedanken 
ordentlich  ausdenken  bis  zu  den  letzten  Conseqnenzen,  und  sittlich  handeln 
heißt,  sich  zur  größtmöglichen  Vollkommenheit  emporschwingen,  dabei  aber 
niemals  die  berechtigten  Interessen  seiner  Mitmenschen  schmälern,  auch  stets 
sein  eigenes  Wol  dem  Wole  des  Ganzen  unterordnen").  Unter  der  deutschen 
Lehrerschaft  herrscht  viel  Mangel  an  Charakter,  was  sich  auch  wieder  auf  dem  letz- 
ten Deutschen  Lehrertag  in  verscliiedenen,  vom  Verfasser  theilweise  angeführten 
Äußerungen  gezeigt.  („In  der  Lehrergehaft  tritt  reichlich  stark  hervor  die 
Missachtung  der  eigenen  Menschenwürde,  die  Spekulation  auf  die  Eitelkeit  der 
Höherstehenden,  das  Bestreben,  stets  einen  guten  Schein  zu  wahren,  besonders 
auf  großen  Lehrerversamminngen. "  —  Diese  berechtigten  Vorwürfe  sind  noch 
lange  nicht  oft  genug  erhoben  worden.) 

579.  Schäden  auf  dem  Gebiete  des  modernen  Jugendunter- 
richts (K.  A.  Geil,  Repert.  d.  Päd.  1892,  VIII.)  Grundübel  im  heutigen 
Schulwesen:  r Große  Forderungen  an  das  Wissen,  geringe  Ausbildung  der 
selbsttätigen  freien  Arbeitskraft."  (Folgen:  „Unklarheit  über  das  Wesen 
der  Arbeit,  geringer  Respect  vor  geistiger  Thätigkeit,  Unlust  zur  Arbeit. * 
Notwendiges  Gegengewicht  als  Mittel,  Lust  zur  Arbeit  zu  erwecken  und  zu 
steigern:  Handarbeit.) 

580.  Über  Individualitätsbilder  (E.  Brinkmann,  Neue  Bahnen  1892, 
IV.  V).  Eine  gründliche,  umfassende  Arbeit,  47  Seiten  8°.  —  Begriff  —  Ge- 
schichte) Pestalozzi:  Neuhof,  Iferten;  Herbart:  Hauslehrerthätigkeit,  Umriss 
pädagogischer  Vorlesungen;  Rauhes  Haus  in  Hamburg;  akademisch-pädago- 
gische Seminarien  in  Leipzig  und  Jena)  —  Wert  (Nachweis  überflüssig; 
Verfasser  bringt  ihn  aber  doch,  da  bisher  „nur  kleinere  Kreise  die  theore- 
tischen Forderungen  in  die  Praxis  übertragen  haben")  —  Inhalt  (Vermögens- 
verhältnisse der  Eltern,  Anzahl  der  Familienglieder,  Wohnungsverhältnisse. 
Beruf  des  Vaters,  Bildung  nnd  Interesse  der  Eltern  an  der  Schule,  Charakter- 
eigenschaften und  n Moral"  der  Eltern.  Körperliche,  nspeciell  gesundheitliche" 
Verhältnisse  des  Kindes;  „ Gaben  und  Fähigkeiten",  geistiger  Entwickelnngs- 
gang;  Leistungen  in  den  einzelnen  Unterrichtsfächern;  Temperament;  „Tugen- 
den und  Fehler  in  unterrichtlicher  Beziehung";  Verhalten  gegen  Eltern  nnd 
Lehrer,  Mitschüler  und  Fremde;  „besondere  Vorkommnisse"  im  Leben  des 
Kindes)  —  Quellen  oder  Mittel  für  die  Beobachtungen  (allgemein  bekannt).  — 
Ein  Schlusswort  spricht  von  den  Schwierigkeiten  der  Arbeit,  besonders  in 
schülerreichen  Classen.  Erleichterung:  „Das  Individualitätenbuch,  das  die  ge- 
sammelten Beobachtungen  enthält,  begleitet  einfach  die  Schüler  von  Gasse  zu 
Classe;  für  die  Zurückbleibenden*)  werden  die  betreffenden  Blätter  heraus- 

*)  Verf.  spricht  von  „zurückbleibenden  Remanenten"!! 


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gelöst  (ähnlich  beim  Übergang  eines  Kindes  in  eine  andere  Schule).  Noch  ein- 
facher: statt  des  Individualitätenbnchs  eine  Mappe  mit  losen  Blattern.  Für 
jeden  Schüler  würde  ein  Blatt  bestimmt  sein,  welches  ihm  mitgegeben  wird, 
wenn  er  in  eine  andere  Classe  oder  Schale  übergeht.  Ein  eigentliches,  aus- 
führlicheres Individualitätsbild  würde  dann  nur  von  einigen  psychologisch  be- 
sonders interessanten  oder  schwer  zu  behandelnden  Kindern  anzufertigen  sein, 
während  sich  der  neue  Lehrer  betreffs  der  übrigen  Schüler  mit  den  einzelnen 
Notizen  des  Individualitätenbuches  begnügen  müaste." 

581.  Die  Logik  des  Sprachgeistes  (R.  Hildebrand,  Zeitschr.  f.  d. 
deutsch.  Unt.  1892,  III.)  „Logik  des  Sprachgeistes"  kein  „formales  Arbeiten," 
sondern  „Walten  der  Sache,  des  Inhalts,  des  Lebens  selber "  (die  uns  von 
außen  kommen  und  sich  in  uns  sozusagen  selber  weiter  verarbeiten").  Der 
Sprachgeist  „ist  wie  der  Sachgeist  selber".  Das  „ Schuldenken "  geht  der 
(äußeren)  Wirklichkeit,  der  Sprachgeist  der  (inneren)  Wahrheit  nach.  — 
Zu  der  Thatsache,  dass  Auge  und  Ohr  in  gewissen  Fällen  nur  in  der  Einzahl, 
in  anderen  nur  in  der  Mehrzahl  gebraucht  werden,  bemerkt  Meister  Hildebrand: 
„Da  liegt  eine  doppelte  Art  zu  denken  vor;  die  eine,  kann  man  sagen,  erfasst 
die  Wirklichkeit  (denn  wir  haben  ja  in  Wirklichkeit  zwei  Augen  und  Ohren), 
die  andere  aber  die  Wahrheit;  denn  die  zwei  Augen  sind  in  Wahrheit  doch 
wie  eins.  Die  eine  Art  zu  denken  fasst  das  Ding  in  seinem  Außen,  die  andere 
in  seinem  Innen,  die  eine  von  der  den  Sinnen  vorliegenden  Oberfläche,  die 
andere  in  seiner  den  Gedanken  sich  erschließenden  Tiefe.  Dieser  Unterschied 
des  Außen  und  Innen  in  ihrer  Verschiedenheit  für  das  Erfassen  und  Denken 
ist  aber  überhaupt  von  der  höchsten  Wichtigkeit  für  die  letzten  Ziele 
unseres  Daseins,  und  dem  jagendlichen  Geiste  schon  kann  an  den 
gegebenen  Beispielen  der  Zugang  zu  dieser  Erkenntnis  leicht  geöffnet  werden. 
Das  ist  nm  so  brauchbarer  oder  nöthiger,  als  der  Zeitgeist  von  heute,  in  dessen 
Luft  sie  (die  Schüler)  doch  nun  einmal  aufwachsen,  einseitig  dem  Außen  zu- 
gekehrt ist  und  dem  Innen,  in  dem  doch  alles  wahre  Leben  wohnt  und  wur- 
zelt, gern  den  Rücken  kehrt  oder  es  gar  zu  leugnen  bestimmt  ist,  und  zwar 
alles  das  in  dem  Wahne,  endlich  den  rechten  Weg  der  Wahrheit  gefunden  zu 
haben." 

582.  Das  Studium  sprachlicher  Entwickelungen  (R.  Dietrich, 
Zeitschr.  f.  d.  deutsch.  Unt.  1892,  IV.)  „Von  Berufswegen  zu  Wanderungen 
in  die  Sprachgeschichte  genöthigt" :  Psychologen,  Philosophen,  Erzieher  (letztere 
am  meisten).  „Weil  aber  die  Wörter  Schöpfungen  der  Volksseele  sind,  und 
weil  es  eine  Pflicht  der  Vaterlandstreue  ist,  die  Volksseele  zu  kennen  und  zu 
verstehen,  so  hat  jeder  Bürger  die  Aufgabe,  sich  wenigstens  mit  den  Aus- 
drücken inhaltsvoller  Hauptbegriffe,  welche  die  Regeln  der  einfachen  Lebens- 
führung bestimmen,  vertraut  zu  machen."  (Darstellungen  solcher  Entwicke- 
lungsgeschichten  für  „Volksblätter"  sind  stilistische  Meisterstücke.)  —  Wie 
das  Studium  zu  betreiben  ist:  an  den  Hochschulen  (Lehrbuch:  Grimms  Wörter- 
buch —  „sprachgeschichtliche  Übungen"  am  „deutschen  Seminar"),  Mittel- 
schulen (im  Geschichtsunterricht  mindestens  ein  Jahr  lang  Entwickelungsgänge 
namentlich  solcher  Begriffe,  die  sich  auf  die  staatlichen,  gesellschaftlichen 
und  Verkehrsverhältnisse  beziehen;  die  Schüler  legen  sich  für  gewisse  Haupt- 
worte des  Volkslebens  Sammelhefte  an),  Volksschulen  (zunächst  gilt  es  nur  — 
nach  der  in  Hildebrands  Sprachunterricht  gebotenen  Anleitung  —  Wortsippen, 


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Einzelzüge  aus  dem  Ent  wickelungsgang  eines  bestimmten  Alltags  Wortes,  Sprach- 
bilder  zu  gewinnen  und  so  „den  Boden  zu  bereiten.")  Im  ganzen  kann  die 
Volksschule  „nur  eine  geringe  Anzahl  Lebensgeschichten  deutscher  Wörter 
bieten.  Da  wäre  es  denn  ein  hohes  Verdienst  der  Jugendzeitschriften,  wenn 
sie  hier  reichlich  ergänzend  einspringen  wollten. u  Wie  dies  geschehen  kann, 
wird  an  drei  Beispielen  (Kaufmann,  Krämer,  Knappsack)  gezeigt,  von  denen 
die  beiden  ersten  bereits  in  der  ..Deutschen  Jugend"  (Oct./Nov.  1888)  Auf- 
nahme gefunden  haben.  —  Anhangsweise  ist  der  Arbeit  beigefügt  „eine 
sprachgeschichtlich- pädagogische  Studie"  des  Begriffes  Kunst,  zugleich  als 
Muster  für  die  im  deutschen  Seminar  der  Hochschule  anzufertigenden  „Lebens- 
bilder." 

583.  Geld  („Zur  Preisbewerbung u,  Deutsche  Schulpraxis  1892,  29). 
„Das  Geld  ist  ein  so  ungemein  wichtiges  Ding  „da  draußen  in  der  Welt", 
dass  es  ohne  Zweifel  einmal  in  der  Schule  (die  ja  „fürs  Leben"  bilden  soll 
und  will)  einer  näheren  Betrachtung  unterzogen  werden  muss.  Das  könnte  auf 
der  Oberstufe  der  Volksschule,  etwa  während  des  letzten  Jahres,  in  zwei,  drei 
Bechenstunden  oder  im  Deutschen  (Aufsatz)  oder  erst  in  der  Fortbildungs- 
schule (Volkswirtschaftslehre)  geschehen.  Nun  ist  es  aber  klar,  dass  das 
Interesse  ein  lebhafteres  und  die  Einsicht  eine  tiefere  sein  wird,  wenn  wir  die 
Schüler  in  die  Entwicklungsgeschichte  des  Begriffs  einführen."  Zeit  und 
Fassungskraft  der  Schüler  erlauben  es,  wenigstens  das  Wesentliche  aus  dieser 
Geschichte  lebendig  vorzuführen.  —  (Der  Aufsatz  ist  durch  Nachlässigkeit 
des  Correctors  äußerlich  benachtheiligt  worden.  Er  zerfällt  offenbar  in  drei 
Theile.  Die  „III"  springt  sofort  ins  Auge,  die  „I"  übersieht  man  leicht  — 
und  die  „IIU  sieht  man  gar  nicht.  Dazu  eine  Menge  Druckfehler!) 

584.  Über  Zeichnen  und  Anschauungsunterricht  (C.  Gurlitt, 
Zeitschr.  f.  d.  gewerbl.  Unten*.*)  1892/93,  I).  Im  wesentlichen  ein  Referat 
über  die  „Aufgaben  der  Kunstpsychologie"  von  G.  Hirth  (2  Theile  München 
1891),  der  in  diesem  seinem  Buche  „mit  Meisterhand  die  Grundfehler  unseres 
Unterrichte  umschrieben."  —  Aus  den  Einleitungs-  und  Schlussworten  Gurlitts: 
„Was  soll  dem  Kinde  das  Bild  der  Kub,  des  Schafes,  des  Hahnes,  wenn  es 
nicht  im  Gedächtnis  die  Vorstellung  des  lebenden  Thieres  findet;  was  hilft  die 
vollendetste  Kunst  des  Zeichners  und  Erklärers,  wenn  sie  doch  nur  in  der  Ab- 
straktion gegeben  wird,  d.  h.  ohne  lebendige  Anschauung.  Es  ist  ein  Zug  von 
Unwahrheit,  von  Phrasenthum  in  dieser  Form  der  Belehrung.  Das  Kind  be- 
kommt ein  vorbereitetes  Bild  der  Natur,  schafft  sich  nicht  selbst  ein  solches. 
Es  lernt  erst  die  Darstellung  und  dann  die  Wahrheit  kennen;  es  misst  die 
Darstellung  nicht  an  der  Wahrheit,  sondern  die  Wahrheit  an  der  Darstellung. 
Ein  Monat  auf  einem  Gutehofe  scheint  mir  lehrreicher  als  die  ganze  Brehm- 
sche  Naturgeschichte  mit  ihren  zahllosen  Bildern;  denn  nicht  das  Viel  erhöht 
die  Anschauung,  sondern  die  intensive  Art  des  Sehens,  das  vollkommene  Ein- 
dringen in  die  einzelneu  wechselnden  Formen,  und  dies  ist  zunächst  nur  an 
wenigen  oft  gesehenen  belebten  Gegenständen  möglich."  —  „Unser  Zeichen- 
unterricht ist  vor  lauter  systematischem  Geist  der  Lehrer  der  geistloseste  ge- 
worden. Er  will  den  Kindern  nach  unfehlbarem  System  Handfertigkeit  im 
Zeichnen  geben  und  entwöhnt  sie  vom  Zweck,  nämlich  von  der  bildlichen  Dar- 

*}  Eiuzelheft  60  Pfg. 


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—  797 


Stellung  eines  in  das  Gedächtnis  aufgenommenen  Gegenstandes.  Was  würde 
man  von  einem  Lehrer  des  Schreibens  sagen,  der  die  Buchstaben  zu  schönen 
Reibungen  zusammenfügte,  aber  die  Kinder  nicht  Worte,  Sätze  schreiben 
ließe;  der  sie  die  Schrift  lehren  wollte,  ohne  den  Zweck  der  Schrift,  den  Aus- 
druck von  Gedanken!" 

585.  Malendes  Zeichnen  (A.  Küppers,  Monatsbl.  f.  d.  Zeichenunterr. 
i.  d.  Volkssch.*)  1892,  VII.)  „Trotz  der  anerkennenswerten  Fortschritte,  die 
der  Zeichenunterricht  in  den  letzten  Jahren  sowol  in  Bezug  auf  Methode  als 
anf  Lehrmittel  und  Literatur  gemacht,  ist  sein  Abschluss  noch  immer  nicht  be- 
friedigend." Er  wird  es  nach  der  Ansicht  des  Verf.,  wenn  neben  dem  „exacten 
Zeichnen"  (Üben  der  Elemente,  geistiges  Erfassen  der  Formen)  ein  „angewandtes, 
malendes  Zeichnen  oder  Skizziren"  hergeht,  beide  sich  gegenseitig  unter- 
stützen. Malendes  Zeichnen  von  Anfang,  d.  h.  vom  ersten  Schuljahre  an  ein 
Zeichnen  nach  der  Natur.  „Die  zeichnerischen  Formen  werden  ahnlich  wie  die 
Schriftformen  bis  zur  größten  Fertigkeit  geübt."  Das  Üben  der  Blattformen, 
Schnabel-,  Zehen-  u.  ä.  Linien  erfolgt  wie  beim  Schreiben  im  Takte  („das 
gibt  der  ganzen  Thätigkeit  Schneid,  Lebendigkeit  und  Interesse;  und  bei 
richtiger  Consequenz  und  Energie  sind  die  Erfolge  überraschend").  Lehrplan, 
Stoffverteilung,  ünterrichtsbeispiele.  —  „Ein  Schüler,  welcher  regelmäßig 
(8  Jahre  lang)  die  Volksschule  besucht  hat,  muss  bei  seinem  Abgange  befähigt 
sein,  die  Bilder  von  Dingen,  welche  in  seinem  Anschauungskreise  liegen,  mit 
einer  gewissen  Fertigkeit  entwerfen  (skizziren)  zu  können." 


Unter  den  neuen  Broschüren  möge  besonders  und  mit  warmen  Em- 
pfehlungen hervorgehoben  werden :  „Zum  religiösen  Frieden  von  J.  Froli- 
s(  liammer"  (26  Seiten,  Breslau  bei  Eduard  Trewendt).  Als  Probe  aus 
dieser  bedeutenden  Abhandlung  sei  folgende  Stelle  mitgetheilt: 

„Der  moderne  Staat  lässt  verschiedene  Confessionen  zu,  gewährt  Beken- 
nern  verschiedener  Religionen  staatsbürgerliche  Rechte,  —  während  die 
Kirche  deren  Vertreibung  oder  Ausschließung  fordert.  Er  duldet  und  übt 
nicht  mehr  Anwendung  physischer  Gewalt  gegen  Excommunizirte  und  Ketzer  — 
was  die  päpstliche  Kirche  noch  im  sogenannten  Syllabns  ausdrücklich  fordert; 
er  schützt  die  freie  wissenschaftliche  Forschung,  während  diese  Kirche  und  auch 
andere  Orthodoxien  dieselbe  unterdrücken,  in  Unterwerfung  halten  wollen;  er 
hebt  die  Immunität  des  Clerus  auf  und  unterwirft  denselben  seinen  Gerichten 
in  Widerspruch  mit  dem  canonischen  Rechte  u.  s.  w.  Wollte  der  Staat  sich 
in  allem  den  Forderungen  der  Kirche  fügen,  um  nicht  in  ihr  Gebiet  einzu- 
greifen, dessen  Grenzen  die  kirchliche  Autorität  selbst  bestimmt,  so  müaste  er 
sich  selbst  und  die  ganze  Wissenschaft  und  Civilisation  der  modernen  Gesell- 
schaft aufgeben  und  anf  Realisirung  der  Humanitätsidee  verzichten.  Allein 
der  Staat  hat  ein  Recht,  auch  bezüglich  der  Religion  allgemeine  Bestimmungen 
im  Interesse  der  Sittlichkeit  (des  sittlichen  Gewissens  —  oft  im  Gegensatz 
gegen  das  religiöse  resp.  kirchliche  Gewissen)  und  der  wirklich  christlichen 
Gottesverehrung  zu  geben.  Das  Christenthum  ist  nicht  Eigenthum  eines 
Standes,  des  Clerns,  das  derselbe  nur  unter  seinen  Bedingungen  mittheilen 
oder  versagen  könnte,  sondern  ist  Allgemeingut  der  Menschheit  und  insofern 

♦)  Einzelnummer  40  Pfg. 

Pwdagogittm.    u.  Jahr».    Heft  XII.  55 


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—    798  — 


auch  des  (christlichen)  Staates,  das  dieser  der  Jagend  und  dem  Volke  kann 
mittheilen  lassen,  ohne  erst  vom  Clerus  oder  einer  Kirche  um  Erlaubnis  dazu 
betteln  zu  müssen,  die  ihm  etwa  nur  gegeben  werden  soll  unter  der  Bedingung, 
dass  er  auf  seine  wichtigsten  Rechte  verzichte  und  es  sich  unmöglich  mache, 
seine  RechtB-  und  Culturaufgaben  zu  erfüllen. 

Wir  verhehlen  uns  nicht,  dass  es  wol  noch  geraume  Zeit  dauern  mag,  ehe 
dieses  Programm  zur  Herstellung  des  religiösen  Friedens  zur  Ausfuhrung 
kommen  wird.  Ja  gegenwärtig  erschienen  die  Verhältnisse  so  geartet,  als  ob 
vielmehr  das  Gegentheil  davon  zur  Ausführung  kommen  sollte.  Der  Staat 
weicht  fast  allenthalben,  besonders  in  Deutschland,  vor  den  Angriffen  und 
Forderungen  der  Orthodoxien  und  besonders  der  päpstlichen  Kirche  zurück  und 
sucht  durch  Concessionen  und  Compromisse  zu  beschwichtigen  oder  zu  befrie- 
digen, und  kaum  irgend  ein  Vertreter  der  Staatsregierungen  wagt  es  mehr, 
entschieden  den  kirchlichen  Prätensionen  entgegen  zu  treten,  sondern  allent- 
halben verhält  man  sich  nur  vertheidigungsweise  um  des  lieben  Friedens  willen,  — 
den  erregten  Fanatismus  des  ungebildeten  Volkes  und  seiner  zelotischen  Führer 
fürchtend.  So  gewinnt  der  Clericalismus  immer  mehr  Boden  und  Macht,  und 
wenn  die  Staatsmänner  noch  so  sehr  Friede!  Friede!  rufen,  wird  doch  kein 
Friede  sein,  ehe  nicht  volle  Unterwerfung  des  Staates  unter  die  Kirche  er- 
reicht ist.  Wenigstens  bezüglich  der  päpstlichen  Kirche  gilt  dies,  da  diese 
absolute  Herrschaft  und  directe  Göttlichkeit  oder  Stellvertretung  Gottes  auf 
Erden  beansprucht  und  daher  von  Völkern  und  Fürsten  unbedingte  Unterwer- 
fung fordert  in  allem,  was  sie  für  kirchliche  Angelegenheit  erklärt.  Diese 
Forderung  wird  seit  Jahrhunderten  gestellt  und  durchzuführen  gesucht.  Es 
gelang  dies  auch  in  früherer  Zeit  vielfach  in  hohem  Grade  bei  der  Gläubigkeit 
des  Volkes  und  bei  der  allgemeinen  Unwissenheit  und  Unkenntnis  in  kirchlichen, 
insbesondere  in  kirchengeschichtlichen  Dingen.  Nun  aber,  nach  so  vieler 
wissenschaftlicher  Forschung  im  Gebiete  der  Natur  und  Geschichte,  sind  der- 
gleichen Ansprüche  nicht  mehr  aufrecht  zu  erhalten  und  anzuerkennen.  Man 
hat  die  Entstehung  der  sich  als  absolut  gebenden  kirchlichen  Autorität  erkannt 
und  die  allmähliche  Entstehung  der  Glaubenssatzungen  näher  erforscht  und 
deren  menschlichen  Ursprung  und  Charakter  genugsam  erkannt,  so  dass  man 
die  Forderungen  ihrer  Träger  und  Sachwalter  nicht  mehr  für  absolut  gültig 
halten  kann,  als  kämen  sie  von  Göttern  gegenüber  den  bloßen  Menschen  —  wie 
man  dies  bisher  geltend  gemacht  hat.  Wozu  wäre  z.  B.  insbesondere  die  Ge- 
schichtsforschung, wozu  historische  Commissionen,  Vereine  und  wissenschaftliche 
Institute  aller  Art,  wenn  man  zuletzt  doch  die  erforschte  historische  Wahrheit 
nicht  kundgeben  und  im  Interesse  der  Wahrheit  und  des  Rechtes  geltend 
machen  dürfte?  Das  wirkliche  Christenthum  selbst  wird  dadurch  keineswegs 
zerstört  oder  irgendwie  beeinträchtigt;  es  ist  ein  Kampf  zwischen  dem  theolo- 
gischen und  hierarchischen  oder  theokratischen  Christenthum  und  dem  Christen- 
thum Christi;  die  Wissenschaft,  die  Geschichte  und  Philosophie  insbesondere, 
stehen  dabei  auf  Seiten  des  letzteren  in  seiner  einfachen,  religiös-sittlichen 
Form.  —  Es  ist  freilich  ein  undankbares  Beginnen,  dergleichen  auszusprechen 
und  der  Wahrheit  Zeugnis  zu  geben  gegenüber  der  äußerlichen,  auch  weltlichen 
Macht  der  Kirchen  und  Confessionen,  und  es  ist  wenigstens  vorläufig  noch  ein 
vergebliches  Bemühen,  dies  ins  Bewusstsein  der  Völker  einzuführen  und  zur 
Überzeugung  derselben  zu  machen;  aber  der  Verlauf  der  geschichtlichen  Ent- 


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—    799  — 


Wickelung  wird  schließlich  doch  zur  Ausführung,  zur  Realisirung  des  skiz- 
zirten  Programms  führen,  wie  schon  so  manches  besonders  in  der  neueren 
Zeit  zor  Ausführung  kam,  was  man  für  unstatthaft  oder  unmöglich  hielt." 


Nürnberger  Rechenbrett.  Diesen  Namen  führt  ein  Apparat,  welchen 
Herr  Ernst  Trölltsch,  Lehrer  in  Nürnberg,  vor  einigen  Jahren  erfunden 
Jiat,  und  der  dazu  dient,  sämmtliche  Rechenoperationen  im  Zahlenraum  von 
1—20  zu  veranschaulichen.  Da  derselbe  nach  und  nach  in  einer  Reihe  von 
deutschen  Staaten  amtlich  genehmigt  und  empfohlen  und  von  einer  großen  An- 
zahl von  Schulmännern  höchst  lobend  beurtheilt  worden  ist,  so  fanden  wir  uns 
veranlasst,  denselben  einer  praktischen  Prüfung  zu  unterziehen,  welche  zu 
dem  Ergebnis  führte,  dass  der  erwähnte  Apparat  in  der  That  den  ihm  gespen- 
deten Beifall  und  daher  weitere  Verbreitung  in  vollem  Maße  verdient. 


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I 


Rezensionen. 

Comenia  8- Literatur. 

Bevor  wir  diesen  Jahrgang  des  „Paedagogiums"  schließen,  müssen  wir  noch 
einen  Blick  auf  etliche  Schriften  werfen,  welche  sich  mit  dem  großen  Schulmann 
befassen,  der  in  dem  jüngsten  Zeitabschnitt  mit  Recht  so  viel  gefeiert  worden  ist 
and  gewissermaßen  der  pädagogische  Regent  des  Jahres  1892  genannt  werden  kann. 
Schon  im  Märzhefte  bemerkten  wir  über  eines  der  hierher  gehörigen  Werke,  das 
damals  zu  erscheinen  begann,  dass  es  „wol  die  umfassendste  und  gründlichste  aller 
bisherigen  Arbeiten  über  Comenius  werden  dürfte."  Seit  einigen  Monaten  liegt  es 
nun  unter  folgendem  Titel  vollendet  vor: 

Johann  Arnos  Comenius.  Sein  Leben  nnd  seine  Schriften  von  Dr.  Jo- 
hann Kvacsala,  Prof.  am  ev.  Lyceum  in  Pressborg.  Berlin,  Leipzig  nnd 
Wien  bei  Julias  Klinkhardt.  480  nnd  89  Seiten.  Preis  4  Mark  80  Pf. 
Unsere  Voraussagung  hat  bereits  eine  gewichtige  Bestätigung  erhalten. 
Anton  Gindely,  der  hier  gewiss  competent  ist,  sagt  nämlich:  „Den  ganzen 
Lebenslauf  und  die  gesammte  literarische  Thätigkeit  des  Comenius  hat  Kvacsala 
zum  Gegenstand  der  eingehendsten  Untersuchungen  gemacht  und  auf  deren 
Grundlage  eben  ein  Werk  veröffentlicht,  das  den  ersten  Platz  unter  den  bis- 
herigen Biographien  des  Comenius  und  den  Beurtheilungen  seiner  literarischen 
Thätigkeit  einnimmt."  (Siehe  „Pädagogischer  Literaturbericht"  Jahrgang  II, 
Nr.  10,  Znaim  bei  Fournier  &  Haberler.)  Erst  aus  dem  Werke  Kvacsala's 
tritt  uns  der  ganze  Comenius,  wie  er  mit  allen  Bewegungen  seiner  Zeit  em- 
pfangend und  wirkend  verwachsen  war  und  fast  alle  Länder  unseres  Erdteils 
umspannte  und  beeinflusste,  lebenstreu  und  hell  beleuchtet  entgegen.  Das  vor- 
liegende Buch  fasst  nicht  nur  die  Ergebnisse  der  bisherigen  Comeniusforschungen 
zusammen,  sondern  bereichert  sie  auch  beträchtlich  durch  Ausbeutung  bisher 
unbenutzter  Quellen.  So  erscheint  nun  Comenius,  indem  besonders  auch  seine 
kirchliche  und  politische  Wirksamkeit  eingehend  dargelegt  wird,  als  eine  weit 
reichere,  vielseitigere  und  activere  Persönlichkeit,  als  bisher,  zum  Theil  in 
anderer  Gestalt  als  bei  früheren  Biographen.  Natürlich  mussten  da  auch  seine 
Verirrungen  und  Missgriffe  deutlich  hervortreten,  zugleich  aber  ihre  genetische 
Erklärung  finden.  Seine  Vorläufer  und  Zeitgenossen  sind  weit  vollständiger 
und  genauer  dargestellt,  als  in  anderen  Schriften,  und  selbst  über  die  welt- 
geschichtlichen Ereignisse  seiner  Zeit  enthält  Kvacsala's  Werk  neue  Auf- 
schlüsse. —  Dies  alles  konnte  nur  erzielt  werden  durch  eingehendes  Studium 
eins  höchst  umfänglichen  Quellenmaterials,  wie  es  in  großen  Bibliotheken, 
Archiven,  Museen  und  sonstigen  Sammlungen  —  zu  Prag,  Budapest,  Wien, 
Dresden,  Hannover,  Herrnhut,  Lissa,  London  u.  s.  w.  —  sich  findet  nnd  dessen 
erfolgreiche  Verwertung  nur  bei  so  ausgebreiteten  Sprachkentnissen,  wie  sie 
Herrn  Kvacsala  zu  Gebote  stehen,  gelingen  konnte. 

Gern  wird  man  in  Erwägung  alles  dessen  einige  3Iüngcl  entschuldigen, 
welche  dem  Werke  anhaften.  Dass  es  hie  und  da  „sprachliche  Unebenheiten" 
aufweisen  würde,  sah  der  Herr  Verfasser  selbst  voraus,  da  das  Deutsche  nicht 
seine  Muttersprache  ist;  indessen  sind  dieselben  geringer,  als  man  wol  hätte 


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—   801  — 


erwarten  können,  und  kaum  irgendwo  stören  sie  den  Sinn.  Die  Darstellung- 
möchte man  im  ganzen  frischer,  plastischer  und  Übersichtlicher  wünschen;  die 
eigentlichen  biographischen  Data  treten  oft  nicht  genügend  scharf  aus  den 
überwuchernden  theologischen,  kirchlichen  und  politischen  Händeln  hervor. 
Ungern  vermisst  man  ein  Inhaltsverzeichnis,  und  auch  ein  Index  wäre  sehr 
erwünscht,  da  das  umfang-  und  stoffreiche  Buch  durch  solche  Behelfe  leichter 
genießbar  werden  würde.  Indessen  werden  sich  diese  Mängel  in  einer  neuen 
Auflage  des  Werkes,  die  wir  ihm  recht  bald  wünschen,  abstellen  lassen;  schon 
jetzt  aber  ist  es,  wie  gesagt,  die  bedeutendste  und  wertvollste  Arbeit  ihrer 
Art,  die  zwar  keinen  Massenabsatz  zu  erwarten  hat,  wol  aber  Aufnahme  in 
jede  einigermassen  ansehnliche  Bibliothek  beanspruchen  darf. 
Hieran  reihen  wir  ein  mehr  populäres  Buch,  nämlich: 

Leben  und  Schicksale  des  Johann  Arnos  Comenins.  Mit  Benützung 
der  besten  Quellen  dargestellt  von  Anton  Vrbka.  Mit  einem  Verzeichnis 
der  neueren  Comenios-Literatnr  nnd  12  Abbildungen.  Znaim,  Fonrnier  & 
Haberler.    lfiö  und  14  Seiten.    2  Mark. 

Eine  schöne,  selbstständige,  sorgfältig  und  mit  edler  Begeisterung  ver- 
tagte Schrift,  die  unter  den  Werken  ähnlicher  Bestimmung  mit  Ehren  be- 
stehen kann.  Zwar  können  wir  dem  Verfasser  bezüglich  des  Geburtsortes  des 
Comenius  nicht  zustimmen  (s.  oben),  auch  lässt  er  hie  und  da  eine  merkliche 
Lücke,  wie  er  z.  B.  den  wichtigen  Schulbesuch  in  Prerau  gar  nicht  erwähnt: 
dagegen  bringt  er  auch  wertvolle  Ergänzungen  zu  dem  bisher  Bekannten  und 
selbst  Berichtigungen  alter  Irrtümer.  So  wird  man  ihm  z.  B.  Recht  geben 
müssen,  wenn  er  den  Tod  der  Eltern  des  Comenius  in  das  Jahr  1604  verlegt, 
obgleich  noch  Kvacsala  an  der  älteren  Tradition,  die  auf  1602  lautet,  festhält, 
allerdings  in  Übereinstimmung  mit  Comenius  selbst»  dem  aber  hier  jedenfalls 
ein  Gedächtnisfehler  unterlaufen  ist.  Hervorheben  wollen  wir  auch,  dass  Vrbka 
den  schönen  Ausspruch  von  Comenius  bringt:  „Gewissen  und  Freiheit,  die  kost- 
barsten Güter,  verkauft  man  um  kein  Geld."  —  Auch  die  dem  Buche  einver- 
leibten Bilder  sind  sehr  schätzenswert,  nnd  überhaupt  gehört  dasselbe  zu  den- 
jenigen Schriftwerken,  denen  man  mit  Nutzen  und  Vergnügen  vollen  Antheil 
widmet.  —  Hieran  reiht  sich  ehrenvoll  an: 

Comenins  als  Kartograph  seines  Vaterlandes.  Nach  der  böhmischen 
Abhandlung  von  Josef  Smaha,  mit  einem  Neudruck  der  Karte  des  Comenins 
deutsch  herausgegeben  von  KarlBornemann.  Znaim,  Fonrnier  &  Haberler. 

4S  Seiten  Text.    1  fl. 

Eine  nicht  voluminöse,  aber  höchst  dankenswerte  Gabe.  Denn  gewiss 
werden  aus  diesem  Beitrag  zur  Comenius-Literatur  viele,  selbst  sehr  belesene 
Schulmänner  den  großen  Pädagogen  von  einer  neuen  Seite  kennen  und  schätzen 
lernen.  Als  er  nämlich,  aus  Amt  und  Heimat  vertrieben,  sich  im  Exil  ver- 
bergen mus8te,  beschäftigte  er  sich  u.  a.  damit,  sein  Vaterland  Mähren  karto- 
graphisch darzustellen,  und  Anno  1627  war  die  Zeichnung  vollendet.  Mit 
vielem  Vergnügen  sehen  wir  dieses  für  jene  Zeit  vorzügliche  Werk  —  Moraviae 
nova  et  post  omnes  priores  accuratissima  delineatio,  auetore  J.  A.  Comenio  — 
der  verbesserten  Originalausgabo  von  1645  vollständig  getreu  nachgedruckt  vor 
uns  liegen.  Die  Textbeigaben  enthalten  alles,  was  man  nur  immer  zur  Be- 
leuchtung des  kartographischen  Werkes  wünschen  kann. 

Nun  seien  noch  zwei  Bücher  angeführt,  welche  zwar  nichts  Neues  bringen, 
immerbin  aber  wegen  ihrer  im  ganzen  guten  Darstellung  des  Bekannten  ge- 
nannt zu  werden  verdienen: 

Johann  Arnos  Comenins.  Sein  Leben  nnd  seine  Werke.  Von  W.  Kaiser. 
Mit  Brustbild.    Hannover-Linden,  Manz  &  Lange.    IM  Seiten.    2  M. 

Johann  Arnos  Comenins  nach  seinem  Leben  und  Wirken.  Eine  Jubiläums- 
gabe  zu  seiner  300jährigen  Geburtstagsfeier  von  F.  Gr  und  ig.  Gotha, 
Thienemann.    92  Seiten.    1  M. 


In  biographischer  Hinsicht  lassen  beide  Schriften  zn  wünschen  übrig,  ent- 
halten sie  auch  manche  Fehler:  so  sagt  Kaisers.  B.:  Comeniussei  .zufällig* 
znm  Studium  der  lateinischen  Sprache  gelangt,  während  er  sie  doch  als 
ordentlicher  Zögling  einer  lateinischen  Schule  regelrecht  erlernte;  ferner  spricht 
er  von  den  „müßig-4  verlebten  Jahren  der  Kindheit  des  Comenius,  was  doch 
unrichtig  ist:  die  Angabe,  dass  Comenius  bis  1657  in  Saros-Patak  geblieben  sei, 
ist  wol  ein  Druckfehler.  Grundig  spricht  von  dem  reine  Stunde  von  Niwnitz- 
gelegenen  Dorfe  Ungarisch  Brod"  und  sagt,  Comenius'  Vater  sei  von  Kcmnia 
nach  Niwnitz  gezogen  u.  dgl.  Indessen  sind  beide  Schriften,  besonders  für 
Volksschullehrer,  aus  dem  Grunde  zu  empfehlen,  weil  sie  genauer  und  im 
ganzen  richtig  in  die  Pädagogik,  besonders  in  die  Unterrichtslehre  des  Come- 
nius, einführen  (Kaiser  bringt  übiigens  Manches,  was  über  seine  Aufgabe 
hinausgeht). 

Doch  wir  müssen  abbrechen,  da  es  unmöglich  ist,  in  einer  allgemeinen 
pädagog.  Zeitschrift  die  höchst  umfängliche  Comenius-Literatur,  die  ja  selbst 
poetische  Erzeugnisse  —  und  darunter  recht  gute  —  aufzuweisen  hat,  nur 
annähernd  vollständig  anzuführen.  Wir  veiweisen  daher  nur  noch  auf  die 
Specialschrift 

Monatshefte   der  Comenius-Gesellschaft  (Jahrgang  10  Mark,  ein 
Monatsheft  2  M.  50  Pf.),  Leipzig  bei  R.  Voigtländer, 

welche  sehr  wertvolle  und  zuverlässsige  Beiträge  und  auch  eine  voll- 
ständige Bibliographie  der  Comenius-LiteTatur  darbietet. 


Dr.  Julius  Bothfuchg,  Provinzialschulrat  zu  Münster  in  Westfalen,  Be- 
kenntnisse ans  der  Arbeit  des  erziehenden  Unterrichtes.  Das 
Übersetzen  in  das  Deutsche  und  manches  andere.  Marburg  1892,  El  wart. 
173  S.    3  M. 

Ein  schönes  Stück  Gymnasialpädagogik.  Ausgehend  von  den  vielfach  er- 
hobenen und,  von  Übertreibungen  abgesehen,  nicht  unberechtigten  Klagen 
über  die  Schädigung  des  deutschen  Stils  durch  das  Übersetzen  aus  den  alt- 
classischen  Sprachen,  besonders  aus  dem  Lateinischen,  eine  Schädigung,  welche 
sich  namentlich  in  Latinismen  und  sogenannten  „Stilblüten"  kund  gibt,  macht 
Verfasser  dieses  Übersetzen,  eine  Hauptbeschäftigung  in  den  Gymnasien,  zum 
Gegenstande  eingehender  Untersuchung,  Prüfung  und  pädagogischer  Berathung. 
Wenn  dabei  sein  Hauptzweck  war,  zu  zeigen,  wie  einerseits  der  Gefahr,  durch 
das  Überaetzen  das  Gefühl  für  die  Eigenart  uer  Muttersprache  zu  trüben,  vor- 
zubeugen sei,  anderseits  eben  dieses  Mittel  gerade  im  Gegentheil  dazu  dienen 
könne,  den  deutschen  Gedankenausdruck  zu  bereichern  und  zu  verfeinern: 
so  hat  doch  Dr.  Rothfuchs,  um  sein  Thema  allseitig  zu  beleuchten,  auch  die 
demselben  verwandten  Materien  in  Bett  acht  gezogen.  Namentlich  gilt  dies 
von  der  Lectürc  classischer  Schriftwerke  in  ihrer  Ausdehnung,  Anlage  und 
Einrichtung,  sammt  den  hierzu  gehörigen  Präparationen,  ihren  Beziehungen  zu 
Lexikon  und  Grammatik,  ihrer  Bedeutung  für  Nährung  und  Veredelung  des 
Geistes,  ihrer  diseiplinarischen  Kraft  u.  s.  w.  Dabei  konnte  natürlich  auch  die 
Besprechung  allgemeiner  Schulfragcn,  wie  die  über  Methode  und  Methodik, 
über  Persönlichkeit  und  Stellung  des  Lehrers,  über  Überbürdung  der  Schüler,, 
über  Charakter  und  Wert  der  griechisch- römischen  Literatur  u.  s.  w.  nicht 
umgangen  werden,  und  auch  in  dieser  Hinsicht  bringt  das  Buch  höchst 
schätzenswerte  Ausführungen,  wie  z.  B.  die  kurze  aber  treffende  Parallele 
zwischen  Demosthenes  und  Cicero  auf  Seite  101  f.,  oder  die  kernige  Skizze  über 
„Methode  und  Persönlichkeit"  auf  Seite  156  f.  —  Bei  alledem  bleibt  aber  „das 
Uebersetzen  in  das  Deutsche"  das  Hauptthema  des  Buches,  und  ist  dieses  mit 
einer  solchen  monographischen  Gründlichkeit  und  Allseitigkeit  bebandelt,  wie 
unseres  Wissens  bisher  nirgends.  Fügen  wir  hinzu,  dass  sich  in  dem  ganzen 
Buche  eine  reiche  fachmännische  Erfahrung,  ein  feiner,  freier,  allem  sr •bablonen- 
haften,  eigensinnigen  und  rechthaberischen  Pedantismus  abgeneigter  Geist, 
endlich  warme  Liebe  zur  Jugend  und  zum  Erzichungsberuf  ausspricht,  so  haben 
wir  gesagt,  welchen  Eindruck  das  Buch  auf  uns  gemacht  hat. 


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803  — 


Dr.  Raimund  Oehier,  Classisches  Bilderbuch  mit  weit  über  100  Tafeln, 
enthaltend  über  200  Abbildungen  nebst  6  Plänen  und  1  buntfarbigen  Tatel. 
Leipzig,  Schmidt  und  Günther.    Preis  1  M.  80  Pf.,  geb.  2  M.  50  Pf. 

Ein  sehr  schätzenswertes  Lehr-  und  Lernmittel  für  den  Gymnasialunter- 
richt zu  Händen  der  Schüler.  Abgebildet  sind  Götter,  historische  Personen,  Bau- 
und  Kunstwerke,  Waffen,  Kriegs-  und  Hausgerätbc,  Schmucksachen,  Städte, 
Landschaften  u.  s.  w.,  wie  sie  in  der  classischen  Leetüre  und  im  historischen 
Unterricht  des  Gymnasiums  vorkommen.  Den  einzelnen  Bildern  ist  ein  er- 
läuternder Text  beigegeben.  Es  war  ein  sehr  glücklicher  Gedanke,  ein  solches 
Werk  zu  entwerfen,  und  die  Ausführung  kann  als  gelungen  bezeichnet  werden. 
Hier  ist  in  der  Tbat,  wie  man  bisweilen  ohne  Berechtigung  sagt,  einem 
wirklichen  und  längst  gefühlten  Bedürfnisse  abgeholfen,  und  das  Werk  wird 
seinen  Weg  machen. 

Hermann  Masius,  Bunte  Blätter.  Altes  und  Neues.  Halle  a/S.,  1892, 
Buchhandlung  des  Waisenhauses.    384  S. 

Eine  reichhaltige  Sammlung  kleiner  Meisterstücke  des  geistigen  Schaffens 
und  der  stilistischen  Darstellung,  geordnet  in  die  drei  Abtheilungen:  Beden, 
Biographische  Charakteristiken  und  Naturskizzen.  Von  ersteren  erwähnen  wir 
die  Festreden  auf  Schiller,  Fichte,  Francke  und  die  Lehrvorträge  über  den 
Humanismus  in  seinen  Einwirkungen  auf  die  deutschen  Gelehrtenschulen  und 
und  über  den  Erzbischof  Bruno  von  Köln;  von  den  Arbeiten  der  zweiten  Kate- 
gorie: Germanicus,  ein  Bruchstück  römischer  Geschichte,  Ulrich  Zwingli,  be- 
sondere als  Humanist  und  Pädagog,  Friedrich  August  Eckstein,  die  Natur- 
anschauung Luthers,  Erasmus  als  Sittenmaler.  Wenn  alle  diese  Essays  ver- 
möge ihrer  eleganten  und  fasslichen  Darstellungsform  den  Leser  leicht  an- 
sprechen und  gewinnen,  so  muthen  sie  ihm  doch  auch  zur  Bewältigung  des 
in  ihnen  aufgespeicherten  Schatzes  vielseitiger  Gelehrsamkeit  und  anregender 
Gedanken  eine  stete  Spannung  der  Aufmerksamkeit  zu,  wofür  ihm  dann  die 
dritte  Abtheilung  des  Buches  mit  ihren  „ Naturskizzen w  wie  zur  Erholung  eine 
leichtere,  anmuthige  und  dennoch  immer  lehrreiche  Unterhaltung  gewährt. 
Wem  die  sinnige  Art  der  Naturbetrachtung,  die  feine  Beziehung  des  mensch- 
lichen Daseins  auf  seine  physischen  Umgebungen,  oder  die  geistreic  he  Behandlung 
des  scheinbar  Unbedeutenden  und  andere  Züge  dieses  gewiegten  Beobachters 
und  Darstellers  nicht  bekannt  sind,  der  lese  in  diesem  dritten  Theile  z.  B. 
„Marder  und  Sperling",  „Aus  dem  Leben  der  Katze",  „Das Haar4,  „Der Mond 
in  Sage  und  Dichtung". 

Dr.  6.  Peschmann,  Führer  durch  Österreichs  Schulen.  Eine  systema- 
tische Darstellung  der  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalten  der  Unter-  und 
Mittelstufe  für  die  männliche  Jugend  in  den  im  Reichsrathe  vertretenen 
Königreichen  und  Ländern.  Pilsen  1892,  Steinhauser.   180  S.   1  Fl. 

Das  Buch  bringt  zur  Darstellung:  die  Kindergärten  und  verwandte  An- 
stalten, die  Volks-  und  Bürgerschulen,  die  Lehrerbildungsanstalten,  Beschäfti- 
gungeanstalten,  Internate  für  Volks-  und  Bürgerschülcr,  Waisen-  und  Bettungs- 
häuser, Anstalten  für  nicht  normal  beanlagte  Kinder;  ferner  die  Mittelschulen 
(Gymnasien,  Realschulen  etc.),  die  geistlichen  Seminare  und  ähnliche  Anstalten, 
die  militärischen,  commerci eilen,  gewerblichen,  land-  und  forstwirtschaftlichen 
Büdungsanstalten ,  die  Anstalten  für  bildende,  musikalische  und  dramatische 
Kunst,  sowie  die  Fachschulen  für  Thierheilkunde,  SchifTahrt,  Bergwesen,  Phar- 
macie.  Überall  sind  die  gesetzlichen  Grundlagen,  die  Zwecke,  Einrichtungen 
und  der  tbatsächliche  Bestand  der  Bildungsanstalten  klar  und  übersichtlich 
vorgeführt,  so  dass  das  Buch  Eltern  als  Rathgeber  bei  der  Unterbringung 
ihrer  Söhne  in  geeignete  Schulen  oder  Internate  gute  Dienste  leisten  kann 
und  auch  den  Pädagogen  von  Fach  zur  Orientirung  über  die  weiten  Gebiete 
seines  Berufs  willkommen  sein  wird.  Die  vom  Heransgeber  aufgewendete 
Mühe  und  Sorgfalt  verdient  alle  Anerkennung,  die  wir  ihm  um  so  mehr 
wünschen,  als  von  der  Aufnahrae  dieses  Buches  die  Fortsetzung  desselben, 


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nämlich  eine  analoge  Darstellung  der  Bildungsanstalten  für  das  weibliche 
Geschlecht,  endlich  der  verschiedenen  Hochschulen,  abhängig  ist. 

Franz  Villicns,  die  Geschichte  der  Rechenkunst  vom  Alterthume  bis  zum 
XVIII.  Jahrhundert  mit  besonderer  Rücksicht  anf  Deutschland  und  Öster- 
reich. Mit  Illustrationen  u.  s.  w.  Wien,  Karl  Gerolds  Sohn.  2.  verb.  und 
verm.  Aufl.   110  S.  8°. 

Ein  mit  ausgebreiteter  Sachkenntnis  und  großer  Sorgfalt  bearbeitetes 
Werk,  mit  welchem  sich  der  Verfasser,  als  Mathematiker  wie  als  Methodiker 
längst  ehrenvoll  bekannt,  ein  neues  Verdienst  um  die  Wissenschaft  und  zu- 
gleich um  die  Unterrichtsprazis  erworben  hat;  denn  die  Geschichte  der  Rechen- 
kunst gehört  nicht  nur  zu  den  interessantesten  Phänomenen  der  menschheit- 
lichen Culturentwickeluog ,  sondern  gewährt  auch  der  Lehrkunst  wichtige 
Gesichtepunkte  und  Winke.  Das  vorliegende  Werk  sei  daher  bestens  em- 
pfohlen. J.  8. 

Herrn.  Redeker  und  Willi.  Pütz,  Der  Gesinnungsunterricht  im  ersten 
und  zweiten  Schuljahre  oder:  Vorbereitungscursus  für  den  Religionsunter- 
richt Mühlheim  a.  d.  Ruhr,  Hugo  Baedeker.  165  S. 

Die  Verfasser  dieses  Buches  sind  der  Ansicht,  dass  die  biblischen  Geschich- 
ten weder  in  Bezug  auf  den  Inhalt  noch  in  Bezug  auf  die  Form  dem  Stand- 
punkt sechsjähriger  Kinder  entsprechen,  daher,  mit  Ausnahme  der  Jugend- 
geschichte Jesu,  nicht  in  die  Anfangsciasse  gehören  und  ihnen  ein  vorbereitender 
Cursus  vorangehen  müsse.  Der  letztere  könne  aber  weder  im  Anschauungs- 
unterrichte odor  der  Heimatkunde,  wie  manche  Pädagogen  wollen,  noch  in 
Märchen,  wie  Ziller  vorschlug,  mit  geboten  werden,  sondern  es  würden  sich 
hierzu  besonders  Kinder-  und  Thiergeschichten  eignen.  Ihr  Lehrstoff  für  den 
elementaren  Religionsunterricht  ist  nun  folgender:  Erstes  Schuljahr:  Hey'sche 
Fabeln,  Krumtnachersche  Parabeln,  Jugendgeschichte  Jesu;  zweites  Schuljahr: 
Geschichte  von  der  frommen  Ruth,  Geschichte  Josephs,  Jesus  als  Kinder-  und 
Menschenfreund.  Das  Buch  führt  den  hier  bezeichneten  Lehrstoff  vollständig 
vor  und  zeigt  dann  in  einer  Reihe  von  Lehrbeispielen  die  methodische  Be- 
handlung desselben.  Die  Sache  bedarf  der  Prüfung.  Jedenfalls  aber  zeigen 
die  Verfasser  eifrige  Hingebung  an  die  vorliegende  Aufgabe  und  didaktische 
Gewandtheit,  weshalb  ihr  Versuch  der  Beachtung  wert  ist  und  jedem  Elementar- 
lehrer  nützliche  Anregungen  bieten  wird. 

Berthelt,  Geographie  in  Bildern.  5.  Aufl.,  neu  bearbeitet  von  Schill- 
mann. Leipzig,  Jul.  Klinkhardt.  (Pr.  6  M.) 

Berthelts  Charakterbilder  liegen  in  dieser  fünften  Auflage  vollständig  neu 
bearbeitet  vor.  Insbesondere  die  „ Städtebilder"  sind  den  Umgestaltungen 
unserer  Großstädte  in  der  jüngsten  Vergangenheit  gemäß  in  dieser  nenen  Auf- 
lage umgearbeitet;  einige  weniger  anschauliche  Schilderungen  sind  durch  ge- 
lungenere ersetzt,  die  seit  der  4.  Aufl.  erschienen  sind.  Der  Herausgeber 
begnügte  sich  zumeist  nicht  mit  dem  bloßen  Abdruck,  sondern  gestaltete  die 
Schilderungen  mit  Rücksicht  auf  seinen  pädagogischen  Zweck  um,  kürzte  sie 
oder  vereinigte  auch  zwei  oder  mehrere  Schilderungen  zu  einem  Ganzen,  aus 
der  oinen  das,  aus  der  anderen  jenes  auswählend,  wie  es  eben  sein  Ziel  ver- 
langte. Hie  und  da  griff  er  selbst  zur  Feder,  um  ein  Stück  Land  oder  eine 
Stadt,  für  die  keine  geeignete  Schilderung  vorlag,  dem  jugendlichen  Leser  vor 
Augen  zu  führen*).   Kaum  eine  Gegend,  besonders  unseres  Vaterlandes,  die 


*)  Die  Artikel  „Bulgarien"  und  „Montenegro*  verdienten  eine  Umarbeitung 
denn  hier  finden  sich  manche  ungehörige  Hyperbeln  und  auch  sachlich  Unrichtiges, 
z.  B.  Man  könnte  Bulgarien  eine  natürliche  Festung  nennen,  weil  es  von  hohen  Ge- 
birgen umstarrt  ist,  deren  Engpässe  unübersteiglich  sind.  Die  höchsten  er- 
heben sich  steiler  gegen  den  Himmel  als  selbst  die  schroffsten  Gipfel  der  Alpen  . .. 
Auf  diesen  Gebirgsketten  befinden  sich  ungeheure  Wiesen,  die  sich  m  den 


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805 


nicht  beschrieben  wäre.  Es  sind  im  ganzen  216  Bilder,  darunter  125  Bilder 
aus  Europa;  110  Holzschnitte,  sauber  ausgeführt  und  gut  ausgewählt,  illu- 
strieren den  Text.  Gegenüber  anderen  Charakterbildern  trugen  sie  in  der 
Darstellung  das  Eigentümliche  an  sich,  dass  sie  für  die  Volks-  und  Bürger- 


Karte  der  Verbreitung  der  Deutschen  in  Europa,  III.  und  IV.  Section. 
Verlag  Flemming  in  Glogau.  Preis  der  Section  3  M. 

Die  dritte  und  vierte  Section  veranschaulichen  die  Verbreitung  der  Deutschen 
in  Österreich-Ungarn  (bis  zur  Theißlinie)  und  in  Südwestdeutschland,  der  Schweiz 
und  Oberitalien.  Da  diese  beiden  Sectionen  auch  die  Vertheilung  der  nicht- 
deutschen Völker  angeben,  so  sind  sie  zugleich  ethnographische  Karten  der 
oben  genannten  Gebiete  überhaupt  und,  was  Ausführung  und  Genauigkeit  im 
Detail  anlangt,  wahre  Prachtblätter.  Wir  wenigstens  erinnern  uns  nicht, 
etwas  so  Obersichtliches  und  trotz  des  vielen  Details  so  Klares  unter  den 
ethnographischen  Karten  Österreich-Ungarns  gesehen  zu  haben,  und  auf  dem 
jüngsten  Geographentage  zu  Wien  war  doch  manches  Gute  ausgestellt.  Für 
die  Deutsehen  in  der  Diaspora  ist  die  Karte  ein  Augentrost  und  eine  Herz- 
stärke. W. 

Methodik  des  natnrgeschichtliclien  Unterrichtes  von  Prof.  Dr.  Carl 
Rothe,  Zweite  verbesserte  Auflage.  Wien  1891,  Verlag  von  Pichlers 
Witwe  und  Sohn.   124  Seiten.   Preis  1  M.  60  Pf. 

Der  Verf.  dieser  Methodik  ist  als  Verf.  vieler  methodischer  Lehrbücher  für 
Naturgeschichte  bekannt,  die  große  Verbreitung  besitzen.  Es  lässt  sich  daher 
von  vornherein  erwarten,  dass  er  auch  in  diesem  Werke  das  Richtige  treffen 
und  den  Lehrern  manchen  nutzbringenden  Wink  geben  wird.  Und  so  ist  es 
auch.  In  den  Abschnitten  Ziel  und  Zweck,  Lehrform,  Lehrstoff,  Lehrmittel, 
Geschichtliche  Entwickelung  der  Naturgeschichte  und  eines  methodischen  Unter- 
richtes in  derselben  und  endlich  Vertheilung  des  Lehrstoffes  auf  einzelne 
Stufen  folgt  er  zum  Theile  den  behördlichen  Anordnungen,  zum  Theüe  gibt 
er  eigene  beherzigenswerte  Anschauungen  kund.  Besonders  den  Artikel:  Lehr- 
mittel möchten  wir  der  größten  Beachtung  empfehlen,  da  unsere  eigene  Er- 
fahrung uns  überzeugt  hat,  dass  in  dieser  Hinsicht  am  meisten  gesündigt  wird. 
Den  Lehrern  jeder  Kategorie  sei  das  Büchlein  aufs  Wärmste  empfohlen. 

C.  R.  R. 

Der  Zweck  und  Umfang  des  Unterrichtes  in  der  Naturgeschichte 
am  Gymnasium.  Vortrag  gehalten  in  der  Versammlung  des  Vereins 
Schweiz.  Gymnasiallehrer  in  Baden  von  Dr.  F.  Mühlberg.  Aaraii,  Druck 
und  Verlag  von  H.  R.  Sauerländer. 

In  sehr  gelungener  Weise  setzt  der  Verfasser  die  Verhältnisse  des  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichtes  auseinander,  Deutschland  und  die  Schweiz,  das 
Einst  und  Jetzt  mit  einander  vergleichend  und  gibt  methodische  Winke,  wie 
der  naturhistorisebe  Unterricht  nicht  nur  die  Wissensmenge  fördernd  beein- 
flusst,  sondern  wie  derselbe  Herz  und  Verstand  in  einer  Weise  bilden  kann, 
wie  kaum  eine  andere  Disciplin.  Der  Verf.  spricht  viele  Wahrheiten  aus, 
wofür  man  ihm  nur  dankbar  sein  kann.  Das  Werkehen  kann  allerseits,  auch 
den  Gegnern  der  naturwissenschaftlichen  Disciplin,  bestens  zum  Studium  em- 
pfohlen werden.  C.  R.  R. 

Aus  meinem  naturgeschichtlichen  Tagebuche.  Beobachtungen  und 
Aufzeichnungen  für  einen  fruchtbaren  naturgeschichtlichen  Unterricht  von 
H.  H.  Groth,  Lehrer  in  Kiel.  Langensalza,  Druck  und  Verlag  von  Hermann 
Beyer  &  Söhne.  1891.  IV  und  158  S.  Preis  IM.  60 Pf.,  geb.  2M.  40 Pf. 


Wolken  verlieren  .  .  .  Bulgarien  stößt  an  zwei  Meere  etc.  etc.  Die  Montene- 
griner sprechen  noch  die  alte  8prache,  die  vom  Ararat  stammt.  Die  West- 
seite der  Berge  Montenegros  ist  schwärzer  als  Kohle  etc.  etc. 


W. 


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806 


An  den  verschiedensten  Orten  werden  Studien  darüber  gemacht,  nach 
welcher  Methode  man  am  nutzbringendsten  de«  naturgeschichtlichen  Unter- 
richt gestalten  soll  und  naturlich  diese  Studien  —  veröffentlicht.  Gutes  und 
Schlechtes  läuft  in  diesem  Genre  auf  dem  Büchermärkte  herum,  jeder,  auch 
mancher  dazu  gänzlich  unberufene  Lehrer,  der  einige  Pflanzen  gesammelt  und 
bestimmt,  einige  Schmetterlinge  oder  Käfer  gefangen  und  aufgespießt  bat  und 
deren  letzte  Todeszuckungen  sah,  kramt  seine  Weisheit  aus.  Eine  ehrenvolle 
Ausnahme  macht  unter  diesen  Methodikern  (?!)  der  Verf.  dieses  Werkes,  dem 
man  es  in  jeder  Zeile  ansieht,  dass  jahrelanges  Beobachten  und  Studium  der 
Naturkörper  zu  den  Ideen  geführt  hat,  welche  hier  niedergelegt  sind.  Den 
Grundsatz,  auf  welchem  seine  Methode  beruht,  bespricht  er  in  dem  ersten 
Artikel:  der  Lehrer  lege  kein  Herbarium  an,  soi  dem  er  führe  ein  natur- 
geschichtliches Tagebuch.  Möchten  wir  auch  nicht  jede  seiner  Sentenzen 
unterschreiben  oder  vertbeidigen,  so  liegt  doch  dem  Ganzen  ein  beherzigens- 
werter Gedanke  zugrunde,  der  sich  insbesondere  in  den  zwei  Thesen  ausspricht: 
In  dem  Tagebuch  sind  vorzugsweise  die  Resultate  von  Beobachtungen  des 
Lebens  der  Pflanzen  und  der  Thicre  zu  notiren,  und  zweitens:  Ein  solches 
Tagebuch  ist  dem  Lehrer  eine  Stütze  sowol  bei  der  Vertheilung  des  natur- 
gcschichtlichen  Stoffes  als  auch  bei  der  naturgeschichtlichen  Behandlung;  jene 
wird  dann  die  Tbierwelt  im  Sommer  nicht  vernachlässigen,  und  diese  wird  die 
Entwickelungsstufen  der  Pflanzen  und  Thiere  mehr  als  bisher  geschieht  berück- 
sichtigen. Die  verschiedenen  Beobachtungsnotizen  Uber  Pflanzen  und  Thiere 
zeigen,  wie  der  Lehrer  vorgehen  soll,  um,  freilich  manchmal  erst  nach  länge- 
rer Zeit,  alle  Daten,  welche  notwendig  sind,  zusammenzubringen.  Wir  wollen 
hier  nicht  das  Verzeichnis  der  18  Aufsätze,  welche  auf  Grund  solcher  Notizen 
verfasst  und  für  den  Vortrag  bestimmt  sind,  wiedergeben,  sondern  bemerken 
nur,  dass  die  Mehrzahl  derselben  sehr  interessant  und  für  die  Schüler  auf- 
munternd sind.  Manchmal  ist  wol  Unbedeutendes  zu  sehr  in  die  Breite  ge- 
zogen, und  was  wir  seinerzeit  über  Junge's  „Dorfteich"  bemerkten,  müssen 
wir  hier  wiederholen:  es  scheint  uns  eine  solche  Methode  —  mit  dem  Endziel 
einer  richtigen  Zusammenfassung  der  Gemeinschaft  der  unter  ähnlichen  Be- 
dingungen existirenden  Lebewesen  —  für  den  Lehrer  in  der  Stadt  kaum  oder 
gar  nicht  durchführbar,  da  er  wegen  Zeitmangels  und  wegen  zu  großer  Ent- 
fernung vom  Naturleben  kaum  dazu  kommen  kann,  im  Freien  regelmäßige 
Beobachtungen  zu  machen,  um  sie  in  der  Schule  zu  verwerten.  Er  wird  Ein- 
zelnes, was  im  Buche  vorgeschlagen  ist,  befolgen  können:  er  soll  das  Keimen 
der  Pflanze  demonstriren ,  einen  Schmetterling  durch  Zucht  heranbilden,  die 
Entwickelung  der  Spinne  den  Kindern  zeigen;  aber  den  Reiz  der  Wiese,  die 
Schönheit  des  Lebens  im  Walde,  das  Thun  und  Treiben  im  Wasser  wird  er 
selbst  nicht  zu  jeder  Zeit  des  Jahres  ausgiebig  beobachten  und  so  den  Schillern 
lebhaft  vortragen  können,  weil  ihm  Zeit  und  —  Geld  dazu  mangelt.  Deesen« 
ungeachtet  muss  man  immer  solchen  Anregungen  dankbar  gegenüberstehen 
und  aus  denselben,  was  ausführbar  ist,  auch  wirklich  entnehmen.  Wahrhaft 
erhebend  und  nutzbringend  kann  der  naturgeschichtliche  Unterricht  nur  durch 
lebendige  Demonstrationen  werden,  welche  uns  das  In-  und  Durcheinanderleben 
und  die  Wechselbeziehungen  der  Lebewesen  zeigen  —  gegenüber  dem  starren 
Doctrinarismus  einer  systematischen  Naturgeschichte  — ,  und  deshalb  empfehlen 
wir  nicht  nur  Volksschullehrern ,  sondern  auch  Lehrern  der  Naturgeschichte 
an  höheren  Anstalten  Groths  Buch  auf  das  angelegentlichste.  Mögen  sie 
soviel  Vergnügen  und  offen  gesagt  —  Belehrung  aus  demselben  schöpfen,  als 
wir  in  ihm  gefunden  haben.  C.  R.  R. 

Schulbotanik.  Tabellen  zum  leichten  Bestimmen  der  in  Norddentschland 
häufig  wildwachsenden  und  angebauten  Pflanzen  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Ziergewächse  und  der  wichtigsten  ausländischen  Cultnr- 
pflanzen  nebst  den  Grundzügen  der  allgemeinen  Botanik  bearbeitet  von 
W.  Bertram  t  Pastor  zu  St.  Catharinen  in  Braunschweig.  Dritte  Auflage, 
Mit  200  in  den  Text  eingedruckten  Abbildungen.  Braunschweig,  Bruhns 
Verlag.   VII  u.  180  Seiten.  Preis  1  M.  20  Pf. 


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807  — 


Wir  haben  die  frühere  Auflage  eingehend  besprochen  und  müssen  hier 
nur  unser  Urtheil  wiederholen,  dass  in  Bertram»  Büchlein  ein  recht  praktisches 
Bestimmungsbuch  geboten  wird,  zumal  dasselbe  auch  über  den  Rahmen  hinaus- 
geht, der  sonst  Bestimmungsbücher  einengt,  indem  es  auch  Ziergewächse  und 
in-  und  ausländische  Culturpflanzen  in  seinen  Bereich  zieht.  DasB  bei  der  ge- 
ringen Ausdehnung  des  Werkchens  nicht  alle  Species  oder  Varietäten  aufge- 
führt sind,  halten  wir  für  keinen  Nachtheil  im  praktischen  Gebrauche. 

a  r.  r. 

Müller-Pilling,  Deutsche  Schulflora,  zum  Gebrauch  für  die  Schule  und 
den  Selbstunterricht.  Erster  Theil,  Verlag  von  Th.  Hofmann  in  Gera. 
48  Tafeln,  Preis  4  M.  20  Pf. 

Fast  alljährlich  erscheinen  auf  dem  Büchermarkte  Pflanzenabbildungen, 
welche  den  Unterricht  in  der  Botanik  unterstützen  und  fördern  sollen.  Die- 
selben sind  meistens  systematisch  geordnet  und  enthalten  schon  aus  diesem 
Grunde,  wenn  6ie  nicht  sehr  reichhaltig  sind,  manche  der  gewöhnlichsten 
Pflanzen  nicht,  dafür  aber  überflüssige  Darstellungen.  Die  vorliegende  Schul- 
flora  geht  auf  einem  anderen  Wege  vorwärts.  Im  ersten  Theile  sind  nur 
solche  Pflanzen  abgebildet,  welche  zu  den  gewöhnlichsten  gehören  und  die 
Möglichkeit  bieten,  die  Hanptformen  der  Wurzel-,  Stengel-,  Blätter-  und  Blüten- 
gebilde zu  erläutern  und  den  Begriff  von  Gattung  und  Art  zu  festigen. 
Nebenbei  soll  damit  die  Anlegung  eines  Herbariums,  welches  ja  doch  stets  das 
Endziel  sein  soll,  erleichtert  werden.  Im  nachfolgenden  zweiten  und  dritten 
Theile  soll  diese  Kenntnis  erweitert  und  auf  die  Hauptfamilien  der  Blatt-  und 
Spitzkeimer  ausgedehnt  und  der  Übergang  zu  den  Ordnungen  geschaffen  wer- 
den; der  vierte  Theil  soll  endlich  einen  ergänzenden  Abaehluss  bilden.  In 
einem  Anhange  wird,  wenn  sich  das  Bedürfnis  dafür  zeigt,  über  die  Krypto- 
gamen  und  ausländische  Zier-  und  Kulturpflanzen  gehandelt  werden.  —  Die 
Abbildungen  sind,  wenn  auch  mitunter  etwas  steif  und  in  den  Farben  zu 
wenig  frisch,  als  naturgetreu  und  gelungen  zu  bezeichnen,  besonders  sind  die 
Durchschnitte  und  Detailzcrgliederungen  höchst  anerkennenswerte  Beigaben, 
wodurch  die  Charakteristik  der  Pflanzen  ungemein  gut  illustrirt  erscheint. 
Für  die  Schule  und  den  Selbstunterricht,  besonders  für  die  Hand  des  Lehrers, 
wird  das  Werk  vorzügliche  Dienste  leisten,  da  dem  letzteren  dadurch  leicht 
die  Möglichkeit  geboten  wird,  Einzelheiten,  die  er  sonst  nur  mühsam  den 
Schülern  in  natura  zeigen  könnte,  in  vergrößerter  Form  auf  der  Tafel  vor- 
zuzeigen.  Der  Preis  ist  ein  relativ  billiger.  C.  R.  R. 

Räther,  Heinrich,  Theorie  und  Praxis  des  Rechenunterrichtes.  I.  Theil. 

Die  Zahlreihe  bis  100.   108  S.  1  M.  20  Pf.  —  II.  Theil.  Die  Zahlreihe 

bis  1.000.000.  310  S.  Breslau  1891,  Morgenstern.  2  M. 

Der  Verfasser  hat  unser  Interesse  gleich  zu  Anfang  des  Buches  in  hohem 
Grade  gewonnen,  da  er  die  sittliche  Bedeutung  des  Rechenunterrichtes  hervor- 
hebt. Die  Ausnabmslosigkeit  der  Gesetze  der  Mathematik,  gleich  wie  die 
Befähigung  desjenigen,  der  sie  beherrscht,  an  die  Lösung  schwieriger  Fragen 
heranzutreten,  heben  einerseits  das  Selbstbewußtsein,  während  sie  andererseits 
die  Grundlage  einer  Weltanschauung  bilden,  die  wir  ausschließlich  als  modern 
zu  bezeichnen  vermögen.  Der  Verfasser  geht  sodann  über  zur  Feststellung  des 
Zahlenbegriffes,  welchen  er  als  Ergebnis  einer  recht  ausführlichen  und  klaren 
Darlegung  ein  Abstractum  nennt.  Ganz  einverstanden  sind  wir  auch  mit 
seiner  Empfehlung  der  Methode  Grube's  für  den  Zahlenraum  bis  zehn,  sowie 
mit  der  Hervorhebung  der  großen  Wichtigkeit,  welche  der  Zahlreihe  10-  20 
zukommt;  dagegen  sind  wir  nicht  einverstanden  mit  der  Empfehlung  des 
Ti  Hieb  sehen  Rechenkastens,  weil  die  russische  Rechenmaschine  ein  weit 
vorzüglicheres  Anschauungsmittel  bildet;  auch  sind  wir  nicht  damit  einver- 
standen, schon  im  Zahlenraume  100  den  Unterricht  nach  Rechnungsarten  zu 
gliedern.  Es  tritt  in  diesem  Zahlenraume  als  wichtigste  und  schwierigste 
Aufgabe  die  Erlernung  des  Einmaleins  an  den  Schüler  heran;  soll  nun  das 
Gedächtnis  nicht  überladen,  und  dadurch  Verwirrung  hervorgerufen  werden, 


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—   808  — 

so  empfiehlt  sich  der  allmähliche  Vorgang  nach  Decaden,  welcher  eine  weit 
sicherere  Bürgschaft  des  Erfassens  und  Behalteng  gewährt. 

Zu  Beginn  des  zweiten  Theiles  fanden  wir  eine  recht  gute  Auseinander- 
setzung Uher  die  sogenannten  algebraischen  Aufgaben.  Sie  sind  in  der  Volks- 
schule Aufgaben  des  Kopfrechnens  und  von  sehr  erheblichem  formellen  Bil- 
dungswerte, setzen  jedoch  voraus,  dass  die  Seminarbildung  des  Lehrers  in 
diesem  Zweige  eine  hinreichend  weitgehende  war;  denn  ungleich  der  schrift- 
lichen Lösung  von  Gleichungsaufgaben,  bei  welcher  immer  derselbe  Vorgang 
befolgt  wird,  erfordert  deren  mündliche  Lösung  fast  für  jedes  Beispiel  eine 
andere  Behandlung.  —  Im  folgenden  Paragraph  werden  die  im  Rechenunter- 
richte vorkommenden  Fremdwörter  verdeutscht;  dabei  fuhrt  der  Verfasser 
selbst  an,  aus  welcher  Ursache  die  Verdeutschung  von  „plus"  durch  „und" 
unzulässig  ist,  doch  will  er  sich  unter  Berufung  auf  ein  österreichisches  Lehr- 
buch von  dem  geliebten  „Und"  nicht  trennen.  Er  hat  Unrecht  mit  der  Be- 
rufung auf  jenen  Österreicher,  denn  hier  wie  dort  wird  durch  die  nicht 
akademisch  gebildeten  Seminarlehrer  Verwirrung  in  den  Rechenunterricht 
hineingetragen,  und  es  sind  hier  wie  dort  nur  die  akademisch  gebildeten 
Lehrer,  welche  gegen  derlei  Missbrauch  Stellung  nehmen.  —  Der  Verfasser 
empfiehlt  zu  unserer  großen  Freude  die  Einführung  des  österreichischen  Divi- 
sions-Verfahrens; natürlich  setzt  dasselbe  voraus,  dass  die  Snbtraction  mittelst 
Ergänzung  gelehrt  werde,  und  dass  man,  um  das  leidige  Umlernen  zu  er- 
sparen, gleich  von  Beginn  der  schriftlichen  Division  das  Aufschreiben  der 
Theilproducte  unterlasse.  Wir  hatten  schon  viele  Schüler  theils  aus  Deutach- 
land, tbeils  auB  Ungarn  zu  unterrichten,  welche  des  österreichischen  Divisions- 
Verfahrens  unkundig  waren;  der  Heiterkeitaerfolg  bei  ihren  Mitschülern  ge- 
nügte, um  ihnen  dasselbe  in  acht  Tagen  vollkommen  geläufig  zu  machen. 

Der  Verfasser  bemerkt  des  Fernern  selbst,  dass  ein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  „Theilen"  und  „Enthaltensein"  nicht  besteht,  wenn  aber 
dennoch  dieser  Unterschied  fortgesetzt  aufrecht  erhalten  wird,  m  können  wir 
dies  nur  als  ein  unnöthiges  Erschwernis  einer  thatsächlich  einfachen  Sache 
bezeichnen.  Wenn  die  Regel  aufgestellt  wird:  Beim  Enthaltenscin  müssen  die 
gogebenen  Zahlen  zuerst  gleichnamig  gemacht  werden,  so  kommt  uns  unwill- 
kürlich der  Fall  in  Erinnerung,  dass  Quadratmeter  durch  Längenmeter  zu 
dividiren  seien,  und  wir  müssen  fragen,  ist  dieses  ein  Theilen  oder  Messen? 
Darauf  antwortet  die  Geometrie,  dass  es  keines  von  beiden  sei,  sondern,  dass 
der  Scbluss  auf  die  Benennung  des  Quotienten,  ein  vom  rechnungsmäßigen 
Vorgange  ganz  unabhängiges  Urtheil  erfordere,  so  wie  auch  in  allen  anderen 
Fällen.  Wenn  man  z.  B.  drei  Äpfel  mit  drei  Pfennigen  multiplicirt ,  so  kann 
das  Product  neun  Äpfel  oder  neun  Pfennige  heißen,  je  nachdem  vorausgesetzt 
wurde,  dass  ein  Apfel  drei  Pfennige  kostet,  oder  dass  man  um  einen  Pfennig 
drei  Äpfel  erhält.  —  Bei  der  Addition  empfiehlt  der  Verfasser  zur  Probe  die 
Addenden  in  umgekehrter  Reihenfolge  zusammenzuzählen,  dabei  entgeht  es 
ihm  aber,  dass  bei  der  Multiplication  eine  ganz  Ubereinstimmende  Probe  mög- 
lich ist,  nämlich  durch  Vertauschung  der  Factoren. 

Wir  stimmen  mit  Bedauern  zu,  dass  durch  das  Gesetz  nur  bei  einem 
Theile  der  Maße  und  Gewichte  das  metrische  System  vollständig  durchgeführt 
erscheint,  müssen  es  jedoch  der  Schule  zur  Last  legen,  nicht  mit  größerem 
Nachdrucke  auf  die  thatsächliche  Durchführung  des  metrischen  Systems  hin- 
gearbeitet zu  haben.  —  Auf  die  Frage,  was  ein  DecimaJbruch  sei,  und  ob  das 
Rechnen  mit  denselben  vor  oder  nach  dem  Rechnen  mit  gemeinen  Brüchen  zu 
lehren  sei,  haben  wir  die  Antwort:  Ein  Decimalbruch  ist  ein  System bruch, 
welcher  an  Pfennigen  und  Millimetern  ein  sehr  vorteilhaftes  Anschauungs- 
mittel findet.  Wogegen  ein  Anschauungsmittel  für  Drittel,  Sechstel,  Siebentel, 
sich  thatsächlich  nicht  findet  —  Recht  interessant  fanden  wir  auch  die  ge- 
schichtlichen Nachrichten,  besonders  die  Erörterung  vom  Übergange  des  Rech- 
nens am  römischen  Abacus  zum  Linienabacns  mit  der  nachfolgenden  Ein- 
führung der  Null.  Dagegen  erscheint  es  als  überflüssig,  Bilder  ursprünglicher 
Ziffern  zu  entwerfen,  welche  in  Wirklichkeit  niemals  vorgekommen  sind. 

Wenn  wir  uns  mit  dem  vorliegenden  Werke  etwas  ausführlicher  beschäf- 
tigt haben,  so  geschah  dies  deshalb,  weil  wir  im  ganzen  mit  demselben  wol 


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einverstanden  sind  and  nur  wünschen,  es  möge  der  Verfasser  bei  einer  zweiten 
Auflage  die  beregten  Mangel  der  Verbesserung  für  Wert  halten;  im  übrigen 


Mittenzwey,  L.,  Dir.  in  Leipzig:  Die  Darstellungsformen  im  Rechnen 
nebst  methodischen  Andentungen.  103  S.  Gotha  1891,  Behrend.  1  M.  60  Pf. 

Im  Vorworte  beklagt  der  Verfasser  den  Schaden,  welchen  gewisse  Schlag- 
worte im  Rechenunterrichte  angerichtet  haben.  Er  führt  aus,  dass  das  Rech- 
nen nicht  nur  ein  Wissen,  sondern  auch  ein  Können  von  Seite  des  Schülers 
erfordere,  und  letzteres  kann  einer  Anzahl  verschieden  begabter  Schüler  nicht 
rascher  und  verständlicher  beigebracht  werden  als  durch  ein  Normalverfahren. 
Es  gibt  jedoch  Schulmänner,  welche  immerfort  gegen  den  Mechanismus  don- 
nern, dabei  aber  ganz  übersehen,  wie  sehr  ein  vorbereitender  Ansatz  geeignet 
ist,  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  in  eine  Sache  zu  bringen.  Wir  führen  zu 
Gunsten  dieser  Ansicht  des  Verfassers  an,  dass  Dr.  Theodor  Walter  die 
Lösung  der  schwierigsten  algebraischen  Aufgaben  lediglich  durch  einen  mit 
Geschick  ausgeführten,  vorbereitenden  Ansatz  den  Schülern  übermittelt.  Auch 
darin  stimmen  wir  dem  Verfasser  bei,  dass  er  die  Ursache  des  mangelhaften 
Erfolges  im  Rechenunterrichte  in  der  ungenügenden  mathematischen  Aus- 
bildung der  Lehrer  auf  dem  Seminare  findet. 

Überhaupt  sind  wir  den  Ausführungen  des  Verfassers  mit  großem  Interesse 
gefolgt  und  haben  uns  an  denselben  erfreut,  ebensowol,  weil  sie  mit  verstän- 
digerKlarheit  vorgetragen  sind,  als  weil  sie  mit  unseren  eigenen  Erfahrungen 
und  Überlegungen  zusammentreffen.  So  hat  es  uns  ganz  besonders  angenehm 
berührt,  die  zwecklose  Unterscheidung  von  Messen  und  Theilen  verurtheilt  zu 
finden;  ebenso  löblich  ist  es,  thunlichsten  Anschluss  des  Rechenunterrichtes  an 
die  wissenschaftliche  Behandlung  der  Mathematik  zu  suchen.  Nur  an  einigen 
Stellen  haben  wir  die  Angaben  des  Verfassers  von  unserer  Erfahrung  ab- 
weichend gefunden.  Der  Verfasser  will  die  Subtraction  mittelst  Ergänzung 
nicht  im  dritten  Schuljahre  vornehmen,  sondern  einer  späteren  Klasse  vor- 
behalten; wir  machen  es  umgekehrt,  wir  lehren  zuerst  die  Subtraction  mittelst 
Ergänzung  und  das  Borgen  kommt  nur  vor  beim  Rechnen  mit  Sorten  oder 
gemischten  Zahlen.  Darum  erscheint  dem  Verfasser  auch  das  österreichische 
Divisionsverfahren  für  die  Volksschule  nicht  geeignet,  während  wir  von  An- 
beginn des  schriftlichen  Rechnens  kein  anderes  Verfahren  kennen  und  üben, 
und  damit  eine  sehr  beträchtliche  Zeitersparnis  erzielen.  —  Zur  Vermeidung 
des  Umlernen8  empfiehlt  es  sich,  auch  in  der  Volksschule  das  Additionszeichen 
mit  „mehr"  und  das  Gleichheitszeichen  mit  „ist  gleich"  zu  lesen. 

Wir  stimmen  dem  Verfasser  bei,  dass  jene  Art  von  Brüchen  zuerst  zu 
lehren  sei,  welche  dem  Verständnisse  des  Schülers  näher  liegen;  wir  meinen 
aber,  dass  dies  die  Decimalbrüchc  seien,  und  zwaT  in  der  Form  der  hundert 
Pfennige  einer  Mark,  denen  alsbald  die  tausend  Millimeter  eines  Meters  folgen. 
Ausserdem  spricht  zu  Gunsten  der  Decimalbrüche,  dass  sich  das  Rechnen  mit 
denselben  fast  ohne  Hinzuthun  neuer  Regeln  an  das  Rechnen  mit  den  ganzen 
Zahlen  anschließt;  während  doch  dem  Rechnen  mit  gemeinen  Brüchen,  wenn 
es  belehrenden  Inhalt  gewinnen  soll,  die  Tbeilbarkeitsregeln  und  das  Auffinden 
vom  Maß  und  Vielfachen  vorausgehen  müssen. 

Wie  schwer  Verbesserungen  durchdringen,  und  wie  sehr  wir  vom  alt- 
gewohnten beherrscht  werden,  dafür  hat  uns  der  Verfasser  selbst  ein  Beispiel 
gegeben:  obwol  er  vorher  ausdrücklich  betont,  dass  man  „durch"  odeT  ?inu 
dividirt,  so  finden  wir  doch  auf  Seite  42  in  fünf  Zeilen  nacheinander  dreimal, 
dass  „mit"  einem  Divisor  dividirt  wird.  Doch  das  Beste  ist  der  Feind  des 
Guten,  und  so  können  wir  nur  wünschen,  dass  dieses  gute  Buch  recht  viel 
Boden  gewinne.  H.  E. 

3Iaier,  J.  G.,  Oberl.  zu  Künzelsan,  Lehrbuch  der  Elementar- Arithmetik 


für  Lehrerbildungsanstalten  etc.  I.  Theil.  Das  Rechnen  mit  absoluten 
Zahlengrössen.  2.  venu,  und  verb.  Aufl.  264  S.  Stuttgart  1892,  D.  Gan- 
dert.  4  M. 


H.  E. 


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-    810  — 

Der  Verfasser  gebt  von  der  Notwendigkeit  aus,  dass  der  Lehrer  mehr 

können  müsse,  als  der  Schaler;  er  bietet  sonach  den  Seminaristen  mit  Vor- 
liegendem ein  sehr  ausführliche«  Lehrbuch  der  Arithmetik  besonderer  Zahlen. 
Wir  loben  daran  besondere  die  richtige  Stoffverteilung,  welche  an  die  vier 
Grundrechnungsarten  die  Theilbarkeitskennzeichen  anschließt,  an  welche  sich 
das  Aufsuchen  von  Maß  und  Vielfachen  und  das  Rechnen  mit  den  Brüchen 
folgerichtig  anreiht.  Die  bürgerlichen  Rechnungsarten  werden  nach  verschie- 
denen Seiten  betrachtet  und  mehrfache  Lösungsvorgänge  dafür  angegeben,  um 
dem  Lehrer  möglichste  Einsicht  und  gründliches  Erfassen  des  Wesens  dieser 
Aufgaben  zu  vermitteln.  Nach  der  ausführlichen  formellen  Erörterung  folgt 
eine  gleich  eingehende  sachliche  Auseinandersetzung  über  alles,  was  zum  Ge- 
biete der  bürgerlichen  Rechnungsarten  und  der  sogenannten  algebraischen  Auf- 
gaben für  diese  Stufe  erforderlich  ist.  An  sehr  zahlreichen  Beispielen  werden 
die  Auseinandersetzungen  erläutert  und  sind  noch  mehr  derselben  zur  Übung 
beigegeben,  so  dass  die  Anführung  der  Resultate  einen  eng  bedruckten  Druck- 
bogen in  Anspruch  nimmt.  —  Wir  bedauern  nur,  dass  der  Verfasser  sich  noch 
nicht  entschließen  honnte,  nach  dem  österreichischen  Verfahren  auf  das  An- 
schreiben der  Thcilproducte  bei  der  Hultiplication  zu  verzichten. 

Die  erste  Auflage  dieses  Buches  ist  schon  vor  nahezu  zehn  Jahren  er- 
schienen, und  wir  haben  schon  damals  dessen  Vorzüge  mit  Anerkennung  her- 
vorgehoben; seither  hat  es  der  Verfasser  nicht  unterlassen,  sein  Werk  in  den 
wiederholten  Auflagen  zu  verbessern  und  zu  vervollkommnen.  Wir  müssen  es 
daher  ah*  ein  ausgezeichnetes  Lehrmittel  für  Seminaristen  bezeichnen  und  es 
denselben  auf  das  wärmste  empfehlen.  H.  E. 

Neu  erschienene  Bücher. 

Chr.  Hamann,  Friedrich  Schiller  als  Mensch  und  Dichter.  Ein  volkstümlich 
dargestelltes  Lebensbild.   Hamburg,  Herold.   178  S.   Geb.  1  M.  25  Pf. 

Fritz  Jonas,  Schillers  Briefe.  Kritische  Gesammtausgabe  in  der  Schreibweise 
der  Originale  und  mit  Anmerkungen.  Stuttgart,  Leipzig,  Berlin  und  Wien, 
Deutsche  Verlagsanstalt.  1.  Lieferung,  Bogen  1 — 3.  25  Pf.  (Soll  in  circa 
95  Lieferungen  a  25  Pf.  erscheinen.) 

E.  Knenen  und  M.  Evers,  Die  deutschen  Classiker,  erläutert  und  gewürdigt 
für  höhere  Lehranstalten,  sowie  zum  Selbststudium.  8.  Bändchen,  Schillers 
Wallenstein,  2.  Teil.   Leipzig,  Heinrich  Bredt.  124  S.  1  M. 

Julius  Heu  sc],  Makrobiotik  oder  unsere  Krankheiten  und  unsere  Heilmittel. 
Für  praktische  Ärzte  und  gebildete  Leute.  2.  Atitl.  Philadelphia  und  Leipzig. 
Auslieferung  bei  K.  F.  Köhler  in  Leipzig.  208  S.  5  M. 

August  Weiß,  Die  Frau  nach  ihrem  Wesen  und  ihrer  Bestimmung.  Leipzig, 
Rossberg.  85  S.  1  M.  50  Pf. 

A.  Sprockhof,  Grnndztige  der  Anthropologie  für  höhere  Lehranstalten,  Lehrer- 
seminare und  Lehrer.  2.  Aufl.  290  S.  mit  153  Abbildungen.  3  M. 

Dr.  Franz  Kiessling  und  Egmont  Pfalz,  Methodisches  Handbuch  für  den  ge- 
samten naturwissenschaftlichen  Unterricht  in  Volks-  und  höheren  Mädchen- 
schulen. In  sechs  Cursen  bearbeitet.  Curaus  V,  zweite  Abteilung.  Der 
Mensch  in  Beziehung  zur  organischen  und  unorganischen  Natur.  Metho- 
disches Handbuch  für  den  Unterricht  in  der  Anthropologie,  Physik,  Chemie 
und  Technologie.  Braunschweig,  Appelhans  &  Pfenningstorff.  XXX  und 
262  Seiten  mit  zahlreichen  Holzschnitten.  Preis  für  Cursus  V/VI  7  Mk. 
(Einzeln  wird  Kursus  V  nicht  abgegeben.) 

Heinrich  Walther,  Schul-Naturlehre.  Lehrstoffe  zu  einer  schulgemäßen  Be- 


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—    811  — 


handlang  des  Wichtigsten  aas  Natarlehre  und  Chemie.  ,  Für  Lehrer  an 
Volksschalen.  Hilchenbach,  Wiegand.  119  S.  1  M.  20  Pf. 

Prof.  Dr.  Otto  Wünsche,  Schalflora  von  Deutschland.  II.  Theil.  Die  höheren 
Pflanzen.  6.  Aufl.  Leipzig,  Teubner.  472  S.  Geb.  4  M.  60  Pf. 

Dr.  Woldemar  Götze,  Katechismus  des  Knabenhandarbeits-Unterrichts.  Leipzig, 
J.  J.  Weber.  245  S.  mit  69  Abbildungen.  Geb.  3  M. 

Julius  Speugel,  Mehrstimmige  Lieder  und  Gesänge  für  vorgeschrittene  Chor- 
classen  an  Lehrerinnen-Seminaren  und  Mädchenschulen.  Hamburg,  Boysen. 

204  S. 

Alfred  Böttcher,  Lehrgang  für  das  Knabenturnen  in  Volksschalen.  Aus- 
führungen zum  Lehrplane  für  den  Turnunterricht  an  den  Bürgerschulen  in 
Hannover.  143  Seiten  mit  111  Abbildungen.   Hannover,  Karl  Meyer. 

Karl  Richter,  Über  die  Verbindung  der  Koch-  und  Haushaltungsschulen  mit 
der  Mädchenvolksschule.  Gekrönte  Preisschrift.  Leipzig,  Max  Hesse.  76  S. 
1  M.  20  Pf. 

Franz  Frisch,  Schule  der  Rundschrift.  Für  den  Schul-  und  Selbstunterricht 
bearbeitet.  In  drei  Heften.  Prag,  Wien  und  Leipzig,  Tempsky  und  Freitag. 
18,  18  u.  25  Pf. 

Fr.  Koch,  Die  Steilschrift  und  deren  Anwendung  in  der  Kanzlei,  der  Schale 
und  im  öffentlichen  Leben.  Ein  Leitfaden  für  jedermann  zum  Selbststudium. 
13  Seiten  und  8  lithogr.  Tafeln.  Kaiserslautern,  Gotthold.  1  M. 

E.  Merkel,  Methodische  und  praktische  Anleitung  zum  Denkrechnen.  I.  Ab- 
theilung: das  Normalrechnen.  Selbstverlag:  München,  Isarthorplatz  la. 
26  S.  50  Pf. 

E.  R.  Müller,  Vierstellige  logarithmische  Tafeln  der  natürlichen  und  trigono- 
metrischen Zahlen  nebst  den  erforderlichen  Hilfstabellen.  Stuttgart,  Jul. 
Maier.  32  S.  60  Pf. 

R.  Granitz,  Bilder  aus  der  Geschichte  des  Königreichs  Sachsen  für  sächs. 
Volks-  und  Bürgerschulen.  Leipzig,  Heinrich  Bredt.  24  S.  20  Pf. 

Prof.  R.  Heidvich,  Lehrplan  für  den  evangelischen  Religionsunterricht  in  den 
höheren  Schulen.  Nach  des  Verfassers  „Handbuch  für  den  Religionsunter- 
richt" auf  Grund  des  Lehrplanes  vom  6.  Jan.  1892  bearbeitet.  Berlin, 
J.  J.  Heine.  16  S.  60  Pf. 

Dr.  J.  Ell £el mann,  Leitfaden  bei  dem  Unterricht  in  der  Handelsgeographie 
für  Handelslehranstalten  und  kaufmännische  Fortbildungsschulen.  Erlangen, 
Palm  &  Enke.  295  S.  3  M. 

Dr.  R.  PetersdorfF,  Die  socialen  Gegensätze  und  ihre  Ziele  für  die  Schule 
und  Familie  beleuchtet.  Strehlen,  E.  Asser.  50  S.  1  M. 

Georg  Volk,  Auf  der  Ofenbank.  Erzählungen  in  Odenwälder  Mundart.  Mit 
einem  Wörterverzeichnis.  Offenbach  a.  M.,  Steinmetz.  64  S.  1  M. 

Anton  Kultscher,  Hoch  Österreich!  Declamatorium  für  die  vaterländische 
Jugend,  zugleich  Handbuch  für  alle  Schulfestlichkeiten  und  Hausschatz  für 
das  deutsch-österr.  Volk.  Prag,  Jul.  Huth.  168  S.  1  Fl. 

AI.  Knöppel,  Sprach-  und  Rechtschreiblehre.  Ein  Versuch  zur  Verbindung 
dieser  Unterrichtsfächer  nebst  Anleitung  zu  deren  Erteilung  und  ausgewähl- 


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tem  Übungsstoff.  Ausgabe  A.  Fflr  die  Hand  der  Lehrer  an  deutschen 
Volks-,  Mittel-  nnd  Fortbildungsschulen  ond  an  den  unteren  Klassen  höherer 
Lehranstalten.  195  Seiten.  2.  M.  Ausgabe  B.  Für  Schüler  preuß.  Volks-, 
Mittel-  und  Fortbildungsschulen  etc.  Monster,  Aschendorff.  104  S.  50  Pf. 

Geyer,  Deutsche  Aofsatzstoffe.  Eine  Sammlung  von  320  Entwürfen  und  Aus- 
führungen für  Seminarien  etc.  Hannover,  Meyer.  2  M. 

Knilling,  Einführung  in  die  stilistische  Entwicklungslehre.  München,  Kellerer. 

Krämer,  Praktisch  erprobte  Musterautsatze  und  Übungsstoffe.  II.Theil.  Mittel- 
stufe. Weinheim  (Baden),  Ackermann. 
Mohr,  Unsere  Methode  der  Rechtschreibung.  Flensburg,  Westphalen.   2  M. 
— ,  Dictatstoffe.  Ebenda.   1  M. 

Matthias,  Hilfsbuch  für  den  deutschen  Sprachunterricht  auf  den  drei  unteren 
Stufen  höherer  Lehranstalten.  Dusseldorf,  Schmitz  &  Olbertz.  1  M.  50  Pf. 

Maxa,  Stilübungen.  I.  Theil.   Wien,  Pichler.    1  M.  60  Pf. 
Penitewiß  und  Pausegram,  Leitfaden  für  den  Rechtschreib-  und  Sprachunter- 
richt in  preuß.  Schulen.  I.  Heft.  Halle,  Schroedel. 
Schuster- Hoffmann,  Rhetorik  für  höhere  Schulen.  Halle,  Grosse.  2  M.  10  Pf. 
Stehlich,  Die  Sprache  in  ihrem  Verhältnis  zw  Geschichte.  Leipzig,  Benger. 

Waldeck,  Praktische  Anleitung  zum  Unterricht  in  der  lateinischen  Grammatik. 

Halle,  Waisenhaus.  2  M.  40  Pf. 
Rennau,  Zeltleben  in  Sibirien  und  Abenteuer  unter  den  Korjäken  und  anderen 

Stammen  in  Kamtschatka  und  Nordasien.  3.  Aufl.  Berlin,  Cronbacb. 

Coordes,  Kleines  Lehrbuch  der  Landkartenprojection.  2.  Aufl.  Kassel,  Kessler. 
Roge,  Kleine  Geographie.  4.  Aufl.  Dresden,  Schönfeld.  2  M. 

— ,  Geographie,  insbesondere  für  Handelsschulen  und  Realschulen.  11.  Aufl. 
Dresden,  Schönfeld.  3  M.  60  Pf. 

Tromnau,  Schulgeographie  für  Mittelschulen  und  höhere  Mädchenschulen. 
I.  Theil.  Halle,  Schrödel.  80  Pf. 

Ule,  Die  Erde.  (Vollständig  in  15  Lieferungen  k  60  Pf.)  Braunschweig,  Salle. 

Bongrätz,  Zur  Feier  des  Geburtstages  Kaiser  Wilhelms  II.  6.  Aufl.  Düssel- 
dorf, Schwann. 

— ,  Die  Fürsorge  der  Hohenzollern  für  ihr  Land  und  Volk.  28  S.  Düsseldorf, 
Schwann. 

Hesse,  Bilder  aus  der  brandenburgisch-preuBischen  und  deutschen  Geschichte 
(für  die  Mittelstufe  der  Volksschule).  Hannover,  Meyer.  50  Pf. 

Krause,  Deutschlands  Kaiser  von  Karl  dem  Großen  bis  Wühelm  II.  (Synchro- 
nistische Zusammenstellung).  Berlin,  Cronbach. 

Schumann  und  Heinze,  Leitfaden  der  preußischen  Geschichte.  2.  Aufl.  (Mit 
Abbildungen).  Hannover,  Meyer.  1  M.  80  Pf. 

Nutzer,  Übersichten  zur  preußisch -deutschen  Geschichte.  Für  die  oberste 
Stufe  des  Geschichtsunterrichtes.  Hannover,  Hahn. 


Verantwortl.  Redacteur  Dr.  Friedrich  Ditte».    Bschdruckerei  J»li*i  Klinkhardt,  Leipzig. 


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Universitö  de  Geneve. 


Annee  1892-1893. 


Facultas  des  Sciences  (y  comprig  Ecole  de  Chimic),  des  Lettres  et  des  sciences 
sociales  (seminaire  de  langue  francaise),  de  Droit,  de  Theologie,  de  Medecine  (etudes 
medicales  et  pharmaeeutiques.   Ecole  dentaire. 

Les  cours  s'ouvriront  le  22^'  Octobre  1892. 

On  peut  se  procurcr  le  programme  des  cours,  ainsi  que  les  program  m  es  detailles  des 
examens  de  grades,  au  buroau  du  Secretaire-Caissier  (Universite).  —  Les  lnscriptions  pour 
les  examens  d'Octobre  seront  recues  du  1er  au  8*«"«  Oetobre. 

Pour  pensions  et  logements,  ainsi  que  pour  recevoir  gratuitement  des  infonnations 
sur  les  etablissementa  d'instruction  de  Geneve,  s'adresser  au  Bureau  de  renseignements 
edueatifc,  5.  Quai  du  Mont-Blanc 

Lc  Recteur:  Professcur  Gustave  Julliard. 


Verlag  von  Wilh.  Schultze  in  Berlin, 

->•*-  Scharrnstrasse  11.  -*»< 

Unfrei iea,  A„  Grammatik  der  neuhochdeutschen  Sprache.  4.  verbesserte  Auflage. 
7,50  Mk.,  geb.  9,—.  Mk. 

 Leitfaden  filr  den  deutschon  Sprachunterricht   I.  Teil,  95.  (12.  umgearbeitete) 

Auflage.   —,50  Mk.  II.  Teil,  48.  Auflage.   1,—  Mk. 

 Sehulgrammutik  der  neuhochdeutschen  Sprache.  6.  Auflage.  1.20  Mk. 

 Sammlung  von  Musteraufs  atzen  für  die  Mittelklassen  höherer  Knaben-  und  Mäd- 
chenschulen und  die  oberen  Klassen  gehobener  Volksschulen  herausgegeben.  7.  verb.  Aufl. 
2,20  Mk.,  geb.  2,60  Mk. 

 Vorstufe  zu  den  deutschen  LcsebUchern  von  Engelien  und  Fechncr.  Aus  den 

Quellen  zusammengestellt  —,50  Mk. 

 Grundriss  der  Geschichte  der  deutscheu  Grammatik,  sowie  der  Methodik  des 

grammatischen  Unterrichts  in  der  Volksschule.   — ,60  Mk. 

 Die  deutsehe  Wortbildung  für  den    Schuljrebrauch    methodisch  dargestellt. 

—,30  Mk.,  kart.  —,40  Mk. 

 und  H.  Fechner,  Deutsches  Lesebuch.   Aus  den  Quellen  zusammengestellt. 

Ausgabe  A.  In  5  Teilen.  L  Teil,  21.  (3.  umgearbeitete)  Auflage.  —,80  Mk.  II.  Teil, 
20.  (3.  umgearbeitete)  Auflage.  1, —  Mk.  III.  Teil,  15.  (2.  umgearbeitete)  Auflage 
1,40  Mk.  IV.  Teil,  11.  (1.  umgearbeitete)  Auflage.  2,20  Mk.  V.  Teil,  5.  (1.  umgearb.) 
Autlage.  2,40  Mk. 

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Auflage.   1,35  Mk.,  geb.  1,75  Mk. 
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und  Algebra.   2.  stark  vermehrte  Auflage.   1,20  Mk. 
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—  HM  Kurzer  Abriss  der  wichtigsten  geschichtlichen  Ereignisse  vom  Frankfurter 
Frieden  bis  zur  Thronbesteigung  Wilhelms  II.    (Als  Nachtrag  zu  K.  Hoffmanns 
Geschichtsauszug).   —,20  Mk. 
Werner,  Ii.,  Praktische  Anleitung  zur  unterriehtllchen  Behandlung  poetischer 
und  prosaischer  Lesestttcke.  Meist  in  vollständig  ausgeführten  Lektionen  bearbeitet. 
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SiMnfe  ^ur  (frteilung  eine«  fruerdbringenben 
Unterricht*  nebft  Angaben  ber  neueften  Lehr- 
mittel, bie  jur  ^räparation  auf  bie  Unter« 
ridit^ftunbcn,  refp.  mi  iltorbereitiing  für  bit 
H.  Prüfung  unb  für  baa  ^telidmllehrer* 
(ganten  uotroenbig  finb.  1  iJi. 


Hrrlnni  von  L  Srijiuniin,  önffflbotl 


j       Soeben  ift  erfebtenen: 

(itefunMjettölelpe 

für  Sdjufen. 

Ceitfaben  für  orn  tlntrr  rieht  über  8a  u,  t'::. 
'    und  Äcfunibrit  brs  mtnfdjlidjtn  fiorprrs. 

92 e b ft  einem  änbang 

über  Hie  erfte  intre  bti  plötjlidjrti 
UnnlncfdföOfn. 

S*on       ^.Crtuüc.  £enünarleljrer. 

«Mit  44  «bbilbungen. 

t*vciö  9».  l.so. 

$er  ©erfaffer  bat  au«  ben  ®eMtlre 
ber  Anatomie,  ^bnfiologie  unb  ®e>nnt 
beitölebre  beS  3)ienfcben  ba«  an*getpfll)l:, 
rj.iv  er  in  feiner  mehrjährigen  Iftatigteu 
als  Jumlehrer  unb  Sehrer  ber  öefuni- 
beitspflege  als  befonber*  für  bi»  2Auk 
geeignet  erfannt  hat.  Hin  bef oberer  Ütor- 
$ug  be*  ^ücbleine  liegt  barin,  bafc  e*  nidji 
in  ben  fehler  ähnlicher  fieitfäöen  Mp 
bie  Vlnntonue  auf  Soften  ber  ungleich  tm4< 
tigeren  &e\ unbbeits leb,re  ju  auSfübrti* 
ju  bebanbcln.  «ueb  in  jeher  anberen 
Mebung  wirb  baS  v#üd)letn  bor  ollem  ben 
©ebürfniffen  ber  Unterrid)t*prarj*  gerecht, 
weshalb  es  fich  befonber«  an  Semittari» 
unb  anberen  höheren  Se^ranftalten,  fewte 
al-y  fiettfaben  in  ber  $anb  be*  söoll^fAul- 
leijrerä  rafcb  einbürgern  wirb. 

3u  fcesietiett  dura)  afle  Ouafean) 
ItiiKicti,  famte  midi  uon  Der  Ccrlano- 
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