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Full text of "Eudämonismus und egoismus; eine ehrenrettung des wohlprinzips .."

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EUDAMONISMUS 
UND EGOISMUS: 

EINE 
EHRENRETTUNG 

DES... 



Edmund Pfleiderer 




lÖavbarli College i^ibrarg 

FROM THE BEqpEST OK 

JAMES WALKER, D.D., LL.D., , 

(€!«•• of 181«), I 

FORMER PRESIDENT OK HARVARD COLLEGE; 

I 

** Preference being given to works in thc 
Intellectiml and Moral Sciences." 

// .In'. /<i<fO. ' 

I 



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EUDÄMONISMUS 



UND 



EGOISMUS, 



eine Ebrenrettuug des Wohlprinzips. 



Von 

Edmund f fleiderer 

in Tübingen. 



Aus den Jaiirbüchern für protestantische Theologie. 




0 Leipzig 

Verlag von Johann Ambrosius Barth. 

1880. 



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DnMic Toii Hetiirer t Wlfttlf In Mpslff. 



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Inhaltsübersicht. 



Artikel I. 

Seite 

Einleituiip^. 

Die übliche Ainphiholie in dem Bcgiiff des „Eudämonismus" 
ausser bei Kant — Aufgabe seiner Klarsteiluns und Ehren - 
rettunp: als des inaterialcn Woblprin/ips auch gcpMi Kaut. 1 
Systematische Orientiruug. 

1. Das Wolloii als Wohl-Wolhm; Relation des Werthhe^ffs 
und der Lustempfindini^. — Konsequenz für das Wohl - 
streben als ctliisehes Prinzip 7 

2. Die Stiifenreihe der Lebensp;enussweisen nach der Differenz 
der Objekte. — Ihre etliis» ho Gesammtvemerfunf;. — Die 
Diff'creii/ hinsichtlich dt;r Subjekte; egoistisches und selbst - 
loses Wohlsiichcn Ifi 

3. Uebereinstimmung mit Kant in der Verwerfung des Egois - 
mus, Abweichung bei ilem i>clb:?tlüscii Wolilwollen ... 25 

Artikel II. 

Prüfung der Kant'sehen Bedenken. 

1. Die kritiseh-tbriiialen Einwände: Die grundwahre Apriori- 
tät des ethischen Kerns wird durch das Wohlprinzip nicht 
alterirt 2a 

2. Die materialen oder psycholot^iach-nietaphysisclien Einwürfe : 

a) Der Empfinduiigscharakter des selbstlosen Wohlwollens 
oder der Liehe iaf. mit ihrer Anbc fehlbarkeit als Pflicht 

gut vereinbar 42 

b) Die Liebe im falschen Verdacht des feinen Egoismus. 
— Abarten und Vorstufen derselben. — Vertlieidigung 
der reinen (fCstalt 



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— IV — 



Artikel m. 

Seit« 

Reendipiiiig der kritischen Anseinandcrsctzunp^ mit Kant. 

1. Scheinbar schliessliche Ucbcreinstiminiuij; mit ihm; die 
Liebe dea Wohlgefallens und diejenige des Wohlwollens. 

— Uubranchbarkcit auch der letzteren in seiner Fassung. 

— Solipsistiac-her Zug der Geistesanschauuug jener Zeit als 
letzter Grund seiner Abneigung gegen das Prinzip der Liebe. 62 

2. Kritische Otlensivc: Nachweis von druhcndem feinem Egois- 

mua gerade bei Kants formalen Prinzipien 69 

SyetematiBche Hebung von Nebenbedenken gegen das W^ohlprinzip. 

L Die Verwechselung mit dem Hedonisnius; — Arbeit an 
fremder ethischer Vollkommenheit als Hauptaufgabe. — Be - 
herrschung auch des Selbstvervollkommnungsstrebens vom 
selhatloat^ii Wohlwollnii für Andere .» 83 

2. Der Kampf gegen das Böse und das Strafrecht; Verglei- 
chung unserer Anschauung mit dem modernen Humanitäts- 
begriff. — Das Wohlprinzip und die Wissenschaft — Noch- 
msJs der moralische Emst der Pflicht oder der sittlichen 
Disciplin, und die Liebe 91 

KphlllHH. 

Nebenbeweis für das Wohlprinzip aus der Sprache. — Hoher 
Werth des eudainonistischen Grundgedankens für das 
dringende Zeitbcdfirfniss einer dem Leben näheren Ethik. 

— Seine Tauglichkeit zur Kombination der Kantischen und 
Schleiermacherschen Lcishmgen in der philosophischen 
Mni-ftl 101 



wir Yon der Bedeutung ausgehen, welche das 
Wort Mmfionfi» seit seinem häufigeren Vorkommen im 

griechischen 8prachgebraiich ständig besitzt, so besagt es 
nichts Anderes, als Glückseligkeit oder Wohlbefinden. 
Eine Beschränkung auf diese oder jene Sphäre des em- 
pfindenden Lebens liegt nicht darin; wo keine niüiere Be- 
stimmung beigefügt ist, wird vielmehr in ganz unpar- 
teiischer Weise das höhere und niedere Wohl sugleich, 
oder das gHicUiche GFesammtbefinden gefühlsfähiger Wesen 
Ton dem Einen Namen nmfasst Demgemäss bedeutet 
nun auch Eudämonismus dem Worte nach zunächst 
lediglich nur so viel: Man legt als Anhänger desselben 
in seiner Lebenspraxis oder namentlich in der entsprechen- 
den ethischen Theorie und Schule , auf was die Endsilbe 
— ismus hinweist, den Haaptaccent auf die Glückseligkeit 
oder mehr im Einzelnen auf die Gefuhlsbefriedigung und 
Wohlempfindnng, welche bei dem Einen und anderen Yer- 
balten herauskommt oder wenigstens intendirt ist; denn es 
▼ersteht sich für jede ethische Richtung, dass schon der 
emstliche Wille vollgerechnet wird, und nicht der faktische 
Erfolg allein zählt. Dies vorausgesetzt wird hier stets in 
letzter Instanz gefragt, ob von dieser und jener Sache 



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— 2 — 



oder Gesmnung und Handlung eventuell auch etwas im 
Beflex der Empfindung mit ihrem Wohl- und WehegefOhl 

zu gemessen sei. Erst eine derartige Ab- und Ausprä- 
gung — beziehungsweise ihre Tendenz — betrachtet man 
auf diesem »Standpunkt als ein Definitivum, während alles 
Andere immer nur als vorbereitendes Mittel und formale 
Zurüstung zur materialen Hauptsache gilt. Damit soll 
wiederum keineswegs eine Beschränkung etwa auf die nie- 
deren Gebiete der körperlichen Empfindungen ausge- 
sprochen, sondern sämmtliches Gef&hl von Lust und Un- 
lust miteingeschlossen werden. Aber als punctum saliens 
und hnale alles Geschehens und Thuns ist und bleibt 
mit dem positiven Gesammtausdruck die ,,Glückseligkeit^' 
betont. 

fürs zweite ist es jedoch sattsam bekannt, dass Eu- 
dämonismus und Eudämonist in der neueren ethischen 
Terminologie allgemein als * Tadelworte gebrancht wer- 
den und dass damit eine sittUohe Anschauungsweise oder 
eine Praxis, auf welche man sie anwendet» zum Mindesten 
als schlaff und schwunglos niedrig bezeichnet werden sollen. 
In der That ist „eudämonistisch" das allerhäufigste Verdikt, 
in welchem die Kritik ethischer Systeme und einzelner 
Lehren ihre Missbilligung auszudrücken und eine defini- 
tive Yerurtheilung derselben zu proklamiren pflegt. 

Nehmen wir jetzt Beides zusammen, was suent über 
die klare Wortbedeutung und sodann über den schon lange 
geltenden Kurswerth des Terminus Eudämonisnms gesagt 
worden ist! Bs scheint sich daraus nichts Anderes «u er- 
geben, als dass die neuere Moralwissenschaft eine abge- 
sagte Feindin des ganzen Standpunkts sei, welcher nur 
im schli esslichen Wohlbefinden und Glücklichsein emptin- 
dungslahiger Wesen das endgültig Befriedigende sieht und 
ein letztes Ziel erreicht wissen will, mit Bücksicht auf 
was alles Andere bemessen und taxirt wird. Statt dessen 
-werden also jene Tadler des Eudämonismus wahrschein- 
lich irgendweldie Gestaltungen und Verhältnisse als solche 
betonen, von dem, was dabei material herauskommt oder 



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was irgend Jemand davon Gutes hat, völlig absehen 
und auf selbige if'ormalien das Hauptgewicht legen. 

Genau und vollständig triöt diess auf den grössten 
unter den neueren philosophischen Ethikern zu : ich meine 
natOrlidi Kant. Schon eine oberfl&chliohe Bekanntschaffe 
mit seiner Mond genfigty in ihm den geschworenen Feind 
des yyEudBmonismus oder der Glückseligkeitslelire'' zu fin- 
den. Er sieht darin das Hanptrerderbniss der EtMikund 
bietet desshalb Allem auf, um jene Anschauungs- und 
Sinnesweise in jeder denkbaren Gestalt als geschlossenes 
System oder bei einzelnen Aeusserungen zu überwinden, 
sie aus allen Winkeln und £Jcken zu vertreiben und ihr 
keinerlei Yorwand mehr zu lassen. „Die Unterscheidung 
der GHAckseiigkeitslehre Ton der Sittenlehre , in deren 
ersterer empiriBohe Principien das ganze Fundament^ von 
der zweiten aber auch nicht den mindesten Beisatz der- 
selben ausmachen/ ist nun in der Analytik der reinen 
praktischen Vernunft die erste und wichtigste ihr oblie- 
gende Beschättigung, in der sie so pünktlich, ja wenn es 
auch hiesse peinlich, verfahren muss, als je der Geometer 
in seinem Geschäft^^ (Kant's Werke ed. Hartenstein lY, 
206). Oder ein anderes Mal lesen wir: ,yWenn dieser 
Unterschied nicht beachtet wird, wenn Eud&monie (das 
Glüdneligkeitsprinzip) statt der Eleutheronomie (des 
Fretheitsprincips der inneren Gesetzgebung) zum Grund- 
satz aufgestellt wird, seist die Folge davon Euthanasie 
der sanfte Tod) aller Moral« Y, 201. Das Richtige ist 
nach ihm lediglich eine Erfüllung der Pflicht rein um der 
Pflicht willen. Ob dabei für irgend Jemand das Geringste 
herauskommt oder nichts ob die Welt durch die Yoll- 
Ziehung des Guten glücklich oder onglücklioh wird, darum 
handelt es siish sohleehterdings nicht; ein jedes solche 
Schielen nach dem Erfolg wftre bereits die sddimmste 
Verunreinigung der wahrhaften Sittlichkeit und nmss dess- 
halb gänzlich fernegehalten werden. 

Nun ist es freilich ebenso notorisch, dass Kant mit 
dieser Ansicht so ziemlich von jeher allein steht und 
zumal in unserer Zeit kaum mehr ein Yerständniss, ge- 



schweige denn ernstliche Anerkennung dafür findet. IVfan 
wirft ihm einen abstrakten und lebensfremden Rigorismus 
vor, beschuldigt seine Theorie der kalten Herzlosigkeit 
und erklärt einen derartigen durchgeführten ITormalismiis 
des Praktischen für etwas schlechterdings Unbrauchhares, 
das sich wohl eine Weile stattlich und erhaben ansn^men 
möge, aber beim Lichte besehen dennoch an einer nner- 
trftglichen inneren Hohlheit und Leerheit leide. 

Daneben fthrt man indessen nichtsdestoweniger fort 
den Namen „Eudämonisraus" kaum weniger wie Kant 
selbst als geringschätzendes Tadelwort zu gebrauchen. 
Was bei ihm, ob nun sachlich richtig oder unrichtig, 
jedenfalls ganz konsequent und aus Einem resoluten Q-nsse 
ist^ das präsentirt sich somit wenigstens beim ersten Anr 
blick in allen aosserkantischen Kreisen als eine seltsame 
Unklarheit» Sind dieselben doch in Sinem Athem die ent- 
schiedeilen Gegner des Kant^schen Formalismus und Anti- 
Endämonismus einerseits ^ und des Eudämonismus oder 
materialen Wohlprinzips andererseits. Wenn ihnen Keines 
Ton Beiden recht ist, was wollen sie denn dann, oder 
worin sehen sie das logisch kaum mögliche Dritte, welches 
weder formal noch material wäre? Hier liegt zun Min- 
desten eine grosse üngenaoigkeit der Bedeweise und Ter«' 
minologie vor. Worte aber und Begriffe oder Gedanken 
stehen in naher Wechselwirkimg; also darf man annohaietty 
dass anch in den letzteren eine siemliehe XJnUarheit nnd 
Konfusion mitunterläuft, oder dass wenigstens durch die 
verunglückte Ausdruckslbrm eine sachliche Klärung auf- 
gehalten und erschwert wird. 

Was sich nun vor allem Weiteren nach den Lehren 
der angewandten Logik vermuthen lässt, ist diess: Sicher^ 
lieh steckt in dem fraglichen Terminus y^ndfimonismns^ 
eine bedenkliche Amphibolie, indem derselbe nnnÖgUch 
im gleichen Sinn verwoirfen und nicht verworfen irerden 
kann. Sehr unwahrscheinlich ist es, dass es sidi dabei 
nur etwa um graduelle Unterschiede handle, wobei ein 
niederer (xrad desselben Billigung fände, während der 
höhere vom Tadel getroffen würde. Vielmehr wird die 



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— 5 



Differenz specifischer angesetzt werden müssen. Abge- 
sehen von Kant wird man wohl das Glückseligkeitsprincip 
des Eudämonismus im Allgemeinen, wie er sich in der 
vorangestellten Wortbedeutung prasentirte, für ganz rich- 
tig and ethisch brauchbar, ja sogar für nothwendig erach- 
ten , um in kein leeres Formenwesen hineinzngerathen. 
Nur unter gewissen nSheren ümst&nden dagegen oder un- 
ter einer bestimmten Bedingung wird er dem Tadel yer- 
fallen. Aber diese Zusatzbedingung wird gerade für den 
Tadel die Hauptsache sein und keineswegs nur einen 
nebensächlichen Gredanken , sondern just das punctum 
Sailens bilden. Mit anderen Worten wird das genus am 
Begriff des Eudämonismus völlig tadellos und verbunden mit 
der richtigen differentia specifica sogar höchst werthvoll 
sein, während nur diejenige differentia sp.edfica der Verwer- 
fung unterliegt, welche man usuell dazu denkt, ohne sie 
mitauszudrücken. Man wird also mit dem Worte ,,Eudä- 
monismus," wenn man es immer tadelnd braucht, etwas 
ganz Anderes meinen, als dasselbe von sich aus besagt. 
Und dies ist bei einer etliisclien Kardinalirage nicht 
eben so völlig unerheblicli. Vielmehr dürfte es sich in An- 
betracht des reichen Wortvorraths aller Sprachen ziemen, 
nach erreichter Gedankenklarheit auch das Kind fortan 
beim rechten Namen zu nennen und oicht in genauer 
sprachlicher Anlehnung, aber starker sachlicher Abweich- 
ung Ton Ejint ein traditionelles Quid pro quo fortzuführen, 
das zwar zunächst nur philologisch ist, aber wie gesagt 
nicht ohne Eintiuss auch aufs Logische und Begriffliche 
bleiben kann. Durch die jetzige Zusammenkoppelung des 
Tadellosen und des Tadelswürdigen in einem Terminus, 
welcher jenes nennt und dieses meint, wird nothwendig 
ob auch ohne Absicht das Erstere unschuldig diskreditirt 
und das Letztere unverdient entlastet, also eine schwere 
ethische Begriffsverwirrung unterhalten, deren auch ich 
mich bisher schuldig bekenne. 

Anders wird die Sache bei Kant selbst liegen, welcher 
sogar wo er irrte, sich jedenfalls durch Klarheit und 
Ganzheit seiner Ueberzeugung auszeichnet. Indem er 



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Jonen rigorosen Formalismus für das allein Richtige er- 
klärt, will er nichts wissen von der obigen Unterschei- 
dung zwischen einem generellen Sinn des Eudämonismus, 
welcher unter sonst allgemeiner Zustimmung eben nur 
überhaupt ein Materiales verlangt, und jener differentia 
specificay mit welcher nach gewöhnlicher Ansicht erst der 
Tadel beginnt Oder wird er vielmehr zwar die Unter- 
scheidung als solche logisch zugestehen, aber ethisch 
keinen weiteren Werth auf sie legen, indem er behauptet, 
dass jenes genus allezeit und eo ipso mit der bedenk- 
lichen diti'erentia specifica verbunden sei und keine an- 
dere von unbedenklicher oder werthvoller Art zulasse. 
L)as materiale Princip der „Glückseligkeit oder Eudämonie" 
ak solches scheint ihm nach vorübergehender logischer 
Unterscheidung schliesslich doch im sittlichen Thatbestand 
mit demjenigen rettungslos zusammenzufallen, was er selbst 
mit grösster Energie ausdrücklich belälmpft und was 
auch Andere bei dem tadelnden Grebrauch des Wortes 
Eudämunismus subintelligirend meinen. 

Auf Grund dieser Vorbemerkungen dürfte es denn 
doch nicht, wie wohl Manche glauben, eine leere Spitzfin- 
digkeit oder Wortklauberei sein, wenn wir uns an eine 
sichtende Klärung des verfehmten Terminus und Begriffs 
„fiud&monismustf wagen. In der ächten Philosophie über- 
haupt, welche ich allerdings von der gegenwärtig land- 
läufigen sehr unterscheide, und speciell in ethischen Un- 
tersuchungen kann man mit Worten und Begriffen nicht 
streng und genau genug verfahren, wie der alte Kant mit 
so grossem Rechte immerwährend betont. Ihre Schwierig- 
keit und unvermeidliche Subtilität für Haarspalterei oder 
gar für windigen Schwindel und Begrifisspielerei auszu- 
geben, bewiese nur laienhafte Unkenntniss des ganzen 
Gegenstands, und kann somit vor Sachverständigen nicht 
das Mindeste besagen. 

Es handelt sich uns also zunächst darum, die' tradi- 
tionelle Amphibolie in dem fraglichen Begriff des „Eudä- 
monismus" scharf Ijloszulegen und das Harmlose, eventuell 
sogar Werthvolle desselben von dem tadelnden Neben- 



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— 7 — 

respektive Hauptbegrifi' kritisch zu sondern, welcher sich 
ihm 80 liartnäckig an die Fersen hängt. Wenn dies mei* 
stens eine unbewusste oder wenigstens eine recht un- 
klare Verwechselung ist, gegen die wir sachlichsyste- 
matisch Idbnpfen, so wird sich damit fürs Andere in mehr 
historischer Kritik gegenüber Ton dem grossen Ethiker 
Kant der Nachweis verbinden, dass seine bewusste und 
absichtliche Gleichsetzung der beiden in Rede ste- 
henden Momente unhaltbar ist. Diese negativ -kritische 
Untersuchung wird |von selbst in das Positive verlaufen, 
dass sie unter Abweisung des mit Recht getadelten, aber 
keineswegs unvermeidlichen Kebenbegriffs die ethisch rich- 
tige nähere Bestimmung des eudSmonistischen Frincips 
aid&eigt und dadurch den Tollbefriedigenden Herzpunkt 
der Moral gewinnt 

Sollte uns dies gelingen, so würden wir glauben, zur 
Lösung einer ethischen Lebens- und Principienfrage keinen 
ganz werthlosen Beitrag geliefert zu haben, um später 
auf dieser Basis an die sehr zeitgemässe Leistung einer 
ausgeführten philosophischen Ethik für unsere Tage und 
Bedürfnisse zu gehen. 



Um Klarheit zu gewinnen, müssen wir uns in Kürze 
dem schwierigen Gbrundbegriff des praktiBchen Lebens zu- 
wenden. Auch Kant betont ihn stets mit Bedit als den 

Brennpunkt der ethischen Betrachtung und einer jeden 
sittlichen Taxation, indem er denselben durch eine Fülle 
der feinsten und schärfsten Bemerkungen werthvoll er- 
läutert, selbst wenn man schliesslich von ihm abweichen 
muss. Was ist nämlich das Wesen alles Wollens, wo 
wir es anders vollständig aufEleiBsen? Natürlich kann es 
sich weder hier noch sonst um eine förmliche Definition 
des Willens handeln. Denn dies ist im streng logischen 
Sinn bei derartigen XJrthatsachen überhaupt unthunlich, 
welche sich schliesslich blos erleben lassen und damit in 
unmittelbarer Gewissheit besessen werden. Bei ihnen 



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8 — 



bleibt nur die Möglichkeit übrig, sie gegen andere coor- 
dinirte Momente abzugrenzen, in reinlicber Sonderung zu 
beschreiben und namentlich gewisse Ii ervorstechende Seiten 
oder Eigenthümlichkeiten an ihnen zu markiren. Ver- 
suchen wir nun Letzteres in unserem Fall und alsbald mit 
Bilcksicht auf den vorliegenden Zweck zu thun. 

Unverkennbar gehört zu allem Wollen seiner Natur 
nacb fürs erste im allgemein logischen Sinn dieses 
Worts ein Objekt, auf das es sich in jener eigenartigen 
Spannung des Geistes bezieht, welche wir eben Wollen 
heissen und von Haus aus kennen. Und zwar ist diese 
Beziehung analog der Anziehung und Abstossung in der 
materiellen Welt entweder eine positive, praktisch bejahende» 
oder eine negative, welche sich gegen dieses oder jenes 
Objekt praktisch verneinend richtet £s versteht sich, 
dass die letztere mit der Nichtbeziehung oder dem völli- 
gen Ruhen der Willensaktion keineswegs identisch ist. 
Dagegen ist eine Speeles von ihr die willensmftssige Un- 
terlassung des Wollens oder das absichtliche A'ichtwollen. 
Bei diesem fällt naturgemäss das fortsetzende Heraustreten 
als That weg, und der Prozess l)leibt im Innern beschlos- 
sen. Sonst aber ist es gleichfalls ein ganz richtiger und 
in sich kompleter Wille, wenn auch ein negativer oder 
sich selbst konträrer. Ich möchte diess gelegentlich ge- 
genüber von Schopenhauer's Ungenanigkeit und Amphi- 
bolie in seinem Begriff des schliesslich erlösenden Nicht- 
Wollens bemerkt haben, wie es auch auf das juristische 
Problem des Unterlassungsdelikts einige Anwendung 
findet. 

Wenn das Objekt des Willens bildlich ausgedrückt 
als Zielpunkt nach vorne liegt, so erfordert fürs Zweite 
jedes nennenswerthe Wollen sozusagen nach rückwärts ein 
Motiv oder einen Beweggrund. Das, was ich wül, muss 
der Genauigkeit halber zunächst davon unterschieden 
werden, warum ich dasselbe wilL Im gewöhnlichen 
Sprachgebrauch pflegt man promiscue das Eine und das 
Andere den Zweck des Willens oder wenigstens des Han- 
delns zu nennen, ja sogar dem zuerstgenannten Zielpunkt 



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- 9 - 



die überwiegende Beaclitimg sclienken. Diess ist jedoch 
begriülich betrachtet nicht ganz korrekt. Denn offenbar 
ist der Beweggrund das. wichtigere Ton beiden Momenten, 
für welches man streng genommen den Namen „Zweck'^ 
allein resenrhren sollte, wfthrend der Zielpunkt oder das 
Objekt eigentlich blos den Bang eines dienenden Mittels 
hiefür hat Oder sollte man wenigstens die Unterschei- 
dung des objektiv-äusseren und des subjektiv-inneren, des 
entfernteren und des näheren Zweckes machen. Freilich 
kann es auch geschehen, dass Beide zusammenfallen. In 
dem „Was'*, das ich will, liegt dann zugleich das „Warum" 
meines Wollens, oder ich beziehe mich in diesem Fall 
auf ein Mittel, das zugleich der Zweck, also Selbst- 
zweck ist. 

Wenden wir uns nach diesen mehr formalen PriÜii- 
minarbemerkungen dem Materialen zu, so präsentiren sich 

alsbald Wohl und Wehe, oder nach dem korrekten Em- 
plindungsrefiex genauer ausgedrückt Lust und Unlust als 
dasjenige, um was sicli alles Wüllen seinem Wesen nach 
jederzeit dreht. Entsprechend den obigen Unterscheidun- 
gen kann Wohl das Objekt des Willens bilden, ob nun 
dasselbe direkt oder durch Wegschaffung yon Wehe her- 
gestellt wird; hiezu denken wir uns fürs Andere Wohl 
oder Lust auch als das Motiv des Willens, wobei wieder- 
um zunächst dahingestellt bleibt, ob diese beiden „Wohl'* 
zweierlei sind oder zusammenfallen. Nun kann es aber 
auch geschehen, dass Schaffung von Unlust und Wehe das 
Oiijekt des Willens bezeichnet. Wie "svird es sich in die- 
sem Falle mit dem Motiv verhalten? Können wir dasselbe 
gleichfalls in Unlust und Wehe erblicken? Granz einfach 
macht sich die Verneinung dieser Frage, wo z. B. eine 
schmerzhafte Operation oder sonst eine schmerzende Be- 
handlung um der physischen oder geistigen Besserung 
willen, also deutlich in wohlmeinender Absicht oder des 
Wohls halber ausgeführt wird. Schwieriger sind andere 
Fälle. Nehmen wir einen bösartigen Menschen, so thut 
er einem Andern wehe, um ihm welie zu tliun; also scheint 
hier Weheschaffung Selbstzweck und Motiv zu sein. Al- 



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— 10 — 



lein er thut es doch genau betrachtet nur, um sich selbst 
am freunden Schmerz zu weiden oder sich den Anblick 

fremden Wohlseins wegzuschaffen, welcher ihm selbst Neid 
erregt, also Schmerz macht; folglich ist auch hier eine ob 
auch noch so verwerfliche Lust das letzte Motiv des Wol- 
lens und Handelns. Oder es bringe sich Einer selbst um 
und thue sich damit das grösste natürliche „Loid'*' an, wie 
schon die Sprache den Selbstmord bezeichnet. Warum 
thut es der Mensch? Weil ihm das Leben entleidet ist^ 
weil ihn dieses oder jenes Weh überwältigt; also hätten 
wir wiederum scheinbar Weheschaffung mit dem Motiv 
von Wehe und Schmerz. Indessen ist aucli hier die An- 
nahme des Wehs als Beweggrund irrig; vielmehr muss 
in dicseni Fall zur Vermeidung aller Amphibolie das Wehe 
oder der Schmerz nur als treibende Ursache des Selbst- 
mords bezeichnet werden, während der treibende Zweck* 
das tiogentheil ist Der Unglückliche will Buhe haben; 
er will durch seine That dahin kommen, wo es ihm „wohl'< 
ist^ wie man von den Todten sagt; er will sich einer un- 
erträglichen Last entledigen, also Wehe wegschaffen. 

Und so finden wir, wie weit wir immer blicken, dass 
Wehe oder Unlust niemals als wahres Motiv vorkommt. 
Ja, es ist dies sogar auch abgesehen von der klar spre- 
chenden Erfahrung etwas innerlich ganz Undenkbares. 
Der positive, wie der negative Wille sind die eigentlich- 
sten Lebensäusserungen. Lust ist erhöhtes Lebensgefähl, 
wie Unlust ein relatires Todesgefühl. Nun kann der WiUe 
unmöglich in letzter Instanz so sehr von sich selbst ab- 
fiEdlen, dass er definitiv das reine G^gentheil seiner selbst 
oder des Lebens will. Ein solcher absoluter Nihilismus 
ist gleichermaassen ein praktischer Ungedanke, wie es das 
absolute Nichts theoretisch ist. Ein Wollen und Handeln 
mit dem endgültigen Zweck, Wehe und nur Wehe zum 
letzten Erfolg zu haben, wäre hiernach komplet verrückt 
oder satanisch, was . schliesslich auf Eins herauskommt; 
somit kann es für die Betrachtung des natürlichen und 
normalen menschlichen Willens gänzlich abgewiesen 
werden. 



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— 11 — 



Dabei mag in concreto die allergrösste Tänschung 

über dasjenige stattfinden, was denn wirklich Wohl und 
Wehe bringe; ebenso kann unter Umständen auch die 
stärkste Irrung über den richtigen Ort niitunterlauten, 
auf welchen das gesuchte Wohl zu dirigiren sei. Diess 
Alles besagt gegen die Hauptsache nichts, dass in abstracto 
und im Wesen des Willens, ob so oder anders, ob wahr 
oder falsch, ob für sich oder für Andere dennoch stets 
Wohl überhaupt erstrebt wird. Somit ergibt sich für die 
Hauptsache oder für das Motiv und den innersten Kern 
des Willens das E-esnltat, dass er geradezu mit Wohl- 
Wollen identisch ist. Und zwar hängt ihm diess so unab- 
trennbar oder substantiell an, dass unter keinen Umstän- 
den davon mehr abstrahirt werden kann, als wäre es etwas 
nur Accidenzielles. Thäte man dies, so behielte man gar 
keinen wirklichen Willen übrig, sondern höchstens eine 
irrationale seelische Expansion ins Blaue hinaus. 

Dasselbe läset sich auch in etwas anderer Wendung 
zeigen, indem wir sozusagen den Standort der Betrach« 
tung draussen nehmen. Alles Wollen geht auf ein wirk- 
lich oder vermeintlich Werthvolles. Was heisst nun 
,,Werth"? Offenbar ist diess durch und durch ein Rela- 
tionsbegriff. Nehmen wir einmal das einfache Sein, was 
es auch enthalten möge, und fassen es rein für sich oder 
ausser aller und jeder Kelation. Ist es in diesem Fall 
nieht yollkommen gleichgültig, ob etwas Derartiges ist 
oder nicht ist; muss nicht mit anderen Worten ein solches 
schlechthin relationsloses Sein als das ydUig Werthlose 
bezeichnet werden? Werth und Bedeutung beginnt es erst 
durch die fundamentale Relation des Gewusstwerdens zu 
erhalten, indem es also für ein irgendwie auffassendes Sub- 
jekt da ist. Letzteres kann gegenüber dem fragliehen 
Objekt ein getrenntes Dasein haben, oder auch nur als 
Selbstempfindungsvermögen eine andere Seite an dem Gre- 
genstand der Werthbestimmung selber bilden, der alsdann 
ohjectiT-subjectiv zugleich zu denken wäre. Ebenso kann 
der theoretische Reflex Yom dumpfesten Auflassen bis zur 
hellsten Erkenntniss yarüren, wenn nur überhaupt irgend 



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- 12 — 



eine theoretische Beflexion oder Relation stattfindet. In- 
sofern ist das Tulgäre Sprüchwort ganz treffend: „Was 

icli nicht weiss, das macht mir nicht heiss." Wir dürfen 
blus dieses ,.ich", sowie das „Nichtwissen" im strengsten 
und umfassendsten Sinne nehmen und den Fall setzen, dass 
in alle Ewigkeit weder direkt noch indirekt irgend ein 
. Wissen die geringste Kunde Yon jenem Etwas erhalte; 
alsdann ist es voUkonunen einleuchtend, dass alle und 
jede Bedeutung desselben hinflillig wird. 

Allein auch das Bisherige genügt noch nicht. Erlau- 
ben wir uns für einen Augenblick die Hypothese, dass die 
zuerst erwogene Bewusstseinsrolation eine absolut kalte 
und lediglich theoretische wiire oder eine blos wissende 
Spiegelung ergäbe, wodurch das einfach Seiende nur eben 
noch einmal als Keflez dastünde. Schopenhauer braucht 
gelegentlich für diese leid- und freudlose pure Theorie das 
hübsche Bild der geflügelten Engelsköpfe in der christlichen 
Kunst. Hätten wir nun durch eine derartige wissende 
Belation schon den Begriff eines Werths erreicht? Schein- 
bar wohl, sofern wir Ton Anfang an gewohnt sind, alles 
unser Wissen thatsächlich nicht als jenes freud- und 
leidlose kalte Spiegeln zu üben und zu besitzen; sondern 
wir verbinden mit ihm unabtrennbar das Nebenmoment 
irgend eines warmen Reflexes in der niederen oder höhe- 
ren Empfindung. Also hängt der wahre Begriff des Werths 
deutlich an dem Letzteren. Die Empfindung oder besser 
das G-efi&hl als Beflex zweiten Grades ist erst der defini- 
tive Ort, wo überhaupt Werthe geprägt werden. Ausser- 
halb desselben gibt es gar nichts Derartiges; wir können 
uns darüber blos desshalb täuschen, weil wir immer wenig- 
stens stillschweigend ein irgendwie gcniessendes Subjekt 
hinzudenken, und wäre am Ende bloss Gott der alleinige 
Zuschauer, welcher empfindend von diesem oder jenem 
„Werthvollen" etwas hätte. 

Nun redet man aber doch so oft und mit so ernsten, 
also jedenfalls beachtenswerthen Worten von y^absoluf' 
Werthvollem oder vom „Werth -an -sich", den etwas 
habe, während wir den Werth von Anfang an als Bela- 



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— 13 — 



tionsbegriflF bestimmten. Die Schwierigkeit lässt sich 
tluich eine klare Unterscheidung lösen. Inuneihin mag 
es tSolclies gehen, was nicht erst als Mittel für andere 
Ohjekte Bedeutung besitzt, sondern unter den Objekten 
einen Selbstzweck darstellt. Ebenso kann Etwas nicht 
blos für diese und jene besondere Situation eines Sub- 
jekts oder fOr die Eine und Andere specifische Organi- 
sation der Subjekte Ton Einfluss sein, sondern schlechthin 
für aUe, in jeder Zeit nnd in jeder Lage seine Bedeutung 
haben. Derartiges würde auch ich werthvoll „an sich** 
nennen oder ihm „absoluten" Werth beilegen, sofern es 
denselben lostrelöst und unabhängig von allen zufälligen 
und wechselnden Helationen besitzt. Um Missverständ- 
nisse in diesen difl'izilen Fragen zu verhüten, bemerke ich 
ausdrücklich, dass ich zu den ablösbaren Relationen auch 
den BeMedigungsreflex in dem fremden Beurtheiler 
z. B. einer sittlichen Handlung rechne. Durdi eine solche 
Befriedigung zweiten Grads erhält dieselbe allerdings ihren 
Werth nicht, sondern sie hat ihn in sich, nnd er wird iron 
jenem Beurtheiler nur gefunden. Sie hat ihn aber trotz- 
dem nur in sich, wenn sie irgend Jemand zu gut kommt, 
resp. darauf ausgeht, das zu thun. Und diese letztere 
Helation darf ihr nicht benommen werden. Somit bleibt 
keinem einzigen „WerthvoUen" die Eine Generalrelation 
erspart, dass es überhaupt zu empfindenden Subjekten in 
Beziehung stehe und Ton ihnen, wie, wo und wann nun 
irgend genossen werde. Man streiche nur einmal ganz 
ausnahmslos alles Vermögen des Wissens und noch mehr 
des empfindenden Gefühls, man streiche es im Himmel 
und auf Erden. Alsdann mag die AVeit in aller Pracht 
und Herrlichkeit fortbestehen; ja sie sei sogar zehnmal 
schöner und besser, als sie wirklich ist. Was hat all der 
Pomp noch für einen Werth? Gar keinen I Es wäre als- 
dann TöUig ebensogut, wenn man auch sie vollends mit 
auslöschte; denn sie ist schlechterdings werth- und bedeu- 
tungslos geworden. „Mit dem ersten sehenden Auge, das 
sich aufschlug, stand die Welt da; mit dem letzten Auge, 
welches bricht, ist sie spurlos verschwunden.** In diesen 



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t 



— 14 — 



Sätzen Schopenhauers liegt etwas ToUkonunen Wahres, 
sobald man sie von ihrer subjektiv-idealistischen üeber- 

trcibimg reinigt und nicht auf die Welt des Seins, son- 
dern mit dem Einsatz des empfindenden Herzens auf die- 
jenige des Werths bezieht (cf. besonders die trefflichen 
Ausführungen Lotzens im „Mikrokosmus", an dessen 
ethische Grundgedanken sich unsere Darlegung am nä.ch- 
sten anschliesst). 

Die beiden bisherigen Erwägungen des Wollens und 
des Werthbegrifis fahren zum gleichen Resultat: Wohl 
und Wehe sind überall das wahrhaft letzte r^Xogy über 
welches es ebenso unmöglich, als unnöthig ist, mit einem 
teleologischen Warum noch hinan s/u fragen. Um ein ganz 
vulgäres und ethisch noch indifiercntes Beispiel zu brau- 
chen, so interpellire ich etwa einen Menschen mit den 
Worten: Warum thust du das? Er antwortet mir: Um 
gesund zu bleiben. Warum willst du gesund bleiben? 
Weil das angenehmer ist Warum willst du das Ange- 
nehmere? Seltsame Frage, die keiner Antwort mehr ge- 
würdigt wirdi Hier findet also ein selbstverständliches 
und vollbefriedigendes Haltmachen statt, während vor die- 
sem Endpunkt immer noch die Schlussfrage des cui bono? 
restirt oder der Satz vom zureichenden Grund im Prak- 
tischen noch keine Befriedigung gefunden hat. 

Es scheint mir von dem Pessimismus insbesondere 
bei Hartmann vollkonunen richtig, dass auch er Lust und 
Leid f&r das einzige Definitivum in der Welt erklärt, über 
welches man nicht mehr hinausgehen könne. Alles An- 
dere sei im Grund genommen nur vorbereitende Veran- 
staltung und Mittel für den höhern Zweck, während erst 
jene Momente das Subjekt im Innersten packen. Wenn 
man dem Pessimismus desswegen verweriiichen Eudämo- 
nismus Schuld zu geben pÜegt^ so ist dies genau das Miss- 
verständniss, gegen welches unsere ganze vorliegende 
Untersuchung k&mpfL Ein besserer Einwand gegen ihn 
wäre freilich der, mit welchem Becht er denn Lust und 
Unlust in das unbewusste^ also nichtfühlende Absolute 
selbst hineinfallen lasse. 



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— 15 — 



Yermeiden wir indessen an diesem Ort eine derartige 

kritische Abschweifung und sehen lieber zu, was wir durch 
die bisherigen Erwägungen zur Lösung unserer eigenen 
Aufgabe gewonnen haben. Im Grund genommen liegt 
bereits die prinzipielle Entscheidung in unseren Händen. 
Alles Wollen als vernünftige Zweckthätigkeit oder jedes 
auf einen Werth gerichtete Streben und Handeln ist 
seiner unabtrennbaren Natur nach Wohlsuchen oder Glück- 
streben, somit eudämonistisch im ursprünglichen und gene- 
rellen Sinn dieses Worts. Also stehen wir nun Tor einem 
eigenthümlichen Dilemma und wollen zunächst dessen 
erstes Glied vornehmen: Wenn der Eudämonismus als 
Wohlprincip überhaupt verwerflich ist, so \vird alles Wol- 
len und zweckmässige Streben als solches durch diese 
Verdammung mitgetroffen, und die Konsequenz des ex- 
tremsten ascetischen Quietismus ist unabweisbar. Eine 
gänzliche Unterlassung des Wollens oder mit dem be- 
kannten Terminus „die Verneinung des Willens zum 
Leben" schiene alsdann das einzig Richtige. Wir sttlnden 
mitten im Pessimismus Schopenhauers, obwohl derselbe 
sein Verwerfungsurtheil weniger ethisch, als theoretisch 
fasst und alles Wollen in erster Linie für unvernünftig 
erklärt, sofern es gar kein wahres Wohl in der Welt gebe. 
Dürfen wir penibel sein, so lauert freilich der Eudämo- 
nismus als schlechthin unentrinnbarer Geist selbst hier im 
Hintergrund: Auch jenes iNichtwollen w&re natürlich 
WiUensthat, wie ich bereits betonte. Warum aber wird 
sie geübt? Um Buhe als das höchste Gut und einzige 
Glück zu finden, und wäre es auch nur im Nichts des 
ächten Nirwana. 

Eine derartige Folgerung des Quietismus wird nun 
aber schwerlich auf allgemeinen Beifall rechnen dürfen. 
Ohne also für diesmal näher auf ihre Widerlegung ein- 
zugehen, können wir sie als beseitigt betrachten und uns 
der zweiten Seite obigen Dilemma's zuwenden: Wer nicht 
Wollen und Zweckthätigkeit überhaupt yerwirft, der muss 
zugeben, dass auch der Eudämonismus an sich unyerwerf- 
lich ist und dass in seiner üblichen Gesammtyerurtheilung 



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— 16 — 



jedenüsillB ein schweres I^sversl&idmss vorliegt. Zum Min- 
desten muss ein selir erheblicher Unterschied zwischen Endft- 

monismus und Eudämonismus bestehen, welcher eben die 
prinzipielle Differenz von gutem und bösem Willen ergibt. ' 

Wenn jener die Signatur alles Wollens bildet, gleich- 
wie der Schatten den Körper begleitet, so fragt es sich 
jetzt, welche Differenz in ihm selbst den kardinalen Ge- | 
gensatz des Guten und Bösen konstituire. Am nächsten | 
Hegt der Gedanke an einen Unterschied der Objekte, 
auf welche sich der werthsuchende Wille richtet, indem 
dieselben am Ende unter sich eine Stufen- und Bangord- 
nung von werthvolleren oder gemeineren Genussmitteln 
bilden. Jenacbdem das Wollen auf niedere oder höhere, 
gröbere oder feinere und edlere Lust geht, scheint ihm 
das Eine oder andere ethische Prädikat zuzukommen. 
Sehen wir einmal zu! 

Wenig Mühe macht für die Taxation natürlidi das 
Dahinleben in niederer Sinnenlust, jener „ß^og dnoXavm- 
ic6g% welchen Aristoteles mit Becht als thierisch bezeich- 
net und selbstverständlich für den Menschen verwirft. Wer 
keinen höheren Zweck des Daseins kennt und keine bessere ! 
Erfüllung des Lebens sucht, als Essen, Trinlvcn und dergl., 
über den steht das aligemeine ethische Urtheil so- 
gleich fest. 

Wir wollen desshalb um Eine oder um ein paar Stu- 
fen höher steigen und den Menschen da betrachten, wo 
er sich wirklich als Mensch im Unterschied Tom Thier | 
erfasst Jetzt kommen auch die höheren Seiten zum Aus- 
druck, welche ihm specifisch angehören. Die Sinnlichkeit j 
der ersten Stufe tritt nur noch kultivirt und wolildiscipli- ' ! 
nirt auf, ja sie wird sogar bloss die nebensächliche Be- 
gleitung übergeordneter geistiger Genüsse bilden. Kunst 
und Wissenschaft, abwechselnd mit feiner Geselligkeit und 
verschönert durch sie werden als des Lebens wahrer Zweck 
betrachtet, welches sich damit in sdiöner Harmonie zum 
Vollgenuss des ächten Menschseins abrundet Etwas Der- 
artiges mochte z. B. die Ethik des Aristoteles als das | 
menschlich Gute im Auge haben, üebrigens ist auch 



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— 17 — 



Epikur nicht eben sehr weit von der gleichen Ansicht 
entfernt; wenn man ihn anders gerecht beurtheilt. Kön- 
nen wir ihnen beistimmen und hierin wirklich das wahr- 
haft Gkite erblicken? "Wir sind zwar eben in dieser Unter- 
suchung von dem Vorurtheil ganz firei, welches sich als 
schlimmer Beigeschmack an den Namen des ^^pikuräis- 
mus^ zu heften pflegt Trotzdem müssen auch wir jene 
Frage mit Nein beantworten. Streng ethisch beurtheilt 
ist nichts damit geholfen, wenn ein Leben des Groben 
sich enthält und dafür nur feine und feinste Genüsse zu 
seinem Inhalt hat. Es mag dies sogar mit gehaltenem 
Maass und nicht etwa in jener ruhelosen Hast lietrieben 
werden, welche sich yon Einem ins Andere stürzt; den- 
noch ist auch ein solches Dasein yerfehlt, wenn der Mensch 
darin aufgeht und nichts Höheres weiss. Die lUshte und 
besonders die von Kant geschulte Ethik Utost sich selbst 
yon der höchsten Oivilisirung und Kultur nicht dergestalt 
imponiren, dass sie schon hier ihr Billigungsurtheil ab- 
gäbe. "Wollten wir es recht drastisch ausdrücken, so wäre 
jene geschilderte zweite Lebensanschauung und Lebens- 
führung vielmehr immer noch die Unsittlichkeit, ob auch 
jetzt in Frack, Ballkleid und Glace's. Es ist indessen 
kaum nöthig, dass darüber ein fremdes Urtheil ergeht; 
genügt es doch an dem tiefen und unTerkennbaren Selbst- 
urtheil, welches diese weitverbreitete Klasse von Menschen 
über den Werth ihres eigenen Lebens abgiebt. Niemand 
stellt ein so zahlreiches Kontingent wie sie zu den prakti- 
schen Vertretern des Pessimismus, welcher von jeher auf 
der Höhe von „Geld und Geist" oder bei der Aristokratie 
der Welt weit mehr als in der Tiefe grassirt. Von den 
Theoretikern des Pessimismus, welche nicht nothwendig 
damit identisch sind, ist es meines Erachtens überaus 
wahr und dankenswerth, wenn sie eben dies unerbittlich 
ans Licht ziehen und dem falschen Bildungswahn wie ein 
scbarfgeschliffener Spiegel sein richtiges Antlitz zeigen. 
Man nehme alle theoretische oder ästhetische Vergeisti- 
gimg des Lebens zusammen, man sublimire und destillire 
diese Genüsse noch so sehr: ein in sich gesättigtes und 



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— 18 — 



befriedigtes Leben kommt erst recht mcht heraus. Denn 
mit der Höhe der Vergeistigung und Bildung steigt auch 
die Feinheit wenigstens des Gefühls, welches den grossen 
übrig bleibenden Manko tief empfindet. Und das ist eben 
das fehlende Ethische! Jedenfalls in Pausen hat eine 
derartige Existenz das ureigene Gefühl ihrer Nichtigkeit 
und Leerheit, ihrer Werthlosigkeit und Yerfehltheit; sie 
spricht sich selbst das XJrtheil und enthebt uns der Mühe, 
es Ton uns aus zu thun. 

Wir wollen desshalb noch eine Stufe höher steigen, 
um endlich das G-esuchte zu hnden. Bot es der Salün 
nicht, so wohnt es vielleicht im Kreise der prononcirten 
sogenannten „Frommen". Sie verwerfen alle weltliche 
Lustbarkeit und meiden sie in strenger Entsagung. Pünkt- 
lich und peinlich ist ihr Wandel nach der Vorschrift des 
Gewissens oder vielmehr ihrer Beligionsyorschriften ein- 
gerichtet Trösten sii» sich doch in alle dem mit der Aus- 
sicht auf den weit besseren Lohn im Himmel; irdischer 
Genuss wird gerne von ihnen dahingegeben, da sie ja da- 
für den reinsten und feinsten Genuss im Jenseits erwar- 
ten. Diess ist das Wohl, das sie suchen; und die Hölle 
droht als das Wehe, vor dem sie fliehen. Nur hier liegen 
ihnen reelle Werthe; alles Andere sind Nichtigkeiten für 
die bethörten Weltkinder. Ich brauche kaum zu bemerken, 
dass ich diese Anschauungsweise keineswegs mit der Fröm- 
migkeit als solcher identifizire. Wohl aber wird sie sich 
naturgemäss am ehesten in denjenigen Kreisen finden, 
welche sich Tomehmlich die frommen nennen. Nun ist 
es freilich nachgerade eine alte Kede, der ich kaum etwas 
beizufügen habe, dass nämlich eine solche Moral nichts 
Besseres sei, als unsittliche Lohnsucht. Das Gute wird 
gethan und das Böse unterlassen, nicht wie Plato in der 
Republik wiederholt so schön sagt, „ob es Götter und 
Menschen sehen oder nicht sehen.^ Vielmehr wird nur 
gehandelt wegen der Folgen, welche man im Jenseits 
erwarten oder zu gewärtigen hat (vgL die ethische Ericds 
Schillers in der „Resignation"). 

Ein antitheologischer Lnmanenzstandpunkt liebt es, 



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— 19 — 



Lau})tsäc]ilich gegen diese Zukunftshoffnung oft ganz ge- 
waltige Philii)i)iken ergehen zu hissen und vom hohen Ross 
herab eine solche „Trinkgeldsmoral", wie er höhnisch sagt, 
der Verachtung des weltlich gebildeten Publikums preis- 
zogeben. Nur .schade, dass er unter Umständen so ziem- 
lieh in derselben Verdammniss istl £in alter Mystiker 
sagt einmal, wer ein böses Gewissen habe, der trage die 
Hölle in sich selber, wie der Kranke den hohlen Zahn. 
Wir wollen nun nach Anleitung dieses Vergleichs für 
Himmel ein c^utes Gewissen und für Hölle das böse Ge- 
wissen setzen. Immerhin ist das theoretisch betrachtet 
sicherer und fasslicher, als jene transcendenten Positionen. 
Allein ernstlich ethisch erwogen bleibt sich die Sache 
doch eigentlich ganz gleich. Man thue jetzt also das 
Gute um der Gewissensruhe willen, und unterlasse das 
Böse, um der Qual der Gewissensbisse zu entgehen. Offen- 
bar ist auch dann noch das Gute nicht um seiner selbst 
willen geübt, sondern nur als Mittel für einen Zweck be- 
handelt, welcher über ihm liegt und das wahrhaft letzte 
Ziel bildet. Fast möchten wir diess nach der gewöhn- 
hchen Bedeutung des Tadelworts eine Art von Gewissens- 
epikuräismus nennen und jedenfalls ethisch verwerfen. 

Man wird geneigt sein, eine solche Peinlichkeit für 
pure Wortklauberei und nichtige Spitzfindigkeit zu erklä- 
ren. Komme es doch TÖllig und genau auf dasselbe hin- 
aus, wie wenn man das Gute rein um seiner selbst willen 
übe. Ich könnte das am Ende zugeben, wenn nur im 
Sittlichen das Werk und der äussere Erfolg, nicht aber 
die innerlich leitende Absicht als Hauptsache und somit 
als der eigentliche Werthmesser anzusehen wäre. Die 
letztere jedoch muss auch hier von einem feineren Urtheil 
noch yerfölscht und unrein genannt werden. So haarklein 
zunächst der Unterschied scheint, so zweifellos ist er laut 
der sittlichen Erfahrung kein willkQrlich gemachter, son- 
dern ein that^hlich yorhandener und haarscharfer. Ich 
räume ein, dass das Gewissen ruhig sein und keine Vor- 
würfe erheben wird, wenn ich das Böse auch nur in Rück- 
sicht auf seine innere Bestrafung unterlasse. Aber eine 



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— 20 — 



eigentlich positive Billigung wird jenes Tribunal mir bei 

einer solchen Gesinnung dennoch versagen. Mindestens 
wird ein starker Abzug stattfinden und ein Gefühl im 
Hintergrund sich regen, dass doch auch diess noch nicht 
das Wahre sei. Selbstverständlich ist eine energische G^- 
wissensregsamkeit im Billigen oder Verwerfen, und dem 
entsprechend eine feine Empfindlichkeit für seine Urtheile 
als sehr wichtige und werthyolle ethische Möglichkeit an- 
zusehen. Mit anderen Worten wird nur deijenige, welcher 
schon gut ist oder nahe daran -steht, die Urtheile des Ge- 
wissens als intensive Lust oder Unlust empfinden und 
taxiren, während sie den ruchlosen und verhärteten Schur- 
ken verhältnissmässig kalt lassen. Aber el)en desswegen 
ist es schade, wenn diese vielversprechende Möglichkeit 
nicht vollends zur ganzen Wirklichkeit entwickelt wird, wenn, 
der Besitzer jenes zarten Gewissens in der Vorhalle stehen 
bleibt oder das beinahe erreichte Wahre zu guter Letzt 
noch selbst wieder verunreinigt. Man hat seinen Lohsr 
dahin, indem man ihn zur Unzeit vorwegnahm und an der 
unreifen Frucht naschte. Das Richtige bleibt durchaus, 
das Gute nur ausschliesslich um des Guten willen zu 
thun. Nachher ist jener Retlex der (4owissensbet"riedigung 
völlig erlaubt und untadelhaft, oder vielmehr steht er 
als innere Thatsächlichkeit gar nicht in unserer Gewalt. 
Nur soll auch er nicht den leitenden Zweck bilden, son- 
dern darf lediglich als sekundärer und unausbleiblicher 
Beflex in mir sich einfinden, um die gewahrte Harmonie 
des Lebens in nachträglichem Zeugniss zu bestätigen. 
Diess ahnte theilweise schon Aristoteles ganz richtig, wenn, 
er es auch nicjit zur konsequenten Durchführung zu brin- 
gen vermochte; noch deutlicher ist es in der treffliclien 
stoischen Bezeichnung jener Reflexinst als des blossen 
kntykvvriiut enthalten. Auch die urchristliche Ethik sagt 
dasselbe, wenn sie dem Trachten nach der Gerechtigkeit|. 
welches Allem vorangehen müsse, das Uebrige unfehlbar 
„zufallen^* lässt, womit das Letztere eben als fructus ad- 
venticius und nicht fortivus bezeichnet ist Endlidi ist es 
ganz besonders der grosse Ethiker Kant, welcher diese 



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— 21 — 



moralidclie Glückseligkeit trelFend beleuchtet und zeigt, 
wie sie als letzter Bestimmungsgrund des Guten gesetzt, 
ein sich selbst widersprechendes Unding ist: „Der den- 
kende Mensch nämlich, -wenn er über die Anreize zum 
Laster gesiegt hat und seine oft saure f üicht gethan zu 
haben sich bewiisst ist, findet sich in einem Zustand der 
Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glück- 
seligkeit nennen kann, in welcher die Tugend ihr eigener 
Lohn ist. Nun sagt der Eudämonist — nach Kants 
Taxation und Terminologie — : Diese Wonne, diese Glück- 
seligkeit ist der eigentliche Beweggrund, warum er tugend- 
haft handelt. Nicht der Begriff der Pflicht bestimme un- 
mitto]])ar seinen Willen, sondern nur vermittelst der im 
Prospekt gesehenen Glückseligkeit werde er bewogen 
seine Pflicht zu thun. Nun ist aber klar, dass weil er 
sich diesen Tugendlohn nur yom BewuBStsein, seine Pflicht 
gethan zu haben, Tersprechen kann, das letztgenannte doch 
vorangehen müsse; d. h. er muss sich verbunden finden, 
seine Pflicht zu thun, ehe er noch und ohne dass er daran 
denkt, dass Glückseligkeit die Folge der Pflichtbeobach- 
tung sein werde. Er dreht sich also .mit seiner Aetio- 
logie im Zirkel herum'- V, 199 f. ebenso IV, 141 f. 

Ueberblicken wir nun die ganze Stufenleiter von Lust- 
objekten oder Befriedigungsweisen, welche wir hiermit von 
ganz unten bis zur höchsten Spitze ausgeführt haben. 
Wider Erwarten scheint das Ergebniss für unser Wohl- 
princip ein herzlich ungünstiges zu sein. Mögen die ge- 
nannten Stufen in anderer Hinsicht beträchtlich differiren, 
mögen sie z. ß. vom ästhetischen oder namentlicli auch 
vom Klugheitsstandpimkt aus betrachtet ganz erhebliche 
Werthdistanzen aufweisen; vor dem speciflsch ethischen 
Richterstuhl genügt uns keine einzige. Denn Begriffe wie 
„wahrhaft ersprieslich, vernünftig oder schön" sind immer 
noch keine sittlichen Kategorien; selbst die blosse Ange- 
messenheit an die faktische Menschennatnr können wir 

• 

nicht als solche gelten lassen. So bliebe es also doch bei 
dem, was man gewöhnlich sagt, dass keinerlei Wohlsuchen 

oder Eudämonismus sittlich zulässig sei. Denn wenn alle 



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22 — 



einzelnen Arten desselben der Reihe nach verworfen wer- 
den, 80 trifft dies eo ipso auch das Genus. 

Ich müsste dem vollkommen beistimmen we nnn ur 
nicht innerhalb des Endämonismus ansser der bisher ap- 
plidrten noch eine andere Differenz angebracht werden 
könnte. Viel bedentsamer, als die zon&chst erwogene, ist 
erst sie die wahrhaft entscheidende, an welcher der Un- 
terschied Ton Ghnt und BOs principiell hängt. Seither 
unterschieden wir nämlich nur hinsichtlich des Objekts 
auf das der Wille in seinem Wohlsuchen geht, indem da- 
raus eine Stufenreihe von verschiedenen Lustarten ent- 
sprang. Denn diese Seite der Gegenständlichkeit ist in 
der That das Nächste und Einfachste, auf was das unter- 
scheidende Denken verfallen wird; aber sie konnte uns 
nicht zufrieden stellen. Wie w&re es nun, wenn wir das 
fallen Hessen und die Differenz etwa im subjektiven 
Gkbiet des GlÜckstrehens anbrächten? Mit andern Wor- 
ten würde es sich jetzt nicht mehr darum handeln, was 
für ein Wohl der Wille sucht, sondern nur darum, für 
wen er es erstrebt. Entweder kann er nämlich Wohl, und 
zwar zunächst von • irgend welcher Art, für sich selber 
suchen ; oder aber sucht er es für andere Wesen, die einer 
solchen Empfindung fähig sind, also vorzüglich für die am 
intensivsten fühlende liOtmenschheii Im ersteren Fall 
ist das Wohl -Wollen ein egoistisches, im andern ein 
selbstlos universalistisches. 

Hiermit haben wir in der That das punctum saliens 
erreicht: Jenes ist das Böse, und dieses das Gute. In 
der obigen Stufenleiter des Genusslebens acceptirten wir 
die Verwerfung vorläutig einfach als eine Thatsache des 
allgemeinen sittlichen Bewusstseins. Erst jetzt haben wir 
anch den wunden Meck getroffen, an welchem alle jene 
Modificationen in Wahrheit lahoriren und um dessen 
willen sie das MisshiUigungsurtheil trifft. Sie sind sämmt- 
lich verwerflich, weil sie grö])er oder feiner nur sich 
selbst leben und die eigene Befriedigung zum aus- 
schliesslichen oder doch zum höchsten leitenden Gesichts- 
punkt haben. Sie sind ethisch betrachtet lediglich wegen 



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— 23 — 



des Egoismus TemrtlieiH, der sich so oder anders in 

ihnen ansprägt. Es ist von grösster Wichtigkeit, ihn als 
das wahrhilft Böse aiicli von Anfang an bei seinem rech- 
ten Namen zu nennen, um dasselbe unmaskirt bh)sszu- 
stellen. Denn er verdient diess redlich. Zu was also die 
Schuld zum Theil oder gar ausschliesslich auf fremde 
Schultern laden und so den wirklich Schuldigen entlasten? 
Zu was den Eudämooismus in Bausch und Bogen 
schmfthen, welcher unparteiisch fUr Gutes und Böses das 
Oljekt bildet? AUerhÖchstens repiAsentirt er unter Ünir 
ständen, aber keineswegs ausnahmslos, in gröberer hedoni- 
scher Form die sekundäre Schaale am Egoistischbösen; 
aber niemals lie^^t in ihm der Kern und das Wesen, wie 
schon seine Zugesellung auch zum Cruteu hinreichend 
beweist. 

Diess ist eben die hartnäckige Verwechselung, gegen 
welche unsere ganze Darlegung gerichtet ist Und jene 
ist wiegesagt gar weitverbreitet. Denn meistens werden 
z. R die obigen LebensweiBen oder die entsprechenden 
ethischen Systeme mit dem kurzen Verdikt „eudämoni- 
stisch" abgefertigt. Damit ist die Gerichtssitzung aus, 
als ob diese usuelle schwarze Note genügte und nicht ein 
klares Quidproquo wäre. Wie wir einleitend vermutheten, 
80 meint dasselbe tadelnd etwas ganz Anderes, als es nennt, 
und verbindet subintelligirend mit dem harmlos generellen 
Terminus i,Eudämonismus'< sogleich die verwerflidie dif- 
ferentia spedfioa y^egoistisch^^ ohne sie doch sonst fOr 
solidarisch damit verbunden zu erklftren. 

Einen ähnlichen Missgriff finden wir indessen auch 
ausserhalb der eigentlichen Ethik im Schwang. Ich denke 
dabei an die Versuche zur Welterklärung, resp. an die Be- 
urtheilung der etwaigen Ziele und Zwecke, welche die 
Natur oder die Arbeit der weltbildenden Kräfte verfolgt 
Jedermann kennt jenes Deutungsverfahren, wie es schon 
an der Wiege des begrifflichen, und teleologischen Gedan- 
kens bei Sokrates sich zeigte, seine Blüthezeit aber in der 
neueren Aufkftrungs- und Popularphüosophie erlebte. Hier 
wurden alle Formen und Gestalten, alle Verhiltnisse und 



~ 24 — 



Gesetze in der Welt mit begeistertem Eifer auf die Glflck- 

Seligkeit des Menschen reducirt, welche den Anfang und 
das Ende sämmtlicher Untersuchungen ausmachte. Auch 
das wird nun wieder allgemein als ein ebenso bornirter, 
wie geschmackloser Eudämonismus verworfen, der jetzt 
gar vollends ins Metaphysisch -kosmische sich eindränge 
und auf diesem weitern Boden die ganze lächerliche Blosse 
seiner niedrigen Natur offenbare. 

Meines Eracbtens ist es auch in diesem Fall zunächst 
lediglich der Egoismus, welchem Spott, Hohn und Tadel 
zumal gebühren. Ibh meine jetzt den anthropocentrischen 
Gattungsegoismus gegenüber von anderen, doch wohl gleich- 
falls fühlenden Wesenheiten, welcher in eitlem Eigendün- 
kel meint, die ganze Welt sei nur eine grosso künstliche 
Maschinerie im Dienste des kleinen Gottes „Mensch^'. Erst 
die Folge der praktischen Bornirung ist dann auch die 
lächerliche theoretische Beschränktheit und Kleinlichkeit, 
welche sich ergiebt, wenn sämmtliche Zwecke allein nach 
jenem relativ minutiösen Centrum hin ausgedeutet werden. 
Man stellt dem die Anschauung alles Seienden als eines 
Selljstzwefks gegenüber — was übrigens doch auch nicht 
in aljsoluter Isolirung jedes Einzelnen durchführbar ist 
— und will sich die Teleologie überhaupt nur noch unter 
dieser weitherzigen Bedingung gefallen lassen. Wir sind 
damit ganz einverstanden, stellen nun aber unsererseits 
die Bedingung, dass jene Weitherzigkeit sich auch vol- 
lends dazu verstehe, solchen Selbstzwecken gleichfalls 
ein Herz zu gönnen. Soll der Gedanke haltbar sein, so 
müssen sie selbst etwas von ihrem nunmehr auf sich ge- 
stellten Dasein haben. Mit andern Worten darf man sich 
der Konsequenz nicht entziehen, dass alsdann schliesslich 
Alles zu emptindenden Wesenheiten zu vergeistigen sei, 
wie es Lotze in diesem Zusammenhang ganz folgerichtig 
und treffend thut. Widrigenfalls habe ich jenen „Selbst- 
zweck^' abermals im Verdacht des „Werth an sich'' oder 
des hölzernen Eisens. Wenn weder die Menschen, noch 
ein Gott von jenen Formen und Gebilden etwas haben 
dürfen, weil sonst von Neuem die alte lächerUdie Teleo- 



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— 26 — 



logie herauBk&me, so müssen diese Gebilde wenigstens 
selbst einen G-enuss von sich empfinden; sonst h6rt der 

Begriflf des Werths und Zwecks auf, einen Sinn zu be- 
sitzen. Allgemeine Formen und Verhältnisse mögen die 
allerschönsten dialektischen Arabesken bilden, die sich 
denken lassen; oder ein Seiendes soll der Inbegriff von 
Vollkommenheit sein: dennoch erhält all diess nach den 
früheren Ausführungen seinen Werth erst im eigenen oder 
fremden Empfindungsreflez des lebendigen Individuums. 
Vorher oder an sich ist es blosse Werthmöglichkeit und 
Mittel zu künftiger Zweckrealisirung. Wer also die Te- 
leologie nicht lieber ganz fallen lassen will, der muss no- 
lens Velens sich auch zu einem derartigen metaphysischen 
Eudämonismus und Lustprinzip bekennen! 

Sollte aber Jemand in dieser Hypothese des „Selbst- 
genusses-* der Weltwesen einen Widerspruch mit unserer 
obigen Betonung der Selbstlosigkeit finden wollen, so kön- 
nen wir ihm nur entgegnen, dass wir allerdings zunächst 
bloss von einer Ethik für uns Menschen etwas wissen 
und verstehen. Dagegen liegen jene Grenzpunkte einer 
ahnenden Phantasie uns viel zu fern, um vernünftiger Weise 
in der Konstruktion menschlich-sittlicher Begriffe irgend 
mitberücksichtigt zu werden. Lassen wir <iarum lieber 
diese ganze metaphysische Abschweifung hiemit auf sich 
beruhen und stellen uns wieder auf den soliden Boden 
unserer menschlich -immanenten ethischen Erwägung. 

Bei einem vergleichenden Blick auf die geistestiefe 
Ethik Kants muss es uns an dem jetzigen Punkte dieser 
Untersuchung aufrichtig freuen, dass unser Ergebniss hin- 
sichtlich des Egoismus als des wah rhaft Bösen ganz 
mit demselben übereinstimmt, wenn er z. B. sagt: „Das 
gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit ist. wenn 
das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrund 
des Willens gemacht wird" IV, 136. Diesen immer wie- 
derkehrenden Satz fuhrt eine Reihe von ftberall eingefloch- 
tenen Beispielen eifrig durch, welche jene unsittliche Ge- 
sinnung von ihrem plumpsten Auftreten an bis zu ihren 
feinsten Maskirungen verfolgen, um sie durch diese Bloss- 



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— 26 — 



legung in jedar G-estalt von dem iiiibeQtocheQe& aittUohen 
ürtheil yerwerfen zu lassen. Zuerst kommen klar egoi- 
stische Fälle zur Sprache, in welchen das eigene Wohl 
koUidirend mit fremdem direkt und unverschleiert den 

leitenden Gesichtspunkt bildet. Hierauf wird die Sache 
schon etwas komplizirter. Fremdes Wohl repräsentirt 
wenigstens scheinbar das Absehen des Willens und sein 
unmittelbares Objekt; allein genau betrachtet ist trotz- 
dem nur Ehrgeiz oder persönliche Eitelkeit, also doch 
wieder Egoismus die eigentliche Triebfeder. Nicht yiel 
anders stellt es sich, wenn das Streben immerhin sogar 
auf das Wohl des Allgemeinen oder der.Gesaauntheit geht, 
hiebei aber Ton der Erwägung sich leiten lAsst, dass diess 
schliesslich auch für Einen selbst das Vortheiiliafteste 
sei. Je nielir das Ganze gedeiht, desto grösser wird die 
Proportion von Wohl, welche dem einzelnen Mitarlieiter 
zufällt. Gewiss begegnet uns darin die klügste und weitest- 
blickende Art von Egoismus, mit welcher wenigstens in 
/ gewöhnlichen Zeiten die Gesellschaft recht wohl bestehen 
und gedeihen kann; aber Egoismus bleibt es bei alledem, 
und seine lange ausreichende Brauchbarkeit f&r das prak- 
tische Zusammenleben macht ihn desshalb noch nidit 
sittlich rein. Nun wollen wir uns Fälle denken, in wel- 
chen der Selbstvortheil ganz abgeschnitten zu sein scheint. 
Wir nehmen also an, dass das fragliche Streben und Thun 
seiner Natur nach erst lange nach dem Tod des Subjekts 
und aller seiner näheren Angehörigen Früchte zu tragen 
yermag. Allein auch hier findet der Egoismus in seiner 
enormen Gewandtheit noch eine Spalte, durch die er ein- 
dringen kann. Es ist der Gedanke des Nachruhms, wel- 
cher als konzentrirter Yorgenuss des Lebenden denselben 
unter Umständen sogar zur Aufopferung seines Lebens 
veranlassen kann. Der grössere ideelle Genuss hat als- 
dann den kleineren reellen überwogen; indessen ist und 
bleibt das Motiv der That ein Selbstgenuss, also noch 
einmal Egoismus. 

Endlich giebt es aber doch auch Fälle, in welchen 
die leisete Spur des eigenen Vortheils vorsichtiger noch 



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— 27 — 



als vorhin eliniinirt ist. Denken wir uns, dass im letzt- 
genannten Exempei der künftige Wohlthäter seiner Mit- 
menschen sicherlich und seiner eigenen Voraussicht nach 
unbekannt bleibt; und dennoch strent er die gnte Saat 
in selbstloser Freude am fremden Glttck und an der För- 
derung der Nachwelt aus, mit der ihn nicht einmal mehr 
das ideelle Band ' des Nachruhms selbstisch verbindet 
Wir brauchen übrigens gar keine so künstlichen Hypothesen; 
denn der iki spiele giebt es im wirklichen Leben glück- 
licher Weise eine hinreichende Zahl, wo keinerlei eigener 
Nutzen bei einer guten That abzusehen ist, Fälle, in wel- 
chen auch faktisch nach dem klaren Bewusstsein und dem 
unbestochenen Grewissenszeugniss des Handelnden jenes 
Absehen gar nicht einmal versucht, geschweige denn aus- 
geführt wird. Das einzige Motiv ist Förderung des frem* 
den Wohls oder Hebung des fremden Wehe*s als solchen; 
dasselbe bildet nunmehr das äussere Objekt, wie den letz- 
ten innern Bestimmungsgrund des Wollens und Handelns 
ist also als der auf sich l)eruhende iSelbstzweck im vollen 
Sinn des Worts zu betrachten. 

Hier wäre also endlich der schlinune Egoismus völlig 
verschwunden, und es bliebe nur jener selbstlose Eud&mo- 
nismus übrig, den wir genau als das Gute bezeichneten. 
Man sollte denken, dass sich der erbittertste Gegner des 
Egoismus hiermit gleichfalls zufrieden geben milsse und 
endlich das lange zurückgehaltene Billigungsurtheil ge- 
meinsam mit uns aussprechen werde. Leider ist diess bei 
Kant nicht der Fall. Wer eine Weile in die Sonne ge- 
blickt hat, dem liefert die gereizte Netzhaut noch eine 
Zeitlang nachher lauter »Sonnenbilder. Umgekehrt hat sich 
Kant 80 voll und ganz in den Kampf mit der dunkl«i 
Gestalt des Egoismus gestttrzt^ dass er auch in dem zu- 
letzt genannten Beispiel noch den Feind argwöhnt, wel- 
chem bisher seine wuchtigen und gewandten Hiebe galten. 

Unser ganzes Ergebniss droht also plötzlich wieder 
umgestossen zu werden, indem diejenige philosophisch- 
ethische Auktorität, welche wir otien als die noch immer 
gewichtigste für uns bekennen, sogar unseren selbstlosen 



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— 28 — 

Eudämonismus verwirft, ihn rundweg für ein hölzernes 
Eisen erklärt und stets behauptet, dass aller und jeder 
Eudämonismus schliesslich doch auf Egoismus 
hinauskomme. „Der Eudämonist, heisst es z. B. im 
Eingang der Anthropologie, ist derjenige, welcher hloss 
im Nutzen nnd der eigenen Glückseligkeit, nicht in der 
PflichtYorBtellang den obersten Bestimmungsgrund seines 
Willens setzt. Alle Eudämonisten sind daher prak- 
tische Egoisten'' X, 124. Die noch deutlichere Haupt- 
stelle ist jedoch der bekannte zweite Lehrsatz der Kritik 
der praktischen Vernunft, dessen nähere Ausführung mit 
den Worten schliesst: „Alle materialen Principien, die 
den Bestimmungsgrund der Willkür in der, aus irgend 
eines (TOgenstands Wirklichkeit zu empfindenden Lust 
oder Unlust setzen, sind sofern gänzlich von Einerlei Art, 
dass sie insgesammt zum Princip der Selbstliebe oder 
eigenen Glückseligkeit gehören" IV, 119. Dies Thema 
wird' in zahllosen Stellen der genannten und anderer 
Schriften variirt und zu zeigen versucht, wie der geringste 
Zusatz eines materialen oder gej^enständlichen Moments 
in das Gesetz, resp. in den Bestimmungsgrund des Willens 
sogleich eine lieteronomische Verunreinigung ergebe. Man 
möge dasselbe verfeinern und erweitem, so stark man 
wolle; sobald der Wille auch nur mit einem halben Auge 
' auf Wohl oder Wehe sein Absehen richte, gerathe er 
rettungslos in das „gerade Widerspiel der Sittlichkeit'^ in 
den Egoismus hindn. 



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End&nLonisiiiiiB und EgoismnB, 

eine Ehrenrettung des Wohlprincips. 

Von 

£• Pfleiderer, in Tübingen. 
II. Artikel. 

Es lässt sich zum Voraus mit Sicherheit annehmen, 
dass ein Mann von Kant's Geist nicht aus Unachtsamkeit 
oder logischer Nachlässigkeit zwei heterogene Begriffe 
nur so leichthin verwechsele, wie es allerdings seine sprach- 
lichen und nicht zugleich sachlichen Nachfolger in unserer 
Frage thun. Wenn er Eudämonismus und Egoismus mit 
solcher Entsctiiedenheit identificirt, so muss er dafOr seine 
Gründe haben und weiss in der That auch wdche anza- 
führen. Freilich sind sie nicht alle in streng übersiditlichem 
Zusammenhang von ihm dargelegt. Holen wir das nach 
und prüfen dieselben der Reihe nach auf die Beweiskraft, 
welche sie wirklich besitzen. 

Am augenfälligsten wird von dem grossen theoreti- 
schen Kritiker nunmehr auch hier im Praktischen der 
kritisch-formale Gesichtspunkt vorangestellt imd 
betont. Jede Hereinnahme und anfängliche MitberQck- 
sichtigung Ton materialen |oder also eudftmonistischen 
Momenten wftre nach ihm ein Empirismus; der Empi- 
rismus als solcher aber sei jedenfalls in der Ethik stets 
individualistisch uild atomistisch; also gehöre er dem 
Gebiet der egoistischen Zersplitterung und Isolirung an. 

Diese etwas rasche Schiussfolgerung bedarf einer ge- 



— 30 — 

naueren Explizirung. Was denn eigentlich in der Welt 
dem Menschen Lust und Unlust gewähre, das lässt sich 
schlechterdings nur a posteriori wissen oder aus der suc- 
cessiven wirklichen Erfahrung des Kontakts mit den frag- 
. liehen Dingen und Verhältnissen entnehmen. Schon dies 
einfache „Aposteriori** aber 'ist noch ohne Beachtung wei- 
terer Bedenken eine logische Eigenschaft, welche einem 
Höchsten, wie dem Sittenprincip oder G^setE nicht wohl 
ansteht nnd sozusagen als nnebenbürtig yon yomeherein 
aus seiner aristokratischrationalen iSähe zu verbannen ist. 
Seine volle Bestätigung erhält dieses logische Vorurtheil, 
wenn wir näher auf die missliclien Folgen achten, welche 
jedes Aposteriori seiner JS^atur nach begleiten. Jone Er- 
kenntniss ist durchaus individuell; bei dem Einen Subjekt 
stellt sich die Sache so, bei dem Anderen wieder anders; 
was mir Lost gew&hrt, bereitet am Ende dem Zweiten 
Unlust» den Dritten aber l&sst es gleidigültig. Oder gilt 
das Besultat nicht einmal fOr mich selbst zu allen Zeiten 
und unter yerschiedenen Umständen. Das Gute droht mit 
Einem Wort auf diesem Weg zur puren Geschmacksache 
zu weiden, übei' welche sich nicht weiter disputiren lässt 
Es droht jener haltlose Kelativismus der Sophisten mit 
dem freveln Satz: Gut ist, was Jedem jeweils beliebt — 
daa würdige Seitenstück zu ihrer skeptischen do^ im 
Theoretischen, wo daqenige wahr ist, was dem einzelnen 
Indi^duum im einaelnen Moment seiner sinnlichen Wahr- 
nehmung so erscheint oder yorkommt. Wie himmelweit 
liegt doch ein solches Zwittergebilde mit seinem nebel- 
haften Fliessen von der Absolutheit eines ächten Sitten- 
gesetzes ab, welches ohne Schwanken und wechselndes 
Belieben sein kategorisches Gebot jederzeit an Alle er- 
gehen lässt! 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Kant in der 
Vorstelligmachung dieser Bedenken für sehr wahre und 
bevechtigte Interessen eintritt, welche wir gleichfalls yoU- 
kommen theilen. In kurzer Formel ist es n&mlich die 

entschiedene Apriorität des ethischen Princips, um was 
er kämpft. Was heisst das aber, richtig verstanden? 



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— 31 — 

Nichts anderes, als die Ur- und Eigengeistigkeit des Sitt- 
lichen nach seinem innersten Kern, oder negativ ausge- 
drückt die kompleie Unmöglichkeit, auf dem Wege irgend 
welcher Aussenerfahmng oder Beobachtung dessen, was 
ist und geschieht, kennen zu lernen, was sein soll oder 
was gut resp. böse heissen wilL Wer den Sinn dieser 
Werthbegriffe nicht von Haus aus, zuerst instinktiT, dann 
deutlich in sich trägt, der lernt ihn sein Lebenlang nicht 
und würde er seine beobachtende Erfahrung des fak- 
tischen Cxeschehens bei Anderen, wie bei sich sell)st noch 
soweit ausdehnen. Das Sollen stammt als That vom Ich^ 
und nie vom Nicht-Ich mit seiner so oder anders beschaf- 
fenen Thatsächlichkeit. 

ßbendamit ist das ethische Frihcip als eigengeistiges 
ein schlechthin identisches für alle (menschlich) geistigen 
Individuen, welche in dieser HinBicht gar ni6ht indiyiduell 
getrennt sind. Und endlich gilt e« mit dieser inhärenten 
Allgeraeinheit unbedingt, wo irgend ein vernünftiger Men- 
schengeist lebt und sich regt, mögen die Verhältnisse und 
äussern Umstände sein, welche sie wollen: überall trägt der 
persönliche Geist diese geistige Grrundpotenz in sich und steht 
bei allem Wechsel der Situationen wandellos unter ihrem 
Gebot Diess ist der Sinn und der gute Grund, warum 
Kant bei dem „Apriori^' mit scheinbar schablonenhafter 
Stereotypie die Allgemeinheit, hier richtiger Allgemein- 
gültigkeit, und die innere unveränderliche, hier ethisch zu 
verstehende Nothwendigkeit betont. 

Es fällt uns wie gesagt nicht ein, diese Kernwahr- 
heiten der sittlichen Principieniehre alteriren zu wollen 
Aber geben wir denn damit nicht unsere ganze eigene 
Ausführung verloren, indem wir Kant so rilckhaltslos bei- 
stimmen? Ich glaube nicht Seine soeben mMrkirten In- 
teressen lassen sich meines Erachtena ToUkommen auch 
mit unserer Grundanschauung vereinbaren. Wir können 
die Vordersätze stehen lassen, ohne die Nachsätze und 
Folgerungen mitzuacceptiren, welclie Kant in überschiessen- 
dem Eifer für die Wichtigkeit der fraglichen Momente 
abweichend von uns ziehen zu müssen glaubt. Diess 



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— 32 — 



dürfte überhaupt die Gi undsignatur aller Mängel und Ir- 
rungen in seiner Ethik sein. Sie sind meist auf gutem 
Boden gewachsen und stellen sich bei ernstlicher Erwä- 
gung gröBstentheils nur als Uebertreibungeu von ganz 
Wahrem und WerthyoUem dar. Suchen wir diese für 
unseren Zusammenhang zn zeigen. 

Auch vir fassen das ethische Frincip als eigengeisti- 
ges und für Jedermann identisches Moment von unwandel- 
barer Art, das wir als ein praktisches natürlich Tor 
Allem der Willensseite des Menschen zuzuweisen haben. 
Es ist somit die universelle Seite an unserem Willen oder 
ein Moment desselben, welches über der persönlichen Dif- 
ferenz der Einzelnen liegt, eine Unterscheidung , welche 
sich schon bei wenig Nachdenken als ganz solid und kei- 
neswegs schwindelhaft erweist Hiemach werden wir nicht 
in den Verdacht einer seltsamen und unpsychologischen 
' Hypostase kommen, wenn wir das Gemeinte der abstrak- 
ten Klarheit wegen scheinbar als Extrapotenz oder als 
den Grundwillen an und im persönlichen Willen bezeich- 
nen. Auch dieses Grundwollen muss nun nach dem früher 
Bemerkten wie alles richtige und rationale Wollen im 
Unterschied von einer sinnlosen psychologischen Expan- 
sion als ein motivirtes oder als ein Wohl- Wollen gefasst 
werden y nur dass es als erhaben Uber der pers5nlichen 
Differenzirung ohne Ansehen der Person Wohl will oder 
sich als universales Wohl -Wollen darstellt. Wenn wir 
das^ was streng begrifflich nur als dialektische Spannung 
verschiedener Seiten am Willen zu denken ist, in plasti- 
scher Vorstellungsmässigkeit fassen, so stellt sich die 
Sache gewissermassen dialogiscli dar. oder es präsentirt 
sich, als spräche der Grundwille zu dem persönlichen: 
Wolle allezeit — und zwar natürlich Wohl — sub specie 
universi seu humanitatisl Denn es ist ja in der That der 
überpersönliche Vernunft- oder Torsiditiger ausgedrückt 
der Menschheitswille im einzelnen Menschen, weldier da 
spricht und gebietet oder will. 

Nun versteht es sich freilich von selbst, dass mit diesem 
blossen Grundwillen des universalen Wohls über ein be- 



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— 33 



stimmtes und konkretes ,,Was" des letzteren noch nichts 
entschieden ist. Die nähere Ausfüllung des allgemeinen 
Schernaus „Wohb^ mag immerhin auf die mannig£EM;hste 
Weise schwanken und wechseln; sie kann im wirklichen 
Yerlanf der persönlichen Willensakte Wahres und Fal- 
sches, Bleibendes und Vergängliches neben einander be- 
herbergen , wie wir bereitwillig einräumen. Allein das 
Gleiche muss ja Kant selbst bei allen seinen apriorischen 
Momenten, z. B. bei der Haujitkategorie der Kausalität 
zugestehen, ohne dass er in dieser konkreten Erfüllung 
der abstrakten Formel durch die successiye Erfahrung ' 
eine Beeinträchtigung jener Apriorität erblicken würde. 
Im Gegentheil wirft er es ausdrücklich dem Skeptiker 
Hume Tor, dass derselbe just an diesem Bedenken hängen 
geblieben sei und ttber der allerdings ssweifellos nöthigen 
Kompletirung durch die allmählige Erfahrung die höhere 
Würde des Grundgedankens oder der Kategorie übersehen 
habe. Dasselbe liesse sicli, nur in umgekehrter Wendung, 
hier im Praktischen gegen ihn geltend machen 

Wir sehen also, dass uns der „Empiribmus'* oder das 
successive Lernen hinsichtlicli der nälieren Detailirung 
und Speciücirung des generellen Wohlprincips so wenig 
zu geniren braucht , als diess sonst bei irgend einem 
„Apriori^^ der Fall ist. 

Wo bleibt aber, könnte jetzt Kant einwenden, bei 
einer solchen Sachlage wenigstens für alles konkrete, so- 
mit wirkliche Wollen und Handeln die erforderliche Iden- 
tität und üebereinstimmung unter den Menschen, wenn 
der Eine diess, der Andere jenes je nach Individualität 
und Geschmack für Wohl oder Wehe hält? Allerdings 
haben wir unsererseits das Grundprincip durch eine ma- 
teriale Fassung bereits in näheren Zusammenhang mit 
der konkreten Stofferfüllung gebracht, als es bei Kant der 
Fall ist. Ich halte diess nur für einen Vortheil, wie sich 
später zeigen wird. Aber immerhin erwächst uns daraus 
die dringendere Pflicht, als jenem, auch für die letztere 
Seite den Vorwurf oder Verdacht einer atomistischen Re- 



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— 84 — 



lativität und völlig imberechenbaren, irrationalen Zufällig- 
keit hinsichtlich der einzelnen Individuen zu beseitigen. 

Anknüpfend an eine frühere Bemerkung muss ich 
TorauBBchicken, dass wir eine eigentliche £*thik überhaupt 
nur fbr Menschen und menschliche Verhftltnisse au&u- 
steUen Termögen. Andere Wesen unter oder Über uns 
müssen vrir dabei ausser Rechnung lassen. Wir können 
«ie meinethalb zum Theile wohl als Objekte unseres 
Handelns, aber nie als Subjecte eigenen Thuns dem Sitten- 
gesetz unterstellen. Eine derartige Forderung der Allge- 
meingültigkeit des Letzteren, wie Kant sie allerdings er- 
hebt, scheint mir wiederum ohne den entsprechenden 
ethischen Gewinn ein Yemunftinteresse zu überspannen. 
Sicherlich hat der betrdlende Gedanke einige Berechti- 
gung, theils an sich, theila namentlich gegenüber Ton einer 
empiristischen Degradirung der Vernunft überhaupt, in 
welcher dieselbe zu der Zufä,lligkeit einer lediglich ter- 
restrischen und relativ ephemeren Potenz neben koordi- 
nirten anderen heruntergedrückt wird. Allein wir dürfen 
auf der andern Seite über dem ptinzipiellen Universalis- 
mus der Vernunft doch auch die Partikularität und Ein- 
schränkung nicht vergessen, welche sich ihr in der nähe- 
ren menschlichen Entwicklung und detaillirten Entfaltung 
anheftet. 

Behalten wir diese nüchterne Begrenzung im Auge, so 
präsentirt sich uns sogleich die starke Identität der menscli- 
lichen Wesenszüge, auf Grund deren erst die weitgehende 
Individualisirung und Nüancirung möglich ist. Ohne jene 
wäre keinerlei Verkehr im Ganzen, somit speciell keine 
Ethik auch nur denkbar. Nun liegt aber kein zwingen- 
der Grund Tor, warum jene Identität sich ausschliess- 
lich auf die sogenannte „Vemunftseite'' oder richtiger 
ausgedrückt auf die Seite der Aktivität beschränken sollte^ 
statt sich ebenso in die Sinnlichkeit, also nach Kants no- 
torisch weiterem Sinn dieses Worts deutlicher gesagt in 
die Passivität oder Gefühls- und Empfänglichkeitsseite 
unseres Wesens hineinzuerstrecken, welcher allerdings alle 
Wohlempfindung angehört. 



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— 86 — 



OfFeübar hat unser Philosopli hier die Zweischneidig- 
keit nicht genug beachtet, mit welcher diese seine gering- 
Bcliätzige Beliandlung der mensohliohen ,,Siimlichkeit^^-oder 
Rezeptivität als solcher in kaum abweisbarer Konsequenz 
gelegentlich anch anf die tibeoretische Philosophie und 
gerade anf seine eigene Erkenniaiisslehre störend zurück^ 
wirken müsste. Allen Stoff des Bewnsstseins l&sst er nicht 
minder dort empfangen werden. Gäbe es nun nicht 
anch in der Funktion des Empfangens eine wesentliche 
Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit der Menschen, so wäre 
es mit der Uebereinstimmung und Identität der mensch- 
lichen Erkenntniss schlimm bestellt; denn die immerhin 
identische Form neben dem Stoff könnte den Schaden 
doch eigentlich nicht mehr heilen. Trotz ihr besässe ein 
Jeder sein ziemlich apartes Bewnsstseinsbildi nnd die Kom- 
munication des Wissens ^Are bedenklich alterirt. Das 
Resultat würde am Ende kaum etwas Anderes sein, als 
jenes atomistische Privatmeinen der f^o^a, welchem die 
alten Sophisten mit resoluter Konsequenz ungescheut das 
praktische Privatbelieben zur Seite stellten. Wenn da- 
gegen Kant der Sinnlichkeit oder Rezeptivität auf theo- 
retischem Gebiet das grosse Vertrauen schenkt, dass er 
ohne Besorgniss Tor indiTidnalistisch^r ZerspHttemng ihr 
eine so wichtige Leistung wie den ganzen Stoffempfang 
rnbig anvertraut, so stimmt es damit doch nicht recht, 
auf dem andern Gebiet plötzlich den übermässig Miss- 
trauischen zu spielen und der getreuen Schaffnerin des 
Erkenntnisslebens auf einmal im Praktischen nur Störung 
zuzutrauen. 

Sehen wir indessen von solchen Konseqnenzen oder 
Inkonsequenzen innerhalb des Systems ab, welche leicht 
etwas Künstliches nnd Misslidies an sich haben, so spricht 
jeden&Us auch die thatsächliche Wirklichkeit im Prak- 
tischen so gut als im Theoretischen dentlioh genug und 
beweist, dass eine komplete Relativität nnd Individnalitftt 
des Gefühls- oder Empfindungslebens keineswegs behaup- 
tet werden kann. Gewiss giebt es auf jenen beiden ihi- 
bieten Idiosynkrasien. Aber daneben ist es auch beide- 



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mal möglich, dieselben als das, was sie sind, zu entdecken 
und sie von den allgemein menschlichen oder hyperindi- 
viduellen Zügen deutlich zu unterscheiden. Desshalb 
schadet es nichts, dass strenggenommen immer die eigene 
Subjektivität den Ausgangspunkt und letzten Prüfungsort 
bildet, um von hier aus durch analogisches Frojiciren auch 
die Mitwelt zu um£EL8sen. Mit Becht sagt der Dichter:' 
„Willah du die Andern yerstehn, blick in dein eigenes 
Herz!^ Ich möchte z. B. genau wissen, wie diese oder 
jene Handlung ein empfindendes Wesen überhaupt an- 
muthen werde. Zu diesem Behuf muss ich sie allerdings 
zunächst nach Massgabe früherer ähnlicher Erfahrung in 
Gedanken auf mich selbst beziehen und xoich fragen, wie 
sie mich aftizirte oder affiziren würde. 

Diess dürfte der unanfechtbare Sinn der christlichen 
Bogel sein, welche yerlangt: ^Alles, was ihr wollt, dass 
Euch die Leute thun soUen, das tfaut ihr ihnen auch.^ 
Man wollte diesem Wort schon öfters einen lohns&chtigen, 
also egoistischen Standpunkt vorwerfen, wie er zweifellos 
in anderen Sätzen der urchristlichen Ethik jedenfalls nicht 
vorsichtig genug vermieden ist und durch die kaum ver- 
meidliche Akkommodation an die eminent egoistische jü- 
dische Denkungsart* völlig erklärt, ja beinahe entschuldigt 
wird. Der Vorwurf wird aber diessmal hinfallig, sobald 
wir jene Forderung lediglich als praktisch-erkenntnisstheore- 
tischen Kanon yerstehen. Alsdann trifft sie genau mit unserer 
Ausführung zusammen, welche schliesslidi als die allein 
lebenswahre von jedem Standpunkt acceptirt werden muss. 

üebrigens streift eben auch Kant in seiner obigen 
Schlussfolgerung, deren Beleuchtung uns noch immer be- 
schäftigt, in seiner Art ziemlich hart an diese, wie ich 
glaube unbillige Auffassung des genannten christlichen 
Kanons. Springt er doch zuletzt von der bemängelten 
Individualnatur der Detailerkenntniss hinsichtlich des 
Wohls und Weh's zum Egoismus der Gesinnung und des 
Handelns über, welcher damit gegeben sei. Ich sage aus- 
drücklich : Er springt über; denn ich muss die Berechti- 
gung dieser Anknüpfung schon aus dem prinzipiellen 



— 37 — 

Grunde entschieden anfechten , weil Theoretisches und 
Ethisches ihrer Natur nach zweierlei sind. Setzen wir 
den F&ilf doss das Subjekt von sich und allerdings zu- 
nächst nur von sich aus irgend etwas ernstlich und zu- 
yerlässig als Wohl bringend erkannt habe. Schwerlich 
wird nun dieser Erkenntnissort des betreffenden Gnts 
ein Hindemiss sein, um dasselbe fortan Anderen zuzu- 
wenden und sie zum G-ennssort zu machen, womit ge- 
rade das Gegentheil des Egoismus gegeben ist. Natür- 
lich wird mich bei diesem analogischen Zuwendungsstreben 
wieder die stillschweigende Präsumtion alles unseres Ver- 
kehrs mit Andern leiten. Ich werde die Ueberzeugung 
hegen, dass dieselben nicht nur im Allgemeinen die haupt- 
sächlichen Wesenszttge mit mir identisch haben, sondern 
dass sie speoiell auch in der fraglichen Hinsicht mit mir 
harmoniren und somit die beabsichtigte Wohlthat wirk- 
lich als solche empfinden werden. 

Fliessend wie die menschlichen Dinge im konkreten 
Leben sind, könnte diess nur dann zu einer Art von Egois- 
mus ausschlagen, wenn Jemand in unbedachter und täppi- 
scher Gewaltthätigkeit seine eigene, ganz individuelle 
Natur dem Andern aufnöthigen wollte, ohne zuvor in 
liebeYollem Eingehen die fremde Individualität erkannt 
nnd in kritischer Bescheidenheit die eigene sorgfältig ge- 
prfilt zu haben. Derartiges kommt in der That als jene 
eigenthümliche Sorte von elterlicher oder politisch -patri- 
archalischer Herrschsucht vor, welche den Andern despo- 
tisch beglücken will, ohne einen Hauptzug des mensch- 
lichen Wesens, nämlich die Freiheit schonend mit in 
Rechnung zu nehmen; vgL Kant V, 291. Allein diess ist 
doch offenbar schon mehr eine halbtheoretische Abirrung 
und Ausartung, welche gegen das Gunze jenes Ueber- 
tragungSYerfahrens nichts besagen kann. 

Mit den bisher geprüften kritisch -formalen Einwän- 
den gegen jede materiale Bestimmung des sittlichen Prin- 
zips ist es nahe verwandt und präsentirt sich fast nur 
wie eine andere Wendung derselben, wenn Kant wieder- 
holt auf folgenden Uebelstand des „Glückseligkeitsgedan- 



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— 38 — 



kens" hinweist. Darüber, was denn eigentlich wahres 
(-rlück und Unglück sei, herrsche bei den Menschen die 
grösste Ungewissheit. Ob es überhaupt ein gemeinsames 
Ideal der Glückseligkeit gebe? Und wenn je, so stelle 
die Auffindung der richtigen Formel für dasselbe gerade- 
zu eine unendliche Aufgabe yoVf welche nirgends in der 
Wirklichkeit als gelöst betrachtet werden könne; denn sie 
sei in ein undurchdringliches Dunkel gehflllt. „Was da- 
gegen nach dem Prinzip der Autonomie zu thun sei, ist 
für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Be- 
denken einzusehen, und dem kategorisclien Gebote der 
Sittlichkeit Genüge zu leisten, steht in eines Jeden Ge- 
walt zu aller Zeit" IV, 138 f. 

Eine nüchterne Erwägung muss hiegegmi einwenden, 
daes beide Seiten dieses aufgestellten Gagensatzes in etwas 
abstrakter und kaum mehr wirklichkeitsgemässer Weise 
überspannt sein dürften. Sind denn faktisch die Men- 
schen in so völliger Unkenntniss darüber, was Glück 
und Unglück sei? Sie mögen praktisch noch so sehr 
abirren; aber an der theoretischen Einsicht fehlt es keines- 
wegs, was Wenigstens die Hauptpunkte zumal in einfache- 
ren Verhältnissen anlangt. Auch sie weiss „der einfachste 
Verstand eines Jeden'' so gut als die Forderungen des 
Sittengesetzes zu erfietssen; denn selbstverständlich kommt 
für die Ethik zunächst nicht in Betracht, was völlig ausser 
aller Berechenbarkeit und Voraussicht liegt und uns als 
Glück oder Unglück nur zufällt. Ethisch interessirt vom 
Standpunkt des aktiven Wollens und Thuns nur dasjenige 
Glück oder Unglück, welches wir selbst nach klarer Vor- 
aussicht und zuverlässiger Erfahrung mit diesem oder je- 
nem ehrlichen Wollen und Handeln spontan zu Wege 
bringen können. Und darüber wenigstens kann man sich 
genügend auskennen, so gewiss auch das Leben, wenn wir 
alle Erfolge miteinschliessen, ein fortlaufendes grosses 
EbEperiment bleibt Ob aber wohl irgend ein anderes Mo- 
ralprinzip diese eherne Signatur der endliehen Wirklich- 
keit definitiv von sich und seiner Ausführung ferne zu 
halten vermag? 



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— 39 — 

Auf der anderen Seite kann aber auch von den Ge- 
boten des Sittengesetzes keine völlige Sicherheit und 
unwandelbare Stabilität zu allen Zeiten ausgesagt wer- 
den, wenigstens sobald wir bei ihnen irgend an konkretere 
Detailnormen und materialere Anweisungen für unser 
Handeln denken, wie diess im Zusammenhang des Eaat*- 
schen Einwands unerl&sslich ist. 

Um ihn zu widerlegen, pflegt man gewöhnlicli ;iuf die 
Thatsache des sogenannten irrenden Gewissens hinzuweisen, 
wie es sich nicht blos bei Einzelnen, sondern sogar bei 
ganzen leiten und Völkern vielfach zeige. Ja schliesslich 
dehne sich diess auf die Menschheit als solche aus, welche 
im Theoretischen und nicht minder im Praktischen yyirre, 
60 lange sie strebe'^ Diese Entgegnung ist inhaltlich rich- 
tig, aber formell und historisch betrachtet gegenüber von 
Kant doch nicht ganz korrekt, sofern derselbe mit dem 
Wort „Gewissen" einen ziemlich viel engeren Sinn, als 
den hier vorausgesetzten verbindet. Bei ihm bedeutet 
das Gewissen eine lediglich formale und subjective ße- 
flexfunktion, welche meinem Thun nachfolgt und einzig 
darüber urtheilt, ob ich aus Pfiichtbewusstsein gehandelt 
habe oder nicht, ohne irgend auch material oder objegtiv 
zu sagen, was Pflicht sei. Insofern lAsst sich immerhin 
begreifen, warum er bekanntlich kategorisch erklärt, das« 
es gar kein irrendes Gewissen gebe V, 226 f. XJebrigens 
hält er diess nicht konsequent fest, wenn er öfters be- 
merkt, dass wir durch die eingehendste Eigenbeobachtung 
nie mit vollkommener Sicherheit wissen können, ob wirk- 
lich das Pfiichtgebot den einzigen Beweggrund für uns 
gebildet habe, oder ob nicht Tielleicht andere, heterono- 
miscbe Motive mituntergelaufen seien XV, 27. 

Lassen wir also das fallen und setzen statt des mehr- 
deutigen Worts „Gewissen'' das Sittengesetz, welches auch 
vor der That gebietet, was geschehen solle. So gewiss 
wir nun zu Eingang dieses Abschnitts das Sollen in seinem 
letzten Grund als schlechthin apriorisch oder als ur- und 
öigengeistig zugestanden haben, so fest müssen wir, wie 
scbon gestreift wurde, an der eigenen Lehre des theoreti- 



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— 40 — 

sehen Kritikers Kant halten und alles Apriori nur als 
einen gewissen Grundzug denken, welcher an sich noch 
'ganz unbestimmt ist und erst der näheren Ausfüllung durch 
das konkrete Leben wartet. Von einem irgend kodificirten 
eisernen Bestand an fertigem ethischen Wissen, den die 
Menschheit von Anfang an in sich getragen hätte, kann 
in der That keine Bede sein. Wir bezeichnen heutigen 
Tags mit unserem moralischen Bewusstsein — oder Ge- 
wissen im gewöhnlich üblichen Sinn — einen grösseren 
oder kleineren Complex von sittlichen Einsichten und Ge- 
fühlen. Durch Eingewohntheit -von Jugend auf scheint 
uns derselbe allerdings nunmehr ein selbstverständlicher 
zu sein; denn er ist uns wenigstens als Wissen zur an- 
dern ^atur geworden, ob wir darnach thun oder nicht. 
Aber desshalb ist es doch fUr die unbefangene Nüchtern- 
heit eine - andere Natur , welche allmählig im Laufe 
der Jahrhunderte und Dank der Entwicklung von yielen 
Generationen so geworden ist und sich zu einem ethischen 
Menschheitsbesitz gestaltet hat. Von Anfang an wirkte 
der eigengeistige sittliche Faktor als Herzpunkt und spor- 
nendes Ideal mit; aber neben ihm gaben j^ar manche 
andere Faktoren, insbesondere auch der Fortschritt in 
der theoretischen Einsicht und der ganzen WeltaufPassung, 
sowie die steigend sich verfeinernde Sozial- und Geschichts- 
erfahrung ihren Beitrag. 

Zur bessern Vereinbarung mit Kant l&sst sich die 
Sache Tielleicht unter Zuhülfenahme der theologisch-ethi- 
schen Termini auch so fassen: Das UrsprüngUche ist aller- 
dings für konkrete Fälle die conscientia consequens oder 
das Gewissensurtheil nach der That. Aber durch Wieder- 
holung seiner Verdikte bilden sich im Laufe der Zeit 
Praecedenzen, oder es macht sich die conscientia antecedens 
als die Summe früherer moralischer Urtheile — in diesem 
Sinne Vor -Urtheile der Menschheit Sie geben fortan 
vor der That schon die Anweisung aufs Biohtige, so dass 
der Mensch nicht mehr ethisch führerlos in der Welt daher 
geht, oder das Seinsollende immer erst zu spät erfährt. 
Noth wendig wird auch in diesem Falle das individuelle 



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— 41 — 



Gewissen sein Placet noch extra zu geben haben, damit 
die Sache nicht jenes blos theoretische Wissen -mit- 
Anderen statt des ächten Grewissens bleibe. Allein das 
letztere ist durch das bereits etablirte Urtheil der Mit- 
menschheit zur persönlichen Entscheidung aufgefordert und 
durch die theoretisch -praktische Beleuchtung der Erage 
Ton Seiten Anderer auch zu einer Antwort bef fthigt. So 
wird es dieselbe rasch und entschieden geben können oder 
sich schnell in die ethische Errungenschaft der Vorge- 
schichte persönlich einleben, während es ohne eine der- 
artige Anregung und Vorarbeit entweder ganz schwiege 
oder für sich allein noch unsicher tastete. Diess vorbehalten 
wird der material-konkrete Grehalt des Gewissens in der 
That als Entwicklungssache und nicht als ürbesitz zu be* 
zeichnen sein. 

Auf diese Weise nähern sich die beiden Glieder des 
allzugespannten Gegensatzes von Glückscligkeits- und Sitt- 
lichkeitserkenntniss dergestalt, dass sie den erheblichen 
Gegensatz gar nicht mehr bilden, welchen Kants Bedenken 
betont hatte. 

Hiermitdürften also auch wir das Apriori des Ethischen 
mit der entsprechenden Forderung der Allgemeingültigkeit 
und Ifothwendigkeit gewahrt haben, indem wir zugleich 
dem Aposteriori sein Becht geben, wie es nun einmal von 
der klfuren Wirklichkeit gefordert und nicht minder you 
den Grundsätzen des Kritizismus zugelassen ist 

Trotzdem würde uns wohl Kant entgegnen, dass diese 
ganze Einzelvertheidigung nichts helfe, sofern in unserer 
Fassung des sittlichen Apriori von Anfang an ein prin- 
zipieller Fehler enthalten sei. Wenn wir im ethischen 
Prinzip die Materialbestimmung oder die Beziehung auf 
Wohl auch noch so allgemein und unbestimmt fassen, so 
seien eben material und apriori Begrifie Ton unverein- 
barer Gegensätzlichkeit, was wir übersehen oder zu ver- 
hüllen suchen. Nun ist ja bekannt , welche grosse und 
überall durchgreifende Rolle im ganzen System unseres 
Philosophen diese Arbeitstheilung spielt, wonach alle Form 
Sache des Subjekts oder Ich und Apriori, aller Stoff dagegen 



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— 42 — 



Beitrag des Micht-Ich oder Aposteriori ist. Unleogbar 
hat diese resolate und reinlicbe Gebietetbeilung, welcbe 

an Locke anknüpft, seinerzeit ihr Griites gehabt, um gegen- 
über von manchen Unklarheiten und tiiessenden Zweideutig- 
keiten nur einmal Ordnung zu schaffen. An sich aber und 
auf die Dauer dürfte sie denn doch an einer unhaltbar 
dualistischen Abstraktheit leiden, in welcher gar manche 
M&ngel des Kant'schen Denkens ihre £rkl&mng finden. 
Sind im Theoretischen und Praktischen der 8ubjektiT-> 
apriorische und der objektiT- aposteriorische Faktor zur 
lebendigen Ineinsbildung bestimmt, so dürfen sie sich nicht 
von vorneherein wie A und non-A. verhalten; sonst bleiben 
sie sich allezeit total äusserlich. Es kann z. B. Nichts 
in eine i^Form^' fallen oder in sie befasst werden, was seiner 
Natur nach mit dieser Form auch nicht das Entfernteste 
zu schaffen hat, wie man sich unter Anderem vielfach das 
Verhaltniss des Dingsansich zur Baamanschanungsfonn 
dachte. Will man überhaupt die Termini Form und Stoff 
fftr den Torliegenden Fall beibehalten, so mftssen jedenfalls 
beide Begriffe in ein viel tliessenderes und dialektischeres 
Verhältniss zu einander s^esetzt werden. Man muss hin 
und her eine innere Verwandtschaft oder Vergleichbarkeit 
und eine gegenseitige Annäherung annehmen, um hinterher 
den wirklichen Zusammenschluss herauszubringen. Eben 
diess haben wir gethan, indem wir schon in das ethische 
Prinzip oder Apriori das Moment des Wohls wenn auch 
ganz allgemein und unbestimmt aufiiahmen, um ihm die 
konkrete Bestimmung und nähere Detailirung in der be- 
herrschenden Bezugnahme zu den wesensverwandten, weil 
gleichfalls auf Wohl gerichteten empirischen Willens- 
regungen zukommen zu lassen. Und insofern glauben wir 
durch unsere leicht materiale Wendung das Apriori nicht 
alterirt, sondern nur lebenswahrer und brauchbarer für 
den weiteren Verlauf gefasst zu haben. 

Diese Sätze, welche allerdings selbst etwas abstrakt 
oder gar abstrus klingen, werden ihre nähere Verdeutlichung 
sogleich erhalten, wenn wir uns nunmehr Yon den kritisch- 
formalen Bedenken Kant's gegen das Wohlprinzip zu den 



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9 



— 43 — 

mehr inhaltlichen, psychologisch-metaphysischen 
Ausstellungen wenden, welche er demselben mit Hinsicht 
auf seine ethische Bestimmung machen zu müssen glaubt. 

Wie sich der Leser erinnern wird, so konnten und 
mussten wir unserem Philosophen früher mit Aufrichtigkeit 
und voller Ueberzeugung beistimmen, als er den Egoismus 
durch alle Schlupfwinkel und Maskirungen hindurch Schritt 
für Schritt mit ansdanemder Energie yerfolgte. Erst auf 
der letaten Station trennten sich unsere Wege. Es war 
bei dem selbstlosen Glückseligkeitsstreben für Andere oder 
bei dem universalen Wohlwollen. >ieiinen wir dasselbe 
nunmehr vollends mit seinem gewöhnlichen und allbe- 
kannten psychologisch-ethischen Namen, so ist es die Liebe 
als allgemeine Menschen- resp. Wesensliebe. Ihr vermochten 
wir unsere volle sittliche Billigung oder das Urtheil nicht 
mehr zn versagen , dass sie mit dem Guten selbst genau 
identisch sei Kant dagegen glaubte auch sie noch in das 
umDassende Yerwerfungsurtheü über den Eudämonismus 
als ein materiales Moralprinzip miteinschliessen zü sollen, 
obwohl allerdings seine Aussprüche über sie der Natur 
der Sache nach nicht immer ganz gleich lauten, sondern 
mancherlei Schwankungen und einen gewissen Mangel an 
sicherer Konsequenz verrathen. 

Halten wir uns indessen zunächst an bestimmte und 
ausdrückliche Erklärungen von ihm, so hat er gegen die 
Ldebe vor Allem das inhaltlich-psychologische Bedenken, 
dass sie zugestandener Massen eine Sache der Empfin- 
dung sei; und schon desshalb eigne sie sich nicht zum 
Prinzip des Guten, V. 228. Denn die Emptindung. führt 
er aus, ist etwas Passives; sie kommt an und über den 
Menschen ohne sein Wissen und Wollen. So könne man 
denn auch bekanntlich Keinem die Liebe anbefehlen, son- 
dern müsse abwarten, ob sie sich einstellt oder ausbleibt. 
Wäre sie also das innerste Wesen des Guten, so würde 
dasselbe der kompleten Zufälligkeit wechselnder Gteföhle 
preisgegeben, während es doch umgekehrt das sittlich Noth- 
wendige im vollsten Sinne ist und Jedermanns Willen als 
PÜicht und Schuldigkeit muss zugemuthet werden können. 



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— 44 — 

"Wer die Liebe als das Höchste preist, der nimmt somit 

dem Sittlichen seinen imperativen Ernst und sein kate- 
gorisches Mark; er verwandelt es in eine Gabe der Natur 
und der l)eliel)igen Umstände, in eine wildwachsende Pflanze, 
womit der glückliche Finder und Besitzer ohne wahres 
Verdienst und Würdigkeit sich Wunder was dünkt. Wir 
erhalten mit Einem Wort auf praktischem Gebiet die fatale 
Verwandlung der Arbeit in Spiel und jenes süssMche Tän- 
deln mit anfliegenden und aufwallenden Empfindungen oder 
Stimmungen, weldievor dem oberflächlichen Blicke glänsen, 
ohne irgend ächtes Gold und eigener saurer Erwerb zu sein. 

Wenn ein so ruhiger und besonnener Mann wie Kant 
derartige Ausführungen zum Theil mit ungewöhnlicher 
Erregung gibt, bei welcher ethischer Zorn und beissender 
Spott mit einander abwechseln, so findet diess seine nächste 
und natürlichste Erklärung durch den Typus der Zeit, in 
welcher er lebte und wirkte. l[nd gegen ihn bildete er 
unter allen UmständeUi selbst wenn er über das Ziel hinaus- 
schoss, eine höchst berechtigte und werthyoUe Opposition. 
War es doch die bekannte Sturm- und Drangperiode mit 
ihrer Rousseau'schen Emptindungsüberfülle und thränen- 
seligen Sentimentalität, eine Zeit des flachsten Pelagianismus, 
welcher alle Menschen für geborene Engel ansah und in 
der Anbetung des guten Herzens oder der schönen Seele 
schwelgte. Eine solche Hypertrophie des Empiindungs- 
▼ermögens und des süssUchen Liebes^ oder Ereundschafts- 
kultus* bedurfte in der That des kerngesunden Arztes, als 
was ihr Kant entgegentrat. In ähnlicher Weise pflegt 
erfahrungsmässig namentlich die Misere der tausenderlei 
Frauenkrankheiten und der faullenzerisch-nervösen Hysterie 
eine gewisse derbe Härte und Rücksichtslosigkeit des ewig 
anlamentiiten Mediziners zu provoziren. 

Auf geistigem Gebiet hatte die schallose Empfind- 
samkeit jener Werther-Zeit nicht nur alles Mass in sich 
selbst yerloren, sondern sie rergass auch ebendamit, dass 
ihre Art in bescheidenen Grenzen höchstens die Basis des 
Guten und noch lange nicht mehr sei. Aus einer solchen 
Umgebung heraus spricht die Kritik der praktischen Ver- 



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— 46 — 



minft, wenn sie einmal mit markigen Worten sagt: „In 
unseren Zeiten, wo man mehr mit schmelzenden weieh- 
hexEigen Glefühlen oder hodifliegenden, auf blfthenden und 
das Herz eher welk, als stark machenden Anmassungen 
über das Gemttth mehr auszurichten hofft ^ als durch die 
der menschlichen UnvoJlkommenheit und dem Fortschritt 
im Guten angemessenere trockene und ernsthafte Vorstel- 
lung der Pflicht, ist die Hinweisung auf diese Methode 
(des kategorischen imperativ) nothiger als jemals" IV, 282. 
Treifend formulirt diess Schiller dahin^ dass Kant der Drakon 
seiner Zeit hahe sein müsaen, weil sie f&r einen Selon 
noch nicht reif war. 

Im Ansdüuss an dieses feine ürtheil glaube ich, dass 
fijtnt in der That auch hier wieder ein yoUkommen be* 
rechtigtes Interesse überspannt und das liichtige deshalb 
nicht ganz getrofi'en hat, weil er es, abgestossen von dem 
vulgären Treiben seiner Zeit allzuhoch suchte. Die wild- 
wachsende Gutmüthigkeit oder Gutartigkeit des natürlichen 
Herzens hndet vor seinen Augen keine Gnade, wenn sie 
eich fOr das wahrhaft Grute ausgeben wilL Wir können 
ihm darin in der Hauptsache gerne beistimmen, obwohl 
sich nachher noch Gelegenheit zu einer einschränkenden 
Bemerkung bieten wird. Allein folgt denn nun aus der 
Zurückweisung dieses ethischen Naturalismus, dass an seine 
Stelle scharf ausgedrückt etwas Unnatürliches gesetzt werden 
' müsse, wozu sich Kant unleugbar hinneigt? 

Zwar fehlt es auch hei ihm nicht an gelegentlichen 
Andeutungen des Bichtigen, wozu ich besonders die bei 
ihm merkwürdige Stelle V, 295 rechne, an welcher er 
sagt: 1,0b zwar Mitleid und so auch Mitfreude mit Andern 
zu haben, an sieh selbst nicht Pflicht ist, so ist doch th&tige 
Theilnahme an ihrem Schicksale Pflicht, und zu dem Ende 
also die mitleidigen natürlichen (ästhetischen) Getiihle in 
uns zu kultiviren und sie als soviele Mittel zur Theil- 
nehmuiig aus moralischen (irrundsätzen und dem ihnen ge- 
mässen Gefühl zu benutzen, wenigstens indirekte Ptiicht. 
So ist es Pflicht, nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, 
denen das Hothwendigste abgeht, zu umgehen, sondern sie 



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— 46 — 



aufzusuchen; nicht die Krankenstuben oder die Gefängnisse 
der Schuldner und dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften 
Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne , aus- 
zuweichen; weil dieses doch einer der in uns Ton der Natur 
gelegten Antriebe ist, dasjenige zu thun, was die Pflidit> 
Torst^Uung für sich allein nicht ausrichten wftrde''. 

Diese Sitze sind för uns in der Hauptsache ganz 
brauchbar; nur müssen sie viel resoluter verfolgt werden, 
als Kant in seiner Scheu vor jeder naturalistischen Ver- 
weichlichung des Sittlichen es wagte. Denn olfenbar gibt 
es ja zwischen bioser Natur und Unnatur noch ein Drittes, 
in welchem genau das Wahre liegt. Ich meine eben jene 
Kultur des Natürlichen, die arbeitende Pflege und sich- 
tende Hegung desselben, wodurch es zuletzt zu einer anderen 
Natur zweiten Ghrads wird. Die natürlichen Begungen und 
Triebe nämlich, welche das unmittelbare Material der sitt- 
lichen Arbeit bilden, haben nach Schopenbauer*s treffendem 
Ausdruck auch eine metapli\ sisclie Seite an sich, vermöge 
welcher sie eben ethisirhar sind und sich in eine höhere, 
als die blos natürliche Sphäre ihres unmittelbaren Daseins 
keraulbeben lassen. 

Insbesondere kommt für unseren Zusammenhang in 
Betracht^ dass der sociale Zug oder der Keim der Liebe 
einem jeden Menschen von Natur und von Haus aus eignet. 
In seiner elementarsten Form ist es das Mitfühlen mit 
fremden "Wesen in Leid und Freude, welches sich ohne 
künstliche Verkümmerung unfehlbar von selbst einstellt oder 
die communio sentieudi necessaria bildet, von der Kant 
selbst ganz treffend spricht V, 294. Sie braucht eben 
deshalb gar nicht befohlen zu werden und Hesse sicfi aller- 
dings auch durch keinen Befehl erzwingen oder original 
erzeugen, wenn sie einem Wesen Yon Natur schlechthin 
fehlte. Wohl aber kann und wird die ethische Forderung 
dahin gehen, diese communio sentiendi necessaria zu einer 
communio libera zu machen, von welcher Kant weiter 
redet und zugibt, dass sie nunmehr der sittlichen Verbind- 
lichkeit unterliege oder verlangt werden könne. Allein 
die letztere communio ist nichts absolut Keues und Eigen- 



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— 47 — 



airtigds gegenüber Yon der ersterea, soadem nur diese selbst^ 
aus der unmittelbaren und unfreiwilligen Empfindung in 
die Sph&re der Freiheit erhoben, zur klarbewnssten und 
stetig gewollten Empfindung gemacht und weiterhin, wozu 

gleichfalls in ihr selbst der Ansatz liegt, namentlich auch 
aus der Passion der blossen Empfindung zur Reaktion des 
entsprechenden thatkräi'tigen Wollens und Handelns fort- 
entwickelt. £8 hat also einen ganz guten und vernünftigen 
Sinn, wenn man Terlangt: Du sollst den natürlichen Zug 
der Liebe, welchen du wie jedes normale Mensohenwesen 
in dir Torfindest, ja fein nicht unterdrücken und sch&digen^ 
sondern im Ghegentheil als die edelste unter deinen natür- 
lichen Regungen hegen, pflegen und bevorzugen, damit 
sie durch Aufnahme in deinen vernünftigen Willen und 
durch Verwachsen mit ihm das gute Prinzip deines ganzen 
Lebens und Strebens werde. 

Wir sprachen früher vom Qrundwillen oder Gewissen 
mit seiner Forderung des universellen Wohlwollens und 
hatten daran sozusagen das überpersönlich Q-ute. Die 
dem Guten zugewandte , weil innerlich yerwandte natür- 
liche Eegung der Sympathie können wir vielleicht das 
noch unterpersönliche Gute nennen. Jenes Verlangen, 
die natürliche ßegung in der bezeichneten Weise zu ethi- 
siren, will nun nichts Anderes, als durch den freithätigen 
Zusammenschluss beider Seiten genau das persönlich 
Gute herstellen. Insofern wird die Liebe in der That als 
Gebot und als etwas auftreten dürfen, das gefordert, weil 
gelernt werden kann. Gefordert und gelernt wird sie nicht 
als erste Natur, sondern in dieser Form ist sie gegeben 
und wird ob auch noch so keimartig vorgefunden; aber 
gefordert und gelernt wird deren Erhebung zur zweiten 
höheren Natur, zum freien Erwerb und furchtbringenden 
Besitz der sittlich an sich arbeitenden Persönlichkeit. 

Nur bei einer derartigen und wie ich glaube lebens- 
wahren Anschauung über das Verhaltniss des sittlichen 
Prinzips, des Gewissens oder Sittengesetzes, zu dem System 
der natürlichen Begungen und Triebe ist es auch möglich, 
die erforderliche Ganzheit und Harmonie der ethischen 



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— 48 — 



Entwicklung oder Charakterbildung herauszubringen. Kants 
Moral dagegen Terwirft in ihrer aberschieesenden Anti- 
pathie gegen das blos NatOrliche ersten Grads meist und 
überwiegend auch die andere freiangebildete Natur und 
bleibt damit in jenem so oft gerügten Dualismus Ton Sollen 
und Sein definitiv hängen. Denn sie nimmt von Anfang 
an zwischen dem sittlichen Prinzip als der Form einerseits 
und dem natürlichen Wesen als seinem unmittelbaren Objekt 
oder dem Stoffe andererseits keine innere Beziehung und 
Berührongsmdglichkeit an, wie wir es hiermit thaten. 
Allerdings yerdient Etwas den vollen Namen des GKiten 
erst dann, wenn es [durch die kontroUirende,* reinigende 
und festigende Instanz desSittengesetses hindurchgegangen 
ist; oder mit andern Worten ist Alles zum Mindesten sitt- 
hch mangelhaft, was nicht vom Gewissen gutgeheissen und 
gebilligt wurde. Aber wohl})emerkt: ich sage, es w^ird gut 
geheissen und billigend als gut anerkannt; also liegt diese 
Qualität dem Keime nach schon in seiner eigenen Natur, 
und daher fällt ihm die Billigung des mit ihm harmoni- 
renden Gewissens zu; nicht aber wird ihm das Gutsein als 
solches durdb den Spruch des Gewissens erstmals im strengen 
Sinne gegeben und gewissermaseen ftusserlich angeh&ngt, an 
welche mangelhafte AufiEassung Kant zuweilen nahe an- 
streifen dürfte. 

Durch diese Darlegungen dürfte es uns wohl gelungen 
seiUj die Liebe trotz ihres ursprünglichen Empfindungs- 
charakters als ganz brauchbares ethisches Prinzip zu er- 
weisen. Denn auf der geforderten höheren Stufe ist sie 
in der That nicht mehr blos Empfindungssache, sondern 
muss weit eher als Temtknftige Willensrichtung auf der 
Basis der stets mitklingenden Empfindung bezeichnet werden. 
Am richtigsten heisst sie dann Gesinnung oder Gemtkth und 
ist somit als eine ungetheilte Centraifunktion des ganzen 
Geistes anzusehen, welche psychologische Weite der Be- 
stimmung sich für das Kardinaimoment des Guten eben 
schickt. 

Allein nun erhebt der formale Bigorisinus, wie wir an 
der Spitze bereits kurz ankündigten, noch einen zweiten 



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— 49 — 



% 



ufid "«reit bedenklicheren Einwand, welcher nach unserer 

gemeinsamen Verwerfung des Egoismus die Liebe geradezu 
ins Herz zu treffen scheint, so dass alle bisherige Aussen- 
vertheidigung schliesslich doch vergeblich wäre. Wir führten 
oben die kategorische Erklärung Kant's an, dass aller £udä* 
monismus praktischer Egoismus sei. Nach seinem, wie 
nach unserem Sprachgebrauch von Endämonismus ist durch 
dieses so umfeissende Verdikt offenbar auch die Liebe mit* 
getroffen, Ton welcher wir bisher rühmend sprachen und 
die wir ohne Anstand mit dm säbstiosen Eudftmonismus 
identisch setzten. 

In der That spricht es Kant zwar nicht gerade mit 
platten und dürren Worten aus, deutet aber dennoch an 
vielen Stellen yerständlich genug an, dass eine derartige 
Mitverwerfung der Liebe schliesslich seine wahre Meinung 
sei. Denken wir uns nämlich den Fall, dass ich Etwas 
aus Liebe zu Anderen oder aus Freude am Ziel und Er- 
folg meines Strebens f&r sie thue, so thue ich es^ wie er arg- 
wöhnt, in Wahrheit doch mir selbst zu lieb. Der wahre 
Beweggrund sei auch dann noch meine eigene Lust, oder 
bei der Hebung fremden Weh's die Wegschaffung meines 
eigenen sympathischen Schmerzes. Alles Wohlwollen ent- 
hülle sich vor der unerbittlich strengen Analyse als Selbst- 
genuss, alles Mitleid als Selbstleid, welclies sich aus An- 
lass und bei G-elegenheit eines fremden Leids entwickele. 
Das Literesse des Andern bilde sozusa^^en das' Brenn- 
material oder den Feuerherd meiner eigenen Srw&rmung 
und sei demnach blos das selbstlose Mittel Air den selb- 
stischen Zweck. Sagen wir es also — nach Kant — frei 
heraus: Auch die Liebe ist verkappter Egoismus und muss 
somit jedenfalls aus der Motivirung meines Handelns gänz- 
lich ferne gehalten werden. 

Hier ist nun genau der Ort, wo die bekannten Spottverse 
des treuen, aber selbständigen Kantianers Schiller einsetzen: 

„Gerne dien* ich. den Freunden; doch ihn* ich es leider mit J^eigung» 
Und so wurmt es mich oft, das3 ich nicht tugendhaft bin." 
Da ist kein anderer Ratii, du musst suchen, sie zu verachtea, 
Uad mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut. 



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— 60 — 



Der Spott ist berechtigtl Dean in der That verstötst 
die letzte Konsequenz Kant's gegen alles natOrlicbe und 
uny erkünstelte Gefühl; sie erscheint als ein barockes Para- 
doxon, welches die sittliche Welt auf den Kopf stellt und 
ans weiss schwarz macht. Allein bekanntlich war es dem 
edlen Manne damit heiliger Ernst, und nichts lag ihm 
ferner, als jene muthwillig sophistische Lust am Paradoxen 
oder gar die cynische Freude, welche das Ideale mit Wonne 
in den Staub zieht. Verbunden mit der letzteren Gesin- 
nung finden wir allerdings dem Worte nach fiftst die gleichen 
Sätze bei mehreren unter den französischen Encyklopädisten 
des vorigen Jahrhunderts. Ihrer nihilistischen G«istes- 
chemie war es ein Hochgenuss, alle Liehe in feine Selbst- 
sucht zu zersetzen. Hiernach entdeckten sie in der Vater- 
landsliebe oder in der Freundschaft und in allen ähnlichen 
Idealitäten jenen vermeintlich allein wahren und soliden 
Bodensatz als die Quintessenz und des Pudels Kern. Die 
Selbstsucht ist, wie sie offen erklären, de facto das einzig 
treibende Moti? in der Welt» also ist sie es auch de jure; 
denn es yersteht sich ja für den soliden Empiriker yon 
selbst, dass das schlechthin NatQrliche und Wirkliche mit 
dem Wahren und Richtigen sich restlos deckt. 

Unser Kant gewinnt aus verwandter Grundanschauung 
genau die entgegengesetzte Folgerung. Auch ihm will die 
Liebe doch am Ende nur als die feinste Maskirung der 
Selbstsucht erscheinen, also — ist sie aus der Motivirung 
des Willens oder gar aus dem Leben überhaupt unerbittlich 
zu yerbannen, sofern ja Selbstsucht „das gerade Wider- 
spiel'' des Seinsollenden oder Sittlichen bildet 

Wenn bei so diametral entgegengesetzter Ghesinnung 
und Folgerung die Prämisse in beiden Lagern so ähnlich 
ist, dann muss uns dies jedenfalls stutzig machen. Sollte 
am Endo doch wenigstens ein Stück Walirheit in jener 
gemeinsamen Position stecken, indem mit dem Einen Ter- 
minus „Liebe^' Erscheinungen und Gesinnungen Ton ganz 
▼erschiedenem Werth bezeichnet würden, unter welchen 
die geringeren leicht auch die besseren in Verdacht bringen? 
Es Tersteht sich zwar von selbst, dass uns hier so klare 



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— 51 — 



Speoifioa^ wie die geschleohtilicbe Liebe oder ähnliche Yeiv 
h&ltnisse von exklusiver Eigenart zunächst gar nicht he- 

schäftigeD. Allein selbst dies vorausgesetzt könnte am 
Ende sogar dabjeni^re Gute, welches wir unter dem Namen 
der allgemeinmenschlirhcn Liebe befassen, wirklich gewisse 
elementare J^^ormen und Vorstufen besitzen , welche die 
P^andhahe bieten, um auch das entwickelte und gereinigte 
Ghmze in jener Weise zu diskreditiren und des feineren 
Egoismus beztlchtigen zu machen. 

Zwar wird es uns Ton Anfang an durch das natür- 
liche Gefühl mit unerschfttterlicher Sicherheit yerbttrgt, 
dass daneben ein weitüberschiessender Kest vorhanden sei. 
"Wenn derselbe trotzdem von entgegengesetzten ethischen 
Standpunkten aus tibersehen werden konnte, so wirkte 
dabei vielleicht fürs Zweite eine tiefersitzende allgemeine 
Denkweise und Geistesrichtung jener Zeit mit Es war 
möglicherweise neben allem Anderen ein weitverbreitetes 
psychologisch -metaphysisches GeneralYorurtheü, was der 
Würdigung der Achten liehe mit im Wege stand und 
dessen richtigstellende Aufdeckung unserer Kritik zuletzt 
noch obliegt. 

Blicken wir iin))efangen ins wirkliche Leben, so be- 
gegnet uns allerdings gar zahlreich, was wir oben ver- 
mutheten: ich meine jene noch recht elementaren und 
zweifelhaften Formen des Wohlwollens insbesondere in 
seiner negativen Gestalt als Mitleid. Fremdes Wdie mit- 
anzusehen, ist Einem ein persönlich fataler Anblick. Das- 
selbe legt sich wie ein drückender Alp auf die eigene 
frohgemuthe Stimmung und stört die harmlose Lust des 
Daseins, welcher man sich sonst gerne hingeben möchte. 
Also weicht man womöglich derartigen Missklängen der 
Welt als persönlich störenden Situationen ganz aus, um 
nicht vom fremden Schmerz in Mitleidenschaft gezogen und 
sozusagen angesteckt zu werden, wie vom fremden Gähnen, 
wenn wir Andere gähnen sehen (YgL Kant IV, 125). Geht 
das Ausweichen nicht an, so sudbit man sidi wenigstens 
dieses Mitschmerzes so rasch und knrzabmachend als mög- 
lich durch helfende Unterstützung des leidenden Anderen 



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— 52 — 



zu entledigen oder sieh selbst den Mitschmen gewisser- 
massen abzukaufen. 

"Was sollen wir im Punkte des Egoismus, auf welchen 
wir hier fahnden, von derartigen Stimmungen halten und 
urtheilen, welche wir untor einem etwas anderen Gesichts- 
punkte schon einmal zu berühren hatten? So, wie ich sie 
. absichtlich schilderte, ist ihr stark selbstischer Charaktej 
unverkennbar; ich möchte sie geradezu den sehr häufigen 
Egoismus des empfindsamen oder sentimentalangelegten 
Herzens nennen und sagen, dass hier das sich regende 
Gute leider schon im Keime umgebogen und der Haupt« 
Sache nach verdorben erscheint. Denn an und für sich 
wären solche moralisch-pathologische Regungen der sym- 
pathischen Theilnahme, wie ich oben schon anstreifte, 
immerhin als die erste Naturetappe auf dem Weg zur üeber- 
windung des eigentlichen Egoismus zu bezeichnen. Gewiss 
sind sie auf der Stufe der bloseu Natürlichkeit noch keine 
wahrhalt ethische Wirklichkeit oder nichts, was schon 
ganz streng genommen unter die sittliche Taxation fUlt. 
Aber dennoch dürfen wir sie als eine bedeutsame etiiisohe 
Möglichkeit anerkennen, aus welcher eyentuell etwas Rechtes 
werden kann. Sie sind jedenfalls der Naturboden des Guten, 
wenn auch noch nicht mehr. Dies wird durch den Kontrast 
klar. Man nehme auf der Einen Seite ein Gemüth, das 
bei fremdem Wehe sogleich aufwallt und unwillktirlich bei- 
springt, wenn geholfen werden kann. Auf der anderen 
Seite stehe eine zugeknöpfte Herzlosigkeit mit dem still- 
schweigenden schnöden Lebensmotto: Was gehet das mich 
' an? Da sehe du zu! Welches von Beiden ist nun die edlere 
Natur, von der wir uns ethisch mehr versprechen können? 
Das Urtheil des unverkünstelten Bewusstseins wird keinen 
AugenbHck mit der Antwort schwanken oder zögern. 

Kaut freilich ist in der eiserneu Konsequenz seines ein- 
mal angenommenen abstrakten Formalismus etwas anderer 
Ansicht, wenn z. B. die „Anthropologie*^ gelegentlich den 
meriLwtkrdigen, allerdings nicht ganz deutlichen Satz aus- 
spricht: „Die Bösartigkeit als Temperamentsanlage ist doch 
weniger schlimm, als die Gutartigkeit der letzteren ohne 



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I 



— 68 — 

Charakter. Denn durch den letzteren kann man über die 
erstere die Oberhand gewinnen" X, 326. Ganz Aehnliches 
lesen wir IV, 16 f., während allerdings die oben citirie 
Stelle über die Pflege der mitleidigen Naturaidage einiger- 
massen ans der Bolle WXt 

' Soviel ist immerhin dem strengen Moralisten im An- 
schluss an Frftberes zuzugeben^ dass die eben geschilderten 
Regungen als eine Art von geistigen Reflexbewegungen 
zunächst lediglich aufwallende Passionen sind; daher treten 
sie stossweise, unbedacht und inkonsequent auf. Bei einem 
schwereren Falle, welcher ernstliche persönliche Opfer 
kostet^ werden sie sehr schwerlich Stich und Stand halten, 
sondern sich als flackerndes Strohfeuer erweisen, das keine 
nadihaltige Wirme gibt. Bs fehlt ihnen vorerst die Festig- 
keit und Klarheit eines vemttnftigaktiven Prinzips. Darum 
werden sie meist sogleich bei dem positiven Korrelat des 
Mitleids, nämlich l)ei der Mitfreude mankiren und an deren 
Statt leicht den hässlichen Neid produciren. Die Sprache 
ist auch hier wieder sehr fein. Indem sie in ihrer haus- 
hälterischen Art nur descriptiv verfährt oder die über- 
wiegende Wirklichkeit schildert, hält sie den weniger 
kouranten Artikel der „Mitfreude^* eigentlich nicht auf 
Lager, sondern begnQgt sich mit dem weit mehr üblichen, 
weil leichteren „Mitleid''. Diese unleugbaren Mängel seiner 
Mosen Natarlichkeit sind denn auch der Grund, warum 
das sympathische Mitgefühl so leicht und häutig m jenen 
sentimentalen Egoismus umgebogen werden kann, mit 
weichem wir begannen imd dem allerdin|[^8 auch wir die 
ethische Billigung trotz seiner scheinbaren Annäherung 
an das Wahre noch versagen müssen. 

Shitschieden höher, als jene erste Stufe steht bereits 
die Eltern- und Yerwandtenliebe, welche sich ihrem Wesen 
nach von der gesdilechtlichen Liebe genllgend unterscheidet, 
um in unserem Stufengang gelegentiich yerwendet zu werden. 
Normaler Weise ist sie 'eine konstante Richtung Ton prin- 
zipieller Entschiedenheit, in was sich eben ihre Erhebung 
aus der ganz elementaren Basis in die höhere Region des 
geistigen Lebens ofl'enbart. Können wir sie noch Egoismus 



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— 54 — 



nennen oder nicht? Anch hier wieder möchte ich, nur ans 
etwas andpren CTrlinden, mit Ja und Nein zugleich ant- 
worten, also abermals eine Mittelform von Egoismus und 
Nichtegoismi^s erblicken. Denn das volle konkrete Leben 
weiss die Gegensätze ganz anders zu verflechten und weit 
feinere chemische Yerhindungen herzustellen, als sie unser 
relativ hölzernes Denken nachzukonstruiren Termag. Man 
kann also meinethalb im obigen Falle Ton figoismus reden, 
indem Kinder oder nahe Verwandte immerhin ein „Stack** 
von uns selbst sind. Und dodi sind ' sie eben nicht wir 
selbst, sondern diskrete Persönlichkeiten für sich. Wenn 
wir uns thätig um ihr Wohl und Wehe bemühen, so zeigt 
die psychologisch - ethische Selbstbeobachtung unwider- 
sprechlich, dass gegenüber von den obigen Aufwallungen 
der sentimental mitempfindenden Naturgutmüthigkeit das 
eigene Selbst hier wieder nm ein ganz Beträchtliches weiter 
zurflckgetreten ist. An eigene Lust oder Schmerz denken 
wir jetzt doch eigentlidi nicht mehr, sondern der Schwer» 
pnnkt des Interesses ist bereits fast ganz in das Sein des 
Anderen hinüberverlegt. Jenes eventuelle „Ausdemwege- 
gehen" vor dem Wehe des Theilnahmebedürftigen, welches 
für die wahre Gesinnung so verrätherisch ist, wird hier 
gewiss keine Stätte mehr finden , sondern es wird genau 
das Gegentheil der Fall sein, solange irgend noch die ent- 
fernteste Hofihung des Helfenkdnnens Yorliegt Sogar die 
grössten persönlichen Opfer werden nnter Umständen als 
Feuerprobe die hohe Lauterkeit der Gesinnung bewähren. 

üm der mächtigen Naturrerhundenheit willen, welche 
dabei mitwirkt, wollen wir immerhin auch Derartiges 
noch nicht dem eigentlich Sittlichguten gleichstellen; wohl 
aber bezeichnen wir es als das vollkommene Naturgute. 
Wenn irgend Etwas, so ist dies die hochwichtige Natur- 
schule, in welcher die Ueberwindung des menschlichorigi- 
nalen Egoismus überhaupt gelernt wird. Ob nicht die über- 
wiegende Erfahrung an den Ehelosen einiger Massen dafOr 
spricht? Vielleicht lässt sidi .Ehe und Familie völlig unter 
diesen ethischen Kardinalgesichtspunkt stellen und yon 
ihnen sagen, dass die Natur als weise Pädagogin es treff- 



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— 65 — 



lieh eingerichtet hat, wenn sie die centrale sittliche Auf- 
gabe der Selbstverleugnung durch eine lockend eingegebene 
Mittel- und Mischform von Egoismus und ^ichtegoismus 
erleichternd anbahnt. 

Nun soll aber auch noch die letzte Spur von Selb- 
stischem fallen. Der Andere, um dessen Wohl und Wehe 
es sich handelt) sei für mich natürlich angesehen ein TÖllig 
Fremder, und mein „Nächster'' nur noch durch die Tor- 
liegende Yeranlassung seiner Noth und durch die Mög- 
lichkeit, dass gerade ich ihm helfe. Denn das ist ja doch 
wohl klar, dass die lediglich generelle Verwandtschaft 
durch den Gattungsbegriff .,homo", resp. „animal" eine 
mehr als homöopathisch verdünnte Verwandtschaft ist, welche 
schlechterdings kein praktisches Moment auf der Wag- 
schale mehr bildet. Gewiss wird Niemand einem solchen 
Wesen heistehen, weil es etwa im 1000. Grad oder mit 
Htllfe eines Darwinischen Stammbaums gar noch entfernter 
mit Einem yerwandt ist Man hilft ihm, weil man weiss, 
dass es als rerwandtes oder analoges Wesen den Schmerz 
wie wir empfindet, nicht aber springt man ihm in dunkelster 
genealogischer Reminiscenz bei, weil es mit uns verwandt 
ist. Voll und ganz und ohne jeden partikularistischen 
Naturzug liegt jetzt der Accent rein im fremden Wohl 
und Wehe als solchem. Ein leidenschaftslos-aktives Wohl- 
wollen nimmt, ohne jegliche Interessirtheit oder ohne alles 
selbstische Interesse, warmes Interesse am Andern. 

Heräiches Interesse nimmt man allerdings an ihm; 
dies „interesse'' ist aber eigentlich genauer ein „in esse" 
geworden. Es findet nicht mehr die kalkulirende Oscil- 
lation des Gemütlis zwischen mir und dem Andern statt, 
welche die Portionen des beiderseitigen Lustantheils noch 
auseinanderhält; sondern ich habe mich rückhaltslos in den 
Anderen hineinverlegt und lebe hier seine Freude und 
sein Leid als das seinige, und streng begriffilchr nicht als 
das meinige durch. Für den betreffenden Fall oder an* 
dauernd bin ich in ethischem, nicht in psychologisch- 
existenziellem Sinne der Andere geworden. Das Erstere 
ist als geistige T hat möglich, das Zweite eine selbst- 



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— 56 — 

verständliche Unmöglichkeit des Natur das eins. Mein 
Selbst bildet zwar den imerlässlichen persönlichen Träger 
und Ausgangspunkt aller dieser Funktionen , nicht aber 
ihren Zielpunkt oder ihr Objekt. 

Man könnte mir einwenden, dass ja doch zweifellos 
auch die allgemeine Liehe, welche ich hier im Auge hahe, 
eine persönlich angenehme Empfindung f&r ihren Tr&gef 
sei, während die hOsartige Gesinnung des Hasses Anderer 
an dem Hassenden selbst als stiller Schmerz zehre. Also 
mtlsse man trotz Allem dem rigoristischen Ethiker Recht 
geben, wenn er hartnäckig selbst bei der Liebe noch den 
Verdacht eines positiv oder negativ egoistischen Motivs 
hege und sage, man liebe Andere, weil das Einem selber 
wohlthue, und vermeide es, sie zu hassen, um nicht selbst 
Ton der Bückwirkung dieses Giftstoffs leiden zu müssen. 

Zur Beantwortung dieses Einwurfs verweise ich auf 
den früher behandelten und nahe yerwandten Punkt, wo 
die eigene G-ewissensbefriedigung als Motiv erwogen und 
gesagt wurde, dass in diesem Falle das wahrhaft Gute 
noch in letzter Stunde wenigstens getrübt und geschädigt 
erscheine. Es ist ja wahr, dass im wirklichen Leben mit 
seinen tausenderlei Nüancen und seiner steten Neigung 
zur Alterirung des Guten auch diese Spielart der Liebe 
oder des Guten, sei es allein, sei es als zeitweiser Bück- 
fall aus besserer Gtesinnung h&ufig vorkommt; und um des 
unleugbar egoistischen Beigeschmacks willen kann ihr 
ein strenges Urtheü wenigstens die volle und nnverkümmerte 
Billigung nicht ertheilen. Allein ich kann nicht zugeben, 
dass diese Schlusstrübung nothwendig mit der Liebe ver- 
bunden sei, welche wir in ihrer echten und reinen Gestalt 
schildern. Vielmehr kann es recht wohl sein, dass jene 
persönlich angenehme Empfindung, wie bei der lauteren 
Gewissensbilligung, wirklich nur als sekundärer Beflex und 
Nebenempfindung figurirt, also streng logisch betrachtet 
als eine nebenbeiwachsende Frucht, nicht aber als die 
motivirende Wurzel der betreffenden Gesinnung und Hand- 
lungsweise bezeichnet werden darf. Alsdann ist von dem 
entscheidenden Punkte des Beweggrunds alles Selbstische 



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— 57 — 



entfernt, und wir können in ethischer Beziehung völlig 
beruhigt sein, indem das Selbst nur noch in jener unver- 
fänglichen psjchologisch-metaphjsischen Weise mit in Be- 
taracht kommt 

Denn eine noch stärkere Entselbstung als das ge* 
schilderte Leben-im-Anderen ist einfach imyoUzielibar 
und wflrde in das Sinnleere überfliegen^ solange das Selbst 
überhaupt nodi ezistirt und handelt, [was ja begreiflicher 
Massen die erste Voraussetzung für eine sittliche Be- 
urtheilungsmöglichkeit bildet. Fällt es mir doch nicht ein, 
die ethische Bekämpfung des Egoismus in der Art manches 
subjektiv - idealistischen Monismus zu einer metaphy- 
sischen Anfechtung der Egoität und konkreten Einzel- 
heit XU übertreiben, während ich überall gerade umgekehrt 
flir das gute Becht der lebendigempfindenden Indi?idnali- 
mten gegenüber Ton allgemeinen todten Abstraktionen 
kämpfe. Ohne jene nnverklaasnlirte Egoit&t ist weder 
Egoismus, noch Selbstverleugnung überhaupt nur ernstlich 
denkbar, weil nichts da ist, was eben jenen Fehler oder 
diese Tugend hinsichtlich seiner Selbstlieit haben und üben 
könnte. Dies gilt z. B. ganz entschieden gegen die Ethik 
von Schopenhaner, wenn wir sie mit dem subjektiv-idea- 
hstischen Wesensmonismns seiner Metaphysik yergleichen. 
Jene monistische XJebertreibnng des bekannten „tat twam 
asi'' — dies Lebende bist du — nimmt sich meinethalb 
speeios aus und l&sst sich yieOeieht dichterisoii hinreissend 
ausmalen; aber nüchtern betrachtet heisst es doch alle 
Klarheit und praktische Greifl)arkeit in einem chaotischen 
Kebel der Einerleiheit versenken, welcher jedenfalls sittlich 
völlig werthlos ist. 

Kehren wir zu unserem Zusammecnhang zurück, so 
dürfte jetzt wohl einleuchten, dass auf der endlich erreichten 
Station der Verdacht nnd Name des Egoismus in der That 
und Wahrheit seinen Sinn verloren hat Ihn noch weiter 
au führen, wäre nicht mehr blos ein ungenaaer Sprach- 
gebrauch, sondern schwere Sachirrung. Als das ent- 
wickelte Gute K. E. erhe})t sich die wahre und reine 
Liebe mit ihrem selbstlosen Trachten nach Wohl über 



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— 68 — 

jener successiven ätufenreihe you noch gemiscliteii Vor- 
bereitungen. 

Wie es sich gehört, hängen bei ihr, nnd nur bei ihr, 
Gesinnung und Erweis als Wesen und Erscheinung in 
innerlich sachlicher Eonsequenz zusammen und bilden mit- 
einander Eine gerade Linie. Das Wohl, das sie sucht 

und fördert, ist kein Gegenstand, welcher ihr als der guten 
Gesinnung blos zufällig und äusserlich als ein Beiwerk zur 
Aufgabe überwiesen wäre, ^veil nun einmal glücklicher 
Weise das Sittengesetz sozusagen nachträglich just darauf 
und nicht auf das Gegentheil verfallen ist. Denn wirklich 
bieten andere Fassungen des Guten für diese barocke 
Möglichkeit Baum. Dies yerräth sich am grellsten in der 
theologischen Grübelei der Frage, ob nicht Gott .durch 
die Satzung seines HVlllens ebensowohl das Gegentheil des 
jetzt sanctionirten Guten hätte etabliren können. Allein die- 
selbe Konsequenz liisst sich auch für jedes profane Sitten- 
gesetz ziehen, welches in der Vorhalle einer nur formalen 
Bestimmung stehen bleibt. 

Merkwürdig und lehrreich ist in dieser Hinsicht die 
Stellung Kant's. Seine Polemik gegen das Wohlwollen 
oder die liebe als Motiy hindert ihn nichts in der „Tugend- 
lehre'' trotzdem das Wohl- Wollen und Wohlthun oder die 
Förderung fremder Glückseligkeit wenigstens als die Eine 
nach Aussen gerichtete Seite der Sittlichkeit oder als den 
objektiven Inhalt des Guten aufzustellen und auf diese 
Weise dennoch mit dem natürlichen Gefühl eines Jeden 
nachträglich wieder zusammenzutreffen. Allein das prä- 
sentirt sich im Zusammenhang seiner Sätze V, 210 mit 
Hegel geredet „wie aus der Pistole geschossen'', d. h. es 
fehlt an jedem Nachweis des inneren Zusammenhangs 
zwischen dem Sittengesetz als solchem und einem derartigen 
Oljekte, welches es gebietet. Kant macht nicht einmal 
ein Hehl aus dieser Zusammenhangslosigkeit, wenn er 
später den bezeichnenden Ausspruch thut: „Es fällt nicht 
von selbst in die Augen, dass ein solches Gesetz des Wohl- 
Wollens und Thuns überhaupt in der Vernunft liege; viel- 
mehr scheint die Maxime: ,>Ein Jeder für sich, Gott (das 



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— 69 — 



Schicksal) für uns Alle" — die natürlichste zu sein" V, 289. 
Hieran wird, V, 295, die kasuistische Frage geknüpft: 
„Würde es mit dem Wohl der Welt überhaupt nicht besser 
stehen, wenn alle MoraUtät der Menschen nur auf Bechts* 
pflichten, doch mit der strengsten Gewissenhaftigkeit, ein- 
gescb^kty das Wohlwollen aber unter die Adiaphora ge- 
zahlt würde?" 

{Soweit sich unser Philosoph trotzdem auf den näheren 
Nachweis einlässt, dass das Wohlwollen und entsprechende 
Handeln Pflicht sei, geschieht dies in ziemlich künstlicher 
Weise, ja sogar auf eine Art, welche keineswegs frei von 
ethischen Bedenken ist Denn in der Hauptsache kommt 
seine Deduktion V, 219 und sonst, doch nur darauf hinaus, 
dass wir Andern wohlthun sollen, weil wir unter Umständen 
unserer natürlichen Bedürftigkeit halber das 6-leiche auch 
Ton ihnen nöthig haben, einseitige Inanspruchnahme aber 
sich unter der Herrschaft des allen geltenden kategorischen 
Imperativs nicht gebühren würde. Es ist dies eine Be- 
gründung, welche zwar vom 8tan(l]Minkte der praktischen 
Lebensklugheit aus stichhaltig ist, der ethischen Beinheit 
jedoch oder wenigstens der Natürlichkeit stark ermangelt 
und beweist, dass das Prinzip ungenügend gefässt sein 
muss, wenn sich eine Hauptpflicht nicht besser und unge- 
zwungener ans ihm entnehmen lässt. 

Im Gegensatz hiezu hören bei der Bestimmung der 
Liebe als des Guten alle diese Künstlichkeiten oder jene 
oben erwähnten gliederverrenkenden Spitzfindigkeiten für 
Gott und Menschen auf Einen Schlag auf. Sie will nicht 
das Gute als ein von ihr selbst noch Verschiedenes, nach 
dessen Herkimft und Berechtigungstitel noch extra zu 
fragen w&re, sondern sie ist es selbst als Gesinnung; die 
That aber, welche sie Übt, ist die einzig denkbare Aus- 
prägungsweise, welche eine derartige Gesinnung sich über- 
haupt geben kann. Jene ist ihr nothwendiges Echo und 
Alterego, nicht ein unmotivirt dran hängendes opus ope- 
ratum. Wohlwollen kann gar nicht anders als Wohl wollen, 
während jede sonstige formalpfiichtraässige Gesinnung mög- 
licher Weise auch auf Uebel-WoUeu gestimmt und formulirt 



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— 60 — 



sein könnte, wenn der gesetzgebende Despot zufälliger "Weise 
ein Teufel oder ein nihilistischer Tyrann wäre. Freilich 
würde die Welt wenigstens der Menschheit dann sehr bald 
aus Kand und Band gehen. Aber wer sagt denn, dass 
sie überhaupt bestehen solle? könnte der extreme Pessimist 
einwenden. Niemand anders sagt dies, als das grosse 
Gravitationsgesetz der Q^ister und positive Wel^trinzipy 
die Liebe selbst. Sie will das Sein und Wohlsein statt 
des Nichtseins und Uebels, und sucht es prinzipiell zu 
begründen. Auf dem engen Gebiet des inenschheitlich- 
irdischen Lebens denkt sie nicht sowohl in abschliessender 
Rechnung die Theodicce, als dass sie vielmehr praktisch 
und fortlaufend als der göttliche Eunke in der Endlichkeit 
dieselbe übt und successive in ihrem bescheidenen Theile 
herzustellen traditet 

Nur angedeutet soll hiermit - werden, wie auf diese 
Weise auch die BoUe des götüiohen Prinzips überhaupt 
sieh eiheblich innerlicher und geistiger gestalten Iftsst^ 
als es in Kant's Moral mit ihrem soviel gerügten „Deus 
ex machina*' der Fall ist (vgl. besonders auch den Ab- 
schnitt der „Religion innerhalb" — VI, 164 ff.). Denn 
derselbe ist allerdings zumTheil eine Nachbesserung, welche 
die ursprüngliche Mangelhaftigkeit der Grundanschaunng 
hinterher . wieder gut machen soll. Wir suichen dies zu 
vermeiden, indem wir die ethische Potenz von Anfang an 
theologischer fassen. 

Es mödite nun vielleicht scheinen, als ob wir uns mit 
alle Dem in schönen Träumen und hohen Phantasien be- 
wegten, welchen die Grundforderung der soliden Lebens- 
wahrheit völlig abgehe. Wäre dem je so, dann könnte 
uns jedenfalls ein Kant insofern am wenigsten einen Vor- 
wurf daraus machen, als er seinerseits gar oft und tief- 
wahr sagt, dass das Gute gelte und wahr bleibe , ob es 
irgendwo auf der Welt reaHsirt sei oder nicht. Indessen 
darf man das natürlich nicht dahin missversteben oder 
übertreiben, dass jenes auch dann noch gelte, wenn es 
gleich schlechterdings unthunlich und innerlich unmöglich 
wäre. Dies ist jedoch in der That bei der Liebe auch 



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— 61 — 



nicht der Fall. Das beweist schon die Wirklichkeit, sobald 
wir darin auch nur Andeutungen und vereinzelte Aeus- 
serungen des Ideals zu entdecken vermdgen, sowenig es 
irgend ein Sterblicher zam ausnalimslos konsequenten Typus 
seines Lebens wird zu machen vermögen. Aber an jenen 
annSherden Lichtblicken hat es dennoch wahrhaftig keinen 
Mangel Wo irgend etwas Gentes geschieht, da wird eine 
richtige und unverkünstelte Analyse sicherlich jene selbst- 
lose Liebe als den werthgebenden Kern, oh auch vielleicht 
mit mehr oder weniger Schale entdecken. Ihr Mitvor- 
kommen in der Welt wird keine Spitzhndigkeit und kein 
pedantischer Bigorismus wegzudisputiren vermOgeUi und 
würden dieselben auch noch so weit getrieben. 



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fiad&DioiüBmas und figoismiifl, 

eine Ehrenrettung des Wohlprincips. 

* Von 

£• Plleiderer) in Tübingen. 

HL Artikel 

Warum Terschliesst sich nun Kant trotz Allem mit 
einer gewissen Hartnäckigkeit gegen dieses ZngestitoidnisSy 

dass die wahre Ijiebe in der That mit dem Guten selbst 
völlig identisch sei; warum zögert er und weigert sich 
noch immer, Dem beizutreten, während ihm doch bei seiner 
unerbittlichen Befehdung des Egoismus das endlich erreichte 
gerade G^entheil desselben hoch willkommen sein sollte? 

Ohne Zweifel scheint es an manchen Stellen, als ob 
er eigentlich gar nicht so ernstlich von uns differirte, sodass 
ihm der übliche Vorwurf eines kalt-formalen Bigorismus 
ungerechter Welse gemacht wttrde. Auch wir können ihm 
ja gerne beistimmen, wenn er einen Unterschied zwischen 
der „Liebe des Wohlgefallens'' und derjenigen des 
„Wohlwollens'' gemacht wissen will V, 228. 285; ähnlich 
IV, 34 f. Die Erstere ist, wie z. B. in der geschlecht- 
lichen Neigung, Sache der unfreien Emptindung und kommt 
ethisch zunächst nicht in Betracht. Oder wo sie das Motiy 
eines Handelns bildet, ist geradezu einzurftumen, dass dies 
noch ein selbstisches Motiv wftre* Ist sie doch mit Spin osa's 
Affektenlehre etwa zu übersetzen als laetitia (propria) 
concomitante idea causae externae. Erst sekundär knüpft 
sich bei ihr an diese Eigenempfindung weiterhin auch das 



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4 



~ 63 — 

Streben, den geliebten Gegenstand als Quelle der eigenen 
Lust zu erhalten und zu fördern. Umgekehrt bildet bei 
der Liebe des Wohlwollens, welche unser Philosoph an 
anderen Stellen die praktische Liebe im Unterschied toh 
der pathologischeii oder ästhetischen nennt und auch seiner- 
seits fttr einen Gegenstand des Fflichtgebots' erkl&rt| dieses 
. Streben fftr den Anderen in selbstloser Absicht das primär 
'Wichtige, während die liebe des Wohlgefallens entweder 
gar nicht oder erst allmählich oder jedenfalls als secundäres 
und nichtmotivirendes Mon^ent sich dazu gesellt. 

Soweit sind wir ganz im Einklang mit ihm; gestanden 
wir ja oben bereitwillig zu, dass mit dem Kinen Wort 
„Liebe^ ethisch ganz Yerschiedene Erscheinungen und Ge- 
sinnungen bezeichnet zu werden pflegen und dass es somit 
ixiimer noch eines näheren Zusatzes bedürfe » um die Yon 
uns gemeinte sittliche Liebe herauszuheben. Daneben 
glaube ich' jedoch, dass nun Kant seinerseits das Wort 
„Liebe** in unberechtigter Weise braucht, wenn er sie end- 
lich mit der Klausel „praktisch^* für moralisch zulässig er- 
klärt. Er thut das nicht einmal gerne, wie sich nicht ver- 
kennen lässt, sondern mehr nur nebenher und gelegentlich, 
um sich mit sonst üblichen ethischen Anschauungen, ins- 
besondere mit derjenigen des Christenthums einigermassen 
zu arrangiren, während er am liebsten ganz davon schwiege. 

Denn in der That ist nach seinen sonstigen Haupt- 
ausfährungen seine praktische Liebe oder sein praktisches 
Wohlwollen und Interesse etwas erheblich Anderes, als was 
sonst Jedermann darunter versteht, indem wir natürlich 
gleichfalls von einer faulen und unpraktischen Wort- oder 
Scheinliebe nichts wissen wollen. Bei Kant nun ist es mit 
einem kleinen und doch sehr bedeutsamen Unterschied zwar 
Wohl-Wollen oder bonum velle, nicht aber zugleich Wohl- 
wollen oder benoYolentia. Das Ziel wäre richtig, aber die 
G^innung fehlt, welohe dazu gehärte. Bs wflrde hiemadi 
genügen oder wäre wegen mangelnder Beihfilfe der Neigung 
sogar das sittlich Vollkommenste, in eisiger EAlte und 
ohne eine Spur von Antheilnahme dorn Leidenden beizu- 
stehen und für Hebung seines Weh's oder. Herstellung seines 



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— «4 — 

■ 

Wohls zu sorgen — weil nun einmal die herzlos kalte 
Pflicht es zufällig so gebietet und ohne dass Einem sonst 
das Geringste an' der Sache läge. Ist das wahrhaft sittlich? 
Würde nicht hiedurch der heraustretenden That oder der 
helfenden Gabe gerade das WerthyoUste genommen, welches 
in dem pretinm affeotionis, im ernstlichen Erweis der theil- 
nehmenden Gesinnung liegt und ein grosses Gut bleibt, 
auch wo die XJmstlbide nur eine kleine oder selbst gar 
keine reale Wohlthat zulassen? Eine völlig empfindungs- 
lose „Liebe", an welcher das Herz nicht den mindesten 
Antheil haben darf, sondern welche nur vom Kopf, resp. 
vom kaltverständigen Willen ausgeht, wird offenbar miss- 
bräuchlicher Weise „Liebe^^ genannt; wir müssen darin ein 
Temnglftcktes psychologisches Gebilde sehen, welches ans 
•der systematischen Konsequenz einerseits, und der notb- 
dürftigen Aceoaimodation an das wirkliche Leben oder 
Sprechen andererseits resultirt 

80 bleibt es also trotz der scheinbaren und verbalen 
Annäherung doch dabei, dass Kant die wahre und ächte, 
ihres Namens würdige Liebe, bei welcher die ganze Per- 
sönlichkeit betheiligt ist, ethisch nicht anerkennt und sie 
jedenfalls von Feme nicht zur verdienten Würde des 
obersten ethisöhen Pr^ozips zu erheben gesonnen ist 
Höchstens will er sie einmal Y, 296 als grosse moralische 
Zierde der Wdt, aber nur als omamentales Beiwerk zur 
Hauptsache zugelassen wissen, welche immer die kalt- 
formale Pflichterfüllung bleibt. Denn alles Warm- oder 
Herzlichwerden hat er nun einmal im unaustilgbaren Ver- • 
dacht, dass es mit seinem ethischen Hauptgegner, dem 
Egoismus, irgendwie, und wäre es auch noch so fein und 
verborgen liirt sei. 

Wie tief dieser Argwohn bei ihm wurzelte, sieht man 
vielleicht auch an der Uebertragung auf das ausserethische, 
übrigens verwandte Gebiet der Aesthetik. Seine Lehre vom 
Schönen stellt es in der Kritik der ürl^eilskraffc als einen 
Hauptsatz auf, dass „das Wohlgefallen, welches für das 
(ireschmacksurtheil bestimmend ist, ohne alles Interesse 
sei/* Dies ist wahr oder widersinnig, wie man will. Zweifel- 



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— 65 — 



los wird jedes selbstische JiitereBse, jede Eegung der 
egoistischen Begehrlichkeit oder des Neids, auch jede sinn- 
lich verlangende Affection eine Trübung des ästhetischen 
Auges zur unmittelbaren Folge haben. Wer nicht in diesem 
Sinn mit selbstlos reinem Blick das Kunstwerk schaut 
fiir den ist es als Kunstwerk gar nicht da. Damit ist 
aber auf der andern Seite das |tie&te sachliche Interesse 
keineswegs «nsgesohloasen, sondern schlechterdings ge* 
fordert Die wahrhaft ästhetische Stimmung wird sioh im 
G^gentheil bis zum selbstlosen Yersunkensein in den Gegen- 
stand steigern oder vom „interesse" bis zum „inesse" 
fortgehen können, wie wir früher ethisch sagten. „Die 
Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer 
Pracht" — in diesem Dichterwort über das nächtlich 
leuchtende bonum commune Aller ist die reine Uninter- 
esfiirtheit mit demyoUsten Empfindungsinteresse harmonisch 
Terknüpft und das wahre Lustprinzip auch hier gewahrt. 

OlEsnbar ist es kurzgesagt eben dieses entscheidende 
„inesse/' welchem Kant entweder nicht traut oder es gar 
für unmöglich hält; denn zwischen Beidem scheint er mir 
zu schwanken. Darin aber verräth sich ein Generalvor- 
urtheil jener Zeit, eine eigenthümliche und für die Wür- 
digung der wahren Liebe ungünstige psychologischmeta- 
physische Befangenheit, welche er mit seinen ethischen 
Gkignem aus dem Lager des empirischen Idealismus, des 
Sensualismus und Materialism^B, wie nicht minder der 
Leibniz-Wol£F*8dien Popularphilosophie theili Ich möchte 
es den theoretischen und praktischen Occasionalismus der 
damaligen Psychologie und Geistesanschauung nennen und 
denselben in eine gewisse Parallele zu den gleichzeitigen 
Lilhmungen des Kausalbe grifts überhaupt setzen. Auch 
diejenigen, welche weit entfernt waren, das Geistige zu 
leugnen, betrachteten es ganz überwiegend als ein Sein 
und Weben in sich selbst, welches auf Grund oder besser 
nur bei dem Anlass Ton mehr oder weniger unerklikrbaren 
äusseren Anregungen sein buntbewegtes Spiel im Friyat- 
kreis des eigenen Innern treibe. Dagegen fand man es 
unfjASsUoh und chimärisch, dass dasselbe wirklich und emU 



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— 66 — 



lieh aas dcli herausgehen kOnne, tun in einem Ai^tlern sm 
sein, ohne sich dabei zu verlieren und realiter zu zer- 
splittern. 

Hieraus flössen zunächst auf theoretischem Gebiet die 
Skrupel oder gar die kategorische Leugnung, dass eine 
selbständige Bealität des „Dings^< oder Nicht^Ichs gedacht 
werden könne. Am deutlichsten ist dies in demempirisohMi 
Idealismus und Skeptizismus von Hume ausgeprt.gt und kehrt 
später in dem absoluten subjektiven Idealismus von Schopen- 
hauer wieder, w&hrend Kant mit seinem noH me tangere 
des dennoch tangirten und behaupteten „Dingsandich'* 
in schwankender Mitte steht. Besonders Schopenhauer 
findet es ganz selbstverständlich und analytisch sicher, dass 
Alles nur meine Vorstellung sei, sofern es doch offen- 
bar meine Vorstellung sein muss, um für mich überhaupt 
in Betracht zu kommen. Indem ich etwas denke, denken 
ich's; also ist es mein geistiges Produkt oder ein von mir 
abh&ngiges Gebilde und keine selbst&ndige Bealitftt. Ein 
„Ding'' denken, was man gemeinhin unter Ding zu ver- 
stehen pflegt, ist somit eine contradictio in adjecto und 
hiesse gerade soviel, als sehen ohne Augen oder sich mit 
etwas beschäftigen, ohne dabei zu sein. Stärker ausgedrückt 
wäre es ein förmliches „Aussersichsein" des Geistes, was 
man doch sonst als Verrücktheit zu bezeichnen beliebe. 

Die strenge Konsequenz solcher Erwägungen spricht 
eigentlich nur Schopenhauer mit seinem resoluten und rflck- 
sichtslosen Muthe aus: es ist der reine Solipsismus oder 
die ausschliessliche Frivatezistenz des individuellen Ich, 
welches alle Selbständigkeit eines gegenüberstehenden Nicht- 
. Ich kaum mehr blos bezweifeln, sondern schliesslich leugnen 
muss. Nun fügt aber derselbe Schopenhauer sogleich das 
Geständniss hinzu, dass dies in der That blos ein „Narren- 
hausstandpunkt" sei. welchen kein Vernünftiger im Ernste 
einnehme. Vom wirklichen Leben versteht sich das von 
selbst Und wenn gleich das System das Privilegium be- 
sitzt, um ein gut Theil widersinniger ak das Leben zu 
sein, so vermag doch auch hier keiner der Obengenannten 
und ihrer Genossen jene Konsequenz des Solipsismus irgend 



— 67 — 

zu aoceptiren. Also mnss es die Wirklichkeit trotz Allem 
fertig bringen und bringt es thate&clilicb jeden Augenblick 

fertig; dass der Geist aus sich selber herausgeht und denkend 
das selbständige Nicht-Ich erfasst, ohne „verrückt" zu wer- 
den oder sich zu verlieren. Es muss für ihn keinen "Wider- 
spruch und keine innere Unmoglidtikeit bilden, bei sieb 
selbst und zugleich bei dem Anderen zu sein; sonst thäte 
er es nickt fortwährend. In eigenthOmlicherSelbstdireintion 
greift er ans dem Bannkreis das privaten Beins hinaus am 
der Welt der objeetiTen Bealit&ten oder Selbstwesenheiten» 
welche ihm gegenüber stehen. Es mag dies TÖUig un- 
vorstellbar sein und beinahe münchhausiadisch klingen. 
Denn allerdings liegt es von den Gewohnheiten des Mecha- 
nismus und der ungeistigen Sachnatur weit ab, denen wir 
jedenfalls unsere Imaginationsweisen und Spreobfonuen 
sönst entnehmen. Darum ist es aber auch ein geistiges 
Spezifieom,. welches wenigstens gedacht werden kann und 
gedacht werden muss, weil wir andernfalls die thatsftchliche 
Wirklichkeit des tansend&ch getlbten „Dinge-setsens'' nicbt 
zu erkl&ren Termöcbten. 

Genau dasselbe ist nun auf praktischem Gebiet die 
reine Liebe, welche ohne Öelbstverlust im Andern ihren 
Ort hat und in ihm als in ihrem Schwerpunkt Freude und 
Xieid miterlebt, oder noch besser tbätig an ihm Wohl scbafit 
und Wehe hebt. Desshalb ist sie, und nur sie, die prak- 
tische Ueberwindung des falschen Ichstandpunkts oder des 
EgoismnSy gleichwie das wahre Denken pm Unterschied 
▼on seinen Vorstufen des Anschauens und Imaginirens die 
Ueberwindung und Durchbrechung des theoretischen Ich- 
bannkreises ist. Das Gegentheil bildet beidemal der Soli- 
psismus, welchen man gewöhnlich nur theoretisch versteht, 
während Kant selbst in ganz richtigem Gefühl des Zu- 
sammenhangs gelegentlich auch die praktische Verkehrtheit 
mit ihm bezeichnet; vgl. IV, 185. 287. 

Höchst lehrreich für dieses schwierige Problem und 
«in werthToUer Schlttssel zur Erkenntniss jenefi psycho- 
logisch-metaphysischen G-eneralvorurtheils ist die Moral 
Ton Hume, welcher auf diesem Gebiet nicht mehr eigent- 



L.iyui^ca GoOglc 



I 



. — 68 — 

Höh Skeptiker, sondern bloe ein feinsichtiger, ob anoh nicht 

tief genug gehender Empiriker ist. Zuerst stellte er die 
Sympathie als Moralprinzip auf und fasste sie genau im 
Sinne des passiven „Mit-Leidens" oder Angestecktwerdens 
aus Anlass einer fremden Lust und Unlust. Seine Dar- 
legung wie seine drastischen Beispiele geben vollkommen 
dasjenige I was wir oben als das Wesen der blosen oder 
bereits egoistisch tungebogenen NataigatmAtfaigkeit und 
Weichherzigkeit schilderten. Anch er macht kein Hehl 
daraus, dass in allen diesen Eftllen das Ganse lediglieh ein 
Privatvorgang im Ich selbst sei oder also eigene liust- 
und Unlustempfindung bei Gelegenheit von fremder re- 
präsentire. Nur könne er nicht absehen, warum ein solcher 
gutartiger Egoismus überhaupt noch Tadel verdiene, statt 
dass man ihn als eine weisliche Einpflanzung der Natur in 
unser Herz zu betrachten und sich völlig mit ihm zuMeden 
zu geben habe. 

Es Entspricht dieses Alles genau dem Standpunkte 
welchen seine theoretische Philosophie mit ihrem empirischen 
Idealismns einnimmt. Auch für äip erkennende Seele gibt 
es nur das passive Privatleben des individuellen Vorstel- 
lungskreises, den sie schlechterdings nicht durchbrechen 
kann. „So sehr wir unsere Aufmerksamkeit ausser uns 
richten und unsere Einbildungskraft zum üimmel oder zu 
den Grenzen des Uniyersums jagen, wir kommen dennoch 
keinen Schritt Uber uns hinaus oder er£s8sen mehr als 
unsere Perzeptionen. Das ÜniTersum unserer Imagination 
ist der enge Bezirk, auf den wir beschribikt sind.'' 

Nun kann es ihm aber jeden^s im Praktischen doch 
nicht entgehen, dass mit jener Bornirung auf das Privat- 
ich die Moral eigentlich zu Ende wäre. Daher führt er 
zunächst unversehens den Nebenbegriff der extensiven 
Sympathie ein» in dessen näherer Anwendung sich eben 
das Strecken und Dehnen hinaus über die Beschränktheit 
jenes solipsistischen Egoismus verräth. Später geht er 
noch weiter. Allerdings mit der Inkonsequenz, zu der ihm 
der Skeptiker berechtigt scheint^ gibt er ohne Aenderung 
seiner theoretischen Sätze den Standpunkt jenes gutartigen 



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— 69 — 



Egoismus ganz und resolut auf. Ausdrücklich und in einer 
Weise, welche ohne Namensnennung seine eigene frühere 
Anschauung mittrifft, widerlegt er in verschiedenen ange- 
hängten Essais den Satz der zeitgenössischen Encyldo- 
pädisten, dass alles Grate auf die Selbstsuclit reduzirbar 
sei. Vielmehr bilde unegoistisohe Idebe etwas durchaus 
Wahres und WirkUcheSy das keine noch so penible Chemie 
zersetzen könne« Die Beispielei welche er jetst gibt» lassen 
keinen Zweifel darüber, dass er soziemlich unser ^^iitesse 
in altero" meint. Desshalh wählt er nun auch statt des 
verfänglichen früheren Wortes „Sympathie" lieber die Ter- 
mini Humanität. Philanthropie, allgemeines Wohlwollen, 
Genossenschaftsgefühl oder Interesse für Andere. Es lässt 
sich bei ihm nicht verkennen, dass die sprachliche Aenderung 
absichtlich ist und eine wichtige sachliche Wandlung aus- 
drückt» welcher wir unsere Zustimmung gerne geben. 

In den meisten summarischen Darstellungen Hume's, 
neuerdings freilich auch in flüchtig gearbdteten empi- 
ristischen Partheimonographien, wie in der „Ethik D. 
Hume's" von Gizycki, wird diese feine und sehr instruktive 
Dialektik seiner Eigenentwicklung verwischt oder übersehen. 
Desshaib hebe ich in meiner Schrift „Empirismus und 
Skepsis in D. Hume's Philosophie" besonders auf S. 335 bis 
347 den wichtigen Punkt sorgflUtig hervor. 

Wir haben uns bisher überwiegend in der Defensive 
gehalten und die Einwände Kant's gegen das materiale 
Wdblprinsip der Liebe, insbesondere , den bedenklichsten 
Verdacht des Egoismus zurückzuweisen versucht. Nunmehr 
ist es an der Zeit, dass wir stärker zur Offensive über- 
gehen. Ohne Zwang oder künstliche Konsequenzmacherei 
wird sich nä,mlich umgekehrt an jenem Moralisten selber 
zeigen lassen, wie sogar der grösste Bigorist trotz aller 
Polemik nolens volens dem ethisch unvermeidlichen Prinzip 
der liebe oder des ßelbstlosen Eudämonismus zugravitirt, 
will er nicht gar in „das gerade Wide^iel der Sittlichkeit'^ 
yerfsülen .und seinerseits auf die Bahn eines wenigstens 
feinen Egoismus gerathen. Fassen wir m diesem Behuf 
zuerst das Ziel des Guten ins Auge, wo sich die Mangel- 



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— 70 — 



haftigkeit der Grundanschauung jedenfalls einmal in schnd- 
denden Widersprüchen oflfenbart. 

Trotz des scheinbaren Zugeständnisses an die Liebe, 
das wir von Kant in einem etwas anderen Zusammenhang 
bereits gemacht sahen und kritisch beleaditeten, muss es 
uns zum Mindesten sehr frappiren, dass er in der Kritik 
der praktiddien Yemimft unmittelbar nach den stärksten 
Aussprüchen semes Bigorismus und hart yor der berOhmten 
Apostrophe an die Pflicht in aller Unbefangenheit bemerkt: 
„Hieniit stimmt aber die Möglichkeit eines solchen Gebots, 
als: liebe Gott über Alles und deinen Nächsten als dich 
selbst, ganz wohl zusammen. Denn jenes Gesetz aller Ge- 
setze stellt, wie alle moralischen Vorschriften des Evangelii, 
die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit 
dar, sowie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Ge- 
schöpf erreichbar dennoch das Ürbild ist^ welchem wir uns 
zn nähern nnd in einem ununterbrochenen, aber unend- 
lichen Progressus gleich zu werden streben sollen" IV, 196 fl 

Nun polemisirt er aber fürs Andere bekannthch in 
der Kritik der praktischen Vernunft, in der „Religion 
innerhalb u. s. w." und in der Anthropologie immer wieder 
gegen die Meinung, als ob man atomistisch oder frag- 
mentarisch gut werden könnte. Vielmehr handle es sich 
um einen prinzipiellen und radikalen Akt „gleich einer 
Art der Wiedergeburt'« Was kann dies aber anderes 
heifisen, als dass schon der erste Augenblick des wirklich 
prinzipiellen Gkitseins ein Erfassen des Ideals und ein 
beginnendes Antheilnehmen an demselben ist? Die Durch- 
führung vom erfassten Prinzip aus mag jetzt erst anfangen, 
sie mag ihrerseits nicht störungslos und nur in unendlichem 
Fortschritt verlaufen ; aber das richtige Prinzip als solches 
muss ergriffen sein und festen Fuss im persönlichen Willen 
gefasst haben, wenn man tiberhaupt vt>n wahrhaft begin- 
nendem Gutsein soll reden können. Damit wäre aber zu- 
gestanden, dass schon der Gebnrtsmoment des Guten mit 
dem ersten ztkndenden Strahl des Ideals zusammen&Ue, 
oder es wtlrde also die Einsetzung der Liebe zur Regentin 
des sittlichen Lebens anstatt der Maxime der Selbstsucht 



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— 71 ^ 

jene radikale Aenderung und Umdrehung der Prinzipien 
vorstellen, (.nierade dann, wenn man meines Erachtens mit 
allem Recht vom radikalen Bösen ausgeht und auch den 
ümwandlungsprozess wenigstens essentiell oder begrifflich 
so radikal iasst, müssen sich schon der Anfiang des inck- 
liehen G-aten and die nrbiidliehe YoUendimg wesenhaft und 
qiuüitatiT deckea. Wttide es eich doch aaundfanich recht 
seltsaan machen, weAn das, was anch nach Kant das Ziel 
der Heiligkeit bildet, vorher eine feine Unsittlichkeit wäre. 
Daraus ergäbe sich am Ende statt seiner obigen, natürlich 
ganz vernünftigen Forderung des Fortschritts die absonder- 
liche Konsequenz, dass der Mensch nicht nach der Vol- 
lendung streben und dem Tdeal nicht näher kommen dürfe, 
weil er sonst Schritt für Schritt an reiner Sittlichkeit ein- 
hassen würde. 

Aach wenn wir den Aasgaagspankt des Guten bei 
Kant erwftgen and scharf analysiren, kommen wir aof ein 
ähnliches und fttr die Liebe günstiges Resultat, wie mit 
der Betrachtung des Ziels; oder wir können ihn wenigstens 
vor eine ganz bedenkliche Alternative stellen. Korrelat- 
begriffe für den Beginn des Guten sind das Sittengesetz 
als solches und die Triebfeder zum Gehorsam gegra das- 
selbe; beides hat ans zu bescl^iftigen. 

Bei dem Gesetz in seiner FormoHrang als kategorischer 
Imperati? ist gewiss die Frage berechtigt, wanun denn 
eigentlich eine Maxime Ton Allgemeingültigkeit den Vor- 
zug vor einer solchen verdiene, welche blos individuelle Be- 
deutunfj hat. Hierauf geben uns die zahlreichen Kant'schen 
Beispiele scheinbar folgende Antwort: Weil nur mit jener 
ein logisch korrektes Handeln statthndet, während diese 
nothwendig in logische Widersprüche verwickelt. Das er- 
gäbe jedoch zum Yoraos einen bedenklichen Intellek- 
taalismas. Das Leben ist gewiss nicht blos ein logisches 
Exempel, indem das Gate in der Wahrheit, das Bltoe aber 
im IrrÜmm bestfinde! Lehrt ans doch sonst Keiner so nach- 
drücklich und äusserst werthvoll wie Kant, dass Alles im 
Ethischen am Willen liege und das Wissen etwas ganz an- 
deres sei. Also ist jene logische Korrektheit entschieden nur 



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ein sekundäres und begleitendes Moment am praktisch 

Kiciitigen: Weil ein Grundsatz oder eine Handlung gut 
ist, so hat sie nebenbei den Vortheil, sich nicht in logische 
Widersprüche zu verwickeln; aber der Satz darf nicht 
einfach umgedreht werden. Ebenso wird das Böse, weil 
es böse ist, sich auoh in logischen Fussangeln fangen und 
in sich -selbst serseteen; alkin aueh das gilt wieder mcbt 
ohne Woitecet vioe Tersa, wie eine aduefe Theosie meint» 
welche es oberflächlicher Weise. in logischer oder meta- 
physischer Negation findet Jene Korrektheit ist somit 
höchstens ein Merkmal des Guten, aber nicht sein eigent- 
liches Wesen. 

Ausserdem finde ich in jenem Gedankengang Kant's 
eine petitio principii. Ein logischer Widerspruch kommt 
bei der individuellen Maxime allerdings mit analytischer 
Sicherheit heraus, wenn ich nach ihr zugleich mit dem 
Anspruch auf Allgemeing&ltigkeit derselben handle. Wie 
aber, wenn ich jenen Anspruch gar nicht mache, sondern 
denke: Erlange nur ich meinen Yortheil, so mögen Andere 
zusehen, wie sie den ihrigen finden. Ich will nun einmal 
individualistisch handeln, ob Andere es ihrerseits so oder 
anders halten. — Offenbar ist dann von einem logischen 
Widerspruch keine Kede mehr; wohl aber werden sich 
praktische Widersprüche und Kollisionen ergeben; und 
daran allein hängt es. Bei j^ner Frage nach dem Vorzug 
der allgemeingültigen Maxime vor der' individuellen wfUrde 
also die richtige Antwort nicht auf die logische Wider- 
spruchsfreiheit, sondern auf die umfassende praktische 
Kollisionslosigkeit hinweisen, in Folge welcher die Menschen 
einträchtig und friedlich zusammen leben und wirken 
können. Warum ist aber dies dem Gegentheil vorzuziehen? 
Einfach desshalb, weil die Kollision Wehe schafft und die 
schon vorher vorhandene Unlust in der Welt freithätig 
vermehrt; Friede und Eintracht aber sind und schaffen 
WohL Somit kommen wir auch hier wieder auf den richtig 
Tcrstandenen Eudämonismus hinaus. Fragt man endlich, 
welche Gesinnung denn die wahre KollisionsTermeiderin 
und Friedensstifteritt in der Welt sei, so kann das keigiB 



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— 73 — 

andere sein, als diejenige, welche nicht auf das Ihre sieht, 
sondern auf das, das des Anderen ist, oder also die selbst- 
lose Liebe. 

Kant selbst bestätigt gelegentlich die Richtigkeit dieser 
imserer Konstruktion oder kritischen Bednktion, wenn er \ 
als Znsammen&ssnng der Beispiele für seinen kategorischen 
Imperatir sagt: „Man muss wollen kdnnen, dass eine 

Maxime unserer Handlung ein allgemeines G^esetz werde; 
dies ist der Kanon der moralischen ßeurtheilung derselben 
überhaupt," IV, 46 f. Damit gibt er zu, dass das blos 
formale Merkmal der möglichen Allgemeingeltung doch 
eigentlich nicht genüge, sondern dass über ihm ( in inhalt- 
licher Selbstwerth des betreffenden Prinzips als dasjenige 
stehen müsse, warum -es in letzter Instanz den Vorzug yer- 
dient und gewollt wird. 

Als Triebfeder der Sittlichkeit lässt er allein die 
Achtung vor dem Gesetze zu. Was heisst das eigentlich? ' 
Im weiteren Verlauf finden wir öfters die fassbareren Aus- 
drücke: „Achtung -vor der Würde der Menschheit, vor dem 
idealen Ich oder vor der Hohheit des apriorischen Kerns 
in uns, welcher sich hier offenbart/^ Jenachdem man dies 
▼ersteht, wäre es einer peinlich rigorosen Auslegung beinahe 
möglich, dem gtGssten Gegner des Egoismus eine sehr 
. unerwartete und nichts weniger als beabsichtigte Kon- 
sequenz zu ziehen. Dem erhabenen Apriori, welches man 
in sich trägt oder das ma^ vielmehr seinem besseren 
Theile nach selbst ist, wird bei jener Anschauung ein ehr- 
furchtsvoller Dienst gewidmet. Sollte das nicht vielleicht 
die feinste und logischsublimste Art von Selbstsucht sein • ■ 

und jenen Egoismus des stoischen Tugendstolzes erneuern, 
welcher Allem aufbietet^ um sein ideales Alterego in jeder 
Weise zu ehren, zu schmücken und mit Tugenden wie mit 
Weihgeschenken zu beh&ngen? Der sittlich Handelnde ist 
alsdann Fdester', Tempel und Gottheit in Einem. Denn 
die Potenz, um welcher willen oder der zu lieb die Sitt- 
lichkeit geübt wird, steht hier doch in einer sehr bedenk- 
lichen Nähe mit dem sittlich handelnden Subjekte selber; ' 
es erhebt sich also der Verdacht, dass man schliesslich 



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I 



— 74 — 

0 

trotzdem Alles sich selbst, weil seinem G^ius za lieb 
tbue. Es droht in der That ein Kultus des Privatgenius, 
den ich nicht mehr für selbstlos halten kann, sondern ver- 
werfen muss, sobald er wenigstens das Endziel und den 
eigentlichen Selbstzweck des Sittlichen bilden will. 

Es ist wirkUch unverkennbar, dass Kant in manchen 
Stellen besonders aus der instruktiven Methodenlehre der 
Kritik d. pr. V. ztemUcli scharf an diese missliche Fol- 
gerung anstreift: JDer Mensch lernt in der IJnabhftiigigkeit - 
seiner intelligiblen Natur und der Seelengrösse , dazu er 
sich bestimmt sieht, für die Opfer, die er darbringt, reich- 
liche Entschädigung zu finden. — Wir gewinnen endlich 
dci8 lieb, dessen Betrachtung uns den erweiterten G^ebrauch 
unserer Erkenntnisskräfte empfinden lässt, welchen vor- 
nehmlich dasjenige befördert, worin wir moralische Bich- 
tigkeit antreffen, gleichwie der Naturbeobachter Gegen- 
stände, die seinen Sinnen anüuigs anstössig sind, endlich 
Ueb gewinnt, wenn er die grosse Zweckmässigkeit der Or- 
ganisation daran entdeckt und so seine Yenranft an ihrer 
Betrachtung weidet und von ihnen gleichsam eine Wohl- 
that geniesst. Die Tugend erhält in der Betrachtung eine 
Form der Schönheit, wobei wir unser ganzes Erkenntniss- 
vermögen gestärkt fühlen und der über die Thierheit er- 
habenen Anlage der Talente in uns inne werden. Obgleich 
jene Entsagung eine anfängliche Empfindung von Schmerz 
erregt, kündigt sie dem Lehrling dennoch zugleich eine 
Befreiung Ton der mannigfaltigen Unzufriedenheit an, dann 
ihn alle diese Bedürfriisse yerflechten, und macht das Gb- 
müth für die Empfindung der Zufriedenheit aus anderen 
Quellen empfänghch. Das Herz wird doch von einer Last, 
die es jederzeit insgeheim drückt, befreit und erleichtert. 
Und nun findet das Gesetz der Pflicht durch den positiven 
Werth, den uns die Befolgung desselben empfinden lässt, 
leichteren Eingang durch die Achtung für nus selbst im 
Bewufestsein unserer Freiheit<< IV, 276. 285. 

Ich kann den Eindruck nicht wegbringen, dass in 
derartigen Darlegungen das Selbst su stark herrortritt. 
Seine praktische, besonders aber seine logische und meta- 



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— 75 — 

physische Befriedigung oder Schmeichelung scheint mir 
hier eine Rolle zu spielen, welche mit der auch von Kaut 
sonst verlangten reinen Selbstlosigkeit des Sittlichen kaum 
mehr verträglich ist. Genau den gleichen Vorwurf des 
▼erkappten vornehmen Egoismus hat einst schon Herder 
in der ,,KalligoneS sowie in der Schrift ^^Keligion und 
Lehrmemnngen'' gegen Kant's stolzan^kische Moral er* 
hoben. 

Man wird diesem Einwand answeiclien wollen, indem 

man mir Schuld gibt, dass ich mit absichtlichem Missver- 
ständniss den apriorischen Kern in eine viel zu grosse 
Nähe mit dem empirischen Ich rücke. So sei es aber 
nicht gemeint. Jenes ideale Ich stehe vielmehr himmelweit 
über dem empirischen und throne in majestätischer Trans- 
cendenz für sich. Macht man indessen mit diesem Ge- 
danken Emst» so kann ich vor Allem nicht einsehen, mit 
welchem Beoht man jenes allzaweiierhabene X über aller und 
jeder Wirkliehkeit noch ,flch'' nennt Je weiter man es 
wegrückt; desto weniger hat es mit meinem pers5nlichen 
Leben irgend eine reale Einheit und Seinsverbundenheit 
mehr aufzuweisen, hört also auf, zu meinem Ich zu ge- 
hören. Es mag vielleicht ein „Ich-für-sich" sein, aber mir 
«ignet es nicht einmal mehr als alter ego. 

Lassen wir also in diesem Fall lieber die verwirrende 
Bedeweise fallen und gestehen offen, dass wir alsdann die 
fragliche Potenz als eine selbstherrliche Hypostase oder 
als ein substantielles göttliches Wesen denken. Wenn 
nun dies der philosophischen Profaniföt zu lieb in schlecht- 
hin abstrakter und unpersönlicher Weise geschieht, so 
kommt erst recht ein Widersinn heraus. Man ehrt als- 
dann mit aller Geüissenheit ein Wesen und scheut sich 
jkngstlich, es zu beleidigen, obgleich man wohl weiss, dass 
es Ton Beidem nicht das Mindeste hat. An jenem Tcbnag 
•es seiner f&hllosen Natur nach keine Freude, und über 
diesem*, keinen Schmerz oder Zorn zu empfinden. AUe 
meine positiven und negatiTen Bemühungen um dieses 
Wesen wÄren, stark ausgedrückt, ein aprioristisch-philo- 
flophischer Kultus, kaum viel besser, wie jener, den die 



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Baalspriester auf dem Berge Karmel ihrem schlafbnden 
oder verreisten Gotte erwiesen. Nein! Da ist mir in diesem 
Fall doch die theologische Vorstellungsweise noch weit 
lieber, welche an ihrem persönlichlebendigen Gott wenigstens 
ein sinnhaftes Objekt der sittlichen Besiehimg besitzt. Was 
auch immer in anderer Hinsicht gegen jenen Gedanken 
des Theismus eingewendet werden mag, so ist es jedenfalls 
eine in .sich geschlossene und dnrchffthrbare Phantasie* 
ansehaunng, ans ehrfurchtsvoller liebe EU einem empfin* 
dungsfähigen Gotte das Gute zu thm& und das Böse 
zu lassen. 

Zugleich aber zeigt sich, dass wir auch hiemit wieder 
dem teleologisch unentrinnbaren Wohlprinzip verfallen. 
Wie so denn ? wird der antieudämonistischd Theolog fast 
entrüstet fragen. Ist doch hier das sittliche Auge schlechter« 
dings aufw&rts zum Ideal des ansichseienden Guten und 
Heiligen geriäitet» und verschmäht es, auch nur mit dem 
leichtesten Seitenblick nach dem Wohl und Wehe der eignen 
oder fremden Person sn' schielen. Wenn irgend Einer, so 
gewährt dieser theologische Standpunkt mit seiner idealen 
Erhebung über alle irdische Lust und Unlust die volle 
sittliche Reinheit des Guten als eines Zwecks ansich, und 
bildet damit das Gegeutheil von allem Eudämonismus. 
Ganz recht! erwidere ich. Die Btlcksicht nicht nur auf 
den eigenen Yortheil, sondern auf m«[ischliche Luit und 
Unlust überhaupt sei bei lautere Durchftthmng jener 
Theonomie allerdings Terbannt. Aber tritt dann nicht 
dafür die Bttcksicht auf Gottes Freude am Guten und auf 
seinen Schmerz oder Unwillen über das Böse als voll- 
wiegender Ersatz an die Stelle? Es ist zwar ein einziges 
Wesen geworden, dessen Befriedigung man in solcher Art 
suchen zu sollen glaubt und dessen wehethuende Verletzung 
man scheut Aber es ist dafUr das höchste Wesen, 
welchem man dient; jenes Unum wird durch das unicum und 
absolutnm mehr als au^ewogen. Was die Lust als letzten 
Zweck betrifft, bleibt sich die Sache dennocdi so ziem- 
lich gleich. 

Aus diesem Grunde wiederholen sich auch auf der 



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— 11 — 



theologisch-höheren und schon darum schwierigeren Stufe 
völlig dieselben Einwände, welche wir früher von philo- 
sophisdier Seite gegen den Eudämonismus überhaupt sogar 
in seiner selbstlosen Gestalt der Liebe erheben hörten. 
Man denke an den berühmten Streit des 17. nnd 18. Jahr- 
hunderts über die „uninteressirte liebe ra QoÜJ* Wo es 
sieh dabei nicht in erster Linie Uos um die ganz lobens- 
werHie Beseitigung aller transoendenten Lohnsncht oder 
also des frommen Egoismus handelte, sehen wir in den 
betreifenden Verhandlungen von dem ehrwürdigen Fenelon 
als einem theologischen Kant genau die obigen Bedenken 
der Kritik d. pr. Y. mit allen ihren keineswegs immer 
ableugenbaren Künstlichkeiten antizipirt. 

Was nnn im Ganzen diese theologische f assnng der 
Mofal betriffty so dkainrten wir im Obigen gerne die re- 
lativen VoneOge ihrer Axisohainingsweifle vor einem gar zu 
Inibigen plülosophisohen Süblimat an. Daneben müssen 
wir nun aber ebenso unsere erheblichen Bedenken äussern, 
selbst wenn wir von allen andern Sch\vierigkeiten absehen 
und nur auf das speziell Ethische retiektiren. Es dürfte 
denn doch von Kant und Eichte voUkommen richtig sein, 
dass sie mit allem Nachdruck betonen, irie (^ott niemals 
der direkte Gogeattand unseres Wollene und Thuns, somit 
überhaupt kein ethisches Objekt sein könne. In dieser 
Hinsicht tritt die Menschheit imd weiterhin die greifbare 
Wirkfichkoit auch der andern Weltwesen an seine «Stelle. 
Sucht das sittliche Streben ein Ziel und Objekt, so heisst 
es unter Hinweis auf die Welt: Hic Rhodus, hie salta! 
Es liegt zwar bei der engkorrelativen Beziehung von Gott 
und Welt für die ungeheuchelt ächte Erömmigkeit ziemlich 
ferne» durch den Blick in die Höhe für die Welt verloren 
zu gehen «nd hier dem etiiischen Quietismüs zu Torfallen, 
dar hesser fromme Trft^eit hiesse. Meist wird yielmehr 
der Weg über dmk Gottesgedanken doch wieder zur Welt 
und Menschheit zurückleiten. Indessen können uns die 
Beispiele der Geschichte trotzdem belehren, dass jene Ge- 
fahr nicht schlechthin ausgeschlossen ist. 

Kehren wir jedoch von diesem gelegentlidien Exkurs 



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auf die theologische Haltüng der Mond wieder zur profan- 
philosophischen Nüchternheit zurück und nehmen unsere 
kritische Analyse der Kant'schen Triebfeder des Guten 
noch einmal auf. Ihre erste Deutung führte uns hart an 
die Grrenze eines feinen Egoismus; die zweite ergab eine 
werthlose Hypostase des unpereönlichen Sittengesetzes, vor 
der die theologiBcke Ansohaunng den Voraug weit Terdi^ien 
wtlffde. Eb bleibt miB nooh eine dritte Aiudegong übrig, 
welche Kant selbst aahe legt, indem er so entschieden 
gegen die Fassung Gottes als des direkt ethischen Objekts 
anstatt der allein greifbaren Menschheit polemisirt. Auch 
nennt er als richtige moralische Triebfeder neben der 
„Achtung vor dem Gesetz" wiederholt die „Achtung vor 
der Würde der Menschheit.^' In dieser Wendung scheint 
mir das ganz Bichtige zu liegen und die dünne Luft einer 
aUznlebensfemen Abstraktion endlich mit der soliden Atmo- 
sjßitäire des Lebens yertanscht an werden. In der That ist 
es gans nnd gar die Mienschheit» nm welche es sich handelt 
nad an die sich ohne Schwierigkeit als G-egenstftnde des 
Sittlichen niederere und höhere Wesen soweit erforderlich 
angliedern lassen. 

8chon das Sittengesetz oder das Gewissen erhält pro- 
fianer Weise^ wie wir bereits früher sagten, einen fassbaren 
Sinn nur dann, wenn wir es als die überpersönliche und 
darum identische Stimme der Menschheit in uns Allen 
denken. Ss ist die Seite des menschheitlichen GmndwiUens 
in uns, welcher wie jeder Wille schliesslich Wohl will« also 
seinerseits das allgemeine Menschheitswdhl verlangt oder 
die selbstlose Liebe zur Menschheit fordert, an welcher 
nach dem schönen Wort der späteren Stoiker der Einzelne 
fiikoii und nicht blos f^egog ist. Wie wir schon wissen, 
unterscheidet nun aber Kant mit jeder sorgfältigeren Ethik 
von dieser un- oder überpersönlichen Geset^esforderung 
des. Guten als dem objektiven Bestimmungfignind des 
Handelns noch den sulgektiven Bestimmnngsgnind oder die 
eigentliche Triebfeder, durch welche das Individunm zur Auf* 
nähme jener ihm gegenttbersteheaden Forderung in seinen 
persönlichen Willen sich vermdgen lässt Allerdings ge- 



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— 79 — 



steht er ehrlich, dass dies in letzter Instanz ,,für die mensch- 
liche Vernunft ein unauflösliches Problem und mit dem 
einerlei sei, wie ein freier Wille möglich ist" IV, 184. 
' Denn wirklioh liegt zwischen der Ghewissensforderung 
und ihrer pendnüohen Annahme genau ^enes schwece 
Problem der Freiheit^ das-Siiiige mit einer Ideinen Wort* 
Uauberei aofgeldst zu haben mmiaan, da doch Jahfrhunderte 
an dessen Auflösung vergeblich gearbeitet haben, die daher 
wohl schwerlich so ganz auf der Oberliäche gefunden werden 
dürfte" IV, 212. 

Trotzdem lässt sich die Bewegimg des Zusammen-, 
Schlusses von unpersönlichem Gesetz und persönlichem 
Willen noch ein paar Schritte weit verfolgen und. aeigen, 
in wacher Art sich jenes zum Behuf der eventuellen A^ 
nähme dem Indiiidiium ins Gkmilth lege oder ,4i>8inuire/< 
(So glaube ich die schwierige SteUe Kritik der pr.- V. 
IV, 184 verdeutlichen zu sollen, welche lautet: ,,Al8o 
werden wir nicht den Grund, woher das inoralische Gesetz 
in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was, wofern es 
eine solche ist, sie im Gemüth wirkt, besser zu sagen wirken 
mnss, apriori anznanigen haben^'). 

In der n&heren Fassung dieser Triobfeder weichen wir 
fireüicii wieder von Kaat's Fonnulimng ab und benütasen 
den konkreteren Boden, weldien uns bereite die obige 
Fassung des Gewissens als ICensohheits-Stimme oder Wille 
geliefert hat. Findet doch jener Philosoph seinerseits trotz 
der redlichsten Mühe mit seiner Triebfederuntersuchung 
im Grunde genommen nichts, sondeni erklärt ofien: „Es 
zeigt sich hier, man muss es frei gestehen, eine Art von 
Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht herauszukommen ist** 
ly, 77 i Mit and^ Worten kcmimt er entweder auf ein 
wenigsagendes idem per idem, oder auf jene bedenkliclran 
Fenontfikaticniskategorien hinaus, weldie jedenfiiUs bei 
profaner Qrondaasehauung einigermassen mythologisch 
klmgen. 

Wir haben nun längst gesehen, dass Nichts den Willen 
im Innersten fasst, als Wohl und Wehe; also wird just der 
persönlichen Willensseite, um die es sich bei der Trieb* 



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— 80 — 

• • 

fisder handelt, seihliesslich auch nur dnrch perstalioiieft 

Wohl oder Wehe beizukommen sein. So sollte also das 
Sittengesetz oder Gewissen durch Hoffnung und Furcht 
locken und drohen? Gewiss wären dies greifbare und ver- 
ständliche persönliche Motiye; aber mit ihneiL kann sich 
das Sittengesetz nicht abgeben, ohne sioh wegzwirerfeni 
Es kann nicht dulden, dass zwisdien * seine eigene For- 
demng und den anfiiehmenden fWillen ein fremdartigea 
MötiY trete. Was hiesse doch auch in concreto eine selbst» 
lose Liebe, die nicht ans Liebe erfasst und geübt würde? 
Es muss gewissennassen, unter der Bedingung der Freiheit, 
ein unmittelbares Ueberschlagen des Gesetzeswillens in den 
persönlichen stattfinden. Damit stünden wir aber wieder 
am alten Fleck und häJbten statt einer Triebfeder keine! 

Wie gelangen wir aus dieser seltsamen Verlegenheit 
heraus, welche sich indessen nicht minder auch 4)ei Kant 
findet? Seilen wir einmal jenes persönlichst packende ^Wohl 
^ einfach in der Vergangenheit anstatt in der Zukunft an/ 
und lassen somit den persdnliohen Wülen mdxt durch Aus- 
sichten, sondern durch Rücksichten motivirt sein. Alsdann 
erhalten wir genau jenes „unmittelbare Ueberschlagen," 
oder als ungetrübtes Echo des Gesetzes die Liebe aus 
Dankbarkeit. Eine bessere und lebenswahrere Trieb- 
feder als die letztere wüssten wir nicht zu finden. Sie 
packt, da sie mit dem Wohlbegriff eng liirt ist» und kann 
sich doch zugleich ^ner vollkonunen unegoistischen^ Betn- 
heit rühmen; denn sid ist das Qegentiieü von Lohnsudit, 
ne will Tergelten. 

Der Mensch als Glied an dem solidarischen Organismus 
der Menschheit hat wenigstens direkt und jn-ofan betrachtet 
Alles, was er ist und hat, eben durch diesen Zusammen- 
hang« Die materiellen , ~ sozialen und geistigen Güter, in 
welche er mit seiner Geburt genieseend eintritt^ verdankt 
er dieser Mitgliedschaft und. der zusammenhängenden Arbeit 
Yon Jahrhunderten. Ist er doch nicht nur ein imw mih 
XtTtx6pf sondern vor AUem ein £<3oy iavo^iMOP, welches 
losgelöst vom Lauf der Geschichte Nichts isty noch bedeutet. 
Den Dank aber, welchen er der Vor- und Mitwelt schuldet, 



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— 81 — 



erstattet er der Mit- und Nachwelt, welche Phasen sämmt- 
Hche zusammengehören. 

Solche Gefühle lernt er zunächst im engen Kreis des 
eherlidieii Hftum ak Familienpietät hegen und üben, 
wesshalb wir schon einmal auf die hohe ethisch-p&dagogisdie 
Bedentimg der Familie hinwieBen. Zwar itt einnuftumen, 
daee die Katnrrerbundenheit ihrer Glieder etwas Spis*- 
zifisches an sich hat, das von den allgemeinmenschlichen 
Beziehungen des Sitthchen noch verschieden ist. Indessen 
bilden sich doch im länger dauernden Verlauf des eblichen, 
elterlichen, kindlichen und geschwisterlichen Zusammen» 
lebens die allmAhlicheii Stimmungsübergänge aus der engeren 
Natnrbemhnng zur nm&ssenderen Menschhettsbeziehuig 
des Gbffthls und WiUens 7on sdbst heraus. Auf Grund 
dessen erweitert sich mit der Zeit der Blick des Familien* 
glieds und richtet sich auch' auf Gemeinde und Vaterland, 
um endlich bei den Weitestblickenden die ganze Mensch- 
heit zu umfassen und zum Pietätsgefühl der .,Menscben- 
kindscliaft" zu werden. Die Masse wird freilich den letzten 
Schritt höchstens sehr dumpf und instinktiv thun; dafür 
wird ne sehr bald schematisch auf den Grottesbegriff über* 
springen, um auf diesem Umweg einer Phaatasieferein* 
fadiung zur erforderliehen Menschenliebe zu gelangen. 
Gelegentlieh bemerict liegt es uns sehr ferne» diesen Hinter« 
grundsgedanken des Göttlichen fftr die Ethik an sÜch zu 
verwerfen; nur können wir ibn bei einer profanpbilo- 
sophischen Untersuchung zunächst nicht im Vordergrund 
brauchen. 

Endlich ist es klar, dass unsere Triebfeder der Dank- 
barkeit auch das sittlich unerlässliche Moment der Pflicht 
und Schuldigkeit yoUkommen wahrt Wenn^eich immerhin 
der Freiheit, so ist das Gute dennoch keineswegs dem per- 
sönlichen Belieben anheimgegeben; ebensowenig bleibt ein 
Platz für die Verdienstlichkeit oder gar fELr Uebenrerdienet- 
Hchkeit des ethischen Lebens. Schon die gewöhnliche 
Sprache liebt es, bei Verpflichtung oder Verpflichtetsein 
gegen einen ^Andern mit Vorliebe an Vergeltungs- oder 
Dankbarkeitspflicht zu denken; so nahe fühlt sie beide 



Momente zusammengerückt Vollends deutlich ist dies bei 
den Begriffen Dankbarkeit und Schuldigkeit, sofern jene 
ja eben ein ideelles oder reelles Wiedererstatten und Zu- 
rückzahlen eines Voremp^ajigenen oder einer „Schuld'^ 
bedeutet 

Es ist merkwürdig , wie nahe auch Kant einmal an 
diesen Q«daiiken anstreift, ««iin,gleidL samam so atarir 
entwickelten kriminaUstiiohen Sinn die Zwieidentigkeit des 
Wortes Schuld (debitnm — culpa) einigermassen störend 

dazwischen zu kommen scheint Er tadelt die „R^"ii^^ii- 
helden, die, indem sie sich auf ihr Gefühl für das über- 
schwängliche Grosse viel zai gute thun, sich dafür von der 
Beobachtung der gemeinen und gangbaren Schuldigkeit 
freisprechen.^^ fiiezu fügt eine Anmerkung bei: „Hand- 
lungen , aus denen grosse uneigeunütsige tiÜeilnehmende 
Gtesinming und Menschlichkeit lierToäeuobtety sn preisen 
ist gan£ ratiisanL Aber man muss hier nicht sowohl auf 
die Seelenerhebung) die sehr flüchtig und Torttbergehend 
ist, als vielmehr auf die Herzensunterwerfung unter Pflicht, 
wovon ein längerer Eindruck erwartet werden kann, auf- 
merksam machen. Man darf nur ein wenig nachsinnen, 
man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend 
wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen 
hat (sollte es auch nur die sein, dsss man durch die Un- 
gleichheit der Menschen in der bürgerlidien Verfassung 
Yortheile geniesst, um deren willen Andere desto mehr 
entbehren müssen), um durch die eigenliebige Einbildung 
des Verdienstlichen den Gedanken an Pflicht nicht su ver- 
drängen" IV, 279 f. 

Hiemit haben wir unsere kritische Analyse der Kant'- 
schen Bedenken zu Ende geführt, womit sich zugleich die 
positive Korrektur der Hauptbegrifl'e verbinden liess. Täu- 
schen wir uns nichts so dürfte durch alles Vorstehende 
erwiesen sein, 'dass in der That ein selbstloBer Sud&^- 
monismusy oder mit konkretere^ Ausdruck eine weise, auf 
mdgHduBte Be^^fidEung der Mitwesen bedachte Liebe das 
allein richtige und definitiv haltbare ethische Prinzip ist 
Muss es doch selbst der entschiedene Gegner nolens volens 



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— Ba- 
als mehr oder minder klare Konsequenz verborgen in sich 
tragen, will er nicht bedenklicher Leerheit oder gar dem 
direkten Gegentheil dessen yerüallen, was er so ernstUdi 
und rühmliob im Auge hat. 

Von Ider aus wird es YoUends relativ Ideht sein, nach 
Beseitigung der prinzipiellen Hanpteinwftnde noch einige 
nebens&chliehe Bedenken gegen unseren Söhlltding, das 
Wohlprinzip, in Kürze zu erledigen. 

Es ist nun schon einmal von Haus aus sein Schicksal, 
mit andern Gestalten verwechselt zu werden. So kommt 
es denn auch nicht selten vor und findet sich wiederum 
bei Kant als Nebenmoment, dass dasselbe vom Misstrauen 
be^sst oder unbewusst in diskreditirende Nähe mit dem 
sogenannten Hedonismus gebracht wird. Wie Yeriüllt es 
sidi mit dem Bedit oder Unrecht des Vorwnr&y welcher 
darin ansgesprochen liegt? Als Yertheidiger jenes Prinzips 
haben wir uns natürlich zum Voraus wieder allen Egoismus 
ausgemerzt zu denken. Alsdann aber ist ohne krankhaft 
manichäische Denkungsart und Gefühlsweise zunächst nicht 
abzusehen, inwiefern etwas sittlich Verwerfliches und niclit 
vielmehr etwas ganz Lobenswerthes darin liegen sollte, 
wenn eine selbstlose Liebe auf Beförderung von körper- 
lidiem Wohlsein, ja sogar von sinnlicher Lost geht oder 
auf Hebnng des G^entheils bedacht ist Hat doch der 
faodiachtbare Stand des Arztes nichts Anderes zum Lebens- 
beruf; nicht minder widmen sich Dem die aufopfernde 
Krankenpflegerin und der Mutterliebe zarte Sorgen, die 
den Lebensmorgen des Kindes bewachen. 

Damit ist aber fürs Zweite durchaus nicht ausge- 
schlossen, dass die weise Liebe hinsichtlich des erstrebten 
Wohls recht erhebliche Art- und Gradunterschiede machen 
kann und mnss. Sie wird sich dabei nicht blos Ton den * 
bekannten qnantitatiTOi Unterschieden verscbiedeneip Lust- 
nndXJnlnstgattangen leiten lassen, weldie schon die ethische 
Arithmetik Ton Epiknr hervorhob; sondern es ist für das 
konkrete Lebensgefühl mehr als für den nachhinkenden 
Begriff zweifellos, dass sich jene Arten und Grade auch 
qualitativ und spezüisch von einander abheben und nach 



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— 84 — 

ilirdin Tersoliiedeiien Wdrthe rabiisiren. Insbetondefe mrA 

sich das sittliche Giitsein des Anderen zugleich als das 
höchste eudämonologische Gutbefinden desselben wie nicht 
minder seiner Umgebung präsentiren und als die uner- 
lässliche Bedingung alles wahren Glücks angesehen werden 
müssen. Desshaib wird es sich die Liebe als das Trachten 
nach dem wahren Wohl des Andecn nicht nelmen laisen, * 
die Arbeit an fremder ethischer TerYoUkommnutig 
oder Beeserong geradewegs za ihrer höchsitea Aufgabe zu 
maciien. 

In der hochgespannten Autarkie und Autonomie seiner 
Geistesanschauung, welche den an sich so wahren Gegen- 
druck gegen die verflachende Verlegung des sittlichen 
Tribunals in die Aussenwelt bildet, meint zwar un^er Kant 
wiederum, dass das Bemühen um fremde Tugendhaftigkeit 
keine sittlichie Angabe anamaohe; denn das G^utweirden 
k5ttne und müsse ein J«dw nur filr sieh wUbei besorgen. 
In letzter^ Instanz ist das freilich wahr. Wenn man aber 
den Fresheitsbegriff nicht ins Lebenswidrige steigert und 
damit unhaltbar macht, so ist klar, wie vieler Baum fftr 
die weitestgehende pädagogische Anbahnung und Nahe- 
legung des Guten oder für die Fernehaltung und Aus- 
tilgung des Bösen nel>en jener obersten Instanz der »Selbst- 
entscheidong noch übrig bleibt; und es leuchtet ein, dass 
es viel zu wenig ist, wenn Kant in dieser Hinsiobt hdchstens 
das NegatiTe Terlangt, dass man ^Andegen keinen Skandal 
gibt'f V, 220. 

Es ist ein Glück, dass sich die wirkliche P^raxis in 

derlei Dingen von keiner Theorie ernstlich beirren lässt. 
Nachwievor wird für Familie, Gesellschaft und Staat die 
Erziehungsaufgabe als Quintessenz und eigentlicher Herz- 
punkt ihrer ethischen Bedeutung bestehen bleiben. Und 
wir können nur wünschen, dass diese Erkenntniss nament- 
lich auch hinsichtlich der Staats» und Gteselisdiaftsan^abe 
noch immer weitere Fortsdiritte mache. - Denn in gar 
manchen Fragen, welche- sich hierauf bestehen, hat die 
neuere Entwicklung den früheren Einfluss der Kirche 
kurzerhand beseitigt, ohne entsprechend Sorge zu tragen. 



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— 8Ö — 

dass die entstandene Lücke nun :iucli profaner Seits ge- 
hörig ausgefüllt werde. Wir hoffen aber wiegesagt, dass 
das Leben und seine dringenden Bedürfhisse tüi' die Nach- 
holimg des bisher noch Verabsäumten sorgen werden. Was 
mm das System als soleheB betrifiPt, so dttrfte es s. B* bei 
Kant YmTericeiuibar sein» wie Huseliehe Konsequenzen jener 

' abermals anhodigeBpannie yyProtesiamtfasmas^ des 1^ 
Iftr eine Beihe von Ansciuiirangen bat Entgeistnng oder 
Entseelung droht dem Begriff der Ehe und Familie; zu 
einer kaltformalistischen Rechts- und Polizeianstalt ge- 
staltet sich der Staat. Für die Kirche ist eigentlich gar 
kein Platz mehr, wie sich in der ausdrücklichen Ethik 
▼on Kani deutlieb verrätii. Aber geistycll und weitblickend, 
wie er dennoch war^ bemerkt er den letzteren schweren 
JB^shler selbst nnd bringt das Yergeaeene durch die be- 
kannten Avsftthmngai der halbnoraliscdien ,|Bidigion inner- 
halb der Grenzen der blossen Temnnft«, freilidi nidit ganz 
ohne Inkonsequenzen nach. ' 

Im Gregensatz zu dieser KauVschen Privatsittlichkeit 
möchte ich fast den barock klingenden Satz aussprechen, 
dass es für das Individuum eigentlich gar keine Ptlichten 
gegen sich selbst gebe. Das Jus sagt: In se ipsum nemo 
obligatur. Ob dies nicht vielleicht auch ethisch wahr ist? 
Die obligatio in se ipso oder die Pfliohtthat »n sich selbet 
ist damit keineswegB aosgescblossen. Aber es besteht doch 
ein feiner Unterschied zwischen beiden Formeln; nnd bei- 
nahe ghrabe ich, dass die letztere egoismusfreier, also reiner 
ist. Nicht darum handelt es sich in erster Linie, aus 

. sich selbst ein ethisches Kunstwerk zu machen, wie manche 
ästhetisirenden Ethiken es darstellen und w^omit jener oben 
verworfene Kultus des Privatgenius droht. Sondern dies 
ist die Absicht aller hochnothwendigen Arbeit, welche der 
Sinaelne an der eigenen Person Übt» dass er sich mit allen 
seinen Gaben und Kbrftften zn einem mdglidut tüchtigen 
Organ für das G-anae ansbilde und ein branöhbares Mit- 
gUed der Gesammtheit aus sich mache. Andernfalls Ter- 
möchte nur die liebende Rücksichtnabrae auf Gott eine 
derartige Privatetliik vor dem Verdacht des feinen Egoismus 



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« 



— 86 — 

zu bewahren, wie ich bereits zeigte, indem ich übrigens 
jenen transcendenten Gesichtspunkt aus dem unmittelbaren 
Gedankenkreis der philosophische^ Ethik abwies. 

Manche, welche den bisherigen Ausführungen in der 
Hauptsache zustimmend folgten, werden wie ich beinahe 
f&rchte an diesem Funkte stutzen und auf Gnmd dessen 
aach deii Torherigen Beifall wieder rarftcknelimeit Der 
Bogen deucht ihnen yielleioht nachgerade zu stark ge- 
spannt, so dass er breche. Berechtigt gegen gröbere imd 
plumpere Formen, erscheint ihnen die jetzige Eliminirun g 
des Egoismus sogar aus der sittlichen Selbstthätigkeit als 
eine unnatürliche Uebertreibung. Ueberhaupt aber sei die 
ganze Behandlung desselben denn doch beim Lichte be- 
trachtet eine ziemlich lebenswidrige Ungerechtigkeit, welche 
sich wohl durch die Allmfthlichkeit ihrer Schritte eine 
Weile Terhergen könne, um nunmehr anm klaren Burohr 
brach zu kommen. So weit also werde das loh in siohwilr- 
merischem Fanatismus degradirt, dass sogar in dem hooh- 
'wichtigen und tiefethischen Begriff nicht etwa von Rechten, 
sondern nur von Pflichten gegen sich selbst eine zu starke 
"Werthbetonung desselben liegen solle! Was werde denn 
dann aus der sittlichen Selbstbildung, welcher wir doch 
nach zweifellosem Gewissensgebot alle Tage und alle Stun* 
den als dem ersten und unerlässlichsten Gesch&ft ohzuliegen 
haben? Der Mensch gehe bei dieser Ansefannnng als eine 
Art Ton moralisehem y^Hans guck* in die Luft'' dahin, so- 
fern er pAiohtmftssig stets seinen Blick auf Anderes und 
nie auf sich selbst gerichtet halte. 

Allein auch abgesehen von der sittlichen Selbstarbeit 
sei es eben doch sogar [hinsichtlich der Güter »und Vor- 
theile des Lebens zu viel verlangt, wenn man von dem 
Ich die komplete Selbstvergessenheit fordere und ihm die 
Rolle des Dichters in Schillers Theilung der Erde als die 
einzig ethische Stellung ziimuthe. Darin liege geradem 
eine direkte Verletzung unseres eigenen eudftmonistisclifln 
Frinraps. Denn schheeslidi sd auch ich Einer von den 
vielen Empfindungspnnkten, um die sich ja nach der ganzen 
bisherigen Ausführung Alles drehen solL Somit sei nicht 



— 87 — 

abzusehen, warum man diesen nächstliegenden Posten leer 
ausgehen lasse, anstatt ihm einen richtig proportionirten 
Antheil an dem erringbaren Gesftmmtglück zuzuwenden. 

Offenbar könne es sich nicht um ^^zliche Abweisung 
des Egoietnue iiandrin, welcher die noihwendige J^olge einer 
realen Bgcntftt sei; sondern nur eine richtige. Disdplinining 
desselhen mtlsse verlangt werden. Eine solche würde ent- 
weder im gerechten Koordiniren des Selbstischen und 
Fremden bestehen; oder es möge sogar wegen des arith- 
metischen Missverhältnisses zwischen dem Einzelnen und 
der GeseUschaft das Selbstische dem Fremden subordinirt 
werden, wenn Ersteres nur wenigstens in dieser Form zu 
Becht bestehen bleibe. Wer mehr Terlange als dies, der 
huldige mit leeren Worten einer ttberffiegenden moraHsohen 
Schwärmerei, oder errege er sogar den Verdacht» daas 
seine Metaphysik (befangen von idealistisch -monistisohen 
Voraussetzungen das Einzelsein überhaupt in der Weise 
mancher pessimistischen Gnostiker verwerfe. 

In diesen Einwendungen, welche ich bei anderer Ge- 
legenheit bereits kurz gestreift habe, w^elche aber nunmehr 
WQhl die Mehrzahl meiner Leser in verstärktem Masse 
nenerheben wird, kann ich dennoch nicht umhin, ganz über- 
wiegend Missrerstftndnisse an sehen. Ich behaupte 
mehr» dass das Berechtigte, was sie hetonen, Ton meinen 
* Voranssetanngen ans ganz ehenSognt oder noch besser 
gewahrt werden kann. 

Was z. B. die Arbeit des Ich an sich selbst betrifft, 
so kommt sie wahrhaftig dadurch nicht in Schaden, dass 
sie im Blick auf die Ansprüche betrieben wird, welche die 
engere oder weitere Umgebung und schliesslich die Ge- 
sammtheit an ihr jetziges oder künftiges Mitglied zu stellen 
berechtigt ist Im Gegentheil liegt darin ein viel kräftigerer 
und nachhaltender^ Sporn, alsi wenn der VerpHiditongs- 
gmnd nur im Eineelioh enthalten wäre, welches vm so 
▼iel kleiner und schon desshalb (wertUoser isti Man er- 
laube mir eine Hyppthese, welche allerdings chimärisch 
weit von aller WirkHchkeit abliegt, aber trotzdem als Bei- 
spiel den fraglichen Punkt schart' iüustrirt. Auf einer ein- 



— 88 — 



Samen Insel mit ausreichenden Sabsistenzmitteln befinde 
sich ein normaler fertiger Mensch als das einzige lebende 
Wesen seines Eilands. Ohne allen genealogisch-historischen 
Zusammenhang mit analogen Wesen und nebenbei auch 
ohne Beziehimg auf dne Gk>ttheit führe er die kompleteste 
Fn?ateii8teii£f welche sich denken Utest Dase in einem 
solchen Zustand alle Pflichten gegen Andere weg&Uen, 
Tereteht «ich Ton rorahereia. Wie steht es aber mit den 
Pflichten gegen das- eigene Selbst, welches wir jenem 
fingirten Privatmenschen vollständig gelassen haben? Auch 
sie sind hinfällig, sofern wir den einzig wahren Verpfiich- 
tungsgrund, nämlich ein empfindendes soziales Nicht-Ich 
weggedacht haben. Es ist völlig gleichgültig, wie jener 
- hypothetische Mensch lebt; er kann thun, was er mag; so 
deutlich hängt alle und jede Sittlichkeit schlieeslieh an der 
Gtosellsohalt 

Lassen wir indessen lieber aolbhe robmsonischqn oder 
paradiesischen Hypothesen von kQnstlieher nnd schliesslich 

undurchführbarer Art, um bei dem etablirten Welt- und 
Geschichtsverlauf zu bleiben, welcher immer schon gesel- 
liges Zusammensein voraussetzt. Im letzteren liegt nun, 
wie ich behaupte, der vollgenügende Grund, um jede ver- 
nünftige Art von £rhaltang and Ausbildung meiner eigenen 
Kräfte und Interessen nicht nur zuzulassen, sondern zn 
fordern. Bs ist meine Pflicht, nach einer erBpriesslichen ' 
Lebensstellung nnd dabei etwa auch nach einer gesicherten ^ 
pekanftren fi^tnirnng zu trachten; denn Derartiges ist die 
Basis meiner ungehemmten freudigen Wirksamkeit. In 
männlichfester, natürlich nicht in kleinlichtempfindlicher 
oder kindischer Weise habe ich meine Ehre und meinen 
guten Namen zu wahren, da dies die Bedingung für meinen 
£influss auf Andere und- für meine heilsame Arbeit an 
ihnen bildet Ich habe meine ganze Individualität zu einem 
klar markirten Ohacakter axLSzngestalten; denn jedes Ich 
hat wenigstens der Anlage und Idee nach einen individuellen 
Bemf in der Welt zu erfUlen nnd ,^arf desshalb der Ote* 
samnttheit diesen einzigartigen Beitrag nicht entziehen, 
noch dui'ch verschwommene Selbstnivellirung schmälern. 



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— 89 — 

Es hat über sich selbst gewissermassen wie über ein an- 
vertrautes Gut zu wachen, von welchem es seinem Volk, 
seiner Zeit und schliesslich der Menschheit Rechen- 
schaft schuldig ist. Denn in der That ist das Meiste, was 
wir sind und haben, nur fremde überkommene Gabe, die 
sieh ethisch sogleich in Aufgabe verwaadelt Was also 
irgend in der Linie der Selbstoorge Ton ideellen und reellen 
'Momenten genannt werden mag, fügt sich meiner Ghrund- 
anschannng anfe Ungezwungenste nnd ohne Abzug ein. 
Aber allerdings wird das ethische Ich sich selbst in letzter 
Instanz stets nur als dienendes Organ und Mittel für die 
Zwecke des lebendigen Nicht-Ich oder der Mitmenschheit 
betrachten und jede persönliche Errungenschaft in Wahr- 
heit blos wegen ihiex direkten oder indirekten Verwerth* 
barkeit für das Ganze sch&liaen* 

NatQrlioh gilt dies ^n und her für alle einzelnen 
Ich'a. Denken wir uns nun einmal das Prinzip der Selbst- 
Terleugnung allseitig durch das Game der Gesellschaft 
durchgeführt, so unterliegt es keinem Zweifel, wie bei diesem 
System zugleich die weitaus grösste Summe von Glück 
für alle herauskommt und unvergleichlich viel mehr Ge- 
sammtwohl resultirt^ als wenn, jeder Eiinzelne aufs Aengst- 
lichste und Engherzigste nur für sich selbst sorgt. Somit ' 
fÜUt jed^aUs in der Idee und in der Vollendung, zwar 
▼OUig ungesudit, aber kraft der moialisdien Weltordnung, 
Selbatrerleugnnng und höchster Selbstgewinn zusammen. 
Die chrisiMie EtMk drückt dies allerdings zugldch mit 
transcendenter Beziehung in dem mystischen Paradoxon 
aus: Wer sein Leben verliert, der wird es gewinnen. 

Man wird mir entgegnen, das sei eben nur Idee und 
ein nie erfüllter schöner Traum, dass Selbstverleugnung 
das allgemein herrschende Prinzip bilde. Einstweilen werde' 
trotzdem* der* Einzehie, welcher esr für seine Person übe, 
gegenüber yon^der Überwiegenden ]U[ehrzahl zu kurz kommen, 
die es an Gegenseitigkeit fehlen lasse. Gewiss liegt hierin 
ein schwerer Uebelstand, und ohne Zweifel verschuldet die 
Menschheit ihr meistes Uebel selbst. Aber dennoch frage 
ich: Sind denn wirklich diejenigen glücklicher, welche ihr 



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— .90 — 

Leben' auf rttcksichtslose Selbstsacht gestellt^ sind sie glttck- 
lieber, die Gründer und Streber und die modernen Heroön 
des Kampfes ums Dasein^ glücklicher, als jene Selteneren, 
welche in der Selbstverleugnung das Wahre erkannt haben 
und an ihrem bescheidenen Theile üben? wird wohl 
Niemand ernstlich schwanken, wi^ er zu antworten hat. 
Trotz aller Lttoken dieser UATollkommenen Welt mit ihren 
AbscblagBiabhmgen statt des GauMü, hab^ doch die 
leteter^ Meneehen das bessere Theü erwftblt, sofern auf 
ethischem Standpunkt Geben allerdingB seliger ist, als 
Nehmen. 

Auf Grund solcher Erwägungen vermag ich nicht zu- 
zugeben, dass ich in der Elimination des Egoismus zu weit- 
geg&ngen sei und dadurch unversehens sogar mein eigenes 
Hauptprinzip des Eudämonismus verletzt habe. Die Selbst- 
heit kömmt in Wahrheit nicht zu karz, aach wenn alle 
Selbstsacht abgewiesen wird, sondern sie hat naobträgUoh 
die grösste Förderung davon. 

Besshalb kann ich nriolk auch nicht auf das englisch- 
konstitutionelle Halbpartsystem von Egoismus und Nicht- 
egoismus einlassen, ol) man nun des Näheren für beide 
Glieder Koordination oder Subordination ansetzt. Denn 
ich muss das für prinziplos und für eine Verletzung des 
Satees halten, welcher auch in der Ethik tiefwahr ist: 
Niemand kann zwei Herren dienen! Oder wie Homer es 
ausdruckt: Ovm dyctd^ nohmoigaviv, ü^'notpeufdg Iforo». 
Ebenso bin ich hierin wieder ganz mit Kant einverstanden, 
wenn er einmal sagt: „Es liegt aber der Sittüchkeit über- 
haupt viel daran, keine morahsche Mitteldinge weder in 
Handlungen, noch in menschlichen Charakteren, solange es 
möglich ist, einzuräumen, weil bei einer solchen Doppel- 
sinnigkeit alle Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit 
und Festigkeit eiszubüssen. Man nennt gemeiniglich die, 
welche dieser strengen Denkungsart zugethan sind (mit 
einem Namen, der einen Tadel in sieh fusen seil, in der 
That aber Lob ist) Bigonsten; und so kann man ihre 
Antipoden Latitadinarier nemien. Diese sind entweder 
Latitttdinarisr der Neutralität, und mögen Indifferentisten, 



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— 91 — 



oder der Koalition, und können Syukretisten genannt wer- 
den" VI, 181. 

Granz besonders in unserer Gregenwart scheint es mir 
Yon höchster Wichtigkeit, dem Egoismus so entschieden 
als nur irgend möglich entgegenzutreten. Denn das Man^ 
diestertfaum hat zunächst auf seiiiem g^ährlichen Spezial- 
gehiist in doktrinftrem Spiden mit dem Feuer diesen Dftmon 
entfesselt, und es ist ihm dabei gegangen, wie esdasSpräch'* 
wort Ton „dem Teufel und dem kleinen Finger" sagt 

Die Einwendun^^en, mit welchen ich mich im Vor- 
stehenden nothwendi^ auseinandersetzen musste, legten 
sich bei dem Punkt des sittlichen Arbeitens an sich selbst 
und an Anderen nahe; aber eigentUch besassen sie eine weit 
grössere Tragweite für das Granze. Kehren wir nunmehr 
zu unserem früheren Zusammenhang zurück und erwägen 
die negatire Kehrseite zu der hodiwichtigen Arbeit an 
fremder Yervollkommnungy oder den energischen Kampf 
gegen das Böse. Auch er ist Ton unserem Standpunkt 
des Eudämonismus im Sinne der selbstlosen Liebe nicht 
im Mindesten ausgeschlossen, wie die Gegner abermals 
mehrfach meinen und z. B. auch Kant IV, 139 f. argwöhnt 

Die bisherige Entwickelung dürfte uns vor dem Ver- 
dachte schützen, dass wir Böses und Uebel gröblich ver- 
wechseln und etwa die plumpe Ansicht hegen, welche Plate 
einmal an den Sophisten bekämpft, wenn er im Fhilebus 
fljagt: ,^8 ist unYemftnftig zu behaupten, dies es möhts 
Schönes und Gutes gebe, als nur in der Lust; und den 
müsse man schlecht nennen, welcher Schmerz habe, gut 
aber den, der Lust fühlt, und zw^ar je mehr Lust, desto 
besser sei er." Ueber derartige Anfangsgründe ethischen 
Unterscheidungsvermögens sind wir Alle denn doch hinaus! 
Damit ist aber völlig vereinbar, dass für das reingefasste 
"Wohlprinzip das Bösesein des Anderen als Uebel, ja als 
^der Uebel GrSsstes*' für den Betreffenden und seine Um* 
gebung «ich darstellt und dadurch zum spornenden MotiT 
des abhfüfesuehenden Besserungswillens wird. Setzen wir 
allerdings für einen Augenblick den Fall, dass das Böse 
zwar „böse/' aber in keiner direkten oder indirekten Weise 



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— 92 — 



för den Besitzer oder Andere ein üebeLwftre, dann iele 

in der That für unsere nichtformalistische Anschauung 
aller vernünftige Grund weg, gegen dasselbe einzuschreiten 
und sein harmloses Dasein zu behelligen, welches Niemand 
wehe oder Abbruch thäte. Allein die ganze Hypothese 
ist gerade nach unserer materialen Fassung des Guten und 
Bösen von Anfang an ein Unsinn, der sich selbBt aiaHuebt 
Somit ist es bei soharfier Untersolieidnng in kehi^ Art 
eine Yerwasserang oder Abschirikihang des Bösen, wenn 
wir es end&monistischer Seite wirkHöh .als Uebel ae: I. am 
Andern auffassen und behandeln. 

Nur dies Eine müssen wir unumwunden einräumen, 
dass uns die Konsequenz der Gedankenentwickelung nöthigt, 
nolens volens bei der hier einschlagenden Strafe des 
Staates den bekannten Yergeltungsstandpunkt fallen zu 
lassen oder ihn doch wenigstens blos als untergeordnetes 
DirektiT des Strai&nsatzes beianbebalten. Keine Ab- 
weichung Yon Elant iftUt uns schwerer, als diese. AUein 
wir können sie nicht yermeiden und mttssen, gezwungen 
Ton unseren eigenen Vordersätzen gegen frühere TJeber- 
Zeugung dem Seneka'schen Satz der weicheren römischen 
Stoa beitreten: Nemo prudens punit, ^uia. peccatum est, 
sed ne peccetur. 

Zum Ersatz bietet uns aber gerade unsere Ansicht 
vom Sittlichen die volle Möglichkeit, im Interesse des 
ethischen Ernstes, wie der öffentlichen Zucht und Sitte um 
so kiAftiger und energischer die andern ttblichen GMcht»- 
punkte der Stoafrechtstheorie geltend zu machen« Denn 
wir wissen uns zugleich ron der atomistischen Beschränkung 
des Blicks auf das Individuum frei und betonen fortwährend 
den Zusammenhang des Ganzen der Gesellschaft. Uns 
bindet alsdann keine doktrinäre Befangenheit in windigen 
Eormeln und hochtönenden Abstraktionen, welche be- 
sonders in neuerer Zeit so häufig in erster linie dem 
Bösen zu Gute kommen und die Bechtsordnung schliass* 
lieh beinahe in die perverse Stellung bringen, zu einer 
Bettungs- oder Sicherungsanstalt des Unrechts zu werden. 
Härtere Zeiten charakterisirt man dnrqh die ^rostisdie 



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— Ö8 — 



Formel: Fiat justitia, pereat raimdus! Dies können wir 
allerdings als einen fanatischen Formalismus nicht mehr 
brauchen. Ob sich aber nicht in weicheiren Zeiten dieselbe 
zweckwidrige Abstraktion in der parodirenden Formel aus- 
drucken Iftsst: Fiat hmnanitas (oder libertas nnd andere 
Allgemeinheiten), pereant hominesl 

Vor ein paar Jahren bemerkten wir in der Maien- 
blüthe von verschiedenem Anderen und namentlich auch' 
vom Doktrinarismus des herrschenden Zeitgeists bei Ge- 
legenheit einer Besprechung des „modernen Pessimismus," 
dass sich doch wohl mannigfach auf diese und jene un- 
zeitige oder missgegriffene öü'entliche Massregel jenes Wort 
anwenden lasse, welches bekanntlich im Original an die 
Adresse der himmlischen M&chte gerichtet ist nnd also 
lautet: . 

Ihr schickt ins Leben uns hinein; 
Ihr kist den Avmen 'sehnldiir werden. 
Dann nberiaest ihr ihn der Pein; 
Denn alle Schuld rächt sieh anf Brden. 

Es ist ja natürhch, dass diese Bemerkung und ihre 
nShere Ausführung damals geschmäht und Yerschmfiht 
wurde. Heute hat die Erfahrung deutlich genug gesprochen 
und gezeigt, wer Becht hatte: Der von seiner Doktrin £as- 
dnirte Zeitgeist» oder die yerydtnissmässig Wenigen, welche 
zu warnen wagten. 

Leibniz bezeichnet wiederholt die Gerechtigkeit als die 
Weisheit der Liebe. Nun, die wahre und vernünftige 
Liebe lässt Kinder nicht mit Messern spielen, mit welchen 
sie sich und Andere nur in den Finger schneiden und 
in die Augen stechen. Auch ztlchtigt sie dieselben u^ter 
ümst&nden ganz gehörig, d. h. emstlich spürbar und nicht 
bloB scheinbar, wie das moderne Strafrecht bei vielen Y er- 
brechem verflihrt; sie zttchtigt jene zu ihrem eigenen Nutz 
und Ti^ommen, sowie damit sie später in der Welt brauch- 
bare Menschen werden. Und im Blick aufs Ganze wird 
unser Prinzip, gleichweit entfernt vom Götzendienst der 
harten wie der weichen Rechtsformel und Observanz, in derlei 
Sachen rundweg den aüein lebenswahren Grundsatz zum 



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-r 94 — 



Öffentlich - praktischen Leitstern haben: Publica salus 
suprema lex! Wer sich z. B. durch seine Thaten als Un- 
mensch beweist, und es gibt welche, wenn sie auch äusser- 
lich MenBchengesichter haben, der muss als brandiges 
GUed resolut lunpntirt werden, ehe er dem Organismus 
direkt oder indirekt weiteren Schaden bringt; denn er ist 
alsdann weit geffthrficher nnd ftbr die Menschheit werth- 
widriger, als ein giftiges Thier, dessen man sich ja auch 
80 rasch und entschieden als möglich entledigt. 

Es liegt auf der Hand, dass wir bei dieson Betrach- 
tungen das vielgenannte Schlagwort unserer Zeit, die 
moderne „Humanit&t" im Auge haben. Wenn wir sie 
im Prinzip betrachten, so hat sie zweifellos mit unserer 
eigenen Gnmdanschanung nahe Yerwandtschaft. Und in- 
sofern können wir sie nnr billigen, ja wir müssen wünschen, 
dass das immer stärker erwachende Solidarimts- oder 
Familienbewusstsein der neuzeitlichen Menschheit noch 
weitere und recht erhebliche Fortschritte mache. Was 
wir aber o})onsokrriftig an jenem Zeitmotto tadeln und 
wodurch dasselbe mehr und mehr bei allen ernst und 
nüchtern Denkenden in so schweren Misskredit gerathen 
ist, das ist seine oft noch recht elementare Blindheit und 
Unyemanft Fast möchte man denken und sagen, dass im 
inneren Fortschritt der Geschichte die indiridnelle Sen- 
timentalität des vorigen Jahrhunderts sich für das nnserige 
zur generellhumanen erweitert habe, ohne sich bei dieser 
quantitativen Ausdehnung auch schon die entsprechenden 
qualitativen Vorzüge vor jener beizulegen. Sie ropräsentirt 
daher als Gesammtstiramung der Zeit höchstens die natür- 
liche Gutartigkeit des ethisch uikkultivirten Herzens, somit 
nur die erste Etappe zum Wahren, welches noch zu folgen 
hat Dies zeigt sidi anch darin, dass sie sich überwiegend 
erst negattY, d. h. rom unmittelbar piAsenten Leiden mit- 
leidig afficiren lässt; daher ihre oft so kurzsichtige nnd 
ühelangebrachte "Wehleidigkeit und Weichlichkeit gegen- 
über vom Verbrechen und Verbrecher. Weit woniger ist 
sie schon zu positiver Theilnahnie und zu aktiven Opfern 
fortgeschritten, wie solche auf Grrund der solidarischen 



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— 95 — 



Zusammengehörigkeit der Gesellschaft etwa in der werk- 
tiiätigsten Sorge für die unteren Volksklassen, die Arbeiter 
iu A. gebracht werden müssen. 

Ich gestehe nämlich ganz offen, dass ich bei der stark 
sozialen Färbung meiner ethischen Grundbegriffe die Be- 
ziehung zur brennendsten Frage der Gegenwart klar und 
ruhig, aber zugleich warm im Auge habe, soweit Derartiges 
Tom Standpunkt der Ethik aus zu beleuchten ist. Zwar 
weiss ich, dass man neuerdings in diesem Zusammenhang 
dem Wohlprinzip zuweilen auch die fatale Konsequenz 
unterschiebt, als führte es schliesslich schnurstracks in das 
chaotische Nivellement der Sozialdemokratie. Nach allem 
schon Entwickelten und noch zu Sagenden kann ich diese 
Folgerung ruhig abweisen. Sie ergäbe sich nur aus einem 
allerdings zuweilen ^ich regenden Eudämonismus von ab- 
strakter und unvernünftiger Art, welcher lebenswidrig das 
juridisch-moralische suum cuique in ein flaches idem cuique 
verwandeln wollte. Desshalb bleibe ich uneingeschüchtert 
durch jene falsche PerspektiTe fest dabei, dass allerdings 
die ganz wttnschenswerthe schneidigste Energie in der 
Bepression des Brutalismus doch nur das erste Glied sein 
darf, welchem die eingehendste und aufopferndste Sorge 
für die positive Heilung und Hebung der betreffenden 
Schäden ebenso entschieden zu folgen oder zur Seite zu 
gehen hat. 

Wenn wir unsere fiauptbedenken gegen die bisherige 
moderne „Humanität'' drastisch zusammenfassen dürfen, so 

möchte man sich doch zuweilen bei derselben an eine ge- 
wisse Sorte von Liebe erinnert fühlen, welche nach den 
Darwinischen Vettern oder Ahnen der Menschheit genannt 
zu werden pflegt, somit noch weit zum wahrhaft Humanen 
hat. Die grossen Schäden moderner Jugendnichterziehung 
und Jugendbehandlung dürften, behaftet mit den gleichen 
Fehlem, das Analogen und die Vorstufe auch für grossere 
soziale Verhältnisse bilden. 

Allem Bisherigen gemäss wird der wahre Eudämo- 
nismus einer vernünftigen Liebe ferne davon sein, immer 



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— 96 — 



nur am Nächsten und Unmittelbarsten hängen zu bleiben. 
Er wird vielmehr weit umsichtiger verfahren und gross- 
artiger arbeiten, ähnlich wie der richtige Kaufmann iiicht 
am jeweiligen kleinen Einzelvortheil klebt, sondern ins 
Ganze rechnet. Ein solcher wird unter Umständen auch 
Nachtheile nnd ßinbassen ruhig hinnehmen| da sie durch 
den Totalgewinn eines wahrhalt vemtlnftigen um£BAsenden 
GesohSftebetriebs weit überwogen werden. So wird nicht 
minder im Sittlichen schliesslich nur das ganze System 
des Handelns mit allen seinen Konsequenzen und Trag- 
weiten massgebend sein, und niemals blos die unmittelbare 
folge entscheiden, welche sich zunächst präsentirt. Kann 
es doch zuweilen geschehen, dass wenigstens für den be- 
schränkten menschlichen Blick der klare Ausblick au& 
Ziel nicht mehr möglich ist Alsdann vertraut man auf 
die ausnahmslose Bichtigkeit der Maxime, welche sich für 
die Mehrzahl der leichteren F&Ue als heilbring|end erwiesen 
hat. Dadurch kann die Gesinnung den vorübergehenden 
Schein annehmen, als ob sie ganz und gar von allem eudä- 
monistischen Erfolg absehen würde, indem derselbe nur 
den letzten und eventuell verschleierten Hintergrund in 
der Feme bildet, diesen aber auch gewiss. 

Mit einem derartigen beschränkenden Zusatz 'kann 
ich mir gleichiSedls Kant's \iabstraktes*< Pflichtbewusstsein 
gefallen lassen, welches ohne Bücksicht auf Wohl und 
Wehe schnurgerad und unbeirrt seinen Weg geht. Es 
abstrahirt von allen nächsten und greifbaren Folgen, indem 
die wahre Liebe in hoffendem Glauben überzeugt ist, dass 
in der umfassenden Oekonomie einer moralischen Welt- 
ordnung dem Gruten seine Werke und Ergebnisse, natürlich 
in unserem unegoistischen Sinn, zuletzt dennoch sicher 
nachfolgen werden. Damit bleibt der eudämonistische 
Schlussgesichtspunkt, auch hier, wenn gleich nur in der 
Form des idealen Glaubens bestehen, und wir sind daneben 
Ton dem l&analen und kleinlichten Utilitarismus der Be- 
trachtung und des Verfahrens durchaus bewahrt, welchen 
man, übrigens mehr als theoretischen, denn als eigentlich 
praktischen Mangel mit Kecht verwerfen würde. 



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— 97 — 



Unter dieser Bedingung wage ich es. unserem Prinzip 
sogar auf dem stolzen und spröden Boden des wissen- 
schaftlichen Lebens sein gutes Recht zu vindiziren. 
Das bekaimte .Wort des Aristoteles klingt hodi und be- 
tteohend, venn er auf dem Höhepunkt der grieohisdieii 
Wissenschaft ansrief: Die Theorie ist das Schönste, weil 
sie nichts nützt Nimmt man jeAdi das Letstere im vollen 
Ernst und strengsten Sinn, dann wird der Satz zu einer 
hochtrabenden, aber sinuleeren Phrase. So kann es freilich 
der grosse Träger des Zweckgedankens in der alten Welt 
nicht verstanden haben, welchem doch sonst „t6 tikog 
ägiarov^^ ist. 

SelbstverstftadUch ist es nnn gemeine Bananne, wenn 
die Wissenschaft nur als egoistisches Brodstadium betrieben 
wird oder nach Schillers derbem Worte nur die Kuh Tor- 
stellty welche* ihren Besttaer mit Bntter versorgt. Auch 

das kann ihrem Gang als Wissenschaft nicht forderlich 
sein, wenn sogar in selbstloser Weise, aber mit ungeduldiger 
Hast nach den realen Früchten ausgespäht wird, welche 
diese oder jene Entdeckung für die Gresellschaft bringen 
kann. Wo nicht ein dringendes Bedürfniss mahnt, wird 
derartiger Gewinn am^ besten als fructus adventicius be- 
trachtet, welcher einem wirUidi eindringenden Forschem 
etwa als technische Anwendung einer entdeckten Wahriieit 
früher oder später von selbst zufftUt. Zugestanden sei 
endlich sogar von dem rein idealen Gewinn, welchen der 
Fortschritt der Wahrheit serkenntniss als edelster Nahrung 
dem Menschengeiste kläiend. erhebend und erfrischend ge- 
währt, dass selbst er nicht in vorzeitiger Eile geerntet 
sein will, ehe gesät und die Frucht gereift ist. Auch in 
der Wissenschaft gibt es eine gar komplizirte Verkettung 
von Mittehi und Zwecken, von anbahnenden Vorarbeiten 
und abschliessenden Ausführungen. Sie gehören im Sjstem 
des Ganzen schlechterdings zusammen. Der redliche 
Forscher, welcher voll und ganz mit jener ersten unerläss- 
lichen Seite beschäftigt ist, mag einstweilen die zweite ganz 
in den Hintenrrund stellen oder beinahe vergessen. Es 
mag ihm etwa in mühsamen und trockenen Detailfor- 



— 98 — 



sdmngen selbst so vorkommen, als ob sein Dienst lediglich 
nur der hehren „Göttin Wahrheit" als solcher gälte. 

Wäre dies aber in der That das allerletzte Wort, und 
stünde nicht in fernster Perspektive trotz AUedem die 
Hofihang, dem Menschengeschlecht in seinen konkreten 
Indmduen irgend einen Dienst damit zu thnn, dann mftaste 
vük sndi dies für einen IGRKtcendienst der formalen Ab- 
straktion erkl&ren. Denn was hat jene Hypostase „Wahr- 
heit" davon, dass ihr gedient und gehuldigt wird? Sie für 
eine Gröttin, also für eine Selbstwesenheit zu erklären, ist 
eine poetische Metapher und nichts weiter; man kann sie 
sich gerne als regulatives Prinzip gegenüber von einem 
zudringlichen und übereilten Eudämonismus gefallen lassen, 
aber sie darf sich nicht als definitiv konstitutives Prinzip 
zu einem intellektualistischen Absoluten aufblähen. 

Eine dmrtige Mahnung scheint mir namentlich in 
unserer Zeit nicht ganz flberflüssigy welche den unverkenn- 
baren Hang zu jenem formalistischen Intellektualismus 
und damit zu einer nicht mehr ganz ethischen Selbst- 
werthung des Wissens besitzt, was sich natürlich am 
stärksten an den berufenen Fflegestätten der Wissenschaft 
zeigt. So harmlos zunächst jene poetische Lizenz und 
Metapher von der „Göttin Wissenschaft und ihrem Kul- ' 
tuB^ erscheint^ so bedenklich sind unter Umständen ihre 
praktischen Folgen. Kehren doch in völlig pro&nem Ge- 
wand gar viel£adi dieselben schweren Fehler wieder, Über 
welche man sonst so hoch erhaben zu sein glaubt, dass 
man sie an den kirchlichen und theologischen Kreisen nicht 
bitter und höhnisch genug tadeln kann. Jenes alte „extra 
ecclesiam nulla salus" wiederholt sich als intolerantes 
Parthei- und Coteriewesen, welchem die spezielle Hichtung . 
und ihre Förderung oder auch die Förderung durch sie 
weit mehr gilt, als die gemeinsame Sachen Ein giftiger 
Ton schleicht sich in die wissenschaftliche Diskusadon ein 
und verwandelt den energisdien Ausdnu^ kräftiger lieber- 
Zeugung und saebgemässer emster Polemik in die eitle 
Befriedigung persönlicher Gereiztheit oder rachesüchtig- 
egoistischer Kanküne. Man lässt sich passiv beherrschen 



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— 99 — ,. 

von der naturalistischen Stimmung des Augenblicks, welche 
füi' sich allein meist schiecht oder doch sehr zweifelhaft 
ist) statt sich aktiv in die reine Luft eines idealen GleMi- 
masaes T<m dauemd«r Haltbarkeit au£zu8chwi]ig«ii, Sitt- 
Uoh geweiht und gegen manche derartige Abirrungen oder 
starke Menschlidikeiten gefeit ist auch die Arbeit des €^ 
Idirten und Forschers nur dann, wenn selbst in seiner 
stillen und zurückgezogenen Einsamkeit noeh ein erwär» 
mender Hauch von dem Geist des o])ersten sittlichen Prin- 
zips der Liebe als unsichtbare gute Fee waltet. 

Es ist kaum mehr ein Nebenbedenken, sondern fällt 
beinahe mit den erledigten Haupteinwürfen gegen den 
Eudämonismus als Wohlprinzip zusammen, wenn man ihm 
zum Schlüsse eben nochmals hartnäckig Schuld gibt» daes 
er auch abgesehen Tom Bechtlichpolitischen för die Ethik 
tlberhaupt das hochwichtige Moment der Zucht "und Ord- 
nung, der Strenge und Disciplin verwerflich lockere 
und aufweiche. Ich kann dies nacli allem Erörterten und 
wiederholter Anstreifung dieses Punkts durchaus nicht 
zugeben. So entschieden wie Kant halte ich es als eine 
seiner grössten und werthvollsten philosophisch-ethischen 
Wahrheiten fest, welche übrigens ehrlich gesagt aus dem 
Gedankenkreis der christlichen Ethik stammt» dass es sich 
bei dem Gkitwerdoi um die Herstellung einer andern 
Natur, ab der unmittelbar gegebenen handelt. Gerade 
• das Gegentheil unseres Guten, die Selbstsucht, ist nun 
unverkennbar das Gepräge des Menschen, welches ihm in 
seiner empirischen Natürlichkeit anhängt und das er radikal 
vom anfänglich eingenommenen Throne zu stossen hat. Die 
selbstlose Liebe dürfte demnach keineswegs etwas so gar 
Leichtes und jedenfalls nicht leichter sein, als jene nur 
formallogiftche Korrektheit des Handelns nach dem kate- 
gorischen Imperativ. Etthrte es nicht am Snde in Woirt- 
klaubereiea, so Hesse sich gerade umgekehrt gegen das 
„herzlose" opus operatum einer derartigen Unterwerfung 
unter das Sittengesetz beinahe der Vorwurf erheben, dass 
sie sich mit der Vorhalle des Sittlichen zufrieden gebe. 
Was sie iTerlange, sei doch schliesslich nur aphoristische 



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— 100 — ' 



Legalität; denn es werde ihr mit dem Opfer des Kopfes , 
oder Eigensinns statt mit dem weitgrösseren des Herzens 
od^ Eigenwillens Grenüge gethan. 

Zudem kann ja ein nttohterner Realismus nicht umhin, 
offen einznr&vmeny wie gar wenig natttrUohe Liebens- 
würdigkeit die empirische Menschheit an sich trage. Und 
dennoch soll man sie ethisch betrachtet lieben nnd durch 
alle Hüllen oder Karrikaturen hindurch an dem idealen 
Kern und Keim festhalten; an ihr, wie sie nun einmal ist, 
soll man ohne verdrossen zu werden arbeiten, ob sich viel- 
leicht eine Minderheit ihrer Glieder umgestalten lässt — 
wahrlich, es gibt nichts Schwereres als dies! Somit kann 
auch Yon Ferne keine Eelaxirung nnd Erleichterung der 
sittlichen An%abe darin erblickt werden, wenn man die- 
selbe in solcher Weise bestimmt 

EndUch haben wir bereits gezeigt, dass auch unsere, 
an empfangenes Wohl anknüpfende Triebfeder der Dank- 
barkeit so gut wie Eine das Moment der Ptlicht und Schul- 
digkeit von Haus aus in sich trage und alle Verdienst- 
lichkeit abweise. Ja, wir können sogar noch weiter gehen 
und hart bis an die stets wiederkehrenden Kant'schen Haupt- 
formeln streifen. Bei dem absoluten Missverhältniss von 
Empfangenhaben und Leisten, mit welchem der Mensch 
«eine Entwicklung beginnt, wird auch die Dankbarkeit 
zuerst ganz die Form „ehrfürchtiger Achtung^ haben, 
welche, wenn man so will, gd^e wie die Kant'sche ^or 
dem Sittengesetz uns „beschämt und alle Binbildiing nieder- 
schlägt." Sie wird sich aber im Laufe der Zeit mehr und 
mehr zu achtungsvoller Liebe emporschwingen können oder 
in der Verminderung jenes Missverhältnisses von Empfangen- 
haben und Zurückerstatten ein erhöhter es Grefülil der Koor- 
dination gegenüber der yerpflichtenden Menschheit empfin- 
den. Weil jedoch stets eine Disproportion des Einzehien 
und Ganzen übrig bleibt, so wird das sittliche Streben nie 
Töllig zur Abtragung seiner Schuld kommen oder mit der 
Ansammlung von Verdienst beginnen können. Das Modus- 
Bewusstsein aus dem Metaphysischen ins Ethische über- 
setzt ergibt andauernd die modestia der Liebe oder 



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die Bescheidenheit des Theil-Q-lieds am Organismus des 
Ganzen. 

Man wird leicht bemerken, wie diese profan-ethiechen 
Stationen in einiger innerlichen Analogie mit den ent- 
sprechenden Stufen stehen, welche eine tiefere Beligions- 
phflosophie im snccessiTgeschichtlichen Yerh&ltniss des 
Menschen zu Gott ansetzt. Denn ich betonte ja immer, 
dass die philosophische Ethik desswegen nicht anti theo- 
logisch zu sein braucht, weil sie zunächst ihr eigenes Ge- 
schäft in reinlicher Profanität besorgt. Sie operirt ge- 
flissentlich immer mit dem Begriff der Menschheit. Aliein 
was ist die Menschheit in letzter Instanz anderes, als eine 
Partikel des gOttiiohen Alllebens, in welchem wir leben, 
weben und sind? Was ist besonders die überpersönliche 
Potenz der liebe, die in unserem Gewissen sich erweist, 
anderes, als das Leben des Gtöttlioben in. und mit uns? 
Was suchet ihr also den ewig Nahen in der Ferne und 
den innerlichst Präsenten draussen, als wäre er ein Ding 
unter Dingen? 

Kant bemerkt wiederholt ganz zutreffend, dass der 
Philosoph in der Sittenl^re so pftnktlioh, ja wenn es auch 
hiesse peinlich Torfahren müsse, als je der Geometer in 
seinem Geschäft; und dabei habe er durdi die Abstraktheit 
seines Begriffmaterials mit grösseren Schwierigkeiten zu 
kämpfen, als dieser. In einem so delikaten Fall, als die 
Bestimmung sittlicher Prinzipien sei, habe auch die kleinste 
Missdeutung Verfälschung- der Gesinnungen zur Folge. 
Auch wir sind am Schlüsse unserer kritisch- systematischen 
Untersuchung tief von diesem Gefühl durchdrungen und 
möchten für etwaige Fehlgriffe derselben gleichfalls die 
Entschuldigung in Anspruch nehmen, welche in jenen 
Worten liegt Auf der andern Seite sagt aber Kant ein 
spftteres Mal im Allgemeinen ebenso wahr: „Wenn man 
fragt, was denn eigentlich die reine Sittlichkeit ist, an der 
als dem Probemetall man jeder Handlung moralischen Ge- 
halt prüfen müsse, so muss ich gestehen, dass nur Philo- 
sophen, die Entscheidung dieser Frage zweifelhaft machen 



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können. Denn in der gemeinen Menschenvernunft ist sie 
zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch 
durch den gewöhnlichen Gebrauch gleichsam als der Unter- 
schied zwischen der rechten und der linken üand längst 
entschieden« IV, 280. 

Nun durfte es jedoch keinen - nnmittelbarereii imd 
treueren Ausdruck dieser inrthnms&eien gemeinenMenschen- 
vemunft geben, als ihn die Sprache zumal in konstanten Wert- 
formen bietet, welche sieh bei mehreren gegenseitig unab- 
hängigen Völkern finden. Blicken wir in dieser Hinsicht nur 
auf die drei Sprachen Deutsch, Latein und Grriechisck, so tritt 
uns in ihnen allen jene vielbeklagte Amphibolie des Wortes 
,^ut'* und seines Gregentheils entgegen. Am stärksten ist 
sie wohl aus inneren sachlichen Gründen bei den yerhält- 
nifismftseig nodi tiefhaturalistischen Griechen, wo tty^ä-a» 
und M€m6p Tdllig unpartheüsch das Gute und das Böee, 
wie das Gut und das Hebel bezeichnen. Höchstens markirt 
der Hellene, dem die Aeethetik das höchste Ideal ist, den 
ersteren Gegensatz im Unterschied vom zweiten durch 
einen ästhetischen Zusatz, wenn er das Gute mit xako- 
Y.äyuß'ov und das Böse mit aiaxoov ausdrückt. Weit schärfer 
ist die Juristensprache des Latein. Zwar an bonum und 
malum haben wir dieselbe Zweideutigkeit; aber das stolze 
Volk des männlichen Ehrbegriffs besitzt daneben ganz un- 
missrerstiindlidi f&r den ersten ethischen Gegensatz auch 
das Begrifispaar honeetum und pravum. Ebenso Terleognet 
das Deutsche seine philosophische Natur nicht. Es bleibt 
für die positiven Vorderglieder jener Paare bei dem gleichen 
Wortstamm „gut,'' weiss aber durch feine Artikulation zu- 
gleich den erforderlichen Unterschied zu bezeichnen, wenn 
es das Gute und das Gut sogar mit verschiedener Dekli* 
nation bildet. Für das negative Gegentheil hat es wenigstens 
im Hochdeutschen zwei ursprünglich verschiedepe Eonnen 
bös und Übel, welche nur der Dialekt z. B. in der Wen- 
dung „ein böser ¥mger*^ durcheinanderbringt. 

Diese eigenthümlichen sprachlichen Erscheinungen, 
welche sich auch auf das Gebiet der ästhetischen Werth- 
taxation erstrecken, geben nun offenbar den dei^tlichen 



— X03 ~ 



Hinweis, dass ,,die gemeine Menschenvernunft^' von jeher 
die allerengste Verwandtschaft beider Begrilispaare erkannt 
hat, ohne im Lauf der feineren £nt Wickelung daneben 
ihren Unterschied zu übersehen. Also kann es ebensowenig 
richtig srnn, den Begriff des Guts Ton dem des Guten 
ganz stt trennen, als ihn nur leicht und nachMglioh an- 
zuflicken. Selbst die Belation ron Mittel und Zweck 
zwischen B^den oder diejenige von Grund und Folge ist 
noch zu äusserlich und hält sie gegen das Gefühl der 
Sprachvernunft zu weit auseinander. Vielmehr muss das 
Moment des „Guts'' oder Wohls von Anfang an in den Be- 
griff des „Guten" selbst mit eigenthümlicher innerer Ver- 
hmtnisssetzung aufgenommen werden. Genau dies haben 
wir gethan, ind^ wir das Gute als das selbstlose Trachten 
nach Herstelinng Ton Gut definirten. Weit laxer ist die 
Verbindung des Bösen mit dem üehel, sofern eigentlich • 
nur in der satanischaussermenschUchen Form des BOsen 
das XJebel den letzten Zweck desselben bilden würde, wäh- 
rend menschlicher Weise fremdes Wehe höchstens als rück- 
sichtsloses Mittel für das selbstische Wohl vorkommt. 
Vielleicht hat das Deutsche desshalb in feinem Instinkt 
sogleich zwei getrennte Worte für das Böse und das Uebel 
formirt, während es bei „gut'' aus Einem Stamm die beiden 
Modifikationen hervorgehen liess. 

So wenig ein derartiger Erfahrungsbeweis aas der 
Sprache in ethischen Dingen entscheiden kann, so gerne 
acceptiren wir ihn als nebensächliche Bestätigung dafür, 
dass wir mit unserer Ehrenrettung des Wühlprinzips, 
oder also auch des Eudämonismus unter der Bedingung 
seiner gründlichen Losschälung vom Egoismus, keine 
jener unnatürlichen und verkünstelten „Bettungen'* versucht 
haben, welche das Sprüchwort als Mohrenwäsche verurtheilt 

Sollte es uns demnach gelungen sein, die ethische Bein- 
heit und Tadellosigkeit jenes praktischen Gedankens zu 
erh&rten, so erhellt aus allem Bisherigen, wie werthvoll 
und wichtig der viehreikannte und von Amphibolien um- 
striktgewesene Begriff für eine lebenswahrere Gestaltung 
der Ethik ist. Dieser letztere Gesichtspunkt bildete im 



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— 104 — 

Anschluss an meine Rede Über ..die Philosophie und das . 
Leben" (Tübingen. Fues 1878) geradezu das Motiv meiner 
eingehenden kritischen Untersuchung. Unsere Zeit ist 
auf allen Gebieten durchaus realistisch gestimmt.* Natür- 
lich geräth sie dabei vielfach zunächst nur in das ent- 
gegengesetzte Extrem von demjenigen hinein, -gegen was 
sie als Bückschlag Front macht. Und zwar hat diese 
üeb($rtreilmng eben auch bei Tielen Yertreteni der gegen- 
wärtigen Philosophie nachgerade bedenkliche Dimensionen 
angenommen, gegen welche man im Namen einer wahrhaft 
und massvoll besonnenen Wissenschaft aufs Ernstlichste 
opponiren muss. Trotzdem hielte ich es für einen lächer- 
lichen Fehler y wollte man aus Opposition gegen jene zu 
weitgetriehene realisti^e Opposition und Beaktion wie 
ein Temunftlos schwingendes Pendel nur wieder auf den 
* früheren mangelhaften Stand zurückkehren, statt in der 
richtigen Mitte einzustehen. Unbeirrt yon jenen Aus- 
schreitungen, deren umfassende Zurückweisung Aufgabe 
einer eigenen Arbeit wäre, gestehe ich vielmehr die wesent- 
liche Wahrheit und Berechtigung des unverkennbaren und 
unabweislichen Realismus unserer Zeit auch meinerseits 
in vollkommener Buhe zu. Ich räume ein, dass nicht 
mindet die echte und besonnene Philosophie im Ganzen, 
und speziell das direkt praktische Fach der Sittenlehre 
die Fühlung mit dem wirklichen Leben emstlich suchen 
muss. Sonst würde sie durch eigene Mitschuld ihren Kredit 
und unentbehrlichen Einfluss verscherzen oder ihr* Amt 
an andere, weit minder befugte Mächte abgeben. 

Auf theoretischmethodologischem Gel)iet liat ein über- 
triebener Apriorismus und Konstruktionsgeist früherer 
Jahrzehnte in unseren Tagen bis zu der extremen und 
CTentuell recht schiefen Gegenparole geführt, welche die 
^^naturwissenschaftliche Methode'' in quali et quanto für 
die überall und allein zuUi.8sige erkl&rt. Dem entspricht 
für unseren Zusammenhang ziemlich genau die andere For- 
derung, welche gleichfalls vor Kurzem erhoben wurde und 
eine Reform der Moral von der Naturwissenschaft aus 
verlangt; Jeder wirkliche Kenner der Ethik muss jedoch 



Digitizod by Gü*..wtL 



— 105 — 



fürchten, dass auf diesem Weg höchst wahrscheinlich das 
misslichste Quidproquo von Sittenlehre entstehen würde; 
und desshalb gilt es, sich hiegegen noch weit emstlicher, 
als gegen jenen methodologischen Naturalismus zu ver- 
wahren. 

Die Proben wenigstens, welche allerdings von täp- 
pischen und Töllig unzuständigen enfants terribles in dieser 
Richtung bereits vorliegen, lauten sehr wenig empfehlend. 

In dem Buche „Wissenschaft — nämlich Naturwissenschaft— 
und Sittenlehre, Gotha 1856'' lesen wir unter Anderem 
Folgendes: „Wie es keine Unnatürlichkeit gibt, so gibt es 
auch keine Sünde auf Erden. Die Natur weiss von keinem 
Gegensatz und keiner Sdieidewand zwischen gut und böse; 
und eine Sittenlehre, welche ihre Gresetze aus der Natur 
entwickelt und sich aufbaut auf dem einzig ewigsicheren 
Qrund, kann dieses Nichtwissen nicht laut genug der Welt 
verkflnden.'' In diesem Sinn wird dann des Weiteren mit 
wahrhaft cynischer Unverfrorenheit ausgeführt, wie das 
pure Darleben der unmittelbar gegebenen Natürlichkeit, 
z. B. auch der Diebs- oder Mördernaturanlagc das einzig 
Normale und Sittliche sei, welches den betreffenden Menschen 
allein^ zu einem kraftvollen Charakter aus Einem Guss 
machen könne. 

Wir sind weit entfernt^ dmirtige rUde Expektorationen 
ohne Weiteres auf eine Linie mit jener Forderung nüch- 
terner und emster, naturwissenschaftlich hochverdienter 
Männer zu stellen. Aber jedenfalls geben alle solche 
Erscheinungen und Forderungen zu denken. Denn wenn 
ich gleich sogar die mildere und anständige Form jenes 
Postulats einer „Naturalisirung'' der Ethik an sich selbst 
für falsch halten muss, so gestehe ich doch zu, dass es die 
bisherige philosophische Ethik an den Splitter im eigenen 
Auge erinnern kann und muss. 

Allerdings habe ich hiebd im Guten und Schlimmen 
vornehmlich die deutsch- philosophische Ethik im Auge. 
Denn gegenüber von unserer philosophischen Modeströmung 
nehme ich mir vorläutig noch die Freiheit, nur in jener 
Ethik bis jetzt die wahre Tiefe und den eindringenden 



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— 106 ' — 



Ernst echtethischer (rrundprinzipien zu finden. ohnedane])en 
für ihre Mängel blind zu sein. Dagegen scheint mir z. B. 
namentlich die englische Ethik den unleugbaren Vorzug 
ihrer grösseren Anschaulichkeit und Greifbarkeit, über- 
haupt ihre stärkere praktische Konkretheit ganz über* 
wiegend mit dem schweren Mangel an einem tieferen und 
wAhrhaft feinen Eindringen in die hochwichtigen und 
schwierigen Probleme zu erkaufen. Desshalb kann ich 
wahrlich nicht in einer brüsken Ersetzung der deutschen 
durch die englische Ethik das Richtige finden, sondern 
nur eine immerhin grössere Annäherung Beider für das 
Sachgemässe halten. Bei diesem Austausch würden sogar 
die Engländer sicherlich an Tiefe erheblidi mehr gewinnen, 
als die Deutschen an Breite und Ebene, oder ohne Bild, 
an 'konkreter Fasslichkeit und Wirksamkeit Ich bemerke 
dies mit besonderer Benehung auf die Schrift Ton GÜyoki 
ftber „die EÜiik Da^id Hume's in ihrer gescMohtiichen 
Stellung nebst einem Anhang über die universelle Glück- 
seligkeit als oberstes Moralprinzip, Breslau 1878.** Leider 
ist mir das Buch erst bekannt geworden, als diese meine 
vorliegende Untersuchung bereits fertig abgeschlossen war, 
so dass mir nur nodh in einer letzten nachträglichen Super« 
' revision diese leichte Schlussbezugnahme auf dass^be mög- 
lich ist Sonst h&tte ich 'aus dem „Anhang*' Manches 
lernen und benützen können, der mit meiner eignen Dar- 
legung vielfach aufb Genaueste zusanimentriffb. Er ist 
mir desshalb im Wesentlichen ebensosehr sympathisch, als 
mir die vorausgehende panegyrische Geschichtsdarstellung 
Hume's und seiner Landsleute in kontrastirender Ver- 
gleichung mit den Deutschen wirklich recht schief, wider- 
spruchsvoll und bedenklich erscheint — ein Punkt, über 
den ich mich bei einer andern GMegenheit mit dem Ver- 
fasser und seinen fielen Standpunktsgenossen hinsichtlich 
des hlstorisch^ystematischen VerWtnisses Ton englischer 
und deutscher Philosophie genauer auseinaadenmsetzen 
gedenke. 

Indem ich mich also aus den oben kurz genannten 
Gründen vornehmlich an die bisherige deutsch - philo- 



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sophische Ethik halte, so leugne ich nicht, dass sie sich 
angesichts der heutigen naturalfBtisch-ethischen Gähnmi? 
ernstlich fragen müsse, ob sie nicht vielfach und in ihren 
grössten Vertretern jene Eeaktion ihrerseits durch all« 
zngrosse Abstraktheit and ttbertrieben lebensferne Haltung 
mit herrorgenifen habe* Diese durfte ganz besonders auch 
neben allen ihren bleibenden und grossen Vorzügen von 
der Ethik Kant's gelten. Denn eine wahrhaft historische 
und sachliche Objektivität muss ruhig einräumen, dass die- 
selbe mannigfach und nicht blos bei dem speziellen Gregen- 
stand unserer jetzigen Untersuchung aus Gegendruck gegen 
die herrschende Flachheit und ethische Banalität ihrer 
Zeit oder ihrer Vorgänger die Fahne hochberechtigter 
Interessen allzuhoch gehalten und dadurch wiederholt um 
ein Ziemliches Uber das Ziel hinausgeschossen hat So 
wie sie vorliegt, hängt ihr doch nicht blos der Schein 
eines abstrakten Formalismus und eines profanen Hypo- 
stasenthums an, sondern Kant selbst dürfte sich gerade 
aus tiefethischem Ernst in den Glauben hineingesteigert 
haben, dass ohne jenen beinahe transcendenten Charakter 
die volle Würde und Beinheit des Sittlichen nicht ge- 
wahrt werden könne. Allein dadurch bringt sich das vor» 
trefOiche Werk zumal in unserer Zeit um seine noch immer 
hödist wQnschenswerthe Wirkung und Geltung. 

Im vorliegenden Aufsats habe ich mich daher zunB43hst 
bemüht, denjenigen Punkt jener Moral beleuchtend zu ver- 
bessern, welcher vielleicht von jeher mit mehr oder weniger 
klarem Bewusstsein des eigentlichen Sachverhalts auf speziell 
ethischem Gebiet am meisten Anstoss und Widerspruch 
erregte. Es war der negative Formalismus, in weld^en 
sich Kant*8 so rühmliche Bekämpfung des Egoismus ver- 
lor, weil e^ dem positiven Prinzip der liebe keine genügende 
Reinheit zutraute. Bei dieser kritischen Beleuchtung er- 
gab sich reidhlich Gelegenheit, auch andore moralische 
Grundbegriffe desselben Philosophen mit in Betracht zu 
ziehen, bei welchen sich ohne oder in wechsehvirkendem 
Zusammenhang mit unserer Hauptfrage gleichfalls mannig- 
fach eine Ueberspannung des Kichtigen oü'enbarte. ^ 



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Meist musste ich mich dabei für diessmal mit einer 
leichten Hindeutung auf den bleibend wahren Kern, oder 
mit der kurz reservirenden Betonung des tiefberoohtigten 
Interesses begnügen, aus dessen Ueberspanniing sick Kaut's 
Missgriffe genetisch nachweisen Hessen, un Ton uns mög- 
lichst beseitigt za werden« Für ein anderes Mal aber be- 
halte ich mir eine nicht minder sei^gernftsse An^be Tor, 
weldie der ersten sdieinbar, aber auch nnr scheinbar ent- 
gegengesetzt ist. Immer massloter nnd gesteigerter tritt 
die empin.-^tisch-iiioralistische Missachtung dieser „schwin- 
delhaften Gespinnste und spekulativ-rationalistischen Luft- 
gelnldc'- auf, wie man namentlich von Kant's Ethik zu 
sagen beliebt. Hiegegen ist es dringend nothwendig, ener- 
gischen Protest einzulegen. Desshalb wird es sich fiUrs 
2iweite darum handein, den fiauptaccent spftterhin zur 
Abwechselung eben auf die tiefe und bleibende Wahrheit 
jener Eerngedanken zu legen und die darüber gewachsene 
Schaalenbildung dann mehr nur gelegentlich und neben- 
sächlich anzudeuten. Ruhigprülende Nachweisung und Be- 
seitigung des Verfehlten vereinigt sich auf diese AVeise 
widerspruchsfrei mit warmkonservii-endem Behalten des 
weitüberwiegenden Gruten und .Wahren bei Kant. Diess 
wäre eine l^esonnen sachgemässe , ebenso geistesfreie als 
piet&tsyoUe Kritik ^ wie sie sich Yor Allem dem grossen 
Königsberger Kritiker und Weisen gegenüber ziemt G-anz 
ähnlich hat es seinerzeit schon der edle Kantianer Sdiiller 
in seinen trefflichen Modifikationsversuehen der£thik seines 
philosophischen Meisters gehalten und die entsprechenden 
metakritischen Grundsätze wiederholt ausgesprochen. 

Für unseren diessmaligen Zusammenhang habe ich nur 
noch Weniges beizufügen. Wenn wohl Niemand dem reha- 
bilitirten, in Wahrheit freilich uralten Wohlprinzip der 
selbstlosen Liebe die weit grössere Lebensnähe überhaupt 
abstreiten wird, so bietet dasselbe mit seiner alsbald 
materialea Fassung des Guten Hbr eine erspriessliche Kon- 
struktion der philosophischen Ethik noch einen speziellen 
Vortheil. Man pflegt in ihrer bisherigen deutsch-philo- 
sophischen Behandlung zwei Hauptrichtungen zu unter- 



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äclieidcn, welche allerdings je für sich allein an entgegen- 
gesetzten Einseiti|^eiten leiden. 

Das Grosse an Kantus Moral, vna ich als Kt^fia «lg 
0t9k festgehalten wissen mdchtey ist ansser manchem Andern 
vor Allem seine prim^ieUe Stellimgnahme im Innern der 
Gesinnung: ,,Es ist überall mohts in der Welt, ja über- 
haupt auch ausserhalb derselben zu denken möglich, was 
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als 
allein ein guter Wille" IV, 10. Unbeschadet einer 
etwaigen psychologischen Modifikation, welche statt des 
„Willens^' lieber „G^esinnnng" setzte, sollte dieser Eingangs- 
satz der „Qmndlegung zur Metaphysik der Sitten" das 
Motto einer jeden Sthik bilden, welche ihre Aufgabe im 
Oentrüm erüsssi Aber freilich wird Kant dnrdi sein über- 
treibendes Ifissverstftadniss abgehalten, die richtige und 
lebenswahre, weil material gefasste Gesinnung einzusetzen, ^ 
um sie als klaren und wahren Begriff des Guten zum 
dominirenden und weittragenden Mittelpunkt zu machen. 
Dadurch geschieht es, dass die Grestaltungsseite des 
Sittlichen bei ihm ganz entschieden zu kurz kommt, indem 
sie keinen so recht imiaren Znsaminrenhang mit dem for- 
malen Prinzip der Gesiminng hat 

Umgekehrt imd im Gegendmck gegen Kant ist 
Schleiermacher als markirtester Vertreter der ma- 
terialen Richtung eben auf diesem Gebiet der umfas- 
sendsten und reichsten Gestaltung gross. Allein es fehlt 
ihm dafür unverkennbar der BUck oder vielmehr das leben- 
dige Interesse fär die primäre Frage der Gesinnung, ein 
Tadel, welcher selbstverständlich nur seine Theorie, und 
▼on Feme nicht die charaktmoU-ethisdie Persönlichkeit 
des Mannes tri£GL Aus jenem Ghmnd erkl&rt sieh die 
merkwürdige Erscheinung, dass eine Reihe der unleugbar 
wichtigsten sittlichen Probleme von seiner philosophischen 
Ethik gar nicht berührt oder leichthin als nicht hergehörig 
abgewiesen werden. Sein berühmtes Werk ist desshalb 
gar keine eigentliche Ethik oder wenigstens nur deren 
zweite Hälfte. Man bezeichnet sie darum besser als eine 
Philosophie der Kultur, welche in ihrer Art freilich sehr 



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Werth voll ist und von jedem Ethiker nach Abmachung der 
Grundprobleme allerdings trefflich als Leitfaden oder reiche 
Fundgrube verwerthet werden kann. Wenn jedoch dieser 
Sachverhalt übersehen und jene zweite Hälfte einer wirk- 
lichen Ethik für das Granze ausgegeben wird, so hat dies 
unter Umstftnden das BedenkHöhe, dass die Leser, bestodien 
Ton dem bunten Farbenreiohtham der sekundären Gestal- 
tangsfragen, sich den BHok fÄr den eigentiidien Ort und 
letzten Massstab des Sittlichen trüben lassen. Es kann 
zuletzt der Wahn nicht ausbleiben, vor dem Kant einmal 
so treffend warnt, als ob Kultivirt- und Civilisirtsein soviel 
hiesse, als Sittlichgutsein. Die bekannte Irrung einer 
hochgesteigerten Bildung wird drohen, dass man mit den 
opera « operata sozialer oder politischer Geeohichtsgestal- 
tungen rein als solchen es schon ^o herrlich weit gebracht^ 
habe und nichts Wichtigeres mehr zu thun übrig behalte. 

Mit Einem Wort: Kant lehrt uns, indem wir jetzt von 
seinen Mängeln auch auf diesem Gebiete gerne absehen 
können, als werthvollste Hauptsache den beherrschenden 
sittlichen Geist der Ethik, jedoch ohne hai'monisch dazu- 
gehörigen Leib; Scbleiermacher und seine Richtung dagegen 
gebenden reichgegliederten, feinartikulirten ethischen Leib 
oder wenigstens die Anleitung zu seiner wirklich umfas- 
senden Konstruktion, aber ohne dass sie auch den wahrhaft 
dominirenden Geist der entsprechenden Gesinnung hin- 
zufügten. 

Fassen wir dagegen das Gute in unserer Weise, so 
erhalten wir sozusagen den Brückenbegritf, um aus der 
blosen Gesinnung als dem zweifellos Primären doch auch 
heraus zu kommen und . in zweiter Linie zur Welt der Ob- 
jekte und Thatgestaltungen zu gelangen. Die Liebe als 
selbstloses Wohl- Wollen weist mit Nothwendigkeit darauf 
hin und f&gt zu den Kategorien der Geainnungsseitey Pflicht 
und Tugend, welche mit Beeht yorangehen und einander 
korrelat sind, auch noch die dritte ethisch übliche Kategorie 
des Guts für das Gebiet der Gestaltung. Ohne jeglichen 
Eklektizismus werden wir also das unleugbar Wahre der 
beiden grossen deutschen Hauptrichtungen in der Ethik 



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kombiniren können, oder Gesinnung und Gestaltung zu 
einem „avvoXov von Form und Stolf" vereinigen. Denn 
ich bin allerdings gleichfalls der Ansicht, welche gegne- 
rischer Seits so energisch, aher meist wenig konsequent 
betont wird, dass in der Philosophie überhaupt und spedell 
in der Ethik eine grossere Kontinnit&t des konserratlTen 
Weiterbanens auf den vorhandenen Grundlagen und zwar 
namentlich auch der eigenen nationalen Vergangenheit, sehr 
zu wünschen wäre. 

Alsdann werden wir in früherer oder späterer Zukunft 
eine allseitiger befriedigende philosophische Ethik er- 
halten, als wir sie bis jetzt haben. Denn ich nehme keinen 
Anstand zu bekennen, dass uns die Theologen mit ihren 
Sittenlehren hierhin um ein Betrftehtliches voraus sind, indem 
sie Ton den Grundanschaunngen des Obristenthums in ver- 
schiedener Hinsicht die Mitgift wahrhaft ethischer Begriffe 
von Haus aus geerbt haben. Diess offene Bekenntniss 
sowie manche einzelne Bemerkung in der vorliegenden 
Arbeit athmet allerdings nichts weniger, als die bis vor 
Kurzem übhche Feindschaft und Gehässigkeit gegen alles 
Theologische oder Keligiöse, welche in gewissen Kreisen 
nachgerade fttr unerlitosliche wissenschaftliche Pflicht galt. 
Indessen habe ich dabei den Verdacht schndder Akkom- 
modation an die so sehr ver&nderte Windrichtung neuesten 
Datums nicht zu befürchten. Denn mitten in der Blüthe- 
zeit des heftigsten sogenannten „Kulturkampfs,^' womit ich 
nie die hochberechtigte Nothwehr des Staats, sondern nur 
den widrigen Sukkurs Unberufener meine, musste ich mich 
gar oft oh ähnlicher „theologischer Angehauchtheit'' von 
dem damals modischen und obenanstehenden FseudoUbera- 
lismus bespötteln lassen. Unbekümmert um derartige April- 
wetterlaunen des Tages gebt die wahrhafte Besonnenheit 
und der autonome Charakter fest und ruhig seinen Weg. 
Werschon in der hiefür ungünstigsten Saison jene häutig recht 
sachwidrigen und masslosen Antipatlii( o ollen zu den vielen 
idola fori et theatri unserer überstürzungsreichen Zeit 
rechnete, der weiss sich auch heute über den Verdacht 
erhaben y als wollte er nun umgekelirt von der Beaktion 



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protitiren und das Aussprechen solcher Ansichteu erat unter 
deren so zweifelhafter Aegide wagen. 

Neben dieser, hienach nnentwegten Einräumung des 
bisherigen entschiedenen YorsugB betone ich auf der andern 
Seite ebenso rahig die speadfiaohen M&agel, welche jede 
tiieobgische Behandlung der Etiiik mit sieh flihrt, indem 
sie doch eigentHdb keine ecbte nnd gerechte Selbststän- 
digkeit derselben neben der dominirenden Dogmatik heraus- 
bringt. Aber auch davon abgesehen ist das gute Recht 
der philosophischen Ethik als solcher ausser allem Zweifel, 
und dieselbe namentlich für unsere dogmatisck so zer- 
fahrene Zeit als neutralerer Boden ein dringendes Bedürf- 
nisB. Nur darf dieselbe ihre yollbereohtigte, profieme Eigen- 
Artigkeit nicht am tischen Orte sndien, indem sie von 
gewissen y ethisch ganz nnerlftssHchen Begriffen nnd Pro- 
blemen oder deren Lösung einfach desshalbi willktthrlioh 
abgeht, weil sie sich zufallig auch schon in der christlich- 
theologischen Moral finden. Das wäre eine Originalitäts- 
sucht, welche die Philosophie weder nöthig hat, noch als 
lautere und unbefangene Wahrheitsliebe hegen äsxL Aber 
es ist recht wohl möglich, dass etwas Derartiges in der 
That bei manclien nnnöthigen Abstraktionen nnd kttnst- 
lidien Ausweichungen unserer Diaciplin im ffintergrund 
mitgewirkt hat. 

Ich schliesse absichtlich mit dieser Bemerkung, weil 
sie mir namentlich auch bei dem selbstlosen Wohlprinzip 
oder der Liebe zuzutreffen scheint. 



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